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277
..e
Supplemente
zur erfien Auflage
des
Staats-Lerikons
oder der |
Encyklopãdie der Dtantswiffenfchaften
in Berbindung mit vielen der angefehenften
Publiciſten Deutſchlands
herausgegeben
von
Carl von Botted und Garl Welcher.
fa
Zweiter Band.
Altona,
bei Johann Friedrich Hammerid.
1846.
EMTUI2E
Quhalt Des zweiten Landes.
"Chili, Znfnbikhignid.
*Chriſtlicher Staat, heiligen
mantiches Staaterecht. —
©. Welcker.. 7
* ehriftepd von Bürtemberg. — 6
* Gommunlomut — Mon =.
Schul 23
* Gonfhberation, Bund, Bundes«
oder Gidgenoffenfhaft, nad) ih⸗
rer hiſtor. Gntwidelung arge
flent. — Bon $. Korfüm. . 9%
Gonventionsfuß, Conventiondgelbd.
— Bon E. Belder. . . . 151
*Corpus Catholicorum, Corpus
Evangelicorum. — Bon 6.
Belder .
Dänemarf. — Von Hanfen und
Welcker.. . 155
Dei gratia, von Gottes @naben.
— Bon &. Velder. . . »
* Deutfchlandse Stämme. — Bon
Wilhelm Obermüller..
Deutfäre Landes » Staatsrcht. —
Bon G. Welder. . . . 180
Deutfcher Bun u. deutfches Bun
desrecht. — Won C. Welder. 134
Domänenkäufer. — V. C. Welcker. 198
Duldung. — Bon &. v. Rotteck.
* Dynaſtiſche Intereffen in ihrem
BScchältniffe zum wahren, zum
freien ober Rechteſtaat. —
—— 7 "Bon 6.
.. 210
—* — Bon &. Weller. 211
Einlommen. — Bon 8. Mathy. 212
Eifenbahnen und Canaͤle. — Bon
©. Welder. . . . . 214
eifenbasn, badenſche. _ Kon e.
—* — Bon « Mathy. 217
*Eiſenmann, Gottfried. — Bon
., Belder. ee 00 . 220
—
eite
3 Gmncpattn der Juden. — ;on
Geite
C. Welder . - . 229
Englands Etoatsverfaflung- Es.
©. Welcker.. —
Englands Statifit. — "Bon E.
Belcker. 241
Engliſches Bant- und Seeditfuftem.
— Von K. Mathy.
* Snregiftrement ——
— Bon G. Fr. Kol . 244
Gphorat , Spboren. — Ron C.
Welcker... . 236
Erblichkeit. — Bon W . Säulı.
Erbrecht, Rotherbredt 334
und teftamentarifches Erbrecht,
Erbfolgerecht und Erbfolgeord⸗
nung, Legat und adideicommiß
— Bon &. Welcker...
Erfahrung. — Ben ©. Belder.
* Scoreffung, Soncuffion. — Bon
@. Welder . .
* Erskine (Thomas, Lord). - — on
C. Welder.. .
— — — Bon GE. ® eleer.
Erzie Fehirze phvſiſche. — Bon ©.
* Eerarters (Don Baldamere)-
— Bon 6. Welder . .
* Eſte. — Bon &. Welder.
* Etymologie. — 8553 Belcer.
+ Cudamoniſsmus, Egoismus, Epi⸗
kuraͤismus, Individualiſsmus, zus
naͤchſt in ſoeialer politiſcher Be⸗
deutung und im Verhaͤltniß zum
Communismus. — Bon ©.
Welder . .
*@ubämonismus und Egoismus,
im wsrhältnig gu ben foctaliftis
fen und communiftifchen Theo⸗
rien. — Bon Abt. . 271
+ Cunuch, Gaftrat, ‚Gaftration- —
Bon C. Welck . 276
Evangeliſch⸗ proteftantifihe girche
Rheinbalerne. — Bon ©. Fr. "278
goseikfeuen. — Bon Belder. 284
action. — Bon E. Welder. 285
. 268
Seite
* Fahne. — Bon C. Welder. ."285
* Fahnenleben. — B.6.Welder. 286
Finanzgeſetz. — Bon K. Mathyv.
BI emiehexationen. — Bon K.
t
y . 288
Zorftwefen. — Bon ei e d etinb. 292
Fourier's Theorie der Geſellſchaft 297
Frankfurt a. M. Von Dr.
Reinganum. . 810
Frankfurter Attentat, ſ. ———
Eutwidelungen und Kämpfe in
Deutfchland und Sefnfäaften,
geheime.
* Srankreih. — Bon. Welder. 322
Seeung. Katholiſche Ligue in ber
Schweiz. — Bon ®. Schulz. 337
Trieben, Kriebensfchläffe, befonbere
bie wichtigften der neucften Beit.
— Von Bild. Schulz. . . 845
" Beudtiperre unb andere Mafres
gein ge die Theuerung im
Sabre 6. Wonk. Mathy. 355
Sagern, 9. Ch. * v. — Von X. 362
Gagern, H. W. A., Freiherr von.
Von X. . 365
— Bon
* Ballicanifche Riche. Ueber bie
neueften franzöfilchen religiöfen
und kirchlichen Zuftänbe und Aber
die neue franzöfifche katholiſche
u. franzoͤſiſche neue evengelifihe
Kirche. — Bon ©. der. 366
* Gaſtrecht. Insbeſondere —* das
nationale Verkehrs⸗ und Gaſt⸗
recht oder das nationale Buͤr⸗
gerrecht ber Deutihen in ben
verfchiedenen deutichen Ländern.
— Bon &. Welder. .
Geld. — Bon Karl Mathy. -
Geldumlauf. — Bon K. Mathy. 419
* Genf. — Bon W. Schulz. . 422
Germanifches, beutfches Recht, und
zwar insbefonbere deutfches Pris
batrecht. — V. Mittermaier. 430
Serulaaften, geheime. — won
Wilh. Schulz. . . 497
* Sefehlicher Kortichritt. Bebingun-
gen feiner Möglichkeit. — Won A. 441
Gewerbe: und Fabrikweſen. — Von
K. Matby. -» » » .. 0.45
Glarus. — Ton W. Schulz. 468
"Staubengfeciheit, Glaubenszwang,
in poſitiver u. negativer Bestes
bung, durch „chriſtl. Staat” u
Staatslichn — Bon Abt. . 478
. 382
Seite
Stüdsfpiele. — Von Kolb und
Mathy. . 4%
Graubündten. — Bon W. Sgulz. 494
Griechenland (Gefchichte Neugrie⸗
henlande).— Bon G. Fr. Kolb. 500
Griechenland, in ftatiftifcher Pins
fiht. — Bon G. Fr. Kolb. . 504
*Griechiſche u. allgem. altgriechi-
Ihe Volksanſichten von Recht u.
Staat. — Bon C. Welder. 506
*Grundgeſetz, Brundvertrag, Ders
foffung. Die Vertragsform des
. bernunftrechtlihen oder freien -
Staates im Gegenſatz despotiſchen
- oder Herrenrechts und theokrati⸗
ſchen oder göttlihen Rechts. Die
Gefahren ber Verkennung ber
politiichen Wertragstheorie. Die
frage ihrer Anwendbarkeit auf
Deutichland und Preußen. —
Bon ©. Welder . . . 520
Grundfteuer. — Bon K. Mathy. 592
* Gültigkeit, abfolute des Beftehen-
den. Freiheit der öffentlichen Mei⸗
nung und Kritik in Bezug. auf
daffelbe. — Bon Abt. -. .
"Qalpot, Erangoit. — Ron ®.
lz.
* Guizot's politiſche Doctrinen. —
Bon Scheidbler. . . .
* Habsburger u. ihre Politik, mit
befonderer Ruͤckſicht auf Deutſch⸗
land. — Bon K. Hagen. . 619
* Hambacher Feſt. — Blutige Er⸗
eigniffe am Zahrestage befjelben
zu Hambach und Neuflabt an
der Haardt. — Die Landauer
Aſſiſe. .. . 646
Hamburg. — Bon ©. $. Burm. 671
* Hampden, Sohn. Gefeglicher Wis
derfland. — Bon E. Welder. 690
* Handel. — Bon Karl Mathy. 704
Handelsgerichte. — Bon Mitters
maier. . . . 712
* dendweree und Arbeitervereine.
