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Full text of "Staats-Lexikon oder Encyklopädie der Staatswissenschaften"

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277 


..e 


Supplemente 


zur erfien Auflage 


des 


Staats-Lerikons 


oder der | 
Encyklopãdie der Dtantswiffenfchaften 


in Berbindung mit vielen der angefehenften 
Publiciſten Deutſchlands 


herausgegeben 


von 


Carl von Botted und Garl Welcher. 
fa 


Zweiter Band. 





Altona, 
bei Johann Friedrich Hammerid. 





1846. 


EMTUI2E 


Quhalt Des zweiten Landes. 


"Chili, Znfnbikhignid. 


*Chriſtlicher Staat, heiligen 
mantiches Staaterecht. — 


©. Welcker.. 7 
* ehriftepd von Bürtemberg. — 6 
* Gommunlomut — Mon =. 

Schul 23 


* Gonfhberation, Bund, Bundes« 
oder Gidgenoffenfhaft, nad) ih⸗ 
rer hiſtor. Gntwidelung arge 
flent. — Bon $. Korfüm. . 9% 
Gonventionsfuß, Conventiondgelbd. 
— Bon E. Belder. . . . 151 
*Corpus Catholicorum, Corpus 
Evangelicorum. — Bon 6. 
Belder . 
Dänemarf. — Von Hanfen und 
Welcker.. . 155 
Dei gratia, von Gottes @naben. 
— Bon &. Velder. . . » 
* Deutfchlandse Stämme. — Bon 
Wilhelm Obermüller.. 
Deutfäre Landes » Staatsrcht. — 
Bon G. Welder. . . . 180 
Deutfcher Bun u. deutfches Bun 
desrecht. — Won C. Welder. 134 
Domänenkäufer. — V. C. Welcker. 198 
Duldung. — Bon &. v. Rotteck. 
* Dynaſtiſche Intereffen in ihrem 
BScchältniffe zum wahren, zum 
freien ober Rechteſtaat. — 


—— 7 "Bon 6. 
.. 210 


—* — Bon &. Weller. 211 
Einlommen. — Bon 8. Mathy. 212 


Eifenbahnen und Canaͤle. — Bon 
©. Welder. . . . . 214 


eifenbasn, badenſche. _ Kon e. 


—* — Bon « Mathy. 217 
*Eiſenmann, Gottfried. — Bon 
., Belder. ee 00 . 220 


— 


eite 
3 Gmncpattn der Juden. — ;on 


Geite 


C. Welder . - . 229 
Englands Etoatsverfaflung- Es. 
©. Welcker.. — 
Englands Statifit. — "Bon E. 
Belcker. 241 
Engliſches Bant- und Seeditfuftem. 
— Von K. Mathy. 
* Snregiftrement —— 
— Bon G. Fr. Kol . 244 
Gphorat , Spboren. — Ron C. 
Welcker... . 236 
Erblichkeit. — Bon W . Säulı. 
Erbrecht, Rotherbredt 334 
und teftamentarifches Erbrecht, 
Erbfolgerecht und Erbfolgeord⸗ 
nung, Legat und adideicommiß 
— Bon &. Welcker... 
Erfahrung. — Ben ©. Belder. 
* Scoreffung, Soncuffion. — Bon 
@. Welder . . 
* Erskine (Thomas, Lord). - — on 
C. Welder.. . 
— — — Bon GE. ® eleer. 
Erzie Fehirze phvſiſche. — Bon ©. 


* Eerarters (Don Baldamere)- 
— Bon 6. Welder . . 
* Eſte. — Bon &. Welder. 
* Etymologie. — 8553 Belcer. 
+ Cudamoniſsmus, Egoismus, Epi⸗ 
kuraͤismus, Individualiſsmus, zus 
naͤchſt in ſoeialer politiſcher Be⸗ 
deutung und im Verhaͤltniß zum 
Communismus. — Bon ©. 
Welder . . 
*@ubämonismus und Egoismus, 
im wsrhältnig gu ben foctaliftis 
fen und communiftifchen Theo⸗ 
rien. — Bon Abt. . 271 
+ Cunuch, Gaftrat, ‚Gaftration- — 
Bon C. Welck . 276 
Evangeliſch⸗ proteftantifihe girche 
Rheinbalerne. — Bon ©. Fr. "278 


goseikfeuen. — Bon Belder. 284 
action. — Bon E. Welder. 285 


. 268 


Seite 

* Fahne. — Bon C. Welder. ."285 

* Fahnenleben. — B.6.Welder. 286 

Finanzgeſetz. — Bon K. Mathyv. 

BI emiehexationen. — Bon K. 
t 


y . 288 
Zorftwefen. — Bon ei e d etinb. 292 
Fourier's Theorie der Geſellſchaft 297 
Frankfurt a. M. Von Dr. 

Reinganum. . 810 
Frankfurter Attentat, ſ. ——— 
Eutwidelungen und Kämpfe in 
Deutfchland und Sefnfäaften, 
geheime. 
* Srankreih. — Bon. Welder. 322 
Seeung. Katholiſche Ligue in ber 
Schweiz. — Bon ®. Schulz. 337 
Trieben, Kriebensfchläffe, befonbere 
bie wichtigften der neucften Beit. 
— Von Bild. Schulz. . . 845 
" Beudtiperre unb andere Mafres 
gein ge die Theuerung im 
Sabre 6. Wonk. Mathy. 355 
Sagern, 9. Ch. * v. — Von X. 362 
Gagern, H. W. A., Freiherr von. 
Von X. . 365 


— Bon 
* Ballicanifche Riche. Ueber bie 
neueften franzöfilchen religiöfen 
und kirchlichen Zuftänbe und Aber 
die neue franzöfifche katholiſche 
u. franzoͤſiſche neue evengelifihe 
Kirche. — Bon ©. der. 366 
* Gaſtrecht. Insbeſondere —* das 
nationale Verkehrs⸗ und Gaſt⸗ 
recht oder das nationale Buͤr⸗ 
gerrecht ber Deutihen in ben 
verfchiedenen deutichen Ländern. 
— Bon &. Welder. . 
Geld. — Bon Karl Mathy. - 
Geldumlauf. — Bon K. Mathy. 419 
* Genf. — Bon W. Schulz. . 422 
Germanifches, beutfches Recht, und 
zwar insbefonbere deutfches Pris 
batrecht. — V. Mittermaier. 430 
Serulaaften, geheime. — won 
Wilh. Schulz. . . 497 
* Sefehlicher Kortichritt. Bebingun- 
gen feiner Möglichkeit. — Won A. 441 
Gewerbe: und Fabrikweſen. — Von 
K. Matby. -» » » .. 0.45 
Glarus. — Ton W. Schulz. 468 


"Staubengfeciheit, Glaubenszwang, 

in poſitiver u. negativer Bestes 
bung, durch „chriſtl. Staat” u 

Staatslichn — Bon Abt. . 478 


. 382 


Seite 
Stüdsfpiele. — Von Kolb und 
Mathy. . 4% 
Graubündten. — Bon W. Sgulz. 494 
Griechenland (Gefchichte Neugrie⸗ 
henlande).— Bon G. Fr. Kolb. 500 
Griechenland, in ftatiftifcher Pins 
fiht. — Bon G. Fr. Kolb. . 504 
*Griechiſche u. allgem. altgriechi- 
Ihe Volksanſichten von Recht u. 
Staat. — Bon C. Welder. 506 
*Grundgeſetz, Brundvertrag, Ders 
foffung. Die Vertragsform des 
. bernunftrechtlihen oder freien - 
Staates im Gegenſatz despotiſchen 
- oder Herrenrechts und theokrati⸗ 
ſchen oder göttlihen Rechts. Die 
Gefahren ber Verkennung ber 
politiichen Wertragstheorie. Die 
frage ihrer Anwendbarkeit auf 
Deutichland und Preußen. — 
Bon ©. Welder . . . 520 
Grundfteuer. — Bon K. Mathy. 592 
* Gültigkeit, abfolute des Beftehen- 
den. Freiheit der öffentlichen Mei⸗ 
nung und Kritik in Bezug. auf 
daffelbe. — Bon Abt. -. . 
"Qalpot, Erangoit. — Ron ®. 


lz. 

* Guizot's politiſche Doctrinen. — 
Bon Scheidbler. . . . 

* Habsburger u. ihre Politik, mit 
befonderer Ruͤckſicht auf Deutſch⸗ 
land. — Bon K. Hagen. . 619 

* Hambacher Feſt. — Blutige Er⸗ 
eigniffe am Zahrestage befjelben 
zu Hambach und Neuflabt an 

der Haardt. — Die Landauer 
Aſſiſe. .. . 646 

Hamburg. — Bon ©. $. Burm. 671 

* Hampden, Sohn. Gefeglicher Wis 
derfland. — Bon E. Welder. 690 

* Handel. — Bon Karl Mathy. 704 

Handelsgerichte. — Bon Mitters 


maier. . . . 712 
* dendweree und Arbeitervereine. 


Dannover. — Bon ©. Welder. Tal 
* Hegel. Neuhegelianer oder bie 
neueften Entwicelungen ber He⸗ 
gel'ſchen Philofophie und Schule 
in ihren Beziehangen zu dem 
 Öffentlihen Leben der Gegens 
wart feit ben Legtverfloffenen fie 
ben oder acht Jahren. — Bon 
6 Heibler. .. .740 


© Hitiasmus, Zaufendjiähriges Rei. — Chiliasmus bes 
zeichnet dem Wortlaute nad) den Glauben an ein taufend Jahre lang 
dauerndes Reich voll Freude und Genuß, das der Meffias bier auf Er» 
den fliften werde. Die Anfhaumg der troftlofen beftehenden Zuftände, 
verbunden mit einer dunklen Ahnung von der Beflimmung der Menfdy: 
heit und einem Gefühle, daß ein Zuftand, in welchem die Menfchheit als Mit- 
tel für die Zwecke und Intereffen einzelner Pripilegirter gebraucht wird, der 
Ihre der Menfchheit nicht entfprechen koͤnne, erweckte faft in jeden Volke 
ben Glauben an eine Zukunft, in welcher alles Uebel aufhöre und an 
feine Stelle lauter Herrlichbeit und Freude treten werde. Beſonders war 
die üppige Phantafie der Orientalen geſchaͤftig, diefen Zufland des Wohl: 
lebens und der Behaglichkeit auf eine wahrhaft abenteuerlihe Weife aus: 
zumalen. Unter dem Einfluß perfifcher, alerandeinifcher, neuplatonifcher 
‚Religionsphilofophte Hatte jener Glaube auch im Judenthum Eingang 
gefunden, wurde befonders durch die Propheten angeregt, vermifchte fich 
mis der Meffiasidee und wurde durch das grenzenlofe Nationalunglüd 
bes Volkes befonders zuc Zeit Jefu zur fieberhaften Erwartung gefteigert, 
bie um fo ausfchweifender war, je mehr der damalige Zuftand mit jener 
Hoffnung contraſtirte. Diefe wie alle religiöfen Vorftellungen der Maffe 
mar Übrigens fehr finnlicher Natur, mußte viel von den taufend und 
aber taufend Millionen Eimern Wein und Scheffeln Kom zu erzählen, 
welche dann jeder Rebſtock, jede Achre hervorbringen werde, und bes 
ſchrieb fehr umftändlicy, wie fi eine neue Stadt Serufalem vom Him- 
mel herablaffen werde, um ben Gläubigen zu einem Aufenthaltsort zu 
dienen, in welchem bdiefe dann taufend Jahre lang ein paradiefifches 
Schiaraffenleben führen dürfen. j 
Da Peine welthiftorifche Erfcheinung, am wenigſten auf geiftigem 
Gebiete, zuſammenhangoilos in's Leben eintritt, fo nahm aud das Chri- 
ftenthHum unter vielen andern auch diefe juͤdiſche Vorſtellung mit in bie 
neue Aera herüber. Es ift übrigens hier nicht der Ort, die chiliaflifchen 
Zedumereien dogmengefchichtlic) zu verfolgen, denn es genügt an ber 
Bemerkung, dab der Glaube an's taufendjährige Reich in ben erften 
oo: 1 


4 Chiliasmus. 


Jahrhunderten, wenn auch von Einzelnen angefochten, doch noch ortho⸗ 
dox war. Spaͤter wurde er jedoch fuͤr ketzeriſch erklaͤrt und erloſch nach 
und nach, je mehr die chriſtliche Staatskirche des Mittelalters durch Ce⸗ 
remonien⸗Cult die Religion entinnerlichte und zu einer mechaniſchen 
Uebung gewiſſer Gebräuche und zur entmenfchenden Niederdruͤckung der 
Freiheit bes individuellen religiäfen Gefühle entweihte. Die Reformation 
gab, der Xheorie nach, dem religiöfen Gefühl einen Theil diefer Freiheit 
zurüd und damit das Zeichen zur Rückkehr einer Intenſivitaͤt, die jedoch, 
durch gehörige Aufklärung und Bildung des Verftandes nicht im Zaume 
gehalten, das vernünftige Maß bald überfchritt und in eine Gefühle: 
ſchwelgerei ausartete, zu deren Hauptbeftandtheilen chiliaftifche Traͤume⸗ 
teien gehörten. Das 17. Jahrhundert war reich an ſolchen Secten, die 
bauptfächlich durch die fogenannte Offenbarung Johannis genährt wur⸗ 
den. Befonders war das heutige Land der Amtsehre ein Hauptherd fol» 
her religiöfen Parteien. Bengel ftiftete fogar eine eigene Schule ber 
Apokalyptiker, indem er den Chiliasmus in feiner Art wiſſenſchaftlich 
tractirte. So ift heutigen Tages noch in jenem Lande ein großer Theil 
des Stadt» und Landvolks dem Glauben an das taufendjährige Reich 
verfallen. Faſt in jeder Stadt und in fehr vielen Dörfern findet fich 
ein Bruder Schnaufer, oder ein Vater Schrade, oder ein frommer Pfaffe 
aus. der. Secte der Pietiften, der in den Abendftunden feine Schäflein 
um fid verfammelt, um ihnen von ben Freuden des taufendjährigen 
Reiches zu erzählen und, die „Offenbarung Sohannis” in der Hand, 
von dem neuen Serufalem zu ſchwaͤrmen, und biefer -Umftand iſt bie 
Hauptveranlaffung zue Bearbeitung biefes Stoffes im Staatslexikon. 

Die verderblichen Wirkungen einer folchen Krankheit des religioͤſen 
Gefühle in einem Wolfe werden gewiß fehr einleuchtend fein. Eim 
Dhantafieblirger des taufendjährigen Meiches wirb ſchwerlich großen Ans 
theil an den Schmerzen und Intereffen feines wirklichen Vaterlandes 
nehmen. Leute, die auf das taufendjährige Reich warten, werden für 
die Entwidelung der bürgerlichen Freiheit in ihrem irdifchen Staate fehr 
unempfänglich fein, und wie es denn zu allen Zeiten fid) erwiefen hat, 
daß gute Himmelsbürger felten gute Erbenbürger waren, fo ift auch bie 
unausbleibliche Folge jener religisfen Gefühlskrankheit eine troſtloſe 
politifche Lethargie, Untauglichkeit für jede künftige Schilberhebung und 
ein Stumpffinn, ber das Volt im Nachbarftaate bei einer hereinbrechen⸗ 
ben Krifis gleichgiltig und theilnahmlos abfchlachten ließe zur Aufrechthal⸗ 
tung mittelalterlicher Inſtitute und Intereſſen. 

Kragen wir aber nach den Urfachen jener monftröfen Erfcheinung 
in MWürtemberg,, fo find fie im Allgemeinen auf bie Natur eines ein: 
feitigen religioͤſen Gefühle zurüczuführen, das, an ſich fhon das We⸗ 
fen des Menfchen außerhalb der Menfchheit fegend, nur gar zu leicht 
auf uͤberſchwengliche, ſinnlich⸗ myftifche Ausfchweifungen der Phantafie 
verfaͤllt, wenn ed durch geiftige Bildung nicht geldutert und der ſchwaͤr⸗ 
merifche Volkscharakter ohnehin einer ſolchen Richtung geneigt ifl. — 
Dazu kommt der traurige Zufland der Wolköbelehrung und Schulbil⸗ 


Chiliasmus 5 


dung. Wenn das Volt Jahr aus Jahr ein Feine andere geiftige Speiſe 
erhält als pietiftifche oder rationaliſtiſch⸗homiletiſches Gefalbaber von 
den Kanzeln herab, oder Volksſchriften, welche bie Senfur eines groͤßten⸗ 
theil® aus Beamten und Prieſtern beftehenden Volksſchriftenvereins paſ⸗ 
firt haben muͤſſen, und wenn die Schulen, ftatt Tempel der Aufklärung 
su fein, wo eine vernünftige Weltanfchauung gelehrt wird, fpftematifche 
Bollsverdammungsanftalten find, wo der Verſtand Fünftiger Staatebürs 
ger durch mechanifches Auswendiglernen biblifher Sprüde und pietifli« 
fcher Lieder ertödtet und in andern Disciplinen hoͤchſtens dreſſirt wird; 
wenn ferner die verrückten Bifionen eines neuplatonifhen Schwaͤrmers 
unter dem Titel „Offenbarung Johannis“ zum Volle» und Schulbuch 
gemacht find, dann iſt Wien Wunder, wenn das reltgidfe Gefühl des 
Volkes auf gefährliche Abwege geräth. 

Hand in Hand mit diefer Urfache geht die Beguͤnſtigung ber unter 
dem Namen Pietiften dem Miniſter des Innern zwar nicht gerade ges 
nehmen, aber mit dem ganzen politifhen Syſtem fehr innig verbundenen 
und verwebten proteftantifchen Jeſuiten. Wie der Fefuitismus, fo ift 
ber Pietismus nichte Anderes als Reaction ber Kirche gegen das Princip 
der Slaubensfreiheit/ die freilich nur theoretifch im Proteftantismus aus: 
gefprochen iſt; der Pietismus ift das confequente Fefthalten am Bes 
geiffe der Kirche im Gegenfag zur Veredelung und Aufklärung des relis 
aidfen Gefühle. Aufrechthaltung der Kirche als Imangsanftalt für bie 
Freiheit des religiöfen Gefühle des Einzelnen, zu herrſchen im Namen 
Gottes und ber Religion über die Herzen und Beutel ber Gläubigen 
iſt feine Tendenz, Sucht vor dem Verfiegen der in der Religionsbornirt= 
beit reichlich fließenden Quellen der Einnahmen feine Mutter, Befiser: 
greifung bes Volksunterrichts in Kirche und Schule fein Mittel, und 
in fofern find die Pietiften mwefentlich nichts Anderes als Zefuiten inner: 
halb der proteflantifchen Kirche. Solchem Volk ift es dann freilidy lie 
ber, wenn der Bauer in ber „Offenbarung Johannis“ Lieft, als wenn 
er die Zeitung vornimmt oder bie Verfaffungsurkunde; lieber, wenn ber 
Bürger ein taufendjähriges Reich conftruirt, als wenn er an die Ber: 
vollkommnung des gegenwärtigen Reichs denkt; lieber, wenn das Land» 
volk feinen Blick nad) ben fabelhaften Regionen bes neuen Serufalems: 
Staats vichtet und in Erwartung der kommenden Herrlichkeiten für bie 
geiftigen Intereſſen biefes Lebens abgeftumpft wird, al6 wenn es mit dem 
Zuftande des Vaterlandes fich befchäftigt — und dies mag zugleich ans 
deuten, warum die Pietiften fich hoher Protectionen erfreuen und unge: 
ftört ihre flantsgefährliche Wirkſamkeit ausbreiten dürfen. 

Begünftigt und genährt wird ferner jene mpftifche Richtung eben» 
falls durch die traurigen Zuftände bes Landes und das troftlofe National» 
ungluͤck, das zwar nicht unmittelbar, aber boch in feinen Confequenzen 
und Wirkungen vom Wolle gefühlt wird. Ein Volt — entbehrend 
aller ſtaatsbuͤrgerlichen Sreiheiten in Zinfterniß "und geiftiger Nacht er: 
halten durch die Genfur, bevormundet und geplagt durch Die Polizei, ges 
richtet im geheimer Amtsſtube durch Iebenslänglich angeſtellte koͤnigliche 


6 Chiliasmus. 


Diener, preisgegeben den Beamten, wehrlos durch das Straf⸗ und 
Amtsehtebeleidigungsgeſetz, gegängelt an dem Zwangsbande der Kirche 
duch fanatifche Priefter faft in jedem Bauerndorfe, in feinen Finanzen 
zerrüttet durch eine glänzende Beftellung des Fiscus, duch ein koſtbares 
Regierungsſyſtem, flehendes Heer, Befolbungen und Penfionen, deshalb 
geößtentheil6 anheimgefallen einem kaum geahnten Pauperismus — ein 
folhes Volk mag allerdings Erſatz fuchen im Meiche der Phantaſie, 
welche ihm, wie den Reifenden in der Wüfte Sahara, mitten im Sands 
meer der traurigen Wirklichkeit Iuflige Onfen mit fpringenden Quellen 
und lachendem Grün vorfpiegelt. — 

“ Außer dem kirchlichen giebt es aber gewiffermaßen auch noch einen 
fociaten Chilingmus und er ift das zweite Moment für diefe Darftellung 
im Staatsleriton. Unter ben verfchtedenen Schriftftelleen, welche fett . 
dem: großen franzöfifchen Volksgericht über das Königehum fich mit der 
focialen Frage und Organiſation der vernünftigen Geſellſchaft befchäftis 
gen, ift e8 beſonders Fourier, der in Aufflellung feines Spftems feiner 
Phantaſie auf wahrhaft abenteuerliche Weife die Zügel ſchießen ließ. 
Wenn eine gewiffe Periode der ſocialen Entwicklung eingetreten fein 
wird, dann wird nach Fourier „der Erbball bis zum 609 N. Br. von 
Menſchenhand bebaut fein und die Nordlichtkrone, ein Meteor in Korm 
eines feurigen Ringes, wird fid in ihren mächtigen Wirkungen auf bie 
Begetation zeigen. Am Nordpool werden Drangen machen, das Eis 
wird fehmelzen und die mwüfteften Gegenden werden in Paradiefe ver» 
wandelt: Die Lichtkrone des Morbpols wird den Geſchmack des Meer⸗ 
waſſers gaͤnzlich verändern, e8 in Limonade verwandeln. Die ſchaͤdlichen 
Creaturen werden durch ein Boreal⸗Fluidum getoͤdtet werden; an die 
Stelle der Legionen ſcheußlicher Meerungeheuer treten viele dienſtbare 
Amphibien, zum Transport der Schiffe nuͤtzlich und fuͤr die Fiſcherei. 
Alles waͤchſt rieſenhaft; Kartoffeln ſo groß wie Melonen; Kuͤrbiſſe zwoͤlf 
Fuß hoch; der Menſch wird acht Fuß groß und lebt 144 Jahre, wird 
400 Pfund ſchwer und verzehrt taͤglich 33 Pfund Nahrungsmittel. 
Jede Frau hat einen Gemahl, von dem fie zwei Kinder; einen Erzeuger, 
von dem fie ein Kind befigt; einen Geliebten, der den Anſpruch auf 
feine Stellung nicht verliert; und mehrere einfache Beſitzer, Die jeboch 
- Beinen gefeglihen Anfpruc auf fie machen koͤnnen. Das Thier der 
Apokalypſe erfteht in der Antigiraffe, bie Sahara wird erobert und fchiffe 
bar.” Dieſe reizende Schilderung ift nun allerdings fehr abentewerlidh, 
alfein ihrer phantaftifhen Erteavaganzen entkleidet birgt fie eine tiefe 
Wahrheit. Wenn emft alle Hinderniffe meggerdumt fein werben, bie, 
keineswegs durch das Weſen des Menfchen bedingt, bis jest noch die 
Möglichkeit abfchneiden , daß jeder Einzelne Menfch ſei; wenn Inflitute 
und Begriffe verſchwunden find, die auf Koften der Gefammtheit Einzelne 
mit unverhältnigmäßiger Gewalt und dem Mitteln zu einem menſchlichen 
Dafein ausfchließlich verfehen; wenn der Wille der Gefammtheit nicht 
mehr geknechtet ift duch Mächte und Gewalten, die unabhängig von 
ihe entſtehen und beſtehen; wenn des Menſchen veligiöfes Gefühl frei 


CEhriſtlicher Staat. 7 


iſt und frei feine Thaͤtigkeit, wenn alle Staatsanſtalten und alle Kräfte 
zus Veredlung dee Menfchheit und zu ihrer Entwicklung benugt werden, 
flott daß fie gegenwärtig nur im Dienfte der Unfreiheit und einer uns 
voltsthämlichen Gewalt find; wenn wir einft die große That des Selbfls 
bewußtfeins der Nationen bintee uns haben, durch welche fie erklären, 
von nun an Ihre Angelegenheiten nur nach ihrem Beduͤrfniß und nicht 
mehr nach den Intereffen und dee Willkuͤr einzelner vom Zufall begüns 
fligtee Dynaſten des politiſchen, kirchlichen und gelöfichen Abſolutismus 
zu ordnen; wenn Alles dies gefchehen fein wird — und gefchehen wird 
und muß es, fo wahr die zum Selbſtbewußtſein erwachte Gefammtheit 
mädhtiger ift als ihre Bormünder — dann allerdings wird ein Zuſtand 
eintreten, von dem die Mehrzahl faſt nody Feine Ahnung hat: Der 
größte Theil der Uebel und des Ungluͤcks, gegenwärtig confequente Fol⸗ 
gen eines heillofen, corrumpirten ſochalen Zuftandes, den man Staat zw . 
nennen beliebt, wird verfchwinden, die Mehrzahl ber Verbrechen, gegen: 
wärtig hervorgehenb aus dem Elend und der Barbarei, worin ein großer 
Theil des Volkes fuftematifch erhalten wird, wird aufhören, Sorge und 
Kummer und mit ihnen viele Krankheiten werden unbekannt werden, Die 
Menſchheit wird nur thätig fein, um die Menfchen gluͤcklich zu mahen, 
Arbeit wird Jedermann Genuß fein, jeder Menſch wird der Stempel 
der Goͤttlichkeit an ſich tragen und, um mit einem alten, faft möchte 
ich fagen ahnungevollen Bilde zu fprehen, „Gottes Ebenbilb” Tem. — 
t 


Chriſtlicher Staat, chriſtlich-germaniſches Staats: 
recht. Schon lange, ehe der Artikel Chriſtenthum geſchrieben wurde, 
fhon feit 1816, hielt fein Verfaſſer an den Hochſchulen zu Heidelberg 
und Bonn Vorleſungen über das hriftlih:germanife Staats» 
recht und wurde mit ausdrüdlicher Wahl diefes Namens für daffelbe 
nad; Freiburg berufen. Ich entwidelte in diefen Vorleſungen im 
Weſentlichen ganz diefelben Grundfäge, wie fie bie Artikel Ehr iſte n⸗ 
thum, Deutfhe Staatsgefhichte, Deutfches Landesſtaats⸗ 
recht und Berfaffung enthalten. Etwaiger Zabel, vielleicht fogar 
einiger Spott von manchen Liberalen über die Idee eines chriſtlich⸗ 
germanifcen Staatsrechts konnte mid) in meinen wohlgeprüften Ueber» 
zeugungen nicht irre mahen. Wohl aber hätten mich beinahe die vielen 
Zuftimmenden, welche wenigſtens im Namen und in ber Ableitung 
des Staatsrechts aus chrifllichen und germanifchen Grundlagen mit mit 
übereinzulommen fchienen, von meinem chriftlich»germanifchen Stante- 
recht zuruͤckſchtecken koͤnnen. Die bekannten Theorien eines Haller, 
Bonald, Maiſtre, Friedrih Schlegel, eines Maurenbrecher, 
Stahl, Matthät, welhe die Srundbebingungen jedes rechtlichen und 
freien Staatslebene, die Glaubens: und bürgerliche Sreiheit, überfahen 
und zerflörten und unter jenen ehrmwürdigen Namen mehr ober minder 
die, tie man glaubte, veralteten bdespotifchen Theorien der Stuarte 
und Bourbone, bie Theorien des Kilmer, Wandal und Salmas 
fius von dem göttlihen Recht und von der fauſtrechtlichen 


8 | Shriftlicher Staat. 


abfoluten Gewalt der Könige wiedererweckten — fie nahmen wirk⸗ 
lich um fo mehr, je mehr fie Begünfligung und Einfluß bei den Mäch: 
tigen erhielten, die Freiheitsfreunde gegen Chriſtenthum und Deutfchthum 
ein. Hatte ja Überhaupt ber Mißbrauch der chriftlichen Religion für 
geiftige und bürgerliche Verdummung und Unterbrüdung Millionen mit 
Boltaire zu Feinden der Meligion felbft gemacht! Ebenfo macht aud) 
heute der ähnliche freiheitsfeindlihe Mißbrauch des biftorifchen, des 
angeblih hriftlihen und deutſchen Rechts viele Zaufende zu bittern 
Gegnern nicht nur des Mißbrauchs nein, der mißbrauchten ehrenwer⸗ 
then Segenflände felbft; ganz aͤhnlich wie ja auch die einfeltigen (blos 
verneinenden oder abftracten) Richtungen des Rationalismus und eines 
gewifien Liberaliemus, des Kant'ſchen und neuhegel’fchen Kormalismus, 
die Hiftorifchen- und bie Srommen zu Seinden der Vernunft umd 
der Freiheit gemacht hatten, oder abenfo wie Anarchie und Jacobinismus 
Diele gegen Freiheit und felbftfländiges Volksrecht einnahmen, oder wie 
umgekehrt neuerlidy ber despotifche Mißbrauch des fogenannten monar- 
hifhen Princips für die Monarchie ftets zahlreichere und gefährli- 
here Gegner erweckt. Dieſes Alles iſt nur allzu natürlich, da menſch⸗ 
liche Schwäche faft überall im Gebiete der Freiheit den Mißbrauch mit 
dem mißbrauchten Gegenftand verwechfelt und von einem einfeitigen Aeu⸗ 
Berften zu dem entgegengefegten fi wendet. Es follte mid) baher auch 
im Mindeften nicht wundern, wenn diefelben frommen Leute, welche jegt 
noch burdy den Mißbrauch des Chriftenthums für feudalariſtokratiſche, 
jefuitifhe und despotifche Verdummung und Unterdrüdung des Volks zu 
wirken fuchen, durch einen täglich gefährlicher werbenben ent 
gegengefegten Mißbrauch deſſelben Chriftenthums für communiftifche 
und. revolutionäre Anfeindung und Zerftörung der Throne und der 
wefentlichften Grundlagen freier gefitteter Staaten zur Anfeindung des 
Chriſtenthums felbft ſich beftimmen ließen. Die Aufgabe für eine wahr⸗ 
haft gründliche und praktiſche Stantsweisheit aber bleibt es, ‘den Blick 
und die Richtung von folcher Einfeitigkeit möglihft frei zu halten und 
ohne eine falfche (principlofe und ſynkretiſtiſche) Wermifchung das Wahre 
und die rechte Vermittlung zu finden. Mögen in den natürlichen leben» 
digen Kämpfen, Schwankungen und Fortfchritten des Staatsſchiffes auf 
dem großen Entwicklungsſtrome der Menfchheit aud) viele der bewegen: 
den Kräfte und Gegenträfte ohne Bewußtſein für das rechte Gleichge⸗ 
wicht und den rechten Gang des Schiffes wirken, den Fuͤhrern unb 
Leitern der Fahrt ziemt es, mit klarem Bewußtſein das Ziel, bie rechte 
Bahn, die Srunbgefege des Ganges, die nothmendigen und bie verberb- 
lihen Wirfungen und Begenwirkungen jener Kräfte herauszufinden und 
zu berechnen. Sie follen — keine falſchen Scheine ſich irren laſſen. 

Die Ergebniſſe, die ich in ſolchem Streben in Beziehung auf die 
Grundfaͤtze des Rechts und der Politik unferer deutfchen Staaten zu« 
gleich philoſophiſch oder aus ber Vernunft und hiſtoriſch⸗philo⸗ 
fopbifch aus den chrifllichen, alterthümlichen und germanifchen Grund» 
ideen des menfchlichen und gefelfchaftlichen Lebens entwidelte und in ben 


Chriſtlicher Staat. 9 


eltirten Artikeln, überhaupt in allen meinen Artikeln des Staatsleris 
ons, niederlegte,, find mir durch Leine einfeitigen Leibenfchaften und 
entgegengefegten fchriftflellerifchen und Parteirichtungen unferer vielbes 
wegten Zeiten irgend erfchüttert oder verleidet morden. Aber ich mißbillige 
und befämpfe mit allen meinen Kräften meine fcheinbaren, falfchen 
Bundesgenoffen, jene zuvor ſchon angebeuteten angeblich hriftlichen und 
germanifchen Stantslehren, welche im bemußten oder unbewußten leiden» 
fhaftlihen oder feilen Dienſte der Anhänger und Knechte beftehender 
Mißbraͤuche und fehlechter Gewohnheiten, im Dienfte der Gegner ber 
Freiheit und der freien vernünftigen Entwidiung, zum Schaden der 
Ehre und Bluͤthe des Waterlandes, ihr verkehrtes und fünbhaftes Wirken 
durch den falfchen Schein der Chrifttichkeit ober der wahren Deutfchheit 
zu befchönigen und fo ſchwache Zürften und Voͤlker zu täufchen fuchen. 
Sch haſſe ſolche Werkehrtheit und ebenfo dem Mißbrauch des Chriften- 
thums für commumniftifche Untergrabung der mwefentlichen Grundlagen der 
Gefittung und für revolutionäre Pöbelherrfchaft.e Ich haſſe fie doppelt 
deshalb, weil fie gerade das mir Heiligfte und Ehrwuͤrdigſte mißbraucht, 
verunftaltet und gehäffig macht und well fie gerade ber höchften Aufgabe 
und der Grundbedingung des Heil6 meines Vaterlandes entgegenwirkt. 

Der fpätere Artikel Rechts⸗ und Staatslehre wird fi bes 
muͤhen, die wahren, bie praßtifchen hiftorifch » philofophifchen,, zugleich 
vernünftigen und zugleich chriſtlich⸗ germanifchen Grundfäge des Rechts 
und Staats zufammenhängender und deutlicher, als es mir vielleicht bie 
jest gelang, darzulegen und babei dann auch bie Hauptirrthuͤmer ber bes 
deutenderen abmweichenden Theorien nachzumeifen. 

Im gegenwärtigen Artikel fei es erlaubt, nur kurz die Hauptur⸗ 
fachen zu bezeichnen, welche in der Staatslehre, diefer wichtigften Wiſſen⸗ 
ſchaft unferer heutigen politifchen Meformzeit, zu Abwegen und nament- 
lich dahin führten, daB man die chriftlihen und germaniſchen Grundfäge 
fätfchlich als der wahren Freiheit feindfelig hielt oder darftellte. Dadurch 
werden dann mittelbar auch die wichtigſten Richtpunkte für die Erfor⸗ 
fhung der wahren Lehren und die Beſtaͤtigung der im voranftehenden 
Artikel entwidelten wahrhaft liberalen chriftlihen Srundideen für Recht 
und Staat gegeben fein. . 

Man faßte nämlich, die Rechts⸗ und Staatslehre nicht in bem 
rihtigen Verhältniß zu der Geſammtheit unferer heuti:> 
gen ganzen Eultur und unferes ganzen höheren Menſchen⸗ 
Lebens auf. Diefes rührte vorzüglich daher, daß überhaupt bei der 
nothwendigen Theilung der Arbeit für unfere große Gefammtaufgabe, 
vollends aber wegen unferer zerriffenen unpolitifchen deutfhen Verhaͤlt⸗ 
niſſe, die Fachgelehrten, Juriſten, Theologen, Philoſophen, Hiftoriker 
und hinwiederum die Bearbeiter der griechiſchen, roͤmiſchen, deutſchen 
Geſchichte, oft auch die verſchiedenen Staͤnde, Ariſtokraten, Buͤrger, Be⸗ 
amten, die politiſchen oder gemeinfamen Geſetze für das ganze ges 
meinfchaftliche Geſellſchaftsleben allein nur nad den beſchraͤnk⸗ 
ten Geſichtspunkten ihres defonderen Standpuntts und Hands 


/ 


ro | Chriftlicher Staat. 


werds auffaßten. Eine reichere Quelle der Verkehrtheiten und Miß⸗ 
verftändniffe in unferem deutfchen Leben und Wiffen giebt es nicht. Nur 
das täglich größere Iebendige Verbinden und Verſchmelzen aller Theile 
und Seiten unferer Cultur, aller Claſſen und Stände zu einem leben» 
digen Staate, alfo zu einem zwar organifch gegliederten , aber nicht 
mechaniſch und kaſtenmaͤßig zerriffenen Volk, die Vereinigung zu einem ges 
funden ®emeinleben und das lebendige Bemußtfein und®es 
meingefühl für biefes Ganze in allen Gliedern, nur fie werden 
diefe Einfeitigkeiten mindern und fie als mitleidenswerth erkennen laſſen. 

Die allgemeinften und verderblichften Einfeitigkeiten in ber Auf: 
faſſung unſerer Staatslehre rüdfichtlih ihres Verhaͤltniſſes zu unferer 
gefammten Cultur find aber vorzüglich die folgenden: 

1. Man vergaß, daB der Staat, als der freie Organismus 
des fortfchreitenden Gefammtlebens ober der Gefammtcultur 
der Nation, daß alfo auch feine Gefeggebung und Theorie alle Eles 
mente bdiefes Lebens und diefe Elemente in ihrem organifhen Vers 
bältniß in fidh aufnehmen müffen, fo wie diefeß oben (Bd. I. ©. 42. 
ff. 54 ff.) und im Artikel Deutfche Staatsgefchichte nachgewiefen 
wird, daß mithin jede Staatslehre einfeitig, falfch und verberblich wird, 
welche (fo wie bie oben I. &. 37 ff. genannten) nur einzelne Elemente, 
die philofophifchen, veligiöfen, biftorifchen oder pofitiv juciftifchen, bie 
ibealen, die materialen u. ſ. w. gar nicht oder nicht in ihrem richtigen 
grundgefeglichen Verhaͤltniß auffaßt. (I. ©. 45. 53.) 

1) Es war baher nur ein einfeitiger Hanbmerksgefichtöpunft, menn 
die Schulphilofophen, wenn die Rationaliften in der Staatstheorie 
nur ihre einfeitigen indivibuell=philofophifchen Abflractionen und meta: 
phyſiſchen Anſchauungen, nicht auch die religiöfen und fonftigen hiftori- 
ſchen' Elemente des Volkslebens und die auch in ihnen lebenden vers 
nünftigen Anfchauungen und Grundbfäge beachteten, aufnahmen, ober 
fie blos willkürlich behandelten, auswählten und unterordneten. 

2) Es war gleich einfeitig, wenn die Piflorifhen, fo wie alle 
Berfaffer jener hriftlih:germanifhen Staatsrechtstheo⸗ 
rien, alle freie felbfiftändige Philoſophie und ihre Geltung in 
vernünftiger oder rationaliftifcher Prüfung und in der Fortbildung aus: 
ſchloſſen ober doch philofophifche Grundfäge nur willkuͤrlich ausmählten, 
behandelten, unterordneten. Es hat insbefondere Earove:in feiner Schrift: 
Ueber das fogenannte germanifche und das fogenannte 
hriftlihde Stantsprincipmit befondererBeziebungaufMau: 
venbredher, Stahblund Matthäi. Siegen und Wiesbaden 1843, 
gruͤndlich nachgewiefen, daß bie Theorien felbft der beften bisherigen Schrift⸗ 
ſteller über das chriftliche Staatsrecht, daß bie von Stahl !), Matthai?) 


1) Die Philofophie des Redts nad sefhicdhtlicher Anſicht 
von Fr. 3. Stahl. I. 1830. II, 1. 1833. II, 2. 1837. Die beiden letzten 
Theile führen audy den Zitel: Ghriftlide Rech to⸗— und Staatslehre. 

2) Die Macht und Würde des Fuͤrſten auf chriſtlichem Stand— 
punkte, von Dr. G. © R. Matthaͤi. Leipzig 1841. 


Ehriſtlicher Staat. | 11 


ebenforoie bie Theorie von Maurenbreder?) durch die principlofe Einmi⸗ 
fhung philofophifcher Säge in ihre unmittelbar religids aus der Bibel 
oder aus einzelnen voräbergehenden hiftorifhen Erſcheinungen ohne Philee 
fophie begründeten Staatslehren haltlos und durch fortlaufende unauf⸗ 
loͤsliche Widerſpruͤche verunftaltet und unanwendbar wurden. Gleiches 
ift überall da der Kal, wo die Anhänger des göttlichen Rechts der Herr⸗ 
ſchergewalt ſich fehämten, in einen fo unerträglihen und abfchredienden 
feindlichen Gegenfag mit jedem Begriff von bürgerlicher Freiheit, mit ber 
Cultur und der Geſchichte und mit dem Lebensbedürfniß aller edleren 
Nationen zu kommen, daß fie, fo wie e8 am Folgerichtigften Hugo und 
der Graf Maiftre nach dem Vorbild des neueften ruffifchen und türkis 
ſchen Staatsſyſtems thaten, alle Sreiheit und Buͤrgerwuͤrde der koͤrperlich 
und geiſtig leibeigenen Unterthanen der abſoluteſten grenzenloſeſten Will⸗ 
tür eines ſchwachen Sterblichen, eines religloͤſen und weltlichen unfehl⸗ 
an göttlihen Statthalters, des Czaren oder Padiſcha, überliefert 
hatten. 


3) Es war gleich einfeltig, wenn andere Staatstheorien nur eins 
zelne Seiten unſeres Hiftorifchen Culturlebens beachteten, gleichviel ob 
ohne alle Verbindung mit dent freien philofophifchen Element oder mit 
demfelben. Unfer ganzes gegenmwärtiges höheres oder Culturleben 
beruht einmal auf der unzertrennlichen Verſchmelzung des Chriſtenthums 
und des claffifchen Alterthums mit unferer germanifhen Nationalität, 
und die größten eigenthümlichen Vorzüge diefes dreifachen Culturelements 
find in ihrer richtigen harmonifchen Vereinigung fo groß und unerfeglic), 
alfe drei Elemente find fo vortheilhafte ſich gegenfeitig ergänzende und 
unterflügende Beſtandtheile unferer heutigen Gultur und des von der 
Bernunft gebilligten Ideals für unfer Staatsleben, daß, felbit wenn 
wir koͤnnten, wir doc Feinen dieſer Lebensbeftandtheile mit feinen 
lebendigen Wurzeln aus unferem Leben herausreißen und ausrotten 
dürften. Ob die Vorfehung uns je andere, beffere Religion und vers 
nünftigere und herrlichere praktifche Grundſaͤtze als bie bes Chriftenthums 
geben wird, dies koͤnnen wir bahingeftellt fein laffen. Aber das weiß 
ich, daß jedes Syſtem, was Philofophen aller Art, was Materialiften, 
Unchriften und Atheiften bisher an deffen Stelle fegen wollten, um fo 
mehr als jammervolle Einfeitigkeit und Stümperei erfcheint, je gründs 
lichee man es mit bem ganzen Menſchen⸗ und Staatsleben, mit all 
ihren verfchiedenartigen Forderungen, Beduͤrfniſſen und Aufgaben und 
fodann mit der Tiefe und Altfeitigkeit des Chriftenthums vergleicht. Und 
gleich gewiß iſt es mir, daß, fo lange bis etwa jene beffere Religion ges 
“geben wäre, alles Bemühen, die Nation vom Chriftenthum loszureißen, 


3) Deutſches Staafsreht von Dr. Romeo Maurenbreder und 
reihen regierenden Kürften und ihre Souverainetät. 


1 Chriſtlicher Staat. 


fi) immer aufs Neue als durchaus verfehlt und eitel (alfo auch ale 
ungefährlich erweifen wird. Auch huldigen ja unbewußt alle philofos 
phiſchen Syſteme, die bisher auch nur einige praftifche Zuſtimmung in 
dee Nation fanden, eben ſowohl den 'chriftlihen als alterthuͤmlichen und 
germanifchen Grundideen, welche nun einmal ebenfo unfere geiftige 
Lebensluft bilden und auf unſer geiftiges Leben einwirken, wie die uns 
umgebende phyſiſche Atmofphäre unfer phufifches Leben beſtimmt. Wir 
fragen alfo die Gegner des Chriftenthums und überhaupt der gefchicht- 
lichen Beftandtheile unferes Staats und Eulturlebens: halten fie es denn 
nun eines wahren praßtifhen Weifen würdiger, über die Quellen und 
Beitandtheile feines Syſtems im Dunkel und in Taͤuſchung zu verhars 
ren, al& fie mit bewußter Klacheit in ihrem richtigen inneren 
Weſen und in ihrem rehten, vernunftgemäßen, greundge: 
feglihen Verhältniß aufzufaffen und zu geftalten ? 

I. Man vergaß aber auch geoßentheile, daß bie Gefeggebung 
des Staatslebens die Sefeggebung eines Freien, aus freien Perfonen 
sufammengefesgten lebendigen oder organifhen Ganzen if. Man 
vergaß, daß fie als folche, als Geſetzgebung für alle diefe freien per: 
ſoͤnlichen Slieder, für ihr gemeinfames, aber freies Zuſammenwirken, 
diefe Freiheit und mithin das freie Zufammenftlimmen in dem 
gemeinfamen Beleg für ihre Seundbedingung und Grundform, 
daß fie hiermit Außerlih allgemein erkennbare und allgemein 
- gültige Friedens» oder Rechtsformen anerkennm und. heilig hal⸗ 
ten muß. 

Hierauf nun gründet fih jene objective analytifche Entwides 
lung der Staatögefege aus dem ganzen geiſtig⸗ſittlichen Cultur⸗ und 
Gefammtieben, aus ber Vernunft nicht blos des einzelnen Indivi⸗ 
duums, fondern aus der Vernunft des Volle, jene Entwidelung, welche 
oben (I. &. 85 u. 46) bezeichnet wurde. Hierauf gründet fi auch 
der Vorwurf der Einfeitigkeit, Werkehrtheit und praktiſchen Untauglichkeit 
aller derjenigen Staatstheorten, welche nicht von der Aner⸗ 
kennung jener Grundbedingung und Grundform und nicht von dem 
Streben ausgehen, biefelbe auch in ber Durchführung vermittelft der 
wahrhaft freien, lebendigen Verfaſſung, ſowie in ber erſten objectiven 
Begründung feitzuhalten, welche vielmehr ſtatt deffen die nur individuelt 
und fubjectiv ertenns und beweisbaren philofopbifchen oder 
gläubigen zuftelfangen des Ueberfinnlichen als die unmittelbaren prafs 
tifhen höchften Gefege des Rechts» und Staatslebens aufftellen oder übers 
haupt irgend eine fubjective Meinung oder Willlür über das objec- 
tive freie Berfaffungegefeg ftellen. 

Hieran fcheitern denn auch alle jene Theorien des göttlichen Rechts 
und ihres angeblich chriftlichen Staatsrechts. Namentlich beweilt «6 das 
zuvor angeführte Wert von Sarove, daß die Zheorien ber angeblid) 
hriftlichen Staatslehre von Stahl und Matthäi ebenfo mie bie von 
Sarove ſelbſt und ebenfo wie die früheren von Bonald, Dalleru.f.w. 
ſich gegenfeltig weſentlich reiderfprechen und für unfere ganze Nation eben: 


3 


Ghriftlicher Staat! 18 


fo wenig allgemeine aͤußere Beweiskraft, aͤußere praktifche Allgemeinguͤltig⸗ 
keit und allgemeine Erzwingbarkeit haben, als die befondere Glaubenslehre 
jeder einzelnen cheifklichereligiäfen Secte, als die ber römifchen, griechiſchen 
umd Deutfch> Katholiken, die der alt» und neugläubigen Lutheraner und 
Reformirten, der ultramontanen , pietiflifchen und rationaliflifchen Theo⸗ 
logen, als bie bee Herrnhuter und Wiedertäufer, oder ebenfo wenig als 
die individuellen Schuiphilofophien von Kant, Fichte, Hegel, Schel⸗ 
ling, von Alt⸗ und Neubegelianern und Feuerbachianern. 
Ale jene Theorien und felbft die bisherigen angeblich chriſtlichen demo» 
kratiſchen und communiflifchen Theorien leiten ihre Staatsgefehe 
krineswegs ‘fo wie unfer Artilel Chriftentbum von ben wenigen bei 
alen chriftlichen Parteien und Nationen und and) in unferem Rechts» 
und Staateverein erweistih anerkannten praktiſchen Moralgrund⸗ 
fägen ab, fondern von irgend einem der total verfchiedenen und entgegens 
gefegten Staubensbogmen und der verfchiedenen Auffaffungen ber religloͤſen 
Mofterien, und dazu noch von individuellen biftorifchen Auffafjungen im 
einzelnen beftimmten Zeiten und Voͤlkern. Manche derfelben und insbe 
fondere bie XTheorim von Stahl und Matthaͤi nehmen dazu bie 
greüften Widerfprüche in fich auf, weil fie eine für ganze beutfche Stauten, 
eine für die ganze deutfche Nation, für Proteftanten und Katholiten gäl: 
tige praßtifche Staatsgeſetzgebung begränden und zugleih den jest noch 
sufällig beftehbenden feudalen und bdespotifchen Hoftheorlen und den un» 
abweisbaren liberalen Srundfägen huldigen wollten ober doch nur eine 
baltlofe iuftemilieumäßige Zufammenmifchung flatt einer principmaͤ⸗ 
Bigen Vermittlung des Megierungsrechts mit dem freien Bürgertum gu 
Stande brachten. Sie überfahen nämlich, wie ſchon erwähnt wurde, die 
vermittelnden rechtlichen Srundbedingungen und ebmfo jenes 
tiefite vermittelnde Grundprineip des Chriſtenthums, nach wels 
chem letzteres durchaus keine unmittelbar weltlichen Geſede geben wollte, 
vielmehr die höchfte göttliche Freiheit der Menfchen zu feiner Grundlage 
machte und mit Achtung der Glaubens s und bürgerlichen Freiheit fich 
nur an die Liebe, die freie liebevolle Sefinnung wendete (S. Chriſten⸗ 
thum TI). Solchergeſtalt nun miſchen denn jene Theorien übern 
ebenſo haltungslos die zufaͤllig gerade heute noch in Hannover und Preu⸗ 
ßen beſtehenden feudalen und adſolutiſtiſchen, und die vernuͤnftigen libe⸗ 
ralen Grundſaͤtze durcheinander, ganz ebenſo wie ſie bald von katholiſchen, 
bald von gaͤnzlich verſchiedenen proteſtantiſchen, bald von altglaͤubigen, bald 
von rationaliſtiſchen Principien aus folgern. | i 

Diet näher einer allgemeinen Zuflimmung und prattifcher Anwend⸗ 
barkeit in politifchee Beziehung würde hier der Standpunkt dee Deutſch⸗ 
Katholiken fein, weil ſich ihr kirchliches Glaubens » und Vereinigungs: 
gefeg faft nur auf die huldigende Anerkennung des wundervollen göttlichen 
Geiſtes des Ehriſtenthums und feine einfachen großen Moralgrundfäge, 
kurz auf ein Wenigftes befchnänkt, weiches alle chriftlichen Religions: 
parteien anerkennen ; die andern Kirchengefellichaften unterfcheiden ſich fo» 
mit nur dadurch von den Deutſchkatholiken, daß fie noch Mehreres zum 


34 " Ghriftlicher Stast. 


gemeinfchaftlichen Glaubens: und Kirchengefege machen, was die Deutſch⸗ 
Fatholiten dem individuellen fubjectiven Glauben ber einzelnen Mitglieder 
und der einzelnen Gemeinden anheim geben oder (mie einiges Wenige) 
ausdruͤcklich verwerfen. Jedenfalls aber ift Erin rein religiöfer und. kirch⸗ 
licher cheiftlichee Glaube als folcher und ohne bie nachweisbare 
zehtlihe Anerkennung und Begründung ein weltlidhes 
Staatsrecht. | 

Jene chriftlichen oder auch bie rein ſchulphiloſophiſchen Staatstheo⸗ 
rien und ihre praktifche zwingende Auwendung durch bie Staatsregierung 
wäre ebenfo unmöglich, ebenfo bespotifch und abfurd, als wenn der Regent 
einen freiem Bürger zwingen wollte, das Latholifche oder das proteftantifähe 
Staubensbelenntniß oder gar beide zugleich, ober audy den Glauben ber 
Herrnhuter und Wiedertäufer, oder aud) eine beftimmte Hegel'ſche oder 
Schelling'ſche Schulphilofophie, oder irgend eine individuelle Meinung des 
Herrfchers anzunehmen und darnach feine und der Seinigen Lebensver⸗ 
hältniffe zu beflimmen. Und kann es wohl nach den oben (f. den Art. 
Chriſtenthum) erwiefenen Srundfägen etwas Widerchriſtlicheres 
geben als Euren fogenannten hriftlihen Staat, Eure Staatstelis 
gion, Euer fogenanntes hriftliches Staatsrecht, welche flatt ber 
vollen, allgemein gleihhen Glaubens s und Bürgerfreiheit Glaubentzwang, 
Ausſchließung und despotifches Herrenrecht fegen, welche, flatt mit dem 
Heiland für weltliches Recht und den gefellfchaftlichen Verkehr jeden Men⸗ 
fen, auch den anders Slaubenden, ale den gleihen Nebenmen⸗ 
[hen und Bruder zu behandeln, vielmehr unter den Ziteln des chriſt⸗ 
lihen Staats und hriftliher Staatsreligion fie und nament- 
lich jegt die Suden und Deutfchlatholiten von ber Nechtsgleichheit aus⸗ 
fchließen, ihnen wohl an den Laſten der gemeinfamen Geſellſchaft ben 
gleichen Antheil aufbürden, fie aber von den gleichen Vortheilen und 
Ehren ausſchließen, welche felbft heuchleriſch ihre Mitbrüder obrigkeitlich 
zue Heuchelei verführen, welche den freien unendlichen göttlichen Geiſt in 
das Prokruſtesbett befchränkter menfchlicher Formen bannen und buch 
Staatsvortheile und durch Nachtheile zu deren heuchlerifcher Anerkennung 
zwingen wollen. 

Da num aber fhon die Namen chriftliche oder pbilofophifche 
Stantetheorie menigftens zu dem Wanne verleiten Eönnten, als follten 
die unmittelbar gültigen, allgemein erzwingbaren Staatsge⸗ 
fege aus irgend einer fubjectiven individuellen fchulphilofophifchen oder 
religiöfen Anſchauung der überfinnlichen Berhältniffe abgeleitet werben, 
und da auch die hriftlichen Grundfäge zu aͤußerer Rechtsguͤltigkeit der 
rehtlihen Anerkennung bedürfen, fo giebt man lieber die Namen 
heiftiih und philofophifc für die praftifche Staatsgefeggebung 
any auf. 

’ ir diefe praftifche Staatsgeſetzgebung aber ift unfere oben (1. ©. 
35 ff.) amgebeutete, unten im Artitel Rechts: und Staatslehre nd: 
her zu begründende Theorie gar nicht fo verwickelt oder fo unharmoniſch, 
als es Manchem ſcheinen mochte. Nur darf fie, ohne einſeitig und 


Ghriſtlicher Staat. | 15 


alfo falfch und unanmwendbar zu werden, nicht fo einfach fein, daß fie 
die ceiche Nature unferes wirklichen Stantslebens und einzelne Beſtand⸗ 
theile und Geiten deſſelben unbeachtet und außer Rechnung läßt. 

Diefem unferm Culturs und Staatsleben entfprechend muß alfo auch 
dann, menn bie Entwidelung ber Staatstheorie gleich von vorn herein 
analytifh und hiſtoriſch⸗ philoſophiſch das gegebene Gefammtleben des 
Volks und feine Srundbeftandtheile in’s Auge faßt, doch ber For⸗ 
ſcher zundchft als einen derſelben ſich ſelbſt amd dann fein Verhaͤltniß 
zum Ganzen erforſchen. Es muß ſo: | | j 

1) der freie ſelbſtſtaͤndige Mann und Bürger nach feiner eigenme 
freien felbfiftändigen Vernunft oder Philofophie feine und des Staates 
böchfte Beftimmung und Gefeggebung erforfchen, um in folder an ſich 
freitih noch individuellen und reinphiloſophiſchen 

Lehre Licht und Prüfftein für die Geſetzgebung und Theorie des hiſto⸗ 
riſch wirklichen oder zu verwirklichenden gemeinfamen Staatslebens 
und für feine eigene freie Zuflimmung und Mitwirkung für daſ⸗ 
felbe zu finden. | 

2) Das von ihm zu prüfende , je nach feinee Ueberzeugung anzuers 
Eennende und nah ge meinfchaftlicher Ueberzeugung zu vervollkomm⸗ 
sende gemeinfhaftlihe Geſetz für das gemeinfhaftliche Zu⸗ 
fammenwirken unferes freien Volks (da®.wickiih allgemein ertenns 
bare, allgemein gültige praftifhe Staatsgefeg), diefes muß 
er dann weiter aus dem ganzen Befammtleben oder der Bes 
fammtcuitur diefes Volkes, aus feiner Sefammtvernunft 
lo, biftoeifh>philofophifch und objectiv zu entwideln 

uchen. 

3) Dabei wird er, fo gewiß als von einem gefitteten freien Volke, 
vom Bufammenmwirken freier oder felbftftändiger fittliher 
Derföntichkeiten die Rede fein fol, in logifcher Entwidelung aus 
dDiefer erfahrungsmaͤßig anerkannten Grundlage ſolchen freien Zus 
fammenwirkens zunaͤchſt die objective Grundform ber Freiheit und des 
Friedens, die Rechtsform für alles gefellfchaftliche Handeln der Res 
gierung wie ber Einzelnen finden. 

4) Für bie politifhen Aufgaben, Zwede und Mittel un: 
ſeres Volkslebens, welche durch das freie Zufammenwirken ber Bürger 
und der Regierung innerhalb ber Rechtsform des freien Confenfrs 
zu verwirklichen find, findet dann bie biftorifch=philofophifche Betrachtung 
unferes Volkes und feiner Eultur die zugleich in ihrem wahren hoͤchſten 
Weſen und in ihrem rechten Verhaͤltniß zu fördernden hriftlichen, 
alterthuͤmlichen und germa niſchen Örundelemente. Diefe, ober 
1) die hrifllide Grundidee und Gefinnung, der chriſtliche Geiſt, 
der Lebenszweck und des Lebens Grundgeſetz; fodann 2) die praktiſch ver- 
fländigen und freien irdifchen Lebens», Staates: und Rechts⸗ 
formen der claffifchen alterthämlichen Cultur, und endlich 3) die ſelbſt⸗ 
fländig frei und national geftaltende und regierende ger» 
manifche Lebenskraft — fie fämmtlid finden in ber ihnen entſpre⸗ 


6 Chriftoph von Würtemberg. 


chenden freien lebendigen Berfaffung und in ber nationalen 
verfaffungsmäßigen Regierung und Staatsgefeggebung . 
I durch fie ſtets neu ihre volllommene Objectivitdt ımb Verwirk 
lichung. 

So bilbet ſich ein vollkommen principmaͤßiges ober wiſſenſchaft⸗ 
liches und harmoniſches und zugleich philoſophiſches und hiſtoriſches, ſitt⸗ 
liches und freies, chriſtlich⸗alterthuͤmliches und germaniſches Rechts⸗ und 
Staatsſyſtem, deſſen Seele Freiheit und Fortſchritt, deſſen Traͤger und 
Grundformen unfere Gultur und Nationalität find. 

Doch nochmals, lieber fei jeder Name, hriftlich, alterthüm: 
lich, germanifch, hiſtoriſch, pbilofophifch, verbannt, als daß 
unter ihrem Vorwand das Weſen des freien, in Wahrheit fittlichen 
und chriftlichen Nationaliebens und feines lebendigen Kortfchritts gefährdet 
werde, wie es bisher durch jeme verkehrten Theorien gefchah und mie «8 
jegt, nachdem die rein philofophifchen, die hiſtoriſchen, romaniſtiſchen und 
germaniftifhen mittelafterificenden Schultheorien bereit6 an dem gefunden 
Verftand unferes Volkes geſcheitert find, nody am meiften gefchieht durch 
jene falfche orthodore und jefuitifche, pfäfftfche, junkerliche und despotifche 
Heuchelet, die unter dem Namen des chriftlihen Staates, des göttlichen 
Rechtes und des chriſtlich⸗ monarchiſchen Principe die Verbummung und 
Unterdrädung unferes Volles erfirebt. Manche mögen gutmuͤthig waͤh⸗ 
nen, auf ſolche Weife für die Erhaltung ber Throne wirken zu koͤnnen. 
Doc find auch fie nur durch boshafte inländifche oder auswärtige Li 
getäufht. Sie wirken jedenfalls ebenfo für bie Untergeabung der Throne 
- wie für den Ruin der Völker und Staaten. Doch Gottlob, es reift 
täglich mehr der Volkeverſtand; es erwachen immer Eräftiger in der Nas 
tion bie Lebensimflincte für die Rettung ihrer Eriftenz und Ehre. Sie 
ſchaͤrfen täglich mehr die unmiderfichlihen Waffen des gerechten Volks⸗ 
haffes gegen ſolche heuchlerifche Verdummungs- und Unterdruͤckungsver⸗ 
fuhe. Ja zu ſolchem gerechten vettenden Haſſe gefellt ſich bereite die 
einer naturwidrigen Unterdbrüdung nicht minder gefährlihe Verachtung 
und Lächerlichkeit. C. Welder. 

Chriftoph von Würtemberg. Bwifchen ber ehemaligen 
freien Reicheftadt Eßlingen und der heutigen Refidenz eines der beutfchen 
gekroͤnten Häupter ragte vor Beiten auf einem rebenbewachſenen Hügel 
eine Nitterburg in's Land hinaus, darin hauften die von MWürtemberg. 
Die Burg hat jegt zur Erinnerung an eine Zochter des Oberhauptes der 
Ruſſen, der Kalmüden und Korläden einem griechiſchen Tempel Plag ge: 
macht. Die Nitter gaben einem ziemlich großen Landftricy in Schwaben 
ihren Samiliennamen Würtemberg, wurden fpäter zu Grafen und Her⸗ 
zögen gemacht, bei dem Untergang fo vieler zum Theil mächtiger Herren 
vom Zufall bis in die neuefte Zeit confervirt und beherrfchten, auf dem 
Rechtstitel diefer zufälligen Erhaltung einer mittelalterlihen Ritterfamilie 
fußend, einen wadern Ihmwäbifhen Volksſtamm und bamit eine Provinz, 
die durch Gutes und Schlimmes in neuefter Zeit als das Land der Amts: 
ehre publiciſtiſch bekannt worden iſt. Unter den Zittern, welche die Herr⸗ 


Ghriftoph von Wittenberg. m 


ſchaft über Würtemberge Land und Leute in die Hände bekamen, war 
einer ber einflußreichflen der „Herzog“ Chriftoph, weil er nicht, wie bie 
meiften feiner Bor s und Nachfolger, fi nur bamit befchäftigte, die Reize 
und Annehmlichkeiten zu genießen, welche ben Herrſchern von Amts we⸗ 
gem zu Gebote ſtehen, eben weil fie Leine gewoͤhnlichen Menfchen, fons 
dern Herrſcher find. Chriſtoph betrachtete feine Stellung nicht blos als 
eine Quelle, woraus fardanapalifhe Genuͤſſe für ihn fließen, er erblickte 
in der Herrſchaft Aber Land und Leute nicht bios ein Mittel, um feine 
Private Intereſſen, Neigung und Gelüfte zu befriedigen, er that etwas 
mehr, als mit Sagen, Schaufpielerinnen, Gelagen ober fonfligen Private 
vergnägen zu vertändeln — und unterſchied ſich dadurch, mie gefagt, ſehr 
von den meiften feiner Vor⸗ und Nachfolger, welche das Land mit ih⸗ 
rer Verwandtfchaft glänzend ernährt. Bitter Chriftoph mar einer derjeni« 
gen Regenten von Gottes Gnaden, die mit Verftand verfehen und von 
dem guten Willen beſeelt find, die Obliegenheiten ihres angeblid von Gott 
ihnen verlichenen, in Würtemberg freilich ber Form nach auch vertrags⸗ 
mäßigen Amtes nach Kräften zu erfüllen. Ein großer Xheil ber von- 
ihm getroffenen Einrichtungen befteht noch jegt im Lande ver Amtsehre 
oder ift menigftens noch nachwirkend, und deshalb mag es geflattet ſein, 
einige Seiten des Staatsleritons auf befagten Chriftoph zu verwenden. 
Da übrigens eine hiftorifche Abhandlung dem Plan biefe® Werkes fremb 
iſt, fo können nur einige gefchichtliche Andeutungen als äußerer Rahmen 
für diefen Artikel bier ihre Stelle finden. 

Ritter Chriftoph war der Sohn jenes berüchtigten Ulrich, deſſen Nas 
mm zwar ber Romanſchreiber Hauff vielfah im Wolle einen guten 
Klang verſchafft und in ein fehr roſiges Licht gefegt hat, ber aber wegen 
verſchiedener Schandthatn mehrmal® aus dem Lande gejagt wurde und 
einige Mal in Gefahr ftand, von feinen getreuen Unterthanen tobtgefchlas 
gen zu werben, weil ee z. B. Leuten, die ihre Aeder vor dem herzoglichen 
Wild fhügten, die Augen ausftehen, manchmal auch Einen zur Abs 
wechslung Lebenbig braten ließ und das Volt den Drud feines volles 
marlausfaugenden Regiments nicht länger ertragen konnte. Chriftoph 
wurde ſchon ale Kind In das Schidfal feines Vater vermidelt, verlebte 
feine Jugend unter mandyerlet Entbehrungen und Befahren im Ausland 
und hatte mehrere Male faft alle Ausfiht auf Wirbererlangung felne® 
von Deſterreich in Befig genommenen Landes und ber darauf wohnenden 
Leute verloren. Endlich gelang «6 fenem Vater, das Erbland wieder zu 
erobern, und als biefer fpdter mit Tod abging, folgte ihm Chriftoph ver: 
möge des Erbrechts in der Herrichaft nach. 

Faſſen wir nun die ſtaatsrechtliche Stellung Chriſtoph's ale Regen⸗ 
ten in's Auge, ſo war er, nicht weil er der Weiſeſte und Beſte im Lande, 
an die Regierung gelangt, ſondern weil er der Sohn ſeines Vaters war. 
Man koͤnnte nun im Hinblick auf dieſe ſtaͤatsrechtliche Unſittlichkeit ein 
abſprechendes Urtheil auch uͤber ſeine Perſon faͤllen, allein der damalige 
Regent von Wuͤrtemberg ſtand im Zuſammenhang mit ſeiner Zeit, und 
in dieſer Zeit war das Volksbewußtſein noch nicht in Colliſion gekommen mit 

Suppl. 3. Staatslex. IL 2 


18 Chriſtoph von Würtemberg, 


dem Koͤnigthum von Gottes Gnaden und ber Herrſchaft, bie unabhängig 
vom Volke entfteht. 

Bedenkt man indeß, dag Chriftoph ein Regent war, befien Staates 
fundament auf mittelalterlihen Rechtsgrundſaͤtzen und Anfchauungen bes 
ruhte, erwägt man die Gewalt, die ein Fürft überall da hat, wo das 
Volk durch eine folenne Nichtigkeitserfiärung feudaler Staatsrechtövers 
bältniffe eine neue politifche Aera noch nicht begründete, fo wird das 
Hauptmoment einer Beurtheilung die Nachweifung fein, inwiefern ber 
feagliche Fürft ale Möglichkeiten feiner Stellung erfhöpfte und alles Das 
fi erlaubte, was er vermöge feiner publiciftifhen Stellung fi erlaus 
ben Eonnte.- Vor Allem ift in diefer Beziehung das Verhaͤltniß zu bes 
trachten, in melches ſich unfer „Herzog“ zu feinen Landfländen vers 
feste. — 

Viele Jahre vor Chriftoph’s Regierungsantritt hatte man einen or⸗ 
dentlihen Landtag gehabt, die Landfchaftsacten waren größtentheils verlos 
ven gegangen und bie ganze Verfaffung war nahe daran, eines fanften 
Todes zu verfterben, denn die Landſtaͤnde hatten „ſo wenig Kenntniß und 
Mebung ber Landesfreiheiten, daß fie bei der erfien Zufammenberufung 
unter Chriftoph nicht einmal mehr mußten, welche Rechte der Derzoges- 
brief vorbehalte, auf den Fall, daß das Haus Wuͤrtemberg erlöfchen 
würde.” Der erite Landtag, den Chriftoph einberief, 309 unverrichteter 
Dinge wieder nad) Haufe, da der Herzog wegen dringender anderweiti⸗ 
ger Geſchaͤfte ſich entſchuldigte. Er verſprach indeß, das naͤchſte Jahr 
wieder einen auszuſchreiben und alsdann alle Antraͤge und Wuͤnfche zu 
erledigen. Dies geſchah auch. Waͤhrend der Herzog zu den Verhandlun⸗ 
gen nach Augsburg gerufen wurde, trat der Ausſchuß mit den Raͤthen 
zufammen *); da aber beide Theile zu ſtreng in ihren gegenſeitigen For⸗ 
derungen waren, ſo vermochten ſie in Abweſenheit des Herzogs nichts 
auszurichten. Daher wurde der zweite Landtag berufen (1551) und auf 
ihm brachte die Landſchaft ihre Beſchwerden und Wuͤnſche mit noch groͤ⸗ 
ßerem Nachdruck vor. „Eh? von irgend einer Verwilligung die Rede wäre, 
fprachen fie, müßte erſt der Tübinger Vertrag nebft feiner Declaration 
beftätigt werden.’ Chriftoph hatte dies bei der wegen ber damaligen Bes 
fegung des Herzogthums durch Defterreich ohne diefe fürftliche Beftätigung 
vorgenommenen Exrbhuldigung verfprochen und er hielt fein Fürftenwort. 
Die Beharclichkeit der Landfchaft den herzoglihen Raͤthen gegenüber, 
ſtreng bei dem Buchftaben des Tübinger Vertrages, alfo bei der Verfaſ⸗ 
fung, ftehen zu bleiben, mißfiel dem Herzog fo wenig, daß er jenen Grund⸗ 
vertrag nicht nur feierlich beftätigte, fondern auch jene Declaration, welche 
die Öfterreichifchen Statthalter zur Zeit der Zwiſchenregierung waͤhrend 
Ulrich's Exil gegeben hatten, beflätigte, ungeachtet fie Ulrich, fein Water, 
bei feiner Wiedereinfegung nicht .anerfannt hätte. So heilig war biefem 
würtembergifhen Regenten fein gegebenes Fürftenwort. Die wichtigften 
Punkte jener Declaration beflanden in ben beiden Beſtimmungen, daß 


*) Pfifter’s Herzog Chriſtoph ©. 226. 


/ 


Ehriſteph von Wuͤrtemberg 19 


der „freie Zug” ohne bie Befchränkungen bes Tübinger Vertrags geſtat⸗ 
tet und fogleih in Wirkſamkeit treten, und daß die Amtleute nicht mehr 
zum Landtag berufen werden follten, wie es Ritter Ulrich's Zuſatz zum 
Tuͤbinger Vertrag beftimmt hatte. Jene Beſtimmung in Betreff des 
„feeten Zugs“ ließ Chriſtoph in ihrer vollen Wirkſamkeit in's Leben treten, 
in Beziehung auf die Berufung der Amtleute aber befchränkte ex fich auf 
diejenigen, die ihm ‚‚mit ber Exbhuldigung verwandt oder im Lanb be 
gütert wären.” Erſt nach diefen Conceffionen von Seiten des Herzogs 
bewilligten die Stände die zur Befreiung bes Landes von Defterreihs Ans 
fprüchen nöthige Geldfumme, worauf denn die Stände und der Herzog 
in berzlichem Einverftändnig von einander fchieden. 

Eben fo fefte und unumwundene Sprache führten die Landftände 
auf dem Landtag 1553— 1554 und fpäter und übernahmen erft dann 
die fehr bedeutende Schulbenlaft, als dee Herzog in die von ihnen pros 
ponirten Bedingungen einging. Nicht beflo weniger blieb auch diesmal 
Chriftoph in feinen Benehmen gegen die Landfchaft fich gleich und vers 
abſchiedete die Stände mit derfelben Herzlicykeit wie vordbem. So geſchah 
es denn, daß das ganze Verfafiungsieben neu gekräftigt aus feinem 
Schlummer erwachte und wieder eine fefte Confiftnz gewann. Chriftoph 
batte nicht nur die urfprünglichen Rechte beftätigt, fonbern auch nette 
hinzugefügt. 

In biefem Streben, das materielle wie das geiftige Wohl, alfo 
auch die Freiheit feines Volkes nach Kräften zu fördern, blieb während 
feiner ganzen Regierung diefer mwürtembergifche Kürft ſich gleich. Er 
war weit entfernt, im Anfang feiner Regierung ben Demagogen zu 
fpielen und eine liberale Sefinnung zu beucheln, um dem In» und Aus: 
ande Sand in bie Augen zu freuen, fpäter aber einer verbrecherifchen 
jefuitifchen Regierungspolitit fi in die Arme zu merfen und von bem 
Vorrath von Achtung und Anerkennung früherer Sahre zu zehren. Er 
benugte nicht die landſtaͤndiſche Verfaſſung, um hinter ber von ihr fancs 
tionirten Majeftät und Unverantmwortlichkeit feiner Perfon die Hoheits⸗ 
rechte der Krone einfeitig auszuüben und unter dem Schleier der Mini: 
flerverantwortlichleit den andern Theil der Verfaffung, die Volksrechte 
und Freiheiten zu vernichten. Er war Keiner jener Megierenden, bie 
unter der Maske der Liberalität und unter dem Schuge einer fcheinbaren 
Begünftigung der materiellen Sntereffen ihre Volk zur Nullitaͤt und 
Willenloſigkeit herabdrüden , indem fie durch ihre Frohnvoͤgte planmäßig 
jede freie Lebensdußerung des Volks vernichten, und deshalb war Chriftoph 
auch weit entfernt, die Freimuͤthigkeit feiner Landftände und ihre Bevors 
wortung des Nechts und ber Wahrheit übel zu nehmen, fo wenig, daß 
er ihnen gegenüber zumeilen fogar einen ercuficenden Ton annahm. Nies 
mals fühlte er ſich deshalb verfucht, feine Stände auseinander zu jagen, 
noch weniger ihnen ein fchnödes Verleumdungslibell in bie Deimath 
nachzuſchicken. 

Wir haben ferner geſehen, wie weit entfernt Chriſtoph davon war, 
die Volksvertretung durch ſeine von ihm abhaͤngigen, willenloſen, ſtets 

2* 


20 ahriſtoph von Wurtemberg 


Ja ſagenden Amtmaͤnner zu corrumpiren und dadurch bie ganze Lanb⸗ 
ſchaftsverhandlung zu einer bemitleidenswerthen Farce herabzuwuͤrdigen. 
Die oben beſchriebene Conceſfion an die Staͤnde in Betreff der zweiten 
Beftimmung ber Declaration zum Tübinger Vertrag giebt Zeugniß hiervon. 

Chriſtoph Hatte ferner die Verfaffung beſchworen und niemals wäre 
es ihm in den Sinn gelommen, feinen Eid zu brechen. Wir haben 
ebenfalls gefehen, wie gewiffenhaft er in Beziehung auf feine fürftlichen 
Zufagen war; vor dem nieberften Knechte hätte er fich gefchämt, als ein 
Eidbruͤchiger auf dem Throne zu figen und den Meineib zum Funda⸗ 
ment feiner Staatsverwaltung und Regierungspolitik zu machen. Noch 
weniger verabredete er fih mit andern Herrſchern zu einem Eidbrudy und 
nie wollte er feinen Ständen gegenüber den Bruch feines früher ges - 
ſchworenen Eides mit einer fpäteren Verabredung plaufibel machen. Bei 
fü bewandter Sefinnung war e8 denn ganz natuͤrlich, daß er in feinen 
fpäteren Regierungsjahren nicht die Hauptftüge der Reaction und jeſuiti⸗ 
Then Ariſtokratieverſchwoͤrung geaen die Volksfreiheit im füdlichen Deutfch« 
land wurde. — Er Eannte die Aufgabe der kleinern Kürften Suͤddeutſch⸗ 
lande, eine Vorhut gegen habsburgifche Dynaftieintereffen und Freiheits⸗ 
unterbrüdung zu bilden, zu gut, als daß er ſich zum bupirten Organ 
einer Deutſchlands Untergang herbeiführenden Politik hergegeben hätte. 
Da er fo war, fo wurde er auch niemals der Feind politifcher Entwicke⸗ 
fung In andern deutfchen Staaten. 

Da unfer Fuͤrſt ein. wahrer Freund der Volksfreiheit war, fo 
brauchte er auch zu Eeinen elenden Kunftgriffen feine Zuflucht zu nehe 
men, um feine Politik nicht nadt werben zu laffen. Er brauchte feinem 
Volk keinen Sand in die Augen zu fireuen. 

An der Wahl feinee Raͤthe war Chriftoph gemwiffenhaft und glüds 
ih. — Ein großer Theil der Verbefferungen und mwohlthätigen Inſtitute, 
die er in's Leben rief, Ift das Werk feiner ‚alten Raͤthe.“ Diefe waren 
fo felbftftändig und ehrenhaft, dag fie oftmals dem Herzog ſtaͤrker oppo⸗ 
nirten als der Landtag felbft, weshalb fie auch ein fo großes Vertrauen 
genoffen, daß die Stände ſich ihrer ebenfo wohl zur Leitung ihrer Ges 
fchäfte bebienten als der Herzog felbfl. Woher kam dies? Daher, daß 
der Herzog achtbare Rathgeber hatte, Ehrenmänner,, die niemals einer 
Politik ſich hingegeben hätten, durch welche Staatsoberhauptsintereſſe 
und Volksintereſſe feindlich einander gegenuͤbergeſtellt wird, Ehrenmaͤnner, 
die nicht um den Preis ihrer Ehre den Miniſterpoſten behauptet und 
ſich zu Mitſchuldigen eines Eidbruchs gemacht haͤtten, nur um Miniſter 
zu bleiben. Einen Menſchen, der Mitglied einer rechtsmoͤrderiſchen ge⸗ 
heimen Inquiſitionscommiſſion geweſen, haͤtte Chriſtoph niemals an die 
Spitze der Gerechtigkeitspflege geſtellt. 

Die Gerechtigkeit war ihm heilig und theuer, er ſchaͤndete ſie nicht 
dadurch, daß er die Geſetzgebung als Mittel fuͤr ſeine abſolutiſtiſchen 
Zwecke benutzte, indem er etwa Geſetze ſchuf, die anerkannten Rechts⸗ 
grundſaͤtzen Hohn ſprachen. Die Geſetze machte er nicht zu Fallgruben 
für die Freiheltsbeſtrebungen des Volkes und zu einer Waffe für feine 


Chriſtoph von Wuͤrtemberg. 21 


übermäthigen Amtmaͤnner. — Beleidigung ber Amtsehre kannte ſein 
Goder nicht. Da alſo unter. Ehrifloph’s Regierung keine Juſtizmorde 
wegen Amtsehrebeleidigung veröffentlicht wurden, fo ſah er ſich auch nicht 
gendthigt, zu verleumderifhen Schmähartikeln feine Zuflucht zu nehmen, 
um bie Veröffentlichung mißliebiger Thatſachen angeblich Lügen zu ſtra⸗ 
fen. Endlich hörte man nie davon, daß unter Chriftoph mwürtembergifche 
Untertbanen plöglich den Reißaus genommen und Über bie Grenze ges 
flüchtet feien, aus Furcht vor dem plöglichen Dereinfallen bes Fallbeils 
der Amtschrebeleidigung, denn damals waren bie Befege und die Berichte 
noch nicht fo corrumpirt, daß jede freimärhige Aeußerung als Amtöchres 
Beleidigung , jeder herrſchaftliche Zaglöhner als Beamter galt. 

Au die Beamten hatten fi unter Chriſtoph noch nicht zu einer 
Bureaukratle ausgebildet, die ebenfo durch hölzerne Geiſtesbeſchraͤnktheit 
als übermäthige Gewaltthaͤtigkeit eine Landplage geworden wäre. 

An zwei wärtembergifchen Erbfünden hat jedod, Chriftoph Fbenfalls 
gelitten. Sein Hofhalt erforderte ziemlich viel Geld und feine Bauluſt 
verführte ihn zu Ausgaben, die zu den Kräften bes kleinen Reichs in 
keinem Verhaͤltniß fanden. Doch Aberfchritt er nie auf eine die Gefühle 
feines Volkes verlegmde und deſſen Noth vermehrende Weiſe die Geſetze 
der Wirthſchaftlichkeit. Dies hätten fchon die Stände nicht zugegeben. — 

So viel über den Privarcharakter biefes würtembergifchen Fuͤrſten. 
Aus dem Bisherigen ift erſichtlich, daß der Herzog Chriftoph einer ders 
jenigen feltenen Sürften war, bie, weil fie nicht durch eine verkehrte 
Erziehung eine fchiefe Richtung angenommen, von redlichem Willen ers 
füllt find, das Wohl ihres Landes nach Kräften zu fördern. Um jedoch 
bauptfächlich feine ftantsrechtlihe Stellung und feinen Einfluß auf die 
tünftige Entwickelung des Volkes beurtheilen zu können, find noch einige 
weitere Momente anzuführen. 

Außer einem Landrecht, deſſen einziger Fehler ber ift, daß es mit 
feiner Proceßordnung noch jest gilt, gab Chriftoph auch eine Polizeiord⸗ 
nung heraus, Zwar find darin noch Feine Beflimmungen über Thier⸗ 
quaͤlerei getroffen, allein fonft überfchreitet fie alle Begriffe von aͤngſtli⸗ 
her, Bleinlicher, alle Räume und Verhaͤltniſſe des öffentlichen und Pri⸗ 
vatlebens umfpinnender Bevormundung. E6 find darin Gefege wider 
das GBottesläftern und Fluchen, gegen Zauberei und Hererei enthalten. 
Es iſt der gefchlechtliche Umgang unverheiratheter Perfonen, mie noch 
heut zu Rage, unter die Dbervormündfchaft und Leitung ber Polizei ger 
ſtellt. Das Trinken, die Zahl der Hochzeitgäfte, die Größe der Hochzeit 
gefchente, die Zahl der Gerichte bei Taufen und Hochzeiten, die Art und 
Meife des Tanzens, bie Kleidung bee Männer und Weiber ift polizeilich 
vorgefchrieben, regulirt, tabellirt, regiſtrirt, rubricirt, ſo genau, daß bie 
Zahl der Falten an den Beinkleidern, Farbe und Qualität bes Tuchs 
ganz fehneidergerecht beſtimmt find. Außerdem enthält diefe Polizeiord⸗ 
nung flrenge DBerorbnungen gegen landesuͤbliche Gebräuche, Volksfeſte 
und Volksbeluſtigungen. 

Verwandt mit biefer ethiſch⸗ polizeilichen war eine andere Thaͤtigkeit 


22 Chriſtoph von Wuͤrtemberg 


unſeres Herzogs. Chriſtoph hatte die Reformation mit aller Liebe und 
dem Eifer umfaßt, den ihm ſein Gefuͤhl fuͤr Wahrheit und Recht ein⸗ 
gefloͤßt hatte. Eine ſeiner wichtigſten Regierungsſorgen war es daher, 
das ganze Fuͤrſtenthum vom Papſtthum und katholiſchem Mißbrauch zu 
reinigen und dagegen die gereinigte Lehre einzufuͤhren. Eine Menge 
Verordnungen und Einrichtungen ſtrebten dahin. — Er ſelbſt zeigte ſo 
viel Eifer und betheiligte ſich perſoͤnlich ſo ſehr dabei, daß der Erfolg 
nicht ausbleiben konnte. — Chriſtoph umgab ſich mit einem wahrhaft 
theologiſchen Hofſtaat, die angeſehenſten Theologen waren um ſeine 
Perſon. Er fuͤhrte eine neue Kirchenordnung und Kirchenzuchtordnung 
ein, wodurch er die Prieſter mit Strafgewalt gegen Vergehen wider die 
Sittlichkeit belehnte. Er errichtete Seminare zur Bildung angehender 
Theologen und dotirte und erweiterte das theologiſche Seminar zu Tuͤbin⸗ 
gen, gab der proteſtantiſchen Kirche mittelſt des Kirchengutes eine ſichere 
Stellung, errichtete das Conſiſtorium und die Kirchenviſitation, welche 
das Benehmen und die Auffuͤhrung der Prieſter im Lande zu beaufſich⸗ 
tigen und zu berichten hatte. Er ließ eine eigene wuͤrtembergiſche Con⸗ 
feffion abfaffen und unterließ nichts , was den Begriff des Proteſtantis⸗ 
mus als Kirche zu vollenden im Stande war. 

Durch dieſe ethifch > polizeiliche und klrchliche Richtung aber legte ex 
den Grund zu dem boppelten Krebefchaden, an welchem das Land noch 
jegt laborirt, er legte den Grund zu der Bevormundung und Unterdrüs 
Aung des Volles barch weltlihe und geiftliche Polizei. Das wuͤrtem⸗ 
bergifche Volt wurde nach und nad) befonders in neuerer Zeit in zwei. 
Heerlager gefchieden, in Beamte und Nichtbeamte, oder mas baffelbe ift, 
in Herren und Diener; dort ift alle Activität, bier alle Paſſivitaͤt, dort 
ift alle Geltung, ‚hier ift die Nichtigkeit, dort allein ift Leben und Bes 
wegung, bier allein Ruhe und Gehorfam, dort find die Zriebräder, hier 
it die. Maſchine, welche nichts zu thun hat ale zu probduciren, und 
Jeder, der ein Raͤdchen trillt an biefer Polizeimafchinerie, hat mehr 
Würde und Recht als der erſte Bürger. 

Die Kirche hat fich feither zu einem priefterlichen Staat ausgebildet, 
der in dem Staatsoberhaupt audy ben oberſten Landesbifchof verehrt. 
Die Priefter werden von berfelben Gewalt angeftellt, die auch die Lieus 
tenants ernennt, und haben ſich mit ber weltlichen Polizei vollſtaͤndig 
in die Obrraufſicht über das Volk getheilt. Bureaukratiſch gegliedert 
und in einen Centralpunkt auslaufend fleht dieſes proteftantifche Prie⸗ 
ſterthum in ebenfo jefuitifcher Stellung dem Volke gegenüber mie das 
katholiſche, nur mit dem Unterfchied, daß es zum Theil eine befondere 
peoteftantifche Heuchelei und Suͤßlichkeit in Anwendung bringt. Herr⸗ 
[haft um den Preis der Verbrüderung mit der meltlihen Gewalt und 
unter dem Vorwand, die Zwecke Gottes und der Kirche zu fördern, dieſes 
fcheint oft das Schibolsth diefer Kafte. Aus den Chriftophinifchen Klofter- 
fhulen und dem Zübinaer Seminar find zum Theil Pflanzfhulen bes 
Pietismus, diefer eflen Carricatur des Jeſuitismus, geworben; die geift- 
lichen Raͤthe und Kirchenfürften, welche Chriftoph an feinem Hofe vers 


— 


Communiſmus. 28 


fammelte, arteten bald nad ihm im eine hierarchiſche Oligarchie aus, 
deren Mepotismus das Land jegt noch bitter empfindet. Kurz die pros 
teftantifche Kirche verfumpfte im Laufe der Zeit fo fehr, daß fie das 
Volt faft um die Reformation und ihre Theorie der Glaubengfreiheit 
betrog und mit der katholiſchen Kirche um jedes Merkmal einer Zwangs⸗ 
anftalt in dogmatifcher und hieracchiicher Beziehung wetteifert. . 

Mollen wir die Schuld diefer Corruption dem Herzog Chriftoph 
aufbürden? Dazu flimme ih nit. — Er für feine Perfon meinte «6 
gut, aber fein guter Wille unterlag dem Fluche feiner flaatsrechtlichen 
Stellung. 

Als Privatmann hätte Chriftoph mit feiner Vorliebe für kirchliche 
Reformen und polizeiliche Sittenaufficht wenig gefchabet, da er aber 
„Kraft feines von Gott befohlenen Amtes, aus Gottes Gnad zum Regl⸗ 
ment des Fürftenthbums und Gemeinde berufen und verordnet,’ alfo 
von Gottes Gnaden, alfo Statthalter Gottes war, fo nahmen nad 
und nad alle Candle der Staatsgewalt die Richtung und Farbe des 
Dberhauptes an, wie bie Arterien, wenn das Herz mit Quedfilber ans 
gefühlt wird. Das Volk wurde in feiner natürlichen Entwidelung ges 
ftört, e6 wurde geimpft, dreſſirt, durch eine außer ihm flehende, wenn 
auch noch fo wohlmeinende Gewalt fortgefchoben, daburch wurde ber 
Grund zu feiner Paffivität gelegt, das Gängelband kam zu Anfehen, 
die Volkskraft erfchlaffte und auf ihrem Krankenbette erhoben fidy andere 
unvoldsthümliche Mächte, bie fo lange fortwucherten, bis der jegige Zus 
fland eintrat. 

Sch fchliege diefen Abfchnitt mit dee Behauptung: Yo lange das 
Staatsoberheupt nicht im Sinne einer wahrhaft freien, einer britifchen 
oder belgifchen Verfafiung das Organ des felbfibewußten Volkswillens 
iſt, iſt es, auch wenn Marc Aurele und Antonine herrfchen, zwar mit 
ehrbarem Privatcharatter verfehen, aber in einer publiciftifyeunfittlichen 
Stellung, die früher ober fpäter dem Volt nachtheilig wird und die Res 
gierung eines ſolchen Fuͤrſten hoͤchſtens zu einem erleuchteten Despotis⸗ 
mus ſtempelt. Abt. 

Communismus. Einleitung. Seit wenigen Jahren iſt in 
Deutfchland vom Communismus die Rede und fdhon ift er zum drohen 
den Gefpenft. geworden, vor dem die Einen fich fürchten, womit die 
Andern Furcht einzujagen fuchen. Der Spuk ſchwindet, fobald man 
ihm zw Leibe geht. Wenigftens ift der Communismus als Doctrin nicht 
gefährlich, wenn man fie im Lichte der Deffentlichleit, das gar bald feine 
ſchwachen Seiten beleuchtet, frei ſich entwideln läßt. Die Berechtigung 
zur Verkündung einer Lehre, ohne andere Schranke, als daß die ver⸗ 
brecherifche Aufforderung zum Verbrechen einem gerechten Öffentlichen 
Gerichte des Staats und dem Urtheife der oͤffentlichen Meinung anheims 
falle, war ja von jeher das beſte Mittel gegen jede heimliche Verbrei⸗ 
tung des Irrthums, bis Ddiefer unerwartet zum gewaltfamen Ausbruche 
kam. Aber auch bie gewaltfamen Verfuche, ben Communismus in’s 
Leben einzuführen, koͤnnen zwar Verwirrung erzeugen, aber nicht dauernd 


2 | Communiſmus. 


ihn durchſetzen. Man braͤchte es hoͤchſtens, unter ſelten zuſammen⸗ 
treffenden Umſtaͤnden, auf kleinem Raume zu fluͤchtigem Erfolg. 


In allen Abſtufungen hat es der Communismus auf allgemeine 
und bleibende, darum auf zwingende Guͤtergemeinſchaft, wenigſtens 
für die unbeweglichen Guͤter abgeſehen. Damit ſteht keineswegs 
im Widerſpruch, daß er, den einzelnen Bekennern oft unbewußt, in 
einer irrigen allgemeinen Weltanſchauung, zumal in Pantheismus und 
materialiſtiſchem Atheismus, ſeine tiefere Wurzel haben kann. Er ver⸗ 
traͤgt ſich doch auch mit dem Theismus, insbeſondere mit dem Chriſten⸗ 
thum, wenn gleich nur mit einer unvollſtaͤndigen und einſeitigen Auf⸗ 
faſſung deſſelben. Jene Guͤtergemeinſchaft dagegen iſt die eigentliche 
Frucht der communiſtiſchen Lehre, woran ſich dieſe als folche erkennen 
laͤft. Aber freilich giebt es nicht Wenige, die ſich ſelbſt wohl Com⸗ 
muniſten nennen, ohne es ſchon zu ſein oder ohne es noch zu ſein. 
Bei den Letztern iſt gewoͤhnlich der Communismus in eine andere Art 
des Sociallsmus uͤbergegangen. Denn jener iſt ſelbſt nur eine Art des 
Sotlalismus, oder der Lehren, wonach an die Stelle der jetzigen Geſell⸗ 
ſchaft, zumal der jetzt beſtehenden privat rechtlichen Beziehungen, ein 
weſentlich Anderes geſetzt und damit die Geſtalt der heutigen Welt von 
Grund aus umgewandelt werden ſoll. 


Die verſchiedenen Sociallehren der Neuzeit haben ſaͤmmtlich die 
Natur des Menſchen, freilich in abweichender und meiſt ſehr einſeiti⸗ 
ger Auffaſſung, als das Princip fuͤr die Begruͤndung neuer Zuſtaͤnde 
anerkannt. Sie weichen aber unter ſich auch in den Mitteln zum Zwecke 
ab, und das den Communismus eigenthuͤmlich unterſcheidende Mittel iſt 
gerade die Aufhebung des Privateigentbums. Was dagegen bdiefe Lehren 
über fonflige gefellfchaftlihe Beziehungen anlangt, wie über Ehe und 
Familie, über Aufhebung ber häuslichen Erziehung durch die Öffentliche, 
ober über Vermittlung und Verbindung der einen mit ber andern u. ſ. w. 
— fo unterfcheiden ſich dartn felbft die eigentlichen Communiften fo fehr 
von einander oder flimmen beziehungsroeife mit anderen Socialiften fo 
fehr überein, daß darin das Wahrzeichen bes Communismus nicht ge= 
ſucht werden darf. Die Aufhebung des Privateigenthums aber — der 
gegenwärtige unb andere verwandte Auffäge bes Staatslexikons werden 
die Behauptung rechtfertigen — fteht im grellen Widerſpruch mit ber in 
ihrer Zotalität erkannten menſchlichen Nature und mit der fchon befchrits 
tenen höheren Stufe des Voͤlkerlebens. Diefer entfpricht ſchlechthin nur 
ein beftändig vermittelter Uebergang vom Eigenthum des Einzelnen in 
bas des Staats, vom Eigenthum des Staats in das des Einzelnen. 
Eine folhe Bewegung in ber dem Menſchen unterworfenen Sachen⸗ 
welt iſt in den herrfchenden Syſtemen der Befleuerung von Vermögen, 
Erb und Erwerb jegt fchon eingeleitet und in ihren Anfängen ausgeführt. 
Doch muß fie freilich noch in viel weiterem Umfange durchgefegt werben, 
wenn dem drohenden Kampf zwifhen Armen und Meichen vorgebeugt, 
wenn noch auf friedlichen Wege ber fehneibend gewordene Zwieſpalt bes 


Gommunismud. | 26 


feitigt, wenn die wahre Beftimmung bes Menſchen in der Geſellſchaft 
und durch fie erreichbar werden ſoll. 

Droht gleich den beftehenden Zuftänden in ber Art Leine Gefahr, 
daß gerade ber Communismus fie verdrängen und ber Gefchichte fein 
einförmiges Gepraͤge aufprefien koͤnnte; fo ift er doch das aͤußerſte Symp⸗ 
tom des Uebels einer ſiech gewordenen Zeit. Er ift dagegen fo wenig 
die Krankheit felbft, als die wilden Phantafien des Fieberkranken das 
Zieber find; er ift fo wenig das Heilmittel, als es etwa das Geluͤſte des 
Kranken if, fi) aus dem Fenfler zu flürgen, um ber Bellemmung zu 
entgehen. 

Das Uebel, für defien Befeltigung zu wirken bie heiligfte Pflicht 
eines Jeden ift, der ſich nicht felbftfüchtig abfchließen mag vom Schick⸗ 
fal feiner Mitbürger — iſt die wachfende Ungleichheit in der Vertheilung 
des geifligen und materiellen Beſitzthums; das zunehmende Proletariat 
Derjenigen, die in ungeficherter Eriftenz nur von Hand zu Mund leben, 
für bie nicht blos bie gegenwärtige Noth, fondern auch bie beflemmende 
Borftelung des kuͤnftigen größeren Elends eine dauernde Pein iſt; die 
der ſchlimmſten Zprannei ſich preisgegeben fehen, ber bes blinden unver: 
nünftigen Zufalls; die unter dem Drud folcher Zyrannei felbft das Ge - 
fühl ber Menſchenwuͤrde verlieren ober ſich dieſer Würde nur noch in 
Haß und Stimm gegen ihre gluͤcklicheren oder glüdlicher fcheinenden 
Mitbuͤrger bewußt find; Die buch bie Noth dem Verbrechen in bie 
Arme gefchleudert und durdy das Elend abgeftumpft werden, fo daß «6 
für iheen Stumpffinn nur noch einen grellen Contraft geben kann, 
ben einer beftiatifchen Leidenfchaft ,. die ſich zerſtoͤrend gegen ſich ſelbſt 
und gegen Andere wendet. Diefe Leidbenfchaft abet — wer kann es bes 
zweifeln? — vermag wohl im gefährlichen Augenblide weithin anſteckend 
ganze Maſſen zu ergreifen und die Dämme zu durchbrechen, die ihr Die 
organifirte Macht ded Staats entgegenfegt, bie fie ein reißenber Strom 
mit ſchaͤnmender Wuth über Trümmer ſich hinwaͤlzt. 

Wie «8 in einem großen Theile Europa’ zu biefem Zuſtande kom⸗ 
mem mußte und marum fi) das Uebel unter den noch beftchenden 
Berhältniffen nothwendig fleigert, iſt für Seden Mar genug, ber mit 
unbefangenem Blick bie Veränderungen unferer Culturverhaͤltniſſe auch 
nur in ben legten Jahrzehnten in's Auge faßte. 

Eine gewaltige Revolution, vielleiht nur das Vorfpiel größerer Um⸗ 
wälzungen, wenn ihnen nicht die Weisheit und der energifche gute Wille 
der einzigen Machthaber unferer Zeit, der Maͤnner bes Vollsvertrauens, 
zeitig vorzubeugen weiß, hatte Millionen und aber Millionen aus den 
gewohnten Kreifen ihrer Lebensweife und Denkweife herausgerifien. Das 
Hohe wurde erniedrigt, das Miedrige erhoben. In ber Reibung aller 
Kräfte ſchien ſich der Unterfchieb dev Stände und Glaffen, der Gebildeten 
und Ungebildeten, der Befigenden und Vefislofen aufzuldfen. Eine neue 
Völkerwanderung, die fi) von Frankreich erſt nach Oſten und Süben 
ergoß, um fi) dann ruͤckwaͤrts zu waͤlzen, hatte auch die Nationen durch⸗ 
einanber gefchättelt. Im gewaltfam vermittelten Verkehr von Meafchen 


28 | Gommunismus. 


und Völkern, wie ihn die Welt feit länger als einem SZahrtaufende 
nicht erlebt, find veränderte Anfichten und Intereſſen aufgetaucht; und 
jene fuͤnfundzwanzigjaͤhrigen Kriege, worin ſich größere Maſſen als je 
zuvor gegen einander drängten, haben mit ihrem tauſendfachen raſchen 
Wechfel von Gluͤck und Ungläd, von Entbebrung und Genüffen neue- 
Anfprüde, Bedürfniffe und Gelüfte geweckt. 

Jetzt erfolgte der Uebergang von langen Kriegen zu dauernbem 
Frieden. Das Schwert fraß nicht mehr Zaufende von Denfchenleben. 
Und nicht blos fchloffen ſich die Luͤcken, die ber Krieg gefchlagen, fondern 
das Wahsthum der Bevölkerung fo mie gleichzeitig die Vervielfältigung 
und Vervollkommnung des Menfchenkraft erfparenden Maſchinenweſens 
nahm in fteigendem Verhältniffe zu. Schon in diefer Vermehrung ber 
Bevölkerung allein, die binnen wenigen Jahrzehnten, trog Auswande⸗ 
sungen‘ und verheerenden Seuchen, auf viele Millionen geftiegen iſt 
(f. Bevoͤlkerung), liegt ein hinreichender Grund, daß fich ganz ans 
dere DVerhältniffe des Beſizes und des Anſpruchs auf Beſitz ausbilden 
mußten. Und bdiefe Millionen, fie vergrößern zu wenigftens drei Vier⸗ 
theilen von Jahre zu Jahr die anfhwellende Maffe eines grollenden 
Proletariats. 

Gleichzeitig begannen jene politiſchen und oͤkonomiſchen Grundſaͤtze, 
deren Herrſchaft ſchon vor der franzoͤſiſchen Revolution angefangen hatte, 
ihre Folgen in groͤßerem Umfange zu entwickeln, ja die Revolution ſelbſt 
war in der Hauptſache nur ihre beſchleunigte Vollſtreckung. Der 
Aufhebung der Leibeigenſchaft, der Entfeſſelung des Menſchen vom Bo⸗ 
den, der Beſeitigung des Feudalzwangs, der Aufloͤſung des Zunftver⸗ 
bands — dem Alten lag ein humaniſtiſches Princip zu Grunde: nicht 
mehr follte der Menſch von der Sachenwelt abhängig fein, fondern frei 
über diefe fchalten und walten. Aber damit hatte man nur die Herr⸗ 
fchaft eines leeren Abftractums ber Freiheit und Gleichheit aller Menſchen 
anerkannt, ohne ihr einen Inhalt zu geben. Man hatte Leib und 
Seele getrennt, alfo daß der Leib ber Freiheit verfümmert, während bie 
Seele als eitles Phantom, als höhnender und quälender Kobold umgeht. 
Denn die fogenannte freie Concurrenz, die als Heilmittel gegen alle 
früheren Mißftände pomphaft verkuͤndet wurde, mas ift fie noch Anderes 
als nur die Offenbarung eined Geiftes der Verneinung, als bie bloße 
Auftöfung ber bisher beftandenen corporativen Vereine, worin bei aller 
unzwedmäßigen Vertheilung von Arbeit und Genuß body ein ficherndes 
Mechfelverhältniß der Rechte und Pflichten zwiſchen den Betheiligten 
beftand, oder diefe wenigſtens durch ein bleibendes Intereſſe feiter an⸗ 
einander gefnüpft waren? Nur das leere Recht der Arbeit und bes 
Erwerbs, nur der hohle Zitel des freien Staatsbürgers ift bis jegt den 
Armen und Ungebildeten bewilligt. Was hilft es auch, wenn in Wer 
faffungsurfunden verkündet wird, daß jedem Talent, ob «6 aus ben 
hoͤchſten oder unterften Schichten der Gefellfchaft auftauche, die Bahn 
offen ftehe, die es nach innerer Berufung und Befähigung zu durch⸗ 
laufen beſtimmt ſei? Was hilft es, wenn in abſtract gleicher Weife 


Eommmnismus, 27 


Jedem und Allen geflattet wird, nach Bildung, Befisthum, Wohlftand 
unb Reihthum zu ringen und der Srüchte ihrer Anftrengung und ihres 
Fleißes zu genießen? Eben diefes Recht ſchlaͤgt doch, bei den jetzigen 
Mifftänden in der Vertheilung ber Drittel zu geiftiger und materieller 
Production und Confumtion, zum ſchwerſten Unrecht aus. Für den 
Armen, ber zum flets fid) erneuernden Kampfe mit der Noth des Tage, 
ber zu Unmifienheit, Rohheit und Verbrechen unerbittlich verdammt bleibt, 
wirb felbft die Gottesgabe der befondern Befähigung und des Talents 
zum befonderen Unglüäd, das ihn die ganze Hoffnungslofigkeit dev Lage, 
in der ihn ein ehernes Schickſal gebeugt hält, nad ihrem ganzen Ums 
fange tiefer empfinden laͤßt. Mit der Anerkennung dieſes Rechts der 
freien Concurrenz für Gebildete und Ungebildete, für Reiche und Arme, 
ftelt wohl bee moberne Staat den Einen wie ben Anderen auf freiem 
Selbe den Iohnenden Kampfpreis vor Mugen. Er giebt das Zeichen 
zum Wettſtreit. Er giebt ihn auch den Armen, die zur Stiftung eines 
kuͤmmerlichen Daſeins gezwungen find, um den niebrigften Preis ihre 
Geſundheit und. ihre Kraft an den reichen Mitkaͤmpfer zu verhandeln. 
Und nun erſt fühlen. fi die Millionen, im Gegenfag zu den wenigen 
Begünfligten, an Händen und Füßen gebunden. Gie fühlen den Hohn, 
dee felbft im der Anerkennung jener werthloſen Sreiheit, jener ſchein⸗ 
baren Gleichheit liegt, auf melche fie die Vornehmen und Reichen mit 
ihrem noch ungebrochenen Egoismus der Intereſſen ſpottend hinweifen. 
Sie fühlen ihn um fo fchmerzlicher, wem aufs Gerathewohl einige 
Broden geifliger oder leiblicher Speife ale Almofen unter die Menge 
ausgsworfen werden. Denn zu Mehr als zum erniebrigenden Almofens 
geben haben es ja bie Weiten noch nicht gebracht; zu mehr koͤnnen es 
die Eingelnen nicht bringen. Darum ift die wahrhaft freie Con. 
currenz erſt gegründet, wenn die Geſammtheit einem jeden ihrer Mit 
glieder, gegen mäßige und verhältnißmäßige Arbeit, das zur Erhaltung 
und fleten Erneuerung der Kräfte Mothiwendige verbüärgt, mern fie 
ihm damit eine freie Stellung verfchafft, damit er von ihr aus, mit 
noch unerfchöpfter Kraft, in den Wettſtreit der Kräfte fi, einlaffen 
md, wenn ihm das Gluͤck nicht Iächelt, fi) doc, wieder in die von 
Alten geficherte Stellung zurückziehen koͤnne. Darum aber iſt auch jenes 
nedende Trugbild der blos ſcheinbar freien Concurrenz das eigentliche 
Mittel geworden, um Schein und Sein immer fchärfer unterfcheiden 
zu laflen; um dem Proletariat ber neueren Zeit zum Bewußtfein 
der focialen Erniedrigung und eben damit zum Dafein zu helfen. 
Der Krieg der Meichen gegen die Armen wird fchon lange geführt, 
vom lügnerifhen Wörfenfpieler an bis zum Wucherjuden, ber methobifch 
berechnend den Bauersmann Stüd für Stüd nicht blos um die Früchte 
feiner Arbeit, fondern auch um die Mittel zum tünftigen Erwerb be; 
trügt. Mie fol man fi) denn wundern, daß auch der Krieg der Armen 
gegen die Meichen in wachfenden Kreifen zum Ausbruche kommt? Wir 
find bereits mitten barin. Er befteht nicht blos in jenen zeitweife er⸗ 
neuesten Werfuchen der Arbeiter zur Exrprefiung «eines höheren Lohns; in 


28 Communismus,. 


ben Aufftänden ber Fabrikarbeiter gegen bie Fabrikherren, ober ber noch 
zehent⸗ und robotpflidhtigen Bauern gegen die Grundherren; in jenen 
piöglichen Ausbruͤchen des Haſſes und der Wuth, wie fie in gemwaltfamer 
an bes Eigenthums , in Mord⸗ und Brandfliftungen zum Vor⸗ 
hein kamen, bie nicht felten epidemiſch ihre anftedende Kraft über : 
ganze Gegenden verbreiten. Er wird als Fleiner Krieg ununterbrochen 
fortgeführt durdy die mwachfende Menge der Verbrechen gegen das Eiyens 
‚ thum; wie davon bie Criminalſtatiſtik allee Staaten ein Zeugniß giebt, 
obgleich nur ein fehr geringer Theil folcher Verbrechen zur Kenntniß 
kommt. Und in diefem Kriege, in Mitte umfers militärifch und polizei⸗ 
lich bewaffneten Friedens, vergrößert fi fort und fort die Zahl ber An« 
greifer. Denn mit bem Gefühle der Noch, mit dem Bewußtſein ber 
widernatuͤrlich ungleihen Vertheilung bes Eigenthums ift zugleich bie 
Achtung vor dem Eigenthbum in fchnellem Sinken begriffen. Haben ſich 
doch ſchon communiftifhe Schriftfleller bie zu der Verirrung fortreißen 
laſſen, eine Rechtfertigung des Diebſtahls zu verſuchen und ein „ſtehlen⸗ 
bes Proletariat“ in Ausſicht zu flellen. Und find doch, was hierbei im 
befonderen Betracht kommt, die Ucheber einer folchen Lehre zum Theil 
aus dem Proletariat felbft hervorgegangen. Dies deutet auf eine mora⸗ 
lfche Berrifienheit in ber Sefellfchaft, bie zu fchleuniger Abhilfe beingenb 
mahnt. 

Uebrigens fol man ſich hüten, alle vom Stachel augenblidlicher 
Noth oder vom Haſſe der Unbemittelten gegen bie Bemittelten erzeugten 
Ereeffe, wie fie unter dem Schlachtruf: „WBrod ober Tod”, „Vivre en 
travaillant, ou mourir en combattant!‘“ ſtets wieder ſich erneuern — 
leichthin als communiftifch zu bezeichnen. Dies gefchieht allzu haͤu⸗ 
fig von einer officiellen und halbofficiellen Preffe, bie den Communiss 
mus als Popanz im Intereffe ber Reaction zu benugen weiß; fo wie 
anderer Seits von communiftifhen Docteindren,, die fo gern glauben, 
was fie wünfdyen, und jeden Vorfall folder Art zum Beleg ber Ders 
breitung ihrer unmaßgeblihen Meinungen ſtempeln. Allein die Unruhen 
die fchlefifchen Weber, dee Fabrikarbeiter in Böhmen, der Bauern in 
Galizien, dee meiften ähnlichen Erfcheinungen in Frankreich und Groß⸗ 
britannien find doch nur thatfächliche Proteftationen proletarifcher Maf> 
fen gegen bie ungleiche Vertheilung bes Einkommens, ohne daß ſich das 
. Bott bis in die fire Idee einer Aufhebung des perfönlichen Eigenthums, 
auch nur an unbeweglichen Gütern, verrannt hätte. Es hat nicht ein» 
mal eine Vorftellung von dee Möglichkeit einer folhen Aufhebung. Die 
fie zu haben glauben, find nur wenige boctrindee Separatiften, die fich 
vom eigentlihen Boden des Volkslebens ſchon losgeriſſen haben und, 
vom Minde der eigenen Lehre fortgeriffen, als irre Geiſter in den Luͤf⸗ 
ten flattern. Wohl aber haben die Gedankenblitze der Sreiheit und Gleich« 
heit auch in die Maffen eingefchlagen. Die Nacht erhellend, ſcheinen 
fie der getäufchten Menge ſchon der Anbruch des freudigen Tags. Als 
lein ihr flüchtiger Schimmer ließ bald nur das Dunkel dunkler erfchei« 
nen, fo daß fie ſich in tieferes Elend verſtrickt und verlaffener als zus 


Gommuniömus, | 29 


vor fühlte. Doch find wenigſtens bie Mißſtaͤnde ringe umher deutlicher 
erfanntz und manches Herz füllt fidy mit dem Glauben, daß das Schoͤ⸗ 
pfungswerk einer neuen befferen Gefellfchaft gelingen. werde, wenn erſt 
wieder die einzig und allein alles Große fchaffende Macht einer lichten 
Begeifterung zur Voͤlkerthat fortreißt. 


Jeder neue fociale Glaube hat feinen Aberglauben. Diefer iſt un: 
ter mancherlei Wandlungen, bucch alle Perioden der Weltgefchichte, auch 
in bee Zorm des Kommunismus zum Vorſchein gefommen. Für die 
neuere Zeit brach er wieder aus der franzöfifhen Revolution und ihren 
Zäufchungen hervor. Daran Enüpft fi alle fpätere Entwickelung beffels 
ben. In dieſer Entwidlung aber hat er eine ganz andere Geſtalt ges 
wonnen. Die Zahl ber eigentlihen Communiſten bat fon feit gerau⸗ 
mer Zeit abgenommen, obgleich jest mehr als zuvor von Communismus 
bie Rebe if. Denn in dem Maße, ba er mehr fein mollte als eine 
bloße Verneinung bes Beftehenden, da er ſich zur pofitiven Lehre einer 
neuem Geſellſchaft zu geftalten fuchte, mußte er feiner Unmöglichkeit fich 
bewußt werben. So ift der Communismus nur ein Schatten, ber ſich 
ſelbſt entflieht,, da er fich felbft zu begreifen flrebt; der nie und nimmer 
die Wirklichkeit zu beberrfchen vermag. Aber er verdient fcharf in's Auge 
gefaßt zu werben ; denn er iſt wenigſtens ein Schatten, der die Stunde 
zeigt, bee warnend darauf hinweiſt, was an der Zeit ifl. 


Geſchichte des Eommunismus. Die ganze menfchliche Ge 
ſellſchaft befindet fih in einer nothwendigen Gemeinfchaft des - Lebens. 
Was auch der Einzelne thue, ob diefes Thun im engerem oder weiterem 
Kreife mit Bewußtfein erfannt und empfunden werde, er greift mit jes 
dem Pulsichlage, mit jedem Athemzuge in das Dafein und Werden der 
Menichheit mirbeftimmend ein. Wer diefen Gedanken einer unwillkuͤr⸗ 
lichen organifchen Verbindung, einer ununterbrochenen Wechſelwirkung 
nur in feiner Allgemeinheit auffaßt, kann ſich mohl bis zum Traum 
einer allgemeinen und uͤberall nothwendigen Gütergemeinfchaft verirren. 
Der Begriff der Einheit hat ihn den der Mannichfaltigkeit, der Begriff 
dee Geſammtheit oder des Ganzen ber Menfchheit hat ihn ben ihrer Glie⸗ 
berung überfehen laſſen. Aber ber Menfch, der zugleich ein Ganzes für 
fih, der Individuum ift, tritt ſchon mit der Geburt in eine beftimmte 
Weit von Sinnssentpfindungen, darum von Vorftellungen, Begriffen 
und Willendußerungen ein; er tritt alfo, wie mit befonderen Gliedern 
dee Derfonenwelt, fo mit beftimmten Theilen ber Sachenwelt, vor je: 
bem Anderen in mannichfachere Berührung, in innigere Verbindung. 
Das tft eben fein individuelles Leben und es hängt gar nicht von feinem 
Wien ab, daß dies nicht gefchehe, fo lange er lebt. Diefes nothwen⸗ 
dige ſich Einleben in befondere‘ Theile der Sachenwelt ift aber ber 
aus der vernünftigen Erkenntniß der Menfchennatur gefchöpfte Grund 
bes ſtets fich erneuernden Anfpruch® auf geficherten Beſitz, auf perföns 
liches Eigenthum und felbft auf Erbrecht; wie zahlreich) übrigens die 
Irrthuͤmer in der Erkenntniß, wie vielfach die Mißgriffe und Mißbraͤu⸗ 


80 Communismus W 


he in dorr Regulirung der perſoͤnlich⸗dinglichen Verhaͤltniſſe gewe⸗ 
ſen ſeien. 

Dieſelbe Nothwendigkeit der engeren Verbindung jedes Menſchen 
mit gewiſſen Theilen der Sachenwelt laͤßt ſich wieder in zweifacher Be⸗ 
ziehung auf einſeitig abſtracte Weiſe nehmen. Hält man fich nur das . 
ran, daß Jeder wie Alle auf eine folche Verbindung hingewieſen tft, fo 
kommt man in bie Verfuhung, ben Anfpruc jeder Perſoͤnlichkeit am 
bie Sachenwelt nach einförmig gleihem Maße zu bemefin. Man 
übsrfieht die nothwendige unendliche Verfchiebenheit in den Weiſen 
ber Production und ber ihr entfprechenden Gonfumtion; in Aeußerung 
und Verinnerung: im Hinausgreifen und im Heransgreifen für fi 
oder für fein Ich. Legt man dagegen das Gewicht mefentlid auf 
‚ diefe Verſchiedenheit, wie fie ſich ausprägt in den abmweichendften 
individuellen Beziehungen nady außen, fo hält man es allzu leicht für 
für überflüffig, daß jeder Perfönlichkeit bie ihrer Productionsfaͤhigkeit 
entfprechenden Productionsmittel im Verhaͤltniſſe zu Anderen gefichert 
werden. Das blinde Walten des Zufalls, der fubjectiven Willkuͤr und 
des Egoismus wird damit zur Marime erhoben; ber Starke und Ders 
mögende, der ſich gerade im Befig eines reicheren Maßes von Productions⸗ 
mitteln befindet, greift dann mehr und mehr ausfaugend in die Sphäre 
bes dürftiger Ausgeftatteten ein. Dan gelangt fo zu einem Syſtem ber 

yſtemloſigkeit, deſſen Wekung Ueberwucherung auf der einen und Ver: 

mmerung auf ber anderen Seite ift. In unferer jegigen Periode über: 
wiegt nun gerade biefer abftracte Individualismus, deſſen Ausbrud 
die Tyrannei der Reichen über bie Armen, ber Gebildeten über die Uns 
gebildeten iſt. | 

Wie mit befiimmten Sachen, fo tritt — wie ſchon geſagt — jes 
dev Menfch mit beflimmten Perfonen vor Anderen in nothwendig en⸗ 
gere Verbindung, die zum ebenfo nothwendigen Bewußtfein und Aus- 
drud ber Einigung und Einheit wird. So enthält jede Samilie, in den 
roheften Zuftänden ber Fifchers und Jaͤgervoͤlker, ſchon den Embryo der 
Gemeinde; mie fchon die mwandernde Gemeinde, der Nomadenſtamm, 
den des Staats enthält. Das ift indeg dee Gang der Weltgeſchichte, 
daß auf ihren erften Stufen noch nicht der ganze Reichthum der menſch⸗ 
lichen Natur, daß dieſe erft einfeitig und unvollftändig zur Erfcheinung 
tommt. So gefhah es auch mit dem einhritlichen oder communiftifchen 
Element, mit bem ber abftracten Gleichheit, und endlid mit dem ber 
abftracten Ungleichheit oder der fchrankenlofen individuellen Freiheit. 
Nicht als ob auch nur ein einziges dieſer Elemente zu irgend einer Zeit 
und in irgend einem Staate völlig befeitigt worden wäre. Eine folche 
Befeitigung waͤre bie an ſich unmögliche Vernichtung der menfchlichen 
Natur felbft gewefen. Aber es mußte doch jedes derfelben nad) Dem an⸗ 
deren, in mannichfachen Webergängen und Verbindungen, zu übermwies 
gender Herrfchaft gelangen, die fi vom Standpunkte jeder folgenden 
Periode aus als einfeitig darftellt. Stehen wir nun endlid in Wahr⸗ 
heit auf einem fo freim Standpunkte, von bem aus bie ganze Reihe 


Gommunismud. 31 


der früheren Entwidiungen als einfeitig zu erkennen ift, fo follten wir im 
Stande fein, in einer neuen ſocialen Wiffenfchaft die ganze Natur bes 
Menſchen, die gleihmäßig harmoniſche Befriedigung feines Beduͤrfniſſes 
ber Einheit, der Gleichheit und der Freiheit, zur Darftellung zu brins 
gen. Daß bies gefchehen Tolle, daß der ganze Menſch als Princip 
bee Sociallehre anzuerkennen fei, wird uns freilih auch von unferen 
neueren, Communiften und Socialiften zum Weberdbruß wiederholt. Aber 
daß dies noch keineswegs gethan I ft; daß fich vielmehr die neue foge- 
nannte Wiffenfchaft dev Gefellfchaft noch im Zuftande der Confuſion bes 
findet, da man nur den einfeitigen Individualismus durch einen ebens 
fo widernatürlichen drittels menſchlichen Communismus oder eine ab⸗ 
firacte Gleichheitslehre todtzufchlagen verfucht, dies wird fpäter noch 
fhärfer hervorgehoben werden. | 

Eine vollftändigere Bildungsgefchichte des Eigentums, womit aud) 
die der Staaten zufammenhängt, kann hier nicht verfucht werden. Die 
Dinwelfung auf einige Hauptmomente, die zur befferen Würdigung des 
modernen Communismus dienen, muß genügen !). 

Bei dünner zerfireuter Bevoͤlkerung hat ſich die menfchliche Thätig- 
Leit noch nicht im gemeinfamen Intereſſe zu befonderen Berufözweigen 
abgegliedert. Jede Familie, die durch gefchlechtliche Vereinigung unb 
Abſtammung zunaͤch ſt Verbundenen, forget für Nahrung, Bekleidung 
und Obdach und greift, je nach dem Gebot des Beduͤrfniſſes von einer 
Thätigkeit zur anderen übergehend, die zu naͤchſt liegenden Mittel für 
ihre Zwede aus der Sachenwelt heraus. Auf diefer unterflen Stufe, 
bei Fifchers und Jaͤgervoͤlkern, ift alfo die Occupation noch bie vor⸗ 
berifchende Form ber Aneignung. Aber diefe f. g. Occupation, ale eine 
bewußte abfichtliche Thätigkeit zum Zweck der Aneignung, iſt ſchon Ars 
beit und begründet eben dadurch den vernünftigen und naturgemäßen 
Anfpruh auf Eigenthum. Wer fi einen Vorrath an Wild oder 
Fiſchen gefammelt, bat auch für fi) und bie ihm enger Verbundenen 
gefammelt. Er fucht fi) gegen die Gewalt eines Dritten im Beſitz zu 
behaupten; denn ex hat gearbeitet und will für keinen Anderen gears 
beitet haben; er hat die Natur ausgebeutet und will fi) von einem 
Anderen ausbeuten laſſen; er mill nicht bee Sklave, nicht das Werk⸗ 
zeug bed Anderen fein. In gleicher Weife vertheidigt er die Höhle, die 
Hütte, die ihm zur Wohnung dient; alfo den Theil des Bodens, ben 
er. [einen Zwecken unterworfen hat. Aber auch der Zifcher, der am 





1) Vergl. jedoch: Adel; Alodium; Bauer; Beſitz; Deutfches Recht; Eigen: 

thum; Erbuͤchkeit; Erbrecht u. f. w. im Staatslexikon. Auch ben Artikel 
„Eigenthum“ im Rechtslexikon. Kerner: „Die Perfönlichkeit des Eigenthums 
in Bezug auf den Socialismus und Sommunismus im heutigen Frankreich. Bon 
Dr. 9. ®. Kaifer. Bremen 1843.” In diefer Beinen Schrift ift viel Mas 
terial zufammengebrängt, fo daB man dem Berfafler einige Begriffstortur, wos 
durch er die Geſchichte zwingen will, die Hegel'ſche Schulſprache zu fprechen, 
wohl verzeihen Tann. was gar zu naiv fagt er gegen ben Schluß, nachdem 
er die Befleuerung als bad Mittel zur Ausgleihung aller grellen Ungleich⸗ 


82 ... Gommunidmus,. 


Ufer die Angel oder das Netz auswirft, ober ber Jäger, ber mit Bogen 
und Pfeil dem Wilde auflauert, fucht fi) und bie Seinigen gegen jebe 
Störung bei der Arbeit feinee Occupation in der Herrſchaft über ben 
Theil des Bodens zu behaupten, den er zur Erreichung feines Zwecks 
mit Aüsfchließung von Anderen beherifchen muß. Fa für den Fiſcher 
oder Jäger, der wisberholt an demfelben Orte feiner Beute nachgeht, 
entfteht fchon daraus allein ein nothmendiger Anfpruh auf vors 
zägliche Benugung dieſes beſtimmten Theils bes Bodens. Er iſt 
gerade mit die ſer Localitdt vertraut geworden, er hat zumal diefen Theil 
dee Sachenwelt in feine Anfchauungen und Vorftellungen aufgenommen 
und fie eben barum zum befonderen Gegenftande "feines Denkens und 
Thuns gemadt. Wer ihn alfo in der Benugung hindert, greift eben 
damit in das eigenfte Weſen feiner Individualität ein. So finden wir 
fhon auf den unterfien Stufen der Gefellfchaft den Keim des Indivibuels 
len Eigenthbums nicht blos an beweglichen, fondern eben fowohl an ums 
beweglihen Sachen; wie denn überhaupt für die Bewohner der Erde 
eine individuelle Derefchaft über Mobilten ohne eine entfprechende an SImmor 
bilien an fi) unmoͤalich ift. 

Eine höhere Stufe befchreitet das nomadiſche Hirtenvolk, mit fels 
ner mannichfacheren Benugung der Thiere durch. Zaͤhmung, Sorge für 
Fütterung und Vermehrung. Damit bildet fi) ein Eigenthum an bes 
weglichen Sachen In größerem Umfang und an mehrerlsi Gegenftänden. 
Am Zufammenfluß der Dienfchen bemältigt der Starke ben Schwachen. 
Neben und bald auch vor der unbedingten Herrfchaft des Zamilienvas 
ters über Frauen und Kinder, alfo neben der Sklaverei in ber Samitie?), 
tritt der Unterfchied von Herrn. und Knechten hervor. Der Knecht iſt 
der vom Anderen und für einen Anderen gesähmte Menſch. Er ift 
feiner freien individuellen Thaͤtigkeit in Beziehung auf die Sachenmelt 
möglihft entäußert, ee hat darum für ſich nichts Eigenes mehr. 
Die Entftehung der Sklaverei hänge alfo keineswegs mit ber erſten Ents 
ſtehung des individuellen Eigenthums zufammen, mie einige Commu⸗ 
niften phantafirt haben, fondern mit dem erften Verluſt beffelben. 
Sie ift gerade diefer Verluſt. Auf dieſer Stufe wird bie verftändige 
Herrſchaft über die Natur noch zumeift durch münbliche Weberlieferung 
von Geſchlecht zu Gefchlecht begründet und durch den größeren Reichthum 
der perfönlichen Erfahrungen, wie ihn nur ein längeres Leben verleiht. 
So entfteht ein Erbrecht mit Bevorzugung ber Erfigeburt. Aber auch 


beiten des Beſitzes und Sigenthums bezeichnet bat: „Wie der Staat das durch 
eine folche Befteuerung brigte an die Nichtbefiger unterbringen fol, das zu 
fagen wollen wir uns wohl hüten, das gehört der Empirie, ber Nationaldkono: 
mie an, der Entwidelung des Lebens ſelbſt; bier ift das Felsriff, an dem jede 
Theorie fcheitern würde.” Go? Aber darum gilt's. Sol der Verſtand ſtill 
fteben, wenn er bis an die Hauptaufgabe feiner Zeit gekommen ift? 

2) Ueber die Milderung der Sklaverei in der Familie, durch die Entftehung 
ber SElaverei bei Fremden, äußert fih Beijer in den Vorlefungen über ſchwe⸗ 
difche Geſchichte.“ (Monatöbl. der Allg. Zeitg. Auguft 1845.) 


Communismus. 38 


der Maͤchtigſte der maͤchtigſten Familie oder des maͤchtigſten Stammes 
behauptet ein natuͤrliches Uebergewicht. Er wird vor Anderen das les 
bendige Geſetz, wodurch bie fortwährende Occupation des Weidelands 
geordnet und verwaltet wird. Der individuelle Anſpruch auf beftimmte 
Thelle bes Bodens verſchwindet alfo aud jest nicht, fondern tritt 
nur in anderer Form hervor. Als Gefammtheit aber fucht ſich das no⸗ 
mabifirende Hirtenvolk jedem fremden Stamme gegenüber in einem bes 
flimmten Bezirk zu behaupten; und wie früher bei dee noch mehr ifo» 
lit lebenden Familie, fo entfteht nun bei dem Nomadenvolle, neben 
den fort und fort ſich erneuernden individuellen Anfprücen, zugleich, ber 
Anfprud auf ein Gefammteigenthum an einem gemwiffen Theile der Erde. 

Kortfegung: Drientalifhe Staaten. Wie bei den Heer⸗ 
zügen einer Armee, fo bilden ſich bei den Wanderzügen der Hirtenvoͤlker 
aus dem Beduͤrfniß Aller die Unterwerfung unter einen Willen und 
damit eine Art militärifcher Subordination und ımbedingten Gehorfams,. 
Und wie im erften Fortſchritt die natürliche Herefchaft des Familienhaupts 
zue Derrfchaft des Stammhaupts geworden iſt; fo wird auf bie meitere 
Stufe der Anfäffigkeit und der vorherrfchenden Beſchaͤftigung mit Aders 
bau die patriarchaliſche Gewalt als Despotie fhon mit hinübergenommen. 
Der Despot behält alfo die Dispofitionsbefugnig über die Gegenftände 
des Beſitzthums, darum auch über die Vertheilung des Grundbeſitzes. 
Er erhebt fidy aber, da er Über reichere Mittel gebietet, zu größerer 
Macht, als fie das nomadiſche Stammbaupt haben fonnte. Der Staat‘ 
und Alles im Staate wird nun ale fein Eigenthum betrachte. Das 
indioiduelle Eigenthum geht alfo für Alle, mit Ausnahme-des Despoten, 
verloren; d. 5. Alle, außer ihm, find zu Sklaven gerworden. Die eins 
zelnen Grunbbefiger find jegt Exrhpächter, und auch dies nur factifch, 
fo lange der Herrfcher mil. Die Grundfteuer,, die fortan entrichtet wird, 
hat noch ben Charakter des Tribute: fie muß nicht, fie ann nur zum 
Beften Aller verwendet werden. Mit dem durch den Aderbau gefchaf: 
fenen größeren Reihthum an Capitalien entftehen neue Berufszmeige°), 
die fih von Gefchleht zu Gefchlecht fortpflanzen, bis die Gewohnheit 
wohl auch als Megel und Geſetz ausgefprochen wird. So entſtehen ges 
feglich erblihe Kaften oder gemohnheitsmäfig erbliche Stände mit erblis 
chem geiftigen und materiellen Beſitzthum, fo weit nicht ber abfolute 
Herrfcher von einem Stand in den anderen erhöht ober erniedrigt und 
Befisthum zufpricht oder raubt. Ein ſolcher erblicher faint= fimoniftifcher 
Dapft*), der ſich vermißt , wie früher ber Kamilienvater unter den Gliedern der 
Samilie, fo unter Millionen die Verdienſte der Einzelnen zu erkennen 
und abzufchägen, ift noch in eminentem Grade der Kaifer von China. 
Aber daffelbe Ingrediens des St.: Simonismus fpielt auch noch far? 
genug in das europdifche Monarchenthum hinüber. Steht nun in einer 


3) Ueber das Geſetz der Gliederung der Production f. meine Schrift: „Die 
Bervegung der Production ıc. Zuͤrich 1844.” 

. 4) Bergl.: „St.sSimonismus.“ 

Suppl. 3. Staatélex. I. ö 


8% | Communismuß. 


Geſellſchaft ohne erbliches Kaftenwefen ein abfoluter Gewalthaber an 
der Spige von Staat und Kirche; fo iſt diefer dem herrfchenden Rechts⸗ 
begriffe nach die einzige vollftändtge Perſoͤnlichkeit und darum der 
einzige wahre Eigenthuͤmer. Sind Kaften vorhanden, fo konnten 
fie nur durch Uebechebung ber einen über bie andere entftehen. Das 
aemeinfame Imtereffe verbindet bie höher Geftellten. Es kommt zum 
Bunde der Fürften, als der Häupter der Kafte der Krieger und weltlichen 
Beamten mit ber SPriefterkafte; bis unter den Verbundenen felbft der 
‚Kampf über das Maß des Vorrechts ausbricht. Hier gelten nur bie 
Mitglieder der höheren Kaften als wahre Perſoͤnlichkeiten und freie Eis 
genthämer. 

Selbſt im einheitlichen Despotenreiche, wie im Kaftmflante, tft je⸗ 
boch die auf Einzelne übertragene Vorausſetzung der vollen Perſoͤnlich⸗ 
keit und des freien Eigenthums bis zu gewiſſem Grade eine bloße 
rechtliche Ficetion. Diefes oder jenes Individuum und fein Befitz⸗ 
thum kann wohl der despotifchen Derrfcherlaune zum Opfer fallen, ohne 
daß dies als Rechtsverlegung betrachtet wird. Im Ganzen aber bils 
den doch Gewohnhrit und Geſetz beflimmte Formen aus, denen felbft 
der abfolutefte Alleinherrfcher unterworfen bleibt, die er bei Strafe ber 
Revolution nicht zu verlegen wagen darf. Auch Fommen auf biefer wie 
auf allen Stufen der Gefellfehaft neben der nothwendigen Anerfennung 
bes Inbividualidmus noch gleichheitliche und einheitliche Elemente zum 
Vorſchein. Dahin gehören 3. B. in China die herkoͤmmlichen und ges 
feglichen Vertheilungen von Nahrungsmitteln und Kleidern an bie Ars 
men; aber die in großem Maßſtab ausgeführten gemeinfchaftlihen Be— 
wäfferungsanftaltenz oder die wirthfchaftlichen Wereinigungen mehrerer Fa⸗ 
milien. Laßt fi ja nie das Bewußtſein völlig unterbrüden, daß Jeder 
ein Mecht auf die nothwendigen Subfiftenzmittel habe, und daß die Be: 
fugniß der individuell abgeſchloſſenen Benugung des Beſitzthums im aus 
genfätligen Intereffe der Gefammtheit ihre nothwendige Schranke finde. 

Immer giebt jedoch der vorherrſchende Individualismus einer 
einzelnen Perfon oder einzeiner Kaften den orientalifchen Reichen ihr be⸗ 
fonderes Gepräge. So ift in China der Kaifer der oberfte Beherrſcher 
aller Dekonomie, der jebem feiner Unterthanen die Grundftüde, die er 
befist, wegen fchlechter Bewirtbfchaftung entziehen kann. Die Grunds 
befiger koͤnnen nicht frei im Zeftament über ihre Ländereien verfügen, 
und bei Zheilung ber Erbfchaften in bie Kamilie findet von Staatswe⸗ 
gen eine genau beftimmte Gontrole flatt. In Altindien war aller Bo⸗ 
den den: Königen abgabepflichtig, außer die Befigungen der Braminen. 
Allee Land in Altaͤgypten befand fi im Eigentum des Könige, ber 
Kriegerkafte und der DPriefterkafte, fo daß die Aderbauer nur um Zins 
auf Grund und Boden biefer drei Glaffen faßen. Das Land der Prie⸗ 
fterfchaft jedes Tempels war in gemeinfchaftlihes und privates getheilt. 
Hier kam alfo ein einheitliches Element neben dem individuellen oder 
gleihheitlihen zum Vorfchein, aber nur innerhalb: ber Nechtefphäre 
einer befonderen Kaſte. Da die Aderbauer nicht ben: eigenen Grund 


Communismus. 36 
und Boden bearbeiteten, ſo wurde ihnen ſchwerlich eine individuell un⸗ 
gleiche Vertheilung deſſelben uͤberlaſſen. Es iſt alſo ſehr wahrſcheinlich, 
daß die Bewohner jeder Ortſchaft die ihnen zugewieſenen Aecker gemein⸗ 
ſchaftlich bebauten und daß vom allgemeinen Ertrag jeder Arbeiter eine 
Quote bezog. Ueberhaupt waren die rechtlichen Verhaͤltniſſe des Eigen⸗ 
thums und Befitzes am Unbeweglichen Vermögen ſchon früh ausge⸗ 
bildet, nachdem der Uebergang zum ackerbauenden Staate erfolgt und 
der Grund und Boden als Hauptquelle alles Reichthums erkannt war. 
In geringerem Grade war dies bei dem noch verhaͤltnißmaͤßig unbedeu: 
tenben beweglichen Vermögen ®) der Fall; da man es dem Einzelnen 
(don mehr überlaffen konnte, fich in deffen Beſitz und Benugung zu 
behaupten. Wenn alfo Diodor berichtet, daß in Altägnpten die Diebe 
in der Art privilegirt gemwefen, daß fie nur verpflichtet waren, das Ge: 
ſtohlene bei ihrem gefeslich beſtimmten Oberhaupt niederzulegen, von 
dem es der Beftohlene gegen Zahlung von J bes Werths zuruͤckfordern 
tonnte; fo bat man doch ſchwerlich damit ein communiftifches Diebftahle- 
recht anerkennen, fonbern ein nicht völlig zu bemältigenbes Uebel auf 
ein Minimum zurädführen mwollen®). Cine Scugmwehr geaen Las 
ſchrankenloſe Walten des Individualismus in der Aneignung von beweg⸗ 
lichem Vermögen findet fi) dagegen in der auch im römifchen Recht 
wiederkehrenden altägnptifhen Beſtimmung, daß Niemand ein ausgeliches 
- nes Capital duch die Zinfen um mehr ald das Doppelte vergrößern - 
dürfe. Auch in Altperfien, mo die Theokratie der Magier die Lönigliche 
Machtvollkommenheit wenigſtens für die Hauptmafje der Bevölkerung 
nicht aufhob, berief man fish auf ein Geſetz, daß dem Könige erlaubt 
fei zu thun mas er wolle Er galt als Eigenthümer von allem Land 
und Volk; die Grundbefiser waren bloße Pächter. Das alte Stamm» 
land Perſis bezahlte zwar keine Abgaben, doch war für jeine Bewohner 
der Despotismus nur herkoͤmmlich etwas gemilbert. Endlich gilt in den 
jesigen weftafiatifchen Staaten voch der Grundfag, dab das volle Eigens 
thumsrecht an die beftimmte Perfon des Herrſchers geknüpft fei. Dies 
fer Grundſatz wurde noch in neuefter Zeit dur Mehmed Alt?) ſelbſt 
factiſch auf auf eine Spige getrieben und er fommt namentiidy in den 
zahlreichen mwillfürlihen Gonfiscationen zur Anwendung. Indem aber 
diefe Confiscationen unter der Form von Strafen verhängt werben, liegt 
doch darin zugleich die indirecte Anerkennung bed gegründeten Anſpruchs 
. Allee auf rechtlich geficherten individuellen Beſitz. 

Die orientalifhe Vorſtellungsweiſe, daß das völlig freie Eigenthum 
nur einer beftimmten Perfon im Gegenfas zu Anderen zuſtehen koͤnne, 
greift auch im die jüdifche Gefeggebung ein, wornach Jehovah felbft als 


5) Siehe „Mobilien.“ 
6) Unter Anderem deutet die Erzählung von Zofeph, Benjamin und ben 
filbernen Becher auf viel ftrengere altäguptifche Gefege gegen den Diebſtahl. 


7) Siehe „Aegypten.“ 
3* 


86 Communismus 


Obereigenthuͤmer und König des Landes Kanaan?) betrachtet wurde. 
Nach ſeinem Gebot ſind daher die Aecker der Leviten zehentpflichtig. 
Der Zehent war die Beſoldung fuͤr die geiſtlichen und weltlichen Functio⸗ 
nen des levitiſchen Beamtenſtandes; und noch auf andere Weiſe war fuͤr 
die Diener des jenſeitigen Koͤnigs Jehovah geſorgt. Gegen die Berufung eines 
dieſſeitigen Alleinherrſchers vergebens warnend hatte Samuelben Juden das 
abfolute Recht des orientalifchen Gewalthabers verfündigt, über das Be⸗ 
fisehum nad) Gutduͤnken zu verfügen?) und nad) Willfür feine Beam: 
ten zu ernennen und zu belohnen!9). Aber die einmal im Namen Je⸗ 
hovah's, darum als dauernd und unabänderlid) verfündeten Gefege konn: 
ten von den Königen nicht aufgehoben werden, wenn fie zum Theil auch 
außer Brauch kamen. So gefchah e6 mit jener zeitweifen Ausgleichung 
der Ungleichheiten des Befiges, wie fie durch die mofaifche Gefeggebung 
in den Beflimmungen über das fiebente und fünfzigfte Erfagiahr ange» 
ordnet wurde!!). Se das fiebente Jahr follte ein eigentlih commus> 
niftifches Feierjahr fein !?). Die Knechte, Mägde, Tagelöhner, Haus⸗ 
genoffen und Fremden folltn wie bie Eigenthämer von den Fruͤch⸗ 
ten des Feldes eſſen. Doch die Wahrheit vor Augen, baß die Arbeit 
ein Recht auf die Früchte derfelben verleiht, gebot Mofes, dab im fie- 
benten Jahre Niemand den Boden befäe, daß kein Eigenthuͤmer fein 
Feld oder feinen Weinberg bebaue. Die Sorge um Nahrung im fieben> 
ten und achten Fahre warb durch die Verheißung Jehovah's befeitigt, 
„ec wolle je im fehlten Jahre feinem Gegen gebieten, daß er breier 
Sahre Getreide machen folle.” Im fünfzioften (oder neunundvierzigften) 
großen Jubel und Halljahre follten überdies, mir Ausnahme der ver- 
auften Häufer binnen der Stadtmauer und der dem Heiligtum ver⸗ 
lobten Aeder, alle fonft veräußerten Aecker und Häufer auf dem offenen 
Lande an die vorigen Eigenthümer oder ihre Erben ohne Erftattung des 
Kaufpreifes zurücfallen, ‚damit Jeder wieder zu feiner Habe und feinem 
Geſchlecht komme. Wie hiernady die Kaufpreife, womit im Grunde 
nur eine Reihe von Ernten gekauft wurde, je nach dem größeren ober 
geringeren Zeitabftande bis zum naͤchſten Halljahre zu berechnen feien, 


8) Le. 25, 23: „Darum follt ihr das Land nicht verlaufen ewiglic; 
denn das Land ift mein, und ihr feid Fremdlinge und Bäfte vor mir.” 1.8. 
Sam. 8, 7: „Denn fie haben nicht dich, fondern mich verworfen, daß ich nicht 
fol König über fie fein.” 
9) Sam. 1, 8, 1%: „Eure beften Aecker und Weinberge und Delgärten 
wird er nehmen und feinen Knechten geben,” ıc. 
Sam. I, 8, 16: „Und eure Knechte und Mägde und eure feinften 
Zünglinge und eure Efel wird er nehmen und feine Gefchäfte damit ausrichten.” 
Wie auch der letzte Theil diefes Spruchs noch im modernen Beamtenftaat zur 


Anwendung kommt, bedarf keiner befonderen Bemerkung. 


11) Daß die Anordnungen über das Sabbathjahr nicht fehr fireng und bei 
weitem nicht immer eingehalten wurden, dafür führt Micharlis „Mofaifches 
Recht,“ Bd. 2, binlängliche Belege an. 

12) Die focialiftifhe Bedeutung des Sabbathe bob Proudhon in feiner 
Schrift Aber die „„Sonntagsfeier” hervor. 


Communismus. 37. 


darauf warb ansbrhdiid hingewieſen. Diefe merkwuͤrbige Anorbnung, in 
Verbindung mit einem fehr ausgedehnten Ruͤckkaufsrecht zwifchen zwei 
Halljahren und einem fehr ausgedehnten Armenrecht, hatte den bes 
flimmt ausgefprochenen Zwed der Verhinderung von drüdender Armuth . 
und übermäßigen Reichthum fo tie ben der Bewahrung der alten Gleich⸗ 
heit des Beſitzes, doch freilich nur mit Rüdfiht auf die urfprüngliche 
Vertheilung des Landes an die einzelnen Geſchlechter!?). Eine folche 
Ausgleihung aller ſchroffen Ungleichheiten bes Beſitzes, die nad) der mos 
ſaiſchen Gefeggebung an beftimmte Perioden gebunden war und darum 
aur floßweife eintreten Fonnte, follte nad) ber klar vorliegenden Aufgabe 
unferer neueften Gefeggebung ununterbrochen, darum allmälig 
und mit Rüdfiht auf alle Glieder der Geſellſchaft erfolgen 1*). 

Sortfegung: Aeltere heilenifhe Staaten. Ein natur 
Präftiger, mit tüchtigen Anlagen ausgeftatteter Volksſtamm mag unter 
förderlihen aͤußern Berhältniffen des Klimas und ber Dertlichleit aus 
ſich felbft heraus eine Lebensweife entwideln, modurd nad einigen 
Schwankungen eine Reihe individueller Kräfte und Zhätigkeiten gar bald 
zu einer Art politifchen und focinlen Gleichgewichts gelangt. Jeder weiß 
fi dem Andern gegenüber in feiner Selbftftändigkeit zu behaupten, aber 
Keiner kann des Anden entbehren. Hier find nun die Bedingungen 
für ein Gemeinwefen vorhanden, das auf der Baſis einer gleichen Bes 
techtigung feiner mefentlidy activen und felbfithätigen Mitglieder ruht. 
Stößt eine foldye Genoſſenſchaft mit Fremden feindlich zufammen, fo 
werden Dielenigen, die in bie Gewalt ber fiegenden Genoffenfchaft fal- 
In, die Sklaven dieſer Genoſſenſchaft felbft, denn fie find duch 
gemeinfchaftliche Thätigkeit erbeutet worden. Im Gegenfag zu bie: 
fen paffiven Mitgliedern des Gemeinmefens bildet ſich dann bei dem 
berrfhenden Volt das Bewußtſein der gleichen Berechtigung Aller 
um fo fchärfer aus und kommt fo lange ale abftract einförmige Gleich⸗ 
beit zur Anerkennung, als ſich noch nicht bie einzelnen Individualitaͤten 
beftimmter ausgeprägt und in mannichfach eigenthümlihen Weifen ber 
Production und Conſumtion von einander unterfchiedben haben. 

Alle diefe natürlichen und hiftorifhen Bedingungen trafen in Gries 
chenland zufammen, um demokratiſche Gemeinwefen auf der Grundlage 
dee Sklaverei entftehen zu laſſen. In den alten bellenifchen Staaten 
waren die Ländereien in drei Theile getheilt: für die Götter ober Pries 


13) Darauf iſt es auch mit ber Beflimmung abgefeben, daß alle Töchter, 
bie Erbtheil befißfen, nur Einen „vom Gefchleht des Stammes ihres Waters 
freien ſollen, damit nicht ein Erbtbeil von einem Stamm auf den andern falle.” 
(Rum. 36, 8. u. 9.) 

14) Bergl. on 25. Im Deut. 15 wirb au bas fi ebente Jahr in der 
Art ale Erlagjahr beftimmt, daß man das Geliehene von „feinem Nädften 
und Bruder nicht einmahnen, "fondern es ihm erlaffen ſoll.“ Uebrigens ifl ſich 
die mofaifche Geſetzgebung darüber Mar genug, daß fie den Unterfchieb von Ars 
men und Keichen nicht aufheben wollte und konnte. Es heißt zwar: „Cs fol 
allerdings Fein Bettler unter euch ſein;“ aber au: „Es werben allegeit Arme 
fein im Lande.” 


‘ 


fler , für das Gemeinweſen und für. die einzelnen Vollbuͤrger. Die oͤf⸗ 
fentlichen Lindereien waren Gefammteigenthum, fo dag nur eine Ver⸗ 
theilung der Nugungen ‚unter die Einzelnen fkatt hatte; und damit mar 
alfo ein einheitliche® oder. communiftifhes Element anerkannt. In Hin: 
fiht des Privateigenthbums an Grund und Boden. war der Beſitz der 
Einzelnen gleid) gemacht. Jeder hatte fein beftimmtes Loos, worin feine 
Erben ungetheilt figen blieben. Weil e8 um Erhaltung der Gleichheit 
dieſer Samilienlgofe zu thun war, waren Veraͤußerungen unter Lebenden 
und auf den Todesfall, alfo audy XZeflamente, unterſagt. Gtarb eine 
Zumilie aus, fo fiel ihr Land an den Staat, der es einem Nichtbefiger 
zutbeilte. So wat e8 früher in der Hauptfache au in den ionifchen 
Staaten, wie denn noch Solon buch das Verbot beliebiger Ankäufe 
eine gerviffe Steichheit der Ländereien zu erhalten fuchte. Doch erhielten 
ſich diefe Zuftände längere, Zeit bei den Völkern des dorifhen Stammes. 
In Oparta wurde das in 9000 gleihe Güterloofe getheilte Land von 
den ber Gefammtheit angehörenben Heloten oder auch von tributpflichti= 
. gen Periöfen gebaut. Jedes Gut fland im Eigentum der gefammten 
Samilie, und wenn ber dltefte Sohn Erbe war, war er es doch nur ale 
activer Eigenthbum, fo daß auch die Andern-.Antheil am Genuffe hat: 
ten. Noch aus anderen Staaten weiß man von verfchiedenen Beſtim⸗ 
mungen zur Bewahrung der Gleichheit des Grundbefiges, wie vom Ber: 
bot der Verpfändung der Grundftüde in Elis; von Gefegen für Erhal⸗ 
tung der Gleichzahl der Bürgers und Güterloofe in Altkorinth; von ber 
Unveräußerlichkeit der legteren in ber korinthiſchen Pflanzſtadt Leufas ; 
von einer zeitweife eintretenden Ausgleichung bes Vermögens in The 
ben, ähnlich wie bei den Juden. Ein communiftifches Element in Bes 
ziehung auf Confumtion waren die gemeinfchaftlihden Mahlzeiten. Zu 
den Spffitien in Sparta hatte Jeder eine beftimmte Quote von Lebens: 
mitteln beizutragen ; in Kreta wurden fie aus bem Ertrag der Staats: 
ländereien, den Zributen der Peridken und aus Beiträgen der Einzel: 
nen befkritten. Für die genauere Ausbildung des Privateigenthums an 
beweglihen Suchen war ein geringered Bebürfniß vorhanden. Wo 
die Sklaven, wie in Sparta, das Eigenthum des Staatd waren, mo 
gemeinfchaftlihe Mahlzeiten gehalten wurden, mo der Beſitz von edlen 
Metallen verboten war und die Einführung eiferner Münzen die An: 
bäufung bemeglicher Gapitalien erfhwerte; wo die Entwendung bemeg=- 
licher Sachen alg militärifches Bildungsmittel betrachtet wurde: da blie⸗ 
ben kaum andere Mobilien übrig als Waffen, Hausgeräthe und beweg⸗ 
liche SSnftrumente der Arbeit. Daran fand zwar Eigenthum flatt, aber 
zugleich gab es fich von felbft, daß fich für alle Bürger bis zu einem 
gewiſſen Grade ein gemeinfhaftlihes Nutzungsrecht, zumal an den 
Arbeitswerfzeugen, wie an Zug: und Laftvieh u. dgl., ausbilden Eonnte. 

Fortſetzung: Spätere hellenifhe Staaten. Römer. 
Germanen und Mittelalter. Keine Gefeggebung vermag eine ab: 
folute Gleichheit des Erwerbs und Befisthums feftzuhnlten; je nach In⸗ 
dividunlität und Gunſt der Umftände areift doch Jeder fogar unwillfürs 


Communismus. 80 


lich in die Sachenwelt ein, um ſich das Eine vor dem Andern anzueig⸗ 
nen. Iſt dies in groͤßerem Umfange geſchehen, ſo tritt die Ungleichheit 
bes ſaͤchlichen Vermögens in's Bewußtſein; und wie man erſt die thats 
ſaͤchliche Gleichheit deffelben zur rechtlichen zu machen und gefeglich zu 
fihern bemüht war, fo verfudht man es nun mit der deutlicher gewor⸗ 
denen factifchen Ungleichheit. Bei den Mächtigeren und Wehr Befigen- 
den erwacht das Steben, biefes Mehr fi) und ben Ihrigen zu erhals 
tm. Dan knuͤpft alfo die nothwendigen Mebergänge des ſaͤchllchen Ver⸗ 
mögend auf Andere, zunaͤchſt und hauptfächlich wieder die des Grundei⸗ 
genthums, an befondere Bedingungen der Berdußerlichkeit unter Le⸗ 
benden und für den Todesfall. So entfliehen reichere und baum _ 
mächtigere Familien von Grunbeigenthümern, bie mehr und mehr auch 
politifche Vorrechte an ſich reißen und daburch zum Adel werben koͤn⸗ 
nen, ohne es jedoch dadurch allein fchon gu fein. Diefer Bildungs» 
gang zeigt fich deutlich bei den Hellenen der fpitern Zeit, bei ben Roͤ⸗ 
mern und bis zum Ende des germanifchen Mittelaltere. Zunaͤchſt trat 
das Moment des Individualismus bei den ioniſchen Boͤlkern, zumal im 
Athen, deutlicher hervor und offenbarte ſich in ber freieren Veraͤußerlich⸗ 
keit des Grundeigenthums. Damit verband ſich jedoch die Sorge 
einer moͤglichſten Befeftigung des Familienbefiges im Verbot ber Teſta⸗ 
mente bei dem DBorhandenfein von Leibeserben, und in ber Bes 
vorzugung des Mannsſtamms. Später war auch in Kreta det Ans 
Lauf neuer Ländereien nicht mehr verboten, und in Sparta geftattete 
ein Gefe die beliebige Verſchenkung des Grundbefitzes, wodurch größere 
Gütercomplere an Einzelne und an Frauen kamen. Auch das Verbot 
des Beſitzes von edlen Metallen wurde nicht mehr geachtet; das Eigen⸗ 
thum an mehrerlei beweglichen trat beftimmter hervor und mit der Vers 
mebrung der möglichen Gegenftände des Obligationenrechts prägte fich 
dieſes felbft ſchaͤrfer aus. 

Die jährliche neue Vertheilung des Landes im Guevenbunbe, wo⸗ 
von Caͤſar berichtet und. worauf Zacitus als auf ein gemeinfames 
germanifches Inſtitut hinzumelfen fcheint, deutet auf das Uebergewicht 
eines einheitlichen und gleichheitlichen Elemente. Wahrſcheinlich gründete 
ſich diefe Einrihtung auf eine noch halb nomadifche und halb anfäffige 
Lebensweiſe, wornad diejenigen Mitglieder der Genoſſenſchaft, die im 
Intereſſe der Geſammtheit während des einen Jahre in Heereszuͤgen oder 
al8 Hirten ein MWanderleben geführt hatten, im naͤchſten Jahre zur Bes 
bauung des Feldes berufen waren. Als dann die nomabifche Lebensweife 
mehr in den Hintergrund trat unb man zu einer dauernden Verthei⸗ 
lung von Grund und Boden kam, mar es ohne Zweifel das Princip 
der gleichen Vertheilung an alle Freien, das man zur Anmenbung 
brachte. Die pofitiven Rechte bilden ſich nad Maßgabe der Bedürfniffe. 
Um auf eine fernere Zukunft hinaus die möglichen Folgen einer ſocialen 
Anordnung vorauszufehen und hiernady vorbeugende Gefege zu erlaffen, 
wird fchon ein höherer Grad von Cultur erfordert. Darum finden ſich 


40 Communismus. 


bei ben aͤlteren Germanen nicht ebenſo ausgebildete Beſtimmungen über 
Erhaltung der Befigesgleichheit wie bei Griechen und Juden, bie viel 
früher in die Reihe der Culturvoͤlker eingetreten waren. Die thatfäch: 
liche Ungleichheit des Beſitzes war Thon in höherem Grade vor 
handen, als man zu näheren Beſtimmungen über Erhaltung beffelben 
in den einzelnen Samilien gelanzte. Dahin gehörte, daß bie Veraͤu⸗ 
Gerung bes Grundeigenthums in der Megel nur mit Einwilligung der 
naͤchſten Erben erfolgen konnte und daß bei erlaubten Veraͤußerungen 
die Erben ein Recht des Vorkaufs ober binnen Jahr und Tag ein Recht 
des Retracts hatten. Finden aber gefegliche Beſchraͤnkungen binfichtlic) 
der Veraͤußerungen aus der Familie ftatt, fo trägt dies zwar zur Er⸗ 
haltung der bereits vorhandenen Ungleichheiten bei, aber es er⸗ 
fhwert auch auf der andern Seite die Entftehung größerer Ungleichs 
heiten. Darin liegt alfo noch keineswegs ein Abfall vom Grundſatz 
der Gteichheit, und man muß allzu fehr in den Hegel’fhen Kategorien- 
gang verfangen fein, um bei ben Germanen oder bei irgend einem Volke 
an ein plögliches Umfchlagen vom Princip der Gleichheit in das der Un» 
gleichheit zu glauben. Sit die Veräußerung von Grunbeigenthum nicht 
unbedingt verboten, fo ift mehr oder minder ein anbauernder Fleiß und 
eine verftändige Bewirthſchaftung erforderlich, damit e8 der Samilie we: 
nigftens erhalten werde. Es ift alfo fehr erklaͤrlich, daß Diejenigen, 
die fih nod im Befig eines durch mehrere Generationen vererbten 
Stammguts befanden, auch bei den germanifchen Völkern als aus guter 
Familie ſtammend betrachtet wurden und in Anfehen flanden. Aber 
dies war nur eine der Perfönlichkeit des Einzelnen dargebrachte freie 
Huldigung, die noch lange feinen erblichen Geburtsabel begründete, der 
fih erft aus dem Feudalweſen entwidelte!°). Als ſich aber einmal der 
Gegenfag von Alod und Lehn gebildet hatte und als die Lehen ihren 
urfprünglichen Charakter eines jährlichen durch Landbeſitz bezahlten Krie: 
gerfolds verloren, mußten die Beftimmungen für Erhaltung des Beſitzes 
bei der Familie nothwendig auch auf die Lehen Anmendung finden. 
Auch die gemeinfchaftliche Gewere, oder die Gewere zur gefammten 
Hand an Stammgütern und Fideicommiffen, mit einem oder mehreren acti= 
ven Eigenthümern, bis die andern Berechtigten durch Erbfolge an ihre 
Stelle traten — mar urfprünglid nur ein Ausdrud für das Gefammt: 
eigenthum der natürlih nothmwendigen Affociation der Familie. Erſt 
mit Aufnahme von entfernter ftehenden Perfonen durch Erbverträge und 
Sanerbfchaften, oder durch Anwendung auf juriftifhe Perfonen erhielt 
die gemeinfchaftliche Gewere eine ausgedehntere fociale Bedeutung. Eine 
ſolche Bedeutung hatte dagegen von Anfang an, als die Anerkennung 
der Einheit einer aus mehreren Familien beftebenden Genoſſenſchaft, 
das Inſtitut der Allmend und der gemeinen Marl. Die legtere fland 


15) Von der Worausfesung eines in bie Alteften Zeiten hinaufreichenden 
germanifihen Abel geht auh Kaifer in der genannten Schrift aus. Siehe da⸗ 
gegen: „Adel.“ 


Communismus. 41 


nicht allein im Geſammteigenthum einer Gemeinde, ſondern oft in dem 
mehrerer Kantone und ganzer Gaue. Da die Benutzung Allen frei ſtand, 
ſo richtete ſie ſich factiſch nach der Groͤße des Privatbeſitzes, wie z. B. 
bei gemeinſchaftlichen Weiden nach dem —28 — jedes einzelnen Ge⸗ 
noſſen. Dies wurde ſo lange nicht als Rechtsverletzung empfunden, als 
noch, von einzelnen Schwankungen abgeſehen, ber Privatbefig ſelbſt we⸗ 
ſentlich gleich war. Spaͤter erhob ſich jedoch zwiſchen ben aͤrmeren und 
reicheren Benutzern dieſes Geſammteigenthums nicht ſelten Streit, der 
ſich oft durch Jahrhunderte bis in die neueſte Zeit fortgeſetzt hat 10). 
Endlich verwirklichte ſich noch die Idee ber Einheit in den Verbindungen 
zu gemeinfchaftlihem Handeln fo wie in der Gefammtbürgfchaft oder im 
der Haftung Aller wegen der auf dem Gebiete der Genofjenfchaft vers 
übten Vergeben; und in zahlreichen Corporationen und Innungen, nas 
mentlich dee Handwerker. Nachdem aber innerhalb der Vereine der 
Freien das Recht des Individualismus, oder das Recht, ungleich zu ers 
werben und zu befigen, zur Geltung gekommen war, dehnte es ſich end» 
lich auf die Unfreien aus. Zuerſt bildete fich eine Gewere des Unfreien 
an beweglichen Sachen, fo daß fid) das Recht des Herrn nur noch bei 
Kodesfällen im Beithaupt zeigte. Später entftand auch für einen Theil 
der Hörigen , mit der gleichzeitigen Entmwidelung ihres Erbrechts, eine 
abgeleitete Gewere an Grund und Boben, wie für Erbzinsmänner und Andere. 

Der deutfche Rechtsbegriff von der Gewere legte ein großes Gewicht 
auf das factifhe Verhältniß der Perfon zur Sache, auf die Lörperliche 
Herrſchaft über die Sache. Im römifhen Begriff von dominium murde 
das einmal Erworbenhaben und das Fefthalten des Erworbenen mit 
dem Willen ein befonders hervortretendes und in feine dußerften Con⸗ 
fequenzen uusgebildetes Moment. Diefer ausgedehnteren Befugniß, mit 
dem Willen feftzuhalten, entfprady die andere, duch Willensäußerung 
das Eigenthum aufzugeben. So war felbft die Veräußerung bes ager 


16) Wie z. B. der Streit der f. g. „Hoͤrner“ und „Klauen“ im Kanton 
Schwoz, der au zu einem politifchen Parteiftreite wurde. Weberhaupt zeigt 
ſich im Hinblick auf die altgermanifchen Allmend = und Markverhältniffe, aumal 
was die Gemeindeweidın betrifft, auf das Allerbeutlichfte, wie neben der Thei⸗ 
lung des Bodens zu Privateigentbum doch auch im Gemeindegut die Einheit in 
der Vielheit , die Gemeinſchaftlichkeit in der Abfonderung ihren Ausdruck behals 
ten hatte; wie aber fpäter für bie aͤrmeren @emeindeglieber feibft das gemein 
Ihaftliche und abſtract gleiche Recht Aller an ber Benutzung bes Gemeindeguts 
Immer mehr feine factifche Bedeutung verlorz wie eben dadurch der Arme noch 
ärmer, der Reiche noch reicher wurbe , da jeder unglüdtliche Zufall, der Jenen 
in feinem Privatbefig betroffen hatte, aud unmittelbar feine Benutungs⸗ 
fügigleit des Gemeinguts verkürzte und verkuͤmmerte. Um fo gewiffer ift bie 
fortwährende Ausgleihung der ſtets fchroffer gewordenen Ungleichheiten des Bes 
fies die Aufgabe des Staates geworben , des Vertreters der Einheit und Ges 
meinſchaftlichteit aller Glieder der Geſellſchaft. Es ift alfo auch klar genug, daß 
die allfeitig geforderte Soctalreform im Wefentlihen nur eine Reftauration von 
uralten rechtlichfactifchen Verhättniffen ifts indem wieder für das nie verfchwuns 
dene, aber feiner Realität entleerte Recht aller Glieder der Gefellfchaft der 
eonerete Inhalt gefunden werben muß. 


in italico solo unter Lebenden an feine Einwilligung bee naͤchſten Er 
. ben oder der Agnaten gebunden. Sin diefer Beziehung zeigte fich alfo bei 
den Mömern früh ſchon eim deutlich hervortretendes Mecht der Indivi⸗ 
dualität 17). Doc blieben Erwerbung und Veräußerung von Eigenthum; 
namentlich für befondere Arten von Sachen, mie bie res mancipi, an 
befchränkende Foͤrmlichkeiten gebunden, die aber wefentlid nur den Zweck 
batten, das Dafein des befonnenen und entfchiedenen Willens zur Ders 
dußerung objectiv gewiß zu machen. Daffelbe Princip des Individua⸗ 
lismus fand darin Anerkennug, daß die Dinterlaffenfhaft, in die fein 
suus eintreten mußte, zur res nullius warb und alfo nicht dee Gemeins 
ſchaft, dem Staate, zufiel, fondern der Occupation jedes freien Bürgers 
unterworfen war 10). Auch der suus mar nur nothiwendiger Erbe, als 
bee mit dem Erblaffer fort und fort Occupirende; und bie Erbrecht 
gebende Arrogation oder Adoption, durch das vom Volk vermittelt einer 
lex beftätigte f. g. Teſtament in den Comitien, war nur bie Aufnahme 
eines Dritten als suus. Als das Imölftafelngefeg, neben dem Inteſtat⸗ 
erbrecht der Agnaten und Gentilen, ſchon bie freie testamenti factio ges 
währte, war auch bies bie Anerkennung einer fehr ausgedehnten Befugs 
niß bes individbuelen Eigenthuͤmers 10). Uebrigens war ta Rom wie 
überall das volle Eigenthum zunaͤchſt nur möglicd für bie völlig freien 
Staatsbürger, für den hHerrfchenden Stamm der Quiriten, fo baß es 
nur ein wahres Eigenthum ex jure Quiritium gab. Darum mar nur 
den Patriciern die Occupation und Benugung des ager publicus, der. 
Staatsdomäne, erlaubt. Erft in dom Mafe, als ſich die Plebejer die 
flaatsbürgerlihen Rechte erlämpften, errangen fie fid) erſt den Mitbefig 
und Mitgenuß am früheren Eigenthum des Staates, nachdem zuvor 
das Licinifche Gefes vom Jahre 378 das individuelle Beſitz⸗ und Be⸗ 
nutzungsrecht der Patricier am ager publicus befchränft hatte. Damit 
kam man zu einer freilich nur theilmeifen und vorübergehenden 
Ausgleihung einiger Ungleichheiten des Beſitzes. 

Fortfegung: Spätere Römer Neue Zeit. Der Gedanke 
einer fortwährenden Ausgleihung der die freie Entwidelung jedes Mens 
fchen hemmenden Ungleichheiten des Beſitzes, durch ſtets ſich erneuernden 
Uebergang des Privateigenthums in oͤffentliches und des oͤffentlichen in 
privates, gehoͤrt erſt der neueren Zeit an. Er gruͤndet ſich einerſeits auf 
die Ueberzeugung vom Zuſammenhang alles Menſchenlebens, wonach 


17) In anderer Beziehung, wie z. B. in der milderen vaͤterlichen Gewalt, 
in der groͤßeren Rechtsgleichheit der Ehegatten u. ſ. w., trat ſchon im altger⸗ 
maniſchen Rechte die Bedeutung der Individualitaͤt ſchaͤrfer hervor. Vergl. „Deut⸗ 
ſches (Privat⸗) Recht.“ 

18) Erſt nach der ſpaͤtern lex Julia caduciaria fielen die erbloſen Guͤter 
dem Volke, dem populus, zu, und unter den Kaiſern, wahrſcheinlich ſeit Ca⸗ 
racalla, dem kaiſerlichen Ficus; alſo nicht mehr Einzelnen, ſondern der ganzen 
Geſellſchaft oder dem Repraͤſentanten ihrer Einheit. 

19) Dieſe freie Dispoſitionsbefugniß war auch im testamentum per aes ot 
libram anerkannt, obgleich noch dieſe Uebertragung von Sachenrechten an eigen⸗ 
thuͤmlich ſtarre Formen geknuͤpft war. 


Kommunismus. 43 


geiler Weberfluß und drädender Mangel nur als entgegengefegte Krank⸗ 
heiten erfcheinen , die in ber gefunden Gefellfchaft beide verſchwinden fols 
len; fo wie anderer Seits auf die Anerkennung der freien Perfönlichkeit 
und Menfhenwürbe in jedem Menfhen als einziges und darum als 
allgemeines Menfchenreht. Die wirkliche Vollziehung diefes Gedankens 
iſt erſt möglich geworden durch Einführung einer regelmäßigen Bes 
fleuerung. Diefe konnte wohl anfangs als neue Laſt empfunden 
werden, ift aber in ihrer Entwidelung und vernünftigen Anwendung das 
zu beftimmt, nicht blos die Wunden zu heilen, die fie felbft gefchlagen 
bat, fondern überhaupt ein frifche® und gefundes gefellfchaftliches Leben 
zu vermitteln. Die allgemeine Befteuerung aller einzelnen lieder der 
Geſellſchaft nad) Verhältniß ihres unbemweglihen und bemeglihen Vers 
mögens knuͤpft fih an die Ausbildung des Geldſyſtems und im xömis 
fhen Reiche wie in den germanifchen Staaten an bie Entflehung einer 
unumfchränften monarchiſchen Gewalt. Die Legtere wurde hiernach als 
lerdings die Bruͤcke, aber nur die fhon überfchrittene Brüde zu einer 
höheren Stufe der Geſellſchaft. Denn trog aller Tyrannei vieler roͤmi⸗ 
fen Imperatoren und trotz dem „Pétat c’est moi‘ eines Louis XIV. 
wurden doch nie die Monarchen des Decidents glei den orientalifchen 
Despoten ale Alleineigenthämer betrachtet, fondern vorherrſchend nur ale 
Beſchuͤtzer und Gewaͤhrleiſter der rechtlihen Möglichkeit aller Einzelnen, 
Eigenthum zu erwerben und zu befigen. 

Diefer Zuftand der noch abftracten Möglichkeit Aller, in rechts 
lich gleicher Weife wie jeder Andere Eigenthümer zu fein oder zu werden, 
wurde durch eine lange Reihe von Entwidelungen herbeigeführt. Die 
treibende Wurzel der ganzen Bewegung war das in wachfenden „Kreifen 
erwachende Bewußtſein, daß jeder Menfcengeift in feiner Weife zur 
Theilnahme an der Herrſchaft über die Sachenwelt berufen ſei. So 
wurden die Vorurtheile und Vorrechte, die einzelnen Ständen und Glafs 
fen der Bevoͤlkerung eine privilegirte Herrſchaft verliehen hatten, mehr 
- und mehr duchhbrochen, und bamit im Zufammenhang bildete ſich ein 
gleihmäßigeres Recht für die Behandlung aller Arten von Sachen aus. 
In Rom flellte das jus gentium des prätorifhen Rechte dem Eigenthum 
dee Quiriten erft das in bonis habere und das fingirte Eigenthbum der 
bonae fidei possessio durdy Ufucapion zur Seite. Trajan gab felbft 
an den res mancıpi ein bonitarifches Eigenthum und Juſtinian bob 
endlich den Begriff des firengen Eigenthums der Quiriten ganz auf, fo 
daß nun alle Rechtshandlungen, die früher nur bonitarifches Eigenthum 
gaben, jegt das volle Eigenehum begründeten. Auch bei ber Emphyteu⸗ 
fig wurde materiell der Befiger beinahe zum Eigenthümer. Der ager publi- 
cus ging immer mehr in Privateigenthbum über; Domitian fchenkre den 
Gemeinden die von ihnen befeffenen Antheile und endlich verwandelte ein 
Geſetz vom Jahre 423 den bisherigen Befig an diefer Staatsdomaͤne in vol⸗ 
les Eigenthum. Zugleich wurde das Erbrecht mehr und mehr cognatifch 
und trug zur Verbreitung des Beſitzthums wefentlich bei. . 

Bei allen Verfchiedenheiten im Einzelnen war dod im Ganzen 


44 Communismuß,. 


bei den germaniſchen Voͤlkern der Neuzeit die Entwidelung eine weſent⸗ 
lich gleiche wie im römifchen Staat; mit dem großen Unterfchiede jedoch, 
daß fie zugleich die Keime einer neuen Zukunft in fich entfalteten. Die 
vermittelnde vogteiliche Gewalt der Regenten gemann größere Bedeutung, 
als die mächtigen abgefchloffenen Stände und Gorporationen in gegen: 
feitigem Kampfe ihre Kräfte mehr und mehr aufrieben; als die Staͤdte, 
die Induſtrie und der Handel ſowie das bewegliche Vermögen im Ges 
genfag zum Grundeigenthum ein größeres Gewicht in die Wagſchale 
warfen: als die Fürften, auf diefe neue fociale Macht geftügt, ihre po= 
litiſche Gewalt zu ermeitern vermochten. In naͤchſter Oppofition gegen 
die auf Grundbefig bafirte Macht des Adels und der Geiftlichkeit begann 
nun der Staat durdy Aneignung von Regalien und durch Befteuerung 
in das Privateigenthbum ein:ugreifen, moburd er fich für eine fernere 
Zukunft die Möglichkeit anbahnte, ein durchgreifendes Syſtem der Aus⸗ 
gleichung in’s Leben zu führen. Das Eindringen des römifchen Rechte 
that dem Individualismus und dem individuellen Eigenthum, gegenüber 
dem ftändifhen und corporativen Befisthum, meiteren Vorſchub. Aber 
auch die Reformation und jene einflußreichen Erfindungen und Entbes 
ungen , welche auf ben Trümmern des Mittelalters eine neue Welt 
theils fchufen, theils fanden, wirkten in der gleichen Richtung. Die 
endliche Folge von dem Allen war die reformatorifche und revolutionäre 
Umgeftaltung der feitherigen Verhältniffe des Beſitzthums: Vermiſchung 
der Stände, Aufhebung ber Leibeigenfchaft, Befreiung des Grundeigens 
thums, Auflöfung des Zunftverbands — kurz bie Herrſchaft der unge⸗ 
bundenen flatt der ftändifch und corporativ gebundenen Goncurrenz. Auf 
der Grundlage der Statiftit erhob fih nun bie neue Wiflenfchaft der 
politifhen Oekonomie, bie in ihrer weiteren Ausbildung die Arbeit 
als Quelle des Eigenthums !erfannte. Darauf gründete endlich die 
neuefle Sociallehre bie Forderung, baß Jeder wie Alle mit ben zureichen= 
den Mitteln auszuftatten fet, um aus diefer Quelle fehöpfen zu koͤnnen. 

Sortfegung: Aeltere communtiftifhe Lehren. Vor—⸗ 
hriftliher ascetifher Communismus. Der NRüdblid auf bie 
Gefchichte der Entftehung des Eigenthums und feiner Ummwandlungen 
beftätigt e8 deutlich genug, mie bald das communiftifche, bald das gleichs 
heitliche Element und bald das des Individualismus vorherrfchend 
war, ohne daß je das eine durch das andere völlig verdrängt werben 
Tonnte. Bedrohte nun das wachſende Uebergewicht des Individualismus 
die früher in größerem Maße auf gemeinfchaftlihen ober gleichen Befig 
gegründete Gefellfchaft, fo ftellten fih ihm communiftifhe Doctrinen 
oder Gtleichheitslchren entgegen. Vom weſentlich politifhen Standpunfte 
aus gefchah dies ſchon in Griechenland, unter Anderen duch Phalens, 
Hippodamos uud hefonders durch Platon. Der Erftere wollte durch 
gleiche Erziehung und durch Maßregeln bei der Verheirathbung, wonach 
der Meiche Mitgift geben, aber keine annehmen follte, die möglichfte 
Gleichheit des Grunbbefiges erhalten haben. Hippodamos theilte feis 
nen Staat von 10,000 Bürgern in brei gleiche Claſſen der Handmerker, 


N Communismus. 45 


Aderbauer und Krieger, und das Land in ähnlicher Weife mie Altgries 
chenland. An neuere focialiftifche Doctrinen erinnert fein Lehrzmang und 
feine Beſtimmung, daß der Erfinder einer gemeinnügigen Neuerung nur 
mit der idealen Münze der Ehre zu belohnen fei. Die Republik Pla= 
ton’s beſtand nady feiner Dreigliederung der Menfchennatur in Wiſ⸗ 
fenden, darum Sefeggebern und Herrfchenden; in Kriegern, und in Ges 
‚meinen oder Aderbauern und Handwerkern. Aehnlich mie im neueren 
St. Simonismus, follte der Staat den Stand und für jede Perfon 
den Kreis ihrer Thaͤtigkeit beflimmen. : Damit war bie Perfönlichkeit 
des Eigenthums aufgehoben: die Aderbauer bearbeiten den Allen gemein⸗ 
ſchaftlichen Boden, die Fruͤchte werden unter Alle vertheilt. Auch die 
Frauen find gemeinfhaftlih und werden noch gleich den Sklaven als 
Sache behandelt. In feinem Werk über die Gefege verlangt er jedoch 
für Jeden fo viel Befig, daß er eim fittlidhes Leben führen könne, und 
geftattet eine Vermehrung des beweglichen Vermögens bis auf's Künfs 
fahe. Damit nähert er fid) den Anfichten bes Ariftoteles, der den 
mittelmaͤßigen Beſiztz eines Jeden für das Beſte erklärte; der die Pers 
föntichkeit des Eigentums und darum auch feine Unterfchiede nicht auf- 
gehoben haben wollte, aber doch eine gemeinfchaftliche Benugung wie in 
Sparta noch für zweckmaͤßig hielt. 

Durch Sahrtaufende hindurch, im Zufammenhang mit einer eigens 
thümlichen rel igioͤſen Weltanfhauung, zieht ſich eine meitere Reihe 
von communiflifchen Lehren, von Gründung feparatiftifher Communis 
flenvsreine und von gewaltfamen Verſuchen zur communiftifden Umge⸗ 
ftaltung der Geſellſchaft. Die Selbftunterfcheidung des Menſchen in 
Geift und Sinnlichkeit ſchlaͤgt immer wieder in einen feindfeligen Gegens 
fag, barum in einfeitige Vorherrfchaft des einen oder andern Elemente 
aus, fo Lange noch nicht die fort und fort verföhnende und ausgkeichende 
Ueberzeugung vom Dafein einer felbfibewußten Einheit alles Ge 
worbenen, von einem ewigen Gott, welcher Schöpfer und Träger der 
geſammten Welt des Geiftes und der Materie ift, da8 ganze Menfchen- 
leben zichtend und leitend durchdrungen hat. Ueber biefen feindfeligen Dua⸗ 
lismus, ber bald den Geiſt der Sinnlichkeit, bald diefe dem Geifte zum 
Dpfer brachte, kam die heidniſche Weltanfhauung nie vollftändig hin- 
aus; nicht einmal in ber jüdifchen und hellenifchen Vorſtellungsweiſe 
mit ihren materiellen Sühn: und Dankopfen. Da man bas aus 
ber Entzweiung bes Geiftes mit fich felbft entfprungene Böfe noch night 
vom finnlichen Uebel unterſchied, machte man bie Materie zum Gig 
und Quell des Boͤſen und verfinnlichte fich den irrig aufgefaßten Gegen⸗ 
fa des Guten und Böfen in der Vorftellung des Kampfes zwifchen 
Goͤttern des Lichts und der Finfterniß, zwiſchen Ormudz und Ahriman, 
ober unter fonftigen Namen und Bildern. Kamen nun die fchlimmen 
Folgen der einfeitig vorherrfchenden Sinnlichkeit augenfälliger zu Tage, 
fo traten Einzelne mit der Verachtung ober dem Haſſe gegen alle Ma⸗ 
terie entgegen. Diefe Oppofition offenbarte ſich dann entweder in ber 
quistiftifchen Verzichtleiftung auf materiellen Befig, oder in ber ſtreno⸗⸗ 


465 Ä Gomnmmismus. 


ven Ascefe einer Abtödtung des Fleiſches und einer bdirecten Beſitzes⸗ 
feindfchaftl. Da aber gleichwohl das Leben mit unauflöslihen Banden 
an die Materie gebunden bleibt; da zugleich die in der Oppoſition ges 
gen den Beſitz Befindlichen gerade in der Gemeinfchaftlichkeit diefer Rich« 
tung firh zufammenfinden mußten: fo entflanden bald au Gemein 
fhaften, deren Mitglieder, mit Verwerfung des Privatbeſitzes 
und Privateigenthums, eine mehr oder minder ftrenge Enthalte 
famkeit und bie Befchräntung des Genuffes auf ein Pärglihes Maß 
zur gegenfeitigen Pflicht fi) machten. Damit ging das quietiftifche und 
. ascetifche Bettlerthum in die ſociale Oppofition des ascetifchen Commu⸗ 
nismus über 29). 

Aus Aften miffen wir aus ältefter und neuefter Zeit von den oft 
feltfamen Kaftelungen indifcher Gpmnofophiften. Der Buddhaismus 
wird zwar mit Recht als der aͤlteſte orientalifche Proteftantismus bezeich⸗ 
net. Er war e8 aber nit in dem Maße, um jenen Dualismus zu bes 
feitigen, und feine Sittenlehre rechnete vielmehr den Gläubigen die Los⸗ 
reißung vom Materiellen und bie Unterbrüdung der Sinnlichkeit zum 
befondern BVerdienfte an. Daher noch jest in Mittel« und Dftafien die 
vielen auf Almofen angewiefenen budbhaiftifchen Klöfter mit Kafteiungen, 
Coͤlibat und Entfagung von irdifhen Gütern. Solche orientalifhe Ans 
fihten waren ohne Zweifel von Einfluß auf die Verfaffung des auf Guͤ⸗ 
tergemeinfchaft gegründeten puthagoräifhen Bundes und auf feine zum 
Theil ascetiſchen Lebensregeln. Bei dem Zerfall der römifch»griechifchen 
Melt erſchloß ſich der Occident wieder mehr als früher dem orientalie 
fhen Geiſte. Der Neuplatonismus trieb zwar Feine ascetifchen Gemein⸗ 
[haften hervor, aber doch rang Plotin felbft nad) dem Verbienft der 
Enthaltfamteit. Und diefe neuplatonifchen Lehren griffen bald auch in 
die Bildungsgeſchichte des Chriftenthums ein. 

Schon teit früher hatten die orientalifch=aecetifchen Anfichten bei 
den Auden Eingang gefunden und bei ihnen entftanden aud) gegen Ende 
der alten Gefchichte ascetifche Genoſſenſchaften. In der Secte der The⸗ 
rapeuten am aͤgyptiſchen See Möris lebte zwar jeder Einzelne in feiner 
Zelle; aber am Sabbath hatten fie doch gemeinfchaftliche Pärgliche Lies 
besmahle und für Alle galt das Gebot der Ehelofigkeit, des ſtrengen 
Faſtens und ber dürftigen Nahrung. Ein jüngerer Zweig diefer Secte 
waren die Effener in Paldflina, die gruppenmweife an der Weſtſeite des 
todten Meeres oder auch einzeln in den Städten lebten. Da Mofes 
den Aderbau in dem zu gleichen Loofen an alle jüdifchen Familien ges 
theilten Lande zur geehrten Beſchaͤftigung gemacht hatte, fchloffen fich 
auch die Effener von Aderbau, Viehzucht und friedlihem Gewerbe nicht 
aus. In ihrem hierarchiſch fireng und vielfach abgefluften Orden galt 


20) Siehe den fehr beachtenswerthen und inhaltreihen Auffag: „Der Kom: 
munismus und bie ascetifhe Socialreform im Laufe der hriftiichen Jahrhunderte. 
Bon Dr. C. B. Hundeshagen,” in Ulimann’& und Umbreit’s „theo- 
logifchen Studien und Krititen. Jahrg. 1845, Oft: 3 und 4. 


Communismus. 47 


jebody‘ gleichfalls das Dogma, daß das Fleiſch das Gefängniß des Gei⸗ 
fies, der Quell des Böfen ſei. Darum mußte jeder Eintretende fein 
Bermögen der Gemeinfchaft übergeben; das täglih Erworbene mußte 
noch am Abend in die gemeinfame Drdenscaffe abgeliefert werben, wel⸗ 
he die Mittel zur Beftreitung ber Bedürfniffe im Ganzen und Einzels 
nen hergab. Auch ließ man nur die vor dem Eintritt in ben Orden 
abgefchloffene Ehe gelten, die von da an enthaltfam fein mußte. 
Fortſetzung: Der ascetifhe Communismus im Ges 
biet des Chriftenthums bis zur Reformation. Die Bluͤthe⸗ 
zeit des Effenerthums und die Ausbildung bes neuplatonifcdyen Pytha⸗ 
gordismuß fiel mit der erften Entfaltung des Chriftenthums zufammen. 
Man hat fich fchon früh Mühe gegeben , dieſes aus dem Effenismus 
berzuleiten und als eine Werallgemeinerung des letzteren aufzufaffen. In 
neuefter Zeit gefchah bies auch von Seiten einiger Gommuniften 21). 
Allein das allen Völkern geprebigte  Chriftenthum mit feiner Idee der 
bruͤderlichen Gleichheit, mit feiner Oppofition gegen die den freien Ges 
nuß und die freie Benugung der materiellen Welt noch vielfach befchrän- 
ende moſaiſche Religion, war feinem Weſen nad) ganz verfchieden vom 
Effenismus, der in vielfacher Beziehung nur ein auf die Spige getriebes 
ner Mofatsmus gewefen if. Es hatte nichts zu thun mit ber geheis 
men Weisheit der Effener, die von den Novizen an bie zu ‘ben Epop⸗ 
tm in verfchiedenen Graden offenbart wurde, und nichts mit ihren as⸗ 
cetiſchen Lebensregein und ihrer Bleinlichen dußern Moral, nad dem 
chriſtlichen Grundfage, daß dem Heinen Alles rein, dem Unteinen Als 
les unrein if. Mit dem Princip eines Gottes der Liebe, der Schöpfer 
des Menfchengeiftes und der ſinnlichen Welt des Menfchen iſt, bleibt 
die Forderung, daß die Sinnlichkeit dem Geifte zum Opfer gebracht 
werde, fhlechthin unvereinbar. Damit ift alfo auch der ascetifhe und 
überhaupt jeder allgemeine und zwingende Communismus unverträglich, 
weil diefer für Wiele doch toleder zum ascetifchen werden muß und weil 
fi) die freie Liebe nicht blos im Binden und Verbinden, fondern aud) 
im Löfen ımd Befreien bethätigt. Die Worte: „Es ift ein Geift, aber 
der Gaben find mancherlei“ weifen deutlich genug darauf hin, daß nad) 
dem Sinne ter chriftlihen Lehre die Individualitaͤt keiner abftraeten 
Einheit oder Gleichheit geopfert werden fol. Es waren alfo nur fehr 
unvollftändige hiftorifche Andeutungen oder beliebig generalifirte Stellen 
von ganz conereter Bebeutung??), wodurch man bas Chriftenthum zu 


er &o hat fih z. B. Weitling aus Chriftus kurzweg einen Effener 
gema 

22) Dahin gehört zumal bie berühmte Stelle der Apoftelgefh. 2, 42. und 
44 — 46. über die Urgemeinde von Jeruſalem, bie feit Shrofoftomus, alfo 
erft von ber zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts an, von der einer ascetifchen 
Lebensanſchauung verfallenen Partei im eigentlich communiftifchen Sinn gedeu⸗ 
tet wurde: „Sie blieben aber beftändig in der Apoftel Echre, und in der Ges 
meinfchaft, und im Brodbrechen, und im Gebet”... „Alle aber, bie 
gläubig waren geworben, waren bei einanber, unb hielten alle Din 


\ 


48 | Communismus 


einer communiſtiſchen Doctrin umſchaffen wollte; waͤhrend an hundert 
andern Stellen das perſoͤnliche Eigenthum, die Begriffe von Tauſch, 
Kauf, Lohn u. ſ. w. entſchieden anerkannt ſind. Wahr iſt jedoch, daß 
das Chriſtenthum mit dem Grundſatz der Liebe ein ausgleichendes ſocia⸗ 
liſtiſches Princip aufgeſtellt hat, das zur fortſchreitenden Bewaͤltigung 
des Gegenſatzes von Arm und Reich auffordert und daß die Geſetzgebung 
unferer nur fogenannten chriftlihen Staaten noch lange nicht durchdrun⸗ 
gen bat. Auch in dem von Proudhon befonders hervorgehobenen 
GSteichniffe vom Himmelreihe und Familienvater (Ev. Matih. 20), der 
jedem feiner Arbeiter fuͤr längere wie für kürzere Arbeit einen Grofchen 
ale Zagelohn giebt, liegt nur die Anerkennung eines gleichen Rechts, ſich 
durch Arbeit das gleich Nothwendige zu verſchaffen. Dies ift aber von 
geswungener Gütergemeinfchaft oder Gleichmacherei nicht blos verfchieden, 
fondern fleht damit geradezu im MWiderfpruch. 

Ein Theil der Belenner des Chriſtenthums fuchte indeß die Lehren 
des Effenismus mit den chriftlichen in Einklang zu bringen und kam 
hierdurch in bie Stellung einer reactionairen Oppoſition innerhalb des 
Gebietes der neuen Keligion. Nach dem noch im Dualismus befanges 
genen Manichäismus follte der Menſch, als Verehrer des guten Bots 
tes, kein Eigenthum haben bürfen. Nur der Genuß von Wegetabilien 
wurde geftattet und dadurch die nothwendige Vermiſchung mit der ſchleſch⸗ 
ten Materie wenigſtens auf ein gewiſſes Maß befchränkt. In weiterer 
Entwidelung enıfland daraus eine erneuerte efjenifche Ordensverfaſſung, 
worin bie electi ohne Ehe, Geld und But, ohne Entweihung ihrer 
Hände durch irgend ein meltliches Gefchäft leben follten. Ebenfo lehnte 
fi) dee Gnofticismus in feiner muthmaßlid, aͤlteſten Form an den Eſſe⸗ 
nismus an. Die erneuerte Verbreitung ber Anfihten über Verdienſt⸗ 
lichkeit der Faſten, bes jungfräulichen Lebens, der Selbflentmannung 
führte zunaͤchſt wieder zu einem einfiedlerifchen Leben männlicher und 
weiblicher Anachoreten; zumal in der thebaifhen Wüfte, doch auch in 
andern Gegenden von Nordafrika. Unter Umftänden ſchlug die Gleich⸗ 
gültigkeit oder die Verachtung gegen den materiellen Beſitz in thätigen 
Haß gegen bie Befigenden aus. So mifchten ſich die in Nordafrika ale 
ascetifche Bettler herumfchweifenden Circumcelliones in den Streit ber 


gemein, Shre Güter und Habe verkauften fie, und theilten fie aus unter alle, 
nah dem Jedermann noth war.” Hier ift deutlich genug nur von ber 
freien Gewohnheit einer gegenfeitigen Unterftügung die Rede, nicht aber von 
einem communiftifhen Gemeindegefes. Ebenſo unleugbar ift jedoch, daß ber 
chriftliche Staat, der fich nicht felbft zur Lüge machen will, das allgemeine fitt: 
lich religidſe Gebot der Liebe auch in feiner Gefengebung objectiv zu machen, 
daß er alfo auch von feiner Seite für eine Austbeilung der Güter zu forgen 
bat, „nah dem Jedermann noth ift.” Die firengere ascetifche Auslegung, 
wornach jeder irdifche Beſitz mit der chrifttichen Heiligkeit unverträglich fein fol, 
ftägte fich noch beſonders auf die Aufforderung von Ehriftus an ben reichen Juͤng⸗ 
ling (@uc. 18, 22.), feine Babe zu verkaufen und fein Gut unter die Armen 
auszutbeilen.. In bdiefer Stelle von ganz individueller Beziehung Tonnte und 
follte jedoch Erin ascetiſches Princip ausgeiprochen werben. 


\ 


Gommunismud. “ 


Donatiften Aber Trennung von Kirche und Staat. Sie fammeltn fich 
unter eigenen Anführern zu einer für das göttliche Mecht kaͤmpfenden 
beiligem Schaar, welche die Unterdruͤckten befchügte, fich der Sklaven ger 
gen bie Herren, ber Schuldner gegen die Gläubiger annahm unb bie 
Güter der ihren Geboten nicht gehorchenden Eigenthuͤmer verwuͤſtete. 


"Der Kampf bauerte vom 3. 311 bie weit in die zweite Hälfte des 4. 


Jahrhunderts. 

Bel den Anachoreten mußte wieder der Trieb ber Gemeinſchaft er» 
wachen. Gegen Mitte des 4. Jahrhunderts fammelte fie Pachomius in 
größeren zufammenhängenden Gebäuden, unterwarf fie beflimmten Mes 
geln und Vorgeſetzten, gnliederte fie nach Claffen und bildete fomit das 
Anachoretenleben zum Möndıthume um. An der erften Hälfte bes 5. 
Jahrhunderts zählte der Mönchsverein auf der Nilinfel Zabennd nicht 
weniger als 50,000 Mitglieder. Neben den religisfen Kunctionen wurs 
den die Mönche auf Iandwirthfchaftliche und induftrielle Arbeit angetoies 
fen und gegen Ende bes 4. Jahrhunderts hatte jedes Klofter fein eiges 
nes von Mönchen erbautes Schiff. So erhielt das ascetifche Leben eine 
feſtere Drganifation, und die Gewoͤhnung an flreng geordnete gemein- 
ſchaftliche Thaͤtigkeit wirkte auch nad) außen anregend und fördernb. 
Eine aͤhnliche Drganifation ber Arbeit in geiftliden Communiften- 
vereinen wurde im Abendland buch Augufin, Hieronymus, 3. 
Caffianus, befonders Benedict von Nurfia zu Stanbe gebracht. 
Indem aber bie Macht ber Affociation mit den Genußmitteln auch bie 
Genußſucht fleigerte,, begann der Verfall des Klofterlebens. Als Refor- 


matoren gegen bie Zuchtlofigkeit der Moͤnche traten ſchon zu Anfang 


des 9. Jahrhunderts Benedict von Aniane und Anbere auf. Im 
11. Jahrhundert begann fogar die ascetifche Fdee von Neuem ihre Ber 
wegung im Gegenfag zur entarteten Welt und verweltlichten Kirche. 
Eine größere‘ Menge lebte wieber als Anochoreten, bie ſich dann zu neuen 
Drden fommelten und geftalteten. Zugleich ahmte man die mönchifchen 
Vereine im canoniſchen Verbande von Weltgeiftlihen nad fowie in ben 
geiftlichen Ritterorben. Es entitanden communiftifche Eorporationen aller 
Art, die über unermeßliche geiftliche und materielle Mittel geboten; 
beven Macht aber auch immer mehr zur drüdenden Feudaltyrannei über 
das arme Volt wurde. Darum erhob ſich eine ſtets mächtiger anſchwel⸗ 
Inde Dppofition, welche theils politifch war, theils im Schooße ber 
Kirche felbft ihren Urfprung hatte. 

Je mehr die Kicche die eigene Ehrfucht und Habſucht nährte, um 
fo mehr trat ihre frühere Sorge für die Armen, ihre focialiftifche Func⸗ 
tion einer Ausgleihung dee Ungleichheiten des Beſitzes in ben Hinter: 
grund. Sie wurde gleichzeitig die turannifche Beherrfcherin ber weltli- 
chen Gewalthaber wie der Maſſe des gehorchenden Volks. Hiernach 
sing auch die Proteftation gegen die Uebermacht bes Klerus theild von 
ben weltlichen Zeudalberren aus, wie in Suͤdfrankreich, mo fie durch 
den Albigenferkrieg erſtickt wurde, theild vom Volle, vom 10. bie 13. 
Jahrhundert, in zahlreichen Aufftänden wegen ber kirchlichen Zehn: 

Suppl. 3. Staatslex. U. 4 


50 Communismus 


ten und Frohnden, bis zum Stedingerkrieg (ſeit 1234) und dem zu 
einem Kreuzzug gegen die Kirche gewordnen Kreuzzuge in der Picarbie 
(1251), theil® von den Kürften, wie zumal im großen Kampf der 
Hohenftaufen gegen die Päpfte und in dem Philipp’s des Schönen. 
As dann zunaͤchſt von Frankreich aus die Uebermacht der Päpfte ges 
brochen war und die weltlichen Gewalthaber ſich mehr! und mehr von der 
Kirche emancipirten,, wurde vom Volt der Drud der weltlihen Feu⸗ 
dalherren fchärfer empfunden. Ein Zeugniß deſſen find die Bauernauf- 
flände im 14. bis zu Anfang des 16. Sahrhunderts, die Jacquerie in 
Frankreich, die Empdrung Wat Tyler’& in England, der Käfebrödter 
in ben Niederlanden, des G. Dofa in Ungarn. Nur in Suͤddeutſch⸗ 
land kamen noch häufige Bewegungen gegen Biſchoͤfe und Aebte vor. 
Sonft aber machten bei diefen Aufftänden gegen die weltlichen Herren 
"die Mönche nicht felten die Lobredner und zumeilen die Anführer. 

In der Mitte bes Latholifchen Klerus traten feit dem 11. Jahr⸗ 
hunderte Reformatoren bes Moͤnchsweſens auf, wie zumal der berühmte 
Bernhard von Clairvaur. Xrog ſolchen theilmeifen Beſſerungen, bie 
nur den Verfall anerkannten, ohne ihn hindern zu koͤnnen, erhob fich 
von anderer Seite ein Sturm, der nicht blos die Kirche, ſondern das 
ganze ſociale Leben erfchütterte. Alle Verfolgungen hatten in’ ber orien⸗ 
talifchen Kirche die gnoftifch = manichäifchen Secten nicht auszurotten ders 
mocht. Die zahleeiheren Verbindungen mit dem Drient durch bie Kreuze 
züge gaben auch im Abendlande den kathariſchen Secten eine ausge: 
dehnte Verzweigung. Sie kamen faft ducchweg darin überein, daß fie 
eine Reformation der Kirche vom Laienflande aus forderten und daß 
fie ſtreng ascetiſchen Grundfägen huldigten, wonach fie die Ehe vers 
toarfen und alle animalifhe Nahrung verboten haben wollten. Als nun 
dee calabrefifhe Abt Joach im von Flora den Plan zu einer in apoflos 
liſcher Einfachheit und Armuth lebenden Verbindung religiöfer Perfonen 
für reformirende Thaͤtigkeit gefaßt hatte, fteigerte fid, die Gaͤhrung im 
Volt und verbreitete fih in Suͤdfrankreich, Oberitalien, Deutfchland, 
England, Niederlanden und bis in den Kirchenftaat. Die Moͤnchsidee 
fhien die Wurzel einer von unten auf betriebenen Socialteform zu 
werden. Da ergriff die mweitfehende Politid des Papftes Snnocenz Il. 
das Mittel, den gährenden Elementen wenigftens theilmeife eine kirchliche 
Faſſung zu geben und fie dadurch der Disciplin und Herrſchaft der Kirche 
zu unterwerfen. Dies geſchah zunaͤchſt (i. 3. 1209) durch Ausfähnung 
der Kirche mit den Anhängern des Durand von Huesca, den pan- 
peres catholici oder Humiliaten , die fich zu freimilliger Armuth, Keuſch⸗ 
heit und firengem Faſten verpflichteten, außer ihrer Kleidung Feine Art 
von Eigenthum befaßen und in religiöfer Gemeinfchaft lebten. Aus aͤhn⸗ 
lichen Elementen bildeten fi die feit 1220 zuerft in ben Niederlanden 
hervortretenden Begharden, die Wereine unverheiratheter Männer, meift 
Weber und andere Handwerker, bie unter einem Meifter in gemein- 
fhaftlihen Häufern lebten und fi mit Andahtsubungen, Dandarbeit 
und Liebeswerken befchäftigten. ine noch größere Verbreitung hatten 


Communismus. | 61 
Thon feit dem 11. Jahrhunbert die gleichfalls bei bem Wolke ehr bes 
liebten weiblichen Beghuinenvereine erhalten. Diefe volksthuͤmliche Partei 
eeligiöfer Socialceformer ſchwoll mehr und mehr an, als ihre Kraft durch 
Errichtung der beiden großen Bettelorden, zumal der Franciskaner, ger 
brochen wurde. Dies war eine ausweicdhende Conceffion an den herr⸗ 
fhenden Volksgeiſt; denn bie aus dem Volt ftammenden Möndye Halfen 
nun felbft die Oppofition gegen bie Kirche niederhalten. Zwar wurde 
der alte Unabhängigkeitsgeift gegen bie Curie, aus dem die Bettelorden 
hervorgegangen waren, in biefen felbft nie ganz unterbrüdt. Aber der 
Gedanke einer Socialceform trat doch in den Dintergrund, da bie Ins 
dividuellen ascetifchen Tendenzen wieder innerhalb der Kicche ibre 
berechtigte Stellung und Befriedigung fanden. Schon bei bem Tode 
des heiligen Franz von Affifi (1226) zählte fein Orden viele Laufende. 
Diefee war nicht auf gemeinfhaftliches Beſitzthum, fondern auf 
Armuth und Bettlererwerb gegründet ſowie auf Heiligung burch Abs 
thuung der Fleifchestuft und des verführerifchen Reichthums. Später 
wurde dem Orden der Nießbrauch an den ihm zufallenden Gütern ges 
ſtattet. Und wie fi) fchon die Manichder in auditores und electi ges 
theilt hatten, fo bildeten ſich bei den Francislanern bie einer milderen 
Kegel untertoorfenen Zertiarier, denen die weltlichen Geſchaͤfte oblagem 
und bie Beforgung des weltlichen Verkehrs mit der fündigen Gefells 
ſchaft 22). Uebrigens war die Bewegung zu mächtig, ale daß fie durch 
Errichtung der Bettelorden völlig gebämmt werden konnte. Schon um 
die Mitte des 13. Jahrhunderts wurde Gerardo Segarelli in Parma 
ber Gründer ber f. g. Apoftel. Die Mitglieder diefes Vereins mußten 
firenge Armuth angeloben und alle Begüterten bei ihrem Eintritt allem 
Beſitz entfagen. Doch hatten fie gleichfalls eine Claſſe von Tertiariern, 
denen Ehe und Arbeitserwerb erlaubt waren. Bei ihnen erwachte wieder 
ber kaum befchwichtigte Trieb ber ascetifchen Unabhängigkeit und bie 
Forderung einer Laienreformation.. Im S. 1303 ftelte ſich der feurige 
Schwaͤrmer Dolcino mit feiner Genoffin, ber ſchoͤnen Margerita 
von Trank, an die Spige der Bewegung. Er fanb großen Anhang 
unter den Bewohnern ber piemontefifhen Alpen. Dolcino forderte 
den Uebergang vom dufßern zum innern Gehorfam, predigte Armuth, 
brüderliche Gleichheit, Haß gegen Reiche und Befigende. Er wurde das 
Haupt eines religidescommuniftifhen Bauernkriegs, den er mit feinen 
Patarenern vier Jahre lang meift fiegreich führte, bis er endlich 
wit feiner tapferen ſchwaͤrmeriſchen Schaar auf ben eifigen Höhen bes 


28) Aehnlich den urfpränglichen Bereinen ber Begharden gründete Gerhard 
root zu Ende des 14. Jahrhunderts die Senoffenfhaft der Brüder bes 
gemeinfamen Lebens, die von der Kirche anerkannt wurde, ohne ein eigent- 
licher Moͤnchsorden mit feffelnder Regel und übertriebener Ascefe zu fein. Die 
Genofien lebten in Bruderhäufern und hatten Gütergemeinfchaftsz biefe jedoch nur 
als Mittel zur förderlichen Verbreitung des Unterrichts im Wolke und zur Er⸗ 
füllung der Pflichten der Wohlthätigkeit gegen die der Genoſſenſchaft nicht Ans 


4* 


! 


‘52 Communiſmus. 


Monte Cebello dem Hunger und dem Bunde geiſtlicher und weltlicher 
Herren erlag. 

Trotz allen Autodafes und allen Martern, womit man die Ketzer 
verfolgte, dauerte die haͤretiſch⸗ſocialiſtiſche Oppoſition im Volke fort. 
Sie befreite ſich von einer laͤſtigeren Asceſe und erhielt eine mehr un⸗ 
mittelbare Beziehung auf Staat und Geſellſchaft, als ſeit Anfang des 
13. Jahrhunderts durch den Einfluß der ariſtoteliſch⸗averroiſtiſchen Natur⸗ 
philofophie zumal in Paris pantheiſtiſche Anfichten auftauchten und 
auch im Volt Eingang fanden. Davon wurden namentlich die Beghars 
ben ergriffen und es entftand bie Secte dee Brüder und Schwe⸗ 
fern des freien Geiftes. Sie lehrten, daß die Natur an ſich 
nichts iſt; daß Gott vorzugsweiſe da lebe, wo Geift fet, alfo im Men» 
ſchen; daß hiernach göttlihe und menfchliche Natur in Eins zufammen- 
fallen. Der gute und gerechte Menſch wirkte das Nämliche was Gott 
wirke; er babe mit Gott Himmel und Erde geſchaffen, Gott könne 
ohne ihn nichts thun. Es komme Alles auf die gotteinige Geſinnung 
an. Gott wolle, wenn ſich dee Menſch zu einer Handlung dispo⸗ 
niet fühle, und habe Gott gewollt, dag der Menſch fündige, fo 
dürfe diefer nicht wuͤnſchen, die Sünde nicht begangen zu haben. Die 
Sünde feh überhaupt nur die Befonderung. Alſo müffe ber reine 
Urzuſtand vor dem Falle, dba noch die Menfchheit das Bewußtſein ihrer 
Einheit mit Gott gehabt, wieder hergeftellt werden, und zwar durch 
Aufhebung der durch das Geſetz in der urfpränglich gleichen Menfch« 
beit entflandenen Unterfchiede. Die Brüder und Schweſtern bes freien 
Geiftes zogen wandernd umher, Behrten bei Gleichgeſinnten ein, machten 
fi) bequeme Zage und betrachteten die Verbreitung ihrer Lehre als wich» 
tigſtes ober ausfchließendes Geſchaͤft. Staat, Kirche, Gefellfchaft mit 
allen Ständen und Gliederungen wurden negirt. Man mollte nichts 
mehr mwiffen von Obrigkeit, bürgerlicher Ordnung, Privatbefis, Familie 
und Ehe, welches Iegtere zugleich als Grund und ale Folge der Abfon- 
derung oder Sünde betrachtet wurde. In ihrer Spige lief alfo diefe 
Lehre auf Gemeinſchaft der Güter und Weiber hinaus. Selbſt verhüls 
lende Kleider galten als Abweichung von Natur und Unfhul. Darum 
hielten die Sectirer verborgene Zufammenkünfte, oft in unterirbifchen 
Behaufungen, Paradiefe genannt, wo in „heiligen Nächten” nackte 
Prediger vor Männern und Frauen über die durch das Geſetz ber Ehe 
widernatürlich verdrängte freie Gefchlechtsvereinigung prebigten. Unter 
verfchiedenen Namen verbreitete ſich die Secte vom 13. Jahrhundert an 
in Frankreich, Italien und Deutfchland. 

Aeltere und neu entflehende ascetifche Secten wurden von ber pan= 
theiftifchen Lehre bes freien Geiftes befonders da ergriffen, wo ohnehin 
der Volksgeiſt mit der Hierarchie zerfallen war. So kam auch biefe 
Art Kreigeifterei im Huffitenkrieg zum Vorfchein, obgleich diefer in feiner 
Hauptrichtung einen ganz anderen Charakter hatte. Im Kampf mit 
dem entarteten Merus und Moͤnchsweſen uͤberwog bei den Huffiten zu⸗ 
naͤchſt ein ariſtokratiſches, dann aber, mit Nikolaus von Duffinecz 


= 


, GCommmiſmus 52 


und beſonders mit Ziska, ein theoktatiſch⸗demokratiſches Element. Die 
Tabotiten und Horebiten, welchen der Kelch das Symbol der Einigkeit 
und Gleichheit in einer ſchoͤnen Zukunft war, gingen allerbings auf Zer⸗ 
flörung der bisherigen Staates und Kirchenordnung aus, aber doch nur, 
indem fie den fchon als fertig vorgefundenen Staat der Ifraeliten aus 
der Richterperiodbe zum Muſter nahmen. Daher entbrannte der tabori⸗ 

tifche Bauernfrieg wider die Ariftokratie der Barone und Städte, ohne 
daß es auf eine totale Soctalummälzung abgefehen mar. Dies war 
nur der Fall, fo weit ſich Ascetifches einmifchtes befonders aber feit 1421 
durch den Einfluß der Brüder und Schweftern des freien Geiſtes. Es 
bilbete fich nämlich eine Secte der Abamiten, die nadt gehen mußten. 
Ihe Stifter ließ fi Sohn Gottes und Adam nennen. Sie hatten 
Gemeinſchaft ber Weiber, dody mar zur jedesmaligen Beiwohnung bie 


Erlaubnis Adam’s erforderlih. In ihren Augen waren Alle Unfreig, . 


welche Kleider und befonders Hofen trugen. Darum morbeten fie bie 
bekleideten Huffitiichen Landleute als Kinder bes Teufels und begingen 
Ausfhweifungen aller Art, bis fie durch Ziska vertilge wurden umd 
unter Gefang und Jubel den Feuertod erdulbeten. 

Neben ber ascetifchen Oppofition, welche endlich, von pantheiſtiſchen 
Elementen ducchbrungen,, in einen graffen Communismus ber wiberlichs 
ſten Art ausgelaufen war, hatte fich inzwiſchen eine evangelifche Oppo⸗ 
fitton gebildet, die als Vorläuferin ber Reformation auf das unverfaͤlſchte 
Chriſtenthum zurädzuführen trachtete. Wie aber jede religiöfe Welt⸗ 
anſchauung, die ſich in Widerfprud mit dem Beſtehenden fest, enblich 
ein menes fochaliftifches Elsment in fi entwideln muß, fo geſchah «6 
im germanifchen Mittelalter. Zunaͤchſt auf der Grundlage eines abſtrac⸗ 
ten Scheiftglaubens begann mit Anfang bes 12. Jahrhunderts ein 
Kampf gegen die Kieche, aus dem die pauperes de Lugduno, Leoni- 
stag etc. und feit 1170 die MWaldenfer hervorgingen. Das Ziel war: 
chriſtliche Bruderliebe, Gemeinfchaft, Maßregeln gegen Sittenverberbniß und 
Selbſtſucht. Die Natur follte wieder in ihre Rechte eingefegt werben, was 
jedoch die erften Führer mit Zmangsmitteln ducchzufegen fuchten. Dan 
erhob ſich gegen die Erſchwerung der Ehen, bei benen eine Mitgtft 
mehr gegeben werden follte, damit fie nicht aus Eigennutz gefchloffen 
würden. Daher verheirachete Heinrich von Lauſanne Leibeigene nıit 
Freien unb kleidete fie aus dem vom Molke in feine Hände gelegten 
- Selbe. Aus diefem noch wirren Zuftande erhob fidy die gelduterte Lehre 
der Waldenſer, die mahrfcheinlich von früh an keine eigentliche Güter 
gemeinfchaft einführte, fondern nue zu gegenfeitiger Unterflügung ver 
pflichtete; fo tie fie auch den katholiſchen Prieflern ben Coͤllbat zum 
Borwurf machte. 

Sortfesung: Communismus zur Zeit der Reformation. 
Bei der ſichtlichen Ausartung der Kirche drang der Geiſt der Oppoſition 
bis in die höheren Claſſen und in die Geiſtlichkeit ſelbſt ein. Allein die 
tümmerlichen Reformen, welche die Eirhenverfaffungsmäßige Oppo⸗ 
fition auf den Soncilien von Pifa, Coftnis und Bafel verfuchte, konnte 


54 j Gommunismus. 


den Beuch nicht verhindern. Die Lehre Luther's von ber Rechtferti⸗ 
gung durch den Glauben, im Gegenfag zu der dußerlichen Werkheiligs 
Leit der roͤmiſch⸗katholiſchen Kirche und zu ber ascetifchen Selbſtverherr⸗ 
lichung, war der noch unvolllommene, theologiſch verhüflte und darum 
vielfacher Mißdeutung fähige Ausdrud für die Wahrheit, daß fich der 
Geiſt nur in fich ſelbſt von der Sünde befreien könne, nicht aber 
durch ben Kampf mit der außer ihm gefepten Materie. Um ſolchen 
Mißdeutungen möglihft vorzubeugen, wurde fpätes ausgefprochen, daß 
zwar bie Medhtfertigung durdy den Glauben allein erfolge, aber nicht 
ohne des Geſetzes Werke, die wie gute Srüchte vom guten Baum aus 
dem lebendigen Glauben hervorgehen. 

Die Idee ber Reformatoren von ber „chriſtlichen Freiheit,“ gegen⸗ 
über dem traditionellen Glaubenszwang ber roͤmiſch⸗katholiſchen Kirche, 
blieb ‚nicht ohne Einfluß auf den Ausbruch des Bauernkriegs. Seinem 
WBelen nach war er jedoch politifcher und focialiftifcher Natur. Auch 
twaren fchon vor der Reformation, feit Mitte des 15. Jahrhunderts, die 
Bauernaufftände zumal in ben Heinen reichsunmittelbaren Gebieten von 
Suͤddeutſchland häufiger geworden. Mit den berühmten zwölf Artikeln 
ber Bauern war es auf Befeitisung des ſcheußlichſten Feudaldrucks, doch 
keineswegs auf eine Ummälzung ber Gefellfchaft in ihren Grundlagen 
abgeſehen. Wohl aber erhob man fi in Schwaben und Kranken bis 
zu großartigen Planen einer Reichsreform, wovon Damals alle Bemüther 
erfüllt waren. Die religidfen Motive follten übrigens die gerechte 
Sache der Bauern unterftügen. Sie follten zeigen, baß ihre Korberung 
oͤkonomiſcher und politifcheer Reformen auch mit der evangelifchen Lehre 
in Einklang fiche. Gerade dadurch wurde biefer deutfche Bauernkrieg 
ein weltgeſchichtliches Moment von hichfter Bedeutung. Er war vom 
gefunden Sinne des Volles aus die prophetifhe Verkündigung 
des neuen Staats und der neuen Gefellfhaft, im Geift der wahren . 
Freiheit und des Achten Chriftentbums. Darum hatte bereits die Ge⸗ 
fhichte ſelbſt wenigſtens die theilmeife Rechtfertigung diefer deutfchen 
Mebellen übernommen, die unter dem Schwert und bem SHenterbeile 
geiftlicher und weltlicher Bedränger ihr Blut vergoffen. Sind body 
endlich jene Feſſeln, in die noch der Grundbeſitz gefchlagen war und bie 
fchon jene gerchtien Bauern zu zerreißen hofften, in allen Ländern des 
meftlihen Europa entweder geldft ober durch eine neue Revolution ges 
fprengt worden. Und iſt doch auc die Idee einer polltifchen Reform 
des deutfchen MWölkervereins an Haupt und Gliedern toieber in Kopf 
und Herz aller Claſſen der Nation gedrungen. Aber freilich für jenen 
„Heiftlihen Staat," wie ihn die deutfchen Bauern im Namen ber 
„chtiſtlichen Sreiheit” verlangten, ift auch jest noch das Wenigfte ge: 
than. Denn was wollten die Bauern, als fie die Befeitigung drüden: 
der Zehnten und Frohnden verlangten? Sie wollten den fauern Schweiß 
ihrer Arbeit nicht fort und fort für Andere, fie mollten ihn nicht 
für die mäßigen Reichen vergiefen. Der Kern ihres Gedankens 
war alfo bie Forderung des Rechts auf den freien Genuß der Früchte 


Communismus. 8 


ihrer Arbeit, im Verhältniffe zw bdiefer Arbeit. Denn darauf 
kommt es wenig an, baß fie biefe ſocialiſtiſche Forderung noch nicht 
in eine allgemeine Formel einzukleiden mußten; baß fie biefelbe nur für 
Das ausfprachen, was ihnen zunaͤchſt Ing, was fie al6 unmittelbar brüs 
dend fühlten und erfannten. Aber gerade biefes Recht ift noch umter 
der Anarchie der ungebundenen Concurrenz und bei ber jegigen Tyraanel 
ber Reichen über die Armen ebenfo wenig verwirklicht als unter ber 
früheren Herrſchaft des Feudalzwanges. 

Es if bekannt, wie Luther zwar den geiftlichen und weltlichen 
Tyrannen, durch deren unbarmherzige Härte der Bauernkrieg erzeugt 
wurde, berbe Wahrheiten fagte und ihnen verkündete: „Thun's biefe 
Bauern nicht, fo muͤſſen's andere thun;“ wie er aber auch unmittele 
bar nad einem entftellenden Bericht über den Exceß in Weinsberg 
ein einfeitiges Verdammungsurtheil ausfprach und sum Vernichtungskrieg 
„wider die räuberifhen und moͤrderiſchen Bauern“ auffordert. Er 
meinte, daß dem „Seelenheil“ des fogenannten „gemeinen Manns,” ber 
fonft allzu üppig werde, eine ſchwere Laft von Arbeit und Entbehrung 
dienlich ſei. Er buldigte alfo einem Vorurtheile, das fi im Hinblick 
auf unfern neueren demoralifitten Fabrikpoͤbel von felbft widerlegt, bins 
ter dem ſich aber auch jegt noch die Selbſtſucht ber Reihen und Vorneh⸗ 
men zu verſtecken fucht. Weberdied war bei ihm bir politifhe Ruͤckſicht 
entfcheibend, daß ohne Unterflügung ber durch den Bauernaufſtand be⸗ 
drohten Fürften und Adeligen das Werk der Reformation ſcheitern muͤſſe. 
Dazu kamen einzelne Ausbruͤche eines ſchwaͤrmeriſchen Wahnfinns, die 
zwar befonbere und ganz andere Wurzeln hatten als ber eigentliche 
Bauernkrieg, bie man aber biefem felbft unterfhob, ohne fie noch bei dem 
Drange ber Begebenheiten in ihrer Beſonderkeit zu erfafien und zu be 
greifen, Dean hat alfo nicht Urfache, mie dies in neuerer Zrit gebraͤuch⸗ 
lich geworden, das Verbammungsurtbeil eines Luther gegen den Bauern⸗ 
krieg mit einem ebenfo einfeitigen Verbammungsurtheil gegen Luther 
zu erwiden. Kein Einzelner, wie body er feine Zeit uͤberrage, vermag 
ſich den herrſchenden Vorurtbeilen biefer Zeit ganz zu entziehen, und je 
folgenreicher das neue Princip ift, das er verfündet, um fo weniger vers 
mog er felbft den ganzen Umfang biefer Folgen zu ermefien. Seit ans 
derthalb Jahrtauſenden hatte die Kirche weltliche Macht und Reichthum 
an ſich zu raffen gefuche, während fie die enterbten Möller mit ihren 
Anmweifungen auf das himmlifche Jenſeits vertröftete. Diefe Lehre, in 
dee auch der Auguſtinermoͤnch großgezogen war, ließ ihn den Leib und die 
ganze reiche Simnlichkeit bes. Menfchen noch als „flintenden Madenſack“ 
betrachten; während er body felbft gegen Kafteiung und Faſten, gegen 
den Ablaßkram und alle anderen blos dußerlihen Opfer und Werke ber 
Scheinheiligkeit eiferte. Die Mafie des Volkes hatte aber, wie immer, 
einen richtigeren Sinn für die Wedürfniffe der Maffe, ale es jeder Ein⸗ 
zelne ihrer Lehrer und Weifen haben konnte. So erkannten auch bie 
deutfchen Bauern im weiteren Umfange als die Reformatoren ſelbſt, daß 
die Rechtfertigung durch den Geiſt des Evangellums nicht ohne bie Werke 


56 Gommmnismuß; 


bes Ihm entfprechenben Geſetzes fein koͤnne. Sie forderten daher ale 
das Werk eAnes folchen Geſetzes bie gerechtere Bertheilung der Arbeit, des 
Ertserde and Genuſſes. 

Trug der Bauernkrieg ein ſolches ſocialiſtiſches Element in feinem 
Secheeße fo war dies doch keineswegs ein communiſtiſches oder abſtract 
gleichheitliches. Dieſe traten vorübergehend nur da hetvor, wo fich eine 
mit dem Princip ber Reformation im Widerſpruch ftehende veligiöfe Welt⸗ 
anftcht gebildet hatte. So war es ſchon vor ber Reformation bei bee 
bin Hans Boͤheim im J. 1476 im Würzburgifchen bervorgerufenen 
Bewegung, wonach kein Papft, Kaiſer, Fuͤrſt, geiflliche ober weltliche 
Obrigkeit beſtrhen, jeder Zoll, Steuer und Zehnt gänzlich abgefchafft und 
Jeber nIS des Anderen Bruder leben follte. Eine entfchkeden commmmis 
ſtiſche Richtung hatte aber die Bewegung ber Wiedertäufer oder „Geiſt⸗ 
ler,” die von Anfang an auf die „Brüder und Schweflern bes freien 
GSeiſtes“ hinwriſt und mie den im Stillen fortgepflanzten Lehren derſel⸗ 
ben im beutlichen Zuſammenhange ſteht. Aus dem pantheiftifchen Spi⸗ 
ritnallemus dieſee Älteren Secte erklären fich auch die Anfprüce der Wie⸗ 
dertäufer auf Viſionen und unmittelbare Infpiration. Ihr Grundbogma 
iſt wieder bie Eatgegenſetzung von Fleiſch und Geiſt; ihe Biel bie 
Daeſtellung des reinen Gelftesmenfchen. Dem @rundgebanten der Mes 
formation entgegen Kilgt bee Menſch nad) der Lehre der Wiedertaͤufer 
dutch den freien Mitten feines Beiftes die Sünde an feinem 
Fleifche. Sie erkannten darum weber Erbſuͤnde noch Chriftus als 
Suͤndentilger an und derwarfen hiernach die Kindertaufe. Dagegen war 
Ihnen Ghriftus ber Lehrer des aöttlichen Lebens, der die Menfchen erlöfe, 
wenn fie feinen Fußſtapfen folgen. Sie gingen alfo von einer aͤußerlichen 
Sefepesftrenge aus und zumal von einem buchſtaͤblichen Fefthalten 
an den Vorfchriften der Bergpredigt. Bei Vielen aber fleigerte fich dies 
bis zum Wahn, daß In wahrhaft MWiedergeborenen und Heiligen fortan 
dee Geiſt allein herrſche; daß er Eeines Lehrers mehr bebürfe; daß er 
auch aller bürgerlichen Geſetze entbunden ſei. Dies ftellte fi zumdchft 
dar in dem 1521 durch den Tuchmacher Nik. Storch geftifteten und 
meift aus Handwerkern beftehenden Bund ber ſ. g. himmliſchen Pros 
pbeten. Sie lehrten Guͤtergemeinſchaft, Aufhebung ber Ehe In der 
beftehenden Form und Einführung der Wielweiberei, Abſchaffung aller 
weltlichen und geiftlihen Obrigkeit. Mach ihrer Vertreibung aus Zwickau 
fanden fie Unterflügung In Wittenberg, wo fich ihnen Carlſtadt zuge⸗ 
fellte, der gleichfalls von einem ftarım Feſthalten am Buchſtaben ber 
Schrift ausging und ſich gegen jede wiffenfchaftlihe und gelehrte Ausle⸗ 
gung derfelben erhob. Dieſes Treiben dauerte, bis ihm Luther durch 
feine Beredtſamkeit ein Ende machte. Es kam aber von Neuem zum 
Vorſchein buch Th. Münzer, ber 1522 in Zwickau Prediger geweſen 
war, nach manchen geiftiihen Fahrten nad) Thüringen zuruͤckkehrte und 
. zumal in Mühlhaufen großen Anhang fund, blis zu feiner Niederlage bei 

Frankenhauſen (1525). Es iſt ſehr bezeidmend, aber auch ſehr erklaͤr⸗ 
lich, daß die damaligen, wie viele der neueren Communiſten, von Anfang 


Communismuß, 37 


an bew feſten Boben des Waterlanbe unter den Füßen verloren, baß bei 
ihnen, bie es in ihrer Iuftigen Schwärmerei ſogleich auf eine Reform ber 
Menſchheit in Bauſch und Bogen abgefehen hatten, bie dee einer Res 
form. dee beutfchen Reichsverfaſſung wie bei den Bauern in Oſtfranken 
gar nicht zum Vorſchein kam. Schon vor feinem Auftreten in Mühls 
haufen war Münzer mit feiner Gemeinfchaft aller Dinge, die Jedem 
„wo Rothdurft und ‚nach Gelegenheit” ausgetheilt werden follten, mit 
feinem Reich von Deiligen und Gerechten obne Obrigkeit und Gericht, 
ein fertiger Communiſt und nichts weiter. Nach weniger als zehn Jahr 
ren ſchlug der wiedertaͤuferiſche Communismus, feinem Weſen nad) un⸗ 
veraͤnbert, in Muͤnſter feinen Sitz auf. Nur hatte er in Thuͤringen 
mehr in der Roth des armen Volks feine Quelle, während er in den 
wohlhabenden Städten Niederbeutfchlande gar bald in ein raffinirtes Sys 
ſtem der Genußſucht ausfhlug und zur Lüberlichkeit im Namen bes 
„frelen Geiſtes“ ſich verzerrte. 

Nach dem baldigen Kalle des weſtphaͤliſchen Zions im Jahr 1585 
verbreitete ſich die wiedertaͤuferiſche Lehre durch verſprengte Anhaͤnger in 
den Niederlanden und drang unter mancherlei Wandlungen von da in 
Feankreich und abermals in Norddeutſchland ein. Unter Druck und Ver⸗ 
folgung läuterte fie fih durch Menno Simonis. In anderen Ver⸗ 
zweigungen dir Seete gährten aber bie früheren Eiemente fort und bilde 
tm fih im ben Merken ber beiden Nicberländer David Joris und 
Coppin zu einem Syſtem auf der pantheiſtiſch⸗myſtiſchen Grunblage 
eines aldurchdringenden freien Geiftes, ber Alles unmittelbare voll 
bringt. Der von ihm Beſeſſene oder Wiedergeborene weiß nichts mehr 
von Sünde, umterfcheibet nicht mehr Gutes und Boͤſes; iſt frei von je⸗ 
dem Geſetz, denn der Geiſt treibt ihn, und feine Begierden und Thaten 
find Gottes Begierden und Thatn. Darum ift Dem Alles erlaubt, der 
nicht zweifelt. Welt, Teufel, Sünde find Wahn. Dies tft auch Jeder, 
den bee Geiſt Gottes noch nicht umgeſtaltet hat. Der Wiedergeborene 
Dagegen iſt bereite mit Ehriſtus vom Tode zum Leben und zum vollkom⸗ 
menen Genuſſe der Seligkeit durchgedrungen. Darum ift es thöricht, 
eine andere Auferfiehung, namentlich bes Fleiſches, zu erwarten; ba ber 
Geiſt in Sort zurädgeht und alles Uebrige als Wahn vernichtet wird. 
Mit dem ſich felbit Befeg geworbenen freien Geiſte find Obrigkeit und Eis 
genthum imverträglih. In der Gemeinſchaft ber Heiligen giebt es nichts 
Eigenes: Seber nimmt aus ben Guͤtern des Anderen, was ihm beliebt. 
Auch die Ehe binder nicht; der Geiſtliche (Miedergeborene) kann und foll 
geiſttiche Ehen eingehen, mit wem und nuf tie lange ber Geiſt begeht. 
Diefe Anfiht wurde zumal von Joris auf die Spige getrieben. Er ew 
Plärte die in der Ehe erzeugtm Kinder für Kinder ber Boshelt und pres 
digte bie freie Vereinigung in brünftiger Liebe Gottes zur Erzeugung 
eines reinen Geſchlechts, wobei Keiner an eine einzelne Perfon gebunden 
ſein ſolle. Kür diefes Syſtem der Ungebundenheit fuchte man vorzüglich 
die höheren Stände durch möglichiten Aufwand ven Geift und chriſtlich 
klingende Sprache zu gewinnen. So kam die geſchminkte Beſtialitaͤt 


55 Sommunismuß. 


noch einmal in Benf bei der Partei ber Libertiner, zumal bei vorneh⸗ 
men Fraum und Männern, fo wie im benachbarten Neuenburg zum 
Borfhein — bis im Zahr 1544 Calvin bem Treiben mit Erfolg ent» 
gegentrat. 

Im geraden Zuſammenhang mit diefem Zweige der Wiedertaͤuferei 
fteht die durch einen Anhänger von Joris, H. Niklas aus Münfte, 
um das Jahr 1545 in Holland und England gefliftete Gecte ber Fa⸗ 
miliften, womit ſich auch die bee Renters verband. Die von Niklas 
gegründete Liebesfamilie wurde mehrfacher Ausſchweifungen befchuls 
digt, bie indeſſen nicht erwiefen werben tonnten, Die Familiſten verlos 
ven fih nah einem Verbot ber Königin Ekifabeth im Jahr 1580. 
Bel den ſchwaͤrmeriſchen Levellers kam mehr ein ascetifcher Haß ges 
gen. den Beſitz, oder doch gegen bie Reichen, als eigentlicher Communie- 
mus zum Vorfchen. Auch in ber Gemeindeverfaffung bee Herrnhuter 
finden fi nur communiftifhe Elemente **). Sonſt giebt es aber noch 
von alten Zeiten her einzelne communiftifche Gemeinden, wie bei Thiers 
in ber Auvergne, deren Urfprung nach einigen Angaben in’s Jahr 780, 
nah andern in's 12. ober 13. Jahrhundert fällt und in diefem Fall 
wohl mit den religiöfen Bewegungen jener Zeit zufammenhängt.- Kon 
ihrer fonft entfchieden communiflifchen Verfaſſung find noch zahlreiche 
Spuren vorhanden und fie heißen noch jest communantes. Es waren 
Familienvereine. An ber Spige der Verwaltung fanden gewählte 
Meifter und Meifterinnen zur Vertheilung allee Geſchaͤfte nach der 
Fähigkeit. Alles Vermoͤgen, aller Erwerb, alle Arbeit waren gemein- 
ſchaftlich. Um ihre Fortpflanzung zu erleichtern, hatte ihnen Papft 
Leo X. im Voraus Dispenfe für Eben zwiſchen Werten und Baſen 
m. fe mw. ertheilt. Aehnliche landwirthſchaftliche Gemeinden beftanden 
Sahrhunderte lang In der Picardie“ 25), 

Sortfesung: Communiftifche und foctatiflifhe Utopien. 
Communiſtiſche Lehren bis zur Revolution. Mider die Miß⸗ 
flände des überwiegenden Individualismus kam, unabhängig vom religiös 
communiftifchen Sectenmwefen , eine Doctrin zum Vorſchein, die ſich zu- 
naͤchſt darin verfuchte, die Gegenbilder eines idealen Staats und einer 
idealen Geſellſchaft zu zeichnen. Seit der 1516 von Thomas Morus 
herausgegebenen Utopia, wohin der berühmte englifche Kanzler eine Ge: 
meinfchaft der Güter und dee Arbeit verpflanzt, ohne jedoch bie ber Frauen 
zuzulaſſen, find ſolche Utopien bis auf bie neuefte Zeit ziemlich zahlreich 
geworden. Schon das 17. Jahrhundert hate die civitas solis und bie 
monarchia Messiae des calabrefiihen Moͤnchs Campanella; die nova 
Atlantis des großen Reformators der Philofophie und Staatemanns Ba⸗ 
con, bie Oceana von Harrington u. a. hervorgebradht. Doch find 


24) Wergl. z. B. „Grund ber Verfaſſ. der evangel. Brüder Unität Auge⸗ 
burgi cder Genfef, ion.” S. 277 ı 
25) Michelet: Le peuple Paris 18465 Briefe aus ber Auvergne. 
Morgenbi. 1845. 


Communismuß, . 


die beiden Letzteren nicht eigentlih communiftifh. Vom 18. Jahrhun⸗ 
dert an trat Die communiſtiſche Lehre theils nur in einzelnen Andeutun⸗ 
gen, theils fchon etwas volftändiger ausgebildet und in mehr wifſen⸗ 
ſchaftlicher Kaffung auf; immer jedody im Zufammenhang mit einer res 
ligiöfen oder philoſophiſchen Weltanfchauung, ob dieſe nun chriftlich hieß, 
oder beiftifch, theiſtiſch oder atheiftifch materialiftifch war. 

Auf Einelnes ift hier um fo weniger einzugehen 2°), als fidy bie 
communiflifhen Meinungen bes 18. Jahrhunderts im 19. wiederholen, 
indem fie zugleich in fchärfere Formen und Unformen ausgeprägt wur⸗ 
den. Nur auf eine Hauptſache ift aufmerffam zu machen. Die wich 
tigften Schriften, aus denen die neueren feanzöfifhen Communiſten ge⸗ 
ſchoͤpft haben, auf die auch einige deutfche liebäugelnd zurüdbliden, find 
außer denen des epiturdifchen Deiſte Moreliy die von Holbad, 
von Delvetius und das wahrfcheinlich aud von Hol bach herruͤhrende 
Systöme de la nature. Es find alfo matertaliftifche und zum Theil ents 
fchieden atheiftifche Schriften, wie fie aus dem von England nad Frank: 
reich verpflanzten noch einfeitigen Senſualismus hervorgehen mußten. 
Darin ift fhon viel die Rede von ber ‚freien Leidenfchaft”, ber freien 
Begierde und freim Sinnlichkeit; wie bei den „Geſchwiſtern des freien 
Seiſtes“ und bei den „Geiftlern” der Reformation vom „freien Geifte” 
Die Rede war. Auch unter unfern beutfchen Communiften finden ſich 
fsiche Renommiften des ‚freien Geiftes. Mit dem komiſchen Dünkel 
des bornirteften Sectengeiftes verfuchen fie auf bie angeblih Unfreien 
herabzuſehen, feit fie fih aus ihrer „freien Sinnlichkeit” zwar ein gol⸗ 
denes, aber ein fehr natürliches Kalb aus Zleifh und Bein gemacht ha⸗ 
ben, in bem fie ſich felbft mit ihren Launen und Geluͤſten verehren. 


26) Näheres in: „Die fociale Bewegung in Frankreich und Belgien. Darmft. 
Leste 1845 ,’ von K. Grün, ber feiner Seits die „Reife in Starten‘ ausges 
beutet zu haben fcheint. Einzelnes auch in: „Die heilige Familie“ ıc. von F. 
Engels und K. Marr. Frankf. 1845. Gine ausführliche Befchichte des 
Sorialismus und Communismus vom 18. Sahrhundert an haben Mary, Heß 
und Engels unternommen. Die Herausgabe fol bei der beutfchen Genfur auf 
Schwierigkeiten geftoßen fein. Möchte man doch die communiftifchen Doctrinäre, 
wie in den Verſuchen einer bogmatifchen Geftaltung ihrer Lehre, fo in der Ge⸗ 
fhichte des Communismus ungehindert ſich ergeben und fie mit dem JInſtinct der 
Einfeitigkeit Alles auffpüren lafien, was ihnen nach ihrer Meinung zu foͤrder⸗ 
ler Nahrung dient. Die fyflematifche Darftelung erleichtert doch nur bie 
Diagnofe aller dem Communismus eingeborenen Hauptkrankheiten, wovon ihn 
ſchon jede einzeln töbttich if. Und "die von feinen Verehrern ausführlich abge⸗ 
handelte Geſchichte wird gar bald ale Beweis erfchrinen, daß auch der jüngfte 
Sommunismus fchon in ber Wiege zum altersfchwachen Greife wurde. Er kann 
nichts erklecklich Neues mehr hervorbringen , er fchwelgt alfo ſchon in der Vers 
gangenheit mit dem Gefühl, daß er keine Zukunft vor ſich hat. ebenfalls wird 
durch die ſchon in's langweilig Breite gehende communiftifche Literatur der Reiz 
der Neuheit um fo fchneller verfchwinden; man wird immer deutlicher erfennen, 
wie unbaltbar ter Gommunismus im freien beivegten Fluß des Menfchenlebens 
it3 man wird um fo eher aus windigen Träumen wieder auf den feften Boden 
ie ſtehen kommen, auf den ſich allein im wahren Intereſſe des Volks die He⸗ 

I anlegen laffen zur Befeitigung der Uebel der gegenwärtigen Geſellſchaft. 


08 Commmisſsmus 


Darin liegt kein Wiberſpruch, weil dieſer ſogenannte freie Geiſt body nur 
der unfreie, zum Sklaven der Sinnlichkeit gewordene if. Wer fi 
einbildet, Aber ben Unterfchieb von Gott und Menfchen weg zu fein, 
während ihm body der platte Atheismus, das bloße inhaltleere Weg 
leugnen ber Gottheit nicht mehr genügt; wer fich alfo dennoch getries 
ben fühlt vom ewigen Bebürfnig der Vernunft nach Einheit und einem 
Lebensprincip der bat nichts Anderes übrig, als daß er entweder auf 
ben Geift des Menſchen ober auf feine Sinnlichkeit den Nachbruck 
lege. Im erften Falle kommt er zu jenem ibealiftifhen Pantheismus, 
der von einen bewußtloſen Geiſte ausgeht, um ihn erft im Menfchen 
zum Selbſtbewußtſein überfchnappen zu laſſen; im anderen Salle zum 
materiatiftifchen Pantheismus, dem ber Geift mır noch als raffinierte Sinn⸗ 
lichkeit erſcheint. Aber auch jener Idealismus ift nur ein Ummeg, um 
‚ doch wieder unter bie rohe Herrfchaft der Sinnlichkeit zu fallen. Denn 
hat fich erſt der Menſch zum allein freim Geiſte, zum Bott geträumt, 
fo entdeckt er bald in jedem Sinnenkitzel ein göttliche® Gchot. Darum 
iſt die Asceſe, bie vom felbfignügfamen Menſchengeiſte aus bie Einns 
lichkeit beberrfchen wollte, gerade auf bem Punkte, ba fie biefe Herr⸗ 
[haft errungen zu haben meinte, flets wieder in die Knechtſchaft ber 
Sinne zurücdgefallen. In ben endlichen praktiſchen Kolgen iſt es auch 
weſentlich gleichgültig, ob dieſer Bildungsgang mit Philofophie beginnt 
unb eine Zeitlang in Begrifföformeln fich fortfegt, ober ob man durch 
pieriftifchen Gefühlskigel über den Unterſchied zmifchen Gott und Mens 
ſchen fich wegſetzt. Der Pietismus, der die unmittelbare Einkehr Gottes 
in den Menſchen herbeisubeten wähnt, tft doch nur ein praktiſcher Pan⸗ 
theismus, der auf feinen legten Stufen zur aufgeresten Sinnlichkeit des 
Mudertbums wird. Darum ftehen die philofophirenten Machhegeler die⸗ 
fem Muderthum lange nicht fo fern, als fi ihre Philofophie träumen 
laͤßt. Und darum iſt ihe monoton verhallendes Gefchrei vom „freien 
Geiſte“ oder von „freier Sinnlichkeit” doch nur das alte Lied, das mit 
immer gleihen Strophen bald von vorn nad hinten, bald von hinten 
nach vorn gefungen wird und mit fehneidendem Mißton durch Sahrtaus 
fende dev Weltgefchichte klingt. Diefe Diffonanz kann einzig ihre Auf» 
Iöfung finden dur die vollftändige Geltendmachung des chriſtlichen 
Theismus auch in den gefellfchaftlichen Verhältniffen des Menfchen zum 
Menſchen. 

Fortſetzung: Der Communismuß ſeit ber franzoͤſiſchen 
Revolution. Der immer deutlichet erkannten, immer bitterer em⸗ 
pfundenen Ungleichheit in der Vertheilung von Vorrechten und Uns 
rechten an die verfchiebenen Claſſen ber Geſellſchaft Eonnte die franzoͤſiſche 
Revolution in ihrem Beginne nur den noch inhaltleeren Begriff ber 
Gleichheit der Rechte entgegen fegen. Doch wurde von biefem Gtands 
punfte aus ſchon in: ber Conſtitution von 1791, neben der Anerkennung 
des Eigenthums „als eines unverleglichen und ‚geheiligten Rechts“, zu: 
gleich auf „eine oͤffentliche Einrichtung“ hingewieſen, um allen Bedürftis 
gen Unterſtuͤzung zu gewähren und ben „gefunden Armen Arbeit zu ges 


, 


Communismus. 61 


ben, wenn fie ſich ſelbſt Leine verfchaffen innen.” Wäre biefe ‚öffent 
che Einrichtung” wirklich getroffen worden ; wäre fie in dem vernünftig 
nothwendigen Umfange getroffen worden, daß der Staat jedem feiner 
Mitglieder in einem beſtimmten Quantum Arbeit und Arbeitsverdienſt 
zugleich die Subfiſtenz und eine Baſis freier Entwidlung gefichert hätte: 
ſo wäre bie Idee der Freiheit und der Gleichheit in der Einheit bes Staats 
zugleich verwirklicht, fo waͤre die weſentlich nur politiſch gebliebene frane 
zoͤſtſche Ummälzung von Anfang an auch eine durchgreifend feciale ges 
worden. Dies ift jedody bis zur Stunde nicht gefchehen, weber im 
Frankreich noch in irgend einem anderen europdifchen Staate, ber in ben 
Kreis der von. dort ausgegangenen Bewegung hineingezogen wurde. Dar⸗ 
um iſt bie franzoͤſiſche Revolution, eben ſowohl als die deutfche Reforma⸗ 
tion, nur Beuchftüd. Und darum iſt es erklaͤrlich genug, daß bie zuruͤck⸗ 
gefegten, nur mit einer unerfüllten Verheißung abgefundenen Glieder der 
Geſellſchaft in ihrer Weife fich felbft Recht zu fchaffen fuchten, wobei 
benn Ausfchweifungen in That und Lehre ebenfo wenig ausblieben, als 
fie im Befolge der Reformation ansgeblieben fird. War ja das thatfäch- 
lich vorhandene Proletariat fchon durch die Konftitution von 1791 auch 
ein ausdrücdtid, beeechtigtes geworben, ba man ihm die Ausficht auf ges 
fiherten Erwerb verfaffungsmäßig eröffnet hatte. Freilich wäre «6 gm 
ben Kämpfen des hungernden Proletariats auch ohne jene Verheißung 
gekommen. Aber die Sormulirung feines Rechts in der Verfaffung war 
doch die Anerkennung einer focialen Nothwendigkeit von Seite des Staats 
und trug wenigſtens dazu bei, dem Geiſt der proletarifhen Maſſe von 
vorn herein einen Anhaltpunkt und eine beflimmte Richtung zur Ber: 
folgung beflimmter Rechte zu geben; fie trug alfo bei, daß ſich Prole: 
tariat und befigende Bourgeoifie erſt unterfcheiden lernten, um fich ſpaͤter 
feindfelig entgegenzutreten. Die Verfaffung von 1791 erklaͤrte, „daß 
die Bürger Leinen anderen Unterfchied unter fi) anerkennen als ben 
ber Tugenden und der Talente”; umd forderte doch für die Ausübung 
des activen Staatsbürgerrechts eine dem Werth dreier Arbeitätage gleiche 
kommende bdirecte Steuer, fo wie für die Wählbarkeit ben Nachweis eines 
beſtimmten, wenn auch nicht beträchtlichen Befitzes. Robespterreis 
Entwurf einer Erklärung der Menfhens und Bürgerrechte forte bie 
Eonftitution von 1793 erflärten bie „Öffentlichen Unterſtuͤzungen für eine 
gebelligte Schuld.” Sie erkannten alfo abermals ein durch ben 
Staat zu verwirklichendes Recht bed Proletariats an, zwar in unbe 
flimmterer Faſſung als 1791, aber auch ohne bie Widerfprüche in ber 
Conſtitution dieſes Jahres. Zugleich murde, mie früher, das Eigens 
thum garantirt. Mit der gleichzeitigen Anerkennung einer „geheiligten 
Schuld öffentlicher Unterftügung” erkannte ſich alfo der Staat für ver» 
pflichtet, jedem Geſellſchaftsgliede das ihm nothwendige Eigerthum zu 
garantiren; ein Gedanke, den Condorcet in ber geſetzgebenden Ver⸗ 
ſammlung mehr entwickelt hatte. Dies geſchah auch factiſch waͤhrend 
ber Schreckeneherrſchaft, da ſich bie Gewalthaber auf bie unteren Claſſen 


.& Gommunismus. 


ſtuͤzten und alfo bie temporäre Sicherſtellung ber Subſiſtenz ihrer Hel⸗ 
fer ihre nahe liegende Sorge war. 

Nach dem Sturz der Schreckensherrſchaft, als wieder bie Verfaſſung 
von 1795 die politifchen Rechte von Befitz und Eigenthum abhängig ges 
macht hatte, fahen ſich die nicht oder nicht genügend Beſitzenden durch 
die ausfchließend ober vorzüglich Beſitzenden abermals vom activen Staate 
ausgeſchloſſen. Sie wurden alfo zur Oppofition gegen den auf Eigen- 
thun gegründeten Staat; und ihre Oppofition mußte fi gerade in Ihrer 
erfien Phafe als bloße Verneinung des individuellen Eigenthums, ale 
Communismus offenbaren. Diefer fand feinen Ausdeud und Sammel» 
punkt in der Verſchwoͤrung Baboeuf’s und feiner Gefährten. Seine 
Lehre verfündete die gleiche natürliche Berechtigung jedes Menſchen auf 
ben Genuß aller Güter und den auf gemeinfame Arbeit gegründes 
tm gemeinfhaftlihen Genuß. Gie bezeichnete jede ausfchließliche 
Aneignung ber Güter des Bodens oder ber Induſtrie als Verbrechen. 
Ein befonderes Gewicht wurde auf bie Gemeinfchaftlichkeit des Bodens 
und auf die Organifation der communiftifchen Landwirthſchaft ge: 
legt, während die Induſtrie nur nebenbei in Betracht kam. Sehr na⸗ 
tuͤrlich, da ſich in Frankreich das große Grundeigentum allmälig zerſplit⸗ 
terte, während ſich die große Induftrie erft ausbildete. Die ganze Be⸗ 
wegung der evolution war im Anfange gegen ben grundbegüterten 
Adel und Klerus gerichtet. Große Fabrikherren waren noch wenige vor⸗ 
handen. Alſo Eonnte ſich der erfte Communismus noch auf Feine Maffe 
von Fabrikarbeitern ſtuͤtzen, ſondern nur auf den nicht befigenden und 
nicht arbeitenden Pöbel der großen Städte fowie in zweiter Linie auf das 
Proletariat auf dem Lande, oder auf die große Zahl Derjenigen, die noch 
nicht Grundeigenthuͤmer waren. Einzelne unter ben communiflifchen 
Betheiligten wollten fogar bie Stäbte zerfiört haben. Sie gingen In ber 
Sudt, die ganze Geſellſchaft in eine einfsrmig gleiche Maſſe zu ver: 
fhmelzen, fo weit, baß fie felbft jeder Auszeihnung durch Kenntniß und 
Bildung vorbeugen wollten. ine gleiche Erziehung für alle Kinder 
follte Ale auf ein gleiches Maß von Bildung befchränten; eine tyran⸗ 
nifhe Genfur folte darüber wachen, daß fich die platt getretene Ge⸗ 
ſellſchaft über diefes Niveau nimmer erhebe. Es war nur eine Conceſ⸗ 
fion für die mit Baboeuf in Verbindung getretenen Republikaner und 
Anhänger der Verfaſſung von 1793, daß diefe als wahres Gefeg der 
Frauzoſen verfündet wurde, weil das Volk fie feierlich angenommen habe. 
In der That follte aber nach ber Anficht der eigentlichen Baboeuviſten 
der Staat in feiner früheren wefentlichen Bedeutung völlig verfchwinden: 
als einzige Obrigkeit follte fortan nur cine Thellungsbehörde beftehen für 
Vertheilung der Arbeit, für Einfammlung aller Producte in öffentlichen 
Magazinen und für ihre Verabreichung an Gemeinden und Einzelne. Es 
verfteht fi), daß bei folhen Ausgangspunkten für die Gründung einer 
neuen Geſellſchaft am mwenigften von Kirche. und Geiſtlichkeit die Rede 
war. Ebenſo wenig kam aber ein atheiftifches Element zur Entwidlung. 
Baboeuf und viele der ihm Verbundenen liegen noc in ber Weife eis 


Communidmus,. 63 


nes Robespierre neben ihrer communiflifchen Tugendgeſellſchaft ein 
hoͤchſtes Wefen gelten; doc fanden ſich Gott und Menfchen blos Au: 
gerlich und gleichgültig einander zur Seite. ' Die Zugend felbft war 
ebenfo dußerlich geworden und einzig in das Gefeg verlegt, das für 
Ude tugendhaft war, da es eben zwang, nicht Mehr und anders zu fein 
und zu haben als jeder Andere. In ſtrengſter Confequenz hätte man 
von da zu einer Gemeinſchaft der Weiber kommen müffen. Aber keine 
Lehre entfaltet ſogleich alle ihre Folgen. Und fo ſprach denn felbft der 
epnifchsmaterialiflifche Sitvain Marehal, nah Baboeuf md Dar: 
the einer der communiftifhen Hauptführer, noch mit einiger Salbung 
vom Menſchen in der Familie und vom häuslichen Frieden ?7). 

Mit unerſchuͤttertem Muthe und feflhaltend an ihrer Ueberzeugung 
ſtarben Baboeuf und Darthe auf dem Schaffot. In einer Gefellfchaft, 
welche die erkannte Pflicht gegen ihre leidenden, zu leiblihem Elend und 
füttlicher Verwahrlofung verdammten Mitglieder nicht erfüllt, muß fih 
ſelbſt jeder Irthum und Wahn für gerechtfertigt halten, und der Fana⸗ 
tismus erringt fi) die Krone bes Maͤrtyrerthums. Gleichwohl fchien 
die commmuniftifche Lehre fchon im Blut ihrer erften Opfer erflidt. Doc 
fo ſchien es blos, denn fie ließ ſich mit ganz Frankreich nur feſſeln durch 
den beraufchenden Zauber des militärifchen Ruhme, um ſpaͤter mieber 
trogig berausfordernd hervorzutreten, ohne Viel gelernt und Biel vergefien 
zu haben. Noch unter dem Solbatenkaifer und dem Geraͤuſch der Wafı 
fen verbreitete St. Simon In Meinem Kreiſe feine Lehre, aus ber alle 
fpdteren Gründer von Theorien einer neuen Geſellſchaft, auch fpätere 
Gommuniften mehr oder minder ſchoͤpften 2°). Die Verfuche der Reſtau⸗ 
ration zur Herſtellung der Herrſchaft der Ariftokratie und Hierarche hiel⸗ 
ten alle Gegner einer Reaction, über welche ſchon die erfle Revolution 
ben Stab gebrochen hatte, in noch compacter Maffe zuſammen. Nach 
ber Julitevolution handelte es fi zunaͤchſt um ben blos politifchen Kampf 
einer republikaniſchen Partei gegen bie Monardie. Im Verlaufe deſſel⸗ 
ben wurde es jedoch immer deutlicher, daß auch der neue Bürgerfönig 
nur an ber Spitze einer neuen Ariſtokratie des Reichthums ſtehe. Die 
Nation fchieb ſich hiernach mehr und mehr in ben Begenfag ber Bour⸗ 
gecifie, die ſich im Beſit eines irgendwie auf Gapital gegründeten zurels 
enden Nahrungsftandes befindet und zur Erhaltung ihres Beſitzthumes 
an den Thron ſich anlehnt, um unter feinem Schug mit dem Muth 
dee Angſt ſich ſelbſt umd ihre Habe zu vertpeidigen; und in da6 Proles 
tarlat oder bie große Zahl Derjmigen, die im ungeſicherten ober unvoll⸗ 


27) Bergl. Stein: „Der Socialismus und Communismus des heutigen 

reiche.” Leipz. 1842, ©. 365. ıc. Die Lichtfeite des Baboeuvismus fucht 

. Grün a. a. D. S. 299 ıc. noch mehr durch Das hervorzuheben, was er 
verfchweigt, al& was er fagt. 

28) ueber St. Simon und feine Lehre, über Dwen und feinen Gom- 
munismus, fobann über ben Socialismus Kourier’s, über &. Blanc und 
Drganifation ber Arbeit und über das Gleichheitsſyſten Proubhon’s 
ehe die betr. befonderen Artikel des Staates Lerikons. 


64 Gommunismus, 


ftänbig geficherten Erwerb burch Arbeit nur von Hand zu Mund leben: 
So mußte endlich die Hauptmaffe aller Unzufriedenin von ſocialiſtiſchen 
Anſichten bucchbrungen werden, die aber darum noch lange nicht com» 
muniſtiſch find. \ 

. Eine eigentlich communiflifche Faſſung erhielt bie Unzufrieden⸗ 
beit bei einer Fraetion bes peuple, erft nad) dem Siege ber Regierung 
im Jahr 1834 über die republikaniſche Geſellſchaft der Menſchenrechte 
Der aͤußere Anlaß dazu war die Verbreitung einer Geſchichte der Ver⸗ 
ſchwoͤrung Baboeuf’s von Bnonarotti, einem ber hervorragendſten 
Mitvirſchworenen. Seine Schrift machte Propaganda unter den gefans 
genen Republilanern, ‘die nun theilweife als Baboeuviſten die Kerker vers 
ließen und. nach wiederholt mißlungenen Verſuchen ben Hebel zum Um⸗ 
ſturz dee Monarchie im Communismus gefunden zu haben meinte. 
Die erneuerte Lehre wurde fortan im Proletarlat verbreitet. Zugleich 
trat die fchon lange keimende Spaltung zwifchen der communiftifchen und 
alten repubtitanichen Partei Thärfer zu Tag. Die communiftifche Frac⸗ 
tion brachte e8 im Jahr 1837 zu einem erftin oͤffentlichen Organ, bem 
moniteur republicain, der fich fogleich mit biutbürftiger Gleichmacherei 
an bie Leidenfchaften und Gelüfte des voheften Poͤbels wandte. Etwas 
gemäßigter in ben Ausdrücken trat bee „„homme libre‘ auf und ging 
näher auf Darftellung der Baboeuf’fchen Lehre ein. Auf eine fociale 
Umwaͤlzung in diefee Richtung, doch ohne ein beflimmteres Ziel, war 
es auch bei dem aus der „Geſellſchaft ber Jahreszeiten” hervorgegangenen 
Aufftand vom 12. Mat 1839 abgefehen. Der auf offıner Straße Übers 
wundene Communismus hatte fi, da er feine Zollfühnheit büßte, zu⸗ 
gleich Im feiner Schwäche gezeigt. Er kam nur nod in wereinzelten At⸗ 
tentaten (Queniffet) zum Vorſchein oder zog fih in geheime Geſell⸗ 
[haften zurüd, um fich vorerſt als Doctrin in verfchiedener Weile aus 
zuprägm. So hielten ſich die travailleurs Egalitaires noch an ben Ba⸗ 
boeuvismus, den fie in mancher Beriehung auf eine aͤußerſte Spige trie⸗ 
ben. Ihre Doctrin predigte die Verkündigung des Materialismus, 
weil er das unveränderliche Gefes der Natur fei; die Aufhebung ber ein⸗ 
zenen Familie, weil fie die Zerfplitterung der Zuneigungen erjeuge; 
und die dee Ehe, weil es ein ungerechtes Geſetz fei, welches das Fleiſch 
ale perfönlihes Eigenthum fehe; die Zerſtoͤrung der Städte, ale 
der Mittelpuntte ber Beherrſchung und Beſtechung u. dgl. 

Bon biefem Unfinn zurücgefchredit bildete fi in den Reformiften 
eine Partei fockaliftifcher Proletarier, die ſich vebliche Mühe gaben, Über 
die Gebrechen der Geſellſchaft und die Mittel ihrer Heilung zum Ders 
ftändniffe zu kommen. Sie feinen «6 jedoch zu Mehr nicht gebracht 
zu haben als zu einigen communiftifchen Anflügen und Allgemeinheiten. 
Ein beftimmteres und im Gegenfas mit den Rafereim der Egalitaice® 
zugleich ein humaneres Gepräge erhielt dagegen der franzöfifhe Commus 
nismus durch Cabet, welcher denn auch weitaus von ber großen Mehr: 
zahl der feanzöfifchen Communiſten als geiftiges Oberhaupt betrachtet wird. 

Zur friedlichen communiflifhen Propaganda auf dem Wege der 


Communismuß, 66 


Lehre und Ueberzeugung bat Cabet eine raſtloſe llterariſche Thaͤtigkeit 
entfaltet, ohne bei. den zahlreichen Anhingern feiner Theorie auch im der 
Praris eine beſonders förderliche Unterfiigung zu finden. Konnte er «6 
body, trog allem Aufforderungen an feine „100,000 Communiſten“ und 
trotz aller Schaufteitung feiner Verdienſte um die communiflifche Sache, 
nicht dahin bringen, daß fein monatlich erfcheinender Populaire in ein⸗ 
wöchentliche Beitfchrift verwandelt wurde 2°). Im Widerſpiel mit feinen 
meiſten Worgängern, bie fich entweder in trübfelige Träume von Zerflörung 
und Gleichmacherei eingiwiegt oder in nur vagen Skizzen eines commu- 
niſliſhen Himm⸗ ireichs auf Erden verfucht hatten, gab fih Cabet in 
feinem Hauptwerke, der „„voyage en Icarie“ die unfchuldige undankbare 
Mähe, feine blonden und brünetten communiflifhen Engel mit allem 
fieben Regenbogenfarben auszumalen und feinem gläubigen Publicum mit 
allen Farben weiß zu machen. Sein ntopifches Schlaraffenland If eine 
Seßnerſche Idylle in’s Communiſtiſche überfegt, nur daß man vor Scha⸗ 
fen Beine Schäfer ſieht; fein Staat iſt ein Gabinet von Wadrsfiguren, 
Die mit Federn verſehen find und wie Vaucanſon's Ente kauen und 

| Darum giebt's auch in Ikarien „beinahe kein Zahnweh mehr.” 
Als größtes Uebel, das einen fonft eifrigen Harifchen Theiſten faft am 
Dafein Gottes zweifeln laͤßt, bleibt nur übrig, baf bie „unfchuldigen 
Kinder” die Zähne nicht ganz ohne Schmerz bekommen. Sonſt ift «6 
en Vergnügen trank zu fein, denn die Harifchen Arzeneien find wahre 


Uebrigens tft Cabet nicht thörihht genug, um gleich den meiften 
deutſchen Communiſten ben Staat, bie Nationalität und das Ber 
ſet in der f. 9. freien und gleichen Gemeinſchaft „aufbeben” zu wol 
Im. Er chut es fo wenig, daß vielmehr ‚la loi““ den „funfzig Millionen 
Ikariern“ Ihe ganzes Thun und Laſſen vordenkt und vorfagt. La loi 
fege die tägliche Arbeitszeit auf fo und fo viel Stunden und Minuten 
feR; ia loi ordnet an, wann und wie lange fämmtliche communiflifche 
Männlein und Fräulein Zollette zu machen haben; la loi führt ein 
‚meues Bemüfe” in allen ikariſchen Daushaltungen ein; la loi forgt für 
„kalte Küche” zu ben Harifhen Landpartien. Der Communiftenflaat 
Ikarien verdankt feine Geburt einer großen Revolution unter ber Fuͤh⸗ 
rung des „bon Icare‘® gegen eine ſchoͤne Königin und ben böfen Minis 
fler Birbox. Darum gebietet la lei, gleich wie die Engel im Himmel 
Hoßelujah fingen, daß die Ikarier immer und immer die große Natio⸗ 
nalhynme fingen zu Ehren befielben „bon Icare,‘‘ der muthmaßlich im 
ber „ſchlechten Geſellſchaft“ M. Cabet hieß. Dies foll mitunter im 
Chöcen von „100,000 Stimmen” gefhchen. Auch verorbnet la loi, 
baß ber Jahrestag diefer Revolution viel fplembiber gefeiert werde ale 
die Julitage in Paris. Da werden am Morgen des erſten Feſttags bie 


29) Siehe Cabet: Etat de la question sociale en Angleterre, en 
Ecosse, en Irlande et en France. Paris 1843. - 


Suppl. 4. Staatslex. II. 5 


- 


80 Communismus. 


überraſchten Buͤrger durch den Ton ber Sturmglocke geweckt; Flin⸗ 
tenſchuͤſſe fallen, Kanonen donnern, Barrikaden werden errichtet. Die 
erſte Barrikade des koͤniglichen Militaͤrs“ wird von einem tapfern ikari⸗ 
ſchen gamin erſtiegen. Zwar wird bei dem großen Nationalfeſte nicht 
mit Kugeln geſchoſſen, aber zur Erhoͤhung des dramatiſchen Effects be⸗ 
fichlt la loi dem gamin, daß er wie todt nlederfalle u. dgl. Bei all 
biefem Glanze ift den guten Ikariern nicht erlaubt, zu fehreiben und 
drucken zu laffen, was fie wollen. Aehnlich wie in Baboeuf’6 Com«- 
muniſtenſtaat, bat in Ikarien la loi befohlen, daß bie nicht officiell gut 
geheißene Literatur als fchlechte Preſſe' verbrannt werde. Zum Er⸗ 
‚fab dafür bdejeuniren, diniren und foupiren die Ikarier zu Daufe oder 
Bri Ihrem „‚restauratetr repnblicain‘“ viel beffer als bei ben beiten Trai⸗ 
teurs in Paris und London 29%). Gegen den Schluß feines Werks hat 
noch Sabet mitrnicht geringem Fleiße ein biftorifches Raritätencabinet 
- angelegt, worin fehr viele berühmte oder namhafte Männer: der Vergan⸗ 
genheit, meiſtens wegen gelegentlicher und ſehr beildufiger Aeußerungen, 
als ikariſche Communiften paradiren müffen ”!). Und fo ift biefes ganze 
Werk von Anfang zu Ende ein Haufe kindiſcher Pebantereien und pedan⸗ 
tifcher Kindereien. Bon allen Völkern koͤnnten am wenigſten bie Frans 
zofen nur ſechs Stunden in biefem ikariſchen Communiftenflaate aus: 
halten. :; Aber auch Das reizt, was unferer Natur recht gruͤndlich wider⸗ 
ſpricht. Die „voyage en Icarie‘‘ hat mehrere Auflagen erlebt; fie hat. 
Epoche gemacht; fie ift das Credo ber großen Mehrzahl aller leichtglaͤu⸗ 
bigm Gommuniften geworden, die in diefem Buch einen Beleg für bie 
Ausführbarkeit Ihrer Traͤumereien zu finden mwähnen, ohne nur zu ges: 
wahren, role In Ihrem Ikarien bie ganze Freiheit der Individualitaͤt mit, 
ihrer unermeßbar reichen Bethätigung entweder zu Tod gefüttert oder: 
mit der feidenen Schnur des milden: ifarifchen Gefeges zu Tode 
gewürgt wird. | 

Bei dem Allen hat Cabet, wie ſchon gefagt, das große Verdienſt, 
daß er ſich dem Unſinn der Egalitaires entſchieden entgegenſetzte. Ihm 
ift namentlich die Ehe und das Familienleben heilig. Er hat in feiner, 
Weile feine Stunden der Andacht und hält wenigſtens feft an einem 
fümmerlihen Deismus, der fid in feinem Ikarien auch dußerlidy fol 
gebaren dürfen, ohne daß er in ben .noch plattern Atheismus fällt. In 
feinem viel verbreiteten „communiftifchen Glaubensbekenntniſſe,“ wie fehr 
es im Sanzen an Unbeftimmtheit leidet, fpricht ſich doch ein ehrliche® 
Wohlwollen aus, und einigen feiner fogenannten „Uebergangsbeſtimmun⸗ 


30) Die Phantafie des guten Geſchmacks eines braven und gutmüthi- 
gen beutfchen Handwerkers Tonnte die eines Cabet in ihrem höheren Kluge nicht 
erreihen. Gr brachte es in feinem communiftiihen Giborado, in feinem 
„Zaufendjährigen Reih von A. Dietfh. Aarau 1843 nur bie zu einer uns 
gewoͤhnlich ſtarken Gonfumtion von Pfannkuchen. . 

31) Sabet berichtet von fich felbft (Kitat etc. p. 79), er habe die Reife 
in Ikarien während feines fünfjährigen Erils in England verfaßt, „apres avoir- 
etudie les opinions de tous les philosophes (plus de 1000 volumes)‘“ ! 


Communismus. 67 


gen,” bie er zur Vermittelung bes für einen Fortfchritt gehaltenen Ruͤck⸗ 
ſchritets in ben Sommunismus für nöthig achtet, ann man ale bleis 
benben Beflimmungen zur fortmährenden Befeitigung der Ungleich⸗ 
beiten des Beſitzes wohl beipflichten 3°). Der Idyllendichter Gabet fand 
indeß neben großem Anhang auch entfchiedene Gegner unter den Com⸗ 
muniften ſelbſt. Namentlich trat ihm Dezamy mit feinem atheiſtiſch⸗ 
beftialifchen Communismus entgegen. Da wird im „Code de la Com- 
munaute‘ wieder kurzer Hand alle Regierung in Verwaltung ver« 
wandelt: an der Spige bes Staats fleht ein Rechnungsfuͤhrer und 
ein — Regifter. Die Arbeit braucht nicht erzwungen zu werben; 
man hat nur allen Naturantrieben freien Spielraum zu laffen, dann cons 
eordiren fie durchweg In ihrer Sefammtheit. Folglich braucht es 
feines Geſetzes. An feine Stelle tritt die Wiffenfchaft, die wohl 
auch in's „Regiſter“ gehört 3°). Am Namen biefer Wilfenfhaft 
wird die Ehe verworfen; fie wirb durch die Maturphitofophie der Hunde 
auf der Gaſſe erfegt. Aller Atheismus wird erſt recht confus mit dem 
Bemühen, ſich verfländlich zu machen; fo rebet auch Dezamy in einem 
Achem von ber Welt „als einer intelligenten Maſchine,“ und von 
dem Atom als Element, von ber Bewegung als Princip. 

In Belgien, wo eine zahlreiche Bevoͤlkerung von Fabrikarbeitern 
zu wiederholten Malen drohende Anſpruͤche erhob; wo de Potter, einer 
der früheren Hauptführer der repubſikaniſchen Partei, fchon im Jahr 1831 
erlärte, "daß bie politifchen Ummälzungen nichts helfen, daß man eine 
- focdale Revolution madyen müffe: bat fid) body der Socialismus noch 
nicht bis zur Ungeſtalt des Communismus aufgetrieben, ob ihm gleich 
bie Lehren eines Bartels, Jottrand und Kats ziemlich nahe ftehen. 
Bon der weiteren Verirrung zum atheiftifchen Communismus fcheint 
fich ſelbſt die entſchiedenſte Oppofition gegen den Batholifchen Klerus fern 
gehalten zu haben. Wenigſtens liegen Peine öffentlichen Belege vor, daß 
e8 Irgendwo in Belgien bis zu dieſem Abfall vom gefunden Volksver⸗ 
Rand gekommen fei ??). Der weite Boden des freien Nordamerika iſt 
noch ein Verſuchsland für alle möglihen Theorien. Europa hatte ſich 
aus Amerika eine Krankheit geholt, die nad) dem neu entdediten Welt» 
thelle Ihren erften Namen erhielt. Zur fpäteren Wiedervergeltung bat 
es ihm etwas Sommunismus und Atheismus zulommen laffen. Unter 
den taufend Zeitungen und Zeitfchriften in ben Vereinigten Staaten ber 
finden fich einige wenige von communiftifcher Färbung. Schon vor ber 
europäifch »focialen Bewegung forwie im Verlaufe derfeiben haben fich 


92) 3. 8. feinen Beſchraͤnkungen des Erbrechts, das erft in feinem 
Itarien völlig aufgehoben wird. , 

33) Dazu Hatfcht K. Grun in die Hände und ruft aus: „Endlich wirft 

Dom mie ſicherer Hand das ganze Gebaͤude ber Geſetzlichkeit über 

n Haufen.” 

) Ueber den Gommunismus in England, defien Vater R. Owen ift, f.b. 

Nah neueren Rachrichten bat feine communiftifche Berfuchscolonie Harmony in 

Dampfhire Bankerott gemacht. 5% 6 


68 Communismus 


dort in engeren Kreiſen, wo ſie uͤberhaupt nur ausfuͤhrbar ſind, einige 
communiſtiſche Gemeinſchaften gebildet. Die juͤngeren Gemeinſchaften 
haben die Probe noch nicht beſtanden. Von den aͤlteren gedeihen nur 
diejenigen oͤkonomiſch gut, welche geiſtig um ſo ſchlechter gedeihen. Es 
ſind die von den Anhaͤngern eines bornirten Pietismus gegruͤndeten, die 
ſich in ihrer Stumpfſinnigkeit um ſo leichter der dictatoriſchen Leitung 
eines weltlichen und geiſtlichen Oberhaupts fuͤgen. Dies gilt zumal von 
der Harmoniſtencolonie Economy am Ohio, wo nach mehreren Nachrich⸗ 
tem der Stifter Rapp trog allem Communismus nicht bios ber allein 
Vornehme, fondern auch der Vorwegnehmende fein fol. In aͤhnlicher 
Lage ift die felt 1819. zu Zoar im Staate Ohio gegründete Colonie würs 
tembergifcher Separatiſten; fo wie die zehn communiflifhen, aus je 
3— 800 Mitgliedern beftehenden Gemeinden der Shaters , einer vor 
nahe 80 Jahren geftifteten ſchwaͤrmeriſchen Methodiftenfecte, mit uns 
mittelbaren Infpirationen und Bemühungen des „heiligen Beiftes” im 
alien Zuppalien ihres befchräntten Daſeins. Diefe proteftantifchen Sec⸗ 
tirer begannen mit einer Ascetik, wornach fie die. erſt fpäter wieder ge⸗ 
flattete Ehe und jebe fonftige gefchlechtlihe Verbindung für unerlaubt 
erlärten. Im JInſtinet der Selbſterhaltung haben fie dafür geforgt, daß 
nicht Erziehung und Unterricht ihre Anhänger ein fehe knapp zugemeſ⸗ 
fenes Maß von Bildung überfchreiten laſſen. Sonft beftehen noch einige 
kleinere, wenig bekannte und meift. jüngere communiſtiſche Gemeinfchafs 
ten in Penfplvanien, New: York, Maflachufets, Ohio und Wisconfin- 
Zu bemerken ift noch, daß den communiſtiſchen Separatiften ber fteie 
Austritt. aus ihrer kleinen Gemeinfchaft in bie große Gefellfchaft geftattet 
iſt; woburd die Erhaltung des Communismus im engeren Kreife auf 
etwas längere Zeit möglich wird. . 

Die communiftifche Seuche hatte eine geringe Anzahl der in Paris 
lebenden beutfchen Handwerker ergriffen. Won da wurde fie durch Weits 
ling in bie Schweiz verfchleppt, ohne ihre Anſteckung auch hier in wei⸗ 
tem Umfange zu dußern?%),, Es ift zu erklären und zu entſchuldigen, 


85) Außer den Schriften von Weitling felbft, einer Reihe fonfliger eom⸗ 
muniftifher Broſchuͤren und bald wieder verfommener Beitfchriften, die bier an⸗ 
zuführen nicht ber Muͤhe verlohnt, vergl. den Bericht dee Dr. Bluntfchli 

ber „Die Sommuniften in der Schweiz ıc. Zürich 18435” die verfchiedenen Be⸗ 
richtigungen dieſes Berichtes fodann bie Berichte über die in Neuchatel 1845 
Aber die Sommuniftenvereine und über die fogenannte ‚geheime beutfche Propa⸗ 

anda” geführten Unterfuhungen. Die deutfche Ueberfegung des „Generalberichts 

ber die ach. deutfche Propaganda’ ift mit einer feltfamen „Einleitung“ audges 
ftattet, worin der Xerfaffer, ein f. a. Liberal-Conſervativer, in der 
Perſon eines verfchollenen Deutfchen, Fried. Rohmer, feiner verlornen Sache 
in ganz aͤhnlicher Weife einen Meffias verkündet, wie dies die Leicht: 
plämbigften unter den bis zur Ungereimtheit leichtglaͤubigen Sommuniften zu. thun 
pflegen. Der Sommuniftenbericht von 1843 enthält, neben mehreren Unwahr⸗ 
beiten und Webertreibungen, einzelne nicht unintereffante Notizen. Im Nebrigen 
ift er eine einfeitige Parteifchrift und der Berichteritatter hat friſchweg berichtet, 
ohne ſich die geringfte Mühe zu geben, in Geſchichte und Bedeutung bes So⸗ 
cialismus und Gommunismus tiefer einzubringen. 


Communisſsmus 60 


daß bie Lehre Weitling's, eines proletarifchen Autodidakten, bie Be⸗ 
friebigung ber Sinnlichkeit im Menſchen vorzugemweife zum Zielpunkt 
hatte. In mancher Beziehung trat ihm fpäter ein gewiffer Dr. Kuhl⸗ 
mann entgegen, ber fi darin ein nicht allzu hoch anzuſchlagendes 
Verdienſt erwarb, daß er feine gläubigen Anhänger von einer Richtung 
ablenkte, bie in weiterer Fortfegung zum Materialismus ausfchlagen 
konnte. Sonſt ift die einzige, von ihm bekannt gewordene Schrift, bes 
ren Titel ſchon viel Hochmuthsnarrheit verräth 3%), ein in ber feierlich 
zuverfihtlichen Sprache der ſelbſtgenuͤgſamen Beſchraͤnktheit vorgetrage⸗ 
ner Wirrwarr ; zumal mit einigen Abfprüngen in das Gebiet ber Pfychos 
logie, die mitunter an bie „pfochologifchen Studien über Staat und Kirche. 
Bon Dr. Bluntfchli’ erinnern. Der neue Prophet des Communis 
mus wurde mit den Worten verkündet: „Dieſer Mann, den unfere 
Zeit erwartete — er ift aufgetreten. Es ift der Dr. Georg Kuhl⸗ 
mann aus Holftein”?”). Darin zeigt fi bas Gefühl der Unzulaͤng⸗ 
lichkeit, das die Communiften von ihrer eigenen Lehre in fich tragen, 
daß bei ihnen ber Slaube an einen communiftifhen Meſſias, ber end⸗ 
lich ihre Stuͤckwerk zu einem Ganzen made, immer wieder auftaucht. 
Aber darin zeigt fi auch für Deutſchland ein fehr betrübenbes Sym⸗ 
ptom, daß es unter den deutfchen communiflifhen Handwerkern Maͤn⸗ 
ner giebt, die an Geiſt und tüchtiger Gefinnung ihre Propheten und 
Lehrer weit überragen und fo leicht boch von Jedem fich täufchen laffen, 
der aus der fogenannten gebildeten Gefellfchaft mit dem Schein des bef» 
feren Willens in ihre Mitte tritt. Es iſt das von ber Gefellfchaft in 
die Wuͤſte hinausgeſtoßene, das mit dem reblichften Eifer nach Erlöfung 
und Bildung ringende Proletariat,, welches im Sladerfeuer jedes Stroh⸗ 
kopfs die Flamme bes Heren zu fehen meint, bie ihm in das gelobte 
Land der Verheißung hinliberleuchtet. 

Mit dem von mehreren Seiten näher rüdenden Communismus 
hätte bie deutiche Preffe ſich befaffen müffen, auc ohne die Schriften 
und Schickſale Weitling’s, die indeß einen befonderen Anftoß gaben. 
Diefe Schriften fol man nicht allzu gering achten. Im dem von Ans 
fang an verlorenen Spiel hat Weitling feine Truͤmpfe ausgefpielt. 
Aber ob er gleich manche Verkehrtheit zu Tage gebracht und fid) aus ben 
Lehren: ber franzoͤſiſchen Commmiften nicht wenig angeeignet bat, er ers 
faßte doc, feine Aufgabe mit origineller Kraft. Seine Schilderungen ber 
„ſchlechten Sefellfchaft” haben bei aller Webertreibung viel Wahrheit. 
Mag audy mitunter etwas Neid des zurüdgefesten und ſchon mißhan- 
beiten Proletariers hineinfpielen, in der Hauptfache fpornte ihn doch, we⸗ 


36) „Die neue Welt, ober das Reich des Geiftes auf Erden. Verkuͤn⸗ 
digung. Genf 1845.” 

37) Faft buchſtaͤblich, wie der fehon genannte Kr. Rohmer einem 
lachenden Publicum angetündigt wurde. Denn auch für ihn hatte man ein 
Kalbsfell gefunden, auf dem er als confervativer Meſſias ausgetrommelt 
25* „nett Analogie zwifchen vorderen und hinteren Ertremitäten iſt fehr 

rend. 


70 Communismus. 


nigſtens bei ſeinen erſt en Erguͤſſen, eine wahre und ſtarke Leidenſchaft, 
bie zuweilen aͤcht poetiſch witd und in wenigen Schlagworten einen weis 
ten Kreis von Begenftänden beleuchtet. Sollte er mehr und mehr unter 
ale Kritik finken, fo bat es nur die deutfche Kritik ſelbſt verfchuldet 
mit ihren maßlofen Hätfcheleien ober maßlofen Belhuldigungen. Vor 
Alem ift.an ihm zu loben, daß er fich nicht jener Denkfaulheit ergab, 
die über ihre Impotenz fich felbft und die Welt mit der immer wieder⸗ 
holten Verfiherung zu taͤuſchen ſucht, daß man erſt mit ber alten 
ſchlechten Geſellſchaft tabnla rasa machen müfle, ehe man pofitiv Neues 
geſtalte. Weil es ihm Ernſt mit feiner Sadye war, rang er doch mit 
feinem Stoffe; er fuchte ihn zu durcharbeiten und für fein proletarifches 
Publicum im Ganzen und DBefonderen faßlich zu geftalten. Darum iſt 
der zum Literaten gewordene Handwerker immer noch weit mehr werth, 
al& die zu Handwerkern ‚gewordenen Literaten, die ſich mit ihrer angelo⸗ 
genen Leidenfchaft für das Wohl der unteren Claſſen in den legten Jah⸗ 
ren fo platt auf Communismus geworfen haben. Selbft die wunder⸗ 
lichſten Erfindungen Weitling’s, feine „Commerzftunden” und das 
„Trio“ feiner geträumten Handwerkerwelt find höher anzufchlagen als 
das gar Nichts diefer ſchlechthin unfruchtbaren, aus dem Baume ber 
— Schulweisheit herausgewachſenen communiſtiſchen Waſſer⸗ 
choͤßlinge 

In der deutſchen communiſtiſchen Literatur iſt ſelbſt die Carricatur 

des franzoͤſiſchen Communismus noch zu einem Zerrbilde entſtellt. Sie 
hat ſich ſelbſt die Spitze abgebrochen, da ſie ſich in die Leerheit der ab⸗ 
folut bequemen, abec auch abſolut abgefhmadten Verneinung alles Be⸗ 
ſtehenden hinausgetrieben hat. Sie iſt nicht einmal eine Blaſe mehr 
auf der Oberflaͤche eines gaͤhrenden Volkslebens; ſie iſt ſchon die zer⸗ 
platzte Blaſe, ſie iſt zu eitel Wind geworden. In der Lehre eines Weit⸗ 
ling hatte der Communismus noch einen Kern in rauher Schale. Seit 
ſeiner Verfluͤchtigung durch die Juͤnger einer neuphiloſophiſchen Schule 
iſt er nur ein widerliches Waſchweibergeſchimpfe gegen die „ſchlechte Ge⸗ 
ſellſchaft“, gegen die gutſWsenden Kannibalen“, gegen die „iſolirten, 
einfaͤltigen Bloͤcke.“ Dieſe Species communiſtiſcher Doctrinaͤre, ihrer 
Unfaͤhigkeit bewußt, etwas Beſonderes zu Stande zu bringen, hat ſich 
mit dem Gemeinen ſogleich aufs Allgemeine geworfen; um keine Sot⸗ 
tifen im Kleinen zu machen, hat fie die Sottifen gleihy im Großen ges 
madt. Indeß foll man nicht diefe ganze fogenannte communiftifche 
Literatur der ſtarken Worte und ſchwachen Gedanken in Bauſch und 
Bogen verdbammen. Es verſteht fih, daß bier nur von den Werken 
ber tonangebenden Führer die Rede iſt. Sonft giebt es in unferer neue: 
ſten ſocialiſtiſchen Preſſe noch gar Viele, die ſich Communiſten nennen 
oder dafuͤr halten, weil ſie es weder mit Namen noch Sache ſehr 
genau nehmen, weil ſie eine ſchon alt gewordene Mode noch als 
neue Mode mitmachen; oder weil ſie in gutem Glauben neben 
die Scheibe ſchießen, da fie ſich den Communismus ale das End⸗ 
ziel der großen ptoletariſchen Bewegung der Neuzeit vorſpiegeln. Bei 


Communismus,. 71 


ihnen finden ſich Manche, die ſich duch Schilderung geſellſchaftlicher 
Mißſtaͤnde, wohl auch durch einzelne praktiſche Vorſchlaͤge zu ſocialen 
Beſſerungen Verdienſte ermarben??). Aber Das thaten auch Andere. 
Es bleibt dennoch wahr für die ganze ſocialiſtiſche Literatur: was darin 
taugt, ift nicht Communismus, und was Communismus ift, taugt nicht. 
Auch liegt bie eigentliche Miſere befonders darin, daß felbft Solche, bie 
den feften Boden, die Kenntniß der Menfchennatur, des Volks, feiner, 
Bedürfniffe und Intereſſen noch nicht völlig unter den Süßen verloren 
haben, mit klaͤglicher Unfelbftftändigkeit des Geiſtes und Charakters den 
bochfahrenden Phrafen einiger Schreier Beifall Elatfchen; bag es noch 
immer eine allzu zahlreiche communiftifdy angeftrichene Literatenheerde 
giebt, die fünf oder ſechs Worbrüllern blindlings nachrennt und fich von 
ihnen zum Beſten halten läßt. Daran bat ſich eine Maffe gereimter 
und ungereimter communiftifcher Poefie??) und Belletriſtik angehängt. 
Und fo ift ein ganzer Schweif von Literatur entitanden, wodurch deutfche 
Wiffenfhaft und Dichtkunſt im minder hart gewähnten Auslande blas 
mirt werden koͤnnten, wenn man bort nicht Beſſeres zu thun hätte, als 
davon Notiz zu nehmen. Das würde freilich die deutfchen Sommuniften 
fehr wenig kümmern, ba fie es in ihrer genügfamen Selbflzufriedenheit 
fogleih auf eine Alteweltszufriedbenftellung abgefehen haben und fich aus 
dem bischen Vaterland und Volk fo wenig machen ale dieſes aus ihnen. 

Betrachten wir nun zumal die deutfdy=communiftifhe Doctein in 
ihrer ungeberdigen Verneinung von Eigenthum und Erbrecht, von Staat, 
Geſetz, Vaterland, Nationalität, Religion und anderen Kleinigkeiten. 
Dies kann in der Kürze gefchehen, da fchon in der Bildungsgeſchichte 
des Eigentums und Communismus die verurtheilende Kritik des legtes 
ren liest. 

Der Communismus im Widerfprud mit ben gefeglid. 
anertannten Berbindungen bes Menſchen mit.der Sachen 
welt. Eigenthbum, insbefondere Eigenthbum an Grund 
und Boden. Erbrecht Es giebt nur individuelles Menfchen- 
leben, nur Xhätigkeit von fich, d. h. von feinem Ich aus oder nad) 
ſich bin. Das Leben ift alfo in beftändigem Wechfel Production und: 
Gonfumtion im weiteften Sinne?®). Indem ich meine Thätigkeit dus 


83) Dahin gehören: ‚Die Lage der arbeitenden Clafle in England. V. $. 
Engels,’ der fih die gründliche Erforfhung feines Gegenftandes Zeit und 
Opfer hatte koſten laſſen; unzeine Auffüge oder Bruhflüde von Auffägen im 
„Buͤrgerbuch“ (befondere Wolff über die fchlefifchen Zuftände und Unruhen); 
in den, „Rbeinifchen Sahrbüchern für geſellſchaftliche Reform,“ im „Zeitfpiegel” ' 


u. e. A. 

39) Das „Lied der ſchleſiſchen Weber” iſt mehr werth als neun Zehntheile 
der ganzen Übrigen focialiftifchen Poeſie. 

40) In diefem Sinne ift Ein= und Ausathmen Sonfumtion und Production. 
Da wir keine Luft ausathmen, ohne erſt Luft eingenommen zu haben, fo ift das 
ganz richtig, was zumal Proudhon bemerkt, daß hier und in allen Zällen, 
der Production eine Conſumtion vorausgeht. Allein die Folgerungen find 
grundfalſch, womit fich die Ginen eine abftracte fociale Gteichheit, die Anderen 


1 Gommtmismus, 


Bere, anf beflimmte Gegenſtaͤnde richte, wirken biefe fogleich auf mich 
zuruͤck; ich nehme Eindrüde von ihnen in mich auf, ich trete alfo vor 
anderen Denfchen mit biefen Segenfländen in eigenthuͤmlich beftimmte 
und beftimmende Verbindung. Dies ift, wie ſchon hervorgehoben wurde, 
ber in der Menſchennatur liegende Grund für die nothwendige Ent 
flehbung des inbiniduellen und mannichfacher Arten des befondes 
ven Eigenthbums, durch Die ausdrädtiche Anerkennung der zum 
Staat verbundenen Geſellſchaft, d. h. durch das Geſetz. Und dies 
gilt eben ſowohl für das Eigenthum am Boden, wogegen der Communis⸗ 
nme hauptfächlich zu Felde zieht, als für das an beweglichen Sachen. 
Sa die Bildungsgrfchichte des Eigenthums zeigt ganz deutlih, daß füch 
überall das Recht an Grund und Boden zuerft vollftändiger entwis 
delt bat. Dies war ſehr natürlih. Gerade darum, weil wir der Erde 
alle unfere beweglichen Güter durch Dceupation und Arbeit entnehmen, 
war mit der Sicherung des Rechts von Individuen, Familien oder fon« 
fligen Denfchenvereinen an beftimmten heilen des Erbbobens, zugleich 
das Recht auf die Früchte bdeffelben gefichert. Mäherer Beflimmungen. 
über das Eigentbum an Mobillen beburfte es dann erſt, als größere Gas 
pitalien am beiweglichen Gütern gefammelt wurden. 

Wie ſollte auch je das befondere Eigentum an Grund und Bos 
den aufgehoben werben können? Die Kraft des Individuums und jedes 
befonderen Vereins, der fi mit Bebauung des Bodens abgiebt, findet 
ſtets in fich ſelbſt und in der Thaͤtigkeit Anderer eine nothwendige 
Grenze. Schon darum ift die communiſtiſch⸗-herkoͤmmliche Phrafe, 
daß die Erde gemeinfchaftlih fein muͤſſe wie die Luft, eben nur eine 
Inftige Phraſe. Die Anerkennung jener Nothwendigkeit und ihrer Fol⸗ 
gen im Stante ift aber fchon die Anerkennung eines befonderen Eigen: 
thums. Das märe eine faubere Wirtoͤſchaft, es wäre eine Probe jener 
„Anarchie, momit bie „vorgerüdteren‘ Sommuniften uns beglüden wol⸗ 
Im, wenn der Eine dba Kraut ſaͤen Eönnte, wo der Andere Rüben gefäet 
hat. Dergleichen koͤnnte aber nicht blos, es müßte auch gefchehen, wenn 
nicht die landwirthſchaftliche Thätigkeit in bemeſſene Sphären gewie⸗ 
fen wäre. 

Ermwidern dagegen die Communiften, daß mit‘ einer folchen noth⸗ 
wendigen Theilung der Iandmirthfchaftlichen Arbeit Anſpruch auf gemein- 
fhaftlichen Genuß oder gleiche Wertheilung ber Fruͤchte des Bodens 
nicht aufgehoben werde, fo erwidern fie nur in anderen Worten mit 
berfelben Ungereimtheit. Man denke fi zwei gleich zahlreiche Gemein» 
ben mit glei großen und gleich, fruchtbaren Gemarkungen, von denen 
jede ihren Boden gemeinfchaftlich bearbeitet. Dies ift fchon eine leere 
Abſtraction, wie fie nur die Anhänger der abfoluten Gleihmacherei zu 


eine abftracte Bemeinfchaftlichkeit daraus deduciren wollten (f. oben). — Hanbelt 
es ſich um eine Geſchichte und Statiſtik dir Production, fo giebt es fich von 
feibft, daß nur von ber gefchichtlich germorbenen, d. h. von der in weiteren Krei⸗ 
fen ertannten und beacdhteten Production bie Rebe ift. 


Gommuniömus,. 73 


machen pflegen, weil folche Gleichheiten in ber Wirklichkeit nicht 
vorfommen und vorlommen können. Aber gefest, ed wäre an Dem, 
fo bfieben doch ba und dort die Individuen ungleih. Sins 
den fib nun in ber einen Gemeinde mehr Mitglieder, die Arm und 
Kopf für rationelle Bewirthfchaftung nicht viel anftıengen, fo haben fie 
vorläufig damit ihre Individualitaͤt befriedigt. Wer Lönnte fie bins 
dern, in einer relativ größeren Trägheit zundächft ihren Genuß zu fin» 
ben? Die leiblich und geiftig X’hätigeren der anderen Gemeinde wer⸗ 
dem umter fonft gleichen Umftänden mehr Früchte probuciten; und weil 
Dies die Fruͤchte ihrer befonderen Thätigkeit find, fo ſtehen fie zu dies 
fen Fruͤchten vor ben Anderen in engerer Beziehung. An dem et⸗ 
waigen Genuß der größeren Bequemlichkeit, womit die Landwirthfchaft 
in der anderen Gemeinde betrieben wurde, koͤnnte man fie nicht mehr 
Antheil nehmen lafien, wenn fie auch wollten. Dit diefer Moͤglich⸗ 
keit ift e8 fchon lange vorbei, wenn ihre Früchte reif geworden find. 
Will man fie alfo zwingen, diefe Früchte dennoch mit denen ber ande 
ren Gemeinde in Gemeinfchaft oder gleihe Theilung zu werfen, fo 
greift man in ihre individuelle Weife der Bethätigung gemaltfan ein, 
fo maht man fie zu Sklaven, melde für Andre thätig fein mußten. 
Dies ift eine Anwendung des auch von Proudhon aufgeftellten Sapes, 
daß ber Communismus in allen Formen und Mobdificationen die Tyrans 
nei der Schwachen über die Starken, daß er alfo die unnatürlichfle und 
unbaltbarfte aller Zyranneien ift. Ä 
Was im Verhältniffe zwifchen Gemeinden gilt, gilt für: das zwi⸗ 
Shen Einzelnen. Communiftifhe Gemeinden befiehen oder haben ber 
ftanden. Indem fie ſich bildeten, baben die Theilnehmer ihr perfönlis 
des zu ihrem gemeinfchaftliden Eigenthum gemacht und von dem als 
lee Anderen unterfchieden. Und fo ift daraus doch nur wieder ein 
befonderes, wenn aud kein individuelles Eigenthum entftanden. Ale 
diefe Gemeinden oder die niemals in allen Beziehungen auf Communie- 
mus gegründeten Kleinitanten*!), in denen eine gewiſſe Gemeinfchaft 





——— 


41) Als Beleg für die. Möglichkeit bes Sommunismus in größeren Staaten 
berufen fi) wohl auch dic Anhänger bdeffelden (wie Cabet) auf Altperu. Aber 
im monardifch = theofratifchen Reich ber Inka beftand eine Ahnlihe Theilung 
des Grundeigenthums wie in den altgriechifchen Staaten; fo wie in den eingels 
nen @emeinden eine gemeinfchaftliche Arbeitsleitung und Arbeitsorbnung. Außers 
dem ließ man fich in ziemlich weitem Umfange die Sorge für die Armen ange 
legen fein; aber bag es Arme und Felder der Armen gab, ift fchon cin 
Beweis gegen ben Beſtand eines peruanifchen Gommunismud. Cbenfo wenig 
tann man ſich auf das frühere Paraguay, auf dieſes jefuitifche Ikarien berufen, 
wo bie erft der Geſellſchaft Jeſu unterworfenen fünfzig Sndianerfamilien zulest 
auf 300,000 gewachſen waren. Haben auch Montesquieu (eapr. de lois I. 
IV. c. VI.), Herder (Adraftca) u. X. mit den Lobfprüchen auf den merkwuͤr⸗ 
digen Priefterftaat in gewiſſem Betracht ganz recht; fo ift doch nicht zu über: 
fehen, daß ber Zefuitenorden der eigentliche Eigenthuͤmer und Arbeitshere, und 
daß das ganze Land eine große Plantage war, bie mit geiftlich gezähmten und 
leiblich wohlgenährten Sklaven beftellt wurbe. 


va Communiſsmus 


von Production und Conſumtion moͤglich war, konnten uͤbrigens nur ſo 
lange beſtehen, als ſich nicht im Fortſchritt der Bildung die Indivi⸗ 
dualitaͤten mit eigenthuͤmlichen Forderungen, Anſpruͤchen und Intereſſen 
ſchaͤrfer hervorhoben. Darum war es immer die Bedingung ihres Be⸗ 
ſtands, daß alle Theilnehmer moͤglichſt unter daſſelbe Niveau nieder⸗ 
gedrückt wurden. Soweit nun dieſe negative Bedingung, dieſe kuͤm⸗ 
merliche Einfoͤrmigkeit der Bildung und Intereſſen noch vorhanden iſt, 
ſoll der Staat der Gruͤndung ſolcher Gemeinſchaften nicht in den Weg 
treten. Man mag deren ſo viele ſtiften als man will und ſo lange man 
kann, wenn nur der freie Austritt geſtattet und damit das Recht ge⸗ 
ſichert bleibt, auch für ſich zu ſein und zu erwerben, alfo inbividu» 
eller Eigenthämer zu roerden. Aber alle diefe Communismen find 
kein foclaler Communismus. Diefer wäre erft da, wo ſich der Einzelne 
der Gemeinſchaft nicht fo weit entziehen fönnte, um feiner Indivi⸗ 
bualität nad), darum mit Ausfchluß Anderer, für fi) zu erwerben. und 
"zu haben. Als allgemeines und barum als nothmendig zwingendes 
Inſtitut bleibt aber dieſer Communismus nur das Gedankending einer 
unmöglichen Tyrannei; wie ſehr man biefe auch mit der Verheißung 
von taufenderlei Genuͤſſen u. dergl. zu verſchleiern bemüht fei. Er ifl 
ſelbſt unmöglich in jedem größeren Staate mit freier und darum mans. 
nichfaltiger Bildung. Er iſt es fo fehr, daß felbft Cabet in feinem 
Ikarien ein perfönliches Eigenthum als herkoͤmmlich fort und fort 
vorausfegt, wie fehr er fih auch Mühe giebt,. diefe Vorausſetzung 
nicht auszufprechen. „La loi laͤßt feine fo herrlich und in Freuden 
lebenden „„fermiers“ im ruhigen Befig ihrer Landguͤter. Es beftinmt 
nur, welches Quantum von Früchten fie in die „öffentlichen Magazine” - 
abzuliefern haben, mas denn nichts weiter als eine Naturalabgabe 
ift, weil ſich Cabet in den Kopf gefest hat, das Geld abfchaffen zu 
wollen. Er hat die meitere Gaprice, daß es angenehm wäre, wenn 
bie Leute familienweife zufammenmwohnten. Statt nun bie Leute biefe 
etwaige Annehmlichkeit gerade fo theuer bezahlen zu laffen, als fie 
ihnen merth iſt, läßt er „la loi“ befehlen, daß die nicht zur Familie 
gehörigen Nachbarn einer zahlreicher gewordenen Familie Plug zu mas 
hen haben. Daß dies nur in dieſem Falle gefchehen foll, deutet doch 
wieder auf ein gefeglich gefchügtes Beſitzthum, mit den vom Gefeg 
ſelbſt mit Rüdfiht auf ein angeblich allgemeines Intereſſe beflimmten 
Ausnahmefällen. Es ift aber freilich nur wieder Cabet's Laune, bie 
er „Geſetz“ nennt und die von anderen Gommuniften „Wiſſenſchaft“ 
getauft wird. 

Mas vom Eigenthum, gilt im aleihen Maße vom Erbrecht für 
bie unter fih und mit beftimmten Theilen der Sachenwelt enger ver⸗ 
bundenen Sindividuen. Es gilt alfo namentlid für das Erbrecht in ges 
rader Linie und zmifchen Ehegatten. Sobald fich irgendwo Individuen 
in ein beflimmtes Befigthum, in eine damit zufammenhängende eigen: 
thümliche Weife der Confumtion und Production eingelebt haben, ift 
das gemwaltfame Herausreißen aus dem Boden, worin bereits diefe ober 


r Sommunismus, 75 


jene Perſoͤnlichkeit ihre Wurzeln geſchlagen hat, doch nur ein nichtkwuͤr⸗ 
diger, verlezender Eingriff in das Recht der Individualitaͤt ?2). 

In einem Auffag „gegen bie Sommuniften” von 8. Heinzen 
kommt biefer doch fchließlich zu dem Vorſchlag einer Gonfolidirung alles 
Grundeigenthums in der Hand des Staates, einer Verpachtung deſſel⸗ 
ben an Einzelne und einer Aufhebung des Erbrechts2). Möge er fi 
hüten, daß ihm nicht bie Communiften ihre „Bravo!“ zurufen; daß fie 
ihn nicht trotz aller Verwahrung un'er „ihre Leute” einregiftriren. Es 
bat indef feine Noth mit dem Amt des Staats als Generalverpäcdhters, 
mit neuen nflituten nach dem Mufterbilde eins Mehemed Alt. 
MWill nicht der. Staat — und er dürfte nicht wollen — die ſchimpf⸗ 
liche Rolle jener irifchen und englifhen Grundeigenthümer mit willkuͤrli⸗ 
cher maſſenweiſer Entfegung der Pächter fpielen, fo wuͤrde er doc, den 
rechtlichen Beſitz derfelben anerkennen und bdiefe Anerkennung im Ge⸗ 
feg ausſprechen muͤſſen. Damit würde fih, wie man die Hand unıs 
kehrt, doch wieder der Pachk in perfönlihes Srundeigenthum und ber 
Pachtzins in Steuer verwandeln. Ganz fo ift es mit dem Erbrecht. 
und anders kann es nicht fein! Trotz allen Mißftänden in der jegigen 
Vertheilung des perfönlichen Eigenthums an beweglichem wie an uns» 
beweglichem Gut, ift diefes doch fo tief im Weſen des Menfchen begrün> 
det, daß 28 bie Herren immerhin in Gedanken zur einen Thür hin⸗ 
auswerfen koͤnnen; es kommt ihnen doch wieder zur anderen Thür hers 
ein, wenn ihnen nur nicht der Verſtand felbft communiſtiſch ſtillſteht. 

Fortſetzung: Arbeit. But. Waare Werth. Confumtion. 
Gapital. Geld. Taufdh. Kauf. Pacht. Zinfen. Kohndienfte. 
Derf. g. organifirte Productenaustaufh des Communismuß, 
Jede Arbeit ift Production, aber bei Weiten nicht jede Production Arbeit. 
Die Arbeit ift bie verftändige Thätigkeit bes Menfchen zur Umbils 
bung eines Segenftandes der Sinnenmwelt, damit er zu einem menfchli« 
hen Zweck diene, zu etwas gut fei, zu einem Gut merde. Als vers 
ſtaͤndige Thaͤtigkeit muß die Arbeit ihren Zweck erreichen ober doch auf 
dem rechten Wege zu beffen Erreichung fein. Schon in der Volksſprache 
ift das Alles genau genug bezeichnet. Das Volk nennt ebenfo wenig 
das 5106 zufällige Kinden oder die bloß fpielende Xhätigkeit mit 
ihrer möglichen zufälligen Production eines Guts Arbeit, als das Zer⸗ 
flören oder das von Anfang an als vergeblich erfcheinende Bemühen um 
Erzeugung eines Guts. Das Lestere bezeichnet es etwa als ein „ſich 
Abarbeiten” und faßt es alfo als Gegenſatz ber vom Ich aus auf 
ein Anderes gerichteten Arbeit. Was für den Einen, kann für den 
Andern noch in höherem Grade gut fein. Im Austauſch von Gut ges 


42) Ueber die Mißftände und Ausmwüchfe des jegigen Erbrechts, auch in 
ber geraden Linie, fiche „Erblichfeit.” 
49) ©. „Die Oppofition 1846. Es iſt indeß zu bemerken, dag Heinzen 
feine unmaßgebiichen Vorfchläge nur andeutet, ohne dabei in den communiflifch 
herkoͤmmlichen Dünkel der Unträglichleit zu fallen. 


70 Communiſsmus 


gen Gut wird es zur Waare. Dabel wirb ein Gut mit dem andern 
verglichen, das eine wird nach dem andern geſchaͤtzt; der Ausbruck 
dieſer Vergleichung iſt der Werth; und im concreten Falle der Preis 
oder das was bie Arbeit koſtet. In feiner wirklichen Verwendung zum 
Zweit fällt das Gut unter den allgemeinen Begriff der Gonfumtion. 
Durch feine befondere Beflimmung für ben Zwed einer weiteren Pros 
duction wird es zum Egpital**). Diefelbe Sache wird alfo zu Diefem 
oder Jenem je nach ber Beftimmung, die ihr der Menſch giebt. So 
ift ein beſtimmtes Grundftüd, das fidy unter dem: Pflug befindet, Ge⸗ 
genftand der Arbeit oder Arbeitsftoff; mit Ruͤckſicht auf bie daraus zu 
gewinnenden Fruͤchte ift es Arbeitömittel, Arbeitsinſtrument und 
Capital, fo gut wie der Pflug, womit baffelbe bearbeitet wirdz im 
Austauſch gegen andere Sachen wird es zur Waare, hat Werth, bes 
ftimmten Preis u. f. w. Werben die Früchte davon geerntet, fo wirb 
es confumirt; denn bie Sonfumtion eines Guts ift immer nur deffen 
Verwendung zum Zweck, wobel bie Materie, der Stoff nicht vernich⸗ 
tet, fondern nur anders geftaltet wird, mie es denn überhaupt Feine 
Dernichtung, fondern nur eine beftändige Zransformation der Dates 
rie giebt. 

Das Alles ift auch auf das Geld anwendbar. Die Communiften 
haben feine Bebeutung nicht begriffen und fuchten fi, alfo eine Satis⸗ 
faction für ihre Confuſion dadurch zu verfchaffen, daß fie das verrüde 
tefte Kauderwelſch über die „fchnöde Schlacke,“ den „allgemeinen Pluns 
der,’ den ‚Pfahl in unferm Fleiſche,“ über die „ntäußerung des 
Mefens des Menfhen im Gelbe”, über die „Im Gelbe ſich ſelbſt 
teanfcendent gewordene Menfchennatur”‘, über das „als Geld ver: 
goffene fociale Blut”, über da „Geld ale realifirtes Weſen des 
Chriftenthums” (!) u. dgl. zu Markt brachten, was als allgemein nicht 
geltend freilich Beinen Heller werth iſt. Diefe communiftifhen Veraͤch⸗ 
ter der Autorität der Gefchichte und des Wölkerlebeng , diefe Gegner des 
Sndividualismus haſchen doch beyierig nach individuellen Autoritäten. 
Da werden ein Locke u. A. citirt 2°), wenn fie etwa in einem ſchwachen 
Augenblick eine vage Bemerkung gegen das Geldweſen hingemworfen ha⸗ 
ben. Reicht die Profa nicht aus, fo verftedt fi) bie communiftifche Ge⸗ 
dankenlofigkeit hinter die Poefie. Für weit die meiften Verkuͤnder der 


44) Die gewöhnliche Bezeichnung bes Capitals als ‚aufgchäufte oder ge⸗ 
fammelte Arbeit ift falfh. Dean kann fich diefen Ausdrud nur ald Dinweifung 
darauf gefallen Laffen, daß in der Regel bad Capital das Erzeugniß einer 
länger dauernden Arbeit ift. Weiteres darüber bei „Proubhon,’ beffen irrige 
Lehre zum Theil auf der irrigen Auffaffung von Capital beruht ; ber aber 
in der Conſequenz feines Irrthums noch fo fcharffinnig ift, daß er zu ben we: 
nigen bem Communismus nahe ftehbenden Gchriftflellern gehört, auf deren 
—* naͤher einzugehen der Muͤhe werth iſt. 

45) Sogar Montesguieu mit einigen Bemerkungen über das Geldweſen 
in ganz fpecieller Beziehung auf beftimmte Staaten und beftimmte Staats: 
einrichtungen. 


Gommunismus. 77 


Gemeinſchaft, für diefe fchreienden, zappelnden Kinder, bie fich ſelbſt 
mit dem Bade ausfchütten, ift nun gerade das Halloh für die Abſchaf⸗ 
fung des Geldes zum Schiboleth geworden. Der relativ Verſtaͤndigſte 
unter den deutſchen Sommuniften von einigem Ruf eder Verruf iſt 
wieder Weitling. Er hat body eine Ahnung davon, daß fich ber freie 
individuelle Austauſch von Gut gegen Gut nicht verhindern läßt. Das 
sum will er den Mitgliedern feiner fchlechten Gefellfchaft neben ben 
ſechs Stunden Tagesarbeit, wozu Jeder verurtheilt ift, noch fogenannte 
Commerzſtunden oder meitere Arbeitsftunden geflatten, die in Commerz⸗ 
bücher eingetragen. und gegen beliebige Güter, etwa eine Commerzflunde 
gegen eine Flaſche Wein, ausgetaufcht werden koͤnnen. Er fegt alfo 
nur ein ſchlechtes, unbequemes Papiergeld an die Stelle bed bequemen 
Metallgelds. Damit aber ja keine größeren Gapitalien gefammelt wers 
den koͤnnen, will er die armen und in feiner Vorausfegung armfeligen 
Individum auf eine beftimmte Zahl Commerzflunden befchränten. 
Das kümmert ihn nicht, daß dieſes oder jenes SSndividuum nur gerade 
jest die Kraft und Neigung haben ann, über das feftgefegte Maß bins 
aus im Voraus für ſich zu arbeiten. Er will alfo bie, freie Bethäti- 
gung. der Individualität in ihren Verbinbungen mit ber Sachenmwelt zwar 
nicht ayfgehoben, aber dach gründlich verflümmelt haben. 
Das Gerd ift Gut, Waare, Werth u. ſ. w., wie jedes andere Er- 
zeugniß ber Arbeit, je nach der Beftimmung, die man ihm giebt. Es 
wird in jedem Augenblide confumirt, da es zu feinem Zwecke verwendet, 
db. h. ausgegeben wird *%). Sein Zweck ift, als moͤglichſt aligemei- 
ne6 und darum vom Staat garantirtes Taufchmittel zu. dienen. Da» 
mit es dazu dienen koͤnne, werden die zu verwendenden Metalle in ein» 
zeine Werthzeichen. (Münzen) verprägt, bie einzeln oder. in Summen 
möglichfi alle Werthe ausdruden, bie eben darum der bequeme Maß⸗ 
ftab für die Schägung aller Waaren find. In diefer vervolllommmer 
ten: Geflalt, die nicht mehr bie erfte rohere Form des Geldes iR, ‚dient 
es auch zur Befeitigung ber beitdufigen Ungleichheiten des befonderen 
Tauſches: fol eine Waare von größerem gegen eine von geringerem 
Werthe vertaufcht werden, fo wird die Differenz mit Geld ausgegli⸗ 
hen. Fernar iſt es dadurch ein zweckmaͤßiges Werkehrsmittel, dag es 
vielfach einer laͤſtigen Sorge fuͤr die Erhaltung und Aufbewah⸗ 
rung ſowie für den Transport von Waaren uͤberhebt, einer Sorge, 
die gar oft nicht einmal ihrem Zweck erreichen Einnte. Der Baͤcker, der 
zum Ueberfluffe für den eigenen Bedarf Brod gebaden und gerade ein 


46) Die Verwirrung, bie noch da und bart in ben Begriffen über das 
Geldweſen berrfcht, beruht zum Theil darauf, daß die Münzen nur einer langs 
famen Abnugung unterworfen find und barum, nach einem noch herrfchenden 
Borurtheil, Teiner eigentlichen Gonfumtion unterliegen follen. Aber das Abſchlei⸗ 
fen der Münzen durch die Sonfumtion ift fo wenig dieſe felbft ald das Abnu⸗ 
gen von Handwerkszeug burch den Gebrauch , oder als das Eſſen eines Stüͤcks 
Brod6 das zerfaute Brod if. Das Alles find nur Kolgen einer als „Con⸗ 


fumtion” bezeichneten Th ätigkeit des Menfchen. 
Mm 





78 Communiömus. 

Paar Schuhe nöthig hat, braucht nicht erſt fein Brod trocken werben 

zu lafien, um dann noc den vergeblichen Verſuch zu machen, feine 
werthlos gewordene Waare gegen Schuhe auszutaufhen. Und weil 

ber des Brodes Beduͤrftige diefes für Geld Laufen Tann, bat er 

nicht nöthig, ſich erft bei dem’ Bäder zu erkundigen, ob und welcher 
Schuhe diefer bedarf, um dann hungrig in der Welt umherzulaufen, bis 

er das zur Befriedigung des anberfeitigen Bebürfniffes gerade paſſende 

Taufchmittel aufgetrieben hat. Was für den Meinen täglihen Verkehr 
gilt, gie in noch viel höherem Maße für’ den großen Verkehr In bie 

Ferne, wofür das Metaligeld , die darauf bafieten verfchiebenen Arten 

des Papiergeld8 und der hierbucch in größerer Ausdehnung etft möglich 

gewordene Credit bei Weiten die wichtigſten Mittel ber Erleichterung 

und Befchleunigung geworden find #7). Ä 

Das Geld kann aufgehäuft und geſammelt werben, wogegen 

fi) bie Communiſten beſonders ereifern. Daß dies gefchehen kann, 

ohne daß es verdirbt, macht es gerade zum zweckmaͤßigen allgemeinen 

Tauſchmittel. So kann auch bet Wein in den Zäffern gefammelt wer: 

den und Hat noch die befondere -Eigenfchaft, daß er während geraumer 

Seit durch‘ das bloße Liegenlaſſen und eine fehr geringe Sorge um ihn 

fit) verbeffert, daß er fih in felnem Werthe erhöht. Diefe Ei⸗ 

genfchaft hat wenigfiens das Geld nicht, weil es als Tauſchmittel ſei⸗ 

nen Nugen immer nur dadurch bringt, daß es vertaufcht, daß es fort 

und Fort in: Circulation geſezt wird. Aber gerade weit: dus Geld in 
größeren oder’Heineren Summen geſammelt werben kann, kann e8 auch 

uͤberallhin verthellt werden. Jene Sammlung ifl ja ſchon eine Ver 

thellung. Und wie das Gelb feinem Weſen und Zweck nah zunaͤchſt 

der Erleichterung des individuellen Verkehes und ber Ausgleihung der 
Ungleichheiten des Tauſches dient; wie es alfo von Anfang an ein Mit: 

tel zur Erhaltung einer wahren und vernünftigen Gleichheit gemefen 

ft: fo kann das Geldweſen gerade in feiner jegigen volllommneren Ent⸗ 

widelung‘ für’ den Staat das Mittel und zwar das allein zueeichende 

Mittel werben, durch zwedimäßige Befleuerung alle widernatuͤrlichen, 

die freie individuelle Ausbildung hemmenden Ungleichheiten des Beſites 

und Erwerbs fort und fort zu befeitigen. Darauf alfo fol ſich vor Allem 

die Thaͤtigkeit der wahren Volksfreunde richten, die fich ſchaͤmen, das 

hungernde Proletariat mit faulen Phrafen gegen das f. g. Geldſyſtem 

abfüttern zu mollen. Alle jene communiftifchen Diatriben haben doch 


47) Bergl. den Art. „Geld.“ In der Gefchichte der Production iſt bie 
Erfindung des Metallgeldesſganz Daſſelbe für den materiellen Verkehr, was 
die Erfindung der Buchftabenfchrift für den peiffigen Verkehr. Daß dies fo tft 
und fo fein mußte, babe ich in der Schrift „Die Beanegung der Production” 
gezeigt. Dagegen find die Herren M. Heb und K. Gruͤn mit den feidhteften 

nwenbungen aufgetreten. Es verftebt fich, daß fie die Bedeutung bed Geldes 
nicht verfteben, daß fie fi) um die Gefchichte des Geldweſens nicht bekuͤm⸗ 
mern durften, um in Ihrer Weife communiftifh darüber phantafiren gu können. 
Näheres in „NRumismatit.” 


Communismuß. 79 


nur: ihre Entſchuldigung, aber keineswegs ihre Rechtfertigung in bem 
Bucher verfchiedmer Art, der auch mit dem Gelde getrieben wird, im 
bee. . durch die fchlechte Wertheilung bes Geldes möglich gemorbenen 
Ausbeutung ber Armen durch die Reihen. Nun ja! Auch der Stahl 
laͤßt ſich zum Banditendolch fchleifen und das Geld läßt fi nicht we⸗ 
niger mißbrauchen, als ‚die communiftifhen Schriftiteller das Denken 
und die Schrift mißhandeln. So gut fie aber das Geld im Hinblid 
auf: die „fchlechte Geſellſchaft“ befeitigen mollen, eben fo gut dürfte fich 
von je: zwei dieſer Communiften Jeder die Augen ausreißen, weil er 
den Andern vor Augen hat. Es bat indeß keine Noth mit all den uns 
gereimten Declamationen gegen das Geld. Die proletarifchen Bewegun⸗ 
gen haben mit bem ‚Verlangen begonnen und werden mit der Befriedi⸗ 
gung des Verlangens endigen, nicht bag das Geld abgeſchafft werde ), 
fondern dab ſich jeder Arbeiter gegen mäßige und geficherte Arbeit ein 
binlängliches Quantum von der zum allgemeinen Zaufchmittel fo taug⸗ 
lichen „ſchnoͤden Schlacke“ verdienen koͤnne. Und darin hat das 
Bo ganz Recht. 

Die mannichfachen Beduͤrfniſſe der Gonfumtion wecen eine mans 
nichfaltige Production. Im daraus nothwenbig entfichendben Austaufch 
der Produete iſt auch ber Kauf, das Dingeben einer Sache gegen Gelb, 
nur eine befondere Korm bes Tauſches. Mit dem Gelb waͤre alfo ber. 
Kauf abgefdyafft, d: h. der Kreis der möglichen Aeußerungen einer. freien 
en Ihktigkeit! waͤre gewaltſam beengt und beſchraͤnkt. Wie 

gegem en Kauf und Verkauf, fotglich gegen \den: Handel, den fie nur in 
feiher jetzigen Zerriſſenheit und 'in:.feinen Auswäcfen:auffeßten, find. 
bie Sonmmuniften zumal gegen Pacht und Pachtzins losgefnhren, ob 
letzterer nun Selb s- oder: Naturalzins ſei. Und dies thaten fie. aus dem⸗ 
ſelben Grunde, weil ſie in ihrem Haß gegen das perſoͤnliche Elgenthum 
ſtets ſo weit gehen, daß fe ſich nicht einmal den Begriff ber Sache an: 
eignen, :Die'fie beplaubern. Darin bethaͤtigt ſich die freie Judividualitoͤt, 
de h. der wirkliche und leibhaftige ganze Menſch, daß er nad). feinem 
Willen. von einer Weiſe ‘der Conſumtion und Production zur andern 
übergeht und darum feine Probnctionsmittel‘. "gegen andert vertaufcht. 
Hat: der Eigenthünter eines Grundſtuͤcks etwa. Neigung, ein Jahr lang 
das Schteinerhandwerk zu treiben, und ein Schreiner. das Grundflüß 
zu bebauen und die Krüchte davon zu ziehen: fo koͤnnen ſich Beideda⸗ 
bin vertragen, daß Jener dem Schreiner ıfein Grundftüd, daß Die 
fer dem Srunbeigenthümer etwa einen Vorrath .an Holz überläßt.. Was. 
fe The das eine Jahr befäloffen haben ,. koͤnnen fie für. das folgende 
Jahre oder im Voraus für eine ganze Reihe von Jahren befchließen. 
Und flatt den Arbeitsftoff Boden gegen den. Arbeitsſtoff Holz zu ver: 
taufchen, Tann der Pächter eben fomohl Gelb gegen Boden vertaufchen, 
alſo einen Pachtzins entrichten und dem Verpächter es überlaffen, tie 


— — 





48) Proudhon iſt vernuͤnftig genug, das Geld in feiner Geſellſchaft 
beibehalten zu wollen. Das wird ihm von K. Gruͤn ſehr uͤbel genommen. 


80 Communismus, 


er Ihn anwenden wil. Ganz bdaffelbe gilt bei dem Darlehen: in 
Geld gegen Geldzins. Denn es ift wieder völlig gleichgültig, - ob ein 
fo oder fo beflimmtes But gegen ein anderes Gut ausgetaufcht wird, 
oder ob dies in der Form des allgemeinen Tauſchmittels, des Geldes, 
gefchieht. Der Eine Eönnte ſich doch wieder für das empfangene Capi⸗ 
tal den Arbeitöfloff Boden, der Andere für den emfangenen Geldzins 
den Arbeitsftoff Holz oder was fonft verfchaffen. 

Die Phrafen gegen den Geldzins find alfo durch und durch gehalt« 
los. Sie find gerade fo hohl, ale das communiftifche Zetergefchrei gegen 

ben Eohndienft, als 3. B. der Zabel eines 8. Grün gegen Proud⸗ 
ben, daß auch er nicht „über die Kategorie bes Lohndienftes hin⸗ 
weggefommen ſei.“ Dem Miether des Dienftes iſt es nicht um bie Ar⸗ 
beit zu thun; er kauft für Geld nicht die Arbeit, nicht die Thaͤtigkeit 
bes Menſchen, fondern das Product der Arbeit, die gearbeitete Sache, 
ob nun bdiefe in einem gepflügten Ader, in gebürfteten Kleidern, 
in gepugten Stiefeln oder was fonft beſtehe. Wenn fich die durch 
die Arbeit probuciete oder modificirte Sache von felbft ‚machte, bedürfte 
es keines Lohne... Da dies nicht ber Kal iſt, wird eine geacbeitete Sache 
gegen eine andere gearbeitete Sache, gegen Geld, umgetaufcdt.. Alfo 
find Kauf, Pacht, Miethe, Lohndienfle immer und immer nur Verträge 
über den Austauſch von Sachen. Ohne verlegenden Eingeiff in has 
ewige und einzige Menſchenrecht ber freien Berhätigung ber Individua⸗ 
litaͤt koͤnnen ſolche Verträge nur ungültig fein, wenn fie in ſich felbfi 
eine Verletzung enthalten; alfo bei wefentlihem Irrthum und bei pſy⸗ 
chologiſchem oder muterielem Imang (Betrug und Gewalt), Darauf 
hat aber :bie „fchlechte Jurisprudenz“ ſchon lange Bebacht genommen, 
ohne erſt auf die moderne communiftifche Verfchlimmbeflerung warten zu 
maͤſſen *°). 

Wird eine Sache, die am allgemeinen Maßſtab des Geldes ges 
meffen einen größeren Werth hat, mit Bewußtſein und. freiwillig gegen 
eine Sache von geringerem Werth vertaufcht, fo erhält der Vertrag im 
Beziehung auf die Differenz die Bedeutung einer Schentung. Da 
ber Grund ber Ueberzahlung nicht in ber Sache liegt, für die eine 
werthvollere hingegeben wird, fo fann fie nur in einem beflimmten per 
fönlichen ntereffe des Schenkers für den Beſchenkten liegen. Aber 
auch diefes perfönliche Intereſſe iſt das Erzeugniß einer Thaͤtigkeit des 
Befſchenkten; hätte gleich feine XThätigkeit nur Unwillkuͤrlich produ⸗ 
cirt und beftünde das Product in nichts Anderem als etwa in dem das 
Mitleid erwedenden Ausfehen eines Menfhen, das den Schenker 


49) Eine ungulänglihe Auffaffung des Werhältniffes ber Arbeiter zum Pros 
duct im berühmten Werke von A. Smith, womit auch eine ungenügende Auf⸗ 
feflung ‚von (Srundrente und Gapitalrente zufammenhängt, bat fih Verwirrun 
ftiftend in die Volkswirthſchaftslehre eingefchlichen. Diefen Irrthum babe fi 
Proudhon und die ihn nachtretenden communiftifchen Scyriftſteller ange 
eignet, aber zugleich in ihrem Ginne auszubeuten geſucht. S. barüber 


„Proudhon.” 


Communismus 81 


zum Schenken beſtimmt. Darum iſt ſelbſt die ſ. g. reine Schenkung 
doch immer ein Austauſch von Erzeugniffen menſchlicher Thaͤtig⸗ 
keit; nur daß nicht jede menſchliche Thaͤtigkeit Arbeit und nicht je⸗ 
Des Erzeugniß dieſer Thätigkeit etwas Erarbeitetes it). Auch im 
Geblet der Schenkung muß alfo diefelbe freie Berhätigung der Indivi⸗ 
duen, wie bei Kauf, Pacht u. bgl. anerkannt werden®!). Es ift mit: 
bin fo thöricht als unausführbar, die Beflimmung der Waaren preiſe 
von etwas Anderem abhängig machen zu wollen als von ber freien 
Concurrenz der Meinung, aus der fi) fort und fort eine äffentliche und 
vorherrfchende Meinung entwidelt 52). Nur muß diefe Concurrenz, und 
barauf kommt Alles an, eine wahrhaft freie fein.., Dies iſt fie 
nidyt bei bem jegigen Uebergewicht der Reichen über die Armen, ber Gas 
pitaliften und Arbeitsherren über bie Arbeiter. Sie ift es überhaupt nicht, 
ſoweit einem Menſchen das ihm Nothwendige nicht gefichert iſt; for 
bald er alfo durch Entziehung des Nothwendigen gezwungen werben 
Tann, das etwa in zwoͤlfſtuͤndiger Tagesarbeit von ihm Erarbeitete gegen 
das in einflündiger Arbeit von einem Andern Erarbeitete umzutaufchen. 
Darum aber ftellt fi) immer wieder als die einzige Aufgabe hervor, 
daß jedem Mitglied der Geſellſchaft, gegen mäßige und verhältnißmäßige 
Arbeit, vom Repräfentanten ber öffentlihen Meinung, vom Staat, das 
Nothivenbige gefichert werde. Iſt für jeden Einzelnen dieſe Lebensbafis 
einer freien Entwidelung nicht blos in Worten, fondern auch ber Sache 
nad) garantirt, fo macht fich alles Weitere von felbfl. Jeder vers 
taufcht dann nur die Erzeugnifie feiner Thätigkeit gegen die Erzeugniffe 
der Thätigkeit des Anderen, wenn ihm diefe mehr werth find als feine 
eigenen, fo daß im Austaufc, Keiner mehr verliert, fondern Jeder ges 
winnt. Dann braucht man fid) zumal auch darum Leine Sorge gu ma⸗ 
chen, daß bejondere Talente unverhältnißmäßig belohnt, daß etwa die 
Rouladen einee Sängerin mit Zaufenden bezahlt werden fönnten. 
Was meint nun der Communismus an die Stelle der freien Per 
föntichkeit fegen zu koͤnnen, die fich von geficherter Baſis aus auch im 
freien Austaufh der Erzeugniffe ihrer ZThdtigkeit offenbart? abet 
und Weitling erfinden fich öffentliche Magazine, in die alle oder body 
die nicht der unmittelbaren Gonfumtion der Producenten überlaffenen 


50) Roch weniger ift jedes Product ber Menfchenthätigkeit, auch nicht jedes 

uct ber Arbeit, der mögliche Begenftand cines weitern Austaufches 
und des möglichen Marktverkehrs. Dabin gchöfen z. B. die Erzeugniſſe der 
tünftlerifchen Arbeit von Schaufpielern, Sängern u. f. w., die fogleih con= 
fumirt werben. 

51) Die fogenannten Schenfungen auf den Todesfall und Bermaͤcht⸗ 
niffe aller Art find Feine wahren Schentungen. Das vernünftiger Weile 
anzuertennende Erbrecht beruht darum auf etwas ganz Anderem als auf der 
Dispofitionsbefugniß des Grblaffers über feine Lebenszeit hinaus. S. „Erblichkeit.“ 

52) Auch wenn der Staat eine Polizeitaxe feftfept, wenn er 5. B. die früher 
herkömmlichen Brobpreife ermäßigt, ftüßt er fi) doch nur auf bie öffentliche 
und vorherrfchende Meinung der Brobconfumenten und handelt als Repräfentant 
berfelben gegenüber ber befonberen Meinung ber Bäder und Brodverkaͤufer. 

Suppl. 3. Staatslex. II. 6 


z2 Communiſsmus 


Producte abgeliefert werden muͤſſen, um von da an die Conſumenten 
als normalmaͤßig zugeſchnittener Bedarf vertheilt zu werden. Man hat 
Magazine und Waarenlager errichtet und mag ſie ferner nach Luſt und 
Lieb errichten, damit Jeder nach Auswahl die Erzeugniſſe Anderer gegen 
die ſeinigen eintauſche. Aber wenn er nun dieſe Wahl ſchon in der Naͤhe 
getroffen, wenn er ſich bei dieſem oder jenem Producenten gerade bie 
Sache ausgefucht oder beftelle hat, die feinen Bedürfniffen, Interefſen 
nnd Wuͤnſchen entfpricht — marum fol biefe Sache entweder gar 
nicht producirt, oder doch erft an andere Perfonen und andere Orte 
abgeliefert werden, wo fie vorerft nicht confumirt, nicht zu ihrem 
Zwecke verwendet wird? Warum foll der gerade dieſe Sache Begeh⸗ 
rende erft noch in das „fociale Magazin” wandern, ober es erſt abwar⸗ 
ten, ob ihm etwa ber Zufall der Vertheilung die begehrte Sache zufals 
fen oder nicht zufallen laͤßt? Diefe ganze fogenannte Organifation 
des Productenaustaufches, wodurch der den Gommuniften fo verhaßte 
individuelle Handel befeitigt werden foll, läuft body nur auf bie wider⸗ 
natuͤrlichſte Beſchraͤnkung des individuellen Handelns hinaus. Sie 
zwingt vom geraden Wege ab zu Ummegen, auf denen das Biel der 
Befriedigung der Individuen nur fehwieriger oder gar nicht erreicht wer⸗ 
den kann. Statt eine Abkürzung der Arbeit zu fein, ift diefe Drganls 
fation genannte De sorganifation des Handels bie augenfälligfte und laͤ⸗ 
herlichfte Verſchwendung von Zeit, Transport und Arbeit. Cabet 
fühlte dies felbft: darum müffen die zahlreichen ikariſchen Eiſenbah⸗ 
nen’ herhalten, vermittelft welcher der ganze Hustaufch fehr gef hwind 
von Statten gehen fol. Hinter dieſer Zafchenfpielerei fol die ge⸗ 
ſchwinde überflüffige Verſchwendung von Kräften verftedt merden. 
Eine ſolche Gefhmwindigkeit ift freilich am menigften Dererei und Ca⸗ 
bet ein Herenmeifter. 

Noch viel bequemer machen es fich die nachhegel’fchen Doctrindre 
bes deutfchen Communismus. M. Heß decretirt den „organifirten Proz 
ductenaustaufch” fchlechtmeg. Aber darin liegt’ eben, daß jeder Menſch nur 
von fich aus den Kreis feiner individuellen VBedürfniffe und Intereffen 
fo wie der Mittel ihrer Befriedigung beftimmen Fann, daß alfo auch 
ber Austaufch der Producte von den Einzelnen aus und in freien Ders 
einen, alfo nach Individualität und Dertlichkeit, fort und fort ſich felbft 
organifiren muß; daß eben darum das Privateigenthbum und der freie 
Austaufh in Kauf, Pacht, Miethe, Lohndienften. Schenkung u. oͤgl., 
kurz daß der ganze freie Handel nothmentig bleibt, wenn nicht die 
Menfchennatur felbft mißhandelt werden fol. Da reden aber biefe 
Communiften davon, daß ein focialer Zuftand gefchaffen werden folle, 
„worin Jeder den Lohn für feine fociale Thätigkeit in diefer felbft 
ſuche und finde;” morin e8 „Eeine Vertheilung vin Arbeit und Ges 
nuß gebe; worin „Production und Confumtion nicht auseinanderfallen ;’' 
morin „der Gegenfag von Arbeit und Genug aufgehoben werde.“ 
Der Arbeiter wirkt auf einen Gegenftand hin und darum mirkt der Ge 
genfland auf ihn zuruͤck. Diefe Ruͤckwirkung mag der Arbeiter al6 an, 

. | 


Communismus. 83 


genehm oder unangenehm empfinden, fie ift doc immer etwas Anderes 
als die Arbeit ſelbſt. Man könnte eben fowohl den „Gegenſatz“ von 
Aus⸗ und Einathmen in der abftracten Einheit des Athmens aufheben” 
wollm. Das ganze Gerede ift aber nur eine Sammlung verpfufchter 
Phraſen über die einfache Forderung, daß nicht die Arbeit für den Ar 
beiter erfchöpfend, feine Sefundheit und Kräfte aufreibend fein folle. 

Ebenſo ſchnell iſt KR. Grün mit der ganzen „alten ſchlechten Welt” 
fertig. Er ift ein leidenſchaftliche „Sonfument.” Cr prophezeit, 
„daß «6 Phyſik und Chemie zur unglaublihen Sage machen werben, daß 
es eine Zeit gegeben, worin man mwähnte, ed könne zu viel con[umirt 
werben. Solche Kleinigkeiten, daß etwa bei Mißwachs zu viel Kartof⸗ 
fein als Branntwein confumirt werden koͤnnten, ſtoͤren ihn nicht in 
feiner Abftractionsfeligkeit.e Er will die Confumtion eines Jeden nicht 
duch die Production, fondern „dur die Confumtion Aller garans 
tier” haben. Er ſucht „die wahre Aufhebung der ſchlechten Ertreme 
darin, daß man die Begriffe Start und Schwach aufhebt und Jeden 
nad feinem Beduͤrfniß confumiren läßt.” Er verfündet,, daß „Pros 
duction und Sonfumtion Eins und Daffelbe find, von verfchiebenen 
Seiten angefehen.” Indem er das Biod, das er nicht verbient, 
confumirt, tröftet ex fih damit, daß er den Efel produeirt, ber 
das Mehl zum Brede aus der Mühle ſchleppt. Daß ſich Confumtion 
und Production gegenfeitig beftimmen, wußte man ſchon lange vor 
der Mißgeburt der neucommuniftifchen Weisheit. Aber gerade darum 
wird in diefer Welt der beftimmten Productionen und Gonfumtionen 
susglichft dafür geforgt, daß die communiftifchen Gonfumtionseifrigen 
gerade dm concreten Braten, den fie fi) nicht verdient haben, ben 
Anderen nicht wegeſſen. Durch allen Unfinn der communiftifchen Docs 
tein ſchimmert doch in halblichten Augenbliden dann und wann die 
dunkle Ahnung von ber Unmöglichkeit einer Befeitigung des Privateigens 
thums duch. So verfichern die neueren Communiften in der Schmelz, 
daß fie das von ihnen f. g. wahre perfönliche Eigentum nicht ab» 
f&affen, fondern Herftellen wollen. Aehnliches findet fih bei Heß 
und Grän. „Das wahre individuelle Eigenthum,“ fagt dieſer, „tft 
die fortwährende Garantie der Mittel zu meinem individuellen Leben.” 
Mun ja! Aber wenn nicht der Communismuß über ſolche leere Allges 
meinheiten hinauskommt, ift er Fein Daarbreit vernünftiger geworden, 
und wenn er darüber hinauskommt, ift ee ein Communismus mehr. 
Das individuelle Leben ift eben eine fortwährende Aneignung von Lebens⸗ 
mitteln und eine fortwährend vom Individuum ausgehende Verfügung 
barüber. Mit der Garantie diefer Mittel würde alfo doch wieder bie 
bie ganze „ſchlechte Gefeifchaft” garantirt mit ihrem Privateigenthum 
und allen „ſchlechten Kategorien’ von Kauf, Pacht, Lohndienft u. bal., 
über die der Communismus „binausfommen” möchte. 

Die communiftifhe Confuſion wird noch größer, menn man bie 
an die Spise geftellten fogenannten Principien ber Lehre in's Auge faßt. 
Der Franzoſe Cabet giebt ſich damit zufrieden, daß nit die Natur, 

6* 


| 4 Ä Communisſmus. 


ſondern daß der Menſch die Erde getheilt habe. Daß dieſe Theilung 
gerade aus ber Menfchennatur entſpringen mußte, kuͤmmert ihn nicht. 
Darum madıt er fich fogleic daran, feine Oberflächlichkeit in's Einzelne 
auszufpinnen. Weitling phantafirt über „Harmonie der Begierden 
und Fähigkeiten” als Ziel des Communismus; erklärt nur den Zufries 
denen für glüdlicd, und kommt vom Princip des Handwerksneids zu ber 
unfinnigen Behauptung, ‚daß man nur zufrieden fei, wenn man Alles 
haben könne, was jeder Andere habe.’ Als wenn man nicht vorzuges 
weiſe das hätte, was man gerade mit feiner Arbeit producirt, und als 
wenn ber Einzelne produciren koͤnnte, was Alle zufammen probuciren. 
Er macht davon eine fpecielle Anwendung auf den Feldheren, der nach 
ihm, wie jeder gemeine Soldat, hungern und frieren fol. Daß ber 
hungernde und frierende Seldherr fein Heer im ſchlimmſten Sinne ans 
führen müßte, fällt ihm nicht einz genug, baß ber Seldherr hat, was 
jeder Andere bat: Hunger und Froſt. Am meitelten holt Heß aus, 
um weniger als nichts zu fagen. Weit fich die individuellen Kräfte im 
ihrer Aeußerung gegenfeitig mweden und erregen, foll nad) ihm „das 
Leben Austaufc probuctiver Thätigkeit fein” und bie Geſellſchaſt 
zum „gegenfeitigen Austaufc, individueller Thaͤtigkeit“ werden. Ob 
er jemals Innerhalb feines individuellen Organismus, innerhalb feiner 
„Oberhaut“ fein etwaiges Denken gegen bie riechende Thaͤtigkeit der Ge⸗ 
ruchsnerven ausgetauſcht hat und zu wohls ober übelrischenden Ge⸗ 
danken gefommen ift? Aber er befeitigt nicht bios die Unmoͤglichkeiten 
innerhalb der „Oberhaut.“ Diefe ärgert ihn jedoch, darum hebt er 
fie auf und laͤßt die Individuen heraus und in den allgemeinen Menſch⸗ 
heitsbrei des „gegenfeitigen Austaufches der Thätigfeiten‘ krachend 
hineinfpringen; denn er hört es fchon, wie „die Schranten ber Ins 
dividuen Erachend zufammenfallen.” Fortan wird das Individuums 
zum „Mittel” und die Gattung zum „Zweck“ gemacht, vermittelt der 
„kLiebe, die mächtiger als der Egoismus ſei.“ Denn „ſelbſt die noch nicht 
bentenden Thiere vergäßen ja ihren Selbfterhaltungstrieb, wo er mit 
ihrem Gattungsmwefen 5°) oder Productionsinftinet in Colliſton ges 
rathe. Rasen hungerten freiwillig Tage lang, um ihren Gattungs⸗ 
trieb befriedigen zu koͤnnen, auch aus Sram über den Verluſt ihrer 
Zungen, die Ihnen gewoͤhnlich von graufamen Menfchen geraubt würden.” 
Aber in dieſem Katzenjammer fällt ihm nicht ein, daß der Kater bie in⸗ 
bividwelle Unart hat, fogar die von ihm gezeugten ungen zu freſſen, 
ohne ſich um das „Gattungsweſen“ zu betümmern, und daß fich der „Sram“ 
der Kage Mutter abermals fehr individuell auf die von ihr gefäugten und 
mit ihe in befondeter Verbindung ftehenden Jungen bezieht °*). 


53) Wie wird fich mit biefem abgefchundenen „Gattungsweſen“ K. Marr 
zurechtfinden,, der in feiner „heiligen Familie“ die Tafhenfpielerei der nachbegel’ 
{hen „Kritik,“ die den Dingen der Sinnenwelt die Wechfelbälge ihrer Abflraction 
unterfchiebt , treffend genug verfpottet hat ? 

54) In einem Auffab ‚Der deutfche Sommunismus” (‚Die Oppofttion”’ 2.) 
dat fih A. Rage bie befondere Mühe gegeben, die antiwiſſenſchaftlichen Atten⸗ 


Communismub. 85 


Bei dem Unverfland der commmuniftifchen Lehre verſteht es ſich von 
ſelbſt, daß auch das Talent, das eine eigenthuͤmlich hervortretende Probucs 
tionsweiſe ift, welche bie ihr entfprechende Gonfumtionsweife fort und fort 
erzeugt und erzeugen ſoll — daß aud) das Talent im „organifirten Pros 
ductenaustauſch“ nur in aleicher Weife mit allen Anderen zum Nachtheil 
für ſich felbft und die Anderen abgefüttert werden Tann. Und es find 
befonder® wieder die beutfchen communiftifchen Docttindre, welche nur 
das Senle verehren, woran fie felbft Ueberfluß haben: das Gonfus 

e. * 
, Der Communismus im Widerſpruch mit den geſetzlich 
anerkannten Verbindungen in der Perſonenwelt: Ehez 
Familie. Erziehung. Die Ehe iſt eine Verbindung, worin Mann 
und Frau zugleich eine geiſtige und ſinnliche Befriedigung ſuchen, welche 
darum ihrem wahren Begriff nach im Vertrauen des einen Ehegatten auf 
Die ganze Perfönlichkeit des andern abgefchloffen wird. Die Perſoͤnlich⸗ 
keit in ihrer Offenbarung ift das Individuelle Leben ſelbſt. Darum kann 
die Ehe nur auf Lebenszeit abgefchloffen werben. Es giebt fchon keine 
wahre Sreundfchaft, viel weniger einen Ehebund auf Termin. Die 
Freundſchaft wäre gar nicht zur Eriftenz gelommen, wenn fie fih im 
Boraus eine Grenze gefegt hätte; ihre Befchränktung iſt fchon ihre Auf⸗ 
hebung. So gründet fich bie Ehe auch, aber nicht einzia und allein auf 
gegenfeitige Achtung. Sie mußte alfo in ihrer jegigen Bedeutung, als 
lebenslängliche Verbindung und zwar vorberrfhend ale Monogamie, von 
ber Zeit an zur Entwidelung kommen, da audy im Weibe bie volle Idee 
des Derfönlichkeit mehr und mehr erkannt wurde. Den Keim biefer durch 
das Ehriſtenthum nur geförderten Entwidelung enthielt ſchon das ältere 
germanifche fowie das fpätere roͤmiſche Recht; das letztere vom Verſchwin⸗ 
den ber die Frau zur Sklavin des Mannes machenden firengen xös 
-mifhen Ehe an. Jede andere gefchlechtliche Verbindung auf Termin, 
ober zur blos vorübergehenden Befriedigung der Ginnlicheit, oder zur 
Erlangung irgend eines aͤußeren Vortheils ift keine Ehe. Es ift mithin 
fehr natürlich, daß ſolche Verbindungen gerade darum, weil fie nicht 
aus eimer beiderfeitigen Anerkennung der ganzen Perſoͤnlichkeit hervor 


tate eines M. Heß in ihrer Bidße zu zeigen. Ganz gut! Warum aber bie 
Behauptung, daß „ber Einzelne im Staat nit Drgan, fondern Zweck ſei?“ 
Gr iſt Zweck und Organ, denn er fteht mit feinen Staatsgenofien vor Anderen 
in einer nothwenbig engen Verbindung und wirkt in eigenthämlicher 
Weiſe ſtets auf fie ein, wie fie auf ihn. Warum gar bie nagelneue Erfin⸗ 
dung, baß es keine allgemeine Menfchenliebe, daß es nur ſpecielle Liebe 
gebe, und daß bie Liebe der ‚‚entfchiedenfte Egoismus“ fei? Wie grundfalfch 
dies ift, gerade wenn man ben „Menfhen zum SPrincip” madht, wie Ruge 
will — barüber einige Worte in „Pſychologie.“ Es Hätte biefer neuen abftracs 
ten Regationen wahrlih nicht bedurft, um den Sommunimus eines Heß zum 
Spott zu maher. Weil Ruge die „[peciellen” Kirſchen liebt, meint er ben 
Kirfhbaum wegleugnen zu müffen, woran fie gewachfen find. Aber fo iſt's in 
der Polemik der nachbegel’fchen Schüler unter fih: da fucht immer nur ein Wind 
den andern zu vertreiben. 


86 ECommunismus 


gegangen find, im Vergleiche mit ber Ehe nach dem Urtheile ber oͤffent⸗ 
lihen Meinung in Mißachtung ſtehen. Allee blinder Eifer gegen diefen 
nothbmenbigen und darum fehr vernünftigen Ausdrud eines fittlichen 
Bolksgefuͤhle, tote oft auch diefer im einzelnen Falle zum unbilligen Urs 
theile werden möge, beruht auf einer Verwirrung der Begriffe. 

Ebenfo natürlich iſt es, daß der Staat In feiner Gefeggebung von 
ber Ehe Notiz nimmt, als von der wichtigften Verbindung, wodurch fruͤ⸗ 
bere foctale Verhaͤltniſſe gelöft und neue gegründet werben und wodurch 
dee Geſellſchaft die Ausficht auf Vermehrung ihrer Mitglieder gegeben 
wird. Aber nur in feiner Freiheit rechtfertigt das Leben fich felbft, und 
gerade weil die Ehe auf Lebenszeit abgefchloffen ift, muß fie trenmbar 
fein, damit fie im ſtets ſich erneuernden Willen der Fortbauer der ehells 
hen Gemeinſchaft fidy rechtfertigen Eönne. Sowohl das gefrhliche Vers 
bot dee Scheidung als das Bebot des Coͤlibats iſt alfo gleich widernatuͤr⸗ 
lich; da ſich dritte Perfonen, die Geſetzgeber, ein Vorurtheil über 
das Beheimniß der Individualität anmaßen, das ſich nur aus ber eigenen 
und von Eeinem Anden ermeßbaren Tiefe heraus offenbart. Jenes Vers 
bot ift auch dann ein verlegender Eingriff in das Innerfle Wefen ber 
Menſchennatur, wenn zwar die vorübergehende Aufhebung der ehelichen 
Gemeinſchaft, nicht aber ihre Auflöfung und die Eingehung einer neuen 
Ehe geflattet wird. Dagegen ift es in fich gerechtfertigt, daß nicht jebe 
flüchtige Mißlaune des einen ober beider Ehegatten zum Grund ber 
Scheidung gemacht werden kann; daß vielmehr der Gefesgeber im Ins 
teceffe der gefammten Geſellſchaft vorerft vermittelnd eintritt; daß die 
Auflöfung der Ehe an gewiffe Kormen und Bedingungen gefnüpft wird. 

Der Streit gegen die von dieſem Gefichtepunfte aus betrachtete 
f. 9. Zwangsehe ift auch in den Sommunismus gedrungen. Er bat 
indeß feine eigentliche Bedeutung nur in dee Richtung genen daß die Ehe 
zum Sacrament verunftaltende katholiſche Kicchnrecht. Auf dem Gebiet 
des Proteftantismus kann es fih nur um das Mehr oder Minder und 
um das Wie der einzelnen Beſtimmungen ber Ehegefege handeln. Noch 
von anderer Seite her beherrfcht ein unnatürlicher Zwang die gefchlechts 
lichen Verbindungen: in der aus oͤkonomiſcher Noth oder Gewinnſucht 
entfprungenen Proftitution in und außer ber Ehe. Es iſt Mar, daß 
biefe anderswo als in einer falfhen Auffaffung der Ehe ihren Grund 
hat; baß fie auf der ſchon befprochenen ungleihen Vertheilung bes 
Eigentbums beruht, mwodurd die Einen von den Andern perſoͤnlich 
abhaͤnaig erden. 

Das gefund: Urtheil des Volks hat die maßlefen Angriffe des fruͤ⸗ 
heren Communismus gegen das Snftitut ber Ehe, und feine Träume 
von einer Abſchaffung derfelben faft durchweg zu Schanden gemacht. 
Weit die meiften neueren Sommuniften erfennen die Bedeutung ber Ehe 
und folalidh die der Familie in ihrem vollen Umfange an. In ihrem 
tieferen Grunde beruht diefe Anerkennung auf einer heileren Einficht in 
das MWelen der Perfönlichkeit bei Mann und Frau. abet decretirt 
fogar,, daß die Maͤnner den Frauen Dankharkeit, Achtung, Liebe und 


Communismus. 87 


Hingebung ſchuldig feienz daß überall den Frauen ber erſte Platz und erſte 
Antheil gehoͤre; daß vor Allem die alten Frauen der Gegenſtand einer Art 
Cultus ſein ſollen. Von fruͤher her, zumal ſeit dem aus dem St. Si⸗ 
mortsmus (f. d.) entſprungenen Gerede über die f.g. „Emuncipation des 
Fleiſches“, find den neueren Communiſten theils nur einige Unklarheiten 
und Rohheiten übrig geblieben, theils einige blos Lächerliche declamatoriſche 
Uebertreibungen 59). Entfchiedener dagegen zeigt ſich noch ihe tyrannis 
ſches Geluͤſte der Echererei über einen Kamm in den communiftifchen 
Vorurtheilen über die Aufhebung der häuslichen, oder über das Verhaͤlt⸗ 
niß diefer zur äffentlichen Erziehung, | 
. Der atheiftifche Communismus, ber bei feinem Wegleugnen einer 
ſelbſtbewußten Gottheit auch die menſchliche Perfönlichkeit am wenig» 
fen begreift, faͤllt Hierbei wie immer in den grelfften Unfinn. „Kein 
zerſtuͤckeltes Samitienleben mehr!” ruft Dezamy; „Beine häusliche Er⸗ 
siehung! Bein Kamilismus!” abet dagegen hat wieder feine fcharf 
und willkuͤrlich abgemeffenen Claffen: bis zum fünften Jahr fol die Er⸗ 
ziehung eine häusliche, von da an eine Öffentliche fein. Andere 
kamen auf den kindiſchen Einfall, die Öffentliche Erziehung vom 18. Jahr 
an noch eine Zeitlang in Arbeiterarmeen fortfegen zu laſſen, bie zw 
öffentlichen Arbeiten commanbirt werben, ober vom 16. Jahr an in 
Sungfrauenarmeen, die indeß in gemeinfchhaftlichen Küchen, We⸗ 
bereien u. dgl. nur Garnifonsdienft thun follen. Alſo gerade in dem Als 
ter, wo die Fähigkeiten und Neigungen für beftimmte VBerufszweige 
entfchiedener bervortreten, foll wieder bie tyrannifche „Geſellſchaft“ der 
immer unb immer en bloc behandelten „Menſchheit“ ihr communiftifches 
Joch auflegen. | 
Bei dem Sintereffe Aller an der gebeihlihen Entwidelung jedes Ein- 
zelnen verfteht fich freilich in j.dem nicht ganz rohen Staate die Sorge 
für Öffentliche Erziehung von felbft. Aber gerade damit eine freie indie 
viduelle Entwidelung möglid werde, barf nie die häusliche Erziehung 
durch die Öffentliche aufgehoben werden, fondern ihr nur ergänzend zur 
Seite fiehen. Auch muß zur Erreihung bdeffelben Zwecks den Eltern in 
den Beflimmungen über die Erziehung ein nicht ungemeffener, aber eben⸗ 
fo wenig ein allzu befchränkter Einfluß bleiben. Die Eltern find es, bie 
mit den Kindern in der nächften und innigflen Verbindung flehen. Nur 
die Liebe als Leidenſchaft kann blind machen; aber die ber Eltern zu ben 


55) &o bricht 3. B. Einer in die Erclamation aus: „Kein Pfaff und kein 
Rotar foll das Recht haben, zwei Menfhen an einander zu fehmieden. Wenn 
es zwei Weiber zufrieden find, einen Mann zu haben, wer kann es ihnen 
vermehren?” Gebt diefe „ Zufriedenheit” nicht in das Verbrechen ber Biga⸗ 
mic und bamit be3Betrugs über, fo ficht darauf eben keine befondere Strafe. 
Nur bat die „ſchlechte Gefellfchaft” auch ihrer Seits recht, wenn fie dieſe 
Sorte Sommunismus nicht mehr Che nennt, fondern 9... .-.. Terner: 
„Man zeugt einige häßliche Kinder in dem Brodem eines verhaßten Betts — 
unb ber 3wed der Ehe ift erreicht.” Muß dis etwa in der communaute unter 
freiem Simmel gefcheyen ? ⸗ 


96 Gommunismus, 


Kindern fieht in hundert Fällen ſchaͤrfer als jeder Andere ſehen kann. 
Darum fireitet die aus ber Menſchennatur gefchöpfte Vermuthung bas 
für,. daß vor Allen die Eltern die Eigenthuͤmlichkeit der Kinder am ges 
naucften erfennen und am richtigften beuetheilen. Und darum find die 
Geſetze über Erziehung die beſten, bie der Beurtheilung des befonderen 
Fans einen noch freien Spielraum gewähren und die äffentliche Erzies 
bung nit als einen Zwang, fonbern als die Erfülung bes eigenflen 
Wunfhes ber Eitern erfcheinen laſſen. 

Bortfegung: Religion und Kirche Ehriſtenthum. 
Geiſtlichkeit. Im Verkehr der Menſchen mit Menſchen dußern ſich 
nothwendig auch bie religioͤſen Anſichten und Vorſtellungen, und bie 
offenbar gewordene Uebereinſtimmung derſelben in weiteren oder engeren 
Kreiſen findet ihren nothwendigen Ausdruck in beſtimmten Kirchen 
und kirchlichen Formen. Religion und Kirche laſſen ſich im conſequent 
fortgeſetzten Denken, ſobald man in Wahrheit den wirklichen und leben⸗ 
dig⸗thaͤtigenMenſchen zum Princip“ gemacht hat, fo wenig wie Geiſt 
und Leib auseinanderreißen. Darum ift auch der moberne Atheismus, 
in der Sonfequenz feines Irrthums, von ber erſt blos aͤußerlichen 
Dppofition gegen Kirche und Geiftlichkeit flets bis zum Verſuch der Res 
lgionsfrefferei felbft fortgetrieben worden. Er konnte indeß nur bie 
Schale benagen und fand bald feine Abmeifung und Schranke am ums 
verwäftlich gefunden Kern der Denfchennatur und bes Volkslebens, an 
ber unerfhhtterlichen Ueberzeugung, daß das menfchliche Selbſtbewußtſein 
einen ewig felbfipemußten Weltgeift als Quelle vorausfrgen muͤſſe. Go 
brachte in Frankreich ſchon die Herrſchaft des eigentlihen peuple im 
Fahr 1793 dem doctrinaͤren Atheismus des 18. Jahrhunderts und ber 
vornehmeren Gefellfhaft eine entfcheibende Niederlage bei: Dann fand 
ee noch einmal feinen cpnifchen Ausdrud in der Volkshefe, bei den Ega⸗ 
litaires, und endlid am die logifche oder unlogifche Nachgeburt des todt⸗ 
gebornen Kindes in ber Lehre eines Dezamy zum Vorſchein. 

Bei aller Oppofition gegen die unlebendige Abart bes Chriftenthums, 
weldye mit fchlecht verhuͤllter Selbſtſucht das Reich der Liebe in das Jen⸗ 
feits verweift und in jedem Jenſeits ein neues ſich erfinden würde; bei 
allem gerechten Eifer gegen Pfafferei und gegen den Theil der Geiſtlich⸗ 
Beit , der fih die Religion zum Rotterbette macht, um die Stürme ber 
Zeit zu verfchlafen, wobei oft nur überfehen wird, wie weit auch die bes 
fonderen riligisfen Kunctionen nur eine nothwendige Anwendung des als 
les Voͤlkerleben beherrfchenden Geſetzes der fortfchreitenden Gliederung von 
Production und Arbeit find; bei alem Kampfe für freie religioͤſe Ents 
twidelung gegen den Glaubenszwang veralteter Dogmen und Culten, in 
dem freilich) die Sommuniften nur eine beildufige Rolle fpielen — bei 
diefer ganzen gerehten Dppofition gegen Mißträuche und Mißftände, 
die nur mituntee im Einzelnen ihr Ziel überläuft, hat fich die große Mehr⸗ 
heit der Anhänger des Communismus nicht fo weit mit dem Volk in 
Widerſpruch gefegt, um der Religion und dem Chriftenthum den Krieg 
zu erklaͤren. Dies gilt fo gut für die franzefifchen Gabetiften als für 


Eommunismus. 89 


weit die meiften beutfchen Sommuniften °°%). Eine Ausnahme bildet im 
Deutfchland wieder nur das aͤußerſte communiftifche Ende bes nachhe⸗ 
gel'ſchen Schweifs; der Zopf der deutfhen Wiſſenſchaft, der fidy mit 
dem Kopf verrcchfelt, eine Beine Schaar literarifcher Krebfe mit dem 
Feldgeſchrei: „Vorwaͤrts!“ 

Bon dem Standpunkt dieſer Bornirtheit aus hoͤrte man denn 
Klagen, daß ſelbſt die franzoͤſiſchen Communiſten nicht Aber die „Be⸗ 
ſchraͤnktheit der Religioſitaͤt“, nicht über den „religioͤſen Tic“ hinausge⸗ 
kenmen find 87). „Der deutſche Socialismus“, bemerkte dagegen ein 
dentſcher Communiſt, „hat im Ganzen noch keine Abrechnung mit 
der Religion gehalten; bei mie aber, meinen Freunden und allen ſelbſt⸗ 
bewußten Socaliften ift er antireligids.” Wettling bat fidy 
zumal in feinem „oargeiium des armen Suͤnders“, von ber falfchen 
Hopotheſe aus, daß das Chriftenthum aus dem Geheimbund der 
Effener entftanden fei (f. oben), aus abgeriffenen Lappen einen feltfamen 
chriſtlichen Communismus zufammengrflidt. Doch Eonnte er wenigſtens 
auf feinem Irrwege nicht bis zu dem Unfinn kommen, das Chriſten⸗ 
thum, bie Lehre und bie That der Liebe, für „die Theorie, die Logik 
bes Egoismus” auszugeben. ine ſolche Ungereimtheit konnte nur ven 
einer afterphilofophifchen Doctrin ausgebrütet werden. Es giebt nur 
eine Ungereimtheit, die noch größer iſt: das Verbot ber communiftifchen 
Schriften biefer Sorte mit fo augenfäligen Beweiſen der gänzlichen Wer: 
kehrtheit und Bebeutungslofigkeit ihrer Verfaſſer. . 

Zortfegung: Staat. Baterland und Vaterlandsliche. 
Befepgebung Insbeſondere Strafgefege. Politik. Als 
Folge davon, daß das communiftifche Abftractum der „Menſchheit“ body 
nur in den Individuen leibt und lebt, wahr und wirklich ift, wurde fchon 
Darauf hingewiefen, daß «8 gar nicht in ber Willkür des Menſchen fleht, 
nit einem Theil der Menfchen Feine engere Verbindung als mit Ans 
deren einzugehen. Jede Verbindung ift aber ein verhältnißmäßiges (res 
latives) Ausihließen Anderer und Abſchließen von Anderen. In der 
Reihe der nothwendigen Wereinigungen ift der Staat bie umfaffendfte 
Aſſociation jener Affocintionen, in die ſich das große Ganze ber Menſch⸗ 
heit gegliedert hat und immer gliedert. Die fortwährende Anerkennung 

der Eriftenz bes Staats iſt zugleich die Anerkennung eines im Gtaat 


56) Dabei laufen freilich bei den Communiften, bie fi) aus dem Abftracs 
tum „‚Dkenfdy" doch noch einen eigenen Bögen zurecht gemacht haben, manche 
Abernheiten unter. Einer bersXpoftel des Sommunismus verfünbet „feinen Aus- 
erwaͤhlten,“ baß fie nicht um Erhaltung der Wahrheiten des Chriſtenthums be« 
forgt fein follen. „Aber,“ fagt er, „nennt Euch künftig nit Shriften, fons 
dern Menfchen!” Er vergaß nur, im Namen ber ‚allgemeinen Bräberfchaft” 
beizufügen: „Nennt Euch Tünftig nicht Menfchen, ſondern Säugethiere. 

57) Einer dieſer deutfchen communiftifchen Doctrinäre berichtet, daß er 
Gabet vergebens begreiflidh zu machen gefucht, „wie es der Menſch fei, der 
Sott geſchaffen, nicht etwa Gott, der den Menfchen erfchaffen habe.” Schließ: 
U ruft er aus: „Und ich glaube, daß der Feuerbach hinter die Franzoſen 
fommen muß!” Gr ift fchon hinter ihnen. 


0 Communismus. 


vo r herrſchenden und darum bie Vereinigung zum Staat be herrſchenden, 
eines hoͤchſten oder ſouverainen Willens, der nur darum auch Geſammt⸗ 
wille heißt, weil von ihm aus alle Mitglieder des Staats fort und fort 
Beſtimmungen empfangen. Wohl koͤnnen Vereinigungen zu Sonder⸗ 
zwecken, wie namentlich kirchliche Vereinigungen, uͤber die aͤußeren Gren⸗ 
gen des Staats weit hinausceichen. Aber zur foͤrderlichen Erreichung 
aller Menfchenzwede Bann es nur eine hödfte und legte Vereinigung 
geben, welche eben Staat genannt if. Wo etwa die Kirchengewalt 
mit dee Staatsgewalt in Kampf teitt, kann darum cuch biefer Kampf 
ſtets nur im Staate flattfinden. Und wäre vielleicht die Kirche ſiegreich, 
fo hätte fie body nur ihren Willen zum herrfchenden Willen gemacht; 
fo wäre body nur eine Staatsgewalt an die Stelle der andern getreten, 
ohne daß damit Begriff und Er ſtenz des Staats felbft aufgeheben wür« 
den. Wollte man endlich den Traum eines Fourier von einer cen⸗ 
tealen Leitung aller menfhlihen Production träumen, fo bliebin bens 
noch in ber allgemeinen Aſſociation befondere Affociatiorten mit ihrem 
Sonderwi'en, und man kaͤme auch nach tiefer Theorie wenigſtens nie und 
nimmer über die Korm eines menfdlichen Bundes ſtaats hinaus. 

Die natürliche Bafls des befonderen Staats iſt die Gemeinſchaft 
bes Lebens im Vaterlande, wie fie in Volksgeſchichte, Sprache und 
Sitten fi offenbart. Denn der Staat ſelbſt ift nur die umfaſſendſte 
Aeußerung dieſer Gemeinſchaft. Die Willkuͤr kann die natürliche Ges 
meinſchaft zerreißen ; fie kann das Staatenweſen verunſtalten, fie hat es 
gethan. Aber jede wirkliche Nationalität, die noch nicht mit einer 
anderen Nationalität fi verfchmolzen hat, aͤußert fich gerade fo weit, als 
dies noch nicht gefchehen kit, im Streben nach Erhaltung oder Herflellung 
jener Gemeinfchaft des Lebens. Die Schidfale, Sitten und Sprade 
meines Volks haben audy mich und meine Individualität vor den Schick⸗ 
falen anderer Voͤlker beſtimmt. Sch muß alfo theilnehmen am Leben 
meines Volks mit lebhafterer Liebe, mit Iebhafterem Daß; und es iſt nur 
eine widerliche Ausnahme, wo dies nicht gefchieht. Wer etwa dem Deuts 
{hen zumuthet, erſt Menſch und dann Deutfcher zu fein, der muthet 
ihm auch zw, fich felbft zu zerſtuͤckeln, ftatt eines ganzen individuellen 
Menſchen ein Halbmenſch zu fein. Es ift dies gerade fo albern als die 
Zumuthu-g an bie Mutter, daß fie ihr Kind nicht vor andern Kindern 
liebe, daß auch die Mutter im Abftractum „Menfd” verfchwinde. 

Abermals find «6 hauptfächlidh einige deutfche Doctrindre, bie In ih: 
ren Rodomontaden über und gegen Staat, Vaterland, Vaterlandsliebe, 
mit der Sahne der „Menſchhe't“ in der Hand, den Gipfel des Unfinns 
erfteigen. Sie haben die Emancipation der Menfchheit damit begonnen, 
daß fie ihr Gehirn vom Denken emancipirten. Sie delititen nun von einer 
Befeitigung der „Schranke des Staats.“ Sie wittern „Nationalegois⸗ 
mus”, wo etwa ein bilgifcher oder franzöfifcher Sorintift oder Communiſt 
zunächft ein belgifches Volk oder eine frangififhe Nation vor Augen hat. 
Was die ftumpf und blind Gewordenen nicht mehr fühlen und fchen, 
haben fie ‚vernichtet. So wirft einmal Weitling die rhetori[che 


Communismus. 91 


Floekel Hin: „Nur wer etwas befist, wer etwas von ben Vätern erbt, 
bat ein Baterland; ber Arme hat Feines!” Und ein Anderer ruft aus: 
„Weitling gerträmmert den Begriff des Vaterlants, ber Nation!” 

Im Unding dieſer Species communiftifcher Gemeinſchaft fol bie 
Anarchie oder Herrſchaftsloſigkeit an die Stelle ber Herrſchaft treten; bie 
“ Berwaltung an die Stelle der Reaierung ; die Wiflenfchaft an die Stelle 
des Geſetzes. Als wenn nicht aud) das Befes und feine Vollziehung eine 
verwirklichte Wiſſenſchaft wäre; als wenn ſich die Geſetzgeber nicht erſt 
das Wiſſen Defien zu ſchaffen hätten, was den nterefien der Bes 
meinſchaft entfpriht, um das Sollen aussufprehen! Als wenn bie 
Produetion der Regeln des Sollens für die möglichen Aeußerungen 
der Thaͤtigkeit in jeder Staat genannten Gemeinſchaft nicht gerade fo 
natürlich wäre ale etwa die Production bes Brods aus Mehl: und als 
wenn biefe Regeln des Sollens gefchaffen werden könnten ohne die Sor⸗ 
gen für das Vollbringen! Auch diefe „Abfchaffung” des Gefeges wäre 
eine „Abfchaffung” der Menfchennatur felbft. Aber die communiftifhen 
Spießbürger im Reiche des Gedankens merken es nicht, wie fie immer 
den lebendigen Denfchen an den Spieß ihrer Doctrin fleden und auf 
ber einen Seite braten laffen wollen, bamit er auf der anderen Seite 
nicht erfriere. 

Beſonders viel thun ſich Die meiften communiſtiſchen Dilettanten 
der „Wiffenfchaft‘ auf die angebliche Entdedung zu gut, daß die Ver⸗ 
brecher als Kranke zu behandeln feien, daß die „Geſellſchaft“ für ihre 
Beflerung zu forgen und die Kurkoften zu bezahlen habe. Abgefehen 
von der verwerflichen und immer mehr verworfenen Zodesftrafe, hat man 
es auch ohne Communismus fchon lange fo meit gebracht, die Strafe 
zur Beſſerung oder Heilung des Verbrechers anwenden zu wollen. Aber 
auch die möglichfte Heilung des durch das Vergehen entftandenen 
Schadens ift Zweck der gerehten Strafe. Die Verbüßung der ges 
rechten, d. 5. der einem wirklichen Vergeben angemeffenen Strafe 
legt alfo au im fittlichen wie im focialen Sintereffe des Verbrechers 
feloft,, der fonft immer und immer wieder der ihre Heilmittel nicht gar 
genau anmeffenben Privatrache der Verletzten ausgefegt wäre. Es 
banbelt fi alfo immer um Heilmittel; aber man nennt einmal 
dieſe fpecififhen Heilmittel Strafen, und bas Regime ihrer Anwen⸗ 
dung Strafgefeggebung. 

Wer vom Strafrecht nichts wiffen will, brauche ſich über deſſen 
Reform nicht den Kopf zu zerbrehen. Er behilft ſich mit foldhen Aeu⸗ 
Ferungen wie die eines De zamy, baß „die Jury eine bürgerliche 
und föderatliftifhe Einrichtung, folgtich (!) das ſchlimmſte aller 
Geſetze ſei. Wer fit) gar den Staat und das Befeg als „etwas über 
ihm und außer ihm Seiendes“ aus dem Kopfe gebracht hat, um mei: 
teren leeren Raum zu gewinnen, fümmert fich nicht mehr um Politik 
und Staat, trog allen Klagen, daß die Reichen den Armen im Staate 
das Grfeg mahen. So haben fich denn auch einige deutfche Commu⸗ 
niften ihre Kategorien von „Politikern, „Liberalen“ und „Rationalen” 

\ 


9 Gommunismus. 


zurecht gemacht, an denen fie fih bis zum Nichts und bis zur Nichte 
wuͤrdigkeit abzurelben fuchen. Es giebt Politiker, die nur in anderen 
Formen ber Verfaſſung und Verwaltung da® Heil erbiiden; bie bei ber 
überall fi geltend machenden Theilung der Arbeit vielleicht vor⸗ 
zugsweife in einem befonberen Zweige der Staatswiſſenſchaft oder Staates 
kunſt zu Haufe find; denen das Volkswirthſchaftliche und Socialiſtiſche 
entfernter liegt und bie gleichwohl mit größerem Nutzen und waͤrmerem 
Eifer für das Wohl des Volks arbeiten als alle Bönhafen des Socialis⸗ 
mus. 6 giebt freilih auch f. g. Liberale, die fi eine bequeme 
ehetorifche Oppofition zum nicht hoch anzufchlagenden Geſchaͤft machen; 
oder ſ.g. Nationale mit ſeltſam vaterlaͤndiſchem Rococogefhmad. Die 
Rüge und Zuͤchtigung folder Einfeitigkeiten und Verkehrtheiten mag er- 
fprießlich fen und ift wahrlich nicht bloß die Sache der Anhänger des 
Sommunismus. Aber darum find jene leeren allgemeinen Diatriben ges 
gen Politik, Liberalismus, Nationaliemus, wie fie jest in Deutfchland 
einige communiflifche Heerdenfährer ihrer folgfamen Schaar vorfagen, 
nicht minder abgeſchmackt. Diefe geiſteskranken Aerzte, die der „ſchlech⸗ 
ten Geſellſchaft“ die Nafen abfchneiden wollen, um ihr ben Schnupfen 
zu vertreiben, koͤnnten fogar gefährlicd, werden, wenn fie nicht blos 
lächerlich wären. 

Schluß. Freiheit iſt die tieffte treibende Wurzel des Men⸗ 
ſchenlebens. Mit der Kraft ſeines Willens, der zugleich beſtimmt und 
beftimmend iſt, wirkt jeder Menſch geftaltend und umgeſtaltend in bie 
Welt feiner Anfchauungen und Vorftellungen hinein, und nur aus 
der Freiheit jedes Einzelnen erzeugt fi, die Harmonie Aller. Im freien 
Spiel des Lebens tritt bald das Beduͤrfniß der engeren Verbindung und 
Gemeinſchaft mit Anderen in Eleinerem oder größerem Kreife hervor; 
bald das Bewußtfein der wefentlih gleichen Wirkfamkeit mit gleichen 
Anfprüchen; bald auch das der individuell verfhiedenen Xhätigkeit mit 
ihren nothwenbig ungleihen Forderungen. Darum befleht der ganze 
gefelfchaftliche Verkehr nur in diefen immer mwechfelnden Webergängen 
von der Einigung und Einheit zur zeitweifen Nebenordnung in Gleich⸗ 
ftelung und Gleichheit, oder zur zeitweifen Ueber: und Unterordnung 
in Unterfcheidung und Ungleichheit. Und Feine Lehre foll überweifer 
fein wollen ale das Leben, das in fich felbft das Geſetz feiner Entwicke⸗ 
lung trägt und es allen nicht Verblendeten beutlidy offenbart. Diefer 
Sünde des doctrindren Hohmuths hat fi aber auch der Communismus 
mit feiner abftracten und ausfchließlihen Korberung der Gemeinſchaft 
fhuldig gemacht trog feinem ſcheinbar anfprechenden Wahlfpruche: „Alle 
für Seden und Jeder für Alle.” Denn darin liegt e8 eben, daß Jeder 
für Alle viel weniger wäre, als er fein kann, wenn er nicht zugleich da& 
unverfümmerte Recht hätte, für fich zu fein und feine Eigenthuͤmlich⸗ 
keit auch in eigenthbümlichen und darum ausſchließlichen Verhältniffen 
zur Sachenmelt auszuprägen. Diejenigen aber, die in einem Athem von 
der allgemeinen Gemeinfchaft und von der freien Affociation res 
den, wiſſen nicht was fie thun. Die freie Affociation fegt nicht blos 


‘ 


Communismuß. 98 


den ungeswungenen Eintritt voraus, fondern auch die Möglichkeit, nad 
den Im Voraus feftgefesten Bedingungen innerhalb der Affociation auf 
gleihe oder ungleiche Weife zu prodbuciren und zu confumiren. Und 
fie hört immer fo weit auf frei zu. fein, als fie nicht auch ben freien 
Austritt geftattet und damit das Recht anerkennt, wieder für ſich zu 
fein, für ſich zu erwerben und derjenigen Affociation, deren Mitglied man 
war, ſelbſtſtaͤndig zur Seite zu ftehen. 

Das Eigenthbum ift das in der Geſellſchaft Durch den Staat aners 
kannte Recht, daß der Eine vor allen andern Mitgliedern ber Gefellfchaft 
über beſtimmte Theile der Sachenwelt verfügen dürfe. Gerade weil es 
auf der Anerkennung und Gemwährleiftung des Staats beruht, ift die 
Gewalt des Eigenthümers durch bie Staatsgewalt nothwendig beſtimmt 
und befehräntt, nad) dem Grundſatz, daß das äffentliche Recht dem Pri⸗ 
vatrecht vorgeht. Dem Princip nad) hat es alfo ein unbellimmtes und 
darum unbedingtes Eigenthumsrecht in dem Sinne nie gegeben, daß das 
durch die nothwendigen Zwecke jedes Glieds der Geſellſchaft und 
darum des Staats ſelbſt vereitelt werden duͤrften. So iſt denn auch 

theoretiſch ſchon lange genug anerkannt, daß durch das individuelle Ei⸗ 
genthumsrecht des Einen kein Anderer in ſeinen nothwendigen Bildungs⸗ 
mitteln und Lebensmitteln verkuͤrzt werden ſolle. Die vollſtaͤndige und 
ausreichende Verwirklichung dieſer Wahrheit iſt nun die Aufgabe unſerer 
Zeit. Das Eine und Alles, worauf es dabei ankommt, beſteht darin, 
daß jedem Mitgliede der Geſellſchaft, nach dem in der Geſellſchaft vor⸗ 
herrſchenden Begriffe des Nothwendigen, die nothwendigen Bildungsmit⸗ 
tel und Arbeitsmittel fort und fort gewaͤhrleiſtet werben °9). Damit wer⸗ 
ben aber die Grundlagen der „alten ſchlechten Geſellſchaft“ keineswegs 
„aufgehoben und vernichtet”, fondern befefligt und nach ihrem wahren 
Wefen entwidelt.e. Damit fommt man nicht — wie die Communiften 
traͤumen — über „die auf den Begriff des Lohne, des Verdienftes und 
der Steafe, des Kaufs und Verkaufs gegründete Welt hinaus” und in 
ben Unfinn hinein; fondern durch die Befchräntung bes Zwangs und 
des Irrthums auf möglichft enge Grenzen wird erft die f. g. freie Con⸗ 
currenz im bie wahrhaft freie, und der Tauſch in feinen verfchiedenen 
Formen in den wahrhaft freien Austaufdy ber Güter verwandelt. 

Die Vorfechter des deutſchen Communismus haben in bie Welt 
hinausgeſchrieen, daß fie die wahre Menfchennatur zum Princip ihrer 
ſ. g. neuen Wiffenfchaft erforen; und fie find es, die nah allen Seis 
ten hin die Natur des Menſchen verfannt und in ihren Afterlehren un« 
gebührlichft mißhandelt haben. Bei Einigen mag die Schwäche mit ih⸗ 
sem guten Willen entfchuldigt werden. Sie möchten in aller Gutmüs 
thigleit das „arme Volk“ behandeln, wie jener mitleidige Irlaͤnder den 
abgemagerten, ausgehungerten Hund, dem er den Schwanz abhieb und 
zu frefien gab. Bei Anderen dagegen ift die völlige Denkfaulheit, Die 
Marktfchreierei und die oft empörende Srivolität, womit fie über die wich⸗ 


58) Ueber bas Wie f. „„Drganifation der Arbeit” und „Socialismus.“ 


94 Confoͤderation. 


tigſten Gegenſtaͤnde das Vorurtheil einer fuͤr untruͤglich gehaltenen Na⸗ 
feweisheit abgeben, ein ſchlechter Beweis von tiefer, ernſter und wahrer 
Liebe zum Molke, die fie doch durchweg zum Aushängefchild nehmen. 
Ihnen iſt die Noth des Proletariatse nur der dunkle Hintergrund, vor 
bem bie doctrindee Eitelkeit ihre Spiegelfechterei treibt. Sie find in ih: 
ver nicht unfreiwilligen Verblendung die Werkzeuge der Reaction ges 
worden, bie fie zu befämpfen vorgeben, ba fie die überall hin abſchreckende 
Sage ihres widerlichen Communismus den gerechten Forderungen des 
Volkes vorfchieben. Für jeden ächten Volksfreund aber ift es wohlges 
than , fein ehrliches Theil beizutragen, daß endlich diefe communiftifchen 
Gaukeleien verfhwinden und dem klaren Bilde einer möglichen befferen 
Zukunft der arbeitenden Glaffen den Plag räumen. Wilh. Schulz. 
Gonföderation, Bund, Bundes» oder Eidgenoffens 
fhaft, nah ihrer biftorifhen Entwicklung dargeftellt*). 
Jedes Welen erreicht feine Beftimmung, menn es ben inwohnenden 
Kräften Entwidiung und Spielraum verſchafft. Die That ift alfo 
Bedingung und Zweck des Daſeins; Anfpannung und Webung ber 
Kraft Begriff des Lebens. — Des XThieres That ift an das Sinns 
‚liche und Leiblicye gebunden, der Menſch befigt neben diefem Anlage 
und Beruf zur Sittlichkeit und Vernunft. Die Beſchraͤnkung 
des rein leibliche Begehrungs- und Strebungsvermögens 
durch das Gewiſſen oder den angebornen, von ber Erziehung und dem 
Leben entwidelten Rechtstrieb bereitet den Boden der Sittlichkeit. 
Der in benfelden eingeftreute Same heißt Pflicht, die Frucht wird ſitt⸗ 
Ihe Handlung oder Tugend. Die angeftammte, durch Unterricht, 
Uebung und Leben entwidelte Sähigkeit, Einheit, Maß und Ziel in dem 
vielfachen, verworrenen und planlofen Stoff ddr Sinnen: ımd Kör: 
permelt zu finden, oder ihr ein geiftiges, in und aus fi beſtimm⸗ 


*) Den Gang, welden die Entwidelung des freien Eonföberationgs 
princips im Mittelalter und in der neuern Zeit nahm, hat die in ben 
Jahren 1827 und 1829 herausgegebene Entftehbungsgefhichte der freie 
ſtaädtiſchen Bünde forgfältiger als es bisher gefchehen war zu befchreiben 
getrachtet. Die folgenden Bogen fchliegen fich in fofern dem obigen Were an, 
als fie denfelben Gegenftand, freilich ohne genauere Darftellung der Thatſachen 
behandeln und nur den flaatsrechtlichen Zufammenhang vor Augen behalten. 
Dagegen wohnt biefer Abhandlung die Eigenthümtichkeit bei, daß fie theils den 
Weg der Sonfdberationen weiter zurüd und vorw aͤrts verfolgt, theild manche 
Iufäge und felbft WBerichtigungen in Bezug auf die bereits früher erörterten 
Bragen und gefchichtlichen Gvolutionen derfeiben enthält. Sie trachtet einen 
biftorifhsflaatsrehtlihen Sefammtüberbiid der Anftrengungen 
zu geben, ducch welche der Abel des Menſchengeiſtes feine höchften Güter, Recht 
und Freiheit, wider innern und Außern Drud zu fichern fuchte, und 
ſtellt eine Generalkarte biefer oft fehr verfchlungenen Kämpfe auf. 

Anmert. des Verf. 

Die Rebaction freut ſich, bei der Wichtigkeit und Schwierigkeit der Echre 
von ben Gonföberationds oder Bundesverhaͤltniſſen, dieſen belehrenden neuen 
Artikel des berühmten Verfaſſers den Artikein Bund und Deutfher Bund 
beifügen au koͤnnen. Anmerk ber Reb. 


Gonföberation. 9 


Bares, freies Vermögen entgegen zu fiellen, heißt Vernunft. Ihr 
Keim iſt die Erkenntniß, ihre Frucht bie geiflige Zugend oder 
Wahrheit. Die Religion aber beruht auf dem Glauben an eine 
allgemeine fittlich » geiftige Weltorbnung ale nothwendige 
Folge und Ergänzung des Gewiſſens und der Vernunft. — Die 
Bereinigung vieler Gemeinden, welche mit Freiheit und Allhinlängs 
lichkeit, d. h. möglichftee Gegenſeitigkeit, der Ausbildung des leiblichen, 
fittlihen und geiftigen Elements (Stoffes) nachftreben, gründet den 
Staat (nolıg, respublica). Er liegt ebenfo beftimme im Wefen bes 
Menfchen, als bie einfachfte und naturgemäßefte NWerbindung zwifchen 
Mann und Weib den Uebergang aus der Kamille in die Gemeinde 
darſtellt. Wer aus Unvermögen oder aus Kraftvolllommenheit am büro 
gerlihen Vereine Leinen Theil haben kann oder will, ber ift entweder 
ein Thier oder ein Gott. Die VBerfaffung, des Staats Leben 
und Seele, Liegt in dem Principe, nah welhem die Obrigkeiten 
aufgeftellt und die Verhaͤltniſſe der felbfiherrlihen Macht (Souve⸗ 
rainetät, Hoheit, zo «vgsov, majestas) beftimmt werden. Je freiern 
und feftlern Spielraum die Entwidelung des Rechtstriebes (des Ges 
wiffens) und der Vernunft findet, deſto vollkommener ift die Verfaſ⸗ 
fung; je fchranfenlofer und ohne fichere Bürgfchaften das leibliche Bes 
gehrungsvermögen ſchalten darf, befto mangelhafter erfcheint die 
Berfoffung. Obenan ftehen deshalb die durch Uebereinkunft (Pact) und 
wechſelnde Vertreter (Repräfentanten) beſchraͤnkte Volksherrſchaft 
( Demokratie) und ihr Uebergang, die gefegliche (conſtitutionelle) Mons 
archie; unten treten auf die unbedingte Kürftens und Volles 
gemalt (abfolute Monarchie und abfolute Demokratie). — Ein auf 
Bernunft und Recht ruhender Staatsbefchluß heißt Geſetz; ihm 
gebührt als Ausdeud des Sefammtwillens Anerkennung ober Gehorfam. 
Sortwährende Widerſpruͤche zwiſchen dem Gefeg und ben ſittlich⸗vernuͤnf⸗ 
tigen Zweden bes gefellfhaftlihen Vereins führen zu Reformen 
und, wenn biefe zaudern, gemaltthätigen Aenderungen oder Revolns 
tionen. Ihr Eintritt ift fo unabweisbar als die Pflicht des Gehor⸗ 
ſams gegen GStantebefchlüffe des Rechts und dee Vernunft. — 
Wenn der Staat, in den bisher betrachteten Verhättniffen gleichfam 
einwaͤrts gekehrt, feine anziehende Kraft (Attraction) nah außen 
richtet und Stellung zu einem fremden oder verwandten felbft- 
berrlihen Semeinmwefen nimmt, fo beginnt bie bundes genoͤſ⸗ 
fifhe Wurſamkeit (die flaatliche Affociation). Die erfte Gattung ders 
felben erfcheint als ein zeitliches, d. h. für beflimmte Frift und bes 
fondere wechfelnde Zwecke abgefchloffenes Verhaͤltniß zweier oder mehrerer 
ſelbſtherrlicher Staaten. Iſt gegenfeitigeer Schug wider einen außern 
Feind der leitende Beweggrund, fo entfteht das Vertheidigungs» 
oder Wehrbündniß (dminaria bei den Griechen); verpflichten ſich 
beide Theile neben der Schirmung auch zum erobernden Angriff, fo 
heißt die Verbindung Schugr und Trugbündniß (ovanayla). Bes 
ligioͤſe Feierlichkeiten, Eidſchwur und Unterfchriften, Gegenfeitigkeit der 


94 Conföderation. 


tigften Gegenftände das VB orurtheil einer für untrüglich gehaltenen Nas 
feweisheit abgeben, ein fchlechter Beweis von tiefer, ernfter und wahrer 
Liebe zum Wolke, die fie doch durchweg zum Aushängefchild nehmen. 
Ihnen tft die Noth des Proletariats nur der dunkle Hintergrund, vor 
dem bie boctrindre Eitelkeit ihre Spiegelfechteret treibt. Sie find in ih⸗ 
ver nicht unfreiwilligen Verblendung die Werkzeuge der Reaction ges 
worden, bie fie zu befämpfen vorgeben, da fie Die überall hin abfchredende 
Fratze ihres widerlichen Communismus den gerechten Forderungen bes 
Volkes vorfchieben. Kür jeden Achten Volksfreund aber iſt es wohlge⸗ 
than, fein ehrliches Theil beizutragen, daß endlich diefe communiftifchen 
Gaukeleien verfchwinden und dem klaren Bilde einer möglichen beſſeren 
Zukunft der arbeitenden Claſſen den Plag räumen. Wilh. Schulz. 
Gonföderation, Bund, Bundes» oder Eidgenoffens 
haft, nah Ihrer biftorifhen Entwicklung bargeftellt*). 
Jedes Wehen erreicht feine Beflimmung, menn es den inwohnenden 
Kräften Entwidiung und Spielraum verfhaffte Die That ift alfo 
Bedingung und Zwei des Daſeins; Anfpannung und Uebung ber 
Kraft Begriff des Lebens. — Des Thieres That ift an das Sinns 
‚ Lie und Leibliche gebunden, der Menſch befigt neben diefem Anlage 
und Beruf zur Sittlichkeit und Vernunft. Die Beſchraͤnkung 
des rein leibliche Begehrungs- und Strebungsvermäögens 
durch das Gewiſſen oder den angebornen, von der Erziehung und bem 
Leben entwickelten Rech tstrieb bereitet den Boden der Sittlichkeit. 
Der in denfelden eingeftreute Same heißt Pflicht, die Srucht wird ſitt⸗ 
Ihe Handlung oder Tugend. Die angeflammte, durch Unterricht, 
Uebung und Leben entwidelte Fähigkeit, Einheit, Maß und Ziel in dem 
vielfachen, vermorrenen und planlofen Stoff br Sinnen: und Koͤr⸗ 
permelt zu finden, ober ihr ein geiftiges, in und aus ſich beſtimm⸗ 


*) Den Gang, welden die Entwidelung des freien EConföberationgs 
princips im Mittelalter und in der neuern Zeit nahm, hat bie in den 
Jahren 1827 und 1829 herausgegebene Entſtehungsgeſchichte der freis- 
Rädtifchen Bünde forafältiger als es bisher gefhehen war zu befchreiben 
getrachtet. Die folgenden Bogen fchliegen ſich in fofern dem obigen Werke an, 
als fie denfelben Gegenftand, freilih ohne genauere Darftellung der Thatfachen 
behandeln und nur den flaatsrechtlichen Zufammenhang vor Augen behalten. 
Dagegen wohnt biefer Abhandlung die Eigenthümlichkeit bei, daß fie theils den 
Weg der Sonfbberationen weiter zurüd und vorwärts verfolgt, theils mandhe 
Zufäge und felbft WBerichtigungen in Bezug auf bie bereits früher erörterten 
Fragen und gefchichtlihen Evolutionen derfelben enthält. Sie trachtet einen 
biftorifhsflaatsrehtlihen Geſammtuͤberblick ber Anftrengungen 
zu geben, durch welche der Adel bes Menfchengeiftes feine höchften Güter, Recht 
und Freiheit, wider Innern und außern Drud zu fichern fuchte, und 
fient eine Generalkarte bdiefer oft fehr verfhlungenen Kämpfe auf. 

Anmert. des Verf. 

Die Rebaction freut ſich, bei der Wichtigkeit und Schwierigkeit der Lehre 
von den Gonföberations s oder Bunbesverhältniffen, bdiefen belehrenden neuen 
Artikel des berühmten Verfaſſers den Artilein Bund und Deutfcher Bund 
beifügen zu koͤnnen. Anmerk der Red. 


Gonföberation.. 89 


bares, freies Vermögen entgegen zu fielen, heißt Vernunft. Ihr 
Keim ift die Erkenntniß, ihre Frucht die geiflige Zugenb oder 
Wahrheit. Die Religion aber beruht auf dem Glauben an eine 
allgemeine fittlich » geiftige Weltordnung ale nothmendige 
Folge und Ergänzung bes Gewiffens und der Vernunft. — Die 
Bereinigung vieler Gemeinden, welche mit Freiheit und Althinlängs 
lichkeit, d. h. möglichfter Gegenfeitigkeit, der Ausbildung des leiblichen, 
fittlihen und geiftigen Elements (Stoffes) nachſtreben, gründet den 
Staat (nolıg, respublica). Er liegt ebenfo beftimme im Wefen des 
Menſchen, als die einfachfte und naturgemäßefte NWerbindung zwifchen 
Mann und Weib den Uebergang aus dee Familie in die Gemeinde 
darſtellt. Wer aus Unvermögen oder aus Kraftvolllommenheit am buͤr⸗ 
gerlichen Vereine keinen Theil haben kann oder will, der ift entweder 
ein Thier oder ein Gott. Die Verfaffung, des Staats Leben 
und Seele, liegt in dem Principe, nah mwelhem die Obrigkeiten 
aufgeſtellt und die Verhältniffe der ſelbſtherrlichen Macht (Souve⸗ 
rainetät, Hoheit, zo nvgsov, majestas) beftimmt werden. Je freierm 
und feftern Spielraum die Entwidelung bes Rechtstriebes (des Ges 
wiffens) und der Vernunft findet, befto vollkommener ift die Verfaſ⸗ 
fung; je fchranfenlofer und ohne fichere Buͤrgſchaften das leibliche Bes 
gehrungsvermägen ſchalten darf, deflo mangelhafter erfcheint die 
Verfaſſung. Obenan ftehen deshalb die durch Uebereinkunft (Pact) und 
wechſelnde Vertreter (Repräfentanten) befchräntte Volksherrſchaft 
(Demokratie) und ihre Uebergang, die gefegliche (conftitutionelle) Mons 
archie; unten treten auf die unbedingte Fürftens und Volkes 
gemalt (abfolute Monarchie und abfolute Demokratie), — Ein auf 
Vernunft und Recht ruhbender Staatsbeſchluß heißt Geſetz; ihm 
gebührt als Ausdrud des Geſammtwillens Anerfennung oder Gehorfan. 
Fortwaͤhrende MWiderfprüche zwifchen dem Gefeg und ben fittlichvernänfs 
tigen Zwecken des gefelfchaftlihen Wereins führen zu Reformen 
und, wenn bdiefe zaubern, gemwaltthätigen Aenderungen oder Revolns 
tionen. Ihr Eintritt ift fo unabmweisbar als die Pfliht des Gehor⸗ 
ſams gegen Staatsbefchlüffe des Rechts und der Vernunft. — 
Wenn der Staat, in den bisher betrachteten Verhaͤltniſſen gleichfam 
einmärts gelehrt, feine anziehende Kraft (Attraction) nah außen 
richtet und Stellung zu einem fremden oder verwandten ſeibſt⸗ 
bertlihen Bemeinmwefen nimmt, fo beginnt die bundesgendf- 
ſiſche Wurrſamkeit (die flaatliche Affociation). Die erfie Gattung beis 
felben erfcheint als ein zeitliches, d. h. für beflimmte Stift und bes 
fondere wechfelnde Zwecke abgefchloffenes Verhaͤltniß zweier oder mehrerer 
felbftherrlicher Staaten. Iſt gegenfeitiger Schug wider einen äußern 
Feind der leitende Beweggrund, fo entfteht das Vertheidigungs⸗ 
oder Wehrbuͤndniß (dmiuaxia bei den Griechen); verpflichten fich 
beide Theile neben der Schirmung auch zum erobernden Angriff, fo 
heißt die Verbindung Schugr und Trugbündniß (ovunayla). Mes 
ligiöfe Feierlichkeiten, Eidſchwur und Unterfchriften, Gegenfeitigkeit der 


y aw‘ 


9 Gonföderation. 


vorbehaltenen oͤffentlichen Rechte und Freiheiten, Anerkennung ber gleis 
chen flaatlichen Befugniß und Hoheit begleiten ben Vertrag. Der Treue 
und dem Glauben übergeben hieß er eben deshalb ‚bei den Römern 
foedus, als dem Vertrauen (fides, fido) entfprofjen und durch dafs 
felbe gewaͤhrleiſtet. Kein Xheil geht in dem andern auf, den Verbuͤnde⸗ 
ten bleibt für die Dauer des Verhältniffes diefelbe ungeminderte Rechts: 
linie (foedus aequum , onovdal dl 77 Foy). Sie gilt, wenn nicht 
ausdruͤcklich befchränkt, auch im andermweitigen Bezuͤgen bes gegenfeitigen 
Verkehrs, tie fie namentlich duch Handelsübereintünfte können 
geregelt und feflgefegt werden. 