Dannover. — Bon ©. Welder. Tal
* Hegel. Neuhegelianer oder bie
neueften Entwicelungen ber He⸗
gel'ſchen Philofophie und Schule
in ihren Beziehangen zu dem
Öffentlihen Leben der Gegens
wart feit ben Legtverfloffenen fie
ben oder acht Jahren. — Bon
6 Heibler. .. .740
© Hitiasmus, Zaufendjiähriges Rei. — Chiliasmus bes
zeichnet dem Wortlaute nad) den Glauben an ein taufend Jahre lang
dauerndes Reich voll Freude und Genuß, das der Meffias bier auf Er»
den fliften werde. Die Anfhaumg der troftlofen beftehenden Zuftände,
verbunden mit einer dunklen Ahnung von der Beflimmung der Menfdy:
heit und einem Gefühle, daß ein Zuftand, in welchem die Menfchheit als Mit-
tel für die Zwecke und Intereffen einzelner Pripilegirter gebraucht wird, der
Ihre der Menfchheit nicht entfprechen koͤnne, erweckte faft in jeden Volke
ben Glauben an eine Zukunft, in welcher alles Uebel aufhöre und an
feine Stelle lauter Herrlichbeit und Freude treten werde. Beſonders war
die üppige Phantafie der Orientalen geſchaͤftig, diefen Zufland des Wohl:
lebens und der Behaglichkeit auf eine wahrhaft abenteuerlihe Weife aus:
zumalen. Unter dem Einfluß perfifcher, alerandeinifcher, neuplatonifcher
‚Religionsphilofophte Hatte jener Glaube auch im Judenthum Eingang
gefunden, wurde befonders durch die Propheten angeregt, vermifchte fich
mis der Meffiasidee und wurde durch das grenzenlofe Nationalunglüd
bes Volkes befonders zuc Zeit Jefu zur fieberhaften Erwartung gefteigert,
bie um fo ausfchweifender war, je mehr der damalige Zuftand mit jener
Hoffnung contraſtirte. Diefe wie alle religiöfen Vorftellungen der Maffe
mar Übrigens fehr finnlicher Natur, mußte viel von den taufend und
aber taufend Millionen Eimern Wein und Scheffeln Kom zu erzählen,
welche dann jeder Rebſtock, jede Achre hervorbringen werde, und bes
ſchrieb fehr umftändlicy, wie fi eine neue Stadt Serufalem vom Him-
mel herablaffen werde, um ben Gläubigen zu einem Aufenthaltsort zu
dienen, in welchem bdiefe dann taufend Jahre lang ein paradiefifches
Schiaraffenleben führen dürfen. j
Da Peine welthiftorifche Erfcheinung, am wenigſten auf geiftigem
Gebiete, zuſammenhangoilos in's Leben eintritt, fo nahm aud das Chri-
ftenthHum unter vielen andern auch diefe juͤdiſche Vorſtellung mit in bie
neue Aera herüber. Es ift übrigens hier nicht der Ort, die chiliaflifchen
Zedumereien dogmengefchichtlic) zu verfolgen, denn es genügt an ber
Bemerkung, dab der Glaube an's taufendjährige Reich in ben erften
oo: 1
4 Chiliasmus.
Jahrhunderten, wenn auch von Einzelnen angefochten, doch noch ortho⸗
dox war. Spaͤter wurde er jedoch fuͤr ketzeriſch erklaͤrt und erloſch nach
und nach, je mehr die chriſtliche Staatskirche des Mittelalters durch Ce⸗
remonien⸗Cult die Religion entinnerlichte und zu einer mechaniſchen
Uebung gewiſſer Gebräuche und zur entmenfchenden Niederdruͤckung der
Freiheit bes individuellen religiäfen Gefühle entweihte. Die Reformation
gab, der Xheorie nach, dem religiöfen Gefühl einen Theil diefer Freiheit
zurüd und damit das Zeichen zur Rückkehr einer Intenſivitaͤt, die jedoch,
durch gehörige Aufklärung und Bildung des Verftandes nicht im Zaume
gehalten, das vernünftige Maß bald überfchritt und in eine Gefühle:
ſchwelgerei ausartete, zu deren Hauptbeftandtheilen chiliaftifche Traͤume⸗
teien gehörten. Das 17. Jahrhundert war reich an ſolchen Secten, die
bauptfächlich durch die fogenannte Offenbarung Johannis genährt wur⸗
den. Befonders war das heutige Land der Amtsehre ein Hauptherd fol»
her religiöfen Parteien. Bengel ftiftete fogar eine eigene Schule ber
Apokalyptiker, indem er den Chiliasmus in feiner Art wiſſenſchaftlich
tractirte. So ift heutigen Tages noch in jenem Lande ein großer Theil
des Stadt» und Landvolks dem Glauben an das taufendjährige Reich
verfallen. Faſt in jeder Stadt und in fehr vielen Dörfern findet fich
ein Bruder Schnaufer, oder ein Vater Schrade, oder ein frommer Pfaffe
aus. der. Secte der Pietiften, der in den Abendftunden feine Schäflein
um fid verfammelt, um ihnen von ben Freuden des taufendjährigen
Reiches zu erzählen und, die „Offenbarung Sohannis” in der Hand,
von dem neuen Serufalem zu ſchwaͤrmen, und biefer -Umftand iſt bie
Hauptveranlaffung zue Bearbeitung biefes Stoffes im Staatslexikon.
Die verderblichen Wirkungen einer folchen Krankheit des religioͤſen
Gefühle in einem Wolfe werden gewiß fehr einleuchtend fein. Eim
Dhantafieblirger des taufendjährigen Meiches wirb ſchwerlich großen Ans
theil an den Schmerzen und Intereffen feines wirklichen Vaterlandes
nehmen. Leute, die auf das taufendjährige Reich warten, werden für
die Entwidelung der bürgerlichen Freiheit in ihrem irdifchen Staate fehr
unempfänglich fein, und wie es denn zu allen Zeiten fid) erwiefen hat,
daß gute Himmelsbürger felten gute Erbenbürger waren, fo ift auch bie
unausbleibliche Folge jener religisfen Gefühlskrankheit eine troſtloſe
politifche Lethargie, Untauglichkeit für jede künftige Schilberhebung und
ein Stumpffinn, ber das Volt im Nachbarftaate bei einer hereinbrechen⸗
ben Krifis gleichgiltig und theilnahmlos abfchlachten ließe zur Aufrechthal⸗
tung mittelalterlicher Inſtitute und Intereſſen.
Kragen wir aber nach den Urfachen jener monftröfen Erfcheinung
in MWürtemberg,, fo find fie im Allgemeinen auf bie Natur eines ein:
feitigen religioͤſen Gefühle zurüczuführen, das, an ſich fhon das We⸗
fen des Menfchen außerhalb der Menfchheit fegend, nur gar zu leicht
auf uͤberſchwengliche, ſinnlich⸗ myftifche Ausfchweifungen der Phantafie
verfaͤllt, wenn ed durch geiftige Bildung nicht geldutert und der ſchwaͤr⸗
merifche Volkscharakter ohnehin einer ſolchen Richtung geneigt ifl. —
Dazu kommt der traurige Zufland der Wolköbelehrung und Schulbil⸗
Chiliasmus 5
dung. Wenn das Volt Jahr aus Jahr ein Feine andere geiftige Speiſe
erhält als pietiftifche oder rationaliſtiſch⸗homiletiſches Gefalbaber von
den Kanzeln herab, oder Volksſchriften, welche bie Senfur eines groͤßten⸗
theil® aus Beamten und Prieſtern beftehenden Volksſchriftenvereins paſ⸗
firt haben muͤſſen, und wenn die Schulen, ftatt Tempel der Aufklärung
su fein, wo eine vernünftige Weltanfchauung gelehrt wird, fpftematifche
Bollsverdammungsanftalten find, wo der Verſtand Fünftiger Staatebürs
ger durch mechanifches Auswendiglernen biblifher Sprüde und pietifli«
fcher Lieder ertödtet und in andern Disciplinen hoͤchſtens dreſſirt wird;
wenn ferner die verrückten Bifionen eines neuplatonifhen Schwaͤrmers
unter dem Titel „Offenbarung Johannis“ zum Volle» und Schulbuch
gemacht find, dann iſt Wien Wunder, wenn das reltgidfe Gefühl des
Volkes auf gefährliche Abwege geräth.
Hand in Hand mit diefer Urfache geht die Beguͤnſtigung ber unter
dem Namen Pietiften dem Miniſter des Innern zwar nicht gerade ges
nehmen, aber mit dem ganzen politifhen Syſtem fehr innig verbundenen
und verwebten proteftantifchen Jeſuiten. Wie der Fefuitismus, fo ift
ber Pietismus nichte Anderes als Reaction ber Kirche gegen das Princip
der Slaubensfreiheit/ die freilich nur theoretifch im Proteftantismus aus:
gefprochen iſt; der Pietismus ift das confequente Fefthalten am Bes
geiffe der Kirche im Gegenfag zur Veredelung und Aufklärung des relis
aidfen Gefühle. Aufrechthaltung der Kirche als Imangsanftalt für bie
Freiheit des religiöfen Gefühle des Einzelnen, zu herrſchen im Namen
Gottes und ber Religion über die Herzen und Beutel ber Gläubigen
iſt feine Tendenz, Sucht vor dem Verfiegen der in der Religionsbornirt=
beit reichlich fließenden Quellen der Einnahmen feine Mutter, Befiser:
greifung bes Volksunterrichts in Kirche und Schule fein Mittel, und
in fofern find die Pietiften mwefentlich nichts Anderes als Zefuiten inner:
halb der proteflantifchen Kirche. Solchem Volk ift es dann freilidy lie
ber, wenn der Bauer in ber „Offenbarung Johannis“ Lieft, als wenn
er die Zeitung vornimmt oder bie Verfaffungsurkunde; lieber, wenn ber
Bürger ein taufendjähriges Reich conftruirt, als wenn er an die Ber:
vollkommnung des gegenwärtigen Reichs denkt; lieber, wenn das Land»
volk feinen Blick nad) ben fabelhaften Regionen bes neuen Serufalems:
Staats vichtet und in Erwartung der kommenden Herrlichkeiten für bie
geiftigen Intereſſen biefes Lebens abgeftumpft wird, al6 wenn es mit dem
Zuftande des Vaterlandes fich befchäftigt — und dies mag zugleich ans
deuten, warum die Pietiften fich hoher Protectionen erfreuen und unge:
ftört ihre flantsgefährliche Wirkſamkeit ausbreiten dürfen.
Begünftigt und genährt wird ferner jene mpftifche Richtung eben»
falls durch die traurigen Zuftände bes Landes und das troftlofe National»
ungluͤck, das zwar nicht unmittelbar, aber boch in feinen Confequenzen
und Wirkungen vom Wolle gefühlt wird. Ein Volt — entbehrend
aller ſtaatsbuͤrgerlichen Sreiheiten in Zinfterniß "und geiftiger Nacht er:
halten durch die Genfur, bevormundet und geplagt durch Die Polizei, ges
richtet im geheimer Amtsſtube durch Iebenslänglich angeſtellte koͤnigliche
6 Chiliasmus.
Diener, preisgegeben den Beamten, wehrlos durch das Straf⸗ und
Amtsehtebeleidigungsgeſetz, gegängelt an dem Zwangsbande der Kirche
duch fanatifche Priefter faft in jedem Bauerndorfe, in feinen Finanzen
zerrüttet durch eine glänzende Beftellung des Fiscus, duch ein koſtbares
Regierungsſyſtem, flehendes Heer, Befolbungen und Penfionen, deshalb
geößtentheil6 anheimgefallen einem kaum geahnten Pauperismus — ein
folhes Volk mag allerdings Erſatz fuchen im Meiche der Phantaſie,
welche ihm, wie den Reifenden in der Wüfte Sahara, mitten im Sands
meer der traurigen Wirklichkeit Iuflige Onfen mit fpringenden Quellen
und lachendem Grün vorfpiegelt. —
“ Außer dem kirchlichen giebt es aber gewiffermaßen auch noch einen
fociaten Chilingmus und er ift das zweite Moment für diefe Darftellung
im Staatsleriton. Unter ben verfchtedenen Schriftftelleen, welche fett .
dem: großen franzöfifchen Volksgericht über das Königehum fich mit der
focialen Frage und Organiſation der vernünftigen Geſellſchaft befchäftis
gen, ift e8 beſonders Fourier, der in Aufflellung feines Spftems feiner
Phantaſie auf wahrhaft abenteuerliche Weife die Zügel ſchießen ließ.
Wenn eine gewiffe Periode der ſocialen Entwicklung eingetreten fein
wird, dann wird nach Fourier „der Erbball bis zum 609 N. Br. von
Menſchenhand bebaut fein und die Nordlichtkrone, ein Meteor in Korm
eines feurigen Ringes, wird fid in ihren mächtigen Wirkungen auf bie
Begetation zeigen. Am Nordpool werden Drangen machen, das Eis
wird fehmelzen und die mwüfteften Gegenden werden in Paradiefe ver»
wandelt: Die Lichtkrone des Morbpols wird den Geſchmack des Meer⸗
waſſers gaͤnzlich verändern, e8 in Limonade verwandeln. Die ſchaͤdlichen
Creaturen werden durch ein Boreal⸗Fluidum getoͤdtet werden; an die
Stelle der Legionen ſcheußlicher Meerungeheuer treten viele dienſtbare
Amphibien, zum Transport der Schiffe nuͤtzlich und fuͤr die Fiſcherei.
Alles waͤchſt rieſenhaft; Kartoffeln ſo groß wie Melonen; Kuͤrbiſſe zwoͤlf
Fuß hoch; der Menſch wird acht Fuß groß und lebt 144 Jahre, wird
400 Pfund ſchwer und verzehrt taͤglich 33 Pfund Nahrungsmittel.
Jede Frau hat einen Gemahl, von dem fie zwei Kinder; einen Erzeuger,
von dem fie ein Kind befigt; einen Geliebten, der den Anſpruch auf
feine Stellung nicht verliert; und mehrere einfache Beſitzer, Die jeboch
- Beinen gefeglihen Anfpruc auf fie machen koͤnnen. Das Thier der
Apokalypſe erfteht in der Antigiraffe, bie Sahara wird erobert und fchiffe
bar.” Dieſe reizende Schilderung ift nun allerdings fehr abentewerlidh,
alfein ihrer phantaftifhen Erteavaganzen entkleidet birgt fie eine tiefe
Wahrheit. Wenn emft alle Hinderniffe meggerdumt fein werben, bie,
keineswegs durch das Weſen des Menfchen bedingt, bis jest noch die
Möglichkeit abfchneiden , daß jeder Einzelne Menfch ſei; wenn Inflitute
und Begriffe verſchwunden find, die auf Koften der Gefammtheit Einzelne
mit unverhältnigmäßiger Gewalt und dem Mitteln zu einem menſchlichen
Dafein ausfchließlich verfehen; wenn der Wille der Gefammtheit nicht
mehr geknechtet ift duch Mächte und Gewalten, die unabhängig von
ihe entſtehen und beſtehen; wenn des Menſchen veligiöfes Gefühl frei
CEhriſtlicher Staat. 7
iſt und frei feine Thaͤtigkeit, wenn alle Staatsanſtalten und alle Kräfte
zus Veredlung dee Menfchheit und zu ihrer Entwicklung benugt werden,
flott daß fie gegenwärtig nur im Dienfte der Unfreiheit und einer uns
voltsthämlichen Gewalt find; wenn wir einft die große That des Selbfls
bewußtfeins der Nationen bintee uns haben, durch welche fie erklären,
von nun an Ihre Angelegenheiten nur nach ihrem Beduͤrfniß und nicht
mehr nach den Intereffen und dee Willkuͤr einzelner vom Zufall begüns
fligtee Dynaſten des politiſchen, kirchlichen und gelöfichen Abſolutismus
zu ordnen; wenn Alles dies gefchehen fein wird — und gefchehen wird
und muß es, fo wahr die zum Selbſtbewußtſein erwachte Gefammtheit
mädhtiger ift als ihre Bormünder — dann allerdings wird ein Zuſtand
eintreten, von dem die Mehrzahl faſt nody Feine Ahnung hat: Der
größte Theil der Uebel und des Ungluͤcks, gegenwärtig confequente Fol⸗
gen eines heillofen, corrumpirten ſochalen Zuftandes, den man Staat zw .
nennen beliebt, wird verfchwinden, die Mehrzahl ber Verbrechen, gegen:
wärtig hervorgehenb aus dem Elend und der Barbarei, worin ein großer
Theil des Volkes fuftematifch erhalten wird, wird aufhören, Sorge und
Kummer und mit ihnen viele Krankheiten werden unbekannt werden, Die
Menſchheit wird nur thätig fein, um die Menfchen gluͤcklich zu mahen,
Arbeit wird Jedermann Genuß fein, jeder Menſch wird der Stempel
der Goͤttlichkeit an ſich tragen und, um mit einem alten, faft möchte
ich fagen ahnungevollen Bilde zu fprehen, „Gottes Ebenbilb” Tem. —
t
Chriſtlicher Staat, chriſtlich-germaniſches Staats:
recht. Schon lange, ehe der Artikel Chriſtenthum geſchrieben wurde,
fhon feit 1816, hielt fein Verfaſſer an den Hochſchulen zu Heidelberg
und Bonn Vorleſungen über das hriftlih:germanife Staats»
recht und wurde mit ausdrüdlicher Wahl diefes Namens für daffelbe
nad; Freiburg berufen. Ich entwidelte in diefen Vorleſungen im
Weſentlichen ganz diefelben Grundfäge, wie fie bie Artikel Ehr iſte n⸗
thum, Deutfhe Staatsgefhichte, Deutfches Landesſtaats⸗
recht und Berfaffung enthalten. Etwaiger Zabel, vielleicht fogar
einiger Spott von manchen Liberalen über die Idee eines chriſtlich⸗
germanifcen Staatsrechts konnte mid) in meinen wohlgeprüften Ueber»
zeugungen nicht irre mahen. Wohl aber hätten mich beinahe die vielen
Zuftimmenden, welche wenigſtens im Namen und in ber Ableitung
des Staatsrechts aus chrifllichen und germanifchen Grundlagen mit mit
übereinzulommen fchienen, von meinem chriftlich»germanifchen Stante-
recht zuruͤckſchtecken koͤnnen. Die bekannten Theorien eines Haller,
Bonald, Maiſtre, Friedrih Schlegel, eines Maurenbrecher,
Stahl, Matthät, welhe die Srundbebingungen jedes rechtlichen und
freien Staatslebene, die Glaubens: und bürgerliche Sreiheit, überfahen
und zerflörten und unter jenen ehrmwürdigen Namen mehr ober minder
die, tie man glaubte, veralteten bdespotifchen Theorien der Stuarte
und Bourbone, bie Theorien des Kilmer, Wandal und Salmas
fius von dem göttlihen Recht und von der fauſtrechtlichen
8 | Shriftlicher Staat.