Die zweite, nicht auf zeitlichen, fondern bleibenben Bes 
ftand theild von vorn herein berechnete, theils ſtillſchweigend vorausges 
fegte Entreidelungsast der Bundesgenoſſenſchaft bietet nad, ihrem 
bifkorifchen, organifch gegliederten Verlauf einen dreifachen Gang bar. 
Der flaatlihe Affociationstrieb ndmlih, allmälig zum klareren 
Seldftbewußtfein dauernder Zwecke und Kräfte ausgebildet, trachtet 
entweder nach möglich feiter Sicherung bes außern (materiellen) Guts 
wider die Gelüfte des immerdar regen Begehrungsvermögens, 
oder er fucht durch eigene Anftalten die Anfprüce und Gewinnſte der 
fortfchreitenden Vernunft wider rohe Unfitte und finnliche Geiſtestraͤg⸗ 
beit zu gemähkleiften, ſtrebt endlicy nad) möglichft ſtarken und bauers 
baften Bürgfchaften des Rechts und geiftigen Kortfchritts wider 
Bemaltthbat und Geiftesdrud. Als Zeihen und Früchte diefer 
Affociationseinrichtung entftehen für den erften Kreis die Landfrie⸗ 
densbündniffe, für den zweiten die Geſittungs⸗ (Cultur⸗) Buͤnd⸗ 
niffe, für den dritten die politifchen Bündniffe oder Confoͤdera⸗ 
tionen im engern Wortverftande. (Eidgenoffenfhaften, frei« 
ftädtifche [republitanifhe] Bünde) — Sie bilden den eigentlichen 
Kernpunkt, welchem bie übrigen Einigungsverfuhe den Weg bahnen. 
Die theilnehmenden Glieder gehören in der Regel demfelben völkers 
(haftlihen Geſammtkoͤrper an; mit ihm treten fie entweder in 
freundliche oder feindfelige Berührung je nach der Befchaffenheit und 
dem Zweck des Bundes. Der erfte Sal tritt für das Landfriedens⸗ 
und Gefittungsbündniß ein, der zweite gilt für die politifche 
Eidgenoffenfchaft, welche ſich gewoͤhnlich nad längerm oder kuͤrzerm 
Kampf von dem nationalen Muttergebiete als eigene Selbſtherrlich⸗ 
feit trennt, bisweilen auh innerhalb bes ftantsrechtlihen Be: 
fammtverbandes den Kreis ihrer unabhängigen Gntwidelung 
nimmt. Diefen allgemeinen Gefegen folgen, fonft vielfach verſchieden, 
Alterthum, Mittelalter und neuere Zeit; überall tritt die drei⸗ 
fahe Stufe des Affociationsprocefjes unter abweichenden Formen und 
Namen hervor. — Blidt man zuerſt auf das Ichendige, vielgeflaltige, 
eigens und freifinnige Griechenland, fo erfcheint hier die Zandfrie= 
densverbindung (der Polizeibund) als frühefter Keim des fpäter für 
Gefittung und Staat volltommener entmwidelten Bundesweſens. 
Kaum hatten nämlich die Dellenen (Griehen) den nationalen Kampf 


A 


Gonföberation. | 97 


mit dem diteen, prieflerfürftiich (theotratifch) vegierten Drientas 
Lenvold der Pelasger größtentheils glücklich beendigt und den Send 
in Ilion (Troja) darniebergeworfen (1194 v. Ch.), nis das fortdauernde 
Fauſt⸗ und Fehderecht, bald der heilenifhen Stämme und Voͤlker⸗ 
f&haften, bald ihrer Fürſten und Edlen (Anakten, Heroen), wach⸗ 
fende Unbilden und Drangfale [hufen. Die Großen, von beutegieris 
gen Gefolgſchaftsleuten oder Befellen (Beranovres) umgeben, 
faßen in Burgen und ummauerten Städten feft, eine Plage bes 
nahen und fernen Landvolks, auch bem Fremden gefährlich, wenn er in 
den Bereich der Wegelagerer am. Denn es galt nur die leibliche Kraft, 
daB Webergewicht der Stärke; man raubte, brannte, morbete, führte bie 
Befiegten in Knecht⸗ und Leibeigenfchaftzs man verwüftete die Saaten, 
hieb Fruchtbaͤume um, zerftörte Brunnen, Wafferleitungen und andere 
gemeinnuͤtzige Werke; felbft der Tempel wurde nicht immer verfchont, 
obgleich Furcht vor den Göttern auf den gewöhnlichen Abenteurer 
und Raubritter zügelnd eingriff. Rohe Grauſamkeit und wilder Ueber: 
muth zierten den Starken; Dienfchengefühl, Milde, Gerechtigkeit, ber 
teachtete er als verächtliche Eigenfchaften des Poͤbels (Plutarch, The⸗ 
feu8 ©. 6.). Diefelbe Unficherheit bot das Meerz kuͤhne Freibeuterei 
Brachte Beute und Ruhm; das Gewerbe galt nicht ale Schmach, fonbern 
als Ehre. „Seid ihr Kaufleute oder Seeräuber?’” war bie 
gewoͤhnliche Srage der einander treffenden Unbekannten (Thuchbides J. 5.). 
Zwar forderte herkoͤmmliche Sitte, daB die Fehde durch den Herold 
( Keryr) angelündigt und wiederum gefchlichtet wurbe, aber viele Fürften 
und Edle kuͤmmerten fi nicht um den Brauch. Heimifche Blutrache, 
Familien⸗ und Stammesfeindfchaften mehrten den Zrog des 
gefelligen,, freilich oft duch Geſang und Froͤhlichkeit erheiterten Lebens. 
Altes ftand auf der Spitze des Schwertes; der Kraftvolle war in 
der Regel auch der Gerechte, und der Schwache galt als ber fchuldige 
Theil. Diefem Unmefen der Selbfthilfe und des Fauſtrechts bes 
gegneten allmälig arößere und Heinere Landfriedensbünpniffe. 
Benachbarte Voͤlkerſchaften und Fuͤrſten traten nämlich unter dem 
Schup eines gefeierten Gottes und Tempels ale Nahbarsver: 
eine (Amphiktyonien, aupsxriovia, aupızzlovss) zufammen. Dies ge» 
ſchah befonders in dee Gegend des Detagebirges, wo zwölf fpäter 
weit verbreitete Völkerfchaften um den Tempel des delphiſchen Licht⸗ 
gottes, Apollon, gefchnart Zucht und Ordnung der aufleimenden Ges 
ſellſchaft wider rohe Leibeskraft zu ſchirmen unternahmen. Ihr Eidſchwur 
lautete dahin, daß ſie keine amphiktyoniſche Stadt (Gemeinde) von Grund 
aus zerſtoͤren, keine im Krieg oder Fricden des Waſſers berauben, ben 
Meineibigen aber überziehen und ftrafen, auch das Helligthum bes 
Gottes beſchuͤßen wollten wider Raub und Gemwaltthat und zwar mit 
Händen und Füßen, mit Stimme und ganzer Kraft. — Jaͤhrlich wur⸗ 
ben zweimal, im Srühling und Herbft, bald zu Delphi, bald unmeit 
bem Thermopylenpaf Verſammlungen ber Abgeordneten (Pylagoren, 
Dieronmemonen, d. h. Pfortens und Kirchenredner) abgehalten, voͤlker⸗ 
Suppl. 3. Staatslex. U. 7 


— 


8 Gonföberation. 


rechtliche Klagen angehört und erledigt, Streitigkeiten der Bundesglieder 
unterfucht und gefchlichtet, über Fried⸗ und Eidbrühige Bußen und 
andere Strafen ausgefprochen, kurz die Sagungen eines möglichft aliges 
meinen beilenifchen Lands und Voͤlkerrechts nad Kräften gehand⸗ 
habt. Jahrmaͤrkte, Turnſpiele, Wettgefang und mannicdfaltige Volks⸗ 
feöhlichkeit begleiteten den beiphifhen Landfriedensverein, welcher 
unterflügt von dem Apollocultus und weithin berühmten Orakel 
die Sitten milderte, Eintracht und Vaterlandsliebe nährte, den Gegen 
fag des helleniſchen Volksgefuͤhls zur Fremde (Barbarei) unters 
bielt und verftärkte. Aehnliche, jedoch auf engere, landfchaftliche Kreife 
beſchraͤnkte Amphiktyonien beftanden im böotifhen Oncheſtus, auf 
der Inſel Calaurea zu Ehren Pofeidon’s, in Argos und anderswo. Enge 
mit diefen Landfriedensvereinen hingen bei den Hellenen bie 
GBefittungs= oder Eulturbündniffe und gleichartige Einrichtungen 
zufammen. Kaum war nämlid, die Sicherheit des äußern Guts noth⸗ 
bürftig gewonnen, al& der angeborne Schönheits« und Kunftfinn, 
wetteifernd mit dem bedeutenden Vernunft: und Staatsbedürfnig, Spiels 
raum fuchte und fand. Denn überalf gefellte ſich zum Ernſt die Froͤh⸗ 
lichkeit, zum rationeßen Forfchen das den Himmel und die Erde gleiche - 
fam einigende plaftifdy = poetifche Kunſtvermoͤgen, welches hier die Gebilde 
des Dichters fchafft, dort in feften Stoffen verkörpert und dem leiblis 
hen Auge anheimgiebt. Ehr⸗ und Vaterlandsliebe, oft freilich 
nicht dem Ganzen, fondern dem Theil zugewandt, verftärkten ben 
wiffenfhaftlih=fünftlerifchen Kinigungstrieb, und die Reli⸗ 
gion trat hinzu, ihm durch den Hort der Gottheit eine höhere Weihe - 
zu geben. So blühten denn jene eigenthbümlihen Wettkaͤmpfe oder 
Turniere (aywves) der Geiftes: und Leibeskraft auf, buch 
welche das fo vielfach zerfplitterte und baderfüchtige Hellenenvolt 
für längere oder kuͤrzere Zeitfrift nationale Eintracht und Befriedung 
gewann. Wettlauf zu Fuß, Roß und Wagen, Rings und Fauſtkampf, 
Springen und Diskus: (Sceiben:) Werfen bildeten den Hauptftoff der 
leiblichen Mebungen (ayav yuuvızos), Geſang, Muſik und Rede, 
namentlich gefchichtlicher Vortrag, bezeichneten das Gebiet der geifligen 
Nebenbuhlerfchaft (ayav uovoıxog). Jedem Freigebornen, wohl beieums 
beten Hellenen mar die Bewerbung um den von Kampfrichtern 
(Hellenoditen) und Geſetzeswaͤchtern (Nomophylaten) nad) forgfäl=- 
tiger Prüfung ertheilten Preis des Dlivenkranzes vergoͤnnt; der Fremde 
und von irgend einer Makel befledte Inlaͤnder blieb ausgefchloffen. Ein 
feierlich ausgerufener Sottesfriede, am Frevler ſchwer geahndet, galt 
für die Dauer der Keftlichkeitz unzählbares Volk ſtroͤmte aus allen 
Bauen bes Mutterlandes, oft auch der fernen Pflanzungen, herbei. 
Dergleihen Wettkaͤmpfe, zu Nemea, Delphi, auf ber Meerenge 
von Korinth (dem Sfthmos) für Gefammthellas begangen, haben 
im elifhen Olympia unter dem Schirm des Zeuscultus an Vollſtaͤn⸗ 
digkeit, großartiger Ordnung, Maffe der Bewerber, Zufchauer und Zus 
börer, weit verbreitetem Ruf, den Höhepunkt gewonnen, Etwa drei⸗ 


Gonföberation. 9 


hundert Jahre nad) dem flifchen Kriege durch Lykurg, Spartas Geſetz⸗ 
geber, regelmäßiger eingerichtet und hundert und acht Jahre fpdter (776 
v. Ch.) durch die erfte Aufzeichnung des Siegers als Ausdrud eines 
vierjährigen Zeitabfchnittes feftgeftellt, überragte der olympifche Ges 
ſittungsbund alle ähnliche Anftalten. Für die tonifhen Bewchner 
der Kykladen und Kleinafiens galt lange vor und nah) Homeros 
(1000 v. Eh.) die delifche in die Ehre des Apoliinarifchen Lichtgottes 
geſtiftete Feſtlichkeit als ein engerer Werband des Leiblihen und geis 
fligen Wettlampfes. Kunftvolle Reigen (Chöre) und Preisgefänge vers 
berrfichten in beftimmten Kriften das von Männern, Frauen und Kin» 
bern zablreich befuchte Feſt und förderten den Sinn wie für die gemein⸗ 
fame Stammes: und Volksgenoſſenſchaft, fo für das Schöne und Wahre 
in ben Werken bes Geiſtes. ine zweite Wurzel bes hellenifchen Bes 
fittungsbänbdniffes tritt in den weit verziweigten, über Thracien, 
den Cherfones, die Propontis, Vorderafien, Oftafrita, Suͤd⸗ 
italien, Sicilien, Sardinien, Sädgallien (Maffilia) u. f. w. 
ausgebreiteten Dflanzungen (Colonien, anoınlas) hervor. Sie vers 
koͤrpern eine wirkliche, organifch gegliederte Propaganda des Hellenis» 
mus und fliften eine Art von Univerſalherrſchaft, welche nicht 
fowohl durch Waffen denn durch Weberlegenheit ber geiftigen und ges 
werblihen Kraft fiegend auf das Ausland (die Barbarenmelt) eingreift 
und hier den Feuerherd nie raſtender Bewegung errichtet. Uebervoͤlke⸗ 
rung, Handels» und Gewinnſucht, politifche Imietracht, vor Allem uns 
ruhige Abenteurerei und Thatenluſt wirkten für biefes nimmer mübe 
Ebben und Fluthen helleniſcher Voͤlkerzuͤge, welche inmitten frember 
Maſſen meiftens heimifche Sitte, Sprache und Bildung bis zum Er⸗ 
Löfchen der Leuten Lebensfafer bewahrten, aber daneben in vielfach eigen⸗ 
thuͤmlichen Geſtalten ausprägten. Man verfuhr dabei von Seiten bet 
Mutterfladt (unreomolıs) mit ebenfo großer Vaͤterlichkeit als, Umficht. 
Die Colonie bekam die heimifhen Staats: und Kirhenrechte, ging,. 
bas an dem Altar des Geburtsorts angezundete. heilige euer gleichſam 
voran und mit aller Nothdurft ausgerüftet, an ihre Beſtimmung ab, 
richtete fich Hier unter der Leitung des beigegebenen Ordners (Stifters, 
olxsoens) ein, blieb wie das für mündig erflärte Kind im Haus⸗ oder 
Dietätsverhältniß zur elterlichen Heimath, welche man durch Opferfpens 
den, Boten und ähnliche Auszeichnungen ehrte, im. Nothfall auch durch 
Waffen und Geld unterftügte, behielt dagegen für die eigenen Angele⸗ 
genheiten genug der fubjectiven Freiheit, um des Mutterlandes Gefege 
und Bräuche je nad) dem Beduͤrfniß der neuen Dertlichleit abzuändern. 
So gewannen die beilenifchen Pflanzftädte ohne Preisgebung ber Heimath 
fruͤhzeitig den Charakter der Unabhängigkeit (Autonomie) und mit 
ihr den Hauptnerv rafcher Bluͤthe. Diefe wurde jedoch auch nicht felten 
zerknickt, wenn das üppige Wachsthum theilß der Pietätspflicht entgegen> 
trat, theils durch unbedachtſame Aufnahme fremder Eulturftoffe dee - 
eingebornen Volksthuͤmlichkeit Feſſeln anlegte. Am reichten und mannich⸗ 
faltigften entwickelte fich endlich das politifche Sundealen. Denn 


100 Gonföberation. 


getragm von ben aͤltern Vereinen für Landfrieben und Geflttung 
Eonnte es im günftigen Augenblick defto freier und Eräftiger bie rein 
fiaatsbürgerlihen Angelegenheiten ergreifen unb orbnen. Jedoch 
haben landſchaftlich⸗voölkerſchaftliche Rüdfihten (föberalis 
ſtiſche Principien) und die herefchaftlichen Beftrebungen einzelner Hau pts 
flädte den Weg zu einer Befammtverbindung der hellenifchen- 
Republiken gefperrt und faft niemals ausgehende Eiferfuht, Spannung 
und Zwietracht unterhalten. Trotziges Selbſtvertrauen, balsflarriges 
Beharren in peovinziellen, nationalen und politifchen Gegenfägen,, das 
gleihfam den Hellenen gegebene Vorrecht, felten Fremde, meiſtens 
Einheimifche zu betämpfen und dadurch den Gedanken bes von ben 
edelſten Gemüthern und koſtbarſten Augenbliden der Geſchichte erfaßten 
Gefommtoaterlandes thatfächlich zu untergraben, — biefe und aͤhn⸗ 
liche Erfcheinungen bezeichnen die Schattenfeite der von Griechenland 
ausgehenden Confoͤderationsverſuche. Den erften ſchwachen An⸗ 
fang zeigten die Weſtkuͤſſte Kieinaflens und die benachbarten Infe ln. 
Hier bildeten die eingetwanderten X eolier (feit 1069) einen lofen Staͤd⸗ 
teverein von "zwölf Gliedern (Dodekapolis), welche religids ber 
Tempel des duch fein Orakel berühmt gewordenen Grynaͤiſchen 
Apollon zufammenhielt; am Vorgebirge Canes im fo geheißenen 
Panaͤolium gefhah die jährliche Verſammlung der rathfchlagenben 
Bolksgemeinde und ihrer Ausgefchoffenen. Die dolifhe Markung 
ging von Cycieus bi6 an ben Hermus. Zwiſchen dieſem Fluß und dem 
Vorgebirge Pofidion fiedelten (etwa feit 1050) die aus Attila einge» 
wanderten Jonier, deren zmwölfortiger Städtebund, religiös durch 
den Dienft des Helikoniſchen Pofeidon geeinigt, feine jährliche Tage⸗ 
fahrt anfangs im Panionium unweit Mykale, fpäter zu Epheſus 
hielt, über etwaige Rechtsſtreitigkeiten, Krieg und Frieden rathfchlagte 
und entfchieb. Neben den Ausgefchoffenen (nmooßovioı) Eonnte 
jeder Bürger beliebig an der Verſammlung Theil nehmen und abflim» 
men. Seierliche Opfer, Wertlämpfe und Sahrmärkte begleiteten die 
Bundeshandlung. Suͤdwaͤrts endlich breitete fih an der carifchen 
Küfte,. auf den Inſeln Cos und Rhodos, der dborifhe Sechs⸗ 
bund (Hexapolis, feit 1000) aus, deſſen kirchlichen Mittelpunkt ber 
Zempel und Eultus des Triopifchen Apollon an der carifhen Küfte 
darftellten. Hier gefchahen, mit Wettfpielen und Meſſen verknüpft, die 
jährlihen Bundesverfammlungen. Diele drei Conföderattos 
nen Kleinafiens litten an einem Hauptgebrechen. Sie maren ndmlid) 
nicht nur zerfplittert in fcharf getrennte, einander eiferfüchtige, ſelbſt 
feindfelige Stammesgenoffenfhaften, fondern befaßen auch in 
den einzelnen Bundeskreiſen Keine hinlängliche Kraft dee Ober» 
Isitung. Jede Stadt mit ihrem Gebiet blieb ſelbſtherrlich und 
ordnete die inneren Verhältniffe nach eigenem Belieben und ohne Ruͤck⸗ 
fiht auf das Sefammtmwohl. Daher brachen heftige Parteitämpfe 
zwiſchen Ariftofraten und Demokraten aus, traten häufig ein⸗ 
zelne Machthaber (Tyrannen) an die Spige bes gemeinen Wefens, ſchal⸗ 


Gonföberation. 101 


teten Aberhaupt Ehrgeiz, Handels⸗ und Gewinnſucht, bald auch Ueppig⸗ 
Leit und Verweichlichung. Kür Künfte und Wiflenfchaften, für Ges 
werbe und Verkehr Hatten beſonders die Jonier gluͤckliche Empfaͤnglich⸗ 
keit, aber rauhe Manneskraft und aufopfernde Buͤrgertugend wurden 
dem Wolke gemach entfrembet. Umſonſt riethen Thales und Bias, 
ben lockern Verein durch eine bleibende Bundesregierung, deren 
Sitz Teos werden koͤnnte, fuͤr nahende Gefahren zu ſtaͤrken. (Hero⸗ 
bot I. 170.) Dieſen Centraliſationsgedanken, welcher wie en 
I auftaudhend aus zwölf felbftherrlichen Städten eine Bun 
desrepublik bilden und die einzelnen Glieder als abhängige Gaue 
(Demen) der Sefammtheit unterorbnen wollte, verwarf die Menge. 
Sofort erlag fie dem heranziehenden Ungewitter des perfifchen Reiche, 
weiches bie freien Gemeinden. bisweilen nach ruhmvollem Kampf in Un⸗ 
terthanenlande ummwanbelte (546-- 500). Das Gerüft ber Frei⸗ 
beit biieb in manchen Hellenenftädten unangetaftet, aber die Seele ent: 
ſchwand; halb willig, halb gezwungen folgten die Pflanzer dem Banner 
bes Oberherrn gegen das Mutterland und wurden, als hier Webers 
legenheit des Geiſtes und Muthes den glänzenden Sieg bereiteten, nur 
dem Namen nad) frei. Denn bald traten an den Platz Perfiens 
für die Hellenn Borderafiens und der Infeln Athen und 
Sparta. Es hatte nämlich unter der Leitung diefer beiden Haupt⸗ 
ſtaaten das wider die Fremden vereinigte Feſtland duch Eintracht und 
Vaterlandsliebe die von Außen her drohenden Gefahren niedergefchlagen, 
auf dem Schlachtfeld von Plataͤaͤ für die Eräftige Kortfegung des Krie⸗ 
ges eine allgemeine helleniſche Eidgenoffenfhaft (ovaparle) 
errichtet, das bleibende Bundesheer auf 10,000 fchmergerüftete Fuß⸗ 
folbaten und 1000 Reiter „ die Slotte auf 100 Schiffe vorläufig feſtge⸗ 
ſtellt, jährliche Zufammenkunft der Bundesräthe (neoßovio:) und 
ein allgemeines Freiheit sfeſt verordnet, welches alle fünf Jahre auf 
der geweiheten Wahlftätte Plataͤus begangen werden follte. (Plus 
tar, Ariſtides C. 21.) Diefer großartige Plan eines Geſammt⸗ 
bundes fcheiterte theild an dem Gluͤck und Uebermuth der Sieger, 
theils an der felbftfüchtigen Eiferſucht des dorifhen und ioniſchen 
Stammes mie feiner ſtaͤrkſten Vertreter. Alſo entmidelten ſich etwa 
innerhalb dreißig Jahren (479— 449) zwei unabhängige, gemach 
eiferfüchtige und feindfelige Bundesgenoffenfhaften (Symmachien), 
welche den Schooß der kurzem gemeinfamen Eidgenoffenfchaft vers 
ließen und bald mit Buͤrgerblut befledten. Auf der einen Seite ſtand 
Sparta, der bleibende und überwiegende Vorort bes doriſchen 
Deloponnefus, auf der andern Athen, in demſelben ſtaatsrechtli⸗ 
hen Verhältnig gegenüber dem Jonismus. Dort galten Aderbau 
und Landmacht, bier auf Handel und Golonien ruhende See⸗ und 
Küftenherrfchaft als Strebepfeiler der dußeren Politil, dort Demos 
Tratie und bier Ariftotratie als leitende Grundfäge der inneren 
Staatsordnung. Jedes Mitglied der fpartanifchen, aud) außerhalb der 
Dalbinfel wirffamen Bundeggenoffenfchaft beſaß vollkommene, fees ' 


ofen finbarı © Tb Rhsertichenie Cum), Be data 


lich 
oder © b iß totelis Sti cht 
—F efugniß ar ad uf —3 mu recht auf dm 


Tag 

— bei den —— * * Bürger, unb wenn 
verſchiedene Gemeinden in Conflict kamen, den Vorſchlag zur Aufflellung 
rines Schiedsgerichts. Beiträge an Mannfchaft, 8 und: Schif⸗ 
fin wurden je nach din Kräften der Einzelnen, wie fie etwa bie Bunte 
desmatrikel feſtgeſtellt hatte, Heforbert und entrichtet. Diefes Geſchaͤft 


freie Ge ⸗ 


beſorgte der bleibende Vorort, welcher daneben bellebig bie Wundesges 


noöoſſen nach der Hauptſtadt, gen Olympia oder anderewoͤhin zur 


— en Kagefayung befchled, alle Bundssongelegenbeiten, . 
bſtimmung 


ie , Frieben, VWertraͤge vorberieth und zur A 
brachte, Gen Dberbefehl übre Slotte und Banbbeer führte. Ein Bun⸗ 


desſchatz fehlte. Aehnliche Einrichtungen hatte anfangs die attiſch⸗ 


a Wehrgenoffenfhaft (Symmachie). Ihre Mitglieber beſaßen 
Rechtsgleich heit (Iſonomie), Ertbfiherrlichkett und 
—— gegenuͤber dem bleibenden Vorort, rathſchlagten un⸗ 


tee der Leitung deſſelben auf —8 in Delos abgehaltenen Tagefahrten pr | 


era Bundesfahen und lieferten neben. Schiffen und Kriegern ihre 
um Bundesſchatz, welchen die aus Athenern erwählten 
—3— (Elinvoraplas) verwalteten. Als dieſe dem attiſchen 
Staate Gelegenheit gaben, feinen politiſchen Einfluß über Gebühr autzu⸗ 
behnen und das Schatzamt in die Hauptflabt zu verlegen, entſtauben 
Streitigkeiten und offene Fehden. Aber die zwieträchtigen und vereinzels 
ten Bundesgenoffen unterlagen und verloren größtentbeils ihre Unab⸗ 
hängigkeit, fie mußten als Unterthbänige ober Zinspflidtige 
(Soredeig) dem Vorort orbentlihe Jahresſteuern — im Ganzen 
600 Talente, 630,000 Thlr. — und außerordentliche Abgaben entrichten, 
auf Eriminalrechtöpflege verzichten und die Innenverhältniffe nad) dem 
demokratiſchen Princip ordnen. Jedoch blieben noch einzelne ſelb ſt⸗ 
herrliche (autonome) Bundesgenoſſen, welche wie die Chier, Pla⸗ 
taͤer, Methymnaͤer auf Lesbos, Meffenier in Naupaltos, 
Akarnanier u. f. w. den früheren Rechtsſtand behaupteten. Die bers 
geſtalt in den beiden großen Conföderationen Spartas und Athens 
zufammengedrängten Hauptkräfte des Hellenenthums entzünbeten bei wach⸗ 
fender Eiferſucht und Feindfchaft den peloponnefifhen, 27 Sabre 


lang tobenden Bürgers und Revolutionskrieg (431—404). Sein _ 


größtes Unglüd lag darin, daß der Gedanke an ein Gefammtvaters 
Land gleichfam geächtet, die fo geheißene Hegemonie oder Dictatorfchaft 
eines Hauptftaates, bald Spartas, bald Athens, zulept The⸗ 
bene, und bie bienflbare Abhängigfeit-der Heineren, bier zinspfliche 
tigen, dort ſcheinbar felbfiherrlichen Voͤlkerſchaften anerfannt, endlich den 
Fremden, Perfen, Maceboniern, Römern, bie Pforten allmaͤlig 
geöffnet wurden. Dabei verfolgte namentlich Sparta jede freiere Mes 
gung bes demofratifhsconföderativen Principe und förderte 

unter dem Dedmantel der Maͤß igung bie den Kern des Maſſenle⸗ 


Gonföderation. 108 


Gens zerbroͤckelnde Wirkſamkeit der oͤrtlichen ober kantonalen Hoh eits⸗ 
geluͤſſte. Die Fortſchritt erſtrebende Entwickelung der Bundesbegriffe 
ſtarb jedoch nicht aus, fie trieb vielmehr neue ober bisher nur mangelhaft 
erfchienene Lebenswurzeln hervor. Dem wachſenden Bedürfniffe der Eis 
nigung naͤmlich konnten weder die zwar gleichrechtlihen (ifonomen) 
aber lockern Vereine Kleinaſiens, noch bie aus dem gefcheiterten Nas 
tionalbunde heroorgegangenen bleibenden Dictaturen der attifchs 
fpartanifchhen Conföderation genügen. Etwas volllommener trat des⸗ 
halb ſchon die uralte, an bie bleibende Hegemonie Thebens gebundene 
Eidgenöffenfchaft der dolifhen Boͤoter hervor. Religioͤs getnäpft 
en den Dienft der itonifhen Athene und die Zeftlichleit der Pamboͤs⸗ 
tien, übertrug fie die gefeggebende und über Krieg, Frieden, Ver⸗ 
träge befchließenbe Gewalt den vier Raͤthen Boͤotiens; bie 
feldherrliche und vollziehende Macht beforgten ein Jahr lang 
neben dem Dräfidenten (Archon) fieben, fpdter ef Boͤotarchen, 
von welchen ber Vorort zwei ernannte; die Urkunden fertigte der 
. Staatsfhreiber (ypauparevg) aus; in außerordentlichen Fällen trat 
Die Landsgemeinde (dxxinala) aller flimmfähigen Bürger zufams 
men. Meben ben felbfiftändigen, der Zahl nach wechfelnden Bun⸗ 
deögliebern fand man unterthänige oder zinspflichtige Gemein⸗ 
den, alfo daß trotz ber in ben vier Raͤthen und den Boͤotarchen ſicht⸗ 
baren organifchen Einridhtungen die boͤotiſche Confoͤderation theile 
an dem Princip der Rehtsungleichheit, theild an den Folgen 
zuͤgelloſer Adels⸗ und Volksherrſchaft verbluten mußte. — Einen 
weitern Kortfchritt bezeichnet der nach kurzem Beltand duch Sparta 
und Macedonien aufgelöfte olyntheifhe Städtebunb auf der 
Halbinfel Chalcidice. Die Mitglieder befagen volllommene Rechtes 
und Bürgergleichheit, laut welcher kein Privilegium bes leitenden 
Bororts galt und die Angehörigen ber einzelnen Gemeinde überall im 
Gebiet der Eonföderation ihr Bürgerrecht ausüben konnten (ovumo- 
kiras, lsonolizas), ferner Gegenſeitigkeit der Ehen (Epigamie) 
und de8 Landerwerbs. (Xenophon Hellen. V, 2.) Nach heiden- 
muͤthiger Gegenwehr von den herefchfüchtigen Spartiaten unterbrüdt 
(379 v. C.) fand dee Städtebund Olynths bald ein vorwaͤrtsſtre⸗ 
bendes Gegenbild in dem bisher zerriffenen und deshalb ohnmaͤchtigen 
arkabifchen Gebirgsjande. Hier traten ndmlih, ale Theben bei 
Leuktra über Sparta gefiegt hatte (371), an vierzig größere ober 
Beinere Ortfchaften dem arkadifchen Nationalbunde bei (371), übers 
teugen bie Sentralgewalt dem jährlid wechfelnden Ausfchuß der fo 
gebeißenn Zcehntaufend (Myrioi), welche als Repräfentanten 
ber einzelnen demokratiſchen Gemeinden in der neuen Haupt: und 
Bundesſtadt Megalopolis faßen, über Krieg und Frieden, Bünbnifie 
und flaatsbürgerlihe Klagen entfchieden, die vollziehenden Beamten 
und Feldherren wählten, den diplomatiſchen Geſchaͤftsgang beforgten, 
überhaupt die Gefammtheit (70 xo1v0v, commune concilium Arca- 
dum) nah Innen und Außen hin vertraten. Als Kern des man» 


10 | Gonföberation. 


1 
nichfaltig zuſammengeſetzten Bundesheeres diente bie beſolbete und 
trefflich eingeuͤbte Schaar ber Eliten (Epariten), welche gleichzeitig als 
eine Art von Polizeimannfhaft für den Vollzug ber Regierungss 
befehle beſtimmt war. — Eiferfucht, Eigennug und Heinlicher Ortsgeiſt 
auf der einen, [partanifche Derrfchgier auf der andern Seite hinderten 
bie volls Entwidelung bes Bundes und befchleunigten dadurch weſentlich 
ben Verluſt der bellenifhen Nationalunabpängigkeit. Aber ges 
rade das nicht unverfchuldete Ungluͤck ftärkte den entfchloffenen Sinu ber 
ebelften Vaterlandsfreunde und Eräftigften Völker; man erkannte bis 
Nothwendigkeit verbefjerter Bünde und benugte dafuͤr die reichen Enders 
gebniffe der Erfahrung und des Nachdenkens. Ueberdies weckten bie 
fhauerlihen Morbs, Raub» und Brandzüge der Celten (Gallien), 
welche Macedonien, Theffalien und Phocis heimfuchten (280. 
279 v. ©.) das ſchlummernde Selbft- und Ehrgefühl. Go traten 
denn gleichſam als Abendröthe / des fterhenden Dellenenthums bie 
legten Eidgenoffenfchaften der Aetoler und Achaͤer hervor, jene 
im Norbweſten, diefe im peloponneflihen Süden wirkſam. Beide 
Vereine, welche Stäbte und Landbezirke umfaßten, bezeichneten 
dadurch einen bedeutenden Kortfchritt, daß fie keine eigentlihe Unter» 
thaͤnigkeit oder Zinspflicht geflatteten und die organifche Glie⸗ 
derung zweckmaͤßig verbefierten. — Bis zu den Zeiten Philipp’s 
und Aleranber’s von Macebonien hatte das freibeuterifch » flreitbare, 
rohe und halbwilde Volt dee Aetoler Leinen Ruf gewonnen. An ben 
fruchtbaren Küften und in rauhen, wildbewachſenen Gebirgen feßhaft, 
der Jagd, Viehzucht und Fehde ergeben, ohne eigentlihe Städte und 
feit Menſchengedenken auf weit entlegene Meierhöfe, Dörfer und Flecken 
befhräntt (Thucyd. III. 94), kannte e8 weder die Freuden und Vor⸗ 
theile nod) die Beſchwerden und Gebrechen des verfeinerten Lebens. Das 
übrige Griechenland betrachtete die fernen Gebirgsleute ald Fremde und 
Halbbarbaren. Allein ein günftiges Scidfal jparte die ungebrochene 
Naturkraft diefer ſpaͤten Nacyzügler des Hellenenthums für die Zage ber 
Moth auf und verzögerte dadurch mefentlid den allgemeinen Untergang. 
Als naͤmlich Alexander's Tod (323 v. E.) das Zeichen zu kühnen, 
wenn auch nicht erfolgreichen Unabhängigkeitsbeftrebungen ber 
Hellenen gab, da verftärften aud die tapfern Aetoler ihre alte 
Stammesgenoffenfhaft und ermeiterten fie allmälig zu einem 
mwohlgegliederten Bundesftaat. Diefer, in den Zagen des Geltens 
krieges (280. 279) den Grundzügen nad ſchon ausgebildet, ruhte auf 
der unbetingten Rehtsgleihheit (Sympolitie) ohne bleibenden 
Vorort (Directorium, Hegemonie) und zinspflichtige Unterthanen, 
auf der jährlich im Herbft nach dem offenen Flecken Thermus entbotenen 
gandsgemeinde (Panaetolium, concilium Panaetolicum), welche als 
Ausdrud der Volkshoheit und der Befammtbürgerfhaft über 
Krieg, Frieden, Bündniffe, Verträge, Wahlen und gemeine Ordnungen 
entſchied, Streitigkeiten fchlichtete und felbft in die Snnenverhälts 
niffe der einzelnen, fonft unabhängigen Städte ober Landgemeinden 


Gonföderation. 108 
nöthigenfalls als Geſetzg eber eingriff, endlich auf ben jährlich erneuer⸗ 
tm Bundesbeamten. Diefe beftanden aus mindeftens breißig Glie⸗ 
bern des Landraths (Mathe der Erlefenen, Apofleten), welcher 
Die Geſchaͤfte ber Tageſatzung ober Landsgemeinde vorbereitete, 
bisweilen auch ohne legtere hanbelte, dem Strategen oder Feldherrn 
und Praͤſidenten, welcher jeboch bei Berathungen über Krieg und 
Stieden der Umparteilichleit wegen nicht abflimmen durfte, daneben für 
den Vollzug der Befchläffe forgte, dem Reiterobrift (Dippacch), des 
Strategen Gehilfen, und dem Staatsfchreiber (dnuocsog Ypappa- 
zeug), welcher die Urkunden ausftellte und befiegelte. Geſetzſchreiber 
(Nomographen) traten wohl nur außerordentlich auf, wenn über einzels 
ne Segenftände, 3. B. Kaperei und Plünberung , allgemeine Bundesbe⸗ 
fehle ergingen, oder wenn innere Angelegenheiten einzelner Glieder 
duch die Dazmwifchentunft der Gefammtbürgerfhaft (Bundesgemeinde) 
außerordentlich geregelt wurden. So verbunden trachteten die Aetoler 
mit Erfolg nach Ausdehnung; denn es gelang ihnen, in ber Nähe bie 
meiften Gemeinden der Lokrer, Phocier, ein Stuͤck Theſſaliens 
und Alarnaniens, in ber Ferne Cephallene, Elis, Meffenien, 
theils duch Güte, theils duch Gewalt zu gewinnen. Allen Habgier 
und Bedrückung einzelner Abhängigen, 5. B. der Meffentier, vor 
Allem aber Eiferfucht gegen den gluͤcklichen Nebenbuhler im Peloponnes, 
die Achder, trieben die nordweſtliche Eidgenofienfchaft zum unnas 
tuͤrlichen Bündnis mit Macedonien, bem gemeinfchaftlichen Feind, 
und ſchwaͤchten dadurch bie wohlthätige Ruͤckwirkung auf Geſammthellas. 
Dergeftalt vereinzelt unterlagen die Aetoler nad) heidenmüthigem Wi⸗ 
derftande den Römern (189 v. ©. Olymp. 147, 3), melde fih an 
ben Plag ber abgeſchwaͤchten Macedonier gebrängt und bie legte Bruſt⸗ 
wehr ber helleniſchen Unabhängigkeit zum Abfchluß trüglicher Freundſchaft 
verlocdt hatten. Diefe ſchickſalsvolle Stellung naͤmlich bieten die Achderz 
in ihnen erfcheint die Abendröthe der untergehenden Freiheit, deren 
Schlagſchatten den volllommenften, an Großthaten reichften, obwohl ver⸗ 
fpäteten Hellenenbund treffen. — In dem fchmalen, Elippens und bergs 
vollen Küftenlande, welches Ach aj a beißt und vom Vorgebirge Araru 
bis zum Gebiete Sicyons hinaufreicht, ftifteten die erſten Anfiebler 
ionifhen Stammes einm Landfriedens: und Tempelverein 
(Amphiktyonie), welcher geknuͤpft an das Nationalheillgehum Pofeis 
don’s zu Helice zwölf Gaue und Fleden umfaßte. Darauf kamen 
bie duch den doriſch-heraklidiſchen Wölkerzug aus Archos und 
Lafonien verbrängten Achaͤer, befesten das Land der hinmeggefchober 
nen Jonier, ummauerten die Flecken derfelben und verknüpften bie 
neuen, anfangs koͤniglich, darnach republikaniſch-demokratiſch 
(ſeit 700 v. C.) regierten Staͤdte durch einen loſen Verein, deſſen 
religioͤſer Mittelpunkt der Tempel des Zeus Homagyrlius (d. bh. des 
verfammelnden Zeus) unmelt Argium bildete. Die zwoͤlf durchaus felbfts 
herrlichen (autonomen), durch keinen Directorialvorort befchränkten Stadt⸗ 
gemeinden, von Morgen nach Abend gezählt, hießen: Pellene, Aegira, 


O1 XVCR) 


Ks Mus, Parın, Wenn, Ahopé, Patraͤ, Zritde, 
Paa.g. Prrad, I aa n tt, Sitten⸗ und 


st, Na Day a Arpage Dedecoerachtung, Redlichkeit im Hambef 


Ne yeit.!$2 una Stillleben der alten Adyäer meilkens 
weitet -wı Mies or Adenderung vom ber hrlienifdyen Befanume 
NR aus Na ten Macedonier und IZwingberren (Murau 
—8 X we in rem und Freiheitsgefuͤhl ſanken; ber Buub, 
Zaunt Mefle Errdnungen zufammmengehalten, wid aus den 
ig. Ny zuteiiieite. Maturmißgefchide traten auflöfend hiayas 
line wur Musa werfäwanden in ben Meereswogen (378 v. Che), 
Ana. Dienas und Argd im Elend, während Leontium unb 
CCBAA umgertamen. Endlich weten Noth und Drud ben ſchluu⸗ 
ran Eingeben? der beffeen Zage erhoben fih Dyme 
war Daried, ven den Aetolern unterflügt, wider Macedonier unb 
Aea (280 v.Chr. DI. 125, 1); Zritda und Phard folgten; 
Jeyınma verjagte fünf Jahre fpäter (275 v. ©.) bie macedoniſche 

‚ Bura und Cerynea brachen das Tyrannenjoch (255)5 
tuentium, Aegira, Dellene ſchloſſen fih an; eine neue, weient 
we wen e Eibgenoffenfhaft ber Achder breitete fidy za 
wÄaR Aber das Küftenland, darnadı über den größten Theil der peles 
zeumeftfden Dalbinfel aus; eine frifche Kraft ſtroͤmte vorzüglich ſeit ber 
VDiefceiung Sycions durh Aratus (251 v. C.) in den halb erflarz 
sen Kürper des Hellenenthums ein und bewerkſtelligte eine verjüngenbe 
Wiedergeburt. Wenn nämlih ber Bundeszweck den Sturz ber 
Macedonier und Zmingherren, bie Befeſtigung der allgemeinen vaterläns 
diſchen Freiheit erfixebte (Polyb. II. 43), fo haben die Mittel und or⸗ 
ganifchen Anflalten diefem hochgeſteckten Ziele vollkommener denn jemals 
entiprochen. Denn bie gleichrechtliche Stellung ber frühern oder 
fpätern Glieder, die Gebundenheit der einzelnen Städte und Lands 
ſchaften gegenüber dem Auslande, welches nur von dem Ganzen 
feindlich oder freundlich berührt werden follte, die beinahe durchgreifende 
Gleichheit dee Münzen, Maße, Gewichte, Gefege und 
Dbrigkeiten in den moͤglichſt demokratiſch regierten Kantonen 
oder Bunbdestheilen (Polyb. II. 37), dieſe Einrichtungen fchufen einen 
wirklihen Bundes- und Volksſtaat, welchem, wie fih Polnbius 
bildlich ausdrückt, für den Abfchluß derfelben großen Stadtgemeinde nur 
die Mauern fehlten. Die hoͤchſte Gewalt über Krieg und Frieden, 
Buͤndniſſe und Verträge, Gefege und conftitutionelle Ordnungen, Aufs 
nahme neuer Mitglieder, Wahl ber Beamtar und politifche oder den 
Bund betreffende Klagen, ſtand bei ber Bundbesverfammilung, ber 
großen Lands= und Bürgergemeinde (dxxinain, auvodog, avvi- 
dgsov), welche jeder dreißig Jahre alte Achaͤer befuchen durfte. Gie 
wurbe regelmäßig in jedem Jahre zweimal bei Aegium im gemeihten 
Hatne des Zeus Homagyrius oder Homorius, des Bunbesgottes, abge 
halten, im Zrühling nad) dem Aufgang der Plejaden für die Beamtens 


. 


 Konföberatin. 107 


wahl und andere Begenflände, und im Herbfl. Ihre Dauer war auf 
hoͤchſtens drei Tage beftimmt; jeder Theilnehmer durfte, vom Herold 
eingeladen, da6 Wort ergreifen und felbft Anträge fielen, jedoch nur 
über bie der Berathung von den Behörden übergebenen Angelegenheiten. 
Dies geſchah, um den Mißbraͤuchen der Demokratie vorzubeugen und um 
Drdnung, Zeit zu gewinnen *). Die Abmehrung gefhah nad dem 
Städten ober Kantonen, welche Gleichheit des Stimmrechte befaßen und 
bereitö vor dem Beginn des Bundestages ihre vorläufige Meinung abe 
gaben. Den Vorfig und die Leitung der Debatte hatte der jährlich ers 
wählte, nach der Nieberlegung feines Amtes wiederum wählbare Stra« 
teg (Feldherr). Er führte das Bundesfiegel, beforgte die nöthigen Aus⸗ 
fchreiben, bie diplomatifchen Angelegenheiten, ſoweit fie nicht an bie 
Landsgemeinde kamen, forderte die Beiträge an Mannſchaft und Gelb 
ein, vollzog die Befchlüffe und befehligte das Bundesheer. Sein Gehilfe 
und allfaͤlliger Stellvertreter war der Reitergeneral (Dippach). Das 
neben unterftügte ihn der jährlich erneuerte Bundesrath (Bovin), in 
welchem, fcheint es, Abgeordnete der erften zehn achäifchen Stäbte unter 
dem Namen der Demiurgen (Volksraͤthe) regelmäßig Play 
hatten. Die Zahl ber übrigen Rathsglieder ift unbelanntz fie wechfelte 
wahrfcheintich nach den Zeiten und Umftänden. Der Bundess oder _ 
Landrath bereitete Alles vor, was an die Landsgemeinde kommen 
follte, und hielt deshalb auch eigene Verfammlungen, deren Präfident ber 
Stroteg war. Diefer bekam eine zweckmaͤßige und dennoch gefahrlofe 
Macht, feitbem man fünf und zwanzig Jahre nad) der Aufrichtung des 
Bundes (255 v. C.) die Doppelte Strategie abgefhafft hatte. Denn 
fortan Eonnten ſich große Perſoͤnlichkeiten entwickeln und bei ber vorbes 
baltenen Wählbarkeit des abgetretenen Bundespräfidenten gemeinnügige 
Plane ausführen. Dafür zeugen Aratus, Dhilopömen, Lykor⸗ 
tas, Polybius, in den Zagen des Verfalls Reuchter militaͤriſch⸗ſtaats⸗ 
miännifcher Zugenden. — Die Ausfertigung der Urkunden endlich bes 
forgte dee Staatsfchreiber (Grammateus), welcher wie alle Bundes⸗ 
beamte jährlich wechſelte. — Go gegliedert hielt die achaͤiſche Eidges 
noffenfchaft den Todestag Griechenlands über hundert Sabre hin und 
beftand ihn, als Zwietracht, Exrfchlaffung dem erobernden Römerthum 
entjcheidende Weberlegenheit gebracht hatten, mit ehrenhaftem, wenn auch 
unglüdlichem Heldenmuth (146 v. C.). 

In Italien, dem zweiten Hauptfis des Alterthbums, fanden 
bie Confoͤderationsideen verbältnißmäßig nur einen befchränkten 
Spielraum. Denn bie voreömifche Bevölkerung hatte für Bundes⸗ 
gedanken feine hinlänglihe und fruchtbare Empfänglichkeit, der roͤmi⸗ 
ſche Staatsgang aber fuchte, fobald er die Ännenverhältniffe 
georbnnet und das Bewußtſein der Stärke gewonnen hatte, mehr durch 


*) Ebenfo durfte nach der fchweizerifchen Mediationsacte (1803) bie 
Landgemeinde nur Begenflände erörtern, welche der Landrath vorgelegt 


1068 Sonföberation. 


leitende Concentration benn freie Bunbesgenoffenfhaft nad 
außen. bin zu wirken. Indeß fehlen auch für Italiker und Römer 
föderaliftifche Beſtrebungen keineswegs; man vermißt jeboch bei ihnen 
ben flufenmäßigen und organifchen Fortfchritt, welchen die heileniſchen 
wenn aud mangelhaften Verhältniffe zeigen. igentlihe Landfries 
dens⸗ und Tempels (Qultur) bündniffe treten als Anknuͤpfungs⸗ 
punkte der politiſchen Einigung nirgends in fcharfen Umriffen hervor, 
obfchon Religion und Eultus ihre ruͤckwirkende Kraft auf völkerrechtliche 
Angelegenheiten audy auf ber verhängnißvollen Halbinfel vielfach offenba» 
ren. Die Ältefte, dem vorrömifchen Stalien flellenweife eigenthuͤm⸗ 
liche Bunbesmtwidtung ift die cheofratifchsföderatiftifche Ges - 
ftaltung der Tusker, befonders im mittlern Gebiet (Centralhetrurien, 
Zoscana). Zwölf, für ihre Innenverhäftniffe felbfthertliche, vom Pries 
fleradel (Lucumonen) regierte Stadtgemeinden (Kantone) verfnüpfte 
bei gemeinfamen Unternehmungen und Gefahren das lockere Band der 
Tagefahrt. Diefe wählte für die Dauer des Feldzugs ben Oberkoͤnig, 
welchen zwölf Lietoren, aͤußerllch Mepräfentanten der Städte und 
andere Ehren auszeichneten. War dns Werk beendigt, fo trat das 
einftweilige Bundesoberhaupt wieder ab. Später, als das priefterfärft- 
liche Princip dem weltlichsariftofratifchen wich und bie zwoͤlf Fuͤrſtenthuͤ⸗ 
mer Etruriens in ebenfo viele ariſtokratiſche Freiſtaaten ummanbelte, 
ging die buͤndiſche Vorſteherſchaft jährli auf ben aus der hohen Adel 
ſchaft ernannten Dberbeamten (Lars d. h. Here) über. Eine freie 
Bürgerfchaft fehlte; die Volksmaſſe diente als Client (Schugbefohlner) 
ober auch als Leibeigener dem Herrenftand ; der Boden gehörte diefem 
und den Tempeln; ein etwas lebendiger Umlauf ber materiellen und pos 
litifhen Güter wurde unmoͤglich; eine allmälige Faͤulniß beſchlich das 
fonft tunftfertige Tuskerweſen und führte e8 den Römern entgegen. — 
Lofe, durch Landsgemeindben und für die Dauer der Gefahr er⸗ 
nannte Feldhauptleute (Embraturs, imperatores) zufammengehaltene 
Einigung verknüpfte das tapfere, freibeuterifche, am Liebften dem Schwerte 
recht vertrauende Berg⸗ und Hirtenvol® der fabellifihen Samniter. 
Es haßte die Städte, wohnte in Meierhoͤfen, Dörfern, offenen Sieden 
und folgte im Frieden wie im Kriege willig dem Befehl patriarchalifch 
geehrter Aelteften ober Samilienhduptlinge, um melde ſich 
Schaaren abhängiger Schugbefohlner (Elienten) verfammelten. Das 
Stamm : und Sippfchaftsleben gli den Glanfchaften der galifchen 
Bergſchotten und konnte fchon wegen diefer einmwärts gefehrten, wenn 
auch hier ftarfen (intenfiven) Befchränttheit Reine frifche, nach außen ges 
richtete Conföderationswurzel hervortreiben. Das GSamnitervolf 
ftarb an der ſtarr behaupteten Einfalt feiner ſtammlichen Verhättniffe. — 
Für das Städtes und Bürgerthum bradıte dagegen Latium lange 
vor Roms Gründung freien und ziemlich tief eingreifenden Spielraum. 
In jener fruchtbaren, die Vortheile der See und des Aderlandes verbin: 
denden Ebene blühten angeblid dreißig Stadtgemeinden auf und 
flifteten in die Ehre des Latinifchen, durch gemeinfame Opfer gefeier⸗ 


A 


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Gonföberation. 109 


ten Jupiter den gleichnamigen Bunt, welcher von den Mitgliebern 
gleiche Rechte und Pflichten forderte, auf dem Albanerberge, 

an der ferentinifhen Quelle die Abgeorbnetm zur gemeine 
ſchaftüchen Rathſchlagung und Beſchlußnahme über Krieg und Frieden, 
Banduiſſe und Verträge einlub, jeder einzelnen, fonft ſelbſtherrlichen 
—— Gegenſeitigkeit der Ehen (ius connubii), Bürgerrechte 
und Erwerbsbefugniß (ius commercii) goͤnnte. Ya die Staͤdte, 
durch Rath (senatus) und Buͤrgerverſammlung (concilium) re⸗ 
giert, durften für eigene Rechnung Krieg erklären und Frieden abfchlies 
Sen. Anfangs galt Erbfürftenthum, feit ber Mitte bes achten Jahr⸗ 
hunderte etwa Republik. Fortan vertraten jährlich erwählte, von dem 
Senat aͤngſtlich überwachte Dictatoren und Prätoren die Stelle 
bes Koͤnigs Die Vorortfhaft des Bundestages und felbherrliche 
Leitung fand Menfchenalter lang bei der mächtigen Gemeinde Alba 
Longa, nad dem Verfall und Untergang berfelben burd; Rom (668 
v. E.) bei zwei von einem Zehnerausfhuß unterflügten, jährlich 
wechſelnden Prätoren. Das Völkerrecht gegenüber dem Aus⸗ 
Lande handhabten bie geweiheten, unverlegbaren Fetialen; fie kuͤndig⸗ 
ten, wenn Genugthuung verweigert wurde, ben Frieden auf und bie 
Fehde an, fie heiligtem Sühnverträge und Freundfhaftsbünd» 
niffe. Schutzbefohlene, börige Leute (Slienten) fehlten; ber Bo⸗ 
ben war feop der großen Zempels und Staatsgüter (ager publicas) 
ziemlich eegelmaͤßig vertheiit. Häufig zinfeten jedoch kleinere Orte als 
» UnterthHanen ben größeren Stabtgemeinden. Mad langem fe 
gensreichen Wirken unterlag die Latinifche Einigung, welche in ih⸗ 
ver Bluͤthezeit den repräfentativsfödberaliftifhen Grundzug 
trägt, den blutsverwandten, centralifirenden Römern (339-336 v. C.). 
Diefe haben in der allmälig entflandenen, feit dem Fall ber Samniter 
und Tusker (290 v. C.) abgefchloffenen italifhen Bundesger 
noffenfhaft mehr das Bild eines vom bleibenden Vorort und 
Heren geleiteten Wölkervereins denn politifhen Staatens 
bundes verwirkticht. Alle Lebensadern trafen naͤmlich in der Hoheit 
des vollen römifhen Bürgerrechts ((optimum ius civitatis) zufants 
men und duldeten eben. deshalb Feine freie Bewegung für die mannichfals 
tig abgefluften Glieder der Genoſſenſchaft. Die Stadt Rom und bas 
ftaderömifche Bürgerrecht entfchieden; von der die Hoheit darftellens 
den römifhen Bürgergemeindbe und den Obrigkeiten derſelben, 
namentlih dem Senat und Gonfulat, gingen bie das gefammte 
Itallen bewegenden Kräfte (Impulſe) aus. In größerer oder geringeren 
Abhängigkeit folgten die Bundbesgenoffen (zoeii) dem Anftoß des 
Mittelpunttes, etwa fo geordnet, daß zunächft dem römifhen Vollb uͤr⸗ 
ger (civis) die Freiſtaͤdte (Municipien) mit eigenem Gemeinderath 
und Cultus, bisweilen auch römifhem Stimmrecht (ius snffragii) 
ohne Befugniß der Niederlaffung (ius domicilii) erfcheinen, darnach 
die Bundesgenoffen Iatinifchen Rechts (socii iuris Latini), melche bei 
eigener Berfaffung in Rom anmefend mitflimmen durften, folgen, 


20 Gonföberation. 


ihnen ſich die Bundesgenoſſen italifchen Rechts (socii inris Italici) 
in der Art anſchließen, daß fie mit Rom im Ehe- und Erwerb⸗ 
verband (ins connubii et commercii) ftehen, darnach die zahlreichen, 
meiſtens aus militärifhen Gruͤnden geflifteten, von der Mutterfladt 
umbebingt abhängigen Eolonien aufteeten, endlich die eigentlichen, ‚non 
tömifhen Voͤgten (Präferten regierten Unterthanen (dediticii) 
ben legten Ring der bundesgenoͤſſiſchen Gliederung‘ bilden. Dieſes 
gefammte eigenthümliche Staatsverhaͤltniß behauptete fich, fo lange 
Rom Maͤßigung, Sroßmuth und Edelfinn entwidelte. Als aber diefe 
Zugenden mit der auf Koften Karthagos, Sriehenlande, Afiens, 
Spaniens und Galliens errungenen Weltherrfchaft gemach vers 
ſchwanden, Eigenfucht, Ehrgeiz und Ueppigkeit ſchneidender gegenüber ben 
abhängigen oder unterjochten Völkern des Ins und Auslandes hervor⸗ 
teaten: da ſchlug auch mit dem Verfall der conftitutionellen Grundge⸗ 
febe das Bundeswefen um. Viele und zwar nicht bie fchlechteften Ita⸗ 
liker,wie die Marfer, Peligner, Picenter, Samniter, ges 
dachten ihres frühen Glanzes, ihrer uralten Unabbängtafeit und 
forderten Aufnahme im das unbedingte Bürgerrecht. Armuth ber 
Maſſen, Parteiungen zwifhen Demokraten und Ariſtokraten 
traten gleihfam hervor, um bie ſchwebende Lebensfrage zu verwirren. 
Den Knoten mußte das Schwert zerhauen ; der folgenreiche, greuelvolle 
Bundesgenoffentrieg brah aus (90 — 88 v. G.), Vorbote der 
lauernden Bürgerfehden. Zwei Sonföderationsprincipien bes 
Tämpften einander; Rom, von ben Colonien und meiften Latinern 
unterftügt, ſtritt für die alte, vielfach gefuntene ftädtifhe Central» 
republik; auf Seiten ber Italiker fland der Gedanke eines foͤde⸗ 
raliſtiſch-italiſchen Freiflaate. Die Entwidlung deffelben bezeichs 
net gegenüber dem bisherigen Gemeinmwefen ber Halbinfel einen wahr⸗ 
haften Kortfchritt, fie ruhte auf dem Princip ber rvepräfentativen 
nationalen Befammtrepublit. Die Bundes: oder Eidgenoffen 
naͤmlich — ein feierliher Schwur hatte die Häuptlinge und Gehilfen ver« 
pflichtet — überteugen die verwaltende und gefeggebende Macht 
einem oberften Bundesrath oder Senat von 500 Sliedern, welche 
aus den verfchiedenen Staaten Nords, Suͤd⸗ und Mittelitaliens 
gemähle zu Corfinium (Italica) im Lande der Peligner den Gig 
der Regierung auffhlugen, mit bictatormäßiger Vollgewalt Krieges 
und Kriedensgefchäfte beforgten, jdhrlid aus ihrer Mitte zwei Ober» 
feldderen (embraturs, consules) und zwölf Unterführer (praetores) 
für die einzelnen Landfchaften erloren, den Bundesſchatz verwalteten, 
mit einem Wort, die hoͤchſte Militär: und Civilbeamtung barftelle 
tn. (&. Dıodor. Sicul. I, 37. fr. p. 186 ed. Bip. unb. fragm. 1. 
37 bei Majo Il. 112. Strab. I.; V. c, 4.) — Allein das großartige 
‘Unternehmen fcheiterte theils an dee vömifhen Gefchloffenheit, 
tbeils an der Diplomatik bes Gegners, weldyer den Bund der Ita: 
liker ducch einzelne Zugeftändniffe aufioderte und darnach im guͤn⸗ 
fligen Augenblid erdrüdte. Die trogigen Samniter wurden ale 


Gonföderation. 111 


WVolk beinahe ausgerottet; ıMilitärcolonien thaten bier wie ans 
derswo das Uebrige; die roͤmiſche Republik aber, unfähig, bie vers 
mehrte und zwieträchtige Bürgermaffe zu tragen, Pämpfte bald für ihr 
eigenes Daſein und ging zur anfangs befchränften, dann zügellofen 
Monarchie Über; das Alterthum endete, buch Knechtſchaft 
und Unfittlichleit dem Reinigungsfeuer des Germanen⸗ und 
Chriſtenthums entgegengeführt. 

In der feit dem Untergang Weftroms (476) gemach aufgehenden 
neuen Welt des Mittelalters treten bei vielem der griechiſch⸗ 
römifchen Ordnung Gemeinfamen für den Gang ber Conföderas 
tionsbegriffe mehrere unterfcheidende, eigenthbämliche Merkmale 
hervor. Erſtens verfchmilzt das religioͤſs⸗-kirchl iche Element inni⸗ 
ger mit dem ftaatlichen oder politifchen und zwar fo, daß anfangs 
eine gleichlaufende, autonome, darauf etwa feit dem Ende des zwölften 
Jahrhunderts eine überwiegende, prieftersfürftliche ober hierar⸗ 
ch iſche Macht erficebt und auch gewonnen, jedoch keineswegs behaup⸗ 
tet wird. In diefem zuerft friedlihen, dann feindfeligen Gegenfag bee 
fRaatlihsweltlihen, in den Fürften-und Völkern niebergelegten 
Srundkraft auf der efnen, des religioös⸗kirchlichen Principe auf 
der andern Seite liegt der rieſenſtarke Acchimebeshebel ungeheuer Bewe⸗ 
gungen, colofjaler Thaten bes Abend » und Morgenlandes. Wie nämlich 
in dem feit Kari dem Großen an die Deutſchen gefnüpften Reich 
(d. i. Stärke, Sefammtheit) und Kaiferchum die Vorſteher⸗ und 
Drotectorfhaft der hriftlihen WäIkerconföberation gegenüber bem 


Deidenthum und morgenländifhen Islam als Abwehr und Angriff, 


ſelbſt als höhere Ausgleihung des von Klerikern und Laien verübten 
Unrechts erfcheint: fo bezeichnet bie allgemeine chriſtliche Kirche, 
gemah am Papſte zu Rom bdargeftellt, den geifllichen Vorſte her 
und Protector bed chriſtlich-katholiſchen Glaubens und 
Zebrbegriffs, ſelbſt den Wächter und flrafenden Richter bes 
weltlichen Unrechts. In dem Laiferlichsweltlihen Kreiſe jügeln 
bertömmliche Rechte, Sreiheiten und Reichstage den Selbftwilien, 
in dem kirchlichen übernahmen Ähnliche Anftalten, vor Allem bie 
großen Rathsverſammlungen (Spnoden), das Xribunat mibder 
Mißbrauch. Diefer konnte in den einander befchränfenden, jedoch viel 


fach verlegenden Ringen bee weltlichsfaiferlihen und kirchlich⸗ 


päpftlihen (hierarchiſchen) Confoͤderation nicht fehlen. Beide 
Principien fchritten, als das Lehenweſen den Begriff des Achten 
Eigenthums zu verdrängen begonnen hatte, vielfach wider einander aus; 
die Kämpfe zwiſchen geiftlicher und weltlicher Macht begannen im 
geoßen Styl feit der Mitte des eilften Jahrhunderts und brachten bie 
außerordentlichſten Erfchütterungen hervor; bie dem Alterthbum in der 
Art unbekannte Verflechtung des Staats und der Religion war feit 


dem national⸗kirchlich en Conflict zwifhen Drient und Occident 


mittelft der Kreuzfahrten unabweisbar geworben. Bald traten auch 
während biefes gewaltigen Fluthens und Ebbens der moslemitifchen 


112 Gonföberation. 


und chriſtlichen Wölkermaflen innere Reaetionen (Begenwirkuns 
gen) hervor wiber die zwifligen Stammbalter und Protectoren der welts 
lichsfaiferlihen und geiftlichspäpftifchen Reichsherrſchaft. Pos 
litiſche und kirchliche Kegereien nady größerem Maßſtabe begannen; 
jene flämmten ſich in anwachſenden Gonföderationen ober Eidge 
noffenfhaften den Mißbraͤuchen und Pladereien der Lehen ariſt o⸗ 
Pratie entgegen, dieſe erftrebten Glaubensfreiheit gegenüber ben 
unbedingt bindenden Satzungen der vom Kalfer und Reich troß ber 
Zweiung gewöhnlich aut dem Buchſtaben bes Gelübbes thatfächlich 
unterflügten Hierarchie. Die Dinge geftalteten ſich fofort aͤußerſt 
ſchwierig und verwickelt; der Bruch zwifchen Staat und Kirche murbe 
vollſtaͤndig, als ihre. Vertreter je nach dem Gebot des Nugens mit 
einem natuͤrlichen Feind proviforiihe Bunbdesgenoffenfhaft abs 
fhloffen und dadurch bie Kolgerichtigfeit des bisherigen Benehmens zu 
Sunften der fleigenden revolutionären Bewegung aufgaben. So unters 
flügte 3 B. Dapft Alerander III. den Lombarbenbund gegen 
Kaiſer Friedrich I, und vergönnte der gleichnamige Enkel des Letztern 
der sationaliftifchfegerifch en Reaction wider Dogma und Staat er 
recht der Kirche im Ganzen freien Spieltaum. 

Für die Entwidelung bes mittelalterlihen Conföberationss 
wefens wirkte ferner eigenthämlich und entfcheidend der einge 
borne doppelte Trieb des alten Germanen, bier zum heimiſch⸗ 
haͤuslichen, bort zum abenteuerlichstriegerifchen Leben, ober 
die gleich ftarke Anziehungskraft der wehrs und lehenfreien 
Genoſſenſchaft. Zwei einander fremde und mit Mühe befreunbete Ur⸗ 
ftoffe (Elemente) herbergten gleihfam unter demfelbin Dach der Na: 
tion, wenn auch in verfchiedenen Zeiten und Lagen. Die Wehr oder 
Allodialfreiheit des Kreifaffenthums ruhte als angeflammter 
Rechts⸗ und Volksbegriff auf dem Befiß eines eigenthümlis 
hen, vererbbaren, fteuerlofen Hofes oder Grundftüds (Allods, 
d. h. Guts [Od] Alter), nebſt zugehöriger, Wald, Flüffe, Seen um: 
faffender Gemeindenugung (Almende), auf der Pfliht und Ehre, 
im allgemeinen, für Haus und Hof, Volt und Land entbotenen Heer⸗ 
bann ohne Sold zu dienen, auf dee Schöffenbarkeit oder ber 
Theilnahme an dem Öffentlih dur; den Grafen gehegten Ding 
(Gericht), endlich auf dem Befuch der hoheitlihen Volksverſamm⸗ 
lung (Landsgemeinde), welche über Krieg und Frieden, Bünbdniffe und 
Verträge entfchied und die Wahlen der anfangs nicht lebenslänglichen 
Dberbeamten vollzog. Diefe waren hauptfächlih dee Graf für Die 
Hegung der Rechtspflege, ber Herzog für den Oberbefehl bes 
Heerbanns; man nahm fe häufig aus alten berühmten Gefchled= 
tern, wie den Amalern und Balten bei Oſt⸗ und Weftgothen, 
den Asdingern bei den Vandalen, dachte jedoch dabei an Fein 
eigentlihes Erbfuͤr ſtenthum. Den Mleinften innigften Ring bildete 
das Haus, heilige Freiftätte für den ehrenmerthen Slüchtling und Wurzel 
der Feind: und Zreundfchaften, welche vom Vater, gebornen Rich 


2 


‚ Conföderation. 113 


ter für Rinder und Gefinde, auf ben Sohn übergingen; die Verpflich- 
tung zur Blutrache und Fehde, wenn der Beleidiger feinen gütlichen 
Losfauf duch Genugthuung (Sühne) antrug, war faft allgemein. 
Je hundert Haushaltungen bildeten eine Mannie oder Dunderts 
ſchaft (Hundrede), mehrere, Mannien die Mark, mehrere Markge: 
noffenfhaften den Gau, mehrere Gaue ben legten, großen Rıng, 
bie Nation, das Boll. Diefer einfache, in verfchiedene völkerfchafts 
liche Kreiſe zerfplitterte Kriedensftaat der germanifhen Wehrfreis 
heit fand einen gefährlichen, meiftens fiegreichen Nebenbuhler in der 
gleichlaufenden, fpäter befchleunigten Entwidelung des lehenherrli⸗ 
hen Kriegsftnates. Er entfprang aus dem abenteuerlich : militäri» 
fen Drang nach Heerfahrt, Beute, Waffenruhm und Dienjt um Land 
flatt de8 Soldes. Seine urfprüngliben, uralten Wurzeln lagen in 
den Waffengefolafhaften, welde junge, freiwillige Mitglieder 
(Gefellen, vasalli) um den ditern, Eundigen Bormann und Führer 
(Zürften) auf längere oder kürzere Friſt vereinigten und in mehreren 
Stufen der Eriegerifchen Unterordnung als eine corporationsmäßig geglie⸗ 
Derte Geſammtheit darſtellten. Denn Ehren, Streifen und Belohnun: 
gen wirkten für das Haupt, den Aelteſten (senior), Treue und 
GSehorfam für die Untergebenen oder Dienflleute, Dienft- 
mannen. Heerbann und Gefolge, oft unter ber Leitung deſſel⸗ 
ben lebenslänglichen Fürften oder Waffenktönigs, festen ſich gemach 
als Eroberer in den Landfchaften des zerrütteten Roͤmerreichs feft 
und übertrugen auf das neue Vaterland die Verhditniffe der Heimath. 
So traten denn dort wie hier Wehrfreie und feßhaft gewordene Ges 
folgfchaftsleute in machfende Spannung und ZFeindfchaft ein. 
Denn jene fiebelten auf eigenthuͤmlichen, diefe auf gelichenen, 
für unbedingte Heeresfolge vom Könige oder Fürften ausgetheilten 
Sreundflüden (Reben, fe-od, d. i. Lehengut, feudum). Bald vers 
zehrte die militärifch gegliederte und weit verzweigte Körperfchaft der 
obern und untern Lehenträger den Kern der Wehrfreien, deren 
viele, den Pladereien zu entyehen, ihre Höfe einem angefehenen welt: 
lichen oder geiftlihen Herrn als Lehen übergaben ; andere verarmten, 
fanten in Hörigkeit (halbe Freiheit), ja Leibeigenfhaft. Munde 
Bezirke und Voͤlkerſchaften, durch Gebirge, MNiederungen, Entlegenheit 
geſchirmt, behaupteten ſich zwar in der urfprünglichen Sau: und Wehr: 
freiheit, aber die großen Gebiete und Maſſen wichen dem Andrang 
der an Umfang und Mitteln überlegenen Lehenmacht. Legtere ergriff 
und durchdrang feit der zweiten Haͤlfte des neunten Jahrhunderts bei- 
nahe alle Lehensbezuͤge. Ihr buldigte die Wiffenfhaft, melde 
meiſtens in den Dienft des durch Geluͤbde gebundenen Klerus ırat, bie 
MWaffenehre, deren Bertreterin auf Koften des Heerbanns die neue, 
ritterfchaftliche Kriegerzunft wurde, die Religions: und Kits 
hengemeinfchaft, deren Centrum auf den Papft «ls Statthalter 
des ihn belehnenden Heilandes übergeht, die Erde, wilde bei den mei⸗ 
fien Völkern germanifch »romanifchen Stammes gemach den Begriff des 
Suppl. 3. Staatsler. II. 8 


214.  Gonföberation. 


eigenthämlichen Frei⸗ und Erbguts verllert. Allein gerabe biefer wit« 
geheure Umfchwung des gepanzerten und ſtreitbaren Lehenſtaats mit 
einen Großthaten und Verbrechen erzeugte allmälig einen zügelnben 
„Gegenſatzz; die Gonföderationen beginnen und trachten bald das 
materielle Eigentum, bald das geiftige But der büärgerlihen 
Freiheit und Sitte zu fchirmen wider den Ueberbrang dufßerer und 
innerer Feinde. Das Alles gefchicht namentlich auf der ausgebehnten 
und vielfac, ‚gegliederten Markung des Reichs deutſcher Nation. 
Den erſten Anftoß zu den Polizei⸗ oder Landfriedensbüunduiffen, 
welche perſoͤnliches und fahliches Eigenthum wider bie Rohheit 
des Saufl- und Fehderechts firmen, gab, wie bei den Griechen 
“ ber Tempeldienſt, die hriftsfacholifche Kirche. Alſo verordnete ber 
zuerft tm fennzöflichen Aquitanien, darnach unter Kalfer Konrad 
dem Salier in Burgund und mehreren deutſchen Gauen aufgerichtete 
© ottesfriede (treuga Domini, 1034 und 1038), ba von Mittwod) 
Abend bis Montag früh die Waffen ruhen, bie Webertreter aber in ben 
geiſtüchen Bann und des Meiches Acht fallen follten. Diefe 
ggen blieben jedoch meiftens fruchtlos; bie wilde Bemüthsart bes Beitalters 
,‚ mb bie tief eingewurzelte Rechtsgewohnheit, Unbilden perſoͤnlich 
an dem Beleidiger zu ſtrafen, hemmten den wirkſamen Bollzug bes. geiſt⸗ 
lichen Heilmittels. Daher kam bie Staategewalt durch den ſogeheißenen 
Landfrieden dem Gottesfrieden zu Hilfe. agte 
nämlich nicht wie dieſer bie Fehde für gewiffe Tage, fondern unter 
ſchied zwiſchen gerechter and umgerechter Eigenmacht, beftimmte ſchaͤrfer 
bie Säle und Bußen ber Friedbruͤchigen. Das erfte befannte Beifplel 
ber Art ſtellte Kaiſer Sriedrih Barbaroffa in dem uNürnberg 
ausgefertigten Frie dbriefe (30. Dec. 1188) auf. „Wer, lautete ex 
neben Anderm, „in eigener Fehde auf Raub und Brand ergriffen wich, 
der foll, er fei Freier oder Dienfimann, in bed Reiches Acht und den 
Bann der Kirche kommen. So Jemand Weinreben oder Obſtbaͤume 
aushaut, Fällt er in die gleiche Strafe mit dem Mordbrenner. Wer 
den Anbern rechtmäßig befehdet, der fol ihm zum wenigſten drei Tage 
zuvor abfagen durch einen Boten. — Kein Here fol für Brand und 
andere Schädigung, welche die Knechte auf der Meife oder zu Hauſe 
ohne Geheis ausüben, haften, er fchhge oder haufe denn die Thäter.” 
— (©. Pertz men. h. g. IV. 183 und Gemeiner, Gefchichte des 
Herzogthums Baien. S. 455.) Aehnliche Landfrieden, von fpds 
tern Königen und Kaifern oft verfündet, trugen nur ‘eine halbe Frucht; 
benn theils galten fie als eigentlihe Waffenftiliftände nur für 
etliche Jahre, theils fehlte ihnen eine hinlaͤnglich ſtarke Aufſichts⸗ 
und Vollziehungsbehörde. Da trat bei wachfender Zügellofigkeit, 
weiche die Abnahme und ber Fall des hohenftaufifchen Haufes bes 
reiteten, der altgermanifche Einigungss oder Affoctationstrieb 
heilend hinzu. Das Bürgerthbum, am fchwerften bedroht, gab ben 
unſichern Landfriedensorbnungen einen neum Anfloß und ſchloß meiſtens 
allein, bisweilen dem Adel und der Kürftenfchaft vereinigt, Bünbe 


y 


Gonföderation. 115 


niffe ab. Diefe, anfangs mehr polizeilicher denn politifcher 
Art, festem Schiedsrichter ober Austräge nieder, deren Sprüche 
für alle Deitglieder der Einigung verbindliche Kraft hatten, und Bun⸗ 
besbauptleute, um die gefältten Urtheile zu vollziehen und ben 
Widerfpänftigen zu demütbigen. So entwidelten fi im Norden bie 
Anfänge der beutfhen Hanſa (feit 1241), im Suͤdweſten ber 
rheiniſche Städtebund (f. 1254). Diefer, anfangs zmwifchen den 
Bürgern von Mainz, Worms und Oppenheim, durnadı fechezig 
Städten von Bafel bis gen Weftphalen, von Zurich bis Bres 
men, mehreren Erzbifchöfen, Biſchoͤfen, Zürften und Grafen abge: 
fhlofien und von König Wilhelm in des Reiche Namen anerkannt 
(1255), befam bald (1254) eine angemeffene Berfaffung As 
Vororte oder Kreisftädte ndamlih folten Mainz mit den un» 
tern, Worms mit den obern Bundes- und Eidgenoffen 
(coniurati) in allen gemeinen Sachen ben Briefwechſel führen, ihnen 
die Befchwerden, Mahnungen und anderweitigen Angelegenheiten Fund 
geben, jährlid viermal die mit Vollmachten (Snftructionen) verfe: 
benen Boten der Städte und Herren, je vier von dem einzelnen Bun: 
desgliede, zur Tagefahrt berufen, die Segenftände der Rathfchlugung 
vorlegen und die Befchlüffe vollziehen. Alle, welche den Frieden be 
ſchworen hätten, follten tiachten, für den Aufbrudy ehrbar und ehren- 
voll bewaffnet zu fein, die Städte von der Mofel an bis Bafel hundert, 
die untern aber fünfhundert Kriegsfchiffe bereit halten und mit Schügen 
verfehen, babei auc nad) Kräften für die Rüftung der Neiterei und bes 
Fußvolks Sorge tragen. — In diefem ftädtifhen, urfprünglic für 
zehn Sahre berechneten Landfriedensbündniffe, welches, wie die 
Urkunde fogt, Reihen und Armen, Weltgeiftlihen und Mon: 
hen, Laien und Juden nüglid fein follte (Pertz, mon. h. g. IV. 1. 
p. 869), war ein fruchtbarer, folgenreiher Grundfag niedergelegt, die 
Kebre von der bewaffneten Einigung (Eidgenofienfchaft) wider 
Unrecht und Gewaltthat. Auch wirkte das gegebene Beifpiel des 
mehr durch Abwehr denn Angriff ausgezeichneten, nach glüdlicher That⸗ 
kraft durch Zwietracht der geiltlichen und meltlichen,, adeligen und buͤr⸗ 
gerlihen Stoffe gelähmtn Städtebundes auf die Zukunft zurüd. 
Denn theild griff jener merfwürdige Verſuch in die Geſchicke der fpätern 
politifhen Bündniffe ein, theils diente er als Vorbild dem fogeheiße- 
nen ewigen KEandfrieden, welchen an der Scheide bes fünfzehnten 
Jahrhunderts Kaifer Marimilian und die Meichsftinde in Worme 
befchiworen (1495) und zu handhaben trachteten. 

Die rein politifchen oder ftaatsbürgerlichen Vereine zeigen 
im Hintergrund des beginnenden Mittelalters die ſaͤchſiſche Bun- 
desrepublik, welche den wefentlichen Kern der altgermanifchen Gau⸗ 
verfaffung wider den erflarkenden Andrang des fränkifchen Leben ſta a: 
tes zwifhen dem Niederrhein im Weiten, dir Eider und Trave im 
Norden, der Unſtrut gen Süden zu behaupten trachtete. Das ges 
fammte Land zerfiel in drei Kreife oder Gaue, Weſtphalen 

8 


16 3 Gonföberation. 


(Abmdland) zwifchen ber Ems, dem Gebiet der Frieſen und Franken, 
Dftphaten (Morgenland) gen Aufgang bis an die Elbe und über dies 
feibe hinaus, und Engern In der Mitte längs der Wefer und an der 
Alter. Was jenfeits der Elbe lag, hieß bald Oſt phalen, bald Nord⸗ 
albingien, Land der Nordleute, gleihfam vorgefchobene Poften der 
weitlihen Nationalmaffe. Segliher Gau hatte feine felbftherrliche 
Gemeinde, welhe den Grafen oder Vorſteher des Schoͤffenge⸗ 
richte nebft dem Bauernmeifter (burmeister, villiens) oder untern 
Richter (tungerefa bei den Angelfachfen) für den Frieden, ben Ders 
309 für den Krieg ermählte, feine Edelinger oder Adeligen, jedoch 
ohne Vorrechte, feine Krilinger oder Freifaffen und Lazzen 
(lazzi, lidi), welche perfönlicy frei als Pächter einen Theil des adeligen 
und freifaffifchen Guts befteliten und im Uebrigen alle ftaatsbürgerlichen 
Mechte befaßen. Diefe drei Gaue bildeten aber zugleih den Stoff einer 
hoͤhern Gemeinheit,, dee Bundesrepublit oder fähfifhen Eidges 
noffenfhaft. Alljaͤhrlich nämlich erfchienen je zwölf Boten der Weſt⸗, 
DOftphalen und Engern, aus den drei Ständen ermählt, im Gan⸗ 
zen alfo ſechs und dreißig, zu Marklo an der Wefer bewaffnet und 
unter freiem Himmel, vatbfchlagten und entfchieden nad beendigtem 
Dpfer Über Krieg und Frieden, Bündniffe und Verträge, innere Streis 
tigkeiten, Anträge ausländifcher Boten, handelten mit einem Wort ale 
Gevollmädtigte der Geſammtheit. (©. Vita Lebuini bei Pertz, 
m. g. h. II. p. 362.) Drohte ein allgemeiner Krieg, fo ernannten bie 
drei für denfelben gewählten Gauherzöge durch das Loos aus ihrer 
Mitte den Oberfeldherrn oder, wie man ihn heißen koͤnnte, Nas 
tionalherzog, (Wittechind, Annal. I. 634. Meibom.) 

Zwar verlor durch Karl den Großen diefe einfache, mohlgegliederte 
Bundesrepublik die dußere Unabhängigkeit, aber noch Jahre 
hunderte lang behaupteten fich einzelne Nechte und Grundfäge wider dem 
Andrang der Lehengewalt. — Aehnliche Verfaſſung entwidelten 
zwifchen der MWefer und Süderfee die Kriefen; ihre Wehrbund, feit 
dem eilften Jahrhundert aufgerichtet und in fieben Seelande getheilt, übte 
unter der hohen Eiche bei Aurich, beim Upstalboom (Gerichtebaum), 
durch Abgeordnete geſetzgebende Macht aus, entfchied über Krieg 
und Frieden, fchmwierige MNechtsfälle, innere Steitigkeiten. Zwietracht 
und klug eingreifende Adelsherrfchaft zerftörten im vierzehnten Sahrhundert 
den Bund der freien, edlen Ftiefen, deren ſtammverwandte Voͤlker⸗ 
[haft im Gau der Stedinger, ein Bauernfreiftaat, dem Weber: 
gewicht geiftlicher und weltlicher Herren bei Altenefc in vernichtender 
Feldſchlacht erliegen mußte (1234). Dagegen rettete im weftlihen 
Winkel zwifchen der Elbe und Eider ſeßhaft die Tahfifche Voͤlkerſchaft 
der Dithmarfchen ihre uralte Gaufreiheit bis zur Mitte des 
ſechszehnten Jahrhunderts (1559). Das ganze, zum Theil der See 
abgewonnene Ländchen zerfiel in fünf Döffte (Bezirke) und zwanzig 
Kirchfpiele, das Volk in eng verbundene Geſchlechter und Klüfte 
«Sumilien), welche gemeinfchaftlich zum Kampf auszogen und bie Pflicht 


Gonföderation. 117 


ber Blutrache anerlannten. Das größere Kirchfpiel hatte vier, das 
Heinere zwei jährlich vom Volk gewählte Vorſteher oder Schlie er 
(Sluter), welche dort mit vierundzmanzig, bier mit ſechszehn Ges 
ſchwornen zu Recht faßen. Don ihnen durfte ſich der Beklagte an 
die Kichfpielgemeinde, von diefer an die Landsälteften, fpdter 
die 48. Regenten, zulest an die große Landsgemeinde berufen. 
“ Mifftel dem Betheiligten der legte Gang zur Eaiferlihen Kammer, fo 
konnte er das Land meiden, feinem Widerfacher Fehde anfagen und mit 
getsehrter Fauſt Genugthuung fuchen. (Neocorus Chronik des Landes 
Dithmarfchen. 1. 365.) Ueber Gefengebung, Krieg, Frieden, 
Berträge, Wahl der Obrigkeiten entfchieb bie früher bei Mel⸗ 
dorp, fpdter auf dem Marktplag zu Heide abgehaltene Landesge⸗ 
meinde. Ihr durften alle freie Kandleute beimohnen. Etwa feit der 
Dritte des Fünfzehnten Jahrhunderts vertraten des Landes Stelle ale 
gevollmaͤchtigte Boten fünf Voͤgte, die 48, etwa 60 Schließer und 
3 — 400 Geſchworne; was fi) fonft von Bauern einfand, fah und 
hörte zu, gab Zeichen des Beifall und Tadels, nahm auch wohl burdy 
einzelne Stimmführer Theil an der Verhandlung. Die regierende und 
vermwaltende Macht mar anfangs bei wechſelnden Landesälteften 
(Ratgebern) aus den Kirchſpielen und Landesgefchlechtern, darnach bei 
dem lebenslänglihen Ausfchuß der 48er (Megenten), welchen ein 
Ganzler oder Landfchreiber zur Seite fland. (S. Dahlmann 
zum Neocorus. I. 597 ff.) 

Eine ähnliche, von Häuptlingsariftoßratie gezügelte, obfchon 
vielfach, anders ausgeprägte Bauernrepublik entwidelte fi im hoch⸗ 
nordifchen, von ftandinavifchen Norwegern allmälig befesten (f. 864) 
Island. Die zerftreut gelegenen Höfe und Dörfer wurden allmdlig 
(f- 928) zu einem Gemeinwefen verbunden und bie bisherigen Ge: 
rihts= und Tempelherren (Boden) oder Häuptlinge der. ge 
trennten Genoſſenſchaften mit geminderten Redten in den Staates 
verband aufgenommen. Das ganze Eiland zerfiel in vier Gaue, der 
Sau in drei Bezirke (Viertel, Harben), der Bezirk in neun Zehn⸗ 
ten (Hrepar), jene mit erblichen Gerichtshe:ren und Vorftehern (Goben), 
Diefe mit fünf gewählten Aelteften. So bildeten fid vier Gaue und 
zwölf Bezirksgerichte aus, welchen bei fleigender Proceßſucht das Fünfte 
gericht, 36 Glieder ftart, als Appellationshof und felbftfländige 
Behörde zugefügt wurde (um 1000). Die regierende, oft au in 
die Gefesgebung und das Richteramt eingreifende Gemalt wurde in 
der Ldaretta (Gefegeshof, Landrath) niedergelegt. _ Sie beftand aus 
144 theils ordentlichen, gebornen, theils jährlich geroählten Mitgliedern *) ; 
48 gehörten ben erblichen Gerichtsherren oder Boden an, die übrigen 
der Sefammtbürgerfhaft. Den Vorſtand (die Praäfidentfchaft) 


*) &. Dahlmann, Gefhichte Dänemarks Th. 2. 189 ff. Souverän 
mar Übrigens die lögretta nicht, wie hier berichtet wird; das Geſammtvolk 
übte mit dem Ausfchuß die hobeitliche Gewalt aus. 


—X Coaſtderuivc·· 


befergte der anfange fü brei Jehee, Dtm Hg St nat Rage 
niaun öber Befesrkann. Jährlich eiumal, im Fruhling, verfammelss 

fih am Ger Thingvalla (Gerichtsfelb) die Sanbsgemeinde (Atthiag)s' 
fiK entfchleb unter ber Leitung ber Lögretta und ‚des Lagmanns über 
Steg und Frieden, gemelnheitlihe Drbnungen, Büntniffe, Berteige 


furcht vor bem Alter und der Erfahtung binberte Dißbräuche bes Mollte | 
tages; er entwickeite ſich Menfchenalter lang mit Ruhe und Drbnung 
t#öß’Heftiger Leidenfchaften.- Darum —* bluͤhte Island SW 
uf’ —* des dretzehnten Jahrhunberts (1262) im Freiheit, Kuntt/ 
Wiffſenſ chaft und Handelsverkehr auf. 

Fuͤr bie — ber ſtaͤdtiſchen Eidgenofſenſchaften, welche Site 
her hinter den Vereitien freier Landfaffen zirüdhlieben, gab Dbers 
italien den entſcheidenden Anſtoß. Der Lombardenbund (sodetas 
Lotkbardorum) namlich wurde bei wachſendem Zermürfniß mit der 
beutfhen Rec utib dem Kalfer Friedrich J. zunaͤchſt für zwanzig 
Sabre in’ dem Ktofler Puntibo zwiſchen Mailand und Bergunio auf⸗ 

gerichtet umnd befchworen (7. April 1167). Die Boten jener zwei Bes 
—** Cremonias, Breſscias, Veronas, Mantuas, Ferrä⸗ 
ras, LTrevigis, Bicenzas, Pabnas, Marmas, Piacene 
zas, Mobenas, Bolognas und Benedigs ‚gelobten, einander m 
Sat und Blut zu fchiemen wider jeglichen Menſchen, weldyer fie durch 
Krieg und auf andere Weiſe heimfuchen, ober eines der feit Heinrich’ 
IV. Zeit wohl erworbenen Richte ſchmaͤlern wolle, ohne genieinfamen 
Beifall weder Frieden noch Waffenſtillſtand abzufchließen, jedwedem Bun⸗ 
desgenoſſen etwaigen Schaden zu erſetzen und dieſen Eid mit Ausnahme 
der Pfaffen, Tauben und Stummen von allen Bürgern zwiſchen 14 ' 
und 60 Fahren zu fordern *. Die lombardifche Einigung, durch 
den Conftanzer Frieden (1183) anerkannt, jedoch der Pflichten gegen 
Kalfer und Reich ale eine etwa volllommene, nationale Souve- 
ränetät nicht entbunden, trug den ſcharf ausgeprägten Charakter eines 
föderativen Defenſivbundes, welcher eben deshalb Parteiungen, 
örtlichen Sonbergelüften nicht leicht vorbeugen konnte. Die meiftene 
jährlih aus den ftädtifchen Confuln oder Rathsmeiſtern gemählte 
Dherbehörde der Rectoren (praesides, rectores societatis Lombardo- 
rum, rettori degla Lombarda lega) 'Teitete bie allgemeinen Angelegens 
heiten, berief ohne beftimmten Wohnfig und Gehalt die gevollmäcdhtigten 
Gonfuln der Städte zu den Parlamenten oder Tagefahrten, 
legte die Gegenftände der Berathung ver, beauffichtigte die Debatte und 
fammelte die Stimmen, deren Mehrheit gefeggebende Kraft hatte. Kla⸗ 
gen wider einzelne Bundesglieder mußte bad Parlament, der 
hoͤchſte Gerichtshof, innerhalb ſechszig Tage entſcheiden; jcde Ges 
ſetzesurkunde durch das Bundesfiegel, einen Adler mit ausgefpreizten 
Flügeln, und die Unterfchriften der anweſenden Gefandten bie canzleis 


*) S. Urkunde bei Muratori, antignit, IV. 261. 


Gonföderation. 119 


mäßige Weihe (Sanction) befommen, jeder Rector acht Tage vor 
dem Austritt den Tuͤchtigſten unter feinen Freunden oder Bekannten 
zum Nachfolger vorfhlagen. Die Zahl der Ausfchußgliedber fland 
nicht feſt; fie wechſelte nad) den Verhaͤltniſſen. Den Vollzug ber 
Parlamentsbeſchluͤſſe beforgten für den Bund die Rectoren, 
für da6 befondere Gemeinwefen die Confuln. Bunbesfhas, 
etwa durch bleibende Beiträge gefammelt, bündifcher Oberbefehtl, obs 
glei Mailand eine Art militärifher Vorortſchaft bdarftellte, und 
Ahnlihe organiſſche Eintidhtungen fehlten. Deshalb fanden große 
Derfönlichkeiten felten freien Spielraum; Alles geſchah langfam, 
vereinzelt, nichtsdeſtoweniger meiſtens gluͤcklich, ſo lange bie Gefahr, 
die Begeifterung für Vaterland und Unabhängigkeit ben zerfplitterns 
den Eigennug der Parteien und Drtsbürgerfchaften zuräddrängs 
ten. Allein trog der Mängel wirkte der Lombardenbund ald welt- 
gefhichtliches Ereigniß auf Gegenwart und Zukunft zurüd; denn er 
ſchob dem monarchiſch⸗ariſtokratiſchen Lehenſtaat ben Riegel der bürs 
gerlih=-republitanifchen Gegenmadht (Reaction) vor und zeigte 
thatfächlih die Stärke der Einigung (Concordia), namentlid für 
die nach dem Fall der Hohenftaufen ſchwer bedrohten Deutfchen. 
Diefe, damals ein ftreitbares, ungefüges Volk, bier für adelig⸗fuͤrſt⸗ 
liches, dort buͤrgerlich⸗freiſtaͤndiſches Wefen in corporatis» 
ver Richtung empfänglich, verfolgten den von Lombardien gezeigten 
Weg; es entwidelten fi, zumal noch manche lebendige Trümmer der 
altgermanifchen Gaufreiheit beftanden, im Nordoften und Suͤdweſten 
politifhe Städtebündniffe, dort als Hanfe, hier als Derein ber 
rheiniſch⸗ſchwaͤbiſchen Reichsgemeinden. Dazu gaben die voran 
gegangenen, fortfchreitenden Landfriedenseinigungen den dufßern 
Anſtoß, Rechts⸗ und Freiheitsgefühl den innern, nährenden 
Kern, Gewinn- und Hanbelstuft ben zäben, nachhaltigen Stoff 
anziehender und abfloßender Natur. — Entfproffen ber dreifachen Wur⸗ 
zel des Paufmännifhen Privatvereins (Hanfe == Brübderfchaft *), 
Hanbelsgilde), des Landfriedensbündniffes, zunaͤchſt zwiſchen Ham⸗ 
burg und Lübed (1241), endlich des flaatsbürgerlichen Corpo⸗ 
rationstriebes, hat ber beutfche Städtebund oder die große Hanſe 
etwa innerhalb eines Jahrhunderts (1367 Coͤlner Conföderationsacte) 
feine Grundgeſetze abgefchloffen, gleichzeitig erobernd beſonders wi⸗ 
dee Dänemark und Skandinavien gemirkt, den Weltverkehr 
gen Dften über Novgorod mit Lievland, Curland und Rußland, 
an MWeften mit Deutfhland, Flandern, Großbritannien 
geleitet, in einer langen Reihe von Kämpfen beinahe völlige, Unabhaͤn⸗ 
gigfeit von Kürften» und MReichsgewalt errungen, 60 bis 64 Gemein» 
den, meiftens in der altfähfifhen und fränfifhen Markung, 
allmdlig zum Anfchluß bewogen und Flotten bemannt, melde an Zahl 

*) Hanfa urfprünglich = Zollabgabe, Gelcitögeld (f. Lübecker Urkunden 
buch Rr. 7 und 123 dann = Banbeldgefellfchaft, Bruͤderſchaft. Nr. 291. 





S 


Li, I Gonföderation. 


d 


⸗ 


der Schiffe, Muth und Geſchicklichkeit der Mannſchaft im Norden Ih 
res Gleichen nicht fanden. Auch wirkten felten Freihe itsllebe, Ges 
winnfucht und Ehrgeiz, die flärkiten Hebel fiaatlicher Hand⸗ 
lungen, fo verbunden für ein Biel, Unabhängigkeit nad innen, 
Herrſchaft nah außen. Aber letztere, wiewohl häufig auf Koften 
dee Sefammtheit, war keine. rein militärifche, fondern mercantil⸗ 
coloniale, vielfach vergleichbar der attifchen in den Tagen des Pes 
rikles. Denn der Spruch deſſelben: „wunderſtark ift die See‘*) 
gilt wie für das heutige England, fo für die mittelalterlihe Hanfe. 
Der belebende Hauch diefes gewaltigen Umfchwunges liegt hauptfächlidy 


. in dem freien, damals “reich entwidelten Senoffenfhaftsprincip, 
welches die deutſche Reichsverfaſſung bervorgetrieben und fpäter 


durch Mißbrauch zerftört bat. — Die hoͤchſte, gefesgebende Madıt 
übte der alle drei Jahre um Pfingften in Luͤbeck verfammelte Bun⸗ 
des (DHanfes) tag.. Gebildet von den Abgeorbneten der Vollmacht 
(Inſteruction) ertheilenden Städte, ftellte er gemeinverbindliche Ordnungen 
auf, entfchied über Krieg, Frieden, Bündniffe und Verträge, unterfuchte 
und beurtheilte die Klagen wider Fremde und einzelne Glieder, beftinmte 
die Beiträge an Mannſchaft, Schiffen und Geld, bezeichnete überhaupt 
den focinlen Mittelpunkt des weite Raͤume umfpannenden Bundeskreiſes. 
Luͤbeck, Vorort, und die benachbarten Städte im Wendenlande 
(Stralfund, Greifswald, Wismar, Roftod) flellten den vollziehenden 
nud regierenden Ausfhuß oder Bundesrath bar, welcher bie 
meiften Zagfahrten und Unternehmungen betrieb, die laufenden Gefchäfte 
beforgte, den Briefwechfel führte, die Gegenflände der allgemeinen Rath: 
ſchlagung entwarf, die Befchlüffe vollſtreckte, bei außerordentlichen 
Gefahren als Dietator hunbelte, endlid den aus Bußen, Geldbeiträgen 
und Waarenabgaben (Pfundgeld) gebildeten Bundesſchatz vermaltete. 
As Zwangsmittel dienten nad) dem Grade der Schuld abgeftufte 
Strafen; leichtere Vergehen traf Geldbuße, fchwerere der große Bann 
oder Ausfchließung von den Rechten, Freiheiten und Handelsvortheilen 
der Senoffenfhaft;z Niemand durfte mit einem VBerhanfeten 
verkehren. Nicht leicht gefhah Wiederaufnahme; Schadenerfag, Bußen, 
Dpfer, Abbitte mußten der aufrichtigen Reue nachfolgen. Dagegen ents 
309 der kleine Bann nur die Stellvertretung am Hanfetage, nicht 
aber den Umgang mit Schwefterftädten. — Den verwidelten Ge: 
ſchaͤftsgang zu fördern, wurde die bündifche Marfung in drei Haupt: 
bezirke (Drittel) getrennt, den wendiſchen, weſtphaͤliſchen und 
füähfifhen fpäter (f. 1447) in neun Kreife (Quartiere). Die 
Leitung derfelben hatten als Kreisftädte Kübel, Hamburg, Magdeburg, 
Braunſchweig, Miünfter, Nymwegen, Deventer, W-fel und Paderborn. 
Sie hielten namentlid) Vorberathung für den allgemeinen Bundes: 
taz. Wie fhwach bei dem Allen die politifche, durd Orts: und 
Hundelsrüdfichten gehemmte, faſt unmöglidde Einheit (Unione- 


*) Thuc. I. 143. ‚„ueya yag zu rijs Holacong aparog.“ 


! 


_ . &onföberation. 121 


prindp) war, erhellt aus dem Grundgefes, laut welchem Niemand in 
zwei Städten zugleih Bürger fein durfte. Diefe von dem 
ſchroffen Sorporationggeifte des Mittelalterd hervorgerufene Aech⸗ 
tung der Mitbürgerfhaft oder Sympolitie und die allmälige 
Aufnahme der römifhen Rechtsgelehrten (f. dem 15. Sahrh.) haben 
befonders den freien Entwidelungsgang der Hanſe gelähmt. Eigen⸗ 
fucht, Rechthaberei, Zwietracht ſchlichen ſich ein und öffneten den mates 
riellen Önterefien die den Gemeinſinn ausfperrende Pforte. Auch 
verhadhläffigte man das Landvolk, mweldes auf dem ftädtifhen 
Gebiet fo gut wie auf dem fürftlih=sadeligen häufig hoͤrig und leib⸗ 
eigen blieb, und gewoͤhnte fi), unbetümmert um die Folgen, bei Lands 
‚und Seefehden an d.n Bebraudy fremder Soldknechte. 

Sn Sudweftdeutfhland ging aus dem rheinifhen Land: 
friedensbündniffe und dem verſtaͤrkte GCorporationstrieb 
- Der große Städtebund hervor. Er umfaßte anfangs (1376) vier 
zehn ſchwaͤbiſche, darnach 42 in Schwaben, am Ober: und 
Mittelrhein gelegene Reihegemeinden (f. 1381), unter wels 
hen Ulm, Gonftanz, Mainz, Straßburg, Regensburg, 
Nürnberg, Frankfurt, Speier, Worms dur Alter, Wohle 
land, Bildung und Thatkraft hervocragten. Die Einigung ging mehr 
auf Abwehr denn auf Angriff; man gelobte einander gegenfeitige 
Hilfe wider alle ungefeglihe Gewalt, Schlichtung der Streitigkeiten nad 
Minne und Recht und unverbrüdliches Sefthalten der Reihsunmite 
telbarkeit. Ulm beforgte die Geſchaͤfte des Vororts, welcher uͤbri⸗ 
gens keine hinlänglihe Amtemarjt und Gliederung befaß. Bei den viels 
artigen und raͤumlich burh Kürftens und Herrenlande getrennten 
Beftandtheilen, bei dem gleihmäßigen Gegengewicht ber ritterfchafts 
lich⸗fuͤrſtlichen Sefellfhaften zum Löwen und St. Georgs⸗ 
[child konnte der ſchwaͤbiſche Städtebund fih nicht lange bes 
baupten; er unterlag nach muthiger Gegenwehr bei Weil oder Doͤf⸗ 
fingen (1388) und fant, politifch aufgelöft (1389), zum allgemeinen 
Landfriedensbündniß herab; die drohende Gefahr ging für Kür- 
fen und Herren vorüber, das Buͤrgerthum verzichtete auf unab⸗ 
hangige Bündniffe; es blieb hauptſaͤchlich ſieglos, weil ihm die Ver⸗ 
bindung mit den Lundfchaften fehlte; 2000 Bauern wirkten weſentlich 
für die Niederlage der Städte bei Doͤffingen. 

Bauerndemofratie und gemäfigte Stadtariftofratie, 
freies Landfaffens und Buͤrgerthum trieben den das ganze Mit: 
telalter hindurch grünen Rebensbaum der hohbeutfhen oder fchmei- 
zerifhen Eidgenoffenfhaft hervor. Erwachſen aus einer Reihe 
von andauernden Kämpfen (1308—1394 Aufftand in den Waldfiätten 
— 20jaͤhriger Friede) nicht mit dem Reich, fondern mit Habsburg, 
von fhrittiings einander folgenden Bündniffen und Verträgen der um 
den Kern des Hochgebirges (Schwyz, Uri, Unterwalden) verfammelten 
acht, fpäter dreizehn Kantone (Orte), ruhte der. Eidgenoffen- 
Bund auf gegenfeitiger VBerbürgung der Rechte, Zreiheiten, Ehren 


188 Gonföberation. 

und Guͤter. Die beſchworne Hilfe kehrte fich wider „alle bie und 
wider einen Seglichen, ber bie Sefammtheit oder den Ein 
zelnen mit Gewalts oder Unrecht heimfucte an Leib oder 
an Gut.” (Der ewige Bund von 1315, 9. Decbr.) Den Altes zus 
fammenhaltenden Eckſtein bildeten gleichſam bie drei Waldſtaͤtte, 
Eidsgenoffen mit allen, mit Luzern (1332), Bern (1853), Zürich 
(1351), Zug, Glarus (1352); von ihnen gemahnt mußten bie Glie⸗ 
ber bes lockern, vom Geiſt der Unabhängigkeit befeelten Wehrbundes dem 
bedrohten Theil Hilfe leiſten. Diefen acht alten Orten, Stäbten unb 
Ländern, tratin durch mannichfaltige Verhaͤltniſſe angenthert und bes 
freundet die fünf jängern Kantone, wiederum Städte und Läns 
der, im funfzehnten und fechszehnten Sahrhundert bei, Freiburg und 
Solothurn (1481), Bafel und Schafhaufen (1501), endlich 
bie Bauern- und Hirtendbemofratie Appenzell (1513). Das 
bei galt jedoch nicht unbedingte ſtaatsrechtliche Gleichheit; So» 
lothurn und Freiburg 3. B. follten ohne Wiffen und Willen der 
alten Orte mit Riemandem Eriegen, Leinen neuen Bund annehmen, bei 
Fehden der alten Kantone mittel bleiben unb um Frieden handeln, bei 
Angelegenheiten, welche bie Altern Bundesgenoſſen allein beträfen, weder 
Sitz noch Stimme haben. — Begenfeitige Hilfe wider unbillige 
Gewalt und eidgenöffifchee, durch Schiedsleute gefprochenes Recht 
ausgenommen, war ber einzelne Stand oder Kanton ſelbſtherrlich 
(fouverän); er hatte unabhängige Regierung, Rechtspflege und geſetzge⸗ 
bende Macht, kannte Buͤndniſſe mit fremden Staaten annehmen oder 
verwerfen und biefelbe Freiheit bei Militärcapitwlationen, Zollver⸗ 
trägen u. f. w. beobachten. — Allgemeine Bundesfachen behandelte bie 
meiftens alljährig einberufene Zagefagung, mweldye von dem Vorort 
Zurich geleitet und in der Regel von zwei an Snftructionen (Boll 
machten) gebundenen Boten des einzelnen Kantons befucht wurde. Es 
galt Stimmengleihheit ohne Ruͤckſicht auf Größe und Bevoͤlke⸗ 
rung; man verhandelte und entfchied durch Mehrheit über Krieg und 
Frieden, Bündniffe und Verträge, Landesgefege, innere Streitigkeiten, 
Prüfung und Wahl der Voͤgte in ben gemeinen, der Eidgenoffenfchaft 
angehörigen Herrſchaften. Der Berfammlungsort wechfelte Häufig; man 
tagte im Kienholz des bernifhen Oberlandes, in Stanz, Zürich 
und anderswo während des Mittelaltere, in Bader und Frauenfeld 
ſeit dem fiebenzehnten Sahrhundert. Bon ben eilf Bundesgenoffen 
der dreizehn fouveränen Kantone Hatten etliche ald zugemanbdte Orte 
(socii, assucies), tie der Abt und die Stadt St. Gallen (f. 1451 u. 
1454), die unter der Hoheit des Biſchofs von Baſel befindlihe Stadt 
Biel (f. 1352), Muͤhlhauſen (f. 1515) und Rothweil (f. 1519), 
befchränktes Sig: und Stimmrecht auf ben Xagefahrten, andere 
itanden ale Bundesverwandte (confoederuti, allies) nur in einem 
Iofen Schirm⸗ und Schugverhältnif. Diefe Stellung hatten bie von 
einer eigenen Conföderation (f.1471) zufammengebaltenen Grau: 
bündner (f. 1497), bei welchen 26 faft unabhängige Republiten 


N 


T. 


Confoͤderation. 123 
( Hochgerichte) galten, die in ein oberes Herren⸗ und ein unteres 
Dienſtland getrennten Walliſer (ſ. 1475), das um den Anfang des 
achtzehnten Jahrhunderts (1707). unter preußiſche Hoheit geſtellte 
Fürſtenthum Neuenburg - Valengin (Valendis), die Reichsſtadt 
Senf (f. 1526) und der Bifhof von Bafel. Das Stift Engel: 
berg endlih und bie Republik Gerfau mit taufend Einwohnern ftans 
den als freie Gemeinweſen unter dem Scug ber vier Waldſtaͤtte. 
As Untertbanen (345,000), mwelhe Wuffengemwalt geivonnen 
batte, gehörten 21 gemeine Vogteien ber dreizehnortigen Eidgenoſſen⸗ 
ſchaft an, welche auf etwa 950 Geviertmeilen 1,900,000 Köpfe zählte. 
Wenn aus diefem vielgliedrigen, dem deutfchen Reiche ähnlichen 
Bundesgebaͤude der Eriegerifch-bürgerliche Geift entwih, menn Mißmuth 
umter die Unterthanen Pam, dann mußte bei der Unbehilflichkeit des Sans 
zen die zehrende Flamme bis auf den Grundſtein eindringen und ihn er⸗ 
weichen. Hinuͤbetgetragen aus dem corporativ: föderaliftifhen 
Mittelalter in die jüngere, Einheit und Gleichmaß fuchende Zeit, 
empfand die ſchweizeriſche Eidgenoffenfhaft allmdlig das Bedürfniß 
ber Reform und, da biefe zauberte, der Revolution. 

Der Eintritt eines neuen, auf den Trümmern des taufendjährigen 
Mittelalters erbauten, von der Vergangenheit aber keineswegs 
losgeriſſenen Zeitalters begeichnet auch) für den Entmwidelungsgang ber 
freim GSonföderatiönen einen bedeutenden, vielfach abmeichenden 
Wendepunkt. Sie ftreifen naͤmlich gegenüber dem Ziel und der Rich 
tung den provinziellen Grundzug mehr und mehr ab zu Gunften 
des höhern, nationalen Einigungsprincipe (der Union), ſu⸗ 
chen ftatt der frühern corporativ=ftändifchen Gliederung mit groͤ⸗ 
Berem oder minderem Erfolg eine aus der Sefammtbürgerfchaft 
erwaͤhlte, periodifch twiederkehrende Wertretung (tepräfentativer Staat, 
tepräfentative Republif), beren beflimmendes Merkmal der Cen⸗ 
fu 8 (das dußere Gut) wird, wandeln gegenüber der Gemwährleiftung 
aus wachfendem Mißtrauen das bisher meiftens durch Herkommen 
überlieferte Gewohnheitsrecht in eine ſchriftliche, durch Uebereins 
kunft (Pack) feftgefiellte Verfaſſungsurkunde um, berufen fih ' 
Dabei nicht nur auf das hiſtoriſche Recht (Compromiß, Brauch), fons 
dern auch auf das natürliche (jus naturae) und bringen an den Plag 
der voltscthümlichen Sitte und Gewohnhrit univerfellere Vernunft⸗ 
principien, fordern hinſichtlich ber vorwärts dringenden Hebel bei 
dem durch tie Reformation d:E fechzehnten Sahrhunderts entzünbdeten 
Brand neben der politifhen aub religiöſe oder Slaubensfreis 
heit, ein Doppelbanner, welches Alterthbum und Mittelalter in 

der Art nicht aufgeftedt hatten, merfen endlich hinfichtlid der Form, 
da alle Fehde einzelnse Bürgerclaffen als gefchloffener Corporationen 
endigt, die Fahne des Luandfriedensbundniffes über Bord. — 
Nah Geſchichte (einem zweiundvierzigjährigen Freiheitskriege, 
von 1566— 1609) und Grundfägen (hiftorifh:ftaatsredht: 
Lichen) bereitet den Uebergangspunft aus dem freiftädtifchen Bun: 


Be „ Gonföderation 


besieben bes Mittelalters in das ber neuern Belt die nieberläns- 
bifche oder beigifche Eidgenoffenfchaft (Republik der Generalſtaaten/ 
Belgium foederatum). Sie ruhte auf zwei Grundgeſetzen und Haupt⸗ 


vertraͤgen, der a Fa Union und ber Unabhängigkeitsertid 


rung von Philipp II., König der Spanier und bisherigem conftitus 
tionell befchränkten Exbfürften, der durch feinen Vater, Kaifer Karl V., 
zu einem einzigen Staatslärper verbundenen (1685) XVII bels 
giſch⸗bataviſchen Landſchaften (Provinzen). Diefe, durdy das loſe 
Band der Generalſtaaten oder allgemeinen Staͤndetage zus 
fammengehalten,, —* in die fuͤnf neuen Lande Groͤningen, 
Friesland, Utrecht, Beldern, Oberyſſel, und die zwoͤlf alten, 
d. h. Brabant, 2 mburg, £uremburg (Herzogehimer), Slans. 
dern, Artois, Hennegau, Holland, Seeland, Namür,. 


Zütphen, (Graffhaften), Antwerpen (Markgraffchaft) und Me: 


heim (Derrfchaft), Sieben Provinzen, die fünf neuen und von ben 
alten Holland und Seeland fchloffen bei wachſendem Fortſchritt dee 
wider Spanien und die wallonif hen (füblihen) Lande geführten 
Sreiheitökrieges die Utrechter Union ab (23. Sinner 1579), das erſte 
Grundgefes für bie Republik der fieben vereinigten, gemach 


- duch den Beitritt anderer Städte und Provinzen vergrößerten Nieder» 


Lande. Sie follten Iaut der Gonföderationsacte einen unauflöslihen 
Körper bilden, einander zu Schutz und Trug mechfelfeitige Hilfe nad). 
beften Kräften leiften, über gemeinfame Angelegenheiten, als Krieg, 


Frieden, Bündniffe, Verträge, Steuern, auf den Zagefagungen oder 


Generalſtaaten durch Gevollmaͤchtigte einhellig oder mittelft 
der Stimmenmehrheit entfcheiden, über bie Aufnahme frember Fürs 
fin, Herren und ‚Städte in den ewigen Bund nur mit gemeinem 
Rath und mit VBerwilligung aller geeinigten (unirten) Lande erkennen, 
Streitigfeiten einzelner Provinzen nie durch ausmärtige Schieds⸗ 
rihter oder Vermittler, fondern durd die Entfcheihung der jeweis 
ligen Statthalter oder parteilofen Landſchaften erledigen, in allen 
nicht den Bund betreffenden Sachen bie Hoheit der einzelnen 
Provinzen genehmigen ‚ welche wie die Städte und Drte in ihren 
Kuren (Sagungen), fo in den herfömmlichen Freiheiten (Privilegien), 
Ordnungen und Bräuchen verbleiben, in Religions, Staates, Polizei, 
Domänen: und Finanzſachen obrigkeitliche Machtbefugnig ausüben dürf: 
ten. — Das zweite Staatsgrundgefeg liegt in der von den 


Gen'ralſtaaten erlaffenen Unabhängigkeitserfiärung (26. Juli 


1581), welche die Republik der vereinigten Niederlande ale 
ein felbftherrliches, von dem fpanifchen Könige ale Fürften 
der Niederlande getrenntes Gemzinmefen . bezeichnet, alle Amtleute, 
Richter und Stantsdiener des Königs vom Eide des Gehorfums entbin- 
det, die Eöniglihen Siegel, Namen und Ehren abſchafft und ald Beweg⸗ 
grund des entfceidenden Acts die Pflicht anführt, Kindern, Weibern 
und Rachkommen die angeftammte, ſchwer bedrängte Freiheit zu bewah— 
ven. Denn für ſie fole man nad) dem Gefes ber Natur Leib und Gut 


Gonföderation. Ä | 135 


wagen. Nicht um bes Fürften millen fein die Völker erfchaffen 
worden, um etwa gleich leibeigenen Knechten nur zu thun, was jener 
befehle, Goͤttliches oder. Ungöttliches, Nechtes oder Unrechtes, fondern der 
Zürft fei um des Volkes willen da, daß er demfelben mit Vernunft 
vorftehe, er als ein Vater feine Kinder liebe und felbft mit Gefahr des 
Lebens ſchirme. — 

Obſchon, wie diefe und anderweitige Stellen beweifen , bereitd allges 
meine fiaats = und naturrechtliche Begriffe ben Boden der that: 
ſaͤchlich en (factifhen) Gefeufchaftsverhäftniffe erweiht und durchdrun⸗ 
gen hatten, fo ruhte dennoch die republifanifche Verfaſſorng größtentheils 
auf biftorifchen, conftitutioneller Grundlagen, melde man nur vers 
ließ, wenn Lüden und offenbare Mängel, vor Allem aber die Gewalt der 
Umftände Neuerung und Zufag forderten. Dem gemäß behielten 
die Generalſtaaten, feit 1592 an den Haag als bleibenden Vorort 
gebunden, die alte Zufammenfegung aus landſchaftlichen Abgeordneten 
des Adels, der Bürgerfhaft und vor völliger Aufnahme des res 
formirten Bekenntniſſes auch der Geiſtlichkeit, und übten, jährlich 
drei s bis viermal verfammelt, die früher bezeichneten Rechte der höchften 
Bundesbehärde aus. Sie ernannten daneben den Oberfeldherrn 
und Großadmiral und beauffichtigten mit Hilfe der fünf Admirali⸗ 
tätsämter das gefammte Seeweſen; ohne Rüdfiht auf Größe, Bevoͤlke⸗ 
rung und Vermögen der Landfchaften galt Stimmengleichheit; der 
bin und wieder theoretifch auflommende Begriff eines repräfentativen 
Bundesflaate® mußte vor dem eines repräfentativen Staatens 
bundes zurüdweihen. Den ftehenden Ausfhuß der Generalftan: 
ten (ſtaͤndiſches Comite) bildete der Rath der Abgeordneten (Com: 
mittirte, delegatorum consessus); aus Gliedern des Adels und ber 
Bürgerfhaften zufammengefegt, vollzog er bie Befchlüffe der Ges 
neralftanten und bereitete außerorbentjiche Verſammlungen berfaaben vor. 
Während die übrigen Abgeordneten mechfelten, blieb lebenslänglich die 
Würde des Landſyndicus, Advocaten, fpäter Rathpenfiondre 
von Holland (Hollandiae advocatus). Er trug auf den Sigungen 
der Generalftaaten und ber Committirten feine Meinung zuerft 
vor, wie bei den Römern der erfte Senator (princeps senatus), ſam⸗ 
melte die Stimmen und gab, wenn fie gleich flanden, den Ausfchlag. 
Umfang, Reichthum und Verdienfte Hollands um die gemeine Wohl: 
fahrt fchufen ein Amt, welches großen Perfönlidykeiten Spielraum ge: 
währte und in gefährlichen Augenbliden Fräftigend auf den lodern Bund 
zurüdmwirkte. — Der Staatsfchreiber (greffier) hatte die zweite 
Stelle im Ausfhuß. — Dir Staatsrath (Rath der Staaten), nad 
dem Tode bes DOberftarthalters Wilhelm von Dranien (1584) 
aus zehn nicht lebenslänglihen Abgeordneten der einzelnen Landfchaften . 
duch die Generalftaaten ernannt, übte befchließende Gewalt in al: 
len Sachen des Landkrieges aus und trieb die für denfelben bemwil- 
ligten Steuern ein. — In den Provinzen, welche mit Ausnahme 
des Bundespflichten ſelbſtherrlich (ſouveraͤn) waren, vollzog der 


f ) u . 
186 , Gonföberation, 


Statthalter die bündifhen und landſchaftlichen Gefege, übte bas 
Begnadigungsrecht aus, befebligte die Mannſchaft und erwaͤhlte 
aus den vorgefchlagenen Bewerbern die Vorfteher ber meiften Behörden 
(Collegien), wie bie Obrigkeiten in mehreren Städten. Der Appelka- 
tionshof, mit einem SPräfidenten und 9 oder 10 rechtskundigen Raͤ⸗ 
then befegt, welche auf den Vorſchlag der Staaten der Statthalter 
für Lebenszeit ernannte, entfchied als oberfte Gerichtsbehoͤrde der 
Landſchaft über/peinlihe und bürgerliche Klagen. — Aus dem buch 
gefahroolle Krifen berbeigeführten Brauche, bie Oberſtatthalterſchaft 
mehrerer oder auch ber meilten Provinzen für den Lands» und Sees 
krieg einem Dranide ober Mitglied des um bie nieberländifche Sreiheit 
hochverdienten Haufes Ordnien zu Übertragen, entiwidelte ſich allmaͤlig 
ein monarchiſches Prindp in republikaniſchen Staatenbunds*). 
Die Kämpfe dafür und dawider enbigten zulegt dahin, daß die allges 
meine Erbſtatthalterſchaft nehft dem Oberbefehl zu Wafler 
und Lande von ben ſieben vereinigten Provinzen eingeführt und dem 
Fuͤrſten Wilhelm IV. von Dranien Übertragen wurde (1747). Fort⸗ 
an mwurzelten bei innern Widerfpsüchen der Staatsgrunbfäge bie Bers 
wuͤrfniſſe und Parteiungen feſter; der loſe, vielfacher Reformen bebürftige 
Bund erlag dem Sturm der franzöftfchen Revolution (1795% Dar 
für wirkten auch der Mangel an Gewiſſens⸗ und Preßfreiheit, 
welche in der fonft thatkräftigen und Iebendigen Republik der vereinigten 
iederlande Feine priucipienmäßige Geltung gewonnen hatten. 

Aehnlich, d. h. nach fucceffiv hiſtoriſchen Grundlagen, jedoch 
mit bedeutenden Kortfchritten eines gefunden Staats⸗ und Vernunft⸗ 
rechtes, entwidelte fi die britifche, England, Schottland 
und Irland umfafiende Conföderation. Sie durchſchritt Die mans» 
nichfaltigften Zwiſchenſtufen, bevor ein bleibender Abfchluß geſchah. An⸗ 
fange erfchien die angelfähfifche Gauverbindung, welche unter dem 
Namen ber Siebenherrfchaft (Heptarchie) den eingedrungenen ger» 
maniſchen Volksſtamm zu einem lodern Schug: und Wehrbünd: 
niffe verknüpfte (450— 827). Seder Gau hatte feine aus dem 
Waffenadel, den Wehr: oder Allobdialfreien, fpäter, nah Aus 
nahme des Chriftenthums, audy dem Klerus gebildete Volksge⸗ 
meinde, den Ausfchuß der Weifen oder Wiffenden (Witenage- 
mote), feine Örafengerichte (Shire gemote) und damit verfnüpfte 
Anmefenheit der Freien, feine Häuptlinge oder Fuͤrſten für dem 
Eriegerifchen Oberbefehl. Schottland und Irland blieben unabhängig 
nebft Wallis und Cornwallis als Sige einer andern, meiſtens 
galifhen Volksthuͤmlichkeit. Darnach verfhmelzen bie fieben Gaue 
des Sreiftants zum erſten angelfähfifchen Neid, (8471066) 





*) „Cine Republik ift nicht frei, in welcher man Geburtsanfprüde auf 
hohe Staatsämter anerkennt; eine Wahl tft nicht frei, wenn bie Söhne der 
Wäter die Nachfolge in bedeutenden Stellen erhalten.” Jean de Witt, re- 
solutions importantes p. 109. Amsterdam. 1725. 


. Gonföderation. 127 


mit einem duch das Herlommen und Geſetz beſchraͤnkten Könige, 
einer Reihsverfammlung, dem MWitenagemot, und verfciedenen 
Srafengerihten. In bie Fugen und Lüden dieſes fchon halb 
lehenherrlich geflalteten, zwietraͤchtigen Reichsweſens ber Angels 
ſachſen brady die normännifche, foharf gegliederte ariftoßratifche 
Feudalmo ſnarchie zerfegend und erobernd ein (1066 —1154). 60,215 
Ritterlehen, von melden faft die Hälfte der Geiftlihkeit, 1400 
der Krone und 700 ber größern (Baronien) ausſchließlich Norman⸗ 
nen anheimfielen, erdruͤckten den bieher noch Iebendigen Begriff bes 
Sreifaffenguts; die Srafengerichte wanbelten fih um in Lehen» 
hoͤfe, die Reihstage (Mitenagemote) in unregelmäßige, von bem 
böhern Lehenadel und Klerus befuhte Parlamente. — Lestere bilde: 
ten jedoch allmälig buch Zufammenmirken der Städte, untern Ritter 
(knights), nidyt ganz vertilgten Kreifaffen unp der von dem hohen 
Adel oft ſchwer bedrängten Krone den Grundftein eines neuen, con» | 
flitutionellen Staatsgebäudes. Diefes feinen Hauptzügen nad) bes 
reits im Mittelalter unter der Waltung des Königshaufes Anjou: 
Dlantagenet (1154—1485) vollendet, ruhte auf dem Princip ge: 
noffenfhaftiidh:ftändifcher Vertretung. Unmittelbare Lehen: 
träger oder größere Barone, Erzbifhöfe, Biſchoͤfe und Aebte 
bildeten im jaͤhrlich wenigſtens einmal (f. 1312) verfammelten Parla- 
ment die Kammer ober das Haus ber Derren (house of Lords feit 
1343); Abgeordnete der Grafſchaften (Ritter, knights), Städte 
und Flecken (boroughs) faßen, nad einem mäßigen Genfus des Grund» 
vermögens erwihlt, in ber Kammer oder dem Daufe der Gemein: 
den (house of commons),. Um den Andrang ber Armen abzuhalten, 
galt die Wahlbefugniß nur für foldhe freie Eigenthümer (free- 
holders), welche von ihrem unbeweglichen Gut eine jährlihe Einnahme 
von wenigſtens vierzig Schillingen (13 Rthlr.) bezogen. — Des Par: 
lamente Gewalt entwidelte fih dahin, daß es namentlich durch die 
Gemeinden Steuern bewilligte, über Gefegesanträge (billa) 
mit Beiwirtung der Krone entfchied, die gefammte Staatsverwal⸗ 
tung unterfuchte, Mißbraͤuche rügte und nöthigenfalld die oberften 
Beamten (Minifter, Geheimräthe) in Anklageftand fegte. Der König 
dagegen, binfichtlih feiner Perfon und Ehre unantaftbar, berief, ver» 
tagte und entließ die Reichs ſtaͤnde, beftdtigte den von dem Haufe 
erwählten Präfidenten (Sprecher), nahm durch Verwerfen oder Be 
flätigen der Bills Theil an der Gefeggebung, beftellte die Richter 
und übrigen Beamten, befehligte Flotte und Landheer, führte den 
biplomatifchen Verkehr, entfchied über Krieg und Frieden, Buͤnd⸗ 
niffe und Verträge, obſchon hier wegen des Geldbedarfs vielfach abhängig 
vom Parlament, unterhielt theils auf Koften der beträchtlichen Kronguͤter 
und Befälle, theild der dafür fteuernden Stände ein zahlreiches, glänzens 
des Hoflager, befaß überhaupt der gefeglihen Mittel genug, um bei 
Seift und Kraft das bedeutende Kronvorrecht (Prärogative) wider 
feindfelige Verſuche der etwaigen Adels: und Volkspartei nicht nur zu 


128, | Gonföderation. 


firmen, fondern aud) auszubehnen. Jedoch galt als flantsrechtliche 
Wahrheit für England der von Fortefceue*) ‚verkündete politifche 
Staubentfag: „Der König ift beftelle und berufen, um eben, 
Gut und Geſetze feiner Unterthanen zu [hirmen; dafür 
empfängt er vom Volke Gewalt und befigt feinen recht⸗ 
mäßigen Anfprud auf irgend eine andere Machtbefugniß.“ 
— Sn ber Rechtspflege gewannen neben den Lehenhöfen die 
angelfähfifhen Grundbeflimmungen über Grafengeriht und Ge- 
ſchworne allmälig wieder Boden und verftärkten den Umſchwung ber 
parlamentarifhhen Kräfte. Sie blieben beshalb trog der Innern und 
äußern Kriege unerfchüttert und gewannen gerade durch den häufigen 
Conflict eine nahhaltige, obgleich noch vielfachen Prüfungen der Zukunft 
entgegengehende Stätigkeit. — | | . 

Irland, unter dem Plantagenet Heinrich II. nach hartnaͤckigem 
Miderftind erobert (1154 — 1171) und England in abhängiger Stels 
lung angefchloffen, blieb ein firenger Lehenftaat voll Druds der 
Herren und Sammers dei dienftbaren eingefeffenen Bevölkerung. Zwi⸗ 
{hen ihr und dem zahlreich im oͤſtlichen Dritetheil der Inſel (the pale) 
angefiedelten Siegen keimte bitterer Haß auf. Die Verfaffung bes 
englifchsirländifchen Parlaments entbehrte hei der geringen Zahl 
der Städte und freien Landſaſſen des bürgerlih-demofras 
sifchen Gegengewichts; fie blieb fireng adelig und hielt das Haus der 
Gemeinden in dauernder Abhängigkeit von den Lords oder großen 
Grundbefigern, von welchen viele fogar Befugniß zur Privatfehde, 
fetpftftändige Gerichtsbarkeit und willfürlihes Beſchatzungsrecht 
der Gutsangehörigen und Eöniglihen Unterthanen befaßen. Sa die Poie 
ningsacte, unter dem erften Könige des Haufes Tudor (1485 — 1603), 
Heinrich VII, erlaffen (1494), dehnte die Gültigkeit aller vom engs 
Lifchen Parlament in öffentlichen Angelegenheiten getroffenen Verord⸗ 
nungen auch auf Irland aus und gebot, daß Fein ırländifches Par: 
Iament ohne Angabe der zu beruthenden Gegenftände und ohne Erlaub: 
niß des Königs verfammelt werden follte. — Schottland, daß dritte 
Glied der fpäter vollftändig entwickelten britifhen GConföderation, 
blieb während ded ganzen Mittelalters in national unabhängiger, 
England meifteng feindfeliger Stellung. Diefe hörte größtentheild auch 
da nicht auf, als das [hortifche Königehaus der Stuarts (ſeit 1371) 
bei dem Erlöfhen der Zudors mit Elifabeth (1603) durch Jacob 
Stuart VI. (1) die Zbronnadjfolge in dem nunmehr vereinigten 
fhortifheenglifhen Reihe (Groß: Britannien) gewann und 
unter den außerordentlichiten Mechfeln einhundert und eilf Jahre lan 
(1603 — 1714) behauptete. -— Das [hottifhe Parlament zeigte 
ein beftimmtes Uebergewicht der feudalariftotratifchen Corpora— 
tionskraft.e Denn obfhon in ihm Abgeordnete der Geiſtlichkeit, 
untern Ritterfchaft und feit dem vierzehnten Jahrhundert auch der 
\ 


*) De laudibus legum Anglige 713. ©, 32. 


, 





*  Gonföberation. 139 


nicht gahlreihen Bürgergemeinden faßen, hatten dennoch die geoßen 
Lehentraͤger eine entfchiebene Ueberlegenheit. Jene hemmten und 
leiteten als Grundſaͤulen einer Art Lehenrepublit das ſchwache, von 
keiner niedern Ritterfchaft und Bürgerlichkeit unterflügte Königthum, 
bezeichneten und beherrſchten durch einen vorberathenden Ausfhuß 
(the lords of the articles) den parlamentarifchen Geſchaͤftsgang, 
lähmten durch Willkuͤr und Selbfthilfe die Bermaltung und Rechte 
pflege. Bu 

Hervorgegangen aus ben Stürmen ber kirchlich⸗ſittlichen 
Reformation (f. 1534) und der politiſch-kirchlichen Revo⸗ 
Iution unter König Karl Stuart I. (1625— 1649), bei kurzer 
Dauer (1649 — 1660) nah innen und außen hin zerſtoͤrend und 
ſchaffend, bat die englifhe Republik (the commonwealth of Eng- 
land) trotz vieler Gebrechen und Auswuͤchſe tief einfchneidende, zum Theil 
dauernde Aenderungen berbeigerufen. Die Lehren von der Volkshoheit 
(Souveränetät), von einer periobifch wiederkehrenden Vertretung ohne 
Rüdfiht auf Geburt und koͤrperſchaftlich⸗ſtaͤndiſche Vorrechte, 
von freiem, durch Feine Zehnten und andere Laften beſchwerten Bo⸗ 
den, von möglichft wirkfamer Einigung aller dem britifchen Neid 
angehörigen Landfchaften zu demfelben vepräfentativen Körper, von 
Glaubens⸗ und Gewiffensfreiheit, von der Unvertraͤglich⸗ 
Leit ber Cenſur mit dem ftaatsbürgerlihen Recht der Gedankenaͤuße⸗ 
rung, von der unabhängigen, Öffentlihen, mit Gefhwornen vers 
tnüpften Rechtspflege, von der Staatspflicht, für Unterricht, Er⸗ 
ziehung und Sittlichkeit des Volks zu forgen: diefe und ähnliche 
Grundfäge der Politit wurden nicht nur durch Schrift und Wort viel« 
feitig erörtert, fondern auch häufig verwirklicht. Die englifhe Re» 
publik, welher Schottland und Irland gemady (1653) beigefügt 
wurden, durchlief hinfichtlich ihrer conftitutionellen Öliederung zwei 
bart aufeinander folgende Kreife. Anfangs naͤmlich befam dad Haus 
ber Gemeinen, von ben Lords befreit, als Parlament und ein» 
jige Vertretung der Gefammtbürgerfchaft die gefengebende, der 
38 Glieder ftarke, vom Parlament ernannte Staatsrath (council of 
the state) bie vollziehenbde’ Gewalt. Darnach wurde auf Betrieb 
dee von Dliver Crommell bearbeiteten Militaͤrmacht da6 Parlament 
geftürzt (1658), eine neue Berfaffungsurfunde angenommen und 
bie Republik alfo georbnet, daß im Protectorat, Parlament 
und Staatsrath die Hauptorgane bes gemeinen Weſens erfchienen, 
Der Drotector, einſtweilen auf Lebenszeit Dliver Cromwell, 
ſpaͤter durch Wahl des Staatsraths beftellt, follte mit dem Parlas 
ment über Krieg, Trieben und Bündniffe, Landheer und Flotte ent 
fheiden, allein den diplomatifchen Verkehr beforgen, alle Öffentlichen 
Urkunden ausfertigen, zu Friedens» und Krieggämtern ernennen, das 
Begnadigungsrecht üben, mit Ausnahme der Moͤrder und Verraͤther, bei 
dem Antritt feines Amtes die Nechte, Herkommen und Gewohnheiten 
des Landes, bie Freiheit der Gewiſſen, Papiflen vorbehalten, zu 

Suppl. 3. Staatelerx. I. 9 


100 | Gonföberafion. 


handhaben ſchwoͤren, alle drei Jahre ein Parlament verfammeln. 
Diele, 400 Glleder ſtark und mit Ausfchluß der Katholiken frei 
von Staatsbuͤrgern erwählt, welche jährlich wenigftene 20 Pfund Ster⸗ 
ng besichen, ſollte Geſetze erlaſſen, über Steuern und Abgaben 
verfügen, mehrere höhere Beamte, 3. B. den Kanzler, Schatzmeiſter, 
Admiral, ernennen. — Als vollziehende und verwaltende Ober: 
behoͤrde endlich follte dee 13 — 21 Glieder zählende Staatsrath dem 
Protector, welcher ihn ernannte, zur Seite flehen. 

Parteiungen, infonderheit firhlichsreligiäfe, Bewaltthätigkeiten 
und Fehlgriffe der Machthaber, Weberläuferei und Verrath riffen zwar 
Die Rothbräde der englifhen Republik ein, vermochten aber nicht, 
die reiferen Endergebniſſe derſelben zu zerſtoͤren und das geläuterte Rechts⸗ 
gefuͤhl der betrogenen und einander betruͤgenden Englaͤnder abzuſtumpfen. 
Alſo wurde dem ohne Capitulation wiedereingeſetzten Könige Karl li. 
(1660— 1685) unter Anberm die Habeas-⸗Corpus⸗Acte (1679) 
abgetwonnen , weldye die perfönliche Freiheit ficherte und willkuͤrliche Ver⸗ 
haftung binfichtlich der Richter und Gehilfen der gefeglichen Strafe übers 
lieferte, zehn Jahre fpäter (1689) dem flüchtig gewordenen König 
Jacob H,, als welcher den Grundvertrag zwiſchen Kürften und Volt 
gebrochen habe, der Thron abgefprochen, dem bisherigen Erbftatthalter 
Wilhelm von Oranien und feiner Gemahlin Maria, Tochter 
Jacob'a/ II., die Nachfolge zuerkannt, bie conflitutionellsparlas 
mentarifche Freiheit endlich buch bie Rechtebill (bill of rights) 
für Gegenwart und Zukunft geſichert. Dan erklärte nämlich, daß hin 
ſichtlich de Rechts pflege die Krone ebenfo wenig von den Wirkuns 
gen des Geſetzes entbinden als geiftliche oder anderweitige Gerichtshöfe 
aufftellen könne und bürfe, dag ruͤckſichtlich des Parlaments vollkom⸗ 
mene Freiheit der Wahl, Verhandlung und Steuerbefugniß gelten, jede 
Anwerbung eines ftehenden Heeres und Verkuͤndigung des Kriegsgeſetzes 
ohne Parlamentsbefhlug als Bruch ber Conftitution erfcheinen, und 
dag jedem Bürger Befugniß bleiben muͤſſe, Bittfchriften zu über» 
reichen. „Die Geſetze Englands hieß es weiter, follen als das unverletz⸗ 
bare Recht des Volkes gelten und den König überragen, Könige und 
Königinnen, wenn fie den Thron befteigen, diefen Gefegen gemäß regie⸗ 
ven, ihre Beamten und Angeftellten ihnen auch biefen Grfegen gemäß 
dienen.” — Diefer Grundvertrag, von beiden Seiten treu vollzogen, 
bildete den Edftein der nunmehr vollendeten Staatsverfaffung, 
welche im Könige die mon archiſche, in beiden Häufern des durch bie 
Zrienntalacte (1695) gegenüber der Zeitfrift genauer beftimmten 
Darlaments bie ariſtokratiſch-demokratiſche Kraft niederlegte 
und feit der gefeglih anerkannten Preßfreiheit (1694) einen 
neuen, mächtigen Bundesgenoſſen für bie Zortfchritte politifch = wiſſen⸗ 
fhaftlicher Bildung gewann. Dagegen blieb bie religiös «kicchliche Un = 
duldſamkeit als ein Noftfled am fonft ziemlich heilen Spiegel des 
englifchen Volkolebens Fleben; denn Katholiken, melden in Srland 
jedoch der Vertrag von Limerid (1691) freie Religionsübung vers 


Gonföderation. 181 


gonnte, und proteftantifche Diffentere oder Nichtanglitaner 
(Bebenner ber bif höflichen Kirche) mmurden von allen höhern Staates 
und Kirhenämtern ausgefchloffen. Langfam, aber ficher arbeitete 
der Reformgeift diefen und anderem Mipftänden entgegen, zumal der 
duch den englifhen Freſiſt aat geweckte Einigungstrieb von Neuen 
zu wirken begann. Denn um ben Anfang des achtzehnten Jahrhunderts 
(1707, 1. Rai) verfhmolzen Schottland und England alle zu 
derfelben Nationalrepräfentation, daß für die ſchottiſche Pair⸗ 
haft ſechszehn, für die Gemeinden fünfundvierzig Abgeord nete 
im britifchen Ober⸗ und Unterhaufe erfchlenen. Dreiundneungig 
Fahre fpäter (1800, 22. Zuli) gelang nach unfäglihen Hemmniſſen 
auch bie Vereinigung (Union) mit Irland, weldhes 32 Pairs, 
4 Biſchoͤfe, 28 Weltlihe und 100 (feit der Reformacte 105) Ge 
vollmächtigte ber Gemeinden fenden follte. Alfo zählte im Ganzen 
die britiſch⸗repraͤſentative Meichsconföberation für das Unter» 
Baus 658 Stellvertreter, von melchen 513 (feit ber Reformacte 500) 
auf England und Wales fallen, für das Ober haus 3O geiftliche 
und 432 weltliche Lords (überhaupt 462), mithin 1162 Angehörige 
beider Häufer. Die aͤußerſt ungleichen und in Kolge einer biftorifchen 
Laune an laͤngſt erlofchene Corporationss und Drtsverhältniffe 
geknäpften Wahlbefugniffe hob theilweife die im Jahr 1832 
erlofiene Reformacte auf, indeß kurz vorher (1829) der Emancie 
pationsbefchluß den Katholiken, namentlih Irlands, bie vor 
enthaltenen Staatsbärgerrechte zurädgeftellt hatte. Aber die Höhe 
des Cenſus für das active wie paffive Wahlrecht, welches 3. B. 
vom Abgeorbneten ber Graffchaft 600, von demjenigen der Stadt oder 
des Fledens 800 Pfd. jährlichen Einkommens fordert, bie religioͤs⸗kirch⸗ 
lichen Brechungen (Sractionen), denen gemäß z. B. kein Priefter, Dechaut 
oder Geiſtlicher dee ſchottiſchen Kirche wählbar ift und die engliſche 
Hochkirche ben Herrn fpielt, die, wenn fie will, überall lähmende 
Gewalt der Pairſchaft oder des Oberhauſes, das fleigende Miß⸗ 
verhältniß der auf Grundbeſitz, Handel, Gewerbfleiß ruhenden Geld⸗ 
macht (Mutarchie) zu den Anfprüchen des Armen und bes Mittelſtan⸗ 
bes (der demokratiſchen Grundkraft), die wachſenden Collifionen 
zwiſchen dem herrſchenden Dlutterlande und ber dienſtbaren uns 
geheuren Colonialmarkung, den Korderungen ber See⸗ und Lande 
macht, melde den Nerv der Nation zu zerfchneiden drohen und einer 
doppelten Diplomatif Raum eröffnen, bie künftlihe Schwebes und 
Gleichgewichtétheorie hier monacchifch » ariftofratifcher, dort demo⸗ 
kratiſch⸗ republikaniſcher Kräfte (Potenzen) — diefe und ähnliche Fragen 
bat die beitifche Voͤlker⸗ und Staatenconfäderation theils geflif» 
fentlich gemieden , theils verBleiftert und als unheimlichen Gaſt der Zus 
kunft in einen ſchwach beleuchteten Winkel der Gegenwart gefchoben. — 
Manche Aufgaben der freien Conföderationsbegriffe aber, welche bie 
englifhe Revolution bes fiebenzehnten Jahrhunderts ale Ueber⸗ 


gang aus dem Mittelalter in eine newe-Beit nicht ion wollte umb 
* 


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288 _ Gonföberation. 


Eonnte , wanderten über die See nach Nordamerika. Gleichwie bie 

Revolution beffelben (1775— 1783) vielfach als Fortfegung ber 
englifhen erfcheint, fo haben auch die flaatsbärgerlihen End» 
ergebniffe bald den alten hiſtoriſchen Faden weiter fortgefponnen, bald 
abgefhnitten und in ein neues Gewebe aufgenommen. Hier empfindet 
der transatlantifche Welttheil die Attractionstraft Europas, welches 
feine Einrichtungen, Sitten, Parteien verpflanzt, dort üben die felbft- 
herrlich gewordenen Colonien ale Bund der dreizehn nordameris - 
tanifhen Freiftaaten eine Segenbewegung (Reaction) auf 
Mutterland und Europa aus. Jenes großartige polarifche 
Wechſelverhaͤltniß, in welchem während ber Blüthe des Mittelalters 
Drient und Occident flehen, entwidelt fi) gemach für die alte 
und neue Welt. Denn Iegtere ftellt, nicht zufrieden mit dem Conflict 
zwifchen feinem Norden und dem germanifchen England, im erflen 
Jahrzehnt des neunzehnten Jahrhunderts auch den Süden in bie 
Schranken wider den [panifhen Romanismus. — In ber Ent- 
widelung des nordamerilanifhen Staatenprincips, fe es 
gegenüber dem vereinzelten Gemeinwefen oder der Verbindung 
(Gonföderation),, treten beftimmte, von dem bisher dargeflellten Gange 
vielfach verfchiedene Merkmale hervor. Sie bilden das Kennzeichen 
der norbamerilanifhen, aus Nachdenken und Erfahrung 
entfproffenen politifhen Schule, namentlich in Bezug auf den orga- 
nifchen Eonflitnirungsact. — 1) Verfhmelzung bes hiflos- 
eifhen und natürlihen Rechts und zwar in ber Art, daß bei 
Gollifionen bie erſte Grundkraft der zweiten mweihen muß. Denn 
es giebt angeborne Menſchen⸗ und Bürgerrechte, bern Gültigkeit 
weder die Zeit durch Verjährung noch die Gewalt durch leibliche Weber: 
legenheit tilgen Tann. Dahin gehören Freiheit der Perfon, des 
Glaubens, bes Eigenthbums, ber Preffe und die Machtbe⸗ 
fugnig (Souverdnetät) des Volks, ber faatsbürgerlihen Ge: 
fammts oder Mehrheit, welche entweder unmittelbar wirkt durch 
Wahl der Beamten, Gefchwornen, oder mittelbar durch frei und 
gleichmäßig ernannte Repräfentanten. (S. Jefferson, correspondence 
IV. 404.) — 2) Den Grund und Boden darf keine bleibende, 
auf Gegenwart und Zukunft gerichtete Abgabe (Zehnten, Bodenzins 
u. f. mw.) befchweren; er muß frei fein; denn „Gott ſchuf bie Erde 
für die Lebendigen, nicht für die Todten.“ (Jefferſon IV. 406.) 
Da jedoch bei der Abhängigkeit des Menfchen vom Sinnlichen bie 
flantsbürgerliche Sefellfchaft einer mäßigen Garantie des Fleißes und 
Eigentbums bedarf, fo muß für die Wählbarkeit der Repräfen» 
tanten ein billiger Cenſus, bauptfählih nah Liegenfhaften, 
gelten. Der volllommene Abſchluß erfolgt jedoch erſt, wenn nicht 
allein der Grundbeſitz, fondern auch die Perfon ihre hinlängliche 
Stellvertretung findet. — 3) Soll der lodere Staatenbund, in 
welchem jedes Glied (Provinz, Kanton) ſelbſtherrlich war, in einen 
feften Bundesflant (die Union) mit vollommens Souveraͤne⸗ 


Gonföberation. 138 


tät gegenäber bem Auslande oder den Bürgern einzelner dee Union 
angehöriger Staaten umgewandelt werden, fo bleibt das Gleichge⸗ 
widye zwiſchen dem unitarifchen (Bund) und föderatiftifhen 
(Landfhaft, Kanton) Princip ber vorherefhende Ausgangspunkt 
der Gonftituirungstunftl. — Dean die unbedingte Bundesge⸗ 
walt (Sentralifation) führt zu militärifch= politifcher Dictatur ober 
Hegemonie des Vororts, bie ſchrankenloſe Hoheit ber einzelnen 

zur Ohnmacht und Zerriffenheit des Gefammtvereine. 
Alſo müflen die Theile in Bezug auf ihre Sonderbürger und Sons 
derangelegen heiten (Interefien) frei und felbftftändig dem einfachen 
sroßen Sanzen (Bund) rüdfichtlich der allgemeinen Dinge nit uns 
tergeordnet (fubordinirt), fondern gleichgeordnet (coorbinict) er⸗ 
fheinen. 4) Als Unterpfand für die flaatsbärgerlihe Gleichheit 
und als Mittel gegen Mißbrauch muß die grundfaͤtzliche Gewalten⸗ 
trennung in eine gefesgebende, vollziehende und richter⸗ 
liche dienen. Brauch und Erfahrung empfehlen für die Legislative 
Macht zwei Kammern (Häufer), welche einander am ſchicklichſten er» 
gänzen und zügeln. Mag au immerhin bie Einheit dem Begriff 
und der Schnellkraft mehr entfprechen, dennoch bleibt ein langfamer, 
ſicherer Geſchaͤftsgang, durch das Gleichgewicht ber beiden Kammern 
bewahrt, für den dermaligen Bildungsftand der Bürger eine fichere und 
dabei gefahrlofe Gewaͤhr. — Nach dieſen leitenden Grundfägen hat 
Nordamerika theils die VBerfaffungen der dreizehn anfangs fous 
veränen, zu einer ewigen Eidgenoffenfhaft verknüpften unabs 
hängigen (f. 4. Juli 1776) Staaten (feit 4. Det. 1776) georbe 
net, theils bie lofe Confoͤderation in einen feftlen Bundesftaat 
(Union 17. Septbr. 1787) umgewandelt. Für denfelben ftellt der 
Congreß den Mittelpuntt der gefeggebenden, vollziehen» 
den und rihterlihen Gewalt dar. Gebildet aus einem fechsjährie 
gen Senat, zweijährigen Repräfentantenhaufe und vieriährigen 
Dräfidenten entfcheidet er über Steuern, Anleihen, Handel, Münzen, 
Maß und Gewichte, Krieg und Frieden, Lands und Seemacht, gemein« 
fame Ordnungen, Bündniffe und Verträge, Aufnahme neuer Staaten 
in die Union. Der Dräfident als Ausdrud der vollziehenden 
und vermaltenden Bundesmacht beforge ben biplomatifhen Ber 
kehr, für welchen er Votfchafter, Handelsanwälte (Conſuln, Refidenten) 
bezeichnet und empfängt, ernennt die Staatsfchreiber (Minifter) 
des Innern, des Haushalts, Kriegs, Seeweſens, die Mitglieder des Ober⸗ 
gerichts umd fonflige Bundesbeamte, befehligt Landheer und Flotte der 
Union wie der einzelnen Staaten, ſchließt mit Einwilligung des Sennts 
Bündniffe ab, beruft den jaͤhrlich wenigſtens einmal zufammentretens 
den Congreß auch außerordentlich und vertagt ihn, jedoch ohne 
Befugniß der Aufldfung, übt, Staatsverbrehen vorbehalten, 
das Begnadigungsrecht aus, beobachtet den gefammten Gang ber 
Union und fchlägt für den Nugen derfelben zweckdienliche Maßregeln 
vor. GSteneranträge ftellt allein die Repräfentantentam» 


258 Gonföberation. 


mer; der Senat kann aber Verbefferungen vorſchlagen. Dit richtet» 
lihe Bundesmacht geht von dem Dbergerihtshofe aus und 
von ben durch Congreßbeſchluͤſſe von Zeit zu Zeit verorbneten Uns 
tergerichtshäfen. Den. Stoff bilden vornehmlich die Sachen ber 
Gefandten, GConfuln und Gefchäftsträger, der Admiralität und Seege⸗ 
richtöbarkeit, de8 Bundes, wenn er Partei iſt, einzelner Staaten 
und Kantonsbürger gegenüber andern Staaten und Kantensbürgern. 
Anklagen gegen bie Staatsverwaltung, gegen Congreßglieber und 
ſelbſt den Praͤſidenten bringt das Repraͤſentantenhaus vor 
den Senat, welcher ſodann als Anklagekammer (court of im- 
peachment) auf Amtsentfegung, Verluſt der Ehrenfähigkeit erkennen 
darf. Jedoch bleibt der uͤberwieſene Theil dennoch ber Anklage vor 
dem Sefhmwornengeriht, dem gerichtlihen Werhör, der Verur⸗ 
theilung und Beftrafung unterworfen. (Bundesurkunde, Artikel 1, drite 
tee Abfchnitt, 6. 7.) Während alfo Mißbrauch der den hoͤchſten Beam⸗ 
ten anvertrauten Gewalt beinahe unmöglich gemacht wurbe, befchräntte 
man im Befondern die kantonale oder föderaliftifhe Hoheit 
verfaffungemäßig dahin, daß kein einzelner Staat mit einem andern 
oder einer fremden Regierung Verträge zu Schug und Trug abfchließen, 
Kaperbriefe ausſtellen oder Repreffalien anwenden, Münzen fchlagen, 
Schuldſcheine auswerfen, Aechtungsgeſetze erlaſſen, Adelsbriefe verleihen, 
Ein⸗ und Ausfuhr ohne den Willen des Congreſſes beſteuern, in den 
Tagen des Friedens Landheer oder Kriegsſchiffe unterhalten, Fehden be⸗ 
ginnen ſolle, es ſei denn, daß er wirklich angegriffen wuͤrde und Aufſchub 
augenblickliche Gefahr braͤchte — Als Endzweck der Union, fuͤr 
welche man ſich Beſſerungen burh Zuſatzartikel ausdruͤcklich vorbe⸗ 
hielt und die republikaniſche Regierungsweiſe jedem einzelnen Staate 
gewaͤhrleiſtete, wurde die Pflege des Rechts und der Gerechtig— 
teilt, der gemeinfamen Vertheidigung, Wohlfahrt und 
Freiheit für die Zeitgenoffen und Nachkommen angekündigt, 
alfo ein moralifchspolitifcher Standpunft der weiteften, beinahe 
weltbürgerlichen Art genommen. Darum fhloß auh Nordbame- 
rika weder fein Volksthum noch feine Staatenconföderation 
ein für allemal ab; es knuͤpfte Wahsthum und Größe bei dem unges 
heuren Umfang des Raums und ber geöffneten Einmwanderungen weſent⸗ 
ih an die Zukunft, in welche die Gegenwart mit ihren geordneten 
Bundes: und Staateneinrichtungen als feſte Brüde einführen 
folte. Altes teug daher troß der beflimmten und umfichtigen Geſetzge⸗ 
bung eher ben Charakter des weltbürgerlihen Humanitätss und 
Freiheitsprincips denn einer gefchichtlich abgemarkten und für tms 
mer gefchloffenen freieren Volksthuͤmlichkeit, wie fie fi bis⸗ 
her namentlih in Europa mit ihren fchroffen Gebrechen und Tugenden 
entwidelt hatte. Kaum Eonnte daher in dem alten, von mannichfal⸗ 
tigen Segenfägen ber Geſchichte bewegten Welttbeil der Verſuch, 
einen weltbürgerlih nationalen Bundesſtaat als Republik zu 
gründen, gelingen. Diefes Stadium burchfchritten ihrem politifchen 


Gonföderation. | 185 


Kerne nach bie franzöfifhe Revolution und bie Staatsſchule 
derfelben, jene als zerflörende, biefe als fchaffende oder aufbauenbe 
‚Gewalt. Sn beiden Kreifen herrſcht eigentlic, dei gleiche Dauptgrunbfag 
vor, ber Haß aller gewordenen oder geſchichtlichen Stoffe und 
Verhaͤltniſſe. Die Revolution aͤußert fi dabei rein deſtructiv 
und negativ, indem fämmtlihe Errungenfchaften ber Vorzeit ohne 
weitere Wahl zwiſchen dem wirklich Brauhbaren und Veralteten 
nad) beiten Kräften von der Gegenwart abgelöft, zerfest und vers 
fluͤchtigt werden, bie ſtaats maͤnniſche, organifirende Schule ber 
Revolution tritt gegenüber dem real⸗hiſtoriſchen Princip aus 
dem bezeichneten Grunde gleichfalls verneinend (negativ) auf und 
nmimmt eine abſtract⸗ ideale ober naturrechtlich s univerfelle 
Bafis als Ausgangspunkt, vor welcher fih die Wirklichkeit als 
Abfall von dem Gedanken beugen muß. Diefer kraͤftige und Jahre 
ang folgerichtige (confequente) Idealismus oder unbedingte Ratio 
walismus Außer fih als politifhe Gonftituirungstunft in 
verfchiedenen Abftufungen nach drei Dauptfeiten hin. Gegenüber dem 
Zweck des flaatlihen Verbands wird die Behauptung der angebornem, 
allgemeinen Menſchen⸗ und Bürgerrechte, namentlih in Bezug 
auf Freiheit, Gleichheit und Widerftandsbefugniß, verkän- 
digt (proclamirt), gewiffermaßen das ununterbrochene Veto eines polls 
tiſchen Tribunats eingeführt, gegenüber ben Vollziehungsmitteln 
die ruͤckſichtsloſeſte Einheit oder Sentralifation als ſchneidende 
Waffe wider die Lähmung des provinziellscorporativen Foͤde⸗ 
ralismus angewendet und ein unbebingtes. Aufgehen ber Theile im 
Ganzen bes Maffenftaats erfirebt, endlich gegenüber ber raͤum⸗ 
lihen Markung an die Stelle einer abgefchloffenen, nah Sitten, 
Sprahen und Sagungen verſchiedenartig ausgeprägten Boltsthäms- 
lichkeit (Mationalität) das weltbürgerlihe Staates: und Hus 
manitätsprincip gebracht, thatſaͤchlich (factiſch) aber die dadurch 
erzeugte Reihe gleichartiger Einheitsrepublilen und Central⸗ 
GSonföderationen duch einen mehr oder weniger flarden Filial⸗ 
verband dem franzöfifhen Mutterfreiftaat als Mittelpunkt 
dee Bewegung angefchlofien. So gegliedert und im Ganzen gleich⸗ 
artig eingerichtet, tritt die republilanifche Liga Frankreichs mit 
feinee Directorialverfaffung (feit 1795), der Schweiz (heives 
tifhen Republik, f. 1798), Hollands (der batavifhen Be 
publik, f. 1795), Oberitaliens (ber cisalpiniſchen Republik, 
ſ. 1797), Liguriens (Genuas f. 1797), Roms (croͤm. Republik, 
ſeit 1798), Neapels (parthenopaͤiſche Republik, ſeit 1799) der 
monarchiſchen Confoͤderation ſiegreich entgegen, iſt aber unfaͤhig 
in Folge der vielfachen Widerſpruͤche und Mißgriffe, den Stand ber Dinge 
zu behaupten. Die Urfachen fpringen leicht aus dem Widerſtreit hervor, 
welchen die bezeichneten Drganifationsprincipien gegenüber dem 
biftorifch s realen Boden finden und bis zur endlichen Aufloderung 
umd Confumtion bes etwa an Frankreich gefnüpften Republilaniss 


186 Gonfoͤderation. 


mus ſteigern mußten. Denn bie Lehre vom allgemeinen Menſchen⸗ 
und Bürgerrecht als hoͤchſtem Staats zweck wurde nur zu oft von 
der armen, bedrängten, verwahrloften Maſſe, von den felbftfüchtigen, ehr⸗ 
geisigen Stimmführern und Machthabern bis zur Gefeglofigkeit ausges 
beutet, die unbedingte Sentraltfation als nie verfiegende Quelle pros 
vingiellecorporativer Unruhen nur durch Waffengemwalt behauptet ind 
das weltbärgerlidhe Humanitätsprincip von dem geſchichtlich 
entwidelten Bollsthum mit Mißtrauen, zulegt Haß empfangen und 
nach Kräften abgeftoßgen. — Den am meiften ausgebildeten Kern des 
aus dem franzöfifhen Revolutionsproceß und der abſtract⸗na⸗ 
turrehtlihen Schule defjelben hervorgegangmen flaatlidhen Or⸗ 
ganismus enthält die fo geheißene Directorialverfaffung der einen 
untbeilbaren Republik. Sie konnte bei etwa reineren Sitten und 
Derfonalbezügen, namentlidy der Oberbeamten und Machthaber, bei firen« 
germ, von ihre nicht ganz verfchmähten Anfchluß an die real=biftorifche 
Seite auf längere Wirkſamkeit zählen, einmal jedoh durch Factionen 
und Gewalt umgeworfen, den verlornen Schwerpunkt nimmer wiebers 
finden. Die vepräfentative Sentralrepublit Frankreich, durch 
bie im Ganzen zmedimäßige Conftituiion vom 23. September 1795 eins 
geführt, rudte dem Weſentlichen nach auf folgenden Grundgefegen. — 
Neben den Menſchen⸗ und Bürgerrehten, melden die Befugniß 
bes bewaffneten Widerſtandes und ber politifchen Volksgeſellſchaften nicht 
angehören, giebt e8 Pflichten. Ihre Infumme ift: „Thue Andern 
nicht, was du nicht willit, daß man dir thue! Krmeife ſtets Andern 
das Gute, welches du felkft von ihnen zu erhalten wuͤnſcheſt!“ — Die 
Geſammtheit der Bürger ift der Souverdn. — In den Urver» 
fammlungen ftimmt jeder Franzofe, auch der ganz Wermögenslofe, 
wenn er einen Feldzug mitgemacht hat; in den Wahlverfammlungen, 
welche von den erftern ausgehen, entfcheidet ein beftimmter Grundbefis. — 
Der gefesgebende Körper befteht aus zmei Kammern, einem Rath 
der Alten von 250 Bliedern, und einem Rath der Fuͤnfhundert. 
Jener nimmt an oder lehnt ab, dieſer fehlägt vor; für jeglichen Rath 
gilt jährige Erneuerung zu einem Deittheil. Die Gefammtheit ift 
immerwährend (permanent), kann ſich jedoch auf beftimmte Friſten ver> 
tagen. — Die vollziehende Gewalt befist, vom gefesggebenden 
Körper aus feiner Mitte ernannt, das fünf Glieder ftarke, jedes Jahr 
durch den Austritt und die Wahl eines Beiſitzers erneuerte Directos 
rium. Daffelde forgt für die dußere und innere Sicherheit der Repubs 
lik, verfügt über die bewaffnete Macht, bezeichnet die Oberfeldhern, Die 
dipfomatifchen Agenten und fech8 unter ihm arbeitende Minifter, voll: 
ſtreckt die legislativen Beſchluͤſſe, fuͤhrt den Verkehr mit dem Auslande, 
legt jaͤhrlich Rechenſchaft ab über Einnahme und Ausgabe, fchlägt den 
Krieg vor, über melden beide Näthe im Namen ber Nation entfcheis 
den, fchließt Präliminarverfommniffe und kurze Waffenſtillſtaͤnde 
ab, darf geheime Gonventionen eingehen, 

Die Rechtspflege, von der vollziehbenden und geſetzge— 


Confdderation 187 


benden Gewalt ſcharf getrennt, ruhet auf den Grundſaͤtzen der Defs 
fentlichkeit und Geſchwornen, von welchen Etliche zuerft über 
- Die Anklage, darnach Andere über die Thatſache erkennen und da⸗ 
durch die von dem peinlichen Gerichtshofe angewandte Strafe des Ges 
fees vorbereiten. Für die ganze Republik befteht ein Caffationshof; 
ein hoher Juſtiz hof entfcheidet über die durch den legislativen Körper 
ſewohl gegen feine eigenen Mitglieder als gegen bie des Vollziehungebis 
rectoriums angenommenen Ank’agen. 

Die überwiegende Wirkfamkeit des ideal⸗abſtracten Princips, 
ein Hauptmerkmal ber franzöfifhen Staatsrehtsfhule während ber 
Revolution, tritt In diefem fonft mohlgegliederten Grundgefeg und 
der praftifhen Anwendung beflelben mehr von ber pfyhologifchen 
denn volitifhen Seite ber an bie Oberflaͤche. Erftens nämlid 
ignorirte man: gleihfam den durch die frähern Wechfel und Erſchuͤtte⸗ 
rungen bewerkſtelligten revolutionären Charakter des Volks unb 
trauete demfelben einen Grad der Drdnungsliebe und des gebildeten 
Rechtsſinnes zu, welchen es thatfächlich weder befaß noch wegen 
der früheen Verſunkenheit befigen Eonnte. Da kamen Wahlen über 
Wahlen bald mit, bald ohne Genfus, Geſchworne nach englifch : nordames 
ritanifher Form ohne hinlängliche, durch Unterricht, Religion und Sitts 
lichkeit gewonnene Reife, Berufungen an den Volksinſtinct für Recht 
und Gerechtigkeit ohne in das Fleifh und Blut eingewachſene Bräuche, 
Sitten und Früchte eines veredelten, von den Schladen der Prieſter⸗ 
berrfchaft gereinigten Gottes: und Chriftenglaubeng, welchen feit Jahren 
die Acht der Staatsgewalt getroffen hatte, Appellationen an die Ein« 
fiht und Kenntniß, während, trodene Reglemente abgerechnet, 
dafür nichts von Belang geſchah; da flellten ſich endlih Reclamas 
tionen ber mißtrauifhen Staatspolizei ein, welche im Widerſpruche 
mit dem angekündigten Vertrauen alle häufige Acte der mwählenden 
und hanthierenden fouveränen Volksmaſſe buch Agenten, Commiffäre 
u. f. w. unter dem Vorwande des Gemeinwohls überwachen und leiten 
mollte, bier die Hoheit der Nation anerkannte, dort bie ihr zugefagte 
Detitionsbefugnig durch das conftitutionelle Verbot ber Collec⸗ 
tivbittſchriften und ratbfchlagender Gefellfhaften wiederum 
verfümmerte (Titel XIV. 8. 361—364). Ferner enthielt die Gleich» 
ftellung (Coordination) der gefeggebendben und vollziehenden 
Macht den Keim der Eiferſucht und Zwietracht, welche zurüdtreten 
mmpßte, fobald die zweite der erften nicht gleich, fondern untergeorbs 
net (fubordinirt) wurde. Mit biefem Princip Eonnte fidy recht gut eine - 
ſtarke Regierung vertragen, deren Frankreich bedurfte. Ueberdies 
war die Fünfzahl ber oberften, faft ſelbſtherrlichen Vollzie⸗ 
hbungsbeamten zu Hein für den Begriff der collegialifchscorpeos. 
rativen, zu groß für ben der unitarifchzcentralifirenden 
Berwaltung, welcher die Einheit oder Zweiheit (Präfident, Duums 
virat) unter gehöriger Controle beffer geziemen mochte. Dennoch hätte 
bie Republik, auch abgefehen von den erwähnten confliturionels 


188 - Sonföberation. 


len Gebrehen und von mangelhaften Perſoͤnlichkeiten, längern 
und feftern Befland gewonnen, wäre nicht drittens in dem fonft natur- 
gemäßen Allianzſyſtem die gleihartige Umgeflaltung der Filiale 
freiflaaten hinzugetreten. In Folge diefes Verkennens einer hiſto⸗ 
eifhsvoltschämlidhen Grundlage, biefes Strebens nad einem 
univerfellstfosmopotlitifchen Princip, hinter weichen nicht felten 
Eigenſucht, Ehrgeiz und Habgier lauerten, gingen manche fonft vielfach 
wohlthaͤtige Schöpfungen auf dem Gebiet föderaliftifcher Freiſtaaten 
fon in der Geburt zu Grunde. Dies gilt namentli von Holianb 
und ber Schweiz, welche bei dem unteifen und vergänglichen Weſen 
ber übrigen frangöfifhen Schwefterrepubliten bier allein Beachtung 
fordern dürfen. In beiden Kernlanden des mittelalterlihen Foͤder alis⸗ 
mus arbeiteten Sitten, Gewohnheiten, Gefege der Volksmehrheit 
wider den von Frankreich und heimifher Minderzahl empfohlenen 
und eingeführten reinen Sentralifationsfreiftaat. Zwar hatten 
bie Holländer bald nad dem Einrüden ber Franz oſen in Amfters 
dam (19. Jänner 1795) den Untergang ber alten Generalſtaaten 
mit ihrer Erbſtatthalterwurde, Iandfchaftlichs ftädtifhen, adelig⸗ 
kirchlichen Braͤuchen und Rechtſachen ziemlich gleichgültig angefehen, aber 
mit bedeutender Mehrheit den erfien Entwurf ber einen und un⸗ 
theilbaren batavifchen Republik verworfen (1797). Widerwillen ges 
gen unbebingte Sentralifation und die beabfichtigte Umwandlung 
der Provinzialfchulden in eine Nationatfhuld führten das ber 
patriotifchen Einheitspartei und ihren Befchirmern gleich unerwartete 
Endergebniß herbei. Den erneuerten Anftrengungen ber Lift und Ges 
walt wichen jeboch allmälig die $öderaliften, in den Urverfammluns 
gen wurde der zweite Verfaffungsentwurf zu Gunften der Einheit und 
bee Unitarier (Demokraten) angenommen (23. April 1798). Alte 
Scattens und Richtfeiten des neuen franzöfifhen Grundgefeges gingen 
auch auf Batavien über; e8 bekam feine acht, nad) Fluͤſſen und 
Städten benannten Departemente, feine allgemeinen Grundfäge, 
unter welchen die ehrfurchtsvolle Anerkennung des hoͤchſten Wefens 
als ein fefteres Band ber Gefellfchaft jedem Bürger empfohlen wurde 
($. 8.), feinen fünf Glieder ſtarken Vollziehungsausfhuß oder 
Staas:Bewind, feine zwei Arme oder Kammern des ftellver> 
tretenden, 90 Glieder zählenden Körpers für die Gefeggebung, 
feine Departements: und Gemeinderegierungen, feine unab⸗ 
hängige, Öffentliche, vielfach abgeflufte Rechtspflege, jebod ohne 
Geſchworne und mit eigenthümlihen Kriegsgerichten verbunden 
feine ünftlihen Reglemente und mannidfaltigen,, geräufchvollen 
Wahlen, fein jähriges Budget mit geheimen Ausgaben für den 
Vollziehungsrath ($. 217), fein neues Finanz- und Steuer—⸗ 
ſyſtem, welches, unterftüst von dem Nationalfhyagamt und ben 
Commiffarien des Nationalrtehnungsmwefens, nah Aufhe⸗ 
bung ber Zehnten und anderer Feudalgefälle vor Allem Gleichmaͤßig⸗ 
keit der Abgaben ohne Kopffteuer und Accife auf Lebensmittel der 


Gonföderation, 489 


Nothburft ($ 210) erſtreben und gemach die anwachſende Natio⸗ 
nalſchuld tilgen ſollte, feine die Verfaſſung pruͤfende Reviſions⸗ 
commiffion, welche jedoch allfaͤllig erſt zu Ende des Jahres 1808 
eintreten duͤrfe, und feinen Nationalſchwur ober allgemeinen Bär» 
gereid. „Ich erklaͤre, lautete der Kern, daß ich einen unveränderlichen 
Abſchen vor der Statthalterfchaft, dem Föderalismus, 
ber Ariftotratie: und dere Gefeglofigkeit hege.“ — Allein das 
Alles werfing nur für Burze Zeit. Die verftändig nüchternen, an Volks⸗ 
ebämlichleit und corporativ-föderaliftifche Negierung ges 
wöhnten Niederländer wollten keine Abfchreiber eines fremden, 
univerfalstosmopolittihen Bundesftaates fein; Mißvergnuͤgen, Gleiche 
gültigleit, Verachtung ber vielen papiernen Reglemente und theoretifchen 
Borfchriften traten an die Stelle bes erften, bald — Eifers. 
Kaum hatte daher in Frankreich die ſo geheißene Bruͤmairere⸗ 
volution (9. Nov. 1799) duch das Conſularregiment ein 
militärifhsmonarhifches Princip in die eine und untheilbare 
Mepubtit gebracht (18. Febr. 1800), fo Außerte ſich auch der Rüde 
flag auf den batavifchen Freiſtaat. Die umgeftaltete Verfaſſung 
Deffelben (16. Dct. 1801) verlieh dem zwölf Glieder zählenden Staate« 
Bewind den Vorfchlag (die Initiative) der Gefepe, dem legislatis 
ven, nur fünf und breißig Köpfe flarken Körper bie einfache Ans 
nahme ober Verwerfung der Anträge, welche von dem Zwoͤlfer⸗ 
ausfhuß (Copie des franzoͤſiſchen Tribunats) vorher geprüft wors 
ben, den aht Departementen die alten Namen und Grenzen ber 
fiben Provinzen und Brabants, den Religionsgeſellſchaf—⸗ 
ten, welche ein hoͤchſtes Weſen anerkennen, Tugend und gute 
Sitten begünftigen,, den gleichmäßigen Schuß des Gefeges ($. 11 der 
B.:U., bei Poͤlitz II. 162), dem Feudalweſen endlid ewige Ab⸗ 
fhaffung ($. 16.), alfo daß ſaͤmmtliche Lehen für Allodialguͤter gelten 
follten. Aber auch diefe mehr concentrirte Korm des Einheits⸗ 
ſtaates fand Beinen vollschümlidhen, an die Vergangenheit 
geknuͤpften, daher feften Boden, Parteihaß, Gteichgültigkeit, Glaube an 
die Macht eimer unabweisbaren Nothwendigkeit, welche ſich in dem 
monardifchsmilitärifchen Kaiferthum des ohne Kampf entrepublifanis 
firten Frankreichs darftelle, fleigende Kriegsbrangjale und Verluſte, 
Mangel an einer großen patriotifchen Perfönlichleit — dieſe Umflände 
führten die niederländifche freie Gonföderation immer rafcher dem 
Grabe entgegen. Sie durchſchnitt mit verbundenen Augen die Vorballe 
befjelben, welche fich hinter leeren, altvaterländifhen Wappenſchildern 
und Formen täufchend und getäufcht aufthat. Unter der Mitwirkung dew 
Kaifers Napoleon nämlich erhob fich nach dem Beſchluß des bata= 
vifchen Volks, melches die überreichte Verfaffung annahm (15. März 
1805), die monardhifchsariftotratifhe Dictatur bes Raths⸗ 
Penſionaͤrs und ber hochmoͤgenden Herrn. Sener, von einem 
abhängigen, durch ihn ernannten Staatsrath, fünf Miniftern 
und einem Generalfecretär unterflügt, wird von diefen, ben Re⸗ 


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140 ” Gonföberation. 

präfentanten der Republik, auf fünf Jahre gewählt, kann jedoch 
fein Amt gu jeder Zeit nieberlegen; er befigt die ganze vollziehende 
Gewalt, ausgenommen bie Genehmigung (Ratification) der Fries 
dens⸗, Sreundfchaftes und Hanbelsverträge, ‚weiche wie bie 
Kriegsertidrung auf feinen Vorſchlag an die hochmoͤgenden 
Herren kommt; er leitet den Nationalſchatz, bereichnet alle hoͤhern 
Sriedens: und Kriegsbeamte, beantragt die Geſetze, beflimmt 
das jährige Budget und forget für die möglichite Vereinfachung bes 
Staatshbaushaltes. Neunzehn auf drei Jahre von den acht Depars 
tementsverwaltungen gewählte Repräfentanten oder Hochmoͤgende 
fielen die gefeggebende Macht barz fie verwerfen eder billigen die 
vom Rathspenfionär ausgegangenen Anträge, entſcheiden über bie 
Bebürfniffe des Öffentlihen Haushalts, üben das Begnabigungss 
recht aus, verförpern mit dem Rathépenſionaͤr die Hoheit des 
batavifhen Volks. — So vorbereitet, von Schulden, Krieg, Sto⸗ 
dung bes Handels, Mißmuth und Zwietracht barniebergebrüdt endete 
ruhmlos die neue batavifhe Republik, auf ben Wunfch der Hochs 
mögenden hin durch ben Kaifer Napoleon in das von Frankreich 
abhängige, dem Scheine nach felbftherrlihe Königreih Holland 
umgemankelt (5. Jun. 1806). Diefen [hmählichen Ausgang nahm die 
einft flarfe und Iebensvolle Confoͤderation der Niederländer haupt⸗ 
fächlich deshalb, weil fie im Eritifchen Augenblide weder das Alte zu 
ſchirmen noch ihm das Neue ſchrittlings zu verfchmelzen wußte, fondern 
mit einem Wurf und Sprung aus dem lodern Bunde der Generals 
flaaten in die vepräfentativ-dbemofratifhe Centralrepublit 
hinüberfegte und alte Zwiſchen glieder verabfäumte. Mit Mühe und 
Noth entrann demfelben Koofe die ſchweizeriſche Eidgenoffenfhaft. 
Ihr haben Natur» und Volkscharakter, fchärfere und maffenhaftere Aus⸗ 

prägung der Parteien, ſtaͤrkerer Umſchwung dee politifchen Begriffe, welche 
allmälig eine nüglihe Fuſion des Föderaliftifhen und unitarie 
[hen Princips erzeugten und duldeten, endlih Gluͤck, fchirmenbe, für 
Holland vermißte Vortheile und Rettungswege gebradht. Der Ent⸗ 
widelungsproceß felber, durch das Sneinandergreifen heimifcher und frems 
der, oͤrtlich⸗ corporativer und allgemeiner Plane und Triebfedern vielfach 
verfchlungen und aufaehalten, durchſchritt drei Hauptkreiſe. Sie erfchei: 
nen in der demokratifch srepräfentativen Bundeseinheit oder Gens 
tralität (1798 — 1803), in dem Gleichgewicht der föderativs 
centraliftifhen Kraft (Mebdiationsacte 1803 bis 1815) und dem 
Mebergewicht bes föberativen Principe oder der Eantonalen Sous 
weränetät, welche nach innen und außen durch den Iodern Bundes: 
werein zufammengehalten wird (feit 1815). Das politifchs> fittlidhe 
Leben des ſchweizeriſchen Mittelalters war abgelaufen; den Forderungen 
und Bebürfniffen der neuen Zeit genügten weder die Grundgefege noch 
die Formen der alten; indem man die Sühne zmifchen beiden Richtun⸗ 
gen verabfäumte oder die Reform im günftigen Augenblid für unbe: 
Kimmte Friſt zuruͤckdraͤngte, brach wie cin Dieb in der Nacht bie hel⸗ 


Gonföberation. 14 


vetiſche, buch Frankreich nicht hervorgerufene, nur befchleunigte - 
Revolution aus. Mit theilmeifer Würde, jedoch planlos, ſank bie 
Eidgenoffenfhaft der dreizehn Drte, der Zugewandten unb 
Unterthanen auf verfchiedenen Schlachtfeldern; aus den Trümmern, 
welche der patriotifchzabftracte Unionsgedanke mit feinen 
neum Begriffen und Gefühlen gegenüber allgemeinere Freiheit und 
Bteichheit zu beferlen trachtete, flieg im Ganzen nad) dem Vorbilde 
Frankreichs die eine und untheilbare Republik Delvetiens 
empor. Sie brachte in ſtaats rechtlicher Beziehung als praftifche 
Drgane und Unterpfänder der durch eine ſtaͤndiſche, Srtlihe und 
geſchlechterliche (patricifch sartftoßratifche) Worrechte gehemmten Ges 
fammtheit da8 allgemeine Helvetifhe Bürgerrecht, bie Deffent; 
lichkeit und VBereinfahung der Rechtspflege, welche fih an 
ein unb baffelbe bürgerlich » peinliche Geſetz buch anlehnen und theils 
weile Sefhworne aufnehmen follte, Religions: und Preßfrei⸗ 
heit, freien, von feinen unablösbaren Laflen befchmwerten Boden; fie 
ſchuf und entwidelte in ftaatswirchfhaftliher Ruͤckſicht die Idee 
bes Nationalguts, welches aus antonalem und corporativem 
Beſitzthum gebildet für den sffentlihen Nugen verwendet werben 
follte, fie verlieh Freiheit des Gewerbs buch Auflöfung bevorrechteter 
Zünfte, laͤhmender Zolllinien; fie centralifirte in culturgeſchichtlich⸗ 
pädagogifher Beziehung den Volksunterricht und die Kirchen⸗ 
angelegenheiten duch das Minifterium des Cultus, burd Er» 
ziehungs raͤthe und mande gemeingültige Vorfchriften; man faßte 
fetbft den Gedanken einer Nationaluniverfitätz von verfchlebenen 
Seiten ber kamen dem frifchern, wenn auch oft ungeflünen und etwas 
zuchtloſen Volksleben anregende Kräfte und fördernde Hilfsmittel. 
Nicht umfonft hieß es: „die Aufklärung ift dem Wohlſtand vorzuziehen” 
( V.⸗Acte $. 4.) Raͤumlich zerfiel die neue Eidgenoffenfhaft 
einflmweilen in zwei und zwanzig an Rechten und Pflichten gleiche 
Kantone, unter welhen ſich die ehemaligen Unterthbauen, wie 
Thurgau, Lugano, Bellinzona, oder Angehörigen einzelner 
Drte, wie die Waadt, Aargau, endlih Zugewandte, wie St. 
Ballen, befanden. Die gefeggebende Gewalt bekamen zwei von 
einander unabhängige, mit verfchiedener, zum Theil flitterhafter Amts: 
tracht ausflaffitte Raͤthe; der Senat, aus den Alt: Directoren und 
je vier Abgeordneten der einzelnen Kantone gebildet und alle ungerade 
Sahre (1, 3, 5) zum vierten Theil erneuert, ſollte die Beſchluͤſſe des 
großen, aus je acht Kantonsvertretern zufammengefegten Rath6 ans 
nehmen oder verwerfen , mit diefem über Iegislative Gegenftände, Steus 
ern und Finanzen, Krieg und Frieden entfcheiden. Das fünfgliedrige, 
alle Sabre um einen Beifiger ergänzte Directorium jollte ale oberfte 
Vollziehungsbehörbe gegenüber ben Gefegen und Belchlüffen 
wirken, für die innere und aͤußere Sicherheit forgen, den biplomatifchen 
Verkehr führen, über die bewaffnete Macht, jedoch ohne unmittelbaren 
Heerbefehl, verfügen, bie höheren Beamten, unter ihnen vier Miniſter, 


142 Gonföderation. 


meiſtens ernennen, in Verträge mit auswärtigen Mächten geheime Ars 
titel aufnehmen, besgleichen über geheime, dem jährlichen Finanzbe⸗ 
eicht nicht beizufägende Gelder [halten dürfen. Die Entfcheidung über 
höhere Criminalſachen befam der von den Kantonen erwählte Ober: 
gerihtshof, welcher auch In Eivilfachen formwidrige Urtheile der uns 
tern Gerichte zernichten (cafficen) und bei Klagen wider das Directorium 
und die gefeggebenden Mäthe urtheilen follte. In den Kantonen be 
ftanden für die VB ollziehung der Gefege und Polizei Regierungse 
flatthalter, vom Directorium ernannt, für die Aufficht über den Haus: 
balt, Handel, Aderbau, das Schul und Kirchenwefen von.den Wahls 
koͤrperſchaften erkorne Berwaltungstammern, für die Rechte 
pflege Kantonss und Untergerihte. — Geiftliche endlich wurden von 
allen polittfhen Rechten ausgefchloffenz; fie durften weder Staats 
ſtellen bekleiden noch den, Urverfammlungen beimohnen. ($. 26.) 
— Obſchon diefes Seundgefeg der hel vetiſchen Centralrepublik 
manche Vortheile und Fortſchritte bot, konnte es, abgeſehen von 
der fremden, druͤckenden Schirmherrſchaft Frankreichs, wegen ber 
Koſtbarkeit ſeiner Behoͤrden, des Verſtoßes gegen alle bisherige 
Gewohnheiten und Einrihtungen auf die Länge hin nicht Stand 
halten. Denn bie gleihfam vorweggenommenen, kuͤnftigen Staats⸗ 
fitten (mores), natürlich vielfach an die Vergangenheit geknäpft 
und In jeder Republik die eigentlihe Grundlage, befanden ſich im 
offenen Mißverhättnig, ja Segenfag zur Staatsverfaffung. Daher 
bie Unmöglichkeit der Dauer, wenn, was nicht gefchah und binnen etli⸗ 
hen Fahren nicht gefchehen konnte, Feine durchgreifende Umgeflaltung der 
Sitten mittelſt der Erziehung und bes Lebens begegnete. So kam 
denn nach langem Vorgefecht der offene und maffenhafte Zufammen> 
ſtoß des alten föderaliftifhen und neuen centraliftifhen Wes 
ſens (1802). Durch Frankreichs Dazwiſchenkunft wurde bem blutigen, 
für die Foͤder aliſten guͤnſtigen Buͤrgerkriege Biel geſetzt, darnach in 
der Mediationsacte, welche Napoleon Bonaparte, Obercon⸗ 
ſul der franzoͤſiſchen Republik, und ber gen Paris entbotene ſchweizeriſche 
Verfaffungsrarh (Confulta) abfaßten, eine im Ganzen glüdliche 
Verbindung des föderaliftifhen und unitarifhen Principe nies 
bergelegt (19. Febr. 1803). Nach diefem Gompromiß bes Alten und 
Neuen umfaßte die Eidgenoffenfchaft dreizehn alte und fehe neue 
Kantone (Aargau, Waadt, St. Gallen, Thurgau, Teffin und Buͤnden), 
ſchloß für immer Unterthäntgkeit, örtliche, perfönlihe, Ge⸗ 
burtss und Familienvorzuͤge aus (M.⸗A. $. 3), vergönnte unbe⸗ 
dingte Gemwerbsfreiheit und Niederlaffungsbefugniß, jedoch 
alſo, daß kein Bürger gleichzeitig feine politifchen Rechte in zmei Kantonen 
üben ſollte, tilgte alle Innern Zölle und Gefälle von Ein - und Ausfuhr, un» 
terfagte Particularbändniffe eines Kantons mit dem andern ober 
mit einer fremden Macht, übertrug gemeinbünbifche Angelegenheiten 
der abwechfelnd In Freiburg, Bern, Solothurn, Bafel, Züri 
und Luzern verfammelten Tageſatzung, deren Präfidentfchaft in 


Gonföderafion. 148 


den senannten Directoriallantonen ber jeweilige Bürgermeifter 
oder Schultheiß als Landamman und Mittelmann ber diplomas 
tifchenw Verhältmiffe übernehmen ſollte ($. 16. 18.) gönnte den uͤbri⸗ 
gend wie alle Boten durch Inftructionen: befchränkten Abgeorbnneten 
der größern Kantone Bern, Zürich, Waadt, St. Gallen, Aargau und 
Graubuͤnden jeglihem zwei Stimmen ($. 28), feste die Befugniſſe ber 
haͤchſten, alljährlich vier Wochen lang verfammelten Bundesbehoͤrd⸗ 
dahin feft, daß fie mit drei Vierten der Kantone über Krieg, Frie⸗ 
den umd Bundesverträge entfcheiden, Danbdelstractate und Mis 
litdreapitulationen abfchliegen, die bewaffnete Macht beaufe 
fichtigen und für die öffentliche Sicherheit gebrduchen, in ein 
: Spadicat mit gleichen Stimmen umgemwanbelte Kantonalftireitigs 
Leiten unterfuchen und beilegen, endlich für zwei Jahre den jedesmalie 
gen Kanzler und Kanzleivorfteber bezeichnen follte. Der jähr- 
ich wechfelnde Landamman, Siegelbewahrer dee helvetifhen Res 
publik und vom jeweiligen Directoriallanton befoldet, ftellte die 
vollgiehende und regierendbe Bundesgewalt bar, er leitete dem 
biplomatifchen Verkehr, entwarf den Jahresbericht Über die innere 
und aͤußere Lage der Dinge, fchlichtete geringere Streitigkeiten, entbot bei 
ſchwierigern, auf Hilfebegehren des bedrohten Kantons, Kriegsmannſchaft 
und berief eine außerordentliche Zagefagung ; er rügte das bundes⸗ 
widrige Betragen des einen oder andern Orts, beauffichtigte Heerſtraßen, 
Wege und Ufer, gab endlich durch feine Unterfchrift als Nationalzeichen 
den Urkunden volle Gültigkeit. — Bei den unleugbaren Fortſchritten, 
welche der mittelalterliche Staatenbund in dem buch den Land⸗ 
amman befonders fefler zufammengehaltenen Bundesſtaat be 
Mediationsacte niederlegte, traten auch andererfeits gegenüber ber 
aufgelöften Einheitsrepublit manche Ruͤckſchritte hervor. Waͤh⸗ 
rend nämlich die kaum vermeibbare nationale Abhängigkeit von Frank⸗ 
reich blieb, büßte man namhafte, durch die hHelvetifche Revolution 
erhaltene Sewinnfte und Errungenfchaften des gemeinfamen, feflm Bun» 
deslebens ein. Denn es verfhmanden Obergeriht, Deffentlidh» 
keit, Preßfreiheit, allgemeines Bürgerrecht, Begriff bes 
N ationalguts, welches theilmeife für eidgenöffifche Bildungsanſtalten, 
Heer s und Lagerweſen dienen Eonnte, bündifche Aufficht und Leitung bes 
Öffentlichen Unterrichts; es Eehrten zuruͤck ädtifchscorporatives 
Bermögen (Dotation) und Kloftergut (Zuſatzartikel 13. 1.), welches 
bisher Einziehung oder Beſchlagnahme getroffen hatten. — Ueberdies bes 
kam das oͤrtliche oder kantonale Sonderleben in ben Städten 
und Gebirgslandfchaften, welche ihre Landesgemeinden und 
Landräthe von Neuem einrichten durften, in der Mediationsacte 
ziemlich freien Spielraum, und mit ihm traten die ehemaligen Ab = und 
Buneigungen, menn auch milder und durch dm eifernen Krieg bes 
Zeitalters gezügelt, hervor. Bei dem plöglichen Umfchlag des franzoͤ⸗ 
fifhen Waffengtüds und dem Sturz des Eaiferlichen Militärreiche bes 
kam deshalb in der Schweiz bie duch Napoleon’s Mediation gleich 


14 Gonföberatipn. 


fam inmitten der Strömung gehemmte Foͤderaliſtenpartei gegen- 
über der tiefgefuntenen centraliftifchen eritfchiebene Vorherrſchaft. 
Alter, Zod und Verflüchtigung hatten den Stamm der hefostifchen 
Einheitspartei ſchon feit Jahren bis auf etliche Trümmer gefällt, 
das jüngere Geſchlecht genoß behaglich die Früchte des Baumes, welchen 
das Ältere theils verwünfchte, theild zu bewaͤſſern unterlaffen hatte. So 
trodneten feine legten Wurzeln aus; die Mediationsacte wurde zerriffen, 
zum Staub ber Archive gelegt, ein neuer Bund foͤderaliſtiſch-kan⸗ 
tonaler Färbung eingeleitet, beſchworen (7. Aug. 1815), von den eu⸗ 
ropaͤiſchen Großmaͤchten anerfannt und mit der ſchweizeriſchen Neu⸗ 
tralität für Lünftige Kriegsfälle ale zweideutiger Beigabe ausgerüftet. 
Gleichzeitig begann für die fouveränen Kantone eine überwiggend 
ariflofratifhrcorporativ geftaltete Entwicklung, welde in ber 
Bundesurkunde gerade wegen des abſichtlich locker Geſammtlebens eher 
Sunft denn Hemmung fand. Die wefentlichflen Aenderungen, weldye 
das Bundesverhälthiß erlitt, beziehen fi) auf vier Punkte Erſtens 
wurde bie vollziehende und zufammenhaltende Gewalt des Landam⸗ 
mans ber Mediationsacte durch die Bundesverfaffung des Jahres 
1815 bedeutend eingefchräntt. Der neue, zwellährige, an Bern, Zuͤ⸗ 
rich und Luzern gefnüpfte Vorort hängt ganz von den Kantonen 
ab, welche ihm bei außerorbentlihen Umfländen duch die TZagfagung - 
befondere Vollmachten ertheilen und eidgenöffifhe NRepräfentanten 
beigeben. Er bat kaum Kraft für die gewöhnlichen, gefchweige denn 
außerordentlihen Fälle; er ift nichts als ein Zifferblatt der Bun⸗ 
desuhr, welche Ihr treibendes Raͤderwerk in den Kantonen beſitzt. Auch 
hat die Conföderation einenrein abmehrenden (negativen) Zweck; 
fie fol Ruhe uud Ordnung im Innern handhaben, Freiheit, Unab⸗ 
hängigkeit, Sicherheit gegen alle Angriffe fremder Mächte behaupten 
($. 1); der Charakter des urfprünglihen Landfriedenss und Wehr: 
bündniffes Eehrt vorherefchend zurüd, verdrängt, lähmt den Begriff 
einer politifchen Union, eines Bundesftaates (Bol. Media: 
tionsacte Tit. 2. $. 13 —24 mit $. 8 der Bundesacte bes S. 
1815.) — 3 weitens mwurde in demfelben Verhältniffe, in welchem 
das Unionsprincip abnahm, das kantonale oder föberaliftifche 
gefteigert. Die 22 Kantone find geradezu fouveran ($. 1) und 
geben von ihrer Hoheit durch Abgeordnete, welche die Inſtruction bindet, 
zur Mothdurft etlihe Stüde an bie vielgegliederte, bin und her gewor⸗ 
fene, wandernde Tagſatzung ab. Diefe durfte z. B. nah der Mes 
diationsacte allein Militärcapitulationen und Handels 
verträge abfchließen, während der neue Bund Militärcapitulationen 
und Verträge über oͤkonomiſche und Polizeigegenftände den einzelnen 
Kantonen überläßt ($. 8. B.⸗Acte). Durch diefe Befugnig werben, obs 
ſchon Hanbelstractate in die Gompetenz ber Zagefagung fallen, 
vielfache Mißgriffe und Mißbraͤuche gleichfam hervorgerufen und bie 
diplomatifhsfinanziellen Beziehungen der Schweiz zum Auds 
lande einer durchgreifenden, gemeinnügigen Befchlußnahme entzogen. 


Sonföberation. : | 145 


Drittens wurde bie theilwmeife von der Mediationsacte genommene 
Rödfihe auf Bevoͤlkerung für das tagfäglihe Stimmrecht befei« 
tist und eine unbebingte Gleichheit auf der ſtaatsrechtlichen, 
Ungleichheit auf der finanziellen Linie eingeführt. Wenn naͤmlich 
früher die über 100,000 Einwohner zählenden Kantone zwei Stimmen 
befamen (Mebiationsacte Tit. 3. $. 28), fo erklärte der neue Bund 
ducchweg gleiche Stimmbefugnig (Bundksacte $. 8) und ungleiche 
Beiträge an Gerd und Mannſchaft ($. 3). “So fichen 3. B. politifch 
Uri mit 136, Bern mit 4584 Mann Gontingents durchaus gleich, 
ein Grundſatz, welcher wiederum entſchieden zu Gunften des föberatiftis 
fhen Principe wirken und die Thatkraft des Bundes lähmen mußte. — 
Brertens wurde das Syndicat oder das Richteramt bei eibge 
noͤſſiſchen Streitigkeiten, welche Landamman und Tagſatzung 
laut ber Mediationsacte (Tit. 3. $. 86) befaßen, aufgelöft, das in 
der alten Schweiz üblihe Schiedsgericht wieder bergeftellt (Buns 
desacte 5. 5) und dadurch die tagfäsliche Bundesgewalt bedeutend ges 
mindert. Endlich übernahm die Eidgenofienfchaft die Gemwährleiftung 
für den Fortbeſtand der Klöfter und Eapitel ($. 12) und hemmte 
dadurch den freien Eulturgang der Zukunft, während bie bereits von 
der Mebiationsacte ausgefchloffene Leitung des Nationalunterrichts keine 
bündifhe Buͤrgſchaft empfing. In dieſer ungewiffen Stellung wurde 
der ſchweizeriſche Staatenbund von den demokratiſch⸗ repräfentativen 
Kantonalrevolutionen (183033) überrafht, welche auf ben 
Bımdesverein Feine ruͤckwirkende Kraft übten und gerade dadurch die 
Zerfplitterung wie das Mißverhältnig der Theile zur Geſammtheit fürs 
berten. 


Wirft man endlich einen fluͤchtigen Blick auf bie freien Conföberas 
tionen Sädameritas, fo zeigen diefe republitanifchen Staatehvereine 
in Zolge der gemifchten Bevoͤlkerung und langen ſpaniſchen Dienfibars 
Leit Beine befondere Drganifationsfähigkeit. Durch Waffengluͤck, Talent 
und Vaterlandsliebe einzelner Bürger nad) mehr oder weniger zähem 
Kampfe (1808—1824) von der europälfchen Obergewalt befreit, folgten 
die fübameritanifchen Freiftaaten und freiftädtifhen Buͤnde 
bei der Gliederung ihrer Geſellſchaftsverhaͤltniſſe meiſtens dem hinfichtlich 
der Kraft und Sittenſtrenge nicht erreichten Vorbilde des Nordens, 
Ein gefeggebender Congreß mit zwei Kammern, welche beide auf 
eigenthümliche Art den Antrag fielen, ein für vier Jahre mit ber 
vollziehenden und feldherrlichen Macht ausgerüfteter Praäfident, 
Preßfreiheit, Oeffentlichkeit der möglichft unabhängigen Gerichte, Volks⸗ 
fowveränetät — dieſe und ähnliche Organiſationsprincipien gingen über 
auf die Republiten Columbia (1821), Merito (1824), wo neben 
dee vömifchs Tatholifchen Kirche jedweder abweichende Cultus verboten 
wurde, bie vereinigten Provinzen am Plataftrome oder ar 
gentinifhe Republik (1819), Mittelamerila (Buatemala, 
1824), Peru (1822), Bolivia (Dber-Peru, 1826), Chile (1818), 
Montevideo (1830), den Schügiing Englands wider die Anſpruͤch⸗ 

Suppl. 3. Staatsler. IL w 


N 


des gleichfalkt ı durch Revolution sefaffmen Eu. — 
gierten Kalſerthums Brafilien. Die ungeheure Ansbchnung —— 
ſtens nur ‚dünn, bevöfferten Landes, herkoͤmmliche Sllavereimft auch zer 
Be Druch, -vielartiger, im — — Nacan abgeſlafter 
nfchenfchlag, die, entfittlichenden Nachwehen des langen,  plögläch abge⸗ 
[hästelten Drucks — dieſe und Ähnliche ———— —— — 
Bu gemeffenen Eatwicstungsgang ber’ füb- und? mienulameritaniſchen 
— ünde, ja bereiten zwiſchen dem Norden um Süden. über‘ 
3, oder. lang, einen. feindlichen Zufammenftofi vor, welcher vieleicht Läue 
term. auf, beide ae zuruͤckwirken mag. Andererſeits bleipft ahınisgem 
der I „von Morde, Mittels und Südbamerik des; 
bensfchule wahrſcheinlich daß.fie, ſich mit: vereinten Kräften bası etwal⸗ 
n „Plan einer Bari Europa ausarhenden Maffenanftekehtäg, ıgehdheher 
fe auf dem ‚Wege ‚der Guͤte oder Gewalt, widerſehan nd: bat Wächent - 
aufbau, einer neuen Monarchie nad Kräften hindern order. ;; 11. © 1 
Der, Deutfche Bumd endlich liefert das. im Der Kirßkhlfptenbebi 
confoderativen Prineips “fonft mirsends. angerräffone: MBeiſpiel solmesı 
sei fir ſtlAch je (monarhlihn), jenoch velfach abgeſuften: 3 ante 
*6. Bunf und driißig ſouverdne, ı geamäher. demd Vaand 
‚berechtigte, Bürften. und vier freie. — 
tähte, di memıbie Verpflichtung, bie. äußere ud Inene: &kifieesi 
32 lande ſo wie die Unabhängigkeit un. Unseelsgbhn! 
Eeit der einzelmen deutſchen Staaten als Bundeaz weck zu: betrachn 
ten und. zu verfolgen. (Bundesaete vom. 8. Juni 1815): wei: petit’ 
(de Kräfte haben auf ben Urfprung, und die Richtung des Belammr. 
beutihland ald Einheit nad außen und innen hin ergreifenden ? 
und. bemegenten Bundes zuruͤckgewirkt, das tauſendjaͤhrige Reich und 
die — * Rheinconföderation, kriegeriſch-dviploma⸗ 
tifche Bedrängniß und haſtige Eil fertigkeit arbelteten dabei für.ben 
raichen Aufbau siner : politifchen Noth⸗ und Gelegenheitsbruͤke, welche 
für Gegenwart und Zukunft ihre bildenden Stoffe aus dem Neid: und 
theimbunp bezlehen follte. Fuͤr jenes ſprachen Volksthum mb 
bes, fuͤr dieſen die Conſequenz eines Fehlgriffss und Frieden 
ſuchende Bil ligkeit. Man hatie naͤmlich kurz vor der. Leipziger! 
Schiacht durch den Rieder Vertrag (8. Oetober 1818) Baiern un 
ter, ben Vorbehalt der vollkemmenſten Unabhängigkeit: und Sone 
veränetät in die Reihen der Verbündeten aufgenommen und badurd) 
bie Stellung bezeichnet, welche auch bie ‚Übrigen Glieder. der- Rhein⸗ 
conföberation bei ihrem Eintritt in den neuen deutſchen &taa- 


- tenverein sinzunehmen hatten — den Vollgenuß der. Unabhängig» 


keit und Souveränetät. Diefer ſtaatsrechtliche, indem Rhein» 

bund zuerſt niedergelegte Begriff hatte begeits eine beflimmte Ausprä« 

gung gewonnen. „Die Rechte ber Souveraͤnetaͤt, lautete Artikel 26, 

find: Gefeggebung, obere Gerichtsbarkeit, Oberpolizei, mis 

litaͤriſche Conſcription oder Reccutenzug, ‚und Recht des Auflagen.“ 

Auch fehlte bie practiſche Aawendung nicht; die — fen fon 
ns 


Gonföberation. Ä 147 


veränen Ditglieder des von Frankreich geftifteten (1806, 12. Sult) 
und beſchirmten Rheinbundes haben alsbald zwei und fiebenzig bis⸗ 
bee reihsunmittelbare Zürften und Strafen, drei Reichsritters 
Thaften, die fraͤnkiſche, ſchwaͤbiſche und cheinifche, den deut: 
Then Orden und zwei freie Reihsftädte, Frankfurt umd 
Nürnberg, ihrer Hoheit unterworfen, ober metiatifirt. In die 
ſem legtern Ausdruck liegt der zweite ſtaatsrechtliche Hauptbegriff, 
welcher, eingeleitet duch den Reihsdbeputationsrece$ vom Sabre 
1803 und gründlichee entwidelt duch ben Rheinbund, auf bie 
neuen Berhättniffe Deutſchlands überging. Dieſe geflalteten umd 
anertimnten demnah fürftlihe Souveränetdt und Mediation 
Befugnis als Grundlagen des neun Staatenvereins, fo weit 
er etwa in Folge der hiftorifhen Entwicklung feine leitenden Geſichts⸗ 
punkte aus der damals jüngften Zeit, der rheinbuͤndiſchen, bezog. 
Denn fie wollte man eben nicht umgehen aus Furcht vor heimifchen 
Wirren und in Folge der rein militärifhen Richtung wider das dan 
malige, noch nicht befiegte Frankreich. Auch war ber Widerruf dee 
nun einmal nod) während des Krieges den ehemaligen Rheinbunds 
finaten verlichinen Concefflon theils unlogiſch, theils mißlich wegen 
unabweisbarer Zermürfniffe- Ueberdies beftand das deutſche Reid 
nicht mehr; es hatte ſich, längft untergraben, eben in Kolge der fran⸗ 
zoͤſiſch-deutſchen Verbindung aufselöft (6. Auguft -1806); feine 
flaatsrehtlihen Principien aber, auch feit Menfchenaltera abges 
ſchwaͤcht und zerfegt, befanden fich zum Theil im fchneidenden Conflict 
zu den ſtaatsrecht lichen Ausgangspuntten und Fundamentallehren 
der jüngern, aus dem langen Verweſungsprozeß des Reichs hervorges 
gangenen Drganifation. Die gefchloffene, in Kaiſerthum unb 
Reichstag niedergelegte Einheit (Gentralifation), welcher fi), wenn 
auch langfam und mwiberfirebend, an breihundert und ſechszig Glüder 
ze chtlidy unterordnen und fügen mußten, war feit dem Zwieſpalt Des 
fterreih6 und Preußens factifch beinahe unmoͤglich geworben. 
Ebenfo mwiderftrebte der fürftlichsterritoriate Souveränetätsbegriff, 
wie ihn genau die Rheinbundsacte beflimme und die Uebereintunft 
der Verbündeten mit Baiern und ben andern Gliedern dieſer auslaͤn⸗ 
diſch⸗ deutſchen Genoſſenſchaft anerkennt, dem Reichsſtatut. Denn 
dieſes gewährte ja ſelbſt im weſt phaͤliſchen Frieden allen Ständen, 
auch den freien Buͤrgergemeinden, unverkuͤmmertes Stimmrecht (jus. 
auffragii) fuͤr gemeinſame Sachen der Geſetgebung, Steuerauf⸗ 
lagen, des Kriegs und Friedens, der Bündniffe und Ver⸗ 
träge, behielt für etwanige Particularverbindungen ausdruͤcklich 
Kaiſer und Rei vor. Ebenſo wenig bezog fich das den Kurfürften und 
Ständen beftätigte Territorialrecht in geiſtlichen und politifchen Dins- 
gen auf den damals unbefannten Begriff volllommener Souverdnes 
tät, fonbern auf die Befugniß, innerhalb eines gewiffen Raumgebiets mit 
Beirath der Tandftändifchen Corporationsvertreter zu wirken. — Bei 


dem twachfenden Conflict der urfprünglih reihsbündifchen und bins 
10* 


148 Eonföberation. 


eingefchobenen rhein⸗ ober fremdbündifhen Verhaͤltniſſe und 
Staatsrehte wurde für die Conftituirung Deutfhlande em 
fogeheigener Mittelweg gewählt, oder der Verſuch gemacht, beide Zeis 
tenwenden trog ſchlagender (dißparater) Gegenſaͤtze und Widerfprüche aus: 
zugleihen. Alſo kamen von der Seite der Rheinconföderation 
unbedingte Souveränetät und Medintifirungsbefugniß, von 
Seiten ds Reiche nationale, d. h. auf äußere Unabhängigkeit 
gerichtete Stellung in politifchemilitärifher Ruͤckſicht, Foͤ dera⸗ 
tionsverband, durch den Bundestag, oder die Vertretung der 
fonveränen Staaten ohne eigentliches Principat (Oberleitung durch 
den Kaifer), zufammengehalten, und eine Reihe inhalts= und folgenreis 
her Staatsbürgerrechte, wie fie theils im alten Reich, theile 
im neuern Entwidlungsgange niedergelegt waren. Dahin gehören 
bauptfächlich die Befugniß des Grundermwerbs, ber Niederlaffung, 
des freien Wegzugs, des Civil: und Militärdienftes in dem 
einen oder andern Bundesſtaat (Be⸗A. 6.18), Glaubens» ober 
Gewiffensfreiheit, indem die Werfchiedenheit der chriſtlichen Res 
ligionsparteien keinen Unterfchieb in dem Genuffe der bürgerti» 
hen und politifcyen Rechte begründen dürfe ($. 16) und auch dem 
Juden auf dem Wege der Gefeggebung der Genuß bürgerlicher Rechte 
verfchafft und gefichert werden ſolle ($. 16), auf gleihförmigen Verord⸗ 
nungen ruhende Preßfreiheit und Inndftändifhe Berfaffung (6. 13). 
Da man aber bereit den Begriff dee Souveränetät aufgenommen 
und ftillfehmweigend die oben bezeichnete Sinterpretation deſſelben durch die 
Rheinbundsacte gebilligt hatte, fo mußte für die ſtaͤndiſch⸗mo n⸗ 
archiſche Entwicklung ein bedeutendes Hinderniß gemach hervortreten. 
Entweder nämlich befchränkte die Conftitution den Gehalt der So u⸗ 
veränetät, oder fie that es nicht. Geſchah das Erfte, oder minderte 
die Derfaffung den auf Legislation, Steuerbefugniß und obere 
Gerichtsbarkeit bezüglichen Begriff des Fuͤrſten (f. Rheinbundsacte 
$. 26), fo verfhmany die So uveraͤnetaͤt, weldhe doch am Eingange 
der Deutfchen Bundesacte ſtand; begegnete der zmeite Fall, oder be⸗ 
ſchraͤnkte die Verfiffung den Soupveränetätsbegriff nicht, fo wurde 
die ganze Repräfentation mehr ein Schatten denn eine Wefens 
beit, das heißt, fie gewann Einen Antheil an der Geſetzgebung und 
Steuerbemwilligung Die Bundesacte beging daher einen fols 
genreichen Fehlgriff, wenn fie den Widerfpruch der beiden ſtaatsreſcht⸗ 
lichen Begriffe Souveränetät und Landftandfchaft (Art. 1u.13) 
einerfeitd nicht vermied und amdererfeits nicht durch fchärferes Ausheben 
und Abmarken der Grenzen möglichft zu verbeffern trachtete. Denn 
ließ man den undeutfchen, rheinländifchfrangöfifhen Ausdrud und 
Begriff: „fuͤrſtliche Souveränetät” fallen, fo wurde ber dreizehnte 
Artikel leicht ausführbar und trug volle Früchte, oder die Verfaffung 
konnte fich als Ausdrud der in dem Fürften und inder Befammt:- 
bürgerfchaft niedergelegten Hoheit nicht nur aufündigen, fondern 
auch bewerkthaͤtigen. Die Klagen über den mangelhaften Vollzug 


Gonföberation. 149 


des breigehnten Artikels treffen baher weniger die Regierungen. und 
Boͤlker ale den politifhen Geſetzgeber, welcher umvereinbare Begriffe 
zus einigen und auszugleichen ſuchte. Weberdies bildet natürlich nicht: bie 
Genftitution an fi und ohne Rüdfiht auf den Gehalt bie Gluͤck⸗ 
feligfeit eines Volkes, fondern Ziefe und bauernde Nachwirkung beſtim⸗ 
men den Werth eines republitanifhen wie ſtaͤndiſch⸗fuͤrſtli⸗ 
hen Grundgeſetzes. Den loyifhen, oben bezeichneten Principien- 
fehler abgerechnet, hat der deutfche Staatenbund sine im Gans 
zen tüchtige, feinem angelündigten Zweck entſprechende Einrichtung 
(Digamifation) befommen. Seine 39 fouveränen Mitglieder befigen 
gleiche Rechte und Pflichten; fie verbärgen einander, fowohl ganz 
Deutfhland als jeden einzelnen Bundesſtaat wider jeden Angriff 
in Schug zu nehmen; fie fchließfen bei einmal erklaͤrtemn Bundes 
Eriege keinen einfeitigen Waffenftillftand oder Friedensvertrag ab, eine 
Lehre, welche die legten Reichskriege fo oft tauben Ohren gepredigt hat⸗ 
ten; fie geloben, in feine gemeinfchäbliche Verbindung einzutreten unb 
ihre eigenen Streitigkeiten niemals dee Gewalt, ſondern dem rechtlis 
hen Austeag durch den Bundestag ober eine gegliederte Austräs 
aal⸗Inſtanz zu übergeben ($. 11 und Schlußacte 6. 21). Auf bie 
felbe Weife kommen Befchwerden Über vertveigerte oder gehemmte Rechte 
pflege in einem Bundesftaate an die zur Aufnahme der Klage vers 
pflihtete Seneralverfammlung (f. Acte $. 29 und 30). Diele 
ift permanmt; fie befteht aus den Abgeordneten dee einzelnen Staaten, 
weiche unter dem bleibenden Vorfig Defterreichs je nah dem Maß 
des Umfangs und der Bevoͤlkerung entweder eine eigene oder mit meh- 
zeren zufammenfallende Stimme haben. Vorſchlaͤge darf jedes Bun 
desglied machen; der Präfident muß fie in einer beflimmten Zeit ber 
Berathung übergeben. Die engere, an gewöhnliche Kälte getnüpfte 
Verſammlung entfcheidet 17 Stimmen ſtark durch abfolute Mehrheit, 
Die weitere oder das Plenum durch mindeftens zwei Dritttheile der 
69 *), Stimmen, melde nad dem Verhältniß der Größe der eingelnen 
Bundesſtaaten vertheilt find. Diefes Plenum tritt zuſammen, wenn 
es ſich handelt. um Krieg und Frieden, Aufnahme neuer Mitglieder, 
Abfaffung und Abänderung der bündifhen Grundgefege, um Befchläffe, 
welche die Bundesacte felbft betreffen, um organifche Bundeseinrichtun⸗ 
gen und gemeinnügige Anordnungen fonftiger Art (B.:A. F. 6.). Der 
engere Rath übt dabei die Initiative, ber weitere bie einfache 
Annahme oder VBerwerfung des Vorſchlages. Religiondange 
legenheiten, neue Mitglieder und Grundgefege wie organi- 
fhe Einrihtungen, das heißt, bleibende, für bie Erfüllung des 
Bundeszwecks beflimmte Anftalten, fordem Stimmeneinhellig 
keit (Schlußacte $. 13. u. 14.). Die vollziehende Macht gegen« 
über den bie Sefammtheit bindenden Bundesbefchlüffen geht theils 


*) Später belam Deffen- Homburg bie 70. Stimme. 







Moetattn 


h dem' Bundestäge, theiis im Beſondern von ben einzelnen’ Me⸗ 


ſwvouorränetät keinen döhern Iegislativen Willen anerkennen dacf — 
(8%. 5: 17): Ein durchgreifendes Bundesgericht, welches etwa 
ae NReichsge richt ſtaats⸗ umb e ærle⸗ 
digen follte ; fſcheiterte an den Sonveraͤnnetaͤtsan ſpruͤch en der Ein⸗ 
zeiſtanten. Um jedoch einigermaßen: auch. vor bem Recht dem loſen 
FJoberallemus zu: einigen, wurde in ber Bunbesacte ($. 12) ıfefl- 
Ta} Otaaten unter 300,000 Einwohnern fihb mit anbem 
sgllebern, weiche wenigfiens eine. folche Wollszahl ansnddkten, zar- 

| eined gerheinfchaftlichen oberfien Berichts gleich den vler 
frelen ten vereinigen werben, und daß es bei dieſen gemeinfchaft⸗ 
Uqhan' Obergorichten: eder Partei ſolle geſtattet fein, auf Verſchi⸗ 
Burg’ der Acten an eltle dentſche Facul taͤt, ober an einen Schöppems 

des Endurtheils 


nraßte 'um fo Shnmmerlicher wirken, je mehr)nan fie ſputer beſchbaͤukee, 
web die. Audſicht auf. ben enbikken Gewinn: einer gleichmäßigen 
Reqhhtéepfltege für lange Zeit trüben. Denn fo fah man ſich gand« 
A fito dir Staaten mit einander ober berStände: nie 


vom 80. Det. 1834 die Ertichtung eines Schiedsgerichts für die 
Streitigkeiten zwifchen den Regierungen und den Ständen, alfo 
daß jeder Theil aus 34 für drei Jahre vom engern Bundesrath ers 
naͤnnten Spruhmännern drei, vier oder acht Schiedsrichter 
wählen und dem Urtheil derfelben bei Strafe der Erecution gehorchen 
follte. ‚Das gleiche Verfahren blieb auch zwifligen Bundesgliedern 
unbenommen. Jedoch, ſcheint es, veichen die erwähnten Austunftss . 
mittel und Hilfswege nicht hin, um den Mangel eines all gemei⸗ 
nen Bundesgerichts zu ergänzen und die Conflicte zu erledigen, 
welche zwiſchen der bündifchen Eentralgemalt und den einzelnen ' 
fouveränen Staaten bei Innern ober aͤußern Anläffen aufgehen und 
weitet fortglimmen Binnen. — Derin neben ber ſchwierigen Vereinba⸗ 
rung bes bie gefammte Staatsgemwalt enthaltenden Souveräne- 
tätsbegriffes und einer pofitiven lanbfländifchen Vertretung, mäg 
auch das Janus⸗ oder Doppelgeficht einzelner Bunbdesglieder mit 
der Zeit eigenthämliche umd bedeutende Schwierigkeiten entwideln. Die 
auslaͤndiſchen Königreihe Holland und Dänemark nämlid 
flehen, jenes für Luremburg, diefes für Holftein-Lauenburg, 
in einem innen flaatsrehtlihen Verhaͤltniß zum deutfhen 
‚ Bunde und find ans demſelben Orunde an biefelben Pflichten, 


⸗ 


Conventionsfuß. 151 
Laften und Vortheile gewieſen. Dieſe aber koͤnnen, ja muͤſſen bis⸗ 
weilen ben Pflichten, Laſten und Vortheilen der niederlaͤn⸗ 
diſchen ober daͤniſchen Monarchie widerſprechen und namentlich im 
Fall eines großen Krieges wahrhafte Verlegenheiten erzeugen. Die auf 
dem Wege des Verkommniſſes bewerkſtelligte Abloͤſung jener deutſchen 
Eande von einer fremden Hoheit waͤre daher ein geeignetes Mittel, 
um die beutfche Gonföderation nach Außen hin nicht nur zweckmaͤßig 
abzurunden, fondern auch als wahrhaft voͤlkerrechtlichen Verein, 
welcher Teine fremden Einwirkungen dulden will, zu bezeihnen. Die 
laͤhmenden Ausnahmsgefese müßten, jenen Hauptbegriff ange- 
nommen, fodann von felber als Früchte zeitlicher (tempordrer) Verhält: 
niffe dahinſinken und mit ihnen die Fleineren und größeren Parteien des 
Tages allmälig verwelten. — (Etliche den behandelten Gegenftand er: 
Täuternde Hilfsfchriften. Weber die Griechen: St. Croix, des anciens 
gonvernements federatifis; Tittmann's Br. Gtaatsverfaffungen 
(1822); Kortüm’s Gr. Staatsverfaffungen (1821); Helwing's 
Geſchichte des achaͤiſchen Bundes; Schorn, Geſchichte Griechenlands 
u. ſ. w. 1808; Sestini, sopra le medaglie antiche relative alla 
confederazione degli Achei. 1817; Merleker, Achaicorum libri tres. 
1897; Koppius, resp. Boeotorum. 1886; Lucas, Ueber den dtoli- 
Then Bund. Ueber die roͤmiſchen Bundesverhälmiffe; Kiene, Der 
Bundesgenoffentrieg, 1845, und Merimee’s Guerre sociale. Mit: 
telalter: Vogt, Der Lombardenbund. 1818; Leo, Verfaffung ber 
lomb. Städte. 1821. Hanſa: Sartoriusstappenberg, Gefchichte 
der Hanfa, 2 Bände, nebft Urkundenbuch; Burmeifter, Beiträge zur 
Geſchichte Europas im 16. Jahrh. 1843. Dithmarſchen: Chronik 
von Meocorus, herausgegeben von Dahlmann, 2 Baͤnde, 1827. 
Republik Island: Annales Islandorum bei Langebek, Script. reram 
septentrionalium, II. u. II. ; Dahlmann's Dänifche Geſchichte, Th. 2; 
Are’s Islaͤnderbuch bei Dahlmann's FSorfhungen auf dem Ge 
biet der Geſchichte, Th. 2. 1822. Rheiniſcher Städtebund: Ges 
ſchichte deffelben von Schaab, Mainz 1843. Schweizerifhe Eid» 
genoffenfhaft: Müller, 17865 Mayer von Kronau, 1829; 
Kopp’s Urkunden, 18355 die Denkfchriften der hiſtoriſchen Geſellſchaft 
des Waadtlandes, 1838, im 2. Band: Hisely, Essai sur l’origine 
des libertes des Waldstetten und die Unterſuchungen des Herrn von 
Gingins u. f. w. Niederlande: van ber Vynct's Geld. der 
D. N. 17935 Kampen, Seh. d.B.NR., 2 Bde. 1831. Eng» 
Iand: Rushworth, Historical Collections, 6 Bde; Godwin, 
History of the Commonwealth of England. 4 Bde. 18285 Guizot, 
Dahlmann, Geld. der engl. Revolution. Nordamerika: 
Botta, Geſch. des nordamerikan. Unabhängigkeitökrieges, 1809; Ram⸗ 
ſay, Geſch. der nordamerikan. Revolution, 1791. Frieder. Kortüm. 
Gonventiondfuß. Conventionsgeld. Es erinnert une 
diefes an traurine Mängel der fpätern beutfchen Reichſs⸗ wie unferer 
heutigen Bundesverhaͤltniſſe. Uns fehlt bie unendlich große Wohlthat 


| Pr Sonny Dep it Drpas Erangelrum. 


„von gleichem Maß, Gewicht und Geld in der gungen beuffchen Metiow. 
Gegen die großen Nachtheile ber verfchiebenartigen - dgenmächtigen ,:- aft 
wucheriſchen Ausmuͤnzungen fuchte man. im Reich durch lang⸗ Vechand- 
lungen, zulegt auch 1690 und 1737 durch zwei rue zu hel⸗ 
fen, und die Verwirrungen, Störungen und Betruͤ den Muͤnz⸗ 
verhältniffen zu befeitigen. Aber jene Reichsgeſetze Aber = allgemri⸗ 
nen Reichemuͤnzfuß wurden nicht befolgt, und fo vereinigten ſich am ‚21. 
Septbr. 1753 Sachſen, Defterreih und Baieen zu ‚folgender Gonventien : 
Das Silber foll zu 20 Gulden bie feine Mark ausgeprägt. merken, zu 
10 Species oder 13-Xhaler 8 Gr. Das Gold ſteht zum — * 
14 zu 1. Weil mad dieſer Convention das Cemventionsgelb 
Gulden von ber feinen. Mark ausgeprägt wird, heißt wer. — ———— 
‚der 20 Gulbenfuß. Von den noch duͤrftigen, boch an 
Bemühungen des Zollvereins für gleichartige beſſere Mhngyerhätuuifle ir 
Deutfhland f. Muͤnzweſen. ı. & Melcker. 
Convoy. Hiermit bezeichnet man die Krisgefggiffe, welche ‚eine 
Kauffahrteiflotte Mall. um fie gegen, feindliche Angriffe und. Gus- 
zduber zu (chüben.. Nach den englifhen Gefesen find die Kauffahrer 


nicht zu comvopiren, um nicht in Kriegs. zu gerathen wegen unmittelha⸗ 
zer Verlegungen ber. Kriegeflagge. Go veranlaßte ber jüngere Bernflorff 
durch folches Eonvoyiren in Dänemark, das Tein Vater weiſe unterließ, den 
Krieg mit England und das :Bombardement von Kopenhagen. ( S. Bern⸗ 
ftorff.) — Auch verſteht man. unter Convoy eine militaͤriſche Bedeckung 
eines Tranßports von Lebens⸗ und Kriegsmitteln. Ihre gute Fuͤhrung iſt 
oft hoͤchſt wichtig und ſchwierig. C. Welcker. 
Corpus Catholicorum, Corpus Evangelicorum. — 
Seitdem unter dem allgemeineren Namen der Proteitanten oder ber 
Evangelifchen. und unter den beſonderen Mamen der Rutheraner. Refors 
micten, Calviniſten und der anglicanifchen Kirche viele früher katholiſche 
——— von dee roͤmiſch⸗katholiſchen Kirche ſich trenuten und num dieſe 
angeliſchen übers. ihre Rechtsverhaͤliniſſe mit den Katholiſchen 
in vielfache, meiſt gemeinſchaftüch gefuͤhrte Streitigkeiten und Kriege ver⸗ 
wickelt wurden, beſtanden von ſelbſt die zwei Hauptparteien ober 
Bereine.des Evangelifchen. und der Katholifhen. Ob diefelben 
als foͤrmliche juriftifche Corporationen in ber Zeit des alten beutfchen 
Reiches follten angefehen werden, barüber war wenigſtens den Morten 
nach Streit. Die evangelifchen Reichsſtaͤnde behanpteten ,. fie feien eine 
Sorporation und auch in ben Öffentlichen: Verhandlungen und Friedens⸗ 
ige wiederholt fo anerkannt. worden ,. und fie, organifirten fich auch 
ndig als eing Gorporatipm, als baf;.Corpus Hvangelicorum, nann- 


. ‚Oerpas Oatholloorum, Corpus Eivangelicorem. 163 


ten auch bie Patholtfchen MReichsftinde ein Corpus Catholicorum. Dieſes 
aber lehnten dieſe von ſich ab und organifirten fich nicht als ein Corpus 
Catholicorum, Hiergegen hatten fie Abneigung, ba im beutfchen Reich 
die Eatholifchen Reichsſtaͤnde die Mehrheit bildeten (mährend jest im 
deutſchen Bunde mehr Bundesregierungen der evangelifchen Kirche anges 
hoͤren). Auch mochten fie wohl nicht ebenfo leicht alle außerbeutfchen 
Satholifhen Fürften und namentlich den im breißigjährigen Kriege ihnen 
feindlichen franzoͤſiſchen König mit fich zu einer gemeinfchaftlichen Cor⸗ 
poration vereinigen, wie dieſes alle evangeliſchen deutfchen Reichsſtaͤnde in 
Beziehung auf alle außerdeutfchen evangelifchen Fürften, die oͤnige von 
England, Schweden und Dänemark thun Fonnten und ſchon wegen bes 
sven deutfchher Reichslande auch wirklich thun mußten. 

Dagegen aber mußten die katholiſchen Meicheftände, ' gezwungen 
durch die Haren Beſtimmungen der Religionsfrieden und insbefondere 
auch des Weſtphaͤliſchen Sriedens, ebenfo wie auch heute die deutfchen 
Bundesgeſetze, anerkennen, daß in allen Religionsfachen bie Evangelis 
ſchen von den Katholifhen und umgekehrt völlig unabhängig feien, daß 
alſo rädfichtlich ihrer auf Reichs⸗ und Bundestagen durchaus nicht 
Stimmenmehrheit entfcheide, fondern daß hier itio in partes ftattfinde, 
d. h. daß die verfchiedenen Religionstheile ſich als zwei völlig gleiche ſelbſt⸗ 
ftändige Partelen gegentiberftehen und nur durdy freie Vereinbarung ets 
was Gemeinfchaftliches feftitelen können. 

Und fie konnten es natürlich und zumal nach dem altdeutfchen Ei: 
nigungsrechte den Evangelifchen nicht mehren, daß fie fich in der That 
auch innerlih zu einem förmlichen Corpus Evangelicorum organffirten. 

Auch wurde in gemeinfchaftlichen Verhandlungen und Urkunden‘ 
von den Katholiken felbft den Evungelifchen die Bezeichnung als Corpo⸗ 
ration beigelegt oder zugegeben. Thatſaͤchlich aber waren diefelben 
fhon fo aufgetreten, ale fie im Mormfer Edict vom 8. Mai 1521 
als eine gemeinfchaftlic, den Katholifchen negenüberftchende Partei behans 
beit wurden, als fie ferner gegen deffen Vollziehung auf dem Reichstage 
zu Nürnberg 1524 gemeinfchaftlich proteftirten, am 4. Mai 1526 ben 
Torgauer Bund fhlofien, am 27. Auguft 1526 den Speyerfchen 
Abſchied zu ihren Gunſten erfämpften, am 25. April 1529 zu Speyer 
proteſtirten und appellitten, fodann den Shmaltalbifhen Bund 
fchloffen und die Religionsfrieden von Nürnberg und Auges 
burg, 1532 und 1555, erfimpften. 6 erklärte fchon auf dem Reiches 
tag 1598 der Öfterreihhifche Geſandte, dag in Gewiſſensſachen nicht wie 
in andern Sachen, fondern „durch befondere Räthe gehandelt würs 
de, alfo daß die Katholiſchen einen befonderen Rath und die Andern aud) 
einen befondern Rath hätten!). Auch verhieß Kaifer Leopold I. Er: 
ledigung der Religions⸗Beſchwerden, „ſobald diefelben vom corpore Au- 


gustanae confessionis an ihn würden gebracht werden.”2). Ebenfo ges 


1) Shaurotb, Sammlung alter Conclusorum II. 798. 
2) Schauroth a. a. D. II. 823. 


brauchte 1719 Kurmainz ben Ausdrud Corpus Evangelicorum %; · Unb 
jedenfalls _beftand, die Sache rechtögemäß, Als daher fpäter an des Midye 
tigfeit einer Trennung und Benennung ber Reicheftände in ein Corps 
Evangelicorum und ein Corpus Catholicoram gegmelfelt wurdet), er⸗ 
"Härten mit, Recht die Evangelifchen: Nach der Zeit des — Bledl 
gionsfriedens hat man evangelifcher Seite, nebſt dem -abfonderliihen Di 


rectorium, eigene Bedenken und Religionsbeſchwerden ubergeben / und 


publice ohne Widerſpruch verwaltet, was einem corpori zufteht, fioechaß 


ſchon 1582 auf bem Reichdtage zu Regensburg es sin Herkommen ge⸗ 
nannt worden*). Es könne ihnen ganz gleich gelten, ob man fia.fir ein 
Corpus, Societaͤt, Collegium, Gemeinheit, oder (nad) dem: Ausdenck Der 
Katholifchen, 15. Juni 1752) für einen Neichstheil halt. weile, 
wenn ihnen nur dasjenige frei bleibe, was ihnen die Reichsgeſetze beilegten, 


was mwohlbergebracht, fo. oft felbft anerkannt, und wovon der Grund —5 


daß ihnen Zuſammenſetzungen, Buͤndniſſe und Vereinigungen zu machen 
erlaubt und in den Reichsgeſehen und Wahlcapitulationen Mackie: Bi 
— — fei®). 


as Corpus Evangelicorum wurde nad) feiner Berfaffung ‚dur 


‚alle Regierungen evangelifcher Meicdysländer, auch wenn bie Kürften ſelbſ 
Katholiken find, mit Inbegriff ber Könige von England, Schweden unb 
Dänemark gebildet. Die Regierumgen wurden repräfentiet durch bie Ber 


fanbdten berfelben. Diefe hielten regelmäßig alle 14 Tage eine. — 
ſaßten bie: e. (Concluaa) regelmäßig nach Stim⸗· 


Gonfsren;, ) se 

„menmebrheit. Diefe Concluse. ben Reichsgeſetzen gleich geachtet 
und bildeten alſo eine Quelle des gemeinſchaftlichen evangeliſchen Kir⸗ 
chenrechts und gelten jetzt noch, ſoweit ſie nicht durch ſpaͤtere Landesge⸗ 
ſetze aufgehoben wurden. 

Das Directorium in dieſen Religionsangelegenheiten hatte im An⸗ 
fang ber Reformation Kurſach ſen, im dreißigjaͤhrigen Kriege Guſtav 
"Adolph und Oxenſtierna, dann wieder Sachſen. Später übernahm es 
Kurpfalz und feit 1653 wieber Kurſachſen. Als 1697 Friedrich 
—— I. katholiſch wurde, erhielt die Leitung Friedrich II. von Go» 
tha und 1700 der Herzog von Weißenfels, beide unter Mitwirkung 
des Geheimenrathscollegiums von Dresden. Als 1717 auch Friedrich 
Auguft IL katholiſch wurde, entflanden Streitigkeiten wegen des Direc⸗ 
— Doch wurde es unter den noͤthigen Cautelen Kurſachſen uͤber⸗ 
l 


Die große Literatur über biefen Gegenſtand giebt Puͤtter, Lite⸗ 
ratur des deutfhen Staatsrechts, Bd. ILL. $. 978 fi. 1086 ff. 
1199. 1616. Bortfegung von Klüber, Bd. IV. — ss 





8) Faber, ac, 85, >” L 
h So t 


5) Schauroth a. a. D 
6) Schaurotb II. 759 e 


N 


\. 


Dänemark. 155 


Mit der Auflöfung des Reiche erloſch auch das Corpus Evangeli- 
corum. Man bat feitbem oft defjen Erneuerung gewuͤnſcht (f. Klüber, 
Deffenti. Recht $. 213 Note c) und zwar aus dem doppelten 
Grund, daß für's Erſte um fo mehr, je mehr bie Eatholifhe Kirche in 
dem Papftthum ihre Gentralifation und Einheit fefthält, eine gemein⸗ 
ſchaftliche Vereinigung und Fortbildung ber evangelifchen Kirche win: 
ſchenswerth fei, und fobann daß bei den wachſenden ultramontanen und 
jefuitifchen Anfeindungen des Proteftantismus gemeinſchaftliche Schutz⸗ 
maßregeln nötbig feien. 

In beiden Gründen ift viel Wahres enthalten. Insbeſondere wäre 
es ſehr ſeicht und politifch unmeife, die zulegt berührte Gefahr zu übers 
fehen. Wohl mag fie befiegbar fein, wenn man thätig und wachſam 
ihre entgegentritt, ficher nicht, menn man gegenüber der unermüblichen 
energifhen Thätigkeit von der andern Seite die Hände in den Schoof 
legt. Auch ift die unbedingte Einheit der Gegner und ihre Allianz mit 
aller weltlichen Herifchfucht und Defpotie und mit vielen bethärten Macht⸗ 
babern und Ariftofraten, mit verrätherifhen Rathgebern und fanatifchen 
Pistiften und Orthodoxen nicht zu überfehen. Die Sefuiten bewirkten 
den breißigjährigen Krieg und Oeſterreich glaubt fi und feine Politik, 
gegen ben Kortfchritt und die Sreiheit, duch die Sefuiten zu retten. 
Wäre denn eine ähnliche Allianz gegen den Fortichritt und. die Kreiheit 
heutzutage undenkbar? Was gefchieht in der Schweiz unter Mitwirkung 
franzöfifher und äfterreichifcher Noten? Was gefchah und wurde beabs 
fichtigt in Baden vor der Eräftigen Erhebung des früher zum Theil bes 
shörten Volles! Mer Augen hat zu fehen, ber fehe! 

Aber die Sorge für wahre völlige Glaubensfreiheit und bie nöthige 
Borficht, um nicht etwa durch offenfive Gegenwehr das furchtbarſte Uns 
glüd neuer deutſcher Spaltungen und Kriege felbft zu fördern — dieſe 
verlangen jedenfalls auch ihre Beachtung. Weber den ganzen wichtigen 
Gegenſtand foll der Artikel Deutſch⸗Katholicismus ſich weiter 
verbreiten. C. Welcker. 


D. 


Dänemark. Friedtich VI. ſtarb am 3. Dechr. 1839 und Chris 
ftian VII. beftieg den Thron. — Daß es nicht wohlgethban war, Däs 
nemark und baneben SchleswigsHolftein blos berathende Provinzialftände 
zu geben, bat ſich vollfommen hernusgeftellt. Die bänifchen berathenden 
Ständeverfammlungen haben ihrer Aufgabe nicht genügt, ſcheinen fie 
nicht einmal verflanden zu haben; noch weniger freilich hat bie Regie» 
eung billigen Anfprüchen entfprohen. Daher ift jegt ein verwirrter un: 
erquidlicher Zuftand in Dänemark, eine Gährung, bie vielleicht noch lange 
nicht zur Klarheit kommt, jedenfalls aber nur durch. das Mittel dahin 


Bemwyen 





bor, nur geeignet, ben alten Rechtszuftand auszubeſſern, nicht aber ein⸗ 
zelne Zweige des Privatrechts und der ‚öffentlichen Inftitutionen, als des 
Berichts » und Communalmefens, gruͤndlich zu verbeffern. Ein obers 
flaͤchlicher Finanzbericht, den fie vorlegte, ergab traurige Mefultate, eine, 
große Schuldenmaffe von ungefähre 130 Miltionen Meichsbankthaler, die 
ſich hauptſaͤchlich in den leuten Friebensſahren gehäuft hatte, und Auss 
ſicht auf ein jaͤhrliches Deficit dom mindeftens 300,000 Mthte., daher 
noch Schuldenyermehrung, Auf Anregung der Stände legte Die Megies 
rung fpäter freilich etwas bedeutendere Gefekentmiürfe vor, wovon inbef 
nur nennenswertb find die wegen Aufhebung des Fagdregals, wegen Er: 
laffung einer Communalordnung und wegen Abänderung im Freifuhr⸗ 
wefen. Das Jagbregal ift aufgehoben und in den Eöniglichen Difteicten ' . 
ben Eigenthuͤmern das Jagdrecht gegeben, in den Graffchaften und Ba: 
ronieen aber üben «6 mehrentbeild die Herrſchaften aus und die Unter⸗ 
gehörigen firfb mit mancherlei Jagdfervituten behaftet. Das Freifuhrwe⸗ 
fen,.tmelches darin beftand, daß Militaͤr⸗ und Civilbeamte von den obern 
Verwaltungsbehoͤrden Fuhrpaͤſſe erhielten, wornach fie von Bürgern und 
Bauern frei: befördert werden mußten, indem die Befiger ‚privilegirter Guͤ⸗ 
ter von der Laft befreit waren, gab zu vielen gerechten Beſchwerden Ver⸗ 
anlaffung; man hat aber bei der Abänderung keine allgemeine Staates 
laft Daraus gemacht, fondern die bisher damit Belafteten nun mit einer 
entfprechenden Geldlaſt bebürdet und den Adminiftrativbehärden bie will⸗ 
Fürliche Ausfchreibung uͤberlaſſen. Das Belle, was bie neue bänifche 
Gefeggebung geliefert hat, ift die Communalordnung für Stadt und 
Land. Dadurch hat Daͤnemark einen bedeutenden Kortfchriit gemacht; 
es ift eine gefeglich geordnete Theilnahme der Bevölkerung an öffentlichen 
Angelegenheiten entflanden, die man fonft nicht kannte, obgleich dieſe 
Communalordnung ben befferen in den conftitutionellen beutfchen Staa⸗ 
ten, z. B. der babdifchen, nicht gleich, kommt. Durch die Veräffentlihung 
der Verhandlungen und Belchlüffe der Gemeindebehörben und Vertreter 
wird Kunde ber Verhältnifie und zugleich Gemeinfinn erweckt. In Beis 
nen Gemeinden, beſonders der- Städte, hat man fogar Deffentlichkeit der 
Verhandlungen eingeführt, in Kopenhagen. hat man fie mehrmals bean» 
tragt, aber jedesmal iſt fie gefcheitert, befonder® an ber Oppofitton folcher 
Männer, die früher nicht laut genug für Deffentlichkeit zu reden wuß« 


Dänemark. 157 


ten, wie bed Buͤrgermeiſters Algreen⸗Uſſing. Auch bie Deffentlichkeit 
ber Staͤndeverſammlungen ift von biefen mehrmals beantragt worden, 
aber die Regierung lehnt fie beharrlich ab. Die Veroͤffentlichung durch 
eine fländifche Zeitung gefchiebt jegt vecht volftändig und raſch. Für 
dieſe ftändifche Zeitung wurde aber eine Genfur eingeführt und dem Res 
gierungscommiſſaͤr übertragen, da fonft rüdfichtlih der innern Angeles 
genheiten in Dänemark Prepfreiheit herrfcht. Der bisherige Regierungss 
commiffär hat freilich eine milde Cenſur geübt, hat aber dad) einige 
Male, als über Verfaffungsangelegenheiten und internationale Fragen 
zu freimüthig geredet ward, ben Drud verhindert, was große Unzuftie⸗ 
denbeit in den Verſammlungen hervorrief und einen ftändifchen Secretaͤr 
veranlaßte, die Verſammlung ganz zu verlafien. Mit der bänifchen 
Preßfreiheit ift es übrigens, wenn man die Sache genau anfieht, bod) 
mißlich beſtelt. Das ftrenge abfolutiftifche Koͤnigegeſetz verbietet jeglis 
hen Angriff gegen diefe Grundverfaſſung. Alſo bleibt eine gründliche 
Discuſſion darüber fchon ausgefchloffen und es blieb felbft fraglich, ob, 
als nody die Strusnfee’fche vollftändige Preßfreiheit beftand, ungeftraft 
über die Grundverfaſſung des Reichs durfte gefchrieben werden. Diefe 
dortreffliche Preßfreiheit ift aber ſpaͤter, namentlich durch das größere 
Dreßgefeg von 1797 und einige kleinere Verfügungen gar gewaltig bes 
ſchraͤnkt worden. Die eigentlichen politifhen Zeitungen, bie, welche über 
bie Weltangelegenheiten und Ereigniſſe in den verfchiebenen Staaten bes 
richten und abhandeln, fliehen unter Genfur, die übrigen, welche über 
die innen Angelegenheiten bes dänifchen Staats, Wiffenfchaft, Kunft 
u. ſ. w. fchreiben, dürfen ohne Gonceffion beftehen und ohne Genfur 
erſcheinen, aber fie müflen ‚jedesmal vor ihrer Distribution einem Poli« 
zeibeamten vorgelegt werden, der dann entiweber bie Erlaubniß zur Die: 
tribution ertheilt oder die. Befchlagnahme verfügt. Erfolgt Befchlagnahs 
me, fo wird ſolches der daͤniſchen Gunzlei gemeldet, bie dann weiter bes 
ſtaͤtigt oder frei giebt. Beſtaͤtigt fie, fo muß gerichtliche Verhandlung 
und Entfcheidung erfolgen, jedoch hat die Canzlei auch mehrfach die Ent» 
ſcheidung über Beſchlagnahme den Gerichten entzogen, befonders wenn 
es ſich darum handelte, ob ein Artikel als ein politifcher anzufehen fei 
oder nicht. Erſt meulich ift auf vielfachen Widerſpruch angefehener 
Männer eine Aenderung dahin getroffen, daß ‚die Entfcheidung den Ges 
richtöbehörden anheim gegeben werben foll, wenn der Herausgeber eines 
inbibirten Blattes dies verlangt. Bücher und Flugſchriften unterlagen 
bisher gleichfalls der Genfur, wenn fie nicht über 24 Bogen ſtark wa⸗ 
ren, jegt iſt indeß die Aenderung getroffen, daß diejenigen, welche über 6 
Bogen ſtark find, frei ausgegeben werden können. Die Preßgefege ver: 
bängen theils Gefängnißftrafen, theils Geldftrafen, theils gilt auch die 
Genfur als Strafe, indem ber Verfaffer des Buches oder ber Redacteur 
eines Zeitblattes entweder auf gewifje Jahre oder auf Lebenszeit unter 
Genfur geftellt wird. Die Regierung iſt der Preßfreiheit,, ſoweit fie nod) 
befteht, nicht günftig, obgleich Chriftian VIE. bei feiner Thronbefteigung 
erklärte, er fei ein Freund des Preſſe und wuͤnſche durch fis die Wahrs 


var zu erfahren. Sin gleich nad) Einführung der betathinden Stände 
Beabfichtigte fie dieferbe weiter zu befchränfen und wohl ganz aufzuheben. 
. Da aber erhob ſich * Öffentliche Meinung fehe kräftig fuͤr die Preff⸗ 
„und es bildete fich eime grofie Preßfreiheitogeſellſchaft, welche anfangs eine 
‚mehr confervative turg-hatte,, fpdter ſich aber mit Ausfcheidung des 
confervativen Elements bem Kortfchritt zugelvandt hat und jege fortwaͤh⸗ 
rend nach größerer Preßfreiheit ſtrebt. Sie und der größere Theil des 
Volkes, welcher mit ihr einverfländen iſt hat aber bisher nichte aus⸗ 
richten: können; bie Ständeverfammlungen, an melde man ſich wandte, 
haben ſich freitich fuͤr die Preffreiheit erflder, jedoch bet Weitem Hit - 

kraͤftig genug. Gigen ihren Rath aber hat die Regierung ‚noch dor mehr 
teren Jahren eine Geſetzesverſchdrfung durchgeführt und in der lehten 
Diaͤt, im Sept 1844, lt 2 —* einen Entwurf vor, wornach —* 
die Prefifeeiheit alla tden follte, aber auch‘ nicht allein dit 
—— periodiſcher Blätter gewaltig befchränft und fuͤr —* 
ſten Vergehungen große Strafen feſtgeſetzt werben ſollten, wobei ed be⸗ 

ſonders igenthuͤmlich war, daß man die Regentenfamilie mie allen Ver⸗ 
weigungen bis wohl in's hundertſte Glied auf's Aengſtlichſte —— 
Oeffentlichkeit zu ſchuͤzen ſuchte. Die Stände riethen dieſen € 
ae ab; * man darf nicht erwarten, daß der neue — 

die Regierung vorbereitet, viel freiſinniget ‚ausfallen mieb: Der Bi - 

fehriften und Beitungen erfcheinen jegt viele. Beſonders beachtenswerth 
darunter find vier; Collegialtidende (Eollegialzeitung), Berlinks Tidende 
(Berling’fbe Zeitung), Fädrelandet (das Vaterland) und Kjoͤbenhavns⸗ 
poft (die Kopenhagener Poſt). Die Eokitglfittung wird von dem 'ges 
heimm Staatsminiſter Derfteb herausgegeben und iſt als ein. vffitielles 
Blatt -unzufehen: Die Berting’fhe Zeitung vertheidigt die Regierung, 
erhält: volt: diefer umter der Hand Mittheilungen, ft halb efficiellz bie 
andern: beiden find Oppoſitionsblaͤtter. Faͤdreland gehört hauptſaͤchlich Der 
ſtandingviſchen · Partei an und vertritt vorzugsweiſe die nationalen Inter⸗ 
effen niit Wernachiäffigung / der conſtitutionellen, während Kibbenpaune, 
mie diefe-in den Vorbergrund ſtellt. 

Beſſer ficht es wiederum mit dem Finanzweſen. Da drangen die 
Seinde, als ihnen das Dunkel ein wenig gelichtet ward, auf weitere - 
Aufeikeung und drangen zugleih auf Debnung in der Finanzverwaltung 
and. babeutende Arge irn fo fpectefker, je mehr fich ihre Einfiche: 
erweiterte.” Ein recht ausfährliche® Budget und ein Verwaltungsbericht 
ward auch gleich nach dem Megierungsantritt Chriftian’s VII. der Def⸗ 
fentlichteit übergeben und es wurden für die einzelnen und hauptſaͤchlich⸗ 

Poſte feſte Mormen angenommen; der König ſelbſt erklärte aber: 
„mun- wollen wir ˖ Alle ſparen.“ Das Budget und die Sinanzberichte- find 
auf Verlangen ber Stände jährlich vonftändiger geworden, aber bie Nor⸗ 
men find hinfichtlic, der Hauptfachen nicht inne gehalten, namentlic, find 
die Ausgaben fürs Milltaͤrweſen fortwährend ſtark uͤberſchritten worden. 
Deshalb haben die Stände immer von Neuem und immer emergifcher 


= Wefpaeung Ben amd auf beffere Verwendung ber — 


Dänemark. 159 


Außer dem Militaͤrweſen haben fie befonders bie Givillifte und bie Apas 
wagen, welche von dem Könige willkuͤrlich beilimmt worden, das Pen⸗ 
fions» und Gratialwefen fowie die Diplomatie zum Gegenftande ihrer 
Rügen. gemacht, die bie jest aber wenig Beachtung gefunden haben. 
Um das Penfionswefen zu regulicen, ift von der Regierung ein Geſetz⸗ 
atwurf ausgearbeitet worden, wobei aber der Wunfc zu fparen nicht 
beräcfichtigt zu fein ſcheint, woneben auch noch das Gratialmefen, das 
fa enorme Summen verfhlingt, wahrſcheinlich ferner fortbeftehen ſoll, 
weshalb denn die Oppofitionspreffe nicht mit Unrecht meint, man folle 
doch auch auf die drmeren Claſſen etwas Ruͤckſicht nehmen, auch diefen 
einmal Fürforge zuwenden. Fuͤr die Melioration innerer Zuſtaͤnde, des 
Ferſtweſens, des Aderbaues, des Fabrik⸗ und Gewerbeweſens, der Kuͤnſte 
und. Wiſſenſchaften wird dabei Wenig aufgewendet; für Eiſenbahnen hat 
Die Regierung fich intereffict, aber ducch Geldmittel fie wenig ‚gefördert 
und kein durchgreifentes Syſtem angenommen und verfolgt, fo daß im 
Herzogthum Holftein, wo nur durch Privatbetrieb die Eifenbahnen zu 
Stande gelommen find, von Regierungswegen Feine nugbaren Eiſenbah⸗ 
. wem. angeregt, gefchweige denn hergeftellt worden find. Den Ständen 
kann man allerdings zum Vorwurf machen, daß ſie biefe Amgelegenheiten 
noch. nicht fpeciel genug zur Sprache gebracht haben. Wenn dennody 
fig eine recht gute Bilanz im Finanzwefen zwifchen Einnahme und 
Ausgabe herausgeftellt hat und jährlih fogar etwas von ber Staats⸗ 
ſchulb getilge ift, fo rührt dies daher, daß das Land in dem legten Jahr⸗ 
zebent fehr. gluͤckliche Conjuncturen gehabt hat, baß die Ernten gut gedie⸗ 
ben, die Productenpreife hoch fanden und. Viel ausgeführt wurde. Das 
zus kommt feit 1838 eine große Mehreinnahme des Zollweſens aus den 
Herzogthümern, welche trog dem, daß die Regierung fie den Herzogthuͤ⸗ 
mern allein in Ausfiche geftellt hat, in die gemeinfchaftlihe Staatscaſſe 
floß. Dennoch bleibt die finanzielle Lage hoͤchſt bedenklih, und die Fi⸗ 
nanzpermaltung mangelhaft, fo daß, wenn einmal bie Gonjuncturen ums 
ſchlagen und fchlechte Sabre eintreten folten, leicht Verlegenheiten ent: 
ſtehen koͤnnen. Nach dem legten Sinanzbericht vom Jahr 1844 betrug 
am 31. Decbr. des genannten Jahres bie Stuatsfhuld 110,750,306 
Möthlr. 60 bß. Die Einnahme bes Jahres 17,522,962 Rbthlr. 80% 
68... Die Ausgaben beliefen fi auf 16,362,793 MRbthlr. 784 bß., fo 
daß ſich: alſo ein.Usberfhuß von 1,160,169 Mbthir. 2,% bß. heraus: 
ſtellte Die Ausgaben für das koͤnigl. Haus betrugen 686,209 Rbthir., 
wozu noch kommen 271,871 Rothlr. 76 bß. für die Einige. Schloͤſſer 
und an Apanagen 550,415 Rbthle. 32 bß. Der Ser - Militärs Etat 
nahm weg 2,232,762 MRbthle. 544. bß. Der Land» MilitäesEtat die 
Summe von 4,198,824 Rothlr. 24 bi. Die Diplomatie ober das 
Departement der auswärtigen Angelegenbeitm 335,981 Rothlr. 45 bß. 
Das Penſions⸗ und Gratialweſen 1,493,720 Rbthir. u. f. w. 
Der finanzielle Zuftand zunddft, dann . aber eine dreartige Bewe⸗ 
gung in den Herzogthümern und das Vorbild, welches man in Norwe⸗ 
gen fah, vief endlich das Verlangen in Dänemark hervor nach einer 


19Q Dänematf. 


festen Staatöverfaffung, befonders als ber jegt regierende König, ber bie 
normwegifche Verfaffung gegründet oder doc) befchworen hatte, den Thron 
beſtieg. Deputationen des Volks erinnerten ihn gleich baram und fpäter, 
als er von ber Krönung zu Sriedrichsturg nach Kopenhagen zurückkehrte, 
auch die Communalrepräfentanten biefeer Stadt. Der König antwortete 
ablehnend, die norwegifche Conflitution fei in der Eile gemacht, fie hätte 
fonft auch beffer fein müffen, mas wohl nichts Anderes heißen kann als 
ariftokratifcher, in Daͤnemark müffe man auf der Grundlage fortbauen, 
welche ber hochfelige Vorgänger gelegt habe. Das Volk ſprach ſich 
dann in Petitionen an die Ständeverfammiungen gleichfalls für eine 
freiere Verfaſſung, befonders für das Steuerbewilligungsreht aus und 
dieſe richteten desfallſige Anträge an die Regierung. Da flofien benn 
aus ber Idee der Stantdeinheit der Derzogthümer mit Daͤnemark und 
nad) dem Vorgange Preußens die Vorfchläge zur Einrichtung ſtaͤndiſcher 
Ausfhüffe. Die dänifhen Stände nahmen fie an unter einigen Modi⸗ 
ficationen, aber die Stände der Herzogthuͤmer lehnten ab, weil fie fie 
ungenügend erachteten, weil fie eine wirkliche Verfaffung begehrten muß⸗ 
ten und meil fie durch diefe Ausſchuͤſſe eine nicht zu münfchende Amals 
gamirung mit Dänemark eingeleitet faben. Eben wegen bes Heranzie⸗ 
hens der Derzogthümer ‚nahmen aber hauptſaͤchlich die dänifchen Stände 
an, verftanden ſich fogar dazu, daß menigften® einitweilen bei ben ges 
meinfchaftlidhen Berathungen der Ausfchüfle die deutſche Spradye vor⸗ 
zugsmweife gebraucht werden folle. Wegen Ablehnung der Herzogthümer 
ließ die Regierung das Proiect liegen und die Stünde haben audy die 
Verfoffungsfrage feitdem nicht wieder zur Sprache gebracht. Sie wur: 
den befonders von den nationalen Kragen in Anfprudy genommen und 
verwidelten fi) damit auf eine üble Weife. 

Das nationale Bewußtfein, melches mährend der legten Sahre bei 
allen Völkern Europas mehr und mehr erwachte, erhob fih aud in 
Dänemark, wo es theild als ein blos daͤniſches hervortrat, theils als ein 
höheres ſtandinaviſches. Während die Regierung die Verbindung Düs 
nemarks mit den drei Herzogthuͤmern aufrecht zu erhalten und allmälig 
weiter auszubilden fuchte, dabei die Sonderheiten und Eigenthuͤmlichkei⸗ 
ten fchonte, nur dir Entwidelung und Ausbreitung der dünifchen 
Sprache im Herzegthum Schleswig etwas Vorſchub leiftete, wofür wohl 
die perfönlichen Enmpathien des Königs entfhieten, der bei feiner 
Thronbeſteigung erflärte, er fei mit Leib und Seete Däne, verlangten 
die nationalen Parteien im Volle ernftlihe Maßnahmen zu näherer 
Berbindung der Herzogihümer mit Dänemark, befonders des Herzogthums 
Schleswig, das man als ein Pertinenz Dänemarks betrachte, und for: 
derten hier zuvörderft Gleichſtellung der dänischen Sprache mit der deut: 
[hen in allen Öffentlihen Angelegenheiten, befonders auch in der ſchles⸗ 
wigfchen Ständeverfammlung, verlangten deshalb felbft Gewaltmaßregeln 
gegen die Bewohner jener Lande. Nachdem ſchon die beiden dinifchen 
Ständeverfammlungen des Jahres 1842 ſich in biefer Nichtung ausges 
fprochen hatten, nahmen fie diefe ragen in ihrer Diät von 1844 


Dänemark. 161 


bar auf. Zuerſt beichloß die jütländifche Stänbeverfammlung zu Viborg 
Anträge, bie fidy auf die dänifche Nationalitdt in Schleswig und bie 
Seaatseinheit bezogen. Hier dämpfte noch etwas ber koͤnigliche Com⸗ 
miſſerius Conferenzrath Derfied. In der Ständeverfammlung für bie 
daͤniſchen Inſeln zu Rothſchild trat man noch viel beftimmter hervor. 
je fette der Kopenhagener Bürgermeifter Algreen:Uffing den Antrag, 
ie Megierung declariren folle, die Herzogthümer und Dänemark 
Akten eine Staatseinheit und die Staatserbfolge ſei in allen Staats: 
teten diefelbe. Zu gleicher Zeit forderte er, daß die Regierung biefe 
on mit Gewalt aufrecht erhalten und den Einwohnern der Her⸗ 
ee namentlich die Discuffion darüber verbieten folle Bier ers 
fich ber koͤnigliche Commiſſarius beifälig und be&halb erregie bie 
Seche ein auferordentliches Auffehen und eine energiſche Gegenerfiärung 
von Seiten des Volks der Herzogthümer und ber eben noch tagenden 
belkeinifchen Staͤndeverſammiung. Dan ift jegt eben (Anfang Juli 
1846) ſehr gefpannt auf die Antwort, welche die Regierung ben naͤchſtens 
zaſammentretenden Ständeverfammlungen des Königreichd wie ber Herzog: 
thämer geben wird. Wahrfcheinlich wird fie beſchwichtigend und hinausfchies 
hend Lauten ; bamit wird aber die Sache nicht abgethan fein, vielmehr werden 
de Ständeverfammlungen auf beiden Seiten fie meiter führen, und na⸗ 
mentlich werden wahrfcheinlich die Stände der Herzogthuͤmer Beſchluͤſſe 
faſſen, welche bie Selbftitändigkeit jener Lande, die ftaatliche Einheit 
Schleswigs und Holfteins und die deutſche Nationalität ſicher zu flellen 
und meiter zu entwickeln geeignet find. Diefe Internationalen und nas 
tionalen Fragen bewegen jest auch auf beiden Seiten die Bevoͤlkerung; 
in Daͤnemark aber machen fich deshalb befonders zwei Parteien bemerks 
lich, die wir etwas näher in's Auge faffen müffen. 
Die beiden Parteien haben wir ſchon bemerklich gemacht als bie 
bänifche und die flandinavifhe. Die daͤniſch⸗ nationale Partei ifl 
einem Geiſtesverkehr mit den beiden andern ſkandinaviſchen Reichen. nicht 
abgeneigt, will aber mehrentheils nichts von einer politifhen Annäherung, 
die zur Einheit führen Eönnte, wiffen, fondern den status quo in Däns- 
mark aufrecht erhalten, in der Weife, daß die Erbfolge in Dänemark 
und den drei Herzogthümern ſich gleich fei, daß die Herzogthuͤmer fo 
viel thunlich in ihren Verhältniffen dem Rönigreiche. angenaͤhert, übers 
haupt beide Theile mit einander möglichft verfehmolzen werben, daß dabei 
feeilih mit Ruͤckſicht verfahren, aber befonders die Nationalität in 
Schleswig kraͤftig gepflegt und gefördert werde. Die daͤniſche Partei 
fieht das Verhaͤltniß zum deutfchen Bunde fo an, daß ber König von 
Dänemark nur als folder für diefe Herzogthümer dem deutfchen Bunde 
beigetreten fei. Mit ihr ift die Regierung im Allgemeinen wohl einver 
fanden. Die national: flandinavifhe Partei ftimmt auch in ſoweit 
mit ihr überein, daß fie gleiche Erbfolge und Förderung ber dänifchen 
Nationalität in Schleswig will, fie erkennt aber ein näheres Bundes: 
verhältnig Holfteins und Lauenburg an, und will, daß biefe beiden 
Herzogthuͤmer eine befondere Verwaltung, auch eine befondere Verfaffung 
Suppi. 3. Staatslex. II. WA 


163 Dänemark. 


erhalten follen, jedoch unbeſchadet des finanziellen Nutzens, ben Dänes 
mark aus ihnen zieht. Dagegen will fie Schleswig Dänemark ganz 
einverleibt wiffen, Dänemark foll bis zur Eider gehen, will Schleswig 
zu dem Act der einftigen Vereinigung Dänemarks mit den beiden ans 
dern flandinavifhen Reichen als Meorgengabe mitbringen. Um das 
Herzogthum Schleswig zu danificen, haben beide Parteien gemeinfam 
verſchiedene Vereine geftiftet, die durch Wort und Geld wirkfam find, 
aber bis jest faſt gar nichts ausgerichtet haben. Diefe flanbinavifche 
Bereinigung befteht bis jegt nur noch in der Idee, wird jest allerdings 
viel befprochen, hauptſaͤchlich aber audy nur befprohen. Man hat in 
Daͤnemark wie in den beiden andern Reichen fandinavifche Geſell⸗ 
ſchaften gebildet, die jedoch vorzugsweife nur freundfchaftlichen Verkehr 
der Einwohner und literarifche Beziehungen zum Zwecke haben. Im 
Hintergrunde ruht allerdings auch ein politifcher Iwed, indem man 
gleichfalls eine ſtaatliche Annäherung will. Diefe denkt man ſich mehren: 
theils als eine Föderation zwifchen den drei Reichen nad) Art des beuts 
[hen Bundes, jedoch mit mehr vollschümlihen und demokratiſchen 
Formen, fo baß neben dem Kürftenbund ein Voͤlkerbund entſtaͤnde, repraͤ⸗ 
fentirt duch ein ſkandinaviſches Parlament, wie «6 fchon die freien 
Verfoffungen Norwegens und Schwedens mit Notwendigkeit erheifchen- 
Daß disfe Idee an ſich recht fchön iſt, wird wohl kein Verſtaͤndiger in 
Abrede ftellen, aber die ſtandinaviſche Partei in Dänemark fcheint dabei 
außer Acht zu laffen, daß fie erſt dann realifirt werden kann, wenn Daͤ⸗ 
nemark zu einer freien Staatsverfaffung gelangt ift, ſcheint nicht zu bes 
achten, daß es nie gelingen kann und wird, Schleswig unter Einer 
Staatsverfaffung mit Dänemark zu vereinigen; fie fheint Überhaupt 
noch nicht Refignation genug zu befigen, fondern von einem, man möchte fagen, 
provinziellen Eigenduͤnkel befeelt zu fein, der fehr aͤngſtlich beforgt iſt, daß 
Dänemark an fidy nicht bedeutend genug fei, ſich in der ffandinavifchen 
Union geltend zu machen oder lieber zu prädominiren. Würde bdiefe 
Partei, die übrigens immer mehr Anhänger in Dänemark gewinnt und 
auch mehr und mehr zu einer größeren Klarheit gelangt, ſchon jet von 
politifcher Klugheit geleitet, fo tmoürde fie ſich nicht um Schleswig kuͤm⸗ 
mern, fondern würde vor allen Dingen nad) einer conftitutionellen Ver: 
faffung in Dänemark fireben und erkennen, daß gegenfeitige Freund: 
[haft und Allianz ſowohl im Intereſſe Standinaviens als Deutfchlande 
liege. Mir wollen hoffen, daß fie bald zu diefer Einfiht und dem ent⸗ 
ſprechenden Streben gelange. 

Einer conftitutionellen Entwidelung in Dänemark ftehen aber auch 
die ariftofratifhen Einrichtungen und Zendenzen noch entgegen. Man 
hat in Dänemark wohl, gegenüber den Schleswig: Holfteinern, behauptet, 
daß man feit Einführung der Abfolutherrfchaft Feine Ariftofratie habe, 
weil man Fein gefchloffenes privilegirtes Corps hat, wie die fchleswig- 
holſteiniſche Ritterſchaft iſt. Aber diefe Behauptung ift im Grunde 
ganz nichtig. Zwar wurde die damals mächtige Ariſtokratie in Däne: 
mars durch Einführung der Abfolutherrfchaft gaͤnzlich gebrochen, allein 


Dänemark. 163 


Die Abfolutherrfchaft ſchuf eine neue Ariftofratie, ihr unterthänig und 
ihr dienend. Die jet in Dänemark beftehenden 19 Kehensgraffchaften 
und 13 oder 14 Sreiberrichaften find alle nad; Einführung der Abfos 
lutherrſchaft gegründet und von ben abfoluten Königen creirtz einige 
noch in neuefler Zeit, nachdem fchon in der jütländifchen Ständevers 
femmiung der Wunſch laut geworden war, der König möge doch von 
fernerer Creirung abflehen. Die Lehnsgrafen und Freiherren genießen 
befondere Vorrechte und werden im Hof⸗ und Staatsdienft unleugbar 
bevorzugt. Ste wünfchen, mit wenigen ehrenwertben Ausnahmen, keine 
Anderung des Zuſtandes, worin fie ſich mohl fühlen, wenn auch nicht 
die Bauern auf ihren Gütern. Diefe ftreben jest, nachdem unter der 
Regierung Chriſtian's VII. und Friedrich's VL die Seffeln der Leib⸗ 
eigenfchaft gebrochen mworben und fie der Bildung zugeführt find, nad) 
Eigenthum und Selbftftändigkeit, die ihnen früher genommen worden, 
befonders nody umter dem abfoluten Könige Chriftian V., worüber man 
m Dahlmann’s „Sefhichte von Dänemark”, Bd. 3. unter der Uebers 
ſchrift: „Der Bauern Untergang” erbaulihe Dinge lefen kann. Einige 
Sutsherrfchaften, wie namentlich der humane Graf Knuth, haben die 
billigem Wünfche der Bauern erhört und ihnen ihre Befigungen in Eis 
genthum verwandelt gegen eine fefte Abgabe, während andere fie barſch 
zurüdgewiefen haben und ben Freunden des Bauernftand:s in der Stän- 
deverfammiung in hochariftoßratifcher Weife entgegentraten. Gegen bie 
Bauernbewegung erließ im legten Jahre die bänifche Kanzlei ein Verbot 
ber Berfammlungen, aber die Bewegung gewann nuraninnerer Energie, und 
der König, dem vielfeitigen Anbringen nachgebend, hob das Verbot wieder 
auf. Die Bauern haben verfchiedene Vereine geftiftet, theils um ihre 
Angelegenheiten getrennt von denen der Gutsherrſchaften zu halten, theile 
fogar um durch Geldbeiträge privilegirte Güter anzulaufen und zu zer 
ſtuͤckeln. Beſonders einflugreich dürfte werden „die Gefellfehaft der Bauern» 
freunde” , da hier politifc) freifinnige und gebildete Männer an der Spitze 
fliehen und die Gefellfhaft wohl fchon 4000 Mitglieder zähle. Es ift 
mehr als mwahrfcheinlich, bag in der nächften Ständeverfammlung dieſe 
Berhältniffe wieder zuc Sprache kommen und von Neuem Anträge 
gegen die Privilegien der Graffchaften und Baronieen und beſonders 
Deren Vermehrung gemacht werden. Wohin endlich der Sieg hier in 
dem Kampfe zwiſchen Demokratie uud Ariſtokratie fallen wird, kann nicht 
zweifelhaft fein. 

Schlimm ift es, daß es Dinemark in der gegenwärtigen gaͤhren⸗ 
den Periode an großen Staatsmännern fehlt, wie der geniale Struenſee 
war und der weile Bernflorff, ja an recht tuͤchtigen Charakteren übers 
haupt. In dem Dinifterium dänifchen Theils ragen hervor: Stemann 
und Derfted. Erfterer ift ein Mann wohl über 80 Jahre alt, voll 
Energie, aber durchaus abſolutiſtiſch gefinnt und nit im Stande, den 
Geiſt und die Bewegung diefer Zeit mehr zu begreifen. Derſted befigt 
ein außerordentlich ausgebreitetes MWiffen und einen humanen Willen, 
aber ihm fehle zu einem bedeutenden Staatsmanne die Energie und das 

iL* 


164 | Dänemark. 


plaftiiche Talent. Daher hat er den Erwartungen, welche man von ihm 
begte, als die provinzialflänbdifcdye Inſtitution in's Leben trat, nicht 
entfprochen, ift jest, auch fhon vom Alter gefhwächt, mit Verluſt 
feiner Popularität als Eönigl. Commiſſarius, ohne ein bleibendes Werk 
gegründet su haben, abgetreten und hat dem Etatsrath Bang Plag ges 
macht. Daß diefer den Anforderungen genügen werde, wagen wir zu 
bezweifeln. Während feiner Wirkfamkeit in der Ständeverfammlung 
haben wir nichts Ausgezeidmetes an ihm bemerkt; Kunde der Verhäftnifie 
iſt ihm nicht abzuſprechen, audy wird er wohl einen Schritt weiter gehen 
als Derfled, Hat fidy aber durch feindfelige Aeußerungen gegen die Ans 
fprücye der Herzogthämer ſchon in eine fchiefe Stellung gebracht und 
wird fich wahrfcheinlidy ernfllichen und conftitutioneflen Beſtrebungen 
opponiren. Unter andern öffentlihen Charakteren traten früher mit 
einem gewiſſen Eclat hervor: Algreen:Uffing und Prof. David; aber fie 
haben fi mit ber Regierung ausgeglichen und fcheinen jegt von frühes 
ven Sreiheitsbeftrebungen gänzlih zu abftrahiren. Die übrigen und 
jegigen Vorkaͤmpfer der Freiheit haben in den Gtänbeverfamm: 
lungen nody nicht Anfehen genug. Unter ihnen wird am häufigften ber 
Adv. Lehmann genannt, en Mann von Talent, befonders von Beredt⸗ 
ſamkeit; aber er hat als Abgeordneter eigentlich noch nichts für die 
conflitutionelle Frage gethan und hat fid, in der Öffentlichen Meinung 
damit ein fatales Dementi gegeben, daß er ſich anfangs weigerte, dem 
abfofuten dominiam den Homagialeid als Advocat zu leiten, jedoch voͤllig 
in ben Sinn und Willen der Regierung einging, als bdiefe ihm deshalb 
die Advocatenbeftallung vorenthieltl. Kür einen Webelftand in Dänemark 
müfjen wir das Ordens: und Titelweſen halten, das hier wie in den 
drei Herzogthuͤmern in feltener Blüthe fteht. Alle, welche mit einem 
Orden oder Titel begnadigt werden, treten in ber Rangordnung eine 
Stufe höher ale andere ehrliche Leute, was der Eitelfeit, die man uns 
hier im Norden wohl nicht mit Unrecht zu den Fehlern fohreibt, immer 
neue Nahrung giebt, und leitet nicht felten gar Öffentliche Charaktere von 
ihrer Bahn. In der öffentlihen Meinung hat e8 bereits einen bedeu⸗ 
tenden Stoß erlitten und fcheint immer mehr zu fallen, je weiter es ſich 
ausdehnt; eine Reform wäre auch da fehr heilfam. 


So fteht nun Dänemark da am Vorabend des Tages, wo feine 
beiden berathenden Ständeverfammlungen und zugleich die Ständever- 
fammlungen Schleswig - Hoifteins fi) zum fechften Male verfammeln. 
Daß diefe bedeutende Schritte thun, Erhebliches leiften werden, wagen 
wir nicht zu hoffen; aber etwas meiter werden und müffen fie unfere 
Zuftände führen. Unendlidy viel weiter wären Dänemark und Schles⸗ 
wig=Holftein, wenn Friedrich VI. jedem gleich eine conftitutionelle Ver: 
faffung gegeben hätte, ftatt biefer Stänbeinftitution; hoͤchſt erfreulich 
aber wäre es, wenn Chriftian VIIT., der ohne Frage feine Mäthe weit 
überfieht, der fiebenten Verſammlung, die zufammentritt, nachdem das 
Volt neue Wahl geibt hat, den Entwurf einer folhen Verfaſſung vor: 


l 


Dänemarf. oo. 165 


und bamıit weiteren Wirren vorbeugte, aber den Grund legte zum 
2 Glaͤck feiner Voͤlker. Hanſen. 





Auch wir find der völligen Ueberzeugung, daß die daͤniſche Regie⸗ 


zung nichts Weiſeres hätte thun koͤnnen, als daß fie, bei dem Wieder⸗ 


wachen des Wunſches und Bedürfniffes freier Verfafſungsrechte, diefels 
ben großherzig und vollftänbig erfüllte. Daß fie es nicht that, dieſes 
bet ihre die unangenehmſten innern Kämpfe, nicht blos des Volks 
mit der Regierungspolitik, fondern der verfchiebenen Provinzen des 
Geaates unter einander und bie größten Gefahren für den Fortbeſtand 
des Reiches und die Erhaltung diefer Provinzen bereitet. 
Bekanntlih, und wie in bem Artikel Holftein, Schleswig» 
Holſtein gmauer ausgeführt werden wird, fieht man voraus, daß der 
ge Kronprinz von Dänemark keine Nachkommen erhalten und 
mit ihm der Mannsſtamm des Könige von Dänemark und Herzogs von 
Schleowig⸗ Holftein Chriftians L von Oldenburg, erlöfchen wird. 
Dadurch würden nad) den verfchiedenen Succeffionsgefegen bed Koͤ⸗ 
nigreichs Dänemark (der lex regia) und nad denen von Schleswig 
und Holftein (dem auf frühere Rechte und Verträge begründeten gro» 
Gen Freiheitsbrief Chriftians I.) ſowie auch nach den befonderen Suc⸗ 
esffions-Befegen des Herzogthums Lauenburg für diefe dreierlei verſchie⸗ 
Denen Beftandtheile ber jegigen dänifchen Monarchie dreierlei verfchiebene 
Gucceffionen eintreten. Sehr natürlich ift nun der Wunſch des Könige 
wie der däntfchen Provinzialftände, die Abtrennung der Herzogthümer 
Schleswig Holftein und Lauenburg oder die Zerftüdelung der Monar: 
„hie zu verhindern. Aber die Bemühung, durch gewaltfame Danifirung 
Diefer Provinzen, allernächft Schleswigs, und durch gemwaltfame Unter: 
drädung der befonderen verfafiungsmäßigen Succeffionsrechte dieſer 
Provinzen und durch ihre gewaltfame KEinverleibung mit Daͤnemark 
dieſen Zweck zu erreichen, diefes verlegt und beleidigt nicht blos die rechts 
mäßigen Succefforen und bie Bürger und Stände diefer Länder, fondern 
es verlegt die ganze deutſche Nation, die befanntlich Thon durch die Or⸗ 
gane verſchiedener Ständeverfammlungen und andere Öffentliche Volks⸗ 
demonftrationen ihre Gefinnungen zu Gunſten ihrer deutfchen Bruder: 
flämme und ihrer innigen Verbindung mit Deutfchland ausdrüdkte. 
Wie viel näher hätte nun auf ruhmvollerem und glüdlicherem 
Wege die dänifche Negierungspolitit ihrem Diele kommen koͤnnen, wenn 
fie nad) jener erwachten Sreiheitsliebe, flatt fic) an die deutfche Reactions⸗ 
politit von 1819 anzuſchließen, in einer Zeit, wo die Schleswig s Hol: 
fleiner ſich wenig zu Deutfchland hingezogen fühlten, aͤhnlich der belgi⸗ 
ſchen und holländifhen Verfaflung, ihrem ganzen Reiche neben berathen- 
den Provinzialftänden für die einzelnen Theile, eine wahrhaft freifinnige 
Reichsverfaſſung gemährt hätte. Die deutfhen Provinzen Luremburg 
und Limburg, Lothringen und Elſaß haben leider ihren Zuſam⸗ 
menhang mit Deutfchland der Freiheit ihrer größeren politifchen Vereine 


166 Dei gratia. — Deutfchlands Stämme. 


zum Opfer gebracht. War es denn nicht möglich, im einer Zeit, wo bie 
Deutichen eben erft in Holftein als Fremde geftanden waren, um dem 
Königreich Dänemark Norwegen zu rauben, und mo dann der deutſche 
Bund die Herzogthümer SchleswigsHolftein duch die Beraubung ihrer 
fräheren Preßfreiheit tief Eränkte und in Deutfchland aller Auffchwung 
deutfcher Nationalität und Freiheit erloſchen fchien, mar es jegt nicht 
möglich, die beutfchen Herzogthämer durch die gewährte gemeinfchaftlich 
erhebenbe reichsftändifche Freiheit für die dauernde Vereinigung mit der 
dänifhen Monarchie und für freie verfaffungsmäßige Regulirung der 
Erbfolge durch Regierung und Reicheftände zu gewinnen! Diefer günftige 
Moment ift durch die unfelige Sreiheitsfurcht für immer verloren. Die 
Erbitterung in den Herzogthämern waͤchſt fortdauernd, zumal feit dem 
töniglichen Patent vom 8. Juli 1846, welches bereit8 Lauenburg 
und Schleswig Dänemark incorporiet, die Incorporation von Hol: 
kein in Ausficht flellt und das verfaffungsmäßige Band Schleswigs 
mit Holftein, worauf beide und ganz Deutfchland mit Recht fo großen 
Werth legen, zwar nicht den Worten, wohl aber der That nad) zerreißt. 
Die durch die gereigte Stimmung ber Herzogthümer unfehlbar hervor⸗ 
gerufenen Gegenmaßregeln und Gegendußerungen von Seiten der bänis 
fhen Regierung und der daͤniſchen Drgane der äffentlihen Meinung 
gegen bie fchleswig=holfteinifhe und die bdeutfche öffentliche Meinung, 
fie werben das Uebel nur vermehren. Doc eine genauere Darftellung 
und Betrachtung der Verhäftniffe wird der Artikel Holftein, Schles- 
wig-Holſtein liefern. 

Möchte es doch endlich allermärts klar werben, daß, zumal in einer 
Zeit, wo, tie in der unfrigen, die Freiheit zum erkannten Lebensbe⸗ 
duͤrfniß fir die Völker geworden ift, die Regierungen durch Freiheitsfurcht 
ihre Kraft und Eriftenz gefährden! C. Welder. 

Dei gratia, von Gottes Gnaden. Die Beweiſe, wie 
wenig in den deutfhen, überhaupt in den germanifchen Staaten jemals 
eine wirklich theofratifche Bedeutung des „von Gottes Önaden’ 
zur Herrfchaft Eommen und die alten Vertragsgrundfäge befiegen oder 
wohl gar hätte verdrängen Einnen f. in ben Artikeln Deutfhe Ge: 
[hihte, Deutfhes Landesftaatsreht und Grundvertrag. 

C. Welder. 

Deutfhlands Stämme. Ferdinand Heinrich Müller be: 
flimmt in erften Zheile feines umfaffenden Werkes über die deutfchen 
Stämme bie heutigen Wohnfige derfelben ungefähr folgendermaßen: 

In dem nordiweftlichen Niederdeutfchland zeigt ſich ein gemeinfamer 
großer Sprachſtamm verbreitet, welcher aus den Umgebungen von Göt: 
tingen und Duderſtadt an der obern Leine im Eichsfeld, und von dem 
Thale der Diemel auf der Weftfeite der Wefer — an diefem Strome 
hinab bis zum Meere, und jenfeits des Harzes von der Elbe an bie zum 
Deltalande des Rheins hinuberreicht und fi) dann aud) über die Ge: 
biete auf der Dftfeite der untern Elbe ausgedehnt hut. Es ift dies die 
Sprache der Sachſen, das Niederdeutfche oder der niederfächfifche Dialekt 


Deutſchlands Stämme. 167 


der ſpaͤtern Zeit, woran ſich das Friefifche und die Sprache ber jüngern 
Holländer eng anfchließt, forwie das Englifhe und Skandinaviſche noch 
Immer feine alte Verwandtfchaft mit demfelben beurkundet. 

Aber über das ganze Oberland von Deutfchland zeigt fid) eine ans 
dere Sprache verbreitet, deren verfchiedene Dialekte ſich zwar alle einans 
der näher ſtehen, jedoch auch hier noch ftreng von einander geſchiedene 
und fcharf abgegrenzte Sprachgebiete bilden. Denn von dem Heflifchen 
an fübwärts über den Main hinaus bis gegen Karlsruhe und Stuttgart 
bin findet fih der fraͤnkiſche Sprachſtamm verbreitet, welcher auf das 
Gebiet der deutfchen Kranken des Mittelalters hirfweifet und von Oſten 
nah Welten, von Bamberg bis nad) Köln und Trier über den Rhein 
hinausreicht. Auf der Oſtſeite diefer fraͤnkiſchen Mundart folgt die zweite 
mitteldeutfhe Mundart zwifchen dem Xchüringerwald und dem Harz, 
oder die Sprache ber Thüringer, welche unferer Schriftfprache fehr nahe 
ſteht. Bon der Werra reichte fie anfangs nur bis zue Saale, dem Grenz 
fluffe der Thüringer gegen bie Slaven, hat ſich aber nach Unterjodhung 
der Leptern weiter nach Oſten ausgebehnt über das heutige Sadıfen und 
einen Theil der brandenburgifhen Marken, mo ihr der Einfluß der 
niederſaͤchſiſchen Sprache entgegengetreten if. Suͤdwaͤrts folgen fobann 
bie beiden oberdeutfchen Dialekte. Denn von dem Thale der Murg und 
von dem mittleren Nedar breitet fih am Rhein aufmdrts bis in bie 
Hochthaͤler der Alpen die ſchwaͤbiſche oder alemannifhe Mundart aus, 
deren Raute von Straßburg im Eifaß bis nach Augsburg am Lech ver: 
nommen werben, und hinter diefem Sprachgebiet ber Schwaben folgt in 
weiter Verbreitung die Volksſprache der Baiern, die von Augsburg und 
Münden an der Donau abwärts bis nach Wien ſich erftcedt und vom 
Sichtelgebirg und Böhmerwald aus der Oberpfalz fid) bis an das Alpen: 
land von Tyrol hineinzieht. 

Mit dieſer Darftellung unferes ausgezeichneten Ethnographen, 
welcher wir in der Hauptſache gefolgt find, ſtimmen fämmtlidye neuere 
Korfcher wefentlich überein. Zur Vergleihung möchten wie jedoch Dr. 
Carl Bernhardi's Sprachkarte von Deutfchland empfehlen, obgleich dies 
felbe hauptſaͤchlich nur die Begrenzung gegen das Ausland ſowie des Nieders 
Deutfchen gegen das Oberdeutſche im Auge hat. In dem Vorworte der feiner 
Karte beigegebenen Erläuterung wirft er die Frage auf: „Ob fih aus 
den gegenwärtigen Sprachverhaͤltniſſen ber Völker und namentlid aus 
der DBerfchiedenheit dee Mundarten des deutſchen Volkes, ſoweit biefelben 
noch heutigen Tages raͤumlich abgegrenzt beftehen, ein Schluß auf bie 
urfprünglihen Stammverhältmiffe ziehen, oder doch mindeftens ein 
Hilfsbeweis für Forichungen über die Urgefchichte Deutfchlande gewin⸗ 
nen laſſe.“ Diefe Frage mird man unbedingt bejahen dürfen, wenn 
man erwägt, daß die heutigen Sprachgrenzen im Wefentlihen mit ben 
kirchlichen intheilungen des Mittelalters zujammenfallen, dieſe aber 
beim Deangel aller wiffenfhaftlihen Geographie in jener Zeit nicht 
anders als auf volksthuͤmliche Verfchiedenheiten begründet werden konnten, 
auf denen auch ſchon aus Altefter Zeit die Abfonderung in ſelbſtſtaͤndige 


188 Deutſchlands Stätte, 


Gaue beruhte. Der Umfang der Gaue, wie er durch Vergleihung einer 
zahllofen Maſſe von Urkunden aus ber Zeit der erflen deutſchen Kaiſer 
wenigfiens für die wichtigern berfelben feſtgeſtellt ift, flimmt aber wie: 
berum mit der Lage der Landftriche zufammen, welche bie römifchen und 
griechiſchen Schriftfteller, insbefondere Caͤſar, Tacitus, Plinius, Strabo, Dio 
Gaffius u. f. w. den einzelnen Bleinen deutfchen Voͤlkerſchaften anweifen. 
An dem Aufßerft verbienftvollen Werke des Kaspar Zeuß über die Deuts 
fhen und ihre Nachbarſtaͤmme find alle hierher gehörigen Stellen woͤrt⸗ 
ich in der Urſprache abgedruckt, wodurch Sreunde der deutfchen Volks: 
gefchichte mit geringen Koften in den Stand gefegt werden, felbftftändige 
Sorfehungen anzuftellen. Die Uebereinflimmung ber kirchlichen Eins 
theilung und der Gaubegrenzungen mit benen ber deutſchen Urvoͤlker 
bat für die Stammlande unferer Vorfahren hauptfächlic Leopold von 
Lebebur in der Schrift „Das Land und Volt der Bructerer” nachge⸗ 
wiefen. Für die Schweiz find Albert Schott's Arbeiten von Intereſſe. 
Den Einfluß der Bodenformen Deutfchlands auf bie gefchichtliche Ent- 
widelung der einzelnen Stämme behandelt Mendelfohn’s „Germaniſches 
Europa” mit Geift und Sachkenntniß. An Vollſtaͤndigkeit behauptet 
jedoch das fehon genannte Wert von Kerdinand Müller bie erfte Stelle, 
auf ihn muͤſſen wir daher Diejenigen befonders verweifen, welche eine 
genauere Kenntniß alles deffen erlangen wollen, was in Bezug auf jeden 
einzelnen Punkt der deutfchen Ethnographie bis jetzt geleiftet worden 
if. Es finder ſich daſelbſt auch die betreffende Literatur immer voll- 
fländig aufgeführt. 

Mas uns betrifft, fo koͤnnen wir bier nur die mwichtigften Refultate 
ſaͤmmtlicher Forſchungen, foweit fie uns als mohlbegründet erfcheinen, 
anführen. 

Aus der Vergleihung der Sprachen und des Goͤtterglaubens ergiebt 
fi) als erfte, unumftößlihe Thatfache, daß fich von dem Alpengebirge 
bes Himalaya an in nordmeftliher Richtung dem Hindu-kuſch entlang 
zu beiden Seiten des Kaufafus, des Laspifchen und fchwarzen Meeres, 
bis in das Herz von Europa eine große Völkerfamilie zieht, welche man 
erft die indo=germanifche, dann die indo=europäifche, jest aber Die 
arifche oder biblifch die japhetifche zu nennen pflegt. Zu bderfelben ge: 
hören folgende Völker: Die Bramanen, die Eroberer Indiens, melche 
jegt noch als erfte Kafte die unterworfenen Etämme malapyifcher, mon: 
golifcher und negerartiger Race beherrfhen; zweitens die Iranen, 
wozu die Meder, Perfer, Afghanen und die DOffeten im Kaukafus ge: 
hören; ob drittens die Armenier, Georgier und Tſcherkeſſen vollftändig 
hierher gerechnet werben dürfen und nicht vielmehr die Erfteren zu ben 
ihnen füdmweftlih wohnenden Semiten, die Letztern zu dem finnifchmon- 
golifhen Stamme, ben Ferdinand Müller in feinem fie befchreibenden 
geoßen Werke die Ugern nennt, möge dahingeftellt bleiben. Dagegen 
bilden die Wenden, im altdeutfchen Sinne für Slaven und Fetten ge: 
nommen, unzmeifelhaft ein weiteres Glied der urifchen Familie; der 
Hauptſtamm derfelben ift aber im Norden der Alpen ber germanifche, 


r 


Deutſchlands Stämme. 168 


im üben derſelben der pelasgifche, welcher die alten Dacier, Ihracier, 
fo wie bie Albanefen, Wallahen, Griechen und Römer umfaßt. Der 
weftlichſte Zweig der Andos Europäer find die Kelten auf den britifchen 
Inſeln, in Frankreich, in der Lombardei und in Sraubündten. Im 
Gädweiten diefer weit hingeſtreckten Reiche gleichartiger Völker wohnt 
eine andere große Kamilie, die der Semiten, als beren Stammvolt 
wohl die Araber angefehen werben dürfen und zu welcher die Phönizier, 
Syrer und die Juden zu rechnen find. Im Norboften find die Japhe⸗ 

"Pen von den ugriſch⸗mongoliſchen Völkern umgeben, als deren Zweige 
bie Zataren, wozu die Türken und Turkomannen gehören, bie eigents 
Uchen Mongolen mit den Kalmüden, ſowie die Zinnen und Ungarn 
und die oͤſtlichen Stämme des Kaukaſus erfcheinen. Ob die Basen, 
bie reinen Abkömmlinge ber alten Sberen und Liguren, in Verwandt: 
ſchaftsverhaͤltniſſen zu den altfinnifchen Völkern flehen, von denen fie 
dercch die Stürme der arifhen Völkerwanderung getrennt worben fein 
Zönnten, oder 06 fie vielleicht der chamitifchen (abyſſiniſch⸗ berberifchen) 
Familie Nordafrika's angehören möchten, oder eine felbftftändige Familie 
bilden, iſt zur Zeit noch nicht zu entfcheiden. Daß dieſe großen 
Stämme an ihren Berührungspuntten ſich mannichfach gemifcht und das 
durch Veranlaffung zu Uebergangsvölkern gegeben haben müffen, liegt 
in der Natur der Sache; vorzüglich fand dies unter ben Aren ſelbſt 
ftatt, fo lange fie noch auf ihrer weiten Wanderung durch Zufall und 
Kriegsgluͤck durcheinander geworfen wurden. 

Die Zeit der großen Wanderung möchte ſich dereinft aus indifchen 
Duellen annäherungsroeife beftimmen laſſen; der Ausgangspunkt ift zwei⸗ 
Telsohne der Hindustufh, der Gebirgsknoten an den Grenzen von 
Zuran, Scan, Indien und der Mongolei. Bon bier zogen nad) Indiz 
fen Sagen bie Bramanen füdlih, andere Stämme norbmeftlich. 
Letztere müflen fich bei ihrem alfmäligen Weiterbewegen am Easpifchen 
Meere getrennt und dadurch den Grund zu einer zweiten XTheilung ge: 
geben haben. Nörblich in die Ebenen Sarmatiens, Deuiſchlands und 
Frankreichs zogen Kelten und Germanen, erftere als die Vorhut Diefer 
Bewegung und fhon getheilt in die beiden Hauptvoͤlker Galen und 
Kymmern. Ob die Staven Beiden vorhergegangen oder nachgefolgt, 
unterliegt zwar nody manchem Zweifel, doch läßt fi) aus ihrer ſtark an 
die Mongolen erinnernden Körper: und Gemuͤthsbildung fchließen, daß 
fie e8 geweſen, welche ſich zuerft und hauptſaͤchlich mit denfelben ge: 
mifcht, beziehungsmeife die Sinnen nad) Nordrußland und in den Kaus 
tafus verdrängt haben. Bei den Staven finden wir feſte Anfiedelungen, 
Städte und Dandelsverkehr zu einer Zeit, wo die Germanen noch im 
vollen unftdten Schwabenthum ber heutigen Kirgifen verhareten. Bei 
diefer Gelegenheit fei es bemerkt, daß ſich unter Letztern noch eine 
Menge rothhaarig⸗blauaͤugiger Geftalten befinden, nicht meniger ale 
unter den Tuͤrken, welche bekanntlich in den nördlichen Verzweigungen 
bes Hindu⸗kuſch ihre Stammfise haben. 

Zur Beit als die Germanen auf dem Schauplag der Gefchichte in 


mw Deutſchlands Stämme, 


den Flächen Norddeutſchlands auftraten, waren fie im Süden und 
Welten von Kelten, im Oſten von Slaven umgeben, fchweiften theils 
weife jedod) noch mitten unter biefen, und zwar in dem Ländergebiet 
längs des Nordabhange der Karpathen und des Rieſengebirgs, auf der 
großen Heerſtraße der norbarifchen Völker. Die Kelten hatten fich mit 
den Pelasgern in den Beſitz dee Donauländer, Griechenlands und Ita⸗ 
liens, mit den Iberen in den Suͤdfrankreichs und Spaniens getheilt, 
Britannien dagegen ausſchließlich beſetzt. Ihre beiden Hauptabthei⸗ 
lungen, die Galen und Kymmern, Letztere von ihren Prieſtern, den 
Druiten, gefuͤhrt, hatten ſich lange und blutige Kaͤmpfe geliefert, in 
Folge deren die erſt angekommenen Galen von den Letztern in das 
Gebirgsland von Hochfrankreich, in die ſavoyiſchen Alpen und auf das 
echte Poufer, auf den britifchen Inſeln aber nad) Irland und Schott: 
land gedrängt wurden. 

Die Grenze der Kelten gegen bie Germanen war zu Caͤſar's Zeiten 
ber Rhein, ber Main und der nördliche Theil des böhmifchen Gebirge: 
kranzes. In Böhmen ſelbſt [cheinen fie mit den Slaven in Berührung 
geftanden zu haben. Jedoch waren fhon einzelne beutfhe Heerhaufen 


"in Belgien eingebrungen, andere hatten das ganze Land zwiſchen Main, 


Neckar und Donau, die gallifhe Mark, wüfte gelegt und einen oͤden 
Wald (Odenwald) ber leichtern Vertheidigung wegen um ſich gezogen. 
An der Elbe und Oder laffen fih zwifchen Slaven und Deutfhen für 
jene Zeit Beine Grenzen ziehen, da bie Letztern als Herren ber weniger 
Eriegerifhen Wenden gemifcht unter ihnen lebten. Lestere Thatſache, 
nämlich) der Längere Aufenthalt unter den Wenden, und bie baducdh 
nothwendig erzeugte Einwirkung ber einen auf die andern, fcheint einer: 
ſeits den Unterfchied zwifchen den urfprünglich öftlihen oder fuevifhen 
Germanen gegen bie früher anfaifig gewordenen, wohl mehr mit Kelten 
gemifchten weſtlichen Deutfchen hervorgebracht zu haben, andererfeits aber 
auch den Unterfchied ziwifchen den Weſtſlaven (Polen und Gzechen) gegen 
bie oͤſtlichen Staven oder die Anten, wozu bie Ruffen und Serben ge: 
hören. — 

Ob die von Käfer in Belgien aufgeführten Germanen beutfchen 
oder kymmriſchkeltiſchen Stammes waren, möchte kaum noch zu ermit- 
ten fein, da das Wort German von einer arifchen Wurzel herzuleiten 
ift, melche in zahllofen Umänderungen in allen indoseuropäifchen Spra⸗ 
chen vorkommt und immer eine Verſtaͤrkung, etwas Furchterregendes, 
Hohes, Rauhes, Kriegerifches bedeutet. So will German bei den Kelten 
wohl nichts als Berg: oder Waldbewohner fagen (gor bei den Slaven, 
giri bei den Indiern beißt nody Berg), und darum Eonnten ihnen die 
Bewohner der Ardennen (die heutigen Wallonen) ebenfo gut als Gers 
manen gelten als die in den Gebirgen des rechten Rheinufers mohnenden 
Deutfhen. Blond und blaudugig find die Kelten nicht minder als bie 
Deutfchen, tapfer waren fie ebenfalls, befonders der kymmriſche Theil 
derfelben, die gerade in Belgien füßen, und da alle ihre Etädter und 
Landſchaftsnamen keltiſch find, fogar die der Bataver, und ſich größten: 


Deutichlands Stämme. 171 


theils noch in der Picardie erhalten haben, fo wird man es uns nidye 
verargen, wenn wir hierin der Darftelung Amedee Thierry's folgen, 
weicher ſaͤmmtliche Belgen den Kelten zuzaͤhlt. Die heutigen Wallos 
wen mögen zwar beutfches Blut in fich aufgenommen haben, ihr Chas 
rakter, ihre Lebensweiſe, ihre Unreinlichkeit als Gegenfag zu den aus 
deutſchen Saalfranken und riefen zufammengemadhfenen Flaͤmingen 
zwingt uns aber, fie der Mehrzahl nady für romanifirte Kelten, wie den 
größten Theil der übrigen Bewohner Frankreichs, zu erklaͤren. 

Eine ähnliche Bewandtniß hat es mit den Gimbern. Die franzds 
fifrhen Ethnographen nehmen fie unbedingt ald Kelten in Anſpruch, und 

als Kymbern, Kumberländer oder Kambern. Die unzweifelhaft 
Deutfchen Si⸗kambern oder Sustambern aus dem Suͤd⸗ oder Sauerland 
in Weftphalen führen nun aber denfelben Namen und werden ausdrüds 
li) von Plinius H. N. 4, 14 im Gegenfag zu den juͤtiſchen Cimbern 
binnentändifche (Cimbri mediterranei) genannt. Das Wort Kimbern, 
Kambern oder Kumbern gewährt uns mithin fo wenig als German 
einen fihern Haltpunkt. Möglich wäre, daß beide in ber Voͤlkergeſchichte 
fo hochwichtigen Namen zulegt von ein und demfelben arifhen Wort: 
ſtamm berzuleiten wären und Gleiches bezeichneten. 

Bei den Deutfchen hat ſich das Wort German oder Armin haupt 
fächlid) in der Bedeutung für Kriegsmann oder Wehrmann geltend ge 
macht und mir finden folcher Arminen, Herminen, Hermionen, Her⸗ 
munburen bei allen deutfchen Stämmen, und es hat darum biefes Wort 
auch bier durchaus Leinen befonderen ethnographifhen Werth, obgleich 
nicht zu leugnen ift, daß derjenige Theil des Volkes, welcher auf fleten 
Deerzügen begriffen, jeder Witterung preisgegeben, in mannichfacher Be 
rührung mit den Fremden ſich anders entwideln mußte als der ruhig 
in der Deimath verbleibende Theil. Dies ift die zweite Urſache, welche 
darauf hinmwirkte, die abfondernde Gliederung unter den urfprünglich 
mehr gleichartigen deutfhen Stämmen zu vermehren. 

Die dritte mochte dann der Einfluß des Bodens und Klimas ber 
befegten Gegenden an und für ſich geweſen fein. Die Rachen Seegegen» 
den zu beiden Seiten der jütifchen Halbinfel erzeugen andere Gemuͤths⸗ 
flimmung und andere Lautbildung als die abwechſelnden und trodnen 
Berg und Zhalgegenden bes Oberlandes. 

Am teinften haben fi die Niederbeutfchen, die Anwohner ber 
untern Weſer erhalten, fie lebten im Innenlande, getrennt ducch bie 
Mheinländer von den Kelten und durch die Sueben von den Slaven; 
ihre Sprade, das Plattdeutſche oder Altfächfifche, fteht darum dem 
Sanftrit näher als die oberdeutfchen oder fuebifhen Dialekte. Wenig 
davon verfhieden find die Mundarten Weftphalens, des Sauerlandes, 
des Niederrheins (Ripuariend oder des Riflandes), der Holländer und 
der Flamingen. Beide, die Niederfachfen und die legtgenannte Reihe 
der Weſtlandsbewohner, heißen bei den roͤmiſchen Schriftftellern vorzuges 
weife Germanen, im Gegenfap zu den Sueben, welchen Heſſen, Thuͤrin⸗ 
ger, alle fpäter ausgewanderten Oftfchwaben und die durch mannichfache 


\ 


ihnen hervorgegangenen Alemannen⸗ Schwaben und 

jugezanır werben. 
Keutige Gliederung Deutfchlands in mehrere größere Volls⸗ 
veit diefelben nicht außerhalb ihres WVaterlandes in fremden 
1ayen untergegangen find, findet ſich bei Zacitus ganz Burg, bei 
ms dagegen in ber oben ſchon bemerkten Stelle genau aufgeführt. 
zu fie die Grundlage aller weitern Unterfuhungen bilden und bei uns 
gezwungener wortgetteuer Auslegung einen Beweis für das Unwandel⸗ 
bare unfere beutfchen Volksthuͤmlichkeiten enthalten, fo wollen wir beide ’ 

- bier wörtlich abdruden. 

Zacitus fagt Germ. 2: Manno tres filios assignant, e quorum 
nominibus proximi Oceano Ingaevones, medii Herminones , 'ceteri 
Istaevones vocentur. 

Plinius H. N. 4, 14: Germanorum genera quingue: 

1) Vindili, quorum pars Burgundiones, Varini, Carini, Guttones. 

2) Alterum genus Ingaevones, quorum pars Cimbri, Teutoni ac 

” Chaucorum gentes. 

3) Proximi autem Rheno Istaevones, quorum pars Cimbri medi- 
terraneı. 

4) Hermiones, quorum Saevi, Hermunduri, Chatti, Cherusci. 

5) Quinta pars Pencini, Basternae.. contermini Dacis. 

Es braucht wohl kaum bemerkt zu werben, bafi biefe Eintheltung 
fi) nur auf die Zeit vor den Kriegen mit den. Römern und alfo vor 
ber dadurch bewitkten Bildung neuerer Völker ober Volksvereine, wie 
der Sachſen, Franken, Alemannen und Baiern bezieht, mithin auf bie 
Zeit, wo Deutfchland weſtlich und füdlih vom Rhein und Main be 
grenzt war. Kerner ergiebt fih aus der Stellung bee Römer zu ben 
Germanen, daß bier an Feine ſtreng Logifche Claffification zu denken fei, 
fondern daß fie die Namen ber Abtheilungen aufzeichneten, wie fie ihnen 
bald von bdiefer, bald von jener Seite zur Kenntnißgefommen waren, ohne 
fi weiter um die Bedeutung der einzelnen Namen zu befümmern. 
Da diefe aber, wie von dem meiften berfelben ohne. Schwierigkeit nad): 
zumeifen ift, gar Beine Eigennamen find, denn ſolche giebt fih ein 
Volk wohl nie felbft, fondern erhält fie immer erft von feinen Nach— 
barn je nad) der Lage feines MWohnfiges, feines Ausfehens, feiner Tracht, 
Bewaffnung und Verftändlichkeit feiner Sprache, fo mußte es fi auch 
treffen, daß ein und derſelbe Volksſtamm bei feinen Nachbarn verfchie> 
ben bezeichnet und je nad dem Kintheilungsgrunde auch verfchieben 
Aaffifichrt werden mußte. 

Dies vorausgefegt bietet bie Erklaͤrung der angefuͤhrten Stellen 
nicht die geringſte Schwierigkeit dar. 

Tacitus unterſcheidet blos drei Hauptftämme: 

Ingaevones (Innenwohnende ?), zunaͤchſt am Deean, alſo durch die 
andern Stämme von der Berührung mit ben Fremden gefcieden, die 
heutigen Niederbeutfchen, Friefen und Oſtfalen, zu denen nach Plinius 
nicht nur bie Bewohner der m Halbinſel, die Jüten, gehören 


Deutfchlands Stämme. 178 


Juͤten, Gothen und Tuiten oder Teutonen ift ein und bafjelbe Wort 
und bedeutet Volt), fondern auch die Chauken zwiſchen Elbe und Ems, 
beren Name fpäter durch den allgemeinen der Frieſen verdrängt wurbe, 
fih aber im Pays de Chauchois bei Havre erhalten hat, denn die ganze 
Nordkuͤſte Frankreichs bis zur Loremündung wurde beim Zerfall bes 
roͤmiſchen Reichs von Niederſachſen vermüftet und theilmeis wieder 
aufgebaut. 

- Bringt man bagegen mit 8. Zeuß das Wort Ingaevo mit dem 
norbifchen Ynglinger, Ingwinger, Ingen, welches Juͤngling ober Gelb 
bedeutet, in Bufammenhang , fo märe dies eine weitere Beftätigung bes 
Umftandes, daß die ſkandiſchen Germanen ſchon in ältefter Zeit in näher 
rer Beziehung zu den Niederdeutfchen als zu den Sueven ftanden, würde 
aber an der Thatſache felbft nichts ändern, wornach die Ingaͤren, Ing⸗ 
linger, Engerh, Angrivaren und Angeln die Vorfahren ber heutigen 
Niederfachſen find. 

Etymologiſche Erklärungen, wenn auch noch fo wiſſenſchaftlich bes 
geändert, Eönnen überhaupt nur dann auf firenge Beruͤcſichtigung An⸗ 
ſpruch machen, wenn fie durd anderweitige Thatfachen unterflügt wer⸗ 
den. Es laſſen fi fämmtliche deutſche Volksnamen auf ein halbdugend 
Stammmwörter zurüdführen, die mehrentheils Krieger bedeuten, wie ins⸗ 
befondere der Urname aller Indoeuropder Aren und Afen, welcher auch) 
als Anhängfel gebraucht wurde, wie Bajowaren, Amfivaren. — War 
ift im Englifchen heute noch der Krieg, die Wehre. Auf diefe Art 
kann man Folianten fchreiben, ohne in ethnographifcher Beziehung ein 
anderes Refultat zu erlangen als eben das, daß ſich dadurch kein ficheres 
erlangen läßt, — daß alfo die Vergleichung mit fpätern durch die Bes 
fhichte außer Zweifel gefegten Tharfachen allein im Stande ift, bie 
deutfche Urwelt zu erklären. 

Iſtaͤvo ven. (Weſtbewohner, Weſtricher?) Bezeichnung des weſi⸗ 
lichen Theiles der Niederdeutſchen, am Rhein her, wozu namentlich die 
Bewohner des weſtphaͤliſchen Bruch⸗ und Moorlandes, die Bructerer, 
ſowie die Sauerlaͤnder und die ſpaͤter aus ihnen hervorgegangenen Rif⸗ 
laͤnder (Ripuaren) und Saalfranken (Flamingen) gerechnet werben. 

Es ſcheinen dieſe beiden Benennungen blos geographiſche zu ſein; 
der Ausdruck Hermionen, Arminen, Germanen deutet dagegen entweder 
auf den Unterſchled zwiſchen Flachlandsbewohnern (Falen, Flamingen 
und Marſchlaͤndern) im Gegenſatz zu den Gebirgsbewohnern (Harzern), 
oder darauf, daß dieſelben ſich vorzugsweiſe der Fuͤhrung des Krleges 
widmeten und alſo eine Wehrmannſchaft bedeuten. Eine urſpruͤugliche 
Stammverſchiedenheit iſt hiermit alſo ebenfalls nicht gegeben, Bergbe⸗ 
wohner oder Kriegsleute finden ſich ebenſo gut bei den oͤſtlichen wie weſt⸗ 
lichen Niederdeutſchen, nicht minder als wie bei den Sueven oder Ober⸗ 
deutſchen, darum kann Plinius unter den Hermionen ebenſo gut nieder⸗ 
deutſche Cherusker als oberdeutſche Schwaben, Hexmunduren (Thuͤtinger) 
und Chatten (Heſſen) auffuͤhren; die niederlaͤndiſchen Sauerlaͤnder 


174 Deutſchlands Stämme. 


Sigambern, bei ben Kelten insbefondere Germanen genannt, hätte er 
fuͤglich auch noch als Hermionen nennen können. - 

Den unmittelbaren Beweis dafür, daß umter Dermionen nicht eine 
Bezeichnung eines eigenthümlidhen Stammes zu ſuchen fei, liefert das 
Diemelgebiet (der fächfifche Heffengau) und der Oberleinegau (die Gegend 
um Göttingen). Beide find niederdeutſch, bildeten zur Zeit der Herr⸗ 
mannsfchlacht einen Theil des rings um den Harz ſich ziehenden Cheruss 
ferbundes, kamen aber nad, dem Zerfallen deſſelben einestheild an die 
Heffen (an den fraͤnkiſchen Heffengau), anderntheils an die Thüringer, 
Beide oberdeutfchen oder fuevifhen Stammes. Hütten die Hermionen 
oder die von Plinius aufgeführten Chatten, Cherusker, Thuͤringer und 
Oſtſchwaben ein und diefelbe Mundart geſprochen, fo wäre kaum ein- 
zufehen, warum die Harzgauer jest anders fprechen als ihre Nachbarn 
und präfumtiven Stammpverwandten; am allerwenigften aber, wie es 
tomme, daß die Diemel» und Oberleingauer, welche ſchon in den Zeiten 
ber eriten Sachfenkriege mit den oberdeutfhen und chriftlichen Heſſen 
und Thuͤringern vereint wurden, und das ganze Mittelalter hindurch 
‚ziemlich einerlei Schidfale mit ihnen hatten, dennoch eine nieberdeutfche 
Mundart beibehalten konnten. Es beweift dies auf die unzmelfelhaftefte 
Meife die Unvergänglichkeit von Stammunterfchieden, welche fi) wohl 
fhon vor dem Auftreten der Germanen in Deutfchland theilweife ents 
widelt hatten. 

Mit den Vindilern ober vanbalifhen Völkern bat es dagegen eine 
andere Bewandtnif. Während die eigentlichen Stammgermanen zwiſchen 
Rhein, Main und Elbe eingezwängt und ungemifcht mit Fremden ſich 
dem Aderbau ergaben, aus Mangel an Raum zu feiten Wohnfigen 
kamen und Sitonen oder Saffen wurden, blieb ein anderer Theil in 
den weiten Flächen des Menbenlandes der frühern Lebensweiſe getreu, 
fchmeifte als vitterlicher Adel auf Kriegsfahrten umher und überließ den 
Aderbau den zurücbleibenden und zwar meift wohl den zur SHörigkeit 
herabgedruͤckten früheren Anfiedlern. Solcher wendifchdeutfhen Stämme 
werden nun bei Plinius bemerkt die Burgunden, welche fpäter den Main 
hinab und den Rhein aufwaͤtts zogen und in ber meftlichen Schweiz 
und im Saonegebiet ihre legten Wohnfige nahmen; dann die Wariner, 
Warnen oder Werragauer, welche jegt einen Zheil der Thüringer bilden; 
ber Name der Eariner ift verfchollen; dagegen glänzt der der Gothen 
um fo mehr in der Geſchichte. Wendeler mie Gothen bezeichnen ur⸗ 
ſpruͤnglich durchaus Beinen einzelnen beflimmten deutſchen Stamm, obgleid) 
er fpäter, wie ber der Schwaben, auf gewiffen Unterabtheilungen haften 
blieb. So haben wir außer ben in Stalien und Gothalingien (Catalonien) 
unter den Romanen eingegangenen Oft: und Weſtgothen ffandifche 
Gothen in Schweden, bänifche oder kymbriſche in Juͤtland und ſchwaͤ— 
bifche, nämlich die jütinger Schwaben zwiſchen Jller und Lech. Die 
Vandalen, toelche‘ erft in Andalufien (MWandalufien) faßen, dann nad) 
Aftika zogen, und von denen im Auresgebirge im Süden der Stadt 
Gonftansine, wo im „Jahr 1846 fo viele Sranzofen erfroren, unzweifel⸗ 


Deutſchlands Stämme: 173 


bafte Nachkoͤmmlinge heute noch übrig find, gehören ebenfalls zu dieſen 
oſtſchwaͤbiſchen Wendlands⸗Gothen. Daß diefe Auresbewohner deutſche 
Körpers und Gefidhtsbilbung, weiße duchhfichtige Haut, blonde Haare 
umd blaue Augen haben, kann der Verfaffer diefes Auffages aus eigener 
Anſchauung bezeugen. 

In der polnifchen oder Lächifhen Mark herrfchten andere beutfche 
Stämme, die darum wohl ihren Namen Lugier führten. Sie kämpften 
fpdter in den Donaumarken gegen Marc Aurel, im Verein mit all den 
ſchwaͤbiſchen Voͤlkern, welche vom Süden her durch die Römer maren 
angegeiffen worden und aus deren Bufammenmwachfen nach und nach bie 
Baiern ober Bajovaren, die Kriegsleute aus dem Bojer⸗ oder Boͤheimer⸗ 
Sande, entflanden. 

Die urfprüngliche, aber zeitweis von [hmäbifchsthäringifchen Marks 
maͤnnern unterworfene Bevölkerung Bojoheims war wohl ein Gemiſch 
von Slaven und Feltifchen Bojern; fo daß legtere zweien ihnen felbft 
ſowie unter fi) ganz fremden Völkern ben Namen gaben. 

Ob fhon in urältefter Zeit zwifchen den einzelnen Stämmen ber 
wendiſch⸗gothiſchen Völker eine Verfchiedenheit in ben Mundarten ſtatt⸗ 
gefunden habe, laͤßt fid, kaum noch beftimmen, doch ift dies anzunehmen, 
da die Namen der Heerführer bei einigen Abtheilungen die niederdeutfche 
Endung a, bei andern bie oberdeutfhe o zeigen. Da gegenmwärtiger 
Auffag fi) nur mit den in Deutfchland gebliebenen Völkern befchäftigen 
fo, fo dürften wir uns hierbei kaum länger verweilm, fo wenig ale 
bei des Plinius fünfter Abtheilung, den Peucinen und Baftarnen, welche 
einft mit dem macedonifchen König Perfeus und fpäter mit Mithridat 
gegen die Römer fochten und fammt ben pelasgifhen Daciern, ihren 
Nachbarn, von den Römern in die heutigen Walachen umgewandelt 

urden 


Aus dee Darftellung dee römifchen Schriftfleller ergiebt fi mit 
Sicherheit, daß die deutſchen Völker fchon in Altefter Zeit in größere 
und kleinere Abtheilungen zerfielen, nicht aber, ob bdiefe oder jene bem 
ober s ober nieberbeutfchen, dem fraͤnkiſchen ober fächfifchen Stamme 
nady heutiger Bezeichnung beizurechnen ſei. Das Lestere ergieht ſich 
dagegen mit Zuverläffigkeit fuͤr alle niederdeutfhen Stämme wenigſtens, 
und mit großer MWahrfcheinlichkeit auch für die oberbeutfchen, aus der 
MWergleihung der kirchlichen und politifchen Grenzen des Mittelalters, 
welche wie fchon bemerkt, mit denen der Urvoͤlker zufammenfallen. So 
Finden mie durch eine fortlaufende Reihe von Rüdfchlüffen die ethnos 
Sraphifche Bedeutung der alten Abtheilungen und fodann umgekehrt 
us der gefhichtlich erwiefenen Vereinigung beftimmter Völker während 
Der Roͤmerkriege die Mifchungsverhältniffe der neu entflandenen großen 
Stämme der Nieder- und Oberfranken, der Lotharinger oder Weſtricher 
und der Oſtfranken, der Heffen und Thüringer, der Niederfachler, per 
Oſt⸗ und Weftphalen, der Sriefen, Holländer und Slamingen dann 
der Alemannen, Schwaben und Baieen fowie der deutfchen Burgunden — 
die noch ſpaͤter entſtandenen wendiſch⸗ deutſchen Wöiker vor der Hand 


4 
noch gar nicht zu berühren. — Denn bie flavifchen Marken an Elke, 
Dber und — ſtehen Heute zum zweiten Male unter. deutſchem 
Einfluß,. na bee erſt —— Germaxifirungsproceß durch den 
—— der —e—— Kriegteſtaͤmme gegen Rom war unter⸗ 
wor 
Der Austen Völkerwanderung läßt fich übrigens blos” in Bezie⸗ 
auf bie Wendlandsdeutſchen rechtfertigen, obgleich auch hier manche 
baflr 3 da ein ziemlicher Theil von ihnen im Lande 
ein muͤſſe, der Pl im 1 Kaufe eines halben Jahrtauſends 
van den bie — der Bewohner bildenden, jedoch unterworfenen 
Hörigen ſloweniſict wurde. Won ihnen mag ein Theil bes ſlaviſchen 
Adels ſtammen, wie ber franzöfifche von ben alten Saalfranken, ‚ber 
itellemifche von ben -Longobarden und Normannen, beren Eprade, Eitte 
a Fr — Seftaie indeß durch Heirath mit den Eingebornen sehhten: 
laͤngſt verwifche if. Der bem m Baierifchen nabe — Dialekt 
der Umwohner bes —— des Kuhlaͤndchens, der Gegend um. 
oe — ſegar ein fe daß fi nad. pen Abzug ber 
das Tafelland det Donau jene noch. 
mitten unter den Slaven —ã — mit rein deutſcher Bevoͤlkerung 
en haben, weiche für bie unter ben erſten beutfchen Kaiſern miebers 
unene Germaniſtrung von ganz Oſtdeutſchland Anhaltspunkte abe 
n Blum befagte Wälcen Ip ſpaͤterer Einwanderung, To fäßen fie 
— als dem herrſchenden Stanıme angehörig, im Klachlande und nicht 
im Gebirge, wohin fie fi, dem Andringen ber Slaven weichend, zu⸗ 
ruͤckgezogen haben mußten. 

Auf die heutigen Bewohner Thuͤringens, Oſtfrankens, Rheinfran⸗ 
kens, Deutſch⸗Lotharingens und der ſaaliſchen Laͤnder an der untern 
Maas und Schelde paßt der Ausdruck Voͤlkerwanderung nur halb, eben⸗ 
fo wie für die Baiern, Alemannen⸗Schwaben und Deutſch⸗Burgunden. 
Denn diefe fähmtlichen Stämme find nur zum Theil hervorgegangen 
aus oſtſchwaͤbiſchen, in Maffe ausgewwanderten Völkern, dee andere Theil 
beftand aus Wehrmannfchaften, arminifhen Gefolgſchaften aus ben 
deutfhen Stammianden zwifchen Rhein, Main und Elbe, welche aus 
Kriegsluft und um den Drangfalen ber Ueberndlferung zu entgehen, ſich 
an bie aus dem MWendenlande vordbringenden Sueven anfcloffen. Das 
durch erklärt fich die Volksmenge der gegen Rom andringenden deutfchen 
Heere, welche, fo verichiebenartig auch ihre Zufammenfesung fein mochte, 
doch immer als Maſſe den Namen desjenigen Volkes führen, das ges 
ade den Anlaß zu der Bewegung gegeben hatte. Durch die Wechſel⸗ 
fälle des Jahrhunderte dauernden Krieges aufs Mannichfaltigfte unterein: 
ander geworfen, mußten fie zu neuen eigenartigen Stämmen verwachſen, 
unter denen jedoch das fuenifche, jest oberdeutfche Element das Ueber: 
gewicht behielt, da die frühzeitig zu feſten Sigen gelangten Heſſen und 
Thüringer den mächtigften Beitrag an Kriegsgenoffen abgaben. Zu bem 
weſtlichen Theile der Alemannen kamen naͤchſt ben Fulder Heſſen auch 
Zuzuͤger aus dem ſuͤdlichen Theile der iſtaͤvoniſchen (thein ſch⸗ nieder⸗ 


Deutichlande Stämme. 177 


dbeutfchen) Stämme, woraus ſich hauptfächlich der Unterfchieb der Wer 
wohner Rheinfrankens gegen die Nedar« und Donaufchwaben ergiebt. 
Die Lotharinger ſtammen aus einem Ahnlihen Gemenge von Heſſen 
und Mieberrhein, bie Slamingen dagegen haben fein ſchwaͤbiſches 
Blut, fie gingen aus dem Verein von niederrheinifchen und friefifchen 
Voͤlkern hervor, und zwar unter der Oberherrlichkeit der Salier und 
Sigambern. 

Uebrigens noch ehe die roͤmiſche Herrſchaft vollſtaͤndig am Rhein 
und Donau gebrochen wurde, war ſchon der groͤßere Theil der Grenz⸗ 
länder germahifirt. Nicht nur mußten, wie ſich aus ber Natur ber 
Sache ergiebt, alle römifchen Sklaven deutfchen Stammes fein, ſondern 
in letzter Zeit auch weitaus der größte Theil der römifchen SHeere, bie 
bier ihre Standlager hatten. Geſchah ein Einbruch von Deutfchen, der 
nicht bewältigt werden konnte, fo traf man das Abkommen, die frems 
den Krieger als Bundesgenoffen aufzunehmen und ihnen Sige innerhalb 
ber römifhen Grenzen anzumweifen. Dadurch mußte es fi treffen, daß 
oft die verfchiedenartigften Wölkchen neben bie Romanen zu wohnen 
kamen, nicht nur Deutfche, fondern auch Hunberttaufende von Slaven, 
welche namentlich die gothiſchen Voͤlker aus Suͤdrußland nah den 
Donauländern als ihre Untergebenen mit ſich ſchleppten. Diefe find 
als die erſten flavifchen Einwanderer in Kärnthen und Bulgarien zu 
betrachten. — Als zulegt der ganze römifche Staat von unfern Ahnen 
überzogen wurde, fo war es bdenfelben, als der Zahl nach weit unter 
den Eingebornen ftehend, nur da möglich ihre Nationalität zu behaups 
ten, wo das Land vorher fchon größtentheild germanifirt worden war, 
ober da, mo ber oft mwieberholten Verwuͤſtungen wegen die romanifche 
Bevölkerung ausgewandert war und durch Anſiedler aus den nahen 
deutfhen Stammlanden wieder bevölkert werben Eonnte. 

Der Ausdrud Markmannen, Grenzer, bezeichnet keine ethnogras 
phifche Unterabtheilung, fondern, wie ſich von ſelbſt verficeht, denjenigen 
Theil der Bevölkerung, der zundchfi dee Grenze in ben Marken wohnte 
und darum auch nothwendig zuerft mit dem Feinde zufammentreffen 
mußte. Ob die niederrheinifhen Voͤlker ihre Markmänner zu CAfar’s 
Zeiten ſchon nad) Belgien vorgefchoben und dadurch Veranlaſſung zu 
beigifch» germanifchen Wölkern gegeben hatten, ift zweifelhaft, dagegen 
erzählt uns diefer Gefchichtfchreiber ausführlich feine Kämpfe mit den 
fhmwäbifchen Martmännern am Oberrhein, von denen einzelne Abtheis 
kungen (bie Zriboilen, Nemeten und Vangionen) ſchon früher im Elſaß 
ſich fefigefegt hatten. Das aus der deutfchen Sübmark unter Ariovift 

ee den Rhein gezogene Heer von Grenzern Lehrte nach verlorner 
Schlacht wieder dahin zurüd, von wo «6 aufgebrochen, naͤmlich an den 
obern Main, wo in jener Zeit die Marken der Chatten und Hermun⸗ 
duren, feiner Stammgenoffen, waren. Won da 309 fih Arioviſt in 
die Oberpfalz und nad) Böhmen. Als die Römer von den Alpen aus 
die Eeltifchen Lande bis zur Donau eroberten, hatten fie bundertjährige 
Kämpfe mit den im Norden biefes Fluſſes ftehenden bentfhen Grenzern 


Suppl. z. Staatsler. II. 


178 Deutſchlands Stämme. 


zu führen, denen nach und nach alle Völker bis aus ber juͤtiſchen Halb⸗ 
infel Verſtaͤrkungen ſchickten. Legtere zogen zulest in Maffe aus und 
eroberten ſich Sige auf dem füdlichen Ufer des Fluſſes; fo die Sütinger 
zwiſchen Iller und Lech, die Scheyern und Rugen in Niederbaieen und 
Dberöfterreich, die Quaden in Mähren, die Longobarden in Oberungarn, 
bie Gepiden in Siebenbärgen und die Gothen in der Moldau und im 
füdlihen Rußland. Es war dies ber große beutfche Grenzkrieg in ber 
Suͤd⸗ oder Donaumark, ber befonders unter Marcus Aurelius heftig 
wüthete. Man nennt ihn den, Marlomannenkrieg, obgleich der am Rhein 
von den alemannifchen Schwaben und ber weiter unten von ben Nieder⸗ 
theinern geführte ebenfo gut ein Markmannenkrieg mar. — Ein Theil 
bee in's roͤmiſche Gebiet gedrungenen Völker ging unter, tie bie Gothen, 
Gepiden und Longobarben, andere zogen ſich den hunnifchen Völkern 
ausmweichend die Donau herauf und verfchmolgen hier mit den aus ber 
Oberpfalz (dem balerifhen Nordgau) hereingebrochenen hermunduriſchen 
oder thüringifchen Markmaͤnnern zum Volke der Balcın. 

Als der ganze Nordrand der Alpen germanifirt war, ſchob fich der 
Begriff des ſuͤdlichen Marklandes bis zur Etſch vor, wo wir noch heute 
bie melfchen Gonfinien haben. Defterreich hieß bald die Oſtmark, bald 
die der Hunnen, bald der Avaren, mie «6 heute für Deutfchland bie 
magparifche if. (Hunnen, Avaren und Magyaren gehören zu ein und 
bemfelben Stamme, dem finnifhstatarifchen vom Ural und der Wolga, 
wo heute noch die Bafchkiren, Tſchuwaſchen und XZfcheremiffen, die 
Verwandten berfelben, wohnen. Siehe hierüber Ferd. Müller: bie 
Ugern und das Stromſyſtem der Wolga.) 

Bon ben keltiſchen Urbewohnern ber jest deutſchen Donauland⸗ 
(haften, den Bojen, Rhaͤten und Carnen, haben fi außer den roma⸗ 
nifirten NRhätiern in Graubuͤndten nur die Namen erhalten, fo ber ber 
Nhäten noch einmal im Nies bei Nördlingen, eine Gegend, die fonft 
auch der fchwäbifche Nordgau heißt (Meißenburg im Nordgau), da bier 
die Sütinger längere Zeit geftanden, ehe fie fich weiter über bie Donau 
verbreiteten. Die Zufammenmerfung diefes fchmäbifchen mit bem an 
ihn grenzenden baierifchen Nordgau oder ber Oberpfalz hat unter den 
Gefchichtsforfchern zu manchem Streite Anlaß gegeben. Die beiden 
Landfchaften find für Baiern und Oberſchwaben daffelbe, was für die 
um den Bobdenfee wohnenden Lenzer-Alemannen das obere Mainland, 
und für die des Rheinthales die Wetterau iſt, nämlich der Sammelplag, 
von wo auß fie den römifchen Grenzwall zu durchbrechen fuchten. 

Nach den Bojen und Carnen find die nunmehr flavifhen Marken 
der Böhmen und Kärnther benannt, Beide zum Theil germanifirt, Letz⸗ 
tere von Balern, Insbefondere Salzburg aus, Erſtere von Defterreich 
und Oberſachſen. 

Oberfachfen ſelbſt aber ift ein von Nord: Thüringen aus zur Zeit 
ber erften deutfchen Kaifer wieder erobertes Land; es mar ein Theil der 
großen wendifchen Dark, bie, je nachdem fie von obers oder niederbeut= 
[hen Stämmen nun zum zweiten Male germanifirt wurde, heut zu 


Deutſchlands Stämme. 179 


Tage wenbifchsoberbeutfche® oder wendiſch⸗ niederdeutſches Gepraͤge trägt. 
Mecklenburg und Pommern wurde von ben Nieberfachfen, insbeſondere 
Heinrich dem Löwen, und zwar nicht auf die allerchrifttichfte Weiſe bes 
kehrt, ımterjocht und an Deutfchlandb gekettet, die brandenburgifchen 
Marten auf diefelbe Weife von Halberſtadt und Maadeburg aus; beide 
Städte find an ben Grenzen Ober s und Nieberbeutfchlande gelegen, bas 
ber die gemifchte Mundart diefes Theil dee Norboftmark, während das 
Meißnerland, die Laufig und Schlefien von dem ganz oberbeutfchen 
Merſeburg aus mit Deutfchland vereint wurden. Die drei hier genann⸗ 
ten Städte Liegen aber in Nordthuͤringen, einem Landſtrich, ber in fels 
nem füdlichen Theile zwiſchen Harz, Unftrut und Saale ober dem heu⸗ 
tigen Mannsfeldiſchen hauptfächlic, von Nordſchwaben, ben wohl zulegt 
aus dem Wendenlande heribergezogenen oberdeutfchen Sueven bewohnt 
ft, während nördlich davon niederfächfifche Völker bie Oberhand erhiele 
ten und politifd; ihre Hohelt fammt dem Sachſennamen auf ganz Norbs 
thäringen übertrugen. Dadurch erhielt das von hier aus germunifirte 
Meißnerland ebenfalls den Namen Sachſen, obgleich es ethnographifch 
nicht in der geringften Beziehung zu Altfachfen ſteht. 

Die Nationalverfchiedenheiten, insbefonbere die Mundarten aller 
wendiſch⸗deutſchen Völker von der Krain an bis nad) Wagrien in Hols 
ftein ergeben fi immer aus zwei Factoren, einerfeits aus der Eigens 
thuͤmlichkeit, die fie als befonderer wendiſcher Stamm ſchon vor der Gerz 
manifitung hatten, anbererfeits aus der Natur bes fie bemältigenden 
beutfchen Stammes. 

Die deutſche Geſammtſprache, infofeen fie im heutigen Oberſachſen 
zuerft als ſolche geltend gemacht wurde, iſt mithin ein wenbifchroberdeuts 
fer Dialekt, gerade wie das heutige Sranzöfifche ein kymro⸗keltiſches 
Latein, das Englifche ein kymro⸗keltiſches Niederdeutfch if. Wenn biefe 
Miſchungen auch weniger in Bezug auf die Wortſtaͤmme erkenntlich 
blieben, denn dieſe find in unſerer Geſammtſprache doch größtentheils 
beutfche, fo tritt die um fo auffallender in der Ausfprache und Beto⸗ 
nung ber Wörter hervor. Die oberfächfifche oder Meißner Mundart, 
bie fange für die befte Deutfchlands galt, fowie die oberdeutfche Sprech 
weife der Niederfachfen ift over mar feiner Zeit ein in der Schule unb 
Kirche ausgebildetes oder gewiffermaßen erlerntes Deutſch, während bie 
Sprache der rein germaniſchen Stämme als naturwüchfig dem Urbeuts 
ſchen viel näher geblieben if. Bel allen Bemühungen, bie Verwandts 
ſchaftsgrade der einzelnen deutfchen Stämme aus ihrer Sprache zu ers 
innen, muß barum das Schriftdeutfch ganz bei Seite gelafjen werben; 
da nun aber blos biefe in fo vielen fonft hoͤchſt ausgezeichneten Werken 
beſonders berüdfichtigt worden ift, fo bleibt der Forſchung im Gebiete 
der naturwüchfigen deutfchen Mundarten noch ein meites Feld übrig. 

Dem Weiterumfichgreifen des deutfchen Elements trat in Suͤd und 
Weſt die Macht der romanifch gewordenen deutſchen Stämme entgegen. 
Die Salier im nördlichen Srankreich, die Burgunden am Jura und bie 
Longobarden in den Ebenen Oberitaliens fchügten ihre Unterthanen rn 

Aı* 


— 


180 Deutſches Landes⸗ Staatsrecht. 


maniſch⸗ keltiſchen Stammes gegen das weitere Anbringen deutſcher ero⸗ 
bernder Coloniften, fo dag die heutigen Grenzen bes bdeutfchen Volks 
im Allgemeinen bier fo ziemlich denen gleihlommen, welche fi in den 
Zeiten ber Merovinger nach und nad) ausgebildet haben. Bei jeder ein» 
zelnen Lanbfchaft dagegen entfchieden wohl immer die Naturgrenzen, das 
heißt gewiſſe Dinderniffe, welche Gebirg, Wald, Haide oder Sumpf dem 
weitern Anbau einer Gegend oder dem Weiterumfichgreifen von einem 
beftimmten, früher durch Vertrag oder offene Waffengemalt befegten Mit- 
telpunkt aus entgegenftellen. Im Dften trat dem beutfchen Elemente 
bis jegt Beine ebenbürtige Macht in den Weg, darum iſt hier der Ger: 
manifirungsproceß noch im vollen Gange. 

(Ueber bie einzelnen Unterabtheilungen ſiehe das Genauere unter 
„Niederdeutſche, Dberdeutfche, Wendifhdbeutfhe Marken.) 

Wilhelm Obermüller. 

Deutfhes Landes: Staatsreht. Die in ben Artileln Adel, 
Deutfhe Staatsgefhihte und Deutfches Landes: Staats» 
recht niedergelegten Anfichten einerfeits über die wahren redhtsge> 
fhidtlihen Grundlagen und Grundideen ber allgemeinen 
deutfchen, der gefeifchaftlichen Standes » und der Reichs⸗ und landſtaͤn⸗ 
diſchen Verhältniffe, und anbererfeits uͤber die unerlofhene Rechts⸗ 
guͤltigkeit derfelben, ihre neue Sanction in Folge der Befreiungsfriege, 
und ihre Vortrefflichleit bei neuer, zeitgemäßer Geftaltung — haben feit 
bem Erſcheinen der erften Auflage des Staatslexikons in neuen fchrift- 
fteerifchen Darftelungen *) und in ber oͤffentlichn Meinung ber Nas 
tion bie erfreulichfte Zuftimmung erhalten. Insbeſondere find die in 
dem vorftehenden Artikel entwickelten Anfichten von den Grundlagen und 
von dem Wefen der bdeutfchen landſtaͤndiſchen Rechte dargeftellt worden 
in bee Gefchichte der deutſchen Landftände von F. W. Unger 
Bd. I. und I. Hannover 1844. 

Durch viel zahlreichere und ausführlichere urkundliche Beweiſe, als 
bie vorftehende Eurze Abhandlung liefern konnte, werben namentlich hier 
folgende Grundanſichten beftätigt: 

. Alle wefentlihen Rechte beutfcher Reichs⸗ und Lands 
flände, auch die ber fpäteren Zeiten, und bie flaatsbürgerlichen Freiheits⸗ 
rechte, welche alle freien germanifchen Völker, 3. B. Engländer, Holläns 
der, Belgier, Franzoſen, Norweger befisen,, die heutigen Deutfchen trog 
ber neuen Anerkennungen doch großentheilß nur noch fordern, gründen 
fih auf die altgermanifhen Volksrechte fhon zur Zeit 
des Tacitus, ftehen in biftorifchem Zufammenhange bamit, und bie 
fheinbar großen Verfchiedenheiten diefer Rechte in dem Mittelalter, in 
ber fpäteren und in der neueften Zeit erfcheinen, abgefehen von vor⸗ 


*) So 3.8. werben die Vorurtheile von einem allgemeinen erblichen Abel: 
ftand in ber altgermanifchen Beit auf's Neue zerftört in H. v. Sybel’s Ent: 
ftebung des deutſchen Kdnigthums, Frankfurt 1844, und felbft Wais 
(Deutfhe Berfaffungsgefhichte) muß fid von der Theorie feiner Leh⸗ 
ser ECichhorn, Grimm und Savigny losfagen. 


Deutfches Landes: Staatsrecht. 181 


äbergebenden fauftrechtlichen, befpotifchen und hierarchiſch⸗ theokra⸗ 
tiſchen Einflüffen, welche das Bewußtfein bes wahren befferen 
Rechts faſt überali befämpfte und fiegreich wieder ausſtieß, als 
lermeiſt nur ale befondere durch Zeitverhältniffe beflimmte dußere 
Formen der Entwidelung und Ausübung jener wefent- 
then und vernünftigen germanifhen Urredhte. 

IL Diefe wefentlihften Rechte beftehen aber 1) in ber. 
Begründung aller Rehtsverhältniffe duch die Zuſtim— 
mung und Mitbeflimmung ber betreffenden rechtlichen Perfönlichs 
feiten in Beziehung auf ihre Nechte und NRechtspflichten, auf die Frie⸗ 
dens s und Landes», Genoffenfchaftss und Schugverträge, 2) in ber 
Ausübung biefer Zuftimmungsrechte vermittelft der Berathung, Ans 
ordnung, und Entſcheidung der gemeinfchaftlihen Angelegenheis 
ten, a) duch Verfammlungen ber Genofjen des Vereins und feines 
Diſtricts, alfo des Reiches, bes Landes oder der untergeordneten Abtheis 
kungen, b) unb zugleich durch Zuziehung und unter Leitung und Vor⸗ 
berathung der an der Epige der gemeinfchaftlichen Vereine und ihrer 
Abtheilungen fiehenden Beamten, Anführer, Vorſteher, Schüger, Vers 
treter und Vollzieher (Principes, Primores). 

III. Neben dem unmittelbar demokratiſchen Mitſtimmen gab 
es [bon in uralter Zeit Repräfentation. DE Rechtsgenoſſen 
ober bie einzelnen Rechtsmitglieder bes Vereins treten zwar in ber alten 
Zeit, zumal in den Gemeindes, Gau⸗, Provinz= und Reichsverſamm⸗ 
lungen, wenn fie nicht unter einem befondern Privarfhug eines Mits 
glieds des Vereins ftehen, wenn fie alfo unmittelbare Glieder des 
beitimmten berathenden Vereins find, oder unmittelbar unter dem 
Schütz feines Vorftandes ſtehen, auh unmittelbar auf. Dagegen 
werden fie durch ihren Privatfchüger vertreten und repräfentirt, 
wenn fie in bleibendem Schugverhältniß zu demfelben flehen und wenn 
er, ſowie die Familienhaͤupter und mie bie ſpaͤter erblichen Patronate », 
Lehns⸗ und Dinifterial: Herren, gutshereliche oder der Gutsherrlichkeit 
nachgebildete feudale Obereigenthumsrechte am Gut erhält. In unruhis 
geren Zeiten und eiligeren Faͤllen und ebenfo für untichtigere Dinge 
oder zur bloßen Einleitung und Borberathung der mwichtigeren Sachen 
und dann, wenn durch das Fauftreht und durch die Ausbildung des 
Feudaladels bie Sreiheitsrechte der geringeren Vereinsmitglieder zwar nicht 
rechtlich aufgehoben, aber doch mehr oder minder zurüdgedrängt, oder 
wenn die Verfammlungen aller Mitglieder unausführbar, laͤſtig und uns 
zwedimäßig find, alsdann werben auch jene unmittelbaren Genoffen zum 
Theil nur repräfentirt. Sie werden zum Theil, fo wie ſchon bie 
altdeutfchen Bürger durch ihre ermählten Gerichtefchöffen, ober fo tie 
die alten Sachſen und bie fpäteren Friefen auf ihren Landtagen, ober 
fo wie neben den Seubalftänden die fpäteren ftädtifehen Gemeinde » und 
Amtscorporationen, ober wie heutzutage die freien Völker in ihren ges 
wählten Volkskammern, durch erwählte Repräfentanten aus ih⸗ 
ver Mitte vertreten. Auch durch erwählte Ausfchäffe laſſen fi und 


> 


— E Bann Si Ei 


ri Berein * * —8— aufs Ft en 
chtigeren Freien bebrängenden Zeiten bed Mittelalters , des Faufl- 


. sehe und bes Feudallsuus diefe Geringeren vielfach, auch durch jene 


Datncipes oder Primores bei ber Regierung des Vereins repraͤſen⸗ 
tiven laſſen. Diefes iſt ſehr erklaͤrlich, ba früher alle geiftliche und welt⸗ 
Uch Beamten vom Volk erwählt wurben und alfo um fo natärlicher 
die. Worforges, Schutz⸗ und Bertretungspflicht für bie Angehörigen 
ihres Difiricts hatten, ‚ba ferner auch in ben fi immer mehr vermeh⸗ 
renben feuhalen Lehns», Schutz⸗ und Dienfiverbindungen jederzeit unb 
zumal yor der Erblichkeit biefer Verbindungen die Vorſteher berfelben 
von; ihren Schuͤtzlingen vertragemäßtg als ihre Schugherreen umb 
tanten anerfannt sparen, und ba emblich auch ſchon bei ben 
alten Volks » und Reichönerfammiungen zu des Tacitus wie zu Karl's 
bes Broßen. Beiten jene Prindpes ober Primores in ihren Morberas 
—— namentlich auch in ihren ——— ebonſo gut wie 
Gerichtoſchoͤffen für den ganzen Verein wirkten. Ganz 


* aber. wie in freilich ungeorbneter und gufälliger Bocm und Kaya Anzahl 


FA ben „gehst Gerichtefigungen neben ben ffen das 
in dem —— Umfand nach Belieben erfcheint und 


—*— befragt werden. Und jedenfalls beweiſen alle Urkunden 
und alle reichs⸗ und landſtaͤndiſchen Verhandlungen, wie es nun auf’s 
Neue Unger aus allen dbeutfchen Ländern und aus den verfchiedenften 
Zeiten unumſtoͤßlich dargethan hat, a) daß ber Gedanke der Repräfen: 
tätion- in den beutfchen Rechtes und Staatsverhältnifien uralt ift, 
ſchon neben ben unmittelbar bemoßratifchen Verfammlungen aller Ver» 
einsgenoffen fogar dem Ausdruck nach befteht, mie denn ſchon in der dis 
teften Zeit der Kamilienvater und Sandeigenthümer feine $amiliengenofs 
fen und Hinterfaffen vepräfentirt (Lex Bipnar. Tit. de homine 
iagenuo repraesentando); b) baß ber Gedanke ber Repräfentation 
des ganzen Landes und Reichs, ber Mepräfentation des Wohle 
und Rechts des gefammten Baterlandes, aller feiner Bür- 
ger und Eingefeffenen, ber rechtliche Grundgedanke ebenfo bei der 
Landſtandſchaft oder „der gemeinen Landſchaft“ wie bei der 
reiche ſtar Chaft durch das ganze Mittelalter bis zur neuern Zeit geblie⸗ 
ben iſt. Wie roh, engherzig und vaubfüchtig auch bie Feudalrtitter jes 


„weile ſich ale gaftenmäßiger Stand ausbilden, vom übrigen Volk ifoliren 


und daſſelbe in fauftrechtlichen Unternehmungen berauben mochten, fo 
roh waren ihre Begriffe, waren die des rohrften Mittelalters doch nicht, 
als die von manchen feiner heutigen junkerlihen Verehrer, bie da glaus 
ben und fogar zur Nachahmung aufftellen, daß in lands ober reichsſtaͤn⸗ 
diſchen Verſammlungen man allen Begriff von Staat und gemeinem 


Deutfches Landes: Staatsrecht. 188 


Meſen völlig verloren, daß jeder Reichs⸗ oder Landſtand felbft der aner⸗ 
Eannten Rechtsidee nach nur Vertreter feines eigenen Vortheils ober fei- 
zer abgefonderten felbftfüchtigen und privilegieten Standesinterefien, 
und nicht der Intereſſen und Rechte des ganzen Landes und aller feiner 
Bewohner habe fein follen, daß die Ideen wahrer allgemeiner Landes⸗ 
und Volksrepraͤſentation als neuere Erfindungen und als jacos 
binifch zu betrachten feien. oo 

IV, Bon den dlteften Zeiten an feste ſich in Berichtes 
and andern Berfammlungen, in den Vereinen der Gemeinden, Gentenen 
ober Aemter, Graffchaften, Herzogthümer und des Reichs, und in ben 
kirchlichen Verſammlungen dir geiftlihen Sprengel und Gapitel, in ben 
vielen Verſammlungen ber Seubalvereine, der Hof» und Bauernſpra⸗ 
hen, der Minifterials und Mannenverfammlungen, in den vielen Ver: 
fammlungen aller Unionen und in denen der Städte, und dann in ben 
fpäteren landſtaͤndiſchen Verſammlungen, weiche vorzüglich durch bie 
Städte und durch die Unionen ausgebildet und an die Stelle der Älteren 
Eandesverſammlungen der Herzogthümer und Graffchaften, wie an bie 
der Hofs und Mittertage gefegt und zur Grundlage der Ausbildung ber 
neuern beutfhen Staaten und alfo auch der Landeshoheit der Fuͤrſten 
gemacht worden warn — Überall feste fi die Ausübung jer 
ner altdeutfhen Urrechte (fiehe 11.) fort. Obwohl durch bie 
fremden Rechte und ihre Entmünbigung des Volks und durch den wach⸗ 
fenden fürftlichen Defpotismus immer mehr gemindert, blieb dennoch 
bie Anerkennung und Ausübung diefer Rechte bis zu ber eben durch 
jene Minderung berbeigeführten Auflöfung des Reiches, deren unheilvolle 
Folgen dann wiederum zu ihrer zeitgemäßen Wiederherſtellung mahnten. 

V. Diefe Redhte nun waren die im voranftehenden Artikel 
unter V. gefcilderten. So wie von ber Reichsverfaſſung und ben 
Reichsſtagen, fo galt bei der Ausbildung der deutfchen Landesverfaſſun⸗ 
gen und den Landfländen im Wefentlihen ber gleiche altdeutfche 
Grundſatz, daß über alle wichtigen Randesangelegenheiten bie 
Stände entfchieden (de majoribus omnes consentiunt),, Nicht 
blos Steuers und Gefegbewilligung,, fondern Mitwirkung bei allen Ver⸗ 
faffunge « und bei den wichtigeren Regierungsfachen und felbft die Ges 
eichtöbarkeit in den wichtigeren Fällen blieb, wie Unger ebenfalls auss 
führlich nachweifet, ebenfo den Landftänden wie den Reichsſtaͤnden. Die 
Gerichtsbarkeit wurde mehr und mehr durdy Ausfhüffe und dann durch 
die unter Mitwirkung der Stände ernannten und befegten unabhängigen 
Gerichtshoͤfe, die Mitwirkung bei wichtigen Regierungshandlungen in 
fpäterer Zeit vermittelft der Steuerbewilligung ausgeübt. | 

Als völlig hohl und bodenlos alfo erfcheinen alle jene Theorien, 
welche die früheren deutfchen Iandftändifchen und die neuern conflitutios 
nellen Verfaffungen freier germanifcher Staaten als nicht aus den uralten 
vernünftigen und biftorifchen Urrechten aller deutfchen Völker, fondern 
als zufällig oder als durch Ufurpation entftanden, oder als zu irgend einer 
Zeit vechtegültig erloſchen darſtellen möchten. C. Welder. . 


ir Deutſcher Bunt. "Dte Sekittuns bes Bundes und 
bei Bunbesrchte durch den Bundesvertrag. 
Ind ber zweiten Poriode und bei dem definitiven Ab» 
rer des Bundesgrundvertraas aber fiegte vollſtaͤndig der voͤlker⸗ 
—— Staatenbund. As ſolchen bezeichnen ihn auch ausdräd« 
Ad bie Bunbesverhanblungen feit feiner Eröffnung ?) „ auch bie 
Schiußacte im Art. 1). Dan muß‘ nur bierbei das durch die 
Bundesacte wirklich begründete Rechtsverhaͤltniß, die wirkliche Ab⸗ 
[Echt der Gruͤnder bei dem definitiven Abſchluß des ſetzgen Bundesver⸗ 
trage, fo wie beſſen Wortſinn unvermifche laffen mit allen fruͤheren 
ober —— Anfichen und Wuͤnſchen Aber das, was etwa das öffentliche 
Wohl erdeiſchen m 
Man muß ** im Auge behalten, baß die Bundesacti aut 
druͤcklich Aberal in den Bundesgeſetzen, fo wie mittelber auch tk 
ben Landesverfaffungs» WBerträgen, ‚die fle au Grunde legten‘: 
„als ber Grundvertrag und als das erfte Grundgefet des 
„Bundes“ erflärt wurde, deſſen Grundcharakter, Geiſt und 
Indbeit uͤberall die vehtlihe Wirkſamkeit des Bundes 
„bedingt und begrenzt”, fo daB ihm kein Bundesbeſchluß wider 
ſprechen und Im Widerfpruch mit ihm competent und gültig ſein 
konn (Bundesacte 1.2.7., Wiener Schlußaete von * Are 
4. 9. 10: 18. 17. 19. 26. 65. 56. 60. 64.616:66.78:) mb 
Daß: etwaige ihm widerſprechende flantsrecätfiche Beſtimmungen sit: We 
ſchraͤnkung bee wathrlichen oder der poſitiven Rechte der Buͤtgee, olkt 
dern landesverfaſſungẽmaͤßige Zuftimmung, nicht vechtögültig werben 
tonnten (Schlußacte Art. 55. 56.). Dieſes ermeift insbeſondere auch 
Rudhardt in feinem Reht des deutſchen Bundes. Diefer be: 
waͤhrte und befanntlicdy auch officiel und tief eingeweihte bairiſche Publi⸗ 
ciſt fagt ©. 30: „Solche Dem Grundvertrag widerfprehende 
„Bundesbefhläffe, felbft wenn fie formell zu Stande ges 
„Lommen wären, würden unbeilbar nichtig oder ber Bund, 
„da die Societät Ihre urfpränglihes Wefen verloren 
„bitte, factifh aufgeloöͤſt fein.“ Hiermit flimmt aud) die ge 
möhnliche bairifche Formel der Verkündigung der Schlußacte und al: 
ler Bunbesbefchläffe, „„fomweit ſolche der Landesverfaſſung nidt 
„widerfprehen”, überein. Die Bundeserflärungen aus den erften 
vier Fahren des Bundes beftätigen die erwähnte Grundanſicht, befonders 
auch In Beziehung auf die dem Staatenbunde entfprechende volle Souves 
ränetät der Bundesftanten. &o namentlich die Sompetenzorbnung 
bes deutfchen Bundes von 1817. 
Sie fagt (Prot. $. 223.): „Da der Begriff voller Souve- 
„ränetät ber einzelnen Bundesftaaten der Bunbesacte zu Grund 
„gelegt ift, fo liegt unbezweifelt jede Einmifhung der Bundesverſamm⸗ 


Präfibialvortrag 2. Nov. 1816. Nr. 1. 


Deutfcher Bund. 185 


„tung in bie inneren Abminiftratios Verhättniffe außerhalb der Grenzen 
„ihrer Competenz” 2). 

Diefe rechtliche Natur und Abficht des Bundesgrunbvertrags wird 
uns völlig erflärt und beftätigt ducch die Gefchichte feiner Entſtehung. 
Schon in ber früheren Periode, und während der ganzen Verhandlungen 
über den Bund, traten nämlich ben übereinftimmenden Abfichten aller 
übrigen beutfchen Regierungen Über bie Begründung eines ſtaatsrecht⸗ 
lihen Bundesftantes, zwei deutſche Fürften, die Könige von 
Bhiern und Württemberg, auf das Entfchiedenfte entgegen. (Vergl. 
V. am Ende.) Als nun nad Napoleon’s Rüdkehr von Elba die Noth 
zu fchneller Abfchliegung des Bundes dreingte, kam ein Vergleich 
der beiden widerfireitenden Hauptanfichten unter ben Gründern bes Buns 
des zu Stande. 

Einerfeits mwilligten die übrigen Bunbesregierungen ein, an ber 
Spitze des Bundes bie volle Unabhängigkeit der Bundesſtaa⸗ 
ten und ihre Erhaltung ale Bundeszmwed aufzunehmen, und 
verzichteten auf eine allgemeine flantsrehtlihe Natur, Zweckbe⸗ 
ſtimmung und Gewalt des Bundes, und mithin audy auf alle 
Eigenthuümlichkeiten des ſtaatsrechtlichen Bundesſtaates, 
an deren Stelle nun bie bes voͤlkerrechtlichen Staatenbundes 
angenommen werben. Die vier und dreißig mittleren und klei⸗ 
neren fouveränen Fuͤrſten und freien Städte gaben bie früher von ih⸗ 
nen fo energifch verlangte Miederherftellung des Reichs und der Kaifers 
mürde auf. Defterreich, Preußen und Hannover verzichteten auf bie 
früher in ihre Entwürfe aufgenommene ftaatsrehhtliche, durch tegels 
mäßige Stimmenmehrheit wirkende gefeggebende, ſtrafende unb 
rihtende Dbftgemalt des Bundes und auf bie. bafüe, und für 
eine ſtaatsrecht liche Erecution beftimmte Kreiseintheilung mit Kreiss 
oberften, mit einem höheren Bundescolleg derfelben, fo wie auch felbft auf 
bleibende Bundesgerichte. An die Stelle aller diefer ſtaatsrechtlichen Or⸗ 
ganifationen traten jegt ein auf blos formelle Gefchäftsleitung be⸗ 
ſchraͤnktes Praͤſidium, diplomatifhe Unterhandlung durch Gefandte der 
volftändig und gleich fouveränen Regierungen, blos vorübergehende 
gewählte Schiebsgerichte und vertragsmäßig regulirte Kriegshilfe zur Er⸗ 
fülung und Erecution der Bumdesvertragspflichten. Alle verzichteten 
auf die früher beabfichtigten, In den Entwürfen bereits enthaltenen flaates 
rechtlichen Beſtimmungen über Handel, Poften, Münzen, Univerfitäten, 
Kichen, überhaupt über gemeinnügige oder dem flantsrechtlichen Zweck 
des Geſammtwohls entfprechende Anorbnungen. Sie gaben endlich für 
Alles, was nicht in Beziehung auf das auswaͤrtige Doheitsrecht der voͤl⸗ 
kerrechtlichen Vertheidigung bereits, fo wie 3. B. die Bundesfeflungen, 





2) Vergleiche über diefe Grundfäge überhaupt Rudhardt ©. 16, 23 bis 
27, 29, 44, 50, 56, 60, 63, 65, 106, 201, 238—41, auh Behr, über bie 
Bränzen der Bundbesgewalt. — ©. f. Jordan, deutſches Staats 
recht, $. 179. Zittmann, über Bundbesverhältniffe, S. 62, 117, 
119, 137 und Klüber, offentliches Recht, $. 104. 214. 


real gemeiufgafetid gemacht iß, ja * u. 
tſcheidung du 


— 
bier noch für alle wichtigeren Faͤlle, an 
meheheit auf. ¶ Bundes ·Act. 


willigten auf: ber enden Seit⸗ Balern und Wür⸗ 

demberg jegt «in, daß indem, feinem Weſen nad volkerrech tli⸗ 

den Staatenbund, enbangsmeife unb neben ber vegeimäßigen 

ber Staeten doch aus nahmswelſe 

einige beſtimmte Rechte allen bentſchen Bürgern als ein 
Brnisßes verbärst, unb daß fo. m einige .; 

eines deutſchen Berianetdennes aund ‚atignalen 


| —* bes des 
haufen e ausgefpenchen: wurde 


werinbgte fich ‚um, wia man fo — ** 
„bie beutfche Nation wenigfims durch bie wefentlichfte Erfhliung das Ihe 
a a 


Anſtraugungen 
9— Aber Ansrksunungse und Zulagen wur jege in Aer-Defie 
aicioen. unbesacte: unter ber Ueberſchrift: ne 
kimmyngen‘“; auch ſchon der Äußeren, Form nach muy -alk ein. 


- bang” ber „allgemeinen vein wöllerrechtlichen Bunbası Mokiıms 
her 


mungen” ** —* np ſelbſt —— Br 
Einleitung gu —* eſondern Bıefimmungen, 
vdlkerrechtlichen Artitel „ben Bund 


ſondern zur 
—— — die. If schtlihe. Rasur und Bafendeiti un 


Bwedbeffimmung ‚geben folten. 

Noch der. Istte aller Entwürfe der Bunbed-Werfaffung wußte busch« 
aus nichts von Diefer Anordnung. Vielmehr flanden bier noch beide 
verfchiedenen Arten von Beſtimmungen, die über bie Rechte der Bürs 
ger und über die Bundesswede und Einrichtungen, ganz ungetrennt und 
untermifcht. Erſt auf die noch ganz zulegt an die baierſche Geſandt⸗ 
ſchaft ergangene Juſtruction ihres Hofes wurde die neue Abtheilung und 
Einrichtung gemacht. (Klüber, Acten U. ©. 479, 631.) Unb- 
forgfältigft wurde jest in der auf bie voͤlkerrechtlichen —— be⸗ 
ſchraͤnkten, an ihre Spitze geſtellten Zweckbeſtimmung des Bundes ſowie 
ſich ſogleich ergeben wird, alles Staat srechtliche getilgt. 

Erſt nach allen dieſen Conceſſionen willigte Baiern 
endlich ein in ben Bundesvertrag. Wuͤrtemberg wollte ſogar noch 
jegt nur bie elf rein völferrechtlichen Artikel anerkennen, gab indeß bald 
die gleiche Zuftimmung wie Baiern (Kluͤber IL. ©. 624). 

Somit ſpricht benn alfo nun für die voͤlkerrechtliche Natur, 
Zwedbeflimmung und Gewalt des Bundes: 

1) die angeführte Entſtehungsgeſchichte des Bunbesgrundvers 
trags und die über ihn flattgefundene Vertragsverhandlung feiner Gruͤn⸗ 
ber. Eben weil man bem baierifdys wärtembergifchen Widerſpruch gegen 
die ſtaatsrechtliche GBeftaltung und ihrer Korberung ber vollen Souveraͤ⸗ 
netät der Staaten und Verfaffungen und des Mechts ber Regierungen 
und der Bürger auf biefelbe hatte nachgeben und deshalb auch bie Rechtes 


Deutſcher Bund. 187 


zuficherungen für die Bürger fo fehr beſchraͤnken muͤſſen, deshalb druͤck⸗ 
tem ja auch bei der Unterzeichnung der Bundesacte viele andere Gefandten 
ihr Bedauern aus, „baß nun ber Bund ben gerechten Erwartungen der 
Nation noch nicht völlig entfpredhe”, indem er noch nicht genügende 
echte ertheile und indem er, tie Hannover ſich ausdruͤckte, „jetzt 
„mar ein politiſches Band unter den verſchiedenen Staaten”, nicht „aber 
„im Begriff der alten Verfaffung eine Bereinigung des 
„geſammten dbeutfhen Volkes in fih faffe” (Klüber ©. 
624, 629, 632, 546, 547, 551); 

2) der jegige Eingang der Bundesacte. Statt bie in allen frü- 1 

beren Entwürfen hervorgehobenen ftaatsrechtlihen Verhältniffe von: 
Deutſchland auch nur zu erwähnen, beginnt die jegige Bundesacte mit 
ber blos bei voͤlkerrechtlichen Verträgen gewöhnlichen Formel: 
„Im Namen der allerhöchften und untheilbaren Dreieinigkeit” und mit 
dem völterrechtlichen Motiv: ‚Die fouveränen Zürften und freien Städte 
„Deutſchlands, den Wunſch hegend, den fechsten Artikel des Parifer 
„Friedens in Erfüllung zu fegen, und von den Vortheilen überzeugt, 
„welche aus ihrer dauernden Verbindung für die Sicherheit und Unabs 
„bängigkeit Deutfhlands und dad Gleichgewicht von Eus 
„ropa hervorgehen werben, find übereingelommen u. f. w.“; 
235) die ausbrüdliche Beftimmung des Zwecks ober ber grundgefeg: 
lichen Aufgabe bes Bundes. Diefe Zweckbeſtimmung ift, fo wie übers 
haupt die rechtliche Natur und Gewalt des Bundıs, da man aus 
beren unrichtiger Auffaffung fo große Verlegungen ber Bürger und 
Regierungen ableiten will, von unermeßlicher Wichtigkeit. Sie bedarf 
daher ebenfalls einer volllommen unbeftteitbaren Dazlegung. 

Die Zwedbeflimmung war früher ftaatsrechtlich geweſen, hatte 
Die Rechtsverbürgung für bie Unterthanen mit in fi) aufgenommen. 
So hieß «6 in dem Entwurf, welcher zuerft den Verhandlungen zu 
Grunde gelegt wurde, im Art. 2.: „Der Zwed diefes Bundes ift 
„die Erhaltung der äußeren Ruhe und Unabhängigkeit 
„and die innere Sicherung ber verfaffungsmäßigen Rechte 
„teder Claſſe der Nation u. f. w.“, oder wie ber König von 
Hannover neben der voͤlkerrechtlichen Sicherheit den ſtaatsrecht⸗ 
lichen Zweck bezeichnete: „Siherftellung gegen Mißbrauch der 
Gewalt im Inneren u. f. w.“ Allein gerade diefem ſtaatsrecht⸗ 
lichen Zwede fegten Baiern und Würtemberg mit Erfolg die Un> 
abhängigkeit oder Souveränetät der Bundesſtaaten und des⸗ 
balb bie blos voͤlkerrecht liche Natur des Bundes entgegen (Klüber 
I. 65. II. 91, 94, 97, 107, 114, 167). Nun wollte man nad) jener 
Bereinigung zuerft noch durch ben Zufag helfen: „daß keine andere 
„als die inderBundesurkunde fpeciell feftgefegten Rechte 
„beijener inneren Sicherung gemeint feien” (Kiüber IL 
300). Doch auch felbft diefes befriedigte Baiern und? Würtemberg 
noch nicht, und es wurde deshalb endlich jede Erwähnung irgend eis 
nes flaatsrechtlichen Zwecks, eines allgemeinen Wohls, einer ſtaats⸗ 


iechlllchen Sicheruug u a 1. aufhencben mb vielmehr beffen Gezen⸗ 
Koll, die endefgränfte Unabhängigkeit der Bundesſtaa⸗ 
ten, — Der Bunbdeszweck wurbe nun definitiv im Art. 1. 
beftimme als: „Erhaltung der Anferen und inneren Sicher⸗ 
heit“ —— und der Unabhängigkeft and Unver⸗ 
ntegbätkett der einzelnen beutfhen Staaten.” Die Wie» 
ner Sälufacte: 'von 1820 til es vollends noch unmwiberfprechlicher 
machen, daß er. ne: reln volkerrechtliche Sicherung ver⸗ 
ſtanden werben ſolle, nur das was vorher ſchon ein öfterreichiicher Ent» 
ion warf Ad Bonbeewes aufgeſige theater, naͤmlich: Erhaltung der 
„duſßerrn Fuhe und Unabhängigkeit bes Bundes und bie 
Stäbe dei Verbündeten in Ihren mechdieniifen ges 
see inander u ſJ. w.“ 1. 1). Die Schlußacte erklaͤrt 
"Düher an ihrer Spige Art, 1. und 2: fogar ausbrädliih: „Der Bund 
Aſt ein völferrehtlier Verein der deutſchen ſouveraä⸗ 
„wen Kürffen und freien Städee.” Sie fiellt dann In ber Im 
gabe dere die Bewahrüng ber Unabhängigkeit und Um 
„verleßbarkeit ihrer Im Bunde begriffenen Staaten“ foger 
noch vor Die „Erhaltung des Bundes” ober „ber inneren 
„und dußeren Sicherheit Deufätande.” bot 
Bundesnerein’ fer: „in feinem Sühtren eine Semeinſchaft 
et unter fi unabhängiger Staaten mit 
Avechſelſeitigen gleichen Wirtrhgsredien und Vertrags⸗ 
„obliegenhelten et Kann man deutlicher in ber juriſtiſchen 
Sprädie den Sieg jener obigen batetifch würtembergifchen Anficht von 
dem hoͤchſten Gut der Souperänetät für die Unterrhbanen 
wie für die Fürften und von ber nur voölkerrechtlichen 
Natur des Bundes und feiner Sicherung bezeichnen? Die 
voͤlkerrechtliche Siherung Im Bunde aber ift natürlich eine mehr: 
fache: einmal die äußere Sicherheit Deutſchlands, das heißt bie 
voͤlkerrechtliche Sicherung des ganzen Bunbdesgebiets, nad Außen, 
ober gegen alle Sremden, ebenfo bie nah Innen, das heift gegen die 
Gewalt der einzelnen Bunbesflaaten felbit. Damit verbindet ſich dann 
die befondere ausdrückliche volkerrechtliche Garantie der Bewahrung ber 
Unabhängigkeit und Umverlegbarkeit der einzelnen deut⸗ 
fhen Staaten, bie völkerrechtliche Sicherung biefer Unabhängigs 
keit und Integrität gegen Frembe, gegen jeden einzelnen an» 
. bern deutfhen Staat und gegen ben Bunbesverein felbft. 
— Es waͤre nach allem dieſem allerdings, wie vorzuͤglich auch Rud⸗ 
hardt a. a. O. hervorhebt, gegen die ſonnenklare Abſicht und gegen 
den natuͤrlichen Wortſinn, wenn man mit Manchen unter der „in⸗ 
neren Sicherheit Deutfhlande” irgend eine ſtaatsrechtliche, 
irgend eine gefegliche, poltzeiliche, richterliche, militärifche 
Sicherung für das Innere der einzelnen Bundesflaaten unb 
nicht blos jene obige rein völkerrehtlihe Sicherung von ganz 
Deutfchland, vom ganzen Bundesgebiet, ale ſolchem, gegen 


Deuticher: Bund. | 189 


die Gewalt feiner Glieder verftichen wollte. Diefe erſtreckt ſich zwar auch 
auf das Innere des Bundes ober bes Vereins, ober Deutſch⸗ 
Lande, aber dennoch nur auf die äußeren, niht auf die inneren 
Verhaͤltniſſe der einzelnen Bunbesflaaten. jene entgegen: 
ftehende Auslegung führt, abgefehen vom entgegenftcehenden Wortfinne 
und ber aus den Verhandlungen ber Gründer des Bundes fidy ergeben: 
ven Abſicht derfelben, nur zu Abfurbitäten. 

Es würde ja alsdann, wenn man die innere Sicherheit Deutfch- 
lands auf das flaatsrechtliche innere ber einzelnen Staaten 
begieht, diefe völkerrechtliche Sicherung des Vereins gegen innere Ge: 
malt, diefe Sicherung feines Kriedenszuftandes in feinem In—⸗ 
nern, dieſer Dauptbeftandtheil des Bundeszwecks, in befien Ans 
gabe unbegreiflicherweife ganz fehlen. 

Es hätten ferner alsdann, wenn ſchon die Sicherheit Deutfc: 
lands auf.die innere Sicherung ber einzelnen Staaten bezogen wer- 
den follte, auch nicht „Deutfhland” und die „einzelnen deut⸗ 
fhen Staaten” in demfelben Sag entgegengefegt werden bürfen. 
Sie burften es nit, wenn beide daffelbe, wenn aud fchon 
Deutfhland bie einzelnen beutfhen Staaten bezeichnen follte. 

Es waͤre alsdann auch die doppelte Bezeichnung felbft eine unfchid: 
Tiche Wiederholung. Mit andern Worten: alles Andere außer der in⸗ 
neren und dußeren Sicherheit von Deutfhland hätte ganz 
twegbleiben müflen. 

Es hätte endlih „die innere Sicherheit”, wenn fie fi als 
eine ſtaatsrechtliche auf die „einzelnen Staaten” hätte beziehen 
- follen, offenbar vor diefe, nicht aber in der Bundes = und Schlußacte 
getrennt von ihnen und nur bei ihrem Begenfag, „bei Deutfhland” 
oder dem Bunde ſtehen müffen. 

Doch die Verhandlungen über ben Bundes⸗Vertrag fegen auch In 
Diefer Beziehung unfere Auslegung vollends außer allen Zweifel. 
Mod, der legte Entwurf bes Bundes:Vertrags nämlich, welcher, nachdem 
man bereits jene Aufnahme eines ſtaatsrechtlichen Zwecks wegen bes 
baierifchen und würtembergifchen Widerſpruchs gegen denfelben aufgege: 
ben hatte, die Grundlage der neuen Verhandlungen bildete, hatte wirklich 
ben Bundeszwed ohne jene erft ſpaͤter — alfo gewiß abſichtlich 
gewählte — Entgegenfegung und Wiederholung „Deutfhlands” und 
der „einzelnen dbeutfhen „Staaten“ folgendermaßen beftimmt: 
„Erhaltung der-Seibfiändigkeit, ber Außeren unb innes 
ven Sicherheit fo wie der Unabhängigkeit und Unverletz⸗ 
barkeit der deutfchen Bundesſtaaten.“ Hiergegen aber erg 
innerte in ber nun folgenden erften Sigung ber holfleinifche Geſandte 
Straf Bernftorff, daß ja die innere Sicherheit der beutfchen 
Staaten gar nicht zu den Zweden des beutfhen Bunbes 
gehöre.” Er fchlug deshalb und um jede Zweibeutigkeit ganz auszu⸗ 
fließen, die Zaflung der Zweckbeſtimmung gerade fo vor, mie fie jegt 
wirklich die definitive Bundesacte enthält, alfo: „Erhaltung ber 


190 Deuticher Bund. 


Y 
äußeren und „inneren Sicherheit Deutſchlanbs und der 
„Unabhängigkeit und Unverlegbarkeit der einzelnen Deuts 
fheu Staaten.‘ —— 

Dieſes ſollte gerade die ausdruͤckliche Beſchraͤnkung der inne⸗ 
ren Sicherheit auf den Bund, auf feinen ganzen voͤlkerrechtli⸗ 
hen Frieden bezeihnn. Baiern, bei feinem eifrigen Kampfe für 
die Ausfchliegung der inneren Verhältniffe der fouveränen Staaten von“ 
der Einwirkung der Bunbesgewalt, fiimmte fogleih nachdruͤck⸗ 
lich bei, und in der zweiten Sigung wurde deshalb mirkiih dieſe 
jegige Saffung als bie richtige allgemein angenommen (Kläber II. 
S. 309, 315, 345, 408). 

Ä Auch in „andern Stellen” über die Bunbesverhältniffe verfichen 

bie Begründer des Bundes unter der „inneren Sicherheit” die 
voͤlkerrechtliche Sicherung bes Friedenszuftandes gegen die An: 
griffe der Bundesſtaaten (f. 3. B. Schlußacte 18.) Dagegm er» 
Mären noch bie fpäteren Bundesgefege (Provif. Compet.»Orbn. v. 
1817. 5. 223. Schlußacte 25. 32. 51. 53. 61.), daß der Bund 
feinem Wefen oder der Regel nach in bie inneren flantsrechtlihen Ver⸗ 
bältniffe dee Staaten gar nicht einzuwirken babe, daß alfo foldhe Eins 
wirkung aus dem allgemeinen, bie Regel ber Bunbesthätigs 
keit bildenden Zwed gar nicht abgeleitet werden koͤnne, in ihm 
nicht enthalten fei (daß fie mithin nur auf jene einzelnen fpeciellen 
Ausnahmen der Garantie der beflimmten befonderen Recht 6zuſiche⸗ 
rungen für bie Bürger fi) gründe und befchränte). 

Die entgegengefegte Auslegung würde auch noch fonft zu doppel⸗ 
tem Widerfinne führen. Will man ndmlih für’s Erfte unter 
Sicherheit überhaupt mit fo vielen Rechtslehrern (f. 3. B. Klüber, 
öffentl. R. F. 1. Zaharid über den gegenwärtigen poli— 
tifhen Zuftanb der Schweiz ©. 16) den Staatszweck, alfo 
unter innerer Sicherheit die ganze gefeßgeberifche, richterliche, polizeiliche, 
finanzielle und militärifhe Regierungsaufgabe verftehen, fo begründete 
ja alsdann die innere Sicherheit im Bundeszweck, in diefem oder 
im ftaatsrehtlihen Sinne genommen und auf die einzelnen 
Staaten bezogen, indem fie zugleich jegt gerade völlig unbefhränft 
dafteht,, in Verbindung mit der äußeren Sicherung offenbar den gan⸗ 
zen Staatszweck und eine allumfaffende wahre Staatsge: 
walt für den Bund. Die gleichzeitig ald Grundlage und Zweck 
des Bundes anerlannte „volle Unabhängigkeit oder Souveraͤ⸗ 
netät aller einzelnen Bundesſtaaten“ aber und die voͤlkerrechtliche 
Natur des Bundes wären dann voͤllig zerflört. Man darf aber doch 
die Bundesacte nicht fo auslegen, daß fie überall fich felbft und den 
Staren Abſichten ihrer Gründer widerfprähe. Es durfte fuͤr's 
Zweite auf ben Widerſpruch von Baiern und Mürtemberg nicht ein: 
mal fo viel von einem inneren flaatsrechtlihen Verhaͤltniß im Bundes 
zweck berührt werden, daß nut die Erwähnung der den Unterthanen 
verbürgeen einzelnen Rechte Plag gefunden hätte Sie mißfiel 


Deuticher Bund. | 191 


auch trog des ausdruͤcklichen Zuſatzes: „bag auf dieſe einzelnen 
„Rente fi alle Einwirkung des Bundes auf innere 
Mechtsverhältniſſe der fouverdänen Staaten befhränte.” 


Die Regierungen alfo Eonnten doch gewiß nimmermehr einwilligen 


zur Aufnahme irgend eines noch viel allgemeineren Zwecks ſtaatsrechtli⸗ 
der Sicherung im Innern der fouveränen Staaten. Sie konnten nicht 
mie Eifer Die jegige Faſſung bes Bundeszwecks in dem Sinne vertheis 
digen, daß er die ftaatsrechtlihe Unabhängigkeit weſentlich befchränkt 
sder zerflört, überhaupt in feinem andern als in dem obigen rein 
vslkerrechtlichen Sinne. 

Nach allem diefem ift alfo ſelbſt diejenige Auslegung achtungstwerther 
Publiciſten unmöglich, welche bei den Worten „äußere und innere 
Sicherheit Deutſchlands“ zwar jeden Gedanken an jene allges 
meinſte ober irgend eine allgemeinere Sicherung im Innern der Staaten 
ausfchließt und nur an die Gewähr der einzelnen in ben befonderen 
Beſtimmungen der Bundesacte den Bürgern zugeficherten Rechte dachte. 
Hätte man aber diefe in den Bundeszweck aufnehmen wollen, fo hätte 
man dazu jene obigen, früheren befferen und beftimmteren, vorhin 
(unter 8) ſchon erwähnten befchräntenden Bezeichnungen gewählt. Selbſt 
Diefe aber verwarf man ja gerabe auf den baieriſch⸗ würtembergifdyen 
Widerſpruch. Es war aud allerdings diefe Aufnahme fpäter, als man 
den flantsrechtlichen Charakter des Bundes und ben größten Theil ber 
früher für die Bürger vorgefchlagenen Rechtszuſagen aufgegeben hatte, 
wahrhaft unpaffend geworden. Denn nun waren biefe wenigen übrig 
gebliebenen einzelnen flantsrechtlichen Zuficherungen,, al& folche, allers 
dinge blos ausnahmsmeife Verfügungen über die jura singulorum 
der einzelnen fouveränen Bundesſtaaten. Sie waren nach dem Ansbrud 
ber Schlußacte 15. Rechte, in Beziehung auf welche bie Bun⸗ 
besglieder niht In vertragsmäßiger Einheit, fondern 
als einzelne felbftfländige und unabhängige Staaten pr 
f&heinen.” Denn als folche jura singulorum erfcheinen im völker: 
rechtlichen Staatenbund ber fouveränen Meglerungen ſtets alle inneren 
ſtaatsrechtlichen Verhaͤltniſſe derfelben, uͤber welche daher, wie insbefons 
dere auch über gemeinnügige Anordnungen, nur mit Stimmeneinhelligs 
keit und, foweit Rechte der Bürger oder Stände beſchraͤnkt werden folls 
ten, nur mit deren Zuflimmung rechtsguͤltige Verfügung möglich 
ft (Bunbdesacte 1.27. Schlußacte 1.2. 3. 4. 9. 10.18. 18, 
17. 63. 55. 56. 64. 66. Proviforifche Competenzorbnung 
bes Bundes 1817. $. 223. Tittmann ımb Rudhardt a. a. O. 

Ausnahmen aber kann man vernuͤnftigerweiſe nicht in ber bie 
altgemeine Regel bejeihnenden allgemeinen Zweckbeſtimmung 
eines Vereins aufnehmen. Sie wurden eben deshalb auch gar nicht 
unter den Bundeszweck geftellt, aus welchem nach dem Obigen alfo dur, 
aus gar Leine gefeggeberifhe oder vollziehen; Einwire 


kung des Bundes auf die ſtaatsrechtl; 
ber fonveränen Staaten — 8R —S—S—— 


N 


192 Deuticher Bund. 


Bunbeszwed ſteht vielmehr nur an bee Spige der „allgemeinen 
Beflimmungen,” welche der völkertechtlihe Bund „feſtſtellen“ follte. 
4) Doppelt fprechend für unfere Anfiht wird nun in Verbindung 
mit allem Bisherigen (1. 2. 3.) eben jene obige Abtheilung derfelben: 
die Feſtſtellung eines nur völkerrechtlihen Staatenbundes in dem 
Haupttheil und die Verweifung der Garantie jener wenigen beflimm: 
ten flaatsrechtlichen Rechte der Bürger in einen Anhang und bie Gtels 
lung berfelben unter die Auffchrift „Befondere Beftimmungen.” 
5) Dem Bisherigen entfpriht nun aud der ganze Inhalt des 
Bundesgrundvertrage. Es begründet naͤmlich einerfeits nach dem Obi⸗ 
gen wirklich der für die Feftflellung des Bundes beflimmte 
Theil des Grundvertrags alle wefentlichen Charaktere bes völkerrechtlichen 
Staatenbundes, nirgendwo die eines flantsrechtlihen Bundesſtaats. 

6) Und es ftehen hiermit auch andererfeits jene wenigen ausnahms⸗ 
weifen flantsrechtlichen Beflimmungen im Anhange nicht im Widerfprudh. 
Die befondern Beſtimmungen in diefem Anhange find nämlich doppelter 
Art. Ein Theil ift, obwohl er innere Verhältniffe berührt, doch an 
fi) eigentlich noch völferrechtliher Art. Er befteht in der Annahme 
und Erhaltung einiger beſtimmten früheren völkerrechtlichen Rechts» 
vorbehalte, die gegen die Landesherren, bei ihrer Erwerbung der Doheit 
über beſtimmte Claſſen von Perfonen, 3. B. der Standeöherren, zu 
Sunften derfelben gemacht werden (Art. 14, 15 und 17). Der ans 
dere Theil enthält eben jene wenigen beftimmten deutfhen Natio⸗ 
nals und Staatsrechte, welche zur Erfüllung jener Verheißungen 
in den Befreiungskriegen und zur Erhaltung der Eriftenz und Freiheit 
und inneren Verbindung einer deutfchen Nation allen deutfchen Staatse 
bürgern in allen deutfchen Staaten durch den Bund gewährt wurden, 
oder „zu den Rechten,’ welche nach dem Ausdrud des Art. 18, „die 
verbündeten Zürften und freien Städte übereinfommen, den Unterthunen 
bee deutfchen Bundesftaaten zuzufichern.” 

Solche allgemeine Rechtszuſicherungen begründen, außer jenem 
Nechtsvorbehalte für die Standesherren u. f. w. im Art. 14, 15 und 
17, alle Beftimmungen des befondberen Theile. Hierher gehören 
die Anerkennung und Verbürgung unabhängiger Suftiz im $. 12, bie 
Zufiherung landfländifher Verfafjungsrechte im Art. 13, die Zufiches 
rung gleicher politifcher Rechte im Art. 18 und bie in Ausficht geftellte 
Steiheit von Handel, Verkehr und Schifffahrt im Art. 19. Die ge: 
fammten Beflimmungen des befonderen Theils aber fihhern Feines» 
wegs den Fürften oder dem Bund irgend ein Recht gegen die Unter» 
thanen zu, fie fihern vielmehr nur den Unterthanen beflimmte 
Nechte gegen die Fürften zu. 

Es find insbefondere alle allgemeine Rechte der deutfchen Bürger 
folhe Rechte, die zwar fhon beftanden, durch die neue Anerkennung 
und Merbürgung aber doppelt den Charakter wohlerworbener 
Rechte erhielten Kluͤber, Oeffentliches Recht, 5.105). Es find zus 
gleich die für die Exiſtenz und vechtliche Freiheit einer deutfchen Nation 


% 


Dentſcher Bund und beutfcheg Bundesrecht. 193 


abfolnt weſentlichſten Rechte, oder ein Minimum, welches, 
wie die Gründer bes Bundes in den Verhandiungen überall fagten oder 
anerkannten (Klüber I. 61), von den einzelnen Regierungen zwar 
follten ausgebehnt oder vermehrt, aber nidht vermindert 
werden fönnen. Bon einer Beſchraͤnkung der Unterthanenrechte aber 
hielt die hohen Bundescontrahenten nad) ihrer Erklaͤrung ſchon bie ach⸗ 
tungswuͤrdige Rechtsanſicht ab, daB fie durch einen Vertrag blos mit 
Dritten (mit andern Regierungen) ihren Unterthanen zwar Rechte zus 
fichern, aber keine nehmen Einnten (daß, wie bie Pandelten L. I. de 
negot. gest. fagen: naturalis et civilis ratio suasit, alienam eonditio- 
nem meliorem quidem etiam ignorantis et inviti nes facere posse, 
deteriorem non posse); oder daß, wie Hannover in den Verhandlungen 
erklaͤrte, die Regenten nicht koͤnnten in dem Lichte erfcheinen wollen, 
daß fie über ihrer Unterthanen Rechte mit fremden Regierungen tranfis 
gkten, da ja biefe Rechte durchaus kein Begenftand ihrer Trans 
acttonen ſeien. (Klüber, Acten I. Seite 68, 72, 73, 87. V. 
S. 108.) Don einer Befchräntung ber Souverdnetät der Regierungen 
in ihrer Anerkennung freierer Rechtsverhaͤltniſſe, von einer 
bunbesmäßigen oder allgemeinen gefeggeberifhen oder polizei⸗ 
lichen Beſchraͤnkung der Unterthbanenrechte zum Schug der Res 
genten der fouveränen Staaten oder wohl gar eines monars 
Hifhen Principe, ift überall Leine Spur vorhanden. Aus 
dem Bunbeszwed der völkerrechtlihen Sicherung, oder daraus, daß im 
Eingange ber Bunbesacte die Bunbdesglieder fouveräne Fuͤrſten 
und freie Städte genannt merden, läßt ſich eine Einmifhung bes 
Bundes zur polizeilihen Sicherung und zur Erhaltung des monars 
hifchen Principe, ober zur Erfüllung der Bundespflichten offenbar ger 
rade ebenfo wenig ableiten, als ſich fo etwas aus dem Buͤndniß von 
Chaumont für die ruffifchen, engliſchen, öfterreichifchen und preußi⸗ 
Then Staatsverhaͤltniſſe ableiten Tief, obgleich auch bdiefen Bund aus⸗ 
druͤcklich ſouve raͤne Fuͤrſten und für den Zweck gemeinfchaftlidher 
Sicherung abſchloſſen und obqleich auch ihre Erfuͤllung ihrer Bun⸗ 
despflichten durch innere Zuſtaͤnde verhindert werden konnte. Eine Ab⸗ 
leitung des fo vieldeutigen monarchiſchen Princips und feiner willkuͤr⸗ 
lichen Folgerungen, aus der bleßen gelegentlichen Bezeichnung der Bun⸗ 
desglieder als ſouveraͤner Fuͤrſten, iſt um ſo unbegreiflicher, da ja da⸗ 
bei die freien Städte unmittelbar mit und neben ihnen als Bundesglie⸗ 
der genannt find. Man Lann aber doch nicht einen allgemeinen 
Zwed und Grundfag des Bundes aus einer Bezeichnung ber Bundes: 
glieder folgern, der für einen Theil feiner Mitglieder undenkbar iſt. 
Ebenfo gut hätte man auf das Princip einer ftädtifhen, alfo einer 
republikaniſchen Verfaſſung der gleichberechtigten Bundesgenoffen fchlies 
Gen dürfen. Das Alterftärkfte gegen diefe Austegung aber iſt das, daß 
ja die Bunbdesacte felbft in ihrem erſten Artikel, in ihrer Beſtimmung 
Deſſen, was vom Bunde gefchägt werden dürfe, die Souverdnetät als 
Staatsunabhängigkeit bezeichnet und daß hier und in den gankew 
Suppl. 3. Staatslex. II. \3 


104 Deuticer Bund und deutſches Bundesrecht. 


Verhandlungen über den Bund keine Seele daran dachte, einen Zürften 
in einem andern Sinne fouverän zu nennen als gerade zur Bezeichnung 
der aͤußern Unabhängigkeit. Man bezeichnete damit alfo das Gegen- 
theil von flaatsrechtlicher Einmifhung zur Erhaltung monarchifcher Ver⸗ 
faſſungsrechte. 

Die Hauptergebniſſe der bisherigen Betrachtungen über unferen 
om Rechts zuſtand koͤnnen wir in folgenden Sägen zufammen- 
faſſen: 

I. Der deutſche Bund iſt nach feiner grundvertragsmaͤßigen Zweck⸗ 
und Gewaltbeſtimmung und nad) feiner Organiſation ein voͤlkerrecht⸗ 
liher Staatenbund aller deutfchen Staaten für den gemeinfchafts 
hen voͤlkerrechtlichen Schug Deutfchlande und ber einzelnen deutfchen 

taaten. 

11. In befonderen Zufag» und Anbangsbeflimmungen, die von 
jenem voͤlkerrechtlichen Bundeszwed nicht ausgehen, aber feine Verwirkli⸗ 
hung unterflügen, verfprechen alle Bundesregierungen und garantirt 
der Bund einige beftimmte Rechte für deutfhe Bürger, eins 
zeine für beſtimmte Claſſen von Perfonen — die andern für alle Deut- 
fen, und zwar die leßteren, um dem beutfchen Bunde eine nationale 
deutfche Grundlage zu erhalten und zugleich zur Befriebigung der weſent⸗ 
lichſten Rechtsforderungen aller deutſchen Bürger und der ihnen in Bes 
ziehung auf biefelben beim Beginn der Freiheitskriege gemachten feier 
lichen fürftlihen Zufagen. 

IUI. Keineswegs aber begründet der Bunbesvertrag innere ftaates 
rechtliche Verbindlichleiten ber Unterthbanen oder, außer jener Garantie 
der beſtimmten Rechte, irgend eine gefeßgebende oder vollziehende Gewalt 
über die inneren flaatsrechtlihen Verhaͤltniſſe und zur Beſchraͤnkung der 
Sreiheit der Unterthanen oder auch der Fürften. In Beziehung auf bie 
Vermehrung der Unterthanenrechte vielmehr erkannte, gerade um alle 
foldye Befchränkungen der Fürften und Bürger, welche obne alle Natio⸗ 
naltepräfentation die Regierungen und Bürger gefährden, 
ja den Redhtszuftand ber Nation aufheben, gänzlid aus 
zufchließen, der Bund bie vollkommene Unabhängigkeit ober 
Souveränetät der Bundesflaaten, alfo ihrer Verfaffungen und 
Verwaltungen, als grundvertragsmäßiges Necht der Regierungen und 
Bürger an. Er nahm die Verbürgung diefer Unabhängigkeit ber 
ten felbft ausdrüdlih in den allgemeinen Bundeszweck 
auf. 

So befldtigt es nicht blos ber klare Inhalt des Bundesgrundvertrags 
wie die Geſchichte feiner Entſtehung. Go ertannte, beftätigte und inters 
pretirte der Bund felbfl. In den Bundesverhandlungen und in den 
Belchlüffen der erften vier Jahre jeit der Gründung ded Bundes 
oder bis zu den Carlsbader Ausnahmsregeln findet fich eine Spur ents 
gegengefegter Anſicht, Beine Spur einer polizeilichen oder 
einer anderen Rehtsbefhräntung der Unterthanen durch 
ben Bund, Sein monarchiſche Perincip und Feine ſtaatsreſchtliche,. 


Deuticher Bund und deutſ ches Bundesrecht. 195 


gefeggeberifhe Einmifhung zu feinen Gunſten oder für irgend 
ein Recht der Regierung. Vielmehr beftätigten alle diefe Beſchluͤſſe und 
bie damals veröffentlichten Verhandlungen vonftändig die ausaefprochene 
Grunbanſicht von einer Beſchraͤnkung aller Einwirkung des Bundes für 
die innern ſtaatsrechtlichen Verhaͤltniſſe nur auf die Schügung der den 
Unterthanen bundesmäßig garantirten Rechte. In biefem Sinne fpricht 
fich die zuvor erwähnte Gompetenzbeftimmung aus. In biefem Sinne 
verwirklichte der Bundestag in dem Gefege vom 23. Januar 1817 tie 
Freiheit von Nachfleuer und Abzugsgeld, welche der Art. 18 der Bun- 
besacte in einem und dbemfelben Redefag den beutfchen Unter: 
thanen mit der Preßfreiheit zugefichert hatte. Er dehnte felbft bundes⸗ 
gefeglich jene Freiheit zur möglichfien Gewährung des zugefagten Rechts 
für die Unterthanen liberal fo weit aus als es irgend der Sinn bes 
Art. 18 geftattet, und erkennt die natürliche Freiheit der Bundesregie⸗ 
zungen, dieſes Minimum der Mechte nody zu erweitern, als fi) von 
felbft verftehend an. 

An diefem Sinne ertheilte die Bundesyerfammlung, mit Ein: 
ſtimmigkeit allee Mitglieder, der weimarifchen Verfaſſung, welche 
ihren Unterthanen die vollftändigfte Preßfreiheit gewährt, bie 
befondere ausdrädtiche Sarantie bed Bundes. In biefem Sinne 
erklärte, mit einftimmiger Zuftimmung der Bundesgefandten, ber 
Praͤſidialvortrag bei Eröffnung bes Bundes bie freie öffentliche Meinung 
der Nation als einen Leitftern bei den Bunbesberathungen. In bdiefem 
Sinne fand auch die freie Volksſprache durch Petitionen über allgemeine 
und befondere Angelegenheiten freundliche Aufnahme und Ermunterung, 
letztere fchon in der Eröffnungsverhandlung des Bundestags. In dies 
fem Sinne fiel namentlih auch im Fruͤhjahre 1818, nach ben Snftrucs 
tionen von allen Regierungen, bie fo hoͤchſt merkwuͤrdige feierliche Bes 
rathung am Bundestage aus, welche eine Gollectiv » Petition mehrerer 
Bürger verfchiedener bdeutfcher Länder, wegen Verwirklichung bed Art. 13 
der Bunbesacte veranlaßt hatte und in welcher Defterreich, in Beziehung 
auf das bundesmäßige Verfprechen ber landftändifhen Verfaffungen, bie 
liberalen Erklaͤrungen abgab, das nah Inhalt und Zeit unbeflimmt 
Verſprochene müffe in beider Hinſicht möglihft günflig für den Acceps 
tanten, es muͤſſe fürftlih zur Ehre des Gebenden und zum Vortheil 
des Nehmenden ausgelegt werden. Preußen aber ging, ebenfo wie auf 
dem Miener Congreg noch, voran in liberalen Erflärungen ?), und alle 
jest bald folgenden Iandftändifchen Verfaffungen von Baiern, Baden, 
MWürtemberg u. f. w. verwirklichten In zeitgemäßen ſtaatsbuͤrgerlich repraͤ⸗ 
fentativen Formen voliftändig das oben Bb. 111. S. 800 angegebene, 
biftorifch begründete, in den Congreßverhandlungen anerfannte Minimum 
landſtaͤndiſcher Rechte. 

An diefem Sinne aufgefaßt, als im Weſentlichſten wenig» 





* Protokoll der Bundes: Berfammlung von 1818. V. 227. VI. 281 
| 18% 


\ 


x Bin 


38. Bin u a bin Ba 


Brad eruruurnd mb © b alle jene ansbeiittiä auch vom Bunbes⸗ 
tag Defkätigten großen Werheißungen wahrer Mechtezuftdübe 
das deutſche Volk, nahmen auch die neum Verfaffungen den 
mbeögrundverteag in ſich auf, und in bdiefem Sinne Ieifleten und 
empfingen bie „Sürfen und bie Buͤrger bie Eibe auf die unverbruͤchliche 
Bersahrung bee neuen Landeggrundverträge. - Nur in biefem Sinne 
konnte man verfichen die öffentlichen Werkünbigungen des Bundesver⸗ 
trags und bie Werpfänbungen des Fuͤrſtenwortẽ feine treue Erfuͤl⸗ 
lung, weiche ber Kalfer von Deftrrreid mit folgenden Worten ausſprach: 
„Thun bieralt Fund und zu willen ‚Sebermaun, befonders aber 
‚Kiten, benen daran gelegen iſt: nachdem wir alle und jebe in 
em Brundvertrag, ſowohl allgemeine als befonbere Bes 
khmmungen orgfältig gepräft, erwogen und genehmigt haben, auch 
„raft —— Beftätigungs Urkunde hiermit feierlich Beftätigen, 

„fo verſprechen wir zugleich auf unfer Kaiſerliches Wort, gebachten 
—— re nachzukommen, und haben zu deſſen mehreren 
e Ratification un, unterzeichnet unb 


‘ lelber Unfer —A Staatsſlegel anhängen laſſen.“ 


en —* a er lem Perl Bagarid 8* allerbings allem 
—1 


— "fg feonifict er entiweber, oder er * rgißt dr biefe Bes 
ſchluͤſſe fi größtentheils geist als proviforifche Ausnahmsbefhläffe bes 
zeichneten (Rubhardt S. 239— 241). Er überficht ferner die rechtll⸗ 
hen Bedingungen einer rechtögültigen Verpflichtung der Bürger und 
einer Begründung und Einrichtung eines allgemeinen flaatsrechtlidhen 
Vereins eines freien Volle. Gerade wenn der Bund in einen ſtaats⸗ 
rechtlichen Verein vertvanbelt werben follte, alsdann war ja Ausdeh⸗ 
nung flatt ber Beſchraͤnkung der freien Nationalrechte und ber freien 
Mitſprache der Nation unentbehrlih. Eine Veränderung ihres grunds 
vertragsmäßigen Verhältnifies,, ihres gegenfeitig zwiſchen Fürft und Volk 
befchtwornen verfaffungsmäßigen Rechtszuſtandes, ein Verfügen des 
Bundes über fie, find ohne Zuftimmung der Bürger oder ihrer Repraͤ⸗ 
fentanten und ohne Repräfentation am Bundestage rechtlich völlig 
undenkbar. Solches einfeitige Verfügen ift mit einem wirklichen 
Rechtszuſtande ganz unvereinbar. Auch nad) dem Grundvertrag des 
Bundes felbft iſt jeder ihm und feiner rechtlichen Natur widerſprechende 


Bundesbeſchluß rechtsunguͤltig. 


Faſt alle deutſchen Regierungen hatten ben bei Ausbruch des neuen 
Krieges zur Beruhigung der Nation uͤber ihren Rechtszuſtand ſchnell 
abgeſchloſſenen Bundesvertrag mit dem ausdruͤcklichen Bedauern unter⸗ 
zeichnet, daß derſelbe wegen des Dranges der Umſtaͤnde den gerechten 
Erwartungen ber Nation in Beziehung auf die zugeſicherten Rechte 


4 Aläbey’ 6 Quellenſammlung. 3. Aufl. ©. 186. 


Deutſcher Bund und deutſches Bundesrecht. 197 


nicht fo entfprechendb babe genügen Binnen, wie es billig und ertwänfcht 
gewefen fei, und daß die Zukunft bier nachhelfen mäffe. ®) 

Und gewiß, diefem läßt fidy nicht miderfprechen. Dennoch aber 
gab die Bunbesacte, ihre treue Durchführung vorausgefegt, wenigſtens 
die mefentlihften Grundlagen eines würdigen Rechtszuſtandes. 

Sie anerkannte außer der unentbehrlichfien völkerrechtlihen Siche⸗ 
sung Deutſchlands und der beutfchen Staaten jene oben Band II. 
Seite 802 erwähnten wefentlihften deutſchen Zreiheitsrechte: die durch 
unabhängige Berichte und buch ſtaͤndiſche Verfaffung zu 
fchügende perfönlihe und Eigenthumsfreiheit (Art. 12, 13 
umb 18) und bie freie fie verbindende Spraͤchedder Nation 
und der Bürger durch die allgemeine Preßfreiheit und die Land- 
fEände und durch das ihnen und den Bürgern gegebene Recht, den 
Bundesſchutz für ihre garantirten Rechte anzurufen. War dabei auch 
Das Recht auf reich&gerichtlihen und Baiferlihen Schug gegen jeden 
Mißbrauch der Landeshoheit in keiner Weile erfest, fo vers 
ſprach doch die zugeficherte allgemeine Preßfreiheit den unentbebrlichften 
Erfag. Allgemeines und namentlih auch politifhes Petitionss 
und Affociationsrecht erwähnt fie zwar nicht befondere. Aber 
Niemand hielt es damals auch nur für möglih, daß dieſe natürlichen 
echte aller freien Menſchen und Bürger der damals ſo hoch genchteten 
Deutfchen Nation entzogen, daß fie und ihre Bürger für unmündig, und, 
rechtlos erklärt werden Eönnten! War doch das freiefle Petitionsrecht 
nicht blos während der ganzen Freiheitätriege und Wiener Congreßver⸗ 
bandlungen, fondern aud am Bundestage in ben erften vier Jahren 
unbeſchraͤnkt ausgeübt und anerkannt, ja ausdruͤcklich ©) ermuntert wor⸗ 
den. Wer dacdıte damals bei den Freudenfeuern an den SZahrtagsfeften 
des 18. Octobers, Volksfeſte, Verſammlungen und Neben an’s Volt 
zu verbieten ! 

Die beftimmtere Geftaltung der ftändifhen Verfaffung übers 
ließ man zwar den Vereinbarungen zwiſchen Kürft und Volt in ben. 
fowveränen Bundesflanten. Aber man hatte deutſche landftänbir 
fe Verfaffungen, alfo boch den wefentlihen Begriff dieſes 
Rechtsinſtituts verbürgt, mithin jene mwefentlihen vier Rechte 
deffelben (Bd. III: S. 802), welche man in den Congreßverhands 
lungen allgemein als ein Wenigftes von Rechten anerkannt hatte, das 
in dem Begriffe deutfcher Landſtaͤnde weſentlich enthalten ſei und welches 
in ber That auch ſtets deutfchen Landfländen — meiftens verbunden 
mit einem wahren Mitregierungsrecht — zuftand, welches auch alle 
neuen beutfhen Verfaffungen in den erften vier Jahren des deutfchen 
Bundes ebenfo wie die zeitgemäße ftantsbürgerlihe Repraͤſen⸗ 
tativform nicht minder anerkannten , als es in den übrigen europäls 
fhen Berfaffungen anerfannt wurde. Es war dieſes der unbezmweis 


5) Kluͤber, Acten Bd. U, ©. 298. 524. 542. 546. 565, 
6) ©. oben ©. 28, 


* —— a" Be —R 


feibare allgemeine Sinn be Zufagen. Man dachte gar nit ai 
Stände mit geringerem Recht. 
Das bei dem Mangel einer Bundesftaatsverfaffung auch für die 
Bürger fo unendlich wichtige, im Sinne der baterifhen und 
märtembergifchen Ecrklaͤrungen fo feierlich verbuͤrgte Recht der ſt gats— 
un, hen Unabhängigkeit der einzelnen Bundesſtaaten endlich, die: 
es ſchien auf folhen Grundlagen für die Staaten eine freie wett 
eifeende Entwidlung zu verbürgen. 

Sealbſt bie ee beutfher Nationalität und Ratio: 
n Ei De he M * [ten wenigftens nothduͤrftig verbürgt durch die Bundeseinheit 
n Lande, durch die Uebereinftimmtung wenigſtens in ben bezeich⸗ 

* 9 —*2* deutſchen Nationaltechten und im der Rechtsgleichheit 
ae m fo wie endlich durch ein allgemeines deutſches Bür— 
—* jeſes letztere fuchte die Bundesacte noch weiter zu begründen, 
aus durch vor! allgemeine freie Nationalfprache, theils ducch die Bundes: 
Ka abzugsfreien Einwanderung, bes Anfaufs von Grundeigentbum 
und des ungehinderten Dienfteintrittd in Beziehung auf alle deutſchen Bäns 
der Ind ik durch die im Ausſicht geftellte Vereinbarung über gemein: 
T&hafttiche freie Werfehts« und Handelsverhältniffe in ganz Deutſchland 
(Art. 16, 18 und 19 vd: B.-.). 
| 8 & war es dem ren daß auch bei nicht völlig beftiigten Er 





n 
nahm, fich der Hoffnung einer freien Rechts entwicklung und einer wuͤrdigen 
4 ber beutfchen Nation unter den freien Völkern der Erde überließ. 