abfoluten Gewalt der Könige wiedererweckten — fie nahmen wirk⸗
lich um fo mehr, je mehr fie Begünfligung und Einfluß bei den Mäch:
tigen erhielten, die Freiheitsfreunde gegen Chriſtenthum und Deutfchthum
ein. Hatte ja Überhaupt ber Mißbrauch der chriftlichen Religion für
geiftige und bürgerliche Verdummung und Unterbrüdung Millionen mit
Boltaire zu Feinden der Meligion felbft gemacht! Ebenfo macht aud)
heute der ähnliche freiheitsfeindlihe Mißbrauch des biftorifchen, des
angeblih hriftlihen und deutſchen Rechts viele Zaufende zu bittern
Gegnern nicht nur des Mißbrauchs nein, der mißbrauchten ehrenwer⸗
then Segenflände felbft; ganz aͤhnlich wie ja auch die einfeltigen (blos
verneinenden oder abftracten) Richtungen des Rationalismus und eines
gewifien Liberaliemus, des Kant'ſchen und neuhegel’fchen Kormalismus,
die Hiftorifchen- und bie Srommen zu Seinden der Vernunft umd
der Freiheit gemacht hatten, oder abenfo wie Anarchie und Jacobinismus
Diele gegen Freiheit und felbftfländiges Volksrecht einnahmen, oder wie
umgekehrt neuerlidy ber despotifche Mißbrauch des fogenannten monar-
hifhen Princips für die Monarchie ftets zahlreichere und gefährli-
here Gegner erweckt. Dieſes Alles iſt nur allzu natürlich, da menſch⸗
liche Schwäche faft überall im Gebiete der Freiheit den Mißbrauch mit
dem mißbrauchten Gegenftand verwechfelt und von einem einfeitigen Aeu⸗
Berften zu dem entgegengefegten fi wendet. Es follte mid) baher auch
im Mindeften nicht wundern, wenn diefelben frommen Leute, welche jegt
noch burdy den Mißbrauch des Chriftenthums für feudalariſtokratiſche,
jefuitifhe und despotifche Verdummung und Unterdrüdung des Volks zu
wirken fuchen, durch einen täglich gefährlicher werbenben ent
gegengefegten Mißbrauch deſſelben Chriftenthums für communiftifche
und. revolutionäre Anfeindung und Zerftörung der Throne und der
wefentlichften Grundlagen freier gefitteter Staaten zur Anfeindung des
Chriſtenthums felbft ſich beftimmen ließen. Die Aufgabe für eine wahr⸗
haft gründliche und praktiſche Stantsweisheit aber bleibt es, ‘den Blick
und die Richtung von folcher Einfeitigkeit möglihft frei zu halten und
ohne eine falfche (principlofe und ſynkretiſtiſche) Wermifchung das Wahre
und die rechte Vermittlung zu finden. Mögen in den natürlichen leben»
digen Kämpfen, Schwankungen und Fortfchritten des Staatsſchiffes auf
dem großen Entwicklungsſtrome der Menfchheit aud) viele der bewegen:
den Kräfte und Gegenträfte ohne Bewußtſein für das rechte Gleichge⸗
wicht und den rechten Gang des Schiffes wirken, den Fuͤhrern unb
Leitern der Fahrt ziemt es, mit klarem Bewußtſein das Ziel, bie rechte
Bahn, die Srunbgefege des Ganges, die nothmendigen und bie verberb-
lihen Wirfungen und Begenwirkungen jener Kräfte herauszufinden und
zu berechnen. Sie follen — keine falſchen Scheine ſich irren laſſen.
Die Ergebniſſe, die ich in ſolchem Streben in Beziehung auf die
Grundfaͤtze des Rechts und der Politik unferer deutfchen Staaten zu«
gleich philoſophiſch oder aus ber Vernunft und hiſtoriſch⸗philo⸗
fopbifch aus den chrifllichen, alterthümlichen und germanifchen Grund»
ideen des menfchlichen und gefelfchaftlichen Lebens entwidelte und in ben
Chriſtlicher Staat. 9
eltirten Artikeln, überhaupt in allen meinen Artikeln des Staatsleris
ons, niederlegte,, find mir durch Leine einfeitigen Leibenfchaften und
entgegengefegten fchriftflellerifchen und Parteirichtungen unferer vielbes
wegten Zeiten irgend erfchüttert oder verleidet morden. Aber ich mißbillige
und befämpfe mit allen meinen Kräften meine fcheinbaren, falfchen
Bundesgenoffen, jene zuvor ſchon angebeuteten angeblich hriftlichen und
germanifchen Stantslehren, welche im bemußten oder unbewußten leiden»
fhaftlihen oder feilen Dienſte der Anhänger und Knechte beftehender
Mißbraͤuche und fehlechter Gewohnheiten, im Dienfte der Gegner ber
Freiheit und der freien vernünftigen Entwidiung, zum Schaden der
Ehre und Bluͤthe des Waterlandes, ihr verkehrtes und fünbhaftes Wirken
durch den falfchen Schein der Chrifttichkeit ober der wahren Deutfchheit
zu befchönigen und fo ſchwache Zürften und Voͤlker zu täufchen fuchen.
Sch haſſe ſolche Werkehrtheit und ebenfo dem Mißbrauch des Chriften-
thums für commumniftifche Untergrabung der mwefentlichen Grundlagen der
Gefittung und für revolutionäre Pöbelherrfchaft.e Ich haſſe fie doppelt
deshalb, weil fie gerade das mir Heiligfte und Ehrwuͤrdigſte mißbraucht,
verunftaltet und gehäffig macht und well fie gerade ber höchften Aufgabe
und der Grundbedingung des Heil6 meines Vaterlandes entgegenwirkt.
Der fpätere Artikel Rechts⸗ und Staatslehre wird fi bes
muͤhen, die wahren, bie praßtifchen hiftorifch » philofophifchen,, zugleich
vernünftigen und zugleich chriſtlich⸗ germanifchen Grundfäge des Rechts
und Staats zufammenhängender und deutlicher, als es mir vielleicht bie
jest gelang, darzulegen und babei dann auch bie Hauptirrthuͤmer ber bes
deutenderen abmweichenden Theorien nachzumeifen.
Im gegenwärtigen Artikel fei es erlaubt, nur kurz die Hauptur⸗
fachen zu bezeichnen, welche in der Staatslehre, diefer wichtigften Wiſſen⸗
ſchaft unferer heutigen politifchen Meformzeit, zu Abwegen und nament-
lich dahin führten, daB man die chriftlihen und germaniſchen Grundfäge
fätfchlich als der wahren Freiheit feindfelig hielt oder darftellte. Dadurch
werden dann mittelbar auch die wichtigſten Richtpunkte für die Erfor⸗
fhung der wahren Lehren und die Beſtaͤtigung der im voranftehenden
Artikel entwidelten wahrhaft liberalen chriftlihen Srundideen für Recht
und Staat gegeben fein. .
Man faßte nämlich, die Rechts⸗ und Staatslehre nicht in bem
rihtigen Verhältniß zu der Geſammtheit unferer heuti:>
gen ganzen Eultur und unferes ganzen höheren Menſchen⸗
Lebens auf. Diefes rührte vorzüglich daher, daß überhaupt bei der
nothwendigen Theilung der Arbeit für unfere große Gefammtaufgabe,
vollends aber wegen unferer zerriffenen unpolitifchen deutfhen Verhaͤlt⸗
niſſe, die Fachgelehrten, Juriſten, Theologen, Philoſophen, Hiftoriker
und hinwiederum die Bearbeiter der griechiſchen, roͤmiſchen, deutſchen
Geſchichte, oft auch die verſchiedenen Staͤnde, Ariſtokraten, Buͤrger, Be⸗
amten, die politiſchen oder gemeinfamen Geſetze für das ganze ges
meinfchaftliche Geſellſchaftsleben allein nur nad den beſchraͤnk⸗
ten Geſichtspunkten ihres defonderen Standpuntts und Hands
/
ro | Chriftlicher Staat.
werds auffaßten. Eine reichere Quelle der Verkehrtheiten und Miß⸗
verftändniffe in unferem deutfchen Leben und Wiffen giebt es nicht. Nur
das täglich größere Iebendige Verbinden und Verſchmelzen aller Theile
und Seiten unferer Cultur, aller Claſſen und Stände zu einem leben»
digen Staate, alfo zu einem zwar organifch gegliederten , aber nicht
mechaniſch und kaſtenmaͤßig zerriffenen Volk, die Vereinigung zu einem ges
funden ®emeinleben und das lebendige Bemußtfein und®es
meingefühl für biefes Ganze in allen Gliedern, nur fie werden
diefe Einfeitigkeiten mindern und fie als mitleidenswerth erkennen laſſen.
Die allgemeinften und verderblichften Einfeitigkeiten in ber Auf:
faſſung unſerer Staatslehre rüdfichtlih ihres Verhaͤltniſſes zu unferer
gefammten Cultur find aber vorzüglich die folgenden:
1. Man vergaß, daB der Staat, als der freie Organismus
des fortfchreitenden Gefammtlebens ober der Gefammtcultur
der Nation, daß alfo auch feine Gefeggebung und Theorie alle Eles
mente bdiefes Lebens und diefe Elemente in ihrem organifhen Vers
bältniß in fidh aufnehmen müffen, fo wie diefeß oben (Bd. I. ©. 42.
ff. 54 ff.) und im Artikel Deutfche Staatsgefchichte nachgewiefen
wird, daß mithin jede Staatslehre einfeitig, falfch und verberblich wird,
welche (fo wie bie oben I. &. 37 ff. genannten) nur einzelne Elemente,
die philofophifchen, veligiöfen, biftorifchen oder pofitiv juciftifchen, bie
ibealen, die materialen u. ſ. w. gar nicht oder nicht in ihrem richtigen
grundgefeglichen Verhaͤltniß auffaßt. (I. ©. 45. 53.)
1) Es war baher nur ein einfeitiger Hanbmerksgefichtöpunft, menn
die Schulphilofophen, wenn die Rationaliften in der Staatstheorie
nur ihre einfeitigen indivibuell=philofophifchen Abflractionen und meta:
phyſiſchen Anſchauungen, nicht auch die religiöfen und fonftigen hiftori-
ſchen' Elemente des Volkslebens und die auch in ihnen lebenden vers
nünftigen Anfchauungen und Grundbfäge beachteten, aufnahmen, ober
fie blos willkürlich behandelten, auswählten und unterordneten.
2) Es war gleich einfeitig, wenn die Piflorifhen, fo wie alle
Berfaffer jener hriftlih:germanifhen Staatsrechtstheo⸗
rien, alle freie felbfiftändige Philoſophie und ihre Geltung in
vernünftiger oder rationaliftifcher Prüfung und in der Fortbildung aus:
ſchloſſen ober doch philofophifche Grundfäge nur willkuͤrlich ausmählten,
behandelten, unterordneten. Es hat insbefondere Earove:in feiner Schrift:
Ueber das fogenannte germanifche und das fogenannte
hriftlihde Stantsprincipmit befondererBeziebungaufMau:
venbredher, Stahblund Matthäi. Siegen und Wiesbaden 1843,
gruͤndlich nachgewiefen, daß bie Theorien felbft der beften bisherigen Schrift⸗
ſteller über das chriftliche Staatsrecht, daß bie von Stahl !), Matthai?)
1) Die Philofophie des Redts nad sefhicdhtlicher Anſicht
von Fr. 3. Stahl. I. 1830. II, 1. 1833. II, 2. 1837. Die beiden letzten
Theile führen audy den Zitel: Ghriftlide Rech to⸗— und Staatslehre.
2) Die Macht und Würde des Fuͤrſten auf chriſtlichem Stand—
punkte, von Dr. G. © R. Matthaͤi. Leipzig 1841.
Ehriſtlicher Staat. | 11
ebenforoie bie Theorie von Maurenbreder?) durch die principlofe Einmi⸗
fhung philofophifcher Säge in ihre unmittelbar religids aus der Bibel
oder aus einzelnen voräbergehenden hiftorifhen Erſcheinungen ohne Philee
fophie begründeten Staatslehren haltlos und durch fortlaufende unauf⸗
loͤsliche Widerſpruͤche verunftaltet und unanwendbar wurden. Gleiches
ift überall da der Kal, wo die Anhänger des göttlichen Rechts der Herr⸗
ſchergewalt ſich fehämten, in einen fo unerträglihen und abfchredienden
feindlichen Gegenfag mit jedem Begriff von bürgerlicher Freiheit, mit ber
Cultur und der Geſchichte und mit dem Lebensbedürfniß aller edleren
Nationen zu kommen, daß fie, fo wie e8 am Folgerichtigften Hugo und
der Graf Maiftre nach dem Vorbild des neueften ruffifchen und türkis
ſchen Staatsſyſtems thaten, alle Sreiheit und Buͤrgerwuͤrde der koͤrperlich
und geiſtig leibeigenen Unterthanen der abſoluteſten grenzenloſeſten Will⸗
tür eines ſchwachen Sterblichen, eines religloͤſen und weltlichen unfehl⸗
an göttlihen Statthalters, des Czaren oder Padiſcha, überliefert
hatten.
3) Es war gleich einfeltig, wenn andere Staatstheorien nur eins
zelne Seiten unſeres Hiftorifchen Culturlebens beachteten, gleichviel ob
ohne alle Verbindung mit dent freien philofophifchen Element oder mit
demfelben. Unfer ganzes gegenmwärtiges höheres oder Culturleben
beruht einmal auf der unzertrennlichen Verſchmelzung des Chriſtenthums
und des claffifchen Alterthums mit unferer germanifhen Nationalität,
und die größten eigenthümlichen Vorzüge diefes dreifachen Culturelements
find in ihrer richtigen harmonifchen Vereinigung fo groß und unerfeglic),
alfe drei Elemente find fo vortheilhafte ſich gegenfeitig ergänzende und
unterflügende Beſtandtheile unferer heutigen Gultur und des von der
Bernunft gebilligten Ideals für unfer Staatsleben, daß, felbit wenn
wir koͤnnten, wir doc Feinen dieſer Lebensbeftandtheile mit feinen
lebendigen Wurzeln aus unferem Leben herausreißen und ausrotten
dürften. Ob die Vorfehung uns je andere, beffere Religion und vers
nünftigere und herrlichere praktifche Grundſaͤtze als bie bes Chriftenthums
geben wird, dies koͤnnen wir bahingeftellt fein laffen. Aber das weiß
ich, daß jedes Syſtem, was Philofophen aller Art, was Materialiften,
Unchriften und Atheiften bisher an deffen Stelle fegen wollten, um fo
mehr als jammervolle Einfeitigkeit und Stümperei erfcheint, je gründs
lichee man es mit bem ganzen Menſchen⸗ und Staatsleben, mit all
ihren verfchiedenartigen Forderungen, Beduͤrfniſſen und Aufgaben und
fodann mit der Tiefe und Altfeitigkeit des Chriftenthums vergleicht. Und
gleich gewiß iſt es mir, daß, fo lange bis etwa jene beffere Religion ges
“geben wäre, alles Bemühen, die Nation vom Chriftenthum loszureißen,
3) Deutſches Staafsreht von Dr. Romeo Maurenbreder und
reihen regierenden Kürften und ihre Souverainetät.
1 Chriſtlicher Staat.
fi) immer aufs Neue als durchaus verfehlt und eitel (alfo auch ale
ungefährlich erweifen wird. Auch huldigen ja unbewußt alle philofos
phiſchen Syſteme, die bisher auch nur einige praftifche Zuſtimmung in
dee Nation fanden, eben ſowohl den 'chriftlihen als alterthuͤmlichen und
germanifchen Grundideen, welche nun einmal ebenfo unfere geiftige
Lebensluft bilden und auf unſer geiftiges Leben einwirken, wie die uns
umgebende phyſiſche Atmofphäre unfer phufifches Leben beſtimmt. Wir
fragen alfo die Gegner des Chriftenthums und überhaupt der gefchicht-
lichen Beftandtheile unferes Staats und Eulturlebens: halten fie es denn
nun eines wahren praßtifhen Weifen würdiger, über die Quellen und
Beitandtheile feines Syſtems im Dunkel und in Taͤuſchung zu verhars
ren, al& fie mit bewußter Klacheit in ihrem richtigen inneren
Weſen und in ihrem rehten, vernunftgemäßen, greundge:
feglihen Verhältniß aufzufaffen und zu geftalten ?
I. Man vergaß aber auch geoßentheile, daß bie Gefeggebung
des Staatslebens die Sefeggebung eines Freien, aus freien Perfonen
sufammengefesgten lebendigen oder organifhen Ganzen if. Man
vergaß, daß fie als folche, als Geſetzgebung für alle diefe freien per:
ſoͤnlichen Slieder, für ihr gemeinfames, aber freies Zuſammenwirken,
diefe Freiheit und mithin das freie Zufammenftlimmen in dem
gemeinfamen Beleg für ihre Seundbedingung und Grundform,
daß fie hiermit Außerlih allgemein erkennbare und allgemein
- gültige Friedens» oder Rechtsformen anerkennm und. heilig hal⸗
ten muß.