C. Welder. 
Do maͤn enkaͤufer. Ueber die weitern Schickſale der Sache der 
Domänentäufer wird der Art. Verwaltung bes deutſchen Bundes 

handeln. C. Welder. 
Duldung. Eine erweiterte Ausbildung und eine neue große politifche 
—— haben die Grundſaͤtze von Glaubensfreiheit und Duldung durch die 
eutigen klichlichen Bewegungen, beſonders durch bie Deutſch⸗Katholiken und 
eunde erhalten. Doch davon wird der Artikel Kirchliche Bewe⸗ 
— der neueſten Zeit, Deutſch-Katholicismus u. f. w. 

handeln. C. v. Rotteck. 
Dhyunaſtiſche Intereſſen in ihrem Verhaͤltniſſe zum 
wahren, zum freien oder Rechtsſtaat. „Der Staat iſt ſeiner 
aͤußeren Erſcheinung nach ein gegen Außen abgegrenzter Verein von anfäfs 
figen Familien, mit Anerkennung einer vernunftgemäßen Beherrfhung, 
und der Staat im der Idee nichts Anderes als die Vernunftvorftellung von 
einem folchen Vereine‘, fo fagt der großherzoglich badifche Staatsrechtsleh⸗ 
rer Heinrich Zoͤpfl, während der koͤniglich preußifche Publicift Romeo 
Maurenbrecher den Staat viel prägnanter al „bie zur Erreichung der 
hoͤchſten Beftimmung des Menſchen Organifirte Geſellſchaft mit einem 
beitimmten Landesbegirk definirt. = aber fage: Der Staat ift nur da 


Dynaftifche Intereſſen u. f. w. 199 


vorhanden, wo eine Befellfchaft Innerhalb eines beftimmten Landesbezirks 
fi mit Selbfibewußtfein organifirt, eime höchfte Gewalt gefchaffen 
und, von einem beflimmten Principe ausgehend, die Formen ihres Öffentlis 
hen Lebens fo ftatuirt hat, daB dadurch jeder Einzelne die Möglichkeit, 
als Menſch zu leben, echält. Bon diefem Standpunkte aus bie biftorifche 
Entwidelung der factiſch beftehenden Staaten betrachtet, können biefe in 
zwei Slaffen eingetheilt werben. In bie eine gehören diejenigen Staaten, 
deren Berfoffung und Verwaltung dem Principe nach vollftändig auf ber 
im Laufe der Zeit theils zufällig entflandenen, theild von einer bevorrechte⸗ 
ten Kaſte gemachten Grundlage der Feubalität des mittelalterlihen Raubs 
ritterrechts, oder des Abfolutismus fußen, wenngleich dem jeweiligen Zeits 
geifte einige Sonceflionen gemacht wurden. Die andere Claffe begreift dieje⸗ 
nigen Staaten, wo das Volk mittelft einer großen That des Selbſtbewußt⸗ 
feins dem Principe nad) und formell das hiftorifche Unrecht gebrochen und 
mehr oder minder das Princip der Volksfreiheit und bed Nationalrechts zur 
Grundlage der Staateverfaffung und Verwaltung gemacht hat, wenngleich 
factiſch da und dort noch Ueberbleibfel aus dem Mittelalter übrig gelaffen 
wurden. Abgefehen von ber focialen Frage, welche auch bie letzteren ausſchlie⸗ 
Ben würde, baben nur diefe, nicht die der erſteren Ctaſſe angehörenden 
Zwangsanſtalten, gegründeten Anſpruch auf den Namen Staat. 

Die Idee des Staates ift indeſſen fo mächtig und wahr, baß ſelbſt die Af⸗ 
terftaaten der Form und dem Gerippe des Staates und deffen wefentlichen 
Inſtitutionen wenigſtens äußerlich fid) accommobiren muͤſſen. Dit diefen 
flaatlichen Einrichtungen wird nun aber ein Mißbrauch getrieben, ber we⸗ 
fentlich darin beſteht, daß der Afterflaat die Form und die Einrichtungen 
des wahren Staates uſurpirt, jedoch dadurch corrumpirt, daß er ihnen einen 
Der Idee des Staates fremden, ja entgegengefegten Inhalt unterfchiebt. 

Da der wahre Staat weſentlich nichts Anderes ift ald das mit Bewußt⸗ 
fein gefchaffene Product des fittlihen Geſammtwillens einer Nation, fo ath⸗ 
men alle feine Formen und Einrichtungen lediglich Feinen andern Zweck, ale 
den Intereſſen und den Bedürfniffen ber Gefammtheit zu dienen. In dem 
Afterſtaate, der weſentlich nichts Anderes ift ale ein theilß vom Zufall ans 
geſchwemmtes, theild von einer außer dem Volke Tiegenden Macht gefchafs 
fenes ſociales Conglomerat, verhält ſich bie Sache ganz anders. Hier ers 
hoben fi) aus der Mitte des Volkes über baffelbe im Verlaufe der Zeit eine 
Anzahl einzelner Uebermaͤchtigen, Raubeitter, Dynaften u. ſ. w., welche zuerfl 
alle Macht abforbirten, nachher ſich gegenfeitig felbft zerfleifchten und am 
Ende einigen vom Zufall begünftigten Machthabern zum Opfer fielen. Das 
Weſen diefer abfoluten Herrfchaft beſtand in der Abforbirung der der Ger 
fammtheit gehörenden Gewalt durch einzelne Privilegirte, in der Ausübung 
diefer Gewalt als Privateigenthum durch einzelne Wenige, in der Vernichtung 
der Freiheit der Webrigen und in der Benugung biefer Uebrigen für Pri⸗ 
vatzwecke und Samilienintereffen. Es hatte fi eine vom Wolke unabhän» 
gige, unvolksthuͤmliche Macht, es hatte fich der Euftenmäßige ariftofratifche, 
der dunaftifche Abfolutismus gebildet. Seine charakteriſtiſchen Merkmale 
waren — Vernichtung der Volksfreiheit, Decupation der Staatsgewalt 


w - — F 


—— ww N 
m. —— Baker 





Ierungsgemalt Der — 

Yale Gewalt, hat daher, im Staate die. Somveränstät nicht unab⸗ 

a m Volke, fondern nur mittelbar, iſt nicht abſolut, fondern * 
—— —— —— ſeines Geſammtwillens, hat nur eine mit⸗ 

zugeſtandene er übertragene Gewalt, Dies muß fo fein; 

nie nei, fo, fo «6 en — eine en Macht ald bie 

| t ige über dem fiehende Exi⸗ 

| e, und fe u. Bolt he alfo. fuͤt ſich fouverdnem, 

alfo fin D Macht wäre die Nation unterthan, als Elgenthum und Sache 






Dan Rare Aufhebung ber N if, fo waͤre 

elheit beraubt, eine Desrde von Krıschten *) 
Staate hat ferner die Regierung kein anderes Intereffe und. — 
? al8 die Erreichung des Staatszwedes. - Disfer-befteht,aber in 
rem. als in der Exrsihung der höchften Beftimmung des. Men: 
as Weſen des Meufchen befteht in der Freiheit amd Sittlichkeit, 
fomit hat im Staate die Regierung bie Aufgabe, ihre vom Volk übertras 
gene Gewalt nur zur Entwidelung.der Idee der Freibeit und zur Aufrecht- 
haltung der Sittlichkeit auszuüben; lediglich in nichts Anderem beftcht ing 
Staate bie Aufgabe der Regierung und diefe barf und kann Feine an 

Zwecke und Intereſſen verfechten. 

Banz anders bat fich im Afterſtaat⸗ bieſes boppelte Verhaͤltniß heſtal 
tet. Hier iſt die Souveraͤnetaͤt, d. h. die Staatsgewalt, das Privateigenthum 
einer nur durch Gewalt gegruͤndeten, vom Zufall conſervirten Dynaſtenfa⸗ 
milte, fo ſehr, daß die Herrſchaft über den Willen der „Unterthanen” ohne 
bie freis verfaffungemäßige Begruͤndung, Feſtſetzung u. Einwilligung der Na⸗ 
tion auf den Erſtgebornen ber Familie vererbt wird, wie jede andere Sache auch. 
Des Traͤger der hoͤchſten Bewalt ift daher im Afterftante nicht das natürliche 
Drgan des Volkswillens, fondern ſteht in demfelben Rechtsverhaͤltniß zum, 
Volke wie ein auswaͤrtiger Eroberer, oder wie ein mittelalterlicher Dynaſt 
zu feinen Leibeignen und Unterthanen, d. b. im Verhaͤltniß der zufällig fo; 
gewordenen Thatſaͤchlichkeit. Das Drgan ber hoͤchſten Gewalt leitet im 
Afterflante feine Macht nicht vom Volke ab, fondern aus feiner eigenen 
ſelbſtſtaͤndigen Machtvolllommenhsit — aus feinem Erbrecht, das man ges 
woͤhnlich mit der „Gnade Gottes” aͤußerlich aalpı[OmutEn und zu um⸗ 


| a Ba — len, bemickt 
€ Bu 





* Sin: etwas — organiſche Auffaſſung uͤber die hochlten Gewalts⸗ und 
——— ſ. unten Staatsverfaffung. Anm. d. Red. ; 


Dynaftifche Interefien u. f. w. 201 


ſchreiben pflegt. Diefe Corruption ber Staatsgewalt führte folgerichtig zu 
bez mahnfinnigen Theorie vom göttlichen Rechte der Fürften, zu dem Prin⸗ 
eipe jener falſchen Stuartifchen Legitimität, zu der Lehre, welche bie wahre 
hoͤchſte Gewalt im Staate, das Volt, aller Selbftftändigkeit entkleidet und 
gu einem Haufen unmündiger Geifteseigenen flempelt. 

Ihrem feudalen Uriprung gemäß, als eine unabhängig vom Volke ents 
flandene und von einzelnen Wenigen behauptete Macht, welche die Ausübung 
der Staatögewalt als ein erbliches Prärogativ in Anfprucd nimmt und dem 
Molke gegenüber ale eine felbftftändige, ſouveraͤne, alfo dem Volk entgegens 
geſetzte Macht auftritt, muß eine fo corrumpirte dynaftifche Regierung auch 
ganz andere Intereſſen und Zwecke verfechten als volksthuͤmliche. Sie muß 
das Intereſſe verfechten, das ihr zumächft liegt, und Das zum Hauptzweck 
machen , was fie in Ihrer Stellung erhält. Ihr naͤchſtes Intereffe ift daher 
nicht das Volksintereſſe, fondern , da fie eime felbftftändige Macht tft, ihr 
befonderes, ihr Privatinterefle; ihre Hauptzweck nicht die Erreihung der 
böchiten Beftimmung des Menſchen, fondern ihre Selbfterhaltung, die 
Sonfervirung ihrer vom Volke unabhängigen Gewalt. Dynaſtiſches Ins 
terefie, Familienzwecke, die Wohlfahrt: des regierenden Hauſes beftimmen 
die ganze Thaͤtigkeit, bilden das charakteriftifche Merkmal der corrumpirten 
Staatsgewalt des Afterftaates. In einem Staate, der das Ungläd hat, 
eine Staatsgewalt zu befigen, die ohne Zuthun des Volkes entfleht und befteht 
und die Ausübung ihrer Gewalt als ein erbliches Eigenthum in Anſpruch 
nimmt, im einem ſolchen Staats berrfcht alfo der unnatuͤrliche Zuſtand, daß 
die Regierung, flatt das Organ des Nationalwillens zu fein, eine dem 
Volke gegenüberftehende Macht if, daß die Staatsgewalt ftatt das In⸗ 
terefle des Volkes zu wahren, nur ihre Privats und Sonderintereſſe verficht, 
daß das Organ, welches die höchfte Gewalt nur zur Aufrechthaltung und 
Erreihung der Freiheit und Sittlicdykeit ausüben follte, diefe Gewalt zur 
Erreihung von Zwecken und Abfihten mißbraucht, die geradezu mit dem 
Volkswohl collidiren. Der Afterftaat ſtellt alfo die Mißgeburt eines Orga⸗ 
nismus bar, in welchem zwei einander entgegengefeßte Willen, zwei Intereſ⸗ 
fen und zwei Hauptzwecke eriftiren. In der That ein Dualismus, meldyer 
theoretifch die Einheit des flantlichen Organismus, die Einheit von Volk 
und Regierung aufheben würde, wenn nicht factiſch das ſtaͤrkere Element 
ſtets das ſchwaͤchere voliftändig abforbirte, fo daß entweder die unvolksthuͤm⸗ 
liche, fouveräne Staatsgewalt die Volksfeibftftändigkeit, oder biefe bie abe 
folute Regierung aufzehrt. 

Die entfeglihen Nachtheile diefes corrumpirten Verhaͤltniſſes Liegen 
auf der Hand. Ein Bid auf ihre widernatuͤrliche Stellung bringt einer 
foichen Staatögewalt jeden Tag die Gewißheit zum Bewustſein, daß das 
Bolt, fobald es einen gewiſſen Grad von Selbſtbewußtſein erlangt hat, ein= 
fehen muß, daß es politifcher Wahnmig fei, wenn die Mehrheit einer von 
Wenigen ufurpirten Gewalt gehorche, die Feinen andern Rechtötitel hat, als 
den der Thatfächlichkeit, als ihren feudalen Urfprung in ben Zeiten der Volks⸗ 
unmündigleit und Barbarei, und — ihre Bajonnette, bie als den wahren 
hoͤchſten Zweck nur fi, ihre Willkür und Erhaltung verfolgt. Die Erkennt⸗ 


202 Dynaſtiſche Intereffen u. f. w. 


niß dieſes Zuſtandes muß jedes Volk beleidigen und dahin führen, dieſe wi⸗ 
dernatürlichen Verhaͤltniſſe zu ändern und die Staatsgewalt von der Nation 
abhängig zu mahen, und dafür zu forgen, daß fie Beine anderen Zwecke 
und Intereffen mehr verfechte, als Volkszwecke und Volksinterefien. Eine 
eorrumpirte Staatsgewalt hat alfo die Ausficht, daß der Geburtstag der 
Volksſelbſtſtaͤndigkeit ihr Todestag fein wird, d. h. daß Ihre Vernichtung in 
dem Erwachen bes Volkes beſteht. Darum hat auch eine folhe Staatsgewalt 
feinen andern Zweck, als jenen Geburtstag fo weit als möglich hinauszus 
fchieben, als ben ermachenden Nationalgeift zu lähmen und zu unterdrüden. 

Entmidelt und befchleunigt wird das Erwachen des Volkes zum Selbft- 
bemußtfein durch gewiſſe flaatlihe Einrichtungen, die dem Volke theild die 
Augen öffnen über feine Lage, theils feine Serbftftändigkeit und Selbſtthaͤ⸗ 
tigkeit üben. Preßfreiheit, Affociationsrecht, Deffentlichkeit ber Rechtspflege, 
Volksgerichte, Selbftverwaltung, freifinnige Municipalorbnungen u. f. w., 
das find diefe Inflitutionen , welche die Sreiheit des Volkes entwickeln und 
erhalten. Die erfle Sorge einer abfoluten Staatsgewalt ift daher haupt⸗ 
fächlich auf die Unterdruͤckung aller diefer Einrichtungen, auf die Vernich⸗ 
tung und Gorrumpirung alles deſſen gerichtet, was das politifche Erwachen 
des Volkes befördern und es zum selfgovernment führen Binnte. — Die 
Thätigkeit einer corrumpirten Staatsgewalt ift deshalb dem Begriffe einer 
voltsthümlichen Regierung, ale Schügerin und Pflegerin der Volksfrei⸗ 
heit, direct entgegengefeht,, fo zumider und fo corrumpirt, daß fie, ftatt die 
höchfte Beftimmung des Menihen, Freiheit und Sittlichkeit, anzuftzeben, 
eine Anftalt wird, deren letztes Ziel die Unfreiheit des Volkes, alfo Unſitt⸗ 
lichkeit iſt. — Freilich bringen fih die Träger diefer unnatuͤrlichen Gewalt 
über freie mündige Wefen ihres Gleichen keineswegs eine folche frevelnde 
Abſicht zum Bewußtſein. Vielmehr werden fie oft aus guten oder aus ſen⸗ 
timentalen Regungen, aus der Sucht, im In= und Ausland Ruhm und 
Popularität zu gewinnen, beftimmt, den Schein freier Inftirutionen ihrem 
Lande zu geben. Sobald aber die Bürger Ernſt aus der Sache machen 
wollen, dann wird zurüdgenommen, unterdrüdt, die Zuſagen werden Fall: 
ſtricke, die Freiheitöfreunde merden die Opfer diefer Täufchungen. Die 
Gewalt, fo wie fie die Andern täuichte, taufcht fich ſelbſt, fieht in der 
ehrlichen Freiheitsbeftrebung frevelbafte Anmafung und Untreue. So ent: 
fteben ebenfo traurige ald gefährliche MWorttrüchigkeiten und gehäffige Re— 
actionen. 

So befhaffen ift das Werfen, fo ift die Stellung und Wirkfamteit 
einer abfoluten, dynaſtiſche Intereſſen verfechtenden Regierung. Betrachten 
wir, ehe auf die Gorruption der einzelnen ftaatlihen Inſtitutionen überge: 
gangen wird, die Kunftgriffe, momit man die Vernünftigfett einer ſolchen 
Megierung retten, und die Mittel, wodurch man fie unſchaͤdlich machen wollte. 

Abfelutiften, Knechtsſeelen wie Maurenbrecher menden in eriter Be: 
ziehung einen ganz abfonderlichen logifchen Kunftariff an, indem fie fügen: 
Weil ein Staat ohne Höchfte Gewalt und ohne Staatsoberhaupt nicht be: 
ftehen kann, deshalb muß die Soureränetät dem Staatsoberhaupt unmit- 
telbar zukommen, und diefes eine vom Volk unabhängige Stellung und Be: 


- Dynaftifche Intereſſen u. ſ. w. 208 


walt haben. (&. oben Ancillon.) Die grobe, meift abfichtliche Begriffes 
vertolerung , bie dieſem Schluffe zu Grunde liegt, iſt aber zu offenbar, als 
daß man ein Wort dagegen zu verlieren brauchte; jener Schluß ift ebenfo 
abfurd, als wollte man behaupten: weil jede Gemeinde einen Gemeinde 

haben muß, deshalb muß diefer von der Gemeinde unabhängig 
fein, von der Regierung ernannt werden, lebenslaͤnglich fein Amt inne haben 
und einer Controle durch bie Gemeinde entzogen fein. 

Staatsrechtslehrer von achtbarer Gefinnumg und ganze Nationen, wie 
England, verfuchten das Raͤthſel, daß trog der Unverleglichkeit und wirk⸗ 
lichen Souveränetät der höchften Regierungsgemwalt alle Regierungsacte unter 
dem Vernunftgeſetz und der rechtlichen Verantwortlichkeit fliehen und von 
dem fittlihen Geſammtwillen der Nation abhängig fein und daß jedes Uns 
recht rechtlich verfolgt werben muͤſſe, dadurch zu Iöfen, baß fie theoretifch 
die abfolute Souveränetät des Staatsoberhaupts confervirten, aber durch 
Teennung ober Theilung der Gewalten und die Gontrafignatur der Minifter 
und deren Derantwortlichkeit factiſch befchräntten. 

Es ift zwar nicht zu leugnen, daß jenes Soſtem der Vermittelung 
zwiſchen Abfolutismus und Wolksfouveränetät den Abfolutismus und dyna⸗ 
flifche Intereffen bis zur Unfchädlicheit eindämmen koͤnnte, fo weit es mög» 
ich wäre, die bee jenes Syſtems in ihrer ganzen Reinheit in’6 Leben tres 
ten zulafien. Dazu aber gehört eine firtliche Geſinnung und eine politifche 
Bildung des ganzen Volkes und eine foldye glüdliche und volllommne Aus⸗ 
bildung des ganzen Syſtems, die der Wirklichkeit wohl meift fremd find.- 
Werfe man zum Beweife hierfür einen Blick auf die beftehenden Staaten. 

England ſcheint faft nicht recht hierher zu gehören, denn England 
koͤnnte man anfehen ats eine ariftofratifche Mepubiif *). 

Aber Frankreich gehört hierher; Frankreich, das eigentliche Lund bes 
Repraͤſentativſyſtems, mag in feiner jegigen Lage den Beweis liefern von 
der Möglichkeit, auf der Grundlage des Beftchenden die Idee der conftitus 
tionellen Monarchie aufzuführen, fo daß diefe in Wahrheit erfprießliche Kol 
gen habe für das Boll. Trotz Preßfreiheit und Geſchwornengerichten exi⸗ 
flirt indeß wohl keine Regierung in Europa, die das Volk fo corrumpirt 
hätte, als ber im Jahr 1830 von einigen Sutgldubigen auf den Thron 
erhobene Louis Philipp, König der Franzoſen. Und worin liegt der Grund 
dieſes traurigen Zuftandes von Frankreich, morin ander liegt er, als in dem 


Einfluß der dynaſtiſchen Intereffen des Staatsoberhaupts, welche feine ganze’ 


innere und dußere Politik Leiten und bedingen? Nicht Frankreich und bas 
Wohl des fennzöfiichen Volkes iſt das legte Ziel der öffentlichen Thätigkeit, 
fondern das Wohl der regierenden Familie und das Intereſſe der Bour⸗ 
geoifie — das Volk ift Mittel für außer ihm liegende Zwecke und Abſich⸗ 


— ——— —— — 


*) Daß England auch als muſterhafte conſtitutionelle Monarchie betrachtet 
werden kann, in welcher die nicht durch die Verfaſſung, ſondern durch wiederholte 
Eroberungsgewalt begruͤndeten — aber durch die Verfaſſung und politiſche Frei⸗ 
heit unendlich gemilderten und uͤberwogenen — feudalariſtokratiſchen Verhaͤltniſſe 
täglich mehr auf friedlichem Wege beſiegt werden, daruͤber ſ. England und 
Staatsverfaffung. Anm. der Rebdact. 


r 





ein conſtitutieneller zu ſein, er: 
gm; —* —— hisc noch miete. unter Umſtaͤnden eins dynaſtiſche 


Selten 
VII., Ulfchbah, bie Stuarts, Wilhelm ber Oranier, ſelbſt Bears 1 





walten) anerkaunt HR und wahre un: Die mefents 
Freiheiten fehlen? e Staaten 

find Teine Repräfentatioftanten, —— Di nu weſentlich 

af dan Peincp der bier 


GBpiegeiſechtecci. - N 

Die Corruption der —— führt endlich auch die Berderöniß 8* 
uͤbtigen —*ã und ihrer Organe mit ſich. Im Afterſtaate find alle, 
auch die niederften Organe der Stantsgewalt vom Volke unabhängig, «ifo 
dem Wolke gegenüber abfolut und bilden zufammen eine Macht, bie, alle po» 
litiſchen Lebensäußerungen für ſich uſurpirend, das Volk für unmündig ers 
klaͤrt und in den hinterſten Winkeln bes Reichs den Willen einer unvolks⸗ 
thuͤmlichen Staatsgewalt zur Ausführung bringt. Die Beamtenfchaft im 
Afterftaate Hat nicht ihren Centralpunkt ins Volk und in der Verfaſſung, fon» 
dern ihren Anfang und Ausgang in ber Gnade des abfoluten Staatsober⸗ 
haupts und bildet fo die Bureaukratie, jene vielkoͤpfige Boa constrictor, 
weiche das Leben bes Volkes bis zum Erſticken zuſammenſchnuͤrt und an 
allen Gliedern laͤhmt. Nicht die Bürger felbft verwalten bier mit Abwech⸗ 
felung und ohne andern Lohn als den der Pflihterfüllung, der Wirkungs⸗ 
freude, bee Ehre und ber patriotifchen Dankbarkeit ihrer Mitbürger die 
Allen gemeinfamen Angelegenheiten. (Nur Schadloshaltung 
hoͤchſtens ift hier angemeffen.) Hier werden vielmehr bie Aemter als Gna⸗ 
dengefchente oder Lehen des Souveräns auf Lebensdauer mit großen Ein⸗ 
kuͤnften übertragen, die Beamten follen zu einer dem Volke gegenuͤberſtehen⸗ 
den Macht firirt werden. Das Amt ift kein Bürgeramt mehr, fondern ein 
Mittel für die unvolksthuͤmliche Staatsgewalt, ihre Diener bamit an ihr In⸗ 
tereſſe zu ketten. Die Wirkungen dieſes Verhaͤltniſſes ſind weſentlich fol⸗ 
gende: Bor Allem werden die Sunctionen ‚der Staatsbeamten zu einem 
Dandwert berabgeimürdigt ‚zu eine Kunft ‚ die bes Beamte erlernt, wie 


Dynaſtiſche Interefien u. |. w. 205 


jeber andere Handwerkomann au, um bamit feinen Lebensunterhalt zu 
verdienen. Die Organe der Staatsgewalt werden zu einer Berforgungsans 
Raft für eine gewiſſe Claſſe von Menſchen, die darin fidh und ihre Familien 

Man Emm deshalb füglicy behaupten, umter den Beumten des 
Ufterfinateß treibt der eine das Handwerk des Menfchenveructheilens, ein 
anderer bie Kunft des Drdnumgeunfrechterhaltens, ein Dritter die des 
GStenereinzichens u. ſ. w. 

Angenſcheinlich ift es daher, daß im Afterflaat alle Aemter bis zum 
nisderfien herab ihrem wahren und gefunden Begriffe vollſtaͤndig entfremdet 
werben, weil das Organ der hoͤchſten Gewalt corrumpict ifl. Jene Entfrems 
bung und Costuption befteht nämlich auch hier weientlidy darin, daß der 
Hauptzweck des wahren Staatsamts, die Vertretung ber Öffentlichen Ins 
tereſſen, vollfiändig verfchlungen wird von dem Privat: und Sonderinterefle 
bed jeweiligen „Donaſtiſcher oder eigener Egoismus iſt das cha⸗ 
rakteriſtiſche Merkmal abfolutiftifher Staatsbeamten und Söldlinge vom 
erſten bis zum niederfien herab”, fo fagt ein neuerer Schriftfleller. Und 
wer möchte es zu leugnen verſuchen, daß Privatrüdfichten und Privatinterefs 
fen leitendes Motiv und Hauptzwed für die Thaͤtigkeit der unvolkethuͤmli⸗ 
chen Beamten des Afterflants fein? Wer Eönnte es beſtreiten, daß im Afs 
terſtaate allermeift die öffentlichen Diener ihre publiciftiiche Stellung als ein 
Mittel benugen, um auf Koſten der Geſammtheit ſich und ihre Familien zu 
falviren oder im beſten Falle nicht ſowohl dem Vaterlande als bem Staates 
oberhaupte in feinem Kampf gegen Volksrechte, Volksfreude und Dr 
freunde treu zu dienen? Wer Lönnte aber auch die tiefe Torruption der 
—— der das — fen —— Rennen, Jagen und Ha⸗ 

Staatsaͤmtern orgung auf Koſten des Volks zu beobachten 
Gelegenheit hatts? ” 

3a fonft iſt es eine Ehre, Beamter zu fen, und die ſchoͤnſte 
Stellung — im Staate, aber ein Unterfchied iſt «8 auch Mir A roͤ⸗ 
miſchen Präter, zwiſchen einem engliſchen Friedensrichter und einem Bus 
reaukraten bes Afterſtaates, der ein publiciſtiſches Handwerk betreibt. 

Die tiefe Corruption des Afterſtaatsbeamtenſyſtems hat natuͤrlich auch 
den groͤßten Einfluß auf die Moralitaͤt dieſer Functionaͤre Wenn man bedenkt, 
daß alle Gewaltſtreiche und Rechtsverletzungen im Afterſtaate durch fie ausgeuͤbt 
werden muͤſſen, wenn man erwaͤgt, wie die ganze Eriftenz des Afterſiaats⸗ 
Beamten von feiner Befoldung, alfo unbedingt von dem Befige feines Am⸗ 
tes, deſſen Belegung aber von der hoͤchſten Gewalt abhängt, fo wird man, 
dieſes Verhältnig in Zufammenhang gebracht mit der Denkungsart gewoͤhn⸗ 
licher Menſchen, des Schluffes ſich nicht erwehren Binnen, daß im Afterſtaate 
bie Beamten vom Himmel herabgeftiegene Engel fein müßten, um nicht 
corrumpirt werden zu koͤnnen und Beine unfittliche Wirkſamkeit zu äußern. 
Ich will Feine Beiſpiele anführen, odiosa sunt, aber wahrhaftig, Sanct 
au 5 febft , Sm er ein fo —— Staatsamt annaͤhme, würde wohl 
nur ſehr wenige Geſinnungsverwandte, hoͤchſtens vielleicht einige falſche Chri⸗ 
ſten auf feiner Seite erblicken. ⸗ 3 faſſche Chri 


Wire 
ſche 


Bon pocht frellich Seitent der Herren Diener bes Afterſtaats gar 
auf bie Unabhängigkeit ihrer Befiunung und beliche bie Anhänglichkeit 
Brodherren nur für das Refultat ber redlichſten Ueberzeugung and 


| | ſter⸗ 
— a na me 


fter 
eine Menge von Dienfimannen nöthig, deren ganze Thaͤtigkeit im Age 
MN en befteht. So erhebt ſich über der [malen Kiuft 


chaniſchen 
der oͤffentlichen Geſchaͤfte eine ungeheure pyramidaliſch zugeſpitzte Bruͤcke in 


hie Hoͤhe, nur um das vorraͤthige und ſupernumeraͤre Beamtenmaterial zu 
verwenden, während bie Einfachheit der Functionen im Staate durch einen 
gewöhnlichen Steg befriedigt würde. 
Die Ausfiht, auf leichte und wenig anftrengende Weife fein Brod zu 
verdienen; die Lüfternheit nach einem Antheil an der Staatsgewalt, die Ges 
wißheit, im Beamtenfland eine Hagelverfiherungegefellihaft gegen die Ge⸗ 
witter und das Rifieo zu finden, die das Privatleben und Privatgefchäfte 
bedrohen, endlich das Bewußtſein, nach einer gewiffen Anzahl in Ruhe und 
Unterthänigkeit verlebter Jahre auf Staatskoften ausruhen zu dürfen, alle 
diefe Reize locken ferner alljährlich eine große Anzahl Recruten unter die 
Reihen des „figenden Beamtenheeres.“ Daß darunter ſtets eine Anzahl 
guter Köpfe und tuͤchtiger Kräfte fich befinde, laͤßt fich nicht leugnen, ebenfo 
menig aber auch, daß dadurch der Geſammtheit ein fehr empfindlicher Ausfall 
an Talenten und tüchtigen Charakteren entfteht, die ſich auf nügliche Be⸗ 
ſchaͤftigungen verlegt und als tüchtige Bürger dem Vaterland genügt hätten, 
während fie fo Ihre Kräfte im Dienſte einer unfittlichen Macht aufopfern 
muͤſſen 


Endlich entſteht durch alles dies aus dem Afterbeamtenthum eine 
Staatsprieſterkaſte, eine Hierarchie, die im Dienfte einer abfoluten Gewalt 
dem Wolle gegenüberftchend, durch ihre ganze Stellung und in ihrem eigenen 
Intereſſe darauf angeiwiefen If, alle Freiheit und Selbſtſtaͤndigkeit im Volke 


Det Unftand nämlich, daß bie Beawien bes Afterſtaates .. 
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oder Schwurgerichte find fe weſentliche Merkmale dee 
‚ daß fie als Maßſtab für die Volkefreiheit gelten ianın. Eden dee 
kann fie aber auch der Afterſtaat nicht drauchen. Die adjelute Staate 
gewalt hat bekanntlich ibre Privatzieede und Privatintereffen und kommt in 
unvdermeidlichen Gegenſatz gegen Volksrecht und Volkefreideit. ie muß dee⸗ 
halb auch die Gerichte ihrem urfprünglicyen, wahren, dem Volkezwecke ent⸗ 
fremden, um fie ald Werkzeuge für ihre Abſichten miſdrauchen zu können. 
Unabhängige Volksrichter würden fehr wenige politifche Proceſſe verurthei⸗ 
len, deshalb corrumpirt die abfolute Staatsgewalt die Berichte, laͤßt das 
Recht durch ihre von ihr abhängigen und befoldeten Mechtfprecher bandhuden 
und hebt Diefe auf Jeden, der unfchädlich gemacht werden ſol. 


“= Deffientlichleit ber Gerichtsverhanblungen wuͤrde bie üdlolute Staate⸗ 
gewalt wohl ebenfo ſehr geniren als Geſchwornengerichte, deshalb bildet 
fie die etwa vorhandenen wirklich unabhaͤngigen Gerichte dem Weſen nach 
in abhängige, auserwaͤhlte Commiſſionen, bannt fie die Gerechtigkeit In 
- geheime Amtsſtuben und Actenflöße und läßt ihre Gefangenen In den Kır- 
Lern einer geheimen Inquifition verſchmachten, bie fie muͤrb⸗ geworden find 
und geflehen, ober durch Zortur und Qualen aller Art Geſundheit oder gar 


SH 


g 











m ; 
bie Bebenälufl verloren haben, und dechalb einem Thinepfiichen Ted 
gene Hand vorziehen.” — 
: ua Gtaate find ferner die Geſetze ber 

und ber Öffentlichen Biecal‘, dienen aber fonfk lediglich keinem andern Zwecke. 
Yan Aftoeftant find auch fie durch bie abfelmte 
bone fie threm mathrlichen Binerke entfeemdst und als Budtruchen fr 
a a —— 

„ wie en Beiten ifcher Imrperntormbef Gitroflategerien 
für Majeftätsbeleidigung lebender und verſtorbener ad ‚ für Hochwer⸗ 





8 


Herrſcher 
und Verſuch zu Hochverrathsverſuch, für A und 
vergnügen, für frechen Tadel * 2 Yet, — Annteh —23** 


dann auch ſo gelehrig und mit ſolchem — Den Necht 
erlangen, 

ohne ſonderliche Gewiſſensſcrupel z. B. Im elnem Jahre mehr —2 

leidigungen abſtrafen als Diebftähle, wie ſolches Laut amtlichen Notizen jängft 

in einem — dem Scheine und dem Ramen nach conſtitutionellen Staat⸗ 


gegen das ſincere und bie Knute als eins rechtmaͤßige betrachten, fi 
man ihnen begrelflich macht, daß ⸗es eine poſitive Knute ſei. Wahrhaf⸗ 
tig, dieſe Achtung vor dem poſitiven Recht, auch wenn es noch ſo corrumpirt 
und heillos ſein ſollte, auch wenn es der Rechtsidee noch ſo ſehr widerſpraͤche, 
fie beweift am Schlagendſten den tiefen Rechtsſinn und den moraliſchen 
Kern, aber auch bie politifche Unmuͤndigkeit einer Nation. 

Wie die Berichte, fo find auch die Verwaltungs« und Polizeibehörs 
den im Afterflante corrumpirt. Der Rechts⸗Staat hat natürlich auch feine 
Polizei, aber eine volksthuͤmliche, die nichts Anderes ift als das Erecutis 
onsorgan theils für die Gerichte, theils für das öffentliche Sittlichkeits- und 
Scyidtichksitsgefühl, | 

Niemand wird daher einer ſolchen Polizei ihre Berechtigung abfprechen. 
Ganz anders aber verhält es ſich mit der Polizei des Afterſtaates. Hier iſt fie 
das naͤchſte und eigentlichfte Organ der Gewaltſtreiche und befpotifchen Will: 
tür. „Ein Polizeibeamter des Afterſtaates ift ein Pafcha mit. drei Roßſchwei⸗ 
fen”, welchem die perfönliche Freiheit des Bürgers und deſſen Geldbeutel 
bis zu einem gewiffen Strafmaß rettungslos zur beliebigen Dispofition in 
die Hände gegeben ift, um unter der Firma der abenteuerlichflen und an den 
Haaren herbeigezogenen Strafbeſtimmungen mißliebige Perfonen zu zuͤch⸗ 
tigen. Ein neuerer Schriftſteller ſagt deshalb mit vollem Recht: „Die, 
Polizei — im engeren und weiteren Sinne des Wortes — macht das Weſen 
des Abſolutismus aus, fo ſehr, daß abſolutiſtiſche Staatsſormen fogar den 
Namen davon bekommen und als Polizeiftanten gebrandmarkt werden, zum 
Beichen, daß Willkuͤr, heimliche Intrigue, Inquifition und Verfolgung 

Fa 


Dynaſtiſche Interefien u. ſ. w. 209 


wie offene Brutalität obsrfles Princip, Entmünbigung und Knechtung des 
Bolks ihr vornehmfler Zweck und Erfolg fei. — Ja die Polizei heißt, in's 
Deutſche überfept, nichts Anderes ale Willkür, Gewalt. Ste bildet eine 
vom Wolle unabhängige, nicht einmal durch gefegliche Sormen eingefchränkte, 
fondern Alles Lediglich auf den Willen des Vorgefegten zurücführende Ges 
walt. Die Polizei des Abfolutismus ift die fluchmwürdigfte Anftalt, eine 
wahre Geißel der Völker, die unter ihr leiden. Sie ift das eigentliche 
Drgan ber Rechtsunterdrädung und Brutalität. Alle Gewaltmaßregeln, 
alle Schandthaten und Rechtöverlesungen werben zunaͤchſt von der Polizei 
ausgeübt. Sie ift um jo furchtbarer, als ihrem Willen, ihrer Entfcheidung 
augenblicklich die Verwirklichung nachfolgt. — — 


Die Polizei iſt e8 vornehmlich, welche bie bürgerliche Freiheit vernichtet. 
Wie zäher Leim hängen ſich die taufend und aber taufend Polizeiftantsverords 
numgen an das Öffentliche Leben, wie der fchubtiefe Sand der Ukermark hins 
bern die unzähligen Polizeidictate den Bürger an der freien Bewegung. Wie 
ein Eifenbahngeleis reihen fich die verfchiedenen Pollzeiverordnungen an ein» 
anber und ſchreiben bem bürgerlichen Leben feinen Gang vor. Wie ber gifs 
tige Sandflaub des Samum bringt die Polizel in alle Räume und VBerhältniffe 
des bürgerlichen Lebens ein, tödtet alles Leben und jegliche Freiheit, Selbſt⸗ 
fländigkeit und Muͤndigkeit des Wolle. Keinen Schritt kannſt du thun, 
obne über eine Polizeiverordnung zu ftolpern. Die Polizei bildet eine große 
Bormundfchaftsbehärbe, bie eine ganze Nation entmündigt und zu einem 
Haufen unmuͤndiger Schultnaben berabwürdiat. Alles gefchieht mit hoher 
obrigkeitlicher Bewilligung und Erlaubniß. Nicht eine Iffentlicdye Thaͤtig⸗ 
Leit ohne Polizei und Gensdarmen. Die Polizei regulirt das Zanzen, verfügt 
über das Tabakrauchen, beauffüchtigt den Wirthshausbeſuch, ordnet Volks⸗ 
fefte, felbft den Gottesdienſt, 3.8. den der Deutſch⸗Katholiken und Licht» 
freunde, kurz, pflanzt eine Maſſe von Geßlershüten auf, um das Volt an 
unbedingten Gehorfam zu gewöhnen” — und alles Dies gefchieht unter dem 
Vorwand, die Ordnung aufrecht zu erhalten, unb mit jenem perfiden 
Kunſtgriff, dee die corrumpirte Inflitution für die gefunde und unentweihte 
ausgiebt. 


Soll ich endlich die Eorruption des Militärs noch berühren? In dies 
fer Beziehung wenigftens glaube ich der Öffentlichen Meinung nicht nachhels 
fen zu muͤſſen. Die Helllofigkeit eines Syſtems, welches die Mehrheit des 
Volkes entwaffnet, um fie durch eine Anzahl Bajonnette in den Händen willen» 
loſer Mafchinen bemachen zu laſſen, eines Syſtems, das ſtatt ber allgemeinen 
Landwehr, einen befondern Zrabantenftand bildet, der die angebliche Vaters 
_ Iandevertheidigung als Profeffion treibt, in Wahrheit aber als Spielzeug 

und.Zuchtruthe in die Hände eines Menſchen gegeben Ift und um dem Volke 
zu zeigen, wie wohlfeil fein Blut iſt, und die allgemeine Furcht zu erhalten 
und vor $reiheit und Freiheitsfreunden abzuſchrecken, gelegentlich das Leben 
der friedlichen Bürger bedroht — die Heillofigkeit eines ſolchen Syſtems ift 
nachgerade zu allgemein anerkannt, als daß fie einer näheren Beleuchtung bes 


te. 
Suppl. 3. Staatelex. II. 14 


210 Dimoft Sapieefich nf. — Cissgiüoffeniiaft 
' , und in die Gtaatöges 


der 
Trotz dem aber wagt man es zuweilen in folchen Afterflanten von Frei⸗ 

heit ber politifchen Bkeinung zu ſprochen und nimmt ſich herauf, entweder 

mit eine kaum ober "aber aus Unkenntuiß 


’ | ber 

‚ für bie Anhänger dieſes en, alſo umfltttichen polktifchen 

Bas! für Hs unfentihen —— 
gewalt bisfelbe Achtung, Beltung, Freihelt 





| 


‚ daß bie 
—5—* ber werfe einen Blick auf den gegenwärtigen Zuſtaud von 
„ ber betrachte bie Urkantone, wo bie demokratiſchſten Staatefermen 


für Sonderintereſſen ausgebeutet wird. 

Die Form kann nimmermehr den Geiſt erfegen und wenn in einer Res 
publi der hehre Geiſt der Freiheit und eine ehrenhafte Bürgergefinnung 
noch nicht erwacht oder wieder eingefchlafen iſt, dann erhebt fi in Mitten 
des Volkes eine Heillofe Macht , welche die Inſtitutionen des Staats zur 
Erreihung ihrer Privatzwecke und Peivatinterefien mißbraudt und das 
Volk feiner Selbſtſtaͤndigkeit und Freiheit beraubt. Diefe Macht aber, ber 
Abfolutismus iſt gleich ſchaͤndlich und verderblich, fei er nun auf dem 
Haupte eines Dynaſten concentrirt ober von einigen privilegirten Familien 
vertreten. Wo aber diefe unvolksthuͤmliche Macht ein Volk Enechtet, da 
fol fie bekaͤmpft und der Unterfchied zwifchen ihr und ber aͤchten wahren 
Staatsgewalt aufgedeckt werben. Abt. 

Eidsgenoffenfhaft. (Zu ©. 620 nah dem erſten Abfag.) 
Die Schweizer Eidgenofienfchaft ſchwankt zwiſchen einem voͤlkerrechtli⸗ 
chen Staatenbund und einem ſtaatsrechtlichen Bundesſtaat und es 
fehlte ihr bis jetzt die politiſche Bildung und Kraft, die Verfaſſung eines 
wahren Bundesſtaates zu erwerben, welche ihr vollends in den heutigen 
europaͤiſchen Verhaͤltniſſen ſchon zu ihrer Selbfterhaltung voͤllig unentbehr: 
lich iſ. S. oben Bund und unten Schweiz, neurfter Zuſtand. 

(Zu S. 622 n. dem zweiten Abſatz.) Das doppelte Beduͤrfniß, das einer 
rechtsgleichen freien Theilnahme aller Schwelserbürger an dem allgemei⸗ 

nen voterländifchen Gemeinweſen, und das einer Erhaltung und Vertretung 


Eigenthum. 211 


ber verſchiebenen Stasten und Regierungen und ihrer befonberen Rechte 
umb Interefien läßt fich nimmer anders befriedigen als auf dem natur» 
gemäßen Wege, den ber norbamerilanifche Bundesſtaat mit fo 
glorreichen Erfolgen einſchlug, indem er nämlich neben einem Senat, ber, 
fo wie die jegige Tagſctzung der Schweiz, jede Regiertiig ohne Rüdficht auf 
die Bevoͤlkerung des Kantons durch einen ober zwei Abgeordnete vertritt, ein 
nad) ber Bevölkerung gewähltes Repräfentantenhaus zum nationalen 
Congreß beruft und vereinigt. S. Welder, Ueber Bundesverfafs 
fung und Bundesreform zundhfi in Beziehung auf bie 
Schweiz Leipzig und Stuttgart, 3. Scheible, 1834. 

(3u ©. 628 ans Ende.) Wir haben die treffliche Darftellung des ehr⸗ 
würdigen Zſchokke abſichtlich unverändert wiedergegeben, und werben die ſeit 
1837 eingetretenen Veränderungen und weiteren Entwidelungen, foweit nicht 
die Artikel über einzelne Kantone, wie Luzern u. f. w. fie darftellen, in 
einem befondern Artikel: Schweiz, neuefter Zuftand, geben. 

C. Welder. 

Eigenthum. Bekanntlich find feit den zehn Jahren, vor wel: 
hen der teeffliche Rotted den voranſtehenden Artikel fchrieb, die Bes 
fahren ber ſtets wachſenden Ungleichheit in den Eigenthumsverhältniffen, 
wie die Anfeindungen und Angriffe gegen das Eigenthbum von Seiten ber 
Befitzloſen und ihrer Anmälte noch weit bebrohlicyer geworden. Sie bebürs 
fen ficher der hoͤchſten Aufmerkſamkeit und Borforge der Staatsmaͤnner. Aus 
Ger dem Artikel Communismus werden die Artikel Socialismus 
und Rechtsſyſtem die hierdurch entflandenen, zum Theil neuen poll 
tifchen Aufgaben behandeln. Vorlaͤufig fei uns nur erlaubt, zwei Grund» 
gedanken in Beziehung auf diefe Lehre auszufprechen. inerfeits verthets 
bigen wir gegen communiftifche Theorien bie Helligkeit und Nothwendig⸗ 
Leit feſten vertheilten Privateigenthums. — Es iſt — und dieſes veranſchau⸗ 
lichen ia felbft die communiftifchen Theorien, die ja alle zu einem ſchreck⸗ 
lichen Defpotismus führen — nothwendig nicht bloß für die Cultur, fon- 
bern vor Allem auch für die Freiheit. Es iſt gerade fo der rechtliche Leib 
für Die freie juriſtiſche Perſoͤnlichkeit, wie der menfchliche Körper der Leib 
und Träger für die freie Seele und Seelenthaͤtigkeit iſt. Es wird das Eis 
genthum ein Theil der juriftifchen Perföntichkeit, welches fchon ber Sprach⸗ 
gebrauch mit den Worten mein, oder das Haus, das Land bes Titius aus⸗ 
druͤckt. Andersrfeits waren wir von jeher weit entfernt, die Eigenthuntter⸗ 
werbung, mit umferer flachen modernen Rechtstheorie, faft nur vom Zufall 
oder von zufälligen formellen Bedingungen, vielleicht von materiell ganz uns 
gerechten und wucheriſchem Erwerben abhängig zu machen. Wir forderten 
vielmehr als Grundlage und die fortdbauernde Erhaltung eme materis 
ell gerechte, eine je nach dem durch Verdienſt um bie allge» 
meine Cultur legitimirten und juriftifh bewiefenen Bes 
bürfniß verhältnigmäßig gleiche Eigenthumsvertheilung 
und Eigentbumsgewährung für alle Familiknvaͤter, eine Verthei⸗ 
lung und Erhaltung mit dem möglichften Ausichluffe wucherifcher und un: 
gerechter Erwerbungen ober Verletzungen bed Ermordmn und ber gleichen 

% 


213 | Einkommen. 


Erwerbungsmöglichkeit, und zwar aller Verlegungen durch Privatwilltür 
wie durch ungerechte Öffentliche Maßregeln, durch Erb» und Steuergeſetze, 
Privilegien u. ſ. w. Die angegebenen Artikel werden nachwelfen, daß von 
die ſen Grundideen bie Römer und noch das claffifchye römifche Hecht im ber 
beſſeren Zeit ausgingen. Für die Römer machte freilich die ungerechte Skla⸗ 
verei und Rechtloſigkeit der Eroberten die Gerechtigkeit und Sreiheit unter 
den Staatsbürgern leichter ; aber fie konnten dennody nur unvolllommen unb 
vorübergehend ihre herrlichen Rechtsgrundfäge durchführen, weil die Krank: 
heit des Unrechts auch den früher gefunden Theil des Staatskoͤrpers ergriff. 
Bei uns aber beruht jegt die Rettung der Eultur und die Duchführung defs 
fen, was allein wahr und gerecht und daher auch fuͤr Beſſere 
verfuͤhre riſch in den communiſtiſchen Theorien iſt, in eben jenen unklar 
aufgefaßten ewigen Grundideen der Gerechtigkeit und der gerechten Vermoͤ⸗ 
genstheorie des claſſiſchen roͤmiſchen Rechts. Es beruht die einzige Siche⸗ 
rung gegen den Vandalismus und den Deſpotismus, womit uns die fal⸗ 
ſchen Zuthaten, die raͤuberiſchen oder nivelliſtiſchen Geluͤſte des heutigen 
Communismus bedrohen, in einer erweiterten und unſeren heutigen Verhaͤlt⸗ 
niſſen angepaßten Duchführung jener ewigen Srundfäge on Serechtigteit 
elder. 
Einkommen. Bon allen birecten Steuern, welche von dem 
Befig eines rentirenden Vermögens oder von der Ausübung eines Berufes 
(Wiffenfhaft, Amt, Kunft, Gewerbe, Handel) erhoben werben, läßt ſich 
behaupten und wird behauptet, daß fir Ein kom men ſteuern fein. Auss 
genommen davon find die Kopffleuern, unter welchem Namen fie auch 
vorfommen mögen, und die von dem Befig eines nicht rentirenden Vermoͤ⸗ 
gens geforderten Abgaben. Kine allgemeine Einfommenfteuer , als ein= 
zige Abgabe, mit Aufhebung aller übrigen, mürde unter den gegenwaͤrti⸗ 
gen Verhältniffen der europdijchen Staaten wohl nirgends den Bedarf für 
Öffentliche Ausgaben decken. Daher find faft überall die einzelnen Zweige 
des Einfommens befonders befteuert und außerdem noch diejenigen Genuß: 
mittel und Bedürfniffe, deren Verbrauch jo groß und fo allgemein ift, daß 
die Abgabe einen namhaften Ertrag abwirft, wie Salz, Bier, Wein, 
Branntwein und Fleifh. Die indirecten Steuern madıen einen um fo 
größeren Theil des Staatseinfommens aus, je mehr ſich die gewerbliche und 
Handels: Thätigkeit entwidelt, alfo auch die Bevoͤlkerung zunimmt, melde 
fih nicht mehr auf eigenem Boden oder ald Pächter oder Tagloͤhner von der 
Feldarbeit ausfchließlic ernährt und außer den eigenen Erzeugniffen wenig 
zu verbrauchen hat, fondern zur Induftrie übergeht oder im Handel und 
Transportweſen Beichäftigung findet. Je größer und mannidjfaltiger der 
Tauſchverkehr im Innern und im auswärtigen Handel wird, defto höher 
fteigt der Ertrag der indirecten Abgaben. Die Beftrebungen der gegenmwär: 
tigen Zeit für Verbefferungen im Steuerwefen find hauptfächlicy auf Verein: 
fahung und gerechte Vertheilung der Öffentlichen Laften gerichtet, fo wie 
auf möglichfte Befatigung der mit einem vermwidelten Abgabenmwefen vers 
bundenen Hemmungen im Betrieb der Gewerbe, im Verkehr und der freien 
Bewegung überhaupt. In all diefen Beziehungen ift Vieles zu thun, und 


4a M 


Eintommen. 218 


zjemiih allgemein ift die Wahrnehmung, daß Diejenigen,’ welche großes 
Bermögen befigen, hohes Einkommen beziehen, alfo auch den Schug und 
die Vortheile im Staatsverbande vorzugsweife in Anfpruch nehmen, nicht 
ia Verhaͤltniß zu den Leiftungen der weniger Bemittelten befteuert find. 
Dies gilt fowohl von den directen Steuern, wo ber Mittelfland, nament⸗ 
lich der Handwerker am flärkiten belaftet iſt, als bei ben indirecten Steuern, . 
wo die nothwendigſten Bebürfniffe fo mie diejenigen Genußmittel, auf 
welche Jeder Anfprudy zu haben glaubt, vorzugsweiſe vor den feineren Ges 
sußmitteln des Reichen beigezogen werben. Es giebt ſich daher auch viel« 
fach das Begehren kund, einen größern Theil des Steuerbebarfs auf das Eins 
kommen und zwar im Verhältniß zu deffen Größe zu legen. Daher 3. B. das 
Berlangen preußiſcher Städte, die Mahl: und Schlachtfteuer gegen bie 
Glaffenfleuer zu vertaufhen, um eine für die Armen hauptfächlich druͤckend⸗ 
Loft auf das Einkommen der Wohlhabenden überzumdälzen ; baher daB Vers 
Yangen nad) einer Gapitalfteuer in Baden, wo die Zinsrente der einzige bis jegt 
noch fleuerfreie Einkommenszweig iſt, während für andere Zweige fogar eine 
progreffive Einkommenfteuer, die Claſſenſteuer, befteht. Und immer mehr 
verliert fich die Meinung, daß eine gerechte Befteuerung des Einkommens der 
Rechen nur in Zeiten der Noth als vorubergehendes Hilfsmittel am Plage ſei. 

Das größte Beifpiel einer Ueberwaͤlzung von Abgaben, welche die Ars 
meren Claſſen drüdten, auf die Reichen, welche fie ohne Belaͤſtigung zu tra» 
gen vermögen, hat in unferen Tagen Sir Robert Peel gegeben. Angeblich 
um den Ueberfchuß ber Staatsausgaben über die Einnahmen zu decken, führte 
er al& vorübergehende Abgabe die Einfommenfteuer ein, welche früher nur in 
Kriegszeiten beftanden hatte und mit dem eintretenden Frieden wieder vers 
ſchwand. Allein allmälig bob er eine Reihe Läftiger Accisgattungen ganz . 
auf, fegte andere herab, erließ oder ermäßigte die Eingangszoͤlle von etwa 
800 Artikeln, fo daß jest, da das Gleichgewicht in den Finanzen Längft wie 
der hergeſtellt ift, die arbeitende Claſſe ſich vielfach erleichtert fieht, die Ein⸗ 
kommenſteuer aber eine unentbehrliche, ftändige Hilfsquelle des Schages ge 
worden ifl. In dem legten Kinanzjiahre (1846) zeigte ſich ein Ueberſchuß 
ber Einnahmen von mehr ald 1 Million Pfd. Sterling, wovon, wie dies feit der 
Abfchaffung des sinking fund üblicdy geworden, ein Viertheil auf die Vers 
minderung ber Staatefchuld verwendet wurde ; allein Niemand dachte an 
eine Aufhebung oder Ermäßigung der Einfommenfteuer. 

Den Gemeinden, namentlich den Städten, welche ihren Aufwand 
nicht aus dem Ertrage des eigenen Vermögens beftreiten können, fondern zu 
Umlagen greifen müffen und biefelben nach dem Muſter des Staates, theils 
direct, theils indirect (als Octroi) erheben, wäre in vielen Sällen zu rathen, 
ftatt der verderblichen Detrois das Eintommen in Anſpruch zunehmen. Dies 
geſchieht 3.3. in den freien Städten und könnte auch anderwärts mit Erfolg 
geſchehen, da bie Verhältniffe des Einzelnen den Mitbürgern ziemlich befannt 
find, alfo auch zu niedere Angaben berichtigt werden Einnen. Theuere Zeis 
ten wie die gegenmärtige jind befonder& geeignet, Verbefferungen in der 
Befleuerung der Gemeinden zu fördern. | 

Karl Mathy. 


b 5 


FE. Eiſenbahnen und Game  Cifenbahn, babenfche. 
" Eifenbahnen und Gandie. (Bu S. 784. Zelle 10 von oben.) 
wurbe biefer Cancl — Lubwigscanal genannt — In neun 
Jehren vollendet und iſt berelts vollſtaͤndig für die Schifffahrt eröffnet: Der 
Koftnkberfchlag des großen Werkes, welches ſchen Kari der Große bes " 
‚ der gegenwärtige König von Balern aber ausführte, hetrug 
, wurde aber bis zum Doppelten uͤberſtlegen. 
Fu ©. 768 Bel 10». 0 ) Bekanntlich iR nich den) Holfkei= 
niſchen Egoismus, fonden durch daͤniſchen, Ebert, dieſes chrems 
—— bee Danfa, auf ‚eine empoͤrende Wolfe von allen 
en en ausgeſchloſſen worden. Die beautragte 
g zwiſchen Hamburg und Lübeck wurde 1836 von Daͤne⸗ 
et verhindert, die von Kiel nach Lüb eck ebenfo 1844 und — die 
24 — hen auf die Hamburg⸗ Berliner Bahn (und nach 
5** Es iſt zu Hoffen, daß ber Bund auf Die in dieſem Herbſt 
hen 






ma 
von 
) 
werde Lübels fo grauſamer Bernichtung des Wohlſtandes 
*7 dentſchen Staates durch das fremde Daͤnemark geſteuert werde und _ 
e Bänder mt frem- 
den Furſten Inımer lebhafter erkannt und gefühlt werde 
& Bilder. 
außerorbentli⸗ 


Eifenbahn, badenfde Baden hat auf dem 


chen Sandtage 1858 eine Eifenbahn von feiner nördlichen bis zur füblichen 






Ging auf Staattkoſten beſchlofſen. Dieſelbe iſt auch von ber nördlichen 
Grenze, an welcher fls-fich mit der ebenfalls eröffneten Nain⸗Neckateiſenbahn 
von Frankfurt und Darmſtadt verbindet, feit länger als Sahresfrift bereits 


bis Freiburg und in ihren beiden Seitenbahnm nah Kehl und Baden 


dem Betrieb übergeben. Der Bau iſt fehr ſolid, zum Theil, wie die Stände 
flogen, etwas luxurioͤs. Bel allem Verdienſt der Ausführung find doch 
vorzüglich folgende Punkte wiederholt in der Kammer beklagt worden: 

1) Die zu langfame Ausführung. Wollte aud) die Regie 
rung nicht fchon fünf Fahre früher den ihr durch fremde Handlungshäufer 
vermuttelft des Abgeordneten Welder auf dem Landtag 1833 gemadıten 
Antrag zur alsbaldigen Ausführung ber Bahn durch eine Privatgefeilfchaft 
annehmen, fo mußte fie doch die bei dem Gebanken an eine Baſel⸗Straß⸗ 
burger Bahn auf der linken Mheinfeite unter dem Minifterium Winter 
1838 befchlofiene Staatseifenbahn alsbald, nicht blos im Norden, fondern 
gleichzeitig im Süden In Arbeit nehmen taffen. Dann war die Concurrenz⸗ 
bahn von einer Privatgefellfchaft auf der linken Seite entfchieben unmöglich). 
Ste fand nur Actienzeichner durch den hartnädig verbreiteten Glauben, Bas 
den baue nicht weiter als bis zul ihrem Anfchluß nady Straßburg. Und im 
der That fchien unter dem Miniftertum Blittersdorf jahrelang biefer un» 
glaubliche Gedanke das Miniſterium zu beherefchen, bis endlich der immer 
mehr erwachte Volksunmuth und der Sieg der Liberalen in den Wahlen ben 
Bau In der oberen Landesgegenb-beginnen machte. Außer der foldyergeftalt 
unnöthig geförderten Concuerenzbahn auf ber linken Rheinfelte, außer ber 
Aufnahme des franzoͤſiſchen Bahnhofes in die Stadt Baſel, welche dieſes fo 
gern durch rechtzeitige Verbindung mit der badifchen Bahn umgehen wollte, 


Eifenbahn, babenfche. 216 


entſtand fo auch ber große Nachtheil, daß alle bereits verwendeten Millionen 
3* viele Jahre Länger ohne vollen Zinsertrag im Boden liegen und daß bis 

Vollendung der badiſchen Bahn Perſonen und Sachen, die von Bafel 
2*8* und von Norden jenſeits Straßburg und Offenburg nach Baſel 
geben, die franzöfiiche Bahn wählen und natürlich felbft die fertige badifche 
Strecke von Kreiburg bis Kehl nicht benugen können. Abgefehen von betruͤb⸗ 
ten geheimeren Gründen, welche bei dieſem Fehler mitwirkten, ſieht man body 
auch hier wieder einen eigenthüämlichen neudeutſchen Mangel an hinläng- 
licher muthiger Entfchlofienheit und Raſchheit in Ausführung heilfamer 
Maßregeln. Stets will man das an ſich Vortheilhafte nur gezwungen unters 
nehmen — fo wie die ganze Eifenbahn erſt nad) dem auf dem linken Rhein» . 
ufer entflandenen Project. — Aber audy eine rafche, Eräftige, confequente 
Ausführung if nie, wie in freien Staaten gegen Intriguen, Bedenklichkei⸗ 
ten, Eigenwilligkeiten einzelner Beamten gefichert 

2) Die Wahl des von den übrigen deutfchen Eifenbahnen abweichenden 
breiten Spurgeleifes. 

3) Das unglüdtiche Seitwärtslaffen der erften Hanbelsflabt des Landes 
bei der Hortfegung det Bahn von Heidelberg nach Norden. 

Auf dem legten Landtage wurde nad) langem Kampfe eine Gonceffion an 
eine Zuricher Geſellſchaft für den Bau von Waldshut bis an die badifche Bahn 
ertheilt, auch einer etwa ſich bildenden Actiengefelfhaft zum Bau einer Eis 
fenbahn von Offenburg durch das Kinzigthal nach Conſtanz und 
dem Bodenfee, fowie zum Anfchluß an die würtembergifche Bahn an ben 

Bodenſee gefeglich die Eonceffion unter günftigen Bedingungen angeboten. 
Ebenſo wurde auch, nur unter etwas weniger günfligen Bedingungen, einer 
etwaigen Actiengefellfichaft für eine Bahn von Karlsruhe nah Pforzs 
beim und von da zum Anfchluß an eine würtembergifhe Bahn nad Stutt⸗ 
gart eine gefegliche Conceffion im Voraus gegeben. Ueber die Verbands 
Iungen in Beiehung auf diefe Bahn eiferten ſchlecht unterrichtete wuͤrtem⸗ 
bergifche Blätter, als hätten die badifchen Abgeordneten, aus kleinlichem 
Sonberintereffe, das große nationale Interefje aller deutſchen Bruderftämme 
und ihrer moͤglichſt leichten Verbindung mit einander verlegen mögen. Doch 
muß man anerfennend erwähnen, daß ein beſſer unterrichtetes wuͤrtember⸗ 
gifches Blatt erklärte, die wuͤrtembergiſchen Stände würden in ähnlichem 
Halle ganz ebenfo wie die badifchen gehandelt haben. In der That fiel «0 
auch keinem Badner ein, unſern wärtembergifchen Bruderſtamm verlegen 
und die Verbindung mit ihm nicht zu wollen. Beſchloſſen wir ja ſchon 
auf dem vorigen Landtage, obgleich die Wuͤrtemberger ſo lange alle Eiſen⸗ 
bahnbauten unguͤnſtig anſahen und ſoweit möglich zuruͤckzuhalten fuchten und 
deshalb auch jetzt noch ſo weit mit ihren Eiſenbahnen im Ruͤckſtande find, daß 
fie Baden noch lange nicht berühren werden, dennoch foͤrmlich einen Anſchluß 
unferer Bahn an die zukünftige würtembergifche bei Pforzheim. Diefen Bes 
ſchluß erneuerten wir jegt mit einer förmlichen gefeglihen Conceffionsertheis 
Iung und forgten duch eine ſolche auch für ben Anfchluß In der Seegegend. 
Daß wir aber in Beziehung auf Wahl der Bahnrichtungen und die größere 
Beeilung unferer verfchiebenen Bauplane und die dazu dienliche groͤßere Bei⸗ 





eine Aber Dtfenburn, Im ben Wobrufer führen. will 
wird jen⸗ erſte Bahn baum. Kr Waben aber und zunaͤchſt für feinen 
Schwarzwald und oberen Landestheil IfE eine Bahn von Offenburg vun 


gefeitfi 
den konnte, fo war es eine weientliche Pflicht ber Stände, den offenbaren Ruin 
eines großen Landestheiles zu verhindern und ſoweit möglich dahin zu wirken, 
daß, ehe Würtemberg ſchon mit der badiſchen Eifenbahn durch unfere Mits 
wirkung verbunden, feine Concurrenzbahn von Norden und Welten nad dem 
Bodenfee auf Staatskoften bergeftellt und allen Verkehr auf diefelbe gezogen 
bat, eine Actiengefellfchaft für den Bau der Eiſenbahn durchs Kinzigthal an 
den Bodenfee ſich bilden kann. In dem dringendften Intereſſe, für moͤg⸗ 
lichſte Foͤrderung diefer Kinzigthalbahn zu forgen, kaͤmpften viele Abgeordnete 
felbft gegen den augenblicklichen Vortheil eines andern badifchen Landestheils, 
welcher die alsbaldige Gonceffionsertheilung zu einem Bau über Walds⸗ 
hut nad) Zurich wuͤnſchte, melden Bau man aber ebenfalle, um bie 
Bahn durchs Kinzigthal Über den Schwarzwald nad) Conſtanz möglichft zu 
fördern und diefe Gegend vor dem Unglüd eines Ausfchluffes von dem Eifen- 
bahnnetze zu fichern, noch etwas hinauszufchieben fuchte. Und nun follen 
bie armen badifchen Stände Deutfchland und Würtemberg verrathen haben, 
indem fie nicht, flatt dieſer nothwendigſten Pflichterfüllung, eilten, vor Als 
lem eine Bahn bis zur wuͤrtembergiſchen Grenze fertig herzi:ftellen, ehe ſei⸗ 
nerfeite Wuͤrtemberg auch nur den erften Spaten für eine ſolche Verbindungs⸗ 
bahn angefegt bat. Die verfchiebenen Verbindungen aber von ber badifhen 
Nordſuͤdbahn nach Wuͤrtemberg durchs Kinzigthal an ben Bodenſee und 
durch das obere Rheinthal nach Zuͤrich und ebenfalls an den Bodenſee, ſie wer⸗ 
ben ebenfo gewiß hergeſtellt werden, wie bie Verbindungen mit ben franzoͤſi⸗ 


Eifenbahn. 217 


er unb rheinpreußifchen und beigifchen Bahnen über Straßburg unb 

Saarbruͤcken. So wird alfo Baden, welches durch feine Lage in feinen mei: 
Ken Landestheilen an der Eifenbahnitraße hingeſtreckt liegt, mit allen Haupts 
bahnen Deutſchlands und des‘ europäifchen Feſtlandes verbunden iſt, im 
Ganzen ein zum Bau und Betrieb der Eifnbahnen ſehr günftiges Ter⸗ 
rain befigt, feinen Wohlftand und feine Blüthe durch die neue große Erfin⸗ 


bung vorzugsweiſe gefördert fehen — *). 
C. Welder. 


Eifenbahn. Seit vorftehender Auffag erſchien, find ‚neun Jahre 
verfloſſen; Vieles ift in dieſer Friſt gefchehen, Mehreres vorbereitet; manche 
Borherſagungen find eingetroffen, andere nicht. Namentlich hat Deutſch⸗ 
land im Eifenbahnwefen eine Thaͤtigkeit entwidelt, welche kaum zu ertvarten 
war 5 es befigt gegenwärtig 464 geogr. Dielen fahrbare Schienenmwege, bie 
in 35 Bahnen zerfallen und ſich jährlich mehren. Frankreich iſt zwar nicht 
„allen andern Nationen des Continents mit großem Beifpiele vorangegangen,“' 
aber «8 bat als einheitlicher Staat die Ausführung feiner Hauptlinien geſetz⸗ 
Lid, geregelt. Das franzoͤſiſche Gefeg vom 11. Juni 1842 enthält im We 
fentlichen folgende Beſtimmungen: 1) Es fo ein Eifenbahn » Spftem hers 
geftellt werden, welches ſich erſtreckt: Von Paris: a) nad) der beigifchen 
Grenze über Lille und Valenciennes (ift vollendet und feit 15. Juni 
1846 dem Betriebe übergeben) ; b) gegen England nach einem ober mehr 
reren Uferpunften des Canals (la Manche), welche ſpaͤter beſtimmt worden 
(Havre); c) nach der deutſchen Grenze über Nanın und Straßburg; 
d) nad dem mittelländifhen Meere über Lyon, Marſeille und Cette; 
e) nach der fpanifhen Grenze über Tours, Poitiers, Angouleme, Bor⸗ 
deaux und Bayonne; f) nah dem atlantifchen Dcean über Tours und 
Nantes; 8) nad) der Mitte von Frankreich über Bourges; b) vom Mittels 
meer nad) dem Rhein über Lyon, Dijon und Mühlhaufen; i) vom atlans 
tiſchen nad) dem Mittelmeere über Bordeaur, Zonloufe und Marſeille. — 
2) Die Ausführung diefer großen Eifenbahnlinien wird flattfinden durch 
das Zuſammenwirken des Staates, der durchzogenen Departements und 
der betheiligten Gemeinden und der Privatinduftrie ; jedoch Finnen diefe Li⸗ 
nien auch ganz oder theilweife durch befondere Gefege unter den alsbann feſt⸗ 
zuftellenden Bedingungen der Privatinbuitrie überlaffen werben. — 3) Die 
Entfchädigungen für abzutretende Srundftüde und Gebäude werben vom 
Staats vorgefchoffen und demfelben von den Departements und Gemeinden 
bis zum Belaufe von zwei Drittheilen wieder erfegt; die Regierung darf Uns 
terflügungen, welche von Drtfchaften oder von Einzelnen an Grundſtuͤcken 
ober Geld angeboten werden, annehmen. — 4) In jedem durchzogenen Des 
partement wird der Departementsrath in Berathung ziehen: a) welcher Theil 
an den zwei Deittheilen der Entfchäddigung von dem Departement zu übers 
nehmen unb durch welche außerordentliche Mittel derfelbe im Halle der 
UnzulänglichBeit der Zufagfteuern (centimes facultatifs) zu decken ſei; b) welche 


*) Diefe ganze Ausführung über Baden wurbe fast ber fruͤhern unpaſ⸗ 
ſend gewordenen —*— von der Redaction eingeſchoben 


4 





gt gi bezeichnen folen und wie viel jebe im Wechditsiiffe gu 
Kräften beizutragen habe. Die 






Arbeit 
-T) Rod) Ablauf der 


| 
ki 


ii 


audg den beſ 
Borlage gemacht werben ſoll. — Weber die Eifenbahnpolizei iſt unterm 15. 
Juli 1846 ein Befeg erlaffen worden. ' 

Wir haben die weſentlichen Beflimmungen dieſes Geſetzes hier aufs 
genommen, um daran zu zeigen, wie vortheilhaft für die Angelegenheiten 
einer Nation die Einheit iſt. In Deutfchland machen die Einzelftaaten große 
Anftrengimgen für die &ifenbahnen ; wie fi) aber das nationale Transports 
foftem geftalten mag, das hängt mehr oder weniger vom Zufalle ab und ins 
zwifchen führt die Werfolgung der Sonberinterefien hier und da zu bedauerlis 
chen Reibungen. Hätte, nach dem Wunfche des Verfaſſers (Fr. Liſt), der 
deutfche Bund, oder, mas wohl minder ſchwierig geweſen wäre, der Zoll⸗ 
verein die Eifenbahnfrage in die Hand genommen, fo hätte über die wichtigen 
Punkte, welche das franzöfifche Geſetz regelt, ein beutfches Uebereinkoms 
men zu Stande gebracht werben Tönnen. 

Ueber die Ergebniffe des Betrieb 6 hat man befonders aus Belgien 
genauere Angaben, wo der Staat die Bauten ausgeführt hat und feit einer 
Neihe von Jahren betreibt... Am Schluffe des Jahres 1844 hatte Belgien 
111,8 Lieues (75% geogr. Meilen) Eifenbahnen, wovon 314 Meilen mit dep: 
peltem und 433 Meilen mit einfachem Geleiſe. Es waren dafür 150,264,062 
Fr. bewilligt und aufgenommen und die Anlagekoften berechneten fi auf 
894,684 Franken die Lieue (mit Betriebsmaterial); fie gehören zu den 
Coftfpieligfien auf dem Feftlande. Im Laufe des Jahres 1844 wurden 
8,381,529 Reifende mit 10,496,068 Kilogr. Gepaͤck und 520,422,667 
Kilogr. Güter transportiet. Die Einnahme betrug 11,230,493 Franken, 


Eifenbahn. 2319 


wovon 584 Procent auf Reifende und Gepaͤck, 414 Procent auf den Güter 
transport kommen. Auf den Verkehr mit Deutfchland rechnete man 11,,, 
Procent, mit Frankreich 9,,. (dieſer Verkehr ift ſeit Eröffnung der frans 
zöftfchen Nordbahn Lebhafter geworben), auf ben Innern Verkehr 79, Pro⸗ 
cent ber Einnahme. Dieſes Ergebniß beftätigt den Sag, daß ber innere 
Verkehr bei Anlage von Eifenbahnen vorzugsmeife zu berüdfichtigen if. — 
Die Betriebs koſten Haben 5,765,431 Franken betragen, der Reins 
ertrag belief ſich ſonach auf 5,465,062 Fr. ober 3,,, Procent des vers 
wendeten Capitals. Wenn unter dem Ertrag weder bie eigenen Einnahmen 
ber Verwaltung aus verfauften und verpachteten Grundſtuͤcken, an Miethzin⸗ 
fen, Erlös aus abgängigem Material und Inventarienſtuͤcken u. f. w. im 
Anſchlag gebracht find , auch nicht die dem Staate unentgeltlich geleiftes 
ten Dienfte durch den Transport von Poftftüden und Material, fo wie 
die Erſparnifſe im Transport von Truppen, Gefangenen u. ſ. w. und der vers 
mehrte Ertrag ber Poft: foift auf der andern Seite auch kein Refervefond für 
größere Reparaturen und neue Anfchaffungen von Material in Anfas gebracht 
(f. Eifenbahnzeitung von 1845 Nr. 15 und 33). Es werden überhaupt mur 
wenige Eifenbahnen höhere Zinfen oder Dividenden abwerfen, befonbers 
wenn nicht namhafte Ermäßigungen der Betriebskoften aufgefunden werben. 

Die Verhättniffe zum Staat, unter denen Gefellfhaftsbahnen im 
Deutfchland gebaut worden, find mannichfaltiger Art und wir wählen als 
Beiſpiel die pfälzifche Lubwigebahn (Berbacher Wahn), welche ihrer theilwei⸗ 
fen Eröffnung entgegenficht. Diefer Bahn, welche in dem Kohlentrans⸗ 
porte von der Saargegend nad) bem Rhein eine fländige Einnahmsauelle 
hat, ift von dem Staate ein Binfenertcag von 4 Procent vom Tage ber Volle 
endung und Eröffnumg gerechnet, auf 25 Jahre gefichert, mogegen bie 
Bahn nach 99 Jahren unentgeltlich dem Staate zufällt. Das Betriebs⸗ 
material und das übrige Mobiliarvermögen find darunter nicht begriffen; 
der Staat kann fie nach fchiebsrichterlicher Abfchägung erwerben. Die Regtes 
rung hat ferner das Recht, nach Ablauf ber Gewährfchaftszeit (25 Jahre) 
das Eigenthum bee Bahn und ihrer Zugehörungen durch Vergütung bes 
Anlagecapitals abzulöfen. Der Bauplan unterliegt der Genehmigung bes 
Königs; ebenfo der Tarif, welcher in den erften drei Jahren jährlich, for 
dann aber von drei zu drei Jahren feftgefegt werdenmuß. Die Wahl der Bes 
triebs⸗ und Auffichtsbeamten unterliegt der Beftätigung durch die Regierung 
und das. Verhälmiß ber Gefellfchaft zur Poſtanſtalt bleibt befonderer Ver⸗ 
handlung vorbehaltn. Einſtweilen ift die Zuficherung gegeben, daß nicht 
beabfichtigt werde, die Geſellſchaft mit pecuniaͤren Leiftungen ober Entſchaͤ⸗ 
digungen zu belaften, vielmehr nur die Benugung der Bahn für die Zwecke 
der Poft zu fihern. Zur Wahrung der öffentlichen Intereſſen wird die Oder⸗ 
aufſicht durch einen Eöniglichen Commiſſaͤr ausgeübt, welcher fid) von ber 
fteten Feſthaltung der flatutenmäßigen Beſtimmungen zu überzeugen bat. 
(Das Capital beträgt 8 Millionen Gulden in Actien su 500 fl.) 

Die Beforgniffe des Berfaffers (Fr. Lift) über die Kriſen in Folge der 
unbefchränkten Eifenbahnpapterfpeeulationen haben durch die gegenwärtigen 
Zuſtaͤnde des Geldmarktes eine traurige Beftätigung erhalten. Koͤmen auch 


Er 


Die Metlimunternehmungen mid als ae ee a en 

dauernden Geldklemmen bezeichnet werben, o haben damit getriebenen 
Sauindelelen den erſten Aufioß dazu gegeben. ———— 
dabel erlitten muden, — — a a 


87; ae ae 191, 13, je 107, =. ſ. w. Unter den’ über das 
Eiſenbahnweſen erſchienenen Werken iſt beſenders das Eifenbahnbuch von 
WB. v. Reben u mpfeblen. 8. Mathy. 

ifenmann. Gottfried, wurd⸗ 1796 zu Bindung gi ber Sohn 
eines armen Schuſtees Ausgezeichnet 


Fuͤrſtenthron⸗ 
gem der deutſchen Freiheit und Ehre feindlichem Einfluß aber freilich bis jegt 
unfer Vaterland nicht befreiten, bie geboffte politifche Freiheit ihm nicht 
erwarben und vielmehr gar manchem patriotifd) begeifterten Juͤngling und 
Manne, ganz ſo, wie dem unglüdlihen Eifenmann, flatt des Gluͤcks vater: 
Iändifcher Freiheit vielmehr den Verluft des Vaterlandes und der Freiheit 
durch Verbannung und Kerker brachten. Im Feldzuge erwarb dem muthi⸗ 
gen Eifenmann feine Tapferkeit ein militärifches Ehrenzeichen. , Nach 
der Heimkehr widmete er fi dem Stubium der Medicin und bilbete ſich in 
berfelben an dee Hand des berühmten Schönlein aus, welcher ihm fehr 
befceundet wurde; wie denn Eifenmann überhaupt fich. die Liebe und 
Theilnahme faft Aller, die ihn im Leben oder durdy feine Schriften näher 
kannten, zu erwerben wußte. Während feines Studentenlebens hielt fid) 
Eifenmann zuerft zur Burfchenfchaft, weiche befanntlicdy in dem Maße, 
als feit 1817 die Stelle der Erfüllung der großen politifchen Verheißungen 
eine freiheitsfeindliche Reaction einnahm, politifh gu werden begann und 
num, bei Verboten derfelben , theilmeife in heimliche Verbindungen ausartete. 
Eifenmann trat jegt (1821) dem auf mehreren Univerfitäten geftifteten 
Sünglingsbunde bei. Er wurde bei der Entdeddung diefer geheimen politis 
[hen Stubentenverbindung 1823 mit Andern verhaftet, nad) München ger 
bracht und ein Jahr fpäter, da eine einſtweilige Aufhebung der Unterfuchung 
wegen diefer fludentifchen Verirrungen befchloffen war, nad) Karlstadt bei 
Wuͤrzburg gewiefen. Doch wurde nachher auch diefe Kreiheitsbefchränkung 
aufgehoben und er erwarb ſich num als praßtifcher Arzt in feiner Vaterſtadt 


[4 


Gifenmann. 221 


Würzburg ſehr ſchnell eine große ärztliche Praxis, und eine Reihe früherer und 
fpäterer mediciniſcher Schriften bewährten ihn als tüchtigen mediciniſchen 
Gelehrten. Als die Thronbefteigung des Könige Ludwig bei fo manchen von 
demſelben als Kronprinz und feit feinem Regierungsanttitt befannt geworde⸗ 
nen erhebenden Aeußerungen und Handlungen ben Sreiheitsfreunden in Bai⸗ 
ern und Deutſchland neue Hoffnungen für bie erfehnte Ausbildung des Sp 
ſtems wahrer flaatsbürgerlicher Freiheit erwedte, ba ſuchte auh Eifens 
mann für diefe Ausbildung als politifcher Schriftfteller zu wirken. Er bes 
gründete, nicht, wie fonft oftmals in Deutſchland, zum Lebensunterhalt, fons 
dern aus patriotifhem Beduͤrfniß, eine politifche Zeitfchrift, das Bairi⸗ 
fhe Volksblatt. Es war, wie mit Reht Eifenmann’s Biograph 
im Converfationsleriton ſich ausdrüdt, „Das erfle Organ einer fris 
„ſchen ruͤhrigen, nicht blos in leeren Allgemeinheiten verſchwimmenden Op⸗ 
pofition. Es mar aber mit folhem Geiſte und folder politifcher Bildung 
redigirt und auch von fo ausgezeichneten Publiciſten unterflügt, daß ed bald 
in Baiern und Deutfchland ſehr verbreitet war, und Eifenmann blieb 
zugleich dem conftiturionellen Princip fo treu, vertheidigte namentlidy ein erb⸗ 
liches, unverlegliches Königthum gegen die ſchon damals häufigen, an der 
Vereinigung von Freiheit und Koͤnigthum verzweifelnden republikaniſchen 
Wünfche vieler, zumal jüngerer oder weniger ausgebildeter Patrioten, fo daß ber 
berühmtefle Präfident eines batrifchen Oberappellationsgerihtse — euer» 
bad, diefes Eifenmann’fche Bairiſche Volksblatt „ein DRufter einer 
conftitutionellen Zeitfcheift” nannte. Daß Eifenmann, in einem ihm 
abgenöthigten politifchen Glaubensbekenntniſſe, in Beziehung auf die allges 
meinen deutfchen Verhältniffe die aud) vom Minifter von Stein vorges 
ſchlagene RationalsRepräfentation am Bunde wuͤnſchte — diefe® konnte nas 
tuͤrlich in Feu erbach nicht tadeln und es wird am wenigften bei ſolchen 
Staatsmännern für Eifenmann nachtheilig gedeutet werden, die es wiſſen, 
in welchem Grade insbefondere auch bei den Alteren befonneneren Patrioten 
diefe Idee in neuerer Zeit fic) verbreitet hat (zum Theil in der Geſtalt einer 
Mepräfentation bei dem Zollverein) und wie diefelbe jegt für fo Viele der ein⸗ 
zige Rettungsanler ihrer Hoffnung für eine zugleich freie, fichernde und 
ehrenvolle und zugleich ohne Umſturz denkbare politifche Geftaltung ber 
deutfhen Nationalverhältniffe geworden ift und täglih mehr wird. 
Auch gab jegt Eifenmann gleichzeitig griedrih von Spaun’s polis 
tifches Zeftament, Erlangen 1831, heraus. Vielen, die man für - 
wohlunterrichtet hielt, ſchien Eifenmann’s Zeitfchrift und feine Oppoſi⸗ 
tion von Oben her mehr begünftigt als angefeindet, und dieſes mußte auch für 
Alle, welche an wahre ftaatsbürgerliche Freiheit und an den ernftlihen Willen 
für fie glaubten und welche die große Mäßigung und Bildung des Eiſen⸗ 
mann’fhen Volksblattes im Vergleich mit fo manchen theils rohen, 
theils radicalen damaligen Zeitblättern in Baiern verglichen, fehr natürlich 
feinen. Aber dennoh — nach dem unhellvollen Falle Warſchaus — 
welcher in Verbindung mit der Politit von Louis Philipp das völlige 
Gegengewicht gegen die Wirkungen ber Julitevolution bildete, ergeiff ber 
nur auf kurze Zeit zuruͤckgedraͤngte, jetzt verflärkt hervorbrechende Strom ber 


_ wunetiundcen bautfäjen Poliit ſabſt auch bob Wakcijche Volkeblatt und fon 


Ungluͤckliches Schickſal für uns arme Deutfche! den beiden großen 
Erfchuͤtterungen * Abfoluttemus 1814 und 1850 nem andere Boͤl⸗ 
in 


als dreißig Jahren bie Freiheit wicht. Und denn wir fie mm, jegt geſtuͤtzt 
auf urkundliche unb Zuſagen, forbern — dann wir bie bitterſte 
als: Jtonien — wer ſelen vu ungebulbtg, |. im Cturm 


ſchritt bie Freiheit erobern. Und wenn neue Freiheit anderer Möller ums 


biefe Rechte und Verbuͤrgung 
kb —— — 


ans aliſche Urthell der richeiaden 
Datgeſchichte kaum ein ſehr zroßes Bericht darauf Legen, ob ſolche Pa⸗ 
teſeten, wenn fie nur an ſich rech tliche, ehren werthe Gefinnungen 
hatten, in dem durch das Unrecht von der andern Seite veranlaßten Kampfe 
zu einer juriſtiſchen Verirrung verleitet wurden, ober auch davon frei blieben. 
Es wurde übrigens ſeit dem in Baiern, als nach bes Miniſters von 
Sch enk Zuruͤcktritt die Artikel über innere bairiſche Verhaͤltniſſe cenſurfrei 
waren, ſchon jetzt und vollends durch ſpaͤtere Schickſale cenſurfreier Schrif⸗ 
ten, ihrer Verfaſſer und Verleger und Drucker und Verbreiter deutlich genug, 
daß man auch ohne Genfur durch polizeiliche und gerichtliche Werfolgungen bie 
Preßfreiheit der Wefenheit nach vernichten kann. Am 21. Sept. 1832 
wurde Sifenmann verhaftet, nach München gebracht und endlich zur Abs 
Bitte vor dem Bildniß des Könige und zu unbeftimmter, d. b. eigentlich 
lebenslaͤnglicher Zuchthausftrafe verurtheilt. Segt bereits 14 Jahre feiner 
Freiheit beraubt, fand der nun Pränklid gewordene Mann auf ber Feſtung 
Daffan durch die ihm vergönnte Anlage und liebevolle Pflege eines Kleinen 
Gärtihehs auf ehemals oͤdem Fleck eine erheiternde,.Exholung, wurde aber — 
. fo berichtet man uns weiter — nachdem ein Geiſtlicher dieſes Beſitzthum für 
füch zu haben mwünfchte und Eifenmanm feine Lebensfreude eifrigft zu vers 
theidigen fuchte, zu feinem Kummer in die rauhere Luft einer Bergfeftung 
bet Bamberg verfegt. 

Diefes ber aͤußere trockene Verlauf einer Criminalgeſchichte, welche fo 
wie mehrere andere in Deutfchland und fo wie insbefondere die von Eifen- 
mann’s Unglüdsgenoffen Behr (f. d. Art.), mag man fie an fich und nur 
mit dem Blick aufunfere vaterländifchen Zuftände, oder mag man fie vol 
lende in Beziehung auf das, 1006 in den übrigen, was in allen freien Ländern 


Eifenmann. 223 


ber heutigen civiliſirten Welt vorgeht, betrachten, bezeichnenber und bedeu⸗ 
tungsvoller iſt und dauernder in der deutfchen Geſchichte bleiben wird, als 
manche Staatemänner zu glauben fcheinen. Die große moraliſch⸗ politifche 
Bedeutung folder Vorgänge, ihr Verhältniß zu den wichtigſten politiichen 
und rechtlichen Brundfägen, zu dem Schidfalen unferer Nation und zu ber 
Ehre unferer neueren vaterländifhen Gefchichte fcheint e6 dem Staats: 
lex ikon zur unerläßlichen Pflicht zu machen , ihre wichtigeren Punkte genau 
darzuftellen und rechtlich und politifch zu beurtheilen. 

Doch biefes ift uns leider wegen des Dunkels, in welch: diefe Vorgänge 
gehältt find, ganz unmöglih. Nur daß Eifenmann wie Behr — und 
andere der Nation weniger bekannte Mitbürger von der ſchauervollen geheimen 
Criminalgewalt plöglich durch Verhaftung der Freiheit und dem Kreife ber 
Ihrigen und ihrer Freunde entriffen und in ferne Gefängniffe fortgeführt 
wurden, daß fie in diefen Gefängniffen abgeſchloſſen von den Ihrigen und 
ihren Freunden längere Zeit der geheimen Inquiſition unterworfen waren, 
daß fie dann unermartet zur Abbitte vor dem Bildniß bes Königs und lebens⸗ 
länglicher Zuchthausftrafe verurtheilt wurden und daß fie bei einigen wider 
ruflihen Milderungen nun 14 Jahre lang ihrer Freiheit, der Ihrigen und 
ihrer bürgerlichen Wirkſamkeit beraubt find, nur dieſes weiß mit genuͤgender 
Zuverläffigkeit das Vaterland von feinen früher allgemein hochgeachtsten Mits 
bürgern! Freilich gar Manches über die Grünbe der Anfchuldigung und ber 
Verurtheilung, über den geheimnißvollen Gang ber Unterfuchung, ber Bes 
richtsbildung und der Verurtheilung,, über Mitwirkung diefer und jener De, 
fönlichkeiten und Umftände, theilen ſich Hunderte und Tauſende im Stillen 
mit, glauben auch auf moraliſch glaubmwürdige Weile über vieles Wefentliche 
unterrichtet zu fein. Aber wäre es für daB Staatslexikon recht umd bei 
ber Cenſur auch nur möglich, die fo abfichtlich in officielles Geheimniß gehälls. 
ten, uns nicht urkundlich: und offictell beweisbar mitgetheilten, vielleicht uns 
angenehmen Thatfachen öffentlich mitzutheilen und fie wie actenmäßig erwie⸗ 
fene der Schärfe der Kritik zu unterwerfen? Wir koͤnnen diefes nicht, Aber 
umfere Pflicht der redlichen wiſſenſchaftlichen Mittheilung unferer Ueberzeu⸗ 
gungen uͤber daß, was ruͤckſichtlich wichtiger im Publicum zum Theil gedruckt 
verbreiteten Nachrichten in politifchen Beziehungen für die Sicherheit, Ehre 
und Macht bes Vaterlandes, feiner Fürften und Bürger zu ftehen fcheint, dieſe 
beitigfte Pflicht jedes politifchen Schriftſtellers beftimmt uns wenigftens zu 
einigen Fragen und zu Andeutungen von Anfichten,, welche, fofern fie an fich 
oder ihre thatfächlichen Vorausſetzungen irrig wären, nöthigenfalls durch 
beffere Gründe oder durch Aufbellung ber Thatſachen leicht zu berichtigen 
wären und alsdann zu Berichtigung verbreiteter Anfichten eine heilſame Vers - 
anlafjung werben koͤnnten. 

Freilich wir follten uns vielleicht ſelbſt Zweierlel entgegnen. Fuͤrs Erſte 
Eönnten mir fagen, jede Kritik Diefer wichtigen Staate:Geiminalproceffe werde 
durch die Forderung befeitiget,, man muͤſſe ber vollen Gerechtigkeit des gericht 
lichen Verfahrens und Urtheils vertrauen. Und mit doppelter Freude würden 
wir für eine deutfche Regierung, deren Oberhaupt fi) mit dem Nıuhme 
ſchmuͤckte, fo wie kein anderer Fuͤrſt die ſchoͤnen Künfte zu fördern, unb 


224 Eifenmann. 


mit bem Auhme der Bemühung für die nationale Eelbfiftändigkeit des Va⸗ 
terlandes nach Außen, auch in jeder andern Beziehung Entfernung von 
Mißſtaͤnden wünfden. 

Was nun den erſten Einwand betcifft, fo kann alles menſchlich⸗ 
Berfahren und Uctheilen irren und fehlen. Und wenn auch der betreffende 
Unterthan dem zufällig nicht weiter appellabeln Urtheil fi) fügen muß, fo 
läßt ſich Das der freien Geſchichte, Wiſſenſchaft und Kritit und der freien oͤf⸗ 
fentlihen Meinung der Unbetheiligten nicht ebenſo zumuthen und auf: 


wingen. 

Mögen auch fie im Allgemeiner und bis gegentheilige Gründe und 
Appellationen von Bedeutung vor ihr Forum gebracht werden, blos das Befte 
anzunehmen geneigt fein, fo erfordert doch fogar ſchon jene Vorausannahme 
ber Gerechtigkeit eines Sriminalproceffed und eines Strafurtheils gewiſſe 
wefentlihe Bedingungen. 

Was aber jenen bezeichneten doppelten Rahm und unjere willigfte An» 
erkennung deifelben betrifft, fo könnte doch Fein tüchtiger Bürger einer ehren⸗ 
werthen Nation den wefentlihfien Ruhm, die allererfte Forberung 
jedes würdigen Staates und Volks, die Forderung und den Ruhm der Ge: 
rechtigkeit und bürgerlichen Freiheit, irgend einem andern’ nachfegen oder 
opfern. Und abgefehen bier von der Verantwortlichkeit nur der Minifter für 
alle etwa tadelnswürdigen Regierungshandlungen, fo ift, wie der fromme 
und weife Boſſuet fagte, gerade Das bie größte Huldigung und Ehre für 
bie Kürften, daß man fie werth und fähig hält, die Wahrheit zu hoͤren. Für 
die nationale Selbftftändigkeit unferes lieben gemeinfamen Vaterlandes vol: 
lends ift ebenjo wie für beffen innere Kraft und Blüthe die volle Wahrheit, 
Freiheit und Gerechtigkeit unentbehrlich. Denn nur durch ihre Vernachlaͤſ⸗ 
figung und Unterdrüdung ſank das Vaterland in jene entfeglihe Schmach 
und aͤußere Unterjohung. Diefe würde ficher zurüdkehren, wenn «8 ung 
an Großherzigkeit und Muth gebräche, jene Güter und mit ihnen den hoͤch⸗ 
ften Ruhm zu bewahren. 

So fteht denn alfo einer wohlmeinenden Belprechung jener für bie 
ganze deutſche Nation jedenfalls hoͤchſt betrübenden politifhen Criminalpro⸗ 
ceffederneueren Zeit, bier aber zunähft des Eifenmann’fchen, auch in jener 
zweiten Beziehung durchaus nichts entgegen. Jene Bebingungen nun für 
die Borausannahme der Gerechtigkeit eines Strafproceffes und einer Verur⸗ 
theilung gegen einen Bürger find ſchon deshalb unerlaͤßlich, weil ja ohne 
fie die allgemeine Vorausannahme der Rechtlichkeit diefes Buͤrgers, bie 
praesumtio boni viri, gegen jene Vermuthung der Gerechtigkeit feiner Ver: 
urtheilung ſtreiten würde. 

Die zwei allgemeinften biefer Bedingungen find nun nad) dem na- 
tuͤrlichen Recht und nad) dem Recht aller freien Völker und auch nach unſerem 
biftorifhen deutfhen Rechte fürs Erſte Oeffentlichkeit. Es darf 
mindeftens fein Geheimniß, kein abfihtlid den Augen und der Prü: 
fung der Mitbürger und des Vaterlandes, ja felbit der Freunde und Fami⸗ 
lienangehörigen entzogenes Verfahren, Anklagen, Wertheidigen und Urthei: 
len ſtattfinden. Selbſt als die altdeutfche unbedingte Deffentlichheit des 


Gifenmann. 2235 


ganzen Verfahrens und Eutſcheidens durch das Eindringen bes fremben Rechte 
und des. fchriftlichen Verfahrens allmälig und nur zufällig Noth litt, ſelbſt 
ba war doch nach gemeinen deutſchen, es war ſtets nach dem Reidsrecht bie 
—— ber ganzen Proceßacten, der Anklage und Vertheidigung und 
er Entſcheidungsgruͤnde ein unantaſtbares Recht der Angeklagten und Ver⸗ 
—* und ſchon bie Actenverſendung erleichterte auch für Unbetheiligte 
die Veröffentlichung dieſer Acten. Die öffentliche Anklage eines oͤffent⸗ 
lichen VBergehens und Ehre, Freiheit und Recht bes Angellagten, des vie: 
Leicht Dusch Die Uebermacht verfolgten Mitbürgers, und das in feiner Perfon 
die allgemein rechtliche Freiheit der Bürger aufhebende Strafurtheil und 
beflen Gründe — fie find die Angelegenheit ber ganzen Staatsgenoſſenſchaft, 
fobalb eine Spur von Staat, Gemeinweſen und Gemeingeiſt vorhanden if. 
Sie find ihrer Natur nach durch und duch öffentlih. Wo kommt 
man bin, wenn man anders urtheilen will! Welches freie, achtbare Volt 
ber Welt urtheilte je anders? Und wie iſt Vertrauen des Volks zu fordern, 
bei eignem Mißtrauen gegen baffelbe, und gegen die Juſtiz —* Wie iſt 
es zu fordern bei der Furcht, ſogar 28 geſchloſſenem Verfahren, ja nach 
gefälltem Urtheil, das Thatfaͤchliche des Vergehens, das Verfahren, die Vers 
theibigungs- und Beweis⸗, vollends bie Guticheibungsgründe de Urtheils 
befannt werden zu laſſen! Sehrime Fehme, geheime Jnauifition — welche 
erregen fie bei Jedem, ber fie nennen hört! (ine Gerechtigkeit, 
die ſich —** ſich ſehen zu laſſen, was iſt fie? Und wie iſt eine ſolche 
unnatuͤrliche Einhuͤllung in das Dunkel des Geheimniſſes vereinbar mit dem 
Weſen und Zwed ehrlicher, rechtlicher Steafgerschtigkeit! — Selbſt von der 
Verheimlichung der Entſcheidungsgruͤnde Losfprechender Erkenntniffe zu Gun: 
ſten der durch die Regierung öffentlich verbächtigten Bürger, von der erbau⸗ 
lichen Fahndung auf biefe Erkenntniſſe, wozu Gerichte und Berichts 
directoren fich bingeben mußten, um ja das gefährliche Publiciren unmöglich 
zu machen, felbft von diefen Unbegreiflichleiten in einem andern deutſchen 
Staate lafen wir biefer Tage in ben öffentlichen Blättern. — Aber wir fragten 
und — wo find wir denn? In Deutfchland, dem glorreich befreiten Deutſch⸗ 
land bes 19, Jahrhunderts? Und was werben wohl andere Völker von einer 
ſolchen Nation urtheilen, bei welcher Solches möglich iſt? 

Die zweite allgemeine Bedingung jenes Vertrauens iſt völ- 
lig unbefangenes, unparteiiſches Gericht, zu dieſem Zweck aber 
ebenſo tie im deutſchen Reiche ſtets und wie bei allen heutigen freien Voͤl⸗ 
Lern, wie bei Franzoſen, Engländern, Belgiern u.f. w. völlig unabhän- 
gige oder inamo vible Richter und zugleich die nat rlich en Michter bes 
Angeklagten, für die Unterfuchung und für die Entſcheidung. Ja den freien 
Voͤlkern genuͤgte dieſes noch nicht einmal für die Unparteilichkeit der Gerichte, 
fie forderten zugleich noch Geſchworne ‚mit ausgebehntem Recufationsrecht 
gegen alle irgend bafangen Scheinenden,, bie Belgier unb Norweger und 
une fe 87 —8* Derfaffangen auch noch Miternennung ber Richter 
durch bie Doc) leider, während barin die andern Bälle fortſchrit⸗ 
‚kon, iſt das —* Dekan in dem unglücklichen Kampfe eines falfchen 
‚göttlichen mongrchiſchen Rechte gegen, umfere hiftorifch beutfäen und ‚neu. 

Suppl. » Staatslex. IL 


226 Eifenmant. 


zugefagten Volksrechte zuruͤckgeſchritten, es iſt gegen alle feine früheren Eins 
richtungen zur Belt des Reiches fehr vielfach ruͤckgeſchritten. Wir wollen 
Einzelnes hier nicht berühren und ausführen. Nur unfere eigene allgemeine 
naturrechtliche Weberzeugung wollen wir ausfprechen : 

Da wo nicht die vor bem Eintritt eines beflimmten Vergehens und 
Proceſſes für den Angeklagten gefeglich genau beſtimmten richterlichen Perſo⸗ 
nen, — feine natürlichen Richter, — und wo nit inamovible Richter 
verfahren und richten, fondern wo fie etwa in einem Hanzen Königreiche unter 
vlelen, vielen Gerichten von der Gegenpartei (der angeblich beleibigten und 
anflagenden Staatsregierung) ausgefucht werden, wie man fie wünfcht, 
und wo ferner von einem beftimmten Gerichte die mißbeliebigen Richter 
durch Penfionirung und Verfegung ober durch beliebige Senatbildung aus: 
gefchieden und beliebige andere an ihre Stelle gefegt werben, umd wo auch 
dieſen durch folches Verfahren und durch ben fo begründeten Schein des hohen 
Werth einer Verurtheilung für die Regierung noch vollends bie richterliche 
Unbefangenhelt geraubt wird, da können wie Beine wahre Juſtiz, fondern 
nur Commiſſionen und politifche ober Regierungsmaßregeln fehen. 

Viele freilich werden ung biefeß nicht zugeben, und «6 werben vielleicht 
manche neuere particuläre Verordnungen einzelner deutfcher Länder anders 
beftimmen. Aber wie fprechen Im Allgemeinen und es kommt batauf an, 
ob zum Weſen wahrer Juftiz und wahren jurifkifchen Richtens Un- 
parteilichkeit und Unabhängigkeit bes Entſcheidens nach der eignen freien recht⸗ 
lichen Anficht und Ueberzeugung nothiwendig find, und ob biefelben nach ben 
allgemein befannten Schwächen der menfchlihen Natur unter ſolchen Umftän- 
den, wie die von un bezeichneten, juriftiifh angenommen werben 
müffen. Das aͤcht deutſche und unfer gemeines Recht glaubten dieſes eben: 
fo wenig al& die Sefeßgebung der heutigen freien Nationen. 

Der berühmte Goͤnner führt in ber erſten Abhandlung feines Hand» 
buchs des Procefies unfere Grundanficht auch pofitiv gefeglih, na⸗ 
mentlich auch nach den deutfchen Reichsgefegen und mit ftärkeren Worten 
als man neuerdings in Deutfchland gelten laſſen will, gründlid) aus und be- 
merkt unter Anderem ©. 23: „Als der Kaijer Franz I. beim Anfchauen 
„des Grabes des Minifters Johann de Mantigu bedauerte, daß er 
„durch die Juſtiz zum Tode verurtheilt wurde, antwortete der ehrliche Mare 
„couſſi: „„Allergnaͤdigſter Herr! es gefhah nicht durch die Juſtiz, es 
„„geſchah nur durch Commiſſarien.““ 

Der Cardinal Richelieu ſagte: „Gebt mir drei geſchriebene Worte 
eines Mannes und ich will ihn an den Galgen bringen.“ Ich glaube, noch 
viel eher waͤre es einem Miniſter moͤglich und leicht, jeden, auch den ſchuld⸗ 
loſeſten Gegner ſeiner vielleicht Thron und Land gefaͤhrdenden Maßregeln 
nach Belleben verurtheilen zu laſſen, wenn er etwa von neun Richtern, 
unter denen natuͤrlich uͤberall nicht viele von ſelbſtſtaͤndiger unerſchuͤtterlicher 
Ueberzeugung, mehrere aber von weniger kraͤftiger Natur, andere ſchon durch 
Parteianſichten gegen den Angeklagten befangen ſind — wenn er von ſolchen 
neun Richtern auch nur zwei oder drei entfernen und durch andere ihm 
taugliche erſetzen — wenn er ſich vollends unter 20 — 30 Richtern ſieben 


— 


Gifenmann. 2237 


als Eriminal: Commiſſion oder als Criminalſenat auswählen darf. Wie 
follte umter ſolchen Umſtaͤnden nicht einmal die Majoritdt für die gewuͤnſchte 
Verurtheilung zu erhalten fen? Ja würde nicht, auch ohne daß es gefor: 
dert würde und wenn etwa das Minifterium nur aus Aengftlichkeit vor wirklich 
rechtswidrigem Einfluß Ihm unangenehmer Richter dieſe hätte befeitigen laſ⸗ 
fen, alsdann fhon ohne Weiteres eine Majorität zu Gunften der Regierung 
fih bilden? Davon mollen wir bier gar nicht einmal reden, daß auch nur 
eine Entfernung, eine neumodifche Verfegung ober Penfionirung eines Rich: 
ters zum Machtheil, wegen unangenehmer richterlicher Entſcheidung, oder 
"sine Beförderung, zur Belohnung wegen angenehmen Abflimmens, allen 
Richtern eines Staate deutlich genug eine ihr Lebensgluͤck betreffende 
Bedrohung oder Verſprechung für ihr befonderes Abſtimmen gegeben hätte. 
Und noch weniger wollen wir das entfegliche Ungläd für den Staat und bie 
Bürger ſchildern, wenn den legteren unter dem Schein Öffentliher 
Gerechtigkeit nicht blos alle anderen Güter, fondern ſelbſt ihre Ehre ge- 
raubt werden koͤnnte. 

Auf unſeren beſonderen Fall duͤrfen wir nun freilich hier aus Mangel 
actenmaͤßiger Kenntniß ſelbſt von jenen Grundſaͤtzen über jene beiden allgemei⸗ 
au sungen ber Vorausannahme ber Gerechtigkeit Beine Anwendung 
machen. 

Aber höchft wuͤnſchenswerth waͤre es jedenfalls, daß die Öffentliche Metz 
nung officiell aufgeklärt und belehrt würde: ob wirklich, wie in gedruckten 
und mündlichen Nachrichten mitgetheilt wurde, Eifenmann nur megen . 
einzelner Artikel feiner Zeitjchrift, die Lange vor feiner Verhaftung überall 
unbeanſtandet gelefen und verbreitet wurden, ja vorzugsweife wegen eines 
aus einer cenficten Zeitung enmommenen Artikels verurtheilt wurbe, und 
ob ähnlich gegen Behr die Griminalunterfuchung zuerft lediglich feine be: 
kannte Drudfchrift über bairifche landſtaͤndiſche Verhaͤltniſſe betraf, welche 
Sabre lang vor diefer plöglichen Unterfuchung unbeanftandet verbreitet, ja 
den Ständen und dem Monarchen vom Verfaſſer eingefendet werden konnte, 
und nur fpäter auch auf eine mündliche Aeußerung bei einem Feſte ausgedehnt 
wurde? 

Ob und warum ferner hier, wo felbft nach dem Det der Begehung 
die iſolirten, nicht etwa ein Complott bildenden Vergehen nur bem Wohn: 
orte der Angeklagten (Würzburg) angehörten, dennoch biefem ihrem natürs 
lichen Unterſuchungs⸗ und Steafgericht bie Gerichte Münden (für bie 
Unterfuchung) und Landshut (für die erfte Entfcheidung) fubftituirt wur: 
den; und ob und warum in der Appellationss und Oberappellationsinftanz 
aus der’ großen Zahl der übrigen Richter befondere Sriminalfenate zuſammen⸗ 
gefegt wurden? 

Irren mir nicht und erwaͤgen wir vollends fo manche Einzelnheiten, bie 
bier noch über Derfonen und Verhaͤltniſſe in der mündlichen Mittheilung am 
das heimliche Verfahren und Enticheiden angefchloffen werden, fo muͤßte «6 
fiher jedem patriotifchen Bater und Deutſchen erwuͤnſcht fein, wenn alle 
diefe Berhätmiffe zur Befriedigung wahrheitsgemaͤß öffentlich gemacht 
werden koͤnnten. Manche Baieen werden auch noch beſondere BERNER, 

> 


228 Gifenmann. 


biefe Wünfche auch auf politifche Strafprocefie anderer Männer auszubehnen, 
welche in größeren Kreifen nicht fo bekannt find als Behr und Eifenmann. 

Doch auch abgefehen von jeder Frage über die dußeren Bedingungen für 
die Borausannahme der Gerechtigkeit der Strafurtheile, des vollen Beweiſes 
aller Thatfachen der verbrecherifchen Handlung und Abficht fowie ber richtis 
gen parteilofen Befeganmwendung — bieten diefe Proceſſe noch andere Fra⸗ 
gen dar, deren befriedigende Beantwortung gleich wuͤnſchenswerth wäre. 

Wird fi) etwa an fi nach humaner Gerechtigkeit und nach dem Bei⸗ 
fpiel anderer civiliſirter, vollends freier Staaten für einzelne [chriftliche ober 
mündliche Arußerungen, für folche mit Eeinem Complott zufammenhängende 
Aeußerungen von bisher allgemein hochgeachteten unbefcholtenen Männern, 
eine ſolche furchtbare Strafe, wirb fi, um von der erniedrigenden Abbitte 
gar nicht zu reden, die infamirende, ihrem Wefen nach Iebenslängliche Zucht: 
hausſtrafe als nothwendig nachweiſen laffen? 

Sodann ſehen wir hier die furchtbar harte Strafe bereits in die Jahr⸗ 
zehente fortbeſtehen, waͤhrend in allen civiliſirten Staaten, jetzt auch in dem 
paͤpſtlichen, fruͤhere und ſpaͤtere ungleich ſchwerere politiſche Verbrecher laͤngſt 
Begnadigung fanden. 

Vergeblich erbaten eine ſolche für Eifenmann die wiſſenſchaftlichen 
Fachgenoſſen der ganzen Nation und, wenn wir nicht irren, auch die Staͤnde 
des eigenen Landes. Und doch muͤſſen wir uns fragen: verſtaͤrkten ſich denn 
hier nicht ſo manche moraliſche Erwaͤgungen und Gefuͤhle, die nicht dem 
Eindrucke der Strafe, wohl aber jeglicher Milde guͤnſtig ſind? Jene fo un⸗ 
nachſichtig hart beſtraften Aeußerungen, ſie waren Erſcheinungen eines poli⸗ 
tiſchen Kampfes. Es war dieſes ein Kampf, in welchem man doch ſicherlich 
an ſich Ziel und Bewegung Derer, die für das Heiligthum eines freien, 
ducch freie Verfaſſung fiheren und mächtigen Vaterlandes, diefes diteften, 
legitimflen Rechtes aller Deutfchen, kaͤmpfen, für ebenfo rein und un⸗ 
felbftjüchtig präfumiren darf ale die der Kämpfer für die Regierungsmadht. 
Es war ein Kampf, von welchem wahrlich Niemand, der die Gefchichte der 
Nation, die ber Befreiungskriege und ihrer großen Zufagen und die der ſpaͤ⸗ 
teen Reaction Eennt, fagen wird, tweber daß das erfte herausfordernde, 
noch) daß allein das Unrecht auf Seite ber Kämpfer für die Freiheit war. 

Mag man nun mit großen Staatsmännern die in folchen Kämpfen bes 
ftraften politifchen Werbrecher nur als die durch das Gefchi des Kampfes 
unterlegenen Gegner, oder als die im Namen der Gegner parteiloß gerichtes 
ten Verbrecher betrachten, ſtets wird hier jedes großmäthige, jedes edle menſch⸗ 
liche Gefühl, ja jedes wahre Gerechtigkeitögefühl für Milde fprechen. 

Aber vieleicht werden Anhänger jener Haller’fchen Anpreifung der 
ſtreng rächenden Verfolgung der Liberalen, als der angeblichen gefährlichen 
Feinde der Könige, uns entgegnen: die Politik, bie Sicherung des König: 
thums und der Könige fordern die unerbittlichfte rächende und abfchrediende 
Strenge und Hätte. 

Kein Wort hier über das wahre und allein fichere, das heißt das auf der 
Freiheit einer edlen Nation begründete Koͤnigthum, über die wahren und ges 
faͤhrlichen Feinde und über die leicht wankenden Freunde, die ariftofratifchen, 


nn‘ 


Emancipation ber Juden — Englands Staatöverfafiung. 220 


böftfchen und lohndieneriſchen, Fein Wort über die Kräftigung und Verherr⸗ 
Tichung der Throne und Staaten durch patriotifche Liberale oder Freiheits⸗ 
freunde, fo mie die britiſchen, und durch beren warme Kämpfe gegen ver: 
derbliche Naßregeln der Regierung! Aber wenn es ber Politik, wenn 
es der Sicherung des Koͤnigthums und ber Könige gilt, ihrer Sicherung 
in unſerem heutigen bedenklichen Kampfe eines den früheren beutfchen wie 
faft alfen heutigen europätichen Verfaffungen feindlichen, eines angeblich goͤtt⸗ 
lichen, abfolut monardhifchen Principe, ‚gegen das der wahren Freiheit bes 
bürftige beutfche Volk — der Sicherung vollends durch eine die ebelften Ger 
fühle verlegende Berfolgung entwaffneter Freiheitskaͤmpfer — alsdann 
mögen welfe Rathgeber mahnen, des fo Leicht möglichen Wechfels der Dinge 
zu gebenfen, und zu erwägen, welche fpätere größeren Behäffigkeiten aldbannn 
die fruͤhern herausfordern könnten! Wer möchte all das Unheil verſchul⸗ 
ben ‚ welches entſtehen muß, ſobald Haller’ ſche und Macchiavelliſtiſche Grund⸗ 
ſaͤtze von der höheren Politik in bie des Volks uͤbergingen! Doch nicht kluge 
politiſche Sich erung iſt unſer hoͤchſtes Ziel und Geſetz. Wahre ſittliche 
Gerechtigkeit, Maͤßigung, großherzige und großmuͤthige Geſinnung — das 
mar und iſt zu allen Zeiten ber hoͤchſte, der bauernbfte Ruhm ber Könige wie 
der Voͤlker und der politifchen Parteien. E. Welcaer. 
Emantipation der Juden. Mit Vergnügen fegen wir hinzu, 
daß auf dem letzten badifchen Landtage auch die Mehrheit der zweiten Kam⸗ 
mer fich völlig uͤbereinſtimmend mit den bier entwidelten Grunbfägen für 
die vollſtaͤndige ftaat#bürgerliche Gleichſtellung der Juden mit den Chriften 
ausſprach und fo ihrerfeits den Makel zu tilgen fuchte, daß man geborenen 
Landeseinwohnern und Mitbürgern zwar gleiche Laſten ber Steuern und der 
Baterlandövertheibigung aufbürben, bie gleichen Rechte aber ihnen verwei⸗ 
gern will. C. Welcer. 
Englands Staatsverfaſſung. Die engliſche Staats⸗ 
verfaffung bat auch in ben neun Jahren, ſeit welchen der ehrmärbige 
Veteran Murhard mit feiner durch Selbſtſehen belebten Staatskennt⸗ 
niß das voranftehende Lehrreiche, anfchaufliche Abbild dieſes herrlichen 
Meiſterwerks entwarf, ihre Vortrefflichkeit ftetd bewährt. Die eigne An⸗ 
ſchauung der englifhen praktiſchen politifchen Züchtigkeit und Meiſter⸗ 
ſchaft erfüllt jeden verſtaͤndigen Deutſchen, welcher bie jegigen bequemen 
Verbindbungsmwege ber Länder benugt, um in England felbft in wenigen 
Monaten fid) mehr politifche Bildung zu erwerben, ale ihm jahrelange 
gelehrte Studien geben würden, mit Hochachtung und Bewunderung. 
So erging es vor mehreren Jahren auch bem Verfaſſer diefer Zeilen. 
England iſt die praßtifche hohe Schule ber Politit. Wie mancher 
deutfche Zandemann, den ich nad ſeiner Ruͤckreiſe von England fah, 
begegnete mir mit dem Außsrufe: Aber wie weit find wir Deutfchen 
doch noch zurüd! Und fo iſt es mirklich in Gewerb und Handel, in 
Polizei und Verwaltung, in der Handhabung der Öffentlichen Gerechtig⸗ 
keit und Sicherheit und der ausgedehnteften allgemeinen Steiheit in Fi⸗ 
nanz⸗ und Staats: Wirthfhaft, vollends in der höheren Politik und ber 
dipfomatifchen Unterhandlungskunſt zur kraͤftigen Schuͤtzung 





280 Englands Staatöverfaffung. 


Nation und aller Bürger und ihrer Intereſſen gegen das Ausland, 
in Erhaltung und Körderung der Macht und der Blüche ihres großen 
Vaterlandes. In der That, wenn man die englifchen Verhältniffe in 
ihrem Zuſammenhange in's Auge faßt, und alles biefes mit unfern lieben 
deutfhen Miniſtern, Amtmännern, gelehrten Pedanten, fchwerfälligen 
Gewerbsleuten, und wenn man die Ergebniffe für des Vaterlands Ehre, 
Freiheit und Macht überhaupt in Beziehung auf alle hoͤchſten Güter des 
Staatslebend für edle Bürger und edle Fürften betrachtet, wenn man 
Englands ftete Fortſchritte und Verbeſſerungen und unſere täglichen 
Ruͤckſchritte in Beziehung gerade auf jene wichtig ſten Güter gründlich 
vergleicht, fo erfcheint unfere bdeutfche gouvernementale Weisheit fait 
als Eindifh. Und wenn nun unfere deutfchen vornehmen und gemeinen 
Spiefbürger irgend eine einzelne Schattenfeite, wie fie ſich Kberall fin 
den, aus den englilhen Zuſtaͤnden hervorheben, um damit all unfere 
Mängel vergefien zu machen, fo kann man ſich des Mitleids nicht er: 
wehren. Da fprechen fie von englifchem Eigennug , ohne von dem uner: 
muͤdlichen aufopfernden patriotifhen Gemeingeift der Engländer felbit 
nur eine Ahnung zu haben. Wenn fie freilich darüber Elagen wollen, 
daß ‚die Engländer als bebächtiges Volk, zumal im Handel, gerne alle 
Vortheile an ſich ziehen, die ihnen weniger geſchickte und tuͤchtige Völker 
und Regierungen einrdumen, gerade fo, mie es einft auch die Deutfchen 
in der Zeit der Hanfa gegen Schweden, Engländer und Portugiefen 
thaten,, fo waͤre der Verdruß heilfam, wenn er nur ben rechten 
Gegenftand träfe Da fpricht man ferner von der entfeglihen Ar: 
muth des englifhen Volks im Gegenſatz einiger wenigen Leberreichen, 
ohne zu erwägen, daß nach unverwerflichen flatiftifchen Nachrichten von 
den beffern Lebensmitteln, 3. B. von Fleifh und Wien, Brod und 
Bier das zehn= und zwanzigfache in einem Jahre auf einen englifchen 
Volksmann kommt, ald auf einen beutfchen, und daß durch die vollfom: 
menfte Volksfreiheit und die lebendige, meiſt volksfeſtlich auggeübte 
Theilnahme am vaterländifchen Gemeinwefen auch ungleih mehr gebo- 
benes naterlandsftolzes Bewußtſein und höherer Lebensgenuß den engli: 
fhen Bürgern zu Theil wird, als jeder Willkür preisgegebene gedruͤckte 
Regierungs- und Volizeifklaven nur ahnen Eönnen. 

Der reihen Ausführung Murhards uber die englifche Freiheit 
und Verfaſſung möchten wir nur einige Bemerkungen nachtragen. 

1) Die erfle befteht darin, daß wenn mir die Wirkungen der eng: 
liſchen Berfaffung bei einer Vergleihung englifcher und deutſcher Zu: 
ftände richtig würdigen wollen, wie Folgendes nicht überfehen dürfen: 
Es befteben in England von der englifhben Verfaffung ganz 
unabhängige, ſehr nachtheilige Verhaͤltniſſe, ungleid nad: 
theiligere, al8 wir in Deutfchland haben. Diefe dürfen wir nım nicht 
als Theile der englifhen Verfaffung diefer zum Nachtbeile, fondern wir 
müffen fie ihr zum Ruhm anrehnen, weil troß diefer Hinderniffe dieſe 
Verfaffung fo große bürgerliche Freiheit und fo große Kraft und Bluͤthe 
des Nationallebens und des Staates begründen Eonnte, waͤhrend es un- 


Englands Staatsverfaſſung 231 


ferer Verfaſſung nicht zur Ehre gereicht, wenn bei ungleich günfligeren 
Verhaͤltniſſen fie weniger Sreiheit, Nationalwohlfein unb politifche 
Kraft giebt. | 
England wurde nämlich wiederholt von ben Sachſen, Dänen unb 
Normannen erobert, das Land großentheild. unter bie Sieger vertheilt 
und ber Befiegte vom Sieger unterdrüdt. Dadurch entflanden aufer 
großen perfänlichen Ungleichheiten und Bedruͤckungen, außer druͤckenden 
Seudalverhältnifien, große Ungleichheit bed Vermögens, vorzüglich bes 
Srunpbefiges. Die kraͤftigen altfächfifchen Sreiheitsgrundfäge, biefer 
Kern: der freien englifhen Verfaffung und der freiheitlichen Volksbilbüng 
und die auf ihren Grundlagen entwidelte heutige Verfaffung bewährte 
nun die herrliche Kraft, dag fie die perfönlichen und feudalen Bes 
druͤckungen und Ungleichheiten, die Leibeigenſchaft, die Lehnsverhaͤltniſſe, 
bie Patrimonialgerichtsbarkeit, felbft die Zubenbedrüdung, fo wie bie 
Beamtenwillkuͤr weit früher und ungleich vollſtaͤndiger befiegte, als un⸗ 
ſere deutfche Verfaſſung «8 felbft bie jegt vermochte, obgleich uns doch 
ſolche Eroberungen und Vertheilungen bes Landes unter die Sieger und 
die durch fie in England entflandene enorme Güterungleichheit völlig 
fremd blieben. Die Gutsungleichheit, die in England fo groß ift, baß 
ber Srunbbefig noch allein in den Händen von 33000 Familien (meift 
jener alten Eroberer) ſich befindet, biefe konnte nicht die Verfaſſung, 
fondern nur eine neue Revolution aufheben. Die Verfaffung aber hat 
ein wahres Wunder bewirkt, daß fie das Nachtheilige biefes an ſich uns 
glüdfeligen Verhaͤltniſſes, welches allein ohne jene DBerfaffung die Na 
tion in Sklaverei geilürzt hätte, fo unendlich milberte, ja für das Be⸗ 
ftehen der größeften allgemeinen flaatsbürgerlihen Freis 
beit unſchaͤdlich machte, fo daß felbft auch der reiche englijche Adel fie 
liebt und ehrt, fie durch Eein einziges Vorrecht und Patrimonialcecht beein» 
trächtigt und einzig nur das wohltbätig ausgebildete Palrieamt für ben 
erfigebornen Gutserben als Adelsrecht befigt und mit verdienten zum 
gleichen Amt erhobenen Bürgerlichen theilt. Auch die gleich große Schwie⸗ 
tigkeit einer ganz außerordentlichen Blüthe der Fabrikation und des Welts 
handels, welche die freie englifche Verfaſſung ale mohlthätige Gegenges 
wichte gegen die Gutsungleichheit und zur Gründung der unermeßlichen 
englifchen Nationalmacht ſchafft und ſchuͤtzt, welche aber unvermeibdlich 
neue große Gegenfäge von reich und arm hervorrufen, auch fie weiß bie 
englifhe Verfaſſung der flaatsbürgerlihen Sreiheit und Sicherheit uns 
fhäbdlih zu mahen. Sie vermag «es, ihre Gefahren und Schwierige 
ten, welche deutſche Regierungen und Polizeimänner in Verzweiflung 
fegen und täglich zu den verkehrteften Staatsſtreichen verleiten wuͤrden, 
zu befiegen und immer mehr zu mindern. Auch das unglüdliche Ir⸗ 
land, deſſen Scidfale durdy feindfelige Gegenfäge der Nationalitäten 
und Meligionen, durch wieberholte Exroberungen, buch bie mit Hilfe ber 
Franzoſen gegen die englifche Freiheit geführten irländifche Kriege, ohne 
Schuld der englifhen Verfaſſung herbeigeführt wurden, ſieht feine Uebel 
durch dieſe Verfaffung fchon bedeutend gemildert. Dieſelben werden 





Durch bie Eroberung Tue Ts ame, I 
—5 — ei; —— 









zugleic ' in die’ — | 
beſt⸗ Regterung, die beten Mi- 
— — 






ker ch di ien erſammlung 
on, * unter — bes + gleiche‘ ie aufgeflärten Mon: . 
—* ee enefcheiber über die hoͤchſte Tuͤchtigkeit und Wuͤrdigkeit zu 
den Minifterfteilen, und fo Lange fie diefes Vertrauens fich würdig zeis 
en, iſt Wille und Kraft der Nation mit ihrer Verwaltung und die 
Bor ition diene nur ihren Blick zu ſchaͤrfen, ihre Anftrengung für eine 
terlande, dem Monarchen und der Nation heilfame und ehren- 
. fletkenreine Berwaltung zu verdoppeln, und fie ſogleich zu entfer— 
nen, fobald ihre Verwaltung fehlerhaft wird. Aber felbft den fonft per- 
[önlih unangenehmen, gehaßten Mann unterftügen ‘König und Parla- 
‚wenn er nur dee entfchieden befte, tauglichfte Minifter ift, fo den 
4 {en Pitt, der dem König fehr unangenehm war, fo den jüngern 
ber fo Vielen im Parlament perfönlich mißfiel, fo Cannin 2, WS ben 

Ir ‚önig und bie in Mehrheit befindlichen Torys nicht liebten, fo des Baum: 
wollſpinners Peel's großen Sohn, dem bie ſtolzen Torys abermals in Mehr: 
beit als Ihrem Leiter huldigten und mit ben MWhigs feine patriotifch heilſa⸗ 
mer, ihnen verhaßten großen Maßregeln bewiligten. Ohne 
freies, Parlament. aber wuͤrfeln ber Zufall, perfönliches Behagen bes 
Für ger noch elende Hofintriguen und geheime eigennügtge 
Factionen , allzu oft durch he Hilfe felbit das Ausland, die Minifter 
au bie Spige des Stadte. find fie nf ef höchft imietelmä fig e, 
unfähige Männer, ober, wenn fie fäh find aut ausgewählte 
Werkzeuge einer ober eines verfa umgefintchen Abſolutismus, 


WEaglands Staatöverfaffung: 283 


Wirberber bes Landes. Auch bem guten Minifler: aber fehlt hier das volle 
Vertrauen, die Zuflimmung und freiwillige Mitwirtung der Nation, 
mwoburch im freien England jebe Regierungsmaßregel im Innern und 
Aenferen unmiderftehlid, und fiegreic, wird, während im unfteien Staat 
alle beften Einfichten und Kräfte fi erfhöpfen an der Bemühung, 
die Freiheit und Einſicht und Kraft der Öffentlichen Meinung und des 
Volke zu lähmen, fo daß die Miniſter für die Ehre und den Wohlftand 
umd bie Kraft der Nation Reine Zeit haben. Könnt ihr euch mun noch 
wundern, daß Englands Freiheit, Ehre, Macht und Größe ſtets waͤchſt, 
daß feine Regierung alle Intereſſen vertritt und ihre Maßregeln uns 
überwindlich werben, während anderwärts eine abgefchmadte ſtaatsver⸗ 
derbliche Maßregel die andere jagt, ein leichtfinniger frevelhafter Eigen⸗ 
finn und Eigenmwille die Interefjen des Vaterlandes verlegt, die Achtung 
der Staaten nach Außen, ihre Sreiheit und Kraft im Innern zerſtoͤrt, 
vor Allen aber das Licht der Wahrheit und einer freien öffentlichen Mei⸗ 
nung ausiöfcht, damit die ſtaatsverderbliche Politik nicht felbft durch das 
Bild ihrer Jaͤmmerlichkeit und Lächerlichkeit incommobirt wird, damit 
nur etwa bie andern gefcheidten Leute im Inn⸗ und Auslande fie fehen, 
oder damit eigennüpige Factionen und Lotterbuben ungeftört den Staat 
fo lange ausplündern und ruiniren Binnen, bis es endlich unvermeidlich 
zu ſolchem oͤffentlichen Bankbruch kommt, wie in Frankreich in der Mes 
volution oder in Deutfchland feit den Revolutionskriegen. Gewiß, es 
gehört die ganze unwillkuͤrlich täufchende Gewalt verhärteter Vorurtheile, 
mie die des göttlichen Rechts und Königsverftandes oder die Gewalt bes 
Herkommens oder des ariftokratifchen Kaftengeifl:6, oder die der Selbſt⸗ 
täufchung zu Gunften eines hochmüthigen Eigenwillens dazu, um es bes 
greifen zu innen, daß nicht wenigſtens dieſer eine entfcheidende 
Hauptvorzug einer freien parlamentarifchen Reichsverfaffung für bie 
Ehre und das Heil des Thrones wie des Volkes Überall und endlich auch 
einmal proßtifch anerfannt wird, dag fo oftmals ohne böfe, ja bei wohl» 
mwollender Gefinnung jene Ehre und jenes Heil von beiden den unges 
ſchickteſten Händen, Rathfchlägen und Maßregeln jener Zufallemis 
nifter überlaffen wird! 

Den Engländern aber muß wohl eine ſolche Minifterbildung und 
Mintfterernennung, eine folhe Staatseinrichtung, wie in den nicht freien 
Staaten, nicht befier vorkommen, als die Dandwerks » Einrichtung ber 
Heere barbarifcher Völker, weldhe nach dem Zufall bes Beliebens eines 
Offiziers durch fein Commandowort die Schuhmadyers und die Schnels 
der⸗Meiſter ſich ernennen laſſen. 

Wir Deutſchen aber, wir werden auch noch zu ber engliſchen Ein⸗ 
ficht gelangen und bald. Nur die Art und Weiſe wie die Erkennt: 
nig zum allgemeinen Durchbruch kommt, nur biefe iſt ungewiß. Ueber 
das ob aber wird Niemand mehr zweifeln, der die fchnellen Kortfchritte 
Eennt, welche jest die Volksmeinung in Deutfchland der Tiefe und ber 
Breite nach macht. Ich fage die Volksmeinung, nicht die öffentliche 
Meinung, weil bie beutfche Regierungspolitit Beine voichtigere Aufgabe 


284 Englands Staatöverfaffung: 


zu haben fcheint, als die Deffentlichkelt der Volksuͤberzeugung zu unter« 
drüden. Doch fie cenfiren bald nur für ſich allein, und auch bie 
Staatszeitungen und bezahlten Organe fchreiben nur für fie. Das 
Volk Lieft fie nicht mehr, laͤßt fich nicht mehr taͤuſchen. Die Bluͤthe 
und Ehre, die Kraft, die DVeritändigkeit ber freien parlamentarifchen 
Megierung fehen auch, was Deutfche in England, Belgien, Norwegen, 
Frankreich und Amerika täglidy deutlicher vor une und noch deutlicher 
alles Segentheil zu Haufe. Sage es doch jeder mohlmollende Mann ben 
durch ihre eigne Unterdbrüdung ber freien Wahrheit und Volksanſicht 
Getäufchten, Achtung und Glauben und Vertrauen für die geheime Hof⸗ 
und Minifterweisheit find in folchem täglichen fchredhaften Abnehmen 
in der Nation, daB man — und wäre e8 auch nur zur Mettung ber 
Ehre des Verſtandes — der gefunden Vernunft je eher je lieber ihr 
Recht gönnen follte! 

3) Viel Streit herrſcht über bie gefhihtlihe Entſtehung 
bes ewig bemundernswerthen Kunftwerks der englifchen Verfaſſung. Une 
bat e8 immer gefchimen, der hauptſaͤchliche Grund der Verfchichenheit 
und auch der Irrigkeit oder Einfeitigkeit der ſich mwiderfireitenden Theo⸗ 
rien liege bier wie bei dem Streit über die gefchichtliche Entſtehung 
und Weſenheit anderer wichtiger Einrichtungen, 3. B. die der Regierung 
und der Megierungsnachfolge, oder bie des Schwurgerichts und der 
deutſchen Landftändifhen Verfaſſung. Diefe gänzliche Verſchiedenheit 
und Einfeitigkeit kommt naͤmlich alfermeift von der Handwerks s oder zunft- 
mäßigen Abfonderung und Entgegenfesung ber Standpunkte unferer 
Gelehrten und von ihrer Neigung, die Dinge weniger in der vielfeitigen 
Einheit ihrer lebendigen organifchen Verbindung, als von der befondern 
Seite ihres einzelnen Faches zu betrachten, und diefe Seite, fo mie ihr 
Fach felbft zur Hauptfahe oder zum Weſen des Ganzen zu erheben. 
So fuht man denn diefe befondere Seite nicht etwa in ihre organifche 
Verbindung und Zufammenwirtung mit den übrigen, fondern vielmehr 
in eine abftracte Ssfolirtheit und in einen augfchließenden Gegenfaß zu 
fegen. Die deutfchen Gelehrten bilden dann aus diefen Einjeitigkeiten 
ganze Schulen, die hiftorifche, die philofophifhe u. f. wm. Sie Enüpfen 
daran alsbald ganz falfche praftifhe Theorien. 

So machen denn bei allen genannten Verhältniffen zuerft bie hi: 
ftorifhen und die philofophifhen ihren einfeitigen Gegenfaß. 
Nach den hiftorifchen haben ſich diefe Inſtitute, wie fie nun gerade 
jeßt find, gefund oder verkehrt, allmaͤlig hiftorifch ganz von ſelbſt ge: 
macht, und zwar gerade nur als Producte ihrer zufälligen befonderen 
Umgebung. Die englifche Verfaffung Eonnte lediglih nur bei den in- 
dividuellen englifchen Anfelbemohnern und auf ihrer Inſel entfichen, fo 
daß jeder Verfuh, fie anderwärts ihrer Wefenheit nach einführen zu 
tollen, abſurd wäre. Dabei geht man denn nun, fo meit moͤglich, auf 
einzelne hiftorifche Anfänge der Entwidlung zurüd. 

Mich aber bedünkte, die menfhlihe Vernunft, Natur und das 
Beduͤrfniß jeder Gefellfhaft vernünftiger, vernünftig und frei fein wol- 


Englands Etaatöverfaffung. 285 


lender Menfhen, ihre Vernunft: Ideen von Kreiheit, Recht, 
Geſellſchaftsverein — dieſes wären doch auch hiftorifche That⸗ 
ſachen und Erſcheinungen und viel dltere und gemeinfchaftlichere 
als die britifchen Inſelbewohner. Und fie fcheinen mir gemaltig wirkſam 
bei all diefen Inftituten. Ja es fcheint mir auch überall hiſtoriſch nach⸗ 
weisbar, wie in der mehr allmäligen ober mebr reformatorifchen ober re⸗ 
volutiondren Geftaltung diefer Inftitute Einzelne und Verſammlungen 
des Volks mit mehr oder weniger unmittelbarer gefunder Anfchauung 
und auch bewußtem Nachdenken, überhaupt aber mit Sreiheit, dieſe 
alten Vernunftideen des Volks zu verwirklichen und über entgegengefehte 
freie und unfreis Hinderniffe zum Siege zu bringen fuchten. Umgekehrt 
aber vergefien bie Philofophifhen bie Bedingungen unb 
Schranken und Entwidelungsformen menfchlicher Freiheit, die 
individuell hiftorifchen und felbft zum Theil die allgemeinen, wenn fie 
unpiftorifch jene Inftitute aus der Reflerionsphilofophie irgend einer Ges 
feggebung ableiten und fie abfolut überall und auf jeder Gulturftufe der 
Völker durchführbar halte. Wernunft und Gefchichte oder die aͤußere 
allmälige Geftaltung und Ausbildung bedingen und einigen fih, unb 
fir die Erfcheinung bedingen fie fi) auch ganz ähnlich wie Leib und 
le. 


Ebenfo ift es irrig, freilich meift mehr einfeitig als abfolut falſch, 
wenn bei ber hiftorifchen Betrachtung, oft abermals je nach bem Vor⸗ 
wiegen befonderer Fachs⸗ oder Schulanfichten, dee juriftifchen, der pofis 
tiven, der rechtsgeſchichtlichen ober der allgemeinhiftorifchen, ber alt s oder 
neuzeitlihen einzelne Seiten oder Entwidelungsmomente be 
Inſtitute, als deffen Wefenheit oder eigentliche Entftehung dargeftellt 
werden. So behandelte man z. B. in Beziehung auf die englifche 
Berfaffung Alfredo MWiederheritelungen, die Magna Charta, bie 
Tormannen > Eroberung, oder ben befpotifhen Drud, wie Delolme 
meint, oder die fchärfere Abtheilung in Ober: und Unterhaus, die erfle 
oder zweite Revolution unter den Stuarts, diefe oder jene Verfaſſungs⸗ 
urkunde, die der Bill und bie der Petition of rbigts. Aehnlich leitet 
man die bdeutfchen Landſtaͤnde ab von den Hof» und Rittertagen, von 
den Herzogs⸗ und Grafenverfammlungen, von den Unionen, von bem 
landesherrlichen Schuldenwefen und von dem gegen die Schuldenüber- 
nahme ausgeftellten fürftlichen Sreiheitsbriefen.im 16. Jahrhundert u. f. w. 
Ganz ähnlich fol die Jury entflanden fein aus den altgermanifcdhen 
Eidhelfern oder aus den Schöffen oder aus ben angelſaͤchſiſchen Geſammt⸗ 
bürgfchaften oder aus der Uebertragung fandinavifcher einftimmiger 
Zmölfmannengerichte u. f. w. Alle diefe Theorien fegen fi in mög» 
lichſt fcharfen Gegenfag. Jeder will mas Neues und Eigenes haben. 
Alle überfehen die Gewalt der Rechtsidee, verwehfeln fie mit 
dem vorübergehenden Factiſchen, das ganze Wefen mit eins 
zelnen Seiten und Kormen. So ift denn auch dem Einen das 
Schwurgericht und die Repräfentativverfaffung abfolut fremdes; dem Ans 
deren beutfches JInſtitut. Mir fcheint bei allen diefen drei Inſtituten, 


2356 Englands Staatsverfaſſung 


je länger nnd je mehr ich mich an biefen gelehrten Gegenfägen und 
Streitigkeiten und Einzelheiten vertiefte und je mehr ich dann wieder von 
der Künftlichkeit ihrer Bereife und Schlußfolgen, von ihrem Widerſtreit 
und ihrer oft abftracten Dürre in der Auffaffung und Anfchauung ber 
ganzen natürlichen urkundlichen Gefchichte zu befreien eilte, der Mittel⸗ 
pundt der Wahrheit vielmehr nur in folgenden Sägen zu liegen. 

Englifhe und beutfhe ſtaͤndiſche Verfaſſung und 
Shwurgeriht beruhen ihrer Weſenheit nah auf den alts 
germanifhen Volks⸗(Reichſs⸗ und Landtages, Derzogss und Graf⸗ 
ſchafts⸗, fpäter auch den feubaliflifhen) Werfammlungen der Ver: 
einsgenoffen, (entweder aller Einzelnen oder, wie es theilwelfe ſchon 
ganz früh und fpäter immer regelmäßiger der Fall ift, der Reprdfentan: 
ten aus Ihrer Mitte); ober fie ruhen mit andern Worten auf der allge 
meinen aber von den Germanen in ihrer Weife anerkannten Vernunft, 
auf der vernünftigen (auf der germaniſchen) Freiheit, wonach 
nur die gemeinfchaftlihe Ueberzeugung oder Vereinbarung 
der Genoſſen das gemeinfhaftliche (oder alle aͤußerlich verbin⸗ 
benbe Recht und Geſetz und Rechtsurtheil begränden Tann. 
Wie verfchieben nun auch die Kormen und Verhältniffe der geſellſchaft⸗ 
lichen Verbindungen und Zuftände im Laufe der Gefchichte fich geftalten 
mochten, bier allodial, dert feudal, hier durch fauftrechtliche oder Erobe⸗ 
rungsgewalt ober andere Umftände, durch Vereinigung oder durch Zer⸗ 
trennung ber diteren Vereme augenblidlich verftümmelt und zurüdges 
drängt, immer und immer wieder bringt jener gefunde Lebenskeim, bie 
germanifhe vernünftige Grundidee gerechter Gefellfchaftseinrichtungen tie: 
der hindurch. Die Rechtsidee beſiegt das vorübergehende Factifche, 
das Wefen bleibt im MWechfel einzelner Geftaltungen. Alle jene 
verfchiedenen einzelnen hiftorifchen Erfcheinungen und Geftaltungen, die 
nad) jenen Theorien Entftehung und Weſen fein follen, find nur ein: 
zeine oft vorübergehende Seiten und Sörderungsmittel der Ent- 
widlung und Geſtaltung des Weſens und Lebens jener drei Inſti⸗ 
tute, Aeußerlichkeiten, melde ſich jenes wahre bleibende Weſen und 
Leben für feine Erhaltung und Fortbildung dienſtbar macht, affimilict 
und benust, ganz aͤhnlich wie unfer eignes Leben die verfchiedenen Nah: 
rungs- und Kleidungss und MWerkzeugsftoffe und die verfchiedbenen Ereig- 
niffe und Begebenheiten feiner Wefenheit und Beſtimmung dienſtbar zu 
machen fucht, felbft aber in allem Wechſel dauert. 

Merhätt es fich in doch felbft ganz ähnlich mit der germanifchen 
und englifchen Regierung und der monardifchen oder fürftlihen 
Succeffion. Da fol diefelbe bald in diejer, bald in jener Zeit ent: 
ſtehen, verfchieden in jedem germanifchen Volk. Es foll nach dem Ei: 
nen bdiefelbe nur auf reiner Volkswahl und auf volfs-feuverinem Willen 
beruhen, nad) dem Andern auf bloßem Erbrecht, welchem man dann bald 
eine Art Eigenthums, bald eine Art göttlichen Redyts unterzufchteben oder bei: 
zufügen fucht. Die Germanen und die Engländer aber fuchten mit der auch 
bier wefentlichen Lebensgrundlage für eine freie legitime Regierung, nämlich 


Englands Staatsverfaffung 287 


dem cechtlichen Geſammtwillen ber Nation auch noch bie fo wohlthätige Dauer 
und Zeftigkeit des Gentralpunftes der Regierung zu verbinden. Sie wähls 
ten zuerſt der Regel nad) einen, zumellen auch mehrere ber Söhne des 
früheren Fuͤrſten, oft den Einzelnen, fpäter alle Folgenden zum vor» 
ans mit.. Dabei hielten fie flets jene Rechts idee der allein wahren 
Zegitimität der Regenten fell. So namentlich durch die ſtete foͤrmliche 
Erneuerung des Vertrags durch Zürfteneid und Huldigung auf bie 
Verfaſſungs⸗ und Wahlverträge bei dem Regierungsantritt, und früher 
durch ausdruͤckliche, fpäter durch ſtillſchweigende eder thatfächlihe Grunde 
bedingungen, daß beim Dinwegfallen aller mitgewählten tüchtigen Erbfol⸗ 
ger, neue Wahl ber Nation eintrete, und daß durch alle verfafe 
fungemäßig möglichen Mittel, z. B. Eid, Miniflerverantwortlichkeit, 
Steuerbewilligungsrecht oder auch noch durch befondere Einrichtungen wait 
ber in der englifhen Magna Charta, für die Erfüllung des Ver⸗ 
faffungs» und Wahlvertrags von Seiten des Regenten geforgt 
werbe, ober baß bei anerfanntem Aufgeben bes Vertrags von feiner Seite, 
fo wie bei der Berufung des Haufes Braunfchweig und fpäter in Franke 
veih, Schweden, Norwegen, Belgien, ebenfalls neue Wahl eintrete. 
Auch das folchergeflalt durch die Verfafſung gefeftigte, in diefem Sinn 
eigenthuͤmliche Recht der Thronfolger und Könige und das durch gemeins 
fchaftliche religiöfe Acte auch veligids geweihte und unter göttlichen Schutz 
geſtellte Eönigliche Recht und feine volle Geltung und Wirkſamkeit im der 
Berfafjung, fo daß nun im monachifhen England nad) defien Verfaſſung 
keineswegs ohne bes Königs freie Mitwirkung und Zus 
kimmung, em von ber legitimen koͤniglichen Gewalt getrennter, 
ihr entgegengefester einfeitiger Volkswille (die Volks⸗ 
founveränetät entweder im revolutiondren oder im republis 
Panifhen Sinne) beliebig über ben König verfügen koͤnnte. 
Selbſt ein eigenthämliches Exbrecht und das Dei gratia in jenem 
Sinne erkennen alfo die Engländer an. Sie thun es um fo wil⸗ 
liger„ ihre freie Ehrfurcht vor ihren Königen iſt um fo 
reiner und größer und inniger, been Krone fist um fo feftee, 
ſtrahlt um fo herrlicher, je mehr ihre Verfaſſung und Volksgeſinnung 
ihnen jene, obigen Bürgfchaften ber Geltung des verfaffungsmäßigen Dr 
tionalm Geſammtwillens geben, je fichtbarer ihre Koͤnigthum nicht auf 
verſpotteten romantiſchen Schwaͤrmereien und Fictionen ober bem zufäls 
ligen und rohen Factum der Gewalt und des Raubritterchums beruhe, 
fondern auf dem Heiligfien und dem Maͤchtigſten, mas es auf 
Erden giebt, auf dem fittlihen freien Gefammtwilien 
einer ehrenvollen freien Ration. Um fo williger buldigen fie 
ber wahren Eöniglichen Majeſtaͤt und ihren geheiligten Rechten, je mehr 
jene Buͤrgſchaften ber Volkefreiheit und Volisehre und vwoch ‚befonbere. 
parlansentarifche Criminalgeſete jenes wahnfinnige, wnvertragsmäßige und 
dam Grundvertrag feindfelige göttliche Recht ausſchließen, melches die 
Stuarte und Bourbonen wiederholt um Thron und Lehen brachte 
und bie Kationen in Revolutionen fürzte, weiches mit Thomefius 


fein großer Kurfürſt und Friedrich ber Große AS abgefchackt 
und geundverberblih für die Staaten beträdgteten. - a. as Al 
| Auch wir Deutfchen gaben nie ganz jene germanifchen Brunbibeen 
über Stinde, Gefhworne und fürftlihe Succeſſton auf. Und «es iſt 
mierkiwtiedlg, auf welche Meife fie felbft bei ber fuͤrſtlichen Regierung 
und Nachfolge nicht bios im Meiche anerkannt blieben, nur daß Hier zu⸗ 


 Teßt leider immer mehr alle Erblichkeit ſchwand, fordern wie fehr auch 


- 


in den einzelnen Staaten bie Verfaffungsurkunden, z. B. die von kauen⸗ 
burg und Schleswig-Holftein (f. beide Artikel), jene grundver⸗ 
fragsmäßige freie Huldigung, Anekennung und Wahl ber. Fluͤrſten und 
Sürftenhäufer mit dem erblichen Mecht und der heiligen Würde ber Fuͤr⸗ 
fen zu vereinigen wiffen umb nicht blos mie Diefer, fonbern auch gegleich 
mie Bniferlicher Betätigung und Beleihung. : Denn da in Deutfdyland 
aus dern Früher einfachen Staate allmälig ein: Staaten» Staat oder eirie 
Doppal-Berfaffung und Regierung, die bes Landes und des‘ Meiches 
entitand, fo behielten bie Würftenthümer, Grafen ». uͤnd Herzgthänier 
noch fehr lange, ja bis zu Ende des Reiches mehr ober minder die Ber 
fralt Falferlicher und Reihe Memter. Deshalb fin es auch, fo 
fange die Bürger ihre eigentliche grund vertragemaͤßige Verfaffung tim 
Reiche und im MWahlkaiferthum fahen, keine Wer ' derfelben, teren 
bie Kalfer bei der Ernennung ihrer Beamten oder Fuͤrſten verfaffungs⸗ 
mäßig mitwirken. Mitwirkung aber und Vortbauer ber Idee der alten 
Dolkemahl der Beamten blieb menigftens der Rechtsidee nad) ftets und 
der Ausübung nach wenigſtens allermeift auch der Landfchaft. Kacttfche 
und fauftrechtliche Verlegungen, zum Theil entfchuldigt durdy bie Idee 
bes Amtes und ber Befegung, Vertheilung und Verdußetung der Amts: 
gewalt mit Zuftimmung des Laiferlichen Regenten koͤnnen niemals ein 
einſeitiges willkuͤrliches Verfügungsrecht ber Fürften über ihre Länder 
und eine fouveräne Regierungsgemwalt ohne verfaffungsmäßige freie An» 
erfennung des Volks rechtlich begründen. Diefes ift weder durch die 
Reichs⸗, noh duch die Landesgrundverträge begründet. 
Durch das Weofallen der kaiſerlichen und der Amtsrechte und durch die 
nen conflitutioneflen Verfaſſungen iſt vollends jede blos factifche Ge: 
wait beſeitigt. Was aber etwa grundverfafjungswidrig hier und da un: 
rechtlich factiſch vorkam, das iſt ebenfo gut, wie ja das ganze Rhein 
bundss und des fremben Eroberers Anrecht mit dem Tage erlofchen, als 
bei ber Erhebung zu den Befreiungskriegen von den Fuͤrſten ausgefpros 
en und von den Völkern anerkannt wurde, daß das nationale Wolke: 
recht wiederum erwache und neu fortlebe. Solche wahrhaft legitime Re⸗ 
ſtaurationen werden die germaniſchen Nationen nach jeder Unterdruͤckung 
feiern, denn nationale Rechte verjaͤhren nicht. Dies gilt auch fuͤr die 
Thronfolge in Schleswig⸗Holſtein und Lauenburg. 

Der große Vorzug der Engländer und ber englifhen Verfaſſung 
aber befteht num einestheil6 in jener eigenthümlihen Zaͤhigkeit 
oder beffer Charakterfeſtigkeit des altfähfifhen Volks: 
ſtammes, womit berfeibe Rats an feinen altgermanifchen 





⸗ 


Englands Staatöverfaffung. aB9 


Urrechten und feinen alten freien Inſtitutionen feſthielt, 
and aus jeder gewaltfamen Unterbrüdung fie wieder hervorzog, womit 
er felbft da, wo er bie factifche Verlegung nicht mehr abwehren konnte, 
doch die Recht idee, die hohen Srundfäpe feiner alten Fre 
beit, feiner engliſchen Urs oder Geburtsrechte (birt rhigts), wie er fagt, 
in Anerkennung erhielt und fo für jede günflige Epodye ihr erneuertes 
Aufleben in der zeitgemäßen Geſtaltung moͤglich machte. Er beftcht zu⸗ 
gleich in einer ebenfalls diefem Volksſtamme eigenthümlichen prakti⸗ 
fhen Tuͤchtigkeit, in einem Maßhalten md einer praftis 
[hen Gemeſſenheit, bei der genügenden Kraft. Diefe Eis 
genfchaften gehen durch die ganze angelfähhfifche Gefchichte, von dem er⸗ 
ſten Beginn derfelben. So hatten die verhältnißmäßig wenigen Einwan⸗ 
derer untere dem gebildeteren alten Britten ihre vaterländifchen Einrichs 
tumgen ſiegreich gemacht und erhalten, fie auch nad) gänzlidyer Unterjochung 
durch die übermächtigen Dänen im Stillen bewahrt und unter Alfred ’6 
kuͤhner Leitung wieder zum Siege gebradht. So hatten fie nad) ber 
furchtbaren Normannens Eroberung endlich fogar den Sieger vermodht, 
in feierlichen Urkunden, bie wir noch befigen (in der f. g. Leges Edo- 
- wardi), ihre altfähfifchen vertragsgrundfäglichen und „uralten” 
Berfaffungs » und Rechtseinrichtungen als Reicheinflitutionen zu ber 
ſchwoͤren und fi als den vertraggmäßigen Nachfolger der alten ſaͤch⸗ 
fifchen Könige zu erklaͤren, weshalb fie auch feinen Beinamen: conquest, 
nicht ale Eroberer, fondern als „ Erlanger”, als rechtmäßigen Erwerber 
überfeßten. Und beharrlich erfämpften fie gegen bedruͤckende Feuballaften 
Erleichterungen, und in Sreiheitsbriefen, fo z. B. in der Charta de forestis, 
Anerkennung ihrer beſſern alten Rechte. So erfämpften fie vollends, als 
Johann ohne Land das Hauptfundament ihrer Verfaffunge . 
rechte, ben Grundvertrag mit ber Nation dadurch verlegte, baß ex 
feine Krone von Gottes Gnaden befigen, vom Papft zu Reben 
nehmen wollte, in bewundernswerth einmüthiger Revolution, in welcher 
bem König fieben einzige Vaſallen getreu blieben, ihre große Verfaſſungs⸗ 
urfunde, die Magna Charta. Darin flellten fie ihren Grundvertrag 
mit dem König an bie Spige, ganz friedlich vereinbart mit dem Titel: 
„von Gottes Gnaden“, organificten förmliche Rechtshilfe und für ben 
ſchlimmſten Fall fogar ein Widerftande » oder Revolutionsrecht gegen 
ben König, jedoch zugleich mit der hoͤchſten Maͤßigung nicht blos durch 
forgfältige gegen Mißbrauch ſchuͤtzende Kormen, fondern auch mit auss 
druͤcklicher Beſchraͤnkung alles Widerftandes auf die Bewirtung der Wie 
deranerkennung bed Grundvertrage durch den König und mit ausdrädli- 
chem Ausfchluß der damals in den Sreiheitsbriefen vieler Voͤlker, 3. B. 
der Aragonier, ausgefprochenen Abfegungss und Richtergewalt über den 
König. Die perfönliche Freiheit ſchirmten fie durch das ausdruͤckliche 
Verbot aller Verhaftung vor einer Verurtheilung durch das Schwur: 
gericht von 12 Genoſſen (pares). Schon diefes Grundgefeg des frühen 
Mittelalters legte. durch allgemeine Sanction freier Auswanderung für 
ale Einwohner des Landes und durch Beſtimmung gleicher echte 


I Zu Englands Staatsverfaffung. 


des unteren Bafallen gegen den Lehnsherren, wie diefer gegen ben Ober 
Iehnöherren behauptete, die Grundlage der weſentlichſten Milderung und 
ber fpäteren Aufhebung ber Leibeigenfchafts: und der Feudalverhaͤltniſſe, 
womit die Engländer ganz Europa vorauseilten. Oft genug wurden in 
ben fchweren Zeiten bed Mittelalters die Volksrechte der Magna 
Charta factifch verlegt, aber die Engländer betvahrten auch unter dem 
factifhen Webergericht bes Fauſtrechts doch immer mit Energie die An» 
erdennung der Rechtsidee ober ihrer Mechtsgrundfäge und zwangen 
mehr ale fehzigmal verlegende gewaltfame Könige zum neuen eid⸗ 
lichen Beſchwoͤren ihres Grundvertrags. Mit Eifer bewahrten fie ins: 
befondere auch ihre alten Volksgerichte, ihre Volksrechte und ihre Wolke: 
muͤndigkeit gegen das Eindringen der Romaniften der römifchen Sprache 
und der befpotifchen Grundſaͤtze roͤmiſcher Kaifer, welche uns Deutſche 
in’s Unglüd flürzten. Mit Energie wiefen fie namentlich die Doctoren 
ber fremden Rechte aus den Gerichten und aus dem Parlamente. 

In folder Weife behaupteten die Engländer und in günftigen 
Momenten erweiterten fie ober bildeten beffer und zeitgemäß aus, und 
ficherten beffer die altgermaniſchen Zreiheitsgrundfäge in den flänbifchen, 
in den Regierungs =» und in den Schwurgerichtseinrichtungen. In fols 
her Weife entſtand und entfaltete fi) das ganze altehrwürdige und 
doch zeitgemäße Gebäude brittifcher Kreiheit und Verfaſſung, bie endlich 
baffelbe als herrlichſter Tempel bürgerlicher und nationaler Freiheit vor 
ben Augen ber bewundernden Welt baftanb. 

4) Das Weſen ber englifhen Verfaſſung befteht in 
ber menfhlihen, bürgerlihen und politifhen Freiheit 
und freien Selbftregierung aller gemeinfhaftliden Ange: 
legenheiten unter Leitung möglichft einfaher, zweckmaͤßi⸗ 
ger Gefellfhaftsgewalten,. die grundvertragemäßig aus 
bem gemeinfhaftliden Nationalleben hervorgebend, 
fih duch gefunde organifhe Wechſelwirkung zugleidh un⸗ 
terftügen und zugleich gegenfeitig in ihrengrundvertrage 
mäßigen Schranten halten. Diefe gegenfeitige Beſchraͤnkung auf 
die dem gefunden Staatsorganismus weſentlichen Schranken nennen bie 
Engländer das Bleihgewiht Montesquieu, bieangemeffene 
Vertheilung der Sewalten. Die Hauptfache ift dabei jene von 
Murhard gefchilderte treffliche, immer volllommener ausgebildete Einrichtung, 
daß Fein einzelnes Werkzeug ober Organ der Gewalt, alfo weder ber 
König, noch eine Kammer, weder fie alle, noch bie Volksverſammlung 
für fi allein und mechaniſch abfolut und zerftörend für die andere 
und ihre Vorrichtung gegen das Grundgefeg und den gefunden Orga: 
nismus der Gefellfchaft wirken kann, daß vielmehr ſolche verberbliche 
Wirkfamkeit ausgefchloffen, verhindert, ober alsbald kraftlos gemacht 
wird. Und in der That das Gleichgewicht in dieſem höheen or: 
ganiſchen Sinne ift ebenfo die mefentlichfte Meifterfhaft bes Kunftwerke 
der englifchen Verfaffung und die ſchwierigſte Aufgabe für jede wahre 
politiſche Kunſt, als das Gegentheil berfeiben und zwar ganz ebenfo gut 


Englands Statiffit — Engl. Bank⸗ u. Creditſyſtem. 241 


eine fchrankenlofe Macht jacobinifcher Volksverſammlung, mie eine foldye 
- Gewalt eines Einzelnen, der Stufe ber politiſchen Rohheit angehört, in 
politifcher Hinficht ebenfo die armfeligfte niebrigfte Stufe ber Bilbung 
einer Nation darftellt, wie im Thierreiche die Thiere mit einem einzis 
gen Drgan, etwa einem Darmecanal, bie unterften Gefchöpfe der Thier⸗ 
welt find. C. Welder. 

Englands Statiftil. (Zufag zu Seite 194 nad) dem erften 
Abfag.) Ganz auf diefem Wege gefunder Verbefferungen fortſchreitend, 
bat vor Allem in diefem Jahre dee vorteefflihe Staatsmann P eel durch 
feine umfaflenden neuen Gefege auf. fchonende Weife die hohen Getreides 
zoͤlle, nachdem fie neben ihrer Begünftigung der Gutsariſtokratie doch 
auch weſentlich mitwirkten, der englifchen agrarifhen Gultur ihren hoben 
Standpunkt zu fichern, fo mie gleichzeitig audy eine große Reihe früherer 
Schutzzoͤlle mefentlid vermindert. Während die Freiheit bed Verkehrs 
auf jede Weife gefördert, die Laften der großen Maſſe der Aermeren überall 
bedeutend gemindert, ihre Kebensbebürfniffe mohlfeilee gemacht werden, wird 
bie Stantscafe durch die nur die Wohlhabenderen treffende Peel'ſ he Eins 
Sommenfteuer im jährlichen Betrage von 60 Millionen Gulden entfchädigt 
und ficher geſtellt. Ruͤhmend durfte ein politifches Blatt, bie Rundfhau 
von 8. Mathy, Nr. 9., neulic fagen: „In England find feit etwa ſechs 
Fahren eine Reihe von Accisgattungen und die Cingangszölle von mehr 
ale 700 Artikeln theils ermäßigt, theils aufgehoben, die Brieftare allgemein 
auf ein Penny (3 Kreuzer) herabgefegt, endlich auch die Zölle vom Ges 
treide bedeutend vermindert und ber gänzlihen Aufhebung entgegengeführt 
worden.” 

(Anmerk. zu Seite 205 nad dem erften Abfag.) Das eben 
fheint uns der hoͤchſte Vorzug der englifchen Conftitution, welcher 
fi) durch die außerordentlichen friedlichen gefeßgeberifhen Meformen, 
welche ſchon wieder in den wenigen Jahren feit Abfafjung des obigen Artis 
kels fowohl der Zorpminifter Peel wie bee MWhigminifter Ruſſell 
durchfuͤhrten, beftätigt, daß die Engländer felbft in ihren feit dem Fauſtrecht 
bes Mittelalters unendlich ſchwierigen Verhältnifien doch feit der Ausbildung 
ihrer Freiheit ſtets Revolutionen duch Reformen zu verhindern wiſſen. 
Diefe Berfaffung fichert ihnen das Gluͤck, daß ftets die genialften, geachtet- 
ſten Staatemänner der Nation das Staatsſchiff leiten, daß die Schiffs: 
mannfchaft freiwillig ihre Kräfte verboppelnd zufammenmirkt, um wirkliche 
Stürme ohne Schiffbruch zu überwinden, und daß fie durch die Frei⸗ 
beit und freie Bewegung dazu Antrieb und Geſchick und Mittel hat. 
Dieſes beherzige, du arme deutſche Staatsweisheit! 

C. Welder. 


Englifhes Bank: und Ereditfyflem. In dem Artikel 
„Bank, Band I. ©. 155, ift bemerkt, daß die Beſtimmung von 
1708, wonach keine Geſellſchaft von mehr als ſechs Theilnehmern Bank: 
noten ausgeben durfte, im Jahre 1826 auf diejenigen Orte beſchraͤnkt 
wurde, welche innerhalb 65 Meilen um Kondon liegen. Banken, welche 
keine Noten ausgeben, find überall geflattet; fie bedienen fi der Noten 

Suppl. 3. Staatsier. II. 16 






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55323 








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legenheiten unter Leitung moͤglichſt einfaher, zweckmaͤßi⸗ 
ger Geſellſchaftsgewalten, bie grundvertragsmäßig aus 
dem gemeinfhaftlihen Nationalleben hervorgehend, 
fid durch gefunde organifche Wechſelwirkung zugleidh un: 
terfiägen und zugleich gegenfeitig In ihren grundvertrags: 
mäßigen Schranken Halten. Diefe gegenfeitige Beſchraͤnkung auf 
Die dem gefunden Staatsorganismus weſentlichen Schranken nennen bie 
Englände das Gleichgewicht Montesquieu, bie angemeffene 
BDertheilung der Sewalten. Die Hauptſache ift dabei jene von 
Murhard gefchilderte treffliche, immer vollkommener ausgebildete Einrichtung, 
tein einzelnes Werkzeug ober Organ der Gewalt, alfo weder ber 
König, noch eine Kammer, weder fie alle, nod die Volksverſammlung 
für fich allein und mechaniſch abfolut und zerfiörend für die andere 
und. ihre Vorrichtung gegen das Brundgefeg und den gefunden Orga⸗ 
niömus ber Gefellfchaft wirken Tann, dag vielmehr folche verderbliche 
Wirkſamkeit ausgefchloffen, verhindert, ober alsbald kraftlos gemacht 
wird. Und in der That das Gleichgewicht in biefem hoͤheren or: 
ganiſchen Sinne ift ebenfo die weentlichfte Meiſterſchaft des Kunflwerke 
der englifchen Verfaſſung und die ſchwierigſte Aufgabe für jede wahre 
gositiche Kunſt, als das Gegentheil derſeiben und zwar ganz ebenfo gut 


8 


Englands Statiftit — Engl. Bank⸗ u. Greditfoften. 241 


eine fchrankenlofe Macht jacobiniſcher Volksverſammlung, mie eine foldye 
Gewalt eined Einzelnen, der Stufe der politifchen Rohheit angehört, in 
politifcher Dinficht ebenfo die armfeligfte niedrigfte Stufe der Bildung 
einer Nation darſtellt, wie im Xhierreihe bie Thiere mit einem einzis 
gen Drgan, etwa einem Darmcanal, bie unterften Gefchöpfe der Thier: 
welt find. C. Welder. 

Englands Statiftil. (Zufag zu Seite 194 nach dem erften 
Abfag.) Ganz auf diefem Wege gefunder Verbefferungen fortſchreitend, 
bat vor Allem in diefem Jahre der vortrefflihe Staatsmann Peel durch 
feine umfaffenden neuen Gefege auf. fhonende Weife die hohen Getreides 
zölle, nachdem fie neben ihrer Begünftigung der Gutsariſtokratie doch 
auch wefentlih mitwirkten, der englifchen agrarifchen Cultur ihren hohen 
Standpunkt zu fichern, fo wie gleichzeitig auch eine große Reihe früherer 
Schutzzoͤlle weſentlich vermindert. Während bie Freiheit des Verkehrs 
auf jede Weife gefördert, die Laſten der großen Maffe der Aermeren überall 
bedeutend gemindert, ihre Lebensbeduͤrfniſſe wohlfeiler gemacht werden, wird 
die Staatscaffe durch die nur bie Wohlhabenderen treffende Peel'ſche Eins 
kommenſteuer im jährlichen Betrage von 60 Millionen Gulden entfchädigt 
und ficher geftellt. Rühmend durfte ein politifches Blatt, die Rundfhau 
von 8. Mathy, Nr. 9., neulich fagen: „In England find feit etwa ſechs 
Sahren eine Reihe von Acciögattungen und die Eingangszoͤlle von mehr 
als 700 Artikeln theils ermäßigt, theils aufgehoben, die Brieftare allgemein 
auf ein Penny (3 Kreuzer) herabgefest, endlich auch die Zölle vom Ges 
treide bedeutend vermindert und der gänzlidhen Aufhebung entgegengeführt 
worden.‘ 

(Anmerl. zu Seite 205 nad dem erflen Abfag.) Das eben 
fheint uns ber höchfte Vorzug der englifchen Gonftitution, welcher 
fih durch bie außerordbentlichen friedlichen gefeßgeberifhen Reformen, 
welche fchon wieder in den wenigen Jahren feit Abfaffung bes obigen Arti⸗ 
kels ſowohl der Tory miniſter Peel wie der Whigminiſter Ruſſell 
durchfuͤhrten, beſtaͤtigt, daß die Englaͤnder ſelbſt in ihren ſeit dem Fauſtrecht 
des Mittelalters unendlich ſchwierigen Verhaͤltniſſen doch ſeit der Ausbildung 
ihrer Freiheit ſtets Revolutionen durch Reformen zu verhindern wiſſen. 
Dieſe Verfaſſung ſichert ihnen das Gluͤck, daß ſtets die genialſten, geachtet⸗ 
ſten Staatsmaͤnner der Nation das Staatsſchiff leiten, daß die Schiffs⸗ 
mannſchaft freiwillig ihre Kraͤfte verdoppelnd zuſammenwirkt, um wirkliche 
Stuͤrme ohne Schiffbruch zu uͤberwinden, und daß ſie durch die Frei⸗ 
heit und freie Bewegung dazu Antrieb und Geſchick und Mittel hat. 
Dieſes beherzige, bu arme deutſche Staatsweisheit! ER 

. VWelder. 


Englifhes Bank: und Ereditfyflem. In dem Artikel 
„Bank, Band Il. ©. 155, ift beinerkt, daß die Beſtimmung von 
1708, wonach keine Gefellfchaft von mehr als ſechs Theilnehmern Bank: 
neten ausgeben durfte, im Jahre 1826 auf diejenigen Orte befchräntt 
wurde, welche innerhalb 65 Meilen um London liegen. Banken, welche 
feine Noten ausgeben, find überall geftattet; fie bedienen fih der Noten 

Suppl. 3. Staatsier. II. 16 


= 


242 Englifches Bank+ und Greditſyſtem 


ber Bank von England gegen eine Provifion von 1 Procent. Aufer 
dem Disconto pflegen diefelben noch eine Provifion von etwa 4%, fo: 
bann noch eine Gebühr für geleiftete Zahlungen, Verſendungen u, f. w. 
in Anfag zu bringen. Dafle verzinfen fi aber audy bie bei ihnen 
_ binterlegten Gelder mit 2 bis 3%. Ihr Nusen befteht in der Anfamm: 
lung und Verwendung von unbefchäftigtem Geld, ihr Gewinn in bem 
Mehrbetrag ber Uctiv» Uber die Paffiv» (dev Discont: über die Depofi: 
ten«) Zinfe. Die Landbanken follten vor den Privatbanfen ben Vor: 
theil größerer Sicherheit voraus haben, doch ift dies nicht immer der Fall. 
Dom Jahre 1809 bis 1826 fallieten in England allein (mit Ausſchluß 
von Schottland und Irland) 274 Landbanken, und zwar die größte Zahl 
in den Saheen 1814 bie 1816, nämlid 92, und 1825 und 1826, 
naͤmlich 58. Man hat verfchledene Maßregeln vorgeſchlagen, um das 
Publieum vor den Nachtheilen Teichtfertig betriebener Banken zu fichern, 
mie das Verbot ber Ausgabe von Noten unter 5%, Sicherheitstleiftung 
ber Theilhaber für die Einlöfung ber Noten und Bekanntmachung ihrer 
Verhaͤltniſſe. Die Zettelbanken müffen daher Quartals⸗Ueberſichten über 
ihre Motenausgaben aufftellen, durch einen Eid befräftigen und bem 
Stempelamte in London einfenden. Die Noten müffen geftempelt wer: 
den und aufierdem hat jeber Theilhaber eine Licenz zu Iöfen und jährlich 
zu erneuern, was jedesmal BO Pfdb. Sterl. koſtet. — In den Jahren 
1805 bis 1825 wurden jedes Jahr zwifchen 4 und 12 Millionen Band» 
banknoten geftempelt (1820 nur 3,574,894 Pfb., 1813 die böchfte 
Summe mit 12,615,509 Pfd. ; im Sabre 1809 wurden zwar über 15 
Millionen geftempelt, allein darunter find viele umgejtempelte 1 Pfb.: 
Noten, für welche die Abgabe erhöht worden war). Seit 1826 beträgt 
die jährliche Menge nur 1 bis 3 Millionen Pfd. und die Machtheile, 
welche die ungeregelte Papiermaffe für den Umlauf herbeiführte, haben 
zu ber Einfiche geführt, daß neue Notenbanken nicht mehr geftattet und 
die Motenausgaben der vorhandenen nicht vermehrt werden dürfen. Die 
Zahl ber jährlih genommenen Licenzen ſchwankt feit 1809 zwifchen 
600 und 900 und hat feit dem Gefeg von 1826 abgenommen. Weber 
die verfchiedenen Krifen ber Landbanken, ihre Urfachen und die Mittel 
zur Verhütung ift in der Note IX. (Money) von M'Culloch's Ausgabe 
von Adam Smith Vortreffliches geſagt (New edition, London 1839, 
&. 480 u. f.). „Der Fortfchritt des Syſtems der Banken mit vereinigs 
tem Fond (Joint-stock banking system) feit 1826 — heißt e8 dort unter 
Anderem — ift merkwürdig. Bis 1835 wurden 56 Banken, alfo 
durchſchnittlich etwa 6 regiftrirt. Befondere Umftände wirkten zufammen, 
um im Sahre 1836 den Speculationsgeift anzuregen, und er wendete 
ſich vorzugsweife auf Geſellſchaftsbanken; es entflanden deren fünfunb- 
vierzig In dieſem einzigen Jahre. Allein ſelbſt diefe Zahl bleibt hinter 
der Wirklichkeit zurüd, denn die meiften haben zahleeiche Verzmweigungen, 
manche bis zu dreißig oder vierzig; man, kann daher wohl fagen, daß 
1836 in England und Wales über 200 Bankanſtalten in das Leben ges 
rufen wurden. Es läßt fi) annehmen , daß die in einem Augenblick der 


* 


Engliſches Bank⸗ und Cteditſyſtem 248 


Aufregung errichteten Anftalten bezüglich auf Solidität mangelhaft wa- 
ren. Die Actin waren met gering, felten über 50 Pfb. Sterl., 
mande 25, 10, ja feldft nur 5 Pfd. Sterl., und davon wurden nur 5, 
10 His 20% eingezahlt. Wer 10 bis 20 Schilling entbehren Eonnte, 
war In ber Lage Actionde zu werden. Leute in mißlihen Umſtaͤnden 
traten bei, um ihren Credit aufzubeffern und Darleigen zu erhalten. Die 
Moten diefer Banken füllten nun den Umlauf, der Wechfelcurs, welcher 
im S$anuar 1836 pari und noch etwas darüber geflanden, begann zu 
weichen und der Meberfluß an Papier veranlafte, daß Gold zur Ausfuhr 
gefucht wurde, — bei der Bank von England. Der Andrang dauerte 
ununterbrochen bis October, obgleich die Bank ihre Emiffionen in der 
Hauptftadt beſchraͤnkte und den Zinsfuß im Juni von 4 auf 44 und 
im Auguft auf 5% erhöhte. Wäre bie Bank allein befugt 
gemwefen, Papier auszugeben, der Andrang nach Gold waͤre nicht 
entflanden oder es wuͤrde ihm mwenigftens alsbald eine Schranke gefegt 
worden fein. Sein Anwachſen zu einer Höhe, welche die Bank von 
England in große Gefahr brachte, iſt lediglich dem Verfahren der Ges 
ſellſchaftsbanken zuzufchreiben.. Angefichts des Andrangs nad) Metall: 
münze, des raſchen Steigens des Zinsfußes und der großen Beforgniffe 
im Publicum, fuhren fie fort ihre Notenmenge zu vermehren, flatt zu 
vermindern. Der Rüdfchlag erfolgte, fobald der Drud auf dem Geld» 
markt eine gewiſſe Höhe erreicht hatte, und ohne den Beiftand der Banf 
von England würden mehrere Gefellfhaftsbanten untergegangen fein. 
Solche Schwankungen aber werden fich immer ergeben, mo das Umlaufs- 
mittel aus mehr als Einer Quelle fliegt.” — 

Der Vortheil, melchen Handel und Verkehr in England, im Ver⸗ 
gleich mit dem fchmerfälligen Umlauf, wie er noch in Deutſchland tft — 
von der allgemeinen Benugung bed Bankwefens zieht, tft fehr hoch an« 
zuſchlagen; es liegt darin eine der Urfachen, melde durch Anfammeln 
und Beſchaͤftigen von Geldcapital der britifchen Induſtrie ihr Ueberge⸗ 
wicht faſt auf allen nicht genugfam befhügten Märkten über die einhel- 
mifche verfhaffen. Eine kurze Schilderung, welche John Prince Smith 
in einer Meinen Schrift über Actienbanten entwirft, wollen wir hier bei- 
fegen: 
„Jedermann (in London), der eine Caſſe von irgend namhaften 
Beträge bat, Legt feine Baarſchaft bei einer Bank nieder und leiſtet 
feine Zahlungen nun durch Antoeifangen auf diefelbe, wozu ihm ein Heft 
mit geflochenen Kormeln, die er nur ausfüllen und losfchneiden darf, 
geliefert word. Alles, was er einnimmt, meiftentheil$ nur aus Bankan⸗ 
weifungen , fogenannten Checks, beftehend , [hit er taͤglich an feine 
Bank und läßt durch diefe feine fälligen Wechfel unmittelbar eincaffiren. 
Er wird aller Mühe mit Zahlen und Aufbemahren von banrem Gelbe 
überhoben ; an großen Zahlungen bei einen ausgedehnten (Hefchäfte fer: 
tigt ex die Anmeifungen zum Voraus an und verrichtet Gaffengefchäfte 
zum größten Betrage mit einer Leichtigkeit und Gefchmwindigkeit, von ber 


man Zeuge gewwefen fein muß, um fie fich vorftellen zu koͤnnen. Die 
| 16 * 


244 Enregiſtremen tt 


Anweifung dient als Quittung; und da der Bankier des Empfängers 
gewoͤhnlich darauf beseichner iſt, wird fie mur Jenem für Rechnung des 
Bepteren ausbezahlt, kann alfo nicht in unrechte Hände gelangen und bat, 
wenn fie verloren gebt, für den Finder Feine Gültigkeit. Man kann bem 
exſten beften Boten rin WVerzeichniß von Forderungen von noch fo großem 
Betrage zum Einzlehen geben ; er tritt in jedes bezeichnete Comptoit, ruft 
ben Namen bes Abfenders und die Summe aus und empfängt in dem» 


ſelben Augenblide die fertig liegende Anmeifung, obne daß nad) feiner 


Legitimation nur gefragt wirb. Auf diefe Weife kann nöthigenfalls rin 
Bettler von ber Straße einen Auftrag zum Einziehen von mehreren hun⸗ 
berttaufend Thalern in fünfzig verfchiedenen Poflen binnen wenigen Stuns 
den ausführen. Zwiſchen den Runden berfelben Bank werden folherges 
ftalt die Zahlungen ohne alle Baarfchaft, durch bloßes Ab» und Zus 
ſchreiben in den Bankbüdyern entrichtet: Aber auch die verfchiebenen 
Banken, welche von ihren Kunden Anweifungen auf einander haben, tau—⸗ 
ſchen diefelben täglich zu beftimmter Stunde in einem feftgefegten Local, 
Clearing house, gegenfeitig aus und entrichten baar nur bie etwaigen 
Differenzen. Auf diefe Weife wird im London an mandem Tage «in 
Betrag von 50 Millionen Thalern mit weniger als 1 Million an baat 
ausgeglichen. — Jedermann fucht natürlich feinen baaren Caſſenbeſtand 
fo niedrig als möglich zu halten, weil baares Gelb keine Zinſen bringt. 
Er bält nur fo viel vorräthig, als nörhig iſt, feine Auszahlungen zu 
beftreiten, bis ihm neues Gelb eingeht, und je genauer er bie Ueber: 
einftimmung zwiſchen Ab⸗ und Zugang bei feiner Caſſe allegeit abwaͤgt, 
um fo geringeren Borrath zur Ausgleihung darf er halten, um fo ge 
ſchickter ſind feine Baufmännifchen Operationen, Uber bie Gejammt- 
fumme, welche ſich durch Zufammenmerfen aller zerjtreut liegenden kleinen 
Gaffenbeftände, bei den Banken berausftellt, ift ungeheuer groß. Nicht 
blos Handeltreibende, fondern auch alle irgend wohlhabenden Privaten, 
befondere aber bie öffentlichen Anftalten,, beriugen die Girobanken. Und 
wenn man nun bedenkt, welche erſtaunlichen Beträge fogar die aͤrmſten 
Claſſen durdy die Sparcaffen zufammen bringen, wirb man wohl glaus 
ben, daß die vereinigte Baarfchaft der Wohlhabenderen und Reichſten 
betraͤchtlich genug ausfällt.” K. Mathy. 
Enregiftrement (Einregiftrirung) ift im Allgemeinen die Eins 
tragung eines Actes in ein bazu beftimmtes fortlaufendes Regiſter oder 
Bud. Im alten Frankreich fpielte die Einregiftrirung der Ge— 
fege (enregistrement des lois) durch bie Parlamente bekanntlich eine 
wichtige Rolle, indem fich diefe Corporationen, welche ſich als Vertreter 
ber Nation betrachteten, oft weigerten, koͤnigliche Befehle zu regiftriren, 
die als Geſetze gelten follten , die fie aber mit den Sundamentalgefegen 
(den „Sonftiturionen‘) des Staats und insbefondere mit den Rechten 
und Privilegien der Stände oder der Geſammtheit des Volkes im Wi- 
berfpruche hielten. Der männliche Muth, mit welchem bie Parlaments» 
mitglieder fo oft der koͤniglichen Laune und Willkuͤr Trotz boten, verdient 
alle Anerkennung, obfhon es ſich häufig blos um Standesvorrechte han: 


‘ 
. 


Enregiftrement. 245 


belte. Oft wurben bie Parlamentsräche verbannt, manche von ihnen 
eingekerkert, ohne daß fie dadurch zur Untermürfigkeit gebracht werden 
Eonnten. Die abfolute Gewalt fegte freilich mit ihrer materiellen Macht 
zulsgt allerdings Alles duch, — freilich nur, um fich felbft am Ende 
defto gewiffer zu Grunde zu richten. — 

Wenn man heute in Frankreich und ben mit demfelben verbun⸗ 
ben gewefenen Rheinlanden vom Enregiſtrement redet, fo verftcht man 
darunter gewöhnlich bie Einregiftrirungsgebühr (droit d’enregie- 
trement 


). 

Der Urfprung des Enregiſtrements findet fi in der durch Orbon⸗ 
nanz Eubwig’s XIV. vom Monat Auguft 1669 eingeführten f. g. Con» 
trole. Der Zweck biefer Einrichtung war, ben Acten durch Eintra⸗ 
gung in gewiſſe Regifter ein fiheres Datum zu gewähren und ba: 
durch vielen Fälfchungen und fonftigen WBetrügereien zu begegnen. Die 
für jene Einfchreibung zu entrichtende Abgabe war, wie dies gewoͤhnlich 
der Fall if, anfangs nicht bedeutend. Auch blieb die Verpflichtung zur 

iſtrirung lange auf verhältnißmäßig wenige Gegenflände befchräntt. 

in dem finanziellen Drange der Revolution erhielt die Einrichtung 
ihre jegige Grundlage. Sie beruht Hauptfächlich auf den Beſtimmun⸗ 
gen des Geſetzes vom 22. Scim. VII, wozu fpäter die Verfügungen mer 
gen der Gebühren ber Gerichtöfchreiberei (welche aber ebenfalls ber 
* bezieht) und jene über die Abgaben von errichteten Hypotheken u . dgl. 
amen. 

Der dem Fiscus eintraͤglichſte Theil dieſer Einrichtung beruht in ber 
Beſteuerung ber Käufe. Sogar von der Veräußerung von Mobilien 
muͤſſen 2% des Preifes entrichtet werben; bei Immobilien fogar 
vier Procmt, und dazu kommt noch weiter bie Transſcriptionsgebuͤhr 
von 14 %. Schenkungen unter Lebenden find mit 5% beſteuert. Ja 
unter Napoleon wurde noch überdies eine Kriegsſteuer“ beigefchlagen, 
durch welche die urfprüngliche Gebühr bes Enregiſtrements, ber Trans⸗ 
feription u. f. f. um ein Zehntel erhöht wurde, — eine Auflage, die, obs 
wohl fie in Frankreich längft abgefchafft war, in Rheinbaiern noch bis 
zum Sabre 1831 forterhoben und auch dann blos auf Abrechnung gegen 
Steuernachlaͤſſe in den Altern Kreiſen aufgehoben ward. Nur die f. g. - 
„Sterbfaligebühren ,’ — welche felbft der Sohn von der Exrbfchaft bes 
Vaters mit 1 % entrichten mußte (für andere Exrbfchaften betrug fie noch 
mehr), hatte fchon der ruffifche Seneralgouverneur des Mittelcheing, 
gleich bei Belegung des Landes durch die alliirten Heere, unterm LE. Fe 
bruar 1814 bereits gluͤcklich abgeſchafft. Der heffifchen Rheinprovinz da⸗ 
gegen wurde die Wohlthat zu’ Theil, daß bie ganze proportionelle 
Gebühr in eine fire von nur 28 Kr. (1 Franc) umgewandelt, oder viel« 
mehr auf biefen für die Negifteirung der geringften Acten beflimm: 
ten Betrag gleichmäßig herabgefegt ward. Nur bei bebeutendern Ver: 
Laufen beträgt fie mehr — 4 Fl. 40 Kt. 

Das Enregiſtrement ift allerdings an ſich eine nuͤtzliche Einrich⸗ 
tung als Controls für das Datum der Acten. Ste iſt uͤberdies (a nice, 


246 Sphorat — Erhlchteit 


fach mit ben übrigen Einrichtungen ber franzoͤſiſchen Gefeggebung vers 
flochten, daß ihre unbedingte Abſchaffung nicht kurzweg burchgeführt wer⸗ 
den koͤnnte, ohne 5* Anftände hervorzurufen. Dagegen iſt fie 
grundverderblich durch die enorme Größe der Auflage, durch die uns 
geheure Höhe, in welcher die gemöhnlichften Geſchaͤfte des Lebens und 
Verkehrs belafter find. Eine Folge davon iſt, daf fie zu Umgebungen 
und Betruͤgereien führt, die oft fo tief und wahrhaft verberbfich in bie 
Familienverbhältniffe eingreifen, wie man es urſpruͤnglich wohl gar nicht 
als moͤglich geahnt hatte. Go traten namentlich die Folgen zu nie 
beiger Angaben bei Immobiliarverfäufen nicht felten erſt nach Iahtz 
zehnten, wenn Sterbfälle eingetreten find, zum Machtheile ber Mittwen 
ober ber Kinder hervor, an bie man urfprünglich ‚gar nicht gebacht 
hatte. So in humbert anderen Fällen. 
Um fo übler iſt es, daß man namentlich im der bait. Pfalz den 
Regiftrieumgsgefegen fortwährend eftte fo maßlos fiscalifche Auslegung 
und Anwendung zu geben bemirht if, wie es in Frankreich ſelbſt nie 
geſchah. Wergeblid; hat man ſich namentlih in ber bair.  Ständever: 
ſammlung dagegen erhoben, unter Anfuͤhrung ber grellften Beiſpiele. 
Die Plusmachetei laͤßt ſich nicht fo kurzweg verbringen, denn wer dem 
Fiſeus mehr zumendet, kann gewiß fein, dabucch nicht in Ungnabe zu 
fallen. Zwar könnten bie Betheiligten gegen Weberforderungen proceffis 
ren, aber theils find die einzelmen Beträge, um bie es fich handelt, 
bei ber Koftfpieligkeit des bieffeitigen Gerichtsverfahren® hierzu meiftens 
nicht groß genug, anberfeits bat man e8 mit einem Gegner zu thun, ben 
das Proceffiren nichts koſtet, der alfo jede derartige Sache durch alle 
Inſtanzen, bis zur hoͤchſten, ohne irgend einen Nachtbeil durchführen kann, 
fo daß ein bochgeachteter und vielerfahrener pfälzifcher Mechtegelehrter (ein 
Freund bes Verfaſſers, der verflorbene frühere Advocat, nachmalige Me: 
gierungsrath Loͤw) geradezu ausfprach, „es fei Faft in allen Fällen das 
Beſte für die Elagende Partei felbft, „mern fie nur gleih in erfter 
Inſtanz ihren Proceß verliere” Diefer Mann hat. feine (übrigens 
auf gaͤnzliche Abfchaffung der Regiftrirabgaben gerichteten) Bemerkungen 
in einer fhon 1814 zu Speyer veröffentlichten (anonymen) Slugfchrift 
unter dem Titel niedergelegt: „Geiſt der Enregiſtrementsgeſetze.“ 
©. Fr. Kolb. 

Ephorat, Ephoren. Als den unmittelbarften Erfag eines Epho⸗ 
rats für die Regierung kann man die Verantwortlichkeit der Mini: 
fter (f. den Art.), als den allgemeinften für alle verfaffungsmäßige Gewalten 
und politifche Beftrebungen die allgemeine freie Öffentliche Meinung und thr 
gewichtigftes Organ, die Preßfreiheit, betrachten. (S. Cenfur.) Beide find 
ungleich großartigere heilfame politifche Inſtitutionen als die alten Epho: 
rate, Genfurgerichte oder auch als platonifche Philoſopheme. 

C. Welder. 

Erblichkeit. (Zu Seite 223.) Bon den rechtlichen Verhaͤlt⸗ 
niffen, die zu ‚verfhiedenen Zeiten bei verfchiedenen Völkern in weſentlich 
gleichartiger Weiſe zum Vorſchein kamen, ———— * voraueſeten, daß ſie 


Erblichteit. 347 


nicht das Erzeugniß der Laune von Einzelnen waren, fonbern bie gefehliche 
Anerkennung eines im Verlaufe des Voͤlkerlebens natürlich hervortretenden 
Zuftandes. Dies beftätigt ſich durch die nähere Betrachtung bes Entſtehens 
und Verſchwindens ber Erblichkeit der Aemter, mie verwerflicdh fie auch von 
unferm jegigen Standpunkte der Cultur uns erfcheinen mag. Kin Aehn⸗ 
liches gilt von der Erblichkeit des Privatvermögens und von den wefentlichen 
Veränderungen , welchen biejelbe im Wechfel der Zuftände unterworfen war. 
Sct Montesquieu’s Behauptung, dab das Naturrecht die Väter vers 
pflichte, ihre Kinder zu ernähren, nicht aber, fie zu Erben einzufegen, wollte 
man zivar vielfach die Erblichkeit des Vermögens als etwas rein Willkuͤrliches 
betrachten, das einzig und allein nach zufälligen Rüdfichten der Zweckmaͤßig⸗ 
Leit bemeſſen worden ſei. Aber fchon die allfeitige Webereinftimmung in den 
hauptſaͤchlichſten Momenten der Entwidlung bed Erbrechts (ſ. Erbrecht) 
weift dafür auf einen allgemein menſchlichen Naturgrund bin, befjen Bes 
beutung und Umfang näher ins Auge zu faflen ift. 


(Zu Seite 229 an das Ende.) Nach dem Allen glauben wir die Aus⸗ 
dehnung der Sinteflaterbfolge auf die Seitenverwanbten, fo wie bie Einfuͤh⸗ 
rung des teflamentarifchen Erbrechts als einen Ausfluß jenes einfeitigen Ins 
bivibualismus betrachten zu dürfen, der überhaupt der neueren Zeit fein Ges 
präge aufdruͤckt und zum fchroffen Begenfage die gleich einfeitigen Beſtrebun⸗ 
gen des Communismus für Befeitigung aller Erblichkeit des Vermoͤgens 
hervorgerufen bat. Gleichwohl laͤßt fi), unter den jest noch beftehenden 
ftaatlihen Verhättniffen, das Gewicht ber [charffinnigen Gründe nicht vers 
kennen, bie fchon in der erfien Auflage bes Staatslexikons, im Artikel „Erb⸗ 
recht”, gegen die Beſchraͤnkung diefes letzteren auf die gerade Linie ent⸗ 
widelt wurden. So lange ſich in unfeligem Zwieſpalt nody Staat und Volt 
bald in heimlicher bald in offener Feindſchaft einander gegenüberftehen; fo 
lange noch mit mehr oder weniger Grund von. einem raubgierigen Fiscus 
die Rebe fein kann, wird allerdings jede Beſchraͤnkung der Dispoſitions⸗ 
befugniß der Einzelnen auf den Todesfall als verlegender Eingriff in die 
individuelle Freiheit bitter empfunden werden. Ganz anders aber werben 
fich die Verhaͤltniſſe geſtalten, und in günftigerer Weife wird fich die Öffente 
liche Meinung über die Einführung eines Erbrechts zum größeren Vortheile 
der Sefammtheit ausfprechen, wenn erft der geheime Cabinetsflaat zum 
Volksſtaate geworben iſt; wenn er endlicdy wieder in höherem Maße als bis 
ber feine Pflicht zur fortwährenden Ausgleichung der zufälligen Ungleich⸗ 
heiten des Beſitzthums anerkennt und fich der gerechten Erfüllung diefer Aufs 
gabe gewachfen zeigt. Mur unter diefer VBorausfegung wird es gelingen, 
dem Weberfluthen eines drohend anfchwellenden Proletariate vorzubeugen 
und dem Einbruche eines rohen und zerftörenden communiftifchen Elements 
unüberroimdliche Schranken entgegenzufegen. Bu diefem Zwecke ifl aber auch 
die Anwendung noch mancher anderen Mittel erforberlich, auf welche im Ar- 
titel „Socialismus“ hinzuweiien ift, wo überdies bie Worfchläge einiger 
Pa Socialiften in Beziehung auf Erblichleit berudfichtigt werden _ 
ollen. 


⸗ 


— 


248 Erbrecht. 


Zum Schluſſe mag inbeffen noch bemerkt werben, daß man das 
burchfchnittliche Einkommen, das bei einer Beſchraͤnkung der Erblichkeit 
des Privatvermögens auf die gerade Linte alljaͤhrlich dem Staate zufallen 
wiirde, nicht allzu hoch anfchlagen darf. Aus vorliegenden ftatiftifchen That⸗ 
ſachen geht vielmehr deutlich hervor, daß die durch den Erbgang vermittelte 
Bewegung des Vermögens weitaus zum größeren Theile nur zwiſchen 
Afeendenten und Defcendenten ftatt hat. Im Grofiperzogthum Heffen, das 
im Anfang 1844 eine Bevölkerung von etwas über 834,700 hatte und deffen 
jährlidyes Budget gegen fleben Millionen Gulden beträgt, wird fchon feit 
längerer Zeit eine auf 5 Procent fich belaufende Eollateralfteuer von allem 
beweglichen und unbeweglichen Vermögen erhoben, melches durch Sterbfall 
auf Seitenverwandte ober auf nicht verwandte Perfonen übergeht. Bei über: 
lebenden Ehegatten, welchen blos die Mutznießung vom Vermögen bes verſtor⸗ 
benen Ehegatten zufällt, bleibt die Erhebung ber Eollateralgelder bis zu derem 
Ableben ausgefegt. Won der Eollateralfteuer find nur befreit minderjährige 
Geſchwiſter, wenn fie in ungetheilter Erbfchaft ftehen, und Erbfchaften von 
Geſchwiſtern, bie noch nicht aus der Familie des Überlebenden Vaters oder 
ber Überlebenden Mutter ausgetreten waren, in fo weit diefe Erbfchaften 
in einer uote bed Nachlaſſes eines ihrer bereits verfiorbenen Eltern beftehen. 
Dennoch betrug die Summe ber in ben brei mo 1843 erhobenen Eollas 
teralgelber nicht mehr als 193,262, oder im jährlidyen Durchſchnitt 64,420 
Gulden. Märe alfo ber Staat Alleinerbe geweſen, fo hätte fidy fein jährlis 
ches Elntkommen um nicht ganz 1,300,000 Gulden, alfo nod) nicht um ein 
Fünftheil feiner jegigen Einnahmen erhöht. Immer märe jeboch ein folcher 
Zuſchuß, in Verbindung mit der Befeitigung alles unnfsen Aufwandes in 
unfern foftfpieligen Beamten: und Militairftaaten, beträchtlich genug, um 
bie Gefammtheit in ben Stand zu feßen, auf viel wirffamere Weife, als gegen: 
märtig gefchieht, für die geiftige und fittliche Hebung der unteren Volksclaſſen 
fo wie für bie Unterftüsung aller Hilfsbebürftigen Sorge zu tragen. Daß 
hiermit auch dem wahren Eigenthum, dem durdy perfönliche Kraft und 
perfönlichen Fleiß gegründeten Wohlftande der Familien, ein beflerer Schug 
gewährt waͤre als durch polizeiliche Maßregeln gegen communiftifche und 
foctaliftifche Verbindungen und Beſtrebungen, braudyt nicht befonders her: 


vorgehoben zu werden. Wilh. Schulz. 


Erbrecht. (Zu S. 237 zu Anf. v. Nr. IV.) Bei der ganzen vorhin 
ausgefuͤhrten naturrechtlichen Begruͤndung des Inteſtat⸗ und teſtamentariſchen 
Erbrechts darf aber niemals vergeſſen werden, daß dieſelbe keine abſolute 
und grenzenloſe Eigenthumserwerbung begründen Bann. Als Eigenthums⸗ 
erwerbung ſteht auch die Erbrechtserwerbung unter den hoͤchſten Bedin⸗ 
gungen und Grenzen einer gerechten Eigenthumserwerbung, dieſe aber for⸗ 
dert eine verhaͤltnißmaͤßige rechtliche Gleichheit und eine wirkliche Erwerbung 
nur je nach einem durch ein Verdienſt um die oͤkonomiſche Cul— 
tur legitimirten Bedärfniß bes Erwerbers (f. darüber Roͤmi⸗ 
[ches Reht und das Syftem von Welder Bd. I. S. 605), wozu 
ed denn nad) allgemeinen Durchſchnittsverhaͤltniſſen gebildeter pofitiver Nor⸗ 
men bedarf, um ben Streit zu befeitigen. 


Erfahruug. 240 


(Zu &. 241 nach dem erſten Abſatz.) Gerabe in unſerer Zeit find für 
die Geſetzgebung ſehr erhoͤhte Gruͤnde gegeben, die in dieſem Artikel ange⸗ 
denteten Mittel zur Verhinderung eines zu ungleichen, unnoͤthigen, 
verderblichen, den Beduͤrfniſſen der Geſellſchaft ſich entziehenden Vermoͤ⸗ 
gens, bei Beſtimmung ber Erbverhaͤltniſſe zu verwirklichen. Es wird 
naͤmlich fuͤrs Erſte die Noth vieler Armen fo wie ihre Beduͤrfniß zu ges 
hoͤriger Bildung dringender. Es liegt zweitens in den neueren Geſchaͤfts⸗ 
und Erwerbsverhaͤltniſſen, daß auf ungerechte und unbillige Weiſe ſich Reich⸗ 
thum in den Haͤnden der Reichen, der Grundbeſitzer, Großhaͤnbler, Fa⸗ 
brikanten u. ſ. w. anhaͤuft und den Arbeitern fuͤr ſie der angemeſſene Lohn 
entgeht. Es fordert drittens, außer andern politiſchen Gruͤnden, ſchon 
die Sicherſtellung ber Cultur⸗ und Eigenthumsverhaͤltniſſe gegen eigen» 
thumsfeindliche verderbliche communiſtiſche Richtungen, daß jede wirklich 
gegründete Klage und Empoͤrung über ungerechte, zu ungleiche und verberbs 
liche Guͤterverhaͤltniſſe möglichft befettigt werde. Sollen hierzu nun auch Abs 
züge und Befchräntungen, vorzüglich der großen Erbtheile durch Be⸗ 
fleuerung,, flattfinden , fo muͤſſen body recht deutlich und ficher die fo gewonne⸗ 
nen Gelder ben Armen zu Gute kommen durch Aufhebung der fie zundchfi 
drüdenden Steuern oder durch Verwendungen zu ihrem Beſten. So kann 
und muß Großes gefchehen , in Verbindung mit einer Peel'ſchen Einkom⸗ 
mentare nur für die Wohlhabenderen, das Unentbehrlichfte. in unfern heutigen 
nationaldtonomifchen Zuftänden. | 

Erfahrung. Zunaͤchſt Befeitigung der Einfeltigket- 
ten unferer neueren beutfchen hHiflorifhen und philofo- 
phifhen Schultheorien über Recht und Politik. 

Wenn man in der Wiſſenſchaft und in ber Praxis, zumal in der polis 
tifhen, und vor Allem in ber deutſchen politifchen Wiffenfhaft und 
Draris die Hauptfehler und ihre En tſtehung auffucht, fo wird man 
fichertich finden, daß diefelben fich auf die einfeltige Durchführung der in dem 
vorftehenden Artikel behandelten Gegenfäge gründen. Diefe Einfsitigkeit 
und übertriebene feindfelige Entgegenfegung entfteht wiederum aus der ver» 
kehrt durchgeführten Theilung ber Arbeit, aus dem Kaſten⸗, Zunfts 
oder Handwerksgeiſt, flatt ber lebendigen organifchen Verbindung und” 
Wechſelwirkung. Nicht Alle können alle verfchiebenen Seiten des ganzen - 
zufammenhängenden Lebens und ber Lebensaufgabe erforfchen und behan- 
dein. Sie ſollen ſich ergänzen und unterflügen. Sie follten dabei das le⸗ 
bendige Banze ber Natur, der Menfchheit, ber Staatsgefellfchaft, das 
lebendige Ineinanderſein und Ineinandergreifen aller Seiten, Theile und 
Tätigkeiten dieſes Lebens und die für feine Geſundheit nothwendige Har⸗ 
monie und das liebevolle Zuſammenwirken niemals vergeffen. Aber falfche 
Paftens oder zunftmäßige Vertheilung ber Arbeit, der Mangel freien lebendi⸗ 
gen Gemeinweſens und Gemeingeiftes und Kurzfichtigkeit und Selbſtſucht 
bewirken nur zu oft diefeß Vergefien. So entſtehen denn jene verderblichen 
kaſten⸗ und zunftmäßigen Abſonderungen, Einfeitigkeiten, Ausfchließungen 
und feindliche Begenfäge (f. Encyklop. Einleitung); fo namentlich 
die, im vorflehenden Artikel behandelten, die ber Vernunft und dr Er⸗ 


350 Erfahrung. 


fahbrung. Statt des Ausdrucks Vernunft braucht man oft auch bie 
Worte Phil oſophie, Theorie, natürliche ober ideale Lehre 
(Rechts: und Staatslehre u. ſ. w.) und flatt des Ausdruds Erfahrung 
auch Geſchichte, Praris, praktiſch gültige Lehre. 

Häufig aber vermifcht ſich mit dieſem er ſt en Gegenfag auch ein zwei: 
ter, der der Sreiheit und der Unfreiheit. Diefer wird oft bei dem 
Gebrauche jener Worte mit verftanden. Doch iſt er an ſich davon verfchie> 
ben, indem «8 auch materialiftifche, alle praktiſche Freiheit ausfchlie= 
Bende, fogenannte Vernunft⸗ oder philofophifche Theorien giebt und umge: 
kehrt Diele auch in ihren hiſtoriſchen und praktiſchen Lehren bie 
Freiheit nicht ausfchließen. 

Wie verderblich, wie gefährlich befonders uns Deutfchen diefe zunft⸗ 
oder handwerksmaͤßigen einfeitigen Auffaffungen und feindfeligen Gegenfäge 
der Theorien unſerer Philofopben, Hiſtoriker, Theologen und 
unferer pbilofophifchen oder hiſtoriſchen oder pofitiven Suriften und 
Dolitiker find, diefes wurde bereits in den Artikeln Encyklopaͤdiſche 
Einleitung, Alterchum und Erfahrung angedeutet. Jeder Tag 
unferer jegigen Kämpfe für bie Wiedergeburt eined gefunden deutfchen 
Staats» und Kirchenlebens aber beftätige ed dem aufmerkſamen Beobach⸗ 
ter ſtets neu, daß bier bie Hauptquelle unferer Krankheiten wie unferer 
fortdauernden Verirrungen ſich findet. | 

Auch die Verfuche, frühere einfeitige verderbliche und unpraftifche 
Richtungen. zu bekämpfen, fallen meiftentheild aufs Neue in andere, ge⸗ 
wöhnlich die entzegengefegten Einfeitigkeiten. So bekaͤmpfte mit Recht die 
Hugo’ihe und Savigny’fhe und Eihhorn’fhe hiſtoriſche 
Schule und eine Schule hiftorifher Politiker die Kinfeitigkeit rein. 
philofophifcher idealer Rechts- uno Stautstheorien, melde bie 
naturgefesglihen, anthropologifhen und hiftorifiben Grund: 
bedingungen, Entwidelungsperioden, die Grundlagen und Mittel für das 
freie politifhe Zhun derfreien Perjönlihkerten, der Staaten und 
der Einzelnen ganz überjahen und fo unpraktiih wurden, nichts Haltbares 
gründeten. Aber die Hiftorifchen fielen in ven entgegengeſetzten Schler, 
verwurfen gänzlich die Philoſophie und die praktiſche perjönliche Freiheit. 
Vorzüglich Savigny’s Einleitung zu dev Zeitſchrift für die ge: 
ſchichtliche Rechtswiſſenſchaft und die hier fo wie in feinem Be: 
rufe zur Öefesgebung, früher aud) ſchon von Hugo ausgeſprochene 
gänzliche Verwerfung des Naturrechts und die befunnte Redensart des 
„Sichvonſelbſtmachens des Rechts’ veranfhaulichen dieſe Richtung. 

Andererfeits gelangte auf ihrem philofophifchen Wege die Hegel'ſche 
Philofophie in ihrem Gegenfag gegen die rein ibealifchen Philoſophen und 
Theologen, welche die Natur, ihre Geſetze und Schranken überfahen, eben: 
falls zu jener Verwerfung der praktiſchen Sreiheit und des praktiſchen 
Sollens, zur Verwerfung der wahren, der freien unfterblichen Perfönlidye 
£eit von Gott und Menfh. Sie gelangte der Wefenheit nad) zum völligen 
Materialismus. Keine vornehme Hinweifung auf die ſchwer verjtänd- 
liche Methode und Sprache der Zunft, Eein Eünftliher Wortſchein des für 


Erfahrung. ' 251 


bie philofophifchen Laien unergruͤndlichen fchulphilofophifchen Gedanken⸗ 
netzes befeitigte für die Urtheilsfähigen diefes Refultat und biefe Bedeutung 
der „Wirklichkeit alles VBernünftigen und der Bernünftig» 
keit alles Wirklihen” Mit diefer fuchte Hegel in der Vorrede 
zu feiner philofophifhen Rechtslehre alles freie praktiſche Natur- 
recht, das er bald Lächerlich macht, bald in der Perfon des ehrwürbigen 
Philoſophen Fries den Machthabern als gefährlich denuncirt, zu befäms 
pfen, während fein angebliches, 1820 in Preußen gefchriebenes Naturs . 
recht, treu jenem Sage, die Aufhebung der Glaubens⸗ und der Preß⸗ 
freiheit, weil damals in Preußen wirklich, auh als vernünftig 
vechtfertigte. 

In einer neuen Wendung. behielten viele (die neuhegelifchen) 
Schüler dieſer Philofophie ihrer materialiftifchen Grundlage (der Naturs 
und Sdentitätsphilofophie) vollkommen treu die Ausſchließung wahrer 
praktiſcher Freiheit und freier unfterbliher Perföntichkeit bei. Sie ge⸗ 
langten aber durch eine andere Wendung der bialektifhen Form ihrer 
Schulphiloſophie zur völligen Verwerfung der hiftorifchen Religiongs, Kirchen: 
und Staatseinrihtungen. Sie betrachteten blos ihre radicale Richtung 
als wirklich und alfo aud vernünftig. 

Wenn man nun forgfäliig den Blid auf das ganze gefunde 
Leben gerichtet hielt, defjen vielfeitige Aufgaben ermog und von jenen 
Einfeitigkeiten frei zu bleiben fuchte, fo mußte man mit Dank nicht blos 
die frifche geiflige Gymnaſtik, die aus den Parteilämpfen der tüchtigften 
Gründer und Genoffen diefer verfchiedenen Schulen hervorging, fondern 
auch fo manche neue fhärfere Auffaffung der einzelndn Theile und Sei- 
ten bes Lebens als reellen Geroinn ſich aneignen. Dean Eonnte fo trog 
aller Nichteinflimmung in das Hauptergebniß body fich freihalten von 
gehäffiger übermüthiger Verwerfung und Anfeindung der als einfeitig ers 
ſcheinenden Syſteme. | 

Nicht dafjelbe List fi) von den meiften Genoſſen diefer Parteien 
fagen. So fpradyen mit der einfeitigfien Geringfhägung und Abneigung 
die hiſtoriſchen Juriſten gegen Philofophie und jebe philofophifche Auf⸗ 
faffung des Rechts ſich aus. Hierbei widerfuhr aber dem erſten Meiſter 
der biftorifchen Schule, dem hochverdienten Savigny in jener citicten 
Abhandlung, als er gerade duch ein völlig ausgebildetes Syſtem und 
einen oberften Grundſatz beffelben feine hiftorifche Rechtstheorie von aller 
Philoſophie und philofophifhen Rechtstheorie ſcharf abzuſcheiden fuchte, 
das fonderbare Schickſal, daß er gerade in die philofophifche Grundanſicht 
der Naturphilofophen und feiner verhaßten Gegner und Collegen Hegel 
und Gans hineingerieth. Nach diefer Lehre und nah Savigny's 
MWiderwillen gegen alles freie Naturrecht und gegen weſentliche geſetzgebe⸗ 
tifche Reformen, find nämlid das Freie und Nothwendige ebenfalls 
nur verfchiedene Seiten der Betrachtung befielben in Wahrheit 
oder reell identifhen naturnothwendigen Ganzen, wodurch für das 
wirkliche Leben und Handeln bes einzelnen Menfchen oder Volks oder 
der einzelnen Zeitgenofienfhaft alle wahre Freiheit, freie Veränderung, . 


252 Erfahrung 


neue Geſetzgebung und jebe weſentliche Reform ganz aufhört und (auß 
unabmweisbarer Huldigung gegen bie beffere Stimme des Gewiſſens und 
bes Volks) nur eine Scheinfreiheit, eine täufchende Freiheit blos „Im 
Begreifen”‘, in ber „Vetrachtungsweife” übrig bleibt *), 

Die Abneigung gegen bie Phitofophen hatte den berlihmten Mann von 
ber Kenntniß der philofophifchen Syſteme entfernt gehalten, und ihn nicht 
bedenken Laffen, daß, zumal bei einer Nation, die fo geiftig, fo beweg⸗ 
lich und in ihren Anfichten von den Schulftubien und der Rrctüre fo ab: 
hängig HE, wie die deutſche, jede neueſte Tagesphiloſophle durch Hums 
derte von Gandlen ſich in dem ganzen geifligen Gebiet verbreitet, in bie 

geiftige Lebensluft eindringt und wie eine mohlthätige Srfrifhung und 
Reinigung oder wie eine miasmatlſche Krankheit, wie ein Schnupfen, 
die Menfchen, oft felbft ohne daß fie es merken, ergreift. Will man 
phitofophifche Irrthuͤmer vermeiden, fo muß man die Philofophie und 
Geſchichte kenn«n. Man lernt aber nur recht kennen, was man liebt, 
nicht was man haft. 

Mo möglich noch hochmuͤthiger, intoleranter und gehäffiger behan— 
bein viele Philofophen andere Parteien und Anfihten, die Religion, 
bie Theologie, die Kirche, bie Vertheidiger hiftorifchen Rechts u. f. mw. 

Sehen wir es ja täglich vor Augen, wie diefelben Philofophen, bie fo 
eben das Koͤnigthum und Prieſterthum vor Allem deshalb bitter angeiffen, 
weil diefe fih und ihren Anfihten eine befondere Autoritätbeilegen, fidy mit 
denſelben Über bie Bürger als uͤber bie Laien erhaben duͤnken und weil fie die 
Annahme ihrer Ueberzeugungen als ber alleinigen Wahrheit fordern, «8 nun 
mit ihrer eigenen Schulphilofophie gegen die Nichtphilofophen und die an« 
bers Ueberzeugten gar nicht anders mahen! Wer nicht annimmt, mas 
ihee Schufphifofophie und die befondere Handwerksmethode bes Schulphis 
loſophirens lehrt, der „Eann nicht vernünftig denken”. Sie find noch 
intoleranter al® bie orthodboren Theologen , fie find „Nichtswuͤthrige“, 
wenn fie etwa felbft alle höheren religiöfen und moralifdhen Grundlagen 
aufgaben. he neueſtes ſchulphiloſophiſches Syſtem ift nicht blos die 
allumfaffende, unumftößliche, alleinfeligmachende Wahrheit, ohne daß fie 
in ihrer gluͤcklichen Selbſttaͤuſchung «8 nur erwägen mögen, wie noch 
kurz zuvor ihre Vorgänger und mit ihnen die halbe gelehrte Welt, die 
zufällig als Schuler in deren Hörfäle kam, das letztvorhergehende Sy: 
ſtem, etwa das SKantifche, Fichteſche, gerade ebenfo als abgefchloffene 
alltumfaffende Wahrheit, das oberfte Princip berfelben als unumftößlich 
anbeteten,, obgleich auch biefe Syſteme, mie biefes jest von aller Welt 
anerkannt ift, nur Eine Seite der philofophifchen Anfhauung und Ent: 
widelung waren, und obgleich ihr hoͤchſtes Princip, ihre höchfter abfolut 
geroiffer Srundfag noch mehr als. frühere religiöfe Dogmen und Sym⸗ 
bole ein jegt allgemein aufgegebener, oft verſpotteter Irrthum war. Sie 
allein vermögen es nicht zu denken, daß es aller menſchlichen Wahrs 


Se * die Ausfuͤhrung Vieruber in C. Welcker's Syſtem. Bd. I. 


Erfahrung. 258 


ſcheinlichkeit nach mit ihrem Schulfuftem in wenigen Jahren nicht ans 
ders fein wird, ja theilweife jege ſchon fo iſt umd fo fein muß, wenn 
das an fi herrliche Leben ber Philofophie dauern foll, und wenn 
Fohannes von Müller’s ſchoͤnes Wort wahr iſt: „Die Philofos \ 
pbie iſt ewig wahr, die Philofophien find’s nicht.” Es iſt dieſes ſehr 
ähnlich, wie auch die Religion ewig wahr und göttlich und aud ſteis 
neue theologifche Korfhung unentbehrlich iſt, während die einzelnen 
religiöfen Symbole und Dogmen, um wie viel mehr bie philofophifchen 
Principien, als ſtets endblihe und unvolllommene Formen für 
das Unendliche der Veränderung unterworfen find. 

&o wird man denn, fobald man fidy einmal zu ber vielfeitigeren, 
gefündsen, zur lebendigen Auffaffung des Staatslebens und feiner 
Theorie hinwendete, zu derjenigen, welche die Artilel Encyklopaͤ⸗ 
diſche Weberficht und Ariſtoteles als die ber wahren praftifchen 
Staatsmänner und der freien Völker, der roͤmiſchen, ber englifchen, 
nachweiſen, bei aller Hochachtung für die Verdienſte jener deutſchen 
hiſtoriſchen und philoſophiſchen Schulen doch ihre unmittelbare 
Entſcheidung und Herrſchaft, man wird die Zwangsgewalt 
fuͤr ihre Lehre uͤber Staat und Recht zuruͤckweiſen muͤſſen. Fuͤr die 
unmittelbar praktiſche Rechts⸗ und Staatslehre, für den Rechts⸗ unb 
Staatsmann iſt jene lebendige Auffaſſung und die logiſche Entwickelung 
aus der Natur ber Rechts⸗ und Staatsverhaͤltniſſe und aus ben vernänfe 
tigen Weberzeugungen ober Anerlennungen der Bürger ihr eigenthäms 
licher Weg, den fie, ohme aus ber tbeologifhhen ober philofophifchen 
Schulweisheit heraus oder in diefelbe hinüber pfufchen zu wollen, feft je Ä 
halten haben. So ſchlimm iſt's nicht mit den freien Bürgern und V 
kern beftellt, daß fie vom blinden Autoritätsglauben an jede Schulweis⸗ 
heit des Tages, welche ihnen in ihren eigenthümlichen Principien, Ent 
twidelungen und Ausdrüden unverſtaͤndlich ober body wenigſtens ihrer Pruͤ⸗ 
fung entzogen und unter den theoretifchen Meiftern ſelbſt gänzlich beſtritten 
iſt in ihrem gemeinſamen Leben und Handeln ſich müßten defpotificen 
lafien. 

Auch genügt vollftändig die objective allgemein zugängliche folhes 
richtige (Logifche) Entwidelung aus allgemein erkennbaren, all; 
gemein anerkannten XThatfachen und Grundlagen des menſchlichen 
und gefellfchaftlichen Lebens freier Voͤlker zur Erkenntniß und Beweis⸗ 
führung aller rechtlichen und politifhen Grundſaͤte des freien Staats 
lebens. 

Savigny hatte fo gluͤcklich den Weg eingeſchlagen, aus ber ſprach⸗ 
lich und Überhaupt erfahrungsmäßig anerkannten aligemeinſten Na⸗ 
tur einzelner rechtlicher Inſtitute wie namentlich des Befiges, all 
gemeine Grundfäge für alle Theile des Inſtituts (für alle Arten 
und Theile des Befiges) abzuleiten, und indem er aus ihnen wieder die 
entfprechenden Folgeſaͤtze entwidelte, ein natürliches Syſtem in biefer 
ganzen Hauptlehre aufzuftellen, weiches die Wiſſenſchaft des vortrefflichen 
folgerichtigen vernünftigen römifchen Rechts, die richtige Auslegung und 


234 Erfahrung. 


Anwendung deſſelhen weſentlich verbeſſerte. Haͤtte er doch nun mit ein⸗ 
facher logiſcher Folgerlchtigkeit und völlig entſprechend den Grundfägen 
bee Herden ber roͤmlſchen Jurisprudenz nur einen Schritt welter ge⸗ 
‚than und alle einzelnen Rechtsinſtitute ebenſo als Theile eines gemein⸗ 
ſchaftlichen Ganzen, eines größeren Inftituts, des freien Nechtsfinates 
nämlich , betrachtet, und aus beffen Natur ebenfo die allgemeinen 
höchſten Grundfäge für alle Rechtsvethältniſſe entwidelt, tie 
jene allgemeinen Befisgrundfäge für alle verfchiedenen Arten und Theile 
der Befigiebre, fo wuͤrde er dann zu einem allgemeinen naturrechtlichen 
und politifchen Spfteme gelangt fein und zwar er zunaͤchſt zu dem ber 
claſſiſch römifchen Jurisprudenz, Diefer ebelften Frucht des halbtauſend⸗ 
jährigen römifchen Freiheits- und Nechtsfampfes, zu ihren berelichen 
Grundfägen von ber freien Friedens: und Hilfsgemeinfhaft bes 
Gemeinwefens (res publica als juris consensns et utilitatis commu- 
nio), ferner von ber honestas, zequitas md bona fides (für die 
drel Rechtstheile). Wie die Seele in bem Börperlichen Organismus, fo 
hätte er auf folhem analytiſchen, hiſtoriſch-philoſophiſchen, 
auf dem aͤcht juriflifch= politifhen Wege In dem Inneren und in bem 
Bufammenbang aller einzelnen dußeren biftorifchen Theile des Rechts⸗ und 
Staatsorganismus, die freien phlloſophiſchen Grundideen nicht einzelner 
Schulphiloſophen, fondern des freien Volkes als die regierendbe Seele 
gefunden. Und wahrlkh tiefer hiſtoriſch ala feine reinhiſtoriſche 
Jurisprudenz und wohl auch tiefer phitofophifh wäre folhe Vereini: 
gung von bee und Auferer Thatſache, von Philofopbie und Ge: 
ſchlchte geweſen. Iſt denn nicht auch die Vernunft eine Thatſache, 
und bie Altefte Thatſache in der Geſchichte gefitteter Nationen? 
Und find die vielfeitig gepruͤften Ideen ganzer gefitteter Nationen über 
ihre Gemeinfchaft nicht auch Vernunft? Auch den freien fittlihen 
vernünftigen Willen für bie weſentlichſten praftifchen Grundfäge des 
Rechts: und Staatsvereins, für die vonder Freiheit und Gleichheit, 
überhaupt jene vorhin angedeuteten ewigen Grundfäge bes römifchen Volke, 
hätte er, zumal in den großen Momenten und Reformen des gemeinen 
Mefens , in der Anerkennung , in dem Willen und Streben jedes freien 
gefitteten Volkes gefunden. Sreiheit, wirkliche praktiſche Frei— 
heit für Gut und Boͤs, gerade fo wie fie dem einzelnen Menfhen 
bas Gewiſſeſte alles Gewiſſen — fein Gewiſſen — als unvertilgbare 
Wahrheit giebt, hätte er auch in dem gefitteten Volke, hätte er 
als Seele feines hiftorifchen Lebens und feines pofitiven Rechts gefuns 
den, ftatt dag er nun als pofitivee Juriſt aus Zunfteinfeitigkeit fich 
und fein pofitives Necht in möglichften Gegenfas gegen alle Phitofo: 
phie fegen mollte, und fo gerade in die Schuiphilofophie des Tages und 
in das gänzlich unfreie Sichvonſelbſtmachen, in die „Vernünf: 
tigkeit alles Wirklihen und die Wirklichkeit des Ver: 
nuͤnftigen“ hineingerieth. 

Doch dieſer große Gelehrte hat in ſeinem neueſten Werke (in der 
Vorrede zu ſelnen Pandekten) dieſe einfeitige fruͤhere Theorie ſelbſt auf: 


Srfahrung. 255 


gegeben und ſich den allein politifch richtigen freieren hiſtoriſch⸗phi⸗ 
loſophiſchen Srundanfichten genähert. Iſt er ja doch auch aus ber 
Schule in das praktiſche ſtaatsmaͤnniſche Leben übergetreten. Doc 
feeilich, unferen deutfchen Miniſtern und Staatsbeamten fehlt noch viel 
von der Gefundheit und Tächtigkeit roͤmiſcher und englifcher Staates 
männer. Und audy der genannte ſo hoͤchſt ausgezeichnete Gelehrte fcheint 
als Gefeggebungsminifter beinahe den Grundgedanken feiner Schrift über 
unferen Beruf zur Gefeggebung, nämlid daß wir feinen folchen 
bätten, praßtifch beweifen zu mollen; diesmal indeß nicht aus einfeitigem 
Handwerdsgeift der Schule, fondern aus dem bes beutfhen Beams 
tenftandes, der Bureaufratie, welche mit einer Verblendung 
und Eigenfinnigkeit, die man faft mitleidswerth nennen Eönnte, wenn fie 
nicht für Thron und Volt unheildrohend wäre, nicht fehen mollen, was 
alte Welt fieht, naͤmlich daß endlich auch für die deutfche Nation die 
böchfte Entwidelungsperiode, die ber politifhen Freiheit 
eingetreten ift und trog allem Widerftande, ja durch denfelben täglich 
unwiderſtehlicher ihre vollen Rechte fordert und geltend machen wird, und 
daß von dem Siege dieſes Rechts Ehre und Exiſtenz abhängt. Ge⸗ 
rade nur, weil in Deutſchland noch nicht, wie bei freien Verfaſſungen, 
die tüchtigften und geachtetften Männer der ganzen Nation die Minifter 
werden, mißachten die unfrigen häufig noch, die Nation und die Bür- 
ger als politifhe Laien mit „befchränktem Unterthanenverftand ,” als 
willenloſe Mündel eines bereits lächerlich gewordenen göttlidyen Rechte. 
Statt Theitnehmer eines freien vernünftigen lebendigen Gemeinweſens fein 
zu wollen, ftreben fie auf Koften der Macht und Bluͤthe der Nation 
ebenfalls nad Kaftenhertfchaft. 

Die Jünger der Hegel'ſchen Philoſophie dagegen haben nach dem 
Obigen bei aller ſonſtigen Abweichung von ihrem Meiſter, doch den philo⸗ 
ſophiſchen Zunftuͤbermuth und die materialiſtiſche Vernichtung 
der Freiheit, der freien unſterblichen Perſoͤnlichkeit nicht aufgegeben. 
Ja ſie haben beide faſt zu einem fanatiſchen Haß gegen das hiſtoriſche 
Recht und die Theologie bei ſich geſteigert. Viele halten ihren Mate⸗ 
rialismus ſogar aus warmer Liebe fuͤr die Freiheit feſt, indem ſie waͤh⸗ 
nen, daß der Freiheit die chriſtliche Religion und die Unſterblichkeit Ein⸗ 
trag thue. Die Roͤmer konnten ſich die bewundernswerthen todtverach⸗ 
tenden tapferen Kaͤmpfe unſerer Vorfahren fuͤr ihre Freiheit gar nicht 
anders erklaͤren, als durch deren feſten Glauben an Unſterblichkeit, an 
ihr freudenreiches Jenſeits in Walhalla, und der Wahn ſucht nun ge» 
trade in dem Glauben an Unfterblichkeit das Hinderniß der Freiheit! 
So mwie,überhaupt moralifche Freiheit und ſietliche Züchtigkeit, welche 
niemals bei irgend einem Volle ohne Religion entſtand und beftand, 
nirgends materialiftifcher Setbftfucht und Genußfucht widerftand, die un⸗ 
entbehrlihhe allein dauerhafte Grundlage der politifchen Freiheit 
ift, fo gab es vollends in der ganzen Welt weder eine philofophifche noch 
eine religiöfe Lehre, melche mehr als das Achte Chriftenthum alle 
Grundlagen der volltommenften politifchen Freiheit und ihrer aufopfern- 


256 | Erfahrung. 


den Vertheidigung enthielt (f. Chriftenthum). Und in Zeiten, wo bie- 
ſes Chriſtenthum bie Völker am Eräftigften befeelte, fehen wir die Schwei- 
zer im Hunderten von Freiheitstimpfen und Schlachten alle Heldenthaten 
ber Alten ‚weit hinter fich zuruͤcklaſſen, ihre republikanifche Freihelt grün- 
den und behaupten, aͤhnlich fpäter die Engländer und Niederländer. Und 
unfere Philoſophen und philofophifhen Staatsreformatoren wollen ung 
nun in ihrem zunftmäßigen Theologenhaß von Meligion und Un: 
ſterblichkeit und Cheiftenthum befreien, damit tie politifdy= frei werben 
Könnten! Mit faft fanatifcher Verblendung verfolgen fie in ihrem Zunft- 
geifte Religion und Kirche, weil die chriſtliche Meligion, wie alles Beſte, 
wie ja auch ber Name Freiheit oft ſchaͤndlich mißbraucht wurde und 
weil leider auch gerade jegt bie Partei, welche bie unvermeidliche politifche 
Entwidelungsperiode der beutfchen Nation bintertreiben will und fo 
feibft den gewaltfamen Durchbruch berbeiruft , ebenfalls dieſen ſchaͤnd⸗ 
lichften Mißbrauch macht und den. blinden Glauben an die despotifdye 
Staatsherefchaft durch blinden Kirchenglauben zu flügen waͤhnt. Frei⸗ 
lich entftanden auch andermärts aus ähnlichen Urſachen mindeftene ent» 
ſchuldbar, oft unveermeldlid, und, wo bas Unrecht ber Gewalt 
und verblenbeter Gonfervativen auf friedlihem Mege wirklich unbeſi gbar 
mar, für das alddann allein rettende revolutionäre Fieber auch heilfam 
die Ähnlichen verneinenden und revolutionären Richtungen eines Rouffeau 
und Boltaire, ber Encyflopddiften und Kacobiner. Freilich kann 
auch bei und jener Drang zur Mevolution als beilfame Mahnung für 
ungerechte Bebränger, die täglih wachſende Unertraͤglichkeit 
bes rechtlofen Zuſtandes, mie er immer mehr in dem naturwidrigen 
Kampfe gegen das erwachte Mechtöbemußifein der Nation hervortritt — 
er kann die abfolute Unvermeiblichkeit der Freiheit für Ehre und Eriitenz 
der Nation anfhaulid machen und die unentbehrlihe Wahrheit, bie 
Ueberzeugung aller ehrbaren Männer und Voͤlker veranfhaulihen, daß 
für Ehre und Freiheit kein Preis zu hoch it, daß fie felbft auf bie 
Gefahr von Zod und Untergang erkämpft werben müffen. Aber alles 
Diefes und die Anerkennung der aufopfernbiten edelften Gefinnung fo 
mancher Eraltirten darf doc) den gewiffenhaften befonnenen Mann aud) 
bei der wärmften und entfchiebenften Sefinnung für den Sieg des 
Rechts nicht verhindern, unferen wirklichen Standpunkt ruhig zu pruͤ⸗ 
fen, und Jerthum, Einfeitigkeit und Fanatismus als folhe zu erkennen. 
Es darf ihn nicht hindern, eine zu frühzeitige Verzweiflung an allen 
gefeglihen Mitteln, wenn fie auch ihn befchleihen will, zuruͤckzudraͤn⸗ 
gen und den befferen Glauben noch feſt zu halten. Zwei gewaltige 
Maͤch te für die Freiheit uͤberſieht oder mißachtet der revolutiondre Fa: 
natiemus. Die erſte ift die Einheit oder Disciplin in dem 
Kampfe der Nation für die bürgerliche Freiheit. Diefe wird unter allen 
ben verfchiedenen Streitern für fie duch die Achtung ber Geſetz⸗ 
lichkeit erhalten. Ohne biefe, und wenn Jeder auf eigene Fauſt den 
Krieg beginnt, Diefer heute, Jener morgen, hier fo, dort anders, ift die 
ganze Streitmacht in berfelben Lage, in welcher ein Kriegsheer dem Seinde 


R | 





Erfahrung. | 267 


gegenüber ohne Disciplin ſich befindet. Gefeglichkeit iſt bie Disciplin im 
bürgerlichen Kampfe für die Sreiheit. LUnbisciplinirte eigenwillige Kriegs⸗ 
untermehmungen Cinzelner gefährden das Ganze und alle Genoſſen und 
fhreden Zaufende vom Antheil an dem ganzen Kampfe zurüd. Der 
Anfang, die Grundbbedingung, das AB C aller Politik 


„and politifhen Bildung und Madt if „Zuſammen⸗ 


halten.’ 

Wichtiger aber noch iſt die zweite Macht, nämlich die geiftige 
und moraliſche Kraft, dem Feinde oder ber befpotifhen Willkuͤr 
gegenüber im Rechte zu fein und im der ganzem Öffentlihen Meinung 
De. Volks und felbfi der Gegner ben Vortheil der reinen unbefledten 
guten Sache zu haben. In folher Lage wird bei beharrlicher Energis 
des Rechtskampfes die Willkuͤr von Unrecht zu Unrecht, zu Schamlofigkeiten 
und Thorheiten, zulegt zur völligen moralifchen Ohnmacht, und entwe⸗ 
der zum Nachgeben oder zum eigenen Beginne der für fie verberblichen 
Resolution gedrängt, oder e8 macht fi) doch diefe nur durch ihre 
Schuld und ohne Schuld der Freiheitsfreunde und barum, 
wenn auch fpäter,, doch mit ungleich fihrerem, befferem Erfolge 
für Die gute Sache bes Rechts. Auch für die Politik und die 
politifhe Mache ift nicht die phyſiſche und mechaniſche, ſon⸗ 
dern die geiflige, und moralifche Kraft bie fiegende und herr» 
fhende Kraft. 

Ohne ein naturwidriges, ſerviles, verächtliches Werbammen jedes 
unvermeiblihen Widerflandes , jeder vechtlihen Nothwehr gegen unwuͤr⸗ 
dige rechtloſe Untesdrüdung, oder jeder Betheiligung an einem durch 
bie Unterdruͤckung ſelbſt hervorgebrachten Rettungsfieber ber Revolution, 
wird man alfo wohl mit Recht und mit befferem Erfolge nicht bios 
für die Ordnung fondern für die Freiheit wirken, wenn man alles Ern⸗ 
fles von fanatifchen eigenmächtigen Verfhwörungs » und Revolutions⸗ 
Planen abräch und für den offenen gefeslichen Weg kämpft, auf welchem 
Muth und Aufopferung genug und oft mehr als auf dem revolutionde 
son bewiefen werden kann. 

Halten wir alfo feſt an dem Glauben, baß unfere große, reichbe⸗ 
gabte, tapfere Nation, mit ebenfo großer Tuͤchtigkeit wie in Beziehung 
auf die religioͤſe im 16. und die allgemein geiflige Entwidelung im 16. 
Jahrhundert, ſich und ihre Ehre auch in der politifchen Entwidelung nee 
ben den übrigen uns bier vorangefchrittenen Nationen behaupten muß, 
und auch feft an dem Glauben, daß das unvermeibliche Ziel noch auf 
unblutigem Wege möglich iſt. Wollten nur immer mehr alle adhtbaren 
Männer unferer Nation von 40 Millionen fid) für das Rechte und Une 
vermeidliche ausfprehen: bie Entfernung der Revolution, die Ret⸗ 
tung der Freiheit und des Friedens wäre ficher | 

Laſſen fid) aber, wie natürlich, nicht alle Freiheitsfreunde von ber 
Entbehrlichkeit der Revolution Überzeugen, fo wäre der Fehler Einzeiner 
aus den Millionen von Freiheitsfreunden nicht ber ganzen Partei aufe 
zubürden. - Solche abgefchmadte Ungerechiigkeit follten am wenigften ehr⸗ 

Suppl. 4. Staatslex. II. Ni 


258 Erfahrung. 


liche Freunde der Megierungen begehen; denn wie wäre +8 mit ber Ehre 
und Achtung von bdiefen beftellt, wenn man eimgelnes Unrecht von ihr 
ober von Ihren Dienern und wahren oder angeblihen Freunden ihr zur 
Laſt legen wollte. 

Sogar aber diejenigen aus der Hegel’fchen Philofophie hervorgegans 
genen philofophifchen Politiker, welche, wie die Anhänger Feuerbach's, 
bie metaphufifhen Speculationen (das abfolute Nidyes) aufgaben und 
ihre Lehre unmittelbar auf den Menfchen gründeten, halten den mate= 
eialiftifchen Nihılismus feft, indem im Hintergeunde ihrer anthropolo⸗ 
giſchen Theorie doch noch die naturphilofophifche, materialiftifhe Weltan⸗ 
fchauung fie leitet. Es ſoll anderwaͤrts (ſ. Artikel Hegel'ſche und 
Feuerbach'ſche Philoſophie) auch unmittelbar nach den hier zu Grunde 
liegenden philofophifhen Grundlagen dargethban werden, daß biefe Theo— 
rien ebenſo, wie diefes bei früheren Philofophien , 3: B. der Ficht'ſchen, 
längft allgemein anerkannt ift, auf Einfeitigfeiten und logiſchen 
Sprüngen beruben. Hier genügt «8, fo wie überhaupt auf 
bem praftifhspolitifhen Standpunkt, unmittelbar auf bie 
gefunde Vernunft, auf das Lebensbewußtſein, auf die Anerfennung 
vernünftiger praktifcher Männer und Voͤlker, auf die unferer Nation, 
uns zu berufen, auf ihr Bewußtſein und zwar nicht blos auf ihre Be: 
wußtſein von ihrer finnlichen Matur , fondern auch auf das, doch min» 
beftens ebenfo gemwiffe, felbft bei dem Boͤſewicht nie gänzlich zw vertil- 
gende, das Handeln mehr oder minder befliimmende Bewußtfein ihrer 
böheen moralifchen Natur, ihres Gemiffens, ihres Glaubens von Zugend 
und Lafter, an moralifche Achtungswuͤrdigkeit der Tugend und die Ver: 
achtungswuͤrdigkeit des Liſters; fo wie die fittliche Pflicht der freien Wahl 
und That tugendhafter Handlungen und auf bie logifch damit zufammen- 
bängende fittlihe muſterliche Weltordnung und Regierung. 

Die Logik felbft zwingt fo Jeden zur Annahme mirklicher Freiheit, 
ber noch am ſich felbft glauben, der Eugend und Rafter und fein Ges 
wiſſen felbft nicht für reine Ammenmährchen erklären will. 

Die Aufgabe einer wahren Philofophie wäre «8, beide Thatfachen 
und: Nuturen: und Welten und ihre Verhaͤltniſſe im höchften abfolut 
gersiffen Princip und durch fie richtig zu gewinnen und zu erklären. 
Aber jeder gefunde praktiſche Mann verwirft ihr Reſultat unbedingt als 
elnfeitig und falſch, wenn fie, ſtatt diefe Aufgabe zu Iöfen, die eine dies 
fer Thatſachen vernichtet, entweder wie Fichte Die Wahrheit der finnlichen 
itdiſchen Welt, oder: wie die Naturphilofophen die moralifhe Welt: 
srdnung und ihre Grundlagen, die wahre moralifche Kreiheit und 
die ſittliche unfterbliche Perföntichkeit Sottes und der Menfhen. Mögen 
durch den einfeitigen Handwerksſtandpunkt einer beftimmten Schulphilofos 
phie, oder durch den des Lebensberufes, weicher fo wie ber bes Naturfors 
ſchers und Arztes beftändig nur die Naturfeite vor’ Auge bringt, oder 
durch ben des gebankenlofen finnlichen Menſchen, dem freilich die Natur: 
feite offener vors und näher liegt, oder durch Mißbrauch der geiftigen 
Kräfte, die nihlliſtiſchen und materialiſtiſchen Arfihten noch fo viele ungruͤnd⸗ 


! 


| Erfahrung. 259 


liche und fanatifche Anhänger erhalten, vernünftige Völker und praktiſche 
Männer laffen fi) dadurch nicht irren. 

Auf diefem gefunden vernünftigen praktiſchen Standpunkt, wie Ihn 
alle gefitteten Völker in ihren Geſetzen ſtets anerkann⸗ 
ten, ift auch das Verhaͤltniß der Freiheit (der vernünftigen freien 
Beſtimmung, das ideale oder philoſophiſche Element) zu dem naturgeſetz⸗ 
lichen (zu dem erfahrungsmaäßigen in biefem Sinne) einfah. Es 
ift ebenfo in dem Leben des Volks Innerli mit demfelben verbunden, 
wie die freie Seele in dem Organismus des einzelnen Menfchen wirkt. 
Aber fie felbft und die moralifchen Geſetze find doch mefentlih von dem 
Naturorganismus, den Naturgefegen verſchieden, wenn auch die Gren 
des Freien und Nothmwendigen oft nicht genau zu erkennen find. Dis 
Freiheit ift für das ganze höhere Menſchenleben baffelbe, mas für die 
phyfiſche Natur das Leben, die Lebenskraft ifl. Noch Leine Theorie hat 
ihr Wefen ergründet, und die Schulphilofophen geben in ihrem Princip 
ſtets nur eine endliche einfeitige Kormel für das Unendliche. Die 
Freiheit wie das Leben oder die Lebenskraft aber find wirklich und wir 
taffen fie uns nicht nehmen weil die Schultheorie nicht mit ihnen fertig 
zu werben weiß. 

Dem Naturgefeg theilwelfe unterworfen ift für ihre Erſchel⸗ 
nung im Volt und im Menfchen ſehr natürlich bie Freiheit, weil fie 
für diefe ihre Erfheinung und für alle Wirkſamkeit im irdi⸗ 
[hen Leben eines irdiſchen finnlichen Trägers oder Körpers, finnlicher 
Drgane bedarf, die mit der dußeren Natur in Wechſelwirkung ſtehen und 
mithin wie Alles, was entſteht, waͤchſt, reift und vergeht in dem irdi⸗ 
[hen Leben, beftimmte Entwidelungsperioden haben, die nas 
türlih auch für die Erfcheinung des freien Lebens Einfluß gewinnen 
muͤſſen. Haben ja Juͤnglings⸗, Mannes» und Greifenalter audy bei dem 
in ihnen noch freien Menfchen doch großen Einfluß Die Freiheit, die 
an fich abfolute, göttliche Freiheit, die uns die Gottheit zw unferer 
göttlichen Würde und Beftimmung verleihen wollte, erhält hier Grunde 
bedingungen und Grenzen für ihre Erfheinung. Innerhalb 
diefer Grenzen und Grundbedingungen aber ift fie wirkliche reis 
heit. Wenn der freie Dann an einen beflimmten Ort, zu einem bes 
flimmten Zweck nad) Norden ober nady Süden fahren will, fo bedarf 
er allerdings de Brundbebingungen eines Wagens und eines Zugs 
viehes ; die Freiheit feines Fahrens hat auch Grenzen. Er kann nicht 
durch die Luft, nicht über fteile Felſen oder durch Stroͤme fahren. 
Eine unbefiegliche Eigenmilligkeit oder ein Scheumerden des Pferdes, eine 
Schwäche feines Fuhrwerks kann ebenfalls fo wie ein ſchwacher koͤrper⸗ 
licher Organismus feine Sreiheit begrenzen. Abgefehen hiervon aber fährt 
er mit wirk licher Freiheit, wohin er will, nah Nord oder Suͤd, 
und er ift nicht blos, wie mit den Naturphilofophen Savigny meint, 
Theinfrei, indem etwa ihm feine Samilie, fein Boll oder das ſich 
von felbft machende gefhichtlihe Recht die Arme lenken, daß er nad 
Morden fahren muß, er aber in feinem Gedanken ſich von dur Sur 

M 


258 | Erfahrung. 


liche Freunde ber Regierungen begehen; denn mie wäre es mit ber Ehre 
und Achtung von diefen beftellt, wenn man einzelnes Unrecht von ihr 
oder von ihren Dienern und wahren oder angeblichen Freunden ihr zur 
Laſt legen wollte. 

Sogar aber diejenigen aus dep Hegel'ſchen Philoſophie hervorgegan⸗ 
genen phitofophifchen Politiker, welche, twie die Anhänger Feuerbach's, 
die metaphpfifhen Speculationen (das abfolute Nichts) aufgaben und 
ihre kehre unmittelbar auf den Menfchen gründeten, halten den mates 
rialiſtiſchen Nihılismus feft, indem im Hintergeunde ihrer anthropolo⸗ 
gifchen Theorie doch noch die naturphilofophifche, materialiſtiſche Weltan⸗ 
ſchauung fie leitet. Es fol anderwärts (f. Artikel Hegel'ſche und 
Feuerbach'ſche Philofophie) auch unmittelbar nad) den hier zu Grunde 
Uegenden philofophifhen Grundlagen dargethan werden, daß biefe Theo⸗ 
rien ebenfo, tie diefes bei früheren Philofophien, 3. B. der Ficht’fchen, 
längft allgemein anerkannt ift, auf Einfeitigleiten und logiſchen 
©Gprüngen beruhen. Hier genügt es, fo wie überhaupt auf 
dem preaftifhspolitifhen Standpunkte, unmittelbar auf bie 
gefunde Vernunft, auf das Lebensbewußtfein, auf die Anerlennung 
vernünftiger praßtifher Männer und Völker, auf die unferer Nation, 
uns zu berufen, auf ihr Bewußtfein und zwar nicht blos auf ihre Be 
wußtſein von ihrer finnlihen Natur , fondern auch auf das, doch min- 
deftens ebenfo gewiſſe, felbft bei dem Boͤſewicht nie gänzlid zu vertils 
gende, das Handeln mehr oder minder beflimmende Bewußtſein ihrer 
böhern moralifchen Natur, ihres Gewiſſens, ihres Glaubens von Tugend 
und Lafter, an moralifhe Achtungswürdigkeit der Tugend und bie Vers 
achtungswuͤrdigkeit bes Laſters; fo mie die fittliche Pflicht der freien Wahl 
und That tugendhafter Handlungen und auf bie Logifch damit zuſammen⸗ 
bängenbe fittlide mufterliche Weltordnung und Regierung. 

Die Logik felbft zwingt fo Jeden zur Annahme wirklicher Freiheit, 
ber noch an ſich ſelbſt glauben, der Tugend und Lafter und fein Ges 
wiſſen felbft nicht für reine Ammenmaͤhrchen erklären will. 

Die Aufgabe einer wahren Philofophie wäre es, beide Thatfachen 
und Nuturen und Welten und ihre Verhaͤltniſſe im hoͤchſten abfolut 
gewiffen Princip und durch fie richtig zu gewinnen und zu erklären. 
Aber jeder gefunde praktiſche Mann verwirft ihr Refultat unbedingt als 
einfeitig und falſch, wenn fie, ſtatt dieſe Aufgabe zu Iöfen, die eine dies 
fer Thatſachen vernichtet, entweder wie Kichte Die Wahrheit der finnlichen 
fedifchen Welt, oder wie die Raturphilofophen die moralifhe Welt» 
ordnung und ihre Grundlagen, die wahre moralifche Freiheit und 
die fictliche unfterbliche Perföntichkeit Gottes und der Menfchen. Mögen 
durch den einſeitigen Handwerksſtandpunkt einer beftimmten Schulphilofos 
phie, oder durch den des Lebensberufes, weicher fo mie der des Maturfors 
ſchers und Arztes beftändig nur die Naturfeite vor's Auge bringt, oder 
ducch den bes gedankenlofen finnlihen Denfchen, dem freilich die Natur: 
fette offener vor⸗ und näher liegt, oder durch Mißbrauch der geiftigen 
Kräfte, die nihiliſtiſchen und materialiſtiſchen Anfichten noch fo viele ungränd« 


| Erfahrung. 259 


liche und fanatiſche Anhänger erhalten, vernünftige Völker und praktifche 
Männer laſſen fi) dadurch nicht irren. 

Auf diefem gefunden vernünftigen praftifchen Stanbpunft, wie ihn 
alle gefitteten Voͤlker in ihren Geſetzen ſtets anerkann⸗ 
ten, ift auch das Verhaͤltniß der Freiheit (der vernünftigen freien 
Beflimmung, das ideale oder philofophifche Element) zu dem naturgefeßs 
lihen (zu dem erfahrungs maͤßigen in blefem Sinne) einfach. 
ift ebenfo in dem Leben des Volks innerlich mit bemfelben verbunden, 
wie die freie Seele in dem Organismus des einzelnen Menfchen wirkt. 
Aber fie felbft und die moralifchen Geſetze find doch mefentlidh von dem 
Naturorganismus, den Naturgefegen verfchieden, wenn auch die Grenzen 
des Freien und Nothwendigen oft nicht genau zw erkennen find. Die 
Freiheit ift für das ganze höhere Menfchenieben daffelbe, was für die 
phyſiſche Natur das Leben, die Lebenskraft iſt. Noch Leine Theorie hat 
ihr Wefen ergrüindet, und die Schulphilofophen geben im ihrem Princip 
ftetö nur eine endliche einfeitige Kormel für das Unendliche. Die 
Sreiheit wie das Leben oder bie Lebenskraft aber find wirklich und wir 
laſſen fie uns nicht nehmen weil die Schultheorie nicht mit Ihnen fertig 
zu werben meiß. 

Dem Naturgefeg theilwelfe unterworfen ift für ihre Erfcheis 
nung im Voll und im Menfchen fehr natürlich die Freiheit, weil fie 
für diefe ihre Erfheinung und für alle Wirkſamkeit im irdi— 
fhen Leben eines irdifchen finnlihen Trägers oder Körpers, finnlicher 
Drgane bedarf, die mit der dußeren Natur in Wechſelwirkung fichen und 
mithin wie Altes, was entſteht, wächft, reift und vergeht in dem irdi⸗ 
fen Leben, beftimmte Entwidelungsperioden haben, bie na 
türliy auch für die Erfcheinung des freien Lebens Einfluß gewinnen 
müffen. Haben ja Juͤnglings⸗, Mannes» und Sreifenalter auch bei dem 
in ihnen noch freien Menſchen doch großen Einflug Die Freiheit, bie 
an fich abfolute, göttliche Freiheit, die uns die Gottheit zu unferer 
göttlichen Würde und Beftimmung verleihen wollte, erhält bier Grund⸗ 
bedingungen und Grenzen für ihre Erfheinung. Innerhalb 
dieſer Grenzen und Srundbbedingungen aber iſt fie wirkliche Frei⸗ 
beit. Wenn der freie Dann an einen beflimmten Drt, zu einem bes 
flimmten Zweck nad Norden oder nach Süden fahren will, To bebarf 
er allerdings de Grundbedbingungen eines Wagens und eines Bugs 
viehes; die Freiheit feines Fahrens hat auch Grenzen. Ex kann nidt 
durch die Luft, nicht über fteile Felſen oder duch Stroͤme fahren. 
Eine unbefiegliche Eigenwilligkeit oder ein Scheumerden des Pferdes, eine 
Schwäche feines Fuhrwerks kann ebenfalls fo mie ein ſchwacher koͤrper⸗ 
licher Organismus feine Freiheit begrenzen. Abgefehen biervon aber fährt 
ee mit wirklicher Freiheit, wohin er will, nach Nord oder Suͤd, 
und er ift nicht blos, mie mit den Naturphilofophen Savigny meint, 
fheinfrei, indem etwa Ihm feine Familie, fein Boll oder das ſich 
von felbft machende geſchichtliche Recht die Arme lenken, daß er nad 
Norden fahren muß, er aber In feinem Gedanken ſich von Aner Seite 

7 


dee Ecrreſſum 
als frei betrachten darf, weil. er ja ſich olg Theil dieſes ganzen Bela 
kes, blieſer Kamilie anzuſehen bat *), Ee iſt nicht King. Im er um 
von einer Seite, fondern innerhalb jener Bepägen poll frei. 
Solhergeftalt mögen. denn auch Theorie und Praris flets den wirße 
lichen Glauben an. die wirkliche Freiheit feſthaiten und in der fittlichen 
Vernunft die rechten Aufgaben und Mittel für das Volks⸗ und Men» 
fehrnieben fuchen. Sie mögen ‚aber zugleich dabei beſtaͤndig jene dufer 
ren erfahtungsmaͤßigen maturgefeglichen und anthropglogifchen Bebingutz⸗ 
en, Grenzen, Entwidelungsperioden für die Erſcheinung und Wirkfams 
ei der Freiheit, überhaupt das rechte Verhältnig ‚und bie Wechfelwirkung 
Pefus und der Freiheit ke ihrer irdiſchen Erſcheinung zu erkennen 


ei mögen fie auf dem "fr Net und Pouitik allein rihtigen 
amalptifchen biftorifh:philofophifden Weg erforſchen. Dann 
ei emblich Einheit, Freiheit und Geſundheit in unſer Volksleben und 
re Politit fommen und ‚die harmonifce Eintracht ſtatt jener beuse 
—* theoretiſchen Spaltungen und jenes bantwertsmdfigen feindfeligen 
genfäpe der an ſich nothwendigen Theile und Seiten des ganzen Mepe 
*F und Staatslebens. Aledann kann in unferer täglich naͤherruͤcen⸗ 
ee ungezeit die Chre und a SR BR IR BOr 
” amt und geßchert werden 


end — * a ee 


via: Kr Anwendung phyſiſcher Gewalt oder durch Exxer 
gung der Auen vor da Websl bewirkt wurde. Nach juriftifhem Sprache 
or heaut man nur rechtswidrige Möthigungen ſolcher Art Erpreſ⸗ 
Wenn daher z. B. Jemand den Räuber in Ausübung rechtmäßiger 
Mother su etwas nöthigt, fo iſt dieſes Leine Erpreſſung. Aber im en⸗ 
gen Siane nennt man jur iſt iſch nur folche rechtswidrige Nöthigungen 
prefjung,, die nicht ein anderes benanntes Vergehen bilden, 5.8. Raub 
(wodurch man Jemandem den Befig beweglichen fremden Eigenthums in 
gewinnſuͤchtiger Abſicht abnoͤthigt) oder unerlaubte Seibſthilfe, mo man ſich 
durch die Naͤthigung zu ſeinem Recht zu verhelfen ſucht. Auch hat man 
meiſt Erpre ſſungen der Beamten durch Mißbrauch ihrer Amtsgewalt theil⸗ 
tweife oder ſaͤmmtlich unter beſonderem Namen zu beſonderen Verbrechen er⸗ 
ben, mie nach roͤmiſchem Rechte in dem crimen repetundarum, nach deut⸗ 
em Hartichiercecht in dem Vergehen des Amtsmißorauchs. Es fragt ſich 
nur, — es politiſch raͤthlich iſt, jenen allgemeinen Begriff rechtswidriger Noͤ⸗ 
thigungen oder Bedraͤngungen, die nicht ein anderes beſonderes Vergehen 
ri zu einem gemeinſchaftlichen ſtrafbaren Vergehen zu erheben. Die 
Römer thaten dieſes nicht. Sie huͤteten ſich vor ſolchom Generaliſiren im 
trafrecht. Sie bildeten zwar unter dem Namen Concuſſion ein 
außerordentliches Bergehen (delictam extraordinarium), beſchraͤnkten es 


HHi⸗ weitere Enpwidelsag in F. Belder’s Soſtem Bd. L ©. 228. 


Erpreſſung. 261 


aber nur auf beſtimmte Handlungen, nämlich wenn Jemand durch Bedraͤn⸗ 
g mit einer Ausübung angeblicher öffentlicher Machtbefugnifſe oder durch 

- bung mit Anftellung einer Criminals Anklage ben Andern zu dem 
Augeftändniß eines rechtswidrigen Verlangens beſtimmt. Andere Erprefs 

fungen alfo beſtraften fie nur dann, wenn fie zugleich ein anderes benann⸗ 

tes Vergehen wie Faͤlſchung und Betrug, Gewaltthaͤtigkeit u. f. w. bildeten *). 

Außerdem begnüägten fie fid) mit den privatrechtlichen Klagen und Nachtheis 

In, bie den Bedränger trafen. Und gewiß iſt es fehr zu billigen, daß 

man nicht zu viele ganz allgemeine Begriffe von Handlungen zu allgemeinen 

Criminalverbrechen erhebt, weil fonft allzuleicht fehr unbedeutende Rechtswi⸗ 

drigkeiten, welche durch die Privatllagen und ihre Folgen, Schadenerfag 

und Proceßkoſten genügend geküßt würden, als Griminalverbrechen vers 

folgt werden. Mindeſtens müßte man dieſes allgemeine Vergehen bes 

ſchraͤnken auf ſolche Expreffungen, welche eine gewinnfüdhtige Eigen⸗ 

tbumsbeeinträhtigung bezwecken. Nichts iſt gefährlicher für bie 

bürgerliche Freiheit und bequemer für die befpotiiche Unterdrüdung, als 
wenn der Bürger bei jedem Schritt und Tritt in Griminalanklagen zu vers 

fallen fürchten muß. Sind nur eimmal fo ganz allgemeine Reihen von 
Handlungen zu Verbrechen erhoben, fo kommt nun die ſtets unfichere Aus⸗ 
legung und Ausdehnung noch hinzu, und unbedeutende, ja oft ſelbſt nicht 
emmal rechtswidrige Handlungen veranlaffen einen unheilvollen Erimi⸗ 
nalproceß und geben die Bürger der Willkür preis. ebenfalls iſt feſtzuhal⸗ 
ten, daß der Charakter wahrer Rechts widrigkeit zu einem Vergehen 
durchaus unentbehrlich iſt. Wer daher durdy Drohung mit einem Nachtheil, 
den er das Recht hat eintreten zu laffen, 3.8. mit einer begründeten Civil⸗ 
age den Andern zu etwas zu beſtimmen Tucht, was, wenn berfelbe es thut, 
an ſich Fein Unrecht iſt, der hat nicht rechtswidrig erpreft. (Qui jure uti- 
tar suo, nemini facit injariam,) Etwas Anderes aber tft die Bedrohung 
mit einer Criminalanklage. Diefe erklärten die Römer als Vergehen, weil 
das Recht zu Criminalanklagen ein Öffentliches Recht iſt, wobel die Bürger 
wie Staatsbeamten fid) hüten müffen, die ihnen nur für die pflichtmäßige 
Foͤrderung des Öffentlichen Wohle anvertraute Öffentliche Gewalt zur Erpreſ⸗ 
[uns von Privatvortheilen oder von Iugefländniffen, wozu man nicht fchuldig 
fl, zu gebraudhen. Man hat jene römifche Beſtimmung bei uns ausgedehnt 

auf Bedrohungen mit Denwmeiationen und, da das Recht, Verbrecher zu 
benunciren, ebenfalls ein Öffentliches Mecht der Bürger ift, fo kann man 
biefes einräumen. Die moralifhe Schaͤndlichkeit, durch eine ſolche Dros 
‘bung einem Andern die Einrdumung eines Gewinns abzundthigen, iſt auch 
dann Mar, wenn die Denunciation an ſich Feine unrechtliche,, alfo keine wiſ⸗ 


*) Heffter, Lehrb. des gem. beutfchen Criminalrechts 8.565. 
Irrig ift es, wenn ältere Griminaliſten, 3. 8. Grolmann, Grim. $. 300, 
Beuerbad 5. 430 annahmen,, daß jebe Erpreſſung zugleich garraung fei. 

uch bas iſt nicht nöthig, baß immer bie Erpreſſung duch Vorwand ober 
Mißbrauch einer rechtlihen Gewalt ober meugnis ausgeübt wird. ©. Henke, 
Handbuch des Strafrehts. Bd. IH. ©. 62, 


Erpreffung. 


entlich ſalſche iſt. Außerdem aber ift biefes auch rechtswidriger Miß⸗ 
— Öffentlicher Dick: Dagegen wird auch diefer nicht mehr vorhan⸗ 
Men a wenn ein Bür —— bie Drohung mit einer an ſich rechtlich 
en Dieb bedroht, auf den Fall daßer nicht dem 
wiebererfkattet. Denn der Bürger hat nicht wie 
der Beamte un abfolute Pflicht, die ihm befannt gewordenen Vergehen 
amtlich zu verfolgen, und er kann e8 mit feiner Bürgerpflicht vereinbar hal⸗ 
ten, bier die Denunciation zu unterlaffen. Am ftrafbarften find wohl die 
Erpreffungen durch 22* der Amtsgewalt, ſei es daß fie 
unmittelbar auf niedertraͤchtigen Vermoͤgensgewinn des Beamten gerichtet 
find, ſei es, daß fie andere Einttumungen ber Bürger, 3. B. Geſtaͤnd⸗ 
niſſe oder Wahlſtimmen der Bürger, bezwecken. Zwar laffen fich hier Faͤlle 
denken, wo ber Beamte nicht aus niedertraͤchtigen Motiven, fondern aus 
ogenanntem übertrichenen Amtseifer handelte, und während gewinnfüchtige 
prejjungen zur Rettung der Rechtlichkelt und ber öffentlichen Achtung. ber 
unbebingt mit infamirender Gaffation zu ftrafen find, fo 
muß bei dieſer zweiten tclaffe von Beamtenerpreffungen allerdings je 
nad ben verf Um unterfchieben werben. Jedoch ift nie zu 
——— daß die ihrem Weſen nad) rechtlich und gefeglich beſchraͤnkte Amtes 
palt ein Heiligthum ift, das ben Beamten anvertraut wird und zur 
ng ber Freiheit, Ehre und Sicherheit der Bürger und der Regie 
rung gegen egen Mißbrauch) jeglicher Art moͤgl ich ſt Jossfättig geſchuͤtzt 
nun fobann aber, daß audy biefem Mißbrauch der zweiten 
emwöhnlih nieberträhtige Geminnfuht, das Streben 
nach Beförderungen und anberen ähnlichen öffentlichen Gunften ju Grunde 
liegt. Das ift bei fo vielen Inquirenten und ihren Erpreffungen von 
Geftändniffen, zumal in politifchen Proceffen ber Fall und bei fo vielen 
Beamten, welche durch Mißbraucd ihres Amts, ber Criminal= und Polizeis 
und fonfligen Amtsgewalt, nur zu oft die fämmtlichen Umtsangehörigen 
mit Nachtheilen aller Art bedrohen und durch deren Androhung und Zufüs 
gung von liberalen Wahlen und Gefinnungsäußerung zurüdzuhalten und 
ein entgegengefehtes Benehmen zu erpreffen ſuchen. Will die Regierung 
nicht die Bürger corrumpiren und fih die Achtung zerftören, will man 
nicht einen früh ober ſpaͤt verberblichen Krieg der Bürger gegen bie ihren 
heiligften Rechten feindfelige Regierung und Verwaltung erweden, fo muß 
man auch ſolche Erpreffungen ftreng beftrafen. Es gelten hier auch die oben 
angeführten Gefichtöpunfte ruͤckſichtlich der Beftechung. (S. den Art.) Won 
ben Erpreffungen ber Privaten find im Allgemeinen gewiß am ftrafbarften 
ſolche Erpreffungen, welche durch ben gewinnfüchtigen Zweck un db durch bie 
angewenbete ober angebrohte Gewalt bem Raub gleich ftehen und nur dadurch 
fich unterfcheiden, daß fie nicht wie diefer bie Befigsabnahme einer beweglichen 
Sadıe beimeden. Doc wird die größere Gemeingefährlicykeit der Mäuber 
im Bergleich zu biefen Erpreffern die Strafbarkeit der erfteren höher ftellen. 
Die neueren Gejegbücher find in Beziehung auf das Vergehen ber Expref 
fung nicht blos außerordentlich verfchieden , fondern auch großentheils tadeln®: 
werth wegen ungenüugender, unbeftimmter und allzu weiter Ausdehnungen 






. Erskine 268 


Des Begriffe des Vergebens. Siehe bieräber und über bie Literatur 
Feunerbach's Lehrbuch bes peinlihen Rechts, 13. Ausg., 
Beforgt von Mittermaier 1840. $. 430 und 431. 
G. Welcker. 
Erskine (Thomas, Lord), einer jener ausgezeichneten englifchen Ju⸗ 
ziften, wie England bei feinem nationalen Recht und feiner freien Verfafſung 
viele, Deutfchland bei dem Begentheil von beiden leider nur fehr, fehr 
wenige hat, ein Mann, zugleich trefflicher fcharffinniger Juriſt, dabei von 
« großer allgemeiner Bildung mit fiegreicher Beredtſamkeit und augleich ein Pas. 
triot von warmer muthiger unerfchütterlicher Freiheitsliebe. Als dritter Sohn 
des ſchottiſchen Grafen Buchan, wurde er am 21. Ian. 1750 geboren. Im 
Alter von 18 Jahren verließ er die Univerfität, trat zuerft in die Marine, dann 
in die Landarmee. Im 21. Jahre, noch ohne ein genügendes Einkom⸗ 
men, ſchloß er eine Neigungsheirath, Lämpfte ale Kamilienvater mit 
Nahrungsſorgen und begann deshalb im 26. Jahre das Rechtsſtudium. 
Er wurde nach dreijährigen Studien Barriſter und bewährte fi glänzend 
glei in feinem erſten Proceß. Er führte denfelben für den Gapitain 
Bailie, der wegen angeblichen Preßvergehens (libell) angeflagt worden 
war, weil er die Mißbräuche in der Marineverwaltung ohne alle Schonung 
und Furcht an das Licht. gezogen hatte. Auch der Anwalt bewies mit der 
tüchtigften Rechtskenntniß und der trefflichften Beredtſamkeit zugleich unter 
einer Damals fehr verfolgungsfüchtigen Verwaltung die rüdfichtslofe Unabs 
bängigkeit des wahren Rechtsmannes. In freien Staaten iſt Das, was 
in den unfreien in verderbenſchwangere öffentliche Verfolgungen ftürzt, deren 
Schrecken dann aufs Neue die allgemeine Knechtfchaft vermehren, ber 
ruͤckſichtsloſe Männermuth nämlich in der Enthuͤllung bes öffentlichen 
Unrechts und in ber Vertheidigung der Verfolgten, der Weg zu Ruhm und 
Größe und das Mittel zur Rettung der Freiheit des Vaterlandes. In Eng⸗ 


land wie in Rom bahnt ſolche Tüchtigkeit und die Advocatur den Weg zu 


dem National⸗Vertrauen und zur politifhen Größe. Erskine's Ruhm 
war mit feinem erſten Auftreten begründet. Alle bedeutenden politifcyen 
Proceſſe, welche die verfolgungsfüchtige Regierung veranlaßte, wurben ihm 
jegt übertragen und überall vertheidigte er fiegreich die großen Grundſaͤtze eng» 
lifcher Freiheit und Gerechtigkeit gegen die Hinterliften und Mißbraͤuche der 
Gewalt. In dem Proceß des Buchhaͤndlers Stockdale, der ebenfalls 
wegen IiBell angeklagt war, 1789, bewies er zum erflenmal gruͤndlich, daß 
dem englifchen Rechte nach die Gefchworenen, nicht, wie es biöher in die 
Draris ſich eingefchlichen hatte, nur allein über die Thatſache der Verbreitung 
der Schrift, fondern zuallererft darüber, ob die Schrift ein Libell fei, zu 
entfcheiden hätten. Diefe Anficht ging zum wirkfamen Schuß der englifchen 
Preßfreiheit und dadurch der ganzen englifhen Verfaſſung 
in die Praris und durch ihn und Fox fpäter auch in die Geſetzgebung über. 
Die Rüdfiht auf feine vortheilhafte Stelle eines Generalprocurators des 
Prinzen von Wales hielt ihn 1792 nicht ab, die Vertheidigung des wegen 
ſeiner „Menſchenrechte“ verflagten Thomas Payne zu führen. Er 
verlor die Stelle und führte 1800 aud den Proc des Koͤnigsmoͤrders 


264 Erziehung — Göpartero. 


arbfteld, Gele 1783 Mitglied des Unterhaufes, feit 1806 Pate von 

hottland und als Lord⸗ Kanzler in dem kurzen Miniſterium Grenville 
vertheibigte er auch hier ſtets feurig die Sache ber Gerechtigkeit und Freiheit, 
die vollen Nechte der Geſchworenen, bie Rechte ber iriſchen Katholiken, bie 
Aufbebung des Sklavenhandels, für welche er 1814 eine Petition von BO 
Geiſtlichen einreichte, die Befreiung Griechenlands und die wahren Princi⸗ 
pien der erſten franzöfifchen Revolution. Bekannt ift feine nad) dem Wiener 
Congreß gehaltene herrliche Rede, im welcher der erfahrene reis fo nach⸗ 
drucksvoll bie Tuͤchtigkeit und Tapferkeit ber deutſchen Nation, ihre wohlbe⸗ 
gründeten Rechte auf wahre Freiheit amerfennt, und ihre Fürften glüͤcklich 
preift, fofern fie nur es einfähen, wie ihr Ruhm und. ihre Erifteny davon 
abhänge, daß fie treu ihren rechtlichen Bufagen und Pflichten diefe unver: 
melbliche Freiheit redlich befhliken und verwirklichen, Erskin« ftarb am 
17. Nov. 1823 drei umb —— Jahre alt. Seine beruͤhmteſten Ge: 
eichtsreden erfchienen unter dem Titel Speeches on subjects connected 
with the liberty of the press and against treasons. Eine fleine höchft 
feeifinnige politiſche Schrift von ihm, View on the canses and consequen- 
ces of the present war 1789, erlebte 48 Auflagen. Noch kurz vor feinem 
Tod publiciete der freiheitliebende ehrwuͤrdige heitre Greis, ber ben Minis 
ftern fo oft herb und ſtets Oppofitiondmann war, neben einer Schrift für die 
Frelhelt der Griechen auch ein Gedicht auf den Landbau. Seine Palrowuͤrde 
vererbte dieſer alte Adlige von aͤchtem Schrot und Korn auf feinen zmeiten 
Sohn David Montagu Ersfine. GE. Wilder. 


Erziehung. Wir fordern zugleich bie hoͤchſte Achtung ber Freiheit 
ber Bürger, die ihre Kinder biefer oder jener Privat-Anftalt und Methode 
anvertrauen wollen. Wir wollen bie Privat: Erziehungsinftitute von jeder 
nicht abfolut unentbehrlihen Staatseinmifhung befreit 
wiffen, ohne welche Freiheit die Infkitute und Methoden von Peſtalozzi, 
Zellenberg, Lancaſter nie gediehen und für die Menfchheit lehrreich 
und nüglich geworden wären. Weſentlich aber ift nur Kenntnißnahme und 
Aufhebung von wahrer Betrügerei und Verlegung der Gefundheit und Sitt⸗ 
lichkeit in folchen Anftalten. | 
| | C. Welcker. 


Erziehung, phyftiche. Weber unſer heutiges deutſches Turn⸗ 
weſen, deſſen Gedeihen hoͤchſt wichtig iſt und namentlich auch in den Turn⸗ 
fahrten ähnlich wie unſere Gefangvereine die fuͤr geſunde Nationalbildung 
fo wohlthaͤtigen Volksfeſte (f. Hefte) befördert, wird der Artikel Turnen 
noch beſonders handeln. C. Welcker. 


Espartero (Don Baldamero), fruͤher Regent von Spa⸗ 
nien, Graf von Luchana, Herzog von Vittoria und Grande von Spanien 
erfter Claſſe, ift 1792 zu Sranatula in der Mancha geboren, wo fein Bas 
ter das Handwerk eines Stellmachers betrieb. Das Leben und Wirken dieſes 
außerordentlihen Mannes, die von Freunden und Feinden der Freiheit fo 

- oft umrichtig dargeſtellt und beurtheilt wurden, find fo innig mit ber neueften 
fpanifchen Geſchichte verbunden, daß fie, um Wiederholungen zu vermeis 


2 
⸗ 


Eſt e. 265 
den, nur im Artikel Spanien im Zuſammenhange dargeftellt werben 
dürfen. 


€. Welcker. 

Efte. Dem Staatsleriton gehört zunaͤchſt nicht das altberühmte 
tealienifche Fürflenhaus Efte an. Wohl aber haben die von dem Sohn 
Des verftorbenen englifchen und bannöverifchen Prinzen Herzogs von Suſ⸗ 
fer erhobenen eventuellen Exrbanfprüce auf die Kronen von England und 
Hannover eine Beziehung zu umfern flaatsrechtlichen Eroͤrterungen. Diefer 
Sohn iſt Auguft Friedrich von Eſte. Der Herzog von Suſſer, 
der ſechote Sohn Georg's ILL, vermählte ſich am 4. April 1793 mit Lady 
Augufte Murray, ber Tochter des fchottifihen Grafen Dunmore, eines 
Nachkommen ber alten Herzöge Atholl, ohne Vorwiffen der beiderfeitigen 
Eitern. Ein Geiſtlicher, der fpäter nicht mehr ermittelt werden Eonnte, 
hatte bie Ehe vollzogen, aber kein Zeugniß über biefelbe ausgeſtellt. Doch 
eriftiete ein fchriftliches Eheverfprechen des Herzogs. Um den Beweis einer 
wirklich gefchloffenen Ehe zu fihern, murde hierauf in London die Trauung 
ernenert. Am 5. Dec. 1793 wurde im Kirchfpiel St. George, nad) dreimas 
ligem Aufgebot, ein Herr Sredertc mit Augufte Murray, die für das 
Publicum Leute geringeren Standes zu fein fchimen, getraut und dann 
die gefchloffene Ehe durch einen Traufchein beftätigt. Am 13. Januar 1794 
gebar die Vermaͤhlte einen Sohn, Auguft Friedrich, den jegigen Oberft von 
Efte. Der Geheimerath unterſuchte nun die Sache und von dem erzbis 
ſchoͤflichen Bericht wurde die Ehe für nichtig erklärt, weil ein Geſetz Georg’s 
II. von Jahr 1772 über die Verheirathungen ber Kinder ber Böniglichen Fa⸗ 
milie bie koͤnigliche Einwilligung als Bedingung gültiger Ehen erklaͤrt. Der 
Herzog von Suffer hielt ſich indeß an die Ehe als eine gültige Ehe gebunden 
und e8 wurde Ihm am 11. Auguft 1801 von feiner Gemahlin audy eine Toch⸗ 
ter, Auguſte Emma , geboren. Später erhielten die Kinder nad) der alten 
Abftammung der hannoͤveriſchen Familie den Namen Efte und die Mutter 
mit dem Titel hannoverifche Gräfin den Namen d'Ameland, einen Jahr⸗ 
gehalt von 4000 Pfund Sterling, der nad) ihrem Tode 1830 für die Kins 
der verboppelt wurde. Noch bei Lebzeiten des Herzogs von Suffer fuchte 
der Oberft von Efte die Anerkennung feiner Legitimität al eines Prinzen von 
Sroßbritannien und Irland oder wenigftens von Hannover geltend zu machen, 
wodurch er vor der erbfähigen Defcendenz des Herzogs von Cambridge, 
abet nach derjenigen bes jegigen Könige von Hannover folgen wuͤrde. Diefes 
veranlaßte in England und Deutfchland viele Erörterungen und eine Reihe 
von Staatsfchriften. Fuͤr den Oberft von Efte fchrieb in Deutſchland 
Kluͤber m den Abhandlungen für Geſchichtskunde, Bd. II. Frank 
furt 1834, umd ebenfo K.S. Zachariaͤ Heidelberg 1834 5 gegen denfelben 
Schmid Jena 1835 md Eichhorn Berlin 1835. Diefe Schriften dies 
fer berühmten deutfchen Publiciſten enthalten fehr Intereffante Erdrterungen 
über fürftliche Succeffionsrechte. Die Gründe für und wider die jegt vorldus 
fig ruhenden Anſpruͤche des Oberſten Efte werden am beften im Zuſammen⸗ 
bange mit dem ganzen fürfllihen Succeffionsiccht im Artikel Succefftion 
geprüft werben. C. Welcer. 


266 Etymologie 


Etymologie ift die Lehre von der Entſtehung ober Ableitung ber 
Worte. Sie fuhrt Ihre urfprüngliche und wahre Bedeutung zu erforfchen, 
fie auf ihre Wurzeln und Stämme zurädzuführen. Sie lehrt bie Beſtand⸗ 
theile bes Wortes, bie verfchiebenen Arten und Kormen und bie Bildung defz 
elben durch Ablektung und Zufammenfegung fennen und zerfällt alfo in die 
| damentallehre, Formenlehre und Wortbildungsiehre. Die Worte find 
der Spiegel einerfeits unferer inneren Geiftes« und Gefuͤhlswelt, —“ An⸗ 
ſchauungen, Gefühle und Begriffe; andererſeits der Außenwelt, deren B 
das Mittel des lebendigen Ausdruds und der Mittheilung unferer 2 
Anſichten und Gedanken ſind. Das natuͤrlichſte menſchliche Intereſſe wie die 
ernſte Bemuͤhung nach rt gründlichen Erfenntniffen giebt alfo der Ers 
62 der urſpruͤnglichen Entſtehung, des Wechſels, des tieferen und 
wirklichen Sinnes der Worte ein hohes, zum Theil ein poetiſches Inter⸗ 
eſſe. Daher iſt die etymologiſche Betrachtung der Worte alt. Aber 
eben jenes ** poetiſche — verleitet hier haͤufig zu den groͤßten 
Spielereien und Phantaſien, fo daß dieſes den Philologen Moif zu dem 
Witzworte beftimmte, die Etymologie fei eine Wiffenfchaft, in — die 
Conſonanten wenig und die Vocale gar nichts gelten, Erſt durch fo gruͤnd⸗ 
liche Erforfchung aller Elemente , Bildungsperioden und Geſetze ber Sprache, 
ihrer verfchiedenen Dialekte und ihrer Darftellung ducd Schrift, wie wir 
biefelbe für bie beutfche Sprache den unfterblich verbienftvollen Arbeiten ber 
Gebrüder Grimm verdanken, wird die Etpmologie zu einer ficherern Wiffen- 
ſchaft erhoben. 

Ein ganz befonderes Intereſſe bat die Etymologie für ben Juris 
fen. Es hat derfelbe (f. oben Bd. 1. ©. 13) vor Allem die Aufgabe, in den 
wahren Willen und Eonfens bes Volkes, ber einzelnen Gefellfchaf: 
ten unb Bertragfchließenben einzubringen, wozu das Eingehen in 
ben urfprünglichen und wahren anfhaulichen Sinn der Worte höchft wichtig 
ift. Ein großer Theil der wichtigften Begriffe in Beziehung auf Recht und 
Staat find moraliſche Beariffe. Hier aber giebt die urfprüngliche und ety⸗ 
mologifche, oft die finnlich anſchauliche Bedeutung die wichtiaften Aufſchluͤſſe. 
&o 3. B. fommt in dem römifchen Recht viele hundertmal bas Wort aequitas, 
aequum ald Rehtsprincip und Rechtsgrund vor. Nach einer fpd- 
teren, ich möchte" fagen, vornehmeren und gelehrteren Auffaffung wird diefes 
als Billigkeit, ald Abweihung vom Recht aufgefaßt, und die neueren 
Juriſten, felbft ein Hugo, uberfegten diefe Worte ohne Weiteres ſtets durch 
Billigkeit und billig. Aber es ift wohl jetzt vollftändig erwieſen, daß bie roͤ⸗ 
mifche Jurisprudenz diefe Worte in ihrem urfprünglidhen Wortfinn 
als Gleichheit und als gleich gebrauchte, und daß nur dadurch hunderte 
bisher falfch verftandene juriſtiſche Beſtimmungen und das ganze römifche 
NRechtsſyſtem ihren richtigen Sinn erbalten*). Ja ſelbſt da, mo fpdter und 
ausnahmsweiſe in Rechtsfägen das Wort aequitas durch Billigkeit überfegt 
werben darf, da erhält diefe, die juriftifche Billigkeit, erſt felbft wieder ihre 
wahre Bedeutung burch den urfprünglichen Wortfinn: Gleichheit, denn 





ng Belder, Syſtem. Bd. I. &. 605 ff. 


—* 


Etymologie. 367 


man verfländ Darunter vorzugeweiſ⸗ eine verhaͤltnißmaͤßige Gleichheit 
und Ausgleichung, die des prätorifchen Rechts, im Vergleich zu dem 
ſtricten Buchſtabenrecht ber materiellen und Zalionsgleichheit der Alteften Zei⸗ 
ten. Man befolgte dabei den ariftotelifchen Brundfag: „Nur für Gleiche 
und unter gleichen Verhältniffen ift das Gleiche gleich.” Diefe juciftifche 
Billigkeit blieb alfo juriftifch eine wirkliche Gleichheit oder Ausgleichung unb 
juriſtiſch gerecht. Sie ſchien aber dem Moraliften in unferem modernen 
Sinn eine Billigkeit, als eine zu billigende Abweichung vom Recht. Eine ſolche 
wollten aber die claffifchen römifchen Juriften nicht in ihr Recht einführen, 
denn die g von Recht verpfufcht das Recht und im Recht dürfen 
nur Rechtsgruͤnde entſcheiden. (S. das vorige Citat.) Ganz ähnlicy wie mit 
biefem Grumdbegriff der aequitas verhaͤlt es fich mit andern juriftiichen Srunbs 
begriffen, welche die Meiſter der claſſiſch⸗ römifchen Jurisprudenz ebenfo 
oft als Rechtsgebote und Mechtegrundfäge, ald Gründe ber Geſetzgebung 
und Entſcheidung anführen, „wie z. B. honestum (von honor juriftifche 
&hre), bona fides (existimatio 0.0.0. &.582, 633). Die römifche virtus 
teägt ebenfalls durch ihre etymologiſche Ableitung (von vir ber Mann) ihren 
Grundcharakter an der Stirn. 

Ganz auffallend erfcheint es allerdings auf ben erſten Blick, daß bie gro⸗ 
hen praßtifchen Meiſter des römifchen Rechts, ebenfo wie Cicero, ihre Ent⸗ 
widiungen der Rechts ſaͤtze des ganzen Rechts und ber einzelnen Rechtsmate⸗ 
rien (der einzelnen Titel) mit etymologiſchen Erklaͤrungen der Srundbegriffe 
(3.3. jus, servus, persona, possessio, pactum) beginnen. An fi) ſchon 
belaͤcheln unfere modernen Juriſten diefe Methode und halten fie vollends 
nicht beachtenswerth, wenn ihnen diefe Etymologien oftmals als mißglädt er⸗ 
fheinen, wie benn wirklich die Etymologie bei den Alten bekanntlich noch 
nicht fehr gründlich ausgebildet war. Aber felbft bei den hier vorkommen⸗ 
den Fehlern hätten die Modernen doch jenen herrlichen, fruchtbaren Grund⸗ 
gedanken der Alten achten follen, den Gedanken: alle Recht, bei voller Bes 
achtung bes tieferen Vernunftgeſetzes, doc, aus dem freien Conſens, aus 
ber freien Anerkennung der Buͤrger abzuleiten, es ſtets nur objectiv, 
analptifhshiftorifhsphtlofophifch zu entwideln und fo auch wie⸗ 
derum zur freien allgemeinen Anerkennung zu erheben. Sie betrachteten 
ſtets das Recht als eine freie allgemeine Öffentliche Sache des Volkes und Fuchs 
tem es als folche zu erhalten. (S. oben bie Encyklopaͤdiſche Einlei⸗ 
tung.) Beides beweifen aufs Volltommenfte ſchon die erfien allgemeinen 
Titel der Inſtitutionen und der Pandekten. Seibſt die mangelhaften ety⸗ 
mologifchen Ableitungen ber juriftifchen Begriffe aus der Volksſprache bee 
flätigen wenigſtens diefe allein aͤcht juriftifche und politifche Methode und Be⸗ 
firebumg und fie dienen ihr meift, indem dabei die Urheber berfelben wenige 
fiens die mit dem Rechtsinſtitut verwandten wirklich in ihm lebe! en 
Volksanſchauungen und Volksgrundſaͤtze in's Auge faſſen und Ihre ©. .e 
bamit verknuͤpfen. Wie weit entfernt hiervon iſt jene moderne vornehme, 
volksverachtende, aus abftracten und apriorifchen Principien der Schulweis⸗ 
beit von oben herab beducivende Methode, welche fogar bie vaterländiirhe 
Sprache — bie Bauernſprache, wie bie früheren Romaniften in Deutſch⸗ 


4 


268 Eudämonismus. 


land fie nannten — verachten umb das Recht fogar abſichtlich geheim, ums 
verſtaͤndlich und unvollemdßig zu machen fuchten. 

Nach allem Bisherigen ift die Etpmologie gewiß eine wichtige ju⸗ 
riſtiſche Hilfowiſſenſchaft. Für die griechifche Sprache ift das Etymologieum 
magnum, herausgeg. von Schäfer, Lpz. 1816, das erfte Hauptwerk, mom 
das Etymnlogicum Gudianum , herausgegeben von Sturz, 2 Bde. Lpj. 
1818 — 1820, gehört. Für die Lateinifche Sprahe: Döderlein’ Ea⸗ 

. teinifhe Etpmologien und Synonyme, 6 Bbe. Lpj. 1826 bis 
1838, mb Schmwent’s Etomologifhes Wörterbuch der latel— 
nifhen Sprade, Darmftadt 1827. Mehrere Sprahen umfaffen 
Whiter Etymolögicum universale, "2. Auflage Cambridge 1811, und daß 
fonglottifhe Werk: Tripartitus seu de analogia linguarum libellus, Mien 
1820— 1833. Für die Juriften ift ruͤckſichtlich des römischen Rechts auch 
etymologifch wichtig das befannte Werf von Brissonins de verborum signi- 
fieatione , und fir das deutſche Recht außer den etymologlſchen Werfen von 
Graf, Biemann u, f. w. die bekannten Gtoffarten, die der mittel: 
alterigen latemifchen (und galliſchen) Sprache von du Fresue oder du 
Cange, Carpentier und Adelung und bie ber beutfchen Sprache von 

- Shilter, Wachter, Haltaus, Scherz (herausgeg. von Oberlin) 
und Weftenrieder. (S. unter Germanicum und Germaniftifche Lite: 
ratur.) Gehe wichtig find für die deutſche Sprache überall 3. Grimm’s 
Deutfhe Grammatik und deſſen Rechtsalterthümer. 
GE. Welder: 

Eudaͤmonismus, Egolsmus, Epikurdlsmus, Indivi— 
bualismus, zunächſt in ſocialer politiſcher Bedeutung 
und im Verhaͤltniß zum Communismus. — Die Grundlage 
der wahren Freiheit und Kraft ber Völker und Staaten, alfo auch die des 
Rechts und der Politik, ift Sittlichkeit und firtliche Würde. (©. Chriften:- 
thum und Moral), Der allgemeinfte Gegenfag fittliher Richtung 
und Beftrebung ift Egoismus oder Selbfifuht. Wenn man biefe 
Richtung als philoſophiſche Lehre für die menfchliche Beftrebung aufſtellt, 
alsdann nennt man diefe praftifche Lehre, deren Grundprincip bie Selbſtſucht 
‚und ihre Befriedigung if: Eudämonismus. Cubämonismus iſt die 
Anficht oder Lehre, melde die Gluͤckſeligkeit des Handelnden zum legten Ziel 
feines Wollens und Strebens, alfo zum Maßſtab des Guten und Schlech—⸗ 
ten, und daher das Streben nad) der Gluͤckſeligkeit zum legten Beweggrund 
des Handelns und zum oberflen Grundfag der Moral macht. Diefem Eus 
daͤmonismus fleht der Grundfag aller wahren Moral entgegen, daß die Bes 

fkiedigung bes Willens diefem Willen felbft noch keinen Werth giebt, und daß 
Bas Gute und Böfe fich nicht darnach beſtimmt, was den Willen befriedigt, 
fondern nad einer von allen Nebenrädfihten unabhängigen Beurtheilung 
des Wollens ſelbſt. Die wahre Sittlichkeit geht aus von einer über dem 
Selbſt, über dem Wollen des Einzelnen und feiner Befriedigung flehenden 
höheren fittlichen Weltordnuma, welcher er mit feinem Selbſt ſich unterorb» 
"nen llebevoll anſchließen und nöthigenfall® aufopfern muß. Hiernach muß 
man, flreng genommen, die eubaͤmoniſtiſche Lehre geradegu als eben fo 





Eudaͤmonismus. 269 


umfittlich wie die rohe gemeine Selbftfucht erklaͤren. Aber man barf nicht 
vergeffen, daß die Auffaffung der legten philojophiihen Principien ſtets 
großen Schwierigkeiten und Mißverſtaͤndniſſen ausgefegt ift, daß alfo Mans» 
cher mit an ſich fehlerhaften Grundfägen einen befieren Siun und nicht bie 
ſtrengen logifhen Folgerungen verknüpft, ja daß, wenn er auch in feinem 
philoſophiſchen Denken ſich zu einem ſolchen Srundfag verirrt, doch, wie E is 
cero fagt, fein Derz beſſer ift als fein Kopf oder feine Philofophie. Bei fo 
Vielen erweilen fi), ohnerbaß fie es ſich Elar bewußt werden, bie ald moras 
liſche Muttermilch in der Jugend eingefogenen wahrhaft moraliſchen Gefühle 
und Sefinnungen wirkfam. Dieſes untericheidet das eudaͤmoniſtiſche 
philoſophiſche Spflem gar fehr von dem gemeinen, rohen Eyoismus. Auch 
iſt der Begriff der Gluͤckſeligkeit, das heißt des Wohlfeins, welches in der 
Befriedigung der Wünfche und Begierden liegt, an fich ganz unbeſtimmt, 
fo daß ſchon beshald fi der Eudaͤmonismus verfchieden geftaltet. Ges 
woͤhnlich unterfcheidet man einen groͤber en Eudämonismus, welcher die 
Gluͤckſeligkeit blos im finnlihen Genuͤſſen fucht, ben robeften praftifchen 
Moaterialismus, und einen feineren, welcher die Gluͤckſeligkeit in geiftige 
Genuͤſſe oder in eine Mifchung von beiden feßt, wie der Epiturdismu, 
Selbſt die religiöfe Moral kann eudaͤmoniſtiſch oder egoiftifch werden, infor 
weit man die Tugend lediglich um der Belohnungen in biefem oder jenen 
Leben empfiehlt. Doch wird gerade hier nie der Cudaͤmonismus ganz rein 
fein, weil der Religiöfe in feinem Glauben doch ſich zu einer moralifchen 
Weltordnung hinwendet und bewußter aber unbemußter fein Selbſt derfelben 
unterordnet und eine höhere, unſterbliche, fittliche Beſtimmung anerkennt. 
Auch werden fich fehr häufig in der philofophifchen Lehre den eudaͤmoniſti⸗ 
chen Srundfägen wirklich moralifche Beftimmungen einmifchen oder in ben» 
felben verſteckt fich befinden, fo wie es z. B. in der ariflotelifchen Ethik 
offenbar der Hals ift, während die Lehre des Ariftipp und Epikur ganz 
ununmunden Genußlehre war. 


Diejenigen, welche, wie jegt viele Neuhegelianer, gleichgültig ober feindfelig 
gegen religiöfe wahrhaft moralifche Lehren, gegen die Lehren von einer höherem 
fittlichen Weltordnung und von einer unfterblichen Beftimmung ber Menfches, 
angeblich zu Gunſten ber Freiheit für materialiftifche,. eudaͤmoniſtiſch⸗ pls 
kuraͤiſche Richtungen wirken, diefe follten zweierlei nicht vero⸗Nen: Fürs 
Er ſie wird ImMWolke bie von ben (Bebitdeten noch mehr <, Apig und aud) mehr 
mit fittlichen Principien vermiſcht aufgefaht- npämoniftifche ober epiku⸗ 
raiſche Lehre bald zum gemeinen Toben Materialismus und Egoismus, 
Sodann aber verſchwindet in der zweiten und dritten Gmeration jene mit 
der Muttermilch, eingefogene, einer fräheren teltgiöfen und moralifchen Beflts 
tung angehörige und eine Beitlang wohlthaͤtig nachwirkende eblere religiöfe 
und moralſche Auffafſungs⸗ und Gefuͤhlsrichtung immer mehr, bis zuletzt 
ganz fo wie bei den ſpaͤteren Römern der roheſte, craſſeſte Materialismus 
die Menſchen beherrſcht und jetzt Die Stelle ber aufgegebenen höheren Relis 
gion der tollſte wechſelnde Abergiauben erſetzt. In foldiem Zuſtand verfaw 
len die Menſchen fogar phyſiſch. Die Länder veroͤden, wie die römifcsen «6 

—F 


immer mehr thaten, ehe die frifchen germantfchen Stämme fie in Befig nah⸗ 
men und bie elenden verborbenen Refte bes früheren Volks beherrichten. 

Zum Theil hoͤchſt vertvorrene und verderbliche Lehren haben in neuefter Zeit 
zuerſt manche radicale Literaten und mehr oder minder große Abtheilungen 
der unteren Volksmaſſen ergriffen. Sie koͤnnen unter Umftänden in 
Deutfchland, mo kelneswegs, wie in den freien Ländern, die unermteßliche 
Mehrheit der Nation durch ihre wirkliche ſtaatsbuͤrgerliche Freiheit befriedigt 
und in den Befig ber Mittel zu jeder friedlichen Verwirklichung aller wahren 
Volksbeduͤrfniſſe geſetzt ift und wo eben daher auch die politifche Freiheits⸗ 
partei gegen revolutionäre Alllancen mit umſtuͤrzenden, focialiflifchen und 
eommmmniftifchen Beftrebungen ftets abgeneigt bleiben wird, hoͤchſt gefährlich 
und verberblich werben. Was in unferer Lage die Lehre mohlmeinender beſon⸗ 
nener Freiheitsfreunde noc vermögen wird, wenn einmal irgend ein 
größerer äußerer Anftoß durch Noth, Krieg oder partiellen Aufftand 
gegeben ift, — das iſt wahrlich ſchwer vorauszuſehen. Eine falſche Regie: 
rungspolitik hat zuerſt geſuͤndigt und unendlich viel verſchuldet und ſie ver⸗ 
mehrt das Uebel täglich. Zuerſt hat man die heutzutage unentbehrlich und 
zum Lebensinftinet der Völker gewordene und allein fichernde politifche Frei» 
heit buch reaetiondre Politik, trog aller früheren Zuſagen, zuruͤckzuhal⸗ 
ten oder en zu unterdrüden ober zu untergraben geſucht. Diefe ver: 
hängnifvollen Beftrebungen und die Mittel zur Verwirklichung des Uns 
natürlichen koͤnnen mahrlic die Achtung der Regierung, der Gefege und 
ber Moral nicht befeftigen. Ga, da man felbft die Religion als Mitte für 
das naturwidrige, unmoralifhe Bemühen mißbraudte, fo hat man felbft 
ben naturnerhwendigen Gegenkampf und in ihm Haß und Geringfhägung 
fogar gegen jene Heiligthlimer hervorgerufen. Ä 
Sodann hat man die fFärfften natürlichen Enttwidelungstriebe 

ber Nation, die ung heute zu gleich freienf politifchen Zuftänden hinnöthi- 
gen, wie die anbern gefitteten europdifchen Voͤlker meift befigen, von ben 
allein ungefährlihen Bahnen einer freien Preffe, eines parlamenta= 
riſchen und geordneten conftitutionellen Freiheitskampfes, wo die ertremen 
Richtungen durch geregelten Gegenkampf und durd; das praßtifche Bedürfnif 
unſchaͤdlich werben, in das innere Leben ber Nation, in die Kirche, die Wiſſen⸗ 
ſchaft, die Kunſt, die Literatur, namentlich bie poetifche und Roman-kiteratur, 
ja fogar in das Gewerbe hineingetrieben. Und ale num hier die Beftrebungen 
eines neuen Lebens und neuer Freiheit ſich regten, da bat die politifche und 
Polizeimacht ſich vermeſſen, fie fogar in diefen geiftigen Gebieten, mo fie 
nicht Herr tft, zu bekriegen. So hat fie für die Regierungen auch hier den 
gefährlichften Gegenkampf erregt. Sie hat in bem ganzen Körper bie Gäh: 
rung verbreitet, Kirche, Literatur, Gewerbe revolutionaͤr gemacht. Das 
Mebel frißt um ſich und kommt in Gefchwüren zu Tage. Dem ehrlichen 
Zreiheitsfreund ‚bleibt nuc Warnung und Berichtigung der Begriffe nad) 
beiden Seiten bin. 
Zu den verwirrteſten Vorftellungen in diefem Kampfe gehören unter 
andern auch bie, daß man neuerdingei den Egoismus mit dem Indivi⸗ 
dual is mus vermiſcht uud ſelbſt eine natuͤrliche fittliche Beſtrebung für die 


Subdämonismus und Egoismus. a1. 


genen perfönlichen Verhaͤltniſſe verwirft. Man will alles freie perfönliche 
individuelle Brecht und Eigenthum, ja bie individuelle Kamille aufheben, 
Alles gemein machen und glaubt fö die Selbftfucht aufzuheben. Aber Bott 
und Natur haben uns einen individuellen Körper mit individuellen Be⸗ 
bhrfniflen als Träger und Organ unfers fittlichen Lebens gegeben und 
das Recht folgt nur ihrem Geſetze, wenn es im juriſtiſchen Eigenthum ber 


freien Derföntichkeit einen jurifkifchen Leib giebtund in der individuellen 


Familie einen neuen individuellen Träger und eine Pflanzichule der erſten 
und wefentlichften höheren gefelligen Beſtrebungen fichert. Gelbftfüchtig, 
wahrhaft verwerflich egolftifch kann Der, welcher mit dem Andern aus ges 


meinfchaftlicher Schäflel ißt, eben fo handeln und fi, beweiſen mie Der, 


weicher einen-befonderen Zeller hat. Das tiefe vömifche Recht unterfchieb 
mit Mecht und verband zugleich organifch und auf die tiefſte grünblichfle 
Welle das Drivats (oder woͤrtlich Abſonderungs⸗) Recht und das öffent» 
che (oder wörtlich das Volks⸗ umd gemeinfchaftliche) Recht. Es war und iſt 
Krankheit, wenn ber berühmte Hugo und jest die Communiſten alles 
Privatrecht, und Derr von Haller und die Abfolutiften alles wahre und freie. 
Öffentliche Recht, ja wenn die allmaͤchtige Polizei heutzutage Beides zugleich 
vernichten und verfchlingen wollen. Unfer germanifches Recht faßt bie per 
fönliche Würde und individuelle Sreiheit noch energifcher auf als das roͤmi⸗ 
ſche Recht. Aber auch es hat in allen freien deutfchen Stadt⸗ und Lande 
Verfaſſungen von jeher ein öffentliches Recht organiſch mit der Privat⸗ 
Freiheit verbunden. Es hat in feinem Grund vertragsſ⸗ und Gleich⸗ 
gewichtsſyſtem ſtets den abfurden Abfolutismus eines nur privatlichen 
oder nur Öffentlichen Rechts, den heutigen Communismus wie den Sultanie⸗ 
maus verworfen. 

Einige jener hierher gehörigen Verirrungen num fucht auch der nachfols 
gende Artikel zu befeitigen. e. Velden. 

Eudämonismus und Egoismus im Berhältnig zu 
den foctaliflifhen und communififhen Theorien. Unter 
vielen andern Redensarten über Individualismus“, „Familismus“ ac. iſt 
auch der Egoismus öfter zu einem Stichwort geworden, womit der doctri⸗ 
näre Communismus der neuern Zeit feine Angriffe gegen die bisherige 
Auffaffung von Staat und vernünftig organifirter Geſellſchaft auf feine 
Kampfbuͤhne ruft *). Die VBodenlofigkeit und Ertravaganz der commus 
niftifchen Doctrin iſt zwar bereits anerkannte Thatſache geworden, da aber 
in Deutfchland Feine Verkehrtheit verkehrt genug ift, um ſich Beine An⸗ 
haͤnger mehr verfchaffen zu können, fo mag Immerhin die communiftifche 
Anficht über ben Egoismus pder die angebliche Quelle alles focinlen Uebels 
noch näher beleuchtet werden. 

Der Communismus bezeichrtet die gegenwärtige Gefellfchaft als einen 
Krieg Aller gegen Alle, in welchem Jeder den Andern auszubeuten, zu 


*) Man verwechfelt nämlich den Inbivibualismus mit wahrem unfittlis 
hen egoiftifchen Beſtreben. S. ben vorigen Artikel. 
Anmerk. ber Redast. 


NL 


7 Eubdmpnisnmd und Egoismus 


betrügen, zu berauben trachte, im welchem bie Menſchen von. einander 
getrennt werden, in welchem die Gattung zum Mittel des Individuums 
berabgewürdige ſei. Dies fei ein umnatürlicher Zuſtand, und der 
Grund dieſes unnatuͤrlichen Zuſtandes ſei zu ſuchen im Geld und im 
Privaterwerb. Geld und Privat» Erwerbs und Beſitz gilt den Commu ⸗ 
niften für die Wurzel alles Uebels auf diefer Welt. Durch dem Pri⸗ 
vaterwerb werden die Menfchen als einzelne Individuen, werden ‚die 
abflracten, nackten Perfonen als bie wahren Menſchen erflärt, mwers 
den die Menfcyenrechte, d. h. die Rechte bes unabhängigen Menſchen, 
proclamirt,, alſo die Unabhängigkeit der Menfcen von. einander, Die 
Trennung und Bereingelung als das Weſen des Lebens und ber freie 
beit erflärt und die ifolirten Perfonen zu ferien, wahren, ‚natürlichen 
Menſchen geſtempelt. Dadurch fei das Prineip der Sklaverei — die 
Entäußerung des menſchlichen MWefens durch die Sfolirung der menſch⸗ 
lichen Individuen und die Derabmürdigung jenes Weſens zum Eriftenj« 
mittel diefer. Indivibuen — allgemein in's Leben getreten. Diefer prime 
eipiell durchgeführte Egoismus der modernen Gefellfchaft hebe allen une 
mittelbaren Verkehr (welcher allein das wahre Wefen des Menſchen fei) 
und alles unmittelbare Leben auf und geftatte baffelbe nur noch als Mits 
tel zum Privaterwerb, | 

Dies müffe anders werden, das Geld. dürfe nicht mehr das Ger 
meinivefen des Menfchen bleiben, denn das Geld fei etwas Aeußetliches, 
Mitteibares, ‚könne. alfo nie das wahre Eigenthbum, das wahre Weſen 
bes Menfchen werden, weil diefes innig und unmittelbar mit dem Ber 
figer und Menſchen verwachſen fein müffe. Das Vermoͤgen der Men: 
fhen dürfe fernerhin nicht mehr außer ihnen im transfeendenten 
" Gelbe, fondern im Zufammenwirken und Austaufd ihrer durch humane 
Bildung entwidelten Kräfte, 2. 'nte und Fähigkeiten d. h. in der Herr⸗ 
[haft der Allgemeinheit beftehen. — ganze Bafis der bisherigen Ges 
ſellſchaft müffe aufgegeben werden, m die‘ Stelle der Trennung müffe 
de Einheit der Gattung, an die Stelle des Egoismus müffe der Socialiss 
mus, an die Stelle des egoiſtiſchen Privaterwerbs, als chimdrifchen ats 
tungsvermoͤgens, muͤſſe das wirkliche Vermögen der Sattung treten. — 
Seli dies gefchehen,, feien die Menfchen gefellfchaftlich vereinigt, fo brau⸗ 
hen fie fich ihe (theoretifches und praktifches) Vermögen nicht mehr dus 
ferlich anzueignen, um felig und glüdiich zu fein, fo haben fie nicht 
mehr nöchig, fich privatim die menſchliche Arbeit (und Tugend) Hüds 
weife, haufenweiſe einzufammelnszum davon zu zehren, um damit leben 
and wirken und mucern zu Einnen. 

Diefer Socialismus verwandle den bisherigen, fcheinbaren, dußerlie 
chen, zufälligen und unmenſchlichen Befitz in wirkliches, unveräußerliches, 
wohrbaft menſchliches Eigenthum. x bebe den Gegenfag von Privats 
menfh und entäußertem Gemeinmefen auf und an die Stelle des bisheris 
gen Egoismus laffe er als leitendes Princip die Liebe treten. 

Dies Ifl, ipsissimis verbis wieder gegeben, die Theorie, wie fie von 
der deutschen . Communiſten⸗ ober Socialiſtenſchule in ihren neueften 


‘ 


’ 


Eudaͤmonismus und Egoismuß. 78 


Schriften ⸗ntwickelt wurde. Entkleiden wir fie ihrer theils unverſtaͤnd⸗ 
lichen, theils unverflandenen doctrinaͤren Floskeln, fo läßt fie fich auf 
falgende Säge zurüdführen: . 

Weil das Geld das Medium der menſchlichen Thätigkeit iſt und als 
Deren Stellvertreter gilt, konnte und mußte «6 gefchehen, daß es da und 
bort unverhaͤltnißmaͤßig fi) anhäufte und, in diefer Anhaͤufung als fins 
girte Thätigkeit geltend, andere feiner entbehrenden Theile ber Geſellſchaft 
von ben bevorzugten Beſitzern abhängig machte. Dirfe Mittelbarkeiz 
ber menfchlichen Production fo wie bie Aeußerlichkeit des Eigenthuns 
exzeuge das egoifliiche Rennen und Jagen nach dem mittelbaren Verkehrs⸗ 


mittel und nad) dem Äußerlichen Beſitz und erzeuge dadurch die Zerrifiem _ , 


heit, den Egoismus der gegenwärtigen Geſellſchaft. Vernichtet koͤnne dies 
fer Zuftand nur dadurch werden, daß man das Medium, den Stellvertreter 
der menſchlichen Arbeit, das Geld, abſchaffe und an feine Stelle wieder 
wie im Raturzuftande die unmittelbare Thaͤtigkeit fege, daß man ferner 
Aberhaupt das dußerlihe Eigenthum vernichte und es dadurch mit dem 
MWeſen des Menfchen verſchwelze, daß die Allgemeinheit zur alleinigen 
Eigenthämerin gemacht werde. Sei dies gefcheben, fo trete an die Stelle 
Des bisherigen Egoismus und der egoiſtiſchen Thaͤtigkeit des Indioiduunss 
der Stun für die Algemeinheit und das Thätigfein für bie Allgemeinheit. 
Das Einzelweſen werde nun Mittel für die Zwecke des Gattungslebens 
and der Geiſt communiflifcher Liebe fchwebe über dem ehemnligen Chaos 
ageiſtiſcher Triebe und Zerriffenkeit. 

„In dieſer Theorie ift nun Wahres und Falſches fo bunt durch ein⸗ 
ander arten, dag man nicht weiß, auf weicher Seite die Confuflon 

ee if. 

Wahr ift, daß ber gegenwärtige Zuftand ber Gefellfchaft das Bilb 
einer in taufend und aber taufend feindlich einander durchkreuzende In⸗ 
tereffen getrennten Maſſe darbietetzs wahr ift dee Mangel an jenem 
großartigen Gefühl für die Allgemeinheit und menfchlicye Intereſſen, 
welches zu Opfern bereit if; wahr ift das Dafein jenes roben na 
hen Egoismus, der die Rechtes und Vermögensfphäre Einzelner auf 
Koſten der Geſammtheit erweitert und dadurch eine Abhängigkeit der klei⸗ 
nern Befiger von den größeren erzeugt; wahr ift auch, daß durch dieſe 
Ungleichheit des Befiges ein’ großer Theil der Menfchheit in eine Baum 
mehr menſchenaͤhnliche Lage verfegt ifl. In der Kritil diefes Zuſtandes 
muß man den focialiftifchen Beſtrebungen unferer ‘Tage volle Gerech⸗ 
tigkeit widerfahren laflen und allerdings zugeftehen,, daß bie Form bes 
Staats allein und rein politifche Reformen an fich nicht geeignet find, 
die Uebelſtaͤnde der Gefellfchaft abzuftellen. Allein ebenfo richtig als diefe 
Kritik, ebenfo falfh und unbefonnen find die gemachten Borfchläge und 
Ausführungen über den Urfprung bes Uebels, denn fie überfchießen volls 
fommen das Ziel und fchlagen geradesu in das andere Erirem um. — 
Der Dauptfehler der modernen Richtung befteht beſonders darin, daß 
fie in ihrer Wuth gegen das Beſtehende ſtets das Weſen der Dinge 
angreift, ſtatt deren corrumpirte Form, daß fie aus bem Mißbrauch fters 

Suppl. Gtaatslex I. W 


die Noth wendigkeit ableitet, 4 den Gebrauch zu vernichten, daß fie 
toegen | der Corruption und Unnatur gewiffer Einrichtungen und Begriffe 
auch bie Sinceritaͤt und Natur der Dinge überhaupt antaftın zu duͤrfen 


glaubt: 
or 80 foll alle Individualität bouff ͤndig verſchwinden und au ihre Stelle 
das Thaͤtigſein der Einzelnen fuͤr die Allgemeinheit und eine abſtraete Ge— 
oͤnlichkelt treten, weil num zufällig in der gegenwärtigen Form 
der Gefellfchaft der Egoismus in feiner craffeften Geſtalt fat alle anderen 
Befühle abforbirt und gllerdings traurige Ueberftände erzeugt ht, Alten 
die Natur hat nun einmal die menſchlichen Individuen nidyt nad Art 
eines Rattenkoͤnigs zufammengefnäuelt, noch weniger die Menfchheit als 
ein Abſtractum auf die Melt kommen Taffen, fondern ganz ceoncrete, 
fuͤr ſich ſeiende, mit individuellen Neigungen, Eigenfchaften und Be⸗ 
ſchaffenheiten verſehene Einzelnperſoͤnlichkeiten geſchaffen. 
Das Individuum iſt nun Einzelnpetſoͤnlichkeit weſentlich dadurch, 
Yaf es die Außenwelt und die Geſellſchaft als ſich gegenuͤberſtehend aufs 
“af, daß es ſich als einen für fi feienden, von der Allgemeinheit ger 
trennten Drganismus geltend madyt und deffen individuelle Beziehungen 
und Bedürfniffe befriedigt Auf diefe Weiſe berhärigt fi) das Indie 
vibuum als Individuum, #8 ſchafft ſich eine Sphäre feiner Ten 
Thaugteit es bezieht das außer ihm Seiende auf ſich und für ſich. 
Dieſer phpfiologifche Egoismus (wenn man unrichtig alles —* 
tififche Streben fo nennen will) ift eine fo wefentliche Grundbedingung 
alles menſchlichen Lebens in der Natur, daß er überall da hervortritt, 
wo ‚organifche Entwidelung, organifches Reben .ift. Ueberall, wo ein 
Pflanzenkeim, ein thierifches Ei ſich entwidelt und lebt, lebt und ent 
midelt es fi) nur dadurch, daß es zu ber Außenwelt gegenfäglich fich 
verhält und fein Intereſſe, feine Individualität ruͤckſichtslos geltend gu 
machen fucht. Daher kann nur eine communiftifche Verftodktheit in dies 
fen Individualismus an fi) den Grund unferer focialen Uebel erblidten, 
man koͤnnte ebenfo gut das Dafeln des Menfchen überhaupt als legten 
Grund unferer geſellſchaftlichen Unnatur erklären. 
- Seiner natürlihen Seite. nad) ift auch der Menfh von jenem 
phyſiologiſchen, rohen Egoismus durchdrungen und ihm unterthan, fo lange 
er im Zuftande der Natürlichkeit fih befindet. Der Dienfch entwidelt ſich 
aber, eben weil er Menſch ift, auch noch nad) einer andern Seite. Er 


- - berublgt fich nicht bei feiner natürlichen Eriftenz, fondern entruͤckt ſich 


mad und nach dem Zuftande der Natürlichkeit, er fommt zum Bewußt⸗ 
fein. Der zum Berußtfein gekommene Menſch kann nur in der Menſch⸗ 
heit exiſtiren, d. h. in der ſelbſtbewußten Allgemeinheit, in der orga⸗ 
miſirten Geſellſchaft, im Staate. Die Aufgabe des Staates beſteht 
eines Theils darin, die natuͤrliche Seite des Menſchen, ſeine Indivi⸗ 
dualitaͤt, feinen. Egoismus ſich geltend machen und entwickeln zu laffen, 
ſo weit es die Idee der perſoͤnlichen Freiheit erfordert, anderntheils aber 
den rohen, natürlichen Egoismus auf das vernünftige Maß zuruͤckzudraͤn⸗ 
‚gen, weben welchem auch bie übrigen Individuen Platz greifen können. 


Eudämonismus und Egoismus. 275 


- Beurtheilt man von diefem Standpunkte aus bie Theorie der mo: 
dernen Gommuniftens oder Socialiſtenſchule, fo ift augenfällig, daß 
durch ihre widerfinnige Negirung der Individualität und der Rechte und 
egoiftifchen Thaͤtigkeit der Einzelnperfönlichkrit die Natur des Menſchen 
ſowie feine perfönlihe Freiheit volftändig vernichtet wird. Der Commu- 
niemus vergißt voliftändig die natürliche Seite des Menfchen, und indem 
er allen Egoismus aufhebt, hebt er zugleich auch das Ich auf. Ich bir 
in einem Sommuniftenftaate nicht mehr Ich, mit meinen individuellen 
Neigungen und Bedürfniffen, bin nicht mehr Selbitzwed und für mich 
beftehender Organismus, fondern bin ein Werkzeug für ein todtes Ab» 
flractum, bin „Mittel geworben für das Gattungsleben“ und drehe mid) 
in ber großen Fabrikgefellfchaftsmafchinerie als ein einzelnes Rad, bas 
nur im Zufammenbang mit dem übrigen Mechanismus thätig fein kann. 
Nun ift freilich die Gattung nicht mehr zum Mittel für den individuellen 
Egoismus herabgewürdigt, wie dies in der gegenwärtigen &efellfchaft 
ber Fall fein foll, allein dafür ift man beim andern Ertrem angelangt, 
im der abftracten Allgemeinheit ift ne Individualität, jeder Selbftzwed 
bes Individuums untergegangen, es giebt nur noch einen Zweck, den 
ame ber Algemeinheit, und für diefen müflen die Einzelnen thätig 

ein *). 

Solche Verkehrtbeiten koͤnnen ihren Grund nur in einer bodenlofen 
boetrindren Theorie haben, welche zwifchen abfteacter und realer Allgemein» 
beit nicht zu unterfcheiden weiß und letztere unaufhoͤrlich mit erfterer verwech⸗ 
ſelt. Abſtract aufgefaßt ift die Allgemeinheit ein hohler leerer Begriff, wel⸗ 
cher nur dann !Realität gewinnt, wenn man alle Einzelnen darımter be 
greift. Alle Einzelnen als Begriff gedacht bilden bie Allgemeinheit, ers 
iſtiren aber in der Wirklichkeit als vollftändig ausgebildete Individuen, 
von welchen jedes ſich Selbſtzweck iſt. — Diefen. Selbflzwed zum Beften 
eines leeren Begriffes zu opfern, heißt daher nichts Anderes, als die In⸗ 
bividuen ber Wirklichkeit aufheben und ihre Rechte, Befugniffe und Zwecke 
auf einen Ieblofen Begriff ohne reale Eriflenz übertragen. 
| Mit diefer Lehre von ber Allgemeinheit fällt auch die communis 
ſtiſche 8 uͤber unmittelbaren Verkehr und Vernichtung des Privat⸗ 
beſitzes und Geldes. 

So wenig die individuellen Beſtrebungen des Menſchen an ſich unſere 
geſellſchaftlichen Uebel erzeugen, ebenſo wenig kann man dieſe dem Gelde 
an ſich, als Medium des Verkehrs, aufbuͤrden. Die corrumpirte Form 
bed Geldweſens und Beſitzthums bringt unſere abnormen ſocialen Zuſtaͤnde 
hervor, aber nicht ſeine Mittelbarkeit. Nicht weil das Geld als Stell⸗ 
vertreter der menſchlichen Thaͤtigkeit gilt und ber Befitz ein äußerer iſt, 


*) Dabei aber iſt natuͤrlich der eigentlich ſelbſtſuͤchtige und genußſuͤchtige 
Trieb in den Menſchen, in den Liſtigen und Starken, in den Einflußrei⸗ 
chen nicht unterbrüdt, und fie benugen alſo ſehr natürlich bie Aufhebung aller 
individuellen perföntichen Rechte zu ihrem Bortheil, zum f heußlichfien 
Defpotismus. Ale werden Sklaven einer beipotifchen Ordnung, wie in 
Aften. Anmert. der Rebact. 


\B* 


1 
276 FR Eunuch unthom 


ſind ſo viele —2 arm sah unglüdlich, fondern weil ihnen die Freie 
heit fehlt, fich gegen die Eprammei der geldlidien Uebermacht zu —* 


Darum handelt es ſich auch nicht um Aufhebung bes Geldes und Peis 
vateigenthums, denn es würde dadurch entweder ber Maturgufland zuruͤck⸗ 
gerufen, wo der Menſch durch ſeine unmittelbare Thaͤtigkeit feine Ber 
-. befriedigte, oder es entflände jene unnathrliche Allgemeinheit, in 
ber Einzelne zum Fabrikarbeiter herabſinkt, der auf Rechnung 
re Firma der Allgemeinen Verwaltung arbeitet und von biefer, 
ohne Beihilfe des Geldes, ummittelbar verpflegt und verköftigt — 
wie ein Soldat. Ueberdies iſt die Moͤglichkeit gar nicht abzuſehen, wie 
uͤberhaupt die Kransfcenden; und Aeußerlichkeit der beſeſſenen Dinge abge 
fchafft gi werden vermag, tie das wahre Eigenthum durch eine inner⸗ 
Eiche Verwachſung vom Beſitzer und Beſitz hergeftelit werden kann. Meine 
Arbeit ift mein Eigenthbum, wenn ich fie in Geſtalt des Geldes in ber 
Taſche habe, fo gut als wenn ich mic badurd bie Anmartfchaft en 
bie Güter und nee, weldye die Allgemeinheit mir bereitet, erwerbe. 
Und wenn ich Auferliche Dinge befige, ohne innerlich mit ihnen verwach⸗ 
ſen zu ſein, ſo iſt durchaus nicht einzuſehen, welche Gefahr dadurch dem 
Weſen des Menften drohen ſoll. Der Hauptſache nach handelt 
es ſich darum, daß jedem. —— die Moͤglichkeit verſchafft werde, ſeine 
Thaͤtigkeit je nadı der Neigung und Fähigkeit des Individuums fo gut zu 
vermerthen und fo viel von jenem Medium, von dem Gelbe, zu erwerben, 
daß er ein menfchliches Dafein zu führen vermag. Diefes Ziel wird aber 
nicht durch eine communiftifche Allgemeinheit ohne Egoismus, ohne Geld 
und: Privatbefig erreicht werden, fendern weſentlich dadurch, daß bie Idee 
des Staates in's Keben gerufen wird, daß man die Staatsformen für 
Beine Primatr, fondern fuͤr Öffentliche Intereſſen, d. b. zum Wohle und 
Beſten aller, Einzeinen benutzt, daß jedem Einzelnen Theilnahme an der 
Staatövermaltung verbürgt umb durch geeiguete Geſetze dar Ungleichheit 
des Brfigthame und dem Abdſolutiemus des Geldes — 
wird. | be 
i Er Gafkcat, Safration Gaftration it bekanntlich bie 
Operet ion, wodurch bei Masfhen (ab Thieren) das Zeugungsvermoͤgen zer⸗ 
ſtoͤrt wird. Sie zerſtoͤrt, wenn fie vor Ausbildung dee Mannbarkeit vor⸗ 
gmommen wird, ſo ſehr bie Geſchlechtseigenth uͤmlichkeit, daß die Maͤnner 
in koͤrperlicher und geiſtiger Hinſicht die Eigenthuͤmlichkeiten der weibtichen 
Ratur, die Frauen theilweiſe die der maͤnnlichen Natur annehmen. Bar 
laͤßt ſich ein empoͤrenderer, natucwidrigerer und unfittlicherer Angriff anf die 
menſchliche Wuͤrde denken. Dennoch hat in Aſien orientaliſcher Deſpotismus 
und die Damit verbundene Herabwuͤrdigung der Frauen und der Familienver⸗ 
bättniffe. durch Wolluſt ſchon Fehr fruͤh, ſpaͤter auch die der — 
Natur — ascetiſche Schwaͤrmerei und dann die Berdorbenheit des 
paͤpſtlichen Hofes und anderer fuͤtſtlichen Defpoten bis beinahe in unfere 
Balken diefe Schaͤndung der Menſchenwuͤrde ſich erlaubt. Im 


= 


= 


4 
“ 
4 
8 P\ 


Fu Eunuch. | 277 


Oriente brauchten vornehme befpotifche Männer, zumal wegen der Vielwei⸗ 
berei, bie Caſtraten zu Frauenmwächtern , was ber griehifche Name Eunud 
auch woͤrtlich bedeutet. Und bie Lybier follen fogar weibliche Caſtraten zu 
Huͤterinnen der Keuſchheit von Frauen und Töchtern gebraucht haben. Dri⸗ 
genes (im dritten chriftlichen Jahrhundert) entmannte ſich felbft aus falr 

adeetifchen Eifer, und von den Ballen in Afien, von ihrem Dienfte Der 
SEybele kam die Gaftration mit diefem Dienfle nadı Rom. Eine fanatifche 
Secte, bie Valerianer, durch das Beifpiel des Origenes verführt, hielten 6 
fogar für veligiöfe Pflicht, die Caſtration nicht blos an fich ſelbſt, fondern an 
Allen, mit denen fie in Berührung kamen, auszuüben. Doch gebührt dem 
sömifhen Recht das Verdienſt, daß es biefe Entwürbigung ber 
Menſchheit felbft in Beziehung auf Sklaven mit den härteften Strafen bes 
.. begte, gerabe wie die Toͤdtung mit ber Todesſtrafe, mit welcher Strafe auch 
Conſtantin und Juſtinian jenen ascetifhen Wahnfinn zu unterdruͤcken 
fachten. Die Strafe traf Den, welcher caftrirte, mochte der zu Verſtuͤm⸗ 
mielude eingewilligt haben oder nicht, fo wie auch Den, weicher ſich freiwillig 
caftrizen Heß, und das canonifche Recht wiedie Carolina wiederholten 
dieſe Straffanetion *). Dennoch wurde ans griechifchen Kaiſerhofe die Ca⸗ 
Rration häufig, die Caſtraten fpielten am Hofe eine große Rolle und es gab 
Hofftellen, ungefähr wie heutzutage die Kammerherren, unter dem Titel 
Eunuden. In Conftantinspel iſt heute noch der Kißlar Aga, das Ober⸗ 
haupt ber Gaftraten, ein fehr hoher Beamter. Bei fpäterer Verderbniß 
wurde auch am päpftlichen Hofe und in Italien bie Caſtration zu Gun⸗ 
en des Geſanges, weil die Gaftraten einen um ein Dritttheil Heineren Kehl⸗ 
topf und eine Knabenſtimme behalten ,. die leicht zur guten Sopranſtimme 
auszubilden ift, wieder fehr häufig und in italienifhen Städten ein Gegen⸗ 
ſtand ſchimpflicher Öffentlicher Ankündigungen und eines ſchimpflichen Hans 
deis , auch felbft noch nach dem Verbot von Clemens XIV., und erft in unfes 
ver Beit ſtirbt mit den letzten Caſtraten in den Kapellen diefe Unwuͤrdigkeit 


aus. 

Mur leider dauert vielfältig noch bie moralifche und geiftige Caſtration 
nicht blos der Geiſteswerke und dev öffentlichen DReinng, ja ber Völker und 
Menſchen ſelbſt, die, in ihrer natürlichen Entwidlung und in ihrer menſch⸗ 
lichen Sreiheit gehemmt, verftüämmelt und unterdrüdt, unvermeidlich mos 
raliſch gerade fo, ja noch weit mehr verfrüppeln als durch die phyſiſche Ca⸗ 
ſtration, obgleich auch diefe ebenfalls unkräftig, unmaͤnnlich, feig unb hin⸗ 
terliftig macht. 

Auch die bloße Befhneidung an Nichtjuden beftraft das roͤmiſche 
Recht gerade wie Gaftration **). Da auch biefe Verftümmelung an ſich die 
Menſchenwuͤrde beleidigt und nach den beftinimteften Erfahrungen viele 
Krankheiten und andere Gefahren mit ſich führt, fo ſollte fie mindeflens an 


*) L. 3. §. 4. L.4.$.2. L.5. 6.6. ad leg. Corn. desicariis. C. 1. 
de eunuch. Nov, 132, C. 5. X. de homicid. 9. Ger. :Orbn. $. 133. 

*’) L. 11. pr. ad leg. Corn. de sic. C. 1. ne christ. mancip. u. C. 
16. de Judaeis. 


278 Evangelifch-proteftantishe Kirche Rheinbaierne. 


Kindern und Nidyteintoilligenden nie vollzogen, am allerwenigften von chriſt⸗ 
fichen Regierungen gegen —— bei Baters erzwungen werden. (5. 
Belbmeidung.) E. Welden 
Evangeliſch— seoteftantifche Kirhe Rheinbaierns, 
(Anmerfung u S. 324 Beile 9 von unten.) Der eben citirten Ver⸗ 
faffungsbeftimmung. bat: man in neuerer Zeit eine viel zu beſchraͤnkende 
Bedeutung zu geben verſucht. Die Bundesacte, ber bie baierifhe Vers 
foffungsurkunde angepaft werden mußte, garantirt im Artikel 16 al» 
ben heiftlihen Religionsparteien gleiche Rechte. Die baie— 
eifche Verfaffung jpriht nun nur das Nämlicdye aus, indem fie die 
Rechtogleichheit aller beftehenden chriſt lichen Kirchengeſellſchaften pro= 


clamirt. Daß die Zahl damals beſtandener blos drei betrug, iſt hoͤchſt 


zufällig und gleichgültig. Eine Beſchraͤnkung für andere ſchriſtlich— 
Neligionsparteien war nber dabei offenbar nicht beabfichtigt, Es geht 
bied daraus Elar hervor, daß die Verfaffung gar nichts feſtſetzt, mie es 
denn mit folchen andern Eonfeffionen gehalten werben foll, was fie 
doch hätte thun müffen, wenn fie diefe von ber allgemeinen Regel ber 
vollen Mechtsgleichheit hätte ausſchließen wollen. Als directen Grundfag 
gegen die Hauptbeftimmung voller Rechtsgleichheit der Chriften, ver 
Bündet fie vielmehr gleich im naͤchſtfolgenden Abfage: „Die — 
chriſt lichen Glaubensgenoſſen haben zwar vollkommene Gewiſſensfrei—⸗ 
heitz fie erhalten aber an den flaatsbürgerlichen Mechten nur in dem 
Maße einen Antheil, wie ihnen derfelbe in den organifchen Edicten über 
ihre Aufnahme in die Staatsgefellfchaft zugefichert iſt.“ Alſo nur gegen 
die „nidythriftlichen‘‘ Glaubensgenoffen verhängt die Verfaſſung eine 
Rechtsbeſchraͤnkung. — 

(An den Schluß des Artikels Evang. proteftantifcye Kirche Rhein— 
baierns,) Die Beſchwerde gelangte bei dem baldigen Schluffe ber 
Kammet und deren fchleppendem Gefhäftsgange leider nicht zur Erle: 
digung. 

Am December 1837 fand eine neue Generalſynode ſtatt. Die Par: 
tei des Ruͤckſchritts hatte es befonders darauf abgefehen, eine von Dr.Ruft 
verfaßte, durchaus in ihrem Sinne gehaltene Kirchen’: Agende für die prote= 


- flantifche Kirche Rheinbaierns annehmen zu machen. Indeſſen mißlang 


diefes ihr Streben aufs Schmählichfte: 36 Stimmen erkläcten ſich gegen 
jenes (miffenfchaftlidy ohnehin unhaltbare) Machwerk, nur 4 dafür. 

Eine zweite Niederlage ſchien die Ruͤckſchrittspartei dadurch zu erleiden, 
daß ungefähr zu derfelben Zeit der Regierungsrath Sieh, ber Geiftesgenoffe 
Ruſt's, als Vorftand bes Conſiſtoriums entfernt und diefe Stelle dem neu⸗ 
ernannten Regierungsdirector von Schnellenbübel übertragen ward, 
der zwar keineswegs Partei für die freie Richtung nahm, aber doc) aud) gar 
bald die Unmoͤglichkeit erfannte, dem Ruft’fhen Streben ſich anzufcließen, 


zumal wenn er nicht feine eigne Selbftftändigkeit völlig aufgeben und ſich zu 


einem bloßen Werkzeug jenes hertfchfüchtigen Menſchen machen wollte. 
Je empfindlicher diefe beiden Niederlagen der Rüdfchrittspartei fein 
mußten, um fo größere und entfchiedenere Thaͤtigkeit entwickelte fie jett. 


Coangelifch-proteftantifche Kirche Rheinbaierns 279 


War es ihr nicht gelungen, durch Hilfe ber Berichte die Preſſe zum 
Schweigen zu bringen, fo feste fie es dagegen in München durch, daß bie 
Genfur diefelbe verftummen machte. Ob dies rechtlich gefchehen konnte, 
ift freilich eine andere Frage, indefien kann diefe fpecielle Erfcheinung nicht 
wundern, wenn man die Verhaͤltniſſe kennt, in welche die Preſſe in Baiern 
in allen Beziehungen gebradht ift!). Nunmehr befreit von der Con⸗ 
teole der Preſſe, ſonach befreit von bem Dffenkundige Werden ihrer einzelnen 
Dandlungen, fomit ziemlich gefichert vor der moralifchen Macht der öffents 
lichen Meinung, Eonnte jene Faction nun allerdings gar Manches durch⸗ 
fegen, was ihr fonft ſchwerlich gelungen wäre. Bald erkannten alle Geiſt⸗ 
lichen , welche in irgend einer Beziehung einer Nachſicht beburften, oder 
welche eine Anitellung oder Beförderung fuchten, fei es für ſich ober ihre 
Söhne oder fonfligen Verwandten, daß es am Vortheilhafteften für fie fei, 
fh im Sinne des Muderthbums auszufprechen, um fo mehr, als das 
Haupt diefer Partei, bei aller perfönlichen Schroffheit, doch für deren 
Anhänger eine Thaͤtigkeit entwickelte, wie der gemäßigte Theil des Confiftos 
riums lange nicht that. So bot denn die nad) vier weiteren Jahren wieder 

Generalfpnode ein ganz anderes Bild als bie vorige bar. Bei 
der Abhängigkeit der Dekane und gar der neu creirten Dekanat Vers 
wefer, der Unfelbftftändigkeit vieler Pfarrer, und der Sachunkennt⸗ 
niß ber meiften der ausgewählten weltlichen Mitglieder, waren dieſes 
Mal die beiden Parteien faft gleich flark vertreten ; und wenn die retrograde 
für jest noch Beinen völligen Sieg davon trug, fo hatte fie allen Grund zu 
hoffen , daß fie diefes Ziel in der allernaͤchſten Zukunft unfehlbar erreichen 
werde. 4 


Bereits freudetrunfen von dem für gewiß gehaltenen Triumphe bes 
gann nun dieſe Partei, als Gegenbemonftration wider die früheren Bes 
ſchwerden der Freunde ber Vereinigung , eine Schrift behufs der Unterzeich: 
nung in Girculation zu fegen, in welcher dem Dr. Ruft für fein Wirken 
das maßlofefte Lob gefpendet, er zu weiterm noch fchärfern Voranſchrei⸗ 
ten auf feiner Bahn aufgefordert und die Gegenpartei auf die unwuͤrdigſte 
Weiſe angegriffen ward. Der Pomp und bie Oftentation, womit biefe 
Manifeftation flattfand, nöthigte das Conſiſtorium in feine Major 
rität und die Kreisregierung, hier hemmend einzufchreiten, fchon um des⸗ 
willen, weil man fonft eine Gegendemonftration nicht Hätte verhindern koͤn⸗ 
nen, zu der man es doch nicht kommen laſſen wollte. Die Sache ward von 
Regierungswegen förmlich unterdrückt und die Anftifter erlangten nicht den 
mit Zuverfiht für ſich felbft erwarteten Lohn. — Da ber Eifer für das 
moftifchsptetiftifche Treiben bei gar Vielen bloß dußere Maske war und nicht 
aus inmerer Ueberzeugung hervorging, fo reichte biefes an fich fo wenig bes 





1) Da bie Preßzuftände in Baiern in mehrfacher Hinficht hoͤchſt bezeichs 
nend find, auch binfichtlich vieler andern Berhättnifle in diefem Lande, fo ver: 
weife ich auf meine Abhandlung : „Der Zuftand der Preffe in Baiern; mis au⸗ 
thentifchen Belegen”, in Dr. Weitl’s „Sonftitutionellen Jahrbuͤchern.“ Jahr: 
gang 1846. Band LI. 


deutende Vorkommniß aus , eine Stodung im feindlichen Deeressuge hervor: 
zubeingen, Diefes einzeln ftehende Beifpiel, daß man burch Uebertreibungen 
doc; nicht immer feine perfönlihen Zwecke erreichen koͤnne, genügte, um eine 
ganze Maffe von Leuten zuruͤckhalten der zu machen ! 

Indeſſen wurden die Haͤupter ber Partei dadurch natürlich nicht zur Um: 
Behr beftimmt. Ste ſehte ihre Operationen fort und namentlich waren ihre 
Bemühungen bei Anftellungen von Dekanen und Pfarrern meiftens, wenn 
auch nicht immer, von Erfolg begleitet. Insbefondere wurde eine Maffe von 
Pfarrcandidaten aus ben jenfeitigen Kreifen diesfeits angeftellt, melche (mit 
wenigen, aber hoͤchſt ebrenvollen Ausnahmen) dem Geifte der vereinigten 
Kirche fich geradezu entgegen erklärten; ebenfo wurden viele Jahre lang alle 
Wuͤnſche, Verfegungsbenehren u. dal. von Seiten Derjenigen, welche die frü—⸗ 
bere Beſchwerde an die Ständeverfommlung unterzeichnet hatten, foitema» 
tiſch zuruͤckgewieſen. Das diesfeitige Haupt der Partei ließ fich auf feinen 
Rundreifen Im Kreife mit einem Pompe empfangen, der jenen zu Ehren 
eines katholiſchen Biſchofs nicht felten weit übertraf; wie beim Einzuge bes- 
Könige wurden wohl fogar Triumphboͤgen errichtet, mit allen Gloden 
geläutet, mit Böllern geihoffen u. dgl. mehr. Lelder fchien auch eine völlige 
Hoffnungstofigkeit bei den Freunden der freieren Richtung fi immer mehr 
feflinfegen, wenn gleich jener uͤbermuͤthig ſtolze Menfch nebenbei mandye 
Heine Demuͤthigung erlitt, indem er es J. B. bei der Staͤndewahl nicht dahin 
bringen konnte, aud) nur zum Wahlmanne ernannt zu werden, fondern 
ſchon im erften Wahlmomente wahrhaft mit Eclat durchfiel (er konnte das 
eine Mat nur eine, das andere Mal nur zwei Stimmen erlangen, 
was ihn fo tief fchmerzte, daß er nicht einmal offene Aeußerungen darüber 
zuruͤckhalten konnte). 

In der neueſten Zeit traten nun zwei Ereigniſſe ein, durch welche die 
Vertheidiger der unirten Kirche aus ihrer Lethargie erweckt wurden. Es ſind 
dles: die projectirte Einführung eines neuen Katechismus und die Sache 
des Pfarrers Frantz. 

Die vorlegte Generalfynode hatte fih die Schwäche zu Schulden kom⸗ 

men laſſen, dem fortwaͤhrenden Andraͤngen des Oberconſiſtoriums, uͤber⸗ 
Haupt aber der Rüdfchrittspartei nachgebend, eine Commiffion zu ernen» 
nen, welche den Entwurf eines neuen Katechismus ausarbeiten follte, 
der fodann einer fpdteren Generals Synode zur Annahme vorzulegen fei. Die 
Gommiffion befand aus ziemlich heterogenen Elementen; die retrograde 
Dartei war darin eigentlich nur durch zwei, die freiere ober vielmehr die 
mittlere Dusch vier Mitglieder repraͤſentirt. Das Schriftchen felbft ward 
durch den zur Sommiffion gehörenden Dekan Scholler bearbeitet. Aber 
kaum warb daffelbe bekannt, als ein Schrei des Unwillens und ber Entruͤ⸗ 
flung die ganze als durchbiang. "Eine Maffe von Dingen wird hierin 
wiederhoit, die der Vernunft Hohn ſprechen, der ganzen Grundlage der ver: 
einigten Kirche entfchieden roiderfireben, und die man mit Redyt längft als 
befeitigt anfehen konnte. Der Verfaſſer, Dekan Scholler, ift deſſenungeach⸗ 
tet Bein Ueberläufer, wofür er nach dem Bekanntwerden dieſes Werkes viels 
fach) gehalten wird ; er hat das Gegentheil erſt kuͤrzlich durch feine Abſtimmung 





Coangefifcproteftantifche Kirche Rheinbaierns 281 


auf dem legten baieriſchen Landtage bewieſen; auch liegt ein Entſchuldigungs⸗ 
grund für ihm in den allzu nachgiebig angenommenen Normen, in welche 
die Generalſynode in diefer Beziehung eingemwilligt hatte; aber jener Mann 
verfannte dennoch durchaus feine Aufgabe und — feine Kräfte, under wird 
fich vielleicht jet, zu fpdt,, der Warnungen erinnern, welche der Verfaſſer 
des Segenwärtigen vor Fahren fchon gegen ihn ausſprach. Genug, der 
vorliegende Katechiemusentwurf fagt feinem Theile zu (dem freifinnigen muß 
er allerdings am meiften und tiefften widerſtreben), und es fteht In dleſer 
Sache nur noch das Fine zu hoffen: die totale Verwerfung des gans 
zen Entwurfs durch die naͤchſte Generalſynode. (Möchten die Commiſſions⸗ 
mitglieder Selbfiverleugnung genug befisen, um felbit für Befeitigung 
eines Werkes zu flimmen, bdefien Annahme ihre Mitbürger nun einmal als 
eine wahre Satamität betrachten !) 

Die Sache des Pfarrers Frantz von Ingenheim, über welche in uns 
fern Zeitungen nie eine klare umd vollftändige Mittheilung gegeben wer⸗ 
den konnte, ba die Genfur ihre Gewalt fo fehr mißbrauchte, felbft die ein⸗ 
fache Meldung der erwiefenen Thatſachen zu flreichen , entwidelte fih im We 
fentlichen in folgender Weiſe. 

Dr. Ruſt hatte fi in einer bei Eröffnung der jüngften Benerals 
fonode, im Herbft 1845, gehaltenen und auch durch den Drud verbreiteten 
Predigt Schmähungen gegen Diejenigen erlaubt, welche nicht an die Gott⸗ 
heit Chrifti glaubten; er hatte namentlich auf fie als „Abtruͤnnmige“ ben 
Haß und die Verachtung zu leiten gefucht und fie nebenbei als Vers 
DBammte bezeichnet, die Bott von feiner Gnade ausfloße. 

Den Meiften wird diefer Angriff, je nachdem fie annahmen, daß ber 
felbe aus Ueberzeugung ober aus Heuchelel hervorgegangen, ein Lächeln ent 
weder des Mitleids ober der Verachtung entlodt haben. Pfarrer Frans 
von Ingenheim feinerfeits meinte dieſen allerdings böslichen Ausbruch bes 
Zelotismus ernfthafter nehmen zu follen. Diefer durchaus gewiffenhafte unb 
fireng rechtliche Mann wollte nicht für anders denkend gelten, als feine 
Ueberzeugung ift, und glaubte daher, diefe feine Weberzeugung wiſſen⸗ 
ſchaftlich begründen und rechtfertigen zu müflen. Er veröffentlichte nun 
in der von ihm herausgegebenen theologifchen Zeitfchrift „die Morgens 
roͤthe“ eine Abhandlung unter der Ueberfchrift „von der Gottheit Jeſu 
fieht nichtE in der Bibel.’ Dies war gleihfam das Signal, daß zwei 
junge Pfarrer oder Pfarrverwefer, die ſich, aller höheren Befähigung ers 
mangelnd, auf diefe Weife bemerkbar zu machen fuchten,, in Siugfchriften 
über ben Mann herfielen, und zwar in der gemeinften, pöbelhafteften 
Weife. Die Ausbrädye der Ungezogenheit hätte Srang wohl verfhmerzen 
koͤnnen; da aber jene Flugſchriften auch befonders die Befchuldigung gegen 
ihn enthielten, er fei ein Irrlehrer und Werführer der Gemeinde, und da diefe 
Schmaͤhſchriften unter den Bewohnern feiner Pfarrei verbreitet wurden, fo 
glaubte der aͤngſtlich gewiſſenhafte Dann, es fich und feiner Gemeinde ſchul⸗ 
dig zu fein, diefer Legten ein Bekenntniß feiner Anfichten über den angegrifr . 
fenen Punkt vorlegen zu müffen, entichloffen, fo fchmerzlich der Schritt 
ihm auch fein mußte, fein Amt freiwillig niederzulegen, fal® 








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guter ehrenden ee faßt worden fein kann, zugleich ab ein 
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gelegt hatte, etäeten fh alsSald 164 feihffkändige Blicde et 


fhriftlid palkommen ven — 24 gaben, 
heile — — & Sur) fonftige perſb ——— Werbätnife ah 
halten ms ab und. nur Amor — — * 
Bi Glaubensbefenntn t ibt Stang. — 
en — als die einem ehrlichen J und gewi 


—** Fer —— offene Erklaͤrung über — 
ensuͤberze rkeinen andern Zweck, als meiner an mir 
at Omen — wahr und aufrichtig, wie auch — 

aßen, „tes fie ſich zu mir und zu meinem Rache ed ZA 
‚ verfehen habe.’ Allein fo ward die Sache von dem Speyerer Con- 
+ 7 ht angefehen; man hielt ſich an dem Ausdrucke „Slaubens: 
#" feit, wollte darin gleihfamein ganz neues Spmbolum finden 
und —55 ausdrädtichen Erklärungen dr Pf. Fcang im ent: 
ge um Ei in Ruͤckſicht, * — die Sache als ein von 
— apoſtoliſchen Glaub 63 iſſe ‚abweihendes und bie 
elben, wenn nicht als förmlichen fectirerifchen Abfall von 
der Milan bee Kirche, doch wenigſtens als einen die Kicche mit ber 
Gefahr des Abfalls bedrohenden Schritt. Wergeblich die wiederholten ent- 
gegengefegten noch fo pofitiven Erklärungen des Angefhuldigten. Man 
verlangte unbedingten Widerruf, und da Frang biefen, als ehrli— 
her Mann, nicht ausfprehen konnte, fo verhängte das Confiftorium in 
Speyer unterm 6. März; 1846 fogleich Umtsfuspenfion gegen ben: 
felben. Vergeblich alle Neclamationen der ihren Pfarrer hochverehrenden 
Gemeindeglieder, das Presbpterium an ber Spige; das Dberconji- 
forium referibirte unterm 12. Mai 1846, daß, wenn Frans nicht unbe: 
dingt widerrufe und namentlich das Dogma von der Gottheit Chrifti aus: , 
druͤcklich anerfenne, nady Verlauf von 6 Monaten feine Amtsentſetzung 
verfügt werde. (Das Gonfiftorium zu Speyer fah alfo in der angeblichen 
Aufftellung eines neuen Glaubensbefenntniffes das Verbrechen, das Obercon: 
fifkorium dagegen erblickte es in der Beftreitung eines Dogma.) 

Stang erklärte unverzüglich, daß er nicht widerrufen Eönne; feine 
Gemeinde reichte aufs Neue eine Detition ein; eben dieſes thaten auch ans 
dere Gemeinden und die Geifflihen aus mehreren Defanaten beim Könige 
und beim Dberconfiftorium; endlich flelften felbft bie meiften Diöcefan- 


— 
⸗ 


2) Wuͤrde man die Sache uͤberall, wie hier, zur Ertſcheidung bringen, 
ſo wuͤrde es ſich ſehr bald zeigen, daß weder Dr. Ruſt ſelbſt noch irgend einer 
feiner Anhänger einer ſolchen Zuſtimmung ſeiner Gemeinde ſich erfreut. 





eo“ 


Evangeliſcheproteſtantiſche Kirche Mheinbaiernd. 283 


fonoden: der Pfalz Anträge auf Reactivirung jenes Mannes oder nuf Ber 
enfung einer außerordentlichen Generalſynode. (Die allgemeine Thrilnahme 
am der Sache hatte ſich zuvor ſchon kundgegeben, theild in Adreſſen an 
Frantz, theils in folhen an feine Gemeinde. Städte und Landgemeinden 
erflärten fi in gleihem Sinne. Selbit aus dem Auslande, aus Magde⸗ 
burg und Dalle, erfolgten Zufchriften, in denen Theilnahme und Zuftimmung 
ausgebrüdt war.) 

Erſt nahdem — nicht 6, fondern — 8 Donate (von ber Zeit ber 
Suspenfion an) verfloffen waren, ertheilte das Oberconfiftorium an das 
Presbyterium zu Ingenhrim eine Antwort auf deffen Eingabe. Es fchien, 
als ob die Sache eine friedlichere Wendung nehmen werde, denn es war in 
jenem Actenftüde erklärt, daß demnaͤchſt eine Verfügung an Pfarrer Frantz 


‘ wgeben und von been Befolgung oder Nichtbefolgung die Aufhebung ber 


Suspenfion oder die Anordnung anderweitiger Maßregeln abhängen werde. 

Endlich traf diefe Verfügung ein. Sie enthielt, nad) einer vier Bogen 
großen dogmatifchen Auseinanberfegung, die Erklärung, wenn rang nicht 
bis zum 31. Dec. 1846 wiberrufe, fo werde feine Abfegung bei St. 
Mai. dem Könige beantragt werden. — 

So fteht heute diefe Sache. Wer dem Auftreten des Pfarrer Frang 
iegend gefolgt ift,, wird gewiß fein, daß diefer gemwiffenhafte Mann nicht wi: 
derrufen wird. 

Welche Wendung nun die Sache für jenen biedern und uͤberzeugungs⸗ 
treuen Geiſtlichen perfönlich nehmen möge, — ob er al8 Opfer fallen, oder ob 
das Miniftertum wirklich die Anträge des Oberconfiftoriums gebührend zuruͤck⸗ 
weifen wird , oder ob fich nicht nöthigenfalls noch andere gefegliche Mittel zu 
deſſen Bertheidigung auffinden lafien, — eine mohlthätige Wirkung hat 
der Vorgang bereits zur Folge gehabt: er hat weſentlich beigetragen, bie 
Pfälzer Droteftanten aus dem Schlafe, aus der Gleichguͤltigkeit zu erwecken, 
in die ſie feit Längerer Zeit bei dem Kampfe um ihre kirchliche Freiheit vers 
fallen waren. Auf eine nur leife Anregung bin, und ohne alle Bekannt⸗ 
machung, verfammelten fi am 10. Nov. d. 3. zu Edenkoben Bürger aus 
allen Theilen des Kreiſes, um zu berathen, was bei bem ſich eindrängenden 
Glaubenszwange zu thun fei, bei dieſer Zuruͤckfuͤhrung auf länoft dem Grabe 
verfallene Dinge, in diefer proteftantifchen Ketzerinquiſition. Dan hatte 
nicht nöthig, darauf auszugehen, neug Rechte zu ertämpfen , fondern es 
handelt fi) — ganz con ſervativ — bloß darum, bie geſetzlich beſtehenden 
zu wahren. 

Die Verſammlung, von der kaum Jemand geglaubt haben mochte, 
baß fie über 40 — 50 Perſonen betragen werde, beftand, zur Weberras 
[hung Aller, aus mehr als 200, — und zwar waren es durchgehende 
nur hoͤchſt achtbare Bürger, Weltliche und Geiftliche, Mitglieder der Stände: 
verſammlung und des Landraths, Bürgermeifter und Gemeinderäthe, Sys 
nodals und Presbpteriumsmitglieder c. Ein Geift befreite alle Anweſen⸗ 
den, mit Stimmeneinhelligkeit ward eine Adreſſe an ben Künig 
befchlofien und von allen 205 Anmefenden unterzeichnet, auf den Grund ber 
65. 52 und 56 des Religionsedicts, alfo der Berfaffungsurkunde, in wel 


RK 


a 


ven gabeikſchulen 


cher entſchieden Beſchwerde gefuͤhrt wird, gegen die Anorbnungen ımb 
Aberhaupt das ganze dem Beifte der Bereinigemgsurkunde geradezu entgegen⸗ 
geſetzte Streben ber geiſtlichen Oberbehoͤrden, zumal des Oberconfiftortung, 
und worin der Schug des Staats angerufen mb die Bitte um Anorbuung 
einer außerordentlichen Generalſynode ausgeſprochen wird. — 

Em ſchoͤner Jufall fügte es, daß es an Kuther's Geburtätage wer, 
an welchem die Verſammlung ſtattfand. — 

Moͤgen bie ſelbſtſuͤchtigen Werkzeuge der Berbummung endlich erken⸗ 
nen, daß, während fie ſich ihrem Biele bereits nahe gewaͤhnt, dieſes in weitere 
Gerne als je von ihnen gerückt iſt; mögen fie einfehen, daß ihre Arbeit fett 
anderthalb Jahrzehnten, dem Erfolge nach Beine andere war al& die des 
Opfiphus oder der Danaiden, einſehen, baf fie gleich vergeblich wie jene 
fi abmähen, den Stein den Berg hinaufzuwaͤlzen ober ein durchloͤchertes 
Faß zu fühlen ®). G. Fr. Kotb. 


F. 


Fabrikſchulen ſind Elementarſchulen fuͤr die in Fabriken ar⸗ 
beitenden Kinder. Sie werden haͤufig von den Fabrikherren ſelbſt errich⸗ 
tet und unterhalten. Sie koͤnnen loͤblich und verdienſtlich ſein, wenn 
fle beſſer, als die Kinder vielleicht ſonſt in Ihrer Umgebung, in denſelben 
unterrichtet werden. Uber «6 wird fehr bedenklich, fie ohne Weiteres 
als Erfah der gewöhnlichen Volkoſchulen gelten zu laflen. Die ftärkften 
Intereſſen beftimmen häufig die Fabriksherren und felbft die armen El⸗ 
tern der Kinder, die Arbeitszeit der Kinder weiter auszudehnen, als es für 
genägende Erziehung und Bildung in Verbindung mit der nöthigen freien 
Zeit und Freiheit für die übrige koͤrperliche und menſchliche Entwidelung 
zutäffta ift. Hier muß nothwendig die Oberaufficht des Staates heilfam 
fchügend einfchreiten.. Es ift höchlichft zu wuͤnſchen, daß für Wohlftand 
und die Kraft und vielfeitige Mationalbildung, daß felbft zur Foͤrderung 
unferer agrarifchen Culture das Fabrikweſen bei uns gefhüst und gefoͤr⸗ 
dert werde. Aber wir wollen ihm nimmer bie höhere menſchliche Ents 
widelung und die Geſundheit unſerer Mitbürger mehr zum Opfer brins 
gen — als infoweit dieſes aͤhnlich mie auch bei den übrigen Erwerbs⸗ 
zweigen unferer aͤrmern Mitbürger überhaupt unvermeidlich ber 


8) Die meiften (Alteren) Actenftüdte über bie vereinigte proteftantifche Kirche 
der Pfalz findet man abgedbrudt und beleuchtet in dem Werke: „Die Pro⸗ 
teffantifh sGvangelifhe unirte Kiche in ber Bairifchen 
Pielz Bon Dr. 9. E. ©. Paulus. (Heidelberg 1840, bei ©. F. Win: 
ter.) an bat zwar biefes Werk meines Freundes mit Befchlag belegt, aber 
— widerlegen konnte man es nit! — 


Baction — Sahne 285: 


Fall iſt, Hier durch diefe, dort durch jene Urſachen. Und da die Fa⸗ 
bei uns erft neu in größerer Ausdehnung entſteht, fo ift es 
um. fo leichter, Kabrikherren und Eltern die Bedingung unverfümmmerter 
Ausbtibung und Befundheit der Kinder zu machen und darüber zu was 
ben. Sind die Fabrikſchulen in diefer Hinficht beſſer oder gleich gut 
cingerichtet als die allgemeinen Schulen, fo find fie zu billigen, ſonſt 
wicht. Viele deutfche Länder haben ducch neuere Verordnungen dieſen 
Gegenſtand heilſam zu ordnen geſucht. Weiteres im Artikel Gewerbes 
und Fabrikweſen. C. Welder. 
Faction. Der hochgeehrte Mitredacteur ber erften Auflage des 
Staatslexikons, von Rotteck, der fich in der Sache mit dem vor 
ſtehenden Auffage einverfianden erklaͤrte, hatte über bie Bebeutung bed 
Warte „Zaction” einige abmeichende Anfi’oten ausgefprochen. Zur 
Vermittlung des nur ſcheinbaren Widerſpruchs wenige Bemerkungen. 
BR. hatte namentlich hervorgehoben, daß im Begriff der Faction nicht 
4106 die Berfelgung politiſcher Zwecke mit hartnaͤckiger und Leidenfchafts 
licher Thaͤtigkeit liege, fondern auch die Verfolgung eines ſelbſtiſchen 
ober body particularen Zwecks durch rechtlich oder moralifch verwerfs 
liche Mittel, Sehr wahr. Doc darf man wohl behaupten, daß jede 
bartnddige Leidenfhaft, weil fie vor Allem nur ſich felbft zu befrie 
digen fucht, fchon an ſich ſelbſtiſch und particular in ihren Zwecken ift, 
ud daß fie im ruͤckſichtsloſen Streben nach Befriedigung bald auch zu 
verwerflichen Mitteln greifen wird. Zufällig und voräbergehend 
Tann aber doch das Intereſſe einer Yaction mit dem Geſammtintereſſe 
ſowohl in Zwecken als in Mitteln übereinflimmen, ohne daß fie dadurch 
allein als action zu eriftiren aufhört. Zur Unterfceibung von der 
pelitifchen Goterie, die gleichfalls jelbftifche ober particulare Zwecke mit 
verwerflichen Mitteln durchzuſetzen fucht, fo wie im Einklang mit dem 
gewöhnlichen Sprachgebrauch, ift alfo die „leidenſchaftliche Thaͤtig⸗ 
keit“ das eigentlich charakteriſtiſche Merkmal der Faction. 
C. Welcer. 
Fahne iſt ein Stuͤck Zeug an einem Stabe von einer beſtimmten 
Farbe oder mit einem beſtimmten Bilde gezeichnet und zu einem oͤffent⸗ 
lichen Symbol beſtimmt. Als Heerzeichen waren die Fahnen ſchon im 
Alterthum bekannt. Nach Diodor ließen die Aegypter Thierbilder auf 
Spießen vor den Kriegern hertragen. Die Roͤmer fuͤhrten als Feldzei⸗ 
chen anfangs ebenfalls Thierbilder, die Woͤlfin, den Eber, dann den Ab⸗ 
ler. Daneben aber hatten fie auch Fahnen. Seit Conflantin ſchmuͤckt⸗ 
der Anfongsbuchftabe von Xo⸗oroc die Fahnen. Später führten auch bie 
Kirche und die Gewerbe Fahnen. Man fuchte in diefen Symbolen bie 
beitigften Pflichten beſtimmter Vereine auszudrüden und fie alfo durch 
dieſe Pflichten felbft und die religiöfen oder bürgerlichen Auctoritäten, 
unter deren Wehr und Scug fie fanden, und die Andeutungen ihrer 
Namen und Wappen zu heiligen, fo daß fie zum Heiligtum und zur 
hoͤchſten Ehre des Vereins, ihre verfchuldeter Verluſt zur Schande ge 
zeichte. Es wurde bei ihnen gefchworen (Fahneneid), fie dienten zum 


Euer 


286 Fahnenlehen — Finanjgefeb. 


Ausdruck vom den wichtigften Entfchlüffen und zur Ermunterung in ben: 
felben. Da die Menſchen finnlicher Natur find und gut gewählte Sym⸗ 
bole ergreifender und verſtaͤndlicher als bloße Worte für die Maffen ganze 
‚ Gedanken» und Gefühlseeiche bezeichnen, ſo find fie, gut gewaͤhlt und 
benutzt, vom unermeßlicher Wirkung ; fo die Oriflamme der franzd—⸗ 
ſiſchen Kriege, Die heilige Fahne des Propheten bei ben Tuͤrken, 
die breifarbige Sahne bei den Franzoſen/ zumal in der ulirevolution, oder wie 
die Fahne, welche im ber. Schlacht von Prag 1757 , der Feldmarſchall 
Schwerin ergriff und mit weldyer er, dem Heldentode ſich mweihend, 
die wantenden Batalllone zum Steben brachte, oder diejenige, ‚welche 
Mapoleon in ber Schlacht von Lodi 1796 den Sturmeolorinen voran 
trug Das Mecht Fahnen zu tragen, aufzupflanzen, hängt in freien 
rechtlichen Zuſtaͤnden ganz vorn bem Rechte: ab, ben dadurch ausgeſptoche⸗ 
nen Gedanken auszufprechen und zu verwirklichen. Mer kein fremdes 
Macht dadurch verlegen: oder’ fi anmaßen und kein Zeidyen zum Unredyt 
geben will, der hat das Recht, beliebige Fahnen aufjupflanzen’ und zu 
tagen: So erklärte es auch die badifche Geſetzgehung, nachdem we: 
gem vorübergebender Beitverhältniffe die Bundesbefhläffe vom 5. Juli 
4832 und hiernach auch eine badifcherproviforifche Verordnung Beſchraͤn⸗ 
tungen aufgeftellt hatten, die man auf bie ſchwarz roth goldene deutſche 
Fahne be50g. Da die deutſche Nationalgefinnung , die fie bezeichnen Toll, 
Eein Unrecht iſt und die” deutfche Nation Feine Feindliche umd Feine rechts⸗ 
verlehende Verbindung ift, fo wurde durch das ne ihr Ber: 
bot befeltigt. (S. Affoeintion). E. Welcker 
Fahnenlehen: So hießen bie vornehmeren, bie eigentlichen 
relchefuͤrſtlichen Lehen, bei welcher der Kaifer aufer dem faiferlichen 
GSerichtebann ober dem Grafentechte audy bie Eaiferlihe Heerbanns⸗ ober 
urſpruͤnglich herzogliche Gewalt in einem Reichslande einem Herzog oder 
Reihsfürften verlieh, wobei die Fahne das Symbol war und bie Be- 
lehnung von dem Kaiſer ſelbſt, früher mittelft der Weberreichung einer 
Fahne für. jedes übertragene bejondere Reichsfürftenland vorgenommen 
"worbe. (8. Belehnung). : C. Welder. 
Finanzgeſe. Bon nicht geringerer, in mancher Beziehung noch von 
ein —2 als die geſetzliche Feſtſtellung der Mittel und Wege zur Be⸗ 
friedigung des Staatsbedarfs und folgeweiſe die Feſtſtellung dieſes Bedarfs 
ſelbſt — das eigentliche Fin anzgeſetz — iſt die ſpaͤtere Prüfung des Voll⸗ 
zugs und die geſetzliche Anerkennung ſeiner Richtigkeit, die Genehmigung oder 
die Ruͤge der eingetretenen Abweichungen. Es kann in dem Finanzgeſetze das 
Gleichgewicht zwiſchen Einnahmen und Ausgaben vollſtaͤndig hergeſtellt, ein 
Ueberſchuß fuͤr außerordentliche und unvorgeſehene Ausgaben vorgeſehen ſein, 
und wenn das Jahr umlaufen iſt, zeigt ſich ein Deficit und eine Vermeh⸗ 
"zung. der fehmebenden Schu. Diefe Erfcheinung ift in Frankreich nicht 
nur in einzelnen Jahren vorgekommen, ſondern ſie bildet die Regel in einer 
Reihe von Jahren.‘ Es kann alſo durch bie Factoren der geſetzgedbenden Ge⸗ 
walt die fhönfte- Ordnung im Staatshaushalte hergeſtellt ſcheinen, aber in 
der Wirklichkeit beſteht das gerade Gegentheil, ſei es durch Die Gewalt der 


* 
An 


Finanzgeſetz. 287 


Umſtaͤnde, welche die Voranſchlaͤge veraͤnderten, oder durch das Verſchulden 
der Behoͤrden, welche ſich Nachlaͤſſigkeiten oder geſetzwidrige Maßregeln er⸗ 
laubten. Gegen ſolche Uebelſtaͤnde helfen die von der Regierung angeordne⸗ 
ten Controlen nicht, und es genuͤgt ebenſo wenig der Rchnungshof, 
der ſich in der Regel auf die Pruͤfung der Rechnungen in formeller und ma⸗ 
terieller Beziehung obne Ruͤckſicht auf ihre Geſetzlichkeit und auf die Voran⸗ 
ſchlaͤge des Budgets beſchraͤnkt. Waͤre in conſtitutionellen Staaten die Pruͤ⸗ 
fung der in fruͤheren Jahren eingegangenen Staatsgelder aus deren Verwen⸗ 
dung den Staͤnden entzogen, ſo wuͤrde ihre Mitwirkung bei dem Finanzge⸗ 
ſetze nicht mehr von Bedeutung ſein. Sollte aber die letzte Controle der 
Staatsrechnungen nicht bei den Ständen, ſondern bei dem Rechnungshofe 
ſtattfinden und dort nicht eine bloße Taͤuſchung fein, fo müßten die Mitglie⸗ 
der der oberfien MRechnungsftelle nicht von der Regierung beftellt werden, 
welche controlirt werden fol, fondern von den Ständen. Allein felbft In 
diefem Falle koͤnnten biefe der Vorlage der Staatsrechnungen nicht entbehren, 
weil man bie Ergebnijfe der Vergangenheit fernen muß, um die Bebürfnifie 
der Zukunft mit Wahrfcheinlichleit bemeffen zu innen. So wie aber felbft 
abfolute Regierungen die Nothwendigkeit fühlen, Uber die Rage der Finan- 
zen mehr oder weniger vollftändige Mittheilungen zu veröffentlichen, fo fpricht 
in conſtitutionellen Regierungen Alles für die Vorlage der Staatsrechnungen 
der abgelaufenen Jahre an die Kammiern. In Frankreich gefchieht dies In 
der Form eines Geſetzes, la loi des comptes; anderwärts erhalten die Kam⸗ 
mern diefe Mittheilungen ohne Geſetzentwurf und fie bringen ihre Genehmi⸗ 
gung und Ihre Ausftellungen in Adreffen an die Regierung. Diefer Gegen- 
ftand ift in dem vorftchenden Auffag v. Rotteck 's überfehen und es find 

ſonach da, wo von der Begriffsbeflimmung der Finanz⸗Geſetze und Gegen⸗ 

fländen die Rede war, die Staatsrechnungen einzufchalten: für ihre Prüfung 
und Erledigung müflen nach der Natur der Sache die nämlichen Beſtim⸗ 
mungen gelten, wie für bie in dem eigentlichen Sinanzgefege zufammenger 
faßten Voranfchläge der Einnahmen und Ausgabm. Gerade um biefen 

Punkt aber drehen fich hauptfächlich die oben gedachten Verſuche der badifchen 
erften Kammer, ihre Wirkſamkeit bei Finanzſachen auf Unkoften der verfafs 
fungemäßigen Rechte der zweiten Kammer auszudehnen, Verſuche, die auch 
auf dem legten Landtage 1846, jedoch ohne Erfolg wiederholt worden find. 
Eben der Umftand naͤmlich, daf die fogenannten Rechnungsn achweiſun⸗ 

gen nicht in der Form von Gefegentmürfen vorgelegt und erledigt werben. 

auch nicht, wie die einzelnen Budgets in einem Gefege, dem Finanzgefege, 
sufammenfließen, dient der erften Kammer zum Vorwande, einzelnen Be: 
fhlüffen der zweiten Kammer in der Adreffe über die Rechnungsnachweiſun⸗ 
gen ihre Zuſtimmung zu verfagen. Nun ift zwar aus ben oben anaeführten 
Stellen der Berfaffungsurkunde klar, daß nicht nur jeder die Finanzen betrefs 
fende Geſetzentwurf, fonden Vorfchläge irgend einer Art, 
wenn fie Sinanzgegenftände bitreffen, und Finanzſachen über: 
haupt zuerſt an die zweite Kammer gebracht werden, wie wenn fie von diefer 
angenommen find, an die erfte Kammer gelangen, welche über die Ans 
nahme oder Nihtannahme im Sanzen ohne alle Aendes 


am — Es kann ferner keinem Zweifel untetllegen, baf 

Finanzgegenftdnde find, daß alforjeme 

auch dann auf fie Anwendung finden, wenn fie nicht 

Wen | tin G feg erledigt werden. Deffen ungeachtet hat die erſte Kam⸗ 

— — —— 1 umd 1833, zwar mit der zweiten 

Kanne ausgefprochen, aber einzelnen 

arg — —*— — ———— und Ausgabepoſten fuͤr nicht ge⸗ 

aͤrt wurden, ihre Zuſtimmung verſagt. Man hat nun bisher, 

—* ——— zu laſſen, was der Regierung nur unangenehm 

Gen in tönnte, are Ausweg getroffen , vr die Adreſſe, ſowie fie von der zwei⸗ 

war, fteben blieb und die Bemerkungen der erften Kam⸗ 

mer am Shluf ß, beigefhat wurdenz dabei verwahrte ſich die zweite Kammer 

ausdı dahin, daß durch ihre Einwilligung zu diefem Auskunftemittel 

verfaſſungsmaͤßigen Rechte in Beyiehung auf Fınanzgegenftände nichts 

vergeben fein jolle. Fuͤr die Zukunft aber dürfte das einfachfte und befte Mit⸗ 

um über ähnliche Streitigkeiten wegzukommen, in der Vorlage eines 
—* 





twurfs über tl die Rechnungsnachweiſungen gefunden werden. Aler- 
ite alsdann bezüglich auf Poften, ‚die nicht für gerechtfertigt erkannt 
wuͤrden, eine Bereinbarung mit der Regierung ſtattfinden ; es würdedaher an 
je Stelle der ——— zwiſchen beiden Kammern, eine Er⸗ 
rtterung zwiſchen der Regierung und ber zweiten Kammer treten. Allein 
gerade dies ‚ nad) unferer Anficht, ein Vortheil. Bisher war naͤmlich 
dieſe fung des Staatshaushaltes in der abgelaufenen Finanzpe⸗ 
riode nicht * mehr als eine Spiegelfechterei. Ihre Ergebniffe mochten Eins 
fluß haben auf die Abftelung von Mifbrägschen für die Zukunft, auf eine 
forgfältigere Betrachtung der Woranfchläge; allein feit 1831 hat man nicht 
mebr vernommen, baß Ausgaben , -die von der Kammer für nicht gerechtfer- 
tigt erklärt worden waren, zum Erfag gefommen wären, Es lag nur eine 
Adreſſe vor, welcher die erfte Kammer ihre Widerfprühe angehängt hatte, 
8 war kein Gefes vorhanden, welches der Regierung zur Norm dienen 
mußte und bie Befchlüffe verfhwammen in dem Meere der Vergangenbeit. 
Eine foldye Scheincontrole [hyüst weder die Steuerpflichtigen gegen die Fol« 
gen ungebübrlidyer Mehrausgaben, noch den Finanzminifter, welcher pflicht⸗ 
mäßig gegen nicht zu rechtfertigende Anforderungen an die Staatsmittel auf: 
treten wollte, 8. Mathy— 
Sinanzoperationen. Der Begriffvon Finanzoperationen ift 
nicht befchränft auf ſolche Geld: und Creditgeſchaͤfte, welche von den Regie= 
tungen ausgehen, fondern erſtreckt fi) auch auf bedeutendere Unterneh⸗ 
mungen an dem Geld⸗ und Capitalmarkte, wobei die Staatsverwaltung nur 
mittelbar oder gar nicht betheiligt iſt. Nicht allein der Staat hat Kinanzen ; 
08 haben fie auch Gemeinden, Sorporationen, Geſellſchaften, nicht nur bei 
jenem , fondern auch bei diefen, kommen daber Sinanzoperationen vor. Da 
aber zu ſolchen in der Regel entweder die Genehmigung des Staates erfordera 
lich oder die Staatsaufſicht geboten if, fo liegt «8 jn der Aufgabe der Fi⸗ 
Nanzverwaltung, fo zu verfahren, daß weder die nügliche Thaͤtigkeit vereinter 
Kräfte gehemmt, noch durch truͤgeriſche Giperulationen das Publicum ges 





Finanzoperationen. 289. 
fährbet weorde. Einer befondern Art von Privatgefchäften, wie fie nicht 
vorfommen folten, erwähnen wir im Vorbeigehen. Als nach dem Frie⸗ 
den die europälfchen Staaten darauf bedacht waren, ihre durch den Krieg 
gerrätteten Finanzen zu ordnen, fand ihr Beiſpiel Nachahmung bei mehrer 
zen großen Srundbefigern in Deſtreich, namentlich auch ungariſchen Mag⸗ 
naten. Aus den zwanziger Jahren fchreiben fich eine Meihe von Anleihen 
ber, welche durch Vermittelung angefehemer Däufer gegen Dinausgabe von 
MPartialſchuldſcheinen aufgebracht wurden, deren Inhaber fi) dann auf das 
Bitterfte getäufcht fahen, während die Schuldner firaflos ausgingn. Mäs 
heres hieruͤber findet man in dem Werke des edein Ungarn Graf Stephan 
Szechenyi, über den Grebit (deutfch bei Maret in Leipzig, 1830) und in 
dem Buche: Die Kebrfeite dee modernen Sinanzoperationen mit beſonderem 
Bezug auf die ungarifchen Privatanleihen mittelft Partialobligationen, eine 
aktenmäßige Warnungstafel, Heidelberg bei Oswald 1832. In dieſem 
Buche werben merkwürdige Auffchlüffe gegeben über die fürftt. Anton 
Graſſalkowich'ſche Anleihe von 2 Millionen Gulden Conventionsmünge 
vom Jahr 1825, „auf fichere Hypothek gegen 6 % jährlicher Binfen,” wos 
von bald weder Zinfen noch Tilgung mehr bezahlt wurden und deren Schuld: 
papiere nach mehrfachen VBergleich6verfuchen auf 15 bis 20 % des Nenn» 
werths ſanken. In die gleiche Kategorie fallen bie geäflih C. A. Feſt e⸗ 
ttes’fhen Anleihen von 900,000 Gulden vom 2 „Januar 1828 und 2 Mile 
lionen Gulden vom 1. Juli 1828; ferner die gräflih Adam Joſeph Das 
die ’fche und Adam Hadik v. Futak'ſche, fo wie die graͤflich Joſeph Eſt er» 
basy’fche Anleihe.” Solcher Unfug war freilich nur dort moͤglich, wo fich 
der Schuldner hinter ungarifche Adelsprivilegien und Geſetzeschaos zuruͤck⸗ 
ziehen konnte, unerreichbar dem getäufchten Gläubiger. — So tief aber bie 
Wunden fein mögen, welche derlei Beifpiele einem gewiffen Zweige des Gres 
dits fchlagen , fie koͤnnen ben Grebit felbft eben fo wenig vernichten, als früs 
here oͤſtreichiſche und ſpaͤtere ſpaniſche verdeckte Staatsbankerotte den öffentlis 
chen Credit vernichtet haben. Unter den Finanzoperationen von Geſellſchaften 
nehmen bie Actimunternehmungen bie wichtigſte Stelle ein (man vergleiche 
den Artilel Actiengefellfihaften). Es haben insbefondere die zahlreis 
"hen Gefellfchaften zur Erbauung von Eifenbahnen, neben ben auf 
Staatskoſten untemommmm Bauten, vermehrt und ermuthigt durch 
die lebhafte Neigung, Capital dabei anzulegen, weſentlich dazu beigetragen, 
ben Beldmarkt in den gebrüdten Zuſtand zu verfegen, in welchen er ſich fett 
Länger als einem Jahre (feit September1842) befindet. Wie früher zu den 
abenteuerlichfien Planen von Bergwerks⸗ Handels u. a. Unternehmungen 
in fernen Welttheilen, fo fanden ſich inneuerer Zeit Liebhaber zu Eiſenbahn⸗ 
aetien aller Art, ohne den Plan näher zu prüfen oder zu Eennen. Dabei was 
ren Solche, welche bie Stimmung benugten, um bie gezeichneten Actien mit 
Gewinn zu verkaufen, Andere, welche in der That glaubten, ihe Geld vor⸗ 
theilhaft angelegt zu haben, oder welche bei dem Bau felbft intereſſirt waren. 
Was für Schwindeleien und Künfte in England getrieben wurden, barüber 
enthielt die freie englifche Preſſe im legten Jahre vielerlei Aufſchluͤfſez nament⸗ 
lich erwarben fich die Times ein großes Verdienſt, indem fie auf die Folgen 

Suppi. Staatslex. 10 


20 Sinanzoperationen. 

einer zu rafchen Aenderung in ber Anlage ungeheuer Capitalien hinwies und 
das Treiben der Agioteure aufdeckte. Dort erfordert auch die Genehmigung 
durch das Parlament und die Hinterlegung bedeutender Cautionen Zeit und 
Koften, und wirkt abfchrediend gegen leichtfertige, auf Taͤuſchung berechnete 
Projecte; dennoch fah fich die Geſetzgebung veranlaßt, bie Auflöfung bereite 
gebildeter Geſellſchaften, wenn ſich die Mehrheit von der Unzweckmaͤßigkeit 
bes Unternehmens überzeugte, zu erleichtern. Sn Frankreich, wo das ges 
fammte Eifenbahnneg gefeglich beftimmt und bie Ausführung dem Zuſam⸗ 
menwirken des Staates, der Bezirke, Gemeinden und Privatinduftrie übers 
— ‚ zeigt fich ebenfalls die Nothwendigkeit, den Theilhabern, denen es 
ſchwkr faͤllt, ihre Verbindlichkeiten zus erfüllen und die ihre Papiere, bei ben 
gefuntenen Preifen, nur mit großem Verluſte verdußern könnten, von Sei⸗ 
ten des Staats zu Hilfe zu kommen. Es follen zu biefem Zwecke ben nädhs 
fen Kammern (Ende 1846) Gefegentwürfe vorgelegt werben und bie Friſten 
zur Vollendung bes Baues, alfo auch zur Leiſtung ber Einzahlungen, zu vers 
längern und die Gefellfchaften von der Ausführung ber Zweig⸗ und Nebenlis 
nien zu entlaften, alfo das Baucapital zu ermäßigen. Ob ber Staat noch 
weitere Opfer bringen und zu einer Anleihe fchreiten wird, um ben bebränge 
ten Geſellſchaften mit Geld unter bie Arme zu greifen, iſt ungewiß. — D e fi 
rei ch, welches den Grundſatz feſthaͤlt, daß der Staat bie Hauptlinien bauen 
ſoll, welches ferner, um größere Störungen auf dem Capitalmarkte zu ver: 
meiden, erklaͤrt hat, ba vor Vollendung ber im Bau begriffenen Unterneh⸗ 
mungen, bas heißt, vor bem Jahre 1850 Leine neum Geſellſchaftsbahnen 
conceffionirt werben follen, weshalb aud) ein Geſuch für die Zyroler Bahn 
(Verona⸗Bregenz) zur Zeit abgewiefen wurde, fab fich in neuefter Zeit, aller 
Vorficht ungeachtet, dennoch veranlaßt, dem Actienmarkte zu Hilfe zu kom⸗ 
men. Sin der Wiener Zeitung vom 19. November 1846 erfchien bemnady 
eine Bekanntmachung vom 18, wonach bei der Staatsfchuldentilgungsanftalt 
eine außerordentliche Greditcaffe eröffnet wird, welche die Beftimmung bat, 
aus den ihr befonders zugemiefenen Geldmitteln beftimmter inländifcher, bes 
reits conceffionirter, auf Erweiterung und Benugung ber neueren Communis 
cationsmittel berechneter Gefelfchaftsunternehmungen zu Preifen, welche ih⸗ 
tem wahren Werthe entfprechen, im geeigneten Wege anzulaufen. Das Hof⸗ 
Eammerpräfibium, welchem der Vollzug übergeben ift, erklärte zugleich, daß 
der Preis der Eifenbahnactien nady dem Ertrag zu 4% bemeffen werben fol. 
Ueber die Mittel zur Dotirung diejer außerordentlichen Greditcaffe ift nichts bes 
Fannt gemacht worden. Doch deutet hierauf die Nachricht, daß die Central⸗ 
Gaffe:Anweifungen vermehrt werden follen. Diefe Papiere, welche feit 18. 
Juni 1842 von der Bank auf Rechnung des Staates in Umlaufgefegt werben 
(3u 50, 100, 500 und 1000 Sulden), dienen als Gelb, da fie jederzeit gegen 
baar eingelöft werden und tragen 3 % Zinſen, weshalb fie ſtark gefucht wer⸗ 
den; ihr Betrag, der fih auf 5 Millionen belaufen ſoll, ift daher mohl noch 
einer Ausdehnung fähig. Diefe Finanzoperation der Öftreichifchen Regie: 
rung giebt mittelft einer Vermehrung der fchwebenden Schuld dem Actien- 
marfte und folgeweife dem Papiermarkte überhaupt eine befjere Stimmung 
weldye nicht nur ben Verkauf ber erworbenen Actien erleichtert, fondern auch 


Sinanzoperationen. = 


auf die Erfeichterung eines größeren Anleiheunternehmens (man fpricht von 40 
Alllionen) berechnet ſcheint. Für die Kenntniß ‘der oͤſtreichiſchen Finanz⸗ 
operationen iſt zu empfehlen: das Buch des Profefiors Joſeph Salomon, bie 
Sftweichtfchen Staatspapiere und Insbefondere die Staats⸗Lotterie⸗Anleihen, 
ein nichlicher Leitfaden und Rathgeber für Banquiers und Kapitaliften, Wien, 
Gel Cart Gerold, 1846. — In Baiern hat der Staat bekanntlich Die Muͤn⸗ 
Gensäugsburger Bahn der Geſellſchaft abgekauft und die ſaͤchſiſche Regierung 
iſt ebenfalls Willens, mit dee Geſellſchaft für die ſaͤchſiſch⸗ baierſche Eiſenbahn 
wegen Uebernahme des Unternehmens ein Uebereinkommen zu treffen, wozu 
eine Generalverfammlung aufden 3 December nad) Leipzig berufen wurde. 
In Dreufen Liegt das Eifenbahnmwefen fehr im Argen. Das neue Banks 
ſtatut vom 5 October 1846 Eonnte hier nicht helfen, da auf Eifenbahnactien 
Peine Darlehen gegeben werden; auch im Uebrigen wird die Bank ihre Beſtim⸗ 
mung, „den Geldumlauf des Landes zu befördern, Capitalien nutzbar zu 
machen, Handel und Gewerbe zu unterftügen und einer übermäßigen Stei⸗ 
gerung bes Zinsfußes vorzubeugen” — nur in fehr befchränttem Diaße erfüllen 
Tonnen, da mit dem Einfchußcapitale von Privaten im Betrage von 10 Mits 
Uonen Thalern und der Vermehrung ber Noten bis auf 15 Millionen bei 
einem Inſtitute, welches nach wie vor von Staatsbeamten geleitet wird, bie 
Anforderungen bes Publicums nicht erfüllt, Privarbanten aber zur Beit nicht 
geflattet werben. Wir ſehen baher im gegenwärtigen Augenblicke in Preußen 
die Eiſenbahnarbeiten ſtocken, die Directionen Im Streite mit ben Actiondeen, 
bie Regierung außer Stande zu helfen, well größere Grebitoperationen an bie 
Suftimmung nicht vorhandener Reichsſtaͤnde gebunden find, Verlegenheiten 
Aberall, bie wohl nur durch Worthalten in der Werfaffungsangelegenheit zu 
Iffen ſind; Worthalten iſt — wie obm von Rotteck bemerkt, nicht nur die 
ſchoͤnſte, befte und vortheilhaftefte Finanzoperation, ſondern aud) das befte 
Verwaltungsprincip. Gar häufig kommt es vor, daß man bie eigentliche 
Bedeutung von Finanzoperationen nicht aus dem angegebenen Zwecke ent 
nehmen kannd Hierüber iſt unter Agtotage Einiges gefagtz als weiteres 
Beifptel führen tote das franzoͤſiſche Sparcaffengefeg von 1837 an, wonach 
bie Depofitencaffe des Staates die Sparcaffengelder empfängt und dafür 4 $ 
Renten zum Nennwerthe anlauft, — was eigentlich nichts Anderes iſt, als 
eine verfteckte Anleihe aus den Erfparnifien des Volkes, bie man billiger ers 
hält, als man fie von den großen Geldhändlern erhalten würde. Sodann 
die von 1837 bis 1842 erlaflenen Gefege über bie öffentlichen Arbeiten, wo⸗ 
nach der Aufwand proviſoriſch durch die Mittel ber ſchwebenden Schuld, defi⸗ 
nitiv Durch die Dotation der Amortifationscafle für ben Ankauf von 5% Ren⸗ 
tem gedeckt wirbd. Dieſe Dotation wird barum nicht für ihre eigentliche Bes 
ſtimmung verwendet, weil und fo lange der Capitalpreis der 5 Proc. Rente 
über dem Nennwerth fleht. Die Geſetze aber, welche bie Regierung ermaͤch⸗ 
tigen, fie zum Anlauf von koͤniglichen Bons (ſchwebende Schuld) zu verwen⸗ 
den, bedeuten eigentlich eine verfteckte Aufhebung des Tilgungsplanes, von 
welchem die 5 Proc. Renten factiſch ausgefchloffen und die hierzu beflimmten 
Mittel anderweitig verwendet werden. Wir beſchraͤnken uns hier auf Anbeus 
tungen, ba bie wichtigen Fianzoperationen in befonderen Auflägen behan⸗ 
19* 


Bun 


' (Kisrtifstien,- ‚Arftgnaten, € ——* a 
ats äpiexs, ee Eönnen aber nicht umbin, bier 
Dub vor vlelen Siaanzoperationen ein Ausſpruch gilt, 
pafotupmentzeffen. ‚NRichelieu fagt nämlich in 
Teſtamente: le peuple. n’est point taxe, il est pille ; les 
mt pas per par l'industrie , mais par la rapine,. Und Goethe‘ 
— — und nee ben —— Ge: 





















: „Die — GbR, ‚baren Einfluß man 1 für e wichtig 
;: Eomnmen nic merwiper ip VBeracht denn wenn es dem Ganjen feblt, fo 
mon dam Einzelaen nung abnehmen, was t mühfam zuſammangeſcharrt 
— ſo iſt der. Stoat — reich genug.” — 
Karl Mathy— 
BER FOR FEN. (Bu Seite 604, Beile 2 von oben.) Die erfle 
g (A), bie Technik bed —— faßt blos das⸗ 
jenige in — ge jeder Walbwirth, ohne * hung auf den Staat 
und auf die Verſchiebenhelten, welche qus der Art des Eigenthums fol⸗ 
‚gen, unter den gegebenen Umſtaͤnden zu wiſſen und zu thun hat, Diefe 
MWaldwirthſchaft am fich” war von W. 2. Hartig eingetheilt im: Dolz: | 
zucht, ugung , Sorftfehng und Korfttaration. Mach dem 
‚Stande der M Wiſſenſchaft zerfältt fie gaigneter in folgende Hauptftüde, 
“h Die Walbbaulehre, melde von Dervorbringung und Ernte ber 
Malberzeugniffe handelt. Sie erfordert vor Allem Kenntniß der forft- 
wirthfchaftlichen Eigenthämlichkeiten, Standort und Vorkommen, Eigen: 
ſchaften in Bezug auf Anbau und Schlagführung,, fodann der Brauchbars 
Leit der verfchiedenen Dolzarten. Sie bat in ihrer erften Abtheilung mit 
ber Weſenheit des Waldbaues und deren Verhältniffen zu anderen Fächern 
der Bandescultur, mit dem Charakter und den Entfcheidungsgründen zur 
Wahl der verfchiebenen Betriebsarten einleitend bekannt zu machen. 
In ihrer zweiten Abtheilung enthält die Waldbaulehre die Einzelnheiten der 
Holzzucht, deren vormalige Eintheilung in „natürliche und „Lünftliche” 
dem Fortfchritte ber Zeit weichen muß, da nun die ſogenannte " natürliche 
Verjuͤngung“ nicht weniger, häufig nody mehr Kunft erfordert, als die 
fogenannte „kuͤnſtliche“/. Die — begreift demnach 1) den Holz⸗ 
anbau (Saat und Pflanzung der Waͤlder, — die Saat immer mehr auf 
den Zweck der Pflanzenerziehung beſchraͤnkend, das Gebiet der Pflanzung 
durch Sicherheit und Wohlfeilheit des Verfahrens immer mehr ausdehnend), 
2) die Schlagfuͤhrung, d. h. alle Operationen der Faͤllung und Ausbeu⸗ 
, tung des Holzes, ſowohl zum Zwecke feiner Ernte, als auch zum Zwecke des 
befjeren Wuchſes und ber Nachzucht. Unter diefen Operationen find die 
Durchforſtungen, mittelft deren das dem Alter und Standort ange⸗ 
meſſene Verhätmiß der Stammzahl und Bodenbefhäftigung erhalten wird, 
in neuerer Zeit immer wichtiger geworben, theils wegen ihres günftigen 
Einfluffes auf den Zuwachs des bleibenden Beftandes, theils auch durch die 
Schon in der Jugend beginnenden und bis zur Haubarkeit oͤfter wiederholten 





Forſtweſen. 208 


Zwiſchennutzungen, welche dem Nachtheile eines zu [päten Ertengegenuffes 
und dem VWorwurfe bes Zinfenveriuftes weſentlich entgegenwirken. Die 
Durchforſtungen finden hauptfächlih Antoendung bei dem Hochwald⸗ 
betrieb, welcher den Beſtand feine relative Haubarkeit erreichen läßt, um 
dann befien Wiederanbau durd, den abfallenden Samen (natürliche Ders 
jüngung) oder durch Saat oder Pflanzung zu bewirken. Diefer Hochwalb⸗ 
betrieb iſt in der Regel ein [hlagmeifer; ausnahmsweiſe kann mitunter 
noch jest Plantarwirthſchaft, d. h. das bloße Ausfehmeln ber je 
ſtaͤrkeren und aͤlteren Stämme, ba raͤthlich werden, wo es barauf ans 
' Bommt, den betreffenden Waldort flets mit einer entfprechendben Anzahl 
ſchon ſtarker Stämme, untermifcht mit jüngeren, bedeckt zu erhalten. Die 
Niederwaldwirthſchaft bewirkt nach Källung des Schlags die Wieberherftels 
ung des Beſtands hauptfähhlich durch Stod: und Wurzelausfchlag ber mit 
Rüdficht hierauf gefällten Stämme, kann jedoch, je nachdem bie Alter werdens 
ben Stöde ihren Dienft verfagen, deren Erfag durch Saat und Pflanzung 
nicht entbehren. Während im Hochwalde das Haubarkeitsalter und bie Um⸗ 
triebszeit fih auf 60 bis 140 Jahre erſtrecken, befchränten fie fi im 
Miederwalde gemöhnlih auf 10 bis 20 Jahre. Naͤchſt den Durchs 
forftungen bat die ausgebehntere Benugung ber Stöde, welche man 
font verfaulen ließ, den Ertrag ber Hochwälder erhöht. — Die dritte 
Abtheilung der Waldbaulehre betrifft die Nebennugungen, b. h. 
bie Erzeugniſſe, welche der Wald außer dem Holze barbietet. Unter 
dieſen iſt die MWaldftreunugung in der Regel die fchädlichfte, weil fie 
dem Walde bie zum Gebeihen und Schuge nöthige Bodendede, mit 
diefer zugleich feinen Dünger nimmt und den Boden entkraͤftet, daher 
nicht allen bem jegigen, ſondern auch Fünftigen Holzbeſtand verberblid) 
wird *); die Iandwirthfchaftliche Zwifchennugung dagegen iſt diejenige Ne 
bennugung,, welhe, auf ein oder einige Jahre befchränkt, bie meiften 
und mehrfeitigen Vortheile gewährt, nämlich einerſeits durch die ohne 
Düngeraufiwand genommenen lanbwirthichaftlichen Erzeugniffe, anderfeits 
buch den In Folge dieſer tranfitorifchen Bearbeitung des Bodens ein» 
teetenden größeren Holzzuwachs. — Im II. Hauptftüde der „Waldroirth- 
ſchaft an fi” faffen wir die Anftalten zum Holztransporte, ben Wald» 
wegbau, bie weitere Zugutmachung der Walderzeugniffe und den Walbs 
fhug zufammen. Lesterer, ber Korftfhug, betrifft die Vorkehrungen 
bes Waldbeſitzers (abgefehen von desfallfigen in's Gebiet ber Forſtpolizei 
gehörigen Einrichtungen und Verhaͤltniſſen des Staats) gegen fchädliche 
Einwirkungen von 1) Menfhen und zahmem Viehe, 2) gegen wilde 
vierfüßige Thiere und Vögel, 3) gegen Inſecten, 4) gegen fchädliche Ge: 
wäcfe und 5) gegen Maturereigniffe und fonftige fehädliche Zufaͤlle. — 
Das III. Hauptſtuͤck der Waldwirthſchaft an fi, die forftliche Be 
triebs- und Gewerbslehre, hat zur Aufgabe die Ordnung ber 
Wirthſchaft und die Kührung ihrer Gefchäfte, mithin 1) Kennmiß bes 


*) M. f. meinen Bortrag über bie Werhältniffe des Waldſtreu⸗ und Holz: 
ertrags ©, 15 des 15. Hefts meiner Jahrbuͤcher der Forſtkunde. 





ne —— — Sm. 


, namentlidy bie nn 
der —2 (Betrieb ber MWaldarbeiten) „die 
der Walderzeug das Re « und — 








| an — pre aber body, w ‚inan dem 


ten Ausbildung. enefpriche 

den mehrfei Be —— Are wir m 
‚empfehlen mar dürfen: Gotta’ Grumdeiß der — 
dritte Auflage, Dresden und Leipzig 1848." 


(3u &.611, 2. 18 v.u.) Diefen beiden Folgerungen iſt aber noch eine 
dritte beizufügen, bie Ueberwachung ber Waldtheilung zur Vermeidung 
roßer oder unzweckmaͤßiger Zerſtuͤckelung des Waldeigenthums, welche 
orſtſchußz und die Bewirthſchaftung gefaͤhrdet, den Geſammtertrag 
ink und, wie bie Erfahrung leider ſchon in vielen Gegenden 
gezeigt hat, bie Verwaͤſtung der betreffenden Waldungen veranlaßt. Fin⸗ 
det man fuͤr eine Gegend die Handhabung der Forſtwirthſchaftspolizei 
noͤthig, ſo darf man nicht unterlaſſen, die Zerſtuͤckelung von Waldungen 
von einer.· vorherigen forſtpolizeilichen Prüfung und Genchmigung des 
Theilungsplans abhängig zu machen. 

Gu S. 613, 3. 16 v. u.) Ueberwachung der Vertheilung oder Zerſtuͤe 
lung des Waldeigenthums, deren oben gedacht wurde, gehört nad den vielen vor⸗ 
Itegenden Erfahrungen zu ben Gegenftänden, welche hierbei durchaus nicht 
außer Acht bleiben dürfen. Näheres enthalten: meine Abhandlung ©. 94 ıc. 
bes 15. Hefts meiner Jahrbuͤcher der Forſtkunde und meine folgenden 
Auffäge im Jahrgange 1844 der allgemeinen Forſt⸗ und Jagdzeitung, 
Seite 241, „Weber die Privatwwaldungen in Beziehung auf Ihre Beſitzer, de⸗ 
ven Sintereffe und Verhaͤltniſſe“, Seite 281 „über die Verhältniffe des 
Staats zu ben Privativaldungen‘ und Seite 321 „über Ordnung der Auf: 
fight * Privatwaldungen.“ Hiermit iſt zu vergleichen die ſpaͤtere Preis⸗ 


Borfiwefen. 285 


ſchriſt: „die Beauffichtigung der Privatwaldungen von Seiten bed Etants 
von Dr. Grebe, Eiſenach 1845." 

(3u Seite 615, Belle 21 von oben.) Der zu (2) vorerwähn: 
ten Beſtimmung if namentlih auch bie Waldſtreunntzung 
zu ſubſumiren. Dos ficherfte Mittel, die hieruͤber obwaltenden Bes 
{werben zu befeitigen, mit der geringen Streumenge, melde bie 
Waldungen koͤnnen, die Beduͤrfniſſe am wirkſamſten zu befriedigen 
und übermäßigen Anſpruͤchen zu begegnen, beſteht darin, die Waldſtreu 
darch —— auf ähnliche Weiſe, wie das Holz, ernten, in beſtimmte⸗ 

Fe (Haufen von beflimmten Dimenfionen) bringen und ale: 

Bald imrter freier Coneurrenz verfleigern zu laſſen. Verbindet man hier: 

wit bie Eirichtung, daß der Gelberlds dieſer Verfteigerung unter die Be> 

verthellt wird, fo macht man es felbft den aͤrmſten berfsiben 

meögiih, mit zus bieten. Ih beziehe mich deshalb auf meinen Vortrag „die 

Ordnung ber Waldfireunugung” Seite 36 des 15. Hefts meiner Jahr⸗ 

bihcyer der Forſtkunde. Die hierin gemachten Vorfchläge find, auf ben 

Grund eines Geſetzes v. 2. Juli 1839, im Großherzogthum Heſſen ausge: 
füͤhrt worden und haben fich in ber Praris volllommen bewährt. 

(da Seite 623 nah Fann Zeile 13 v. u.) Da Preußen, Baiern 








und Württemberg Beine Centralforſtſtellen haben, fo ift es bort ein um fo 
größerer und ſchon mehrfady fühlbar gemwordener Mangel, dag im Minifte- 
eium des Innern, obgleich die Forſtpolizei überhaupt und die forfteiliche 
Obhut bee Communalwaldungen insbeſondere fich. dort cemtralificen fol, 
kein forfttechnifcher Referent angeftellt iſt, folglich. es bei allen biß zur Mi⸗ 
niſterialinſtanz gelangenbden Forſtſachen an einem fländigen, im Zuſammen⸗ 
ern fe und Mn n gehbrigee Ueberficht wirkenden Organe ſachverſtaͤndiger Beur⸗ 

A Str . 624, Zeile 8 v. u. nah zu fein.) Die Erfahrung 
bat überdi, wo man fie abfchaffte, das Borurtheil ihrer Nochwendigkeit 
toiberlegt und bie für Abfchaffung biefes ſchaͤdlichen Dienſtemoluments pre: 
chenden Brände beſtaͤtigt. (M. vgl. meinen Auffag hierüber ©. 1.1c. des 
28. Heftes meiner Jahrbuͤcher der Forſtkunde.) 

(3u ©. 626, Belle 4 v. o. nach Wirchfhaftseinrihtung.) 
(M: ſ. Näheres hierüber in: „Inftruetion für die Betriebsregulirung und 
Holzertragsſchaͤzung der Horfle, von &. W. Frhrn. v. Wedekind. Durch 
Beifpiele erläutert, nebft einem Beilagsheft. Darmfladt 1839 (bei Din- 
geldey, nun Ph. Diehl).“ 


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fear ward in neuerer Zeit, mihe und minder ausgedehnt, unter 
dem Namen „forftliche Verhaͤltnißkunde“ eine Disciplin ange 
reiht, welche zur Aufgabe hat, beiläufig in der nämlichen Reihenfolge, wie 
bie Forſtwiſſenſchaft ſelbſt, alle numerifchen Verhaͤltniſſe forftlichen 
Wirkens und Schaffens , Lebens und Webens aufzufaffen und in Zahlen 
darczuſtellen, hiermit aber den Stoff zu einer Meßkunſt der forftlichen Kräfte 
und Erfolge zu — Dieſe Verhaͤltnißkunde habe ich, wie die Wiſ⸗ 
ſenſchaft ſelbſt, in zwei Hauptabtheilungen gebracht, wovon die erſte, die 
forftlich⸗ Sta tif, mit der erſten Hauptabtheilung der Wiſſenſchaft, der 
Technik, cortefpondirt und fich befaßt mit Erörterung der numerifchen Ver⸗ 
hättniffe der Nataralerzeugung, der Arbeitökräfte und des Geldertrags. 
Die zweite Hauptabtheilung, Verhaͤltnißkunde bes Forſtweſens in feinen 
Beriehungen zur Nation und zum Staat, enthält bie Ergebniffe der forſt⸗ 
schen Statiſtik, fammelt. und ordnet ſomit die numerifchen Verhättniffe 
der Dbjecte des Forſtweſens (namentlich die Verhältniffe der Waldflächen 
zum Areal des Landes und zu anderen Nugungsarten bes Bodens, ſowie die 
Berhältniffe dee Erzeugung zum Verbrauche), bie Berhättniffe der Ver⸗ 
waltung (namentlich die Verhaͤltniſſe der Verwaltunserforderniffe nach 
Verſchiedenheit der Art des Betriebs und des Eigenthums, bie Verhältniffe 
biefer Erforderniffe zu denjenigen anderer Zweige ber Gewerbſamkeit und 
der Staatsveriwaltung), die Verhaͤltniſſe des Capitals, des Ertrags und der 
Beſteuerung an fi) und im Vergleiche mit anderen Eulturarten und andes 
ven Gewerbszweigen, endlich die Verhältniffe des Forſtſtrafweſens (nament- 
lich die Verhaͤltniſſe ber Vergehen nad) ber Zahl der Fälle verfchiedener Ka: 


Fourier's Theorie der Geſellſchaft, ıc. 297 


tegorie und nach den Beträgen ber Strafen und Erſatzzahlungen, ſowie die 
Berhältmiffe des Koſtenaufwands der Zorftftrafiuftiz.) M. ſ. mein Sy: 
flem ber forftlichen Verhaͤltnißkunde Seite 146 des 18. Heftes meiner Jahr: 
bücher der Forſtkunde. 

(Zur Note unter Seite 336.) Die Hiermit im Wefentlichen über: 
einflimmenbe neue Geſetzgebung und Reglementirung bes Forſtſtrafwe⸗ 
fens im Großherzogthum Heſſen hat fih nun fchon feit einer Reihe 
von Jahren in der Prapis [ehr bewährt. Wir empfehlin daher das ſyſte⸗ 
matiſche, Handbuch ber Geſetze, Verordnungen und fonftigen Vorfchriften 
für das Forſtſtrafweſen im Großherzogthum Heffen. Drei Hefte. Darm 
ſtadt 1840— 1844, Verlag von C. W. Lese.” 