Hierauf nun gründet fih jene objective analytifche Entwides
lung der Staatögefege aus dem ganzen geiſtig⸗ſittlichen Cultur⸗ und
Gefammtieben, aus ber Vernunft nicht blos des einzelnen Indivi⸗
duums, fondern aus der Vernunft des Volle, jene Entwidelung, welche
oben (I. &. 85 u. 46) bezeichnet wurde. Hierauf gründet fi auch
der Vorwurf der Einfeitigkeit, Werkehrtheit und praktiſchen Untauglichkeit
aller derjenigen Staatstheorten, welche nicht von der Aner⸗
kennung jener Grundbedingung und Grundform und nicht von dem
Streben ausgehen, biefelbe auch in ber Durchführung vermittelft der
wahrhaft freien, lebendigen Verfaſſung, ſowie in ber erſten objectiven
Begründung feitzuhalten, welche vielmehr ſtatt deffen die nur individuelt
und fubjectiv ertenns und beweisbaren philofopbifchen oder
gläubigen zuftelfangen des Ueberfinnlichen als die unmittelbaren prafs
tifhen höchften Gefege des Rechts» und Staatslebens aufftellen oder übers
haupt irgend eine fubjective Meinung oder Willlür über das objec-
tive freie Berfaffungegefeg ftellen.
Hieran fcheitern denn auch alle jene Theorien des göttlichen Rechts
und ihres angeblich chriftlichen Staatsrechts. Namentlich beweilt «6 das
zuvor angeführte Wert von Sarove, daß die Zheorien ber angeblid)
hriftlichen Staatslehre von Stahl und Matthäi ebenfo mie bie von
Sarove ſelbſt und ebenfo wie die früheren von Bonald, Dalleru.f.w.
ſich gegenfeltig weſentlich reiderfprechen und für unfere ganze Nation eben:
3
Ghriftlicher Staat! 18
fo wenig allgemeine aͤußere Beweiskraft, aͤußere praktifche Allgemeinguͤltig⸗
keit und allgemeine Erzwingbarkeit haben, als die befondere Glaubenslehre
jeder einzelnen cheifklichereligiäfen Secte, als die ber römifchen, griechiſchen
umd Deutfch> Katholiken, die der alt» und neugläubigen Lutheraner und
Reformirten, der ultramontanen , pietiflifchen und rationaliflifchen Theo⸗
logen, als bie bee Herrnhuter und Wiedertäufer, oder ebenfo wenig als
die individuellen Schuiphilofophien von Kant, Fichte, Hegel, Schel⸗
ling, von Alt⸗ und Neubegelianern und Feuerbachianern.
Ale jene Theorien und felbft die bisherigen angeblich chriſtlichen demo»
kratiſchen und communiflifchen Theorien leiten ihre Staatsgefehe
krineswegs ‘fo wie unfer Artilel Chriftentbum von ben wenigen bei
alen chriftlichen Parteien und Nationen und and) in unferem Rechts»
und Staateverein erweistih anerkannten praktiſchen Moralgrund⸗
fägen ab, fondern von irgend einem der total verfchiedenen und entgegens
gefegten Staubensbogmen und der verfchiedenen Auffaffungen ber religloͤſen
Mofterien, und dazu noch von individuellen biftorifchen Auffafjungen im
einzelnen beftimmten Zeiten und Voͤlkern. Manche derfelben und insbe
fondere bie XTheorim von Stahl und Matthaͤi nehmen dazu bie
greüften Widerfprüche in fich auf, weil fie eine für ganze beutfche Stauten,
eine für die ganze deutfche Nation, für Proteftanten und Katholiten gäl:
tige praßtifche Staatsgeſetzgebung begränden und zugleih den jest noch
sufällig beftehbenden feudalen und bdespotifchen Hoftheorlen und den un»
abweisbaren liberalen Srundfägen huldigen wollten ober doch nur eine
baltlofe iuftemilieumäßige Zufammenmifchung flatt einer principmaͤ⸗
Bigen Vermittlung des Megierungsrechts mit dem freien Bürgertum gu
Stande brachten. Sie überfahen nämlich, wie ſchon erwähnt wurde, die
vermittelnden rechtlichen Srundbedingungen und ebmfo jenes
tiefite vermittelnde Grundprineip des Chriſtenthums, nach wels
chem letzteres durchaus keine unmittelbar weltlichen Geſede geben wollte,
vielmehr die höchfte göttliche Freiheit der Menfchen zu feiner Grundlage
machte und mit Achtung der Glaubens s und bürgerlichen Freiheit fich
nur an die Liebe, die freie liebevolle Sefinnung wendete (S. Chriſten⸗
thum TI). Solchergeſtalt nun miſchen denn jene Theorien übern
ebenſo haltungslos die zufaͤllig gerade heute noch in Hannover und Preu⸗
ßen beſtehenden feudalen und adſolutiſtiſchen, und die vernuͤnftigen libe⸗
ralen Grundſaͤtze durcheinander, ganz ebenſo wie ſie bald von katholiſchen,
bald von gaͤnzlich verſchiedenen proteſtantiſchen, bald von altglaͤubigen, bald
von rationaliſtiſchen Principien aus folgern. | i
Diet näher einer allgemeinen Zuflimmung und prattifcher Anwend⸗
barkeit in politifchee Beziehung würde hier der Standpunkt dee Deutſch⸗
Katholiken fein, weil ſich ihr kirchliches Glaubens » und Vereinigungs:
gefeg faft nur auf die huldigende Anerkennung des wundervollen göttlichen
Geiſtes des Ehriſtenthums und feine einfachen großen Moralgrundfäge,
kurz auf ein Wenigftes befchnänkt, weiches alle chriftlichen Religions:
parteien anerkennen ; die andern Kirchengefellichaften unterfcheiden ſich fo»
mit nur dadurch von den Deutſchkatholiken, daß fie noch Mehreres zum
34 " Ghriftlicher Stast.
gemeinfchaftlichen Glaubens: und Kirchengefege machen, was die Deutſch⸗
Fatholiten dem individuellen fubjectiven Glauben ber einzelnen Mitglieder
und der einzelnen Gemeinden anheim geben oder (mie einiges Wenige)
ausdruͤcklich verwerfen. Jedenfalls aber ift Erin rein religiöfer und. kirch⸗
licher cheiftlichee Glaube als folcher und ohne bie nachweisbare
zehtlihe Anerkennung und Begründung ein weltlidhes
Staatsrecht. |
Jene chriftlichen oder auch bie rein ſchulphiloſophiſchen Staatstheo⸗
rien und ihre praktifche zwingende Auwendung durch bie Staatsregierung
wäre ebenfo unmöglich, ebenfo bespotifch und abfurd, als wenn der Regent
einen freiem Bürger zwingen wollte, das Latholifche oder das proteftantifähe
Staubensbelenntniß oder gar beide zugleich, ober audy den Glauben ber
Herrnhuter und Wiedertäufer, oder aud) eine beftimmte Hegel'ſche oder
Schelling'ſche Schulphilofophie, oder irgend eine individuelle Meinung des
Herrfchers anzunehmen und darnach feine und der Seinigen Lebensver⸗
hältniffe zu beflimmen. Und kann es wohl nach den oben (f. den Art.
Chriſtenthum) erwiefenen Srundfägen etwas Widerchriſtlicheres
geben als Euren fogenannten hriftlihen Staat, Eure Staatstelis
gion, Euer fogenanntes hriftliches Staatsrecht, welche flatt ber
vollen, allgemein gleihhen Glaubens s und Bürgerfreiheit Glaubentzwang,
Ausſchließung und despotifches Herrenrecht fegen, welche, flatt mit dem
Heiland für weltliches Recht und den gefellfchaftlichen Verkehr jeden Men⸗
fen, auch den anders Slaubenden, ale den gleihen Nebenmen⸗
[hen und Bruder zu behandeln, vielmehr unter den Ziteln des chriſt⸗
lihen Staats und hriftliher Staatsreligion fie und nament-
lich jegt die Suden und Deutfchlatholiten von ber Nechtsgleichheit aus⸗
fchließen, ihnen wohl an den Laſten der gemeinfamen Geſellſchaft ben
gleichen Antheil aufbürden, fie aber von den gleichen Vortheilen und
Ehren ausſchließen, welche felbft heuchleriſch ihre Mitbrüder obrigkeitlich
zue Heuchelei verführen, welche den freien unendlichen göttlichen Geiſt in
das Prokruſtesbett befchränkter menfchlicher Formen bannen und buch
Staatsvortheile und durch Nachtheile zu deren heuchlerifcher Anerkennung
zwingen wollen.
Da num aber fhon die Namen chriftliche oder pbilofophifche
Stantetheorie menigftens zu dem Wanne verleiten Eönnten, als follten
die unmittelbar gültigen, allgemein erzwingbaren Staatsge⸗
fege aus irgend einer fubjectiven individuellen fchulphilofophifchen oder
religiöfen Anſchauung der überfinnlichen Berhältniffe abgeleitet werben,
und da auch die hriftlichen Grundfäge zu aͤußerer Rechtsguͤltigkeit der
rehtlihen Anerkennung bedürfen, fo giebt man lieber die Namen
heiftiih und philofophifc für die praftifche Staatsgefeggebung
any auf.
’ ir diefe praftifche Staatsgeſetzgebung aber ift unfere oben (1. ©.