Sch. v. Wedekind. 
Kourier’8 Theorie der Geſellſchaft. (3u 8.646 3.170. 0.) 
Das Leben des Univerfums beruht auf drei ewigen, unerfchaffenen und 
unzerſtoͤrbaren Principien: Gott oder der Geift, das thätige oder bemes 
gende Princip; die Materie, das leidende und bewegte Princip; bie 
Gerechtigkeit oder die Mathematik, das orbnende Princip der Be⸗ 
wegung. Das Menfchenieben, der Mikrokosmus, ift ber !Refler bes 
Alllebens. 
BGu S. 650 3. 1v.u.) Hier ſetzt ſich Fourher mit feinem eigenen Sys 
ſtem in Widerſpruch, ba nach feiner Vorausſetung jede Art der produc⸗ 
tiven Zhätigkeit angenehm und anziehend (attrayante et passionnee) fein 

würde. 
(Zu ©. 657 3.12v.u.) Vor Allem ift Fourier ſcharf in feiner Kritik 
der Ungebühren des j:gigen Handels, von der Agiotage bis zum Wucher 
im Kleinen, wie ec denn von fich felbft ausgefagt, daß er „ben Eid Dans 

nibalß gegen ben Handel“ geleiftet habe. 

(An d. Ende des Art.) Ueber die neueren Verfuche einer Anwendung der 
Sociallehre Dwen’s find die Artikel „Großbritannien und „Socialismus” 
zu vergleichen. Das Syſtem Fourier's bat feit dem Erfcheinen der 
erfien Auflage des Staatsierifons auch in mehreren beutfchen Schriften» 
eine ziemlich ausführliche Darftellung gefunden *). Es bietet kein befon 
deres Intereſſe dar, auf die wunderlichen kosmogoniſchen Phantaflen 
Sourier’s und die mwillfürlichen metaphpfifchen Grundlagen, worauf er 
fein Syſtem aufzubauen fuchte, fo wie auf feine Träume von kuͤnftigen 
Schöpfungen ber Erde und fpäteren Phafen der Menfchengefchichte näher 
einzugehen, als dies bereits vor mehreren Jahren in vorſtehendem Aufs 
ſatze geſchehen if. Hatte fih doch Fourier felbft von dieſen Zhorhels 
ten, bie er als „Nebenſachen“ bezeichnete, fpäter frei zu machen geſucht; 
und feinen Widerfachern gegenüber tabelnd hervorgehoben, daß fie darüber 
bie Betrachtung dieſer Hauptſache überfähen, nämlich die Kunft, die 
combinirte Induſtrie zu organifiren,, woraus das dreifache Probuct ents 


*) Bergl. hauptfählih 8. Stein: „Der Socialismus und Gommunis: 
mus des heutigen Frankreichs. Leipz. 1842. 8. Gruͤn: „Die fociale Bes 
wegung in Belgien und Frankreich. Darmfladt 1845, 


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bildet. Das Streben der Gruppirung aliebert ſich nach dem vier Trieben 
har Freundſchaft, ber Liebe, des Ehrgeizes und des Familismus, oder des 
ans verwanbtihaftlichen Banden entipringenden affectiven Triebs. End: 
ld empfindet ſich der Menſch als Theil der geſammten Menfchheit umb 
bat in biefem Zuſammenhange drei diſtributive Triebe, ober passions 
rectricas, womit er über die äffeetiven hinausreicht und durch deren 
Aeußerung bie Serien entitehen. Die diſttibutiven Triebe find: die pas- 
sion cabaliste, wodurch fi das zeitwelfe Beduͤrfniß der Einfeltigkeit 
offenbart, indem uns diefer Trieb aus dem gleichmäßigen Zuſammenleben 
mit ganzen Reihen von Verhättnifien, Segenftänden und Wänfchen her 
ausreißt, um unfere Kraft und Liebe bavon abs und auf ein beftimnites 
gut hinzulenken, bie passion — oder alternante, worin ſich das 
Beduͤrfniß der Veraͤnderung, des Wechſels, aͤußert; und, bie passion com- 


Bee nn nn —— 
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*) Darum ließen bie Schäler Kourier’s ihrem am 10. Detober 1837 ges 
ſtorbenen Meifter ale Brabfchrift fegen: ' 
Les Attractions sont proportionelles aux Destinees, 
La Serie distribue les Harinonies. 


Foutier’s Theorie der Gefellfchaft, x. 209 


posite, odre der Drang nach Einheit, wodurch ſich der Menſch über den 
Trub der Einſeitigkeit und bes Wechſels erhebt, und alle feine Triebe 
umd Kräfte in einer Richtung zufammenfaßt. Diefe wird zum Enthu⸗ 
fieamms, wo fie ſich Einer beflimmten That zumenbet. Alle diefe Triebe 
baben ihren Mittelpunkt im Uniteismus, ober ber Leidenfchaft 
der Einheit, wodurch alle Beilimmungen fich verwirklichen und auf 
eine Welt bingewiefen wird, worin jeber Trieb feine vollendete Befriedi⸗ 
gung und jebe Befriebiaung. bas Bemußtfein ihres lebendigen Triebs wie⸗ 

Sie wird andy als religiöfes Gefühl bezeichnet, welches bie 
Harmonis bes ganzen inneren und dußeren Menſchen mit fi) und mit 
der Welt bebingt, weldyes alle anderen Triebe in fich vereinigt und aus 
fich erzeugt; fo wie das Weiße, alle einheitliche Farbe, allen befonderen 
Farben und Farbenſchattirungen zu Grunde liege. Die fuͤnf ſenſuellen 
Triebe wirken uͤberall ein und bilden, im Zuſammenhang mit ben: fiebeir 
höheren affectiven und biftributiven Trieben, bie zwoͤlf Töne bes Accarbe, 
Damit glaubt Fourier ben Satz bes Pythagoras erwiefen zu haben, 
daß bie Harmonie der Welt und die der Muſik nicht verichteben find. 
Außer jenen zwölf Trieben giebt «6 Beine anderen, und was fonft noch 
als feibfiftändiger Trieb erfcheint, ift nur eine Wereinigung mehrerer der 
zwölf Grundleidenſchaften. Solche WBerbinbungen bringen denn ges 
mifchte Leidenſchaften in großer Zahl hervor. Das Ueberwisgen einer 
oder mehrerer derſelben beftimmt den Charakter bes Individuums. Aber 
die Vertheilung der Charaktere iſt Leine zufällige; fondern ihre Zahl umb 
Art ſteht In genauem Verhälmig mit den Bebürfnifien der ſocialen Orb⸗ 
nung. Nach einer willkuͤrlichen Vorausſetzung ſollen fi ſaͤmmtliche Cha⸗ 
raktere, wie fie durch die Combination der Leidenſchaften entſtehen, im 
810 Imbivibuen finden. Dazu, kommen noch 405 gemifchte oder zwet⸗ 
deutige Charaktere, die mit jenen zufammen fein Phalanflöre bevoͤlkern 
ſollen. Fourier theilt die Charaktere in eintönige, bis zw fech6«, fieben- 
umd alltänigen ein. Die Letzteren, von den fechstönigen an, finden ſich 
nicht mehr In jeder einzelnen Phalange, ſondern bereichen Über mehrere 
Phalangen und find hiernach Agenten ber Harmonie nach außen. Roufs 
feaw wirb als fünftönigee Charakter bezeichnet, Bonaparte und 
Friedrich der Große als ſechstoͤnige, Julius Edfar und Alcibias 
des als ſiebentoͤnige. Sich felbft zählte Fourier wohl zu ben alltönis 
gen, ba nach ihm ein alltöniger Charakter erfordert wird, um den Auss 
weg aus ber ſocialen Vorhoͤlle unferer heutigen Civilifation zur fos 
cialen Harmonie zu entdedien. 

Einer diürftigen Pſychologie gegenüber, die noch von der Entbeckung 
des ganzen Reichthums menfchlichen Geiſtes⸗ und Gemuͤthslebens weit 
entfernt ift, laͤßt ſich der Lehre Fourier's von den Trieben eine gewiſſe 
Ziefe, die Hinwelfung auf manche folgenfchmwere und feither verfannte 
Wahrheit, fo mie ein ernſtes Streben nad Alffeitigkelt und Einheit in 
keiner Weiſe abfprehen. Aber mas ift mit einer ſolchen Glaffification, 
einem folchen Nebeneinander verfchiedener Triebe, für die Gründung ber 
foeialen Harmonie gewonnen? Alte biefe Vipifectionen des Innern Men⸗ 





ul EI Roi bir HF. 
feheny wieſehrſie in ſuhtile Einzelheiten tingehen, laufen bo ſtets auf 
bie, Darſtellung elnes Lernen! Abſtraectums ıbinatıs, moͤge man gleich das 
Fachwerk, in das die Individuen hineinpaſſen ſollen, noch fo mannich⸗ 
faltig machen. Sie muͤſſen nothwendig unbefriedigt laſſen. Denn für 
die wirkliche und Lebendige Geſellſchaft kommt es nicht blos auf das Da: 
fein der ſo oder anders bezeichneten Arten von Trieben ans ſondern 
weſentlich auf den Grad ihrer ‚Stärke oder — 52 wofür es unend⸗ 
liche Abſtufungen giebt weil das unerſchoͤpfliche Leben ſelbſt, mit ewig 
Verhaͤltniſſen und Betiehungen, jeden beſonderen Trieb jedes 
beſonderen Menfchen in eigenthuͤmucher Weife erjieht und fort und fort 
anders bilder; ſo daß man vergeblich bemüht ift; mit arithmetifchen Spie« 
lerelen über mögliche — Fülle der Erſcheinungen auch 
— fuͤhrt ſchlechthin Peine Bruͤcke von dieſer 
Aſebe zu einer normalmaͤßi⸗ 














oem einer Sypothefe elfn. ‚Denn 26 gehört doch 
ein uͤberſtarker Glaube bay, um von vorn herein anzunehmen, daß ſich 
een —* und etlichen hundert Individuen verſchiedenen Geſchlechts 
Alters fletd die Chataktere in der Zahl und Weiſe zuſammenfinden, 
Herſtellung einer Fourleriſtlſchen Phalanx rennen 
Man mag bavem abfehm ‚dab Mahrungstrieb und Geſchlechtstrieb, die 
eine ſo große Rolle in jeder Gefrlifchaft ſpielen, und befonderd in 8 
jenigen Foutier's, doch nur in: dem ſenſuellen Gefuͤhlstriebe gleichſam 
verſteckt liegen; oder daß ſich feine passion composite* von feinem 
Maiteiennus“ ſchwer unterſcheiden laͤßt. Es laͤßt ſich aber nicht einmal 
behaupten, daß Fourier auch nur die: Hauptarten ber Triebe dollſtaͤndig 
angefuͤhrt haͤtte. Er hat den Trieb vergeſſen, der erſt den Menſchen 
zum Menſchen macht, der ihn ſelbſt fein Lebenlang beherrſcht hat; den 
Teieb nach Wahrheit und Erkenntniß, der in den Beziehungen der 
Menſchen zu Menſchen als Trieb der Gerechtigkeit ſich offenbart, und 
entweder befeuernd oder maͤßigend in das Spiel aller anderen Launen 
und Geluͤſte, Neigungen und Leidenſchaften unaufhoͤrlich eingreift. Und 
wollte wan auch ſeinen Uniteismus mit dieſem Wahrheitstriebe fuͤr Eins 
gelten laſſen, fo iſt doch fein Einfluß auf die Geſtaltung der geſellſchaft⸗ 
lichen Verhaͤltnifſe bei weitem- nicht nach vollem Maße gersürdigt worden. 
. Mit. diefer Verſaͤumniß haͤngen alle weiteren Einfeitigkeiten der So⸗ 
clalfebee Fourier's weſentlich zuſammen. Wie ſehr diefer Socialiſt 
bemuͤht war, den mannichfachſten individuellen Neigungen und Faͤhigkeiten 
Anerkennung und Geltung zu verſchaffen, er hat dennoch die ganze Be⸗ 
deutung ˖des individuellen. Menſchengeiſtes und ber perſoͤnlichen Freiheit 
nicht erkannt. Er hat es nicht beachtet, daß jedes Menſchenich der Mit⸗ 
telpuntt einer eigenthuͤmlichen Welt von Anſchauungen und Vorſtellun⸗ 
gen, von Begriffen und Gefuͤhlen iſt, deren Entwickelung aus ihrem in⸗ 
nerſten Kern und Keime heraus jeder Vorausberechnung ſpottet, und die 
ſich erſt fo weit offenbart haben muß, als fie für andere Menſchen 
zum Gegenſtand einer mehr ober minder sichtigen Erkenntniß werben ne 





Yourier’s Theorie ber Geſellſchaft, x. 301 


Nicht ganz ohne Grund iſt darum bem Fourierismus der Vorwurf des 
Moterialiemus gemacht worden. Wohl liegt diefer nicht in der bewußten 
Abſicht des Stiftere und feiner Anhänger. Verheißt doch Fourisr felbft 
den Arbeitern auf dem Felde bes Geiſtes, den Männern der Wiffenichaft 
und Kunft, vor Andern eine glänzende Zukunft in feiner Gefelfchaft, 
und haben dody Fourier's Schüler, wie dies namentlih Conſidé⸗ 
rant gegen feine Gegner hervorgehoben hat, darin ganz recht, daß es fich 
zunaͤchſt und vor Allem für viele Millionen um die Brfeitigung der mas 
teriellen Noth handelt, wodurch zugleich jede geiflige und fittlihe Erhe⸗ 
bung der Waffen niedergehalten wird. Allein gleidiwohl hat jene vnvoll⸗ 
ſtaͤndige Auffafjung des Geiſtes im Menſchen ihren fichtbaren Einfluß 
auf einige der wichtigften Lehren der fourieriftifchen Schule, 

Dahin gehören zunaͤchſt die Anſichten Fou rier's über die gefchichte 
len Verbindungen.. Er ift fo ſehr befefien vom einfeitig abflracten 
Gedanken eines nothmendigen Wechſels im finnlichen Genuſſe, daß er 
die fogenannte freie Liebe predigt, welche doch nichts Anderes wäre, ale 
bie Einführung der von ihm fo fehr befämpften ungebundenen Concur⸗ 
renz in dem gefchlechtlihen Verkehr. Zugleich aber vermißt ex fi im 
feiner Liebhaberei für Berechnung der Triebe zu einer Claſſification der 
verfchiedenen Grabe in den Verbindungen der Liebe. Die drei vorzuͤglich⸗ 
ſten Stade find ihm die der Gatten (Epoux et Epouses), der Erzeuger 
und Erzeugerinnen (geniteurs et genitrices) und der Beliebter, die diefen 
Zitel führen (favoris et favorites). In feiner fogenannten Ehe der fies 
benten Periode fol eine Frau gleichzeitig einen Gatten, einen Erzeuger, 
einen Geliebten und außerdem beliebige Liebhaber haben können. Das 
weibliche Geſchlecht theilt er in Veſtalinnen, Gattinnen, Demoifellen oder 
Halbdamen und Gulanten. Der dem Kourierismus gemachte Vorwurf, 
daß er es auf Zerfiörung der Familienbande abgefehen habe, iſt alfo teinets 
wegs ungegründet. Der Irrthum aber, in den er verfallen ift, beruht, 
wie bei einem Theil der Communiften, auf einer envolftändigen Wuͤr⸗ 
digung der Individualität; da gerade auf ben höheren Eulturftufen jede 
blos bedingte und theilweife Dingebung in ber Liebe ala verwerflidh ers 
ſcheint und ſich alfo über die Monogamie als die den ganzen Menſchen we⸗ 
ſentlich befriedigende Form der gefchlechtlichen Verbindungen darſtellt 
(S. „Sommunismus.) Indeſſen muß bemerkt werden, daß Fous 
tiere felbft die Werbreitung feiner Deinungen über den gefchlecdhtlichen 
Verkehr fallen ließ, freilihh nur darum, weil fie für bie jegige Gefellfchaft 
allzu anftößig feien; und daß feine Schüler keine Gelegenheit verfäumen, 
um gegen jede Behauptung, daß es ihnen um eine Vernichtung der bes 
ſtehenden familiensechtlichen Verhaͤltniſſe gelte, ernfllihe Verwahrung 
einzulegen. 

Fourier iſt fcharf und wahr im der Beurtheilung ber jegigen Zwangs⸗ 
ehe, ohne durchweg bie rechten Mittel zur Befeitigung des Uebels vors 
geſchlagen zu haben. Achnliches gilt von feiner Kritik unſers gegenwärtigen 
Erziehungswefens, mit feiner einfeitig vorherrfchenden Tendenz zur Un⸗ 
terdruͤckung der Reigungen und Triebe, wodurch fo oft bie jugendliche 





| genug anzufhtegenbe Werzap- 
Lehre ‚ daß fie entſchledener als je zudor auf Ws: 

| Bortheile der combinirten Production fo le Dee Wer an 
Verföhnung der noch zur Belt widerftreitenden Intereſſen er Ä 
und Claffen ber Geſellſchaft aufmerkſam gemacht bat. Auch laͤßt fi 
nicht die Möglichkeit befkreiten, daß in der Form ber vorgefchlagenen 
ländlichen und ſtaͤdtiſchen Phalangen (f. den vorftehenden Artikel) Tau⸗ 












echt des Einzelnen, fich abzuſondern von ben anderen Bliedern ber Bes 
feafpaft, um für fich zu leben, zu fchaffen und zu genießen, wenigſtens 
- einigermaßen Rechnung getragen. Gleichwohl muß man im Namen ber 
Freiheit, bie in den mannichfachften Weiſen ſich ausprägt, gegen jede Im 
Voraus fertige Form des gefellfchaftlichen Lebens Verwahrung einlegen, 
Nicht alle Charaktere, nicht alle Neigungen, Triebe und Fähigkeiten, 
wärben in folchen Phalangen Wefriebigung und Ausbildung finden. Und 
nicht blos bie Fähigkeiten und Neigungen find an fich unermeßlich ver- 
fehleden; auch die Außere Natur iſt es und tritt, mit all ihren raͤumlich 
und zeitlich wechſelnden Erſcheinungen, In ſtets veränderte und veraͤn⸗ 
derliche Verhaͤltniſſe und Beziehungen zum Menſchen und feiner kuſt bes 
Schaffens und Genießens. Im vielfach durchſchnittenen Boden, in Alpen⸗ 
laͤndern, in waldigen Gebirgegegenden, auch in ausgedehnten Weidebe⸗ 
zirken und überall, wo ſich die Menfchen Über geößere Räume zerſtreuen 
und vertheilen möfen, um die Natur zu beherrſchen und für ihre tau⸗ 
fendfachen Zwecke auszubenten, Tann ohnehin von ben nad) halben oder 
gangen Quadratſtunden zugefchnittenen Phalangen keine Rebe fein. Alſo 
fort mit all bieſen ſoclaliſtiſchen Schablonen! Wie fie auch fein und hei⸗ 
i 


Bourier's Theorie ber Gefellſchaft, x. 808 


Ben mögen, fie Laufen dennoch auf den ohnmächtigen Verſuch einer Iprans 
nei der Schule und Schulweisheit gegen das Leben hinaus. 

Richt nur in ber Lehre Fourier's, auch in den Angriffen ihrer 
Gegner mifchten fi) Wahrheit und Irrthum. Bourier trat nicht mit 
der Anmaßung auf, eine nzue Religion gründen zu wollen. Indem er 
aber das katholiſche Dogma von der Unauflöslichleit der Ehe verwarf, 
und bie verfehrten Begriffe von der Erbfünde befehdete, machte er zumal 
Die Ultramontanen und alle Vertheidiger eines blinden Glaubens ſich und 
feiner Schule zu Feinden. Milder gegen die neue Lehre geſtimmt find 
Die Proteftanten Frankreichs, deren Drgan der „Semeur‘‘ und einige 
andere Beitfchriften find. Ausgehend aber von einer ziemlich vagen bee 
der chriſtlichen Liebe, machen es ſich bie Derausgeber dieſer Zeitfchriften 
zur überflüffigen Eorge, ob nicht in ber Gefellfhaft Kourier’s ber 
freien chriftlichen Liebe, wie fie in Werken der Milde und Barmherzig⸗ 
Reit fih offenbare, ein allzu enger Kreis abgeftedt fei. Aber was wäre 
das für eine Liebe, bie ſich die Noth ganzer Claſſen ber Gefellfchaft 
teferviren wollte, um daran fort und fort ihre Erercitien zu machen ? 
die fich nicht gezwungen fühlte, alle Inftitutionen ber Gefellfchaft und 
des Staats zu durchdringen und umzubilden, um im möglichft weiten 
Umfange die Noth zu befeitigen und damit bie Dauptquelle der Verbrechen 
zu verftopfen, um ben Lügentitel unferer fogenannten chriftlichen Staaten 
endlich zur Wahrheit zu machen? Es kommt alfo für das Syſtem Fou⸗ 
rier's darauf wefentli an, ob und mie weit baffelbe jenen Zweck zu 
erzeichen vermöge? Aber auf eine in bie Sache eindringende Beantwors 
tung diefer Frage find jene proteftantifchen Halbgegner bes Syſtems 
ebenfo wenig eingegangen, als A. Vinet in feiner Schrift „Du socia- 
lisme consider€ dans son prineipe. Genève 1846. Diefer tritt gleiche 
falls von feinem befonderen proteftantifchs theologiſchen Standpunkte 
aus, als Gegner des Socialismus auf, wobei er zumal bie Lehre Fou⸗ 
rier's im Auge bat: Mit ſolchen Auffaffungen des Socialismus in 
leerer Allgemeinheit und mit der bloßen Werficherung , daß er mit dem 
durch das Chriſtenthum anerkannten Princip der freien Indivibgalit4t vn. 
verträglich fei, iſt jedoch am Ende nichts gefagt. Schließlich erklaͤrt füch 
Vinet für die Affociation, die auch mit feiner Anſicht wohl verträglich 
fel; und [pricht von Bedingungen und Mitteln, wodurch die Im Ghriflens 
thum gebeiligte Individualität auch In den Inftitutionen ihre Anerkennung 
und Anwendung finden koͤnne. Aber eben auf dieſe Mittel geht er nicht 
näher ein, und fo iſt auch bie Schrift des im Kreife ber reformieten Harte 
gläubigen der Schweiz angefehenen Mannes doch nichts Anderes, als eine 
theologifch bequeme Umgehung der Bauptfrage. 

Die Doctrindre unter den Communiften haben ſich Ihren eigenen Mo⸗ 
dus der Zyrannel zurecht gemacht, und find hiernach in dee focialiftifchen 
Muſterreiterei bie natürlichen Nebenbuhler der Fourieriſten (f. „‚Commus 
nismus”). Ihe Tadel gilt zumal der Veriheilung der Producte nad) 
Capital, Zalent und Arbeit, wodurch dreierlei Wermögensclaffen bes 
gründet werden und das ben Reichen gefiherte Minimum ein anderes iſt, 


’ 











Boris) Theorie der’@efenfähaft, ie. 

als — für die übrigen Glieder der Geſellſchaft ) fo wie ber Bel- 

"behaltung —— und eines et ante 

ind FIT Metern — A 
8 ber Erzeugniffe gerichtet find. — Bon eigentbüms 

aus find aud) pestdpen {f. db.) und neuerdings 
—“* e Lehtere jeboch mie einem 








—— * ſich —— der un» 
Ha tee pe — —— 


it allen rn —— 3 ke A Er wollte 
hheit keine Nationen mehr, ** nur Phalangen, Can⸗ 
—— und eine Welthauptſtadt. Aber bei allem 
der Bedeutung der Nationalität, konnte er and 
“nationalen franzöfifchen el fo wenig aud nur in Gedanken ber: 
De an a. feanzöfifhe Sprache, wenlgſtens bie jur 
ber kosmiſch ımiverfellen, die allgemeine Sprache: ern aan 
IE mu, daß die fociale Reform unter jeder Regierung, 
von Boa durchſetzen laſſe, erwartete er ſchon 1 
Gem der — von Napoleon, und im feiner Vorliebe . 
fir eine Gentralregierung lobte er ben Verſuch der MWelteroberung. In 
feinen Hoffnungen getaͤuſcht, galt ihm fpäter Mapoleon als Ufurpator, 
und Ludwig XVII. kam an die Reihe. Für Taͤuſchungen folher Art 
war der Eindliche Blaube Fourier's erforderiih, dee nach einer Erzaͤh⸗ 
lang Beranger’s während zehn Jahren täglich um 12 Uhr nad) Haufe 
ging, weil dies die Stunde war, bie er in feinen Schriften zum Gtells 
dichein für den Reichen beftimmt hatte, der ihm zur Errichtung des erſten 
Phalanfteriums eine Millten anvertrauen wolle. Diefen Illuſionen gegen- 
über hatten die Iiterarifchen Vertreter der verfchledenen Schattirungen der 
polttifchen Oppoſition leichtes Spiel, indem fie jede Hoffnung auf allges 
meine Socialreform fo lange ale thoͤricht bezeichneten, als nicht vorerſt 
in Frankreich und den anderen Staaten Europa's die politiſche Macht der 
Ariſtokratie der Reichen gebrochen ſei. 

Man muß indeß den Schuͤlern Fourier's zum Lobe nachſagen, daß 
ſie im Kampfe mit ihren verſchiedenen Gegnern den Kampf ſelbſt gelernt 
haben. Auf dem religioͤſen Gebiete wiſſen ſie es zu vermeiden, irgendwo 
Aergerniß zu geben; und indem ſie die Grundſaͤtze ihrer Doctrin mit den 
Principien des Chriſtenthums in Einklang zu ſetzen ſuchen, zeichnen fie 
fidy vortheihaft vor einem Theil der Communiften und einigen beutfchen 
Schulphiloſophen aus, welche ihre täppifchen Verfuche zur Emancipation 
bes Volks damit beginnen, daB fie den religiöfen Ueberzeugungen des 


- #) Bergl. 5. B. Cabet, „Etat de la question sociale.‘ Paris 1843, 


Fourier’8 Theorie der Geſellſchaft, x. 805 


VBolks vor den Kopf floßen. An allen politifhen Sragen, wie zumal 
an derjenigen ber Wahlceform, nehmen fie in neuerer Zeit Iebhafteren 
Antheil und find einfichtig genug, den unauflöslichen Zufammenhang der 
Politik und der gefellfichaftlihen Reform in jeder Weife anzuerkennen. 
MWäsrend die ganze Schule Fourier's aus firenggläubigen Anhängern 
zu beſtehen ſcheint, die wenigftens oͤffentlich kaum einen directen Zweifel 
an den Dffenbarungen’ ihres Meiſters laut werden laſſen, find fie doch fo 
ug, den mathematifch ftarren und millfürlichen Behauptungen beffelben 
eine dem Leben angepaßte Gefchmeidigkeit zu geben und zugleich alle 


bebenklihen oder anftößigen Lehren, wie über Ehe und Familie, in den 


Hintergrund zu ſchieben. Die Scidfale des St. Simonismus haben 
ihnen, wie es fcheint, zur Warnung gedient. Diefer ging zu Grunde, 
als er feine Auswüchfe zur Dauptfache machte und ſich mit feinen auf 
bie Spitze getriebenen Thorheiten dem Urtheile der öffentlichen Meinung 
blosſtellte. Der Fourierismus dagegen machte eine entgegengefegte Ent⸗ 
widelung duch: er bat fi) von feinen Schladen mehr und mehr ger 
reinigt und eine Beftalt gewonnen, in welcher er an das wirkliche Leben 
anzufnüpfen vermag. Darum findet er in wachfendem Kreife Beachtung 
und Anerkennung, und ift in eine Periode des Fortſchritts getreten, 
nachdem er ſchon dem Erloͤſchen nahe ſchien. 

Letzteres war der Fall, als Baudet⸗Dulary, Verfaſſer der „Crise 
sociale‘, damals noch Deputirtee, feine Befigungen in Conde⸗ſur⸗Ves⸗ 
gre® bei Verfailles den Fourieriften zur Verfügung geftellt hatte, um 
anf einem Gebiete von 500 Hectaren den Verſuch zur Gründung einer 
erfien Phalanx zu mahen. Man hatte zu raſch begonnen, das Capital 
mangelte und das Unternehmen mußte aufgegeben werden. Diefes erfte 
Mißlingen brachte den ganzen Fourierismus in Mißcredit. Jetzt mußte 
auch die Zeitfchrift „Le Phalanstere‘“ oder „La reforme sociale“ aufs 
hören, der ſich viele junge Kräfte, der Architekt Cefar Daly, Pellas 
ein, Bantagrel, Pompery und Andere, zugewandt hatten. Auch 
Victor Confiderant, em fchmungvoller Redner, war mit jugendlich 
friſchem Eifer für die Grundfäge Fourier's in die Schranken getreten. 
In dee polptehhnifhen Schule gebildet, erkannte er bald, daß die nus 
merifchen Beweife Fourier’s für manche Verkehrtheiten in den jegigen 
Einrichtungen zum Zwecke der Production nicht abzumweifen waren. Er 
faßte alfo die Idee der Tandwirthichaftlich : induftriellen Gefellfchaftung 
mit lebhaftem Intereſſe auf und hielt zu Metz einen beifällig aufgenoms 
menen Gurjus über die neue Sociallehre. Als die Schule dem Bere 
falle nahe war, Lehrte Eonfiderant nad, Partie zuruͤck, trat an die Spige 
berfelben und gab ihr einen neuen Aufſchwung. Er fchrieb feine jegt 
bis zum dritten Bande fortgerhdte: „„Destinde sociale, Exposition ele- 
mentaire complète de la theorie societaire (1836 u. f.). Hier griff 
er vor Allem den gegenwärtigen Zuftand der Civilifation an. Schon frü- 
her, 1835, hatte er in einer viel Auffehen niachenden Rede, die von 
den ultrakatholifchen Blättern, ber „Gazette de France” und dem „Unie 
veord”, heftig angegriffen wurde, den Brundfag geltend gemacht, baß der 

Suppl. 3. Staatöler. II. WM 


J 


306 Bouienis Theorie ber Gefellfhaft,nn + 


Menſch durch feine Erkenntniß zur Gottheit fireben müffe, und daß bie, 
Welt das Gebiet fei, worin uns die Gefege Gottes zur Erſcheinung 
fommen. Zuglelch machte er ſich zum MWortführer der in Frankreich 
« —* auftauchenden Reaction gegen jedes einſeitige Parteitteiben, worin 
bie materiellen Bolkdintereffen allzuſehr vernachlaͤſſigt wurden. Er trat 
Liberalen und Eonfervativen entgegen, fchrieb 1836 eine energifche Bro: 
ſchuͤre: „Debacle de la politique‘*, und ſpaͤter ein Manifeft „Bases 
de lu; politique positive.“ Inzwiſchen war auch wieder ein periodifches 
Blatt der Fourieriften, die „Phalange‘‘, gegründet worden, die von 1836 
am.erft monatlich zwei Biß drei Mal, dann wöchentlich drel Mal erfchien. 
Endlich konnte die „Phalange” im Jahre 1843 im das unter dem Titel 
„Democratie pacifique‘‘ täglich) —— de Blatt verwandelt werben. 
Diefes, gehört zu dam -geblegenflen der frangdfifden Tournatifti, . Cs Iff 
im ame ‚pubticiftifchen Suhl, 8 — jedoch fortwaͤhrend leitende 
mit Betrachtungen im Geiſte der ſocletaͤren Schule und geht in 
der. en ſehr einlaͤßlich und mit viel Einfiht auf die laufenden Fragen 
des materiellen Intereſſes ein. Diefe Zeitfcheift hat noch fein fehr zahle 
reiches, aber eim feſtes Publicum, zumal in den mittleren Glaffen. 
Ueberhaupt muß man den Schülern Bourier's rg daß fie 
ihr Biel einer gHefellfchaftlichen Reform mit raſtloſer Ausdauer und. einem 
Eifer verfolgen, der arg Opfer fähig if. Obwohl ein weiterer Ver: 
ſuch zue Gründung eines Phalanfteres in der ehemaligen Abtei Citeaur, 
und ein anderer in Brafilien mißlungen ift, obgleich auch die Worbereis 
tungen für Errichtung eines jugendlichen Phalanfteriums, um. bie Erzie⸗ 
hungsgrumbiäge Fourier's in’s Leben einzuführen, noch nicht weit gedie— 
ben ſcheinen, ließen ſich boch feine Anhänger nicht abſchrecken, fondern 
verboppelten vielmehr ihre Anftrengungen. Diernady hat die Kourieriftifche 
Literatur im vielfach mwechfelnden Formen der Darftellung immer größere 
Ausdehnung gewonnen. Es wurden eigene Buchhandlungen und Bud: 
drudereien bafür gegründet; es erfchienen zahlreich verbreitete focialiftis 
[he Almanache, Monatsfchriftn und Flugfchriften. Mor Allem aber 
ließen die Häupter der Schule Beine Gelegenheit vorübergeben, um in 
münblichen Vortraͤgen ihre Lehre zu verbreiten. So fanden ſich * 
ger. derſelben, Conſiderant, Pompery, Dennequin u. A., 
dem woiffenfchaftlichen Congreffe zu Straßburg im Herbft 1842 ein und 
fuchten den gegen bie Lehre ihres Meifters auftauchenden Angriffen zu 
begegnen. Wie fchon früher in Paris, hielten die reifenden Apoſtel 
in vielen anderen größeren Städten Frankreichs ihre Vorlefungen ; fo Con : 
fliderant in Dijon (f. „Compte-Rendu de l’exposition dusyst&me so- 
cietaire de Fourier. 1841); Henneguin im 3. 1846 zu Rouen, 
lOrient und andern. Städten des nördlichen Frankreichs u. f. w. So 
kommt es, daß fid in Frankreich die Aufmerkſamkeit eines zunehmenden 
Kreifes der neuen Soclallehre zuwendet, daß früher gegen fie herrſchende 
Vorurtheile verſchwinden, daß fich die Zahl der Gegner vermindert und daß 
nach Befeltigung mancher Irrthuͤmer, Verkehrtheiten und Spielereien bie 
wirklich zeitgemäßen Wahrheiten tiefer in. das Volk eindringen. Auch darf 


I; n 


Fourier's Theorie der Geſellſchaft, ic. 807 


der heilfante Einfluß nicht unbemerkt bleiben, den die Kourieriftifche Lites 
ratur und Journaliſtik mittelbar auf die ganze unabhängige periodifche Preffe 
Frankreichs Außert, die mit dabucch gezwungen; wird, fi) neben den rein 
politifchen Fragen zugleich mit ben materiellen Intereffen und mit der Noth 
der arbeitenden Claſſen gründlicher zu befaffen. 

Die enthufiaftifchen Anhänger Fourier's laſſen es nicht bei einer 
thätigen Propaganda in Frankreich felbft bewenden. Jules Lehevalier 
verfuchte fih mit feinen Vorlefungen in Berlin. Befonderen Beifall fanden 
1846 die Vorträge Confiderant’s in Laufanne und Genf. Faſt alle 
neueren Schriftfteller über politifche Defonomie, barunter einige der jünger 
ven Rotionaldtonomen Spaniens, find genoͤthigt, die Kehren der focialiftfe 
fchen Schule mehr oder minder in den Kreis ihrer Betrachtungen und Beurs 
thellungen aufzunehmen. Und mögen fich auch nur Wenige zu dem Syſtem 
in ſeiner Ganzheit und allen Einzelnheiten befennen, fo dringen doch manche 
feiner unleugbaren Wahrheiten immer mehr in die Wiffenfchaft ein. Selbſt 
in den vereinigten Staaten von Nordamerika hat die Lehre in A. Briss 
bane u. %. ihre Apoftel gefunden, während in England früher Doherty 
das Hourteriftifche Blatt, The London Phalanx“ herausgab. 

Noch ift aus England einer Erſcheinung zu erwähnen, die für die Bes 
ſchichte des Fortſchritts der focialiftifchen Meinungen, wie dee praktifchen 
ſocialiſtiſchen Werfuche, von gleichem Interefls tft. Seit Kurzem betheiligen 
ſich daſeibſt Mitglieder der hoͤhern Claſſen der Geſellſchaft an einem Plane 
zu Srändung von f. g. hriftlichen Affociationen im Intereſſe dürftiger Ar» 
beiter. Es find meiſtens Hodykirchenmänner und Tories, deren ausfchliehe 
liches Ehriſtenthum oder ſtarres Feſthalten an politifchen Vorrechten fonft 
fein günftiges Vorurtheil erweckt. Allein es finden fid) unter ihnen bie 
Kamen von Männen, die ſchon früher ein lebhaftes und dauerndes Inter 
effe für die Hebung der ärmeren Claſſen an den Tag gelegt haben. Der 
eifrigfte Verbreiter diefer Idee, I.M. Morgan, hat zu dieſem Zwecke auch 
das Feſtland bereift. Eine in großem Maßſtabe ausgeführte Zeichnung, wie 
deren auch die Fourieriften von ihren Phalanfteren aufzumelfen haben , foll 
den Plan zur Gründung eines aus 300 zufammenhängenden Häufern bes 
ſtehenden Dorfs anſchaulich mad;en. | 

Es handelt fi nämlich, wie bei ber Phalanr, um eine Colonie für 
300 His 400 Familien, auf einem Gebiet von etwa 1000 Acres oder nahe 
405 Dectaren. Das Nähere ift in einer Schrift „Colonie Chretienne, 
Traduit de l’Anglais. Paris, Londres 1846‘ auseinandergefegt. Sie ift 
Lord Aſhley, „dem beharrlichen Freunde des Volks, dem umermüdlichen 
Beſchuͤtzer der Kinder des Armen”, geroidmet. Aus Gründen der Klugheit 
ſcheint zwar der Verfafler abfichtlich jede Beziehung auf Kourter zu vermeis 
den; allein die Idee des Ganzen und manche Einzelheiten erinnern doch 
deutlich an die Quelle, aus der gefchöpft wurde. 

Diefe Colonien follen gegründet fein auf die Principien des Chriftens 
thums und auf eine chriſtliche Erziehung, jedoch nicht im ausfchließenden 
Sinne irgend einer befondern Confeſſion. Darum wendet ſich der Urheber 
des Plans an Proteftanten wie an Katholiten, obgleich die weſentlich gleiche 

W* 


BB Fonhiet’e Theotie der Gefeltfehaft, ze 


Sebeiben berfelben betrachtet roicb. Audı dieſe Vor⸗ 
wie —— der Fourieriſten und aller andern neuern 
Der re ein — Fans — eek gran 
gung e gen 
ns ‚ den Menfchen felbft und feine höhern Intereffen zum Opfer 
und „von ne ee Orford und anderer 


Br a der Theilmehmer am jeder = Eolonie als 





will kuͤrlich chinen, felbft vom inner 
—— — geſellſchaftlichen Vortheils aus betrachtet, eben 
ſo wenig im. —* Ei ölonomifch iſt ald das Verfahren jener 


 Dekonomiften — der Goneuereng“ ſei. 
Der That üb na mer — daß dieſes Syſtem ber Erniedrigung ber 
chen zu abzunupenben. 







Wilden, bie. den umhauen, + feine Früchte zu geniehem: 

* — zurie® auf die Ideen einer geſellſchaftlichen 

— nor ‚von dem geiftig hervorragendſten 
verkuͤndet wurden, auf die Utopia eines 


Thomas dr die vom Bifchöf Burnet tberfeßt wurde, auf, bie 
Oceana von Harrington, auf bie dem Biſchof Berkelen zugefchrie: 
bene Gaubentin. de Lucca, auf die neue Atlantis und auf Milton’s Anſich⸗ 
ten über. ſolche Verſuche einer focialen Umgeftaltung. Es wird hervorgeho- 
ben, daß man zut Errichtung von Afforiationen für Verhütung und Beſei⸗ 
tigung ber auf den Maffen Taftenden phyſiſchen und moralifchen Uebel noch 
keine Anwendung auf einen befonderen Theil der Geſellſchaft gemacht 
habe, obgleich der Gedanke zur Gründung foldyer Vereine keineswegs neu 
fei, wie er denn fchon im Jahre 1696 von. Bellers in einer Brofchüre 
entwickelt werde: „A College of industry for 300 poor fellows‘‘, bie 
Sir Morton Eden: in feinem großen Werke überdie Krmmengefege an⸗ 


ie in den Werken ber Fourieriften, fo werden in der engliſchen 
Schrif als die wichtigſten Vortheile ſolchet Colonien hervorgehoben: die 
Moͤglichkeit einer vollſtaͤndigen menſchlichen Erziehung und einer harmoni⸗ 
ſchen ſittlichen, geiſtigen und leiblichen Ausbildung; eine reichere und wohl⸗ 
feilere Production; eine der Geſundheit des Geiſtes und Koͤrpers foͤrderliche 
Abwechſelung der Arbeit in landwirthſchaftlicher, induſtrieller und geiſtiger 
Thaͤtigkeit. Darin aber iſt der Plan abweichend von der Phalanx der Fou⸗ 
risriften, daß die erſten Coloniſten nur der einen Claſſe unbeſchaͤftigtet Ar⸗ 
beiter angehoͤren ſollen; daß alſo die Colonie auf keiner Vermiſchung der 
verſchiedenen Claſſen der Geſellſchaft mit abweichenden Geſinnungen und Ge⸗ 
wohnheiten, wit — Intereſſen und Neigungen beruhen ſoll. 


Fouriers Theorie der Sefellfchaft, zc. 809 


Damit Abereinftimmend find in der erſten Zeit nur einfache Gewerbe, in Ver⸗ 
bindung mitder Landwirthſchaft, zu betreiben. Auch fol bei den erſten Gruͤn⸗ 
dungen der Vertwaltungsrath die zu coloniſirenden Mitglieder ber Aſſociation 
auswählen. Die Leitung der Colonie wird einer befoldeten Direction an⸗ 
"vertraut, beren Mitglieder nicht felbft Theilnehmer an ber Affociation find. 
Nach Deimzahlung des zu 1,500,000 Franken (40,000 Pf. Sterl.) beredys 
neten, vermittelfi Actin, Schenkungen und Darlehen aufzubrimgenden 
Stiftungscapitals werden jedoch die Coloniſten fich ſelbſt regieren und ges 
meinfhaftlihe Eigenthümer ber Colonie werden. Jedem 
Coloniſten ſteht nad) vorgängiger dreimonatlicher Auftündigung der Aus⸗ 
teitt frei. Auf der andern Seite foll der Berwaltungsrath jedes unver: 
befferliche Mitglied entfernen können, jeboch nur nad) dem Ausfpruche einer 
aus Soloniften gebildeten Jury. Nach dem Alten ift für eine Präftigere Co⸗ 
lonialregierung, mit ausgedehnterer Competenz als in der Koutieriftifchen 
Dialanr, geforgt. Die Voranfchläge über die erſten Koften der Anlage 
find keineswegs zu gering und diejenigen über die mögliche Deimzahlung bes 
Stiftungscapitals fo wie das mwahrfcheinliche Einkommen der Colonie nicht 
übertrieben hoch gegriffen. Vom allgemeinn Standpunkte aus find die 
dem Princip der Gleichheit mwiderfprechenden unverhälmigmäßig hohen Kos 
fien für Wohnung und Befoldung des Directors und des Geiftlichen zu 
tadeln, womit indeß nur den Umftänden und den noch herrfchenden Standes; 
an, die nicht kurzer Hand zu befeitigen find, Rechnung getras 
gen ill. 
Dies find die Grundzüge einer Affociation , wie fie unter den befonnenen 
Briten, die fich nicht Leicht in unausführbare und ausfchweifende Unter: 
nehmungen einlaflen, zum Vorſchein gefommen find und Anklang gefuns 
den haben. Nimmt die zu einem volftändigen Syſtem ausgebildete Lehre 
der Sourieriften in wiffenfchaftlicher Beziehung ein größeres Intereſſe in Ans 
ſpruch; fo gewährt doch der englifhe Plan beffere Ausficht auf unmittel« 
baren Erfolg, da man mit einfacheren Elemmten zu beginnen beabfichtigt 
und nicht allzu weit geſteckte Ziele im Sprunge zu erreichen hofft: Doc) 
mögen auch hierbei die Schwierigkeiten nicht hoch genug angefchlagen 
fein, die bei den Mitgliedern der zu errichtenden Colonien aus der Ge⸗ 
wohnheit ber Iſolirung ihrer Tätigkeiten und Intereffen entfpringen, und 
aus der Eiferfucht ber Nichteoloniften und aller Anhänger ber ungebundenen 
Goncureenz für die aufleimenden Colonien entfpringen Eönnen. Auch 
mag man wohl erwarten, daß durch freiwillige Beiſteuer der Reichen hier und 
da die Gründung einer ſolchen Colonie gelinge, womit aber für eine eins 
greifende Befferung der foctalen Zuſtaͤnde erft ein ſchwacher Anfang gemacht 
wäre. Dazu bedarf es vielmehr dee Duchführung eines allgemeinen Sy⸗ 
ſtems der Jugendbildung , die bei freier Entwidelung ber jugendlichen 
Kräfte die ganze heranwachſende Generation vor Allem die Vortheile ber Vers 
einigung diefer Kräfte und der Intereſſen aller Glieder der Geſellſchaft nicht 
bloß theoretifch erkennen, fondern zugleich praktiſch erleben läßt; umd es bes 
darf für die arbeitswilligen Erwachſenen der allgemeinen gefelfhaftlichen 
Verbürgung eines Minimums zur Sicherung einer menfchenwürbigen Exi⸗ 






Breite von nınh Mafeogein erforderlich 
tion ber Arbeit” mb „Secialismus”). Jnitia⸗ 








auögehen; und fo ficht man fich beun fort umb fort vom Gebiete bes Gocia⸗ 
liaus wieber auf daB ben Deiktiö-gewieken.  - . as, ea, ’ 

.” J a Ba I. ui. 
. Sranffurt am Main, euße bee viscfieien Gtäbte Deatfe 
lande umfaßt jet auf einem Gebiste von 13-1. WE. 70,000 Einwohner. 
Deſe roich⸗ und Intereffante Stabt welche wie Freiherr von Stein im 
einem Schreiben, vom 13. Jull 1816 ſich auferte, auf den weſtlichen 
Mell Deutſchiande feit ben fruͤheren Epochen unferer Geſchichte einen gro⸗ 
beu ——— behauptete“, bat auch in ihrer neueren Geſchichte 
dewaͤhrt, ein freies ſtaͤdtiſches Gemeinweſen, bei allen ſeinen nothwen⸗ 
—— 

nur dem. 
> vaterkäbtifchen Sinn zu bele⸗ 
Be Angelsganheiten des Bes 

en das Ende des 18. Jahrh 

eichsſtaͤdtiſchen Berfaffung 
* überladen. Die Vers 





fung, in der die Sompetenzen verwirrt Durcheinander liefen, bie nicht blog 
perfönliche, fondern auch reale Vermiſchung der Juſtiz mit der Adminiſtra⸗ 
tion, der Mangel einer für ſich beftehenden Polizeiverwaltung, indem deren 
Wirkſamkeit unter viele der verfchiedenften Stadtämter zerfplittert war, 
dann die Unterdrüdung der Nichtlutheraner,, die wahrhaft ſchimpfliche Be: 
handlung der Sudenfchaft, und überdies ein unabläffiges Streiten zwifchen 
Math und bürgerlichen Collegien, Corporationen und NReligionsparteien 
über Publica vor den Reichsgerichten, bei welchen die Rubrik „Frankfurt 
contra Frankfurt“ eine flehende geworden war, — diefes Alles konnte Fein 
erfreuliches Bild darbieten. Die Erſchuͤtterungen, welche der franzöfifche Re: 
volutionskrieg herbeiführte, hatten zunaͤchſt einen Einfluß auf Berfaflung 
und Dermaltung. Als Guftine vor der Hauptwache dem Volke zurief: 
„Habt ihr den bdeutfchen Kaifer gefehen, ihr werdet feinen mehr ſehen!“ 
ſprach er zufällig wahr; alfein den Geiſt der Frankfurter verfannte er völlia, 
indem er in einer Stadt, wo der Mittelftand fo mächtig und überwiegend ift, 
und der Erwerb (die fogenannte bürgerliche Nahrung) in der erften Linie der 
Intereſſen fteht, die Armen oder Minderbegüterten hinter die Reichen 
fegen wollte; bie Freiheit, die er und feine Begleitet verkuͤndeten, mußte ſchon 
der Form halber dem Neichsftädter höchlich mißfallen, dem die Carmagnole 
ein zu fchroffer Gegenfag gegen den gewohnten Menuet war; fo daß diefe 
. Antäffe nur dazu dienten, über Vaͤterlichkeit und kindlichen Bürgerfinn fich 


4 


Frankfurt am Main 311 


wohlverdlente Complimente zu machen und in Dankſagungen dafuͤr fich zu 
ergießen. Im Uebrigen wurden die Kriegszuͤge der Franzoſen und Reiche: 
voͤlker, die Emigrationen und Aſſienaten von Kaufleuten und Wirthen 
wie billig benutzt; die Brandſchatzungen der Franzoſen ſtuͤrzten die Stadt 
in Schulden, an denen ſie noch jetzt, nach beinahe 60 Jahren, zinſt und 
bezahlt; und die Mißbraͤuche blieben weſentlich die alten, vermehrt durch 
Ermahnungen zur politiſchen —— — geſchaͤrfte Cenſurverbote und 
pouzen he Austreibungen der franzöfifchen Emigranten. 

durch die Rheinbundss Acte dem früheren Reichserz⸗ 
*8 Karl von Dalberg, Fuͤrſten Primas, zu Eigenthum und Sou⸗ 
verdinetaͤt übergeben wurde (eine Handlung, gegen welche der Rath in einer 
muthigen und discreten Proclamation feierliche Rechtsverwahrung einlegte, 
worin er dieſe Veränderung eine „Kataſtrophe“ nannte und bie Ergebung 
in beutfcher Umfchreibung als Folge ber vis major bezeichnete) — da ver⸗ 
änderte ſich Alles gewaltig. Karl von Dalberg ward, wie es in foldyen 
Faͤllen gewöhnlih war, bald nad) dem Antritte feiner Frankfurtſchen 
Regierung als Vater gepriefen und nach feiner Vertreibung als Ufurpator 
gehoͤhnt; er ſtuͤrzte, zumal waͤhrend ſeiner Regierung als Großherzog von 
Frankfurt, die reichsſtaͤdtiſche Verfaſſung um, von der er anfaͤnglich, vor⸗ 
gebend, er betrachte die Stadt nur als mediatiſirt, einige Truͤmmer hatte ſte⸗ 
ben und renoviren laſſen; er organifirte durch Ediete, wie damals nach dem 
Staatsrechte des Rheinbundes bie Mode war, friſchweg und unermuͤdlich; 


- ee gab dem Staate einen franzöftfchen Schnitt nah dem Muſter bes 


Großherzogthums Berg und des Koͤnigreichs Weſtphalen; er brachte viele 
Fremde (d. h. Einwohner aus feinen übrigen Staatsgebieten) an das Ruder 
umb verwendete von Srankfurtern nur die Tauglichen, meiften® jeden an ſei⸗ 
ner rechten Stelle, verwies fubalterne Naturen auch zu fubalternen Dienfts 
leiſtungen; er belaflete die Stadt, wie der Drang der Zeiten es nothwendig 
machte, wie die Ausführung der Machtgebote des Protectors es erheifchte, 
und fügte neue Schulden zu benen, die er vorgefunden hatte. 

Auen feine Regierung, ein ſchnell verſchwundenes Intermezzo von 
fieben Jahren, Hatte im Ganzen der Stadt Segen gebracht und gute Früchte 
getragen. Er ordnete bie Verwaltung in allen ihren Zweigen ; bie Rechts⸗ 
pflege brachte er auf einen beffeen Fuß, durch Einfegung trefflicher Gerichte, 
in wohlbemefienem Inſtanzenzuge, durch Einführung der franzoͤſiſchen 
Geſetzbuͤcher für das bürgerliche und Strafrecht, und einer von Albint und 
Seger bearbeiteten Procefordnung. Der politifche Unterfchled der Bekenner 
ber cheiftlichen Gonfeffionen wurde aufgehoben, ben Juden das Recht des 
Bürgers gegen Päufliche Abldfung ihrer befonderen Laften gegeben. Waren 
die berathenden Landflände nur eine Fiction (Krankfurt fendete 5 Depus 
tirte), die Municipalitaͤten willenlos, die Preſſe gebrüdt, die politifche 
Dolizel dem Anfcyeine nad) ſtets thätig: fo waren biefes Nothwendigkeiten 
des Tages und unvermeidliche Folgen des Kriegszuſtandes, des Gehorſams 
gegen einen unbeugfamen Willen des Eroberers. Dagegen brady Karl von 
Dalberg nie das Recht, weder aus Furcht, noch ans Kriecherei, noch aus 
Herrſchſucht und Defpotie. Unter feiner Herrfchaft wurde keinem Frank⸗ 


812 Frantfurt am Main, 


furter ein Haar auf dem Haupte gekruͤmmt, einer wegen feiner Meinungs- 
dußerung, und auch damals ſprachen Viele freimüthig, verfolgt, Reiner 
unter Gommiffionen geftellt, Eriner als Staatsgefangener in das Ausland abs 
ührt. Bei feinen Sriminals Berichten war die „inquifltorifche Proceßart! 
yalten, und ein liches Schlußverhoͤr in Öffentliher Sigung des 
verfammelten Griminal» Gerichts ſowle eine öffentliche Sigung zum, Anhoͤ⸗ 
ven der Gerichts» Vorträge und der abzulefenden Vertheidigungsſchriften an- 
geordnet. Aber in jenem Inquifitions-Verfahren waren die Qualen der Un⸗ 
terfuchung nie ihr Zweck. Die Zortur, auch durch die beſtimmte Vorſchrift 
jener Griminal= Proceforbnung abgefhafft, Feb fie vorher wohl ſchon 
aus ben Sitten ber Gerichte verfhmwunden, wurde niemals. unter jeiner 
Herrſchaft durch bie Peinlichkeit der Unterfuchungehaft erſetzt. Seine 
Criminal» Gerichte dehnten nicht, waren nie Über das lebhafte Betrngen 
bes Angefchuldigten, Über den Schrei der Unſchuld entruͤſtet, befchränften 
nie und bemmten nie bie heilige Freiheit der Mechtsvertheibigung. Sein 
Herz, fein Streben war deutfch, frei und recht, fo. wenig er in den Praͤ⸗ 
ambeln feiner Edicte die Deutfchheit zu Markte trug. Sein Sceptet nelgte 
immer „um Krummſtab. 

- Karl von Dalberg, flüchtend von den Blitzen der Leipziger Schlacht, * 
in Armuth. Mir Ruͤhtung gedenken die Frankfurter noch des Tages, ba 
Kaiſer Franz, als follte Cuſtine's Weiffagung zu Schanden werden, an 
ber Spige feines Heeres die Stadt. feiner Krönung betrat und in ben Dom 
eitt, mo er einſt geweiht morben war. Es ift der Zag, an welchen Frank⸗ 
furt bie erfte Hoffnung feiner neuen Freiheit Enüpfte. Die viersehn 
Bürger: Sapitäne, die Arlteften der Neihsbhrger, „in bem Drang ber Zei⸗ 
ten erhaltene Worftände ber Stadtquartiere”‘, waren die eriten, welche an 
ben Kaiſer die Bitte um MWiederhberftellung ber alten Stabtverfaljung und 
Commune richteten; ber dritte Punkt mar freilich dabei, „in der Stabt 
Franffurt und deren Gebiete Feine Anikellung von Fremden allergerechteft ger 
ſchehen, fondern zu allen Öffentlichen Stellen und Aemtern nur rebliche, 
gutgefinnte und geſchickte Frankfurter allergnäbdigft gelangen zu laſſen.“ 

Durdy Entfchließung ber verbündeten Maͤchte vom 14. December 1813 
warb genehmigt, daß die Stadt Frankfurt mit ihrem ehemaligen Gebiete 
fi von dem Großherzogthume trenne, und eine eigene ftädtifche Verfaſ⸗ 
fung in der Art angeordnet, daß Frankfurt vorläufig in feine vormalige 
MunicipalsBerfaffung zurüdtrete. Gleichzeitig wurden die alten Rechte in 
bürgerlihen und peinlichen Rechtsſachen wiederhergeſtellt. Wohl zu ſchnell 
und uͤbereilt. Die neuen Geſetzbuͤcher uͤber das materielle Recht hatten zu 
kurz in der Stadt gelebt, als daß ſie ſich ſchon mit der Geſinnung der Buͤr⸗ 
ger haͤtten verſchmelzen koͤnnen. Man hatte ſie kaum begriffen und ſie wur⸗ 
den ſchon beſeitigt. Waͤre ihnen damals ein längerer Beſtand beſchieden ge⸗ 
weſen; — haͤtten ihre nothwendigen Umgebungen, oͤffentliches und muͤndl. 
Verfahren in buͤrgerlichen Rechtsſachen und Strafſachen, Staat zanwalt⸗ 
ſchaft, Geſchwornengerichte, Handelsgerichte, ſich jenen zwei Geſetzbuͤchern 
beigeſellt, gewiß wuͤrden Juriſten und Buͤrgerſchaft den hohen Werth dieſer 
In germaniſchen Urbegriffen wurzelnden Einrichtungen erkannt und für ihre 


Frankfurt am Mein. 318 


Beibehaltung mit dem naͤmlichen Eifer ſich verwendet haben wie andere 
deutſche Bolksftämme, welche mit dem Eräftigften Nationalgeifte die innigſte 
Anhaͤnglichkeit an eine Errungenfchaft vereinen, die fie während ihrer vors 
‚hbergegangenen Berbindung mit dem Auslande erworben. | 

Dir Artikel 46 der Wiener Congreßacte begründete fpäter das Verhältse 
niß einer freien Stadt, eines felbftftindigen Staates, Mitgliedes des deut 
- fen Bundes, mit der Sundamentalbeflimmung , daß die Stantseinrichtuns 
gen auf einer volllommenen Medjtsgleichheit unter den verfchiedenen chriſt⸗ 
lichen Culten beruben follen,, eine Gleichheit welche ſich auf alle bürgerliche 
und politifche Rechte erſtrecken werde, und im allen Beziehungen der Res 
gierung und Verwaltung zu beobachten fei. 

An diefen neuen, fo lange erfehnten Zuftand reihten ſich mehrjährige 
Berfaflungstämpfe; man wußte das Richtige nicht Leicht zu finden ; hin und 
ber bewegt zwifchen der Liebe zum verfhwundenen Alten und der Nothwen⸗ 
digkeit des zeitgemäßen Neuen ſchwankte man in Verſuchen. innerhalb 
zweier Jahre wurden mehrere proviforifche Conftitutionen erlaffen, vers 
Endet, ſelbſt gehandhabt. Kinige dieſer Verfuche ftarben in der Geburt. 
So hatte ber Rath einmal die Abficht, die nach den neuerm Zeitumfländen 
nothiwendige unmittelbare Mitwirkung der Bürger bei der Geſetzgebung 
durch eine Art von Comitien oder Volksverfammlungen eintreten zu laflen, 
bei welchen die Bürger, in große Säle eingefperrt, über die Senats» Pros - 
pofitionen , ohne Discuffion, mit Sa und Nein nad) der Reihenfolge abzus 
ſtimmen hätten. Mit dergleichen Ideen konnte ſich ein gefunder Sinn nicht 
befesunden. Großen Eindrud machten die Vorftellungen von fieben der aus⸗ 
gezsichnetften Sachwalter, welche (am 7. October 1815) mit Beftimmtheit 
verlangten, daß der Rath die Bürgerfchaft dazu aufrufen möge, eine un« 
mittelbare Repräfentation aus der Mitte aller Bürger frei und unabhängig 
zu wählen, indem eine ſolche wahre Bärgervertretung allein die Vollmacht 
befigen- koͤnne, über die Berfaffung zu beſchließen. — Die Löfung aller 
diefer Wirren war durch Niederfegung einer Commiffion der XIIL (eines 
Verfaflungsrathes) erfolgt, beftchend aus drei Rathegliedern‘, drei Mitglies 
ben bes fländigen Bürgers Ausfchuffes oder Einundfünfziger- College und 
fieben Mitgliedern von der gefammten Bürgerfchaft gewählt (4% Januar 
1816). Diefe Commiffion hatte den Auftrag, alle Anfichten der Bürger 
(in Form von Monita zu einem zwifhen Senat und Bürger: Ausfhuf 
vereinbarten Verfaſſungs⸗Entwurf) zu hören und das Beſte daraus zu neh⸗ 
me. Das Werk diefer Commiſſion ift die gegenwärtig in Kraft beftehende 
Verfaſſungs⸗Urkunde, Conftitutions:Ergänzungs-Acte genannt, welche durch 
Viril⸗Abſtimmung der Bürger am 17. und 18. Julius 1816 angenommen 
wurde. 

An die Spige diefer Verfaſſungs⸗Urkunde ward das Princip gefest, 
daß die alte reichsſtaͤdtiſche Verfaſſung im Ganzen totederhergefteltt fein folle, 
mie fie auf Srundgefegen, Verträgen, reichsgerichtlichen Entfcheidungen und 
Derlommen beruhte; und daß nur zweierlei Modificationen daran eintre⸗ 
ten ſollen, erſtens diejenige, welche der Artikel 46 der Wiener Congreß-Acte 
vorfchreibe, und zweitens diejenigen, welche durch die veränderten { 


314 Frankfurt am Main. 


rechtlichen Verhaͤltniſſe und ben Zeitgeiſt geboten worden. Da das Herkom⸗ 
men und ber Zeitgeift zufammen mit ald Quellen des öffentlichen Rechtes 
wurden, das Herkommen felbft aber, ſoweit es nicht auf bie 
n von Mifbräuchen hinauslaͤuft, ſondern in rationellen Rechte: 
gewohnheiten befteht, nichts Anderes ift, als eine Außerliche Darftellung 
des Alteren Beitgeiftes, fo ergiebt. fich von felbft, daß diefe Verfaffung fo 
wenig als irgend eine andere bes Einfluffes fortfchreitender Entwidelung ber 
‚Öffentlichen Verhaͤltniſſe ſich zu erwehren vermag. Mit Recht iſt daher im 
ihr auf eine Revijion in gemiffen Formen Ruͤckſicht genommen morben ; allein 
auch abgefehen von biefen Formen ift es nicht zu vermeiden gewefen, daß in 
der Ausübung Manches ſich anders geftaltete, und fo werden auch im Lauf 
der Zeiten, bis zu einfliger Revifion, manche Abänderungen, theils unmerk⸗ 
lich, theils unter bem Vorwande von authentifcyhen Erläuterungen eintreten. 
Anerfannt wurden im ber Conſtitutions · Ergaͤnzungs⸗Acte neuerdings bie alten 
Mechte und Freiheiten der Bürgerfchaft, welche theils die eigentlichen Stadt⸗ 
bürgerrechte (Kommunalrechte) find, theild der Bürgerfchaft ald Trägerin der 
Landeshoheit zuftehen. Hinzugefuͤgt wurden Rechte, welche den fämmtli- 
den Einwohnern des Staates nothwendig mit zu Statten fommen, tie 
das Abzugsrecht, bie Beftimmung, daß nur in Folge verfaffungsmäßiger 
Anordnungen die Steuern und Abgaben entrichtet zu werden brauchen, die 
Aufhebung der Strafe allgemeiner Vermögens » Gonfiscation; die Pref- 
freiheit, „melde ber gefeßgebende Körper gleichförmig mit demjenigen regu⸗ 
firen werde, mas auf der deutichen Bundesverfammlung fejtgefegt werben - 
bürfte. Doch ift, aus bekannten Gründen, in Betreff diefed legten Rech⸗ 
teö niemals das Geringfle an die gefeßgebende Verſammlung gelangt. Die 
Hoheitsrechte der Stadt Frankfurt, ihre Rechte ber Selbjtverwaltung find 
erklärt als zuftehend ber Geſammtheit der hriftlichen Bürgerfhaft. Dies, 
bann bie Aufhebung aller Vorrechte des Patriciats (dev Gefchlechter) bat 
bie früher controverfe Frage gelöft, ob bie Frankfurtſche Regierungsform 
eine. Ariftofratie oder Demokratie ſei? (Morig, Staatsverfaffung ber 
Meicheftadt Frankfurt, Ihr. I. ©. 318 — 322.) Es ift eine Demokratie; 
biefe aber wird gar weſentlich temperirt durch den Einfluß der Geldarifto: 
kratie und der Familien, durch Innungs=Privilegien und Aengftlichkeit; die 
Demofratie ift aber auch in fofern nicht vorhanden, als die Vorrechte der 
politifchsprivilegirten Bürger dem Mangel aller politifchen Rechte bei den an⸗ 
dern Staats⸗Einwohnern entgegenftehen,, folglich nicht dem Volke im eigent« 
lichen Sinne die Staatshoheit zugetheilt Ift. 

Sp günftig ndmlidy die Stellung der Bürger in Beziehung zum 
Staate ift, fo nadıtheilig find die andern Claffen der chriftlichen Staats: 
genoffen, die Beifaffen und Dorfbewohner, behandelt. Die Beifaffen find 
nicht nur von aller Theilnahme an Öffentlichen Angelegenheiten ausgefchloffen, 
fondern es fehlen ihnen auch alle Befugniffe des Ortsbürgerredhtes, fo daß 
fie weber Dandel nody Handwerke treiben, weder der Advocatur noch ber mes 
dicinifchen Praxis ſich ergeben dürfen und auf die niederen Gefchäfte von 
Bedienten, Kutfchern, Ausläufern, Schubflidern und Handwerksgeſellen 
fi) beſchraͤnken muͤſſen. Selbſt der Grundbeſitz iſt ihnen als Regel nicht 


Frankfurt am Main. 815 


erlaubt; nur Häufer in der Stadt, welchen Bein Realrecht zu einem bürs 

gerlichen Gewerbe zuſteht, dürfen fie nad) einem Geſetz aus dem Jahre 1839 
erwerben. Die Staatsweisheit hat bis jetzt für diefe harten Webelftänbe 
keine vernünftigere Aushilfe zu erdenken vermocht, al6 daß man möglichft 
wenige oder auch lieber gar Leine Beifaffen aufnehmen müfle; das Nä- 
here, daß man ihnen von Rechtöwegen die Rechtsgleichheit ertheilen Tolle, 
Begt noch immer zu entfernt. 

Zu Frankfurt gehören acht Dörfer mit 9568 Einwohnern. An Einem 
berfelben, Nieberrad, war in Folge des Artikels 51 der Wiener Congreßacte 
Ein Biertheil Condominat an das Kaiferthum Defterreich gefallen, indem 
Frankfurts Territorialbeftand nach dem Entſcheidungsjahr 1803 feftgefegt 
ward, und jener Condominntstheil mit anderen Rechten und Gütern bis bas 
bin dem Deutfchen Orden gehört hatte, der in Defterreich noch fortbefleht und 
weldyem auch die Ausübung jener Condominatsrechte von Defterreich wieber 
verlichen wurde. Indeſſen duch einen am 18. März 1842 abgeſchloſſe⸗ 
nen Staatsvertrag hat Defterreih, unter Mitwirtung des Doch» und 
Deutſchmeiſters, alle Guͤter und Rechte der früheren Deutfc) : Ordens = Com⸗ 
mende Scankfurt und damit auch jedes Condominat an bie freie Stadt 
Frankfurt kaͤuflich abgetreten und nur das deutfche Haus in Sachſenhauſen 
nebſt der Deutich »s Drdenss Kirche bafelbft von diefer Abtretung ausgenom⸗ 
men. Bon da an wurde Niederrad in der Verwaltung und Bertretung ben 
uͤbrigen Ortſchaften gleichgeflellt und erhielt diefelben Gemeinde: Ordnun⸗ 
gen und Steuer» Einrichtungen. Diefe Rechtsverhältniffe nun find folgende. 
Die Dorfbewohner, Ortsnachbarn genannt, haben in ihren Dörfern bie 
echte freier Bauern und wählen wie in ganz Deutfchland ihre Municipa⸗ 
lieäten aus ihrer Mitte ; dagegen können fie, was nirgends im monarchiſchen 
Deutfchland mehr vorkommt, zu keinen Staatsdienften oder geiftlichen Stellen 
irgend einer Art gelangen, und der Theologe, ber Bauernfohn iſt, kann 
nicht Pfarrer in dem Dorfe werden, dem er mit Heimatherecht angehört; 
einem eigenen Landverwaltungsamte iſt die nächfte Leitung der Angelegenbeis 
ten ber Dörfer übertragen, damit das Verhältnis der Patrimontalherrichaft 
echt anfchaulich bleibe ; ein eignes Steuergeſetz beſteht für den Landbezirk; 
eilf Abgeordnete der acht Dorffchaften vertreten freilih ihre Localinters 
eſſen im geſetzgebenden Körper, allein fie werden nur einberufen, wenn Com⸗ 
miunalfachen der Dörfer vorkommen, und wirken nicht mit bei der Geſetz⸗ 
gebung über allgemeine Angelegenheiten des ganzen Staates; fie müffen 
ihre Deputirten aus Bewohnern der einzelnen Dörfer, weldye darin mit 
Gemeinderecht anfäffig find, wählen, und diefe befigen nicht immer bie er⸗ 
forderlichen Fähigkeiten, um den Geichäftemännern der Stadt die Waage zu 
halten ; die eilf Stimmen verlieren fi in der Menge und find ohne eigents 
lihen Anhaltspuntt; die Landbewohner werden daher regiert, wohl mild 
regiert, aber freie Bürger find fie nicht, fordern Unterthanen der Stadtbürs 
ger. Ob ein foldyes Verhältniß dem heutigen deutfchen Staatsrecht gemäß 
fei, ift fehr au bezweifeln. 

Die privatbürgerlichen Verhältniffe der Juden wurden, nad) langem 
und gehäffigem Streite, durch Vergleich und Geſetz im Jahre 1824 res 


316 ‚Frankfurt am Main. 


gulirt Viel Auffehen hatte die fruͤhere Einſchtraͤnkung ber Zahl ihrer jährlis 

den Ehen gemacht — ein Gefeg vom Fahre 1834 hob diefe Einſchraͤnkung 
a Ark: beibe Theile im ifraelitifhen Bürgerverbande flehen; und eine 
im October 1846 getroffene legislative Entfchließung hat es als einen Gegen⸗ 
fand des freien adminiſtrativen Ermeſſens des Senates erklärt, auch bei 
folchen ifraelitifchen Ehen, wo Ein Theil fremd fei, während iehm Fahren 
verfuchsweife die Ehebemilligung au ertheilen, ohne an eine gewiſſe Anzahl 
‚gebunden zu fein; hoffentlich wird vor oder bei Ablauf jener zehn Fahre auch 
das, was hiemad) von jener Ehenbegrenzung noch uͤbrig geblieben fein kann, 
ald eine zeitwidrige Antiquität befeitigt werden können. Im Ganzen neigte 
ſich in dem fpäteren Fahren die Pegislation immer mehr zur Milde und 
Menfchenfreundlichkeit gegen diefe Einwohner »Elaffe ; was die Juden den 
allgemeinen politifhen Anſichten, ihren wirklichen und erheblichen Fortfchrits 
ten in bürgerlicher Tuͤchtigkeit, ihrer Geldmacht, ſowie dem ſtets regen Eifer 
verdanken, womit fie für die ungeftörte Erhaltung und thunlichfte Werbeffe: 
rung ihrer Rechtsverhättniffe wachen. — 

Die Staatsbehörden ber Stadt üben bie Hoheitörschte ber gefammten 
Bürgerfchaft kraft des Nechtes aus, melches fie aus der von diefer Bürger: 
ſchaft erfolgten Uebertragung ableiten. In erfter Linie ſteht die Gefep> 
gebende Verfammlung. Sie beftcht aus 20 Mitgliedern, die ber 
Smat, aus 20, welche ber Ständige Bürger- Ausfchuß, jeber aus feiner 
Mitte, wählt, und aus 45 Mitgliedern, die durch ein Mahlcollegium 
ernannt werben, bas bie gefammte Buͤrgerſchaft durch die Urwahlen jährlich 
zufammenfest (Wahl » Collegium der 75). Bet diefen Urwahlen mitzu- 
flimmen, find alle chriftliche Bürger ohne Unterfchied berechtigt; die Ab⸗ 
fimmung erfolgt in drei Abtheilungen, melche ſich folgendermaßen bilden: 
erfte Abtheilung, Adelige, Gelehrte, Kuͤnſtler, Stantsdiener, Offiziere, 
Gutsbefiger ; zweite Abtheilung, Kaufleute, Krämer, Wirthe; britte Ab» 
theilung, Handwerker und zünftige Künftler. In Betreff der erften Abs 
theilung ward durd) eine authentifche Erklärung vom 3. Detober 1838 gefegs 
liche Fuͤrſorge getroffen, daß nur wirkliche Staatsdiener in diefer Abtheis 
lung flimmen ; e8 hatten fich vorher zumellen widerrufliche niedere Angeftellte, 
die in anderer Eigenfchaft Bürger waren und alfo in den anderen Abtheilun- 
gen zu ftimmen hatten, als Staatsbiener mit Zetteln, die man ihnen In 
die Hand gegeben, eingefunden; man fühlte das unbeftrittene Bedürfniß, 
daß gerade auch die erfte Abtheilung durch Diejenigen vepräfentirt werden 
muͤſſe, die ihre wirdtich angehören. Waͤhlbar iſt jeder felbftftändige chriftliche 
Bürger, ohne Unterfchied der Größe feiner Steuerpflicht, wenn er 30 Jahre 
ale iſt. Im Ganzen wird ſchon feit vielen Jahren beklagt, baf die Bürger in 
geringer Anzahl und mit Lauheit zu den Urwahlen ſich einfindenz; aus drei 
Gründen läßt fich dies erklaͤren: die Theilnahme ift ſchwach, weil die Wah⸗ 
len in den gefeggebenden Körper nur mittelbare Wahlen find ; die Theilnahme 
fcheint Vielen unnöthig, weil in der Regel die naͤmlichen Perfonen gewählt 
zu werden pflegen ; die Theilnahme wurde von Vielen verfhmäht, als «6 
Sitte geworden mar und ımftatthafte Begünftigung gefunden hatte, daß 
wenige Stadtcanzlei: und Polizeibeamte ſich der Keitung dev Wahlen, haupt⸗ 


Frankfurt am Main. 817 


fächlich derer aus dem Stande ber Belehrten und Staatsdiener, bemeifters 
ten, die wichtigſten Wahlen in allen Stadien lenkten und die Stimmfreiheit 
flörten. Doc) haben ſich im neuerer Zeit dieſe Zuftände weſentlich gebeſſert. 
Die letztgedachte Ungebuͤhr ward ihrer ferneren Machtloſigkeit fi bewußt 
und trat zuruͤck. Ein feifcherer und reinerer Geift drang in die Wahlen 
ein., Der Kortfchritt ward die Lofung ; und die Wahlberechtigten fahen ein, 
daB für den Fortfchritt das Wichtigſte ſei die Feftigkeit des erſten Schrittes. 

Die gefeßgebende Verfammlung , durch diefe Wahlen gebildet, aus 85 
Deltgliebern beftehend, wird jedesmal auf den erſten Montag im November 
an km Ihre ordentliche Sigungszeit dauert dann ſechs Wo⸗ 

chenz für fpdtere Beratbungen wird fie außerordentlich eingeladen. Aus 
ihren ſenatiſchen Mitgliedern waͤhlt fie ihren Prifidenten. Die Wahlen gelten 
immer wur auf Ein Jahr. In der Hegel gelangen alle Propofitionen an den 
gefengebenden Körper von dem Senat, nur ausnahmsweiſe Binnen, waͤh⸗ 
rend der ordentlichen Sitzungszeit, auch der fländige Bürgers Ausfhuß und 
bie einzelnen Mitglieder der gefeggebenden Verſammlung Anträge flellen. 
Allein bei dergleichen Anträgen ift die Befchlußnahme der Verſammlung bar 
auf eingefchränkt, über bie Zulaͤſſigkeit ſich auszufprechen und eine Ruͤck⸗ 
äußerung des Senates zu erfordern. Wenn nun diefe Rüddußerung. lie 
gem bleibt, fo werden die Anträge vergeffen oder gleichgültig und das ganze 
Necht ber Antragstellung «in wirkungslofes und müffige® Petittonsrecht. 
Indem man dem Rathe eine Initiative vorbehalten wollte, gefährdete man 
die Wirkſamkeit ber Initiative des geſetzgebenden Körpers weſentlich. —* 
bat er die Befugniß, einen von dem Senate abgelehnten Antrag in drei 
aufeinander folgenden Sitzungen ſich vorlefen zu laffen und alsdann über 
daffen Inhalt definitiven Befchluß zu faffen ; allein der Geſchaͤftsgang wuͤrde 
immer die Anwendung einer foldyen Befugniß vereiteln. Blüdlicher Weiſe 
bift der Innere Drang der Dinge meiſtens über diefe formalen Schwierig» 
Eeiten weg, indem Anträge von Bedeutung und Wichtigkeit fich von ſelbſt 
Bahn und Gehoͤr verfhaffen und vom Rathe nicht unbeachtet bleiben. 

Der Eompetenz der gefeßgebenden Verſammlung find folgende Anger 
legenheiten zur definitiven Beratung und entfcheidenden Beſchlußfaſſung 
vorbehalten und zugemwiefen: die geſammte Gefeggebung, mit Einfchluß bee 
Befleuerung und der Erhebungsweife der Steuern; bie Sanction aller 
Staatsverträge; die Genehmigung des jährlichen Budgets und die Ueberſicht 
über den gefammten Staatshaushalt; die Entſcheidung in Verwaltungsfachen 
und anderen zur Competenz des ftändigen Buͤrgerausſchuſſes gehörigen Ge⸗ 
genfländen, wenn Senat und Bürger: Ausfhuß fich in ihren Anfichten nicht 
vereinigen koͤnnen (eine Entfcheidung, Die zur Zeit der Reichsverfaſſung 
dem Reichshofrathe zuftand) ; die authentifche Interpretation ber Verfaſſungs⸗ 
Urkunde und der Geſetze; die Bewahrung und Erhaltung der Stadtverfaſ⸗ 
fung, mit Einfchluß der Beſchwerden Einzelner über Verlegung ihrer conſti⸗ 
tationsllien Rechte. Die Anzeigen von Berfaflungss Verlegungen bilden 
übrigens den einzigen Fall, mo Petitionen ber Bürger bei der gefeggeben« 
ben Verſammlung eingereicht werden Binnen , indem alle andere Petitionen 
nur an den Senat gerichtet werden dürfen. 


318 Frankfurt am Main 


Diefer Wirkungskreis der gefeggebenden Verſammlung ift bedeutend 
genug; überdies, die Wandelbarkeit ihrer Einſehung, ihre Mifchung aus 
allen Claffen der Bürger, die jährliche Integrale Erneuerung der nn 
ihrer Mitglieder, ihre Gefdyäftsordnung, welche eine freie mündliche Dis⸗ 
cuſſion einem jeden Befchluffe vorhergehen laͤßt, die Thaͤtigkeit der einzelnen: 
Mitglieder in Specialcommiſſionen für jeden wichtigen Deliberationg-Gegen> 
fand — altes dies bringt mit ſich, daß dieſe Berfammlung das bewegende 
und erfrifhende Element im Staatsleben bildet. Ihre Functionen duͤrfen 
daher als wohlthätlg, der Gebanke, dee fie neu in die Frankfurt’fche Ver⸗ 
foffung-einführte, darf als ein guter Gedanke bezeichnet werden. Ob nicht 
nen dieſes Staatskoͤrpers verbeffert werden koͤnnte ? Db. eb 
nicht vieleicht nüglicher waͤre, wenn die Mitglieder der Verſammlung lediglich 
von der Bürgerfchaft getoähle wuͤrden und ber Senat nur durch Regierungs⸗ 

aus feiner Mitte vertreten wäre? kann hier nicht geprüft 
werden. Das Wefentlichfte der Verhandlungen des gefeßgebenden Körpers 
wird übrigens feit dem Jahre 1832 dem Publicum mitgetheilt, anfänglich in 
einer Beitfchrift, dann feit dem Sabre 1838 In elmer eigens hierfuͤt verans 
ſtalteten Beitungsbeilage. Gegenwärtig, im  Spieperöftr 1846, iſt die, 
fhon mehrmals erdrterte Frage von ber ntlichfeit feiner Sigungen 
neuerdings und mit befonderer Energie in ung gebracht und wird 
2 = ri erhalten, welche ben Var Bedürfniffen des 


p 
| Der, * (oder Rath) iſt das Reglecungs · Golle gium und bat 
allein die erecutive Gewalt. Er befteht aus 42 Mitgliedern, die ſich in 
drei Ordnungen ober Bänke theilen: Schöffen, Senatoren und Rathever- 
wandte (jebe Ordnung von 14 Mitgliedern). Das Praäfidium führen bie 
beiden Bürgermeifter ; dew ältere aus den Schöffen, ber zweite aus den Ser 
natoren, jedesmal auf Ein Jahr, durch den ganzen Rath gewählt. Sit 
eine Matheftelle erledigt, fo wird fie folgendermaßen wieder befegt: bie 
fämmtlichen Senatsglieder wählen 6: Wahlherren, ebenfo wählen die 65 
Mitglieder des geſetzgebenden Körpers, bie nicht zum Mathe gehören, gleich 
falls aus ihrer Mitte 6 Wahlherren, diefe 12 Wahlherren bilden ein Con- 
clave und fchlagen drei Candidaten vor, unter welchen die altherkoͤmmliche 
Ku lung (das Loofen mit drei Kugeln, Aueh filbeenen und einer goldenen) ent» 
det. Erforderniß ift bei der Rathsſtelle das Alter von 3O Jahren, ferner 
(wie bei allen anderen Cwilaͤmtern) das Bekenntniß der chriftlichen Religion 
und das Indigenat (der Gewählte muß entweder als Sohn eines Bürgers 
geboren fein, oder fhon zehn Jahre lang im Bürgerrechte ftehen). Won der 
zweiten Bant auf die erfte wird nach dem. Dienftalter vorgerüdt. Auf der 
bristen Bank muͤſſen ſtets zwoͤlf Mitglieder dem Stande der züunftigen Hand» 
werker angehören. So angemeflen es ift, jedem Stande feine Repräfens 
tatton zu fichern, fo zweckwidrig erfcheint für ein eigentliches Regierungs⸗ 
Collegium wie ber Senat bie Vorſchrift, daß zwölf feiner Mitglieder Dem 
zünftigen Handwerksſtande angehören müffen, und es würde vielleicht 
die Behandlung der Geſchaͤfte nur gewinnen koͤnnen, wenn der ganze Senat 
ans einer geringeren Anzahl von Mitgliedern, weiche aber alle ganz eigentlich : 


Frankfurt am Main, 319 


für bie Begierungsgefchäfte ausgebildet wären, beftünbe, das gefammte Cols 
leglum nur über die allgemeinen Angelegenheiten des Staates beſchloͤſſe, die 
Oberaufſicht über die einzelnen Fächer aber unter einige Senats Abtheilungen 
vertheilt wäre, und hiernächft ſowohl bie Gerichte als die Verwaltungsftellen 
nicht aus der Mitte des Senates, fondern mit Directoren, Richtern und Be 
auntten, befegt würden. 

Gegenwaͤrtig fondert fich der Senat in ben Großen Rath und ben 
Engern Rath oder Verwaltungs: Senat. Im Großen Rath, meldyer alle 
42 Mitglieder umfaßt, werden alle Gegenſtaͤnde, die zur Enticheidung des 
gefeggebenden Körpers gehören, bie Gnadenſachen und Aemtervergebungen 
behandelt. In dem Engern Mathe befinden fi nur bie Mitglieder, welche 
mit der Juſtizverwaltung nicht befchäftigt find, dann bie fleben aͤlteſten Raths⸗ 
Verwandten; ber Engere Rath entfcheidet über diejenigen Verwaltungs⸗ 
fachen,, die dem Großen Rathe nicht vorbehalten find. Dem älteren Bürgers 
meiſter iſt insbefondere noch die obere Leitung ber bewaffneten Macht (beftes 
bend in einer zahlreichen und gutgeuͤbten Stabtwehr, dann In dem durch 
neuere Beilimmungen, nach welchen bie Reſerve ſogleich unter bie SBoffen 
geſtellt werden foll, auf 910 Dann vermehrten BundessContingente), dem 
jüngern Bürgermeifter der Borfig bei der Leitung bes Polizeiweſens und der 
Handwerksſachen, ſowie die Unterfuchung der Erjorberniffe bei Bürgeraufs 
nahmen anvertraut. Der Senat verwaltet bie Gerichtsbarkeit in bürgerlichen 
und peinlichen Sadyen,, In demſelben conftitutionellen Sinne, wie in mon⸗ 
archiſchen Staaten alle Zuftizpflege von bem Staatsoberhaupte ausgeht; mo» 
nad) denn allerdings nicht gerabe alle Gerichte durch Senatsdeputirte befegt 
fein muͤſſen und die beantragte Anordnung eines aus Handelsleuten beſte⸗ 
benden Handelsgerichtes keinem conflitutionellen Bedenken unterliegen 


In Kolge der Conftitutions- Ergänzungsacte wurden eingefeßt: ein 
Appellationss und Criminalgsricht, eim Eriminalamt (Unterfuchungsgericht), 
ein Stabtgericht und Curatelamt, dann, für biegeringfügigen Rechtsſachen, 
drei Stadtjuſtizaͤmter und ein Lands Auflizamt. Das —— — 
Stadtgericht und Curatelamt beſtehen aus Senats⸗Deputirten. 
kamen noch hinzu: das gemeinſchaftliche Oberappellationsgericht der Freien 
Städte in Luͤbeck, der Zollrichter für Streitigkeiten und Sontranentionen Is in 
Dinfiht auf das Rheinfchifffahrtss Reglement, das Polizeigericht, das 
Bollunterfuchungsgericht. ine große Unregelmäßigkeit iſt, daß man durch 
die im Jahre 1821 abgefchloffenen, in vielen Hinſichten der Stabt fehr 
nachtheiligen Poftverträge dem Fürften von Thurn und Taxis geftattet hat, 
Patrimonialgerichte zweier Inſtanzen fuͤr die Mitglieder ſeiner Generalpoſt⸗ 
direction in Frankfurt zu gruͤnden. Beſondere conſtitutionelle Rechte der Ge⸗ 
richtsuntergebenen in Beziehung auf die Rechtspflege ſind: die Befugniß, 
bei dem Appellationsgerichte ſowohl in zweiter als dritter Inſtanz in allen 
Sachen die Actenverſendung zu verlangen; ferner die Befugniß, gegen die 
Straf⸗ oder Confiscationsverfuͤgungen der adminiſtrativen Stadtaͤmter den 
Recurs an das Appellationsgericht mittelſt der Rechtsmittel der Appellation 
und Reviſion zu ergreifen. Daß in Polizeiſtrafſachen und in Criminal⸗ 


320 Frankfurt am Main,, 
ſachen das Recht der Actennerſendung, welches ſchon ber Bürger Wertrag 
von 1613 fanctionicte, burdy den Buindesbefchluß vom 5. November 1836 


aufgehoben wurde, iſt ſchwerlich an irgend einem andren Orte Deutſchlands 
hmerzlicyer empfunden worden als in Frankfurt, wo die Freunde wie die 
Feind diefes für die partetlofe und unabhängige Zuftigpflege Eleiner deutſchen 
Staaten ſo wichtigen Inftitutes alle Gelegenheit gehabt hatten, deſſen 
große Vor zuͤge kennen zu lernen. Der verfaffungsmäßige Anſpruch auf eine 
dritte Inſtanz in Polizeifteaffachen wurde auf diefe Weife factifch zerſtoͤrt. 
2 das Recht felbft zu wahren und vorjubehalten, hat die Gefehgebung 

ber freien Stadt ihre inneren Anorbnungen , durch welche fie fi vorüber 
gehend auf zwei Jnſtangen in’Polize-Steaf Sachen befpränkte, nur immer 


— 


rer, dann auf zwei Jahre, dann auf drei Sabre erlaffen, bis 


beitte Inſtanz im anderer Welfe wieder gefunden fei. Wer uralte und 

—* das Erkennen ihrer Vortheile theuer gewordene Rechte einziehen till, 

kann nur dann auf Beiftimmung rechnen, wenn er Befleres oder gleich 

Gutes ala Erfah bietet. Die Luͤcke nur reißen und dann Jedem uͤberlaſſen, 

mie —— komme, iſt leicht und bequem, aber nicht weiſe und gerecht. 

Nicht die bloße Verftümmielung alter ſchuͤtzender Formen der Strafrechts⸗ 

—*2 dem Staatswohl frommen. Neue F Formen muͤſſen geſchaffen 

werden, wenn die alten ſich überlebten. Fuͤr — wer⸗ 

—2 nach der Üeberzeugung der gediegenften feiner Bürger, in allen Straf⸗ 

—* —— die —— und Muͤndlichkeit des Verfahrens 

chaft ſehr hald nicht laͤnger intbehrt werden koͤnnen, und 

3 Schubanſtalt der — —* wird gleichfalls wohl den ihr gebuͤh⸗ 
renden Platz einzunehmen berufen ſein. 

Außer dem Senate, als dem Regierungs» und Verwaltungscollegium, 
beſteht zum Behufe einer beſtimmten Mitwirkung und Gontrole bei ber 
Berwaltung eine (ſchon im Jahre 1732 angeordnete) Ständige Bürger: 
Repräfentation ober der Ständige Bürger: Ausfhuß, ſeit 
1816 aus 61 Mitgliedern zufammengefest, unter weldyen ters 6 Rechtsge⸗ 
lehete fein: müflen. Den Vorfig in diefem bürgerlichen Collegium führt ein 
Senior, auch nimmt daffelde einen rechtskundigen Confulenten an. Die 
Defugniſſe diefer Staatsbehörbe find Im Allgemeinen: über bie Feſthaltumg 
bei Verfaſſungs⸗Grundgeſetze zu wachen; bei wichtigen und neuen Aus⸗ 
gaben, bei Veräußerungen oder Erwerbungen von Stadtgütern, bei Proceßs 
vergleichen, bei Anordnung ber Steuern und Feſtſetzung des Ausgaben « Bub» 
gets, überhaupt in allen Finanzangelegenheiten dem Mathe, melcher mit 
diefent Bürger » Ausfchufie fchriftliche oder mündliche Conferenzen, unmittels 
bar oder durch bie Stadtämter pflegt, feine Meinung zu eröffnen ; endlich 
bei fonfkigeri wichtigen Vorfaͤllen zum Beften des öffentlichen Weſens und zur 
Verhirmig des Schadens, Vorſtellungen und Erinnerungen an ben Senat zu 
richten und noͤthigenfalls Beſchwerde bei der gefeggebenden Verſammlung 
zw führen. Eine fpecielle Mitwirkung und Controle bei der Adminiſtra⸗ 
tien übt aber der ſtaͤndige Bürger : Auefchuß auch dadurch noch fortwährend 
aus, daß er einestheils zu allen einzelnen Verwaltungsſtellen und Behörden 
pormanente Commifläre Guͤrgerliche Deputirte) abordnet, welche bei allen 


Frankfurt am Main; sa1 


Ausgaben über pünktliche Einhaltung der gefeglichen Etats und Bewilligun⸗ 
gen wachen und alle Zahlungs s Anweifungen gemeinfchaftlich mit den Ges 
natöbeputirten vollziehen; und daß er anderntheils zur Controle bei der 
Buchführung der Verwaltungs⸗Aemter befolbete Segenfchreiber anſtellt, die 
ihm unmittelbar verpflichtet find. Ueberdies bilden neun Mitglieder bisfer 
Behörde das Stadtrechnungs » Revifions s Colleg (den Rechnungshof ober das 
Neuner⸗Colleg). — Wenn fich nicht leugnen läßt, daß durch biefe Eins 
eichtungen, Gonferenzen und wmabläffigen Communicationen zwifchen drei 
Staatskoͤrpern der Geſchaͤftsgang in reinen Verwaltungsfachen oft etwas 
Schleppendes erhält, fo wird doch gewiß auf der andern Seite dadurch ge⸗ 
gen Malverſationen ein ſtarker Miegel vorgefchoben, dem Einfchleichen 
und der Begünftigung von Mißbräuchen gefleuert, und es verbreitet fi) 
in der Bürgerfchaft eine Maſſe praktifcher Erfahrungen über die Stadt⸗ 
abminifiration. In der Finanzverwaltung hatten ſich weſentliche Verbeſſe⸗ 
rungen als höchft nothwendig gezeigt. Die Einnahmen hatten nicht mehr 
ausgereicht zur Deckung ber fehr beträchtlichen Ausgaben, welche, ohne das 
Bedürfniß der Schuldentilgung,, jährlich ungefähr 1,100,000 Gulden heis 
ſchen. Zur Ausfüllung der entftandenen Deficits hatten auflündbare Dar⸗ 
lehen aufgenommen werden maͤſſen. Diefe Uebel wurden im Jahre 1839 
befeitigt._ Die außerorbentlichen, für die Bedürfniffe des Staatefchulden- 
weſens beftimmten Abgaben und mehrere indirecte Steusen wurden einer 
gründlichen Reoifion ımterworfen. Ein Gleichgewicht der Einnahmen und 
dee gewöhnlichen Ausgaben ward hergeftellt. Die Staatsſchuld wurde in 
bem Betrage von 84 Millionen Gulden confolidirt, ihr Zinsfuß herabgeſetzt. 
Nachdem fie jedoch ſpaͤter durch allmaͤlige Rüdzahlungen auf 7 Millionen 
Buben. ſchon vermindert war, iſt es Inden Jahren 1843 und 1846 noth> 
wendig getworden, fie wieder um 7 Millionen Gulden zu erhöhen, um bie 
Mittel für den Bau der Staates Eifenbahnen zu fihern. Es wird eine 
firenge Pflicht der Verwaltung fein, in allen ihren Zweigen auf Sparſamkeit 

t zu nehmen, damit aus eimer folchen Weberlaftung nicht neue Vers 
legenheiten entfichen. Durch Steuern würbe ſich kaum helfen laſſen, ba 
die vorhandenen ſchon nicht Leicht getragen werden. Der Gemeinfinn der 
Frankfurter pflegt ſich weniger bei ihrer Steuersntrichtung als bei ihren 
mwohlthätigen und gemeinnägigen Anftalten zu erproben, für welche bie größte 
Theilnahme herefcht, indem durch der Bürger freien und kraͤftigen Willen mit 
größter Leichtigkeit Inſtitute fich erheben, welche die monarchiſchen Regie 
rungen von oben herab mähfam erfchaffen. 

Aus Allem geht hervor, daß für Frankfurt Reformen wohlthaͤtig fein 
koͤnnten: Reformen der Verfaffung im Sinne einer freieren Entfaltung 
der Mechte der Bürger, Reformen der Verwaltung im Sinne ber Kräftis 
gung umd Centralifation. Zu wuͤnſchen ift, daß ſolche Reformen nie ans 
ders als auf dem Wege, den die Conftitution felbft erwähnt, eingeführt 
werden möchten; durch Inneres Einverftändniß der Geſammtheit der Buͤr⸗ 
gerfchaft und der aus ihrer Mitte hervorgegangenen, fie vepräfentirenden 
Stantekörperfchaften, ohne alle äußere Einwirkung. 

Frankfurt ift durch die Bundesacte zum Sig der deutfchen Bundele 

Suppl. 4. Staatsler. II. M 


322 Zrankfutter Attentat; — Brankreid, 


verfammlung erforen ; die Auferen Beziehungen der Stadt zu der Bundes⸗ 
verfammlung und zu den Gefandtfchaften find durd) einen bekannten Noten: 
wechfel im October 1816 verbindlich feftgefegt. Allein Frankfurt hat Beine 
Staatsbienftbarkeiten als Ausfluß jenes Verhaͤltniſſes Kbernommen, und 
foldye Servituten fonnten deshalb ihm, als einem jelbftftändigen und ibeell 
berechtigten Stante, nicht wider feinen Willen auferlegt merben. 
Verhandlungen, weldye uͤber folche Anfinnen in tieffter Heimlichkelt 
gen werben mußten, wurden wm fo druͤckender empfunden, als fie 
nate durch vorübergehende dazu emfig benugte Anläffe hervorgerufen waren, 
und in feinen pofitiven Normen des öffentlichen Mechtes wurzelten. Zu der 
Sorge für die Wahrung ber Staatlichen Selbſtſtaͤndigkelt gefeilte ſich der Arg⸗ 
wohn, ber ben ſchwaͤcheren Theil bei ben Erörterungen, in welche der Stär- 
fere ihn verwickelt, nur zu leicht einen Mißbrauch der Uebermacht fürchten 
läßt. Als unerwarteter Lohn für foldye Bedrängniffe ift aber eine gekräftigte 
und fehr vollfommene Hebereinfliimmung der Obrigkeit und der Bürgerfchaft 
aus ben Gefahren jener Tage hervorgegangen *), : Dr. Reinganum. 


Franffurter Attentat, f. Politifche Entwidlungen 
und Kämpfe in Deutſchland und Geſellſcha tin, geheime. 


Frankreich. Vorzüglich über die. Gefahren der poli— 

tifhen Spkemeund Zuftände für Frankreich und Beusldr 
land, Der am Scluffe des Artikels Frankreich ausgeſprochene 

danke gilt auch noch heute, wie ſich denn überhaupt in den zehn ‚Jaheen, feit 

welhen Here Golbery fehrieb, in dem damals fo bewegten sahen Reiche 

weniger geändert hat, ald man hätte denken follen. 

Mod; heute, wie bamals, fieht man’ in Frankreich jene nächtheifigin 
Folgen früherer Regierungsfofteme und aud) der gewaltfamen Revolutionen, 
Noch heute wird, wie damals, das franzöfifche Volk nad) ber fittlicyften und 

, ruhmwuͤrdigſten Revolution, welche vielleicht jemals ftattfand, durch die in 
biefer Revolution von ihm felbft auf ben Thron ‚erhobene Regierung mit 
einer unmoralifchen teactiondren Politik beberrfcht. "Aber auch. jegt noch 
iſt es klar und es ift immer Marer geworben, baf bie doch im Wefentlichen er: 
rungene und behauptete polittfch freie Verfaſſung der Nation etwas früher 
oder fpäter ben vollftänbigen Sieg , die freie und vollkommene Entmidelung 
diefer durch ihre Werfaffung und nationale Einheit glüdlichen Nation mit 
Sicherheit verbuͤrgt. 

Bei bem hier wiederholten Tadel bes Juſtemilieuſyſtems haben uͤbrigens 
auch wir die ſeltene politiſche Klugheit oder richtiger die Schlauheit, die mu⸗ 

ge, energiſche und zaͤhe Feſtigkeit, die Folgerichtigkeit und, was mehr iſt, 
auͤch eine lobenswerthe Maͤßigung in der Durchfuͤhrung des reactionaͤren 


*) Zu den wichtigſten literariſchen Werken über Frankfurt gehören das 
Urtundenbuh der Reigsftabt Frankfurt von Böhmer, 1836; 
Kirhner, Geſchichte der Stadt Frankfurt. 2 Bände, —— 
ee ——— und Berichtigungen, 2 Bde., ebendaſ. 1809 — 1810, 
nd J. K —8 Die Fntſtehung der ——— — 
nb der Se it niffe ihrer Bewohner. Bra 


X 


Frankreich. 323 


Syſtems niemals verfannt. Und diefe Eigenfchaften, welche einer Politik 
im Kampfe mit Gegnern, die diefelben weder in gleihem Maße befigen, noch 
auch durch fittliche und andere Kräfte überlegen find, ein Uebergewicht geben, 
haben ſich in diefen zehn Jahren nur nody mehr bewährt. Ein freilidy oft 
von Aeußerlichkeiten und Zufälligkeiten abhängiger glüdlicher Erfolg hat fie 
noch glänzender hervortreten laſſen. Ja, es bat biefes Gluͤck für alle Dies 
jenigen , welche nur nach,den nächften Erfolgen und nach oberflächlichen und 
unfittlichen Geſichtapunkten bie menfchlichen Dinge beurtheilen, zu einer 
wahren Politik ober Staatsmweisheit erhoben. Auch haben wir niemals das, 
was in jener Juſtemilieupolitik an fid) Gutes und menigftens objectiv Rich: 
tiges enthalten ift, verfannt. Wir meinen die Ablenkung von eroberungs- 
und revolutionsfüchtigen Beftrebungen und die Bemühung für einen euro: 
päifchen Friedenszuftand,, infomweit berfelbe auf würdigen, gerechten Grund⸗ 
lagen ruhte ımd mit treuer Wahrung ber Ehre und ber gefunden Entmwidelung 
ber Nation vereinbarlid war. Endlich ift es auch nicht zu verfennen, daß keis 
neswegs die ganze Juftemiliens Politit und ihre Reaction allein dem Daupte 
berfelben zuzufchreiben ift. Vielmehr war biefelbe derjenigen Partei der frans 
zoͤſiſchen Nation, weiche nad) dem Sturz der Feudalariſtokratie, des Abfolu- 
tismus und der vorübergehenden revolutionären Kriege: oder Schredenss 
berefchaft, welche vollends bald nach der Julirevolution das politifche Ueber⸗ 
gewicht erwarb und noch befigt, fie war der Bourgeoifie erwuͤnſcht, ſie 
wird von ihr weſentlich unterſtuͤtzt. Man kann es auch wohl natuͤrlich fin⸗ 
den, daß der neugewaͤhlte Fuͤrſt dieſe Partei vorzugeweiſe zur Stuͤtze ſeiner 
Politik und ſeines Throns zu machen und ihr ſelbſt fuͤr dieſen Zweck eine 
sewiſſ⸗ Organiſation und Kraft zu geben ſuchte. 

ber wer noch an eine ſittliche Weltordnung glaubt und an bie Noth- 
menbigkeit und Heilſamkeit, daß ihre Geſetze vorzugsweife von den Fuͤrſten 
geachtet und in Anerkennung gehalten werden, der wird ed nimmer billigen 
koͤnnen, wenn bie erſte fittliche Grundlage ber Gefellfchaft, die öffentliche 
Treue, aufgegeben und menn durch bie Regierungsmittel mehr die Unſitt⸗ 
lichkeit als Sittlichkeit und Ehre befördert werben. - Das Programm der 
glorreihen Ssulicevolution, „ein Thron umgeben von republika⸗ 
nifhen Inftitutionen”, welches Ludwig Philipp vor ber Wahl 
zum erledigten Thron auf bem Stadthaufe, mo Lafapyette präfidirte, wels 
her mit Lafitte auf biefe Bedingung hin bie Wahl vorfchlug und bewickte, 
foͤrmlich anerkannte und heilig zu halten verſprach, welches die neue Charte, 
neben dem durch die ganze Revolution thatſaͤchlich und jetzt deutlicher auch 
grundgeſetzlich ausgeſprochenen Grundſatz „einer Verwaltung nur durch 
verantwortliche Miniſter“ unter dem Worte „Volksſouverai⸗ 
netät” an ihre Spitze ſtellte, und welches vor ber Vollziehung 
biefer Mahl der zum König zu Proclamirende eidlich beſchwur — find biefe 
in ber Pöniglichen Selbflregierung getreulich durchgefuͤhrt? — Das ift die 
erfte Frage. Sind die dem neuen König anvertraute höchfte fittliche Be⸗ 
flimmung, Würde und Aufgabe der Nation für ihre inneren Entwidelungen 
und Berhältniffe, und für die hohe einflußreiche Stellung, bie fie in ber 
freien, füttlichen Gemeinſchaft der gefitteten Voͤlker einzunehmen hat, heilig 

2U* 


324 Frankreich. . 
* oder find ſie anderen und eigenfüchtigen Intereſſen untergeorbut 
ren Das iſt eine zweite Hauptfrag t 
Erin nimmer wirb man es billigen, wenn der für freie Völker und 
Staaten und ihre Für ur —— Egoismus und Materialismus 
im > und zunaͤchſt In ber Bourgeoifte, wenn ihre ungerechte Zurüuͤck⸗ 
ng, ja zum heil —S des —— Volkes abſichtlich großgezogen 
umb zur Herrfchaft gebracht, wenn fo diefe Bundesgenoſſin verdorben und 
in a Verderbnif auch betrogen wird, wie denn wirklich die Juſtemilleu⸗ 
J diau die Herrfchaft biefer Vourgeoifie ihrer eigenen BGoamten. und 
⸗Herrſchaft und die Ehre und Kraft und das dauernde Wohl ber gan- 
gen Mation go Familien⸗ oder Dynaſtie⸗ Intereffen unterzuorbnien und aufs 


—88 
halten wir auch vom Standpunkte der Pollilk an jenen in 
a oral, SER und — Intereſſen 
—— fittlichen und rechtlichen Grundlagen mit einer größern Ent- 
fdhiedenheit , nach immer mehr berährter Erfahrung vollfommen feft. Ihre 
Achtung if, fo Tange noch bie ſittlichen Kräfte A den Nationen nicht er⸗ 
tofchen find, mefentlich für die wahre Stäntsweisheit und das wahre und 
dauernde Wohl der Bölker, er das nicht glaubte, der müßte ſich folge⸗ 
tichtig zu den ſchandlichſten und ſcheußlichſten Hinterliften und —* — 
| * macchiavelliſtiſchen Politik bekennen. Denn unter den Schlechten 
überall, ftets ber, welcher in en Fache am ftärkften ift, der, wel⸗ 
cher die verru chteften Mittel am meiften ruͤckſichtolos, folgerichtig und ener: 
giſch durchfuͤhrt. Deshalb Mo immer die wahren, die ganzen Jeſulten 
über die halben. Die Politit wäre aber bei jenem Unglauben auch gar 
nicht mehr ein Gegenftand fuͤr würdige Befchäftigung und für Ehrenmänner. 
Das aber ift fie noch und Gottlob auch die Gefchichte fittlicher Nationen be: 
währt wentgftens in Beziehung auf das dauernde Heil für fie und ihre 
Fürftenhäufer bie edlere menfchenwürbige Politik. (S. Moral.) So er: 
giebt es fich auch jegt ſchon im Beziehung auf Frankreich) und fo wird es ſich 
fpäter immer vollfommener herausftellen. So liegt e8 namentlich bereite in 
der Gefchichte ber gleich untreuen und gleich unglüdlihen buonaparti- 
ſchen, der altbourbonifchen und ber Reſtaurations-Politik zu 
Zage. Und fo hat benn auch ber noch nicht allzulange Beftand und ber bie: 
herige Erfolg der Juſtemilleupolitik unfere in jenen Artikeln über fie ausge: 
ſprochenen Anfichten im Mindeften nicht verändert. Diefe Erfolge find theils 
ber gleichen ober größeren Unfittlichkeit und ben Fehlern der Politik der in: 
neen und ber äußeren Gegner, theils bloßen Zufaͤlligkeiten zugufchreiben 
und fie find an ſich aud) wahrlid wenig groß und beneidenswerth. Ja 
die Folgen biefer Politik waren häufig augenblicklich und augenfällig dem 
König und den Bürgern nachtheilig. 

She Hauptnachtheit freilich beftand In ihrer unfittliken Wirkung und 
in ber Unterbrüdung des fchönften und ebelften Auffchtwunges, zu welchem 
fih in dem ganzen Laufe ihrer stoeitaufendjährigen Geſchichte die franzäfifche 

atton erhoben hatte, in ber Unterbrüdung jener muthigen und doch fo 
maßvollen,, alle inneren und aͤußeren Rechte und fittliche Schranken achten: 


Frankreich. s35 


ben Erhebung ber ganzen einmüthigen Nation, in welcher fie, im flolgen 
Bewußtſein ihrer großen Beftimmung, den übrigen Voͤlkern in der heutis 
gen, hoͤchſten Aufgabe, in der politifchen Freiheit voranzugehen dennoch 
von Eroberungsſucht und Einmifchung in fremde Staateverhältniffe frei⸗ 
willig fich losſagte, und nur von ben defpotifchen Regierungen bie gleiche 
Achtung des Voͤlkerrechts — die Nihtintervention — forderte. An 
die Stelle der Vorherrſchaft diefer ebeiften fittlihen Richtung und ber vas 
terlandsſtolzen Erhebung pflanzte das untreue, hinterliſtige, reactios 
naͤre Syſtem Corruption, Materialismus, Egoismus und Erbitterung und 
site alle älteren revolutiondren,, eroberungsfüchtigen Leidenfchaften aufs 
me auf. 

Die unmittelbaren Früchte diefes Syſtems waren auch nicht wahre 
Achtung und Liebe der neuen Dynaſtie und des monarchiſchen Principe, ſon⸗ 
dern vielmehr das Gegentheil. Diefe Folgen bedrohen noch immer ihre 
Exiſtenz mit Gefahr. Sie bewirkten zahlreiche, ja gegen hundert blutige 
Aufflände in Paris und faſt in allen Städten und Theilen von Frankreich 
und acht Mordverſuche gegen ben König und feine Familie. Niemand wird 
doch wohl die Gefahren derfelben, bie zum Theil wahrlich nur zufällig übers 
wunden würden, ihre vielen Opfer und Nachtheile, die dadurch nöthigen 
Verwendungen unermeßlicher Gelder und Kräfte für eine ungluͤckliche, meift 
geheimpolizeiliche und die Freiheit befchränkende Sicherung und alle ba» 
durch entflandenen WVerlegungen der Lebensfreuben und ber Nationalehre 
für geringfügig halten. Sie find es wohl ebenfo wenig, als bie Erfolge 
für die Foͤrderung der inneren und äußeren Größe und Achtungswuͤrdigkeit 
der Nation im Verhätmiß zu den ungeheuren, gegen früher mehr als dop⸗ 
pelten Staatslaften von anderthalb Milliarden, den Laften insbefondere 
fe: den fünfzehnjährigen bewaffneten Frieden, groß genug genannt werben 
dürften. 


Wie fehr aber wirklich die unglüdlichen revolutionären Rettungs⸗ 
und Racheverfuche nur bie Solgen des untreuen reactionaͤren Syſtems waren, 
diefes zeigt unmittelbar ihre Geſchichte. Es erfchienen auch die meiften 
die Freiheit verlegenden reactiondren Regierungsmaßcegeln, welche die Vers 
zweiflung und Empoͤrung der Urheber der Attentate und Aufſtaͤnde hervors 
riefen, nicht etwa als unvermeidliche Schugmaßregein gegen ihre Erneue⸗ 
rungen, fonbern diefe Maßregeln waren zufammenhängende Beftandtheile 
deſſelben Staatsſyſtems, benusten nur bie Empörungen als dienſtbare Mit⸗ 
‘tel für daſſelbe und die Empdrungen wurden Immer neu hervorgerufen durch 
bie verlegenden Maßregeln und die Verftärkung des Bewußtfeins der uns 
treuen, die Nationalehre kraͤnkenden reactiondren Juſtemilieu⸗Politik. So 
knuͤpften fich offenbar die erſten großen blutigen Aufftände nach der Ver⸗ 
draͤngung des Lafitte’fhen Minifterlums zundchft an die empoͤrendſte 
Untreue ber Politid des neueingefegten Königthums der folgen volksſouve⸗ 
ränen Nation, nämlich) an den fchimpflichen Verzicht auf jene edlen voͤl⸗ 
kerrechtlichen Grundſaͤtze ber Nichtintervention. Sich felbft hatte die ger 
waltige Nation, als nach dem herrlichen Sieg in der Julirevolution alle 
ſchoͤnen Erinnerungen ihrer herrlichen Kriege: und Giegsthaten wieder 


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t gen mußte, neue 

—* anerkannte, was zu bewahren mit 

herab verſprach — And war die Nidhtintervention. "Es befand —* 
in, daß die deſpotiſchen Mächte ebenſowenig die übrigen Voͤlker dadurch 
beherefchten z ba fie, zur Zerſtoͤrung ber völkertechtlichen Freiheit und 
Sicherheit, zum Schimpfe der franzöfifhen Nation, intervenirten, um bie 
Voͤlker von freiwilliger Nachahmung des Beiſpiels der Freiheit abzuhalten, 
um ihnen ihre eigmes befpotifches Spftem und bie Abhängigkeit von ihnen 
aufjzuzwingen. Dennod, als bie unglüdlichen Italiener, bucch Beifpiel 
und Aufmunterung bes an ihren Grenzen verfammelten franzöfifhen Hee— 
res ermuthigt, fic für ihre Befreiung erhuben — da duldete hier, in Sta 
fin — mo auch die ſchwaͤchſten franzöfifchen Könige niemals ohne Kampf 
öfterreichifhe Uebermacht zuließen, da duldete hier das Julikoͤnigthum die 
öfterreichifche Intervention zur Herftellung ber Defpotie und Defterreichs 
Dberherrfchaft, ebenfo wie es ruhig zufah, daß gegen alle nationalen Gefühle 
und Intereffen und gegen die Berträge die Ruſſen mit preußifcher Hilfe die 
Refte polnifcher Nationaleriftenz, newerlichft auch die Aufere Erinnerung 
daran vernichteten. Mar es ja fogar im Begriffe, die Wiederherftellung der 
gegen Frankreich begründeten hollaͤndiſchen Herrichaft über das ſchon be> 
freite Belgien felbft zu fördern, ehe die franzöfifchen Freiwilligen fie un: 
möglich gemacht hatten. Es war überall biefelbe Politik, welche zu Guns 
ften des dynaſtiſchen ntereffes und „des Friedens um jeden Preis‘, ſo⸗ 
weit e8 nur immer bie innere Empoͤrung ber eignen Nation zuließ, dad dem 
frangöfifchen Einfluffe und Stantsfpfteme feindliche abfolutiftifche Syſtem 


Frankreich. 827 


untseflügte, welche die völßerrechtswibrige antifranzöfifche Unterbrüdung 
der kleineren deutſchen unb italienifchen Staaten und der Schweiz dulbete 
und ſchmeichleriſch förderte und zum Lohne dafür die Aechtung des eignen 
Fuͤrſtenhauſes hinnahm, daß felbft der Fleinfte abfolutiftifche Prinz jede Ver⸗ 
bindung mit demfelben zuruͤckwies. Es war biefelbe Politik, welche bie 
„feanzöfifhe Zreuverlegung und Heimtüde” gegen natür: 
fiche und durch Zufagen getäufchte Bundesgenofien und Schüglinge der 
freien franzoͤſiſchen Nation veraͤchtlich und fprichwörtlich machte. Gie war 
es, welche zuerft mit den fpanifchen Liberalen unter Mina Allianz fchloß 
und fie dann den Henkern der Tyrannei überlieferte, welche fpdter mit 
England und den fpanifchen und portugiefifchen Königinnen ben Quadru⸗ 
pelvertrag zum Schuge der Freiheit ſchloß und dann ben Don Carlos, den 
Kämpfer für ben Abfolutismus, durch Frankreich nach Spanien beförberte, 
. ihm aus franzöfifchen Grenzſtaͤdten und zur See tractatenwidrig Dilfe leiſtete, 
bis endlich bei ber empoͤrten Nationalftimme Fein franzöfifcher Miniſter bie 
weitere Durchführung des Treubruchs wagen mochte. Zwei Miniſterien, 
Soutit und Thiers, hatten, der oͤffentlichen Meinung huldigend, treuere 
Erfüllung bed Vertrags zur Bedingung und Beide löften wegen der Nichterfül- 
lung fih auf. Soult trat zuräd, weil ihm der König die Durchreife von 
Don Carlos drei Tage verfchwiegen hatte. Diefelbe Politik zettelte, nachdem 
endlich Spanien durch Espartero fo giüdlich befreit und beruhigt, nach 
allen Seiten bin in herrlicher Entwicklung begriffen war, der unglädlichen 
Nation — weil ein folches franzöfifches Syſtem das nahe Muſter fo großer 
Tpanifcher Freiheit für fich ſelbſt fürchtete — neue blutige Bürgerkriege an 
und bereitete ihr fo einen unnatuͤrlichen Juſtemilieuzuſtand, beffen Ab» 
fchüttelung hier noch ficherer als in Frankreich neue Blutftröme Eoften wird. 
Daran wird auch die neuerlich erliftete Heirath Nichts ändern. Es war 
nur traurige Zolgerichtigkeit dieſes Syſtems, daß es auch das nachbarliche 
Schweizervolk, das eine frühere beffere franzoͤſiſche Politik flets für Frank⸗ 
reich Zu gewinnen fuchte, vielmehr auf das Aeußerſte abfließ, indem «6 auch 
dort im Verein mit dem Abſolutismus, Ariſtokratismus und dem neuers 
lich befchüsten Jeſuitismus eine gefunbe freie Entwidlung zu verhindern 
fuchte und bie freien Beflrebungen mit getwaltfamen Interventionen bedrohte. 
Auch im Driente wurde die aufblühende aͤgyptiſche Macht, Frankreichs Buns 
desgenoſſin, fammt dem altfranzöfifchen überwiegenden Einfluß, nad) den 
koſtſpieligſten nutzloſen Kriegsrüftungen, den defpotifhen Mächten und 
dem nebenbuhlerifhen England fo ſchimpflich preißgegeben, daß bei der hart⸗ 
nädigen Verweigerung der Abfendung der franzöfifchen Flotte ſelbſt ein 
Thiers, ebenfo wie früher bei der Treulofigkeit gegen Spanien, zur Rettung 
feiner Ehre, fein Miniflerium aufgeben mußte. 

Diefer für das Julikoͤnigthum treulofen Unterorbnung unter bie be 
fpotifchen Mächte und ihr Syſtem in der Außeren Politik entfprach gänzlich 
auch die innere Politik fchon von jenem erſten Bemühen, das auf den freien 
fouveränen Befammtwillen ber großen Nation gegründete neue Koͤ⸗ 
nigthum vielmehr auf das legitime Erbrecht der jüngeren Line, auf 
die fpottweife fogenannte Quafilegitimität zu begründen. So wurde 


efestoffene Beränberungt | m Princip der Wolksfouverdnetät 
auf die Einleitungsftellen bed e hatte, Dem Undanke gegen das bes 
zum größten Theile vom den polltiſchen Wahlrechten und von der 
—S ausgeſchloſſene Volk vereinte ſich der Undank gegen bie 
arſten Gründer des neuen Throne, gegen einen‘ Lafitteund La: 








fave e. Haͤtte wohl im Inneren e6 
fi gegen bie neue Freiheit zeigen können, als das Julikönigthung? 

'- Gewiß 2, treutefften € ang eblich Erg gar Kg Beweiſe * 
Pr g —J Gefchichte von Louis Bienen mit ine © Schärfe bezeichneten 
Büge geheimer Hinterliften und Taͤuſ ‚gege 





tin man bie erfien Aufftände, melde in Folge der fogar hinter 
bem Rüden der —— *28 Italien und Polen befolgten Politik und —*— 


fo bewirkten Ruͤcktritts Lafltte entſtanden mar 
lm nah em Ba War Haut "(pedR 1880) m im Ohm 
entftanden und fi 1832 wieber fortfegten, gluͤcklich, aber 


nungen fürchten. I diefer Furcht el, man eins ber mwefentlichften 
Nechte freier Völker, ihrer freien Berfaffung und Entwidlung , bas Recht 
ber freien Affociation und mit ihr felbft das der gemeinfchaftlichen Petition. 
Man zerftörte es fo fhonungslos, daß man das Recht, fi) mit mehr als 
zwanzig Mitbürgern zu vereinigen, nicht einmal blos für vorübergehende Zei: 
ten befonberer Gefahren und für bauernde Verbindungen, fonbern bleibend 
und fo allgemein der völlig beliebigen MRegierungs = oder Polizelerlaubniß un: 
terordnete, daß man auch einfache Gaftmahle und, troß bed ausdrüdlichen 
Verfaffungsrechts völliger Religions: und Glaubensfreiheit, die Verſamm— 
lungen der neufranzöfifchen Kirche unterbrüden Eonnte. 

Neue blutige Aufftände waren abermals bie unmittelbaren Folgen bie: 
fe8 natürlich empörenden Verbotes (März 1834) und zwar zunächft der ge: 
fährliche Aufitand der Lyoner Arbeitervereine und faft gleichzeitig ber gleich 
bebeutende Parifer Aprilaufftand (und die Aufftände in St. Etienne, 
Grenoble und Zoulon) und nad) ihrer blutigen Unterdruͤckung die Der: 
breitung vieler nun geheimen republifanifchen, communiftifchen und foria= 
liſtiſchen Verbindungen in: ganz Frankreich, und zugleih immer neue 
Aufftände, Verfhmwörungen und Morbanfchläge, unter legteren als einer 
ber furchtbarften der bed Fieschi (28. Juli 1835) und feiner Hoͤllen— 
maſchine. ‚Begreiflicherweife unterftüsten bei der Mehrzahl der frieb- und 
rechtliebenden Bürger biefe Aufftände und Morbanfchläge die Regierung und 
ihre teactiondren Tendenzen. So biente Fieshi’s Höllenmafchine zur 


\ 


% 


Frankreich. 329 


Beſchraͤnkung ber Preffe und der Schtourgerichte durch die berüchtigten 
Geptembergefege, welche ſelbſt der ehrwürbige Breis Royer⸗Collard 
als verfaffungswidrig und unmwürbig befämpfte und fie als ſolche bucch feine 
Stiwme auch den Bemäßigtften bezeichnete. Aber bie durch fie, durch bie 
zenctiondee dußere Politik, die koͤnigliche Befchügung der reichen Capita⸗ 
Uſten gegen bie von der Kammer und ben Miniſtern gewollte hoͤchſt gerechte 
Ventenreduction vermehrte öffentliche Mißſtimmung erfchwerte bem König 
bie Bildung und Beibehaltung von Miniſterien in feinem Sinne; felbft bie 
fo zahmen Kammern wiberftrebten dem Syſteme, und den Koͤnigemoͤrder 
Fieschi folgte bald der geiftig und fittlich ungleich höher flehende Ali⸗ 
baud (Yun. 1835). Das am willigften der Eöniglichen Selbſt⸗ und Allein⸗ 
esgierung fi fügende Miniftertum Mole mußte endlich nach dem (22. 
San. 1838 und 4. San. 1839) wiederholten Tadel bes Syſtems durch bie 
Kammermajoritäten in ber Adreffe, und zulegt nach der unummundenen 
Klage äber feinen entfittlihenden Charakter und nach vergeblich verfuchter 
Kommerauflöfung, trog des Siege in Mexiko, zurüdtretn. Gelbft neue 
Merdattentate, wie dievon Meunier und Huber, hatten es nicht halten 
und die Nothiwenbigkeit wenigſtens einiger Conceffionen des reactionaͤren 
Soſtems an die öffentliche Meinung, wie der Verzicht auf die beab⸗ 
fichtigte Räumung Anconas und die Amneftie und wenigftens die Zufage ber 
Hentenconverfion, die Beſchuͤtzung Kralaus und des Dey von Tunis, bie 
enbliche Abfchneidung ber Zufuhren für Don Carlos nicht verhindern Eins 
nem. Schon vom Anfange an hatte bie öffentliche Mißſtimmung gegen das 
Syſtem jedesmal dann, wenn fie am lebhafteften war, auch eine ganze Reihe 
earliftifcher und wiederholt auch die Napoleoniſchen Verſchwoͤrungen und 
Aufflände ermuthigt und hervorgerufen. Den von Louis Napoleon 
in Straßburg Tonmte übrigens bei ber Öffentlihen Misſtimmung bas 
reactiondee Spftem nicht einmal fo wie gewöhnlich zu feinen Gunſten aus⸗ 
beuten. Vielmehr verfchmähte das Schwurgericht in Straßburg, ſich zu einem 
Werkzeug partelifcher ungerechter Cabinets⸗Juſtiz zu machen, welche den 
prinzlichen Dauptthäter und den wichtigften Entfchulbigungszeugen zum 
Nachtheil der bürgerlichen Angeklagten gänzlich bem Proceß entzogen hatte, 
und bie Kammer verwarf mit Untwillen bie Gefege über bie Disjunction 
und NRonrevelation und über Ausführung bee Deportationsfirafe 
und gleichzeitig bie Apanage für ben Herzog von Nemours. (Jan. 1837). 
Selbft die Kammeraufloͤſung und bie unter Einfluß der Stegesnachrichten 
aus Algier und Spanien eifrig betriebenen Wahleinwirkungen konnten, wie 
das Schickſal des Minifteriums Mole zeigte, auch in der neuen Kammer 
bie Mifftimmung über das Syſtem, welches auch ber häßliche Proceß bes 
Doltzeipräfeeten Gis quet im boͤſem Lichte gezeigt hatte, nicht befchwichtigen. 
Mad) langen minifteriellen Krifen mußte der König ungern ein Miniflertum 
Soult und dann ein Minifterium FT hier s und ihre Bebingungen für einige 
Ermäßigungen des Syſtems und einer Verwerfung ber Apanage > Forderung 
hinnehmen. in neuer Aufftand in Paris (12. Mai 1839) und ein neuer 
Verfuch des Königemords, der von Darmes (15. Oct. 1840), bezeich⸗ 
nete auch jest die öffentliche Stimmung, welche befonders die hartnaͤckige 


Frankreich 

Jemuͤhung bed Könige, das unpopuldre Minifterium Mole und die fünf 
— zu erhalten, und feine fpanifche und orientaliſche Politik gereist hat» 
um; und welche aufs Neue auch Louis Napoleon benugen wollte. 

Freilich theilte die Kammer die Verantwortlichkelt der teactiondren 
Mafregein. Uber es Hit Thatſache, daß faſt immer nur mit der größten 
Muhe duch Wahlbeftehungen, Furchterweckungen, durch Minifteriums: 
ge nn burdy lange miniſterlelle Kriſen, durch ſchlaue 
Benutzungen aͤußerer Umſtaͤnde und vorzuͤglich der fuͤr einen freien Staat un 
natürlichen Gentralifations: und Polizelgewalt zuſtimmende Minifterien und 
Kammermehcheiten gewonnen, oft erpreßt werben mufiten, und biefe mehe 
einem energiſch ducchgeführten „untwandelbaren Gedanken” fi 
anſchloſſen, als ſelbſt fuͤr die reactlonaͤren Mafregeln begeiflert waren, daß 
fie vielmehr mehrere derſelben vereitelten und einige liberalere durchſetzten. 
Auch die Entbehrlichkelt wenigſtens vieler Repreſſionsmittel wurde gerade 
dadurch aͤußerlich anſchaulich, daß dieſelben ohne allen erkennbaren Nachtheil 
vereitelt wurden. So vernichtete der Caſſationshof bekanntlich alsbald gaͤnz⸗ 
lich jene ungeſetzliche Verſetzung der Haupiſtadt in Belagerungszuſtand 
(1832) mit allen an dieſelbe geknuͤpften Verhaftungen und den kriegsgericht⸗ 
lich zu entfcheidenden Eriminalpeocefjen. Die Kammer aber verwarf bie 

Bevollmächtigung zu ſolchen Belagerungserklaͤrungen ebenfo mie 
daB Diejunctionggefeß, das Gefet über die Ausführung der Deportation fo 
tie das uͤher bie Nonrevelation oder über eine Verpflichtung zur Anzeige von 
Hochverrathsanſchlaͤgen gegen den König. Ebenſo vereitelten wiederholt die 
Schwurgerichte, einmal auch bie fie zum Theil verbrängende Pairdfammer 
(diefe im Proceß gegen A. Garrel), die rächenden gerichtlichen Verfolgungen 
gegen bie Feinde bes Negierungsfpftems. Unb wiederholt zwangen dem un⸗ 
wanbelbaren Bebanfen wiberftrebende Kammermajoritäten reactionaͤre Mini- 
fterien zum Ruͤcktritt. Auch nad Außen hin erzwang , fo wie bei Belgien, 
wile bei dem ebenfalls gegen bie franzöfifche Nationalehre bereits eingegangenen 
Bocrtrag über da Duchfuhungsredht, ober wie nach Thiers' dop⸗ 
peltem Rüdtritt in Beziehung auf Spanien und in Beziehung auf Aegyp⸗ 
ten , ähnlich auch in Beziehung auf Algerien, bie empdrte Nationalftimme 
mehr oder minder bie Zuruͤcknahme (himpfticher Zugeftändniffe gegen das 
Ausland, ohme daß dadurch felbft auch nur „der Friede um jeden Preis” 
wirklich icgend gefährdet wurde. 

"  Menn man zu all biefem noch in Frankreich felbft ſich überzeugte, wie 
wenig fogar die das Julikoͤnigthum flügende Hauptpartei, bie von ihm ge: 
fhmeichelte und gehobene Bourgeoifie, zu einer wirklich politifchen Herr: 
ſchaft — ähnlich etwa einer englifchen politifchen Partei — herangebilbet ift, 
wie ſehr diefelbe und ihre Kirchthurmsnotabilitäten ihre Leitung von außen 
etapfangen, fo wird man noch weniger bas Suftemilieufyftem auf eine 
Noͤthigung aründen. Man wird biefes vollends nicht, wenn man die Ge: 
frmungen diefer Bourgeoifie vernahm, bie Gefinnungen diefer einzigen An⸗ 
haͤnger einer Regierung, die diefen dritten Stand nicht blos auf Koften 
bes erften und zweiten, des Adels und der Geiſtlichkeit, fondern zur Zurüd- 
fogumg des zahlreichſten vierten Standes, auf Koften des höhern Wohls 





Frankreich. al 


und der Ehre bes Vaterlandes privilegirte, fie in all ihren Maßregeln, in ihrem 
Frieden um jeden Preis, wie in ber hartnddigen Erhaltung verderblicher Mo⸗ 
nopole und der fünf Procente dev Staatsſchuld parteiifch begünftigte. Spre⸗ 
chen benn etwa biefe Bourgeois eine wahre Achtung und Liche aus! Wahre 
lich davon hört man nichts. Ste geben vielmehr die moralifche Verwerflich⸗ 
Leit des Syſtems zu, aber fie ruͤhmen unb gebrauchen deſſen Vortheile für 
fih. Sie rühmen auch deffen Klugheit oder Schlauhelt wegen des Gluͤcks, 
wegen feiner Erfolge. Freilich aber beftehen nun diefe Erfolge mehr darin, daß 
der König und feine Dynaftie durch feltene glüdliche Zufälle in den Gefahren, 
welche das Syſtem felbft herbeigeführt hatte, von dem Ver⸗ 
derben befreit blieben. Denn für einen von ber maͤchtigſten Nation der Erbe 
einmüthig auf den Thron gerufenen, mitden größten Eöniglichen Mitteln und 
Rechten ausgeſtatteten Monarchen ift denn doch biefed wohl noch Fein glors 
reicher Erfolg, daß er und die Nation noch eriftiven dürfen, exiſtiren dürfen 
mit dem Verzicht auf die hohe völkerrechtliche Stellung und Beflimmung 
der Nation , mit ber dienflbaren Unterordnung ihrer wichtigften Intereffen 
und Bundesgenoſſen unter die feindlichen abfolutiftifchen Mächte! Und das 
iſt wohl noch weniger ein glorreicher Erfolg, daß der Monard) nicht frei unter 
feinem Volke umbergehen und fich zeigen darf, ohne vor Meuchelmord zu zits 
tern, und am allerwenigften das, daß ein König die moralifche Achtung des 
Koͤnigthums, fo wie die feiner Nation und ihrer größten That, bie ihm den 
Thron gaben, bei feinem Volke und im Auslande gefährdete, und bag er am 
Ende einer furchtbar theueren und forgenyollen Regierung fein Volk in ins 
nern und äußeren Verhältniffen zurüdiäßt, die bei Weitem nicht den gläns 
zenden Erwartungen entfprechen, welche bei feiner Thronbefleigung begruͤn⸗ 
det warn. Wären denn etwa alle die Opfer und Nöthen, die Lebens» und 
Staatsgefahren größer geweſen bei einer würdigen, wahrhaft Eöniglichen, 
zwar der Mäßigung jenes Princips ber Nichtintervention und der Nichts 
eroberang , aber zugleich ber Ehre und der hohen Beſtimmung der mädıtigs 
ften und freieften Nation des Eontinents und ihres freigewählten Natio⸗ 
nalkoͤnigs entfprechenden Politik, ducch eine Politik, welche, angemefien ber 
hohen Beftimmung ber franzöfiihen Nation in ber europdifchen Voͤlkerwelt, 
deren Freiheit und freie Entwidelung gefördert hätte, flatt fie und ihre 
Bundesgenofien im Vereine mit dem Abfolutismus zu unterdrüden ? Und 
find denn etwa wirklich alle Gefahren für Frankreih und die neue Dynaftie 
durch biefe verfchrobene,, ſchlaue, mühevolle Politik für immer überwunden 
und nicht vielmehr blos hinausgeſchoben? Ja find fie nicht vieWeicht vermehrt 
durch die geſunkene moralifhe Achtung des Koͤnigthums und der Nation im 
In: und Auslande, durch den Unmuth und die zuruͤckgedraͤngten Wünfche, 
Bebürfniffe und Pläne der verlegten und vernachläffigten unendlichen Mehr: 
zahl des Volks, durch ihre fo im Geheimen wuchernden communiftifchen, 
foctaliftifchen und republitanifchen, ihre zum Theil atheiftifdyen,, zum Theil 
ulttamontanen , jefuitifchen und ariftokratifhen Beftrebungen und Verbin⸗ 
dungen? Wie aber mürbe eine fo Eleinliche Politik Frankreich erft ſtellen, 
wenn bie Politik der Übrigen europäifchen Regierungen, insbefondere bie 


beutfche, ber hohen Beſtimmung unferer großen Epoche nicht ebenfalls fo we⸗ 
nig entfpräche! 


Gewiſſermaßen eine Entſchuldigung, zugleich aber auch eine Folge ber 
Heinlichen, macchlavelliſtiſchen, ber Suftemilieus Politik ift die Verkehrtheit 
———— die ihr gegenuͤbertrat, und zwar ſowohl die auf den Stra⸗ 

in den Emeuten und Attentaten, wie die in den Kammern. 

Diefe doppelte Verkehrtheit der Oppofition entftand vorzüglich dadurch, 
daß burch die hartnaͤckige Verweigerung freier Gemeindeverfaffung und öffent: 
licher Affociation und der flir eine freie Nation unentbehrlichen größeren Aus⸗ 
dehnung der activen und paffiven Wahlrechte für bie Nationalrepräfentation 
bieorganifhe Berbindung und Wechſelwirkung ber legteren mit _ 
dem Volk, feinen Bedücfniffen und Wuͤnſchen allzufehr mangelt. 

Diefer Mangel bewirkte dann, daß die ſchwer verlegten Gefühle und 
Intereſſen eines großen Theiles ber Nation, ſtatt der geordneten organtfchen 
Mege und Mittel, im jenen ungluͤckſeligen zahlreichen Verſchwoͤrungen, Auf: 
ftänden und Mordverfuchen Hilfe fuchten. Die Regierung reiste zugleich 
durch ihre Reactionsmaßtegeln immer neu zu benfelben auf, und fie ſelbſt ver- 

anlaßten und rechtfertigten die reactionaͤre Politik, wenigftens fcheinbar in 
ben Augen des großen Haufens und weniger geünblicher Politiler. So fagte 
man mit Redyt, die beften Alliirten Louis Philipp’s und feiner reactionaͤren 
Juſtemilieu⸗Politik feien jene Attentate, feien die Königemörber und Auf: 
ftände. Ohne biefelben hätte bie franzöfifche Nation gewiß nimmermehr alle 
bie Sränkungen ihrer Ehre und ihrer theuerften Intereffen , nimmermehr bie 
Hertſchaft einer fo geift: und Fraftlofen eigenfüchtigen Bourgeoifie geduldet. 
Die entgegenftehenden befjeren Richtungen und Volkskraͤfte hätten ohne fie 
gewißlich Befleres herbeigeführt. 

Ohne den Mangel folcher organifchen Verbindung aber hätte auch bie 
Kammer-Oppofition zu gleichem Ziele führen muͤſſen. Ohne benfelben Eonnte 
fie nicht in fo klaͤglicher und immer kraftloferer Geftalt auftre 
ten. Da fieht man faft immer nur Phrafen und Intriguen, nur Wettftreit 
um unbedeutende perfönliche Sragen, um Miniſter⸗ und Präfidentenftellen. 
Man fieht faft nie mergifches, Eraftvolles, maͤnnliches Wirken und Kim: 
pfen für die verlegten ewigen und verfaffungsmäßigen Grundfäge des Rechts 
und ber Freiheit. Ja bdiefe eleganten Deputicten wagten nicht, den vor: 
‚nehmen Geſchmack der Parifer dadurch zu beleidigen, daß fie diefelbe Sache 
oder Befchwerde zum zweiten oder dritten Male wiederholten, ftatt mit Neuem 
aufzumarten unb zu unterhalten. Hätten beitifche Volksmaͤnner über die: 
felben Verlegungen ber erften Rechte der Verfaſſung und dernatürlichen Men⸗ 
ſchen⸗ und Buͤrgerwuͤrde zu Magen gehabt, wie die franzöfifchen, über die 
Unterdbrüdung ber Affociationsfreiheit, über die Septembergefege und ihre 
Beleidigung der erften Grundrechte der Preßfreiheit und des Schwurgerichts, 
über die Unterdrüdung dev Glaubens⸗ und Religionsfreiheit, über die abfolut 
verfaffungswibrige, dauernde Unterdrüdung der Nationalgarben in fo vielen 
Städten, über foldye das Volk wahrhaft beleidigende Wahlgefege, über bie 
gänzlidy mangelnde Gemeindeverfaffung — wahrlich biefe Oppofi tionemäns 
ner hätten nicht blos Hunberttaufende zu immer erneuerter unermäüblicher For⸗ 


I “ 





Frankreich. 388 


derung des Rechts vereinigt, ſondern auch in jeder Sitzung die Klagen und 
die Rechte des Volks vorgebracht. Die franzoͤſiſche Oppoſition aber war ſehr 
artig und ſchwieg, und wenn ſie ja dann und wann nach Jahren einmal eine 
dieſer Forderungen zu beruͤhren wagte, ſo geſchah es ſo zahm und mit ſo uͤber⸗ 
mäßig gemäßigten Forderungen, daß das Volk ſich unmöglich für fo Geringes 
begeiftern Eonnte. Diefes entfernte den Eräftigen Theil der Nation fo fehr 
von der Deputirtenkammer, daß biefelbe gegen bie antinationale Regierungse 
politik wenig Kraft hatte, daß bie verfchledenen Volksparteien mit ihren Ins 
tereffen und Beftrebungen nicht In ber Nationalrepräfentation,, fondern, von 
ihr getrennt, auf anderen meifl verehrten Wegen Hilfe fuchten und noch 
ſuchen. So denken denn auch die beften franzöfifhen Staatemänner, wenn 
fie durch muͤhevolle parlamentarifche Kämpfe und Intriguen oder durch ernie⸗ 
drigende Unterordnung unter den „unveränderlichen Willen“, unter feine vers 
fafſungswidrige Selbftregierung, enblich an bie Spige der Befchäfte kommen, 
nicht an die Befriedigung ber wahren nationalen Bedürfniffe. Anderes if 
ihnen wichtiger und liegt ihnen näher, fo daß wir auch auf die abermals von 
Hrn. Guizot vor der neuen Wahl ausgefprochene Anerkennung der Noths 
‚ wenbigkeit, von dem Syſtem des fleten Widerftandes, ber fleten Reac⸗ 
tion zu einer liberaleren fortfchreitenden Politik überzugehen, an fich noch 
gar wenig Gewicht legen. Er geftand gezwungen Längft bie Nothwendigkeit 
eines beſſern Wahlgefeges zu und dachte nie es zu Ändern. Auch felbft die 
nach den neueften großartigen britifchen Maßregeln lauter: gewordenen Be⸗ 
ſchwerden über bie dem Nationalwohlſtand umd vielem Volksclaſſen fo nach⸗ 
theiligen übertriebenen Schugs oder monopoliftifchen und Prohibitiv⸗Zoͤlle zu 
Bunften der reichen Stügen des Juſtemilien, auch fie werben, fo wie bie 
Rentenconverfion,, zunaͤchſt noch nicht von diefen Kirchfplelönotabilitäten 
und ihrem Patronate befeitigt werden. 


Und gewißlich koͤnnten, nad) allem Bisherigen und bei ſolchem 

einer organifch Eräftigen und wirkfamen Oppofition, nina in a 
namentlich auch Mangeljahre bei ber ſtets anwachfenden 8 und 
ber Ausdehnung des Proletariats und der communiſtiſchen und focialen 
Beftrebungen, in ber fo leicht entzundbaren Nation größere Gefahren für die 
neue Dynaſtie und für den bürgerlichen wie für ben äußeren Frieben ers 
wecken, als bie, welche man bisher fo überängftlich zu bekaͤmpfen fuchte. Die 
allerdings großartige und mit Schlauheit und unermüblicher Beharrlichkeit 
von dem Julikoͤnigthum erſtrebte Befeſtigung von Paris (f. P aris) würde 
fie dann fchtwerlich befiegen. 


Doc) genug von ben Schattenfeiten franzöfifcher Zuſtaͤnde! Eilen wir 
auch, bie günftigeren gebührend zu würdigen! Moͤge vor Allem Eein Suter 
bei fremder politifcher Bedraͤngniß mitleidiger Deutfcher, wenn er mit 
edlem fittlichen und rechtlichen Gefühl das Unrecht der Juſtemilieupolitik ms 
pfindet, wähnen, wir Deutfchen hätten Urfache, ung über die Stanzofen 
zu erheben, oder auch nur ihre politifchen Mängel und Gefahren fein ans 
nähernd den unfrigen zu vergleichen. Auch nicht herabfegen und nicht einmal 
über die Gebühr tadeln duͤrfen wir deshalb umfere lebensfrohen Nachbarn 


er ann Mina ih bulbeten. — fie je —* * 










zehn Jahre dan u eng j 

Bene, die Hauptbedin bu eh bie Ehre, die 
44 au ngun en! ‚ e, 

Größe und Bluͤthe ihrer Natiom, die‘ zum Sieg, 








und ‚ fobald diefelben und der ch 
— ann Albin — Sie haben wahre — 


en * — und mi 
Millionen * —— ——— er: 







beſihen — 
Rationalfreipeit, die 

— werden, die Gicjrheit von Prefon und 

zllig un mebbngige ——— alſo lg a a 


ıdige Preßfreiheit und el völlig 347 Batienaipartan lament 
welches, fobald. die, Nation ermftsich wilt, fo wie fie es bei, k * 
halb fo — ae wu 
u ae unfebibase — * — —— 

wa * —1 

mißbittat en, üb Mimiſt eriums beweiſt, die mer — 


+ In ſolchem Zuſtande ſind he Septemb engefehe, fo fehr 
* auch den Grundfägen nach verlehend, vieleicht auch wenigen Einzel: 
nen gefährlich ſind, doch der That nach ohnmaͤchtig gegen die volllommene 
Preßfreiheit: Man betrachte doch die kaͤglichen franzöfifhen Zeitungen und 
Slugfcheiften, ob in ihnen nicht ebenfo wie in den Öffentlichen Gerichten 
und im Parlament und felbft im Pairsgerichtshof — (man erinnere ſich des 
Vroceſſes von Armand Earrel) ⸗Alles gejagt werden kann und täg- 
lichogefagt wird, was in Beziehung auf die freie Preffe nur irgend ver: 
ſtaͤndigerweiſe gefordert werben mag. Selbſt die Verdrängung des Schwur⸗ 
gerichts bei einigen Anklagen durch die Angefichts der Nation öffentlich ver 
hanbelnde Pairskammer, die Einführung der geheimen Abftimmung in 
bemfelben und die erhöhte Gaution der Zeitungen — fie haben in ber 
That dieſe volle Proßfreiheit nicht vernichten koͤnnen. Wohl ift es nicht 
zu billigen), daß jene Septembergefe ge die bezeichneten Veränderungen 
machten, baß fie auch Mißbilligung ber beftehenden monarchiſchen Berfaffung 
bei Strafe verbieten, baß fie wenigftens einen Vorwand zur Anklage wegen 
Nu og moralifcher Mitfehuld der Preffe bei Vergehen Anderer darbieten, 

* fie auch zum Theil zu harte Strafen moͤglich machen. Dieſes kann Ein— 

zelnen wirklich verderblich werben, obgleich wohl ſeit ihrer Exiſtenz nur Ein 
Fall einer irgend bedeutenden ungerechten Verlegung befannt wurde. Aber 
den thbatfählihen. Beftand der Preffreiheit in Frankreich hebt 
bei der übrigen Kraft. der freien öffentlidyen Meinung und bei dem freien Na: 
tionalparlament, wie die Erfahrung beweiſt, biefes einzelne Unglüd nicht auf- 

— dieſe Amp durch ‚die feltene Menſchen⸗ und Weltkenntnig, 













= 


4 


Srankreich. 335 


bie außerordentliche Klugheit, Selbſtbeherrſchung und durch die Mäßigung 
bes Könige werden überhaupt die Widrigkeiten und Nachtheile des Syſtems 
geminbert und erteäglicher. Der Nationaleitelleit und dem Durft nach Na⸗ 
tionaltuhm gab man nad), wo man es ohne Beeinträchtigung des Syſtems 
umb die Gefahr Für die dunaftifchen Intereffen thun zu Eönnen glaubte, wie 
in den Kriegen mit Buenos Apres und Mexiko und bei der Befigergreifung 
der Markefasinfeln, oder wo die Empörung über bie verlegten höheren 
Grundfäge der Nationalehre weiteren Widerftand unmoͤglich machte, wie 
in Beziehung auf die Vertreibung der Holländer aus Belgien oder in Bes 
ziehung auf die Behauptung des eroberten Algeriene. Man wußte auch 
wohl die Maſſen zu täufchen durch Paradeſtuͤcke, wie bie Befegung von Ans 
cona (mit ruhiger Duldung, ja zum Theil mit Unterftägung der oͤſterreichi⸗ 
fyen Unterdrüddung der italieniſchen Sreiheit)., Dazu gemann bie neue Koͤ⸗ 
nigsfamilie durch das würbige Familienleben und durch die rüfligen tapfern 
Söhne, felbft durch das Unglück des liebenswürbigen diteften Sohnes. Vor 
Allem aber machten auch in Frankreich wie in allen Theilen Europa’ die Wirs 
kungen des Friedens und der in ihm natürlich eine längere Beit bin: 
durch wachſende materielle Wohlſtand fidy geltend, obgleich auch felbft in dige 
fer Beziehung, fo wie auch rüdfichtlicy der ganzen Cultur, nicht Ein großer 
Gedanke, nicht Eine aroße Unternehmung von dem Julikoͤnigthum ausging, 
und obgleich felbft die Eifenbahnen nur langfam zum Siege kommen konn⸗ 
ten. Am Meiſten aber mußte die Wahrnehmung beruhigen, daß jene ber 
fonders lebhaft erwachte Empörung der Nationalftimme gegen die kleinliche, 
reactionaͤre und feige Juſtemilieupolitik diefelbe wiederholt durch Nöthigung 
zum Ruͤcktritt der -MRinifterien ober zur Kammerauflöfung oder blos durch 
die Verwerfung der Geſetze zu hemmen vermochte: Sie verbannte neulich 
auch die von diefer Politik geheim begüunftigten Jeſuiten. F 
Bei all dieſen Umſtaͤnden duͤrfen denn wohl franzöfifche Patrioten fi 

mit ber Hoffnung troͤſten, daB alle bie Gebrechen bes öffentlichen Zuſtandes, 
bie fie beklagen, daB die dringenden Beduͤrfniſſe und Wünfche für das Heil 
und die Sicherheit ihres Volkes und feiner höheren Entwicklung auf friedlle 
chem Wege ihre Erledigung finden, fobald es ihnen gelingt, biefelben durch 
die Organe ber-freien Öffentlichen Meinung in der Nation zur allgemeineten 
Anerkennung zu bringen. Selbſt bie Beſtrebungen und öffentlichen Aeuße⸗ 
rungen der Communiften und Socialiften fcheinen in dieſer berubigenden 
Ausfiht den’ Charakter fo bittrer Verzweiflung und allgemeiner Anfeindung 
und Verneinung, der atheiftifchen Verneinung Gottes und der revolufiondren 
Verneinung felbft des Staates, den fie in Deutfchland wegen ber heillofen 
Reactionspolitik leider täglich mehr annehmen, in Frankreich vielmehr abzu⸗ 
legen. Sa fie ſuchen zum Theil mehr und mehr die Verbindung mit chriſtlich 
religioͤſen Brundfägen. Die frühere Voltairiſche Verachtung alles Religiöfen 
ſchwindet allmdlig aud) in den höhern Ständen. Wenn diefes in genügender 
Ausdehnung gefchieht und das religiöfe Bedürfniß lebendiger wird, fo muß 
die Öffentliche. Beftrebung gegen den Ultramontanismus ber höheren und ges 
gen die Rohheit der niederen katholiſchen Geiſtlichkeit und ihres Volksunter⸗ 
richts und uͤberhaupt auf religioͤſt Reformen ſich richten, | 


86 ‚Frankreich. 
ne i N 7 


Diie Unmuth ein Sucialift (Grün im 
der — — von Pärimann), dab v. * 
Die Beſtrebungen von 


— ——— die Grundlehren des Chriftenthums den freien 


RE 
Hin: 
2: 
—— 
Hin 
HH 


— * 
ib —22 ‚Doffnungsiofigkeit genägenbe Berod 


in der. 


nationaler Ehre un —— — 2 rn 


Frellich tra der neueften literariſchen Er: 
* biefem Bike hen ben Schredenden faft etwas Ko- 
on fih. Die Stirner, Marr, Grün, Weitling bekaͤm⸗ 
He Si, wie bie WEIS und —8 







it 
al 


“ man — nicht. blos bie Slörifelrungen von \ Babnenf, 
Nobes Bm und Marat, „in 8 — u 


eln und Robespierre „ein 

hriftliche Geiftliche „abtränniger Berräther an bem —59—— * 
wenn er auch für das Dieſſeits, für das liebevolle Fördern. des ir⸗ 
diſchen Wohls der Brüder zu wirken fucht, weil er nur auf das Jen⸗ 
eits angewiefen fei, fo heißen alle Chriften „eine Büßer = und Eunudyen: 
nde” und Seber abergläubifch und ſtlaviſch, der noch irgend etwas 
Altgemeimes über ſich, ober ber vollends „Enechtifch einen Gott über 
und * demſelben unterwotfen anerkennt.“ Selbſt die Nationalitaͤt 
albern.“ Dennoch rathen wir der oͤffentlichen Autoritaͤt, weder zu 
Ächen — denn fie verfchuldet den naturgemäßen Gegenſatz feibft, mehr 
ober minder alfo auch feine Auswuͤchſe — noch audy zu verbieten — 
denn fie kann nicht ae von Candten — — aber auch nicht 


Entwieklun stampfe. Und noch ift ni fo wie in — fuͤr 
mt mung Kämpfe und Beftrebungen, für bie ab» 
fotut unentbehrliche Freiheit der geſehliche Meg des Kampfes offen 
und frei, und deshalb jede Allianz mit den Ertremen unmöglich ober 
ungefährlih. Und hat man gar Feine Ahnung, wie jene tadicalen ner 
girenden Richtungen im Volksinſtinct der nothwendi gen Freiheits⸗ 
entwictung Nahrung finden und ſich verbreiten ! 

&o wie in Beziehung auf biefe Gefahr, fo ſteht auch i in Beziehung 


Freibutg. 837 


‚auf das Uebel und die Eorruption und die Koften des Beamten» und Polizeis 
Kaates Frankreich im Vortheil vor Deutfchland, fo groß auch dort bie Juſte⸗ 
milienpoliti® das Uebel gelaffen und gemacht hat. Was wirkt hier nicht 
allein die Inamovibilitdt des Richters und Gelehrtenftandes, bie Trennung 
der Kirche vom Staat, das Schwurgericht,, die Preßfreibeit und vollftändige' 
Deffentlichkeit. O wahrlich, das Heinfte Uebel wird Euch Deutfchen hier 
groß und übertrieben bargeftellt und von bem hundert» und tauſendfach grös 
beten bei Euch verbirge und befhügt die Nacht weitaus den größten 
heil! 

In der außerorbentlicd, großen Zahl kleinerer freier Lanbbefiger aber fo 
mie in dem mittleren Bürgers und auch dem Arbeiterflande befist Frank⸗ 
reich, felbit wenn Anfichtn, wie die von Michelet in feinem Bud: 
„Das Volk’ ausgefprocyenen zu günftig wären, doch jedenfalls einem 
tücdhtigen Kern gefunder neuer Entwidelungen. Auf die Politik, auf freie 
politifche Entwidelungen und Verbefferungen , zum Theil ſehr tief greifenbe 
fociale Verbeſſerungen find, als auf die Aufgabe ber heutigen Zeit, jebt alle 
europäifchen Völker hingewieſen. Die große franzoͤſiſche Nation, weiche auf 
dem Gontinente jo energifch, muthig und aufopfernb den Übrigen Völkern in 
dieſem Kampfe voranging, kann und wird hier nicht zurlickhleiben. Sie muß 
in diefen Beitrebungen und Entwidelungen ihre einfeitige Sreiheitsrichtung, 
bie fich vorzugsweife nur für die allgemeine Gleichheit begeiftert, auch 
auf die freie perfönliche Selbftjtändigkeit, auf die engliſche Bürgers und 
Semeindefreiheit ausdehnen. Sie wird und muß die kleinlich engherzige 
und eigenfüchtige Juſtemilieupolitik ihrer Zultdynaftie und ihrer Bourgeoiſie 
abwerfen. Möge alsdann, wenn fie diefes thut, wenn fie vollends bei ihrer " 
jugendfrifhen Energie und ihrer gesinigten nationalen Kraft, ähnlich wie 
in ihrer Iulicevolution, einmal plöglich an einem fchönen Sonntagemorgen 
drüdend gewordene Bande zu [prengen ſich entfchlöffe, fie unfer armes Deutſch⸗ 
Land beffer ducch befriedigende Freiheit befe ftigt und geeinigt finden, ale 
wir es bis jegt find, bamit für beide Nationen die VBerfuchungen nicht alls 
zugroß, für un® die Gefahren nicht verderblich werden. C. Welder. 

Freiburg. Katholifche Ligue in der Schweiz. Um das 
lodere Staatengemenge der Schweiz hängen bie Fetzen bes unter fremdem 
Einfluſſe zugefchnittenen papternen Bandes einer Bundesacte, die bereits zum 
Spotte aller. Parteien geworden iſt, welche im Lande der Eidgenoſſenſchaft 
um die Herrſchaft flreiten. Die Zuftände der Heinen Schweiz und des aus⸗ 
gedehnten Deutfchlande bieten hiernach reichen Stoff zu belehrendem Ver⸗ 
gleiche. Obwohl dort das bemofratifche und hier das monarchiſche Princip 
vorherrſcht, in beiden Ländern befindet ſich doch die hintangefegte Mafle 
des Volks in einge Ähnlichen Stellung zu ihrer Bundesverfaſſung, während 
bier und dort bie doctrinaͤren Theoretiker des Staatsrechts einen müßigen 
Streit führen, ob ſich der hins und hergaukelnde Schatten der Einheit uns 
ter dem Begriffe eines Staatenbundes oder Bunvesftaats fefthalten laffe. 
In beiden Ländern herrfcht dem Auslande gegenüber ein der Zerfplitterung 
entfprungenes Gefühl der Ohnmacht und Zuruͤckſetzung; sin Gefühl, deſſen 
Wahrheit man vergebens bemüht ift, Durch ein nichtiges Pochen auf den Ruhm 

Suppl. 3. Staatslex. II. 22 





Freiburg. 


Stang der Vorfahr n aufgedunſene Phraſen von € 
* SRG OR u Sn anne An in beiden 


Fe engen inniger Berbindung aller getrenne 
Glieder, das ——— se rn 














ve Jahre oder Jahtrzet war, und dem Aus⸗ 
tänder fehlt dann bie Kenntnif der war einen engeren Kreife von Beobach⸗ 
tern deutlich vor Augen liegenden Thatſachen, die ibn den Zufammenhang 
mit der ſcheinbar umterbrocherien Kette fehherer Beltrebungen entdeden laf: 
fen.’ Zu diefen letzteren Gantonen gehört Freiburg, das längere Zeit ber 
Geſchichte kaum einigen Stoff darbot und erſt jest wieder in weiterem Um: 
fange eine befondere Beachtung in Anfpruch nimmt. 

Beben und Entwicklung find nicht ohne Kampf und Reibung, und «8 find 
nicht immer bie glüdlichften Staaten, von beten am wenigſten zu; berichten 
iſt. Dies gilt von allem Gantonen der Schweiz, die der geifttöbtenden läb: 
menden Gewalt der hierarchiſch ultramontanen Faction verfallen find. Als 
ſich die Meformation im größeren Theile der Eidgenoffenfchaft durchgeſetzt 
hatte, wurde in der Fatholifchen Schweiz noch mehr als in den meijten anderen 
katholiſchen Staaten Europas bie zeitweife auf die Vertheidigung des Beſte⸗ 
benden zuruͤckgeworfene Hierarchie zu einer einfeitig hemmenden Macht, bie 
fich jedem Fortfchritte mit gleicher Eiferfucht entgegenftemmte. Die Folgen 
(legen zu Tage. Zumal im den Eleineren rein Eatholifchen Cantonen — 
die Thatſachen ber vergleichenden Statiftit find hier fprechend genug — 
find weſentlich nur die alten Zuftände dev Rohheit und Unbildung , der mas 
teriellen und geifligen Bärftigkeit und Kuͤmmerlichkeit conferviet worden. 
Diefelben Urcantone, von deren ruhmwollen Thaten die Gefchichte der 
Schweiz ihren Uefprung hat, die noch jegt von einer Bevölkerung von 
gefimdent Kern und tächtigen Naturanlagen bewohnt find, fielen in eine 
REN. ans der fie durch die Reizmittel ver ————— Partei erſt 


Freiburg. 888 


in juͤngſter Zeit zu krampfhaften Zudungen und Bewegungen geweckt wur⸗ 
ben, die nur den Schein des Lebens nachaͤffen und fie als die todten Werk 
geuge einer unheimlichen Gewalt, eines von ihnen felbft unbegriffenen fremd⸗ 
artigen und unfchweizerifchen SIntereffes erfcheinen laffen. Unter den ans 
deren , entweder ganz oder hauptſaͤchlich katholiſchen Cantonen waren es 
zumal Solothurn und Teffin, welche, von einigen Schwankungen abgefehen, 
die Bahn des Kortfchritts dauernd verfolgten. Zwar hatte der Anftoß der Er⸗ 
eigniffe von 1830 auch Freiburg in die Reihe der regenerirten Cantone ges 
drängt. Aber ber böje Geiſt der Verneinung gegen alle freie und freudige 
Entwicklung des Volkslebens, wie er feit ber verhängnigvollen Berufung 
der Jeſuiten im Jahr 1822 Wurzel gefchlagen hatte, wirkte gleichwohl 
nad) und drückte felbft der neuen Verfaffung vom Sanuar 1831 fen Bes 
präge auf. Weit die meiften regenerirten Gantone hatten verfaffungsmäßig 
jene Mititädrcapttulationen mit fremden Staaten verboten , wonach fidy die 
Söhne der freien Schweiz, felbft unter der Autorität ihrer Regierungen, 
zu leibeigenen Soͤldnern bes Abfolutiemus machen und den Haß ober die 
Verachtung der nady Befreiung ringenden Völker auf den fhweizerifchen 
Namen lenken durften. Die ſchon lange erkannte Folge berfelben war die 
Bereicherumg einiger Glieder vornehmer Familien im Auslande, welche die 
Oligarchie im Heimathlande verftärkten, während die große Maſſe der Soͤlb⸗ 
ner arm und mit der Gewohnheit der Traͤgheit dahin zuruͤckkehrte. Frei⸗ 
burg felbft hatte diefe Folge erfahren: von ber Zeit an, ale die Militär 
capitulationen auflamen, war bie frühere blühende Induſtrie bes Canton 
in Verfall gerathen. Aber gleichwohl enthält die Werfaffung von 1881 
Feine Beftimmung über das im größeren Theil der Kbrigen Schweiz im 
Mißachtung gekommene Soͤldnerweſen; und noch auf der Tagfagung von 
1846 hat fi Freiburg emem Antrage Teffin’6 auf allgemeine Abfchafs 
fung des offictellen Menfchenhandels lebhaft wiberfegt. Auch das fat uͤber⸗ 
all befeitigte Syſtem der indirecrten Wahlen, wodurch die lebendige Theil 
nahme am republitanifchen Gemeinweſen fo ſehr geſchwaͤcht wird, iſt noch 
in der freiburger Conſtitution in feinem ganzen Umfange beibehalten. Vor 
Allem aber tritt die noch vorherrfhende Neigung zum Stillſtande in ben 
Beflimmungen über Berfaffungsrevifion hervor. Nach Artilel 97 ber 
Gonftitution follten vor drei Jahren nach Einführung der Staatsverfaffung 
Leine Abänderungn auch nur vorgefchlagen werden duͤrfen, und für 
die wirkliche Vornahme einer Abänderung wird uͤberdies vorausgeſetzt, daß 
fie vom großen Rathe in drei ordentlichen Sitzungen von drei zu drei Jah⸗ 
ren genehmigt worden fel. Auch die Reviſion der Geſetzgebung ruͤckt nur 
fangfam vom Plage. Das Ewilrecht beruhte auf einigen aus dem Mittelalter 
ſtammenden Handoeften und Gewohnheiten. Sie waren in ſechs verſchiede⸗ 
nen Geſetzbuͤchern gefammelt, die nur in nicht völlig übereinftimmenden 
Handſchriften eriflirten. Seit 1821 begann man für biöfen Canton mit 
etwa 100,000 Einmohnern die Bearbeitung eines allgemeinen Civilgeſetzes, 
wovon bis 1841 das Perſonalrecht, die erſte Abtheilung bes Sachenrechts 
und das Erbrecht erfchienen waren. Als Criminalgeſetz galt bie Carolina; 
eine 1833 zur Abfaſſung eines neum Sriminalgefeges ernannte Gommtiffion 
22 * 





weckte. J eine widerliche Proſel 

felbft über-die benachbarten Gantone ihre Nebe auswarf und ftörend bis in 
das innerfte Heiligehum der Familien eingeiff. Einzelne Befchwerden dage⸗ 
gen blieben erfolglos ; und war gleich ber Gefandte von Bafelland im Stande, 
ber Zagfagung von 1846 ein langes Verzeihniß foldyer meift erſchlichenen 
Bekehrungen vorzulegen, fo. wurde doch damit nur auf den Umfang des Uebels 
bingewiefen, ohne daß von Mitteln zur Abhilfe die Rede war. Denn auch 
die eidsgenöffifche Bundesbehörde pflegt, in allen das Gemeinwohl betreffen⸗ 
ben Angelegenheiten ihre Sompetenz darauf zu beſchraͤnken, ſich für incom« 
petent zu erklären. 

Seit der von ber Pflicht der Nothwehr gebotenen aargauifhen Klo- 
fferaufbebung (f. d.) hatte fi bie herrſchende Partei in Freiburg noch 
entſchiedener bei ben ultramontanen Umtrieben betheiligt. Die Sefuiten, in 
Verbindung mit weltlichen und geiftlichen Beamten, bie ihnen ausdruͤcklich 
ober ſtillſchweigend verbrübert waren, hatten bafür geforgt, daß die Mehrheit 
des Volks über feine wahren Intereffen im Dunkel blieb; fo hatten auch 
die. theilweifen Erneuerungswahlen im Jahre 1846 Feine Veränderung im 
bisher befolgten Syſteme bewirkt. Im Mißmuth über biefen Gang ber 
Politik traten einige gemäßigte Gegner berfelben aus ben höheren Staats: 
behoͤrden. Doch felbjt unter ben ſchwierigſten Umftänden hielt ſich ftets eine 
ehrenwerthe Oppofition aufrecht, bie ihre Hauptftärfe im gebildeten Mittel: 
ſtande des Cantons zumal in der Stadt Freiburg felbft , fo wie im refor- 
mieten Bezirke Murten hat. Zu erneuter Thaͤtigkeit wurde dieſe Oppofts 





Breiburg. 841 


tion durch bie Ereigniſſe angefeuert, bie aus ber zur europdifchen Frage gewor⸗ 
benen ſchweizeriſchen Jeſuitenfrage hervorgingen. 

Die roͤmiſche Curie hatte von jeher die beſondere Wichtigkeit ihrer 
Stellung in der Schweiz erkannt, in dieſem Lande der Mitte Europas, das 
zugleich in das deutſche, franzoͤfiſche und italieniſche Volksgeblet eingreift und 
bei ſeiner ſtaatlichen Zerſplitterung der Politik der hierarchiſchen Partei die 
mannichfachften Anknuͤpfungspunkte darbot. Als biefe Partei feit der Reſtan⸗ 
ration von ber Defenfive wieder zur Offenfive ſchritt, trat der Gang ihrer 
Politik deutlicher hervor. Die Revolution hatte bie Auflöfung der Metro⸗ 
politanverbande herbeigeführt, wodurch die ſchweizeriſchen Bisthümer mit 
den großen Nachbarvoͤlkern, namentlich mit Deutfchland und Frankreich ver» 
knuͤpft twaren, und bie ſchweizeriſchen Katholiken an allen Beſtrebungen feit 
der Mitte des 18. Jahrhunderts beteiligt wurden, welche Die Wiederherſtel⸗ 
lung einer größeren Unabhängigkeit der katholiſchen Kirche von Rom zum 
Ziste harten. Indem man nun den Katholiken der Eidgenoffenfchaft mit 
der Ausficht auf die Errichtung eines fchmweizerifchen Erzbisthumes ſchmei⸗ 
chelte, vourden die Bisthümer, felbft im Widerfpruche mit den Beſtimmun⸗ 
gen des tridentinifchen Concils, nicht blos als Immediatbisthuͤmer erhalten, 
bie ummittelbar unter Rom ober bem mit vielen erzbifchöflihen Rechten aus⸗ 
geftatteten päpftlichen Nuntius ſtanden, ſondern auch bie Zahl derfelben wurbe 
vergrößert. Eben bamit wurde die Menge der von Rom abhängigen geiſt⸗ 
lichen Würbenträger vermehrt und alle ehrgeisigen Priefter, die nach ſolchen 
Würden luͤſtern waren, wurden dem römifchen Intereſſe fefter verbunden. 
Ueberdies wurde bie aus Geiſtlichen conferibirte päpftliche Schweizergarbe in 
der Schweiz duch, Berufung der Jeſuiten verflärkt, der erklärten Feind⸗ 
des Proteftantismus und aller Duldung, die jedem Vaterlande und allen 
vaterländifchen Intereffen abgefchworen haben und deren Dafein im Ger 
biete der Eidgenoffenfchaft, wo ſich bie confeffionellen Gegenfäge und wider 
ftreitenden Partelinterefien auf fo engem Raume hart berühren, noch eine weit 
gefährlichere Bedeutung hat, als fie felbft in Deutfchland haben würde. So 
fchuf fich die hierarchiſche Partei aus der Schweiz ihre eigentliche Operations⸗ 
bafts für alle weiteren Unternehmungen. Bon bier aus ſendet fie die ſtets 
fich ernsuernden Schaaren der wohlabgerichteten Sklaven und Vollſtrecker 
des Beiftesdespotismus über Jura und Alpem nach Frankreich und Italien; 
von hier aus kann fie ihre jeſuitiſchen Miffionen bis an die Grenze bes ſuͤbli⸗ 
hen Deutfchlande mit feiner gemifchten confeffionelien Bevölkerung vors 
fhleben und die ihr günftig fcheinenden Umflände abwarten, um zur geleges 
nen Stunde den Samen ber celigiöfen Zwietracht über die Nachbarländer aus⸗ 


zuflteuen. 

Schon in der Periode der Reſtauration hatten die hierarchiſchen Umgriffe 
in mehreren Gantonen zwiſchen Staat und Kirche Iange dauernden Haber 
erzeugt. Mach dem Aufſchwunge von 1830 traten endlich die Abgeordneten 
mehrerer Stände zuſammen, um in ben Befchläffen der badener und luzer⸗ 
ner Conferenz die Grundlagen zu einem bie Selbftftändigkeit ber ſchweizeri⸗ 
ſchen Stliederfinaten fihernden Kirchenrecht und Kirchenſtaatsrecht zu legen. 
Mochten gleich, einige wenige Artikel diefer badener Sonferenzbefchläffe durch 


Be einer Reihe tumultuarifcher Auftritte in mehreren Theltm der Bas 
tholifchen Schweiz Ber Died war namentlich in den Batholifchen Frei⸗ 
ämtern bes Aargaus und im beentfchen Jura der Fall. Später gelang «3 der 

ultramon⸗ 


kLe 

tanen Faction , durch bee Verbindung mit den ochlokratiſchen Elementen, bie 
Cantone Wallls und Luzern zu roͤmiſchen Provinzen und * den Namen 
ihrer demokratiſchen Verfaſſungen zum Spotte zu machen. Es gelang ihre 
durch die Kuͤnſte ihrer Verführung, ſelbſt einige Dinner, bie feübee in den 
erſten Reihen ihrer Gegner ftanden, in Apoftaten der Freiheit zu verwandeln 
und bie ar ihres fonft geachteten Namens in die Schanze zu ſchlagen. 

Endlich Erönte —* Werk durch bie Berufung der Iefuitm nad Luzern, 
an einen dr (ho Bororte. . 


gab — * der — — * den Vorwand, den Ruf der Religions: 
gefahr wiederholt anzuflimmen und fon im September 1843 bie Einleis 
tüng für den Abfchluß eines Bundes im Bunde zu treffen. Dies gefchah 
auf ben Mothener und Luzerner Gonferenzen, bie von Abgeorbneten ber Gans 
tone Luzern, Schwyz, Uri, Unterwalben, Zug und Freiburg beſchickt wur— 
den. chen damals brachte einer der ultramontanen Führer die Androhung 
" einer Trennung von ber Eidgenoflenfchaft zur Sprache, womit man unter Um: 
fländen Ernft machen müfle. Auch wurden fofort in mehreren diefer Can⸗ 
tone Befchlüffe zur Organiſation der Bertheidigungsträfte gefaßt, um et- 
waigen Angriffen zu begegnen. Um dieſe Zeit Dachte man aber noch an Feine 
Freifchaarenzüge, und gleichwenig konnte nad, Erledigung der Klofterfrage im 
Ginne der liberalen Cantone von Angriffen diefer legteren gegen die diſſen⸗ 
tirenden Stände die Rede fein. Hiernach war der Verdacht begründet, daß 
- vielmehr der ſchon fcharf hervortretende Sonberbund einen offenfiven Cha- 
rakter habe; daß wenigſtens feine Stifter darin ein Mittel zu finden hofften, 
um den ihren Intereſſen widerfprechenden Beſchluͤſſen der Tagfagung unter 
Umftänden felbft einen bewaffneten Widerftand entgegenfegen zu koͤnnen. 
Die fpätere Berufung der Sefuiten nach Luzern veranlaßte bie Freiſchaa⸗ 
renzuͤge (f. — — Yefuitwmfcage) und gab den ultramontanen Can⸗ 
tonen im J. 1845 Yen wilfommenen Vorwand zum förmlicdhen Abfchluffe 
ihrer katholiſchen — im J. 1845, welcher jetzt auch Wallis ſich anſchloß, 
wo inzwiſchen bie hierarchiſche Partei duch Bürgerkrieg und Brudermorb 
die Oberhand gewonnen hatte. Die betreffenden: ee über 


Breiburg. 348 


ben Sonderbund wurden zwar möglichft geheim gehalten; allein die Verfaſ⸗ 
fung bes Cantons Freiburg machte es doch nothiwendig , daß dem großen 
Rathe der Vertrag felbft zur Genehmigung , und hiernad, wenigftens ein 
Theil der darauf bezüglihen Documente zur Einficht vorgelegt werden 
mußte. So gelangte deffen Inhalt zur Deffentlichkeit und ſetzte die ganze 
Schweiz in Aufregung. Der Bertrag ber Sonderbündler beruft fich auf 
dis „alten Bünde” in der Schweiz und enthält damit eine ziemlich deutliche 
Beziehung auf den dem Proteftantismus feindfeligen borromäifchen oder 
f. 9. goldenen Bund der VII Orte vom Jahre 1586. Er fegt für die con» 
trahirenden Santone, zwar nicht den Worten, aber der Sache nad), ben Ars 
titel & der Bumbdesacte außer Kraft, wodurch beftimmt wird, wie ein von 
Außen oder im Innern bedrohter Canton eidgenöffifchen Beiltand anzurufen 
babe. An die Stelle der vom Bunde aufgeftellten Organifation führt er eine 
neue Organifation ein und conftituirt in der Errichtung eines befonderen 
Kriegsraths eine Behörde, deren ausgedehnte Befugniffe mit ber Competenz 
der Bundesbehörden im Widerſpruche ftehen und zu kaum vermeidfichen Col⸗ 
Ufionen führen muͤſſen. Endlich oͤffnet er den betheiligten Cantonen die Ausficht 
auf außerordentliche donomifche Laften, die nach der eidgendffifchen Scala 
vertheilt werden follen, fo daß Freiburg, neben den drmeren Cantonen 
des Sonderbundes, daran befonbers zu tragen hätte. Gleichwohl wurde ber 
Vertrag von ber Mehrheit des großen Raths in Freiburg angenommen; 
allein gegen die energifche Proteftation nicht blos aller Abgeordneten bes 
reformirten Bezirks Murten, fondern auch vieler ehrenwerthen Eatholifchen 
Mitglieder, welche bie Würde und den gebeihlichen Zortbeftand ihrer Kirche 
durch den Sieg des Jeſuitismus vielmehr gefährdet ale gefichert achteten. 
Um die ganze Bedeutung dieſes Sonberbundes zu ermeflen, find vor 
Allem bie Beziehungen einiger Haupturheber beffelben zum Auslande nicht 
aus dem Auge zu verlieren. Aufder Zagfagung von 1846 verla® der aar: 
gauifche Geſandte Briefe aus der Correſpondenz „getoiffer ſchweizeriſcher 
Staatsmänner” mit auswärtigen Diplomaten, worin die Vorausfegungen 
für eine fremde Intervention hergezählt werden. Darin offenbarten fich 
zugleich die Gelüfte jener fogenannten Staatsmaͤnner, die Vorausfegungen 
ber Intervention zur Wirklichkeit zu madyen, um durch Dilfe fremder Bajo⸗ 
nette eine Umgeftaltung der Schweiz herbeizuführen. Sehr zu beachten iſt auch 
Das, mas im Großrathe des Cantons Zürich vom Abgeordneten Alfred Efcher 
hervorgehoben wurde. Nach der anrgauifchen Klofteraufhebung erließ das 
öfterreichifche Cabinet eine Depefche vom 27. $ebr. 1841, die 1845 neuerdings 
beftätigt wurde. Sie giebt zu, daß Europa nicht dns Recht habe, bie Schweiz 
zur Auftechthaltung ihres Bundes von 1815 zu nöthigen, fährt aber dann 
mit den Worten fort: „Allein das Recht wird man den Mächten doch nie: 
mals beflreiten wollen, zu fragm: „Was iſt denn bie Schweiz? Wo iſt 
ber Bunb, mittelft welchem 22 fouverdne Cantone mit einander zu einer polis 
tifchen Einheit verbunden find?" Ferner: „Solte die ſchweizeriſche Ein: 
heit durch die Vernichtung des Bundes zerriffen oder in Zweifel geftellt 
werden(!), fo würde Deflerreich fich nicht für gebunden erachten, die Fahne 
ſchweizeriſcher Rationalität vorzugsweiſe in dieſem oder jmem Theile bes 








Sonderbund 


Im Hinblice auf den 
dad ———2 





R Staatemdnnse mit dem Auslande” theild amgebeutet, 
| Wohl ifk man überzeugt, daß diefer Vor⸗ 
—— rg 


— un MB der Stuten je ee 
"Sri verzeiih Hi, beachten. fie. durch.eine ausführliche. Denk» 





die Sache zuc. Verhandlung vor der Tagfagung von 1846., Hier 
kam aber fein ailtiger Zwölferbefchluß zur Stande. Die zehn ganzen und 
zwei halben Gantone, welche für Auflöfung des Sonderbundes ſtimmten, ve: 
preäfentirten zwar die große Mehrheit ber fchmweizerifhen Bevölkerung, aber 
nicht bie Mehrheit der Stände, Einen großen Theil dee Schuld baran trug 
bie fchwanfende Politik Genfs, welche bei den Bewohnern dieſes Cantons eine 
wachfenbe Erbitterung erzeugte und im October 1846 den Sturz der dortigen 
Regierung fo wie eine Revifion der Verfaffung zur Folge hatte. Bald dar: 
auf, am 25. Dctober, befchloß eine Volksverſammlung in Murten eine weitere 
Befchmerdendreffe an den freiburger Großrath. Sie enthält unter Ande— 
rem das Verlangen einer Rechnungsablage von Seite des Staatsraths Uber 
ben Stand des Staatsvermögens; fo wie, bie Forderung ber gleihmäßigen 
Beſteuerung bes Vermoͤgens und der Einführung des öffentlicdyen ftatt des 
bisherigen heimlichen Verfahrens in Eriminalſachen. Unmittelbar nad) den 
Genfer Ereigniffen fürchtete die Seluitenregierung in Freiburg ähnliche Auf: 
teitte in ihrem Santon und ordnete Eofkipielige Rüftungen an. Noch gelang 
es ihr, ihr Dafein zu friften, Immer ift jedoch ſchon Einiges damit gewon: 
nen, daf die jeſuitenfeindliche Oppofition wieder zum Selbſtbewußt ſein 
und zum Gefuͤhl ihrer Bedeutung erwacht iſt. Die guͤnſtigeren Umſtaͤnde 
der auswaͤrtigen Politik werden nicht lange auf ſich warten laſſen, da die 
greiſen Stuͤtzen eines Syſtems, das im Namen der legitimen Ordnung nur 
die ſchweizeriſche Bundesanarchie zu conſerviren trachtet, im Oſten wie im 
Weſten dem Grabe nahe find. Dann werden ſich auch die Bürger Freiburgs 
erinnern, daß fie. bis: jeßt zwar weniger als andere Gantome, für den Ruhm 


Frieden, Friedendfchlüffee 345 


der Eidgenoſſenſchaft gethan , daß fie aber ihrem Namen zum Trotze noch im 
ber Mitte des Cantons eine Zwingburg haben, von größerer Gefährde für bie 
neue Schweiz, als es Zwinguri für die alte war. Wilh. Schulz. 
Frieden, Friedensfhlüffe, befonders die wichtigſten 
ber neueften Zeit. Wieder ein Zeitraum von acht Jahren iſt feit dem 
Erfcheinen des vorftehenden Auffages verfloffen, und noch hat Bein Krieg 
europäifcher Großmaͤchte den Frieden unſers Welttheild unterbrochen. Jen⸗ 
ſeits feiner Grenzen bricht ſich feit Jahrzehnten die nad) allm anderen Rich⸗ 
tungen überfluthende Macht des ruffifhen Reichs in blutigen Wellen an 
den Selfenmauern des Kaukaſus und an der ehernen muthgefchwellten Bruft 
feinen Bewohner. Wie verhallende Sagen dringt die Kunde von dieſem 
wechfelvollen wenig beachteten Kriege nady Europa, mo ein anderer Kampf 
um Sein und Nichtfein gefämpft wird, wo Laufende und Millionen. zur 
Stiftung eines armfeligen Lebens um ihr tägliches Brod mühfam engen, 
während die Selbftfucht der Reichen und Vornehmen in nimmerfatter Be— 
friedigung über die Däupter der niedergebeugten Maſſen weg dem flüchtigen 
Genuſſe nachjagt. Und doch bringt dieſe Kunde bis in bie Alpenthäler der 
Schweiz die Lehre herüber, wie viel im Kampfe mit der flolzeften Macht 
ſelbſt die kleinſten Völker vermögen, welchen noch nicht das auflöfenbe 
Gift einer verweichlichenden Civilifation den trogigen Muth der Freiheit 
und Unabhängigkeit vernichtet hat. Wohl läßt der Gang ber Weltgefchichte 
ein großes Geſetz erkennen, dem fich Fein Volk auf die Dauer zu entziehen 
vermag. Don den zu Trägern der Bildung gewordenen weftlichen Staa⸗ 
ten aus bringt diefe mit all ihren Segnungen und Uebeln, mit ihren Zur 
genden und Laftern über alle Länder der Erde, bis ſich in ununterbrodhener 
Gliederung, Leben gebend und Leben empfangend, Volk an Volk gereiht hat. 
Indem ſich aber die Bewohner des Kaukaſus der mit der Farbe ber Givilifa> 
tion geſchminkten ruſſiſchen Barbarei erwehren, gewinnen fie der Bildung 
bes weſtlichen Europa die erforderliche Zeit, auch fie zu erreichen, und viels 
leicht dann erſt zu erreichen, wenn fich ber noch in trüber Gährung hinflies 
Sende Culturſtrom im weiteren Verlaufe ſchon in ſich felbft geldutert und ges 
reinigt hat. Denn wer mag es leugnen, daß unfere ganze Culturgefchichte 
einem Wendepunkt nahe fteht, daß wir einer vielfac, veränderten Beftalt 
des Staats, des Rechts und der Gefellfchaft entgegengehben? Don dieſem 
Höheren Geſichtspunkte aus erfüllen denn auch jene Priegerifchen Gebirge» 
völker Afiens felbft unbewußt einen meltgefchichtlichen Beruf durch ihren 
Widerftand gegen Rußland ; und nicht blos das gemeine Intereſſe politifcher 
Rivalitaͤt follte die weftlichen Großmaͤchte beftimmen, ben unbeugfamen Geg- 
nern dieſes Reiche eine thätigere und wirffamere Sympathie zu zeigen, um 
Rußland in Aſien menigftens einen Theil der Schuld büßen zu laffen, bie 
es durch feine. Mitwirkung zur Vernichtung Polens auf fid) geladen hat. 
Wie Rußland in Aſien, fo hat ſich Frankreich in Nordafrika in uns 
unterbrochene Kämpfe verwidelt. Diefer Kampf in Algerien, nady feinen 
bisherigen Ergebniffen bemeſſen, hat nur die Bedeutung einer Kriegsfchule, 
in welcher die Schwerter fcharf und blank gehalten werden, bis fie ſich wies 
der gegen Deutfchland und Stalien richten. Aber freilich iſt es eine Schule 


346 Frieden, Friedensfchlüffe 


die nur um den Preis von Tauſenden von Menfchenopfern ——— 
wird, und von Millionen an Gut und Geld, deren beſſere 
wohl dazu beitragen könnte , mit ber feindfeligen Bevölkerung im 
Sande, mit dem mehr und mehr anſchwellenden —** ‚ einen länger 
nn bewahren. Bon allen europdifchen Großmaͤchten bat 
ritannien durch feine Kriege im Orient Erfolge angebahnt, bie 
jest ſchon bedeutend ammorden ind und fuͤr die fo weſentlich zur Eultur⸗ 
gefhichte sdene MWeltgefchichte eine wachſende Bedeutung gewinnen 
werden. Die Entdedim nr — 
—— en und ſocialen Zu⸗ 
re Bon un —2 fluſſe kann es fein, 
daß: Dh Di Gewalt der britifchen Waffen ein der Erftarrung anbeims 
Reich, von einigen hundert Millionen bewohnt, auf viel ent» 
ſchiednere Welfe, als je zuvor ber Fall war, in den Kreis der Intereffen und 
Berechnungen der —— Politik, wie der nordamerikaniſchen Frei⸗ 
ſtaaten —— Be um diefeibe Belt, als ein —— 


— und die wahrfcheintiche Kette neuer Kämpfe und Friedensfchläffe, 
die fich muthmaßlich daran anfnüpfen werden, wohl noch tief eingreifen im 
das kuͤnſtliche und tauſendfach verſchlungene Getriebe der eucopäifchen Pro- 
buction und bes vermittelnden Welthandels. Aber nicht blos unmittelbar 
Heilfame Folgen werben daraus hervorgehen, fondern auch größere Krifen 
für Induftrie und Verkehr, welche bei der jegigen Stellung ber arbeitenden 
Glaffen und bei der gegenwärtigen Vertheilung des Einfommens von einer 
zahlreicheren Menge fchmerzlicher empfunden werden müflen. Dann werden 
auch die Ruͤckſtoͤße gegen die noch beftehende fociale Ordnung oder Unord- 
nung heftiger werden, bis endlich einer befferen Organifation ber Arbeit, fo 
wie der gegenfeitigen Sicherfteltung, Berföhnung und Verfchmelzung ber noch 
feindfeltg fich bekaͤmpfenden Intereſſen aller Claſſen der Bevölkerung die 
Bahr 1 gebrochen wird. (Ueber den chineſiſchen Frieden f. „Tſchina.“) 

Darf uns nun, trog allen geſellſchaftlichen Mißſtaͤnden, die feitherige 
Sortdauer des Friedens in Europa als eine Bürgfchaft feiner Erhaltung auch 
für eine fernere Zukunft gelten? „Der Krieg”, fagte ein großer beuticher 
Dichter, „muß im Kriege felbft aufhören. Dies iſt ebenfo wahr für den 
Frieden, denn auch diefer hört erſt im Frieden auf, che ſich die feindlichen 
Kräfte wieder auf den Schlachtfeldern meſſen. Und hat er nicht wirklich 
aufgehört, trotz allen dußerlichen Symptomen einer Ruhe und Ordnung, ber 
man um fo mehr fich ruͤhmt, je größer die Opfer find, die für ihre muͤh⸗ 
felige Erhaltung gebracht werben muͤſſen? 

In flebonjaͤhrigenn Buͤrgerkriego hatte fich endlich bie Parteiwuth in 


Frieden, Friedensſchlüſſe. 347 


Orasim (f.d.) erſchoͤpft, und dieſe Erſchoͤpfung nannte man bie Herſtellung 
des Friedens auf der pyrenaͤiſchen Halbinfel und den Sieg des monarchiſch⸗ 
conftitutionellen Principe. Die Ruhe der Ohnmacht, durch das Blut von 
fenden im ſuͤdweſtlichen Europa erkauft, ſtellte der Cabinetspolitik 
auch der weftlichen Sroßftaaten die orientalifche Frage (f. d.) wieder mehe in 
ben Vordergrund. Die Eroberungslaunen eines alten Paſchas [een den 
Welttheil in Unruhe und bie zitternde Hand eines fiebenzigiährigen Greiſes 
it noch flark genug, jene Quadrupelallianz zu zerreißen, die den abfoluten 
Monarchien gegenüber das conftitutionelle England und das conftitutionede 
Frankreich verbunden hatte. Frankreich fiebt fich von den anderen vier 
Großmaͤchten bei Seite gefhoben. Der officielle Zorn eines Minifterium 
Thiers und ber verlegte Stolz ber Nation flimmen in den gleichen Krieges 
ruf zuſammen. Ganz Europa rüftet; für alle Völker in weitem Kreife ſtei⸗ 
gern fich die Koften des bewaffneten eucopdifchen Friedens um Millionen 
und aber Millionen. Alle Erinnerungen der „großen Nation’, alle böfen 
Geluͤſte des Ehrgeizes und der Eroberungsſucht erwachfen wieder in Frank⸗ 
reich; in tapferen Worten tritt ihnen der cenfirte Enthuſiasmus ber Deut- 
ſchen entgegen. Inzwiſchen haben die britifhen Kanonen den dgpptifchen 
Paſcha zuruͤckgeſchreckt. Der König durch die Thatſache der Barricaden, uns 
terwirft füch der Macht der Thatſachen auch im Oriente. Der Erisgerifche 
Apparat verfhwinbet vom Schauplage ; Louis Philipp wirft den Hel⸗ 
benmantel ab, das heroiſche Intermezzo iſt zu Ende und das lange buͤrger⸗ 
liche Trauerſpiel hat auf Koſten der Völker wieder feinen Fortgang. Indeſſen 
find Die Budgets angefchwollen,, neue Anleihen abgefchloffen worden und die 
Wölfe der Boͤrſe haben wieder am ſauren Erwerb des Volks gute Beute 
gemacht. Aber ber Friede ift erhalten, bie Papiere fleigen im Werthe und 
die europaͤiſche Ariftoßratie der großen Wucherer bat aus dem drohenden 
Sturme nur die feftere Hoffnung gewonnen, dag fo bald Fein europdis 
[her Krieg ihre friedlichen Speculationen flören wird. 

Gelang «6 doch bald einem Minifterium Guizot, die Phrafe von 
«einer „entente cordiale‘ zwiſchen Frankreich und England felbft jenfeits bes 
Canals für kurze Zeit in Umlauf zu fegen. Aber bald wurde das herzliche 
Einverftänbniß auf die Probe geftellt. Zwar fchien bie franzoͤſiſche Politik 
in der fpanifchen Heirathsfrage mit einer gewiſſen Offenheit zu Werke zu ges 
ben. Der Telegraph verkündete ja die Mannbarkeit der jungen Königin 
von Spanien, und zum Iopalften Wettrennen fchienen allen prinzlichen Be⸗ 
werbern die Schranken geöffnet. Inzwiſchen hatte ſich jedoch das Cabinet 
der Tuilerien ein leichteres Spiel zu verſchaffen gewußt: unter dem Schleier 
der entente cordiale wußte es die Karten zu miſchen und den Einſatz zu ge⸗ 
winnen. Fuͤr Lord Palmerfton blieben nur nachträgliche Klagen über 
die „‚Feanzöfifehe Treulofigkeit.” Noch vor Kurzem wußte die minifterielle 
Preſſe Englands nicht genug die Weisheit des Nachbarkoͤnigs und feinen in. 
der Maͤßigung fo flarken Miniſter zu rühmen: jest war ber ſtarke Mini⸗ 
fler zum „imbecillen geworben, und bie Weisheit wurde „Tafchenfpielerei” 
genannt. 

Eine verzweifelte Schaar hatte es gewagt, noch einmal bie Fahne ber 


Unabhängigkeit Polens aufzuftelen und den brei norbifchen Mächten sie 
ug Eu zu bieten. Auch die Verzweiflung bat nody ihre Illuſionen, unb 

be eines Meinen Fleckchens Erde getraute fie ſich, ihre Hebel anlegen 
und das noch feſt gefügte Gebäude des Abfolutismus fprengen zu Können. ı 
So warb Krakau, der von ber Tafel der Großen der Freiheit jugeworfene 
Broden, yum Herde auserfehen, von dem aus Über alle Provinzen des ehe: 
maligen Polens die Flamme ſich verbreiten follte. Aber fie fchlug zuruͤck in 
das Antlig Derjenigen, die fie entzuͤndet hatten, und nad kurzem Math: 
ſchlage sin bie drei Mächte die Aufhebung des fogenannten Freis 
flaats und feine Wiedervereinigung mit Defterreih. Ohne die Stimme 
der Mölker zu hören, hatte der Wiener Congreß totderfprechende Elemente 
t einem Königreiche der Niederlande zufammengethan ; und ohne befondere 
trengung brad) die Fulicevolution, durch eine beildufige Seitenbemegung, 

das Werk der diplomatifchen Paune auseinander. Als daher nach langer 
Derbandlung die Trennung Belgiens von Holland anerkannt wurde, war 
bies nur die Anerkennung einer Thatfache des Voͤlkerlebens felbft, bie fih 
ohne das Ja oder Nein der europdifchen Diplomatie aus eigenfter Nothwen⸗ 
bigkeit durchgeſetzt hatte. Anders war es bei Krakau, Dort hatte weder 
Bolt noch Regierung die drei Schugmächte um den Gnabenfloß der Po: 
litik angeflehtz; es geſchah vielmehr ohne ihren Willen und ohne ihre Zus 
—— daß bie unter dem Schirm ber europaͤiſchen Verträge für unab⸗ 
bängig erflärte Demofratie mit einem Federſtriche vernichtet würde, Sept 
tießen fih aus Großbritannien und Frankreich bie heftigften Stimmen ber 
Erbitterung über den Bruch ber Verträge von 1815 hören. Aber zugleich 
jubelte man, daß fortan auch Frankreich nicht mehr gebunden feiz und in der 
Naivetaͤt der erften indiscreten Offenbarungen war nicht blos von einer 
Herfiellung der Seftungswerke von Huͤningen die Rede, fondern fogar von 
einer Wiedereinverleibung der Republik Genf mit dem franzöfifchen Reiche. 
Mit wahrem und ſehr erklaͤrlichem Schmerze hatte man in ben Demos 
kratien ber Schweiz das unglüdliche und Unglüd meiffagende Schickſal 
der Schweſterrepublik Krakau aufgenommen und hörte nun mit Erflaunen 
von Frankreich ber den Grundfag einer neuen Moral verkuͤnden, wonach 
e6 fuͤr zweckmaͤßig erlärt wurde, ben Schatten des hingerichteten Sreiftantes 
etwa damit zu fühnen, daß man auch einem feiner Freunde und Verwandten 

den Kopf abfchlüge. 

| Es war den weftlihen Gabinetten fein Ernft mit ihrer zur Schau getras 
genen Theilnahme am Sein oder Nichtfein des Meinen polnifchen Freiſtaats. 
Wider die Anfchuldigungen, die felbft in den öffentlichen Blättern ihrer Mini⸗ 
fter gegen die nördlichen Mächte gefchleudert wurden, erhob ſich bald bie Ge⸗ 
genanklage, baß man fo gut im Hötel des Capucins als in London das 
Krakau bevorftehende Schickſal ſchon vor der endlichen Abfaffung des Todes⸗ 
urtheils gekannt habe. Wer mag daran zweifeln? Dan war indefien in 
Frankreich und England der öffentlichen Meinung eine Genugthuung ſchul⸗ 
dig, die zugleich zur Befehwichtigung dienen follte. Proteftationen aus den 
Cabinetten von St. James und aus dem der Tuilerien wurden erlaffen. Die 
franzöfiiche Staatsklugheit wollte die Gelegenheit nicht vorübergehen laſſen, 


Brieden, Briedensichläffe. 849 


den in der fpanifchen Hetrathefache gefpielten Handſtreich vergefien gu machen. 
Der britiſche Miniſter des Auswärtigen wies die freundlich Dargebotene Hand 
zuruͤck, und England wollte von keiner gemeinfchaftlichen Protsftation mit 
Frankreich wiffen. Run verkünden aber triumphirende Stimmen aus Eng⸗ 
land, daß diefes nur eine fehr ſchwache Verwahrung eingegeben, wohl aber 
das franzoͤſiſche Cabinet dahin gebracht habe, ſich den nordifhen Mächten 
gegenäber zu „compromittiren.“ Alfo eine „‚Escamoterie” gegen die anders! 
Und bis Vernichtung Polens , der teagifche Ernſt eines blutigen Dramas follte 
mit der Pointe eines duͤrftigen Epigramms endigen, mit bem armfeligen Gas 
lonſcherze eines beleidigten Miniſters im diplomatifchen Yuppenfpiele? Nicht 
doch! Die Geſchichte fpielt wohl zuweilen mit Marionetten, aber nicht biefe 
mit ber Geſchichte; und durch allen theatralifchen Lärm hindurch hat ſich 
doch eine ernfle Wahrheit tiefer als jemals in die Derzen der Völker eingegras 
ben. Wenn fchon vor Jahrzehnten ein berühmter Geſchichtſchreiber den Auss 
ſpruch that, die Vorſehung habe die Berflüdelung Polens zugelaflen, um 
die Moral der Großen zu zeigen ; fo find es num die Leiter der alten und vers 
alteten Cabinetspolitik ſelbſt, es find die Miniſter an der Spige der Befchäfte 
und ihre anerlannten Drgane, die in gegenfeitiger Anſchuldigung das 
Woͤrterbuch der Majeftätsbsleidigungen bereichert, die mit ihren Erklärungen 
den Bankbruch der Öffentlichen Moral auch Öffentlich verfündet haben. 
Schon verhallt wieder der Schwall leerer Worte und thatlofer Dror 
hungen, unb die zur gewöhnlichen Zeitungswaare gewordenen Declamatios 
nen über das Verhängniß des legten Ueberreſtes einer großen Nation werden 
kaum nody Monate lang die Geluͤſte müßiger Lefer jättigen. Der Friede ift 
alfo auch jegt nicht unterbrochen, ja feine Erhaltung nicht einmal ernſtlich 
bedroht worden. Was ift es aber, was jest und bei früheren Verwicklungen 
das Schwert in der Scheide zurückgehalten hat? Es ift da und dort bie 
Furcht vor dem eigenen Volke, zumal vor ber proletarifhen Maſſe. Aber 
diefelbe Furcht, die jegt noch den Frieden erhält, kann den Krieg unver 
meidlich machen. Jahre ber Noth und Zheuerung find für einen großen 
Theil Europas gelommen, das in drei Jahrzehnten des Friedens die Zahl feis 
ner Proletarier, die in flets ungeſicherter Eriftenz von Hand zu Mund leben, 
um 30 bis 40 Millionen vermehrt hat. Der Hunger peitfcht die ungläds 
lichen Irländer zu Verbrechen, und in Großbritannien verwifcht bie wach⸗ 
fende Roth des Augenblicks bei den arbeitenden Claſſen die Erinnerung daran, 
daß ihnen vor noch nicht Langer Zeit die Stimme der Kanonen die Unters 
werfung unter die einmal beftehenbe gefelfchaftliche Ordnung gepredigt hat. 
In Frankreich, wo die demokratiſche Partei wie ihre conmmuniflifchen 
ober halb communiftifchen Nachzuͤgler ſchon vor Jahren im Kampfe auf offer 
ner Straße überwunden wurben; wo in Wahrheit die alten Parteien in 
voller Auftöfung begriffen find, drängt fich wieder im vielen Provinzialftäds 
ten das von ber Noth und den Gegnern ber Regierung gehegte Wolf zum 
Aufftande, während ein groger Theil der Arbeiter von neuem focialen Ideen 
ducchdrungen iſt und ſteigende Korberungen an den alten Staat und bie alte 
Geſellſchaft macht. Auch Deutfchland hatte nicht bios feine Todten von 
Leipzig und Köln, fondern zugleich die Aufftände der Fabrikarbeiter in Schle⸗ 


350 Frieden, Sriedensfchläffe. 


fim und Böhmen, mit zahlreichen Heinen Nächfpielen; und von ba und 
dort erhoben fich wieder bie bitterften Klagen über ſchwer erträgliche® Elend. 
Noch iſt überall der bewaffnete Friede mit feinen Soldaten, Gensdarmen 
und Polizeren Deifter geblieben. Er wird es auch künftig bleiben, wo zu⸗ 
fommengelaufene Haufen ber geordneten, geübten und von einem Willen 
geleiteten Macht des Staats zu trogen wagen und die nackte Bruſt der Pha⸗ 
lanr ber Bajonette preisgeben, welche die Sicherheit des Eigenthums ſelbſt 
in feiner jegigen ungleichen Vertheilung bewachen. Am menigften würde 
ſich auch nur vorübergehend jemer Kommunismus gewaltfam durchzufegen 
vermögen, ber in der Livree dieſer oder jener Doctrin nur feine Eitelkeit und 
feine Unvereimbarkeit mit den wahren Bedhrfniffen der Menfchennatur zur 
Schau trägt. Aber fo weit die communiftifchen Belüfte und die bleibenden 
wohlerwogenen Intereſſen der unbemittelten Arbeiterbevölkerung auseinans 
berfalten, es tft dennoch wahr, daß feit einem Jahrzehnt ein neues Ele⸗ 
ment ben Strom ber Weltgefchichte uͤber die alten Ufer und ihre Damme hin⸗ 
ausdrängt; daß das Proletartat und ber Hunger ber tief eingreifende Factor 
einer Politik dee Zukunft geworden find, den der Schlendrian ber herkoͤmm⸗ 
lichen Politik nicht zu ermeſſen und in Rechnung zu ziehen verfteht. Denn 
nicht die Revolution iſt noch für Europa zu fürchten, die fich in gefchloffenen 
Meihen aufdas Schlachtfeld drängt; wohl aber jener Beine Guerillaskrieg, der 
In ſtets wiederholten Angriffen bie Grundlagen der Geſellſchaft allmälig un: 
tergraͤbt; dem jede zufällige oder abfichtlich herbeigeführte Stockung der Ar⸗ 
beit und bes Erwerbs neue Bundesgenoffen zuführt, der in der Statiſtik der 
Verbrechen gegen das Eigenthum fein furchtbar machfendes Budget hat und 
endlich die Sicherheit deffelben in einem Grade vernichtet, daß er den md- 
figen wie den übermäßigen Befig, den ehrlichen wie ben wucherifchen Er: 
werb mit gleicher Gefahr bedroht. Und diefer Krieg wird bereits im Often 
wie im Weſten geführt. Ob man mit abfichtlicher Berechnung bei den Baus 
ern Galiziens den Geift des Aufruhrs heraufbefchmor, oder ob es daflır 
ee eines Außeren Anftoßes bedurfte — er ift einmal vorhanden, er wird 
ſich durch die abgebrauchten Kuͤnſte der gewoͤhnlichen Politik nur ſchwer 
bewaͤltigen laſſen und ſeihſt ſcheinbar überwunden, wird er im Stillen fort: 
wuchern und feine Anftefung Über weitere Kreife verbreiten. Dafür iſt 
Stoff genug vorhanden. Drangen doch ſelbſt aus dem Inneren des ftreng 
abgefchloffenen ruffifhen Reiche unbeflimmte Nachrichten heruͤber von bluti: 
gen Kämpfen leibeigener Bauern gegen ihre abeligen Grundherren , und wa: 
ven die Gerichte übertrieben, fie fcheinen doc, nicht völlig grunblog geweſen 
zu fein. So ift e8 der Pöbel der Fabriken und eine rohe gedrückte Bauern: 
maffe, die ſich vom Weſten und Often her in ihren Angriffen gegen bie alte 
Gefeufhaft die Hand bieten. Nor Allem kommt aber bier bie Lage Sranf- 
reiche in Betracht, wo fid die Bewegung nicht auf die niedern Kreife bes 
ſchrankt, fondern im Eräftigften Keen der Bevoͤlkerung, wo das Gift ber 
Selbſtſucht noch am mwenigften eingefreſſen hat, das Selbſtgefuͤbl des Pro- 
letariats am Weiteften entwidelt und faft die ganze Claffe der induftriellen 
Arbeiter zu einer ſtets mächtiger werdenden Oppofition verbunden iſt. 
Kommen zu den ſchon vorhandenen Elementen noch Handelskriſen und 


Frieden, Friedensſchlüſſe. 851 


Nothſtand; treibt der Tod bes jetzigen Könige wieber bie ermatteten Parteien, 
fi von Neuem mit ihren ſich durchkreuzenden Planen zu verfahen: fo mag 
es zwar der Staatsgewalt und dem gemeinfamen Intereſſe der Eigenthümer 
gelingen, einer plöglichen Ummälzung vorzubeugen, doch fchwerlich wird man 
eime Gaͤhrung verhindern koͤnnen, zu deren dauernder Beſchwichtigung es 
außererdentlicher Mittel bedarf. Bon jeher war es aber ein nahe liegendes 
NMothmittel der Politik, der aufleimenden Zwietracht im Innern durch einen 
Krieg gegen das Ausland Einhalt zu thun. So wird früher oder ſpaͤter bie 
eine oder andere franzöfifche Regierung, und es werben bie befigenden Claſſen 
Frankreichs durch biefelbe Furcht vor dem Proletariat, die den Frieden erhals 
ten bat, um ihrer eigenen Eriftenz willen zum Friedensbruche genöthigt 
fein. Wohl hat die alte abgenügte Propaganda ihre frühere Bedeutung, 
wenn nicht für Italien, doch wohl für Deutfchland verloren. Aber ſchwer⸗ 
lich wird Frankreich noch einen Krieg beginnen, ohne zugleich feinem Pros 
letariat wenigftens einige Gonceffionen gemacht und ihm weitere Ausfichten 
eröffnet zu haben; und kann es erſt wieder, auf die Überrebende Kraft einer 
ſolchen Thatfache geftägt, fi) mit neuen Verheißungen an bie gedruͤckte 
Bevölkerung der Nachbarftaaten wenden , werden fie dann bei ber Gentralifas 
tion feiner Macht, bei der Eriegerifchen Luft, dem Ertegerifchen Muthe und 
2. kriegeriſchen Fähigkeiten feiner Bewohner , dem Andrange fo Leicht wider⸗ 


en? 

Ob aber ber nächfte europälfche Krieg von Welten ober Often komme, 
für Deutfchland iſt er gleich gefährlich, wenn es mit gebundenen Armen und 
getnebeltem Munde fein Verhaͤngniß erwarten muß. Aus den Reihen ber 
Polen haben ſich Stimmen erhoben, welche davon fafelten, daß Deutſchland 
bis an die Elbe, ja bis an die Weſer flavifch werden müffe. Mit gleich 
thörichter Leichtfertigkeit über bie Arbeit der Weltgefchichte wegfpringend, 
haben Deutſche in ihrer nationalen Kraumfeligkeit von einer Germanifirung 
ber Polen phantafirt. Seit taufend Jahren iſt der flavifche Stamm ber 
Ezechen mit Deutichland eng verknuͤpft, und wie weit haben wir es mit ber 
„Germaniſirung“ gebraht? Auch die polnifche Rationalität wird nicht mit 
deutſchen Federſtrichen ausgemerzt. Der Betft diefes Volks wird fortan in 
anderer Geſtalt, mit anderen Hoffnungen und Beftrebungen erſcheinen; aber 
Immer nody wird es Banquo's Geift fein, der die Gewalthaber fchredt und 
verwirrt. Hat etwa Oeſterreich an Macht gewonnen, baf «6 num vor ben an- 
deren norbifchen Mächten den Frieden auch in Krakau bewachen muß? Nur 
das Eine ift damit erreicht, daß mit der Hoffnung der Polen auf eine revo⸗ 
Intiondre Herftellung ihres Vaterlands zugleich bie feindfelige Gefinnung 
gegen Mußland mehr und mehr verfchwinden wich; baf fie nur mit dies 
fem und durch dieſes wenigſtens die theilweife Erfüllung ihrer Wuͤnſch⸗ 
und bie Ausſicht auf eine beffere Zukunft erwarten Binnen. Es mag ſein, 
daß Rußland von feiner jegigen Stellung aus, fo lange e8 noch an der 
überlieferten Politik eines die Völker abfloßenden Despotismus feſthaͤlt, m 
einem Offenfivfriege Bein allzu furchtbarer Gegner ift; es mag fein, bag es 
in einem Kriege gegen Frankreich wohl ein gefährlicher, aber Bein ftarker 
Bundesgenoſſe Deutfchlande wäre. Allein es hänge nur von ihm ſelbſt ab, 


od: es Be ne ee En 
| —— —— gezeigt, daß fich 





Den pe nicht nmel Tre u Pe ohne 
bag feltene Genie eines Napoleon, um mit. leichterer Mühe im Norben 
und Dften bie gleichen ober größere Erfolge zu erringen, als fie diefer im 
Meften und in der Mitte des Welttheils errang. Wer dürfte dann ertvarten, 
daß Czechen, Slowaken und alle jene Millionen Slawen an ben Grenzen 
Deutſchlands umd Ungarns die Berheifungen dev neuen Zukunft in ben 
Wind fchlagen ‚ daß fie mit ihren Leibern einen Wall bilden würden, um 
den im Ueberreft ber Verträge von 1815 garantirten Statusquo des deutfchen 
Bundes zu ſchuͤtzen, um zu ihrer Germanifieung den Deutſchen ausreichende 
Zeit und bequeme Muße zu verfhaffen? Für einen ſolchen ruffenfeindlichen 
Enthufiagmus ber, mit Deutfchland politiich verbundenen Siavenftimme bes 
bürfte es body wohl anderer Zriebfebern ald ber Heiligkeit der nicht mehr heir 
lig geachteten Verträge ; es bebürfte Dazu ihrer Verbindung mit den Deut- 
fchen durch ben Segen einer gemeinſchaftlichen Freiheit und eines bis in bie 
unterften Volksſchichten verbreiteten Wohlſtands. 

Dbder find die beutfchen Stammgenoffen in den fieben und -breißig 
Staaten des deutſchen Bundes durch gleiche Liebe und gleichen Haß, durch 
aleiches Intereffe und gleiche Meinung in fich ſelbſt fo feſt vereinigt; um 
jeder Gefahr Frog bieten zu können? Der weite Begriff einer deutſchen Par 
tel des Kortichritts bat feinen Inhalt, der zur gemeinfamen That führen 
Pönnte: dieſe fogenannte Partei iſt in zahllofe Fractionen zerfplittert, 
Darıim gehören bie Furcht oder die Hoffnung auf eine allgemeine Umgeltaltung 


v 


Frieden, Friedensſchluͤſſe 353 


durch eine Volksbewegung von innen heraus, zu den weſenloſen Traͤumen. 
Die doctrinaͤre deutſche Reiterei auf den Steckenpferden aller gelehrten un⸗ 
maßgeblichen Meinungen wird keine Carres ſprengen; und gegen die zer⸗ 
ſtreuten oͤrtlichen Ausbruͤche der Unzufriedenheit des Volks werden die berei⸗ 
ten Mittel der Unterdruͤckung noch lange ausreichen. Allein nicht um Das 
gilt es, was das deutſche Volk thun, ſondern was es nicht thun wird, wenn 
In einem neuen Kriege mit dem Auslande nur die begeiſterte That feiner 
einmäthigen Erhebung den Sieg zu verbürgen vermächte. Gaͤbe es in Deutfchs 
land eine Öppofition mit beflimmter Richtung und Har erfanntem Ziele, 
man wuͤrde felbft noch im drängenden Augenblicke der Noth buch Gewaͤh⸗ 
rumg ihrer gerechten Forderungen die ganze Nation zum Eräftigen Handeln 
fortreißen koͤnnen. Aber eine lähmende Mißſtimmung iſt allgemeiner ge: 
worden, während die Quellen dieſer Mißſtimmung ſich vervielfältigt haben 
und nun an allen Orten zugleich um fo ſchwerer zu verfchließen find. Jener 
matve Enthufiasmus für deutfche Einheit und Freiheit, wie er in und nad) 
dem Befreiungskriege zum Vorſchein kam , ift ſchon lange verbraucht. Wie 
wäre e8 anders möglich , da eine eiskalte Politik bemüht war, mit wieder⸗ 
holten Sturzbädern die patriotifche Fieberhige bis zum politifchen Bloͤdſinn 
herunter zu curiren? Giebt e8 doch nur in Deutfchland ein Häuflein fols 
cher Thoren, welche Vaterland und Vaterlandsliebe, Staat und Nationalis 
tät zum Aberglauben ftempeln möchten. Nirgends auch iſt eine‘ hervorra⸗ 
gende Perföntichkeit in einflußreicher maßgebender Stellung zu entdecken. 
Finden noch jest, wie früher, die Gewalthaber ihre officiellen Schmeichler, 
fo Hat ſich doch mehr noch die Zahl der heimlichen und fchleichenden Tabler 
vergrößert, die ihre Schwächen und Fehler übertreiben, die jelbft jede ihrer 
wohlmeinenden Abfichten von vorn herein verbächtigen, und mitten inne 
fteht eine gleichguͤltige oder durch unerfüllt gebliebene Verheißungen getäufchte 
Menge, die ſich unter der Herrſchaft des Preßzwangs für berechtigt hält, ſelbſt 
jeder Lüge und Verlaͤumdung uf Koften der Mächtigen ein gierige® Ohr 
‚zu leiden. Die gleiche Anarchie der Richtungen und Anfichten herrſcht im 
Gebiete der Religion. Hier das fleinerne Medufenbild eines erflarrenden 
Buchſtabenglaubens, dort die Fragen eines fogenannten „freien Geiftes” und 
einer fogenannten „freien Liebe”. Hier theclogifche Zeloten und Profelys 
ten werbende Seelenkaͤufer, dort die toll gewordenen atheiftifchen Kläffer, 
bie dem katholiſchen und proteflantifchen Jefuitismus die Beute in die Garne 
jagen. Hier die großen Paraden des Aberglaubens, dort die Beinen des 
Unglaubens. Hier ein heuchleriſcher Spiritualismus, der aus dem Irdifchen 
Sammerthale nad) einem himmliſchen Jenſeits weift und dem Volke vorpres 
bigt, fich einſtweilen aus feiner Noth feine Tugend zu machen; dort ein 
platter geiftlofer Muterialismus, ber die Lüderlichkeit in ein Spftem bringt 
und fich vermißt, als Heiland der neuen Zeit das Volk an feine Krippe zu 
laden, um bie tiefften Bebürfniffe des Geiſtes und Herzens mit dem pos 
pulaͤr zugefchnittenen Stroh einer verfommenen Schulmweishelt abzufüttern. 
Selbſt die Begeifterung für Ideen, für politifche und fociale Lehren und Lehr: 
gebäude ſcheint erſchoͤpft. Mit der Verheitung weltbegluͤckender Syſteme 
hat ſich zu oft ſchon der Hanswurſt in der Prophetenrolle gezeigt, als daß man 
28 


Suppl. z. Staatslex. II. 


354 Frieden, Briedensfchläffe. 


nicht von vorn herein mißtrauifch wäre ; und felbft neue Wahrheiten Erechen 
fid) durch das Betreibe literarifcher Coterien und ihre Verſicherungsanſtalten 
für grundloſes Lob und grundlofen Zabel jegt nur ſchwer und langſam Bahn. 
Und träte ein Mann der Wiffenfchaft auf, der mit fo viel Klarheit als 
Wärme alle im langen geiftigen Kampfe gewonnenen Wahrheiten in wiſſen⸗ 
fchaftlicher Einheit zufammenzufaffen wüßte, feine Stimme würde nicht 
durchdringen durch das Geklatſch aller gelehrten und populären Eitelkeiten. 

Nicht Schrift und Wort können noch helfen. Nur die fortgefegte 
That dee lebendigen Liebe und Gerechtigkeit, die flatt der Werheißung mit der 
Erfuͤllung begaͤnne, Eönnte wieder in heiligem Feuer das Vertrauen auf die 
Zukunft des Vaterlands ftählen, den Staat und die Gefelfchaft läuternd 
durchdringen. Viel vermöchte durch bie hinreißende Macht des Beiſpiels ein 
ſchoͤpferiſcher Geiſt auf einem bdeutfchen Throne, der mit der Menfchenliebe 
eines Joſeph ll. die größere Umficht des Staatsmann verbände; der mit 
dem gleichen Muthe, wie biefer den Pfaffen, fo den Täufchungen und 
Raͤnken einer ſelbſtſuͤchtigen Ariftokratie des Reichthums Trog böte ; ber aber 
zugleich das Ziel feines Handelns und alle Schritte zur Erreichung befjelben 
offen vor Augen legte, der daB Volk zum Mitarbeiter am Werke feiner Be: 
feetung von Geiſteszwang und Leiblihem Elende machte und von Anfang an 
auf die nichtswuͤrdige Eitelkeit verzichtete, die Begluͤckung einer Nation 
zum tafchenfpielerifchen Kunſtſtuͤcke einer geheimen und geheimthuenden 
Sabtnetöpotitit machen zu wollen. Aber wird man Fruͤchte von den Dornen 
tefen? Binnen Eurzer Zeit ift in Deutſchland viel guter Eindlicher Glaube zu 
Grabe gegangen. Darum mächft die Zahl Derjenigen, die vom Kriege 
hoffen, was fie der Friede vergebens erwarten ließ. Sie hoffen, daß jeber eu: 
ropaͤiſche Krieg, ob er gleich als Cabinetsfrieg begänne , doch als ſolcher nicht 
endigen werde; daß er die Ideen vollziehen, die Wahrheiten in's Leben fuͤh⸗ 
ren werde, die im Laufe der Triedensjahre, wenn gleich mit noch fo zahl: 
reichen Irrthuͤmern vermifcht, in das Bewußtjein der Völker gedrungen 
find. Aber Deutfchland mürde vor anderen Staaten diefen Gewinn nur 
unter großen Gefahren erreichen, nur mit den ſchwerſten Opfern erfaufen Fön: 
nen; und ob es feinen Beruf erfülle oder nicht, feine Aufgabe bleibt es 
doch, den Frieden bes MWelttheile zu bewahren und zu gebieten, oder im un: 
vermeidlichen Kriege den Sieg an feine Fahnen zu feffeln durd) die nicht mehr 
verzögerte Befriedigung des eigenen Volks. Man fürchtet das Nahen einer 
europäifchen focinlen Ummälzung; und wer Eann es leugnen, daß fie im 
Gefolge eines Außeren Kriegs mit allen Gräueln und Verwüftungen herein: 
brechen Fonnte? Der drohenden Revolution war ſtets nur durch zeitige Me: 
form zu begegnen und der Friede Deutfchlande kann nur bewahrt werden 
duch die Berufung der Nation zur fchöpferifhen Zheilnahme am Staate, 
fo mie durch eine Reihe von Maßregeln, die über die Tyrannei der Reichen 
gegen die Armen, wie über den Wahnfinn des Communismug zugleich den 
Stab brehen, indem fie endlid) in jedem Haufe der Bürger und Bauern, in 
jeder Wohnung der Armen die Möglichkeit eines freien und freubigen Lebens 
verbürgen. 

Wilh. Schulz. 


Fruchtſperre. 855 


Fruchtſperre und andere Maßregeln gegen die 
Theuerung im Sahre 1846. In den Artikeln „Korngeſetze, 
Sperre, Theuerung” iſt zwar auch der Sruchtfperre gedacht; allein die 
gegentwärtige Zeit bietet fo mandye neue Erſcheinung in Mitteln und Wes 
gen, den Ausfall der Ernte zu decken und bie Menfchen mit Nahrungsftoffen 
zu verforgen, daß es angemeſſen fein dürfte, Einiges darüber bier niederzu- 
legen. Die allgemeinen Grundſaͤtze über Getreidehandel und die im Fall 
einer Theuerung von Seiten des Staates und ber Gemeinden zu treffenden 
Maßregeln find an den angegebenen Orten entwidelt ;_wir bemerken hier nur 
kurz: daß der freie Verkehr die Nahrungsmittel am zweckmaͤßigſten ver- 
theilt, indem er fie überall da holt, wo fis am billigften zu haben find, und 
dort hinführt, wo fie am ſtaͤrkſten begehrt, alfo am theuerften bezahlt werden; 
daß er alfo naturgemäß zur Ausgleihung von Mißoerhältniffen zwifchen 
Vorrath und Bedarf hinwirkt. Maßregeln gegen Mangel oder Theuerung 
koͤnnen daher nur dann zweckmaͤßig ſein, wenn ſie den freien Verkehr nicht 
ſtoͤren, ſondern erleichtern und fördern, durch Ermäßigung oder Aufhebung 
von Abgaben, Gebühren und Laften, oder auch ihm nachhelfen, wo er 
nicht felbft Ausreichendes leiſtet, z. B. durch Ankäufe von Vorräthen, was aber 
um fo weniger nötgig fällt, je weiter entwideit und ausgedehnt der Gupitals 
reihthum und die Handelsthätigkeit einer Nation ifl. Hemmungen des Ver⸗ 
kehrs bewirken in der Regel das Gegentheil von dem, mas man beabfichtigt ; 
nuͤtzlich und wohlthaͤtig aber find die Anftalten, welche in theueren Zeiten 
den ärmeren Claſſen Arbeitsverdienſt und billige Nahrungsmittel verfchaffen, 
und bei einem freien und. gebildeten Volke wird in diefer Beziehung von 
Gemeinden und Vereinen fo viel gefchehen, daß der Staat nur Vorſchub zu 
Leiften und ergänzend einzutzeten hat. Außerordentliche Fälle dagegen, 3. B. 
Krieg, welcher den regelmäßigen Verkehr flört, oder eine Noth, wie fie in 
Irland dur das Mißrathen der Kartoffeln und bie Mittelloſigkeit der 
Volkemaſſe eingetreten ift, machen freilich außerordentliche Maßregeln noth⸗ 
wendig. — Go allgemein bieje Grundfäge in der Wiffenfchaft anerkannt 
fein mögen , fo wird doch jedesmal davon abgewichen, wenn 66 gilt, fie feſtzu⸗ 
halten, insbefondere, fo weit fie den freien Verkehr verlangen, und da, wo 
die Lehren der Volkswirthſchaft noch nicht Gemeingut der Bürger geworben 
find. Die Furcht fpielt eben. immermährend ihre Rolle, und bei den Uns 
wiſſendſten die größte ; despotifche Regierung ‚, Gewaltherrſchaft aber iſt am 
eheſten verankagt, den Vorurtheilen nachzugeben. Allein jedesmal zeigt es 
fich auch, daß diejenigen Staaten, welche den richtigen Grundfägen treu ges 
blieben find, am beften davon kommen und auch weniger an den Nachwe⸗ 
ben einer XTheuerung zu leiden haben als jene, weldye burdy Hemmung 
der naturgemäßen Verkehrsbewegung unmittelbar ber Landwirtbfchaft und 
mittelbar den Gewerben gefchadet haben. Nach ben Theuerungen wird 
in ber Regel über Verfall der Gewerbe und über Verarmung geklagt. 

Seit 1842 waren in Europa durchſchnittlich nur ſchwache oder mittlere 
Ernten, keme befonders ergiebig... Die Kartoffelkrankheit, welche 1845 
eintrat unb 1846 wiederfehrte, vergrößerte in vielen Gegenden den Ausfall an 
Nahrungsmitteln für Menſchen und Thiere; es wurden verftärkte Vezuͤge 

DRS 


856 Bruchtfperre. 
nad) ſolchen Ländern, welche in gewöhnlichen Jah: 
un en Bi fen — et eine Kasfeke bed aben. — 


* — un hierbei em gluͤcklicher Umſtand, daß der Zoll⸗ 
ein —* —— unter den ihm angehoͤrigen Staaten hergeſtellt 


drei vorhergehenden Theuerungen hatten In den Jahren 1770 bie 
Tem: 4791 — 1798, 1816 und 1817 ſtattgefunden; jedesmal hatten 
bie deutfdyen Staaten "nicht nur gegen das Ausland, fondern aud) gegen 


einander gefperrt und «8 war beiden früheren an dem Reichstag, bei der legs 
ten an dem Bundestage über Die Sperren geklagt, Uber Mobificationen nach⸗ 
—*8* nn —— ee fübtihen Staaten hatten ſich 

* waren a u im Sü den 


vor er an nu —— * —— Eifenbahnen, 
« ind Wafferfiraßen, Ai tn war nen in der neh aan 

fen ed des Transportſyſtems neuen Antrieb geben. 
bat ſich der Seficjtskreis —* namhaft er⸗ 
es | anze Erde, Mit 






Amerika führt auf Keeflicen Merkhrsmegen seine umerfeböpftichen Vorräthe 
aus dem tiefert Inneren nach den Seehaͤfen, während der Mangel an fahr: 
baren Straßen im füblihen Mußland den Donauländern und Ungarn jegt 
doppelt fühlbar und zur Abhilfe ein maͤchtiger Sporn gegeben wird. 

Unter den Maßregeln, meldye nicht auf die Leitung des Verkehrs 
Bezug haben, ſondern fowohl übertriebenen Beforgniffen entgegenwirken 
als auch für Verdienſt und Unterflügung der aͤrmeren Glaffen forgen follen, 
erwähnen wir folgende: 

1) Bekanntmachungen über das Ergebniß ber Ernte. 
Solche find in Batern von Kreisbehörben, in Sachſen von der Gentral- 
vegierung erlaffen worden. Letztere ſagt unter Anderen: ‚Die diesjährige 
Ernte ergiebt gegen eine normale Ernte einen Minderertrag von ungefähr 22 
Procent beim Winterroggen, 23 Procent beim Sommerroggen, 8 Procent 
beim Weizen, 9 Procent bei der Gerſte, 6 Procent beim Hafer, 23 Pro: 
eent bei Erbfen und Wien ; dagegen einen Ueberfchuß von 23 Procent beim 
Haidekorn oder Buchweizen. Erwaͤgt man nun aber, daß das Getreide 
durch Mehlreichthum ſich altszeichwet ; daß der Raubfutterertrag ben eines 
Mitteljahres fo weit uͤberſchritten hat, daß minoeſtens 30 Procent mehr, im 
Durchſchnitt, zur Winterfütterung eingebracht worden ; daß die Ernte von 

Ruͤben u. ſ. w. eine ausgezeichnete getvefen iftz daß hierdurch allenthalben Ge⸗ 
treide und Kartoffeln zur Viehfütterung erfpart werben; daß bie Kartoffels 
krankheit, felbft da mo fie in höherem Grabe ſich gezeigt, doch feit dem Ein⸗ 
bringen der Kartoffeln in zweckmaͤßige Räume nicht oder doch nur in einzelnen 


v 





Fruchtſperre 857 


Faͤllen fortgefchritten ift: fo folgt hieraus — abgefehen davon, ob hier und ba. 
noch größere Worräthe ſich befinden — allmthalben von felbft, daß ber wirk⸗ 
liche Ausfall an Getreide und Kartoffeln zur Nahrung der Menfchen zwar im: 
mer bedauerlich, aber nicht fo groß iſt, als es hier und da geglaubt wird, und 
zwar bie Entſtehung höherer Preife ertlärlich zu machen, nicht 
aber die Beforgniß eines wirklihen Nothſtandes im Lande 
zu erregen geeignet iſt.“ — Vollſtaͤndige ſtatiſtiſche Mittheilungen 
über das Ergebniß der Ernte und ben Bedarf find bis jegt (Ende 1846) in 
keinem deutfchen Staate bekannt gemacht worden; bie Statift:?, fo wichtig 
für die Regierungen wie für ben Handel und die Inbuftrie, bedarf noch fehr 
dee Pflege und Ausdehnung. Selbſt in den Vereinigten Staaten, wo 
doch weniger regiert und gefchrieben wird als auf bem europdifchen Feſtlande, 
veröffentlicht Die Regierung forgfältig gearbeitete Weberfichten über bie land» 
wirthfchaftliche Production. 

2) Ankauf von Lebensmitteln im Auslande. — Wenn bie 
Statiſtik die Größe des bucchfchnittlichen Bedarfs und die Refultate ber Ernte 
an die Hand gegeben hat, fo läßt fi) annähernd die Menge ber einzuführenben 
Nahrungsmittel beftimmen, und dere Staat hat Mittel in der Hand, die 
Speculation aufzumuntern und zu fchleunigfter Herbeiſchaffung des Fehlen⸗ 
den zu veranlaffen. Dies iſt In Frankreich geſchehen. Die Regierung bes 
flimmte, daß alle Lieferungen für das Landheer und die Flotte nur in ausläns 
difchem Getreide und baraus bereiteten Stoffen zu gefchehen haben, geftats 
tete Vergütungen und bezeichnete die Häfen, woher bie Bezüge zu nehmen 
feien: fie wußte den Handel raſch zu beleben; er kaufte am Rhein, in Hol⸗ 
land, felbft in England, bis dort die Preife höher fliegen, in ben Häfen ber 
Mords und Oſtſee wie bes ſchwarzen Meeres, in Aegypten und Stallen; in 
der Hälfte des December war der Bedarf gedeckt und die Preife begannen zu 
weichen. Die Einfuhr In den erften sehn Monaten des Jahres 1846 hatte, 
nach einer officiellen Angabe im Moniteur, 2,637,417 metrifche Sentner Ge: 
treide, meift Weizen, betragen, wozu noch 30,966 Centner Mehl kamen, 
von Anfang November bis Mitte December aber wurden 34 Millionen 
Hektoliter Getreide eingeführt, das Vier: bis Fuͤnffache ber durchfchnittlichen 
Einfuhr, etwa z der durchfchnittlichen Weizenproduction und über ZI, ber 
gefammten Getreideprobuction. Auf Staatsrehnung unmittelbar wurs 
den keine Aufläufe gemacht, benn man erinnerte fi, daß der Staat Im 
Sabre 1817 an 80 Millionen Franken , welche für Ankauf von Früchten 
aufgewendet worden waren, 49 Millionen verloren hatte, ohne ein merk: 
liches Refultat zu erzielen; eben fo hatte die Stadt Paris, welche den Ein: 
kauf und Verkauf felbft beforgte, 26 Millionen eingebüßt, und fpäter bie 
Erfahrung gemacht , Daß fie weit bilfiger zulomme und mehr ausrichte, wenn 
fie den Aermeren wohlfeiles Brod dadurch verfchaffe, daß fie den Bädern 
den Unterfchied vergüte (dafür wurde 1830 die Summe von 1,400,000 
Franken ausgegeben). Die Brodpreife aber fanden Mitte December 1846 
nicht fo hoch wie im Jahre 1830. An Deutfchland und der Schweiz has 
ben mehrere Regierungen Getreide im Ausland Eaufen laffen. Balern 
ging voran; bie zu diefem Zweck beftimmte Summe foll gegen 2 Millionen 


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— wart ner Bildung , „feinen gefellichaftlichen und 
Nahrungsverhättniffen dernachläfftgtes, Bolt, das in. ſich ſelbſt Eeinen Trieb 
und keine Mittel findet, feine, Rage zu verbeffern und fidy über ſchlimme 
Tage binauszuhelfen, in ein fo tiefes Elend ſinken kann, daß aud) die groͤß 





‚ten Anftrengungen ber Stantögewalt nur wenig fruchten. Auf. der andern 


Seite ift nicht zu verkennen, daß eine zweckmaͤßige Befchleunigung und Ver— 
theilung in der Ausführung Öffentlicher Arbeiten von mwefentlihem Nugen 
in theuern Beiten fein kann. , Diefe Arbeiten aber follen nicht blos Mittel 
zur Beſchaͤftigung einer größeren Anzahl Menſchen fein, fondern an und für 
fid) einen nachhaltigen Nuten gewähren, befonders durch Verbefferung ber 
Verkehrswege (Landitraßen, Candle, Eiſenbahnen) und Vermehrung ber 
landwirthſchaftlichen Probuetion (Urbarmachen oder Streden, Entwäfferun: 
gen, Zrodenlegung von Suͤmpfen u.bgl.). Im Großherzogthum Heffen 
find mehrere zwedimäßige Weifungen fowohl an die Baubehörden als an 
die Domärenverwaltungen ergangen, morin benfelben anempfohlen murbe, 
die Arbeiten, wozu die Mittel vorgefehen waren, möglichft zu ſolchen Zeiten 
vornehmen zu laffen , wo der Arbeitsverdienſt überhaupt feltener wird, auch 
ſolche, die erft ſpaͤter zur Ausführung beftimmt waren, früher vorzunehmen 
und dabei bauptiächlich denjenigen den Borzug zu geben, wobei die einfache 


« Handarbeit am meiften Belchäftigung findet (4.8. Straßenbauten) — 


Die framzoͤſiſche Regierung hat ben öffentlichen Arbeiten ebenfalls einen 
verftärkten Aufſchwung gegeben und: burch Erhaltung eines flüffigen Gelb: 
umlaufs mit Hilfe ber Bank die Inbuſtrie in den Stand. gefegt, ihre Thaͤ— 


Fruchtſperre. 859 


tigkeit in ungefchmälertem Maße fortzufegen. Induſtriereiche Länder haben 
gegen andere auch den Vortheil, daß die Bezugslänber, denen fie Getreide 
abnehmen, geneigt werden, ihnen Manufacturwaaren abzutaufen, fo daß 
fie zuletzt die Früchte nicht mit Geld, fondern mit Waaren bezahlen. — 
Da bei fletgenden Preifen der Lebensmittel die arbeitende Claffe ihre Löhne 
nicht fogleich mit dem erhöhten Bedarfe in ein richtiges Verhaͤltniß fegen kann, 
und gerade in den Wintermonaten die einfache Handarbeit ſchwaͤcher gefucht 
wird; da ferner die Mehrausgabe für Lebensmittel auch bie Mittelclaffen, na» 
mentlich bie Befoldeten noͤthigt, ihren Verbrauch an andern, entbehrlicheren 
Semußmitteln einzufchränten,, wodurch der Gewerbſtand leidet — fo wer⸗ 
den in ſolchen Zeiten Unterflügungen nöthig, zu denen bie Mittel der Armen: 
pflege nicht ausreichen, auch nicht immer geeignet find. Auch in biefer 
Beziehung wird gegenwärtig mehr als früher geleiſtet, und namentlich treten 
die Hilfßvereine in größerer Ausdehnung ben Gemeinden und Wohlthätig 
feitsanftalten zur Seite. Gemeinden und Vereine haben Anflalten ge: 
teoffen, um Brod und andere Lebensmittel unter den Zars und Marktpreifen 
an Unbemittelte zu vertheilen ; e8 werden Vorräthe im Großen angekauft und 
zu dem Einkaufspreiſe, aud) nody nieberer, abgegeben; an mehreren Orten 
find Gemeindebaͤckereien errichtet worden. Bon befonberem Nugen erweifen 
fi die Suppenanftalten, welche unter ber Leitung von Frauenver⸗ 
einen eine gefunde und nahrhafte Koft in zureichendem Maße bersiten und 
gegen fehr billige Preife — an ganz Arme unentgeltlich abgeben. Endlich find 
auch Einrichtungen getroffen worden, um Denjenigen,, welche Arbeit fuchen, 
anzugeben, wo folche zu finden iſt. Der Geift der Affociation, gerichtet 
nicht nur auf vorkbergehende Linderung ungewöhnlicher Noth, fondern aus: 
dauernd thätig für die fittliche Heranbildung der arbeitenden Claſſen, für die 
Ausgleihung bes Mißverhaͤltniſſes zwiſchen Capital und Arbeit überhaupt, 
ſcheint in unferem Sahrhundert beſtimmt, den Kormen ber politifchen Frei⸗ 
heit dad Weſen der ſocialen Geſtaltung zu geben, welche an die Stelle der 
mittelalterlihen Emährungspflicht des Grundherrn gegen den Leibeigenen 
und der Corporation gegen ihre Angehörigen in einem Verbande freier und 
gleichberechtigter Menfchen zu treten hat. Es bilden ſich in Zeiten wie bie 
gegenwärtige die Elemente, aus denen fich die noch nicht gefundene Löfung 
der focialen Aufgabe ergeben wird. 

Surrogate. Der Ausfall an Nahrungsmitteln bei unzurei- 
chender Ernte bringt mit den fleigenden Preifen auch Vorfchläge wohlfeiler 
Erfagmittel. Die nämlihen Vorſchlaͤge zu Mifchungen von Kartoffeln, 
Ruͤben, Flechten: und Moosarten, Queckenwurzel u. dgl. unter bas Mehl 
zum Brodbaden, welche in den Hungerjahren von 1770 bi8 1772 gemacht 
wurden, find au 1846 wieder zum Borfchein gelommen, haben aber 
immer nur bei fehr hohen @etreidepreifen und bei wirklicher Hungersnoth, 
wo ohnehin Alles aufgefucht wird, was nur irgend zur Nahrung dienen 
kann, eine ausgebehntere Anwendung gefunden. 

Die Maßregeln, buch Leitung des Verkehrs der Theuerung ent: 
gegen zu wirken, find im Durchſchnitt die minder zweckmaͤßigen; dies gilt 
ziemlich allgemein von denen, welche duch Beſchraͤnkung des Verkehrs 


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a 3 — beflimmten Vermoͤgens und gewiſſer perſoͤnlicher Eigenſchaften, 
eines guten Leumundes u, dal. m. geknuͤpft iſt; die Zahl der Maͤkler ſoll 
auf das Beduͤrfniß beſchraͤnkt werden. Einkäufe und Verkäufe follen nur 
auf. den öffentlichen Märkten geicheben , das Ankaufen von Vorräthen, bie 
auf bem MWege zum Markte find, die Vorkaͤufe, heimlichen und Schein: 
kaͤufe find verboten. Die alte Hanfe kannte ähnliche und noch fhlimmere 
Befchränfungen bes. Getreidehandels, um ihren Hanbdelsplägen und Kauf: 
leuten die Bortheile deffelben zu fihern; bie franzoͤſiſche Revolution kennt 
ſolche ebenfalls, in einer Zeit, wo zu ber Xheuerung noch der Aufftand im Rande 
und ber Feind von Außen Fam, alfo unter Umftänden, bei denen die Selbft- 
erhaltung zu den außerorbentliditen Maßregeln zwingt; aber daß biefe 
Vorſichts maßtregeln mehr ober Beſſeres leiften, als ber freie Verkehr, daß fie 
ber Theuerung abhelfen, bafür werben Beweiſe ſchwerer aufzutreiben fein als 
vom Gegentbeile. In Kurheſſen 3.8. wurde der Ankauf von Kartoffeln 
nur zum eigenen Verbrauche gefkattet, zum Branntweinbrennen verboten, 
Mas das Grffere betrifft , fo wäre #8 ungleich mohlthätiger, wenn Jedem ber 
Ankauf des eigenen Bebarfs möglich gemacht, als nur geftattet würde; foldye 
Norfchriften erwecken Beforgniffe, die ben Wohlhabenden veranlaffen, ſchnell 
nach dem Jahresbedarf zu greifen und dadurch ben Aermeren die Anſchaffung 
ſelbft für kuͤrzere Zeit zu erſchweren. Das Verbot des, Branntweinbrennens 
ſcheint mebr für fich zu „habenz allein abgeſehen davon, daß hohe Preiſe an 
und für ſich ſchon das Brennen befchränken, wird ein unbebingtes Verbot 





Fruchtſperre. 361 


nachtheilig für den Vichfland, indem auf größeren Gütern das Brennen 
häufig mehr um ber Maftung als um des Branntweins willen betrieben wird. 

2) Die Maßregeln zur Leitung des äußern Verkehrs be 
ftehen In Ermäßigung oder Aufhebung der Eingangszölle und Erfehwerung 
oder Verbot der Ausfuhr. Das Zollſyſtem, wonach mit dem Steigen der 
Getreidepreiſe auch ber Zoll auf die Ausfuhr fleigt, auf die Einfuhr abnimmt, 
befteht noch in Frankreich ; England ift davon ab: und zu einem feften Zollſatz 
übergegangen, welcher dem Handel regelmäßige Unternehmungen geftattet und 
ihn von den Wechfelfällen der fleigenden und fallenden Zollfäge unabhängig 
macht. Ob nun gleich der fefte Eingangszoll dermalen höher iſt, als es bei den 
gegenwärtigen Preifen der frühere wanbelbare fein würde, fo beweifen boch bie 
ungewoͤhnlich flarten Zufuhren, daß der Handel eine feſte Grundlage feiner 
Berechnungen dem Schwanken vorzieht. Wehrigens wird die zollfreie 
Einfuhr lebhaft begehrt, allein die Regierung hat fie bis jegt nicht zugeflans 
den; das naͤchſte Parlament wird darüber entfcheiden. Frankreich bat 
den Eingangszoli auf Weizenmehl von 14 Fr. 80 ©. für 100 Kilogramm 
auf 2 Franken und von den übrigen Mehlforten nad) Verhaͤltniß herunter 
geſetzt. Die Zollvereinsftaaten, deren Tarif die Getreideeinfuhr nur gering 
befteuert (mit 3 Thaler oder 175 Zr. den Centner), haben [yon im Jahre 
1845 größtentheild die Einfuhr frei gegeben und den Termin bis Ende Sep: 
tember 1847 verlängert. Ebenfo Belgien; Holland begünftigt außerdem 
die Zufuhr von Reis aus den Colonieen na dem Mutterlande. Die Auf 
hebung des Eingangszolls iſt eine wohlthätige, ben Verkehr begüinftigende 
Maßregel und es ift zu erwarten, daß auch der Zoll auf Reis, wo nicht ganz 
aufgehoben, doc, wenigftens namhaft ermäßigt werden wird; in Baden 
wird überdies die unentgeltliche Lagerung von Vorräthen auf drarifchen 
Speichern geftattet. — Anfang October murde in der balsrifhen Rheins 
pfalz die Ausfuhr von Getreide und Hülfenfrüchten, Mehl und Mühlen: 
fabrikaten mit einem Zoll von 25% des MWerthes belegt und nad) den dama⸗ 
ligen Preifen wurben die Zolffäge beffimmt. Unterm 17. October wurbe die 
Maßregel auf den ganzen Umfang bes Königreichs ausgedehnt und 8 Lage 
fpäter ſchloſſen fih Wuͤrtemberg und Baden berfelben an. An der Rheins 
grenze gerieth der lebhafte Zwifchenhanbel in's Stoden. Bebeutende Vor⸗ 
räthe, aus Holland zu Eingang, aber mit ber Beftimmung nad) Frankreich 
und der Schweiz, nad) ben Handelsplägen am Rhein bezogen, follten den 
Ausgangszoll bezahlen, ebenfo Getreide aus Vereinsflaaten, Preußen 
und Heflen, welche fic der Beſchraͤnkung nicht angefchloffen hatten. Ein 
Theil Diefer Bezüge, von benen nachzuweiſen war, daß fie vor Verfündung der 
Maßregel angelauft waren, wurde frei nach Straßburg entlaffen ; bie ſpaͤte⸗ 
ren Bezüge aus Holland famen als Tranfitgut, welches, ftärker begehrt, im 
Preiſe flieg; auch Preußen verlangte, daß Getreide, mit Urfprungszeugniffen 
aus feinem Gebiete, frei durchgehe; Heffen ſchloß fich der Erſchwerung ber 
Ausfuhr an. Die Schweiz, deren nördlicher und oͤſtlicher Theil ſich auf den 
Märkten am Bodenfee mit den Vorräthen des getreidereichen Schwaben, 
Baiern und Baden zu verfehen pflegt, marb empfindlich getroffen. Sie 
Eaufte zwar, ungeachtet bes Ausgangszolls, was fie nicht entbehren konnte, 


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Bu wenn die erwarteten Früchte ausbleiben, und es behalten Di Ilm 
Recht, welche die Beſchraͤnkung des Verkehrs nicht für ein —— Mit⸗ 
tel halten, ber Theuerung zu begegnen. K. Mathy. 


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Bagern, 9. Ch. Ev. (6.212 3. 3. v. o. Es iſt begreif⸗ 
lid — zurü ckgeben zu ftreihen, dann nach geführt werde fo fort⸗ 
zufahren): Im naͤmlichen Jahre 1835 ſtellte er einen Antrag: „bie Staates 
regierung zu erfuchen, den Ständen uͤber die Bunbesbefchlüffe, die das Ver: 
bot des Wanderns in die Schweiz ober auch nach anderen Gegenden betreffen, 
genuͤgende Auskunft zu geben”; -— und weiter einen Antrag: „bie Staats: 
tegierung zur Einleitung zu bewegen, damit von Seiten des beutfchen Bun 
bes die behufigen Schritte gefhehen, daß der bürgerliche Krieg in Spanien 
menſchlicher und dem Wölkerrechte gemäßer geführt werde.” Im Nor. 1838 
fprad er gelegentlich der Berathung über die Adteſſe auf die Thronrede miß- 
billigend über die immer noch, wenn auch weniger fireng , gegen die deut» 
ſchen Handmerksgefelfen, welche nach der Schweiz wandern tollen, getroffe: 
nen polizeilichen Maßregeln, fo wie rühmend über bie nicht lange vorher „in 


Gagern, H. Ch. E. v. | 363 


einem andern großen Rande’ (dem öfterreich. Italien) verkuͤndigte Amneſtie, 
zum Zweck der Nachahmung im Großberzogthume Heſſen. „Wo auch der 
Smpuls mag hergekommen fein, bie Amneflie war vollftänbig und die Ver- 
geben, die Tendenz dort keineswegs geringer, das Zrachten ungefähr daffelbe. 
Daß dort mehr Ariftokraten Antheil nahmen, neigt die Wagſchale zu Bun: 
flen dee Deutfchen. Iſt man in ſolchen Dingen ftrafbar, fo find es die 
Ariftofraten um fo mehr. Bei und waren «8 mehr Zünglinge mit falfchen 
Anfichten. Diele find Tchon Über weite Waffer geführt worden, — nad 
Amerika. Diefe Entfernung der Unzufriedenen ift unter allen conſerva⸗ 
tiven Maßregeln die befte und ſtaͤrkſte. Hätten doch viele jener Claſſe damit 
angefangen. Es ift keine Entſchuldigung, aber bare Lage der Dinge, daß 
dem Deutfchen zur Anftellung, zum Sortlommen und Abenteuer — kein 
eigenes Amerika oder Auftralien, Bein Indien oder Nordafrika zu Gebote ſteht. 
Meine beiligften Pflichten gebieten mir alfo , zu fagen: — es ift den Maͤchtig⸗ 
fen ſelbſt, «6 ift allen Fuͤrſten, es ift dem Bunde und allen Begriffen vom 
Bundesſyſtem nachtheilig, es trübt und entfremdst die Gefinnungen, wenn 
dieſem Mailaͤndiſchen Vorgange nicht in Deutfchland, je eher, je beffer, ges 
folgt wird. In Italien hat nicht der Poͤbel, fondern die Maffe der Nation 
gejubelt und dem Derifcherpaar gedankt.” Auf demſelben Landtage ftellte 
er Anträge auf gänzliche Abänderung ber eidlichen Formel der den Juͤnglingen 
eingehändigten Univerfitätsmatrikel zu Gießen und, durch Vermittelung ber 
Staatsreglerung, zu Göttingen und überall, wo fonft wo Aehnliches vor⸗ 
kommt, ſodann an die Staateregierung zu gefinnen, baß von Seiten bes 
Großherzogthums, jedoch mit ausbrüdlicher Erwähnung der Landftänbe, 
dem Könige von Baiern für die Fraftvolle Führung der Donau⸗Main⸗Ver⸗ 
bindung Dank dargebracht werdeu.f.w. Im Dec. 1841, beim abermaligen 
Zuſammentritt des Landtags, hielt Hr. v. ©. gelegentlich der Berathung ber 
Adreſſe auf die Thronrede abermals einen längeren Vortrag, worin er, verans 
Laßt durch eine Stelle jener Rede von beutfcher ‚Nationalität und Zufammen: 
haltung”, fragte: „Was iſt und wo iſt diefe Nationalität und wie wird fie 
geäußert und bewahrt? Fuͤrwahr, fie muß noch anderwaͤrts anzutreffen 
fein als in den engen Kammern ber vifiticenden Recrutirungscommiffionen, 
anberwärts als in dem Gabinet der Behörden, die die Patente für Offiziere 
und Cadetten ausfertigen, oder in den Budgets, die unfere Belbhilfe und 
Steuern anfpredien. Nationalität beftcht in befriebigendem und feftem 
Staatsrecht, im richtigen und ſtarken Gefühl des Zufammengehörens, in 
ber gereihten Dand, in der Verbrüderung der Völkerfchaften, im bewahr⸗ 
ten häuslichen und Kicchenfrieden, im der rechten Würdigung von Ehre, 
Wahrheit, Wort und Freiheit, in der Entwidelung ber Induſtrie, in Ihrer 
Beförderung durch Verträge, durch Wege und Bahnen — in der gebotes 
nen Entfaltung auch auf den Waſſern und Meeresflaͤchen — und wenn, 
bei der fo hoch geftiegenen Bevoͤlkerung, dus Schickſal fo will, auch in ber bes 
förderten, begünftigten, überwachten Unterkunft in der Ferne.” Noch in 
ber neuen Beit, als am 7.Nov. 1846 die erſte Kammer nad längerer 
Pauſe zufammentrat, ſprach er von ben bevorjtehenden Gefeugebungsarbeiten 
im Großherzogthume Heffen. „Ich bekenne wiederholt”, fagte er dabei, 


gezogen hi wenn eine Verſammlung ber 
ber Staatgmä —— deutſchen Laͤnder ein 
allgemeines Geſehbuch in Auftrag —— hätte. Da dies aber ausblieb, ja 
' ein Verſuch angedeutet wurde, fo erfcheint unfere Staatsregierung im aller 
vl erechtfert! fi in ihrem Berufe, im ihrer Pflicht, wenn fie früher 
fehreitet, Hatte fle noch gezaubdert, oder follte diefer 
—— —* 8 kiss ich mich nicht geämen.” In Bezug auf das 
— Recht, was in Rheinheſſen gilt und man dort zu behalten wuͤnſcht, 
er. ſich dann mehr vermittelnd, nach beiden Seiten hin berichtigend. 
Don Anträgen ftellte er aber im December 1846 einen über die Aus wan⸗ 
detung über —— ihre hohe Wichtigkeit und nationale Bervandtnig, einen 
zweiten über die Auswanderung eimer Anzahl Einwohner aus Großzinmmern, 
einen dritten auf ben Ständen von der ferung zu machende‘ Bi 
as und Vorlagen u. ſ. w. Nicht ſowohl Antrag als Antegung war 
der Wunſch etwas vergrößerter Deffentlichkeit der Sigungen der erften Kam⸗ 
mer, welcher denn auch In fo weit bereits Frucht trug, daß die Summarien 
ihrer Verhandlungen nun auch immer in ber Großh. Heſſ. Zeitung zur 
Anzeige lommen. (Morher wurden fie bloß als Protocolte gebrudt.) _ 
ſcha a * * 8 eg ei N Hefkmmnten Knfit ak 
arf ausgeprägten Inbivibualität und en Anſichten fo 
vorgeruͤcktem Pebensalter. bie neueren Erfahrtingen Deutfchlande in ya 
ber Preffe nicht den vollen wuͤnſchenswerthen Eindrud auf Heron v. G 
chen konnte; im Gegentheil, noch am 10. Dec. 1841 berührte er ungün 
„Die Compofition unferer Literatoren, ihre Mannichfaltigkeit. A 
Ideologie, ihre deutſche Derbheit, bie gar leicht in Anderes ausſchlaͤgt“, aber 
babei bemerkte er doch, daß bei Weiten die große Majorität erweiterte, beffer 
regulirte Mreßfreiheit mit Ungebuld erwarte, daß bitter die Beſchraͤnkungen 
des Druds ſtaͤndiſcher Verhandlungen in öffentlichen Blättern empfunden 
würden u. f. iv. 

(Zu S. 214 3.6.) Mod; bis im die neuefte Zeit war Hr. v. ©. ſchrift⸗ 
ſtelleriſch ehätig.. So gab er im Jahre 1840 feine „Kritik des Völkerrechts, 
mit praßtifcher Anwendung auf unfte Zeit‘ (Reipzig, 5. A. Brodhaus) her 
aus und feine neuefte Schrift ift eine „Zweite Anfprache an bie beutfche Na⸗ 
tion über bie kirchlichen Wirren, ihre Ermäßigung und möglichen Ausgang, 
Leipzig, 5. A. Brodhaus, 1846. Bei dem Zwieſpalt zwifchen Liberalismus 
und Ariflofratismus und bei der diplomatifchen Art anzudeuten und zu fpres 
hen, hat Hr. v. Gagern fich nicht populär machen noch eine Parteibedeus 
tung ſich verfchaffen koͤnnen. Häufig geht es ihm meift wie einer Caffans 
dra; feine Standesgenofjen glauben ihm nicht oder wollen ihn doch nicht 
hören. Einen Glanzpunkt in feinen Reden bildete bie, melche er am 19. 
März 1839 in ber erſten Kammer in Darmftadt über die hannoverfchen 
Verhältniffe hielt. (Landft. Verh. der erften Kammer der Kandftinde des 
Großherzogthums Heffen in den Jahren 1838 und 1839, Protocolle, 1. Bb. 
&.219 — ©. 231). Zumeilen fpricht er auch wunderlich. Einen ber leb⸗ 
hafteften Angriffe hatte er in der legten Zeit von feinem Altersgenoſſen Arndt 
‚wegen feiner Lobſpruͤche auf Talleyrand zu erfahren. 8. 








Sagen, H. W. A v. 865 


Gagern, Heinrich Wilhelm Auguft, Freiherr v., der Sohn des Vorftes 
benden *), geb. am 20. Aug. 1799, war für die militdrifche Laufbahn beftimmt, 
von 1812 bis 1814 in der Mititärfchule zu Münden; kam zurüd nad) 
dem erften Parifer Frieden, um für den Civildienft fich auszubilden. Seine 
Familie wohnte damals noch in Weilburg im Naffauifchen. Dier nahm er 
alfo 1815, bei der Wiedererfcheinung Napoleon’s, Dienflund wurde mit 
Ruͤckſicht auf feine militärifche Ausbildung Offizier. Bei Waterloo wurde 
er leicht bleffirt. Nach beendigtem Feldzuge kehrte v. ©. zu feinen Studien 
zurüd und ſtudirte von 1816 an zu Heidelberg, Göttingen und Jena. In 
Heidelberg war er Mitſtifter der Burfchenfchaft ; in Goͤttingen gehörte er zu 
Denen, welche fruchtlos Aehnliches verfuchten. Nach Jena ging v. ©. in 
die Schweiz, wo er 1819 und 1820 fortftudirte. Während feine Brüber theils 
in hollaͤndiſchem oder baleriſchem Krieges, theil6 in naſſauiſchem Civildienſte 
Anftellung fuchten und erhielten, wandte fi v. ©. zum Großherzogthum 
Heſſen, zu dem er durch feines Vaters Befigungen in Rheinheflen im Unters 
thanenverbande fand. 1820 madıte er zu Gießen fein Eramen und wurde 
Acceffift, 1821 Landgerichtsaffefior ; als folcher erfolgte 1823 feine Berufung . 
zur Aushälfe inn Geheimen Staatsfecretariate bed Miniſteriums des Innern 
und der Juſtiz unter v. Grolmann, 1824 wurde er Regierungsafleffor und 
1829 wirklicher Regierungsrath. 

3u ©. 2193. 2 v. 0. und bie — haben zu flreichen und Folgendes zu 
leſen: v. ©. mußte in Rheinhefien erſt heimifch werden und fich heimiſch 
machen, ehe er Die Weberzeugungen feiner Jugend und feines männlichen Als 
ters gegen die Reaction von Neuem in thatkräftigen Kampf führen konnte. 
Die ihm von feinen neuen Landsleuten gewordenen Auszeichnungen beweis 
fen, daß jene Vorausſetzungen eingetreten find, und jein neueftes, ih bie 
Deffentlichkeit hervortretendes Verhalten, daß er geneigt Ift, in Gemäß deſſen 
zu handeln. Ende October 1846 präfidicte er in Alzev einer Berfammlung, 
welche bafelbft zufammengetreten war, um diejenigen Maßregeln zu berathen, 
welche zur Aufrechthaltung der beftehenden Geſetzgebung Rheinheſſens und 
gegen bie Einführung eines neuen Civilgefegbuches zu ergreifen feien. Im 
Darmftadt. wurde das fehr übel vermerkt, und es gingeh Gerüchte, daß man 
ihn feines Poftens als Präfident des Iandwirtbfchaftlichen Vereins entheben 
wollte. Indeſſen hatte er in diefer Beziehung durchaus das Nöthige gewahrt 
und fo konnte die Maßregel felbft nicht ergriffen werden. — Durch feinen 
Aufenthalt auf dem Lande und feine neu eingegangenen Familienverhaͤitniſſe 
iſt v. G. dem Volke viel näher geruͤckt, als er früher war, — Etwas, was 
nothwendig wohl auch auf feine politiſchen Gefinnungen, und wenn ich fo 
fagen darf, auf feine guse Meinung vom Volke eingewirkt hat. Anläfie 
dazu, dies noch entfchiedener Öffentlich zu zeigen, werben hoffentlich nicht ſehr 
entfernte Zeiten darthun. Im Laufe des Jahres 1847 finden neue Land» 
sagswahlen im Großherzogthume Heffen flatt, und v. G., der ſchon vor 
drei Jahren bei flattgefundenen Partial: Wahlen Iandtagsfähig war, ift es 


*) &. 215 3.13 v. o. flatt: geb. um 1797 — Lorſch Kolgenbes gu 


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fie Hör eine ganz ge und mürtsnale Kirhenverfaffung im freien 
rn ante hat. Insbeſondere zeigten dieſes auch die ſtelgenden 

Anmafithigen der fatholifchen Geifttichkeit in Preußen, two fie 5.8. in Weſt⸗ 
phalen zn Dank für die Eöniglihhen Verzichte auf michtige Staats« und 
Hoheitscechte über die Kirche auch die Ernennung ber Volkoſchullehter, alſo 
die völlige Hertſchaft liber die ganze Volksetſtehung in Aniprudy nimmt, 
Und mo die päpftlichen Beftätigumgen für Geiftliche, die ber Landesregierung 
ergeben find, eben fo wie Heulith dem in Mürtemberg erwdhlten Bifchof 
verweigert —2* In ber katholiſchen Kirche, deren auswaͤttiges Haupt 
ohne 3 nach altfatboltfihen Srundfägen bie Raten zuziehende 
nationale Synoden undermeldlich abfolnter Herrfcher Über die Kirche zu wer⸗ 
ben ſucht, iſt diefes an ſich ganz natürlich. Es iſt natürlich, daß ein fol: 
ches Kirdjenhaupt duch polltiſch die Völker zu beberrfcyen ſtrebt Diefe 
Kirche hat aber große ihe vom Staate biftorifch zugeftandene Begünfligungen 
und Einflüffe, fo 3.8. in Beziehung auf die Ehe und die Familienverhält: 
fiffe, auf den Unterricht und die Volfazuflände,- auf Vermoͤgensrechte Im 
der todten Hand der Kirchengewalt u. ſ. w. Wäre 8 denn nun nicht thoͤ⸗ 
echt, ja gewiſſen los von der Stantögemwalt, diefe Kirdye nur als jeber am: 
dern Gerttfcaft ober Affociation gleichitehend zu betrachten, ihr alle Ihre 
vortheilhaften hiſt ori ſchen Berhältniffe vollftändig zu belaſſen, die noth⸗ 
wendigen ebenfalls Hiftorifchen Gegengewichte aber, jene gleichalten 
oder Älteren kirchlichen Hoheitsrechte und die verfaffungsmäßigen Buͤrg⸗ 





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Balticanifche Kirche 67 


(haften gegen verberbliche Mißbraͤuche ganz aufzugeben? Dieſes todre bei 
einer inneren Kirchengewalt verkehrt. Es wäre gewiſſenlos bei der Gewalt 
einer auswärtigen, einer unnattonalen kirchlichen Derrfchergewalt und geiſt⸗ 
lichen Bafallenfchaft. Der Natur der Sache nach, und wie die Geſchichte 
beweiſt, muß ja diefes nicht blos eine auswärtige Oberherrfchaft über den 
Staat, über feine katholiſche Bevölkerung erzeugen, fondern auch eine unters 
druͤckende und feindfelige Stellung berfelben gegen die Regierung und ihre 
nicht Eatholifchen Bürger. Wird aber vollends das: ganze Mißverhaͤltniß 
zu jener teaurigen Allianz des geiftlichen und weltlichen Ariſtokratismus und 
Abſolutismus gegen bie Volksfreiheit benutzt, fo iſt das boppelt verderblich, 
mindeſtens ebenſo verderblich, als wenn, fo wie in unſern Tagen fo vielfach, 
ein proteſtantiſches ſogenanntes Oberbiſchofsrecht ohne das Gegengewicht 
einer wahthaft freien Kirchenverfaſſung auf gleiche Weiſe für ben Despo⸗ 
tisemus des Poltzeiregiments, für kirchlichen und politifhen Obſcurantis⸗ 
mus mißbraucht wird. Aufmerkſamen Beobachtern konnte der neulich th 
Baden von den hoͤchſten Kirchenbehoͤrden und ben Seftten Ftankteichs, der 
Schweiz und Belgiens, im Berette mit franzoͤſiſchen und Polizeleinſtuͤfſen, 
erregte fanatifche Vetitionsſturm gegen bie liberale Verfaſſung und Volkskam⸗ 
mer und gegen das urkundliche Verfaſſungsrecht ber Glaubensfreiheit eben⸗ 
fo viel zu denken geben als der von der Clerifei und Ariflofratie gefßcberte 
Wallfahrtsſturmm nach dem Trierer Rod und als andererfeits die preußiſche 
Verfolgung der freien Richtungen in der Proteftantifchen kirchlichen Entwicke⸗ 
ung. Ger natuͤrlich aber erweckten dieſe unzeitgemäßen, unflugen Beftre: 
Büngen gegen die geiftige und bürgerliche Freiheit kraͤftige Gegenwirkungen, 
zunaͤchſt die der deutſchkatholiſchen Kirche und die der Lichifreunde, fo wie 
die Berdigungen der freleren Proteltanten in ben bekannten Kämpfen ge 
gen Rupp's Ausſchließung und in Rheinbaiern. Ja der Haß gegen bie ob» 
ſcutantiſtiſche Neaction, weiche dem nationalen faft inſtinctmaͤßig gewordenen 
Bedürfniß feeier politiſcher Eutwoickelung entgegentrat unb weiche bie daͤ⸗ 
moniſchen, unkirchlichen und illegftimen“ Richtungen vft fo’ 
ſchaͤtechaft dekaͤnpfte, rief nicht blos dieſe feldſt, ſonbern auch wir the 
ſtiſche und revolutiondre Geſtnnungen und Beftrebungen hervor. Troß ailes 
Cenſur⸗ und Polhzeldruckes, ja durch denſelben vertarhtt, griffen dieſeiben jeät 
im Dunkel immer voriter und welter fm deutſchen Volke um ſich und zer⸗ 
nagen wie ein freſſenbes Gift dble Bande ber gegenwaͤrtig beſtehenden Orb» 
nung der Dinge. Doch über dieſe Verhaͤltniſſe werden die Artikel Ka» 
tholiſche Kiche, deutſche, und Kirchliche und religiöfe Ber 
wegungen ber neusten Zeit ausführlicher binden. N 

In Frankreich aber hat geſetzlich das Rechtsſyſtem der galli⸗ 
canſſchen kirchlichen Freiheit, role es jene beruͤhmten Artikel und hre dem 
Staate guͤnſtige Erweiterung in den Geſetzen der Revolutionszeit und des 
Kalſerreiches feſtſetzen, keine Aenderung erfahren, denn die im Sinne ber 
Reaction unter der Reftauration 1817 verfuchten Aenderungen durch neue 
Goncordate und Gefege fcheiterten an dem Widerfpruche ber Kammern und 


der Öffentlichen Meinung, und die in ber Reſtaurationszeit und neuerlich) von _ 


ulteamontanen Bifhöfen und Parteihduptern unter Witwirkung 


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der große Si ich ü ßbraͤuch bein. een — 
den M — * isn nah bie Regierung fi Ausführung ber Gefege fh 
hen. Auf ud, a #ge, wurden unter der Meflauration auf die energifchen 
muthvollen Anzegungen und Petitionen von Montlo fie ier 1828 den es 
ſulten der Unterricht entzogen und im Jahre 1845 auf eine Interpellation 
von Thlers die Jefuitencongregationen aus Frankreich verbannt und. alle 
ihre Berfammlungs und Novizbäufer geſchloſſen. Nur wählte hier bie Ne: 
gierung,flatt ber Staatsrathsentiheibung und ber koͤniglichen Ordannanz 
frlalich Unterhanblung.. Der Papft.und der Jeſultengeneral wirkten auch 
den energiſchen Erflärungen der Öffentlichen Meinung und der Kımmer, 
mit denen man lieber unterhandeln als Krieg führen wollte, ganz friedlich mit 
dem König zuſammen, Dagegen blisben bie einzelnen Jeſuiten unangefochten 
in Frankreich, und alle andern geiftlichen Orden und Kloͤſter tolerirte man fer⸗ 
nerbin 1 Tilfcpmeigenb, So hatten gleichzeitig bie durch den Uebermuth ber 
Jeſulten berbeigeführten „beftigen Streitigkeiten eines großen Theiles ber 
Ben Eid Bifchöfe und Geiftlihen gegen bie franzöfifche Univerfität, gegen 
ihre Auffichts: und Einwirkungsrechte in Beziehung auf ben Unterricht und 
gegen die der taligiöfen und klechlichen Freiheit buldigenden Lehrer den hef⸗ 
tigften Streit und Standal erregt, Im dieſem griff die ultramontane Geiſt⸗ 


Au Ken nen | 


e) Die hierher gehörigen Geſete und ihre Auelegung enthalten vollftäns 
dig . —* der ——— en ge vom 2. und 3. Mai 
2885 Kber die Jeſ 








Sallicanifche Kirche 369 


lichkelt das ganze grumbgefegliche Syſtem ber gallicanifchen Kirche an und 
bewirkte vom Papfte eine Bannbulle gegen das franzöfifche Kirchen: 
recht von Dupin, meldes bie Urkunden und die Vertheidigung der galli- 
caniſchen Freiheiten enthält, aber ſchon während der Neftauration, und da- 
mals unangefochten erfchienen war. Der Erzbifhof von Lyon (v. Bo- 
nald) verkündete in einem Hirtenbriefe die Verdammung und leugnete 
hierbei zugleich revolutionait die ganzen verfaffungsmäßigen Grundlagen des 
feanzöftfchen Kirchenrechts, die gallicanifchen Artikel, das Concordat von 
1801, das königliche Recht des Placetums , bie Berufung wegen Mißbrauch 
u. f.w. Auf erhobene Beſchwerden caflirte der Staatsrath dieſen kirchlichen 
Erlaß als Mißbrauch und Attentat. 

Trotzig und verachtend den mit Eöniglicher Ordonnanz und Unterfchrift 
publicirten Staatsrathsbeſchluß erklärten 60 franzoͤſiſche Bifchöfe ihre völlige 
Zuflimmung zu dem verurtheilten Dirtenbriefe des Erzbiſchofs von Eyon. 
Der König hielt es nicht nöthig, diefen Skandal officiell zu ruͤgen. Er duls 
bete ihn des Friedens wegen. Er betrachtete biefe Erklärungen gleichfam ale 
Drivatmeinung gegen bie gallicanifchen Kicchenfreiheiten, welche ſtets von einer 
größeren ober Eleineren Partei der franzoͤſiſchen Geiftlichen mißbilligt wur⸗ 
den. Nur wirkten diefe trogigen Gehäffigkeiten gegen die gefeglichen Ge⸗ 
walten wefentlich mit zu dem Sturm ber öffentlichen Meinung gegen die Je⸗ 
fuiten, welchen man diefe fanatiſche Aufregung zufchrieb, fowie zu deren 
Verbannung. Diefes beweiſen die fehr intereffanten Verhandlungen über 
bie Sefuitenfache, die am 2. und 3. Mai 1845 In der franzöfifhen Depu⸗ 
tirten⸗ Kammer flattfonden. In denfelben zeichneten vorzüglich Thiers, 
Dupin und Ddilon Barrot in ihren Reben für bie Ausmelfung und 
Berryerund Lamartine in ihren Gegmreden fid) aus. Uebrigens wa⸗ 
ren alle biefe Redner nicht frei von einfeitigen Auffaffungen des rechten Bere 
hältmifjes von Staat und Kirche und bes wahren Wefens ber verfaſſungs⸗ 
mäßigen Religionsfreiheit. Auch wird kein Surift Berryer’s Ausle: 
gung der gefeglihen Verbote der Congregationen billigen koͤnnen, 
daß durch fie nur der öffentliche corporative Charakter ihrer Gemeinfchaften 
und die damit verbundenen Smmunitäten und Privilegien, nicht aber ihr 
freies Beiſammenſein ale Individuen ausgefchloffen fein ſolle. Diefe Auss 
legung zerftört den Wortfinn und die Abficht der Gefege, vollends die des Art. 
291 über das Verbot der Affociationen. Aber leugnen läßt fich nicht, daß 
allerdings in dem Verbote, fomeit es die natürliche Affociation und nicht 
6108 die Verſagung öffentlicher Rechte betrifft, eine wahre Beſchraͤnkung der 
Freiheit und auch der religiöfen und Picchlichen Freiheit und eine Verlegung 
ihrer unbefchräntten Zuficherung in der Charte*) begründet wird. Und man 
wird auch nicht mit Thiers zur Befeitigung diefer Schwierigkeit und vol⸗ 
lends zur Mechtfertigung ber Unterdruͤckung ber neufranzöfifch-Batholifchen 
Kirche des Abbe Chatel Tagen Linmen, bie Sreiheitszuficherungen ber 
Charte ließen natürlich und mit Recht alle ihnen widerfprechenden älteren 


*) Chacun professe sa religion avec une &gale libert€ et obtient pour 
son culte la même protection. 
Suppl. 3. Staatöler. IL. 24 






870 
Befese in ihrer vollen 


| — —— — warn 


auch hier darin, daß, wenn 
Oberhaupte und 
















waͤrtigen die Rede iſt, hier der ausm afluß 
Staatsgefaht erzeugen ne 1 ng ee rei Im 
wahrhaft — — bie. hrofchaf 












| | Regierung fieht nach ihrem 

fofteme diefe Einrichtung freilich gem. Sie Fann fo beliebig geheime und 
öffentliche Gunft ausüben gegen bie Kirche oder ihre Haͤupter, zugleich auch 
fie ihre Macht fühlen laffen, da fie ja auch ohne die Mitwirkung der Kam: 
mer jeden Augenblid zur Vollziehung der Geſetze gegen die nicht gefeglich 
autorifirten Orden und Klöfter einfchreiten barf, wie fie denn auch früher 
wiederholt einzelne beſtimmte Kloͤſter ſchloß. Dagrgen ift es wohl nur eine 
ber vielen Schwächen der Oppofition, daß fie in ber eigenen Dulbung dies 
fer gefegwidrigen Vereine dem Princip der unterdrüdten Affociationgfreiheit 
zu huldigen gedenkt. In bdiefer irrigen dee tabelten auch mehrere 
Deputirten ber linken: Seite jene angeführte Aeußerung Odilon Bar: 
rot's durd den Zwiſchenruf „wo bleibt da die Freiheit!’ ftimmten aber 
doch mit für die Aufforderung an die Regierung, die Jeſuiten zu vertreiben. 
Jene Ungleichheit, jene der Regierung geſtattete geſetzwidrige und gefähr: 
lihe Willkür und die große Anhaufung der Klöfter in Frankreich find kein 
Gewinn für die geſetzliche Freiheit. Und daß bie Regierung die gemöhnlichen 
Affoeistionen einfeitig erlauben, die geiftlichen fogar gegen die Gefege, nach: 
bem biefelben gefesmwidrig, ja verbrecherifch ſich einfchlichen , ohne bie bier 
gefeglich nöthige Kammerzuſtimmung willkuͤrlich dulden oder unterbrüden 
kann, diefes ift feine wirkliche, ift Eeine heilfame Freiheit. 

Alte diefe Mängel ſchließen ſich als Folgen an den Hauptfehler an, daß 
bie katholiſche Kicche in Frankrelch feine auf den altfatholifchen Grund: 
fäsen, auf der Mitwicfung der geiftlichen und weltlichen Mitglieder aller Firch: 
fichen Vereine beruhende, organiſch durchgreifenbe, freie natlonale MOON 


AZ a en 


Gallicaniſche Kirche. 671 


Mepräfentativverfaffung befigt, ja daß feit 1682 auch die früheren unvoll- 
kommenen frangöfifchen Generalſynoden eben fo ruhen, role feit dem Triden⸗ 
tinum bie allgemeinen Concilien der ganzen katholiſchen Kirche, daß mits 
bin alle hoͤchſte Kirchenregierung dem auswärtigen päpftlichen Oberhaupte 
und feinen Vaſallen anheimfällt, wie denn jene 60 Biſchoͤfe neuerlich thats 


ſaͤchlich und wirklich ausfprachen, daß fie, trog ber Haren entgegenflehenden 


Grundgefege, im Collifionsfalle nicht dem König, fondern dem Papft ge⸗ 
borhen würden . 

Außer den oben gefchilberten ungenügenden, unvolllommmen, aber freilich 
unentbehrlihen Gegengewichten gegen diefe Gefahren, befigt in Frankreich 
bie weltliche Staatsgemwalt insbefondere noch das ebenfalls unorganifche und 
für die kirchliche und bürgerliche Freiheit gefährliche Recht, daß der König 
ohne alle Mitwirkung der Kammern alle Bifchdfe und Erzbiſchoͤfe ernennt 
und auch auf die Ertheilung der Gardinalewürde an franzöfifche Bifchöfe 
Einfluß befigt. Diefes für die Seibftftändigkeit der Kirche fo hoͤchſt gefaͤhr⸗ 
liche Recht, welches Despoten wie LudwigXIV.u Napoleon zum Verder⸗ 
ben der kirchlichen und meltlichen Freiheit zugleich benugen, wird denn 
ebenfalls unorganiſch wieder babucch zu Gunſten ber kirchlichen Monarchie 
und Ariftofratie aufgewogen, daß, abweichend von der altkatholifchen wie von 
ber öfterreichifchen katholiſchen Kirchenverfaſſung, die Biſchoͤfe die unteren 
Beiftiichen beliebig ernennen und fie auch abfegen Finnen, und daß fie die 
ganze Bildung und Vorbildung der Geiſtlichen beflimmen und beberrfchen. 
Mit diefer despotifchen Gewalt und geflügt auf den ausländifchen Kirchen» 
fürften nnd feine Vafallenfchaft, hulbigen fie denn natürlich, fo wie es zus 
vor angedeutet wurde, dem Ultramontaniemus und hierarchiſch⸗ theokrati⸗ 
ſchen Beflrebungen und fegen ſich allermeift in flille oder Öffentliche Oppoſi⸗ 
tion gegen die Doch grundgefeglichen gallicanifchen Kirchenfreiheiten, gefähr« 
den ſchwache Regierungen, allliven ſich mit despotifchen gegen bie Berfaffung . 
und werden jedenfalls der bürgerlichen Freiheit und Ordnung gefährlich. Am 
nachtheiligften aber wirken fie dadurch für Staat und Kirche, daß der Stand 
der nisdern Geiftlichen, welcher fich bei feiner vechtlofen Stellung und dem 
Coͤlibat nur aus den unterften Claſſen ergänzt, in keinen tüchtigen vom 
Staat gepflegten Schulen ſich bildet, in den bifchöflichen Seminarien meift 
nur zu willenlofen Werkzeugen der geiftlichen Oberen und der flantsbürgers 
lichen Sreiheit feindlich erzogen wird und, großentheild durch Rohheit und 
Sittenlofigkeit, ducch unbürgerliche Sefinnung und fanatifhen Obſcurantis⸗ 
mus oder Pietismus feine große Beflimmung für die fittliche und geiftige 
Bildung des Volke preisgiebt. 

So zeigen ſich alfo wirklich auch in Frankreich überall die verberbs 
lichen Folgen und Schwankungen, bie zumal für ganz oder zum größten Theile 
Batholifche Bevoͤlkerungen entfliehen müfien, wenn Staat, Kirche und Schule 
nicht mit richtig organificten freien Verfaflungen in der rechten organiſchen 
Stellung und Wechſelwirkung zu einander flehen. 

Doch die gegenwärtigen religisfen und kirchlichen Verhältniffe bieten 
noch andere politifch intereffante Erfcheinungen dar, die zum Theil große po« 
litiſche Gefahren begründen. 


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a7 Betkanifge Schr 


Das ſchon in dem Maturleben üͤberall hervortretende Gef au 
Wirkung und —— — auch in Ya Volkoieben 





— Spaltungen * — 
Reactlonen auseinander und | | 





Religion und ern iwie be Throns und ber Krilofratie. insbefonbere in 
der von dem furdhtbaren Hebert (dem Päre Duschesne) eingeführten Ans 
betung der fleifchlichen Vernunftgottheiten fehen wir die entfegliche zerſtoͤrende 
Reaction gegen geiftliche und meltliche bespotifche Ariftofratie und ihre Allianz 
mit bem abfoluten Königthum. 

Aber auch diefes Syſtem des revolutionären Atheismus fand ebenfalls 
wieder feine Gegenwirkung. Napoleon ftellte bie chriftlide Kirche und 
Geiſtlichkeit wieder her, ordnete fie aber feinem Despotismus unter. Der 
Papſt in Perfon befeftigte die Krone der legitimen Könige durch bie religtöfe 
Weihe der Fatholifchen Kirche auf feinem Haupte. Er trug nad dem Aus: 
drucke von Thiers Krone und Rechte bes Haufes Bourbon auf einen fran« 
zöfifchen Offizier über. Er erkannte in dem babei vom Kaifer gefhmorenen 
und von ihm genehmigten Eid*) und im Concordat die Freiheit der galli» 
canifchen Kirche und die aller Culte an. Die franzöfifche Geiftlichkeit ſtellte 
nad dem paͤpſtlich gebilligten Katehismus dem Wolfe die abfolute 
Gehorfamspflicht gegen ben von Gott eingefesten Imperator, ben geliebten 
Sohn der Kirche, unmittelbar neben bie Pflicht gegen Gott felbft. In 
der Reftauration aber glaubte der uitramontanismus und die kirchliche Ariſto⸗ 


*) Der Eid lautete: „Ich ſchwoͤre, die Integritaͤt des Landes der Repu⸗ 
blik zu erhalten, zu achten und achten zu machen die Geſetze des Concordats und 
die Freiheit der Eulte ꝛc. 


Sallicanifche Kirche. 878 


kratie die Zeit ihrer theokratiſchen Oberherrfchaft wiebergefunden zu haben, 
und ba das reſtaurirte legitime Königthum thörichter Weife in neuer Allianz 
mit ben treulofen ehemaligen Verbündeten Unterflügung und Schug für 
feine Untergrabung ber Volksfreiheit zu finden glaubte, fo zogen bald bie 
ganze päpftliche Vaſallenſchaft aller Kiöfter und Orden und an ihrer Spitze 
bie Jeſuiten und ihre Miſſionen verfafjungstwibrig in das Land, und die alten 
Anmaßungen Eehrten zuruͤck. 

Doc) gerade dieſe geiftliche Dberherrfchaft erweckte gegen fich und das 
mit ihe Verbündete reftauricte Koͤnigthum aufs Neue die ftärkfte Reaction. 
VBoltaire’s Schriften wurben jegt in fünf Jahren mehr gedruckt als früs 
ber in funfzig, und das Syſtem und ber darauf geflügte Thron flärzten 
abermals durch den fehredenerregenden Zorn ber empörten Nation furchts 
bar zufammen. Die gewaltfame Zerftörung ber Kirche in Paris durch einen 
empörten Volkshaufen, al6 man in ihr bas Andenken ber verjagten Dynaſtie 
feiern wollte, die Zerſtoͤrung auch bes Palaſtes bes freiheitfeindlichen Erz⸗ 
bifchofs von Paris, feine Verjagung — dieſe mahnten die Geiſtlichkeit, das 
Schickſal der geftürzten Dynaftie mahnte ben neuen frei von der Nation 
erwählten König, treu der freien Verfuffung von dem Streben nad) Unters 
beüdung der Glaubens⸗ und Religionsfreiheit, von dem Streben nach Hers 
ſtellung ariftoßratifcher geiftlicher Herrſchaft und ihrer Allianz mit bem 
Koͤnigthum abzuftehen und ſelbſt den Schein derſelben forgfältig 
zu meiden. | 

Und in ber That diefen Schein vermieden längere Zeit beide. Doch 
bie kirchliche Ariſtokratie und ultramontane Partei vermehrte unter Louis 
Philipp im Stillen täglich ihre Vaſallenſchaft der geiftlichen Orben, der Kids 
fee und Gongregationen , fuchte in jeder Weife, fo wie es nachher dargeſtellt 
werben wird, die Sympathieen des Volks zu getoinnen, und jest auch unter 
dem Schein der Volksfreiheit ihre Herrfchaft zu begründen. Immermehe 
aber und zulegt bei dem jefuitifchen Bemühen, unter dem Titel ber Sreihelt 
des Unterrichts ſich alles Volksunterrichts zu bemächtigen, fo mie in dem hefs 
tigen Steeitgegen bie Univerfität, gegem freigefinnte Lehrer und Schriftfteller 
und gegen bie gallicanifchen Kirchenfreiheiten und ihre Vertheibiger traten fie 
Öffentlich genug mit ihren herrfchfüchtigen Planen wieder hervor. Durch die 
Ausweifung der Jeſuiten erhielten diefelben jegt vorläufig eine Niederlage. 

Der Gruͤnder und Meifter bes Juſtemilieu⸗Syſtems mußte.ficd) kluͤger 
zu mäßigen und mindeſtens jenen Schein volltommen zu wahren. Und ges 
rade Das, daß jetzt nach langer Zeit einmal die religiäfen 
und firhlihen Verhaͤltniſſe und Beftrebungen freimwaren 
von bedrädendem Zwang unb von dem häßlichen Schein, 
daß fie meltlihen Intereffen feig, heuchleriſch und felbft- 
füdhtig dienten, bewirkte, daß an die Stelle der religionss 
feindlihen Rihtung, bie ber Aulirevolution vorberging 
und noch im Anfang derfelben ſich zeigte, eine neue, eine 
hoͤchſt wohlthaͤtige Gegenwirkung, eine außerordentliche 
Zunahme ber Religioſität eintrat; ganz ebenſo, wie fruͤher 
in Frankreich und heutzutage in Deutfchland, bei ber Be⸗ 


nutzung berfeligiom gegen die Freiheit und bei dem Reit 
gtondzwange ber Freiheitsinftinet der Völker den Melis 
gionshaß und den Atheismus bervorrief und als Nothwehr 
für die Freiheit erfcheinen lieh. Im Frankreich, feitdem die Negie 
rungspolitik die Religion nicht mehr verhaßt und veraͤchtlich macht, feit die 
felbe nicht mehr durch Heuchelei, Zwang und den Dienft für die Knechtſchaft 
und Verdummung entwürbigt wird, erhielten und erhalten jeßt die Meligion 
und bie veligiöfen und kirchlichen Beftrebungen täglich mehr freie Anhänger, 
mehr ald in einer langen Vergangenheit; bie Kirchen füllen ſich, die Literatur, 
bie Philofophie, bie Gefeufchaft, ber Hof haben, ohne daf Zwang, Intereffe 
oder auchnur Mode zu einer Scheinheiligkeit nöthigten, alle frühere At 
dung und Geringfchägung gegen die Meligion abgelegt und diefelben mit 
Ing Dier Hdfe und theologifepe Piteratur und feibft Die Baht 
zeligiöfer Yournale wächft Ja die liberalen und radicalen, Die repu ⸗ 
biifanifchen, communiftifhen und focialiftifchen Reformbeftrebungen nehmen 
geofientheild einen religiöfen Charakter an und ſtuͤhen ihre Syſteme auf reli: 
—— (So Frankreich, Nachtrag.) Die pc een 

\ 1 Achtung, die vielen. Milffionen werden mit Andacht gehört und, 
bad Bedeutendite und Einflußreichite fit, das Band bedeckt fich, abe Bil 
Staatsumterflügungen, blos durch —— Privatleiſtungen, taͤglich meht 
mit voligiöfen Vereinen, mit religiöfen Leſe⸗ und Buͤcherverbreltungs⸗, Wohl- 
ER mit Unterrichts» und Bekehrungsvereinen, Inſtituten, Aka⸗ 
bemien, Bruͤderſchaften, Congregationen und Kiöftern der verfchledenften 
Art. Die 1822 in Lyon geftiftete Gefellfchaft der Verbreitung des Glaubens 
J. B. zaͤhlt uͤber 700,000 Mitglieder ; die Gefellfchaft der auswärtigen Mif: 
ſionen, welche den europäifchen Laͤndern gemeinfchaftlich ift, erhebt von 
hren viertehalb Millionen Beiträgen bei Weiten den größten Theil von fran⸗ 
zöſiſchen Mitgliedern (mehr als zwei Millionen). Bei den mohlthätigen 
Vereinen befchäftigen fich bie vornehmften Damen mit Erhebung und Ber: 
tbeilung der Almofen. Einzelne derfelben zählen viele Tauſende von Mitglie: 
dern und verbreiten ihre Agenten in ganz Frankreich. So hat der des „heilt: 
gen Paul’ allein in Parig gegen brittehalb Taufend Mitglieder und Agenten 
in funfjig Provinzialſtaͤdten. Die wohlthätigen Geſellſchaften widmen fich 
den. verfchiedenften fittlichen und focialen Zwecken. So giebt es 3. B. einen 
Verein zur Verminderung wilder Ehen, oder, wie ber der Frauen zu St. 
Michet; zur Aufnahme ungluͤcklicher Mädchen, die fonft dem Lafter anheim⸗ 
fallen würden, und zug. Befferung der Sefallmen, Vorzuͤglich verbreitet find 
bie Brüderfhaften ‚ wie z. B. die „Erzbrüderfchaft zum heiligen Herzen”. 
Beſonders machfen auch die.geiftlichen Drden und Congregationen an Zahl 
und Ausdehnung, die männlichen wie die weiblichen Kiöfter, mit welchen 
großsutheils Erziehungsanftalten verbunden find, wie benn für die Erziehung 
auch viele befondere Gongregationmn beftehen, 3. B. die „Brüder der chriſt⸗ 
lichen Lehre”, welche in ungefähr 300 Schulen 170,000 Zoͤglinge unents> 
geltlich unterrichten. Die Frauensongregationen zählen über 10,000 Leh⸗ 
rerimen, welche über 600,000 Kinder unterrichten. Merkmürbig ift es, 


nr 










Gallicaniſche Kirche. 875 


daß unter den geifllichen Orben gerade die ſtrengſten, namentlich bie der Trap⸗ 
piften und Karthäufer, vorzugsmweife Anhang finden. 

Bei der außerordentlichen Zahl und Ausdehnung biefer religiöfen Ver» 
eine ift vorzüglich Zweierlei politifch wichtig. 

Das Erfte ift diefes, daß nicht blos die Klöfter und geiftlichen Congre⸗ 
gationen, ſondern die allermeiften der bezeichneten Vereine mehr oder minder 
unter dem Einfluß ber jet fehr ultramontanen Geiftlichkeit ſtehen und alfo 
ihren Zwecken dienen; fo 3. B. die Gefellfchaften zur Verbreitung guter Büs 
her, für: welche meift bie Geiftlihen befondere eigene Drudersien befigen. 

Dos Andere ift das, daß viele diefer Vereine und Congrsgationen 
geheime politifche Zwecke verfolgen, namentlich die in Lyon; daß alfo die 
öffentlich verbotenen Affociationen geheim und hier im geiftlichen Gewand 
fortwirken. 

So wie nun durch jenen ulttamontanen Einfluß eine neue freiheitver⸗ 
Legende Allianz mit dem Koͤnigthum möglidy wäre, fo koͤnnte möglichermeife 
auch eine Allianz gegen baffelbe und für die Kreiheit flattfinden. Jene Libes 
ralen Elemente koͤnnen entweder fih fpäter emancipiren und allein handeln 
oder als Miliz der ultramontanen Partei die Negierung oder die Dynaftie bes 
drohen. Gebraucht ja doch die jchlaue ulttamontane Geiftlichkeit in ihren 
Hauptorganen, 5. B. in der Gazette de France des fanatifhen Hrn. v. Ges 
noude, geradezu die ultrabemofratifchen Grundfäge als Lockſpeiſe zur Ans 
werbung unter bie ultramontane Fahne, aͤhnlich wie früher Lamennais 
mit dem Strafen Montalembert und mit Lacorbaireindem Avenit 
aus Weberzeugung die demokratiſche Freiheit mit der ultramontanen ſelbſt⸗ 
fländigen Kirche zu allüiren fuchte und jegt gleich fo vielen andern Socialiften 
und Communiften ihre Spfteme auf die chriſtlichen Moralgrundfäge, auf die 
allgemeine brüderliche Liebe, Freiheit und Gleichheit gründet. Iſt es ja dem 
Haupte der geoßen „Exrzbrüderfchaft zum heiligen Herzen”, dem Abbe Des: 
genettes, gelungen, fogar die Geſellſchaft der Menſchenrechte und über: 
haupt einen großen Theil der republifanifchen Partei unter feine Sahne an: 
zumwerben. Ganz ähnlich aber wie die auf unwuͤrdige Weiſe unter Polizei» 
willkuͤr und Strafgefeg geftellte Freiheit der Affocintionen und 
namentlich der politifchen Affociationen in die geiftlihen Congregationen 
ſich verfiedt, ganz aͤhnlich fucht auch der Widerwille gegen die viel zu auss 
gedehnte politiiche Gentralifation und Polizeiherrfchaft In der Selbſt⸗ 
ſtaͤndigkeit der Kirche fih Hilfe zu ſchaffen. Der Fehler der Staatsvers 
ers— der Mangel der Freiheit, das iſt die Hauptſtuͤtze der Prieſterherr⸗ 

chaft. 

Faſt die ganze Jugend iſt jetzt fuͤr den Ultramontanismus eben ſo wie 
die Geiſtlichkeit. So kann denn dieſe jetzt offen und ungeſtraft denſelben 
grundgeſetzlichen gallicaniſchen Grundſaͤtzen den Krieg erklaͤren, welche die 
Reſtauration — weil man damals politiſche Unterdruͤckung der Geiſt⸗ 
lichkeit fuͤrchtete und ſie haßte — noch im Jahre 1824 alle Oberen und Leh⸗ 
rer der Gymnaſien und 1826 alle Biſchoͤfe mußte beſchwoͤren laſſen. In 
demſelben Sinne wird auch die voͤllige Freiheit des Unterrichts immer mehr 
geliebt und gefordert in Frankreich. 


di 





816  Gallicamifche Kirche 
- So fehr nun nach dem bisherigen Alles zu loben ift, was die gegenwaͤt⸗ 
ge Regierung gethan hat, um Innerhalb jener Landesgrundgefege wirklich bie 
Serdftftändigkrit von Staat und Kiche und die Glaubens: und Reliz 
—— zu erhalten, fo ſcheint doch auch bier bie Juſtemilleupolitik im 
—* Hr ——— * en ne 












Hößungen De 

1836. Abe hat fe nl Im Glen — —* —— und 

Anmaßung und gegen die klaten gefehüchen Beſtimmungen jene große Va⸗ 

fallenmacht des auswärtigen Kirchenfuͤrſten gehegt und geduldet, welche jetzt 
on fo ende nicht ungefaͤhrliche Händel herbeiführt? iin 8 nicht die 

t der Jeſuiten, welche einzeln und im Stillen auch nach dr 
| Bin — in Frankreich wirken, in ber Schweiz ——— 

Ay ch in Berlehung auf die neue franzſiſch-katholiſche 

eChatel eine freiere kirchliche Richtung, welche ein vortreffli- 

des One genmittel gegen die geiftliche Hertſchſucht und Intoleranz der ultra 

niontanen und ſeſuitiſchen Firchlichen Beſtrebungen abgeben Eonnte, par: 

telifch zu Gunſten gerade diefer gefährlichen ftaatsfeindlichen Richtungen und 
mit Verlegung der verfaffungsmäßigen Glaubensfreiheit unterdrüdt? 

Im Fahre 1831 hatte befanntlich ber Abbe Chatel in jener natürli- 
chen Gegenwirkung gegen bie verkehrte kirchliche Nidytumg ber Reftaurations: 
zeit bie „franzoͤſiſch-katholiſche“ Kirche gegründet. Schon 1830 
machte er bekannt, daß er und eine Anzahl von Batholifchen Prieftern alle 

geiftlichen Verrichtungen unentgeltlid) vornehmen und aller Einmifhung in 
weltliche Dinge fich enthalten wollten. Beſtimmter bildete er in Berbin- 
dung mit Auzou und Blachere feine von der alten römifch-Tatholifchen 
Kirche getrennte franzöfifchFatholifche Kirche im Jahre 1831 aus. Er ents 
warf jest ein Glaubensbekenntniß, in welchem die fran zoͤſiſch⸗ tathos 
liſche Kirche ganz fo wie die neue deutſch-katholiſche fi von einer 
Reihe von Menfchenfagungen und Mißbraͤuchen der römifch = Lutholifchen 
Kirche losſagte, aber bie chriftlichereligiöfen Grundlagen der alten Kirche bei⸗ 
behielt. Nur geftaltete fie ſich weniger frei und folgerichtig. Sie erklärte 
fich vorzüglich gegen bie Unfehlbarkeit des Papftes und allgemeiner Concilien, 
gegen ben Priefterchlibat, gegen bie blos von der Kirche beftimmten Ehehin⸗ 
derniffe, gegen die Ohrenbeichte der Erwachſenen. Sie verwarf aud allen 
Gebrauch der römifchen ober lateiniſchen Sprache im Gottesdienſt, behielt 
aber eine Hierarchie bei, welche aus einem Patriarchen, einem Coadjutor, aus 
Biſchoͤfen und Diakonen beſtehen ſollte. Dabei aber trat Chatel gleichzeitig 
in den Orden der „Neuen Zempelberren”, einer religiöfen Secte, die 


% 


Balticanifche Kirche. 877 


aus ber gleichen gegenwirkenden Richtung gegen bie Kirche ber Reſtaurations⸗ 
zeit wie die franzoͤſiſch⸗katholiſche Kicche entfianden war und als ihren Grunds 
gedanken die Herftellung der „hriftlihen Urkirche“ ausſprach, babei 
aber romantifch phantaftifch fi) in die Formen bes alten XZempelherrens 
Ordens huͤllte, feine Vorfteher auf der Stelle bes alten Tempels (Enclos 
du Temple) wohnen ließ, einen Großmeiſter erwiählte, der Comthurhäus 
fer in Afien, Afrika und Europa vergab. Chatel hatte fich hier zum Biſchof 
meihen und zum PrimassCoabjutor von Gallien ernennen laffen und babei 
ſchriftlich verfprochen, die franzoͤſiſch⸗katholiſche Kicche als bloße Vorfchule 
der templerifchen „Urkirche“ und als abhängig von diefer zu betrachten. 
Doc) hielt er dieſes Verfprechen nicht und bie Templer ſetzten ihn als Pris 
mas⸗Coadjutor wieder ab. Die franzoͤſiſch⸗katholiſche Kirche aber ſelbſt ges 
wann Anklang und Sortgang. Mehrere Gemeinden erbaten ſich franzoͤſiſch⸗ 
katholiſche Pfarrer und im November 1831 wurde zu Parts eine Halle im 
Saubourg St. Martin als Primatlicche der neuen Religionspartei einges 
weiht. Der Plan Chatel’s, zur Unterflügung ber neuen Kicche eine Actiens 
geſellſchaft zu gründen und ber heimliche Abfchluß eines neuen Gefellfchaftes 
vertrage® entzweite ihn 1832 mit Auzou und diefer näherte fi), als ber 
Verſuch einer Ausfähnung auf einer neuen Synode mißglüdt war, wieberum 
etwas mehr der römifch-fatholifchen Kirche, weshalb ihn Chatel, als Bifchofs 
Primas durch die Wahl des Volks und des Glerus, für einen Apoftaten er⸗ 
Härte und feiner Seits die neue Lehre rationaliftifcher ausbildete. Er nds 
berte fich hierbei wenigſtens der gefährlichen Klippe, an meldyer allein auch 
ber Deutſch⸗Katholicismus Tcheitern koͤnnte. Diefe Gefahr befteht darin, 
daß die Führer der neuen Kirche, welche durch die geiftige gymnaſtiſche Kraft 
unb geiftige Aufklaͤrung der neueften Philofophie ihrer Zeit die Mißbraͤuche 
und Menfchenfagungen erkennen lernten, womit man den Kern der dheifls 
lichen Religion umhüllte, in dem Streit gegen die Dunkelmacher und die 
verdunkelnde Regierungsdespotie menfchlichermeife doppelt verfucht find, die 
Religion über ber Philofophie zu vergeffen. Sie find verfucht, das Glas für 
ben Wein, die Waffe für den Kampfpreis zu halten und auszugeben. Sie 
find fo nach Leſſing's Ausdruck verſucht, Brefche zu ſchießen In ihr eigenes 
Haus. Thun fie aber dus, fo muß ihnen die Kirche unter ihren Händen 
verfchwinden und fich verlaufen. Denn zwei ganz verfchlebene Dinge find die 
Dhilofophie mit der philofophifchen Schule und die Religion mit der 
Kirche. Zwei ganz verfchiedene Bedürfniffe haben die Völker. Sie haben das 
Bedürfniß der Philofophie oder des freien Forſchens, Prüfens und Erken⸗ 
nen®, des Erkennens der Wahrheit und dev Eriftenz der Dinge oder ber 
Nichtwahrheit und der Taͤuſchung ihrer Vorftellungen. Sie haben aber auch, 
fo weit bie Weltgefchichte geht, das Beduͤrfniß der Religion, der religisfen Bes 
friedigung, Beruhigung, Stärkung und Erhebung des Gemüths, der Sym⸗ 
pathie und Vereinigung ber Gefühle, Gedanken und Gefinnungen mit gleich 
Fühlenden, gleich Slaubenden. Das philofophifche Streben wird die neuefte 
Zeitz oder Zagesphilofophie, die des neueften philofophifchen Meifteri bes 
friedigen. Mag nun die neue Phllofophie beftätigen, bauen oder zerftören, 
unferem Gemüth wohlthun oder es verlegen, und mag fie auch wie ihre vielen 


9” 


a einem neuen, 
— einem entgegengeſetzten Syfteme Piatz zu machen 
fer Wechfet iſt noͤthig und gewiß, mögen wir ung dieſed geſtehen oder es 
—— im vornehmen Duͤnkel unſere neueſte Schulphiloſo phie, 
bei der Schwierigkeit des Studiums ganger neuer philofophifcher Sy⸗ 
e und ihrer neuen Schulfpradye nah ein ausſchließliches Befisthum 
der Eingeweipten iſt, als den endlich gefundenen Stein der Weifen procias 
micen. Die Gefhichte beftätigt-diefen Wechſel. Er ift auch in ber 
Natur der Dinge begründet, da «8 unmöglich ift, das ganze unenbkiche 
Umiverfum, das Weſen und Verhaͤltniß aller finnlichen und überfinnlichen 
Dinge und Kräfte, alles wirklichen Seins und —* Vorſtellens unb 
Denkens, in der endlichen beſchraͤnkten Sprach», Auffaffungs= und Bes 
einzelner beſtimmter Menſchen, ihrer Indivibualitdten, Bildungs 
en, ihrer zeitlichen und raͤumlichen Werhättniffe — und vollkom⸗ 
erfaſſen, darzuſtellen und zu begründen. Bei dieſer un ver⸗ 
meidlichen Unvollkommenheit der Erkenntniß und weil bei einem 
für alle Beit fertigen und genügenden philoſophiſchen Sofieme das Wichtigfte, 
das Leben, das Lebendige Ueben und Berhätigen , das Entwideln und Fort: 
22 unferes Gelſtes einſchlafen wuͤrde, deshalb iſt dieſe Unvollkommen 
heit, der Gegenſatz und Wechſel der philoſophiſchen Syſteme auch unent⸗ 
— und heil ſam. So gilt alſo ewig der Satz: die Philofophie — 
das Streben mad) der für uns und unfere Zeit und Bildungsftufe möglichen 
unferes Erkennens — iſt wahr, die Philofophien 
find’s nicht. Das religiöfe Streben und Beduͤrfniß aber ift mit ſol⸗ 
cher wechſelnden Zagespbilofophie nimmermehr befriedigt. Das Erkennen 
zur Befriedigung bes -religisfen Beduͤrfniſſes befchränkt ſich auf einen viel 
engeren Kreis, auf bie unfer Gemuͤth befriedigende Auffaffung unferes Lebens 
und Thuns zu einer höchiten göttlihen Vorſehung. Aber das religiöfe 
Streben und Bedürfniß hat andererfeite nad) dem oben Angeführten einen 
meiteren und anderen Inhalt und Gegenftand als das philofophifdye Be: 
daͤrfniß und als das bloße Erkennen. Für die religiöfe Befriedigung ges 
nuͤgt nicht und zu ihr führt nicht die der unendlichen Mehrzahl der Menfchen 
ganz unzugängliche philofophifche, Begründung und Beweisſfuͤh⸗ 
sung ber wechfelnden Schul: und Zagesphilofophien. Es fordert eine un⸗ 
mittelbare für das Gemüth befriedigende, von ihm ald unmandelbar feft 
gehaltene Wahrheit, eine bindende und beflimmenbe (daher religio), einen 
Slauben. Freilich muß bei benfenden Menſchen die Vernunft diefen Glauben 
prüfen und fein Fefthalten nicht unvernünftig finden. Aber nimmer 
wird blos deshalb, meil hier in einem Gebiete, in welchem die Philofophen 
ſelbſt ſchwanken und wanken, Niemand vollkommen Ear fieht, der Glaube, 
welcher dem Gemüth, dem fittlihen Bewußtfein und Gewiſſen entfpricht und 
fie befriedigt, blos deshalb aufgegeben werden müffen, weil er von dem 
verfiändigen menfchlichen Auffaffen blos der seinen Seite des Lebens, 
mlich dee unfreien finnlichen Naturverhältniffe, nicht gefhaffen oder er⸗ 
Hört werden kann. Die Thatſache des fittlihen Bewußtfeins oder des 
Gewiſſens und die logiſch in ungertrennlicher Verbindung damit 

















⁊ 


A 


Sallicanifche Kirche. 379 


ſtehenben Thatfach en der Freiheit, des Guten und Boͤſen und einer freien 
fittlichen Weltordnung — fie find ja eben fo gewiß als bie Thatſachen 
und Geſetze ber finnlihen Natur. Beide find mir ja zulegt doch nur gewiß, 
weil ich an mich felbft, an mein Bewußtfein von ihnen glauben will; die 
finnlichen , weil ich an mein Sehen glaube, daß «8 wirkliche Dinge und nicht 
blos mein Sehen ſieht, die überfinnlichen, weil ich an mein Gewiſſen glaube, 
feine uͤberfinnlichen fittlihen und freien Thatſachen eben fo für wahr halte 
and halten muß, wenn id} an mid) felbfl glauben und nicht in ewigen Wider⸗ 
ſpruch kommen will. So thun es ja auch jene Nihiliften und Materialiften, 
welche das Weberfinnliche und Freie zwar ale Ammenmaͤhrchen verwer: 
fen, aber es inder Achtung der Tugend, in ber Scham, Schande unb 
Verachtung des Böen als wahr behandeln, ja im ihren ihm und allem 
Chriſtenthum feindlichen Syſtemen den Kern und Mittelpunkt von beibem, 
die Menſchenwürde und die Liebe, an die Spige fielen und ben 
finnlihen Tod, das Aufgeben ber Sinnenmelt für biefelben, forbern. 
So gewiß iſt das Gewiſſeſte das Gewiſſen. Esift alfo gewiß eine alberne 
Zumuthung , jene fittlichen Wahrheiten blos deshalb zu verwerfen, weil fie 
dem Kryſtallgeſetz nicht entfprechen, weil fie ein blos bie Maturfeite aufs 
faffendes Denken und Philofophicen nicht erfchaffen und erflären kann, und 
weil bie wahre Philoſophie, welche ihre höhere Vereinigung befriedigend 
nachweiſt — bis jegt von der Philofophie zwar ſtets gefucht, aber noch nicht 
gefunden wurde. 
, Freilich werden wir dadurch unfere materialiftifhen Philoſophen nicht 
bekehren. Aber mögen fie immerhin von ihrem einfeitigen Standpunkt aus 
ben Glauben verwerfen, daraus folgt ja nur, daß fie im bie Kirche nicht 
gehören. Das religiöfe Beduͤrfniß der Voͤlker aber werben fie nimmermeht 
vernichten, noch auch mit ihrer nihiliftifchen oder materialiftifchen (oder ma⸗ 
teriatiflifchsanthropologifchen) Tagesphiloſophie befriebigen. Jede Kirche, 
die fie darauf gründen wollten, wäre eine Lüge. Sie wäre gar Feine 
Kirche, fie wäre nur eine Philofophens Schule, untauglicd für das Volk, 
unbefriedigend für das religiöfe Beduͤrfniß, wechſelnd und wankend wie bie 
Schulphiloſophien ſelbſt. Sie wird und muß fi) verlaufen und zerfallen. 
Die Führer der franzöfifch sLarholifchen Kirche fielen übrigens keines⸗ 
wegs mit Entſchiedenheit diefem Fehler anheim, vielmehr war nur Ihr 
Soſtem noch im der Ausbildung begriffen und ſchwankend. Auch führten bie 
anbern oben berährten Maͤngel die neue Kirche nicht zum Untergange. Viel⸗ 
mehr machte diefelbe, trog ihrer Unfälle, noch 1834 und 1835 Fortfchritte. 
Nur dem macchiaveliftifchen Juſtemilieu⸗Syſtem war ihre Unterdrüdung 
vorbehalten. Es opferte fie der Intoleranz und Herrſchſucht der ultramon⸗ 
tanen und jefuitifchen Partei der roͤmiſch⸗ katholifchen Kirche, um deren Bes 
gänftigung der neuen Dynaftie es buhlte. Es opferte fie diefer gefährlichen 
Partei, obwohl diefelbe ebenfo das ſtaatsgrundgeſetzliche gallicanifcye Syſtem 
der Nation wie die grundgefegliche Glaubens⸗ und Religionsfreiheit anfeins 
det. Die Charte verbürgt allen Franzoſen als weſentlichſtes Verfaſſungsrecht 
nicht blos die Freiheit des Glaubens und der Religion, fondern bie freie 
Religionsausübung oder bie Freiheit ber Culte, und nım wendete man zur 


Zerſtoͤrung dieſer frelen Religlonsausuͤbung das fruͤhere Strafgeſetz im 
Code p£nal an, welches Affociationen von mehr als zwanzig Perfonen ber 
—— Regteruriges oder Polizeiwillkuͤr prelsgiebt und ihte Mitglieder 
‚, wenn fienicht zuvor die beliebige Polizei = Zuftimmung erhielten. 
auf bin allein ſchloß man die Tempel der franzoͤſiſch⸗ Eathotifchen 
Kiche und flellte ihre Mitglieder vor Gericht — während man bie wirklich 
| | Fig verbotenen geiftlichen Orden und Klöfter ruhig beſtehen 
und fidy ausbreiten ließ. Liegt denn aber nicht in dem Sinn eines freien Eul 
jede Religion das, daß die Neligtonsanhänger fih im demfelden ver 
einigen dürfen? Macht man dieſes gröfteund heiligfte Verfaffungsrecht 
und feine ausdrückliche, ur kund liche Zuſicherung nicht zur offenbaren 
kuͤg en man diefe Freiheit durch die Anwendung einer früheren Polizei: 
Beſtin g gänzlich zerſtort Muͤßte man nicht allermindeſtens eine nicht 
erbr * geſtatten und jene Verfaſſungs⸗ Beſtim⸗ 
—* durch, ein befondetes, jenen Ärtikel des Code penal aufhebendis Ges 
ſetz derwirklichen ? Könnte man nicht in blos folgerichtigee Anwendung 
— über Berechtigungen zur Erhebung von Steuern oder auch zıte 
der Cenſur, das Serfaffungsmndpig zug ficherte Steuerbewilligungs: 
Hd die Zuſicherung der Preffreiheit vernichten ? Doch hinweg über 
—— — und a zut —— des wahren ehr⸗ 
lichen Sinnes der Berfaffungen. Es betweift aufs Nous die Verkehttheit 
ber framoͤſſchen Oppoſſtion. die dieſe gefaͤhrlichſte und unwuͤrdigſte Werkes 
ing Freiheit, diefe Werlegung gerade der Funda- 
mentalrechte ber Berfaffung richt nebührend und in jeder Sisung neu 
bekaͤmpft und fie aufzuheben, fich feldft aber einen feften Boden und die öffent» 
Tiche Achtung zu ſichern ſucht. Es möchte vielleicht dabei das mitwirken, daß 
gerade in der vornehmeren Mittelclaffe, alfo beiden Deputirten,, die platte 
Gleichguͤltigkeit gegen das Religiöfe feit der Voltaire'ſchen Zeit am meiften fich 
noch findet. 

Gewiß aber ift es, daß gerabe durch den Wetteifer einer neuen Kirche 
mit der alten, durch die im Weſentlichen zeitgemäßen und der freien Staats⸗ 
veifaffung entfprechenden Grundfäge der franzoͤſiſch⸗katholiſchen Kicche die 
oben angedeuteten Mängel der franzöfifchen religiöfen und kirchlichen Zuftände 
ar beften gemindert und der gefährlichen ftaatsverderblichen ultramontanen 
jefuitifchen Herrfchaft eines großen Theils der Geiftlichkeit der befte und unge- 
fähtlichfte Damm entgegengefegt werden koͤnnte. Doch lieber allirt ſich treu- 
lofes dynaftifches Intereſſe mit diefer gefährlichen Partei gegen die Ver— 
fäffimgsfeeiheit, als daß es diefelbe dem Volkswohle umterorbnet. 

Die wichtigften Schriften Chatel's über fein Spftem find feine Agende 
(Encologe) 1832, fein Catechisme 1833 und fein Code de l’humanite 
1837, 
"Die feit 1832 von ber frangöfifch « Tatholifchen. Kirche abgefonderte 
Kirche des Abbe Auzou nannte ſich die franzoͤſiſch-evangeliſche und 

fand ebenfalls nicht unbedeutenden Anhang, insbeſondere in Paris. Er 
drang nur auf Reform der paͤpſtlichen und biſchoͤflichen Gewalt und nahm 
bagegen die Batholifchen Dogmen an, verwarf aber ben von Chatel fpäter aus 


























- 


Gallicaniſche Kirche. 881 


Norh aufgefteliten Tarif für Gebühren. Mit Talent und mit ber Schärfe 
ber Wahrheit geißelte Auzou die Anmaßungn und Schwächen des hoben 
Clerus. Behr begreiflich aber mar gerade dieſes bei jenem vorhin gefchilderten 
Juſtemilieu⸗Syſtem, welches wie die Reftauration diefem hohen auch in 
Beziehung auf die Einnahmen ſtets begünftigten Clerus ſchmeichelte, waͤh⸗ 
rend man bie unteren Beiftlichen ihrer ſtlaviſchen Abhängigkeit von den hoͤ⸗ 
heren und ihrer Rohheit überläßt, der entfcheidende Grund, gegen die frans 
zöfifchsevangelifche Kirche ebenio zu verfahren wie gegen die fran⸗ 
zöfifhstatholifhe. Man fchloß ihr allmaͤlig alle Tempel, zuletzt auch 
Auzou’s Hauptkirche zu Elichy. Vielleicht ftand es größeren Erfolgen 
und energifherem Widerftande der beiden neuen Kirchen aud) entgegen, daß 
fie in einer Zeit entftanden, wo religiöfe Gleichgültigkeit und Abneigung noch 
verbreiteter waren als jegt, und daß für eine geläuterte Auffaffung des Chris 
ſtenthums von Seiten der religids und kirchlich Gefinnten in Frankreich 
nicht ähnlich wie in Deutfchland religidfe Aufklaͤrung und wiffenfchäftliche 
Bildung mitwirken. 

Wie fehr insbefondere bei dem Mangel an gehndlicher Untverfitätsbils 
dung der Beiftlichen und bei ber Rohheit der niederen franzöfifchen Geiſtlichkeit 
die theologifche und religiöfe Literatur in Frankreich auch noch jest, wo doch 
diefe Literatur und der Sinn für fie fo fehr wachſen, der deutfchen religioͤſen 
und theologiſchen Literatur nachftehen, das zeigt ein Blick in die meiflen neues 
ren theologifchen und religiäfen Werke. Welcher Mangel an gründlicher Kritik, 
Eregefe und Kirchengeſchichte und auch an wirklich gründlich theologifcher 
oder philofuphifcher Dogmatit, Syſtematik und Moral! Auch ber Zahl nach 
find die ungruͤndlichſten theologifchen und religioͤſen Werke bei Weiten im 
Uebergewicht, Gefchichte der Heiligen naͤmlich und Bücher im myſtiſch⸗ 
romantifchen Geſchmack des Mittelalters. Solche Werke finden fo viele Les 
fer, daß fie oft im Eurzer Zeit zehn und mehr Auflagen erleben. Auch bei 
den Predigern muß die Phantafie die Logik erfegen. 

Solche theologifche und philofophifche Schwärmereien und Epielereien, 
wie fie in fo vielm dieſer Schriften, auch in den Theorien des Gt. 
Simonismus und bes Fourier herrfchen, würben in Deutichland 
wohl das Licht ſcheuen, mindeftens Leine fo bedeutende Anzahl von Verth⸗ 
rern und Anhängern finden. 

Die bedeutendſten Wirkungen religiöfer Beftrebungen Binnen nach bem 
Ausgeführten in der nächften Zukunft theils von ber machfenden ultramon⸗ 
tanen jefuitifchen Partei ausgehen, theils von der Verbindung chriftlich« 
religloͤſer Principien mit dem Republicanismus, Communtsmus und So⸗ 
claltenus. Diefe Verbindung , welche thörichter Weiſe die deutfchen So⸗ 
claliften und Communiſten aufs Aeußerſte verwerfen, kann ihnen Disc 
plin, fittliche Haltung, Ausdauer und fanatifche Kraft verleihen. Sie 
kann daher in Frankreich möglichermeife zur Verſtaͤrkung ihrer Gefahren 
für die Regierung und die beftehende Ordnung beitragen. Dennoch wäre 
es eine gefährliche Zäufchung, jene ercentrifchen Richtungen in Deutfche 
land weniger gefährlich zu halten als in Frankreich. In Deutfchland vers 
mehrt die Gefahr ber täglich wachfende, oft wilde Haß gegen bie Unterdruͤckung 


ber wefentlichften Freiheitsredyte und die immer —5 Genion 
—— U 
Mangel der gefehlichen Wege für die — ——— nie * 
Möglichkeit einer Allianz aller radicalen Parteien mit den an — 


| Sedenfalls aber wird jene Verbindung mit 
| fittigend. umd "bildend für. das Volk wirken. in Uebergewicht 
folder ſchwaͤrmeriſchen, ——— religioͤſen Vorſtellungen und Rich⸗ 
tungen, wie in England und Deutſchland nach der ——— iſt auch 
meh in unfrer heutige, überwiegend politifchen Zeit — 
elder.- 
Bu Gaͤſtrecht. Insbeſondere über das nationale Ver: 
tebhrs» und Gaſtrecht oder bas nationale Bürgerrecht ber 
Deutfhen in den Inn inet dentſchen Laͤndern. | 
WVit ſtimmen volftändig, fo wie dem vorftehenden Artikel 
des trefflihen Jordan, fo insbefondere auch, einen am Schiuffe ausgefprocher 
nen naturrechtlichen Rechtsforderungen und Wünfhen in Beziehung auf das 
in Deutfchland noch fo überaus mangelhafte Fremdenrecht bei. Ja wir hal⸗ 
ten diefelben ſchon durch —— eur —— Bölkerreht, vollends 
aber in Beziehung auf Deutfche in gang ——— durch basnationale 
Bundesrecht, und abermals für die Zollvereinsſtaaten auch durch dem 
Zollverein. — Wir glauben ferner, daß, mo etwa ** 
Ausdehnung dieſer Rechte Zweifel entſtehen, die 
Ehre der ——— gen Völker und eine wahre Staatsweisheit, indbefon- 
dere auch die von Jordan oben 11, C. 2, angeführten Geſichtspunkte für bie 
ben Fremdlingen und Gäften günftigfte Auslegung und Anmendung [predhen. 
Und gewiß, es thut Noth, diefe richtigeren und höheren Geſichtspunkte 
heutzutage mit moͤglichſtem Eifer hervorzuheben. Wir Deutfchen,, zwar feit 
ber unfeligen Angſt vor der natürlichen freien Entwidlung bereits in jo Vie: 
lem den freien gefitteten Nationen ber Erde nachſtehend, erfheinen doch 
kaum in irgend einem Punkte fo ruhmlos, fo wenig unferer Nationals Ehre 
entfprechend,, als in Beziehung auf die Inhumanität und Ungroßberzigkeit, 
auf die Heinliche Furcht und die Willkür, mit welcher Gaſtrecht und Fremden⸗ 
polizei in unfern neueren deutfchen Staaten vor Allem gegen die eiges 
nen beutfhen Landsleute gehandhabt werden. Preßfreiheit, 
Boreinsfreiheit und Verkehrsfreiheitin ganz Deutſchland, 
bas find die allerwefentlidjten, uns Deutfhen feit der 
Herrſchaft des Reactionsſyſtems fehlenden, mehr als zu 
irgendreiner Zeit der deutſchen Geſchichte fehlenden Rechte. 
Keiner freien Nation der Erde wurden dieſe heiligen Rechte je aͤhnlich ent⸗ 
zogen, als der deutſchen feit ihrer glorreichen Befreiung 1813, 14 und 
15! + Bon dem Afplreht, wovon wie von ihrem Gaſtrecht andere Völker 
mit Stolz , von folchen Auslieferungen, wovon fie mit Verachtung pres 
chen, foll hier nicht einmal, die Rede fein. 
Was zunaͤchſt das allgemeine europaifhe Völkerrecht betrifft, 
ſo gab es zwar in ber Zeit des Abfolutismus ber Höfe in den zwei legten Jahr⸗ 


EN 










Gaſtrecht. 283 


{ . 

hunderten eine Anficht von demfelben, nad) welcher e6 nur in einer Ans 
bäufung einzelner beliebiger Convenienzen biefer despotifdhen 
Höfe beſtehen follte, die Leine Grundidee wahrer Gerechtigkeit beſeelte, 
und welche aud) freie Bürger nichts angehen, fondern nur die despotifchen 
Regierungen, welche nur die Intereſſen der legteren und nur mittelbar ihre 
Sklaven und deren VBerhältniffe berühren. Hiernach konnten dieſe Herren 
zu Sunften ihrer Willkuͤr aud) leicht zu dem Sage kommen, ja ſich den» 
felben in gegenfeitiger Convenienz gegenfeitig einrdumen, 
jeder Herr ſchalte über fein Staatsgebiet völlig nad grenzenlofem 
Belieben, weife hiernach Fremde beliebig zurüd oder hinaus. Ließ man 
ja auch nicht durch Mechte der eignen Unterthanen, mo diefelben unbequem 
wurden, die grenzenlofe Regierungs: und Polizeiwillkuͤr beſchraͤnken, verjagte 
im eignen Land aus Stadt und Provinz, warum follte man die Rechte 
von Fremdlingen achten? Die rechtliche Schugpflicht gegen beide 
wurde nur despotifhe Willkürbefugniß. 

In dem Maße aber, als flatt bespotifcher Plantageherren wiederum aus 
dem Verein freier Bürger beftehende freie Völker die völßerrechtlichen Rechte 
und Pflichten gegen einander fich anerlannten, als in dem erwachten allge 
meinen Rechtsbewußtſein aller gefitteten Nationen, ſelbſt wenn fie noch nicht 
überall zur Ausübung ihrer Keeiheitsrechte durchgedrungen waren, doch bie 
wahre Rechtsidee für das gegenfeitige Verhältniß der Mitglieder der gefitteten 
Menſchheit wieder erwachte, da ergab ſich audy jene richtigere Grundanſicht 
des Voͤlkerrechts, welche wenigftens dem Weſen nach fchon bie Römer und 
welche der Vater des neueren Völkerrecht, Hugo Srotius, unter dem jus 
genlium verftanden und welche auch die neueren befjeren Bearbeiter dieſer 
Wiffenfhaft in geläuterter und erweiterter Geftalt wiederum feflhalten 1). 
Es lebten jetzt jene gefunderen Rechtsgrundfäge auch Über den freien Verkehr 
der Völker untereinander , über das Verhalten zu Fremden und Bäften wies 
der auf, welche die durch Sitte, Religion und Ehre geheiligten gaſtlichen Schut⸗ 
sechte geſitteter Völker und Regierungen auch fchon früher wenigſtens dem 
Weſen nad) geheiligt hatten. 

Es umfaßte und umfaßt in der That das in der gefitteten Dienfchheit an⸗ 
erfannte jus gentium oder Völkerrecht mehr ale bloß Rechte zwiſchen dem 
Regierungen, fondern auch Rechte dev Mitglieder ber Völker und ein Welt⸗ 
buͤrgerrecht für alle Einzelnen. Und wahrlich unfere chriftliche Religion hei⸗ 
ligt folche® brüderliche Gaſtrecht nicht minder, als die Götter des Alters 
thums es beiligten. 

Auch das Voͤlkerrecht im engeren Sinne, als das Recht der frei zu einem 
Volk vereinigten Buͤrger und der zu ihrem Schutz verpflichteten Regierungen 
zu den uͤbrigen Voͤlkern und ihren Regierungen, begruͤndet wahre allge⸗ 
meine Verkehrs- und Gaſtrechte. Iſt ja doch gegenſeitiger Ver⸗ 
kehr und Handel das erſte und aͤlteſte Recht, welches ſich geſittete Völker 
in alter und neuer Zeit mit Frieden und Freundſchaft gegenſeitig 


) & 3.8. Das Europäifhe Völkerrecht ber Gegenwart, von 
Heffter. Berlin 1844. ©. Vf. Bu 

















| u — * 





Berkehrs! 


— 
u 





384 Gaſtrecht 




















— —* — mon me 7" jften Bölt 
; ——— 
Ventree, du du sejour et du commerce). * —* | 





red Recht auch aller Glieder des Volks gegen da 
be Bolt und er Regierung. Aber — Fol Be 
Jay Rep N herren do 
in feinem formellen ** wenn es den Fremden nach Bei 
‚oder hinausjagt. Allein man vergißt, daß man fo mi | 
Hand wieder nimmt und gaͤnzlich oetört; mas man mit $ 
har Ben Recht des freien Verkehrs. Man vergift, —— 
ge erde bem Zerritortum bie 
3 hat, daß man ner —— 
ale ifo ie fembe Betrug 
yenlofem Belieben jenes 2 



















jenes Belieben, fo be doch nicht m 
t, fonbern hödftems von beliebig zu erittender Gnade B 
Und feid folgerichtig! Darf die Regierung alles Belie 
verfügen auf ihrem Gebiet, ohme dadurch den voͤlkerrechtlichen Zuſtand und 
Frieden zu verlegen, fo darf fie ja auch gebieten: der Fremde werde getöbtet 
ober beraubt, der auf dem Gebiet fich findet; fie darf gebieten , daf man auf 
dieſem Gebiet den fremden Regenten ſchmaͤhe oder Mordplane gegen ihn in’® 
Werk fege, ohne ihm den Schug der Gerichte zu geben. Und erfennt dann 
etwa bie Praris des europdifhen Voͤlkerrechts — etwa die traurigen Aus: 
weifungen von Deutfchen in Deutfchland ausgenommen — jenen Wider: 
ſinn ruͤckſichtlich des Verkehrs⸗ und Gaftrechts an? MWäre es etwa ganz recht 
und mürbe es die Nation der Engländer, ber Amerikaner ‚ber Sranzofen als 
voͤllig recht und als unbeleidigend gegen, achtbare Mitbürger und gegen ſich 
felbft finden, wenn etwa irgend eine beutfche Regierung diefelben nach reinem 
Belieben von Durchreife und Aufenthalt ausſchließen, ihre Päffe nicht ach⸗ 
ten und fie nad) aufgewendeten Koften mit Zerftörung rechtlicher Plane und 
Unternehmungen von dem menfchlichen , geiftigen, inbuftriellen und Han: 
belsverkehr, von dem Befuche ihnen verwandter oder fonft wichtiger Perfos 
nen, ja von dem Durchpaß zu anderen Pänbern abfchneiden oder fie nach 
früherer Aufnahme ploͤtzlich hinausjagen wollte? Sicher keine Regierung 
glaube dieſes, keine wagt eine ſolche Behandlung eines Briten, eines Norbe 





einem Rech 


2) Precis du Droit des Gens, par G, F. de Martens, A Goettingue 
1821. $. 141. 142, 144. B4. —3 a. D. $. 32. 
3) Martens a. a. D. $.7 


Gaſtrecht. 895 


amerikanets aber Franzoſen. . Sie weiß es ficher, daß Mißverhältniffe, Re 
toxſjonsmaßregeln, vielleicht Krieg von dieſen graßen Nationen, welche flets 
die Verlegung bes völkerrechtlichen gegenfeitigen Friedens⸗ und Achtungsvers 
haͤltniſſet, die Verlegung des friedlichen und freundfchaftlichen 
Verkehrs, die willkuͤrliche Kraͤnkung der Intereffen und der 
E e ihrer Mitbuͤrger als Nationalſache verfolgen „bie Un bill raͤchen 
en. 
Mur. allein Folgendes alſo kaun als allg emeinrechtlich⸗ Beſchraͤnkung je⸗ 
u Perkehrs⸗ und Gaſtrechts zugegeben werden. Es kann bie Ranbesge- 
fnbsebung allgemeingeſetzlich ſolche Bedingungen und For⸗ 
men fuͤr die Ausuͤbung jenes Rechts, welche das Weſen deſſelben 
ſelbiſt nicht aufheben, ihr aber nothwendig ober heilſam ſcheinen, zum 
Voxraus feſtſeten und befannt machen. Sie kann Paͤſſe fordern, den Han⸗ 
del durch Zölle befleuen, wo es ihr Kandeswohl fordert u. ſ.w. Ste kann 
in Der Noth, im Krieg u. ſ. w. voruͤbergehend, fie kann vollends zur Retorſion 
gegentheiliger Beſchraͤnkungen die durch folche Veraͤltoiſſ⸗ nachn eisbar 
gerehsfertigten. Beſchraͤnkangen eintreten laſſen. 

Sie kaun z. B. wegen Krankheita⸗ oder RXegonoth allgemeine Spne 
nafregeln anordnen oder zun.geheglichen Strafe wegen Vergehungen ge⸗ 
gm allgemeine Landesgeſetzz Fremde aneweiſen. 

Aus dem doppelten Grund, weil nach ber richtigen voͤlk errechtlichen An⸗ 
ſicht civiliffeter Voͤlker Hier nicht blos die Registungen, fondern auch die Buͤr⸗ 
ger als berechtigt gegenuͤberſiehen, und: meil ihre. und bed Volkes Ehre ebenſo 
dabei bathelligt find, daß das geheiligte Gaſt⸗ und Aſylrecht nicht durch Aue⸗ 
weiſung oder unguläffige: Auslieferungen verlegt werben, und weil nur auf 
virfaffungsmäßig gefeglich ausgeſprochene Rechtsgruͤnde bin Beſchraͤnkungen 
zulaͤſſig ind, follen billig,. fo wie in England ımb Belgien, die 
Stantöverfaflung und bie verfaſſungsmaͤßige Geſegebung dieſe Verhaͤltniſſe⸗ 
vechtläch feſtſetzen. Dadurch wird zugleich die unbeleidigende rechtliche Na⸗ 
tur underweidlicher Beſchrankungen auch fuͤr das Verhaͤltniß der Voͤlker klarer 
erkennbar. Es kann übrigens auch in einzelnen Faͤllen ber Ausuͤbung ˖ der 
Megierungsrechtr die Auslegung und Entſcheibung ſchwierig fein, ob dieſe 
Beflimmungen:bas Recht des Verkehrs und Handels feinem Weſen nad 

icht beſchraͤnken, ‚oder. body nur auf eine foldhe, Weiſe beſchraͤnken, daß bie 
* bstheiligten Nationen hoͤchſtens zur Retorſion der: nachtheiligen, oder 
ob ſte zur Beſchwerde und Genugthuunig wegen willkuͤrlicher kraͤnbender und 
vedletzender Behandlung ihrer Bürger veranlaßt und berechtigt werben. Die 
Rechtswidrigkeit und Verwerflichkeit aller rein willkürlichen, aller als 
rech olich begruͤndet nicht nachweisbaren, ſondern blos auf ſubjective 
Laune und Beliebung geſtuͤtzten Beſchraͤnkungen aber wild. nirgends durch 
eine. Schwierigkeit der Erkennbarkeit bei Rechtsgruͤnde und Rechtsgrenzen 
aufgehoben. Am wenigſten wuͤrden hier wie. Set.andern Verletzungen jene 
Regierungen, welche Epre.und Intoreſſe ihres Volks und-iprer Bürger als ihre 
eigene Ehrenſache vertreten, die Ktraͤnkung, für weiche keine wirklichen Rechts⸗ 
gruͤnde nachweisbar ſind, durch den allzeit fertigen Deckmantel der Willkuͤr: 
die „Staatsgruͤnd * duxrch dieſes aeue: car tel est notre plaisir, als 

Suppl. 3. Staatslex. II.. 25 


20 — 


und ausgeloͤſcht le Sie würden ae allgemein geſetz⸗ 
* zum Voraus verkündete Beſchraͤnkungen nur dann als unver» 
— —“ nicht vdlkerrechtswidrig das Ag han bes 
— nl her etwa nut gegen fie oder eingelne Glaffen ihrer 
Bürger gerichtet wären. Sie würden am uam —5 nicht begruͤn⸗ 
dete ungerechte beliebige: 
Nun vollends zig die Bürger vn und — Nation 
— bie Bürger einer freien einigen deutſchen Nation, dieſe ve 
doch nicht weniger, fondern viel mehr und ausgedehnter untereinander Dies 
—— bes Verkehrs und ber Wedfeliirkung und bes gaftlichen Schu 
a tote die Bürger fremder Mationen 
MWMWaͤhrend des deutſchen Reiches , wie oft auch faetiſche Erſcheinungen 
bi Fauſtrechts und fpäterer desporifcher Willkür, zum Ruin beffelben, 
a und ba ih * mochten, war doch nie re jener Grund⸗ 
Nur Verbrecher und icht unbefcholtene 
Dr Dh onen ehe biurch die ale fe fhimpftiche Strafe 
anerkannte eng en Ausfchliefung in deutſchen Reichslanden 
werben. auch nur 
e auflegen , Fr er das ganze Nationalband zerreifen. 
In Beziehung ri ben deut ſchen Bund aber liegt de 
vor, wie doch wenigſtens > era fogar urkundliche Anerkennun⸗ 
gen fand. So fehr auch ber ber Eile und die Scheu, die freie natio⸗ 
tliche Geftaltung ber ee durch befondere Bundes» 
fasungen der Einmiſchung einer ftantsrechtlichen Bmangs: und Strafgewalt 
des Bundes unterzuorbnen, bie pofitiv gefeglichen Ausführungen der Grund⸗ 
fäße verhinderte, jo wurden boch bie Grumbfäge felbft neu anerkannt. Es 
wurde boch feierlich bie Wiederherftellung eines nationalen deut— 
[hen Rehtszuftandes nationaler Verbindung und Einis 
“ gung und die Grundfäge wirklichen nationalen Rechtözuftandes auch für 
die einzelnen Bürger, ja eines allgemeinen deutfhen nationas 
len Staatsbürgerrechts anerkannt. (S. oben Deutfher Bund 
V. und VI.) Es war das Weſentlichſte eines ſolchen Bürgerrechte, bie 
Sreiheit des Verkehrs und Handels mit freier Flußſchifffahrt (Art. 19. der 
B.⸗A.), fo wie allgemeine geiftige Verkehrsfreiheit durch bie freie Preſſe 
(Art. 18. d.) ausdruͤcklich zugefichert und neben der allgemeinen deutfchen 
landſtaͤndiſchen Freiheit und dem Schug bes Bundes bei Verweigerung bun⸗ 
besmäßiger Rechte und der Juſtiz (Schlußacte Art. 29. und 53.) noch 
insbefondere unbeldftigter Erwerb von Liegenfchaften in allen Bundes⸗ 
ändern, fo nie Freiheit ber Auswanderung und des Eintritts in ihre Staats⸗ 
dienfte (Art. 18. a. b. der BA.) garantirt. Es war nur eine logiſch 
nothmwendige Auslegung biefer Rechte, die man auch noch am Buns 
bestag ausbrüdlid als die Bürger, bie Nation und den Bund felbft hoch⸗ 
ehrend, als allgemeine beutfche Staatsbürgerrechte einftimmig anerkannte 
und pries*), wenn ebenfalls auf dem Bunbestage in bdiefen größeren 


4) Klüber, Deffentliihes Recht. 5. 228. 


Gaſtrecht. 887 


Mechten, 3. B. in dem völlig unbefchränkten, von Erſchwerungen ausdruͤck⸗ 
lich befreiten Recht jedes Deutfchen, in jedem deutſchen Lande ſich durch Ers 
werb von Haus und Gut anfäffig zu machen, auch das Recht gefunden 
wurde, in diefen Ländern reifen und in ihnen weilen zu dürfen (Kluͤber, 
a.0.D.). Er follte ſolchergeſtalt urkundlich nodh ausgebehnter ge 
gen willkuͤrliche Befchränkungen gefichert werden als der fremde Franzoſe, 
Engländer, Amerikaner. 

Mer hätte num vollends denken mögen, baß felbft diejenige Ver⸗ 
Behröfceiheit, die allgemein völßerrechtlich ift, die in jenen genannten Laͤn⸗ 
been keinem Fremdling ber Exde, alfo auch keinem Deutfchen verweigert 
wird, welche auch felbft der maͤchtigſte deut ſche Staat ben fremden Ameris 
£anern, Engländern, Franzoſen nicht zu rauben wagen würde — daß felbft 
biefe in unferer neueften Zeit, von Eleinen und von großen beutfchen Staa- 
ten hundert⸗ und taufendfach, ja faft tägich deutſchen Staatsbuͤrgern, 
ohne alle Nachweiſung irgend eines Rechtsgrunbes, willkuͤrlich auf die bes 
ſchimpfendſte und befchädigendfle Weife entzogen werden würde! Braucht 
man von der neuen urkundlichen Befeftigung und Erweiterung diefer Vers 
kehrsfreiheit buch den allgemeinen Zoll⸗ und Handelsverein nur noch zu 
reden! Mo ift fie bei beliebiger Ausweifung ? Dürfen blos Ochfen und 
Schafe nicht ausgewiefen werden , aber bie Menfchen ! 

Iſt es denn aber ein Geheimniß, trotz der Unterdrüdung ber meiften 
und flärkfien Klagen duch die Genfur, ein Geheimniß, wie tief im 
Ausland und im Inland foldye Verletzungen ber allgemeinen unb natürlichen 
und der urkundlichen nationalen Sreiheitsrechte empfunden werben ! 

Jeder Ehrenmann aber und die Regierungen felbft müflen doch wohl 
vor Allem wuͤnſchen, daß die Ehre des Vaterlandes und feiner Bürger, daß 
bie Ehre und Achtbarkeit der Regierungen, der Glaube an ihr rechtliche® Bes 
wußtiein, an das Vertrauen zu ihrem Volke, das Vertrauen zu der Güte 
ihrer Sache, zu deren begeifterten Vertheidigung vielleicht morgen ſchon aufs 
gefordert werden fol, im Inland und Ausland möglichft ungefchwächt erhalten 
werben. Es ift alſo mohl audy eine heilige Pflicht jedes wohlmeinenden Buͤr⸗ 
gers, fo kraͤftig als nur möglich gegen folche Kränfungen der National: und 
Staatsehre feine Stimme zu erheben. Die Regierungen mühen fich ab, fegen 
Zaufende von Menſchenhaͤnden täglich in Bewegung, opfern Hunberttaufende, 
um duch alle ihre Polizei⸗ und Cenſurmaßregeln und ihre Majeſtaͤtspro⸗ 
ceſſe jede fcheinbare Schwächung des guten Glaubens an fie, an ihren guten 
Willen und ihre Kraft, des Glaubens an einen ehrenvollen und glüdlichen 
Zuſtand zu verhindern und zu: rügen — fie find eben deshalb auch aͤngſtlich 
gegen jebe vielleicht ihre Unterthamen anftediende Aeußerung von Freiheits⸗ 
grumbfägen und Klagen liberaler deutſcher Bürger anderer Länder. — Aber 
vermehren denn nicht folche Maßregeln bei den Betroffenen und taufend 
Anderen ungleich mehr Unzufriedenheit und liberale, ja übertriebene 
und feindfelige Gefinnungen gegen bie fo vertheidigte Religion, Stantsorb: 
nung, Regierung ? 

Die Bundespolitit Hält zu gleichen Zweck viele in dem Bundesgrumb> 
vertrag nicht begründete Ausnahmsmaßregeln (S. Deutfcher Bunb) 

25 * 


für nothwendig und heilſann Eine Reihe Jeſtin 
Verkehrsfreiheit Het Ya m w. "gem Aastnafihget von Btik 
direnden, Handwerkern. einzige: Berfüg Nur Verwick⸗ 
Hicung der urfumblichen aber beſchuͤtzt die peu Pen 
Länger die Wirkungen Diefer Potitit verlennen 2 

„ m &leht man nun von allem Uebrlgen ab, von ber'tiefen —* 

bie Verlegung an ſich, von der Kraͤnkung, daß in Beziehung —* die 

und den Mechtöfhut der wichtigften Verkehrorechte jeder legte —5— Eng⸗ 
laͤnder, Amerikaner in Deutſchland — — beutfcher 
ſtaͤmme im Verhaͤltniß zu den adytba chen ſo hoc eich 
vilegirt , diefer befchimpfand Ei: fo muß nach —— bie 
folgende Vergleichung die nachthel Heften, 


—— danken ken — 
Auer —* | L | 
—J ner tee rm 
















deſte Ge 
und das, daf : 4 dort 218 
münıdierhefcheidteften, geahterft en und —— en Männet 
zudem: Minifterftellen gelangen läßt, diefe bewirken thatſaͤchlich 
beinahe die vollftändige Freiheit. In England aber vollends iſt, nachdem 
wman dort zuerfb die als bloße Ausn ah me maßregelin gefährlicher Kriege: 
zeit erlaſſene Alienbitt umd dann bie Nochwendigkeit der Paͤſſe und Gar: 
tificate aufhob (ſ. oben), gerade fo nie in Norbamerika gefeglich der Regie: 
rung und Polizei das Recht entzogen ‚ bie vollſte Verkehrsfreiheit zu beſchraͤn⸗ 
fen, irgend einen der vielen Fremden aus Stadt und Fand beliebig oder 
anbers als wogen Bergehungen gerichtlich aus⸗ ober zurädzumelfen. 
Run bedenke man dieſen Zuſanmtenfluß von Fromden der ganzen Welt, man 
bedenke die engliſche und amerikaniſche abfolnte Freiheit der Preſſe mb der 
Volsverfammiung und die Entſernung anderer deutſcher Polizeinrittel, man 
denke fich dann an die Spitze ſolcher Ränder ober Ihrer Städte von ein und kmei 
Millionen Einwohner einen deutſchen Minlſter ober Polizeidirector, wuͤt⸗ 
den dieſe nicht verzweifeln — Nuhe und Ordnung und Thron und Gefetz ımd 
Verfaffung auch nur einen Tag erhalten: zu koͤnnen Scheine dieſelben 
nun aber zu behaupten, daß fie «6 auch bei uns zahmen guten Deutſchen im 
unſeren viel kleineren Werhättniffen und tidtz uflet ſonſtigen deutſchen Regie: 






sungsmittel nicht koͤnnden — wie bedenklich ,! fir vieteicht meeſtaͤtsbelerdi 
gend. würde alsdann fü Staat: und Rederinz We dieſn rer 
sung fein! en in 


Moch wir wollen ———— weiter ausfuͤhrrn wir —— mut wohlt 
meinende Regierungen zur ernſteſten Erwägung dieſes bedeutungeneflen Um 
ſtandes veranlaſſen und fie nn, daß dietenigen Schmeichler und Rath: 
geberſie auf — — hrlichſte Weiſo taͤcchen welche es Ihrtm berbvegen, 


Gaſtrecht. 380 


daß ſogar der nationale Lebensinſtinct ber Selbſterhaltung auch das deutjcht 
Volk in ber Liebe und Erkenntniß von Recht und Freiheit und Volksehre taͤg⸗ 
lich vorwärts treibt, und daß fo hartnaͤckige Fortfezung und Erneuerung ber 
uns gegen alle freien Völker und gegen unſere eigene Vorzeit zuruͤckſetenden 
grenzenlofen despotiichen Polizeiwillkuͤr gegen die Verkehrs: mie gegen 
die perfönliche, die Preß⸗ und Slaubensfreiheit,,‘ die einzige wahrhaft 
gefaͤhrliche revolutiondee und regierungsfeindliche Unter⸗ 
grabung ber Achtung und Liebe der beſtehenden Ordnung, der Fürs 
ſtenthrone iſt. Sie wirkt täglich verderblicher. Sie macht bie treueſten 
Vertheidiger der Throne bald ebenſo zum Gegenſtand bes Spottes, wie es hie 
armfetigen Scheingruͤnde zur Rechtfertigung jener Willkür dereits gewor⸗ 
ben find 

Hätten wir freilich die Deffentlichleit und die Freiheit ber öffentlichen 
Meinung conflitutionellee Verfaſſungen und ihren - Hauptoorzug., daß nur 
die muthigften, genialften, vertrauensmertheften Männer bee Nation Dis 
niftee werden koͤnnten, und nicht fo oft Gegenbilder derſelben, fo bebürfte 
es keines weiteren Wortes. Das Bisherige wäre ſchon unnoͤthig. So aber 
und bei dem leidenfchaftlichen Reactionskampfe gegen folche freie Werfafjung 
befinden wir uns in den Kreifen ber Regierung und des Volks faſt wie in zwei 
getrennten Welten. Wir fichen uns mit fo verfhiebenen Anfichten unb 
Begriffen gerade von ben wichtigfien Dingen gegenüber, daß oft faſt jebe 
Verſtaͤndigung abgefchnitten ſcheint, noch weit mehr :abgefchnitten als ſelbſt 
in fruͤheren Zeiten, wo die Höfe eine dem Volk fremde Sprache rebeten. In 
den Dunfikreifen der die Wahrheit faͤlſchenden und unterdruͤckenden Hof: 
ſchmeichelei und ihrer Verbindung mit ſchwaͤrmeriſcher Romantik und Pieti⸗ 
ſtik, mit verlebter aber gereister hochmäthiger Artfkokratie, Bureaukratie 
und Buchweisheit, glaubt man zuweilen für das deutfche Voll eine ganz 
andere Freiheit und Ehre und Treue, eine ganz andere freie Verfaſſung, 
Gerichtsoͤffentlichkeit, unabhängige Juſti , Glaubens: und Preffreiheit 
u. ſ. w., Alles ganz anders und für dem Hof viel bequemer, als fie die 
andern freien Nationen der Erde beſitzen, erfinden und wie ein neues 
Lakaienkleid dem Volke anziehen und annehmbar machen zu koͤnnen. Dan 
glaubt hochmüthig, den Geiſt ſelbſt machen oder ihn als göttliches Privileg 
im Dienfte übermüthiger Willkuͤrherrſchaft gebrauchen zu Einnen, ftatt ihm 
und der Wahrheit und Gerechtigkeit und Treue huldigen zu müffen. 
Das Volk aber Lächelt oder murrt zu dem Allen und hält feft an ben alten 
Begriffen aller freien Völker der Erde von jenen Dingen, von Treue und 
Ehre der Völker und Fürften, von Freiheit u. f. f. Es huldigt nur dem wah⸗ 
rem Geift Gottes in feiner von ihm gewollten Lebensentwidelung. Lebens: 
eraft aus Pflicht und Ehrtrieb treiben es zur endlichen thatſaͤchlichen Ueber⸗ 
einſtimmung mit den freien Voͤlkern und mit ſeinen eignen urſpruͤnglichen 
Lebensgrundlagen. Mögen alle Wohlmeinenden mitwirken, daß, fo lange 
es noch Zeit ift, jene unfelige Sprachverwirrung endet, daß Volt und Regent 
unmittelbar mit einander fi) verfiändigen über das, mas Noth thut. Dann 
würde Altes unendlic) viel einfacher und leichter , als «8 fheint. 

Da wir aber leider fo weit noch nicht find, jo war zur möglichften 


390 Gaſtrecht. 


Verſtaͤrkung der öffentlichen Meinung über den hochwichtigen Gegenſtand 
dieſes Artikels bier noch an drei beſondere Faͤlle der vielen neudeutſchen Ver⸗ 
letzungen des Verkehrs⸗ und Gaſtrechts zu erinnern, welche in gedtuckten Ver⸗ 
handlungen vor uns liegen und unfern Gegenftand In volleres Licht zu flellen 


geeignet find. 
ifv4L: Dir erfie ift beſchtieben In ber Schrift: Meine Ausmweifung 
aus Baden, meine gemwaltfame Ausführung aus Rheins 
baiern und meine Redhtfertigung vor bem deutſchen Volke 
von Karl Grün. Zürich und Winterthur, 1843. Der Vers 
faffer diefer Schrift, nach welcher wir, da wir nie einen euren gegen 
‚biefelbe vernahmen, bie Thatſachen wiedergeben, Dr. Grün, ift geborner 
Dreufße. Als Profefjor ber deutſchen Sprache und Literatur in Colmar 
angeftellt, wurde er 1840 von dem bamals lebhafter erwachten deutſchen 
Wationalgefühl und von der patriotifchen Erhebung gegen die frangöfifchen 
aßungen fo wer daß er ſich nach Deutſchland zurücfehnte. 
55* vollends der taͤgliche Spott der Elſaͤſſer und Franzoſen uͤber dieſe 
ber noch unfrelen vislgethällten ——— * ihre — 


ſiedelte * Mannheim über, wo indie, Mitwirkung bei ber — 
bee Mannheimer Abend-Zeitung übernahm und dieſelbe bald zu bes 
ben wußte. Unerwartet wurde er bier am 5. Detbr, 1842 durch Polizeibe- 
fehl aus dem babifdyen Staate ausgewiefen und ihm unter Androhung von 
perfönlicher Gewalt aufgegeben , innerhalb von drei Tagen Stadt und Land 
zu verlaffen. Sein preußifcher Paß war in Ordnung, die badifche Aufent- 
haltserlaubniß keineswegs abgelaufen , fein Gontract mit dem Zeitungseigen⸗ 
thuͤmer erneuert abgeichloffen. Der Lebensunterhalt für fid und feine hoch⸗ 
ſchwangere Gattin wurbe ihm plöglich zerſtoͤr. Die Angabe irgend eines 
Rechtsgrundes — eines andern, als jener gewöhnlich der Willfür 
dienende der „„ Staatsgründe”, Eonnte er bei feinen Vorftellungen und 
Recurſen bei den Mannheimer Behörden und dem Minifterium in Karlsruhe 
nicht erlangen. Sein fittlihes und bürgerliches Leben mußte der Miniftes 
rialbirector, nach Einholung aller officiellen Erkundigungen, als gänzlich) ma= 
kellos erklären. Nur fo viel ließ man ihm merken, daß drei unbedeutende Zei⸗ 
tungsartikel mißfälig aufgenommen worden wären. Vergebens ftellte er vor, 
daß diefelben nicht von ihm, fondern von dem Zeitungselgenthümer herrührs 
ten, indem er, weil er Bein Badenfer war, nur als Literat, nicht ale eigents 
licher Redacteur für die Zeitung wirken konnte, daß der eine Artikel ja felbft 
von der Genfur als unanftößig durchgelaffen, die zwei andern fcherzhaften 
Artikel aber von der Cenfur ganz oder theilweife geftrichen und das Ges 
firichene nicht gedrudt worden war, daß feine ſaͤmmtlichen Artikel — fo 
beflätigt e8 in ber That der Abdruck derfelben in der Schrift — ernfte, loyale, 
beutfch-patriotifche Geſinnung und vorzüglich gegen feinen König die höchfte 
Ergebenheit und Anhanglichkeit bezeugten, daß auch nicht eine einzige Klage 


- 


Gaſtrecht. 891 


ober Rüge über fein Leben und Wirken im Babifchen vorlag. Trotz alle 
dem erklärte ber preußiſche Befandte in Karlsruhe und ſpaͤter das Mini⸗ 
ſterlum des Auswärtigen, ebenfalls, ohme auf irgend eine Verſchuldung des 
Dr. Grün nur hinzudeuten, daß fie die verlegende,, fo ſchwer befchädigende, 
von badifchen (vollends vermittelf der requiritten cheinbaierifchen) Behörden 
fhenungsios und beichimpfend an dem preußifchen Unterthban ausgeführte 
Landesverweifung „als rein innere badifche Angelegenheit anfähen, um 
die fie direct ſich nicht befümmern koͤnnten (S. 136. 155)”. Der badiſche 
Minifterialdicertor Eichro bt, der ſich bem perfönlich bei ihm Hlife fuchen- 
den Verfolgten als Urheber der Maßregel bekannte, fagte ihm: „wer uns 
‚am Lande ftört, mit dem machen wir feine Umflänbe, den putzen wir 
„ohne Weiteres hinaus”. (&. 138.) Die Behörden vertveigerten 
felbft den Suspenfiveffect bis zur Entfcheidung bes Recurfes im Miniſterium, 
fo daß Grün, als während feiner Reifen nad) Karlsruhe und zurüd die 
drei Tage abgelaufen waren, um perfönlicher Mifhandlung zu entgehen, 
ſchnell nach Rheinbaiern flüchten mußte, ohne nur feine Sachen und es 
ſchaͤfte irgend ordnen zu können. Ja in Rheinbaiern, obgleich ihm ber badi⸗ 
ſche Minifterialdicector felbft, flatt der Exrtheilung des Aufichubes bis zur 
Miniſterialentſcheidung gerathen hatte, diefelbe dort abzuwarten, und obs 
gleich fein preußifcher Pag von der Mannheimer Stabtdirection ohne allen 
Beifag und auch von dem baieriſchen Ortsbürgermeifter vifirt war, wurbe er 
auf babifche Requifition noch vor biefer Entfcheidung auf dem Schub mit 
Sensdarmeries Begleitung, von deren Schimpf und Schrecken ex mit Mühe 
bie hochſchwangere Gattin rettete, in's heffifche Gebiet fortgeſchafft. Einer 
Beurtheilung der ganzen Behandlung und einer Darftelung bes peinlichen 
Eindrucks, den biefelbe macht, bedarf es nicht. Den Verfafler indignirte 
und empörte fie fo tief, bag er, fchon als-er feine Darflellung derfelben 
ſchrieb, prophezeiete (S. 146), daß fie feine loyale patriotifche Richtung 
wohl in die aͤußerſte rabicale ummanbeln würde. Und er hat richtig pros 
phezeit und ift im diefer legteren im ber That rabical, energiſch und thätig 


I. Der zweite Fall, die Ausweifung der Abgeordneten von Itz⸗ 
fein und Heder aus Berlin und dem preußifhen Staat am 23. Mai 
1845, ift nach dem Eindruck, den er nach den Perfönlichkeiten und ber Stels 
lung ber beiden Männer machte, zu einem biftorifchen Ereigniß geworden. 
Ohne bier diefen Fall neu darftellen und beurtheilen zu wollen, begnügen 
wir uns nur, aus ben Öffentlichen Verhandlungen der II. badifchen Kammer, 
bie das Öffentliche Lob der Mäßigung erhielten, einige Stellen, welche bie 
gerechte Forderung eines freien Verkehrs für Deutfche im deutſchen Vaters 
Lande unterflügen, nach ben in ber (cenficten) Landtagszeitung v. 1846 
&.365 ff. gegebenen Protocolien®) hier mitzutheilen. Um aber das 
Bericht diefer Ausführungen auch nicht etwa durch einen Schein einer 
badifchen gereisten Stimmung zu ſchwaͤchen, machen. wir noch befon- 
ders darauf aufmerkſam, daß wir ja felbft ausführten, daß bie hier vorge 


6) Der Abdruck ber officielen Kusgabe reicht noch nicht fo weit, 1 


son‘ | Gaſtrecht. 


allene Kraͤnkung des Gaſt⸗ und freien Verkehrscechts lelder von andern 
deutſchen Regierungen und der badiſchen ſelbſt — den Rechtsgrundſaͤten 
nach — auf gleiche Weiſe verübt, auch gegen preußifche Unterthanen vers 
übt wurde, und daß die preußifche Regierung. ganz confequent mit ihrem 
fpäteren Verfahren — obwohl nach unferer Anficht im Rechtsierthun — bies 
ſes als rein innere Angelegenheit ber ausweifenden Regierung erklärte. Aber 
gerade weil diefer Rechtsirrthum in fo richtiger Sache noch jet Befteht, ift 
die möglichfte Widerlegung deſſelben Pflicht des Publiciften. 

Der Abgeordnete Welcker brachte in ber Öffentlichen Sisung am 
1. Juli 1846 die Sache zur Sprache, fo fpät, um, wie er andeutete,, jeden 
Schein Leidenfchaftlicher Auffaffung diefer Angelegenheit auszufchließen, boch 
ohne dadurch der ganzen Bedeutung der Sache etwas vergeben zumollen Ex 
fagte nach kurzer Erzählung de8 Hergangs unter Anderem: „Meine Herrm ! 
Zwei Ehrenmänner, zwei beutfche Bürger, ich will den Nachdruck niche 
darauf legen, baß fie vom Volk ermählte Abgeordnete diefer Kammer find, 
mir däucht, der Titel „deuticher Bürger‘ aus dem Großherzogthum Baden 
ift ein hoͤchſt ehrenvoller Titel; Männer, denen nicht das Mindeſte zur Laft 
gelegt werben Eonnte, find aus einem beutfchen Staate ausgewiefen worden?! 
Nachdem die eigenen Bewohner Preußens über den Schritt ihrer Regierung 
fih in einer Weife ausgefprochen haben, mie es gefchehen tft, nachdem 
Deutſchland, und ich darf, nad) dem, was über diefe Maßregel in englis 
ſchen und franzoͤſiſchen Zeitungen zu lefen war, wohl fagen Europa, fich 
audgefprochen hat, darf man wohl mit Recht annehmen, daß die peeußifche 
Regierung nichts verfäumt habe, um auf Seite der beiden ausgewieſenen 
Ehrenmänner eine Schuld zu finden, welche die Ausweiſung rechtfertigte. 
Auch, der kleinſte Grund wuͤrde ihr groß genug gefchlenen haben. Allein man 
hat nichts gefunden. Sie hatten vollgültige Paͤſſe und felbft der Mangel 
derfelben Bann nad) den preußifchen Geſetzen nicht als Grund zur Ausweiſung 
angefehen werden. Sie wurden gezwungen, ihre Reiſe aufzugeben, bie 
Koften, die fie ihnen verurfacht hat, find vergebens gemacht; das iſt aber 
eine Kleinigkeit gegen die Verlegung bes Rechts, der Ehre und Würde der 
badener und der deutfchen Nation. Das allgemeinere Moment brauche ich 
kaum hervorzuheben. Meine Herren, was heißt dad, wenn man fagt, es 
giebt eine deutfche Nation? Deutfche Bürger find hinausgewieſen worben 
aus dem Land, das deutich fi nennt, ohne Urfache, wie Halunken, die 
man wegen Verbrechen verurtheilt und gegen welche die fchimpfliche Strafe 
der Vermeifung aus dem Lande ausgefprochen wird. Zwei deutfche Bürs 
ger find aus einem beutfchen Lande verwiefen worden, ohne den Gefandten . 
ihres Hofes ſprechen und als Intercedenten gegen eine fo gewaltthätige Maße 
regel aufrufen zu dürfen, die um fo auffallender bhervortritt, wenn Sie bes 
denken, daß uns noch ein anderes Band mit Preußen umſchlingt. Es muß 
volfends ganz unbegreiflich erfcheinen, da durch den Zollverein ein freier Hans 
del und eine Verkehrsverbindung zwiſchen unferem und dem preußifchen Staat 
ftattfindet. Diefe beiden Männer haben fi von unferer Regierung oültige 
Reiſepapiere geben und von dem Vertreter der preußifchen Regierung vifiren 
laſſen. Ich bedaure die Maßregel der Paßeinrichtung, fie ift nichts als eine 


Saftrecht. 80 


Beſchraͤnkung deu Freiheit, eine polizeiliche Bevormundung. In Amerika 
ar: In: England find die Paͤſſe als unnöthig aufgehoben worden. Aber 
wenn man Raſſe bedarf, foift das Viſa vom Vertreter des betreffenden Staats 
eine foͤrmliche Reception, in das Land deffelben zu reifen. Mer den Schulds 
loſen wieder zuruͤckweiſt, der verlegt Grundfäge, welche feine eigene Würde 
betreffen, er verlegt feinen elgnen Geſandten, er thut, — ich will keinen 
ſtaͤrkern Ausdruck gebrauchen — im hoͤchſten Grabe Unrecht, er verlegt nicht 
blos im Allgemeinen die Pflicht des Gaſtrechts, nein, er bridyt das bereite 
gegebene Gaſtrecht, das allen Völkern ber Erde, ſelbſt den unciviliſirten Ara⸗ 
been heilig iſt, er thut es, indem er aufgenommene Säfte mit Polizeigewalt 
beſchimpfend aus dem Lande herausjagt. Was ift denn noch rechtlich, wenn 
ſolche befhimpfende Behandlung in das Belieben einer Regierung geſtellt 
it? Ich habe hier eine Schrift gegen die Vorwürfe, welche man der prette 
Fifchen Reglerung gemacht hat, in der Hand, und body muß biefe zugeben, 
daß ber voͤlkerrechtliche Schug beſteht. Es iſt biefe Schrift eine ſolche, die 
man als halbofficielle Rechtfertigungemaßregel bes betreffenden Staats hat 
anfehen wollen. Ich weiß nicht, ob dieſes der Fat if. Ich muß geflchen 
zur Ehre des betreffenden Staates und der Regierung, von welcher es fich 
handelt, ich will dies nicht annehmen , id) brauche es nicht anzunehmen und 
kann es nicht annehmen. Ic habe einen Privatfchriftfteller im ber Hand. 

Diefes Buch hat die Auffchrift: 

„Ein völkerrechtliches Wort aus Beranlaffung ber Auswelfung des Hof⸗ 
gecichterath6 v. Itzſtein und Dr. Heder aus Preußen.” Berlin, bei Duͤmm⸗ 
ler 1845. 

Diefe Schrift findet die Ausweiſung in der Orbnung, es fel von kei⸗ 
ner Rechtsverletzung die Rede. Ich brauche aber keine audern Schrift⸗ 
ſteller als diejenigen, die er ſelbſt anfuͤhrt, um dieſen Satz zü widerlegen. 
Er fuͤhrt hier z. B. die Stelle an von oh. Jak. Mofer: ein Souveraͤn iſt 
ſchuldig, den Unterthanen anderer Souveraͤne In Friedenszeiten die freie 
und ſichere Durchreiſe durch feinen Staat zu geſtatten. Es iſt alſo eiwe 
Rechtsſchuldigkeit, Einen nicht auszuweiſen. Moſer fuͤgt —— Hin 
zu: ‚‚Indeß leidet doch dieſe Megel mancherlei Abfälle und innen nach But 
achten eines Regenten getoiffe Perfonen davon ausgefchloffen werben”; un 
fügt weiter hinzu: „um ausgewiefen werden zu koͤnnen, muß man das’ 
Verbot wiffen, nur dann können Einen bie Nachtbeile: treffen.‘ Arhns‘ 
lich ſprechen die obigen angeführten Schriftfteller. Sie fehen alfo, daß es 
als Recht anerkannt iſt. Wenn nun diefe voͤlkerrechtlichen Schriftfteller fas 
gen, die Regierung kann in gewiffen Sällen eine Ausnahme von biefem 
nei machen, fo muß man bedenken, daß die Schriftfteller, die hier ſchrei⸗ 

ben, auf rein völkerrechtlichem Boden ftehen. Da handelt e8 ſich um Staat 
degen Staat. Hier handelt es ſich nicht um die Innere Verfaſſung und Vers 
waltung eines Staates umd die dadurch gegebenen näheren Beflimmungen 
dieſes Rechts. Die Möglichkeit einer Auswelfung unter beftimmten Bedin-' 
gungen giebt auch England zu, welches doch regelmäßig den Miniftern-Eeine 
Gewalt einriumt, einen Dann aus dem Lande zu mweifen. Wenn nun 
auch Berhältniffe eintreten Finnen, wo eine Ausweiſung rechtlich möglich 


39 Gaſtrecht. 


ft, — iſt dann das unter coilifieten Völkern fo zu verſtehen, daß es nach rel⸗ 
ner Willkür geſchehen koͤnnte ? Nein, England, als es jenes allgemeine Recht 
befchränten wollte, madıte mit Zuftinnmung bes Parlaments 1793 ein Ges 
ni bie Fremden⸗ Bill‘, worin unter beſtimmten Bedingungen ben Mint: 
für die Zeit des Krieges ein ſolches wer rn men geftattet wurde, 
und nad dem Frieden hob es diefe Ausnahme wieder auf. Somit ergiebt 
u das, was im Voͤlkerrecht unbeflimmt gelaffen werden muß. Nun glaube 
meine Herren, daß die preufifche Negierung — darunter verftehe ich ganz 
allgemein Diejenigen, bie Namens der Regierung gehandelt haben, wer fie 
Bd; weiß ich nicht, denn bisher Ift Niemand vorgetreten als das Inſtru⸗ 
ment, Herr Hofmann, ber fich felbft fo nannte — die Regierung, welche 

biefe Werleyung beging, twürbe diefelbe nicht begangen haben, wenn fie einen 
Abgeordneten bes englifchen Parlaments vor fidy gehabt hätte: Nein, meine 


Herren, ich bin übelzeugt, nicht einmal an einem engliſchen Schufter hätte 


man ſich vergriffen. Ebenfo nicht an einem Amerikaner, Man würde 
ausgefprochen haben: bier müffen wir das Rechtsverhaͤltniß mit ber andern 
Nation, mie Amerika, mit England oder Frankreich, achten. Wir riski— 
ren die entfenlichften Unannehmlidykeiten, wenn wir es wagen wollten, grund» 
108. einen Engländer, einen Amerikaner ober Franzofen aus dem Lande zu 
jagen. Nun, meine Herren, bee Deutfche hat das ſchmachvolle Gefahl, 
rechtlos zu fein, ja, meine Herren, rechtlos im eigenen Vaterlandel Es 
ift aber die Sache von noch viel größerer Bedeutung für unfere eigene Regie: 
rung, das Land und die betreffenden Männer, wenn man das Verhältniß ges 
nauer in’® Auge fat. 

Meine Herren, Sie Eenmen ben Art. 18 der deutfchen Bundesacte. Er 
enthält das auf ein Minimum berabgefunfene Nationalrecht der Deutfchen, 
daß gleicher Schutz allen beutfchen Unterthanen zugeficdyert wird. — In dem⸗ 


ſelben Artikel, welcher zugleich das wichtigfte aller deutfchen Nationalrechte 


enthält, das zunleich den Schug Alten gegeben haben mwürbe, wenn nicht 
duch Bundesbefchluß das Recht der freien Preffe genommen worden wäre, 
ift feſtgeſetzt, daß jeder Deutfche in Deutichland Grundeigenthum erwerben 
und befigen kann, ohne deshalb in dem fremden Staate mehreren Abgaben und 
Laften unterworfen zu fein, al& deſſen eigene Unterthanen. Sich fage nun, 
wenn man in einem andern Staate Grunbeigenthum, 5. B. ein Haus, erwer⸗ 
ben und befigen kann, fo muß man aud) das Fleinere Recht haben, in diefes 
Land zu reifen. Denn das größere Recht fchließt das geringere in fih. Wenn 
ich das Recht haben fol, in Würtemberg ein Landgut zu Eaufen, fo muß ich 
auch das Recht haben, dorthin zu reifen und den Kauf abzufchließen. Sch 
muß alfo aud in Würtemberg wohnen koͤnnen, wenn aud) nicht ald Unter: 
tban, doch als Gutsbeſitzer. Es ift dies ein unmittelbarer Ausflug des Ei» 
genthumsrechts, daß ich auf meinem Eigenthum wohnen kann. Ober will 
man den Staatsmännern und Fürften, welche damals in einem ſchoͤnen 
Mommt die Brundfäge der deutſchen Bundesacte abfaßten, die Abficht un» 
terfchieben , fis hätten zum Dank dafür, daß die deutſchen Völker ihre Throne 
gerettet haben, um das beutfche Vaterland wieder herzuftellen; will man, fage 
ih, annehmen, die Fuͤrſten Hätten fagen wollen, daß es ihnen mit dem Arti⸗ 


| | Gaſtrecht. 898: 


Lei 18 nicht Ernft ſei; was dort beſtimmt worden, ſei nur illuſoriſch, fie 
hätten fo fagen wollen, du barfft dir ein Haus kaufen, aber wir laſſen bich 
micht zu demfelben und nicht darin wohnen. Einen ſolchen Unſinn wird man 
den Fuͤrſten nicht zutrauen wollen bei ihrem Zugeſtaͤndniß des allgemeinen 
Seaatctbuͤrgerrechts, wie man es nannte. 
—* der bekannten Proclamation von Kaliſch verſprach insbeſondere 
allen deutſchen Staatsbuͤrgern die Wiederherſtellung eines ehr⸗ 
aan beutfchen Reiches ; aus bem ureigenen Geiſt ber Deutfchen wollte 
mean Deutichland wieder erfichen laſſen. 
: Darum richtete man bie Aufforderung nicht blos an Souveraͤne, 
man forderte jeden Deutfchen auf, einzuftehen mit Gut und Blut, er 
füche unter ben Zürften oder in den Reihen bes Volle. Dawar ber Deutfche 
ein ſelbſtſtaͤndiger und freier Bürger. In ſolchem Sinne erklaͤrten die Be⸗ 
vellmächtigten des Könige von Preußen in den Verhandlungen über bie 
Bunbebacte und jenes deutfche Bürgerrecht: „der König fieht es für eine 
Negentenpflicht gegen feine Unterthanen an, bdiefe wieder im eine Verbindung 
zw bringen, worin fie mit Deutfchland wieder eine Nation bilden und die 
Vortheile genießen, welche daraus für bie Mitglieder berfelben erwachfen.” 
Sie fügten am 18. Februar 1815 nad Napolson’s Ruͤckkehr hinzu: „bie 
Errichtung einer deutſchen Verfaffung ift nothwendig nicht blos In Abficht 
auf die Verhaͤltniſſe der Höfe, fondern ebenfo fehr zur Befriedigung der ges 
** Anſpruͤche der Nation, die in der Erinnerung an die alte, nur durch 
ſten Erei gniffe untergegangene Reichsverbindung von dem 
2 durchdrungen iſt, daß ihre Sicherheit und Wohlfahrt und das Fort⸗ 
bluͤhen Acht vaterlaͤndiſcher Bildung groͤßtentheils von ihrer Vereinigung im 
einen feften Staatskoͤrper abhängt, eine Nation, die nicht in einzelne Theile 
zerfallen will, fendern überzeugt ift, daß bie Eräftige Mannichfaltigkeit der 
beutfchen Voieeſt ſtaͤmme nur dann wohlthaͤtig wirken kann, wenn ſich dieſel⸗ 
ben in einer allgemeinen Verbindung wieder ausgleichen.“ Dieſes Na⸗ 
tionalband iſt bei der voͤlkerrechtlichen Natur des Bundes auf jenes Mini⸗ 
mum ber deutſchen Staatsbuͤrgerrechte beſchraͤnkt worden, welche der Art. 
18 der Bundesacte enthält. Diefes Minimum murbe, meil nichts Brößes 
zes zu Stande gebracht werben konnte, als unfchägbar gehalten, und man 
wird doch nicht auch dieſes preisgeben wollen. In der Exöffnungsrebe 
des deutfchen Bundes wurbe dieſes allen Staatsbürgern verlicehene Recht als 
einse der herrlichfien Grundzüge bes beutfchen Zuſtandes gepriefen, weil 
Dadurch Die Deutfchen mit dem Band eines Nationalbürgerthums umſchlun⸗ 
gen werben, und der Bundestagegefandte, ber die Eröffnungsrede hielt, ers 
Härte dieſes Band als ein ſolches, das zum Stolz ber deutfchen Nation und 
ihrer Kraft gegründet wurde. Und nun, meine Herren, wo iſt nun jegt noch 
eine Entſchuldigung zu finden?! Mehr ale 365 Zage find umfloſſen, feit- 
bem ganz Deutſchland diefen Schritt in Preußen mit Entruͤſtung aufge 
nommen bat. Unſere Regierung mit inbegriffen, ift das babdifche, ift das 
beusfche Vaterland noch immer nicht befreit von der Schmach, welche durch 
diefen Act ihnen zugefügt wurde. Laffen Sie mid, meine Herten, mit 


tiefflem Schmerze hinzuſetzen, diefer Act ift leider nicht der einzige ähnlicher 





2. Gifte 
Ast 


u er der Unterdeiidung d der. sPeöffe umd noch anderer Freihelts⸗ 
rechte Leicht serftälich, — biefe Veriebung befonders in’s Auge gefaßt 
batıı Fuer alten beutfdyen Staaten um ſo geößeres Aufſehen erregt; 
als bie beiden betreffenden Männer im Volke befonders hervorragen. Meine 
Herzen, der Sinn der" Engländer würde in diefer Beyiehung ein anderer ge= 
weſen ſein. Wenn der geringfte Bürger Englands in diefer Weife verlegt 
morben waͤre, fo hätte es benfelben Eindruck gemacht, es hätte die gekraͤnkte 
‚ Nationalehre Englands eine Genugthuumg hervorgerufen. Leider iſt aber 
unſere eigene Regierung in ftüberer Zeit von aͤhnlichen Vorwuͤrfen 
jerfeei geblieben. Jener Schriftſteller ſagt ferner: Zum Reifen haſt 
‚aber man muß wohl unterſcheiden wiſchen einem jus quaesituim 
und einem allgemeinen Recht· Das Lehtere beſtehe nur fo lange, als es 
‚ber Meglerumg nicht beliebt, es aufzuheben ; jeder einzelne Act des Beliebens 
hebt e s auf. Warum nun die Bundesrechte Feine wohlerworbenen Rechte 
fein follen , erflärt und biefer Mann nicht. Es kann diefes aber nicht aufe 
fallen. Wenn Sie biele Schrift betrachten, ſo werden Sie darin 

finden, — * wenn diefe Anſichten im Preußen wirklich gaͤlten, Preußen fo 
weit vom uns entfernt waͤre mie eine Inſel der Suͤdſee. Hier herrſcht 
durchaus der Grundgedanke vor, welchen Friedrich der Große als einen hoch⸗ 
Wahn bezeichnete , ber. bie gürften unglucklich mache und die 


wonach ein ſchwacher Sterblicher die Macht baben foll, mit Willkür alle Ges 
ſetze zu brechen‘, und wo es eine Auflehnung genannt wird, wenn man ſich, 
mie dies von ben beiden Männern, von Seftein und Heer, behauptet 
wird, fo viel herausnähme, mit freiem Urtheil über die Handlungen ber 
Regierung. fid) als Richter zu erheben; wo ferner geltend gemacht wird, daß 
es dem befchränkten Unterthanenverſtande nicht möglich fei, eine ſolche Re⸗ 
gentenhandlung zu beurtheilen.. Solche Gründe find eine Beleidigung für 
den Staat felbft, den fie vertheidigen wollte. Selbft die beiden größten preu⸗ 
ßiſchen Zürften, der große Kurfürft und Friedrich der Große, haben dies 
ſes ungluͤckliche göttliche Mecht verworfen, das fchon mehrere Throne geftürzt 
hat. Der große Kurfuͤrſt vertheidigte feinen Schriftfteller Thomafius, ale er 
das göttliche Recht der Fuͤrſten zuerft ernfthaft angriff und dann einem bei⸗ 
ßenden Spott unterwarf, und als man felne Schrift in Kopenhagen auf 
dem Marktplag verbrannte, da erklärte fich der Kurfürft für die Grunde 
füge biefe® großen Rechtsgelehrten und Philofophen und forderte Genug: 
thuung. Friedrich der Große hat ausgefprochen, daß man verrüdt fein 
muͤſſe, um glauben zu können, daß Zaufende von Menfchen gefagt hät: 
ten, wir geben dir die Gewalt, unfere Gedanken nad) deinem Willen zu lei⸗ 
ten und nach Willkür mit ung zu verfahren. Nein, fagte der große König, 
fie haben im Gegentheil gefagt, wir fchließen einen Vertrag mit dir ab, daß 
du unfere Freiheit ſchuͤtzeſt. Nun, nachdem idy diefe Schrift nicht ale 
officdele Quelle für das Syſtem der Hegierung von Preußen anfehen kann, 
bleibt, wie gefagt, der ganze Act der preußifchen Negierung unbegreiflich. 
Dh bie betreffenden Ehrenmaͤnner bei ſolchen Verletzungen, wo fie natuͤr⸗ 





ei 


Ulich auch bie Ehre des Vaterlandes zu vertheibigen hatten, fich.am bie legitime 
Behoͤrde wandten, verſteht ſich von ſelbſt. Sie erhleiten durch den Hru. 
Winiſter des — auf ihre Eingabe. folgende Erklaͤrung: Obwohl 

bie Herrn Redlamanten , wie wiederholt behauptet wird, von ihren Paͤſſen 
Gedraud) zu machen unterlaffen haben, was auf die Forin des gegen fir ein⸗ 
gehaltenen W erfahrene nit ohne Einfluß geblieben ift, fo erſcheine doch 
durch diefen Umſtand allein die Are und Weiſe, wie ſie an ber Fortſchung 
ihren Reife gehindert worden, nicht. gerechtfertigt und werde baber: auch von 
der koͤnigl. preußifchen Regierung wicht gebilligt. Uebrigens feien. aber aller» 
bings erhebliche Gründe, in vorbergehenden Werhättniffen liegend, Für die 
Polizeibehoͤrde vorhanden gemefen, um bie Reclamanten jur Unterbredieung 
‚ ihrer Reife zu veranlaffen. Ohne auf eine-Erdrterung dieſer Brände weiter 
einzugehen, muͤſſe ſich die Eönigl. preußiſche Regierung auf die Berficherung 
beſchraͤnken, daß durch die von den Verhaͤltniſſen gebotene Maßregel ein⸗ 
Ehrentaͤnkung der Reelamanten in keiner Weiſe beabfichtigt worden Fei:‘! 
Run; meine Herren, bier. habe ich wohl eine Erklaͤrung in Haͤnden, bie ich 
ſehr hoch hinauf, wenigſtens in Beziehung auf bie preufifchen Verhaͤltniſſe, 
bestehen ru. Ich achte die beſtehenden Verhaͤttniſſe, ich achte. das Ber⸗ 
hatentj unſerer Regierung: zu siner andern Bundeorrgierung, zu einer NMegie⸗ 
sung, welche durch ben Zollverband in näherer. Verindung mit uns ſteht 
Darum will ic, am hier nicht verlegend zu fen, eine Kritik dieſer GErklä⸗ 
an wie ſie gegeben morben iſt, nicht abgeben. Ich will diefe Aittk den 
atsmaͤnnern Europa's uͤberlafſen, fie werden, ‚glaube ich:, mit mit 
en daß s& cine. betrkbemde Erklärung i,.betrübend für das betreffecibe 
Gouvernement. Sie werden mir jedenfalls zugeben, daß dieſe — 7* 
bonet Weiſe⸗ eine Genugthuung fuͤr die badiſche Regierung, für sine fouveraͤne, 
eine im:boppelten Bundesverein ſtehende Regierung iſt. Wer kann ſich bes 
mit begnichen, und tols- Tann eine Regierung zufrieden fein mit. einer folchen 
Erklaͤrung, eine Regierung, die ihr eigenes Legitimationspapier: ſich vor. Die 
Fuͤßs geworfen fieht? Eine Regierung, weil fie mehrere Millivnen Untep⸗ 
thalken: mehr zähle, behandelt einm andern Staat; ‚wie ſich diefes nimamn 
mehr behandeln laſſen darf. Ich weiß nicht, mas Wahre an dir Sache 
iſt, aber öffentliche Btätter Haben behauptet, Graf v. Arnim, Minifier des 
Innern, der aus dem Mmiſterium getreten, habe darum feine Stells werles 
ven, weil er die Verantworklichkeit dieſer Maßregel auf fich genommen habe- 
Sch Hehe nicht an, zu erfläten,, werm biefe Thatfache wahr und officki bes 
kraͤftigt waͤre, fo würde ich fie he tine volftändige Genugthuung halten. 
Denn das iſt unter Verhätmiffen von Staat zu Stadt angenommener 
Grundſatz, daß durch Beftrafung der ſchuldigen Behörden Benugthunng 
gegeben werben kann. Das iſt aber nicht officiell und es liegt alfo: darin 
keine Genugthuung. Es iſt hier die badiſche Regierung noch immer beleidigt, 
«8 find: die betreffenden Maͤnner immer noch ſchwer gekraͤnkt. Es handelt 
ſich wontſtens noch immot um eine Genugthuung für Die Regberung. Denn 
ich mag nicht von der Genugthuung für die betreffenden Maͤnner ſprechen 
ich glaub⸗ nicht, daß ſte noch einer beduͤtfen. Aus Köln, Berlin, ba ge 
zenNinigraich Preußen: und aus ganz Deutſchland, übernliiher. —RXX 






| MM; ßrege Rechtsgrund ſi 
uf Da "2 glaube, fe ehem hoc in der Meinung de Baterlatte 
bes: uUnd es gereicht nicht zum Ruhme für die Maßregeln der Megierenden, 


wenn foldye Erklärungen Seo Dacoigenen Hnterthänen gegen.Becimde fie tref⸗ 

fen. Aber unfere Regierung: muß fidy noch eine Genugthuung a 
feiss num, daß bie Regierung eine Erklärung fordert, daß der betreffende Ber 

amte feine Stelle barum verloren habe, weil er die Verantwortlichkeit biefei 

Mafregel übernahm, oder auf irgend eine andere Weiſe, ſonſt leidet da⸗ 
—— Genugth in's U ff Für 

andere gthuung “ wi en für un⸗ 

—2 und Volksehre als Deutſche und Badener. Wir 

el rügen, ſchon darum, damit foldye Acte fich nicht 

erneuern, Wir muͤ —* an die Regierung ſtellen, daß fie 














&ir in das "rotöcol diefes Haufes folgenden Antrag c an die — auf⸗ 


Die Kammer erflärt zu Protocol: „Die Großherzogliche 
Regierung wolle auf ben geeigneten Wegen die zur St- 
herung der deutfhen Mationalehre und der National: 
einheit wefentlihe Erklärung der hoben dbeutfhen Re: 
giezungen erwirken, daß die Anerkennung eines allgemeis 
nen deutfhen Nationalrehts für alle Deutfchen, im Ars» 
tikel 18 der Bundesacte, und insbefondere die Anerken⸗ 
nung ihres Rechts, in jedem Bundeslande unter den gleis 
hen gefeslihen Bedingungen wiedieLandesbürger®rund> 
eigenthum erwerben und befigen, alfo aud, wie fih von 
ſelbſt verſteht, zu dieſem Zweck das Land zu jeder Zeit be» 
treten und ihr Eigenthum bleibend bewohnen zu dürfen, 
auch das geringere, dennoch aber hoͤchſt wihtige Recht in 
fi fchließe, daß jeder Deutfhe unter Beobahtung der 
allgemeinen RLandesgefege in allen Bundesländern unges 
hindert reifen und zeitweiſe fih aufhalten dürfe“ 

Der Staatsminifter der auswärtigen Angelegenheiten Hr. v. Duſch 
ertsiderte hierauf von der Regierungsbant aus: „Obgleich e8 mir nicht mög» 
lich war, Alles zu verftehen, was der ehrenmwerthe Here Abgeordnete gefpco: 
chen bat, und ich a. vieleicht Manchem von, dem, was er vorgetragen, 
widerſprechen muͤßte, ſo erkenne ich Doch mit Vergnuͤgen an, daß er in feiner 


Gaſtrecht. 899 


Weiſe heute mit beſonderer Maͤßigung über biefen Gegenſtand gefprochen hat. 
Sie werben «8 begreiflich finden, daß es mir leid thun muß, daß dieſer Bes 
genftand oͤffentlich zur Sprache gekommen iſt, denn jede Öffentliche Beſpro⸗ 
chung eines Begenftandes von fo empfindlicher Natur kann nicht andere ala 
nachteilig auf eine gänzliche Ausgleihung in biplomatifchem Wege wirken; 
zu der ich die Hoffnung noch nicht ganz aufgegeben habe. Die koͤniglich preu⸗ 
Sifche Polizeiverwaltung hat in bdiefer Angelegenheit ſich eines Formellex 
echte bedient®), das ſich vom völkerrechtlichen Standpunkte aus nit 
beftxeiten läßt umd das der badiſche Staat felbft ſchon in manchen Fällen 
ausgeuͤbt hat”). Die Sache felbft aber werben wir um fo weniger zu billigen 
oder zu vertheibigen haben, als wir nicht im der Lage find, bie Gründe beur⸗ 
theilen zu 85 Die Regierung hat e8 vielmehr für ihre Pflicht gehalten, 
auf das an fie gerichtete Erſuchen eine dringende Reclamation an die koͤnigl. 
preußifche Regierung zu richten, und wenn biefe beiden Herren noch nicht 
die vollftändige Befriedigung erhalten haben, die fie nothwenbig wünfchen 
möffen, fo werden fie doch auch nach dem, maß fie eben von dem Herrn Reb⸗ 
ner vernommen haben, nicht verfennen , baß ihnen durch Vermittelung ihrer 
Regierung hinfichtlich des Ehrenpunkts volles Genuͤge gefchehen ift, fo wie 
ich denn auch Hinfichtlich der formellen Behandlung diefer Differenz, bie noch 
nicht ausgeglichen iſt, von Seiten der koͤnigl. peeufifchen Regierung nur bie 
volle Anerkennung ausfprechen kann. 

Ich will nur noch weiter bemerken, bag allerdings ein größerer gemein⸗ 
ſchaftlicher Rechtsſchutz für die Bürger in den verfchiedenen beutichen Ländern 
zu wünfchen fein würde, und ich zweifle nicht, daß bie großh. Regierung, wie 
ich ſelbſt, gern bereit fein wird, zu Beſtimmungen hinzuwirken, dis bare 
auf hinzielen. Laſſen Sie mich Ihnen noch ben Wunſch an's Herz legen, 
daß diefe Discuffton nicht weiter geführt werde; oder, wenn Sie es wollen, 
fo fchlage Ich Ihnen eine geheime Sigung vor, worin ich im Stande wäre, noch 
weitere Erläuterungen zu geben. Won meinem Standpunkte muß ich durch⸗ 
aus wünfchen, daß die Discuffion nicht Länger fortgefegt werde.“ 

Es unterflügte nun ber Abgeordnete Peter (früher Mitglied des oben 
ſten Berichtshofes) die geftellten Anträge. Er [agte babei unter Anderem . 
„Meine Derem! daß der Menſch mit dem Menſchen verkehrte, daß er alſo 
felbft auf die größten Entfernungen ihn befuchen bürfe, iſt doch wohl eine 
Sorderung ber Moral und ein für ſich klares angeborenes Recht. Was 
hierüber ber gefunde Verſtand uns fagte, gelehrte Männer, deren Urtheil die 
gebildete Welt hoch zu ehren gewöhnt iſt, wie ein Montesquieu, Kant, Mes 
fer, Zachariaͤ u. A., haben es laͤngſt betätigt. Sie haben nachgewieſen, da 
jeder Staat, jeder die Staatsgewalt ausübende Souveraͤn ſchuldig ift, dem 
Fremden in feinem Lande eine freie und eine fichere Reife zu geftatten; nur 
Kriegszeiten begründen eine Ausnahme, und nur Vergehen, welche der 


6) Rach den obigen Ausführungen wäre biefes nur bann wahr, wenn ein 
allgemeingefeglidher, rehtlih zuläffiger KRechtsgrund nads 
gewiefen wäre Anmerk. der Redact. 

7) eeider! Anmerk. der Redaet. 





im bet vilifietet Melt ash 
a ae 







—— | | 
ser De Ort de Sefftinung and Gebiistibeiie Aue 

in den Augen der koͤnigl. ptenfifchen Behörden als eine morali⸗ 
erſcheinen nun/ banmiltneß:eine foldhe,. don der: wie, mehr 






* weniger ,-faft Alte nngefterkt ſind z denn auch wir tollen die * 
Dann 





ihrer Wahrheit. Uns allen; ja dem ganzen Kern des badifchen Volkes 
müßte man alsdann bas Betreten des preußifchen Bodens 

fol man uns aber auch nicht ferner ‚von! einer deutſchen Nation, von 
einem deurfchen Bunde und feiner Verfaffung , von einem Art. 1300er 18 ıc, 
der Wundeehete von einer zunehmenden Einigkeit oder einem geſicherten 
Rechtsguftand In Deurfchland, und nichts mehr von deutfcher Treue und 
Gtauben Sprachen. "Auf diermaterielie. Veruͤbung bes bezeichneten Us 
rechte auf die bundes eſewideige Hemmung der Reiſe unferee Mitbürger 
bar: ſich indeſſen die preußiſche Polhzei nicht beſchraͤnkt; ſondern fie hat noch 
eine hoͤchſt kraͤnkende Form hinzugefuͤgt. Mit dem Dictat einer Friſt von 
nicht ganz dritthalb Stunden zum Vollzug wurde ihnen die Nothwendigkeit 
ber Ruͤckkehr eroͤffnet, und zwar unter Androhung einer bewaffneten Escorte; 
Alles ohne botgaͤngiges Gehoͤr, ohne Angabe eines Grundes. Wie Ver: 
brecher ober Vagabonden wurden dort Männer fortgetrieben, bie in Baden 
oder andern Berfafiungsftuaten von Seite des Volkes ein Gegenſtand ber 
befonderen Berebtung find! — Wird der Sachſe und MWürtemberger, ber 
Badener wegen feiner conſtitutionellen Grundfäge in Preußen heute mißhan⸗ 
beit und vertrieben, morgen an der Seite des Preußen ebenfo freudig ben 
genntinſamen auswärtigen Feind befümpfen; wird er fich für das. bundesges 
wofleue Preußen ebenfo bereitwillig in den Tod flürzen, ald wenn er dort 
* brüderliche Aufnahme und eine gerechte Behandlung erfahren hätte?” 

- Det Abgeordnete Poter fügte nun — was dem Abgeordneten Wel⸗ 
ex unbekannt geblieben war — hinzu, daß die Verlegung bes freiem Ver⸗ 
Lehre: und Gaſtrechts gegen die Herren v. Isſtein und Hecker 
noch fortgefegt werde. Er ſagte woͤrtlich: „In einem Hauptpunkte, 
Meine Herren, wird aber die am 23. Mai 1845 begangene Rechtsverletzung 
noch immer förtgefegt ; noch heute befteht , dem ſichern Vernehmen nach, die 
hoͤchſte Ordre, welche der koͤniglich preußiſchen Geſandtſchaft in. Karlsruhe 








Gaſtrecht. 401 
verbietet, einem nach Preußen lautenden Reiſepaſſe ber Reclamanten das 
Biſa zu ertheilen; noch heute alſo find v. Iäftein und Hecker vom preußi⸗ 
ſchen Stautsgebiete ausgeſchloſſen und keiner von ihnen koͤnnte dieſen Boden 
betreten, weder um bie Rechte auszuüben, die ihm doch Art. 18 der Bundes⸗ 
acte fichert, noch irgend ein anderes ducch feinen Vortheil erheifchtes Ge⸗ 
ſchaͤft perfönlich dort zu beforgen ; noch um eine Deilquellezubenugen, die etwa 
feine Geſundheit fordert, nody um eine Pflicht der Pietät gegen Verwandte 
ober Freunde zu erfüllen. — ine Härte, die auf den Hrn. v. Itzſtein 
um fo druͤckender wirkt, da biefer Mann im Herzogtum Naffau, ganz tn 
ber Rähe der preußifchen Grenze, mit einem bedeutenden Landgute angefeflen 
iſt. Erſt in dem Augenblide, wo die vollftändige Zuruͤcknahme diefer Ordre 
erfolgt, wird ber ungaftliche, bundesrechtswidrige, gemaltthätige Zuftand, 

der Act vom 23. Mai 1845 gefchaffen hat, wahrhaft zu Ende und 
die badifche wie die Bundesehre gerettet fein. Meine Herren, ein Aufruf, im 
Mamen der verlegten Nationalehre und des gekraͤnkten Rechtes ergehend, 
solch in diefem Saale jederzeit einen kraͤftigen Widerhall finden.” 

Da nun der Miniſter des Auswärtigen erklärte, daß er hierüber noch 
Erläuterungen zus geben habe, fie aber nur in geheimer Sitzung mittheilen 
wolle, fo befchloß auf den Antrag des Abgeordneten Weder die Kammer, 
die Fortfetzung der öffentlichen Verhandlung auszufegen, bis biefe Erläuteruns 
gen erfolgt fein. Da dieſes gefchehen war , fo nahm in einer fpäteren öffent» 
lichen Sigung, in der 61. Sigung am 21. Auguft (Landtagszeitung 
S. 782 ff.) die Kammer die Verhandlung wieder auf. Nachdem nın Wels 
ck er fchon vorher fo viel von ben geheim gegebenen Minifterialerflärungen 
: öffentlich erwähnte, Laß fie nicht etwa irgend eine geringfte Befchulbigung 
gegen das Benehmen der Herren v. Itzſt ein und Heder zum Gegenftand. 
gehabt Hätten, fo beantragte jegt der Mbgeorbnnete Peter, dem (früher mit- 
in) Antrag des Abgeordneten Welder noch Folgendes binzuzus 

gen: 

„Die Kammer möge befchließen, die großherzogliche 
Regierung zu erfuchen, der koͤniglich preußifhen Regie⸗ 
eung zu erklären, daß man bie buth das Benehmen ber 
badifhen Staatsbürger v. Itzſtein und Heder auf Beine Art 
gerechtfertigte und dennoch fortbeſtehende Beſchraͤnkung 
des Aufenthalts der beiden Bürger in den preußifhen 
Staaten niht allein als fortbauernde Verlegung bes durch 
die Bundbesacte garantirten Rechtes der babdiſchen Staates 
bürger, fondern aud ale tiefe Kraͤnkung der Würde bes 
fouveränen Regenten Badens anfehen müffes daß ferner 
die Kammer die zuverſichtliche Erwartung hege, daß die 
großberzoglihe Regierung mit Nahdrud und mit allen 
ihr zu Gebot fleehenden Mitteln dahin wirken werde, daß 
bie von der Töniglih preufifhen Regierung gegen bie 
genannten Staatsbürger verhängte Maßregel alsbald aufs 
gehoben werbe.” 

Hierauf veranlaßte ein Vorſchlag einer unbebeutenden Aenderung bes 

26 


Suppl. 3. Staatelex. IL 


402 Gaſtrecht 


Abgeordneten Stö fer (früher Hofgerichtsptaͤſident) noch nachfolgende kurze 
Discuffion, die wir wörtlidy mittheilen: 

——-GStöfer unterflügt die Anträge von Welder und Peter, legteren aber 
nur bann, wenn ſtatt ber Worte: „des fouveränen Negenten’ geſetzt werde: 
„bes fouverdnen babifhen Staates”, was umfafjender und der veıfaf- 
fungsmäßigen Stellung der Kammern entfprechender fei. Man würde ba= 
durch auch bie Deutung vermeiden, als eb man bem Regenten vorfchreiben 
wollte, wie er die in ber preufiichen Maßregel liegende Beleidigung zu neh⸗ 
men babe, was Niemand beabfidhtige. Der Beſchluß wird endlih um fo 
mehr Kraft und Nachdruck haben, mit je größerer Einftimmigkeit ex gefaßt 
wird, 


Trefurt hätte gewuͤnſcht, daß durch den Beſchluß dem Volke und ganz 
Deutſchland Bar werbe, daß, wo «8 ſich um bie Ehre des Landes handelt, die 
Regierung und bie Kammer keine verfchiedene Meinung haben. Das ange: 
meffene Berfahren waͤre geweſen, nad) ben erhaltenen Auffhlüffen bas Ver⸗ 
trauen audzufprechen, bie Regierung werde mit allen geeigneten Mitteln 
babin wirken, daß bie verlegende Maßregel zurüdigenommen werde. Darauf 
flellt ex den Antrag und wird nur eventuell dem Vorſchlage des Abgeord⸗ 
neten Stößer beiftimmen. | 

Welcker unterſtuͤßt ben Antrag des Abg. Peter, ba in den Beziehungen 
nad) Außen der Fürft ber einzige Vertreter des ganzen Staates ift. Daraus, 
folgt, daß eine Beleidigung gegen Angehörige des Staates eine Beleidigung 
bes Megenten ift, die unter Umftänden zu bem Aeußerſten führen kann. Mit 
biefemm Sage ſteht und fällt die Monarchie und im biefer Beziehung hatte 
Montesquieu Recht, wenn er fagte, bie Ehre ift bas Princip der Monardjie. 
Klar ift, daß biefes Princip aufgegeben würbe, wenn von einem Polizeides⸗ 
potismus gegenfeitige Beleidigungen der betreffenden Staatsangehörigen für 
zuläffig erflärt, wenn ber triviale Ausdrud Geltung fände: „ſchlaͤgſt du 
meinen Suben, fo fchlage ich deinen Juden.” Wenn ber Antrag des Abg. 
Stößer, wie er zugiebt, ben Fürften und das Volk umfaßt, fo !eidet nur viel- 
leicht die Deutlichkeit. Es wäre aber dann ein Grund vorhanden, von der 
Faſſung des Abg. Peter abzugeben, außer wenn etwa größere Einftimmigfeit 
erzielt würde. Ein befonbderes Vertrauensvotum dem Minifterium zu geben, 
finde ich mich nicht veranlaßt, da ich noch einen Beweis einer wirffamen 


Energie gefehen habe, und die Beleidigung noch immer fortdauert. 


Beh. Rath Zolly bemerkt, daß die Negierung den Gegenſtand mit 
Nachdruck, aber audy mit Gründlichkeit verfolge, die diplomatiſche Sprache, 
welche den Kürften als Repräfentanten des Staates nennt, follte die Kam⸗ 
mer nicht gebrauchen, auch nicht Beziehungen auf die perfönlichen Gefühle 
des Sürften in den Antrag aufnehmen. 

Peter und Gottſchalk vereinigen ſich mit dem Antrag des Abg. 
Stößer indem von dem Abg. Welder angegebenen Sinne. 

Kapp bemerkt, dag von perfönlicdyen Gefühlen hier nicht die Rebe fet, 
man verfolge ja auch Majeftätsbeleivigungen,, ohne vocher deshalb anzufra= 
gen. Im vorliegenden Kalle habe die Bureaufratie, wie überhaupt, dem 
monarchiſchen Princip nicht gebient. 


Gaſtrecht 0408 


Junghanns I. hält den Antrag bes Abg. Trefurt für den angemeffen- 
ſten; allein es ift Allen daran gelegen, daß Einftimmigkeit erzielt und dadurch 
der Regierung Gelegenheit gegeben werde, wirkſamer einzufchreiten. Des⸗ 
halb ſtimmt er dem Antrage des Abgeordneten Stößer bei. 

Trefurt will keine Zerfplitterung herbeiführen und erklärt fich ebenfalls 
für den Antrag bes Abgeordneten Stößer. 

Nachdem nun Welcker noch hinzugefügt hatte, da nach dem Wort: 
Laut und der wiederholten ausbrüdlichen Erklärung des Abg. Stößer fein 
Ausdrud ebenfalls die Beleidigung des Regenten mit umfaffe, fo flimme er 
demfelben ebenfalls bei. ' 

Die Anträge der Abgeordneten Welder und Peter wurden hierauf von 
der ganzen Kammer einflimmig angenommen, 

II. Der dritte Fall einer neubeutfchen Verlegung des Gaft: und 
freien Verkehrstechts, welchen wir hier zur Veranfchaulichung der factifchen 
Erfcheinungen und der Grundfäge in Beziehung auf diefen wichtigen Gegen» 
fland mittheilen, betrifft die Ausweifung des deutſchkatholiſchen Pre: 
diger Scholl von Mannheim aus Neuftadt in der baierifhen 
Rheinpfalz, wo derfelbe einen Burgen Befuch bei einem Freunde machte. 
Derfelbe übergab der II. babifchen Kammer eine Befchwerbe » Petition duch 
den Abgeordneten Baffermann, welcher in ber 36. Sigung am 17. Juli 
1846 (Landtagszeitung ©. 446) nachfolgende Stelle daraus vorlas. 

„Es war weber eine gottesdienftliche noch überhaupt eine VBerfammlung 
von mir gehalten worden; Beine Rede, nicht einmal ein Toaſt kam aus mei- 
nem Mundel — Deffen ungeachtet erfchien am Dienftag Morgen in dem 
Privathaufe, wo ich wohnte, ber koͤniglich baieriſche Polizeicommiffde von 
Neuſtadt, fragte mic) nad) Namen und Stand unb erklärte mir, nachdem 
ich Beides angegeben, daß ex ben höheren Auftrag habe, mir zu bedeuten, daß 
ich binnen zwei Stunden die Stadt zu verlaffen habe, und im Fall ba ich 
dennoch bliebe, Durch Gensdarmen forttransportiet würde. — Auf meine und 
meines Hauswirths Frage, was ich denn verbrochen habe, das eine fo 
ſchimpfliche Behandlung rechtfertige und auf welche höhere Weiſung ich auss 
gewiefen werde, erlärteber Polizeicommiffdr, daß eine Verordnung, die erfl 
vor wenigen Wochen erfchienen fet, e8 ausſpreche, daß „jeder deutſch⸗ 
Fatholifhe Prebiger aus Baiern zu verweifen fei” und der 
aus Auftrag mir dieſes zu bedeuten habe. Sch verlangte von ihm etwas 
Schriftliches über ben Vorfall, erhielt aber zur Antwort, daß dieſes nicht noͤ⸗ 
thig ſei und ich mich auf ihn berufen könne. Damit nicht zufrieden, ging 
ich noch in den legten Minuten auf das Polizelamt felber und verlangte von 
bem höhern Beamten, bem Landcommiſſaͤr, und in deſſen Abweſenheit von 
dem herbeigerufenen Actuar, Aufllärung. Ich erhielt jedoch nur die Bes 
ftätigung der Ausfage des untergeordneten Beamten, und bie Erklärung, 
daß mir felber nicht, aber meinem Hauswirth, wenn er fich über diefe 
Verlegung des Gaftrechts befchwere, eine fchriftliche Rechtfertigung dieſer 
Verlegung zugeftellt werde. So blieb mir nichts übrig, als Neuſtadt zu vers 
laſſen, nachdem ich bei dem Beamten wiederholt erklärt hatte, daß das 
wahrlich ein großer Unterfchieb fei, wenn ich in meiner suarnfaaft ale 


Prediger zu einer geiftlichen Functlon, zu einem Gottesbienft, zu Neben, zu 
Merbungen für den Deutſchkatholiciemus heruͤbergekommen wäre, und wenn 
es dadurch Volksverſammlungen und Auflauf gegeben hätte, oder wenn ich, 
wie es der Fall war, blos komme, als Glaubensgenofie zu Glau— 
bensgenoffen, als Freund zu Freunden, als Deutfcher zu 
Deutihen, um nad) langer Zrennung fie wieber zu fehen und zu fpredyem 5 
wenn ich mich bie wenigen Stunden meines Aufenthalte nur in einem ganz 
Keinen Kreife gehalten und nicht eine einzige Rebe über meine Lippen ges 
kommen iſt — nachdem Ich gefragt, ob ich denn nicht fo gut wie jeber Deut» 
fhe, mie jeder Menfc das Recht habe, diefe Gegend zu befehen, und ob Ich 
denn, wenn ich in Geldgefchäften , oder fonft aus einem mit meiner Eigen» 
ſchaft als Prediger ebenfalls gar nicht in Beziehung ftehenden Grund her⸗ 
über müffe, jedes Mal ausgewiefen werde ? — worauf mir mit „a“ geant⸗ 
mwortet wurde, meil die Verordnung eine allgemeine fel’‘ ze. ıc. 

In der Discufflon Über die Perition in ber 50. Öffentlichen Sitzung am 
8. Auguft (Bandtagszeitung S. 598) fagte ber vom Abgeordneten Bren- 
tano erſtattete Bericht: | | 

„Die Commiffion” kann (wenn fle abfieht von befonderen Anerkennun⸗ 
gen ober Beftimmungen bee Verfaffung, des Völkerrechts oder eines Bun⸗ 
des und 3.8. von dem Art. 16 ber Bundesacte) „einer fremden Regierung 
„das formelle Recht nicht beffreiten, die ihr mit dem Staatszweck unverein- 
„barlich erfcheinenden Religionsgefelfchaften in ihrem Lande nicht zu dulben 
„und hiernach auch die Anorbnungen zur Unterbrüdung ſolcher zu treffen. 
„Hlernach muß bie Sommiffion auch das formelle Recht einer auswärtigen Re⸗ 
„nlerung: dahln anerfennen, daß ſolche bie Angehörigen anderer Staaten aus 
Ahren Grenzen ausweifen darf, wenn biefelben den von ihr über das Befte- 
„ben einzelner Religionsgefellfhaften erlaffenen Sefegen zuwider handeln, 
„namentlich wenn fie in biefer Abficht gefommen find und diefe audy bereite 
„an den Zag gelegt haben. Hütte ſich nun der Petent gegen bie Anordnung 
„der baierifhen Regierumg beigehen laſſen, kirchliche Verſammlungen der 
„Dentichkatholiten in Neuftadt zu halten, fo koͤnnte er fi) nicht über eine 
„Berlegung des Gaſtrechts beklagen, — allein dies gerade beftreitet derfelbe 
„auf das Allerentfchiedenfte. Obſchon wir nun zur Ehre der deutfchen Nas 
„ton gern glauben möchten, daß hier blos eine unrichtige Geſetzesanwen⸗ 
„bung duch einen untern Beamten vorliege, fo haben wir doch bie Verord⸗ 
„nung nicht vor uns. und müffen alfo vor der Hand annehmen, baß fie ben 
„Binn hat, den ihr die baierifhen Behörden unterlegen; — auch wurde 
„dem Petenten ja bedeutet, daß er jedesmal aus Baiern ausgemiefen werden 
„würde, wenn er auch wegen eines Privatgefchäfts dahin kommen follte.” 

„Mag man über das Recht eine Staates, einem Angehörigen anderer 
„Staaten den Aufenthalt zu verweigern, eine Anficht haben, welche man 
„will, mag man fogar von beutfcher Nationalität fo erbärmliche Begriffe 
„haben, um in Baiern den Badener als einen Ausländer zu betrachten, 
„mag man dem gutmüthigen Deutfchen nur dann das Bild einer großen 
„deutſchen Nation vor Augen Halten, wenn er Beiträge zu den Bundeskoſten 
„leiten fol, oder wenn mian "feines Nationalgefuͤhls zur Befeſtigung der 


AR 
e | 





Gaſtrecht. 4668 


„Throne bedarf, möchte man ſelbſt ein allgemeines formelles Recht ber 
Ddeutſchen Bundesſtaaten anerkennen, dem einzelnen Bürger des andern 
Bundesſtaatet den Aufenthalt zu verſagen ®), niemals wird man doc) fo weit 
„bie Grundſaͤtze des Völkerrecht und die Grundfäge der Eivitifation verleug⸗ 
„men wollen, daß man das Recht des einen Bundesſtaates anerkennt, feine 
„Brenze abzufchließen gegen eine ganze Claſſe von deutfchen Bürgern, nur 
weil fie eine veligiöfe Ueberzeugung im Bufen tragen, welche in ihrem engern 
„Baterlande nicht verpönt ift, weil fie ein Amt verfehen, worin ihre eigene 
„Regierung fie beftätigt hat. Ein folches Verbot, aus einem folchen Grunde, 
„twiderftreitet dem Bundesvertrage. Zweck beffelben ift die Erhaltung der 
„Außen und innern Sicherheit Deutfchlands und ber Unabhängigkeit und Uns 
„verletzbarkeit der einzelnen deutfhen Staaten. Wenn nun aber Baiern 
„eine ganze Claſſe badifcher Staatsbürger, welche den badifchen Gefegen ges 
maͤß ſich in ihrem Lande benehmen, von balerifhem Boden ausfchließt, fo 
„beißt dies die Gefege Badens verhoͤhnen und bie Sicherheit deutſcher Bürs 
„ger , fo soie die Unabhängigkeit und Würde Badens verlegen. Der Artikel 
‚1.8 der deutſchen Bundesacte wird dadurch illuſoriſch gemacht, und dem Ars 
„titel 16, welcher beftimmt: „„die Verfchiebenheit chriftlicher Religionspars 
„teien kann in ben Ländern und Gebieten des deutfchen Bundes keinen Un» 
unterichieb im Genuß der bürgerlichen ind politifchen Rechte begründen 
— ſchnurſtracks entgegengehandelt. Denn hiernach ifl es wohl Har, daß 
„einem deutſchen Staatsbürger deswegen, weil er feine befondere hrifkliche 
„Meligionsüberzeugung hat, der Aufenthalt in einem andern beutfchen Bun⸗ 
„desſtaat, wo er diefe Ueberzeugung nicht einmal geäußert hat, nicht unters 
„fagt werben darf. Wir würden es der badiſchen Regierung 5. B. nicht ver⸗ 
„argen, wenn fie baierifchen Redemtoriſten, Minoriten, Franziskanern, Dos 
„minikanern, Benedictineen, Kapuzinern und dergleichen Ordensbruͤdern 
„unterfagen wollte, im Lande zu prebigen, um ihre al& verberblich aner- 
„kannten Lehren unter das Volk zu bringen; wir würben auch keine Vers 
„letzung bes Voͤlkerrechts darin erbliden, wenn ſolche Ordensbruͤder wegen 
„Nichtachtung eines folchen Verbots ausgewiefen würden; allein für eine 
„etwa nur durch abgenöthigte Retorfion zu entfchuldigende Verlegung bes in 
„der Civiliſation begründeten Gaſtrechts und der deutfchen Bundesacte muͤß⸗ 
‚gen wir e8 halten und beflagen, wenn Däutfche deswegen, weil fie einem 
„ſolchen Orden angehören, wenn fie ale Privatleute das Land betreten, Ges 
„ſchaͤfte machen, Freunde und Verwandte befuchen oder durchreifen, zum 
„Lande hinaus gejagt werben wollten. Wozu würde aud) Solches führen ? 
‚Der Regent eines ganz Batholifchen Landes würde am Ende jeden Proteflan- 
„ten von feiner Grenze fern halten, und umgekehrt, und die beutfche Freiheit 
„beftände nur noch darin, daß gleiche Brundfäge darüber eriflirten, wie 


8) Natürlich, und nach ben einflimmigen Befchlüffen in bem vorigen 2. Kalle 
thut diefes die Sommiffion nicht. Webrigens zeigt ſich bei dem gegenwärtigen 
Tal die Richtigkeit unferer obigen Theorien, daß nicht blos bie willkar⸗ 
liche Ausweifung rechtswidrig iſt, fondern auch diejenige, bie ſich auf. völker- 
rechtlich unzuläffige Belege gründet. Anmerk. der Redact. 


⸗ 


nieder Bundesſtaat ben A bes andern ben Aufenthalt verweigere. 
‚„Mebrigens Bann bier die % ung nicht unterbrüdt werben, baß eine 
„solche Verordnung von Baiern aus am mwenigften politifch erfcheint, bemm 
„bie Reciprochtät, angewendet auf die Regionen balerifcher Ordensbruͤder, dürfte 
„nicht wenig fühlbar fein. — Die Betrachtung, daß ſich Ausweifungen aus 
„deutfcyen Bändern mehren, baß das Beifpiel zu locken ſcheint, daß man 
„sogar die Ausweifung anf ganze Elaffen von Staatsbürgern ausbehnt, 
„‚bürfte ein anergifches Auftreten erheifdhen, und es ſchlaͤgt bie Commiſſion das 
unber vor: „„Die Petition dem großherzoglichen Staatöminifterium mit 
„„dem beingendben Erfuchen zu übermweifen, auf bem geeigneten Wege zu er⸗ 
„mitteln, ob eine Böniglich baierifche Berorbnung in dem vom Landeommiffas 
„„iat zu Neuſtadt angegebenen Sinne wirklich beftehe, und bejahenden 
FKalls mit allen Ihe zu Gebot ftehenden Mitteln dahin zu wirken, baf bas 
„„den Bunbesgefegen und ben Grundfägen der Givilifation widerſprechende, 
„„die Würde ber badiſchen Megierung durch Verhoͤhnung ihrer Gefege ver⸗ 
Aetzende Verbot der koͤniglich balerifchen Megierung gegen den Eintritt 
Pdeutſchkatholiſcher Prediger in das Band wieder aufgehoben, oder, wenn 
LIeſes Verbot nicht in der Allgemeinheit befteht, unterfudyt werde, ob ber 
„Bittſteller zu der gegen Ihn verhängsen Maßregel genügende Veranlaffung 
„egeben, und verneinenben Falles ihm durch Beftrafung des betreffenden 
„Beamten bie gebührende Genugthuung verfchafft werde.““ 

Der Reglerumgscommiffär Frhr. v. Stengel bemerkte hierauf: 

„Der Petent hat ſich in kiner ähnlichen Vorftellung auch an die Regie⸗ 
rung gewendet und von Seiten des Gr. Minifteriums der auswärtigen An- 
gelegenheiten find fofort Schritte gefchehen, um nähere und officielle Auge 
kunft darüber zu erheben. Es iſt fomit im Wefentlichen da 8 bereits gefchehen, 
was von ber Commiffion gewünfdt wird. — Wenn übrigens die koͤnig⸗ 
lich baterifche Regierung eine allgemeine Berorbnung erlaffen hat, wonach 
fein Prediger ber deutſchkatholiſchen Kirche im Königreich reifen foll, fo wer⸗ 
den wie wohl Beine weiteren Schritte in diefer Beziehung bei der Eönigl. baie⸗ 
rifchen Regierung zu thun im Stande fein, denn fie würde uns, wie auch die 
Commiffion es thut, antworten: Wir find in unferem formellen Recht und 
befugt, eine folche Verordnung zu erlaffen, wer zu uns fommt, muß ſich 
unferen Verordnungen fügen. Es wird weder unfere noch Ihre Sache fein, 
zu prüfen, ob die baierifche Regierung Mecht oder Unrecht hat, folche allges 
meine Verordnungen zu erlaffen. Wir haben darüber nicht zu entfcheiden. 
Die baier. Regierung mag dies mit ihren Ständen ausmachen; uns berührt 
dieſe Sache nicht’ P). 

Wir laffen nun noch einzelne Theile der Discuffion folgen, welche zur 
rechtlichen und politifchen Beleuchtung der wichtigen Frage geeignet [cheinen. 


9) Hiernach dürfte fie auch verorbnen, daß alle auf ihr Gebiet Tommen- 
den Fremden getdbtei werden follten. Wäre das völkerrehtlih? Würde 
man gegen Engländer ober Rufen in Beziehung auf die anglikanifchen ober 
griechiſchen Chriſten Achnliches wie der Herr Regierungscommiffär behaupten ? 
| Anmert. der Redact. 


14 


- 


Gaſtrecht. | 407 


. Kapp. In der ganzen Sache fehe ich nichte Anderes als ein Symp⸗ 
tom jener von mit ſchon einmal bezeichneten illegitimen Ehe, die getrennt 
werden muß, nämlich jener Mifchehe zwiſchen Polizei und Priefterthum. 

Rindeſchwender. Man fagt, es fei keine Verhoͤhnung unſerer 
Geſetze, wenn bee Mann, von dem es fi) handelt, aus Baiern getwiefen 
wurde. Wer ift er denn aber? Er ift bei einer deutſchkatholiſchen Gemeinde 
angeftellt, und die Staatsbehörde hat ihn beſtaͤtigt. Man weit alfo einen 
von der Staatsbehörde beftätigten Angeftellten aus einem Lande, blos weil 
ee ein Amt bekleidet, in welchem er von unferer Staatsbehoͤrde beftätigt iſt. 
(Schaaff: Wir kennen ja die Thatſache noch gar nicht.) 

Baffermann. „Man Eann hier, Angefichts des Art. 16 der deut⸗ 
ſchen Bundesacte, nicht von einem formellen Recht der baierifchen Regies 
rung fprechen. Dierüber will ich jedoch Fein Wort verlieren. Wenn ber 
Abg. Schaaff fagt , es fei fonderbar, daß die Sache in die Kammer komme, 
fo weiß ih nicht, was am Ende die Kammer mehr interefficen fol, ob eine 
Kaminfegerorbnung,, wovon wir geftern über eine Stunde lang fprachen, ober 
das Recht eines badiſchen Bürgers, über den Rhein zu gehen, ohne von Gens: 
b’armen zuruͤckgewieſen zu werden. Die fähhfifche Kammer hat ſich auch 
darum befümmert, baß Defterreih allen Deutſchkatholiken Sachſens den 
Eintritt in fein Land unterfagte, und wenn man von jener Seite behauptet, 
Baiern fei in feinem formellen Recht und wenn wir ferner wiſſen, daß Bai⸗ 
ern in feinem Wahlfpruch das Wort „beharrlich“ hat, fo entgegne Ich , daß 
durch eine Verwendung ber badifhen Regierung nicht viel erreicht werden 
wird, wenn fie nicht eine Unterflügung erhält bucch das Gewicht der öffent 
lihen Meinung, die ohnehin, wie es fcheint, von nun an berufen iſt, mehr 
durchzuſetzen als alle öffentlichen Schritte der Staatsbehörben oder Diploma 
ten. Deshalb hat der Petent wohlgethan, fi an uns zu wenden, und wenn 
bie Regierung in diefer Sache einen ernſtlichen Willen hat, fo wird fie diefe 
Unterflügung der öffentlihen Meinung und der Kammer gern annehmen. 

Es giebt Wahrheiten, über die man nicht flreiten kann, weil fie durch 
bie Befchichte bewaͤhrt find. So ſteht es feft, daß die Jeſuiten und die meiften 
Aöfterlihen Orden ſchaͤdlich und ſtaatsverderblich wirkten. Wenn aber die 
Deutſchkatholiken, die gar keine Hierarchie, Bein fichtbares Oberhaupt und 
Leine Macht haben, fondern arme, verfolgte Gemeinden find, jest ſchon 
- für flaatsgefährlic, gehalten werden , wie jener mächtige Orden, der am Ende 
allen Monarchen über den Kopf wuchs, fo daß fie ſich im vorigen Jahrhundert 
alle mit einander zu deſſen Aufhebung verbinden mußten, wenn man, fage 
ich, dieſe Staatsgefährlichkeit dem Urtheile der Einzelnen anheinigeben will, 
fo Hört Alles auf, was die Geſchichte und das Nachdenken überhaupt bar: 
bietet. Der Abg. Sunghanns erinnert und au bie ſchrecklichen Webel, welche 
Reiſeprediger in unferem Lande angerichtet hätten. Die erften Apoftel und 
die Reformatoren des 16. Jahrhunderts find aber auch gereift. (Buff: 
Das ift ein Unterfchieb!) Daffelbe hat man damals auch gefagt. Die Pathos 
liſchen Fürften und Prilaten des 16. Jahrhunderts haben die Reformatoren 
auch mit Hilfe ihrer Lanzknechte zuruͤckgewieſen und gefagt, es fei ein gro- 
Ber Unterfchied zwifchen ihnen und jenen Apoſteln. Das ift aber gemöhn- 


AUlch die ſchoͤne Ausrede für ein Unrecht, daß man fagt, es fei ein anderer Fall, 

und 26 erinnert ums dies an jenen Edelmann in ber Fabel, der da glaubte, 
ber Hunb bee Bauern habe feine Kuh gebiffen, worüber ex fehr böfe war; 

> als er aber hörte, daß fein Hund des Bauern Kuh gebiffen, fagteer: dies 
iſt ein anderer Fall. Der Abg. Buff hat bei einer frühern Gelegenheit am 
bie barmherzigen Schweſtern erinnert. Hier findet aber offenbar eine Wer: 
wechslung flat. Wenn diefe barmherzigen Schweſtern in unfer Land reifen 
wollten — und e8 waren ſchon öfters welche da, ja erft neulich fogar eine in 
biefem Haufe — fo würde fie wohl Niemand hinausweifen wollen. Es ift 
aber ein großer Unterſchied, ob man Perfonen von verſchiedenen Confeſſio⸗ 
nen, bie in dem bitflofeften Zuftand find, der Profelptenmadjerei eines 
Ordens, ber fic) diefelbe zur Pflicht macht, unterwerfen will und kann, oder 
ob einem badiſchen Bürger bie Freiheit genommen werben foll, über die Rheins 
brüde zu geben, ft das ein. Zuſtand ber Gerechtigkeit in Deutfdhland ? 
Der Staat.oder bie Regierung, von welcher die Nusweifung ausging, gilt 
ober gerixk fich wenigſtens ald Vertreterin der deutfchen Nationalität. 

Auf dem Mürzburger Sängerfeft haben wir allerlei Exfreuliches ers 
fahren und bie Worte „Deutfhland” und „Deutfchthum‘ hörte man bort 
fehe häufig; allein einen Deutſchkatholiken aus. dem Lande zu weifen, fcheint 
bott auch deutfch zu fein, und damit kann ich mich nicht verföhnen. Mir 
fcheint «8, daß man, mie leiber neuerlich beabfichtigt wird, ſtatt nad) den 
Handlungen und bem Verhalten der Menfhen, lediglich barnadı fragt, was 
für politifche und religtöfe Gefinnungen fie haben. ir find damit auf bem> 
felben gefährlichen Wege, auf dem mir im Laufe ber MWeltgefchichte bie 
größten Gräuel erfahren haben. Wohin Eönnte e8 kommen, wenn man ſolche 
Grundfäße wieder allgemein geltend machen wollte ? 

Es könnte in einem proteftantifhen Staat ein Katholif wie Herr Buff 
ausgerwiefen werden, wenn man nad) dem Glaubensbekenntniß fragte; ja 
es Eönnte dahin kommen, daß eine Republik Bremen einen deutfchen Fürften 
nicht über ihre Grenze ließe, weil fi) das monarchiſche Princip nicht mit einer 
Republik vertrage. Fragen Sie ſich, meine Herren, melcher Zuftand der 
Rechtlofigkeit, der Verwirrung und der Anarchie bei ung entflände, wenn 
man nad) dem Glaubensbefenntniß fragte! Wenn Jemand den Gefegen des 
Staats fid) unterwirft und die öffentliche Ordnung nicht ftört, fo hat er, nach 
dem Art. 16 der Bundesacte und noch mehr nad) den allgemeinen Princi: 
pien der Ordnung und des Rechts, die Befugniß, fi) überall aufzuhalten, 
oder e8 giebt eben dann kein einheitliches Deutfchland mehr. Dan fagt, man 
wiſſe nicht, ob nicht jener Mann etwas Sefeg: und Ordnungswidriges ges 
than babe. Wenn aber dies nurim Mindeften der Fall wäre, glauben Sie 
wohl, die baierifchen Blätter hätten es verfäumt, Solches gehörig und im 
den kraͤftigſten Karben aufzutifchen ? Zudem Eenne ich den hochadhtbaren 
Mann, dem diefe Kränkung widerfahren ift, genau, und feine Worte gels 
ten mir mehr als die vieler Anderen, fo daß ich volllommen feinen Mitthei⸗ 
lungen vertraue. Außerdem befige ich das Driginalfchreiben des Polizei: 
commiſſaͤrs in Neuftadt ; es if dies Die Antwort, die ber Gaflfreund, bei wel- 
chem Here Schollwohnte, erhalten hat. Der Redner verlieft diefes Schreiben, 


Allln. 


Gaſtrecht. 200 
worin es heißt, daß Here Scholl ausgewieſen wurde, weil er deutſchkatholi⸗ 
ſcher Prebiger ſei — und fährt dann fort: Es hat alſo genügt, daß Herr 
Schoß felbft bemerkte, er fei ein Prediger einer deutichlatholifchen Gemeinde, 
und man würde gewiß von Polizei wegen andere Gründe angeführt, nämlich 
etwa gefagt haben, weil der Betreffende fih gegen die Gefege des Landes 
_ verfehlte, denn wenn die Polizei fo etwas weiß, fo unterläßt fie nicht e8 anzu⸗ 
führen. Daß die badifche Kammer über diefe Sache zur Tagesordnung über: 
geben twerde, glaube ich nimmermehr. Ich will hoffen, fie werde keinen 
Unterfchied machen zreifchen Mitgliedern ihres. Hauſes, die aus Preußen, und 
zwifchen andern Bürgern, die aus Baiern verwwiefen wurden. Und wenn e6 
ſtatt eines beutfchs katholiſchen Geiftlichen der geringfle Mann des Landes 
wäre, fo würbe es die Ehre dee Kammer fordern, mit der größten Energie 
das Recht des freien Aufenthaltes für feine Perfon in andern bdeutfchen 
Staaten geltend zu machen. Uebrigens Tann man fi) damit beruhigen, 
daß die Dinge, wie fie find, nicht bleiben Finnen, und der Ausgewieſene mag 
fich mit einem Reifeprediger des 16. Jahrhunderts tröften, der,. als er vers 
toiefen wurde, fagte: „Einer — ja taufend! —. alfo iſt es mir bisher 
gelungen, daß ich die Feinde noch nie gefurchten, aber fo diefe elenden Men» 
fhen haben mic, bisher gefurchten und furchten müflen, denn ihr Gewiffen 
ſteht für mich mwiber fie ſelbſt, umb fie fuchen mit Lug und Gewalt Schug ; 
das bat auf die Länge keinen Beſtand.“ 

Heder. Darüber ift wohl kein Zweifel, daß Staaten, auch ſelbſt 
abgefehen von dem deutſchen Bunde, ſich als gleichberechtigte, vollberechtigte 


Perfönlichkeiten gegemüberfichen. Bei dem deutfchen Bunde umfhlingt . 


aber diefe gleichberechtigten, fouveränen und felbftftändigen Perfönlichkeiten 
noch ein weiteres Band, das des voͤlkerrechtlichen Friedens, das den gegen 
feitigen Verkehr bedingt. Steht der Regierung das Recht zu, ohne Grund, 
Urtheil und Verhoͤr Einen auszumeifen, fo ſteht es ihr auch zu, zehn und 
hundert auszuweifen und allen Bürgern eines Staats den Eintritt in den ihri⸗ 
gen zu verwehren; fomit flünde der Krone Baiern ungeachtet der Bundes 
gefeggebung und des gemeinfamen Bandes eines Staatenvereind das Recht 
zu, Baden in einen Kriegszuftand zu verfegen, den bifrgerlichen und ge 
werblihen Verkehr zu hemmen, und wir wären mit jenem angeblichen Aus 
weifungsrecht dahin gefommen, daß mitten im Frieden und ungeachtet 
des Bundesvertrags ein wahrhafter Kriegezufland vorhanden wäre. Es 
liegt aber auch in diefem Beginnen noch eine viel confequentere Negation. 
Man negirt uns das Vaterland. Wenn ich nicht mehr das Recht habe, 
auf dem beutfchen Boden frei zu verkehren, wenn man mic) geradezu von 
dannen jagen und jagen kann: Du haft blos fo viel Recht, als ich etwa dem 
Hund einräumen will, den ich nach Belieben hinauswerfe, fo iſt das Vater: 
land zur Gnadenſache geworden. Man negirt, fage ich, in dem Augens 
blick, wo man fieht, daß drei Herzogthuͤmer von Deutfchland losgeriſſen wers 
ben follen, den Begriff des Vaterlandes. Man macht und zu heimathlofen 
Deloten , welche die Polizei beliebig wie Sauner fortiagen Tann. Bleiben 
Sie nur bei diefem Spftem! im Angeficht eines beutes und eroberungs- 
füchtigen Franzoſenthums, im Angeficht eines weltherrifchen Staventhums | 


410 Gaſtrecht. 
Dann appelliren Sie aber auch nicht an unfern Patriotismus, wenn «8 gilt, 
bie beſtehenden Buftände zu retten. — Wenn ber beutfche Bürger ohne ein 
nachgetwiefenes Vergehen, ohne Verhör, ohne Urtheit, fortgersiefen werben 
darf, fo mache man auch den amerlanifchen Hintertwäldlern Feinen Bor: 
wurf mehr, wenn fie die Lynchfuſtij üben, denn bei uns fagt man ja auch : 
Die Gewalt erſetzt das Mecht, und wir erflären Dich für einen Verbrecher, 
wenn du atıch gleich Erin Vergeben begangen haft. | 
Das find keine Grundfäge, welche bie Dauer von Staaten begruͤnden 
tönnen und bie man von jener Seite als die confervativen Grundfäge bezeich- 
nen kann. Mit Kiöflern, Orden und Geberbüchern hilft man dem Staats: 
koͤrper nicht auf. Sind wir denn bei ung nicht viel weiter zuräcd als felbft 
da, imo man glauben follte, daß bie größte Unduldfamkeit herrfche? Blicken 
Sie nad) Rom, dem Sitze des Primas der Eatholifchen Kiche, nach Wien, 
der Dauptitabt des erflen Batholifchen Staates der Ehriftenheit. Dort be 
wegen ſich Preöbpterianer, Anglikaner, Lutheraner, Armenier und Türken 
frei umher, dort wagt man nicht zu thun, was man hier Im Saale der 
Volksvertreter vorzufchlagen wagt. Betrachten Sie nur die Sache von bem 
menſchlichen Standpunft und fragen Sie fih, ob e8 nicht eine Barbarei 
ohne Grenzen ift, einen Mann zurüczuftoßen von der Grenze, beffen ſter⸗ 
bender Bruder darnieder liegt jenfeits des Mheins, deffen Theuerſtes und 
Liebſtes das Verlangen fühlt, ihn noch einen Augenblick zu fehen; der will 
den Bufprud des Himmels, den er mur von mir ertvartet, und blos weil er 
nicht glaubt wie ber Herr Buff, Junghanns I. und Schaaff, foll Derjenige, 
der nach bem Zuſpruch feines Bruders, feines Glaubensgenoffen lechzt, 
elenb umb einfam verenden! Das ift alfo Foleranz von Ihrer Seite! Sch 
kann hiernach nur ſtolz fein auf ben Fanatismus, den man uns Schuld giebt, 
und wenn man nun vollends von dem Urtheil bes Volkes fpricht, fo fage 
ich, ein fo einfaches Beifpiel, wie es bier gegeben morden, wird im Ge⸗ 
müth des Volkes beffer anfchlagen als die Fünftliche Deduction, die Deutfch- 
katholiken feien Feine Chriften. Was den Sefuitenorden betrifft, fo till 
ich miht an Pombal und ihre Vertreibung aus Portugal und Spanien 
- erinnern, wohl aber auf den fRandaldfen Proceß verweiſen, der im vorigen 
Jahrhundert vor dem Parlament der Seine verhandelt wurde, welches zwan⸗ 
zig Schriften (Buff: mit Gewalt —) auf ergangenen Richterfprud 
durch Denkershand verbrennen ließ und von dem Jeſuitenorden verlangte, 
er folle feine ftatutarifche Organifation vorlegen ; die Statuten find aber 
nicht zu Tag gefommen. Man hat zwar ein ſolches Product zu den Acten 
geben zu müffen geglaubt, hat es aber fpäter als nicht aͤcht dessvouirt. Wie 
kann man nun fagen, die Statuten des Sefuitenordens liegen für Jeder⸗ 
mann zu Tag, der Deutfchlatholicismus aber, den Jeder Eennt, diefer, 
wagt man hinzumerfen, arbeite im Geheimen ? — Ich fage aber, vor Euch 
liegt fein Glaubensbekenntniß, die Verhandlungen feiner Goncilien, feine 
‚ Organifation, er arbeitet in der Wahrheit und im Licht, und nur die Eulen, 
die das Licht nicht ertragen und nicht fehen koͤnnen oder wollen, vermuthen, 
daß er geheime Artikel habe. Warum aber? Weil man bei der Berufung 
auf andere Verhaͤltniſſe jo viel von geheimen Artikeln wiſſen muß und meiß, 


Gaſtrecht. 411 


daß fie ſelbſt bei ganz offenkundig beſtehenden Geſellſchaften vorhanden find. 
Man fucht mit fcheuem Gewiſſen hinter Anderen, was man felbft forgfältig 
verſteckt. — Welches iſt der wahre Glaube, und wer ift berufen, hierüber 
zu entfcheiden? Blicken Sie zuruͤck auf die verfchledenen untergegangenen 
Indifchen und andere aftatifchen Religtonen. Denken Sie an das Concilium 
zu Nikaͤa, wo Gonftantin Friebe fhaffen mußte durch Gewalt, weil bie 
Bifchöfe ſich prügelten. Hat nicht der arianiſche Glaube neben dem roͤmi⸗ 
fhen befanden? In wie viel taufend Secten iſt nicht das Chriftenthum 
zerfallen, wie viele taufend Streitigkeiten find nicht in feiner Mitte ent: 
flanden, und ie wollen uns glauben machen, Sie hätten uns überzeugt, 
oder koͤnnten uns überzeugen, welches der wahre Glaube fei? 

So anmaßend find wir nicht, fo hoch ftellen mir ums nicht, daß wir, 
Kraft einer Identificirung mit der Gottheit, fagen könnten, mir ſeien im 
Stande, zu entfcheiden, welcher Glaube der rechte, der allein wahre fei. 
Weil wir Menfchen find und menfchlich fühlen, müffen wir Jedem gegen⸗ 
über fagen: Du bift frei auf dem Gebiete beines Glaubens, und ich als Staat 
habe von die nur zu verlangen, daß du Leine verderbliche Lehre predigfi und 
ich mein Nothrecht nicht in Anfpruch nehmen muß, das da beginnt, mo du 
meine Eriftenz zu untergraben drohſt. Das Urtheil der Dummen und Vers 
bummten kann uns gleichgültig fein, aber die Vernuͤnftigen follen richten 
zwifchen uns und ihnen, ob es Sanatismus iſt, wenn mir Jeden bas 
glauben laſſen wollen, womit er gottgefällig und felig werben zu innen 
meint, oder 0b es Fanatismus ift, wenn man mit Alba, Inquiſition, 
Scheiterhaufen und Schwert, oder mit dem Schwert des modernen Polizei» 
ſtaats die Andersdentenden zum Staate hinausfchlagen und zu unwürdigen 
und nichtswuͤrdigen Heloten erklaͤren will. 

Der Commiffionsantrag wurde nad) dem Schluffe der Discuffion mit 
großer Mehrheit angenommen. Daß hier nicht volle Einſtimmigkeit flatts 
fand, dieſes wurde lediglich durch die zum Theil veligiös:fanatifche Anſicht 
einzelner Abgeordneten über ben Deutſchkatholicismus bewirkt. 


Ueberblicken wir nun alles bisher Dargeflellte in Beziehung auf bie 
Verlegung der Verkehrsfreiheit , des Gaſtrechts und bes beutfchen National: 
rechts auf beide, fo fcheint in Beziehung auf bie Frage bes Rechts jedes 
weitere Wort überfläffie. In Beziehung auf die Staatspolitit duͤrf⸗ 
ten bei Betrachtung der bier dargeftellten drei befonderen Fälle ſich zum 
Theil befondere Bemerkungen aufbrängen. Zugleich aber find ung einige 
allgemeine politifhe Erwägungen über die heutige deutfche Staates 
politik fehr nahe gelegt, fobald wir hinbliden auf die Hunderte von Verleguns 
gen derfelben Art, welche vorzüglich in ber neueften Zeit in beutfchen Staaten 
vorfamen , jo 3. B. die faſt maffenweifen Ausweifungen, bie in Sachſen, ſelbſt 
Angefichts der verfammelten Stände und nach der bei Gelegenheit ber Itzſtein'⸗ 
(hen und Heder’fchen Ausweifung mit fo feltener Einftimmigkeit und Ener: 
gie ausgefprochenen Mißbilligung der Öffentlichen Meinung von Deutſchland 
und Europa, gegen deutfche Schriftfleller verhängt wurden, bie alfo biefe 


N. 


412 BGaſtrecht. 


effentliche Meinung ebenfo wenig verhinderte ale die Fortdauer ber Itzſtein⸗ 
ſchen und Heder’fchen Zurüdtweifung felbft. | 

Sm Allgemeinen ſcheint wohl Mar zu Tage zu treten einer: 
feits eine die ernfteften politifchen Erwägungen verbienende bedeutende Ent» . 
sweiung ber herefhenden Politik mit der öffentlihen Mei: 
nung, und eine wunderbar wach ſende krankhaft ger unb ängfl- 
liche Scheu vor ihrer Freiheit und vor gewiſſen Organen berfelben,, vor ihrer 
anſteckenden Wirkung auf die eigenen Bürger, andererfeits eine eben— 
fo wachſende, bem Anſchelne nad faft planmäßige Nichtbe— 
ahtung und Geringfhäsung ber öffentlichen Meinung ſelbſt. Die 
Ausweifungen in den drei befonderen Fällen fheinen in bem erften 
ben liberalen Schriftſtellern, vorzüglich. Zeitungsſchrift— 
ſtellern, zu gelten, indem zweiten ben conftitutionellen Op— 
pofitionsmännern und Berfaffungsgrundfäßen, im dritten 
den Vertretern rellgiöfer Freiheit und Aufklärung, über 
haupt aber. dem MWibderwillen und der Scheu vor ber felbft bie beuefche 
Genfur = und geheime Eriminalinquifition bankbruͤchig machenden Wirkung 
‚diefee Männer für bie Sreiheitsentwiclung, 

Sollen wir num zuerft jene befonberen politifhen Motive 
und Ridtungen an ber Hand ber gefhichtlichen Erfahrung und be- 
mwährter Staatötweisheit politifch prüfen, fo ſprechen wir unbedenklich aus, 
auch biefe Ausweilungspolitif wird ſich ebenfalls bankbruͤchig gegen die ums 
aufbaltfam fortfchreitende beutfche Kreibeitsentwidlung erweiſen. 
Diefen durch naturgeſetzliche Entwicklung, durch täglich wachſende Wechſel⸗ 
wirkung mit den freien Völkern durch Lebensinſtinct, Ehrtrieb und Pflicht⸗ 
gefühl ber Nation gebotenen Fortfchritt kann fie hier und da wirklich oder 
ſcheinbar in dem äußeren und ehrlichen Hervortreten auf furze Zeit hemmen, 
nimmermehr ihn verhindern, Mas fie allein vermag und fider 
zur Folge hat, dieſes befteht darin, daß fie die wirklichen fo wie die bei 
dem Freilaſſen der natürlichen Entwidlung nur in ber Einbildung beftehenden 
Gefahren und Unannehmlichkeiten freier Verfaffungen für 
die Regierungen und die Ariflofraten unendli vermehrt. 
Sie thut e8 durch die unnatürlihe Hemmung felbft, durch die ungerech⸗ 
ten, unrühmlichen und unfürftlichen Mittel, zu denen fie räth, durch die Ver: 
legung aller edelſten Gefühle ber Nation, durch bie dadurch hervorgerufenen 
Anfeindungen und Geringfhägungen ber mit fo falfchen, mit fo gehaßten 
und verachteten Mitteln vertheidigten Heiligthuͤmer ber Religion, der Fuͤr⸗ 
ſtenwuͤrde, der öffentlichen Auctorität, Gefeglichkeit und Ordnung. 

Fa faſt in jedem einzelnen Fall erfcheint fchon gleich im Augenblick 
ber Zweck jener Maßregeln verfehlt und die bemfelben entgegengefegte Wir⸗ 
fung hervorgerufen. 

An fi ift e8 wohl unmeife, in Baden, in dem Lande, in welchem 
von Karl Friedrich an und feit der Verfaffung gerade durch den Libe⸗ 
ralismus feiner Schriftfteller, feiner Stände und Bürger, durdy das Vor: 
anftehen in freier zeitgemäßer Entwidlung für das Fürftenhaus und den 
Staat allgemeine Achtung in Deutfchland und Europa, Rettung und Vers 





Gaſtrecht. 418 


groͤßerung feiner Exiſtenz und aͤußeren Macht, und gluͤcklich fortſchreitende 
Entwicklung der Volksbildung, des Wohlſtandes, der geſetzlichen Ordnung 
gefördert wurden — es iſt hier wohl unweiſe, ſich feindſelig, verfolgend ober 
furchtſam gegen liberale Schriftſteller und Zeitungen zu zeigen, oder den 
Schein einer unruͤhmlichen Allianz mit auswaͤrtigen Freiheitsgegnern und 
einer ebenſo unruͤhmlichen Abhaͤngigkeit von denſelben auf ſich zu laden. — 
Es fuͤhrt aber auch in Baden — ſo weit ſind wir nun fortgeſchritten — ſolche 
Verfolgung nicht einmal einen augenblicklichen Erfolg zu Gunſten der Wahr⸗ 
heitsangſt herbei. Verſtummen etwa die unangenehmen Organe und Spre⸗ 
cher? Iſt dieſelbe Mannheimer Abendzeitung, in welche der ſeiner 
Natue nach milde, damals deutſchpatriotiſche und Ioyale Karl Gruͤn ger 
maͤßigte Artikel lieferte, fpäter in Hände gelommen, welche dem Royalis⸗ 
mus, der Staatsreligion, der heiligen Allianz und der Bureaukratie guͤnſti⸗ 
ger find, oder umgekehrt? Sein nähfter Nachfolger war fogar Hr. 
Bernays!! Die einzelnen Schriftfleller kann man befchimpfen, fle und bie 
Ihrigen ihres Lebensunterhalte,, Lebensgluͤcks und des Vaterlandes berauben. 
Sie felbft aber werden wie Karl Gruͤn und Heinzen und Anbere in ihrer 
Indignation gegen ungerechte harte Verfolgung, es werben Hunderte an ihren 
Gefühlen Theitnehmende der ganzen beftehenben religiöfen, polttifchen und fo> 
elalen Ordnung, der Kürftenhäufer tödtliche Feinde, begeifterte, fanatificte, er 
findungsreiche und unermüdtiche Apoftel. Aus dem einen abgefchhlagenen 
Haupte der Hydra ertwachfen hundert neue,.alle taufend Canaͤle verflopft ihr 
nicht, und das in der Nation täglich wachfende Freiheitsbeduͤrfniß und das ges 
rechte Gefühl der Sntrüftung über wachſende unrechtliche, freiheitsfeindliche 
Unterdbrüdungen begünftigen fi. Ehemals loyale treue Anhänger ber Res 
gierungen vermehren auf folche Weife täglich das feindliche Lager. Wir haben 
früher es ausgefprohen (f. z. B. Euddmonismus, Ballicanifche 
Kirche), wie gerade wegen ber nattırwidrigen Freiheits⸗ und Rechts⸗ 
unterdrücdhmg die allerradicalften aber auch eben deshalb gemeinfaßlich⸗ 
flen Oppofitionss und Negationstheorien im Volke täglich weiter greifen 
und alle Grundlagen ber beftehenden Orbnung untergraben. | 
.. Und hat denn, wenn wir den Blick auf den II. Fall werfen, ber hier 
fich ausfprechende Widerwille und die Schen gegen die conftitutionellen Prins 
cipien nicht anerfannt mehr als irgend ein anderes Ereigniß, mehr als 
hundert liberale Feſtreden und Zrinkfprüche vermöchten, für die conftitutios 
nellen Ideen und für den Ruhm ihrer männlichen Vertheidiger und gegen 
die Regierungspolitik gewirkt! Sollte aber wohl ein Politiker ernftlich für 
Preußen bie Anfeindung ſtatt der männlichen ganzen und folgerichtigen Ans 
"nahme wahrer Nationalrepräfentatton als Staatsweisheit empfehlen? Der 
müßte wohl vergeffen, daß Preußen durch das entgegengefegte Syſtem tägs 
lich mehr in Widerfpruch mit dem Grundprincip feiner ganzen Staates 
eriftenz, feiner Macht, feiner glorreihen Wiederherſtellung gefegt, täglich 
mehr von bem einzig foliden Stuͤtzpunkt feiner Macht, der Achtung 
umd Liebe der deutſchen Nation, abgezogen würde und feine wahre Rolle, 
die des ruhmreichſten mächtigften Schirmherren aller minder mächtigen 
Staaten, vertaufchte mit ber gleich ruhmlofen und gefahrvollen Rolle eines 


414 Gaſtrecht. 

ber. inneren und ber aͤußeren Achtung entbehrenden Trabanten ber phyſiſch 
ſtaͤrkeren Großmaͤchte und vollends der in Preußen und Deutſchland verhaß⸗ 
bern ruſſiſchen Macht. Soll es wohl gar jene hohe Beftimmung aufgeben 
e jene Rolle eines hier wie dort gleich mißnchteten Vermittlers zwifchen 
uffenthum und Deutfchthum, zwifchen der Anute und ber Freiheit ober 
endlich einer fuͤr das proteftantifche aufgeklaͤrte Preußen vollends faft laͤcher⸗ 
lichen Vermittlung zwiſchen dem von ſeinem großen Kurfürften und feinem 
großen König verfpotteten mittelalterlichen Eatholifchen und bespotifchen goͤtt⸗ 
Then Recht und zwiſchen der europäifchen Freiheit und dem conftitutionellen 
Koͤnigthum? Doc, überlaffen wir es ruhig dem gefunden Sinn der preu⸗ 
Fifchhen Nation und Regierung, bie Bedingungen und Confequenzen diefer 
verfchiebenen Rollen und bie einer gar nicht ober halb und die ber entichloffe- 
nen und männlichen ganz conftitutionellen Richtung zu erwägen. Wählt 
man bie richtige, gewiß, dann braucht man zwei conftitutionelle Männer 
nicht mehr zu fürchten und, um fie einige Tage ſchneller aus dem Staate zu 
entfernen, fo gewaltige Staatsmaßregeln zu ergreifen, bie in Europa foldye 
Eindrüde zurüdlaffen wie biefe. Uns wenigſtens [chiene eine dauernde Pos 
litik in diefem Spfteme mehr geeignet, ben kuͤnſtlichen preußiſchen Staat 
ohmmaächtig zu machen und aufzulöfen, als ihn zu befefligen, maͤchtig und 
glorreich zu machen — und wir zweifeln nicht, baß der gute Genius Preu⸗ 

ßens und feine glorreihe Beftimmung endlich fiegen werben. 
Nicht minder verfehlt erfcheint uns die im III. Fall erfichtliche Pos 
Vitik religtöfee Verfolgung. Iſt fie etwa haltbar, diefe ebenfo hier mie fonft 
erfichtliche baterifche Politik, um jeden Preis und felbft mit Verlegung der 
verfaffungsmäßigen Glaubens- und Religionsfceiheit und der Bundespflichten 
bie religiöfe Aufklärung zu befämpfen und die politifche Stellung und Macht 
“in Deutfchland auf römifchen Katholicismus zu gründen? Welche Opfer 
früher in energifhen Kämpfen zum Vortheile Roms und Oeſterreichs Baiern 
brachte, wie e8 zu ihren Gunften auf den herrlichften Ruhm eines mächtigen 
dbeutfchen Volksſtammes und Fürftenhaufes und auf die Einheit und Ehre 
des großen deutſchen Vaterlandes verzichtete, diefes hat ſchon ber Artikel 
Baiern ausgeführt. Aber nun, nachdem Baiern felbft fo große proteſtan⸗ 
tifche Provinzen in ſich fchließt, überall an feinen Grenzen, das katholiſche 
Defterreich ausgenommen, an proteftantifche Staaten ftößt , tie kann heute 
bei der nicht religiöfen, fondern politifchen und nationalen Zeitz 
richtung Baiern feine Macht in Deutfchland auf intoleranten roͤmiſchen Ka⸗ 
tholicismus gründen! Und ifl denn nicht gerade die Megierungsallianz mit 
dem firengen Kirchenglauben die einzig nachhaltige Nahrung für die unkirch⸗ 
lichen, unreligisfen Richtungen ? (Siehe den Art. Gallicaniſche Kirche.) 
Regierungspolitif , die die Geifter ſich dienftbar machen will, fpielt immer 
den Zauberlehrling. So die preußifche Politik, als fie das Stabilitätsfy» 
ftem ducch die officiele Hegel’fche Philoſophie ftügen mollte, und ebenſo jest, 
0 erzwungene Orthodoxie es in Preußen wie in Baiern fhügen fol. Die 
Politik Spielt hier den Reactionskrieg in Gebiete, wo nicht fie, fondern die 
Revolution Meifter if. Sie ruft das Gegentheil, Lichtfreunde und Illu⸗ 
minaten hervor. Und wenn fie fiegt, deſto [plimmer. In Frankreich find 


Waſtrecht. 45 


die Wunden der Unterbrüdtung bes Proteflantismus noch nicht:gehellt. Und 
wie, wenn biefelbe in Deutfchland, oder wenn bie bes Chriſtenthums den roͤ⸗ 
miſchen Imperatoren geglüdt wäre! Baiern felbft erkennt es nach andern 
Erſcheinungen feiner Politit an, daß heute nur Nationalität und Sreibeit 
und freie Entwidelung die Kräfte find, durch die man Macht, Einfluß und 
Ruhm erwirbt. Ihnen aber find Bleinliche rechtswidrige, ängflliche und obs 
ſcurantiſtiſche Verfolgungen der Slaubensfreiheit und der deutſch-katho⸗ 
liſchen Kirche nicht förderlich, fondern hinderlich. 

Iſt es endlich, was das Allgemeine betrifft, richtig, daß alle jene vers 
Legenden Ausweifungen einzelner Männer hindeuten einestheilg auf eine 
aus der Entzweiung der Regierung mit der Öffentlichen Meinung entflchende 
Scheu vor freien Heußerungen und zugleich auch wieder auf einen gemeins 
ſchaftlichen Entſchluß, ihr zu ttogen, flatt ihe zu huldigen? Iſt diefes rich⸗ 
tig, fo fragen wir, weil bei folchen Annahmen politifcher Tendenzen, die 
wenigſtens nicht wörtlich eingeflanden werden, ber Einzelne ſich befcheiden 
muß, daß er irren koͤnne, und nur das iſt ganz ficher, daB manche Rath⸗ 
geber es dahin zu bringen fuchen. Wäre es aber richtig, fo wäre es sin bes 
denkliches Zeichen für die Weisheit und Kraft des bisher befolgten politifchen 
Syftems. Man blicke zurüd auf jene Zeit, wo nad) langer Schmach des 
Vaterlandes Fuͤrſten und Völker und ihre Staatsmaͤnner mit der höheren, 
geiftesfreieren und fittliheren Kraft, welche nur fo feltene großartige Lebens» 
momente verleihen, fi) zur Rettung und neuen heilfamen Geftaltung der 
Staatszuftände erhoben, da erkannten fie alle klar und einmüthig und laut, 
daß nur zeitgemäße Wiederherflellung uralter deutfcher Volks: und Verfaſ⸗ 
fungsfreipeit und innigfte Nationalsinigung die Kraft und 
Größe der Nation und der Fuͤrſten begründen, fie vor Erneuerung der früs 
heren entfeglichen Schmach und Todesgefahr fiherftellen koͤnnten. Sie ers 
kannten zugleich, daß ber zeitgemäße Ausdruck dieſer Freiheit die volle 
Freiheit und Geltung der oͤffentlichen Meinung, daß dieſe 
oͤffentliche Meinung die geachtetſte Bundesgenoſſin und der Leitſtern 
der Regierungen fein müffe Dean erkannte fie mit Recht als die 
Stimme bes öffentlichen Gewiſſens und der Geſammtvernunft der Nation, 
als die Stimme Bottes in ihr. Go vor und in den Befreiungskriegen, 
vor und auf dem Wiener Congreß bei Begründung und fürftlichen Zuſagen 
der Bundes: und Landesverfaffungsredhte, fo noch am Bundestage in ber 
erften vier Jahren. (S. oben Bluͤcher ©. 550.) Welcher aͤußerſte Wider⸗ 
ſpruch der gegenwärtigen Regierungsmaßregeln mit den wefentlichften Grund⸗ 
principien des Bunbes und der Staaten und der Zeit, wenn man bie freie 
Heußerung der Sffentlihen Meinung fürchten und haſſen müßte, wenn 
man der wahren Stimme Gottes In der fittlihen Gefammtvernunft Trotz 
böteund jenen hochmuͤthigen Eigenwillen der Herrſcher und der Rathgeber, 
wenn man folhen hochmuͤthigen Eigenwillen,, der ‚die Stuarte und Bourbo⸗ 
nen flürzte, zum Bögen erhöbe! — Gewiß, wer dazu riethe, der riethe 
falfh. Der öffentlihen Meinung, der Vernunft zu trogen — das wahrs 
ih macht nicht groß und flart. Der ſchwaͤchſte, eigenfinnigfte Knabe 
kann es. Wer wirklich die Öffentliche Meinung verachtet,, ber wird zuletzt 


416 Gaftredht. 


von ber Öffentlichen Meinung verachtet werben. Der riethe nicht. gut und 
recht, denn er riethe gegen Gewiſſen, gegen Treue und Ehre, er riethe 

fi) mit dem befferen Sefbft , mit all jenen im den Stunden erwachten Ge 
wiffens ‚in den heiligften Momenten der vaterländifchen Geſchichte mit Fuͤr⸗ 
fienwort und Eib befiegelten heiligen Zuſagen und freien Berfaffungen in 
Miderfpruc, zu fegen, biefe Zuficherungen und die freien Verfaffungen, ber 
sen Weſenheit eben die Geltung ber freien oͤffentlichen Meinung ift, zur 
Öffentlichen Lüge zu machen. Er riethe nimmermehr beilfam — denn Uns 
beit fe Fuͤrſt und Volk war ſtets die Folge fo verkehrten Spftems, müßte es 
vollends bet dem heutigen Erwachen der Völker fein. Unredlichfeit und die Laͤ— 
herlichleit eines Syſtems find an ſich ſchon furchtbare Strafen für feine Ur 
biber. Aber heutzutage, wo fo viele Gegner fie mit Freude begrüßen, ift bie 
Gefahr größer. Eine etwaige Beſchwichtigung unferee Mahnungen, meil 
ja doch bis heute die Ruhe noch leidlich beſtehe, diefe könnten wir unfererfeits 
entträften durch die Thatfache, daß jedesmal noch an dem Tage vorher, ehe 
in England, Frankreich, den Niederlanden bie ber öffentlichen 
Meinung teogenden Regierungen zuſammenſtuͤrzten, daß auch noch kurz vor 
ber Schlacht von Jena die ganze verblendete Hof» und Regierungspartei bie 
unglüdlichen Kürften wegen der muthvollen und weifen Durdyführung ihres 
vortrefflichen Reglerungsſyſtems begluͤckwuͤnſchten. Auch damit aber follen 
jene ungluͤcklichen Rather nicht alle Mahnung leichtfertig befeitigen, daß fie 
auf die Freue und Geduld und Gefeglichkeit der Deutfchen hinmeifen. Wohl 
haben die Deutfchen dieſe Tugenden in den legten dreißig Fahren bis zum 
Erftaunen ber Welt bewährt, Und gewiß, befonnene und gemwiffenhafte Maͤn⸗ 
ner kennen bie außerorbentlichen Gefahren und Uebel ber Revolutionen, felbft 
deren, bie nur als unvermeibliche Rettungsfieber und in ſcheinbar milder Ge: 
ſtalt ſich darſtellten. Sie möchten mit ihrem Herzblut auf dem friedlichen und 
aefeglichen Wege des Vaterlandes Ehre, Freiheit und Eriftenz retten und trach⸗ 
ten dahin in jeglicher Weife. Aber überfehe man doch auch nicht, wohin der 
vom erften Anfang fündhafte dreißigjährige MWiderftandsfampf gegen bie 
Verwirklichung der Freiheitsrechte der deutfchen Nation, gegen ihre natur: 
und zeitgemäße unvermeibdliche Entwicklung und für ihre Zuruͤckſetzung hinter 
alle freien Völker der Erde ung hinführt, felbft unwillkuͤrlich und unabfichtlidh 
die Megierungspolitit und die deutfchen Volkszuftände hinführt und täglic) 
weiter führt. Einerfeits ergreift ber fo erzeugte Gaͤhrungsproceß trog aller 
Genfur> und Poltzeimittel endlich alle Theile des Vaterlandes, zieht bie In⸗ 
tereffen aller Claſſen, bie religiöfen, dtonomifchen und politiſchen und fittlis 
chen Intereſſen in ſich hinein und vereint fie gegen die Unterdruͤckung ber na⸗ 
türlichen Kebensentwidlung der Nation. Gleichzeitig werden andererfeite bie 
Hemmungen und Verlegungen natuͤrlich täglich vielfacher und fühlbarer. Das 
patriotifche, das rechtliche und fittliche Gefühl der wohlwollendſten Ehren» 
männer wird verlegt durch alle die Rechts: und Freiheitsbefchränfungen, bie 
theils als unrühmliche Zeichen beunruhigten Gewiſſens und ber Angft , theile 
ale Zeichen beharrlicher Verfolgung unheilvoller Rathſchlaͤge, die edelften 
Kräfte der Nation laͤhmen oder für jene Unterdrüdung verwenden, bie 
Macht und Blüche des Vaterlandes hemmen, feinen Ruhm befleden und 


AM 


j Gelb, 417 


die fo fichtlich das gelſtige, fittliche und Leibliche Wohl, oft bie Erhaltung 
und Lebensrettung von Zaufenden unferer Mitbrüber unverantwortlich vers . 
legen! So thun es ja taufendmal die Unterdrüdung der freien Wahrheit in 
allen Gebieten des Lebens oder auch die der freien Vereine, ber Vereine felbft 
für die edelften fittigenden und Leben und Unterhalt der Familien fördern: 
ben Zwecke, der Vereine für Bildimg und Wohlfahrt armer Handwerker, 
der PeftalozzisVereine für Kinder: und Waifenerziehung, der Auswanderungs: 
vereine zur Rettung hilflofer Auswanderer. Go thun es ebenfo die Ber: 
letzungen ber Religionsfreiheit und die hier zunaͤchſt befprochenen Verletzun⸗ 
gen des freien Verkehrs unter ben Gliedern derfelben Nation. Jeden Tag 
liefern’ ja felbft die cenfirten Zeitungen aus verfchiedbenen Theilen Deutfchlande - 
erſchreckende Beifptele aller diefer Verlegungen ! 

Zwei Dinge aber vor Allem find es, die zulegt die Geduld gerabe ber 
Edelſten erichättern koͤnnten. Das Eine ift die Betrachtung, wie biefer 
umnatürliche Kampf gegen bie Sreiheitsentwidlung der Nation, ganz fo wie 
es die Natur fo hartnädiger Kämpfe auch in England und Frankreich mit 
ſich brachte, vielen bereits fanatifch > revolutiondren Feinden aller veligiöfen 
und politifchen Autoritäten der beftehenden Geſellſchaft das geiftig gegen fie 
nicht bewaffnete unzufriebene Volk in die Hände liefert und fo vielleicht ſchoͤn 
uns und unfere Kinder mit revolutiondren Greueln und bie Befittung mit 
roh materialiftifchen, irreligioͤſen Richtungen bedroht. 

Das Andere ift das, daß, wenn jene falfchen Rathfchläge Gehör faͤn⸗ 
ben, die Erſchoͤpfung aller Regierungsweisheit und Anftrengung für bie Frei⸗ 
heitsunterdruͤckung umb bie Kurzfichtigkeit und Untüchtigkeit reactiondter Zus 
follsminifter nicht mehr blos unfere wichtigften nationalen Intereffen, uns 
ſeren Wohlftand, unfere ruhmvolle und angemeffene Stellung unter den Ras 
tionen der Erde, nein, unfere Ehre und Eriftenz englifcher, franzöfifcher und 
vollende ruffifcher Uebermacht und Raubfucht abermals preisgäben. 

Wahrli kein Mann, der ein Gefühl hat für fein Vaterland und 

feine Pflichten, koͤnnte ruhig auch folche Gefahr ſich noch mehren und nähern 
A 


Deshalb alfo mögen alle wohlmeinenden Regierungen und Rathgeber 
im ganzen beutfchen Vaterlande jene verderblichen Rathſchlaͤge befämpfen 
und wirfungslos machen und frei laſſen und anerkennen bie Öffentliche Mei⸗ 
nung jede rechtliche Vereinigung und Verkehrsverbindung in unſerer deut⸗ 
ſchen Nation! C. Welcker. 
Geld. Die Lehre vom Gelde gehoͤrt unter die Lehre von dem 
Umlaufe ber Güter, von ber Bewegung, welche nöthig iſt um die jährlich, 
erzeugte Dienge von Gütern unter Diejenigen, welche unmittelbar an ber 
Production theilnehmen ober durch Dienflleiftungen aller Art ein abgeleitetes 
Eintommen beziehen, zu vertheilen. Die urfprüngliche Vertheilung 
weift dem Grumdbefiger die Mente zu, welche er für das Herleihen feines 
Bodens anzuſprechen, oder, wenn er ihn felbft baut, fich zu berechnen bat ; 
dem Gapitalbefiger ebenfo feine Rente ale Vergütung für hergelichenes Ca⸗ 
pital, beſtehe dieſes in Geldfummen oder in Gebäuden, Waaren, Geräth- 
haften u. dgl.; dem Unternehmer den Erſatz der Productionskoſten und 
Suppl. 3. Staatslex. IL a 


ſenen, melde 
‚ie Arbeitstheifung voraus umb entwidelte volkkmwirthfäaftlick 
ltnifſe; fie macht eine Uebertragung, alio «ine Bemegung ber Büter, 
n⸗iauf nothwendig. Dieler gebt aber nicht in der Weiſe vor fich, daß 
wirkende fein Einkommen in ber Gattung von Gütern, bei berem 
:erron er ald Arbeiter, Gapitalbefiger, Grundeigenthuͤmer ober Unter: 
e betheiliar iſt, beröge; 6 wird ihm vielmehr nicht erwuͤnſcht fein, 
avon zu erhalten, als er zu feinem Verbrauche bebarf. Dies macht 
ı Lanbiwirtbe viel, bei ben Gewerbsleuten weniger aus. Feder wird 
„we wolmfcben, fein Eintommen in einem Stoffe zu erhalten, ben er 
nagen jede Art von Guͤtern in kleinerer oder größerer Menge en 

id biefeer Stoff, biefes allgemeine Tauſchmittel, «8 beſtehe aus 

Te, nennt man Geld. Mod mehr wird das Geld Bedürfniß 
he, wie die Geſellſchaft außer ber Sorge für die unentbehrlichiten 
muyöenbigkeiten, für Nahrung, Kleidung und Wohnung, noch für 
unb hoͤhere Zwecke des menfchlichen Dafeins Mittel findet und Ein- 
gen trifft. Es bilden ſich dann Geſchaͤfte, die nicht unmittelbar an der 
‚beingung brauchbarer Sachen tbeilnehmen, aber doch auf diefelbe 
indem fie bie Bedingungen der Production vervolllommnen, Kräfte 
von, Maturgefepe kennen lehren, Werkzeuge verbeffern, Schaden ab» 
Ohne Wiffenfchaft und Kunft, ohne Einrichtungen zur Erziehung 
gend, zur Sicherung des Eigenthums und der Perfon, würde die Pro: 
duction niemals eine Stufe erreichen, welche für Bedarf und Bebensgenuf, 
für die Vermehrung ber Werthe und Kräfte, für den Fortfchritt nach Wer: 
volllommnung des Menfchen mwünfhensmerth iſt. Die Menfchen, melde 
ſich diefen Zweigen der TIhätigkeit widmen, haben aus der Maffe der ers 
jeugten Güter ihr Einfommen ebenfalls zu beziehen, und fie erhalten es in 
der Korm des Geldes, für welches fie die Sachen, die fie brauchen, eintau: 
fhen koͤnnen. So wird ein Theil des urfprünglichen Einkommens abgege 
ben an den Staat. Dies gefhab in Zeiten, wo ein allgemeines Umlaufe- 
mittel nicht oder nicht In hinreichender Menge vorhanden war, in Arbeit: 
leiftungen und Erzeugniſſen des Bodens, der Jagd, des Fiſchfangs, wovon 
fich beute noch Beiſpiele finden in Frohnden, Zehnten und Abgabe von Zobel: 
pelgen ; doch werden in civilifirten und freien Rändern die Abgaben in der Re: 
get in Geld entrichtet ; aͤbnlich verhält es fich mir den Leiftungen für Kirche 
und Schuie, für Bedärfniffe der Provinzen und Gemeinden. Gelehrte und 
Kuͤnſtler, Aerıte und Anwälte werden ihr Eintommen menigftens nicht 
sum groͤßeren Xbeile in Lieferungen für Küche, Keller und Kleiderichranf 
erdalten. Doch kommt dies, wie bei Befoldungen der Beamten, fo aud 
bei den vorgenannten Qlaffen immer noch vor ; in Amerika, befonders im 
Innern, wo die mächtige Production nicht durch eine hinreichende Geldmenge 
vertreten it, werden mwobl aud Zeitungsabonnements in Schweinefleife, 
Medi und andern Erzeugniffen entrichtet. Die dienende Claſſe, Gefinde, 
Huftatdeiter in den Gewerden, bezieden großentheild noch den Lohn haupt: 


Geldumlauf. 419 


fächlich durch unmittelbare Befriedigung ihres Bedarfs an Nahrung, Klei: 
dung ımd Wohnung, und nur den geringeren Theil in Gelb. 

Die Koften des Umlaufs der Güter, wozu außer dem Aufwand für den 
Handel und den Transport auch jener für die Herftelung und Unterhaltung 
des allgemeinen Tauſchmittels gehört, werden in den Preifen ber Güter er- 
fegt , find alfo von den Abnehmern zu tragen. Diefe Koften zu verringern, 
liegt ſonach im Intereſſe der Production und des Handels, da mwohlfeilere 
Dreife die Nachfrage, mithin den Abfas vermehren und günftig auf die Pros 
duction zuruͤckwirken. Anfchaffung und Verſendung non Metaligeld ift theuer, 
ins Ländern raſchen Auffhmungs vermehrt es fi) auch nicht in dent Ver⸗ 
haͤltniß mit den Gütern, bie e8 im Umlaufe vertreten fol; der Dandel 
ſucht daher mit möglichft wenig Geld möglichft viele Umfdge zu vermitteln 
und dazu bient ihm der Credit. Hierauf, auf dem Vertrauen, daß die. ein- 
gegangenen Verbinblichkeiten pünktlich, erfüllt werden, beruhen viele Einrich- 
tungen, weldye eine Menge von Umfägen mit verhältnigmäßig geringer Bei: 
hilfe von Geld möglich machen, e8 beruht darauf auch der Gebrauch eines 
wohlfeileren Geldes, das feinen andern Gebrauchswerth hat, als den ihm 
bas Vertrauen in feiner Eigenfchaft als Umlaufsmittel giebt, das Papiers 
geld. — So kommt in der Lehre von dem Umlaufe ber Güter das Geld in 
Berbindung mit dem Credit und die Lehre vom Gelde gewinnt bedeutend an 
Umfang und Inhalt. Haben wir nun die Stelle dieſer Lehre in dem Gebiete 
der Volkswirthſchaft angedeutet, fo erübrigt uns, noch auf die verfchiedenen 
Theile hinzumelfen, unter denen fie im Staatslexikon abgehandelt wird, 
ober mit denen fie In einer näheren Beziehung fteht. 

An die unten folgenden Auffäge, welche das MWefen und die Eigenfchaf- 
ten des Geldes im Allgemeinen, und in&befondere bes Metallgeldes behandeln 
und ſich über deſſen Umlaufs> fo wie über die Verhältniffe feiner Menge 
zu dem Bedarf, über Geldmangel und Ueberfluß äußern, fchließen ſich die Ar⸗ 
titel Aſfignaten“, „Papiergeld und Papierhandel”, fodann über „Muͤnz⸗ 
wem” an. Im Zufammenhange damit flehen „Banken, Cours, Actie, 
Agio, Agiotage, Arbitzage, Credit, MWechfel und Wechſelcours.“ — 

, Karl Mathy. 

Geld umlauf. Wenn aus irgend einer Urfache das Angebot 
von Geld hinter der Nachfrage bedeutend zuruͤckbleibt, fo entflehen die Ers - 
fcheinungen, welhe man GeldErifen, Geldklemmen, gedrüdten 
Zufland des Geldmarktes zu nennen pflest. Man muß unter 
ſcheiden zwifchen dem Capitalmartte, wo dauernde Anlagen von Ca⸗ 
pital meift für die Landwirthfchaft, Baulichkeiten oder ftehende Einrichtuns 
gen gefucht und geboten werden, und dem Geld markte, welcher Angebot 
und Nachfrage von Geldfummen auf Eurze Zeit, meift im Handel und für 
das umlaufende Gapital dee Induſtrie vermittelt. Auf dem Gapitalmarkte 
find die Schwankungen geringer und folgen nur allmälig den Veränderungen 
im Gelpwerthe; dort regelt fich dee mittlere Zirtefuß. Die Verhaͤltniſſe des 
Geldmarktes, welche ſich im Discont ausdrüden, jinb häufigeren und ſtaͤr⸗ 
teren Schwankungen ausgeſetzt. Die Anleihen der Regierungen und die 
Einlagen von Actingefellfchaften werben aus dem umlaufenden Capital ae: 

27 * 


420 Geldumlauf. 
nommen; ein Zufammentreffen größerer Operationen dieſer Art macht ſich 
baber zundchft auf dem Gelbmarkte fühlbar und berührt dem Disconto , wie 
auch umgekehrt die Aenderungen bes Disconto auf den Cours ber Staats: 
papiere und ber Actien Einfluß haben. Diefe Papiere find auch großentheils 
in ben Händen der handel= und gemwerbtreibenden Glaffen und müffen da⸗ 
bee, da fie bei günftigen Berhältniffen angefauft, bei ungünftigen auge 
vr werben, bie Veränderungen auf dem Geldmarfte mit empfinden, 

as Sinken ber Staatspapiere vermindert das Nationalvermögen nicht, 
indem babei Feine Güter zerilört werben oder verloren geben; es mindert 
fi nur das eingebildete Vermögen der Inhaber, und diefe Wirkung der 
Beldkeifen könnte noch am leichtellen verſchmerzt werden. Schäblicher iſt 
ber Umſtand, daß bie Induſtrie und dee Handel auf dem Gelbmarfte , bei 
ben Bankiers und den Bankanftalten bie Hilfe nicht mehr, oder nur gegen 
fehe hohe Bezahlung finden, welche fie zum ungeflörten "Sortbetrieb ihrer 
Geſchaͤfte bedürfen, Der geftörte ober erfchwerte Geldumlauf. ift daher 
vollswirthfhaftlich befonders darum nachtheilig, weil die Dienfte des allge- 
meinen Zaufchmitteld dem Mittelftande entzogen oder vertheuert werben, 
weldyer doch durch feine Steuern die Staatsſchulden verzinft und tilgt und 
bie Unternehmer der Anleihen bereichert, wie er durch feine Arbeit dem Geld: 
befiser bie Zinsrenten verbient. — Die Zeichen, womit fidy eine Gelbfrifis 
ankündigt, wollen wie, ba wir gern Beifpiele aus dem Leben greifen, bem 
Vortrage des franzoͤſiſchen Finanzminifters (damals Hr. Duchätel) zu dem 
Budget von 1838 entnehmen: „Auf allen großen Handelsplägen ift ber Preis 
bes Geldes (der Discont) geftiegen. In den vereinigten Staaten ftand der— 
felbe im Juli (1837) auf 2 Proc. für ben Monat; feit Detober hat er ſich 
bis auf 2 und fogar auf 3 Proc. gehoben. In England hat die Bank ihren 
Discont anfaͤnglich von 4 auf 44, dann von 44 auf 5 Proc. erhöht. Die 
englifche Regierung war gendthigt, zweimal den  Binsfuß von der ungeheuren 
Maffe ihrer Schatzkammerſcheine höher zu flellen, von 24 auf 3 und von 
3 auf 38 Proc. Die Amfterdamer Bank hat ihren Discont nad) und nady 
von 3 auf und von 4 auf 5 Proc. geiegt. Sie mußte fogar eine Zeit lang 
ihre Darleihen befchränfen, weil fie nicht über die in den Statuten gezogene 
Grenze von 5 Proc. hinausgehen durfte. Die Banken in Hamburg und 
Berlin haben ebenfalls bie Bedingungen ihrer Darleihen erfchwert; in Ham: 
burg fleht der Discont auf 5, in Berlin auf 54 Proc. Unter allen euros 
päifchen Banken war es die franzoſi ſche allein, — den Sag von 4 Proc., 
zu welchem fie feit vielen Jahren discontirt, feftgehalten und dem Handel die 
nämlichen Bedingungen und die nämlichen Erleichterungen gewährt hat. 
Allein ihre Reſerve, welche im Monat März 188 Mill. betrug, war im No⸗ 
vernber auf 89 Millionen geſchmolzen, ftieg aber bald wieder über 100 Mitt. 
Im Monat März hattedie Bank Wechfel im Betrage von 80 bis 90 Millio: 
onen discontirt; feit October zmifchen 140 und 150 Millionen. — Gleich⸗ 
zeitig war im legten Derbfte ein allgemeines Sinken aller europaͤiſchen 
Staatspapiere zu bemerken. Im October und November fielen die englis 
[hen 3 procent. von 91 bis unter 87, ‚die holländifchen 24 procent. von 
56% auf 50.” — Eine nod) weit ſtaͤrkere, befonders für Deutſchland 





32èFd 


Geldumlauf. 421 


empfindliche Geldrifis iſt feit dem Herbſte 1845 eingetreten und bis 
jest (Anfang 1847) noch nicht gewihen. Den erften Anftoß aaben wohl 
bie Anleihen von Regierungen und die Einzahlungen der Actiengefellfchaften 
für die Eifenbahnbauten ; allein verftärkt wurde die Krifis durch den Ruͤck⸗ 
ſchlag bee Furcht auf das Spiel und den Schwindel mit Actien, deren In⸗ 
baber nur ein Intereſſe an der Speculation mit dem Papier, nicht an der 
Ausführung der Unternehmungen hatten. Dazu kam die unergtebige Ente 
von 1846, der Ausfall an Kartoffeln durch die ſchon 1845 eingetretene Krank» 
beit, welche ungemöhnliche Zufuhren an Lebensmitteln, theils durch den 
geroöhnlichen Handel, theils durch Aufläufe der Regierungen und Ges 
meinden , felbft nach ſolchen Gegenden veranlaßte, die in gewöhnlichen Jah⸗ 
ren große Mengen auszuführen pflegen. Zu dem bierbucch veranlaßten Abs 

uß an baarem Gelde fügen die zunehmenden Auswanderungen nicht unbes 
traͤchtliche Summen. Ein Theil diefer Urfachen, wie ber erhöhte Geldbedarf 
für Eifenbahnen und unzulängliche Enten, wirken auch außer Deutfchland in 
andern europdifchen Ländern. England und Frankreich bauen Eifenbahnen 
und führen Lebensmittel in ungewöhnlicher Menge ein; aber der größere Ca⸗ 
pitalreichthum dieſer Länder und die Hilfe großer Creditanſtalten mildert bie 
Wirkung auf den Geldumlauf. Die englifchen 3 proc. flanden Ende 1846 
auf 93 bis 94, die hollaͤndiſchen 24 auf 598, alfo bedeutend höher als 1837 ; 
die franzöfifchen 3 proc. auf 832, 4 proc. auf 105. — Die franzöfifche 
Bank discontirte fortwaͤhrend zu 4 Proc., obgleich ihre Vorräthe in Parts auf 
72 Millionen gefchmolzen waren, wozu noch 25 Millionen bei den Filialans 
flalten in ben Provinzen kamen. Am Sahresfchluß floffen übrigens 51 
Millionen in ihre Saffen, fo daß fie ſchwerlich genäthigt fein wird, den 
Discont zu erhöhen oder ihre Discontgefchäfte auf Papiere von Fürzefter 
Berfallzeit zu befhränken. In Deutfchland dagegen waren z. B. die 3% 
proc. preußiſchen und baierifchen Papiere, welche ſich vor der Krifis beftändig 
über Pari hielten, auf 92 bis 94 geſunken, der Discont an den Handels⸗ 
plägen auf 5 bis 6 Proc. geftiegen. Hannover hat ein Anlehen zu 5 
Proc. abgefhloften und Würtemberg wird ſich vorausfichtlich zu einer aͤhn⸗ 
lichen Operation entfchließen müflen. Bon Maßregeln der Regierungen ' 
zur Erleichterung des Geldumlaufs wiffen wir wenig zu berichten und koͤnn⸗ 
ten auch von ſolchen nicht viel erwarten. Preußen ift gegen den Actienfchtwins 
del fcharf zu Kelde gezogen, ohme daß fich der Zuſtand des Geldmarktes ges 
beſſert hätte; e8 bat zu der Berliner Bank Private mit Geld beigesogen, 
allein die Leitung der Gefchäfte bleibt in den Händen der Beamten. Deſter⸗ 
reich laͤßt aus Staatsmitteln Actien rentirender Geſellſchaftsbahnen zu ihrem 
wahren Werthe auflaufen und bat dadurch der Börfe einige Erleichterung 
verſchafft. Allein, wie oben ſchon erwähnt, — die Geldllemme wuͤrde 
den Hilfsquellen ber Volkswirthfchaft wenig Abbruch thun , wenn fie blos 
den Papiers&peculanten und den Inhabern der Staatsfchuldfcheine Nach: 
theil brächte, die fie zum Theil verfchuldet haben. Sie ſchadet jedoch dem 
Mittelftande, dem die Banken und die übrigen Geldquellen meiftens nicht 
unmittelbar, fondern durch Dritte zugänglich find, bie ſich ihren Beiſtand 
ſchwer bezahlen laſſen; dem Mittelſtande, der, wo Greditanftalten nicht vor⸗ 


422 Genf. 


handen oder ſchlecht eingerichtet find, — dem Wucher preisgegeben ift. Hier 
iſt in Deutfchland noch viel zu thun, nicht nur fire Verbefferung des Credit 
wefen® (vergl. ben Artikel Banken), fondern durch Förderung der Induftrie 
und des Handel. Mir fehen Deutfchland gegenwärtig Früchte einführen, 
Menſchen- und Gapitalfräfte ausführen, feine Induſtrie auf dem heimi: 
ſchen Markte von der britiſchen Uebermacht bedroht, auf fremden Märkten 
benachtheiligt, nirgends beſchuͤzt. ine ungünftigere Lage für eine große, 
fähige, gebildete Nation giebt e8 nicht; eine längere Dauer derfelben müßte 
zum immer rafheren Sinken des Wohlſtandes führen. Wohin foll Deutſch⸗ 
land noch gebracht werben unter ber Vormundſchaft feiner Beamtenftaaten? 
| Karl Matby- 
Genf. Mie fo oft in der Politik ein umentfchiedenes Schwanken 
mit dem falfchen Namen der Mäfigung und Klugheit beehrt wird, falls es 
nur eine Zeitlang gelingen mag, einen kuͤmmerlichen Statusquo muͤhſam 
zuſammenzuhalten, fo hatte fich auch bie im Fahr 1846 geflürzte Genfer Re: 
gierung vor allen anderen ſchweizeriſchen Gantonalregierungen den Ruf ber 
taatsweisheit gewonnen. Hatte fie doch aus der Periode der Reftaura- 
tion bie eilfertig befchloffene und angenommene Berfaffung vom 24. Auguſt 
1814 mit ihren ariftofratifchen Elementen, mit ihrer ungefheuten Bevor: 
zugung ber reicheren vor ben ärmeren Glaffen und mit ihrer Verwirrung ber 
Bewalten,, felbit in den Stücmen nach ben ulitagen von 1830 vermittelft 
einiger Supplementargefege zu erhalten gemußt- Aber bie f. g- meife Mäßi- 
gung hat die Probe fpäterer Ereigniffe nicht beftanden ; und ift jest ber von 
ben Doctrinaͤrs als ſchweizeriſcher Muſterſtaat geruͤhmte Canton einer ſchwer⸗ 
lich ſchon voͤllig abgelaufenen Reihe von Unruhen und Wirren preisgegeben, 
ſo liegt der Grund in einer Politik, die den Beduͤrfniſſen der Zeit nicht in 
vollem Maße Rechnung trug und durch ihr Flickwerk, durch ihre halben aus⸗ 
weichenden Conceſſionen das Volk mit ſeinen unabweisbaren Forderungen 
mehr zu verſpotten ſchien, als zu befriedigen verſtand. Wohl geſchah Man⸗ 
ches von der Genfer Regierung, was der Ehre werth iſt. Dahin gehoͤren 
zumal die 1838 getroffenen energiſchen Maßregeln, als die Ausweiſung Louis 
Bonaparte's aus der Schweiz verhandelt und von Frankreich aus die 
Unabhaͤngigkeit der Eidgenoſſenſchaft bedroht wurde. Allein die wachſende 
Unzufriedenheit im Canton ſelbſt konnte weder durch eine oft nur ſcheinbar 
liberale Politik in eidgenoͤſſiſchen Angelegenheiten dauernd beſeitigt werden, 
noch auch durch eine gewiſſe Nachgiebigkeit in Einzelheiten, nicht einmal 
durch eine ſtufenweiſe Herabſetzung des Cenſus der Wahlfaͤhigkeit und Waͤhl⸗ 
barkeit bis auf eine geringe Steuer. In der Errichtung eines radicalen 
Vereins vom 83. Maͤtz 1841 fand endlich die Oppoſition das Mittel der 
Einigung und der Organifation ihrer Beftrebungen. Die Veranlaffung zur 
Gründung diefer Affociation war die Vertagung eines Gefeges tiber die Mu: 
nicipalorganifation der Stadt Genf; denn lange ſchon war e8 ein Grund zu 
lebhaften Beſchwerden, daß die fädtifche Gemeindevermwaltung und die Can- 
tonalgemwalt nicht gehörig gefchieden feien. Das ſchwankende Benehmen der 
‚Regierung in der Aargauifchen Klofterfrage veranlaßte am 18. October 
1841 eine Volksverfammlung, wodurch der große Rath und der Stantsrath 


— 


—XX 


Gef.‘ 428 


zu einem entfchiebneren Benshmen in diefer Angelegenheit beftimmt wurbe. 
Bald darauf (8.Nov.) wurde dam Staatsrath eine Petition der Reform⸗ 
freunde eingereicht, worin die wefentlichen Punkte für eine Geſammtreforni 
dev Verfaſſung entwidelt waren. Der Staatsrath zögerte und ging auf den 
Hauptpunkt, ein durchaus verändertes Wahlfpflem, nicht-ein. Die mili⸗ 
. tärifchen Vorkehrungen, welche derfelbe für die Verſammlung ber Repräfens 
tanten am 22. Novbr. traf, erbitterten das Volt. — Die nicht fehr zahlreich 
eintreffenden Milizen wurden entweder zerflreut oder gingen zum Volke über 5 
bem großen Rathe (conseil representatif) wurde von den Leitern der Beides 
gung die Forderung eines frei zu ernennenden Verfaffungsrathe für Ausarbeis 
tung eines den Bürgern zur Annahme ober Verwerfung vorzulegenden Cons 
flitutionsentwurfs geſtellt, und nach lebhaften Verhandlungen wurbe biefes 
ne von bee Mehrheit der Nepräfentanten noch an demfelben Tage ge« 
nehmigt. nt 

Die wichtigften Gründe der Unzufriebenheit mit der bisherigen Vers 
faffung find in einer vom patriotifchen Verein ausgegangenen Schrift, bie 
übrigens den guten Eigenfchaften und dem ehrenhaften Benehmen der Res 
gierung fett 1814 volle Gerechtigkeit widerfahren läßt, treffend auseinander 
gefegt. Darin heißt es unter Anderen: „Die Verfaffung von 1814 ftellte 


einen Repräfentantenrath von 250 Gliedern auf; diefer war der Souverän; - 


er war eine Nachbildung ber ariftofratifchen „Zweihundert”. Won dem con- 
seil general (dem wahren „Souverän”) war gar Beine Rebe. Obgleich ber 
Mepräfentantenrath der Souverän fein follte, fo mar er doch eine fehr ohn⸗ 
mächtige Behörde, aͤhnlich den Großräthen der übrigen Schweiz während 
ber Reftauration; er war eine Wahlbehörde, indem er bie Mitglieder bes 
Staatsraths und der höheren Verwaltungs und Richterftellen ernannte; erſt 
almälig rang er fich zu einiger Bedeutung heraus. In dem Staatsrath 
von 28 Gliedern, einer Copie der alten „Fuͤnfundzwanzig“, war die ganze 
Staatsgewalt concentrirt, in feinen Händen lag, faſt unumfchräntt, bie 
ganze Verwaltung ; feine Glieder waren lebenslaͤnglichz er hatte Sig 
und Stimme im Repräfentantenrath und die Initiative der Geſetzgebung in 
ihrem ganzen Umfange Fam nur ihm allein zu. Selbſt die richterliche Ge⸗ 
walt hing vielfady von ihm ab; denn die Attribute der vollziehenden und rich⸗ 
terlichen Gewalt waren keineswegs ſcharf getrennt, fondern durcheinander ges 
mifht, wie in allen VBerfaffungen der Reftaurationsepode. 
Zu diefen großen Unvolllommenbeiten, welche dem neum Grundgefeg auf 
nichts weniger Anfprucd geben als auf das Prädicat einer freien Ver⸗ 
faffung, kam noch, daß es in fich felbft unzufammemhängend und voller. 
Miderfprühe war. Aber das größte Gebrechen Ing in dem angenommenen 
Wahlſyſtem. Die Verfafiung gab fich für eine Nepräfentativverfaflung 
aus; durch das Wahlſyſtem wurde diefer Name aber zu einer offenbaren 
Taͤuſchung. Wir wollen nicht einmal den Eenfus von 63 Genfer Gulden jaͤhr⸗ 
licher Steuer für die Stimmfähigkeit, wodurd viele Bürger vom Wahlrecht 
ausgefchloffen wurden, hervorheben; aber die Wahlmafchine ſelbſt war eine 
Verhöhnung einer Repräfentativrepublit. Won den 250 Bliebern des Re⸗ 
praͤſentantenraths fielen jährlih nur 30 in die Erneuerungswahl. Bet 


424 Genf. 


dieſer faſt auf Null reducirten Einwirkung der Wähler auf ihre Repraͤſen⸗ 
tanten mußte ſchon alles Intereffe an den Wahlen erloͤſchen. Nun war aber 
die Wahlart fo zuſammengeſetzt, kuͤnſtilch und verwidelt, daß bei dem er⸗ 
fin Wahlact kaum bie Hälfte der 30 Wahlen heraustommen fonnte; alle 
fehlenden wurden dann inbirect durch ein befondered Wahlcollegium ges 
macht, deſſen Dauptbeitandeheil der Repräfentantenrath felbft und ber 
Staatsrath waren. Diefe indirecten Wahlen waren mithin nichts Anderes 
als die verworfene Selbſtergaͤnzung der Stellvertreter, und für dieſen 
Peg blieb immer die große Mehrheit der 30 Erneuerungswahlen übrig. Von 
1819 (ind.) bis 1850 (incl.) fanden jähbelih im Durchſchnitt nur 
7 dbirecte Wahlen flatt; ein einziges Mat 15, öfter 5, mehrmals nur 
2 undim 3. 1824 gar feine, weil das Wahlintereffe gänzlich erftorben 
war *). Bon ben 30 Erneuerungswahlen jährlich wurden alfo durchſchnitt⸗ 
lich 28 in dem angegebenen Zeitraum zu Selbftergänzungen,, wodurch das 
alte Megentenperfonale ſich veremigtes; aber auch die 7 directen fielen ihm une 
mittelbar durch feinen Einfluß in die Hände. Das ganze Wahlſyſtem war 
alfo daranf berechnet, daß der Reptaͤſentantenrath und Staatsrath nmicht 
das Volk repräfentieten,, fondern denjenigen Theil, der burch die Umſtaͤnde 
in den Befis der Gewalt gefommen war und ſich fortdauernd darin erhielt. 
Die, melde fih 1814 zu Berfaffungsmachern aufgeworfen hatten, rafften 
in-der Eile aus den Adminiſtrationen und Gorporationen, die unter der 
feanzöfifchen Herrſchaft fortgebauert hatten, ferner aus ber öfonomifchen Ges 
ſellſchaft, aus der Akademie, den Rectoren und verfchiedenen hohen Zirkeln 
ein legislatives und abminiftratives Perfonal zufammen, und diefes Perfonal 
fchob ſich durch das Wahlſyſtem immer wieder felbft an’s Ruder. Es war 
feine eigentliche Ariftofratie, denn es war feine privilegirte Kafte mit eigen= 
thümlihen Sonderinterefien, welche beide Eigenfhaften zur Ariftokratie ge: 
hören: es war, wie die Genfer fagen, eine „coterie gouvernementale‘“, 
d. b. ein Sapacitätenregiment, das in den angeführten Verfaffungsmängeln 
die Kunft erfunden hatte, fi; die Regentenfige zu affecuriren, zujam: 
mengefest aus ehemaligen Ariſtokraten, reichen Gutsbefigern und Bankiers, 
doctrinären Politilern. Zwar machte der Repräfentantenrat) — natürlic) 
als Souveraͤn aus eigener Machtvollkommenheit, ohne des Volkes Mitwir: 
tung — allmälig Beine Verbeſſerungen in diefer illiberalen Verfaffung; der, 
Genfus ſchwand nah 3 bis 4 Neductionen endlih auf 7 Genfer Gulden; 
die Amtsdauer der Staatsraͤthe warb auf 8 Fahre gefegt und ihre Zahl um 4 
vermindert; das MWahlcollegium fupprimirt, fo daß die 30 jährlichen Er= 
neuerungsmahlen direct wurden (die beiden legten Aenderungen im J. 1831); 
aber bei diefen Reformen in homdopathifhen Dofen blieb ee. Die Grund: 
gebrechen dauerten fort: die Uebermacht des Staatsraths dem Repräfentan- 
tencath gegenüber, die lange Dauer der Amtsgewalten und das illuforifche 
Wahlſyſtem von nur 30 jährlichen Erneuerungsmwahlen” **). 


*) Rigaud, Constitution de la republique de Genève. 2. Ausg. 
++) &% Snell, Handbuch des fehmweizerifchen Staatsrechts. Band II. 
Seite 790 36. (Zürich 1845). 


A e 


Senf. | 425 


So bot allerdings bie Genfer Verfaſſung von 1814 ein beſonders merk⸗ 
würbiges Beifpiel dar, wie man nicht blos unter der Form ber conftitutios 
nellen Monarchie, fondern auch der repräfentativen Demokraͤtie dem getäufch« 
ten Volke den Namen ftatt der Sache zu geben vermag. Allein es ifl auch 
erklaͤrlich genug, daß fich diefe Conſtitution vor der Kritik des gefunden Volks⸗ 
verftandes nicht auf die Dauer halten tonnte. Die aus der Bewegung vom 
1841 hervorgegangene, durch einen Verfaffungsrath entworfene und am 7. 
Sumt 1842 vom Volke angenommene Verfaffung huldigte in der Hauptfache 
den in ben Grundgeſetzen der anderen regenerirten Cantone ſchon zur Geltung 
gekommenen Principien. Die gefeggebende und oberauffehende Gewalt 
wurde einem großen Rathe übertragen, der von allen wenigſtens ein und 
zwanzig jährigen Buͤrgern aus allen Staatsbürgern, die wenigſtens das 25. 
Fahr vollendet hatten, ohne das Erforderniß irgend eines Cenſus, im Vers‘ 
bältniß von einem Abgeordneten auf je 333 Bewohner frei gewählt wurde. 
An der Spige der vollziehenden Gewalt fland ein von und aus dem Großrathe 
gewählter Staatsrath von 13 Mitglievern. Die richterliche Gewalt wurde 
von der gefehgebenden und vollziehenden getrennt, und die Deffentlichkeit der 
gerichtlichen Verhandlungen als Regel ausgeſprochen. Die Stadt Genf ew 
hielt einen Gemeinderath von 81 Deitgliedern und einen von diefem gewaͤhl⸗ 
tn Berwaltungsrath von hoͤchſtens 11 Mitgliedern. Feder Vorfchlag einer 
Verfaſſungsaͤnderung follte der Abftimmung aller Staatsbürger unterliegen. 

Dieſelbe Verfaſſung gab in ihren Zufagbeflimmungen (Art. 120) dem 
Staatsrathe auf, binnen Jahresfrift dem großen Rathe einen Befegesentwurf 
über Einführung der Jury in Criminalſachen vorzulegen. Wie in allen Laͤn⸗ 
dern, wo diefes wichtige JInſtitut ſelbſt nur für kuͤrzere Zeit beftand, fo hatte 
man es auch in Genf während deffen Einverleibung in das franzöfifche Kalſer⸗ 
reich ſchaͤzen lernen. So groß der Haß ber Genfer gegen die ihre Freibeit 
und Unabhängigkeit vernichtende Fremdherrſchaft war, und ob man gleich nur 
diefem Haſſe und ber Freude uber die endliche Derftellung der Selbſtſt aͤn⸗ 
digkeit des Kleinen Freiſtaats die Abereilte Annahme der monftröfen Verfafs 
fung von 1814 zusufchreiben hat, fo erroachte doch fehr bald auch wieder 
die Sehnſucht nach der Wiedereinführung der Schwurgerichte. Während 
dreißig Fahren wurden dafür in Genf Anftrengungen gemadht*), aber fo 
lange vergeblich, als die Gewalt in ber Hand einer doctrindren Artftokratie ober 
Goterie lag. Auch unter der Derrfchaft des Grundgefeges vom 7. Juni 
1842 mar diefe Coterie mit ihem eingewurzelten Vorurtheilen noch mächtig 
genug, um bie Annahme bes Geſetzes über Einführung der Jury wenigſtens 
eine Zeitlang zu verzögern. Diefe Annahme durch den großen Rath erfolgte 
erft am 12. Januar 1844 mit 85 gegen 56 Stimmen. Nach den weſentlichen 
Beſtimmungen diefes Geſetzes **) werden alle flimmfähigen Bürger des 
Cantons, ober, was bamit gleichbedeutend ift, alle Wähler des großen Mathe, 


*) Ganz ähnlich war es in den früher mit Frankreich vereinigten Jurabezir⸗ 
u <n den bier nicht bervorgehobenen Beſti ſchließt ſich die Genf 
en rgehobenen mmungen e Genfer 
Geſetgebung wefentlich ber —2 an. 


Genf. 


hen Reihenfolge ihrer Gefchlechtenamen in drei gleiche Ab— 

:£ wur Je BOOO—4000 geſchieden. Eine jährlid; von den Groß 

»dern jedes der 6 MWahlkreife nach Verhaͤltniß ber Bevölkerung ge: 

Sroßrathscommiffion von 25 Mitgliedern bezeichnet jaͤhrlich aus der 

»olge ber brei AÜbtheilungen aus einer berfelben 300 Bürger, aus wel-⸗ 

Präfident des Criminalgerichts durch das Loos öffentlich BO Namen 

e fiir bie Dauer des Jahre die Gefchwornenlifte bilden. Bei jebem 

* haben Staatsanwalt und Angeſchuldigter das Recht, neun 

tur ver Lifte zu ſtreichen, und immer ſind nur 12 Bürger zu ben Ver⸗ 

zen als Schwurrichter berufen. Die Jury entſcheidet auch in Genf, 

‚entlicher und mündlicher Verhandlung, nur über den Thatbeftand bes 

hens, alfo auch über die Zurechnungsfähigkeit des Angeklagten ; wäh: 

Falle ber Berurtheilung die Anwendung des Strafgefeges und bie Bes 

ig des Strafmaßes dem gewöhnlichen Richter anheimfält. Er 

ber ber tbeſtand eines Verbrechens nach den ſtets nur abftracten 

iM ve» Strafaeſetzes als vorhanden, fo kann gleichwohl die Jury, 

ü ia! efonderen Umftände,, die Straflofigkeit des Falles 

jpr- durch ein feeifprechendes Urtheil jeder in der noth⸗ 

pet der Strafgeſetze liegenden Ungerechtigkeit vorbeu⸗ 

r hop kurzen Beit feines Beftandes bat fich das Schwur⸗ 

Pr] igfte in Genf bewährt, alfo auf dem ſcheinbar un: 

emem Eleinen unb von Parteien vielfach zerriffenen 

u et fand das ruhmwuͤrdige Beifpiel diejes Freiſtaats in 

» zunsvnen der Schweiz baldige Nachahmung : ſchon ift die Jury auch 

ım wsaabtlande eingeführt und für den Canton Bern beichloffen, während 

ihre Einführung für den Canton Zürich vorbereitet wird. Bald wird ſich 

alfo diefes heilfame Inſtitut im größeren Theile der Schweiz eingebürgert ha: 

ben; und nur im faumfeligen Deutfchland auf der rechten Seite des Rheins 

fheint man Willens zu fein, einer foftipieligen und langfamen, einer grau: 

famen und ungeredhten einfeitigen Beamtenjuftiz noch Zaufende von Opfern 

preiszugeben, ehe man ſich endlich für das von Theorie und Prari gleich: 

mäßig empfohlene Schwurgericht entfcheiden will oder entfcheiden muß. | 
Der Wunſch für Einführung der Jury in Genf war fo lebhaft und uns 

abmweisbar geworben, daß die doctrinären Goterien feine Erfüllung nicht zu ver: 

hindern vermodhten. Zum weiteren Bemweife aber, daß mit neuen politifchen 

Formen nody nicht fofort ein neuer Geift gewonnen wird, gelang ed den ge: 

ftürzten Machthabern oder ihren Meinungsgenoffen, felbft unter der Herr⸗ 

[haft der Verfaſſung von 1842, die Wünfche des Volks in anderer Bezie⸗ 

hung zu vereiteln und die Gewalt wieder in die Hände zu befommen. Ein 

Grund daflır lag indeffen auch in den Beflimmungen der Gonftitution jelbft. 

Zwar hatte diefe allgemeines Wahlrecht und eine fehr ausgedehnte Wähl: 


*) Es war ein Hauptgrund, auf den fich in Genf die Gegner der Jury 
ftüsten,, daß der Canton zu Blein fei, tum mehrere Schwurgerichte in der Art 
wie etwa in Kranfreich einzuführen, wo bei Unruhen im einen Landestheil einem 
davon unberührten anderen Schwurgerichte die Entfeheidung übertragen wird. 


Genf. 427 


barkeit eingeführt, allein ein directer Einfluß auf bie politiichen Angelegen⸗ 
heiten war der gefammten activen Staatsbürgerfchaft oder dem Conseil ge- 
neral dody nur dann eingeräumt, wenn es fich um Aenderungen der Vers 
foffung felbft handelte. Dagegen fehlte es dem fouveränen Volke an ver: 
faffungsmäßigen Mitteln, wie ſolche in einigen anderen Cantonen vorgefehen 
find, entweder den Volksgeiſt mit dem in den Staatsbehörden vorherrfchenben 
Seife fort und fort in Einklang zu feßen, oder doch der Vollſtreckung fols 
cher Anordnungen, die mit der Volksſtimmung im Widerſpruch fliehen, auf 
geſetzlich e Weife vorzubeugen. Um fo eher erklärt es fi), daß nicht lange 
nad) der Annahme der Verfaffung von 1842 die Marimen des altın Re 
giments, mit feiner vornehm boctrindren Mißachtung der Anfichten ber 
Mehrheit des Volks, wieder das Uebergewicht erlangen Eonnten. In wie ho⸗ 
hem Stade dies der Fall war, zeigte fi) 1844 bei der Abflimmung über 
das Jurygeſetz, da von fämmtlihen 13 Mitgliedern des Staatsraths, ober 
der Regierung, nur ein einziges für die fo populär gewordene Einführung 
bes Schwurgericht® votirte*). Aber ſchon vorher hatten die Eonfervativen im 
Sroßrathe und im Staatsrathe, die Radicalen dagegen im flädtifchen Ge⸗ 
meinderathe das Uebergewicht erlangt. Es Fam daher zu neuen Reibungen 
und am 13. Febr. 1848, als es ſich bei den Repräfentanten um die dritte Be⸗ 
rathung eines ber vadicalen Yartei verhaßten Geſetzes wegen der Verwaltung 
bes Staatsraths handelte, zu einem bewaffneten Auffiande. Allein die zum 
Schug der Behörden aufgebotenen Milizen fanden fich zahlreicher als im 
Juni 1842 ein und die Infurgenten mußten die Waffen niederlegen,, nach⸗ 
dem die Regierung am 14. Gebr. eine allgemeine Amneftie erlafjen batte. 
Diefer Sieg der Eonfervativen mochte ihre Rüdfichtslofigkeit auf den Stand 
der Öffentlichen Meinung noch vergrößern und zu der in der Sonderbundss 
frage (S. Freiburg) befolgten haltlofen Politif beitragen, wodurch im 
October 1846 durch einen neuen Aufftand der Sturz der Regierung und 
eine abermalige Zotalrevifion ber Verfaffung herbeigeführt wurde. 

Auf der Tagſatzung von 1846 hatte Zürich beantragt, daß das Sepa⸗ 
ratbündniß der Batholifchen Stände für unverträglic mit den Beflimmuns 
gen des Bundesvertrags und hiernady für aufgelöft zu erklaͤren fei; daß bie 
betheiligten Eantone für Beachtung dieſes Beſchluſſes verantwortlich zu ma⸗ 
hen feien und daß fich die Zagfagung für den Fall, daß ihm zumwibergehandelt 
werde, bie weiter erforderlichen Maßregeln vorbehalte. Diefem Beſchluß, der 
103 Stimmen auf fi) vereinigte, war Genf nicht beigetreten. Der Ge⸗ 
fandte dieſes Cantons erklärte, er twerbe feinem Stande referiren und behielt 
fih das Protokoll offen. Hiernach ftellte nad) dem Schluffe ber Zagfagung 
der Genfer Staatsrath dem am 21. Sept. 1846 verfammelten Großrathe 
den Antrag, dem Votum von Zurich nicht beizuteeten, fondern auf bie Ein: 
Berufung eimer außerordentlihen Tagſatzung hinzuwirken, damit diejenigen 
Cantone, die auf ihrem Gebiet einen feindlichen Einfall in einen anderen Can» 
ton entweder felbft organificen oder durch Andere organificen laffen, dafür 


*) Kür das Schwurgericht flimmten dagegen fowohl alle jüngft abgetrete: 
nen Staatsräthe als auch allg Berichtepräfidenten. 


verantwortlich erklärt wuͤrben. Auch follten zeitweiſe dem Vororte eidgendf- 
ſiſche Repraͤſentanten beigegeben werben; was ein förmlicdhes und in hohem 
Grabe verlesendes Miftrauensvotum gegen Bern war, an welches mit An⸗ 
fang des 3. 1847 bie vorörtliche Leitung überging. Erft nad Ertheilung 
diefer f. g. Garantien follte der Sonderbumd für aufgelöft erklärt werben. 
Diefer Antrag des Staatdrathe wurde zwar vom großen Rathe nur in etwas 
modificieter Form angenommen; allein es follte doch bei dem vorläufigen 
Nichtbeitritte zu dem Züricher Votum bleiben, was mit einer Vertagung der 
Sonderbundsfrage auf unbeflimmte Zeit gleichbedeutend war. Die geſammte 
zahlreiche Oppofition gegen die ſtaatsraͤthliche Potitif verließ auf diefen Bes 
fhluß bin in Maſſe den Sitzungsſaal. Noch am gleichen Tage (3. Oct.) 
wurde eine Berfammlung von mehreren hundert Bürgern veranftaltet und 
eine größere von einigen Tauſenden auf ben 5. Detober vorbereitet. Die 
Lehtere erklaͤtte einmuͤthig den Großrathabeſchluß für conftitutionswidrig und 
ungültig und ernannte eine f. 9. conſtitutionelle Commiſſion von 25 Mit: 
gliedern zur Abfaffung der Proteftation und zur Mittheilung derfelben an 
ben Borort und alle ſchweizer Regierungen. Inzwiſchen berief die Regie: 
rung Truppen unb erließ am 6. Det. eine wirkungslos gebliebene Proclama⸗ 
ton. An demfelben Tage bildete fidy im Quartier St. Gervais am linfen 
Rhoneufer eine Volksverſammlung. Sie befchloß zwar, keine Offenfive gegen 
bie Meglerung ergreifen zu wollen. Allein auf die Nachricht, daß bie Werhaf: 
tung einiger Häupter der Volkspartei beabfichtigt fei, bemädhtigten fich bie 
Unzufriebenen am Abend der Vorſtadt St. Gervais und verbarricadirten fie 
während der Nacht. Mach vergeblichen Unterhandlungen am folgenden Tage 
ließ ber Staatsrath am Nachmittage bie Vorftadt befchiehen, allein die tapfere 
Gegenwehr der Infurgenten wies überall die Angriffe der Milizen ber Re— 
gierung mit ſtarkem Verluſte für diefe zuruͤck. Gleichwohl gedachte der 
Staatsrath am 8. Detbr. die Befchießung fortfegen zu laffen. Allein eine an 
demfelben Zage im Haupttheile der Stadt gebildete Volksverfammlung ließ 
jest durch ihre Abgeordneten den Staatsrath zur Abdanfung auffordern. 
Bon allen Seiten verlaffen, gab er nach und legte die Gewalt in die Hände 
des Gemeinderaths. Eine Vollsverfammlung am 9. Dct. ernannte eine pro- 
viforifche Regierung von 9 Mitgliedern unter dem Vorfige von James 
Fazy, dem Hauptleiter dev Bewegung *), erflärte den bisherigen Großrath 
für aufgelöft und in der Sonderbundsfrage den Beitritt Genfs zum Antrage 
von Zurich. Zugleich wurde aufden 25. Oct. die Berufung eines neu ge: 
wählten Großraths von 90 Mitgliedern, der Hälfte des früheren, befchloffen, 
der zugleidy als Verfaffungsrath einen neuen Gonftitutionsentwurf aus: 
arbeiten follte. | 

Die gelungene Inſurrection in Genf gab für den Halbeanton Bafelftadt 
den Anftoß zu einer bis jegt friedlich verlaufenen Verfaffungsrevifion und 
wedte zugleidy in Freiburg (f. d.) die Hoffnungen der Sefuitengegner. Ein 
Theil diefer Legteren ließ fich jedoch durch ein verfaffungswidriges Verbot der 


*) 3. Fazy ift auch Werfaffer eines „Precis de l’histoire de la repu- 
blique de Geneve jusqu’&ä nos jours. 2 vol. 1838 — 1840, 


\ Genf. 439 


Voelksverſammlungen von Geite bes freiburgifchen Staatsraths zu einem 
übereilten revolutiondren Verſuche fortreißen, woflir der Zeitpunkt mit Ruͤck⸗ 
fiht auf die auswärtigen politifhen Verhältniffe (fichbe Freiburg) 
ebenfo übel geroählt war, als er mit ungulängliden, fchlecht combinieten 
Mitteln unternommen und ohne Nachdruck ausgeführt wurde. Mit haupt: 
ſaͤchlicher Hilfe der ſchon lange fanatifirten Milizen des großen deutſchen 
Bezirks, gelang es der Regierung ohne Mühe, bie in der Nacht vom 6.—7. 
Sanuar 1847 gegen Freiburg aufgebrochenen Murtener, einige Hunderte an 
der Zahl, wieder zuruͤckzuſcheuchen und damit zugleich die in den Eatholifcyen 
Bezirken Stäfis und Bülle Herrfchende Gaͤhrung zu unterbrüden. So wurde 
der Sefuitenregierung in Sreiburg durch die Unklugheit ihrer Gegner ein Leicht 
errungener Triumph verfchafft, der indeß trog dem augenblidlichen Eindrucke, 
ben er hervorbrachte, im der an politifchen Wechfeln fo reichen Schweiz nicht 
viel zu bebeuten hat. 

Inzwiſchen arbeitete man in Genf an bem neuen Verfaſſungswerke, 
ohne daß man ſich durch die Zufammenziehung eines kleinen franzöfifchen 
Zruppencorps an der Grenze, was von Seite Genfs und Waodts einige Ge 
genmaftegeln zur Folge hatte, im Seringften flören ließ. Im Laufe diefer 
Verhandlungen wurbe von bem ber Mittelpartei des tiers parti angehörens 
ben Abgeordneten Senn der Vorſchlag zu einem in dee Bildungegefchichte 
der Verfaffungen ganz neuen Wahlfyfiem, zu einer f. g. Repräfentation 
der Meinungen gemacht. Der eigentliche Urheber deſſelben iſt jedoch 
der bekannte Kowrierift V. Confiderant (f. Kourier), der kurz vor und 
nad) der Genfer Revolution in Lauſanne und Genf focialiftifche Vorlefungen 
gehalten und diefe Revolution als die erſte foctaliftifche In Europa begrüßt 
hatte; womit er jedoch keineswegs ben thatſaͤchlich vorliegenden Charakter ber 
Bewegung bezeichnete, ſondern vieleicht nur den Wunſch ausfprechen wollte, 
daß fie in dieſem Sinne möge benugt und ausgebeutet werden. Um fich an 
dem Ereigniffe noch weiter zu betheiligen, richtete Confiderant ein 
Schreiben an bie Mitglieder des Genferfchen Verfaſſungsraths, worin er 
unter Hinweifung auf einige fh einbare Mängel des bisherigen Wahlmobus 
ein neues Wahlſyſtem aufflellte, das auf ber angeblichen Berechtigung ber 
verfchiedenen Meinungen zur Repräfentation im Staate beruht. Hiernach 
follten im Canton Genf während einer gewiſſen Zeit bie Wähler das Recht 
haben, Sectionen zu bilden und Wahlprogramme ober Glaubensbekenntnifſe 
aufzufegen, von denen jedes, fobald es zehn Unterfchriften trage, in ein Regi⸗ 
fler des Wahlbureaus einzutragen ſei. Nach abgelaufener Frift feien diefo 
zu numericenden Glaubensbekenntniſſe nebft den Unterfchriften zu veröffents 
lihen. Jeder Bürger folle dann in den Gemeindeverfammlungen die Zahl 
des Programms, dem er beitrete, auf einem Zettel bemerken und da man nach 
flattgefundener Zählung im ganzen Canton wiffe, wie viel Bürger jeder Mei⸗ 
nung beipflichten , fo folen enblid die Meinumgsgenofien nach dem ſchon 
vorher feflgefegten Verhältnifie, 3. B. auf 100 Wähler einen Deputirten, 
ihre Repräfentanten ernennen. Allein bei aller Achtung, in der Confibdes 
rant flieht, hat fein Vorfchlag zur Bildung von Meinungs: Wahltreifen in 
Senf keinen Anklang gefunden. Mit Recht wurde bemerkt, daß hiernach 


\ 


Sermanifched, deutſches Necht. 


fibietenden Programmenmader den ſtaͤtkſten Zulauf ba= 
en. Weberhaupt kommt es in einem Freiftaate nicht darauf am, 
Meinung, fondern baßdie wirklich hHerrfhende Meinung ver: 
„de. In lebrigen iſt nicht blos durch ein ausgebehntes Wahl: 
idern tſaͤchlich auch durch bie Gliederung und bie Competenz⸗ 
hei tebehörben bafür zu forgen, daß Alles durchgeſetzt wer: 
waı - ae nicht jeder fichtigen Bolkslaune, wohl aber dem 
‚und wenden Volkswillen entfpricht, und daß fo wenig als 
om. werben kann, mas felbft der nur momentan vorherr⸗ 
— ung wider ſpricht. 

* Januars 1847 war das neue Genfer Verfaſſungswerk 
‚ und Fonnte in feinem Werthe oder Unwerthe noch nicht 
Gewiß geben die Häupter der Volkspartei von einem rich: 
imojage aus, wenn fie dem Conseil gendral einen mehr unmittels 
itifchen Einfluß einräumen wollen; eine andere Frage ift es aber, ob 
vorgefhlagenen Beflimmungen, namentlich durch die Ernennung 
‚Srath& vermittelft unmittelbarer Volkswahl, der beabfichtigte Zweck 
‚rnden Beruhigung des Cantons erreicht wird. Schon jegt ift 
siche Oppofition gegen ben Berfaffungsentwurf in die Schranken 
u wohl möglich, daß für Genf newe Wirren in Ausficht ſtehen. 
* auch diefen Eleinen Freiftant noch beimfuchen mögen , fo tft 
u Id derfelben in jener Politif der Reftauration von 1814 zu 
the zureichenden Reformen verhindert und das Volk mit nur ſchein⸗ 

unse wuncehfionen abſichtlich ober unabfichtlich getäufcht bat- 

W. Schulz. 

Germanifches, deutſches Recht, und zwar insbefon: 
dere deutfches Privatreht*). Man verfteht darunter in der An: 
wendung auf deutfche Privatrechtsverhäftniffe den Inbegriff der aus den 
die Rechtsentwidelung in Deutfchland begründenden Verhältniffen entftan: 
denen Rechtseinrichtungen und Rechtsfäge und der auf die Anmendung 
des Rechts in Deutfchland ſich beziehenden,, in Ermangelung befonderer in 
einem Falle anwendbarer Vorfchriften und Gewohnheiten geltenden Grund: 
füge. Der Ausdrud deutfhes Recht fteht zu dem: germanifches 
Recht in dem Verhältniffe, daB das letzte das Recht aller Völker bezeichnet, 
welche Europa bewohnen und als Abkömmlinge des großen germanifchen 
Stamms nad) der Völkerwanderung, die vorher zum großen Theile von den 
Römern bewohnten oder von anderen Völkerfchaften, z. B. den Galliern in 
Frankreich eingenommenen Staaten eroberten und dort neue Staaten grün: 
deten. Es iſt leicht erweislich, daß durch das ganze Mittelalter bin- 
durch in Frankreich, in welchem die Salier wohnten, in den heutigen gleiche 
falls von den Saliern bewohnten Niederlanden, in den von den Weftgothen 





*) Der Verf, diefes Artikels halt es nicht für zwedimäßig, bier eine Maffe 
von Beweisftellen beizufügen. Er verweift deswegen auf die in feinen Grund: 
—— des deutſchen Privatrechts, 7. Aufl. Regensburg 1847, angeführten Be— 
weiöftellen. 


Germanifches, deutjches Hecht. 431 


bewohnten Spanimund Portugal, wie in den von den Longobarben eroberten 
italienifchen Staaten, wie in den nordifchen Staaten im Weſentlichen ein in 
feinen Srundeinrichtungen und Rechtsanfichten vielfach übereinflimmendes 
Recht galt, das noch jest praftifche Bedeutung hat, infofern viele in diefen 
außerdeutfchen europäifchen Staaten felbft in den neuen Geſetzbuͤchern vor« 
kommenden Rechtsfäge nur aus dem germanifchen Rechte, 3. B. in Sranf: 
reich aus den contumes erklärt werden Einnen. Im Gegenfage diefes 
durch die flammesverwandten europäifhen Völker ausgebildeten germas 
nifhen Rechts fpricht man von einem deutfchen Rechte, infofern man 
den Ausdrud auf das Recht bezieht, welches in den zu Deutfchland gehörigen 
Staaten gilt. Die deutfche Recht hat noch eine befondere Bedeutung das 
durch, daß in Deutfchland durch mannichfaltige Verhaͤltniſſe das römifche Recht 
verbreitet wurde *) und folhen Einfluß erhielt, daß nicht blos, wie aud) in 
den außerdeutfchen Gefeggebungen erkennbar ift, die vömifchen Rechtsans 
fihten den ganzen Rechtszufland durchdringen, fondern auch in Deutfchland 
das römifche Recht fo als das gemeine Recht betrachtet wurde, daß die Ges 
richte die römifchen Rechtsfäge wie geltende Gefege verftanden. Auf diefe 
Art find viele aus ben innerften Verhäftniffen des deutfchen Volkes hervors 
gegangenen Rechtseinrichtungen und Rechtsfäge im Laufe der Zeit durdy das 
römifche Recht verdrängt worden, und die römifchen ben deutfchen Verhaͤlt⸗ 
niffen und Bedürfniffen widerfprechenden Rechtsanfichten find dem deutfchen 
Volke aufgedrungen worden. 

(Zu Seite 269 Zeile 8 v.u.) Es iſt nicht ſchwierig, in ber Rechte: 
gefchichte eines jeden Volkes folgenden Entwidelungsgang des Rechtes nach⸗ 
zumelfen. Zuerſt entfcheiden bei dem Volke nur die aus ben Sitten, den 
Bedürfniffen und Verhaͤltniſſen hervorgegangenen Gewohnheiten, die in 
dem Volke. leben und allen Richtern vorfchweben. Erſt als diefe Gewohn⸗ 
beiten häufiger werden und ſich zerfplittern, führt das Bebürfniß darauf, diefe 
Gewohnheiten zu fammeln, daher alle urfprünglichen Rechts ſammlungen 
feine Sammlungen von Befegen, die von bem Willen einer gefeggebenden 
Gewalt ausgehen, fondern Sammlungen der Gemohnheitsrechte find. Es 
ift dabei begreiflich, daß allmaͤlig fchon einzelne durch das Bedürfnig in Vers 
bältmifien, in denen das Gewohnheitsrecht nicht ausreichen kann, verans 
laßte Geſetze entftehen und unvermerkt felbft die mit dee Sammlung der 
Gewohnheiten beauftragten Maͤnner ihre eigenen Anfichten oder die Gebote 
bes Derrfchere in die Sammlung tragen, daher das Gewohnheitsrecht felbft 
mobdificiren. Erſt fpäter tritt mit fleigendee Macht der Staatsgewalt auch 
der Charakter einer eigentlichen von ben Willen des Herrſchers ausgegangenen 
Sefeggebung hervor; die Willkür des Regenten giebt daͤnn Geſetze; man 
fragt nicht mehr um das Recht, melches bisher gegolten hat, fondern der Geſetz⸗ 
geber erläßt Vorfchriften nach feinem Intereſſe, oft durch einzelne Vorfälle, 
unter deren Eindrud er handelt, hervorgerufen, oft mehr nur als Entſcheidun⸗ 
gen eines einzelnen eben vorliegenden Falles erfcheinende Geſetze. Diefe Pe 
riode ift in der Regel in der Rechtegefchichte eines Volkes bie am wenigſten 


9) Meine Srundfäge d. d. P.⸗R. 5. 13. 


432 Germaniſches, deutfches Recht. 


erfreuliche; in ben europaͤiſchen Staaten tritt fie von dem 16. Jahrhunderte 
an hervor. Erſt fpäter beginnt die Periode ber Vernunftherrſchaft auch im 
ber Gefeggebung, wo ber Geſetzgeber, geleitet von den Forberungen ber Ge- 
rechtigkeit, diefelben zwar nach den Bebürfniffen und Verhältniffen des Vol⸗ 
8, fie welches das Geſetz beftimmt ift, mobificitt, überall fich am das beſte— 
hende Recht anfchliefit, dabei prüft, was davon ale zweckmaͤßig ſich bewährt 
und Beibehaltung verdient , das nationale Element der Rechtsbildung beruͤck⸗ 
fihtigt und nur im Öffentlichen Intereſſe Gefegesvorfchriften erläßt. In 
diefer Periode befinden wir ung , obwohl freilich nody die Vorurtheile der Ver- 
gangenheit, die Anhaͤnglichkeit an bie bisher verbreiteten römifhen Rechts- 
anſichten, die Bernadyläffigung der Kenntnif des nationalen Rechts und 
bas Miftrauen , mit weldyem man die Benugung des Volkselements bei 
Abfaffung der Geſetze unterläßt, die Urfachen find, aus welchen die neuen 
Gefetzgebungen nod) nicht auf jener Stufe ftehen, auf welcher fie ftehen koͤnn⸗ 
ten und follten, um die für das Wohl des Volkes nothwendigen Früchte zu 


tragen. 

(Bu Seite 272% Zeile 14 v. 0.) Zwar darf man nicht aus der Art, wie 
in einigen Staaten Europa’s, 5. B. in Frankreich und in England, das Lehen⸗ 
wefen fich verbreitete und alle Mechtsverhältniffe auch im Privatrechte 
durchdrang, Schlüffe ableiten, baf auf ähnliche Weife auch in Deutſchland 
bie Rechtsinſtitute ſich ausbilbeten; baber z. B. bie Bedeutung, melde ber 
Feudalismus z.B. in der väterlichen Gewalt, in bem Eherechte, in der Vor⸗ 
munbdfchaft in Frankreich und England hatte, nicht auf die naͤmliche Art 
in Deutſchland nachgewieſen werden kann, wo bie politifchen Zuftände und 
bie Fräftige. Gegenwirkung gegen bie Macht des Kaifers bei der großen Ber: 
ſtuͤckelung des Landes die Ausbildung des Lehenmelens in bem Umfange 
hinderten, wie wir ihn in England erbliden. 

(Zu S. 279 3.1 v.u.) Denn das römifche Recht, welches diefe 
Inſtitute nicht Eennt, hat mit feinem Grundfage der Sreiheit der Verfügung 
gefiegt, und der Richter hat immer zu fragen, ob in dem Lande und Rechte: 
freife, auf deffen Recht e8 in dem Falle ankommt, nach dem Landesgefege 
oder dem Gewohnheitsrechte das in Frage fLehende Inſtitut rechtlich gilt, 
und wenn dies der Tall ift, ob nicht durch Gefeg oder Rechtsuͤbung oder durch 
die rechtlich erlaubte Verabredung der Parteien eine Norm befteht, welche 
in dem Salle angewendet werben muß. Findet der Richter Feine foldye zu⸗ 
naͤchſt anzuwendende Entfcheidungsquelle,, fo hat er das ausgebildete gemeine 
Recht ebenfo anzumenben, als er davon in allen Fällen Gebrauch madıt, wo 
zwar das Landesgeſetz Beſtimmungen enthält, diefe aber lüdenhaft oder 
zweideutig find. 

(3u ©. 2803. 1v.u.) Esift immer mehr durd) gefhichtliche For: 
fhungen dargethan, daß das franzöfifche Givilgefegbucdh ohne die Kenntniß 
der in den franzöfifchen coutumes aufbewahrten Gewohnheitsrechte nicht ver: 
ftanden werden kann, daß aber diefe Gewohnheitsrechte, denen ein ſogenann⸗ 
tes droit commun zum Grunde lag, häufig mörtlidy mit dem deutfchen Rechte 
zufammenftimmen. Säge, wie z. B. der Art. 2279 bes Code civil über 
die Eigenthumsklage bei Mobilien, die erfien Säge des franzoͤſiſchen Erbrechts, 


Germontfähes, deutſches Medi 403 


die mungen über die eheliche Guͤtergemeinſchaft find nur aus dem alten 
franzoͤfiſchen Gewohnheitsrechte zu erklaͤren. 

Die neuere Zeit faßt erſt die wahre Bedeutung des nationalen Rechts auf 
und erkennt das Beduͤrfniß, daß unſer Rechtszuſtand auf dies nationale Recht 
gebaut werde. In mehrfacher Hinſicht iſt dies der Fall; allein es bedarf auch 
einer gehoͤrigen Verſtaͤndigung uͤber den Sinn und die Richtung, in welcher 
dies der Fall ſin muß. Man hat zum großen Unheil in Bezug auf unſeren 
Rechtszuſtand an unferem nationalen Rechte ſich ſchwer verſuͤndigt; wir deu 
ten dieſe Fehler hier an, um die Aufmerkſamkeit Derienigen, welche ihr 
Vaterland lieben, auf das, was Noth thut in unferem Rechte, zu lenken. 

I. Eine Verfündigung an dem deutfchen Geifte nennen wir es, daß 
man nur das römifche Recht als das eigentlich gemeine deutſche Recht betrach⸗ 
tete und in jedem Falle gedankenlos die römifchen Rechtsfäge anwendete, 
weil man annahm, daß nur römifches Recht in Beutfkhland etwa fo als 
Geſetz eingeführt worden fei, wie in Preußen das preußifche Landrecht oder 
in Defterreich das Hfterreichifche Geſetzbuch gilt, fo, daß man dem beutfchen 
Rechte den Charakter eines gemeinen Rechts ableugnete und das Studium 
defjelben nur aus Gnade neben dem des römifchen Rechts duldete, damit ber 
Juriſt doch auch eine Einleitung in die verfchiedenen Lands und Stadt⸗ 
techte erhalte. II. Ein anderer Fehler war e8, daß man die deutſchen 
Rechtsinſtitute und Rechtsanfichten faſt ganz verdrängte, alle unfere Inſti⸗ 
tute nur unter roͤmiſche Formen brachte, römifche Analogien anmenbete und 
bie Natur des einheimifchen Rechts vernachläffigte. III. Nicht weniger 
klagen wir das Unrecht an, daß man auf die wiſſenſchaftliche Entwidelung 
ber deutfchen Redhtsinftitute, für welche das römifche Recht Feine Normen 
bieten kann, Beinen Werth legte. IV. Zu beklagen enblich ift e&, daß man 
bei Abfaffung der neuen Gefegbücher die Erforſchung germanifcher , Rechtes 
ideen zu häufig unbeadhtet ließ und die Gefegbücher nicht mehr auf germas 
nifche Grundlagen baute. V. Zühlbar endlich ift aber auch der Mangel an 
Vorarbeiten für eine gute Nationalgefeggebumg in Bezug auf das Verhaͤlt⸗ 
niß des römifchen und deutfchen Rechts. | 

1) Es konnte nur zu einer verderblichen Auffaflung des einheimifchen 
Rechts führen, wenn man annahm, daß das römifche Recht in Deutfchland 
als verbindliches Geſetz in feinem ganzen Umfange eingeführt worden fet, 
und wenn man nur dieſem roͤmiſchen Rechte den Charakter des gemeinen 
Rechts beilegte. Die nachtheilige Wirkung war, daß man auf jedes beuts 
fhe, wenn auch den Roͤmern unbekannte Mechtsverhältniß römifche Säge 
anwendete, wenn man alle Landesrechte fo auslegte, wie fie am mwenigften 
von dem römifchen Rechte abwichen, und da, wo Jemand ſich auf ein deut⸗ 
ſches Inftitut berief, im Zweifel die Gültigkeit der römifchen Säge annahm 
und dem Behauptenden den Beweis auflegie, daß das deutſche Recht in dem 
alle anwendbar fei. Die Sefchichte lehrt, daß diefen Anfichten große Irr⸗ 
thuͤmer zum Grunde liegen. Allerdings ift das römifche Recht ein Theil des 
gelammten in Deutfchland geltenden Rechtes geworden, aber nicht in feinens 
vollen Umfange und nicht, wie ein Geſetz verbindlich if. Es gilt vielmehr 
dies Hecht nur fo, wie es ducch bie Rechtsuͤbung in Deutſchland aufgenom⸗ 


Suppl. z. Staatslex. LI. 28 


men, al® verbindlich angeſehen wurde, mit beutfdyen Einrichtungen und Sit» 
ten Übereinftimmt. Niemandem fällt es ein, eine Klage bei ung zuruͤckzuwei⸗ 
fen, weil der Vertrag, auf welchen fich bie Klage bezieht, im roͤmiſchen Sinne 
pactum fein würde. Man erkennt, daß bei und der Sohn durch abgefon= 
derten Haushalt aus der väterlichen Gewalt trete, daß, wenn auch die Roͤ⸗ 
mer Peine Exrbverträge ald gültig geftatteten, bei und doch Erbverträge erlaubt 
finds. Man beruft fidy zur Rechtfertigung foldyer Anficht auf die beutfche 
Draris oder auf eine abweichende Gewohnheit. Darin liegt aber eben bie 
Anerkennung des mächtigen Einfluffes des deutfchen Rechts. Es entitand 
bei ber allmäligen Berbreitung bes roͤmiſchen Rechts durch bie Rechts— 
übung aus ber Verbindung bes roͤmiſchen und deutfchen Rechts, aus dem tie⸗ 
fon Gefühle der Nothwendigkeit ein neues Recht, und dies ift das gemeine 
deutſche Recht, im welchen allerdings das roͤmiſche Recht ein Hauptbeftand- 
theil geworben iſt, meil man ſich allmälig daran gemöhnte, den römifchen 
Mechtsanfichten in den meiften Rechtsinftituten zu folgen. Der Begriff 
biefes gemeinen Rechts ift*) unabhängig von einer pofitiven Sanction, 
melde für ein geroiffes Land diefem gemeinen Rechte bie geießgebende Ge⸗ 
walt gegeben hat; ebenfo auch davon, daß bie Länder, für welche es gelten 
fol, nicht mehr durch ein. aͤußeres Band, mie einft im beutfchen Reiche 
unter einer gefeggebenden Gewalt ftehend, "zufammenbängen, ober daß in 
vielen diefer Länder neue Gefegbücher gelten ; denn ber Charakter bes gemei⸗ 
nen Rechts, gegründet auf die Gleichförmigkeit der Elemente ber Rechtsbil⸗ 
bung und auf das einft vorhandene Band. ber Einheit des Rechts, iſt auch da 
vorhanden, mo durch die Rechtsuͤbung ein Recht ſich ausbildete, welches 
allen Zandesgefeggebern ebenfo vorſchwebt, als «8 Diejenigen , welche Rechts— 
gefchäfte eingeben, leitet, weil fie bei dem Gebrauche ihrer Ausdrüde auf 
das allgemein bekannte im Volke lebende Recht bauen, und zugleich allen 
Kichtern bei der Rechtsanwendung, bei der Auslegung der Landesrechte vor: 
fhwebt. Wenn die Bürger in einem Ehevertrage die Ausdrüde: Morgen: 
gabe, Wittum u. a. gebrauchen, fo fegen fie dabei eine gewiſſe Rechts⸗ 
meinung ale befannt voraus; diefe liegt, in dem über diefe Rechtslehren aus⸗ 
gebildeten gemeinen Rechte und in dem Sinne deffelben muß aud) der Rich— 
ter die cinzelnen Streitfragen enticheiden. Dies gemeine Recht befteht, 
wenn auch die Rechtsinititute nicht in allen deutfchen Ländern gefeglich gel⸗ 
ten; 3.3. das Einſtandsrecht (Retract) mag in den meiften Ländern jest 
aufgehoben fein; dies hindert nicht, dies Inftitut dody als gemeinrechtlich zu 
betrachten , infofern der Richter, wenn in einem Lande der Retract noch vor: 
tommt , nad) dem in Bezug auf dies Rechtsinſtitut ausgebildeten gemeinen 
Recht die einzelnen Streitfragen entfheider. Auf gleiche Weife giebt es ein 
gemeines deutſches Wechſelrecht, welches jeder Richter befolgt, fo lange 


*) Ueber die ung. eines folchen verfchicdene Anfichten inv Wäd: 

ter Gemeines Recht ©. 18 Reyſcher in Zeitfchrift für bdeutfches Recht. 

; X. ©. 159. Gerber, Das wiffenfchaftliche Princip des 

gemeinen un Fu: Sena 1816. Meine Grundfäge des deutfchen 
Privatrechts $. 8 


m 


Germaniſches, deutfches Recht 235 


nicht in dem Lande, auf deſſen Recht es ankommt, über bie vorliegende 
Streitfrage eine andere. gefegliche Vorfchrift gilt. 

2) Jener oben gerügte Irrthum, um das roͤmiſche Recht als gemeines 
deutſches Recht zu behandeln, hatte die nachtheilige Folge, daß man in jedem 
Falle bei einem deutfchen Inſtitute nad) einer Analogie des römifchen Rechts 
entfchied. Statt zu erkennen, daß das Wechſelrecht ein eigenthuͤmliches 
deutſches Rechtsinſtitut ift, das unter Feine römifche Vertragsform geftellt 
werden kann, glaubte man-den Wechfelausfteller als Verkäufer, den Wech⸗ 
ſelnehmer als Käufer betrachten zu koͤnnen, oder die Anficht von einer cessio 
nominis zum Grunde legen zu bürfen. So kam man zu den vorkehrteften 
Folgerungen. Man gab 3.3. zum großen Nachtheile des Handels dem 
Wechſelnehmer ein Eigenthumsrecht an der Wechfelprovifion *) und ließ dies 
im Concurfe des Traffaten zur ſchweren Beldfligung für den Ausfteller wir⸗ 
ten. Dan behandelte die Einkindfchaft als Act der Adoption **), man wendete 
auf die deutfchen Reallaſten die Grundfäge von den Servituten an***). 
Dadurch verloren die beutfchen Inftitute ihre wahre den Bedürfniffen ent» 
fprechende Natur, man kam durch Anmenbung des römifchen Rechts zu den 
verkehrteſten Kolgerungen und vernadhläffigte e8, die beutfchen Rechtsichren 
gruͤndlich in ihrer nationalen Bedeutung zu entwideln, weil man in den Feſ⸗ 
feln des römifchen Rechtes fich befand. —— 

3) Für unfere Rechtsbildung wäre es von höchfter Wichtigkeit getwefen, 
eine große Zahl von Rechtebegriffen, welche das deutfche Recht enthält, im 
unfer praßtifches Recht aufzunehmen und fortzubilden. Wir rechnen dahin 
3. B. den Begriff der Senoffenfchaftr). Viele deutfche Inftitute, 5.8. 
unfere Gemeinden, die Deich⸗ und Markgenoſſenſchaften, die Actiengefells 
ſchaften u. a., laſſen ſich gar nicht richtig würdigen, wenn man nicht den alten 
im Volle, wenn auch unklar wurzelnden Rechtsbegriff ber Genoſſenſchaft zu 
Hifenimmt. Statt dies zu thun, bildeten fi unfere Juriſten ein, daß 
durch die zwei im römifchen Rechte vorfommenden Formen: der universitas 
und der societas, die ganze Fülle der möglichen Arten der Vereinigungen 
mehrerer Menfchen zu einem Zwecke erfchöpft feis man verdarb unfer deut⸗ 
ſches Gemeinderecht burch die Anwendung der Srundfäge der römifchen uni- 
versitas und vernichtete dadurch ebenfo oft den Wohlfland der Gemeinden 
als das ganze Gemeindeleben. Auf ähnliche Weife hatte man das Vers 
haͤltniß der ehelichen Bütergemeinfchaft verfannt und unter römifche Formen 
geftellt. Ohne die Wiederbelebung und Entwidelung folcher deutfchen Rechtes 
ae werben wir nie eine genügende Grundlage unſeres nationalen Rechte 
erhalten. 

4) Betrachtet man die neuen Civilaefegbücher näher und prüft, im 
welchen Lehren fie eben am beften fid bewähren, in bem Volksſinn wurzeln 
und am meiften praktifch werben, fo zeigt fi) das am meiften in denjenigen 


*) Meine Grundf. bed Privater. $. 333. 
**) Meine Grundf. 8. 368. 
u Meine Srundf. $. 172. 

+) Literatur in meinen Grundfägen $. 120. 


28 * 


436 Germanifches, deutſches Recht. 


Lehren, im denen bie Gefegbücher zu den germanifchen Mechtsanfichten zu⸗ 
ruͤckk ·hren, 5. B. in der Lehre von der Vormundſchaft durch die Aufnahme 
bes. Familienrathe, bei ern wegen Mobilien, bei bem Satze, 
—* feiner befondern Erbſchaftsantretung beduͤrfe (le mort saisit le vif). 

Wir Haben nur zu beflagen , daß dies nicht öfter geſchah und daß man, ein 
mal gewöhnt an tömifche Rechtsanfichten, nur zu oft von ihnen fich leiten 
laͤßt. Die römischen Vorftellungen von dem Pecullenrechte wirken noch un» 
willkuͤrlich auf die Borfchriften über das Vermögen der Kinder ein; in dem 
Geſetzbuͤchern finden fidy noch zu häufig Beftimmungen, melde nur Ausflüffe 
ded römifchen Erbrechts find. Die Dienftbarkeiten find zu fehe durch Nach⸗ 
ahmung römifcher Vorfchriften unpaffend behandelt: Hier bedarf es am- 
berer und befferer Vorarbeiten. Wenn wir aber von ber Nothwendigkeit fpre= 
hen, daß unfere Gefegbücher auf nationales Recht gebaut werden, fo meir 
nen wir damit nicht, daß wir alle früheren deutſchen Rechtsanfichten beibe- 
halten oder wieder beleben follten, bloß weil fie dem deutſchen Rechte zum 
Grunde liegen. Ein Beifpiel tiefert bie Deutfche Anficht von der Trennung 
bes Vermögens in bewegliche und unbemegliche Sachen, fo daß ein anderes 
Recht bei ben erſten, ein anderes bei bem zweiten galt*). Es iſt befannt, 
daß im Code Napoleon biefe in den coutumes vorkommende Unterfheidung 
fich findet, daß z. B. die Eintheilung der Klagen darauf beruht, daß die ge= 
fegliche eheliche Gütergemeinfhaft, welche die Immobilien ausjchließt und alle 
bewegliche Sachen als gemeinfchaftlid) betrachtet, die Folge der alten Anficht 
iſt. Wir halten dies nicht für zweckmaͤßig, fondern fordern, daß der Geſetz⸗ 
geber auch überall prüfe, ob eine zwar national deutſche Anſicht nach unferen 
geänderten Verhaͤltniſſen noch Beibehaltung verdient, z. B. wenn von ber 
alten Anficht die Rede ift, daß die liegenden Güter in der Familie erhalten 
werden müffen. Die Nothwendigkeit, die freie Verfügung und den Verkehr 
zu begünftigen, widerfirebt der Beibehaltung diefer alten Anſicht. Wir wollen 

nicht ein flehengebliebenes, nur wegen feines Alterthums ehrmürdiges, fon= 
dern ein in feiner Fortbildung, in den fortgefchrittenen Bedürfniffen richtig 
aufgefaßtes nationales Recht. 

5) Es würde daher auch verkehrt fein, wenn man plöslich bei Abfaf- 
fung neuer Sefegbücher der ganzen Erbfchaft des römifchen Rechts fich entledi⸗ 
gen und aus irrig gefaßtem Deutfchthum Alles nur auf ein fogenanntes deut: 
ſches Recht bauen wollte. Das römifche Recht ift einmal durch eine Rechte: 

“übung von mehr ald 300 Jahren ein Theil unferes Rechts geworden; 
wir haben roͤmiſche Rechtsvorftellungen in uns aufgenommen; dies roͤmi⸗ 
fhe Recht wird ewig als ein Meiftermerk der feinften Analyfe, der conjequen: 
teften Durchführung, als die Eoftbarfte Sammlung der .fcharffinnigften 
Entfheidungen in höchfter Külle dem Geſetzgeber und dem Nichter aller 
Länder, aller Zeiten nothwendig bleiben. Es kommt nur darauf an, recht 
aufzufaffen, was von diefem römifhen Nechte Beibehaltung verdient, mas 
unferen Bedürfniffen entfpricht, mas mit den ewigen Korderungen ber Ber: 
nunft im Einklang ſteht. Solchet Vorarbeiten, welche eine Prüfung diefer 


*) Meine Grundf. $. 148. 


Geſelſchaften, geheime 487 


Art fi) zur Aufgabe machen, bedürfen wir, wenn wir eine wahrhaft na⸗ 
tionale Rehtsanwendbung, eine beutfhe Geſetzgebung erhalten 
follen. Mittermaier. 

Sefellfhaften, geheime. Mach der Niederlage ber republika⸗ 
nifchen Partei in Frankreich im 3.1834, nahmen daſelbſt die fpäter entſtan⸗ 
denen geheimen Gefellfchaften einen vorherrfchend focialiftifchen Charakter 
an. Dies ift fehr erklaͤrlich. Der große Gegenfag des Proletariats und ber 
Bourgeoifie (f. Communismus) kam mehr und mehr zum Bewußtſein; und 
nad) zahlreichen mißlungenen Verſuchen einer revolutiorären Republifanifis 
zung tes Landes drang bie Weberzeugung durch, daß die auf dem Volke las 
flenden Uebel nur durch eine Veränderung der Staatsformen nicht zu beſei⸗ 
tigen feien. Für einen jeher Eleinen Theil der Unzufriedenen wurde nun 
diefe weit verbreitete Weberzeugung ber Antrieb zur Errichtung einer Reihe 
geheimer Gefellfchaften, wie der Verbindung der f.g. Samilien und ber 
Sahreszeiten, aus welchen der Parifer Maiaufftand von 1839 hervors 
ging, dee Handwerke, ber Egalitaires. Auch wurben gegen Enbe 
1843 die Mitglieder eines communiflifchen Vereins in Paris zuchtpolizeilich 
verurtheilt, und es war bei dieſem Anlafje wieder viel von der angeblichen 
ausgebehnten Organifation einer geheimen commmmiftifhen Verbindung in 
Gruppen von je 21 Mitgliedern die Rede. Endlich wurde noch im 3. 1841 
eine als „reformirte Carbonaria” bezeichnete Verbindung in Suͤdfrankreich 
entdeckt, wonach ſich als wahrſcheinlich vermuthen läßt, daß auch die Charbon⸗ 
nerie bemocratique, obgleich vielleicht nur in ſchwachen Verzweigungen, bie 
dahin fortgebauert hatte und wohl jetzt noch fortdauern mag. Bekanntlich 
war Buonarotti, ber biß zu feinem Tode an der Spige biefer Verbindung 
land, ein flarrer Anhänger der Grundſaͤtze feines früheren Mitverſchwo⸗ 
renen Babeuf; und hiernach iſt anzumehmen, dag auch die demokratiſche 
Garbonaria, wenigſtens im ihren Fuͤhrern und Häuptern, neben politifchen 
Planen zugleic) focialäftifche Tendenzen verfolgte. 

Diefelbe Richtung tritt, zwar minder ſcharf, aber body immer deutlich 
genug, aus den notorifc, gemorbenen Beftrebungen des jungen Italiens 
bervor. Durch die von Kalfer Ferdinand J. den politifchen Verhafteten 
und Ausgemanderten des Öfterreichifchen Italiens bewilligte ausgedehnte Am⸗ 
neftie, welche gegen die den oͤſterreichiſch⸗ polnifchen Infurgenten zu Ende 
1846 gewährte f. g. Amneſtie fo ſehr abflicht, wurde die Thätigkeit des jun⸗ 
gen Italiens unterbrochen. Dies war jedoch nur für einige Jahre der Fall, 
wie davon das Unternehmen der unglüdliben Brüder Bandiera im J. 
1844 und die fpäteren Unruhen im Kicchenftaate Zeugniß geben. Eine 
neue Unterbrechung fcheint feit 1846 durch die Bereitwilligkeit des Papfles 
Pins IX., zu politiſch⸗ſocialen Reformen die Hand zu bieten, eingetreten zu 
fein. Nach der Stellung des italienifchen Volles in der Reihe der europäls 
[hen Nationen ift es indeß zu bezweifeln, daß damit allein die tiefer liegen⸗ 
den Quellen der Unzufriedenheit abgegraben werden koͤnnten. Ein Xhell 
Italiens iſt einer Fremdherrſchaft unterworfen, die m jeder Beflalt, felbft 
wenn fie in die mildeften Formen fich Beiden follte, allen für. bie Ehre des 
Vaterlandes und der Nation noch glühenden Herzen als gehäflig erſcheinen 


N 


438 Geſellſchaften, geheime. 


muß Und wer kann #6 derheifin itaftenifchen Jugend verargen, wenn fie 
won Zeit zu Zelt durch die That zu erweifen bemüͤht iſt, daß dieſes Gefuͤhl auch 
im ihr nicht erloſchen iftz ſelbſt wenn fie im ihren Unternehmungen bie erdrü: 


‚ende Webermacht der Gegner allzu gering anſchlagen und wenn gleich durch 


ohnmaͤchtige revolutiondre Zudungen die Schlinge nicht zertiffen , fondern 
nur enger gejogen werben follte? In diefer flets neue Antipathien unver: 
meidlich erzeugenden Fremdhertſchaft, fo twie in bem Umſtande, daß in dem 
feine Bewohner fo leicht ernährenden füdlidyen Rande noch nicht in demfelben 


Maße wie in andern europäildhen Staaten eine feindfelige Stimmung ber 


aͤrmeren gegen die wohlhabenden Glaffen entftehen fonnte, iſt wohl der Grund 
zu fuchen, daß die Italienifchen Unguftiedenen, unter denen bekanntlich Gius 
feppe Mazzini eine befonders einflußretche Stellung einnimmt, fich mes 
niger unmittelbar an bie proletarifchen Gelüfte und Intereffen ber großen 
Maffe wenden und wenden können. Daf aber gleichwohl die foctatiftifchen 
Anfichten dev Meuzeit in gewiffen Grade auch im der Mitte bes jungen 
Staldens Eingang gefunden haben, davon giebt Mazzini's Rede Zeug— 
if; die er vor wenigen Jahren in London im einer Verſammlung politilcher 
Berbännten und anderer Ungufriedenen aus verichiedenen Ländern Europa’s 
zum Beddchtniffe des polniſchen Maͤrtyrers Koinarski hielt. Was man 
nun'von den einzelnen Unternehmungen halten möge, für deren Triebfeder 
Maszinigilt, fo wird man doch feiner ausdauernden Begeiflerung für die 
Sache, die er ergriffen, und feiner raſtloſen Thätigkeit dafür die Anerken⸗ 
nung nicht verfagen Eönnen; ein Urtheil, das bekanntlich auch im Bericht der 
Frankfurter Gentraltommiffion ausgefproden wurde und zu ben in biefer 
Staatsfchrift feltenen Beifpielen dee Unbefangenheit gehört. Auch darin 
zeichnet ſich der kluͤgere Staliener vor einigen deutichen taͤppiſch doctrinären 
Pfuſchern in den Gebieten der Politik und des Socialismus aus, daß er 
ſich mit gleicher Entfchiedenheit, wie gegen den rohen naturmidrigen Commu⸗ 
nismus, fo gegen den platten Atheismus und Materialismus ausſpricht; Daß 
er nicht den Volksglauben vor den Kopf ftößt und zugleich dem Aberglauben 
fid) hingiebt, für die Sache des Volks thätig au fein. 

Mefentli anders als in dem nur sum Theil einer Sremdberrfchaft 
unterworfenen Stalien find die frcialen Stellungen bei dem politifchh aus: 
einandergeriffenen polnifhen Volke. Hier ſtehen noch die grundherrliche 
Ariftofratie und das Ländliche Proletariat der unterthaͤnigen Bauern hart 
nebeneinander, ohne die zugleich trennende und vermittelnde Stellung eines 
eigentlichen Mittelſtands und einer zahlreichen ftädtifchen Bevölkerung. Kine 
Zeitlang konnte der ausgervanderte polnifhe Adel geneigt fein, in feinen 
Unternehmungen zur Herftellung der Unabhängigkeit des Vaterlandes nur 
auf. die Antipathien des Volks gegen die Gewalt der Fremden zu zählen. 
So entftand eine Reihe geheimer Verbindungen von Ausgewanderten mit 
polnifchen Unzufriedenen, die indeß meh: den Charakter von Gonfpirationen 
für beftimmte revolutionäre Verfuche hatten, als den geheimer Sefellfchaf: 
tem mit vagen Zwecken und langfamer Vorbereitung der Mittel für Er: 
teichung derfelben. Endlich aber, für ihr nächfles Unternehmen zu fpät, 
erfunnte die demokratiſche Partei der emigrirten Polen, was ſchon wäh: 


Geſellſchaften, geheime. 489 


rend der Revolution von 1830 hätte erkannt und zur Ausführung gebracht 
werben ſollen: baß mit dem alten Haffe gegen die herrſchenden Ausländer 
nicht allein auszureichen fei; daß man fich zugleich an das materielle Inter⸗ 
effe der großen Maffe der laͤndlichen Bevölkerung zu wenden habe. Dies 
geſchah in dem durch vielverzweigte Verbindungen vorbereiteten Aufftande 
vom Februar 1846 durch die Proclamation der nur wenige Wochen beftans 
denen proviforifhen Regierung in Krakau, indem zwar den polnifchen Bauern 
Leine Ausfiht auf eigentlihen Communismus (f. b.), aber doc) auf gleichere 
Vertheilung des Befiges und Erwerbs eröffnet wurde. Daß gleichwohl bie 
galiziſchen Bauern ihre Waffen gegen bie in ihrem angeblichen Interefie 
umternommene Inſurrection gewendet haben, indem fie ſich nur des nahen 
und unmittelbaren Druds ihrer Grundherren erinnerten, ift ein Beweis mehr, 
daß audy in jenen Gegenden die proletarifchen Gelüfte und Intereſſen ſich 
felbft zum Bewußtfein kommen, wenn fie gleich in ihrer erſten Aeußerung: 
eine andere Richtung nahmen, als Diejenigen, die fie medien halfen, erwartet 
hatten. Schwerlich werden die unter flavifchen Bauern durch die jüngften 
Vorgänge gemediten Stimmungen und Beſtrebungen fo bald wieder zu bes 
ſchwichtigen fein und fi) nur auf einen Meinen Kreis befchränten. Unb 
es waͤre alfo nicht unmöglich, ba endlich Rußland durch die unter dem Lands 
volke fich verbreitende Gaͤhrung eben ſowohl im Often zu einem Eroberungs⸗ 
kriege genoͤthigt werden koͤnnte, als Frankreich im Wellen durdy die Bewe⸗ 
gungen feines induftriellen Proletariats. (Vergl. „Nachtrag zu Friede, Fries 
densſchluͤſſe“). 

Bei den Deutſchen, die ſich von jeher in den ihrem Charakter nicht zu⸗ 
ſagenden geheimen Verbindungen am unbeholfenſten benommen haben, ſind 
dieſe in der neueſten Zeit durchweg bedeutungslos geblieben. Gleichwohl 
laͤßt ſich auch bei ihnen der allgemeine Bildungsgang ber unſere Zeit beherr⸗ 
fhenden Anſichten und Intereſſen keineswegs verfennen. Nicht lange vor 
dem Frankfurter Attentat hatte ſich auf einigen deutfchen Hochſchulen unter 
dem Namen Arminia eine Verbindung gebildet, deren Mitglieder an einer 
noch für möglich gehaltenen revolutionären Erhebung des Volks theilzunehs 
men. ſich verpflichteten, oder wohl auch erwarteten, den Anſtoß dazu geben 
zu können. Als dann im April 1833 das mit fo unzulänglichen Mitteln 
bedachtlo® begonnene Unternehmen gefcheitert war, wurde hintennad in 
Frankfurt ynd der Umgegend ein f.g. Männerbund errichtet, der ſich 
hauptſaͤchlich aus Handwerkern recrutirte. Die mehr als Alles entdeddenden 
politifhen Unterfuhungscommiffionen in Deutfchland kamen auch biefer 
geheimen Gefellfhaft auf die Spur; allein ob man gleich in officellen 
Darftelungen der Sache einen möglichft in die Augen fallenden Anſtrich zu 
geben fuchte , waren doch die Refultate der Nachforſchung kuͤmmerlich genug 
und nahmen mehr in der gedruckten, Darlegung“ diefer Refultate ald in der 
Mirktichkeit eine wichtige Stelle ein. Diefer „Männerbund” wie jene „Ar⸗ 
minia”, bie allem Anfchein nady bei ber erften harten Berührung, in die 
fie mit Polizei und Juſtiz kamen, in Nichts zerronnen find, hatten nur eine 
rein politifche Tendenz. Nun vergingen Jahre, ehe die beutfche Polizei 
Selegenheit fand, durch Entdeckung einer geheimen Geſellſchaft der reactio⸗ 


nären 


Partei einen neuen Dienſt zu erweiſen. Erft im Jahre 1840 fam man 
wieber auf bie Spur einer in Frankfurt, Mainz, Darmftadt und einigen anz 
baren Städten ber Mheingegenben beftandenen Verbindung, des f. g. „Bun: 
bed der Geaͤchteten“. Die meiſten Mitglieder deffelben waren Handwerker, 

bie zum Theil ſchon eine bürgerlich felbfiftändige Stellung hatten und wel: 
den vor Gericht ein günftiges Zeugniß über ihren Lebenswanbel nicht vers 
fagt werben konnte. Alle zur Verantwortung Gezogenen waren indeß nur 
fo entfernt betheiligt, daß fie entweder nad gefchloffener Unterſuchung fofort 
begnabigt, ober mach blos corrsctioneller Behandlung der Sache völlig frei 
gefprochen wurden. , Diefer Bund der Beächteten hatte bereits eine ausge: 
(prochene focialiftifhe Richtung , wenn ‚gleich den einzelnen Berheiligten die 
ald nothwendig borausgefegten Derändserungen im Zuftande der Gefell- 

| —— nur in ſeht unbeflimmten und ſchwankenden Umtiſſen vor Augen 
hwebten 


Inzwiſchen war bie in ber Schweiz entſtandene politiſche Verbindung 

des jungen Deutfhlanbs auseinandergeſtaͤubtz und die deutſchen 
Handwoerkervereine, bie fich fpäter daſelbſt bildeten, wußten ſich längere Zeit 
X — von aller eitlen Geheimbuͤndelei frei zu halten. Sie waren offene 
ereine für gegenfeitige Belehrung und Unterhaltung, und fo lange fie dies 
waren, blieben fie geachtet und unangefochten. Durd) das Eindringen com= 
muniflifcher Elemente von Frankreich ber, befonders feit ber Ankünft Weit: 
ling’s (f. Communismus), entjtand eine Spaltung zumal zwifchen den am 
Genferfee gebildeten Vereinen. Es traten eine communiftifche und eine 
[. 9. jungbeutfche Partei einander gegenüber. Daß ſich die deutfchen Di: 
lettanten bed Communismus in, ber Schweiz zu einer förmlichen geheimen 
Verbindung organifirt hätten, bavon liegen wenigftens keine unzmeibeutigen 
Berveife vor. Im erneuerten jungen Deutfchland aber wußten drei 
oder vier verdorbene Literaten oder Studenten eine Rolle zu fpielen. Sie 
creirten fich zu einer „ Propaganda” und machten ſich eine aus f. g. „Fami⸗ 
lien’ beftehende geheime Verbindung zurecht, vermittelft welcher fie die deut⸗ 
[hen Handwerkervereine, deren Mitglieder in ihrer großen Mehrheit jenem 
Geheimbunde völlig fremd blieben, zu mißbrauchen und zu tyrannifiren fuch: 
ten. Der yanze lächerlihhe Hocuspocus der Aufnahme in diefe nicht lange 
geheim gebliebene Befellfchaft ift vor Kurzem zur Deffentlichkeit geflommen *). 
Die drei oder vier „Propagandiften”, die fi) an die Spiße geftellt, gaben zur 
„Auflöfung der alten Welt’ eine in wenigen Eremplaren verbreitete Zeit: 
ſchrift, „Blätter der Gegenwart‘, heraus, die aus den trivialften Pıhrafen über 
„Freiheit, Gleichheit und Humanität” zufammengefest wurde. Vor Allem 
aber ließen fie es fich angelegen fein, den Atheismus und Materialismus in 
jener platteften Geſtalt, wie er bei einem Theile der nachhegel’fchen Philofo: 





*) ©. in der Eidgenöffifhen Monatsfchrift, Heft 4. 1846, den „General: 
beriht an den Staatsrath von Neufchatel über die geheime deutfche Propaganda, 
über die Clubs des jungen Deutfchlands, und über den Lemanbund.” Sodann 
die zum Zheil bie zur Beluftigung, zum Theil bis zum Ekel naiven Geftänd- 
niffe in der Schrift von W. Marr: „Das junge Deutfchland in der Schweiz. 
Leipz. 1846. 





Gefegliher Fortſchritt 1 


phen aus dem Abgange der Lehre ihres Meifters hervorgegangen iſt, einigen 
unerfahrenen deutichen Handwerkern genießbar zu machen. Dieb gelang 
indeß blos für kurze Zeit und in bornirtem Kreife; und wenn alfo die neuen» 
burger Behörden ihrer Entdeckung des jungdeutfchen Geheimbundes eine ber, 
fondere Bedeutung zugefchrieben haben, fo ift dies nur ein weiterer Beleg für 
die herkoͤmmliche officielle Wichtigehuerei, gegenüber der in die Form einer 
geheimen Gefellfchaft gekleideten nicht officiellen. Nur in fofern hat die Ent» 
dedung einiges Intereſſe, als damit ein wiederholter Beweis für alle jene 
Sünden und) Mißſtaͤnde gegeben ift, die f yon vor Jahren in dem Auflage bes 
Staatslexikons über geheime politifche Gefellfchaften als die kaum vermeid⸗ 
lichen Kolgen derfelben bezeichnet wurden. Denn auch im Rüdblide auf das 
Treiben diefes f. g. jungen Deutfchlands und der communiftifdyen Vereine 
in der Schweiz tritt dem Beobachter ein widerliched Gemenge von gegens 
jeitigen Denunciationen, Angebereien und Intriguen der feindfeligen Par 
teien vor Augenz von Klatfchereim und Indiscretionen nach allen Seiten 
bin; von der maßlofen Eitelkeit einiger wenigen Kührer und von einer uns 
verantwortlichen Nichtachtung und Mißhandlung braver aber noch unerfahs 
rener Handwerker durch einige Halbgebilbete, die fidy zu ihren Däupten 
aufwarfen und vor den Getaͤuſchten nichts Anderes als das größere Maß 
der Unverfhämtheit und der Anmaßung voraus hatten. 

So gering übrigens an ſich felbft der Einfluß der geheimen Geſell⸗ 
(haften auf den Verlauf ber politiſch focialen Creigniſſe anzufchlagen iſt, fo 
muß doch wiederholt darauf aufmerkſam gemacht werden, daß biefe Geſell⸗ 
(haften wenigfiens als Symptome des Uebels, welches bie Volksmaſſen 
niederdruͤckt, Beachtung verdienen. Dies gilt von allen nach 1834 entſtan⸗ 
denen Verbindungen ſolcher Art, ſelbſt die Frage des „jungen Deutichlande 
in der Schweiz” nicht ausgenommen. Immer ift es die Unzufriebenheit ber 
aͤrmeren Claſſen und ihr Haß gegen die Reichen, die entweder in den gehei⸗ 
men Befellfchaften der legten Jahre ihren Ausdruck fanden, oder bie fie doch 
als Hebel der Agitation benugen zu können meinten. Darum liegt auch in 
der Gefchichte der Entftehung und Entwidelung diefer Vereine eine ernfte 
Warnung für Diejenigen, die nach ihrer Stellung einen Einfluß auf bie 
Schidfale der Völker zu äußern vermögen, daß fie mit den für Beſchwoͤrung 
des drohenden Sturmes fo Dringend gebotenen politifchen und focialen Refor⸗ 
men nicht länger ſaͤumen und zögern. Wild. Schulz. 

Gefegliher Zortfchritt. Bedingungen feiner Mög» 
lichkeit. Gefeglicher Fortſchritt, gemäßigter Fortfchritt, ruhiger Kortfchritt, 
friedlicher Fortſchritt, vorfichtiger Fortſchritt, Hiftorifche Entwidelung — das 
iſt das Feldgefchrei, womit hier politifcher Jeſuitismus das Drängen bes Zeit⸗ 
geiftes zuruͤckſcheuchen, das Feſthalten am status quo, die Conſervirung der 
beſtehenden Webelftände und Mißbräuche maskiren will, hinter welchem bort 
nicht felten boctrinärer Liberalismus Halbheit und Feigheit verbirgt. 

Dffen die Nothwendigkeit und das Recht des Kortfchreitene vom Be⸗ 
fiehenden zum Beſſern zu Idugnen wagt wohl Niemand mehr, der irgend 
auf die öffentliche Meinung und das Volksleben influicen will, oder irgend 
eine Beziehung darauf bat, felbft Poliseicommiffäre und verkaufte Regie 


u Geſehlicher gortſcheit 


rungẽ eſtungen geben ſich nachgerade für Liberale aus. — Diefe bebeutungs⸗ 
dolle, feine unwiderſtehliche Uebermacht eingeſtehende — Anerkennung bat fich 
das Princip der Freiheit, des Kortfchritts, der Bewegung erfäimpft, und nur 

„im den geheimften Noten und Sendfchreiben empfiehlt etwa ein bankbruͤchiger 

Diplomat unverblumt das Feſthalten am Princip ber Stabilität im Kampfe 

milder das Bormärtsfchreiten der Zeit’. Wiele Diplomaten glauben bekannt: 
Kidy die Entwidelung der Wölker in ihren Händen zu haben, wie den Willen 
einer fürfflichen Drahtpuppe, und die ewlgen Gefehe der Menfchheit und der 
Geſchichte auf Gonferenzen und Congreſſen vernichten zu Binnen. 

Wenn nun aber auch bie Mothrvendigkeit und das Recht des Kortfchrei: 
tens vom Beftchenden zum Befferen zugeftanden und verlangt wird, fo ge: 
ſchleht «8 melftens nur unter der Bedingung und Voraudfegung, daß diefer _ 
Fortſchritt ein gefenficher ſel. Was heißt nun dies? Machen wir ung vor 

. Allem den Begriff des Fortſchrittes in politifcher Beziehung Par. — 
Feder factiſch gegebene Staat verwirklicht, wie Überhaupt jede Form, 
Irgend tin Princip,; welches in allen’ feinen Theilen und Einrichtungen 'her= 
vortrltt: Zwei Principien find es, welche im politifcher Beziehung einander 
gegenüberftehen und je von ben Staaten in der Wirklichkeit vertreten werden, 
das Prineip der Freiheit und das Princip der Unfreiheit, oder dad demofras 
tiſche volksmaͤßige und das abfolutiftifche willkuͤrherrſchaftliche MWenn nun 
in einem Staate irgend eine beftehende Einrichtung oder die gange Staatsform 
ſelbſt in der MWeife vernichtet und durch eine andere erfegt wird, daf durch 
dlefe Veränderung bas beftchende Princip aufgegeben und ein neues Princip 
im Staate zur Anerkennung gebracht wird, fo ift dies ein polftifcher Forts 
ſchritt. Ich mache dem politifchen Fortfchritt abfichtlich von der Aenberung 
bes Principes abhängig, denn die Yenderung irgend einer gegebenen Form 
oder Einrichtung im Sinne bes beftehenden Syſtems ift Eein mefentlicher poli: 
tifcher Kortfchritt, fonft koͤnnte man z. B. eine in ihren praftifchen Folgen 
mohlthätige Aenderung eines Geſetzes durch einen Autofraten ebenfalls politi⸗ 
ſchen Kortfchritt nennen. / 

Geſetzlich ift der politifche Fortſchritt, wenn die politifchen Aenderungen 
und Reformen ohne Verlegung der zur Zeit beftehenden Geſetze des Staates 
und auf dem von den Geſetzen vorgefchriebenen Wege vor fich geben. 

Gluͤcklich ift allerdings dasjenige Volk, deffen ftaatliche Verhältniffe von 
der Art find, daß die beftehenden Einrichtungen nicht mehr als ftabile Hin- 
berniffe der in der dee der Menfchheit begründeten Entwidelung bes Volkes 
im Wege ftehen , fondern entfernt werden können, fobald e8 allgemein gefühls 
tes Bebürfniß ift,, fie zu entfernen. Beneidenswerth ift eine Nation, deren 
Staatsformen und Einrichtungen diefem Fortfchritte zum Beſſern fogar Rech⸗ 
nung tragen und felbft als die Organe des Fortfchrittes benugt werden. Ein 
ſolches Volk hat die Periode des gemaltfamen Kortfchrittes, hat die Nothwen⸗ 
digkeit, pofitive Gefege des Stants zu verlegen, um den ewigen Geſetzen ber 
Menfchheit zu genügen, hinter fich. Allein feben wir auch nach den Bedingun: 
gen und Borausfegungen, an welche bie Möglichkeit eines ſolchen Zuftandes, 
die Möglichkeit des gefeglichen Kortfchrittes geknüpft ift. 

Die Geſetze find nichts Anderes als der in eine beſtimmte Form gefaßte 


Sefeglicher. Fortſchritt. 443 


Wille der Staatsgewalt ober fie find der Ausbrud der Gewalt, welche in 
einem Staate herrfcht. Für die Möglichkeit des politifhen Fortſchreitens 
innerhalb der pofitiven Geſetze kommt deshalb vor Allem die Natur diefer 
herrfchenden Gewalt, deren Ausdrud jene find, in Betracht. Oder, da bie 
politifche Entwicklung eines Volkes auf organifche Weife, von Innen here 
aus, durch Selbftbeflimmung vor fich gehen muß, fo hängt fie weientlich da⸗ 
von ab, ob das Staatsprincip, die herrſchende Gewalt, alfo die beſtehenden 
Geſetze eine ſolche organifche Entwickelung, diefe Selbftbeftimmung des Vols 
kes geftatten. | 

Um diefes Verhaͤltniß richtig beurtheilen zu können, müffen wir und an 
den biftorifchen Proceß halten, welchen die Natur der herrſchenden Gewalt faſt 
gleichmäßig bei allen europäifchen, befonders aber bei den Völkern germani⸗ 
fhen Stammes durchgemacht hat und, wo es noch nicht gefchehen iſt, durch» 
machen muß. 

Wir finden naͤmlich uefprünglich bei al? diefen Völkern, auch wenn 
die ſtaatlichen Anfänge fonft noch fo roh und unentwidelt waren, body eine 
öffentliche Gewalt, welcher fie gehorchten. Diefe herefchende Gewalt wurde 
zwar theilmeife durch beſonders dazu vom Volke ernannte Sunctiondre, allein 
in fehr vielen Faͤllen auch unmittelbar vom Volke ausgehbt, fie beruhte aber 
in beiden Faͤllen auf dem Volke ſelbſt, fie war eine natürliche im Volke ſelbſt 
. liegende und mit dem Volke verwachſene Gewalt. Geht natürlich waren 
Daher auch die Sefege in diefem Zuftande nichte Anderes als ber Ausdruck des 
Volkswillens, das Volk wurde durch fie nicht gehindert in feiner politifchen 
Entwidelung , das Volk beftimmte fich felbft, war von Niemandem und Nies 
mandes Gefegen abhängig ale von fich felbft und feinen eigenen und konnte 
deshalb feine gefellfchaftlichen Einrichtungen je nach Bedürfnis, Gutbefinden 
und gegenfeltigem Uebereinkommen abändern, ohne zur Gewalt feine Zuflucht 
nehmen zu müffen. 

Diefer Buftand erlitt aber im Laufe der Zeit eine wefentliche Umgeſtal⸗ 
tung und zwar namentlich durch zwei Momente, durch die Entftehung und 
Ausbildung der Leibeigenfchaft und des Feudalweſens und durch die Ausbreis 
tung — der bierarchifchen Umbildung des Chriftenthums. — 

Es ift hier nicht der Ort, näher auf die Entflehung ber Leibeigenſchaft 
und des Feudalweſens einzugehen, es handelt fich vielmehr hier nur um eine 
Darftellung ihres Principe und ihrer ftaatsrechtlichen Bedeutung. Durch die 
Leibelgenfchaft wurde ein Theil des Volkes feiner Sreiheit, feiner Menſchen⸗ 
würde und Menfchenrechte beraubt, es bildete fich über den getnechteten Leibs 
eigenen und hörigen Lehnsleuten eine Gewalt, welcher fie jchlechthin unter» 
than wurden, die Gewalt ihrer Herren, Raubritter und Seigneurs. Das Wer 
fen diefer Gewalt beitand darin, daß fie ihre Untergebenen voliftändig ents 
menfchte, als Menfchen vollftändig vernichtete, weil fie ihnen Die Selbftbes 
flimmung ihres Willens benahm und ihe menfchliches Weſen außerhalb ihrer 
felbft in einen fremden Willen fegte. Die Gewalt der Dynaften über ihre 
Unterthanen ließ ſich weder ihrer Entftehung noch ihrer Wirkung nad) auf 
einen vernünftigen Grund zurüdführen,, denn fie hatte ihren Rechtstitel ledig⸗ 
lich in ſich felbft, d. H. im der phyſiſchen Uebermacht oder im Zufall und benugte 


freigeboene Menfchen durch außer ihmen liegenden Zwang zu fremden Zwecken. 
Die Gewalt des Dynaſten über feine Leibeigenen war eine übermenfchliche, 
der Gehorſam der letzteren ein unmenfchlicher. Diefe hatten keinen Einfluß 
auf den Willen, der fie beberefchte, fie Eonnten fidy alfo weder mittelbar nod) 
anmiltelbar ſelbſt beſtlmmen, fondern wurden beftimmt wie eine Sache, 
durch einen fremden Willen, der in fie gelegt wurde. Jene waren in Bezle⸗ 
hung aufibhre WBefugniffe, auf ibe Recht über Andere unabhängig von den 
Bebinigungen, welche für bie Rechtsverhältniffe zwiſchen Menfchen maßgebend 
find, fie waren abfolute Herrſcher. Sie befanden ſich ihren Untergebenen 
gegenüber in einer ebenfo unvernünftigen als unfittlihen Stellung; un» 
vernünftig, weil ihre Gewalt vom Zufall datiete, unfittlich, weil fie Menfchen 
zum Wieh machte. | | 
Anfaͤnglich war biefe Gewalt rein privatrechtlicher Natur. Der Dynaft 
war Eigenthuͤmer, ber Reibelgene befeffene Sache. Im Verlaufe der Zeit 
und mit der allmäligen Ausbildung und Ausbreitung des Feudalweſens be: 
kam fiejeboch einen flantsredhtlichen, einen politifchen Charakter, Die Pris 
vatgewalt ber Dynaften verwandelte fih Im eine Öffentliche. Die Maͤchtigeren 
abforbirten dte Schwädjeren und nahmen am Ende ald Herrſcher uͤber Land 
und Leute auf ihrem Territorium eine politifche Stellung ein, aus den 
Eigenthümern wurden fie Herrſcher. Die urfprünglich in unzählige Beine 
Elgenthuͤmer zerfplitterte Privatgewalt über Leibeigene und Hörige concen: 
teirte fich mach umd nad) auf einzelne Wenige. In einzelnen Ländern confos 
lidirte ſich endlich Diefe fauſtrechtliche Gewalt nur auf einem einzigen Haupte, 
auf dem Haupte Desjenigen , der in ben Zeiten ber Volksgewalt unter dem 
Namen König ale Beamter des Volkes fungirt hatte. 
So verwandelte ſich im Verlauf der Zeiten bie Volksgewalt, welche zu 
exequiren die freien Genoffenfchaften urfprünglich ihren Kriegsanführern und 
Dberhäuptern aufgetragen hatten, in die feudale Privatgemwalt der Fürften. 
Dem Volke wurde gleihfam fein Wille, feine Gewalt genommen und auf 
einzelne Wenige übergetragen. 
Vermittelt wurde diefe Veränderung noch durch ein weiteres Moment. 
Der urgermaniſchen Nationaltheorie gemäß wurde von den Völkern germani⸗ 
[hen Stammes der Staat als auf einem Bertrage beruhend aufgefaßt. Freie 
Franken ſchloſſen z. B. unter fi) einen Grundvertrag und nannten biefes ihr 
Staatsrecht fogar pactum Francorum. (Siehe Srundvertrag.) Ein fols 
cher Vertrag ftellte eine ganz natürliche, menſchliche Gewalt dar, welche nichts 
Anderes mar 6 der beſtimmt gefaßte Gefammtwille de Stammes oder des 
Volkes. — — Über jeit der Gründung großer germanifcher Eroberungsteiche, 
feit der Aufnahme einer neuen, der römifchen und ber chriftlihen Eultur, 
die nicht leicht und ſchnell mit den germanifchen Lebens und Rechtsanfichten 
zu einem harmonifchen Ganzen vereinigt werden Eonnten, feit der despotifchen 
Gewalt, melde die Fürften und erobernden Krieger über die an Sklaverei 
gewoͤhnten roͤmiſchen Unterthanen und Sklaven erwarben, loͤſte fich die alt: 
germanifche Rechtsordnung immer mehr in einen anacdhifchen und faufts 
rechtlichen Zuftand auf. Diefer wurde nur aͤußerlich durch dag feubale 
patrimoniale Schugherrlichkeitsvechältniß der Mächtigeren über die Schwaͤ⸗ 





JJ 


Geſetzlicher Fortfchritt. 45 


cheren georbnetz bie mit ben Fürften und Mächtigen allürten Päpfte unb 
Biſchoͤfe aber ließen fich durch die weltlichen Keubalherren ihre eigenen , meift 
Durch Raub oder Benusung blinden Aberglaubens gewonnenen feudalen 
Schutzherrenrechte über ihre Untergebenen und die blinde Glaubensgewalt 
Über das Volk beſchuͤtzen und Leifteten den weltlichen Herren den Gegendienſt, 
Daß fie die hriftlichen Srundfäge, weiche Freiheit und gleiche Bruderliebe for⸗ 
Derten, mißbrauchten und in ihr Gegentheil verkehrten, und alle geiftliche und 
weltliche Obergewalt als auf eine wunderbare Weife durch den Willen Gottes 
begründet und geheilige darſtellten. So wie in ber chriftlichen Kirche, To ſollte 
aud) im weltlichen Verhaͤltniß nicht mehr der freie Wille, die freie 
Weberzeugung und Einwilligung aller freien Chriften und 
Bürger ihre eigenen und gefellfchaftlichen Verhältniffe beftimmen und fo 
Durch Freiheit die göttlichen Abſichten verwirklichen. Vielmehr follte 
der göttliche Wie, jegt rein von Außen duch die Bewalt und 
das Belieben ber geiftlihen und weltiihen Maͤchtigen ſich 
geltend machen. Aberglauben und Myſtik und Wunder, Geiſtes⸗ und 
Wahrheitsunterdruͤckung, Keberverfolgung und Gewalt mußten dem großen 
Betrugfpfteme Nachdruck geben. — — — Diele Veränderung des Begriffes 
von Geſetz⸗ und Regierungsgemwalt war wohl eines der bedeutendften Ereig⸗ 
niffe der Weltgefchichte und In ihren Kolgen von unendlicher Wirkſamkeit. 
Alte Kämpfe der Neuzeit ſowohl als früherer Perioden drehen fich in ihrem 
legten Grunde um ben Widerfpruch zwifchen ber feubalen Staatsgewalt und 
der menſchlichen Freiheit. — — Es ift der Kampf zwifchen der von Außen 
kommenden Gewalt und dem von Außen kommenden goͤttlichen 
Mecht, der Knechtſchaft, und zroifchen dem auf bem inneren, fittlihen 
oder göttlich geleiteten freien Willen der Nation beruhen: 
den, wahren fittlihen und göttlihen Recht der Freiheit und 
Gewalt. — — — Auf der einen Seite wurden die größten Verbrechen be: 
gangen, die biutigften Kriege geführt, Millionen dahin gefchlachtet, um den 
Begriff der Staatsgewalt im feudalen Sinne aufrecht zu erhalten, und auf 
der andern Seite ebenfo viele Opfer gebracht und Anſtrengungen gemadyt, um 
biefen Begriff wieder auf das Gebiet der Menſchlichkeit herabzuziehen und ihn 
als natürliche, menfchliche Volksgewalt barzuftellen. Aber fo tief hat er ſich 
in die Denkweiſe der Völker Hineingefrefien, daß er fogar in republikaniſches 
Staacsrecht oder wenigſtens in republitanifche Praris Eingang gefunden, wie 
denn noch heut zu Tage die meiften Regierungen der Schweiz, jefuitifche oder 
angeblich radicale, das demokratiſche Princip durch die Auffaflung der Staats: 
gemalt als übernatürliches, göttliches, heiliges und hehres Inſtitut paralpficen, 
indem fie die Regierung — als eine von dem freien Willen der Bürger unab⸗ 
bänagige, Außerliche Verwirklichung göttlihen Willens in ber Geſell⸗ 
(haft —, als eing Art Vorfehung betrachten, welche an fi) den unbe: 
grenzteſten Anſpruch auf Ehrfurcht und Mefpect habe, und hoch über 
den armen Sterblichen in den Wolken ber Majeftät ſchwebend, Deren Säid: 
fale zu lenken beflimmt ſei. — 
Beurtheilen wir nun das Wefen dieſer feubalen Staatsgewalt und ihr 
Verhaͤltniß zu der ehemaligen natürlichen und menfchlichen Volkegewalt. 


Um es mit einem Worte zu bezeichnen; fo ift fie weſentlich diefelbe Sub: 
flanz , aus welcher die Gewalt der Raubritter über ihre Leibeigenen beſtanden 
hatte. Der Feudalftaat repväfentirt das Princip der vollftändigen Nichtig« 
Belt bes Volkes, der Willenlofigkeit, der Nechtlofigkeit des Volkes. Im Feus 
dalſtaat liegt der. herrfchende Wille außerhalb des Volkes, die Quelle, aus 
welcher alle gefeßliche Thätigkeit innerhalb des Staates fließt, Liegt außerhalb 
des Volkes, das Wolf gehört nicht ſich ſelbſt an, es gehört Jemand außer ihm 
Seienden, «8 ift ſchlechthin von einer außer ihm liegenden Gewalt abhängig. 
Der Feudalſtaat repräfentirt daher überhaupt das Princip des Abfolutismus, 
das Princip der Unfreibeit, der Stabilität, der abfoluten Gültigkeit des 
Beftehenden. Das Volk ift in ihm Mittel fir fremde Zwecke, das Mittel, 
um die beftehenbe Herrſchaft, die beftehenden Formen aufrecht zu erhalten. 


In diefen Säsen ſcheint die Antwort auf die Frage nad) der Möglichkeit 
bes gefeplichen Fortfchreitens im Feudalſtaate enthalten zu fein, Jeder Fott- 
Schritt des Volks im Feudalſtaate verlegt das beftehende Princip und muß dee: 
balb ein ungefeglicher fein, ‚denn das Wolf verlegt in demfelben Moment bie 
beftehenben Gefege, in welchem es einen felbftftändigen Entſchluß faßt, ſich 
felbft beftimmit; denn feine Unfceibeit, feine Unfähigkeit, ſich felbft zu beftim- 
men, ift die Bafis des ganzen Stantsgebäudes, iſt der leitende Gedanke ber 

en Geſetzgebung. Im Feubalſtaate iſt daher jeder gefegliche Kortfchritt 

in wahrer Fortſchritt, denn als gefeßlicher greift er das beftehende Princip 

nicht an, und jeder wahre Fortſchritt iſt Fein gefeglicher, denn er vernichtet 
das beftehende Princip, er negirt das Recht ber herrfchenden Gewalt. 


1 Dee gefegliche Fortſchritt im Feudalſtaate unter der Herrfchaft des gött: 
lichen Rechtes ift aber ferner auch deshalb unmöglich, weil in einem ſolchen 
Staate jedes gefegliche Organ für die politifche Entrwidelung des Volkes fehlt. 
Sm vernünftigen und natürlichen Zuſtande fchreitet das Volk mittelft gemiffer 
Inſtitutionen und Organe, welche in der Geſetzgebung des Landes garantirt 
und beftimmt find, vorwärts. Sie dienen dazu, um dem Willen des Volkes 
die Möglichkeit, fich zu dußern, zu verfchaffen. Dahin gehören die Preß⸗ 
freiheit, die Affociationsfreiheit, das Recht, Volksverſammlungen zu halten, 
auch volksthuͤmliche Verwaltung und ein volksthuͤmliches Gerichtsweſen. Alle 
dieſe Inſtitutionen fchließt der Keudalitaat aus und muß fie feinem Principe 
gemäß ausfchließen. Das Volk darf im Feudalftaat Eeinen Willen haben, 
ber herrſchende Wille liegt ja außerhalb des Volkes, eben deshalb Eönnen unter 
der Herrſchaft des göttlichen Rechts auch Feine Organe für die Willensäuße: 
rung des Volkes beftcehen. Die herrfchende Gemalt im Feudalftaat Eann die 
Freiheit der öffentlichen Meinung nicht dulden, denn durch eine unbejchränfte 
Kritik würde fie von ihrer myſtiſchen, übernatürlichen Höhe auf das menſch⸗ 
liche Gebiet herabgezogen ; im Feudalſtaat ift Beine Preßfreiheit, fondern die 
Cenſur, welche die Gedanken der Unterthanen beauffichtigt und ihnen das 
Hecht, eigenen Willen und eigene Meinung zu haben, abfpriht. Im Feu⸗ 
dalftaat find Volksverfammlungen und politifche Vereine verbrecherifche Un: 
ternehmungen,, denn fie find die Aeußerungen eines felbititändigen Volke: 
willens und eben deshalb verboten. Das Volk hat Beine Theilnahme an der 


Gefeslicher Fortſchritt. 447 


VWerwaltung und Geſetzgebung, denn das Volk ift nicht frei, jene Theilnahme 
aber ift ein Merkmal der ſtaatsbuͤrgerlichen Freiheit. 

So fehlen alfo dem Volke im Feudalſtaate alle diejenigen gefeglichen 
Mittel und Organe, durch welche es feine Meinung, fenen Willen, feine 
Wuͤnſche aͤußern und eine Veränderung der beftehenden Verhaͤltniſſe bewic⸗ 
ten Lönnte. Der gefegliche Fortſchritt fcheint alfo im Feudalſtaat nicht blos 
principiell, fondern auch factiſch unmöglich, zu fein. — — Im Feudalſtaate 
ift alfo, wenn einmal das Volk zum Bemußtfein der Taͤuſchung in Beziehung 
auf jene Außerliche theokratifche Verwirklichung des göttlichen Willens, zum 
Bewußtſein der völligen Menfchlichkeit jener menfhlihen Gewalt gelangt 
und zum Bewußtſein feiner Freiheit und feiner Pflicht, das Bute und Rechte, 
ben göttlichen Willen in feinen eigenen Lebensverhditniffen nad) reifer Pruͤ⸗ 
fung und Berathung der Bürger unter einander felbft zu verwirklichen — 
alsdann ift hier gefeglicher Fortſchritt nur möglich, wenn die Gewalt. felbft 
ganz und ehrlich das frühere falfche Princip mit feinen Folge⸗ 
tungen aufgiebt. — — Das Princip des Feudalſtaates oder Kberhaupt 
jeder herrfchenden Gewalt, welche das Weſen und den Willen des Menfchen 
durch irgend einen Zwang außer dem Menfchen fest, welche den Menfchen, 
defien Idee es ift, frei zu fein, feiner Selbſtbeſtimmung beraubt und ihn 
zu einem willenloſen Mittel für außer ihm liegende Zwecke macht, biefes 
Princip führt ale unausweichliche Sonfequenz den ungefeglichen Kortfchritt in 
feinem Gefolge, d. h. die Revolution. Revolution ift dieVernichtung eines 
beftehenden Principe oder Zuftandes, in welchem diefes feine Verwirklichung 
fand, und Erfegumg deffelben durch ein weſentlich anderes. Wie oben bemerkt 
wurde, giebt es In Beziehung auf den Staat und politifche Dinge nur ein 
richtiges Princip, das Princip der Freiheit. Jede Gewalt, welche das Prin⸗ 
cip der Unfreiheit vertritt, führt Deshalb — wenn fie nicht felbjt ihr eigenes 
Princip aufgeben win bei dem zur Freiheit erwachten Bolt — als unvers 
meidliche Nothiwendigkeit eine Revolution nad ſich, durch welche das Prin⸗ 
cip der Freiheit zur Anerkennung gebradyt wird. Die ganze Weltgefcyichte bes 
weift Die Wahrheit diefer Behauptung und bezeichnet fie ale ein Poftulat der 
Vernunft. Es hat noch Fein Volk gegeben, das — zur Freiheit erwacht, 
Knechtſchaft und Selbſtentwuͤrdigung geduldet hätte, das nicht, wenn die Derrs 
[haft ihr Princip und feine Kolgen nicht ändern, oder, wie wiederholt bie 
Stuarte und dieBourbonen, nicht ehrlich und treu und folgerichtig 
aufgeben wollte — nicht buch Revolution ſich frei gemacht hätte. Es giebt 
vielleicht in Europa kaum ein freies Volk, das nicht das Princip des Feudal⸗ 
ſtaates durch eine Revolution vernichtet hätte. Blicken wir auf die verfchies 
denen Revolutionen der Neuzeit. Die Reformation war eine Revolution, 
durch welche das Princip der Eatholifchen Kicche , Ihre abfolute Gewalt verniche 
tet wurde. Luther war nad) katholiſchem Kirchenrecht, war den Geſetzen der 
katholiſchen Kirche gegenüber ein Empoͤrer, ein Revolutiondr, ein Verbrecher 
an ben beftehenden Gefegen. Aber war ihm ein anderes Mittel geftattet, war 
eine Vernichtung des Fatholifhen Principes ber Unfreiheit auf geſetzlichem 
Wege möglih? Wer einen Begriff von Logik und Princip hat, muß dies 
verneinen, denn es iſt der Fluch der Unfreiheit, es iſt Der Fluch der abſolutiſt 


148 Gefeglicher Bortfchritt. 


ſchen Gewalt, daß fie allermeift Leinen wahren Fortſchritt erträgt, denn ein 
Princip, das man noch fefthalten will, laͤßt nich“ mit ſich maͤkeln, Läßt fich nicht 
miodificiren, es beruhigt fich nur, wenn es ganz anerkannt iſt, und benußt jedes 
Zugeſtaͤndniß, jede Conceffion zu neuen Forderungen. — Nur in Harmonie 
mit feinem Grundprincip findet man Befriedigung. — Das Princip ber 
Stuart'ſchen Staatsgewalt war das Princip der Unfreihelt, es wurbe vernich- 
tet durch die englifche Revolution. Warum? Weil an die Stelle des alten 
Principes ein anderes treten mußte und weil biefe Veränderung durch die bes 
flehenden Befege — well e8 ohne voͤlliges treues Aufnehmen des neuen Prins 
cips von Seite ber Gewalt — nicht möglich war. 

Das Pılncip der bourbonifchen Staatsgewalt war das Princip bes Abs 
folutismus, des Feudalſtaates, des göttlichen Rechtes. Wodurch wurde es 
vernichtet? Durch die franzoͤſiſche Revolution. — War die Vernichtung die⸗ 
ſes Staatsprincipes auch ohne Revolution moͤglich? Nein, — wenn nicht 
der Koͤnig und mit ihm und durch ihn Adel und Geiſtliche verſtaͤndig 
genug waren, ehrlich ihre ariſtokratiſch abſolutiſtiſche Gewalt ſelbſt aufzu⸗ 
geben. — Erſt durch die Mevolution wurde der dritte Stand, d. h. wurde das 
ganze Volk als berechtigt anerkannt und diefe Anerkennung bes Volkes war 
eine Verlegung des bourbonifchen Staateprincips und der Gefege bes franzoͤ⸗ 
ſiſchen Feudalſtaats. Die Amerikaner vernichteten das Princip der Abhängigs 
keit von England durch eine Revolution. Die Belgier vernichteten das Princip 
der Abhängigkeit des Volkes von biplomatifchen Congreffen, alfo das Prindtp 
der Unfreiheit, durch eine Revolution. — Die Franzofen vernichteten im 
Sahre 1830 das Princip der Abhängigkeit von einem außer ihnen liegenden 
Willen, der in der Einführung und im Geifte der Meftaurationscharte repraͤ⸗ 
fentirt mar, durch eine Revolution. Das Princip des Abfolutismus, d. h. 
der über dem Volke ftehenden, ohne fein Zuchun entftandenen und ohne feine 
Theilnahme herrfchenden Staatsgewalt , Bann in der Regel — da Verſtaͤn⸗ 
bigkeit und die Kraft zu neuem Leben in neuem Princip fehr felten bie Sache 
ber meift gefehwächten, verborbenen, ſchlecht unterrichteten Höfe ift — nur 
durch Revolution vernichtet werden. 

Damit ift aber natürlich nicht gefagt, baß jede Revolution das beſte⸗ 
hende Staatsprincip vernichte. So murden in den dreißiger Jahren auch 
in Deutfchland verfchiedene ſogenannte Mevolutionen gemacht, melde In 
Mirktichkeit nichts Anderes waren als Straßenaufläufe, die einige factifche 
Veränderungen zur Folge hatten. So revoltirten fie in Braunfchweig, wie 
Böme fagt, um einen Vornamen, d. h. um die Beränderumg der Perfön: 
lichkeit, aber nicht des Principes ihres Herrſchers. So in Dresden um 
Anige Modificationen in der Verfaffung,, das herrfchende Staatsprincip blieb 
in beiden Fällen daſſelbe — und nur das Bewußtſein, der Lebensinftinct der 
Freiheit im Volke wurbe für fpäteren Sieg mehr geweckt und gefräftigt- — 
| Eine beſonders wichtige Frage ift es, ob und inwiefern eine Revolution 
auch von dem herrfchenden Principe der Unfreiheit, von ber herrſchenden 
feudalen Staatsgewalt felbft ausgehen, d. h. ob eine Revolution eine geſetz 
Liche fein Eine? Es laͤßt fi nämlich ber Fall denken, ein Träger ber feu⸗ 
dalen Staatsgewalt, ein abfoluter Derrfcher von Gottes Gnaden, mürbe 


Geſetlicher Fortſchritt 449 


aus freiem Stuͤcken und eigenem Antriebe bie Natur ſeined Gewalt verändern 
und an die Stelle des herrfchenden Principes der Unfreiheit das der Volks⸗ 
freiheit fegen, d. 5. feinem Volke die Sreiheit Schenken — oder, richtiger ges 
Sagt, zurüdgeben. — Factiſch ift eime ſolche Handlung möglich, denn ein 
abfolnter Herrſcher kann Alles, er ift allmächtig, allein iſt fie auch pfychologifch 
moͤglich? Ein feudaler Staatsherrfcher befindet fi — wenigſtens objectio, 
mag der einzelne Derefcher die Einficht und Abſicht haben oder nicht — in einer 
unfittlihen Stellung, feine Gewalt über die von ihm beherrfchten Unter- 
thanen ift eine unmoralifche, weil fie weſentlich dieſelbe Subftanz ift, aus wel⸗ 
cher einft die Gewalt über Leibeigene beftand, meil fie die Freiheit im Men⸗ 
fchen vernichtet, weil fie, als auf der phufifchen Gewalt oder Täufchung, der 
Erniedrigung der Regierten, gleichviel ob durch Raub oder dußeren Zufall be 
ruhend, ber fittlichen Idee des Staates widerfpriht. Ein feudaler Staats: 
herrſcher begeht in allen Acten feiner abfoluten Herrſchaft — gleichviel wie 
feine Einfiht und Abſicht ift, menigftens eine objectiv unfittliche Hand⸗ 
Jung, weil er von einer unfittlihen Gewalt Gebrauch macht, das Unrecht 
fortfest. Nur das Aufgeben der an fih unfittlihen un: 
rehtlihen Willkuͤrgewalt ift ſittlich und rechtlich. Pſycho⸗ 
logiſch aber ift dieſes Aufgeben fchmerer, als von gewöhnlichen Naturen und 
geiftigen und fittlichen Kräften erwartet werden Bann. — Dafür fprechen alle 
Erfahrungen, welche bis jest die Weltgefchichte geliefert. Es hat wohl fchon 
feudale Herrſcher gegeben, die im Drang ber Umftände ihren Unterthanen 
einige factifche Conceſſionen machten, allein ber Fall ift wohl noch unerhärt, 
daß ein abfoluter Regent das Princip feiner Staatsgewalt freimillig vernichtet 
und an die Stelle der Willenlofigkeit des Volkes das Princip wahrer Volks⸗ 
freiheit gefegt hätte. 

Eine folche gefegliche Revolution iſt audy mit dem Begriffe der Freiheit 
ſchwer vereinbar. Die volllommene Freiheit ift weſentlich das Reſultat eines 
Innerlichen Proceſſes, das Product einer organifchen Entwickelung, wel⸗ 
ches niemals blos von Außen einem Dienfchen oder einem Molke aufge: 
pfropft werden kann. Daß die Freiheit nicht geſchenkt werden kann, iſt eine 
alte Wahrheit, ein Volk muß fich felbft frei machen. So lange ein Volk feine 
Freiheit, d. b. fein Wefen, feine Menfchenrechte von einer außer Ihm liegen- 
den Gewalt erbittet oder erwartet, ift es nicht frei; es hieße deshalb alle Geſetze 
des menfchlichen Denkens verfpotten, wollte man fagen, einem Volke koͤnne 
durch einen Außeren Machtfprudy das Recht ertheilt werden, frei, d. b. 
Menſch zu fein. So wenig ein einzelner Menſch von einem anderen bie Ers 
laubniß frei zu fein befommen Tann, und fo wenig er dann frei iſt, wenn ihm 
ein Anderer dieſe Erlaubniß ertheitt, ebenfo wenig Tann ein Volt duch 
das Dictat einer fremden Gewalt frei werden. — Nur veranlaffen kann bei 
der Wechſelwirkung des Aeußeren und inneren die von Außen gefommene 
Freiheit die Erweckung oder Hervorbildung der inneren Freiheit, und ber Aus 
Bere Freiheitsdrang des Volkes, die Innere Gerechtigkeit und Weisheit des 
Herrfchers, unfittliche, unrechtliche abfolute Gewalt gegen höhere wahre Würde 
und Ehre hinzugeben. Aber wie ſchwer ift für Völker und Herrſcher ſolche 

Suppl. 3 Staatslex. IL 29 


450 Befeglicer Bortferit 


glückliche Wechſelwirkung und ber Sieg des Guten und Rechten in ihe — ber 
Ungemwaltfame, unblutige Sieg! — 

Diefes Verhaͤltniß führt eine weitere Frage nach fi. Iſt ber geſetzliche 
Fortſchritt auch dann möglich, wenn z. B. eine feudale Staatsgewalt ihren 
Unrerthanen einige factifche Gonceffionen gemacht, einzelne Befugniffe er- 
theilt und das herrſchende Staatsprincip einigermaßen mobdificitt, im Wes 
ſentlichen aber beibehalten bat? In dieſem Falle hängt die Beantwortung 
ber Frage von dem thatfähhlihen Zuftande ab. Iſt die Natur ber herrs 
chenden Staatsgewalt noch wefentlich feubal, läßt fie ſich in gerader Linie auf 
bie Gewalt mittelalterlicher Raubeitter zuruͤckfuͤhren, fo ift der Staat, d. h. 
Band und Beute, Eigenthbum bed Herrſchers und biefer letztere unmittelbar 
fouverän, Regent in Folge göttlichen Rechtes, und das Volk ift nicht willens⸗ 
berechtigt; oder, um e8 anders auszudruͤcken, find in einem Staate die ber 
ſtehenden Berhättniffe fo, daß die Staatsgewalt dem Volke gegenüberfteht 
und gewifje Einrichtungen aufrecht erhalten kann, jelbft wenn die Majorität 
bes Volkes fie verabſcheut und abgeändert wiſſen wollte, alsdann iſt ber gefeg- 
liche Fortſchritt — nur durch ein Wunder von Weisheit und Gerechtigkeit 
bes Herrſchers moͤglich. Ohne diefes ift er unmöglich, weil fie beweifen , daß 
das Volk feinen gefeglichen Willen hat, fondern einer über ihm ftehenden Ge⸗ 
malt gehorcht, welche feinem Willen ben ihrigen mit Erfolg entgegenftellen 
und durch phufilchen Zwang zurüdhalten kann. 

Steht e8 übrigens in einem Staate fo, find factifch dem Principe ber 
Freiheit Gonceffionen gemacht, während aber die herrſchende Gewalt nod) 
weſentlich feudal, abfolutiftifc ift, fo ftehen zwei feindliche Principien einander 
gegenüber, bie mit einander um bie ausfchliefliche Herefchaft Fampfen. Da 
ein Princip niemals mit halber oder theilweifer Anerkennung ſich begnugt, 
da in einem folchen Staate weder das Princip des Abfolutismus noch das der 
wahren Volksfreiheit voliftandig anerkannt ift und herrfcht, fo fucht bag eine 
wie das andere fid) vollftändig und ganz herzuftellen. Der Verlauf der politi= 
ſchen Entwidelung in einem ſolchen Staate wird ſich alfo nothwendig fo ge: 
ftalten, daß nad) längerem oder kuͤrzerem Kampfe entweder das eine oder 
andere Princip ausfchließlicy zur Herrfchaft gelangt, daß alfo die Staatsge⸗ 
walt entweder zum Princip des reinen Abfolutismus zurüd, oder zum Prin⸗ 
cip der reinen Demokratie vorwärts gehen muß. 

Wenn nun aber in einem Staate principiell das Princip der Unfteis 
beit vernichtet, jedoch factifch die herrfchende Gewalt mehr oder minder un: 
volksthuͤmlich und abfolutiftifch regiert, wie geftaltet fic) dann die Möglichkeit 
bes gefeglichen Fortſchritts? In Frankreich 3. B. wurde durd) die Julirevo⸗ 
Iution das wieder eingeführte feudale Staatsprincip, das göttliche Recht prin⸗ 
cipiell vernichtet und an feine Stelle das Princip der Volksfouveränetät ges 
fest. Die in Frankreich herrfchende und auf dem Haupte Louis Philipp’s 
concentrirte Gewalt ift mwefentlidy eine andere Subftanz als die von Char: 
les X. oder Louis XVI. oder irgend eines anderen feudalen Regenten; fie ift 
ihrer Entftehung und ihrem Princip nad) die Gewalt des franzöfifchen Volkes, 
wenngleich thatſaͤchlich der Volksfreiheit geradezu feindlic und in vielen Be⸗ 
jiehungen ebenfo gemwaltthätig und rechtöverlegend als bie nächfte befte abfo- 


Geſetzlicher Zortfchritt. 451 


Iutiftifche Staatögewalt. Oder Luzern 3. 3. ift der Form nach eine Repus 
blik, die herefchende Staatsgewalt ruht dem Princip nad) auf dem Volke, 
die dortige Regierung iſt der vom Volke gewählte Mandatar , in Luzern giebt 
08 keine Unterthanen, bie Luzerner gehören Niemandım ; gleichroohl ift der 
thatfächlihe Zuſtand dort fcheußlicher ald in manchem Feudalſtaate und bie 
herrſchende Gewalt ſchaͤndlicher als mandye abfolutiftifhe. Oder Zuͤrich if 
ebenfalls eine Republik, die Traͤger der herrſchenden Gewalt ſind vom Volke 
eingeſetzt, das Volk iſt dem Princip nach vollſtaͤndig ſouveraͤn; allein die Re⸗ 
gierung verfolgt unter dem Scheine des ſogenannten legalen Liberalismus 
theils durch rechtswidrige Geſetze, theils durch offenbare Gewaltſtreiche und 
Verletzungen des demokratiſchen Principes eine ganz freiheitsfeindſelige Ten⸗ 
denz, die eben ſowohl von intellectueller Imbecillitaͤt als moraliſcher Schwaͤche 
und Feigheit zeugt. Iſt nun in ſolchen Staaten der geſetzliche Fortſchritt moͤg⸗ 
ih? — Im Allgemeinen muß man dieſes bejahen. Er ift um fo 
fiyerer möglich, je tüdhtiger das Volt und feine Männer 
find — und je weniger auswärtige Unterftügung bes despotifchen Syſtems 
den friedlichen Sieg des Rechts erſchweren. Gerade die den Hoͤfen und Hof⸗ 
lagern verhaßten muthigen Kämpfer für Freiheit und Wahrbeit und gegen 
das Berderben, die Schmad und die Schande der Unterdrüdung können 
bier den Thron und den Frieden noch retten. — Denn bier ift wenigſtens das 
Princip der Vollsfouveränetät anerkannt und die gegebenen Geſetze und Eins 
richtungen des Staates koͤnnen vom Volke zur Verwirklichung feines Willens 
benugt werden, fobald es gelingt, ihm die Augen über ben beftehenden Zus 
fland zu öffnen. Ob aber im concreten Galle eine Veränderung des beftehen» 
den Zuſtandes auf geſetzlichein Wege wahrſcheinlich ift, und ob eine gewaltfame 
Aenderung des Beftehenden mwohlthätiger oder weniger verderblich wäre als 
längere Dauer des Unrechts, das kommt auf die Berhälmifie an. Jeden⸗ 
falls aber kann in Wahrheit behauptet werden, daß das Selingen bes zweiten 
Freiſchaarenzuges nach Luzern diefem Lande taufendfältigen Sammer und 
viel gräßliches Ungluͤck erfpart hätte, daß viele Familien jegt nicht an ben 
Betrelftab und in’s Elend gebracht, daß viele Menfchenleben nicht verloren waͤ⸗ 
ven, daß das Land jegt nicht einem materiellen und moralifchen Ruin ents 
gegenginge. So viel iſt gewiß. Vielleicht wird das jegige Regiment auf 
geſetzlichem Wege geflürzt. Allein diefer gefegliche Weg ift lang, unenblid) 
lang, und befchreibt fo viele Krummungen, baß eine ganze Generation 
zu Grunde gehen Bann, ehe er an's Ziel führt. — Schwer find bie Fragen 
zu entfcheiden, wenn man abrodgt: einerfeits Die moralifche und materielle 
Verderbniß der Tyrannei, und ihe Gegengewicht, die nicht feige, ſondern 
männlich und geſetzlich kaͤmpfende Ausdauer, andererfeits die Werderbniß der 
Revolutionen und ihe Gegengewicht, ihre muthvolle Erhebung. Noch ſchwe⸗ 
rer iſt die Frage: wer hat das Recht zur Revolution? — 

Ich komme hier an die allgemeine Frage, ob in politiſcher Bezie⸗ 
bung das Abweichen von ben poſitiven Geſetzen rech tlich erlaubt, d. h. mit 
den Geſetzen der Moral vereinbarlich iſt? Hierauf antworte ich unbedingt: 
Jeder iſt ein Verbrecher, nicht blos nach poſitivem Rechte, ſondern auch ge⸗ 
genuͤber der Moral, welcher auf politiſchem Gebiete die beſtehenden Geſetze 

209* 


Geſetzlicher Fortſchritt. 


Staates verletzt — vorausgeſetzt, daß dieſer Staat auf dem Principe 

iheit beruht, daß die herrſchende Gewalt dieſes Princip nicht verletzt 

af die beſtehenden Geſetze dem Volke und jedem Einzelnen die Möglich» 

rbieten, feine Anſichten, Wünfche und feinen Willen geltend zu machen. 

Wie fteht es nun aber mit der Revolution vor dem Richterftuhl bes 

nunftrechts, denn nur dieſes, nicht das pofitive kann hier in Betradht 

men, benn bie Frage nach ber Mechtlicykeit einer Revolution ift „keine 

bts =, ſondern eine Gewiſſensfrage.“ — Dom pofitiven Standpunkte 

ig Frage zum Voraus gelöft, je nach den Ausgang. Siegt die despor 

Gewalt, fo ift der Nevolutionde Hochverräther. _ Siegt die Revolu—⸗ 

., fo ift daß pofitive Gefe gegen fie vernichtet. Ja gemöhnlich wird das 

eMecht, wenn auch unlöblich, ruͤckwaͤrts angewendet auf die Befiegten, die 

b oft auch ala Werleger früher beftandnen Rechts erfcheinen. — Wann 

ft nad dem Bernunftreht — Revolution oder überhaupt Verlegung 

nfrinen Gefege erlaubt, um eine Veränderung der politifchen Zuſtaͤnde 

a ringen? Unter Mevolution aber verftehe ich bier Fortfchreiten vom 

rung der Unfreiheit zur Freiheit, es gehört alfo unter diefe Frage natür= 

\e bie Gontrerevolution, d. h. der gewaltfame Rüdfchritt zuc Unftei- 

| Beziehung auf die Revolution aber ift obige Frage folgendermaßen 

itworten: Wenn in einem Staate bie beftehenden Verhältniffe und 

tungen, bie herrſchende Gewalt und das Staatsprincip fo beſchaffen 

aß durch fie den Beherrfchten diejenigen Rechte und Freiheiten entzogen 

‚ welche die Menſchheit bedingen, daf fie ein freies Volksleben unmoͤglich 

ouu)en, alfo einen unfittlichen Zuftand begründen, fo ift eine Verlegung 

ber beftehenden Gefebe, eine Revolution — an fih und im Allgemeinen 

. kein Unredht gegen die tyrannifchen Zuftände und Gewal⸗ 

ten. Und nurbdie Frage, was haben der Einzelne oder viele Ein: 

zelne für Pflichten und Rechte nicht gegen dag tyrannifche Unrecht, fondern 

gegen die unfhuldbige Bemeinfhaftdes unterdrüudten Volkes, 

was hat in Beziehung auf fie und ihre Gefährdung durch vielleicht un: 

gluͤckliche Revolutionen der Einzelne für Vollmachten und Befugniſſe, 

nur diefe ift ſchwierig. Das Unrecht, die Tyrannei felbft kann keine Achtung 

fordern. — — Begründet wird diefe Behauptung vor Allem durch die Ruͤck⸗ 

fiht auf den Staatszweck und die Idee der Freiheit. Freiheit ift der hoͤchſte 

menſchliche Zweck — die Grundbedingung der Füchtigkeit und Würbe ber 

Völker, das hoͤchſte Gefeg würdigen Staatslebene — welchem alle anderen, 

vor Allem aber die Achtung vor den beftehenden Gefeben ſich unterordnen 

müffen. Freiheit ift das Weſen des Menſchen, der Staat ift ihre Form, 

die Form muß aber immer dem Weſen nachſtehen und darf niemals zum 

Zwed erhoben werden. Die Rüädficht auf die beftebende Staatsform und 

die Geſetze über bie Nüdficht auf die Sreiheit zu flellen, hieße daher nichts 
Anderes, als das Mittel zum Zweck erheben und diefen jenem unterordnen. 

— — Hierzu kommt, daß nad dem Dbigen bei der Herrfchaft des 

Principe der Unfreiheit friedliche Umwandlung allermeift menſchlicher Weife 

nad) faft nicht zu hoffen ift, daß aber felbft die zahmfte Despotie gezwungen ift, 

das Volk täglich moralifch und geiftig zu verfchlechtern, um fo mehr zu ver: 


” 


Geſetzlicher Fortfchritt. ' 453 


ſchlechtern, je mehr bie Sreiheltsregungen in demſelben ben Herrſchenden ges 
fährden, Ängfligen, erzumen. — — Selbſt Zachariaͤ, dem man bo 
gewiß keine zu große Hinneigung zu liberalen Ideen nachweifen kann, felbft 
Diefer Publiciſt nennt die Revolution ein „heroifches Mittel, zu welchen jedoch 
nur in den Außerften Faͤllen gegriffen werden dürfe.” Ein aͤußerſter Fall iſt 
aber unftreitig dann vorhanden, wenn es ſich darum handelt, ob ein ganzes 
Volk durch die Unfreiheit und den Despotismus fich gebuldig um Würde und 
Eriftenz bringen laffen , oder ob es fein Joch abfchütteln fol. 

Die Sefege find der Ausdruck der herrſchenden Gewalt, im bespotifchen 
Feudalſtaate, im Zuftande der Unfreiheit, unter der Herrſchaft der Unfitt⸗ 
Lichkeit find fie deshalb nichts Anderes als das Mittel, um das Volk feiner 
Freiheit zu berauben und die verbrecherifchen, moralifch verwerflichen Zwecke 
des Abfolutismus zu verfechten. Kann man nun vom Standpunkte des 
Vernunftrechts, vom Standpunkte ber Moral aus, im Allgemeinen 
Achtung vor ſolchen Geſetzen verlangen ? Im Privatrechte giebt es gewiſſe 
Verbindlichkeiten, zu welchen fih rechtlich Niemand verpflichten kann, 
wie z. B. zur Entaͤußerung ſeiner perſoͤnlichen Freiheit, oder zu ſonſt einer 
unſittlichen Handlung, eine ſolche Verpflichtung iſt als pactum turpe rechtlich 
unguͤltig. So giebt es im oͤffentlichen Rechte gewiſſe Befugniſſe, welche den 
Staatsangehoͤrigen nicht entzogen werben koͤnnen. Dahin gehoͤren alle dieje⸗ 
nigen Geſetze, welche gewiſſe Vorausſetzungen der Menſchheit, Menſchenrechte 
aufheben, oder welche eine moraliſch indifferente Handlung oder eine recht⸗ 
lich erlaubte Handlung zum Verbrechen ſtempeln. Haben ſolche Geſetze An⸗ 
ſpruch auf rechtliche Guͤltigkeit, kann die Verletzung ſolcher Geſetze fuͤr na⸗ 
turrechtlich verwerflich erklaͤrt werden ? Ich ſetze z. B. den Fall, in einem 
Staate beſtehen Geſetze, die durch einen unſittlichen Act, etwa durch einen 
Eidbruch des Legislators geltend, d. h. poſitiv gemacht wurden ? 

Wenn der einzelne Menſch nicht im Stande iſt, auf geſetzlichem Wege 
ſeine Rechtsſphaͤre zu wahren, Angriffe auf ſein Recht abzuweiſen, ſo iſt er 
im Stande der Nothwehr und darf ſich durch Selbſthilfe retten; dieſe iſt 
nicht nur moraliſch, ſondern ſogar pofitiv rechtlich erlaubt. Sollte dieſes Ges 
feg der Nothwehr nicht auch im öffentlichen Rechte feine Anwendung finden, 
ſollte Mehreren, Vielen ein Verbrechen fein, was dem Einzelnen erlaubt 
it? Ein Volk befindet fich derjenigen Gewalt gegenüber, welche es für willen» 
und rechtlos erklaͤrt, welche ihm eine menſchliche Eriftenz unmöglich macht, 
welche es mit einem Worte durch phyfiichen Zwang feiner Freiheit beraubt, 
im Stande der Nothwehr — — die unterdrüdten Befiegten find es nad) 
H. v. Haller ſtets durch die fliegende Uebermacht und Lift der Herrſchen⸗ 
ben. Es ift nah ihm „natürliche Orbnung Gottes”, womit bie 
Mächtigen berrfchen über bie Schwächern, biefe Derrfchaft iſt nach ihm „von 
Sort.” Aber fir wechfelt, und wenn der Schwache buch Muth und Klugheit 
ber Starke wird, fo herrfcht jegt er von Gottes Gnaden. Diele an fi wahrs 
baft unfittliche Theorie des Reſtaurators und Apologeten des Raubritterthums 
aber nimmt doc) wahrlich eine andere Geftalt an, wenn die Gewalt nicht 
gegen das wahrhafte menfchliche und göttliche Urrecht ber Freiheit, fondern 
für daſſelbe gegen bie Unterbrüdung fiegeeih wird. — — 


454 | Gefegficher Fortſchritt 


Man hat gegen bie Rechtfertigung ber Revolution ſchon ben Einwurf gel: 
tend gemacht , fie fet deshalb unzuläffig, weil fie an die Stelle des Staats 
Ban Stand der Natur, d. h. Anarchie fege. Niemals hat es einen größeren 
. Eohtfähluß gegeben. Gerade der Feudalſtaat, in welchem nad) göttlichen 
techte gehertſcht und das Volk willenlos und unfrei gemacht wich, ift Fein 

aat, denn der Staat iſt eine fittliche und vernünftige Anftalt, Der Feubals 

t ifE nichts Anderes Als ein bleibender Kriegszuftand, eine pofitive Anat 

alt; ein in Gefege gefaßter Desporismus, welcher gerade Durch bie Nevolution 

in einen vernünftigen und fittlichen Zuftand verwandelt wird. 

— — Nach allem diefem ift im Allgemeinen Achtung ber Frei: 
belt und Streben, tägliches muthiges und unermüdliches, aufopferndes 
Siteben für fie heilige Pflicht und Ehrenſache aller Völker umd Bürger, und 
«8 if unmöglich, ohne Fäufchung, ohme Geiftesbeichränktheit, ohne Pflicht: 
Verlegung das Gegentheil, bie fittliche Achtung ber Tprannei und ihrer Maß— 
regeln oder fogenannten Gefeße zu fordern. Und dem Volt im Alige: 
meinen ſprach wohl noch nie Jemand das Recht ab, ſich frei zu erklären 
und frei zu machen um jeben Preis. Sqhwieriger aber ift die Frage über 
dad Recht Einzelne. Wenn die elgene wahre Nothwehr für 
Frau und Kind, für Familie, Ehre und Eigenthum, für die eigenen Rechte 
mb fiir die des Mitbürger, wenn unwiderſtehliche Verzweiflung die Ein: 
zelnen in ben Kampf mit der Iprannei treiben und duch Zuſtimmung 
06 Bat Dam Revolution entſteht, fo hat nod) Beine Gefchichte, Fein Zeit: 
alter ein moralifches Verdammungsurtheil ausgeſprochen. Aber der Ein: 
zelne hat für eine niht in wahrem Nothwehrrecht auggeübte, 
für eine kalt befchloffene Revolution, da wo nicht etwa zum Vor: 
aus gegebene allgemeine Geſetze (mie bie ber Griechen und Mömer 
über den Zyrannenmord ) ihn bevollmächtigen, Feine Vollmacht, über 
dad Gemeinfame feiner Mitbürger zu befchließen und ben 
Krieg zu erklären. Er Hat auch Feine Bürgfhaft, ihre Leiden 
nicht zu vermehren. Seine Eigenmacht und eigenmäcdhtige Verſchwoͤrung 
mißglüdt auch allermeift für ihn und für fie. Selten wird alsbaldige 
allgemeine Zuftimmung und glüdlicher Ausgang ihm nachtraͤglich eine 
nur vermuthete Vollmacht beftätigen. — — 

Diefe Anfichten über die allgemeine Natur des nothmendigen und 
felten auf friedlichen Wege moͤglichen Fortfchrittes von dem Princip des 
Despotismus zu dem ber Freiheit theilen alle freien Völker. Privatverbrecher 
teifft, überall derfelbe Abfcheu, fie werden in den meiften Fällen den Gerich— 
ten ausgeliefert, wo fie fidy treffen laſſen, politifchhe Verbrecher dagegen 
finden im freien Auslande ein ſicheres Aſyl und haben, fofern keine perfön: 
liche unwuͤrdige Abfichten und Handlungen fie befleden, die Sympathien der 
Sceibeitöfreunde für fih, während in der Heimath das Schaffot oder ewiges 
Gefängnif fie erwartet. Das Andenken des politifhen Verbrechers und Re: 
volutionaͤrs Washington wird nod) jet von einem ganzen Volke gefeiert, in 
England wäre er wahrfcheinlich enthauptet worden; Mazzini lebt ruhig in 
England, in feinem Vaterlande würbe er in einem Kerker verfaulen; in der 
Schweiz find die Männer, weldye einen „verbrecherifchen Angriff auf den 


N 





Gewerbe⸗ und Fabrikweſen. 455 


Felebiichen und ruhigen Jeſuiteneanton Luzern gemacht haben, eſehen 
umb hochgeachtet, ja in neueſter Zeit ſogar in ihrer Heimath zu den n böchflen 
Würden gelangt. 

Enmm Moment iſt noch zu beruͤckfichtigen. Bei einem Angriff auf die 
Set: und Einrichtungen einer abfolutiftifchen Staatsgewalt muß ſtets Die 
ungefeblihe Handlung in einem richtigen Verhältniß zu dem Zwecke ftehen, 


der durch fie erreicht werden foll ober erreicht werben kann — — und nie 
wird auch hier das ſchaͤdliche Mittel durch den Zweck, nie eine des Ehren» 
mannes unmürdige Handlung ſich rechtfertigen lafjen. — — Ebenfo koͤn⸗ 


nen auf politifche Vergeben bie criminalrechtlichen Begriffe von Uebereilung 
oder Exceß in der Nothwehr angewendet werden. 

Allgemeine Beftimmungen jedoch hierüber aufzuftellen iſt ſchwer. — — 
Das gefunde fittliche Urtheil tuͤchtiger Männer und Völker wird in der 
Beurtheilung bes concreten Falles das Richtige treffen. — — 

Schließlich iſt noch zu bemerken, daß auch eine Bilfigung einer durch 
die Umſtaͤnde gebotenen Revolution keineswegs die unbedingte Billigung alles 
deffen involvirt, was Innerhalb oder während oder in Folge biefer Revolution 
begangen wird. Die Nothwendigkeit der franzöfifchen Revolution, d. h. 
die Vernichtung des Principe des franzoͤſiſchen Feudalſtaats, die Verle⸗ 
gung feiner ſchaͤndlichen Geſetze, feiner lettres de cachet, feiner Cenſur, 
ſeiner Cabinetsjuſtiz, ſeiner Rechtsloſi gkeit, die Schilderhebung des franzoͤ⸗ 
fiſchen Volkes wird wohl Niemand fuͤr widerrechtlich, d. h. verbrecheriſch er⸗ 
klaͤren, der weiß, was es heißt, leibeigen zu ſein; allein ebenſo wenig wird man 
Alles dasjenige, was nachfolgte, alle jene Graͤuelſcenen, ober einzelne Res 
lutionaͤrs vertheidigen wollen, eben weil fie Revolutionäre waren. Ob ein 
Volk das Recht habe, ſich für frei zu erklaͤren und fich frei zu machen um 
jeden Preis, das iſt die Frage, diefe aber foll unbedingt bejaht werden 


Gewerbe- und Fabrikweſen. (Statt des Abfchnitts II. 
©. 781 —787 folge diefer in neuer Bearbeitung) H. Verfaffung 
der Gewerbe. Wie die Zuftände der Zeldarbeiter, ald Sklaven, Hötige 
ober Freie, und ihre Leiftungen, an perfönlichen Dienften, Frohnden, und 
an Abgaben, Zehnten, Guͤlten, Feudallaften aller Art, oder nur an gleich» 
mäßig umgelegten Staatsfteuern im Verhaͤltniſſe zu dem reinen Ertrag for 
wohl dad Befinden der zahlreichen aderbautreibenden Menſchen ale bie 
landwirthſchaftliche Production und bie Verforgung der Geſellſchaft mit ihren 
Erzeugniffen wefentlich bedingen, fo hängt auch von ber Verfafſung ber Ge⸗ 
werbe ſehr viel ab, ſowohl fuͤr die Lage ihrer Angehoͤrigen als fuͤr den Ein⸗ 
fluß der Gewerdothaͤtigkeit auf die volkswirthſchaftlichen Zuſtaͤnde uͤberhaupt. 
Die Gewerbe, urſpruͤnglich als Nebengeſchaͤfte mit der Landwirthſchaft ver⸗ 
bunden, loͤſen ſich allmaͤlig von ihr ab und bilden ſelbſtſtaͤndige Nahrungs⸗ 
zweige, fo wie Capital und Gelegenheit zum Abfag es möglich machenz fie 
bilden fi aus durch Arbeitstheilung,, Anwendung von Kunftmitteln und Er⸗ 
weiterung ber Kenntniffe und gelangen endlich in der größeren Induſtrie 
mittelft Anmwenbung großer Capitale und jeder Errungenfchaft geifliger 
Thaͤtigkeit zu riefenhaften Erfolgen. Aber, fo mächtig und tiefgreifenb bie 


456 Gewerbe: und Fabritwefen. 


Umwaͤlzungen burch veränderte Betriebsart ber Gewerbe fein mögen, fo hat 
doch feine einzelne die übrigen vollftändig verfchlungen und wird es auch in 
Zukunft nicht. Heute noch flehen manche Gewerbe mit der Feldarbeit in Vers 
bindung, und zwar nicht nur folde, die vom blos oͤrtlicher Bedeutung find, 
wie bie Gewerbe ber Wagner, Schmiede, Bäder, Mesger, fondern audy an= 
bere, welche an ben Erzeugniffen dis Bodens. die erfien Aenderungen vor: 
nehmen, wie Spinnen, Weben und Flechten. Ebenfo hält ſich der Pleinere 
Betrieb durch zahlreiche Unternehmer, welche zugleich Arbeiter find, neben 
ben ausgedehnten Anflalten majfenhafter Erzeugung. Im Einzelnen aber 
erleiden die Gewerbe durch die Fottſchritte und Uebergänge der Betriebsarten 
mancherlei Nenderungen und e8 kann daher auch eine für gegebene Berhältniffe 
paffende Berfaffung nicht als Mufter für andere Zeiten und Zuftände gel: 
ten. ‚Es mag fein, daß Kaftengeift, Monopol und Zwang in Staat und Kicche, 
Wiſſenſchaft und Kunſt, Handel und Gewerbe Rettungsmittel waren , gebo⸗ 
ten zue Selbfterbaltung in Zeiten der Barbarei. Es mag aud) fein, daß 
foldye Mittel, immer noch feftgehalten, nachdem fie, Durch veränderte Um⸗ 
flände veraltet und [hädlich geworben waren, bie Reaction der Freiheit in das 
andere Extrem, zur Bereinzelung trieben; aber die Ausgleihung folgt nad) 
erbitterten Kämpfen und fie liegt für unfere Zage zwiſchen der Kafte und der 
Bereinzelung in dem Gedanken der freien Vereinigung, weldyer den Keim ber 
Zulunft in fid) trägt. 

A, Die Zunftverfaffung. Es ift nicht unwahrjcheinlich, daß bie 
Genoſſenſchaften, welche in Deutichland wie in anderen europäifchen Laͤn⸗ 
bern mit den Gemwerben zugleich entftanden find, von den Römern die Ein» 
richtungen überfamen, welche der Corporationsgeift ausbildete. Die Römer 
kannten ſchon bejondere Gefellfchaften für Gewerbe, die als die nüglichften 


galten, denen barum Rechte und Vortheile eingeräumt wurden, wie Bäder, 


Fruchtmeſſer, Fuhrleute, Schiffer, Schmiede, Bauhandwerker (corporati, 
collegiati urbis). Als die Anlage von Städten in Deutſchland durch Hein⸗ 
rich 1. im zehnten Jahrhundert eifriger betrieben wurde, um das Land gegen 
die Raubzuͤge der Ungarn zu fhügen, wurden den Handwerkern, melde in 
die Städte zogen, Vortheile geboten; die Unfreien wurden frei. Es bilde: 
ten ſich die Körperfchaften ber Handwerker, die Zünfte der Handelsleute 
und anderer Gewerbe (Schiffer u.a.), Bilden, Innungen. Sie ent: 
warfen ihre Statuten, Eraft dee Autoncmie aller erlaubten Gefellfchaften, 
und um ihren DBerfaffungen den Staatsſchutz zu fihern, holten fie die 
Genehmigung durd) die Zräger der Staatsgewalt ein; neben der gefchriebenen 
Verfaffung bildete fih das Gewohnheitsrecht, der Handwerksbrauch. Die 
Zünfte wurden zugleich die Kriegsmacht ber Städte; auf ihnen beruhte die 
militäriiche Organifation ; fie gewannen Antheil an der Gemeindeverwaltung, 
an der Regierung. So wurde durch die Zünfte ein unabhängiger Bürger: 
ftand in den deutfchen Städten begründet und gefräftigt, und die Genoffen> 
[haften der Gewerbe hatten zugleich eine große politifche und militäriiche 
Bedeutung. Sie waren fo mädıtig, daß einzelne Zünfte Buͤndniſſe mit Fürs 
ften fchloffen und Kriege führten. Das dreizehnte Sahrhundert war Zeuge 
der zum Theil fehr blutigen Kämpfe der Zünfte gegen die Geſchlechter (Patri- 


Gewerbe- und Fabrikweſen. 457 


zier) in den Städten um bie Oberherefchaft. Das Gefühl der Kraft dußerte 
ſich nicht felten in Prunf und Uebermuth; Vorſteher von Zünften legten fich 
den Königstitel bei und die Reichſtage widerhallten von Klagen und Bes 
ſchwerden, wozu theild Neid und Eiferfucht die Triebfedern, theils aber auch 
gerechte Anläffe vorhanden waren. Schon auf den Reichetagen von 1231 und 
1233 wurde die Aufhebung ber Zünfte befchlofien, konnte aber nicht vollzogen - 
werben; ja e8 blühten ım folgenden Jahrhundert die Zünfte mächtiger al6 je 
zuvor. Mit bem Steigen der Sürftengewalt, dem Sinken der Eaiferlichen 
Macht und der Macht der Städte, mit bem allgemeinen Unglüd, das ber 
dreißigjährige Krieg und feine Folgen über Deutfchland brachte, verloren auch 
die Zünfte ihre politifche Bedeutung und ihre Priegerifche Einrichtung, wos 
von heut zu Zage keine Spur mehr übrig iſt. In gewerblicher Beziehung 
aber rifjen Mißbraͤuche ein, zu deren Abftellung eine Menge von Reichstags⸗ 
befchlüffen gefaßt wurden, namentlich in den Jahren 1731 und 1772. — 
Die Mißbraͤuche verwebten ſich fo innig mit dem Begriff von Zünften, daß 
fie zu den Kennzeichen derfelben gerechnet wurden, wie z. B. Juſt i um bie 
Mitte des vorigen Jahrhunderts alfo definiert: „Die Zünfte und Innungen 
beftehen in Gefellfchaften folcher Perfonen, die in einer Stadt ober Gegend 
mit Ausfchließung Anderer einerlei Nahrungsgefchäfte treiben und zu dem 
Ende gewiffe, theild gute und unverwerflihe, theild aberglaͤubiſche, 
tbörihte, unnüge und [hädlidhe Einrihtungen und Ges 
wohnheiten unter fich eingeführt haben.” — Das wefentlihe Merkmal 
bes Zunftwefene ift der Zunftzwang, welcher darin befteht, daß außer 
den Mitgliedern der Gefellfhaft Niemand das Handwerk ausüben barf, und 
daß die, Berechtigten bei dem Betriebe an gewiſſe Vorfchriften gebunden find. 
Wo der Zwang aufhört und die Zünfte doch noch bleiben, da beftehen fie 
nur. dem Namen nad ; ihr eigentliches Weſen haben fie derloren. Sie find 
dann nicht mehr, was fie waren, und noch nicht, was fie werden follen, es 
ift ein Verhältniß, welches weder ben Zunftgenoſſen noch den übrigen Claſſen 
ber Geſellſchaft behagt. Dies trirt namentlich da ein, wo bie Sortfchritte ber 
Technik in dem Fabrikbetriebe den Zwang duchbrochen haben, wo fich ber 
Handel des Abſatzes ber fabritmäßig verfertigtem Gewerbswaaren bemächtigt 
bat und die Handwerker noch an Reften ber alten Zunftverfaffungen hängen, 
die ihnen läflig werden, fie verhindern, der neuen Geſtaltung der Dinge zu 
folgen , namentlich aud) von einer nicht mehr lohnenden Befchäftigung zu einer 
andern überzugehen. — Die Zwecke, welche durch die Zunftverfaffung zum 
Vortheile ihrer Mitglieder, dann auch für das Publicum erzielt werden 
follen, find im Wefentlichen folgende: 

1) Sicherung eines zureichenden Austommens für die Handwerker. 
Hierzu follen folgende Mittel dienen: 

a) Das Verbot oder body die Beſchraͤnkung bed Betriebes zünftiger 
Gewerbe in den Dörfern, fo daß die Landbewohner ihren Bedarf an Ge: 
werbswaaren in den Städten kaufen müflen ; 

b) Die Beſchraͤnkung der Zahl der Meifter,, fo daß entweder nur eine 
beftimmte Anzahl zugelaffen und ein neuer Bewerber erſt dann aufgenom> 
men wird, wenn eine Stelle erledigt ift, oder baß bie Zunft felbft entfcheis 


458 Gewerbe: und Kabrifwefen. 


bet, 06 bie Abfagverhäftniffe bie Aufnahme neuer Bewerber erlauben. Die 
Beſchraͤnkung auf eine beftimmte Zahl fand bei ven gefhloffenen Hand: 
werden flatt, wurde aber ſchon durch das Meichsgefeg von 1731 für einen 
Mißbrauch erklärt; dagegen gab das Ermeffen der Zunft dem Egois— 
mus ihrer Glieder einen weiten Spielraum, und felbft da, wo die Staats: 
verwaltung fich bie Entſcheidung vorbehält, find die Zünfte immer mic der Er⸗ 
kldrung bei ber Hand, baß neue Aufnahmen wegen Ueberfegung des Gewerbes 
nicht rathſam feien, e8 müßte bern der Bewerber ein Meiftersfohn fein oder 
bie Wittwe oder Tochter eines Meiſters heirathen wollen. Hierher gehören auch 
bie Verzögerungen der Aufnahme neuer Bewerber, welche man nicht abtveifen 
kann, die aber mehrere Jahre — Muthjahre — warten müffen. 

€) Genaue Feftfegung bee Waaren, welche ein jedes Handwerk fertigen 
darf, To baf die einzelnen Handwerke ſtreng abgegrenzt werben und nicht 
bas eine im bag Gebiet bes andern Übergreife. 

4) Vorfchriften über die Zahl ber Gefellen und Lehrlinge, welche ein 
Meifter nicht befiebtg vermehren darf, fo daß auch ber Gefchicktefte nicht im 
— tft, fo viele Kundſchaft an ſich zu ziehen, daß den Andern wenig übrig 

liebe. 
ee) Verbote und Beftrafımgen genen Jeden, der nicht Mitglied der Zunft 
ift, in dem Handwerk zu arbeiten. Sölden „Pfuſchern, Böhnbafen, Sud» 
lern, Stümpern u. f. w.“ wurde auf Betreten das Handwerkszeug weg: 
genommen. Verheiratheten Gefellen wurde Feine Arbeit bei einem Meifter 
gegeben. 

Abgefehen von ben Gründen des Rechts und der Moral, melde gegen 
foldye Befchränkungen ſprechen, lehrt auch die Erfahrung, daß fie ihrem 
Zwecke, den Mitgliedern der Zunft ein genuͤgendes Ausfommen zu fidyern, 
nicht mehr entſprechen. Es läßt ſich nicht ausmitteln, wie viele Gewerbs— 
genoffen ſich an einem Orte ernähren koͤnnen, da duch Geſchick und Betrieb: 
ſamkeit der Abfag am Orte felbft vermehrt, oder auch auf einen weiteren Um: 
kreis ausgedehnt werben kann, befonders niit Hilfe der Ermeiterung und Bes 
fehleunigung des Verkehrs durch die Eifenbahnen. Nicht nur Holz: und 
Metallarbeiten, auch Kleidungsftüde, felbft Fleiſchwaaren koͤnnen meithin 
verbracht werden und geſchickte Gewerbsleute, unabhängig von dem Verbrauch 
an ihrem Wohnorte, reichlich befchäftigen. Auf der anderen Seite Eann eine 
Aenderung im Geihmad, in der Meinung von der VBrauchbarkeit einer 
Waare, die Ausdehnung bes Fabrikbetriebs u. dgl. die Nachfrage nach einem 
Gemerbserzeugniß vermindern, und die Zunft ann ihre Mitglieder nicht 
gegen Verarmung ſchuͤtzen. Ließe ſich aber auch die Zahl der Gewerbsleute, 
welche am Orte ſich ernähren können, für die Gegenwart genau augmitteln, 
fo ift e8 doch unmöglich, Fünftige Yenderungen vorauszufehen. Die Zahl der 
Handwerke, welche durch Aenberungen in ber Tracht, in Geräthen u. dgl. ab: 
genommen haben, theilmeife faft ganz verſchwunden find, ift nicht gering, 
und indem der Zunftzwang den Uebergang von einem untergehenden Gewerbs⸗ 
zweige zu einem aufgehenden erſchwert oder unmöglich macht, trägt er zur 
Verarmung flatt zum Ernährung ber Genoffen bei- — Von dem Stand» 
punkte der Volkswirthſchaft aus ftehen obigen Beſchraͤnkungen noch andere 


Gewerbe= und ZFabrikweſen. 439 


Erunde entgegen. Die Preife ber Waaren werben durch die Koften der 
„Sherftelung und durch das Verhältniß zmifchen Angebot und Nachfrage bes 
Flimmt; jene Koften zeigen den natürlichen Preis und diefes Verhaͤltniß 
wwegelt ben Marktpreis. Te mehr ſich der Marktpreis dem Koftenfage naͤ⸗ 
Hert, mit defto geringeren Opfern verforgt ſich die Gefelfchaft mit ihrem Bes 
Darf an brauchbaren Suchen. Was die Koften vermindert, was einer kuͤnſt⸗ 
Widyen VBertheuerung entgegenwirkt, das ift nuͤtzlich für die Geſammtheit, ers 
Weitert den Abſatz, alfo auch die Production. Der Zunftzwang aber bes 
Ichraͤnkt das Angebot, vertheuert daher die Preife; er hält an hergebrachten 
Regeln feft und hindert dadurch die Vervollkommnung des Betriebs, die Min⸗ 
derung der Herftellungstoften ; er veranlaßt unnöthigen Aufwand, 3.3. durch 
schllofe Proceffe wegen Uebergriffen von einem Handwerk in das andere. 
Durch alle diefe Umftände werden die Conſumenten benachtheiligt und die 
Zortfchritte der Production gehemmt. 

2) Die Erhaltung der Geſchicklichkeit in ben Gewerben iſt ein weiterer 
Bortheil, welcher durch die Zunfteinrichtungen gefichert werden fol, und die 
Mittel find: 

a) Die Beſtimmungen über bie Lehrlinge, welche ehelich geboren fein, 
ein beſtimmtes Alter erreicht haben und eine feftgefegte Zeit aushalten muͤſ⸗ 
fen , wonach fie förmlich ledig gefprochen werden ; 

b) Das Wandern der Gefelen, unterflügt buch Geſchenke. In frös 
Deren Zeiten machten die Geſellen, welche nach dem Beiſpiele der Meiſter 
durch Genoſſenſchaften eine Macht bildeten, fo große Anforderungen, baß 
Der Reichstag einfchritt und 3.3. im Jahre 1731 feftfegte: ein Gefchent 
Dürfe nicht mehr als 5 Srofchen oder 20 Kreuzer betragen, fatt deſſen Ein 
auch Effen und Trinken auf der Herberge verabreicht werden ; des Geſchenke 
verluſtig wurde der Gefelle, welcher angebotene Arbeit nicht annahm. Aehn⸗ 
Liche Vorfchriften find in die einzelnen Randesverorbnungen übergegangen. 

©) Die Prüfung der Meifter vor der Aufnahme durch Fertigung eines 
Meifterftüde. 

Faſt fo alt als die Zünfte find aber die Klagen über ſchlechte Behand⸗ 
Yung und mangelhafte Unterweifung der Lehrlinge. Sie wurden einen gro- 
Ben Theil der Lehrzeit über zu Magbdienften und allerhand erniebrigenden 
Leiſtungen verwendet, welche mit dem Gewerbe nichts zu thun hatten; fie 
mußten fi von den Gefellen eine Behandlung gefallen laffen, welche junge 
Leute, die eine beſſere Erziehung genoffen hatten, abhielten, ein Handwerk zu 
lernen; der Egoismus der Meifter, welcher in den Lehrlingen fchon die Fünf: 
tigen Mitbewerber Tab, Tieß fie die Unterweifung vernachläffigen. Die zur 
Erlernung nöthige Zeit ift natürlich, je nach der Vorbereitung und den Anlagen 
bes Lehrlinge, verfchieden; aber die Zunftvorfchriften machten darin Eeinen 
Unterſchied, und Jahre gingen den Juͤnglingen nuglos verloren ; viele traten 
als untüchtige Arbeiter in den Sefellenftand. Das Wandern ber Gefellen 
bat für gut vorbereitere und fittlich Eräftige Juͤnglinge manchen Nugen. Sie 
fammeln Lebenserfahrung und vielfeitigere Kenntniß der Betriebsarten ihres 
Gewerbes. Wollte man entgegenhalten, daß Manche verwildern und mo» 

raliſch verſinken, fo koͤnnte man benfelben Einwand gegen den Befuch ber 


460 Gewerbe: und Kabrifwefen. 


Hochſchulen erheben. Einmal muß der Mann doch hinaus in das Leben und 
feine Kraft felbftftändig verſuchen, und die Gelegenheit zu allmäliger Gewoͤh⸗ 
nung follte aus allzugroßer Aengſtlichkeit nicht abgefchnitten werben. Allein 
wie man eine Wiffenfhaft gruͤndlich erlernen und ausgezeichnete Kenntniffe 
batin ertverben kann, ohne auf einer Hochſchule drei Fahre vermeilt zu haben, 
fo iſt das Wandern nicht unumgaͤnglich nöthig zur Erlernung eines Gewer: 
bes und follte daher auch nicht als unerläßliche Bedingung vorgefchrieben 
fein. — Das Meiflerftücd endlich hat ſich nicht als zureichendes Mittel 
bewährt, um über die Kenntniffe und Gefchidlichkeit eines Bewerbers in’s 
Klare zu kommen. Häufig dagegen wurde diefe Bedingung zum Antritt des 
Meifterrechts benutzt, um ben Bewerber zu plagen und abzufchreden, indem 
ihm z. B. eine für feine Mittel hoͤchſt koſtſpielige und ſchwer verfäufliche Ars 
beit aufgegeben wurde. — So find alfo auch bie Zumftvorfchriften für bie 
Erhaltung der Kenntniffe und der Geſchicklichkeit in den Gewerben, weldye in 
‚ Ermangelung befjeree Mittel früher gute Dienfte geleiftet haben mögen, 

theils durch Mißbraͤuche ausgeartet, theils durch das Auffinden anderer Wege, 
bie wir befprechen werben, unnüg und fogar zweckwidrig geworden. 

3) Die moralifchen Vortheile, melde dem Zunftweſen nachgeruͤhmt 
werben, bie ihm auch nicht abgeftritten werben Eönnen, beruhen hauptſaͤchlich 
in dem Ehr: und Sittengefühl, welches in den Mitgliedern einer achtbaren 
Körperfchaft geweckt und gefräftigt wird. Die unmittelbare Auffiht über 
bie Zehrlinge, ber nähere Umgang mit ben Gehülfen , meldye in dem Haufe 
bes Meifters wohnen, gewöhnt fie am eine Ehrbarkeit, ohne welche fie der 
Aufnahme in bie Körperfchaft unmürdig wären. Diefe wacht über das Be: 
fragen ihrer Mitglieder und hält fie in den Schranken der Sitte, damit fie 
ihr nicht zur Schanbe gereihen. Die Unterftügung , welche den Armen und 
Kranken, der Beiftand, welcher den Wittwen und Waifen der Zunftgenoflen 
zu Theil wird, bilden eine ſchoͤne, humane Seite des Zunftweſens. So 
groß auch die Schattenfeiten find, welche diefen Vortheilen das Gegengewicht 
bilden, fo würden letztere doch für die Aufrechthaltung der Zünfte ein ſchwe⸗ 
ve8 Gewicht in die Wagfchale legen, wenn mit ber Befeitigung derfelben 
kein fittlihes Band mehr die Gewerbögenoffen vereinigte, wenn fie in Ver: 
einzelung zerfielen und der Polizeiftod das Chrgefühl erfegen follte. Die 
Ausartungen des Zunftwefens waren allerdings aud) in Beziehung auf Mo: 
tal und Humanität fehr groß. Es ift fhon erwähnt, daß unehelidy Gebo: 
rene nicht als Lehrlinge zugelaffen wurden, eine nach heutigen Begriffen nicht 
zu vechtfertigende Härte gegen Schuldlofe; desgleichen, daß verheiratheten 
Geſellen Eeine Arbeit gegeben wurde. Diefe und andere Mißbraͤuche, 3.8. 
das Schimpfen, Schelten, d. h. die Verrufserflärungen von Städten, Zünf: 
ten oder einzelnen Meiftern , find zwar ſchon durch Reichsgeſetze verboten 
worden, allein die Unfitte war mächtiger als das Geſetz. Manche Geſchaͤfte 
twaren als unehrlich angeſehen, und e8 wurde ein Angehöriger einer Familie, 
die folche Gefchäfte trieb, zur Erlernung eines zünftigen Gewerbes zugelaffen. 
Dahin gehörten namentlich Dienftleiftungen,, die früher meiftens von Un: 
freien betrieben wurden, wie Schäfer, Ortsdiener, Nachtwaͤchter, Schinber ; 
das Meichsgefeg von 1731 befchränkte die Zahl ber unehrlichen Gewerbe auf 


Gewerbe: und Fabrikweſen. 461 


Wie Schinber bis zur zweiten Generation; im Sabre 1772" wurbe auch 
Wiefer Makel aufgehoben. Auch manche Handlungen galten für unehrlich, 
wwohl darum, damit einem frevelhaften Muthwillen gefteuert wuͤrde, wozu 
Fruͤher ftärkere Abſchreckung nöthig fein mochte als bei dem zahmen Gefchlechte 
Wer Neuzeit; dahin gehörte 3. B. das Toͤdten eines Hundes, einer. Rage, bie 
SBeruͤhrung eines Selbſtmoͤrders. Eine Menge von Gebräuchen bei dem Les 

Digſprechen ber Lehrlinge, bei dem Meiflerwerden u. dgl. verbilbeten ſich zu 
Rohheiten und Zechgelagen; die Anlaͤſſe zu Luſtbarkeiten und Verſchwen⸗ 
dungen wurden immer haͤufiger und verderblicher. So kam es, daß in den 
meiſten Staaten nicht nur die Geſetzgebung einſchreiten mußte gegen die 
Mißbraͤuche, die fi) in das Zunftweſen eingeſchlichen hatten, ſondern daß bie 
Aufhebung oder wenigftens die Umgeftaltung der Zünfte berathen und aus⸗ 
geführt wurde. Auf der legten franzäfifchen Reicheverfammlung vor der Re⸗ 
volution, im Jahre 1614, auf dem deutſchen Reichsſtage von 1672 wurde 
fhon bie Aufhebung der Zünfte beantragt, und feither befchäftigten fid) Staates 
männer und Schriftftellee mit Unterſuchungen über bie Mittel und Wege, 
dieſe Aufhebung ohne Verlegung mohlerworbener Rechte fo mis ohne Nach⸗ 
theile für die Gewerbe und für die Confumenten zu bewerkftelligen. Je mehr 
Licht die erweiterte Kenntniß der Gefege von ber Erzeugung, dem Verlauf und 
ber Berzehrung der Güter auf die Nachtheile bes Zunftzwanges warf, deſto 
mehr teiften die Plane zu einer Umgeftaltung des Gewerbeweſens. Als mit 
dem Fortfchreiten der Technik und mit der Anfammlung der Capitale das 
Fabrikweſen fid) auszubreiten anfing, wurde daffelbe von ben Regierungen als 
eine neue Quelle von Wohlftand und Macht mit ebenfo großem Jubel em⸗ 

Dfangen und mit fo übertriebener Sorgfalt gepflegt, wie man jegt vor ihrer 
großartigen Entwidelung und vor bem In ihrem Gefolge wachfenden Proles 
tariat vielfach erſchrickt. Die Zabrikation aber gab den Ausfchlag, bie Zünfte 
Über Bord zu werfen. In Frankreich verfuchte es fchon im 3.1776 der Mi⸗ 
niſter Zurgot,geftüst auf die Lehren des phyſiokratiſchen Spftems (f. 
Politiſche Dekonomie), allein noch waren die Intereſſen bes Dergebrachten 
zu maͤchtig und bie Zünfte mußten wiederhergeſtellt erden. Im Sabre 1791 
erfolgte ihre definitive Aufhebung. Mehrere beutfche Staaten, Preußen *), 
Baiern, Naffau nahmen mehr oder weniger bucchgreifende Aenderungen in 
der Verfaſſung der Gewerbe vor und in der neueften Zeit (Ende Januar 

1847) hat Schweden das Zunftwefen aufgehoben. 

B. Die Gewerbsfreiheitt*). Im Gegenfage zum Zunftzwang 
beſteht die Gewerbefreiheit darin, daß die Auskbung eines Gewerbes nicht 
gebunden ift an eine beflimmte Zeit und Art ber Erlernung, an eine Wans 
derzeit als Gehilfe, an eine Probe der Kenntniffe und der Geſchicklichkeit 
durch Fertigung eines Meiſterſtuͤcks und an die Zahl der bereits vorhandenen 
Bewerbögenofjen. Die Freiheit Ift der natürliche Zuftand, fie iſt das Recht, 


*) In ben Zahren 1810 und 1811. ©. ben Artilel „Preußen”, wo 
bie Aufhebung ber Zünfte unter ben Maßregeln erwähnt ift, burdy welche der 
Auffhwung ber Ration gegen die Zrembdherrichaft vorbereitet wurbe. 

9%) Bergl. wegen ber Lit. Bd. VI. &.782 die dafelbft befindliche Anmerk. 


462 Gewerbe= und Fabrikweſen. 


melches Beiner beſondern Nachweiſung bedarf; die Beſchraͤnkung ber Freiheit 
bagegen muß als nothwendig für die Erhaltung der Rechte Dritter oder für 
höhere Zwede ber Allgemeinheit. bewiefen werden. Die Freiheit iſt aber 
weit verfchleden von Anarchie; fie findet ihre durch die Intereffen ber Ger 
fammtheit gebotenen Schranken in bem Gefege. So haben auch die Gewerbe 
in dem Zuſtande der Freiheit ihre Geſetze in einer freien Gemerbeverfaffung, 
einer Gewerbeordnung, innerhalb deren fie fi) bewegen und ausbilden, 
Der Uebergang von dem Zwange zur Freiheit ift für die Gewohnheiten mie 
für die Intereffen, welche ſich unter Einwirkung des Erfteren gebildet haben, 
oft nicht minder peinlich, als umgekehrt der Uebergang von ber Freiheit zum 
Bwange für die entgegengefegten Intereſſen. Der Leibeigene, der fi bin: 
fort durch eigenen Fleiß ernähren fol, ſtraͤubt fid) gegen die Wegnahme des 
Joches, unter dem ihn der Herr zwar prügeln durfte, aber auch füttern 
mußte; ber freie Dann ſtirbt lieber, als er fich einem ſolchen Joche beugt. 
Der Bunftgeift fürchtet Verderben und Hungertob, wenn dem Metteifer 
von Fleiß und Geſchicklichkeit die Schranken geöffnet werden; wo Gewerbe: 
freiheit fo Lange befteht, daß die Fleifchtöpfe Aegyptens aus dem Gedaͤcht⸗ 
niffe des jetzt lebenden Geſchlechts verſchwunden find, ba begreift man nicht, 
wie die Ausübung einer Thaͤtigkeit als ein Vorrecht gelten könne, welches bie 
Mitglieder einer Körperfchaft für fich ausfchließlih in Anfpruch nehmen. 
Als die Zünfte entftanden und ſich ausbildeten, da mußten fie in fich felbft die 
Macht fhaffen, um Perfon und Eigenthum zu Ihügen, Gewalt abzumehs 
von, ihre Intereffen zu fördern; fie mußten ebenfo den Unterricht und die 
Borbereitung zu der Gemwerbthätigkeit einrichten. Die Stantsgewalt richtete 
ihre Mittel und ihre Wirkfamkeit fait ausiclieflih auf den Krieg. Der 
nügliche Zaufch bes Eörperfchaftlichen Privilegiums und Zwanges gegen 
flaatsbürgerliche Rechtsgleichheit und Freiheit fegt voraus, daß die Gefammt: 
beit zu Gefegen und Einrichtungen vorgefchritten fei, welche das Recht des 
Einzelnen fihern und ihm die Gelegenheit bieten, ſich zu einem nüßlichen 
Mitgliede der Geſellſchaft je nad) feinen Anlagen und Fähigkeiten auszu—⸗ 
bilden. — Nach Aufhebung des Zunftzwangs bleiben die Anordnungen des 
Staates, wodurdy die Gefahren verhütet werben follen, welche bei manchen 
Gewerben durch Ungefhidlichkeit oder Nachläffigkeit für Gefundheit, Les 
ben und Eigenthum der Bürger entftehen können; ebenfo die Sorge für regel: 
mäßigen Betrieb derjenigen Gewerbe, welche die Geſellſchaft mit den unent⸗ 
behrlichften Verbrauchsgegenſtaͤnden, befonders mit Lebensmitteln, verforgen. 
Es wird ferner gefordert, daß Jeder angebe, welches Gewerbe, eines ober 
mehrere, er treiben will, und das Mittel hierzu ift ein Gewerbeſchein (Pas 
tent), welcher auf ein Jahr oder auf längere Zeit gelöft wird. Die Ges 
buͤhr, welche für da8 Patent entrichtet wird, dient zugleich als Gewerbeſteuer, 
doch nicht ausfchließlich, weil es ungerecht wäre, die Eleineren Gewerbsleute 
ebenfo body zu befteuern tie die größeren. Es find daher nicht nur die An: 
fäge für einen Gewerbſchein verfchieden, je nad) der Seelenzahl der Städte, 
fo daß auch bei der Ueberfieblung von einer Eleineren in eine größere Stadt 
der Mehrbetrag nachzuzahlen ift, fondern es muß auch der Anfag mit 
Ruͤckſicht auf den kleineren Betrieb mäßig gegriffen fein, und ed kann eine 


Gewerbes und Zabrikwefen, 463 


verhältnißmäßige Befleuerung je nach dem Umfang bes Gewerbebetriebs 
noch weiter ermittelt werben, wobei bie Zahl der Gehilfen, bie Raͤumlich⸗ 
Leiten, das Betriebscapital u.f. m. als Kennzeichen dienen. Fuͤr die Art 
und Weife fo wie für die Dauer der Vorbereitung beftehen Beine Zwangs⸗ 
vorfchriften mehr; fie bleibt der freien Webereinkunft zwifchen den Eltern und 
den Bormündern des Lehrlinge und dem Meiſter überlaffen, und es wird 
überhaupt Leine Nachweiſung darüber verlangt, in welcher Weife das Bes 
togebe erlernt worden iſt. Ebenfo wenig finden Zwangsvorſchriften für Die 
weitere Ausbildung ber Gehilfen, namentlid) hinfichtlich des Wanderns flatt ; 
in dee Sorge für das eigene Kortlommen liegt ein ftarker Antrieb, Kenntniffe 
und Geſchicklichkeit auf dem geeignetiten Wege zu erwerben. Dagegen kann 
Denjenigen, die ein Patent löfen wollen, freigeftellt werben, ſich einer Prüfung 
zu unterwerfen, deren gutes Beftehen fie dem Publicum empfiehlt; es mich 
aber eine Prüfung gefordert bei folhen Gewerben, deren ungefchidte 
Ausübung leicht großen Schaden anrichten Eönnte, 5. B. bei Apothekern, 
Särbern, Huffchmieden, bei Bauhandwerkern, Schornfleinfegern u. dgl. — 
Der Uebergana von einem Gewerbe zu einem andern iſt bann in den meiften 
Fällen an Beine andere Bedingung gebunden als an die Löfung eines Patents. 
In den meiften Ländern, wo die Gewerbefreiheit mehr oder minder vollſtaͤn⸗ 
dig durchgeführt ift, wird der Betrieb mancher Gewerbe doch nody von einer 
Sonceffion, d.h. von einer Genehmigung der Stantsbehörde abhängig ge- 
macht, wie Buchdrudereien, Buchhandlungen, Wirthſchaften u. dgl. — 
Das Conceffionswefen läßt fid) nur bei wenigen Gewerben und nur dann 
vertheidigen, wenn nach feften Principien, die auf dem wahren Öffentlichen 
Intereſſe beruhen, verfahren wird. Allein es wicb unbedingt verwerflich 
und führt zu weit bedenklicheren Mißbraͤuchen als das Zunftweſen, nicht 
nur in wirthſchaftlicher, fondern auch in politifcher und moralifcher Bezie⸗ 
bung, wenn es auf eine größere Zahl von erwerben ausgedehnt und von dem 
Polizeiftaate als ein Mittel gebraucht wird, Günftlinge zu bevorzugen, red⸗ 
liche felbftftändige Männer fammt ihren Familien zu beftzafen und ungluͤck⸗ 
lich zu machen. Wenn wir zwiſchen der Beibehaltung der Zünfte mit ihrem 
Zwange und zwifchen einer auf dem Conceſſionsweſen beruhenden Gewerbe⸗ 
ordnung zu wählen hätten, fo würden wir erſteren als dem Feineren Uebel 
unbedenklich den Vorzug geben. Ueberhaupt wird bie Gewerbefreiheit ihre 
Vorzüge nur in folhen Staaten bewähren, wo freie Staatseinrichtungen 
beſtehen, unter denen fich die menfchliche Thaͤtigkeit ungehindert entfalten 
und Vereine wirkten Eönnen, um gemeinfame Intereſſen zu fördern. Wo 
aber die Polizeigewalt Alles zu meiftern und zu regeln gewohnt ift, ba wird es 
bedenklich, berechtigte Körperfchaften,, felbit wenn fie in andern Beziehungen 
ihre guten Zwecke nicht mehr erreichen, aufzugeben, weil fonft der Einzelne, 
feiner legten Schugwehr beraubt, der allmaͤchtigen Polizeigewalt auf Gnade 
oder Ungnade preisgegeben wird. Bei dem Webergange von bem Zunft 
zwange zur Gewerbefreiheit find wohlerworbene Rechte zu achten, 3. B. bie 
Inhaber verfäuflicher Meifterrechte zu entfchädigen, nach dem Preife, wel⸗ 
ches ihr Recht im gefchloffenen Gewerbe zur Zeit der Aufhebung hatte. 
Solche Entſchaͤdigungen find zunaͤchſt aus dem Zunftvermoͤgen, und, fo weit 


464 Gewerbes und Fabrikweſen. 


I 
dleſes nicht zureicht, von den Gemeinden zu leiften, welche die Mittel entweder 


durch Umlagen auf alle Angehörigen oder von ben neu zugehenden Gewerbs⸗ 
leuten durch Beiträge zu erheben haben. So hat 3. B. die Stadt Breslau 
im Sabre 1810 die Meafrechte mit einer Summe von 1,165,320 Thalern abs 
* Die Schulden der Zuͤnfte find ebenfalls zu tilgen und werben vom 

taate, welcher bie Aufhebung verfügt, übernommen , wieim Jahre 1822 
in Naſſau geichehen ift, mo die Summe ſich auf 8836 fl. belief. Weitere 
Uebergangsmaßtegeln zur Beſchwichtigung ſtarker Beforgniffe tönnen darin 
befichen, daß man anfänglich nicht alle, fondern nut einzelne bisher zünftige 
Gewerbe, bei denen am wenigflen Bebenklichkeiten obmwalten, ganz frei läßt, 
bei andern dagegen, wo ein zus großer Andrang in der erften Zeit zu beforgen 
waͤre, vorerft nur eine beftimmte Anzahl neuer Bewerber jährlid) zuläßt. In 
Paris z.B. war die Zahl der Fleiſchbaͤnke befchränkt und es ergab fich aus den 
Kammerverhandlungen von 1822, daß eine ſolche mit 100,000 Franken und 
höher bezahlt wurde. Diefes Monopol vertheuerte die Fleifchpreife nachgewie⸗ 
fenermaßen faft um das Doppelte und hatte, in Verbindung mit dem Dctroi, 
bewirkt, daß der Fleiſchgenuß beinahe um ein Dritcheil abgenommen hatte. Sm 
Fahre 1825 wurde befchloffen, daß von 1828 an bie Zahl der Fleiſchbaͤnke 
durch neue Gonceffionen bis zu 100 jährlic; vermehrt werden folle. An die 
Ertheilung berfelben waren als Bedingungen bie Nachmeifung gehöriger Ge- 
werbskenntniß und eine Gaution don 3000 Franken geknüpft ; wer brei Tage 
fang den Betrieb einftellte, dem foll die Gonceffion ein halbes Jahr lang ent⸗ 
zogen werben. Die Gemerbefreiheit ift am beften geeignet, das durch den 
Bunftzwang geftörte naturgemäße Verhältniß des Angebots zur Nachfrage her⸗ 
zuftellen. Die Mitbewerbung erweitert ſich, wo die Gelegenheit zum Abfag 
zunimmt, ober duch Vervollkommnung und billigere Preife der Waaren fo 
wie bucch erhöhte Thaͤtigkeit und Gefchicdlichkeit weiter ausgebehnt werden 
kann ; fie vermindert ſich leichter, wo der Gewerbsmann nicht in fein Hands 
wert eingebannt ift, fondern zu einem anderen Gefchäfte leicht übergehen 
kann , fobald das feinige ihm nicht mehr ernährt. Die Beforgniß vor Ueber: 
fegung der Gewerbe als Folge der Aufhebung des Zunftzmangs ift nicht in hoͤ⸗ 
herem Grabe gerechtfertigt als bei den Zünften ſelbſt, wo die vorhandene An= 
zahl der Meifter, wie die Erfahrung lehrt, ebenfalls zu groß werben kann, 
fobald Einzelne mit größerem Capital und vielen Gehilfen das durch ihre 
Sefchilichkeit erworbene Zutrauen der Confumenten ausbeuten, oder fobald 
fich die Fabrikation der bisher handwerksmaͤßig verfertigten Gewerbswaaren 
bemächtigt und fie durch ben Handel abfegen läßt. Ja es zeigt die Statiftik, 
daß in geiwerbefreien Ländern die Zahl der Gemwerbtreibenden in den meiften 
Zeigen nicht nur nicht: größer, fondern häufig geringer ıft im Verhältniß zu 
der gefammten Bevölkerung, als in folchen Ländern, die noch an den Zunft: 
einrichtungen hängen. Diefe find auch — mie oben ſchon bemerkt — keines⸗ 
wegs mehr geeignet, durch ihre Vorfchriften über Lehrzeit, Wanderjahre und 
Meifterftüd eine tuͤchtige Ausbildung zu gemährleiften, und es find daher 
auch die Befürchtungen ungegründet,, daß durch ihre Aufhebung die Gewerbe 
in Verfall gerathen koͤnnten. Ein gründlicher Kenner, Chaptal, erklaͤrt, 
daß feit Aufhebung der Zünfte alle Zweige der Induftrie in Frankreich vor: 


Gewerbe: und Fabrikwefen. 465 


angefchritten find, und es Liegt gewiß in der freiem Mitbewerbung, in der 
Nothwendigkeit, fich durch Thaͤtigkeit und Kenntniffe auszubilden, ein flärs 
kerer Antrieb zu tüichtiger Vorbereitung, als in dem alten Schiendrian. Der 
Erfindimgsgeift wird durch den allgemeinen Wetteifer geweckt, während ihm 
bie Zünfte oft Hinderniffe in den Weg legten. Say erzählt z. B., daß James 
Watt für feine Verfuche, die zur Erfindung der Dampfmafchine führten, im 
Fahre 1756 eine Heine Werkflätte einrichtete; die Zünfte erhoben Eins 
fprache und wollten die Werkftätte fchließen ; da legte ſich die Univerfität in's 
Mittel, ernannte Watt zu ihrem ingenieur und riumte ihm ein Local zw 
feinen Arbeiten ein. Argand, der Erfinder der nad) ihm benannten Rampen, 
hatte mit den Zünften ber Blechner und Schloffer zu kaͤmpfen, welche das aus⸗ 
Tchließtiche Recht, Lampen zu verfertigen, in Anſpruch nahmen und den „Pfu⸗ 
fcher” bei dem Parlamente verklagten. Lenoir, ein berühmter Verfertiger 
mathematifcher und phyſikaliſcher Inſtrumente hatte einen Beinen Ofen 
hergerichtet, um für feine Modelle Metall zu gießen; die Gießerzunft zer⸗ 
flörte den Ofen und Lenoir mußte ſich an den König wenden, um ihn wieder 
herftellen zu dürfen. Die Unterdrüdung der Heinen Unternehmer durch bie 
großen endlich iſt nicht eine Folge der Aufhebung des Zunftzwanges, denn 
bie Klagen darüber find nicht minder laut, wo neben ber großen Induſtrie 
noch die Zünfte beftehen. Die Fortfchritte der Technik und die Anwendung 
großer Sapitale auf den Gewerbsbetrieb führt zu Aenderungen inden Gewerbe⸗ 
verhältniffen, welche Durch die Zunfteinrihtungen nicht abgewendet werden 
Finnen, falls ſich ein Land nicht ausfchließen will von einer neuen Quelle von 
Wohlſtand und Macht, deren Erzeugniffe ihm al6dann aus andern Ländern 
zuffteßen und im Handel erfheinen. Wohl aber erleichtert die Gewerbes 
freiheit den Heinen Gewerben bie Mittel und Wege, jenen Veränderungen zu 
folgen und fich neben denfelben zu halten. Gewerbe von rein Irtlicher Natur, 
tie die Bauhandwerke, Metzger, Bäder, Anſtreicher, haben ein Feld,‘ wel: 
ches ihnen die Fabrikation nicht nehmen kann. Andere erhalten ſich neben 
demſelben, weil der Fabrikant fich nicht nach dem Gefhmad und den Nei⸗ 
gungen des Einzelnen richten, die für den unmittelbaren Gebrauch feiner Er⸗ 
zeugniffe nöthigen legten Verrichtungen nicht beforgen,, auch die Ausbefferun: 
gen nicht vornehmen kann. Darum wird es, ungeachtet der" fabrikmaͤßigen 
Vetfertigung von Holz: und Metallarbeiten, Uhren u.dgl. immer noch Arbeiten 
für Uhrmacher, Schloffer, Büchfenmacher und Schreiner geben. Endlich 
giebt es auch Handwerke, welche zwar einen Theil ihrer Erzeugniffe der Fa⸗ 
brifation überlaffen müffen, aber ducch erhöhte Kunſtfertigkeit vervollkomm⸗ 
nete Producte liefern Binnen‘, welche ihnen reichlichen Erfag gewähren und 
ihr Beſtehen ſichern. — Es iſt Im Eingunge erwähnt, daß die Freiheit nicht 
gleichbedeutend iſt mit der Vereinzelung. Nach Aufhebung einer auf Zwang 
begründeten, Laftenmäßigen Verbindung, welche in den Organismus des 
modernen Staates nicht mehr paßt und bie bei ihrer Entſtehung und Auss 
bildung vorgefegten Zwecke nicht mehr erreicht, wird dus Beduͤrfniß des Zus 
ſammenwirkens, gepaart mit Einſicht und Gemeingeiſt, freie Gewerbvereing, 
die.Zünfte der neuen Zeit, zu gründen im Stande fein. Ein folder Verzin 
kann mehrere einander ergänzende oder mit einander In Verbindung ſtehende 
30 


Suppk 3. Staatslex. IL 


466 Gewerbe: und Zabrikwefen. 


Gewerbe umfaſſen. Er wird zu Anftalten und Einrichtungen für gute 
Vorbereitung und weitere Ausbildung mitwirken, alfo zur Einführung 
von Gewerbſchulen, Anfchaffung von Schriften und Modellen; ee wird 
die Behandlung und Unterweifung der Lehrlinge beauffidhtigen, wandernde 
Geſellen, kranke, arme und arbeitsunfähige Angehörige, ihre Wittwen umb 
Waiſen unterflügen, die Intereffen der Mitglieder bei der Gemeinde und 
den Staatsbehörden vertreten. In foldhen Vereinen wären zugleid die Ele 
mente gegeben zu einer weiteren Entwidlung ber Arbeitsverhältniffe, zu 
einer Drganifation der Arbeit, gegenüber den Nachtheilen bes Krieges 
Aller gegen Alle und der übermäcdhtigen Concurrenz ber großen Capitale gegen 
den einzelnftehenden Fleineren Unternehmer. In einem beftimmten Locale 
koͤnnten alle Beftellungen angenommen und fertige Waaren zum Verkaufe 
ausgeftellt werden, wozu wir in den Induſtriehallen mehrerer Städte bie 
Anfänge fehen ; die Arbeit koͤnnte unter die Wereinsglieder vertheilt und bei 
dem Zuſammenwirken Vieler die Vortheile der Arbeitstheilung in bem Hand⸗ 
werksbetrieb in ausgedehnterem Maße benugt werden, als es da der Fall ift, 
100 jeder Meifter und Gehilfe bald diefes bald jenes Gefchäft vornimmt, durch 
den Wechfel der Vorrichtungen und Werkzeuge Zeit verliert und nicht in allen 
Zeigen gleiche Vollkommenheit erzielen kann. Doch, mas jegt noch als 
fociale® Problem die Denker beſchaͤftigt, das wird der Drang der Umftände 
praktifh machen. — Der Schug, welchen der Zunftzwang auch dem Un- 
gefchicten und Trägen gegen bie Mitbewerbung Dritter zu gewähren fucht, 
bleibt bei der Gewerbefreiheit Denjenigen allein vorbehalten, welche etwas 
Nuͤtzliches zuerft hervorbreingen. Die Erfindungspatente find bie eins 
zige Beſchraͤnkung der Mitbewerbung, welche im Intereffe der Gefammtheit 
den Eifer zu Verbefferungen rege hält, indem der Erfinder die Ausficht hat, 
die Vortheile feiner Erfindung eine Zeit lang ausſchließlich zu benugen , bevor 
legtere zur allgemeinen Kenntniß gebracht oder dem Gebrauche eines Jeden 
überlaffen wird. Erfindungspatente werden fürneue Erzeugniffe 
oder für ein neues Verfahren zur vortheilhafteren Verfertigung ertheilt 
und geben ihrem Inhaber das ausfchlieglihe Recht, für eine beftimmte 
Zeit das von ihm erfundene Verfahren anzuwenden oder bie neuen Erzeug⸗ 
niffe zu fertigen und zu verfaufen. Jeder Eingriff in dieſes Vorrecht wird 
beftraft. Die Staatsbehörde, welche ein folches Privilegium ertheilt, hat 
die Zweckmaͤßigkeit der Erfindung nicht zu prüfen, da die Geſammtheit 
hierbei kein Intereſſe bat, und ein Urtheil darüber mit Zuverlaͤſſigkeit oft 
nicht gefällt werden Bann ; dagegen iſt zu unterfuchen, ob bie Sache neu 
ift, auch wird Feder zum VBeweife einer behaupteten Priorität zugelaflen. 
Zeigt ſich ein Product als ſchaͤdlich für die Gefundheit der Confumenten, 
fo ift das Patent aufzuheben. Der Nichtgebrauch in einer beflimmten Frift 
zieht ebenfalls den Verluſt nad) fi. In England Eommen die Erfindungss 

atente feit dem Anfang bes 17. Sahrhunderts vor; fie werden dort wie in 

merika nicht auf länger als 14 Jahre ertheilt und die Bewerber müffen 
ſchwoͤren, daß ihres Willens ihre Erfindung oder ihr Verfahren neu iſt. 
In Baiern, Preußen und Oeſterreich iſt die Längfte Daueneines Erfindungss 
patents 15 Jahres in Frankreich werben fie auf 5, 10 und 15 Jahre ertheilt. 


Gewerbe⸗ und Fabrikwefen. 463 


on 1791 bis 1836 wurden in Frankreich 5534 Erfindungepatente gegeben, 
im Jahre 1836 allein 405; in England betrug ihre Anzahl jährlidy im 
Durchſchnitt von 1781 bis 1800 — 63; in diefem Jahrhundert iſt bie 
Durchſchnittszahl über 100 geſtiegen; in Defterceich ift fie noch bedeutender 
(oon 1821 bis 1325 durchſchnittlich 180). 

(Zu S. 819 unten.) Unter den neueren Beſtrebungen, bie Rage ber 
Sabrilarbeiter zu verbeflern, verdienen die ausbauernden Bemühungen bee 
H. Fielden, Parlamentsmitglied für Didham, einer ehrenvollen Erwaͤh⸗ 
nung. Wie alljährlich, feit feinem Eintritte in das Parlament, fo brachte 
er zulegt in der Sigung des Unterhaufes vom 26. Januar 1847 eine Bill 
ein, welche, in Anbetracht der geringen Gunſt, womit Vorfchläge zur Eins 
mifhung der Staatsgewalt in die Bedingungen der Gewerbsthaͤtigkeit dort 
aufgenommen zu werden pflegen, die Mäßigkeit ihrer Forderungen ſchon im 
ber Benennung „Zehnftundenbill” zu erkennen gab. Er ſchlug vor, daß 
vom 1. Mai 1847 an die Arbeitszeit in den Fabriken für Perfonen unter 18 
Jahren auf wöhentlid 63 Stunden, vom 1. Mai 1848 an auf 58 Stunden 
beftimmt weıden foll. Ex erinnerte daran, daß im Fahre 1833, als die Skla⸗ 
ven in den weftindifchen Colonien mit einem Opfer von 20 Millionen Pfund 
Sterling emancipirt wurden, bie Arbeitszeit für die Meger auf 45 Stun⸗ 
ben feftgefegt ward, alfo 13 Stunden weniger, ald er für die Kinder der enge . 
lifchen Proletarier verlange. Er erinnerte an die Worte von Sir Robert 
Peel's Vater, daB ohne den noͤthigen gefeglichen Schug für Leben und Gefunds _ 
heit ber Arbeiter das verbefferte Maſchinenweſen der härtefte Fluch Englands 
werden würde. Er führte aus amtlichen Berichten Zahlen und Thatſachen an, 
welche ein fucchtbares Bild der Berwahrlofung in den Arbeiterfamilien ent» 
bällten. Sp heißt es 3. B. in dem Vierteljahrsberichte des Generalregiſtrators 
ber Geburten, Sterbfälle und Ehen: „Die Ueberfichten des abgelaufenen 
Vierteljahrs beweifen, daß nichts Wirkfames zur Abwendung der Seuchen, 
ber Leiden und Sterbfälle, wodurch fo viele Zaufende tmeggerafft werden, 
geſchehen iſt. Die Verbefferungen tragen meiltens einen oberflächlichen 
Charakter und dringen nicht in die Wohnungen und bie Lebensweife des 
Volkes. Die Wohnung und die Kinder eines Arbeiter können nur durch die 
emfige Thaͤtigkeit einer unterrichteten, fleißigen Frau reinlich und gefund ers 
halten werden, tie Jeder weiß, der dem Gegenfland einige Aufmerkſamkeit 
gewidmet hat. Dies wird in Rancafhire überfehen, wo die Srau oft fern vom 
Daufe in Arbeit fteht. Die Kolge ift, daß Zaufende, nicht nur Kinder, fon» 
bern auch Männer und Weiber an Seuchen flerben , die früher aus den naͤm⸗ 
lihen Gründen in Kafernen, Lagern, Gefängniffen und Schiffen fo große 
Verheerungen anrichteten. In Mandhefter flarben in fieben Jahren 13,362 
Kinder über die Zahl der natürlichen Sterblichkeitsverhaͤltniſſe. Diefe 
Beinen Kinder, in unreinlihen Wohnungen und ungefunden Straßen aufs 
gezogen, wurden Tage lang von ihren Müttern allein gelaffen, um, durch 
Dpium beruhigt, die fchädlihen Dünfte zu athmen; von tödtlicher Krankheit 
befallen, ftarben fie unter peinlichen Leiden ohne Ärztliche Hilfe, welche doch, 
wie die Hoffnung, Jedem zu Theil werben follte; aber der Arzt wirb entwe⸗ 
ber gar nicht oder zu [pät gerufen. — Deren Bielden’s BIKE burfte zwar 

30 


466 Gewerbe: und Fabrikweſen. 


Gewerbe umfaffen. Er wird zu Anftalten und Einrichtungen für gute 
Vorbereitung und weitere Ausbildung mitwirken, alfo zur Einführung 
von Gewerbſchulen, Anfhaffung von Schriften und Modellen; er wird 
die Behandlung und Unterweifung ber Lehrlinge beauffichtigen, wandernde 
Geſellen, Pranfe, arme und arbeitdunfähige Angehörige, ihre Mittwen und 
alſen unterftügen,, die Intereffen der Mitglieder bei der Gemeinde und 
den Staatebehörden vertreten. ſolchen Vereinen wären zugleich die Ele⸗ 
mente gegeben zu einer weiteren Entwidlung ber Arbeitsverhältniffe, zu 
Drganifation der Arbeit, gegenüber den Nacıtheilen bes Krieges | 
Kun, gegen Alle und der übermächtigen Concurrenz der großen Capitale gegen 
dem einzeinflehenden Eleineren Unternehmer. In einem beftimmten Locale 
en alle Beftellungen angenommen und fertige Waaren zum Verkaufe 
ausgeftelft werden, wozu wir in den Induſtriehallen mehrerer Städte bie 
Anfänge fehen ; die Arbeit koͤnnte unter die Wereinsglieder vertheilt und bei 
dem Bufammenmwirken Bieler die Vortheile der Arbeitstheilung in dem Hand— 
werkobetrleb in ausgebehnterem Maße benugt werden, als 28 da ber Fall ift, 
—* jeder Meifter und Gehilfe bald diefes balb jenes Geſchaͤft vornimmt, durch 
1 Wechfel der Vorrihtungen und Werkzeuge Zeit verliert und nicht in allen 
eigen gleiche Vollkommenheit erzielen fann. Doc, was jeht noch ‚als 

Rn les Ptoblem die Denker beſchaͤftigt, das wird der Drang ber Umſtaͤnde 
praftifh machen. — Der Schug, ‚welchen der Zunftzwang auch dem Un: 
aicım und Traͤgen gegen die Mitbewerbung Dritter zu gewähren ‚fucht, 
bleibt bei der Gewerbefreiheit Denjenigen' allein vorbehalten, welche etwas 
Nüsliches zuerft hervordringen. Die Erfindungspatente find die ein- 
zige Beichränfung ber Mitbewerbung, welche im Intereſſe der Gefammtheit 
den Eifer zu Verbefferungen rege hält, indem der Erfinder bie Ausficht bat, 
die Vortheile feiner Erfindung eine Zeit lang ausfchließlich zu benugen , bevor 
leßtere zur allgemeinen Kenntniß gebracht oder dem Gebrauche eines Jeden 
überlaffen wird. Erfindungspatente werden fürneue Erzeugniffe 
oder für ein neues Verfahren zur vortheilhafteren Verfertigung ertheilt 
und geben ihrem Inhaber das ausfchliegliche Recht, für eine beftimmte 
Zeit das von ihm erfundene Verfahren anzuwenden oder die neuen Erzeug: 
niffe zu fertigen und zu verlaufen. Jeder Eingriff in diefes Vorrecht wird 
beftraft. Die Staatsbehoͤrde, welche ein ſolches Privilegium ertheilt, hat 
die Zweckmaͤßigkeit der Erfindung nicht zu prüfen, da die Geſammtheit 
hierbei kein Intereſſe hat, und ein Urtheil darüber mit Zuverläffigkeit oft 
nicht gefällt werden Pann ; dagegen ift zu unterfuchen, ob die Sache neu 
ift, auch wird Jeder zum Beweife einer behaupteten Priorität zugelaffen. 
Zeigt ſich ein Product als [hädlich für die Gefundheit der Confumenten, 
fo ift das Patent aufzuheben. Der Nichtgebraud in einer beflimmten Friſt 
zieht ebenfalls den Verluft nad) fih. In England kommen die Erfi indungs⸗ 
patente ſeit dem Anfang des 17. Jahrhunderts vor; ſie werden dort wie in 
Amerika nicht auf laͤnger als 14 Jahre ertheilt und die Bewerber muͤſſen 
ſchwoͤren, daß ihres Wiſſens ihre Erfindung oder ihr Verfahren neu iſt. 
In Baiern, Preußen und Oeſterreich iſt die Längfte Daueneines Erfindungs⸗ 
patents 15 Sabre; ; in Frankreich werden fie auf 9, 10 und 15 Jahre ertheitt. 


Geœwerbe⸗ und Fabrikwefen. 467 


Bon 1791 bis 1836 wurben in Frankreich 5534 Erfindungspatente gegeben, 
im Jahre 1836 allein 405; im England betrug ihre Anzahl jaͤhrlich im 
Durchſchnitt von 1781 bis 1800 — 63; in diefem Jahrhundert iſt bie 
Durchſchnittszahl über 100 geſtiegen; in Defterceich ift fie noch bedeutender 
(von 1821 bis 1825 durchfchnittlich 180). 

(34 ©. 819 untm.) Unter den neueren Beſtrebungen, bie Lage ber 
Fabrikarbeiter zu verbeffern, verdienen die ausdauernden Bemühungen des 
H. Fielden, Parlamentsmitglied für Oldham, einer ehrenvollen Erwaͤh⸗ 
nung. Wie alljährlich, feit feinem Eintritte in das Parlament, fo brachte 
er zulegt in der Sigung des Unterhaufes vom 26. Januar 1847 eine Bill 
ein, welche, in Anbeiracht der geringen Gunft, womit Borfchläge zur Eins 
mifhung der Staatsgewalt in die Bedingungen der Gewerbsthaͤtigkeit dort 
aufgenommen zu werden pflegen, die Mäßigkeit ihrer Korderungen ſchon in 
ber Benennung „Zehnftundenbill” zu erkennen gab. Er fchlug vor, daß 
vom 1. Mai 1847 an die Arbeitszeit in den Fabriken für Perfonen unter 18 
Jahren auf wöchentlich 63 Stunden, vom 1. Mai 1848 an auf 58 Stunden 
beftimmt werden fol. Er erinnerte daran, daß im jahre 1833, als die Skla⸗ 
ven in den weftindifchen Golonien mit einem Opfer von 20 Millionen Pfund 
Sterling emancipirt wurden, die Arbeitszeit für die Neger auf 45 Stun⸗ 
ben feftgefegt ward, alfo 13 Stunden weniger, ale er für die Kinder der enge - 
lifchen Proletarier verlange. Er erinnerte an die Worte von Sir Robert 
Peel's Vater, daB ohne den nöıhigen geſetzlichen Schug für Leben und Geſund⸗ 
heit der Arbeiter das verbefferte Mafchınenwefen der bärtefte Fluch Englands 
werden würde. Er führte aus amtlichen Berichten Zuhlen und Thatſachen an, 
welche ein furchtbares Bild der Verwahrloſung in den Arbeiterfamilien ent» 
bällten. Sp heißt es 5.3. in dem Vierteljahr&berichte des Generalcegiftrators 
ber Geburten, Sterbfälle und Ehen: ‚Die Ueberfihten bes abgelaufenen 
Vierteljahrs beweiſen, daß nichts Wirkfames zur Abmendung der Seuchen, 
der Leiden und Sterbfälle, wodurch fo viele Zaufende teggerafft werben, 
geſchehen iſt. Die Verbefferungen tragen meiſtens einen oberflächlichen 
Charakter und dringen nicht in die Wohnungen und die Lebensweiſe des 
Volles. Die Wohnung und die Kinder eines Arbeiters koͤnnen nur durch die 
emfige Thaͤtigkeit einer unterrichteten, fleißigen Stau reinlich und gefund ers 
halten werden, wie Jeder weiß, der dem Gegenftand einige Aufmerkſamkeit 
gewidmet hat. Dies wird in Lancafhire uͤberſehen, wo die Srau oft fern vom 
Haufe in Arbeit fteht. Die Folge ift, daß Zaufende, nicht nur Kinder, fon» 
dern auch Männer und Weiber an Seuchen fterben,, die früher aus den naͤm⸗ 
lichen Gründen in Kafernen, Lagern, Gefängniffen und Schiffen fo große 
Verheerungen anrichteten. In Mancheſter ftarben in fieben Jahren 13,862 
Kinder über bie Zahl der natürlichen Sterblichkeitsverhaͤltniſſe. Diefe 
Heinen Kinder, in unreinlihen Wohnungen und ungefunden Straßen aufs 
gezogen, wurden Tage lang von ihren Müttern allein gelaffen, um, durch 
Dpium beruhigt, die fchädlichen Dünfte zu athmen; von tödtlicher Krankheit 
befallen, flarben fie unter peinlichen Leiden ohne Arztliche Hilfe, welche doch, 
wie die Hoffnung, Jedem zu Theil werden follte; aber der Arzt wird entives 
der gar nicht ober zu [pt gerufen. — Herrn Fielden's BILL durfte zwar 

30 


’ : i 
h w 1— 


zum erſten Mat verleſen werden, allein dies wurde nur Anſtands halber ges 
ſtattet, und die Stimmung bes Haufes zeigte wenig Hoffnung, ba fie zum 
Belek erhoben werde. Die Times erklärt. die geringe Theilnahme an dem 
Schickſale der zahlreichen Claſſe ber Habrikarbeiter durch ihre Sfolirung von 
ben übrigen Glaffen ber Gefellfhaft mit Ausnahme ber Unternehmer. ' Der 
Landwirth meiß nichts von ihnen, als was er bei einer gelegentlichen unan⸗ 
gerrehmen Reife nad) einer Fabrikfkadt erfährt, oder aus der beſchwerlichen 
Lectuͤre von Parlantentäberichten. Er kennt fie nur als Geſchoͤpfe, die fein 
Kirchfpiet los geworden iſt. Sie finden daher Beine Thellnahme bei ben 
Landwirthen. Eine dreifache Mauer fcheibet fie von der Maffe der Unter: 
nehmer. Der Eigennug erhebt feinen maffiven Wall, um ihre Lage zu ver: 
bergen, ihre Klagen zu erſticken. Und als ob der Eigennup nicht hinerlchte, 
um feine Zwecke zu erreichen , predigt auch noch die Nationalöfonomie gegen 
bie Bitten und Beſchwerden ber den Text des laissez aller, Allein die wahre 
Nationaloͤkonomie iſt nicht —B gegen das Wohlbefinden, die Site: 
lichkeit und die Gefundheit des Volkes. Wenn das Spftem des laissez faire 
die unbebingte Lehre der Nationalötonomie wäre, dann hätte das gegenwaͤr⸗ 
— über vlelfache Verlegungen derfelben zu Elagen (die Unterſtuͤſungen 
Irland). Die Nationalötonomie widerfegte ſich nicht einer Beſchraͤn⸗ 
kung ber Negerarbeit; fie verwirft micht bie Anordnungen zur Verbeſſerung 
ber Befundheit in ben Städten, zur Beichränfung der Arbeit in den Berg⸗ 
werfen, zue Unterdrüdung lafterhafter Gewohnheiten und Launen, zur fitt 
lichen Bildung bes Volles. Warum follte die Mationaldfonomie Einwen: 
dungen machen gegen Mafiregeln zur Verhinderung ungebührlicher und unge 
funder Befchäftigung von Weibern und Kindern? Zweifelt Jemand, daß eine 
tägliche zwoͤlfſtuͤndige Einfperrung in Fabrikraͤumen für Kinder unter 10 Fah- 
von ungebührlich und ungefund ift? Behauptet Jemand, baf die Abmwefenheit 
ber Frauen von ihrem natürlichen Wirkungstreis, der Wohnung, Tag für 
Tag, die Ruͤckkehr ſpaͤt am Abend, zu Tpät, um ihre Kinder zu warten, ihr fruͤ⸗ 
her Ausgang, zu früh, um bie Wohnung rein zu halten, Feine ſchlimmen Fol⸗ 
gen habe, die fich weit über die Raͤume der rauchigen Fabrik oder des ſchmuzi⸗ 
gen Wohnzimmers erflreden? Wenn Jemand daran zweifelt, fo gehe er nach 
dem Norden, befuche Manchefter, Stadport, Dldham, Bradford und an: 
dere Sammelpunfte einer gefchäftigen , aber Menfchen zeritörenden Indus 
ſtrie. — (Man vergleiche auch die Artikel: Communismus und Sorialiemus, 
und Organifation der Apbeit. ) 
| Glarus. Seit die auf der Grundlage ber allgemeinen ſtaatsbuͤrger⸗ 
lichen Freiheit und Gleichheit errichtete Verfaffung vom 2. October 1836 
gegen die hartnaͤckige Oppofition einer hierarchiſch⸗katholiſchen Minderheit 
ducchgefegt iſt, hatte dieſer Beine Santon — mit einem Flaͤchenraume von 
12 bi6 13 Quabratmeilen und einer Bevölkerung von etwa 30,000 Bewoh⸗ 
nern, von der nahe $ Reformirte und nur etwa + Katholiken find — feine 
friedliche und gedeihliche Entwicklung. Selbſt die politifch » confeffionellen 
Streitigkeiten der legten Jahre, wodurch andere Theile der Schweiz aufs 
Tiefſte erfchüttert wurden, ließen in ben Alpentbälern von Glarus bis jest 
nur ſchwache Spuren zurüd. Und dies gefchah in einem Staate, der wohl 


Glarus. 269 


die volftänblafte Demokratie der Welt iſt; zum wieberholten Beweiſe, daß 
Wirren und Unruhen nicht durch Gewährung der Forderungen ber Freiheit 
und Mechtsgleichheit erzengt werden, fondern nur duch Verweigerung und 
unzeitigen Widerſtand. Wichtige Gefege haben in den legten Jahren bas 
Gemeindeweſen trefflich cegufirt und im Juni 1839 find zweckmaͤßige Beſtim⸗ 
mungen über Erneuerung, Berzichtleiffung und Verluft des Land = und Tag⸗ 
wenrechts*) getroffen worden. Zum Entwurf eines glarnerifchen Strafgefeh> 
buches iſt feit 1846 eine Commiffton niedergefegt. Auch wurde im Jahr 
1842 eine frieblich verlaufene Verfaffungsrevifion zu Stande gebracht. ‚Die 
hierdurch bewirkten Veränderungen find jedoch im Ganzen unbedeutend. "Die 
revidirte Berfaffung war In der Art auf vier Jahre angenommeh worden, daß 
vor Ablauf diefer Zeit Bein Antrag auf Aenderung zulaͤſſig fein und daB fie wei⸗ 
tere vier Jahre In Kraft bleiben follte, wenn fih im Jahr 1846 die Lands⸗ 
gemeinde für Peine neue Reviſſon ausſprechen wuͤrde. Wirklich zeigte fich in 
diefem Jahre kein Beduͤrfniß einer nochmaligen Reform; allein gleichwohl 
laͤßt es fich keineswegs als zweckmaͤßige Beſtimmung betrachten, daß bie 
Möglichkeit der Verfaſſungsreviſion an den Ablauf einer beſtimmten, wenn 
gleich nicht fehr lange dauernden Frift geknüpft if. In den meiften ande 
ten Santonen ber regenericten Schweiz hat man «6 In neuerer Zeit mit Be⸗ 
feitigung der Revffionstermine für paffender erachtet, die Möplichkeit einer 
theitwweifen Neform ber Verfaffungen an Leine fefte Zeit mehr zu binden, 
fondern fie von den ihr Ziel fich ſelbſt fegenden Bebürfniffen des öffentlichen 
Lebens abhängig zu machen. Hatte doch die Erfahrung gelehrt, daß ſich 
die Unzufriedenheit ber Parteien mit den beftehenden Verhältniffen oft in fols 
hem Grabe anfammelte, um die voraus beflimmten Zeiten ber Verfaſſungs⸗ 
revifion für mehrere Cantone zu hoͤchſt Eritifchen Perioden zu machen, wos 
durch diefe mit Unruhen bebroht und hier und da felbft in ihrem Beftande Bi 
fährbet wurden. Dagegen war es eine wahre Verbefferung im Jahr 1842, 
daß Im Verhättniffe zu dem ziemlich Äberflüffigen Rache der Geſchaͤftskreis 
der früher aus 11, jest aber aus 9 Mitgliedern beflehenden Standescom⸗ 
mifflon, als der die laufenden Gefchäfte beforgenden Regierungsbehörbe, 
erweitert worden iſt; und daß man zugleich auf einige Reduction bed ges 
richtlichen Perſonals bebadyt war. Mit dieſer legteren Beſtimmung iſt indeß 
ein Hauptuͤbel, an dem zumal die Heineren Cantone leiden, zwar vermindert, 
aber keineswegs befeltigt worden 5; und noch immer iſt namentlich in Glarus 
die Zahl der Staats» und Gemeindedmter fo groß, daß es trog ber auch 
- in der Schweiz herrfchenden Aemterſucht ſchon an Bewerbern und mehr noch 
an fähigen Männern fehlte, die ihrem Amte in jeder Weiſe getwachfen was 
ten. Dies erflärt fich Übrigens aus der Eiferfucht des Volks auf feine Frei⸗ 
heit, das eine Garantie berfelben In der alle oͤrtllchen Intereſſen möglichft vers 


*) Die 17 politifchen Gemeinden und Wahltagwen find zu unter 
fcheiden von ben glarner Berwaltungsgemeinden, wofür gleichfalls das 
Wort Tagwen gebraucht wird. Fuͤr bie Letzteren find die 25 alten Tagwen ober 
Zagivengemeinden beibehalten worden. Dft trifft der Umfang eines Tagwen mit 
den einer politifchen Gemeinde zuſammen; in einigen Ballen aber enthätt eine 
politifhe Gemeinde mehrere Tagwen. 


470 Glarus, 
tretenden und ſich gegenfeitig controlirenden größeren Menge ber Stantsbies 
finde. Auch läßt man es ſich überhaupt in der Schweiz fehr angelegen 
in, der Entflehung eines eigentlichen Beamten ffandes, mit befonderen 
esinteteffen und mit bureaukratiſchem Dünfel und Vorurtheilen , fo 
* is möglich vorzubeugen. Indem, aber die meiften und gerade die wich» 
tigften Aemter nur auf Bürzere Zeit verliehen werden und damit nur geringe 
a * Beſoldungen verbunden find, finden ſich die wenigſten Beru⸗ 
Stande, Ihren bürgerlichen Beruf dem öffentlichen aufzuopfern; 
(en darum if mahı genöthigt, für den Staatsdienft eine ungewöhnlich 
Theilung der Arbeit eintretem zu laſſen. Zugleich bringt es dieſes Sp 
mit ſich, daß bei ber Verleihung der Aemter die Reicheren vor ben Aerme⸗ 
ren er werben müffen. Ohne die Bortheile deffelben aufzugeben, 
würden ſich feine Nachtheile ſchwerlich anders vermeiden laffen als durch 
jrößere poll —8 ze abminiffrative Eentralifation bes gef ammten eibgendf: 

| ens. 

e Verfaffung von Glarus gehört gleich derienlaen ber. Urcantone 
mb de eben Appenzell zu den abſolut⸗demokratiſchen, wonach der zur 
inde berufenen gefammten Staatsbürgerfchaft die unmittelbare 
wichtigften Hoheitsrechte zuſteht. Mehr aber als in allen 
—— diefer Art hat man es in Glarus verſtanden, die neueren 
— einer geläuterten Politik zur Anwendung zu bringen und auf dieſe 
e die noch robe Form der abfoluten Demokratie zu veredeln. Dies geſchah 
zumal durch eine zweckmaͤßige Trennung der politiſchen Gewalten, beſon⸗ 
ders der vollzlehenden und der richterlichen, ohne daß man doch das Princip 
der Gliederung bis auf eine ſchaͤdliche Spige getrieben hätte. Wie breit gleich⸗ 
wohl die Bafis geblieben ift, auf welcher bie fouveräne Volksherrfchaft ruht, 
dafür mögen — zur Ergänzung des Hauptartifels über Glarus und mit Be: 
rüdfichtigung ber Veränderungen durch die Revifion von 1842 — hier nod) 
einige Belege angeführt werden. Activbürger und zur Kandsgemeinde beru: 
fen ift jeder in bürgerlichen Ehren ftehende ‚Landmann‘ fchon nad) zuruͤck⸗ 
gelegtem 18. Jahre. In die Competenz der Landsgemeinde fallen alle entfchei= 
dende Beftimmungen in Beziehung auf Verfaffung und die gefammte Geſetz⸗ 
gebung; die DOberaufficht über die Landesverwaltung, weshalb der Lands: 
gemeinde jährlich eine Ueberſicht ber Landesrechnung und des Standes der 
übrigen Landesverwaltung vorgelegt wird; in Beachtung der Bundespflicht 
die Entfcheidung über Krieg und Frieden, über Buͤndniſſe und alle nicht 
durch ausdruͤckliche verfaſſungsmaͤßige Beſtimmung einer anderen Behoͤrde 
vorbehaltenen Verträge mit eidgenoͤfſiſchen Ständen oder auswärtigen Staa⸗ 
ten; die Wahlen ber Mitglieder der Regierung und ber Gerichte; die Errich⸗ 
tung und Aufhebung Öffentlicher Beamtungen und die Feſtſetzung der Befol: 
dungen ; alle hoheitlihen Verfügungen über Staatsgüter, Regalien, Münz, 
Mas und Gewicht; das Steuerwefen und alle Verfügungen, melde die zur 
Beftreitung der Randesausgaben erforderlihen Mittel betreffen; die Ent: 
fheidung über alle Anftalten, Bauten und Anfchaffungen, deren Koften die 
Summe von 2500 Gulden überfchreiten, außerordentlich dringende Um⸗ 
fände und Bedürfniffe vorbehalten ; die Extheilung und Erneuerung des 







Glarus. . 471 


kandrechts. Dagegen hat die Landsgemeinde kein Recht, auf bie von den 
übrigen Behörden innerhalb ihrer Competenz erlafienen Exkenntniffe und 
Urtheile einzutreten. Auch berathet und entfcheidet fie einzig, nach Maß⸗ 
gabe eines Reglements , über bie im Randsgemeinde: Memorial enthaltenen 
Artikel und Gutachten des Landraths, indem fie jedocd mit Stimmenmehrheit 
die an fie gelangenden Anträge annehmen, abändern, verwerfen, oder zur 
nochmaligen Begutachtung und Erledigung an den dreifachen Landrath zus 
ruͤckweiſen kann. Diefe ſehr wohlthätig wirkende Inftitution bes Landeges 
meindes Memoriale in feiner jegigen vervolfommmeten Geftalt findet fi 
in keinem der anderen abfolutsbemokratifchen Cantone. Daſſelbe wird jährs 
lich vom breifachen Landrathe gebildet und vier Wochen vor der im Mai abs 
zuhaltenden Landgemeinde in 1000 bis 1500 gedrudten Exemplaren dem 
Volke mitgetheilt. Nicht nur die Behörden, fondern jeder ffimmfähige 
Landmann bat das Recht, Vorſchlaͤge zu Gefegen und hoheitlichen Bes 
fhlüffen an da® Landsgemeindes Memorial zu geben; und zu biefem Zwecke 
werden jährlic) im Januar die Behörden und das Volk öffentlich aufgefordert, 
ihre Vorfchläge innerhalb 14 Zagen der Behörde einzugeben. Die Eingaben 
muͤſſen fchriftlich verfaßt, die Anträge beftimmt geftellt, mit den Erwaͤgungs⸗ 
gründen begleitet und vom Eingeber unterzeichnet fein. Sie werben vom 
dreifachen Landrathe geprüft und nöthigenfals erſt an befondere Commiſſionen 
gewiefen, wozu aud) fachkundige Männer außer feiner Mitte beigezogen wer⸗ 
den Zönnen. Die als erheblich und deinglich erfannten Anträge werden mit 
dem Gutachten bes Landraths dem Memorial einverleibt: Aber auch bie für 
unerheblich erklärten müflen unter einer eigenen Rubrik, jedoch ohne Guts 
achten, in das Memorial aufgenommen werden. Weber Anträge der legteren 
Art wird nur auf befonderen Vorſchlag an der Landsgemeinde eingetreten, 
fo daß diefe entweder ihre fofortige Ablehnung oder ihre Begutachtung für das 
folgende Jahr befchließt. Im Kanton Glarus fleht aljo die Fnitiative der 
Geſetzgebung, wie dies freilich nur in einem kleineren Staate ausführbar ift, 
in möglichfl großem und zugleich) in zweckmaͤßig bemeffenem Umfange allen 
Staatsbürgern zu. 

Jede Confeſſion hat nach der Verfaſſung ihrer Kirche und unter Auf: 
fiht des Staats ihre confeffionellen Angelegenheiten felbft zu beforgen und 
ſtellt fich zu diefem Zwecke einen eigenen Kirchenrath auf. Die Geiftlichen 
beider Confeſſionen, die in allen bürgerlichen Beziehungen, in Civil» unb 
Stiminalfachen unter den Gefegen und Gerichten des Landes flehen, werden 
von den Kirchengemeinden gewählt. Nach Aufloͤſung bes Bisthums Con⸗ 
flanz war der Eatholifhe Theil von Glarus durch ein päpftliches Breve, 
ohne Berathung und Zuflimmung der politifchen Behörden dieſes Cantons⸗ 
theils, bem Bisthume Chur proviforifch zugetheilt worden. Der Streit, ben 
der Bifhof Boffi von Chur wegen dem der Geiftlichleit den Landeseib auf 
Legenden $.74 der Berfaffung erhob, hatte am 19. April 1838 zu einer Aufs 
bebung der proviſoriſch beflandenen Verbindung mit dem Bisthume Chur 
geführt, wogezen jedoch ber Bifchof und der paͤpſtliche Nuntius Proteſtation 
einlegten. Erſt nad) dem Tode Boffi’s wurde durch einen vom dreifachen 
gondrathe am 22. Yuguft 1844 genehmigten Vertrag ber provfforifche 


474 Glaubensfrelh eit. 


m’ darf, was er glaubt, deffen innerſte Regungen und Thätigkeiten 
reiner außer ihm liegenden Gewalt abhängen, deffen geiftiges Sein und, 
Beben von der Poligei regulirt wird, deffen Verſtand und Gefühl fid nach 
der vorgefchriebenen Inſtruction tichten muß / wie ein Gensdarm? Ein fol 
her Menſch iſt gewiſſermaßen ein Thier, denn diejenige Befugniß, die ihm 
Jum Menſchen macht, fehlt ihm, es fehlt ihm die Freiheit, nach Geſetzen zu 
handeln und ſich zu beſtimmen, welche im ihm ſelbſt liegen. Er iſt nicht frei, 
fein Geiſt iſt gebunden , zwar nicht wie beim Thier durch natuͤrliche Feſſeln, 
durch feinen phyſiſchen Organismus, fondern durch kuͤnſtliche Bande. 
Man ſollte in der That im den Zuſtaͤnden des 19. Jahrhunderts feine 
Aufforderung mehr finden, gegen die Beſchraͤnkung dieſer Freiheit feine 
Stimme zu erheben, und doch Geben gerade die neueften Bewegungen in 
unferem Baterlande Veranlaffung genug, diefen Stoff zu behandeln: Dier 
wird eine Anzahl Menſchen von dem Vollgenuß ihrer ſtaatsbuͤrgerlichen 
Mechte ausgeſchloſſen, weil die Gebraͤuche, in welchen ihr rellgioͤſes Gefühl ſich 
verwirklicht, nicht mit den Geremonien uͤbereinſtimmen, welche die Mehr: 
zahl fuͤr alleln gültig erklärt, Dort wird ein anderer Verein, deffen Mitglies 
ber fid von Symbolen und Lehrfägen losfagten, bie ihrem Gewiſſen nicht 
mehr entfprachen, von ber Polizei chikanirt und gequält, auf eine Weife, 
bie, man beurfch nennen fan. Anderewo bilden Gensdarmen und Polizel⸗ 
commiffäreein Glaubensgericht und inquiriren Leute, die im Verdacht ftehen, 
anders zu glauben, als die Inſtruction es vorfchreibe. In diefem Staat ift 
blefe Religionspartei nur gebulder und mit ihrer Gottesverehrung in das In⸗ 
nere ihrer Häufer gebannt, in jenem Lande widerfährt daffelbe einem Glau—⸗ 
ben’, der anderswo allein gültig iſt. Weberall nur Drud und Beſchraͤnkung, 
nirgends bie wahre volle Freiheit. Diefe Freiheit habe ich nun zunaͤchſt im 
Auge, welche in ihrer herkömmlichen und gewöhnlichen Bedeutung als Ge- 
wiſſensfreiheit auf das religiöfe Gefühl des Menfchen und das Verhältniß 
fi) bezieht, im welches bie Staatsgewalt zu feiner dußeren Darftellung fich 
fegen fol. Es wurde diefes Verhaͤltniß theilweife ſchon in dem Artikel 
„Dulbung” berührt, jedoch nicht in fo allgemeiner und erichöpfender Weife, 
daß nicht ein zweiter Artikel gerechtfertigt wäre, der zugleich einen anderen 
Standpuntt einnimmt. 

‘Um einen richtigen Gefichtspunft zur Beurtheilung des Verhältniffes 
zu: gerinnen, in welches fid) der Staat zur Religion oder vielmehr zu dem 
religioͤſen Bekenntniß feiner Mitglieder fegen muß , bedarf es vor Allem als 
Prämiffe für die tweiteren Ausführungen einer richtigen Auffaffung der hier: 
ber gehörenden Begriffe. 

Machen wir ung zuerft, und zwar von der objectiven Seite der Religion, 
von ihrem Inhalte und Segenftand abftrahirend, das Wefen derfelben in ſub⸗ 
jectiver Beziehung Har. In dieſer Hinficht ift die Religion als das religioͤſe 
Gefühl des Individuums eine Selbftbeftimmung, ein innerliher Zuftand 
des Menfchen, alfo reine Privatangelegenheit jedes Einzelnen. Der Menſch 
iſt religiös, er glaubt an den Gegenftand feines religisfen Gefühle, weil und 
wie feine Individualität ihn dazu drängt, gerade wie fein finnliches Gefühl 
einen Gegenftand des Geſchmackes goutirt, weil er feinem phyſiſchen Or⸗ 


— 


Blaubensfreiheit. #75. 


ganismus angemeffen iſt. Religion iſt alfo zunaͤchſt etwas rein Subjectives, 
ſchlechthin Innerliches und Individuelles, der Glaube iſt ein Theil des inne⸗ 
ren Menſchen. | Ä | 

As folcher bietet er für die Außenwelt noch keinen Anhalts⸗ und Bes 
rührungspunft, dies gefchieht erft dann, wenn er aus der Sunerlichkeit her⸗ 
austritt und fich objectivirt. Der Glaube findet feinen Ausdruck, feine em⸗ 
pirifche Darſtellung in gewiſſen Gebraͤuchen und Handlungen, welche eine 
fpmbolifche Bedeutung für den Religiöfen haben. Die Form, in welcher dieſe 
Gebraͤuche ſich geltend machen, ift dieſelbe, welche auch auf anderen Gebies 
ten des Geiſtes gleiche Sefinnungen und gleiche Zwede zu ihrer Befriedigung 
wihlen, nämlich die Form des Vereins. Menſchen, welche ben gleichen ces 
tigiöfen Anfichten, denfelben Glaubensichren angehören, bilden einen reli⸗ 
giöfen Verein , eine religioͤſe Partei, eine Serte. 

Diele religiöfen Vereine find alfo nichts Anderes als die Form für ein 
ganz individuelles Gefühl, für ganz individuelle Zwecke, und bie religiöfen 
Ceremonien, der Cultus nichts Anderes als die Symbole irgend einer Gefühle: 
richtung ober Privatneigung mehrerer Menfchen, und in fofern fallen fie 
unter die Kategorie des Willkuͤrlichen, Beliebigen, Zufälligen. . 

Der Staat dagegen iſt die Form, in welcher das gefellfchaftliche Leben 
eines Volkes fich bewegt und organifirt und als folcher ift er die Form für 
das Allgemeine, für das Nothwendige. Ebenfo ift der Staat die Form, in 
welcher fich die Idee der Menfchheit, alfo bie fittliche Freiheit verwirklicht. 
Dies iſt nur dadurch möglich, daß er einen gewiſſen (gefeglichen) Zwang aus⸗ 
übt und fo einen Rechtszuſtand ſchafft, welcher dem Einzelnen feine Frei⸗ 
heit und dee Geſammtheit die öffentliche Sittlichleit garantirt. Object des 
Staats oder vielmehr bes ſtaatlichen Zwanges kann deshalb nur das fein, was 
ſich auf die Rechtsverhältniffe ber Einzelnen zu einander und zu ber Ges 
ſammtheit bezieht, was alfo entweber eine moralifche, oder eine allgemeine, 
eine Öffentliche (politifche) Bedeutung hat. Dem unmittelbaren Eingreifen 
bes Staates muß daher Alles verfchloffen fein, was willkuͤrlich, beliebig, 
überhaupt unmefentlich iſt, was auch anders fein Eönnte, als es ift, nicht 
minder Alles, was eine Beſchraͤnkung der perfönlichen Freiheit begründet. 

In dieſen Merkmalen der beiden Begriffe Staat und Religion ift num 
das Verhältniß angedeutet, in welches beide zu einander ſich fegen mäflen; 
es läßt fidy mit wenig Morten fo ausdrüden: Der Staat darf in Bezie⸗ 
bung auf die Religion feiner Angehörigen weder einen pofitiven noch einen 
negativen Zwang ausüben. Der Staat muß fich der Religion feiner Ans 
gehörigen, d. h. ben einzelnen Belenntniffen und Secten und ben verſchiede⸗ 
nem Arten ber Gottesverchrung und des Cultus gegenüber indifferent ver⸗ 
halten. Er darf weber einen einzelnen Verein monopolificen, d. h. mit einem 
ben anderen fühlbaren Staatszwang verfehen und dadurch zu einer Staats: 
anftalt erheben, noch einen andern in feinen Privatangelegenheiten irgend⸗ 
wie befchränten. Er darf weder direct noch indirect Jemanden zu seinem Be⸗ 
kenntniß zwingen, noch aber ein folches Bekenntniß befchränten ober ver: 
bieten. Die religiöfen Angelegenheiten müffen in den Augen des Staats als 
Privatfachen gelten, welche Jeder nady feinem Belieben und feiner Indivi⸗ 


‚6 — n 9 


dualitaͤt gemaͤß echt machen kann. Wen ber Staat te | 
etfuͤllt, fo 28 ——— * oder —— eh 
Kenne diefe Ag fpecieller end vorher en muf —* einer Fhreörte 





welche im ihrer Auffaffung de® Stants und der Kirche 
Ausführung geradezu miberfpricht, “ iſt dies die Theorie vom 


rien Staate.“ 
Dieſe Theorle gender naͤmlich Feten den Star auf die ‚ehriftfiche 
Meligion,” welche auf die —— des Staats Im der Art einwirken 
daß er die Achriſtliche Religion” des Uetheils habe; nach 











chem er feine an * J— Biete anfbr, feine woe 
toeitigen Lehengoechd 
* maps Gatehe Darin, uf © 5 Die heiſchende @- 






Urfprungs fl; daß er den Beruf babe; fie im letzten Ziele zur 
eh Bat und zur R a zu gebrauchen; daß er das 
Giſtenthum nd die chriſtli feiner Angelegenheit mache in 
Shug und Förderung; daß 55 Erfenntnif zu feiner 


— —— 
e a 
re ." t: Rechte: nd Seaatel te" 
3 —— * —— 154). * 


154). ° 
wir mun dieſen chrifktihen A näher, fö cn ung zit⸗ 
ndehſt als Vorausſetzung, don welch er er Ausgeht, die grundfalſche Iden⸗ 
Hiflkirumg von Moral und Dogma, von Sitten⸗ umd Glaubendfehre, von 
Weſen und Form entargen, Diefes Berhätmiß bedarf einer näheren Erin: 
terung. 

Die Theorie vom „chriſtlichen Staate” Tpricht ſchlechtweg vor der 
chriſtlichen „Religion“, auf welche der Staat begründet fen müffe. Mas 
heißt num, um ihre objective Seite zur betrachten, was heißt chriſtliche Reli— 
gion — und in wiefern muß und kann ſich der Staat auf ſie ſtuͤtzen? 

Loͤſen wir, um dieſe Frage zu beantworten, die chriſtliche Religion 
oder vielmehr Kirche in ihre einzelnen Beſt indthell⸗ auf. 

Das Weſen der chriſtlichen Religion, ihr Inhalt, ihr feſter unveraͤn⸗ 
derlicher Kern war zur Zeit ihrer Reinheit das chriſtliche Sittengeſetz, die 
chtiſtliche Moral, durch welche das fittliche Bewußtſein ihrer Bekenner be: 
ſtimmt wurde. Vermittelt wurde dieſe chriſtliche Sittenlehre durch den 
Glauben an Gott und die goͤttliche Wuͤrde und Beſtimmung jedes Men— 
(hen. Dieſer Glaube und diefe Anerkennung des chriſtlichen Sittengeſetzes 
waren daher die beiden Elemente des Urchriſtenthums, des chriſtlichen Be— 
wußtfeins in den Zeiten ſeiner Entſtehung. Beide waren an ſich Sache der 
Innerlichkeit und fanden ihre empiriſche Darſtellung, das eine als Glaube 
in dem Gultus, das andere als moralifche Beftimmung des Menfchen im 
fittlichen Wandel. Beide wurden int Raufe der Zeiten weiter ausgebildet, es 
entftand eine chriftliche Sittenlehre und es entftand!eine chriſtliche Glaubens: 
tehre und ein chriftlicher Gultus. Die Entwicklung diefer beiden Seiten 
der riftlihen Religion fchlug jedoch zwei fehr verfchtedene Wege ein. 
Während das Sittengefeg, das uns ſchon in den erften Zeiten als etwas 


Glaubenefreiheit | 41 


Fertiges, Gegebenes entgegentritt*), faſt unverändert ſich erhielt und nur 
durch ſehr unmwefentliche Zuthaten vermehrt wurde, entwidelte fih das Mi⸗ 
nimum de8 Dogma und des Gultus der Urkicche eigentlich erſt ſpaͤter. Der 
Glaube des Urchriſtenthums ließ fich auf einen oder zwei Säge zurüdführen 
und fein Cultus beſchraͤnkte fich auf einige wenige Gebräuche, Agapen, Zus: 
fammenkünfte, die in der Natur der Sache begrändet waren. Das Urdgels 
ſtenthum cultivirte faft ausfchließlich das Weſen des hriftlichen Bewußtſeins, 
fein Sittengefeg, durch einen hriftlichen Wandel. Bereits im zweiten Jahr⸗ 
hundert fchlug jedoch die chriftliche Kirche eine Richtung ein, welche das 
Wefen in den Hintergrund und die Korm, das Untvefentliche in den Vor⸗ 
dergrund drängte. Es bildete ſich eine chriſtliche Prieſterkaſte und biefe 
hatte ihre befonderen Gründe, hauptſaͤchlich das hriftliche Dogma und den 
Cultus anzubauen. Die Glaubenslehren und Seremonien wurben unend⸗ 
lich vervielfältigt und nad) und nad) fo fehr zur Dauptfache gemacht, daß 
die Kirche bald in das Stadium der Gorruption eintrat, in welchem e6 wenig 
mehr auf die Verwirklichung der chriſtlichen Moral, ſondern auf die Aner⸗ 
fennung der Aeußerlichkeiten, der unzähligen Dogmen und Geremonien ans 
kam. Nun bildeten diefe das fpecififche Merkmal der chriftlichen Kirche fo 
fehr, daß noch heut zu Tage die verfchiedenen chriftlichen Kirchen und Secten 
nur durch die Dogmen und ben Cultus von einander fich unterfcheiden, wähs 
rend fie in Beziehung auf die Anerkennung bes chriftlichen Sittengefeges 
faum von einander abweichen. 

Man fieht alfo, daß der Ausdruck „chriſtliche Religion” an ſich fo vag 
und zweideutig ift, daß er, befonders wenn es fih um wiffenfchaftliche Debuc- 
tionen, um ein Syſtem handelt, eine genaue logifche Zergliederung unmöglich 
entbehren kann. E86 reicht nicht hin, einfach) zu fagen, der Staat muß bie 
„chriſtliche Religion” zu feinee Grundlage machen, ſondern es handelt fich 
weſentlich um die Frage, melches ber beiden chriftlichen Elemente muß bie 
Baſis, das leitende Princip des Staats fein? Muß fich der Staat auf das 
chriſtliche Sittengefeg fügen, oder auf die chriftlihen Dogmen und ben 
Cultus? Muß er die hriftliche Moral zu feinem leitenden Gebanken mas 
hen, oder die chriftlichen Geremonien und die chriftlichen Glaubenslehren? 
und hier dann wieder katholiſche oder proteftantifche, rationaliftifche, pies 
tiftifhe Sagungen u. ſ. w.? Muß er ſich auf das Wefen flügen oder auf bie 
Borm? Diefe Frage präcis und mit logifcher Schärfe zu beantworten unters 
laffen nun wohl weislich die Mitter des „hriftlihen Staats”, weil es ihnen 
dienlicher iſt, hinter den wagen Ausdruck „chriſtliche Religkon” fid) zu vers 
fhanzen, um fo eine gangbare Firma für ihre unhaltbaren Theorien zu ers 
halten. Ich erlaube mir jedoch die Sache anders zu entfcheiden. 

Inſofern nun das chriſtliche Sittengefeg identiſch iſt mit der Idee ber 
Sittlichkeit und die Vorausſetzung enthaͤlt, ohne welche uͤberhaupt kein ſittlich 
freies Zuſammenleben exiſtiren kann, muß es auch der Staat zu feiner Grund⸗ 
lage machen und in ſofern wird der Staat ſtets ein chriſtlicher ſein und ſein 


bierhe —5 der katholiſchen Kirche, Caſuiſtik u. ſ. w. werden wohl nicht 


4 


_ 





muͤſſen· Allein die Herren Stahl und Gonforten meinen anders, ihr chriſt ⸗ 
licher Staat muß ſchlechthin die heiftliche „„Meligion oder Kirche, alſo 
beide Elemente derjelben, das Sittengefe und die Glaubenslehre jo wie die 
Geremonien zur Borausfegung haben. Den Grund diefer Forderung werde 
ich unten näher beleuchten; hier noch einige Worte über die vernünftige 
Möglichkeit des chriftlichen Staats in der Auffaffung von Stahl und Anderen. 
Der oben berührte Ausdeuch, ber Staat muͤſſe die „hriftliche Religion“ 
zum Maßftab des Urtheils haben, nad) welchem er feine Ziele anftrebe und 
ſeine Lebensverhaͤltniſſe ordne, kann vernunftiger Weife michts Anderes bezeich⸗ 
nem als die Sanction ber chriſtlichen Kirche durch den Stant, wodurch jene 
einer polirifchen Inſtitution erhoben und mit einem auf die Verhaͤltniſſe 

der Staatsangehörigen Influicenden gejeplichen Zwang beiehnt wird. Wie 
bereits gezeigt wurde, find die chriftlichen Dogmen und Geremonien gegen 
über dem chriſtlichen Sittengefeg nicht nur etwas rein. Individuelles, Will⸗ 
Lürliches, alſo nichts Nothwendiges, fondern auch etwas Unweſentliches, 
was Im Verlaufe der Zeiten durch individuelle Zuthaten entſtanden if. Kann 
nun der Staat diefes Zufällige und Unweſentliche durch gefepliche Sunction 
zu etwas allgemein Bindendem, zu etwas allgemein Zwingendem machen? 





Kan der Staat diefe oder jene Glaubenslehre, diefe.soder jene Geremonie 







En lee far Kann ber Staat verlangen, daß man im 19. Jahr⸗ 
ʒert Säge für abfolut wahr halte, welche durch zufällige Umftände im 
—— Jahrhunderten von pfiffigen Prieſtern und kaiſerlichen Despoten 
onirt wurden? Kann er den Staatsbürger zum Ölauben an die Drei- 
einigkeit, an die Zransfubftantiation, an Wunder, zur Unterwerfung un: 
ter gewiſſe Geremonien gefeglic; zwingen? Allein, fagen die Bertheidiger 
des chriftlichen Staates, Dogma, Eultus und Moral find unzertrennlih. — 
Die tägliche Erfahrung lehrt jedoch , daß der blindefte Glaube, die hölzernfte 
Uebung der Geremonien fehr häufig nur der Firniß für Dummheit und Un: 
fitte ift, während die freiefte Weltanfhauung, die rationaliftifchfte Auffaf- 
fung des Chriſtenthums, die größte Vernachlaͤſſigung des Cultus mit dem fitte 
lihften Charakter ſich fehr wohl verträgt, zum Beweife, daß jene Dinge un- 
mwefentliche Aeußerlichkeiten find. — Der Staat kann daher in Feiner Weife 
berechtigt fein, diefen unmefentlihen Dingen einen gefeglichen Zwang bei- 
ulegen. 
’ Dies ift aber noch aus einem anderen Grunde unmdglih. Die Herren 
bes chriftlichen Staats fprechen ſtets nur von der chriftlihen Kirche. Nun 
giebt es aber zufällignicht eine chriftliche Kirche, fondern es giebt zwei, 
drei, es giebt mehrere hriftliche Kirchen. Alle diefe verfchiedenen Kirchen 


‚ flimmen dem Wefen nah in Anerkennung bes chriftlihen Sittengefeges 


überein, allein der Form nad), in Beziehung auf das Unmefentlidhe, in 
Beziehung auf Glaubenslehren und Geremonien unterfheiden fie ſich fo fehr 
von einander, daß gerade diefer Unterfchied ihre ſpecifiſchen Merkmale bil- 
det. Welches ift nun der rechte Ölaube, welches find die rechten Geremonien © 
Sobald ſich der Staat auf die Beantwortung diefer Fragen eintäßt, d. h. fo: 
bald er Glaubenslehren und Geremonien für politifch relevant erklärt, fo muß 
er entweber die Lehren einer beftimmten Kirche für allein gültig proclamiren 


Glaubensfreiheit 419 


und daher gefeglich fanctioniren. Diefes Verhalten iſt num allerdings fehr 
confequent und principmäßig, allein der Staat macht ſich dadurch, abgefehen 
von der Unverträglichkeit diefer Privilegirung einer einzigen Kirche mit der 
Geroiffensfreipeit, zum Theologen, der Staat macht fid) zum Glaubensrich⸗ 
ter, der über theologifche Controverſen entfcheidet und dogmatifches Schul 
gezaͤnk aburtheilt. Der Staat begiebt ſich alfo auf ein Gebiet, wohin er 
gar nicht gehört, auf ein Gebiet, das dem Wefen bes Staats und der Staates 
gewalt vollftändig widerſpricht. Oder aber muß der Staut mehreren Kirchen 
gleiche Rechte ertheilen,, er muß zwei, drei, er muß mehrere Staatslicchen, 
zwei, drei und mehrere Blaubenslehren und Ceremonialgefege fanctioniren, 
Dadurch aber fündigt er gegen den Begriff des Geſetzes. Gegenitand eines 
Geſetzes kann nur das Nothiwendiye fein, denn zum Unnöthigen kann Nies 
mand rechtlich gezwungen werden, das Geſetz muß daher ſtets einfach Bates 
goriſch fein, das Geſetz ſchließt [hlechthin jedes Entweder Dder aus, das 
Geſetz enthält das einfache Muß. Nicht dies oder das, nicht dieſe oder jene 
Art Bann gefeglich fein, fondern einfach nur das beftimmte Dies, die bes 
flimmte Art. Der Staat kann daher confequenter Weife entweder nur 
eine beflimmte Kirche fanctioniren oder gar keine. Sobald er mehrere Kir: 
hen zu Staatskirchen macht, hebt er fogar felbft die Staatskirche und ben 
„chriſtlichen Staat” felbft auf, denn er proclamict indirect das Princip der 
Sectenfreiheit. Der proteflantifche Abfall von der Eatholifchen Staatskirche 
batirt 3.3. daher, daß es Einzelnen und Mehreren nicht mehr beliebte, fie ans 
zuertennen. Sobald nun der Staat aud) eine proteftantijche Staatskirche 
ſchafft, fo fanctionirt er dieſes Belieben Einzelner und zwar nicht blog in der 
Vergangenheit, fondern confequenter Weife auch für die Zukunft, d.h. er 
muß den beliebigen Abfall von der Staatskirche anerkennen‘, fo oft Gelegen⸗ 
beit dazu iſt. Damit aber ift der Begriff der Staatskirche als einer allges 
mein gefeglich bindenden Anſtalt vernichtet. Diefe Nothwendigkeit fühlt der 
Fatholifche Staat fehr gut, darum giebt es 3.3. in Defterreichh auch nur 
eine Staatsfiche, denn die Staatögemwalt hütet fi), durch die Emancipas 
tion ber Proteftanten ihren Fatholifchen Unterthanen das Lebendige Beifpiel 
zu geben, daß etwas Gefegliche® unweſentlich fei, daß man etwas zum Ges 
feg gemacht habe, was nicht nothwendig iſt, was man alfo auch nicht noths 
wendig und nicht eigentlich zu befolgen braucht. | 

Der chriſtliche Staat harakterifirt ſich ferner dadurch, daß er „bie Ges 
bote der chriſtlichen Offenbarung zu feiner Vorausſetzung hat. 

Inhalt der Offenbarung iſt ſtets ein den menſchlichen Willen beſtim⸗ 
mendes Geſetz, das unabhaͤngig von ihm entſteht, von oben herab auf ihn 
kommt und auf abfolute Guͤltigkeit Anſpruch macht. Jeder Staat, deſſen 
Einrichtungen und Grundprincip auf eine Offenbarung zuruͤckgehen und ihre 
Guͤltigkeit von einer Offenbarung ableiten, enthaͤlt daher nothwendig fol⸗ 
gende Momente: 

Da der Staat eine Anſtalt iſt, welche auf feine Mitglieder einen geſetz⸗ 
lichen Zwang ausübt, fo übt ein auf Offenbarung baflıter Staat einen abfos 
Iuten Zwang aus, d. h. die Staatsgemwalt leitet ihr Mecht zu herrſchen nicht 
aus dem Willen der Bürger, fondern aus einer von dem Gefammtwillen 


free" 


unabhängigen Macht, nicht aus einer menſchlichen, natürlichen, ſonbern 
aus eier uͤbermenſchllchen, uͤbernatuͤrlichen Duelle ab, Daburch erzeugt 
ich die Lehre von dem fo beruͤchtigten göttlichen Mecht der Hertſcher, mel: 
bes man fuͤgllch ale bein lepten Grund der meiften Nevolutionen neuerer Zeit 
anfehen Fann, ein Recht, das mit der Yes des Staates, mit ber menſch⸗ 
lichen Freiheit, mit dem Menſchenthum abſolut unvereinbar iſt, teil 08 
freigeborene Menſchen zu willentoſen Gegenftänden macht, bie Eraft einer von 
ihnen unabhängigen und außer ihmen fiegenden Urfache beſtimmt und ges 
aucht twerben koͤnnen wie eine Sache. Durch die Zuruͤckfuͤhrung feiner Ges 
walt und feiner Geſetze und Einrichtungen auf eine Offenbarung verfegt der 
Staat ſich ſelbſt und feine Thaͤtigkeit auf ein Gebiet, das der menfhlichen 
Vernunft ebenfo ehe als dem menſchlichen Wilten verfchloffen iſt, auf das 
myſtiſche Gebiet ber Urbermenfchtichkeit. So ein „Arifklicher Staar” iſt un: 
erträglich mit der Freiheit der menſchlichen Keitit, Denn fobald es geftattet 
ift, die Dffienbarung auch in Zweifel zu ziehen, fie zu beurtheilen, fo geräih 
das Geoffenbarte in fahr, andy nicht als Offenbarımg anerkannt zu werben. 
Dir „riftliche Staat” muß daher die Frelhelt des menſchlichen Urtheits 
vernichten. Zufaͤlliger Wolfe aber hat fich die menfchliche Vernunft ſchon 
geraume Beit daran gewöhnt, nicht mehr ſchlechthin zu glauben, fondetn zu 
prufen, wie «8 fchom der Apoftel Paulus angerathen hat; die mienfchliche 
Vernunft muß daher dert „hriftlichen Staat” mit Proteft zurädtveifen. 
Was geoffenbart iſt, ſtammt aus höherer, unfehlbarer Duelle, es 
formit abfolute Güftigkeie Haben, denn hätte es diefe nicht, Könnte es 

auch falſch und fehlerhaft fein, fo würde dadurch bie Offenbarung compromit⸗ 
tirt. Was abfolute Guͤltigkelt hat, iſt fchlechthin gut, und zwar gut ſo, wie 
es ift, ſchließt deshalb jede Veraͤnderung und Verbefferung aus, denn diefe 
wäre ein Beweis, daf die urfprüngliche Offenbarung unvollkommen, fehler: 
haft war. Der auf „Dffenbarung” baſirte „chriſtliche Staat’ repräfentirt 
Daher das Princip der Stabilität, die abfolute Gültigkeit des beflehenden 
Zuftandes, er fchließt Reformen, er ſchließt das Princip des Fortfchreiteng 
aus und iſt fomit unverträglich mit dem erſten und hoͤchſten Naturgeſetz 
des Lebens, mit dem Gefeg der Bewegung. Der „chriſtliche Staat” führt 
daher nothmwendig zur Nevolution, er hat dazu geführt und wird dazu führen. 
Die Offenbarung wird vermittelt durch die Diener des offenbarenden 
Weſens, d. h. durch die Priefter. Prieſter find Menfchen, durch die Offen: 
barung aber werden fie zu untrüglichen Gefäßen des göttlihen Willens ges 
acht und Ihren Ausfprüchen göttliche Autorität beigelegt. Der „chriſtliche 
Staat” gerät daher in Gefahr, Alles das fanctioniren zu müffen, was die 
Priefter als göttliche Wahrheit ausgeben, und in der That ift Erin Unfinn fo 
groß, der nicht irgendwann oder irgendwo ein Glaubensartikel geweſen wäre. 
Priefter find, feit die Melt fleht, die Avantgarde des Despotismus, 

die ſchwarze Gensdarmerie, welche auf Alles fahndet, was ſich frei regt und 
betvegt im Reiche des Geiftes. Der „chriſtliche Staat” räumt daher einer 
Kaſte, deren Gefchäft es ift, die menschliche Freiheit zu befehden, einen un: 
mittelbaren und mittelbaren Einfluß auf das Volksleben ein, d. h. er liefert 

das Volk feinen geiftigen Henkern in bie Hände. 
















Glaubensfreiheit. 481 


Endlich hat zu allen Zeiten der thatfächliche Zuftand des chriftlichen 
Staates fo Löftliche Früchte getrieben, daß er auch erfahrungsmäßig verurs 
theilt werden muß. Während in den menfchlichen Staaten, wo die Gemalt 
aufdas Volk zuruͤckgefuͤhrt wird, die Freiheit bluͤht und ein geordneter Rechte: 
zuftand,, floßen wir in „chriſtlichen Staaten” allnthalben auf Eenfur und 
Vernichtung jeglicher Sreiheit, auf Majeftäts: und Hochverrathsproceſſe, auf 
Polizelwillkuͤr und Mangel an einem bie perfönliche Freiheit garantirenden 
Rechtszuſtand. | Ä \ 

Kehren wir nach diefer Apoftrophe zum Hauptthema zurüd. Ich ftellte 
oben denjenigen Zuſtand als das richtige Verhältniß zwiſchen Stant und 
Kichhe, als Gewiſſens⸗ und Meligionsfreiheit dar, in welchem der erftere In 
Beziehung auf die religiöfen Angelegenheiten feiner Mitglieder ſich indifferent 
verhulte, alfo weder einen pofitiven nody einen negativen Zwang altsübe. 
Die Religion, d. h. der Glaube, und die Symbole, welche jenem zur Folle 
dienen, bezeichnete ich als &egenftände einer individuellen Neigung, als 
Privatangelegenheiten,; welche dee Staat ebenfo wenig zur Allgemeinheit 
erheben, d.h. mit publiciflifchem Zwange belchnen dürfe, als 3. B. das 
Schoͤnheitsgefuͤhl der Einzelnen und bie Formen, in melden diefes ſich 
etwa objectivirt, oder als bie Freundfchaft und die Symbole, welche fi 
daran knuͤpfen. Ebenfo wenig al z.B. der Staat Geſetze in Beziehung 
auf die Freundſchaft erlaffen oder ein Symbol der Freundfchaft, 3.8. das 
Anftoßen mit Weingläfen und nachfolgenden Haͤndedruck, fanctioniren 
darf, ebenfo wenig hat er das Recht, in Beziehung auf die Religion einen 
Zwang auszuüben und gewiffe Symbole und Gebräuche zu einer Nothiven- 
digkeit zu machen, der ſich Alle unterwerfen müffen. 

Durch diefe Forderung wird der herkoͤmmliche Begriff von Gewiſſens⸗ 
freiheit bedeutend erweitert. Die gewöhnliche Doctrin begreift unter Gewiſ⸗ 
fensfreiheit folgende Rechte: . 

1) Riemand kann zu einer anderen Religion gezwungen werben. 

2) Jedem fteht frei, zu einer anderen Religion überzutreten. 

3) Keinem darf feiner Religion wegen ber Staatsfhug verfagt werben. 

4) Die Ausübung bes Gultus oder die Gottesverehrung iſt Jedem 
wenigſtens im Haufe geflattet. 

Diefe Definition iſt jedoch weiter gar nichts Anberes als eine Paraphrafe 
des Gewiſſenszwanges, tie ihn die Verfaſſungen oder die Praris der „chriſt⸗ 
lihen Staaten” ausübt. Um vorerſt von den übrigen Punkten zu abſtrahi⸗ 
ven, enthält bereits die erſte Beftimmung die Sanction des Gewiſſenszwan⸗ 
ges, benn fe geht von ber Vorausfegung aus, daß der Staat das Recht 
babe, feine Angehörigen überhaupt zum Anfchluß an eine der beſtehenden Kir⸗ 
chen oder Gonfeffionen zu zwingen. Die rechtliche und logiſche Unmoͤglich⸗ 
keit dieſes Zwanges habe ich jedoch bereits nachgerviefen, er beruht, wie gefagt, 
auf der falfchen Identificirung von Moral und Eultus und auf ber falſch 
aufgefaßten Forderung , daß der Staat ohne Religion nicht beftehen könne. 
Diefer Sag ift ganz richtig, wenn man babei das Wefen der Religion, Ihren 
Anhalt im Auge hat und unter Religion die Anerkennung und die Herrfchaft 
des Sittengefeges verficht. Identificirt aber der Staat mit biefem Sitten⸗ 

Suppl. 3. Staatslex. II. 31 


} 


482 Glaubensfreiheit 
" pr ) ' . : 
gefeg, bie Aeußerlichkeiten ber Meligion, die Glaubenslehren und die Gere 
monien , fo geräth er auf die oben berührten Abfurbitäten und übt in optima 
forma einen Gewiffenszwang aus, weil er zur Anerkennung gewiffer Foͤrm⸗ 
fichleiten zwingt, bie num einmal file viele Leute nur leere Foͤrmlichkeiten 
d. Ein Staat, der pofitiven Glaubensywang ausübt, d. h. ber feine 
Ungehörigen zwingt, die Aeußerlichkeiten irgend einer der. beftehenden Kirs 
‚d.5. ihre Dogmen und Geremonten, anzuerkennen, ber kann confe= 
quenterweiſe jeden Einzelnen nöthigen,, jeden Tag die Meffe oder jeden Sonn: 
tag die Predigt zu hoͤren, fo und fo oft oder überhaupt das Abendmahl zu 
nehmen, denn das Abendmahl ift fo gut eine Ceremonie ald bie Zaufe 
ober die kirchllche Einfegnung der Ehen, welche der „hriftliche Staat” mit 
‚einem Alle bindenben Iwange belegt. Ein ſolcher Staat greift in die innerfte 
Freiheit des Menfchen.ein und maßt fih an, ba zu befehlen, wo Miemand 
herrſchen foll als des Menfchen eigenfter Wilke. 
Als ‚zweite. Borausfegung ftellt die Glaubensfreiheit die Forderung am 
den Staat, daß er in Beziehung auf rellgiöfe Angelegenheiten keinen nega— 
‚tiven Zwang ‚ausübe; Diefer negative Zwang kann ſich direct. und indirect 


Einen directen Zwang uͤbt der Staat auf das religiöie Gefühl feiner 


‚Mitglieder aus, wenn er in irgend einer Weife hindernd oder befchränfend in 
bie Form ihrer Äußeren Gottesverehrung, alſo in ihre kirchlichen Gebräudye 
‚eingreift. Einen folhen Zwang darf der Staat nicht ausüben, denn er ver: 
fett ebenfo die perfönliche Freiheit, old wenn er zum Anſchluß an irgend eine 
der beftehenden Gonfeffionen zwingt. Das religiöfe Gefühl ift, mie ſchon 
bemerkt , eine innerliche Seite bes Menfchen, ein Ausdrud feiner Indivi⸗ 
dualitaͤt; bie Freiheit des religiöfen Gefühls ift daher ein Merkmal der per- 
fönlichen Freiheit, und ber Staat ift gerade diejenige Anjtalt, in meldyer 
jeder Einzelne feine Individualität frei entwideln können muß. Der Staat 
hat deshalb in keiner Weife das Recht, ſich in bie inneren Angelegenheiten 
eines Vereines zu miſchen, in welchem das religiöfe Gefühl einzelner Staats⸗ 
angehörigen feine Befriedigung findet. Solche Vereine ftehen zum Staat 
in demfelben Verhältniß wie 3.8. die Hausordnung, die häuslichen Ge: 
wohnheiten und Gebräuche der Samilie, d. h. fie find weſentlich ſich felbft 
beftimmend,, von ſich felbft abhängend und auf fich felbft angemiefen. Die 
Samilie, ihre Gewohnheiten, die Hausordnung, das Schlafzimmer find 
Heiligthuͤmer, die jede freie Verfaffung refpeetirt, ebenfo ift das religiöfe 
Gefühl des Menſchen und die Form, in welcher e8 zu Zage kommt, ber 
Zempel feiner Individualität, der jedem profanen Eintritt verfchloffen fein 
muß. Wie würde man eine Staatsgewalt beurtheilen, welche durch Geſetze 
‚ober die Polizei 3.8. dem Familienvater die Hausordnung, die Stunde dee 
zEſſens oder Schlafengehens, die Zahl der taͤglichen Gerichte vorſchreiben 
wuͤrde? Ein ſolcher Zwang wäre nicht blos verletzend, ſondern abſurd, er 
„tpäre ſogar laͤcherlich, er waͤre, komiſch. Daſſelbe Urtheil muß den Zwang 
treffen, welchen der Staat in religiöfen Angelegenheiten ausübt. Und doch 


.mird er ausgeübt in einem Jahrhundert, in welchem man e8 nachgerade un- 


begreiflich findet, daß man in früheren Zeiten Menfchen todtſchlug, die an: 


! 


Glaubensfreiheit. 488 


dern Glaubens waren, daß man Fegerifche Nationen ganz zu vertilgen ſuchte, 
da man Kinder der Andersgläubigen für Baftarde erklärte, daB man Ketzer 
mit Hunden und Gensb’armen in die Tempel ber privilegirten Kirche beste, 
daß man fie aus dem Lande jagte, ihnen bürgerliche Ehre und Menfchenrechte 
entzog, ihnen die Merkmale der öffentlichen Gottesverehrung, z. B. Soden, 
Kirchen, Begräbnißpläge verbot. In unferen Lagen kann nun freilich ein 
unfittliches Princip nicht mehr in der crafjen Form auftreten, weldye es früher 
charakterifirte, ein Nero und Ziberius gehören zu den moralifhen Unmoͤg⸗ 
lichkeiten des 19. Sahrhunderts, obgleich das Princip, das diefe abfoluten 
Herrfcher repräfentirten, noch allenthalben dominirt. So best man benn auch 
die Keger nicht mehr mit Hunden in die peivilegirten Tempel. der Staats: 
Eirche, aber man druͤckt fie auf andere Weife, man läßt Polizei, Gensd'ar⸗ 
men und widerrechtliche Gefege und Verordnungen gegen fie los. Hier 
darf die Gottesverehrung der Katholiken, dort der Cultus der Proteflanten 
nicht öffentlich ſich bliden laſſen; bier ift diefer, dort jener religiöfen Partei 
nur die Hausandacht geflattet; hier wird diefe, dort jene Confeffion in ihren 
religiöfen Gebräuchen befhränkt und gehindert. Vorzüglich Hat diefes Schick⸗ 
fal in neuerer Zeit die Deutfchlatholiten getroffen. Nicht genug, daß man 
fie in den meiften Staaten geradezu unter die Guratel der Polizeidiener 
ftellte, daß man ihnen Öffentliche Gottesverehrung, Öffentliche Einladungen, 
das Recht, Öffentliche Kirchen zu haben , unterfagte, daß man, um die Lds 
cherlichkeit und Abfurdität auf die Spige zu treiben, ihnen fogar die Größe 
ihrer Betſaͤle nach Quadratſchuhen vorfchrieb , wurde der Webertritt zum 
Deutſchkatholicismus hier und da dem Hochverrath gleichneftellt und gefeglich 
verboten. Iſt dies nun nicht daffelbe Princip, nach welchem früher bie 
Hugenotten in Frankreich, die Huffiten in Böhmen u- f. w. behandelt wur: 
den? Kann man nicht mit demfelben Rechte zu glauben verbieten, Daß zweis 
mal zwei 4 fei und die Erde um die Sonne ſich drehe ? Ja man könnte «6 
und würde es thun, wenn man ein Intereſſe und die Macht dazu hätte. 

Hierher gehört auch bie Gewiſſensfreiheit in Beziehung auf die Einfeg- 
nung gemifchter Ehen durch Eatholifche Priefter. Wenn bee proteflans 
tifche Staat diefe Legterm zwingt, wider ihre Weberzeugung und bie Lehren 
ihrer Kicche gemifchte Ehen einzufegnen,, ohne das Verfprechen der Ehe: 
leute, die Kinder Batholifch erziehen zu wollen, fo ift dies ein Eingriff in 
die Gewiſſensfreiheit Latholifcher Priefter, und wenn der katholiſche 
Staat Proteflanten zwingt, jenes Verfprechen vor der ihnen unentbehrlichen 
priefterlichen Copulation abzulegen, fo ift dies eine Verlegung der Gewiſſens⸗ 
freiheit von Proteftanten. In diefes Dilemma geräth jeder Staat, der eine 
Staatskirche fanctionirt hat, und es giebt für ihn nur einen Ausweg, naͤm⸗ 
lich die Emancipation der bürgerlichen Verhältniffe, alfo auch ber Ehe von 
der priefterlichen Sanction, d. 5. Aufhebung der Staatskirche. 

Bon gewiſſer Seite her wird nun zwar freilich behauptet, der Staat 
erfülle die Forderungen dee Gewiſſensfreiheit fchon dadurch, daß er Jeder⸗ 
mann glauben laffe, was er wolle, d. h. daß er nicht in das Innere des 
Menfchen durch phyſiſchen Zwang eingreife. Diefe innere Gewiſſensfreiheit 
dürfe aber Beine Außere werben und begrünbe keineswegs den Anſpruch auf 

| 3l* 


484 Glaubensfreiheit 


unbeſchrantte Berwirkitchung des Glaubens, d. h. auf Freiheit des Cul⸗ 
{a8 und der dußeren Gottesverehrung. Diefe feien dem Bereiche der Staates 
gewalt verfallen, meldhe ein Recht Habe, fie zu befchränten. Es enthält diefe 
Behauptung jedoch einen Paralogismus , der nur durch die Perfidie feiner 
Ucheber erklaͤrt werden kanm. Gegenftand der Einwirkung der Staatsgewalt 
in nur ein Gegenftand fein, d. b. nur etwas, was aus der Innerlichkeit in 
die Sinmenmwelt heranstrite. Der Glaube Aufert ſich nun als Cultus. Für 
ben Staat iſt alfo der Glaube nur als Cultus greifbar, die Gewiffensfreiheit 
fomte nıre als Gultusfreiheit zu ſtatuiren oder zu verlegen. Aufdas Gefühl 
an fich, auf das Innere des Menſchen unmittelbar einzuwirken ift noch Fels 
nem Despoten gelungen und wird aud) feiner Gewalt je gelingen, die aufer 
dem Menſchen liegt, ſonſt wäre längft Bein Gedanke und fein Wille mehr 
in ber Welt, fonft hätte der Menſch feine Willensbeftimmung laͤngſt auf dem 
Poltzefburenu zur holen. Was man alfo nicht hindern kann, das kann man 
auch nicht geftattenz denn gefkatten kann man nur das, was man auch) vers 
—9 Birne. Die Möglichkeit einer Einwirkung ber Staatsgewalt auf das 
veltgtöfe Gefühl des Menfchen kann fich deshalb mur auf deffen Aeußerung, 
auf ben Cultus beziehen! Unter Gewiſſensfreiheit ift fomit nichts Anderes 
zu verſtehen als Religlonsfreiheit, d. h. Frelheit der äußeren Gottesverehrung. 
Auch diefe Ausführung bemeifet wieder zur Genuͤge, welch' befchränkten 
Standpunkt die herkömmliche Definition der Gemwiffensfreiheit, die oben 
efühet ift, einnimmt. " Wenn diefe Definition es ale ein Merkmal der 
— bezeichnet, daß die Ausuͤbung des Cultus Jedem wenig⸗ 
ſtens im Haufe geſtattet fein miäffe, fo verfällt fie in den eigenthuͤmlichen Feh⸗ 
fer, daß fie etwas als Freiheit bezeichnet, was weſentlich Befchränfung ber 
Freiheit involviert. Sobald einer Religionspartei nur die Hausandacht ge: 
ſtattet iſt, fo ift ihr damit die Freiheit der öffentlichen Andacht genom> 
men und diefe Beſchraͤnkung verlegt ebenfo fehr die perfönliche Freiheit, ale 
fie jedes vernünftigen Grundes entbehrt. 

Indirect übt die Staatsgewalt einen negativen Zwang auf das religioͤſe 
Gefühl der Staatsbürger aus, wenn fie ben Vollgenuß der ſtaatsbuͤrgerlichen 
Rechte, bie Ausübung gewiſſer politifcher Befugniffe von dem Anſchluß an die 
Staatskirche abhängig macht, und Denjenigen ihre politifchen Rechte ver: 
kuͤmmert, welche einem nicht privilegirten religidfen Verein angehören. Die: 
fee indireete Zwang geht neben dem directen her und ift auch demfelben Urtheil 
verfallen. Die kirchlichen Gebräuche fiehen in gar keinem Cauſalzuſammen⸗ 
hange mit den bürgerlichen Rechten. Der Staat, wenn er feiner Idee ents 
ſpricht, kennt nur Bürger und Menfchen , aber Feine Rechtglaͤubigen und keine 
Diffidenten, er kann von feinen Angehörigen nur die Anerkennung ber 
Geſetze und die Erfüllung der bürgerlichen Pflichten verlangen, aber nim⸗ 
mermehr die Anerkennung gewiſſer Glaubenslehren und Geremonialgefege. 

Alſo auch in diefer Beziehung fanctionirt die gewöhnliche Definition von 
Gewiffensfreiheit ganz eigentlih den Gewiſſenszwang, wenn fie an .den 
Staat nur die Forderung, Keinem feiner Religion wegen ben Staatsfhus zu 
verfagen, ftellt. Auf den Staatsfchug kann Jeder Anſpruch machen, der 
das Territorium eines Staates betritt, find ja doch in neuerer Belt fogar die 


Slaubendfreiheit, 485 


Lin unter den Staatsſchutz geftellt worden. Eine Gewiſſensfreiheit, die 
ffidenten nichts weiter gewährte als ben Staatsſchutz, würde daher 
biefe In policifcher Beziehung nicht über bad, Thier flellen. 

Ich Habe nun in Beziehung auf die Emancipation der nur gebulbeten 
ober in der einen und anderen Weiſe befchränkten religiöfen Vereine noch 
Einiges zu bemerken. Dian beruft fich beſonders auf Seite der Juriſten fehr 
häufig auf das pofltive Recht, auf bie im Staate geltenden Geſetze, und hat 
dies befonder® in ber deutſch⸗ Latholifchen Angelegenheit gethan. Es iſt dies 
daffelbe Verfahren, welches auch in den Petitionen und Kämpfen für Der 
flelung der Preßfreiheit und anderer Menfchenrechte gewöhnlich beobachtet 
wird. Alten abgefehen davon, daß die Geſeze in den meiften Allen einer 
doppelten Auslegung unterworfen werden Eönnen und fehr häufig fogar 
der Gewiſſensfreiheit und Gteichftelung faͤmmtlicher religiöfer Vereine ges 
radezu widerfprechen, gilt, fobald es fi) um Menfchenrechte handelt, der 
Grundſatz, den Börne in feiner Art mit den Worten ausbdrürkte: „bie Preß⸗ 
freiheit, fonft hole Euch alle der Teufel.” Ja, Prebfreiheit und Religions: 
freiheit, überhaupt Anerkennung unveräußerlicher Menfchenrechte, ſonſt hole 
Euch allerdings der Teufel. Mechte, welche bie Menfchheit bedingen, Rechts, 
ohne deren Dafein der Menſch nicht mehr Herr über fich felbft und feine inner⸗ 
ſten Gedanken und Gefühle iſt, ſolche Rechte Binnen durch Fein poſitives Recht 
unterdrückt werben, ein ſolches Recht iſt rechtlich ungültig. Aber dieſe Aps 
pellationswuth an das pofitive Recht iſt eine wahre Nationalkrankheit ber 
Deutſchen und ein fehr zweideutiger Beweis ihres Freiheitsgefuͤhls. Wenn 
bie erſten Menſchenrechte unterdrüdt werden, wenn Preßfceiheit und Ge⸗ 
wiſſens freiheit vernichtet ift, wenn beutfche Stämme vom Vaterland und 
der Nation losgerifien und vererbt werden follen wie eine Sache, fo beruft 
man fi im Kampfe gegen biefe Gewaltchätigkeit nicht. auf fein natürliches . 
Recht, auf feinen Willen und fein Freiheitsgefuͤhl, fondern auf eine äußerliche 
Beſtinmung, auf Paragraphen eines Gefeges, das vieleicht ohne Zuthun 
und Zuſtimmung ber Betheiligten ftatuirt wurde. Dies tft politifche Bes 
ne Mangel an Freiheitsgefauͤhl, welcher der Feigheit oft nahe ver⸗ 
wandt 

Ebkdeanſo involvirt die gewoͤhnliche Art der Emancipation Andersglaͤubiger 
immer noch Gewiſſenszwang, weil fie ſtets nur den negativen Zwang auf 
hebt. Handelt es ſich z. B. um Emancipation ber Juden oder Deutſchkatho⸗ 
liken, oder werden dieſe wirklich emancipirt, fo geſchieht dies nur in dee Weiſe, 
daß fie den Angehörigen der Staatskirche gleichgeftellt werden. In diefer 
Gleichſtellung iſt aber Immer noch der Zwang für die Staatsangehörigen ents 
halten, zu irgend einer pofitiven Glaubenslehre, zu irgend einem Ceremo⸗ 
nialgefeg fich zu bekennen. Es wied dadurch in Wahrheit der Glaubenszwang 
nicht vollſtaͤndig aufgehoben, ſondern bie Zwangsanſtalt wird nur erweitert, 
es wird neben der beſtehenden Zwangsſtaatskirche noch eine weitere Zwangs⸗ 
kirche geſchaffen. Die wahre Emancipation, die vollſtaͤndige Vernichtung 
des Glaubenszwanges, bie gaͤnzliche Herſtellung der Gewiſſensfreiheit kann 
ſich daher niemals auf eine beſondere Secte beziehen, ſondern muß allgemein 
gefaßt fein in dem Grunbſatz: ber Staat zwingt Niemanden zu einem ber 


486 Glaubensfreiheit. 


ſtimmten Dogma und zu irgend einer Ceremonie, der Staat verhaͤlt ſich dem 
Glauben und feinen Symbolen gegenüber völlig indifferent , er ſtatuirt wahre 
Geriffensfreiheit. 
leſe Korberung ſucht man hin und wieder burch den Einwurf zu ent: 
Präften, daß durch eine foldye Gewiffensfreiheit der Zerfplitterung des Vol: 
tes in unzählige religiöfe Secten Thür und Thor geöffnet werde. Befon- 
ders die Schwärmer für eine allgemeine Nationalkirche find über biefen 
Punkt fehr geiftreich geweſen. Jedoch ein klarer Blick in das Wefen der Re⸗ 
liglon und eine nur einigermaßen philoſophiſche Auffaffung der hierher gehö- 
renden Verhältniffe muß obigen Einwurf und den Gedanken an eine Natio- 
nalticche ober Nationalftaatskicche augenblidlic in feiner logifchen Schwäche 
erkennen. Die Religion bes Indivlduums iſt nichts Anderes ald das Reful- 
tat feiner individuellen Befchaffenheit, der Ausdrud feiner Individualität 
und ber Culturſtufe, welche jeber Einzelne einnimmt. Das religiöfe Gefühl 
gehört zu den fpecififchen Merkmalen dee Individualität, ebenfo gut als 
jedes andere Gefühl des Menfchen, oder die Art und Weife, mie er ſich felbft 
beſtimmt und die Außenwelt auf fich bezieht. Was fo durchaus individueller 
Natur iſt, kann deshalb nlemals nad, einer allgemeinen Norm regulirt wer: 
den, weil ſonſt die menfchliche Individualität verwiſcht und ihre Freiheit an: 
gegriffen würde. Es kann feine allgemeinen Beſtimmungen für den Ge- 
ſchmack des Menſchen geben, denn jeder Einzelne wird durch die Außenwelt 
fo afficirt, wie es feine Natur, fein ganzer Organismus beftimmt. Ein 
allgemeiner Nationalgefhymadverein wäre deshalb eine Abfurbität. Es wäre 
unnatürlic), gewiſſe allgemeine Geſetze aufftellen zu wollen, denen ſich das 
Privatgefühl jedes Einzelnen zu accommodiren hätte. In Beziehung auf bas 
religiöfe Gefühl ift daher nur Dasjenige der natürliche Zuftand, in welchem 
vollftändige Freiheit und der unbegrenztefte Spielraum für bie Individualitaͤt 
jedes Einzelnen herrſcht. Erfahrungsgemäß wird diefe apriorifche Wahrheit 
durch den Eicchlihen Zuftand der nordamerifanifchen Freiſtaaten bewieſen. 
Hier hat das religiöfe Gefühl vollftändige Kreiheit, hier ift das Vaterland 
der Secten, weil ſich Jeder zu derjenigen religiöfen Anficht bekennt, die fei- 
ner Individualität zufagt, diefe Individualitdten aber find fehr verfchie- 
dener Natur. So lange daher die Menfchen nicht alle über einen Kamm 
gefchoren find, wie man zu fagen pflegt, ift die Zerfplitterung in Secten der 
nätürlichfte Zuftand eines Landes in kirchlicher Hinſicht. Wäre e8 gegen: 
theile in der Idee der Religion und in der Natur des Menfchen begründet, 
das religiöfe Gefühl der Einzelnen in eine Alle umfaffende Anftalt zu zwingen, 
fo würde ſich diefer Zuftand da von felbft einftellen, wo die Natur volle Srei- 
heit hat, fich zu entwideln. Oder wenn das Zuftandelommen eines ſolchen Zu⸗ 
ftandes längerer Zeit bebürfte, fo müßten wenigftens die Keime dazu in den 
Eicchlichen Zuftänden Amerikas bereits fichtbar fein. Es findet aber geradezu 
das Gegentheil ftatt, denn tagtäglich bilden fich neue Secten und Vereine, 
neue Anfihten und Gebräuhes Zwar ſucht ſich in diefer fluctuirenden 
Maffe die Eatholifche Kirche als fefter Kern zu confolidiren, um etwa einer 
fpäteren Kryſtalliſation einen Anhaltepunft zu bieten. Die Sectenfreiheit ift 
jedoch fo fehr in der Natur des Freiſtaates begründet, baß über Eurz oder lang 


Slaubensfreihet. 487 


& 

der Batholifchen Kirche in Amerika eine wefentliche Umgeftaltung droht. Das 
tepublitanifche Bewußtſein und das dem Proteftantismus zu Grunde liegende 
Princip der Geroiffensfreiheit ift bereits fo mißtrauifch geworden, daß ein 
Principientampf nicht ausbleiben kann. Diefer aber wird fi) zunächft um die . 
Oberherrlichkeit des Papſtes drehen, und ift dieſe einmal verneint und vernich⸗ 
tet, dann ift der Eatholifchen Kirche der Schwerpunkt, der bindende Kitt 
genommen, dann fft in ihr Syſtem ber Stabilität eine Breſche gefchoffen, 
durch welche eine Fluth von Secten und Parteien eindringen wird. 

Ueberhaupt lehrt die Geſchichte aller Kirchen, daß biefe nur in der Unter: 
druͤckung ber Freiheit des individuellen religiöfen Gefühle die Möglichkeit 
ihrer Eriftenz haben, fo fehr, daß dieſe Unterdruͤckung das fpecififche Merk: 
mal, das Lebensprincip der Kicche bildet. Eine Kirche, welche bem Indivibu- 
ellen Blauben , den befonderen Anfihten und Meinungen Freiheit gewaͤhrte, 
würde in demfelben Augenblide, in welchem fie dieſes Princip aufftellte, auf⸗ 
hören Kicche zu fein, denn fie ſanctionirte dadurch die Freiheit der Kritik, dieſe 
aber laͤßt ſich keine Schranke gefallen, laͤßt fich Beine Grenze ziehen, über melche 
fie nicht hinaus darf. Tine Nationalkicche müßte daher entweder ein bins 
dendes Slaubensgefeg aufftellen, oder aber die individuelle Meinung frei ges 
ben. In jenem Falle geht die Freiheit verloren, in diefem Falle iſt bie 
Kirche unmöglich, weil fie fi) in Secten und Parteiungen auflöfen muß. ° 

Endlich ift die Feindfchaft gegen die Zerfplitterung des Volkes in veli- 
gioͤſe Secten mit ber richtigen Auffaffung der Religion unverträglich, denn fie 
ſetzt das Wefen berfelben in das Dogma und den Gultus, und nicht in das 
fittliche Princip. In Beziehung auf diefes legtere find alle Secten im AU: 
gemeinen einverflanden, während fie nur bie äußere Sorm, Verſchiedenheit 
der Glaubensanſichten, verfchiebene Gebräuche von einander trennm. Man 
kann, wie ſchon gefagt, ein ganz fittlicher Menſch fein, ohne ſich viel an Dogma 
und Cultus zu Eehren ; ja die tägliche Erfahrung lehrt, daß fehr häufig dieje⸗ 
nigen Secten, welche in Beziehung auf die religiöfen Aeußerlichleiten von . 
dem Ritus und den Lehren der herrfchenden Kirche gar fehr abweichen , ihre 
Mitglieder viel moralifcher machen als die Staatskirchen ihre Unterthanen, 
eben weil bei jenen Secten Alles mehr auf das Werfen, auf das fittliche Princip 
geſtellt ift und dieſes daher auch lebendiger in ihnen iſt al& ba, mo die Form 
zum Weſen gemacht wurde. 

Diele glauben auch, durch die Berfplitterung eines Volkes in religioͤſe 
Secten werde feine politifche Einheit geftört. Allein abgefehen bavon, daß 
die Geltendmachung der Indwidualitaͤten auf ben wahren Staat nicht nach⸗ 
theilig influiren kann, weil e8 in ber dee des Staates begründet ift, fie zu 
geftatten, üben die religiöfen Secten nur dann einen flörenden Einfluß auf 
die Einheit des Staates aus, wenn bie Staatsgewalt eine falfche Richtung 
und Tendenz verfolgt. Als eine folche bezeichne ich diejenige Stellung einer 
Regierung , in welcher fie aus unwuͤrdigen Rüdfichten ben Umtrieben und 
Machinationen der Priefter irgend einer religiäfen Partei, jenen Umtrichen, 
welche allein religiöfe Feindſchaft und Unduldfamkeit gegen Andersdenkende 
erzeugen, nicht kraftvoll entgegentritt, weil fie vieleicht mit dieſen Prieſtern zu 
einem gemeinfamen Zwecke Hirt if. In einem auf das Princip der Sreiheit 








bafleten Staat, wo die Reglerung Beine freih⸗ feindlichen Zwecke verfolgt und 
wuͤrdige madhdn + Stellung den teligiöfen Parteien Bene ein« 

— erben biefe ri Garn einander wohnen und ſich in politifcher Hin⸗ 
ei lieber einer Genoffenfchaft, eines freien Staates betrachten, und 
ia anatifche Priefter es wagen, dieſen Srieben zu flören, jo hat eine 
5 same —— in * —* — Bee bes Menſchen⸗ 


ee len * * Air, 1 en 
eife verfchmwiftert bat, 
nd? Ich führe Er an N: 









menbeit, die rer Gewalt au —* hoeil. im mei 


| en en. als der Urquell ber geſammten atsgewalt und Kraft betrach⸗ 


ber Monarchie dagegen idte Staatsgewalt das Recht eines be- 
ubjectes, dat t der Perfom, welche herrſcht. ‚Beide Arten von 
haft ftellen einen Willen dar, der ſchlechthin abfolut, d. h. von einem 
andern abhängig ift, unterfcheiben ſich jeboch darin von einander, baf der in 
der Demokratie herrfchende abfolute Wille nur an ſich abfolut ift, während 
er In der Monarchie tranfcendent ift, außer dem Volk fteht und fo zum Ab— 
folutismus wird. Ebenfo Enüpft die Kirche ihre Geſetze an die dee bes 
Abfoluten, b.. b. eines ſchlechthin abſoluten Dafeins oder Willens. Die 
Kirche ift eine Anftalt, in welcher das Geſetz diefes abfoluten Willens verfün: 
digt und zur Anerkennung gebracht wird. Die Kirche und die abfolute Mon: 
archie find baher zwei einander ganz nahe verwandte Anftalten. 

Sin beiden gehordyen bie Unterthanen einer über ihnen ftehenden, von 
ihnen unabhängigen abfoluten Gewalt. Beide find die Formen, in welchen ein 
abfoluter Wille realifirt wird. An fich unterfcheidet fich der Abfolutismus 
der Kirche von dem politifchen dadurch, daß ihr zunaͤchſt der phyſiſche Zwang 
fehlt, wodurch ſie die Anerkennung ihrer Geſetze erzwingen kann, ihr ſteht 
zunaͤchſt nur der pſychologiſche Zwang oder die freiwillige Untertoerfung ihrer 
Unterthbanen zu Gebot. Dies find jedoch nicht immer und nicht für alle 
Zeiten hinreichende Garantien, um die Unterthanen im Gehorſam zu erhal⸗ 
ten, die Kirche ſieht ſich deshalb nach einem Bundesgenofjen um, welcher 
ihr feinen Arm, feinen phufifchen Zwang leiht. Diefer Bundesgenoffe ift 
der ihr verwandte politiihe Abfolutismus. 

Ebenſo reichen die Mittel, melde diefer befigt, nicht für alle Fälle zur 
Erzwingung des Gehotſams feiner Unterthbanen aus, denn ein Zufall oder 





*) Monarchie bier als abfolutes Kdnigthum geñnommen. DB. 


| Slaubendfteiheit. 489 


fonft eine Urfache kann diefen die phnfifche Uebermacht verfchaffen. Der ' 
politifche Abſolutismus muß ſich deshalb ebenfalls nad) einem Bundesgenoſ⸗ 
fen umfehen , welcher ihn des Willens feiner Unterthanen verfichert, wel⸗ 
her einen pfochologiichen Zwang ausübt. Diefer Bundesgenoffe ift der kirch⸗ 
liche Abfolutismus. Beide verbänden fih nun, ergänzen fich gegenfeltig und 
helfen einander ihre Zwecke zu erreichen. | 

Der politifhe Abfolutismus zwingt feine Unterthanen zum Gehors 
ſam gegen die Gefege der Kirche, er fchafft eine allein gültige, privilegirte 
Staatskirche, welcher feine Unterthanen angehören muͤſſen. Die Kirche 
in ihrer Dankbarkeit für den geleifteten Dienft giebt dem politifchen Abſo⸗ 
lutismus bie Weihe, ftempelt feine Gewalt zu einer abfolut gültigen, zu einer 
göttlichen und unantaftbaren. Die herrfhende Gewalt zwingt die Unterthas 
nen zum Gehorfam gegen die Kirche, und die Kirche erzicht fie zum Gehor⸗ 
ſam gegen den Staat, Beide finden in biefem doppelten Gehorſam ihre Rech⸗ 
nung, die Quelle ihrer Eriftenz, die Garantie ihrer Macht. 

Diefe Gründe, die natürliche Verwandtſchaft beider Gewalten und ihr 
gemeinfames Intereſſe flifteten den Bund zwiſchen der chrifllichen Kirche und 
. dem römifchen Imperatorens Despotismus unter Gonftantin, den man ben 
Großen nennt. Die Folgen davon waren fehr bald fichtbar. Mas urfprüngs 
lich freiwillig geweſen, was in ben Zeiten des Urchriftenthums in das Belieben 
jedes Einzelnen gelegt war, wurde jegt geboten. Direct und indirect wur⸗ 
den die Nichtchriften zur Unterwerfung unter das Gefeg der chriſtlichen Kirche 
gezwungen, der Austritt aus ihr gefeglic verboten und eine Abweichung 
von dem vorgefchriebenen Blauben mit den empfindlichften Nachtheilen 
und Strafen bedroht. Die Gewiffensfreiheit hatte ein Ende. 

Im Abendlande geftaltete ſich das Verhaͤltniß zwifchen Staat und 
Kirche anfangs anders. Go lange die Träger der Staatsgewalt nicht abfolut 
waren, fo lange fienur eine vom Volke übertragene Gewalt ausübten, war 
ihre innerfle Ueberzeugung von der abfoluten Gültigkeit, von der Goͤttlichkeit 
der Lehren der Kirche der Hauptgrund, welcher fie bewog, ihren weltlichen 
Arm ber Kirche zu leihen, abtrünnige Keger zu verfolgen, überhaupt Gewiſ⸗ 
ſenszwang zu üben, oder auch die felbftherrliche Surisdiction der Kirche anzuers 
kennen. Später äußerte aber auch hier die oben berührte Verwandtſchaft 
beider Gewalten ihre Wirkung, es erzeugte ſich nach und nach ber fürftliche 
Abfolutismus , die Lehre von dem göttlichen Rechte der Herrfcher und ber 
göttlihen Natur ber Staatsgewalt. Zwar Fam der kirchliche Abſolutismus, 
als durch die Anmaßung ber Päpfte die Selbftftändigkeit der Throne Immer 
mehr gefährdet wurde, mit der politifchen Herrfchaft In Collifion, allein 
dieſes Zerwuͤrfniß berührte nur das gegenfeltige Verhaͤltniß zwifchen zwei 
verwandten Gewalten, für das Verhältniß, in welchem fie zu den Unterthanen 
ftanden, und beforiders für die Freiheit der Regteren blieb e8 ohne Einfluß. 

Nach der Reformation wurde der Zufammenhang zwiſchen beiden Ge 
walten immer inniger. Die Eatholifche Kirche hatte durch die Firchliche Res 
volution einen zu gemaltigen Stoß erlitten, als daß fie fich In dem meltlichen 
Abfolutismus nicht wiederum eine Stuͤtze hätte fuchen müffen. Die protes 
ſtantiſche Kirche, fchon in ihren erſten Anfängen auf bie Unterflügung der po⸗ 


400  Glüdtöfpiele, | 


Titifchen Gewalt angemiefen, verſchmolz zulest fo innig mit diefer, bafi in 
proteflantifchen Staaten, wie im Chalifat, der Regent zugleich kirchliches 
Oberhaupt wird, — wenn auch mißbraͤuchlich wird, da das peoteftantifche 
—— Oberbiſchofsrecht über den Glauben keine Gewalt geben follte. 
[ber alle und jede Gewalt artet aus, wird bespotifch, wenn nicht bie allgemeine 
Freiheit aller Gtieder fie beftändig in Schranken hält. Das fehlte aber big- 
ber in der proteftantifchen Kirche, einen Theil der Reformirten und die neue: 
ven Sonodalverfaffungen ausgenommen. Und auch letztere find unvollſtaͤn⸗ 
big. — So beitand denn feither meift zwifchen dem politifchen Abfolutig- 
mus und ben Klrchen bie innigfte Freundſchaft. Beide greifen in einander 
und umterftügen ſich gegenfeitig, beide verbindet bad gemeinfame Intereffe, 
das Volk auf berjenigen Gulturftufe zu erhalten, auf welcher es eine abfolute, 
außer ihm liegende Gewalt anerkennt. Die Priefter ehren, daß die Obrig- 
keit von Gott eingefegt fei und bie politifche Gewalt fucht jeder Neuerung 
auf irchlichem Gebiete entgegen zu treten, jede Abweichung vom Fichlichen 
Lehrbegriff, jede freifinnige Auffaffung ber religidfen Dinge zu befchränfen. 
Ueberall wird die Orthodoxie durch die Polizei unterftüst, überall Hält man ſich 
Seitens der Regierungen zu betjenigen Partei, melde ben kirchlichen Ab— 
ſolutlsmus vertritt, Diefer innige Zuſammenhang zwifchen Staatsgewalt 
und Kirche ift befonders aus ben neueren Bewegungen auf Firchlihem Ge: 
biete erfihtlih. Man fürchtete den Deutſchkatholicismus, weil er Ficchlich 
revolutionäre Elemente enthält, weil er bie Macht der Priefter lähmt, feinen 
eigenen Prieftern faft gar feine Handhabe giebt, an welcher die Staatsgewalt 
fie faffen kann; man fürchtet den Deutfchkatholiciemus, weil er bei dem 
engen Zufammenhang zwiſchen Kirche und Staat politifche Bedeutung hat, 
weil er das Princip ber Stabilität angreift, bie Fahne des Fortſchrittes auf- 
pflanzt und biefer Kortfchritt bei der innigen VBermandtfchaft beider Gemalten 
nothwendig beide afficiren muß. Kirchliche und politifche Freiheit find eben: 
fo nahe verwandt als ihre Gegenfäge, als Eirchlicher und politifcher Abjolutis- 
mus. Wer in Sadyen des Glaubens und ber Kirche zu denken anfängt, der 
wird auch in politifcher Beziehung nicht mehr blindlings glauben und ge: 
horchen. 

Daher fchreibt fich der Widerſtand, welcher fich dem in feinen Folgen 
feinem Urheber wahrſcheinlich felbft nicht Elaren Antrag des Pfarrers Zittel auf 
Religionsfreiheit entgegenftellte. Diefer Antrag, wäre er realifirt worden, 
hätte dem ganzen Staatsgebäude ein anderes Fundament gegeben. So et- 
was läßt fich aber nicht durch eine Kammerbebatte bewerkſtelligen. Abt. 

Gluͤcksſpiele. (Zu S. 73 3. 3 v. u.) Allerdings waltet bei Vielen 
dabei ein Vertrauen auf ihr Gluͤck ob; ſie wollen dem Gluͤcke eine 
Thuͤr bei ſich oͤffnen. Daß aber dieſes Vertrauen kein ſehr feſtes iſt, geht 
ſchon daraus klar hervor, daß die Spieler, um ſich den Erfolg zu ſichern, 
ſo oft theils zu den aberglaͤubiſchſten Dingen greifen, theils zu Berechnungen 
(zunaͤchſt uͤber das Wahrſcheinlichkeitsverhaͤltniß dieſes oder jenes Ergebniſſes), 
welche Berechnungen aber jedenfalls wenigſtens für den gerade eintretenden 

einzelnen Fall doc) immer völlig ungewiß, rein ein Ergebniß bes blinden Zu⸗ 
falls find. . 


Gluͤcksſpiele. | 491 


(Zu Seite 79 nach der zweiten Anmerkung.) Die baterifchen Stände 
haben auf allen Landtagen ohne Ausnahme die Abfchaffung des Lottos 
dringend verlangt. Das Wort des Königs hat diefelbe feierlich verheißen 
im Landtagsabfchiebe von 1819 , fobald naͤmlich der Finanzzuſtand eine folche 
Abſchaffung möglicd mache. Seitdem rühmt ſich die baisrifche Regierung 

„bes glänzendften Finanzzuſtandes, und es iſt in Folge der einfeitigen 
Seftfegung des Budgets (ohne Beachtung der fändifchen Gegenerinnerungen) 
allerdings dahin gefommen , daß fich im Staatshaushalte ein Gelduͤberſchuß 
herausſtellt, der ſich alljährtich auf mindeſtens ſechs Millionen Bulk 
ben beläuft. Dennoch erfolgt die Aufhebung der Lotterie nicht; es erfolgt 
nicht die Einlöfung des verpfändeten Koͤnigs wortes. a fie erfolgte felbft 
ungeachtet des ausdruͤcklichen ſtaͤndiſchen Anerbietens nicht, ben ganzen Be⸗ 
trag durch jede von der Megierung felbft zu beflimmende andere Steuer zu 
deden. Im Landtagsabfchiede von 1843 war hierauf ausdruͤcklich erklärt 
worden, daß die Regierung nur deshalb auf dieſes Anerbieten nicht eingebe, 
weil das Lotto eine indirecte Steuer fei, zu beren Forterhebung das Gou⸗ 
vernement nie einer fändifchen Zuftimmung bebürfe, was bei ben 
directen Steuern allerdings der Fall iſt. Es grenzt aber ans Unbegreifliche, 
wie man In folcher Weife ein widerſtrebendes Intereſſe der Regierung gegen 
die Öffentliche Moral und überhaupt das ganze Landeswohl fo ungefchent felbft 
proclamiren mag! 

(3u ©. 79 nad) dem erften Abfage.) — In England beſtand früs 
ber eine Claſſenlotterie; fie wurde im Jahre 1826 für immer aufgehoben ; 
Frankreich hatfic fett 1. Januar 1838 aller Öffentlichen Spiele, der Zahlen- 
lotterie, der Parifer Spielbanken entledigt, nachdem die oͤffentlichen Kam⸗ 
merverhandlungen im Sabre 1836 zureichende Gründe dafür an die Hand 
gegeben hatten. Es war dort unter andern Erfahrungen angeführt worden, 
dag in den 21 Departements, wo fich die Leidenfchaft des Lottofpiels am ſtaͤrk⸗ 
ften zeigte, die Zahl der Hausdiebflähle, der unehelichen und Sindelfinder eben⸗ 
fo groß war als in den übrigen 65 Departements zufammengenommen ;-man 
batte ferner ermittelt, daß in den drei Monaten unmittelbar vor den Kams 
merverhandlungen fünf Befucher der Spielbanken fi aus Verzweiflung 
das Leben genommen, daß zwei wegen Raub oder Diebflahl verurtheilt: 
worden waren, welche Verbrechen fie begangen hatten, um anvertrautes 
Geld, das fie im Spiel verloren hatten, wieber zu erfegen. In Deutſch⸗ 
Land beſtehen noch ungefähr zwanzig öffentliche Spielbanken, — Aachen, 
Baden, Cöthen, Doberan, Ems, Homburg, Pyrmont, Wiesbaden find 
bie bebeutendfien — außerdem zehn Claſſenlotterien und drei Zahlenlottos. 
Unterm 18. April 1844 ſtellte die würtembergifche Regierung bei der Bundes⸗ 
verfammiung den Antrag: alte innerhalb des Bundesgebiet# beftehenden öffent» 
lichen Spielbanken, Claffenlotterim und Lottos — und wenn einer derarti⸗ 
gen Vereinbarung für jegt noch unüberfleigliche Hinberniffe entgegen ſtehen 
foßten — zum wenigſten die oͤffentlichen Spielbanken. fofort aufzuheben. 
Ueber die Werwerflichkeit der Gluͤcksſpiele im Allgemeinen waren fämmtliche 
Mitglieder der Bundesverfammlung einverftanden ; mehrere unterflügten auch 
ben würtembergifchen Antrag; die Mehrzahl trat auch dem Antrage, bie 


392 Gtädsfpiele. 


öffentlichen Spielbanken aufzuheben, bei, doch unter beſchraͤnkenden 
Vorbehalten. So 5.8. Baden unter der Bedingung, daß auch alle Elaf: 
fen. und Zahlenlotterien unterdrückt würden, woran Heffensdomburg 
den weiteren Vorbehalt knuͤpfte, daß felbft dann die Aufhebung der Spiel: 
banken nur in einem fehr entfernten Zeitpunkte flattfinden duͤrfe. Dagegen 
erflärten fi) alle Regierungen, in deren Gebiet Zahlenlottos und Claſ⸗ 
fenlotterten beftehen, gegen deren Aufhebung und fo zerfiel der würtember: 
gifche Antrag gänzlich, der ohnehin nur durch Stimmeneinhelligkeit hätte 
zum Beſchluß erhoben werden können. — Die Aufhebung diefer Gluͤcksſpiele 
in Deutfchland durch eine gemeinfame Maßregel der Wundesregierungen iſt 
daher fo bald nicht zu erwarten; wären biefe Spiele Zeitfchriften oder Wächer, 
fo würde die Stimmeneinhelligkeit ohne Zweifel alsbald ſich ergeben haben. 
Die babifchen Stände, befonbers die erfte Kammer, haben ſich in den Jah⸗ 
ren 1843, 1844 und 1846 mit dieſem Begenftande befchäftigt und Anträge 
an bie Regierung gebradjt. Der vom Staatsrath Nebenius im Jahre 
1844 erftattete Commiffionsbericht auf die Motion des Treibern von Andlam, 
fo mie der Bericht vom Geheimenrath Klüber von 1846 find werthvolle 
Arbeiten. An Baden find alle Hazarbfpiele verboten, frühere Vorſchlaͤge 
auf Errichtung einer Zahlens oder Claſſenlotterie für finanzielle Zwecke wa⸗ 
ven von der Regierung ſtets von der Hand gewieſen worden, obgleich dafür 
angeführt wurde, daß eine inländifche Anftalt das Spielen in auswärtigen 
(baierifhen und Frankfurter) Lotterien vermindern wuͤrde, welchem durch 
kein Verbot geſteuert werden kann. Eine Ausnahme beſteht nur fuͤr die oͤffent⸗ 
liche Spielbank in Baden⸗Baden waͤhrend der Kurzeit. Gegen dieſe Spiel⸗ 
bank war daher zunaͤchſt der Antrag gerichtet. Das Spielen kam in den 
1790er Jahren mit vornehmen Gaͤſten nach Baden; es war verboten, aber 
die Polizei fand es der Umſtaͤnde wegen gerathen, ein Auge zuzudruͤcken und 
bald, um den größeren Nachtheilen des heimlichen Spiels zu begegnen, das 
Öffentliche Spielen zu geftatten. Anfänglic, wurde m den Gafthöfen gegen 
eine tägliche Zare, dann gegen eine mäßige Pachtſumme für die Dauer der 
Badezeit zu fpielen erlaubt. Mit dem vermehrten Beſuch fleigerte die Con: 
eurrenz den Pacht von 9900 Fl. im Jahre 1809, bis 27,000 Ft. in dem 
Pachtvertrage mit Chabert von 1834 — 1839. Nach dem neueften Vertrag 
von 1839 bis 1853 bezahlt Benazet jährlid 40,000 St., welche für bie . 
Verlängerung der Spielzeit um 26 Tage im Jahre 1841 auf 45,000 Fl. 
erhöht wurden , nebft einer Verwendung zu Neubauten und bleibenden Wer: 
fhönerungen von 5000 Fl., feit 1841 ebenfalls auf 9000 Fl. erhöht. 
Außerdem erlegte Benazet bei Antritt ſeines Pachtes 140,000 Fl. zur Tilgung 
älterer Schulden der Babecaffe und giebt feit 1841 noch jährliche 1000 FI. 
an die Waiſenanſtalt in Lichtenthal. Seine jährliche Leiftung beträgt alfo 
jest 55,000 $1., die Rente der 140,000 ZI. ungerechnet. Die Aufopferung 
dieſer Summe ift ein Hauptbebenten, welches gegen die Unterdruͤckung der 
Spielbant vorgebracht wurde, mie denn auch finanzielle Gründe von Selten 
der betheiligten Regierungen ber Aufhebung der Lotterien entgegengehalten 
werben. Außerdem murbe hervorgehoben, daß das heimliche Spielen an 
einem ſtark befuchten Badeorte gänzlich zu unterdruͤcken nicht möglich, bas 


. 


, Gluͤcksſpiele. 493 


polizeilich uͤberwachte Öffentliche Spiel aber jedenfalls minber gefährlich und 
verderblich ſei; endlich würde die einfeitige Unterdrüdung des Spiels in 
Baden dem Orte einen Theil feiner Nahrung durch Abnahme ber Gaͤſte ent 
ziehen, wenn die Maßregel nicht eine allgemeine für ganz Deutfchland fel. 
Zugleich drängte ſich die Betrachtung auf, daß die Vortheile der Unterbrüdlung 
des Öffentlichen Spiels nur bann in entfprechendem Maße erreicht werben wuͤr⸗ 
den, wenn zugleich mit den Öffentlichen Dazardfpielen auch die in mehreren 
beutfchen Ländern beftehenden Glaffen: und Zuhlenlotterien verſchwaͤnden. 
Der Einfluß diefer Lotterien befchräntt ſich weder auf die höheren Glaffen ber 
Geſellſchaft, wie die Spielbanken (wenigftens zum größeren Theil), nod auf 
das Land, in welchem fie beftehen. Die Claffmiotterien beuten vielmehr 
vorzugsweiſe die mittleren, die Zahlenlotterien vollends die unteren 
Volksclaſſen aus, und zwar mit um fo größerem Erfolg, als fie einestheils 
durch hohe Gewinne im Verhaͤltniß zum Einfage die Begehrlichkeit mehr reizen, 
anberntheils durch ihre Einrichtung dem Unternehmer ungleich größere Vor⸗ 
theile zufichern als die Spielbanken. Der Vortheil der Legteren beſchraͤnkt 
ſich je nach den Spielarten auf 1 bis 5 Procent, während die Claffenlottes 
rien einen Gewinn von 10 bie 12, die Zuhlenlotterien 33 bis 39 Procent 
von der Summe aller Einfäge abwerfen. Die Rüdficht, daß «6 von Seiten 
einer Regierung, welche das öffentliche Spiel in ihrem Gebiete noch irgend⸗ 
wie duldet, Saum ſchicklich wäre, den Bund um Unterbrüdung beffelben ans 
zugeben, bewog im Jahre 1844 die erſte Kammer, ſich auf den Wunſch zu 
Protocol zu befchränken: die Regierung möge die Mittel zur Befeltigung 
der größsren Nachtheile, welche das öffentliche Spiel für die einheimifche Bes 
voͤlkerung in Folge der Herflellung der Eifenbahn vorausfichtlich herbeiführt, 
in forgfame Erwägung ziehen 5 fie möge ferner zur Abfchaffung aller oͤffentli⸗ 
chen Spiele in den deutfchen Staaten, fowohl der Spielbanken in Bäbern als 
auch der Zahlen und Glaflenlotterien, innerhalb eines beflimmten Zeits 
punftes, fo viel an ihr liege, auf die ihr geeignet fcheinende Weife nachz 
druͤcklich und beharrlich wirken. — Als im Jahr 1846 der Antrag erneuert 
wurde, lag der verunglüdte Verſuch Würtembergs am Bundestag in ber 
Mitte und bie erfte babiiche Kammer nahm daher Umgang von einem Apr 
teag auf Abſchaffung der Glaffenlotterien und Zahlenlottos bei der Rundes⸗ 
verfammlung und befchränkte ſich auf die äffentlihen Spielbanken, zu 
deren Unterbrüdung durch einhelligen Bundesbefchluß ober durch Verwendung 
bei den einzelnen Regierungen hingemwirkt werden möchte. Dies koͤnnte 
wenigftens in den Rheingegenden in nicht fehr ferner Zukunft Erfolg haben, 
ba die Spielverträge in Aachen jedes Jahr gekündigt werden Binnen, in Baden» 
Baden im Jahr 1853, in Wiesbaden und Ems 1855 ablaufen. Wenn duch 
die Ausdehnung der Eifenbahnen die Wirkungsfphäre der Spielbanken eine 
ausgebehntere wird, ba mehr Spieler und aus weiterer Entfernung ab» und 
zugeführt werben, fo liegt doch in diefer erleichterten Verbindung auch ein 
Grund zu ftärkerem Befuche ber Badeorte überhaupt, fo daß eine Abnahme 
ber bisherigen Frequenz in Folge der Unterdrüdung der Spielbanken nicht 
gu beforgen if. — Die erfle Kammer beantragte ferner, daß die Verord⸗ 
nungen, welche das Spielen in auswärtigen Zahlen» und Claſſenlotterien 


492 Gluͤcksſpiele. 


öffentlichen Spielbanken aufzuheben, bei, doch unter beſchraͤnkenden 
Vorbehalten. So z.B. Baden unter ber Bedingung, daß aud) alle Claſ⸗ 
fen. und Bahlenlotterien unterdrückt würden , woran Heffen- Homburg 
den welteren Vorbehalt Inüpfte, daß felbft dann die Aufhebung der Spiel: 
banken nur in einem fehe entfernten Beitpunfte flattfinden bürfe. Dagegen 
erklärten ſich alle Regierungen, in deren Gebiet Zahlenlottos und Glaf- 
ſenlotterlen beftehen, gegen baren Aufhebung und fo zerfiel ber wuͤrtember⸗ 
giſche Antrag gaͤnglich, der ohmehin nur durch Stimmeneinhelligkeit hätte 
— erhoben werden Finnen. — Die Aufhebung dieſer Gluͤcksſpiele 
in Deutſchland durch eine gemeinſame Maßregel der Bundesregierungen iſt 
daher fo bald nicht zu erwarten z wären dieſe Spiele Zeitſchtiften oder Bücher, 
Br bie Stimmeneinhelligeit ohne Zweifel alsbald fich ergeben haben, 
Die badifhen Stände, beſonders die erfte Kammer, haben ſich in den Jah: 
ren 1843, 1844 und 1846 mit diefem Gegenftande befhäftigt und Anträge 
an die Regierung gebracht. Der vom Staatsrath Nebenius im Jahre 
1844 erftattete Commiffionsbericht auf die Motion des Freiherrn von Andlaw, 
fo tote der Bericht vom Gehelmenrath Klüber von 1846 find merthvolle 
Arbeiten. In Baden find alle Hazardfpiele verboten, frühere Vorfchläge 
anf Errichtung einer Zahlen oder Glaffenlotterie für finanzielle Zwecke wa⸗ 
ven vom ber Regierung ftets von der Hand gewieſen worden, obgleich, dafür 
angeführt wurde, daß eine inlaͤndiſche Anftalt das Spielen in auswärtigen 
(Bairrifchen und Frankfurter) Lotter ien vermindern würde, welchem durch 
kein Verbot geſteuert werben kann. Eine Ausnahme befteht nur für die öffent: 
liche Spielbank in Baden-Baden während ber Kurzeit. Gegen biefe Spiel: 
bank war daher zumächft der Antrag gerichtet. Das Spielen fam in den 
1790er $ahren mit vornehmen Gäften nad) Baden; es war verboten, aber 
die Polizei fand es der Umſtaͤnde wegen gerathen, ein Auge zuzudrüden und 
bald, um den größeren Nachtheilen bes heimlichen Spiels zu begegnen, das 
Öffentliche Spielen zu geftatten. Anfaͤnglich wurde in den Gafthöfen gegen 
eine tägliche Tare, dann gegen eine mäßige Pachtfunme für die Dauer der 
Badezeit zu fpielen erlaubt. Mit dem vermehrten Beſuch fleigerte die Con: 
eurrenz den Pacht von 9900 Fl. im Jahre 1809, bis 27,000 Fl. in dem 
Pachtvertrage mit Chabert von 1834— 1839. Nach dem neueften Vertrag 


von 1839 bi8 1853 bezahlt Benazet jährlich 40,000 Fl., welche für die. 


Verlängerung der Spielzeit um 26 Tage im Jahre 1841 auf 45,000 Fl. 
erhöht wurden, nebft einer Vermendung zu Neubauten und bleibenden Ver: 
fhönerungen von 5000 Fl., feit 1841 ebenfalls auf 9000 Fl. erhöht. 
Außerdem erlegte Benazet bei Antritt feines Pachtes 140,000 Ft. zur Tilgung 
älterer Schulden der Badecaſſe und giebt feit 1841 noch jährliche 1000 Fl. 
an die Waifenanftalt in Lichtenthal. Seine jährliche Leiſtung beträgt «ifo 
jest 55,000 Fl., die Rente ber 140,000 FI. ungerechnet. Die Aufopferung 
dieſer Summe ift ein Hauptbedenken, welches gegen die Unterdrüdung der 
Spielbank vorgebracht wurde, mie denn aud) finanzielle Gründe von Seiten 
der betheiligten Regierungen ber Aufhebung der Lotterien entgegengehalten 
werden. Außerdem wurde hervorgehoben, daß das heimliche Spielen an 


eimem ſtark befuchten Badeorte gänzlich zu unterdruͤden nicht möglich, das 


Gluͤckoſpiele. 493 
uͤberwachte Öffentliche Spiel aber jedenfalls minder gefährlich und 


po 
verderblich ſei; endlich würde die einſeitige Unterdruͤckung des Spiels in 


Baden dem Orte einen Theil feiner Nahrung durch Abnahme ber Gaͤſte ent⸗ 
ziehen, wenn bie Maßregel nicht eine allgemeine für ganz Deutfchland ſei. 
Zugleich drängte ſich die Betrachtung auf, daß die Vortheile der Unterdruͤckung 
des öffentlichen Spiels nur dann in entfprechendem Maße erreicht werben würs 
den, wenn zugleich mit den Öffentlichen Hazardfpielen auch die in mehreren 
Deutfchen Ländern beſtehenden Glaffen: und Zuhlenlotterien verſchwaͤnden. 
Der Einfluß diefer Lotterien befchräntt ſich weder auf die höheren Glaffen ber 
Geſfellſchaft, wie die Spielbanken (wenigftens zum größeren Theil), noch auf 
das Land, in welchen fie beſtehen. Die Claſſenlotterien beuten vielmehr 
vorsugsweife die mittleren, bie Zahlenlotterien vollends die unteren 
Volksclaſſen aus, und zwar mit um fo größerem Erfolg, als fie einestheils 
durch Hohe Gewinne im Verhaͤltniß zum Einfage die Begehrlichkeit mehr reizen, 
anderntheils durch ihre Einrichtung dem Unternehmer ungleich größere Vor⸗ 
theile zuſichern als die Spielbanken. Der Vortheil der legteren beſchraͤnkt 
ſich je nach den Spielarten auf 1 bie 5 Procent, während die Claffenlottes 
rien einen Gewinn von 10 bis 12, die Zahlenlotterien 33 bis 39 Procent 
von ber Summe aller Einfäge abmwerfen. Die Rüdficht, daß es von Seiten 
einer Regierung , welche das Sffentliche Spiel in ihrem Gebiete noch irgenbs 
wie duldet, kaum ſchicklich wäre, den Bund um Unterbrüdung beffelben ans 
zugeben, bewog im Sabre 1844 die erfte Kammer, ſich auf den Wunſch zu 
Protocoll zu befchränten: die Regierung möge die Mittel zur Befeitigung 
der größeren Nachtheile, welche das öffentliche Spiel für die einheimiſche Bes 
völßerung in Folge der Herflellung der Eifenbahn vorausfichtlich herbeiführt, 
in forgfame Erwägung ziehen ; fie möge ferner zur Abfchaffung aller oͤffentli⸗ 
chen Spiele in den deutfchen Staaten, fowohl ber Spielbanken in Bäbern als 
auch der Zahlen» und Claſſenlotterien, innerhalb eines beftimmten Zeit⸗ 
punktes, fo viel an ihr liege, auf dis ihe geeignet fcheinende Weiſe nach⸗ 
druͤcklich und beharrlich wirken. — Als im Jahr 1846 der Antrag erneuert 
wurde, Ing der verunglüdte Verſuch Würtembergs am Bundestag in der 
Mitte und die erfte babifche Kammer nahm daher Umgang von einem Apr 
trag auf Abfchaffung der Claffenlotterien und Zahlenlottos bei der Rundes⸗ 
verfammlung und beſchraͤnkte fi) auf die Öffentlichen Spielbanken, zu 
beren Unterbrüdung durch einhelligen Bundesbefchluß oder durch Verwendung 
bei den einzelnen Regierungen hingemwirft werden möchte. Dies koͤnnte 
wenigftens in den Rheingegenden in nicht fehr ferner Zukunft Erfolg haben, 
da die Spielverträge in Aachen jedes Jahr gekuͤndigt werden innen, in Baden» 
Baden im Jahr 1853, in Wiesbaden und Ems 1855 ablaufen. Wenn durch 
bie Ausbehnung der Eifenbahnen die Wirkungsfphäre der Spielbanken eine 
ausgebehntere wird, dba mehr Spieler und aus weiterer Entfernung abs und 
zugeführt werden, fo liegt Doch in dieſer erleichterten Verbindung auch ein 
Grund zu ftärkerem Befuche ber Badeorte überhaupt, fo daß eine Abnahme 
ber bisherigen Frequenz in Folge der Unterdrüdung der Spielbanken nicht 
zu beforgen ifl. — Die erfie Kammer beantragte ferner, daß die Verord⸗ 
nungen, welche das Spielen in auswärtigen Zahlen⸗ und Claffenlotterien 


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hen * zeilte h auch lid) zuſammen, daß bie ausgezeich⸗ 
neten Heliquellen Buͤndtens, wodurch) em ganzen Canton neue Erwerbs: 
quellen öffnet werben Eönnten, noch nicht im gebührtenden Maße befutcht 
und.benugt werben*). Umfaffender find die in anderen Gebieten ber Geſetz⸗ 
gebung theils eingeleiteten, theild fchon befchloffenen Meformen. Ein ge: 
meinfames Civilgeſetzbuch wird entworfen, und namentlicdy find Gefege zur 
Befeitigung des bunten Gewirrs der gefeglichen oder berfömmlichen fo mie 
ber teftamentarifchen Erbrechte entweder erlaffen oder vorbereitet. in Ge: 
feg von 1843 enthält Beftimmungen über die Strafgerichtsbarkeit des Can: 
tonsappellationsgerichts bei Verbrechen und Vergehen gegen ben Staat. 
Zodesurtheile koͤnnen in diefen wie in allen anderen Fällen nur mit 7 von 9 
Stimmen gefällt werden. Für die Strafbeflimmung gilt das revidirte Straf- 
oefeg von 1829 als Norm, jebody „mit billiger Ruͤckſicht auf die milderen 
Strafgrundfäge neuerer Zeit.” Einen merkwürdigen Beleg aber, wie im 
naturwüchfigen bündnerifhen Staatsverbande die Gefege und Mafregeln 
ſtets nur nad) den gerade vorliegenden Umftänden befchloffen wurden, ohne 
daß man ſich viel darum kümmerte, von allgemeinen Principien geleitet aud) 
bie Zukunft und ihre möglichen Fälle in Erwägung zu ziehen: gab unlängft 




















— 


*) Auch die langen und langſamen Verhandlungen zur Rettung der von 
einem Bergſturze des Calanda bedrohten Gemeinde Felsberg, durch ihre Ueber— 
ſiedlung an einen anderen Ort, weiſen auf das Beduͤrfniß einer ftärferen, wenn 
auch dem Volke verantwortlichen Regierung, der es geftattet fein müßte, unter 
dringenden Umftanden energifch einzufchreiten. 