35 ff.) amgebeutete, unten im Artitel Rechts: und Staatslehre nd:
her zu begründende Theorie gar nicht fo verwickelt oder fo unharmoniſch,
als es Manchem ſcheinen mochte. Nur darf fie, ohne einſeitig und
Ghriſtlicher Staat. | 15
alfo falfch und unanmwendbar zu werden, nicht fo einfach fein, daß fie
die ceiche Nature unferes wirklichen Stantslebens und einzelne Beſtand⸗
theile und Geiten deſſelben unbeachtet und außer Rechnung läßt.
Diefem unferm Culturs und Staatsleben entfprechend muß alfo auch
dann, menn bie Entwidelung ber Staatstheorie gleich von vorn herein
analytifh und hiſtoriſch⸗ philoſophiſch das gegebene Gefammtleben des
Volks und feine Srundbeftandtheile in’s Auge faßt, doch ber For⸗
ſcher zundchft als einen derſelben ſich ſelbſt amd dann fein Verhaͤltniß
zum Ganzen erforſchen. Es muß ſo: | | j
1) der freie ſelbſtſtaͤndige Mann und Bürger nach feiner eigenme
freien felbfiftändigen Vernunft oder Philofophie feine und des Staates
böchfte Beftimmung und Gefeggebung erforfchen, um in folder an ſich
freitih noch individuellen und reinphiloſophiſchen
Lehre Licht und Prüfftein für die Geſetzgebung und Theorie des hiſto⸗
riſch wirklichen oder zu verwirklichenden gemeinfamen Staatslebens
und für feine eigene freie Zuflimmung und Mitwirkung für daſ⸗
felbe zu finden. |
2) Das von ihm zu prüfende , je nach feinee Ueberzeugung anzuers
Eennende und nah ge meinfchaftlicher Ueberzeugung zu vervollkomm⸗
sende gemeinfhaftlihe Geſetz für das gemeinfhaftliche Zu⸗
fammenwirken unferes freien Volks (da®.wickiih allgemein ertenns
bare, allgemein gültige praftifhe Staatsgefeg), diefes muß
er dann weiter aus dem ganzen Befammtleben oder der Bes
fammtcuitur diefes Volkes, aus feiner Sefammtvernunft
lo, biftoeifh>philofophifch und objectiv zu entwideln
uchen.
3) Dabei wird er, fo gewiß als von einem gefitteten freien Volke,
vom Bufammenmwirken freier oder felbftftändiger fittliher
Derföntichkeiten die Rede fein fol, in logifcher Entwidelung aus
dDiefer erfahrungsmaͤßig anerkannten Grundlage ſolchen freien Zus
fammenwirkens zunaͤchſt die objective Grundform ber Freiheit und des
Friedens, die Rechtsform für alles gefellfchaftliche Handeln der Res
gierung wie ber Einzelnen finden.
4) Für bie politifhen Aufgaben, Zwede und Mittel un:
ſeres Volkslebens, welche durch das freie Zufammenwirken ber Bürger
und der Regierung innerhalb ber Rechtsform des freien Confenfrs
zu verwirklichen find, findet dann bie biftorifch=philofophifche Betrachtung
unferes Volkes und feiner Eultur die zugleich in ihrem wahren hoͤchſten
Weſen und in ihrem rechten Verhaͤltniß zu fördernden hriftlichen,
alterthuͤmlichen und germa niſchen Örundelemente. Diefe, ober
1) die hrifllide Grundidee und Gefinnung, der chriſtliche Geiſt,
der Lebenszweck und des Lebens Grundgeſetz; fodann 2) die praktiſch ver-
fländigen und freien irdifchen Lebens», Staates: und Rechts⸗
formen der claffifchen alterthämlichen Cultur, und endlich 3) die ſelbſt⸗
fländig frei und national geftaltende und regierende ger»
manifche Lebenskraft — fie fämmtlid finden in ber ihnen entſpre⸗
6 Chriftoph von Würtemberg.
chenden freien lebendigen Berfaffung und in ber nationalen
verfaffungsmäßigen Regierung und Staatsgefeggebung .
I durch fie ſtets neu ihre volllommene Objectivitdt ımb Verwirk
lichung.
So bilbet ſich ein vollkommen principmaͤßiges ober wiſſenſchaft⸗
liches und harmoniſches und zugleich philoſophiſches und hiſtoriſches, ſitt⸗
liches und freies, chriſtlich⸗alterthuͤmliches und germaniſches Rechts⸗ und
Staatsſyſtem, deſſen Seele Freiheit und Fortſchritt, deſſen Traͤger und
Grundformen unfere Gultur und Nationalität find.
Doch nochmals, lieber fei jeder Name, hriftlich, alterthüm:
lich, germanifch, hiſtoriſch, pbilofophifch, verbannt, als daß
unter ihrem Vorwand das Weſen des freien, in Wahrheit fittlichen
und chriftlichen Nationaliebens und feines lebendigen Kortfchritts gefährdet
werde, wie es bisher durch jeme verkehrten Theorien gefchah und mie «8
jegt, nachdem die rein philofophifchen, die hiſtoriſchen, romaniſtiſchen und
germaniftifhen mittelafterificenden Schultheorien bereit6 an dem gefunden
Verftand unferes Volkes geſcheitert find, nody am meiften gefchieht durch
jene falfche orthodore und jefuitifche, pfäfftfche, junkerliche und despotifche
Heuchelet, die unter dem Namen des chriftlihen Staates, des göttlichen
Rechtes und des chriſtlich⸗ monarchiſchen Principe die Verbummung und
Unterdrädung unferes Volles erfirebt. Manche mögen gutmuͤthig waͤh⸗
nen, auf ſolche Weife für die Erhaltung ber Throne wirken zu koͤnnen.
Doc find auch fie nur durch boshafte inländifche oder auswärtige Li
getäufht. Sie wirken jedenfalls ebenfo für bie Untergeabung der Throne
- wie für den Ruin der Völker und Staaten. Doch Gottlob, es reift
täglich mehr der Volkeverſtand; es erwachen immer Eräftiger in der Nas
tion bie Lebensimflincte für die Rettung ihrer Eriftenz und Ehre. Sie
ſchaͤrfen täglich mehr die unmiderfichlihen Waffen des gerechten Volks⸗
haffes gegen ſolche heuchlerifche Verdummungs- und Unterdruͤckungsver⸗
fuhe. Ja zu ſolchem gerechten vettenden Haſſe gefellt ſich bereite die
einer naturwidrigen Unterdbrüdung nicht minder gefährlihe Verachtung
und Lächerlichkeit. C. Welder.
Chriftoph von Würtemberg. Bwifchen ber ehemaligen
freien Reicheftadt Eßlingen und der heutigen Refidenz eines der beutfchen
gekroͤnten Häupter ragte vor Beiten auf einem rebenbewachſenen Hügel
eine Nitterburg in's Land hinaus, darin hauften die von MWürtemberg.
Die Burg hat jegt zur Erinnerung an eine Zochter des Oberhauptes der
Ruſſen, der Kalmüden und Korläden einem griechiſchen Tempel Plag ge:
macht. Die Nitter gaben einem ziemlich großen Landftricy in Schwaben
ihren Samiliennamen Würtemberg, wurden fpäter zu Grafen und Her⸗
zögen gemacht, bei dem Untergang fo vieler zum Theil mächtiger Herren
vom Zufall bis in die neuefte Zeit confervirt und beherrfchten, auf dem
Rechtstitel diefer zufälligen Erhaltung einer mittelalterlihen Ritterfamilie
fußend, einen wadern Ihmwäbifhen Volksſtamm und bamit eine Provinz,
die durch Gutes und Schlimmes in neuefter Zeit als das Land der Amts:
ehre publiciſtiſch bekannt worden iſt. Unter den Zittern, welche die Herr⸗
Ghriftoph von Wittenberg. m
ſchaft über Würtemberge Land und Leute in die Hände bekamen, war
einer ber einflußreichflen der „Herzog“ Chriftoph, weil er nicht, wie bie
meiften feiner Bor s und Nachfolger, fi nur bamit befchäftigte, die Reize
und Annehmlichkeiten zu genießen, welche ben Herrſchern von Amts we⸗
gem zu Gebote ſtehen, eben weil fie Leine gewoͤhnlichen Menfchen, fons
dern Herrſcher find. Chriſtoph betrachtete feine Stellung nicht blos als
eine Quelle, woraus fardanapalifhe Genuͤſſe für ihn fließen, er erblickte
in der Herrſchaft Aber Land und Leute nicht bios ein Mittel, um feine
Private Intereſſen, Neigung und Gelüfte zu befriedigen, er that etwas
mehr, als mit Sagen, Schaufpielerinnen, Gelagen ober fonfligen Private
vergnägen zu vertändeln — und unterſchied ſich dadurch, mie gefagt, ſehr
von den meiften feiner Vor⸗ und Nachfolger, welche das Land mit ih⸗
rer Verwandtfchaft glänzend ernährt. Bitter Chriftoph mar einer derjeni«
gen Regenten von Gottes Gnaden, die mit Verftand verfehen und von
dem guten Willen beſeelt find, die Obliegenheiten ihres angeblid von Gott
ihnen verlichenen, in Würtemberg freilich ber Form nach auch vertrags⸗
mäßigen Amtes nach Kräften zu erfüllen. Ein großer Xheil ber von-
ihm getroffenen Einrichtungen befteht noch jegt im Lande ver Amtsehre
oder ift menigftens noch nachwirkend, und deshalb mag es geflattet ſein,
einige Seiten des Staatsleritons auf befagten Chriftoph zu verwenden.