Graubimbten. 2 


die eigenthämliche Behandlung bed Gnadengeſuchs eines zum Tode verurfgells 
ten Verbrechers. Erſt mußte ſich der große Rath verfammeln, um nur gu 
entfcheiden, wen das Begnabigungsrecht zuſtehe. (Er erfannte daſſelbe als 
eine Befugniß des fouveränen Volks und ſchrieb hiernach das Geſuch auf bie 
Käthe und Gemeinden zur Abſtimmung barüber aus, ob fie Gnade vor Recht 
wollten ergehen lafien. Im beiahenden Halle follte das Cantonscriminais 
Gericht die Art der Strafumwandlung beftimmen. Go verzögerte ſich noch 
Monate lang bie Entfcheidung, bis fich endlich bie Mehrheit der Gemeinden 
für Bollſtrekunz des Todesurtheils erklaͤrt hatte. Erſt der fo augenfällig ges 
wordene Mißſtand veranlaßte einen Auftrag des großen Mathe an die Geſetz⸗ 
gebungscommiffton, einen Geſetzesvorſchlag über Ausäbung bes Begnabigunges 
rechte zu Hinterbringen. Einem Mißſtande anderer Act, der aus der Aemter⸗ 
fucht entſprungenen förmlichen Berfleigerung ber Öffentlichen Stellen in eini⸗ 
gen Gerichten, bat ein von den Gemeinden angenommenes revidirtes Geſet 
über Abfchaffung der bei folchen Gelegenheiten herkömmlichen Uerten, Tas 
zen und Geſchenke zu begegnen geſucht. Endlich iſt bucch ein Preßgefeh vom 
13. Juli 1839 das fruͤher nur herkoͤmmlich beftandene Recht der freien 
Meinungsäußerung durch den Druck, ausdruͤcklich gemwährleiftet worden. 

Bor Allem find aber die neueren, von Behörden und Privaten aus⸗ 
gehenden Beftrebungen rühmend zu erwähnen, wodurch allen weiteren Forts 
f&ritten vermittelfl Werbefferung und Ausdehnung ber Volksbildung eine 
fihere Grundlage gefchaffen werden foll. 

Gerade im Erziehungsweſen find zu einer größeren Gentraltfation bedeu⸗ 
tende Schritte gefchehen, bie indeß keineswegs über bas vom Beduͤrfniß ſelbſt 
gefegte Ziel Hinausgingen. Während früher bas Volkeſchulweſen nur unter 
den Localbehörden und den Geiſtlichen fland, und alle Verbeſſerungen faſt 

ausichließlich von zwei confeffionelen Privatvereinen ausgingen , ift feit dem 
6. Juli 1838 das Elementarfchulmefen einem Santonalerziehungsrath beider 
Gonfeffionen untergeorbnet, wodurch allmälig Ordnung und Zuſammen⸗ 
hang gewonnen wurde. Ein weiterer Schritt gefchah 1843 durch Abroga⸗ 
tion dieſes und durch Gründung eines neuen gemeinfchaftlichen Erziehungs: 
raths nicht nur für da6 Elementarſchulweſen, fondern auch für die höheren 
Lehranſtalten (Santonsichuien), wofür fräher zwei getrennte confeffionelle 
Behörden beftanden hatten. Diefer paritätifche Exziehungsrach bat neum 
Mitglieder und ebenſo viele Erfagmänner, wovon zwei Drittel enangelifcher 
und ein Drittel Batholifcher Confeſſion find; ein Verhaͤltniß, das Überhaupt 
bei der Belegung von Standesämtern, Commiffionen und Deputationen 
zue Anwendung kommt. Geit Errichtung beffelben find erfteuliche Fort: 
ſchritte im Volksſchulweſen, zumal in den fehr vernachläffigten katholiſchen 
Gemeinden, bemerkbar geworden. Die Oberaufficht über das ganze Erzie⸗ 
hungswefen fteht dem gefammten großen Rathe zu. 

Im confeffionelien Organismus find die oberften und oberauffehenden 
Behörden für die äußeren Beziehungen ber beiden Kirchen (temporalia) 
das evangelifche und das Eatholifche Großrathscollegium. Das Erſtere nt: 
wirft die Darauf bezüglichen Geſetze, die aber, wie die allgemeinen Staats⸗ 
gefege , den betreffenden Gemeinden zur Genehmigung vorgelegt werden 


Suppl. 3. Staatelex. I. 32 


498 Graubindten: 


Fuͤr die rein kirchlichen Angelegenheiten dev evangelifchen Confeſſion 
er eine aus fammtlichen orbinirten Beiftlichen und drei weltlichen Aſ⸗ 
oren gebildete Synode: Doch müffen auch die rein kirchlichen Gutachten 
| alfer Epmobe, wenn fie vom evangelifchen Grofrathecollegium gutgeheißen 
find und in die eigentliche Gefeggebung einſchlagen, den veformirten Ges 
meinden zur Sanction vorgelegt werden. Endlich ſteht ein evangelifcher Kir 
chenrath, fuͤr Vollziehung der Gefege und Leitung der kirchlichen Angelegens 
heiten, unmittelbar unter der Regierung. Dat katholiſche Großrathscolle⸗ 
gium hat die oberſte Aufſicht über die Bisthumsgüter, deftn Bermaltung 
jeboch in gewiffen Fällen dem gefammten Großrathe zukommt. Die Stelle 
des Barholifhen Kirchenraths vertritt die mit viel ausgedehnteren Befugniffen 
als ber. reformierte Kirchenrath ausgeſtattete biſchoͤfliche Curie. Die Geift: 
Uchen beider Eonfelfionen werden von ven Gemeinden gewaͤhlt und ebenſo 
von dieſen muuaſſen 
‚rt bie Umgelffe der Bifchöfe, namentlich gegen das feit der Mitte 
bes 17, berts hervorteetende Streben der roͤmiſchen Gurialpolitif, 
das Landesbischum Chur der Laftvogteilihen Schirmaufficht des: Gottes: 
bausbundes und fpäter der drei Bünde zu entziehen, hatte die Buͤnbner Re 
—— heftige Kämpfe zu beftehen *). "Si bat indef die ſtaatskirchlichen 
mit größerem Nachdrucke, als in vielen anderen Gantonen der Fall 
tar , zu. behaupten gewußt. Diefer Kampf bat fid mit zeitweifen Unter 
brebhungen und in —— Phaſen bis auf die neueſte Zeit fortgeſetzt; 
und noch vor Kurzem ſahen ſich die buͤndneriſchen Behoͤrden in einen kaum 
erſt geſchlichteten Streit Er dem Bifchofe verwidelt. Neben einem bifchöf: 
lihen Seminar beitanb in Chur eine katholiſche Cantonsſchule, die aber 
gleichfalls der nur ein eimfeitiges theologiiches Intereſſe verfolgenden Se: 
minarverwaltung überlaffen war und ale Gymnaſium den Bedürfniffen des 
katholiſchen Landestheils in Feiner Weife entfprach. Um fie diefen ſchaͤdlichen 
Einflüffen zu entziehen, befchloß der große Rath 1832 die Zranslocation 
der Santonsfchule nad) Difentis; aber wegen Abgelegenheit dieſes Orts im 
3. 1842 ihre Wiederverlegung in das Klofter St. Luci bei Chur. Nach 
manchem Zwieſpalt mit dem Biſchofe kam fuͤr zwei Jahre ein Vertrag uͤber 
die Fortſetzung der Lehranſtalt in St. Luci zu Stande. Nach Ablauf der 
feſtgeſetzten Zeit erneuerte jedoch die nach der Herrſchaft uͤber die Cantonsſchule 
ſtrebende biſchoͤfliche Curie eine heftige Oppoſition. In verſchiedenen Ge⸗ 
genden waren Verſammlungen von Katholiken veranſtaltet worden, die fuͤr 
die biſchoͤflichen Anſpruͤche Partei ergriffen. Die Curie ſelbſt verweigerte die 
Benutzung der Kloſtergebaͤude, worauf der Staat ein ausdruͤcklich anerkanntes 
Recht hatte; ein feindſeliger Hirtenbrief gegen die Regierung wurde von ihr 
an die katholiſchen Geiſtlichen erlaſſen und von den Kanzeln verleſen, und 
die Schule wurde als eine „ſchismatiſche“ darzuſtellen geſucht. Um dieſen 
Umtrieben ein Ende zu machen, wurde auf den Rath wohldenkender Katholi: 









*) Ueber ben bünbnerifchen Bisthumsftreit vergl. bie officielle: „Piftorifch- 
flaatsrehtlihe Beleuchtung der Hoheitsrechte bes Standes Graubündten in An- 
gelegenbeit des Bisthums Chur. Chur 1835. 


Sraubündten. 409 


Een bie Gruͤndung des paritdtifchen Erziehungsrathe von 1843 befchloffen, 
wegegen die bifchöfliche Behörde Verwahrung einlegte. Die Regierung lieh 
ſich indeß von ber geraden Bahn ihres Rechts nicht abiwendig machen , und 
fo kam es endlich gegen dm Schluß des J. 1844 zu einer friedlichen Erledi⸗ 
gung des Schulſtreits. Der Curie wurde freigeftellt, fich in der katholiſch 
confeffionelien Section des Erziehungsraths durdy zwei Geiftlicye vertreten 
gu laflen,, wie auch der reformirten Geiftlichkeit in der evangelifchen Section 
eine ſolche Vertretung eingeräumt iſt. Dierauf erfolgte von Seite des Bifcheofs 
bie Anerkennung des paritätifchen Erziehungsraths und der Batholifchen Gans 
tonsichule, welcher jegt noch die biſchoͤfliche Schule einverleibt wurbe. 

An den Cantonen, wo dem Volke gegen Gefegesvorfchläge das Mecht 
des Veto zufteht, wird body von diefer Befugniß nur in feltenen Sdllen und 
meift nur dann Gebrauch gemadht, wenn ein fehr entſchiedener Widerwille 
gegen bie beabfichtigte Neuerung vorhanden iſt. Häufiger ift die Verwerfung 
von Befegentwürfen in Bündten, wo biefe ben Gemeinden zur Abflimmung 
vorgelegt werben müffen. Es liegt in der Natur der Sache, baß dies den 
Entwidlungsgang der Legislation verzögern und hemmen muß. Noch groͤ⸗ 
Ber find die Schwierigkeiten, wenn es fih um Verfaſſungsreformen han⸗ 
beit. Hat der große Rath einen Antrag auf Abänderung gutgeheißen, fo 
fol diefer, nach nochmaliger Prüfung ducch die Standescommiffion, auf die 
Gemeinden ausgefchrieben werden; allein während für die Annahme von Be» 
fegen die einfache Stimmenmehrheit genügt, bebarf es für jede Reform der 
Gonflitution einer Mehrheit von zwei Drittheilen der Gemeindeſtimmen. 
Als ein weiteres Dauptgebrechen der Verfaffung wird erkannt, daß die Mit⸗ 
glieder des Pleinen Raths nur ein Jahr im Amte bleiben und zwar im 2. 
Sabre wiebergemählt werben, aber ihre Stelle body nicht länger als zwei aufs 
einander folgende Jahre bekleiden Binnen. Wirklich find vom großen Rathe, 
feit dem Beftande der gegenwärtigen Verfaffung , diefelben Mitglieder nur 
einmal audy für das zweite Jahr gewaͤhlt worden. Es iſt Har, daß fidh uns 
ter biefen Umftänden die zur Regierung Berufenen bas zur zweckmaͤßigen 
Beforgung der Gefchäfte erforderliche praktiſche Geſchick nicht aneignen koͤn⸗ 
nen, und daß ſich überhaupt kein feſtes politifches Syftem auszubilden vermag. 
Gleichfalls nachtheilig, wenn auch in geringerem Grade, iſt der fchnelle 
Wechfel der Mitglieder des großen Raths. Ein weiterer Mißſtaud iſt eb, . 
daß ber Feine Rath, oder die Regierung, zugleich als eine Art Caſſations⸗ 
hof fungicen und als Recursinitanz oft ihre befte Zeit auf Entſcheidung von 
Fragen über formmidriges uftigverfahren verwenden muß. Endlich find 
über die lanafame Eoftfpielige Juſtiz und die Organifation ber Gerichtsbe⸗ 
hoͤrden in neuerer Zeit manche Kiagen laut geworben. Nach der Conſti⸗ 
tution foll es bei den am 20. Dec. 1813 feftgefegten Suftizeinrichtungen 
bleiben. Zwar hat nach Art. 5 der Verfaffung jeder Gerichtsbezirk das Recht, 
mit Zuflimmung von % aller ihm zugehoͤrenden Theile Abdnderungen in 
feiner Suftisverfaffung vorzunehmen, wenn nicht dadurdy eine größere Zer⸗ 
ftüdelung der Juſtizbezirke herbeigeführt wird. Allein [yon 1814 war die 
vor der helvetifchen Verfaffung beftandene Zerfplitterung in eine Menge klei⸗ 
ner Gerichte hergeftellt worden ; und um fo lebhafter wurden die Beſchwerden 

32 


l 


500 Griechenland (Geſchichte Meugriechenlands). 


über mangelhafte Tape den unteren Inftanzen, als ein Weiterzug an das 
— — nur moͤglich iſt, wenn der Streitgegenfland wenigſtens 1000 
Buͤndner Gulden betraͤgt! Indeſſen iſt der Anfang einer Reform durch dem 
ſeit einigen Jahren beſtehenden Reformverein, der ſchon manches Nipliche 
angeregt, wenn auch noch feine großen Erfolge erreicht bat, fo wie durch den 
im December 1846 verfammelten Großrath eingeleitet worden. 

Mit dem ſchnellen Wechfel der Mitglieder der Regierung und dem 
Mangel eines feften Spftems hänge die nicht felten unentfchiedene Politik 
diefes Canton in eidgenöffifhen Angelegenheiten und der Umſtand zufammen, 
daß Bündten in der Reihe feiner Mitſtaͤnde noch nicht die volle politiſche Be—⸗ 
beutung erlangt hat, die ihm feinem Umfange und feiner Lage nad gebuͤh⸗ 
rem wuͤrde. Diefe ſchwankende Haltung bat die europäifche Diplomatie noch 
voe Kurzem in ihrem Intereffe anszubeuten verfucht. Bon Seite Defter 
weiche, bas zur felleren Begründung feines eigenen Einfluffes ze 1814 
auf Trennung Bündtens von der Eidgenoffenfhaft hingewirkt hatte, wurde 











nach der Tagfapung von 1846 der ehemalige Gefchäftsträger in der Schmweis, 


von Philippsberg, 2 abgeordnet, um dahin zu arbeiten, daß 
Bünbdten zur eines Imöiferbefcyluffes gegen den Sonderbund 
*8 —8 19) u. Borum’”jurdeknehnen oder modificiren möge. > Es foll 
der Eranfitbegünftigung über den Splügem und ber damit 
a terung des Kornbezugs gedroht worden fein. Deffent⸗ 
Uche Blätter haben der Regierung von Bündten das Lob der Standhaftigkeit 
gegen folche Anmuthungen er£heilt; und gewiß würbe jede ſchwache Machgie- 
bigfeit wider. ungeziemende Korderungen bes Auslands dieſelben Gefahren, 
die eine ungeitige und unfluge Furcht zu vermeiden fuche, für die Schweiz 
nur um fo geriffer herbeiführen. Wilh. Schulz. 

Griebhenland (Geſchichte Neugriehenlands) Auch 
nad) der Zeit der Abfaffung unfers erften Artikels dauerten die Mipftände in 
der Regierung Griechenlands fort. Mochte gleich der König Dtto, ſchon 
feiner ferbft wegen, das Aufblühen des Landes allerdings wuͤnſchen, fo mar 
er doch zu ſchwach, daffelbe irgendwie durchzuführen. Guͤnſtlinge herrſchten; 
das Nuͤtzliche und ſelbſt das Noͤthige wurde verſaͤumt und vernachlaͤſſigt, waͤh⸗ 
rend die Mittel des Landes zerſplittert, wo nicht vergeudet wurden. Dabei 
draͤugten die auswärtigen Mächte auf Erfüllung der Verbindlichkeiten Grie⸗ 
chenlands wegen Versinfung des von jenen Staaten garantirten Anlebens. 
Das Volk hatte Feine Stimme. Vergeblich, daß man fo viel möglich Ge⸗ 
währung der ausdruͤcklich verheißenen VBerfafiung forderte. So ſchwach 
fich König Otto in andern Dingen zeigte, fo entfchieden wies er jede dahin 
zielende Anforderung zuruͤck. Gewiſſe auswärtige Einflüffe mögen das Ihrige 
dazu beigetragen haben. 

Sedermann fah ein, daß die Dinge in der bisherigen Weife nicht fort: 
gehen Eönnten: das Volk, das Deer, ja felbft ein Theil der Diplomaten 
erkannte dies; nur der König nicht und die ihn umgebende Samarillı. In 
den engliſchen Blättern war vorbergefagt, daß eine Umwaͤlzung unvermeid: 
lich fei. 

Da brach in der Nacht vom 3. (15.) Sept. 1843 zu Athen eine Revolu: 


* 


Griechenland (Geſchichte NReugriechenlands). 501 


tion aus. Die Truppen verließen in ber Nacht um 2 Uhr ihre Kaſernen, — 
bie reguläzen von dem Obriften Kalergis, die irceguldren von Makrijannis 
angeführt. Sie zogen vor das koͤnigliche Schloß; eine Menge Volkes mit 
ihnen. Man verlangte eine Berfaffung. Der König, auch jegt noch 
bebarrlich in Verweigerung eines ſolchen Zugeſtaͤndniſſes, ſendete nach der Ar⸗ 
tillerlekaſerne, um eine Mahnung an die vorhandene Verpflichtung mit Kar⸗ 
taͤtſchenſchuͤſſen zuruͤckzuweiſen. Vergeblich. Auch die Artillerie ſchloß ſich 
der Bewegung an. Die Kanonen wurden aufgefahren, aber — gegen das 
Schloß gerichtet. 

Mittlerweile hatte ſich der Staatsrath verſammelt, defſen Mitglieber 
zum Theil Kenntniß von den vorbereiteten Dingen gehabt. Waͤre dies aber 
auch nicht der Fall geweſen, ſo draͤngten die Umſtaͤnde: dieſe Koͤrperſchaft 
ſah ſich von ber allgemeinen Bewegung fortgeriſſen. Sie ſendete eine Depu⸗ 
tation mit einer Adrefle an den König, in weicher Lsgten nicht nur um Ans 
nahme eines anderen Miniſterlums, fondern auch um Einberufung einer 
Nationalverſammlung innerhalb eines Monats gebeten ward, damit biefelbe 
eine Verfaſſungs urkunde entwerfe 

Auch jegt noch wollte der König nicht nachgeben. Zwei Stunden 
verhandelte bie Deputation des Staatsraths vergeblich mitihm. Da fol: deum 
Kalergis energifc, eine befriedigende Erklaͤrung verlangt baben , wie es feheint . 
unter Hinweiſung auf bie gegen das Schloß aufgeführten Kanonen. Jetzt 
gab denn ber König freilich nach. Die betreffenden Orbonnangen wurben vom 
Gtaatsoberhaupte umterzeichnet und verkündet, und bie Truppen zogen mit 
Wngendem Spiel in ihre Kafernen, ba6 Volk in feine Wohnungen zuräd. 
Es war mittlerweile Morgen geworden. Das Ganze war völlig friedlich, ohne 
Irgend ein Blutvergleßen oder fonftige Störung ber Drbnung voräber ge 
gangen. 

Die Revolution vom 3. Sept. erſcheint aber doppelt bewunderungs⸗ 
werth, wenn man Die nicht offen bervorgetretenen Einwirkungen näher ums 

Zu Denen, welche bie Ummälzung am-meiften vorbereiten halfen, 
gehörte der ruffifche Gefandte Katakazi. Der Hauptleiter bes ganzen Unter 
nehmens, Obrift Kalergis, fühlte wohl, daß er einer fo bedeutenden Stuͤtze 
fi nicht entfchlagen dürfe. Er durchſchaute aber auch gleichmäßig bie eigens 
nüsigen Abfichten des Moskowiten. Diefer zielte unverkennbar darauf, e— 
babin zu Bringen, daß ber König Otto aus dem Lande vertrieben werde ober 
dieſes ſelbſt verlaffe; dann war es zu erwirken möglich, daß Griechenland, 
wenn auch nicht dem Namen, doch der That nach, eine ruſſiſche Pro⸗ 
vinz werde, — daß es etwa einen ruſſiſchen Prinzen als Koͤnig erhalte. So 
wenig es ſich verkennen laͤßt, daß Viele eine Vertreibung Otto's wuͤnſchten, 
und daß nur ſehr wenige Griechen ihm wahrhaft innerlich zugethan waren, ſo 
galt es doch unter dieſen Umſtaͤnden, feine gaͤnzliche Entfernung zu verhindern, 
um die verderblichen moſkowitiſchen Plane zu vereiteln. Ruſſiſche Liſt und 
griechiſche Schlauheit kaͤmpften nun um die Wette, und — die letzte trug 
den Sieg davon. Der kluge und entſchloſſene Kalergis brachte es dahin, daß 
der helleniſche Staat eine Repraͤſentativ⸗Verfaſſung erlangte; er wußte es 
aber zu verhindern, daß bie Dinge auch nur einen Schritt weiter gingen. — 


508 Griechenland (Gefcichte Neugriecheniande). 


Die Aufgabe war indeffen um fo ſchwieriger, als ber ſchwache König 
ſich verleiten ließ, dan Verſuch einer Begenrevolution, wo nicht felbft zu wa⸗ 
gm; ——— zulaſſen. Sein Adſutant, der fuͤngere Kolokotroni, 
der entlaſſen⸗ —— Rhalli, beides Anhänger der ruffifchen Partel, 
55 den König, Jedermann wuͤnſche eine Contre-Revolution, und 
ch felen die Truppen zur Ausführung einer folchen bereit. Die Nacht 
1 10. Det. warb zur ndfährung des Planss beftimmt. Kolokotroni begab 
fich unmittelbar aus ben koͤniglichen Schloß in die Kaferne und verlangte im 
Namen des Königs, daß fogleich zwei Gompagnien Infanterie (die er bereits 
unter den Waffen ftehend glaubte) nach dem Patafte marſchiren follten, In 
der Kaſerne aber hatte Niemand Luft zu einer Gegen-Umtälzung. Ber» 

‚berief fi) Kolofotroni auf einen unmittelbaren Befehl des Könige: 
— 1ä Dee Safer erklärte ihm, daf er ohne Befehl des Com⸗ 
mandanten von Athen Peine Truppen ausrüden laffen werde, — Die mittler: 
toeile von dieſen Vorgängen benachrichtigten Gefandten Frankreichs und Eng⸗ 
lande eilten in das Schloß und drangen in das Staatsoberhaupt, das ihm 
hochlſch compromitticende Benehmen feines Adjutanten au mißbilfigen. Dies 
geſchah denn endlich. Koloforconi a er nad) Stalien zut reifen, 
umd die Ruhe warb nicht meiter geflört, obwohl noch Manches vorfam, was 
die Griechen allerbings erbittern mußte*). | 
Die ——— der Natlonalverſammlung wurde wiederholt 
ohl ſchwerlich ohne den Nebengedanken, daß durch Zoͤgerung 
immerhin Einiges im abfolutiftifchen Sinne gewonnen werben könne. Am 
20. Nov. 1843 begannen denn endlidy die Sigungen. Die Berathung bes 
mittlerweile verfaßten Gonftitutionsentwurfs dauerte bis zum 6. März 1844. 
Mach einigen darauffolgenden Verhandlungen mit dem Könige beſchwor biefer 
denn am 18. (30.) März feierlid) das neue Verfaſſungswerk. 

Die griechiſche Verfaffung ift am meiften der belgiſchen ähnlich, 
diefer jedoch keineswegs blindlings nachgebildet. Folgendes fi find ihre wich— 
tigften Beſtimmungen (wobei wir auf die hier eigenthümlidhen befondere 
Ruͤckſicht nehmen). 

Die griehifhe Kirche ift ale die herrſchende erklärt, dabei je- 
doch nicht blos im Allgemeinen Sewiffensfreiheit, fondern freie Yusübung 
jedes Cultus geſichert. — 

Es find ferner proclamirt: Gleichheit vor dem Geſetze; Sicherung 
gegen ungefesliche Verhaftungen; Nichtdulden der Sklaverei; Freiheit der 
Preſſe; „Cenſur wird auf eine Weife geftattet” ; auch kann Feine vorläus 
fige Saution bei Herausgabe einer Zeitung gefordert werden. — „Das Brief: 














*) Dabin gebören: bie gefucht ausgezeichnete Aufnahme, welche Koloko⸗ 
troni am Hofe zu München fand; die plumpen Ausfälle der hierin halbofficiellen 
baierifchen Allgemeinen Zeitung gegen die Griechen; endlich felbft die Erkiärun- 
gen in officiellen Actenftüden, wie der König von Baiern darauf bebarre, 
daß die koͤnigliche Gewalt in Griechenland auf eine breite und feſte Grundlage 
gebracht und mit ſolchen Waͤllen umgeben werde, daß die uͤbermaͤßige Ausbdeh- 
nung des bemoßratifchen Elements verhindert werde” u. dal., während doch der 
König von Griechenland felbftftändig handeln follte zc. | 


Sriechenland (Geſchichte Neugriechenlande). 508 


geheinmiß iſt unverletzlich.“ — „Nur griechiſche Bürger koͤmen Staatsaͤmter 
bekleiden.“ — 

Das Recht der Initiative bei Geſetzvorſchlaͤgen ſteht dem Koͤnige und 
jeder Kammer zu. — „Keine Handlung des Koͤnigs iſt guͤltig oder kann 
vollzogen werden ohne die Contraſignatur des (dafuͤr verantwortlichen) be⸗ 
treffenden Miniſters.“ — „Der König iſt die hoͤchſte Staatsbehoͤrde im 
Reiche. Er befiehlt uͤber die Land⸗ und Seemacht, erklaͤrt Krieg und ſchließt 
Friedens⸗ und Bundesvertraͤge und Handelsverbindungen.“ Er gewaͤhrt 
aber beiden Kammern „die noͤthigen Aufſchluͤſſe, ſobald das allgemeine Inter⸗ 
eſſe und die Sicherheit des Staats es erlauben. Handels⸗ und andere Ver⸗ 
traͤge, welche das Reich belaſten oder die Griechen perſoͤnlich verpflichten, ſind 
ohne die Genehmigung der beiden Kammern ungültig.” — Der König et: 
nennt die Beamten, er darf aber Keinem eine nicht vom Befege beftimmite 
Stelle ertheilen. 

Der König ift befugt, die Kammern aufzulöfen. Das Auflöfungsbecret 
muß indeffen zugleich die Zufammenberufung der Wähler binnen 40 Tagen, 
und der Kammern binnen zwei Monaten enthalten. — Der König hat .das 
Recht, die Eröffnung und die Fortfegung der jährlichen Kammerfeffion zu ver: 
fhieben. Der Auffchub darf aber nicht einen Monat überfchreiten, noch 
ohne die Genehmigung der Kammern während des Landtags erneuert wer: 
den. — Der König kann Strafen erlaffen, nur bie gegen Minifter verhängten 
nicht. — Adels: und fonflige nicht gefegliche Unterfcheibungstitel darf er nicht 
ertheilen. 

In Betreff der Thronfolge gingen die Beſchluͤſſe der Nationalver- 
fammlung dahin: der nächte König muß fich zur griechifchen Kirche bekennen. 
Sollte König Otto Feine männliche , fondern nur weibliche Nachkommen hin⸗ 
terlaffen, fo gebt die Krone auf diefe über. Im andern Falle (nad) ben, 
übrigens ohne Mitwirkung Griechenlands abgefchloffenen, Staatsverträgen 
von 1832) auf den Prinzen Luitpold von Baiern. Weigert ſich diefer, zur 
seiechifchen Kirche überzutreten, fo kann er zu Bunften eines feiner Söhne 
abtreten. 

In Betreff der obigen Beſtimmungen (Art. 40 der DVerfafiungsur: 
kunde) erflärte übrigens der König Otto: „Er nehme biefe Entfcheidung für 
feine eigenen Nachkommen an.” — Die Frage wegen der eventuellen Thron⸗ 
folge ift fomit noch nicht ale definitiv entfchieden anerkannt. — 

Stirbt der König, fo verfammeln ſich die Kammern ohne Zufammen- 
berufung fpäteftens am 10. Tage nach dem Todesfalle. Wären die Kam: 
mern gerade aufgelöft und auf eine fpätere Zeit als 10 Tage nach dem Tode 
einberufen, fo verfammeln fi) die aufgelöften wieder und fegen ihre Arbeiten 
bis zur Conftituirung der neuen fort. 

Vom Gterbetage des Könige bis zur Beeidigung feines Nachfolgers oder 
des Regenten (in Gegenwart der Kammern) wird die conflitutionelle Gewalt 
des Könige im Namen ber griechifchen Nation von dem Minifterrathe 
verwaltet: 

Im Falle des Eintretens einer Regentſchaft ift beflimmt: der Regen 
muß 30 Jahre alt und griechifcher Confeifion fein. Er wird durch 3 


= 


504 V — — — Griechenland (Statiſtik) —2 


rheit von beiden (vereinigten) Kammern gewählt, Hinterlaͤßt König 

| Dtto er unmündigen Sobn, fo übernimmt ausnahmstweife die Königin 

Im Falle len Erledigung bes Thrones teten die beiden Kam⸗ 

ı in eine zuſammen und erwaͤhlen vorläufig den —— zur Ein⸗ 
Leere ne welch⸗ —5 — binnen zwei Monaten geſchehen 


— neuen ‚wählen dann den König. 
Es beftchen wei-Romimeen, Die re der Deputirten iſt auf 80, ine 
bie Gematorem anf 27 Bi 40 feftgefegt. Die Mitglieder ber Deputirtenkam · 
——— eine monatliche tung ‚von 20, jene des. eine 
ſole Drachmen waͤhrend der Dauer des Randtags. Die Terz 
vom Könige ernannt. Die Kammern a 
| vom frätehens am 3-(15. Jan.) —— | ws 
—— und ge BB mr in der .£ ws B 
j und im ganzen ge, od nur u enigen 










“ut 








% 









| orenen das Buͤrge Mur 
Bellimmung Bot ta ua pr lafeahen Clans ange nommen. 
ie neue Verfaſſung mar zwar. allerdings nicht im Stande, die 
‚und bie Verhältniffe mit einem Dale völlig umzuwandeln. Den- 
durch fie unverkennbar manches Ueble von dem Lande abgewendet, 
ıte. wenigftens begrlinbet worden, Es ift mindeftens der Anfang 
zu einer volfsthümlichen,, nationalen Regierung ;. und wie hart 

d unverfchuldet aud) manche Deutfehe gelegentlich diefer Umwandlung zu 
Ieiben hatten, fo muß biefelbe doch, vom höhern Stanbpunft aus betrachtet, 
als eine erfreuliche Erfcheinung begrüßt werben. 

Das während der Revolution gebildete Miniflerium unter dem ruf: 
fifch gefinnten Metaras Eonnte ſich nicht behaupten; aud) der vorzuͤg— 
lich auf England ſich ftügende Maurofordatos vermodte es nicht. Da- 
gegen hält fi das Minifterium Kolettis, das zwar von Frankreich unter: 
ſtuͤtzt wird, aber die meiften nationalen Befinnungen zu vertreten ſcheint. 

Der König findet fih in feine Verhältniffe, indem er die Selbftregies 
"rung ziemlich aufgegeben hat. Da er jedoch keine Nachkommenſchaft befigt, 
und auch fein Bruder Prinz Luitpold von Baiern nicht geneigt fein foll, feine 

\ Gonfeffion zu dndern, fo erfcheint die Zukunft wegen der Thronfolge noch 
ungewiß. Ein Hauptübel aber liegt in dem unter der nn des Abfolu- 
tismus zerrütteten Finanzzuſtande. (ſ. unten.) G. Fr. Kolb. 

Griechenland, jiin ſtatiſtiſcher Hinſicht. An das Ende 
des Artikel mit Weglaffung der Nachfchrift.) In Sachen des Cultus 
find verfchiedene wichtige Veränderungen erfolgt. 

Die Verfaffungsurfunde felbft beſtimmt, „daß die griechifche Kirche 
dem Seife und den Dogmen nad) ungertrennlic) verbunden fei mit der Haupt: 
— in Conſtantinopel und mit allen übrigen Staubensgenoffen,, während 

fie ftaatsrechtlich unabhängig ſtehe unter einer heiligen Synode.“ 

Ein im Jahre 1845 erlaffenes Geſetz fteilt fodann diefe Synode unab⸗ 
bängiger von der Stantsgewalt. Zwar gelang es der Megierung, durchzu: 
ſetzen, daß die Mitglieder diefes Collegiums ale zwei Jahre nach dem Dienft- 


Griechenland (Statiftif). 505 


alter von ber Regierung ernannt werden. Dagegen fiel ber koͤnigliche Staats: 
procurator bei derfelben hinweg, dem mancherlei Befugniſſe eingeräumt 
waren; fobann wurde der von den Mitgliedern zu leiftende Eid abgeändert, 
fo daß diefelben auch dadurch in eine weniger abhängige Stellung vom Gous 
vernement kommen; ferner wurde im Kirchengebet der König und die Koͤ⸗ 
nigin übergangen; endlich die geiftliche Cenſurgewalt verfchärft, auch ber 
Geiſtlichkeit einige Befugniffe in Beziehung auf Ueberwachung der von 
Fremden gegründeten Schulen eingeräumt und ebenfo der Clerus von allen 
Gommunnllaften befreit. 

Was die Katholiken betrifft, fo beträgt deren Anzahl 22 — 24,000. 
Sie haben einen Exrzbifchof (zu Naros), 3 Biſchoͤfe (zu Syra, Tinos und 
Santorin), fobann (im Jahre 1841) 43 Kirchen, 7 Kloͤſter, 83 Capellen 
und 2 Seminarien. 

Mohamedaner leben nur noch zu Chalkls. 

Sinanzwefen. Die Kinanznoth zwang fehon vor der September: 
revolution zu.anfehnlichen Reductionen im ganzen Gtaatshaushalte. So 
wurde bie Zahl der Gouvernements von SO auf 24, jene ber Untergouverne- 
ments von 18 auf 7 herabgeſetzt; ebenfo bei ber Armee die Reiterei von 6 auf 
4 Escadronen, beim Fußvolk die 8 Bataillone auf 5 reducirt (3 Linien » und 
2 Sägerbataillone) , endlich auch das Beurlaubungsſyſtem eingeführt, dem 
zufolge ſtets ein Theil ber Truppen ohne Sold nach Haufe entlaffen wirb. 

Der Finanzzuſtand ſcheint fich zwar zu beſſern, doch reichen alle bisheri⸗ 
gen Maßregeln nicht aus, die Regierung in den Stand zu fegen, ihre Vers 
tem, namentlich gegen die auswärtigen Gläubiger, vollſtaͤndig gu 
erfüllen. 

Dürfte man einer officisllen Zufammenftellung unbedingt trauen, welche 
die griechifche Regierung Ende 1844 ben auswärtigen Mächten mitteilte, 
um ihre künftige Zahlfähigkeit zu beweiſen, fo hätten fi Einnahme und 
Ausgabe in den verfhhiedenen Jahren folgendermaßen geſtellt, und fomit im 
Der legten Zeit weſentlich verbeffert: ut 


Jahr. Einnahme. Ausgabe. 
1838 7,721,370 Drachmen 12,852,605 Drachmen. 
1884 11,132,6897°° = 16,760619 = 
1835 13.635990 : 16,906,896 ⸗ 
1836 13,623,817 ⸗ 16,817,537 ⸗ 
1837 14,196,047 s 16,693,000 ⸗ 
1838 14,094,860 > 14,756,676 = 
1839 14.298400 = 13,880665 = 
1840 15,84000  » 13,71000  s 
1841 15,147,493 : 13,449,018 „ 
1842 14,600,000 ⸗ 13,424,000 ⸗ 
Indeſſen beruht dieſe Aufſtellung unverkennbar in mehrfacher Beziehung 


auf Taͤuſchung. 


Unter den Einnahmen ſind die Ertraͤge von Anlehen 


mit aufgeführt, während der Staat ſeine Verbindlichkeiten als Schuld⸗ 
ner theils gar nicht, theils hoͤchſt unvollſtaͤndig erfuͤllte. Auch ſtellte das 
Budget von 1843 folgende Ergebniſſe dar: 


506 Griechiſche Volksanſichten von Recht und Staat. 


Ausgabe. - - > 2 2.2.0... 18,666,482 Dramen. 
Einnahme - : . 2 2 2 02. 15,669,795 ⸗ 

Was die aͤlteren Anlehen betrifft, ſo wurden von dem 1824 negocirten 
ſeit dem Juli 1826 keine Zinſen mehr bezahlt, und ebenſowenig von jenem 
1825 aufgenommenen feit dem Juli 1827! — Bon dem aus der baterifchen 
Staatscaſſe erhaltenen Anlehen von 44 Mill. Drachm. find gleichfalls erſt 
2,740,600 Dradymen zuruͤckbezahlt. Und daß es noch fchlimmer fleht mit 
bem durch die 3 Großmächte garantirten Anlehen von 60 Mil. Fres., if 
befannt. Jene Mächte, namentlih Frankreich), mußten große Vorſchuͤfſe 
leiften zur Abtragung ber verfallenen Binfen. 

Die griechifche Regierung führte In einer Note an bie fremden Mächte 
Folgendes an zu ihrer Mechtfertigung in der Anlehnsſache: Griechenland habe 
in den Fahren 1837 — 1840 für Verzinfung und Zilgung der großen Anlehen 
6,300,000 Drachm. felbft gedeckt. Die Großmaͤchte hätten zum naͤmlichen 
Behufe bis 1845 27,143,950 Dradym. von dem Anlehens capitale ver: 
wendet. An bie Pforte hätten 12,531,164 Drachm. bezahlt werben müffen. 
Die baterifche Truppenfendung habe 22,340,862 Dradym. gekoſtet. Roth⸗ 
ſchild habe für Negocirung des Anlehens 6,660,000 Dradym. gezogen x. x. 
Im Ganien feien von dem Rothfchild’fchen und dem balerifchen Anlehen nur 
437,323 Drachmen für innere Verbefferungen übrig geblieben!! (Und 
doc) ift das arme Land nun mit einer fo enormen Schuldfumme belaftet!) 

®. Sr. Kolb. 

Griebifhe und allgemeine altgriehifhe Volks— 
anfihten von Recht und Staat. In unſeren Tagen entwidelt 
ſich mehr als ſeit langen Jahrhunderten in den Völkern und aus bem Volks⸗ 
Heben heraus eine bemußte Erneuerung und ein Kampf der Grundanfichten 
über die Rechts⸗ und Staatsverhaͤltniſſe, über die legten Grundlagen derfel- 
ben. Mehr aus dem Volke und feinen wahr oder falfch aufgefaßten Beduͤrf⸗ 
niſſen ale aus den Stubenphilofophien entflehen die neueren focialiftifchen, 
communiftifchen und Verfaſſungs⸗ Theorien. Bewußter oder unbemußter 
hängen diefelben mit ben geichichtlichen Grundlagen des Culturlebens der Na⸗ 
tion, alſo den claffifchsalterthümlichen, roͤmiſchen und griechifchen und den 
chriſtlichen und germanifchen zujummen und mwenigftens wird für ihre Zeitge⸗ 
mäßheit und beiliame Geftaltung eine gründliche Kenntniß derfelben boppelt 
wichtig und fchon der Vergleihung wegen anziehend. Bekannt ift «6, wie 
in der franzöfifchen Revolution die Volksfuͤhrer piöglich ihre Blicke auf: die 
republikaniſchen Verfaffungen der Alten und auf die alten, namentlich bie 
römifchen Rechtsideen mendeten. Und glüdlicher ale die fhon von Rouf: 
feau dorther entlehnten, [ehr einfeitig aufgefaßten Ideale der Staats⸗Ver⸗ 
faffungen wirkten die zu focialiftifhen Verbefferungen, für Aufhebung aller 
feudatiftifchen Befchränkungen angewendeten, in den fpäteren Code Napo- 
leon aufgenommenen , ewig wahren Grundfäge des römifchen Rechts über Die 
Sreiheit der Perfon und des Eigenthums. Die damalige allgemeine Volles 
begeifterung für römifche Staats» und Rechtsanfichten ſprach fich ſchon aus 
in den jet eingeführten römifchen Titeln, Aemtern, Einrichtungen, Tribus: 
nat, Sonfulat u. f. w. 


Griechiſche Volksanſichten von Recht und Staat. 507 


Bet diefem größern Intereſſe und prattifchen Einfluß, den jet die rich» 
tige Kenntniß griechifcher und roͤmiſcher Volksanſichten von Recht und Staat 
und ihres Verhältniffes zu unjeren beutigen Zuftänden und Bebürfniffen has 
ben muß und vielleicht bald noch mehr erhalten kann, foll jegt da6 Staats⸗ 
Leriton in feiner zweiten Auflage kurze Darftellungen derfelben enthalten, 
die in dieſem Artikel mit den alten und allgemeiner griechifchen Rechts⸗ und 
Staatsanfichten beginnen und durch Darftellungen der Lykurgiſchen fpars 
tanifdyen, der Solonifchen athenifchen und der vömifchen Rechts⸗ unb 
Gtaatstheorien ergänzt werden follen. 

Eine Darftellung des Geiſtes der griech iſchen Geſetze und Rechte wird 
durch mehrfadye Gründe erfchwert. Zrerſt dadurch, daß wir dieſe Geſetze 
nur fehr mangelhaft, unvoliftändig und meift ohne die Worte der Geſetz⸗ 
geber befigen ; dann durch Die Art der wifienfchaftlichen Behandlung, welche 
denfelben bisher meift zu Theil wurde. Ohne ihren inneren Geiſt und Zuſam⸗ 
menbang unter ſich felbft und mit den Anfichten ihrer Ucheber von Leben und 
Staat zu erforfchen, wurden fie, öfter fogar ohne Trennung der verfchiedes 
nen Zeiten und Völker, neben einander gereiht, und es läßt fich von ber gans 
zen Bearbeitung fagen, mas Heyne von einem Theile derfelben klagt ): 
versantur viri docti in verbis enarrandis et declarandis, vix unquam in 
ipsa re constituenda. J 

Dazu kommt vorzuͤglich noch die Vielſeitigkeit der Bildung und ber 
Anſichten der Griechen. Faſt alle Kraͤfte des Lebens entfalteten ſich bei 
dieſem ewig einzigen Volke, welches des Orients herrliche Bluͤthen mit des 
Occidents reifenden Fruͤchten auf ſchoͤnem Stamme vereinte, zu hoher Voll⸗ 
kommenheit und beſtanden neben und durch einander in ungeſtoͤrter Harmo⸗ 
nie. Wie in ihren Heroen Goͤttliches und Menſchliches, wie In Ihrer Phi⸗ 
loſophie, als deren Repräfentant vorzuͤglich Platon gelten muß, begei⸗ 
fterte Anfhauung und befonnene Reflerion in wunderbare Vereinigung tras 
ten, fo war in ihrem ganzen Leben eine finnliche und überfinnliche Welt. in 
feftem Bunde. Theokratiſches fteht in ihren Verfaffungen neben dem rein 
Menſchlichen, ohne daß, was fonft leicht gefchieht, eines dem anderen Würde 
und Heiligkeit raubte, ohne daß je die Grenze beider vollkommen aefunden und 
eins von dem andern ganz getrennt werden koͤnnte. Es bat das griechiiche 
Leben eine eigenthuͤmliche Befundheit, Ganzheit und Unzerriffenheit. Da 
ift nicht da8 Allgemeine und Befondere, Beiftige und Sinnliche auseinander 
gerifien, im Gegenſatz, entzweit und der Verſoͤhnung bedürftig; heibnifch im 
beften Sinne des Wortes , unmittelbar menſchlich Verbunden erſcheint es. Die 
ganze harmonifche Menfchennatur nad) abftracter oder ſchwaͤrmeriſcher Theos 
rie giebt das Geſetz. Südlich, wenn in fittlicdy gefunder Harmonie das Höhere 
in Ihr vorherrſcht! So gluͤcklich und human diefe innerliche Verbindung war, 
fo wird es doch eben dadurch ſchwer, einzelne, aus dem Zufammenhange 
geriffene Erfcheinungen auf ihre Achte Quelle zuruͤck zu führen und ihre 
mahre Natur zu erkennen. Dazu können die folgenden Zeilen nur einige 
Andeutungen geben zu wollen Anſpruch machen. 


1) De judic. publ, Opusc. acad. IV. p. 16. 


508 Griechiſche Wolksanfichten von Hecht und Staat 


Zwei Perioden vorzüglich muͤſſen für Betrachtung ber griechifchen Ge⸗ 
fege und Rechte getrennt werden: die vor ben kuͤnſtlicheren Geſetzgebungen 
und Staatöverfaffungen, die Heroenperiode, und: die nach diefer-tünft« 
licheren Begründung der Staaten, die Bürgerperiode. Inder erfteren 
herrſcht, in ihrer Ausbildung wenigſtens, bie theoßratifche Anficht mehr vor; 
aber auch außerdem ergeben fich bedeutende Unterfchlede von der letzte⸗ 
ren. Inder erfleren find, fo meit unfere Kenntniffe reichen, alle gries 
chiſchen Völker fich ſehr aͤhnlich, in der letzteren verbienen vorzüglich bie 
Geſetzgebungen des Lykurgus, des Zaleukus und Charondas und bie 
des Solon gefonderte Betrachtung. Die Übrigen, minder originell, ver: 
ſchwinden um fo mehr hinter jenen, da unfere Nachrichten von ihnen noch 
mangelhafter find. 

Der ganze rohe und wilde Zuftandb®) der älteften Griechen verſchwand 
bald, als Colonien aus gebildeteren Ländern zu ihnen eimmanderten , fie aus 
ihren Wäldern und Höhlen lockten und ihnen ihre religtöfe, gefellfchaftliche und 
geſetzliche Cultur mitzutheilen ſtrebten?). So wurde das Recht, welches in 
der Kindheit eines jeden Volkes Sinnlichkeit und Stärke behaupten, gemildert 
und zum Beſſeren gelenkt. Hercules und Theſeus ftehen nicht nıchr ale Mes 
präfentanten roher Sinnlichkeit und ber bloß phnftfchen Kraft da, fondern 
werben al& ihre Bekaͤmpfer, ald Retter aus ber Gewalt thierifcher und menſch⸗ 
licher Ungehöuer, als Anordner und Beſchuͤtzer beflerer Rechtes und Gefell⸗ 
ſchaftsverhaͤltniſſe verehrt und fpäter vergättert. Mit voller Beftimmtheit 
fest [hon Hefiodus biefes beſſere Recht, von ben Goͤttern geheiligt, dem 
früheren Sinnlichkeitsrechte entgegen: 

Nur der Gerechtigkeit folg’ und gänzlich vergiß der Gewaltthat; 
Solch ein Geſetz warb Menfchen von Zeus Kronion geordnet. 

Fiſche der Flut, Raubthier' und Eraflichte Bögel bes Himmels 

Hieß er freffen einander, bieweil fie deö Rechtes ermangeln; 

Aber den Menfchen verlich er Gerechtigkeit, welche der Güter 

Edelſtes ift*). 

&o kennen denn auch bie Homerifchen Helden überali ein befleres 
Recht als das ber rohen Bewalt, nämlich ein von Zeus ſtammendes und 
den Königen zur Erhaltung vertrautes®), umd jede Herrfchaft nach bloßer 
Zilltür und Uebermacht iſt ihnen Zuftand der Barbarel und gaͤnzlichen Recht⸗ 

gkeit 9). 
r Selbft in der Goͤtterwelt und über biefelbe herrfcht die dan, das Schick⸗ 
fal, die dunkle Idee und Quelle der Gerechtigkeit”). 

In dieſer Periode, in welcher in dem freisren und fittlicheren Verhaͤlt⸗ 
niffen die theokratifche Anflcht bedeutend vorherrſcht, hatten die Gelege oder 


2%) Pausanias VII. 1. Acschyl. Prom. vinct. V. 342 zegq. 
3) Ucber den Einfluß ber Fremden vergl. Hceren, Ideen, III. 8b. 1. 
Abth. S. 103 f. 
4) Tagewerke V. 275 f. nah Voß. 
5) 3. 8. Ilias II. 206. 
6) Odyss. IX, 112 f. 
7) Platon de Rep. ed. Bipont. p. 19. 
) 


x 


Griecchiſche Wolkanfichten von Recht und Stasi. 608 
die Sitten der Menſchen meift ihre Heiligung durch bie Götter ®), welche 
durch ihre Draßel, Wunder, Scher und Prieſter die Menſchen lenkten ?). 
Prieſterthum und Regierung des Staates waren daher auch in den fruͤheſten 
Beiten bei den Griechen vereinigt 1). 

Meben der religiöfen Auffaſſung beftand auch fchon jest ein Recht bes 
Freiheit und Gleichheit, überall das Streben nad) Unabhängigkeit, Freiheit 
und Gleichheit, die hohe Achtung ber Perfönkichkeit, der Ehre bes freien 
Mannes. Auch bie Verfafjungen entfprechen meift ſchon dieſen Anfichten, 
und es fcheinen Viele dem: „Einer fei König!” das Domer im Kriege, 
wo die Gewalt der Könige größer war als außerdem !!), und wohl Aber 
haupt nur. in Beziehung auf die erecutive Gewalt einen feiner Helden fas 
gen läßt, au viel Gewicht beizulegen. Schon des Minos Gefeggebung 
Hatte vorzüglich Freiheit und Gleichheit der Bürger im Auge !?) und nach 


Theſeus' Anordnungen waren die gejeggebende Gewalt und die Aemterver⸗ 


gebung und fomit die eigentliche Souveränetät in den Händen bed Volks '?), 
weiches fie oft genug gegen das königliche Anfehen mißbrauchte, wie z. B. 
gegen Thefeus, melden es verjagte. Auch die Homeriſchen Könige find 
nichts mehr ald Anführer im Kriege, Prieſter, Wächter der Geſetze, und 
zum Thell Richter, haben ihre Ehre und Rechte nur ale Geſchenk des Vol⸗ 
des!) und duch Vertrag mit ihm?®), regieren keineswegs nad) Willkuͤr, 
fondern find einestheils an die väterlichen Sitten !°), anderntheild an einem 
Rath der Helteren und Vornehmeren gebunden, welcher letztere dann bie Raths 
ſchlaͤge dem Wolke vorlegte 17). Diefe Raths⸗ und felbft die Volksverſamm⸗ 
lung nimmt auch am Richteramte großen Antheil!®). Den rechtiofen und 
wilden Buftand der Kyklopen befchreibt daher Homer dadurch, daß bei 


9) Feithii Antiquitt. Homeric. 1I. 1. Ilias II. 206. 
9) Siehe 3. B. Herodot II. 52. Ilias I. 63. XIX. 400. 

10) Odyss. I. 404f. Apollodor. II. 15. Daher noch fpät zu 
Athen der dem Öffentlichen Gultus porfiehenbe Arhen König big. Demo- 
sthen. in Neaer. P- 1370. e eiske. Aehnlich zu Rom. 

' 11) Feith. II. 32. So war e8 ja aud bei den alten Franken, wo 
Ehlodowig, der fonft überall durch Bolkeverſammlung befchräntt ift, bei der 
Heerſchau einen Mann niederhaut. 

12) Strabo X. p. 480 f. 

13) Plutarch, k p- 11. Demosthenes in Neaer. p. 
873. Aristotel. Pol. III. 1%. IV. 10. Diodor. 8.1. 238. Euri- 
pidis Suppl. V. 404. Heracl. v. 424. In ber erften Stelle von Euri- 
pid. beißt es: denn es herrfcht nicht ein Mann, fonbern frei ift der Staat 
und das Bolt herrfcht und giebt jährlich Aemter diefem oder jenem. 

14) Hesiod. Theog. v. 85 f. Odys». VII. 150. XI. 175. Ari- 
stot. Pol. V. 10. 

15) Odyss. I. 388—398. XXIV. 483 und 545 f. Es ſcheint mir nach 
biefen Stellen, wie in mehreren alten Reihen, 3. B. bei den Aegyptiern 
(Pauw IX) und bei den Ssraeliten (Michaelis, Mofatfhes Recht 
$. 55.) das Volk die Familien gewählt au haben. 

16) Feith. II. 2. 

17) Ilias II. 24. 63. I. 238. II. 270. IX. 97. Odyas. VII. Ari- 
stotelis Eth, III. 5. 

18) Tlias XVL 386. XVII. 497 f. 


506 —* Volksanſichten von Recht und Staat. 


dent BL NE ES I ZU ze '18,666,482 Dradymen. 
nabme . . . u. + 1 415,669,795 s 
Was die älteren Anlehen beteifft, ſo wurden von dem 1824 negocieten 
kenne feine Binfen mehe bezahle, und ebenfomenig von jenem 
Er —— 18271 — Bon dem aus der balerifchen 
erhaltenen Untehen von 4% Mill. Drahm. find gleichfalls erft 
| ) Dradimen zuruͤckbezahlt· - Und daß es noch fchlimmer fteht mit 
Bekannt. Jene Migte, ——— yoße Bor 
t. Jene e, namentl } große 
leiften zur Abtragung ber verfallenen Binfen. 
& A ger there rar führte in in einer Note an bie — Mächte 
n zu ihrer Mechtfortigung in der Anfehnsfache: Griechenland habe 
in In ben abıım 1837 — 1840 für Verzinfung und Tilgung der großen Anlehen 
6,300,000 Drachm. felbft gedeckt. Die Geoßmächte hätten zum nämlicyen 
Behufe bis 1845. 27,143,950 Drachm. von dem Anlchenscapitale ver: 
wendet. An die Pforte hätten. 12,531,164 Drachm bezahlt werden muͤſſen. 
















Die baieriſche Truppenſendung habe 22,340,862 —— gekoſtet A 
ſchild habe für Negocirung des Anlehens 6,660,000. Drachmg a, 


Im Gangen felen von dem Rothſchildſchen und dem bateeifepen — nur 
437,913 Dradymen für innere Verbefferungen übrig geblieben!! (Und 
doch iſt das arme Land num 77 eier re enormen ee 
1 De ru Ao 

au Griechifche und. "all meist altgriehifche Volks— 
anfidten von Recht und Staat. In unſeren Tagen entwidelt 
ſich mehr als ſeit langen Jahrhunderten in den Völkern und aus dem Volks— 
leben heraus eine bemußte Erneuerung und ein Kampf der Grunbdanfichten 
uber die Rechts⸗ und Staatsverhältmiffe, über die legten Grundlagen derfel- 
ben. Mehr aus dem Volke und feinen wahr oder falſch aufgefaßten Beduͤrf⸗ 
niſſen als aus den Stubenphilofophien entflehen die neueren focialiftifchen, 
communiftifhen und VBerfafjungs: Theorien. Bewußter oder unbewußter 

ängen diefelben mit ben gefchichtlichen Grundlagen des Gulturlebeng der Na: 

on, alfo den cläffifchsalterthümtichen, vömifchen und griechifchen und den 
hriftlichen und germanifchen zufammen und mwenigftens wird für ihre Beitge- 
mäßheit und heilſame Seftaltung eine gründliche Kenntniß derfelben doppelt 
wichtig und fchon der Vergleichung wegen angiehend. Bekannt iſt es, wie 
in der franzöfifchen Revolution die Volksfuͤhrer plöglich ihre Blicke auf- die 
vepublilanifchen Verfaffungen der Alten und auf die alten, namentlidj die 
römifchen Rechtsideen wendeten. Und glüdlicher als die fhon von Rouf: 
feau dorther entlehnten, fehr einfeitig aufgefaßten Sdeale der Staats: Ver: 
faffungen wirkten die zu focialiflifchen Derbefferungen, für Aufhebung aller 
feudatiftifchen Befchränkungen angewenbdeten, in den fpäteren Code Napo- 
leon aufgenommenen , ewig wahren Srundfäge des römifchen Rechts über die 
Freiheit der Perfon und des Eigentbums. Die damalige allgemeine Volks: 
begeifterung für römifhe Staats: und Rechtsanſichten ſprach fid) [hon aus 
im den jest eingeführten römifchen Titeln, Aemtern, Einrichtungen, Zribu: 
nat, Confulat u. f. w. 5 


‘ 


Griechiſche Volksanſichten von Recht und Staat. 507 


Bei dieſem größern Intereſſe und praktifchen Einfluß, den jegt die rich» 
tige Kenntniß griechifcher und römifcher Volksanfichten von Recht und Staat 
und ihres Verhältniffes zu unjeren heutigen Zuftänden und Bedürfniffen has 
ben muß und vielleicht bald noch mehr erhalten kann, foll jegt das Staats⸗ 
Lexikon in feiner zweiten Auflage kurze Darftellungen derſelben enthalten, 
die im diefem Artikel mit den alten und allgemeiner griechifchen Rechts⸗ und 
Staatsanfichten beginnen ımd durch Darflellungen der Lykurgiſchen ſpar⸗ 
tanifdyen, der Soloniichen athenifchen und der roͤmiſchen Rechts⸗ und 
Staatstheorien ergänzt werden follen. 

Eine Darftellung des Beiftes der griechifchen Geſetze und Rechte wirb 
durch mehrfache Gründe erfchwert. Zuerſt Dadurch, daB wir diefe Geſete 
nur fehe mangelhaft, unvolftändig und meift ohne die Worte der Geſetz⸗ 
geber befigen; dann durch Die Art der wifienfchaftlichen Behandlung, welche 
denfelben bisher meift zu hell wurde. Ohne ihren inneren Geiſt und Zuſam⸗ 
menbang unter ſich felbft und mit ben Anfichten ihrer Ucheber von Leben und 
Staat zu erforfchen, wurden fie, öfter fogar ohne Trennung der verfchiedes 
nen Zeiten und Völker, neben einander gereiht, und es läßt ſich von der gans 
zen Bearbeitung fagen,' was Heyne von.einem helle berfelben klagt): 
versantur viri docti in verbis enerrandis et declarandis, vix unquam in 
ipsa re constituenda. . Be . 

- Dazu kommt vorzuͤglich noch die Vielſeitigkeit der Bildung und ber 
Anſichten dee Griech en. Faſt alle Kräfte des Lebens entfalteten ſich bei 
dieſem ewig einzigen Volke, welches des Orients herrliche Bluͤthen mit des 
Occidents reifenden Früchten auf ſchoͤnem Stamme vereinte, zu hoher Voll⸗ 
kommenheit und beflanden neben und burdy einander in ungeftörter Harmos 
nie. Wie in ihren Herom Göttliches und Menfchliches, wie In Ihrer Phi⸗ 
loſophie, als deren Repraͤſentant vorzüglid) Platon gelten muß, begeis 
flerte Anſchauung und befonnene Reflerion in wunderbare Vereinigung tcas 
ten, fo mar in ihrem ganzen Leben eine finnliche und überfinnliche Welt in 
feftem Bunde. Theokratiſches fteht in ihren Verfaſſungen neben dem rein 
Menſchlichen, ohne daß, was ſonſt leicht gefchieht, eines dem anderen Würde 
und Heiligkeit raubte, ohne daß je die Grenze beider vollkommen aefunden unb 
eins von dem andern ganz getrennt werben koͤnnte. Es hat das grischifche 
Leben eine eigenthümliche Geſundheit, Ganzheit und Unzerriſſenheit. Da 
ift nicht da8 Allgemeine und Befonbere, Geiftige und Sinnliche auseinander 
geriſſen, im Gegenſatz, entzweit und der Verſoͤhnung bebürftig; heidniſch im 
beften Sinne des Wortes , unmittelbar menſchlich verbunden erſcheint es. Die 
ganze hHarmonifche Menſchennatur nach abitracter oder ſchwaͤrmeriſcher Theo⸗ 
rie giebt das Geſetz. Südlich, wenn im fittlich gefunder Harmonie das Höhere 
in ihr vorherrſcht! So glücklich und Human diefe innerliche Verbindung war, 
fo wird es doch eben dadurch fchwer, einzelne, aus dem Zufammenhange 
geriſſene Erfcheinungen auf ihre Achte Quelle zuruͤck zu führen und Ihre 
wahre Natur zu erkennen. Dazu können die folgenden Zeilen nur einige 
Andeutungen geben zu mollen Anfpruch madıen. 


1) De judic, publ, Opusc. acad,. IV. p. 16. 


508 Griechiſche — OREEND und Staat. 
Zwel Perloden —— ——6 Ge⸗ 
Bw —— vor den kuͤnſtlicheren ——— | 
und Staatsverfaffungen, die — und‘ die nach diefer 
licheron Begtuͤndung der Staaten, he, Nr In der erfleren 
theokratifche Anſicht mehr vor; 
em ſich Unterfchiede von det Tegte> 
Ben find, ar unſere Kenminiſſe reichen, “alle geie- 
der Be ‚betbienen vorzüglich die 

A, "de 












Eis unb ——— 
minder originell ‚„ Ders 


anfere Naiheichten von ihnen noch 


amt RE —*⁊ 
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Mit —— 
——— gehätffgt, dem 







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tüßeren —— Are 


Nur ber Gerechtigkeit, folg' und gänzlich vergiß ber Gewaltthat; 

Sol ein Geſetz warb Menfchen von Zeus Kronion georbnet. 

Fiſche der Flut, Raubthier' und Erallichte Vögel bes Himmels 

Dieb er freffen einander, dieweit fie des Medhtes ermangeln ; 

Aber ben Menfchen verlich er Gerechtigkeit , welche der Güter 

Edelſtes ift*). 

So kennen dennaud bie Homeriſchen Helden überall ein beſſeres 
Recht als das ber rohen Gewalt, nämlich ein von Zeus ftammended und 
den Königen zur Erhaltung vertrautes®), und jede Herrſchaft nad; bloßer 
Militär und Ueberntacht iſt ihnen Zuftand der Barbarei und gänzlichen Recht⸗ 

gkeit ). — 
* Selbſt in ber Goͤtterwelt und über dieſelbe herrſcht die oinn, das Schick⸗ 
ſal, die dunkle Idee und Quelle der Gerechtigkeit”). 

—In dieſer Pertode, in welcher in ben freisren und fittlicheren Verhaͤlt⸗ 
niſſen die theokratifche Anficht bedeutend vorherrfcht, hatten die Gefege oder 


nal I [| ER 
J 
4 1 


2) Pausanias VIII. 1. Acschyl. Prom. vinct. 442 seq. 
= 7 a te der Fremden vergl. Hceren, nn mM. 8b. 1. 
t 
4) Zagewerfe V. A Al nah Voß. 
5) 3. B. Ilias IM. 
6) Odyss. IX. Br 
7) Platon de Rep, ed. Bipont. p. A 


Griechiſche Wolßsanfichten von Red und Scaat. 600 


bie Sitten der Menſchen meift ihre Heiligung durch die Götter ®), weiche 
durch ihre Orakel, Wunder, Seher und Prieſter die Menfchen lenkten ®). 
Prieſterthum umd Regierung des Staates waren daher aud) in den fruͤhe ſten 
Zeiten bei den Griechen vereinigt 10). 

Meben der religiöfen Auffaſſung beſtand auch fchon jegt ein Recht bes 
Freiheit und Gleichheit, überall das Streben nad) Unabhängigkeit, Freiheit 
und Gleichheit, die hohe Achtung ber Perſoͤnlichkeit, der Ehre des freien 
Mannes. Auch die Verfoffungen entſprechen meift fchon diefen Anfichten, 
und e6 fcheinen Viele dem: „Einer fei König!” das Homer im Kriege, 
wo die Gewalt der Könige größer war ale außerdem !!), und wohl uͤber⸗ 
haupt nur in Beziehung auf die erecutive Gewalt einen feiner Helden fas 
gen läßt, zu viel Gewicht beizulegen. Schon des Minos Gefeggebung 
hatte vorzüglich Freiheit und Gleichheit der Bürger im Auge !?) und nach 
Theſeus' Anordnungen waren die gejeggebende Gewalt und die Aemterver⸗ 
gebung und fomit die eigentliche Souveränetät in den Händen bes Volks 1), 
welches fie oft genug gegen das königliche Anfehen mißbrauchte, wie z. B. 
gegen Theſeus, weichen es veriagte. Auch die Homeriſchen Könige find 
nichts mehr als Anführer im Kriege, Prieſter, Wächter der Geſetze, und 
zum Theil Richter, haben ihre Ehre und Rechte nur als Geſchenk des Wol⸗ 
tes!*) und durch Vertrag mit ihm!®), regieren keineswegs nad) Willkür, 
fondern find einsstheils am die väterlichen Sitten 10), anderntheild an einen 
Rath der Aelteren und Vornehmeren gebunden, welcher letztere dann bie Raths 
ſchlaͤge dem Wolke vorlsgte 17). Diefe Raths⸗ und ſelbſt die Volksverſamm⸗ 
lung nimmt auch am Richteramte großen Antheil 18). Den rechtloſen und 
wilden Zuftand der Kyklopen befchreibt daher Homer dadurch, daß bei 

8) Feithii Antiquitt. Homeric. II. 1. llias II. 206. 

9) Eiche 3. B. Herodot II. 52. Ilias I. 63. XIX. 400. 

10) Odyss. II. 404f. Apollodor. Ill. 15. Daher noch fpät zu 
Athen ber bem Öffentlichen Gultus zorſtehende Archon König hieß. Demo- 
sthen. in Neaer. p 13 ed. Reiske. Achnlich zu Rom. 

11) Feith. U. 32. So war es ja auch bei ben alten Franken, wo 
Ehlodowig, der fonft überall durch Volksverſammlung befchräntt ift, bei der 
Heerfchau einen Mann en 

12) Strabo X. 

13) Plutarch, Phes us p .11. Demosthenes in Neaer. p. 
873. Aristotel. Pol. II. 14.’ . 10. Diodor. S. I. 8. Euri- 
pidis Suppl. V. 404. Heracl. v. 424. In ber erften Stelle von Euri- 
pid. beißt "4 denn es berrfcht nicht ein Dann, ſondern frei ift der Staat 
und das Wolk herrfcht und giebt jährlich Aemter diefem oder jenem. 

14) Hesiod. Theog. v. 85 f. Odyss. VII. 150. XI. 175. Ari- 
stot. Pol. V. 10. 

15) Odyss. I. 388—398. XXIV. 483 und 535 f. Es ſcheint mir nach 
diefen Etelten, wie in mehreren alten Reichen, z. B. bei ben Aegyptiern 
(Pauw IX) und bei ben Seraeliten (Michaelis, Moſaiſchet Recht 
$. 55.) das Volk die Familien gewählt au haben. 

16) Feith. II. 2. 

17) Ilias II. 24. 6 I. 238. III. 270. IK. 97. Odysa. VII. Ari- 
stotelis Eth, II. 5 

18) Ilias XVL 386, XVII, 497 f. 


so Guiechſche Wollsanfihten von Recht und Stadt. 


ihnen weder Geſetz noch Nathsverſammlung des Volkes fei,,fondern Jeder nach 
re ge und ſchrecuch· Rache will Zeus an Bewaltfam Harfe 
en 20 

Aber 28 wurden die Mechte der Sinalithleit mehenur vingefehräntt J 
geadelt, als fie weber durch Religion noch Geſetze ganz verdrängt und 
beherrſcht werben konnten. Dazu waren die Griechen jetzt überhaupt noch 
nicht reif genug, oder «8 fehlte ihnen wenigſtens ein Dann von 
ber Kraft und Begeifterung , der fie durch erhabenere Religionsideen und 

Gefeßgebung ganz unter die. Derrfchaft der Götter und eines reineren 

s zu feffeln vermocht hätte; welchen Mangel auch fpäterhin die Grie- 
Aka dies mit ihrer übrigen hohen Cultur contraftirenden niedrigeren Reli 
glondanfichten verdankten; benn Blaubenslehren werden pofitiv nur durch 
begeifterte Propheten gebeſſert, außerdem fommt ihnen bei hoͤchſter Bildung 
nur eine negative Beſſerung, durch Unglauben ®). 

Es bedarf nur eines Blids auf die Geſchichte jener Zeit, vorzüglich 
auf Homer’s herrliche Gefänge, um ſich zu überzeugen, wie fehr neben beffe: 
ven Ideen auch Sinnlichkeit und K ihre Gültigkeit behaupteten 2 
Votʒůglich in diefet Art ber Entſtehung und Bildung des Rechts, wel⸗ 
Se nicht allmälig aus bem Volke ſelbſt, bei rag 

Baer durch die von außen mitgetheilten fremden Religions» und 
Rechtsidern ziemlich ſchnell und fruͤh bildete, jcheint neben andern auch eine 
Quelle der fortdanernden eigenthümlichen Rechts» und Stantsanficht der 
Griechen zu liegen. Denn wenn auch auf diefe Weife jener niedrige Egois⸗ 
mm, der nur auf Befriedigung rohſinnlicher Zriebe, auch durdy die unans 
ftändigften Mittel, bedacht ift, verfchwinden mußte, fo konnten doch Feines: 
wegs die Perföntichkeit und Selbſtheit des Einzelnen und die fruͤheren Rechte 
der Sinnlichkeit ganz in ihre gehoͤrigen Schranken verwieſen werden oder in 
rein ſi ttlichen Ideen aufgehen; ſondern gerade die etwas egoiſtiſche Perſoͤn⸗ 
lichkeit, in veredelterem Geiſte und mit einem unreflectirten Antheile fittli- 
her Sdeen: als freies, unantaftbares, ſich felbft geſetzgeben— 
des Wefen, wurbe bleibend der hoͤchſte Charakter des griehifhen Rechts, der 
Mittelpuntt des Strebens, die Ehre und das Gluͤck des frein Mannes und 
Staates. Hohe Achtung der vollfommenften Unabhängigkeit und 
eben darum der völligen Gleichheit mit allen Freien, keineswegs 
zur überfinnlichen Idee gefleigert und als Rechte einer andern Melt, fondern 
als weſentlichſtes Bürgerrecht jedes Freien auf dieſer Erde und in ir diſchen 
Bedingungen betrachtet, uͤberhaupt eine vollendete Maͤnnlichkeit und Aus⸗ 
bildung des irdiſchen Menſchen, was den Griechen ihre aoern bezeich⸗ 
nete, nicht ein Vergeſſen und Aufopfern des Irdiſchen fuͤr ein Ueberirdiſches, 
war die Seele des griechiſchen Rechts und der griechiſchen Tugend; wenig— 

19) Odyan IX. 110 f. 

20) Ilias XVI. 385 f. Ats Priefter und zugleich ale Nachkommen der 
were und Heroen haben die Könige gewiß auch theofratifchen Einfluß. 

21) Diefes wird oft, namentlih auh von Filangicri, bei feinen Bor: 
prägen zu Religionsverbefferungen (VI. 7), überfeben. 

2) Selbſt im Diymp haben fie eine gewiffe Sanction. Ilias VII. 18 ff. 





Griechiſche Bolfsanfichten von Recht und Staat. 511 


ſtens fofern bie legtere von der Religion, von bloßer Pietät fich trennte ??). 
Sie war das hoͤchſte Gut, welches die praktifche Philofophie der Griechen, die 
ſtets von ber Idee eines höchften Gutes ausging, für Recht und Politik fand, 
für welches diefe felbft Mittel waren , und welches durch ben täglicdyen Gegen⸗ 
fag der durch feinen Mangel erzeugten Niedrigkeit und Exrbärmlichkeit der 
Sklaven nıuen Werth fo wie durch die SHaverei und felbft durch die den 
Griechen eigenen Religionsvorftellungen, durd ihre Kunft und Poefie 3*) 
Unterflügung, Nahrung umd Ausbildung gewann. 

Es war diefe Rechtsanſicht in ihrer guten Anwendung Quelle bed Herr⸗ 
lichſten und Schönften im bürgerlichen Leben der Griechen, ihrer unbeflegs 
baren Liebe zur Freiheit und zu ihrem Vaterlande, welches ihnen dieſelbe ges 
waͤhrte, welches fie als einzige Bedingung ihres hoͤchſten Gutes, der vollen 
Seibſtſtaͤndigkeit und Gleichheit, anfehen mußten, fie war Quelle bes reichen 
Lebens, bes freien Spiels aller Kräfte, wie es ſich außer Hellas nie wieder ent⸗ 
faltete. 

Sie mufte die auf volllommenfte Freiheit und Perfönlichkeit der Ein« 
zelnen, auf vollkommenes und ganzes Leben Aller und darum auf gleichen Ans 
theil an irdifchen Gütern, namentlich aber am Öffentlichen Leben, berechne⸗ 
ten Rechtes und Staatsverhältnifie, geheiligt durch die Götter des Vaterlan⸗ 
des, jenen herrlichen Gemeinſinn der Griechen in ihrer befieren Zeit, fie mußte 
immer mehr jene große überall in den griechiſchen Staaten erfcheinende, in 
der Platonifchen Republik unuͤbertrefflich entwickelte Anficyt des Staates, 


23) Ganz in dieſem Geiſte find die unten folgenden ſpartaniſchen unb 
athenienfifchen Geſetze aufzufaffen, welhe Ehre und Tapferkeit als 
Grundbebingung bes Rechtsverhältniffes betrachten und bloße Keigheit als 
Verbrechen ſtrafenz ebenfo bie Ariftotelifche Definition bes Staates: als 
einer freien und gleichen Vereinigung zur Erhaltung eines unabhängi-. 
gen und felbfigenugfamen Zuftandes (Eth. V. 10.); feine Behauptung, 
daß nur unter freien und gleichen Menſchen ein Rechteverhältniß mög» 
lich fei (ibid.), dag Ehre die Stücfetigkeit der befferen und für das buͤrger⸗ 
liche Leben fähigen Menfchen (Eth. I. 3) und daß gegen fich und feine Freunde 
ſchlecht handeln das Schänblichfte fei. (Eth. V. 3). Erſt Platon, von hoͤ⸗ 
beren fittlichen Ideen ausgehend , welchen auch das Hecht unmittelbar dienen 
follte, griff entfcyieben biefe Art der Freiheit ats Höh ften Charakter des Rechts 
anz vorzüglich an den bekannten Stellen, wo er gegen die durch die griedhifche 
Rechtsanſicht berrfchende Meinung, welche das flets als etwas Sklaviſches ges 
dachte Unrechtleiden für das höchfte Uebel hielt, auszuführen fuchte: daß 
Unrechtthun ein höheres Uebel fei. Noch weiter von der Rechtsanftcht ber 
Alten, welche, volle GSeibftfländigkeit und Freiheit als das Höchfte achtend, 
nichts ehrenvoller hielten als ihre Schügung, namentlich auch durch Tyran⸗ 
nenmorb, entfernen fich die für chriftlich ausgegebenen Grundfäge, welche Frei⸗ 
beit felbft um der Sittlichkeit willen nicht wollten und über die anbere Welt 
diefe und die wahre Zugend in ihr vergaßen, wohin das unbebingte Geduld⸗ 
predigen (3. B. Augustin. de Civ. Dei XXlII. 6. Epistol. 166. 
Lactant, inst. div. V. 20.) gehoͤrt. 

234) Es ift befannt, wie namentlid Homer und der Geift des Home: 
rifhen Heldenlebens Hierfür wirkten und von Geſetzgebern ber freieften 
Staaten dafür benugt wurden; wie denn das lestere überhaupt Duelle und 
Mufter dafür war. 


Mr 


512 Griechiſche Volksanſichten von Recht und Staat. 









— nicht, wie Im neuerer Polltik, Sendern une nee 
* ——— Eebenskräfte einent äußeren ober einfeitigen 3 
geordnet werden und als blofes al in den Händen des —— 
un re oder der Regierung erfterben, — fondern als der Menfchheit 
im Großen, als einer moralifchen Perſon, welche ſich ſelbſt, oder, wie Ari: 
teles 08 ausdrüde, wo Alle von Allen regiert werden 2°), wo alle Glie- 
bie feftefle ——— und — Leben finden ſoll⸗ 
unmittelbar die erfannten 








md Früchte der Menfehbet, all die noch —* Meifterwerke, 
woran die Hellenen fo ce nsaden, Ihen und wachfen. Und gewiß 
wer dleſen Reichthum des Hellenifchem Lebens kennt und fühlt, wird die 
_ kingelnen Mifklänge, die oft ſelbſt durch die volltommenfte Freiheit aller und 
—* —8* — —— erzeugten Störungen, ja die meiſt kurze 

thezeit uͤberſehen und wird, wenn er denſelben etma 
an ee — el Tebendigen god eines chineſiſchen Reiches bält, 
fühlen, daß von vielem einfeitigen Maßſtabe ber der äußeren Ruhe und der 
Zeitdauer für die Schägung bes Lebens der einfeitigfte fein möchte, daß fein 
wahres Leben, am wenigſten ein Griechenleben allein nad) der Zeit zu meſ⸗ 
fen iſt. | 

Aber es war diefelbe Rechtsanſicht auch Quelle des meift unglückfelis 

gen Strebens nach materieller Gütergleichheit, wovon die Alteften griechi⸗ 
fhen Staaten faft alle ausgingen 27) und dadurdy vorzüglich früher große 
Verwirrung erfuhren, welche auch noch bie zwei größten Gefeßgeber der Grie- 
chen, Lykurg und Solon, der Erftere mit großen Aufopferungen ganz, 
und der Lestere immer noch in gewiſſem Grade 28) herzuftellen fuchten. Eine 
ſolche Gleichheit fchien da, wo die aͤußere Rechtsſphaͤre nicht blos fittlichen 
Sweden diente, fonbern als an ſich gültig betrachtet wurde, zumal bei Mangel 








— — — 


25) Eth. V,8f. Pol. IX. 3. VI, 13. 

26) Wie fehr 1 allein dem öffentlichen Leben angehörten, f. Herren, 
Ideen Bd. IV. ©. 474 f. 

27) Aristot. Pol. an vielen Orten des zweiten Buches. Manfo, 
Sparta. Th. I. 1. ©. 81 und 112f. I. 2. S. 109, Schwerlich dürfte wobl 
biefes Streben nad) Sleichheit in den sufälligen außeren Umftänden gefucht wer: 
den, worin es Heeren |. c. ©. 242 findet 

28) Plutarch. in Solon. ueberhaupt ift, fagt Ariftoteles Eth. 
V. 4., in ber Demokratie der Maßſtab der im Rechte nothwendigen Gleich— 
beit, der gleichen Austheilung von Gütern und Aemtern, nicht die Würdig- 
keit, fondern allein die Freiheit. 


Griechiſche Volksanſichten von Recht und Staat. 513 


der Trennung des Intellectuellen vom Materiellen, als ein nothwendiger 
Charakter des Rechts und namentlich fuͤr die voufte Unabhaͤngigkeit und 
Selbſtſtaͤndigkeit der Einzelnen unentbehrlich. Daher deuten denn auch, 
wie ſchon erwaͤhnt wurde, die griechiſchen Bezeichnungen der auf Gerech⸗ 
tigkeit Bezug habenden Begriffe auf eine gleiche Austheilung hin 29). Bes 
Tannt find außerdem die griechifhen Benennungen des Rechtsverhaͤltniſſes, 
wie es ihnen ſowohl wegen der Forderung ber Gleichheit überhaupt als auch 
vorzüglid) wegen des gleichen Antheild am öffentlichen Leben, der Selbſt⸗ 
gefeggebung jedes Freien, als das richtige erfchien: Freiheit und Gleich⸗ 
heit oder: auzovoula, loovopla, Zoouospla, loomolırela, loorelsıe, 
Zoopnpla und Zonyoola. 

Verberblicher noch wurbe öfter gerade die legtere Anwendung der vollen 
Gleichheit und Freiheit Aller, welche man auf vollkommen gleihen Antheil, 
nicht blos an Geſetzgebung, fondern auch an Regierung des Staates machte, 
und fo zulegt zur fchredtichflen Pöbelherrfchaft führte, toie fie von Athen 
vorzüglih Ariftophanes in den Rittern mit grellen Farben malt. 
Bei ihrer fpäteren Vorherrſchaft oder da der Despotismus hier vom Volt, 
nicht von Königen ausging, iſt es fehr erklärlich, u die edleren fpäteren 
Scriftfleller der Athener, Sokrates, Plato, Ariflophanes, faft 
alle gegen die abfolute Demokratie ſchrieben oder lehrten und Ariſtokraten 
geſcholten wurden. 

Daß die entwickelten Grundideen des griechiſchen Rechts dahin fuͤhren 
mußten, alles objective, alles Zwangsrecht auf die Einwilligung aller 
Freien zu gründen, leuchtet von ſelbſt ein ®%). Darum definirten auch bie 
Griechen das Geſetz „als einen gemeinſchaftlichen Vertrag Alter” ‚(noksag 
svvön«n xoivij) ®ı), verflanden bekanntlich überhaupt unter vonog nur 
ein „in der Verfammlung Aller gegebenes oder gebilligtes Gefeg”, unter 
Fxonovdos einen Bundbrüdigen und zugleich einen Rechtlofen ??), unter 
Fvonovdog den, mit welchem man in Rechtsverhältnifien war 23). Aber 
auf oft verberbliche Weife glaubte man dieſes Beſtehen des Rechts auf Ein: 
willigung Aller, glaubte Jeder feine volle Perſoͤnlichkeit und Unabhängigkeit, 
nur dann, wenn ftete Auslegung und Anwendung des allgemeinen Willens, 
wenn Gefesgebung, Regierung und Richteramt in den Hin- 
den Aller unmittelbar, oder wenigſtens ihrer durch ihren Willen erwähls 


29) Philof. Th. I. 1. vopog, veuecıs, Ilnmog, dındorng re 

ig 5 vorzügl. Platon im Kriton; Aristotel. Pol. i 6. Rhe 
I. 1. 

31) Demosthen. in ber in gut 2 de legg. aufgenommenen Stelle aus 
Orat. I, adv. Ariste p- 

32) Thucyd. II, 6 

33) Oefter bei Demosthen. Henr. Stephan. thes. L. Gr. 3. 940, 
Außer und vor dem Staatsvertrag beftanb der vorzüglich in den 
den Griechen fo heiligen Gaftrechten, |. 4. 3. Tlias VI Schwerlich 
braucht man bei diefer Gründung des Ne t8 auf Vertrag, um Ai "erflären, daß 
die Fremden feine eigentlichen Rechte batten, auf bie Stadtverfaffungen der 
Griehen Rüdfiht zu nehmen, wie Heeren, Ideen Bd. IV. ©. thut. 


Suppl. 3. Staatöler. II 3 . 


314 Griechifche Wolksanfichten von Recht und Staat. 


en und ihnen zur fliten Rechenſchaft verpflichteten ?*) Mepräfentanten 
rl se wenn fo Jeder nur von feines Gleichen , Alle von Alten gerichtet 
werben Eönnten 39%) — kurz nur in bee Demokratie (demm das Angege- 
bene machte ihren weſentlichen Charakter bei den Griechen °7) — hinlänglid) 
realifirt und gefihert; in dem fehr natuͤrlichen, noch meueren Philofophen 
danen Irrthume, daß nur jo Jeder fich ſelbſt, Keiner der Willkür des An⸗ 
bern gehorche, daß fo ſtets dar wahre allgemeine Wille zur Realität komme. 
Mur in ber Demokratie, welche, wie Herzdo t ſagt, allein den erhabenen 
Charakter ber Freiheit und Gleichheit, der Sfonomie bat, fanden fie bas 
wahre Recht und Gläd ?®), fagten fogar nur von ihr, daß fie durdy Geſetze, 
daß fie gerecht regiert wuͤrde ®9), festen fie, als den Staat bes Rechts und 
ber Freiheit (oft unter dem Mamen avrovoula), dem Königthume ober 
ber Despotie, welches letztere ihnen gleich bedeutende Begriffe waren, ent- 
Bd, haften nichts mehr als monachifhe Verfaffung und Unter 
ng des gleichen Antheils an der Regierung bes Staates und feierten 
durch fpäte Feſte und Gefänge ihre Befreier ‚davon. Aoysicı Ö£, fagt 
PDaufanias, Ars lonyoglar xal ro aurovonov dyanavess Ex 
nalaorarov 
Schon Rhadamantus ſoll daher durch ein Geſetz Jedem Straf: 
loſigkeit zugeſichert haben, welcher an einem übermüthig Herrſchenden Rache 
genommen *?). Ja das Stecben nach ſolcher Freiheit und Gleichheit ſpricht 
ſich fo früh aus, daß ſchon die Argonauten den Hercules darum ausge 
fchloffen haben follten, weil er im Verhaͤltniß zu den Usbrigen zu ungleich 
fei *°), fo wie auch fpäter die Ephefter den edlen Hermodorus ausfdyloffen, 
indem fie fagten: unter uns foll Fein vorzüglicherer Menſch geduldet wer: 
den *2). Ganz aus demfelben Streben entftand und rechtfertigt Arifto: 
teles das merfwürdige Inftitut des Oftracismus #5). Periander mußte 
bei dieſer Rechtsanficht das Ideal einer guten und gerechten Staateverfaffung 


34) Obrigkeiten, die das nicht, nicht Ynevdvvor waren, waren dem Grie 
chen Zyrannen. Aristot. Pol. II. 12. IV. 10, 

35) Aristot. Pol. Iv. 15. 

36) Aristotel. Pol. VI. 2. 

37) Ibid. IV. 14. 

38) Herodot Ill. 80. V. 78. 

39) Aeschin. in Ctesiph. ed. Reiske p. 389. Euripid. Suppl. 
V.40%4. Heracl. V. 424. 

40) Herod. |. c. Thncyd. I. 29. — Pol. III. 1. und 14. 
Strabo p. 547. Joseph. antig. hist. XIII. 7. Daß die früheren grie: 
chiſchen Koͤnige nicht Monarchen in unſerem Sinne — wird ſich nachher 
zeigen. 

41) Corinth. c. 19. 

43) Apollod. Bibl. II..4. 9. Arist. Eth. V.8. Dies war in 
ganz Griechenland gültig. Xenoph. Hellen. VI. 3. Gelbft die Kinder 
des Zyrannen, dem das allgemeine Ajvlrecht verfagat war, mußten meift die 
Rache der beleidigten Brunel erdulden. Meurs. Them. 1. 33. 

43) Arist. Pol, LIII. 13. 

44) Ibid. V. 36. Cic. Tusc. V. 32, 

45) Ibid. II. 13. 


Griechiſche Volksanſichten von echt und Staat. 513 


nicht beffer anſchaulich zu machen, als indem er auf einer Kornfaat die hervor: 
ragenden Achren abfchnitt und fie fo den übrigen gleich machte 26). Py⸗ 
thagoras, welcher zuerft unter den Griechen über Zugend und Recht philor 
fophirte #7), ging ebenfalls von jener Gleichheit, als dem höchften Charakter 
bes Rechts, aus und ftellte daher das ganze NRechtsverhältniß als eine Wie: 
dervergeltung dar *8). 

Ueberhaupt ‚ftellt die innere Geſchichte der grischifchen Staaten ein 
fletes Streben und Kämpfen für diefe Rechtsanficht, früher vorzüglich mehr 
für Gleichheit im materiellen Güterbefig, fpiter für gleichen Antheil an 
Gefetzgebung und Regierung , für volle Perfönlichkeit und Unabhängigkeit *°) 
der Einzelnen wie der Staaten dar. Diefe Art der Freiheit und des Rechts 
erkannte man ale das Hoͤchſte, welchem man willig das Beſte und felbft Rechte 
der Einzelnenim anderem Sinne zum Opfer brachte. Inſofern kann man fagen, 
daß das Privatrecht der Alten , oder richtiger ihr Privatbefig, dem öffent: 
lichen Rechte untergeorbnet war und oft darin verfhwand. Aber unrichtig 
fcheint es, dies unbedingt zu behaupten und, wie Viele thun, fich ben Egois⸗ 
mus von ihren Rechtsverhaͤltniſſen entfernt zu denken; zu wähnen, es fei ihe 
bürgerliche® und politifches Streben bloß durch Gemeingeiſt und fittliche 
Ideen geleitet worden, es habs ber Einzelne nicht feine Selbftheit und fein 
Recht gegen das Ganze behauptet, es fei nicht feine Rechtsſphaͤre im 
Allgemeinen Mittelpunkt feines Strebens und Seele feines Handelns gewefen. 

So war es keineswegs; nur betrachteten bie Alten als weſentlichſtes und 
erſtes Recht jedes Bürgers, nicht etwa einen Privatbefig, ſondern den gleichen 
Antheil an dem öffentfichen Mechte, an der Regierung des Staates, des auf 
foldye Weiſe Allen gemeinfchaftlichen Vermögens, die volle Freiheit und 
Selbfigefeggebung in dieſem Sinne. Der materielle Beiig des Staates war 
Gemeingut Adler, der intellectuelle Antheil eines Jeden durch die allgemeine 
Geſetzgebung und Regierung war das Privatvermögen jedes Einzelnen, wähs 
rend ea bei uns umgekehrt iſt. Das Recht beitand ihnen ferner auf dieſe 
Weiſe, infofern es fi) vom Blauben trennte, zwar auch durch freie Einwils 
ligung und Erklärung Aller, aber e8 war nicht wie bei und eine durch Er⸗ 
klaͤrung objectiv gewordene rein moralifche Norm, blos darum eine Freiheits⸗ 
ſphaͤre für den Einzelnen heiligend , daß ihm dadurch die Erfüllung feines ins 
neren Gittengefeges gefichert würde, ebenfo wenig als fie einen Privatrechts⸗ 
befig fire blos finnliche Genuͤſſe machten; fondern als Exftes tritt überall bie 
freie Perſoͤnlichkeit und Selbſtſtaͤndigkeit des Einzelnen, feine Gleichheit mit 
allen andern Freien hervor, welche weder rein fittlich noch viel weniger aber 
von Sittlichkeit entblößt, fondern nur nicht mit Reflerion als fittlich noth⸗ 





46) L. c. 

47) Aristot. magnor. morak I. 2. 

48) Arist. Eth, I. 1. V. 5. Das ganze 5. Buch der Eth. enthält über: 
haupt eine Menge von Belegen für bie gefchilderte griechifche Rechtsanficht. 

49) Selbft durch Arbeit, Handel und Gewerbe glaubte man die volle Unab⸗ 
haͤngigkeit und Seteiftänbigteit gefäbrbet und bielt fie meift für etwas Skla⸗ 
viſches. Arist. Pol. U. 7. III. 5. 47. VII. 10. Xenoph, Mem. V, He- 
rod. II. 167. Plut. apoph. Lac, 2. Aelian. VI. 16, 

33 * 


516 Griechiſche Volksanfichten von Recht und Staat. 


wendig geheifigt und einer rein fittlichen Idee untergeordnet war, welche In 
biefer Hinficht etwas Theofratifches hatte. 

Hierin, nicht fowohl, wie Diele wollen, in dem mehr Sittlichen 
und Unegoiftifchen der Nechtsanficht der Alten, welche man oft auf unfere 
Koften über Gebühr erhebt, liegt dieVerfchiedenheit ihrer und unferer Rechts⸗ 
und Staatsverhältniffe. Auch bei ihnen lag im Weſen des Rechts eben ſowohl 
etwas Egoiftifches und Getrenntes ald bei und; nur bekam bei ihnen felbft 
ein egoiftifches Streben häufig eine vortheilhafte Richtung für das Allen 
Gemeinfchaftliche, fuͤr das Gange 59), während in unferen Rechtöverhältniffen 
das Streben des Einzelnen, wenn es blos egoiſtiſch ift, feine Ptivatrechts⸗ 
ſphaͤre immer mehr vom Ganzen und Allgemeinen loszureißen fudyt; was 
aber keineswegs im größeren Egoismus, fondern blos in den duferen Ver: 
hältniffen liegt, darin, daß, wiePiaton fagt, eben jenes Gemeinſchaft⸗ 
liche und Deffentliche flets new verbindet, das ganz Geſonderte dagegen 
trennt 51). Meder aber die Alten noch die Neueren verdienen Zabel wegen 
biefer egoiftifchen Seite des Rechte. Egoismus ift in gewiſſer Hinſicht uns 
zertrennlich von allem Rechte. So wie des Menfchen phyſiſches Leben und 
Wirken nur auf eigenem, von Andern getrenntem Körper wurzelt, nur von 

da aus Verbindung mit der uͤhrigen Schöpfung fi anknüpfen läßt, fo muß 
ihm auch in einer intellectuellen und fittlihen Drdbnung der Dinge, wenn er 
als imtellectixelles und fittliches MWefen im Irdiſchen fortdauernd beftchen und 
gelten foll, ein fefter und eigener Boden fein, worauf er fiehe, von wo aus 
er mit Freiheit wirke, fein Reben mit der Idee bes Ganzen verbinde und 
es ihr opferez; und diefer Boden ift das Mechtsgebiet. Bei ben Alten be» 
ſtand e8 im Antheile am öffentlichen Leben, bei uns, benen jener nicht ge: 
worden ift, in dem Privatbefige. Wer und auch diefen rauben wollte, uns 
ter dem Vorwande ober im Wahne, daß es zur Vernichtung des Egoismus 
fromme, verfündigt ſich an unfern Menfchenrechten, welche er vernichtet und 
— unſere Tugend und Gluͤckſeligkeit in Sklaverei und Niedrigkeit ver⸗ 
graͤbt. 

Nur das iſt der Fehler, wenn bie egoiſtiſche Rechtsſphaͤre als Selbſt⸗ 
zweck aufgeſtellt iſt und das freie Handeln nicht aus ihr heraustritt, wenn 
aller Antheil ſittlicher Ideen daraus verſchwindet und ſie ſo gaͤnzlich niedriger 
Sinnlichkeit dient. So ſtuͤrzte die Größe und Freiheit der Alten in Nichtig⸗ 
keit und Sklaverei, als ihr Streben nach Gleichheit und Antheil am öffent: 
lichen Leben von aller Sittlichkeit entblößt wurde, nicht mehr der freien Per: 
föntichkeit und Würde des freien Mannes und Staates, fondern blos finn: 


50) Gerade diefes ift’s, was fehon Herodot V. 78. von diefen Rechtsverhaͤlt— 
niffen rühmt. 

51) De legib. IX. p. 875 A. Vielleicht wäre die Periode der vollen: 
beten Sündhaftigkeit oder des vollendeten Egoismus, worin Fichte 
(Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalter) die jegige Zeit verfegt, 
die Periode des vollendeten Privatrechts zu nennen, ohne daß ung eben jene Suͤnd— 
baftigkeit fehr zur Sünde angerechnet werden, oder uns an fih, nicht blos in 
Beziehung auf die Staatsverhältniffe, in Vergleich mit den Alten, zum Nad): 
eheile gereichen koͤnnte. 


| Griechiſche Volksanfichten von Recht und Staa. 517 


lichen und niedrigen Zwecken galt, als Jeder feinen Einfluß mißbrauchte, um 
für ſchnoͤden Gewinn die Kraft des Ganzen zu ſchwaͤchen, als ihnen, wie 
Horaz fagt, ihre Privathabe auf Koften des öffentlichen, des Gemein. Gutes 
immer mehr anwuchs, gang fo, wie ung dies Alles Ariftophanes Meis 
fterhand in den Rittern, und im Gegenfag gegen die alte beffere Zeit, im 
den Wolken ſchildert. So werben auch die Neueren ſinken und in Despo⸗ 
tie ihren mürdigen Lohn finden, wenn ihre Privatfreiheit nicht mehr ber 
Sittlichkeit und Humanität, ſondern dem Lüften dient. 

Für Vereinigung bes griechifchen, durch den Willen aller Freien aus⸗ 
gefprochenen und objectiv gemachten Rechts mit höheren fittlihen Ideen, 
mit der Idee der ewigen Gerechtigkeit, wirkten früher vorzüglich die reli⸗ 
giöfen Inftitute, namentlich die Orakel, dann außer den zur Erhaltung der 
Srundgefege und der ethifchen Seite ber Rechtsverhältniffe beftimmten Bes 
hoͤrden, wie der Ephoren zu Sparta, bes Areopagus zu Athen, 
vorzüglich auch die überhaupt in Griechenland von Homerifchen Zeiten an 
beftehende, von den beiden genanuten Staaten uns ausführlicher bekannte 
Einrichtung, die bedeutenderen Angelegenheiten, ehe darüber der Wille Aller 
in der allgemeinen Verſammlung (dxxInola) gefeglich entfchieb, von den 
älteren und wuͤrdigſten Bürgern, in einem mit wechfelnden Mitgliebern bes 
fegten Rathe (BovAn), oder in einem aus befländigen Mitgliedern beftehens 
den Senate (yeoovola) berathen und einleiten zu Laffen ; und es iſt befannt, - 
daß der Verberb der griechiſchen Staaten und der Gerechtigkeit in ihnen mit 
dem Verfall diefer Inſtitute und des Anfehns der Religion und Orakel 
gleihen Schritt hielt. Aber auch das iſt nicht zu leugnen, daß alle diefe 
Snftitute jene Aufyabe bei Weitem nicht vollkommen loͤſten. Die Religions 
anfichten der Griechen waren felbft zu niedrig, um ihren Rechtsverhältniffen 
einen ganz und rein fittlichen Charakter zu geben ®2), und jene Männer des 


52) Daß die Religion der Griechen neben vielem unleugbar heilfamen Gins 
fluß, den überhaupt fchon jede Religion als folhe bat, auch pofitiv verberblich 
wirkte, duch ihre niedrigen Vorftellungen der Gottheiten, in welchen faft jeder 
Lafterhafte ein allgemein verehrres Ideal, einen Schugheren feines Egoismus 
und feiner Verderbtheit und alfo auch Entſchuldigung und Beftärkung fand, 
ift zu unleugbar durch die Natur ber Sache und Gefchichte und auch durch den 
Kampf der fpäteren griehifchen Philofophen gegen biefe Worftellungen erwies 
fen, und es fcheint daher unrichtig, wenn Heeren 1. c. S. 84 Ieugnet, daß 
die Fehler und Vergehungen der Götter zur Entſchuldigung für die Nachabs 
mung bei den Griechen hätten bienen Eönnen, wovon z. B. auh Ariftopb. 
Wolken V. 899 f. B. 1048 f. und vorzüglich V. 1080 das GBegentheil 
erweifen. Die erſte überhaupt intereffante Stelle aus dem Streite der alten, 
ber gerechten Lehre mit der neueren, ber ungeredhten Lehre, welche, 
Alles auf niedrigen egoiftifchen Wortheil berechnend, die höhere, über Willkür 
und Gewalt erhabene Gerechtigkeit Teugnete, oder nur ihren Schein zu erfünfteln 


ſuchte, ift folgende: 
Die ungerechte Lehre. 
8. 899. Denn, fag’ ich, es giebt durchaus Fein Recht. 
Die gerechte. 
»s giebt Feind, fagft du? 
ie ungeredte. 
Run, wo iſt's denn wohl? 


518 Griechiſche Volksanſichten von Recht und Staat, 


Rache und Senates konnten fidy wohl über die Schledjteren im Volke, nicht 
aber über bas Volk ſelbſt, und über die in ihm allgemein herrſchenden Anfichten 
erheben. Wenn daher aud) kein Kundiger bejweifeln wird, daß die Griechen 
im Algemeinem ein über dem pofitiven Ausfpruche des Volkes ftehenbes, 
freilich nie gänzlich von Religion und Tugend getrenntes Recht, ein Natur: 
recht anerkannten, welches der Mille Aller, bie Gefrggebung nur objectiv 
gemacht hatte und machen follte 8°) ; fo ift doch diefem Rechtsideal, gerade 
wie es oben gefchilbert wurde, gewiß keineswegs ber Charakter der Einfeis 
tigkeit und des Egoismus ganz abzufprechen. 

Daraus, baf bei ben Griechen In den Rechts: und Staatsverhältniffen 
fhon früher der Egoismus oͤfter zu viel vorherrfchte, folgt unter Anderem 
auch das neibifche Mißtrauen und die Eiferfucht, ſowohl zroifchen ben einzelnen 
Bürgern, welche, oft alle Ruͤckſichten auf Vaterland, auf bie edelſten Ver⸗ 
bienfbe und Dankbarkeit vergeffend, dem Staate unheilbaren Nachtheil 
brachte 5%); als auch die zwiſchen dem griechifchen Staaten untereinander, 
wodurch, fo fehr auch durch befannte herruche Inſtitute ihrer großen Männer 
für Vereinigung gewirkt wurde, doch ſtets Herrfchfucht, ungerechte Be⸗ 
druͤcung, Zwieſpalt und Zerſtoͤrung entftand **). Vorzuͤglich aber rührt 
daher das barbariiche Woͤlker⸗- und Kriegsrecht, welches immer als 
ein Flecken in ber Geſchichte ber fonft fo hochgebildeten Griechen bafteht *0). 

’ 





Die gerechte. 
Bei ben Göttern ift’s. | f 
Die ungeredhte. 
Warum benn bleibt, wenn’s denn ein Recht 
Biebt, Zeus fo beftehn, ber feine Hand 
An ben Bater aeleat ? 
Die gerechte. 
Auweh, ja das 
Geht mir fehr zu Leib. Ein Beden mir ber! u. f. w. 
(Nah der Ueberſetzung von $. G. Welder.) 

53) Man müßte, ‚um dieſes zu leugnen, das VBerhältniß der Religion zu 
den griechifchen Staaten, man müßte die in den Dichtern, Philofophen, Hiſto⸗ 
rifern und Kebnern berrfchenden Begriffe von einem außer dem pofitiven Ge: 
feße beftehbenden Gerechten und Ungerechfen nicht fennen. Ja es wäre 
ohne diefes der in Yoriger Note erwähnte Kampf der gerechten und un: 
gerechten Lehre, das ſchon von Archelaus (Diog. Laert. I. 16), dann 
von den Sopbhiften, von der Ariftippifchen Secte und von Epikur 
(Diog. Laert. X. 151) verfuchte Beftreiten der vorhandenen Annahme 
eines über pofttiver Willkür ftehenden Rechts — welches le&tere offenbar ſchon 
Pythagoras (Arist. Eth. I. 1. V. 5.), dann vorzüglih au Sofra: 
tes (Xen. Mem. IV. 4. 19. Feuerlein, De jure naturae $8o- 
cratis. Altorf 1719), fo wie unbeftritten Platon, Ariftotelee (Eth. 
V. 7.) und die Stoifer lehrten — gar nicht möglich gewefen. 

54) Es liegt viel Wahrheit in der Bebauptung bri Herodot VI. 236, 
„daß es Lieblingegefinnung der Griechen fei, ben Glüdlicheren zu beneiden und 
den, welcher Vorzüge vor ihm habe, zu haſſen.“ 

55) Wic allein der große peloponnefifche Bürgerkrieg verderblich und 
zerftörend für Griechenland und die befferen KRechteverhältniffe wirkte, bat Thu: 
cydides Meifterhand in der berühmten Stelle III. 823 gezeichnet. 

56) 3. 8. Thucyd. IN. 36 ff. Pausan, IX. 15. Noch fpät erklaͤ— 


Griechiſche Volksanfichten von echt und Staat. 519 


Nur auf Erhaltung der eigenen Perfönlichkeit und Freiheit erſtreckte ſich 
ihre Tugend und ihr Recht. Berftörende Rache, welche keiner Menfchens 
rechte achtete,, drohte den Feinden. Eine eroberte Stadt wurbe in Schutt 
und Aſche verwandelt, ihre fämmtlichen Bewohner niedergemacht oder in 
ſchmaͤhliche Sklaverei geführt. Die Verfündigung an den Rechten ber 
Menſchheit, wenn eine halbe Welt in Sktavenfeffeln vor ihnen im Staube 
fi wand, fühlten fie fo wenig, daß noch ſpaͤt einer ihrer erften Philoſophen 
davon die ausdrüdliche Vertheidigung übernimmt 57). 

So beftand alfo neben der beffern Seite ihrer Rechtsanficht ſtets noch 
ein wahres Recht der Gewalt, welches ſich fogar nicht blos auf Sklaven und 
Srembe beſchraͤnkte. Es gehört dahin außer den fleten Ungerechtigkeiten ber 
griechifchen Staaten gegeneinander, vorzüglidy der faft rechtlofe Zuftand, den 
bei diefen Rechtöverhältniffen, woran der Natur der Sache nad) nicht allzu 
Biele Antheil nehmen konnten, ein Theil der Bürger der unterften Claffe, tote 
die TTevéorou in Theflalien, die IIeplosxos in Eacedämon und bie Oifreç 
in Attika meift erdulden mußten, damit die Anderen jene volllommene 
Freiheit um fo beffer genießen Eonnten. Es gehört ferner dahin, außer mehres 
rem unter die Strafgefege Gehörenden, z. B. auch das abfcheuliche Athe⸗ 
nienfifche Geſetz, daß in einer Belagerung von Athen alle die, welche nicht 
nüglich wären (inutilis aetas), ermordet werden follten *8), fo wie das Spar» 
tanifche Geſetz, welches alle Kinder zu töbten befahl, welche nicht Durch 
kraͤftigen Körper dem Staate einft gute Soldaten verfpradyend®). Es gehört 
eben dahin die geringere Achtung der Frauen bei den Griechen, welche ihnen, 
felbft nad) dem Ariftoteles, nicht jener Selbſtſtaͤndigkeit und Freiheit, alfo 
auch nicht wahrer Rechte fähig erfchlenen, und deren Zuftand auch nach den 
humanſten Gefegen zuweilen an eine Art von Mechtlofigkeit grenzt. So iſt 
z. B. nach Solon’s Geſetz die gewaltfame Entehrung eines freien ehrbaren 
Mädchen nur damit ſcheinbar geftraft, daß ber Nothzüchtiger fie ehelichen 
ſoll ꝰ0). 

Doch iſt nie zu uͤberſehen, daß, wie die Gefuͤhle und Anſichten der Al⸗ 
ten uͤberhaupt ſchon durch die groͤßeren Gegenſtaͤnde, welche die Rechtsſphaͤre 
der Einzelnen ausmachten, oft großartiger und edler wurden, als ſie unſere 





ren die Athenienſer allein rohe Gewalt als ihr Recht gegen Fremde, als ihr 
Boͤlkerrecht. Thucyd. IL 4. Auf eine egoiſtiſche Trennung ber einzelnen grie⸗ 
chiſchen Staaten wirkten ſelbſt die Gefege hin. Xen. Hellen. V. 2. 

87) Nach ber griechtfchen Rechtsanficht ganz confequent, verfucht Aristot. 
im Anfang der Pol. die Rechtfertigung ber Sklaverei für die, welche nicht 
fersfftändig fein könuten, und halt Sklaven nöthig, um Muße zu den oͤffent⸗ 
lichen Gefhäften zu gewinnen. Pol. II. 9. 

58) Syrian. in Hermog. 

59) Plat Lyec.T. 16. ed. Bryan. p. 49. 

60) Petitus de Legg. Attic. VI. 1 und 4. Bei ber griechiſchen 
Rechtsanſicht mußte namentlich auch der Diebftaht als Verlegung eines bei ben 
Alten ſehr untergeorbneten Recht gering erfcheinen, wie alle Gefege gegen ihn 
(„.8. Pollux III. 3.48. Petit. VII. 5. VII. 4.) bemweifen; während 
bei uns blutige Strafen diefe Verlegung des Privatbefiges, unferes Hauptrech⸗ 
tes, belämpfen. 


FB Wrunbdefeh, Grunbertrag 


Privatbefisthumer geben Finnen, die Griechen aufer dem vortheilhaften 
Einfluß ihrer öffentlichen Poefie und Kunſt, vorzliglich auch in der allgemet- 
nen pofitiven Religion des Staates, in dem Glauben an bie fortbauernde 
Offenbarung der Götter, eine große Schutzwehr vor Unedlem und Niedrigem 
fanden. Was zulest feine Entſtehung bem Egoismus verdanfte, das vers 
ebeiten und beiligten fie, verbanden das Getrennte, ergänzten die ſchwache 
‚menfchliche Kraft, und dieſe Richtung zum Nbealen gab ſtets dem Reben hd= 
heren Schwung und Abel. | C. Welder. 

Grundgefet, Grundvertrag, Verfaffung. Die Ver: 
teagsform des vernunftrehtlihen oder freien Staates 
im Gegenfaß bespotifhen ober Dertrenrehts und theo= 
Eratifhen oder aöttlihben Rechte. Die Gefahren der Ber: 
fennung ber politifhen Bertragstbeorie. Die Frage ihrer 
Unwendbarfeit auf Deutfhland und Preußen. — 

I. Einleitung. Gerade in diefen Tagen, mweldye ich zur neuen 
Bearbeitung ber Lehre vom Staatsgrundgefes, biefes wichtigſten Gegen⸗ 
ſtandes eines Staats-Lexikons, beftimmt hatte, wird das neue Gefeg 
über den vereinigten preußifchen Landtag verkündet. 

- Billig überlaffen wir übrigen Deutſchen zunächft unferen preufifchen 
Brüdern über diefe bedeutungsvolle Sache die entfcheidende Stimme. ne 
deſſen ftehen alle Stämme bes gemeinfhaftlichen beutfchen Vaterlandes in 
einer untrennbaren Gemeinfchaft unferer politifhen Entwicklung, unferer 
Hoffnungen und Gefahren. 

Das neue Ereigniß felbit begrüße ich meinestheils — mögen dieſes viele 
liberale Stimmen aud) tadbeln — doch mit Freude. Denn mwenigitens bietet 
e8 den Preußen, den Deutfhen, wenn fie der Ehre und des Glüds der 
politifhen Freiheit werth find, Gelegenheit, diefes zu beweiſen und in dem 
friedlichen Kampfe für fie fiegreich fortzufchreiten. Mit den Folgen, die 
ſich fo oder anders daran knuͤpfen müffen, wird es für die preußifche und deut: 
ſche politifche Entwidlung und Zukunft höchft wichtig, vielleicht entfcheidend 
werden. 

So mie ftets, jo wird alfo auch hier das Staats-Lexikon feine all 
gemeine ſtaatswiſſenſchaftliche Entwidlung dur ihre Anwendung auf die 
wichtigften vaterländifchen Verhäftniffe anjchaulich und fruchtbar zu machen 
fuchen und in diefer Entwidlung hinwiederum für eine richtige und heilfame 
Beurtheilung und Behandlung jener Verhältniffe den ungetrübten Spiegel 
leidenſchaftsloſer Wiffenfchaft darbieten. 

I. Begriffe des Örundgefeges, des Grundvertrags 
und der VBerfaffung des Staates: — Grund heißt Dasjenige, 
worauf etwas Anderes beruht ober woraus es hervorgeht. Grundgefeg 
des Staates ift alfo das hoͤchſte Gefeg, worauf die übrigen Gefege der Staats— 
gefellfehaft beruhen, woraus fie hervorgehen follen. 

Welche Sefese haben diefe Natur? Etwa das neuefte preußifche über 
den vereinigten Landtag, welches die englifhen Zimes bedeutungs: 
vol als einen Grundvertrag (compact) des Throne mit der Nation 
begrüßen wollten? Diefes muß die nähere Betrachtung ergeben. 


Grundgeſetz, Grundvertrag. 521 


Ein Grundgeſetz heißt in ſofer Grundvertrag, als es bie 
Form eines Vertrags der Geſellſchaft erhält, ihm müflen alsdann 
andere Verträge und Geſetz der Geſellſchaft entſprechen oder ſich unter⸗ 
ordnen. 

Man nennt das Grundgeſetz ober den Grundvertrag auch Verfaſ⸗ 
fungsgefeg ober auh Verfaffung im engeren Sinne, während 
man unter Verfaffung im weiteren Sinne zugleih mit dem Ver⸗ 
faffungsgefeg auch die ihr entfprechende bleibende Drganifation oder 
Form der Regierung zur Vollziehung bes Derfaffungsgefeges mit 
begreift ?). 

Der allgemeinfte Charakter jedes Grund⸗ oder Verfaſſungsgeſetzes ift die 
in der Mortbedeutung und in dem Begriff enthaltene Feftigkeit; im ver 
nunftrechtlihen Sinne alfo feine verbindliche Kraft auch, für die Regierung. 
Es begründet fomit Rechte auch gegen bie Regierung, fo daß dieſe es nicht 
einfeitig nad Belieben aufheben darf. Sonft wäre Willkuͤr 
die Srundverfaffung. Es kann vielmehr ein Srumdgefeg nur mit Eins 
willigung der Regierung und ber verfaffungsmäßig berechtigten Megierten ges 
ändert werden. Dadurch ſchon wird es, wie auch die Deutfchen ſtets 
‚anerkannten, indem fie ihre Srundgefege Grundvertr Age rannten, zum 
Grundvertrag. Zu einem Vertrage wird ein Grundgefeg auch gerade ebens 
fo wie jede angenommene Schenkung, wenn «6 ald octroyirte Verfaffung 
urfprünglich nur von der Regierung entworfen wurde und von den Bürgern 
nicht zurücgewiefen, fondern angenommen wird. 

II. Berfhiedenheiten ber Entwidlungsflufen und der 
VBerfaffungen ber Voͤlker. Die Verfaffungsgefege beftimmen mit den 
Srunbcharatteren der Staaten zugleich die wichtigften Verſchiedenheiten der⸗ 
felben 

Die Staaten find lebend ige Vereine will kuͤrlich handelnder 
Menſchen. Diejenigen Geſetze, welche für das wil lkuͤrliche Handeln des 
im Staatsleben überwiegenden Theiles feiner Bürger die Vorherrſchaft 
behaupten, haben diefe Vorherrfchaft auch für den Staat. 

Im Handeln der Menſchen aber behaupten die Vorherrſchaft (nicht 
Aleinherefchaft) entweder das niedere ſinnliche, egoiftifche, oder 
das höhere fittliche oder göttliche Geſetz. Dieſes letztere ift mies 
berum entweder mit blindem Glauben ober es iſt mit prüfender 
Bernunft aufgefaßt. Das finnliche Gefeg begründet durch feine Vor⸗ 
herrſchaft im Staate die Despotie, das blinde Glaubensgefeg die Theo» 
Eratie, das Dernunftgefeg den Rechtsſtaat oder den freien Staat. 

Im despotifchen Staate find die Unterthanen Leibeigene, im theos 
kratiſchen willenlofe Unmuͤndige, im Rechtöftaat freie Bürger. 

Andere als diefe dreifachen Grundgefege — 1) das bed Despotifchen 
oder Herrenrechts, 2) das theofratifche, das bes blinden Glau⸗ 
bens oder bed göttlihen Rechts, und 3) das der fittlihen Ver: 
nunft oder des freien Rechts, kann es nicht geben. 


1) Bergl. Band I. ©. 31 ff. 


522 Grundgefeg, Grundvertrag. 


Bei den Deutſchen herrſcht das bespotifhe Herrenrecht vor, 
feitbem in der Völkerwanderung die neuen Eroberungsreiche entflanden ober 
im Fauſtrecht und ber rohen Feubalgeit, bad theofratifhe Recht in 
bee Hierarchie jeit Gregor VII. und das Bernunfte ober Freiheitss 
gefe 8 allmälig feit ber Reformation ?). 

Da dieſe Grundgefebe ſich einander widerſprechen und bekaͤmpfen, der 
Staat aber ebenfo wie der Menſch nothwendig nad Harmonie ftrebt, 
nur In ihr Befriedigung, Geſundheit und Stärke finden kann, fo muß auch 
eine® diefer brei fich widerſprechenden Grunbgefege in feiner natürlichen 
Periode die Vorherrfchaft erhalten und immer größere Vor herrfchaft erſtre⸗ 
‚ben, es muß bie Zerſtoͤrung ober Unterordnung ber beiden andern, oder ihrer 
Reſte, die im Staate wie im Einzelnen aus ber früheren Periode nody im 
bie [pätere Zeit hinuͤber dauern, zu bewirken fuchen. 

Jedes Wolf und jeder Einzelne bat fo mie Alles , was wird und lebt im ber 
Matur unb unter dem Geſetze der Zeit, 1) eine Periode des Keimens und 
Wachſens, 2) des Blühens und 3) ber Reife; biefe nennt man bei 
ben einzelnen Menfhen und Völkern Kindheit, wo das ſinnliche Geſetz, 
Fünglingsalter, wo das blinde Slaubensgefes, Mannesalter, wo 
das Gefes der prüfenden Vernunft vorhereicht. Bei aller Eigenthuͤm— 
lichkeit und inneren Freiheit ihres Lebens muß diefes Leben 
doch, je gefunder e# fein foll, um fo mehr ſich im der irdifchen Natur den 
allgemeinen Grundbebingungen und Entwidlungsformen ge 


maß aeftalten. 


In den Artikeln des StaatssLerifons: Deutfhe Staatsge— 
ſchichte und Deutfhe Staatsverfaffung, find biefe drei Entwid: 
lungsperioden und Grundgefege ausführlicher naturgefeglich und bei verſchie— 
denen Völkern, und befonder& bei ung Deutfchen, biftorifch nachgewie⸗ 
fn. Es wird dort gezeigt, wie ſich ihnen gemäß, bewußt oder unbemußt, 
mehr oder minder die ftaatsgefeufchaftlichen Verhältniffe und Einrichtungen 
verfchieden geftalten,, wie fie alfo wirklich im Leben der Staaten wie der Ein: 
zelnen herrſchen, wie fie zwar keineswegs ausſchließlich und all.in — aber doch 
vorherrfhen, und wie die Staaten und Regierungen ihrer Harmonie und 
Kraft und Befriedigung wegen die möglichft vollſtaͤndige Vorherrſchaft des 
zeitgemaͤßen Geſetzes erſtreben muͤſſen. 

Neuerlich hat Gervinus?) ebenfalls brei Entwicklungsperioden bei 


— 


2) Tacitus, der tiefe Kenner der Grundgeſetze des geſchichtlichen und 
Staatslebens, findet in der Entmwidelung der römifchen Rechts- und Staats 
verfaffung aanz biefelben drei Perioden und Srunbverfchiebenheiten (Annalen 
111.26). Er bezeichnet die erfte als Willkuͤrherrſchaft im Anfange des 
Staates (Nobis Romulus ut libitum imperitaverat), die zweite als Aber- 
glaube (Numa populum religionibus devinxit), die dritte ald Rechtsgleicdh : 
heit (aequum jus der XII Zafeln). 

3) Die Miffion der Deutſchkatholiken, v. G. Gervinus, 3. 
Aufl. mit der Artwort an Dr. Schenkel. 1346. ©. 9. 116. 119. 
120. Gleichweit entfernt von materialiſtiſcher Anſicht, welche die praftifche 
Freiheit im gefchichtlichen und Staatsleben ganz aufbebt, wie von der ideal: 
philoſophiſchen, welche die naturgefeglichen Grundbedinguungen, Formen 


Grundgeſetz, Grundvertrag. 538 


den Voͤlkern, nammtlich auch den Engländern, den Franzoſen, den Deuts 
ſchen, auf eine geiftvolle und lehrreiche Weife nachgewiefn. Er hat ges 
zeigt, daß zuerſt ihre Kräfte, Richtungen, Beſtrebungen und Kämpfe vors 
zugeweife durch die religiöſen und kirchlichen Intereffen und 
für ihre freie Geſtaltung in Anfpruch genommen werden, fo wie bei den 
Deutſchen in und nach der Reformationgzeit, dann durch die der allgemeis 
nen Geiftesbildung, der Literatur, der Wiſſenſchaft, Poeſie und 
Kunſt, wie bei ben Deutfchen feit Leffing, Kant, Goethe, Schiller, 
und endlich buch die der politifhen Bildung und Freiheit, fo 
wie bei den Engländern und Franzoſen feit ihren Revolutionen,, bei ung 
Deutſchen feit den Freiheitäkriegen. 

Und ganz fo wie wir auch bei unferen obigen drei Perioden barauf hin⸗ 
deuten mußten, daß, wenn, fo wie bei uns, die Nation in ihrem naturgefegs 
lien und gefchichtlihen Entwicklungsgange einmalızum Uebergange in’s reife 
männliche Alter durchgediungen iſt, biefelbe, um Gefundheit, Gluͤck, 
Kraft und Leben zu behaupten, nad) immer größerer Vorherifchaft des 
Freiheitsgeſetzes ſtreben und dafuͤr frisblich oder bei Widerfland auf Leben 
und Tod kämpfen und entweder fliegen ober kraͤnkeln, verfrüppeln und un⸗ 
tergehben muß — ganz fo behauptet daffelbe auch Gervinus von der Ras 
tion in feiner dritten — ber polit iſchen — Entwidlungsperiode. Er bes 
bauptet es von unferer zum Uebergang in dievolle politifche Freiheit 


"völlig Herangereiften deutfhen Nation. Doffte man denn 


nicht auch in der That vergeblich in Berlin und Wien eine neue literas 
riſche, poetifche Bluͤthezeit heraufzubeſchwoͤren und durch fie die politiſchen 
Freiheitsbeſtrebungen in den Hintergrund zu ſtellen, fie zu abforbiren? Aber _ 
fein Adam Müller und Friedrich Schlegel und Hr. v. Haller und kein Ritter 
Fouque, Beine Adels⸗ und Berliner Wochenzeitung, ein Schwanenorden, 
Leine glänzende Berfammlung ber Grofpenfiondre der Romantik und my» 
ftifcher Philofophie und Staatslehre, Leine Jeſuiten und keine Autonomen 
und Majoratsherren, Bein Aufgeben der Kirchengrundfäge hier des Kaiſer 
Joſeph, dort des großen Friedrich, vermochten dieſes. Mein, die polis 
tifhen Interefien und Freiheitsbeftrebungen, fie find die lebendigen. 
Sie ergreifen täglih mehr die ganze Nation. Sie ziehen 
alle anderen Kräfte und Intereſſen, fo weit fie noch lebensfähig find, die 
gefchichtlichen, philoſophiſchen, religioͤſen und kirchlichen, in ihren Kreis und 
machen ſich diefelben dienftbar *). Mur hier ift Leben, Zukunft und Ruhm. 


und Entwidlungsperioden überfieht, in welchen eine wahre, obwohl 
in ihrer Erfcheinung bebingte und begrenzte individuelle Freiheit 
fi) bewegt, fuchte ih allgemeine Befege der Sntwidelung für die Ges 
jchichte und das Staatsleben zu finden, die ausführlicher entwidelt find in 
meinem Syftem Bd. I. Buch 1. Es mußte mich freuen, bei einem fo gründs _ 
lihen und geiftvollen Gefchichtstenner wie Gervinus die Ueberzeugung aus⸗ 
gelpeohen, zu finden, daß auf diefem Wege ein wefentlicher Fortſchritt zu ges 
winnen fei. 

4) Seibft in Defterreih, wo das Stabilitätöfyftem mit größter Klugheit 
und Kolgerichtigkeit ducchgeführt wurde, brechen endlich überall, felbft durch 


6 Grundgefeg, Grundvertrag. 


Hic Rhodas, hic salta! Möchten dieſes beutfche Staatsmaͤnner als Berk: 
ther mohlwollender Fürften bedenken. Auch nicht etwa irgend ein Neben= oder 
Spielwerk, das man beliebig in willkuͤrliche kleinere Portionen und fo oder 
fo zugerichtet und mißftaltet dem Volke darbietem koͤnnte, iſt jest die poli⸗ 
tifchye Freiheit und Berfaffung. Nein! Die enbliche Reife zur Urbergange: 
zeit ift daz die Geburtsſtunde der Freiheit hat gefchlagen. Seht thut Erleich⸗ 
terung und Förderung bed Uebergangs Noth. 
Jedes Eräftige gefunde Volk will die Freiheit ganz ımd lebendig. Es 

will fie auch unſer deutſches Volk vollftändig — fo wie bie freien Völker 
‚ Europas. — Ja e8 muß fie wollen, auf eben und Tod, es mill fie aus Les 
bensinftinct um feiner Xebensharmonie umd feiner Selbflerhaltung, um fei- 
ner naturgemaͤßen gefunden und Präftigen Lebensentwicklung willen, umd zur 
Vermeidung bes Siechthums, der Verkruͤppelung und einer polniſchen Thei⸗ 
fing. Es will fie und muß fie wollen mit Mannesentfhluß und Männer: 
muth, um ber Ehre millen. Es tft nicht weniger als alle die freien Völker 
der Erde würdig des hoͤchſten irdiſchen Gutes, der Freiheit. Es darf in dem 
Wettkampfe mit ihnen nicht täglich ſchwaͤchlicher, ärmer, wuͤrdeloſer werden, 
wenn fie täglich wachſen an Kraft und Wohlftand und ſtolzem Nationals 
gefühl. Es darf ſich nicht herabdruͤcken laſſen von der ruhmvollen Beftim- 
mung, die ihm Gott und feine Geſchichte gegeben. Hier gilt keine Willfür. 
Febe Hemmung ber natürlichen Entwicklung wird ausgeftoßen oder führt zu 
unnatürlichen gefährlichen Stodungen. So ſpricht mit ber Bernunft das 
Naturgeſetz und die Geſchichte. Gut und ruhmvoll, heilſam und dauernd 
wirken in und außer ben Ständeverfammlungen nur die Staafsmänner, 
welche mit Freiheit ihnen huldigen und ihnen gemäß einen friedlichen voll: 
ftändigen Uebergang in die neue Lebensſtufe möglichft zu fördern und unfere 
neue Zeit frei, maͤnnlich und muthig harmonifc) zu geftalten wiffen. 

Ditieſe drei von Gervinus aufgeftellten Perioden, die der religiöfen, 
literarifchen und politifchen Entwidelung, ſtehen keineswegs in einem 
‚Widerfpruche mit den zuvor aufgeftellten drei Hauptepocen, der despo— 
tifhen, theofratifhen und freien Verfaffung. Es find vielmehr 
jene nur richtige Unterabtheilungen ber dritten oder der vernunft- 
rechtlichen Periode, als welche fie Gervinus felbft dadurch hinftellt, daß 
er fie erft mit der Neformation beginnen läßt. 

Diefe Unterabtheilungen find nicht allein geſchichtlich nachweisbar, fie 


die Außerfte Cenſur und fogar im Regierungsbefchlüffen, die Keime neuen politi— 
fchen Lebens hervor. Haben ja doch die um meiften ariftofratifchen Stände der 
Welt, die jetzigen von Niederdfterreich, im vorigen Jahre von ihrem Kaifer 
nicht blos Aufhebung der Feuballaften für die Bauern, fondern deren Zuziehung 
zu den Ständen und Wiederherſtellung wahrer ftändifcher echte erbeten und 
ſich mit allen übrigen Deutfhen auf die großen Verheißungen der Freibeits- 
kriege berufen. Dabei fügen fie die merkwürdige naive Erklärung hinzu, daß, 
als nach den Freiheitskriegen, ftatt der gehofften Wiederherftellung ihrer frübe- 
ren Rechte, vielmehr neue Befhränkungen erfolgt feien, fie im Eindlichen Ver— 
trauen zu der Regierung gehofft hätten, es möge vielleicht zum Beſten des Lan— 
des gereichen. Diefes fei aber keineswegs der, Ball gemwefen! 


Grundgeſetz, Grundvertrag. bb 


wiebie Hauptabtheilungen find in ihrer Stufenfolge auch völlig natuͤrliche, pſy⸗ 
chologiſche Entwickelungen. Es ift natürlich, daß in der Kindheit bei dem 
Anfang der Lebensentwidelung, in der Zeit des Wachethumes, wo auch im 
Voiksleben die Kräfte und Drgane für die Vorberrfchaft des höheren Lebens 
noch zu ſchwach find, die finnlichen und felbftfüchtigen Triebe vorherrſchen, 
daß in dem Jünglingsalter das zwar jest zur Vorherrichaft erwachende 
höhere aöttliche Leben doch bei noch ungereifter Kraft der reflectirenden pruͤ⸗ 
fenden Vernunft und ihrer Organe, z. B. der freien Wiflenfchaft, jegt nur 
unvolltommener vermittelft der Phantafie und des Gefühle, alfo in finnlicyen 
Hüllen aufgefaßt wird, daß es fo den Menfchen noch durdy den blinden Glau⸗ 
ben an die aͤußeren finnlihen Offenbarungen und an ihre prieflerlichen 
Ausleger beherrſcht. Erſt im männlichen Alter iſt der Menfch, find alle Or⸗ 
gane und Träger des höheren geiftigen Lebens auch im Volke fo herangereift 
und im Gleichgewicht, daß er in feinem eigenen Innern, in feiner eigenen 
peüfenden Vernunft und freien Ueberzeugung die Entſcheidung und 
Gefeggebung für fein eigenes Thun und in gemeinfhaftlider 
freier Anertennung und Vereinbarung das gemeinfhaftlidhe 
fieie Orundgefeg des Staates ſucht. 

Es ift gleich natürlich in diefer dritten Periode, daß bei dem nur allmaͤli⸗ 
gen Erwachen und Reifen der felbftftändigen geiftigen Kraft bes Volks, daß 
bei feinem Austritt aus der blinden Glaubens: und Priefterherrfchaft zu⸗ 
erft das Meligidfe, die Reinigung und Befreiung feiner relis 
giöfen und kirchlichen Verhältniffe in feinen Intereſſen und Beftrebuns 
gen vorherrſcht 9). 

So war «8. nad) der Reformation zwei Jahrhunderte lang ; bie religiäfen 
und kirchlichen Beſtrebungen drängten felbft die gerechten politifchen Forde⸗ 
rungen eines Ulrich von Hutten und der armen Bauern im Bauerntriege 
in den Hintergeund. Selbſt die politifchen Freiheitsgrundfäge der größten 
Könige, eines Friedrich und Joſeph, verfiand und ergriff ja die Maſſe des 
Bolkesin ihrer Zeit noch nicht. Nur die religiöfen wurzelten. | 

Es ift ferner natürlich, daß, wenn diefe religtöfen und kirchlichen Inters 
eſſen und Kämpfe ſich endlich erfchöpfen, die heranreifende felbft fländige 
Geiſteskraft zumächft in ber allgemeinen Beiftesbildung, in 
literarifch er Beſtrebung, daß fie jest, noch näher ftehend der Vorherrſchaft 
‚ von Phantafie und Gefühl, die auch noch in der religiöfen Periode fortdauernd 
lebendig angeregt blieben, zunaͤchſt in Poeſie und Kumft, fpäter in Philos 
ſophie und Gefchichte ſich ftärkte und entfaltete. 

Die ſchwerſte und hoͤchſte Aufgabe, diepolitifch freie Lebensentwicke⸗ 
fung, bie Aufgabe der Vereinigung aller Beftiebungen in harmonifcher Ver⸗ 
einigung und Wechſelwirkung in freien politiichen Gemeinweſen, vom kraͤf⸗ 
tigen befonnenen praktifchen Manneswillen gegründet und erhalten, bie höchfte 
Entwidelung des erhabenften Kunſtwerks, die des freien Staats, diefe 


‚I Gervinus ſcheint bei der Erklaͤrung ber Stufenfolge ber religidfen, 
literarifchen und politifchen Periode von ftufenweifem Vorherrſchen des Empfins 
dungs⸗, Denk⸗ und Willens vermoͤgens auszugehen. 


' 526 Grundgefeg, Grundvertrag. 


freiefle, größte That ber Völker, biefe find natuͤrlich die fpätefte, 
die hoͤchſte Aufgabe eines Volks. Sie find dte Aufgaben von Deutfhland, 
von Preußen in unferer heutigen Zeit. Die früheren Pöntglichen Erklärungen 
und Gefege im der ſchweren Unglädszeit unter Stein und Hardenberg, 
dann bei der durch diefe Böniglichen Zuſagen herbeigeführten glorzeihen Met: 
tung, und jegt das neue politifcdye Geſetz, fie ftimmen mit allen Verftändigen, 
mit ber Geſchichte felbft überein in der Anerkennung biefer endlih dringen« 
den hoͤchſten Aufgabe unferer Zeit. 

IV. Der Grundvertrag. — Die weitere Entwidelung wird fol- 
gende Säge rechtfertigen: 

1) Die wefentlihe Grundform für dag feinem inneren We: 
ſen nach goͤttliche oder fittlid vernünftige Geſetz der politi— 
ſchen Freiheit und für feine Verwirklichung als außeres gemeinfhaft: 
Uches Gefellfhaftsgefes freier Männer (oder in unſerer beutis 
gem dritten Periode, f. IL.) ift deſſen möglichite freie Anerfen» 
nung, iſt bie Bertragsmäßigkeit. | 

5,2). Wie die politifche Freiheit oder die vernunftrechtliche Freie 
Berfaffung bes Rechtéſtaates felbft bie hoöͤch ſt Aufgabe gefitteter Völker 
in ihrem reifen männlichen Alter, wie e8 die unfrige und die Grundbbedin- 
gung unferes Heils ift, eben fo ift es der Sieg der Vertragsmäßigkfeit. 
Denn ohne fie giebt es gar feine wirkliche politifhe Freis 
beit, Eeine wirkliche, lebendige, freie Berfaffung. Ohne fie 
ift entweder nur (f. Il) dbespotifhes Herrenrecht oder blinder 
Glaube an ein aͤußeres theofratifches aöttlihes Rechtz wo 
aber biefer Glaube fehlt und dennoch ein foldyes Außeres göttliches Recht des 
Herrſchers erzwungen werden foll, da ift ebenfalls nur Despotie und die uner⸗ 
träglichfte Knechtſchaft. 

3) Die Vertragsmäßigkeit oder die freie gegenfeitige Anerfens 
nung und Vereinbarung freier Menfchen mit erwachter eigener prüfen: 
der Vernunftüberzeugung , diefe wefentlihe Grundform für ihr ge: 
meinſchaftliches fittlich vernünftiges Geſetz ihrer Geſellſchaft, ift zugleich das 
wefentlihe Mittel, ihre inneren ſittlich vernünftigen Ueberzeugungen über 
ihr gefellfchaftliches Leben allgemein dußerlih erkennbar und gül: 
tig zu machen und fie in freier friedliher Gemeinfhaft zu ver» 
wirtlihen‘). Das unentbehrlihe Mittel aber zur beftändigen Er- 
haltung und Verwirklichung diefer Vertragsmaͤßigkeit oder der Sreiheit und 
freien friedlichen Verwirklichung des Geſellſchaftszwecks ift die freie Orga— 
nifatiog der Geſellſchaft oder die freie Conftitution. Es ift alfo die 
Aufgabe, die ganze Verfaffungs:, Regierungs: und Verwaltungseinrich- 
tung möglichft vertragemäßig oder, was daſſelbe ift, conflitutionell 
frei zu geftalten. Vertragsmäßigkeit oder freie Conſtitution find 
hiernach nicht irgend ein Nebenpunkt, fondern die Hauptſache der po- 
litifchen Freiheit oder ihrer Verwirklichung, ja diefe felbft. 

4) Alle freien Völker der Erde erkannten diefes in Wort und That an. 


— —— — — 
er 


6) &. auch Bd. I. ©. 13, 


Srundgefeg, Grundvertrag. 537 


ZJebes ernſtliche Ableugnen und Bekaͤmpfen der Vertragsmaͤßigkeit und ihrer , 
mefentlichen Folgen von Seiten der Regiernden und ihrer Partei führte 
daher beiihnen und bei zur Freiheit erwachten und nach Freihelt firebenden 
Völkern, fuͤhrte nach aller Gefchichte zu todfeindlichen Kämpfen. . Die Fürs 
ften führte e8 zum despotifchen Herrenrecht, bei den Regierten aber führte 
das Verkennen der Aufgaben des Vertragsprincips hier zu trägem Ergeben 
in jede verderbliche Willkür und Sklaverei, bort zu eigenmächtigen verehrten 
revolutionären Unternehmungen. So find denn bie Vertragsmaͤßigkeit, 
ihre richtige Auffaffung und Durchführung von unermeßlicher Wichtigkeit und 
entſcheidend für die rechte Beurtheilung und bie rechte Behandlung auch der 
Verfaſſungsgeſetze, fie find zeitgemäß. 

. (Zu Seite 255 an den Schluß von 4.) Nimmermehr aber wird man 
wohl eine fesie, friedliche und fefte Ordnung der Staatsgefellfchaft unvereinbar 
halten mit denjenigen Volksrechten, welche alle freien Völker befigen, welche 
die Regierungszufagen und Entwürfe der Bundes⸗ und Eandesverfaffungen 
in den Befreiungskriegen und in der Wiener Congreßverhandlung, und 
namentlich die Böniglih preußifhen, als unentbehrliche zur zeitges 
mäßen Wiederherftellung deutfchen Rechtszuftandes erflärten”), naͤmlich: 

A. „eine aus allen Claſſen der Bürger zu bildende Re; 
„präfentation des Volkes“; 

B. „als ein Minimum von landfländifhen Rechten für dieſelbe: 

a) „das Recht der Berwilligung und Regulirung ſaͤmmtlicher zur Staats: 
„verwaltung nöthiger Abgaben”, 

b) „das Recht der Einwilligung bei neu zu erlaffenden allgemeinen 
„Landesgeſetzen“, 

c) „das Recht ber Mitaufſicht über die Verwendung der Steuern zu 
„algemeinen Staatszweden (welches hinlänglich durchgeführt, in Verbin: 
„bung mit den anderen drei Rechten, eine Gontrole und wenigſtens eine 
„indirecte Mitwirkung bei allen Regierungsrechten begründet)”, 

d) „das. Recht der Beſchwerdefuͤhrung, insbeſondere in Fällen der Mal⸗ 
„verſation der Staatsbiener und bei fi) ergebenden Mißbraͤuchen jeder Art.” 

C. Als allgemeine Staatsbürgerrechte: a) Preßfreiheit; b) unabhän« 
gige Juſtiz; c) die Petitiong» und die altdeutfche Aſſociationsfreiheit; d) na⸗ 
tionale beutfche Staatsbürgerrechte. 

Wahrlich — da Jedermann übereinflimmt, daß man einen Mann 
und ein Volk nicht mehr erniedrigen, nicht armfeliger daritellen kann, als 
wenn man ihn für unfähig oder für unwürbig derjenigen Freiheit erklaͤrt, die 
alle anderen freien Männer und Völkerrecht gut ertragen und für die Macht 
und die Bläthe ihres Vaterlandes verwenden — fo wird Niemand nur allein 
die Deutfchen oder nur allein die Preußen für unfähig erklären, dieſe Rechte 
mit der nothwendigen Ordnung des Staats zu vereinen. 

Es müßte alfo ein anderer Geund der Unmöglichkeit folder 
Rechte nachweisbar fein. Sonſt fordert das Grundprincip des freien 
Staates, das Vertragsprincip, die möglichfte Durchführung deſſelben zugleich 


7) S. den Art.: Deutfches Landesſtaatsrecht. 


' 
" 


mit jenen Bufagen und umferem hiſtoriſchen Recht, diefe Ausdehnung der 
Diefe angegebenen Mechte verroirklichen zugleich mit der Bertragemd- 
‚Bigkeit die politiiche Freiheit. Sie bilden das, was wir heute in der zeit: 
‚gemäßejien beften Geftaltung auch conftitutionelles oder repräfen= 
tatives S yſtem nennen. Man kann diefes oder Die Derrichaft der Ver: 
tragsmaͤßigkeit in der Geſtaltung und Regierung des Gemeinweſens einer 
Nation auch die Derefchaft ihrer öffentlihen Meinung oder auch 
die Berwirtlihung ihrer Gefammivernunft durch ihren Ge— 
fammtmwillen nennen. Kann es aber etwas Böttlicheres und Herrlicheres 
‚und Mächtigeres geben in der gansen Menfchenwelt als diefes und als die 
Majeftät des Fürften, der Negterung , bie an ihrer, Spise jene Berwirkli: 
hung leiten, die da regieren durch und mit dem freien Willen, der freien - 
Buflinmmung und der ganzen vereinigten geifligen, moralifhen und mate⸗ 
riellen Kraft einer edlen, einer fittlich vernünftigen, freien mächtigen Nas 
tion und für die gemeinfame hoͤchſte Beftimmung und Ehre derfelben! Wei: 
ches andere göttliche Mecht als dieſes, nicht an Furcht, Sinnlichkeit und 
Aberglauben willen: und rechtloſer Sklaven, ſondern an bie innere göttliche 
Vernuͤnftigkeit, Liebe und Freiheit, an den freien Willen freier gottähnlicher 
Menſchen ſich richtende, durch fie anerfaunte und wirkende, auf fie begruͤn⸗ 
dete, biefes freie vernünftige göttliche Recht! | 


VI. Sortfegung — Das VBertragsprineip oder bie 
- freie Berfaffung und Eonftitution verwirklichen fidh, 5) in= 
dem fie allein dem Staat bie beften Minifter, ftets bie 
befte Verwaltung verfhaffen. Mie überall, fo zeigt ſich gerade 
in Beziehung auf den Hauptpunkt für alle Politik, patciotifhe Güte, Weis: 
heit und Kraft der Regierung oder, was baffelbe ift, in Beziehung auf die 
Güte, Tuͤchtigkeit und Kraft der Minifter, der Rathgeber und Diener der 
Regierung, die Vortrefflicheit des Vertragsprincips. Nämlich vor Allem 
auch bie beften Minifter, welche daffelbe, weldhe die Ge: 
fammtvernunft der Nation durh ihren Gefammtmillen 
möglihft gefhidt und glüdlih durhführen, und bie befte 
Dermaltung bewirkt das Vertragsprincip, bewirkt die wahre conftitu: 
tionelle Verfaſſung. 


Nach dem Vertragsprincip ober in dem Acht conftitutionellen Syſtem 
von England, Belgien, Frankreich, Amerika kann 1) kein Miniſterium ſich 
halten, das nicht aus den geadhtetften Patrioten, aus den genialften, praftifch 
bemwährteften Männern der Nation befteht. Es find diefes wahre Natios 
nal- oder Staatsminifter, mährend außerhalb deffelben häufig nur 
Zufallsminifter, nicht duch ftaatsmännifche Vorzüge, fondern durch 
Hofintriguen, durch Factions⸗ oder auswärtigen Einfluß, duch Schmeiche⸗ 
leien und Schlechtigkeiten, durch veligiöfe, gefellfchaftliche oder fonftige an: 
genehme Eigenſchaften und Richtungen an bad Staatsruder kommen und fid) 
dann allzu häufig entweder ald Verräther am Staate oder als Unfähige bes 
weiſen. 





Grundgeſetz, Grundvertrag. ; 529 


Es kann fi) auch 2) ein folches wahre Staats⸗ und Nationalminis 
fterium nur fo lange halten, als es fi) in folcher Weife als übereinftim- 
mend mit ber Nationalvernunft und als tüchtig, fie glüdlich zu verwirk⸗ 
lichen, darſtellt, während Zufallsminifter allzu oft von dem In⸗ und Aus: 
Lande Längft als Unfähige oder ald erkaufte Verräther erkannt, in ber Nation 
verwuͤnſcht und verhußt fein und Ruhm, VBlüthe und Macht des Staats 
auf Menfchenalter, vieleicht unrettbar ruinirt haben können, ehe der um: 
ſtrickte Fürft es merkt oder ſich von ihnen befreien Bann. | 

Ein wahres Staatsminifterium ift natücli 3) auch in ber Nation Eräfe 
tig und nach Außen fo mächtig, als die ganze vereinte Nationalkraft ſelbſt ift, 
während Zufallsminifter oft die eine Hälfte ber Nation nicht für ſich und ihre 
Maßregeln und bie andere gegen fich haben. Es braucht endlich 4) das 
mahre Staatsminifterium nicht die befte Zeit und die beflen Staatskräfte zur 
Bekämpfung der inneren Freiheit und der Öffentlichen Meinung, der Prefie, 
der Affociationen,, zur Verdummung, Unterdrüdung und Schwächung ber 
Nation zu verwenden, wie Zufallsminifter, fondern es hat Zeit und. alle 
Kräfte frei für die Blüte, die Ehre, den Ruhm, die Macht der Nation, 
für die Freiheit, den Schug und die Ehre der Bürger. 

5) Es ruft vielmehr die volle Freiheit dev Preſſe, der Affociation, das 
volksmaͤßige Verwalten, das selfgovernment, täglih zu feinen Allirten 
auf und begründet fo die beſte Acht vertragemäßige und volksmaͤßige Ver: 
mwaltung. 

Einer der größten Staatsmaͤnner aller Zeiten war anerkannt ber ditere 
Dirt, fpäter Lord Chatam. Ihm verdankte England ſolche Vermehrung 
feiner Größe und Macht, feines politifchen Aufſchwungs und feiner Mittel, wie 
die Weltgefchichte eine folche in fo kurzem Zeitraume in feinem andern Reiche 
aufzumweifen hat. In der Königsgruft zu Weftminfter, welche in Hochachtung 
und dankbar fein König ihm zur Muheftätte öffnete, ſchmuͤckte das dankbare 
Vateriand feinen Denkſtein mit ber einfach echabenen Denkſchrift, „daß unter 
„Seiner Amtsführung die göttliche Vorfehung Großbritannien zu einer jedem 
„früheren Zeitalter unbelannten Höhe der Wohlfahrt und des Ruhms erhob.” 
Aber dem großherzigen Staatsweifen verdankte ebenfo bie politifche Freiheit 
wie die Macht ber Nation einen großartigen Aufſchwung und er war in mare 
mer Vertheidigung ihrer höchften Srunbfäge fo energifch, daß ihn die Höflinge 
haften und auch dem Monarchen gehäffig zu machen fuchten, fo fehr, daß er 
ihn einmal „die Lärmtrompete des Aufruhrs“ nannte. Ein folder Minis 
ſter wäre undenkbar gemwefen in einer abfolutn Monarchie. Dahlmann 
fagt: „Den Charakter Chatam's befigen, wäre in Frankreich (vor der Ver: 
faffung) Hochverrath gewefen.” Ein Blick auch auf die englifhen Miniftes 
rien nach Lord Chat am, auf die von feinem Eohne, dem jüngeren Pitt, 
von Canning, von Graf Grey, von Lord Ruſſell und Peel, erklaͤ⸗ 
em fie es nicht, daß England deshalb der blühendfte, ruhmvollſte, mächtigfte 
Staat, die Briten darum bie erfte Nation der Welt werden mußten, weil 
fie am frühften und volflommenften bie freie Verfaffung und durd 
fie die beften Minifter erhielten? Und gerabe die genannten Mi⸗ 
nifter,, unvergängliche Zierden und Beförderer der Größe ihres Vaterlandes 

Suppl. 3. Staatsler. II. 34 


% 


530 Grundgefeg, Grundvertrag. 


in den ſchwlerigſten Zeiten und Verhaͤltniſſen, zeigen fie nicht, wie in Eng⸗ 
land alle Hinberniffe ſchwinden, wo «8 gilt, die tauglidften Männer für 
bas Volkswohl an die Spige ber Verwaltung zu ftellen? Da hindern Feine 
Verfiimmungen und Intriguen des Hofes und der mächtigen Ariftofratie. 
Die Sache des Nationalwohls ſiegt, felbft wenn, wie bei Pitt, augenblid- 
liche Ungunft des Wolf, ja wenn felbft zugleich, fo wie beit Canning, die ne 
tücliche Eiferfucht einer zuerft fogae in der Mehrheit befindlichen parlamenta- 
rifchen Gegenpartei, ja wenn auch), wie bei Peel, fogar eine Verſtimmung 
bes. größeren Theils der eigenen Partei der Wahl des beften Minifters im 
Wege ftehn. Bei der allgemeinen Hochachtung vor der genialen Meifter: 
ſchaft des gerade für das Vaterland nothwendigen Minifters, bei der bald 
undberwindlihen Stimme ber freien Öffentlichen Meinung kann Nichts fein 
Belangen zur erſten Minifterftelle verhindern. Bon jenen abgeneigten Ge— 
fühlen bleibe Nichts übrig ala jene fo mwohlehätige Oppofition, die, wenn 
fie nicht von felbft fich ergäbe, fogar für ein gutes Minifterium erfunden wer: 
den müßte, dieſe Oppofition, welche allein erft die vollkommenſte, vielfeitigfte 
Prüfung der politiſchen Maßregeln, die Enthällung ihrer Schwaͤchen und 
welche bei endlich fiegreichem Kampfe für dieſelbe das wohlthätige Vertrauen 
und die Uebergeugung ihrer Nothwendigkeit für fie begründer, ihre fo oft 
heilfame Kühnheit und ihr richtiges Wagniß rechtfertigt, oft allein moͤglich 
macht, welche endlich bie weniger fähigen, pateiotifchen und glüdlichen Mi: 
nifterien zum Deile des Vaterlandes bald befeitigt! 

Mod ein Mal! England mußte groß werden, weil ihm fein durch⸗ 
geführtes Princip des Vertrags oder der Öffentlihen Meinung, 
weil ihm feine conftitutionelle Berfaffung die beften Minifter und bie befte 
Verwaltung gab, Deutichland dagegen Elein, weil e8 anders war. MWerden 
wir wohl biefe Wahrheit noch weiter auch dadurch veranfchaulichen müffen, 
daß wir die englifhen und die deutfchen, daß wir — die glorreiche Zeit der 
Beachtung der Nationalüberzeugung im dAußerften Unglüd und in den Ret⸗ 
tungseriegen ausgenommen — die preußifhen Minifterien und minifteriellen 
Mafregeln prüfend mit einander vergleihen? Jene preußifchen Minifterien 
und Mafregeln von der zweiten oder dritten polnifchen Theilung oder von 
der Verdrängung Herzberg’s an, die Convention von Pillnig und den 
Bafrier Frieden, die Annahme Hannovers, die allerunglücfeligfte und fol: 
genfchwerfte Hilfe zur Unterdbrüdung Polens, die abhängige Hingebung für 
die nebenbubhlerifche ruffifche und oͤſterreichiſche Politik, die Unterhandlungen 


- über die Freiheit der Rheinſchifffahrt, die englifhen und holändifchen Hans 


delöverträge, die über Hannovers Beitritt zum Zollverein, die neueften Relis 
gionskriege u. ſ. w. u. ſ. w.? Und wie fteht es endlich mit dem Vertrauen der 
Nation zu deutfcher Minifterweisheit? Fürften von fofeltener Geiſteskraft 
und Tüchligkeit, wie fie nicht einmal in jedem Sahrhundert auch nur Einmal 
zu erwarten find, Eönnten vielleicht unter lauter abfoluten Monarchien fo gläns 
gend voranftehen, daß fie das conftitutionele Princip zu erfegen fcheinen. 
Doch wenn nun aud, ihr Adlerblid für ihre Zeit die beften Minifter findet oder 
erfegt; und wenn fie auch fo wie Friedrich det Große die geiftige und 
moralifche Kraft der Nation fördern — was verbürgt die zeitgemäße Fort: 


Grundgeſetz, Grundverrg. 531 


fegung ihres Werkes, nicht etwa in ihren vielleicht veralteten nun verberbli- 
chen Jormen, fo tie nach Friedrich's Tod, fondern in ihrem Geiſte? Wer 
bärgt nad) einem Friedrich gegen einen Woͤllner, oder gegen den fieg⸗ 
reichen politifchen Unverftand der Minifter nad; dem zuruͤckgewieſenen weis 
fen Rath feines Horberg? Großen Fürften dient auch die conftitutionelle 
Form. Ihr Geiſt fiegt überall. Aber Schwachen ift fie Stüge und Hilfe 
gegen ihre ober ihrer Sünftlinge Verirrungen. Deshalb verfprady fie das 
Geſch von 1815 zur Verbürgung einer ftetigen Herefchaft guter Regierungs- 
grundfäge. Dreimal war Preußen unflerblich groß und legte auch noch für 
fpätere Bröße folche Grundlagen, daß nur dadurch die lebensgefaͤhrlichen pos 
litiſchen Mißgriffe in anderen Zeiten vielleicht überwunden werden Eonnten. 
Es war groß, als es phufifch Elein war, unter dem großen Kurfürften, 
Teitbem er fid) von ausmwärtigem Einfluß, von den Fallſtricken feines Minis 
ſters, bes öfterreichifchen Sefuiten Schwarzenberg frei machte; dann unter 
Dem großen König und endlich ale das fürchterliche Unglüd alles Heil in 
Der Befreiung und Geltung bes Volks und ſeiner öffentlichen Meinung fuchen 
Lieb. Jedes Dal waren es Zeitendes Sieges ber Geiſtes⸗ und Re⸗ 
Kigionsfreiheit und der Volksaufklaͤrung, der Befreiung 
und Achtung der öffentlihen Meinung. Im jenen beiden erſten 
Perioden verkuͤndeten die Sürften vom Throne das VBertragsprincip, in ber 
letzten fuchte es der König, fuchten es feine Minifler Stein und Harbens 
berg und Humboldt zu verwirklichen buch VWolksreprdfentation 
und conftitutionelles Syſtem. Aber Stein und Humboldt 
werden verdrängt; Hardenberg ſchwach — nicht ein tüchtiges Miniſte⸗ 
rium, fondern die unglüdfeligfte Reaction fiegte. Denn noch war bie con⸗ 
ſtitutionelle Verfaſſung nicht ins Leben getreten. 

XIV. (Zu S. 289 an das Ende des Artikels.) Weber göttliches, 
monarchiſches, fouveränes und abfolutesRegierungsrecdt, 
wahres und falfhes. Ihr Verbältnig zum Vertrag und 
Königswort.‘ — Dftmals, ohne im Allgemeinen das Vertragsprincip zu 
beftreiten,, vernichtet man es mittelbar für Diejenigen Staaten, für deren 
Sürften man bie oben angeführten Rechte in Anfprucd nehmen zu Finnen 
glaubt. Mit diefen Rechten verbindet man meiftentheil® verwirrte Begriffe. 
Diefe und häufig bloße Mißverftändniffe in Beziehung auf diefe Rechte ers 
zeugten ebenfo wie die Mißverftändniffe über die Volksſouveraͤnetaͤt (oben VIE.) 
viele ganz unnöthige Streitigkeiten und Erbitterungen, ja häufig fo ſchwere⸗ 
blutige Kämpfe zwiſchen Fürft und Volk, daß gewiß eine für beide befriedigende 
Löfung diefer Mißverfländnifie erwuͤnſcht ifl. | 

Behauptet nun Jemand unter dem Namen jener angeblichen Rechte 
eine aänzlihe Aufhebung alles wahren Rechtszuſtandes für 
das Volt und den Sürften, behauptet er wirklich entweder eine auf 
blinden Glauben bes Volks an bie Böttlichkeit des Herrſchers gegründete theo⸗ 
kratiſche oder eine auf Furcht gegründete despotifche, eime in beiden Fällen 
dann natürlich ſchrankenloſe Gewalt, in ber Theokratie über rechtloſe Unmuͤn⸗ 
dige, in der Despotie über Sktlaven — nun fo iſt nur zu erinnern, daß 
wenigſtens für bie deutfche Nation, dag für die Preußen niemals ein folcher 

34 


632 Grundgeſetz, Grundvertrag. 


abſolut rechtloſer Zuſtand beſland, daß fie vollends heute im neunzehnten 
Jahrhundert mit Abſcheu und Empörung jede aͤhnllche Zumuthung zuruͤck⸗ 
weiſen wuͤrden. Dieſes würden ſelbſt bie Könige thun. Sie moͤchten weder 
ſich durch Behauptung ihrer Goͤttlichkeit dem allgemeinen Spott ausſctzen, 
noch ihre Megierungemafeflär über eine geachtete Nation mit der zerbredh- 
lichen verhäßten Herrengewalt uͤber rechtlofe Sklaven vertaufhen. Sie 
mwiffen auch, daß, wenn ihre Gewalt nicht innerhalb des wahren Rechts ſteht, 
folche Unterthanen, melde weder blinder Glauben noch Furcht feffelt, minde: 
ſtens feine Rechtspflicht vom Umſturz ihrer Herrſchaft zuruͤckhaͤlt, vor welchem 
alle ſultaniſchen Herren ſtets zittern muͤſſen und ber, wenn er glüdt, den 
fiegeeichhen Rebellen zum gleih Tegitimen Derm macht, als es fein ent 
thtonter Vorfahr war. 

Will man aber eine ſolche Gewalt mit ihren unvermeidlichen Conſequen⸗ 
zen nicht, ſondern will man die Wuͤrde, die Ehre und Sicherheit eines recht⸗ 
chen Zuſtands — nun dann fei man auch folgerichtig. Alsdann hat man, 
was zu feinem Wefen gehört, Gegenfeitigkeit von Recht und 
Pflicht, gegenfeitige Anerkennung, Vertrag. "Sobald man 
dem Volke und den Bürgern gegen ben Regenten irgend Rechte zugefteht, ihn 
nicht zu jeder Willkuͤr, zu jeden Mord und Raub berehtigt erklaͤrt, fo 
koͤnnen biefe Rechte gegen den Megenten felbft und die darin enthaltenen 
Rechtepflichten beffelben rechtlich nimmermehr von dem einfeitigen Belieben 
bes rechtlich Verpflichteten, ſondern nur mit und nad Einwilligung der 
Bürger verändert oberaufgehoben werden. Das Tiegt abjolut im We: 
fen bes Rechts. Sebe fich mechfelfeitig bedingende Anerkennung von 
gegenfeitigen Rechten und Pflichten, jede für ihre Erhaltung ober Verdnbe: 
rung zufammenflimmende gegenfeitige Einwilligung des Berechtigten und 
Verpflichteten aber ift Vertragsverhältniß. 

Sofern alfo göttlihes Recht, monarchiſches, ſouveraͤnes 
oder abfolutes Fürftenrecht irgend verftanden würden als rechtlich ſchran⸗ 
Benlofe , über Recht und Rechts- und Staatsvertrag ftehende willkuͤrliche 
Gewalt, fo wären fie ebenfo wie ſchrankenloſe Volksſouveraͤnetaͤt (f. 
oben) gänzlich unvereinbar mit dem rechtlichen Zuftande, mit der Freiheit 
der Bürger, mit ihrer und der Fuͤrſten Ehre, fie wären Sultanismus, 
vielleicht in Afien und für Raͤuberhorden, nicht aber in Deutfchland erträglich. 

Es laͤßt fich aber auch ein mit Recht und Freiheit vereinbarlicher Sinn 
mit jenen Begriffen verbinden. 

Nach der obigen Entwidelung foll die ganze Rechts: und Staats: 
ordnung einer freien Nation, alfo aud) ihre obrigkeitlihe Einrichtung, dus 
Regierungsrecht im Allgemeinen und deffen Ertheilung an beftimmte Re: 
genten, ihrem inneren Wefen nad) das fittlich vernünftige oder göttliche Ge: 
feß verwirklichen, jedoch ftetö nur in der Sorm bes freien Con: 
fenfes des Volks. Die von ihm begründeten Einrichtungen, alfo aud) 
die Obrigkeit, find felbft nach der juriftifchen Vorausfegung (Präfumtion) 
auch vernünftig oder göttlich. Diefes vernünftige oder göttlihe Recht aber 
ift für das Volk Fein von außen Eommendes und wunderbares, 
fondern «8 kommt ganz natürlich von feiner inneren vernünftigen fittlichen 


Srundgefeb, Grundvertrag 583 


oder religiöfen Ueberzeugung und freien Vereinbarung, ift alfo zugleich ſtets 
vertragsmäßgig. Es iſt nach feinem Umfang wie nad) feiner Entftehung 
unzertrennlidh an den Volksconſens gebunden, durch ihn juris _ 
ftifch entflanden und begrenzt. . 

So ift es nicht blos nach natürlicher und pofitiver Staatstheorie, fon» 
dern auch nad dem Achten, namentlich auch nad) dem proteflantifchen 
Chriftenthbum. Denn das Chriftenthum menbet ſich mit allen feinen 
fittlihen Geboten an die innere freie fittlihe und religiöfe 
Ueberzeugung der Menfchen, will, daß von ihr, von freier Liebe 
allein ihre Handlungen ausgehen, vermeidet aber forgfältig, über die Einrichs 
tung der Staatsverhältniffe auch nur ein einziges unmittelbares 
Gebot zu geben, überläßt fie vielmehr der freien und gleichen brüber- 
lichen Vereinbarung, welche, falls die Menſchen chriſtliche Geſinnungen 
haben, von diefen befeelt fein wird. Daher Eonnte zwar ber Apoftel Baus 
lus, nicht von fürftlicher Gewalt, fondern von ber obrigkeitlihen oder 
Staatseinrihtung im Allgemeinen fagen, baß fie fittlich vers 
nünftig oder von Gott gewollt und achtbar fe, ber Apoftel Petrus aber 
fonnte ebenfo, und ganz hiermit vereinbarlih, zugleich jede beftimmte 
Staats: oder obrigkeitliche Einrichtung eine menfchliche Anordnung nennen®). 
Darin flimmte fogar das doch viel mehr theokratiſche altteſtamentliche 
Recht aus Achtung der Freiheit überein. Selbſt der göttliche Regent gruͤn⸗ 
dete ja feine Regierungsgemwalt und feine Gefeggebung und deren Annahme 
auf ausdruͤcklichen feierlihen Bunb und Vertrag zuerft mit Abraham, 
dann im Moabiterland und am Sinai, mo die Volksverſammlung fo wie auch 
fpäter förmlich über Annahme ſelbſt der goͤttlichen Geſetze berieth und befchloß, 
ebenfo wie fpäter über die Annahme von Saul, als fie einen König gewollt 
hatte”). Auch hat die chriſtliche Kirche diefe ebenſo tiefe alß einfache, zus 
gleich ſittliche oder religioͤſe und zugleich freie oder rechtliche Anficht im 
Wefentlichen ſtets beibehalten. 

Es ift hoͤchſt bemerkenswerth, wie auch in jenem frommen Mittelalter, 
aus welchem man doch fpäter ein fo ungoͤttliches, despotiſches göttliches Recht 
ableiten wollte, noch zu viel Freiheitsachtung und praktiſcher Verftand herrſch⸗ 
ten, als daß man von einem göttlidhen Recht ber Könige, ohne Begründung 
der rechtlichen Gültigkeit durch die Rechtsform bes Volks vertrags 
oder gar gegen denfelben etwas hätte wiffen mögen. Ueberall fteht, fo wie im 
alten und neuen Zeflament und im Titel der feierlich erwaͤhlten und an 
foͤrmliche Wahlbedingungen gebundenen 19). deutſchen Kaiſer oder wie im 
Inhalt der fich felbft als Grundver trag begeichnenden englifhen Magna 


8) Die vollftändige Beweisführung enthält der Artikel Chriftentbum, 
vorzüglih ©. 473. 
9) ©, die Art. Bund Gottes und Hebräer. 

10) Schon von Karl’s des Großen Wahl berichtet Eginhard (außer 
dem Eid auf die Berfaffung) folhe Wahlbebingungen, nad beren Annahme 
fowohl von der Nation wie vom Kaiſer es beißt: susceptae sunt utrimque 
oonditiones; hierauf wird dann Karl consensu ommlum k'rancorum gewählt. 


534 Grundgeſet Grundvertrag. 


Charta neben der religiöfen Auffaſſung, neben dem Dei gratia ausdruͤcklich 
be Bollsvertrag").. 


11) Dei favente clementia et ordinatione imperii hieß es in Zubwig’s 
bes Frommen Zitel, fpäter „von Gottes Gnaben erwählter römifcher 
Kaifer.” Selbſt zu dem gewählten Polenkönig fagte, tro& ber Wahl unb bes 
liberum veto, ber Primas von Polen gerabe bei ber Proclamation ber Wabl: 
„sm Namen Gottes ernenne ich bich zum ey eben ſowohl wie g ewähl: 
ten und auf die Regierung unb nad) den Reidhegrumbverträgen beeibigten Rös 
rig von Schweden ber Bifhof von Upfala: Sta et retine locum tibi a 
Deo demandatum. &ogar felbft die bänifhe Souperänetätsacte und 
Lex regia leitet ihre Königögewalt außbrüdlich von dem Bertrage 
mit ber sangen Nation ab, Halbweg verftänbige Vertheibiger des göttli: 
hen Rechts fühlten fich Angefichts dieſes gefhichtlichen Staatsrechts ber euros 
päifchen Staaten gendtbigt, baffelbe burch den Bollevertrag zu legitimiren 
und prattifch zu machen, fowie Abbadie, welder in Feiner Defense de la 
nation Britannique 1659, p. 211. (f. aub Real⸗Staatswiſſenſch. IV, 
2. $. 28.) Tagt: „Die Gewalt der Könige kommt von Gott, welcher fich aber 

bes freien NRationalwillens als bes allein ertennbaren” (alfoaud für 
chen allein Außerlih gültigen ober legitimen) „Weges bebient, 
wm fie ihnen‘ (bei Erbmonarchien alfo den zum Voraus mitgewählten Nas 
gern) „zu übertragen.” In biefem Sinne berichten die Annaliften ftets bie 
nbefteigaungen ber beutfchen Kaiſer. So heißt eö in ber vita Henriei sancti 
(bei Gretser, de Div. Bamb, ce. 1) von ber Wahl Kaifer Heinrich’s 1002: 
omnia vota nuta divino ad eum inclinantur, Hic ergo ab omnibus pari 
voto et communi eonsensu accersitur, divina utique disponente 
clementia u.f. m. Heinrich IV. vereinigte ‚auf bem Reichötage 1099 auch 
no Erbrecht mit bem MWollsvertrag in den Worten: me in imperio natum, 
tuem Deus et Vos rebus ıbumanis imposuistis, Don ber Wahl bed Kaifers 
Dtto aber, mo auch noch die Eönigliche Ernennung unbefchabet bes Vertrags bin: 
aufommt, berichtet Wittehind von Gorvev: Defuncto patre, omnis po- 
pulus Francorum atque Saxonum jam olim designatıum a patre filium 
ejus Oddonem elegit, und dann von feiner Krönung zu Aachen, daß der Papft, 
ehe er ihn falbte, fich zur Erhaltung freier Anerkennung der Wahl an das Volt 
wendete: Et reversus ad populum: En, inquit, adduco vobis a Deo electum 
et a Domino rerum Henrico olim designatum , nunc vero a cunctis princi- 
ibus regem factum Oddonem. Si vobis ista electio placeat, 
exteris in coelum leyatis significate.e Ad haec omnis populus dexteras 
levans etc. Viele ähntlche Stellen bei Pfeffinger Vitr. illustr. I. p. 73. 

Sogarnoh Gregor VII. mußte in der Verordnung über die Papftwahl für 
biefelbe wiederholt vorfchreiben (f. Dist.23 C.1), daß die Einwilligung des 
Volks und der gefammten Geiftlichfeit in die Wahl eingeholt werde, sicque 
reliquus clerus et populus ad consensum novae electionis accedat. Cr 
fand es nothwendig, da in den altteftamentlichen und chriftlichen Urfunden und 
in den bisherigen canonifchen Gefegen ebenfo wieim romifhen Recht alle 
Geſellſchafts-Geſetze und Gewalten, bie Wahlen allerBifhdfe 
u. f. w. durchaus aus Conſens und Bertrag gearündet waren. Man vergleiche: 
1. Mof. X. XV. XXL. 23 f. 2 Mof. X. XXVIT. XXIX. 1. Sam. 
vu. 9. VID. 4. 9. X. 14—29. XI. 15. Richter IX.6—13. 1. Kbdn. 
XII. 2. Kön. XI. 17. XVIL 15. XXVII. 35 ff. Serem. XXXIV. 13. 
14. 1. Maccab. XIV. 35. 4. Michaelis, Mof. Recht 8.35 und 54. 
Apoſtelgeſch. I. 6. 22—26. II. 44. III. 25. V. 19. 20. 29. VI. 1—6. 
Hebr. XI. Theffat. V. 21. Petr. I. 13. V. 13. Canon, Apostol. 35; 
ferner f. (mit Gratian's Bufäßen): c. 1—9. Dist. I. c. 23. D. IV. 
c. 2. D. D. VIII. c. 9, D,XL 0.6 D. XII. «12. 14. D. XVI. 


Grundgefeg, Srunbvertrag. 935 


Daß alfo fromme Menſchen, Völker und Zeiten die Stadtögefege und 
beſonders die fo wichtige obrigkeitliche Errichtung , gleich viel ob monarchiſch 
oder republikaniſch, wie ja auch ihre übrigen Verhältniffe auf bie 
Vorfehung und auf Bott zurüdführen, und zwar die Regierenden zunaͤchſt 
aus Dankbarkeit, Demuth, ausdem Gefühle ihrer fittlihen 
Verantwortlichkeit, die Regterten zunaͤchſt aus Achtung der gefellfchafts 
lich anerkannten fittlichen Nothwendigkeit geſetzlicher obrigkeitlicher Einrich⸗ 
tungen und ihrer Heiligkeit — dieſes göttliche (d. h. nach frommer Aufs 
foffung religiös heilige) Recht rechtmaͤßiger, d. h. nad) ber Verfafs 
fung oder dem Brundvertrage beftehender Regierungen, wer koͤnnte es 
tadeln wollm? Doch wohl nur jene atheiftifchen Vertheidiger fouveräner 
Volkswillkuͤr, welche fehr erlärlih ber Werzmweiflungstampf gegen 
die defpotifche Reaction und gegen beven eigennügigen, knech⸗ 
tifhen und verrätherifhen Mißbrauch der Religion in täglich 
größerer Anzahl zur Anfeindung aller Schranken und Autoritäten fortreißt. 

Wer aber von der freilich erflärlichen und entfchulbbaren Einfeitigkeit 
und Leidenfchaft des Kampfes fich frei Hält, und wer nicht blos an die Verneis 
nung und den Krieg, fondern an die pofitiven Srundlagen und Ge⸗ 
ft altungen unferes freien Staatslebens denkt, der wird nicht verkennen, 
daß die fittlichen, die religiöfen chriftlichen Grumdideen und Auffaffungen 
weſentlich wichtig für uns find 12). Nur vergefle man nicht einen Augenblid, 
daß diefelben die Kreiheitsformen nicht ausfchließen dürfen, daß auch diefe - 
heilig zu halten und vollends, foweit man fie verfprach, zu gewähren find. 
Man bedenke wohl, daß heutzutage verderblich auch für die Religioſitaͤt, 
Pietaͤt und Autorität wirkt, wer ohne Achtung ber Sreiheit und auf ihre Kos 
ften für fie wirfen wild. Es wirkt vollends verderblich, wer hochmuͤthig und 
ſchmeichleriſch die chriftlichen Religionsurkunden, die von einem myſtiſchen 
Koͤnigsrechte n icht das Geringſte wiſſen und nicht despotifche Herrſchaft 
und ſklaviſche Zuſtaͤnde, ſondern bruͤderliche Liebe und Freiheit wollen, zu Guns 
ſten des Despotismus verdreht. 

Bor Allem bedenke man, daß in rechtlicher Hinſicht allein das 
conſentirte vertragsmaͤßige Recht als vernuͤnftig und heilig 
gilt! Subjective religioͤſe Anſichten und Vorſtellungen vom göttlichen Recht 
duͤrfen alſo dieſes nimmer verlegen. Das wäre unchriſtlich, jedenfalls un⸗ 
rechtlich und rechtsunguͤltig. So und nur als durchaus verwerflich ſtellt fich 


D. XIX. c. 1.3.D. B. c. 15. D. LXI. c. 26. 27. D. LXII. c. 5 
D. XCV. c. 5. 15—18. C. 8. Q@. 1. c. 29. de R. J. In 6to. Concil- 
Constant. 8. IV. et V. Concil. Basil. 8. II, III. Cyprian. Oper. Brem. 
1694. ep. 14. 16. 17. 19. 31. 34. 69. 67. Freilich diefelbe fpätere hierars 
chiſch⸗des pot iſche päpftlihe Macht, die flatt des freien hriftlichen 
Annehmens und Glaubens der chriftlihen Religion gewaltfame Ketzer⸗ 
bekehrung wollte, gab fchon in ber fpäteren Zeit Gregor’s auch der paͤpſt⸗ 
lichen Gewalt andere Grundlagen.’ Aber wer hält diefe für Acht hriftlich, oder 
vollends für tauglich zur Begründung weltlicher rechtlicher Regierungsgemalt ! 

12) Das Staats-Lerikon fucht diefes überall und namentlich auch in bem 
Art. Chriſtenthum zu entwideln. 


c.6. 
u. T. 


[3 
> 


536 Srundgefeg, Grundvertrag 


rechtlicher Hinficht dar das dem Wolke voniau fen Eommende, das nicht 
rn feinem freien fittlichen Gonfens ausgehende wundervolle gött- 
liche Recht, ſoweit es irgend gegen bie Verteagemäßigen Rechtsverhaͤltniſſe gel: 
tend gemacht werben foll, LP | 
In der Ausbildung des theokratiſchen paͤpſtlichen Weltreichs erklärten 
die Päpfte bekanntlich als durch Gott ſelbſt eingefegte, goͤttlich infpiriete 
Stellvertreter, ja buchfläblih als Gott auf Erden. — Sie legten aber 
das göttlihe Recht nur ſich felbftbei, den Königen höch ſtens im 
fofern und in fomeit, als biefelben ſich als Bafallen bes Papftes von 
ihm ihre Gewalt leihen und aud) In deren Ausübung feinem Willen als dem 
bes alleinigen fichtbaren Stellvertreter® Gottes ſich unterwerfen wollten, Da⸗ 
gegen weiß es jeder Kenner des toͤmiſchen Katholieiemns, des paͤpſtlichen und 
canoniſchen Rechte, daß fie, abgefehen von foldyer päpftlichen Vaſallenſchaft, 
weit entfernt waren, den Koöͤnigen ein felbftftändiges göttlicyes Mecht 
zuzufchreiben,, daß fie vielmehr, wo ihre Macht nicht collidirte, ‚auch im 
canonifchen Recht die vömifchen, deutfchen, althebrdifchen und chriftlihen 
undſaͤtze der Volköfreiheit und des FreiemGonfenfes grundfäg- 
lich feſthlelten, ja daß fie, mie ſchon die päpftlichen und canonifchen Urkun⸗ 
ben in Beziehung auf Karl Martell und die mit ausdruͤcklicher päpftlicher 
Billigung ausgefprochene Volfsabfenung der Merovingifchen Königsfamitie 
bezeugen, #8 fogar nicht verfchmähm , theils-bie hifkorifche Königliche Gewalt 
ber Kürften von fauftrechtlicher und Räubergewalt abzuleiten, dem Volke ein 
ebenfo unbeftreitbare® Mecht zusufprehen, feine Könige abzuſetzen al fie 
durch Wahlvertraͤge su Königen zu machen 13), und daß fie unzählige Male 
die Einfesung und Abfegung der Fuͤrſten felbit ausfprechen oder bie Voͤlker 
dazu auffordern, daß felbit auch Pius VII, mit Preisgebung bes Mechts der 
fegitimen bourbonifchen Köntgsfamilie den von der Nation gewollten Napo— 
leon förmlich Fircylich und päpftlich Erönte und falbte, wie ja auch andere 
Paͤpſte das Königsrecht anderer Wahlfürften der Nationen, namentlich in 
England, Schweden, Spanien, Portugal, zum Nachtheil des legitimen Nechts 
früherer Fürften ald legitim anerkannten. An die bekannten Sefuitenlehren 
von Volfsfouveränetät, ja von Koͤnigsmord wollen wir gar nicht erinnern. 
Gewiß kein verftändiger Staatsmann möchte ein päpftlic Fatholifches 
göttlihesKönigsreht zur Stüse des Throng, zur Grundlage der Rechte 
feines Fürften machen. 

Don jenem päpftlichen katholiſchen göttlihen Recht und vollends von 
jenem innerlichen vernünftigen ift welentlich verſchieden jene Abart, das 
zumeilen in romantifcher Schwaͤrmerei und dunkel aufgefaßte, oft auch blos 
zur Begriffsvermirrung und Zaufchung der Schwachen macchiavelliſtiſch be: 
hauptete ebenfalls Außeslihe und wunderbare oder muftifhe an- 


13) Der Papft erklärte (fe. Avent. Ann. Boic. III. 9. 3.): Princeps 
populo, cujus beneficio dignitatem possidet, obnoxius est. Quaecunque 
enim habet, potentiam, gloriam, divitias, honorem, dignitatem, a populo 
accepit; plebi accepta referat necesse est, Regem plebs constituit, eun- 
dem et destituere potest, 


Grundgefeb, Grundvertrag. 537 


gebliche göttliche Recht, womit deöpotifche Könige ſich ſelbſt oder ihre 
Schmeichler dem Volt ihren Uebermuth und ihre Willkür, ihr Unrecht 
ſchrankenloſer Gewaltanmaßung befchönigen,, ohne dabei weder bie päpftliche 
Vaſallenſchaft noch auch jene vernünftige rechtliche Begründung und 
Begrenzung anerkennen zu wollen. Die Wunder und göttlichen Inſpira⸗ 
tionen und Gemwaltübertragungen, womit man ſich an den Aberglauben ber 
Schwachen wendet, fo wie die Weberbeingung des Salboͤls für Chlobdos 
wig durch den heiligen Geift, wovon der taufendfte Theil eines Tropfens zur 
Vergöttlihung genügte, und fi noch für Karl X. vorfand, find belichig 
fo oder anders. Diefes weder die theofratiichen noch die rechtlichen Grund⸗ 
gefege anerkennende rein willfürliche göttliche Recht iſt, fo weit es nicht völlig 
mäßige und unverflänbliche Formel und dadurch unschuldig bleibt, weſentlich 
despotiſch. Es wird, falls es etwa nad) den Srundfägen Heinrich’s VIIT. von 
England oder des türkifchen Kaiſerthums oder auch ruffifcher Autokcaten die 
päpftliche oder geiftliche Gewalt mit der öniglichen vereinigt gegen Verfaflung 
und Freiheit des Volkes gebrauchen wi, fultanifch. Die angebliche bes 
fondere Stelvertretung Gottes durch die Könige und bie befondere Ebenbild⸗ 
ſchaft von Bott, wovon natuͤrlich das ChriftentbHum nichts weiß, das 
vielmehr jeden Dienfchen als göttlichen Geſchlechts und als Bottes Ehenbild 
darſtellt, entfprechen ſolchem Urfprunge 1%). 

Mit dieſer Abart des göttlichen Rechts fällt das feinem Weſen nach eben« 
fo despotiſche, aber gewoͤhnlich von ben Hofleuten ebenfalls mit unklarem Bes 
griff aufgefaßte Princip eines Thrankenlofen oder abfoluten fous 
veränen oder eines ſolchen monarchiſchen Rechts völlig zufammen. 

An fih find Souverdnetät und monarchiſches Recht oder 
Princip ganz unfhuldig und, fomeit fie verfaffungsmäßig 
rechtlich begründet find, rerhtlich geheiligt. Aber fchmeichlerifch und 
despotifch Hat man fie in mpftifche Nebel gehuͤllt und dann beliebig ihre Begriffe 
verdreht und erweitert. 

Souveränetät heißt der urſpruͤnglichen und noch gültigen Worts 
bebeutung und dem wahren franzöfifchen und biplomatifchen Sprachgebrauche 
nah weiter nihts als das, was In feiner Art das Hoͤchſte ift. 
So heißt cour sonveraine das hoͤchſte Appellationsgericht. Das durch bie 
bekannte Souveränetätsacte für fouverän erklaͤrte Herzogthum Schleswig 
follte nur fo viel heißen als das von der höheren bänifchen Lehnshoheit befreite. 
Unbeſchraͤnktheit ber Rechte und Befugniffe liegt durchaus nicht im 
Begriffe der Souverdnetät, wie denn ber fouverdne Gerichtshof an alle 
Schranken durch die Gefege und die Gerichtsverfaffung,, der founeräne Her: 
zog von Schleswig anerkannt durch damals fehr ausgedehnte vertragsmäßige 


14) Wenn die Theologen mit wirklicher ſchimpflicher Werbrehung ber 
Maren hriftliden Srundfäge (fiehe den Artikel Chriſtenthum) 
ein myſtiſches, des potiſches göttliches Königsrecht lehren und bamit ge: 
rade die Kreunde der Freiheit und Wahrheit, flatt fie zu befchren, aus ihren 
Kirchen treiben und gegen eine fo unſittliche Kirchenlehre empören, fo ift 
dabei außer der Hoffchmeichelei wohl auch der Zunftgeift wirkfam, der die welt: 
lihen Staatsverhältniffe gern im die geiftliche Domäne hinüber zoͤge. 


Verfaffungsrechte des Volkes befchränkt blieb. Souveraͤner Regent ifl.alfo 
ber, welcher, wie 3.3. ber König vom England, keinen höheren Regenten 
über fich hat, obgleich er, die Ausnahmen der Föniglichen Praͤrogative abge: 
rechnet, ganz ebenfo mie die beutfchen Fürften an die Mitwirkung der 
Stände oder des in England mächtigeren Unter⸗ und Oberhauſes gebunden 
ift, ja mit ihnen gemeinſchaftlich erſt bie vollftänbige höcdyfte Regierung von 
England, das Parlament, bildet. 

Ob ein Monarch da iſt, der Die fouveräne, d. h. die höchfte Regie» 

‚rungsgewalt hat, ober nicht, diefes iſt lediglich die Frage ber pofitiven Verfaſ⸗ 

fungen der verfchiedenen Länder. Weshalb alfo im Allgemeinen über die 
Souveränetät ber Regierung bie Könige und Völker in Streit fegen ? 
Wenn noch nicht entfchieben ift, wie die Negierungsform einzurichten fei, wie 
juͤngſt eine Zeit fang im neuen belgiſchen Staat, fo ift diefes lediglich Frage 
der Politik, nicht des Rechts. 

Das Recht fordert nur, baf bie Souverdnetät verfaffungsmäßig oder 
grundvertragsmaͤßig, alio rechtlich begremit ent ſtehe und ausgelbt werde, 
d.h. daß fie das Grumdgefag des Staates als über fich ſtehend und ſich durch 
baffelbe oder die Berfafjungsrechte und die verfaffungsmäßige Regierungsform 
befchräntt anfche. | 

Das Verfaſſungsgeſetz, den Grundvertrag, und bas Recht, ihn 
zu [hliefenund »wändern, nennt man Ubrigens auch häufig Souveraͤ⸗ 
metät. Diefe Bertaffungsfouveränetät ſteht natürlich der ganzen 
Nation und ihren Organen, alfo auch der beftehenden Regierung, falls 
eine ſolche eriftirt, gemeinfhaftlid zu. Iſt der König bisher 
alleiniges Organ für die allgemeinen Staatsangelegenheiten, fo fteben 
ihm natuͤrlich die zweckmaͤßigen Einrichtungen zu, bie Nation gebörig 
zur Sprache zu bringen. So verordnete 3.3. der vorige König von 
Preußen außer Preßfreiheit u. f. w. in dem Gefeg von 1815 einen Zufam: 
mentritt von Bürgern mit den Beamten zur Entwerfung der Verfaffung-: 
In Württemberg, Weimar, Hannover rief man mitconftituirende 
Ständeverfammlungen zufammen. 

" Aud nennt man die Unabhängigkeit des ganzen Staats, 
ber Nation und ihrer Regierung von ausmärtiger Gewalt 
Souveränetät. Sie fteht wiederum der Nation und ihrer Regierung ges 
meinſchaftlich zu, und die Regierung, wenn eine eriftirt, hat fie nad) Außen 
zu repräfentiren. Ueber diefe dußere Souveränetät follte man doch 
ebenfo wenig Fürft und Volk mit einander in Streit bringen. Beide haben 
ja nur Ein gemeinfchaftlicyes Intereſſe, daß fie erhalten werde. 

Die Regierungsfouveränetät ift alfo nah dem Bisherigen das 
durch die Verfaffung und Regierungsform begründete und befchränfte Recht, 
in hoͤchſter Inftanz (alfo auch ohne perfönliche Verantwortlichkeit) zu 
regieren oder die Verwirklichung des Geſellſchaftszwecks zu leiten. 

Steht nun diefes Regierungsrecht nach der pofitiven Regierungsform 
eines beftimmten Staats einem Fürften zu, fo daß er entweder allein oder in 
Verbindung mit Ständen, ſtets jedoch ohne perfönliche VBerantwortlichkeit und 
ohne Unterordnung unter eine höhere Regierungsgetvalt, zu regieren hat, 


Grundgeſetz, Grundvertrag. 339 


alsdann iſt dieſes und nichts Anderes das fouveräne monarchiſche Recht 
oder Princip in dieſem Staat, welches in der Regel durch die beſondere 
Regierungsform noch andere Beſchraͤnkungen hat. 

Aber auch da, wo der Monarch allein die hoͤchſte Regierungsgewalt be⸗ 
fitzt und allein auszuuͤben das Recht hat — und dieſes nennt man abſolute 
monarchiſche Gewalt — iſt dieſe mindeſtens im Rechtsſtaate durch 
diejenigen Grundverfaſſungsrechte der Nation und der Bürger, welche in der 
Natur des Rechtsſtaates liegen (VII), befchräntt. 

Nur Begriffsverwirrung, Hofichmeichelei oder ein durch das Regieren 
leicht erzeugter Uebermuth und despotiſche Laune ſtreben dieſes ſtets recht⸗ 
lich begrenzte monarchiſche Souveraͤnetaͤts⸗Recht grenzenlos 
und zum despotiſchen Herrenrecht, ſtreben es abſolut in dieſem 
Sinne zu machen. Dazu wird denn der falſche Begriff und zunaͤchſt jene 
obige Abart des göttlichen Rechts benugt. 

Hierher gehört nun jene® monardhifche und Souveraͤnetaͤts⸗ und goͤtt⸗ 
liche Recht, welches vorzüglich unter Ludwig XIV. gleich anderer franzds 
fifher Verderbniß feines glänzenden verborbenn Hofes an europdifchen 


und deutſchen Fürftenhöfen eine unglüdfelige von Friedrich dem Gro> . 


Ben fo tief beklagte Nachahmung fand, welches nad kudwig's beſtaͤndiger 
Anſtiftung die ungluͤcklichen Stuarte und ſpaͤter ſeine eigenen ungluͤcklichen 
Nachkommen zu ihrem Verderben den Vertrags⸗ oder Verfafſungsrechten ihrer 
Völker entgegenfegten. Ohne rechtliche Begründung und Begrenzung ſteht 
das monarchiſche Recht ganz außerhalb bes Rechts, iſt alfo ſelbſt eben- 
fo rechtlos, al& es die Andern machen will. 

Es unterfcheibet ſich num dieſes ſchrankenloſe Souveraͤnetaͤts⸗ ober mon» 
archiſche oder ab ſolute ober göttliche, beſſer das ſultaniſche Recht (und auch 
das paͤpſtliche) von jenem inneren fittlich⸗vernuͤnftigen oder göttlichen Recht, 
welches man, um die Verwechslung mit dem verwerflichen zu verhüten, Lieber 
nicht mehr göttlihes Recht nennen follte, vorzüglich in folgenden 
Hauptpunkten: 

1) Das vernuͤnftige und aͤcht chriſtliche Recht iſt unzertrennlich mit 
der rechtlichen Freiheit, mit den Vertragsrechten der Nation verbunden, es 
iſt eine Heiligung und Stuͤtze für fie. Das falſche und das paͤpſtliche 
göttlihe Recht dagegen zerflört alles Recht des Volkes und 
der Bürger. 

Die nothwendigen oft unwillkuͤrlichen, aber unvermeidlichen Con⸗ 
fequenzen dieſes göttlichen, abfoluten, fouveränen und mon: 
achifhen Rechts und Princips, welche überall in dem Kampfe 
für daffelbe, welche namentlich auch in dem der Stuarte und Bourbonen 
ſtets zu Tage kamen und das wahre fittliche gättlihe Recht, über» 
baupt alles Recht des Volks und des Kürften gänzlich zerſtoͤ⸗ 
ren, fie in Sultanismus und Sklaverei verwandeln, fir Fürft und Volt 
alfo auch alle Sicherheit aufheben, find naͤmlich die folgenden: 


a) Die Einſicht des menſchlichen Koͤnigs von dem angeblichen oder 
wirklichen Vohi des Staats und das — Belieben ſtehen ebenſo wie 


540. Grundgeſetz, Grumbvertrag. 


De über bem Grundgefeg und über allem 
Recht. 

b) Weber bie Lönigliche Weisheit in Staatsſachen, über alle Regierungs⸗ 
beſchluͤſſe, für die Lediglich gegen Gott Werantwortlichkeit ftattfindet (alfo auch 
mit Ausfchluß der Minifterverantmwortlichkeit), fteht dem befhränften 
Unterthanenverfland (bee Sklaven oder der Unmünbigen) 
fein Urtbeil zu, 

c) Die Könige koͤnnen die ihnen und ihren Bamitien verliehenen Rechte 
nicht rehtsgultig ſchmaͤlern, aufgeben, ober was daſſelbe ift, fie 
konnen nicht die durch die Natur der menfchlichen Verhaͤltniſſe überall begruͤn⸗ 
beten, oft übergroßen ungeordneten Schranken in geordnete wohl: 
thätige rechtliche Formen und Grenzen verwandeln. 

d) Sie können alfo auch durdy Bein Pönigliches Verfprechen gegen ihre 
Unterthanen ſich oder ihre Familien befchränken, mit welchem fo gänzlich 
unköniglihen und unrltterlichen Grundfag dann freilich wieber bie hierin von 

ſelbſt liegende gefährlichfte Beſchraͤnkung dev koͤniglichen Macht und Autocität 
verbunden ift, baß fie feine wohlthätigen Einrichtungen verbürgen und fi und 
ben Staat durch Prin Koͤnigswort retten koͤnnen, und daß das Koͤnigswort 
zuglelch mit feiner Geltung auch das Vertrauen und den Glauben verliert. 
Die fouderdnen, bie abfoluten Könige felbft werden in fofern un— 

mundig, unfähig, interbicirt, weſentlichſt befhränte 

) Alfe Unterthanen= und Verfaffungsrechte dee Bürger find Lediglich 

Ausflüffe der Gnade, die die wahre oder vorgefpiegelte höhere göttliche Mes 
genten = Weisheit und Beliebung nad ihrer Wohl: oder Lebelmeinung vom 
Wohl des Staats und ber unmändigen Bürger redhtsgültig flets widerrufen 
kann. 
| f) Es muß alfo audy die Nothwendigkeit und die entfprechende Kraft der 
Bersilligung zu Steuern und Gefegen megfallen. 

g) Da aber nach altdeutfchen und englifchen Anfichten ein Eigenthum, 
welches ein Anderer nach feinem Gutduͤnken nehmen kann, rechtlich Eein Eigen: 
thum ift, und da unter Herrſchaft des göttlichen Rechts auch die Vernichtung 
von Freiheit und Leben durch willkuͤrliche Eönigliche Befchranfungen der Unab: 
hängigfeit der Gerichte und der ſchuͤtzenden Gefege, überhaupt durch beliebige 
koͤnigliche Maßregeln offenbar ift und ebenfo audy die faft unvermeidliche 
Verderbniß des Fuͤrſten durch fchraukenlofe Gewalt, fo muß «8 einem ge⸗ 
funden Volfsverftand, felbft ohne die empoͤrenden fervilen Erklärungen 
der Hoffchmeichler, Elar werden, baß nicht blos die Entmündigung, fon: 
dern auch feine patrimoniale bespotifche Leibeigenſchaft und 
Vernihtung von Freiheit und Eigenthbum der Bürger das 
unvermeidlihe Endrefultat diefes Syſtems find. 

2) Das fittlich = vernünftige Recht, welches von der inneren und aufßeren 
Freiheit des ganzen Volkes ausgeht und bekräftigt ift, macht den Fürften 
ſtark und verbindet ihn mit der Nation. Das von Außen kommende gött: 
liche Recht, 3.8. wenn der Papft die Völker an feine Vaſallen verſchenkt 
ohne Ruͤckſicht auf ihre Einwilligung, oder wenn ein Eroberer nicht in nach: 
folgender rechtlicher Einwilligung, fonbern im göttlihen Recht von Lud⸗ 





Grundgeſetz, Srundvertrag. :541 


wig XIV. feinen Rechtsgrund fucht, die Willkür heiligt und der Freiheit und 
Ehre der Bürger feindlich entgegen fteht, ift natürlich um fo mehr , je edler 
und ausgebildeter eine Nation wird, von der Volksliebe verlaffen. Es iſt an» 
gefeindet und ſchwach. Das mahre befefligt Achtung und Vertrauen, bas 
falfche Mißtrauen der Regierten gegen den Regierenben. 

3) Das falfche macht feinen Inhaber uͤbermuͤthig und leichtfinnig, das 
wahre erhöht nur feine brüderliche Liebe und Gewiffenhaftigkeit in Behand⸗ 
lung feiner freien Mitbürger. 

4) Das wahre ift förderlich für Ausbildung fittlicher und religiöfer Ge⸗ 
ſimung und Auffaffung der Geſellſchaftsverhaͤltniſſe. Das falfhe empört 
durch den verlegenden Uebermuth, der meift fein Quell ift, und durch den 
beleidigenden Mißbrauch, den es mit der Religion und der Moral gegen b a8 
heiligfte Recht, gegen das Recht felbft, gegem die Freiheit treibt, auf das 
Arußerfte, verfeindet Die Maſſen gegen Religion und Sittlichleit, wirkt für 
Atheismus und Materialismus. Es thut diefes auch dadurch, daß 
es neben der Gehaͤſſigkeit zugleich auch lächerlich wird. 

Iſt nun das wahre vernünftige Mecht und eine fittlichereligiöfe Aufs 
fafjung der Regierungsverhältniffe für die Regeneration unferer Geſellſchafts⸗ 
verhältniffe und bei den Kämpfen, bie fie nothwendig mit fid) führt, do p⸗ 
pelt wohlthätig und vortrefflich, fo ift das falfche gerade jest, in 
der Aufregung des Streits und bei dem erwadhten Haſſe 
alles Aberglaubens und Uebermuths geundverderblidh. So 
giebt e8 denn kaum irgend etwas Unglüdlicyeres, als wenn etwa mohlwollende 
Megenten durch Vorurtheile, Begriffsverwirrung , Uebergewicht der Phanta⸗ 
fie oder falfche Rathgeber dahin geführt würden, das richtige mit dem unrichs 
tigen göttlichen Recht zu vermifchen, mit dem richtigen zugleich Freiheit und 
Vertrag zu verwerfen und fo unwillfürlih und unvermeidlich und 
je meiter der Kampf tommt, um fo mehr zu jenen grundverderblichen Con⸗ 
fequenzen fortgeriffen würden. 

Jene oben aus dem falfchen göttlichen Recht abgeleitete Folge bee Un» 
guͤltigkeit koͤniglicher Verfprechungen, alfo ber Unfähigkeit der Könige zu 
glaubmwärdigen Zufagen, ihrer Ausfchließung von diefem heiligen menfchlis 
chen Rechte, hat kranke deutiche Stubenweisheit unferee Tage noch auf andere 
Art zu begründen verfucht. , 

Naturphilofophen , vorzüglich Neuhegeltaner und Anhänger der unbe: 
wußt von der Naturphilofophie gegängelten hiſtoriſchen Zuriftenfchule kamen 
bazu, durch die Grundlage ihrer Anfichten, bie Naturphilofophie. Ihre 
naturgefegliche materialiftifche Identitaͤt, „die Vernünftigkelt alles Wirk⸗ 
lichen”, ihre naturgefegliches organifches Sichvonfelbftmachen fchließen 
überhaupt praktifche Freiheit und Vertrag und bie freie Selbſtbeſchraͤnkung 
aus 15). Da nun viele Anhänger biefer Lehre bie abfolute Gewalt als durch 


— — 


15) Es bedarf wohl kaum der Bemerkung, daß nicht alle Naturphiloſo⸗ 
phen und Neubegelianer und biftorifhe Juriften alle Gonfequenzen ihrer 
ke hutpbftofopdie fefthatten. Manche, fo 3.8. Junius, erkennen die Freiheits⸗ 
form des Wertrags vollftändig an. 





542 Grundgefeg, Grundvertrag. 


natürliche Revolution demnädhft in die Hände des fouverdnen Volks über: 
gehend ſich denken, To gefällt ihnen boppelt ihre matertaliftifhe und 
bie Rouffeau’fhe ihrankenlofe höhfte Gewalt biefes Volks: 
willens. Vorlaͤufig geftehen fie die Schranfenlofigkeit aud) nody dem mon> 
archiſchen Haupte zu. Dabei freuen fie fi) des Volkshaſſes, welchen fo 
unnatürliche Gewalt in der Hand eines ſchwachen Sterblichen dem Könige be⸗ 
reiten muß, als eines Hauptmitteld zum Siege. Vorzuͤglich aber begrüßen 
fie und alle abfichtlicyen Revolutiondre mit ſchlecht verhehlter Schadenfreube 
Alles, mas fie fo deuten zu koͤnnen glauben, als ſolle das Königewort, Das 
heitigfke Königswort, was je gegeben wurde, nicht erfüllt werden — als folle 
Ehre und Rechtlichkeit fürftlicher Treue durch ein die Achtung der Bürger und 
ihrer Rechte verlegendes myſtiſches, despotlſches, göttliches Recht verdrängt 
werben. — Gewiſſe Erklärungen, bie alle beforinenen treuen Sreunde des Koͤ— 
nigrhums und friedlicher Entwidlung, bei Vorausfegung foldyen Sinns der» 
felben, erfchredten und tief beteübten, erfüllten fie mit Freude, weil ihnen 
die neulich auch von Hen.v. Florencourt !®) gefchilderte durch den Glau⸗ 
ben an die Nichterfüllung des Koͤnigsworts im fhlichten praktiſchen Volks: 
finne bewirkte tiefe Erſchuͤtterung bes moralifchen Vertrauens den revolutios 
nären Sturz bes ihnen verhaften Königthums zu nähern fchien. Um nun ja 
bie unglüdliche, wie wir hoffen, irrige Deutung jener Worte allgemein zu ma= 
chen rechtfertigten fie gefliffentlich den Bruch oder bie Ungültigkeit und Un— 
glaubmürdigkeit jedes Koͤnigswortes. 

Ihnen und Allen, die an friedlicher Freiheitsgewährung verzweifeln, und 
allen Feinden bes Koͤnigthums muß überhaupt Alles erwünfcht fein, mas bie 
mocalifche Ehre, Achtung und Liebe beffelben ſchwaͤchen, das Vertrauen auf 

daſſelbe und auf feine Vereinbarkeit mit der dem Volk immer unent: 
behrliher werdenden Freiheit zerfiören und diefes daher in Vers 
zmweiflung und Empörung flürzen kann. Willigft entbinden fie den fouves 
ränen König darum von allen Redhtspflichten gegen das Vol, machen ihn zum 
gebornen Todfeind deffelben, um eine wirkliche oder ſcheinbare Entbindung 
von der Freupflicht gegen den Thron, Freibriefe zur Revolution zu ver: 
ſchaffen — vielleiht aud) um die Schranfenlofigkeit zufünftiger fouveräner 
Volksverſammlungen zu rechtfertigen. Alles dieſes läßt fich fördern, wenn 
man die Bürger durch das Bild willkuͤrlicher Zyrannei von der Monarchie 
abfhredt und den Spottgegenihre gutmüthigen Vertheidi: 
ger erwedt. Natürlich kommt biefe confequente Richtung nicht allen er: 
tremften Radicalenzum Bemwußtfein. Und ic brauche nicht zu wieder» 
holen, daß die tägliche Vermehrung disfer Richtung lediglich das 
Merk rechtloſer Reactionspolitit und der Verzweiflung an friedlichem Sieg 
der Freiheit ift, und daß fie durch ben Lebensinſtinct des Volkes für feine Net: 
tung nur allzu leicht hervorgerufen wird. Im Verzweiflungskampf bleiben 
nur Wenige leidenfhhaftslos und geiftesfrei. 

Waͤre e8 aber denkbar, daß felbft fürftliche Nathgeber, verblendet durch 


16) Zur preußifchen VBerfaffungsfrage. Hamburg 1847. ©.195 ff. 


Grundgeſetz, Grundvertrag. 543 


jene falfchen Schultheorien oder durch Charakterſchwaͤche, fih auf Seiten diefer 
koͤnigsfeindlichen Partei ftellen , ihr wirkſamen Vorſchub Leiften möchten ! 
Kam die flubenphilofophifche Einfeitigkeit der Naturphitofophie ſehr 
natürlich zum Untergange alles Privatrechts, des Rechts der Einzelnen 
gegen das naturgefegliche Banze, „bes Glieds gegenden Kopf“ 
und fomit ähnlich wie Rouffeau und Hugo zur unbeſchraͤnkten abfolus 
: tem Regierungsgewalt und zur Aufhebung des wahren Vertrags wie der 
Guͤltigkeit des Koͤnigsworts, fo kamen die Feubaljunker des Fauſtrechts und 
an ihrer Spige Hr. v. Haller zur Auflöfung alles Staats⸗ und alles 
Öffentlihen Rechts, zur Ungültigkeit und Unglaubwuͤrdigkeit alles Koͤ⸗ 
nigsworts in Beziehung auf oͤffentliche Rechte. Kür fie giebt es ja Bein rechts . 
liches Bemeinwefen, keine rechtliche Perfönlichkeit der Bürger als Bürger ober 
ale Mitglieder des Bemeinmwefens, und des Volkes als Vereins zu einem Ges 
meinweſen. Natürlich giebt ed dann auch für das Ganze bes bloßen Ag» 
gregats oder Haufens der verfchtedenen Privatfchüslinge oder Knechte gar 
Fein öffentliches Organ. Blos der Herr iſt ihnen zufällig gemeinfchaftlich ges 
worden. Höchftens privatrechtlich, in privatrechtlichen Dingen foll Koͤnigs⸗ 
wort noch gelten und verpflichten. Unbegreiflich mochte auch ein Schrift⸗ 
fleller , mie ber in der legten Note genannte, ſich dDiefer Theorie fogar in Be⸗ 
ziehung auf die jegige angeblich abfolute preußifche Monarchie anfchließen 
und die Nation und ihren König fo tief herabfegen, daß er beide jenen fauft- 
rechtlichen Aggregaten gleichftellt. Diefes iſt an fich in der That noch ein 
ärgerer Mißgriff als dee, dab Hr. v. Blorencourt, bei feiner befonderen 
Ableugnung der Rechtsverbindlichkeiten, aller durch Koͤnigswort, Gefeg und 
provinzialftändifche Werfaffungsurkunden gegebenen Zufagen und Rechte, es 
gänzlich überficht, daß ja hier in den Ständen und ſtaͤndiſchen Wahlkoͤrper⸗ 
fhaften, in ihren Vorftelungsrechten an fich bereits ſogar befondere 
berechtigte verfaffungsmäßige öffentlihe Drgane für öf⸗ 
fentliche Verhältniffe und Zufagen vorhanden find. Er übers 
fieht, daß es im ber Welt nicht abzufehen iſt, woher denn für eine wirkliche 
Repräfentativverfaffung , die doch der Verfafler wünfcht, die von ihm ders 
felben zugefprochene Feftigkeit gegen Lönigliche Willensänderung kommen 
fol, wenn fie die bereits beftehenden Verfaffungsrechte rechtlich nicht haͤt⸗ 
ten, und wenn die neue Verfaſſung auf ihre rechtswidrige Verle⸗ 
ung, aufden Sumpf bloßer Willkür erbaut werden ſollte. Ja 
ed ſcheint uns jene Beleidigung noch unbegreiflicher felbft als die Erklärung, 
ber vorige König habegar Nichts verfprechen wollen, ſondern nur einige Piäne 
für ein ſpaͤteres einfeitiges beliebiges Handeln zufällig veröffentlicht und koͤnn⸗ 
ſolche Bauriſſe natürlich beliebig ändern und zuruͤcknehmen. Die ganze Welt 
iſt Zeuge, daß in Europa ſtets die Könige ihren Völkern, auch abgefehen 
von beftehenden Ständen, feierliche und eidliche Rechtszuſagen machten, 
und baß fie ſich felbft und daß die Welt fie verpflichtet hielt, ihr Fuͤrſten⸗ 
wort zu erfüllen. Ste ift ebenfalls Zeuge, daß ber vorige König in ber 
Proclamation von Kalifh und in denen „an das preußifche Volk“, an Frei⸗ 
willige und Landwehr, das Volt und die Einzelnen, bie er aufforderte, zur 
Rettung bes ne die Waffen zu ergreifen und mit Wegeifterung Gut 


‚544 | Grundgefeg, Grundvertrag 


und Blut freudig einzufegen, und denen: er dagegen feierlich verſprach 
„Herſtellung eines ehrwürdigen Reiches aus dem urelgnen Gelfte der Nation” 
und „eeihaftändifche Wolksrepräfentation‘, daß er biefes Wolf 
und die Einzelnen nicht für millenlofe, thierifche Heerden, fondern für recht: 
AUche Merfönlichkeiten hielt und erklärte, für fähig zur Annahme rechtli⸗ 
her Bufagen ‚daß er ihnen ferner wirkliche Verſprechungen machen wollte, zu 
ſeinem eigenen Vortheit machen wollte, zu dem Zwed der Rettung des eigenen 
Thrones und feiner Ehre. Wer daran noch zweifeln koͤnnte, ber lefe alle jene 
Ecklaͤrungen ! Er leſe namentlich die koͤniglich preußiſchen Erklärungen am 
Wiener Congreß, als Napoleon’s Ruͤckkehr von Elba aufs Neue die Throne 
bedrohte, jene ausbrüdliche Erlärung, „daß man vor Allem die 
Völker über „ihre Zukunft und ihre Rechte beruhigen müffe, 
baß man nur ſo neue Freudige Begeiflerung und Rettung 
' ber bebrohten Throne boffen koͤnne“7). Und in biefer Zeit nun 
beeilte man fi) , zu dieſem Zwecke bie früheren Föniglichen Zufagen ſchnell 
noch vor Ausbruch bes furchtbaren Krieges auch in die Form bes Grundgeſetzes 
vom 22. Mat zu Eleiden und die baldigfte Verwirklihung der Volks: 
‚repräfentation zu verheifen und grundgeſetzlich feftzuftellen. — Bal: 
digſt und großberzigft und voltftändigft, obne alles Drehen und 
Deuteln leiftete das Volk zum zweiten Male feinerfeits Altes das, wo: 
gegen man ihm unter Koͤnigswort fo königliche Verſprechungen machte. 
Das ganze preufifche Volk handelte damals Acht ritterlich, fo meit 
man irgend mit diefem Wort Hohes und Edles verbinden kann. Das gefchab 
num vor zwei und breißig Jahren und nod) lebt bas rechtliche Gefühl 
ber Gültigkeit biefes Koͤnigswortes heute fo frifch als bamals in der Nation. 
Diefes fagt ausdruͤcklich ſelbſt Hr. v. Slorencourt und er führt aug, 
dag nichts, gar nichts dem praftifhen und fchlichten Verftand des Volks fo 
Mar fei als dieſe Rechtsverbindlichkeit, und er fügt noch hinzu, wie fehr bag 
Vertrauen erichütternd und aufregend die Nichterfüllung täglich mehr 
wirke. Er fügt ferner hinzu, baß der vorige König in feiner fchlichten redli: 
hen Sefinnung, tie entfeglic fchwer (wegen ausmwärtiger und innes 
rer Gegenwirkung und Beängfligung) es ihm auch wurde, zur Er: 
füllung zu fommen, doch bis zu feiner Sterbeftunde ſich redlich und ritterlich 
durch fein Verfprechen verpflichtet hielt. Ja, berfelbe erklärte es für die 
größte Schändung feiner Majeſtaͤt, an diefer Sefinnung und der wirklichen 
Erfüllung auch nur Zweifel zu äußern !°). Niemand, der die preußifche Geſetz⸗ 
gebung und Staatögefcyichte kennt, wird aud) leugnen , daß in beiden ſtets 
der Grundſatz der Gültigkeit des Fuͤrſtenworts und der auch in fo vielen Ge: 
fegen niedergelegten verfaffungsmäßiygen Zuſagen gegen einfei: 
tige Regierungsmwilltür auch der Nachfolger anerkannt war. Von dem vorigen 


17) ©. alle diefe urkundlichen Erklärungen im Artikel Blücher. 

18) Die Antwort des Königs auf die Adreffe der Stadt Coblenz 1818 lau: 
tete bekanntlich: ‚‚Wer den Landesherrn, der die Zuficherung einer Landesreprä: 
fentation aus freier Entſchließung gab, daran erinnert, ber zweifelt frevel- 
baft an der Unverbrüdhlichleit der Zufage.’ 





Grundgeſetz, Grundvertrag. 545 


König leſe man beifpielsmeife nur das Geſetz vom 17. San. 1820 über das 
Staatsfhulbenwefen, das zur „Sicherung des Vertrauens“ 
für alle ünftige Zeiten unter reihsftändifche Controle and Mit⸗ 
garantie geftellt wird und au allen Staatsgläubigern „für uns 
und unfere Nachfolger In der Krone mit dem gefammten 
Vermögen der Staatsdomaͤnen“ u.f.w. haftet, und deſſen Bes 
flimmungen fo unwiderruflich fein follten, daß die VBerwaltungsmitglieder mit 
einem Eörperlichen Eide beſchwoͤren mußten, fie auch gegen Befehl nicht zu ver⸗ 
legen. Daß aud) dem gegenwärtigen König keine diefen ehrwuͤrdigſten Grund⸗ 
fägen ber legitimen Monarchie und feines Koͤnigshauſes widerfprechenden 
Grundſaͤtze zugefehrieben werden dürfen, verfteht fid) von felbft, geht auch 
aus folchen urkundlichen Erfiärungen beffelben hervor wie bie im Landtages 
abfchiede vom 9. Sept. 1840 an die preußifchen Stände. „Wir eröffnen 
„denfelben, daß wir ihnen in einer In hergebrachter Form au’gefertigten Aſſe⸗ 
„curationsurkunde die fefte und unverbrählihe Aufrehthaltung 
„der beftehenden ftändifchen Verfaffung ber Provinz, wie fie durch die etlaſſe⸗ 
„men Sefege begründet ift, bei Unferem Söniglihen Wort zufihern 
„wollen. 
Hätte alfo doch jener geiftvolle Schriftfteller lieber dem reblichen, ſchlich⸗ 
ten, praßtifchen Verftande des ganzen Volkes vertraut als armen Spigfindigs 
keiten. " 

Diefelben haben une ſchwer verlegt, wenn wir fie auch keineswegs in 
diefelbe Kategorie fegen wollen wie jene Dabelemw’fche von bem „bloßen 
DHoffnungsrecht der Preußen und Deutfchen”, oder wie jene bes 
kannten Shmalzifhen und Kampgifchen Debuctionen, daß in Preus 
fen Niemand an die Rönigliche Zufage und an würbige Männerfreiheit auch 
nur gedacht habe, daß die Preußen fämmtlic aus gar Reiner großherzigen Be⸗ 
gefterung und Erhebung für Freiheit, fondern aus gemeiner (verdamnts 
ter ?) Schuldigkeit ihre Soldatenpflicht hätten ableiften wollen; ja daß, tie 
noch das neuefle dide Kampsifche Bud, über die preußifche Verfaſſung 
ausführt, der König gar feine andere als die in den beftehenden Prodin⸗ 
zialftänden völlig genügend verwirktichte Reichsſtandſchaft, Conſtitu⸗ 
tion und Volßsrepräfentation verfprochen habe. Doc) Bottlob! zu allgemein 
ift das In der Unfreiheit allmaͤlig erfterbenbe fittliche Rechtsgefuͤhl wieder im 
preußifchen und deutſchen Volke erwacht , als daß nicht bie Achtung vor ihnen 
eine befonbere Widerlegung fo verächtlicher Sophismen und Verbrehungen 
des Rechts und des Koͤnigsworts verböte. Auch jede andere Demonftration, 
aͤhnlich wie jenes Anfchlagen an den Galgen und das öffentliche Verbrennen, 
durch welche man früher die Dabele w'ſchen und Kamptziſchen Belei⸗ 
digungen der gefunden Vernunft und der Nationalehre zu raͤchen verfuchte; 
auch fie müßten heutzutage bei biefem allgemein erwachten Rechtögefühle 
jedenfalls fchon als überflüffig unterbleiben. 

Ich aber glaube im Sinne aller eblm und gerechten Fürften, ja der Mon⸗ 
archie felbft, deren Princip die Ehre iſt, im Sinne aller gefitteten Nationen 
der Erde zu fprehen und nur die Ausfprüche ber edelften Fuͤrſten felbft zu 
wiederholen durch die Forderung, daß man Kürftenmwort nidht dre⸗ 

35 


Suppl. 3. Staatslex. II. 


[| 


ben und beuteln, fondern Föniglih oder grofherzig erfüls» 
‚Ien foll, daß das durch fürftlihe Derfprechen ertheilte Recht 
gegen dem Fuͤrſten ſelbſt heilig und ein umerfchütterlicher Edflein fein muß, 
daf gerade In ber großherzigen Erfüllung des Fürftenmorts die Achtung ge: 
bietendfte fürftliche Gefinnung, daß in folder Erfüllung des von dem Re: 
gierungsvorfahten verpfänbeten Fuͤrſtenworts gerade die edelfte Pierät 
egen dbenfelben ſich zeigt, daf endlich anerkannt die Verpflichtungen 
durch Öffentliches Königewort eines Fürftengar niht minder als feine 
Rechte, daß fie in ungertrennlicher Verbindung mit biefen auf ‚ben legi- 
timen Nachfolger vererben , daß gerade Hierdurch die höchfte Ehre und Si— 
jerheit des Monarchen und der Monarchie, Glaube und Vertrauen auf das 
ücfternwort begründet find, ein Glaube und ein Vertrauen, weiches in Preu⸗ 
Ben 1813 Thron und Staat retteten und zu neuer Rettung ſchon morgen 
wleder weſentlich fein Finnen, Wäre nun hiermit etwa eine blos einfeitige 
Erklärung des Fürften vereinbarlich, daß nach feiner Meinung die Erfüllung 
bes Fuͤrſtenworts den Unterthanen , bie diefelbe wuͤnſchen, nicht zum Beten 
‚gereiche, und daß ihr wohlerworbenes Recht auf diefelbe ihnen alſo, gleichviel 
ob fie bamit einverftanden feien oder nicht, entzogen werben folle? Würde die» 
fed die Unterthanen nicht blos ald willenlofe Unmündige und als, 
Ihrer Regierung gegenüber völlig rechtlos barflellen? Ber 
ftörte es nicht, ebenfo wie bie ganze rechtliche Verbindlichkeit, fo auch allen 
fo oftmals die Könige rettenden Glauben an das Fuͤrſtenwort? 

Simon in feiner Schrift über die neuen Verordnungen führt S. 69 
für den Uebergang ber rechtlichen und moralifhen Verpflichtung ber Könige 
auf ihre Nachfolger oder den Grundfag der legitimen Monardie: „der Kö: 
nig oder der Thron ſtirbt nicht” die Ausfprüche deutfcher Publici— 
ften an, wie Mofer, Weftphal, von Kamptz, Leif. Man könnte alle anfuͤh⸗ 
ren, die als folche geachtet find, die Geſchichte und das Urtheil aller europäi: 
fchen Völker mit rechtlichen Verfaffungen. Nur der Königsfeind Macchia— 
velli räth den Königen zu Gift und Meuchelmord und — auch zum Wort: 
bruch. 

Doch kehren wir zu jenem Gedanken zurüd, welchen die deutfche Reactions⸗ 
zeit — fruchtbarer an politiſchen Verkehrtheiten als frühere ganze Jahrhunderte 
— nährte, das Volk könne in der Monarchie wegen Mangel an juriftifcher 
Perfönlichkeit und befonderer Verfaffungs-DOrganifation Feine Rechtszuſagen 
erwerben, mithin auch Feine Nechtsverbindlichkeiten übernehmen. Kecklich 
leugnet man Solches, obgleich wir e8 in der ganzen europäifchen Geſchichte, 
namentlich auch bei den gegenfeitigen eidlichen Verſprechungen bei den Thron⸗ 
befteigungen in Huldigungs: und Verfaffungseiden anerkannt finden, obgleich 
wir es ferner auch bei dem MWegfallen früherer und der Bildung neuer Regie: 
rungen alebald von ganz Europa anerkannt, wiederfinden, fo z. B. in Frank⸗ 
reich und England nah Entfernung der Stuarte und Bourbonen, ebens 
fo auch in Norwegen und Belgien nad) dem Ende der dänifchen und der 
holländifhen Herrſchaft. Ja man hat für die monardhifcd regierten 
Voͤlker zugleich mit dem Grundgedanken eines Gemeinmefens fogar den 
Namen Staat gänzlich aufzuheben geſucht. Zuerft gelangte hierhin Hr. 


Gtundgeſetz, Grundvertrag. 347 


v. Hall er im feiner rohen Cople der Feubalanarchie und bes Fauſtrechts, die 
er Reflauration der Staatswiſſenſchaft nannte. 

Allerdings Löfte dieſes anarchiſche Fauſtrecht die früheren zum Theil 
ſelbſt nody rohen Staatsverhaͤltniſſe auf. Allein die nicht ganz erftorbene Cul⸗ 
tur und menfchliches Bebürfniß führten auch in dem Fauſtrecht und zur 
Beendigung biefer Zerrüttung unmittelbar ſelbſt die Schüglinge des Hrn. 
v. Haller, die geiftlichen Gorporationen und die Feubalariftofraten , die 
Städte und die Landgemeinden, dahin, theils ihre befonderen Vereine wieder 
zu Staaten auszubilden, theils fich mit ihnen und andern Vereinen zu neuen 

‚Staaten und Gemeinwefen auszubilden. Im Reiches wie im Landesſtaat 
fahen fi Reiches und Landſtaͤnde, die ſich als rechtliche Fortfegungen und 
Ausfhüffe an die alten Volksverſammlungen, an bie Landesgemeinden an» 
ſchloſſen, als Vertreter des Geſammtwohls des Vaterlandes 
und der Rechte aller feiner Glieder an und unterhandelten To 
mit ihrem Regenten , oft auch nad) Außen bin 9). Mie und nirgends im 
Mittelalter wurbe die Idee eins Gemeinweſens und Staats ganz 
verloren oder aufgegeben. So roh als ihre neueren Vertheidiger und Ber 
wunderer waren felbfi bie Fauſtrechts ritter nicht. Doc) Jene lei⸗ 
tete ihr Haß gegen die neuen Verfaffungen. Sie dachten durch das „Theile 
und Herrfche” die moralifche und phufifche Kraft ber Völker zu brechen und fie 
als willenlofe Beute der fürftlichen oder abeligen oder geiftlichen Bedruͤckung 
uͤberliefern zu Sinnen. Und fo entftand jene abgeſchmackte Haller’fche Theo» 
tie, nach welcher der Fürft nur mit ben einzelnen Unterthanen oder höchflens 
einzelnen Ständen abgefonderte Verträge hat, welche und deren Verlegung 
die andern rechtlich ebenfo wenig etwas angehen, ald ben einen Knecht ber bes 
fondere Dienflvertrag feines Mitknechts. Edle bureaukratiſche Dienftbeflifiene 
für den Despotismus ihres Herrn fingen dann an, zur Schande deutfcher- 
Zuftände und der Bildung und des Rehtsgefühls ber Deut» 
[hen im neunzehnten Jahrhundert und nicht allzulange nad) 
jenen glorreichen Befrelungskriegen , den Begriff, ja den Namen Staat fo 
weit zu tilgen als mönlih. Da follte es nicht mehr heißen Staatsdie⸗ 
ner, fondern Herren oder fürftlicher Diener, nicht Staat s miniſter, fon» 
dern koͤniglicher Minifter u. f. m. — Daß Herr wörtlich Despot heißt, dies 
ſes wußten fie nit. — Ein deutfcher Public, Hr. Romeo Mauren: 
brecher in Bonn, flimmte infeinem „Staats recht“ mit ein in dieſen 
vandalifchen Vertilgungskrieg gegen ben Staat. Rur allein die Schuls 
ben ber Herren, daran follte, nah Hrn. Maurenbrecher, das Volk gnds 
bigft Theil haben, diefe follten ihm gehören und Staatsfchulden heißen und 
fen. Es iſt, als Hätte er mit fürchterlicher Ironie daran mahnen wollen, 
daß aus fo unwürbigen Zuftänden, wie fie dieſe Hoffchmeichler täglich mehr 
zu machen fuchten, nur ein Staatsbankbruch retten koͤnne. Manche fonft 
Wohlmeinende mochten ſich vielleicht dadurch zu fo großen Begriffſsverwirrun⸗ 
gen und Sehlgriffen verführen laſſen, daB man ihnen vorfpiegelte, daß das 
Privatrecht und Privateigenthum für Fürften und Unterthanen eine 


19) &. Deutſches Landesſtaatsrecht. 
Ir 


548 Gtundgeſetz, Grunbvertrag. 


größere Heiligkeit und Sicherheit habe und gebe als das öffentlihe Recht. 
Bon diefem führte man, fo wie Hr. v. Haller und das Berliner Wo: 
henblatt, flets nur mißbraͤuchliche Verzerrungen an. An das wahre oͤf— 
fentliche MRecht tüchtiger Verfaſſungen, welches an ſich herrlicher und erhes 
bender ift als alled Privateigenthum, welches aber auch bie Privatrechte 
und zwar allein genügend und ungleich beffer als ber Abſo— 
Intismus ober ariflofratifhes Fauſtrecht ſchuͤtzt — biefes wollte 
man nicht und fuchte es durch jene Verzerrung verhaßt zu machen. Daß im 
zeitgemäßer Derftellung unferes Staatsrechts vor umd in ben Freiheitskriegen, 
in ben Gongteßverhandlungen über die landſtaͤndiſche Verfaſſung, über die 
Preßfreiheit und deutfche Staatsbuͤrgerrechte und über die neu zugefagten oder 
neu eingeführten Verfaffungen gar Niemand an einen foldyen barbarifchen 
Staatshaß, an ein. despotifches oder Herrenrecht, an diefe mehr als fauſtrecht⸗ 
lichen Rohheiten dachte, biefes Liegt in allen Urkunden vor Augen. So na 
mentlich aud) in ben preußifchen, feit Stein und Hardenberg, in jenen 
Aufrufen „an mein Volk“, in jenen Zuſagen einer „aus allen Elafs 
fen der Staatsbürger zu bildenden Repräfentation des 
Volkes‘ und aud; in ſolchen aͤcht Eöniglichen Worten wie die des vorigen 
Königs: „das Heer gehört meinem Volk, das es bildet und bezahlt“, oder in 
einem anderen [hönen Worte beffelben Fuͤrſten: „das preußifche Volt hat es 
durch feine heldenmuͤthigen Aufopferungen verdient, gegen Erneuerung fo 
furchtbaren Unglüds gefhüst zu fein.“ Der König fagte Dirfes in Bezie— 
bung auf den Erwerb ber ſaͤchſiſchen Elbfeſtungen. Er fagte es thatfächlich 
auch in dem Gefeg über das neue Bollwerk einer Reichsverfaffung, diefem 
fchönften „Pfand feines Vertrauens” zu feinem Voll, Don jenen 
Staatsmännern aber ſcheinen die nicht abjolut Nichtswuͤrbdigen ſehr an Man: 
gel oder Verwirrung der Begriffe zu leiden. Sie vergeflen ganz das, mas 
abfolut folgerichtig in jenen reactiondren Srundfägen liegt. Sie 
überfahen, daß ein Volk, das nicht Staat ift, nicht lediglich von einer 
Staatsregierung und von wahren Staatsbeamten regiert wird, das 
oder deſſen Regierung im Gegenfag einem Deren (Despoten) gehören, 
rechtlich nur eine HDeerde Sklaven und bloßes Familieneigenthum, 
und daß der Herr auch nicht mehr König und Majeftät, fondern Privatfkla= 
venherr wäre, ein Despot, ein foldher, der, wie e8 Herr v. Haller in fei: 
ner Gedankenloſigkeit felbft darſtellt, durch Gewalt das Privat⸗Gluͤcksgut eines 
ſolchen Herrenrechts erwarb und befigt und ebenfo legitim durch bie flär: 
kere Gewalt oder Dinterlift zum Unterthan gemacht werden kann. — — Diefe 
Folgerichtigkeit überließen jene Eugen Staatsmänner bei ihrer für Zürft und 
Volt gleich fehr beleidigenden Lehre — unferen neudeutfchen Nadicalen, 
Fuͤrſtenfeinden und Revolutionaͤrs zu höchft nugbarer Beute. — 

Herr v. Haller aber ſuchte dadurch die Gefahr für den Herrn, ber Weber: 
macht eines Anderen zu erliegen, etwas zu befeitigen, daß er auch in fofern 
feine „natürliche Ordnung Gottes“ des ariftokratifchen Fauſtrechts verfälfcht, 
als er verfchwieg, tie alle Claſſen der Unterworfenen des Herrn, Minifte: 
tialen, Vafallen u. f. mw. ſich keineswegs wie abgefonberte Knechte deffels 
ben Heren benahmen, fondern fi) alsbald unter einander vereinigten und 


Grundgefeß, Grunbvertrag. 549 


als eine Senofienfchaft ſich gegen ben Heren fchüsten und hundertmal in allen 
europälfchen Ländern ihre Herren im Stiche ließen, beraubten und entthron⸗ 
ten, fo daß im Mittelalter in dem meiften europäifchen Reichen der Lehns⸗ 
Adel die meiften Könige entthronte oder ermordete oder boch mindeſtens, fo 
wie die dänifchen, fchmebdifchen und deutfchen feudalen Reichsraͤthe, um 
ihre Güter und ihre Gewalt brachte, bis es einzelnen diefer Herren beffer als 
dem deutfchen Kalfer gluͤckte, entweder fo wie Lubwig XI. in Frankreich feiners 
feite mit Mord und Raub, ober wie 1660 der König von Dänemark durch 
Hinterlift, die Macht der abeligen Vaſallen zu vernichten und biefelben in Höfs 
linge und Stellenjäger zu verwandeln. 

Zu keiner Zeit wurde Übrigens in Deutfchland die fürftliche Gewalt, das 
Regentenamt, wie «6 Reichs⸗ und Lanbesverfaffungen anfahen,, ein despotis 
ſches oder Herren⸗ oder bloßes Privatrecht und noch weniger rechtsguͤltig abſo⸗ 
Iut. Die rechtsguͤltig nicht aufgehobene, im Bund theilwelfe hergeſtellte Reiche: 
verfaffung fchüste fogar durch gerichtliche Hilfe die Unterthanen gegen Miß⸗ 
brauch ber Landeshoheit, wozu fie gemeinfchaftliche Syndicate zur Beſchwerde⸗ 
führung errichten durften. Nie fehlte e8 ganz an politifchen Gorporationen, 
bie rechtliche Zufagen in Empfang nehmen konnten, und fogar neben benfels 
ben, wie vielmehr da wo diefelben fehlen, find bie einzelnen Buͤrger als folche 
berechtigt, politifche Rechte zu erwerben und geltend zu machen durch Vorſtel⸗ 
lungen, Preßfreiheit u. ſ. w. 

Ganz ungluͤcklich iſt uͤbrigens der Verſuch, bei ber angeblichen Uns 
gültigkeit des Koͤnigeworts in Beziehung auf öffentliche Rechte, — doch da⸗ 
duch bie Schmach eines rechtlofen Zuſtandes befeitigen zu wollen, 
bag man die Mechtsverkindlichkeit der Zufagen in Beziehung auf die Pri⸗ 
vatrechte behauptet. 

Selbſt wenn jene rohe Anficht gälte, daß die Bürger bisher gar kein ſtaat⸗ 
liches Ganzes bildeten und Beine Rechte in Beziehung auf baffelbe hatten, fons 
dern ald abgefonderte Privatfhüglinge, aber mit heiligen Privatrechten dem 


Fuͤrſten gegenüberftanden, fo waren doch alle Einzelnen und alle Eorporationen 


rechtlich intereffirt und berechtigt, rechtliche fürftliche Zufagen uͤber 
Einführung "befferer Schügung ihrer Privatrechte durch Verfaſſungseinrich⸗ 
‚tungen anzunehmen und ihre Erfülung zu fordern, foweit fein gültiger Wider⸗ 
ſpruch wegen Verlegung der Rechte von Dritten außer dem Fuͤrſten nachweis⸗ 
bar wäre. Daffelbe it vollends der Fall, wenn X Ile bereits als Bürger eines 
gemeinfchaftlichen Staates umd politifhen Vaterlandes wenigſtens das Vers 
faffungsreht befigen, daß der Fürft als rechtlicher Schüßer deſſelben 
gegen Alle verpflichtet ift, Ihre Privatrechte heilig und fie und das Vaterland 
möglichft vor Verlegung zu bewahren. Wenn er nun zum befferen Schuge 
diefer Rechte, zum Wohle aller Einzelnen und ihres gemeinfamen Vaterlandes 
ihnen Allen rechtliche Zufagen, vollends Zufagen ber zeitgemäßen Wiederher⸗ 
ftellung früherer, nie rehtsgültig aufgegebener Verfaſſungs⸗ 
rechte macht, fo läßt fi) das Recht der Bürger auf Erfüllung dieſer 
Zuſagen nicht beftreiten, fobald fie überhaupt als rechtliche Perföntichkeiten 
im Rechtsverhaͤltniß zum Fürften flehen. Nur wenn rechtlofer ſklaviſcher 
Buftand beftände, koͤnnte der Fuͤrſt einfeitig Ihre durch feine Zufagen gegen 


= 
550 Grumdgefeb , Grundvertrag 


ihn felbfl erworbenen Rechte zuräcinehmen. Sonft aber wären fie ſchon als 
Privatrechte der Einzelnen gegen ihn heilig. Sie find e8 als Verfaffungss 
rechte, wenn er fie allen Bürgern als Bürgern, als berechtigten Theilhabern 
Fr dem gemeinfchaftlichen Vaterland machte, Jeder und Alle können die Er 
füllung fordern, | 

Mile dürftig und frank erfcheinen doch überhaupt gegenüber der gefunden 
praktifchen Weisheit aller freien Voͤlker der Erde, welche abfolut ohne Aus: 
nahmen ihre Verfaffungen und ihre politifhe Freiheit auf Vertrag gründen 
und fie und bie rechtlichen Zuſagen der Fürften für rechtsverbindlich halten, 
gegenüber all ihren großen erfahrenen Staatsmännern, gegenüber ber Ges 
fchichte und ihren furchtbaren Mahnungen — alle jene theoretifchen Angriffe 
auf diefen Grundſtein der Wölkerfreiheit und ber, Volksgroͤße, die Angriffe 
bald auf bie Heiligkeit des Private, bald auf bie des öffentlihen Rechts, 
bier von gutmüthigen Schwärmern, wie Bonal d, dort von eigenfüchtigen 
ſchmeichleriſchen Säflingen, von phantaftifhen und fanatifchen Religiöfen 
und Xriftofraten, wie. Hr. v. Haller, bort endlid von unpraktifchen deut⸗ 
——— und Philoſophen. Mur zu oft ſieht man dieſe Letzten, 
xrauſcht von ber neueſten indivlduellen Stubenphiloſophie, ſich allein „das 
vernuͤnftige Denken‘ zuſchreiben und auch in unmittelbar praktiſchen Dingen 
ſich zu Geſetzgebern freier Männer aufwerfen, ftatt bie in ihrer Anerkennung 
ausgeſprochene gemeinfame Weberzeugung als ihr gemeinfhaftlich und Außerlich 
gültiges Staats geſetz anzuerkennen. , Voll Achtung für die ewig wahre leben: 
bige Philofophie, die in dem nothwendigen öftern Wechfeln und den 
Gegenfägen der einzelnen Syſteme — mie unvollkommen und nur von einzels 
nen Seiten aus fie das unendliche Urwefen und das göttliche Leben deffelben 
auch auffaffen mögen, doch bie herrliche Gymnaſtik des Geiftes, bie ſtets 
neuen Antriebe und Kräfte zur Bekämpfung der Nebel des Aberglaubens und 
der Vorurtheile den Nationen darbietet, — trotz biefer hohen Achtung, ja 
wegen berfelben — finde ich jene deutſche Handwerkseinſeitigkeit 
und Befangenheit, die ihre befondere Zunft-Lehre zum allgemeinen 
äußern Geſetz ftempeln möchte, bei Philofophen doppelt verkehrt. Daß 
die Erfinder philoſophiſcher Syſteme, die mit Anftrengung und Entfagung 
aus den tiefen Schachten der Speculation ihre Silbererze an's Licht ziehen und 
dann heute, wie Fichte, die ideale, morgen, wie die Naturphilofophen, die 
materiale Seite, heute die logifche, Gedanken⸗, morgen die Gefühlswelt zu 
neuem Spfleme conftruiren — daß diefe bann in ihrem mühevollen genialen 
Merke die ganze Wahrheit gefunden zu haben mähnen, das ift begreiflich. 
Weniger verzeihlich aber ift es, daß die Schüler, daß praktiſch und politifch fein 
wollende Männer nicht bedenken, daß ihr Glaube an die abfolute Vollkommen⸗ 
heit ihrer Schulweisheit lediglih) auf dem aͤußerlichen Zufalle beruht, 
daß fie nicht zu den Süßen von Kant, fondern zudenenvon Schelling 
oder Jacobi oder von Hegel oder Feuerbach faßen, daß fie fonft die gerade 
entgegengefegten Sundamentalprincipien als alleinfeligmackjende Weis⸗ 
heit verehren würden, daß fie weit entfernt find, nur die Philofopbie, 
oder das lebendige Streben nad) Wahrheit für abfolut wahr zu halten, jedes 
einzelne Syſtem aber für unvolflommen,  Diefes und daß fie ihre oft nicht 


Grundgeſetz, Grundvertrag. 551 


einmal richtig erlernte theoretiſche Schulweisheit auch alebald allen Anders⸗ 
denkenden, allen anders philoſophirenden freien Maͤnnern, dem Staate 
und der Kirche als allgemein undaͤußerlich guͤltiges Rechts: und 
Staats⸗, Religions» und Kirchengeſetz aufzwingen wollen, 
daß fie fanatiſcher und, fo weit möglich, gewaltſamer ihre unerprobteſte 
Schultheorie Andern aufbringen, al von ihrem einfeitigen Handwerksgeſichts⸗ 
punfte verbiendet, der fanatifchefte Priefter feine alte Kirchenlehre, als der 
despotifchefte Fürft feine Staatspraris, — dieſes iſt mindeftens ſehr unphis 
loſo phiſch. Nähmen fie doch wenigftens an dem tiefſten, ibealften, für die 
Philoſophie begeiftertfien Phitofophen, nähmen fie an Platon fidy ein Mus 
fter! Diefer, m feinen rein philofopbifchen, idealen Sonftructionen auch den 
Staatövertrag wie andere unbequeme Grundbedingungen ber Wirklichkeit zur 
Seite laffend, huldigt ihm, buldigt diefer irdiſchen Grundbedingung und 
Korm für die Freiheit doch, ſobald er nur dem wirklichen Staatsleben freier 
Männer ſich nähert. Aufgeforbert zu einem Gefesesvorfchlag läßt er feine. 
göttlichen Philoſophen und ihre philofophifche Herrſchaft in ber geträumten 
Repubiit gänzlich fahren und gründet in feinem Werk über bie Geſetze 
ale dieſe Gefege und bie ganze Regierung ebenfo wie fein großer Schüler Ari⸗ 
ftoteles 29) auf den freien ſich mechfelsweife bedingenden Conſens oder 
Vertrag aller freien Bürger 21). Und wo er es mit praltifchen Fragen in 
Beziehung auf das wirkliche Staatsleben feines Vaterlandes zu thun hat, wie 
im Kriton, da iſt ihm ebenfalls ber Staatsvertrag bie Grundlage 
aller Rechte und Rechteverbindlichkeiten. Selbſt feinen philoſophiſchen Meiſter, 
den Sofrateg, läßt er hier, um feine Pflicht zu begründen, baß er nicht Durch 
bie Flucht der bereits ausgefprochenen ungerechten Nerurtheilung und Strafe 
ſich entziehe, nicht etwa fhulpbilofophifche Ideen, fondern die athenifchen 
Freiheits- und die Vertragsgrundfäge anführen. Hier antwors 
tet naͤmlich Sokrates, der vor ber Verurtheilung dem Proceß durch das 
freiwillige Exil ſich hätte entziehen Dürfen, dieſes aber nicht gewollt, ſich 
alfo dem Ausgang des Procefjes unterworfen hatte, auf den Vorſchlag, jegt 
noch gefegwidrig zu entfliehen: „Wuͤrden nicht alsdann die athenienfifchen 
„Bürger ober vielmehr ihre Geſetze mit Recht zu mir fagen fönnen: Wir 
„Stellen es Jedem frei, wenn er gefehen hat, wie es bei ung befchaffen ift, wie 
„das Recht gefprochen und der Staat regiert wird, das einige zu nehmen 
„und hinzugeben, wohin er Luft bat; mer aber bei ung bleibt und ſich unfere 
„Art der Rechtsverwaltung und Staatseinrihtung gefallen Iäft, von dem 
„glauben wir auch, daß er Alles, was wir fordern, zu thun ſich habe verbuͤr⸗ 
„gen wollen; denn Niemand kann einen Staat lieben ohne feine Geſetze. 
„Du aber, Sokrates, würbeft um fo mehr ung beleidigen, wenn bu durch 
‚Ungehorfam gegen uns, fo viel an die iſt, uns vernichten wollteſt, da wir 
„gerade von dir vorzuͤglich große und fichere Beweiſe haben, daß es dir bei ung 
„gefallen hat und du dich alfo vorzüglich ſtark gegen uns verpflichtet haft. Dies 
„jenigen aber, welche den Geſetzen fich entziehen, handeln gegen Berfpres 


an S. diefen Artikel im I. She. 
21) ©. meine Lesten Brände &. 430. 


ge und Verteng, melche fie ohne Zwang und Taͤuſchung mit dem 
„SDtaate eingegangen haben.“ PlatoPonmte bei diefer Gelegenheit dem 
Sokrates und den athenienfifhen Gefegen die Vertragsgrundfäge nicht 
in den Mund legen, wenn fie nicht allgemeine Rechtsanſicht waren. Auch 
————— neben den bekannten dewokratiſchen Rechten aller 

eger zur mechfelfeitigen Mitbeffimmung der Staats ein— 
eihhtungen ein befonberes Geſeh jedem Bürger bie legte Hilfe zur Erhal⸗ 
tung des Vertragsprincips, wenn jene Rechte ungtüdlicher Meife für den 
Einzelnen nicht gentigten, die Freiheit nämlich , mit allen feinen Gütern hin⸗ 
zugeben, wohin er wollte, wenn er in den Staat nicht mehr einmwilligen fonnte??), 

Selbft für den angeklagten Verbrecher [chüte vor feiner neuen befonde= 
ren Einmillia ung in den Griminalproceß die athenienfifche Freihelts⸗ 
fiebe und Humanität biefes Necht, ie 

TIXV Das politifhe Vertragsprinelp und das falſche 
göttliche, —————— abſolute, monachifhe Recht im toͤdt— 
iſhen Kampfe. Für bie praktiſche Güte von Staatstheotien kann es 
feine beffere Gewähr geben als die von dem erprobteften praftifhen Meiftern 

hen Erfahrungen! Welche beffere Gewähr für die Güte der Vertrags: 
undfäge kann man alfo wohl benfen als bie, daß die beiben freieften, 
am meiften praftifihen Völker der Erde mit ihren Gefehen umb 
atsmännern durch ben Lauf ihrer ganzen Geſchichte biefelben fefthielten? 

So aber thaten e8 die Römer und die Engländer. 

Schon feit dem heiligen Grundvertraͤgen der leges sacratae, melde bie. 
Plebejer frei machten, fie mit ben Patriciern vereinigten umd von beiden 
feierlich befchmworen wurden, und nach mweldyen noch die praftifcdyen Staats: 
männer zu Gicero’g Zeit bie wichtigften praftifchen Fragen entfchieben, 
fuchten die Römer während ber ganzen Zeit ihrer Freiheit die Vertragsgrunds 
fäge durch ihre freien Verfaffungseinrichzungen, durch das Zribunat, durch 
Volksverſammlungen und voltsmäßige Gerichte, zu verwirklihen. Als aber 
durch die Folgen ungerechter Eroberungspolitit auch im Inneren Freiheit und 
Recht Factifch vielfach durch Imperatoren⸗Despotismus verlegt wurden, da 
hielten, wenigftens in der, Rechtswiſſenſchaft, die legten der Römer, Rome 
meiftechafte juriftifche Staatsmänner die ewigen Grundiäge unerfchütterlich 
feft._ In einem der großartigften Werke der Welt, in der römifchen Juris⸗ 
prubdenz, behaupteten und entwidelten fie diefelben und begründeten fo viel» 
fahe Milderung des factifhen Unrechts in der untergehenden alten Welt 
und weit über ihr Vaterland und ihr Sahrtaufend hinaus Schugmwehren der 
Freiheit. 

Sogar fuͤr uns Deutſche mußten dieſe das entſetzliche Ungluͤck min— 
dern, das fuͤr unſer Volksleben die unverſtaͤndige unmittelbare Aufnahme 
fremder, in fremder Sprache verfaßter Geſetzbuͤcher natürlich begruͤn⸗ 
den mußte. 

Noch unfer roͤmiſches Corpus Juris kennt gar keine andere Grunde 
lage der Rechtöverbindlichkeit al die aus freiem Volks-Conſens oder 


— - 


32) Petitug, Attifhe Sefege IL 3 





Grundgefeß, Grundvertrag. 553 


Bertrage Das praktiſche juriftifch gültige Naturrecht beruht 
ihm, fo wie alles Gewohnheitsrecht ??), auf dem Conſens (dem Conftis 
tuiren) durch flillfchweigende Einwilligung. Es ift ſtillſchweigender Grund» 
vertrag bee freien gefitteten Völker (welche legibus [d. h. durch Wolke» 
gefege oder Volksfreiheit) et moribus reguntur) 2%); die Hauptart aller po⸗ 
fitiven Befege und die eigentlihe Quelle alles pofitiven Volksrechts iſt 
der Volksbeſchluß, die Lex, welche von den Öriechen und im Corpus 
Juris gleichmaͤßig befinirt wird als feierliher gemeinfhaftlidher 
Vertrag der freien Staatsgenoffen (communis rei publicae 
sponsio, zoAsmg auvdnjan zo 2°). Alle andere pofitiven Geſetze gelten 
nur, fofen ſie durch dieſen Vertrag anerkannt, mittelbar ver» 
tragsmaäßig find (in vicem legis). Go hat felbft der Kaiſer und feine 
Gonftitution ebenfalls nur dadurch rechtliche Getwalt (quum lege regia, quae 
de ejus imperio lata est, populus ei etin eum potestatem suam conce- 
dat). 3°) Noch nach fünfbundertjährigem Kaiſerthum ift fortdauernd ber 
Volksconſens, die Urquelle alles Rechts, thätig in der Rechtsbildung. 
Derfelde führt duch Gewohnheiten, „ſtillſchweigenden Gonfens und Vers 
trag”, neue Geſetze ein und [hafft frühere ab (nam cum ipsae 
leges nulla alia ex caussa nos teneant, quam quod judicio populi receptae 
sunt, et ea, quae sine ullo scripto populusprobavit, tenebunt omnes; 
nam quid interest, suffragio populus voluntatem suam declaret an re- 
bus ipsis et factis? Quare reclissime etiam illud receptum est, ut leges 
non solum suffragio legislatoris, sed etiam tacito consensu omnium 
perdesuetudinem abrogentur??),. Diefe als noch gültig in das 
Corpus Juris aufgenommenen Grundſaͤtze findebenfo praftifch für die 
Beurtheilung der juriftifchen Bedingungen wie der Wirkungen des Gewohn⸗ 
heitsrechts. Es ift die Hauptaufgabe der erflen Zitel der verfchiedenen cds 
mifhen Geſetzſammlungen, biefe VBertragsgrundfäge als die einzigen 
Rechtsgrundlagen für die Rechteverbindlichkeit und die praktiſche 
Auslegung der Rechtsnormen feflzuftellen. Nicht ein einziger politifcher 
Schriftfteller und kein Juriſt diefer politifch freieſten und im Recht unübers 
troffenen Nation verläßt diefelben. Noch nach halbtaufendjähriger Impera⸗ 
toren» Herefhaft wußte und magte man in den Geſetzen und in ber Rechts 
wiſſenſchaft Beinen anderen Rechtsgrund der Verbindlichkeit des Staats 
und des Geſetzes aufzuftellen ale Vertrag), Vertrag in dem obigen. 
ſittlichen und freien Sinne. 

Daß aber die roͤmiſche Jurisprudenz auch in factifcher Despotie dieſe 
ewigen Srundlagen der Freiheit feſthielt, und die wenigen Ausnahmen von den 


233) Consensus utentium, tacita conventio civium. ©. 5.9. J. de jure 
naturali und L. 32 und 35. de legibus. 

24) ©. $ 1. 2. und 11. de jure nat. und L. 2. de legibus. 

25) L. 2. de legibus. 

26) ©. } 5. und 6. de jure nat. und $. 1. de constit. princip. 

237) L. 32 und 35. de legibus, : 

28) ©. die vorigen Roten und L. 5. de captiv. und C. 4. de legib, 
und C. 7. si contra jus, 


554 Grundgeſetz, Grundvertrag. 


freleften Rechtsgrumdfägen, die fie nicht gänzlich Ausftoßen Fonnte, nur ale 
Ausnahmen ſtrict interpreticte, alle freien Redhtsgrundfäge aber ausbrhnte 
unb aus ihnen das Syſtem bildete, dieſes rettete die Großartigkeit bed römifchen 
Mechts bis auf ben heutigen Tag. Diefed bewirkte, daß die Franzoſen aus 
ihm In der Revolution die Befreiung des Bodens und der Preffe vom Feu⸗ 
dalidmus und überhaupt bie wichtigſten perfönlichen Freiheitsgrundfäge 
fhöpften und daher bis zur Annahme roͤmiſcher Namen, Tribunat, u. ſ. w. 
ſich für Rom brgeifterten, daß unfer Weber aus ihm bie liberalfte 
a een entwicdelte, die Europa kennt, daß bie liberalften 
rundfäge ber Eigenthum und Beſitz, Anklageproceß umd Strafrecht, über 
Mothwehr und Widerſtand, Gewohnheitsrecht, Geſellſchaften, freie Affos 
cdationen und Corporationen?®), — diefe Grundlagen deutfcher Städtes 
freiheit und des Micderaufbaues freier Staatöverfaffungen im Mittelalter — 
Nechtögrundfäge, freier, als wir Deutfchen bes neungehnten Jahrhunderts fie 
heute befigert; noch jegt aus ihm zu ſchoͤpfen find. 
Ihre altgermanifchen Vertrags» und freien Zuſtimmungsrechte, ihre 
Friedend« und Geſammtbuͤrgſchaften, freie Volks: und Gemeindeverfamm: 
lungen und Gerichte ſtellten die Angelfahfen in England in einer 
unter dem Zitel leges Edowardi noch heute vorhandenen Aufzeihnung unter 
Wilhelm dem Eroberer deſſen factifhem Despotismus entgegen und 
er befhwor fieihnen als ihr Recht. Das Volk aber, auch im Ungtüd 
wenlaſtens Teine freim Nehtsgrundfäse fefthaltend, deutete feinen 
Beinamen conqueror als „Erlanger, der nicht durch Gewalt, fondern 
durch das verfaffungsmäßige Erbrecht (das er wirklich angefprochen hatte) 
ben Thron befige. Und als Johann ohne Rand zu anderer Unbill auch 
noch bie für bie freien Engländer höchfte hinzufttate, daß er durch Annahme 
paͤpſtlicher Belehnung den Vertragsgrundfag beeinträchtigen wollte, da kün« 
digte ihm die ganze Nation fo einmüthig den Gehorfam auf, daß nur fieben 
einzige Vaſallen ihm treu blieben. Das große Grundgefeg der Magna 
Charta ftellte nun mitdem ausdrüdlic, wiederholten Namen „als Grund» 
vertrag der Nation mit dem Könige” die Volksfreiheiten, Schmurgericht 
u. f. w. zufammen und organifirte förmlich für den Fall eines Bruchs diefes 
. Vertrags von Seiten des Königs allgemeine Verweigerung des Gehorſams 
und Widerſtand — „bis der König den Grundvertrag mie: 
ber anertenne und heilig zu halten beſchwoͤre“. Und viele 
Male forderte das Volk von ihm und feinen Nachfolgern folche erneuerte eib: 
liche Zufage des noch jest gültigen, im Kroͤnungseid aller Könige mit bes 
ſchworenen Grundvertrags, diefes in fo vieler Hinficht herrlichen Grund: 
vertrags, der zu feinem Ruhme, obwohl im rohen Mittelalter und in einer 
Revolution entftanden, doch weislich die fpätere Anmaßung einer Richter: 
und Strafgewalt über den König von Seiten der andern Vertragspartei auss 
ſchließt. Auch in den fhlimmften Zeiten hielt in Gemeindeverfaffungen und 
autonomifchen Vereinen , im Öffentlichen Volks-⸗Gericht und vor Allem durch 
abgefonderte oder gemeinfchaftliche Bewilligungen der Steuern, durch welche 


29) ©. biefe beiden Artilel und den Artilel Stadtverfaffung. 


Grundgeſetz, Grundvertrag. 555 


mittelbar bie Regierungsbefchlüffe bewilligt werben, das englifche Volk feine 
grumdvertragsmäßigen Urrechte (english birth-rights) fo gut wie möglich 
feſt. Als endlich unter den Stu arts bie ſchweren Kämpfe des Volks für 
bie Behauptung und zeitgemäße Ausbildung freier Berfaffungsrechte entftans . 
den, ba war ber Vertrag in Widerfpruch mit einem papiftifchen goͤtt⸗ 
lichen KönigesRecht ber Mittelpunkt diefes welthiftorifchen Kampfes. 
Vermoͤge jenes göttlichen Rechts behaupteten die vier fuartifchen Könige 
ſtets, fobald fie e6 nur wagen zu können glaubten, ebenfo wie ſpaͤter bie 
Bourbonen, das göttlihe monarchifche Recht mit allen feinen vorhin 
angegebenen Folgefägen. Sie empoͤrten noch mehr durch biefe beleidi⸗ 
genden Grundſfaͤtze als durch bie factifchen Verlegungen bie Gemuͤther. 
Kilmer unternahm «6, in feinem Buch Patriarcha, in welchem er 
Adam als den erfien von Bott eingefegten Patriarchen und König barflelite 
und in ununterbrochener Reihenfolge bie Könige und ihr göttliches Recht an 
denfelben anreihte, die unglüdliche Theorie förmlich zu vertheidigen. Gen 
fiegeeicher Gegner Algernon Sidney flarb am 18. Dec. 1683 auf dem 
Schaffot, nachdem fein Werk über bie freien Vertragsgrundfäge vom Blut⸗ 
richter Jeffries als gültiger Hochverrathszeuge gegen ihn erklärt worden 
war. Wenige Monate zuvor war [yon fein Unglüdsgenofie Lord Rufs 
fell durch das Henkerbeil gefallen, er, der noch jept ben Engländern ale 
Märtyrer ihres freien Rechts und als flandhafter Vorkaͤmpfer der Lehre vom 
thätigen Widerftand negen Unterdrädung hochſteht. Ex hätte fein Leben 
retten tönnen, wenn er den Grundſatz hätte verleugnenwollen, „daß eine freie 
„Nation, wie die engliſche, das Recht habe, Religion und Freiheit zu vers 
„theibigen, twenn fie angegriffen würden, gefchähe es auch unter Vorſchuͤtzung 
„von Geſetzen“. An feinem Kobestage, den 21. Julius 1683, erließ die ſer⸗ 
vile Dienerin des Abſolutismus, Die Univerfitdt Oxford, ein Decxet, 
welches zu Ehren der heiligen Dreifaltigkeit ewige Verdammniß ausfpeicht 
über die Lehren: „daß die bürgerliche Gewalt vom Volk ausgehe, daß ein 
„Vertrag im Staate obwalte, einerlei ob ſtillſchweigend oder ausdruͤcklich abs 
„geſchloſſen, durch deſſen Verlegung von der einen Seite auch die Verbind⸗ 
„lichkeit des andern Theile erlöfche, daß der Fuͤrſt, welcher nicht gemäß 
„ben göttlichen und menfchlichen Geſetzen regiere, fein Recht auf die Regies 
„rung verwirke”. Zugleich wurden vier und zwanzig Säge aus den Schriften 
von Buhanan, Milton, Knox, Hobbes und Andern ale ketzeriſch 
und gottesläfterlich bezeichnet und bie Verbrennung ber Bücher, aus denen 
fie ſtammen, befohlen, der große John Lode aber aus dem Orforder 
CEhriſt⸗Church⸗Collegium ausgefloßen. Aber— fo fagt Dahl» 
mann — „ber Tag kam und war nicht fern, ba bem Locke“ (deſſen von 
bem VBertragsarundfas ausgehende politifche Theorie ber Oberrichter Lorb 
Gamden im Parlament ald aus dem Herzen der englifhen 
Verfaſſung geſchoͤpft erklärte) „fein Recht widerfuhr; und aud) den 
Buͤcherverbrennern. Im erſten Jahr der Königin Anna, welche durch 
bie Praris des Widerſtands“ (oder befler des Wertragsgrundfages) „den 
Thron beſtieg, iſt jenes Oxforder Decret auf Befehl des Parlaments oͤffent⸗ 


556 Grundgeſetz N Grundvertrag. 


lich den Flammen uͤbergeben“ ?0). * Ja, man ging, gereizt durch das immer 
und immer neue Unglüd, welches das göttliche Recht durch bie Angriffe 
auf bie Vertragsgrundſaͤtze fuͤr das Koͤnigthum und das Volk hervorrief, end» 
lich fo weit, die Behauptung des göttlihen Rechts und feine Angriffe auf 
Bertragsgrundfäge in noch heute unaufgehobenem Geſetz als Hochverrath 
mit bem Zode zu bedrohen. Und furchtbar ungluͤcklich endete die Befireitung 
der engliſchen Grundvertraͤge durch die ftuartifchen Könige. Als endlich felbft 
die enufeslichen Mahnungen des Unglüds Karl's I. von feinem Sohne 
Kartli, und noch mehr von Jacob II. vergeffen waren, ba fiel am Ziele 
der langen, flets erneuerten blutigen Kämpfe zwi (den den feindlie 
den Principien jenes görttlihen Rechts und des Vertrags 
bie Krone von Jacob’8 Haupt und fein Koͤnigshaus ftarb aus in Verban⸗ 
mung und Bergeffenheit, 
Unter dem Vorfige Sohn Hampbden’s, des Enkels jenes geprüften 
—— geſetzlichen Widerſtand, beſchloß am 28. Januar 1689 das 


ein Jacob hat burd) feinen Verſuch, die Berfaffung diefes Königs 
„reiches zu vernichten, indem er ben urfprünglihen Vertrag ziwi> 

kden König und Volk brach und durch feine Verlegung der Grund⸗ 
naelege, bem ee der Fefuiten und anderer gottlofen Leute gemäß, und 
„durch feine Entweichung aus dem Königreich die Regierung niedergelegt und 
„der Thron ift dadurch erledigt.” 

Das Oberhaus ſtimmte bei und auch Jacob's legitimem Sohne 
wurde bad Erbrecht entzogen und mit BVeraͤnderung ber Thron— 
folgeordnung Wilhelm von Dranien und Maria und dann 
das Haus Hannover auf den Thron berufen. Europa erkannte alsbald diefe 
neue Dynaſtie ald legitim an. Feſt und unerfchüttert blieben ſeitdem Die 
englifhen Vertragsgrundfäge. Im ungeftörteften Krieden, ohne irgend einen 
befannten Verſuch, ihnen das faljche göttliche Recht wieder entgegen zu fegen, 
und ohne daß die hoͤchſte Verehrung, die dem englifchen Könige: 
throne und Königsrechte feit der Befeftigung der Vertrags: 
geundfäge mehr ale faft inirgend einem andern Lande zu 
Theil wurde, in den freieften Parteitämpfen und Reformverfuchen irgend 
gefährdet märe, entwidelte ſich ſeitdem immer fteigend die Macht und der 
Ruhm und das Glüd des Throns und des Reichs von Großbritannien. 

Der gegenwärtige erfte englifhe Minifter, Sohn Ruffell, groß 
und allgemein geachtet wegen feiner praftifchen Staatsweisheit und ein gruͤnd⸗ 
licher Kenner und Bearbeiter der englifhen Staats: und Verfaſſungsgeſchichte, 
führt in feiner Geſchichte der britifhen Verfaffung die Noth: 
wendigkeit und Wohlthätigkeit der VBertragsgrundfäge und die Gefahren ihrer 
Verleugnung aus. Er ſtimmt Hume und Montveran (II. 22) bei, 
nad) weldyen die Stuarts wegen Nickhtanerfennung der Lehre 
vom Staatsvertrage den Thron verloren. Erfagt: „Einzig 


30) Dablmann, Gefhichte ber englifhen Revolution. 3. Aus⸗ 
gabe ©. 330, 


Grundgeſetz, Grunbverteag. 557 


„den falfhen Begriffen, welche Jacob I. von bee Koͤnigsge⸗ 
„walt batte, iſt der Fall des Daufes Stuart zugufchreiben. Diefe Fürs 
„fen warm von Natur nichts weniger als tyeannifch. Aber fie glaubten, 
„bie abfolute Gewalt fei ein ihnen von der Vorſehung übertragenes Recht. 
„Willkuͤrliche Auflagen, Confiscationen, Geldſtrafen, Zodesurtheile waren 
‚in ihren Augen nur Ausflüffe ihrer Iegitimen Gewalt. Jacob vererbte 
„dieſe Lehren auf feinen Sohn Karl, der feinen Kopf verlor, weil er fie 
„geltend machen wollte. Sein Enkel, ber fie im feiner ganzen Confequenz 
„berzuftellen teachtete, fiel vom Throne. . Die Familie erlofch zulegt ganz, 
„nachdem fie die Welt laͤngſt vergeſſen hatte. Das hieß die Unausführbarkeit 
„einer Theorie theuer bezahlen. Aber dennoch wäre ihre Ausführung den 
„Engländern noch theurer zu ſtehen gekommen“. 

Waͤre es nicht fo unendlich ſchwer, wenigſtens für gewöhnliche Mens 
ſchen, gegen ihre Vorurtheile und Lieblingsneigungen die Erfahrungen ihrer 
Brüder zu ihrem eigenen Velten zu benugen, fo hätte man gfauben follen, 
blos allein diefe englifchen Gefchichten hätten für immer die Fuͤrſten und ihre 
Rathgeber von deren Wiederholung und von dem unglüdlihen Wahne des 
göttlichen Rechts befreien müflen. Doc) dem war nicht fo. 

Auch das Recht und die Berfaffung des franzöfifchen Reiche ruh⸗ 
ten auf den altgermanifchen Vertragsgrundfägen und auch hier wurden fie 
factifh verlegt. Aber fie wurden auch hier weder in Beziehung auf die Pros 
vinzial» noch auch rücfichtlich der Reichsverfaſſung jemals von den Ständen, 
von den Rechtögelehrten und vom Volke gänzlich vergeffen und aufgegeben ?1). 
Und es mar ficher die größte Schwäche in der glänzenden Regierung Lub⸗ 
wig's XIV., es war — man muß es wiederholen — die Quelle derjenigen 
BVerkehrtheiten feiner Regierung, welche die Revolution und das 
Unglüd feiner Nachkommen begründeten, daß er bie Vertrages 
geundlagen, daß er bes großen Heinrich Brundfäge vergaß. 

Doch gerade das immer fihhtbarere Hervortreten des göttlichen Rechts 
und feiner Kolgen rief die alten Vertragsprincipien wieder wach umd im den 
Kampf. Es entfland fo auch hier der blutige Streit zwifchen biefen feinds 
feligen Principien, welcher ebenfo den Kern und Mittelpunkt der franzoͤſiſchen 
wie den der englifchen Revolution bildet. Unter den Folgen jener Verkehrtheiten 
meinen wir zunaͤchſt die Schuldenanhdufung für die unfinnige fürftliche Pracht, 
fodann die unnoͤthigen Kriege für das vergätterte Rönigthum, für das fuͤrchter⸗ 
liche: l’etat c’est moi, und für jenes int ſpaniſchen Erbfolgekrieg verfochtene, 
aber befiegte legitime göttliche Herrſcherrecht. Dieſes follte als angebliches 
Erbrecht detoute necessite, dem Könige und den Eöniglichen Prinzen ſelbſt 
die Freiheit einer Thronentfagung zerſtoͤren. 

Das Recht zu folcher Entfagung follte ebenfo wegfallen role das Recht 
ber Könige für fi und ihre Nachfolger irgend eine Beſchraͤnkung ihres Koͤ⸗ 
nigswillens und alleinigen beltebigen Entfcheidens zu bewilligen, da auch bie 
weniger guten und einfichtigen Fürften fih auf „den göttlihen In⸗ 
flinct der Könige” verlaffen koͤnnten. Es waren diefes derfeibe koͤnig⸗ 


81) ©. bie Artikel Deutſche Staatsgefhichte und Frankreich. 


liche Inſtinct und baffelbe göttliche Recht, welche nach ber damaligen gögen- 
dienerifchen und abergläubigen Königetheorie unfehlbare weife Regierungs⸗ 
befchlüffe bewirkten und zugleich — mie man in Frankreich glaubte — durch 
bie Berührung der Eöniglichen Perfon alle Kröpfe heilten, oder, tie man im 
Dänemark nah Vandal's Vertheidigung der ftuartifchen Theorie waͤhnte, 
den Königen bie Kraft verlichen, durch die Worte: „von Gottes Gnaden ich 
ber König’, alle böfen Beifter oder die Geſpenſter zu bannen. 

Sogleich in den erften Anfängen der franzöftfchen Revolution tritt dieſes 
göttliche Recht in den Entſcheidungskampf mit den immer lauter werdenden 
Vertragsgrundſaͤtzen. Dieſer tödtliche Kampf veranlaßte fehr erklaͤrlich auch 
ſchreckliche Webertreibungen, Mißbraͤuche und Ausartungen der Vertrags: 
grundſaͤtze. Und diefe und ihr Kampf veranlaßten jegt ähnliche Greuel, 
wie fie in bee Feudalzeit undunter Louis XIV., unter dem Regen 
ten und unter Louis XV., wie fie in der Bartholomäusnacht, in den Huges 
nottenverfolgungen und Dragonaden, das göttliche Koͤnigsrecht er⸗ 
zeugte. Sie veranlaßten ähnliches Unglüd für zahlloſe unſchuldige Familien, 
wie jene Eroberungskriege des abfoluten Koͤnigthums, welche fo verſchwen⸗ 
berifch das Blut und das Vermögen dee Bürger opferten, welche aber 
Louis XIV. „das eigenthümliche Vergnügen der Könige” 
nannte. Buchftäblich fo wie in England genügte auch in Frankreich die erfte 
blutige Revolution, die Entfegung und Verbannung der Königsfamilie, noch 
nicht zur Heilung bes verderblihen Wahns. Der Streit erneuerte fi 
auch bier nach der Zuruͤckberufung des Rönigshaufes und wurde auch hier erſt 
durch die zweite Revolution, durch die neue Entfegung und Verbannung ber 
alten Dynaſtie zum bleibenden Siege des Vertrags oder des cons 
flitutioneßen Principe entfchieben. 

Mur wenige Einzelnheiten dürfen hier an biefe Kämpfe erinnern, um 
unfere Srundanficht von denfelben zu beftätigm. Die hoͤchſten Gerichtshöfe, 
die Parlamente, in ihrer Entftehung zufammenhängend mit den alten 
Reihe: Parlamenten, zunaͤchſt mit Ausſchuͤſſen derſelben, fuchten ben 
Mangel der Einberufung ber Reichsftände, welche dies vertragsmaͤßige Vers 
haͤltniß der Geſellſchaft zu erhalten beflimmt find, einigermaßen zu erfegen. 
Sie vertheidigten,, dem nationalen Königthume gegenüber, bie nationalen 
Vertragsrechte. Sie thaten dieſes befonders unter ZudwigXVL Sie thaten 
es bei ihrer Beharrlichkeit und bei der Unterftügung ber Volksſtimmung meift 
fiegreih. Sie verweigerten wiederholt die Billigung und Einregiftrirung der 
Steuers und Anlehengefege, forderten endlich mit der lauten Volksmeinung 
Sicherung der Volksrechte durch Einberufung von Reicheftänden. Sie nah⸗ 
men auch, trog koͤniglichen Gegenbefehls, Anklagen gegen den Minifter an. 
Der Hof fuchte durch Einberufung blos berathender Notablen der Einberus 
fung einer wahren Reicheverfammlung zu entgehen. Er feßte der legteren 
das göttliche Recht und jenen Srundfag von Ludwig XIV. entgegen, daß ein 
König ſelbſt und allein entfheiden müffe und auch da, wo bie 
Einficht ihn verläßt, ſich auf den göttlichen Inſtinct der Könige ver 
laſſen koͤnne. Aber die Notabien von 1787, welche man durch Eeinliche Mit⸗ 
tel, durch Sicherung ber Stimmenzahlen vermittelft Eünfllicher Abfonderungen 


Grundgeſetz, Grundvertzag. 569 


nach Ständen und Sectionen und durch lächerlich werdende Beſchraͤnkungen 
ihrer Berathungen 2) zu entkrdften und zu beherrſchen ſuchte, reisten nur 
noch mehr auf. Dean fah deutlih den unglädlihen Mangel an Vers 
trauen zur Nation, die zu gleihen Waffen herausfordernden beleidigenden 
pfiffigen Kriegsliſten. Ebenſo erbitterte die gerade damals vorgenommene 
ungerechte Beguͤnſtigung des Adels, dem man das ausfchliefliche Recht zu 
Offizierſtellen verlieh. In ihm fuchte man unglüdfeliger Weife die Hilfe 
gegen die Freiheit und empörte dadurch das Volk mehr als durch jeden ans 
deren Mißgriff. So erzwangen denn die Forderungen des Volks und der 
Parlamente endlich die Reichsftände, zuerſt nur das zögernde Verſprechen ihrer 
Berufung in fünf Jahren, dann 1788 für's nächfte Jahr. Am 3. Mai 1788 
hatte das Pariſer Parlament einftimmig gegen bevorſtehende Lönigliche 
Edicte Die Rechte der Nation verwahrt und namentlid ihre Steuerverwillis 
gungsrechte, die Unabfegbarkeit der Magiſtrate, die perfönliche Freiheit der 
Bürger fo wie das Recht der Parlamente, die der Verfaſſung der Provinzen 
und bes Reiches widerfprechenden Böniglichen Befehle nicht einregiſtriren zu 
müffen. Das Parlament erklaͤrte es dabei für feine Pflicht, „mit unerfchüts 
„terlicher Standhaftigkeit alle Plane zu befämpfen, welche die Nation gefähre 
„den, und insbefondere auch das Syſtem des einzigen Willens, wel 
„Ges ſich in den verfchiedenen dem Könige abgewonnenen Worten klaͤrlich 
barftele und den traurigen Plan ber Miniſter aufdede, die Grund⸗ 
„Lagen der Monardie zu vernichten”. 

Solche Andeutungen des Spitems des göttlichen abfoluten Rechts, weis 
chem hier das Parlament jene Nationalrechte und feinen Widerfland entgegens 
fegte, waren unter andern Worte wie die des Königs in der Läniglichen 
Sitzung von 1787: „Ein großer Staat bedarf einen einzigen König, ein 
„einziges Geſetz, eine einzige Einregiftrirung”; vollends aber die Worte ſei⸗ 
ned Kanzlers Lamoigon in feiner Rede Über das koͤnigliche Verſprechen 
ber Reichsftände , welche die oͤffentliche Meinung aufs Aeußerſte erbitterten: 
„Es verſteht fi) von felbft — fo lauteten diefe unglüdlichen Worte — daß 
„biefe Reichsſtaͤnde nur berathende find, da ber König das ihm und feis 
„ner Familie von Gott verliehene Recht niht ſchmaͤlern darf”, 
Er deutete noch ferner mit der alleinigen Verantwortlichkeit des Könige gegen 
Gott, auf die auch von den Stuarts ſtets feftgehaltene, jedes Rechtsgefuͤhl 
und jeden freien Dann empörende Folge des göttlichen Rechts, daß daſſelbe 
über allen Rechten und Verträgen und Fürftenworten und ihren Befchräns 
Bungen ftehe, daß alle Rechte und Zufagen nur willkürlich wiberruflidhe Gna⸗ 
dbenprivilegien feien. | 

Doch nicht minder lebendig als bei den Parlamenten und Schriftftellern 
hatten fich die alten Vertragsrechte in den Ständen mehrerer Provinzen des 
Reiches erhalten. Ihre Berfammlungen waren wenigftens zum Theil keines⸗ 
wegs wie die der Reichsftände feit Anfang des 17. Jahrhunderts ganz erlos : 


32) Der Volkswitz fagte: „man babe die Hühner (das Bott) durch fie 
fragen laffen, in welher Brühe, aber nit, ob fie überhaupt vers 
zehrt fein wollten.” 


558 Grundgeſetz Grundverrag 


fiche Infkinet und dafferbe göttliche Recht, welche nad) der damaligen gögen« 
bienerifchen und -abergldäubigen Königstheorie unfehlbare weife Regierungs⸗ 
beſchluͤſſe bewirkten und zugleich — wie man in Frankreich glaubte — durch 
bie Berührung ber königlichen Perfon alle Kröpfe heilten, oder, toie man in 
Dänemark nad) Vandal's Vertheidigung der ftuartifhen Theorie waͤhnte, 
ben Königen bie Kraft verliehen, durch die Worte: „von Gottes Gnaden ich 
ber König”, alle böfen Geifter oder bie Gefpenfter zu bannen. 

Soglelch in den erften Anfängen ber frangöfifchen Nevolution tritt Diefes 
göttliche Recht in den Entſcheidungskampf mit ben immer lauter werdenden 
Vertragsgrundfägen. Diefer tödtliche Kampf veranlaßte ſehr erklärlih auch 
ſchreckliche Uebertreibungen, Mifbräuche und Ausartungen der Vertrags: 
grundfäge. Und diefe und ihe Kampf veranlaften jest ähnliche Greuel, 
mie fie in ber Feudalzeit unbunter Rouis XIV,, unter dem Regen- 
ten und unter Louis XV,, mie fie in der Bartholomäusnadht, in den Huges 
nottenverfolgungen und Dragonaben, das göttlihe Königsredht er 
zeugte, Sie veranlaßten ähnliches Unglüd für zahlloſe unfchuldige Familien, 
tie jene Eroberungsfriege bes abfoluten Koͤnigthums, welche fo verſchwen⸗ 
derifh das Blut und das Vermögen der Bürger opferten, welche aber 
Louis XIV. „das eigentbämlihe Vergnügen der Könige” 
nannte. Buchftäblich fo wie in England genügte auch in Frankreich die erfte 
blutige Revolution, die Entfegung und Verbannung der Königsfamilie, noch 
nicht zur Heilung des verderblichen Wahns. Der Streit erneuerte fich 
auch hier nach der Zuruͤckberufung des Koͤnigshauſes und wurde auch hier erft 
durch bie zweite Revolution, durch die neue Entfegung und Verbannung ber 
alten Dynaftie zum bleibenden Siege des Vertrags ober des cons 
ſtitutionellen Princips entfchieden. 

Nur wenige Einzelnheiten dürfen hier an diefe Kämpfe erinnern, um 
unfere Grundanſicht von denfelben zu beftätigen. Die höchften Gerichtshöfe, 
die Darlamente, in ihrer Entftehung zufammenhängend mit den alten 
Reihs:Parlamenten, zunddft mit Ausfchüffen derfelben, fuchten den 
Mangel der Einberufung der Reiheftände, welche dies vertragsmäßige Vers 
haͤltniß der Geſellſchaft zu erhalten beftimmt find, einigermaßen zu erfegen. 
Sie vertheidigten, dem nationalen Königthume gegenüber, die nationalen 
Vertragsrechte. Sie thaten diefes befonders unter Ludwig XVI. Sie thaten 
es bei ihrer Beharrlichkeit und bei der Unterflügung der Volksſtimmung meift 
fiegreih. Sie verweigerten wiederholt die Billigung und Einregiſtrirung der 
Steuers und Anlehengefege, forderten endlich mit der lauten Volksmeinung 
Sicherung der Volksrechte durch Einberufung von Reicyeftänden. Sie nah: 
men auch, trog Pöniglichen Geyenbefehls, Anklagen gegen den Minifter an. 
Der Hof ſuchte durch Einberufung blos berathender Notablen ber Einberu: 
fung einer wahren Reihsverfammlung zu entgehen. Er feste der legteren 
das göttliche Recht und jenen Grundfag von Ludwig XIV. entgegen, daß ein 
König felbft und allein entfheiden müffe und aud) da, mo bie 
Einfiht ihn verläßt, fi auf den göttlichen Inſtinct der Könige ver: 
laffen könne. Aber die Notablen von 1787, welche man durch Eleinliche Mits 
tel, durch Sicherung der Stimmenzahlen vermittelft Fünftlicher Abfonderungen 


Grundgeſetz, Grundvertrag 559 | 


nad) Ständen und Sectionen und durch lächerlich werdende Befchränkungen 
ihrer Berathungen 32) zu enikräften und zu beherrſchen fuchte, reizten nur 
noch mehr auf. Man fah deutlih den unglüdlihen Mangel an Vers 
trauen zur Nation, die zu gleichen Waffen herausforbernden beleidigenden 
pfiffigen Kriegsliſten. Ebenfo erbitterte die gerade damals vorgenommene 
ungerechte Begünftigung des Adels, dem man das ausfchliekliche Recht zu 
DOffizierftellen verlieh. Im ihm fuchte man unglüdfeliger Weife die Hilfe 
gegen die Freiheit und empörte dadurch das Volk mehr als durch jeden ans 
deren Mißgriff. So erzwangen denn bie Forberungen des Volks und ber 
Parlamente endlich bie Reichsftände, zuerſt nur das zögernde Verfprechen ihrer 
Berufung in fünf Jahren, dann 1788 für's nächfte Jahre. Am 3. Mai 1788 
hatte das Parifer Parlament einflimmig gegen bevorfichende Lönigliche 
Edicte Die Rechte der Nation verwahrt und namentlich, ihre Steuerverwilli⸗ 
gungsrechte, die Unabfegbarkeit der Magiſtrate, die perfönliche Freiheit der 
Bürger fo wie das Recht der Parlamente, die der Verfaſſung der Provinzen 
und bes Reiches mwiderfprechenden koͤniglichen Befehle nicht einregiflriren zu 
müffen. Das Parlament erklärte es dabei für feine Pflicht, „mit unerfchäts 
„terlicher Stanphaftigkeit alle Plane zu bekämpfen, welche die Nation gefähre 
„den, und insbefondere audy das Syſtem des einzigen Willens, wel 
„Ges fi in den verfchiedenen dem Könige abgemonnenen Worten klaͤrlich 
„barftele und den traurigen Plan der Minifter aufdede, die Grund⸗ 
„Lagen der Monardie zu vernichten”. 

Solche Andeutungen bes Syſtems des göttlichen abfoluten Rechts, wels 
chem hier das Parlament jene Nationalrechte und feinen Widerſtand entgegen» 
fegte, waren unter andern Worte wie die des Königs in ber koͤniglichen 
Sitzung von 1787: „Ein großer Staat bedarf einen einzigen König, ein 
„einziges Geſetz, eine einzige Einregiftrirung”; vollends aber die Worre ſei⸗ 
nes Kanzlers Lamoigon in feiner Rede Über das koͤnigliche Verſprechen 
ber Reichsftände , welche die Öffentliche Meinung aufs Aeußerſte erbitterten: 
„Es verficht fi von ſelbſt — fo lauteten diefe unglüdlichen Worte — daß 
„dieſe Reichsflände nur berathende find, da der König das ihm und feis 
„ner Samilie von Gott verlichene Recht nicht ſchmaͤlern darf”, 
Er deutete noch ferner mit der alleinigen Verantwortlichkeit des Königs gegen 
Bott, auf die auch von den Stuarts ſtets feftgehaltene, jedes Rechtsgefühl 
und jeden frein Dann empoͤrende Folge des göttlichen Rechts, daß daſſelbe 
über allen Rechten und Verträgen und Fürftenworten und ihren Beſchraͤn⸗ 
ungen flehe, daß alle Rechte und Zufagen nur willfürlich widerrufliche Gna⸗ 
denprivilegien feien. Ä 

Doch nicht minder lebendig als bei den Parlamenten und Schriftftelern 
hatten ſich die alten Vertragsrechte in den Ständen mehrerer Provinzen des 
Reiches erhalten. Ihre Berfammlungen waren wenigſtens zum Theil keines⸗ 
wegs wie bie der Reichsſtaͤnde feit Anfang des 17. Sahrhunderts ganz erlo⸗ 


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32) Der Volkswitz fagte: „man babe die Hühner (das Bolt) durch fie 
fragen laffen, in welher Brühe, aber nit, ob fie überhaupt vers 
zehrt fein wollten.” 








ſchen. Doch ſelbſt die ber Dauphine, bie feit 1628 nicht mehr verſammelt 
waren, verſammelten ſich jetzt von ſelbſt und forderten ebenfalls Reiche» 
fände. Aber ſchon früher gingen die Stände und das Volk von Bretagne 
‚mit rerailde: ertheidigung des we io voran. Schon 1782 hatten 
‚hier die Stände gegen eine willfürliche Veränderung in einem an ſich umbe- 
deutenden Rechte gekämpft. Da vernahm ihre Deputation aus dem Munde 
des Königs die Worte: „daß ihre Rechte ihnen nur durch bie Königliche 
Gnade feiner Vorfahren bewilligte Privilegien und alfo widerruflich feien”. 
Diefes erweckte allgemeine Entrüftung und die Stände proteftirten ſchriftlich 
gegen den König. Ste ferien: — 
unſere Vorrechte und Freiheiten find mefentliche Bedingungen bes 
„Vertrags, durch welchen Sie über die Bretagne regieren. Wir föhnen 
‚ Site, die traurigen Folgen von Ausdrüden nicht verheblen, 
welche den alten Grun dſaͤßen des Natſonalrechts von Grund 
‚aus widerſtreiten. Sie find hoͤchſt beunruhigend für Unterthanen, 
— ihrem Souveraͤn ebenſo ergeben als auf ihre Verfaſſungstechte eifer: 
„Nüchtig find, für Unterthanen, die nicht an Enechtifchen Gehorfam, fon- 
„dern an einen Gehorfam gewöhnt find, ber durch verſtaͤndige Gefege geleitet: 
"ft, welche Ew. Majeftät zu achten gefhworen haben. Diefe Gefinnung ift 
„in unfern Herzen eins mit ber Liebe zum Vaterlande. Ja, Sire! biefen 
heiligen Namen Eermen die rule: fie haben ein Vaterland, fie haben 
„Pflichten zu erfüllen, fie haben Rechte, bie fie um des Intereſſes Ihres 
„Staates tolllen nicht vergeffen dürfen. Als Vater Ihres Voikes werben 
„Sie nur die Gefege ausüben. Die Gefege herrſchen durch 
„Sie, und Sie herrfhen durch die Geſetze. Die Bedingun: 
„gen, welde Ihnen unferen Gehorfam ſichern, machen einen Theil der Ge: 
„ſetze Ihres Königreiches aus”. 

Die Empdrung der Gemüther im Volke über die Verlegungen ber 
Vertragsgrundfäge und die Mißſtimmung des Hofes über die Bekimpfung 
des göttlichen Rechts führten zu militärifcher blutiger Gewalt. Dablmann 
fagt bei diefer Veranlaffung: „Ludwig mar’ (durdy das görtliche Recht) 
„Despot geworden, ohne es zu wollen‘. Von nun an aber fieht man bie 
Bretagner ſtets in den vorderften Reihen bes Sreiheitsfampfes und fpäter der 
Revolution. Als am 8. Mai 1788 der König in einem lit de justice gegen 
den Miberjpruch der Parlamente die Einregiftrirung der Steuergefeße er: 
zwang, den Parlamenten das Einregiftrirungsrecht nahm und andere Aende— 
rungen machte, unterzeichnete bie Mehrzahl der bretagnifchen Ebelleute eine 
Schrift, im welcher fie Jeden für ehrlos erflärten, der in der neuen Ordnung 
der Dinge eine Stelle einnähme, und ließen durch zwölf Abgeordnete dem 
König eine Anklage der Minifter überreichen. Als diefe Abgeordneten in die 
Baftille geſetzt wurden, ſchickten die Stände noch eine zahlreichere Deputa: 
tion, um ihre Loslaſſung zu fordern. Sie veranlaften in Paris lebhafte 
Verhandlungen, in welchen auch Adelige anderer Provinzen ihre Erklärung 
unterzeichneten. In der Provinz nöthigte man ben Intendanten der Provin; 
zur Flucht. Bald zeigten fit unruhige Bewegungen aud) in anderen Pro: 


Geundgefeg, Srundvertrag, 561 


vinzen; Verbindungen ber Bretagner für die Volksrechte aber enthielten ben. 
Keim zum [pätern Sacobinerclub. 

Es liegt tief in der Natur der Sache und «6 liegt Har in der 
Geſchichte der Franzöfifchen Revolution zu Zage, daß gar nichts Andes 
res fo fehr das Mißtrauen und die Empdrung der Gemuͤther aufftachelte, 
daß nichts fo fehr die wohlthätige, unentbehrliche Achtung des Koͤnigthums 
unterdrüdte, und die Außerfien Kriegsmittel in den Augen der Uns 
geduldigen, der an friedlicher Rechtsgewaͤhrung Verzweifelnden, rechtfertigte, 
als jene Entgegenfegung der Principien des göttlichen Rechts gegen die bes 
reits durch Koͤnigswort zugefagten Volksrechte. Bor Allem wirkten auf ſolche 
Weiſe jene unheilfhwangeren Bemeife und Anzeigen, daß bie 
Königin und der unglüdliche König den von den emigrirten Ariſtokraten her: 
übertönenden von ausmwärtigem Königebund unterftügten Verlodungen über 
Koͤnigewort erhabenen göttlichen Rechts nachgegeben hätten. Jede neue 
gewaltfame Scene der franzöfifchen Revolution, ausgehend von der Erfchüts 
terung bes Öffentlichen Glaubens an die Treue des Königs in feinen Zufagen 
und dieſe unglüdfelige Erfhütterung vermehrend, Enüpfte ſich fort: 
an jedesmal an neue Entdedungen foldyer Beweife: | 

Als nach endlich gemonnener Rüdkehr die fo lange verbannte Könige: 
familie und die revolutionsmüde Nation in der Charte, duch welche Zub: 
wig XVII. nah ausdruͤcklicher Erklärung den von ber Nation ges 
wünfhten Berfaffungszuftand ihr hatte verbürgen möllen, 
einen vereinigenden und fihhernden Vertrag gefunden zu haben ſchien, da 
war es wiederum jener nichts vergeflende und nichts-Iernende Adel der Emi⸗ 
gration , welcher durdy das göttliche Recht ihn zerriß. Es war an feiner 
Spige jener feinem Königshaus und fich felbft verderbliche Ritter bes Mittel⸗ 
alter, der Herzog von Artois (Charles X.), welcher — abermals 
huldigend dem Uebermuthe und der Willkür des göttlichen Koͤnigsrechts und 
auch aberz:ald ermuthigt durch neue ausrodrtige heilige Allianz abfoluter Koͤ⸗ 
nige, durch einen das Mationalgefühl empörenden auswärtigen Einfluß, 
das göttliche Recht dem Grundvertrag entgegenfegte. Nicht auf ihm, jo 
erklaͤtte man täglich in Wort, Schrift und That, fo erklärte feierlich der koͤnig⸗ 
liche Kanzler d'Ambrai in Öffentlicher Kammerfigung, „niht durch 
Bertrag, fonden durh Bott und das Schwert feiner Vors 
fahren regiere ber König.” Man hatte abermals vergeffen oder noch 
nie begriffen, daß Gott ein Gott der Treue und Wahrheit, ein Schirmer auch 
des Rechte der Völker, ein Rächer der Untreue und menfchlichen Uebermuths a 
iſt. Man hatte vergeffen oder nicht begriffen, welche Gewalt, bei einmal ers 
wachtem Sreiheitögefühl eines Volkes, in ben Worten liegt, bie ein Volksmann 
im Anfang der erſten feanzöfifchen Revolution dem angeblichen hiſtoriſchen 
Recht des feudalen Ariſtokratismus und Abfolutismus entgegenfegte: „Das 
„tirt Ihr — fo lauten feine kecken Worte — datirt Ihe Eure Nechte von denz 
„Tage der Eroberung, nun fo datiren wir bie unfrigen von dem Tage vor der 
„Erdberung; gründet Shr fie auf Gewalt, wohl, fo kommt her!” 

Vergeblich warnte der dem Königthum fo treu ergebene , der ſtaatsweiſe, 
ehrmwürbige Greis Royer Collard. Er ſetzte in der Sisung vom 24. Fe⸗ 

Suppl. z. Staatsier. II. 36 


* 
I 


‘ 


562 Grundgeſetz, Grundvertrag. 


bruar 1824 jener Unheilsichre des göttlichen Nechts im Parlamente die Ver⸗ 
tragsgrundfäge und ihre Vertheidigung entgegen und fagte dabei unter andern 
folgende Worte: 


| „Die Quelle unferer Könige ift nicht, wie die des Nils, in unzugäng» 
„lichen Wüften verborgen und wir wiſſen, daß fchon bei Anfang unferes Koͤ— 
„migthums das Volk der Franken ein Öffentliches Recht hatte, welches 
„don Ihm felbft ausging, weldes «# nicht von feinen Königen ers 
„halten hatte und bas man ibm nit rauben Fonnte, Diefes öf: 
Fentliche Recht ruhte gänzlich auf der Xheorie vom Vertrage 
„und von der „Wechſelſeitigkeit.“ Es hat die Wanderung durch 
„bie langen Jahrhunderte der Feudalmongrchie gemacht, und welche Aus: 
„behnung auch bie Fönigliche Gewalt fpäter erhielt, fo konnte fie doch jenes 
‚öffentliche Recht niemals gaͤnzlich zerflören. Märe es in den Gefegen un⸗ 
„terbrüdt worden, es wuͤrde ſich in den Geiftern erhalten haben, dieſem unger: 
„„Störbaren Aſyle für die Würde des Menfchen gegen die Anmaßungen der 
„Autorität.’ | u | 
Doch vergebens! Zu unüberwindlih waren die Verblen: 
dungen der Vorurtheile derunbürgerlichen Erziehung und prinzlichen 
und ariſtokratlſchen Uebermulths. Die weiße Verſchwörung für das 
goͤrtliche monarchiſche Recht fiegte jeht im demſelben Frankteich, in 
welchem foldye Ströme von Blut und benſo die Verbannung Napoleon’s 
wie die frühere ber Bourbone endlich bie friedliche Herrfchaft des Vertrags 
ober ber Freiheit verbirgt zu haben ſchlienen. Im Inneren wie nah Hufen 
feindete jene Verſchwoͤrung die Volköfreibeit an. Sie fegte fih mit Kari X. 
auf ben Thron. Die unbeifvollen Karlsbader Befchlüffe in Deutſch— 
land wurden jeßt für bie franzoͤſiſchen Feeiheitsfeinde abermals verderbliches 
Beilpiel und Ermuthigung. Als das auch bier wiederum weit mehr durch 
jene freiheitsfeindlihen Piincipien wie durch materielle Tyrannei empörte 
Rechtsgefuͤhl der Nation fi) ermannte, als man in geheimen Verbindungen, 
in der angefeindeten Preffe, in Parlament, endlidy auch in den Wahlen 
dem göttlichen Recht immer dbrohender entgegen trat, da wagte diefes in den 
Suliordonnanzen feinen legten Gewaltſtreich gegen die Vertragsprincipien, zus 
nächft gegen ihre Hauptorgane, gegen die Freiheit der Preffe und der Wahlen. 


Aber ſchnell entbrannte der allgemeine Unmwille der beleidigten Nation 
und drei Öenerationen von Königen — aud) hier wie in England Unſchuldige 
gie Schuldige — flürzten mit Einem Schlay von dem herrlichen Throne ihrer 

„Väter. Die ſchlummernden Völker erwachten, die abfoluten Throne er: 
bebten in ihren Grundfeften und alle ihre Organe beugten ſich ſchweigend 
vor der göttlichen Gerechtigkeit, welche fo furchtbar das ungoͤttliche Recht des 
Uebermuths und der Untreue zerfhmetterte. Die frangöfifhe Nation erneuerte 

jetzt förmlicher und ausdrüdlicher ihre Grundverträge mit dem von ihr er: 
wählten neuen Königshaus. Sie fuchte diefelben gegen Anmaßungen des 
göttlihen Rechts zu fihern, duch) die in der Brundvertragsurfunde ausge: 
fprochene freilich mißverftändliche Volksſouveraͤnetaͤt, durch die fanctionirte 
Unmöglichkeit der Aufhebung der Preßfreiheit, durch größere Ausdehnung 


R | 


Grundgeſetz, Grundvertrag. 563 


und Sicherung ber Wahlfreiheit und durch eine ausdruͤcklich zum Schug des 
Nationalvertrags aufgeforderte Nationalmehr. 

XVI. Unglüdszeit von Deutfhland und Preußen burdy 
die Shwähung des Vertragsprincips und vorzüglih durch 
das ungerechte Webergewicht des Adels in den Reihs- und 
Landftänden. Wir Deutfchen und vollends die Preußen ſchienen gegen 
jenes falfche göttliche Recht am meiſten gefihert. Zu Har waren in Deutfchs 
land durch alle Sahrhunderte hindurch, alle Reichs: und Landesgrundgeſetze 
dem Ramen wie der Thatnad) „Reichs: und Eandesgrundverträge”; 
und zwar im Reich zwifchen ben reihsunmittelbaren Bürgern oder 
Ständen bes Reichs, für fich und ale Repräfentanten ber in ihrem vertrags⸗ 
mäßigen Schuß ftehenden Hinterfaffen, unter einander und mit bem 
von ihnen gewählten Kaiſer; im Lande dagegen ziwifchen allen Lan⸗ 
besunmittelbaren, für fi und ald Vertreter ihrer Schüglinge, unter 
einander und mit dem urfprünglich gemählten, ſpaͤter mindeftene frei ans 
erkannten Landesfürften. Die Rechte diefer Fürften nahmen audy in fofern 
eine grundvertragsmäßige Geſtalt an, da fie ald Beamten bes 
erwählten Nationalkaifers nad den Reihsgrundverträgen te 
gieren follten. 

Scien num ſchon wegen dieſes Hervortretens ber Grundvertraͤge im beuts 
ihen Wahlkaiſerthum das falfche göttliche Recht weniger gefaͤhrlich, fo gab 
es noch befondere Gründe gegen biefe falſche Grundanſicht. Die deutfchen 
Kaifer und ihr Reich waren für alle germanischen Staaten und Fürften gleichs 
fam die Vorfechter gegen das angebliche göttliche Recht der Oberherr⸗ 
(haft des Papſtthums. Ste waren daher fortdauernd im Streite mit dem⸗ 
felben. So Eonnten fie denn natuͤrlich audy nur dem Schein einer paͤpſt⸗ 
lichen Vaſallenſchaft und Ihrem göttlichen Recht durchaus nicht günftig fein. 
Maren fie es doch, die früher fogar die Paͤpſte ernannten oder beftdtigten. 
So kam es denn, daß unter Ludwig dem Baier der Kaifer und bie 
Reichsſtaͤnde in ihrem Streite mir dem Papſtthum fogar feierlich und 
grundgeſetzlich gegen dieſes göttliche Recht proteflieten, indem die kaiſer⸗ 
liche Krone nur durch die freie Wahl der Reichsſtaͤnde verliehen werde, alfo 
bei fittlich  veligiöfer Auffaffung nur eine durch den Nationalconfens aner⸗ 
kannte innere Vernünftigleit ober Goͤttlichkeit im obigen unfchuldigen Sinne 
ftattfinden koͤnne. 

Das deutfche Reich wurde audy in der That nicht durch das göttliche 
Recht des Kaiſers, fondern duch das ungerechte Uebergewicht des Adels im 
den Reichſ⸗ und Landftänden zerftört. Keine ſtaatsbuͤrgerliche Matios 
nalmadıt ſtand dem Kaifer zur Seite, die wenigen Reichsſtaͤdte waren zu 
ſchwach. Seine adeligen Vaſallen beraubten, zerftörten feine Macht, die 
Einheit und Kraft unferes Nationafreiches , oftmals Leider ſelbſt mit auswaͤr⸗ 
tiger Hilfe. 

Diefe mächtigen Vaſallen aber ahmten meiftentheils in ihren Fürftens 
thümern das franzäfifche göttliche Recht zum Sammer ihrer Völker nach. 

Dagegen ſchien für das neu aufblühende proteftantifhe Preußen eben 
ſowohl jenes äußerliche, päpftliche, theokratifche als jenes von Ludwig XIV. 

36 * 


— 


Svaerdoeſeh Gruutn · n 


ausgebildete myſtiſche, phantaſtiſche, ſeinem Weſen und feiner Wirkung nad 
aber bespotifche göttliche Recht gänzlich unmoͤglich. Denn der Proteftantismus 
u aͤcht riftlichen Grunbfäge. wieder. her, welche nur jenes von der 
rt freiheit ungertrennliche unſchuldige fittlihh «vernünftige Königsrecht zus 
Ten, mit der Anmaßung einer unbefhränkten Gewalt Über freie Brüder und 
tbiieger aber oder mit einer bevorzugten Einficht oder auch mit einer Ber 
lung von ben Bertragepflichten gegen fie abfolut nicht s zu thun has 
ben, fondern ihnen vielmehr gänzlich entgegenfteben. | 
- Preußens ganze Staatseriften; und Größe war unzertrennlich mit ber 
Geiftesfreiheit und Aufklärung und ‚dem. Fortſchritt der Meformation ver: 
Entpft. Man bezeichnete daher auch bas Staats> und Dpnaftieprincip der 
ossublichen Monardjie als geifligen Fortfchritt umd Licht und Reh. 
Es eutſprach daher ‚einer tiefem Einfiht in die wahren geſchichtlichen 
dlagen und Grundfäge der Monarchie und des Fürftenhaufes wie des 
ten Proteflantisrmus und des wahren Fuͤrſtenthums, daß der mefentlichite 
Begründer der preußiſchen Monardyie, ber große Kurfürft, und: dag 
ebenfo auch, ber erfte.und daß der geößte preufifche König, daß Fried 
eich, L und I, das „goͤttliche monardifhe Recht”, welches gerade 
damals von bem verborbenen fultanifchen franzoͤſiſchen Hofe die übrigen euro: 
pälfchen Hoͤfe zu entlehnen fuchten, fo eutſchieden zuruͤckwieſen. Diefe 
Bürften thaten dieſes, indem ihre Regierung ſtets den ächten Proteftantiss 
mus, Ölaubensfreiheit und. Geiftssaufflirung nach Kräften beförderte und 
regem geiſtigen Hortfchritt huldigte. Der große Kurfürft insbefondere ſprach 
ſich auch noch Elar genug dadurch gegen das göttliche Necht aus, daß er den 
berühmten Samuel Pufendorf, den entfchiedenen Bekaͤmpfer des goͤtt⸗ 
lihen Rechts?9) und Vertheidiger der Wertragsgrundfäge, der wegen Die: 
fer feiner „naturaliftifhen‘ Grundfäge in Stodholm in einen Crimi— 
nalproceß verwidelt worden war, gegen Ende feiner rühmlichen Regierung 
zu feinem eigenen Biographen und Hiftoriographen mit dem Geheimen: 
Rathstitel nach Berlin berief. Sein Sohn König Friedrich I. folgte oanz: 
lich diefem Beifpiel, indem er die Krone ohne irgend eine geiftlihe Salbung 
fi auffegte und indem er den ebenfalls wegen gleicher rationaliftifchen oder 
rationalen Anfichten und Freiheitsgrundſaͤhe in Keipzig ſchwer verfilgten und 
flüchtig gewordenen Zhomafius nad Halle berief und vorzuͤglich durch 
ihn die neue Univerſitaͤt, dieſe Pflanzſtaͤtte der Aufklaͤrung, begruͤnden ließ. 
Er nahm feinen Profeſſor ſogar, als man deſſen Bekaͤmpfung und Verſpot⸗ 
tung des goͤttlichen monarchiſchen Rechts in Kopenhagen oͤffentlich durch Hen⸗ 
kershand verbrennen ließ, gegen die daͤßiſche Regierung in Schutz. Friedrich 
8. Große endlich erflärte mit feinem hellen prattifchen Königsverftand und 
mir ;ziner guten Kenntniß der Staatsgefchichte, namentlich feines eigenen Rei: 
ches, geradezu das Princip des göttlihen monardhifhen Rechts 
ald die verpeftete Quelle des Verderbens für Fürft und Voll, Er 
führte ald Kronprinz in feinen Considerations sur le corps politique de 
l’Europe und dann fünfundvierzig Jahre fpäter als König in feinem 
33) ©. deſſen jus naturae VII. 3, 


\ 





Grundgeſetz, Grundvertrag. 565 


Essai sur Jes formes de gouvernemerit et surles devcirs des Souverains 
noch energifcher die freie Vertragstheorie aus und fagte hier unter Anderem 
(Oenvres posth. de Fr. II. t. II. pag. 47. 60. 82): 

„Wenn meine Betrachtungen das Gluͤck haben, zu den Ohren ber 
„Fuͤrſten zu gelangen, fo werden fie Wahrheiten darin finden, die fie nie 
„mals gefunden haben würden durch den Mund ihrer Hofleute und Schmeich⸗ 
„ter. Ja vielleicht werden fie mit Erſtaunen diefe Wahrheiten fich neben fie 
„auf den Thron fegen fehen. So vernehmen fie e8 denn, daß bie falfhen 
„Brundfüge die vergiftete Quelle bed Unglüds der europdifchen 
„Staaten find. Folgendes ift der Jrrthur der Mehrzahl der Fürften. Sie 
‚glauben, daß Bott die Menge von M. jchen, deren Heil ihnen anver: 
„teaut ift, ganz befonders und durch eine befondere Aufmerkſamkeit für ihre 
„Groͤße, ihr Gluͤck und ihren Stolz gefhaffen habe, und daß ihre Unterthas 
„nen beftimmt find, Werkzeuge und Diener ihrer Neigungen zu fein’ (das 
„Haller'ſche Privatgluͤcksgut der Herrſchaft). Sobald ber 
„Srundfag, vonwelhem man ausgeht, falfch ift, fo muͤſſen 
„auch die Kolgerungen bis in's Unendliche hinein falfh und 
„verderblich fein. Daher die verkehrte Liebe für einen falfchen Ruhm ! 
„aber diefer heiße Wunſch, Alles zu überwältigen! Daher die Härte ber 
„Abgaben, womit das Volt belaftet ift, daher die Traͤgheit ber Fuͤrſten, 
„ihr Stolz, ihre Ungerechtigkeit, ihre Snhumanitit, ihre Tyrannei! Wenn 
„die Kürten fi) von ſolchen irrigen Vorftellungen frei machen wollten, fo 
„würden fie ſehen, daB der Rang, auf welden fie eiferfüdtig 
‚Kind, daß ihre Erhebung. auf den Thron das Werk ihrer 
„Bölker ift, daß dieſe Zaufende von Menſchen, die ſich ihnen anvertraut 
„haben, fid) nicht zu Sklaven eins einzigen Mannes machen wollten, damit 
„ee furchtbar und ſtark werde, daß fie ſich nicht einem ihrer Mitbürger” 
(Friedrich nennt in diefen Abhandlungen gewöhnlich feine Unterthanen mit 
den heute von ıınferer Reaction verhotenen Worten „„ses citoyens‘“ oder „ges 
„Cconcitoyens““) unterworfen haben, um Märtyrer feines Eigenfinnes und 
„der Spielball feiner Phantafien zu fein, fondern daß fie Diejenigen 
„aus ihrer Mitte erwählt haben, von weldhen fie die ge⸗ 
„wehtefle Regierung erwarteten. — Alsdann würden fie empfinden, 
‚Daß der wahre Ruhm ber Kürften nicht in der Vergrößerung ihrer Macht 
„und in Vermehrung der Zahl ihrer Sklaven beftehe, fondern darin, bie 
„Dflihten ihres Amtes zu erfüllen und in jeder Dinfiht der Abficht 
„Derer zu entfprehen, die fie mit ihrer Gewalt bekleidet 
„haben, von welchen fie ihre Herrfhaft und ihre Würde 
„beſitzen.“ — ‚Die große Wahrheit, daß man die Andern behandeln muͤfſe, 
„role man von ihnen behandelt fein will, d.h. Gleichheit, iſt das Prin⸗ 
„cip aller Gefege wie des gefellfhaftlichen Vertrages. Da aber 
„die Sefege nicht erhalten und vollzogen werden konnten ohne einen 
„beitändigen Wächter derfelben, fo gab dies den Urfprung der Obrigkeiten, - 
„bie fih das Volk ermählte. Praͤge man es ſich wohl ein, daß die 
„Erhaltung der Sefege der Grund ift, der die Menfchen beftimmte, ſich 
„Obrigkeiten zu geben, und daß hierin derwahre Grund der Souverdnetät 


566 Geundgefeg, Grundvertrag. | 


— ‚Müfte man nicht verruͤckt fein, um fich einzubilden, bie Men⸗ 
—J hätten zu Einem ihres Gleichen gefagat: Wir erheben Dich uͤber uns, 
„weil wir Sflaverei lieben, und geben Die Gewalt, unfere Gedbanfen 
„wmach Deinem Willen ju leiten! Gie haben vielmehr im Gegen» 
„theile gefagt: Wir haben Dich nöthig, um die Geſetze aufreht zu er: 
„balten, denen wir gehochen wollen, um uns weiſe zu regieren, 
„um uns zu vertheibigen. Webrigen® aber fordern wir von Dir, daß Du 
„unſere Freiheit achteft !“ — „Wenn der Fürft der erfte Minifter, der erſte 
„General der Geſellſchaft ift, fo iſt er es nicht, um zu reprifentiren, fon- 
„dern um die Berbindlichkeiten zu erfuͤllen, welche diefe Namen ihm auflegen. 
Er iſt nichts als der erfte Diener des Staats I). " 


Freitih fand Friedrich In feiner Zeit nicht den Sinn und Wunfch 
des Volks für conftitutionelle Freiheit vor. Er begnuͤgte fih, die ſtaͤndiſchen 
Mechte, mie er fie vorfand, zu achten und die Befchränfung der branden⸗ 
burgifchen Stände durch ben Minifter Schwarzenberg zu tadeln. An 
neue — dachte damals Niemand in Deutſchland und Europa, die 
alten aber hatte in ganz Deutfchland leider der Feudaladel durch die gleich 
nachher zu ſchildernde Unbill verhafit gemacht. Friedrichs und Kofepb's 
Hauptaufgabe war es, einestheils die verſchiedenen Provinzen, fo wie es 
in Frankreich feit Ludmi g XI. gefchah, zw einem ganzen Staat zu einigen, 
und dann bie feubaliftifchen Rechte, überbaup t bie Mefte des hierarchifchen ° 
unb feubalen Mittelaltersmäglichft Subefeitigen und aud) fo die innere Staats: 
einheit zu fördern. Hierdurch, durch Aufhebung der ariftofratifchen Volks— 
unterdruͤckung, der Leibeigenfchaft und anderer Feubällaften, durch Aufklaͤ— 
rung und Volkebildung, Herftellung der Gleichheit in der Befteuerung, in 
dem Recht zu Aemtern und in der Kriegspflicht und vor Allem durch Bildung 
und Befreiung der Öffentlichen Meinung mußten Friedrich und feit dem 
Ungläd 1806 voliftändiger der vorige König die Grundlagen einer 
wahren ftaatsbürgerlihen Keihsverfaffung ſchaffen. Es war 
das entfesliche Unglüdt, die innerliche Gorruption und Faͤulniß, als Folge 
der VBerfaffungslofigfeit und der ungerechten feudaliftifchen Adele: 
Privilegien, mie fie in und nad der Schlucht von Jena zu Zuge famen, 
nothmendig, um dem ganzen Volke das Bedürfniß zu erweden, die ver: 
fhiedenen Laͤnder⸗Theile wie die getrennten Stände des Staates zu einigen 
und duch eine allgemeine freie Reihsverfaffung zu einem freien 
und Eräftigen unttennbaren Volks: und Staatsförper zu 
verbinden, ihm für den Wettkampf mit den an phnfifher Macht über: 
legenen größeren europäifchen Staaten vor Allem die nöthige moralifche Kraft 
und Größe zu geben und zu erhalten, durch deren Uebergewicht allein Preu: 
Ben fi) und feinen Ruhm, feine Aufgabe und Stellung in der Welt bebaup: 
ten kann. 

Schon unmittelbar nach dem furchtbaren Zufammenfturz des preußis 


— —— — — — 


34) Ganz aͤhnlich den Worten Friedrich's ſprach auch der große öfter: 
ne Kaifer Joſeph HI. in feiner Einleitung zum Entwurf der Steuerre: 
gulirung 


Grundgeſetz, Grundvertrag 567 


ſchen Staatsſyſtems ſeit 1806 und vollends in der Zeit der Befreiungs⸗ 
Eriege ergriffen daher große Staatemänner, Stein, Schön, Scharn= 
horſt, Dardenberg, Wilhelm von Humboldt die ganze Auf: 
gabe, in friedlichee Reform den preußiſchen Statt durch zeitgemäße Vers 
jüngung der alten nationalen Freiheits⸗ und Nechtsgrundlagen neu aufzus 
bauen und ihm durch sine wahrhaft vol&sfreie, zeitgemäße repräs 
fentative Reihsverfaffung die einzig mögliche innige und dauernde 
Bereinigung feiner verfchiedenen Provinzen und Stände unter fi, mit dem 
Fürftenhaus und mit dem deutfchen Gefammtvaterland zu begründen. Es 
ift ein wohlthuender, erhebender, mit fo vielen Mängeln und Sünden beuts 
[her Regterungs » und Minifterpolitit verföhnender Anblick, dieſe großartige 
Beſtrebung der preußiſchen Staatsmaͤnner in dem noch ungeftörten Verein 
mit dem redlihen Willen des ſchwer gebeugten Fuͤrſten. Es ift ermuthigend 
für jede gleich zeitgemäße, vorurtheilsfreie Politik, zu fehen, welche Wun⸗ 
der fie damals bewirkte; wie fie allein, nad) fo furchtbarem Ungläd und fo 
großer Schwächung den Staat glorreicher wiederherftellte,, als ex je vorher im 
größten Gluͤcke gewefen war. 

Allgemein bekannt ift es und das Staats⸗Lexrikon hat es wicber: 
holt urkundlich belegt 2°) , wie Die Summe der Politik des ganzen Wiederauf⸗ 
baues des preußiſchen Staatd in wahrer verfaffungss ober grund» 
vertragsmäßiger ftantsbärgerliher Freiheit des ganzen 
preußifhen Volkes beftand. In diefem Sinne begann urs 
Eundlich der größte Reformator Preußens, der unfterblihe Stein, das 
große Werk mit den Worten: der freie Wille freier Männerfoll 
der Örundpfeiler des Staats und bes Thrones werden. 
In diefem Sinne wurden auch die unterften Staatsbürger von allen 
Feudallaſten befreit und allen die flaatsbürgerliche Gleichheit in Laften und 
Rechten, Steuern, Soldatenpfliht und Aemtern ertheil. In dieſem 
Sinne erging der Eönigliche Aufruf: zur Befreiung, die Proclamation von 
Kaliſch ausdruͤcklich au an alle Einzelnen „in den Reihen des 
Volks“, forderte fie zur begeifterten Mitwirkung auf in der Erfämpfung 
der Außeren Unabhängigkeit wie zur zeitgemäßen „Herſtellung deut» 
her Freiheit und Berfaffung aus dem ureigenen GÖgifte 
der Nation”. In diefem Sinne verkündete fchon der preußifche 
Feldherr bei feinem Vorruͤcken nach Sachſen die freie Volksſprache oder bie 
freie Preffe, die fhon feit dem Unglüd alle Stantögebrechen ungehemmt 
belsuchten durfte ; und unter eifrigfter Mitwirkung Preußens wurde der gans 
zen. deutfchen Nation urkundlich die Preßfreiheit zugefihert. In dies 
fem Sinne erklärte man wiederholt und feierlich noch vor Eröffnung ber - 
Berathung der vaterländifhen Angelegenheiten auf dem Wiener Congreß 
wie bei der Eröffnung des deutfchen Bundes die freie Sffentiihe Mei⸗ 
nung der Nation, für welche neben freier Preffe auch Petitionsfreis 
beit als weſentlich anerkannt war, für den Leitftern der Regierungen unb 


35) ©. bie Artikel Blüher, Preußen, Deutfhe Staatsge⸗ 
ſchichte, und Deutſches Landesſtaatsrecht. 


68 Grundgefeg, Grundvertrag. 

ihrer Staatsmaͤnner. In die ſem Sinne enblid verſprach der König 
felerlich der Nation „eine mit Zuziehung ber Feier zu begrüns 
dende, in einer Verfaſſungsurkunde feſtzuſtellende reiheftändifche Verfaffung 
ober Eonftitution, und eine „aus allen Elaffen bes Volkes 
zu bildende Repräfentation”. 

Us das Wenigfte der Rechte der Vollsverttetet hatten auf des Koͤ⸗ 
nigs Befehl in dem Gongreßverhandlungen- Über dieſe aus allen Claſſen 
des Volks zu bildende Volkivertretung die koͤniqlichen Bevollmaͤch⸗ 
tigten in ihren Entwürfen der Bunbesacte und ihren officiellen Erklärungen 
am bie zwei und dreißig Regierungen deutfcher Länder über die wefentlichen 
beutfchen Volksrechte jene oben angeführten Mitentſcheidungsrechte und 
Gontrolcechte bei Landesgefegen und Steuern beharrlich gefordert. | 

In diefem biftorifhen Bufammenhange, in biefem groß: 
hergigen und aͤcht grundvertragsmäßigen Sinne wurden unter 
der vorigen Regierung jene königlichen feierlichen Zufiherungen und Geſetze 
gegeben, bie als die preußifhe Magna Charta der weiteren Ent 
widelung feines Rechts zuſtandes zur Grundlage bienen follten. 

Gerechter und politifch weiſer, mehr durch das Elarfte hiflorifche Recht 
und biefprechendften Erfahrungen gerechtfertigt als diefe Zuſagen und ihre volle 

großhersige Erfüllung mag kaum im Gebiete der Politik icgend eine Regie 
rungsſhandlung gefunden merben fönnen. 

Urkundlich und klar liegt es jeht, nach ben Forſchungen aller gründlichen 
Beobachter des deutfchen Rechts, allen Urtheilsfreien vor Augen, daß Überall 
in Deutfhland, fo wie überhaupt in ben germaniſchen Staaten, bie voll» 
ftändbige Volksfreiheit das urfprüngliche, das wahre hiſto— 
riſche Recht iſt; ihre Unterbrüdung aber nur das Werk unrechtlicher 
Gewalt, revolutiondärer Lebergangszeiten des Fauſtrechts 
und des Abfolutismuß. 

Auch in allen preußifhen Provinzen, in Brandenburg 
und Oftpreußen, in Zrier und Köln, wie in Jülich, Cleve 
und Berg, in der Mark und MWeftphalen, erhielten fi, fogar durch 
das fauftrechtlihe Mittelalter hinduch noh ein Zroßer Xheil der 
Bauern die alten deutfchen Freiheitsrechte: vertraggmäßige Bewilligung 
der Abgaben und Laften, Mitentfcheidung bei Geſetz und Gericht. Sie übten 
fie auch noch mit den Stabtbürgern und Rittern in Randesverfammlungen 
aus. Die Landftände befaßen außerdem faft überall, namentlich auch in Oſt— 
preußen und Brandenburg, nody nach den vom großen Kurfürft beftätig- 
ten Urkimden noch größere Rechte in Beziehung auf Ernennung oder Vor: 
mundfhaft ber Megenten, und die Zuflimmung felbft zu Bündniffen und 
Kriegen und auf ben gemwaltfamen Widerftand gegen Vertragsbruch der Re— 
gierung, größere, als wir gemäßigten Liberalen heutzutage fordern. Dar: 
über enthalten die urkundlichen Stellen in den Artikeln Deutfches Lan— 
desſtaatsrecht und Preußen und die dort citirten ausführlichen Werke, 
insbefondere auch die neuere Gefchichte derfandftände von Unger 
und Simon’s Preußiſches Staatsreht Bd. I. S. 114 ff. die 
unwiderleglichen Urkundenbeweiſe ˖ 


Grundgeſetz, Grundvertrag 569 


Dieſe Schriften und die ganze Geſchichte geben aber auch zugleich Auf 
ſchluß darüber, wie diefe ſtarken Verträgsrechte entlräftet wurden, 
fo daß dadurch unfer Ungiäd und zu deſſen zulünftiger Abwehr zeitgemäße 
Erneuerungen unvetmeidlidy wurden. 

1) Die feudalftändiihe Form wurde unzeitgemäß umb 
ungerecht mit dem Verfchwinden der Verhaͤltniſſe des Mittelalters, und die 
provinziellen entfheidenden großen Rechte der Stände 
wurden binderlich, als viele Heinere Länder ein großer einheitlicher 
Sräftiger Staat wurden. 

2) Zu biejen nathrlihen Gründen der Ungunft ber Fürften gegen die 
Landftände kam der Einfluß bes verderblichen despotifhen Beifpiels von 
Frankreich. 

3) Doch der Hauptgrund beſtand in dem Uebergewicht des 
Adels in den Staͤndeverſammlungen. Jene citirten Schriften 
enthalten die nicht minder klaren Urkundenbeweiſe, daß leider großentheils auch 
in den preußiſchen Provinzen, wie faſt überall in Deutſchland, in Frank⸗ 
reich und anderen Ländern, der Adel noch mehr ale mit ber fauſt⸗ 
rehtlihen Schwertesgewalt duch ben Mißbrauch fein«s 
Uebergewihts in ben landfiändifhen Verfammlungen, 
mit Hilfe unvaterländifcher Juriften und der Fürften, denen cr für Hof 
gunft und Privilegien die Rechte feiner Mitftände und die Kraft der land» 
ftändifhen Verfaſſungen opferte, die Bauern allmälig aus Gerichts» mad 
Landesverfammiungen verbrängte und mit Srohnden , Binfen und Leibeigars 
(haft, mit faft alleiniger Steuern⸗ und Soldatenpflicht belaftete, zum 
Theil durch abgenöthigte Abtretungen und Auskaufungen un ihren Gutsbeſitz 
brachte. Auch ohne ſolche traurige Züge, wie auch in Brandenburg die Bauer n 
ebenfo wie in füddeutfchen Ländern zur Zeit ber Bauernkriege, fobald fie 
rechtlichen Widerftand gegen ungerechte Belaftung verſuchten, blutig un:d 
geaufam zu Boden gefchmettert, wie fie in Brandenburg bei Weigerung d er 
meift ungerecht aufgebürdeten Frohnden durch Spießruthen zerfleifcht wu rs 
den — auch ohne ſolche Züge iſt dieſer Theil der Deutfchen Geſchichte, bie fe 
Unterdrädung der Bauern vorzäglih durch die unvolkeß⸗ 
mäßigen Lanbflände und durch das Uebergemicht bes Ade Is 
in denfelben, die allertraurigfie Seite ber ganzen beu t> 
(hen Geſchichte. Und als nun ber Adel durch Unterdrüdung des frei en 
Bauernſtandes, diefer wefentlichften Grundlage gefunder Staaten, ja zum 
Theil felbft durch Verdrängung der Städte die Ständeverfammlungen vollen b6 
beherrfchte ; ba wurde biefes nicht blos zur Erwerbung ber Freiheit von Stau: rm 
und Kriegspflicht, fondern aud) der beften Aemter am Hof, in ber Kirdıe, 
im Civil⸗ und Militaͤrdienſt benugt. Die Verfaffungsrechte wurden cu ch 
nicht. 6106 oftmals gegen Hofgunft oder aus Trägheit und Furcht fchlechtm 
Fuͤrſten preißgegeben. Sie wurden auch oft zu einenfinniger Hemmung a us 
ter Regierung mißbtaucht, fo daß die Fürften fie nicht achteten und .d. 18 
Volk das furchtbare Wort Schloͤzer's von der privilegirten Landesve rs 
rätherei nur allzu oft gerecht fand. ' 

Freilich mag man ſehr Unrecht thun, ein zu hartes Urtheil blos Kb er 


‚570 Grundgefeg, Grundvertrag. 


den deutfchen Adel daran zu knuͤpfen, demm leider — ſeitdem ber breifige 
Jährige Krieg nicht blos deurfche Fluren und Dörfer, ſondern audy die deut 
Shen Gemuͤther verwüflet hatte, nachdem das Beifpiel des befpotifchen göfts 
lichen Rechts des franzoͤſiſchen Könige'fo verderblich wirkte — halfen auch 
umvaterländifche Juriſten und Beamte und Fürften, und nicht minder bie 
Barholifchen und proteftantiichen Praͤlaten. Beide lebteren theilten für. ihre 
Domänen und geiftlichen Güter den Raub derunglücfeliaften Unterdrückung. 
Dis übrigen Geiftlihen, die Städter, das ganze Bold aber wurden ebenfalls 
Mitſchutdige des ſchmachvollen Unrechts im Baterlande. Denn 
fie bulbdbeten ohne energifhen rechtlichen Gegenkampf dieſe 
größte Entmannung und Verderbniß des Vaterlands, die Vorbereitumg aller 
fpäteren Schmach, der fchimpflichen Berftüdeling, der Auflöfung und Uns 
terdruͤckung des Reichs durch die Fremden. 
Selbſt nicht Das, daß der Adel oft ebenſo fittlich wie politiſch fo tüef 
font ‚ an bem Uebermuth und ber Derberbnif der Höfe Theil nahm, fort 
dauernd alle übrigen Glaffen dee Geſellſchaft zu uͤbervortheilen ſuchte und 
wie in fonft keinem europdifchen Lande fi immer kaſtenmaͤßiger und hoch⸗ 
nadıthiger von allen anderen Ständen abfonderte, daf er, großentheils in Döf- 
lingsverderbniß und Stellenhunger verfunken, weder die ihm jetzt allein ans 
vertrauten Berfaffunigsrechte treu bemwahrte, noch auch die Pflicht der Verthei⸗ 
bigung bes Vaterlandes, fuͤr welche er doc; feine Lehnguͤter beſaß, fo übte, daß 
SRirderlagen, wie die von Aufterlis und Jena, unmöglich wurden — 
oc das berechtigt nicht zu bitteren Vorwuͤrfen gegen Menſchen, fondern 
sur gegen bie fchlechte Faftenmäßige ungerehte privilegirte 
Btandeseinrihtung und gegen die fchlechte Verfaſſung. Nie darf 
man, fobald man einmal irgend eine Elaffe, fobald man alfo den Adel zur un: 
gerecht privilegirten Kafte macht, noch den Menfchen, fondern mun muß 
ber grundverderblichſten, ungerechteften, der unfittlichften 
rund unchriſtlichſten aller Einrichtungen die Vorwürfe mahen — 
SBormwürfe, die fie naturgefeglih, pſychologiſch und hiftorifch gewiß ſtets 
rind überall fich wieder verdienen wird, wo die ungludfe: 
Ligfte Politik fieduldet oder gar neu einführt ?%). Wenn ihr aus Berbien: 
dung ſuperkluger Weisheit oder Trägheit tie Menſchen in Berhältniffen 
geboren und erzogen werden und beftehen Laßt, welche ſchon 
ifirem ganzen Grundweſen nach verkehrt find — wie kann man fid) wundern, 
wenn diefe Menfhen naturnothwendig entarten! 
Laffe man ein ganzes Volk oder einen Theil deffelben in_geiftiger und 
p olitifcher Keibeigenfchaft, wie kann mun ſich wundern, wenn e8 immer mehr 
e atadelt, unpatriotifch, unpolitiſch und felbfljüchtig wird, wie man jegt fo 
le iufig dem deutfchen Volke oder doch einzelnen Glaffen deffelben vorwirſt! 
36) Natürlich gehoͤren bicher nicht folche für das allgemeine Wohl 
Alller unentbehrliche oder entfchieden beilfame Pairie-Aemter, wie ın 
Gingland, freie grundvertragsmäßige mit Aller Zuftimmung be— 
g ründete ober beftehbende Rechte, und noch viel weniger das heilſame 
ee e Recht, fo weit es für das Wohl des Volks der Grundvertrag 
giligte. 


y; 1 


Grundgeſetz, Grundvertrag. 571 


Es iſt namentlich auch gar nicht zu verwunbern, wenn ſo der Adel voͤllig 
unchriſtlich wurde. Denn wie kann Der aͤcht chriſtlich bleiben, der, wenn auch 
zuerſt ſchuldlos, die erſten chriſtlichen Gebote der bruͤderlichen Gleichheit ſelbſt 
ſchon durch fein bloßes Daſein tagtäglich verletzt, der, um nicht beſtaͤndige 
Vorwürfe zu empfinden, ſich dieſen Haupttheil der chriſtlichen Lehre ſophi⸗ 
ſtiſch wegdeuteln und verdrehen muß? 

Hier eins der vielen Beiſpiele, wie die Geſchichte nicht etwa blos des 
deutſchen, ſondern jedes nicht conſtitutionellen privilegirten Adels dieſe An⸗ 
ſichten beſtaͤtigt. 

Auf dem ungluͤcklichen legten franzoͤſiſchen Reichſstage, welcher der Re⸗ 
volution vorausging, auf dem von 1614, ſuchten zuerſt die Abgrorbneten 
des dritten Standes, die Städte, ſich den Ständen der Geiftlichkeit und des 
Adels freundlich zu nähern mit der Erklärung ihrer Bereitwilligkeit, für das 
Wohl des Baterlandes mit ihnen gemeinfchaftlidy und zu jedem Opfer bereit: 
willig zu wirken. Dabei drüdten fie fi) mit gutmüthiger naiver Unterorb> 
nung unter die höhere Würde und die Vorrechte der beiden andern Stänbe 
aus. Sie ſagen, es habe Gott gefallen, der Geiſtlichkeit, als den erftgebor: 
nen Söhnen Frankreichs (aine) , die vollen Rechte und Güter der Erſtgebutt 
zuzuweiſen, dem Adel’ dann , al® den Zmweitgeborenen (puine), ebenfalls die 
geeigneten Vorrechte zu verleihen , beide aber werden wohl mit ihren jüngften 
Brüdern (cadets) zum Wohle des lieben Vaterlandes zufammen wirken. Da 
entbrannte ber hochmüthige Adel im heftigen Zorne, daß diefe „gemeinen 
Bürgerlichen‘ es ſich angemaßt, fie Brüder sunmnen. Nicht zufrieden 
mit unmittelbarer roher beleidigender Zurüdweifung , uberguben fie dem 
König eine befondere Befchwerde über die ihrem Adelſtand mwiderfahrene Be: 
ſchimpfung. Sie fchämten fi, fo ſprachen fie zum König, nur die Worte 
zu nennen, die fie beleidigt hätten: les terınes qui nous ont offenses. En 
quelle miserable condition sommes-nuus tombes, tellement rabaixsee, 
qu’elle fut avec les vulgaires en la plus etroite societe, qui soit parmi les 
hommes, qui est la fraternite. Die Bürgerlichen aber ſchilderten nun in einer 
fiändifchen Beſchwerdeſchrift an den König die Bedruͤckungen, Rohheiten und 
Verderbniſſe des Adels fo wie der von adeligen Offizieren befehligten ſtehenden 
Truppen, ihre furchtbaren Gewaltthaten gegen das Volk, gegen welches diefels 
ben drger hauften, als jemals die Suracenen gethan hätten, und welches fie 
buchftäblich zwaͤngen, ſich mit wilden Sräfern zu nähren. Sie nennen bie 
Adeligen: hommes affames, insatiables en la cupidité d’autrui u. f. w. 
Diefe Schrift enthält ungefähr alles Böfe vereinigt, mus jemals von dem 
Adel ift berichtet und gefagt worden. 

So wurden auf diefem durch Zwietracht der Stänbe erfolglofen Landtag 
die Maitreffen-Regierungen, die Nevolution und die furchtbare Erbitterung 
gegen den Adel vorbereitet. Die letzte Beſchimpfung erlitten bie Bürgerlichen, 
als fie 1789 zu der königlichen Eröffnungsfigung des Reichstags durch eine 
fhmale Hinterthür einziehen und mit unbededitem Haupte figen mußten, 
wahrend der Adel bedeckt war. 

XVII. Neue Verwirklichung der Vertragsgrundfäge feit 
der Unglüdszeit durch zugefiherte und begonnene Begrän> 


572 Grundgeſetz, Grundveritag. 


bung freier Berfaffungen. Zunm aͤch ſt dns neue preußifhe 
Befes. — Es ift der Gegenftand befonderer Artikel des Staate-Rerikons 
und mußte thellweiſe auch hier angedeutet werden, wie nach dem furdhtbaren Un: 
luͤck in den franzoͤſiſchen Kriegen und vollends in der Zeit der Erhebung gegen 
die auswärtige Erobrrungsgemale die Kürften und die Nation einftimmig 
den Grund bes vaterländifchen Ungluͤcks in den kaſtenmaͤßigen Standesver: 
haͤltniſſen und in dem Mangel freier ſtaatsbürgerlicher Berfaf: 
fungen, bie Bedingung ber Sicherung gegen ähnliche Schmach, die Bedin⸗ 
gung der Wiedererwerbung der und gebührenden Stellung und Mache unten 
ben Böllern in der Begründung folcher Verfaſſungen fanden. Es wurde 
angedeutet, was in diefer Beziehung bereits gefchehen iſt. In der Natur der 
Ver haͤltniſſe lag #8, daß bie conftiturionellen Berfaffungen der Meineren umd 
mittleren deutfchen Staaten, auch bei dem beſten Willen, jener großen Auf: 
gabe für das Sefammtvarerland nicht genügen konnten, daß fie auch in ihren 
inneren Zuftänden bie woblthätigen Wirkungen ihrer Verfaſſung ſtets ver- 
kuͤmmert ſehen mußten, fo lange nicht Defterreih und Preußen in ehrlicher 
Erfillung des wahren Sinnes jener fuͤrſtlichen Zufagen und der Beflimmun- 
‚gen der Bundesact⸗ dem Muſter der freien Länder Europas und der beutfchen 
«onftitutionellen Staaten folgen wollten. Bis dahin blieb «8 eine Hauptauf: 
gabe für die Waterlandsfreunde in diefen kleineren Staaten, fo weit es ihnen 
nur immer bie maßlofen Hinderniffe und Berfümmerungen ihrer rechtmaͤßlgen 
Freiheit durch Einwirkungen der größeren erlaubten, den Sinn für conſtitu⸗ 
Uonelle Freiheit und fie politiſche Blldung möglichft zu wecken und Teben- 
dig zu erhalten. 

Fest thut nun Preußen in dem vereinigten Landtag einen neuen Schritt, 
welcher Deutfchland auf der Bahn zur Nutionalfreiheit außerordentlich vors 
wärts führen koͤnnte und ſollte, der aber, wenn die glänzende preußiiche Na⸗ 
tionalverfammlung an ihrer fchrierigen Aufuabe vor der Augen Europas 
banfbrüchig würde, ung meit zuruͤckwerfen — und gerade nur dadurdy unab: 
fehbare Gefahren bereiten Eönnte. 

Deshalb verdient dag neue Gefes die größte Beachtung und auch im 
Staats-Lexikon noch eine weitere Vergleichung mit den bisher entwidel: 
ten Grundſaͤtzen. Doch haben ſchon die mah.end des Micderfihreibens diefer 
Zeilen erfchienenen Schriften preußifher Staatsbuͤrger über das neue Gefeg 
binlänglich die Anfickt beftätigt, daß ich die genauere Erwaͤqung der einzel: 
nen Beftimmungen des preußiichen Rechts preußifchen fachkundigen Män- 
nern überlaflen Fönne. 

Urkundlich fcheinen bereits folgende Dauptpunfte fo Fehr erwiefen zu 
fein, daß ich brgierig wäre, zu vernehmen, was man ihnen wohl entgegenfegen 
möchte ꝰ7). 


37) Befonders vollſtaͤndig und ſcharſ find die urkundlichen Beweiſe zuſam— 
mengeſtellt in der Schr t: Annehmen oder Ablehnen? Die Ver— 
faſſung vom d. Februar 1847; beleuchtet vom Standpuntte 
ae Rechts, von H. Simen. Leipzig, bei Georg Wigand. 
1847. 


Grundgeſetz, Grundvertrag. 373 


I. „Das feit 1807 —1823 vielfach wiederholte vechtsverbindlichfte 
Koͤnigswort des verftorbenen Königs, defien Verpflichtung nad) den Grund⸗ 
fügen der legitimen Erbmonarchie in vollem Umfange auf feinen königlichen 
Thronfolger überging, verbürgt nad) feinem wahren und redlicheh Sinn den 
Preußen eine „conftitutionslle repräfentative Reichsverfaſ⸗ 
fung, welhe mit Zuziehung von Bürgern zu begründen und in eine 
Berfaffungsurkunde aufsunehmen iſt.“ Diefelbe fol aus allen 
Glaffen der Bürger eine Repräfentation des ganzen Volkes 
bilden, Preßfreiheit, allgemeines Petitionsrecht und die zum 
Weſen der conftitutionsilen VBerfaffungen gehörigen Rechte, wie fie alle freien 
Völker Europas befigen, und mindeitens die obigen vier Dauptrechte, die Nas 
mens des Königs feine Bevollmächtigten auf dem Wiener Congreß als ein 
Minimum deutfcher Iandfländifcher Rechte anerkannten, gewähren. Diefes 
Koͤnigswort und die bezeichneten Rechte find zugleich in dem deutfchen hiftoris 
ſchen und preußifchen Landftändifchen Rechte, in den noch ungleich größeren 
gefhichtlichen Rechten deutfcher und preußifcher Landflände begründet. Die 
legteren ſollten nur gegen Einführung der fchon jeit 18:10 ftatt ihrer zugefagten. 
zeitgemäßen neuen freien Verfaſſung rechtsguͤltig aufgegeben werden. Sie 
find auch begründet in den Wünfchen und Beduͤrfnifſen der preußifchen Nas. 
tion, die, wie ebenfalls eine neue preußifche Schrift ?®) energiſch ausführt, eine 
nationale, König und Volk eininende, Beiden Macht und Ehre fichernde 
Regierungspolitif roffen dürfe.” | 

Il. „Diefes feinem Weſen nady ſchon grundgefegliche Koͤnigswort iſt 
zum Theil bereits auch in der aͤußern Form von Grundgeſetzen naͤher 
feſtgeſtelt, namentlich in dem vom 22. Mai 1815, in dem Gefepe Über die 
Staatsfyulden von 1820 fo wie in den provinzialftändifhen Verfaſſungen 
von 1823.’ 

IL. „Die neueften Verordnungen über den vereinigten Landtag find 
als Mittel der Vereinigung der Nation mit ihrem Könige über eine befriedis 
gende Verfaſſung fehr dankenswerth und heilfum. Sie enthalten aud) einige 
ebenfalls fehr erfreuliche und dankenswerthe woͤrtliche Anerfennungen fehr 
wichtiger Srundfäge, wie die vom Wefen des hiftorifchen deutſchen 
landftändifhen Rechts und von dem Worte des verflorbenen Koͤ⸗ 
nige ald Grundlagen neuer Berfaffungsbeflimmungen, fodann 
die vom fländifchen Zuſtimmungsrechte bei neuen Steuern und Anlehen.“ 
Sie enthılten endlich — was wenigftene wir, mie abweichend auch: Viele 
urtheifen mögen, nach unferer alten Ueberzeugung billigen müffen, eine ers 
freuliche Annärerung an das conflitutionelle Zweilummernfpftem und das 
durch überhaupt an die zeitgemäßen conflitutionellen Formen der freien euros 
paͤiſchen Völker. 

„Allein es vereitelt und verlegt, nach jenen Ausführungen, ber übrige 
Inhalt diefer Verordnungen nicht blos jene wörtlichen Anerfennungen , fons 
dern das bereit3 in feiner gefeglihen Wirkſamkeit beftehende, an ſich ſchon 


% 1 
38) Die vier Fragen in Bezichung auf die Verordnungen 
vom 3. Februar. Leipzig, bei DO. Bigand. 1847. 


z J 
57a Grundgeſetz, Grundvertrag. 


ſehr dürftige Verfaffungsrecht der preufifchen Nation gerade in feinen wefent: 
— Beſtandtheilen“ 

1) Mach Form, Wort und Inhalt der neuen Verordnungen um⸗ 
gehen dieſelben nicht bio⸗ die Erfuͤllung der unter J. enthaltenen koͤniglichen 
Berſprechungen, die wohl bereits allzu Lang verſagt wurde, — und bie doch 
jegt endlich ſchien erwartet werden zu duͤrfen, wo man die große neue Eins 

‚ richtung des vereinigten Landtags bilden Eonnte. Sie verlehzen aber auch die 
oben erwähnten grundgeſehlichen pofitiven Beflimmungen darin, daß aller: 
mindeftend und unbedingt alsdann bie roahre nach dieſen Geſetzen, nament- 

et dem Geſetz von 1820 jährlich fi verfammelnde reichs— 
ſtaͤndiſche Wolfsrepräfentation hätte in’s Reben treten müffen, wenn 

Staätsanlehen gemacht werden follen; Letzteres aber geſchah bereits und foll 

nun nach den neuen Verorbnungen mit Verlegung des Grundgefeges von 1820 

ferner ſtets ohne Bugiebung der ungut geſchehen. Auch foll mit gleicher 

Verlegung die reiheftändifche, im jährlichen Berfammlungen ausjuübende 

controlirende Mitwirkung bei der Verwaltung der Staatsichulden ebenfalls 

wegfallen. Mac Wort und Sinn der neuen Verordnungen vom 3, Februar 
naͤmlich follten und Eonnten dieje Beine mit Zuziehung der Bürger entwor: 
fene Gonftitution , Beine Bolksrepräfentation fein,’ 
„Ste verlegen nah jenen Ausführungen ferner — 
| felbft abaefehen davon, daß ber vereinigte Landtag nie die Stelle einer 
ſolchen wahren jährlichen reihsftändifchen —— und einer Reptaͤ⸗ 
fentation des preußifchen Volkes einnehmen kann: 

2) den Sinn und Buchſtaben jenes Grundgefeges von 1820. Diefes 
fordert unbedingt die Zuftimmung der verfammelten Reicheftände für 
alle Anlehen, nicht blos fiir die Anlehen in Friedenszeiten und für ſolche, 
für welche das ganze Staatsvermögen verpfändet ift. Es fordert ferner diefe 
Zuftimmung und die controlirende Mitwirkung bei der Bermaltung der Stuate: 
fhulden, indem die Verordnungen jene größten Befchränfungen hinzufügen 
und fogar dem vereinigten Landtag hier wie in den allermeiften Faͤllen neuer 
und erhöhter Steuern das fon faft illuforifhe Zuftimmungsreht auch 
noch dadurch entziehen, daß fie dem möglicher Weife in Menfchenaltern nicht 
wieder zu verfammelnden Landtag einen bloßen Ausſchuß und diefem wie: 
der eine Deputation von acht Mitgliedern unterfchieben.‘ 

„So wird alfo die unermeßlich mohlthätige, wenigſtens rathende und 
indirecte Mitwirkung der Nationalvertretung gegen vielleicht grundverderbliche 
Kriege gaͤnzlich ausgeichloffen und vielleicht, fofern mın namlich der Natur 
der Sache und gefhichtlichen Erfahrung Glauben ſchenkt, der vereinigte Lund: 
tag felbft durch feinen Ausfhuß abgefchafft.‘ 

3) „VBerlegt würden auch die bisherigen Beftimmungen des grundgefegli: 
chen pofitiven preußifchen Verfaſſungsrechts über das Staatseigenthum der 
Domänen, insbefondere deren Beſtimmung für die Stantsfchulden, fo wie 
auch die Beſchraͤnkung der angeſetzten Summe fuͤr den Hof (die Civilliſte).“ 

4) „Verletzt würde ferner das nach natuͤrlichem Rechte, nad) poſitivem 
preußiſchen Staatsrechte und nach der bisherigen Praxis beftchend: Petitiong: 
recht der Bürger und ———— „ der Wähler der Ständemitglieder über 


Ku 


Zn 


Grundgefeg, Grundvertrag. 575 


allgemeine Landesangelegenheiten — vielleicht die wohlthätigfte Wirkung der 
ganzen Iandfländifchen Verfaſſung, — indem fie in diefer Dinficht alle Lebens⸗ 
verbindung der Provinzialftände, des vereinigten Landtags und der Ausfchuffe 
mit dem Volk faft zerfchneiden und diefes politifch zu entmündigen und theils 
nahmslos zu machen, die Stände zu ifoliten und Euftenmäßig zu machen 
drohen.” 

5) „Insbeſondere würde für die bisher fo wichti en Bitten der preus 
Sifchen Nation un zeitgemäße Verbefferung und Aenderung von allgemeinen 
Verfaffungsbeflimmungen jedes Organ megfallen, wenn ber vereinigte Lands 
tag, ber fie allein vorbringen darf, vorausfichtlich in fehr langen Zeiten oder 
überhaupt gar nicht mehr zufammen berufen würde.” 

6) „Sie entzögen ebenfalls gegen das bereite in Wirkſamkeit beftchende 
preußifche Verfaſſungsrecht den Provinzialftänden ihr Recht, mindeftene 
alle zwei Sabre über alle allgemeine Angelegenheiten und über neu zu erlafs - 
fende Geſetze die Nationalwuͤnſche und Bedürfniffe vor dem Throne und dee 
öffentlihen Meinung zu berathen und auszufprehen. Kine reiheftändifche 
Volksrepraͤſentation eriftirt nicht und der vereinigte Landtug wird möglichers 
weife nie mehr verfammelt. Durch Bildung der Herrenbank mit einer nach 
Belieben zu vergrößernden Mitgliederzahl aber wird das an fid) ganz unna⸗ 
türliche Webergewicht des Adels vermehrt, der Derrenftand, ja ein flarkes 
Dritttheil deffelben werden berechtigt, alle Wolkswünfche von dem Ohr dee 
Königs enıfernt zu halten. Auch die Ausfchäffe verfammeln fih nur alle 
vier Jahre, bieten aber auch fonft gar Leinen genügenden Erfag diefer Bera⸗ 
thung der Provinzialftände dar.” 

7) „Diefe Verlegung fcheint noch fehr vermehrt zu werden durch die jegt 
eingeführte Einrichtung, daß auch bei neuen und erhöhten Steuern nicht 
blos den Provinzialftänden ihes bisherige Begutachtung entzogen wird, fon: 
dern daß auch nun bei der Steuer: und Anlehnsbewilligung das Uebergewicht 
ded Adels, jelbft der Standesherren, die zum Theil von Steuern befreit find 
und die fonjt in befondersr VBerfammlung mit nur Einer Stimme über Ein 
Dritttheil alle Volkswuͤnſche vom Thron ausfchließen dürfen, hier ganz aus 
Becordentlicher Weife mit der zweiten Verſammlung vereinigt, in einfachen 
Stimmenmehrheitsbefhlüffen fo bedenkliche Bewilligungen bewirken koͤnnte. 
Die Stelle diefes vereinigten Landtages nehmen bei den wichrigften,, ja den 
wahrfcheinlich einzigen Befchlüffen über neue Steuern und Anlehen fogar die 
Ausfhüffe ein, in welden die neuen Verordnungen die fo uͤberaus unvers 
haͤltnißmaͤßige Zahl der Adeligen noch bie zu voller Stimmenglaͤchheit mit allen 
uͤbrigen Vertretern der ſiebenzehn Millionen preußiſcher Buͤrger vermehren. — 
Ja oftmals habe die Deputation mit ihren acht Mitgliedern dieſe Rechte 
auszuuͤben.“ 

8) „Zu dieſen materiellen Verletzungen und Verſchlimmerungen der 
grundgefeplihen in anerkannter Wirkfamkeit beitebenden Verfaffungsrechte 
komme dann die formelle hinzu, daß im Widerfpruch mit den beftihen« 
den preußifchen ſtaatsrechtlichen Beftimmungen der proyinzialftändifchen Urs 
kunden und anderer älterer und neuerer Örundgefeße die neuen Belege weder 
dein Staatsrathe noch den Provinzialftänden zur Berachung und Begutach⸗ 


576 Grundgeſetz, Grundvertrag⸗ 


tung vor ber Sanction vorgelegt worden ſeien, weshalb nach jenen preußiſchen 
Schriftſtellern diefelben als geſetzwidrig und fogar nach Art. 66 der Wiener 
Schlußacte ungültig und mithin nur als Entwuͤrfe zu betrachten ſeien.“ 
9) Auch ergebe fich noch folgender formeller Fehler: Diefe neuen 
gen wollen offenbar durch ihre Feſtſetzungen, Aenberungen, Er⸗ 
meiterungen und Beſchraͤnkungen In Beziehung auf bie Verfoffungscechte der 
Nation Berfuffungsbeftimmungen geben. Diefe aber koͤnnen nur durch freie 
vertragemdfige Annahme gültig, nie aber durch einfeitige Negierungsentfcheis 
bung wieder vernichtet werden. Sie find fonitgar keine wahren Verfaſſungs⸗ 
zechte,, tosber Überhaupt; noch nach dem Sinne der koͤniglichen Zufagen und 
ber Grundgefeße von 1815 und 1820, Dennoch aber folle nad) den neuem 
Verordnungen ber vereinigte Landtag kein Zuſtimmungstecht, fondern nur 
bloße Begutachtung bei Xenderungen haben.” 
40) 1,,Die gegenwärtigen Mitglieder der Provinzialftände,, welche jeßt 
löslich umd unerwartet als vereinigter Landtag fie die ganz unermeßlich wich⸗ 
tige, vielleicht über die Zukunft und Ehre der Nation entſcheidende Aufgabe 
nach Berlin berufen fein, bie neuen Veroronungen für die Nation wenig: 
ftens —* anzunehmen und gültig zu ‚ron bie wre und 
Aufbe der bisherigen Berfaffung gut au heißen, — biefe feien dazu 
gar nicht gewählt und bevollmaͤchtigt.“ Sie wurden alſo von jenen Schrift: 
” Hierindeh muß ich von jenen Schriftftellern etwas abweihen, indem 
mir dazıı eine vollftfändige Competenz für diefe große preu— 
ßiſche Nationalverfammlung begründet ſcheint, daß fie bem 
König mit dem ehrfurdhtsvollen Danke für feine Abficht, durch ihre Verfamm: 
lung die preußifche Werfaffungsangelegenheit weiter zu entwideln, ebenfo 
offen als vertrauensvoll die wahren Wuͤnſche und Bedürfniffe der Nation in 
diefer größten enticheidendften vaterländifchen Angelegenheit vortragen. 

Zugleich aber würden fie alsdann bei erfolgter weiterer Zuftimmung bes 
Könige vollftändig competent werden, mit den von ihm bezeichneten Staats⸗ 
beamten die neuen Verfaffungsbeftimmungen, die der König aus eigenem Ans 
triebe oder veranlaßt durch die Wünfche der Verfammlung ihnen vorlegen 
würde, zuberathen,, und fomit an die Stelle der im Geſetz von 1815 erwähns 
ten Bürger zu treten, die der König zur Entwerfung der Verfaſſung zu be> 
rufen für gut findet. Denn offenbar fteht es in dem Ermeffen des Königs, 
näher zu beſtimpen, welche Bürger am Geeignetften find, bei diefem großen 
Werke die Nation würdig zu vertreten. 

Die ebenfo fchwierige ale wichtige Beſtimmung diefer Vertretung, bie 
gleich rsichtige als ſchwierige Löfung aller Anftände in Beziehung auf die neuen 
Verordnungen, die wichtigfte und ſchwierigſte Aufgabe für König und Volk, 
die befriedigende Vollendung des preusifchen Verfaffungsmerfes — alles 
diefes, wie koͤnnte ed gluͤcklicher und Eöniglicher bewirkt werden, als wenn 
der König die vereinte Verſammlung aller bisherigen Vertreter feines Volks 
zur gemeinfchaftlichen Berathung der Verfaffungsbeftimmungen ermädhtigte ? 

Das bloße Gutachten über das Werk von Seitem des Staatsrathes und 
der Provinzialftände Ednnte alsdann der vorhandenen Gefege wegen immers 


Grundgeſeh , Grundvertrag. 577 


hin vor ber Sanction erfolgen und würde bern in folcher großartigen Weiſe reifs 
ich berathenen großen Werke keinerlei Schwierigkeit begründen. 

Wir unfererfeits vermöchten nad) beftem Wiſſen und Gewiſſen einen 
befferen Weg in diefer großen Angelegenheit zur glüdlichen Vereinigung von 
Fürft und Volk, zur Verwandlung der bedenklichſten Schwierigkeiten in beider 
hoͤchſte Ehre durchaus nicht zu finden. Nach dem oben angedeuteten Stand⸗ 
punkte aber ſtellen wir dle Erwägungen über bie zu ergreifenden Mittel und 
Wege der Weisheit und Geriffenhaftigkeit der erlauchten Verſammlung 
anheim und erlauben ung nur noch wenige wiffenfchaftliche Andeutungen über 
einzelne Punkte des in den neuen Verordnungen behandelten preußifchen Ver: 
faſſungsrechts. 

So viel die Form der Verfaſſungsrechte betrifft, ſo erſcheinen 
nach dem Obigen bei den Rechten des Fuͤrſten auf Treue der Buͤrger, auf 
Achtung ſeiner Regentenbefugniſſe die Nation und die Buͤrger, bei ihren 
Rechten auf Achtung und Schutz ihrer Freiheit und der dazu beſtimm⸗ 
ten verfaffungsmäßigen Einrichtungen dagegen der Regent als 
die rechtlich Verpflihreten. Die Regenten können alfo nicht eins 
feitig, fondern nur vertragsmäßig, nur mit Zuftimmung der Bürger biefe 
Verpflichtungen ändern oder aufheben. Alle Verfaſſungsrechte find Vers 
tragsverhaͤltniſſe, werden nur durch freie gegenfeitige Zuſtimmung rechts: 
gültig und koͤnnen nur durch foldye Einwilligung rechtsguͤltig verändert werden. 

Es mar nad) dem Obigen ein an fich richtiges koͤnigliches Gefühl, welches 
ben vorigen König beftimmte, mit Empörung ſchon Diejenigen als Schänder 
feiner Majeftät zu erklären, die nur Zweifel öffentlich äußerten, daß er voll⸗ 
ftändig das heiligſte Koͤnigewort Iöfen würde, das je gegeben war. Aber «8 
war eine Taͤuſchung feiner Rathgeber, wenn er etwa glaubte, völlig belles 
big über die Zeit der Erfüllung verfügen zu Binnen. Wichtiger erklaͤrte Des 
ſterreich, deſſen liberale Erklärungen bie preußifche Regierung damals noch 
überbot, in der denkwuͤrdigen Bundesberathung über die Petition wegen der 
Verwirklichung ber Zufage des 13. Art. der Bundesacteim Frühjahr 1818, 
daß in dem Inhalt unbeſtimmte Verfprechungen möglichft zu Gunſten ber 
Annehmer und zur Ehre der Verfprechenden, in ber Zeitbeflimmung unbe 
flimmte in ber möglichft kurzen Zeitfrift erfüllt werden müßten, wobei indeß 
über die Möglichkeit felbft allerdings der Fuͤrſt, jedoch nicht nach Willkuͤr, 
fondern nach feiner rechtlichen ehrlichen Ueberzeugung zu entichels 
den hat. Die bald moͤglichſte Erfüllung aber iſt deshalb RAppelt wichtig, 
weil die rechtlichen Zufagen ſich ſelbſt auf frühere öffentliche Rechte gründen, 
die, wie auch bie Stände in Königsberg bemerkten, nur gegen zeitgemäße 
neue Geftaltung des verfaffungsrechtlihen Verhaͤltniſſes (alfo durch den Ab⸗ 
ſchluß des neuen Verfafjungsvertrages im Sinn des Geſetzes von 1815) aufs 
gegeben werden. 

Wer in ſtaatsrechtlichen und politifchen Dingen urtheilsfähig iſt, ber 
wird übrigens wohl nicht behaupten, man dürfe es mit den Formen in 
Verfafſungsfragen leicht nehmen, es komme Alles auf guten Inhalt, ja blos 
auf den fubjectiv guten Willen wechfelnder Perfönlicyleiten und Stimmungen 
an, wir Isgten alfo zu viel Gewicht auf die Kormen der Vertragsmaͤßigkeit der 


Suppl. 3. Staatslex. II. 37 


578 Grundgefeg, Grundpertrag 


Annahme und Abänderung von Verfaffungsrechten, Die Natur alles 
wahren Rechts iſt Ausfhluf einjeitiger Willkür dex Wers 
pflichteten. Bel Verfaffingsrechten, bei ci Örumdgefe und Verfaſſung 
und ihrer Begrundung aber iſt bie rechtliche. Form faft das Weſen felbſt, 
— untrennbar von ihm. Ein fefter dechtilicher Grund 
ir das be Geſellſchaftsverhaͤltniß, ein Grund, welcher Dauer und alls 
ertrauen, ‚allgemeine Rechtsbeftiedigung verbürgt, ein Damm 
—* ee ſoll gelegt, foll erbaut werden. Sit ba der Grumbs 
u jelbfl; unb feine Behandlung ‚ feine genügende Geſtaltung Feſtigkeit und 
fichere Lage gleichgültig ? 
a Natur eines wahren Rehtöftaates für Preußen, nach 
33 — —* —— ‚und ‚der preußifchen Staatsge⸗ 
* le sk Erklärungen und Urkunden feit 1807, auch 
nur zu ‚bezweifeln, biefe len wir. ‚für ſchwer beleldigend. Auch dürfen 
wir.nimmer glauben, daf die Minifter eines Nachkommen bes Großen Fried» 
rich die Natur und Harmonle der rechtlichen Grumdprincipien jemals gefährs 
den möchten durch Einmiſchung widerfpredhender Principien. 
1. Deshalb halten wir es auch für Pflicht, in den Eingangsworten bed neuen 
ents von einigen mißverftändlichen Ausbrüden abzufehen und dabel nur 
an jene hochachtungs und heilſame ſittlich-⸗religioͤfe Auffaſſung der 
rechtlichen Staatsverhältniffe in „Welche mit der verfaffunge = ‚oder 
ñ——— fich vortrefflich *— 


* des Vaterlandes gerichtet feien. Er ift, tote Friedrich der Gros Be 
fi nannte, Sohn und Bürger beffelben, er ift rechtlicher Regent eines be> 
rechtigten Volkes. 

Bon felbft verſteht e8 fich aber biernady auch, daß man in jenen Stellen 
auch nicht das oben beftrittene Princip der Ungultigkeit freier Befchränfungen 
der monarchiſchen Gewalt durch den Regenten felbft finden darf. Alles Kö: 
nigsrecht ift, wie Friedrich der Große übereinjtimmend mit allen freien 
gefitteten Nationen der Erde fo vortrefflich ausführte, öffentliches Recht, 
bloß beftehend für das sffentlihe Wohl und deshalb lediglich ab: 
hängig von den verfaffungsmäßigen Staatsgewalten, alfo von dem König 
unb der Nation und, fo weit fie dazu beftimmt find, von anderen verfaſſungs⸗ 
mäßigen Organen der Staatsgewalt. Es ift alfo Fein Privatrecht des Königs, 
noch wenigeußber. erbberechtigten Agnaten, deren Erbrecht, abgefeben von 
etwaigem Privatvermögen der Familie, ebenfalls nur öffentliches 
Recht, lediglih zum Wohl des Staates und nad) der jedesmali- 
gen, für diefes Wohl verfaffungsmäßig begründeten Landesverfaffung zu 
beurtheilen. Der König barf und foll nad) feiner Königspflicht feine Rechte 
beſchraͤnken, wenn er ſich überzeugt, es entfpreche dem Wohle des Water: 
landes, für welches alle feine Söhne, alle Bürger und gewiß ebenfo die Koͤ⸗ 
nige und Prinzen nöthigen Fans Gut und Blut bereitwillig einfegen müffen. 
Der König ift um fo berechtigter dazu, wenn es hiftorifch Elar ift, daß die 
Rechte des Volks früher weit größer waren und rechtsgiltig 
anders ale gegen zugefagte zeitgemäße neue DBerfaffung 


Grundgeſetz, Gtundvertrag. 378 


nie aufgehoben wurden. Er thut weile, ſobald es dem Volkswohl 
entfpricht, Aenderungen zu machen. Die diefem Wohl widerfprechenden Rechte 
find gefährdet und gefährden das ganze Regierungsrecht. Schon Lykurg 
wies mit der Billigung des Ariftoteles den Vorwurf der Verwandten 
feines königlichen Muͤndels, er befchränke die Koͤnigsmacht, zurück und fagte: 
„Ich mache fie dauerhafter.“ Davon fol hier gar nicht die Rede fein, daß 
die Beſchraͤnkungen des Koͤnigthums in conftitutionellen Staaten, 5.3. die 
in England, gar nicht größere find ale die bes abjoluten Fürften, die da, two 
der König von England dem Parlament, bem reiflicy geprüften Wunfche 
der ganzen Nation nachgiebt, dee menfhlihen Natur zufolge durch 
tägliche Intriguen, Liſten, falfche Nachrichten, Aufrelzungen der Hofpar⸗ 
teien und auswärtige Einflüffe beftimmt werden. Der Unterfcied iſt nur, 
daß es bort der Ehre und Macht des Throns und des Landes und ber fürftiis 
chen Familie frommt, hier fie gefährdet; daß dort für einen verftändigen 
. König die Beſchraͤnkungen alle geordnet, ſelbſt feſt begrenzt, klar und übers 
ſichtlich find und Innerhalb derfelben bei dem Licht der Öffentlichen Wahrheit 
—5 und die Wahl wahrhaft frei iſt, wie faſt nie im despotiſchen 
uſtand. 

Auch waͤre eine andere Theorie uͤber das Recht des Koͤnigs, die Regie⸗ 
rungsgewalt zu beſchraͤnken, inconſequent und mit dem neuen Geſetze ſelbſt 
in Widerſpruch. Auch dieſes enthaͤlt ja Beſchraͤnkungen, die in der aller⸗ 
letzten Zeit nicht da waren, ſogar, wie der folgende Satz ſagt, uͤber das Ver⸗ 
ſprechen des koͤniglichen Vaters hinausgehn. Entweder gar keine Beſchraͤn⸗ 
kung oder jede dem Wohle des Vaterlandes entſprechende! Jeder andere 
Sag ſagt zu wenig oder zu viel ®P). 

Mir find überhaupt ficher, Daß nicht Einer von allen unterzeichneten Mi⸗ 
niftern gegenüber der erwachten Vernunft der Nation und der gefitteten Welt 
ein anderes göttlicye® Recht als das von uns behauptete, keinen anderen Zweck 
ber Megierungsgewalt, Feinen anderen Maßſtab für ihre etwaige Beſchraͤn⸗ 
tung öffentlich zu behaupten wagen kann, daß keiner je als Förderer und ges 
heimer Bundesgenoß jener Feinde des Koͤnigthums erfcheinen möchte, die ihm 
Liebe, Achtung und Vertrauen freigefinnter Bürger zu entziehen fuchen, 
durch deſſen behaupteten Gegenſatz gegen bie öffentliche Vernunft. 

Was aber wäre das für eine flaatsrechtliche Weisheit, die ſich nicht 
einmal am vollen Licht des Tages fehen laffen dürfte ! 

Ruͤckſichtlich des Umfangs der Berfaffungsrechte, welche 
bei der Vollendung ber jegigen Entwidlung einer freien Verfaffung der preus 
Fifchen Nation zu Theil werden follen, erinmert das königliche Patent ſehr 


39) Beſonders fhön hat der von dem großen Kurfürften gu feinem Biogra- 
phen erwählte Pufendorf in feinem Jus naturae VII. 3. das fpäter von 
Friedrich dem Großen ald grundverberblich beftrittene falfche göttliche Recht 
durch das wahre erſetzt. Gr fagt bier : „Richt blos das kommt von Gott, was 
derfelbe felbft unmittelbar wirkte, fondern auch dad, was bie Menfchen, 
um feine Gebote zu erfüllen, nah ihrer gefunden Vernunft zeitgemäß 
anordnen. Duck ber Bürger vertragsmäßige Ginmwilligung erhält alfo bie 
Regierung ihre moralifche Heiligung wie ihre Kraft.” 

37 * 


580 Grundgeſetz/ Grundvertrag 


erfreulich an die zwel Grundprinelplen ruͤckſichtlich des Umfangs der ſtaͤndiſchen 
Rechte, naͤmlich: 
4) ambie im Weſen deutſcher Verfaſſung enthaltenen ; und 

- 2) am bie durch das Fuͤrſtenwort des vorigen Königs zugefagten ſtaͤndi⸗ 
ſchin Rechte, 

- Der ganze Inhalt und das, was die Einiglich preußifche Regierung flets. 
als das Menigfte der Verfaſſungs-Rechte erklärte, die den Deutfchen. 
und Preußen werben müßten zur Befriedigung ihrer weſentlichen gefchicht- 
lichen Rechte, ihrer Wünfche und Bedürfniffe, diefer wurde genügend oben 
dargeftellt. Und ſſcherlich nidyt minder vollftändig und großherzig, als nach, 
a feierlichen Aufforderungen und Zufagen die Nation ihrerfeits 

le Wunſche ihres Fürften erfüllt, wird auch ihr das Gegenverfprechen erfüllt 

2 F Hiernach kann wohl das neue ſtaͤndiſche Geſetz auch in dieſer Beziehung 
noch nicht als das vollkommene und ganze preußlſche Verfaſſungsrecht angefe: 
ben werben, was auch felner ‚eigenen jo wie früheren Erklärungen wider: 
fpeicht,, fonbern nur al8 Grundlage zur weiteren Ausbildung deffelben 
unter Mitwirfung von Männern bes Volks, tie fie das Geſetz von 1815 
vorſchreibt. ua! | 

Insbeſondere ift auch die Befchränfung ſtaͤndiſcher Zuftimmung blos zur 
Erhebung neuer oder erhöhter Steuern fo wenig im Wefen beutfcher 
ſtaͤndiſcher Rechte enthalten, daß eine ähnliche Beſchraͤnkung vielmehr nur 
in. den unglüdlichften undeutfcheften Zeiten der Nachahmung des franzoͤſi— 
[hen Despotismus von Ludwig XIV., überhaupt nur mit bem Zer⸗ 
fall ber deutſchen fändifchen Verfaffungen in Deutfchland Eingang fand. 
Sie war ein Haupttheil jener verfaffungslofen verdorbenen Zuftände, welche 
alles Ungluͤck Deutfchlande und die Schladht von Jena herbeiführten. Auf 
dDiefen elendeften Zuftand der deutfchen Gefchichte kann man nicht das we= 
fentlihe deutfche hiftorifche Recht gründen, auf folche verkehrtefte 
Zuftände kann man nicht den Neubau preußifcher Freiheit, Rechtsordnung 
und Zukunft gründen wollen ! 

Man kann diefes um fo weniger, da die einzige Entfchuldigung der 
Verlegung der allgemeinen germanifchen unbedingten Steuerbewilligungs- 
rechte, die Entſchuldigung, die darin liegt, daß in großen Monardien, 
melche aus verfhiedenen Provinzen mit blos abgefonderten Provinzialftänden 
beftanden, gefürchtet werden konnte, ihr Schickſal würde möglichermweife von 
beſchraͤnkten Anfichten dieſer Provinzialftände zu abhängig oder es wuͤrde 
ein Streit der Provinzen herbeigeführt werden, bei einer Vermilligung 
durch die Reicheflände ganz wegfällt. Wer aber wagte es zu fagen, daß die 
Parlamente von London, Paris, Brüffel ihre vollen Steuer : Bewilligungs: 
rechte mit ihrer Gontrole der Bermendungen und mittelbar der ganzen Staate> 
Vermaltung zum Verderben von Thron und Staat gebrauchten! Sicher die 
preußifchen Reicheftände würden e8 auch nicht thun, und am menigften, wenn 
man ihnen wirklich vertraut , ihnen wirklich befriebigenden Rechtszuſtand 
und die gerechte Rechtsgleichheit gewährt und nicht durch das Gegentheil ent: 


Grundgeſetz, Grundvertrag. 581 


weder Theilnahmlofigkeit am Gemeinmwefen oder einen verberblichen Krieges 
ftand organifirt. 

Auch die Beſchraͤnkung ber Steuers und Anlehensberoiliigungen In 
Beziehung auf Kriege wäre, abgefehen von ben neueren unbedingten Zus 
fiherungen, gefaͤhrlich, weil fie die wichtigfien Rechte einfeitigem Belieben 
preisgiebt, fomit eine Quelle des Haders würde. Gerade wegen Kriegen ent> 
ftehen die meiften und wichtigſten Steuererhöhungen und Anlehen. Und 
nirgends mehr als bei dem folgenfchweren Beſchluß eines Krieges ift die 
Mitwirkung ber Nation wefentlih, zur Verhinderung verderblicher Kriege, 
zur Begründung des allgemeinen Vertrauens ber Nothwendigkeit und Gerech⸗ 
tigkeit eines befchloffenen Krieges und der freudigen Vereinigung aller Natio⸗ 
nalträfte für denfelben. 

Nach den früheren deutſchen reichsſtaͤndiſchen und Iandftändifchen 
Srundverträgen, auch den preußifchen, hatten die Stände geradezu Mit: 
beftimmung bei Bündniffen und Kriegen. Dan kann der Krone jest allein 
diefeß Recht einräumen. Aber eıne mittelbare Mitwirkung durch die regel: 
mäßigen Bewilligungsrechte in Beziehung auf Anlehen und Staatsſteuern, 
wie fie in England und Frankreich und bei allen freien Völkern zum 
Heil für Fuͤrſt und Volk befteht, warum will man diefe den preus 
ßiſchen Ständen entziehen, warum ihnen weniger vertrauen ? 

Als befonders bedenklich erfheint uns, auch abgefehen von bem bereits 
beftehenden Recht, die oben erwähnte Befchränkung bes natürlichen Rechts 
der Petition dee Wähler und Buͤrger. 

Frage man die Engländer , die doch fonft ungleich mehr Mittel haben, 
den patriotifchen Bemeinfinn ber Bürger zu wecken und zugleich mit den Wüns 
[hen und Bebürfniffen der Bürger ihre befonderen Verhältniffe zur oͤffent⸗ 
lichen Sprache zu bringen und 'cine lebendige organifche Wechſelwirkung 
zwiſchen der Nation, ihrer Regierung und ihren Ständen zu erhalten — 
frage man biefe praftifhen Meifter in der Politik, ob fie nicht dennod) das 
Petitionsrecht für unermeßlich wichtig und wohlthätig , ja nothwendig halten ! 
Ihre wichtigften Maßregeln, 3. B. die der Sklavenemancipation, der Par⸗ 
lamentsreform, der Aufhebung ber Getreidezölle, wurden bei ihnen durch Pes 
titionen und Derfammlungen zu ihrer Berathung reiflich vorbereitet und fo 
bewirkt. In Baden iſt unter erfahrenen Regierungs⸗ und Kammermitglie: 
dern Darüber nur eine Stimme, daß das Petitionsrecht außerordentlich 
‚heilfam zur Entwidlung des Gemeingeiſtes, zur Enthällung und Berüdfidys 
tigung vieler fonft unbeachtet gebliebener Bebärfniffe und Verwaltungs: 
mängel, zur Durchführung ber einflußreichflen Maßregeln wirkt und eben- 
fo menig als in England je einen weſentlichen Nachtheil begründete. Eine 
weife Regierung muß die ganze Anſicht und Stimmung ber Bürger kennen. 
Welches Mittel ift hierzu trefflicher Es vermehrt das Vertrauen, die An: 
haͤnglichkeit der Bürger für die Regierung und Verfaffung. Es ift überhaupt 
eins dee wefentlichen Mittel zur Bildung eines freien Volkes, zur Bildung 
und Verwirklichung einer freien Gefammtübergeugung und öffentlichen Mei⸗ 
nung. &8 tft abfolut wefentlich, um dem Kaftens und Privtlegiengeift 

- Inden Ständelammern entgegenzuwirken. 


582 | Grundgeſetz, Grundvertrag. 


Iſt irgend ein Grund vorhanden, auch hier wieder das preußiſche Voll 
den übrigen Völkern nachzuſetzen, ihm zu mißtrauen? 
Dile freien Petitionen faft aller peeußifchen Stäbte für polltifche Freie 
beit, für Preffreiheit, Erweiterung der ftändifchen Rechte waren, wie ſchon 
erroibnt, bie wichtigſten und ſchoͤnſten Früchte der preußifchen Provinzial: 
ftände,, der hoͤchſte Ehrenpunkt der preubifhen Nation im Ins und Auslanbe, 
Sie wirkten wahrſcheinlich vorzugsweiſe mit, die koͤniglichen Beſchluͤſſe Aber 
den vereinigten Landtag zu veramlaffen. Warum nun diefe heilfame Duelle 
des Guten plößlich verftopfen | Nicht blog alle Wähler der Stände, fondern 
alle Bürger müffen das freie Petitionsrecht, und Feinedwege zur Förderung 
des Egoismus. befchränft auf bloße Privatangelegenbeiten,, fondern zur Ers 
weckung des Gemeinfinns, auch für alle patriotifchen Angelegenheiten ha⸗ 
ben. Bitten und Waſſertrinken muß doch wohl Allen erlaubt jein, wo von 
Freihelt die Rede fein ſoll 

Vertrauen, volles Vertrauen zwiſchen Fuͤrſt und Volt, das erkannte 
mit Recht ber vorige König, das erkannten auch die neueften Eöniglichen Er> 
klaͤrungen als das Gluͤck und als bie Kraft des Fürften und des Volkes an. 
Kann es dieſes Vertrauen fördern, wenn in Beziehung auf bie theuerſten 
Angelegenheiten, die bes Vaterlandes, die Sprache, die Bitte, die Wünfche 
ber Bürger nicht frei zum Thron wir zur Bandesvertretung gelangen £önnen ? 
Dlieſes gilt auch in Beriehung auf die Beſchraͤnkung der Bitten ber Stände. 
Wozu fie beſchraͤnken auf innere Angelegenheiten? und ferner durch eine Mehr: 
heit von jweiDrittheilen? Ä 

Wozu vollends die neue Befchränkung im neueften Geſetz, daß in zwei 
Perfammlungen zwei Drittheile zufammenftimmen müffen? Warum foll 
nicht, wie in England, jeder der beiden größten, befonnenften Corporatio— 
nen das freie Wort an ihren König bleiben ! Zuerſt jerreißt man die Staats: 
bürger nad) geichichtlich heutzutage nicht mehr eriftirenden Verhältniffen in 
abgefonderte ftändifche Kaften, gründet durch ihre Abfonderung und ihre 
verfchiedenen Rechte und Vorrechte einen Gegenfag ihrer Intereſſen, menſch⸗ 
licherweife Eiferfuht und oftmald Spannung, giebt dann bem einen, dem 
Adelftand, die höchft ungleiche überwiegende Reprafentation, dann aber: 
mals einer Eleinen Fraction des Abdelftandes bie ganze Hälfte aller ſtaͤndi⸗ 
ſchen Autorität und die Bevormundung der ganzen andern Verſammlung. 


So bemirft man, daß vieleicht die Wünfche, ntereffen und Bitten 
der unendlich überwiegenden Mehrheit eines Volkes, die, auf deren begeifter: 
ter Liebe und Vertheidigung ihres Vaterlandes die Kraft und die Sicherheit 
von Thron und Staat beruht, gar nicht einmal zum Thron Eommen fönnen. 
Was früher fo Viele betrübte, diefes wird jegt durch die neue ungleich ver: 
mehrte Befchränfung zehnfach betrübend,, wird es noch mehr, je wichtiger das 
Recht felbft durch die erhöhte Bedeutung eines allgemeinen Landtags im Ge: 
genfaß gegen einen provinziellen und durch die Ausfchließung aller allgemeinen 
vaterländifchen Angelegenheiten von dem befondern wird. 

Früher gelangten vielleicht doch in einzelnen Provinzen bie Gefühle und 
Wuͤnſche des im Stimmrecht fo weit nachgeftellten Bauerns oder Buͤrgerſtan⸗ 


Srundgefeg, Srundvertrag. 583 


des an ben Thron, wenn ber Abel ber Provinz theilmeife bürgerlich mit ihnen 
fühlte. Jetzt kann möglicherweife ihre Stimme ganz unterdrüdt werden. 
Alte aͤngſtliche ſuperkluge Feinheit, den Ausdrud der Volkswuͤnſche zu 
hemmen, verlegt das fittliche Gefühl. So auch der Sontraft, daß, wenn bie 
Bürger wünfchen, ſolche Erſchwerung eines Belchluffes flattfindet, wenn 
aber die Miniſter wünfchen, die Stimmen der Mitglieder ber erſten Kam: 


mer jegt Belchlüffe durch einfache Majorität in der zweiten Kammer zu 


Stande bringen Einnen. Durd die itio in partes wird die Sache noch 
gefährlicher. Hat die Stimmenzahl von 2 in beiden abgefonderten Kammern 
dem Minifterium noch nicht genügt, um unangenehme Beſchluͤſſe zu ver 
hindern, hat auch die erfte Kammer und ihre beliebige Vermehrung bis in's 
Unenbdliche nicht geholfen, die vom Miniſterium qewuͤnſchten Beſchluͤſſe 
durch einfache Stimmenmehrheit mit Hilfe der Mlitglieder der erſten Kam⸗ 
mer zu erlangen, fo kann die itio in partes aushelfen, um bie unangenehmen 
Beichlüfle zu verhindern, die angenehmen zu erhalten, 3. B. Steuer: und 
Anlehnsverweigerungen in Berwilligungen zu verwandeln. Sobald es naͤm⸗ 
lich dem abgefonderten Intereſſe eines einzigen Standes oder einer einzigen 
Provinz gut fcheint oder fobald die Regierung in demſelben die genügende 
Mehrheit ſich zu gewinnen weiß, fo bald kann ſich möglicherweife biefer eins 
zige Stand, diefe einzige Provinz ale In ihren befonderen Intereſſen gefährdet 
erklären und bie Kraft des ganzen Beſchluſſes, der ganzen Steuer: ober Ans 
lehnsverweigerung, alfo auch bie ganze Kraft des Bersilligungsrechts zer⸗ 
flören, indem fie den Diniftern die beliebige Entſcheidung anheimftent. 

Oder giebt e8 einen andern Sinn dieſer Beftimmungen über die außer 

ordentliche itio in partes, über diefes veto der kleinſten Fraction des Reiche» 
tags, dieſe eigenthümliche Wiederholung des veto und der Parteifpaltumg, 
wodurch einft Polen unterging ? 
Befonders eigenthuͤmlich der preußifchen Verfaſſung ift bie Bil⸗ 
dung der Landſtaͤnde nah ben alten Keubalftänden mit Aus 
ſchluß übrigens der Geiſtlichkeit und mit fernerem Ausſchluß eines fehr gros 
fen Theils der Nation und vorzüglich das durch die neuefle Verordnung noch 
fo fehr vermehrte erfiaunenswerthe Webergewicht des Abel. Alles 
dieſes ſcheint einer Längft entfchwundenen Lebergangsperiode angehörig, un« 
fern heutigen Zuftänden, Bebürfniffen, Rechten imangemeflen. 

Es iſt anerkannt, daß nad, urbeutfchem echte vor der fauftrechtlichen 
theilweifen Unterdrüdung alle Staatsbürger berehtigt waren, 
in den demokratiſchen Gemeindes, Gau: und Reichsverfammlungen mit zu 
flimmen, in Geſetz⸗ und Steuerbewilligung, in Gerichts: und wichtigen Res 
gierungsfachen. Es ift anerkannt, daß auch durchs ganze Mittelalter hins 
durch bis zur Reihsauflöfung flets der Grundſatz galt, daß jeder un» 
mittelbar unter der Regierung ftehende Bürger an ben Steuer: und Ges 
ſetzbewilligungen Antheil zu nehmen das Recht hatte. Es wurde dieſes Recht 
theilweife fchon in uralten Zeiten, 3. B. bei den altfächfifchen Randtagen oder 
bei der allgemeineren Wahl von Schöffen für die Gerihtsverfammlungen 
duch erwählte Repräfentanten ausgeübt. Es wird jetzt in der ganzen 
germanischen Welt ganz zweckmaͤßig fo ausgeübt. 


| — ’ 


Mur wer in ber jet hiſtoriſch völlig erlofchenen Ueber 
gangsperiode der Feudalzeid blos mittelbar durch einen adligen Schuße 
herrn umter der Regierung ftand, wurde durch diefen. vertreten und von 
ber eigenen Repräfentation ausgefebloffen. Jetzt, wo biefer Grund fammt 

"allen früheren VBerhditniffen, melde, fo wie des Adels ausſchließ⸗ 
liche Leiſtung der Kriegädienfte, unterdeffen gaͤnz lich aufgehört haben, 
wegfaͤllt, dennoch die alte Bevorzugung fortdanern laffen, ja fie nen, gang 
nen in's Beben rufen — jept dem Adel ungleiche finatsbürgerlihe Rechte 
zur Auchdfegung der übrigen Bürger geben wollen — dieſes ſcheint ebenſo 
völlig unhiſtotiſch zu fein als ungerscht gegen die Zuruͤckgeſetzten. 

Ebenſo iftes längfl erwiefen, daß troß der einfeitigen Bildung der Land» 
fände waͤhrend jener Feudalverhaͤltniſſe die deutſchen Landſtaͤnde wie bie 
beutfchen Meichsftänbe Hiftorifch als wirkliche Bandes» und Reichs— 
zepräfentanten »erfhlenen, und daß mithim die repräfentative Reiche» 
ſtandſchaft als Vertretung nicht etwa eingelner Stände, fondern des gan: 
gen Landes und Reiches, bes ganzen Volkes und feines Wohls 
amd feiner Rechte wohlbegrünberes hiflorifches Recht iſt #9), 
Nur haben ganz natürlich und nothwendig nach der Zerftörung jener feudalen 
Schutzverhaͤltniſſe der adligen: Dinterfaffen, Leibrignen und Patrimoniab 
bauern, jest wieder alle Glaffen der Staatsbürger das natür— 
Uche,  verbäftnißmäßig gleihe Recht der Theilnabme an 
ber Landesrepräfentatiom. | er 

Die feubalftändifche Vertretung aller Dinterfaffen und Schüg- 
linge iſt jegt Eein hiftorifh beftehbendes Recht mehr, weil fie für 
die Ausübung der Mitftimmungsrechte aller Bürger bei Geſetzen und Steuern 
eine Form mar, bie fich lediglich auf die gänzlich erlofhene Hin— 
terfäffigkeit gründete, die allgemeine Repräfentation des ganzen Landes 
durch) feine gefammten Stände gegenüber der Regierung aber iſt gülti: 
ges hiftorifhes Recht, weil diefed wefentlihe Recht für die 
Nation nie zerflört und als zeitgemäß allgemein neu anerkannt wurde. Das 
Recht aller Bürger, entweder felbft oder durch Mepräfentanten die Ge: 
fege und Steuern zu bemilligen, ift ebenfo hiſtoriſch begründetes Recht, weil 
der einzige Grund der Ausuͤbung ihrer wefentlichen Rechte durch Seudalftünde, 
ihre Hinterfäfligkeit, aufgehört hat. 

So grünbete ſich alfo die gegebene Verheißung einer Mepräfentation des 
ganzen preußifchen Volks nicht nad) Feudalftänden,, fondern „aus allen 
Slaffen der Bürger” ebenfo wahrhaft auf das wirkliche 
biftorifhe Recht wieauf die wahre Gerechtigkeit. 

Wodurch kann man- alfo rechtfertigen eine Ausfchliefung des ganzen 
geiftlichen, Gelehrten» und Beamtenftandes, des ganzen Fabrik⸗ und Ges 
werbsſtandes als foldyen, d.h. fofern einzelne Glieder nicht etwa zufällig durch 
befonderen ftädtifhen Gutsbeſitz berechtigt werden ? 

Das, was einer Nation, was ihrem Könige vorzugsweiſe politifche 


40) Die urkundlihen Beweiſe in den Artikeln Deutfhe Staatgge: 
ſchichte und Deutſches Landesftaatsreht im Staatöskerifon. 


I J 


Grundgeſetz, Srundvertrag. 585 


Kraft und Sicherheit giebt, iſt nicht die Zerriffenheit und ber Gegenfag in 
möglichft abgefonberte Provinzen und Stände weit abgefonderten, ja ent 
gegenftchenden Intereſſen, Rechten und VBeflrebungen. Nur eine jammers 
volle Staatsweisheit der Despotie Eönnte die ſaͤmmtlichen Unterthanen als 
Feinde anfehen und dann das „heile und herrſche“ in Beziehung auf fie gels 
tend machen. Aber wahrlich in unferem freiheiteluftigen Eurcpa, bei ber 
beutigen ernften Richtung der Völker, große und freie Nationen 
zu bilden, ift verfländiger Weije eine ſolche Politik kaum denkbar, fie 
müßte unfehlbar alsbald im Inneren Schiffbruch leiden oder nyürde bei zers 
riffener, gefhmächter Nationalkraft, bei Anlodung zu ausländis 
ſchem Einfluß auf einzelne Stände, wie fie in Polen und fonft 
oftmals ftattfand, im gefährlihen Kampf» mit den großen gut geeinigten 
anderen Staaten, Thron und Staat ruiniren. 

Am Mittelalter war jeder fauftrchiliche Baron König in feinem 
Land nad franzäfifcher Redensart, Unterfönig nad) flandinavifcher. Diefe 
kleinen Könige föderirten fih zum Krieg gegen die Oberkoͤnige 
und die Städte und Bauern, beberrfchten fo viele Hinterfafien, als fie 
hatten unterwerfen koͤnnen, und dadurch und durch ihre ausſchließliche Befchäfs 
tigung mit Krieg waren fie natürlich ganz abgefonderte Stände Ebenſo fös 
derirten fich die Stadtbürger zu felbflftändiger Vertheitigung und Regierung 
ihrer republikaniſchen Gemeinden und ihrer Hinterfofjen und zur ausſchließ⸗ 
lichen monopoliftifhen Betreibung von Handel und Gewerb und zu ihren 
Städtebündnifjen für diefe Zwecke und für die gemeinfame Vertheidigung. 

So ftanden fie dem Adelflande ebenfo wie den von Kriegsehre, von 
Handel und Gewerb, mehr und mehr aud) von der Freiheit ausgeſchloſſenen, 
niedergebrüdkten, leibeigenen, patrimonialen Bauern entgegen. 

Welche Hiftorifhe Weisheit und Gerechtigkeit aber wagte e8 wohl, und 
wie verderblid, der wahren Königsmacht und dem Frieden und der Blüthe des 
Volks wäre es, biefe Verhaͤltniſſe heute neu fchaffen au wollen ! 

Alles, was heut zu Tage von Standesverhältniffen noch beſteht, ift von 
zufälligen, jeden Tag wandeltaren, von den heute fo ſchnell wechfelnden Vers 
Echrsverhältniffen, von inbivituellen freien Meinungen und Saunen abhäns 
gig. Was unterfcheidet einen gebildeten wohlhabenden Landmann vom Edel 
mann, was den auf dem Land wohnenden Kabritanten vom Stadtbärger ? 
Iſt es ſtaatsweiſe, folche lockere Verhätmiffe zu dauernden Grundlagen bleis 
bender Verfaffungen zu machen nach Phantafiebildern vergangener Zeiten, 
die heiligen Verfaſſungsrechte der Staatsbürger zu fpalten, ungleich zu mas 
chen, die Menfchen willkürlich in juriftifch verfchiedene Kaften zu zerzeißen 
undin folden ſich gegenüber zu flellen? 

Giebt es wohl in der ganzen Welt etwas Aufreizendsres, als 
Im wichtigen Dingenden Minoritdtsbefchlüffen feiner Mitbürs 
ger ſich unterordnen, durch fie leiden zu müffen! 

Wodurch iſt es ferner zu rechtfertigen , daß die Adeligen fdyon früher und 
volfende bei der jegt neuen Errihtung einer erſten Kammer und 
bei dem Mecht, jederzeit eine beliebige Zahl neuer Abeligen in die erſte Kammer 
zu rufen, unb bei dem echte der itio in partes der einzelnen Stände zwanzig⸗ 


AU 


mal mehr gelten follen als die Bürgerlichen, daß fie mit dem unendlich viel 
Eleineren Steuer diefe mit Steuern und Anlehen belegen, ihnen mit 
Steuern, bie vielleicht vorzugsmeife fie treffen, Ihe Vermögen aus der Taſche 
votiren Pönnen® Iſt ein adeliger Kopf oder Arm, eim adeliges Herz oder 
Land zwanzigmal fo viel werth als jeder preufifche bürgerliche Kopf und Arms, 
als jedes bürgerliche Herz und Land? Sollen fie fo viel mehr an dem hoͤch⸗ 
flen Gluͤck, der hoͤchſten Ehre ber Nation, an der politifchen Freiheit Antheil 
haben, follen fie politiiche Gewalt über die Bürgerlichen erhalten ? | 

Vertrauen, möglichft gehobenes, allgemeines Vertrauen, patriotlſch 
gleiche Liebe und Aufopferung für König und Vaterland, diefes hoͤchſte Ziel 
auch der hen Verfaffung, find fie denn auf die Dauer auch nur moͤg⸗ 
lich bei biefer Einrihtung? ? 

Wahrllich, meine Schriften beweiſen «8, ich bin kein Feind bes Adels 
und bisher vielmehr ſtets rin unmwandelbarer Bertheidiger ebenfo vom einer 
erſten mehr arlitofratifchen Kammer wie von der Erbmonarchie. 

Aber foll ic) dem Adel vertrauen, dann muß man ihn nicht in fo 
unnatürliche ungerechte Stellung und Bevorzugung ſetzen, welche gang na⸗ 
tuͤrlich Überall, wo fie in ber Weltgefchichte eriftirte, melche in ganı Deutſch⸗ 
land, in Preußen und ben anderen europälfchen Staaten fo unfelige Folgen 


erzeugte. 
MB man bie ſehr ſchwere Aufgabe einer guten, für unfere heutigen 
Beten und für die deutſchen Verhaͤltniſſe paffenden Nachbildung des engli- 
pen Oberhauſes Löfen, nun fo muß man fo viel möglich ein englifches 
berhaus und einen englifhen Adel fchaffen. Dann muß man vollends 
nicht gerade zu alle enalifchen Gegengewichte gegen die damit verbundenen 
Gefahren zur Seite laſſen. Man nehme in das Oberhaus felbft mindeftens 
ähnliche Mitglieder wie die Bifchöfe und Oberrichter und die ſtets aus den 
verdienten Männern aller Stände hinzulommenden Pairs. Mean fege 
bem Oberhaus vor Allem ein fo Fräftiges Unterhaus mit feiner beinahe 
alleinigen Steuerbewilligung,, eine fo Eräftige politifhe Volksfreiheit gegen: 
über. Dan entferne vor Allem alle adeligen Vorzugsrechte aus dem Unter: 
haus und aus allen Staatögefegen, man befeitige hierdurch und durch Be: 
ſchraͤnkung des Adels auf die Befiger des Pairsamtes, durch eine Entfernung 
nur allein deutfcher adeliger Vorurtheile über Mißheirathen die furchtbarfte 
aller Gefahren, wahrlich heutzutage noch mehr für die Throne als die Völker, 
die Gefahren eines eigenfüchtigen, herrichfüchtigen Kaftengeiftes, eines durch 
ftändifche Privilegien und die mit ihnen erworbenen Hofe: und Amtspri⸗ 
vilegien übermächtigen Adels, eines Adels vollends, der, jest nicht reich, 
durch feine Privilegien und für fie Reichthum fuhen müßte, der heute 
die übrige Bevölkerung zur Mevolution oder zur Auswanderung treiben 
tönnte, wie er fie früher in Leibeigenfchaft und Frohndpflicht verftieß und zum 
Bauernkrieg trieb. | 
Sch bin fonft nicht gewohnt, zu ſchwarz zu fehen. Aber es ift dennoch 
möglich, daß ich esthue. Darum wuͤnſche ich, daß man an der Hand der 
Geſchichte und der menſchlichen Natur meine gerade dort gefhöpften Beſorg⸗ 
niffe befeitige, denn fie find in Beziehung auf diefen Punkt fo groß, daß ich 


a % 


Weundgeſetz, Grundverteng. 687 


es für ungleich weniger verderblich und gefährlich für Thron und Staat bielte, 
alle und jede politifchen Freiheitsrechte der preußtichen Nation gegen völligen 
Abſolutismus zu vertaufchen, als eine folche Einrichtung durch meine Mit⸗ 
wirkung dausend und dann In ihrer weiteren Entwicklung unvermeidlich grund⸗ 
verderblic) zu machen. 

Doch edle verftändige Stimmen aus dem preußifchen Abelftand felbft wer 
den für eihe Befeitigung der hier berührten Verlegungen und Gefahren wir⸗ 
ten, folche,, die wie der edle Stein und Schön die früheren Ungleichs 
heiten befeitigten,, die wie Hardenberg ımd Humboldt Namens ihres 
Könige wahre Volksrepraͤſentation aus allen Claſſen ber Staatsbürger for» 
derten, welche, wie der Adel in den Königsberger Ständen, auf Privilegien, 
namentlich auf eine Herrenbank gegen eine erbetene Rechtegleichheit und ges 
rechte Volksrepraͤſentation verzichteten. 

Man wird übrigens die angeregten Bedenken nicht etwa dadurch bes 
feitigen wollen, daß ja die erwähnten Verletzungen ſchon In ben provinzials 
ae Einrichtungen beftanden und bis jegt noch nicht weſentlich geſcha⸗ 
det hatten. 

Ich will es Anderen überlaffen, bie Frage zu beantworten, ob bie bier 
allerdings beftehende auffallende, fo ungleiche und mangelhafte Vertretung 
nicht das allgemeine Vertrauen und die Kraft diefer VBerfammlungen fo we⸗ 
ſentlich laͤhmte, daß fie in einem Vierteljahrhundert gar fo wenig nüsten, 
daß man felbft an die nicht fernere weitere Beſchickung derſelben im Bürger 
ftande dachte, ob nicht doch in manchen adeligen Bevorrechtungen und Zuräds 
fegungen der Bürgerlichen die Einwirkungen dieſer fonft fo unkraͤftigen Ins 
fitutionen gefunden werden können. 

Aber die allgemeine Stimme des Mißmuths ber Bürgerlichen ift in dem 
Maße lauter geworden, als man nur den Provinsiallandtagen einige Bedeu⸗ 
tung beizulegen anfing, wenigſtens die beilegte, daß fie als Organe ber Bitte 
um Verwirklichung ber Reicheftände dienen könnten. 

Aber feitbem iſt nun das Uebergewicht jener beifpiellofen Adelsvertretung 
auf die allgemeine preußifche Nationalverfammiung übergetragen und durch 
die befondere bloße Adelskammer mit ihrem beifpiellofen Rechte der Stimmens 
durchzaͤhlung bei Steuer: und Aniehengefegen und mit ihrer grenzenlofen Vers 
mehrbarkeit und vollends durch jene itio in partes noch verboppelt und vers 
dreifacht worden. Diefelbe wird nun aber, auch abgefehen hiervon, um 
fo druͤckender, je höher in der Bedeutung der allgemeine Landtag über dem 
Provinztallandtag ſteht. Sie wird doppelt drädend durch die entſcheiden⸗ 
den echte bei Steuern und Anlehen, die bem erften jetzt beigelegt find. So 
lange bie Provinziallandtage gar nichts vermochten als mit fo geringem Er⸗ 
folge zu bitten, da kam es wenigſtens auf die Stimmenzahlen der verfchiedenen 
Stände bes Landtags an. Jetzt, wo er Steuern und Anlehen zu biefen ober 
jenen Zwecken, in dieſer ober jener Weife bewilligen oder verweigern kann, jegt 
wird die Sache eine ganz andere. 

Hat man wohl überall ſchon ganz das Weſen der Steuerbewilligung,, das 
natürliche und im Acht deutſchen Recht begründete Weſen diefer Steuerbewilli⸗ 
gung bedacht ? 


588 Grundgefeg, Grundvertrag 


‚Das Staats = Leritom hat im Artikel Bede urkundlich nachgewieſen 
baf von ben aͤlteſten Beiten an in Deutſchland, daß nad) den Reichsgeſetzen, 
die noch im. 15. Jahrhundert sine Vergleihung: mit bem einzelnen nicht 
teptäfentirten Eigenthuͤmer Über die Steuern. forderten ‚. wie nad) ‚den Lan: 
bedverträgen bie Befteuerung wefentlih von der Gefepgebung uns 
terichteden wurde, daß die Bemilligung vom Steuern gerade fo mie ſtets 
bei din Engländsın als ein Ausfluß des Privateigenthums br 
trachtet wurde, indem, wern mein Eigenthum wirklich mein Eigenthum fein 
folle, Niemand: e8 mir blos nad) feinem Exrmeffen nehmen duͤrfe. 

Diefe auch von Burke, dem Todfeinde jacobinifcher Grundfäge, 
vertheidigte, ja felbft von Den, v. Daller zugeſtandene Rechtsgrundan⸗ 
fiht, brachten die größten britiſchen Stagtsmänner, wir ford Chatam, bie 
erften Juristen, wie Lord Gamben und Ersfine, zu Gunften ber ame: 
rikaniſchen Eolonien, die man ohne deren Bewilligung mit der. Stempel 

ſleuer belegt. hatte , in beiden Käufern zu jo vollftändigem Siege, daß die 
Stempelfteuer zuruckgenommen werben mußte, daß König, Ober: und Unter: 
baus fomit jenen Maͤnnern beiftimmten, dab ihre vereinte Macht das uns 
abaͤnderliche Urrecht aller freien Männer, nur mit Zuſtimmung 
Ihrer wahren Nepräfentanten befleuertzumerden, recht sguͤlt ig nicht auf: 
heben tönne. Es fetrrlaubt, einige Stellen aus jenen Parlamentsveden zur 
Beranfhaulihung der Rechtstheorie diefer Staatsmaͤnner hier zu wiederholen, 
Der ältere Pitt, fpäter Lord Chatam, fagte 1766 in feiner berühmten Rede 
unter Underem: „Der Gegenftand ift von größerer Wichtigkeit, als je einer dies 
„ſes Haus befchäftigt hat, blos jenen ausgenommen , als vor hundert Jahren 
„Die Frage war, ob Ihr felbft Sklaven oder freie Menſchen wäre‘. (Ob 
nämlich der König Karl. die Engländer eigenmächtig befteuern Eönne.) „Ich 
„bin der Meinung, daß diefes Königreich, ob e8 gleich in allen andern Hinſichten 
„die Regierungsgemalt und hoͤchſte Geſetzgebung über Amerika hat, gleichwohl 
„kein Recht befist, die Golonien mit Steuern und Abgaben zu belegen. Sie 
„find zwar bie Unterthanen diefes Königreiches, aber ebenfo berechtigt als Ihr 
„ſelbſt zu allen natürlihen Menſchenrechten und zu den Freiheiten 
„der Engländer. — Die Amerikaner find Englands Söhne, nicht Baſtarde. 
„Das Recht, Steuern und Abgaben zu fordern, ıft weder ein Recht der aus⸗ 
„Üübenden noch der gefeßgebenden Geralt. Steuern und Abgaben find blos 
„Freiwillige Gaben und Beroilligungen der Gemeinen. An der Geſetz⸗ 
„‚gebung nehmen alle drei Stände des Reiches Antheil, aber die Miteinflimmung 
„ber Pairs und der Krone zu einer Taxe iſt eine bloße Kormalität. In alten 
„zeiten (nad) der Eroberung) befaßen die Krone, die Barone und die eift: 
„lichkeit alıs Land. In diefen Tagen gaben und bemwilligten (give 
und grant, dieſes ift die Kormel parlamentarifcher Steuerbewilligung), gaben 
„und bewilligten die Barone und die Geiftlichkeit, was fie der Krone geben 
„wollten, gaben und bemilligten ed aus ihrem Eigenthum. 
„Jetzt, feit der Entdeckung von Amerika und durch andere Umjtünde, find 
‚die Semeinen Befiser des Landes geworden. Die Krone felbit hat ihre groͤß— 
‚ ‚ten Domainen veräußert, die Kirche, Bott fegne fie, hat blos eine Apanage. 
„Das Eigenthum der Lords, verglichen mit dem Vermögen der Gemeinen, ift 


\ 


Srundgefeb, Srundvertrag. 580 


„wie ein Tropfen im Dcean. Diefes Haus repräfentirt die Bemeinen. — 
„Bern wir daher in diefem Haufe geben und bewilligen, fo geben und 
„beroilligen wir aus unferem Eigenthum. Aber eine Zare auf Amerika, was 
„hun wir da? Wir Em. Majeftät Gemeinen von Großbritannien, geben 
„und bevilligen Eurer Majeftät — was? unfer eigenes Eigentbum? Rein, 
„wir geben und bewilligen Eurer Majeftät das Eigenthum von Ew. Majeſtaͤt 
„Gemeinen in Amerika. Ein absurdım in terminis.‘* 

„Der Unterfchied zwiſchen Gefeggebung und Beſteuerungsrecht iſt we⸗ 
„ſent lich noͤthig zur Freiheit. Die Krone, die Pairs find als mit⸗ 
„geſetzgebende Gewalten den Gemeinen voͤllig gleich. Waͤre das Beſteue⸗ 
„rungsrecht ein Stuͤck der Geſetzgebung, ſo haͤtten die Krone und die Pairs 
„eben das gleiche Recht, Steuern aufzulegen, wie Ihr ſelbſt.“ 

„Die Gemeinen in Amerika, repraͤſentirt in ihren verſchiedenen Land⸗ 
„tagen, find immer im Befig geroefen, haben immer ihr verfaffungsmäßiges 
„, Recht, ihr eigene3 Vermögen, zu geben und zu bewilligen; ausgeübt. Sie 
„wären Sklaven geweien, wenn fie dieſes Recht nicht genoffen haͤ 

Dem Minifter Örenville entgegnete Pitt: „Der geehrte Gentleman fagt, 
„Amerika ſei hartnddig, fei faft in offenbarer Empoͤrung befangen. Ich freue 
„mic, daß Amerika widerftand. Drei Millionen Menſchen, fo todt gegen alle® 
„Freiheitsgefuͤhl, daß fie ſich freiwillig zu Sklaven hingäben, würden treffliche 
‚Werkzeuge geworden fein, auch aus uns Uebrigen Sklaven zu machen.” 

Der beruͤhmte Rechtsgelehrte, der Oberrichter Lord Camden, beftäsigte 
im Oberhaufe ebenfo nad dem Naturrecht wie nad) dem pofitiven eng⸗ 
liſchen Staatsrecht, völlig dieſelben Mechtegrundfäge und fügte unter An⸗ 
derem: „Ich würde die Zeit nur verderben, über die einzelnen Punkte 
„des Inhalts der Bill etwas zu fagen, da bie ganze Bill illegal iſt, 
„vollommen illegal und ſowohl den Grundfägen des Naturrechts zu⸗ 
„wider ift als den Grundgefegen unferer Verfaflung, die auf die ewigen 
„anveränderlichen Srundgefege der Natur jelbft gegründet wurde, eine Ver: 
„faſſung, deren Bafis und Centrum Freiheit iſt. Mylords, es iſt Beine 
„meue Lehre, fie ift fo alt als die Conſtitution felbft, fie iſt mit ihr zugleich 
„entftanden, fie ift eigentlich ihr Grundpfeiler: Zaration und Reprä: 
„fentation find ungertrennlih verbunden Gott hat fie 
„zufammengefügt, kein britifhes Parlament kann fie trens 
„nen. — Mein Sag ift diefer, ich wiederholte ihn, ich will ihn bis zu meiner 
„legten Stunde wiederholen: Zaration und Repräfentation find uns 
„zertrennlich. Diefer Say ift auf das Naturrecht gegründet, noch mehr, er 
„iſt felbft ein ewiges natürlihes Grundgeſetz. Denn eines 
„Menſchen Eigenthbum ift fein abfolutes Eigenthums Nies 
„mand hat das Recht, es ihm zunehmen, wenn er nicht ſelbſt 
„ober duch feinen Stellvertreter feine Einwilligung ba: 
„zu giebt. Wer es verfucht, mir das Meinige zu nehmen, verfucht ein 
„Unrecht, wer es wirklich nimmt, begeht einen Raub, se wirft allen Un⸗ 
„terſchied zwiſchen Freiheit und Sklaverei nieder.” — „Die hoͤchſte Macht 
„kann Keinem etwas von feinem Eigenthum nehmen ohne feine Einwilligung, 
„ſo fagt Locke, das find die Grundfäge des großen Mannes, die Eurer sch; 


590 Grundgeſeh , Grundverteng. 


en mwerth find: Seine Grumdfäge find aus dem Herzen uns 

erer Conſtitution entnommen, er verftand fie von Grund aus. — Sollte Die 

achtausuͤbung, naͤmlich die Befteuerung der Amerikaner 

ihre Zuſtimmung fortwähren, fo würden die Amerikaner nichts mehr 

Ahr Eigenthum nennen Bönnen, oder um Rode’s Worte zu gebran- 

„ben: „Was kann Derjenige fein EigenthHum nennen, bem 

a,in Anderer das Recht Hat, fo oft er will, fo viel er will, 
„nu nehmen und ſich zugueignen?”" 

Bekanntlich erneuerte man nach der Zuruͤcknahme der Stempelacte 
ſpaͤter nochmals die Verlegung diefes großen Grundfages durch einen an fich 
ſehr geringen Theezoll, und auf der Verlegung und Behauptung diefeg 
Einen Rehtsgrundfages berubte die ganze nordamerifani- 

e Revolution und Freiheit, dieſes größte Ereigniß unferer neuern 


chichte. 
Auf's Meue vertheidigten auch damals die groͤßten Staatsmaͤnner den 
Rechtsgerundſatz und jetzt als Mitglied des Oberhauſes fagte unter Anderm der 
—— —— „Es iſt kein * ne Bettler in den 


—* ** darf als —— die frembe Berührung a 
«6. Repräfentation, wirkliche freie virtuelle Repräfenta= 
* n und Beſteuerung muͤſſen beiſammen bleiben.“ 

Ich weiß es nicht, ob bie noch nicht ſehr bewaͤhrte beutfche Staats: 
meisheit unferer Zage andere Grundfäge und Grundlagen gerechter Staats⸗ 
verfaffungen und großer, mächtiger, blühender und freier Reiche beliebig mas 
hen kann, andere, als die ewige Natur und die ihr huldigende Weisheit aller 
freien Nationen und ihrer Staatsmänner erfhufen. ich will bier abfehen 
davon, zu welcher graufamen, vaterlandöverderblihen Unterdruͤckung und 
Belaftung ihrer Mitbürger, zu welchen ungerechten Privilegien das frühere, 
damals weniger ungerechte, Uebergewicht des Adels in den Ständen führte. 
Aber Bedenken trage ic) doch, ob e8 gut und befriedigend lauten, ob es dauernd 
heilſam wirken würde, wenn nicht blos im Gegenfag zur englifchen Verfaſſung, 
die in der Befteuerung auch der badifchen zum Mufter diente, die Adelskam⸗ 
mer mit der zweiten Kammer gleiche Rechte erhält, fondern wenn abelige Her: 
ren und Ritter mit ihrem nad) Verhältniß zwanzigfach überwiegenden Stimm: 
cecht, ja mit ihren Steuerprivilegien, — fagen könnten: „Wir Herren und 
Adeligen geben und bewilligen Ew. Majeftät — „Was? Unfer Eigenthum ? ? 
„Nein! Das Vermögen Ihrer bürgerlichen, Ihrer nicht, oder nicht genügend, 
„nicht gleicy mit uns repräfentieten Unterthanen, wir geben und bemilligen 
„Ihnen das Vermögen Ihrer Gewerbsleute, Fabrikanten, Gelehrten und Bes 
amten, ihrer Gapitaliften, Stadtbürger und Bauern”. 

Nicht gering fcheinen alle in Preußen bereits laut gewordenen, bier 
zum Xheil näher beleuchteten Bedenken. Mir ftellen die Beurtbeilung ders 
felben und der Gefahr der Verantwortlichkeit verkehrter Entſchluͤſſe in diefem 
entfcheidenden Augenblicke, billig ber bedeutungsvoliften politiſchen Verſamm⸗ 


Grundgeſetz, Grundvertrag. 501 


fung, bie in bee preußiſchen Monarchie je Statt fand, anheim. Sie Tann 
nicht unehrenvoll vor Europa baftehen. 

Ihr König, welche Verfchiebenheit ber Anfichten und ber Standpunkte 
auch flattfinden möchte, fordert Wahrheit von ihnen, ihr Vaterland, auch 
in monarchifchem Intereſſe, die Wahrung des Rechts und der Ehre ber Ras 
tion und gerechte Befchlüffe für ihr ganzes kuͤnftiges Heil, wobei bie Bequeme 
—* des Augenblicks ſich unterordnen muß den Ruͤckſichten auf eine lange 

ukunft. 

Faſt beiſpiellos iſt es, — man blicke in die Geſchichte der freien Voͤl⸗ 
ker der. Erde, man wird es eingeftehen — faſt beiſpiellos iſt es, daß ber 
Uebergang zur wahren politiſchen Freiheit der Völker ohne gewaltſame Res 
volution von Statten ging. Wäre es dem deutfchen, dem preußifchen Volke 
vorbehalten, dieſes Beifpiel zu geben — das Beifpiel nicht von unwuͤrdigſtem 
Verzicht auf die hoͤchſte Beſtimmung und Würde, auf die hoͤchſte Ehre und 
Stüdfeligkeit der Voͤlker, auch nicht das Beifpiel von Zaghaftigkeit und von 
unfittlihem und verberblihem Dinausfchieben diefer Beſtimmung, nachdem 
die Zeit und die Reife für biefelbe gelommen ift — nein, das Beiſplel von 
weifer und großherziger Verſtaͤndigung aller Betheiligten — gewiß, bann 
flünde das deutfche, das preußifche Volk größer und ruhmvoller unter ben Nas 
tionen. Und welche entfehlichen Uebel und Gefahren der gewaltfamen Ent⸗ 
widelung wären glüdlich befeitigt! Aber an wen geht nun, wenn wahre 
und ganze politifhe Freiheit, wenn freie Verfaſſung wenigftens mit ihren 
wefentlichften natürlidyen und gefchichtlichen Rechten unentbehrlich find — 
an wen geht hier die größte, die ſchwerſte Zumuthung? Weife, gerecht, treu 
dem Thron und dennoch mannhaft und unerfchütterlich entfchloffen und feft 
— freilich follen und müffen und werden hoffentlidy Die bürgerlichen Abgeord⸗ 
neten, die Vertreter der unendlichen Mehrzahl des preufifchen Volkes fein. 
Aber mit alle dem können fie doch ohne ein freies Nachgeben der Regierung 
und des Adelftandes nimmermehr die weſentlichen Verfaſſungsrechte fried⸗ 
lich erwerben. 

Nie gab es einen günftigeren Moment für den Abel, zugleich alle fruͤ⸗ 
here flaatöverderbliche Unterdrüdung der Volksrechte zu fühnen und für eine 
Lange Zukunft ſich die achtungsvolle Dankbarkeit und unangefeindeten Beſit 
der natürlichen und dem Staate wirklich heilfamen und nicht ungerechten Vor⸗ 
züge zu ſichern. 

Aber aud) bei Worausfegung gerechter und patriotifcher Richtung bed 
Adels bedarf es boch noch der praktiſchen Weisheit, der Einficht, daß das Opfer 
einiger Vorrechte, bie nach dem Bisherigen mit einer wirklich freien zeitgemaͤ⸗ 
Ben politifchen Verfaſſung abfolut unvereinbar find, unentbehrlich und daß 
es durch die erhöhte würdigere Stellung in der aufblühenden Größe eines freien 
und mächtigen Staates hundertfach aufgewwogen ift. Möge Gott zu der Größe 
ber Sefinnung die praftifhe Weisheit der richtigen Erwägung unferer Zeit, 
unferer Rationalehre, unferer Bedürfniffe gefellen ! 

Endlich zum Schluffe noch eine Wahrheit! Die politifche Frei⸗ 
heit iſt ebenfo ein Organismus wie der Despotismus. 
Jeder Drganiamus firebt naturgefeglih auf Leben und Tod nach Harmonie, 


\ f) 


| 
5° N Ge ' 


Foigerlcheigkeit und Voltſtanbigkeit mich Ausſtoßung, Ummwandlu LER 
Vern Htung des Entgegengeſehten. — iſt vollends a 
dei en fe Holfändiger das Bewuftfein des Volkes über die Natur die: 
Ber erwacht IE. * einzelne twefentliche nn 
yon polit ft und laßt andere bes Abfofuisrnus, —* nm 
nicht fo * Bee "Schweden, — England 
—— een en — bet 











* * 
—— — 1800 
Sem ct ne A "or 


—* kennt ſi * —* Beitung * neue Runder von ihnen Menn be num au: 
legt unvermeidlich größere Conflicte entſtehen, fo wird die Regierung bei zu: 
fälligen äußeren Unterftüßungen, jo wird auch die Gegenpartei weiter ge: 
trieben. Er wurde despotifch, ohne es zu wollen, in fo unnatürlicher 
Lage,” fagt Dahlmann von dem guten Ludwig XVI. 

Die Natur der Dinge, fie unterdruͤckt, fie beherrfcht Niemand. 

Deshalb alfo — wenn Ihr Eönnt, fo führt den Organismus der Skla—⸗ 
verei durch — koͤnnt Ihr aber nicht — o dann laßt um Eurer felbft willen ben 
Organismus der Freiheit frei ſich entwideln, gründet Die ganze Frei: 
heit, wie auch die andern freien Völker fie haben! — Geſtattet, falls Euch 
nicht die Kämpfe, Die verdrießlichen, die gefährlichen Kämpfe eine Freude 
find — die Freiheit je eher je lieber! So will e8 die öffentliche Mei: 
nung, fie, die der gefcheidtefte der Minifter gefcheidter als alle Mintiter 
nannte. Don ihre zu lernen, iſt Keiner zu hoch geftellt. Ihr zu huldis 
gen ift Ehre. In der glorreichften Beit, die Deutfchland je hatte, hul: 
digten ihr alle Könige und Staatsmänner. 

C. Welder. 


Grundfteuer. Wir haben an vorftehendem Auffege ebenfo wenig 
etwas abgeändert — denner ift ein Wert von Rotted’s Geiſte — als zu: 
zufuͤgen; — denn es find ung bezuͤglich auf die Grundſteuer feine neuen 
Erſcheinungen von einiger Bedeutung befannt geworden. Die Beſteuerung 
und Belaftung von Grund und Boden aͤndert ſich nur ſchwer und im Gefolge 


— 


Seunbfteuer. 308 


allgemeiner durchgreifender Bewegungen, weil in ruhigen Beiten weder bie 
Geſetzgeber an dem Gewohnten zu rütteln lieben, noch die Steuerpflichtigen 
In dem Reuen etwas Beſſeres zu erwarten pflegen. Was die Anlage ber 
Stundfleusr betrifft, fo iſt oben ſchon auf ben Artikel Katafler verwieſen, 
welcher hierüber Mäheres enthält. Wir befchränken uns daher hier auf zwei 
Bemerkungen : 

1) Der neueſte Fortſchritt in Werbefferung ber Grunbſtener it ie 
Griechenland geſchehen, feit daſſelbe im die Reihe der conſtitutionellen 
Staaten eingetreten iſt. Dort verſteht man unter Grundſtener die 
Abgabe von dem rohen Ertrag, welche in Europa als Zehnt bekannt 
ift, die einzig mögliche in einem Lande, wo der Verkehr noch gering mb 
ſchwierig, Gewerbe und Handel wenig entwidelt, das Umlaufsmittel fdten 
if. Diefe Grundſteuer war verpachtetz bie Staatspaͤchter we 
laubten ſich alle möglichen Bedruͤckungen gegen bie Bauern, denm fie weit 
mehr abnahmen, als fie zu fordern berechtigt toaren, und blieben auf ber ans 
dern Seite mit Entrichtung ihrer Pachtſummen an die Staatscaffe regelmäßig 
im Rüdftande. Sie raubten fo viel und zahlten fo wenig als ihnen möglich 
war, und mußten fid) mit den Beamten zu verfländigen, um Huͤlfe für ihre 
Erpreffungen und Nachficht für die Ablieferungen zu erhalten. Das Bes 
deihen der Landwirthichaft war unter dem Drucke ſolcher Blutſauger unmög- 
lich, und der Staat führte flatt des Ertrag der Abgabe einige Milllonen 
Drachmen Rüdftände in feinen Rechnungen nad. Im Fruͤhjahre 1846 
wurde ein Brundfteuergefeg den Kammern vorgelegt und von den⸗ 
felben angenommen. Dieſes Geſetz ſchaffte das verberbliche Pacdhıfyflem 
ab und laͤßt die Abgabe von Einnehmern erheben, indem es zugleich Bes 
flimmungen giebt, um den Mifbrduchen und Erprefiungen vorzubeugen. 

2) Bon befonderer Wichtigkeit war Die Grund ſtene r in dem Syſtem 
dee Phyſtokraten oder Detonomiften (f. den Artikel: politifche 
Dekonomie). Nach ihrer Lehre liefert die Erdarbeit allein eine Vermehrung 
der Erzeugniſſe über die Koften, fie allen vergrößert daB Wermögen. Alle 
übrigen Zweige ber vollswiethfchaftlichen Thaͤtigkeit, Die Gewerbe, weiche 
die Beſchaffenheit, die Handelsgeſchaͤfte, welche den Ort ber Bodens 
erzeugniffe verändern, bringen nichts Neues hervor. Die Erdarbeit allein 
liefert hiernach ein veines Einkommen, einem Ueberſchuß Aber den Aufwand 
für die Production, welcher ben Grundbefitzern zufaͤllt. Dieraus werden alle 
übrigen Elaſſen der Befellfchaft (classe sterile) für ihre Dienſte bezahlt; fie 
ſchoͤpfen auch die Abgaben, die Ihnen aufgelegt werden, aus diefer Bezahlung, . 
oder mit anderen Worten, fie laſſen fi) den Betrag - ihrer Abgaben von 
den Grundeigenthuͤmern erfegen. Aus diefen Saͤtzen wird gefolgert: daß 
der Staat feine Einnahmen aus Beiträgen der Bürger am einfachflen und 
mwohlfeilften beziehe, wenn er fie unmittelbar von den Grundbeſitzern als 
einzige Steuer (impöt unique) erhebe. Die Grumdbefiger hätten dann um 
fo weniger an die dienftleiftenden Claſſen abzugeben. Diefe Lehre von der 
einzigen Grundſteuer ift die ſchwaͤchſte in dem Syſtem der Phyſiokraten und 
ihre anerfannte Unhaltbarkeit hätte zu der Erkenntniß führen muͤſſen, daß 
man bie Begriffe von Vermögen und Production zu eng gefaßt hatte, wenn 

Suppl. 3. Staatslex. U. 38 


694 Gultigkeit. 


‚man nicht vorgegogen haͤtte, um das Syſtem zu retten, nach anderen Erklaͤ⸗ 
xungsgruͤnden für die Unbaltbarkeit der Anwendung auf die Befteuerung zu 
suchen, Bekannt ift, daß Markgraf Karl Friedrich von Baden ben 
Verſuch machte, imeinigen Dörfern die einzige Grundfteuer einzuführen, 
‚daß aber dieſer Verſuch mißlang, obgleic) er auf dem Lande noch eher als in 
den Städten — einſchlagen müffen, weil dort wirklich die Erdarbeit faſt 
alles liefert. K. Mathn. 
nn Bi Itigkeit, abfolute bes Beftehenden. Sreibeit der 
Öffentlichen Meinung und Keitif in Bezug auf baffelbe. 
Man hört in neuerer Beit gar häufig die Klage über Angriffe auf das Befte 
bende, ber beabfichtigten Umſturz alles Beflehenden und zwar hauptfächlic 
‚auf Seite derjenigen, welche ſich vorzugsweife damit abgeben, das Beſtehende 
yu conferviren.: Diefe Klagen feinen unzweifelhaft von der Anſicht auszu⸗ 
eher, daß das Beftehende auf abfolute Gültigkeit Anfprud zu machen 
. habe, wenigſtens erklärt fi hieraus am beften jener Abfchru und convulſi⸗ 
viſche Schauder, welchen die fogenannten Gonfervativen vor jeder Meinung 
und jedem: Urtheil an ben Tag legen, das, weil e8 nicht ſchlechthin an bie Um: 
‚ontaftbarkeit des Beſtehe glaubt, einen Angriff auf dafjelbe enthalten 
fol. Man wird durch diefe ſo heftig outrirte Deiligkeit des Beſtehenden un 
helicd) zu der Frage gedrängt, ob denn das Beftehende überhaupt und 
wlefern und wie weit es ſchlechthin anzuerkennen, als abfolut. gültig zu 
betrachten fei?ı Ich verfuche 28, im Nachfolgenden diefe Frage zu beantworten 
und bei diefer Gelegenheit die hierher gehörenden Principien, Verhälniffe 
und Zuftände ind Klare zu feßen. 

Seder Staat repräfentirt ſowohl durch feine Verfaffung und feine poli- 
tifchen Inſtitutionen, ald auch durch die Zendenz, melche für die Thaͤtigkeit 
‚feiner herrfchenden Gewalt maßgebend ift, ein gewilles Princip. Diefes 
Princip nun, fo wie die Sormen, in welchen es fich verwirklicht, bildet das 
jeweilig Beftehende und es find fomit einerfeits gewiſſe Grundfäge darunter 
zu begreifen, welche den ganzen Staatsorganismus durchdringen und das 
Syſtem der herrfchenden Gewalt bedingen, und andererfeits bie Einrichtungen 
und Anftalten, in welchen diefe Srundfäge zur Zeit ihre praktifche Geltung 
und Anwendung finden. 

Zwei Principien find es, welche in diefer Beziehung ; je von den beftehen: 
den Staaten (mehr oder minder mobdificirt, oder in allen ihren Gonfequen- 
zen) verteeten werden, das Princip der Freiheit und das der Unfreibeit, 
‚oder das Princip des Kortfchritts und der Bewegung, und das der Stabilität. 
Staaten der legteren Gattung gehen ‚fei ed nun aus reiner Ueberzeugung und 
im guten Glauben oder aus unreinen Motiven, von dem Grundfage aus, daß 
der jemweilig beftehende Zuftand ſchlechthin der befte, alfo abfotut gültig und 
für immer und ewig fei, und Enüpfen daran die Forderung an die Staates 
angehörigen, diefes Beftehende fchlechthin für berechtigt anzuerkennen , ohne 
weitere Unterfuchung daran zu glauben. 

Staaten erflerer Art dagegen ftellen an die Spige ihrer Verfaſſung und 
ganzen Verwaltung ben Grundfag, daß die beftehenden Kormen, Einrich⸗ 
tungen und Zuflände nur fo lange gültig feien und gefhügt werben müffen, 


Guültigkeit. 595 


als fie beftehen, daß fie aber den jeweiligen Bebürfniffen unterzuorbnen und 
bei Seite zu legen ſeien, fobald die Nothwendigkeit dazu vorhanden if. In 
diefem Falle wird dem Beſtehenden nur relative Gültigkeit zuerkannt. 

Iſt nun die legtere Theorie an ſich unbedingt richtig * Darf das Prin⸗ 
cip der Bewegung überhaupt gar keiner Modification unterworfen werden ? 
Iſt der Fortſchritt nicht an gewiſſe Bedingungen und Schranken geknüpft ? 
Giebt es überhaupt nichts abfolut Guͤltiges, Pofitives, das unter allen Um⸗ 
flönden confervirt und als der fefle Kern, als die Baſis des Staats bei 
allen Veränderungen, Reformen und Revelutionen aufrecht erhalten werben 
muß ? 

Die Antwort auf diefe Fragen ift in der Beſtimmung ‚in ber Auf⸗ 
gabe enthalten, welche ber Staat zu erfüllen hat. 

Der Staat ift diejenige Form ber menfchlichen Geſellſchaft, in weicher 
der Menſch zu feinem Weſen gelangt, in welcher er zu bem wird, mas dr 
werden muß, um feiner Idee zu entfprechen. Die bee der Menfcheit bes 
ruht auf der Freiheit. Frei ift der Menſch, wenn ex ſich felbft durch das Sit⸗ 
tengefeg zum Dandeln beftimmt, und diefe Selbſtbeſtimmung befleht darin, 
daß fie eben fomohl von dußerer Gewalt als von ber Natürlichkeit, d. h. den 
ſinnlichen Trieben unabhängig ift. Jenes Verhälmiß bezeichnet die Äußere, dies 
ſes die innere Freiheit des Menſchen. Dier kommt nur die erftere in Betracht. 
Der Staat als die Form des gelellfchaftlichen Lebens, als etwas Empiri⸗ 
ſches, hat nur die dußere Kreiheit des Menſchen berzuftellen. Diefe iſt von 
der Anerkennung gewiſſer Brundfäge abhängig, welche für fie die conditio 
sine qua non enthalten und mit den Merkmalen der Freiheit correfpondiren. 
Im Allgemeinen laſſen fi diefe Srundfäge auf die Forderung zurüdführen, 
baß der Staat Leine Thätigkeit ausuͤbe und Leine Einrichtungen ſtatuire, 
durch welche die Motive der menſchlichen Willensäußerung außer den Mens 
Then geſtellt würden, durch welche der Staat aufhoͤrte eine fittliche Anftalt zu 
fein. Dahin gehört 3. B. der Grundſatz, daß der Staat bas Verbrechen bes 
ſtrafen, daß er jedem Einzelnen die Mittel einer menfchlidhen Exiſtenz garan- 
tiven muß, daß er die Freiheit der Meinung, die Mittheilung ber Gedanken 
nicht hindern , daß die herrfchende Gewalt nicht unabhängig von dem Willen 
der Sefammtheit und nicht im Widerfpruch mit ihr die öffentlichen Angelegens 
beiten verwalten darf u.f.w. Von diefen Grundſaͤtzen hängt das Beſtehen 
des Staates, die menfchlicye Freiheit, die Herrſchaft des Sittengeſetzes ab, fie 
find deshalb abfolut gültig. Sie bilden die Lebensbedingungen für den Staet, 
für den ſittlichen Organismus der Menſchheit, wie gewiſſe andere Grundgefege 
die Lebensbedingungen für den phyſiſchen Organismus bilden. Wie die 
Zeiftung des legten 3. B. von dem Blutumlauf, von dem Einathmen der 
atmofphärifchen Luft abhängt, fo hängt ber ſittliche Organismus des Staats 
von der Anerlennung jener Grundſaͤtze ab. 

An diefe abſolut gültigen Grundgeſetze hat fih nun auch jede Berändes 
rung im Staatsleben, jebe Umwandlung beitehender Einrichtungen anzulehs 
nm. Sie bilden den feften Kern, das Pofitive, das Abfolute, welches 
unter keinen Umftänden angetaftet werben darf. Kein Staat, Leine Partei, 
keine politifche Bewegung hat das Recht, disfe ewigen, abfolut uuen Grund⸗ 






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is &r 1a Iılefithir ahfr Ubet 

j fe abfolute Gültigkeit jener Grundfäge und Inftiturtonen fette} 
* Kir ein Bobtet, das nicht ER: * Menfhen liegt, ſondern weſent⸗ 
ti In dem Menſchen fetöft und in derjenigen Fähigkeit, welche ihn zum Men: 
hen macht, in feiner Vernunft. Ihre Anerkennung wird dem Menſchen 
nicht von außen aufgedrungen, fondern fie ift ein freimilliges Erzeugniß feiner 
Vernunft, fie iſt nicht Sache des Glaubens, fondern des Willens, fie ift eine 
erfahrungs= und vernunftgemäße Erkenntniß. 

Eben deshalb ift jene abfolute Gültigkeit aud nicht in dem Sinne ab: 
folut, daß fie Über der menſchlichen Vernunft ftünde. Obige Grundfäße 
und Grundmwahrheiten find nicht in fofern abfolut, als fie dem menſchlichen 
Urtheile unzugänglich wären, nicht in fofeen heilig, daß fie nicht nach ihrer 
vernünftigen Berechtigung befragt werden dürften, nicht in fofern unantaſt— 
bar , daß fie nicht Gegenſtand der Kritik fein dürften. Sin den Staaten, deren 
Baſis fie bilden, befteht und eriftirt garnichts, Fein Princip und feine Korm, 
kein öffentlicher Act und keine politifche Anftalt, welche nicht der oͤffentlichen 
Kritik verfallen, welche nicht jeder Unterfuchung ihrer inneren Nothwendigkeit 
preisgegeben wären, welche nicht Jedermann Rebe ftehen müßten, nicht von 
Jedermann beurtheilt werden bürften. Diefe abfolute Gültigkeit beſchraͤnkt 
ſich einzig und allein darauf, daß gewiſſe Grundfäge und Inftitutionen factiſch 
nicht verlegt werben bürfen. 

Anders verhält es fich mit der abfoluten Gültigkeit, welche gewiſſe Staa⸗ 
ten für ihre beftehenden Zuftände in Anfprudy nehmen. Das Merkmal diefer 
abfoluten Gültigkeit befteht darin, baf fie ſchlechthin anerkannt werden muß, 
ohne daß dieſe Anerkennung ben Proceh des Urtheils durchgemacht hätte oder 


Gültigkeit. 397 


darchzumachen brauchte. Nicht weil das Beſtehende auf einer inneren Roth: 
wendigkeit beruht, nicht weil es von dem vernünftigen Geſammtwillen für 
nothivendig und abfolut berechtigt erflärt wurde, nicht weil es ein Poflulat ber 
menſchlichen Vernunft ift, foll es abfolut gültig fein, fondern weil es ein. 
mal ba ift, weil es einſt entflanden, weil es hiftorifch, weil es thatfächlich iſt. 
Die Anerkennung dieſes Beftehenden hat fomit nicht ihren Grund in ſich felbft, 
fondern fie wird von außen geboten. Sie ift nicht Sache ber Erkenntniß, 
ren Sache des Glaubens, nicht Sache der Freiheit, fondern Sache des 


en e abfolnte Gültigkeit bes Beftehenden erſtreckt ſich deshalb nicht blos 
darauf, daß es überhaupt factiſch nicht angegriffen und vernichtet werben 
darf, fondern es ift fo ſehr Sache des Glaubens, daß die menfchliche Vernunft 
überhaupt gar nicht nady feiner Wahrheit und Berechtigung, nad) den Gruͤn⸗ 
den, bie fein Dafein rechtfertigen, fragen darf. Jede Kritik, jede Unter: 
ſuchung muß vor diefem Beftehenden verſtummen, der Menſch darf Ihm 
gegenüber nicht Menſch fen, dns Object iſt zum Herrn, zum abjoluten 
Despoten des Subjectd gemacht, der menſchliche Geiſt hat eine ſchwere dunkle 
Maſſe vor fidy, welche, jedem Lichtfirahl unzugänglich,, ſchlechthin angebetet 
werden muß. Die Vernunft muß fich vor der uebermacht außer ihr liegender 
Gegenſtaͤnde ohne Widerrede beugen. 

Die Zuſtaͤnde ſolcher Staaten ſind ſomit auf ein Gebiet verſeht, wo 
die Menſchheit aufhoͤrt, auf ein Gebiet, wo der Menſch aufhoͤrt, Menſch 
zu ſein, wo er nur noch ein willenloſes, zerknirſchtes, deprimirtes, gebeugtes 
Weſen iſt, Alles aufgebend, was den Begriff Selbſt bezeichnet. 

Fuͤr die Beurtheilung dieſer abſoluten Guͤltigkeit des Beſtehenden kommt 
natürlich deſſen Qualität gar nicht in Betracht, es handelt ſich einfach um bie 
Frage, ob im vernünftigen menſchlichen Staate etwas, und wäre es auch 
das Befte, in fofern abfolut fein darf, daß es der Kritik fchlechthin ala etwas 
Mnantafibares gegenüber ſtehen, daß es überhaupt gar nicht mehr Gegen» 
ſtand des menfchlichen Urtheils fein darf? Ich fage Nein, denm es iſt ſchlecht⸗ 
hin mit den Bedingungen, unter welchen überhaupt der menfchliche Geiſt 
exiſtirt, unvereinbar, daß ein Gegenftand zum abfoluten Herrn über ihn 
gemacht werde. Der menſchliche Geiſt ift fo untheilbar,, fo fehr ein Ganzes, 
daß er gerade fo weit aufhözt frei zu fein, als ihn irgend etwas dominirt, 
als ihm irgenb etwas nicht erlaubt, ihm nahe zu fommen. Grforfchen, 
unterfuchen, prüfen, überhaupt zu feinem Gegenſtand machen muß ber 
mienfchliche Geift Alles Finnen, was eriftiet, und er muß darin durch gar Feine 
anderen Schranken gehindert fein, als burdy die feines eigenen Wefens und 
Drganiemus, fonft iſt der Mani nicht frei, fonft hat er ſtets etwas vor 
ſich und uͤber ſich, das ihn abſolut beherrſcht. 

An fich hat natuͤrlich kein Gegenſtand und kein Zuſtand, alſo auch das 
„Beſtehende“ nicht, die Macht, dem menſchlichen Geiſte ſich als Schranke 
gegenuͤber zu ſtellen, als Hinderniß, das ſeine Thaͤtigkeit laͤhmt, denn es 
bat Beinen Willen. An ſich bietet jedes Object ber Kritik fi) dar. Geine 
abfolute Gültigkeit, feine Helligkeit und Unantaftbarkeit kann ihm deshalb 
nur von einem Willen, der aus ihm herausſpricht, vindieirt werben. 


Eine ſolche abfolute Gültigkeit des Beſtehenden ertheilt demnach irgend 
eitem Willen im Staate die Moͤglichkeit, alles Mögliche mit dem Stempel 
ber Unantaftbarkeit zu bezeichnen / was ihm beliebt, jene abfolute Guͤltigkeit 
des Beftehenden kann zum Rechtstitel fir alles Unrecht und für jeden Unfinm 
Henne werden, den man zu conferviren irgend ein Intereſſe hat. Handelt 
ſich 3. B. um elme Kritik der beftehenden kirchlichen Werhältniffe und Glau⸗ 
benstehren, fo kann jede Unterfuchung darüber abgefchnitten werden durch 
Berafung auf die abfolute Guͤltigkeit bes Beſtehenden. Gewiſſe Lehren und 
Symbole find einmal da, befteben einmal und dadurch ift jede meitere Frage 
nach Ihrer vernünftigen Berechtigung abgefhnitten , die Kritik hat fich „in 
— 82 rm —*— —— iu bewe⸗ 
und bie Kragen ee inneren wendigkeit ng auf das 
Betnede, iR an Decbrk — 
Erxiſtirt —7* Fehlechtes Sefes; oder find die Geſetze überhaupt 


are und Are jeder ee —* gr: wäre ein Angriff auf 


henden 

Alm — — — welche mit ber menſch⸗ 
tichen Freiheit unvereinbar find, oder entbehrt ein Staat überhaupt gefegti: 
cher Garantien der Freiheit, fo unterftebe fidy ja Niemand, dies nicht in ber 
Drbnung zu finden, benn diefer Mangel ift ein beftehender und fomit abfolut 
berechtigt. 

Kurzum durch dieſe abfolute Gültigkeit, durch diefe Heiligkeit des Beſte⸗ 
benden, mag es noch fo ſchlecht, mag es auch aut fein, wird die menfchliche 
Freiheit vollftändig vernichtet und der menſchliche Geift unter die Herrfchaft 
eines über ihm ftehenden Willens spe, welcher feine Gedanken und fein 
Urtheil ihm vorfchreibt. 

In feiner ganzen Reinheit teifft man dieſes Princip jedoch nur noch hin 
und wieder. Die meiſten Staaten haben es in ſoweit bedeutend modificirt, 
als ſie faſt alle politiſchen Verhaͤltniſſe der Kritik und dem Urtheil der oͤffent⸗ 
lichen Meinung uͤberlaſſen. Es iſt dies beſonders in den conſtitutionellen 
Staaten der Fall. Eine Einrichtung iſt jedoch auch hier als Ausnahme privi⸗ 
legirt, eine Einrichtung ift auch bier der öffentlichen Kritit verfchloffen und 
zum Segenftand bes Glaubens gemacht. Es ift dies das Königthum. Alles 
Andere darf die Preffe in ihren Bereich ziehen, alles Andere darf fie bezweifeln, 
bekritteln, prüfen, nad) feiner vernünftigen Berechtigung und inneren Noth⸗ 
mwendigkeit fragen, an die Nothwendigkeit des Königthums aber muß fie 
glauben, diefe Form der Herrſchaft wird für abfolut gültig ausgegeben und 
diefe abfolute Gültigkeit ald fo ausgemachte Wahrheit dargeftellt, daß jede 
weitere Unterfuchung darüber verboten if. Es kommt für die Beurtbeilung 
diefes Verhältniffes natürlich die Frage nach der Qualität und den Vorzügen 
des Koͤnigthums gar nicht in Betracht, fondern es handelt fic lediglich um die 


Gültigkeit. '599 


Möglichkeit, ob rechtlich irgend eine Einrichtung im Staate dem öffentlichen 
Urtheile entruͤckt fein koͤnne. Geſetzt auch das Koͤnigthum ſei bie abfolut befte 
Herrſchaftsform, fo muß jene Möglichkeit im Intereſſe des Koͤnigthums felbft 
verneint werden. Alles, was dem Öffentlichen Urtheile fich entzieht, ladet Vers 
dacht auf fih. Im wahren Staate muß Altes Gegenſtand der freien Kritik 
fein, in ihm darf gar nichts exiſtiren, was dem menſchlichen Geiſte als 
Schranke ſich entgegenftellte,, bis zu welcher er frei fein darf, hinter Der aber 
feine Unfreiheit anfängt. Denn unfrei ift der menfchliche Geift diefer abs 
foluten Gültigkeit des Königthums gegenüber, es fcheidet fein Vermögen, 
feine Befugniß ducch eine Schranke ; dieffeits derfelben, auf dem Gebiete der 
vollziehenden Gewalt, ift Alles menfchlich,, feiner Kritik preisgegeben, und er 
deshalb frei, aber jenfeits derfelben fängt die Lebermenfchlichkeit an, die im 
pofante Majeftät der abfoluten Gültigkeit, vor welcher er fi in Staub wer⸗ 
fen muß. 

Es fei mir hier erlaubt, in dieſer Beziehung eine Autorität zu citiren, 
die Autorität eines Mannes, der viel zu gefcheidt war, als Daß er nicht zumeis 
len die Sprache der Wahrheit Hinter feiner diplomatifchen Maske redete. 
Zachariaͤ fagt bei Gelegenheit feiner Abhandlung über die conftitutionelle Mons 
archie (Vierzig Bücher vom Staat III. Bd. ©. 299. Neue Ausgabe, Heidel- 
berg 1839), in Beziehung auf die Freiheit der öffentlichen Meinung unter 
Anderem Folgendes: „Es verfteht fich von felbft, daß mit der Freiheit der 
Preſſe und mit der Verfaffung der conflitutionellen Monarchie eine Cenfur 
unvereinbar fei. Denndie Eenfur ift ein rechtsfräftiges Urtheil über das Recht, 
feine Gedanken Andern durch den Druck mitzutheillen. Wem aber auch die 
Genfur anvertraut und wie fie auch ausgeubt und geleitet werbe, allemal 
ſtehen Diejenigen, welchen fie übertragen iſt, über ber öffentlichen Mei⸗ 
nung, anftatt daß in der conftitutionellen Monarchie die Öffentliche Meinung 
gleich als ein höheres Wefen Aber Alle und Alles gebieten 
fol. Sei die Gefahr, mit welcher Sceiheit von der Genfur verbunden ift, 
auch noch fo groß — man hat nur die Wahl, entweder die Cenſur aufzuges 
ben, oder die conftitutionelle Monarchie in ein Schattens ober in ein Trug⸗ 
bild zu verwandeln. — Jedoch Senfurfreiheit iſt noch nidt Preß⸗ 
freiheit. Wahre Preßfreiheit beftcht nur da, wo (mie in den Vereinigten 
Staaten) ber Schriftfteller oder deffen Verleger wegen des Inhalts einer Druck⸗ 
ſchrift, in fofern diefer den Staat oder einen Öffentlihen Charakter, 
als folchen, betrifft, überall nicht zuc Verantwortung gezogen werden kann 
(!!). Dagegen iſt eine Preßfreipeit mit fogenannten Repreffivgefegen in der 
That keine Preßfreiheit; fie unterfcheidet fich von der Genfur nur dem Namen’ 
und nicht der Sache nad, ober nur fo, wie der indirecte Preßzwang von dem 
bireeten. Ja ſie ift fogar fchlimmer als bie Genfur, da Repreffivgefege ſtra⸗ 
fen, ohne vor der Strafe genugfam warnen zu können, die Cenſur aber den 
unvorfichtigen Schriftflellee weniaftens ungeftraft laͤßt.“ (Zachariaͤ kannte 
natürlich die neue Erfindung, Schriftfteller fogar wegen nicht verbreiteter, 
singeftampfter oder unter Cenſur erfchienener Schriften durch die Gerichte 
des Landes zur Feſtungsſtrafe verurtheilen zu laſſen, noch nicht, oder hielt 
er ein ſolches Verfahren wohl für unmoͤglich.) 


Aber nicht bios bie conftitutionellen, fondern auch die republleaniſchen 
Regierungen Europas, d. h. die Regierungen der Schweiz , —— 
maßen und in Sinn von dem Grundſatze der abſoluten G | 
ber ümantaftbaren: Deitigkeit gewiffer Inftitutionen im Staate sw. Nicht 
als od im politifcher Beziehung nicht grundfäglid Freiheit der Meinung, ers 
a jedoch, beſonders in den Jeſultencantonen, thatſaͤchlich oft nicht 
‚eriflirt), oder als ob die Form der Herrſchaft nicht in Frage geſtellt werben 
bünfte, aber im anberee Dinficht wird: der Begriff der Regierung auf das Ge⸗ 
biet des Glaubens, der veligiöfen Verehrung jefpielt, Es wird. naͤm⸗ 
lich die Megierung als ein fo heillges, majeftätifches und uͤbermenſchliches 
Inſtitut dargeſtellt, daß diefelbe unter allem Umftänden und Bedingungen an⸗ 
erkannt und mit‘ einer gewifjen myſtiſchen Ehrfurcht behandelt werden foll. 
Ob die Regierung ſich diefer Anerkennung würdig erweife oder nicht , ob fie 
durch offenbare — * wie Die Luzerner, oder unter der Firma eins 
geiſtloſen Kormalismus, wie die Zuricher, ihrem Begriff und ihrer Aufgabe 
— A fie, fol für ihee Beurtheilung durchaus micht 


















e folche Theorie ift in der abfoluten Monarchie vollftändig. ber ech · 
tigt und run min wie fie aber mit dem Princiy ber Demokratie und ber 
kepublicanifchen Staatsform, Im mweldyer die Negierung lediglich nichts An⸗ 
deres iſt als der Mandatar des Volkes, fich vereinbaren laffe, das Läße fidy 
nimmermehr einfeben. Diefe Theorie i vollfiändig unrepublicanifch, ein, 
wie noch manches Andere, theilweife von außen eingefhmuggeltes, theilmeife 
vom ehemaligen Patricierftaate übriggebliebenes fremdes Element, das fich in 
ber Schweiz nur deshalb erhalten fonnte, weil die Republik dort nur that: 
ſaͤchlich, aber nicht principiell fich entwickelt bat. Auf geiftigem Gebiete aber 
herefcht mit unabweislicher Nothwendigkeit ber Grundfag, daß nur das Werth 
hat, was Product ber Selbftehätigkeit des Geiſtes ift, was erfannt wurde und 
aus dem dialektifchen Drocefie bes Selbſtbewußtſeins hervorging. Wo dieſe 
Bedingung fehlt, da find die adaͤquateſten Kormen nicht hinreichend, den Geift 
zu erfegen, und fo iſt e8 auch zu erflären, daß in den demokratiſchſten Staats: 
formen dev Schtoeiz oft die größte Unfreiheit in geifliger und politifcher Bezie⸗ 
bung herrſcht, wie ſolches der Zuftand der Urcantone fattfam beweift. 

Die abfolute Gültigkeit des Beſtehenden ſpukt ferner auch befonders 
amf religisfem und kirchlichem Gebiete, welches denn auch als das eigents 
liche Vaterland diefer Theorie gelten kann. Auch hier gilt der Grundſatz, 
daß die Qualität des Beſtehenden nicht in Betracht kommt, fondern nur die 
Trage, ob im Staate etwas über das menfchliche Urtheil geftellt werden darf ? 
Diefe Frage wurde fhon in dem Artikel „Glaubensfreiheit“ berührt und ich 
Tann deshalb fürglich auf das dort Geſagte verweilen. Co viel aber ſteht feft, 
daß dieſe abfolute Gültigkeit der befiehenden Symbole und Dogmen zum 
Rochtstitel für die fchamlofefte Freiheitsvernichtung benugt werden fann und 
auch benugt wird. Am mwenigften verträgt es fich mit der dee des Staates, 
wenn fich die Regierung, eine politifche, eine naenfchliche Macht, zur Beſchuͤtze⸗ 
in bes Hergebrachten auf religiöfem Gebiet aufwirft. Mit welchem Rechte 


Gültigkeit. 601 


kann 3. B. ein Miniſter, ein weltlicher Beamter über bie Vernuͤnftigkeit ober 
Unvernünftigkeit beftebender Dogmen und Spmbole entjcheiden ? Iſt denn 
feine Anficht, feine Meinung fo infallibel, daß er ſich zum authentifchen In⸗ 
teepreten des göttlichen Willens aufwerfen kann? Mit welchem Rechte 
kann ein Staatsbeamter dem menſchlichen Geifte gebieten: „bis hieher und 
nicht weiter”, dies ift zu glauben und dies ift fchlechthin als Wahrheit anzuere 
£ennen ? Iſt denn ein Staatsbenmter zualeich auch Priefter der Offenbarung, 
Verkuͤndiger göttlicher Infallibilitaͤt? Nein, er iſt dies nicht, aber er ift im dies 
fem Fall Vertreter einer Macht, die in letzter Inftanz ſtets Recht behält — 
weil fie die Gewalt hat, die, wenn Gründe nicht ausreichen, alle weitere 
Discuffion mit dem Worte „So will ich“ abfchneiden kann. 

Die Abfurdität diefer politifchen Theologen iſt in neuerer Zeit fo meit 
gegangen, daß fie den lieben Derrgott geradezu unter den Schug ber Polizei 
geitellt haben. Gensd’armen und Polizeicommiffäre find jest die Wächter 
des Heiligthums, die Befchüger der Rechtgläubigkeit geworden und berufen, 
um bie Eriftenz des perfönlichen Gottes aufrecht zu erhalten. Sie wäre traus 
rig, diefe Wahrnehmung, wenn fie nicht die Geroißheit gewährte, daß dies 
der Anfang des Endes tft. Eine Lehre, die duch phyfifhe Gewalt aufrecht er: 
halten werden muß, ift dem Untergang verfallen und eine Anficht, die durch 
Gewalt unterdrückt werben foll, wird und muß am Ende doch durchdringen. 

Endlich find es in neuerer Zeit befonders die Eigenthumsverhältniffe, 
welche unter den Schug der abfoluten Gültigkeit des Beſtehenden ben Ans 
griffen gegenüber geflellt wurden , welche von jenen Theorien, die man unter 
dem Namen Communismus und Socialismus kennt, ausgehen. Es laͤßt 
ſich nicht leugnen , daß diefe Richtung gar Manches zu Tage gefördert hat, 
was dem Meiche des Unfinns angehört, ebenfo wenig aber laͤßt ſich auch 
beſtreiten, daß die beftehenden Verhältniffe in diefer Beziehung einer wefent: 
lichen Umgeftaltung resp. Organifatien bedürfen, wenn ein großer Theil der 
Menfchbeit zu feinem Weſen gelangen fol. Man folte daher glauben, 
dag in einem freien vernünftigen Staate der Austaufc der Meinungen über 
disfe Verhältniffe nicht nur nicht gehindert würbe, fondern daß im Gegen: 
theil die Regierungen, die ja ihrem Begriff nad) die Drgane des Kortfchrit- 
tes und der pelitifhen Entwicklung eines Volkes fein follen, fich für eine mög: 
lichſt ſchnelle Entfheidung und Aufklaͤrung in dieſem Wirrwarr von fo ver: 
ſchiedenen Doctrinen und Anfichten lebhaft intereffiren follten. Diefer Glaube 
fegte jedoch) eine Auffaffung der Regierungen voraus, wie fie fein follten und 
nicht wie fie find, denn er vergißt, daß auf dem Feſtlande von Europa keine 
Regierung exiſtirt, melche fich nicht als die perfonificirte Herrſchaft des Bes 
flehenden gerirte, flatt fich freimillig zum eigentlichen Organe des Zeitgeiſtes 
und der Entwidlung des Volkes zu machen. So wurde denn auch faft allent⸗ 
halben die Unterfuhung über die innere Nothwendigkeit und vernünftige 
Berechtigung der beftehenden Eigenthums : Vechältniffe kurz abgemacht durch 
die Berufung auf die abfolute Gültigkeit des Eigenthums. Dieſes wurbe 
für Heilig erflärt und jede Discuffion über feine Nichtheiligkeit verboten. 
Ein ſolches Verfahren ift da ganz conſequent, wo bie beftehenden Befege und 
Staatseinrichtungen uͤberhaupt Leine öffentliche Meinung anerkennen, mo 


die Gedantken der Unterthanen vorher bie Genehmigung ber berrfchenden 
Gewalt haben müffen, ehe fie berechtigt find, ins Reben zu treten, ein folches 
Verfahren ift auch ferner gewiſſen Ständer und Glaffen der Bevoͤlkerung 
ber confequent, deren Einzelne nicht nur in Beziehung auf ihren koͤr⸗ 
Habitus, auf die Form ihrer Haupt und Barthaare von bem Willen 
der Regierung abhängig find, fondern deren Gedanken fogar, deren Anfichten 
und Meinungen ſich nach dem Reglement richten müffen. Allein im hoͤchſten 
Grande verfaffungsverlegend und mit bem Staatsprincip abfolut unvereinbar 
iſt ein foldyes Verbot in einem Bande, mo die Wolkefouveränetät anerkannt 
iſt und jeder Einzelne als freier Mann gilt. Trotz dem aber find es auch bier 
wieder einzelne Schweizer Regierungen, melde in biefer Beziebung fogar wei⸗ 
ter gingen, als es in monarchifch reaterten Sraaten gefchehen ift. Nament: 
lich Hat ſich bie Züricher Megierung in biefer Beziehung durch das berüchtigte 
Gommiüniftengefes ein Denkmal errichtet, das fie in den Augen jedes Ver⸗ 
nünftigen und jedes Freundes der Freiheit genugfam charakterifict. 


Außer Frankreich und England war in neuerer Zeit befonders die Schweir 
Em! für die foclaliftifchen und communiftifhen Docteinen. Ungeftört 
j — 





dleſe einige Jahre entwickeln, bis es einigen Regierungen beliebte, 
| Freiheit bee Meinung auf diefem Gebiete der Miffenfchaft ein Ende zu 
machen, und zwar haben befonber® fibetale oder radicale Megierungen die 
Eh ierin thätig geweſen zu ſein, wie denn überhaupt der Radicalismus 
ft ber Schweiz dazu auserfören zu fein ſcheint, augenblicklich feinem Princip 
ingetren zu werden, fobald er zur Derrfchaft gelangt. Zunaͤchſt verbot die 
Zuͤricher Reglerung einem ihrer Bürger, Vorlefungen über Socialismus zu 
halten, und ernannte fodann eine Commiffion, um auf gefeglihem Wege 
gegen diefe Theorie einzufchreiten. Diefe Commiffion arbeitete einen Entwurf 
aus, deffen erfter Artikel folgendermaßen lautete: „Es ift unterfagt, Dieb: 
ftahl oder andere Verbrechen Sffentlich zu rechtfertigen, ober eine Claſſe von 
Bürgern gegen andere, z. B. Befiglofe gegen Befigende, zum Haſſe aufzureizen, 
oder überhaupt durdy Angriffe auf die Unverleglichkeit des Eigenthums oder 
anderer im Staate gefhügter Rechte die beftehende rechtliche Ordnung boͤs⸗ 
willig zu gefährden. In den Verhandlungen des Großen Rathes trug ein 
Mitglied darauf an, diefen Artikel durch folgenden zu erfeßen: „Wer durch 
die Preffe und öffentliche Reden bie Sicherheit des Privateigenthums boͤs⸗ 
willig angreift, oder verbrecherifhe Handlungen in einer Weife empfiehlt 
und vertheidigt, wodurch die öffentliche Ruhe bedroht wird, oder die öffent: 
lihe Moral und chriftliche Religion dem Spott oder der Verachtung preise: 
giebt, verfällt, auch wenn kein anderes im Strafgefegbuch vorgefehenes mit 
Strafe bedrohtes Verbrechen vorliegt, in eine Geldbuße von 40— 1000 Frans 
ten, momit Gefängnißftrafe bis auf 2 Jahre verbunden werden kann.“ 







h 


Diefer Antrag, fo mie ein anderer, das ganze Gefeg im Intereſſe ber 
Ehre der Regierung fallen zu laffen, ging jedoc) nicht durch, dagegen wurde 
der Artikel in folgender Kaffung angenommen: „Es ift unterfagt, den Dieb: 
ftahl oder andere ihm verwandte Verbrechen oͤffentlich zu rechtfertigen, oder 
wegen Ungleichheit des Beſitzes eine Claſſe von Bürgern gegen eine andere 


Gültigkeit. 608 


zum Haffeaufzureizen,, ober burch Angriffe auf bie Unverleglichkeit bes Eigen» 
thums die Ruhe und Wehlfahrt des Staates boͤswillig zu gefährden.” 

Diefes ift num eines jener berüchtigten Geſetze, welche durch allgemeine 
Ausdruͤcke, durch „Aufreizen“ und andere Stichwörter der freien Kritik den 
Mund fchließen follen. Es ift natuͤrlich, daß fein vernünftiger Menſch die 
Unverleglichkeit des Eigenthums in der Weife preisgeben will, baß ein factis 
fher Angriff auf daſſelbe erlaubt fein fol, allein fann etwas, kann das 
Eigenthum fo unverleglich fein, daß ihm gegenüber die Wiffenfchaft ſtumm 
fein muß, daß ihm gegenüber es nicht erlaubt fein dürfte, im Hinblick auf 
die beftehenden focialen Mißverbältniffe die Frage aufzumerfen, ob dieſen 
nicht durch eine andere Organifation der Eigenthumsverhaͤltniſſe abzuhelfen 
fit Wenn ſolche Kragen gefeglich verboten werden koͤnnen, dann fann man 
auch ein Gefeg fchaffen, deſſen erfter Artikel fo lautet: „Es ift unterfagt, 
überhaupt das Beſtehende nicht vortrefflic, zu finden , oder Durch Beſprechung 
beftehender Webeiftände Unzufriedenheit zu ftiften und die ruhigen Bürger aufs 
zurelzen, ober überhaupt die vernünftige Berechtigung beftehender Verhaͤlt⸗ 
niffe in Frage zu jtellen und dadurch die Ruhe und Wohlfahrt des Staates boͤs⸗ 
willig zu gefährden.” Wenn es erlaubt ift, Gefege zu machen, wie dieſes 
Züricher Sommuniftengefeg, dann hat «6 die Regierung überhaupt In ber 
Hand, die Entwidlung der Wiffenfchaft durch ein Gefegesdictat nach Will⸗ 
für zu regulicen, dann find Proudhon, Garlyle und alle Diejenigen, welche 
wiffenfchaftliche Mevolutionen hervorbringen, Verbrecher, dann kann bie 
Regierung beftimmen, die Sonne bemigt fid) um die Erde, dann muß Gali⸗ 
Let feine Irrthuͤmer abſchwoͤren, dann darf Bein Pulver, keine Schießbaum⸗ 
wolle, Leine Dampfmafchine erfunden werben, denn jede neue Erfindung 
vernichtet das Beftehende, greift die Heiligkeit und Unverleglichkeit bes Beſte⸗ 
henden an. 

Diefes Züricher Communiſtengeſetz fteht übrigens nicht iſolirt, auch ans 
derwärts und fonft noch haben Schweizer Regierungen mit Landesverwei⸗ 
fung und andern polizeilihen Gewaltſtreichen gegen Solche gewuͤthet, bie 
im Verdacht des Communismus ftanden. Diefer Communismus fpielt in 
der Schweiz biefelbe Rolle, wie in Deutfchland die Revolution. Er ift das 
Schreckbild, das Gefpenft, das allen Denjenigen fchlaflofe Nächte verurfacht, 
weiche am Ruder find. Wie ift diefe krampfhafte Furcht der Schweizer Res 
gierungen zu erflären? Eines Theile ift fie eingegebensvon der Furcht vor der 
Öppofition, welcher man Gonceffionen machen zu müflen glaubt. Dies 
war namentlich im Canton Waadt ber Fall, deſſen hoͤchſte Würdenträger 
ſelbſt einer vernünftigen Auffaffung der Eigenthumsverhältniffe nicht fern 
ftehen und jedenfalls nicht mit jener philifterhaften Bornirtheit behaftet find, 
weldye das Beftehende für fo unverleglich erklärt, daß ein Zweifel Daran zum 
Verbrechen gemacht wird. Im Allgemeinen hat die Communiftenfurdht jedoch ' 
einen tiefen Grund. Jede berrfchende Gewalt repräfentirt bie Herrfchaft bes 
Beſtehenden und iſt der natürliche Feind einer folhen Veränderung, wodurch 
das berrfchende Princip vernichtet und in ein weſentlich anderes verwandelt 
wird. Eine folche totale oder principielle Veränderung führt die potitifche 
Demokratie als Confequenz nad ſich, denn fie ift ihrem Weſen nady nur das 


604 | Guizot. 


Mittel, um einen Zuſtand herzuſtellen, im welchem jedem Einzelnen eine 
menſchliche Exiſtenz garantiert iſt. Dies iſt jedoch nicht möglich obne weſent⸗ 
liche Umgeftaltung resp. Drganifation der beftehenden Eigenthums: und Vers 
ichröverhältniffe. Bewußt oder unbewußt iſt daher diefe Organiſation der 
Grundgedanke jeber demokratiſchen Verfaſſung. Wie daher ber politifche 
Abſoluismus ſtets eine politifche Mevolution zu erwarten bat, fo wartet vor 
ber Thuͤre jeder demokratiſchen Verfaſſung eine Aenderung der focialen Wer: 
bältmiffe, - Inftinetmäßig fühlen dies die Perföntichkeiten wohl, die in der 
Schwei jeweils am Ruder find, allein fie haben den Muth nicht, an bie 
Spitze der Bewegung fid> zu ſtellen. Dazu. gebört vor Allem eine fefte und 
ſſchere Stellung bes Eat. — Sufın und Innen , diefe aber iſt in ber 
Schweiz bei ihrer inneren Zerriffenheit und Abhängigkeit von äußeren Ein: 
flüffen nicht vorhanden. » Dann aber ift die fraglihe Bewegung eine jo bes 
dantend⸗ und durchgreifende, daß ein Mann des Jahrhunderts dazu gehört, 
mit der nöthigen Meberlegenbeit des Geiftes und Charakters, um ſich an ihre 
Spihze zu ſtellen — in der Schweiz aber ift, wie faſt überall, die Mittelmaͤßig⸗ 
keit am Ruder, die ehrſame Beſchraͤnktheit, welche einen großen Gedanken 
nicht au faffen vermag. Mechnet man noch dazu, daß die herrfchenden Perſoͤn⸗ 
lichkeiten, wie namentlich in Zuͤrich, gewoͤhnlich jener Claſſe der Gefellſchaft 
—2 ‚welche bei einer focialen Umgeſtaltung allerdings einige Opfer 
bringen und einige Privilegien aufzugeben hätte, fo werden die politifchen 
* pſychologiſchen Nama dieb Heilisfprechung. des — ger 
ee 

Guizot, ur {8 Für längere Beit ale itgend ein tar =. 
zoͤſiſches Minifterium, feit der-Julirevolution, hat ſich dasjenige, deffen Seele 
Giuizot geworben, an der Spitze der Gefchäfte zu erhalten gemußt; und ſoll⸗ 
ten bie vor Kurzem eingetretenen VBerwidlungen mit England die Entfer: 
nung von feiner einflußreschen Stellung zur Folge haben, fo würde doch 
fhwerlicy auch das aus der doctrinaͤren Schule hervorgegangene Syſtem fallen, 
deſſen hbauptfächlichfter Vertreter er if. Das Wefentliche dieſes einfeitig 
confervativen Syſtems ift die nad) willfürlichen, engen Grenzen bemeffene 
Kusfcheidung und politifche Bevorrechtung eines Eleinen Bruchtheild der Ma: 
tion, gegenüber der Maffe mit ihren Millionen von geiftig und oͤkonomiſch 
feöftfländigen und unabhängigen Staatsbürgern. Mit Unrecht hat man daſ⸗ 
felbe euphemiftifch als eine Derrfchaft der Mittelclaffen bezeichnet. Es ift 
nur eine Ariftofratie des Reichthums, fo lange nicht menigftens der Geſammt⸗ 
heit derjenigen Staatsbürger, die als Nationalgarde zur Vertheidigung ber 
inneren Ordnung berufen find, ein felbfithätiger Antbeilan der Entwidelung 
diefer Ordnung und das volle Recht der Wahlfähigkeit und Waͤhlbarkeit in 
die Nationalvertretung eingeräumt wird. Wohl hat fi) Guizot, ale 
früherer Minifter des Unterrichts, unläugbare Verdienfte um die Verbrei⸗ 
tung der Volksbildung erworben, alſo auch mittelbar um die Entwidelung 
der Fähigkeit zu einer befonnenen Theilnahme an den Angelegenheiten des Ge⸗ 
meinmefens bei einer wachfenden Zahl der Bewohner Frankreichs. Allein 
wenn feine Anhänger der Meinung find, daß er die für politifch reif gehaltes 
nen Staatsbürger in Wahrheit zu jener Theilnahme zulaffen möchte, fo trauen 





Geigot. 606 


fie ihm entweder allzu viel zu, ober müflen boch zugeben, daß ihm ber Doch: 
muth einer doctrinaͤren Schulweisheit zur Abwägung bee politifchen Faͤhlg⸗ 
keiten eim eigenthuͤmliches Gewicht in die Hand gefpielt hat, wornach felbft 
Zaufende der Tüchtigften als allzu Leicht, nicht wenige Unfähige hingegen als 
ſchwer genug befunden werben. Zwar hat man ruͤhmend hervorgehoben, "daß 
das jetzt noch in Frankreich geltende Wahıfuftem ein Eorrectiv feiner Un⸗ 
vollkommenheit in fich ſelbſt trage; daß biernach in den 11 Jahren von 
1831 —42 die Zahl der Wähler von 166,000 auf 220,000, alfo um ein 
Dritcheil geftiegen ſei, während fich die Beboͤlkerung nur um 16 vermehrt 
babe. Allein [yon 1842 bemerkte mit Recht der „ Courrier frangaie”’, um« 
ter Hintveifung auf eine Adnliche Zunahme und Abnahme der Wähler waͤh⸗ 
rend ber Reftauration, daß jene Vermehrung nur die Folge einer Steigeramg 
der Zufanfteuer fei, die während des gleichen Zeitraumes Im mehreren Depar⸗ 
tements von 30 — 40 auf 75—80 Zufagcentimes:ı erhöht werben mußte. 
Und wenn im Jahre 1842 doch erſt ein Wähler auf je 164 Einwohner kam, 
fo ift dieß immerhin ein Mißſtand, der einer wachſenden Unzufriedenheit in 
ber Mehrheit der Nation Vorſchub thım muß, ſollte ſich gleich das offictelle 
Frankreich der gegenwärtigen Orbnung der Dinge noch fo enge anfchließen. 
Mrd man aber mit den herkoͤmmlichen Mitteln der Repreflion, wofür Gul⸗ 
zot und feine Anhänger ftets fo eifrig geflimmt haben, eine Gaͤhrung bau» 
eind niederzuhalten vermögen, bie fi) unter befonberm auf die Volksmaſſe 
druͤckenden Umftänden wohl über weite Kreife ausdehnen därften? Buijot 
ſcheint «8 zu hoffen. Als am 18. Januar 1841 feln Gegner und Vorgaͤn⸗ 
ee im Miniſterium, Thiers, über die von ihm in Anregung gebrachte 
Befeftigung von Paris den Abgeordneten feinen Bericht erftattete,, unters 
flügte 8 ui 30t in einer eneraifchen Rede den Antrag, indem er die Befeſti⸗ 
ung nicht blos als eine nothwendige Barantie für Erhaltung des europdifchen 
riedens bezeichnete, ſondern zugleich als ein Mittel, um Europa zu überzen« 
gen, „daß eine Revolution in Frankreich nicht mehr möglich fel.” Under 
mag darin richtig geurtheilt Haben, daß bei dem gtoßen Einfluffe ber Haupt: 
ſtadt durch Ihre Befefligung eine ploͤtzlichen Ummälzung mit einem 
Schlage, wie in den Julitagen von 1830, vielleicht für immer vorges 
beugt ift. Allein die fort und fort fich erneuernden Goalittonen und Aufftände 
der Arbeiter, die Unruhen zu Zonloufe und in anderen Städten im J. 1841, 
bie auch politifch ausgebeuteten Hungeremeuten in den Jahren 1846 und 
1847 geben Zeugniß dafür, daß keineswegs die Gefahr der Örtlichen und in 
wachſender Zahl ſich wiederholenden Bewegungen vorüber ift, die in ihrer Bes 
fammtheit wohl gleichfalls die Wirkung einer Mevolntion haben und Frank⸗ 
reich mit Gewalt aus dem Geleiſe feiner bisherigen Politik heransdraͤngen 
innen. Die Inhaber der Macht und Diefenigen, die um die Macht buhlen, 
"namentlich der feit ſechs Jahren für eine nothwendige Stüge des Status: 
quo gehaltene Guizot, fiheinen indeſſen in den fo gefährlichen „unberweg- 
lichen Gedanken” der Erhaltung allzu feft verrannt zu fein, als daß es nicht 
ernſtlicher thatfächlicher Mahnungen bedürfen ſollte, um endlich auch wieder 
Für Frankreich die Bahn zu Reformen zu brechen, die eine wahre und blei⸗ 
bende Befrlebigung des Kerns der Nation zue Folge haben. Ä 


! 
® 


Als Gulzot mit den andern Vertretern der boctrindeen Partei im 
April 1837 aus dem Miniſterium Mole getreten war, betheiligte er * 
ſpaͤter bei der auf den Sturz deſſelben gerichteten Coalition ber 221. I 
Febr. 1840 wurde er unter, dem Minifterium Soult Gefandter in London, 
‚als gerade mit Ausſchluß von Frankreich bie anderen europaͤiſchen Großmaͤchte 
im der orientalifhen Frage ihren Quadrupelvertrag vom 15. Juli 1840 vor: 
bereiteten. Er behielt die unter ſolchen Umfländen befonders wichtige Botſchaf⸗ 
terftelle auch nach dem Abfchluffe des Vertrags unter dem Eriegerifhen Mini: 
fterium Ehiers,in welches einzutreten er fich gemeigert hatte. Nach defjen 
Befeitigung am 29. Detober 1840 übernahm Buizor unter Soult’s Pri- 
ſidentſchaft, aber in einem Miniſterium, für beffen Bildung er hauptſaͤchlich 
thätig war, die noch jest, im Februar 1847, ihm anvertraute Leitung ber aus: 
wärtigen Angelegenheiten. Schon durch die Gemähr feines Namens ver- 
ſchwanden die Beforgniffe Europas vor den trogigen Herausforderungen des 
in feiner Iſolirung grollenden Frankreichs. Bald legte ſich auch in diefem 
‚Bande felbft die. Eriegerifche Aufregung , obgleich ſchon damals — alfo ſechs 
Jahre vor der Vernichtung Krakau's — eine zahlreich verbreitete Volkaſchrift 
mit dem Motto: „Nieder mit den Verträgen von 1815!” das Feuer Au 
ſchuͤren fuchte; und obgleich bie ganze journaliftiiche Oppofition, über % ber 
damaligen Parifer Zagespreffe, gegen die in den Neujahrsreden von 1841 
gegebenen Ftiedensverſicherungen Einfprache that. Schon an den Unterhand: 
lungen wegen ber thracifhen Meerengen und an dem am 13. Juli 1841 
untergeichneten Vertrag ber Großmächte über die orientalifchen Angelegenhei— 
ten hatte Frankreich wieder Antheil genommen. Ein langmwieriger und lang» 
weiliger Etifetteftreit mit dem ruffifhen Hofe im Anfange des Jahres 1842 
309 feine ernftere Verwidelung nad fih; und Frankreich fhien vielmehr 
geneigt, feine Wiederanndherung an bie Politit der anderen Großmächte auf 
alle Weife zu bethätigen. Dies zeigte ſich namentlicd) im Benehmen Gui⸗ 
zo t's gegen die Schweiz, als die Berufung der Jeſuiten nad) Luzern und die 
dadurch veranlaßten Freiſchaarenzuͤge zur diplomatifhen Tagesordnung Fa: 
men. Das Gabinet der Zuilerieen war fo erfreut über feine Wiederzulaffung 
in den Rath der Großmächte, daß der Minifter des Auswärtigen, im Wider: 
fpruche mit den von Thiers und zumal von Lamartine entwidelten Anſich⸗ 
ten uͤber die Stellung Frankreichs zur Eidgenoſſenſchaft, ſelbſt einen noch 
hochfahrenderen Ton als die oͤſtlichen Maͤchte gegen den kleinen republikani⸗ 
ſchen Staatenbund anſchlug (f. „ſchweizeriſche Sefuitenfrage”) ; und daß er 
im nahe liegenden Intereſſe Oeſterreichs Bein Bedenken trug, die dem Frank⸗ 
reich der Julirevolution naturgemäß zugeneisten Sympathien der Mehrheit 
der fchweizerifchen Bevölkerung in die Schanze zu [hlagen. Dies geſchah, 
als man fidy in Frankreich felbft wenigftens zu einer fcheinbaren Nachgiebig> 
keit gegen die jefuitenfeindliche Majorität der eigenen Nation gezwungen fah. 
Und ſchien gleih Guizot eine Zeitlang zu einer diplomatifhen Einmiſchung 
weniger geneigt, fo war er e8doch, der im März 1845 ben franzöfifhen Geſand⸗ 
ten in London, den Grafen St. Aulaire, beauftragte, den damaligen briti: 
fhen Minifter des Aeußern, Lord Aberdeen, den erfolglos gebliebenen 
Vorſchlag zu machen, daß Paris zum Mittelpunfte der zwifchen den Groß⸗ 


Guizot. 607 


flaaten über bie fchmeizerifchen Angelegenheiten zu eröffnenden Unterhandlun- 
gen gemacht werde. Erſt nadı der Einverleibung Krakau's in die Öfterreichifche 
Monarchie und als in Frankreich das flüchtige Belüfte verraufht war, das 
Unrecht an Polen durch ein Unrecht gegen die Schweiz zu vergelten, ift vielleicht 
eine Wendung in der franzöfifchen Politik eingetreten, die den Intereſſen Frank⸗ 
reichs angemeffener als die früher befolgte Richtung fein dürfte. Nach einigen 
Anzeichen ift e8 wenigftens nicht unwahrſcheinlich, daß fortan die Schweiz 
von Paris her ein minder rüdfichtslofes Benehmen zu erwarten hat, und 
daß man von franzöfifcher Seite darauf Bedacht nehmen wird, ſich für den 
Nothfall eines europdifchen Krieges am fchmeizerifchen Volke, wenn nicht 
einen Bundesgenoffen , doch eine wahrhaft neutrale keineswegs verächtliche 
Schutzwehr zu verichaffen. 

Was die Vernichtung ber Republik Krakau betrifft, fo mag man, nad) 
der wenigftens theilweife erfolgten Veröffentlichung der hierüber geführten 
diplomatifchen Correfpondenz, wohl einrdumen, daß dem franzöfifhen Minis 
fer des Auswärtigen die Verlegenheit einer officiellen Mittheilung bes bevors 
lebenden Schrittes erfpart worden iſt. Allein doch kann man ſich des Gedan⸗ 
kens nicht erwehren, daß Guizot von Dem, was im Plane lag, hinlaͤnglich 
unterrichtet war, um noch bei Zeiten kraͤftiger einfchreiten zu koͤnnen, als durch 
eine Proteftation nady vollendeter Thatjache. Indeſſen war die durch das Er⸗ 
eigniß bei der franzöfifchen Nation gewedte Stimmung mädytig genug, um 
feloft ihren Friedens⸗Miniſter zu einer ziemlich entfchieden lautenden Verwah⸗ 
rung zu beftimmen. Inder von Guizot anden franzöfifhen Borfchafter in 
Wien, Grafen von Fll ahault, gerichteten und dem Fürften von Metter⸗ 
nich in Abfchrift zugeftellten Depefhe vom 3. Dec. 1846 wird unter Andes 
rem hervorgehoben, wie in Europa die Vernichtung des Eleinen Staats Krakau 
die Principien der Ordnung und Erhaltung zum Beften der blinden Leidens 
fehaften und der gewaltfamen Anſchlaͤge ſchwaͤche. Gegen eine Stelle in der 
Depefche des Fürften von Metternich vom 6. Dct. 1846, worin er fagt, 
bie drei Mächte hätten für ſich allein, am 3. Mat 1815, den Beinen Staat 
Krakau gefchaffen, und hernach „dem Wiener Congreß die zwiſchen ihnen zu 
Stande gebrachte Uebereinkunft zur Regiftricung vorgelegt”, bemerkt der frans 
zöfifche Miniſter: daß feine Regierung eine Behauptung nicht zugeben könne, 
die den Principien und felbft der Sprache der das Öffentliche europdifche Recht 
ausmachenden großen Verhandlungen fo fremd fei. Unabhängige, auf ben 
Fuß der Gleichheit unterhandelnde und über gemeinfame Intereſſen zu Kath 
gehende Regierungen feien nie daͤzu da, um ohne ihr Zuthun gefchehene Ent» 
fhließungen und Handlungen zu regiftriren. Den Beflimmungen über 
Krakau und Polen feien lange Discuffionen zwifchen den MRepräfentanten 
fämmtlicher Congreßmaͤchte vorausgegangen und der Text des Wiener Vers 
trags felbft beweife, daß das Loos Polens durch eine europaͤiſche Berathfchlas 
gung fefigefegt worden. Zwifchen den Artikeln 6— 9 über Errichtung. ber 
Republik Krakau und denjenigen, welche Preußen einen Theil der Staaten 
des Könige von Sachſen geben, beftehe nicht der geringſte Unterſchied. 
Auch erklärten die Artikel 10 und 118 des allgemeinen Vertrags vom 9. Juni 
1815 ausdrüdlich, daß bie Beflimmungen des fpeciellen Vertragsvom 8. Mai 


608 Guizot. 
„dieſelbe Kraft und Bebeutung haben ſollen, als waͤren fie in ben allgemeinen 
Bertrag buchftäblich eingeſchaltet.“ „Die Regierung bes Könige”, fo fchlief 
die Note Guizot's, „macht alfo nur Gebrauch von einem offenbaren Reit 
und erfüllt zugleich eine gebieterifche Pflicht, indem fie gegen die Unterdrückung 
ber Republlik Krakau als einen dem Buchſtaben mie den Sinne des Wiener 
Vertrags vom 9, Juni 1815 pofitiv entgegenflehenden Act feierlich protes 
ſtirt. Nach den langen und furchtbaren Aufregungen, welche Europa fo tief 
eefchärtert haben, iſt die europaͤlſche Ordnung gegründet worben und erhält 
h buch die Achtung der Verträge und all der Rechte, weldye von ihnen bie 
ihe erhalten. Keine Macht kann ſich davon fret machen, ohne zugleid 
alle andern davon frei zu madben. Frankreich hat das Beifpiel eins 
folhen Angriffs auf die Erhaltung: und Friedbenspotitil 
nicht aegeben. Frankreich hat nicht vergeffen, welche f[hmerglihen 
Opfer ihm die Berträge von 1815 aufgelegt haben. Es könnte ſich freuen uͤber 
einen Het, ber es berechtigen würde, in gerechter Gegenſeitigkeit 
fortan nur den vorfehenden Gateul feiner Intereffen zu befragen, Und doch 
iſt es Frankreich, das die Mächte an getreue Beobachtung diefer Verträge un 
innert, von denen fie bie Dauptvortheile haben, dem vor Allem die Aufrecht⸗ 
haltung der erworbenen Rechte und bie Achtung ber Unabhängigkeit ber Stan 
ten am Herzen liegt.” Trotz biefer „Achtung der Unabhängigkeit der Stau 
ten’ braucht man nicht gerade viel zwifchen den Beilen zu lejen, um in be 
Note Guizot's die ziemlich unummunbene Erklärung zu finden, baf 
Franfreich zur Benutzung der erften ihm günftig ſcheinenden Umſtaͤnde bereit 
fet, damit es fich ‚in gerechter Gegenfeitigkeit” für bie durch bie Wertrdat 
von 1815 aufgelegten Opfer Erfag verfchaffe. 

Der eigentliche Mittelpunkt, von dem feit Jahren die Politit Guizot’ 
ausgeht, iſt indeffen das nach allen Richtungen verfolgte Streben einer Stei- 
gerung bes franzdfifchen Einfluffes in Spanien, fo wie bie Gefälligkeit des 
Minifters gegen die Kamilienfpeculationen feines Monarchen. Alles, was 
Guizot während feines Minifteriums vom 29. Oct. 1840 an gethan und 
geduldet hat, laͤßt fich nur von diefem einen Punkte aus erklären und richtig 
beurtheilen. Hierbei kam vor Allem die Eiferfuhht Englands und e8 kamen 
die Mittel in Betracht, modurd fie für die franzöfifchen Intereſſen ſchadlos 
gemacht werden konnte. Im Verlaufe der Jahre Eonnte e8 an mandherlei 
Anlaß zu vorübergehenden Reibungen zwifchen den beiden meftlihen Groß: 
ftaaten nicht fehlen. Dahin gehörten die Kriege Frankreichs in Algier und ges 
gen Marocco; die franzoͤſiſchen Colonifationsverfuhe im Südmeere, mie auf 
den Marquefasinfeln und zumal in Zahiti; vor Allem die Unterhandlungen 
über die Erneuerung des Durchſuchungsvertrags zur Verhinderung des Skla⸗ 
venhandels, wodurch in den franzöfifchen Kammern eine lebhafte Debatte und 
eine heftige DOppofition gegen den Minifter des Auswärtigen hervorgerufen 
wurde. Was diefen legteren Punkt betrifft, fo balf man ſich durch ein fünf: 
jähriges Proviforium , indem man den Durdhfuchungsvertrag vom 6. März 
1846 an erloͤſchen und die Kammern 10 Millionen Franken zur Ausrüftung 
von 26 franzöfifchen Kreuzern gegen die Sklavenfchiffe an der weſtafrikaniſchen 
Küfte bewilligen ließ. Ohne ber Würde Frankreichs allzuviel zu vergeben 






Guizot «09 


mußte body Gutzot in allen biefen politifchen Zwiſchenfragen eine gewiſſe 
Nachgiebigkeit gegen England zu beobachten, und niemals trieb er die unter⸗ 
. geordneten Streitpuntte auf eine gefährliche Spige." Nebenbei wurde unter 
feinem Minifterium ein beſonders freundfchaftlicher perfönlicher Verkehr zwi⸗ 
fchen der franzöfifchen Regentenfamilie und der Königin von Großbritannien 
eröffnet. In den Fahren 1843 und 1844 fah man den Beſuch der Prinzen 
Aumale und Joinville in London; den der Königin von England in 
Frankreich; ben des wahrfcheinlichen Regenten, des Herzogs von Nemours, 
mit feiner Gemahlin in London, nachdem erſt Guizot im vorhergehenden 
Sabre das zumal von Lamartine heftig angefochtene Regentfchaftegefeg 
durchgefegt hatte; den Louis Philipp's in England, wo ber König der 
Franzoſen bei allen Gelegenheiten von Friedensworten und Betheuerungen der 
Freundſchaft überfloßs endlich gar, im Jahre 1845, einen zweiten impros 
vificten Befuch ber Könign Victoria in Eu, um fih in ber Mitte der frans 
zöfifchen Königsfamilie, wie das Sournal des Debats bemerkte, „von den 
pompbaften Feften Deutſchlands auszuruhen.“ Alle jene Nachgiebigkeiten 
gegen England und dieſer Austauſch gegenfeitiger Artigkeiten zogen dem franzoͤ⸗ 
fifhen Minifter, der von feinen Widerfachern und vom Volke als mini- 
stre de l’etranger bezeichnet wurde, die heftigſten Angriffe zu. Man erin» 
nerte ſich auch feiner fchon früher zur Schau getragenen Dinneigung zu Eng» 
land. Aber mächtiger als feine nur theoretiſche Vorliebe für die freieren Ins 
flitutionen Großbritanniens war der unmittelbare Einfluß des Könige, dem 
er feine Stelung verdankte. Guizot feheint daher zu keiner Zeit die [pas 
niſche Heirathsfrage, bie ihm zur Hauptfache gemacht wurde, aus dem Auge 
verloren zu haben. Die Eonceffionen gegen England, mit allem Aufwande von 
freundnachbarlicher Höflichkeit und Schmeichelei, machte er fich hiernach zu jes 
ner berüchtigt gewordenen „entente cordiale‘* zurecht , unter deren Deckman⸗ 
tel die franzoͤſiſche Diplomatie ihre Umtriebe ungebinderter zum Ziele lenkte. 
Schon jene Proteftation der Königin Marie Chriftine vom 19. Juli 1841 
gegen ihre felbftverfchuldete Entfegung von der Regentfchaft und gegen ihre 
Entfernung aus Spanien wurde ohne Zweifel unter franzöfifchem Einfluffe 
erlaffen, ben man es wohl gleichfalls zugufchreiben hat, da die ehemalige Res 
gentin als reuige Sünderin vor dem Papfte erfchten und ſich hiermit für wei⸗ 
tere Plane der Unterſtuͤtzung ber hierarchiſchen Partei zu verfichern fuchte. Auch 
ſchrieb man fhon damals Louis Philipp die Abfiche zu, mit Hilfe der 
Königin Mutter den erft 1844 mit der neapolitanifchen Prinzeffin, Herzogin 
von Salerno, vermählten Herzog von Aumale zum Gemahl Sfabellens 
beflimmen zu laffen. Seitdem entfpann fid), unter mandyerlei Wendungen 
und Krüämmungen, ein durch vielfacye Zweideutigkeiten, Liften und Dinterlifte 
Sabre lang ſich durchziehender Faden diplomatiſcher Unterhandlungen, den bie 
franzoͤſiſche Politik erft möglichft zu verwirren fuchte, um endlich mit einem 
fait accompli abzufchneiden. Nach endlicher Veröffentlichung der betreffenden 
Actenftüde*) und nad) Bekanntwerdung des Refultats — Wermählung der 
fpanifchen Königin mit einem Prinzen, der von allen Bewerbern bie geringfte 


*) Augsb. Aug. 3tg. Januar 1847. 
Suppl. . Staatslex. UI, 39 


610 Guizot. 


Auoſicht auf legitime Nachkommenſchaft giebt , und der für Spanien in Aus 
ficht geitellte Herzog von Mont penfier mit feiner reichen Gemahlin und mit 
feinen zu erwartenden Spröflingen — bat fich die Öffentliche Meinung dabin 
feftgeftellt, baf England in biefem klaͤglichen Handel, der mit feinen kleinlichen 
Finten an bie fchlechteften Zeiten der alten Diplomatie erinnert, auf unwüͤr⸗ 
dige Weife geräufcht worden ift. Vor Allem ift dies von franzoͤſiſcher Seite 
duch das freilich nur zweideutig ausgeſprochene und nicht gehaltene Verſpre⸗ 
chen geſchehen, daß bie Vermaͤhlung Montpenfier’s erfi nad) der Geburt 
einer zur Xhronfolge berufenen Nachkommenſchaft Ifabellens Statt fin 
ben folle. 

So hat nun Guizot fein Spiel für Pouis Philipp gewonnen; aber 
eine andere Frage iſt #6, ob nicht fpäter diefre Gewinn zum großen Scjaben 
für Frankreich und Europa ausfchlagen werde. Das verſchlaͤgt wenig, ob und 
wie lange die feindfeligen Minifter Pal mer ſton und Guizot die audmär- 
tigen Angelegenheiten Englands und Frankreichs nod) gleichzeitig zu Leiten ver: 
mögen. Aber gewiß ift, daß eine dauernde Beruhigung der pprendifchen 
Halbinfel nur durch das offene und ehrliche Einverftändniß der beiden Mächte, 
wozu Frankreich ſelbſt ſcheinbar die Hand geboten, bewirkt werben konnte, 
England, ob nun Whigs ober Fories an der Spige der Gefchäfte ſtehen, iſt 
fortan gemöthigr, die frangöfifchen Einflüffe auf Spanien und Portugal in 
aller Weife zu durchkreuzen. Und traͤte gleich nie ober erſt in [pätern Fahren ber 
Fall einer Berufung ber Herzogin von Montpenfier ober ihrer Machkom⸗ 
men auf ben fpanifchen Thron ein, fo bieten doch die Zuftände der pyrenaͤiſchen 
Halbinfel noch Anhaltpunkte genug, auf welchen die britifche Dolitik ihre Hebel 
gegen Frankreich kann fpielen laffen. Aber fie kann es nicht, ohne zugleich 
den Welten Europa’s, ohne Europa felbft durd) neue Erſchuͤtterungen zu be: 
drohen. 

Nach Allem läßt ſich fhwerlich Teugnen, daß im Oſten die einfeitige 
Vernichtung Krafau’s, daß im Welten die brüsfe fpanifche Doppelheirach ben 
mühfelig erhaltenen langjährigen Frieden von Neuem gefährden. Auch alle 
Schwierigkeiten der nur vertagten orientalifchen Srage werden über kurz oder 
lang wieder hervortreten; und jetzt ſchon ift die Anarchie, die man fonft nur 
im Volke juchte, alle Fäden der herkoͤmmlichen Politif zerreißend bis in bie 
Gabinette der Sürften gedrungen. Um fo größer wird die Gefahr, wenn erft 
mit Louis Philipp und Metternich diefe Politik ihre gewohnten An: 
haltpunfte verliert. Dann mag die vom franzöfifhen Minifter des „Frie— 
dene um jeden Preis” nicht gelöfte Aufgabe der Erhaltung des Friedens oder 
der Beichränfung des vielleicht unvermeidlichen Kriegs auf feine engften Gren: 
zen kaum noch anders erfüllt werden, als duch Preußen, im innigften und 
durch ein allfeitiges Vertrauen der deurfchen Nation gefefteten Vereine mit dem 
conftitutionellen Bundesftaaten. Und darum richten fich felbft vom Stand: 
punkte der auswärtigen Politit aus jest alle Augen auf die Röfung der eben 
erſt angeregten preußifchen Verfaffungsfrage. Wohl hat man ſchon rügend 
hervorgehoben, daß die wichtigften Beftimmungen über die dem ‚vereinigten 
Landtage“ octropirten Befugniffe, namentlich über das Recht der Steuer: 
verwilligung, allzu deutlid, an die geheimen Beſchluͤſſe des Wiener Minifte: 


Guizot's politifche Doctrinen. 611 


rialcongreffe® von 1834 erinnern, als daß darauf große Hoffnungen zu bauen 
felen. Dan bat darauf hingemiefen, baß bei der Zufammenfegung der Stände, 
bei dem großen Uebergemwicht des Adels, die ftändifche Vertretung des Volks 
nur um fo gewiffer als Illuſion erſcheinen müffe, fo lange nicht durch Gewaͤh⸗ 
rung der Preßfreiheit, in Verbindung mit der Deffentlichkeit der Verhandlun⸗ 
gen , allen Bebildeten der Nation wenigftens ein mittelbarer Antheil an den 
Arbeiten für das Gemeinwohl eingeräumt fei. Man hat endlich mit Recht 
bemerkt, daß bei der Befchränkung der Befugniffe der preußiſchen Stände auf 
ihr am 3. Febr. 1847 beftimmtes Maß die Kluft zwiſchen Preußen und den 
Völkern des conftitutionellen Deutfchlande noch größer werden muͤſſe, weil 
diefe zu beforgen hätten, daß man allmälig auch ihre verfaffungsmäßigen Rechte 
auf den in ber preußifchen Monarchie feftgefegten Normalftand zuruͤckzufuͤh⸗ 
ven verfuchen werde. Allein der König biefes Staats hat ja Vertrauen ges 
zeigt und Vertrauen gefordert ; und er, wie die Stände, find gleich entfernt vom 
vermeffenen Dünkel, die Ebicte über den vereinigten Landtag, den vereinigten 
ftändifhen Ausfchuß und die ſtaͤndiſche Deputation für das Staatsſchulden⸗ 
wefen für das abgefchloffene Werk untrüglicher Weisheit zu halten und die 
gefpannten Erwartungen der deutfchen Nation von vorn herein zu täufchen. 
Bor Allem werden fich die bald verfammelten Stände Preußens erinnern, daß 
auch die Vertreter des Würtembergifchen Volks und die des Großherzog: 
thums Heſſen, bei dem erften Anerbieten neuer Verfaſſungen, ihren Fuͤrſten 
ein keineswegs in blinde Unterwürfigkeit ausgeartetes Vertrauen gezeigt has 
ben, deſſen hrilfame Frucht die von Volk und Fuͤrſten mit gleicher Freude 
aufgenommenen und vertragemäßig zu Stande gebrachten Srundgefege waren. 
In allen Fällen wird ader Preußen nur im aufrichtigen Bunde mit der ge- 
fammten beutfchen Nation die hohe Frieden gebietende Stellung, wozu es 
berufen ift, behaupten und die volle Reife der blutigen Saat verhindern koͤn⸗ 
nen, die nach allen Anzeichen auch Gui zot über Europa ausgeftreut hat. 
Wilh. Schul;. 
Guizot's politifhe Doctrinen. Nachtraͤglich zu den in den 
Artikeln „Doctrin“ 1) und „Doctrinaͤrs“, fo wie „Srundverteag‘ und „Gui⸗ 
zot“ gelegentlich bereits angeführten politifchen Anfichten biefes jedenfalls bes 
deutendften der jegigen franzöfifchen Staatemänner, Redner und Staatsge⸗ 
lehrten fcheinen noch folgende einer befonberen Erwähnung zu verdienen, da 
fie ſich auf einige der wichtigften Stantsfragen ber Gegenwart beziehen. 
Zunddft GSuizor?’s Anſichten über die englifche und franzoͤſiſche 
Revolution, bie ei in ber Einleitung zu feiner ebenfo geiftvolen als gruͤndli⸗ 
chen und unpartelifchen Befchichte der englifchen Revolution (die leider! noch 
unvollendet Ift) ausgefprochen hat. Es kann kein Zweifel darüber fein, daß 





1) Dazu auch Dahlmann's bebeutendes Schlußwort: „Dem König 
Wilhelm verbantt England feine Freiheit, foweit Kreiheit verliehen werben Tann, 
und Wilhelm hat bie größte von allen Staatöfragen, bie von ber politi- 
fhen Freiheit ber Wölker, fo mädtig in den ganzen Weittheil mit 
ihrer fcharfen Ede hineingerädt, daß, wer in ihrer Nähe blos ſchaudernd bie 
Augen zugubrüden und allenfalls ein Kreuz zu fchlagen weiß, fich früher ober 
fpäter daran den Kopf einrennen muß”. 

39 * 


612 Guizors politiſche Doctrinei, 


heutzutage Jeder, der eine Elare Einficht in ben politifhen Principienkampf 
unferer Zeit, ſowie ein begruͤndetes Urtheil Uber bie zweckmaͤßigſte Pöfung der 
bermaligen politifchen Hauptprobleme haben will, zunaͤchſt auf das Stubium 
der englifhen Verfaffung und Verfaſſungsgeſchichte zurädgehen muf und 
mit Recht fagt Dahlmann (Geſch. d. engl, Revol. Einl.) vom jener Pe 
tiodbe: „Es giebt vielleicht Beinen fo mannigfach lehrreichen Zeitraum Im ber 
ganzen neueren Geſchichte, und er bahnt ung den Weg zur einbringenden 
rthellung des folgenreichſten Errigniffes unferer Zage, der von Mord 
amerifa und von Frankreich ausgehenden Umgeflaltung von zwei | 
fen.’ Bor allem aber ift es nöthig und für unfere Entwidelung in Deutfd- 
land gang unerläßlich, daß richtige Anfichten über ben allgemeinen Charalter 
bee englifchen fowie ber frangöfifchen Revolution allgemeiner in der Öffentli- 
en Meinung verbreitet werden, als bie jegt ber Fall ift. Noch immer kommt 
vor, daß, wie Arnbde ſchon vor faft einem Menfchenalter geklagt bat, die re 
aetlondre Partei benfchlechten Abvocatenkniff braucht, duch das Schred⸗ 
bild der Erceffe der franzöfiichen Nevolution die „gute Lehre vom Staatsver 
trag und Nepräfentativfoftem"‘ zu bekämpfen ?). Selbft ber in fo manchen 
Punkten ächt feetfinnige Freiherr v. Bülow: Eummerom läßt ſich ver 
leiten, zu fagen (Preufen ıc. II. 1843 ©. 5): „Das Symbol ber frangd- 
ſiſchen Eonftitution ift ber Freiheitsbaum, er ift im jeder Dinficht ein febr 
ſprechendes derfelben. Ein Ieblofer Baum ohne Wurzeln, der Meprir 
fentant einer Idee, ein Baum, der feine Zweige zu treiben, feine Fruͤchte 
u tragen vermag. Die franzöfifchhe Verfaſſung ift ein Product ber furcht⸗ 
barften Revolution, welche die Gefchidhte ung mitzutheilen bat; aus 
ber Theorie (!!?) entfprungen, if fie aufden Trümmern alles Beſtehenden 
errichtet. Der Grundgedanke diefer Verfaffung ift eine ideale Gleichheit und 
Freiheit, und in der Confequenz davon wird die Souveränetät ale im 
Volkswillen vorhanden gedacht. Um diefe Gleichheit und Freiheit gegen 
die Regierung zu [hügen, find Beſchraͤnkungen eingeführt, welche ihre Kraft 
völlig laͤhmen und fie zwingen, ſich immer ben Parteien felbft anzufchließen, 
um duch fie in der Macht zu bleiben.” Natürlich liegt nun der Gedankt 






2) Geift der Zeit, Berlin 1818, Bb. IV, ©. 105: ,‚DIene übertreiben: 
den Lobredner des Alten und Vergangenen und Zabler und Ankläger des Neuen 
und Werdenden brauchen faft Alle einen Kunftgriff , den fie mit jedem Sad: 
walter gemein haben, ber eine fchlechte Sache führt, die er auf geradem und 
ehrlihem Wege durchzubringen verzweifelt. Sie werfen nun alle Gebreden 
und Verbrechen ber Zeit, alle ihre XKafter und Unarten, alle Ausfchweifungen 
und Verfehrtheiten in Begriffen und Zhaten, ja alles Abgefhmadtefte und 
Abfcheulichfte, was von franzdfifhen Umtehbrungsmännern bier un 
da als ewige Wahrheit, ja ale Grundgefegbud eines freien und hochfinnigen 
Volkes ausgefprochen ift, auf die Lehre vom Vertrage und Stellvertre: 
tung, und ftellen fie dar als nothwendige Folgen und Geburten dicfer Xebre. 
Armer Martin Luther, wie beftebft Du, wenn man fo gegen Dich ſchließt, ja 
Du armer Jeſus Chriftus, Sohn Gottes und Heiland der Welt, wie beftehft 
auch Du, wenn Du verantworten follft, was verrüdte und verworfene Menfchen 
Sn Deiner bimmlifchen Lehre zuweilen erklärt und wozu fie fie gemißbrackdt 

aben“! 


Quizot's politiſche Dortrinen. 618 


fehe nahe, daß das Mepräfentativfpftem ein vevolutiondres, wälfches Pros 
duct fei, und ganz unvertedglich mit bem Princip der Monarchie! — Auch 
Lamartine hat erft vor einiger Zeit, in feiner Rebe vom 6. Mai 1845 °), 
ſich zu der Bemerkung veranlaßt gefehen: „Die franzoͤſiſche Revolution fei 
noch nicht in das neueuropaͤiſche Staatsſyſtem aufgenommen” (n’est pas 
encore classee en Europe). Und noch ganz neuerdings lafen wir von einem 
Vorfall, der in der That nur zu fehr beweift, wie irrig noch felbft bei hochgeſtell⸗ 
ten Staatsmaͤnnern die Anfichten hierüber find*). Wahrlich, folche Verken⸗ 
nungen einer welthiftorifchen Thatſache, und ber Wahn, als ließe ſich durch po⸗ 
Hizeiliches Verbot bie wahre Würdigung derfelben verhindern, erinnern nur 
zu fehr an die Zeit des polktifchen Rococoismus®), und an die Wahrheit der 








3) Vergl. Frankf. O.P.⸗A.⸗Zeitung v. 18. Mai 1845. 

4) Die Beitungen, 5. B- Bean D.P.,%.sZeitung v. 5. Kebr. 1847, theil- 
ten die Nachricht mit, der befannte Pr. Prutz bürfe feine im Januar in Ber: 
lin vor einem zahlreichen und gebildeten Yublicum begonnenen literar = hifto- 
rifhen Vorleſungen (worüber auch die Augsb. Allg. Zeit. günftig berichtet 
hatte) nicht fortfegen, weil, wie ihm ber Miniſter des Innern felbft gefagt, 
„er in ber erften Vorlefung die franzdfifhe Revolution gelobt. habes 
folches dürfe in Berlin nicht gefchehen”. — Nun ift zwar ganz richtig und erft 
neuerdingde von Bervinus (Miffton ber Deutfchlathol.) mit - Recht. einges 
fhärft worden, daß wohl „einwücfige” Staaten und Völker, wie England 
und Frankreich, folche Revolutionen überbauern koͤnnen, in welchen das zer: 
ftüdelte Deutfchland gang untergehen würde; allein damit, daß man bas 
Gute, was bie Idee der franzdfifchen Revolution bat, anerkennt und lobt, 
nimmt man nicht ihre Erceffe in Schuß und forbert nicht zu Revolutionen 
auf. Auch preußifche, ſehr Ioyale Yubliciften und Hiſtoriker haben jenes ſchon 
laͤngſt gethan und nachgewiefen, wie viel Deutfchland und aud Preußen ber 
franzöftfhen Revolution verdankt, und daß bie. franzdfifche evolution nicht 
blos als eine franzöfifhe, fondern als eine allgemein europäifche angufeben 
ift; vergl. darüber Steffen 8, d. gegenwaͤrt. Beit. 1817. &. 4W. Kr. 
Buchholz, Sourn. für Deutfhl. Berlin 1817. ©. 249. Rante, hift.>polit. 
Zeitſchrift. 1832. I, 81. Thilo, die Volksfouveränetät. 1833. &.82. Arndt, 
Schr. an f. lieben Deutfch. 1845. II. G. 83. 


5) Einer unferer berübmteflen Hiſtoriker, der Königl. Pr. Geh. Archivar 
u. Prof. K. A. Menzel in Bresiau, erzählt (Befchichte unferer Zeit ac. 
1. &. 296 f. der 3. Ausg. Berlin 1829): 

„In der Haupterfcheinung der franzdfifhen Revolution mit ihren 
Urfachen und Wirkungen fand der ruffifche Kaifer Paul nicht eine Aufforderung 
zur befonnenen Prüfung ber in den Monarchien’ eingeriffenen Mängel und Miß⸗ 
braͤuche, ſondern nur einen Gegenftand des Leidenfchartlichen Haffes, ter ſich 
mit Ungeflüm ganz auf das Aeußere und Zufällige warf. Weil kurz vor’ der 
Revolution die Strenge der Hofgebräuche überall nadygelaffen hatte und feit 
derfelben eine bequemere Kleidertracht unter den höhern und mittleren Ständen 
der europäifchen Geſellſchaft bie Altern fteifen Kormen verdrängt hatte, meinte 
Paul die Kraft ber meltverwirrenden Ideen dadurch zu brechen, daß er bie, 
Tnechtifchen Ehrenbegeigungen, bie vor Alters der Perfon und dem Palaſte bes 
ruffifchen Herrfchers hatten erwiefen werden muͤſſen, wieberberftellte, und runbe 

te, zopflofe Haare und lange Beinkleider zu tragen unterſagte!!“ 

Es tft merkwürdig, daß Paul's Beiſpiei damals auch von einem deut⸗ 
hen Yürften nachgeahmt ward, nämlich dem Kurfürften von Heſſen. In ber 
vor zwei Jahren erfchtenenen Biographie bes Buchbindermeifters Adam Henß 


614 Suizo’s politifehe Doctrinei. > 


Mahnung, daß es heutzutage „des Arms gelbter Steuerleute, d. h. Staats 
männer bedarf, welche in Geſchichte und Staatsrecht tief eingeweiht find, 
nit Fdeen fürdten und darauf ſchelten“, weil fie Ideen nicht faffen u. ſaw.). 
Beſonders aber ift, wie gefagt, eine richtige Anficht jener zwei Hauptrevolu⸗ 
tlonen umerläßlich — und in diefem Sinne theilen wir aus der Gulzot'ſchen 

« Einleitung folgende Haupeftellen mit: 


„Bor der Frangdfifhen Staatsumwaͤlzung war die englifche das 
öfte Greigniß in der Gefchichte Europas. Daß man bie fe und bie 
— eſſelben verkennen moͤchte, fuͤrchte ich nicht; unſere Revolution ſteht 
Wwar er, aber fie bat ber engliſchen nichts von ihrer Bebeutung ent: 
zogen. Es iſt ein zweifacher Sieg in bemfelben Kampfe und 
um Bortbeile berfeiben Sache: beiben ift berfelbe Ruhm gemeinfchaft- 
ich, fie heben einander wechfelfeitig und eine verdumfelt nicht bie andere, Du 
biefelben Urfachen herbeigeführt, durch ben Verfall ber Keudalarifto= 
Eratie, ber Kirche und ber Ebniglihen Gewalt, haben fie auf einen 
gleichen Zweck bingearbeitet, auf die Oberberrfchaft bes Volks in den Staatöver: 
eniffen; fie haben beide für die Freiheit gegen bie unumfchränfte 
Gewalt gekämpft, für Gleichheit gegen bie Bevorrehtungen, für 
ba Forefihreitende und allgemeine Intereffe gegen bas ftehende 
‚und verföntiche. Ihre Werhältniffe find verfchieben gewejen, ihre Kräfte 
Agleich; was bie eine beffimmt und Par aufgefaft, hatte bie andere mur 
net geahnt; bie eine bat ihre Bahn bis zum Ende durchlaufen, bie andert 
bald ftehen geblieben. Die eine hat auf ben Schlahtfeldern Ruhm einges 
erntet, die andere nur Niederlagen erlitten ; die eine bat in zügellofer Immo: 
— geſündigt, die andere durch Heucheleiz die eine war weiſer, die andert 
tächtiger, aber ber Unterfchleb Liegt allein in ben Mitteln und in bem Er: 
Folge“ Seit und Urfprung waren aleihz; die MWünfche, die Anftrengungen und 
das Boranfchreiten waren auf baffelbe Ziel gerichtet; was bie eine verfucht ober 
vollendet bat, das bat auch bie andere vollendet ober verſucht.“ — „Einer jett 
unter Bielen verbreiteten Anficht zufolge möchte es feheinen, als wären biefe 
Ummälzungen feltfame Begebenheiten, aus vorher unerhörten Grund: 
fäsen hervorgegangen und zu ebenfo unerhörten Zwecken ausgedacht ; Bege: 
benheiten,, welche die Gefellfehaft aus ihren alten und natürlichen Verhättnif: 
fen herausgefchleudert haben, Stürme, Erberfchltterungen, eine jener geheimniß: 
vollen Erfcheinungen, welche, losgebunden von den von Menfchen gekannten 
(Sefegen, unerwartet eintreten, wie das gewaltige Eingreifen ber Vorſehung, 
vielleicht zerftörend,, vielleicht auch neu gebaͤrend und verjüngend. Freunde und 
Gegner, Lobpreiſer und Zadler fprechen fich hierüber auf diefelbe Weife aus: 
nad der Meinung der Einen hätten diefe ruhmvollen Erfchütterungen zum ers 


in Weimar (Iena bei Frommann 1845. ©. 165) fteht Folgendes zu leſen: „In 
Kaffe, wohin ich nad ein Paar Zagen gelangte, gehörte ich eigentlich zu 
den Seltenheiten. Das ganze männliche Gefchlecht ging dort mit martialifchen 
Dreimaftern auf dem Haupte in der Stadt herum, ih fah nicht eine Perfon, 
mir gleich, mit einem runden Hute bededt und in Pantalons. Der da: 
malige Kurfürft war ein abgefagter Feind beider Kleidungsftüde.. Man er: 
zählte mir, er babe, um dieſe damals Mode gewordene Kleidung zu verbrän: 
gen, feine fAmmtlichen Züchtlinge mit runden Hüten, Pantalons und Halstuͤ— 
dern, in welchen das Kinn halb verftedt war, befleiden laffen. Diefer fpaß: 
hafte Kampf mit der Mode Eonnte fie wohl, da man dem Herrfcher möglichft 
nachgab, eine Zeitlang aufhalten, aber nichts weniger ald dauernd unter: 
drüden u. f. w. 
6) 3. G. Weider, von ftändifch. Verfall. 1831. S IX. 


Guizot's politifche Doctrinen, 615 


fien Male Wahrheit, Kreibeit, Gerechtigkeit in die Welt geführt; vor ihnen 
wäre nichts als Thorheit, Unbilligkeit und Despotenbrud geioefen ; ihnen allein 
verdanke bie Menfchheit ihre Rettung; nach den Anbern hätten diefe beweinens⸗ 
würdigen Greignifle ein langes Zeitalter der Weisheit, der Tugend, des Gluͤcks 
unterbrochen; ibre Urheber hätten @rundfäge aufgeftellt, Anfprüche erhoben und 
Gräuelthaten begangen, welche bis dahin ohne Beifpiel waren; in cinem Anfall 
von Wahnfinn wären bie Völker von der gewohnten Bahn abgewichen, ein Ab: 
grund habe fich unter ihren Küßen gedffnet. Auf gleihe Weife, fie preifend 
oder tadelnd, fie ſegnend ober ihnen fluchend, vereinigen fih alle Stimmen, 
um alles Andere biefen Staatsummälzungen gegenüber zu überfeben, um fie 
gänzli von ber Wergangenheit loszureißen, ſie für das Schidfal ber Welt 
verantwortlich zu machen, um fie allein mit Fluch ober Lob zu uͤberhaͤufen.“ 
„Ss ift indeffen an ber Zeit, von biefen trügerifchen und Einbifhen Re: 

den fich loszuſagen. — Weit entfernt, ben natürlichen Gang ber Begebens 
beiten in Europa zu unterbrechen, hat weber bie englifche noch unfere Staats: 
ummälzung je etwas gewollt, gefagt, getban, welches nicht Hundert 
Male vor ihrem Ausbruche fhon gewuͤnſcht, gefagt, gefhan ober 
verfuht worden. Sie haben die Ungefeglichkeit der unbefchränkten Gewalt 
aufgeſtelltz aber die freie Einwilligung zu Gefegen und Beſteuerung, bas Recht, 
mit den Waffen in ber Hand fich zu widerfegen, waren auch unter der Zahl ber 
verfaffungsmäßigen Grundfäge der Yeubalordnung und bie Kirche bat oft bie 
Worte des heit. Iſidor's wiederholt, welche wir in ben Beſchluͤſſen der vierten 
Synode zu Zoledo finden: „Der ift König, welcher fein Volk mit Gerechtig⸗ 
feit regiert, handelt er anders, fo foll er nicht mehr König fein.” Sie haben 
die Bevorrechtungen angegriffen unb darauf hingearbeitet, mepe Gleichheit in 
die gefellige Ordnung einzuführen; baffelbe haben bie Koͤnige in ganz Europa 
gethan und bis auf unfere Zage iſt bie Entwidelung der bürgerlichen @leichs 
beit auf die Belege gegründet worben und bat gleichen Schritt mit ber Aus⸗ 
bildung der Eöniglihen Gewalt gehalten. Sie haben gefordert, daß bie dffents 
lien Aemter allen Bürgern offen ftehen, daß fie nah dem Verdienſte gegeben 
und daß die Gewalt mit Öffentlicher Bewerbung zugetheilt werben folle: und 
diefes ift auch das Srundprincip der inneren Berfaffung ber Kirche, welches fie 
nicht allein geübt, fonbern auch beſtimmt ausgefproden hat. Man mag auf 
die allgemeinen Grunbfäge oder auf die Anwenbung derſelben in beiden Umwaͤl⸗ 
zungen Rüdficht nehmen, mag von ber Regierung bes Staats ober von der bür- 
gerlichen Geſetzgebung, von Eigenthum oder Perſonen, von Freiheit ober von 
ffentliher Gewalt bie Rebe fein, man wirb auf nichts ſtoßen, beffen Erfindung 

ihnen angeböre; nichts, das fich nicht fonft noch fände oder wenigftens in ben 
Zeiten ſich ausgebildet hätte, weiche wir gemöhnliche nennen. — Roc mehr: 
diefe Grundfäge, biefe Entwuͤrfe, diefe Kraftanftrengungen, welche fo ausfchlies 
ßend der englifchen und unferer Staatsummwälzung zugefchrieben werden, finb 
niht allein mehrere Jahrhunderte früher als fie dageweſen, fonbern ihnen 
verdankt auch die bürgerliche Gefellfchaft in Europa alle ihre Kortfchritte. Hat 
benn die Feudalariftotratie durch ihre Unordnungen, ihre Borrechte, buch 
ihre rohe Gewalt und die Unterbrüädung des Menſchen unter ihr Joch an ber 
Sntwidelung der Völker heil genommen? Das nicht, aber fie hat gegen die 
Zyrannei des Koͤnigthums angekämpftz fie hat ihr Recht, zu widerftehen, 
ausgehbt und die Gefege ber Freiheit erbalten. Warum haben die Wölter bie 
Könige gefegnet? Geſchah dies wegen ihrer Anfprühe auf ein von Gott 
flammendes Recht, auf eine unbeichränkte Gewalt, ihrer Verfchwendung, ihres 
Hofs wegen ? Nein, aber die Könige haben gegen die Keudalverfaffung, 
gegen bie ariftofratifchen Bevorrechtungen gekaͤmpft; fie haben in bie Gefehges 
Bund in die Verwaltung Einheit gebracht; fie haben das Auffireben nach 
Gleichheit unterftügt. Und was hat der Geiftlichkeit ihre Macht gegeben? 
Bis hat fie zur Bildung beigetragen? Etwa indem fie ſich von dem Wolfe loss 
fagte, fi vor der Vernunft bes Menſchen fürchtete, ober indem fie in dem 


616 Guizots politifche Doctrinen 


Namen des Himmels bie Tyrannei heiligte? Rein, aber fie hat ohne Un: 
ferfchich die Niebern und Hohen, die Armen und R en, die Schwa⸗ 
und die Gewaltigen in ihren Kirchen umb unter dem Geſetze Gottes verdi- 
€ hat die Wiffenfhaften geehrt und gepfle % ei geftifter, die 
reitumg des Sichts und „bie Zhätigkeit keit des Gei günftigt. — Man 
e bie Gefchichte ber Herren ber Belt; man inan — che den Einfluß der 
iebenen ee, welche über ihr Schickſal entfchieden haben: überall, we 
5 etwas Gutes darfeltt, wo ein dauernder Dank der Menfchen — = 
ag Dienft geleiftet worden, ba ift ein annähernder Schritt zu dem 

eiched die englifche Revolution wie die unfrige verfolgt bat; ba wird einer 
heiten Grund ſaͤtze je ge welche fie — zu machen ſuchten. — 

& Ale denn auf, fie als wibernatürliche Erfcheinungen in der @ef 


—S— man fpreche nicht mehr von * ten unerhoͤrten Anfprüchen, 
ifhen Ausgeburten: fie haben bie Bilbung in bemfeiben 


Er —— auf welchem fie ſich ſchon ſeit viergebm 
ahr underten befindetz ri haben fi zu Grundſaͤtzen bekannt, fie hate 
W b Pen DVerbefferun feines — 23 —— ttban, 
8 un ' 

Ks ei ichkeit, Abel und Könige mit Berbienft und Ruhm gekrönt bar 
Wir fügen dieſem noch eine Mittheilung aus einer der neueſten Reden 
Guizot's bei. Sowohl für die Theorie bes conftitutionellen Lebens ober 
Repraͤſentativſoſtems als für die Prar PH deſſelben ift bekanntlich bie Frage 
wichtig, od die Volksvertreter ſich von ihren Wählern vorfchreiben 
iſſen dürfen oder müffen, in welchem Sinn fie in gewiſſen Fällen zu voti- 
een haben? oder mit einem Worte: das Dogma von ben imperativen 
Mandaten oder ben bedingten Vollmachten. — Bekanntlich bat man «8 
bisher als einen mefentlihen Unterfchieb des conftitutionellen Spftems vom 
alten. feubalftändifchen angefeben,, daß bie Deputicten des erfteren Feine In— 
ftruetionen von Seiten ihrer Wähler annehmen bürfen, fondern (wie in ben 
meiften Gonftitutionen ausdruͤcklich vorgefchrieben) nur nach jedesmaliger ei: 
gener Leberzeugung zu flimmen haben, meil fie eben das ganze 
Volk, d. b.die allgemeinen ntereffen vertreten follen (vergl. Polig, 
das conftit. Leben S.97, Vollgraff, Politit IV. S. 407). Gleichwohl 
bat fich neuerdings in Srankreich eine entgegengeſetzte Praris gebildet, ins 
dem in den Wahlcollegien die Candidaten nur gewählt werden, wenn fie nicht 
nur im Allgemeinen ihr politifches Glaubensbekenntniß abgelegt (mas aud) 
in England auf den Hustings geſchieht7), fondern auch fpeciell fich verpflich: 
tet haben, für diefe oder jene Srage in diefem oder jenem Sinne zu ſtim⸗ 
men. Auch in Deutfchland hat man bereits feit Jahren in einzelnen 
Staaten dies nachgeahmt , jedenfalls ift diefe Sache eine höchft wichtige, eine 
wahre Lebensfrage für das Repräfentativfnftem, und deshalb jeder Beitrag 
zu einer verfländigen und verfländigenden Löfung derfelben gewiß von Intereſſe. 
In Frankreich iſt diefelbe öfters fhon „aufs Tapet“ (wie man bort, 
oder „auf den Ambos“, wie man in England, Beides fehr charafteriftifch, 
fagt) gefommen; im vorigen Jahre wiederum bei Gelegenheit der Prüfung 


7) Vergl. darüber Goede's England, Wales ꝛc. Bb. IT. S. 71; von 
Stael:Holftein über bie SEND. u. Rerwaltung Englands, überf. von 
Scheidler. © 238. 


Guizot's politiſche Doctrinen. 617 


ber Vollmacht eines Dir. Drault, der von feinen Wählern In Poitiers das 
bedingte Mandat, für die Wahlreform zu flimmen, angenommen hatte. 

In der Debatte, welche in der Deputirtenfammer zu Paris am 31. Aug. 
1846 hierüber vortam ®), ergriff nun auch Guizot das Wort. Er fagte im 
Eingange feiner Rede: „Die Frage von den bedingten Vollmachten If 
während der jüngften Berathungen fhon mehrmals angeregt worden; bie 
Kammer hat jedoch Feine Neigung gezeigt, darauf einzugehen es iſt freilich 
eine zarte, eine ſchwierige Frage; man kann fie nicht berühren, ohne zugleich 
unſere heiligften und theuerften Rechte mit zu berühren; fie muß darum mit 
Außerfter Vorſicht behandelt werben. Inzwiſchen iſt fie nicht zu umgehen, 
iſt ihre nicht auszumeichen: fie mird zu allen Zeiten in geoßen Verfammiuns 
gen angeregt werden. Die bedingten Vollmachten, ihre Begrenzung, bie 
Autorität ber Wähler, das Verhaͤltniß der Candidaten — alle diefe Punkte 
erfordern die genauefte Erwägung. Ich erkenne es für meine Pflicht, dar⸗ 
auf einzugehen und werde diefe Pflicht erfüllen mit dem tirfften Gefühl, wie 
ſchwierig die mir geftellte Aufgabe iſt, und mit der aufrichtigften Abficht, alle 
Rechte, die babei in Betrachtung kommen, zu reſpectiren, die Fretheit der 
Waͤhler und die Kreiheit der Minoritäten — mefentliche Rechte, auf deren 
Grundlage alle umfere Freiheiten beruhen.” Mach dieſem Vorwort, das bie 
gefpanntefle Aufmerkſamkeit erregte, entwidelte der Redner feine Theorie, 
wie folgt: „Meine Herren! Es ift das Verdienft, die Weisheit, ich möchte 
fagen die Schöne unferer Regierungsform, daß die abfolute Gewalt nirs 
gende darin gefunden wird; es giebt in unferen Inſtitutionen keine Macht, 
die das Recht hätte, ohne Discuffion, ohne Unterfuchhung zu fagen: „So 
ift mein Wille; diefes muß Geſetz werden.” Eine folche Macht wuͤrde die ab⸗ 
folute Gewalt befigen ; bei ung eriftiet fie nicht. So oft eine Frage zu loͤſen, 
eine Maßregel zu ergreifen iſt, kann die Frage nicht gelöft, die Maßregel nicht 
ergriffen werden ohne vorgängige Discuffion und freie Prüfung, freie Prüs 
fung im Schooße des Volks mittelft der Sreiheit der Preffe, im Schooße ber 
Regierumg felbft mitreift der Berathung bei den großen öffentlichen Gewalten. 
Ueberall bei und heften ſich freie Discuffion und freie Prüfung an alle Pros 
bleme, an alle Acte der Regierung; nichts wird möglich, nichts erlangt Ge⸗ 
ſetzeskraft, ohne vorher discutirt worden zu fein — discntirt aller Drten und 
von allen Staatsgenoffen. Dier liegt das Fundament unferer Regierung, 
hier der Sinn der drei großen Artikel der Charte: bes Artikels 7, der die Frei⸗ 
heit der Preffe einführt, des Artikels 16, der die Berathung und das freie 
Votum in den Kammern begründet, bes Artikeld 12, der Die Verantwortlich⸗ 
Eeit ber Miniſter -vorfchreibt. Hier liegen unfere Barantien gegen die zwei 
großen Gewalten — gegen (contre) iſt nicht das rechte Wort, ich follte Tagen 
in Bezug auf (envers) die zwei großen Gewalten — die unter verfchiedenen 
Formen und mit verfchiedenen Rechtsanſpruͤchen beide von jeder Verant⸗ 
wortlichkeit entbunden find: die Krone und die Wähler. Die Krone und 
die Wähler bezeichnen die Individuen, deren Zuſammenwirken die Negierung 
bildet. Die Wähler ernennen bie Deputirten, die Krone ernennt bie Palıs und 


8) Vergi. Frankf. Ober: Pofts Amts» Zeitung vom 6. Sept. 1846. 


‚618 Guizot's politiſche Döctrinen, 


die Dinifter; die Pairs, bie Deputirten, die Miniſter discutiren dann im aller 
Freiheit; aus ihrem gemeinfamen Handeln entfteht bie Reglerung; aber fie 
koͤnnen nichts thun, nichts entfcheiden, ohne freie und vollftändige Pruͤ⸗ 
fung, ohne freie und vollftändige Discuffion. So ift unfere Regierung. 
Meine Derren, das imperative Mandat zerſtoͤrt das Alles; es 
est den entfcheibenden Willen, die definitive Entfchliefung vor die Pi: 
ung, vor die Discuffion; es hebt die Freiheit der Prüfenden, der Discuti- 
senden auf; es giebt die abfolute Gewalt, das Recht, zu entfcheiden, Denen, 
bie nicht prüfen, nicht discutiren. Dies ift die wahre Wirkung des im- 
perativen Mandats: biefes Mandat fchafft die freie Regierung ab — 
c'est abolition du gouvernement libre. Was würde man fagen, 
wenn bie Krone ben Pairs, welche fie ernennt, imperative Mandate gäbe? 
Gewiß, Sie Alte würden in einem folhen Verfahren die Aufhebung der Frei: 
heit der Pairs feben. Ich bitte die Kammer, auf die Worte zu achten, de» 
ren ſch mid) bediene: ich fpreche von imperativen Mandaten (Boll: 
‚ ‚machten, in weldyen der Mandant dem Mandatar bindend vorfchreibe, wie 
er zu ſtimmen hat; — Vollmachten, die mit diefer Bedingung behaftet von 
dem Mandbatar angenommen worden find‘, deren Befolgung er auf 
Ehre augefagt bar); folherlei Mandate giebt die Kroneinie den Pairs ; 
bie Wahlcollegien können und follen deren ebenfo wenig den Deputirten geben. 
Thun fie es dennoch — miffen Sie, meine Herren, was dann die Wahl: 
collegien thun? Sie fegen die föberative Regierung an bie 
Stelle der repräfentativen Regierung. Die repräfentative Re- 
gierung befteht gerade in ber wunderbaren Vereinigung. dee Sympathie und 
der gegenfeitigen Freiheit der Wähler und der Gewählten. Giebt man die be- 
bingte Vollmacht zu, fo tritt, wie geſagt, die föberative Regierung an bie 
Stelle der repräfentativen und zwar gefchieht dies dann in der nachtheiligften 
Weiſe. Bei der föderativen Verfaffung geht doc der Ernennung der Man: 
datare in den einzelnen Staaten, welche fie aborbnen, eine wahre Prüfung 
der fchmebenden Fragen voraus: ed wird über die Dinge berathen, ebe 
man über die Perfonen entfcheidet. In Frankreich aber würde man, 
bei Zulaffung bedingter Vollmachten, den Wahlcollegien, die doch, nach 
Vorfchrift des Gefeges, nicht discutiren und prüfen, fondern nur Depus 
tirte wählen follen, abfolute Gewalt und volle Souveränetät einrdumen. 
Noch ein anderer Mißftand leuchtet in die Augen: mit dem imperativen 
Mandat wäre nicht nur die conftitutionelle Freiheit, fondern aud) 
die nationale Einheit aufgehoben; man würde 459 Heine Souveräne 
einander gegenüber ftellen; und was fol dann gefchehen,, wenn die binden: 
den Vollmachten, wie ed mehr ale nur wahrſcheinlich iſt, unter fid ab⸗ 
weichen? Sie Eönnen von dem Mandatar, der fein Ehrenmwort gegeben 
bat, fich fireng darnach zu richten, nicht modificirt werden; man müßte fie 
fomit immer an die Mandanten zurüdgeben; mas wäre das unders ale 
Anarchie, gouvernementale Machtlofigkeit, Zerftörung der conflitutionellen 
Steiheit, Auflöfung der Regierung?) — ' Scheidler. 


9) Im Verfolg der Rede mildert Guizot uͤbrigens die Schaͤrfe ſeiner 


Habsburger. 619 


8. 


Habsburger und ihre Politik, mdt befonderer Rüd: 
fiht auf Deutfhland. Es giebt Feine Dynaſtie in Europa, welche 
mehr vom Gluͤcke begünfligt worden wäre als die habeburgifche. Won klei⸗ 
nen unfcheinbaren Anfängen ausgehend hat fich diefes Gefchlecht in Kurzem 
zur Herrſchaft faft über die Hälfte der civififirten Welt emporgeſchwungen, 
und wenn diefe Epoche des Ganzes auch nicht fehr ange mwährte, fo hat es 
von diefer Zeit an doch niemals aufgehört, als eine Großmacht von Europa 
zu zählen und als folhe auf die Geſchicke dieſes Erdtheils einen mächtigen 
Einfluß zu üben. Wie gefagt aber, diefes Mefultat wurde weniger burd) 
den Geiſt und die Tüchtigkeit der einzelnen Kamilienglieber hervorgebracht, 
als vielmehr durch gluͤckliche Zufälle aller Art: meiftens durdy Heirathen, 
duch Erbfchaften erhielt das habsburgiſche Beſitzthum jenen ungeheuern 
Zuwachs, den es heut zu Tage noch inne hat. Als der Gründer der Größe 
des Daufes, Graf Rudolph von Habsburg, im Jahre 1273 zum deutfhen 
Kaifer gewählt wurde, beftanden feine Befigungen blos aus einigen Graf⸗ 
[haften in der Schweiz, im Breisgau und im Elſaß. Kaum aber war er 
Kaifer geworden, fo gelang es ihm, feine Hausmacht um ein Betraͤchtliches 
zu vergrößern. Durch den Sieg über ben König Ottokar von Böhmen, wel⸗ 
cher ſich während der Zeit des Zwifchenreiches auch der äfterreichifchen Lande 
widerrechtlich bemächtigt hatte und Rudolph als Kaifer nicht anerkennen, noch 
weniger Defterreich herausgeben wollte, wurbe eben dieſes Land erledigt, und . 
Rudolph ertheilte es ſofort feinem Sohne Albrecht 1283 als ein Lehen des 
Reiches. Es umfaßte damals bereits Defterreicd, ob und unter der Ens, 
Steyermark und Krain, und mochte ohngefähr ein Gebiet von 1200 U] 
Meilen betragen. Im Laufe des 14. Jahrhunderts vergrößerte fich das 
habsburgifche Erbe bereits um das Doppelte: 1335 kam Kärnthen hinzu, 
und zwar durch Reichsbelehnung, 1363 die Grafſchaft Tyrol durch Erbſchaft, 
1365 — 1895 die Grafſchaft Feldkirch, Breisgau, Pludenz, Hohenberg, 


Theorie. Waͤhrend er die imperativen Mandate verwirft, erkennt er doch 
das moraliſche Band an, das zwiſchen den Waͤhlern und den Deputirten, 
die ſie in die Kammer ſchicken, beſteht. „Die repraͤſentative Regierung in ihrem 
geregelten und wirkfamen Zuftande ift nur möglich durch die Bildung und das 

ebeneinanberbefteben großer politifher Parteien und biefe Parteien 
find nur moͤglich durch treues Halten an politifhen Verpflidhtuns 
gen. In biefen Verpflichtungen liegt das Band zwifchen Wählern und Gewähls 
ten.’ Es ift aber ein Unterfchied zwifchen der Verpflichtung, bie moralifch 
bindet durch Gemeinſamkeit der Anfichten und Meinungen, und ber politifchen 
Knechtſchaft, die mit dem imperativen Mandate verknüpft if. Die Schwie- 
rigkeit beftebt in der Betimmung ber Grenze. Sie ift auf dem Yuntte zu fins 
den, wo der unbebingte Einfluß ber Wähler aufhören muß, wenn die Gewaͤhlten 
ihre freie Bewegung behaupten follen. 


620 Habsburger, 


Laufenburg durch Kauf, 1374 die Goͤrziſchen Güter in Krain durch Erb⸗ 
vertrag, 1380 Trieſt durch Unterwerfung. Die vielfachen Thellungen wäh: 
rend des 14. umd 15. Jahrhunderts fhienen nun allerdings die Maffe ber 
habsburgifhen Güter wieder zerfpfitteen zu wollen; allein Marimilian L, 
der deutſche Kaifer (+ 1518), brachte die verſchledenen Beſtandtheile alle wie: 
der zufammen, und fügte auferbem noch neue, höchft bedeutende Erwer⸗ 
bungen hinzw. 1500 erwarb er durch Erbvertrag die Graffchaften Goͤrz und 
Gradisca, 1503 im Frieden niit Baiern die Städte Kufftein, Kitzbuhel, 
Rattenberg und andere Bebietstheite im heutigen Tyrol, endlich durch feine 
Bermählung mit Maria von Burgund, der einzigen Tochter Karl’ bes 
Kühnen, erwarb er die Miederlande, welche allein ein Gebiet von 1436 II 
Meiten betrugen. Wald aber follte die Größe des Haufes noch einen höheren 
Auffhwung nehmen: denn ber Sohn Mapimilian’s und Maria’s, Philipp 
bee Schöne, heirathete Johanna von Caſtilien, das einzige Kind Ferdi— 
nand’s von Aragonien und Sfabella’s von Caftilien und fomit die einzige 
Erbin der gefammten fpanifchen Monarchie. Philipp der Schöne ſtarb zivar 
ae 1507: allein er hatte Söhne hinterlaffen , welche bie unge 
were Erbſchaft antreten Fonnten. | Di 
unter Katl V,, dem aͤlteſten Sohn Philipps des Schönen, Enkel 
Marimilian’s, feit 1519 deutfcher Katfer,; fchien wirklich das Haus Habe: 
burg auf dem Wege nach einer Untverfalmonardyie zu fein. Es beſaß Spa- 
nien, Neapel, Steilien, außerdem bie amerikaniſchen Länder, fobann bie 
Miederlanbde, bie alten habeburgiſchen Güter in Schwaben, Oeſterreich, Kaͤrn⸗ 
then, Krain, Steyermatk, Tyrol. Zu diefen ausgedehnten Befisthüimern 
famen endlich noch, feit 1526, zwei höchft wichtige Zander, nämlich Boͤh— 
men-und Ungarn. Auch diefe waren durch Heirath erworben worben, in 
ſofern als Ferdinand, der Bruder Kaifer Karl's, die Anmartfchaft auf beide 
Kronen von der Schwefler des legten Könige, welche feine Gemahlin mar, 
berleitete. : 

Diefe große Länbermaffe blieb allerdings nicht beifammen. Das Haus 
Habsburg theilte fi nach der Abdankung Karl’ 1556 in zwei Linien, in 
die beutfche und in die fpanifche. Die legtere befam die Niederlande, Spa: 
nien, Neapel und Sicilien, Mailand und bie außereuropäifchen Länder: fie 
ift aber bereits 1700 mit Kart Il. ausgeftorben. Die deutfche Linie, mit 
welcher wir es hier allein zu thun haben, behielt fammtliche deutfche Laͤn⸗ 
der. Sie bat zwar im Laufe des 17. Jahrhunderts Kiniges verloren; fo 
mußte fie 1621 die Laufis an Kurfachfen abıreten, 1648 einige Stüde im 
Etſaß, Sundgau und Breiſach an Srankreih. Dafür aber wurde im 18. 
Sahrhundert Virles gewonnen: 1713 im Utrechter und Raſtadter Frieden 
Mantua; 1714 die fpanifchen Niederlande, Mailand, Neapel und Sici— 
lien (welches legtre freilich 1735 wieder verloren ging), Pavia und Piacenza; 
1718 im Paffaromwiger Frieden das Banat, Serbien, die Walachei bis an 
die Aluta, die türkifchen Antheile von Stavonien und Bosnien: Serbien 
und bie Walachei gingen freilich im Belgrader Frieden von 1739 wieder 
verloren. Nichts defto weniger hinterließ Karl VI. bei feinem Tode 1740 
feiner Tochter Marin Thereſia ein Gebiet von 10,200 [JMeiten: unter 


v 


u 1 


Dabsbusger. 61 
Leopold I. (+ .1705) war bie Öfterreichifche Monarchie nur 900 D Mes 
len groß. 

In der erften Zeit von Maria Thereſia's Megierung wurde nun aller 
dings Einiges eingebüßt: fo 1742 und 1763 ein Zhell von Schlefien und 
der Grafſchaft Glaz an den König von Preußen, 1743 einige Theile von 
Mailand, die Herzogthümer Parma und Pincenza. Dagegen wurde erwor⸗ 
ben 1772 Galizien, Lodomerien und die Bukowina, das Innviertel und 
einige Parzellen in Deutfchland, wie Ortenau, Falkenſtein, Zettnang, fo 
daß die gefammte oͤſterreichiſche Monarchie zu einem Umfange von 11,680 U) 
Meilen angewachſen war. Unter Stanz I., in ben untuhigen Zeiten der 
franzöfifhen Revolutionskriege, verlor die Monarchie wiederum fehr Vieles, 
naͤmlich Mailand, Mantun, die Niederlande, Tirol und Vorarlberg, Vor: 
deröfterreich, Weftgalizien, einen Theil von Dityalizien, Salzburg und Berch⸗ 
tesgaden , das Innviertel, einen Theil vom Hausruckviertel, Kaͤrnthen, Krain, 
Goͤrz, Trieſt: gewann aber bei dem allgemeinen Frieden alle dieſe Provins 
zen wieder, mit Ausnahme der Riederlande und Vorderoͤſterreichs, und ers 
bielt dazu noch das venstinnifche Gebiet, Iſtrien, Dalmatien, Salzburg, 
Mailand und Mantua, die Salzwerke von Wieliczka und den Zarnopoler 
Kreis Saltziens. Ganz Oefterreich betrug nun 12,167 DMeilen*). 

Zu diefem umfaffenden Befigthum, das an Ausdehnung nur von einem 
einzigen europaͤiſchen Staate übertroffen wirb, an inneren Hülfsmitteln und 
Bortrefflichkeit der Natur aber keinem etwas nachgiebt, Fam nun noch bie 
deutfche Kaiſerwuͤrde, welche feit dem Jahre 1437 faft ununterbrochen — 
nur 1742 — 1745 ift der Thron von einem Baiern, Kart VIL., befegt ge 
weſen — bei dem Haufe Habsburg geblieben iſt. Auch das war ein Gluͤck, 
deſſen fich Leine andere Dynaftie rühmen konnte. Denn kein einziges beut- 
ſches Haus, von den Sachſen an bie zu den Luxemburgen, faß länger als 
obngefähe ein Jahrhundert auf dem deutfchen Kaiferthrone, während die 
Habsburger denfelben über vierthalb Jahrhunderte inne hatten. 

Behält man nun diefes Im Auge und wirft man fobann einen Blick 
auf die geographifche Lage des habsburgiſchen Befisthums, fo ſtellt fi Einem 
unwillkuͤrlich die große Aufgabe vor, zu welcher das Schickſal dieſes Geſchlecht 
berufen zu haben ſcheint. Es war eine doppelte. Einmal follten bie Habs⸗ 
burger, unterftügt durch eine Hausmacht, welcher Bein anderes beutfches 
Fuͤrſtenhaus gleich am, und durch einen jahrhundertelangen ununterbroches 
nen Befig der Kaiſerwuͤrde, die Einheit Deutfchlande erhalten, Eräftiger be⸗ 
feftigen, und auf ſolche Weiſe den fehnlichften Wunfc der deutfchen Nation 
erfüllen. Zweitens mar ihre Aufgabe, den Orient mit deutfcher Bildung 
zu befruchten , ihn zu Deutfchland in ein freundliches Verhaͤltniß zu fegen, 
ihm zu diefem Reiche Intereſſe einzuflößen, und auf diefe Weife ben ger 
manifchen Einfluß für immer und ewig an den Geftaden der Donau herr 
fhend zu machen. 


Dt. er ben alwat en Anmadhe ber „oferreichifhen Monarchie 
m . vos Ö n er, e 7 ⸗ 
——E»———— —* GV d Feſchichte ber Ofen 


622 " Habsburger. 

Es ſcheint jedoch, als ob die Habsburger biefe ihre Aufgabe entweder 
nicht begriffen oder doch nicht zu Löfer verftanden hätten. Sehen wir zunaͤchſt, 
ob und in wiefern fie dazu befähigt gemein. Werfen wie demnach zuerft 
einen Blid auf den Geift diefes Haufes. Zwar iſt innerhalb der Familie, mie 
bel jeder anderen, Mannichfaltigkeit und Verſchiedenheit nicht zu verfennen, 
welche durch die Befonderheit der Individwalitäten bedingt ift, und deshalb 
möchte es auf den erften Blick gewagt erfcheinen, uͤber eine ganze Dynaftie 
ein Urtheil zu füllen. Nichts defto weniger geht ein Grumdzug durch die 

ſſammte habsburgifche Familie hindurch, welcher nur in einigen wenigen 

dern Ausnahme erleidet und der es eben daher erlaubt, diefelbe im 
"Allgemeinen zu charakteriſiren. 

Den Habsburgern ift Verftand keineswegs abzufprechen. Er findet 
fidy vielmehr bei ihnen häufiger wie im den Gliedern anderer Dynaftien: ja 
ſelbſt ſolche Individuen, die fonft als unbedeutend erfchienen, find es doch von 
Seite des Verftandes nicht gemefen; manchen Gliedern der Familie iſt in die⸗ 
- fer Beziehung Unrecht gefchehen. Allerdings ift diefer Verſtand von einer 
eigenen Art: ich möchte ihn einen hausbadenen Verftand nennen, der nur auf 
das Naͤchſte gewöhnlich gerichtet, aber nicht daran denkt, einen höheren Flug 
zu nehmen. Demgemäß ift audy ber Charakter ihrer Politif. Sie feinen 
ihr großes Reich als ein Eonglomerat von Landguͤtern zu betrachten , zu wel⸗ 
cher Anfchauungsweife allerdings die Art des Zuſammenkommens berfelben 
und die eigenthuͤmliche Befchaffenheit ihrer verfchiedenen Elemente berechtigen 
zu Können ſcheint. Es tritt in ihnen das Element des eriverbenden, zuſam⸗ 
menbhaltenden forgfamen Dausvaters hervor, der aus feinen Gütern fo viel 
wie möglidy pecunidren Bortheil zu ziehen fucht, und der Überhaupt darein 
das Endziel feines Lebens und feine Beftimmung fest. Etwas wahrhaft: Ges 
niales ift der habsburgiſchen Dpnaftie fremd. Sie hat daher während ihres 
mehr als fünfhundertjährigen Beftehens eigentlich nur zwei wahrhaft aus: 
gezeichnete Geifter hervorgebracht; es ift dies Marimilian Il. im 16. und 
Sofeph IT. im 18. Jahrhundert. Diefe beiden Männer wurden aber von 
ihrer eigenen Familie fo fehr als Anomalien betradhtet, daß die folgenden 
Geſchlechter ſich alle Mühe gegeben haben, das, mas beide Schönes, Bro: 
es und Geiftvolles ausgeftreut, mit Stumpf und Stiel wieder auszurotten. 

Große weltumfaffende Ideen kamen daher in den Habsburgern nicht 
auf. Es mochte dies feinen Grund außer in der natürlichen Geiſtesanlage 
auch noch in einer gewiffen Zrägheit des Willens haben, welche den Habe: 
burgern nicht minder angeboren ifl. Sie lieben es nicht, activ zu Werke zu 
gehen, in den großen Verhältniffen die Snitiative zu ergreifen, fondern fie 
loffen die Dinge an ſich kommen, und fhreiten nicht leicht eher zum Dan- 
dein, als bis fie müffen. Sie find daher eigentlich nicht Eriegerifcher Natur; 
es ift keineswegs ein heidenmäßiges Geſchlecht und die allermenigften ihrer 
Befigungen find durdy Eroberung gewonnen oder audy nur durch Waffen: 
gewalt behauptet worden. Man wird daher den Habsburgern nicht vor: 
werfen Eönnen, daß fie darauf ausgegangen feien, den Srieden von Europa zu 
ftören, um in der allgemeinen Verwirrung ſich zu bereichern, fo begierig fie 
auch jede Gelegenheit ergreifen, um auf friedlihem Wege ihrer Krone neue 


Habsburger. * 633 


Edelſteine hinzuzufügen. Auf der anderen Seite hat aber auch jene Kraft 
ber Traͤgheit raſche heilfame zeitgemäße Drganifationen Im Innern des weits 
Schichtigen Reiches gehindert. Sie ließen auch hier die Dinge gehen, wie fie 
gingen, wenn etwa die Einführung eines neuen Syſtems zu viel Mühe ges 
macht oder auf entfchiedenen Widerftand von Seite der Mächtigen geftoßen 
wäre. Wo diefer fich geltend machte, hat immer die Thätigkeit der Habs⸗ 
burger aufgehört. Man fieht daraus ſchon, worauf eigentlich der Conſer⸗ 
vatismus der Habsburger beruht; es iſt nichts Anderes als die Kraft der Träg: 
heit, welche nirgends anders, außer vielleicht in China, ftärker ift, aber 
auch nirgends fonft fo viel Nahrung erhält als gerade in Oeſterreich. Daher 
bier die Erſcheinung von fo viel Flickwerk, von fo viel politifchen Lappen 
und Flecken, die Gott weiß mie viel Jahrhunderte alt find, und nur des⸗ 
halb beftehen, weil fie zufällige Weife mit der Gewalt der Dynaftie noch 
nicht in feindliche Berührung gekommen find. 

Nur in einem Stüde haben die Habsburger in der That große Thaͤtig⸗ 
keit entfaltet, zwar auch nicht in gewaltigen Schlägen, fondern unvermerft 
und fucceffive, naͤmlich in dem Beſtreben, die Kraft der Traͤgheit zu dem 
herrſchenden Princip in ihren Völkern zu machen, und hier gelangen wir 
denn zu einer neuen Seite ihres Charaktere. Es ift eine pſychologiſche 
Erfahrung, daß derjenige, welcher Ruhe und Behaglichkeit liebt, die entges 
gengefegten Elemente um ſich herum nicht recht leiden mag, hat er die Macht, 
fie von ſich abzumeifen, fo wird er es thun. Die Habsburger, als folche 
Charaktere, die nicht gern aufgeregt find, fondern fid) am liebften in dem 
gewohnten Gleiſe einer beflimmten Thaͤtigkeit bewegen, waren daher von 
jeher gegen ein lebendiges, wechſelvolles, feuriges Volksleben eingenommen, 
und von Albrecht J. an haben fie ſich demſelben feindfelig gezeigt, wenn es ihnen 
auch erſt in fpdteren Jahrhunderten gelungen ift, die unliebfamen freien 
politifchen Inflitutionen aus dem Wege zu räumen. Es iſt für fie fehr cha⸗ 
rakteriftifh, und hängt mit dem in Rede Stehenden zufammen, daß fie eis 
gentlich niemals große Staatsmänner gehabt haben. Natuͤrlich verftche ich 
unter einem großen Staatsmann nicht einen in den Künften der Intrigue, 
des Wortbruchs, der Treulofigkeit bewanderten Diplomaten, fondern einm 
Mann, der die ewigen Grundfäge des Rechts, bie Beflimmung feiner Nas 
tion, den Geiſt feiner Zeit aufzufaffen und darnach zu handeln weiß. Wie ges 
fagt aber: dergleichen Staatsmänner zählt Defterreich fehr wenige; nicht, als 
ob fie nicht vorhanden geweſen wären (das oͤſterreichiſche Volk fleht an guten 
Anlagen keinem anderen deutfhen Stamme nady): nein! fie find abfichtlich 
nicht in die Nähe des Thrones gerufen worden. Denn ein gewaltiger Geiſt, 
verbunden mit einem tüchtigen Charakter, an der Spige der Staatsverwal⸗ 
tung, ſchien nicht minder gefährlicy ale das Princip der Freiheit felber. ind 
ja eben deshalb die befferen einſichtsvolleren Prinzen biefes Haufes abfichtlich 
von der Zheilnahme an den Staatsgefchäften abgehalten worden, weil man 
ihre Einwirkung in liberalerem Sinne fürchtete. Auch war für die Art von 
Police, wie fie die Habsburger übten, in der That kein hervorragendes Ta⸗ 
lent nöthig. Denn dieſe war eigentlich nur darauf berechnet, niederzus 
halten, zu befchneiben, zu unterbrüden, nicht neue Schöpfungen hervor 


624 . .* Habsburger 


— und neue Entwickelungen anzubahnen. Jenes aber vermag auch 
— Kopf, wenn er nur das Talent der Intrigue beſitzt. Eben 
ſolche Köpfe aber waren den Habsburgern recht; denn fie entgingen dadurch 
bee Moͤglichkeit, von ihnen beherrfcht zu werden , tie dies in anderen Mon: 
ien fo häufig der Kal war. In ber That, bie Habsburger ‚find viel mer 
niger von ihren Miniftern abhängig geweſen als vielleidyt jede anbere Dy⸗ 
naftie in Europa: vielleicht war aber aud) Feine fo eiferfüchtig auf die Bewah⸗ 
zung ihrer perfönlichen Selbftftänbigkeit. Dies gilt bis auf die * Zeiten 
herunter. So iſt es z. B. unrichtig, wenn man behauptet, der letzte Kaiſer 
fei von feinem Staatskanzler beherrſcht geweſen: Franz I. war vielleicht eben: 
fo felbftftändig wie Joſeph II., und gewiß hat fein erſter Minifter nie etwas 
von Wichtigkeit gethan, wozu nicht Franz entweder den Anſtoß gegebem ober 
feine volllommenfte Auftimmung ertheilt hätte. 

Die Politik der Habsburger alfo ihren Völkern gegenüber iſt Des potis⸗ 
mus. Und dieſe Politik wurde von ihnen angewendet, weil fie ihnen bie be⸗ 
quemfte fhien. Um den Unannebmlichkeiten zu entgehen, welche bie und 
ba ein frifches freies Volksleben den Machthabern gegenüber hervorbringt, 
haben fie es für beffer gefunden, lieber den Merv dieſes Volkslebens ſelbet 
zu unterbinden. Sie haben baher all’ ihr Augenmerk darauf gerichtet „ben 
Geiſt zu unterbrüden, wo und in welcher Geftalt er fich zeigte, und. an bie 
Stelle deffelben Verdummung, Sinnlichkeit und Materialismus.zu f 
Daher ift ihre furchtbarer Haß gegen die Reformation und die unausgefegte 
Verfolgung des Proteftantismus in ihren Ländern zu erklären. 

Diefes Spftem der Habsburger, welches die unpartelifche Gefchichte 
ruͤckſichtslos zu enthüllen die Aufgabe hat, würde gewiß nicht in em Maße 
reuffirt haben, wie es in der That der Fall war, wären ihnen nicht andere 
Momente zu Hüffe gefommen, melde wiederum in ihrer Perſoͤnlichkeit 
ihren Grund hatten. Sie wurden ndmlidy einmal durdy jenen oben bereits 
erwähnten hausbadenen Verſtand unterflügt, der ihnen hier einen gewiſſen 
Takt in der Verfolgung ihrer Plane vorzeichnete. Sie fielen nicht leicht mit 
der Thuͤr ins Haus, fondern unterhöhlten allgemady den Boden, auf dem 
fie ihre Nege ftellten; trafen fie unvermuthet auf Widerftand, wie z. B. in 
den Zeiten des Mittelalterd und noch im 17. Jahrhundert, fo zogen fie ſich 
wohlweislich zuruͤck, um ihre Verſuche auf paffendere Zeiten zu verfparen. 
Sodann befaßen fie bei alem Mangel an wahrhaft großen Eigenfhaften , die 
fie als Helden oder Genies hätten erfcheinen laſſen koͤnnen, doch einige, welche, 
von ihnen auf das Beſte benust und zur Schau geftellt, jene anderen recht 
gut, wenigſtens für ihre fpeciellen Zwecke, zu erfegen vermocten. Dahin 
gehörte eine gewiſſe Zähigkeit des Willens, welche, obſchon häufig mit 
Eigenfinn gleichbedeutend, denn doch in ihren Aeußerungen und ihren Refuls 
taten fehr oft mit Charakterfeftigkeit verwechfelt wird, namentlich bei regie— 
renden Häuptern. Diefe Zähigkeit ift ein Grundzug der Habsburger ; ſelbſt 
die ſchwaͤchſten Charaktere unter ihnen befigen fie; weshalb fie niemals, felbft 
unter den fchlechteften Ausfichten, fi und ihre Sache gaͤnzlich aufgegeben 
haben; hundertmal zu Boden gefchlagen, ftanden fie, wenn aud) gekruͤmmt 
und gebuͤckt, bennod) wieder auf. Es liegt in diefem Zuge etwas Altrömifches, 


Habsburger. 625 


wenn man will, etwas Großes. Dan kann ſich wenigftens denken, wie ein 
Volt, das Fürften mit ſolch vnverwuͤſtlicher Lebenskraft an feiner Spige 
fieht, eine Anhänglichkeit an fie gewinnen kann, welche im Laufe der Jahrs 
hunderte zur Treue und zur Ergebenheit führen muß. Und gewiß haben bie 
Habsburger diefim ihrem Familienzuge einen großen Theil ihrer Popularität 
zu danken. 

Noch mehr unterflügte fie aber ihr perfönfiches Auftreten, ihre ganze 
Haltung der Geſellſchaft gegenüber. Die Habsburger alle haben etwas Volke: 
mäßige® an ſich; fie befigen ein wahrhaftes Talent, mit dem Volke zu vers 
Echren und bei demfelben freundliche Eindruͤcke zuruͤckzulaſſen. Schon bie 
Gefchichte von dem Emporkommen diefes Haufes trägt einen volksmaͤßigen 
Charakter. Der Graf von Habsburg, ein Heiner unbedeutender Herr, der 
ſich noch um feine Habe herumfchlagen muß mit feinen Zeinden, ber es nicht 
verfchmäht,, in bie Dienfte einer reihen Stadt zu gehen und als Feld⸗ 
hauptmann die Truppen derfelben anzuführen, dann durch feine perfönliche 
Züchtigkeit zum deutſchen Koͤnigsthrone gerufen, in diefer neuen Stellung 
aber darauf bedacht, überall Ruhe und Ordnung und Sicherheit herzuftellen, 
dadurch ein Förderer und Unterſtuͤzer des fleißigen betriebfamen Bürger 
thums — was iſt das für eine prächtige Figur, durchaus für das Volk bes 
rechnet! Die Habsburger haben nicht verfäumt, ben Ahnherrn für ſich aus 
zubeuten , und bie vollsmäßigen Beziehungen ihrerſeits fortzufegen. Die un« 
mittelbare Berührung zrolfchen dem Throne und dem Volke bat baher in 
Deſterreich nie bergeftalt aufgehört wie anderwärts: es hat in Wien nie ein 
fo fteifes Hofceremoniel beftanden wie in Verſailles ober in Madrid; bie 
Katfer und bie Prinzen haben mit dem Wolke immer dazwiſchen verkehrt, 
haben in feiner eigenen Sprache mit ihm geſprochen, find in feine Ideen 
und Vorftellungen eingegangen. Sa, fie haben abſichtlich manchmal einen 
gewiffen Cynismus affectirt. Diefes vollemäßige Benehmen war für bie 
Habsburger von unbefchreiblihem Vortheile. Denn durch diefe ihre per⸗ 
fönliche Freundlichkeit hoben fie die ſchlechte Wirkung , weiche ihre politifchen 
Maßregeln machten, größtentheil® wieder auf; fie verzuckerten baburch gleich⸗ 
fam die bitteren Pillen, welche das Öfterreichifche Volk zu verfchluden gezwun⸗ 
gen ward. Ja, es ftellte fi) nun ohngefähre die Meinung bei dem Wolke 
feſt, daß fo freundliche liebevolle Herren es doch nicht 656 mit Ihren Unters 
thanen meinen könnten und daß die ſchlimmen Streiche, welche gefpielt wärs 
den, doch nur von den Miniſtern und den Mäthen ausgingen, und baß bie 
guten Herren wahrfcheinlich um den größten Theil des Böfen, was gefchähe, 
gar nichts müßten. Uebrigens benimmt die Möglichkeit eines freieren pers 
fönlihen Verkehrs mit dem Monarchen (mie fehr auch diefer nur auf ben 
Schein berechnet fein mag) dem Abfolutismus einen großen Theil feiner 
ſchlechten Wirkung. Dan wird zugeftehen muͤſſen, daß jener bekannte Aus» 
ſpruch des Tyrolers gegen ben Erzherzog Johann („bu bift ebenfo ein 
©..... z, wie bein Bruder, bee Kalfer: man Bann ſich auf einen von Euch 
verlaffen”), auch nur als Factum betrachtet , feine Bedeutung hat. Die 
Habsburger kennen bas: fie opfern deshalb gern den Schein, den fie dem 
Volke laffen, um die Realität für ſich felber zu bewahren. 


Suppl. z. Staatslex. U. AU 


u „Die Habsburger une, ihre Volksthuͤmlichkelt auch noch als ‚gute 
Menſchen, als Famillenvaͤter u. ſ. w. zu vergrößern. cheet, 
wird man finden, daß es damit nicht ſeht weit her iſt. Schon im 14. Jaht⸗ 

hundert ſind die Streitigkeiten jwifchen.den einzelnen Gliedern der Familie 
ausgebrochen ; noch ärger find bie, welche am Schluffe des 16. und Anfang 
des 17. Jahrhunderts efunden, unter den Kaiſern Rudolph Il, und Ma- 
thias. Dben haben wir bereits bemerkt, wie aus Eiferfucht gegen bie nad 
gebornen Prinzen diefe legteren von den Regierungsgefchäften ausgefchloffen 
worden; bie Regierung des legten Kaifers iſt befonders reich: an dergleichen 
Vorkfommenbeiten. Uebrigens haben fie auf Strenge ber Sitten von jeber 
meht gehalten als jeber. andere Hof von Europa: die Liederlichkeit wurde 
in Wien niemals fo zur Schau geteagen wie in Verſailles. Und auch biefet 
verlieh der Eaiferlichen Familie etwas Bürgerliches, Volksmaͤßiges. 
Faſſen wir numall dieſe Züge des Haufes Habsburg zufammen und ver- 
gleichen: wir fie mit ber oben angedeuteten Aufgabe, melde das Schickſal ihm 
geftelle zu haben ſcheint, fo mäffen wir von vornherein zu dem Refultate gelan- 
gen, bag es für diefelbe nicht gefchaffen war. Dafuͤr hätte es mehr Joralet 
in feinem ganzen Naturelle haben muͤſſen. Der Grundzug der Habsburger 
aber ift Egoismus. Höhere, außer dem Bereiche ber Subjectivitaͤt Liegende, 
Intereſſen kennen fie nicht. Begeifterung für eine große Idee, Aufopferung 
für,diefelbe, felbft der Ehrgeis, ein rs unrühmlicyes Blatt in ber Gefchiche 
einmal auszufüllen, wie ihn manche Eroberer gehabt haben, iſt ihnen fremd 
Die Habsburger haben daher ihre hoͤchſt guͤnſtige Stellung weder für bie ein 
noch für bie andere der beiden Aufgaben , die fie zu löfen hatten, benutzt 

Betrachten wir zuerft das Eine: ihr Berhältniß zu Deutfchland, ibt 
Bemühen für die Erhaltung und Befeftigung der Einheit des Reiches. Hier 
nimmt nun allerdings der Ahnherr des Haufes, Rudolph von Habsburg, 
eine ehrenwerthe Stelle ein. Es iſt befannt, wie diefer Kuifer nach einer 
mehr denn zmanzigjährigen Anarchie wieder Ruhe und Ordnung in unferem 
Baterlande herſtellte und duch fein wahrhaft volksthuͤmliches Walten die 
Gemüther wieder mit dem deutfchen Kaiferthrone befreundete. Auch wollen 
wir e8 ihm keineswegs zum Vorwurfe machen, daß er gleich die erfte Ge 
legenheit benugte, um feine Hausmacht zu vergrößern; denn ohne eine folde 
wäre es einem Kaifer, wie damals die Sachen ftanden, nun und nimmermehtr 
moͤglich gemefen, etwas Erfprießliches für Deutfchland zu thun. Aber gleich 
in Rudolph's Sohne Albrecht I. nimmt diefes Streben einen anderen Cha: 
rakter an. Es geftaltet ſich nun zu unerfättlicher Laͤndergier: dieſe wird 
und bleibt nun bag legte Ziel des habsburgifchen Haufes, und anftatt daß die 
Hausmacht von ihnen nur als Mittel benugt wurde, um das Reich zu fra 
tigen und zu erweitern, wurde umgekehrt von ihnen immer die Kaifermürde 
als Mittel zur Verfolgung ihrer felbftfüchtigen dynaftifchen Entwürfe auf 
gebeutet. Gleich diefer Albrecht brachte dadurch Alles gegen fi auf. Zuerſi 
wollte er die thüringifchen Lande an fein Haus bringen; wie diefes mißglüdte, 
fo wandte er fein Augenmerk auf die Schweiz. Es ift befannt, wozu diefes 
führte. Die Schweizer erhoben fich gegen das Haus Oeſterreich und haben in 
zweihundertjährigen Kämpfen ihre Selbftfländigkeit zu behaupten gewußt. 


Habsburger. 037 


Aber fie gingen in Folge davon für das beutfche Reich verloren. Diefen 
Verluſt haben wir dem Haufe Habsburg zu banken. Weber ein Jahrhundert 
nad; Albrecht I. blieben die Habsburger vom deutfchen Throne ausgeſchloſſen. 
Wie fie nun wieder zu demſelben berufen murben, fo zeichnete fich gleich Die 
Regierung des zweiten Kaiſers aus diefem Haufe, nämlich Friedrich's LIE. 
(Albrecht II. faß nur von 1437 — 1440 auf dem deutichen Throne), durch 
ihre geenzenlofe Schwäche aus. Diefer Fürft hat durch feine Laͤſſtgkeit und 
Unfaͤhigkeit wefentlich mit dazu beigetragen, daß die deutfchen Geſchicke eine 
fo unerfeeuliche Wendung genommen. Damals war in unferer Nation nach 
allen Seiten hin ein neues frifches Leben erwacht; fie mollte eine größere 
Einheit des Reichs, eine energifchere Stellung bes Kaiſerthums, Unabhäns 
gigkeit im Birchlicher Beziehung vom Papfte, und bot zur Erreihung aller 
diefer Dimge die bedeutendften Hilfsmittel dar; der britte Stand, für uns 
fere Kaiſer immerdar die befte und die ſicherſte Stuͤtze, tft niemals bedeu⸗ 
tender, mächtiger, zahlreicher geroefen. Dennoch geſchah ımter riedrich IH. 
gar nicht für die Entwidlung der allgemeinen deutſchen Angelegenheiten: 
ja, «8 hat ſich unter feiner Regierung Alles einer größeren Auflöfung gends 
hert. Er ließ die fchönfte Gelegenheit, welche ihm das Baſeler Concillum 
bot, um dem Papſte gegenüber eine unabhaͤngigere Stellung ſich zu erkaͤm⸗ 
pfen, ungenugt voruͤbergehen; ja, er befsfligte die Unterwuͤrfigkeit Deutſch⸗ 
lands unter den römifchen Stuhl nur nody mehr. Ebenfo ſchwach bmahm er 
ſich gegen die deutfchen Fuͤrſten. Diefen erlaubte er, ihre Landeshoheit im⸗ 
mer entfchiedener auszubilden und fi) von der Einheit des Reichs mehr 
und mehr zu entfernen. 

Sein Sohn Martmiltan I. (1493 — 1518), welcher nad) ihm den 
beutfchen Thron beftieg, mar allerdings eine andere Natur. Es finder ſich 
an ihm , wie bei wenigen feiner Familie, etwas Poetiſches: er war ein ritters 
licher Zürft, in alfen Leibesübungen zu Haufe, dabei en Förderer der Wifs 

- fenfchaften und der ſchoͤnen Künfte. Aber feine Verdienfte um Deutfchland 
find gering. Denn der größte Theil der Thaͤtigkeit, womit fein Leben erfüllt 
war, galt eigentlich doch nur der Vergrößerung feines Haufes; all die vielen 
Kriege und diplomatifchen Unterhandlungen, welche er geführt, find zu dies 
ſem Zwecke unternommen; das deutfche Reich, welches freilich immer dabei 
war, follte nur feine familiaren Pläne unterflügen: es felber hatte bavon 
keinen Vortheil. Selbſt an ben zwei politifchen Inſtituten, welche feine 
Zhellnahme an der Entwidiung des deutfchen Reiches beurkunden follen, an 
der Errichtung des ewigen Landfriebend und des Kammergerichts, hatte er 
weniger urfprünglichen Antheil, ale ihm zugefchrieben zu werden pflegt. Sie 
waren eigentlich nur die Nefte von dem Entwurf einer umfaſſenden Reichs⸗ 
reform, melchen ber Erzbifhof, Berthold von Mainz gemacht, und der 
offenbar bie Einheit des Reiches weit ficherer geſtellt hätte als alle Unters 
nehmungen Maximilian's. Aber gerabe darauf wollte Letzterer nicht einges 
ben: Daß er beffenumgeachtet In der Öffentlichen Meinung ale ein Kaifer 
galt, dem das Wohl des gefammten Vaterlandes fehr am Herzen lag und 
der dafür that, was in feinen Kräften fland, hat er zwei Dingen zu ver 

40 


628 Habsburger. 
banken. Einmal feiner Perſoͤnlichkeit, welche in der That: ausgezeichnet 
war, mochte man auf fein Tiebenswärdiges Auftreten gegenüber vom allen 
Ständen und Glaffen der Gefellfchaft , oder auf feine Ritterlichkeit, oder auf 
feine Empfänglichkeit für alles Schöne und Große in Wiffenfhaft und Kunft 
. Nüdfiht nehmen. Zweitens der geoßartigen nationalen Richtung ‚| von wel: 
her damals bie erften Geiſter unferes Volkes ergriffen waren. Diefe er 
fehnten mit aller Kraft einer jugendlidyen Seele die Derftellung ber Größe des 
Reihe, des Kaifertbums und einer impofanten auswärtigen Politik; fie 
klammerten fidy an Alles an, was zum Zlele zu führen ſchien; was lag ihnen 
aber mäher ala der Kaifer, der zu fo vielen Erwartungen berechtigte? Alle 
nationalen Plane und Hoffnungen, welche von unferen Patrioten ausge: 
fpeochen worden, werden baber In Verbindung mit Mapimilian gebracht: er 
bildet gewiffermaffen immer die Folie, auf welcher jene ſich aufbauen. 
Keinem Kaifer aber wäre es leichter gewefen, all biefe Wünfche zur 
Erfüllung zu beingen, als Marimilian’s Nachfolger, KatlV. Die Haus: 
macht hatte unter ihm die höchfte Stufe erreicht: Beine andere Dynaftie in 
Europa konnte ihm die Wage halten. Und daneben war jene eben befpro- 
chene nationale Richtung in Deutfchland zu einer Kraft und Stärke gedieben, 
welche der größten Zhaten und Aufopferungen fähig war. Altes fchien zus 
fammengefommen zu fein, um bie Nation in jeder Beziehung einer geoßen 
Zukunft entgegenzuführen. Denn um diefelbe Zeit war auch die lange vor- 
bereitete veligiöfe Bewegung zum Ausbruch gefommen , welche im innigften 
Bunde mit der politifchen Richtung anfänglidy nur den großen Zweck ber 
Befreiung von dem päpftlichen Joche ſowohl in Anfehung des Glaubens als 
ber nationalen Seibftftändigkeit verfolgte. Was hätte ein Kaifer, der die Zeit 
und die Nation begriffen, damass nicht Alles durchfuͤhren können, zumal 
da das Volk ihm faft ftündlih in Flugfchrifien aller Art zurief, was er zu 
thun habe, was die Nation erwarte, wozu fie bereitwillig und entf&hloffen 
fei? Aber Karl V. verkannte die Zeit wie die Bedürfniffe und bie Hoff: 
nungen des deutfhen Volks, und gab eben dadurch zu dem traurigen Zwie⸗ 
fpalte Anlaß, der von nun an Jahrhunderte hindurdy Deutfchland in zwei 
Hälften theilen follte. Die gänzliche Verkennung der nationalen und der po: 
litiſchen Bedeutung der Reformation ift als einer der Grundfehler nicht nur 
feiner Politik, fondern der hHabsburgifchen überhaupt zu betrachten; ein Zeh: 
ler, der in feinen Folgen ungeheuer war; denn an denfelben fnüpften ſich 
alle traurigen Erfcheinungen der fommenden Zeiten, die allmälige Auflöfung 
des Reichs, die Zerfplitterung und Trennung der einzelnen Zheile und endlich 
der fteigende Einfluß der Sremden. Denn dieReformation, weit entfernt die 
Trennung des deutfchen Volkes zu beabfichtigen, erſtrebte vielmehr urfprüng: 
lich eine größere Einheit deffelben, die erhöhete Bedeutung der Kaiferwürde, 
die Beſchraͤnkung fürftliher Machtvolllommenheit. Einem Kaifer mit diefer 
impofanten Hausmadıt, wie-fie Karl V. befaß, wäre «8 ein Leichte® gemwe: 
fen, dieſe Wünfche der äffentlihen Meinung zur Ausführung zu bringen; 
er durfte nur gutheißen, was von Seite der Nation gefhah, er durfte die 
Unternehmungen der Patrioten, wie eines Hutten und Sidingen, nur 


Habsburger. 629 


bdurch ſein kaiſerliches Anfehen unterſtuͤtzen *). Aber Karl V. hatte für bie 
Bewegung in Deutfchland Fein Verſtaͤndniß; auch ihm war Im Grunde ges 
nommen diefes Reid) NRebenfache; mas ihn beftimmte, war wiederum nichts 
Anderes als die Hausmacht, das Erbe der habsburgiſchen Dynaſtie. Seine 
Politik war daher nur eine Familienpolitik, Beine volksthuͤmlich⸗deutſche. Die 
Hausmacht, Spanien, Stalien, Niederlande, Oeſterreich, Ungarn und Boͤh⸗ 
men, ftand ihm in erfler Linie; erſt in zweiter kam ihm dann das deutiche 
Reih. So hinderte ihn benn die Ruͤckſichtnahme auf feine fpanifchen und 
italieniſchen Befigungen, in Deutfchland einen Weg einzufchlagen,, der allein 
zum Ziele führen konnte; fo opferte er um ber Bundesgenoſſenſchaft bes 
Dapftes willen, die er in Italien gegen den König von Frankreich nöthig 
hatte, die außerordentliche großartige Bewegung auf bem Gebiete der Reli⸗ 
gion. Durch dieſe feine feindfelige Stellung gegen die Reformation aber hat 
er weſentlich die unerfreulihe Wendung herbeigeführt, welche fie von nun an 
genommen bat. Denn die veformatorifche Bewegung , fo von dem Kaifer 
mißverftanden und mißhanbelt, wurde allmälig kuͤhler und indifferenter ge 
gen ihn, und da auf ber anderen Seite die deutſchen Fuͤrſten gleich nad) dem 
Bauerntriege klug genug waren, fi an die Spige berfelben zu ftellen, wur⸗ 
den fie auch wiederum von ihr unterftügt und gehoben; fie erhielten an ihr 
einen Bundesgenoſſen, der viele andere aufwog, aber zugleich war Damit auch 
der unfeligfte Zwielpalt in das deutfche Volksleben hineingeworfen, indem die 
Fuͤrſten die Reformation nur für ihre fpeciellen fuͤrſtlichen antilaiferlichen 
Zwecke benugten. Allerdings hat bann fpÄter, im Sabre 1546 , ber Kalfer 
Karl jene großen Pläne, mit melchen die Nation feit einem Jahrhundert 
ſchwanger ging, noch auszuführen gefuchtz; damals uber war der rechte Zeit 
punkt ſchon verfäumt: er fonnte nicht mehr auf die Unterftügung ber öffent 
lichen Meinung rechnen, und überbie® war bie Art von Herrſchaft, wie fie 
Karl beabfichtigte, durchaus nicht im Sinne der deutfchen Nation; es war 
eine fpanifche Autokratie, durch deren Einführung natürlich das deutfche 
Volt nichts gewonnen hätte. Das momentane Uebergewidht, welches Karl das 
mals gehabt, diente nur dazu, um ihn feine wirklichen Pläne ganz offen ents 
büllen zu laſſen und Alles gegen ihn aufzubringen ; es rief dann zulegt jene 
Oppofition Moritzens von Sachſen hervor, durch weiche er gezwungen ward, 
den Vertrag von Paffau einzugehen (1652), in welhem Karl V. nicht nur 
alle Vortheile aufgeben mußte, die er neuerdings errungen, fondern in Folge 
he die fürftliche Gewalt in Deutfchland feſter begründet warb wie je 
vorher. 

So war denn das Unheil ausgefärt. Won jest an gehen bie beutfchen 
Geſchicke einer immer traurigeren Zukunft entgegen. Und was bie Habsburger 
gleich bei den Geburtswehen einer neuen Zeit verfäumt, das haben fie fpäter 


*) Vergl. darüber mein Werl: Der Geift der Reformation und 
feine Begenfäge. Erſter Band. (Erlangen, Yalm, 1843) und meinen Aufs 
fat: Ulrich v. Yutten und Deutſchlands politifhe Berhältniffe 

m Reformationsgeitalter in meinem Buche: „Zur politifchen Gefchichte 
Deutfchlande”. Stuttgart, Franckh, 1842, | 


nicht mehr gut zu machen gewußt ; fie find vielmehr auf dem Wege fortgefah- 
ten, den Karl V. eingefehlagen; und biefe ihre fortwährende befchränkte 
Stellung, bie fie den neuen Entwidelungen gegenüber eingenommen, bat 
weſentlich mit das [pätere Unglüd von Deutſchland verſchuldet. Nah Karl V. 
kamen allerdings zwei Habsburger auf den deutſchen Thron, welche die 

von einen verftänbigeren freieren Stanbpunfte aus behandelten: Ferdinand 
(1656— 1564) und Marimilian II. (1664— 1576). Aber einmal war ſchon 
zu viel verdorben, und zweitens bitten Ihre Bemühungen, von denen insbe» 
fondere bie Maximilian's Il. alle Anerfennung verdienen, durch die folgenden 
Kaifer fortgefegt werden muͤſſen. Dies war aber nicht der Fall. Im Ge— 
gentheil: eben diefe zeichnen fich nicht minder durch ihre Unfähigkeit wie 
durch ihren grengenlofen Fanatismus aus. Unter Rubolph Il. (1676— 1612) 
Eam das Reid) in einen noch nie gefehenen Verfall: zugleich gelangten bie Se» 
fuiten zur hoͤchſten Stufe von Einfluß und Macht; es bereiteten füch unter der 
langen Regierung dieſes Kalfers ungehindert die Momente vor, welche bald 
den dreifigjährigen Krieg herbeiführen follten. Wir wollen zwar die Schuid 
biefed Krieges nicht allein ben Habsburgern aufbürden: wenigftens die unmit⸗ 
telbare Veranlaſſung ging von Anderen aus. Aber ebenfo gewiß iſt daß 
ber ganze Charakter diefes Geſchlechts einen mefentlihen Antheil daran hatte, 
und baf ohne die befannte Richtung der einzelnen Familienglieber der Krieg 
weit eher beendet worden wire, Mar es ja doch nur ber biutige Fanatis⸗ 
mus Berdinand’s IL, fein gewaltthätiges Verfahren gegen die proteftanti- 
ſchen Unterthanen feiner Erblande, welches die Böhmen beftimmte, bie 
Maffen zu ergreifen, um einen ſolchen Herrfcher von fid) abzumeifen. Wie 
nun die eeligiöfe Beſchraͤnktheit Ferdinand's die Urfadhhe zum Anfange des 
breißigjährigen Krieges war, To mar es diefe wiederum, welche ihn binderte, 
eine fpätere glüdliche Wendung defjelben zu Gunften des Kaifertbums und 
des deutfchen Reiches zu benugen. Mad) der Beendigung des danifchen Krie⸗ 
ge8 (1627) hatten die Faiferlichen Waffen eine glorreiche Stellung eingenom: 
men. Durch feinen Generaliffimus Wallenftein herrfchte Ferdinand faft 
unumſchraͤnkt in Deutfchland; und in jenem Augenblide wäre e8 ihm leicht 
gewefen, sine Reorganifation des deutfchen Reiches vorzunehmen, bei welcher 
die größere Einheit ber Nation und die Erhöhung Eaiferliher Machtfülle zum 
Principe erhoben worden wäre. Auch ift bekannt, wie Wallenftein in diefem 
Plane wirkte, wie alle feine Bewegungen auf die Erfüllung deflelben gerichtet 
waren. Was that aber Ferdinand? Er beutete diefe feine überaus vortheil: 
bafte Stellung im Sinne und zu Gunften der Jeſuiten aus; anftatt dur 
Aufſtellung des Princips religiöfer Duldung alle Religionsparteien zu verföh: 
nen und feinen Intereſſen geneigt zu machen, erließ er das Neftitutiongedict, 
welches keinen Zweifel mehr übrig ließ, daß der Kaifer feine Macht nur für den 
Dienft der Sefuiten gebrauchte, daß alfo die Erhöhung feiner Gewalt gleichbe: 
deutend fei mit der Allgemalt eines hierarchifchen Terrorismus. Sa, noch 
mehr: eben diefen feinen General Wallenftein, dem er fo Vieles verdankte, 
opferte er den Jeſuiten und zugleich ben deutfchen Fürften, welche beide an 
dem Sturze deffelben ein gleiches Intereſſe hatten: denn die Eaiferliche Ge: 
walt, wie fie Wallenftein beabfichtigte, mar den Fuͤrſten nicht minder wie 


Habäburger. 681 


dee Kirche gefährlich; und biefe Aufopferung Wallenſtein's gefchah noch dazu 
in einem Momente, to bereits ein anderer rüfliger Feind, der König von 
Schweden, das Schwert gegen den Kaiſer gezückt hatte. Hiemit war nun 
auch diefe günftige Gelegenheit, das Kaiſerthum zu dem früheren Glanze zu 
erheben, ungenügt vorübergelaffen worden. Seitdem bot fich Bein ähnlicher 
günftiger Moment wieder dar. Zwar wurde 1632 nach den Siegen Guftav 
Adolph's Wallenitein wieder an die Spige der kaiſerlichen Deere geflellt; aber 
unterdeffen hatten fich die Verhaͤltniſſe burchaus geändert, und buld fiel er fels 
ber noch einmal als Opfer der Jeſuiten. Diesmal begnügte fich aber der Kai⸗ 
ſer nicht mehr mit feiner Abdankung, er ließ ihn ermorden. An dem ſpaͤ⸗ 
teren Unglüd bes breißigjährigen Krieges tragen allerdings die Habsburger 
nicht mehr Schuld als die übrigen deutſchen Fürften und die Fremden, 
wiewohl fie an Zreulofigkeit und Perfidie diefen nichts nachgeben. Jeden⸗ 
falls aber bleibt an ihnen hängen, einmal daß ihre religiöfe Befchränktheit die 
Veranlaffung zu demfelben gegeben, und zweitens daß fie im Laufe des Kries 
ges die beften Gelegenheiten, einen Frieden zu fchließen, aus demfelben Me⸗ 
tive verfäumt haben, fo mie auch die hoͤchſt günftigen Ausſichten, das deutfche 
Reich zu einer neuen großen Bedeutung zu echeben. Was biefer dreißigiähr 
rige Krieg endlich für ein Reſultat gehabt, ift bekannt; er wurde durch ben 
weftphälifchen Srieden beendet. Diefer Friede war fo zu fagen das Leichen« 
begängniß des deutfchen Reichs. Nicht nur verloren wir an die Fremden 
einen beträchtlichen Theil unferer Provinzen, ſondern digfe erhielten nun das 
Recht, in unferen inneren Angelegenheiten mitzufprechen; unfere Reichs⸗ 
verfaffung erhielt dadurch und durch das entfchieden ausgefprochene Souverd» 
netätsprincip ber beutfchen Fürften den gewaltigften Stoß! Es war damals bes 
reits zu einem Staatenbunde herabgefunten! — Und die Regierung nad) 
dem dreißigjährigen Kriege, welche faft ein halbes Jahrhundert währte, die 
Regierung des ſchwachen Leopold I. (1658 — 1705) war nun ganz dazu ges 
eignet, um die Erbärmlichkeit, Nichtswürdigkelt und Jaͤmmerlichkeit der 
deutfchen Zuftände in dem beutlichflen Lichte erfcheinen zu laſſen: unter dem 
Kaiferthume diefes Habsburgers geſchah es, daß Ludwig XIV. Straßburg und 
andere deutfche Gebietstheile im Elſaß wider alles Völkerrecht hinwegnahm 
(1681), ohne daß von Seite des Meichs etwas dagegen geſchah: ja, der 
Kaiſer beftätigte fpdter (1684) diefen Raub dem franzöfifchen Könige. So 
wurden mir von den Fremden allenthalben gehöhnt; und diefe Nation, bie 
einft fo mächtig war, daß fie den erfien Rang unter ben Völkern Europas 
behauptet, die in fich felber eine fo unverwüftliche Bildimasfähigkeit trug, 
daß fie faſt an jedem neuen Auffchwunge bes europdifchen Geiſtes den leb⸗ 
hafteften thätigften Antheil genommen, die gerade beim Beginne der moder⸗ 
nen Zeit fo tief wie Beine andere das Bebürfniß nach einer politifchen Umge⸗ 
ftaltung fühlte und bereitwillig war, Alles daran zu feßen , diefe Nation wurde 
gerabe in die unfeligften Zuflände zuruͤckgeworfen, ſowohl mas aͤußere poli⸗ 
tifhe Geltung als die Geſtaltung der inneren Angelegenheiten betrifft, und 
zwar ducch bie Unfähigkeit, Befchränktheit, Pflichtvergeffenheit und Eigen: 
ſucht gerade desjenigen Geſchlechts, bem es am Erſten zugefommen wäre, 
andere Entwidelungen herbeizuführen! 





P 





Alſo um das beutfihe Reich haben ſich die Habsburger wahrhaftig Leim 

ſarblenſt erworben ! Obſchon ihnen Hilfämittel zu Gebote ftanden mie gar 
Reiner anderen ber früheren Dpnaftien, obfchon «8 ihnen geſtattet war, über 
brei Jahrhunderte ununterbrochen dem beutfhen Thron einzunehmen, ob» 
ſchon fie bei Allem, mas auf gröfere Einheit des Reichs und Förberung ber 
Motionalität abzielte, entfchieden. von ber Öffentlihen Meinung unterfbüpt 
getvefen wären, fo haben fie body nicht nur viel. weniger gethan ale jebes bar 
früheren Koͤnigegeſchlechter, fondern fie haben fogar das deutſche Meich feis 
ner Auflöfung entgegengeführt. Sehen wirnun, mie fie fich zu. ber anderen 
Aufgabe verbielten, bie wie oben amgebeutet, nämlich die auferbeutfchen 
Befigungen für das germanifhe Intereffe heranzuziehen und den beutfchen 
Einfluß im Orient herrſchend zu machen. 
eider kann man ihnen hier Bein befferes Zeugniß ausftellen. Viel⸗ 
mebr haben fie durch bie Art und MWeife, wie fie mit diefen nichtbeutfchen 
Dölkern verführen, dem beutfchen Antereffe mehr gefchadet, und nadıhalti- 
ge. als wenn biefe Ränder immerfort umabbängig gemefen wären. Dieſe 

nder, fämmtlid von flavifhen und magyarifchen Stämmen bewohnt, 
fanden zu der Zeit, als fie dem Haufe Habsburg anheimfielen, noch auf eimer 
niederen Stufe der Bildung. Ohne Zweifel würden fie mit Dankbarkeit ge 
gen die Deutfchen erfüllt worden fen, wenn ihnen von diefer Sekte die wohl⸗ 
thätigen Fruͤcht⸗ der Givilifation gebracht worden wären. Durch folde 
Bande hätte man fie enger und dauernder mit dem beurfhen ntereffe ver 
+ bunden als durch fübes andere Mittel, und fie würden eben deshalb gegen 
den Andrang bed Dftens die befte Schutzwehr gebildet haben. Man hätte 
nicht nöthig gehabt, ihnen ihre Nationalität zu nehmen; diefe würde, von 
deutfchet Bildung befruchtet, durch diefe einer ebleren Entwidelung entgegen; 
geführt, uns niemals gefchadet haben. Sie würde vielmehr zu uns in einem 
freundfchaftlichen VBerhältniffe geftanden fein; Deutfchland hätte ſich in diefen 
Nationalitäten geiftige Colonien herangezogen, welche mit dichteren aber auch 
zugleich ebleren Ketten dem Mutterlande verbunden gemefen wären als ſaͤmmt⸗ 
liche Colonien der übrigen Staaten. Freilich wäre hierzu erforderlich gewe⸗ 
fen, daß man mit wahrem Mohlmwollen aufgetreten, daß man fich bemüht 
hätte, die traurigen politifchen Zuftände zu verbefiern, daß man namentlich 
die niederen Menfchenclaffen von den Feſſeln befreit hätte, in welchen fie noch 
ſchmachteten, kurz daß man die Hinbderniffe wahrhafter Civilifation hinweg⸗ 
geräumt und dafür bie nothwendigen Inſtitutionen für die Entwidelung der: 
felben ihnen verliehen hätte! Aber mas thaten die Habsburger? Sie be: 
trachteten diefe fremden Ränder Immer als eroberte, mit denen man umgeben 
dürfe mie mit Seindes Land. Anſtatt durch Milde und Freundlichkeit diefe 
Nationen mit der fremden Herrſchaft zu verföhnen, haben ſie diefelben gleich» 
fam zu Verforgungsanftalten für die raubgierige Öfterreichifche Bureaukratie 
und Soldateska umgewandelt. Denn Eein anderes habsburgifches Land wurde 
fo fehr durdy die Beamten ausgefaugt mie gerade diefe fremden. Insbe— 
fondere Ungarn wurde von ben Habsburgern wahrhaft mißhandelt. Hierher 
wurden denn immer die fchlechteften Sfterreichifchen Keldherren und Adminis 
frativbeamten gefendet, melde diefe ihre Aemter nur benugten, um ſich 





Haböburger. 683 


Reichthuͤmer zu fammeln, aber nicht daran badıten, ben Zweck ihrer Sen⸗ 
dung zu erfüllen *). Das war mit ein Hauptfehler der habeburgifchen Polis 
tik, Daß fie den eigenen Talenten In jenen Ländern Beinen Raum geftattete, un 
ſich zu entfalten, fonbern daß fie Alles und Jedes nur ducch bie oͤſterreichi⸗ 
fhen Beamten verwalten ließ. Wir haben aber oben bereit angegeben, von 
welchen Gefichtspunften fie hier ausging, daß es ihr nämlich auch hier nicht 
um Talente zu thun war, fondern nur um willenlofe Werkzeuge ihres Willens 
So kam e6 denn, daß jene fremden Länder bie Deutfchen von ber allerfchlechs 
teften Seite kennen lernten; fie waren gewohnt, in ihnen nur despotifche habs 
füchtige Bureautraten zu ſehen, welche die gefkwornen Feinde ihrer Natios 
nalität, ihrer Sreiheit feien, von deren Joche fich frei zu machen ihnen zus 
legt als heißeſter Wunſch fih aufdringen mußte. Nun, wir wiſſen auch, 
wie häufig Empdrungen In jenen Ländern erfolgten: in Böhmen 1618, 
in Ungarn und Siebenbürgen 1606 unter Stephan Botskai, [päter öfter im, 
Laufe des breißigiährigen Krieges, dann 1661 — 1664, 1682 unter Ts 
kely, 1703 unter dem jüngeren Ragorzt. Die Habsburger haben dann jede 
glücklich gedämpfte Empörung, wie z. B. die böhmifche, dann die ungarifche 
1664 auf das Beſte benugt, um ihre autofratifchen Pläne weiter zu verfolgen, 
den Detpotismuß in jenen Ländern noch mehr herrfchend zu machen. An eine 
Erleichterung des Looſes der niederen Menfchenclaffen, an Einführung von 
humanen politifhen Einrichtungen war natürlich nicht zu denken; fie ließen 
alles Schlechte, welches fie vorgefunden, beftehen, und fügten diefem nur 
noch das Unheil der Bureaukratie und des Abſolutismus hinzu, fo weit fie dies 
ſes vermochten. Allerdings ging dieſes nicht allnthalben, wie denn z. B. 
die Ungarn trog aller Verfuche bes Wiener Cabinets dennody ihre eigene Ver⸗ 
faffung zu behaupten gemußt haben. 

Alſo das ſchlechte Nefultat hätten wir den Habsburgern ebenfalls zu vers 
danken , daß fie ben deutfchen Namen bei jenen fremden Nationen in Verruf 
gebracht haben, daß diefe uns als Unterdrüder nationaler und politifcher 
Selhfiftändigkeit anzufehen gewohnt find. Ihre durchaus fhlechte Politik 
in jenen Gegenden ift aber auch ferner daran Schuld, daß der deutfche Einfluß 
dafelbft nicht größer geworden, und daß biefer fpäter vom ruffifchen verdrängt 
werden Eonnte. Als Befiser von Ungarn wäre es ihnen ein Leichtes gewe⸗ 
fen, fi der Donaufürftenthümer zu bemächtigen, zumal da Uber zweihundert 
Fahre fortwährender Krieg mit den Türken geführt ward, und dadurch diefem 
deutfchen Strom eine wahrhaft deutfche Bedeutung zu verfchaffen. Allein fie 
verftanden es nicht einmal, Ungarn zu behaupten, geſchweige denn eine größere 
Ausdehnung ihres Gebietes zu erlangen. Die Urfache davon war, daß fie in 
der Regel bie fchlechteften unfähigften Subjecte nad) Ungarn ſchickten, Die e6 
wohl verftanden,, die Nation zu drüden und auszufaugen, aber keineswegs 
den Türken die Spige zu bieten. Daher iſt der unglüdliche Ausgang der fürs 
Eifchen Kriege meiften® der fch'echten Anführung der Öfterreichifchen Feldhaupt⸗ 
leute zuzufchreiben. Hätte das Wiener Cabinet auch hier fi) mehr auf das 


*) Vergl. „Gefchichtliche Fragmente, und das ungarifche Staatsleben 
neuerer Beit.”’ Erfter Theil. Leipzig, bei Köhler, 1846. 


ungariſche Volk verlaffen,, das wegen feiner Tapferkeit und Kriegstundigkeit 
bekannt ift und natürlid am meiften Intereffe haben mußte, fi ben Tür 
ken gegenüber feine Unabhängigkeit au bewahren, fo hätten bie Dinge hoͤchſt 
wahrfdeinitdy eimen anderen Ausgang genommen. Denn wo Ungarn An: 
führer waren, ober wo fie allein kaͤmpften, waren fie faft immer im Gluͤc. 
So jedoch; glaubten die Habeburger Altes durch ihre Ereaturen leiten laſſen zu 
"müffen, und fo geſchah es denn, daß im 16, und 17. Jahrhundert der —— 
Theil von Ungarn am bie Zürten abgetreten, ja ſogar von dem übriggebliche: 
nen Stüde ein Tribut an den Sultan gezahlt werden mußte. Gegen Ende 
bes 17. und im Anfange bes 18. Jahrhunderts waren fie allerdings gluͤcklicher, 
das ausgezeichnete Genie des Prinzen Eugen von Savoyen war baran 
Schuld. Sie eroberten nicht nur alles von Ungarn Abgeriffene mieber, 
fondern auch noch Serblen und einen Xiheil der Walachei. Aber anftatt nun 
Mi dem bettetenen Wege fortzufahren, ſchlugen fie wieder den chen 
heren ein; ja fie-fn nun Verbindungen mit den Ruffen an und 
Unterftügten dadurch zuetft die Piäne dieſer Macht auf bie Türkei, welche 
ſpaͤter für Oeſterreich und für Deuiſchland fo gefährlich werden follte. Der 
neue Krieg gegen die Pforte, welchen das Wiener Cabinet unter ruffifdyem 
Einfluß und mit diefer Macht im Bunde unternommen (1736— 1739), 
wurde von Selte Oeſterreichs wegen der Unfählgkeit und Jaͤmmerlichkeit der 
Seldherren fo erbärmiich geführt, daß #6 1739 zu dem ſchmachvollen Frieden 
von Velgrad fidy entfchliefen mußte, wodurch es ſich verpflichtete, die 
lebten hoͤchſt vortheilhäften Groberungen auf tuͤrkiſchem Gebiete alle wieder 
herauszugeben. 

So entwidelte benn bie Politik der babsburgifchen Dynaſtie ihre verberb: 
lichen Früchte. Diefes Streben nad uneingeſchraͤnkter Herrſchaft, nad 
Unterdrüdung des Volksgeiſtes, nach Feffelung des Gedankens, woburd; fie 
hoffte, Alles huͤbſch in Ordnung und Ruhe erhalten und um fo leichter regieren 
zu koͤnnen, führte nur dahin, dem Staate die Quelle zu verftopfen,, wodurch 
er fich zu verjüngen hoffen durfte. Vaterlandsliebe, Sinn für das Gemein: 
wohl, Aufopferung für die Öffentlichen Angelegenheiten, Entwidelung neuer 
großer Talente — davon war keine Spur zu fehen. ine überall gehätfchelte 
Bureaufratie und Ariftokratie war das einzige Moment, das durch die Habe: 
burger herangezogen ward und diefe beuteten denn den Staat für ihren Privat» 
vortheil und für ihre Intriguen aus. 

In der zweiten Hälfte dieſes Jahrhunderts nimmt fie allerdings eine bef- 
fere Stellung ein. Die Regierungen Maria Thereſia's, beionders aber To: 
ſeph's II. verlaffen das bisherige verwerfliche Spftem und fuhen im Sinne 
der neuern Zeit zu wirken. Es zeigte fich aber bei ihnen, mie wahr das Wort 
des großen Roͤmers fei: ingenia oppresseris facilius quam revocaveris: Die 
Verfuche, befonders Joſeph's II., fo anerkennenswerth fie an fich fein mögen, 
fielen auf einen Boden, der durdy die Behand'ungsart feiner Vorfahren faft 
ganz unfruchtbar getworden war. Doch verdient ed diefer Habsburger, mel: 
cher an Geiſt und Herz weitaus feine Familie überragt, daß feine Pläne etwas 
"näher gewürdigt werden. Joſeph bat, wie nicht leicht einer feiner Borfab: 
ten, die große Aufgabe erfaßt, welche das Haus Habsburg zu Löfen hatte, 


Haböburger. : 635 


und faft nach allen Richtungen bin den rechten Weg angebeutet, den es ein- 
fchlagen muͤſſe, um fid eine dauernde Größe zu fihern. Er hat vor allen 
Dingen eingefeben, daß man den Geiſt von den Feſſeln befreien muͤſſe, in 
welchen ihn bie habeburgifche Politik geworfen; er als Keind jedes Obſcuran⸗ 
tismus, mochte er nun im Gewande der Neligion oder haarzöpfifcher Politik 
erfcheinen, hat das große Wort der Gewiſſens⸗ und der Redefreiheit ausges 
fprochen und die geeigneten Inftitutionen hervorgerufen, welche biefelben bes 
dingen. Er bat fodann, wenigftens im Anfange feiner Regierung, dem 
deutfchen Reiche eine aufrichtige Theilnahme gewidmet und iſt mit dem Plane 
umgegangen, heilfame Reformen in der Verfaſſung deffelben vorzunehmen 
und diefe® morſche baufdllige Inflitut mit dem humanen freien Geifte einer 
neuen Zeit zu befruchten. Wie ihm dies mißgluͤckte, indem er allenthalben 
auf den Widerftand des eiferfüchtigen deutichen Fuͤrſtenthums fließ, als deſſen 
Vertreter ſich beſonders der König von Preußen bemerklich machte, fo Dachte 
ee daran, wieder einen Plan aufzunehmen, der in manchen Epochen ber 
deutfchen Geſchichte von ber Nation felber gemünfcht und vorgezeichnet ward, 
nämlich feine Hausmacht allmälig dermaßen auf Koften anderer deutfcher 
Gebiete zu vergrößern, daß die Ummanblung der beutfchen Reichezuftände auf 
eine radicale Weife durchgeführt werden könnte. Das Land, mas ihm am 
nächften lag zur Abrundung der öfterreichifchen Hausmacht, war Batern, und 
Joſeph IL hat zu wiederholten Malen Verſuche gemacht, diefen Volksſtamm 
an fein Haus zu bringen. Indeſſen fland ihm Hier ebenfalls die Eiferfucht 
ber Fürften im Wege, und Sofeph II. konnte ſich jest durchaus nicht in der 
Art auf die Öffentliche Meinung ftügen, wie es Marimilian I. oder Karl V. 
oder felbft noch Kerbinand Il. bet einem weniger jefultifchen Syſteme hätte 
thun Binnen. Denn die Furcht vor den jefuitifchen oder zum Wenigften hoͤchſt 
eigenfüchtigen Tendenzen des Daufes Habsburg war eben durch diefe feine 
Vorgänger fo allgemem im deutichen Wolke eingewurzelt, daß felbft ein fo 
edler Fuͤrſt, wie Joſeph, mit diefen humanen menſchenfreundlichen Abfich- 
ten, nicht fAhig war, diefelbe zu zerfireuen. Jedermann im Reiche fah eben 
die Ermeiterung ber Eaiferlihen Macht als ein Unglüd an, weil mem ſich ſchon 
längft Daran gewoͤhnt harte, vom Haufe Habsburg nichts Gutes zu erwarten. 
Demnach mußten alle Berfuche Joſeph's, die er hinfichtlich einer Verbefferung 
der deutfchen Reichszuſtaͤnde machte, an dem Widerwillen gegen feine Dyna⸗ 
flie ſcheitern. Betrachten wir num felne dußere Politik, fo fcheint er auch 
bier von dem rechten Geſichtspunkte ausgegangen zu fein. Er wollte feine 
Grenzen auf Koften der Türken erweitern, er wollte die Donauländer im 
Beſitz nehmen und dadurch fid) in den wirklichen Genuß diefes Stromes fegen, 
der in mercantiler Beziehung von einer fo außerordentlichen Bedeutung für 
Defterreich ifl. Das Einzige, was man ihm hierbei vorwerfen kann, iſt, 
daß er fich zu fehr mit den Ruffen eintieß, beren Bundesgenoffenfchaft noch 
keinem ihrer Nachbarn zum Nutzen gereicht hat. Dadurch ging ihm ein großer 
Theil der Vortheile, die er durch einen Krieg mit den Türken erlangen zu 
koͤnnen hoffte, von vorm herein wieder verloren, denn bie Ruſſen thun nichts 
umfonft und trugen ebenfo fehr ein Geluͤſte zu ben Donaulaͤndern wie Jo⸗ 
ſeph II. felber. An der Thellumg Polens hat er eigentlich keinen Antheil, 


‚636 Habsburger. 
fondern nur feine Mutter Marla Thereffa. Joſeph IT. bat aber auch bier, 


in diefom neu erworbenen flavifchen Lande, ebenfo wie in den anderen bereits 
früber befeffenen,, bie einzig richtige Behandlung, die man ben nichtdeutſchen 
Völkern angedethen laffen müffe, eingefcehen und gelbt; er begann naͤmlich 
die vielfachen Feſſeln zu zerbrechen, in welchen bie niederen Menſchenclaſſen 
ſchmachteten, und fie zu einem gebildeten Dafein heranınzichen. Durch ein 
foldyes Vorfahren kam die öfterreichifche Reglerung zu diefen Landen natür: 
lich in ein gang amberes freumdlicheres Verhaͤltniß als durch die ewige Unter 
brüdung und Bevormundung derfelben. 

Joſeph II. war freilich bei allem Guten, was er mollte und anſtrebte, 
immerhin ein Autokrat, wie fein Beitgenoffe Friedrich II. und fo tragen bemn 
manche feiner Mafregeln viel Despotifches an ſich, wie er denn von Eigen⸗ 
willen nicht frei war. Man wird ihn dennoch in Hinblick auf die damaligen 
politifchen Zuftände, in welchen alle Formen fich übertebt hatten und faft eine 


einzige mehr ein gefundes Element in fidy barg, entſchuldigen können. Man 
‚kann es begreiflich finden, wie ein Mann, der fi eines guten Willens, 


ner Abficht und eines überragenden Beiftes bewußt iſt, die große Macht, die 
das Schickſal verliehen hat, dazu anzumenden ſich berufen findet, um mit 
inem Male radicat mit dem Wufte aufzurdumen , den frühere barbarifce 
Jahrhunderte angehäuft haben. Der Despotiemus eines folhen Fürflen mie 
Joſeph's konnte nur die Webergangsftufe zu einer freieren felbfibewußteren 
Entmwidelung bes Volkslebens fein. 

Aber Joſeph mit feiner ganzen Richtung mar, wie ich oben bereits fagte, 
eine Anomalie in dem Daufe Habsburg. Die Regierung feines Meffen, det 
Kaifers Fran; (1792 — 1835) hatte gleich im Anfange nichts Eiligeres zu 
thun, als Alles wieder auszureuten, was Joſeph angepflanzt hatte, und das 
Spftem ber früheren Zahrhunderte in feiner ganzen Ausvehnung , nur viel: 
leicht mit mehr Gonfequenz und mit mehr Routine wieder aufzunehmen. 
Das Minifterium Thugut, welches bis in den Anfang des 19. Jahrhunderts 
die Leitung ber Öffentlichen Angelegenheiten übernahm , paßte ganz vortrefflid 
dazu. Es hatte richtig es dahin gebracht, das Bischen Geift, den Defter: 
reich unter Tofeph eben zu entwideln begann, wiederum auszutreiben, und 
in die Verwaltung, welche Joſeph ein wenig von ihren zahllofen Mißbräu: 
hen und Nichtsmwürbigkeiten gefäubert hatte, von Neuem den gerrohnten 
Schlendrian, Beftechlichkeit, Mittelmäßigkeit und Unfähigkeit zuruͤckzufuͤh⸗ 
ten. Und die Refultate? Die Kriege mit Napoleon enthüllten fie zur Genüge. 
Freilich, in Frankreich war in Folge der Revolution eine Ordnung der Dinge 
eingetreten, welche im directeften Widerfpruche mit dem Geiſte der habsburgi⸗ 
then Dynaftie ftand. Dort war eine Zeitgefommen, wonur ber Geift und das 
Zalent und die Züchtigkeit emportommen konnte, wo felbft ein Dictator,, mie 
Napoleon, ſich nur mit Männern umgeben zu dürfen glaubte, welche ihr 
Benie zu dem Poften befähigte, den er ihnen anweiſen wollte. Aber in Defter: 
reich herrfchte wieder bie verfnächerte intriguante felbftfüchtige Bureaufratie; 
im Gabinete wie im Felde wurden den unfähigften Köpfen die michtigften Po: 
ſten anvertraut; zeigte fich etwa einmal ein hervorragender Geift, wie der 
Erzherzog Karl, fo wußte man nidhts Eiligeres zu thun, als ihn fofort von 


Habsburger. | 637 


feinem Poften zu entfernen ober feine Pläne und Anfchläge zu durchkreuzen. 
Wie konnte man unter ſolchen Umftänden, wider einen Gegner wie Napoleon, 
das Feld behaupten! In allen Kriegen, die es wider ihn unternommen, zog 
das Wiener Cabinet den Kürzeren. So erfolgten bald nady einander die Fries 
den von Campo Formio, von Lüneville, von Preßburg, von Wien! Damm, 
nachdem die Öfterreichifche Regierung fo oft gedemüthigt worden, fügte fie ſich 
in dad Ungluͤck, ruhig erbuldend, was nicht zu ändern war, durchaus an der 
Möglichkeit einer Wiedererhebung verzweifelnd! Man weiß, wie Eurzfichtig 
es die Lage der Dinge beurtheilte, als Napoleon in dem unglüdlichen ruffis 
[chen Seldzuge zugleidy feine Armee und die Unbeftegbarkeit feiner Waffen eins 
gebüßt hatte. Damals hatten die Habsburger nody Leine Ahnung von dem 
großen Bottesurtheile, das über den Dictator Europas hereinbrechen follte; 
feine Ahnung von dem erhabenen Auffchwung, der die Völker ergriff und wel⸗ 
her allein die außerordentlichen Reſultate berbeiführte. Ya, Defterreich 
tadelte damals, daß bie Fürften an der Seite ihrer Völker erfchienen, mit 
ihnen im Bunde, auf fie vertrauend; denn immer noch glaubte «6, bie 
politifchen Verwickelungen auf dem Wege biplomatifcher Intriguen erledigen 
zu innen. Wie lunge biplomatifirte «6, bar aller großen aufopfernden hel⸗ 
denmäßigen Gefinnung, bin und ber? Wie lange ſprach es gegen Napo⸗ 
leon die Sprache der Freundſchaft, unverbruͤchlicher Allianz und Anhängliche 
Eeit? Und als es zulegt doch nicht anders konnte — mie läffig, lau und matt 
ift es dann In den großen Völkerkrieg eingetreten? Wie wenig haben im 
Grunde die Öfterreichifchen Truppen gethan? Wie hat fi) namentlicd, in dem 
Feldzuge in Frankreich der Öfterreichifche Generaliffimus im Auftrag feines 
Gabinets immerfort als ein Hemmſchuh aller Fühngn raſchen militärifchen 
Bewegungen bewährt? Wie hat Defterreicd, durch feine befländigen Fries 
densverſuche, durch feine politiſche Halbheit Alles verzögert? Und welch eine 
Rolle hat es auf den zwei Parifer Frieden gefpielt, welche jenen für Deutſch⸗ 
land fo nachtheiligen Charakter außer durch Englands und Rußlands Bemüs 
hungen vorzugsweife durch bie Slauheit und Intereffelofigkeit des habsburgi⸗ 
ſchen Cabinets erhalten haben! — 

Nach dem Sturze Napoleon’s aber — was bot ſich der habsburgifchen 
Dynaſtie noch einmal für eine glänzende Gelegenheit dar, um Alles das wieder 
gut zu machen! Allenthalben rief man nad) einer Reorganifation des deuts 
ſchen Reiches! Die Wiederherftellung der Kaiferwürde unter dem Banner 
Defterreichs war das Erfle, was man verlangte, und nicht etwa In den vers 
alteten Formen, wie fie das 18. Jahrhundert gefehen, nein! befruchtet von 

dem Geifte einer neuen kräftigen Zeit, mit dem energiſch durchfahrenden 
Principe der Einheit *)! Und nicht nur die Völker, nicht nur die Öffentliche 
Meinung verlangte diefes, nein! faft fämmtliche deutfche Fuͤrſten baten 
den Kaifer von Defterreich in einer feierlichen Adreſſe um die Wiederan⸗ 


*) Siehe meinen Aufſatz: „Ueber bie öffentliche Meinung in Deutfchland, 
von den Freiheitskriegen bis zu ben Garlöbader Beſchluͤſſen“ im Hifkorifchen Tas 
ſchenbuch von K. v. Raumer. Jahrgang 1846. 


nahme dev beutfchen Raiferwürbe, weil. für eine fo große Nation, wie die 
deutfche, eine, andere Berfafjungsform weder angemeſſen, noch ehrenvell 
genug feil Was aber thaten die Habsburger Eee 

Sieſe Dynaſtie batte Deutſchland ſchon laͤngſt den Rüden gekehrt, 
Moch in dem letzten ⸗ Jahrzehent des achtzehnten Jahrhunderts wurden von 
iht die deutſchen Reichsangelegenbriten nur nebenbei behandelt ; man wartete 
fajt ſtuͤndlich auf das. enblicht Auseinanderfallen dieſes politiſchen Körpers, 
ohne ſich die geringfte Mühe zugeben, etwas dagegen zu thun. Noch vor 
der Gründung des Rheinbunds hatte Franz den Namen eins Eibkaiſers von 
Defterreichh angenommen ; ein deutlicher Beweis, auf was er gefaft war« Die 
Auflöfung des deutſchen Reichs machte daher nicht den mindeſt en Eindrud. 
Und auch jegt, nach dem Stucze Napoleon’s, wo eine neue Ordnung der Dinge 
anheben konnte und ſollte, war die Geſinnung der habsburgiſchen Dynaſtie 
ruͤcſichtlich Deutſchlands Leine andere geworden. Sie begnuͤqte ſich damit, 
eine europaͤiſche Macht durch ihre Erbſtaaten zu. fein, und dieſe durch Laͤn⸗ 
dertheilungen und Tauſchungen ‚auf das Beſte zu arrondiren z aber aus 
Deutſchland etwas Großes zu machen, dieſem Volke eine ‚Zukunft zu ver⸗ 
Ihaffen, welche es hoffte, mad) weicher ſich Alles auf das glühemdfte fehnte, 
kam ihr nicht in den Sinn! Jener Anteag der deutſchen Furften auf dem 
Wiener Congreffe wurde daher einfach abgelehnt. Härte nun Deflerreich we⸗ 
nigfiens dafuͤr geſorgt, Daß in ber Werfaffung, welche an die Stelle des Kaifer- 
thums treten. follte, mindeſtens annäberungsweife die Hoffnungen ber deut: 
ſchen Nation: befriedigt worden wären! Allein aud) diefes war nicht der Kall. 
Mir willen wohl, daß der öfterreihifhe Staatskanzler allerdings einige Vor: 
ſchlaͤge machte, welche auf größere Einbeit und Kraft der deutfchen Conföderas 
tion abzielten! Allein wir dürfen nicht vergeffen, daß die erften Vorſchlaͤge 
hierzu von dem preußifchen Gabinete ausgegangen waren, und daß Defterreid) 
fo zu fagen nur nachtrat! Außerdem aber wurden dieje und ähnliche Vorjchläge 
von Seite der habsburgifchen Dynaſtie keineswegs mit der erforderlichen 
Energie unterftügt! Es ift gewiß, daß, hätte Oeſterreich ernftlich gewollt, 
Alles eine fchönere Löfung aufdem Wiener Congreſſe gefunden hätte! Denn 
auf Preußen konnte man rechnen, ebenfo auf die Elzineren deutfhen Staaten. 
Widerſtand leifteten eigentlic nur Baiern und Würtemberg, welche aus 
Souveränetätseitelfeit fich nicht fügen wollten. Was hätten aber diefe allein 
gegen das geſammte übrige Deutſchland machen Eünnen? Früher oder ipä- 
ter hätten fie dody nachgeben müffen, um fo mehr, da die Beherrfcher diefer 
Länder ſich ſchon nicht mehr auf ihre eigenen Völker verlaffen Eonnten! Es 
ift alfo anzunehmen, daß im Grumde genommen der [chledyte Ausgang der 
deutfchen Angelegenheit auf die Schultern Defterreichg zu werfen iſt — dieſes 
trägt, wenn auch nicht die unmittelbare pofitive Schuld, doc) wenigfteng eine 
mittelbare, die Schuld der Laͤſſiakeit. 

Werfen wir nun aber einen Blid auf dieRolle, welche die habsburgifche 
Politik vonnun an in dei beutfchen Angelegenheiten fpielt und fuchen wir auerft 
das Wefentliche ihrer Politik im Ganzen ins Auge zu fallen: die Beziehungen 
zu Deutfchland werden dann leichter zu beurtheilen fein. Wie oben fchon er⸗ 
wähnt: die Habsburger gingen nach der glorreichen Regierung Sofeph’3 IT. wie» 


Haböburger, 09 


ber zu dem alten Spfteme über, und felbft aus ven hoͤchſt Lehrreichen Jahren des 
Revolutionskrieges und der Napoleonifchen Dictatur hatten fie keine Lehre ger 
zogen. Im Gegentheil: das alte Regime wurde nad) Napoleon’s Sturze noch 
ftraffer angezogen, mit noch mehr Gonfequenz durchgeführt. Das jedoch) ent» 
ging der Regierung nicht, daß feit der franzoͤſiſchen Revolution faft über die 
ganze civilifirte Welt bie liberalen Ideen gedrungen waren, welche ſich troß 
der Wiederherſtellung der alten Ordnung der Dinge doch nicht mehr ganz aus 
den Köpfen bringen ließen. Ja, fo lange diefelben nur irgend einen Ort oder 
irgend eine Inſtitution fanden, an welche fie ſich anlehnen konnten, war 
immerhin noch zu fürchten, daß fie wieder erſtarken und früher ober ſpaͤter doch 
wieder die Runde um die Welt machen würden. Dieſes aber gerade follt auf 
alle Weiſe verhütet werden: und das war denn die Aufgabe, welche ſich von 
nun an die habeburgifche Dynaftie geſteckt, zur Unterdrüdung der liberalen 
Ideen Alles beizutragen, was in ihren Kräften fland, dagegen das conſer⸗ 
vative, oder vielmehr das abjolutiftifche Princip fo weit wie möglich zum 
herrfchenden zu machen. Zum erften Dale treten die Habsburger activ auf: 
fie ergreifen die Snitiative: fie entwideln hier eine Thaͤtigkeit, wie fie viels 
leicht niemals früher geübt, wenigftens nicht in diefem Maße; freilich hat 
diefe Thätigkeit Beinen andern Zweck, ald einen entgegengefegten Zuſtand 
herbeizuführen, den Quietismus. In der That, die Habsburger find'hierin 
einzig. Wohl hat es große Staaten und Fuͤrſten gegeben und giebt es noch, 
welche etwas auf die Unumfchränttheit ihres Herrſcherwillens hielten und fi) 
denfelben auf keine Weife verfümmern ließen. Aber fie haben ihre Thaͤtig⸗ 
keit nicht blos darauf befchränkt, ſondern haben außerdem noch große Plane 
verfolgt. Ein Heinrich IV., ein Ludwig XIV., ein Peter der Große, ein Alexan⸗ 
der, ein Nicolaus von Rußland find fammt und fonders Autokraten, aber zur 
gleich Eroberer, Meiſter in der äußeren Politik, wobei fie ihre fonftige politifche 
Theorie blutwenig incommobirt. Die Politik des Haufes Habsburg aber feit 
dem 5.1815 geht im Ganzen umd Großen nur darauf aus, das Dogma des 
abfoluten Herrſcherwillens unter den Völkern zu verbreiten! Diefer Aufgabe 
ordnet fich denn auch die aͤußere Politik unter — hoͤchſt felten nimmt ſie, aber 
nur momentan, eine ſelbſtſtaͤndige Stellung ein — die dußeren Beziehungen, 
in welchen Defterreich activ erfcheint, find alle aus jenem Urmotive hervors 
gegangen. Freilich hatte Defterreich vielleicht mehr wie jede andere europäifche 
Macht ein Intereffe daran, den Geiſt des Quietismus zum berrfchenden zu 
machen, benn die Zuſammenſetzung feines Staates, aus diefen heterogenen 
einander faft diametral entgegenftehenden Elementen, mußte am allererftenlins 
ruhen, Bewegungen befürchten Laffen, wenn in die verfchtedenen Beſtandtheile 
politiſche Bildung, politifches Bewußtfein kommen follte. Deſterreich hatte 
es, tie bereits erwähnt, nicht verftanden, die fremden Nationalitäten durch en 
geiftige® Band, durch das Band der Civilifation und der Dankbarkeit an ſich 
zu ketten; «6 konnte ſich daher nichts Gutes von baher verfehen, wenn einmal 
die Völker von ber Frucht der Erkenntniß genoffen hätten! Ein anderer Staat, 
bee im fich felber eine natürliche Einheit hat, hervorgebracht durch die Gleich⸗ 
artigkeit feiner Bewohner, durch gleiche Nationalitaͤt, Sitte und Weife, 
kann fchon leichter einen Stoß aushalten, weil in ihm ſelbſt immer wieder 


= 


bie Bedingung feiner Zufammengehörigkeit liegt. Aber ein Staat, ber nur ein 
Amalgam von verfhiedenen Volkselementen iſt, die wetter durch fein Band 
als durd das eines gemeinfamen Herrſcherhauſes aneinander geknüpft find, 
denen ihre Verbindung durch nichts Lieb geworden ift, durch keine freie In» 
ftitutton, ducch Bein großes Nationalglüd, welche vielmehr in dem, was fie an⸗ 
einander feſſelt, nur — Trauer und zur Unzufriedenheit erblicken koͤn⸗ 
nen, ein Staat ohne alle natuͤtlichen Grundlagen zu einem wahren politiſchen 
Gemeinwefen, ohne alle Freithätigkeit feiner Mitglieder, eine bloße todte Mas 
ſchine, ein folher Staat kann feine großen Stoͤße vertragen, mögen fie mun 
von Außen kommen oder von Innen durch die Zerfehung feiner Beſtandtheile. 
Die öfterreichifche Regierung fühlte das tief. Und da fie num einmal nicht 
gefonnen zu fein ſchien, in ihrem Benehmen zu den beherrfchten Völkern et» 
was zu ändern, jo konnte die Politik, die ihr nun uͤbrig blieb, Feine andere fein 
als bie eben angegebene. Zunaͤchſt arbeitete fie darauf hin, den gangen Kaffer» 
ftaat nady allen Seiten hin hermetiſch abzufcyließen, damit das Gift potitifchee 
Aufklärung ja nicht in benfelben hineinkommen könnte. Aber mern die benach⸗ 
barten Völker derjelben theilhaftig waren , fo war das dody nicht gamy zu ver⸗ 
büren. Alſo beffer, auch diefe Möglichkeit hinweggerdumt und die Sands 
wuͤſte in weiten Kreifen um bie ganze Monardyie gezogen: und fo immer weiter, 
bis zulegt gar feine Spur mehr übrig blieb, ; 
Das Land, welches für Deflerreich am gefährlichften war, einmal wegen 
ber Nähe, dann wegen Gemeinſamkeit der Abftammung und Geſchichte, war 
Deutſchland. Ein Hauptaugenmerk der Habsburger war daber barauf geridh: 
tet, bie freie politifcdye Entwidelung in unferem Baterlande zu hemmen. Sie 
wandten daher ben Einfluß auf die deutfchen Angelegenheiten, den fie immer; 
hin noch ineinem hohen Grade befaßen, in diefem Sinne an, und was fie hier 
geleiftet haben, beftätigt zur Genüge die Wahrheit unferer obigen Behauptung, 
daß fie nämlich, wenn fie nur gewollt, auch in anderem patriotifhen Sinne 
hätten wirken Finnen. Bekanntlich waren ung alle Inftitutionen verbeißen, 
die zu dem Gedeihen eines mahrhuften Volkslebens unentbehrlich find: Ver⸗ 
faffungen, Preßfreiheit, Gemeinfamkeit des Verkehrs u. ſ. w. Ja, einige 
der minder mädhtigen Staaten, wie Naffau, Sadjfen- Weimar, Baiern, 
Baden, Würtemberg, hatten ſchon Hand angelegt, dem Beifte der Zeit, den 
Bedürfniffen der Nation folgend, neue Entwidelungen anzubahnen; in die: 
fen Staaten wurden Verfaffungen gegeben, die, wie Manches audy an ihnen 
noch zu wünfchen fein mochte, doc) wenigſtens den Anfang einer neuen Aera 
verbießen, auch ſchien die große Erregtheit der deutfchen Nation, welche ſich 
noch von den Zeiten der Freiheitskriege erhalten, dafür zu bürgen, daß fie rafts 
108 jenes Ziel verfolge, was ald dad allgemeine Biel des großen Freiheits: 
kampfes betrachtet ward, freie Entwidelung der Nationalität. Was war «6 
nun für eine Politik, welche zunaͤchſt den König eines großen deutfhen Volks: 
ftammes, Friedrich Wilhelm III. von Preußen, beftimmte, von der Bahn eines 
freien deutfhen Volksthums, die er zuerſt eingefchlagen, abzumeidhen und in 
die entgegengefeßte einzulenken; welche an Allem, was im Sinne des Fort⸗ 
fchritts in Deutfchland geſchah, mälelte, zerrte und riß und namentlich über 
die deutfche liberale Prefie Sodom und Gomorrah ſchrie; welche fi) bemühte, 


Habsburger. 641 


überall, wo ein ſchoͤner Bund zwiſchen Volk und Regierung beftand, wie z. B. 
in Weimar denſelben aufzuloͤſen und gegenſeitige Feindſeligkeit an bie Stelle 
beffelben zu fegen ; melde das Schreckbild einer furchtbaren weitverzweigten 
deutſchen Verſchwoͤrung erfand, um bie beutfchen Regierungen damit zu über: 
tumpeln und zu vermögen, in großartigen Style auf Ihre Reactionsvorfchläge 
einzugehen ?: Wir Eennen jest hinlänglich die Geſchichte ber Karlsbader 
Beſchluͤſſe. Wir wiffen, welcher Aufwand von Entſtellungen, Unwahr⸗ 
heiten, ja offenbaren Lügen gemacht werden mußte, um zum Zwecke zu ges 
langen*). Aber bie Urheber erreichten eben doch, was fie wollten. Sie 
unterbanden auch in Deutfchland den Nerv eines frifchen, freien Volkslebens; 
fie legten auch hier den Hemmſchuh der Reaction an und bewirkten durch Ihre 
raſtloſe Thätigkeit , daß wirklich von den großen Hoffnungen, mit denen fih 
das deutfche Volk getragen, keine in Erfüllung ging. 

Noch ein anderes Volk, deffen Geſchichte mit ber unfrigen viele Aehnlich⸗ 
keit hat, das ttalienifche, erhob ſich mit den anderen gegen bie Gewaltherr⸗ 
ſchaft Napoleon’6; auch dieſes wurde mit ben Berfprechungen einer ſchoͤnen 
großen Zukunft getäufcht ; nur in der Ausficht auf die Einheit Italiens, auf die 
MWiedererneuerung eines freien Staatslebens hatten die Patrioten die Waffen 
für die alten Dynaftien ergeiffen. Aber die Habsburger wollten ja bie Lom⸗ 
bardei, wie konnten fie die Einheit Italiens gutheißen! Sie wollten ferner 
bie Lombarben ebenfo behandeln wie ihre Übrigen Unterthanen ; wie konnten 
fie freie politifche Inſtitutionen dulden! Alſo vorerft jeden Verſuch zur Eins 
beit Italiens unmöglich gemacht ; die Habsburger brachten es dahin, daß 
die Italienifchen Staaten nicht einmal zu einem Stantenbunde zuſammen⸗ 
traten , wie die Deutfchen: deſto entſchiedener konnte das Uebergewicht Oeſter⸗ 
reichs fi ch geltend machen. Und diefe® wurde insbeſondere durch bie Unter 
ftägung erreicht, welche Defterreich willig den italleniſchen Regierungen ans 
gebeihen ließ, in ihren Beftrebungen, das alte Regime in ber ganzen Verwerf⸗ 
lichkeit früherer Zeiten wieder einzuführen. In der That, das war noth- 
wendig. Denn an fic waren bie italtenifchen Regierungen nicht ftark genug, 
um dem Unmwillm bes Volkes Stand halten zu können, nur buch die Waf⸗ 

fengewalt einer fo impofanten Macht, wie bie Öfterreichifäe ‚ tonnte ihnen 
gelingen, ſich zu behaupten. 

Aber was wider die Natur ift, kann ſich auf die Dauer nicht Halten. 
Die Reftaurationen nad) dem Sturze Napoleon's, welche nicht ſchnell genug 
alles Verwerfliche ber vergangenen Zeiten wieber einführen tonnten, übereilten 
fi einigermaßen ; die Völker griffen zu den Waffen ; es erhoben fi 1820 
die Spanier, die Portugiefen, die Neapolitaner, die Piemontefen , die Stier 
chen; felbft in Deutfchland brachen Unruhen aus, und fogar unter den regte 
senden Häuptern ftellte ſich nachgerade die Uebergeugung feft, daB man 
furchtbar getäufcht worden fel, und daß man im Begriff ſtehe, durch die 
Nachgiebigkeit gegen gewiſſe Einflüfterungen das ganze Vertrauen der Voͤlker, 
bie ganze Öffentliche Meinung zu verlieren. Daher der Verſuch im dem 

*) Berg: „Wichtige Urkunden — den Rechtszuſtand ber deutſchen Nation.“ 
Sezaußgegeben von ©. Welcker. Mannheim, Baflermann. 2%. Auflage. 1845. 
Suppi. 3. Gtaatsier. II. al 


642 Habsburger. 
zwanziger Jahre bei — a — 
——————— Dr Shan 


Es war bamals für Defterreich —S Zeitpunkt, und leicht hatu 
A in andere Wendung nıhmen können. Aber das Gl, weiches fo.oft 
burger begünftigt, unterflügte ſie auch biefes Mal. Es gelang in Ber 
mit den übrigen abfoluten Mächten, die ganze Bewegung zu unter 
** zuerſt die italienifche im Jahre 1821, wodei die Oeſterreicher mie 
er, die Hauptrolle fpielten, dann die fpanifche im Jahte 1823 durch bie 
ofen, welcher dann die entichieden durchgreifende Meaction in Deuiſch⸗ 
| land folgte. Der Schlauheit öfterreichifher Politik gelang «6, die ganze. ge 
waltige Oppofition des minder mächtigen deutſchen Fuͤrſtenthums, welche ſich 
ondere am beutfchen Bundsstage zeigte, aufzuloͤſen und jene befanntı 
un de8 Bundestags eintreten zu laffen, 
+... Die Bewegungen in Folge der Julivevolution, welche vielleicht noch ge: 
icher waren als die nad) den Freiheltßfriegen, wurden von ben Habsbur 
gern auf diefelbe Weife behandelt und auch befeitigt. Sie erfchienen zus 
in. Stalin, wo ſich der Drang nad) politifcher Freiheit dies mal wie 
—— hatte, in Modena wie im Kirchenſtaate (1831), als bie 
ah politifchen Stocdmeifter und halfen den dortigen Regierungen ihre 
an den empoͤrten Unterthanen ausüben. Sie gabenfihdann alle Muͤhe, 
rend welche nicht minder politifch erregt waren und denen es beraiıs 
gelungen war, ihre Fuͤrſten zu Eonceffionen zu bewegen, wieder in das ge 
55 Gleis politiſcher Bevormundung zuruͤckzufuͤhren. Es erfolgten die 
ndesgeſetze von 1832 und bie rn Miener Conferenzbefchläffe vom 
Sabre 1834; es trat wieder eine Zeit politifcher Debe und Traurigkeit in un 
ferem VBaterlande ein, welche der von 1824 — 1830 nichts nachgab. 

Und wie haben fich denn die Habsburger zu der anderen Aufgabe ver: 
halten, die wir oben ebenfalls als die ihre bezeichnet, nämlih für Deutfd: 
land gleichſam die Vorhut gegen den Often zu fein? Anfangs allerdings ſchei⸗ 
nen fie ıhre Stellung richtig beurtheilt zu haben. Auf dem Wiener Congrefie 
widerfeßten fie fi mit vieler Energie dem Streben Rußlands, durch die 
Befisnahme des Herzogthums Warfchau fich des größten Theiles von Polen 
zu bemädhtigen und dadurch ſich immer weiter gegen den Weften vorzu 
fhieben. Wir mwiffen, daß dazumal ein Bund zwifchen Oeſterreich, Eng⸗ 
land und Frankreich zu Stande gekommen ift, welcher unter Anderem zum 
Zwecke hatte, diefe ruififhen Vergrößerungsplane zu zerflören. Die unver 
muthete Wiederkunft Mapoleon’s loͤſte nun freilich diefen Sonderbund auf, 
und Rußland wußte fich doch im Befige des größten Theile von dem, was es 
wollte, zu behaupten. Die Eiferfuhht Defterreiche gegen Rußland hörte aber 
nicht auf, und fie zeigte ſich namentlich bei der Infurrection der Griechen. 
Die Unermüdlichkeit, mit welcher Defterreichh damals gegen die Griechen 
agierte, namentlidy gegen ihre Unterftügung von Seiten der Großmaͤchte, hatte 
allerdings aud) ihren Grund in dem Widerwillen der Habsburger gegen jede 
Sceiheitsaußerung — fie warfen den Unabhängigkeitsfampf der Griechen in 
Eine Kategorie mit den revolutionären Verſuchen in den anderen europdifchen 
Ländern — aber es war dies nicht der einzige; zugleich nämlic, hatten fie das 
















Habsburger. 648 


Uebergewicht Rußlands über die Pforte int Auge, weiches nach ihrer Be⸗ 
rechnung erfo:gen mußte, fo wie die Griechen reuſſirten, insbeſondere aber, 
wenn fie durch die Ruffen unterflügt würden. Die Öfterreichifche Politik 
tannte recht gut das Project der Ruſſen, ſich über kurz oder lang in die Erb⸗ 
fhaft der Türkei au fogen,, und gab ſich dann, da eine ſolche Vergrößerung 
des Nachbarreiches ihr durchaus nicht genehm fein konnte, alle Mühe, baffelbe 
zu verhindern. Es war freilich eine armfelige Politik, auf Koften ber armen 
Griechen das erreichen au wollen, und es hat ſich bald herausgeſtellt, daß alle 
SIntriguen, welche Defterreich ahwundte, um die Dellenen wieder in bie Feſſeln 
des Halbmonds zu werfen, zu nichts führten, vielmehr wurde die Unab⸗ 
haͤngigkeit derfelben von Seite der Großmaͤchte anerfannt. Deſterreich bes 
barrte jedoch, und mit Recht, bei feiner eiferfüchtigen Haltung gegen Ruß⸗ 
Land und hatte bald noch mehr Gruͤnde dazu als bisher. Die Ruffen hatten 
es nämlich durch ihre Schlaubeit dazu gebracht, daß zwifchen ihnen unb 
der Pforte im Fahre 1828 ein Krieg ausbrach, der von ber suropäifchen 
Diplomatie nicht mehr gehindert werben konnte. Nichts hatte man aber mehr 
gefürchtet als gerade diefes, weil man glaubte, daß die Pforte dann rettunges 
los verloren fei und Rußland ale Sieger ſich nur mit dem Beſten begnügen 
werde. Nichts fchien.unter foldyen Umftänden retten zu koͤnnen als ein Bund 
der anderen vier Großmächte gegen die ruffifdyen Eroberungsentwürfe. 
Defterreich unternahm #8, einen ſolchen Bund zu Stande zu bringm. Es 
ift dies die großartigfte That, welche in der neueſten Zeit von der habe: 
burgifchen Politik ausgegangen iſt, und wir find geneigt, fie von ganzem 
Herzen anzuerkennen. Nur freilich fragte es fi, ob die habsburgiſche 
Diplomatie diefeibe Meifterfchaft, welche fie gezeigt, als «6 fih darum 
banbelte, die europdifchen Regierungen gegen die Volksbewegungen zu vers 
einen, auch jegt nıwideln werde, als ein Bund gegen den gefährlichfien 
Feind der Unabhängigkeit der eutopaͤiſchen Staaten zu Stande gebracht wer⸗ 
den follte. Und da müffen wir geflehen: die Habeburgifche Diplomatie wurde 
von der moskowitiſchen weitaus uͤberfluͤgelt. Jene konnte höchftens Eng⸗ 
land auf ihre Seite ziehen, während dieſe Frankreich und Preußen für fich 
gewonnen hatte, und zwar in einem foldyen Grade, daß fich diefe beiden 
Mächte in einen Bund mit Rußland gegen die beiden andern einzulaſſen ges 
neigt waren. Deſterreich fürchtete aber einen allgemeinen Krieg , befonders 
wegen der inneren Politik; es gab alfo nach; fo Fam ber Friede von Adria⸗ 
nopel 1829 zu Stante, durch welchen das Uebergewicht Rußlands in den 
orientalifchen Angelegenheiten fo ziemlich entfchieden warb. 

Es folite ſich aber bald eine faft noch beffere Gelegenheit zeigen, um Ruß⸗ 
land zu ſchaden, nämlich die Revolution ber Polen im Jahre 1830, 1831. 
Auch bier fcheinen bie Habsburger anfangs den rechten Geſichtspunkt gehabt 
zu haben. Es ift befannt, daß fich die Öfterreichifche Negierung zuerſt freund⸗ 
ſchaftlich zur polnifchen Inſurrection verhielt, daß fie derfelben verflattete, auf 
ihrem Gebiete bie nöchigen Aufläufe zu machen, ja daß fie ben Polsm ihre Uns 
terſtuͤzung verhisß, wenn fie nur verfprechen wollten, keine republikanifche 
Verfoffung einzuführen. Unbegreiflicher Weife jedoch änderte ſich auf einmal 
das Verhalten der oͤſterreichiſchen Regierung: fie trat nun plöglich feindfellg 

41* 


644 Habsburger, 


gegen bie Inſurreetlon auf, und dieſer Wechfel der Geſinnung hat nicht ſein 
Be Theil zu dem Umſchwung der Dinge in Polen beigetragen. Wenn 
Mi bedenkt, wie große Erfolge bereits die Dolen errungen hatten ‚ mie 
ſchwach dagegen die militaͤriſche Bedeutung ber Ruffen ſich berausftellte, fe 
mußte jeder unbefangene Beobachter zur Ueberzeugung gelangen, daß bie Po: 
fen, wenn fie noch dazu einen Ruͤckhalt an einer fo grofen Macht wie Oeſter⸗ 
eeich gehabt, zweifelsohne reuffirt haben würden, und Defterreich hätte gerade 
hier die eclatantefte Genugthuung für alte Niederlagen erhalten , welche u 
gegen die ruffifche Politik bisher erlitten. Um fo ambegreiflicher, wie gefagt, 
war bie plögliche Wendung In der habsburgifchen Politik. Man: fudyte ſich 
biefe Thatſache bald durch Allerlei au eeäten; wo bie Beſtechung denn 
auch ihre Rolle fpielte. in 
Aber vorm biefer Zeit an Ändert fich überhaupt * habsburgiſche MPolitit 
iht em oͤſtlichen Nachbar gegenuͤber. Sie ſcheint die ganze Vergangenheit ver: 
ſſen zw haben, fo groß iſt der Wechſel, welcher in ihrer Haltung vitttrat. 
ee dehnten ihren Einfluß immer weiter aus, insbefonbere im den 
Donaufiteftenthümern; Moldau und Walachei fanden faft ganz unter ihrer 
Bormäßigkeit; in Serbiem hatten fie die Karten fo gemifcht, nen 
ber dortigen Wirren kaum ohne fie zu Stande gebracht werden zu koͤnnen 
ſchien; in Bosnien und in Montenegro hatten fie ihre Anhänger‘, fafeiber 
in den öfterreichifchen Rändern hatten fie ihre flnvifchen Propagandiften ver: 
gefhoben. "Aber die Habsburger verhielten ſich ruhig zu all dieſen Machine 
Anm, fie thaten nichts, um dem ruffifchen Einfluß nur einigermaßen die 
Mage zu haften, ja ſie benutzten nicht einmal Verhaͤltniſſe, die ihnen fo zu 
fagen auf dem Präfentirtellee entgegengetragen wurden, wie z. B. die fer: 
bifchen ; wie gern hätten fich die Serben ſchon unter Czerny Georg an Defter: 
veich angefchloffen! und weldy mächtigen Anhalt hätten die Habsburger da: 
duch für ihren Einfluß in den orientalifchen Angelegenheiten erlangt! Aber 
fie verbielten fi durchaus paffiv! Thaten fie ja nicht einmal etwas, um bie 
Verfandung der Donaumündungen aufzuhalten, welche die Ruffen abficht: 
lich einreißen ließen! Man Fann fich diefe gänzliche Unthätigkeit gegenüber 
der angeftrengteften Rührigkeit der Nuffen leicht erklären. Die Habsburger 
fürdyten nichts mehr al8 einen allgemeinen Krieg, in der That mit Redıt, 
weil ihre Staatsverhältniffe einem ſolchen nicht mehr gewadjien find. Aber 
anftatt mit Kraft und Energie den faulen led in denielben hinmwegzurdumen 
und neue Schöpfungen hervorzurufen, welche fähig wären, drohenden Stür: 
men zu begegnen, begnügen fie ſich mit Palliativmitteln und mit Friedens: 
gefinnungen, welche hier natürlich nur mit Schwäche gleichbedeutend fein 
£önnen. Sie glauben, auch hier helfe ihnen ihre gewohnte Taktik, die Dinge 
geben zu laffen, wie fie gingen, und nicht unnöthiger Meife die Snitiative 
‚ zu ergreifen, welche zulegt zu verderblichen Entwidlungen führen könnte. 
Und wozu hat denn aber die Politif der Habsburger geführt ? Faſſen 
wir einmal die Refultate ind Auge! Allerdings, in Deutfchland ift es ihnen 
gelungen, die politifche Entwicklung aufzuhalten, aber nur die äußere, nur 
die Entwicklung der politifcdyen Formen, keineswegs die innere, die Entwick⸗ 
lung der Geifter, diefe ift vielmehr in demfelben Maße geftiegen,, als die 


Haböburger. . 645 


Reaction ſich breit gemacht hat, umb die Daltlofigkeit der jegigen politifchen 
Zuftände von Deutfchland.ift niemals fo fehr die Weberzeugung der öffentlichen 
Meinung gewefen wie in der Gegenwart, niemals war fie ſich aber auch fo 
klar über die Rolle, welche Oeſterreich bezüglich unferer Zuftände gefpielt, 
ale jetzt. — Und ift e8 den Habshurgern etwa gelungen, „das Gift‘ der 
politifchen Aufklärung von ihren eigenen Völkern abzuhalten, dadurch, daß 
fie den politifchen Zod ihrer Nachbarvoͤlker intendirt € Keineswegs. Mäch- 
tiger denn je haben fıch in den legten Jahren die Nationalitäten ber eins 
zelnen Deſterreich unterworfenen Völker erhoben; energifcher denn je regt 
ſich in ihnen der Drang nad politifcher Selbftftändigkeit. Selber in den 
deutſchen Provinzen fängt num eine Oppofition ſich zu geftalten an, welche 
mit jedem Momente an Breite und Tiefe gewinnt, deren Bedeutung ſchon 
aus dem einzigen Umflande zu erkennen ift, daß die gefammte deutfche liberale 
Literatur dost gerade ihren größten Abfag findet, trog aller Polizei, trop allec 
Geifteefperre! Und die Staven, die Ungarn, die Staliener? Iſt es den 
Habsburgern etwa gelungen, bie italienifche Nationalität aufzulöfen? Iſt 
nicht vielmehr der Haß gegen fie zum Nationalcharakter der Italiener ge 
worden? Unb fireben nicht die Ungarn mit jedem Jahre nach einer weiteren 
Entwidlung ihrer nationalen und politifchen Inſtitutionen? Wie aber die 
Slaven gegen die Regierung geſinnt find, bat man bei den Vorgängen in 
Salizien gefehen. Diefe Erxeigniffe enthüllen beffer wie alles Andere die 
Bodenlofigkeit der habsburgifchen Politit. Die Zuflände in diefem Lande 
waren gräßlich, namentlich die niederen Menfchenclaffen befanden fich in den 
traurigften Verhältniffen. Sie waren der Regierung nicht unbelannt. Hat 
fie aber freiwillig irgend etwas gethan, um fie zu mildern? Nein! dem 
felbft die vortrefflihen Einrichtungen, welche Joſeph II.. getroffen, bat bie 
jegige Regierung allmälig wieder In Verfall gerathen laffen. Es war ihr nicht 
darum zu thun, überhaupt das Loos des Volkes zu verbeflern, das ihr gleich» 
gültig iſt. Sie glaubte ſich auf die Treue des Adels verlaffen zu können, 
dem fie den gemeinen Dann geopfert; was brauchte fie mehr ? Sie ließ alfo 
die Dinge geben, mie fie gingen. Nun aber erfolgte die Stevolution vom 
vorigen Jahre. Diefe zeigte denn zur Genüge, wie unterhöhlt der Boden 
war. Es mar gerade der von ihr begünftigte Adel, welcher ſich an bie Spitze 
derfelben ſtellte. Er hätte, wie verfichert wird, auch den gemeinm Mann 
mit ſich fortgeriffen, dem Erleichterung feines Loofes verfprochen werden 
foute. AU diefe vielfach gerühmte Politik der Habsburger hat es doch nicht 
dahin gebracht, dag man eine Empdrung mit den gewöhnlichen ordnungs⸗ 
mäßigen Mitteln dämpfen konnte. Nein! Dan mußte zu den Schredniffen 
der aufgeregteften Zeiten greifen. Und was thut die Regierung weiter? Sie 
verfpricht Linderung bes Loofes der Bauern, Ablöfung der Frohnden und 
Zehnten, kurz Abſtellung von Mißbräuchen, die noch aus dem Mittelalter 
ſtammen, über melche bie neuere Zeit laͤngſt den Stab gebrochen, welche jedoch 
die conjervative Politif der Habsburger fortwährend wie Schooßkinder gepflegt 
hat, deren Beibehaltung fie zur Niederhaltung der Volksentwicklung für noth⸗ 
wendig erachtete. Alſo nun muß fie dergleichen doch verfprechen ? Und noch 
dazu gezwungen durch eiferne Nothwendigkeit? Muß endlich body baran 


646 Hambacher Feſt. 


gehen, Ähnliche Mißſtaͤnde In der geſammten Monarchie aufzuheben ? Alf 
fie muß? Alſo es ift ihe mit allen den ungehruern Mitteln, die fie aufg: 
wendet, doch nicht gelungen, fich den Forderungen der Zeit zu entziehen? 
aber urtheilt man ? Abgebrungene , abgetrogte, erprefite Gonceffionen haben 
nie die Wirkung, welche bei rechter Zeit gewährte haben können. Sie 
‚beurfunden vielmehr die Schwäche der Regierung, mährend bie legterm 
von dem Wohlmollen derfelben zeugen. 8. Dagen. 
Hambacher Fef.— Blutige Ereignifie am Jahrestage 
deffelben zu Hambad und Neuftadt an der Haardt. — Dir 
Landauer Affiffe!), 1. Die frangöfifche Julirevolution brachte in 
Rheinbalern einen befonders lebhaften Widerhall hervor, Bu den allge 
meinen Befchwerben der gefammten deutfchen Nation über Unterbrüdung der 
Prefie, Abſchließung durch Mauthen, Nichtverwirklichung des Mepräfente: 
tlvprincips im Geiſt⸗ und in der Wahrheit — kamen hier noch viele beſondere 
Klagen, zum Theil von bedeutender Schwere; fo namentlih: Beizichung 
des Landes zur Tragung der baierifchen Staatsſchuld, während dafjelbe fein: 
eigenen Schulden als Gemeindefhulden allein tragen mußte; Abgabemüber 
bürbung ; Hinweghlehen geoßer Geldfummen aus dem Lande?) ; ungünftig 
Liquidation der Forderungen rheinbaterifcher Bürger an Frankreich, vorge 
nommen durch die baleriſche Regierung ?); Wiedererrichtung von Kloͤſtem 








1) Der wichtigfte Theil unferer beutfchen Gefchichte in den letzten deri 
fig Jahren ift das Streben nad) politifher Freiheit umd die Reaction bagesın 
In biefem Kampfe fpielen eine ſehr bedeutende Rolle an fich traurige — virl: 
leicht, wenn fie, wie zu fürchten ftebt, fich erneuern, böchft gefährliche Kämpft 
bes Militärs gegen bie Bürger in vielen Städten zur angeblichen ober wirt: 
lichen Wieberberftellung geftörter Ruhe. Es ift politifch michtig und Tehrreid, 
folhe in ihren Urfacdhen wie in ibren Wirkungen böhft bedeutende &: 
fheinungen zur Belehrung und Warnung in leidenfchaftslofer Wahrheit, mi 
fie vorzüglich der Ablauf einer längeren Zeit nach ihrem Gintritt möglich macht, 
vor ben Richterftubl der öffentlichen Meinung der Nation zu ſtellen. Deshalb 
hielten wir cs für Pflicht, diefer Darftcllung eines hochgeachteten Mannes, di 
uns von den anerlannteften Männern der Provinz beftätigt wurde, die Aufnahm: 
nicht zu verfagen, und werden es in Beziehung auf die Vorgänge in mebreren 
anderen Städten, wie Leipzig, Köln u. f. mw. ebenio halten. Soli 
trog unferer Sorgfalt dennody irgend in einem Punkte cin Irrthum unter: 
laufen fein, fo wird eine Berichtigung uns felbft willkommen und den Berheilig: 
ten die DVeranlaffung dazu vortheilhaft fein, da die hier mitgetheilten Erzählun: 
gen in ber Provinz verbreitet find und allgemein geglaubt werben. 
Anm. der Redact. 

23) Nach der Angabe des damaligen Directore ber rheinbaierifchen Finanz: 
fammer Frhrn. v. Seutter, in feinem Werke über „Befteuerung der Völker 
wurden von 1816 bis 1827 über zwanzig Millionen Gulden aus Rheir: 
batern nach dem Mutterlanbe hinübergegogen. 

3) Als das Land mit Deutfchland wieder vereinigt wurde, hatten fehr viel 
Bewohner, Gemeinden u. ſ. f. noch Geldforderungen an Frankreich. Die baic: 
tifhe Kegierung nahm dic Unterhandlungen an fich und fihloß unterm 25. Apr. 
1818 einen Vertrag mit der franzöfifchen Regierung ab, nach welchem die legte, 
zur Zilgung jener Forderungen, 500,000 res. Renten in Anferiptionen in das 
große Buch (ein Sapital von 10 Millionen repräfentirend) mit Genuß (Zinfen) 
vom 22. März 1818 an, an Baiern abtrat, unter Anderem mit der ausdrüd: 


Hambacher Fefk 647 


und überhaupt Bekaͤmpfung einer freieren geiftigen Richtung ; dabei Zuruͤck⸗ 
fegung der Rheinbaiern bei Anftelungen im Eivils und Militärbienfte des 
Staarst)u.f.f. Diefe und eine Reihe anderer Regierungsanordnungen 
ftetgerten die Aufregung und Exbitterung in einem hohen Grade; fo naments 
lich die verfuchte (durch die Unabhängigkeit der Gerichte vereitelte) Verſetzung 
des Landeommiffäre Siebenpfeiffer als Zuchthausvermalter; die Untere 
drädung ber Zeitfchriften: „Deutſche Zribäne” von Dr. Wirth und „Werft: 
bote”’ von Dr. Sirbenpfeiffer (dabei insbefonbere die ungeſchickt verfuchte 
Rechtfertigung des Verſiegelns der Druderpreflen mit dem Srundfage: die 
Polizei dürfe auch die Backoͤfen verfiegeln!) Die fpätern Veränderungen 
im Perfonalftande der Gerichte und ber Verwaltung, VBerfegung oder Penflo» 
nirung freifinniger Männer, Anftelung von Leuten, wie des Kammer⸗ 
herren von Böhnen, der, kaum zum Friedensrichter ernannt, durch ein Ur» 
theil des Appeuhofs wegen Betrugs im Spiele zur Zuchthausftrafe verur- 
theilt werden mußte; willtürliche Verhaftung und Austreibung fogenannter 
„Ausländer, d.h. anderer Deutfcher, aus dem Kreiſe; unverfennbares Ders 
vortreten von Spionerien und Denunciationenz; Einlegen von Gensd'armen 
in Die Wohnung eines Bürgers , felbft bei Nachtzeit, u. dgl. mehr. 

Es laͤßt fih denken, mie alle diefe und noch manche andere Vorkomm⸗ 
niffe auf bie Volksſtimmung wirken mußten. Dennoch verdankte das hieran 
fi) reibende Hambacher Feſt, fo wie es ftattfand, eigentlich mur einem 
Zufalle feine Entſtehung. 

Einer oder der andere der Gaſtwirthe von Neuftabt an der Haarbt 
wollte eine größere Luftbarkeit veranftalten, unverkennbar zumaͤchſt nur in 
feinem pecuniären Intereſſe. Um die Sache lockender zu machen, follte 
diefelbe am Jahrestage ber balerifchen Conſtitutionsverkuͤndigung, 26. Mat 
1832, ftattfinden, und zwar auf der (von Neuſtadt nur eine Stunde Weges 
entfernten) Hambadyer Burgruine, nach welcher Die Bewohner von Neuſtadt 
und ber Umgegend ohnehin von jeher haͤufiz Ausflüge machten. "Die ano» 
nym veröffentlichte Aufforderung wurde von einem Manne abgefoßt, ber 


lichen Bebingung, daß „am Ende eines jeden Monats benjenigen Individuen, des 
ven Forderungen liquidirt fein würden, bie betreffenden Inferiptionen im Dris 
ginale ausgehändigt werben follten.” (Art. 8.) Dies gefchab aber nit. Wan 
liquidirte zu München über 10 Jahre lang und gab dann den Bläubigern im 
Jahre 1825 — 40 Procent ihres anerfannten Buthabens, das ift nicht einmal voll: 
ftändig die verfallenen Zinfen, und gar nichts vom Kapital! (©. die 
Drudicrift: „Worftellung an die hohen Stände des Reichs von Seiten ber Abs 
„geordneten Culmann, Wilih, Klein, Schuls, Heidenreich, Fitting, Schicken⸗ 
„dang und Foliot, die Forberungen baierifcher Otaatsangepbriger an Frank⸗ 
„ceih, und die unter biefelben in Gefolge der Verordnung vom 7. Apr. 1828 
bertheilte Summe betr. München, 1831, gedrudt bei Dr. Wolf.” 

) Des Krei⸗landrath bat dieſen Beſchwerdepunkt wiederholt hervorgeho⸗ 
ben, unter Anderem im Jahre 1832 unter Angabe des folgenden factiſchen 
Berhältniffes: „Der Rheinkreis zähle jezt 115 Givilbeamte aus dem jen⸗ 
feitigen Staatsgebiete, welche nicht weniger als 13,000 fi. Gehalt begögen, 
wägeen von den diefleitigen Staatsbuͤrgern hoͤchſtens 5 in den älteren Kreifen 

ommen gefunden hatten. *" Und nody ſchlimmer ſteht es bei dem Militär. — 


648 Gambacher gef, 


ſich nicht bes beften Rufes erfreute und namentlich eines gemeinen Vergehens 
wegen früher als Beamterrcaffirt morben,mar. 

Siebenpfeiffer, der damals in Haardt bei Neuſtadt wohnte, war unge 

em darüber, daß hier ein Sonftitutionsfeft auftauchen follte, wäh 
send er die baierifche Verfaſſung als ein Hinberniß bes Kortfchritts , dar⸗ 
um als fchädlich und verwerflich betrachtete; auch erbitterte e8 ihn, baf 
etwas Derartiges ohne ihn geſchehen folle. Darum verfaßte er einen Auf: 
euf zur Abhaltung eines anbern Feſtes, das zwar am naͤmlichen Ort 
(als dem geeignetften Plage) , aber am 27. Mai und den nichftfolgenden Zu 
gen fkattfinden und „nicht dem Errungenen, ſondern dem zu g 
gelte , nicht bem ruhmvollen Sieg, fondern. dem mannbaften Kampfe, bem 
Kampfe für Abfhüttelung innerer und äußerer Gewalt, für Erftrebung gefeg 
licher Freiheit und deutſcher Nationalwuͤrde.“ 

Der Regierung verurfachte fchon die erfte Ankündigung ziemlichen 
Schrecken. Aber auf die zweite ‚hin glaubte fie entſchieden einfchreiten zu 
müffen. Der damalige Öeneralcommiffär im Rheinkreife, Srhr.v. Anbrien: 
Werburg, erließ ſonach ein Publicandum, in welchem das beabfichtigte Feſt 
als unerlaubt erklaͤrt, und beigefügt murbe: „bie Partei der Uebelge 
finnten firebe unter einer fcheinbaren Legalität nah Aufldfung der befte 
benden Ordnung.” Das fragliche Feſt wurde als „febitiöfer Tumult und Zu 
 fammenzottung” qualificirt, die gewaltfame Ausrinandertreibung ber Ber 

ſammlung angeordnet, und überdies verfüat, daß vom 26. bis 28. Mai fo 
wohl in Neuftabt als in ben benahbarten Orten Winzingen, Ober:, Mittel: 
und Unterhbambadh ‚allen Frembden, b.b. allen nicht dort domicilirten ober in 
Dienften jtehenden Derfonen ein Zutritt oder Aufenthalt nicht geftatter far”; 
die Polizeiflunde warb für jene Zage auf 8 Uhr feitgefegt ; der Zufammenttitt 
von mehr ald 5 Perfonen unterfagt u. ſ. w. u. f. mw. 

Eine folche Blokadeerklaͤrung ganzer Gemeinden inmitten des Frie⸗ 
dens, von der man, fo lange die bermalige Geſetzgebung befteht, Fein aͤhn⸗ 
liches Beifpiel hat, ermangelte nicht, die Erbitterung ungemein zu vergee: 
fern. Es regnete Proteftationen, worunter eine vom Neuftädter Stadtrathe 
felbft,, andere, mit Taufenden von Unterfchriften, Famen aus allen Theile 
des Kreiſes. Die Staatsregierung erkannte, daß die angeorbneten Maß⸗ 
regeln nicht durchzuführen feien: fie desavouirte ihren Generalcommilfär 
öffentlich (durdy Bekanntmachung ihres Refcripts an denfelben). v. Andrian 
mußte das erlaffene Verbot wenigftens bedingt zuruͤcknehmen, für Die 
jenigen naͤmlich, weldye ein „Conſtitutionsfeſt“ feiern wollten. Es genügte 
Solches nicht mehr. Der eben zufammenberufene Landrath begann feine 
Sigungen damit, eine Beſchwerde durch Eftafette an den König zu fenden. 
Unmittelbar nad) diefer Abfendung erklärte der Generalcommiſſaͤr das Verbot 
des Feſtes unbedingt aufgehoben. 

Es war dies der legte Sieg, deffen fich der Liberalismus in den 1830er 
Fahren in Rheinbaiern erfreute. 

Das Hambacher Feft fand flatt. Derdem Haupthöhenzuge der Haardt 
etwas voranftehende Berg, auf welchem ſich die Ruine des Hambacher Schlof: 
ſes befindet, mar mit 10 bie 15,000 Menfchen bededt. Die meiften Mit- 


Hambacher Zeil. 649 


glieder des Kreislandraths hatten fich eingefunden. Auch Boͤrne war aus 
Paris gelommen. Viele Reben wurden gehalten — bie meiften ohne eini= 
gen Werth, alle ohne praktifche Bedeutung. Es waren meiſtens allge 
meine Phrafen gegen Unterdruͤckung durch die Sürften ; nicht ein Vorſchlag, 
was dagegen zu thun fei. Die Worte der Sprecher verhallten in ben Luͤf⸗ 
ten ; die wenigſten der Anweſenden konnten Senen nahe genug kommen, um 
fie aud) nur verſtaͤndlich zu hören. Außer Wirth und Siebenpfeiffer fprachen 
ohnehin nur ganz unbedeutinde Perfonen. Bon den eigentlihen Korpphäen 
des Liberalismus trat, außer etwa den beiden genannten Männern, nicht 
Einer auf. Im Ganzen herrfchte auch nicht eine leitende Idee. Planlos 
ward bin und her gefprochen und declamirt. Niemand fland an der Spige, 
der die Verhaͤltniſſe und die Aufgabe der Zeit wirklich klar begriffen Hätte — 
Wie dem fei: friedlih und ruhig ging des Abende das verfammelte Volk 
aus einander, unter den Dauptleitern des Feſtes aber war ber Same der 
Zwietracht aufgegangen. Dr. Wirth hatte in feiner Rede entfchiebenen 
Franzoſenhaß gepredigt und — das Comite des Preßvereind angegriffen, an 
defien Spige fich der Abgeordnete Advocat Schüler befand. Die Ber: 
bandlungen, welche am naͤchſtfolgenden Tage unter den hervorragendſten 
Betheiligten im Schießhaufe zu Neuftadt ſtattfanden, vergrößerten ungemein 
die Spaltung. — 

Bu dem Hambacher Feſte mar man von allen Seiten herzugeſtroͤmt, 
ohne daß nur Einer ſich zuvor Elar gemacht hätte, was und auf welchem 
Mege etwas erfirebt werden koͤnne. Die Einen waren gelommen, um 
ſich veben zu hören, die Andern wollten vorerfi nur hören und dann nad) 
Umftänden abs und zugehen. So fehlte von vorn herein jeber Plan, jede 
Einheit in der Sache. Man bonnerte mit allgemeinen Phrafen gegen die 
Fürften, ale die Verderber des Volksgluͤckes, hütete ſich aber wohlweislich, 
zum Sturze bes Fuͤrſtenthums aufzufordern, was, wenn auch noch fo unaus⸗ 
führbar unter den gegebenen Verhälmiffen, doch das einzig Confequente 
geweſen wäre. Ein Hauptfehler beftand insbefondere darin: man hatte die 
englifche Sitte einer großen politifchen Volksverſammlung nachgeahmt. 
Man vernachläffigte aber die weiſen englifchen Einrichtungen eines Praͤ⸗ 
fidenten u. f. w., um die Ordnung zu erhalten. Man befolgte noch weniger 
die engliſchen Srundfäge kräftiger praktiſcher, aber gefeglicher Beſchluͤſſe 
und Mafregeln. 

Ueber das Hambacher Feſt Hatte eigentlich Niemand ſich zu freuen Urs 
fache als — der Abfolutismus. Jene Verſammlung konnte deffen Macht 
nicht anzugreifen wagen, dagegen entzündete fie die Fackel des Zwiftes und 
mitunter bes giftigen perfönlichen Haffes unter manchen ber Wortführer des 
damaligen Liberalismus, und — biente zum erwünfdhten Vorwande, mit 
den grellften Reactionsmafßregeln offen und gemaltfam herporzu> 
treten. 

Mit Riefenfchritten begann denn von jegt an wirklich die Reaction. 
Die bekannten Bundesbefchlüffe vom 28. Juni 1832 erfchienen; fie ftügten 
fih bekanntlich ganz befonders auf die Vorgänge beim Hambacher Fefte 
obſchon feitbem ermittelt worden, daß fie ſchon vor demſelben intentirt und 


! 


650 Hambacher Feſt 
verabredet waren. In gleicher Welfe erlleß die baterifche Meglerung bereits 
fon unterm 2. Juni ein Publicandum, in weichem fie erklärte, wenn die 
„Geſetze“ des Rheinkreiſes zur Baͤndigung einer aufrührerifhen Faetion 
nicht ausreichen follten, fo werde man „mit voller Macht und allen den 
Mitteln einſchreiten, welche von der Vorſchung in die Hände des rechtmaͤßigen 
fan gelegt feien.” Zugleich wurde der Marſchall Wrede mie einer um 
ehnlichen Truppenmacht nadı dem Rheinkreife gefendet; die Hambacher Red 
ner, namentlidh Wirth und Siebenpfeiffer, wurden verhaftet ; bie im Sande 
noch anweſenden Polen ausgetrieben, und gegen ben Deputirten Schüler 
u. U. Verhaftbefehle erlaffen, denen ſich diefelben nur durch die Flucht ent» 
zogen. Andere Verhaftungen folgten in Menge. — Nach allen Beziehun: 
a bin vollführte man jeht jene Mafregein, die man Insgeheim zuvor 
— Beabftchtigt, ſelbſt verabredet und befchloffen Hatte. Das Hambadır 
Feſt aber mußte Überall als Vorwand, als Deckmantel dienen. Darum gin⸗ 
or auch jene Mafttegein weit über Alles hinaus, was man vernünftiger 
eife mit dem Hambacher Fefte in irgend einen, fetbft nur mittelbaren Zu 
fammenbang bringen konnte, — 
Ssoo kam es, daß namentlich in Rheinbalern fehr bald ber Schreden 
über das ganze Land herrſchte. Außerben vorbin fpectell angegebenen, trugm 
d andere Vorkommniffe dazu bei. Insbeſondere entftanden vielfach Strei⸗ 
tigkeiten zroifchen dem Militär und ben bürgerlichen Einwohnern, bie nicht 
* ohne Provocatlon der legten, zu deren Nachtheil, und zwar blutig, en 


IT. Ein erſter b.deutenderer Vorgang biefer Art trug fich zur met 
brüden, bei der Irheimer Kirchweihe zu, mo Soldaten einige Wirthſchafts— 
gärten und Tanzſaͤle mit Steinwürfen angriffen. Ein geachteter Bürger, 
Kaufmann Thenfon, trat heraus, um die Soldaten zu beruhigen: ein 
Säbelhieb über den Kopf flürste den wehrlofen Mann zu Boden. Die 
anmefenden Givilperfonen fuchten fih nun mit Prügeln zu vertheidigen. Es 
entftand ein heftiger Kampf. ine alte Bauersfrau, die über die Straße 
eilen wollte, wurde niedergefhlagen; ihr Sohn eilte herzu, ihr beizuftehen: 
auch er flürste, durch einen Saͤbelhieb ſchwer in den Kopf verwundet, nie 
der. Man zählte zulcgt auf beiden Seiten 30 bi8 40, mitunter ſchwer Vers 
mundete. 

Das gräuelvollfte Ereigniß dieier Art trug fih aber am erften Juhres: 
tage des Hambacher Feſtes — am Pfingftmontag (27. Mai) 1833 — zu 
Hambach und Neuſtadt zu. Mas daffelbe betrifft, fo recurriren mir 
zuerſt auf eine authentifche Schrift — das von der Regierung ſelbſt amtlich 
veröffentlichte (menn auch allerdings nur in ganz wenigen Eremplaren aus: 
argebene) Protokoll des Kreislandraths von 1833. 

In diefem Protokolle lieft man woͤrtlich Folgendes: 

„Sisung des Landraths vom 6. Juli 1833. 

„Vorfälle in Neuftadt an der Haardt am 27. Maid. J. betreffend. 

„sn feinem Protokolle vom Jahr 1832 glaubte der Landrach feine 
heifigfte Pflicht dadurch erfüllt zu haben, daß er Euerer Königlihen Majes 
ftät die Urfachen aufführte und die Gründe entwidelte, welche Veranlaffung 


| Hambacher Fell. 651 


zu ber Damals im Rheinkreiſe herifchenden Gemuͤthsaufregung ber Bewohner 
gegeben hatten. Der Landrath hielt es im Intereſſe des Landes und feiner 
Bewohner für nöthig, Euerer Königlichen Majeftät offen und unummımben 
zu erklären, daß die wegen Localgebrechen flattgehabten unruhigen Auftritte 
an manchen Orten des Kreifes blos entftanden feien, weil von Seiten ber 
Koͤnialichen Regierung ſich ungefeslicdhe Schritte erlaubt worden, meldye die 
Freiheit der Perſon des Bürgers und deſſen Eigenthum in hohem Grade ver: 
legten; zugleich machte er auf Mängel im Kreishaushalte aufmerkfam, bie 
das materielle Wohl der Kreiseinwohnerſchaft gefährdeten. Euere Königliche 
Majeftät haben allergnädigft geruht, die desfalls zu den Stufen des Thro⸗ 
nes niedergelegten Wünfche des Landraths theilweife zu würdigen; auch hat 
der Landrat im feiner vorjährigen Sigung dies dankbar anerkannt; andere 
Wuͤnſche deſſelben, abzielend auf geiftiges und materielles Gluͤck des Rhein» 
kreiſes, blieben unberüdfichtigt, und doc) verzichteten die Bewohner des Krei⸗ 
ſes, im Vertrauen auf Euere Majeſtaͤt, noch nicht auf bir frohe Hoffnung, 
daß Alternöchfldiefeiben ihnen fpäter gewiß wärden Erhoͤrung in ihren gerechs 
ten Forderungen angebdeihen Laffen. 

„Die Bewohner des Kreiſes ertrugen ihre Rage mit Geduld und erwar⸗ 
teten von ber nahen oder entfernten Zukunft eine allergnädigfte Gewährung 
ihrer Bitten, blickten indeſſen um fo zuverfichtlicher auf den Schug Euerer 
Königlichen Majeftät, als fie in ſich die Ueberzeugung fühlten, nie die Schran⸗ 
ten des Geſetzes, welches fie für das hoͤchſte But des conftitutionellen Staats: 
bürgers betrachteten, Üüberfchritten zu haben, und hielten daher ihre Perſon 
und ihr Eigenthum vor den Unbilden der Gewalt gefichert. 

„Allein diefes ihr gerechtes Erwarten iſt leider getäufcht, wenn fie Ihr 
heute noch von Iammerthränen triefendes Auge auf die verabſcheuungswuͤr⸗ 
digen blutigen Scenen werfen, welche durch das bei und in Neuftadt unter 
dem DObers Commando eines Generalmajors ) und in Anweſenheit eines 
Commiffärs der Königlichen Regierung ®) zufammengezogene Milıtär her⸗ 
beigeführt wurden, und welche zweien feiner Mitbürger das Leben raubten und 
einigen hundert andern friedlichen Einwohnern von Neufladt und der Um⸗ 
gegend theild ſchwerere, theils leichtere Verwundungen zugezogen haben. 

„Der Landrath, von diefen biutigen Vorgängen, welche in Öffentlichen, 
unter ber Senfur ſtehenden Blaͤttern, zum Nachtheile der Wahrheit, ent 
ſtellt erfheinen, und deren Miderlegung die naͤmliche Cenſur nicht 
geftattet, unterrichtet, fieht fih von feiner Pflicht durchdrungen, feine Stimme 
vor den Stufen des Thrones Euerer Königlichen Majeſtaͤt zu erheben, mit 
der Bitte, bier beſonders ſtrenge Gerechtigkeit uͤben zu laſſen. 

‚Die Benehmungsmeife des Militärs iſt alle Grenzen der Geſetze über» 
ſchreitend und fo außerordentlich gräßlich, daß die Feder es faft nicht vermag, 
fie in ihrem wahren Lichte darzuftellen. Die Soldaten liefen mit gefälltem 


5) Bon Horn. 

6) Zürft Karl von Wrede, bamald Regierungsdirector in Speyer, auf 
bem Iepten baierifchen Landtage oft genannt wegen feiner Angriffe auf den Mi: 
nifter Abel in der Reichsrathskammer. . 


652 Hambacher Feſt. 

» 

Bajonette und fprengten mit gezogenen Saͤbeln bie Gaffen auf und ab, ritten 
‚und: hieben zufammen, wer ihnen in den Weg kam; Weiber und, Kinder, 
Greiſe und wehrloſe Männer, mit einem Worte, Unfculdige erlagen unter 
‚ben Streidyen ber Soldaten. 

Ein junger achtzehnjähriger Mann wurde buch Bajonettſtiche mitten 
‚in der Straße von hinten her verwundet und — farb ploͤtzlich. — 

Ein anderer Bürger aus Hambach iſt durch einen Flintenſchuß, eben: 
falls von hinten, getroffen worden und bald nachher an den Folgen diefer 
Berwundung geftorben. 

+ „Einige hundert Andere, wie gefagt, wurben fo verwundet, daß mehrer: 
davon heute noch Frank darmieder liegen, ſelbſt der Stadt> Adjunct Penner, 

verſehen mit feinem AUmtszeichen und von ben mit amtlichen —— 

‚verfehenen Sicherheits⸗ Barden begleitet, wurde noch bei hellenn Tage, in 
dem Augenblide, wo er, gemäß feiner Dienftespflicht, zur Rettung feiner 
"Mitbürger aus den Händen der Soldaten, berbeieilte, mit fieben Wunden 
bedeckt. Diefer Beamte fo wie die übrigen auf dem Stadthaufe verfammel 
ten Municipalräthe mußten ſich, als fie fich nad) Daufe begeben wollten, 
zu ihrer Sicherheit von der Gensd’armerie escortiren laffen. 

„Bei diefer Beurtheilung ber blutigen Vorfälle muß es jedem Unbe 
fangenen auffallend ecſcheinen daß auch nicht ein einyiger Soldat dabei ver⸗ 
wundet worden iſt. 

Der Landrath will * Urtheile der Gerichte nicht vorgreifen, er 
hofft aber, daß Euere Koͤnigliche Majeſtaͤt, Allerhoͤchſt deren Gefuͤhl ſich 
beim Empfang der Nachricht über dieſe beklagenswerthen Vorfaͤlle empört 
haben-mußte, allergnädigft dem Königlichen Fuftiz-Minifterium anempfehlen 
werden, ber Wichtigkeit der Sache wegen, unverzüglich eine aus Mitgliedern 
des Königlichen Appellationsgerichts von Zweibrüden, welche mit dem im 
Rheinkreiſe geltenden Geſetze befonders bekannt find, beftehende Commiſſion 
zu ernennen, die alsdann, das Gefchehene in feiner ganzen Ausdehnung um: 
faſſend, erforfchen möge, ob nad) der Gonftitution und dem Willen der 
Geſetze das Militär zum Einfchreiten von Seiten der competenten Civil: Be: 
hörde ift requiriet, und eine dreifach wiederholte Aufforderung an die anweſen— 
den Bürger, fich zurüdzuziehen, ift gemadıt worden? Ob fodann zu ders 
artigen Einfchreitungen hinlänglicher Grund vorhanden war, indem bie ftatt: 
gehabt haben follenden Medereien lediglich zu polizeilichen Maßregeln hätten 
Anlaß geben Eönnen; und ob nicht gerade hier die angegriffenen Perfonen 
durch ihr paffives Verhalten gezeigt haben, daß fie vorgezogen, eher grobe 
Mißhandlungen zu erdulden als ſich Setbfthilfe zu verfchaffen. 

„Euere Königlihe Majeftät werden, der Landrath ift es überzeugt, 
diefe aus dem reiniten Pflichtgefühl hervorgehende Bitte um firenge Gered: 
tigkeit allergnädigft erhören, und die Gefchichte wird dereinft fügen, daß 
Alterhöchftdiefelben den trefflihen Wahlſpruch: „gerecht und beharrlich“ mit 
Geift und Ueberleaung, im vollen Sinne des Worts, Sich erforen haben.‘ 

Was in diefem Actenftüde blos angedeutet ift, findet fich näher aus: 
geführt und mit Angabe der Namen verfehen in der nirgends widerlegten 

Druckſchrift: „Darftellung der blutigen Ereigniffe vom Pfingftfefte 1833, 


BE. 
Hambacher Feſt. 658 


auf dem Hambacher Schloßberge, im Dorfe Hambach und in Neuftabt an 
der Haardt. Neuſtadt 1833”, welche von den ſaͤmmtlichen Mitgliedern des 
Neuſtaͤdter Gemeinderaths individuell unterzeichnet iii. Wir befchränten ung 
bier, die wichtigften Momente gedrängt zufammen zu ftellen. — Endlich wirb 
man doc der Gefchichte, der diefe Vorfaͤlle laͤngſt angehören , ihr- Recht 
widerfahren laſſen muͤſſen. — 

Um die Mitte des Monats Mat 1833 erließ die Regierung einige 
Refcripte, aus denen hervorging, daß fie eine Wiederholung des „Dambacher 
Feſtes“, und zwar am Sahrestage deffelben,, verhindern wolle. Da fich die 
Redner bei jmer Volksverſammlung ſaͤmmtlich in Unterfuchungshaft befans 
den, überdies auch Beinerlei Anftalten zu einem ſolchen Feſte weder aus⸗ 
gefchrieben noch fonfl befannt wurden, fo ließ ſich nicht wohl erklären, worin 
ber Grund jener Befürchtungen liege. Indeſſen erließ die Locals Poligels 
behörde, der ihe gewordenen Weifung gemäß, Anordnungen, um jede etwa 
beabfichtigte politifhe Verfammlung zu ber bezeichneten Zeit und an den ans 
gegebenen Orten zu verhindern. - 

Man Eonnte ſich indeffen des Erftaunens nicht entfchlagen, aus ben 
erlaffenen Regierungsrefcripten zus erfehen, daß die oberfte Landesftelle von 
: ‚bedrohten Punkten“ fprach; daß fie anzuordnen nöthig xadhtete, wie man 
fie vermittelft „Eſtafetten oder reitender Boten’ von vorkommenden „Betwes 
gungen” in Kenntniß jegen folle; daß fie vom Einfchreiten der bewaffneten 
Macht ſprach, jedoch unter der ausdruͤcklichen Weifung an die Landcommif- 
fariate, „verläffige Fuͤrſorge zu treffen, bamit die dreimaligen gefeglichex 
Aufforderungen durch einen Polizeibeamten gefchehen, ehe die Militärgemalt 
einfchreite.” Gleichzeitig ward verkündet, daß eine weitere Truppenabthei⸗ 
lung aus dem jenfeitigen Baiern nad) dem Rheinkreiſe gefendet werde, und 
daß „auch die. Hälfte der Gefammtinfanterie bes (baierifchen). Heeres, und 
die gefammte Meiterei (45 Escadronen), mit der gefammten Artillerie in 
marfchfertigen Zuſtand verfegt fei”, um noͤthigenfalls auf Koften des Kreifes 
in denfelben augenblidlich gefendet zu werben. U 

Schon am 22. Mai ruͤckten 6 Compagnien Infanterie vom 15. baleri⸗ 
ſchen Limienregiment in Neuſtadt ein. Ihnen folgten am 27. eine Abthei⸗ 
fung des 5. Chevaurlegersregiments, das ganze 2. Jaͤgerbataillon, ein Ba⸗ 


taillon bes 6. Linienregiments und eine Abtheilumg Artillerie mit 4 Kanonen. 


Alte diefe Zruppen wurden in dem Städtchen und den nächfigelegenen Ges 
meinden einquartiert. Regierungsdirector Fuͤrſt Wrede dictirte eine unvers 
hältnigmäßig ſtarke Zruppeneinlage in bie Häufer verfchiedener Bürger, bie 
ihrer liberalen Gefinnung wegen bekannt waren (fo wollte er 50 Mann mit 
Offizieren in ein einziges Haus gelegt wiſſen, bie bie abfolute Unmöglichkeit 
der Unterbringung derfelben nachgewiefen war, worauf er feinen Befehl in 
bie Hinfendung von 8 Offizieren, fammt Bedienten und Pferden umwan⸗ 
delte). Wie vielfach die Soldaten in ben Quartieren hauſten, daruͤber 
hertſchte eine faſt allgemeine Klage. Gleich beim Zruppeneinmurfche ſchon gab 
es Beſchwerden über Mißhandlungen von Civilperſonen durch Militaͤr hohen 
und niedern Grades. — 

Da ſeit unvordenklichen Zeiten die Hambacher Schloßruine als Vereini⸗ 


654 Hambacher Bet. 


gungss und Vergnuͤgungsort am Pfingftmontage dient, der bezeichnete Tag 
aber: diefes Mal zufällig auf den 27. Mat, alfo den Jahrestag des großen 
Feſtes, fiel, fo erklärte der Megierumgsdireetor Fuͤrſt Wrede den Neuftadter 
Stadtraͤthen, fie follten nicht gehindert werden ‚ diefen Drt zu befuchen: 
ABchen Sie hinauf auf das: Schoß”, fuhr er fort, „Seien Sie luſtig und 
vergnügt: nur forgen Sie, daf Bein Öffentlicher Zug mit Fahnen und Feine 

(öffentliche) Reden fattfinden.” 

+ Deffen ungeachtet ward am 27. Mai die Burg durdy Truppen befept, 
und bie Eigenthuͤmer derfelben, die ſich, nichts hiervon ahnend, mit andern 
kuſtwaudelnden dafelbft einfanden, ſahen ſich anfangs fogar ben Zutritt auf 
biefes ihr Eigentbum verwehrt; dann räumte man ihnen endlich die Ter— 
vafle- Auf dem Wege nach dem Schloffe erfuhren mehrere friedliche Leute, 
namentlich Frauenzimmer, Mifbandlungen durch Soldaten, befonder® mit 
Gewehrkolben. Auf der Höhe ſelbſt ward die Ruhe vorerft nicht geftört. Da 
ſah man auf einmal auf einer andern, entferntern Bergböbe zwei roth⸗ 
ſchwarz⸗ goldene Faͤhnchen. Noch heute ift nicht ermittelt , wer biefelben 
aufpfianzte (und ebenfo ſchnell wieder binmwegnahmı) ; ob Muthwille oder die 
böstiche Abſicht, einem Vorwand zu weitern ſchlimmen Dingen zu 
geben , hier im Spiele war. Gewiß iſt, daß ſich Niemand hierdurch zu einem 
unüberlegten Schritte peovociren lieh. | 
“> Nach aufgehobener Mittagstafel begaben fidy die beiden Ober beamten 
(General Horn und Regierungsdirector Fuͤrſt Wrede) von Neuſtadt nah 
Hambach. Mun erging dad Commando an die ſaͤmmtlichen Soldaten umd 
Gensd’armen, den Berg fogleich zu fäubern und die dort befindlichen Men: 
ſchen mit dem Waffen wegzutreiben. 

„Es it ſchwer“, beißt es in der oben angeführten von den Mitgliedern 
des Stadtraths ausgegangenen und individuell unterzeichneten Druckſchrift, 
„ſich einen. Begriff davon zu machen, mit welcher Wuth diefer Befehl voll: 
zogen wurde! "Ohne daß den friedlich gelagerten Bürgern von irgend einer 
Seite die Mittheilung gemacht worden wäre, ihr fernerer Aufenthalt an dirfer 
Stelle, deren Beſuch nicht verboten war und bisher nicht den mindeften 
Ereeh veranlaßt hatte, Eönne nicht geduldet werden ; ohne daß noch weniger 
von den gegenwärtigen Focal: und höhern Polizeibehärden (Staatsprocurator, 
Landcommiſſaͤr u. f. w.) die verfeffungsmäßige Requifition an den Militär: 
chef zum Einſchreiten des Militärs gegen unbewaffnete friedliche Bürger ges 
ſtellt worden waͤre, als wozu ja nicht die mindefte Veranlaſſung gegeben 5 ohne 
daß endlich die breimalige Aufforderung an die Bürger, ſich zuruͤckzuziehen, 
ergangen wäre, ohne welche jedes Einfchreiten der bewaffneten Macht als ge 
fegrwidrig und ftrafbar erfcheint — fielen die Soldaten und Gensd’armen 
uͤber die noch gegenwärtigen Bürger, die ſich deffen gar nicht verfaben, ber 
und trieben fie (es mögen noch einige Hunderte gewejen fein) den fteilen Berg 
hinab. Mit den Gewehrkolben, den Saͤbeln und den Bajonetten wurden 
Männer, Weiber, Zünglinge, Maͤdchen, Greife und Kinder graͤßlich miß- 
handelt. ... Nicht genug, die Menichen von der Spike des Berges weg⸗ 
getrieben zu haben, verfolgten die Soldaten und Gensd'armen fie aud) noch 
den fleilen Berg abwärts; die Verfolgten fielen, flürzten überall in der Eile 





DE. 
Hambacher Beil. | PN) 


ber Flucht von Felfen zu Felſen; ihre bewaffneten Verfolger blieben ihnen 
ſtets auf der Ferſe, und wo fie einen Flüchtling erreichten, war er der Kolbens 
ftöße und Bajonettfliche gewiß.” 

Eine Reihe einzelner Vorkommniſſe, der Mißhandlung einzelner, in 
ber citirten Schrift namentlich aufgeführten Leute, giebt ein wahrhaft er⸗ 
ſchreckendes Bild. Ein Knabe, der des Verkaufs einiger Lebensmittel regen 
auf den Berg gekommen war, wurde mit dem Bajonett verwundet, ja beinahe 
erflohen. Einem alten ſchwaͤchlichen Mann erging es ebenfo. Sogar ein 
in der Nähe feiner eigenen Wohnung Schlafenber ward von den Soldaten 
überfalien und mißhandelt. Ein Sicherheitsgurde von Hambach, der dem 
Militaͤrchef den Weg nach der Burg hatte zeigen müffen, ward auf feinem 
Ruͤckweg überfallen, gepruͤgelt und faſt erſtochen. Ein Mann (Peter Heinr. 
Scharfenberger von Hambach) befam auf ber Flucht vom Berge herab mehr 
als 20 Kotbenftöße, ſodann Ins Geſicht 4 Diebwunden und 2 Bajonettfliche ; 
„ale er unter biefen Streichen zufammengeflürzt war, riß ihn ein Gensd'arme 

‘ auf und zog ihn mit Bewaltan dem (verwundeten) Arme den Berg hinab, 

bis der obere Markknochen aus dem Schultergelen herausgeriffen war; trotz 
feines erbarmungsmwärdigen Zuſtandes wurde er gefchloffen ins Arreſthaus 
gebracht, und erft nad) zweimal 24 Stunden, bie er ohne Bett zubringen 
mußte, wurde ihm Ärztliche Dilfe verfchafft.” Keinerlei Vergehen kommts 
gegen biefen Unglüdlichen erwiefen wecden ! | 

Allein mit ſolchen Berfolgungen noch nicht zufrieden, brachte man auch 
Seuerwaffen in Anwendung. Bis in die Straßen von Hambach hinein fielen 
Schuͤſſe. Go wurden zwei junge Bürgersföhne (Emanuel Lambert, 17 — 
und Paul Bed, 14 Jahre alt), die fih in den Straßen ihres Wohnorts 
befanden, von hinten gefchoffen. Ein braver Bürger und Kamilienvater 
(Joh. Georg Bayer, 37 Jahre alt), ein Sicherheitsgarde, erhielt 
gleichfals eine Schußwunde, an beren Kolgen er, unter unſaͤglichen Schmer⸗ 
zen, am 7. Juni 1833) flarb. — — 

Und dies Alles gefchah, obwohl „Niemand, bee Augenzeuge war, 
irgend eine Beſchimpfung bemerkte, die ſich ein Bürger gegen einen Soldaten 
erlaubt harte; Niemand weiß, daß irgend ein Bürger fi) zur Wehre ge⸗ 
ſetzt Hätte, Niemand ſah einen einzigen bewaffneten Bürger.” — — 

Nachdem auf diefe Welfe die Räumung des Hambacher Berges volls 
bracht war, kehrten Fuͤrſt Wrede und General Horn nach Neuſtadt zuräd. 

„Schon am Nachmittag dußerten, wie man fpäter erfuhr, mehrere 
Soldaten gegen ihre Quartierträger tiefe Bekuͤmmerniß uͤber die gran» 
famen Befehle, bie an bie Soldaten ergangen feien. „,„Bie haͤtten 
Ordre, fagten fie, jeden Bürger, der einen weißen Hut, einen weißen Rod, 
Laubwerk, eine Blume oder dergleichen trage, zu mißhandeln.““ Andere 
Soldaten vertrauten ihren Quartiertraͤgern an, daß Fürchterliche Dinge 
ausgeführt werden follten; fie riethen ihnen ab, den Abend ihr Haus zu ver: 
Ken, baten fie, Fallen zu alien und Rismandm ein» noch ausıulafs 

en. Ja mehreve-Boldaten machten gegen er die Aeußerun 
würde ein Todten⸗Marſch gefpielt erden, herang, am Abend 
„Thaͤtliche Mißhandlungen von Seiten des Militärs gegen Bürger bes 


656 Hambacher Feſt. 


gannen ſchon gegen Mittag und nahmen bie gegen Abend an Zahl und Roh⸗ 

heit progreffiv zu, obwohl von Seiten der Bürger weber Beranlaffung noh 

Widerftand eingeteeten war.” 

Die Mifpandlungen von Givilperfonen begannen nun befonders in 

den ar : „Die Polizeibeamten derfuchten zwar anfüngs den Exceſ⸗ 
illtaͤrs Einhalt zu thun, allein bald famen bieje in ae 

> die Polizeibeamten den Bürgern erklärten, fie fönnten mi 

Willen ihnen nicht helfen, fie ‚möchten der Gewalt weichen umd fi —* 


— ben Straßen wurden sie Ereeſſe be8 Militärs gegen dies 
noch weit auffaltender ; überall fah man Soldaten mit und o af 
über einzelne Bürger ohne alle Beranlaffung herfallen und fie mit Obrfeigen, 
Fauſtſchlaͤgen Kolbenſtoͤßen, Saͤbelhieben ıc. mißhandeln.“ 
Kutſ vor der Abfahrt des Militaͤr⸗ Chefs und des hohen Clvil⸗Beamten 
nad; Hambadı, begaben fich einige Bürger und Sichet heits garden zu denfelben 
ins Wirthhaus, hoffend, daß eine bloße Anzeige der vorgehenden Exceſſe 
ſchleunige Abhllfe veranlaſſen würde, Allein es fruchtete ichts und eben· 
fo wenig die Mittheitung an den Civilbeamten.” 

Allen, welche aus dem Freien jurlichfehrten und eich Reitz ‚ein Blatt, 
aa ln teuer, yon insichenn KBifihlächt Kom welchem Alter fie fein med- 
ten, riffen oder ſchlugen die Soldaten diejelben hinteg.... An ber Haupt: 
wade, im der Hauptſtraße —*c— hatten die Soldaten eine förmlice 
Pruͤgelanſtalt organifiet.” Ein Unteroffizier befand fich mit einem eifer: 
nen Ladſtock an ihrer Spige, ... Ein aögenmärtiger Offizier von höherem 
Mange eiferte bie Soldaten nod) an, die Mißhandlungen gegen ganz friedliche 
Bürger fortzufegen. Als man ihm erfuchte, den Erceffen ein Ziel zu feßen, 
war die Antwort: die Bürger von Neuftadt hätten Züchtigung verdient! 

Es würde viel zu weit führen, alle, mitunter fucchtbaren und empörenden 
Mißhandlungen, die flattfanden, einzeln aufzuzählen. Eine Menge berfel: 
ben ift in dem oft citirten Schriftchen aufgeführt. Einige allgemeine Anbeu: 
tungen mögen zur Bezeichnung dee Vorgänge dienen. 

‚Nicht zufrieden, die Bürger in den Straßen zu mißhandeln, verfolg: 
ten die Soldaten fie auch bis in das Innere ihrer Häufer und Höfe 
und übten da noch ihre Erceffe aus, zeritörten, was ihnen in den Weg kam, 
und entweiheten jo das gefeglich heilige unantaftbare Hausrecht Yes Bürgers. 

„Bon 9 Uhr an hatte, alle Action der Focal: Polizei-Beamten aufgehört, 
die Local: Polizei war überwältigt durch die eingetretene militärifche 
Anarchie; Erin Polizei Beamter, kein Sicherheitgmächter durfte ſich mehr 
auf der Straße fehen laſſen, noch weniger verfuchen , den Soldaten abzumeh: 
ten, ohne fich felbft den ärgften Eörperlichen Lebensgefährlichen Mißhandlungen 
der Soldaten aussufegen.” 

„Alles dies war jedoch nur ein ſchwaches Vorfpiel derjenigen Gräuel: 
fcenen, von denen die Bewohner Neuftadts noch am nämlihen Abende 
theils die Opfer, theilg die entrüfteten Zeugen fein mußten.” 

„Zwiſchen 6 und 7 Uhr Eamen der Mifitäcchef und der hohe Civilbeamte 
von Hambach nah Neuftadt zurüd; zugleich Eehrten die Soldaten, die das 


Hambacher Zeft. 657 
Hambacher Schloß den Tag über befegt gehalten und eben ben Berg gefäubert 
hatten, nad Neuftadt zuruͤck.“ 

„Wer Neuſtadt, das uͤbervoͤlkerte, in ein enges Thal geklemmte 
Staͤdtchen mit ſeinen nahen volkreichen Umgebungen kennt, den wundert das 
gewoͤhnliche Volksgewimmel in den engen Straßen des Staͤdtchens nicht; noch 
belebter natuͤrlich find dieſe Straßen an Sonn» und Feiertagen. So kam es 
denn, daß die Straßen von Neuſtadt an dieſem Abend, wie gewoͤhnlich an 
den Feſttagsabenden, mit Menſchen ziemlich angefuͤllt waren; nirgends aber 
konnte man irgend eine beunruhigende Bewegung von Seiten der Buͤrger 
wahrnehmen.“ 

„Da erſchienen ganz unerwartet Patrouillen bewaffneter Infanterie und 
Cavallerie mit ihren Officieren oder Unterofficieren an der Spitze und durch⸗ 
zogen alle Haupt⸗ und Nebenſtraßen der Stadt nach allen Richtungen hin. 
Unter anderen flellte fi) auf dem Marktplage ein Piquet Chevaurlegers in 
Reih und Glied; ein Wachtmeifter oder Corporal commandirte: „ben Saͤbel 
heraus, in die Straßen gefprengt, Nichts verſchont!“ und die Drdre wurde 
nur zu pünktlich befolgt. Die Patrouillen nahmen die ganze Breite der Stra⸗ 
fen einz bie Cavallerie bewegte ſich meiſtens in ſtrengem Trab; uͤberall 
flüchteten nun die Bürger aus einer Straße in bie andere und fielen fo, vor 
einem Feinde flüchtend,, dem anderen in die Hände; wer vom Bürgerflande 
durch bie patrouillicenden Soldaten erreicht wurbe , ohne Unterfchieb des Ber 
ſchlechts und Alter, wurbe niebergeritten,, geflochen, gehauen, mit Kolben» 
ftößen und Säbelhieben mishandelt und verwundet; im Nachfegen der flüchs 
tenden Bürger zerſtreuten ſich die Soldaten, und überall ſah man, wie einzelne 
Soldaten einzelne Bürger erreichten und mishanbelten und dann wieder, 
auf das Signal des fie commanbirenden Officiers oder Unterofficiers, ſich 
fammelten, um vereinigt deſto beffer die einzelnen Bürger mishandeln zu 
koͤnnen; viele Bürger wurden in den buch Neuftadt fließenden Bach ger 
fprengt. Häufig wurden Bürger, bie fi) in eigene oder fremde Häufer 
geflüchtet hatten, bis ins Innere der Wohnhaͤuſer verfolgt und mishandelt, ja 
die nachfegenbe Gavallerie drang mit ihren Pferden m Wohnftuben ein; an 
vielem Häufern wurden Zenfter und Läden von den Soldaten zerfchlagen und 
zerhauen, weil die Eigenthümer fie nicht ſchnell genug geſchloſſen hatten.’ 

Der Bürgermeifter von Neuftadt hatte zuvor ſchon feine Entlaffung 
gegeben. Der erfle Adjunct (Namens Penner) verfah befien Stelle. „Schon 
bei Anfang ber unerhörten Exceſſe, gegen 8 Uhr, als es noch ganz hell war, 
hatte diefer von den Fenſtern des Rathhaufes aus mit Enträftung den mörs 
derifchen Scenen auf der Straße einige Zeit lang zugifehen, als er gerade vor 
dem Rathhaufe einen Bürger von dem benachbarten Orte Winzingen bes 
merkte, der unter den gehäuften moͤrderiſchen Stceichen der ihn umgebenden 
Soldaten zu erliegen ſchien. Der Adjunct, die eigene Gefahr nicht achtend, 
entſchloß fich ſchnell, mit einigen muthigen Sicherheitsgarben, diefen Mann. 
wo möglich zu retten. Der Adjunct, ein großer, ſtattlichr Dann, mit 
feinem Amtszeichen verfehen (einem breiten blauen Bande mit großem fils 
bernen Medaillon) eilt in Begleitung feiner Gehilfen die außerhalb des 
Rathhauſes angebrachte breite Stiege herab, von wo aus ihn ſchon Jeder⸗ 

&uppl. $ Staatslex. IL 42 


658 Hambacher deſt 
mann auf der Straße fehen und erkennen konnte. Unten an ber Treppe am: 
gelangt, macht er auf fein Amtszeichen aufmerffam, erklärt, er fe 
ber Bürgewmeifter-Adjunct, und macht den Soldaten bie eindringlichften und 
befäjeibenften Vorftellungen. Man madıt ihm Plas, und es gelingt ihm, 
bis zur Mitte ber Straße zu bem mishandelten Bürger burchzubringen. Raum 
bier angelangt, ſieht er die Soldaten einen engen Kreis um ihn fchließen, 
und von allen Seiten mit Säbeln, Bajonettm und Flintentolben auf ihn 
eindringen; 5 Diebwunben in ben Kopf und in das Gefiht, 2 Säbelhiebe 
auf die Hände, ein Bajonettftich in den Kopf und unzählige Kolbenfchläge 
und Stöße auf den Kopf, in das Genid und auf den Rüden waren bie 
Früchte der edeln Dingebung des Beamten und der vandallſchen Wuth der ihn 
umgebenden Soldaten, welchen berfelbe ohne Zweifel unterlegen wäre, wenn 
die zu biche fallenden Diebe und Stöße fic nicht Häufig gegenfeitig felbft auf 
gefangen hätten, und wenn #8 nicht feinen Gehilfen gelungen waͤre, ihn nad) 
umd nad; wieder an bie Treppe des Rathhaufes zuruͤckzuziehen und hinauf 
ga bringen. Won Blut teiefend, mit biutiger, zerriffener Kleidung, ohn⸗ 
Hut, der ihm im Gebränge entlommen war, mit biutbefleditem Ammtszeichen, 
trat der Buͤrgermeiſteradjunct nieder in die Amtöftube ein und mußte bis 
10 Uhr In diefem Zuftande hier verweilen, da kein Arzt, Erin Chlrurg füch auf 
die Straße magte, und mweber der Abjunct noch eines ber übrigen auf dem 
Rathhauſe verfammelten Mitglieder des Ortsvorſtandes ohne Lebensgefahr 
feüher die Straße betreten Eomnte, um zu feine Wohnung zuruͤckzukehren 
„Nach der früheren Anordnung der Polizei erfchten Abends 8 Uhr ein 
ftarke Anzahl (hierzu eigens aufgebotener) Neuftadter Bürger auf dem Rath 
haufe, um den Dienft als Siherheitsgarbden zu verfehen. Als aber di 
Mishandlımgen auf der Straße vor dem Rathhaufe ſich haͤuften, flüchteten 
fid viele Bürger in diefes Gebäude. Die Soldaten ftürmten ihnen nad. 
Auch die Sicherheitgarbe fah ſich genöthigt, vor ihnen zu fliehen und fi mit 
jenen anderen Bürgern auf den Speicher des Haufes ıc. zu retten.” — 

Es ift unmöglich, die Gräuelfcenen vollftändig zu fhildern, bie nım 
in unzähliger Menge flattfanden. Kinder (von 7 Sahren) wurden nieder 
geſchlagen, auf eine Frau eine wahre Zreibjagd angeftellt; Leute, die ihrer 
Arbeit wegen ausgegangen waren, wurden zum Theil mit 6 bis 8 Hieb : und 
Stichwunden, von Säbeln und Bajonetten, bededt. Der Kantonsphyſikus 
aber durfte e8 nicht wagen, ihnen an diefem Tage zu Hilfe zu fommen. Ein 
alter Mann ward auf der Straße niedergefchlagen; fein Sohn und feine 
Tochter, denen es gelungen war, ſich in ein nahes Haus zu flüchten, mollten 
ihr, nach dein die Soldaten ihre Wuth befriedigt hatten, nah Haufe bringen; 
fie fließen auf einen anderen Zrupp. Die Soldaten ſchrieen: „Was Civil 
ift, bauen wir zufammen; jest haben wir Freiheit.” Und nun mußte 
namentlid der Sohn durdy eine Reihe von etwa 80 Militärs gleichfam 
„Spießruthen laufen”. Ein Dann, der feiner Eranken Frau an dem feinem 
Haufe gegenüber befindlihen NRöhrbrunnen Trinkwaſſer holen wollte, ward 
faft ermordet; ein in dem Nachbarshauſe einquartirter Soldat holte endlich 
der Franken grau Waffer! Man hörte und fah, mie ein Officier einen Trupy 
Soldaten aufftellte und in altbaieriſchem Dialedte ausrief: „Haut Alles zu 


Hambacher Fe 659 


fammen, was Euch begegnet, fprecht kein Wort zu Niemand. Ich wi das 
Hundsvolk Thon von den Straßen bringen, das Canaillenzeug!“ Sogleich 
fprengten die Soldaten in der ganzen Breite der Straße voran, Alles über 
reitend und niederhauend, was ihnen in den Weg kam. Ein Verfolgter flüch- 
tete fi) in das nahe Daus eines Schuhmachers. Infanteriften drangen 
ihm nad) in daſſelbe. Im Zimmer fanden fie einen ſchwachen, gebrech⸗ 
lihen Denfchen (vertrüppelt, mit einem Höder). Dielen mishandelten fie 
aufs Furchtbarſte; fie ſchlugen ihm ben Arm entzwei, fo daß die Knochen fich 
durch das Fleiſch hervorfchoben und das Kapfelband bes Armgelenks völlig 
zerriffen wurde. — Ein Bürgersfohn aus Neuftadt, Joh. Hhil. Kipp, 21 
Sabre alt, feines Gewerbes Zeugſchmied, wollte, nachdem er einen Bekannten 
beſucht, um 8 Uhr nad) Haufe gehen. Er ward von einem Krupp Soldaten 
angefallen und mishandelt; es gelang ihm, ſich bis auf den Markt zu retten. 
Hier umringten ihn wieder 10 — 12 Soldaten und mishandelten ihn mit 
Kolbenftögen, Saͤbelhieben und Bajonettflihen. Man hörte das durch⸗ 
dringende Geſchrei des unglüdlichen jungen Mannes, man hörte ihn um 
Schonung um fein Leben bitten und flehen; er rief: „Laßt mich doch geben !" 
und eine rauhe Soldatenflimme antwortete ihm: „Halt's Maul Du Vieh!“ 
Das Geſchrei des Armen ging in ein fchwaches Winfeln über, dann noch ein 
heftiger Schrei, hierauf Todten ſtille. Der Unglüdliche war ermorbet. 
Diejenige feiner Wunden, weldye nad) ber ärztlichen Erklärung bie fogleich 
toͤdtliche geweſen, war ihm von hinten, unverkennbar mittelft eines Bajos 
nettſtichs, beigebraht. — Man lieferte nicht einmal bie Leiche ben Ver⸗ 
wandten aus (mas man gefeslich fogar bei hingerichteten Verbrechern 
ſchuldig iſt!), man vertveigerte derfelben fogar ein „ehrliches Begräbniß”, 
indem man fie in der Stille dev Nacht durch Soldaten beifegen ließ und 
jebe andere Leichenbegleitung aufs Strengfte verbot. 

Man wird uns nicht zumuthen, die Graͤuelſcenen weiter auszumalen. 
Genug, diefelben dauerten in der Argflen Ausdehnung drei Stunden lang, 
von 7— 10 Uhr, ohne daß es dem anweſenden Militaͤrchef eingefallen wäre, 
die Soldaten früher in ihre Quartier zurüdzurufen. — Die Baht der mishan⸗ 
beiten und vermundeten Givilperfonen Äberflieg mehrere Hunderte. 
Dagegen war au) nicht ein einziger Soldat oder Gensd'arme verwun⸗ 
det! Dennoch ift, fo viel bekannt, auch nicht gegen einen Militär auch 
nur die geringfie Strafe ausgefprcchen worden! 

Man bat feiner Zeit ben Vorgang In Hffentlichen Blaͤttern, namentlich 
der halbofficiellen Münchener politifchen Zeitung, In einer Weife dargeſtellt, 
die wahrhaft empoͤrend war. Man wollte glauben machen, es habe fich gleich⸗ 
fam um die Niederbrüdung eines Aufftandes gehandelt! Und doch 
konnte man nicht ben entfernteften Schein eines ſolchen, auch nicht einmal 
irgend einen Vorwand zu biefer Befchuldigung auffinden. Ja, bie Ber 
voͤlkerung leiſtete felbft dann nirgendwo auch nur ben geringſten Wiberftand, 
als jene maflofen Mishandlungen begangen wurden; eine Maͤßigung, bie 
(mo es fi) um das Unterlaflen jedes Widerftandes handelte, gegen das Eins 
dringen im das eigene Haus und das ſich Mishandelnlaſſen in demfelben) in 
vielen einzelnen Fällen fogar hart an Feigheit angränzte! Genug aber, 

42 + 


660 Ä Hambacher Fell. | 


Jedermann ohne Ausnahme beiältigte feine empörten inneren Gefühle, 
weil man alsbald genug fah und hörte, um die Richtigkeit der von einzelnen 
menfchenfreunblichen Militärs angebeuteten Warnungen zu erkennen, 
— genug, um nicht zu zweifeln, baß die aufgeftellten geladenen Kanonen, bei 
denen Soldaten mit brennender Lunte flanden, wirklich beſtimmt fein, 
Im Falle bes geringflen wenn auch noch fo legitimen Widerſtandes, die ganze 
Stadt in einen Schutthaufen zu verwandeln 7). — — 

Zum Schluß flehe hier noch ein Auszug aus einem Berichte, den ein 
allgemein geſchaͤtzter Beamter von Neuftadt damals direct an ben König ein 
fendete. 

„Das Feſt auf dem Hambacher Schloß, welches in dem vorigen Jahr 
fo fehr verbächtigt worden war, wurde biefes Jahr durchaus nicht gehalten, 
obwohl ber Hr. Regierungspräfident v. Stengel fo wie ber Hr. Fürft Wrede 
kurz vorher bei verfchiebenen Belegenheiten ſowohl bem verfammelten Stadts 
rath als dem Adjuncten perfönlich die Verficherung gegeben hatten, daß nicht 
dieſes an und für fi), fondern nur der voriges Jahr ſich und gegebene Geiſt 
unterdruͤckt werben müffe, um höhern Orts nicht anzuſtoßen, To daß die Be 
wohner von Neuſtadt erft dann theilmeife auf das Schloß fpazieren gingen, 
als ihnen die Verficherungen diefer beiden höchften Kreisbeamten fo wie ein 
Stadtrathsbeſchluß, worin Jedermann auf die Aufrechthaltung ber gefef 
lichen Orbnung hingewieſen wurde, bekannt worben war, ein &, g 
auf die romantiſche Burg, welche auf Pfingfimontag fchon durch unfere Ur 
väter befucht wurbe. 





75) um ben Sachverhalt Elarer zu machen, mögen bier noch einige Bemer⸗ 
kungen über die Localitäten angefügt fein, weldye damals aus ber Feder eines 
‚in der Pfalz allgemein hochgeſchaͤtten Beamten floffen. 

„Reuftadbt ift mit einer Bepolkerung von 6000 Seclen auf einen fehr 
‘ Beinen Raum eines engen Thals befchränkt. Ohne die Hauptſtraße gerade mit 
der Judengaſſe in Frankfurt in Parallele fegen zu wollen , ift fie doch enger als 
bie Rue St. Honore in Paris und wird am paffendften mit der Schuftergafle 
in Mainz verglihen. In ihrer Mitte wird fie von dem 16—20 Fuß breiten 
Speyerbach durchfchnitten, über welchem eine hölzerne Brüde liegt. Die Häufer 
find 3 und 4 Stockwerke boh .... In diefer engen, dunkeln und ſchmutzigen 
Hauptftraße bewegt ſich von Morgens bis in die Nacht ganz Neuftäbt und bie 
ungemein flarke Bevölkerung der Nachbarfchaft. Die Nebenftraßen find bagegen 

ft menfchenleer und wie ausgeftorben. 

„Bolte an einem foldhen Orte ein Aufruhr ausbrechen,, fo fällt es in bie 
Augen, daß ermit Reiterei nicht geftillt zu werden vermöchte. In wenigen Bis 
nuten wäre die Brüde abgebrochen, ein über die Straße gezogener Wagen vers 
fhaffte die Beit, das Pflafter aufzureißen und Barrikaden anzulegen, und wie 
wollte eine Reitercolonne fich in folchem Engpaß gegen ben Plagregen ber von 
Dächern und Fenſtern herabgeworfenen Ziegel, Steine und Blumentöpfe fchügen ? 

„Mehr Mittel, obgleih auch ſchwierige und nur im aͤußerſten Rotbfalle 
anwenbbare, bat die Infanterie in Beflürmung der Häufer. 

„Ze nun, bie Brüde wurde nicht abgebrochen, Eeine Barrilade errichtet, 
kein Steinchen, und wenn auch keine Blumen, doch auch kein Blumentopf berabs 
geworfen. Eben fo wenig fah man ſich im Kalle, ein Haus zu erflürmen. — 

on einem Aufſtande ober auch nur einer Begenmwehr der Bürgerfchaft kann 
daher Beine Sprache fein.” — — 


Sammbadher geſt. 661 


„Wenn es einer feindſeligen Partei gelingen konnte, den Geiſt der Be⸗ 
wohner hieſiger Stadt und ſelbſt des ganzen Rheinkreiſes zu verdaͤchtigen und 
dieſe Gewaltmaßregeln hervorzurufen, fo hat ber ganze Hergang jeden umn⸗ 
befangenen Beurtheiler überzeugen muͤſſen, daß der Bewohner des Rheinkrei⸗ 
ſes zu beſonnen iſt, als daß er ſich zu Handlungen hinreißen laſſen koͤnnte, welche 
ein unuͤberſehbares Ungluͤck über feine Mitbürger bringen müßten. Denn 
trog dem, daß man in ber Nacht ganz im Geheimen ohne Benachrichtigung 
der Behörden das Hambadyer Schloß, welches ein Privateigenthum 
verfchiedener hiefiger Familien iſt, mit Militaͤrmacht befegte und ben Eigens 

. thüümern den Zutritt nicht geftattet hat, ja fogar biefelben mit Gewalt von 
ihrem Eigenthum verbrängte, trog dem, baß fo viele Hunderte Augen« 
zeugen der fuͤrchterlichen Morbdfcenen waren, wodurch bie menfchliche 
Geduld auf eine unerhörte Weiſe auf die Probe geflellt wurde, verhielt ſich 
Jedermann ruhig und zog ſich In feine Wohnung zuruͤck, fo daß von 7 Uhr 
bes Abends Niemand es mehr wagte, dem fchredlichen Angft» und Nothge⸗ 
fchrei feiner Mitmenſchen Gehör zu geben, um biefelben aus den Händen ihrer 
Mishandler zu befreien, da die Vernunft ihm gebieten mußte, burdy kei⸗ 
nerlei Gegenwehr diefe Wüthenden zu veranlaflen, noch weit größeres Un: 
gluͤck über feine Vaterſtadt zu bringen, da die Lunten zur Eindfherung 
derfelben. fchon bereit waren.” — 

II. Endlich, kam denn bie Unterfuchung gegen die Hambacher Rebner 
zum Schluſſe. Sie hatte ein ganzes Jahr lang gedauert, — weit länger, 
als man unter ber Herrſchaft der franzöfifchen Proceburgefege für möglich 
gehalten hatte. Viele Klagen waren daher zuvor erfchollen über abfichtliche 
Verzögerung des Proceffes. Auch warın fehr auffallende Perfonalveräns 
derungen an dem mit Einleitung der Sache befaßten Appellationsgerichte der 
Dfalz vorgenommen, insbefonbere waren mehrere als freifinnig befannte 
Richter penſionirt oder verfegt worden; den Präfidenten des Gerichtshofs 
(von Birnbaum) hatte zuerft das Loos des Quiescirtwerdens getroffen. — 

Es erließ jegt das bezeichnete Gericht, als Anklagekammer, unterm 
29. Mai 1833 ein Urtheil, durch welches in Anklageſtand verfegt und vor 
ein Affifengericht verwiefen wurden: 1) Dr. Wirth, 2) Dr. Siebenpfeiffer, 
3) Pfarrer Hochdörfer, 4) Candidat Scharpf (von Homburg), 5) Bürftens 
macher Beder von Frankenthal, 6) Literat Dr. Große, 7) Rechtscandidat 
Dr. Piſtor von Bergzabern, 8) Buchdrucker oft von Zweibruͤcken, 9) Kaufs 
mann Baumann von Pirmafens, 10) Abvocat Schüler (dev Deputirte), 
11) Advocat Savoye, 12) Advocat Gelb, 13) Theologie: Canbidat Eifler. 
Die Anklage gegen die 9 Erfigenannten lautete auf Provocation zur Em⸗ 
poͤrung und zum Umſturze der Regierung, die jedoch ohne Erfolg geblieben, 
jene gegen Nr. 10—12 auf ein Complott zum Umſturze ber Regierung, und 
die gegen den Letztgenannten auf Mitſchuld am ebenerwähnten Verbrechen ; 
— den 9 Erſten fland alfo Landesverweifung, den 4 Letzten bie Tobes⸗ 
ſtrafe in Ausfiht. Diefe Anklagen gründeten fich bei den 7 Erſtgenannten 
hauptſaͤchlich auf deren beim Hambacher Feſte gehaltene Reben, nebenbei - 
auf die Herausgabe von Drudichriften, deren Inhalt als aufrührerifch bes 
zeichnet ward; bei Nr. 8 auf den Druck, bei Nr. 9 auf Verbreitung 


S 


ſolcher Schriften (auch die Anfchaffung von Senfen, die mach bee Art ber 
pofnifchen Senfenträger angeblich benugt werben ſollten), bei Nr. 10—12 
auf ihre Stellung als Vorftände, und bei Mr. 18 auf jene als Secretär bus 
Preßvereins. Mit Ausnahme ber geflüchteten drei Advocaten fo rote Pifler’s 
und Grofe’s, befanden fich alle Angeklagten in den Händen der Jufkiz. Eine 
bebeutende Anzahl anderer Perfonen wurde, zumeift wegen angeblicher Amts 
beleidbigung von Angeftellten in Drudfchriften, vor die verfchiedenen Zucht: 
poligeigerichte des Kreifes verwiefen ®). | 

Zur Aburtheilung diefes Griminalproceffes ward vom Appellationk 
gerichte nicht bie gemöhnliche Quartal⸗Aſſiſe beftimmt, fondern die Abbal: 
tung einer außerorbentlihen Affife angeordnet. Auch follte biefelke 
nicht am gewöhnlichen Berichtsorte, zu Zweibrüden, fondern In ber Feſtung 
Landau flattfinden. Unter dem desfalld angeführten Motiven bemerkte man 
befonders das folgende: „daß durch bas Abhalten diefer Aſſiſe in Landbau allen 
Beforgniffen wegen flörendee und nachtheiliger Einwirkung auf bie Und⸗ 
f beit des Urteils der Geſchworenen möglichft vorgebeugt werde, will 
in Landau bie öffentliche Ruhe und Ordnung leichter und ſchnelt 
als an irgend einem anderen Orte bes Rheinkreifes gehandhabt und die un: 
geftörte Aburtheilung der Sache gefichert werben koͤnne“ 5 — ein Mrotiv, je 
welchem bie während ber Verhandlung erfolgten enormen Exceſſe von Seiten 
vieler Soldaten (welche an die Neuftadt: Hambadher erinnerten und über 
welche wir unten einiges Nähere fagen werden) bald einen feltfamen Gem 
mentar lieferten. — 

Diefe Affifenfigung beaann am 29. Juli (1833). Die gefammte Ar 
lage war von der Staatsbehörde in 3 Theile getrennt worden. Die erſte un) 
Hauptverhandlung war die gegen Wirth, Siebenpfeiffer, Hochdoͤrfet, 
Scharpf, Beer, Roft und Eifler; die zweite blos gegen Baumann; di 
dritte gegen die Fluͤchtlinge Schüler, Savoye, Geib, Große und Pifker. 
Gegen die Lesten fand ein Gontumacialverfahren ftatt, bei welchem bekannt: 
lich Leine Gefchmorenen mitzuwirken haben. 

Das in Rheinbaiern noch geltende Napoleonifche Procedurgefeg legt dir 
Bildung der Geſchwornenliſte ausfchließlich in die Haͤnde des Präfecten odit 
Megierungspräfidenten (damals Frhrn. v. Stengel). Es war fonad vorher: 
zufehen, daß unter den zu Schwurmännern Berufenen fih Fein Anhänger 
der Angeklagten befinden werbe. Dagegen war aud) Nichts zu erinnern. Sn: 
deſſen erſcholl ein Schrei allgemeiner Indignation, ale die Lifte ſelbſt bekanrt 
ward. Unter ben 24 zu Geſchworenen ernannten Leuten befanden fich nc- 
men:lih : 6 Bürgermeifter oder Adjuncten ’), 4 Eöniglihe Domainen: 


8) Es laͤßt fich unmöglich verfennen, daß dieſes Urtheil des Appellaticene: 
gerichts in fehr grellem Widerfpruche fteht mit einem andern Urtheile diefes nehm: 
lihen Gerichtes, durch welches daffelbe ein Jahr zuvor eine verfuchte Anklage 
gegen Dr. Wirth wegen feiner Drudfchriften,, inöbefondere in Sachen des Pre: 
vereins für durchaus unſtatthaft erklärt hatte. Zur Erlaffung beider ur: 
tbeile wirkten zum Zheil die nehmlichen Richter mit. 

9) Bürgermeifter und Adjuncte dürfen in Rheinbaiern nicht vem Molke cr: 
wählt werben, fondern die Regierung allein ernennt biefelben, und zwar 
auf Ruf und Widerruf ! 


Hambacher Feſt. 668 
infpeetoren, Rent⸗ und Hypothekenbeamte, 3 koͤnigliche Cantonsphyſici, 
2 koͤnigl. Forſtmeiſter und 2 koͤnigl. Notaͤre, ſonach von vorn herein 17 Bes 
amte der Regierung. Und auch den Reſt ber Richtangefteliten hielt man aus 
andern perfönlichen Verhaͤltniſſen ber Mehrzahl nach, keineswegs für ums 
befangen. — 

Gleich in ber erſten Sitzung ftellte ber eine der Verteidiger, ber (auch 
als Deputirter ehrenvoll bekannte) ausgezeichnete Anwalt Culmann (ber ältere 
Bruder) den Antrag auf Streichung von & der auf bie Geſchwornenliſte ger 
festen Beamten, weil diefelben nicht einmal die aͤußeren Bedingungen befäßen, 
Geſchworene fein zu Einnen. So unwiberlegbar bie Richtigkeit der Einrebe 
fchien, fo glaubte doch das Bericht, d. h. es glaubten bie hierin allein entſchei⸗ 
denden angeftellten Richter nad) anberthalbftündiger Berathung biefen 
Antrag zuruͤckweiſen zu müflen, nicht weil er unbegründet fei, fonbern — 
weil das Gericht fih incompetent halte, die von ber Regierung einmal 
aufgeflellte Lifte zu prüfen, — eine Theorie, nach welcher es der Res 
gierung freiftand, 24 Chevaurlegers in eine Affifenfigung zu fenden, aus beten 
Anzahl dann die 12 Geſchworenen ohne Widerrebe genommen werben müßten. 

Die Verhandlungen des erflen (Haupt) Proceſſes dauesten nun in 
19 Sigungen bis zum 16. Auguft. Die Anklage wurde in mehrfacher Bes 
ziehung fehr ungeſchickt geführt durch ben Generalſtaatsprocurator Schenkl, 
einen wenig befähigten, wie Viele glaubten, nur wegen feiner blinden Er⸗ 
gebenheit gegen bie Megierung zu jenem hohen Poften beförderten Dann. 
Die Vertheibigung , welche eine Fuͤlle von Intelligenz in fich vereinigte, war 
ihm weit überlegen. Dazu kamen bie dußeren Berhältnifle den Angeklagten 
fehe zu flatten. Die Art der Bildung der Geſchwornenliſte und jenes In⸗ 
competenzurtheil des Affifengerichtes hatten den Eindruck und zwar auch bei 
den Schwurmännern felbft gemacht, als habe man ihnen bie unwürbige Auf⸗ 
gabe zumeifen wollen, als blinde Verurtheilungsmafchinen zu wir⸗ 
ten. Außerdem fchadete fich die Regierung ebenfalls ſelbſt, indem fie den 
Drud der Verhandlungen unter Cenſur feste — eine Maßregel, bie einer 
feits verfaffungswibrig war, indem nach ber Eonflitution mur „die politifchen 
Zeitungen und periobifhen Schriften politifchen ober ſtati⸗ 
ſtiſchen Inhalte” der Cenſur unterliegen ſollen, und bie andrerfeits doch 
Nichts nuͤtzte, indem das in Baiern Geftrichene bald im Auslande gedruckt 
ward, nachdem es ohnehin, bei ber Deffentlichkeit ber Verhandlung, Dunderte 
gehört hatten. — 

Aber auch abgefehen von allen derartigen Dingen, Eonnte das Refultat 
bes Proceſſes ſchon während ber Verhandlung nicht zweifelhaft fein. Die An» 
lage gründete fid, auf eine Verlegung der Beflimmung bes Art. 102 des 
franz. Strafgefepbuches, welcher von „unmittelbarer — directer“ — 
Aufforderung zum Aufruhre ꝛc. handelt. Nun haben wir oben ſchon bei 
Schilderung des Hambacher Feſtes hervorgehoben, wie die Redner bios in 
leeren Declämationen gegen bis Fürften fich ergingen,, ohne irgend einen wei⸗ 
teen durchgreifenden leitenden Gedanken, ohne irgend einen befkimmten Ans 
trag ober Vorſchlag, umb wäre e8 auch der praktiſch unverſtaͤndigſte geivefen. 
— Es wurden bei der Verhandlung nicht iger als SO Belaftungszeugen 


\ 
vernommen, Leute aus den verſchiedenſten äußeren Verhaͤltniſſen und von den 
abwelchendſten politifhen Meinungen, Aber nit Einer Fonnte ausfagen, 
iegend gehört zu haben, daß einer der Angeklagten in feinen Feſtreden „direct“ 
(wie 8 das Gefes ganz ausdrücklich befagt) zum Aufruhr aufgefordert habe; 
Telbft die von den Verwaltungs: und Gerichtsbehörden an Ort und Stelle ge 
fendet geweſenen Beamten , wie namentlidy ber Landeommiffär von Meuftabt 
und der Staatsprocurator von Frankenthal, mußten die Frage verneinen, 
ob fie einen folhen „unmittelbaren Aufeuf vernommen hätten ? 

Es war fomit augenfdyeinlic , daß die Regierung fehr übel berathen ge 
wefen, al& fie diefen Proceh begann. Die Gefangenen feierten jegt erſt einen 
wahren Triumph, indem fie ald grundlos Verfolgte, ald Märtyrer erfchienen. 
Ihre Betheuerung, daß fie um Erhaltung der Ruhe am Angelegentlichften bes 
forgt_gemefen, wußte Jedermann auf den wahren Werth zuruͤckzufuͤhren. 
Allein ihre Vertheidigung, namentlich die Reben von Wirth und von Sieben: 
pfeiffer, daneben insbefondere bar meifterhafte Vortrag bes älteren Gulmann, 
— eigentlich alle Reden der Gefangenen und alle der Bertheibiger — ftellten 
bie Regierung , ſowohl in Beziehung auf bie Befählgung iheer Organe mie in 
Beziehung auf die Abſichten, im übelften Lichte dar. 

IV. Ehe nun aber die Verhandlungen zum Schluffe gelangten, trugen 
ſich zu Landau Vorgänge zu, bie alles Nechtsgefühl empörten. Es war 
moralifh unmdalid, baf bei bem obwaltenden Thatbeſtande, — bei 
dem unverkennbaren Nichtvorhandenfein einer „directen“ Empörum 
derung, — die Geſchwornen ein anderes Verdiet als das des „Nich tſchul⸗ 
dig!" ausſprechen Eonnten. Das Gegentheil wäre ein augenfcheinliche 
abfichtliher Juſtizmord gemwefen, und biefen traut man in einem Lande, 
in welchem das ganze Volksthum mit dem Juryinſtitute gleihfam verwachfen 
ift,, den Schwurmännern nie zu. Die Freunde der Angeklagten fahen dahet 
mit vollfter und freudigfter Zuverficht der Entfcheidung entgegen. Sie hatten 
nicht nur Fein Intereſſe, irgend flörend einzuwirken, fondern e8 mußte über: 
haupt Alles, was biebei ftören Eonnte, ihren Wünfchen und Abfichten im 
höchften Grade entgegen fein. Zudem wäre es, felbft bei entgegengefegter 
Sachlage, eine wahrhaft wahnfinnige Handlung gewefen, in der ſtark 
befegten Feftung — mit ihrer Garniſon von mweniyftens 4000 Dann fammt 
Hunderten von Kanonen — eine Ruheftörung verfuchen zu wollen. Wenn 
eine folche alfo dennoch flattfand, fo hat man die Veranlaffer vernünftiger 
Weiſe uͤberall eher als in den Reihen der Sreunde und Anhänger der Angeklags 
ten zu ſuchen. — 

Mie dem fei — die Ruhe und Ordnung in Landau ward auf einmal 
arg geftört. 

Mehrere Tage lang fuchten die Soldaten, namentlid vom Megiment 
Wrede, Streit mit Civilperfonen. Nachdem eine auffallende Mishandlung 
eines geachteten Gaſtwirths zu Landau durch einen Officier vorangegangen, gab 
am 12. Auguft die Kirchweihe in dem eine halbe Stunde von der Stadt ent; 
fernten Dorfe Bodramftein eine befondere Gelegenheit. Indeſſen gelang es 
dem dortigen Bürgermeifter, zu verhindern, daß es zu mehr ald einzelnen 
Mishandlungen von Civilperfonen Fam. 


EEE 
Hambacher deſt 668 


Am Nachmittage des 13. Auguft zogen In Landau Soldaten von dem 
genannten Regimente in Haufen in verfchtedene Bierhaͤuſer. Sie fuchten 
Händel und ſchrieen: „Es lebe Altbaiern! Es lebe der Fuͤrſt Wrede!“ (Der 
Regierungsdirector Fuͤrſt Wrede befand fich feit zwei Tagen in Landau.) Man 
vernahm fogar von in den Straßen umherziehenden Soldaten bie Aeußerung: 
heute müffe es über bie Liberalen hergeben. — Die Eivilperfonen wichen jedoch 
den Streitfuchenden aus, indem fie fich namentlicd) aus jenen Bierhäufern 
entfernten. 

Es war um 8 Uhr Abends, als ein in dem benachbarten Orte Nußdorf 
mwohnender Bürger (Schimpf), in Begleitung zweier Frauenzimmer, auf 
dem Heimmege begriffen, ruhig durch die Straße ging, an welcher das Ber 
zicksgefängniß gelegen iſt und im dem während der Dauer der Affıfe die Ans 
geklagten untergebracht waren. Eine daftehende Wache vermehrte barfch das 
Vorübergeben., Dem Nichts ahnenden Dann entfuhr ein Ausbrud des Er⸗ 
ſtaunens. Augenblicklich fiel der wachehaltende Soldat Über ihn her und 
nahm — gefegwidrig — beffen Verhaftung vor. Gogleich erfchtenen nicht: 
etwa eine Wache, fondern — eine Dienge einzelner Soldaten. Gie fielen 
nicht nur über jenen Bürger, ſondern über alle zufällig in der Nähe befind⸗ 
lichen oder unter ihren Thuͤren ſtehenden Leute mit geänzenlofer Wuth ber. 
In einiger Entfernung meinten verfchiedene Leute, «8 brenne im Gefängniß,. 
weshalb auch fie dahin eilten. Die Soldaten aber fielen wie rafend auch 
über fie her, unter dem Feldgefchrei: „Ihr bürgerlihen Hunde!” Häufig 
hörte man auch ben Ruf: „Wir wollen bie Sreiheitsprediger niebermachen, 
wir wollen ihnen bie Köpfe abfchlagen.” Aber nicht blos die auf der Straße 
anwefenden Leute wurden mishanbelt, bie Soldaten fchlugen in der ganzen 
Gegend alle Kenfter zufammen. Einzelne Haufen drangen felbft in bie 
Wohnungen ber Bürger ein. Ein Kind in der Wiege foll fogar mie: 
handelt worben fein. Steine wurden in bie Zimmer gefchleudert. Der 
Wurf eines dicken Steines traf einen Mann auf ben Kopf und verlegte ihn 
lebnesgefaͤhrlich. Weberhaupt wurden viele Perfonen ſchwer verwundet. So⸗ 
gar ber Lönigliche Landcommiſſaͤr, der hoͤchſte Civilbeamte in Landau, ber 
berbeigeeilt war, mußte bie Slucht ergreifen. Mehrere Menfchen fluͤch⸗ 
teten in den Hof des (nahe gelegenen) Eöniglichen Landeommiffariatsgebäudes. 
Die Soldaten drangen ihnen nah. Ein Diener des königlichen Landcom⸗ 
miſſaͤrs, der das Thor des Gebäudes zu fchließen fuchte, ward von ben Ras 
fenden angefallen, geprügelt und bis in das zweite Stockwerk des Haufes vers 
folgt. In das Haus eines andern Bürgers (Schnell) drangen ebenfalls 7 ober 
8 Soldaten, mishanbelten ben Dann und wollten ihn gewaltfam auf die » 
Straße reißen. Selbft an Häufer im ganz entgegengefegten Theile der Stadt 
(3.8. an jenes des Kaufmanns Wolf) kamen Soldaten mit blanfen Waffen 
und unter mörberifhen Drohungen. — Drei ſchwer verwundete Bürger, 
denen auch nicht das geringfte Vergehen nachgöwiefen werden konnte, wurden 
auf die Hauptwache geſchleppt. Der Staatsprocurators Subflitut des 
Landauer Bezirksgerichts ſelbſt hielt zu feiner Sicherheit nöchig ; ſich von zwei 
Gensd'armen nach Haufe begleiten zu laffen. Der eine der Vertheidiger, 
der fich um biefe Zeit (8 Uhr) bei feinem Clienten befand, mußte ſich ſchrift⸗ 


666 Hambacher Belt. 

Ulch an ben Generalprocurator wenden, um ein fichered Geleite im feine Mob» 
nung zu erhalten. Selbſt nad 9 Uhr durchtitten Chevaurlegerd-Patrowillen, 
zum hell im Galopp, zum Theil in geſtrecktem Trab, die engen Straßen 
der, Stadt, wobei fie nach den ihnen aufftoßenden Eivilperfonen mit ben Saͤ— 
bein hieben, fo daß mehrere Leute durch Streifhiebe verlegt wurden. 

Um folgenden Morgen, 14. Auguft, begannen die Exceſſe von Neuem 
Soldaten, die ſchon in aller Frühe betrunken waren, ſchlugen in mehreren 
Häufern der Judengaffe, ohne die geringfte VBeranlaffung , die Fenſter «in. 
&o ziemlich alle hatten Geld, um in ben Wirthshäufern nach aller Luft zu 

Bei Eroͤffnung der Affifenfisung vom 14. Auguſt fillte Anwalt Cul⸗ 
mann ber Aeltere den Antrag, daß ber Präfident des Berichts zur Sicherheit 
ber Rechter flege und des ruhigen Hortganges der Verhandlungen in Beziehung 
auf bie ſtallgehabten und die noch deobenden Vorfälle bie geeigneten Mai 
regeln treffen möge, Auch bat er, daß mit den Verhandlungen nun ununter 
beochen fortgefahren werde. Ein anderer der Vertheidiger, Anwalt Golfen, 
fügte bei, daß den Gefhmworenen, für ben Fall fie ein Nicht ſchuldig 
erflärten, gedroht morden ſei. Mehrere der Juries, namentlich Brun 
ner, Botte und Dechen, beftätigten bies; ber Letztgenannte fügte in 
deſſen mit ebrenbafter Feftigkeit bei: man möge ſich darüber berubigen, bie 
Geihworenen mürden ſich in ihrem Urtheile durch Drobungen nicht beftim: 
men, nicht jchreden laffen. — Siebenpfeiffer hob hervor, daß ce von 
ben Fenſter feines Gefängniffes aus zugefeben habe, wie ein Bürger von Sol: 
baten auf abfchenliche Weiſe mishanbelt worden fei; von feinen Gefühlen 
überwältigt, habe er ihnen zugerufen: „Bluthunde, laffet den Mann ge 
hen!” Im Augenblick fei auf ihn das Gewehr angefchlagen worden, fo daf 
er, um nicht erfhoffen zu werden, fih vom Fenfter habe hinweg 
flüchten müffen. Wie e8 fcheine, wolle man wieder ſyſtematiſch wie in Neu: 
ftadt und Hambach verfahren: derfelbe Reiter oder Anftifter fei ja gegenmärtig. 
Sie, die Angeklagten, wollten nun, um die Sache zu befchleunigen, Nichts 
weiter mehr zu ihrer Vertheidigung fprechen. — Fuͤrſt Wrede blieb aleichfam 
theilnahmlog bei diefem Vorkommniſſe in der Sigung, doch verließ er nad 
derjelben alsbald Landau wieder. — Der Affifenpräfident erklärte auf die an 
ihn gerichtete Aufforderung, er habe blog die Ordnung im Sigungsfaale 
aufrecht zu erhalten. Der Generalprocurator fuchte die Vorfälle zu verfchleiern 
und al8 unbebeutender barzuftellen. Da indeffen die Nachricht von den am 
nehmlichen Zage neuerdings vorgefommenen Erceffen bekannt wurde, fo rich: 
tete der Affifenpräfident ein enerzifches Schreiben an die Stadt: und Feſturgs— 
commanduantfchaft, worauf der commandirende General Brauan denn felbfi 
in der Stadt umher ritt, um die Ordnung aufrecht zu erhalten. Offenbar 
hatte man falfhe Gerüchte unter den Zruppen verbreitet, um fie gegen die 
Civilperfonen zu erbittern. Auch war es auffallend, woher die Soldaten daß 
Geld zum Zechen erhalten hatten; man wollte behaupten, es fei folches unter 
ihnen ausgetheilt worden. — Einen tiefen Eindrud batte namentlich der 
Umftand hervorgebracht, daß fhon am Morgen des 13. eine ganze Stunde 
lang Uebungen mit einer Kanone aufdem Wall in der Weile vorgenommen 


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wurben, baß durch dieſelbe gerabe diejenige Straße beftrichen warb , in wels 
cher fidy das Sigungslocal bes Affifengerichts befand. — 

V. Da einer der Sefchworenen (Brunner) aus Alteration erkrankt war, 
fo mußten die Affifen-Sigungen einen Tag lang unterbrochen werben. Dann 
aber wurden fie fortgefegt und möglichft beſchleunigt. Schon am 16. Auguft 
erfolgte die Entfcheidung?). Die Geſchworenen fprachen auf alle an fie 
gerichteten Fragen das Nihtfchuldig aus; — ein Spruch, der (obwohl 
man ihn mit Beflimmtheit vorhergefehen) dennoch einen umbefchreiblic) täefen 
Eindrud im ganzen Lande, ja in ganz Deutfchland hervorbrachte; — ein 
Spruch überdies, den man im übrigen Deutfchland, wo man die Verhält 
niffe nicht genügend kannte, vielfach als Ausfluß der Parteileidenfchaft darzu⸗ 
flellen und als fchneidende Waffe gegen das unfchägbare Inſtitut der Jury zu 
misbrauchen fuchte, — während es in Wirklichkeit Beine Freunde ber Anger 
klagten, fondern einfeitig von der Megierung ausgefuchte Männer, größten: 
theils fogar Beamte waren, von denen bie Entfcheidung ausging, von 
benen fie aber gerade in ber Weife, wie fie erfolgte, gefprochen werden mußte, 
wenn diefelben nicht gegen den Maren Buchſtaben des Geſetzes handeln, wenn 
fie nicht augenfcheinlich wiſſentlich einen empörenden Juſtizmord auf ihr 
Gewiſſen laden wollten. — Die Regierung mar es gewefen, bie einen 
Fehler begangen hatte, Indem fie eine folche, in der Art wenigſtens, mie fie 
erfolgte, duch Nichts begründete Anklage erhob. Eigentlich war es ohne: 
bin fchon ein Misgriff, diefe dee Mehrzahl nach fo hoͤch ſt unbedeutenden 
Leute zu ben ihr Hochgefährlichen Gegnern zu flempeln, während diefels 
ben, Wirth und Siebenpfeiffer ausgenommen, kaum beachtenswerthe, ja 
höchft unbedeutende Menſchen waren. In jedem andern Falle würden bie 
Megierungsorgane nicht ermangelt haben, fich über dieſe Studenten, Can⸗ 
bidatn, Bürftenbinder, Krämer, arme Buchdrucker u. ſ. f. luſtig zu machen, 
als über Leute ohne Einfluß und ohne Befähigung. 

Indeſſen wurben von den unfhuldig Erklaͤrten nicht mehr als zwei 
(Scharpf und Eifler) wirklich in Kreiheit gefegt, indem man die Hambacher 
Meden und bie Drudfchriften, auf welche fi die Griminalantlage ge 
gründet hatte, nunmehr zu zudhtpolizeilichen Verfolgungen benügte, 
obfhon von der andern Seite, jedoch völlig erfolglos, ber alte Rechtsgrund» 
fag: non bis in idem , geltend gemacht zu werden fuchte. 

Nach Freiſprechung der Hauptangeklagten war die Nichtfchuldigerkläs 
rung Baumann’s eine Nothwendigkeit. Sie erfolgte bei Beendigung der 
zweiten Abtheilung bes Procsfies am 22. Aug. Auch biefee Dann warb 
übrigens nachträglich noch vor das Zuchtpolizeigericht geftellt. 

Den dritten Theil des großen Procefies bildete das Contumacialverfahren 
(mobei, tie bemerkt, Beine Geſchworene mitwirken) gegen die 5 Fluͤchtlinge 
Schüler, Savoye, Selb, Große und Piſtor. Es begann am 24. Auguſt und 
endete am 29. Die 3 Erften wurden wegen bes Complotts freigefprochen, 
und Geib überhaupt unfchuldig erklärt; Exhüler und Savoye dagegen wegen 


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10) Die Soldaten bes Wrebe’fchen Regiments waren an biefem Tage in 
ihre Gaferne beordert. 





668  Hambadher deſt 


eines Beitungsartifels zu 10jähriger Verbannungverurtheilt; gleiche 
Strafe ward wider Große verhängt, und Piſtor zu einjährigem Gefängniffe 
condemnirt. | 
Eine furchtbare Reihe von zuhtpolizeilihen Proceffen unb (mit 
an; wenigen Ausnahmen) von Verurtheilungen ſchloß fih an jene 
Affifenverhandtumg an. Der Artikel 222 des franz. Code penal erhielt auf 
einmal eine Auslegung, bie man bisher gar nicht geahnet hatte, — er mufte 
num gleihfam auf alle möglichen Fälle paffen, bie in einem ganzen Preß-Coder 
vorzufehen fein mögen; ja noch weit mehr als dies! Wegen einer unſchicklichen 
Aeußerung gegen den König ward ber Art. 222 anwendbar erklärt, dad 
Staatsoberhaupt ſonach (ganz direct gegen alle fonft fo ftreng feſtgehaltenen 
Grundfäge) zu einer bloßen Magiftratsperfon geftempelt!!!) Hatte 
Demand eine Rigierungsmaßregel getadelt, fo. mußte er mindeftens bie Mi: 
nifter beleidigt haben und er verfiel der Strafe des Art. 222! Hatte Jemand 
eine Proteftation gegen bie befannten Bunbesbefchlüffe vom 28. Juni 1832 
unterzeichnet, fo mußte er die „Delicateſſe“ des baier. Bunbestagsgefandten 
verlegt haben; er verfiel dem gleichen Strafartifel! Hatte Jemand auf der 
Lanbftraße einen Chauffeefrager (Wegaufjeher) gefhimpft, fo kam berfelbe 
Paragraph des Code penal in Anwendung wie beim Staatsoberhaupte! — 
Traurige Zeit, aus der man foldye Dinge, und zwar in Moffe, erzählen kann! 
Es würbe zu weit führen, wenn mir alle darauf begruͤndeten Condem⸗ 
nationen einzeln aufzählen wollten. Genug, es wurden namentlid Wirth, 
Hochdoͤrfer, Siebenpfeiffer u. f. f. zum Marimum ber Strafe verurtheilt. 
Dem Festen gelang es zwar, aus feinem Gefängniffe zu entfliehen , die An: 
dern aber wurden in dem Gentralgefängniffe zu Kaiferslautern gezwungen, 
fih mit gemeiner Arbeit zu befchäftigen 5; ja gemwiffe hoc) ftehende „Ma: 
giftratsperfonen” zu Speyer und München äußerten ihre durch das Gefeg 
oder vielmehr die Gerichte fo gewaltig in Schug genommene „Delicateſſe“ in 
der Meife, daß fie ſich eigens diejenigen Strümpfe von dem Inſpector jenes 
Sefingniffes fenden ließen, welhe Wirth und Hochdörfer hatten ftriden 
muͤſſen. Und deffen rühmten fie fih! — Eine Kleinlichkeit, aber bezeich- 
nend für bie herrichenden Zuftinde und — die Menſchen. — 
Wie die politifhen Proceſſe maffenweife flattfanden, mag man 
u. %. daraus erfehen, daß man 30 Unterzeichner einer Proteftation gegen 
die befannten Bundesbefchlüffe auf einmal und gemeinfam verfolgte (ein 
Proceß, der am Zuchtpolizeigerichte zu Kaiferslautern, dem Appelihofe zu 
Zweibrüden und dem Gaffationshofe zu Mündyen verhandelt ward, und ebenfo 


11) Der Art. 222 des in der Pfalg geltenden franz Code penal lautet: 
„Wird einer oder mehreren obrigkeitlichen Perfonen (magistrats) aus dem Mer: 
waltungs: oder Qufti:fache in der Ausübung ihrer Amteverrichtungen oder gele: 
gentlich diefer Ausübung irgend eine Beleidisung durch Worte (par paroles) 
zugefügt, die ihre Ehre oder Delicatefje angreifen, jo foll Derjenige, der fie auf 
foiche Art beleidigt bat, mit cinem Gefängniffe von einem Monate bis zu zwei 
Zahren beftraft werden.” — Diefer Art., der ausdrüdtich von Beleidigungen 
„duch Worte” handelt, mußte nun namentlich einen ganzen Preßcodex er: 
etzen. 


EEE 
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Hambacher Belt. 669 


mit VBerurtheilungen zu Gefängnißftrafe endigte). Ebenfo wurden ein ander⸗ 
mal 38 Frauen und Sungfrauen von Neuftadt vor Gericht geftellt, weil fie 
weibliche Arbeiten hatten ausfpielen lafjen, um mit dem dadurch erlangten 
Seldertrage die — meiſtens aller Mittel mtbehrenden — Familien ber bei 
der Landauer Aſſiſe Angeklagten (nicht einmal diefe felbft) zu unterſtuͤtzen. — 

Leider reiheten ſich aber auch noch andere traurige Vorkommniſſe an bie 
bezeichneten an. Faſt überall her vernahm man von Streitigkeiten zwifchen _ 
Militair und Civil, die vielfach biutig endeten. Die dem Bürgerftand An- 
gehörenden hatten Längft genug erfahren, um, mit feltenen Ausnahmen, nicht 
muthmillig die oft entzügelte Soldatesta herauszuforderın. Einzelne Vor⸗ 
kommniſſe bei dem aͤrgſten jener Streithändel beweiſen audy durchgehende 
allein ſchon deutlich genug, auf welcher Seite die Erceffe flattfanden. Go 
mußte zu Speyer, Anfangs Juni, dee Adjunct vor den ihn mit bloßen Saͤ⸗ 
bein verfolgenden Soldaten flüchtig gehen ; zu Pirmafens ward in der zweiten 
Hälfte des Juli felbft der Polizeicommiffair duch Militairperſonen, bei 
einem argen Kampfe, ben biefe mit Bürgern hatten, verwundet ; in Zwei⸗ 
brüden fah fih der Staatsprocurator Heing, als er nad) ber Lans 
dauer Affife mit zweien der Vertheidiger einen Spaziergang machte, gends 
thigt, mit diefen zu fliehen, um Mishandlungen zu entgehen; zu Dürkheim 
namenilich aber wurden zur Zeit bes Wurftmarktes (28. Sept.) Civilperfonen 
in Maſſe des Abends von Gensd'armen und Soldaten mit Waffen überfallen 
und verwundet. Dennoch hörte man lange Zeit gar nicht, daß auch nur ein 
Militate wegen Erceffen gegen Bürger beftraft worden fel. Als aber end» 
lic) ein Gensd'arm doch einmal wegen greller Mishandlung zur Strafe ges 
bracht wurde, erfchien alsbald eine bloße Werorbnung, durch welche die 
Sensd’armerieunterdie Militairgerichtsbarkeit geftelltwarb, während 
fie den beſtehenden Gefegen nad) unter ben gewöhnlichen (Cwil⸗) 
Gerichten fand. — 

VI So verhielt «8 fi in Wahrheit mit dom Hambacher Sefte, der 
Landauer Affife und dem; mas ſich unmittelbar daran knuͤpfte. Das Bild 
ift freilich ein anderes als das, welches man ſich gewöhnlich nach ben bis 
jest faft allein befannt gewordenen Angaben von Hofpubliciften entwirft. 
Dennoch iſt es ein wahres und treues Bild. Auch kann der Verfaffer um fo 
mehr mit Unpartellichkeit fprechen, als er, wie man gleich aus dem Anfange 
biefer Abhandlung erfehen haben wird, Kein Freund von „Hambachiaden“ iſt. 

Zum Schluffe fei nur noch bemerkt, daß, als der Kronprinz von Balern 
fi) 1842 vermählte, überall in der Pfalz Geldfammlungen veranftaltet wur⸗ 
den, um ihm ein Hochzeitsgeſchenk zu machen. Die Perfonen, welche ſich 
an die Spige der Sache ftellten, Bauften mit dem Extrage die (menig koſt⸗ 
fpielige) Hambacher Burgruine und machten diefelbe nun bem Kronprinzen 
zum Geſchenke. Sehr allgemein ward diefer Schritt als hoͤchſt ungeeignet 
getabelt. Insbeſondere würde es den Leitern ſchwer gehalten haben, nach⸗ 
zumeifen, daß gerade die ſes Geſchenk im Namen des Kreifes gegeben 
werden koͤnne; — das Banze ward als ein Werk blos einer Handvoll Leute 
bezeichnet, unter denen Beamte bie Hauptrolle fpielten. Anderſeits ward 
bies gleichfam als ein Sähnopfer für bie aufjenem Berge beganger 


‚670 | Hamburg: 


litiſchen Keßereien bargeftellt. Bier dem — — — 

vuine feitdem wieder aufbauen, und fein Vater, — hatte 

die allerhoͤchſte Gnabe zu genehmigen, dafı diefelbr be tusthuhtep keu 

Marburg (nad) dem Namen des —— führen dürfe. Die er 

Hambach felbft aber ließ ſich beftimmen, dem Beſitzer ber Burg für 

‚alle Zeiten das Iagdrecht im gangen Banne der Gemeinde als Geſchenk 

darzubringen, — ein Schritt, der ebenfalls ftarken (term duch unter den ge: 

Km ini br Dur Die frage Divtuten gi abgehen 
R a 

Sagd- Rechte erblicken will. 


Hamburg. (Zu ©. 785) Wenn diefe Sligge, nach akt 
Zahren von derfsiben Hand überarbeitet, in ihren xalfonnireniden Theil 
mehrfach und weſentlich verändert erfcheint, fo wid wenigſtens bie Eon- 
fequenz bes politifchen Standpunktes, aus welchem fie damald und jegt 
gefaßt worden, ſich nicht verleugnen. Man kann darauf dringen, daß 
keine ee peräbfängnt al * ri re ben Ber 









+ ge nen ju tollen. Dan t kann dem Gegebenen und 
lebenden, der Ars zu ta Theorie und den gangbarften Spftemen 

—* — fein Recht einräumen; man mag alle natuͤtliche und löbliche Scheu 
bewahren, ohne Moth ing Lebendige zu fchneiden, wenn «8 blos der Theorie 
ober gar bem Erperiment zu Liebe fein follte: aber fo lange e8 wahr bleibt, daß 
ein Zag den andern lehrt, fo lange werben die Zeichen der Zeit wahrgenommen 
werden müffen, um das Maß der zu erfirebenden Neformen zu beflimmen. 
Wenn man darauf verzichtet, aus irgend welchem theoretifhen Geſichte— 
punfte die gegebenen Zuſtaͤnde einer Kritik zu unterwerfen, nad) irgend wel: 
chem Spftem fie umjuformen, als hätten fie nicht bereits ihre Gefchichte, 
als follte das Werk der Schöpfungstage von vorn wiederum anheben ; wenn 
man dagegen ſich befcheidet, die Erfahrung zu befragen, ob bie Formen ſich 
überleb haben oder nicht, ob bie Anftitutionen ihren Zweck erfüllen ober 
nicht, fo mwirb man bie Bahn des Fortſchritts nicht abichliefen, man mirb 
fie offen halten müffen. Wird das Begehren mäßiger Conceifionen überhört, 
fo muß man nicht nachgeben noch ftehen bleiben, fondern man muß weiter 
gehen und ein Mehreres verlangen. Die Erfahrung waltet in den politt: 
fhen Dingen glei) der Sibylle: verſchmaͤht ihre Gabe das erjte Mal und 
das zweite, Ihr werdet für den Meft den vollen Preis zu entrichten haben 
und wird Eud) Fein Scherflein erlaffen werden. Eine Zeit der ungewohnten 
Ereigniffe, der ſchweren Prüfungen ift vor Allem geeignet, Beides bie Stärke 
der Öffentlichen Sinftitutionen zu erproben und ihre Schwächen zu eutbüllen; 
eine folche Zeit hat in den leuten Fahren der Hamburgifche Freiſtaat durchlebt. 


Mir reden von den Maitagen 1842 und deren Folgen. Nicht bier 
kann ber Det fein, wieder zu erzählen, „was wir ſchaudernd ſelbſt erlebt.‘ 


Hamburg. 6871 


Wohl aber iſt ein Blick zu werfen auf bie politifche Phyſiognomie des Er 
eigniſſes. 

N Mangel einer Eräftigen Einheit der oberfien Leitung gehörte zu ben 
allgemeinſten, von keiner Seite abgeleugneten, oder auch nur beftrittenen 
Wahrnehmungen. Der entfchiedenfte Anhänger heilfamer republikaniſcher 
Eiferfucht gegen das monarchiſche Princip und was dem anhängt, kann ſich 
nicht darüber täufchen, daß eine Verfammlung, fo zahlreich wie der Ham⸗ 
burgifche Senat, nur wenig geeignet fein kann, in ganz außerordentlichen 
Umftänden zu walten, wie das Bedürfniß des Augenblicks es erheiſcht. Die 
ausgebildetfte Gefchäftsordnung, bie volllommenfte Xheilung der Arbeit 
würde die Einheit nicht erfegen. Zugleich aber muß uns vergönnt fein zu 
glauben, daß die Buͤreaukratie anderer Staaten der furchtbar ſchweren Aufs 
gabe nicht bisher genügt haben würde. Nicht zu den oberſten Civilbeamten, 
fondern zu militärifchens Oberbefehl würde man ohne Zweifel in der Haupts 
ftadt eines monarchiſchen Staates unter auch nur entfernt ähnlichen Verhälts 
niffen feine Zuflucht genommen haben. ber es hätte irgend eine hervorra⸗ 
gende Perfönlichkeit des Fürftenhaufes das Vorrecht der Geburt und die Ges 
wohnheit des Herrſchens und vermuthlich auch die Mebung des militärifchen 
Befehlswortes für fich in Anfprudy genommen. Run, wir find ber Mei⸗ 
nung, daß eine republitanifche Verfaſſung es ſich nicht verwehren müßte, 
noch ſchlimmer dabei fahren möchte, einen Dann bes öffentlichen Vertrauens 
für ſolche Bälle an die Spige zu fielen. Dis Gefchichte hat das Beifpiel 
der römifchen Dictatur nicht vergebens bewahrt. Diefer Eindrud, uns 
mittelbar nach dem Urgläd fo lebhaft und meitverbreitet, ift am früheft:n 
dem behaglichen Gefühl der hergeftellten Alltagsorbnung gewichen. Es hätte 
nicht fo fein müflen. Eine fo ernfte Warnung muß nicht verloren geben. 
Dog an die Nichtbeachrimg folcher Erfahrung die Wiederkehr einer geoßen 
Gefahr fich knuͤpfen kann, tft nicht etwa ein Staatsgeheimniß, das man dien⸗ 
lichſt verbergen, es iſt eine Wahrheit, die man anerkennen und deshalb 
Fuͤrſorge treffen müßte für die Zukunft. | 

Andere dagegen und erfreuliche Wahrnehmungen finden wir unmittels 
bar in der Natur republitanifcher Werhättniffe begründet. Die Züge von 
unerſchrockener Pflihterfüllung, von aufopferndem Muth (erinmern wir nur 
an die an ein Wunder gränzende Rettung der Boͤrſe durch neun Männer, 
unter ber Leitung von Theodor Dill, dem ber Entſchluß angehört) — 
folche Züge find wir weit entfernt, an und für fi in eine Verbindung mit 
befonderen Staatsverhältniffen bringen zu wollen. Aber wer es gefehen bat, 
wie dem moralifchen Einfluß des Einzelnen weit und frei die Bahn eröffnet 
war; wie Derjenige, der das Rechte empfahl und Hand ans Werk legte, bie 
willigfte Folgeleiſtung fand, ohne bag ein Menſch nach feinem Auftrag, nadı 
feiner Vollmacht gefragt hätte; wie diefe Art der freiwilligen Thaͤtigkeit nicht 
allein, fonbern des umbeauftragten Ordnens und Gebietens, durch das Ge⸗ 
fammtbewußtfein gerechtfertigt, von ber Menge ſowohl ale von den Behörden 
als felbftverflanden betrachtet ward; mer das Zuruͤcktreten bes Einzelnen 
nach vollbrachter Muͤhwaltung, überhaupt das Zurüdweichen aller beſonde⸗ 
ren Anfprüche, im Lohn des ſtillen Bewußtſeins, ohne irgend welchen Nim⸗ 


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672 Hamburg. 


bus einer Äußeren Auszeichnung, beobachtet hat, ber wird geſtehen, baf 
die Anftrengung und Aufopferungsfähigkelt des Einzelnen für bas Ganze in 
Bürgerftaaten einen unterfcheidenden Charakter trägt. Auch ein organiı 
en Element erprobte die Kraft des Buͤrgerthums, mitten unter ben 

Birren, auf überraſchende Weife. Als die Gefahr aufs Hoͤchſte flieg , durch 
die frevelnden Ausbruͤche, weiche im allen großen Städten bei folchen An— 
läffen das Thier im Menſchen auf Augenblicke losgelaffen zeigen, «als durch 
wahnmisige Gerüchte (bei großer Volksnoth ein unausbleibiidyes Hebel) bas 
Schreckliche noch uͤberboten ward; da trat mit unglaublicher Schnelligkeit und 
unfehlbar ſchlagender Wirkung eine freiwillige Würgerpolizei ins 
Leben. Was die Behörden dabei gethan, beſchraͤnkt fich auf eine Eurze Aufı 
forderung des Senats, welche den bezeichnenden Sag enthält: „bie Polizei 
bürger werben patriotifch den Geiſt dieſer in der Eile entworfenen Inſtruction 
mehr als ihre Worte vor Augen haben.” Bon großer Bedeutung bielbt #6 
jedenfalls, daß die legte Spur einer Umordnung überwunden warb, obne 
daß auch nur dem Misverfländnif Raum blieb, als hätte es daz u ‚einer aub 


wärtigen Mitwirkung bedürfen können, 


Nimmt man hinzu, was den Handels flaat unverfehrt aufrecht hielt: 
daß, während das gefprengte Rathhaus die Silberbarren der Bank berfte, bad 
tägliche Umfchreiben der Bank, die Baſis aller kaufmaͤnniſchen Operation, 
Beinen Zag unterbrochen war; nimmt man —2* ber Boͤrſe, dir 
großherzige Enefchloffenbeit, mit weldyer einige M (die Macht von Sa: 
lomon Heine’s Beifpiel bleibt unvergeffen) jeden Verſuch des Eigennugs 
aufs Haupt fhlugen — ſo mwird man dem Gemeinwefen Gluͤck wuͤnſchen 
zu ber Lebenskraft, die es in ben Zagen der Prüfung bewährt bat. 

Was foll man von ber brüderlihen Hilfe fagen, die in den heißen 
Stunden von den Nachbarn, von der brüderlihen Zheilnahme, die, ale das 
Werk der Zerftörung vollendet war, von nah und fern der bedrängten Stadt 
geworden Wohl? hat die Bewegung nicht auf das Vaterland fich befchräntt; 
wohl hat an fernen Kuͤſten, jenfeits der Meere, das Mitgefühl beim Wed: 
fel alles Irdiſchen, wohl hat aud) die Kunde, daß eine Stätte des Melt: 
handele ſchwer betroffen jei, das Ihrige gethun. Aber die Bewegung iſt 
doch vorzugsweiſe als eine nationale aufgetreten; der edle Wetteifer bet 
Völker und Fuͤrſten Deutfchlands galt nicht allein der Linderung menfdli: 
her Noch, nicht der Welthandelsftadt, nody der Stadt, aus welcher bei je: 
dem ähnlichen Anlaß reichlihe Spenden weithin gefteömt waren, er galt dir 
deutſchen Stadt, bei deren Verhängniß deutfches Einheitsbewußtſein leb⸗ 
haft und nachhaltig erregt war. 

Und aud in der Stadt war man fich bemußt, daß und in welchem 
Sinn die Augen von ganz Deutfchland auf Hamburg geheftet feien. Wie wird 
Ordnung in diefen Wirren, Stetigkeit für das Werk der neuen Ordnung ge: 
monnen werden, toie wird über den rauchenden Zrümmern das Leben ſich ge 
ftalten © Wird den taufend Anforderungen, den beijpiellofen Aufgaben des 
Staates die Form der Selbftregierung, das theuer erfämpfte Vermaͤchtniß der 
Vorzeit, genügen ? 


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Hamburg. ent | 


Kür ſolche Kragen fand fich ein Augenblick, und noch einer, bei ben 
flüchtigften Begegnungen , fetbft ſchon an jenem Sonntag nach Himmels 
fahrt, am 8. Mai, als in der Gegend, die jetzt „Brandsende“ heißt, das 
Flammenmeer fein abgrenzendes Ufer erreicht hatte. Daß Vieles andere 
werben muͤſſe, darüber waren Viele längft einig geweſen; daß es bei dieſem 
Anlaß anders werben muͤſſe, das war eine Mahnung, bie Keiner verkennen 
durfte. Eine Ztugfchrift (in einem Tag vergriffen, in der Macht mit vers 
ſchledenerlei Schriften wieder aufgelegt) und der Eindruck, ben fie machte, iſt 
von ihrem Urheber felbft nicht als Urfache, fondern nur ale Wirkung betrach⸗ 
tet worden: denn fie faßte zufammen, was auf taufend Lippen fchwebte, was 
in fpäten Abendflunben unter Freunden, nach vollbrachten Tagesmuͤhen, be 
flimmter durchgeſprochen war. 

Es kam darauf an, für den Austaufc) ber Anſichten einen geeigneten 
Kreis, für die ſich begegnenden Wünfche einen feften Vereinigungspunkt zu 
gewinnen. Beides bot ungefucht in den wöchentlichen Verſammlungen ber 
patriotifchen Geſellſchaft fi) bar. Hier warb eine Petition an den Senat 
befchloffen und der Entwurf, als die bamit beauftragte Commiſſton ihn vor⸗ 
gelegt, mit 500 Unterfchriften (barımter fehr viele angefehene Bürger) bes 
beit. Die Discuffion zeigte fo deutlich wie der Inhalt der Petktton ſelbſt, 
daß bie große Mehrzahl nicht ein neues Werfaffungswerk , wohl aber in man- 
chen wefentlichen Punkten foche Reformen begehrte, wie fie längft als noth⸗ 
wenbig erkannt, aber, wie es In einer Zeit des behaglichen Wohlſtandes zu 
gehen pflegt, durch die Kraft ber Traͤgheit verzögert warn. Den gewalti⸗ 
gen, dußeren Anftoß, den das Ereigniß fo eben gegeben hatte, zur ernſtll⸗ 
hen Anbahnung foldyer Reformen zu benugen, das erfchien geradezu als 
Pflicht %. Beifpielweife waren mehrere Punkte namhaft gemacht und 
das Tchließliche Geſuch ging dahin, daß der Kath eine Bürgerdeputation beans 
tragen wolle, um Innerhalb einer zu beflimmenden Zeitfeift einen demnaͤchſt 
zu veröffentlichenden Bericht Uber bie arigebeuteten und fonflige allgemein 
gehegte Wünfche in Betreff der Verfaffung und Verwaltung zu erftatten. 

In zahlreichen Stugfchriften, gutentheils mit mehr Wärme als Kennts 
niß der Verhaͤltniſſe gefchrieben,, hatte es an wohlgemeinten Rathſchlaͤgen 
nicht gefehlt. Politiker, welche ganz ungenirt außerhalb des Beſtehenden 
ihren Standpunkt nehmen, pflegen zu vergefien, daB man außerhalb bes 
Beſtehenden nicht mohl einen Stuͤtzpunkt findet, um ben Hebel anzufegen. 
Und jene Politiker hatten es dazumal noch nicht fo weit gebracht, auch nur 
in irgend einem Verein von Bürgern irgend einer Claſſe für ihre vereins 
zelten Stimmen einen Refonanzboben zu ſchaffen. Wenn bie Führer bee 
Bewegung in ben Wünfchen, welche fie voranflellten, nicht weiter gingen, 
fo waren fie gerechtfertigt durch das Maß der politifchen Bildung, welches 
fie bei denkenden und wohlgefinnten Bürgern vorausfegen durften. Diefe 


*) „Es find freilich nur Strohhalme, bie im Wiege liegen; aber um über 
fie Hinwegzufchreiten, bebarf es doch einiger, wenn auch geringer Mädfichtös 
loſigkeit, die das Grbtheit der ruhigen Zeiten nicht ift.” Ueber Reformen Ham⸗ 
burgs, &. 7. (Zena 1844. Frommann.) 

Suppl. 3. Staatslex. 11. 43 


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in ber a N a konnte natürlicher fein, als bie ein 
fache Sprache des Vertrauens zu erwidern und — den Rath beim Wort zu 
nehmen. Eine befondre Rüdficht Fam hinzu. Die Lage der Dinge bracht 
bie Nothwendigkeit mit fi, daß eine namhafte Anleihe abfeiten des Staat 
abgefchloffen werde. Aller Credit, auch der kaufmännifhe, auch ber bu 
Staaten, beruht auf einer moralifhen Grundlage. So fehr jene Aengſt⸗ 
lien irrten, bie da meinten, jede Aeußerung einer Unzufriedenheit mit dem 
Beftebenden werde dem Staatscrebit Eintrag thun, fo zuverfichtlich ließ ih 
erwarten, baß ein einmüthiger Ent[hluß zu Reformen bie um 
verfehrte Rebensfraft des Staates und die gedeihliche Förderung aller Anter: 
effen in den Augen aller Urtheilsfähigen verbürgen werde. Auch dag fefle 
Auftreten einer in ihrer Ueberzeugung klaren, inihren Maßregeln umfidti- 
gen Reformpartei, felbft dem ausgefprochenen Widerftand der Behörden ge 
genüber, wird die gute Meinung Auderer in Bezug auf die Confolidirung 
eines Gemeinweſens niemals [hmälern. Aber fo lange die Möglichkeit eines 
einmüthigen Hand in Hand⸗Gehens nicht abgefchnitten war, fo lange durfte 
und mußte man ben Entfchluß vorausfegen. Sollte übrigens jene Vermu⸗ 
thung, daß man dem Senat durch die Petition etwas Angenehmes habe er: 
jeigen wollen, wirklich irgendwo im Ernſte gehegt worden fein, fo bat der 
Senat felbft fid die Mühe genommen, fie bald und unzweideutig genug zu 
widerlegen. 

Er gab in gehaltenen und ruͤckſichtsvollen Ausdrüden eine in der Haupt 


Hamburg. 675 


fache (was die Bevollmächtigung einer Bürgerdeputation betraf) ablehnende 
Antwort. Es trat ziemlicdy Mar hervor und hat fi) auch nachher beftätigt, 
daß der Rath in Bezug auf die Nothwendigkeit der namhaft gemachten Re: 
formen nicht eben andrer Meinung gemwefen, daß er auch das Geſuch keines: 
wegs erorbitant gefunden, daß ihn aber die Bewegung felbfl und die ‘Bes 
nugung des Anlafjes unangenehm berührt. Dean fagt, dad Motiv feiner 
abfchlägigen Entgegnung fei in dem Brundfag zu ſuchen: einer Aufregung 
müffe man nicht durch Conceffionen begegnen. Diefe Regierungsmarime 
bat das Wahre, daß man billige Eonceffionen machen müßte, ehe die Auf: 
regung fich einftellt; zugleich aber das Gefährliche, daß fie in ihrer Con⸗ 
fequenz zu dee Nothwendigkeit führen tann, am Ende weit größere Conceſſio⸗ 
nen zu maden, als gegen die man zu Anfang ſich geiträubt. Wenn der 
Senat auf diefe Gefahr hin es glaubte wagen zu können, wenn er die 
Popularität verſchmaͤhte, welche ein fofortiges Eingehn auf die ihm vorges 
tragenen Wünfche ihm umfehlbar zugeführt haben würde, fo hat er übrigens 
eine ganz richtige Schägung ber Mittel an den Tag gelegt, über welche die 
Zührer der Bewegung fürs Erſte verfügen konnten. 

Die Geduld ift eine republitanifche Tugend. Wer auch immer diefen 
Ausſpruch gethban haben mag; wenn er meinte, daß man mit Ausdauer 
ſich waffnen müffe, wo es gilt, die Ueberzeugung Vieler allmälig zu gewins 
nen und die Gleichgültigkeit Vieler allmälig zu überwinden, weil ein Durch⸗ 
geeifen, ein Bei⸗Seite⸗Schieben der Dinderniffe fich von ſelbſt verbietet — 
wenn er das fagen wollte, fo hat er die ganze Empfindung ausgedrüdt, mit 
welcher Einer, der den Dingen nicht fern fand, die Erinnerung an Beſtre⸗ 
bungen niederfchreiben mag, die, treu gemeint, in ihrem unmittelbaren 
Erfolg der verheißenden Zeichen gar wenige aufzumeifen haben. 

Es war im Wefentlichen disfelbe Verſammlung, welche zuerft zu pes 
titioniren befchloffen, die nad der ablehnenden Antwort bes Mathe das frühere 
Gefuch dringender und umſtaͤndlicher motiviert durch eine bis auf zwanzig 
Bürger verflärkte Commifflon wiederholen ließ. Als nadı geraumer Zeit auf 
dies zweite Geſuch gar Feine Antwort erfolgt war, beſchloß man (5. October 
1842), die Arbeit, die man einer vergeblich beantragten Bürgerdeputation 
zugedadht hatte, ohne Vollmacht einer Behörde, deren es in der That nicht 
bedurfte, felbft befchaffen zu laſſen. Die ſchon erwähnte Commiſſion von 
20 Bürgern warb beauftragt, „dem Senat in einer ausführlichen und motis 
virten Darftellung die Wünfche und Anfichten der Bürger in Bezug auf 
Reformen der Verfaffung und Verwaltung vorzutragen”. 

Es ward fofort Hand ans Werk gelegt, die Theilung der Arbeit vers 
abredet,, die Sectionen eingerichtet. Nach ſechs Monaten (genau mit Ab⸗ 
Lauf der geftedten Friſt) konnte die Anzeige gemacht werden, daß der Auftrag 
erfuͤllt ſe. Die Verſammlung befchloß, daß die Arbeit, die einen betraͤcht⸗ 
lichen Umfang erreicht hatte, in Korm eines Berichtes an die Committenten 
bucch den Druck veröffentlicht werden follte. Ein flarker Octavband — der 
„Sommiffioneberihtan bie Unterzeichner der Petition vom 8. Juni 1842 
(Damburg, 18435 bei Perthes, Befler und Mauke)“ — giebt Zeugniß von 
der Thätigkeit von 76 Abendfigungen, abgefehen von ber auf die Redactions⸗ 

43 


676 Hamburg. 
arbeiten verwendeten Zeit. Es mag anberwärts vielleicht ohne Beiſpiel fein, 

baf eine Anzahl vielbefchäftigter Männer fi abmüßigt, um ohne allen öffent: 
lichen Auftrag , Lediglich der Privataufforderung dee Mitbürger —— 
derartige gemeinſame Arbeiten zu uͤbernehmen, wie es in ehe 
legten Jahren bei mehreren Beranlaffungen vorgekommen iſt. Daf te | 
Aufforderungen willig und thätig entſprochen wird, mag immerhin als ein 
Beichen der bei Vielen in gleihem Maße wirkſamen Anhänglichkeit für bat 
Gemeinweſen betrachtet werden, einer Anhaͤnglichteit bie um fo aufrichtiget 
iſt, je ſchlechter der Ehrgeiz rechnen würde, der ſich ein Verdlenſt daraus 
machen wollte; denn , wenn irgend etwas, fo gilt das unter uns für ſelbſt 
verftanden, daf Diejenigen einer ſolchen Bemühung ſich zu unterziehen hab, 
bie man dazu fire befähigt hält. Zugleich aber wird es erlaube fein zu 
ben, daß derlei Arbeit nicht ganz. vergeblich fein kann; nicht allein der Eifer, 
ohne welchen fie niemals unternommen wäre, fondern vor Allem de de 
wmein ſamkelt der Berathung, die Ergaͤnzung der Erfahrung een 
das Nachdenken desAndern, die Berichtigung theoretifcher —— 
durch die Erfahrung des Praktikers, 2 —— der Anſichten, auch 
wohl die fchärfere Stellung der G das Altes moͤchte vielleicht felbf 
oh gg en „deutſcher — 2 nicht weniger und wird dem 
prattiſchen fniſſe nicht ſelten mehr antſprechen als en eine ambb 
stofe Felfkuig des einfamen Schreibpultes. 

Det erſte Theil behanbelt die eigentlichen Werfaffungefeagen, * 

bie Drganifation der Juſtiz und Polizei, der dritte bas Schulmefen. Scen 

diefe Zuſammenſtellung, abenteuerlich wie fie erfcheinen mag, zeigt, daß mar 
ernſtlich darauf ausging, die wirklichen Schaͤden aufzudecken, Hand m 
Merk zulegen, mo es eben Noth that, nicht ein Syſtem in die Luft bie: 
zuſtellen, deſſen Fachwerk wohl ganz anders ausgefallen fein wuͤrde. Dre 
erſte Theil fuͤhrt faſt aͤngſtlich den Grundſatz aus, nicht weiter zu gehn, als 
das dringend erkannte Beduͤrfniß gebot. Der zweite bewegt ſich freier auf 
einem Gebiet, auf welchem die Sympathien des Fortſchritts in allen Staaten 
deutſcher Zunge ſich begegnen. Dem dritten ward die unerfreuliche Aufgabe, 
der Geſetzgebung die alten Suͤnden beiſpielloſer Verſchleppung und Gleich⸗ 
guͤltigkeit vorzuhalten. Das Ganze ward im Vorwort als eine Vorarbeit 
bezeichnet, als ein Material, worauf fernere Beſtrebungen gleichen Sinnes 
wuͤrden fußen koͤnnen. 

So weit iſt Alles in der Ordnung. Aber ein Buch iſt ein Buch; 
was auch ſein Werth ſein mag, fruchtbringend wird er nur, wenn er ſich in 
Scheidemuͤnze umwandelt. Ideen ſind beſtimmt, ins Leben zu dringen, 
und Reformen auf dem Papier machen eine traurige Figur. Mit einem 
Wort: nun war der Augenblick da, wo die Agitation mit beſtimmtem, 
praktiſchem Zweck beginnen mußte und — nun war ſie zu Ende. Es iſt ein 
leidiger Troſt, daß auch groͤßere Staaten als Hamburg ihr unterbrochenes 
Opferfeſt der Reformen gehabt haben. Wie es ſich zutragen konnte, wird 
auch für den Fernerſtehenden nicht ganz ohne Intereſſe ſein. Wir Deutſchen 
find allefammt ſtark im wechfelfeitigen Unterricht über die Unzulänglichkeit 
unſres politifchen Xhuns und Treibens. Auch wir, wir meinten, ber Bode 








Hamburg. 677 


beutel ſel im großen Feuer verbrannts und flehe da, er war gerettet, gerettet 
und geborgen! | 

Dos Natürlichfte war doch wohl, daß bie Commiffion ſelbſt, bie eins 
mal da war, ſich an der Spige ber Bewegung behauptet hätte. Die Freiheit 
der Affociation befteht in unſrem Freiſtaat ungefymälert. Darin liegt, wie 
Jedermann weiß, dasunerfchöpfliche Zeughaus nach einer verlorenen Schlacht ; 
tie viel mehr für den beginnenden politifchen Kampf. Es blieb unbenugt. 
Die Commiffion erklaͤrte durch Abftattung des Berichtes ihre Sunctionen 
beenbigt. Verſchwiegen darf nicht werben, daß Bedenken ſich aufthaten ges 
gen bie Sonftituirung einer „Behörde ber Agitation”. Auch nicht (mas erheb⸗ 
ficher war), daß ein ferneres, enggefchloffenes Zufammenmwirken aller Mit⸗ 
glieder durch Verhaͤltniſſe und Stellungen, die mit ber Reform gar nichts 
zu thun hatten, unthunlich geworden. Enblich nicht, baß bie öffentliche 
Aufmerkſamkeit auf ganz andre Dinge, zum Theil in peinlich perfönlichen 
Beziehungen, ſich concentrirte. 

Zum Verftändniß iſt es nöthig, auf ben Bang ber durch ben großen 
Brand veranlaßten Staatsmaßregeln zurädzulommen. Daß auf dem ges 
wohnten Wege ber Verhandlungen mit den bürgerlichen Collegien die Vor⸗ 
bereitung auch nur der allernothwendigſten Maßregeln nicht befchafft werden 
koͤnne, darüber waren nicht zweierlei Meinungen in ber Stadt. Die Bars 
faffung felbft giebt für ſolche Umftände das Mittel einer außerorbentlichen 
Rath» und Bürgerbeputation an die Hand. Daß ber Rath eir.e folche bean« 
tragen werde, baran zweifelte Niemand. Aber er zögerte fünf Wochen, bis 
er der Bürgerfchaft zum erften Mal nad) bem Ereigniß gegenübertrat- Eine 
frühere Verſammlung des Bürgerconventes hatte Jedermann erwartet; man 
war berechtigt, fie zu erwarten; die Collegien, wenn fie irgendwie als Ders 
treter ber Bürgerfchaft ſich fühlten, Hätten nicht unterlaffen bürfen, darauf 
zu bringen. Der Vorwand, daß es an einem geeigneten Local gefehlt habe, 
iſt ganz unhaltbar z In einer abgebrannten Stadt, beren Rathhaus in die Luft 
gefprengt worden, iſt man in Bezug auf die Räumlichkeiten genügfam ; ein 
freundlich Gefuh, ein Wort vom Herzen zum Herzen findet überall feine 
Stätte. Der Rath wollte es andere. Daß er die herrſchende Aufregung ge⸗ 
fürchtet, ift nicht wahrſcheinlich; ein offnes Entgegenkommen hätte einmuͤ⸗ 
thige Entfchließung gefördert, gegenfeitiges Vertrauen befefligt. Dinte, 
Feder und Papier, dazu langes Warten und der Curialſtyl find nicht die bes 
ſten Wärmeleiter; das lebendige Wort ift ein ander Ding, zumal im Aus 
genblid, wo bie Gemüther deſſen harren, mas da kommen fol. Aber «6 
fcheint, daß der Rath großen Werth darauf legte, bie erften Vorfchläge, bes 
ſonders die erſten finanziellen Maßnahmen felbft auszuarbeiten. Die Aufs 
flelung einer Rath⸗ und Vürgerbeputation von vorn herein würbe bem Ges 
nat die Arbeit weſentlich erleichtert haben. Was er vorläufig mit ber Kam⸗ 
mer (der aus Bürgern ausfchließlich beftehenden Finanzbehörbe), vereinbart, 
war das Ergebniß einer ſtaunenswerthen Tätigkeit. In dem Beiſpiel diefer 
Anſtrengungen lag eine hinreißende Gewalt; es hat in allen Öffentlichen Kreis 
fen nachgewirkt und ben Glauben an die Möglichkeit wie an ben Erfolg der 
aͤußerſten Anſpannung aller Kräfte gepflanzt. Das tft „die moralifche 


678 Hamburg: 


Seite der Sache. Die politiſche Seite ift ohne Bweifel Diefe, daf der Senat, 
im Intereffe feines eigenen Anſehens, im Augenblid, ald eine auferor 
dentliche Behörde, mit ungewöhnlicher Vollmacht ausgeruͤſtet, Ins Beben tre⸗ 
ten follte, das Bebuͤrfniß empfand, die Bedeutung feiner oberften 
Leitung zur Anſchauung zu bringen. Mer 06 weiß, mas für ein Segen 
eine Bräftige Regierung und der Blaube an eine foldye, zumal in einem Bir: 
gerſtaat, ift, der wird die Berechnung richtig finden, auch wenn er beflagt, 
baß fie auf Koften einer früheren und herzlicheren Begegnung mit den Theil⸗ 
‚nehmeen der hoͤchſten Gewalt durchgeführt worden. Den Bauplan zu vol 
enden, war phyſiſch unmöglich; aus einer Mittheilung des Raths erficht man 
aber, daß +8 die Abfiht gerwefen, felbft biefen dem erſten Bürgerconvent ſchon 
vorzulegen. Weber die Mittel zur Bezahlung des Keuercaffen- Schadens und 
bie Erleichterung der Betheiligten fand erft im britten Bürgerconvent (2. Juli) 
eine Vereinbarung über wiederholt modificirte Anträge durch Rath» und Bür 
gerfchluß ſtatt. Gleich im erften aber (16. Juni) ward eine Rath⸗ und Buͤr⸗ 
inprentadoo exwaͤhlt. Der Rath deputirte 5 Mitglieder, die Buͤrgerſchaft 

0, darunter Männer, bie fi in den Kirchfptelen mit befonderer Energie 

sgeſprochen hatten (mehrere derfelben befanden ſich gleichzeitig in der Com: 

iffion , die das Vertrauen weiter Privatkreife zur Ausarbeitung der Reform: 
vorſchlaͤge berufen hat); das erſte Collegium und das zweite ordnete je ein 
Mitglied ab, die Kammer deren zwei. Der Rath hatte ausdruͤcklich bevor: 
wortet, wie wichtig es fei, dab Männer des Vertrauens gemählt 
würden, Eine große und ſchwere Verantwortlichkeit war auf ihre Schul: 
tern gelegt. Sie follten einerfeits Befhlüffe vorbereiten, in Bezug auf 
den Bauplan, die Erpropriation, die Baupolizei, das Loͤſchweſen ; anderer: 
feit8 waren fie zu definitiven Beſchluͤſſen, beziehungsweife mit dem Rath, 
bevollmächtigt über die Anleihen und dahin gehörige Finanzfragen; über die 
Erlaubniß des fofortigen Bauens in gewiſſen Straßen, über nähere und 
dringende baupolizeilihe Verfügungen für den abgebrannten Stadttheil und 
zur Verftändigung mit dem Rath über die für die Unterflügungsbehörde anzu: 
wendenden Grundfüge. Die in der erften Beziehung vorberathenen Punkte 
follten vom Senat unmittelbar an das Collegium der 180 Bürger und an 
“ die Bürgerfchaft gebracht werden. Ein Gleiches war vom Senat in Bezug 
auf folhe Punkte vorbehalten, „welche er zu erheblich eradhten würde, um 
fie mit der Deputation allein zu erledigen. 

Man muß die Eiferfucht fennen, mit welcher in Hamburg jede Auss 
nahmsbehörde jederzeit von ben conftituirten Gewalten betrachtet worden iſt, 
um zu mwiffen, mas es heißt, daß diefe Vollmacht der Rath: und Bürgers 
deputation dreimal (11. Mai 1843, 6. Juni 1844, 24. April 1845) e: 
neuert worden und daß fie erſt nach Zigjähriger Dauer erlofh. Die Entmwer: 
fung des Bauplans, die Beſtellung eines Schägungsgerichted für die Er: 
propriation, die Gontrahirung der Anleihe gehörte zu den dringendften Auf: 
gaben. Wenn die Anleihe den Beweis gab, daß der Staatscredit durch bie 
Kataftrophe nicht berührt und daß das Gefchäft den rechten Händen anvır 
traut war, fo gereichte e8 zur Ehre der Deputation wie der Bürgerfchaft, dab 
ver am 1. September 1842 vorgelegte Bauplan fofort auf einen Wurf an 


I 
Hamburg. 679 


genommen ward. Es war ein großartiger Schritt über Privatinterefien 
(was reichlich ebenfo ſchwer geht) über alte Gewohnheiten hinweg. 3 
Jeden kommen und ſehen. 

Ueber die Arbeiten der Deputation und das Schickſal ihrer einzelnen 
Geſetzentwuͤrfe wird man hier Peine Nachweiſungen erwarten. Die Wuͤrdi⸗ 
gung des Geſammtcharakters ihrer Tätigkeit muß ber Zukunft und einem 
unbefangenen Geſchlecht vorbehalten bleiben: heute noch ſchwankt deſſen Bilb 
„von dee Parteien Haß und Gunſt entftellt". Daß die Deputation in Pris 
vatinterefien vielfach einzugreifen hatte, was ohne Berfiimmung niemals 
und ohne Verlegung beim beften Willen felten vor fi) geht 5 daß fie Die ſchwie⸗ 
rigſten, verwideltften Fragen zu Löfen hatte, wobel ein Wiberflreit ber Mei⸗ 
nungen nicht ausbleiben kann und lebhafter Widerſpruch nicht ausbleiben darf, 
wenn man nicht heilfamer Prüfung ben Kappzaum anlegen will, das lag in 
ber Natur der Suche. Nicht allein der Vorwurf berrifhen Schalten in» 
nerhalb der Grenzen Ihrer Vollmacht, fondern bie ernftere Anklage einer 
Ueberfchreitung ihrer Befugniſſe tft gegen fie erhoben worden. Zugleich 
aber ift von allen Seiten anerkannt, daß die Deputation eine an bie dußerfte 
Grenze perfönlicher Kräfte gehende Thaͤtigkeit entwickelt hat, und aus den 
Angriffen zahlreicher, energifcher und ruͤckſichtsloſer Gegner wird die Nach⸗ 
welt, wenn fie auf die erregteften 2 Blätter der Zagesliteratur zuruͤckkehrt, 
ſich derneugen, daß auf bie Motive der Deputation kein Schatten gewoe⸗ 
fen 


N war, ale bie Deputation ein umfaſſendes Spftem untericbifcher Ab⸗ 
zugscandie, zus Entwäflerung und Reinhaltung der Stadt, auszuführen bes 
gann, daß die Angriffe zuerft anhoben. An ben berufenen „Sielſtreit“ — 
gluͤcklich unſre fernen Lefer, zu deren Ohren ber Name kaum gebrungen! — 
reihten fich ähnliche Kämpfe über andre , großartige, überaus Loftfpielige Pro» 
jecte, welche fämmtli) von dem ingenieur William Linbley ausges 
gangen, der [yon vor dem großen Brande zu den Behörden als Sachverſtaͤn⸗ 
diger in Beziehungen geflanden und während des Brandes eine freiwillige, 
allgemein anerkannte Thaͤtigkeit bewährt batte. eine Eigenfchaft ald Eng» 
Länder iſt ale ausfchließlicher Grund der Feindſchaft der einen, wie der Gunſt 
ber andern Partei betrachtet worden. Daß Ueberzeugung fpricht und nicht 
Neigung oder Abneigung allein, hat der Accent ehrenwerther Sprecher im 
beiden Feldlagern erwiefen. Was die oft angefchuldigte Ausldänderei und 
Englaͤnderei einflußreicher Derfonen anlangt, fo ift es eine natürliche Reaction 

gegen eine frühere Inländerei, welche gegen Erfahrung und Rath von Außen 
ſich auf eine dem Semeinwefen nicht förderliche Weiſe abzufchtießen pflegte. 
Das jegt vorherrfchende Ertrem wird nicht vochalten; aber es koſtet uns 
erftaunlich viel Geld, und wenn es wörtlich Alles erfüllt, was 
es verheißt, fo würden wir es durch andre Folgen, für bie man es 
nicht unmittelbar verantwortlid machen darf, wenn man nicht ım- 
gerecht fein will, noch: immer zu theuer bezahlt haben. 

Wir meinen bie. Kämpfe felbft und das in weiten Kreiſen erfchütterte 
Bertraum. Das Eigenthämtliche bei dem gungen Streit iſt, daB" ein Urtheil 
in der Sache nur ein ſachkundiges, auf ber Höhe ber Technik unfrer 










Tage ftehendes Urtheil fein kann, waͤhrend alle 
nimmt ; für und wiber die Sadye, im Vertrauen ( 
ten) zu ben — deren Stimme dem 







ordentliche Behörde * ann ohne ihrer 
bares Maß und Biel zu ſtecken. Und wenn —— 
reg ber * Tagen das von Einem 


ſt 

—— ſo ke San daß fie eine doppelt ſchwere mn un 
auf fi genommen hat, weil fie ein eignes techmifches: Urtheil in der Sauce 

t geltend machen konnte und well fie in der. Form bis am die dufierjle 

ihrer Befugniß vorgegangen war, 

Fuͤgen wir aber. ebenfo unummunden hinzu: die Verantwortung trifft 
die conſtituirten Behörden, trifft vor Allem bie Buͤrgerſchaft felbſt, weiche 

thun konnte und deren Einfprache fo wenig als felbft eine Sr 
cation und Beſchraͤnkung der ertheilten Vollmacht hätte unberhdlfichtige Blei: 
ben bürfen. ihm alfo die rechtliche Verantwortlichkeit, abgefeben von 
dem unbezweifelt guten Glauben, in welchem die Deputation verfahren ‚buch 
Dasjenige, was die Bürgerfchaft theils fchmeigend jugelaffen , theils aus 
druͤcklich gutgeheißen, wegfaͤllt, wird die moralifche im weitem Umfang ven 
Dielen getheilt werben müffen. 

Mer die Aufregung Eennt, in welche das Publicum durch ben öffent 
lichen Streit verfegt war, der wird nicht umhin koͤnnen, zu fragen, wo wa 
ren Diejenigen, melche die Verfaffung zu Wächtern der bürgerlichen Ge 
techtfame eingefegt hat? Konnten fie es gleichgültig anfehen, dag angefe: 
bene und ehrenwerthe Stimmen die ſchwerſten Vorherſagungen an Dasjenige, 
was fie ein offenbares Unrecht nannten, von Zag zu Tage fnüpften — wur 
es nicht ihre Pflicht, die gründlichfte Unterfuhung des Sachverhaͤltniſſes zu 
veranlaffen? War e6 nicht ihre Sache vor Andern, dahin zu fireben , daß 
ihren Mitbürgern die Beruhigung zu Theil werde, die nur aus der Ueber: 
zeugung fließen kann, daß eine bürgerliche Controle zu rechter Zeit, am red: 
ten Orte, jedes ungemöhnliche Verfahren uͤberwache? Aber von einer leb⸗ 
baften Zheilnahme, von einer darauf begründeten Zhätigkeit, wie fie den 
bürgerlichen Collegien zuftand, hat man wenig vernommen. Sie waren um 
fo mehr berufen, zu machen und aufzufehen, weil die Verhandlungen auf 
ungewohntem Wege, mit Vorbeigehung bes üblichen Geſchaͤftsganges, vor fid) 
gingen. Dielen hat bei biefer Wahrnehmung die Ueberzeugung fich aufge 
drängt, daß dies Inſtitut der Collegien, in feiner heutigen Form, fid über: 
lebt habe. Zu zahlreich, um vorbereitende Verhandlungen als Ausſchuß mit 
Erfolg zu pflegen, eignen fie wiederum durch die Art ihrer Wahl fich wenig, 
ale Vertreter der Bürgerfchaft zu wirken. Ihre Zhätigkeit ift bei wirklichen 


x" 


Hamburg. 681 


Reformen gar felten als förbernd genannt worden. Gar häufig find fie dem 
Fortſchritt entgegengetreten. Seit ben großen Brande hatte das Puhblicam 
wohl bemerkt, daß ein oft und ſchwer gerügter Mißbrauch — das Aufrüden 
ins Collegium der Oberalten nach dem Alter — factifch abgeftellt fei; nad) 
Jahr und Tag erfuhr die Bürgerfchaft ganz gelegentlich, daß bie Oberalten 
einen verbefjerten Wahlmodus am 4. Dct. 1843 unter fich verabredet, welcher 
auch vom Senat ſeitdem gutgebeißen worden. So ſehr das Zweckmaͤßige 
des neuen Wahlmobus durch mandye ſeitdem ftattgefundene Wahlen fich er= 
probt hat, fo wenig konnte das Collegium berechtigt fein, ohne ausdruͤck⸗ 
liche Genehmigung der Bürgerfchaft fo in aller Stille einen Wahlmodus ſich 
anzueignen. Die Sache hatte den Anſchein, als fei fie eher aus Scheu denn 
aus wirklicher Achtung vor ber Öffentlichen Meinung gefchehben. Dazu nody 
ift e6 dem Collegium begegnet, mit der Öffentlihen Meinung bei mehreren 
Antäffen ſich in entfchiedenen und auffallenden Widerfpruch zu ſetzen. 

Was den Bürgerconvent felbft anlangt, fo haben bie bezeichneten Ver⸗ 
haͤltniſſe nur zu deutlich an den Tag gelegt, wie fehr die unbehilflichen For⸗ 
men einer felbfiftändigen Bewegung, vollends einer felbftthätigen Anregung, 
auch wo fie noch fehr Noth thäte, im Wege flehn. Es iſt immer fraglich ges 
worden, ob der Ausdruck der öffentlichen Stimme auch Innerhalb der Buͤr⸗ 
gerverfammiung ſich Bahn brechen, unb ob ihre Befchlüffe mit bemfelben, 
felbft in wichtigen Angelegenheiten, übereinflimmen werden. Genug, bie 
Erfcheinungen , weldye bie legten fo bewegten Jahre darboten, haben Man: 
chem das Bebürfnif von weiter greifenden Reformen ſehr nahe gelegt. 

Für die Ausfichten dee Reform aber kormte nichts niederfchlagenber 
fein als eben die angebeuteten Kämpfe, in welchen bie Parteim um eins 
zeine Perfönticykeiten fich fchaarten. Wenn bei ben Fuͤhrern allerdings ein 
Princip obenanftehen mochte, fo waren dagegen perfönliche Beziehungen nur 
allzu häufig das entfcheidende Moment für die große Zahl ihrer Anhänger, 
und das Intereſſe wie bie Abneigung in Bezug auf gewiffe Perfönlichkeiten 
ſprach ſich unverholen aus und fuchte in gleichem Sinn die Zahl der Profes 
Ipten zu mehren. Die großen und allgemeinen Fragen traten in den Hinter: 
grund: für oder wider Linbley bedeutete mehr al& für oder wider einen 
Grundſatz der Verfaſſung. Eine Zeit verbiendeter Parteiungen bringt es 
mit fich, daß unter ben in entgegengefehten Feldlagern der Tagesfrage Eitrels 
tenden ein Zuſammenwitken für gemeinfame, davon unabhängige und darüber 
ſtehende Zwecke nur in Ausnahmefällen herzuftellen iſt. Die Heformbeftre: 
bungen (um auf diefe zuruͤckzukommen) bat nicht Ermattung, fondern heftige 
Anfpannung, nicht Abkühlung, fondern Erhigung für andersartige Kämpfe 
unterbrochen. 

Fest, mo in ben vorherefchenden Bewegungen eine Paufe eingetreten zu 
fein fcheint, muß es fich zeigen, ob eine Reformpartei ſich bilden kann, welche 
vor Allem diejenige innere Disciplin ſich aneignet, daß den Einzelnen auch 
bei entgegenftegenden Anfichten über diefe ober jene Tagesfrage ein bauerndes, 
erfreuliches und nachhaltiges Zuſammenwirken für ſolche Zwecke möglich werbe, 
—* deren Nuͤtzlichkeit fuͤrs Gemeinweſen einſtimmige Ueberzeugung ſtatt⸗ 

et. 


682 Hamburg. 
. — — pen an 


ö — c 
















sy (Zu ©. 753.1 6.u.) Eeifkein —— — 


- 
burgiſchen Staatswefen, daß Fein Gefeg vorhanden ift, welches auch dem 
Michtbegüterten «8 möglich machte, von ber Verwaltung ber auf Pebensjd 
ertheilten Ehrendmter im höheren Alter ſich zuruͤckzuzichen. So lang ü 
Ehrengehalt in jedem einzelnen Falle von einer Verhandlung mit der Bürger 
ſchaft abhängt, wird das Einfchlagen diefes Weges zu den Seltenheiten gr 
hören. Es ift aber eine ſehr übelverftandene Sparfamkeit, welche es vor: 
zieht, eine Thaͤtigkeit, die durch die Paft der Jahre und die in deren Gefolge 
fich einftellenden Schwächen nicht unberührt bleiben kann, als vollgenügen 
borauszufeken, anſtatt unter würdiger Anerkennung früherer Leiftungen, 
jüngeren Kräften die Bahn ber Nacheiferung bei Zeiten zu eröffnen, 

(Zu S. 788 3. 3 v. u.) Kin ernewerter Berfuh des Mathe in aͤhn⸗ 
lihem Sinn ift in den legten Zeiten beim erjten buͤrgerlichen Collegium zwar 
auf unerwarteten Widerftand geftoßen; aber die Ööffentlihe Meinung bat in 
diefer Beziehung doch Fortfchritte gemadyt, und man barf hoffen , daß das 
Unmirdige und Ungerechte, mas in dem Verhalten des Staats zur Su 
denfrage liegt, nicht allein im Äntereffe ber Juden, fondern im Intereſſ 
des Staates felbit in nicht ferner Zukunft werde befeitigt werden. Wie 
unverkennbar aud die Schwiertafeiten find, meldhe bei den befonderen Ver: 
hältniffen der vollen Durchfuͤhrung des Grundfages „gleiche Pflichten, 
gleiche Rechte, abgefehen von jeder Berfchiedenheit der Confeffion‘ fit 
entgegenftellten, fo laßt ſich doch die bisherige Geſetzgebung in Bezug auf 
die Stellung der Juden dadurch nicht entichuldigen. Eine fortfchreitend: 
Durchführung des Gebotes der Vernunft und der Gerechtigkeit wird mur 
mit andern flaatsbürgerlichen Reformen Hand in Hand geben Eönnen- 


Hamburg. 688 


(3u ©. 789 3.17 v.u.) Die Baſis der Erbgeſeſſenheit, einft mit dem 
allgemeinen Stimmrecht aller Bürger gleichgeltend , fpäter in dem Gedanken 
feftgehalten, daß der Grundbeſitz ein Intereffe am Wohlergehen des Staats 
mit Zuverficht erwarten laſſe, diefe Bafis hat weniger durch die Erhöhung 
der erforderlichen Summe des fchuldenfreien Werthes als burdy die veraͤn⸗ 
derten Verhaͤltniſſe des Grumdeigenthums ihre Bedeutung verloren. Abge⸗ 
ſehen von der auffallenden Nichtberuͤckſichtigung des Faufmännifchen 
Capitals, würden es heute viel mehr die bupothekarifchen Glaͤubiger fein als 
die Hausbefiger, bei welchen jenes Intereffe mit feinem ganzen Gewicht 
voraußzufegen wäre. Dazu kommt, daß die Speculation Grundſtuͤcke zum 
Bebauen und zum Vermiethen zum hell in großem Umfang zu erwerben 
längft getwohnt war, daß alfo die Zahl der Echgefeffenen nicht nur einer fteten 
Schwankung, fondern auch einer Verminderung unterworfen iſt, ohne daß 
irgend ein Gefeg das Marimum des in der Dand eines einzelnen Specu⸗ 
lanten fi anhdufenden Grundeigenthums beftimmt hätte. ine fo ver» 
altete Bafis der politiichen Berechtigung würde ſich gar nicht vertheidigen 
laſſen, wenn nicht bie Öffentlichen Laften, welche auf dem Grundeigenthum 
haften, dem Grundeigenthuͤmer auf bie Theilnahme am Recht der Selbſt⸗ 
befteuerung einen unabweisbaren Anſpruch ficherten; und wenn nicht an⸗ 
drerfeits beinahe für Jeden, der an den Öffentlichen Angelegenheiten Theil zu 
nehmen wuͤnſcht, die Möglichkeit gegeben wäre, ohne ein allzu großes Opfer 
ſich erbgefeffen zu machen und dadurch, fofern nicht gefegliche Worfchriften 
anderer Art entgegenftehen, das Ziel zu erreichen. Alle Verhältniffe wohl⸗ 
erwogen, würde neben dem Cenſus und der Rüdfiht auf die 
Intelligenz noch immer die Erbgefeffenheit eine brauchbare Baſis für 
die politifche Berechtigung abgeben. Gegenwärtig knuͤpft fidy daran das 
perfönliche Stimmrecht in den Bürgerconventen, und es wird zundchft zu 
betrachten fein, in welcher Weife dieſes geübt wird. 

. (du ©. 800 3. 20 v. 0.) Someit haben wie unfre frühere Aufs 
faffung dieſes Inſtitutes unverändert bier wiederholt. Es iſt aber vor wes 
nigen Monaten in einer Heinen Schrift von Dr. Bau meifter (Ueber bie 
Entſcheidungs⸗Deputation. Hamburg, 1846. Perthes, B. und DM.) bie 
feüher ſchon von einem andern Schriftfleller gelegentlich aufgeftellte Behaups 
tung mit ungemeinem Scharffinn durchgeführt worden: daß dies Inſtitut 
nur füc ben Kal beſtimmt fei, wenn ber Rath einen von der Bürgers 
ſchaft felbftftändig erhobenen Antrag anzunehmen fidy weigere, und daß dee 
Kath Bein Recht habe, aufdie außerordentliche Entfcheidung zu provociten, 
wenn eine feiner Propofitionen von der Bürgerfchaft abgefchlagen fei. 
Die biftorifch = Eritifche Ausführung läßt wohl noch einige (vielleicht nie 
aufzuhellende) Dunkelheit, aber kaum einen Zweifel übrig, daß ber urs 
fprüngliche Gedanke der Geſetzgebung in ber That kein andrer gewefen als 
diefer: das Gehaͤſfige eines fortgefegten Widerftandes des Senats gegen ein 
Begehren ber Bürgerfchaft zu mildern, ohne ihn doch ber Nothwendigkelt 
auszufegen, mit Verleugnung feiner feftgehaltenen Anficht ſelbſt nachzu⸗ 
geben, ımb ohne bie Buͤrgerſchaft in Verſuchung zu führen, auf die oft 
erprobte Gewalt ihrer unwuͤrdigen Zwangsmittel zuruͤckzukommen. Gomit 


haar nicht befugt fei, ihr abfolutes Veto zu beftreiten. Indeſſen täites 


hie gegen ben ee abfolutes, dem Rath gegen bi 
Bürgerfhaft nur ein fuspenfives Vet wohlverſtanden, daß bie 
Bürgerfchaft nicht etwa durch —— ge den Rath zwingen, fon 
dan daß fie nur durch das Mittel einer auferordentlichen Entfcheibungste 
börde den Rath in die Möglichkeit einer Miederlage verfegen Auf: 
fallend in hohem Grade bleibt «8 immer a daß nur 
dev Rath «6 gewefen, der auf die außerordentliche Entfcheibungsbehörd: 
(bis jeht ſieben Mal) provociet hat, und zwar in Fällen, wo feime Antröge 
wiederholt abgelehnt waren; und daß die Bürgerfchaft zu verfchtedenen Bel 
ten zwar verfchiebene Gründe anführte, aus welchen fie das Mittel, um 
ftatthaft erachtete, noch nie aber den einen Grund, der im der Matur dir 
Sache gelegen und alle andern Gründe erfegt hätte, daß naͤmlich der Katy 































fid) denken, daß der Ruth den Verfuc gemacht, auch jeinerfeits auszubas 
ten, mas zu Gunſten der Bürgerichaft eigentlich vorbehalten war, und duf 
über dieſen mehrmaligen Verfuchen (die man nicht nnd „Drohmittel” 
genannt hat) der Bürgerfchaft die wahre Bedeutung des gangen £ 
abhanden gefommen fein mag. Es läft ſich dies um fo leichter denken, wenn 
man fich erinnert, wie gering die Bekanntſchaft mit ben (bis vor 60 Jahten zu 
den Literarifchen Seltenheiten gesählten) Abdruͤcken dev Grundgefege 

Foßt man die Sache praktiſch ins Auge, fo möchten wir bezmeifdn, 
daß ferbft die Schaͤrfe diefer Auffaffung für den einzelnen Fall ein * 
lich verſchiedenes Reſultat herbeiführen kann als dasjenige, das aus unfer 
obigen Darftellung ſich ergeben wird, nach welcher dem Ermeffen und tim 
Gewiffen der Bürgerfchaft anheimgeftellt bleibt , ob fie glaubt, auf das Min 
einer außerorbentlichen Entfcheidung eingehen zu follen. Daß es Kälte gieht, 
in welchen Math und Bürgerfchaft verfchiedeneer Meinung find, mähren) 
doch der Page der Dinge nah etwas geſchehen muß, wird nicht wu 
leugnen fein. in jolcher Fall war der von 1829, als die Prolongation der 
Zollordnung von ber Bürgerfchaft wiederholt und bebarrlih angetrage: 
ner Maßen abgefchlagen war. Der Rath bielt eine Ermäßfiuung dis 
Zolls für fo bebenklih, als die Buͤrgerſchaft diefelbe wuͤnſchenswerth erad» 
tete: Niemand war der Meinung, daß Hamburg für die nächfte Zeit ganı 
ohne Zolleinnahme bleiben follte. Beim Alten Eonnte e8 nicht bleiben, eben 
weil die Prolongation des Alten abgefhlagen war: Etwas mußte 
gefhehen. Entweder man muß für ſolche Fälle, auch wenn ſie zunaͤchſt 
durch eine Nathepropofition veranlaßt find, die Enticheidungedeputation ins 
Mittel treten laffen, oder man muß anerkennen, daß die Verfaflung für 
ſolche Fälle eine bedauerliche Küde hat, und muß fuchen, Diefelbe durd 
ein andres, aͤhnliches Inſtitut möglichft auszufüllen. Der Ausfnruch der 
1829 erwählten Deputation lautete auf eine längftens viermonatliche Prolen 
gation der beftehenden Zollordnung, „falls nicht durd) einmüthigen Befchluf 
E. E. Raths und Erbgeſeſſener Buͤrgerſchaft bis dahin ein Andres beliebt 
werden ſollte.“ Vor dem Ablauf der Friſt war auch bereits eine den Wuͤn⸗ 
ſchen der Buͤrgerſchaft entſprechende Reduction des Zolls durch einmuͤthigen 
Beſchluß ins Leben getreten. 








Nehmen wie dagegen den zweiten Sal, in welchem es zur Wahl ber 
Ausnahmebehörde gekommen iſt. Am 12. Sept. 1844 beantragte der Rath 
zum dritten Dal die zweimal abgelehnte Katification der Dresdener Elbzoll⸗ 
verträge. Die Bürgerfchaft lehnte zum dritten Dal ab: der Rath propos 
cirte auf die Entfcheidunges Deputation. Halten wir nun, abgefehen von 
ber Sache ſelbſt und ihrer Zweckmaͤßigkeit, uns lediglich ans Formelle, fo 
nehmen wir Beinen Anftand zu erklären, daß wir keineswegs der Meinung 
find, bie Bürgerfchaft ſei verpflichtet geweien, auf die Wahl ſich einzu⸗ 
laſſen und die Entfcheidung einer Ausnahmsbehoͤrde anheimzugeben. Eins 
von Beiden konnte geſchehen; es konnte ratifichet werben:ober nicht. Blieb 
die Bürgerfchaft bei ihrem Nein, fo ward nicht ratificirt; ein Mefultat war 
alfo vorhanden; wollte die Bürgerfchaft die Folgen auf fih nehmen, fo 
war fie in ihrem vollen Recht, wenn fie dies Reſultat herbeifuͤhrte. Sie 
bat aber bekanntlich gewählt , und die Werträge find ratificirt worben. 

Daß übrigens das Inſtitut beffer organifirt werben koͤnnte, und daß dem 
Looſe weniger anheimzugeben wäre, geben wir zu, wie wie denn auch anums 
wunden bie früher geäußerte Anſicht zuruͤcknehmen, daß die Wahrſchein⸗ 
lichkeit eines Uebergewichts auf die Seite der Bürger ſich neige, ba allers 
dings die geringe Zahl der Perfonen bei der Zwiſchenwirkung bes: Loofes 
eine MWahrfcheinlichleitsrechnung überall nicht zuläßt. 

Schwerlich wird ber Rath es Leicht auf die Probe anlommen lafſen; 
wiefern dieſe Anſichten bei der Buͤrgerſchaft Eingang gefunden haben mögen. 
Doch glauben wir, daß das Vorhandenſein bes Inſtituts für gewiſſe Fälle 
um fo eher den Damburgifhen Staat der Nothwendigkeit uͤberheben wird, 
die Schlichtung einbeimifcher Differenzen dem Schiebegericht bes deutſchen 
Bundes zu übertragen — maß jedenfalls unanmwendbar bleiben wird, fo lange 
irgend ein Mittel der Ausgleihung im Innern des Staates vorhanden iſt. 

©. 801 3.5». u) Wir babear diefe Frage fruͤher ‚verneint; 
Wir bejahen fie jegt und find Über die Gründe biefer nicht ohne lange und 
ernſte Prüfung veränderten Ueberzeugung Rechenſchaft fchuldig. 

Daß im gewöähnten Gang der Dinge jene aus alter Zeit und ganz ans 
dern Verhaͤltniſſen herſtammenden Formen wohl nicht ohne hemmenden 
fluß blieben, aber ohne den Staatszweck ſelbſt zu gefährden, hatte eine 
lange Beobachtung gezeigt. Seit dem Brande find immer fchwiertgere und 
verwideltere Aufgaben an den Staat herangetreten; aͤußere Berhältniffe laſ⸗ 
fen deren noch mehrere erwarten; und bie Erfahrung beiveifet nur zu beuts 
lich, daß die alten Formen nicht genügen, uns zu ber Loͤſung auszuchften. 
Die Rathsanträge find gutentheilg umfangreiche Denkſchriften; eine Dis: 
euffion allein kann die Bürgerfchaft in den Stand fegen, ein volles Bes 
wußtfein der Dinge, wie fie find, zu geroinnen. Solche Diecuffion durch 
die Vorberathung des dritten bürgerlichen Collegiums (der 180er) zu erfegen, 
war der Vorfchlag des Commiſſionsberichts. Ein Surrogat, wenn es zu er⸗ 
zeichen ſtuͤnde; aber body nur ein Surrogat, deffen Wirkung nur mittelbar 
bee Geſammtheit der Stimmberechtigten zu Gute kommen wuͤrbe. So 
wie die Sache jegt: flieht, werben bie Rathsantraͤge von ber Bärgerfchaft in 
mehreren Vereinen discutirt. Nichts ſteht Im Wege, dieſe Diecufften in 





weichen die Gntfepeibung ih, daß Diet ine 
es —— — Deuten wie uns. mim bie fünf Kir 








noch greller fich herausftellen als ber getrennim. 
Eben Die Mershuigung bee Riechfpiate; die nicht ausbieiben Ca mn, nei um 
jur Repräfentativ » Verfaſſung berüberfeiten. nur 
„Dat pefiniche Stmmege wi wg en Watte ufargehn we 
welches letztere uͤbrigens zeitgem ee 
Öffentlichen Angelegenheiten ausdehnen wird. Dennoch nennen 








im felbe 

chen Berechtigung Überhaupt fich drtweitert bat; Dii 
eiane Hand ſich bei der Gefeggebung betbeiligt , war das ſchon 
Vorcecht einfacher Verhältniffe. Das Standesvorrecht und der Gorper 
tionsgeift des Mittelalters find der breiteren Bafis der Nepräfentarion al 


Staatsbürger, wenn auch allmälig nur und widerſtrebend, gewichen. In‘ 


größeren, ſich ftete ertoeiternden Stadtgemeinden ift derfelbe Gang bemerkbir; 
war die urfprüngliche Bafis bier eine breitere, fo Eann fie um fo meniger 
fi) erweitern, wenn bie directe EBeilnahme an ber Befeggebung fert: 
beftehen fol. Es giebt eine äußere Schranke der Möglichkeit, die kaum 
in den Verſammlungen ber bemofratifchen Gantone ufter freiem Himmel 
wegfaͤllt. 

Außer dieſet Schranke der raͤumlichen Möglichkeit giebt es für bie 
Theilnahme ber Bürger noch eine andre: es ift die der individuellen 
Willkür in ber Benutzung politifhher Rechte. Geſtehen wir, diefe Be 
tradhtung konnte nicht ohne Einfluß auf die Beftärkung unfrer Ueberzeugung 
bleiben, Jetzt fieht der Bürger die Theilnahme an der Gefeßgebung als ein 
Recht an, das er üben kann oder nidyt, nach Belieben; ald ein Recht, 
das ihn befähigt, mitzureden, wo er feine Intereſſen betheiligt glaubt, oder 
wenn feine Freunde in ihrem Intereffe, für die Foͤrderung Deffen , was ihnen 
am Herzen liegt, ihn erſuchen, in die Bürgerfchaft einmal ausnabmemeife 
binzugehn und Ja zu jagen oder Nein zu diefem oder jenem Antrag. Die 
neueften Erfahrungen — indbefondre noch von dem Vürgerconvent om 11, 
März 1847 — haben es wieder gezeigt, mie es von zufälligen Umſtaͤnden, 
von der größeren ober geringeren Thaͤtigkeit einer Partei im Deranzieben von 
„Freiwilligen“ abhängt, nad) welcher Seite hin bie Entfheidung der Kirch⸗ 






Hamburg. 687 


ſpiele fich neigt, Eine namhafte Geldbewilligung, unter Umfländen, welche 
wenig Ausficht auf Willfaͤhrigkeit verheißen hatten, mag dem Senat ſelbſt 
unerpartet gewefen fein. Aber man hatte audy viele an ber Boͤrſe, in Geſell⸗ 
ſchaften, nicht aber in der Bürgerfchaft wohlbekannte Erfheinungen zum 
exſtenmal in ber legteren geſehen: fie Hatten gedient, den Ausfchlag zu geben. 
Ein Gleiches hätte durch ebenjo feltne und zufällige Säfte nach ber andern 
Seite hin gefchehen können. 

Es giebt aber eine würbigere Auffaffung ber politifhen Thätigkeit als 
biefe der perſoͤnlichen Berechtigung , bei der man an ſich oder an feine Freunde 
dent. Es ift der Standpunkt der Pflicht. Der gewählte Wertreter 
feinee Mitbürger, der Mann bed Vertrauens, der nicht aus eignem Mecht, 
fondern durch den Auftrag Andrer erfcheint, hat eine Pflicht zu ers 
füllen. Und wenn das Aufgeben des perfönlichen Stimmrechts für den 
Einzelnen als ein Opfer erfcheint, fo ift’E ein Opfer zu Bunften bes Ge 
meinweſens, das durch Diejenigen, die durch bie Idee ber Pflicht auf ihren 
Doften geftelit find, beſſer und erfolgreicher berathen fein. wird. 

In diefem Sinn iſt die Sache in ber vaterflädtifchen Section ber pas 
triotifchen Geſellſchaft zur Discuffion gefommen. Es muß ſich zeigen, ins 
wiefern bie öffentliche Meinung für ſolche Anfichten einen Boden, und ihre 
allmdlige Rüdwirkung auf die conflituirten Gewalten einen praßtifchen Ein» 
flug te wird. 

. (Zu &.804 3.150. u.) Die Abnormität dieſes Verfahrens if alte 
genfällig ; baß es fich fo Lange erhalten Eonnte, ift nicht weniger zu verwunbern, 
als daß bie vor einem Jahrzehent in England dem Angeklagten, wenn bie 
Anklage nicht über „Belone” binausging, kein Rechtsanwalt zur Seite ſtand. 

(3u ©. 804 3.2 v. u.) Die im. Eingang erwähnte Petition vieler 
Bürger (vom 8. Juni 1848) hatte unter Anderem „weitere und vollfländige 
Durchführung des Brunbfages der Trennung der echtöpflege von ber Vers 
mwaltung” verlangt. In wenigen Staaten mögen, abgefehen von dem allges. 
meinen Geſichtspunkte, befondere Gründe in foldem Maße wie in Ham⸗ 
burg diefer Trennung das Wort reben; und in ber That nicht allein Brände; 
die aus den Bebürfniffen der Juſtiz, fondern auch weſentlich ſolche, die aus 
den Anforderungen an die Regierung hergenommen find. Der Senat er⸗ 
roiderte, er habe mit einer Erwägung dieſes Gegenflandes fich feit Längerer: 
Beit bereits befchäftigt. Der zweite Theil des „Comuniffionsberichtes” moti⸗ 
virte nicht nur das obige Geſuch, fondern beantragte eine Umgeftaltung bes 

‚ Zuftizwefens, im Einklang mit der Immer allgemeiner anerlannten Anfors 
derung ber Zeit, und entfchieb ſich namentlich mit großer De Rimmmiheit, im 
Gegenfag zu dem actemmäßigen Unterfuchungsproceß, für das oͤffentlich⸗ 
mündliche Anklageverfahren. (Die dritte Beilage des Berichtes weilt nach, 
wie das mündliche Verfahren bei ben Hamburgifchen Gerichten nach und * 
durch das eingeriſſene ſchriftliche verdraͤngt worden.) Ueber bie Frage ber 
Geſchworenengerichte giebt der Bericht kein abgeſchloſſenes Ergebniß, neigt 
ſich indeſſen mehr auf bie Seite ſtaͤndiger Gerichte, Im Sinn der von G. Bes. 
ſeler ‚entwidelten Anfihten. Es tzeffen viele Umflände zuſammen, welche 
es wahrſcheinlich machen, daß in Hamburg bie öffentliche Meinung nicht 








fer eingrelfende Reformen beantragt worden ; er ſelbſt, der Senat, Tet veranlı® 
worden, biele biefer Vorſchlaͤge (namentlich, wenn auch zoͤgernd und erſt ne⸗ 
allfeitiger Prirfung, die durchgaͤngige Mündlihbeit in ber Form 
des Anklageverfahrens) ſich anzueignen. So feidenn auch eine gam 
mene und volftändige Strafprocekordnung nöthig gemorben. Vom Straf 
geſetzbuch fei der Entwurf des ſchwierigeren allgemeinen Theiles beendigt. Die 
Bürgerfchaft ſprach bei diefer Gelegenheit den Wunſch aus, „daß faͤmmt⸗ 
liche in der Civiljuſtiz erforderlichen Reformen gleichzeitig mit den Meformen 
in der Griminaljuftiz vorgenommen werden und im dag eben treten mögen", 
in welchen Wunſche denn auch mindefteng eine Gutheifung des Grumndfabe 
durchgängiger Muͤndlichkeit bes Verfahrens liegt. Fuͤt die feſtere Begründung 
und weitere Verbreitung gelämterter Anfichten über das Juſtizweſen und für 
die Anbahnung fernerer Verbefferungen ift es von großer Wichtigkeit, das im 
Spätjahr 1846 ein „Verein Hamburgiſcher Juriſten“ ſich gebildet bat (der 
übrigens auch nicht rechtögelehrte Mitglieder zählt, welche entweder in ben 
Gerichten gefeffen haben ober ſich für das Rechtewelen intereffiren), deſſen 
Sitzungen oͤffentlich ſind und bis jetzt durch vielfache Discuſſionen uͤber den 
Fortſchritt des einheimiſchen Rechtsweſens ausgefuͤllt worden. Die (fteilich 
nur partielle) Anwaltverſammlung hatte den aͤußeren Anſtoß zur Bildung 
des Vereins gegeben; dieſen Augenblick wird eine zweite allgemeine, bie 
vielleicht gleichfalls in unferer Mitte ſtattfinden wird, vorbereitet, und es ſteht 
zu hoffen, daß auch dadurch das angeregte Intereffe in immer tweitere Kreife 
dringen wird. 


DE. 


: (3u ©. 806 3. 14 v. o.) Demnach iſt der Zutritt zu den Gerichten 
dem beſchwerten Buͤrger verſperrt und von dem Gutbefinden ber Adminiſtration 
abhaͤngig. Es iſt dies ein Punkt, welcher eine Wandelſchaffung um ſo drin⸗ 
gender erheiſcht, da bie Sache Alles, was anderwaͤrts zu Sunflen der Bes 
amıten (man denke an die garantie des fonctionnaires publics!)’befteht, weit 
überbietet und kaum in einem Redhtöftaat ihres Gleichen finden dürfte. 

(Bu S. 809 fiatt ber Worte: bie allg. Polizeibehörde — verfahren, 
Folgendes.) Wohl aber bedurfte die Einrichtung einer Reviſion, und ber 
Kath ergriff Die Gelegenheit, am 23. November 1843 zu beantragen, daß 
diefelbe Deputation, am welche die Juftizperbefferumg vertiefen war, auch 
eine neue und definitive Polizeiorbdnung entwerfe. Nach ben neueften Mit⸗ 
thellungen fteht zu hoffen, daß ir Jahr 1860, wenn nicht früher, der gegen» 
waͤrtige — Zuſtand ſeine Enbſchaft erreichen werde. 

(Bu S. 810 3.5 v. o.) Daß uͤbrigens die Handhabung bet Cenſur 
in Hamburg durch dieſelben Inconſequenzen bezelchnet wird, welche dies 
Inſtitut der Willkuͤr, woruͤber die Öffentliche Meinung laͤngſt "gerichtet bat, 
überall mit ſich bringt, das ſpringt eben dadurch bier mehr im die Augen, weil 
wirklich in den legten Zeiten bie ſtaͤrkſten und ſchaͤrfften Dinge hin und wieder 
zu Tage gefommmm find. 

(Zu ©. 811 3.16 v. u.) Zwar find detailfiete Mittheilungen biefer 
Art in den ketzten Jahren regelmäßig gemacht worden, aber nicht in genuͤ⸗ 
gender Weiſe; und die ſchweren Laften, weiche feit dem Brande auf bem Buͤr⸗ 
ger ruhen, madyen e8 zue Pflicht, unbedingte Offenheit und Deffentlichkeit in 
die Marime der Finanzverwaltung aufzunehmen. 

(Bu S. 811 3. 6 v. u.) Diele — bie Commerzdeputation — befteht 
aus fieben Kaufleuten, je auf ſieben Jahre erwaͤhlt (unter welchen wenigſtens 
ein Schiffecheder fein fol; früher war immer ein Schifferalter das flebente 
Mitglied). Kür ein austretenbes Mitglled fchlägt die Deputation vier Kaufs 
leute vor; bie verfammelte Kaufmannfchaft fügt * vier Kaufleute hinzu 
am mählt aus ben fo zum Vorſchlag Gebrachten dur 4 Stimmenmehrheit 


(Bu ©.815 3.1 v. o.) Für bie mannichfachen Gebrechen der Kirchen⸗ 
verfaſſung wird Bein Heilmittel zu ſinden fein, als wenn man das Princip 
dee Trennung ber Kirche vom Staat ſich aneignet und die Kirche dann, ber 
Vormundſchaft enthoben, ihre Innere Berfoffung (dte ſchwerlich eine andre 
als die —— fein wird) ſich waͤhlen laͤßt 

(Zu S. 816 3.5 v. o. ſtatt der Die Behree — erforberlch.) 
Der Wirkungekreio dieſer Behoͤrde beſchraͤnkt ſich aber auf bie Staatsan⸗ 
ſtalten (die Gelehrtenſchule des Johanneums, eine Realſchule und ein alas 
demiſches Gymnaſium, das in gemeinnuͤtigen oͤffentlichen Vorleſungen feine 
hauptſaͤchliche Wirkſamkeit findet und deſſen Reform laͤngſt, aber vergebens, 
in Anregung gebracht iſt). Aus dem dritten Thell des, Commiſſionsbe⸗ 
tichtes"” erficht man, wie es in Damburg weder eine allgemeine Schulpflich⸗ 
tigkeit giebt, noch eine allgemeine: Schrbehdrde, noch eine Schulorbnung, 
umd in euelchern unglaublichen Buflarb überhaupt die Geſetzgebeng, trotz eines 
mehe td cin Iuhrhundeet altin Berſprechens, das Schulweſen getaffen bat. 

©uppl. 5. ©taatsler. II. 









ER 
* — —— 
—— ap als —— * 






feiner viertelhundertjährigen Regierung gegen die engiiſche 
‚war Dampbden bie feinem ode auf. dam Schlachefeibe, fi 
Be — sauce Eos, ned fen un geaheften Wett 





Kuren | = 
De Die Beipiratimpfe fine Batrladss un fr Die potife 
heit überhaupt iſt Hampden, obwohl er nuc,im Parlament, im weichen⸗ 
bie Petition of. rights erfämpfte, und fpäter im Bürgerfriege auch ᷣ 
Krlegsmann voranſtand, doch vorzugsweiſe bedeutungsvoll, als Helb w 
Vorbild des geſetzlichen Widerſtandes. Durch dieſen errangen ® 
vertheidigten bie beiden freieſten und am meiften praktiſchen Voͤlker der Ei, 
die Roͤmer und die Engländer, ihre Freiheit. In England aber ijt dere 
jegt au einem jo vollftändigen Spfteme organifirt, daß dort, ſoweit birld 
überhaupt unter Menfchen moͤglich ift, zugleich die Unterdrücfung der Fui 
heit und das Unglück gewaltfamer Revolution ausgefchloffen, das Volk m 
der Thron alfo gegen diefe beiden größten Gefahren mehr als irgenbmo ir 
ber Welt gefhügt erfcheinen. | 

Das Spftem des gefeglichen Widerftandes im Sinne der Engländer abe 
beiteht darin, daß bie Bürger es für heilige Waterlandspflicht halten, jet 
freiheitsfeindlihe Regierungsmaßregel beharrlih und nachdruͤcklichſt zu br 
fimpfen. Cs gilt im Volk und felbft in den Richterjprüchen als Ehre bt 
Bürger, wenn fie auch die ihre eigene Perfon gar nidht betreffenden Bere 
hungen und Berlegungen ber verfaffungsmäßigen Freiheit ihrer Mirbürge 
und des Vaterlandes entfchloffen und muthig befümpfen. Aber es fol — 
foweit nicht etwa die Nothwehr gegen unmittelbare Verlegung oder gegen üu 
Berite verfaffungsmwidrige Gewalt die Gegengewalt rechtfertigt — nur offen! 
gefegliche Vertheidigung mit friedlichen Mitteln flattfinden. Geheime Gr 
ſellſchaften und Verſchwoͤrungen alfo und eigenmächtige revolutionäre Gr 
walt, Gift und Dolch follen ausgefchloffen fein. 

Das einflußreichſte Beifpiel eines ſolchen gefeglihen Widerftandes at 
Dampbden, nachdem er jhon früher ſelbſt durch Gefangenfchaft fic nid! 








Hampden 691 


hatte zwingen laflen, zu einem verfaffungswibrigen gezwungenen Anlehen 
beisutcagen, im Sabre 1637, in jener gefährlichen Zeit, in welcher Karl J. 
gariz ohne Parlament zu regieren befchloflen hatte, was er in England nur 
bucch ein tereoriftifches Syſtem eilf re lang bucchzufegen vermochte. 
Hampden lebte damals als Privatmann auf feinem Gute in Budingham. 
Der Vorgang ſelbſt fo hier mit Dahimann?’s Worten bargeftellt werden. *) 

Karl war entfchloffen, fortan ohne Parlament zu regieren. Zu dem 
Ende mußte er aber vor Allem Friebe haben. Und es ward nicht ſchwer, mit 
Frankreich abzufchliefen, da La Roc) elle ohnehin fchon gefallen war (1630). 
Im Sabre darauf kam auch der Friede mit Spanien zu Stande. 

Wenig fehlte, fo hätte Karl ſich fogar mit Philipp IV. zur Bezwingung 
der General⸗Staaten verbündet, unter der Bedingung, baf er bie Infel See⸗ 
land für ſich behalte. Dody ex wagte das am Ende nicht. 

Jetzt aber galt es, raſch Hand anzulegen, um ohne Parlament bie 
Einnahme der Krone zu vermehren. Das Pfund» und Zonnengeld warb 
forterhoben, mandyer Zoll erhöht. Die (Eicchlichen) Recufanten fegte man 
auf beftimmte Summen, bie fie jährlich in den Schatz einzuzahlen haben, 
und man behnte Die Korderung mit der Zeit (1637) auch auf bie Irlänbifchen 
Recuſanten aus. Der fchottifche Adel mußte jet einen Theil ber geifklichen 
Guͤter herausgeben, auf welche die Krone Anfpräche machte. Viele Forſten 
wurden der Krone zugefprochen. 

Man ging weiter und fchlug einem Weg ein, welchen König Jakob ans 
gebahnt. Dieſem machten die unaufhörlichen Seuchen in London Sorge, 
er fchrieb fie ber Uebervoͤlkerung zu, wollte nun bie Hauptftabt nicht weiter 
wachſen laffen, verbot durch eine Verordnung die Aufführung neuer Gebäude. 
Weil aber die Gerichtshoͤfe dahin entfchieden, daß es dazu eines Geſetzes bes 
bürfe, fo blieb die Sache beruhen und die Stadt erweiterte ſich jugendkraͤftig 
nad) allen Selten. Karl nahm nun die Sache wieder auf, ließ durch Com⸗ 
miffarten die Eigenthämer der neuen Häufer vorladen. Da mußten Diele 
ſchwere Geldbußen zahlen und ihre Gebäude wurden obendrein niedergerifien, 
wodurch z. B. ein einziger Speculant zweiundvierzig Gebäude verlor. 

©o kam es, daß die Mehrzahl ſich gluͤcklich fhägte, mit Bruͤchen und 
einer jährlichen Hausſteuer davon zu kommen. Der König flieg nun höher 
noch mit gelehrten Forſchungen in das Alterthum hinauf, um nugbare Ho⸗ 
beitsscchte aufzufpären. Während des letzten franzoͤſiſchen Krieges hatte er 
von den Seehaͤfen und den Küftengebleten die Stellung von bemannten Krieges 
ſchiffen gefordert. Diefes Anfinnen war bem gegenwärtigen Seeweſen nicht 
mehr angemeffen, allein die Krone berief ſich auf ein altes Herkommen und 
auf das, was für die Königin Eliſabeth in ben Tagen der Armada gefchehen. 
Diefes Beifpiel paßte nicht, es galt damals die Vertheibigung des eigenen 
Landes mit Anfpannung aller Kräfte, allein man gab für ben Augenblid 
nad. Sept aber warb in tiefem Frieden eine Stellung von Kriegsfchiffen 
ausgefchrieben (1639) und zwar über das ganze Königreich, und fo follte es 


») ©, heilen Bergiäte ber englifden Wirte 






ganz kleinlaut und anſpruchslos, aber Immer gleich feſt, ſprach er die richten 
liche Entfcheidung an, ob er wirklich ſchuldig fei zu zahlen. Die Michter m 





Schatzkammer hätten lieber gefhtwiegen ; am Ende entfhieden fie ihrer adt 


gegen vier wider ihn (1637), allein rings im Volke hielt man Hampben? 
Gründe für fiegreich und fein Name ſcholl weit durdy das Fand, Männer 
von folcher Haltung wie Hampden find zu allen Zeiten felten. In gamı 
anderer Art trat damals Prynne auf, ein Sachwalter, ganz erfüllt von puri 
tanifhen Meinungen, der in feinem Histriomastix, einem Quartband ven 
taufend Seiten, Tanz und Maskenzüge und Schauſpielweſen und ganz be 
fonbers die Verkleidung von Männern in Weibertracht als Werk des Leidigen 
Zeufels verdammte. Es fchilbert feinen Charakter, daß er auf die Frage: ed 
er denn nicht bei einer Verfolgung von Ehriften durch Die Heiden fi in Mit 
chentracht gerettet haben miürde? antwortete: „lieber den Tod.“ König und 
Königin tanzten gern, liebten Maskenzüge, die Königin ließ ſich auch in Her: 
fhaufpielen bewundern. Alsbald befchloß der Eiferer Erzbiſchof Laub, für 
Gottes und des Hofes Ehre Alles aufzubieten, ließ niht nad), bis Pronne 
als Verletzer der Majeftit vor Gericht geftellt war. Der Mann erklärt, 
König und Königin gar nicht gemeint zu haben; half nichts, er muft: 


durch Richterfpruch (163&) beide Ohren verlieren, am Pranger ftehen, 5000 | 
Pfund Buße zahlen, fein Buch verbrennen fehen und follte nun emig im } 
Gefängniß bleiben. Seine Obren fielen, er ließ fie annähen und fie wuchſn 


ihm im Kerker wieder an. Er ward nicht matt, fehrieb wieder und erlitt nad 
drei Jahren daffelbe Urtheil. Während des Proceffes fprach Lord Find ir 











— — 





EG: 
_ Hampben. | 6B8 


Oberrichter: „Ich glaubte, Here Prynne Hätte Beine Ohren mehr, aber 
mir kommt's vor, er habe nod) Ohren”, und ein Gerichtödiener mußte nad) 
fehen. „Mylords“, rief Prynne, „ich bitte Gott um nichts, ale daß 
er euch Ohren geben möge, um mid) anzuhören.” Während der Vollziehung 
ſprach Prynne zu der Volkemenge, die unzählig zufammengefirömt war: 
‚Shriften, waͤre es und um unfere eigene Freiheit zu thum geweſen, fo ber 
fänben wir uns nicht hier’ (denn er hatte Genoſſen feines Schidfals*) und 
ebenfo heidenmäthige) ; „um eurer Aller Freiheit willen haben wir die unfrige 
auf das Spiel gefeit. FRachet über biefe, ip bitte euch, haltet feft, feid trem 
he Sottes und des Landes, fonft werbet ihr und eure Kinder im 
—* Knechtſchaft gerathen.“ Man rief ihm Beifall zu. Die Vermaͤhlung 
von Lirchlicher und politiicher Freiheit warb damals im Derzen bes Wolkes 
eingefegnet. Mochte ber Eins dem Damp den als Muſter folgen, mochte 
dem andern bas Beiſpiel Prynne’s vorleuchten, man erkannte den gekhen 
Boden, auf welchem Weide ſtanden. 

Zur Verteidigung des gefeglichen Widerftandes und ſeines großen Dom 
zugs vor geheimer Verſchwoͤrung und eigenmädhtiger revolutiondrer Gewalt 
bat neulich ein achtungswerther Schriftfteler, I. Ven eday, unter bew. 
Titel John Dampden und die Lehre vom gefeglihen Wiber- 
fand, 2. Aufl. Belle⸗Vue 1844 ein beſenderes [che empfehlerewer⸗ 
thes Buch gefchrieben. Er ſchließt feine dem franzoͤſiſchen Staatsmanne Gui⸗ 
zot entlehnte hiſtoriſche Schilderung des Peoceſſes (mähcend befien 9 amp⸗ 
den verhaftet war) mit den Worten 

„Dreizehn Tage dauerten biefe Verhandlungen, in denen Hampdsn 
und feine Anwälte Die Geſetze des Landes vertheidigten, während die Raͤthe bes 
Sönigefe angeiffen und zulsgt Die Richter Hamp den verurtheilten. - Der 

König, feine Räche und Höflinge freuten ſich ihres Sieges. Sie ahneten nicht, 
daß es ihr legter fein. follte: fie wähnten fidh am Ziele; auch waren fie wird“ 
lich am Ziele, an ber. Grenze des Geſetzes, an der Bronze ihrer Macht auge 
tommen. Ganz England hatte In dem Proceſſe gm Hampden var Ge⸗ 
richt geſtanden und feine Rechte vertheibige und ganz England war in ihm ver⸗ 
urtheilt worben. Alle Welt hatte —— daß es kein Recht mehr 
für das. Volk Englands gebe, und dad genügt bei einem Wolke von Männern, 
um fsin Recht zu ſchuben wu wieder zur Anwentung m bringen. Das Beh 


— — 
19) ——— Be Barton und einen —2 — Beibe —8 


wegen freifinniger Ne de Schrift zu e Prynne vs 

urtheilt. Wei ber Urtbeilsuollgiehung = Burına nem Se ber 0 bat Bolt 

gurüdweifen wollte, zu: „kaß fie, auf Kane re 
58 


muß.” Cine Frau Bi zu ibm: „Akein "Men ee n Ba, a 
die ihr je gehalten je etwiberte: es, iR Yet No e, 3 
BR a Su Bd a ES 
er zu: „Mein a n He n 
unb wenn ich ber Kraft noch mehr bebürfte, fo würde Gott —A —* 
len laſſen.“ Gleich tapfer vͤlieb und frac der Argt.. So ſchlug der tyran⸗ 
nie Due Proceß wegen Mai —— gen um Berberben der * Da: 
1 Einige 6 Richter 
Briät, dis Kerl]. jum Zode —— warte Zpane “ 


— —ss — — 


ederholten den N den im 
ie men —— 





erhoben — kann. Und — ** es wohl ringe in? Ant 
führung, Esift flar, dafiträge, unedle, unmaͤnnliche Völker, die, ohn 
SGemeingelft und Aufopferung für die vaterlänbifche Ehre und Freiheit, ſtil 
jede Verlegung derſelben und jede Schwaͤchung hinnehmen, fo mie leider jum 
Theil allzu viele Deutfche es thun, Freiheit weder verdienen noch erfämpfen. 
Wenn fie aber nicht durch das Beifpiel aufopfernder geſetzlicher Kämpfe me: 
ralifdy erregt und gefräftigt werden koͤnnen, fo helfen Gewaltthaten noch viel 
weniger. Karl's erfter Minifter, Lord Budingham, fiel durch politifchen 
Meuchelmord. Die Folge war, daß ber eifrige Liberale Windmortb, 
nachmals Lord Strafford, und mit ihm der Erzbifhof Laub die Mi 
nifter des Königs und unendlich viel gefährlichere Werkzeuge des Despotiemui 
wurden als ber nichtige Höfling Lord Budingham. Es ift ebenfo klar, melde 
Mirkungen ein in einiger Allgemeinheit burchgeführter gefeglicher Widerſtand 
haben muß. Alte Kraft des Staates liegt ja im Volke; alle Gemalt der 
Regierung, alle Mittel derfelben hängen von ihm und feinem Willen ab, 
find wirfungslos gegen denfelben, vollends fobald nicht Selbſtſucht, for 
dern fittliche Kräfte ihn beftimmen. 

Einer befonderen Ausführung bebürfen wohl vorzüglih nur die beibm 
Hauptpunkte: fürs Erfte, warum denn ein folcher offner gefeglicher Wider 





— — 


ſtand den geheimen revolutionaͤren Mitteln vorzuziehen iſt; fodann zwei: } 


tens, welche Hauptmittel des gefeglichen Widerftandes in ber Regel nah 
liegen und angemeffen find. 

In Beziehung auf bie erfte Frage ift es befonders wichtig, die Grin) 
lagen und bie Natur ber politifchen Freiheit ins Auge zu faffen. Wahre, 


Hampbden. 695 


dauernde Freiheit ruht ihrem inneren Wefen nah auf 
Sittlichkeit, ihrem dußeren Hervortreten und Beſtehen 
nah auf Conſens oder dem freien Uebereinſtimmen der 
freien Männer einer freien Nation. *), Aud in Beziehung auf 
die Erhaltung oder Herftellung der Herrſchaft der Freiheit nun gilt ber Grund⸗ 
fag, daß nur die Kräfte, welche eine Herrſchaft begründeten, fie auch erhalten 
müffen (imperium iis retinetur artibus, quibus initio partum cst). 

Geſetzlicher Widerfland nun oder bie Beſtrebung, durch offene gefegliche 
Mittel die gemeinichaftlihe Freiheit und Verfaſſung zu begründen oder ber» 
zuftellen, ihre Anfeindungen zu befämpfen, fie entfprechen dieſen beiden 
Grundkraͤften der Freiheit; geheime eigenmächtige revolutionäre Unterneh» 
mungen widerfprechen ihnen oder gefährden fie. 

Mer offen der Tyrannei entgegentritt, der legt Dadurch eine Öffentliche 
Berufung an die fittlihe Gefammtüberzeugung, an den 
Gemeingeiſt und die fittlihe vaterländifhe Geſinnung fe 
ner Mitbürger ein, er fpricht den Glauben und die Aufforderung aus, daß 
fie ebenfalls ihre Schuldigkeit thun und mit vaterländifcher Gefinnung und 
That für die Freiheit Lämpfen würden. Er ſelbſt bemährt diefe Ges 
finnung und feine VBereitwilligkeit zu Opfern für die Helligthümer ber 
Sreiheit, indem er ſich offen der Mifgunft der Macht und ihren Verfols 
gungen ausſetzt. Er achtet aber auch zugleih den Gefammtmwillen 
feines Volkes und ordnet ſich demfelben unter und ruft mit dem fittlichen 
Gefuͤhl zugleich dieſen Sefammtwillen feines Volkes, alfo die möglichft ſtar⸗ 
ten unuͤberwindlichſten Kräfte in den Kampf gegen das Unrecht, gegen bie 
beleidigende Verlegung bes Geſammtwillens durch den Despotismut ; 
der Sefammtwille des Volkes ſpricht fich ſoweit möglich in feinen bisherigen 
Geſetzen aus, welche die Nation als die allgemeine Korm und Megel für 
das Handeln der Bürger aufitellte. Deshalb ift, wie e8 auch OCon⸗ 
nell, der fiegreihe Kämpfer für bie allmälige Befreiung Irlands, ſtets 
bewährte, ber gefegliche Weg für bürgerliche Kämpfe gerade daffelbe für das 
Volt, was die Disciplin für das Kriegsheer. Diefes iſt verloren, wenn 
jeber Krieger nach feinem Eigendünkel, der Eine bier, der Andere dort, der 
Eine früher, der Andere fpäter auf eigene Fauſt losſchlagen wi. Durch 
biefen gefeglichen Weg, durch den offnen ehrlichen aufopfernden Kampf auf 
demfelben, durch bie darin enthaltene Aufforderung an die gleiche fittliche 
patriotifche Beſtrebung dee Mirbuͤrger vereinigt man leicht diefe Mitbuͤr⸗ 
ger, macht fie zu Mitftreitern, zu Kämpfern mit unüberwindlichen fittlichen 
Kräften. Alles biefes verhält ſich andere, meift entgegengefegt, bei gehei- 
men Verbindungen und Verſchwoͤrungen und bei eigenmächtiger revolutio⸗ 
närer Aufhebung gefeglicher Wege und Verhältniffe. So wie hinter geheime 
Verbindungen , bei Vielen wenigſtens, der Mangel an Ehrlichkeit und ent: 
ſchiedener Bereitwilligkeit zu Opfern fich verſteckt, fo iſt es auch ganz unvers 
meiblih, daß im Dunkel und in der Abfonderung von der Nation, in bem 
eigenwilligen, eigenmächtigen Aufgeben ber Gemeinſchaft mit dem Volk, 


*) &, oben Bd. I. G. 11. 


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yah Ia.bee Aumafum, fe 0 


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— de Ci ee — 





VIIV 


66 Sminiftern —7236 bald bi { Ä —— 

"und Ludwig 8 XVL von —— fie en ihn ht zu men e it, ben 
Gefühlen, Ynfı Hten, Bedürfniffen der Nation, werben berfelben zumal 
Zeiten neuer Bewegungen täglic; fremder, verlieren die Kraft, auf fie zu wir: 
fen, und die Weisheit, fidhhvon ihnen beratben und warnen zu laffen. 

Der gefeglihe Gang und die moraliſche Kraft folder fittlichen Anftren: 
gung, wie die eines Luther, eines O'Connell, entwaffnet auch bie moralfär 
Kraft der Gewalt, während gefegwibriger, geheimer, hinterliftiger Krieg ib 
tprannifchen Gegenmittel herausfordert und gewiffermaßen rechtfertigt. , & 
märe das Allergefährlichfte für einen Fürften, wenn durch Sittlichkeit und 
offne Wahrheit, durch Nechtfchaffenheit und Gefeglichfeit ber Freiheitsfreund, 
durch deren Muth und Aufopferung für das Gemeinwohl und bie Ehre det 
Daterlandes, der entgegengefegte Charakter feiner Beſtrebungen beſchaͤmt 
und zum allgemeinen Volksbewußtſein gebracht werben koͤnnte. Wo bis 
ber Fall wäre, dba wäre die Sache bes Despotismus oder Herrenthums unten 
bar verloren. 

Wo aber ein Volk wohlgerüftet und wohldisciplinirt ih auf moedigen 
Mege feine Freiheit felbft ſchuf, da wird e8 diefelbe fich aud) gegen natuͤrlich 
Ruͤckſchwankungen, gegen neuen Despotiemus zu fidyern wiffen. Daß auch 
frühere deutiche Freiheitsbeftrebungen durch jene Kinfeitigfeiten vielfach ibr 
Ziel verfehlten, wer mag diefes leugnen! Daß es jest, vorzüglich wohl durd 
Einwirkung volfsmäßiger Ständefammern, allmälig befjer wird, Diefes il 
der ftärkfte Grund unferer Hoffnungen auf glüdlidyen Ausgang unferer Frei: 
heitsbeitrebungen. Man denkt endlich wieder daran, daß das Volk durch ger 









Hampden. 697 


meinfame fittliche tüchtige That fich feine Freiheit erwerben und daß es dazu 
moralifc) erhoben werden müffe. Das leere Hoffen auf den Knalleffect einer 
Emeute, einer geheimen Verſchwoͤrung oder gar bloß auf ein Bringen der Frei⸗ 
heit von Außen macht dem Streben Plag, alle Kräfte der Freiheit zu üben, zu 
bilden und bereit zu fein für jede günftige Gelegenheit, welche ben Vorbereite- 
ten nie fehlen Eann. 

Daß daneben täglich mehr eine ganze Reihe negirender, ercentrifcher, 
revolutiondrer, namentlidy auch communiftifcher teligidfer und politifcher 
Tendenzen und Kräfte durch hartnädige Wahrheits⸗ und Rechtsbedruͤckungen 
von der Begenfeite hervorgerufen werden, dieſes ift jegt in ber unvermeidlichen 
Natur der Dinge begründet, aber Lediglich durd die Schuld der Freiheits⸗ 
feinde veranlaßt. Es darf diefes aber die gefeglichen Freiheitskaͤmpfer in ihr.m 
Gange durchaus nicht irre machen. Zwar werden fie Schmähungen von 
beiden Seiten genug erfahren, hier baß fie Bundesgenoffen der Revolutio: 
naͤre, dort daß fie die der Macht feien. 

Ihr Gegner muß immer nur allein ber Despotismuß bleiben, fo lange 
er die Webermacht hat und zum Kampf gegen ihn alle Kräfte nothwendig find. 
Ihr Kampf wird um fo ruhmvoller und moraliſch größer, wenn er von beiden 
Seiten Anfeindungen erfährt, hier tgrannifche Verfolgung , dort bie Verhöb: 
nung. Und in der Geſetzlichkeit ihres Kampfes dürfen fie auch dann fich nicht 
irren laſſen, wenn bei der politifhen Indolenz der Nation begeifterte Revo: 
Intiondre beilfam für die Belebung der Gefühle der nationalen Ehre und 
Schande, des Zornes gegen die Unterdbrüdung und des die höchften Opfer 
aufwiegenden Werthes ber Freiheit wirkten, nicht minder auch für die Maͤßi⸗ 
gung der Machthaber, die nur allzu oft blos aus Furcht daß geben, mas fie 
aus Achtung des Rechts nicht hätten vermeinern follen. Dennod) muß das 
Gute auf gefeglihhem Wege zum Ziele geführt werden. Es wird fo erreicht 
werden , wenn das Volk irgend gefund iſt. Nur erft wenn die Gewalt felbft 
Nevolution und Aufloͤſung ber gefeglicdyen Zuftände herbeiführt, ober wenn 
die Nation wigen Mangels der Ausbildung im gefeglihen Kampfe fich den 
Geſetzloſen ganz in die Arme mürfe und fo der Krieg ausbraͤche, alsdann würs 
den die Lesteren Einfluß befommen und die Gefeglihen in dem Kriege ihr 
Mitfkreiten natürlich nicht zuruͤckweiſen Finnen, fo wenig als im Kriege gegen 
die franzoͤſiſche Tyrannei die Koſaken und Baſchkiren. Nach dem Kriege 
bleibt dann der Nation die Entfcheidung über die Zukunft. 

Herr Venedey, welcher nad eigenem Geftändniß früher auf dem 
Wege revolutiondrer Beftrebungen und geheimer Verbinoungen für die Freie 
beit unſeres leider noch gar fehr unfreien Waterlandes zu wirken fuchte und 
dann mit Entfchiedenheit fih von diefem Weg: losfagte, hebt mit der durch 
die eigene Anfdyauung belebten Darftellung eine ganze Heihe von Momenten 
bervor , welche die obigen allgemeineren Säge vollftändig bewahrheiten. Und 
ſehr mit Unrecht haben ihn Manche, großentheils Solche, bie mit ihm oder 
nach ihm die einzige Rettung in dem revolutionären Wege fahen, als einen 
Apoflaten der Freiheit angefehen und feine jegigen Grundfäge als ſervil 
darſtellen wollen. Vielmehr zeugt auch diefe Schrift und ein neueres Bud) 
über die durch faft unbegreifliche Verirrung ber Staatspolitik Ve 


698 - Hampben 


preufifchen Verhaͤltniſſe (Vier Wochen Heimatheluft) nicht minder 
warme Baterlands» und Freiheitsltche er wie feine früherm 
Schriften (von welchen befonders die über das preufifche Unterrichtswelen 
böchft beachtensmwerth If), Erhatnur ben Weg zum Ziele verändert, und 
blefes —— mit Recht. Seine fortdauernde volle Achtungewuͤrdigkeit beweiſt 
dem Buch angehaͤngte minifterielle Correſpondenz. Ste ancerkennt 
* volfftänbigft ber ebenfalls mitgetheilte Brief von Fein, von dieſem 
tuͤchtlgſten, unermüblichften, aufopferndften und gemäßigtiten umter den beut- 
ſchen Revolutionäre. Und auch er hätte wohl ſchon den richtigeren Meg 
eingefchlagen, wenn nicht deutſche ſtaatzmaͤnniſche Verblendung durch reactios 
ndre Maßregeln in Kirche, Schule und Staat taͤglich mehr alle Grundlagen 
unferer Geſellſchaft unterwühlte und felbft die radicatften Gegentämpfe feider 
fogar ſonſt befonnenen Männern als nothwendig erfcheinen ließe. Auch kann 
man wahrlich nicht fagen, daß Here Weneden bie Forderung der Belchrän 
kn Ren name auf gefegliche Mittel und Wege etwa in fr 
—— re und allzu weit ausdehnte, Er erkennt an, was ſelbſi 
Gens und Haller nicht zu leugnen wagten, daß eine 
———— ber Regierung, zumal, bie gegen ——— unvet· 
au en —— gerichtete, bje Öegengewalt rochtfartigen 
—3 — * ſogar die Mahrheitsumterd druͤckung durch bie — 
u ae Gewaltzuftand. (S. 84 u. 139.) Er nennt ———— 
tel der Gemalt gegen die Freiheit des Geiſtes.“ Und man könnu 
* wenn er uͤberhaupt die Abſicht hätte, die Rechtsgrenzen zwiſchen ver: 
brecherifchen und nicht verbrecherifchen Rebolutſonen aufzuffellen, wohl vor: 
werfen, daß er diefe Örenzen zu unbeſtimmt, vielleicht zu weit aufgeftellt babe. 
Mamentlidy hat auch er die Fälle der Nothwehr gegen die Verlegungen der 
Privatrechte der einzelnen Bürger, bei welchen zu ihrem Schug das englifche 
wie das gemeine deutfche Recht auch dem Mitbürger ben Beiftand des Be 
drängten gegen die Dränger erlaubt, und bie Fälle der Vertheidigung der 
öffentlihen Nechte als folcher nicht unterfchieden. Auch bat er in 
Beziehung auf die legteren den gemöhnlihen Mangel einer Bollmadt, 
im Namen bed Gemeinweſens revolutionäre Gewalt anzumenden — dieſen 
ftärtften Rechtsgrund gegen die meiften revolutiondren Unternehmun: 
gen — nicht ins Auge gefaßt. Doc fein Buch beabfichtigte ebenfo wenig 
als diefer Artikel die der Lehre von den Revolutionen angehörige genauere 
Unterfuchung über jene Rechtsgrengen. Er mollte nur im Allgemeinen die 
Vorzüge offner gefeglicher Freiheitsbeftrebungen vor den fo häufigen geheimen 
und eigenmächtigen nicht zu rechtfertigenden revolutionären Beſtrebungen 
darftellen. 
Hier aber hat er volllommen recht und er wirft gerade zum Vortheil der 
wahren Freiheit durch die Vertheidigung de gefeglichen Miderflandes. Was 
hätten auch nicht alfe die Anftrengungen und beabfichtigten oder nicht beab: 
fichtigten ſchweren Opfer. fo vieler deutfhen Männer und Juͤnglinge für bie 
vaterländifche Freiheit nügen Eönnen, wenn man auf offnen gefeglihen We: 
gen das Rechts: und Zreiheitsgefühl und die Thatkraft der meift in die un: 
rühmlichfte Trägheit und politifche Gleichguͤltigkelt verſunkenen vornehmen 


Hampben. 699 


und gemeinen deutſchen Spießbuͤrger erweckt hätte, flatt ihnen und den Res 
gierungen durch geheime revolutionäre Unternehmungen bequeme Vorwaͤnde 
gegen die Sreiheitsbeflrebungen zu liefern. \ 

Auch iſt gerade bier *) ein Punkt, mo man die Nachahmung bes fran⸗ 
zöftfchen Liberalismus, flatt der Freiheitsbeſtrebungen ber praktiſch tüchtls 
geren Engländer, manchen beutfchen Liberalen mit Recht zum Vorwurf mas 
chen Bann. Denn ber größte Mangel ber Sranzofen ift Mangel an lebendigen 
fittlichen Rechtsgefühl und an dem Vertrauen zu ibm, iſt Mangel an Ach⸗ 
tung bes Geſetzes. Daher fieht man einerſeits, daß bie Sranzofen und auch 
bie franzöfifchen Liberalen die Außerften Verlegungen der erften Rechtsgrund 
fäge, wie 3. B. eine allgemeine bleibende Aufhebung ber Affoctationsfreis 
heit und mehrere Beſtimmungen der Septembergefege, ober Verfaffungsvers 
Lesungen, wie bie längere Dauer der Auflöfung der Nationalgarden in vielen 
Städten, durchaus nicht mit einer folchen allgemeinen Empörung ber Gefühle 
aufnehmen und fortbauernd unermüdlich bekämpfen, wie dieſes unfehlbar im 
England gefchehen würde. Auch dulden ſelbſt die liberalen Franzoſen ſtill⸗ 
ſchweigend noch andere napoleonifche Beſchraͤnkungen der natürlichften 
Freiheitsrechte, 3. B. des nad) engliſchem wienach gemeinem beutfchen Rechte 
unbeſchraͤnkten Nothwehrrechts und rechtlichen Widerflandes gegen geſetz⸗ 
mwidrige Gewalt öffentlicher Diener , oder audy bes Rechts der freim Klage - 
gegen Amtsmißbrauch ohne Regierungsautorifation. Die Engländer finden 
mit Recht in den unbeſchraͤnkten natürlichen Rechten ber Bürger nicht blos 
die Mealitdt und den Schug der Freiheit, fondern auch den Schutz vor Mes 
volutionen , die gerade dadurch entſtehen, daß Unrecht und Willkuͤr unbe⸗ 
merkt und ungeftraft bis zum Unerträglichen wachſen und bie Beamten ver» 
derbt werden. Die Franzoſen trauen fidy oder den Bürgern Leine fittliche 
Achtung ber Rechtsgrenzen zu. Anberntheils aber greifen bie Franzoſen 
bundertmal zu intriguanten und zu geheimen und revolutionären Mitteln, 
Meuchelmorden, Ementen, revolutionären Vereinen, mo. bie Engländer, 
bie ihre Geſetze zu benugen und geiftig und moralifch zu beleben wiſſen, bie 
in ihnen und in dem gefeslichen Widerfland die fefle Burg ihrer Freiheit 
finden, an revolutiondre Mittel gar nicht denken würden ‚und wo bei gehoͤ⸗ 
tiger Nachhaltigkeit in ber gefenlichen Wertbeibigung des Rechts auch in’ 
Frankteich hundertmal eher Hilfe zu finden geweſen wäre. In dem Maße, 
als für diefe edelfte und verdienſtlichſte patriotifche Thätigkelt Sinn und 


*) Gewoͤhnlich iſt bekanntlich ber Vorwurf, bie conftitutionellen beutfchen 
Berfaffungen feien franzöfifdy, alfo für gute Teutonen haſſenswerth, und bie 
beutichen Eonftitutionellen ahmten die Franzoſen nach, ein Berädungsmittel ber 
Gent ſchen Hinterliſt für den deutſchen Michel. Die conftitutionellen Verfaſſun⸗ 
en find, wie ſchon Montesquteu fagte, zeitgemäße Ausbildungen beuts 

Her Freiheitsgrundfäge und heute Gemeingut aller freien Voͤlker ber gefitteten 
Wet, ebenfo wie Hierarchie und Feudalismus allgemein in Europa waren. 
Der Despotismus der aber wurde wenigftens in Deutfchland gar fege 
dem —RB are nad eabmt unb biefe —Aã— Radab> 
mung ber Branzofen wo en verewigen, b Rachahmun 
der Franzoſen buch die Sonftitutionellen mn i dehmung 









[ 4 u — —— 


ben des Märtpeertbums für bie Freiheit den Sinn für geſetzlichen Widerſtand 
verbreiten. 

3) Erfinbungsgeift und Unermüblichfeit in der Entdefung und Br: 
nußung aller Mittel und Wege, vum durch diefe oder jene in: oder auslänbife: 
Preſſe, durch handſchriftliche Mittheiluugen, Briefe, Demonftrationen, 
d. h. Sefinnungsäußerungen, Trinkſpruͤche, Derfammlungen, Reifen, 
Adreſſen, Metitionen, Unterſtuͤzungen armer Patrioten, beſonders abe 
der Verfolgten u, f. w., und da endlich, wo Neben unmöglich. oder un: 
fhidlih wäre, weniaſtens duch ausbrudsvolles Schweigen, durch unter 
laſſene Huldigungen bie Wabrbeit und die Uebergeugung der Befferen im 
Volke deutlich und eindringlidy zu machen und um einen Abereinflimmenden 
Gefinnungsausdrud des Volks immer allgemeiner und färfer zu machen. 

Mie eng ber Raum bes Geſctzes auch fei, wie Elein und unfcheimbar 
ber Standpunkt des Handelnden, wie gering feine That — fein Samım: 
forn gebt verloren für das von Gott gewollte Gute, für die göttlidye Kreibeit. 
Es ift eins unſichtbare moralifdye Gemeinſchaft aller patriotifchen Herzen und 
Beftrebungen in einem bedruͤckten Volke, ein Zufammenmwirfen von heute auf 
morgen, von Nord nah Süd, Die Tropfen bilden Bäche, die Bäche den 
Strom. Man glaubt es oft nicht und verfolgt e8 bei genauerer Betrachtung, 
wo fie möglich ift, mit Erftaunen, wie viel ein einziger unfcheinbarer Bürger 
durd) treues unermüdliches Sprechen und Thun für das Gute zuerſt in Blei 
nerem, dann durch Mitteleperfonen in erweiterten Kreife wirken Efann. € 
ift das ſchlimmſte Zeichen der Selbftfucht unferer Tage und des Mangels an 


=. WAET 
L 








Hampden. TOL 

politiſcher Bildung, wenn Viele wegen des Mangels an Mitteln und der Uns 
edbuld, bie Früchte ihrer Beftrebungen felbft zu fehen, an der Sache der 
Freiheit verzweifeln und menigftens bie Hänbe in den Schooß legen. Wollte 
es in Eriegerifchen Feldzügen , bie doch ihrer Natur nach fchnellere und ſicht⸗ 
lichere Erfolge haben muͤſſen als innere Entroidelungen, der einzelne Sol: 
dat aͤhmich machen, bie Sache des Vaterlandes wäre mit Sicherheit verloren. 

Wie unermeßlich wichtig iſt oft felbft auch die geringfte Anftrengung, 
ſelbſt das Schweigen, die unterlaffene Huldigung, diefe oft allein mögliche 
und ſchickliche Art, den Fürften die Wahrheit zu fagen, fie vor falfchem 
Syſtem und Rath ihrer Umgebung zu warnen! Und mie ſchwer kommen 
Deutſche zu diefer geringften Zapferkeit! Man muß wohl öfter dies Vers 
geffen der patriotifchen Pflicht in diefer Beziehung, fo z. B. in Würzburg, 
in Breslau, lieber aus dem Mangel politifcher Einſicht in die Wichtigkeit 
und Wirkſamkeit diefer Pflichtausuͤbung erklären als aus Feigheit und 
Selbſtſucht, welche Hier zu Verrath an den Heiligthuͤmern des Vaterlandes 
führen Einnten. 

Ganz daffelbe gilt von den unmöglich zu unterbrüdenden Aeußerungen 
der rechtlichen und fittlichen und der menfchlich theilnehmenden Gefühle bez 
öffentlichem Unrecht, vollends bei Proceffen und Martern folcher Art wie bie 
Jordan'ſchen, bei welchen felbft in langen Jahren fo wenig von alter heffl- 
ſcher Tapferkeit und Rechtſchaffenheit in ber Kammer der Volksvertreter, im 
Stadt und Land zum Vorfchein kommen wollte. Sehr wahr fagt Vene⸗ 
dey: „So lange ein Volk ruhig und ſchweigend zufehen kann, daB feine 
ebeiften Maͤnner um feiner Rechte und feines Wohls willen in Gefaͤng⸗ 
niffen verfümmern, iſt daſſelbe ſtillſchweigend zur Schmach und Knecht⸗ 
ſchaft verurthellt. Wer zu feig iſt, am rechten Dit zu reben, der mag ges 
Laffen in das dumpfe Schweigen ber Rechtlofigkeit fi) fügen”. Bel Weiten 
bie traurigfte Wirkung längerer Freiheitsunterdruͤckung if die Entadelung, 
iſt die ſittliche Exrniedrigung der Völker. Ein Dann muß eine Ueberzeus 
gung haben und den Much, fie auszufprechen und zu vertreten. Wie viele 
Hunderte von Caſtraten und Zwittern, flatt ganzer Männer, aber [chen wir 
tägliy in Deutfchland! 

4) Eifriges patriotiſches Zufammenmwirken mit achtbaren Mitbuͤrgern 
für alle diefe Zwecke, vorzüglich auch Befeitigung der kaſtenmaͤßigen Abſonde⸗ 
rung und eines vornehmen Perruͤckengeiſtes unter den Freiheltsfreunden beffel- 
ben Vaterlandes. 

5) Insbefondere find alle Sorporationen, als unfterbliche moralifche 
Perſoͤnlichkeiten für unfterbliche Zwecke, doppelt intereſſirt und verpflichtet, 
für den wahren bauernden Rechtszuftand des Gemeinweſens alle rechtlichen 
Mittel zu gebrauchen. Ihre Schritte find auch doppelt wirkſam wegen Ihres 
mocalifchen Anſehens und weil bei ihnen der Verdacht der Leidenfchaftlichkett 
und revolutiondrer Abfichten wegfaͤllt. Es iſt ein Zeichen tiefen moralifchen 
Verfalls ducch den aͤußerſten Despotismus, wenn man diefe Gorporationen 
entweder gleichgültig gegen ben öffentlichen Rechtezuftand, oder ihre Stimme 
für denfelben unterdruͤckt ſieht. | | 

In Beziehung auf die gegen göttliche und natürliche, in Deutſchland 


‚auch gegen pofitive Rechte ber Nation und, alter Bürg eingeführte Wahr: 
— —— wuͤrde freilich aus jenem beten see bes Deren 

enedey auch bie Nechtfertigung Derer abg werben koͤnnen, meld 
durch Genfurumgehung und durch Verbreitung ihrem Inhalte nad) rechtliche 
‚gebructer Mitthellungen biefer unnatüirlihen Gewalt widerfireben. Er felbfi 
legt aber befonderes Gewicht darauf, daß man den Grundfag, unparteliſch für 
und wider die Öffentliche Gewalt, ihre Gegner und ihre Freunde fich aut 
zuſptechen, was bei freier Preffe unbedingte Pflicht fei, unter ber Genfur dar 
um ganz aufgebe, weil unter einer Genfur, die nur das Angenehme yuldit, 
a unterbrüdt, das Angenehme — ungerecht, ſchmeich 

lerifch und luͤgenhaft wird und das Volk verführt. Erfagt: „Jedes Blatt, 

— —— ben zu tabeln nicht | ‚ wird durch bad 
Lob zum gemeinen Augendlener des Gelobten umd bemeiik, daß #8 eime Be 
bientenrolfe verfehen Bann, aber nicht weiß, mas Ehre und Würde vom Mann 
verlangen. Selbſt das Recht zum Lobe fehlt, wo man nicht tabeln darf.“ 
Daher will er auch bei folcher Cenfurbedruͤckung keine Erwähnung, Bein kob 
des Fuͤrſten, der fuͤrſtlichen Verhaͤltniſſe, kein Lob der Minifter und ühre 

Freunde, feinen Zadelihrer Gegner. In dee That ra ſich auch dar 
bie edelften Schriftfteller entwaffnet,, ſelbſt gegen religiös und politiſch reue 
Iutiondre Männer tabeind aufzutreten und dadurch mit den ihre 
hervorrufenden Unterdrüdungs: Grundfägen und Mafregeln gleihfam * 
meinſchaftche Sache zu machen, ſich ihnen dienſtbar und fdmeichlerifch an 
zuſchließen, fo lange es unmöglich ift, ebenfo offen und maͤnnlich — 
ber Gegenſelte zu enthuͤllen. Faſt nur fo unwuͤrdige Männer, welche durch 
ſolche veraͤchtliche Dienftleiftung und Schmeichelei für bag Schlechte und Da: 
terlandsverberbliche ſich einen Freipaß für einige liberale Neußerungen erfau: 
fen mögen, cder Gimpel fieht man jest noch, bei dem endlich erwachenden 
befferen Zafte in der beutfchen Nation, mit lauten Abfcheuserflärungen gegen 
die Gegner der Macht auftreten, während fie die Wahrheit über diefe ſelbſt 
freiwillig unterdrüden oder unterdrüden müffen. 

Gewiß ift es traurig, aber es ift das gefährlichfte Uebel der Wahrheit: 
und Rechtsunterdrüdung , daß die Öffentliche Macht die rechtfchaffenen Min: 
ner von ſich ftößt, ihnen ihre Vertheidigung unmöglich oder felbft die für 
fie geführten Waffen flumpf madıt, ja fie dem Spott oder der Verachtung 
ausfegt, wenn fie den Thron, die gefegliche Ordnung vertheidigen, Billigung 
und Liebe für fie ausfprechen und erwecken wollen. Aber es iſt diefes die 
unvermeidliche Folge des Unrechts. Kein ehrlicher mürdiger Mann Eann feltft 
das Recht vertheidigen, Feiner Bann vollends das Unrecht fördern durch dienft: 
bar ſchmeichleriſche Huldigung gegen das Schlechte. 

Freilich die eigenen allgemeinen Grundſaͤtze über religioͤſe, kirchliche, 
politifhe Verhältniffe, über die rechte und gefegliche Behandlung Derfelben 
barf da, wo er bavon zu reden hat, der rechtliche Mann nicht verleugnen. 
Aber allgemeine theoretifche Srundfäge wirken wenig, doppelt wenig 
in leidenfhaftlichen Kämpfen. Der allgemeine öffentlihe Kampf gegen die 
genannten Feinde der beftehenden Autoritäten felbft — diefer iſt es, welcher 
in einem würbigen freien Zuſtand diefelben entwaffnet. Ja diefe Feinde 









Hampben. 708 


werben in ſolchem Zuſtand entweder gar nicht entflehen ober im Vorgefuͤhl 
diefe6 Kampfes und ber Verurtheilung durch eine freie und wahre öffentliche 
Meinung nicht aufzutreten wagen. Aber diefer perfönliche Kampf nun , diefe 
bereitwillige huldigende Unterflügung und Bundesgenoffenfchaft für die Wahrs 
heit und Recht unterdruͤckende Gewalt, diefe ift unmöglid. Und biefes 
ift — wir wiederholen es, bei der Unnatuͤrlichkeit und der tiefen inneren Gaͤh⸗ 
zung und Entzweiung dee Gemüther, welche bei dem immer mehr erwachen⸗ 
den Beduͤrfniß und Bewußtſein des Rechte und bei der immer Länger und 
verlegender fortgefegten Reaction taͤglich waͤchſt — die gefährlichfte Seite uns 
ferer öffentlichen Zuſtaͤnde. Wir wiederholen diefes, weil wir innigft wünfchs 
ten, mit unferer Warnung das Ohr wohlmeinender einflußreicher fürftlicher 
Rathgeber erreichen zu können. 

Die rechtfchaffenen aufrichtigen Sreunde des Vaterlandes und feiner 
Freiheit und Ehre aber werden alle Wege gefeglicher Freiheitsbeſtrebung und 
gefeglichen Widerflandes zur Befeitigung jener und aller Gefahren fo lange 
anwenden, bie friedlich die Gerechtigkeit fiegt,, wenn nicht, ohne ihre Schuld, 
die Gegner der Freiheit das furchtbare Mittel ber Revolution für dieſen un⸗ 
vermeidlichen Sieg felbft herbeiführen. 

Denn jene Worte Benedey’s, die er begeiftert für die Geſetzlichkeit 
der Mittel oft wiederholt, daß in allen Fällen die gefeglichen Mittel die 
Freiheit fiegeeich machen koͤnnten — biefe find wohl ſchoͤner und troͤſtlicher 
als wahr. Ste wären nur dann wahr, wenn alle Bürger fo vortrefflich wären, 
ſich im gefeglihen Widerfland zu vereinigen, oder wenn es der Wahrheit und 
Rechtfchaffenheit ber befferen Bürger gelänge, die Macht von ihren Verblen⸗ 
dungen zu heilen. Das vermodten ja aud) Hampden und bie tüchtigen 
Briten nicht. Eine allgemeine patriotifche Vortrefflichkeit aber, die bei ihnen 
nicht flattfand, darf man bei der gutmäthigen Trägheit, Pedanterei und po⸗ 
litiſchen Rohheit fo vieler Adeligen, Gelehrten, Beamten und Bürger bei 
uns gewiß fo bald noch nicht hoffen. Nur ſtreben muß man, auch jenen Gieg 
zu erringen, jedenfalls die heilige Sache ber Freiheit und des Volkes rein zu 
erhalten und zur einzigen Rache die Schuld ganz auf die Seite der Gegner hin» 
überzumälzen ; für den ſchlimmſten Fall aber das Uebel auf dem geringften 
unſchaͤdlichſten Grad zu befchränten. Dieſes aber gefchieht ficher durch moͤg⸗ 
lichſte Verbreitung allgemeiner politifchen und patriotifchen Gefinnung , Vils 
dung und Sreiheitsvertheidigung. Sie macht entweder eine Revolution ganz 
unnöthig oder verringert doch Die Uebel ber Despotie, die Schwierigkeit des 
Sieges über diefelbe fo wie die Rohheit und Zerſtoͤrungswuth des Kampfes. 

Bon ber patriotifhen Zugend aber, welche hierzu erfordert wird, iſt dieſe 
vielleicht die wichtigfte, daB man an der guten Sache des Vaterlandes nicht 
verzweifle, daß man den fittlihen Glauben an feine Zukunft fefthalte, jeden- 
falls lieber mit ihm dulde und fein Uebel nach Kräftın mindere als ihm, fo wie 
jegt fo viele Auswanderer, den Rüden kehre. Gerade die Gefchichte Englands 
unter Karl J. zeigt es, wie viel näher, als man denken mag, oft der Sieg über 
ben fcheinbar unüberwindlichfien Despotismusbevorfteht. Selbſt Hampben, 
mit Ihm fein Vetter Dliver Crommell und Pym waren im Jahre 1639 
im Begriff, England, welches noch immer ohne Parlament unter dem Despo⸗ 













— * — 


= = 








en Englanb wurde meuertiht das Leben und Wirken Hampbden’s wieder 
holt befchrieben, zuerft von Nugent: Some memnorials of John Hamy- | 
den, his party and his times, 2Vol. London 1831, bann von D’5#: 
eaeli: Eliot Hampden and Prym. London 1832. 

C. Weller. 


Handel. Sobald die wirthfchaftlichen Zuftände aus der anfänalichın 
Beſchaͤftigung mit dem Sammeln und Bereiten der Stoffe für dem eigenen 
Gebrauch zur Theilung der Arbeiten vorfchreiten, treten die Menſchen in Ber: 
kehr und kommen bie Güter in Umlauf, Die Gewerbe, zuerft rohe Ne 
benbefchäftigung der Fiſcher, Jaͤger, der nomadifirenden Viehzuͤchter und der 
Landiirthe, trennen und heben ſich zu felbititindigen Nahrungszweigen, 
theilen fich immer weiter, fomohl in ihren einzelnen Verrichtungen als in da 
Betriebsart. Capital, Kenntniffe, Fertigkeit leiften ihren mächtigen Bri 
ftand für die Ausbildung der Induſtrie, welche ald unentbehrliches Element 
des Wohlſtandes und der Macht in ben Staaten der Neuzeit ihre Anfprüde 
auf Pflege und Beförderung mehr und mehr geltend macht. Nach zwei Sei— 
ten hin haben ſich die getheilten wirthſchaftlichen Arbeiten mit dem Tauſche 
zu befaffen. Ste taufchen bie Stoffe und Werkzeuge ein, beren fie zu ihrem 
Betriebe bedürfen, und fie taufchen ihre fertigen Erzeugniffe an die Verbrau 
her aus; der Erlös erfegt ihnen die aufgemendeten Koften und befähigt fie zur 
Bortiegung der Production. Der unmittelbare Tau fch wird früh zum Ein: 
kauf und Verkauf, zum Handel mittelft des allgemeinen Zaufchmittels, | 
des Geldes, und fobald ſich der Handel nicht mehr auf den Ort und di 


EN | 


N 


Handel. 708 


nächte Umgebung befchränkt, bleibt ex nicht Länger Nebengefchäft ber es 
werbe, er ſcheidet fi von diefen aus, wie ſich Die Gewerbe von ben Erdar⸗ 
beiten ausgefchieden haben, und wird in Folge einer neuen Arbeitstheilung ein 
felbftftändiger Nahrungszweig. Und dies gefchieht, weil es zweckmaͤßig iſt. 
Die Production ſelbſt erfordert in dem Maße, wie fie ſich ausbildet und aus⸗ 
dehnt, alle Mittel und Kräfte ber Unternehmer , denen es alsdann nicht Läns 
ger zufagen kann, einen Theil berfelben auf den Handel zu verwenden, bie 
alfo ihren Vortheil dabei finden, wenn fidy Andere eigens damit befcyäftigen 
und ihnen die Dienfte des Handels vollftändiger und billiger Leiften. Die 
Verzehrer finden durch den Handel eine größere Auswahl von brauchbaren 
Sachen zur Befriedigung ihres Bedarfs und Genuſſes, und in feiner höheren 
Bedeutung vermittelt derfelbe den Voͤlker⸗ und Weltverlehr, dem Tauſch ber 
Erzeugniffe aller Zonen gegeneinander folgt der Tauſch der geifligen Güter, ber 
Kenntniffe und Gedanken. 

In der einfachften Seftalt erfcheint ber ſelbſtſtaͤndige Handel als Haus 
fir handel 3 der Kaufmann kommt perfönlich zu dem Producenten, nimmt ihm 
die Waare ab und fucht fie mit Gewinn abzufegen; den feßhaften Kaufleuten 
fpäter verhaßt, iſt doch dieſe Betriebsart nicht zu vertilgen und für manche 
Gegenden und Waaren eine bleibende Nothwendigkeit; von einer andern 
Seite erſcheint als Ertrem die Sundfluch der Handlungs und Muſter⸗Reiſen⸗ 
den, jene Hauſirer des Großhandels und der großen Induftrie, um die Maſ⸗ 
fen der Erzeugniffe in taufend Candien zu vertreiben. Bald bedient fi 
bann ber Handel ber Vortheile ber Arbeitstheilung,, und e6 trennen ſich zus 


naͤchſt die eigentlichen Umlaufsgefchäfte von dem Einkauf und Verkauf, 


der Waaren. Die Bewegung der Guͤter wird von eigenen Unternehmern 
beforgt, welche ihre Zransporteinrichtungen, Schiffe und Fuhrwerke, dem 
Handel zur Verfügung ftellen; die Bewegung des allgemeinen Taufch mits 
tels, bes Geldes und der Ereditpapiere, ſtreift fi) von den Waaren ab und 
wirb der Gegenſtand eines befonderen Gefchäftszweiges, de6 Geld: und Par 
pier handels. 

In der Landwirthſchaft iſt es der Boden und die ſchaffende Natur, an 
denen ſich bie menſchliche Arbeit uͤbt; in den Bewerben und dem Handel If 
06 vorzugsweife ber menfchliche Geiſt, welcher den Naturgefegen nachgebt, 
Einrichtungen teifft und vervolllommmet und die Arbeit befruchtet. Die Kuss 
bildung der Gewerbe und des Handels wirkt nicht allein dadurch belebend auf 


bie Landwirthichaft zuräd, daß fie ihren Erzeugniffen einen größeren Abfas, - 


ihrem Bedarf an Werkzeugen und Unterhaltsmittein eine größere, beffere und 
billigere Auswahl bietet, fondern die durch Gewerbe und Handel vorzugsweiſe 
geförderte Anfammlung von geifligem und materiellem Capital theilt ſich auch 
der Landwirthichaft mit, beſſert ihren Betrieb, Felt ihn auf wifienfchaftliche 
Grundlagen. Erſt aus der in Handel und Gewerben erzielten höheren Ents 
widelung gehen die Mittel zu großartiger Pflege der Künfte und Willens 
ſchaften hervor, welche auch bie Benüffe der Grundbeſitzer in gleicher Rich⸗ 
tung veredeln, und in ber aͤußerſten Spige der Verfeinerung ber Induſtrie, 
ber Geld⸗ und Greditgefchäfte,. zeigt fich auch wieder die Umkehr zu dem 
Ausgangepunkte ber vollswirthfchaftlichen Thätigkeit, zu der Landwirthfchaft.! 
Suppl. 3. Staatslex. IL. 45 


yıuuvssı wi, YUER WU KUSIED ANESLLID (vs. NZLUNMEDEEHLEUYSED 
fertigt, für welchen bei den einzelnen Zweigen der volkswirth ſchaftlichk 
tigkeit nicht die Handmerkofeite herauszufehren, fondern bie Stells 
Bebeutung ins Auge zu faſſen iſt, welche diefelben in dem ganzen . 
mus einnehmen. &s find aber auch die Andeutungen über den Entwi 
gang der vollswirthfchaftlichen Zuftände, das Ausfcheiben der Bern 
Landbau, des Handels aus den Gemerben , nicht fireng geſchichtlich 
men und ausnahmslos nachzuweiſen; es iſt vielmehr damit nuc b 
gemäße, normale Gang erklaͤrt, wie ex fich felbft bei einer Anſied 
Ohio darftellen wird. Damit ift eine durch beſondere Verhaͤltniffe 
apbere Entwidelung nicht ausgefchloffen, es iſt 3. B. die Erſcheim 
ausgefchloffen, daß in einem Vorlande mit feetüchtiger Bevoͤlkeru 
as Phoͤnizien oder Holland, die Schifffahrt früher fi) ausbilbe, ba 
den Gewerben vorauseile, anfänglich genähet von den Erzeugnifien 
terländer und den bafüg eingetaufchten Producten entlegener Gebiete, 
biefer Zwiſchenhandel fpdter erſt eine eigene Production, Purpur 
oder Tabakfabriken, erziehe. 

Die Frage, ob der Handel productiv ſei, das heißt, ob fa 
tigkeit, wie jene der Erdarbeiten und der Gewerbe, das Nationalı 
vermehre, wird verfchieden beantwortet. Die Einen, und Dies iſt 
Anficht des griechiſchen und roͤmiſchen Alterthums, behaupten, baß: 
del ben, Waaren, mit deren Einkauf und Verkauf er ſich befchäftigt 
höheren Werth beilege, indem er Feine Beränderung an ihnen vornehn 
fie zum Gebrauche tauglicher mache; die Gewinnfte der Kaufleute fe 
auch nicht. die Frucht einer hervorbringenden oder floffveredeinden Aı 
entfprächen nicht einer in den Beſitz der Gefellfchaft gelangten neuen 
menge, fondern beftünden lediglich in Bermögenstheilen, welche, vor! 


nnd uni san .. “a man 


/ | Hanbi 707 


nicht aufzukonmen, wenn man bad Weſen des Handels in dem Tauſche, 
in dem Einkaufe und Verkaufe ber Wanren, ausſchließlich findet. Allein bei 
naͤherer Betrachtung wird man noch etwas Anderes wahrnehmen. 

Der Taufch aͤndert freilich nichts am bem Werthe der gegen einander 
hingegebenen Gegenſtaͤnde; er betrifft Gleichwerthe, welche ber Marktpreis 
beſtimmt, und wird gefchleffen, weil ‚beide Theile ihren Vortheil babet fin 
den. Ein weiterer Wortheil, der etwa dadurch erzielt wuͤrde, daß die Uns 
wiffenheit uͤberliſtet oben die Noth ausgebentet wird, waͤre nicht fehe vers 
ſchieden von jenen Vortheil, bes aus falfchem Maß und Gewicht entſpringt. 
Allein wie der Taufch bei den Gewerben ein Nebengefchäft iſt, welches ihren 
Erzeugnifien keinen Höheren Gebrauchſswerth giebt, fo iſt er auch bei dem 
Handel nicht die Hauptſache; dieſe befteht vielmehr in dem Umlaufss 
gefchäfte, in der Bewegung der Güter von dem Drte, wo fie zu haben find, 
an den Ort, we fie gebraucht werben. So mie aber die Veränderung ber 
Beſchaffenheit der rohen Stoffe eine Bedingung ihrer Brauchbarkeit fie 
menfchliche Zwecke iſt, ebenfo unerlaͤßlich ift dafuͤr die Voraͤnderung des Or⸗ 
tes, wodurch ſie in den Beſfitz der Verbraucher gelangen. Das Spinnen 
und Weben der Wolle ift nöthig, damit diefelbe ale Kleidungsſtoff dienen 
Sonne; nicht minder noͤthig zu demſelben Behufe iſt «8, daß bie Stoffe von 
dem Orte ber Erzeugung bahin gebracht werben, wo man Ihrer bedarf.” Wer 
Kraͤuter fammelt oder Zifche fängt, thut auch nichts Anderes, und Niemand 
zweifelt, daß diefe Wefchäftigungen produetiv find; eben darum, meil er die 
Veränderung an dem Orte ber Erzeugniffe vorninmt, die zu ihrem Ges 
brauche ebenfo nothwendig iſt als jene an dee Befhaffenheit der Stoffe, 
darmm iſt der Hamdelproduetiv. Die mit dent: Drte vorgenommene 
muwandlung ſchafft einen neuen Werth, ber im der Möglichkeit odee 
groͤßeren Bequemlichkeit bes Erlangens brauchbare Sachen in Menge und 
Mammichfaltigkeit liegt und den man ſich durch die Vorftelung verdeutlichen 
kann, wie geoß der Unterſchied Ift, ob Jemand nach Italien gehe, um Drans 
gen zu genießen, ober ob er fie wenige Schritte von feiner Wohnung um 
bißige Preife haben kann. Die Bewegung ber Gütermaffen iſt «6 auch, 
auf weiche ber Handel hauptfächlid, Capital und Arbeit, — die zweckmaͤßigſte 
Leitung berfelben von dem guͤnſtigſten Einkaufsplatze nad) dem beften Abfag» 
orte ifb es, worauf er feine geiſtige Thaͤtigkeit richtet z die Erleichterung unb 
Belchleunigung diefer Bewegung, des Verkehrs und Umlaufs endlich iſt «6, 
wofür die Befammtheit, der Staat, geoßartige Anftalten trifft, Eifenbahner - 
. mb Sandfe, Lagerhaͤuſer, Hafeneinrichtungen u. f. w. herftellt. — 

Es folge auf dem hier Geſagten, daß diejenigen Handelszweige nicht 
ober doch nur mittelbar productio genannt werden dürfen, welche Beine Vers 
Anderung an dem Orte der Wanren vomichmen. Sie koͤnnen dagegen die 
Production befoͤrdern und unterflügen. Dahin gehören ber Geld: und 
Paplerhandel (vergl. die Artikel Actienhandel, Agiotage, Bank, Credits 
anflalten, Geld, Papterbamdel) und außerdem eine Reihe von Handelsge⸗ 
ſchaͤften, welche mic dem Kauf und Verkauf nicht eine Dr t s veraͤnderung ber 
Warren verbinden, fondern nur eine günftige Zeit abwarten. Diefer 
Gpreutationshandel, wie ihn Say nad einem Mertmee benennt, DR 

* 


‘ 


108 | Handel. 


übrigens auch Eeinem anderen Zweige fehlt, kauft, wenn bie Preife nieder 
ſtehen, um bei einem hohen Stande wieder zu verfaufen. Eine nügliche 
Seite hat diefer Handel in vollswirthfchaftlicher Beziehung, indem ex durch 
feine Nachfrage bei ſinkenden Preifen einer weiteren Entwerthung, alfo ards 
ßeren Berluften der Producenten vorbeugt und durch fein Angebot bei geſtie⸗ 
genen Preifen die Mitbewerbung vergrößert, alfo einer höheren Theuerung 
entgegentritt, daß er mithin einnimmt, wenn Weberfluß, und giebt, wenn 
Mangel vorhanden ift. Allein nicht minder richtig ift, daß bei dieſen Geſchaͤf⸗ 
ten häufig auf die Noth ſowohl der Probucenten als der Confumenten pe 
eulirt wird, daß fchmuzige Gewinne gemacht werden, deren ſich ein Ehrens 
mann nicht freuen koͤnnte, mit denen aber die Betreffenden ihre Seele ab» 
finden, da fie das Bewußtſein nicht haben, dee Geſellſchaft nüslich zu fein. 
Endlich ift wahrzunehmen, daß die Sucht, leicht und ſchnell veich zu werden, 
Ausartungen ſolcher Speculation herbeiführt, welche die Natur bes 

ablegen und jene von Wetten auf Preisunterfchiede annehmen (f. Agiotage). 
Hauptfächlicy hat diefer Unfug dem Papierhandel ergriffen, er dehnt ſich aber 
aud) auf den Productenhandel aus und wendet die ſchlimmſten Kuͤnſte an, 
um die Preife zu drüden oder zu fleigen. Die Geſellſchaft hat von biefer 
Ausartung der Speculation keinen Nutzen, fie hat vielmehr zu beklagen, daß 
dadurch eine Menge von Mitteln und Fähigkeiten einer fruchtbaren Anwen 
dung entzogen und der Befriedigung einer niedrigen Leidenſchaft zugewendet 
werden ‚ welche nach Schägen hafdıt und häufig den Bettelftab erfaßt. 

Im Waarenhandel, den wir hier vorzugsweife im Auge haben, umter: 
fcheidet man, bezüglich auf den Umfang bes Betriebs, zwifchen dem Groß⸗ 
handel, der große Maſſen auf weitere Entfernungen hin in Umlauf beingt, 
und dem Kleinhandel, welcher den täglichen Bedarf von Waaren an Ort 
und Stelle in beliebigen Quantitäten befriedigt und als Vermittler zwiſchen 
dem Großhandel und dem Verbrauche, der Beftimmung des Handels, bie 
Vertheilung der brauchbaren Sachen zu beforgen, ihre Vollendung giebt. 
Indem fid) das Detuilgefchäft von dem Großhandel ausfcheidet, kommt diefer 
in die Lage, alle Zeit und Mittel zur Erweiterung und Vervollkommnung 
feines eigenen Betriebes zu verwenden. Jenes dagegen vermehrt und bes 
ſchleunigt den Umfag mit kleineren Capitaten in kürzeren Friſten und dient 
dem Verbrauche, der geringer fein würde, wenn größere Vorraͤthe angefchafft 
werden müßten. 

Kein Zweig der volkswirthſchaftlichen Thaͤtigkeit verlangt fo vielfache 
und großartige Anftalten und Einrichtungen von dem Staate als ber Hans 
del. Er verlangt fie aber nicht in feinem Sonderintereffe, ſondern weil er 
das Triebrad der ganzen Bewegung und Vertheilung der Guͤtermaſſen iſt, 
weil ex bie Verbindung und das Verhältniß zwifchen Production und Con⸗ 
fumtion herftellt, alfo im Intereſſe der gefammten Volkswirthſchaft. Wir 
wollen nur diejenigen Anflalten und Einrichtungen benennen, weldye in das 
große Gebiet der Handelspflege fallen und nicht der Rechtögefeggebung (mie 
Handels⸗ und Wechſelrecht, Dandelsgerichte u. f. w.), fondern der Verwal⸗ 
tung angehören, auch nicht befondere Zweige, fondern den Handel im Allge⸗ 
meinen betreffen. Zür die Borbereitung zu dem Handelsgeſchaͤfte dienen 


® 


Handel. 709 


binfichtlich der Vorkenntniſſe und Hilfsfächer,, beſonders in Sprachen und 
Naturwiſſenſchaften (zum Zweck der Waarenkenntniß), die mittleren und hoͤ⸗ 
heren techniſchen Lehranſtalten, bei letzteren find auch wohl eigene Handels⸗ 
Fachſchulen. Die Einrichtungen, welche dem Verkehre der Menſchen und 
dem Umlaufe der Guͤter uͤberhaupt, alſo vorzugsweiſe dem Handel Sicherheit 
und Leichtigkeit geben, fo weit dieſer Zweck nicht durch fiscaliſche Abſichten 
wieder verfümmert wird, find: Lands und Wafferftraßen, mitden Ein 
richtungen für die Benugung berfelben; die Poft, Maß⸗, Gewicht: und 
Geldweſenz zur Förderung, der Interefien des Handels dimen ferner bie 
Dandelstammern, die Mäklerorbnungen, die Boͤrſen und 
Börfenhallen (Lioyds), die Werfiherungsanftalten (beſonders auch 
für Waaren auf dem Transport). Mehr der Vergangenheit angehörig find 
die Meffen, deren Hilfe, nad) der Meinung Vieler, der Handel entwach⸗ 
fen tft, ſeit Gelbe, Credit⸗/ Transport⸗ und Poſtweſen weiter ausgebildet 
und forgfältiger behandelt werden; ſodann die Diittel zur Ermunterung 
größerer und gewagter Hanbdelsunternehmungen, welche man in Ertheilung 
von Privilegien, Monopolen und Unterflügungen an Gefellichaften fand. 
Die meiften der genannten Einrichtungen find ihrer allgemeinen Wichtigkeit 
wegen in eigenen Auffägen beſprochen, «8 ift daher überflüffig, hier weiter 
darauf einzugehen. M 

Der Binnenhandel, welcher inländifche Boden: und Gewerbserzeug⸗ 
niffe im Inlande abfegt, ift im jedem Lande von einiger Ausdehnung — 
defien Gebiet nicht auf eine Stadt oder eine Beine Inſel beſchraͤnkt iſt — 
an Umfang ber bebeutendfte; er fegt mehr Güter in Bewegung als der aus⸗ 
waͤrtige Handel, namentlich wenn man den unmittelbaren Abfag der Pros 
ducenten an die Verzehrer bazu rechnet. Dies ift felbft für Großbritannien 
richtig, welches freilich mit feinen Befigungen in allen Erdtheilen eine Welt 
für ſich bildet, die fi auch im Handel ſelbſt genügen könnte. Schon ein 
Blick auf die Gebrauchsgegenſtaͤnde in den Wohriungen des Volkes zeigt uns 
überall, daß weitaus die meiſten Sachen inländifchen Urfpeunges find, was 
in ben Paläften der Großen, menigftens in Deutſchland feider weniger ber 
Fall ift. Der Binnenhandel iſt die Bedingung einer ausgedehnten, mans 
nichfaltigen Production, welche er in ein richtiges Verhältniß mit dem Bedarfe 
bringt ; fein regelmäßiger Bang, mit leichter Bewegung , mäßigem Gewinne, 
aber auch geringeren Wagniſſen, ift mwünfchenewerth als Bindemittel, wel 
ches vielgeftaltigen Arbeiten der Volkswirthſchaft Zufammenhang und Stetig⸗ 
Leit giebt. Er ift es auch Hauptfächlich, für welchen die Anftalten und Einrich⸗ 
tungen zur Sicherheit und Erleichterung bes Verkehrs getroffen werden , für 
welchen Staat und Gemeinden das in Land: und Wafferftraßen, Eifenbahnen 
und Canaͤlen, Brüden und Lagergebäuben u.f. w. angelegte ſtehende 
Gapital aufwenden, während bie Kaufleute hauptfächlich mit umlaufenden 
Gapitale, Vorräthen, Arbeitsloͤhnen, Aufwand für ben Transport, arbeiten, 
welches ebenfo wie bie Zahl der befchäftigten Hilfsperfonen größer iſt als in 
jedem andern Hanbelszweige. Dem Binnenhandel dienen hauptfächlich auch 
die Einrichtungen des Marktweſens; die Sahrmärkte, bie Märkte für 
einzelne Erzeugniſſe ber Landiwirthfchaft und ber Ländlichen Induſtrie, wie 





ſatz eigenthuͤmlicher Gewerbserzeugniſſe, z. B. den Schwarzwaͤlbe 
Uhren, die fie in ber ganzen Welt vertragen. Kür ſoiche Hölle m 
firpatente ausgeflellt, bamit nur zuverläffige Leute fig mit bis‘ 
beichäftigen und ben Hauptvorwuͤrfen gegen benfelben, daß ex 
ſchlechte Waaren aufdringe und Aermere zu unnoͤthigem Kauf 
möglichft begegnet werde. Den Binnenhandel betreffen endlich ar 
lizeitaxen, die man in Städten wenigitens für die noth vendig 
bedürfniffe, namentlich für Brod und Fleiſch für zweckmaͤßig KL 
befchränkter Mitbewerbung von Außen die Preife in angemeſſen⸗ 
niffe zu dem Koftenfage zu erhalten. Es zeigt jedoch bie Erfahru 
ſchraͤnkungen des freien Verkehrs auf Märkten und im localen Da 
fie über die erforderlichen Maßregein zur Echaltung der Ordnun 
huͤtung von Betrügereien hinausgehen ‚ ihren Zweck, bie Aufchaff 
barfs den Confumenten um billige Preife zu fihern, weniger ex 
se durch ben freien Verkehr ſelbſt erreicht wird. Solche Beſchraͤnl 
ſonders zur Verhütung bes Vockaufs und des Eindrängens von | 
bem Marktverkehr, werden von fchlauen und kecken Leuten ſtets 
und zu ihrem Vortheil ausgebeutet, und führen häufiger zu ſtark⸗ 
ungen in den Preifen der Marktnictualien, als es bei freierer Be 
Verkehrs der Fall iſt. 
Wie der Binnenhandel ausichlieflid bie inlaͤndiſche 

wit dem Verbrauche in Verbindung bringt, auf beibe beiebend «x 
Verhaͤltniß regelt, fo hat umgekehrt br Bwifhenhandel ken 
telbare Einwirkung auf bie Hesvorbeingung, Vertheilung und ! 
brauchbarer Sachen, auf bie Volkswirthſchaft. Er kauft auslaͤr 
ducte im Auslande und verkauft fie wieber in das Ausland; er E 
Waaren nicht in den inländifchen Verkehr, fondern lagert fie hoͤ 


Handel. ya 


Transport befchäftigten Gewerbe und Hiffsarbeiter vermehrt ben Verbrauch; 
die Bezugsquellen und Abfagwege für fremde Erzeugniſſe werben auch für 
eigene benugt; ber Eigenhandel ermuntert eine eigene Induſtrie. Die Ges 
ſchichte zeigt, daß einzelne Länder, Städte und Häufer durch foldyen Handel 
zu großem Reichthum gelangt find, indem fie ihre Lage an den größeren 
Handelswegen, die Seetüchtigkeit und den kaufmaͤnniſchen Geiſt ihrer Au⸗ 
gehörigen fo wie große Umgeflaltungen im Voͤlkerverkehr und Entbeddungen 
kuͤhner Seefahrer thatkräftig zu benugen verftanden. Sie zeigt uns Phoͤni⸗ 
zien und Karthago, reich durch Handel, italieniſche Serftäbte, die Hanfe, 
Holland, deutfche Städte an der Donau und dem Rhein, die Rheder bes 
felfigen Hydra; fie nennt uns die Samilien der Medici, Grimaldi, Fug⸗ 
ger, fo mancher niederländifhen Haͤuſer, die im auswärtigen Handel, an 
welchen ſich Kolonien und Fabriken knuͤpften, geoße Schäge erworben has 
ben. Solche Beifpiele brachten die Meinung zur Herrfchaft, daß das Gelb 
der wahre Reichthum, nicht nur für Einzelne, fondern für ganze Völker, und 
baß der auswärtige Handel, wenn er gehörig geleitet werde, die ergiebigfte 
Geldquelle fei. Allein eben jene Beifpiele zeigen auch in dem meiteren Ber 
Lauf ihrer Gefchichte, daß eine Aenderung der Umftände, beren gefchidkte 
Benugung jene Reichthuͤmer gefchaffen, den Zerfall herbeiführte, daß alfo ber 
auswärtige Handel nicht dauernde Grundlage, das Geldfammeln durch foldhe 
Handelsgewinnfte nit den Wohlftand und die Macht der Nationen bes 
gründen kann. Der Verkehr mit bem Orient, durch bie Kreuzzuͤge ange 
bahnt, brachte italienifche Seeftäbte, ber große Handelszug längs ber Do: 
nau und dem Rheine brachte deutfche Städte zur Biäthe. Der Seetveg nach 
Oftindien änderte dies und dort erntete Holland, was Portugal gefäet hatte. 
England erbte wieder von den Niederlanden und die Ruͤckkehr zu dem alten 
Landiveg wird wieder andere Städte und Länder begünftigen. Hier liegen 
Elemente bes Wohlftandes für Dertlichkeiten, aber nicht Grundlagen für 
dauernden Nat ional wohlſtand. Und was find endlich, auch der Menge 
und dem Werthe nach, die in einzelnen Staͤbten und Familien angehäufsen 
Handelsreichthuͤmer, verglichen mit ben gleichheitlicher vertheilten und über: 
all verbreiteten Erzeugnifien und Erübrigungen ber vielfeitigen und mans 
nichfaltigen Betriebſamkeit eines großen Landes, welches bie Hilfsquellen 
feines Bodens und feiner Gewerbsthaͤtigkeit zu benutzen, auszubehnen und zu 
vervollkommnen verfteht! 

Der Zwiſchenhandel, zu deſſen Betrieb einzelne Handelsſtaͤdte und 
kleinere Handelsvoͤlker befonders geeignet find, fegt einch auswärtigen 
Handel voraus, ben jener vermittelt, der aber auch unmittelbar von ben vers 
Lehrenden Völkern betrieben wird. Der auswärtige Handel fest inlaͤn⸗ 
difche Erzeugniffe im Ausland und frembe im Inland ab. Er iſt eine fort 
gefegte Arbeitstheilung unter den Völkern der Erde, die gegen einander Stoffe 
zur Verarbeitung umd Genußmittel austaufhen und in einem Weltverkehre 
die Verfchiedenheiten ausgleichen, welche Natur und Verhältniffe begründen. 
Die Erzeugniffe des Bodens wie die Bebingungen zur Entfaltung einer 
großen Inbuftrie find ungleich auf der Erde vertheilt und bamit iſt die Noth⸗ 
wenbigkeit eines Tauſchverkehrs ber Völker angezeigt. Die Jaduſtrie lag 


n£oblenflögen, ben Erzeugungsorten ober bem fie erfegenden 

unuual DER Nohftoffe, ba mo Gapital, Arbeit, Abfag unter günfti- 
„gungen zu haben find; die gemäßigte Bone ift ihr zutraͤglich. De 
haben die Tropenländer ihre herrliche Vegetation, bie Gebirge ibrm 
(: und Holtzreichthum, die Ebenen ihr Getreide. Eimer bedarf bes 
in und ber teltverfehr ift es, im welchem flatt in Wölfertwandberungen 
vo  :  Igem die Wölker der Neuzeit Ihre welthiſtoriſche Senbun 
1. ....ation fenbet anderen bie Erzeugniffe, welche fie Leichter un 
"on... und findet in der Production Über ben eigenen Bedarf bir 
Wwendung von Gapital und Arbeit. Sie nimmt dafür von 

u ‚ie felbft nur mit größeren Opfern erzeugen Bönnte , ober mas bis 

m Boben und Fleife gänzlidy verſagt. Die Vortheile find, mir 
uſche zroifchen Einzelnen, gegenfeitig, ſonſt würbe ber ausmärtig 
af bie Dauer nicht beftehen. Doch ift natürlich der Vortheil Dev 
welche nicht nur den Kauf und Verkauf, fondbern auch den. Zran 

uni Aus: und Einfuhrgegenftände beforgen, größer als ber Bortbeil 
:, bie ſolche von Andern abholen und ſich zuführen laffen (f. Activhan⸗ 
Die Gefahren, dur Störungen im auswärtigen Verkehre Barlulı 
Ind allerdings vorhanden; Kriege, Regierungsmaßregeln , glüd: 
werbung Dritter Eönnen bie Ausfuhr ins Stoden bringen un 
ffenden Productionszweige nachtheilig zuruͤkwirken. Allein bie 
elche fich um der Gefahren willen von der Theilnahme am Wat: 
„ısichließen wollte, wuͤrde bie weit größere und unvermeidliche Gr 


unge uufen, welcher ftets ber Schwache ben Stärkeren gegenüber ausgeſcht 


ift. — Die Maßregeln und Einrichtungen der Staaten zur Beförderung dei 
auswärtigen Handels werden in den nachfolgenden Artikeln, mit denen aud 
‚„Mercantilfpftem’ und „Zoͤlle“ zu vergleichen find, weiter erörtert. 
Karl Matbr. 

Handelögerihte. Seit dem Erfcheinen der erften Auflage ds 
St.⸗Lex. ift die Gefeggebung über Handelsgerichte bedeutend fortgebilder wer: 
den, fo daß jest die Anficht von der Nothwendigkeit folcher Gerichte als all⸗ 
gemein anerkannt betrachtet werden fann. In Bremen find durch Gel 
vom 16. uni 1845, im Großherzogthum Baden durdy Gefeg vom 6. Min 
1845, und im Königreich Sardinien durdy das Handelsgefegbud von 1842 
Buch IV. Handelsgerichte eingeführt worden. Ueber die Belegung disfer 
Gerichte ift freilich große Verfchiedenheit der Anfihten. Während nach 
den fardinifchen Gefesen das Handelsgericht nur aus Kaufleuten befteht un 
jelbft der Prafident Kaufmann ift, bei jedem Handelsgerichte aber ein rchr* 
gelehrter Rathgeber (consultore legale) ernannt wird, welcher bei den Sigim: 
gen und Berathungen des Handeldgerichts gegenwärtig ift, jeine berathende 
Stimme über alle Rechtspunkte abgiebt und bei der Medaction der Urtheile 
mitwirft (Codice di Comercio art. 661 — 70), befteht das BremifcheHun: 
deldgericht aus zwei rechtsgelehrten Mitgliedern des Senats (von denen Einer 
den Vorſitz führt) und 7 Kaufleuten der Bremifchen Börfe. Das Handelt: 
gericht in Baden befteht aus dem Amtsrichter und zwei mitflimmenden Han: 
delöleuten. Ueber die Wirkfamkeit des Hamburgifchen Handelsgerichts feit 


"Ze: 
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Handelsgerichte. 718 


1815 giebt ein Bericht !) wichtige Auffchlüfle, bezeugt, wie wohlthätig dies 
Gericht fi) bewährte und auf welche Weife das Gericht verbefjert werben 
koͤnnte. Weber die von dem Hanbelsgerichte in Genua bisher gefällten Ur⸗ 
theile giebt zugleich mit einer Vergleichung ber von den franzöfifhen und 
ktaltenifchen Handelsgerichten ergangen Urtheile und mit wiſſenſchaftlicher 
Berglieberung ber leitenden handelsrechtlichen Srundfäge eine fehr beadhtungee 
wuͤrdige Zeitfcheift Nachricht 2). Merkwuͤrdig ift, daß in Italien die herr⸗ 
ſchende Anficht gegen eine Befegung der Handelsgerichte ſich erklärt, bei wel⸗ 
her rechtögelehrte Richter und Richter aus dem Kaufmannsflande zufams 
menwirken, während in Deutfchland die Verbindung des rechtsgelehrten und 
bes Faufmännifchen Elements für nothwenbig erachtet wird. Man beforgt 
in Stalien, daß bei der Einrichtung , nach welcher ein rechtsgelehrter Richter 
mitftimmt ober fogar den Vorfig führt, der vechtögelehrte Richter eigentlich 
das Urtheil FÄlt, in einer Angewoͤhnung an die flarren juriftifhen Grundſaͤtze 
zu wenig die Handelsgewohnheiten und techniſchen Beduͤrfniſſe und Ruͤck⸗ 
ſichten beachtet, und durch Gewandtheit und Ueberredung leicht einen ber 
taufmännifchen Beifiger auf feine Seite bringt, fo daB das Urtheil nach 
feinem Willen gefällt wird. Webrigens ift e8 Sitte, daß auch inden Dans 
beisftädten Italiens die Kaufleute Advocaten als Rathgeber an der Seite 
haben, ſich vorher mit ihnen berathen, fo daß das juriflifche Element nicht 
vernadhläffige wird. Kür fehr zweckmaͤßig hält man bie Theilnahme eines 
rechtsgelehrten Rathgebers bei dem Gerichte, wie er nad) dem farbinifchen 
Sefegbuche vorkommt. Zür den wichtigften Punkt wird von ben Männern, 
welche mit dem Gange der Urtheilsfällung bei Handelsgerichten vertraut 
find, der geachtet, daß nicht die Handelsgerichte in Fällen, in denen die Pars 
teien auf Handelsgemohnheiten oder auf technifche Rüdfichten fid) beziehen, 
zu leicht auf Beweis der Gewohnheit erkennen oder ein Verfahren mit Beizies 
hung von Sachverfländigen anordnen. Rechtögelehrte Richter thun dicEhern. 
Die Bremifche Dandelsgerichtsordnung hat weife in 6 51—53 dem Dandelss 
gerichte überlaffen, felbit in die Sitzung Sachverfländige vorzulaben oder auch 
nach eigner Sachkunde zu entfcheiden, ebenfo nach $. 54 über das Dafeln 
bandelsrechtlicher Gewohnheiten aus eigener Wiſſenſchaft zu erkennen, fo 
daß ein Erkenntniß auf Beweis der Gewohnheit nur ausnahmsweife erfolgt. 
Auch das badifche Gefeg 5.35 macht den Beifigern der Handelsgerichte biefen 
einfachen Weg einzuſchlagen moͤglich ?). Mittermaler. 


1) Gommiffionsberiht an bie Unterzeichner ber Petition vom 8. Juni 
1843. Hamburg, 1843. S. 1%. 

2) Giurisprudenze del Codice di Comercio compilato del Mr, Mantelli. 
Alessandria feit 1844. Bis jest 3 Theile. 

3) Nachrichten Über die neuefte Gefeggebung in Bezug auf Hanbelsgerichte 
FR meinem — in dem ah für civil. — re S. 75—%. 

e gute n erfahrene vor ben en Hanbelsgerichten 

in Bonoenne, theorie de la procedure civile, tom, 2 (fortgefegt von Bour- 
rcau) Paris, 1847. pag. 115—417. 





ne und Arbeiterpereine, Eee: die fs 
vage zum Hauptthema des Tages macht und man ben —— 
yon den bezahlten und nicht bezahlten Müffiggängern aller Art 
nr arbeitenden Glafjen eine wohlverdiente Aufmerffamkeit zu [ 
defto ungeflüämer drängt ſich die Nothwendigkeit Auf, Die materieh 
er arbeitenden Claffen fiher zu ſtellen und Ihre geiftige Birdung g 
m. Organifation der Arbeit —1 Loſung des un db. bh. Bermank 
V gegenwärtigen Buftandes der Unordnung, ber Desorganifation, 
a ber Zufall regiert, in ein auf Principien bafirtes Syſtem ber Arbat 
»öduction. Diefe Drganifation ber Arbeit oder die Regulitung bi 
niſſes zwiſchen Arbeit und Verdienſt gründet fih hauptſaͤchlich auf 
rker⸗ und Arbeitervereine, die, wenn auch nicht als bloße Uebergangt 
sch al letztes Ziel foclaler R formen betrachtet werden mürffen. 
n die hierher gehörenden Momente ins Klare zu fegen, mmüffen mir 
olid auf den hiftorifchen Verlauf werfen, welchen bie Handwerke un 
»sarfaffung genommen haben. Die Frage, welche Maßregeln müfen 
aats⸗ und Corporationswegen getroffen werden, um ein richtiges Ber 
zwiſchen Arbeit und Verdienſt herzuftellen und erfterer. den nothwen 
Schuß zu gewähren, wurde zu verfchiedenen Zeiten verſchieden beanb 
Br ehrt in diefer Beriehung füglich 3 Perioden unterfcheiden. 
Mittelalter, deſſen charakteriftifches Merkmal die ſtrenge kaſten 
bung des Volkes in befondere Stände und Berufsarten bilde, 
der plumpen Weiſe jener Zeit zu dem zunaͤchſt liegenden brafl 
ſcyen Derrrel des Zunftzwanges, um der Arbeit einen Schuß zur verleihen 
den man für nothwendig erachtete. Diefer Schuß war indeffen mehr Sıtı 
bes Inſtincts als der Meberlegung. Die einzelnen Handwerker fchloffen fit 
je nach ihrer Belchäftigung in befondere Gorporationen ab, deren Zugänglis- 
keit Durch verfchiedene oft ſehr lältige Bedingungen erfchtuert wurde. inne: 
halb ber Zuͤnfte felbft mar die Zahl der Meiſter, oft auch die ber Gefellen be 
ſchraͤnkt. Die einzelnen Arbeiten waren ffreng von einander geichieden, dr 
Webergang von einer Berufsart zur andern ungemein erfchwert und jedem 
einzelnen Handwerk feine Sphäre angemwiefen, welche au überfchreiten böclıe 
verpönt war. Der Arbeiter war gemwiffermaßen ber Leibeigene feiner Arbeit, 
an diefe gebunden, wieder Hörige in einem andern Verhaͤltniß an die Scelk. 
Die Arbeit war allerdings organifirt, allein auf jene plumpe, desporifche Weiſt 
welche durch todte Geſetze das Weſen erfegen will, welche durch Formeln un) 
von außen fommende Beſtimmungen bag von innen heraus ſich entwickelnde 
Leben, bie Freiheit au erfegen glaubt, Diefe Organifation der Arbeit dur 
Zunftiwang verhält fih zur wahren Organifation tie der Polizeiftaat zum 
Rechtsſtaat, mie ein polizeilich regiertes und bevormundetes Volk zum freien 
Gemeinleben und zur Selbftregierung. Alle etwaigen Vortheile des Zunft: 
weſens wurden auf Koften ber Freiheit erfauft. Die Entwidelung der Hand: 
werke wurde durch ftabile, jeder Neuerung abholde Geſetze befchränft, dat 
Zalent zu Gunſten der Mittelmäßigkeit niedergehalten, kurz im Gefolge dei 
Zunftweſens befanden ſich alle Mifverhältniffe und Uebelftände, melde hir 
Beſchraͤnkung ber Freiheit mit fich führt. 












* 






Handwerker⸗ und Arbeitervereine g1, 


Warum follte der geſchickte Arbeiter eine gewiſſe Branche von Geſchaͤf⸗ 
ten, bie nun gerade nicht auf feinem Inder ſtanden, nicht übernehmen duͤr⸗ 
fen? Warum follte es nicht geflattet fein, irgend ein Geſchaͤft zu betreiben, 
ohne vorher bie vorgefchriebenen Grade und Stadien ale Lehrling und Gefelle 
durchlaufen zu haben? 

Disfe und ähnliche Fragen erhoben ſich mit der Entwickelung der ſtaats⸗ 
bürgerlichen Freiheit und Bleichheit, mit der Idee eines allgemeinen Bürgers 
thums und wurden vom Beitgeifte ſtets zum Nachtheile des Zunftzwanges 
beantwortet. Dit den Schranten, im welchen das Mittelalter die Menſch⸗ 
heit kaſten⸗ und claſſenweis eingepfercht hatte, fielen aud) Zünfts und Zunfts 
zwang. Die Organifation der Arbeit trat in ihre zweite Periode. 

Unter dem Einfluß abftracter Freiheitsibeen trat an bie Stelle des ches 
maligen Zunftziwanges theils vollſtaͤndig, theils mehr oder minder modificirt 
bie Gewerbefreiheit, die freie Concurrenz, das Schiboleth der modernen Bour⸗ 
geoifie. Diefe Veränderung war die reinſte Negation, eis Kortfchritt,, der 
das Beſtehende vernichtete, ohne etwas Anderes dafür zu fegen, es war eine 
jener Reformen abflracter Politik, deren charakteriftifches Merkmal es iſt, ſtets 
nur um die Formen, niemals aber um das Wefen fich zu bekuͤmmern. Aller 
dings wurden die Sormen des Zunftwefens , feine mit der Freiheit unvertraͤg⸗ 
lichen, befchränkenden Geſetze aufgehoben, allein biefe Negation an ſich war 
fogar noch weit weniger geeignet, ber Arbeit ben nöthigen Schus zu gewähren, 
als das ehemalige Zunftweſen. Statt daß vorbem wenigſtens ein Princip, ein 
Syſtem, wenn auch ein unrichtiges, geherrſcht hatte, wurde jest Alles ſich 
felbft und dem Zufall überlafien. Es war eine Veränderung gemacht worden, 
aͤhnlich derjenigen, welche nach einer, ein falſches Staatsprincip, eine uns 
haltbare Staatsverfaffung vernichtenden Revolution ſich mit biefer begnügen 
und den Staat ohne Verfaffung , ohne Organifation belaffen würbe, den 
Schwaͤcheren dem Stärkeren preisgebend und den Zufall und das plumpe 
Uebergewicht phyfiſcher Kräfte zur Herrfchaft echebend. Die Bewerbefreiheit, 
die freie Concurrenz ohne Organifation der Arbeit iſt die Sanctionirung bee 
Herrſchaft des Capitals , der Uebermacht des Geldes über die Arbeit. 

Das Geld ift ber Stellvertreter menfchlicher Arbeit, das Medium , weis 
ches in dem Verkehr, in dem gegenfeitigen unendlichen Austauſch der Probucte 
flatt der unmittelbaren menſchlichen Thaͤtigkeit des Naturzuftandes dem Ein⸗ 
zelnen feine Lebensbebürfnifie verfchafft. Als ſolches erfcheint es gleichſam 
als geprägte, greifbare, metallifirte Menſchenkraft, welche in gewifien Maſſen 
vereinigt, Capital genannt wird. Wird diefes Sapital, in dem nicht organi⸗ 
firten Verkehrsleben fich ſelbſt überlafien, in die Production geworfen, fo 
wird es Stellvertreter der menſchlichen Thätigkeit im fdhlechten Sinne bes 
Worte. Der Capitalift hat in Korm feines Capitals Menfcyenkräfte, welche 
für ihn arbeiten, er befindet fich in demſelben Verhältniffe wie der Sklaven⸗ 
befiger , nur mit dem Unterfchiedbe, daß diefer Menſchenkraͤfte in Lebensgroͤße, 
in natura , lebendige Arbeiter gu feiner Verfügung hat, und für ſich arbeiten 
läßt, während jener fie in Zahlen befigt, die auf dem allgemeinen Verkehrs⸗ 
mittel ausgeprägt find. Wäre 3. B. die Kraft oder die Arbeit eines Sklaven 
gleich 1000 fi., fo hätte ber Beſitzer eines Capitals von 40 000 ſi., wenn er 


916 Handwerker⸗ und Arbeitervereine, 


ſolches unmittelbar in die Production wirft, 10 Sklaven zu feiner Vertio 
gung , bie für ihn arbeiteten. Da nun bie —— bie freie Gonan: 

renz jeden Einzelnen fich felbft überläßt, fo ftellt fie einen Kampf bar, m 
32 der einzelne Arbeiter dem Capital gegenüberſteht. In diefem Kampfı 
müffen natuͤtlich Diejenigen obfiegen,, welche in Form von Enpital ber Kraft 
bes einzelnen Arbeiters fo viele Menfchenkräfte mtgegetsftellen können, als 
durch ihre Gapitalfumme fingirt werben. 

Daraus entfpringen taufend Wortheile, bie dem Gapitaliften in biein 
Beziehung ein Uebergewicht ber den einzelnen Handwerker ober Arbeiter in 
die Hand geben. | 

Der Eapitalift kann durch Befchäftigung vieler Arbeiter jenes Ineinam 
bergreifen der einzelnen Arbeiten herftellen , welches die Production fo une: 
lich befehleunigt. Er Eamn die Rohftoffe lets aus der erften Hanb beziehen, 
Mafchinen und fonftige mechanifche Hilfsmittel, die dem einzeln flehenden Ar 
beiter nicht zu Gebot ftehen, erleichtern ihm die Production in folcher Au 
behnung, daß der Unvermögliche außer Stand geſetzt wird, gleichen Scheitt 
mit ihm zu halten. Der Gapitalift kann momentane Verluſte leichter ame 
gen, ober er kann fich ſolche freiwillig auferlegen, oder mit geringem Gemim 
fich begnügen, um die Preife fo herabzudruͤcken, daf fie dem Arbeiter ohne Eu 
pital nicht mehr bie nöthigen Rebensmittel verfchaffen und ihn ſomit ruinieem. 
Der Capitalift kann ausgebehnte Handelsverbindungen anknüpfen, Eann bi | 
Gelegenheiten des Abfages, die Märkte u. f. mw. mit Leichtigkeit austunb 
ſchaften und fo weit fchneller verfaufen. Kurz dem Eapitaliften ftehen fo wid | 
ber Arbeit des Einzelnen überlegene Mittel zu Gebote, daß biefer in je 
Beziehung bald überflügelt ift, wenn er mit dem auf die Production gemer 
fenen Capital concurriren muß. 

Die Folge diefes Syſtems ift daher nothmendig der Untergang dee ur: 
vermöglichen Arbeiter. Diefer verliert feine Selbſtſtaͤndigkeit und gerärh auf 
die eine oder andere Weife in die Abhangigkeit des Capitaliften oder Zabır 
Fanten. 

Der gegenmirtige Zuftand Englands, audy Frankreich, ift der lebendigt 
Beweis von der Wahrheit diefer Ausführungen. 

Die Handwerker der Zunftperiode haben vollftändig den Fabriken un! 
Fabrikanten Platz gemacht. Die Selbftftändigkeit des fogenannten Mitte 
ftandes ift dahin, ift ein Dpfer geworden des Capitals, welches dag Valf 
dort in zwei durch die große Kluft des Reichthums und der Armuth gefhie: 
dene Claffen theilt. Aber auch in Deutfchland, mo die freie Concurrenz ned 
nicht einmal in ihrer vollen Ausdehnung herrſcht, werden die Wirkungen det 
aufdie Production gemorfenen Capitals nachgerade auf ſehr unerfreulide 
Weiſe fihtbar. So z. B. giebt es den neueften ftatiflifhen Nachrichten zu 
Folge in Berlin nahe an 4000 felbftftändige Schneider aller Art, von denen 
zwei Dritttheil Eeine hinreichende Beftellung haben. Dagegen findet man 206 
Kleiderhändler, welche Vorrathe zu Spottpreilen beziehen. Die Zahl der 
felbftftändigen Schuhmacher beläuft ſich in Berlin auf 3000 ; und ihr Ver: 
hältniß zu den Händlern iſt, wenn auch nicht ganz daffelbe, doch ähnlich mie 
das der Schneider; 837 felbftftändige Seidenwirker arbeiten faft fämmtlid 


Handwerker⸗ und Arbeitervereine. 117 


für 113 Händler , oder fogenannte Fabrikanten, welche im Beſitz eines Capi⸗ 
tals ben Handel auf Koſten der unfichern Gewerbthäfigkeit ausbeuten. Die 
Zahl der Tiſchler, welche von ben Händlern abhängen, beläuft fich auf. 
2000, die Zahl der Weber auf 20,000 und biefe Leute Finnen auch im 
„gluͤcklichen Falle der Arbeit nicht von ihrem Verdienſt leben.“ 

Der Schriftfteller,, dem diefe Notizen entnommen find, befchreibt das 
Verhaͤltniß der unvermöglichen Handwerker zu dem Capital folgendermaßen: 
„Die fogenannten Heinen Meifter find nicht tote die Gefellen auf feſten Vers 
dienft angewieſen, noch Binnen fie, wenn es an einem Orte ſchlecht geht, fi 
teiter umfehen. Ste find an ihre Werkflätte gebunden, und muͤſſen zu ihrer 
Erhaltung wöchentlich ihr Gewiſſes verdienen. Die Heinen Meifter arbeiten 
daher die Woche hindurch oft ohne Sicherheit, blos auf die Möglichkeit him, 
ihre Arbeit am Ende der Woche zu verwerthen. Ferner aber find fie gewoͤhn⸗ 
lid) gezwungen, die jedesmalige Arbeit bis zum Ende der Woche fertig zu lie⸗ 
fern , weil fie meiſtens die Auslagen dazu erborgt haben und ſolche, um neuen 
Credit zu befommen, am Ende der Woche abzahlen müflen. Iſt ihnen dies 
nicht möglich, fo Haben fie für die folgende Woche Leine Arbeit und keine 
Eriftenz. Nun ſuchen fie, wenn fie nicht zufällig unter der "Hand verkauft 
oder Beitelung erhalten haben, am Sonnabend ihre Arbeit an die Händler 
zu verkaufen. Diefe Händler, Peine Befigende, welche nichts arbeiten, fons 
dern nur ihre Geld tm Hanbel fpielen laffen, Eennen die kleinen Meifter und 
ihre Verhäteniffe genau. Sie wiffen, baß die Unglüdlichen ihre Arbeiten um 
jeden Preis verwerthen müflen, da die Gefellen und das Material für die Io 
beit zu bezahlen find, fo bieten fie benn auch den Meiftern einen Spottpreis 
für die Waare, indem fie über die fhlechten Beiten klagen und Ihre wohlge⸗ 
fülten Magazine zeigen. Der Meifter ift immer gendthigt, feine Waare zu 
dem gebotenen Preife loszufdylagen, und wenn er feine Geſellen und ben ges 
borgten Stoff wieber besahlt, hat er kaum fo viel, daß er mit feiner Familie 
vegetiven kann. In ber folgenden Woche fängt dann das Lied von Meuem an, 
und dabet ift immer vorausgefegt, daß ihn kein Unfall betrifft. Seine Arbeit 
muß tadellos fein, wenn er nicht Alles daran verlieren foll ; eine einzige Kranke . 
heit, Taufe oder Begräbnißkoften eines Kindes find im Stande, ihn vet 
tungslos in noch tieferes Elend, d. h. ganz außer „Brod“ zu ſetzen.“ f. 

Der Hauptgrunddiefer Mißverhaͤltniſſe liegt darin, daß das Capital; auf. 
bie Production geworfen, nicht blos den gewöhnlichen Bine, fondern auch. 
noch einen befonderen Unternehmungsgeminn für ſich beanfprucht und auf 
biefe Weife gewiffermaßen einem focdalen Mord begeht. Der Arbeiter hat 
von Rechtswegen Anſpruch auf den ganzen Werth feiner Arbeit, denn biefe 
ift fein wahres, mohlerworbenes und eigentliches Eigenthbum. Steht er aber 
im Dienfte des Capitals, fo muß er an dieſes unter der Form des Gewinnes 
einen Shell feines Verdienſtes abtreten, der geroöhnlich ſehr beträchtlich iſt. 
So z. B. verdient der fchlefifche Weber täglich im Durchſchnitt einen Silber⸗ 
grofchen und 3Pfennige. Betraͤgt nun aber auch unter den beftehenden Vers 
hältniffen und abgefehen von der Frage, ob nicht Aberhaupt die Arbeit gleiche 
Anſpruͤche habe, der Werth der Arbeit des fchlefifchen Webers nicht mehr als 
täglich einige Pfennige ? Und wenn er mehr beträgt, warum befommt dieſer 





Handwerker und. Arbeitervereine 


ter. nicht den vollen Werth feiner Arbeit, wem kommt ber größte Thril 
zu Gut? Dem — in deſſen Dienſte er ſteht, dem ex umterthänig 
den iſt deshalb, weil die Verhaͤltniſſe der Arbeit nicht geordnet find. 

Sapital-raubt alfo dern Arbeiter einen Theil feines Werbienftes , «3 * 

alſo dem Arbeiter einen Theil feines wohlerworbenen € 

tan eines Andern, der zufällig die Mittel hat, den A von fi 

gig zu machen, und da die Arbeit bag Lebensmittel für —— 

„muß in Folge dieſes Mißverhaͤltniſſes der Arbeiter einen Theil fehre 

senbigen Rebendurittel an einen Andern abtreten. Zwiſchen dem Ver 

des Arbeitens, un de Pf er Reste enfeBna 

- lag, der als Unternehmungsgerwinn auf die Producte gelegt wird, od 
ie Wegnahme eines Berdienittheiles durch das Capital, eine Differm, 
8 dem Ürbeiter unmöglich ma... | ne Lebensbeduͤrfniſſe befriedigm 
m. „So iſt es ohne Ausnahme bei. illen Ständen, fagt Proudben; 
pieiber, der Schreiner , der Schmied, ver Druder, ber Commis ıx. bis 

Eagelöhner und Winzer Eönnen ihre Producte nicht wieder Baufen , weil 

v einen Geſchaͤftsherrn produciren, der unter der einen oder andern Form 

— Ba gl mad, ſie muͤſſen Ina Ict⸗i falbfk theurer bezahlen 
n 

„wurd, entſteht jene Ungleichheit des Befiges, jener Keebefcabe der 

nen Geſellſchaft, der auf der einen Seite einen Theil der Menſchhei 

‚beitenden Claſſen, in eine Lage verſetzt, mo es ihnen unmöglich iff, bu 

vendigen Lebenabebürfniffe fich zu verfchaffen, während ſich auf ber ar 
dern Seite eine Elaffe von Feuten erzeugt, welche ihr Capital für fich arbeiten 
laſſen, welche von dem mohlermorbenen Eigenthum und Verdienſt des Ar 
beiter# leben, welche verzehren, ohne zu arbeiten. 

Wie ft nun bier abzuhelfen? Zum Zunftzwang zuruückzukehren, ii 
aus oben angeführten Gründen unmöglid) ; die Gewerbefreibeit oder die freit 
Gonceurienz in bisheriger Weife fortmüthen zu laffen, ift ebenfo unmöclie, 
weil fie den Arbeiter ans Meſſer des Capitals liefert; was ift alfo zu thun! 
Die Geſchichte ber Arbeit muß in ihre dritte Periode treten. Die freie Com 
euerenz ift, rote oben gezeigt wurde, nichts Anderes als die reine Negatien der 
Formen und Gefege des Zunftweſens und als foldhe ohne alle Drganifation 
und Formen, eine fociale Unordnung , in welcher ftatt eines Gedankens ſtatt 
eines Princips ber rohefte Egoismus und der Zufall regiert. Der Einzelne ıf 
ifolirt, fteht auf eigene Kauft da, Fämpft in dem großen Wettfampfe mit den 
Mitteln, die er zufällig befigt, und muß deshalb, fobalb ein Stärferer über ihn 
kommt, unterliegen, feine Freiheit und Selbitftändigkeit verlieren. Seinen 
Gegenfas findet diefer Zuftand in der Affociation. Iſolirung, Vereinzelung if 
das Merkmal des Maturzuftandes, der Unordnung und Rohheit; Gemein 
(haft, Affeciation die Korm für das Bewußtſein, für die Cultur, überbaupt 
für den Geift. Diefer Satz, der bisher ftetd nur auf politiſche Werbältniffe 
angewandt wurde, hat feine Geltung ebenfo qut für die Arbeits: und Ve: 
Eehrsverhältniffe als für den Staat. So wenig die Gefellfchaft als politiſche 
Gemeinde ber DOrganifation entbehren kann, ebenfo wenig kann fie es al 
arbeitende. Zweck diefer Organifation ift die Emancipation der Arbeit vom 































Kenbwerfenr und Arbeitexvereine. 119 


Capital, ihr Mittel die Affociation, die Handwerker⸗ und Arbeitervereine. 
Der Macht des Capitals, der todten, in Zahlen ausgeprägten Menſchenkraͤfte, 
muß die Macht der vereinten lebendigen Kräfte entgegengsflellt werben. Diefe 
Vereine der Arheiter muͤſſen an die Stelle des Capitals treten, müflen ſelbſt 
Gefchäftsherren werden, die ben vollen Werth ihrer Arbeit ſelbſt genießen und 
nicht au anbere abgeben müffen. Es müflen alfo die einzelnen Arbeiter ſich 
in Gefellfchaften vereinigen, welche auf gegenfeitiger Garantie errichtet und 
auf den Hauptgrundfag bafirt find, daß jeder Einzelne ben vollen Werth ſei⸗ 
ner Arbeit befommt. Auf die einzelnen Momente, namentlich barauf naͤher 
einzugehen, in welches Verhaͤltniß die einzelnen Aſſociationen des Landes zu 
einander , zu einer Gentraldicection oder zur Staatsgewalt, Behufs ber Her 
gulirung des Verhaͤltniſſes zwifchen Production und Conſumtion, fich ſetzen 
muͤſſen, wie ihnen der nöthige Credit zu fchaffen und wie die Geſellſchaften 
ſelbſt zu organifiren fein, ift hier nicht des Det, eimem befonderen Artikel 
über die „Orxganifation der Arbeit” fei Died vorbehalten ; allein fo viel ſteht fefl, 
dag den hisherigen Productions» und Verkehrsverhaͤltniſſen gewaltige Veraͤn⸗ 
derungen bevorftehen, Veränderungen, die über Schutzzaͤlle und Freihandels⸗ 
ſyſtem hinausgehen, bie in die eigentliche Lebensfrage unſeres Zeitalters eins 
greifen. | . . 
Es find bereits hin und wieder Werfuche gemacht worden, weiche in⸗ 
flinctartig diefen Weg ber Affociatioy, einſchlagen. Go haben fidy in ver⸗ 
fehiedenen Städten Handworkerversing gebildet, deren Mitglieder auf gemein⸗ 
ſchaftliche Rechnung produciren und verfaufen. Schreiner, Schneider grüne 
deten Befelifchaftsmagazine, wohin der Einzeine feine fertigen Waaren ab⸗ 
Liefert, um fpäter feinen Gewinn pro rata zu erhalten. Es find: dies freilich 
nur rohe Andeutungen und. meiter nichts als wieder nur Aſſociatienen de@ 
Capitals, allein fie fchügen doch den Eleinen Meiſter einigermaßen vos den 
Folgen der freien Concurrenz und. beweiſen, Daß im Scheoße.der Hanbiverkan 
felbft fi ein wenn auch unbeſtimmtes Gefühl regt, in dieſem großartiges 
Kampf der freien Goncurrenz auf Leben und Tod einigermaßen ſichere Am 
haltspunkte zu gewinnen. | * 

Nur auf dieſem Wege iſt dem mehr und mehr wachfenden Pauperiemus 
ein Damm entgegenzuflellen, dieſem Pauperismus, der auch in: Deutfchlamb 
in manchen Fabrikgegenden ebenfo.bedenklich zu Lage gekommen, der bereit 
an mehreren Octen das Einfchreiten der bewaffneten Macht: gegen die verziweh« 
felte Nothwehr halbverhungertee Arbeiter provocirte Un 3. B. auf bie 
ſchleſiſchen Weber zurüdzulommen, giebt es ein anderes Mittel, ihrer wahr 
haft verzweifelten Lage abzuhelfen, als die fo eben bezeichnete Affociation ? — 
Woher ſtammt ihr Elend? Daher, daß fie den größten Theil ihres Arbeits⸗ 
verdienſtes als Gewinn an ihre Gefchäftsherren abgeben mäffen, daher, daß 
biefe Gefchäftsherren, die Fabrikanten, die Eapitaliften ſich den größten Theil 
des Eigenthums ihrer Arbeiter aneignen und diefen dadurch die nothwendigen 
Lebensmittel entziehen. Sollen aber diefe Capitaliſten etwa den Bohn bee. 
Arbeiter erhöhen? Das wäre ein Act der Gnade, aber keine Ambderung des 
Principe. Das Princip aber muß geändert werden und dieigefchieht nur 
bdadurch, daß dem Zuſtande ber Principloſigkeit, der Desorganiſation inber 


4 


erweitern. Am großartigften find diefe Arbeitervereine in den Län 
—2 — Inſtitutionen. In England beſtehen ſolche Affoctatton: 
erſammlungslocale, Leſezimmer, Bibliotheken, Modelfammiung 
großartigem Maßſtabe zur Dispoſition haben. Hier werden beleh 
unterhaltende Vortraͤge aller Art gehalten, hier findet der Arbeiter fi 
Geld Gelegenheit ſich auszubilden, ſich mit Kenntniſſen, die in 
einſchlagen oder bie Intereſſen des Tages berühren, zu bereichern.“ 
reich giebt es ebenfalls ſolche Anftalten, auch in der Schweiz triff 
jeder größern Stabt einen Dandmwerkerverein. Nur in Deutfchiant 
biefe Anſtalten, wie überhaupt Alles, was auf Vereinigung Bezug 
ein gemeinfames Streben beurkundet, was in ber fogenannten unt 
das Denken befördert, wo nicht unmöglich gemacht, doch fehr forg 
argwoͤhniſch überwacht und bevormundet. Ja es ift mit Gicherheit 
men, baf eine von einer beutfchen Regierung jüngfl ausgegangen ! 
welche abermalen ihren Handwerkern das Reifen in der Schweiz verbt 
Grund lediglich in der Furcht vor dieſen Arbeitervereinen hat, in m 
Sage nach communiſtiſche Theorien ventilirt werden. Dies if 
ſehr wahrfcheinlich, denn es laͤßt ſich nicht leicht denken, Daß beutf 
ter, wenn fie in der Schweiz Vereinen beitreten, fid) felbft cenfire 
Thema nicht befprechen follten, weldyes zur Tagesfrage, zur Mob 
worden. Wenn es nun freilich mit einem Staate fo fleht, daß feir 
beit durch Discuffionen gefährdet wird, welche einige feiner Angeh— 
Auslande über gewiſſe Angelegenheiten uncenfirt unternehmen, t 
eine vorforgliche Regierung allerdings ſolche flantsgefährliche Dir 
durch ein Verbot, in jene uncenfirten Länder zu reifen, abfhneiden. 2 
iſt eine ſolche Maßregel erflärlich, wenn entweder eine Regierung da 
Mohr I h dio Macht hat. die Gehanken und Moden ihrer Nntsr 


. mn 
BEE. 


" Hannover. | 7a 


abhielte und alle ſtaatsgefaͤhrlichen Aeußerungen und Handlungen verbin- 
derte ? t. 

Hannover. Gerade in den Tagen, in melden ich aus ber Feder 
bes trefflihen Steinader die Zortfegung feines Artikels Hannover bis 
auf unfere Zage erwartete, kommt mir die erfchütternde Nachricht feines allzu 
frühen Todes. Das Vaterland verlor an ihm einen feiner ebeiften Söhne, 
den reblichfien und unermüdlichften Kämpfer für feine Freiheit. Beſchaͤftigt 
mit einer männlichen Vertheidigung des Öffentlichen Rechts in Preußen, uns 
terlag die zarte Geſundheit des berclichen Mannes feinen patriotifchen Ans 
firengungen. 

Schon diefe Veranlafiung machte mir die Kortfegung des Artikels Hans 
nover zur traurigfien Arbeit. Sie ift aber auch durch ihren Inhalt uner> 
freulih. Sie erinnert allzu fehr an die großen Gebrechen unferer beutfchen 
politifchen Zuftände. 

Sie ſchildert einen Kampf eines großen Theils des hannoͤveriſchen Vol⸗ 
kes gegen feine Regierung. Ein folder Kampf giebt freilich noch nicht an 
ſich Veranlaffung zur Zrauer, da zwifchen den Regierungen und Völkern, 
weil beide aus ſchwachen irrenden Sterblichen beftehen, jeweilige Kämpfe 
möglich find, diefelben aber , wenn fie dem Heiligthum der Verfaſſungsrechte 
gelten, durch den Gegenſtand veredelt und doppelt bedeutend werden. 


Traurig aber ift jeder Kampf mit völlig ungleichen Waffen, doppelt, 
wenn fo wie bier die ſchwaͤcheren Waffen und in Folge berfelben das Unters 
liegen auf der Seite Deſſen find, der nach unferer Weberzeugung für die ges 
rechte Sache Fämpfte. Daß aber hier das Recht aufder Seite der Kaͤm⸗ 
pfer für da8 Grundgefeg von 1833 war — dieſes glauben wir mit und nad 
den Ausführungen Steinader’s in dem voranftehenden Artikel. Wir 
glauben e8 mitden Ständeverfanmmlungen von Baden, Baiern, Würs 
temberg, Sachſen, Großherzogthum Heffen und Braun» 
ſchweig, welche in den hannoͤveriſchen Ereigniffen eine für die ganze beutfche 
Nation verlegende und gefährliche Störung des Rechtszuftandes , befonders 
aber eine Gefährdung aller beftehenden conititutionslien Verfaffungen ers 
blickten und deshalb wiederholt ihre Regierungen batem, zu Gunſten bes 
Rechts des hannoverifchen Volkes bei dem beutfchen Bunde zu wirken. Wir 
glauben es endlich mit fo vielen deutfchen Schriftftellern und mit den über» 
einflimmenden Gutachten der brei Suriftenfacultäten von Heidelberg, 
Jena und Tübingen, welche bie Stadt Dsnabräd gefordert und 
erhalten hatte *). 

Am traurigften aber wird vollends dadurch biefer Kampf, daß er uns 
die betrübendften Verhältniffe unferes vaterländifchen Zuftandes vor Augen 
ſtellt. 

Ein einzelner deutſcher Volksſtamm von noch nicht zwei Milllonen 


122 Hannover. 
Seelen, ſollte bier kaͤmpfen gegen feinen eigenen Fürften, der ſich im thatfäch- 
lichen Befige unbefchränkter Machtvolltommenheit über Geldmittel, Beamte 
und Heer befand. Und mas mehr iſt, er follte einen folchen Kampf in Deutſch⸗ 
Land unter Derrfchaft des deutfchen Bundes beftehen. Die Ausnahmsgefege 
des Bundes aber entziehen dem Volke faft alle weſentlichen Mittel des geſetz⸗ 
lihen Kampfes der Völker für politiſche Freiheit, die Preßfreiheit, das Recht 
des Volkes, fi) zu verfammeln und über Petitionen und andere politifche 
Mittel zu berathen, ja das Necht der Steuervertveigerung. Dem Fürften da: 
gegen verbürgen fie, ſobald, gleichviel ob durch feine Schuld oder nicht, im 
politifhen Kampfe Volksgewalt ſich zeigt, die übermächtige Hilfe des Bun: 
des, ja fogar das alsbaldige ungefuchte Einfchreiten der benachbarten Fürften 
gegen das Volt. Dem unterdrüdten Volke iſt zu einer Bundeshilfe gegen 
die aͤußerſte despotifche Unterdrüdung feines Fuͤrſten, ſchon nach den fpäte: 
ren Bundesgefegen, vollends aber nad, ber bisherigen Praris, ja nach der 
Natur der Drganifation des Bundes, faft keine Hoffnung auf irgend einen 
wirkfamen Bundesfchug geftattet. Auch wurde er ben Hannoveranern gänzlich 
verfagt, obgleich ihr Rechtsanfpruch durch eine fo allgemeine öffentliche Mei⸗ 
nung der Nation, wie fie ſich felten In Deutfchland bildet und ausfpricht, und 
ſelbſt durch die Stimmen vieler bdeutfcher Bundesregierungen unterflügt 
wurde. 

Eine große Reihe von Städten, von Landgemeinden, landſtaͤndiſche 
Corporationen, Zandtagsabgeordnete, Wahlmänner und andere Staatsbürs 
ger flehten wiederholt bei dem Bundestage um rechtlichen Schug ihrer Ver 
faſſung gegen bie einfeitige Aufhebung derfelben. Es waren der Magiftret 
und die Altersleute von Dsnabrüd, die Landflände von Oſt friesland, 
viele osnabrüdifche Landgemeinden, Magiftrat und Stadtverordnete 
von Efens, Magiftrat, VBürgervorfteher und die Wahlmänner von Hil⸗ 
besheilm und Haarburg, Magiſtrat und Bürgervorficher von Ha⸗ 
meln, von Stade, von Hannover, die Wahlcorporationen des Landes 
Kehdingen, von Neuhaus Oſten, von Oſterſtadelehe, vom Kirch⸗ 
fpiel Bene, von Bremſche und Endger, vonneun Gemeindevorfte 
bern des Kicchfpiel® Badbergen, von zehn Wahlmännern des Bauern» 
flandes des Fuͤrſtenthums Os nab ruͤck, von drei Bürgerreprädfentanten und 
fieben Wahlmännern ber Stadt Celle u.f.w. Sie flehten um diejenige 
Rechtshilfe, welche der deutfche Nationalbund ſchon durch feine Grundidee ber 
Erhaltung eines friedlichen allgemeinen nationalen Rechtszuftandes auch für 
das gewaltiam unterdrüdte Volksrecht zu verbürgen ſchien. Sie flehten um 
diejenige Mechtähilfe, welche der Art. 53 der Wiener Schlußacte von 
1820 aud) ausdrädlih „allen Betheiligten” In Beziehung auf diejeni⸗ 
gen Rechte verheißt, welche wie die Iandftändifchen in feinen befonderen 
Beftimmungen allen deutfchen Unterthanen zugefichert find und welche 
namentlich auch der Artikel 56 noch befonders dadurch zufagt, daß er ausdruͤck⸗ 
lich verbietet, „in anerlannter Wirkſamkeit beftehende Landftändifche Ver⸗ 
faffungen (mie es die hanndverifche von 1833 vor dem Regierungsanteitt des 
ireigen Konige war) anders ald auf verfaffungsmäßigem Wege zu 

m. 


Hannover. 7128 


Doch die Bunbesentfcheibung *) erfolgte abweislich und zwar abgefehen 

von Bemängelung einzelner Vorftellungen wegen Formfehlern, deshalb: 
„weil für die Bitefteller die Legitimation in den Beſtimmungen der beut- 
ſchen Bundess und Schlußacte nicht begründet ſei.“ 

Auch befondere Anträge, welche bei der ſtets wachfenden Thelinahme ber 
Öffentlihen Meinung zu Sunften der Vertheidiger des Staatsgrundgeſetzes 
in der Sigung vom 23. Auguft 1838 Sachſen, dann am 26. April 1839 
Batern, Sachſen, Würtemberg, Baden, Heſſen⸗Darmſtadt, die fächfifchen 
Fuͤrſtenhaͤuſer und die freien Städte machten, daß die Bundesverfammlung 
weiter auf die Sache eingeben und die banndverifche Regierung zur Erklaͤ⸗ 
rung auffordern möge, hatten zulegt bei der Ungunft Defterreiche und Preus 
ßens für die hannöverifche Volksſache, eine Ungunft, die man ſchon In dem als⸗ 
baldigen freundfchaftlichen Befuche des gegenwärtigen Königs von Preußen in 
Hannover zu fehen glaubte, durchaus kein andres Refultat, als daß nach lans 
gen wiederholten Verhandlungen und Snftructionseinholungen endlich am 5. 
September 1839 die Bundesoerfammlung den Mehrheitsbeſchluß faßte : 

„Daß den in der Sigung vom 26. April d. J. geft.Iten Anträgen auf ein 
Einfchreiten des Bundes in der hannoͤveriſchen Verfaffungsfrage keine 
Folge gegeben werden koͤnne, da bei obmwaltender Sachlage eine bundes⸗ 
gefeglich begründete Veranlaffung zur Einwirkung in diefe innere Landes⸗ 
angelegenheit nicht ftattfinde.” 

„Dagegen hege die Bundesverfammlung bie vertrauensvolle Erwartung, 
daß Se. Majeftät der König von Hannover Allerhoͤchſtihren Iandesväters 
lichen Abfichten gemäß geneigt fein werden, baldmöglichft mit den der: 
maligen Ständen über das Verfaſſungswerk eine den Rechten der Krone 
und der Stände entfprechende Vereinbarung zu treffen.” 

Obgleich man nun in diefer Erklärung das Verfahren der hanndverifchen 
Regierung keineswegs als geſetzlich bezeichnete, fo erließ doch die hannoͤveriſche 
Regierung fogleih am 10. Sept. eine Proclamation, in welcher fie dieſen 
Bundesbefchluß publicirte und dabei ausdruͤcklich fagte: 

„Es bat hiermit diejenige Brundlage des in Unferm Königreiche beſtehenden 
Rechts eine Anerlennung gefunden, welche von Uns ſtets als die allein güls 
tige erkläre iſt“, nämlich die Verfaſſung von 1819). 

Der König fpricht dabei die Erwartung aus: 

„Daß bie aus mangelhafter Auffaffung der Rechtsverhältnifie hervorgegan⸗ 
gene ierthümliche Anficht nunmehr (durch den Bundesbeſchluß) hinlaͤnglich 
berichtigt fein werde.“ 

Freilich proteftirten alsbald In dee Bundesverfammlung Baiern, Sach⸗ 
fen, Würtemberg , Baden, Großherzogthum Heffen und die fürftlich fächfis 
ſchen Häufer zu Protokoll: „Daß jener Beſchluß, der nur ruͤckſichtlich ber Ans 
träge einiger Bundesglieder, in die hannoͤveriſche Streitſache ſich von 
Bundeswegen einzumifchen , ausfprechen wollte, ‚, ‚daß ber Bund in der ob > 
waltenden Sachlage keine Beranlaffung dazu finde”, "gar nicht hätte 
publicirt werben follen, daß er jedenfalls den Sinn einer Entfcheibung über bie 


*) S. die in der folgenden Rote citicte urkundliche Darftellung. 
46 


dem bannöverifchen Wolke jede Hoffnung auf Rechtshilfe entzogen ho 
Nach feiner Entfcheidung auf die Beſchwerden br Betheilig 
bie frühere Ständeverfammlung felbft flagen mäflen. & 
hatte der König aufgelöft, und eigenmächtige Verfammlungen , ı 
früheren deutfchen Lanbesverfaffungen zum Schug ber ſtaͤn 
Rechte zulichen, hatte das Grundgeſez von 1833 mit fa ai 
ven Berfaffungen verbotm. Sobald alfo hiernach ein Fuͤrſt bie 
mäßiger Wirkſamkeit beftehende ftändifche Verfaſſung gänzlich zerftd 
er Rechtshilfe unmöglich. Und doch mar auch die Bundesentſcheidu 
Befchwerbe der waldeckiſchen Stände im Jahre 1836 Uber 
letzungen ihrer Verfaſſung, die zum Theil fo offenbar waren, daß fi 
Bundesverfammlung felbft als ſolche anerkannte, in ber 3. Sigung | 
beshalb abweifend, „weil bie meift bleibenden fuͤrſtlichen Verfuͤgu 
Berlegungen und keine Abänderungen ber Verfaſſung enthielten.” ** 
von dem in den Minifterialconfermzen zu Wien 1834 erfunbenen 
ſchiedsgericht Hätten die hannoͤveriſchen Bürger ober Stände keine Hi 
ten koͤnnen. Es iſt nämlich das Schickſal der Bitte der kurhe 
Stänbeverfammlung: bie hohe Bundesserfammiung molle ihr m 
rechtöverlegenden Ianbeöherrlichen Aneignung bee Rotenburger 
und wegen der Verweigerung ber Juſtiz in Beziehung auf dieſelbe, 
„durch das Bundesſchiedégericht oder in fonfliger geeigneter Weiſ⸗ 
„licher Erledigung verhelfen” ; ebenfalls ſchon durch bie öff 
bekannt geworben. Zwar verpflichtet ber Artikel 29 allgemein Di 
besverfammlung zur Hilfe gegen Juſtizverweigerung und ebe: 
pflichter das Befeg vom SO. Det. 1834 die Bunbesglieber 6 
tigkelten mit den Ständen zur Zulaſſung des Schiedsgerichts. 
murben bie kurheſſiſchen Stände nom 2A. uli 1839 mit ihrem R 


Hannover. 725 


als für bie Stände nur facultativ, nicht aber obligatorifch*), und auch das 
bundesgefegliche Recht der Hilfe gegen Juſtizverweigerung wurde den Bes - 
ſchwerdefuͤhrern nicht zu Theil. 

Mir unterlaffen es, die ſchmerzlichen Eindrüde ber ermähnten Beſchluͤſſe 
zu vermehren durch weitere Anführung gleichmäßiger Abweiſungen faft aller 
Bitten von Bürgern ober Landftänden um Bundesſchutz, während bes 
kanntlich Competenzerflärung und Bundeshilfe den Reclamationen einzelner 
oder vereinter Standesherren und Adeligen ſtets bereitwiligft und 
in übervollem Maße zu Theil wurden. Wir wollen auch biefe für die öffent: 
lichen Zuftände von Deutfchland hoͤchſt bedeutuna@volen Erſcheinungen weder 
politifch nach ihren Folgen wuͤrdigen noch auch pfuchologifch erklären. Fuͤr das 
Letztere braucht man übrigens nur zu erinnern an bie gegen frühere Vorſchlaͤge 
beliebte Bildung der Bundesverſammlung nur aus ben meift abeligen Geſand⸗ 
ten ber Fuͤrſten, welche in Sachen ber Volksrechte nur allzuleicht als Gegen⸗ 
partei erfcheinen koͤnnen. Als unabweisliches praktiſches Ergeb: 
niß aber müffen wohl die Vertheidiger der Volksrechte ſich aus diefen That⸗ 
fahen die Marime entnchmen, daß fie in ähnlichen Verhälmiffen wie bie 
hannoͤveriſchen nicht wie die Hannoveraner in wahrſcheinlich ebenfalls leerem 
Hoffen auf Bunbeshilfe andere wirkfamere Mittel und Anſtrengungen für 
ihr Recht verfäumen, und daß fie noch viel weniger ihrer Sache die wenig⸗ 
ftens fcheinbare und wirkſame moraliſche Niederlage bucch eine Verurtheilung 
von Seiten der höchften Behörde der Nation bereiten dürfen. 

Wie hoͤchſt nachtheilig In beider Hinficht für die Vertheidigung des von 
der Regierung umgeftürzten Staatsgrundgeſetzes die Zuflucht zu dee Bundes⸗ 
hülfe wurde, dieſes beftätigt bie ganze Geſchichte des hannoͤveriſchen Verfaſ⸗ 
ſungskampfes. 

Daß aber eine wirkliche Bundeshilfe für bie in ihren Verfaſſungserech⸗ 
tem durch die Regierung bebrängten Unterthanen nach den bargeftellten Vot⸗ 
singen nicht wohl zu hoffen iſt, follte mohl diefes noch weiterer Beweiſe bes 
dürfen? - 
Laͤßt die einer Verfaffung feindliche Regierung die Stände ſelbſt noch 
formell beftehen und zerſtoͤr nur dem Wefen nach das Verfaffungss und 
ftändifche Recht, fo erfolgt die Abweiſung, weit bei bloßen Verfaſſungsver⸗ 
legungen von Seiten ber Regierung ein Einfchreiten des Bunbes unzuläfe 
fig fei. 

Jagt fie aber mit Gewalt die Stände auseinander und laͤßt fie nicht 
wieder zufammentreten, fo erfolgt die Abweifung, weil alfe Einzelnen unb 
öffentlihen Corporationen im ganzen Lande zur Anftelung dev Beſchwerde 
nicht competent oder nicht legitimirt feien. 

Auch die Anträge anderer Bundesregierungen haben wohl keine Hoff: 
nung auf Erfolg, wenn fie in einem ſolchen Falle wie der hannöverifche, bei 
folcher Rechtsuͤberzeugung der Sachkundigen und der öffentlichen Meinung 
zurüdgewiefen werden. Diefes iſt vollends der Fall, wenn das Argument 


& a urkundliche Darftelung bei G. v. Struve a. a. O. Thl. II. 


eine Buntes » Sommifflon zur Prüfung der ganzen Angelegenbei 
fegen, nicht befeitigt, fondern fiegreich geworden wäre — wien 
wobldann noch ein wirklicher Sieg des ſogar aner 
Rechts in Hannover gegen die unterdeß furtbauernd thätige 9 
übermacht entfernt gemefen! 

Mißverſtehe man übrigens unfere bisherige Darftellung nv 
bag wir bei der jegigen Drganifation der Bundesven 
wefentlihe Einmifchunaen derfelben in innere Landesverhältniffe 
raͤnen Bundesftaaten wuͤnſchten. Des aber, was jeder Ned: 
wünfchen muß, ift Gleichheit des Rechtsſchutzes für beide Theile, 
und Regierung. Auch der Heinfte deutfche Volksſtamm befäße n 
vollkommen befriedigende Rechtszuſtaͤnde, lebte er getrennt vom 2% 
frei von feiner Einmiſchung, etwa auf einer Inſel oder nur in dhn 
wie die einzelnen Schweizerflaaten. Aber was muß endlicht 
fein, wenn die übermächtige Bundesgewalt in alle inneren Q 
niffe für die fürftlihe Gewalt und gegen die Volksfreiheit, wen 
Sachen der Preffe, des monarchiſchen Principe, der Adelsrechte, 
der Polizei, des Unterrichts, der Bedrohung der Ruhe u. f. w. dr 
dehnte Geſetze und Erecutionsmaßregeln einfchreitet? Mögen « 
Vaterlandsfreunde entfcheiden, ob nicht das Rechts» und Ehr= und 
gefühl und damit bie Eriftenz der Nation, oder ber Beſtand voı 
tungen, die fo fehr fie bedrängen , gefährdet werden, wenn bier ı 
einträte. Nationalrepräfentation im Bunde Einnte fie freilich g« 
wird man dieſe bewilligen ? 

Iſt nun biefe Seite des Verfaffungstampfes eines einzelnen 
Volksſtammes, bei der bundesmäßigen Entziehung feiner weſentlich 
pfesmittel, bei der beftändigen Bedrohung der ausmwärtigen Einmi 


Hannover. 727 


fluß auf die neue verfaffungemäßige Geſtalt ber Dinge gewonnen, fo wenig 
die günftige Gelegenheit benugten, einen ſolchen neuen Verfaffungszuftand 
zu erobern, der wenigſtens, foviel nur immer möglich, die Forderungen wahr 
rer Öerechtigkeit und Freiheit befriedigte, der dem Volke alfo auch das allges 
meine Gefühl eines auf Leben und Tod zu vertheidigenden Werthes flatt 
jener zuaft allzu ftumpfen und gleihgüftigen Stimmung bei deſſen Zerſtoͤ⸗ 
rung erzeugt hätte. 

Aber da faß von jenem erften Anfange an, wo bie Regierung, erfchäts 
tert durch den plöglichen gewaltfamen Ausbrud, des Volksunwillens gegen 
die unverantwortliche Mißachtung aller alten und in den Freiheitskaͤmpfen 
neu erworbenen heiligften Rechtsanfprüde, zu ihrem und des Landes Wohl 
Leicht Beſſeres bewilligt hätte, bie beutiche Pebanterei und Spießbürgerlich- 
Leit zu Rathe. Man bedachte nicht, daß der gefeglichite Mann doch genug 
thut, wenn er felbft Ungefeglichkeit nicht begeht und hervorruft, daß man 
aber gerade aus Liebe zur Gefeglichkeit aldbann, wenn nach jahrzehnt= und 
jahrhundertlanger verderblichfter Bedruͤckung des Volks endlich der Unmille 
eine Revolution herbeigeführt bat, dieſelbe zur Verhinderung neuer 
Bedrüädung und neuer Revoldtion, durch möglihft freie Verfaſ⸗ 
fung benugen muß. Ohne diefes zu bedenken, mäßigte man bie natuͤrlich⸗ 
ften Rechtsforderungen bis zum Aeußerſten und machte ein ſchwaͤchliches, Leicht 
hinfälliges Werk. Fa man hätte gern die Revolution, die doch nur das Re 
gierungsunrecht herbeigeführt hatte, vuddwärts wieder aufgehoben. Die cons 
ftituirende Ständeverfammlung, die nur allein bucch fie exiſtirte, frafte fie, 
indem fie das Wort unterbrüdte, tmelches, wie in Sachſen unb fonft 
allerwärts in ähnlicher Lage, für die ungluͤcklichen Gefange⸗ 
nen Befreiung forderte. Minifter mögen, wenn fie das Rechte nur halb 
durchführen koͤn nen, befchränten und mäßigen. Die moraliſche Kraft der 
Volksmaͤnner und Schriftfteller dagegen, wenn fie nicht das ganze, fondern 
nur das halbe Recht fordern, iſt zerſtoͤrt und von dem halben Recht geht 
dann wiederum mindeftens eine Hälfte verloren. In gewöhnlichen Zeiten 
get die Freiheitsentmidelung wahrlich langfam genug vormärts, oft durch 
die natürliche Beſtrebung der Gewalt, welche täglich im Befig aller 
Mittel wirkſam ift, während die Stände nur in langen Zwiſchen⸗ 
räumen aufteeten, und allzu oft auch durch hewußte Reaction nur ruͤck⸗ 
märts. Thoren, die ihr felbft in feltenen glüdlichen Uebergangszeiten «6 [cheut, 
daß die Freiheit einen Sprung thue, wie «8 doch felbft die Natur in Ueber: 
gangsperioden thut! Einer ber Hauptmänner in der conflituirenden Ständes 
verfammlung, ein in vieler Hinficht verehrungsmerther Mann, Stüve, war 
doc) fo befangen, daß er die füddeutfchen Verfaffungsfreunde,, daß er ehrliche 
gute Deutfche, wie 3. B. Pfizer, Uhland, Schott und Andere, als „fran⸗ 
zoͤſiſch“ perhorrescirte, daß er — bie Preßfreiheit für die Deutichen verwarf! 
So weit verliert fih Deutſchmichelei felbft in die höheren Stände ! Die Ver- 
foffungsurkunde aber, die der wackre Stäve fpäter mit fo ruͤhmlichem from: 
men und gefeglichen Eifer, mit Aufopferung und Zalent vertheidigte, enthielt 
über die Preßfreiheit die fir die damalige Zeit und die hannoͤveriſchen Zus 
ftände wahrlich mehr als verkehrte Beflimmung : 


regierung als Hinderniß der Erfüllung ihrer Rechtspflicht gegen ihr 
gegen" Diefes nahm das hannoͤveriſche Voll, treugehorfamft fü 
ſolches Unrecht, jest fogar in die vertragsmäßige Derfaffung mit ı 
nahm es jest auf, nachdem die Sranzofen in drei Zagen eine dh 
ſchraͤnkung als unerträgliche Beſchimpfung der Nationalehre von 
ſchuͤttelt hatten, nachdem diefe Verlegung für die gefeglichen Deutf 
m dem zweiten Jahrzehent fortdauerte, nachdem yerade dieſe 
MWahrheitsunterdrüdung in Hannover wie in Braunfhmeig, Sach 
heffen, Altenburg, zuerft die Eränkendfte Volksbedruͤckung, und bı 
Iutionen vırurfacht hatte. Sa, mas noch mehr ift, die übergemäf 
weifen Staatsmaͤnner in den hanndverfhen Ständen fiherten nic 
wenigftens diejenigen Reſte der Preßfreiheit, die felbfi mit den 4% 
Ausnahmsgefegen vereinbar waren, durch gefeglihe Beſt immu 
überlieferten auch ihre neuen Verfaſſungsrechte wie die früheren I 
ungskrieg erworbenen Rechtsanſpruͤche des Volkes den alten 5 
tifhen Cenfurbeliebungen, der grenzenlofeften Wahrt 
drüdung. So war denn fehr natürlich die politifhe Bildung u 
nung des Volks für die neue Verfaffung und die wichtigſte Schi 
ihrer Verteidigung in der Zeit der Gefahr gaͤnzlich zerftört. 


In dem banndverifchen Verfaffungsfampfe, welcher mit ben 
niglichen Acten begann, kamen fpäter, nachdem die Minifter, welch 
faffung von 1833 zu Stande gebracht hatten, unruͤhmlichſter Weiſe 
tee Hrn. dv. Schele degradirt, ihre Stellen ſich und fid) dem Staate 
allerdings auch) fehr hochachtungswerthe Erfcheinungen vor. WB 
dahin vorzüglich den rühmlichen Schritt ber fieben Profefforen 
übrigens bei der erften königlichen Weigerung, das Grundgefeg zu 


amnrlaich J— Aalen mörs 1le mac 3 


Hannover. | 729 


frommen, übergemäfigten und fchulpebantifchen Politik machen molite *). 
An Dsnabrüd ſchloß ſich borübergehend mit feinem Stabtdirector Rus 
mann felbft Hannover an. Es ift dies der unglüdlihe Dann, welcher 
bei jenem wichtigen Regierungsact bes Könige, bei deffen Vertagung ber 
Ständeverfammlung vor feinem verfaffungsmäßigen Eide, die unbeilvolle 
Schwäche und Ungefeglichkeit fofortiger Aufhebung der Sigung fid) zu Schul: 
den fommen ließ, bann ploͤtzlich in Eräftiger Oppoſition erfcheint und dann 
ebenfo unerwartet bei trefflicher Penſionirung feinen Srieden mit der Regie⸗ 
zung ſchließt. 

Gehoben und unterflügt durch die öffentliche Meinung in Deutfchland, 
dauerte indeß der Verfaffungelampf im ganzen Lande mehrere Jahre. Nur 
der Adel, in früheren Zeiten auf Koften bes Landes und feiner Freiheit über. 
mäßig bevorzugt, dann in dem Grundgefeg von 1833 meniyer privilegirt, 
unter der jegigen Regierung aber fehr natürlich neuer größerer Bevorzugung 
entgeoenfehend,, verfchloß fich dem moralifchen Eindruck der öffentlichen Met 
nung der Nation und fchien auch durch Leine politifche Erwägung der moͤgli⸗ 
chen Gefahren eines reactionaͤren Soſtems für den Thron und den Adelſtand 
ſelbſt ſich beunruhigen zu laffen. Die Beamten erfchienen felbft nach dem 
Gewiſſensacte jener fieben Profefforen größtentheils als abhängige willens 
lofe Diener der Regierung und befhmichtigten hoͤchſtens fo mie das Ober: 
appellationsgericht durch eine Eleine fcheinbare Formalitaͤt die etwaigen Kor» 
derungen des Gewiſſens, der Vaterlandstreue und der öffentlichen Ehre. Der 
Buuernftand mar großentheil® ununterrichtet über den Werth freier Ver⸗ 
faffung, deren allzu frühe Zerſtoͤrung ihn der Freiheit und des Eigenthums bes 
raubt und unbillig belaftet hatte. Der Mangel aller Preßfreiheit und pos 
litiſcher Volksrechte, die Einſchuͤchterung durch Criminalproceſſe, polizeiliche 
Verfolgungen und willkuͤrliche Freiheitsbeſchraͤnkungen, wie z. DB. die gegen 
den Moorcommiſſaͤr Wehner und den Hauptmann Boͤſe, und die aͤußerſte 
Beherrſchung und Verfaͤlſchung der Wahlen genügten der allerdinge klugen, 
entfchiedenen und folgerichtigen Regierung. Auch ohne irgend blutige ober 
graufame Sewaltthaten und, mag der Ruhm nun ale größer oder als Heiner 
angefehen werden — dennoch ift er begründet und muß ehrlich eingeflanben 
werden, ohne Jord an'ſche und Weidig’fche, ohne Behr'ſche und Eis 
ſenmann'ſche Proceffe, fchlug fie bei dee Veriaffenheit des Volks von Geis 
ten des Bundes, ja bei der Furcht vor der Bundes: Hilfe gegen das Volk, in 
wenigen Jahren allen Kampf für die Verfaffung wenigſtens vorläufig gaͤnz⸗ 
lich nieder und brachte eine neue Verfaſſung fo ziemlich, in ihrem Sinne 
zu Stande. 

Auf den 20. Februar 1838 wurde nach dem Staatögrundgefe& von 1819 
eine Ständeverfammlung nach Hannover berufen, melchenod die Stein: 
aderfhe Darftellung erwähnen konnte. Um den Bürgermeiftee St uͤve 
aus der Stindefammer entfernt zu halten, rief man das durch die Verfaffung 
von 1819 geforderte Schagcollegium, deſſen Mitglieder als foldye Sig in ber 
Kammer hatten, nicht wieder ins Leben, behielt jedoch die durch ba6 Grund: 


*) &. unten ben Artikel Möfer. 





















‚gefeg von 1833 begründete Die Be 
‚theidiger bes — — von 1888 hatten ſich de Plan bi 
‚den neuen Wahlen nicht verftändigt. Einige Staͤdte, rn er mt 
Minden, wählten gar nicht, andere nur mit Verwahrung für die fer 
dauernde Güttigkeit des Staatsgrundgefeges von 1833. Mühfam brot | 
— ee ge pa legte ihr eimen nur 
BVerfaffungsentwurf mit der Drohung vor, daß, wenn er nicht angenommn 
würde, der König nach Mafigabe des Patents von 1819 die nötbigen Be 
Änderungen in ber Organifation ber Stände allein — ‚Du 
Entwurf war aͤußerſt illiberat. 

In der neuen Verfammlung wurde die Frage der Gültigkeit des Gmb 
















geſehhes von 1833 oder von der Sompetenz der einberufenen Stände mise 
holt angeregt und ihre Beantwortung hinausgeſchoben. Seibt in der afe 
‚Kammer bildete fi eine eine 


ſich Oppoſiti bei | 

——— übergebene Petition für bie Gültigkeit bes fruͤheren Gmb 

entſchied die Mehrheit der zweiten Kammer, die Sache auf fih km 

zu laſſen, worauf fo viele einflnfreiche Mitglieder der Oppofition dir Bio 
Ze verlichen, daß Diefe immer kleiner und unbebeutender wurde, Ei 
‚wurde, 2, BOB Enns Tribes Babpe3.000 — 
tagt bis nah Oftern, konnte aber wegen Mongel der —— 
wieder am 3. Mat eröffnet werden. 
Unterdeß aber nahm die Oppofition einen andern Plane a Die rüb 

Wahlen wurden jämmtlic vorgenommen und entſchiedene Opee 

— gewaͤhlt. Dies mar offenbar ber rechte Weg. Stets mühe 
bie nad irgend einer Form dazu berufenen Männer aus dem Wolfe mit ale 
übrigen Vertretern zufammenmwirfen, um fo bie rechten Befchlüffe zur 
Schutze der Volksrechte, Proteflationen, Verwerfungen, Belchwerden ı 
Stande zu bringen. Sie bereiten nur zu leidht ben Gegnern den wenigſter 
formellen, bald auch materiellen Sieg, wenn fie zu Haufe bleiben und du 
Befferen und Schwaͤcheren in ber Verſammlung den verderblichen Emmi: 
fungen preisgeben, fie nicht halten, nicht unterſtuͤtzen, nit geminnen. 

Osnabrück und andere Städte erhoben jest ihre Befchwerden ba 
dem Bund. Der neue Vorfaffungsentwurf wurde ohne eigentliche Dit 
cuffion verworfen urd nun am 27. Juni 1838 die Verſammlung abermilt 
vertagt, Die Stadt Denabrüd holte nun die Gutachten der drei Äuri: 
ftenfacultäten zu Gunſten der fortdauernden Gültigkeit des Grundgeſchet 
von 1833 ein und viele deutſche Erändeverfammlungen verwendeten fich für 
deſſen Erhaltung. Die Regierung aber veränderte einfeitig die Organiſatien 
bes Landes und fuchte Adreffen zu ihren Gunften auf eine für fie nicht ven 
tbeilhafte Weile zu erwerben. Steuerverweigerungen erfolgten, doch ohnt 
Mideritand bei ben Erecutionen. 

Auf den 15. Kebruar 1839 wurde die Ständeverfummlung mirde 
zufammenberufen, mußte aber wegen Mangels der nöthigen Anzahl ned 
mals bis aufden 23 Mai vertagt werden, wo dann endlich nach neuem zehn 
tügigen Harren die nöthigen 37 Mitglieder der zweiten Kammer aufammen: 
gebracht werden konnten. Dieſe verwarfen das neue von der Regierung vet: 





FF 





Hannover. 781 


gelegte Budget, beiwilligten aber bat fruͤhere nochmals auf ein Jahr. Sie 
wurden dann am 20. Juni vertagt. 

Der Criminalproceß gegen Stüve, bie Suspenfion des Stadtbirector 
Rumann von Hannover, die dadurch und durch die Theilnahme der oͤffentli⸗ 
hen Meinung im Lande wachſende Oppofition, die Proteftation auch der 
Stadt Hannover für das Grundgeſetz von 1833 machten die Lage der Mes 
gierung täglich fhwieriger. Eins Acht deutfche ſpießbuͤrgerliche Volksdemon⸗ 
flration einer fehr großen Anzahl von Bürgern, die eine Petition in das 
Schloß uͤberbrachten, erwirkte einen nachgiebigen Beſchluß. Eilig holte man 
erſt hintennady Truppen herbei, um den König gegen aͤhnliche Ueberra⸗ 
ſchungen zu ſichern. Aber was man beſchwerend forderte und erreichte — 
es war — die Zuruͤcknahme einer Verfuͤgung uͤber Einſetzung eines Vice⸗ 
buͤrgermeiſters — Nichts weiter. — Haͤtte man aͤhnlich um die Wiederher⸗ 
ſtellung des Grundgeſetzes gebeten — welche menſchliche Weisheit berechnet, 
was die Ueberraſchung, der Moment vermoͤgen! — Doch jetzt in der ſchwie⸗ 
rigſten Zeit kam der Regierung die obenerwaͤhnte Entſcheidung des Bundes⸗ 
tages zu Hilfe. 

Die Staͤndeverſammlung wurde jetzt auf den 19. Maͤrz 1840 berufen. 
Dieſe nahm nun mit einigen Modificationen die ihr vorgelegte Verfaſſung an 
und bewilligte ein neues Budget. 

Abermals vergeblich riefen viele Corporationen gegen dieſe neue Ver⸗ 
faſſung jetzt die Hilfe des Bundestages an. Die Beſorgniß eines neuen 
franzoͤſiſchen Krieges leitete die Theilnahme vom Verfaſſungsſtreite ab. Ver⸗ 
geblich proteſtirten auch die Provinziallandtage von Oſtfriesland und Os⸗ 
nabruͤck. 

Doch die am 2. Juni 1841 eröffnete neue Staͤndeverſammlung, obwohl 
man durch die Eläglichfien Minoritätswahlen die minifterielle Partei verflärkt 
hatte, befchloß eine neue Petition zu Gunſten des Grundgeſetzes von 1833 
und erklärte die Rathgeber der Krone als des Vertrauens unwertb. Doch 
die erfte Kammer verweigerte ben Beitritt, die Stänbeverfammlung wurde 
aufgelöft und nach der auf die Entwaffnung dee Oppofition gut berechneten 
neuen Berfaffung da6 Budget als auf drei Jahre fortbeftehend erklärt. 

Mit aͤußerſter Wahlbeherrfhung brachte zum 2. December 1841 die 
Regierung eine neue ihr günflige Kammer zu Stande, in welcher das Grund» 
geſetz von 1833 nicht mehr erwähnt wurde. 

Die Oppofition zog füch jegt immer mehr zurüd, gab ihren Widerſtand 
zu Gunſten des Grundgeſetzes von 1833 auf oder vertagte — wie man viels 
feitig fich äußerte — denfelten auf günftigere Zeiten. 

Die neue feitdem in Wirkfamteit beflehende Verfaſſung vom 6. Auguft 
1840 begründet der That und ſchon dem Eingange und dem erften Artikel 
nad) eine Landesrepräfentation; benn an deren Stelle bloße Feu⸗ 
balftände mit Repräfentation nur ihrer Selbſtſucht zu fegen, eine ſolche 
unhiſtoriſche, zeitwidrige und flaatsfeindliche Haller'ſche Grille fiel felbft dem 
Gabinet Schele nicht ein. Die Verfaffung wird als verttagemäßig und zum 
Schutz des ganzen Landes beflimmt erklärt. Die Vertreter werden aus allen 
Volksclaſſen erwaͤhlt, das Petitionsrecht aller Bürger auch an die Std: 


782 Hannover.” 


keineswegs, fo wie nur allein in Heſſen⸗Darmſtadt und etwa im neueſten 
preußifchen Entreurf, zerftört. Die Landesrepräfentation beſteht aus zwei 
Kammern. 

Die er fie Kammer befteht aus folgenden Mitgliedern: 1) Den koͤnig⸗ 
lichen Prinzen. 2) Den Derzogen von Aremberg und von Loog=:C ors« 
waren und dem Fürften von Bentheim, als Befigern ihrer Standesherr: 
fhaften. 3) Dem Erblandmarfchall des Königreiches. 4) Den Grafen von 
Stolberg » Wernigerode und von Stolberg: Stolberg wegen der Graffchaft 
Hohnſtein. 5) Dem General⸗Erbpoſtmeiſter. 6 und) Den Aebten von Loc 
cum und von Set. Michaelis in Lüneburg. 8) Dem Präfidenten der Bre⸗ 
mifchen Ritterfchaft, als Director des Kloſters Neuenwalde. 9) Dem ober 
den Eatholifhen Biſchoͤfen. 10) Einem auf die Dauer bes Landtags vom Kös 
nig zu ernennenden angefehenen evangelifhen Beiftlichen. 11) Den von dem 
König mit erblihen Virilſtimmen begabten Majoratsherren. 12) Dem Dis 
rector der koͤniglichen Domänentammer. 13) Den in ben Provinziallands 
haften erwählten Mitgliedern des Schagcollegiums, welche abelige Mitglieder 
einer Ritterfchaft find. 14) Aus ben von den Ritterfchaften für jeden Land» 
tag zu erwählenden 33 Deputirten ber verfchiebenen Ritterfchaften,, voeldhe 
nach Abzug der Zinfen von Schulden und Laften aus ihrem Grundbefitz 600 
Thaler Einfommen haben. 16) Einem auf die Dauer des Landtages vom 
König zu ernennenden Mitglied adeligen Standes. $. 8&—87. 

Die zweite Kammer befteht ausnachfolgenden auf bie Dauer bes Lands 
tage8 zu ermählenden Deputirten: 

1) Den in den Provinziallandfhaften erwaͤhlten Mitgliedern des Schatz⸗ 
collegiums, welche nicht adeligen Standes find. 2) Drei Mitgliedern, welche 
der König wegen des allgemeinen Klofterfonds ernennt. 3) Drei Deputirten 
von feche frommen Stiftungen, die von biefen mit Zusiehung von höheren 
Geiftlichen und Prebigern aus der Zahl der proteftantifchen Geiftlichen oder 
Schulmaͤnner zu erwählen find und unter welchen fidy wenigften® zwei or 
diniete proteftantifche Geiftliche befinden muͤſſen. 4) Einem Deputirten der 
Univerfität Göttingen. 5) Zwei Deputirten der evangelifhen Confiftorien. 
6) Einem Deputirten des Domcapitel6 zu Hildesheim. 7) Aus 36 Des 
putirten der Städte und Flecken mit einem reinen Einkommen von 300 Tha⸗ 
lern oder einer jährlichen Dienfteinnahme von 800 oder bei Gemeindeämtern 
von 400 Thalern. An ihrer Wahl nehmen außer den flimmführenden Mit: 
gliedern des Magiftrats auch die Bürgervorfteher und diejenigen Wahlmaͤnner 
Theil, welche hierzu von den Bürgern befonders erwählt werben. 8) Aus 
39 Deputicten der fämmtlichen übrigen Grundbefiger aus den Freien und 
dem Bauernftand mit einem reinen Einfommen von 300 Thalern aus Grund⸗ 
vermögen. Sie follen, einige befondere Diftricte abgerechnet, von Wahl: 
männern gewählt werden, die von den Bevollmächtigten der Gemeinden beftellt 
find. 6. 88—91. 

Ein Landtag dauert 6 Jahre, wenn nicht Auflöfung eintritt. Die Wah⸗ 
len und Ernennungen der Mitglieder gelten für die ganze Dauer diefer Zeit. 
$.105. Die Zufammmenberufung erfolgt alle 2 Jahre. 

Die Rechte der Stände umd Bürger find fo ziemlich die gewöhnlichen 


Hannover. 788 


deutſcher conflitutioneller Verfaffungen. - Nur find 1) bie hannoͤveriſchen 
Stände vorzugsweiſe befchränkt in der Bewilligung, der Erhebung, der Ver⸗ 
wendung und der Gontrole ber Steuern und Einnahmen des Landes durch die ' 
Trennung der fogenannten Eöntglihen und der Landescaffe Die 
önigliche Caffe ſoll „allein vom Könige abhängig fein und nach feinen Ans 
ordnungen vertvaltet werden.” 5. 138. Sie wird gebildet aus den Einkünften 
von Domänen und Regalien, $. 120—135, aus den Ueberfchüffen der Lot⸗ 
terien, von dem Intelligenze Comptoir zu Dannover und aus ben Sporteln 
der Behörden. 5.137. Die reinen Einnahmen ber koͤniglichen Caffe follen 
verwendet werden für die Zinfen und die allmälige Zilgung der Schulden, bie 
auf ihr haften, zur Beſtreitung der Bebürfniffe des Königs, ber Königin und 
der Prinzen und Prinzeffinnen, auch zur Beftreitung eines Theils der Koſten 
der Landesverwaltung und für einen zur Unterhaltung bes Heeres zu leiſten⸗ 
den Beitrag. 6.138. Die Landescaffe wird gebildet aus dem MReinertrage 
der directen und indirecten Steuern (fo weit legtere nicht zu ben Regallen 
gehören). $. 169. Die Steusen werden von den Ständen verivilligt und ihre 
Verwaltung fteht unter der Aufficht und oberen Leitung des Finanzminiſters 
dem Schagcollegium zu, welches theils durch Ernennungen des Könige, theils 
durch ftändifche Wahlen gebildet wird. $. 154 — 160. 

2) Das ntfcheidende fländifche Zuflimmungsrecht zu Landesgeſetzen 
iſt befchränkt auf Geſetze über Steuern ober folche, durch welche den Unters 
thanen oder einzelnen Claſſen derfelben neue Laften ober Leiftungen auferlegt 
werden (6.118). Der wefentlihe Inhalt anderer Geſetze muß vor 
deren Erlaffung den Ständen zur Berathung und Erflärung vorgelegt wer⸗ 
den. Wenn die Stände ablehnen oder vom Könige nicht genehmigte Aen⸗ 
derungen beantragen, fo müflen fie, wenn der König dieſe Befege fpäter voll 
ftändig redigirt ihnen wieder vorlegt,, diefelben Im Ganzen annehmen oder ab» 
lehnen, ohne neue Anträge auf Aenderungen, Zufäge ober Bedingungen zu 
_ madhen. $. 116. - 

3) Alte Deffentlichkeit ber ſtaͤndiſchen Verhandlungen ift außgefchloffen 
und die Stände haben felbft nicht einmal das Mecht, In ihre Protokolle etwas 
Anderes al6 Anträge und Beſchluͤſſe aufzunehmen. Die Mittheilung aller 
Verhandlungen unterliegt noch außer der Genehmigung ber Regierung unbes 
dingt ber gewöhnlihen Cenſur. Lanbftändifche Gefchäftsorbnung 6. 53. 

4) Bon irgend einer Zuſicherung von Preßfreiheit enthält die Wer 
faffung gar keine Spur. 

5) Auch die Minifterverantwortlichkeit, gegenüber ben Ständen, iſt 
aufgehoben. $. 168. 

Ja das Cabinet Schele hatte bei dem Bundestage als Beflimmungen 
bes Srundgefeges von 1833, bie das monarchiſche Princip verlegten und 
bie Unterdrädung dieſes Grundgefeges nöthig machten, insbeſondere auch 
jene nichts fagende Hinweiſung auf die einflige Bumdespießgefeggebung 5.40 
in demfelben angeführt, „weil fie wenigſtens das Princip der Preßfreiheit, 
wenn auch unter Modificationen, zugeſtehe“ *). | 


*) G. v. Struvea. a. D.L ©. 338, ’ 


LU 


784 Hannover. 


Unter den Beſtimmungen, welche das Cabinet wegen ihrer verehrten 
politifchen Richtung ale folche bezeichnete, weshalb man das Brundgefeg von 
1833 nicht habe beſtehen laffen können , gehört auch der vierte Sas bes 6.31, 

„weil er eine völlige Befeitigung des privilegirten Serichtöftandes in Ausfict 
ſtelle.“ Ebenſo der 6. 83: „die allgemeine Ständeverfammlung ift bes 
rufen, die geundgefeglihen Rechte des Landes zu vertre: 
ten und bdeffen dauerndes Wohl möglihft zu fördern.” 


Dieſer $. tege, fo fagt das Cabinet, „dem Weſen deutfcher Landflände ent 


gegen, denen nad Art. 57 der Schlußacte lediglich eine Mitwirkung Ye 
Ausübung beflimmter Rechte der Regierung zuftehen folle, der Staͤndever⸗ 
fammlung einen allgemeinen RepräfentativsCharakter bei’I!! Eben fo der 
6.88, weil er den Ständen eine Initiative bei ber Geſetzgebung gefkatte ; 
der $. 115, weil er die Deffentlidgkeit der Verhandlungen, 
der $. 161, weil er die Verantwortlichkeit der Minifter fanctionire*). Als Br 
einträchtigung ber monarchifhen Megierungsgewalt verwarf der Kinig das 
Bedingen der Erbhuldigung ducch das Verfprechen der Deilighaltung der Lans 
besverfaffung im $. 18, das Zuftimmungsrecht zu allgemeinen Landesgefegen 
im $. 86, bie Beftimmung der Penfionsregulative mit Zuflimmung der 
Stände im $. 140, die Entlaßbarkeit der Richter nur durch Urtheil und Recht 
im $.163, die Nothiwendigkeit der Contrafignatur der Minifter im $.151**). 

Dee deutiche fouveräne Bundesfürft von Hannover hatte bei feiner 
Reife nach England dem auswärtigen Souverän den Unterthanen » Eid ge 
fhworen. Seinen Unterthanen aber wurcen fo gaͤnzlich gerade die herrlich 
fen britifchen Rechte vorenthalten, obwohl der hannoͤveriſche Geſandte auf 
dem Wiener Congreffe erfiärt hatte, daß diefe Rechte den Thron feines maͤch⸗ 
tigen Monarchen nur befeftigten, obwohl alle diefe Rechte und noch viel 
größere Act deutſch und in den alten hannoͤveriſchen Verfaffungsurkunden 
enthalten waren. 

Nicht weniger nieberfchlagend für deutſches patriotifches® Gefühl als 
ſolche Erfcheinungen in dem Inneren der Staatsverhältniffe eines deutſchen 
Volksſtammes war in Beziehung auf die Thätigkeit des deutfchen Bundes 
eüdfichtlich derfelben insbefondere auch noch der damals in den öffentlichen 
Blättern mitgetheilte Bundesbefchluß über die oben erwähnten Facultäts: 
gutachten zu Gunſten des Grundgefeges von 1833. ***) 

Wie unwirkſam zum Schutz, ja wie verderblidy für ihre Sache den 
hanndverifhen Bürgern ihre Anrufung der Bundeshilfe wurde, dieſes ift 
oben bargeftellt. Ungleich wirkſamer war dagegen die Beſchwerde des Königs 
gegen jene die Volksſache vertheidigenden Auriftenfacultäten. Obwohl ber 
Öffentlichen Meinung der Nation jene erfte Beſchwerde als durch die Bun» 
desgeſetze unterftügt, die zweite aber als denſelben widerſprechend etſchien, 
wurde jene abgewieſen, dieſe aber erhoͤrt. 


*) S. das vorige Gitat, 
**) Struven. a. . 359. In je neuen. Verfaſſung machte man je⸗ 
doch —2 Zugeſtaͤndniſſe. S. $. 177, 538 ‚$. 40 
. Urkunden bei Etruve ©. 


Hannover. 736 


Die hannöverifche Regierung hatte nämlich bei dem hohem beutfchen 
Bunde gegen die Tuͤbinger Juriftenfacultät Beſchwerde geführt, Unter: 
druͤckung jener von Dahlmann herausgegebenen drei Rechtsgutachten und 
Beftrafung der Theilnehmer am Tübinger Gutachten gefordert, weil biefes 
legtere „eine völlige Theorie der Revolution enthalte.‘ Mach der Anklage 
der hannoͤveriſchen Bundesgefandtfchaft vom 29. April 1839 follte daffelbe, 
außer den Beleidigungen gegen den König, directe Aufforderungen der Diener 
und Unterthanen deſſelben zur Verfagung des pflihtfchuldigen Gehorſams, 
ja Aufforderung zur offenen Rebellion enthalten. Es fei mit den aller: 
flaatsgefährlichften Grundfägen und Ausführungen angefüllt. Es entwickele 
nad, der von ihm nicht mißbilligten Vertragscheorie *), daß ber Landesherr, 
welcher , den Worten einer Verfaffung zuwider, die auf ihn vererbte Regie: 
rung ohne Verfaffungsanerfennung angetreten babe, als nicht zur Regie 
rung gelangt, als rechtswidriger Zwiſchenherrſcher, die Widerfeglichkeit der 
Unterthanen aber als Nothwehr anzufehen ſei. Die Beamten würden als 
Mandatare der Staatsgewalt und dem Lande für Aufrechthaltung der Ver: 
foffung verantwortlich bargeftellt und verpflichtet, die Rechtmäßigkeit der Ans 
ordnnungen der Vorgefegten, aud wenn fie ſich auf hoͤch ſt en Befehl berufen, 
zu prüfen. Der ftaatsbürgerliche Gehorſam, felbft der militairifhe Dienſt⸗ 
gehorfam würden als durch die Verfaſſung bedingte Pflicht dargeftelit. Wenn 
der Regent den Verpflichtungen der Verfaffung zumider handle, fo ericheine 
er, nach diefer Ausführung, infofern nicht als Regent und die Unterthanen 
folten alsdann, wenn fie zuvor um der öffentlichen Ordnung und der fittli- 
hen Beftimmung des Staates willen gütliche Ausgleichung vergeblich vers 
fucht Hätten, bei Gefährdung wahrſcheinlich unmiederbringlicher Rechte nicht 
blos zu paffivem Ungehorfam und Steuerverweigerung, fondern auch zu thaͤ⸗ 
tigem Widerftande berechtigt fein. ' 

Die Hohe Bundesverfammlung faßte hierauf nach weiterer Verhand⸗ 
Iung am 30. September 1839 den Bundesbefchluß: 

1) „Da das Gutachten der Suriftenfacultät zu Tübingen in der hannoͤveri⸗ 
fchen Verfaffungsfache vom 26. Februar 1.3. flaatögefährliche, mit der 
Aufrechthaltung der bürgerlichen Ordnung unverträgliche Grundſaͤtze 
vertheidigt, fo wird der weitere Debit und jede Wiederauflage diefes 
Gutachtens unterfagt und werden bie Regierungen erfucht, die Be 
fchlagnahme ber etwa in den Buchhandlungen nody vorräthigen Exem⸗ 
plare zu verfügen.” 

2) „Die Großherz. Weimarifche Regierung iſt zu veranlaffen, wegen des 
zu Jena flattgefundenen Druds diefer Schrift das Geeignete und ben 
Bunbesgefegen Entfprechende zu verfügen.“ 

3) „Der K. Würtembergifchen Regierung wird die vertrauensvolle Erwar⸗ 
tung ausgeſprochen, dieſelbe werde hinſichtlich derjenigen Profefforen 
der Tübinger Juriftenfacultät, welche am befagten Gutachten Theil 


*) Auch die neue Verfaſſung erklärte das Publicationspatent vom 1. Aug. 
ehr Pr der Eingang ald buch Bertrag mit ben Gtänden zu Gtande 


786 Hannover, 

genommen, bie Beftimmungen des Bundesbeſchluſſes vom 20. CL 

1819 in nähere Erwägung ziehen und nach Befund der Umſtaͤnde iv 

wohl hierwegen als wegen der gegen ben König von Hannover im junm 

Reditsautachten vorkommenden perfönlihen Werlegungen gegen ih 

Strafwürdigen das Erforderliche verfügen.‘ 

4) „Binfichtlich des megen Mechtsgutachten über Fragen, melde fi 
BDerfaffung des Bundes oder einzelner Bundes ſtaaten betreffen, ü 
$. 205 des diesjährigen Protokolls geftellten Antrages (ibees Verben 
wird ben noch vorbehaltenen Erklärungen entgegengefehen.” | 
Es iſt wohl teicht erklärlich, warum dieſer Befchtuß die Fchmerzlicien 

Eindrüde machte. 

Man verglid, die Entſcheidung über bie Befchwerden zum Schus In 
Verfaffungsrechte des hanndverifchen Volkes mit derjenigen über bie Bo 
ſchwerbde des Herrſchers. 

Man erwog, daß ſelbſt in den umfangreichen, für die deutſche Natim 
fo ſchmerzlichen Ausnahmsgefegen des Bundes über die Preffe eine Begrin 
dung der hier gegen eine mehr als zwanzig Bogen ſtarke Druckſchrift, zue 
ein officielles Butachten eines deutſchen Spruchcollegiums gefaßten Befalifi 
nicht Dargeboten fei. 

Man erwog ferner, wie man mit Zuftimmung der Meichsgefege It 
in Deutfchland,, wie man nody zur Zeit ber Begründung des Bunde hi 
Actenverſendung und Einholung der Rechtsgutachten von Juriſtenfacultin 
als eine Wohlthat für die bürgerliche Freiheit, als ein Schugmittel für Ki 
Öffentliche Gerechtigkeit begünftigte, und daß auch nur in diefem Ein 
der Artikel 12 der Bundesacte, woran man fpäter das direct Eintgegengefas 
anfnüpfte, gegeben worden war. 

Man ermwog die traurigen und bebenflihen Folgen, die es für cm 
Nation haben muß, wenn die Macht bei jedem ihr etwa mißfälligen ein: 
nen Gebrauch mohlthätiger allgemeiner verfaffungsmäßiger Einrichtunin 
und Rechte ohne Weiteres diefe wohlthätigen verfaſſungsmaͤßigen Eintich 
tungen und Rechte felbft aufheben will und aufheben kann. 

Man erwog endlich, daß naͤchſt der bis zur Auflöfung des Reiches aud 
in Deutfchland beftandenen vollfommenen Unabhängigkeit der Juſtiz durd 
Inamovibilität der Richter die gleiche Selbftftändigkeit der Univerſitaͤten und 
Profefforen den wohlthätigften Einfluß für die Rechtsſicherung, für den Di 
terlandsftolz und auch für die Sicherung der Regierungsrechte hatte, di} 
aber mit der entzogenen Unabhängigkeit, mit der willfürlihen Abſetzbatken 
oder auch nur Verſetzbarkeit das Öffentliche Vertrauen und die Achtung für 
Ausfprüche der Gelehrten wie der Richter täglich) mehr [hmwinden. Die are 
ftoßratifche Reaction vernichtet hier gerade die wohlthätigften ariftofre: 
tifchen Gegenwirkungen gegen zerftörende Volks- und Regierungswillkuͤt. 

Die wiürtembergifhe Regierung indeß muß wohl dieſen oder ähnlichen 
Erwäyungen Gehör gegeben und aud Lie im Zübinger Rechlsgutachten auf 
geführten Rechtsanfichten, die nicht blos nad) dem englifhen Staatstecht, 
fondern auch aus den deutfchen Reiche: und Landesgrundverträgen, aus den 
Entfcheidungen der Reichegerichte und durch bewährte deutſche Staatsrechts 


N 


Hannover. 7337 
lehrer begruͤndet wurden, nicht fuͤr ſtaatsgefaͤhtlich erachtet haben, denn ſo⸗ 
viel bekannt iſt, hat ſie gegen die Mitglieder der Tuͤbinger Juriſtenfacultaͤt 
und ihr Gutachten nie das mindefte Unangenehme verhängt. 

Wohl wird eine Zeit kommen, in welcher auch in Deutfdyland die Ans 
erfennung neu fiegt, daß wahre moralifche Adıtung der Regierungsredhte 
ganz unmöglich iſt ohne Heiligkeit dev Volks⸗, der Freiheits⸗ und Vers 
faffungsrechte. Alle treuen Freunde der Regierungen aber müffen dringend 
wünfchen, daß fie bald komme, ehe die falfchen Freunde und Rathgeber 
bie mohlthätige unentbehrliche moralifche Achtung und Liebe für die Regie⸗ 
rungen zu tief erfchüttern. 

An diefer Erfchütterung wird jegt täglich gearbeitet — es iſt eine Treu⸗ 
pflicht, dieſes nirgends zu verfchtoeigen — es wird, mie auch die hannoͤveri⸗ 
fhen Gefchichten es zeigten, daran gearbeitet durch thatfächliche Mißachtung 
der Ehre und ber Rechte der deutfchen Nation und vieleicht noch mehr durch 
eine immer mehr erkannte und immer mehr verhaßte oͤffentliche Wahrheits⸗ 
verfaͤlſchung. Wir meinen aber hier zunaͤchſt nicht ſelbſt die Senfur, unter 
deren Einwirkung freilich jene öffentliche beleidigende Unmahrheit ebenfo wie 
die thatfächlichen Rechtsverlegungen nur allein möglich find. 

Was wir hier zunächft meinen, das find jene urfprünglicd) von einigen 
fanatifchen Freiheitsfeinden ausgegangenen , ſeitdem faft privilegirten Ber: 
fälfhungen der gefchichtlichen Mechtsverhältniffe unferer Nation, worauf 
man nun fedlich ein Syſtem unferes Rechtszuftandes erbaut, das une allen 
freien Völkern der Erde meit nachſetzt, das der Ehre, den Wünfchen und 
Bebürfniffen und ben unzerftörbaren Rechten unfers Volkes ebenfo wie dem 
wahren hifterifchen Rechte gänzlich widerfpricht. Faſt zu deren Ver: 
hoͤhnung predigt man kecklich unumfchränktes göttliches monarchiſches Recht 
und eine bie Selbftfucht und Enftenmäßige Abfonderung ariftofratifcher Stände 
zum neuen Unglüd des Vaterlandes herausfordernde Mepräfentation bios 
dieſer Stände und Ihres Eigennuges ftatt wahrer ſtaatsbuͤrgerlicher Repraͤ⸗ 
fentation der Ehre und des Wohls, des Rechts und der Einheit des Volks. 
Man predigt diefe und andere Abgeſchmacktheiten, zu welchen in foldyer 
craſſen Geſtalt auch die allerroheſten Zelten bes Kauftrechts und der Vorberels 
tung der Schlachten von Aufterlip und Jena und aller furchtbaren 
Schmach und Gefahr des Vaterlandes ſich nicht bekennen mochten (f; Deut: 
ſches Landesftaatsreht und Grundgefeg). Was, ummit He: 
gel zu reden, „bie abfolute Gedankenloſigkeit“ eines Haller 
in dicken Büchern vor der Welt allen Sachkundigen und Verftändigen zum 
Spott, mas bie beruͤckende Schlauhelt eines Hrn. v. Seng im geheimen 
Dipfomatenkreifen enthalten, es bat mehr, als man je fir möglich gehal: 
ten, in manchen höheren Regionen und unbewachten Köpfen Wurzel ge 
f&lagen. Die Öffentliche Wahrheitsunterdruͤckung aber bat manche Maͤch⸗ 
tige verhindert, die Laͤcherlichkeit und die Verberblichkeit der ernftlichen Anwen» 
dung folder Erfindungen auf die wirklichen Staatsverhältniffe einer achtbaren 
Nation zu erkennen. 

Diefe in ihren gedrüdten Verhaͤltniſſen ſprach bis jet nicht deutlich 
genug ihren Mißmuth aus. Diefer tiefe Mißmuth aber waͤchſt taͤglich mehr 

Suppl. 3. Staatsier. II. Ai 





Deffentlichkeit ihrer Verhandlungen erbeten. Aber fie wurden 
Zeitungsberichte, abſchlaͤglich befchieden, „weil Deffentlichkei 
quifit conftitutioneller, nicht aber deutfcher, nur mit landſt 
fafjungen verfehener Bundesſtaaten anzufehen fei’‘ *). 

Mas mochten nun wohl die Rathgeber bei der Angab 
Srundes ſich denfen? Die conftitutionellen Verfaſſungen al 
päifchen Völker find nad) der Anerkennung aller Sachkundi 
des Montesquicu die den heutigen Gefellfchaftes und € 
niffen entſprechenden Ausbildungen unſeres äht deutfi 
Wodurch follen nun Verfaffungen beutfher Bundes ſta 
denfelben unterfcheiden? Doch wohl nicht dadurch, Daß bei. 
red ſtaatliches Gemeinweſen und Bein berechtigted Volk er 
Mechte durch bie Stände vertreten würden, fondern, nach Hri 
u. Hrn. v. Beng, nur ein fauftrechtlicher Haufe einzelner Fer 
ſtaͤndiſcher Kaften mit bloßen Privatvortheilsrehten und ange: 
feibft , ihren Eigennus und Eigendünfel zu vertreten, keines 
Vaterland und deffen Ueberzeugungen von feinen Rechten und ! 
Sollen wir denn wirklich die baare hiftorifche Lüge glauben, au 
beren beutfchen Reiches und Landſtaͤnde hätten jemals zu fo 
Umkehrung der beutfchen Verfafiungsrechte ſich bekennen n 
follten wir biefelbe heute neu einführen? Nicht als befond« 
Stänbe, fondern als bie damaligen alleinigen reihsunn 
und landesunmittelbaren Bürgerclaffen des Mei 
des Landesſtaates fegten fie die alten Reiche: und Landtage, 
Landesgemeindeverfammlungen fort und vertraten mit des 
terlandes Wohl und Recht auch Wohl und Recht ihrer 
Schüglinge. Und jest, da diefe ehemaligen Schüglinge mit 


Hannover. | 739 


Deffentlichkeit der Verhandlungen diefer Vertreter aber ift doch wohl 
ein wahres Recht ihrer Wähler und der Volksgeſammtheit. Sie ift wohl 
ſchon nöthig, damit die Wahlen heflfam und verftändig ausfallen Finnen. 
Sie ift unentbehrlich, damit die Gemählten in beftändiger lebendiger Verbin: 
dung mit ben repräfentirten Mitbuͤrgern, mit ihren fittlichen und rechtlichen 
und politifchen Ueberzeugungen, Bedürfniffen und Wünfchen bleiben, da» 
mit fie ehrlich und heilfam für des Vaterlandes Wohl und Recht wirken, ba: 
mit en Eräftiger Gemeingeiſt, ein Eräftiges organifches Gemein⸗ 
weſen, ein Eräftiges Volt und ein mächtiger Thron fich bilden. Es muß zu» 
gleich mit dem Dunkel ber Heimlichkeit der ſtaͤndiſchen Verhandlungen eine 
der Hauptgefahren befeitigt werden, daß unfer beutfches Ständemefen aber: 
mals nah Schloͤzer's Worten in feige und felbftfüchtige Randesverräthe: 
FH übergehen und abermals das Vaterland in Schmach und Elend ftürzen 

nnte. 

Aber nicht blos für Werfchlechterung der Stände wirkt allzu leicht bie 
Heimlichkeit. Auch die Miniſter verbeffert eine wahrhafte öffentliche ftändifche 
Berfaffung und Verhandlung. Sie allein fichert erſt die Wahl der beften und 
tüchtigften Miniſter, mie diefes oben ausgeführt wurde. (S. Brundgefes 
VIH.) Sie begründet zugleich die unentbehrlichfle und weſentlichſte Verant⸗ 
mortlichkeit, die vor dem Richterſtuhl der Öffentlichen Meinung der Nation 
und der Welt, biefer Öffentlichen Meinung, die doch wohl nur Thoren gering 
ſchaͤtzen koͤnnen. Freilich auch die Minifterverantwortlichkeit ſcheuen Manche 
und auch die Gruͤnder des neuen hannoͤveriſchen Verfaſſungsentwurfes. Ge: 
ſchaͤhe dieſes zur Rettung jenes falfchen göttlichen unbefchräntten ober des⸗ 
potifchen monarchiſchen Rechts, oder aus Scheu vor ber wahren zeitgemäßen 
tepräfentativen Verfaſſung, fo mollen wir die Beſtreitung diefer irrigen 
Grundlage hier nicht wiederholen. (5. Grundgefes.) 

Das aber wollen wir bemerken, daß es fürs Erſte ein großer Irrthum iſt, 
wenn man glaubt, die Verantwortlichkeit bee Miniſter finde nicht In jedem 
rechtlichen Zuſtand eines irgend freien aufgeklärten gefitteten Volkes aud) ohne 
fpecielle Beftimmungen ftatt. Sobald die Miniſter irgend reshtöverlegende, 
verbrecherifche, landesverderbliche Regierungsſyſteme und Handlungen des 
Fuͤrſten ausführen, ja fo lange fie bei ſolchen Minifter bleiben und ſich alfo 
nicht von dee Schuld reinigen, den Fuͤrſten mittelbar ober unmittelbar durch 
ihren Rath oder ihr Schweigen zu denfelben verführt oder doch in ihnen unter: 
fügt zu haben und deren Kortdauer noch zu unterflügen — fo lange find fie 
vor dem Richterſtuhl der Hffentlichen Meinung verantwortlich, und Eein polis 
tifch einfichtiges fittliches Volk befreit die Verantwortlichen von der Strafe 
des Öffentlichen Vorwurfes, der Verachtung oder des Abfcheues, wenn fie, bie 
es wiffen müffen, daß das Unrecht des Fuͤrſten aufhört, wenn er keine Mini: 
fer findet, unter dem Vorwand, ihr unfittliches Bleiben fei heilfam, bie 
BVortheile der Stelle fich zu erhalten fuchen. Ja die Minifter innen aud) 
sechtlich vor Gericht als Miturheber, Gehilfen und Begünftiger beſtraft mer: 
ben. Wenn der Despotismus diefes factifch verhindert, fo ift dieſes ebenfo bei 
anderen Verbrechen der Fall. Mit dem Sturz ber bespotifchen Allmacht 

47 


a 
40 Hegel (Neuhegelianer). 
— — 











—— * 


rechtigkeit nicht blos die Bürger und den rar —* 
auch den Thron, den Ruhm und bie Sicherheit, * Hett 
ſchaft fuͤr ſich und ihre Familie. Sie gefährden fie ungleich md 
old durch die zeitgemäße Wiederherftellung der Volksrechte, deren Berne | 
gerung man fo rechtsungültig als verkehrt durch die Vorſchuͤtzung angrbüd 

Rechte ber Familie begründen will. 


Gewarnt wahrlich wurden wir durch eigene und fremde Gefhide 
ſchrecklich genug! MWerden wir nun nicht endlich ehrlich huldigen der Gert 
tigkeit, der wahren Öffentlichen Gerechtigkeit umferer Nation, ftatt jmn 
verkehrten Theorien, die ja der gefunde Volksverſtand bereits ala vräkt 
liche Erfindungen ber Rüge und uͤbermuͤthiger Willkuͤr, als Taͤuſchungt 
und Berüdungsmittel ſchwacher Fuͤrſten und Voͤlker erfannt hat? 

E. Welcker. 

Hegel. Neuhegelianer oder die neueſten Entwidelur | 
gender Degel’fhen Philofophie und Schule in ihren Bein 
hbungen zu dem Öffentlihen Leben der Gegenwart fait m 
legtverfloffenen fieben oder acht Jahren. An ſich betrachtet ein geringfüs 
ger Zeitraum ; aber diefer Zeitraum erfcheint in mehrfacher Hinſicht als dr 
fonders wichtig und folgenreich. Kinerfeits gehören demfelben mehrere Erz | 
niffe an, mweldye auf das unmittelbare Verhältniß jener Schule zum mit 
lichen Feben Bezug haben und durch ben Zufammenftoß bes Hegelianism | 
mit jenem die praftifche Untauglichkeit oder Unanwendbarkeit veffelben fr 
eine genuͤgende Löfung der verfchiebenen Probleme unferer Zeit — namentlit 





— 


- 


Hegel (Neuhegelianer). 741 


ber fo bedeutend in den Vordergrund getretenen religioͤſen und kirchli⸗ 
ch en Tagesfragen — viel eindringender, als es durch irgend welche theoretiſche 
Polemik moͤglich geweſen waͤre, gezeigt haben; daher denn auch dieſe Phi⸗ 
loſophie und Schule zu der oͤffentlichen Meinung ſeitdem in «in gang 
andere® Verhaͤltniß getreten if. — Andererfeits fällt in jene Periode das 
für Preußen und fomit für Deutfchland fo bedeutungsvolle Jahr 1840, von 
welchem an aud) die äußere Stellung jener Philofophie zu dem genannten 
Staate eine durchaus veränderte ward, indem diefelbe mit dem in immer groͤ⸗ 
ßerer Entſchiedenheit hervortretenden, fchon früher erwähnten Verſuche, „fich 
mehr herabzuſenken in die concreten Sphären des Lebens und die abfolute 
Idee zur praftifhen Macht zu erheben”, fo völlig fcheiterte, daß fie, 
die nur eben erſt ale fogenannte koͤniglich preußifche Hof» und Staatsphilos 
ſophie bominirt hatte, plöglich zur ecclesia pressa herabfant und das Schick⸗ 
fal der Hekuba erlitt !). Zugleich-ift jedoch dieſer Umſchwung ober die Reac⸗ 
tion gegen biefelbe von der Art, daß auch der fonft entfchiedenfte Gegner ders 
felben nicht umhin kann, im Intereſſe der höher flehenden und allgemeinen 
hierbei in Stage kommenden Grumdfäge, namentlich der Preß⸗ und alas 
demifchen Lehrfreiheit, diefer jegt unterdrüdten Schule, in ſoweit 
das Recht auf ihrer Seite ift, eben fo entfchieden fi) anzunehmen. Uebri⸗ 
gens handelt es ſich bier überhaupt nicht um Einzelheiten und Perfönlichkei: 
tm, fondern vorzugsweife eben um bie Principien und deren nothwen⸗ 
dige Confequenzen; und von biefem Standpunkt aus betrachtet möchte 
es Baum je einen Zeitraum gegeben haben, in welchem für irgend eine philofos 


‚ phifche Lehre eine entſchiedenere und rüdfichtslojere Darlegung der erfleren 


und eine folgenreichere und rafchere Entwickelung der legteren flattgefunden, 
als in dem genannten ber Fall gerosfen, der eben deshalb als einer ber lehrreich⸗ 
ften bezeichnet werden muß. | 

Es tritt dies fofort hervor bei dem der Zelt nach erften bedeutenden 
Ereigniß diefer Epoche, welches fogar in gewiſſer Hinficht feiner politifchen 
Folgen wegen ein welthiftorifches genannt werben kann — ber Bes 
ufung des Dr. David Strauß als Profeſſor der Dogmatik auf die Hoch⸗ 
fchule von Zuͤrich und ihren Antecedentien und Zolgen; ein Ereigniß, zu 
welchen die neuefte Gefchichte in der Zeller’fchen Angelegenheit in Bern 
einen merkwuͤrdigen, ebenfalls noch zu befprechenben Pendant geliefert hat. 

Daß das Merk von Strauß „dans Leben Jeſu“ durchaus aus der 
Hegel'ſchen Philofophie hervorgegangen, if ſchon früher nachgemwiefen, auch 
von Strauß felbft (in feinen theol. Streitfchriften Heft III.) ganz offen zu⸗ 
geſtanden worben ; baher denn auch eine ziemliche Anzahl namhafter Hegelia- 
ner ganz offen für Strauß Partei genommen hat, wogegen ſich nataͤrlich 
an und für ſich nichts einwenden läßt. Ebenfo bekannt und evident iſt aber, 
dag die Strauß'ſchen Anfichten im ſchroffſten Widerfpruch mit den Lehren 
der hriftlichen Kirche ſtehen, ja diefe legtere geradezu negiren 2). Auch hat 


1) „Modo maxima rerum, tot generis natisque potens — nunc trahor 
exul, inops !“ " Ovid. 
2) So Prof. Michelet im 2. Bande feiner Gefchichte der letzten Syſteme 


| 
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M-ν HYUSL BUUJERLEINY) FTETUJTETIERL [EREE IYULUT» 


In Zürich dagegen hatte es die nach der Julirevolution und 
bildungen in der Schweiz zur Regierung gelangte liberale (oder vi 
cale) Partei für ihre Zwecke entfprechend gefunden, den Dr. Sti 
von ihr im Jahr 1832 geftiftete Dochfchule zu berufen. Manı 
ben, daß die Tendenz diefer Regierung, welche fehr ausgezeichnet 
in ihrem Schooße hatte (namentlidy den berühmten Rechtsgelehrt 
einen der bedeutendften Schuler des Herrn v. Suvigny unb 
des Legtern Lehrftuhl inne habend), im Allgemeinen eine lobens 
die Hebung des Volkes in geiftiger Beziehung gerichtete war, dal 
die Mechtepflege und das Volksſchulweſen (erftere duch Kell 
ducd Scherr) fehr heilfame Reformen erhielten. Aber nicht mı 
ift, daß dieſe Regierung fid) in den Mitteln und Wegen durchaus ı 
mentlich in Bezug auf die Strauß’fche Vocation, und zwar eben d 
fie dabei jene oben ſchon erwähnten falſchen politifchen und fla« 
Princhpien in Bezug auf das gegenfeitige Verhältnig von Sta 
und Univerfitdt praktiſch geltend machte, welche nach der H 


der Philofophie, wobei zugleich bie Hegelianer Roſenkranz, Bat 
Benary ale Anhänger Strauß’d genannt wurden. (Mergl. die ! 
von Kahnis inber Schrift: Dr. Ruge und Hegel, 1838, &. 99 ı 
clarationen Michelet’s , „ber genau fo, wie wenn Straßenbube: 
gelei arrangiren wollen, Roſenkranz zuruft: Ber zu mir! un 
Du haft Dich zu mir gehalten, ich will mich auch zu Dir balten 
bat Dr. Meven in feiner Streitfchrift gegen H. 2eo ©. 37 wor 
„Ich billige Strauß vollflommen und halte feine Zendenz vollkom 
lang mit Hegel.” Diefer Dr. Menen ift bekanntlich erſt vor K 
Maieftätsbelcidigung auf bloßes fubjectives Meinen tändiger R 


Hegel (Neuhegelianer). 743° 


den Staat vergötternden Philoſophie allerdings die allein richtigen find, obwohl 
fie ale grundfalfch bezeichnet werden müffen. | 

Es ift ſchon früher darauf hingewieſen worden, daß biefe Philofophie, 
ſowie diefelbe das Weſen der Religion und namentlich bes Chriftenthums 
durchaus verfennt (was auch kuͤrzlich erſt in der trefflichen Schrift: der deut⸗ 
fche Proteftantiemus, feine Vergangenheit und feine heutigen Lebensfragen 
u. f. w. nachgewieſen ward)*), fo auch das Wefen der Kirche und das 
Verhaͤltniß berfelben zum Staate und Volksleben ganz falfch auffaßt. Statt 
einzufehen, was body als Thatſache der Geſchichte vorliegt, daß die Kirche eine 
in der Natur des Menfchengeiftes mit berfelben Nothwendigkeit wie die Fa⸗ 
milie und der Staat 'gegründete , namentlid) keineswegs erft durch den Staat 
geftiftete und ihrer Natur nach eine Autonomie in Ihren inneren Angelegen- 
heiten mit Recht anfprechende Gefellfchaft ift*) und daß dies Alles vorzugs⸗ 
weife von der hriftlichen Kirche gilt, die viele Jahrhunderte Älter als je⸗ 
der der heutigen Staaten ift und deren Verfaffung während bes ganzen Mittels 
alters als Typus der damaligen politifchen nachgebildet ward) — wird 
diefe Kirche von dem Hegelianismus ganz en bagatelle, al& eine bloße unter: 
geordnete Staatsanftalt, kurz à la Napoleon behandelt, — man kennt 
ja das Napoleon’fche Prineip, nach welchem „bie Erziehung in der Hand 
des Staats und für den Staat, die Kirche in der Hand des Staats und für 
den Staat’) und ebenfo „auch die Wiſſenſchaft wie die Kirche es ſich 
gefallen laſſen muß, in das Syſtem bes Staats verflochten und * deſſen 
Zwecke, ſelbige moͤgen geiſtig oder leiblich, himmliſch oder irdiſch ſein, henutzt 
zu werden“7). Nach dieſem Princip nun verfuhr die Zuͤricher Regierung, 
indem ſie die bisherigen hoͤhern Lehranſtalten ſaͤmmtlich aufhob, namentlich 
auch das Chorherrenſtift zum großen Muͤnſter, welches ſeit mehr als tauſend 
Jahren beſtand (Kari der Große fand es mit einem Beſtand von 12 
Chorbrädern vor, verboppelte deren Zahl und erweiterte die Beflgung diefes 
älteften Denkmals der Cultur in der Schweiz bedeutend, daher bie damit 
verbundene Gelehrtenfchule ihm zu Ehren Schola Carolina genannt ward). 
Dies Chorherrenftift, von welchem im Fahr 1921 die Majorität feiner Glieder 
fich für die Reformation erklaͤrt und diefe legtere fehr gefördert hatte, deſſen 


3) Von einem proteft. Theologen (bem freifinnigen Prof. Hundesha⸗ 
gen da en der jetzt nad Heidelberg berufen worden). Frankfurt 1847. 


4) Pfizer, Gedanken uͤber Recht, Staat und Kirche. I. S.5 ff. Schmitt: 

henner, Zwölf Buͤch. v. Staat. I. ©. 2. 320 ff. J. Schön, d. Staats: 
wiſſ. S. 10 ff. 229. 242 (ed. 2). Dahlmann, Polit. S. 310 ff. 

5) Wachsmuth, Europ. Sittengefh. I. S. 189 ff. 

6) Seidenftider, Krit. Literatur des Napol. Rechte. I. S. 155. 

7) Daf. &. 321. — (Man vergl. damit bie eigenen Aeußerungen Napo⸗ 
leon’s über Einrichtung und Disciplin der Univerfität in ben 1833 bei F. 
Dibot zu Paris erfchienenen Opinions de Napoleon sur divers sujets de po- 
‚Jitique et l’administration etc., die wir im Auszuge in Bran’s Minerva 
1833, Juni, &. +17 mitgetheitt haben.) Vergl. auch ben Artikel Gallicanifche 
Ku und Welder’s Rechts-, St.= u. Geſ.-Lehre T. ©. 366 ff. ; vgl. 





jene :Oerujuug AU hinoern ” ); vergedens HALLE AUG) DIe THE OLOG 
der Univerfitdt Zürich felbft proteſtirt 1%)! Die Regierung bı 
berfelben. Dir Bürgermeifler M. Dirzel (ein übrigens | 
werther Dann) erklärte diefe Berufung „für eine wahre We 
(angeblich) völlig fintiondr gewordene reformirte Kirche‘, | 
(Hirzel) nad) der ſtrengſten Prüfung davon überzeugt fei, daß 
ſicht mit dem Chriftentyum nicht in Widerfprudy ſtehe, wi 
Strauß als den Prediger des Geiſtesglaubens dem große 
Ulrich Zwingli ganz gleidy ftellte !! — Wir feben alfo 

fo entſchieden undhriftliche und unproteflantifhe oder Napo. 
Hegel'ſche Bevormundungsprincip, welches die Kirc 
Magd des Staates macht und zwar noch dazu in einer conftit 
Republik fid geltend gemacht! Man wird hierbei ganz um ei 
hunderte in jene traurige Zeit zurüdverfest, wo fogar Philofoph: 
noza 11) und Hobbes!?), lehrten, daß die Religion nur durch den 
Obrigkeit fanctionirt werde, legtere nah) ihrem Gutduͤnl 
Schrift auszulegen und ben Unterthanen den ganzen Gottesdier 
ben das Recht habe; oder in die Zeiten der weftphälifchen Friebe: 
gen, wo proteftantifche Fuͤrſten es für „unmiderfprechlicy‘‘ er 
einem jeden Reichsſtande freis und bevorftehe, feine von G 
vertrauten Unterthanen, ohne einiges Abfehen, auf ebe: 
in welhem er vor feine ſelbſteigne Perfon die Seligkeit zu 
getraue, zuleigen und zu führen, zumal fich nichts meh 


8) Sechszehn diefer Schriften finden fih in der Hall. Allg. € 
Auguftheft —— By. auch bie Deutfche Allg. Zeit. 1832. Str, 


Beriüinninen 1439 — Hl Baranf anartranen mar Hark 


4— 
Hegel (Neuhegelianer). 745 


daß der Unterthban feiner Obrigkeit und feinem Herren folge 
und feine Religion amplectire”, wie ein Reichsſtand damals behauptete "I! ! 


Es handelt fich hierbei, wie ſchon angedeutet, um das Princip! Ge: 
fieht man einmal, nad) Hegel’fhen Grundfägen, der Staatsgewalt das 
Recht zu, nad) ihrem fubiectiven Gutdünfen der theologiſchen Facultät, 
weiche die religiöfen Volkslehrer zu bilden hat, folche Lehrer aufzudrin⸗ 
gen, welche die vom Gouvernement beliebte ſogenannte Aufklaͤrung pro 
pagiren follen,, während fie not oriſch die Baſis des Kirchenglaubens unter» 
minirt baben,, fo muß man dann aud) confequenter Weife im entgegengefeg- 
ten Falle, wenn die Regierung etwa a la Wöllner den orthoboreften Ob⸗ 
ſcurantismus gelehrt und verbreitet wiſſen will, ihr ganz diefelbe Befugniß 
einräumen. Ganz abgefehen davon, daß die Hirzel’fche Anficht in Bezug 
auf die angebliche Vereinbarkeit ber Strauß'ſchen Auffaffung des Chri⸗ 
ſtenthums mit dee chriſtlichen Kirchenlehre eine offenbar irrige war 1%), Liegt, 
wie ſchon angebeutet, der Dauptfehler darin, daß bie Züricher Regierung ale 
eine weltliche Behörde eine Machtvollkommenheit, die ihr in diefen Ge: 
bieten gar nicht gebührt, geltend gemacht 1°), das ganze Verhältniß der Uni: 
verfität zur Kirche und zum Staat unrichtig gefaßt und das Eigenthümliche 
der thbeologifchen Facultät, welche grundweſentlich und zumächfider Kirche 
angehört 10), ganz ignorirt hat, ein Punkt, auf welchen wir bei ber Befpre: 
hung des Bruno Bauer’fhen Falls noch näher zuruͤckkommen merden. 
Was Krug in Bezug auf das Verhaͤltniß des Staatsoberhauptes zur Kirche 
fagt 7), daß ein Regent als ſolcher in disfer Hinficht nichts iſt als ein bloßer 
Late, gilt ganz ſo in Bezug auf die Wiffenfchaft, in deren Gebiet er als Regent 
fo wenig eine Stimme hat als jeder andere Idiot!s). Seine fubjective 
Anficht darf weber in dem einen noch in dem andern Fall ſich als maßgebende 





13) Bl. Feuerbach, Die Längft entfchiebene Baage über d. ob. Episko⸗ 
palrccht. 1823. ©. 55. Deffen Kleine Schriften. 1833. II. &. 29. 

14) Dr. Str. hat betanntlic einige Jahre fpäter felber eine „Chriftiiche 
Glaubenslehre“ herausgegeben, in Bezug auf deren Darmonie mit dem 
N man nur an ben darin auf das Entfchiebenfte ausgefprochenen und 

gehaltenen Gegenſatz zu erinnern braucht zwifchen den ‚Stäubigen“ und 
den „Wiffenden”, weiche die „Sache der Kinder am Geifte”, den Glaus 
ben.von ſich gethan und benen ber Dualismus, den das Chriftentyum zwifchen 
Welt und Gott, bem Dieffeits und Jenſeits anerkennt, eine Thorbeit (I. 
22. 355). Eben bafeibft (677) wird gelehrt, die Menfchen wären cben aud) 
nur wie bie andern Zhiere, Pflanzen 2c. aus der Erde bervorgewadfen, fo wie 
auch (Vorw. VI) jebe andere Weltanfiht als diefe autotheiftifche ald Hetero⸗ 
nomie, Unpbilofophie bezeichnet wird. 
.. 19 „Der Staat, fo hoch er ftcht, bat nicht allein die Gewalt; durch 
ihn geht eine Ratur der Dinge, bie er zuvor anerkennen muß, bamit fie ihm 
bebingt bienes cr kann meiftern an ber Äußerfi Bewegung und Darftellun 
ber Wiffenfchaft, ohne ihren Inbatt abändern zu können; vor Allem if 
die Religion dem Staate überlegen.” Dablmann, Polit. S. 310. 

‚16) Shleicrmader, Weber Univerfit. S. 73. Deffen Reben üb. d. 
Relig. ©. 241. (ed. 4. Anm. 22 zur 4. Rede.) 

. I7) Kicheneeht S. 145. 

18) Bol. Scheidler, Die Idee der Univerfit. S. 100, 


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Andenken an jenes herrliche „altfrisifche” diectum classicu 
legenheit aufzufriſchen, wie dieß bekanntlich erfl vor Kurzen 
befprochenen trefflihen akademiſchen Rede des Deren von R 
Fall getvejen ift??). 


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19) Andre&’s Hesperus 1829. Nr. 15. ©. 60. 

20) Ih. I. Zit. II. $. 1 ff. 5. 55. 73. ff 

21) Vgl. Bretfchneider's Sendfchreiben an einen Staa 
1. ©. 7. Bran’s Minerva 1835. April. ©. 72. 

22) Bol. Deutfche Allg. Zeit. Nr. 32. v. 1. Febr. 1847. $ 


3) Diefe Rede (in Leipzig bei Brodhaus bef. cerfchienen) 
nach Inhalt noch in ihrer Form etwas irgend Verwerfliches. 
dic große Wahrheit, dab das Staatsoberhaupt fih durchau 
Religionsangelegenbeiten des Volkes cinmifchen fol, und fagt, dc 
zufolge von den Goncilien und Synobden einer befangenen Geift 
gensreichen Wirkungen zu erivarten find. Daß die fogenannte „,| 
diefe Rede fofort als cinen verftedten haͤmiſchen Zadel befanntı 
Bifcher Regierungsmaßregeln deutete, Tann Hrn. v. R. unmöglich 
fendern etwa nur Denen, welche durch Aufrechterhaltung ber Cenſi 
find, daß es eine „ſchlechte“ Preffe giebt, weil die Guten und 
aus Ekel vor der Bevormundung zurüdzichen. Dies bat Arndt 
feinee Schriften für und an feine licben Deutfchen ©. 628 ff. | 
gewiefen, und fehon vor 40 Jahren Hr. v. Gens in feinem meltb 
fhrciben an den verftorbenen König von Preußen (worin es I 
beißt : „bie einzige heutzutage erlaubte Schmeichelei gegen einen 
daß man ihn für würdig halte, die Wahrheit zu vernehmen‘ 
Entfchuldigungsfchreiben der Berliner Akademie (ſ. Deutfche A 
Nr. 63. vergl. Nr. 93) ift von der gefammten deutſchen Preffe 
des Rhein. Beobachters, der die Unverfhämtheit gehabt bat, 
einen „Gaſſenbubenſtreich“ [gaminade] zu nennen ıveral. We— 


Hegel (Neuhegelianer). 747 


Allerdings wird Niemand das Recht der Regierung in Abrebe ftellen, 
durch Sorge für die Verbreitung der wiffenfhaftlihen Bildung in- 
direct auch die rel igioͤſe Aufklärung des Volkes zu fördern, wovon die 
guten Wirkungen fi unzweideutig in ber Gefchichte gezeigt haben 29; allein 
legtered war nur da der Fall, mo die Regierung ber ſtillwirkenden Macht der 


nicht zu entfchulbigen babe). — Wie oft find fchon feit Sarl von Moſer's 
und? Schloͤzer's Zeiten bie Klagen über die „deutſche Hundsdemuth““ und 
die „Staatslakaiengefinnung” unferer Gelchrtenwelt ertönt! welche Ichtere das 
Ihrige dazu beiträgt, uns Deutfche im Auslande noch mehr, als wir es feit den 
Garlshaber Beſchluͤſſen (welche W. von Humboldt, f. Schlefier’s Bios 
graphie U. &. 391, für „Fhändlih, unnational, ein dentendes Bolt 
aufregend “ erklärte) ohnehin fchon find, verächtlich zu machen (vergl. Welcder, 
die Vervolltommnung der organ. Entwickelung des beutfchen Bundes 1831 ©. 51). 
Da dies leidige Ereigniß mit der Verbffentlichung des Patents v. 3. Febr. 
coincidirte, fo würde dies ein fhlimmes Omen für die Entwidelung bed con⸗ 
ftitutionellen Geiſtes und Lebens in Preußen fein, wenn niht Dahl mann's 
Wort tröftete: „Bei allen Völkern, die es zu etwas Großem in der Welt ge⸗ 
bracht, hat man nicht die Gelehrten zuerſt genannt, ſondern Diejenigen, die ein 
reiches Wiffen und vaterlänbifhe Tugenden ausprägten” (f. Dahl: 
mann’s erften Vortr. in Bonn 1842). Die deutfchefte Tugend ift aber freie 
WBahrheitsliche und freies Ausſprechen berfelben (mie ſchon uns. 
fere Sprache felbft in dem Ausdrude anbeutet: deutfch mit Einem reden), 
der „Männertrog vor Königsthronen, von bem ein Luther, 
Thomas Mofer, Schlözer, Fichte u. A. befeelt waren, und ber Gott⸗ 
lob! auch jetzt noch nicht in unferer (nicht:preußifchen) Gelehrtenwelt Yu 
ausgeftorben ift, obwohl man faft feit einem Menfchenalter eifrigft darauf hin⸗ 
gearbeitet hat. Auch in dem preußifhen Bolke ift_ derfelbe keineswegs ver⸗ 
fhwunden, das haben die preußifchen und rheinifchen Stände, die (jest freilich 
verbotenen) Bürgerverfammlungen, die Weigerung mehrerer Städte, die uerleb- 
ten Provinzlallandtage zu befchicten, und bie bekannten Vorfaͤlle in Königsberg, 
Magdeburg, Berlin und Breslau bewiefen, wo bie Magiftrate und Stabtver- 
ordneten zu den Eöniglichen Rügen und Verweiſen nicht ftill fchwiegen,, fonbern 
ihre Recht in freimüthigen Immebiateingaben verfochten; vergl. Biedermann, 
Unf. Gegenwart u. f. w. Bb. V. 1847. ©. 248. — Doc) feien wir nicht unge- 
recht gegen bie preußifchen Gelehrten, da namentlich unter den afabemifchen Leh⸗ 
rern —* ſo manche auch durch aͤchte Freiſinnigkeit ausgezeichnete Maͤnner fin⸗ 
den, wofür es genügen mag, an das Bonner Triumvirat Arndt, Dahlmann 
und Welcker, ferner an die Königsberger Lobed, Burbah, Rofens 
franz und Sache, fo wie an bie tüchtigen Philologen Meier in Halle unb 
Haafe in Breslau, auch an bie Theologen Dav. Schulz und Wegſchei⸗ 
der, fo wie an das mannhafte Gutachten der philofoph. Zacultät in Berlin 
in Sachen des Dr. Nauwerk zu erinnern. Gewiß wird auch der Anfang des 
conftitutionellen Lebens, den Preußen nunmehr endlich (tandem aliquando!) 
gemacht hat, auf die gefammte Gelehrtenwelt in diefer Hinficht günftig zuruͤck⸗ 
wirten und namentlid in berfelben einen ächten politifchen Gemein⸗ und Gor: 
porationsgeift erwirfen, Eraft deffen Einer für Alle und Alle für Einen ftehen- 
Dann wird man auch bei den Gelehrten-Corporationen nicht mehr an eine be= 
kannte Xenie, oder an das befannte Wort Arndt’s denken: „Aber ich begreife, 
wie Alles impertinent gelehrt und doch fo bumm ift. dab man Mauern 
und Thore damit einrennen koͤnnte!“ Geift der Zeit 1807 ©. 27 (vergl. 
Scheidler, —F 3. Ausg. S. 160). 

24) Bergl. Schoͤn's Geſch. und Stat. d. Civiliſ. S. 254, 259, 272, 
Scheidler, Idee d. Univ. S. 17. Deſſ. Hodegetik S. 137, 211 (ed. 3). 





lichkeit eines mächtig beftimmenden Einfluſſes auf den Kirchen 
der Wiffenfchaft eine Doppelte Pflicht auf, hierbei die in Der Mat 
liegenden Schranken nicht zu Überfpringen , woran Weldier | 
Jahren 2°) und ebenfo neuerdings mehrfach gemahnt Hat 27). U 
die Zionsmwächter lächerlich, welche (mit Zeffing zu reden) fofer 
fen, fobald fie etwas im Dunkeln ſchimmern fehen, ohne zu unter 
am Ende nicht gar ein Streifchen Nord licht geweſen ſei. Aber 
ift die Pflicht jedes Gliedes einer Kirche, das Seinige zur Erhaltı 
lichen Geſellſchaft beizutragen, eine ebenfalls fonnenklare. G 
Zweifel darüber, ob eine wiffenfhaftliche Richtung ber T 
Princip des vernünftigen Fortſchritts gemäß oder wirklich deſtr 
Kirche iſt, fo hat hierüber nicht der Staat oder irgend eine weltli 
fondern eben nur zunaͤchſt der Lehrftand der Kirche ſelbſt unl 
Wiſſenſchaft felbft theils in ihrem allgemeinen Organ de 
theils in ihren pofitiv anerkannten fpeciellen der akademiſchen, 
theologifhen Facultäten zu entfcheiden?®), gerade fo wie 
Juſtizcollegien, und nicht etwa bie Minifter ober andere Behoͤrt 
die Regenten felber!), einen entftandenen Streit, obirgenb ein 
das Forum jener Behörden gehöre oder nicht, felber zu entfcheiden 
dem Straußifchen Fall bedurfte es übrigens keiner befonderen X 
ber Widerfpruch feiner Lehre gegen das wirkliche Chriſtenthum 

fiructive Princip berfelben mar durch zahlloſe Schriften (wobei ; 
daß auch Fein einziger nambafter fog. Rationalift für Strauf 
nonmen) fattfam erwiefen, ganz notorifch und fomit auch nach d 
kanoniſchen Recht (c. 8.X de cohab. cleric. c. 3 X de test.) ei 





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Hegel (Reuhegelianer). 0 


Beweisfuͤhrung nicht mehr bedürftig ; namentlich hatte auch bie hierbei allein 
competente theologifche Facultaͤt ber Univerfitdt Zürich fi) wider Strauß’s 
Berufung erflärt, wie [yon bemerkt worden. 

Der weitere Verfolg biefer Sache gehört nicht hierher und iſt auch bes 
kannt genug. Die hartnddig an ihrem (Mapoleon’fchen oder Hegel'ſchen) 
Princip fefthaltende Regierung wurde durch den „Putſch“ vom 6. Dec. 1830 
geftürzt; ein Ereigniß, das uͤbrigens nicht eigentlich eine Revolution zu 
nennen ift, da weder die Beherrſchungs⸗ noch bie Regierungsform des Can» 
tons Zürich dadurch geändert ward, ja nicht einmal das eigentliche Organ des 
dortigen Souverains (des Volkes), naͤmlich der Große Rath (der ſich erfl 
fpäter freiwillig ſelbſt auftöfte und wieder ergänzte), fondern blos das Regie 
rungsperfonal, was fonady nur dem erzwungenen Abtreten ober Sturz eines 
Minifteriums in conftitutionellen Staaten zu vergleichen ift, was manchmal 
(exempla sunt in promptu) eine hoͤchſt wohlthaͤtige und fegensreiche Sache iſt. 

Bald nad) diefem Ereigniſſe fand in Preußen bie ſchon angedeutete 
Veränderung in der dußern Stellung ber Hegel’fhen Philofophie und Schule 
flat. Der Minifter v. Altenftein, welcher Degel nad) Berlin berufen 
und ſich fortwährend als entfchiedenften Goͤnner feiner Philoſophie zeigte (wie 
ihm denn die Halleſchen Jahrbücher 1838. 1. Bd. ©. 1204 den etwas vers 
wunderlich klingenden Lobſpruch ertheilten: „daß er die genaueſte Kenntnig 
nicht 5lo8 der Terminologie, fondern auch [sic!] der Begriffe der 
H.'ſchen Philofophie habe!) — biefer Diinifter , defien übrige große Vet⸗ 
dienfte um die Wiffenfchaften Niemand in Abrede ftellen wird, farb im Fruͤh⸗ 
jahr 1840, und an feine Stelle kam bald nach dem fo folgenreichen Regierungs⸗ 
wechſel Hr. Eichhorn, ber bekanntlich früher unter Stein’s Centralver⸗ 
waltung (morüber er eine Sehr intereffante Schrift veröffentlichte) und ebenfo 
als intimer Freund von Schleiermadher, v. Savigny, Niebuhr 
fi) einen fehr guten Namen gemacht hatte; übrigens in der neuern Zeit fehr 
entfchteden Partei für die pofitiv e Richtung ergriffen zu haben ſchien. An 
und für ſich betrachtet wird man es feinem Staatsmann verdbenfen, am we 
nigften einem Miniſter der geiftlichen Angelegenheiten, wenn er bie beftes 
hende Kirche in ihren Rechten f[hügt, zumal wenn, wie in Preußen und 
allen lutheriſchen Staaten der Fall, nun einmal die Staates und Kirchens - 
getvalt vereinigt find. Ebenſo war es offenbar ein durchaus ale gluͤcklich 
zu bezeichnendes Ereigniß, daß jene Periode der Begünfligung der Hegel'⸗ 
ſchen Philofophie endlich aufhörte, und zwar nicht nur für die Kirche, fondern 
auch für die Wiffenfchaft und den Staat felber; denn, wie Schleiermacher 
richtig fagt: „es giebt nichte Verhaßteres, nichts , was gutes Vernehmen und 
gegenfeitiges Vertrauen fo fehr Schwächen muß, alg wenn eine Regierung 
Parteinimmein Sachen der Philofophie, indem fie eins oder das 
andere der flreitenden Spfteme ausfchließt ober zurhdftöße” 2°). Als nun 
im October 1840 der Prof. Stahl aus Würzburg auf den Kehrfluhl von 
Gans berufen ward, fo wurde dies fofort von der Hegel'ſchen Partei als 
ein Zeichen gebeutet, daß ber Minifter gegen die akademiſche Lehr⸗ 





29) Weber Univerfitäten S. 98, 


Ed ru 9°") „als ei Fu ec näleberbleiäf 


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30) keipz. Allg. 3eit. 1840 Nr. 331 und 334. 

31) : 4 bem Schreiben aus Berlin v. 26. Ron. 

32) 286 des Hamb. Gorrefpondenten v. 3. Dee. 1840. Ebmi 
eclatant, ie biefe Berufung Stahl's dem bisher in der MWiffenfihart m 
errfchenden freien Geiſte gegenüber tritt, bat ſich auch die Stimmum x 
Studirenden wie der ſich in der Philoſophie Intereſſirenden dagegen geäußert. — 
Es befteht gegen Stahl bereits eine foftematifde Oppofition, mi 
feinem eimfeitigen Parteiftreben auf das Kräftigfte entgegen zu treten aelme 
ift. Gebe Werlesung des freien pbilofopbifchen Geiftes wirb durch Zeichen 8: 
Mißfallens beftraft, und feine'Vorlefung ift eigentlich nichts als der Kam ! 
eines Einzelnen gegen eine entſchiedene Majoritaͤt.“ Dann folgen eine Iizs 
Invectiven gegen Stahl und hierauf: „Und biefen Mann, biefen geiftigt 
Sohn Haller’s, bat man zum Nachfolger von Gans gemacht, beffen kr 
licher freier Gift, beffen gluͤhende Beaeifterung für die Freiheit noch fo frie 
in dem Unbenten ber Studirenden lebt, ber fo auf Händen gefragen we 
ber Bebeutung batte fir die ganze Hauptſtadt! Es ift fein Wunder, bee zer 
biefe Betrachtung einen bittern Eindrud auf bie, Gemuͤther ber Jugend madt 
Aber laffen wir uns badurch nur nicht irre machen, freuten wir uns viel 
baf ein fo entfchiedbener Geift ber Oppofition bei uns teae ift, an dem die I 
action nothwendig feheitern muß. — Bis jest follen + Studenten bei Hm. & 
belegt haben. Die übrigen Zuhörer (gegen 100) find nur um ber Dypefinir 
willen ba.’ 

3) Bran’s Minerva, Januar, 1341. ©. 153 f. 

4) „Jene machen Partei, welch unerlaubtes Beginnen ! 

Aber unfre Partei — freilich verficht fich von felbit 
Goethe. 


„Hegel (Meuhegelianer). 751 


auf welche es nur zu bedauern iſt, daß ein alabemifcher Lehrer Eein Briareus 
ift, um gegen folche ungeladene Säfte oder Hoſpitanten „Haus recht“ zu 
brauchen und fich ihrer brevi manu zu entledigen®®). Ueber alle Maßen laͤcher⸗ 
Lich iſt die Bezeichnung Stahl’s ale geiftigen Sohn Haller’s, da der- 
feibe im 2. Bd. j. Rechtsphiloſophie eine hoͤchſt ſcharfe Kritid der Hal⸗ 
ler'ſchen Patrimonialtheorie geliefert hat 3°), ſowie fpäter eine nicht minder 
fharffinnige und gelungene Widerlegung der Lehren Maurenbreher’s?T), 
weicher Letztere jene Bezeichnung In der That verdiente, übrigens merkwuͤr⸗ 
diger Weife in feinem berüchtigten Buch: „Die deutfchen regierenden Fuͤrſten 
und die Souveränetät”’ (1839) die Hoffnung, daß feine Patrimonialtheorie 
wiederum die herrfchende werden möchte, zum großen Theil auf die Mitwir⸗ 
kung der — Hegelfhen Philofophie flüge (!), indem jener Theorie 
(S.15) „buch Hegel wenigftens ein philofophbifch er Boden gegeben 
worden iſt, deſſen bisheriger Mangel allein, bei dem zeitherrichenden Geſchmacke 
am Philoſophiſchen, genug geweſen ſein mag, es ſo ſehr, wie der Fall zu ſein 
ſcheint, um Credit und Anſehen zu bringen“ (!!). Gleichergeſtalt hat Stahl 
ſich auf das Entſchiedenſte gegen den theok ratiſchen Charakter des chriſt⸗ 
lichen Staates ſowohl in Bezug auf den Urſprung des fog. göttlichen 


35) Ucberhaupt muß man fich durchaus gegen das Princip erklären, daß 
Studenten fib in öffentlichen „Demonftrationen’’ bei den Streitigkeiten ber 
Meifter in der Wiffenfchaft oder Gelehrtenrepublik betheiligen. Treffend bat 
fhon Thib aut (über die fog. hiſtoriſche und nichthiſt. Schule 1838 im Archiv 
uf. d. civ. Praris Bd. XXI. Heft 3 ©. 34 f.) geſagt; „Der Zuhörer, noch un: 
bemanbert in bem Lehrfach, hat im Ganzen Eein gereiftes Urtheil, alfo ift fein 
Lob mie fein Tadel etwas fehr Schwaches. Ic habe meinen Zuhörern, ohne 
daß fie unwillig wurden, mehrfach laut vom Katheber herab gefagt: Euer jetziges 
Urtheil ehrt und ſchreckt mich nicht viel.” — Es war daher durchaus ein Miß⸗ 
griff, daß Mar heineke im März 184%, ale ihm bie Hegeliancr zu feinem Ge: 
burtötage eine Nachtmuſik gebracht hatten, fie förmlich wegen diefer „Manifeſta⸗ 
tion”, ja „Demonſtration“ belobte ! (&. 2. Beil. 3. ZH. Zournal Nr. 90 v. 28, 
März 1844). Mit fehr treffenden Worten hat dagegen Schelling ein paar 
Sabre vorher bie akademiſche Jugend vor folchem erfahren gewarnt, dabei 
aber ausbrüdlih anerkannt, „baß e& um eine Univerfität erft dann gut ſtehe, 
, wenn fih in ihr eine harattervolle Jugend und ein Achter wiflenfchaft: 

Ude Femeingeiſt bildet” (vergl. Frkf. O.⸗P.⸗A.⸗Zeitung v. 8. Decbr. 1842, 
eilage). 

36) Seine ſchneidende Polemik leitet er mit den Worten ein: „Haller's Re⸗ 
ſtauration hat in Deutſchland vielleicht am meiſten Aufſehen erregt, obwohl 
fie die werthloſeſte von allen Schriften dieſer (tontrerevolutionaͤren) Geſin⸗ 
nung ift, fo daß fie meber. das enorme Lob ihrer Partei, noch die enormen 
Vorwürfe ber despotifchen Gefinnung, bie ihr gemacht wurden, wirklich verdient. 
Haller ift der Rationalift unter ben contrerevolutionären Schriftftellernz er vers 
folgt nicht, wie die Andern, lebendige und mannichfache Anfchauungen, fondern 
führt gleich dem Naturrecht einen oberften Sag mit logiſcher Kolgerichtigkeit 
dur alle Verhältniffe dur. Sein voluminöfes Werk ift in der That bei 
Weitem ärmer an Gedanken als eine Eleine Brofchüre Ad. Müllers. Es be: 
5 dieſe ganze Maſſe auf einem Paar einfachen und nicht ſehr bedeutenden 
Saͤtzen und man wird die vollkommenſte Einſicht in dieſelbe erhalten, wenn 
man dem eigenen Motive Haller's nachgeht.“ 

37) In Richter's Jahrbuͤch. V. ©. 97 ff. 





Rechts der Fürften, en die ehee — 
ala rent 





\ bechefißtigenben — 
—* der die Ben Dr mus in — 











iii im Dienf der ©. 5 Banden, Deefümnäpten ve 
arte — * erclufive Weſen * Unweſen und sähften, —* nur —* 
im Gegentheil unter ihren Mitarbeitern eine Anzahl ausgezeichneter Gelehrten, 
bie der H. Philofophie nicht nur nicht zugethan, fondern im Gegentheil geger 
biefelbe ganz indifferent, wo nicht feindlich gefinnt waren und bei denen ned 
weit weniger von einer Oppofition gegen bie preußifche Regierung und dat 
Chriftenthum im wahren Sinne die u fein fonnte. Es genügt bier, a 
die Namen Jac. Grimm, Dafe, Göttling, Drovfen, Warnti: 
nig, Witda, Bülau, Bluntfchli und jelbft Leo zu erinnern , welde 
ſaͤmmtlich zu den erften Jahrgängen Beiträge geliefert haben. Auch maren 
diefe Jahrbuͤcher Anfangs fo wenig in Oppefition gegen Preußen , daß fie die 
übrigen Deutfchen nur in der allgemeinen Annahme oder dem Glauben an 
eine auch in ihnen vertretene Eönigl. preußifche Hof: und Staatsphilofephi 
auf das Entfchiedenfte beftärkten. So ließ fih 5. B. Arnold Muge im. 
1838 Nr. 50, ©. 1199 bei Gelegenheit einer Rec. von Leo's Sendſchreiben 
an Görres über deſſen Athanafius auf eine Weiſe vernehmen, die nicht bies 
wegen des Gontraftes mit ben fpätern Anfichten, fondern auch * und fuͤr ſich 
zu merkwürdig iſt, als daß wir bier nicht wenigſtens die Hauptſtellen in Er: 
innerung bringen follten. — Es ift darin die Rede von der fran zoͤſiſchen 
Revolution und Leo's Furcht, daß der deutſche Liberal ismus ebenfalls 
zur Revolution fuͤhren werde. 


Pe — — 


38) Mechte: und Staatölehre 1846 ©, 156. f. 
39) Deshalb polemifirte auh Huber in feinem Sanus eutfchieben gegen 
St. 1845 9. XII. S. 820. 


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Hegel (Reuhegelianer). 7583 


„uns Preußen”, fagte nun A. Ruge, „geht die Sache nur bem Bes 
griffe nah an. Es muß ein für alle Mal von Preußen biefes Geſpenſt ab⸗ 
gewendet werben, weil bier alle Bedingungen fehlen, bie es fürchten lafien koͤnn⸗ 
ten, dba bei und die Regierung fortdauernb in ben Proceß der Zeit eingeht und 
wefentlich die hoͤchſte Sntelligens bes Landes zu ihrem Dienfle verwendet und 
felbft darftellt. Alle freifinnigen Einrichtungen, die Gemeinſinn und Einheit des 
Staatöbewußtfeins hervorrufen können, von der Stäbteverfaffung bie zur Milt- 
tärorbnung, in welcher Jeder fich bem Allgemeinen zu wibmen bat, find frei- 
willig durch die Regierung gelommen; und es bat fich 1830 deutlich genug ges 
zeigt, daß Preußen keine Revolution zu fürchten bat. Der Grund ift gang 
einfach der, daß Preußen im Princip der freiwilligen Gntwidelung, dem 
Princip der Reformation, bie Garantie gegen gewaltfames Forttreiben befigt.‘ 
„Erſt muß eine allgemeine Werunreinigung , eine große Schuld über Wort 
und Regierung gefommen fein, bevor eine folhe Blutwäfche nothwendig 
wird; erft müßte z. B. eine folche bodenlofe religidfe und politifche Tyrannei, 
wie fie in ben willtürlihen und finnverwirrenden Gedanken unferer Revolutio- 
näre liegt, unfer yanzes freies Leben und Wiffen mit ihrem vergifteten Rachen 
verfchlingen, erft uns Alle, die wir den Kopf gerade zwifchen den Schultern und 
das Herz auf ber rechten Stelle haben, zu Boden fchlagen, erſt diefe Gerechtigkeit 
und Freiheit brechen, die wir genießen, erft Zucht und Bann der Priefter, erft 
den Uebermuth des rohen Adels über uns bereinführen, erſt jede Tyrannei ver⸗ 
wirffihen, ehe der deutſche Geift in die Roth der Franzoſen kaͤme, bie fie 

ur Revolution trieb. Diefen Tag werben wir nicht feben, meine Freunde, unb 
jeder freie Dann in Preußen wird dazu thun mit Wort und That, daß unfer 
Rationalbewußtfein immer inniger die Segnungen ber Gegenwart fchäsen 
und unfer geiftig und fittlich hohgeftelttee Staatswefen mehr und 
mehr erkennen und lieben lernt. Die thörihten (!?) Kategorien bee mecha⸗ 
nifhen und organifchen Staates, der Bureaufratie und (sic!) bes 
Beamtenftaates, finden bier gar keine Stätte. Der Staat ift 
ber objective in der Wirklichkeit ausgelegte Geiſt, er tft weder eine Mas 
fhine, noch ein Organismus (!?), er ift ein Bewußtes, ein Sittliches, 
und wenn es wirklich wahr wäre, daß die Leo’fchen Abftractionen bes organi- 
fhen und mechanifchen Staates fo gang und gebe wären, als er meint, fo 
könnte das nur als eine abermalige Zrübung bes Gedankens angelehen werden, 
worin man eine unbeholfene Bilderfpracdhe für Rechts: und Staatsphilofophie, eine 
ungeſchickte Gleichnißmacherei für politifche Weisheit hält. Das Reich der 
Sittlichkeit ift in Preußen zu einer bewundernswürbigen Wirk: 
lichkeit gediehenz nirgends wird man das Pfliht- und Rechtsgefuͤhl 
efhärfter, wirkſamer und gebildeter finden als bei ung; dad Beamtenver: 
Bältniß dient nur dazu, ben Gemeinfinn zu verwirklichen, man braucht 
nicht weit nach Süden und Oſten zu reifen, um ben interfchied zu erfahren 5 
ferner bas Recht des Staates auf den Einzelnen hält dag Militärwefen 
gegenwärtig und ift eine wichtige Cur ber Feigheit und Philiftereis das Fa⸗ 
milienleben endlih und das Leben des Verkehrs, wo ift ee in wah⸗ 
rerer Seftalt, als eben jezt bei und? — Das Selbſtbewußtſein diefes 
Reiches ber Sittlichleit, auch das fehlt und keineswegs; täglih mehr durch⸗ 
bricht es die pedantifhen Schranken der Heimlichkeit, unb wahrlich, wir haben 
uns in nichts vor ung felber gu fchämen als darin, daß diefe glüdliche und 
hochgebildete Gegenwart auch nur auf Augenblide von irgend einem 
hit verfannt werben konnte, wie bies von Leo in feiner Traumqual 
geichieht.‘ 

Alſo damals (1838) war in dem abfolut vegierten Preußen, das 
neben feiner (vom Freiherrn v. Stein und von Niebuhr gut charafteris 
firten) Bureaukratie (die kurzweg geleugnet wird!) nur eine Scheinvertretung 


in bloßen, gar Leine wirklichen politifchen Rechte befigenden und nur den 
Suppl. 4. Gtaatsier. I. 48 





beimniß mehr, welche Richtung dieſer Etaat, dem einftmale bi 
anvertraut wurbe, bie Geiftesfreiheit zu fehirmen und durch ihren 
gen , einfchlägt; es ift zu erwarten, ob er im Laufe der Zeiten ' 
ef im Stande fein, oder ob ein anderer proteftantifcyer 
aterlandes dic Motive des gegenwärtigen Geiftes und mit ihneı 
und das Steuer der deutfchen Gefchichte ergreifen wirb 53 das a 
erwarten, daß fich Fein einziger Staatsmann finden follte, ber 
nicht gelehrt, wodurdy Preußen gefticgen und wodurch Sachfen 
Stellung eingebüßt. Dies ift keine Lebre der Hegel'ſchen Phi 
Brille von Diefem und Jenem; es ift die Weltgefchichte und d 
Voͤlker mit feinem ganzen Gewicht, von dem diefe Stimme ertönt. 
ift da, die Aufgabe ift nothwendiq, diefe Praris ftcht der freien X 
bevor, früher oder fpäter muß fie ins Leben treten, wenn auch jes 
tannt werden kann, weicher deutſche Zürft Geift und Muth gen 
nah diefem Kranze, der über feinem Haupte fchwebt, die Band < 
Und worin befleht nun diefer Abfall von der Philofophie ? 
heit (wenigſtens damals) nur darin, daß die frühere Beguͤnſtigu 
{chen Philofophie und Schule von Seiten des Staates aufgehört, 
den Prof. Stahl fowie fpäterhin Schelling nah Berlir 
um eben auf wiffenfhaftlichenm Wege der Hegel’fhen P 
ihren verberblichen Einflüffen auf das Staats» und Volkslebı 
wirken. Dawider iſt dod) offenbar nichte einzumenben, obwohl al 
terhin mehrere zu erwähnende Mafregein vorgelommen fint 
niger vertheidigen laſſen. — Uebrigens ift die Erklärung , Preu 
fallen von der Philofophie, auch in fofern eine ganz wunderlich 
loſophie ja nicht ein Attribut oder Monopol ber hoͤchſten Staats 
nur überhaupt von denfelben abhängig, fondern die Sache der 
die jedenfaUs den Namen von Philofophen nicht verdienen würden 
Lehrſyſtem wie eine Uniform auf Befehl ber Regierung wechfelter 


ee ..£.ta 2... x. L .2MmM .ı 


Hegel (Nenhegeliane), 755 


arbeiter anerkennen mag, fo wird man body eben im Intereſſe der Wiſſenſchaft 
und Geiſtesfreiheit felbft es bedauern muͤſſen, daß bie Oppofitton jener ſowohl 
durch ihre fchroffe Form, als auch dadurch, daß fie die Rechtsbeſtaͤndigkeit des 
pofitiv Beftehenden in Kirche und Staat fihlechthin negirte, namentlich 
das Chriſtenthum und die hriftliche Theologie fuͤr „abgethan“ erfiärte (wo⸗ 
bei zugleich die ältere Hegel’fche Schule, ja Hegel felbft ſcharf den Text gele⸗ 
fen bekam) *), die Grenzen überfchritt, welche die Philoſophie auch in ihrem 
feeieften Gebahren, dem Poſitiven aegenhber, nothwendig anzuerkennen 
bar *?). Ganz verwerflid, war auch die mehrfach in jener Zeitfchrift her⸗ 
vortretende Werfpottung bes Principe der Nationalität (das doch 
gerade in der jegigen Zeit immer mehr zur allgemeinen Anerkennung gelangt) 
fowie die zugleich laͤcherliche Gallomanie, die den Deutfchen fogar Ihren 
Ruhm im der Philofophie abfprechen wollte *?) ; endlich auch, daß dieſe Zeit⸗ 


Poeten für Einen Arnold Ruge, und ihren Tübinger Kritiker bau.” — Ruge's 
Schriften erfcheinen jet in einer Geſammtausgabe; ihr Verbot ift keine Wider⸗ 
legung-. 

41) In Rr. 12 v. Jahre 1830 in einem Auffag über ben Pietismus im 
Reuvorpommern wird zunädhft (S. 96) „altgebadenen Hegelianern” 
vorgeworfen, daß fie das Conventikelweſen begünftigten, und dann gefagt: „Dit 
dem Lobe des einen Goͤſchel und mit dem laͤch erlich en Ausdbrud der Ueber⸗ 
einftimmung mit bem Chriſtenthum bat uns der alte Hegel al biefen 
Qualm ind Haus gezogen. Webereinftimmung?.ift das Monismust Iſt bas bie 
ewige, einige, nur einmalige Wahrheit? Die Philofophbie hat mit nichts 
übereinzuftimmen als mit fich ſelbſt, und nicht bie Hhilofophie ſtimmt mit 
der Wahrheit, fondern fie iſt die Wahrheit.‘ 

42) „— Auch bier wollten oͤfters Gelehrte, vergefiend bie Pflichten gegen 
Staat und Kirche und entweihend die Wiffenfchaft, in beleidigendem Angriff, 
in frecher Sophiſtik und Gpötterei fi von dem Heiligen losreißen oder bem 
Staate und ber Kirche feindlich gegenübertreten. Sie wollten freveinb ben hei⸗ 
ligen "Namen der Wahrbeitsichre mißbrauchen und mit Verlegung rechtlicher 
Freiheit und ber fie fchügenden vereinbarten weltiihen und kirchlichen 
Ordnung das, was fie felbft nach bloß individuellem Meinen, oft genug irrig, 
für Wahrheit hielten, mit Eigenmacht in die dußern Werbältniffe einführen. — 
Sie verfuhten fo auf fo verdehrte und frevelhafte Weife, fo weit es geben wollte, 
ſich ſelbſt zum Gefeggeber von Staat und Kirche aufzumwerfen.” 
Weller, Rechtes, Staats: und Befehgeb.:Lehre I. 526 f. 

43) In Nr. 247 v. 17. Det. 1842 theilen bie beutfchen Jahrbuͤcher den 
Auffag eines Franzoſen, Jules Elyſard, mit, den die Rebaction mit folgenden 
Worten einleitet: Wir theilen bier nicht blos eine Merkwuͤrdigkeit mit, es ift 
eine neue bedeutende Thatſache. Dilettanten und abhängige Schüler, wie Goufin 
u.%., bat bie deutfche Philofophie fchon früher im Muslande erzeugt; Leute aber, 
die den deutſchen Philofophen und Polititern philofophifh den Kopf gewafchen, 
find bis jest nicht außer unfern Grenzen zu finden gewefen. So entreißt ung 
denn das Ausland (I!!!) auch den thbeoretifhen Kranz unb wir duͤr⸗ 
fen nicht hoffen, daß die neue Thatſache: ein Branzofe verſteht und über: 
fiebt die deutſche Philofophie (?!!) ſowohl die „von der firicten Dbs 
fervang” als die von der „rechten Mitte” und vom „Ertrem” — manchen 
Siebenſchlaͤfer von feinem Lorbeerfaulbette herunterwerfen werbe. Wielleicht bat 
Hr. Jules Sipfard Recht, wenn er uns eine große praftifche Zukunft verheißt; 
aber gewiß bat er fi in uns geirrt, wenn fein Beifpiel * nicht vermoͤgen 

** 





UEyirrusy stv VE WU WER ι 


einander ziemlic, die Wage haltende Maͤchte gegenuͤberſtellt, 

die Schiußmworte hindeuten). Wenn z.B. die Times in ein 
gegen die englifche Regierung Partei ergreifen, fo iſt bies wirt 
reiches Ereigniß und der Ausgang des Kampfes wenigſtens zweif 
er in der Regel zu Gunſten der Journalpreſſe fein wird. Ein An 
fi) aber allerdings in Deutfchland beiden beſtehenden Pri 
wunderlich genug wo nicht lächerlich aus, zumal wenn von de 
der deutfchen Staaten die Rebe ift, deffen Regierung wirkitdy ı 
um dies in der Sprache des franzäfifch » deutſchen Liberalismus 
auszudruͤcken, welche „regiert und gouvernirt”, und Deren M 
neuerer und neuefker Zeit Beine fonderliche Luft. gezeigt hat, ⸗ 
neller König nach Hege l'ſcher Façon zu werden, d.h. nur Ja! 
den Punkt aufs J zu machen!” Doc, das iſt nur Nebenſache 

tend in Vergleich mit dem Inhalt des Artikels felber. 

Zunaͤchſt wird bemerkt, daß bie preuß. Regierung „nad; 
Manifeftation ihrer dermaligen leitenden Principien‘ in b 
„eine gewidhtige Oppoſition“ gefunden; ferner wirb Hin 
jenes Journal ſich bezeichne ale „das Organ der neueften | 
deren Miffion Beine geringere fet ale die, das ſchlummernde 2 
Menfchheit zu erwecken und dem menfchlihen Geiſte die erfı 
heit endlich zu ertämpfen, und zwar wiſſenſchaft! 
Rationaliemus und politiſch durch den Liberalism 
chen beiden ſich der Herr Redacteur der Hal. Jahrb. mit ebenfo 
licher Srifche und Kraft als Ehrlichkeit und wiſſenſchaftlicher 
bekenne.“ 

Die darauf folgenden Auseinanderfegungen ſprechen nun 


EB — auch malis! LK... ho Gut Dh — 


— 


Hegel (Neuhegelianer). 757 


„Eben darin, daß beibe (Rationalismus unb Liberalismus) bier 
zufammen und zwar verbynden auftreten, Liegt fchon zum Theil die wiffenfchaft: 
lihe Züchtigkeit, der Rationalidmus wirb ganz richtig als die Wurzel bes 
Liberaliemus bezeichnet und das Gemeinfame beider Richtungen wirb in das Aus 
tonomifche (in bie Belbftherrfchaft) hier des denkenden, dort des handelnden 
Geiftes gefeht. Aber auch jedes für ſich, ſowohl der Rationalismus als der 
Liberalismus, treten bier in eonfeguenteren Geftaltungen auf: beim Rationalismus 
finden wir bier nicht mehr das Lleinlihe, mühfame Abmarkten zwifchen ber 
Bernunft und dem Lieben Gott, nicht mehr die Unentfchiebenheit eines halb 
biblifchen, halb vernünftigen Syſtems; an ein folches Hin» und Herſchwanken kann 
bier um fo weniger gedacht werben, als die Wirklichkeit Gottes ibentifis 
eirt wird mit dem menfhlichen Geiſte felbft, deſſen freie Entwidelung zur 
Kreibeit bin eben nichts Anderes als das Leben Gottes ifl. An bie Stelle 
der unmündigen Vernunft in ber Form der Vorſtellung tritt die bewußte 
in der Korm der Speculation. ben fo ift der Liberalismus aus ber alten 
Bormundfchaft getreten, welche er mehr oder minder anerfennen mußte, fo lange 
er noch einen außerhalb der Menſchheit wirflihden Bott erkannte, 
von deffen Bnaden die Könige ihre Macht herdatirenz und in 
dem er fomit in dem fireng durchgeführten Nationalismus, db. h. im Pans 
thbeismus eine gründliche wiffenfhaftliche Bafis gewonnen bat, hat 
er durch denfelben zugleich feinen Gipfel erfliegen: wenn er nämlich bisher bei 
einzelnen Verbeſſerungen bes focialen Lebens, etwa bei den Bemühungen für 
Conftitution, Bollsvertretung und Preßfreiheit ftehen blieb, fo 
ift ihm hier in dee Autonomie, oder, was baffelbe beißt, in der Erlans 
gung göttliher Rechte für den Menfchen ein gang anderes Biel vor: 
geftellt. Es hätte alfo diefe Phafe der Hegel'ſchen Philofopbie eine bisher noch 
vermißte Ginigung zu Stande gebraht: Thun und Denten find nicht mehr 
auseinander, die Speculation ift nicht mehr unpolitifch, ber Liberalismus nicht 
mehr unmiffenfchaftlih und der menschliche Geift wäre durch die Anerkennung, 
daß Gott nur inberMenfhheit fein Dafein habe, in den Anhängern 
der bezeichneten Theorie zu feiner endlichen Concretion gekommen“ #6). 


Es ift wohl unndthig, noch befonders nachzuweiſen, daß dies Credo 
nicht nur mit dem der preußifchen Regierung, fondern audy mit dem ber ge 
ſammten Chriftenheit (260 Millionen Menſchen nah Balbi’s neuefter Zähs 
lung), ja mit dem Glauben aller Völker in Widerfpruch ſteht, da das We⸗ 
fen jeder Religion in dem Glauben an höhere über dem Menſchen und der 
Weit unendlich erhabene, oder an Ein höchſtes (fupras und ertramundanes) 


Weſen beftehtz daher alle Religionen, fo abweichend fie auch fonft in ihren . 


Dogmen find, wenigftens darin uͤbereinſtimmen, baß fie die Vorftelung, ale 
(um Goethe's Worte hier zu gebrauchen) — » 


„Als gaͤb's einen Gott nur im Gehirn 
Da! hinter des Menfchen alberner Stirn!” 


46) Dann wird hinzugefügt: „Im Gegenfag hiermit fcheint nun allerdings 
bie Zendenz der neuen preußifchen Regierung auf dem fehr beflimmten Bewußt⸗ 
fein eines auh außerhalb der Menfhheit realen Gottes zu beruhen: 
und daß von diefem Bewußtfein aus die ganze politifche, religiöfe und wiſſen⸗ 
fhaftliche Anficht derfelben mit der der Hau. Jahrb. in fcharfe Differenz treten 
muß, bedarf wohl kaum der Erwähnung. Namentlich Tann dem Menfchengeifte 
von dieſer Seite ber Eeine Seldſtherrſchaft mehr zugefchrieben werben, es 
fe? denn, daß die Herrfchaft des perſoͤnlichen Gottes mit der Herrfchaft bed Mens 
fhengeiftes in Eins zufammenfalle, d. h. daß ber Mille des Menſchen fih mit 
dem Willen Gottes auf abfolute Weiſe geeinigt babe’ u. f. w. 


% 


* 


mus und die Einfeitiskeit des Urtheils Über Alle, was nicht zur. 
Philoſophie oder Schule fidh bekennt (3. 3. in der vielbefprocdhenen ! 
der deutſchen Univerfitäten) entidhieden tadeln muß. 

Es ift zur Genuͤge bekannt , daß die gedachte Zeitfchrift, nach 
aus Hallefhen indie Deutfhen Jahrbuͤcher verwandelt uı 
dacteur ſich nach Dresden übergeficdelt hatte, endlich ganz aufboı 
indem die koͤnigl. fächfifche Regierung ſich gemüßigt fab, dem Verleg 
ceffion dazu zu entziehen. Die Sache kam, wie ebenfalls befannt, ı 
ın der zweiten fächf. Kammer zur Frage und Verhandlung, was fis 
verdiente, da «6 fidy hier um das Princip und zwar ein bddyf 
handelte. So wenig man auch die Brundfüge, welche vorzugswei 
fer Zeitfchrift verfochten und verbreitet wurden, billigen kann, fc 
durchaus von Jedem anerkannt werden, daß jene Zeitfchrift mı 
Waffen der Riffenfhaft flritt, atfo von Rechtswegen u 
gleichen Waffen belämpft werben durfte. Darüber, baß Gelehrte ı 
ſchaftlich Gebildete überhaupt — und nur diefe waren ja das Publ 
Jahrbuͤcher — nicht von Seiten irgend welcher Regierungsbehärden 
auf ihre Lectire bevormundet werden türfen — da es eine wahre 
keit it, anzunehmen, als wären jene Behörden ale foldye im AU, 
Kriteriums der Heilſamkeit oder Schddlichkeit einer Schrift, was fe 
Paul treffend veripotter hat *”) — und daß eben deshalb Eeine Mec 
echt hat , Bücher zu confiscieen®®),, darüber follte man doch end 


47) ©. Hegel, Vorleſ. üb. d. Gefchichte. ber Philof. I. 2 
Menſch, der fie (naͤmlich Fehler, Schwachheit , Sünde) bat, ift 
durch fich ſelbſt abfolvirt, infofern er nichts daraus macht.’ 
+8) Auch den Berliner Zahrbüchern f. wiff. Kritik iſt nachzuruͤ 
17 fie in der literariſchen Jeurnaliſtik Epoche machten u. bedeutende Mir! 
u2 ' * ten; vergl. Al. Jung im Königeb. Literat. Blatt 1841 Nr. 2, 
j 49) Xreiheitsbiichliin S. 54. 


Hegel (Neuhegelianer). 759 


fehe ins Klare gekommen fein, wie über. bas Unhaltbare bes ganzen „Gen⸗ 
fur” genannten Inſtituts, in Hinficht deſſen bier nur an den merkwürdigen 
Ausfpruch des Großh. heffifchen Miniſterialrath Fau p in der Germaniſten⸗ 
verfammlung des vorigen Jahres erinnert werden mag °!). Selbſt angenom: 
men, aber nicht zugegeben, daß eine Senfur bei Zeitfchriften ober Jour⸗ 
nalen im mweiteften Sinne unerläßlich fei (mährend doch die Erfahrung von 
England und Frankreich das Gegentheil ſattſam erweift und andrerfeite gewiß 
iſt, daß Tageblaͤtter, Zeit » und Flugſchriften bie Shwungfebern in den 
Slügeln ber Drudfchrift find) 92), fo müßte Dennoch jedenfalls ein großer Un⸗ 
terſchied zwifchen ſolchen Journalen gemacht werden, weiche in die Hände des 
„Volks“ im ſchlechten Sinn dieſes Worte, der oben ungebildeten Maſſe 
(von der Goethe fagt, fie fei nur im „Zufchlagen refpectabel, im Urt hei: 
Len miferabel‘) und zwifchen folhen, die in die Hände des überhaupt und 
des nun vollends wiffenfhaftlih gebildeten Publicums kommen. 
Beſonders ein vorzugsweife proteflantifcher Staat dürfte nie die Mah⸗ 
nung Luther’s vergeffen: „Man laffe fie (die falfchen Lehrer) nur getroft 
und friſch predigen, was fie innen und wider wen fie wollen ; denn es müffen 
Secten fein und das Wort Gottes muß zu Felde liegen und kaͤmpfen. If 
ihre Geiſt vecht,, fo wird er ſich vor uns nicht fürchten und wohl bleiben. Iſt 
unfrer recht, fo wird er ſich vor ihnen auch nicht noch vor Jemand fürchten. 
Man laſſe die Geiſter auf einander plagenundtreffen! Werben 


uni (nt tu — 


und zu entfcheiden, was für Schriften Jeder ohne Schaden Iefen darf? Nur bie 
Öffentlichen gemeinfchaftlichen Weranftaltungen” Mebrerer fteben unter ihrer Auf⸗ 
fiht. Nun ift zwar jebe Belanntmadhung einer Schrift dur den Drud ins 
fofern eine Öffentliche Handlung, als dadurch der Schriftfteller mit Jedem redet, 
der fih ihm nahen will; und eben beswegen kann fich die Öffentliche Anzeige zum 
Berkaufe nicht fchlechterbings der Aufficht entziehen. Wenn aber ein Einzelner 
ein Buch lieſt, fo iſt diefed doch jedesmal nur eine Privatmittbeilung der Ges 
danken, welche uneingefhränktte Freiheit genicht. Hiervon find biejenis 
gen Schriften ausgenommen , bie eine Handlung des Verfaſſers gegen bie bürs . 
gerlihen Gefege enthalten, F B. wenn in einer Schrift gelehrt wirb, man 
müffe gegenwärtigen Gefeden ni ? geboren, fo darf ihr Debit verhindert wer- 
den; denn jeder Anftifter von Berbrechen wird gehindert, biefen Endzweck zu 
erreichen. Rehberg, Saͤmmtliche Schrift. I. . 

51) Augsb. Allg. Zeit. 1846 v. 30. Septemb. Nr. 273 (vergl. O.⸗P.⸗ 
A.s3eit. v. 6. Det. 1846 u. v. 6. April 1847): „Wie Lange bat man ſich ver: 
gebens nah Preßfreiheit gefehnt, und nun erklärt eine „erlauchte” Kam: 
mer — erlaudht, weil fie aus den Prinzen, den Standesherren beftebt — , daß bie 
Cenſur ihrem Zwecke nicht genüge, daß bie Bundedacte fie nicht forbere und 
daß alle Deutfhe ein Reht auf Preßfreiheit Hätten.” („Stürmifcher 
und anhaltender Beifall.) 

52) Baharid, V. Staat. 1820. Bb. II. ©. 3535 vergl. Welder, db. 
ganze u. vollf. Preßfreih. S.11 und Immermann’s Wemorabil. I. &. 126 ff. 
Der bairifhe Erminifter von Abel, welcher früper ale Minifterialrath in ber 
Gtändeverfammiung von 1831 bie Preßfreiheit Außerft berebt vertheibigte (f. d. 
Zrant. Mercur Nr. 81 v. 1840), konnte aber freilih 1840 kaum Worte genug 
finden, um gegen die Journaliſtik zu eifern (vergl. an. Anzeig. d. Deutfch. 
1840 Rr. 89), deren er fih doch felbft auf genugfam bekannte Weife bediente 
und noch bedient (vergl. Deutfche Allg. Zeitg. vom 5. April 1847 &. 822). 


760 . 


etliche indeß verführt: wohlan, fo gehets TER EEE 
und Schlacht ift, da muͤſſen erliche fallen und verwundet werben; wer abe 
gablich ficht, wird gefrönt‘‘®®), 
Um diefelbe Zeit bald nah Schelling’s Berufung zeigte fi ein ar 
derer und ernflerer Gonflict der neushegel’fchen Schule mit der 
h ebefonders darum nähere Beachtung verdient, weil es fich hierbei um —* 
eip ber deutſchen —— —— n, das ber afabeml: 
ram, Eehrfreibeit, umd zwar im Gebiet ber theologifchen Facultät hav 
54), Der Picentiat der Theologie Bruno Bauer in Bonn hatt 
er mehrere Schriften, namentlich durch feine Kritik der e Gaſchau 
‚ bre Synoptiker, ſich auf eine Weiſe über bie Schrift „ bie matt: 
wendig großes Auffehen und die Frage verahlaffen mußte, ob ein Gchri 
ſteller, der fotch e Grundfäge aufftelfte, akademiſcher Lehrer einer pofitinm 
Wiſſenſchaft bleiben koͤnne? Das koͤnigl. preuf. Mintfterium des Cuitus unn 
Unterrichts ſchritt nicht unmittelbar ein, fondern lieh ſich erſt Gutachten —* 
theologiſchen Facultaͤten über dieſen Fat einreichen, und entjog 
dem D, B. Batter die venia legendi, nachdem diefe ſich einflimmig fü per 
Entziehung erklärt hatten®®). Dies wurde nun fofort von ber neusbhegel'fdn 
Partei in ihren Organen, namentlich den « en oder Damals ſchon Dat 
ſchen Kahrbüchern und der Leipziger Allg. g als ein underantwortlide 
Eingriff in die akademiſche Lehrfreiheit angefeben oder vielmehr a 
da es fich im der That gang anders hiermit verhält. Da die Sache theils de 
Wrincips jener Freiheit willen, theils weil baraus recht deutlich erbelit, zu nd 
hen Gonfequenzen die H. Philoſophie in ihrer Anwendung auf die Fheologii 
führt, fo mag fie hier kuͤrzlich eine Stelle finden. Zunaͤchſt ift der — 
Thatbeſtand feſtzuſtellen, wobei es am zweckmaͤßigſten erſcheint, die B. B auet 
ſche Partei ſelber reden zu laſſen. Die Deutſchen Jahrbuͤcher brachten wur! 
in Nr. 103 vom 29. Det. 1841 ©. 412 eine Anzeige des Buches im x 
men des Verlegers (d. h. natürlich nichts Anderes als eine fogenannte Selbſt 
recenfion bes Verfaſſets), und fodann in der Nr. 105 vom 1. Mov. S.417f. 
von einem Berliner Anonnmus (offenbar den Bruber B's. Edgar Baucı 
„Borläufiges über B. Bauer’s Kritik” ıc., worin behauptet wird , daf nun: 
mehr die totale Nevolutionin der Xheologie vollendet unb durd 
die Schrift von B. Bauer felbft Strauß's Kritif fo weit überholt ım) 
antiquiet fei (5. 419), daß B. Bauer nicht nur offengegen Strauf 
als ‚denjenigen, melcher bie poſitiven Intereſſen innerhalb der Kritik rept— 
jentirt und das Abbild der Orthodoxie felbft innerhalb des Meiches ta 
Negation ſei“, auftrat, fondern fogar Strauß mit Hengftenberg ww: 
fammenftellte. (1!) Darauf beißt es: 














53) Schreiben v. 3.1524 an die Fürften v. Sachfen, üb. d. Wiedertäufer. 16. 
Th. ©.20. ed. Bald. 

5+) Vergl. Bran’s Minerva 1842, Maiheft ©. 231 ff. 

59) Auh Marbeineke's Scyaratvotum fprach fih dahin aus, daß Brun: 
Bauer unmöglich in der theologiſchen Kacultät bleiben £önnte, daß ihm 
dagegen eine Profeffur in der philofophifchen ertheilt werben foltte. 


Hegel (Neuhegelianer). 761 


„und wodurch unterſcheidet ſich Bauer’s Schrift von der Strauß’fchen ? 
Mit einem Worte: während Strauß noch Vieles als wirklich gefchichtiichen 
Bericht über das Leben- Zefu gläubig annimmt, in den wichtigften Punkten einen 
sefhihtlihen Kern vorausfest und fonft die fog. mothifchen Berichte in - 
der Meberlieferung der Gemeinde: fich bilden laͤßt, fuht Bauer nachzumeifen, 
daß au kein einziges Atom in ben Evangelien geſchichtlich, daß 
vielmehr Alles Freie fchriftftellerifche Schöpfung ber Evangeliſten 
iſt. Die pofitiven und mpyfteriöfen Vorausſttzungen der Strauß ſchen Kritik hat 
Bauer in dem Sage und in der Ausführung aufgetöf, daf die Evangeliften 
in einer Reihe fteben mit Homer und Hefiod, die, wie Derobot fagt, den 
Griechen ihre Bötter gemacht baden. Den pofitiven Borausfegungen Strauß’s ' 
geaenüber hat Bauer das menfhlihe Selbftbemußtfein als den all- 
mächtigen Schöpfer der heiligen Gefhichte aufgeftellt, daſſeibe Selbft- 
bewußtfein, welches Feuerbach als den Schöpfer der beflimmten Dogmen 
zu beweifen ſucht.“ — „Die Kritil, die Revolution ift mit fich felbft zerfallen 
und es wird nicht mehr Tange dauern, fo werben die Birondiften und der 
Berg in offenem Kampfe auf Tod und Leben ftehen. Selbſt biefe neue Wendung 
der Dinge ift Grund dazu, baß wir ruhig fein dürfen: bie Wahrheit kann 
buch den Kampf nur gewinnen” 56). 

Nichts deſto weniger verlangte B. Bauer ald Profefjor der Theologie 
angeftellt zu werden und fuchte (in Verbindung mit feinem Bruder Edgar) 7) 
auf alle Weife feine Ausfchließung ale eine Verlegung des Princips der akad. 
Lehr: und proteft. Blaubensfreiheit (!) naczumeilen. Ueber bas 
Letztere verlieren wir Bein Wort; wer Bann fid) einen B. B. al Dr. der Hei. 
Schrift, die er, fo vieler vermochte, entheiligt hat, und als einen Nachfolger 
unfere Martin Luther denken, der zugleich der Doctor aller Doctoren der 
heit. Schrift, wie der größte Held unſers beutfchen Volkes iſt, und der da 
ſprach: 

„Das Wort ſie ſollen laſſen ſtahn, 
„and keinen Dank dazu haben!“ 


Die Sophifterei in Bezug auf die angebliche Verlegung ber alademifchen 
Lehrfreiheit müflen wir aber noch etwas näher beleuchten, da hier eine fehr 


56) In einer Rachfchrift des Hrn. Rebacteurs (Arnold Ruge) wird ges 
fagt: „Die Zheologie ift keine Wiffenfhaft von Bott, denn das 
Biffenfchafttiche in ihr handelt nicht von Bott in einem eminenten Sinne, es 
handelt von bem Menſchen, feiner Gefchichte und feiner Philofophies daß aber 
die Dogmatil noch etwas von Bott Iehren könne, glaubt weder ber Lehrer noch 
der Schüler, Beide haben diefe Worftellungen Iängit hinter fi), wenn fie daran 
geben, fie zu betrachten. Die Theologie alfo hat keinen andern Gegenfland als 
bie übrigen Wiffenfchaften vom Geifte, und was bie Dogmatik bisher für Lehre 
von Gott audgegeben hat, ift — fagt Feuerbah — nur ber objicitte 
Menfchengeift, alfo Borftellung vom Menfchen, Anthropomorphismus. Gr brüdt 
dies mit kurzen Worten aus: bie Theologie ift die Anthropologie! Ob 
dies wahr ift, nehme man fich die Mühe, an den Dogmen zu unterfuchenz und 
wenn bie Theologie im eminenten Sinne ober bie biöherige beotogie keinen Gott 
für fi) hat, wenn fie nur den Menfchen vergöttert,, fo ift fie als aparte Wiffen- 
Theft am Ende. Es bleibt ihr nichts übrig als Sphftofophte und Gedichte zu 
werben; benn iſt irgendwo ein Gott, fo ift er hier, während er aus ben alt= 
theologifchen Disciplinen laͤngſt ausgewandert ift und -ihre Geiſtloſigkeit aller 
Welt offenbart hat.” ’ 

57) Bergl. Leipz. Allg. Zeit. 1843 Nr. 100, 114, 119, umd die Schrift 
„üb. bie Anſtell. v. Theol. u. few.” Berlin, 1842. 


 Medtsbegeiffe vorfommen , Wweitene 
———2 Lehrer im e 


‚ iverden ſou. Norürlic if meiften der Gall, —— 
—— — in —— ft, welche 





des Staats vereinbar, die Kirch⸗ alfo anzuerkennen fei, oder nicht. Un 
wenn auch in Beriehung auf die Univerfirät ſich nicht fo wie bei dem Erm 
bol einer Kirche ein beſtimmt abgefchloffener Canon von Pebrfägen aufitelr 
läßt, über welchen die wiffenfhaftliche Korfhung und die akademiſche Mu 
theilung der Mefultate berlelben nicht hinausgehen dürfte, fo muß doc «nt 
bier ein Oberauffichtsrecht des Staates anerkannt, darf nicht vergeſſen wır 
den, daß bie Univerfitäten dem Volks: und Staatsleben anaebim, 
zu dem beftimmten Zwecke der Körberung und Vervollkommnung deſſelben, 
keineswegs blos für die Wiſſenſchaft beifimmt und vom Wolke un! 
Staate dazu erhalten werden, wie dis u. A. Dablmann ")und Welder 
entwidelt haben. Die Sace leuchtet auch ficherlich dem gefunden Menfcm: 
verftande ſchon an und fire ſich ein, der bei alfer Achtung vor der Freihen der 
Forſchung und Mittheilung auf unfern Univerfitäten do einfehen mut, 
daß, ſowie die bürgerliche und politiſche ſowie die Proßfreikiit 
nicht in ber völligen Ungebundenbeit oder Straflofigkeit beitebt, fo auch di 
Fobrfreibeit Schranken anzuerkennen bat. Wer würde fich nicht empört 
fühlen, wenn irgend ein afabemifcher Lehrer, felbft in der re'ativ freieften 
Facultaͤt, der philoſoph iſch en, ein Soſiem ungehindert vortragen bürfte, 
wodurch bie Grundveſte des Staats: und Volkslebens erſchuͤttert würde; 358. 
wenn ein Profeffor ber Philofophie öffentlih den Atheismus, den fogenonn: 


58) Politit &, 2915 vgl. 316 f. 
59) Rechtes, Staats: und Gefehgebungsstehre I, ©. 526, 


AN 


i \ 





Hegel (Reshegelianer). 7168 


. ten Materialismus im Sinne jener franzöfiichen Philofophen, welche unter 
dem: Namen ber Encyklopaͤdiſten fo übel berüchtigt find, und namentlich die . 
Lehre vortragen wollte, der Glaube an Vorſehung und Unfterblichkeit, .an 
bindende Kraft bes Sitten= und Rechtögefenes fei ein Wahn, eben fo der 
Glaube an Heiligkeit der Eidſchwuͤre, der Ehe, der Gültigkeit des Privatels 
genthums u. dal., im Begentheil fei Ehebruch und Unzucht überhaupt erlaubt, 
ebenfo Kinderausfegung und Kindermorb kein Verbrechen u.d.m. Daß alle 
dieſe oder Ähnliche Srundiage von fogenannten Philofophen alter und neuer 
Zeit wirklich gelehrt und ausgefprochen find, ift befannt, und eben fo braucht 
man ſich ja nur an die fogmannte „junge Literatur”, welche bie Emanci pa⸗ 
tion des Kleifches prockamirte, und am bie antiſocialen Spfleme des St. 
Simonismus, des Robert Owen, Fourier, Proubbon, abet, und wie die 
Haͤupter des Socialismus und Communisſsmus weiter heißen, zu erinnern, 

worin der thatfächliche Beweis geliefert ift,, wie ſolche Grundſaͤtze nach und 
nach aus der Literatur in das Volkoleben eingehen. Run find die Uni: 
verfitäten namentlich für Deutfchland ohne alle Frage die einflußceichflen 
Snflitute, und auf ihnen ſolchen Lehren nicht nur Duldung zu geftätten, 
fondern fie wohl gar durch Anſtellung als Profefforen von Staatswegen zu 
autorifiren ober auch nur indem man diejenigen, welche ſich zu foldhen Sy: 
ſtemen bekennen, ale akademiſche Lehrer fungiren läßt — dies waͤre 
offenbar eine hoͤchſt tadelnswerthe Nachläffigtelt oder Pflichtvergeffenheit der 
Staatsgewalt in ihrer wichtigen Beztehung als oberfte Auffichtsbehärde für 
das Gebiet der Volksbildung, wie denn bekanntlich auch die freieften 
Staaten unferes Welttheils, England und Frankreich, Leine Angriffe auf bie 
öffentlihe Moral und Religion dulden, wohl wiffend, daß damit 
die eigentliche Baſis auch des politifchen Lebens zerflärt werden wuͤrde 9). 
So wenig demnach ein Lehrer der positiven Rechtswifienfchaft blos feine 
fubjectiven Anfichten [über das Naturrecht, die Mechtephilofophie, ſondern 
eben nur die Kemntniß bes wirklich geltenden ober pofitiven Rechtes 
zu lehren hat, fo verhält es fich offenbar auch mit den Lehrern der Theologie. 
Geſetzt, ein juriftifchee Profeffor, 3.8. des deutfchen Staatsrechts, wollte 
lehren, daß das Princip der Volkseſouveraͤnetaͤt in dem Sinne, wie die Stans 
zofen es verftehen‘!), das allein richtige politifche Princip und die wahre 
‘Grundlage alles Staatsrechtes ſei, oder bie demofratifche (foges 
nannte republicanifche) Staatsform die einzig vernünftige, die monarchi⸗ 
ſche dagegen ohne Rechtsgrund fei, oder daß das Privateigenthum und 
die beftehenden Verträge Beine bindende Kraft hätten, oder geſetzt, ein pro⸗ 
teftantifcher Profeffor des Kirchenrechts erklaͤrte die Reformation für 
eine fchlechthin miberrechtliche Revolution und ſich entfchieden für die Wie 
derherſtellung bes Papſtthums u. d. m.; — fo würde offenbar in allen diefen 
Fällen bie Staatsgewalt mit Recht fagen: „ſolche Lehrer des pofitiven 
Rechts kann Ich nicht brauchen” und fie demgemäß entfernen. In noch hoͤ⸗ 


60) Dahl mann, Polit. ©. 254 ff. 
61) Jener Ausdruck bat auch einen richtigen Sinn, wie Hegel, Dablmann, 
Thilo etc. gezeigt. 


Hegel (Reuhegelianer) 


n Grade gift dies aber natürlid vom der Theologiez denm im bier 
t offenbar Alles auf wirkliche lebendige Ueberzeugung von ber Wabt 
8 religiöfen Glaubens an, und Keiner fann religiöfer Volkslehrer im 
m Sinne des Mortes fein, der nicht eimen lebendigen Glauben befiye. 

an daher auch bei der pofitiven Jurisprudenz fich benfen läßt, daß Je 

‘“ audy bei der Ueberzeugung von der Ungerechtigkeit der Pofitivgefe: 

bh ein gerechter Michter fein koͤnne, ſofern bei ibm das Amt umd die 

‚on Btoeierlei fein Eönnen und-fofern er in praxi ſich fireng an das pofitin 

hält: fo gilt ein Gleiches unmöglich vondem Theologen, und auf 
ı Fall kann die Kirche in ihrer mit der allgemeinen Univerfidt 
mbenen Hochfchule, melde eben bie theologifche Facultaͤt ift, folde 
er brauchen, welche blos wiffenfchaftliche Zwecke verfolgend bie Kir 

(ehre untergraben und bie negative Richtung bie zu jenem Ertrem treiben, 
ich fo offen in B. Bauer ausfpricht‘?). Es bleibt alfo der Sag ausge 
rt, wiffenfhafttihe und Lehrfreihelt find durchaus nicht dafı 
r, indem bie letztere ber Natur ber Sache nad) bei allen Staatsanftaltm 
- Schranken anerkennen muß, wenngleich allerdings im Allgemein 

rfrefheit ald Regel anzuerkennen und jehe Schranfen als Aut: 
we nicht zu eng zu ziehen und ftets auf das Strengfte zu interprecken 


Uebrigens ſollten ſolche Gelehrte fo viel edlen Stolz befigen, um nidt 





‚2) Ganz fo urtheilt Hunbeshanen in ber Fürglich erfchienenen geiftre 
nen Schrift: Der beutfche Proteftantismus 1847 S. 306 f.: „Laͤßt nicht di 
ganze Debatte über abfolute Lehrfreibeit ummillfürlich ben Einbrud übria 
als fei die Kirche nur dazu da, um für die Entwidelung des wiſſen— 
ſchafthichen Beiftes einen freien Spielraum, ein auch materielles Subſtret 
zu acwähren? Auf die Sefabr hin, von gewiſſen Seiten als cin araer Ki 
verfchrieen zu werden, müffen wir die Frage entfchicden verneinen. Allertinss 
ift der ganze Umfang des Lebens mit dazu da, um den miffenfchaftlichen Ei 
zu reizen, ie Wiffenfchaft zu fordern und von ihr gefördert zu werden; auch ti: 
religiofe Leben und die Kirche haben durch ihren unendlichen Inhalt unter dir 
hriftlichen Völkern die Wiffenfhaft ven jeher angeregt, genährt und gerfleat: 
fie werden es ferner tbun, nicht nur um Außeren Smpulfen zu genügen, fonter 
weil ihr innerfter Rcbenstrich es fordert, ſich der Blaubensobjecte auch wilten: 
Ichaftlih zu bemaͤchtigen. Aber nicht nur bat jede Wifjenfchaft an ihrem eianta 
Snbalte ihre Schranke, ſondern die Pflege der Wiffenfhaft in dem Sinne u 
ihrem Gegenftande zu machen, wie cs von den Wertheidigern der unbedinztn 
firchlichen Lebrfreibiit gefordert wird, d. b. zu ihrem vorwiegenden oder an 
ausfchliegtichen Intereſſe, hinter das jedes andere zurüctritt, bieße offenbar idt 
das aus den Augen rien, was ibr Hauptziel ift, ihre große Aufgabe, die idt 
von ihrem gettlichen Etifter geftellt ift: dic Begründung des Reichs Gottes 
auf Erden, die bekanntlich nicht mit dem Rufe zum Wiffen, fontern u: 
Bufe und Bekehrung begann. Der Zwed der Kirche iſt die lebendige Sir: 
ftellung der Keinigkeit der innern und Außern Beziebungen des Menfchen zu fi: 
nem Bott und zu feinen Nebenmenfchen durch unabläfftgen Kampf mit der Suͤnde. 
In diefem Werke fittlicher Sclbftvollbringung wird zwar die Kirche weſentlid 
unterftügt durch die Sntellectualität, beionders da fo viele Formen ker 
Sünde mit auf Irrthum beruhen; aber jicherlich ift für die praftifchen Zien 
der Kirche das wiffenfhaftliche Intereſſe als folches immer nur cin 
fecundäres.” 


Hegel (Neuhegelianer). 765 


nach einer Anftellung in einem Amte zu trachten, das grunbgefeglid) und we: 
fentlich für die Ausbreitung einer pofitiven Lehre, die fie durch ihre Wiſ⸗ 
fenfchaft zu deſtruiren fuchen, ja für fhon vernichtet erklären, geftiftet iff. 
(Man denke body an den berüchtigten Antifte® Hurter m Schaffhaufen, der 
viele Jahre lang ſich von der proteftantifhhen Gemeinde befolden ließ 
und es auch erſchrecklich übel nahm, als dem Papiften endlidy die Maske 
abgeriffen ward !) — Daß die ganze Degel’fche Schule das wiſſenſchaft⸗ 
liche Intereſſe allein anerkennt und über alles Andere fest, ift eben der Grund» 
fehler und zugleich ein Beweis, daß diefe Schule, obwohl fie die Philofophie 
darauf befchräntt, „ihre Zeit in Gedanken erfaßt” zu fein, unfere jegige Zeit 
nicht verfteht, welche legtere allem, auch dem wiſſenſchaftlichen, bloßen A ris 
ſtokratismus feind ift und das demokratiſche Princip (im Achten 
Sinne biefes Worts) zur Anerkennung gebracht wiffen will. „Freilich (heißt 
es in diefer Hinficht nur zu wahr in bem eben angeführten trefflichen Buche: 
Der deutfche Proteftantismus ©. 309) ift es aber gerade das hriftliche Volk, 
dem in dem Hader zwifchen Symbol und Lehrfreiheit bie jegt keineswegs biejeni 
Berüdfichtigung zu Theil geworben ift, welche es anzufprechen doch wohl ein febr 
begründetes Hecht hat. arum? Für uns wenigflens ertlärt fich dieſe Er: 
fheinung aus der mehrberührten ariſtokratiſch⸗ bureaukratiſchen Haltung, weldye 
unfere gebildeten Stände dem Wolke gegenüber einzunehmen ſich Längft gewöhnt 
haben ®2). Die Korderung einer unbefhräntten kirchlichen Lehrfrei— 
beit erfcheint uns rein als Product jener Form bes Bemußtfeins und Lebens: 
intereffes, welche in dem mobernen Polizeiftaate die herrfchende gewor⸗ 
den ift. Mögen fo radicale Ingenien, wie etwa Edgar Bauer**), immer: 
bin wähnen, gerade mit jener Forderung ein tücdhtiges Stüd von dem „Zopf“ 
einer ‚überlebten Zeit abgethan zu haben, fo fcheint es uns dagegen, als hänge 
diefer Zopf gerade damit nur um fo länger Binten:gerabe jene Forderung erfcheint 
uns als eine obfolete, als bie einer Betrachtungsweife der Korm und Gliederung 
unferes Öffentlichen Lebens, über welche wir feit den Freiheitskriegen binausges 
wachfen fein follten und jet nur zu großem Schaden und Verwirrung noch feft 
gehalten werden. Mögen uns auch die vielen Rechtlichgefinnten, welche noch 
mehr oder weniger in biefer Betrachtungsweife befangen find, nicht zuͤrnen über 
unfere Behauptung, fondern diefelbe mit Ernft und unbefangenem Nachbenten 
prüfen: wir unſers Zheils können nun einmal nicht umhin, die Sache fo anzus 
ſehen, ale ob in dem Bewußtſein unferer beamtlicy gebübeten Welt nur dass 
jenige einen lebendigen Nefler fände, was für dbiefe Glaffe Intereſſe und Bes 
deutung bat, entweder im beſſern Sinn als ernfte wiffenfhaftlidhe For⸗ 
fung, oder in dem weniger edlen, als leichtes amüfantes Spiel des Literas 
riſchen Geiſtes“ *°). 


63) Dieſe Bemerkung macht zu Wunften des gemeinen Mannes gegenüber 
dem Hanbelsftande, Beamtenflande, Gelehrtenflande — wenn auch wohl in etwas 
übertriebener Weife — u. A. ein die beutfchen Nachbarprovinzen bereifender 
Belgier. Vgl. die Grenzboten von Kuranda 1844. Nr. 3. ©. 704. 

. 64) Weber die Anftelung von Zheologen auf ben beutfchen Univerfitäten. 
Theologifches Wotum. Berlin 1842. Ä | 

66) „Man möchte fich auf dieſem Gebiete die Freiheit recht ungenirt erhal⸗ 
ten, zugleich aber ber materiellen Subftdien nicht ledig geben, die dazu erforbefs 
lich find, um fich diefem Hange in irgend einer feiner Formen hinzugeben. Daß 
e8 daneben noch andere Leute geben könne, welche auch in Betracht zu kommen 
Anfprud ben können, fällt diefer ſich ariftofratifch nur. auf fich felbft bes 
ziebenden Glaffe nicht ein. Daß dieſe Leute materielle Güter Tchaffen, den @ 


Nebrigend vertweifen mir In Bezug auf. Bauer’s ‚ zum Theil 
ſoclaliſtiſche oder communiftifche fehriftftellerifche und dem Werth 
: Philofophie, fo wie das gefammte literarifche Treiben bee Gebrübt 
auf einige feht gehaltvolle Auffüge des befannten hoͤchſt freiffnnigen 

Dr. Alerander Jung in dem von ihm redigirten Königsberger Eiteratur- 
bfatt, namentlich in der Nr. 57 f. im Jahrg. 1844, überfchrieben: 
Kritik in Charlottenburg.” Am Schluffe diefer letztern wird fehr rid- 
bemerkt (Mr. 59), mie ungenügend die ganze Bauer’fhe, bios auf 
erfiandesflügelrien beruhende Weltanficht ift, welche es damit ge 
than und den Zweck der Geſchichte damit erreicht glaubt, baf, indem man dem 
Volke Handarbeit giebt, man demfelben, mie man zu fagen pflegt, gute Kage 
bereitet. Nachdem gezeigt worden, daß dies eine fehr gemeine und unnuhedige 
Anſicht von der Gefchichte aymannt werden muß, wobei überdies, „‚mährend 
man bermeffen genug war, den Menſchen hun teibhaftigen Bott zu ma: 
hen, uns ſchon wieder bie losgelaſſene Hyäne des Päbels aus dem 
— an entgegen grinſt“, heißt es dann zum Schluß: 

ee ee 
E einbüben, daf man, wenn man geroilfe Anfihten über — ober. u: 
—*5 und die Seibftgewißheit zur Kap Inftanz a riyp® be: 
cha Mahn. aber ein fiir ne Prierit Pe F en —3 er * 

um. N) —3 er, als er une enlofe Bermirrun gen be A ic wiſſen redt 
‚ bafi * bie Ge ſer biefen Wahn aufs Zapet ke babın; 
or fie baben ihn en und haben ibn bis zu jenem rabicalften aller Ertrem 
ausgebildet, und haben bamit eben dieWerwirrung bewirkt, bie jest fo roh durch 
einanber tobt, in der Einer den Andern angreift und über "den felber fchon Rab 
fhlagenben einen noch viel verrenkteren Purzelbaum ſchlaͤgt. Es ift die to 






fourniren, auf ihren Schultern tragen und bafür einige Beruͤckſichtigung verbie 
nen, fiegt man nachgerade wohl cin, liebt cs neuerdings wohl auch, mit cinm 
poetifchen Blick auf ihre Zuftände fich zu ergögen. Aber baf in biefen Eriften 
zen voll fehwerer Arbeit und oft tiefer Noth auch tiefere religiöfe Beduͤrfniſſt 
berrfchen als anderwärts, Bedürfniffe, welche die gebildeten geiftreichen Kreiſt 
nicht empfinden ober nicht zu empfinden alauben, oder über welche fie fid fit 
hinweggeſetzt haben, daß dort bie bildlich, markigsconerete religiöfe Vorſtellunge— 
weife ber Bibel, des Katechismus, Gefangbuchs und ber alten „„Zröfter”‘, bie 
man anberwärts entbebren Au eönnen glaubt, nicht nur bie einzig eingängliden 
find, fondern auch allein ein Phantafiebebürfnig befriedigen, für deſſen — 
gung ben hoͤhern Elaſſen eine Menge anderer Mittel zu Gebote ſtehen, das 
dort die abftracte Religion das Sehnen von taufend Gemüthern ungeftillt Laßt, 
die Willkür der freien Theologie taufend Gewiſſen beängftigt, daß eine evangc: 
lifhe Gemeinde nicht dazu ba iſt, um Freien Gelegenheit ku geben, du 
Eebrfreibeit zu ererciren — von Allem biefen feheint man dort feine 
Abnung zu haben. Man erklärt es vielleicht auch für ungebilbet, rob, brutal, 
obfeurantiftifch, pfaͤffiſch, demagogiſch, an die Anfprüche diefer Claſſe zu erinnern; 
man haßt gerade bort ben Pietismus zum Theil fo grimmig, weil er volts 
mäßig ift, und bedenft nicht im Mindeften, — man mit der Forderung un— 
bedingter Lehrfreiheit bei allem Liberalismus nichts Geringeres verlangt, als 
auch die Kirche, die den Einfältigen und Schlichten mitunter allein geblicben if, 
zu einer Pfründneranftalt zu machen für Mitglieder einer geiftigen Arifte: 
tratie.“ 


N 





‘ 


Hegel (Neuhegelianer). 167 


Farce, die je ein tolles Kiebergehirn herausphantafirt hat, und doch noch bazu 
eine Farce ohne Phantafie, aus purer dünner Verſtaͤndigkeit it 
Zeber diefer rabicalen Herren ift die umherwandelnde leibhaftige Selbſtgewiß⸗ 
heit, und boch fpricht Jeder einem Jeden diefer vielen Gelbitgewißheiten die 
Seibftgewißheit, bie Wahrheit wieder ab!’’*e) 

Auch andere, neuerdings veröffentlichte Urtheile über B. Bauer (der fich 
bekanntlich ducch feine Angriffe gegen den Staat mehriährige Seftungsflrafe 
zugezogen) lauten nicht beſonders tröftlich und ehrenvoli °7). Zu 


66) „‚Und dennoch erfahren ed die Herren Bauer fchon felbft, daß das Ding 
nicht weiter zu treiben geht, als fie es getrieben. Denn biefe Welt, die bier 
kritiſch zurecht gemacht wird, ift in der That nur eine endliche. Wo aber eu 
man noch bin, wenn es nicht weiter gebt, wenn die Welt, alfo auch das Exr⸗ 
trem, ein Ende hat? Manmuß zurüd! Und fo gefchah es! Go fehr hat auch 
ale Kritik ein Ende; fo wenig ift auf ihre Abfolutheit Berlaß! Und fo kom⸗ 
men denn die Herren Bauer — wir trauen unſern Augen kaum — bereits zu 
Aeußerungen, worin ſie das reactionaͤre Princip ſchon wieder vertheidigen! Aber⸗ 
auch dieſe Zuruͤcklenkung wieder iſt keine Selbſtbeſinnung, ſondern eben weil ſie 
bei der Reaction anlangt, ein neuer Schwindel jener radicalen Drehkrankheit. — 
Wie ſehr jedoch durch dergleichen Haltloſigkeiten den liberalen Principien geſcha⸗ 
det wird, das iſt kaum ſtark genug auszudruͤcken. Lauter Verzoͤgerungen und 
wieder Verzoͤgerungen, um bie Hauptaufgabe der Gegenwart, das fociale und 
zwar das phufifche und intellectuelle Wohlfein der Voͤlker, zu löfen. Alle bie 
aber find gerade fo frivol und wahnwitzig, welche dafür halten, ſolches Wohlſein 
könne ohne Religion gegründet werden, als die es find, welche meinen, es 
widerftreite ſolches Wohlfein ter Religion. Man ift aber freilich auf der 
rabicalen Seite in ber Tollheit fchon fo reif, nicht blos das Aufhören der Phis 
Lofophie, ber Theologie, der Religion zu behaupten, man behauptet bereits das 
Aufhören der Moral. Das find die allerliebften Ausläufer ber Bauer'ſchen 
Vorurtheitslofigkeit! Wenn nun einer diefer Herren in der Buhl'ſchen Monats⸗ 
fchrift bei Gelegenheit von Eugen Sue in einem Auffag, der mit Zeinheit in 
vielen Punkten das Rechte trifft, über das finnlofe Bemühen um Zugend fid 
erhigtz fo weiß er zwar nicht, daß längft das Chriſtenthum unendlich mehr lehrt 
unb fordert als bloß fogenannte Zugenbz aber, was er feiber im Grunde 
weiß und will, wenn das realifirt würde, fo müßte jene Zarce eines toll ges 
wordenen Literatenthbums in eine allgemeine Volkerwuth aus- 
brechen, kein Bürgerkrieg mehr, fondern die Selbftzerfleifhung und Ber⸗ 
fhlingung ber entfeffelten Thierheit im Menfchen ! (Hört!) Dann 
träte jene tellurifche Bluthochzeit der Bartholomäusnacht ein, daß die Thierheit 
des Menfchen das menfchliche SGefchlecht von der Erbe tilgte und das Gefchlecht 
der cigentlichen Thiere den Menfchen übertebte! Die Menfchheit wäre dann 
wahnfinnig oder vielmehr toll geworben und an einer totalen Tollwuth geftorben, . 
und die Thiere wären zur Vernunft gelommen und ftürben nach wie por eines 
natürlichen Zodes. — Wenn aber die Herren Bauer in Charlottenburg im Pas 
radiefe bes reinen Menfchenthbums dergleichen Gonfequenzen ihrer unangreifbar 
ſich duͤnkenden Kritik erlebten, daß fie im Paradiefe felbft noch einmal ſterben 
und zwar unter ben cannibalifchen Händen der Pöbelmuth fterben müßten, To 
würde doch hoͤchſt wahrfcheinlich alle Kritik auf ewig verfhwinden. @ine Kritik 
aber, die auch nur fterben Tann, ift keine unangreifbare, viel weniger eine uns 
wandelbare, erfte Wiffenfchaft !" 

67) Berg, Hundeshagen, Der deutſche Proteft. S. 182. Wiganb’s 
Gpigonen. 1846. I. &. 303 ff. (worin zugleich die Anhänger Bauer’s, 9. 2. 
Köppen, v. Körfter, Szeliga, &. Fränkel fcharf gegeißelt werben) 
und Kuranda’s Grengboten. 1847. Nr. 13. &. 563. Es wirb darin gerades 
zu gefagt: B. 8. babe ſich überlebt, das Feuer der Begeiſterung fei erlofchen, 


168 Hegel (Meubegelianen) 


Wenn man in diefer wichtigen Principienfeage dem Verfahren ber 
Regierung durchaus beiftimmen muß und in demfelben ae 
der akademifchen Lehrund Geiftesfreiheit Überhaupt fehen Fann, fo ift dis 
dagegen nicht in andern Fällen möglich, in welchen fie Maßregeln gegen Un: 
bänger des Hegelianigmus ergriff, bie mit Dem Princip jener Greibeit, das doch 
— Regierung mehrfach laut anerkannt werden, nicht übe: 

mmen 

Es gehört hierher zunaͤchſt, daß im Winter 1843—1844 dam Dr. 
Nauwerck, der mit vielem Belfall politifhe Vorlefungen in Berlin 
hlelt *), ſobbi⸗ dem Profeſſor Hinrichs in Halle, bei dem daſſelbe ber Fall 
war, bie Fortſetzung derſelben unterfagt ward. Dies war offenbar ein Ein: 
geiff in die alademifche Kehrfreiheit, mie — bioher auf un: 
feen deutfchen proteſtantiſchen Univerfitäten beftand und fogar von dem 
Staatsrath dv. Jakob umd zwar im einer 1820 (alfo nach den Karlsbadet 
Belchlüffen!) erſchienenen Schrift unummunden vertbeibigt wurde 6°). Die 
Berliner philoſophiſche Facultät hatte in einem trefflichen Gutachten (f. 
Leipz. Deutſche Allg. Zeit. v. 31. März 1844 Beil.) einftimmig fic dahin 
erklärt, daß in Dr. Naumwerd’s Schriften feine fubnerfinen Theorien 
enthalten feien, mie dad Minifterium meinte. Die Naumwerd’fdyen Bor: 
lefungen ſowohl als die Hinrichs'ſchen erſchienen dann (erflere in Wi: 
gand’s Vierteljahrsfchrift, die Einleitungsvorlefung ſchon früher als „ein 
Wort über freie Staatsverfaffung‘), und wenngleich beide vom: fireng wiffen- 
ſchaftlichen Standpunkt aus ſchwerlich allen Forderungen unferer Zeit genügen 
möchten, fo muß man doch auch hier das Primcip feilhalten, daß ein Mini» 
jterium des Gultus ale ſolches Fein competentes Ucrtheil über den 
wiffenfhaftlihen Werth von akademiſchen Vorträgen har ?®). Weber: 
haupt ift e8 ganz verwerflid), die venia legendı blog von dem Belieben sn 
Staatsbehörden abhängig zu machen; wie leider! felbft in conftit: 
nellen Staaten geſchieht?)). Daffelbe Princip müffen wir hier noch beim: 
gen andern fpütern Vorfällen geltend machen; fo z. B. in der Sache dir Air: 
Liner Profefforen Vatke, Hotho und der beiden Benary, welche umdi 
Erlaubniß zur Herausgabe einer neuen Zeitfchrift eintamen 72). Dieſe nur 
ihnen verweigert, meil ber vorgelegte Pian ihrer Stellung als „Pie: 
fefforen fremd ſei.“ Die Actenftüde hierüber find befanntlich bald darauf 
in einer eigenen Brofchüre erfchienen und man hat fih, wie ein Berict 
erftatter in der Augeb. Allg. Zeitagbemerfte, ſowohl von Seiten des Minike: 


und das cr zur Darftellung, zur Gefchichtsfchreibung fein Zalent babe, mi: 
nachgerade auch feine leidenſchaftlichſten Verehrer einräumen. 

68) Vergl. Deutfhe Allg. Zeitg. v. 28. März 1844. 
a 2 Ueber atad. Freih. u. Disciplin. Vergl. Scheidler, Hodegetik £.230 
ed. 3) 

70) Berg. Pfizer, Ged. üb. Recht, Staat u. Kirche T. 305. 

71) Vergl. d. Verband. d. 1. Kammer in Karlerube v. 12, Febr. 1844, 
= ne: Ubendz. Nr. 40, 4l; u. Kuvanda’s Örenzboten 18544 Wr. 12. 


72) Vergl. Deutfhe Aug. Zeitg. dv. 17. Zuli 1844. 


Hegel (Neuhegelianer). 7169 


riums als jener Profeſſoren gegenfeitig bie Wahrheit offen gefagt. Das 
Princip, welches das Miniſterium verfolgte, war offenbar ein irriges; 
benn es kommt ihm Bein competentes Urtheil darüber zu, ob Leiflungen ak a⸗ 
demiſcher Lehrer, die als folche jederzeit zugleich im Dienfte der Wiſ⸗ 
fenfhaft ſtehen und als Schriftfteller fi ihren Wirkungskreis felber 
beftimmen ??), was auch der ehemalige preuß. Geh. Rath Nöffelt treffend 
auselnandergefegt hat 7), den Sorderungen der Wiſſenſchaft entiprechen oder 
nicht ? — Auch die Behandlung des Hegelianers Rupp in Königsberg (die 
erſt im vorigen Fahre durch defielben Ausflogung aus der Beneralverfamm- 
lung des Guftav-Adolphe Vereins eine folgenreiche Nachwirkung gehabt) ift hier⸗ 
ber zu rechnen ”?®), nicht aber die des Hegellaners Wislicenus, der ohne 
Trage mit Recht feiner Pfarrftelle enthoben ward, da er nicht, tie Rupp, 
nur gegen das Athanafifche Symbol zu proteflicen ſich begnügte, fondern 
gegen das Princip der proteftantifchen Kirche felber, daher er denn auch 
ganz confequent fpäter alles Kirchliche oder Symboliſche verwarf und eine 
fogenannte freie Gemeinde bildete, bie ebenfalls als ein Ausläufer des 
Hegelianismus anzuſehen, welcher aber ſchwerlich ein guͤnſtiges Prognoftiton 
für ihre Fortdauer zu ftellen fein möchte 7°). : ‘ 

Saft gleichzeitig mit dieſen Ereigniffen in Norbdeutfchland entwickelte ſich 
in Würtemberg, deſſen Hochſchule Tübingen mehrere namhafte Hegelia⸗ 
ner befigt, eine bedeutende Reaction gegen bie Ausbreitung biefer Philos 
fophie; wobei nur zu bedauern, daß man auch bier nicht blo8 mit Waffen 
der Wiffenfhaft kaͤmpfte. Es gilt dies befonders in Bezug auf die Ans 
gelegenheit des Profeſſor Wifcher, die noch in zu frifchem Andenken ift, ale 
daß fie weitläufig befprochen zu werden brauchte. Viſcher ward wegen feiner 
beim Antritt der Profeffur der Aeſthetik 1845 gehaltenen Rede wegen mehrerer 
Heußerungen angellagt und von der Regierung'auf ziel Jahre feines Lehramts 
entbunden. Die Rede liegt gedruckt aller Welt vor und enthält nichts, was 
nad) dem gemeinen deutfchen Recht irgend ftrafbar wäre; mithin laͤßt fich auch 


73) Scheibler, Idee d. Univerfit. S. 381. 

74) &. deſſ. Biogr. v. Niemeyer Bd. H. ©. 121 ff. Berg. Stef: 
fens, über Deutfchl. prot. Univ. 1819 ©. 74 u. Schleiermadher, Lehre 
v. Staat 1845 ©. 203. (Bergl. auh Dahlmann's erft. Vortrag in Bonn 
1842.) Selbft Symnafiallehrer, oder auch Volktsfhullehrer, wenn 
fie Zalent und Luft zur Schriftftellerei haben, bürfen von Staatswegen nicht daran 

ebindert werben, fo ferne fie Beine Amtepflicht darüber verlegen; daß auch 
terbei die preuß. Regierung das richtige Princip nicht anerkannt bat, beweifen 
die bekannten Falle und Proceffe des Sberlehrers Witt in Königsberg u. bed 
Lehrers Wander in Hirfchberg- 

75) Vergl. die Schrift: die Abſezung des Prediger Rupp, Wolfenbüttel, 
1846 und Raſche, Dr. Rupp’s Öff. Wirken, Königsberg 1846. (Höchft bedauer⸗ 
lich ift, daß, wie eben die Zeitungen melden [Deutfche Allg. Zeitg. v. 10. April] 
Rupp’s Anhänger ſich gewaltfam der Anordnung ber Polizei widerſetzt haben. 
Die Liberale Partei follte am Wenigften beriei fich zu Schulden kommen laſſen.) 
755) Bergl. Wislicenus, d. freie Gemeinde in Halle. 1817. (Sie beffebt 
jest aus 73 Mitgliedern, in Bezug auf welche geringe Zahl W. fih mit Wer: 
mr die ebenfalls geringfügige Anzahl der erften Ehriften tröftet! Ale 
wenn bier Gleichheit oder auch nur Aehnlichkeit der Verhältnifie vorläge I!) 

Suppl. 3. Gtaatöler. II. 49 


Pa 


TO", Segel (Meubepelianer) 


jene Suspenfion vom Standpunkt des Mechts nicht rechtfertigen. Hält man 
ihn aber mit Grund Überhaupt für einen „gefaͤhrlichen“ alabemifchen Lehrer, 
fo hätte man ihn auch nicht als Privatdocenten dulden bürfen, jeden- 
falld wäre dann die Suspenfion eine fehr ungenuͤgende Maßregel. Allein darf 
man vergeffen, daß die Aeſthetik der freien philofophifchen Facultaͤt an: 
gehört? Es ift wohl auch nicht zu beforgen, daß die wahrhaft abfurde Petition, 
mit welcher die Bürger und Bauern in Marbach (Schiller’s Geburts 
ort!) und anderwärtd gegen Viſcher's Neactivirung eingelommen 77) find, 
— — igung finden wird. Die beſte Antwort darauf fteht Sef. 


38, f. 
Dies führt uns auf das neueſte, ſchon früher nte Ereigniß eines 
Gonflicts bes Hegelianismus mit dem Pofitivismus, die Berufung des Dr. 
Zeller in Tuͤbingen als Profeffor der Theologie auf die Hochfchule zu Bern. 
Yiefe Sache fheint durchweg ganz die Wiederholung des Strauffihm 
dels in Zürich zu fein. Auch Zeller gehört im Allgemeinen der He: | 
gel'ſchen Schule an und in Bezug auf bie Theologie der „[peculativen Katik, | 
bie als ſolche nidyt blos mit dem fogenannten Supranaturalismus, fondern 
auch mit bem fogenannten Rationalismus (ber eine Bereinigung des pofitio 
chriſtlichen Glaubens mit der Vernunftreligion DREHEN auf dem prof 
tifchen Wege erfirebt) in Widerfpruch fteht. Auch Beller’s Berufung 
ging blos von der Regierung aus, welche nicht nur den Widerſpruch ber 
Beiftlichkeit als des Vertreters ber Landeskirche, fondern auch dem der the 
fogifhen Facultät?®) in Bern durchaus nicht achtete. und ganz fo mt 
ber Bürgermeifter Hirzel dem Volke in einer Proclamation erklärte, fein 
Beforgniß wegen jener Berufung fei eine durchaus ungegründete, indem dem 
Chriſtenthum duch Zeller nicht im Geringften Gefahr drohe. An eine 
Aufregung des Volkes fehlte e8 auch nicht, wie die zahlreichen Volksverſamm— 
lungen und Petitionen gegen jene Berufung und bie öffentlichen Blaͤtter be 
tiefen, melde Zeller's (geglaubte) Ankunft in Bern mit den Morten an: 
zeigten: „der Antichriſt fei da!” In der entfcheidenden Sitzung die 
großen Mathe im Monat März ward ganz fo wie in Zürich nach einer 14itün: 
digen Debatte mit einer impofanten Majorität die Aufrechterbaltung jmer 
Berufung durchgefegt und fo fehlt in der That zu einem vollftändigen DaCapo 
der Straußiade eigentlih nur nod), daß aud) in Bern ein „„Putfch‘ mit ihn: 
licher Wirkung ftattfände | 








77) S. Frankf. Journal v. 6. April, Beilage, Deutfche Allg. Zeitg. u ®. 
Xpril. 

. 75) Der akad. Senat bafelbft hat fich mit großer Majorität (19 geger 
7) für neutral in diefer Sache erklärt. Dies ift keineswegs zu billigen; von 
ben offentlich anerkannten Organen und Vertretern der BWiffenfchaft ermartet man 
mit Mecht ein die Sache aus ihrem wahren höheren Standpunkt auffaffende un! 
nach feſten Brincipien biefelbe augleih entfcheidbenbe Anficht ; eine foldı 
Paſſivitaͤt ftellt fich felber ein testimonium paupertatis in diefer Beziehung auf. 
Und dies vollends in einer Demokratie, in ber bas Solonifche Geſetz, daß cher 
Bürger bei entſtandener Spaltung Partei ergreifen muß, und welches auf bi 
entargengefeste Benchmen (det Apragmosyne, vergl, Aul, Gell, Noct, At. 
I, 12) die Strafe der Infamie fest, durchaus anwendbar ift. 


AP 


. Hegel (Neuhegelianer). 771 


Nichtsdeſtoweniger iſt aber der Fall hier in mehreren weſentlichen Punk⸗ 
ten ein ganz verſchiedener. Während Strauß grundweſentlich für das Ehri⸗ 
ſtenthum deſtructive Anfichten in feinem Syſtem entwidelt und durch die 
von ihm gewählte Form der Veröffentlichung feines Buches die Abficht, unmits 
telbar auf den Glauben der Laienwelt einzupirken, ganz unverkennbar an den 
Tag gelegt hat, gehört Zeller jener Fraction der älteren Hegel'ſchen 
Schule an, welde eine Vermittlung ober VBerföhnung sejfchen Glauben und 
Wiffen oder der Theologie und Philofophie durch Hilfe eben des Hegel'ſchen 
Spftems und feiner Kritit auf dem fpeculativen Wege anftrebt, fich 
dabei ftreng auf ihrem rein wiffenfhaftlihen Standpunkte Hält und 
beſchraͤnkt, auch deshalb auf mehreren deutfchen Univerfitäten bedeutende 
Anhänger ober Vertreter diefee Richtung gezählt hat .oder noch zählt, weldye 
ihre Anfichten ohne alle Beeinträchtigung durch ben Staat oder die Kirche 
bisher entroidelt haben, wie dies auch ganz dem Princip ber akademiſchen 
Lehrfreiheit angemeffen iſt. Es genügt, Daub in Heidelberg, Mars 

heineke und Vatke in Berlin und befonders Baur ??) in Zübingen 
zu nennen, weil Zeller vorzugsmeife als des Legtgenannten Schüler (und 
zwar als „der gelehrtefte und geiftvollfte”‘, ſ. Jenaiſche Lit. Zeit. Nr. 248 vom 
16. Oct. 1846) anzufehen if. Dan wird freilid) auch von diefer Fraction 
für die eigentlichen ‚‚Lebensfragen” unferer proteftantifchen Kirche nicht zu viel 
hoffen und ihrer „Uebereinſtimmung mit dem Chriſtenthum“ 80) nicht zu viel 
Werth beilegen dürfen, allein immer muß man ihre wiffenfhaftliche Bes 
rehtigung und ihr Streben felbft anerkennen, felbft wenn auf dieſem 
Wege das Ziel — umd dies ift ein hohes, da in der That die Verfähnung 
zwifchen bem Glauben und Wiſſen die wichtigfte aller dermaligen Lebensfragen _ 
genannt werden muß — nicht zu erreichen wäre, in magnis voluisse sat est! 
Was Zeller beteifft, fo bat derfelbe fidy nicht nur ducch manche gebiegene 
Schriften in jener angebeuteten Richtung ſowie auch durch feine Geſchichte 
der griechifchen Philofophie und trefflichen Auffäge über das deutfche Uni⸗ 
verfitätswefen (in Schwegler’s Jahrbuͤchern der Gegenwart 1845 und 
1846) vortheilhaft befannt gemacht, fondern ift auch feit einer Reihe von Jahr 
ten als Privatdocent mit vorzüglichem Erfolge an derfelben Hochſchule wirk⸗ 
fam gewefen, von weldyer Dr. Strauß gleich nach dem Erfcheinen feines Bu⸗ 
ches fofort entfernt ward. Der Tübinger Senat bat ihn wiederholt zur Pros 
feſſur ſowohl in der theologiſchen ale auch in der philofophifchen 
Facultät vorgefchlagen ; allerdings vergebens, weil dem Vernehmen nad an - 
„hoͤchſter Stelle” die Zuſtimmung verfagt ward). Werhält es fich hier⸗ 

mit wirklich fo, fo iſt dies nur ein neuer Beleg dafür, daß auch in Deutfch- 
land, felbft in conftitutionellen Staaten, bie Stelumg der Univerfität zur 
Staatsgewalt nicht eine ſolche iſt, wie fie der Idee ber Univerfitdt und dem 


79) Es fei bier an das ausführliche Werk —I — „die chriſtliche Lehre ‘von 
der Dreieinigkeit und Menſchwerdung Gottes“ (3 Bände) erinnert. Vergl. bie 
Rec. dieſes Buches in der Neuen Jenaiſchen Lit.⸗Zeitung 1847. Nr. 27—29, 


‘ ⸗ 9 


80) Vergl. Carove, über kirchl. Chriſtenth. S. 347, Note. 
81) Näheres hieruͤber berichtete die Weferzeitung Yufange Februar 1847. 
* 





die — ein competentes Urtheil, 
walt oder der Regent ſelber, ee gerichtet" 
werben müffen, mie ſchon bemerkt, an ein blofer Eaie“ ober 
resp. Idiot.“ Man erinnert fi, daß der Raifer Sigiemundb auf einem 
Reichötage — ſich barüber vertwundernd, daß ein grabuirter Ritter, ftatt auf der 
Praͤlatenbank, auf der Herrenbanf fine Sit gmommen — öffent fa 
„sch kann in einer Stunde Hunderte zu Rittern fchlagen , zu Grafen und 
Fuͤrſten erheben ; aber in meinem ganzen Leben nicht Einen zum Dor: 
tor promoviren”®2), Darin ift ganz das richtige Princip: die Anır 
kennung der weltlihen Incompetenz in diefer aus geſprochen, 
forwie die Anerkennung ber alleinigen Berechti — enfda — 
Corporatlon. Es iſt ganz daffeibe Werbättniß wie 

ſtlichen Aemter, wo offenbar die fogemannte 
Drdination, burchaus nicht von ber wel ausgeben 
ebenfo wenig bie Auferliche Anftellung v 
ber und ihrem Organ, der Geifllichkeit, —* follte; wie wen. 
im Katholicismus gilt, fonbern auch nad ben wahren Principien bed Pretr | 
ftantismus der Fall fein müßte. bat bekanntlich Luther im einerde 
nen Schrift „daß eine chriftliche —* das Recht habe, ſich ihre Prhıe 
ſelbſt zu waͤhlen“ ausführlich nachgewieſen.) Allerdings iſt leider! gefchic 
lich, nachdem das leidige fogenannte Zerritorial= oder Conftftorialinftem m 
funden und mit ber Kirche auch die Univerfitäten ihrer Corporativrechte im | 
Staat gegenüber beraubt worden ®°), dieſes Syſtem pofitiven Medte: 
einher: allein dies ift, mwiein Bezug auf das fogenannte Kirchentegiment 
des Etantes, erft noch neuerdings von unfern berübhmteften proteftantiihen 
Theologen (Großmann in Leſpzig, von Ammon in Dresden und Bi 
[hof Eylert in Berlin®?) nachgemiefen, eben eine bloße Ufurpatien, 
melcher der Staat von Rechtswegen entfagen müßte. Selbft in dem Fall ſe 
doch, daß man der Staatsgewalt das Recht der Ertheilung der akademiſten 
Profeffuren, befonders der theologifchen, fortwährend zuerfennen molt, 
dürfte die Verweigerung einer folhen auf den Grund einer blos ſubfecti— 
ven Anficht des Regenten bin nicht gerechtfertigt erfheinen, fonbern mu: 
dann, wenn der Docent, von bem die Rede, ſolche Grundfäge entſchieden 
ausgeſprochen hat, welche nicht nur der Staatsgemalt ald der oberaufie 
henden Behörde als deftructiv erfcheinen, fondern dies auch nach dem Urrbrüs 
der competenten wiffenfchaftlichen Corporation wirklid) find. In einem ! 


— und Vertreter ber — im Bag auf die Zange | 

















— — — 


— — —— — 


A2) Kremfier, über ben Einfluß ber Wiſſenſch. 1827. S. in 

A) Vergl. Dafe, db. gute alte Recht db. Kirche. 147. ©, f. 

a4) Wir haben dieſe Stimmen in Bran’s Minerva 1646, "Apı ih 
ſammengeſtellt. Vergl. Scheibler, üb. db. Berbältnift zwiſchen Staat Ki 
Kirche, in Polig's Tahrbüch. 1834 Dec., 1835 Mai. 


Gegel (Neuhegelianer), 713 


ſolchen Falle wuͤrde aber auch bie Wirkfamkeit als Privatbocent nicht geitattet 
werden dürfen, da zwifchen ihr und der Profefiur gar Bein wefentlicher Un⸗ 
terfchieb flattfindet. Man wirb body wahrlich nicht glauben, daß mittels ber 
letztern als einer bloß dußern Anerkennung durch einen Zitel und etwaige 
materielle Unterftügung von Seiten des Staates, in bem Lehrſyſtem des 
Docenten eine Transfubflantiation vor fi ginge! — Hätte nun, um auf 
den vorliegenden Kal zuruͤckzukommen, Zeller, ein fehr beliebter Privatdos 
cent, das Chriftenthum wirklich „‚untergraben”: wie hätte man ihn fo viele 
Jahre lang in diefer fo bedeutenden Wirkſamkeit 85) Laffen, wie ihn von Seis 
ten der Facultaͤt und des Senats zur Profeffur vorfchlagen fönnen! Wenn 
Zeller demnach für das ohnehin vozzugsweife zum Myſticismus und Ortho⸗ 
doxismus genrigte und gerade in academicis theologicis ultraconfervative 8°) 
Mürtemberg rechtgläubig genug war, fo wird aud) das Berner Chriften- 
thum von ihm nicht „defteufet” werden! Endlich iſt auch die Oppofition 
der Geifttichleit und des Volkes in Bern gegen feine Berufung eine fo alls 
gemeine und entfchiedene, wie fie es in Zürich gegen Strauß war, fo daß 
ein „Putſch“ deshalb nicht ſehr wahrfcheinlich erfcheint. Uebrigens ift die 
Sache im gegenwärtigen Augenblid 87) noch nicht zum völligen Abſchluß ge⸗ 
tommen, und immerhin möchte «6, da doch einmal eine nicht unbeträchtliche 
Zahl von Berner Bürgern, beſonders aber die theologifche Kacultät felber 
fi) gegen Zeller's Berufung erklärt hat, angemefjener fein, davon ganz 
abzufehen oder Zellen in die philoſophiſche Facultaͤt zu verfegen, über 
welche weder ber Kirche noch dem Laienvolk eine Eontrole oder ein competentes 
Urtheil über Anftellungsfähigkeit zuſteht. 

Es ift bisher Ludwig Feuerbach's noch nicht beſonders gedacht wors 
den, der gemöhnlih mit Strauß und B. Bauer als „der Dritte im 
Bunde“ (gegen das Chriſtenthum) bezeichnet zu werden pflegt, To wie als Einer 
von Denen, welche auf der „Außerften Linken” der Hegel’fchen Schule 
feinen Plag genommen hat. Derſelbe gehört ohne Zweifel zu ben ausgezeich⸗ 
netften jüngern Philofophen und in fofeen zur Hegel’fhen Schule, als er 
eine Reihe von Jahren entfchiedenfler Anhänger derfelben war, ald weldyer er 





85) „Ein alademifher Lehrer wirkt bei gleichen Kräften tiefer in. 
den Staat hinein und hinunter ald taufendb Autoren, bie er noch dazu mit 
bilden balfz auf feinem Lehrfluhle dreht er eine Spinnmafchine von taufend 
Spindeln um. ine Akademie ift die eigentlidhe innere Staatsmiffion und Pros 
paganda, da fie eben bie rüftige, leichtempfangende und lange fortgebährende 
Zugend mit ganzen Generationen befruchtet.’ Sean Paul, Freiheitsbüchlein 


86) ft es nicht ein wahrer Skandal, daß in unfrer Zeit auf der protes 
ftantifhen Univerfität eines noh dazu conftitutionellen Staates, in 
Zübingen, für die proteflantifche Theologie Studirenden das möndifc oder 
Hoftermäßig organifirte Stift noch fortbefteht, in welchem dic Gtudenten ben 
größten Theil des Tages eingef perrt find (2 Stunden dürfen fie in die Stadt, 
und wie fie dieſe Freiheit enugen, d. h. furchtbar mißbrauchen, haben die 


Halle'ſchen Jahrbücher 1839 ausführlich erzählt)! — Auch Ewald's neucfte 


Schrift über Tübingen beweift, wie nöthig gerade dort Reformen find. 
7) Anfang April 1847. . 98 


/ 


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anıge Dara zu Einer richtigen Deurigeuung Dejjsiven Dem x 
zu geben. Das erfte befteht nun eben darin, daß Feuerba 
wefentlihe Differenz von Hegel urgitt. 
„Meine Religionsphilofophie ift fo wenig eine Erplicat 
fhen, wie der übrigens fehr geift: und kraftvolle Verfaſſer 
(Bruno Bauer) will glauben machen, daß fie vielmehr nur aus d 
gegen bie Hegel’fche entftanden ift, nur aus diefer Dppofit 
eurtheilt werden fann. Was nämlich bei Hegel die Bedeutu 
dären, Subjectiven, Kormellen hat, das hat bei mi 
des Primitiven, bes Dbjectiven, Wefentlidhen. 
+ B. die Empfindung, das Gefühl, das Herz die Form, in di 
-dersher ftammende Inhalt der Religion verfenten fol, dam 
um des Menfchen werde; nach mir ift der Gegenfland, de 
ligiöfen Gefühle felbft nichts Anderes ale das Wefen des © 
wefentliche Unterſchied, tritt auf eine bhöchft deutliche Weife ſchon 
vor, wie Hegel und wie ih gegen Schleiermader, den le 
bes Chriſtenthums, polemifire. Ich table Schleiermacher nich: 
Hegel, daß er bie Religion zu ciner Gefuͤhlsſache mad) 
deswegen, daß er aus theologifcher Befangenheit nicht dazu 1 
Tonnte, bie nothwendigen Confequenzen feines Standpunktes 3 
nicht den Muth hatte, einzufehen und einzugeflehen, daß o 
feld ft nichts Anderes ift als das Wefen des Gefühle, we 
Gefühl die Hauptſache der Religion iſt. Ich bin in dieſer Be; 
gegen Schleiermacher, daß er vielmehr eine wefentlihe € 
fachliche Beftätigung meiner aus der Natur des Gefühle gefı 
tungen ift. Hegel ift eben deswegen njcht in das eigenthuͤmlich 
ligion eingedrungen, weil er als abftraceter Denker nicht üı 
Gefühle eingedrungen iftl. — Hegel identificirt die Ne 
Philoſophie, ich hebe ihre fpecififche Differenz bervors 
die Religion nur im Gedanken, ich in ihrem wirtlidhen 
findet die Quinteffenz der Religion nur im Compendium t 
ih ſchon im einfaden Acte bes Gebete; Hegel objecti 
LET) s 


Anetinn 1aatiusien Ka? Nhiastinane Canal Falle Kia 


Hegel (Neuhegelianer). 775 


gan und Gegenftandbz Hegel geht vom Unenblichen, ih vom Endlichen 
aus; Hegel feht das Endliche in das Unenbliche, weil erw noch ben alten 
metaphyſiſchen Stanbpuntt bes Abfoluten, Unenblichen zu feinem Ausgangspunkte 
yet und zwar fo, daß er im Unendlichen die Rothwendigteit der Begrenzung, 

ſtimmung, Endlichkeit aufzeigt, ich ſeze das Unendliche in dad Endliche; 
Hegel ſett das Unendliche dem Endlichen, das „Speculative“ dem Empi⸗ 
riſchen entgegen, ich finde, eben weil ich ſchon im Endlichen das Unendliche, 
ſchon im Empiriſchen das Speculative finde, das Unendliche mir nichts Anderes 
iſt als das Weſen des Endlichen, das Speeulative nichts Anderes als das 
Weſen des Empiriſchen, auch in den „fpeeulativen Geheimniſſen“ der Religion 
nichtö Anderes ale empirifche Wahrheiten, wie z. B. in dem „fpeculativen My⸗ 
ſterium“ der Trinität Leine andere Wahrheit als diefe, daß nur gemeinfames 
Leben Leben ift — alfo Zeine aparte, transfcendente, fupranaturaliftifche, ſon⸗ 
bern eine allgemeine, dem Menfhen immanente, populär auögebrüdt, na = 
türlihe Wahrheit. — Es ift daher nihte alberner, als die Gedanken mei: 
ner Schrift, die gerade aus ber Dppofition gegen bie abflracte, d.i. von dem 
wirklichen Wefen her Dinge abgefonberte Speculation entftanden find, für Pro: 
ducte einer „abfkracten Dialektik“ zu erllären. Sind diefe Gedanken Probucte 
der abftraeten oder Hegel'ſchen Dialektik, fo ift auch ihr Verfaſſer mit‘ Haut und 
Haaren, mit Fleifh und Blut, mit Knochen und Nerven ein Probuct der ab: 
firacten Dialektik; denn diefe feine Gedanken find fein Werfen !" 


Noch ftärker lauten folgende Aeußerungen Feuerbach's 80): 

„Was nun aber das Werhältniß der Hegel’fchen Philofophie zu dieſem Zus 
ftande einer weithiftorifhen Heuchelei betrifft, fo kann ihr keineswegs bie 
Shre vindicirt werden, benfelben entlarot und wahrhaft überwunden zu haben. 
Sr ift vielmehr ebenfo viel in ihr überwunden ale nicht überwunden. Hegel 
it duch und durch ein Widerfprud. Es gehört wefentlic zur Cha⸗ 
rakteriſtik feiner Philofophie, daB fich ebenfo gut die Drthobdorie als bie 
Heterodorie auf ihn flägen kann und fich wirklich geftügt hat, daß fich eben- 
fo gut, Übrigens nur mit größter Anflrengung und Willkür, bie 
Zone der „Pofaune” aus ihr bervorbringen laffen, als die füßen einfchmeicheln- 
den Flötentöne ber Harmonie des Glaubens und Unglaubend. Hegel ift die 
Aufhebung bed abgelebten Alten im Alten. Wie überhaupt die philofophis 
fhen Spfteme, fo ift auch und zwar insbefondere das Hegel’fche Syſtem ein 
unerläßliches bleibendes Zucht⸗ und Bildungsmittel des Geiftes, bad Keiner um 
geftraft ignoriren kann. Aber fo nothwendig die Schule, fo nothwendig ift die 
Ueberwindung der Schule. Nicht die Schule, fendern die Freiheit von 
ber Schule ift der wahre Zweck derſelben. Nothwendig ift es, ſich durch ein phi⸗ 
Lofophifches Syſtem zu beflimmen, zu bilden, aber bie feftgehaltene, die firicte 
Beftimmtheit ift Befhränktheit. Nur die flüffige Pbilofophie, die 
Philoſophie, welche aufhört ein fired Syftem zu fein, welche die Wahrheit 
der vorhandenen Syſteme in ſich begreift, ohne felbft ein abgefchloffenes Syſtem 
zu fein, und doch zugleich keine Eklektik ift, nur diefe ift die Philofophie des Les 

ns, der Zukunft. — Die Hegel'ſche Philofophie kann Thon deshalb nicht feſt⸗ 
gehalten werden, weil die verzwidte, untergeordnete, unnatürliche Stellung ber 

atur in ihr gang der Bedeutung widerfpricht, welche immer mehr im Leben 
und in der Wiffenfchaft die Natur gewinnt. Die währe Stellung der Natur 
finden wir aber nur, wenn wir an die Stelle bes abftracten Spectrum bes 
„Weltgeiſtes“ den lebendigen Menfchengeift fegen. Die Hegel’fche Phitofophie 
ift überhaupt in ihrer Methode viel zu einfdrmig, in ihren Ueber: 
gängen ‚viel zu willtürlih und unnatürlid, in ihrem Bau viel zu 
complicirt, in ihren Beftimmungen viel zu abgefondert von der An: 
fhauung des Menſchen in der Natur, in ihrem ganzen Wefen viel zu wider: 
— u mn j 


89) Deutſche Jahrb. 1842, Nr. 40, 


\ 


776 Hegel (Nenhegeliaer). oo. 


ſpruchsvoll, in ihren biftorifchen Beziehungen viel zu fehr noch behaftet mit 
allerlei Antiquitäten, als daß nicht auch hier, d. b. alfo auf dem Gebiete 
ber Philofophie ebenfo gut wie anberwärts die Scheibung bes 
Lichts von der Finſterniß, der Rothwendigkeit von der Willtür, der Ein: 
heit vom Widerfpruch , des Wefens vom Scheine, ber Wahrheit vom Irrthum 
ein dringendes Beduͤrfniß fein follte. — Meine Schrift ift nun gerade hervor: 
gegangen aus dem Beftreben, die bisher trot ihren gepriefenen „Smmanenz‘’ im: 
mer fo trandfcendente - und deöwegen fo wiberfpruchevolle und complicirte Phi: 
loſophie „zunaͤchſt auf dem Gebiete ber fpeculativen Religionsphilofophie”' auf 
ihre einfahften, dem Menfhen immanenten Elemente zu rebus 
eiren, zu fimplificiren. Aber cben diefe Tendenz begründet einen weſent⸗ 
lichen Unterſchied zwifchen der Hegel'ſchen und meiner Religionsphiloſophie. 
Daher ift mir der Mittelpunft der Religion, die Incarnation Gottes, der “he: 
anthropos nicht, wie dem Hegel, cin widerfpruchsvolles Compofitum von Ge: 
genfäben, kein fonthetifches, fondern analytifches Urtheil — die finnliche Eon: 
fequeng einer Prämiffe, die daffelbe nur auf unfinnlihe Weife fagt. Daher ift 
der Grund und das Refultat meiner Schrift nicht die Identität des menfchlichen 
und eines andern Wefens, fondern die Identität des Wefens des Menſchen 
mit ſich felbft. Die Hegel’fche Religionsphilofophie ſchwebt in der Auft, 
meine fteht mit zwei Beinen auf dem heimathlichen Boden ber Erde fefl. Die 
Hegel’fche Religionsphilofophie hat kein Pathos in fih, kin Leidendes Wes 
fen, fein Beduͤrfniß, kurz feine Baſis; bei mir ift die Bafis der Reli: 
gionsphilofophie in ihren niedern Zheilen die efoterifche Anthropologie, 
in ihren böhern Theilen die efoterifche Pſychologie. Die Religionsphilo- 
fopbie im Sinne der efoterifhen Pfvchologie ifteine neue und frucht⸗ 
bare Wiſſenſchaft. Jeder Philoſoph, der eine Religionephilofophie in einem 


- andern Sinne geben will, fann fi von nun an nur blamiren. Kurz 


meine Religionsphilofophie ift die geradezu auf den Kopf oder vielmehr auf ihre 
wahre Baſis yeftellte umgekehrte bisherige religidfe Speculation, felbft die 
Hegel’fche mit eingefchloffen. S. die Anmerk. S. 18 meiner Schrift.‘ 

Da wir hier es nur mit ber Hegel’fchen Philofophieund Schule zus thun 
haben, fo kann von der Feuerbach'ſchen weiter feine Rede fein. Doch wird 
es vielleicht manchem unferer Lefer intereffant fein, wenn wir ihn auf eine Kri⸗ 
tik des genannten Werks von dem Redacteur des Königsberger Literaturblatts, 
Alerander Zung °9), aufmerkſam machen und einige Hauptftellen daraus 
beifügen. 

Nachdem gefagt worden, daß aller Wahrfcheinlichkeit nah man jene 
Schrift, deren unverkennbare Abficht es fei, die ganze Theologie und was ihr 
zu Grunde liegt, für einen „Jahrhunderte langen Irrthum zu erklaͤren“, 
von ber einen Seite als gottesläfterlich oder für infam erklären, von 
der andern Seitediefelbe vornehm und heuchleriſch ignoriren merbe, 
wird diefelbe (und zwar mit ber ausdrüdlichen Erklaͤrung, daß der Recenfent 
mit dem Verfaſſer großentheils in die firengfte Oppofition treten müßte) 
für eine Außerfi bedeutende Erfheinung in ber Wiffenfhaft, 
bedeutend ihrem Inhalt wie ihrer Ausführung nach erklärt: | 


90) Nr. 8 vom 24.Nov. 1841. — Ucher Feuerbach ift noch zu vergl.: 
Baumgarten: Erufius, Recenſ. d. Schr. „d. Wef. d. Ghrift.” in d. 
Jenaiſchen Lit. = Zeitg. 1843, Jan. Nr. 1., Schwegler’s Jahrbuͤch. d. Lit. 
1816, Det. S. Yol ff., Hundeshagen, d. deutfch. Proteft. 1847, ©. 182 ff. 
und Haym, Feuerbach u. d. Philof. Halle, 1847. (Vergl. auh Reinwalpd 
d. 3., Vb. populäre Geſetzkunde, 1846 ©. 44, Note, 


" Hegel (Neuhegelianer). 777 


„Ja, wir glauben, daß ſich an dieſes Werk, wie an die Do matik von 
Strauß, in deren beiderſeitiger höchfter Schärfe des Negativen, eine Ummäl- 
zung für die Theologie unfehlbar knuͤpfen wird, die in Werbindung mit den gro: 
Ben Entdeckungen, welche in pofitiver Weife der Philofophie allerdings bevor: 
ftehen, die entgegengefegten Ergebniffe von demjenigen veranlaffen muß, 
was Feuerbah, was Strauß, was größtentheild die ganze Linke Geite ber 
Hegel'ſchen Schule in Betreff Gottes, des Chriſtenthums und ber menſch⸗ 
lihen Natur herausgebracht haben.” ' 


Nach einer Parallelifircung von Strauß und Feuerbach heißt es dann 
(S. 60): 
„Die Polemik gegen die Unvernunft, der Kampf bes Üüberlegenften Verſtandes ges 
gen die bloße Despotie eines dumpfen Glaubens ift nie vielleicht fo gluͤcklich ges 
führt worden wie in diefer Schrift: Ia, wenn wir und an das Ende unſeres 
Werkes ftellen und nun das ganze Feld bes Unternehmens, bie ganze großartig 
angelegte und durchgeführte Taktik des Angriffs überfehen, fo müflen wir ben 
Sieg — in wie weit er erfochten worden — nur um fo höher anfchlagen. Allee, 
was England und Frankreich in der Polemik gegen die pofitive Re⸗ 
Ligion hervorgebracht haben, ift, gegen dieſen Angriff Feuer bach's gehalten, 
ein wahres Kriegsfpiel von Kindern und für Kinder. Das Ausland — ſa⸗ 
gen wir ed nur geradezu heraus, denn es ift fo — bat noch gar feine Ahnung 
von einer philofophifchen Bildung, auf deren Höhe allein ein folder Angriff 
möglich war; benn, was ihn vollbringt, ift neben dem bewunderndwürdigen 
Scharffinne des Verfaſſers die ganze vortrefflich aber durchaus nur von einer 
Seite hier angewandte Dialektik Hegel’s, Feuerbach's ganzer Angriff bildet über- 
haupt immer nur ben linken Flügel, bat zu feinem rechten bie Dogmatik von 
Strauß und hat zu feinem eigentlichen Gentrum und fichernden Hinterhalt die 
ne Phaͤnomenologie. Wo wäre denn überhaupt fein Buch ohne 

ieſe? 


Es wird jedoch von Alex. Jung, nachdem er das Bleibende und Ver⸗ 
dienſtvolle an Feuerbach's Schrift näher angegeben ?!), noch hinzugefügt: 


— — — 


91) „Während Strauß in der Dogmatik eine dialektiſche Auflöfung jedes 
einzelnen Dogmas, durch fich felber, mehr auf dogmengefchichtlihem Wege giebt, 
zerfegt Feuerbah, wenn man ibm feinen Standpunkt einräumen 
darf, die ganze Theologie, das GChriftenthum, ja das Wefen aller Religiom, 
ebenfalls durch jenen dialektiſchen Proceß, nur mit dem Unterfchiebe, baß er Pos 
fitiveres ald Strauß zu Leiften fcheint, indem er im 1. Theile, dev ung bie 
Religion in ihrer Webereinftimmung mit dem Wefen des Menſchen fchildert, eine 
Art phänomenologifher Entwidelung des Religiöfen durchführt und dann erft 
im 2. heile die eigentliche Auflöfung folgen läßt, die daher auh im Gans 
zen noch bei Weiten verneinender ift als die von Strauß. Und diefed Verfah⸗ 
ven, — doch nicht zu überfeben, wenn man ben Ausgangspunkt zus . 
giebt —, iſt Höhft gelungen zu nenuen, zeigt uns den Gegenftand in feis 
ner entfhiedbenen Unmdglidhfeit. Welch eine Reinheit und Strenge, 
welch eine Zucht des wiffenfchaftlihen Sinnes, welch ein etbifcher Antrieb! Welche 
Zerſtoͤrung alles Vorurtbeils, aller bloßen Vorausſetzung und Weberlieferung jener 
Leute, die fih immer nur bie Wahrheit aus dem Auge vüden wollen! Welche 
nur wahre, nur im Sein und im Denten ewig begründete Auffaffung ber Natur 
‚und ihrer einzigen und unmanbelbaren Gefegmäßigkeit! Man wirb nirgenb 
ein reineres, vollendeteres Ideal für die Wiffenfchaft und das wiffenfehaftlihe 
Verfahren aufftelen können, als Feu er bach In feinem Buche hervorhebt. So 
ift die Wiffenfhaft, fo ift fie allein, wie Feuerbad fie charak⸗ 
terifirt, wie er ihre Strenge unerbittlich gehalten wiſſen will.“ 





Hegel (Neuhegelianer), | 


ir &önmen ben Ausgangséspunkt Feuerbach's nicht zugeben, 

von bem er in biefer Schrift, von bem er in allen feinen Wer: 

— anf und vielleicht ber groͤßte Theil gern a Schule, 
Mur m dußt, ihre Vernichtung folgerecht ausüben. Denn — biefer 
ee bloße Hypotheſe, und noch dazu eine Hupothefe, bie 
‚mar „ Denker ald völlig unmahr erweiſt. Und diefes ift denn 
punkt unferer Betrachtung. — Feuerbach’s eigentliches Unter: 

munh darauf gerichtet, zu beweifen, bie ganze Theologie, das 
‚ja alle Religion fei in ber That nichts als purer Anthropomor⸗ 

ſei bas Alles nur eine Folge der Bebhrftigkeit bes Gefhhts. „,,,Rein 

ann, fagt er, in feinen Gefühlen, Borftellungen, Gebanten feine Ratur 
. Bas es auch ſetzt, — es ſetzt immer ſich ſelbſt. Jedes Werfen bat 
tt, fein höchftes Wefen in fich felbft. Preifeft du bie Herrlichkeit 

‚0 preifeft du bie Herrlichkeit bed eignen Weſens. — Gott ift das 
» audgefondberte fubjectiofte Mefen des Menſchen.““ — „Es kam 
ſes nun in gewiffem Sinne wah 1. Es kann von bier aus wirt 
Grundloſigkeit vieler bisber fuͤr wayr uuögegebenen Lehren nachgewicen 
(fo wie wir benm übergeugt find, daß ein großer Theil unfrer heutige 
chen Doctrin rettungslos aufgegeben werben muf), und bennody bleibt 
ad eigentlihe Wefen bes Ehriftentbums, der Theotogie und 
a völlig umerfhüttert. — Es iſt aber der Grundfebler in allem 
nbiren Feuerbach's und Straußens, wodurch all ber ihnen eigene u: 
Scharffinn ein gang unnüßer Luxus wird, der, da ß fie fih im naive: 
ben irbifhen Standpunkt, von bem aus ihr Denken erft moͤglich 
z genebm fein Laffen und nun vergeffen, daß fie eben burd 
tten in ben ungeheuren Procef bes Univerfums bineinge: 
‚nd, obme doch bas Recht zu haben, zu behaupten, biefer Standpunkt 

» Univerfum. — So aber verfahren ſie. Gerade fo als hätten fie bie 
vv neh”. 

Uebrigens ift merkwürdig, daß B. Bauer, ber ermähntermafen 
Strauß und Hengftenberg in diefelbe Claffe gebradıt hat, auf 
dem Ludwig Feuerbach nachweiſen will, daß er mit dem Pofitiven 
den Gegenfaß bildet, in welchen die Unbeftimmtheit des Hegel’fhen 
Syſtems verfiel” (f. die „Norddeutſchen Blätter”, in welchen die Charter 
tenburger Bauer’fche Literaturzeitung wieder auflebte) 97). 





92) Die Stelle findet fih auh in Otto Wigand's Epigenen 1846. Br J. 
©. 307: „Sie (F. und d. Pofitiv.) gehören zufammen, waren gleich berechtigt 
und Eonnten fich nichts anbaben. Die Wahrheit lag erſt in ibrer fpätern ES: 
bern Vereinigung: an die Stelle beider entgegengefegten Anfchauungen (die Ar: 
ſchauung von dem Wefen, in welches fich die Perfönlichkeit aufhebt, und ver 
dem Verhältniß zweier pofitiven Perfönlichkeiten, von denen jede ihre Schrankt 
und ihre Unendlichkeit fest) — trat fpäter der Gedanke der Perfontichkeir uͤber— 
haupt, die der Urheber ihrer Attribute und ihres Weſens iſt.“ „Eine Kritik, Ne 
in jedem Momente immer nur das einfache Wefen im Auge bat und ibren Mi: 
genfag an demſelben mist, ift auh in jedem Augenblide fertig, bat keine Ent: 
wicelung in fich, fehreitet nicht in Sturmfchritt vorwärts, fondern ſpringt, um 
von einem beftimmten Gegenftande zum andern fortzugchen, erleuchtet nicht, for: 
dern ſpricht nur, indem fie den beftimmten Gegenftand der Kritit im Weſen 
augenblicklich fich verzehren laßt, fie blendet, indem fie eine Beſtimmtheit wir 
die andere in die Glorie des Weſens bincinhebt, und verfchließt fich den Bi in 
die Widerfprüche der Geſchichte. Die Kritik iſt erft welterfchütternd, wenn fi 
weiß, „daß die Unterſcheidung des Individuums von feinem Wefen fein eigenes 


Hegel (Neuhegelianer). 779 


Ihrerſeits haben übrigens auch die Alt» Hegellaner nicht unterlaffen, 
Keuerbach in die Reihe der Gegner diefer Philöfophie zu Tegen und ſich ent⸗ 
ſchieden gegen ihn zu erklaͤren, z. B. Marheinete in feiner Eintel- 
tun, in d. öffentl. Vorlefung. u. f. 1. 1842°®), fo auch Rofentrang*). 

Es ift früher gezeigt worden, wie die Hegel'ſche Philofophie bereits im 
vorigen Jahrzehnt von einem namhaften Gefchichtfchreiber der Phitofophie 
(Chalybäus) als die philofophifche Theorie für die neueren foctaliftifchen 
Spfteme des St. Simonismus ıc. zc. bezeichnet worden iſt ?s). Auch für 
diefe Behauptung hat die neuefte Befchichtenoder das gegenwärtige Jahrzehnt 
mehrfache Belege gegeben. Dan erinnert ſich des in Zürich verhanbelten Pros 


tätiges , fich bewegendes Wefen, das Weſen aber feine That ift, die Perſonlich⸗ 
keit, die der Urheber ihrer Attribute und ihres Weſens ift.’ 

93) Nachdem (&. 36) gegen die junghegel’fche Schule, namentlih Strauß 
u. f. w. polemifirt worden, heißt es: 

„Nah Feuerbach, bdeffen Werk ‚Ueber das Wefen des Chriftenthums‘ 
eine vollftändige, auch mit Pathos gefhmüdte Leichenrede auf das Ehri- 
ſtenthum ift, foll ed mit dem Chriſtenthum fchon gänzlich aus fein. „„Wir 
haben ung” ", fpricht der Redner gleichfam betrübt, „ehrlich und redlich eins 
zugefteben , daß das Zodte tobt “ alle Wiederbelebungsverfuche alfo eitel und 
vergeblich find, und uns daher eine neue, lebensfrifche, aus unferm eignen Kleifch 
und Blut erzeugte Anfchauung der Dinge zu ſchaffen.““ (Deutfhe Zahrb. 
&.39. 40.1842.) „„Die Religion ift nichts Anderes ald das vergegenftänblichte 
Weſen des Menfchen, das Werk der. Phantafie, ein Zraum, worin unfre eignen 
Vorftelungen ale Wefen außer uns erfcheinen, ein Spiel mit Bildern und biefe 
find die Sache ſelbſt. Offenbarung ift die Selbflentfaltung des menschlichen We⸗ 
ſens, das Wunder ein realifirter fupernaturaliftifher Wunfd und im Gebet 
betet der Menſch fein eignes Herz an. Gott ift das offenbare In⸗ 
nere, das ausgefprochene Selbft bes Menfchen. Die Erifteng Gottes mäßte 
ja finnlihes Sein fein. In der Zrinität find nur Zäufchungen, Phantasmen, 
Widerfprühe und Sophismen zu finden. Das oberfte Princip des Chriſten⸗ 
thums ift die Hppofrifie.- Das EChriſtenthum ift eine grund verder b⸗ 
liche Illufion, die Theologie nichts weiter als Anthropologie u. ſ. f. —““ 

„Dieſe Lehre ift ein füßer Egoismus, ein mehr ald Berkeley’fcher Idea⸗ 
liemus, dabei ein höchft populär gehaltener Subjectivismus. Aus bem blos Fir 
nomenologifchen, pfychologifchen Standpuntte, ben Feuerbach einfeitig (eh it, 
kann Alles in der Religion und fie felbft Leicht als Widerſchein nur des eignen 
Selbfts erfcheinen. Aber der unendliche Inhalt der Idee iſt bier unbeachtet pe 
lLaffen und verlommen. Feuerbach, deffen frühere Schriften im 
Sinne der Degel’fhen Philofophie ihm fehr gur Ehre 'gereis 
hen, eufcheint in der gegenwärtigen als ermattet, fi unnatürlich montirend 
und ſich erſchoͤpfend in geſuchten Paradoxien, häufigen Repetitionen, blendenden 
Schlaglichtern, nicht mehr im Stande, das ſich Widerſprechende zur hoͤheren Ein⸗ 
heit zu bringen, d. h. einen fpeculativen Gang zu machen, fondern er bleibt in 
den Dornen der Gegenfäge hängen und überläßt der natürlichen Bernunft, 
nicht dem Geiſte die Entfcheibung. Wer wie er den Geift des Vaters und 
Sohnes nicht anerkennt, wem er eine zu: „yage und precäre, blos poetifche Pers 
fonification, ein die Symmetrie Störendes” und nicht vielmehr erft diefelbe wahr: 
haft Bewirkendes ift, kann aud vom Geiſte des Chriſtenthums kaum noch 
eine Ahnung behalten u. f. wm.’ 

94) Hegel's Leben ©. XIX ff. 

95) Hiſtor. Entwickl. der Ph. v. Kant bis Hegel. 1887. ©. 338. 


0 Hegel (Neubegelianer). 


ceſſes des Schneidergefellen Weitling aus Magdeburg, mwordber ‘vom 
Staatscath Bluntſchli ein actenmäßiger Bericht veröffentlicdyt ward. In den 
darin enthaltenen Briefen jener deutſchen Communlſten fpielt namentlid) in 
D.M. Hefi, der fid) fpdter auch ducch feinen Befellfhaftsfpiegel befannt (und 
unleugbar durch die vielen merkwürdigen Thatſachen, die er in Bezug auf dm 
Pauperismus zur Öffentlichen Kunde gebracht, wirklich verdient) gemacht hat, 
eine bedeutende Rolle und zwar wird er darin?) als ein Degelianer vom 
„reinkkin Wafler‘ bezeichnet. Als folder hat er fi benn auch durch mehrere 
Auffäge indenvon Hermweg b herausgegebenen „21 Bogen aus ber Schweiz”, 
ſowie duch feine Schrift: „bie Europdifhe Triarchie“ gezeigt?”). Di 
auch die B. Baner’fche Schule hierher gehört, iſt [don angedeutet worden, 
Am meiften Auffehen hat ſedoch im biefer Hinficht ber Hegelianer Mar 
Stirner durch fein Buch: „ber Einzige und fein Eigenthum“ (1845) ge 
macht, ‚der, beiläufig bemerkt, ebenfalls ben &, Feuerbach, mit dem er fih 
doch in Hinficht auf fpeculatives Talent und twiffenfhaftliche Tüchtigkelt mic 
im Entfernteften vergleichen Bann, einen Pfaffen fhilt!?®) und die unfinnig 
Idee des Communismus, alles Eigentbum abzufhaffen, auf die Spige trieh. 
Ueber feine Schrift und ihre Beziehung zum Hegelianismus heißt es ſch 
u. In den Blättern für lit. Unterhalt. 1846, Nr. 34 vom 5. Fk. 
u 4: 
‚Stirner’s Buch ift für die Gefchichte der He gel’Tchen Baar 
f opbie von feiner geringen Bebeutung. Nirgenbs Fhiegelt fich Auflbe 
fung des Hegelthums in feiner ſchulmaͤßſgen Form beſſer und deutlich 
als bier. Die Dialektik bat ſich in ihren Durchgangspunkten vollkommen erſchoͤpf 
Sie bat durch Feuerbach das Zenfeits geftürgt, ſie befimpft durch Bautt 
bie einzelnen Disciplinen ber Theologie, obne aber felbit noch vom theologiſche 
Standpunkte frei werden zu Bönnen. In Stirner wendet fie fich nun ac 
das, was fie bisher als ihr „Weſen“ angenommen bat, gegen ben „Bct 
ſelbſt. Sie gelangt in Stirner zu einer Verfpottung und Verachtung des Kt 
ftes. Weiter tann cine Schulphiloſophie aber nicht fommen als zur Werachtim: 
des „Geiſtes“, mit dem fie fo lange Hocuspocus aetrieben, den fie fo lange ir 
„zierliche ſpaniſche Stiefel’ eingefchnürt bat. Wenn fie das Reich dis Sci, 
welches fie lange Zeit zu beberrfchen fih Mühe gab, gar felbfl als einen „Sur, 
als einen „Sparren“ belennt, dann bat fie zu gleicher Zeit fich ſelbſt vermie:. 
Der Eifer, mit dem fie ſich an die Vernichtung des Geiftes macht, nachdem X 
glaubt, alles Uebrige geftürzt zu haben, kann aber für den, dem der Get nıt 
etwas Anderes als ein „Sparren“ ıft, mir als der Paroxysmus eines Sterker: 


96) ©. 5035 val. d. Briefe v. 31. San. u. 15. Mai 1843. 

97) Auch war es unfers Wiffens derfelbe, der mit dem Dr. Ruge nad 
Paris reifte, welcher Letztere übrigens bekanntlich die Frage des Communismu: 
ftets lächerlich gemacht und bekämpft bat; vergl. Ob.P.-Amtszeit. vom 3. Jar. 
1247. (Berm. Nachrichten.) 

98) ©. Hundeshagen, Der deutſche Proteft. S. 187. — Ein Ex 
rakteriſtit M. Stirner's findet fih in Kuranda's Grenzboten 1847. N. 13. &. 
563 (woſelbſt unter Anderm gefaat wird: „Vor einiger Zeit ſetzte M. St. in 
der Voſſ. Zeit. Berlin durch die Aufforderung in Erftaunen, ibm auf Perfe: 
naleredit 500 Thaler zu leihen! — ihm, der gegen alle Begriffe des Rechts, 
dev Pflicht „ ter Treue cin fo leidenfchaftiiches Manifeſt in die Wett geſchickt“. 
Auf das Gefaͤhrliche der Theorie Stirner's iſt erſt kuͤrzlich in der Augsb. Als. 
Zeit. v. 28. März 1847. ©, 693 hingedeutet worden, " 


—2& 


| Hegel (Neuhegelianer). 781 


den erfcheinen. In der That, mit der Schulphiloſophie iſt es aus. Ihre 
Dialektik, ihre Kunſtſtuͤcke ſind vollkommen erſchoͤpft. Es iſt in ihrem Bau kein 
weiterer Fortſchritt moͤglich. Sie muß zu Grunde geben, ihr Kreis iſt vollendet. 
Aber es ift eine Anmaßung der Schulpbilofophie, zu glauben, daß, weil, 
fie fterben muß, auch der Geift überhaupt, ben fie fo lange gefchulmeiftert, 
fterben müffe, und es iſt ein Grundirrthbum bei Stirner, die Auflöfung der Des 
gel’fhen Schulphilofophie mit der Auflöfung des Geiftes zu identificiren und 
zu behaupten, weil die Sonfequenzen einer. Schulpbilofophie unpaltbar wären, 
fei der Geift felbft unhaltbar, „Spuk“, „Unfinn”, „Sparren“, „Sefpenft.” Die 
Philofophie der Griechen ftarb in Spisfindigkeiten, ber „Geiſt“ lebte fort; die 
Scholaſtik Yes Mittelalters ftarb in Spiefindigkeiten und der „Geiſt“ Iebte fort; 
die Hegel’fhe Philofophie hat fich ebenfalls in einer übertriebenen und 
übertreibenden Dialektik ausgelebt, aber ber „Geiſt“ wird damit nicht zu 
Ende getommen fein, in ihm liegt das Abfolute’‘99). 

Man darf allerdings der Hegel'ſchen Phitofophie es nicht zum Vorwurf 
machen, daß fie ſich um die fo wichtigen foctulen Probleme der Gegenwart 
betümmert, welche auch für uns Deutfche, bei dem unleugbaren Ans 
wachfen des Pauperismus und Proletariats 100), fo bedrohlich erſcheinen; 
aber daß von diefer Schule als Heilmittel die völlige Vernichtung aller Bafis 
des focialen Lebens empfohlen 101) und die unter dem gedankenlofen Pöbel 
leider! ſchon viel zu fehr verbreiteten communiftifhen Umtriebe begünftigt 
werben, iſt um fo bedauerlicher,, als dies nicht etwa bloß für Verirrung einzel⸗ 
ner Schüler anzufehen ift, fondern, wie [hon Chalybaͤus gezeigt, im Sy: 
ſtem des Meiſters ſelbſt liegt. | 

In Bezug auf diefe ſocialiſtiſchen Zräumereten und Ertravaganzen, welche 
ein Theil der JungsDegel’fhen Schule bei uns zu propagiren trachtet, vers 
dient noch in Erinnerung gebracht zu werden, daß man fogar in Frankreich 
das Abgeſchmackte und Werderbliche derſelben fehr wohl einfieht,, wie fich dies 


— L 


99) Der Recenfent fchliegt mit folgenden auch für Richt-Degelianer fehr zu 
beberzigenden Worten: ‚‚Webrigens kann man es nicht verkennen, daß das vor: 
liegende Werk noch eine andere Bedeutung hat als eine blos ſchulphiloſophiſche. 
Es fpricht ein großes Geheimniß aus, das größte Geheimniß unferer Zage. 
Es predigt den Egoismus mit einer Offenheit und Ehrlichkeit, wie er fich 
fonft noch nirgends hervorgewagt bat. Der Egoismus, wie er unfer ganzes Les 
ben bucchdringt, bat feine befondern Zwecke immer hinter eine „gute Sache, 
Recht, Freiheit, Vaterland” sc. verborgen. Stirner wirft dieſe Larve weg unb 
zeigt ihn offen, er zeigt ihn in feiner ganzen Nadtheit, er macht einen Cultus 
aus ibm. Aber gerade die orbinären Egoiften fcheinen fih am meiften zu ents 
fegen über die Kedheit, mit der Stirner ihre ftillen Wünfche ausfpricht und aus 
ihren Apfichten feine Gonfequenzen zieht; fie flellen die ‚gute Sache”, die „Sitts 
lichkeit” 2c. voran und verfchreien den einfamen Propheten Stirner. Daß Stir⸗ 
ner den Egoismus aufgebedt bat, das kann nicht anders als gebilligt werben; 
aber daß er diefen Egoismus, fo weit ber feinige auch von bem orbinären uns 
terfchtegen fein mag, zum Cultus machen will, das ift und bleibt eine Ver⸗ 

zung.” 

100) Bgl. Scheidler in Bran’s Minerva 1844, Oct., Nov. und Dec. 
„die neueften factifchen Mahnungen an bie Lebensfrage der Civiliſation.“ 

101) Bgl. &. Stein, Ueber Socialismus und Gommunismus ©. 4023 f 
und Fr. Baltifch (Prof. Hegewifh), Eigenthum und Bielkinderei. 1836. 
838 ae) die Augsb. Allg. Beit. v. 22. Febr. 1847. Beil. (d. ABE des Gom⸗ 
munismus. 


782 Hegel (Neuhegelianer). 
w%. aus ber erſt kuͤrzlich veröffentlichten Erklärung eines ber berühmtefim 
jolitifchen und focialen Freiheitdapoftel, des Abbe Lamennals, ergubt, 
wir bier m ‚ weil es Schade wäre, wenn fie als bloßer Zeitunge 
artikel vergeffen würde 102). u. 
Uebrigens fommt man, Gottlob! aud in Deutfchlanb neurrbing 
immer mehr zu der richtigen Einficht, daß eine blos wiſſenſchaftliche, nu 
mentlich fpeculative Ausbildung eine Einſeitigkeit und die fitrlid: 
religiöd fe Charakterbildung bie Hauptfache audy für die Entwidelung det 
politifchen Freiheit und die Beſſerung unferer focialen Buftände if. 








! 5 i 
102) Man lieſt im National vom 22. März.1847 (vgl. Kranff. DPI’ 
Beitung vom 27. März 1847. Nr.86): „Einer umferer Freunde, ber in Erfa- 
E gebracht, man wolle ben Namen Lamennais mit ben focialiftifden 
Agitationen vermengen, bat fidy an ben berühmten Schriftfteller gewendtt, 
um zu erfahren, was er von ben focialiftifchen Doctrinen hält. Wir theilen in 
Nachitebendem die Antwort mit, welche er auf feine Anfrage erhalten bat. — 
„„Paris, den 2. März 1847. Ich foll Ihnen fagen, was ich von ben fociali- 
Ki hen Syſtemen benfe, bie in unfern Zagen erfonnen und in Umlacf 
acht worden. Da Sie nicht verlangen, daß ich mich in eine ausführlik 
ſſion einlaffen fol, die über die Grenzen eines Schreibens weit hinausgehe 
würbe, fondern nur meine perfönlihe Anficht in wenigen Worten kennen j 
lernen wünfchen, fo wirb es mir leicht fallen, Ihrem Begehren zu entſpreche 
Sch fehe in ben Doctrinen, bie bis daher aufgetaucht find, nur ein Somptm 
beö tief gefühlten Bebürfniffes, das bie Gefellfhaft empfindet, eine gerechtet 
Zutheilung bes Arbeitslohnes zu ermitteln, fo baburch bie gegenwärtig | 
beflagenswerthe Stellung der Arbeiter verbeffert werben möge. Bon biefer Sch 
angefchen, können bie Werfuche, ein leider noch fo fernes Ziel zu erreichen, nır 
belobt werden. Ganz anders aber verbält es fich, nach meiner Anſicht, mit dw 
Mitteln zum Z3weck, welche von den verfchiebenen Schulen voraefchlase 
werben. Alle, die ich Eenne, fommen mebr oder weniger arradezu auf den Schlut 
daß ber perfönliche Befis (l’appropriation personelle, was man fonft das & 
genthum nennt) bie Urfache bes Uchels iſt, dem abgebolfen werden ſe 
Daraus folgt dann, daß nach jenen Spftemen (oder Eräumen!) Das Eigenthu 
aufhören follte, indivibuell zu fein, um ausfchlichlich in die Hande des Grau 
zu tommen, ber, als alleiniger Befiser ber Werkzeuge zur Arbeit, bieie ; 
organifiren babe. Jedem würde, dies vorausgefeht, wine jperielle Function en 
gerviefen, zu welcher man ihn fähig faͤnde. Die Frucht aber dir Arbeit ſoll mas 
gerwiffen Regeln — die in den verfchiedenen Syftemen verfchieden aufacfteltt ſird 
— unter Alle vertheilt werden. Fur mich ift es evident, daß ein ſolches Switn 
die Völker zu einer Knechtſchaft führen würde, wie die Welt noch Eeine geichn 
bat; der Arbeiter würde damit zur Maſchine, zum Werkzeug berabgewürdigt; cr 
würde in der Reihe der Wefen unter den Sklaven finfen, den der Pflanzer nar 
Willkür verwendet. Ich glaube nicht, daß noch jemals beillofer falfche, üͤber 
fpanntere, erntiedrigendere Ideen in dem menfchlicben Geiſte aufgefommen fir: 
Sollten fie aber auch, wie ich doch feft überzeugt bin, diefe Bezeichnungen nicht 
verdienen, fo würde es doch jedenfalls keine geben, die radicaler unausefübrbar 
wären — il n'y en aurait point de plus radicalement impraticables. Si: 
Ko urierismus und einige andere der St. Simonifttiihen Schule entwah: 
fene, in ihren flaatswirtbfchaftlichen Principien nicht weniger finnlofe Sec— 
ten charafterifiren fich überdem durch die mebr oder weniger unbedingte Negatien 
aller Moral. Ueber diefe habe ich nichts zu fagen. Das öffentliche Urtheil hai 
fie bereits gerichtet. Sie wollten meine Meinung wiſſen. Ich habe fie dargelegt. 
(Gez.) Lamennais.““ 





Hegel (Neuhegelianer). 183 


Daran mahnte ſchon der edle Freiherr v. Stein, indem er „GSittlichleit 
umd Meligiofität” als die unerläßlichfte Bedingung für die Entwidelung des 
conflitutionellen Lebens bezeichnete 103); ebenfo Zſchokke 10%) und 
noch viele Andere 10%), unter denen wir nur noch fpeciell an einige Worte 
von Bervinus erinnern wollen, welche das Hauptuͤbel unferer Zeit und 
feine Quelle ober Wurzel auf das Treffendſte bezeihnen. In des Schrift: 
„Die Miffton der Deutſch⸗Katholiken“, 1846 (S. 78) fagt Derfelbe: „Dem 
Geſchlecht diefer Tage fehltdie Fähigkeit zu Handeln; die Bes 
reitwilligkeit, Bpfer zu bringen, die Freiheit, eine Ueberzeugung rüdfichtslos 
zu befennen, ift noch gar au felten und neu. Alles Größere fcheitert bei uns 
an der Armfeligkeit des Geſichtskreiſes oder der Muthloſigkeit unſter Beam: 
tenwelt, an der Engherzigkeit unfers Adels, an dem Mangel an natios 
naler und geiftiger Unabhängigkeit, an bem Mangel an verbundener Intellis 
genz und Kraft. Denn dies ift bisher Immer unfer Verderb geweſen, daß es 
unſrer Einficht überall an Energie und unfrer Energie an Einficht gefehlt hat.” 
In der eben erſchienenen Schrift: „Die preußifche Verfaffun g und das 
Patent vom 3. Februar” finden fih in dem legten Abfchnitte vortreffliche Bes 


103) Briefwechfel mit dem Frhrn. v. Sagern ©. 341. "* 

104) Prometheus 1833. Bd. II. S. 44: „ine freie Verfaſſung wie die 
Freiheit felbft ift einer goldenen Bildfäule glei, die auf irdenen Füßen ſteht, 
wenn fie der Grundlage der Moral ermangelt. Erft die moralifhe Gefin- 
nung Derjenigen, die an ber Regierung Sheil nehmen, und Derjenigen, die res 
gie r werden, iſt es, was der Freiheit und ihren Verfaſſungsformen das Leben 
einathmet. 


105) Vergl. z. B. einen Aufſatz in ber Augsb. Allg. Zeit. vom 19. März 
1841. Beilage, überfchrieben: Pia vota für Deutſchland; ferner Allg. Zeit. v. 15. 
März 1844. Beilage 8.597; Krankfurter O.⸗P.⸗A.⸗Zeitung 1844. Nr. 288. Beil. 
(‚Wer uns den Moft der Freiheit faffen will, der forge vor Allem für einen gu⸗ 
ten neuen Schlauch bazu. Wer bie abfolute Rechtsidee und das Gelee 
zur ſchuͤzenden, jede Willlür abwehrenden Rorm bes Lebens machen will, der 
forge vor Allem für Menſchen, in benen bie Rechtsidee und das Geſetz lebt 
und waltet” 2c. Aus einer zu Kreuznach gehaltenen. Rebe.) gl. befonders 
Karl Hagen in Schwegier’s Jahrb. 1844. Sept. S. 812 (in einer Rec. über 
B. Auerbach's Schwarzwälder Dorfgefchichten). Zu welchen traurigen Folgen 
biefe Charakterloſigkeit und die in unferer Beamtenwelt daraus hervorgehende 
Staatslataien-Gefinnung unvermeidlich führt, hat Huber in feinem 
Janus in Bezug auf die bekannten tragifchen Vorfälle in Leipzig vom 12, 
Aug. 1845 ſehr einleuchtend nachgewiefen, Heft 19 und 20, ©. 501: „Daß 
man fich nicht gegen den Buchſtaben des Gefeges ober der Dienftinftructionen, 
fondern blos gegen bie allgemeinen fittlichen Pflichten der befondern amtlichen 
Stellung verfündigt Hat, — daß ed an nichts fehlte ald an Geiftesgegenwart 
und Muth, an dem rechten Manne, an dem rechten Worte zur rechten Zeit, ift 
wahrlich ein fchlechter Troſt. Das Bild al der Herren vom grünen Tiſche, 
wie fie, flatt den Zumultuanten mit ernftem, muthigem, frifhem Wort entgegens 
utreten, den Prinzen und fich felbft glauben zu machen fuchen, es fei gar fein 

umult, gar keine Gefahr ba, es fei ein „Wivat oder Hurrah ihm zu Ehren”, 
wäre wahrhaft komiſch, wenn die ganze Sache nicht zu ernft, ja tragifch wäre. 
Zragifch befonders auch deshalb, weil uns hier mikrokosmiſch Schwächen, Mäns 
el vorgeführt find, bie wir in weit größern Werbältniffen nur zu oft wiebers 
nden — ber Alp, ber Fluch des grünen Tiſches u f. wm.” 


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)e8 Vol nicht nur reif, fondern vielmehr für de 
Politik überreif zu nennen ift, weil daſſelbe ber 

entgegengeht, weshalb eben eine wahre Entwid 
nellen Lebens in Preußen (Ale Danch Da6 } 


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Gebiet in unfreiwilliger Hemmniß zuruͤck. Es begann in —— 
bei allem Still ſtand gef r unge Fu es 
aller Stockung gefchieht, Webe und gen und & 
fteßen, es begann, mas alle Meberfülle mit fih bringt, ſchlech 
fchlechte Exiſtenz, eö begann, was bie Folge jeder ſchlechten Eriftı 
roftung ber Charaktere, und was die Folge jeder ſchlechten Arbeit 
niß bes eigenen, chemals vortrefflich geförderten Werks, In einer 
fleinen Zeit iſt es bei uns bahin aefommen, dab nach einer große 
Periode geiftigen und moralifchen Lebens Heligton und Sitte 
ften Grunde erfchüttert, die fehöne Kunſt in ihr Gegentbeil verzerr 
Wiſſenſchaft vollig untergraben if, — Ein Bli auf den Geift 
1418, wie er fich in den Werken der Litcratur, in ben eben dei 
den Idealen der Dichter unb den Ideen der Bhiloforben zeigt, 1 
vor 30 Zabren in Deutfchland cin geſundes Gefchlecht erblicken 
religios-hierarchiſchen Anflug nah Luthers Gläubigkeir ſtrebte, as 
terlicheariftefratifchen Anflug Koͤrperkraft und Scelchadel zu ver] 
das in einem friichen conftitutionellen Monarchismus politiſche Focal 
mit ber Wirklichkeit nicht unverfehnbur waren, bas Wiſſenſchaft uı 
ten in feine Getübbe aufnabm und für Schiller’s ibeelle Dichtuna b 
Dies Gefhleht bat man unterdrückt, und nach 15 Jahre 
fere Pireratur einen andern Charakter angunebnen, der jest in allı 
fertig ftebt, Es iſt traurig zu fagen, aber nicht minder wahr, da 
Standpunkt gehalten, den ein Theil unferer jüngsten tire 
Philofopbiein fittlicber, religiöfer und politifcher 
eingenommen bat, die franzöfifche Literatur des vorigen Jahrl 
Borläuferin der Mevolution, Voltaire’ Deismus und Dumanismus 
eine erbauliche Religion erſcheint. Der berrichende Geiſt in dieſer 
ratur, der reichten in Europa, die micht wie die franzofifche des von 
Wenigen gepflegt und von Wenigen gelefen, fondern von Allen gef 


gs: 


Hegel (Neuhegelianer). 785 


zugänglich, von Maſſen ausgehend und zu Mafien eingehend, verberblicher,, lei⸗ 
denfchaftlicher, ihrer Zwecke bewußter ift, hat ſich mehr und mehr auf einerlet 
Biel gerichtet : jeden Srundfag und jebe Sitte zu lodern, jedes Vorurtheil, aber 
auch zugleich jedes gefunde Urtheil zu zerftören, gegen alle beftehenden Dinge 
zu verflimmen, an bie Stelle ber Bildung Entfittlihung und Verwil⸗ 
derung zu fesen, die Gemüther mit der Macht des Böfen auszuflatten, 
wo ed auf Reformen ankommt, das Princip aller alten Reformer zu verleugnen, 
die fih auf Tugend, auf edle Grundfäge und Wahrheiten ſtuͤtzten, fchlechtes 
Leben als ein Zeichen der Kraft, Luͤderlichkeit als das Kennzeichen bes Genies 
auszugeben und bier und ba gegen befferes Gefühl zu erheucheln. — In Eng⸗ 
Land haben die ähnlichen Beftrebungen keinen Boden, feldft in Frankreich 
haben fie keine Gefahr; große materielle Intereffen lagern fich dort ben Phans 
tasmagorien der idecllen Zräumer gegenüber unb aͤußere Gollifionen leiten bie 
ausfchweifenden Gedanken ab; bei ung Deutfchen aber fält all biefer vers 
derbte Geift mit voller Gewalt quf die Nieberungen bes Privatlebens, auf bie 
innere Eriftenz und Bildung der Nation, von keinen großen Dbjecten im 
Staatsleben aufgewogen ober uͤberwogen, von keinem aa roßer politi- 
ſcher Ideen ober Befchäftigungen gehemmt. ft es ihm erft vollfländig gelun- 
gen, allen ſittlichen Grundfag, alle vernünftige Einſicht, allen bürgerlichen 
Sinn zu zerflören, was wird dann unfre Zukunft fein, wenn auf dem Culmi⸗ 
nationspunfte der Verwirrung die Frucht diefer Literatur und dieſer neuen 
politiſchen Moral aufgeht? Die furchtbarfte aller Zerruͤttungen wird 
aus ber Bereinigung der verwilberten Bildung, ber moralifhen Ber: 
funfenbeit und des politifhen Wahns unausbleiblidh hervorgehen” 108). 
Bei diefer Lage der Dinge ift es num allerdings fehr erklaͤrlich, daß, wie 
fon oben bemerkt , bie Hegel'ſche Philoſophie und Schule bermalen nicht blos 
zum Staate und zur Kirche, fondern auch zu bee Öffentlihen Meinung, 
diefer mächtigften der Mächte, in allen praktiſchen Beziehungen und troß 
aller Anerkennung ihrer theoretifchen oder wiſſenſchaftlichen Bedeutung in ein 
gi anderes und zwar fehr ungünftiges Verhältniß getreten ift 17). Schon 
ean Paul bat bie in einer erft neuerdings veröffentlichten Aeußerung 
ausgefprochen 108): .,, Hegel if ber fcharffinnigfle unter allen jegigen Philo⸗ 
fophen, bleibt aber doch ein dinlettifher Vampyr bes inneren 
Menſchen“. Auch ein Urtheil With. v. Humboldt's ift hier ganz 
beſonders darum zu erwähnen, weil es zugleich fehr treffend andeutet, daß und 
warum Segel felbft an den Verirrungen ſeiner Schüler Schuld hat. Es 
findet fi, in einem Briefe W. v. H.'s an Geng 1%): „Hegel ift gewiß 
ein tiefer und feltener Kopf; allein daß eine Philofophie diefer Art tiefe Wur⸗ 
zel fchlagen follte, kann ich mir nicht denken. Ich wenigftens habe mich, 
fo viel ich bis jegt verfucht,, auf keine Weiſe damit befreunden koͤnnen. Viel 
mag ihm die Dunkelheit des Vortrags ſchaden. Diefe ift nicht ancegend und 


106) Vergl. dazu Hunbeshagen, Der deutiche Proteft. S. 171 ff. und 
das, was oben aus d. Koͤnigsb. Literaturbl. über B. Bauer angeführt worben, 
und daffelbe BI. in d. Nr. 5. vom 15. April 1843. ©. 38. 

107) Bgl. die Note 1. des Nachtraged gegebenen Rachweifungen. 

108) 3. Hunt, Erinnerungen aus meinem Leben ıc. 1839. ©. 125. — In 
Aler. Zung’s Königeb. Lit.-Bl. Nr. 44. vom 3. Aug. 1842 wird eines „be 
rühmten beutfchen Gelehrten” gedacht, der gefagt: „er ziehe zwei Sabre Zucht: 
hau Wat e der Lectuͤre von Hegel's Phaͤnomenologie des Geiſtes vor.“ 


09) &. Geng’s Schriften, herausg. von Schleſier. Bd. V. ©. 298. 
Suppl. 3. Staatsier. II. 50 


7186 Hegel (Reuhegelianer), 


wie bie Kantifche und Fichte’fche coloffal und erhaben, wie bie Finſterniß bes 
Grabes, fondern entfleht aus fichtbarer Unbehilflichkeit. Es ift, als 
wäre die Sprache bei dem Verf. nicht durchgebrungen. Denn auch wo er 
ganz gewöhnliche Dinge behandelt, ift er nichts weniger als leicht und ebel. 
Es mag an einem großen Mangel an Phantafie liegen. Dennoch möchte ich 
über die Philofophie nicht abfprechen. Das Publicum fcheint fi) mir in An» 
fehung Hegel's in zwei Claffen zu theilen: in Diejenigen, die ihm unbedingt 
anhängen, und Die, welche ihn wie einen fchroffen Eckſtein weislich umgehen. 
Er gehört übrigens nicht zu den Philoſophen, die ihre Wirkung blos ihren 
Id een überlaffen wollen, ee maht Schule und macht fie mit Abs 
ficht. Auch die Jahrbücher find daraus entflanden. Sch bin fogar darum 
mit Fleiß in die Gefellfchaft getreten, um anzudeuten, daß man fie nicht fo 
nehmen folle. Ich gehe Übrigens mit Hegel um und fiche äußerlich fehr gut 
mit ihm. Innerlich habe ic für feine Fähigkeit und fein Zalent große und 
wahre Achtung, ohne die eben gerügten Mängel zu verfennen 2c.”. — Noch 
viele andere Stimmen könnten wir im diefer Hinfiht anführen, menn ber 
Raum e6 geftattete!!0). 

Ohne Frage hat Fein anderes Spitem in der Öffentlihen Meinung bie 
Ueberzeugung allgemeiner verbreitet, daß mit bloßer Schulphilofophie 
nicht zu helfen ift, und daß diefelbe eigentlich auch gar nicht gemeint fein kann, 
wenn man von eineni wohlthätigen praktiſchen Einfluffe dieſer Wiffenfchaft auf 
das wirkliche Leben redet; ein Punkt, den mit fpeciellem Bezug auf Hegel 
in ihrer originellen Weife Bettina in ihrem Koͤnigsbuch ebenfalls beleuchtet 
bat !!!), Muß man die Verbreitung diefer Ueberzeugung als ein Verdienſt 


110) Vergl. darüber Augsb. Allg. Zeitung, Artikel aus Berlin vom 22. Der. 
1839; ferner 1841, vom 6. Nov. Beil. Rr. 310; 1844, Beil. v. 19. Mai; 
einen Artikel über deutſche Philof. in d. Allg. Beitg. v. 7. u. 8. Febr. 18475 
Leipz. Allg. Beitg. 1841 vom 29. Sept. Beil. Nr. 272; Deutfche Allg. Zeitg- 
v. 20. Aug. 1844. Paulus, Gonverfationsfaal oder Geiftesreuue S. 467 ff. 
476 ff., 787 ff.; Kuranda’s Grenzboten 1844. Nr. 15. ©. 463. Nr.17. ©. 
528. Nr. 20. ©. 297 ff.; Blätter f. lit. Unterhaltung 1843 Nr. 64 v. 5. März, 
‚ 1835 Rt. 347 v. 13. Hec., 1846 Nr. 86 v. 3. Febr.; Arndt, Schriften für u. 
an f. lieben Deutfchen 1845 Bd. 11T. 8.294; Schopenhauer, Welt als Wille 
u. ſ. w. Vorrede S. XX. (2. Ausg.) ; Chalybäus, Die moderne Sophiſtik; Dro- 
bifch in den Monatsblaͤttern zur Allg. Zeitg. 1845 Ian. („Blicke auf die philoſ. 
Zuftände der Gegenwart” am Schluffe); Bahmann, Ueber Schattenfeiten 
unferer Literat. 1 8.7 ff. 31ff.53 (Hundeshagen) Der beutfche Protes 
ftantismus. 1837. ©. 179 ff. 306 ff. — 

111) 8.162: „Wie der Frühling raſch alles abgeftorbene Verpelzte abftreifelt, 
damit die Sonnenftrahlen den neuen Keimen huldigen koͤnnen und ein Duft, der 
lauter Geift athmet, in die Lüfte ſteigt fo muß ein cdel Regiment losgehen! — 
mit dem Harnifch angethan des Zeitgeiftes fih auf die Hinterfüße geftellt, 
als ein feuriger Bewerber um die Zukunft, ihr tühn ine Auge gefehen! Tauſend⸗ 
fapperment ! Mit ungefchnürten Armen den Scepter hoch geſchwungen alles maͤch⸗ 
tigen und neuen Beginns; ein folches Regiment könnte mich verzädt machen.“ — 
„„Sie find eine vortrefflihe Frau (fagt der mit der Frau Rath ftreitende Pfars 
rer) und bie Modificationen Ihrer Dentweife find vom hoͤchſten Interefle für 
den Denker und Ihre Beweggründe find Indicationen , die nicht ohne Werth 
find für die philofophifchen Syfteme jener großen Zorfcher, bie 


Hegel (Neuhegelianer). 187 


anerkennen, das fich die Heg. Philof. u. Schule, freilich ganz wider ihren Minen, 
erworben hat, fo iſt dagegen auch der Nachtheil nicht gering, ber hierdurch der 
Phitofophie überhaupt in der oͤffentlichen Meinung zugefügt worden. ‚Bei 
alledem muß man jedach einerfeits nicht vergeflen, daß die Verirrungen jener 
ihren tiefer liegenden Grand (wie Hundeshagen und Gervinus ers 
mähntermaßen gezeigt) in dem politifhen Reactionsfyflem haben, 
und daß andrerfeits das allgemeine Princip der freien geifligen Entwicklung 
auch diefer Schule zu Gute kommen maß, und zwar ſelbſt in ihren Mephiftos 
phelifchen Ausläufern 12). Auf das Entfchiedenfte muͤſſen wir uns daher ges 
gen alle directe unb indirecte Maßregeln ber Staatsgewalt erklaͤren, durch 


welche im Widerſpruch mit dem Princip der wiſſenſchaftlichen und akademiſchen 
Lehr⸗Freiheit jene Philoſophie u. Schule unterdruͤckt werden ſoll, und wir 
ſchließen mit den in dieſer Beziehung ſehr zu beherzigenden Worten rn dr’6''?). 

‚Die deutfche Philoſophie unfrer Tage hat fich auf eine wunderbare Weiſe 
nach Außen geworfen und ift mit ihrer Sprache und Rede unter das Volk getres 
ten. Das hatte die franzöfifche weiland auch gethanz ich brauche nur an 
Boltaire, Diderot, Condorcet und an die Encyklopäbiften zu erinnern. Aber biefe 
beutfche ift doch wirklich zu mager und luftig für das Volk, ich follte fagen zu 
dünn und zu geiftig für ein Volt von ftarfen, dicken Lebensglieern, als daß fie 
Volksſpeiſe werben könnte. Sie reckt und ſtreckt ſich freilich aus allen Kräften, 
um in den Begriff und Ergriff des Wolke binein reichen zu Eönnen, aber ich febe 
nicht, daß fie mit ihren Armen irgend Eräftig wohin reiche. Das junge Deutſch⸗ 
lanb meint zwar fo und fpricht noch mehr fo, aber die Lehre bleibt meift noch 
in dem Krimskrams ihrer Formeln fteden und hat bis jest die Kunſt noch wenig 
gelernt, aus ihren Hüllen berauszufpringen. Wo fie fi in einzelnen verbranns 
ten Köpfen nun an das Waͤlſchthum und Zranzofenthunn hängt, da erfcheint 
fie fogleich ald der Wechfelbalg,, der in bie deutfche Wiege gelegt worden, und 
wenn die Narren, bie fich zu der verruͤckteſten und biutigften wälfchen Rarrheit 
verftiegen haben, fich vor uns auch gebehrden und weiffagen, fie haben in ihrer 
Verruchtheit für das Heil des deutfchen Waterlandes etwas Außercrbentliches 
erfunden, fo bleibt ihnen nicht einmal der Ruhm der Erfindung: fiehe, diefes tolle, 
verworrene Zeug war ſchon lange vor euch da, und die Welt ftcht noch. Wahr: 
ich, diefe neueſten Jünger einer abfcheulichften und dummſten Staatsiehre werben 
Diejenigen nicht verführen, welche die Zahre 1780 und 1790 und die von 1819 
und 1830 beftanden haben. Vieles mag uns Deutfchen gebrechen, aber Gottlob 
wir find noch nicht fo unglüdtic als viele Engländer, noch nicht fo verdorben 


jegt auftreten und ber geiftigen Welt einen gewaltigen Umfhmwung 
zu geben verheißen““. — „So ein Forſchen, erwidert die Frau Rath, fo 
ein alter Labmer Raubvogel, der aus feinem langweiligen Berdauungsfchlafe 
ſich aufrappelt, um alles gelehrte Federvieh in Einklang zu bringen mit feinem 
Alles verfhludenden Spuftem, mit den er ed aus der philofophifchen 
Sadgaffe herauszuführen verfpricht aufs Feld der Freiheit; der vermag fich ja 
felbft nicht über den alten Zaun vom Hühnerhof zu ſchwingen, wo er alfo ruhig 
boden bleibt und den verheißenen gewaltigen Umſchwung höchftens an irgend ei— 
nem alten Zinshahn verfucht, deſſen Ueberwinder er fich nennt, und dazu fingt 
er triumphirend: Namen nennen Dich nicht! — Was meinen Sie, Herr Pfarrer, 
daß Der follte dem Erdball den gewaltigen Umſchwung geben, ber über feinem 
Selbſterdenken nicht gewahrt, wie die geiftige Welt fih ruhig über ihn hinaus 
gefchmungen hat?“ 

112) „Es muß auch folhe Kaͤuze geben!” Kauft. 

113) Werſuch in vergleich. Boͤlkergeſch. 2. Aufl. D843. ©. +15. 

an 


788 Hegel (Neuhegelianer). 


als viele Franzoſen, als daß ſolche Graͤuel bei uns wurgeln könnten. — — Aber 
jene andern übermüthigen jungen Philoſophen, die ung alle Sitt lichkeit 
vertilgen, bie uns die alte Zreue untergraben wollen, die uns das Ghriften. 
thum, worauf all unfer Leben und Gluͤck ruht, als cine Priefterfabel als einen 
Betrug, mildeftens als einen pbantaftifhen Traum ber eignen Bruſt zeigen, wohin 
follen wir mit ihnen ? was follen wir mit ihnen anfangen? woburdh follen wir fic 
bändigene Ich fage: laßt gewähren, Laßt firdömen und für men! 
Waſſer und Wind will feinen Lauf haben; wie fann man fo Dünnes und Unbe⸗ 
greifliches hemmen, fo Unfichtbares faffen? Dies ift meine Antwort. Denn wenn 
man gumeilen wünfchen möchte, daß einmal eine ſtarke Kauft drein führe und 
drein fchlüge, wo habt ihr die menfchliche Weisheit und Maͤßigkeit, die folche 
Fauſtſchlaͤge am rechten Orte und zu rechter Zeit vollführten? wo wollt ihr bie 
teten Hemmer , Halter, Wächter und Lenker finden? und können die geiftigen 
Mächte, die wie Wind und Waffer wehen und fließen , koͤnnen fie gefaßt werden? 
und wird der Proteus, den du zu fangen meinft, dir nicht in der Hand zerflic- 
Sen und fich verwandeln und die Angſt und bie Jagd immer von Reuem begin: 
nen möäffen? Freiheit der Majeftät des freien Seiſtes und bes freien Lebens! 
Das komme audy den Narren uns Thoren zu Gute. Sch weiß wohl, in wel: 
chem böfen Geſchrei die beutiche Philofophie und Theologie bei den Völkern ftcht, 
die-faum eine haben; aber dies ift eben das Wehen und Fließen des deuts 
fhen Beiftes, wovon die Fremden cine Ahnung haben und worüber fie alfo 
Kein fo leichtes Urtheilrausfprechen follten, als fie gewöhnlich thun und als manche 
befchräntte Köpfe bei ung ihnen nachbeten. Wir Deutfche leben cinmal in dicfer 
Luft und haben Jahrhunderte darin gelebt und werben hoffentlich auch künftig 
darin leben und dadurch nicht untergehen. Es muß alfo heißen: 
Laß fließen, was fließet, laß weben, was weht! 
Du weißt nicht, von wannen, wohin daß es geht. 

Denn ficht diefe Luft auch fo gefährlich did und faul aus, daß Peft, fo fchmwarz 
und zufammengerollt, daß Wolkenbruch geweiffagt werben kann, wer fennt und 
unterfcheidet hier Gottes verborgenen Rath? wer mag hier unter dem Schwall 
und Wuft mepbitifcher und giftiger Waffer und Dünfte das Troͤpfchen und Lüfts 
chen berausfinden und unterfcheiden, worin vielleicht die Erquidung des beilfams 


ften Lebens fließt und haucht? 
Karl Hermann Scheidler. 


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