Da übrigens eine hiftorifche Abhandlung dem Plan biefe® Werkes fremb
iſt, fo können nur einige gefchichtliche Andeutungen als äußerer Rahmen
für diefen Artikel bier ihre Stelle finden.
Ritter Chriftoph war der Sohn jenes berüchtigten Ulrich, deſſen Nas
mm zwar ber Romanſchreiber Hauff vielfah im Wolle einen guten
Klang verſchafft und in ein fehr roſiges Licht gefegt hat, ber aber wegen
verſchiedener Schandthatn mehrmal® aus dem Lande gejagt wurde und
einige Mal in Gefahr ftand, von feinen getreuen Unterthanen tobtgefchlas
gen zu werben, weil ee z. B. Leuten, die ihre Aeder vor dem herzoglichen
Wild fhügten, die Augen ausftehen, manchmal auch Einen zur Abs
wechslung Lebenbig braten ließ und das Volt den Drud feines volles
marlausfaugenden Regiments nicht länger ertragen konnte. Chriftoph
wurde ſchon ale Kind In das Schidfal feines Vater vermidelt, verlebte
feine Jugend unter mandyerlet Entbehrungen und Befahren im Ausland
und hatte mehrere Male faft alle Ausfiht auf Wirbererlangung felne®
von Deſterreich in Befig genommenen Landes und ber darauf wohnenden
Leute verloren. Endlich gelang «6 fenem Vater, das Erbland wieder zu
erobern, und als biefer fpdter mit Tod abging, folgte ihm Chriftoph ver:
möge des Erbrechts in der Herrichaft nach.
Faſſen wir nun die ſtaatsrechtliche Stellung Chriſtoph's ale Regen⸗
ten in's Auge, ſo war er, nicht weil er der Weiſeſte und Beſte im Lande,
an die Regierung gelangt, ſondern weil er der Sohn ſeines Vaters war.
Man koͤnnte nun im Hinblick auf dieſe ſtaͤatsrechtliche Unſittlichkeit ein
abſprechendes Urtheil auch uͤber ſeine Perſon faͤllen, allein der damalige
Regent von Wuͤrtemberg ſtand im Zuſammenhang mit ſeiner Zeit, und
in dieſer Zeit war das Volksbewußtſein noch nicht in Colliſion gekommen mit
Suppl. 3. Staatslex. IL 2
18 Chriſtoph von Würtemberg,
dem Koͤnigthum von Gottes Gnaden und ber Herrſchaft, bie unabhängig
vom Volke entfteht.
Bedenkt man indeß, dag Chriftoph ein Regent war, befien Staates
fundament auf mittelalterlihen Rechtsgrundſaͤtzen und Anfchauungen bes
ruhte, erwägt man die Gewalt, die ein Fürft überall da hat, wo das
Volk durch eine folenne Nichtigkeitserfiärung feudaler Staatsrechtövers
bältniffe eine neue politifche Aera noch nicht begründete, fo wird das
Hauptmoment einer Beurtheilung die Nachweifung fein, inwiefern ber
feagliche Fürft ale Möglichkeiten feiner Stellung erfhöpfte und alles Das
fi erlaubte, was er vermöge feiner publiciftifhen Stellung fi erlaus
ben Eonnte.- Vor Allem ift in diefer Beziehung das Verhaͤltniß zu bes
trachten, in melches ſich unfer „Herzog“ zu feinen Landfländen vers
feste. —
Viele Jahre vor Chriftoph’s Regierungsantritt hatte man einen or⸗
dentlihen Landtag gehabt, die Landfchaftsacten waren größtentheils verlos
ven gegangen und bie ganze Verfaffung war nahe daran, eines fanften
Todes zu verfterben, denn die Landſtaͤnde hatten „ſo wenig Kenntniß und
Mebung ber Landesfreiheiten, daß fie bei der erfien Zufammenberufung
unter Chriftoph nicht einmal mehr mußten, welche Rechte der Derzoges-
brief vorbehalte, auf den Fall, daß das Haus Wuͤrtemberg erlöfchen
würde.” Der erite Landtag, den Chriftoph einberief, 309 unverrichteter
Dinge wieder nad) Haufe, da der Herzog wegen dringender anderweiti⸗
ger Geſchaͤfte ſich entſchuldigte. Er verſprach indeß, das naͤchſte Jahr
wieder einen auszuſchreiben und alsdann alle Antraͤge und Wuͤnfche zu
erledigen. Dies geſchah auch. Waͤhrend der Herzog zu den Verhandlun⸗
gen nach Augsburg gerufen wurde, trat der Ausſchuß mit den Raͤthen
zufammen *); da aber beide Theile zu ſtreng in ihren gegenſeitigen For⸗
derungen waren, ſo vermochten ſie in Abweſenheit des Herzogs nichts
auszurichten. Daher wurde der zweite Landtag berufen (1551) und auf
ihm brachte die Landſchaft ihre Beſchwerden und Wuͤnſche mit noch groͤ⸗
ßerem Nachdruck vor. „Eh? von irgend einer Verwilligung die Rede wäre,
fprachen fie, müßte erſt der Tübinger Vertrag nebft feiner Declaration
beftätigt werden.’ Chriftoph hatte dies bei der wegen ber damaligen Bes
fegung des Herzogthums durch Defterreich ohne diefe fürftliche Beftätigung
vorgenommenen Exrbhuldigung verfprochen und er hielt fein Fürftenwort.
Die Beharclichkeit der Landfchaft den herzoglihen Raͤthen gegenüber,
ſtreng bei dem Buchftaben des Tübinger Vertrages, alfo bei der Verfaſ⸗
fung, ftehen zu bleiben, mißfiel dem Herzog fo wenig, daß er jenen Grund⸗
vertrag nicht nur feierlich beftätigte, fondern auch jene Declaration, welche
die Öfterreichifchen Statthalter zur Zeit der Zwiſchenregierung waͤhrend
Ulrich's Exil gegeben hatten, beflätigte, ungeachtet fie Ulrich, fein Water,
bei feiner Wiedereinfegung nicht .anerfannt hätte. So heilig war biefem
würtembergifhen Regenten fein gegebenes Fürftenwort. Die wichtigften
Punkte jener Declaration beflanden in ben beiden Beſtimmungen, daß
*) Pfifter’s Herzog Chriſtoph ©. 226.
/
Ehriſteph von Wuͤrtemberg 19
der „freie Zug” ohne bie Befchränkungen bes Tübinger Vertrags geſtat⸗
tet und fogleih in Wirkſamkeit treten, und daß die Amtleute nicht mehr
zum Landtag berufen werden follten, wie es Ritter Ulrich's Zuſatz zum
Tuͤbinger Vertrag beftimmt hatte. Jene Beſtimmung in Betreff des
„feeten Zugs“ ließ Chriſtoph in ihrer vollen Wirkſamkeit in's Leben treten,
in Beziehung auf die Berufung der Amtleute aber befchränkte ex fich auf
diejenigen, die ihm ‚‚mit ber Exbhuldigung verwandt oder im Lanb be
gütert wären.” Erſt nach diefen Conceffionen von Seiten des Herzogs
bewilligten die Stände die zur Befreiung bes Landes von Defterreihs Ans
fprüchen nöthige Geldfumme, worauf denn die Stände und der Herzog
in berzlichem Einverftändnig von einander fchieden.
Eben fo fefte und unumwundene Sprache führten die Landftände
auf dem Landtag 1553— 1554 und fpäter und übernahmen erft dann
die fehr bedeutende Schulbenlaft, als dee Herzog in die von ihnen pros
ponirten Bedingungen einging. Nicht beflo weniger blieb auch diesmal
Chriftoph in feinen Benehmen gegen die Landfchaft fich gleich und vers
abſchiedete die Stände mit derfelben Herzlicykeit wie vordbem. So geſchah
es denn, daß das ganze Verfafiungsieben neu gekräftigt aus feinem
Schlummer erwachte und wieder eine fefte Confiftnz gewann. Chriftoph
batte nicht nur die urfprünglichen Rechte beftätigt, fonbern auch nette
hinzugefügt.
In biefem Streben, das materielle wie das geiftige Wohl, alfo
auch die Freiheit feines Volkes nach Kräften zu fördern, blieb während
feiner ganzen Regierung diefer mwürtembergifche Kürft ſich gleich. Er
war weit entfernt, im Anfang feiner Regierung ben Demagogen zu
fpielen und eine liberale Sefinnung zu beucheln, um dem In» und Aus:
ande Sand in bie Augen zu freuen, fpäter aber einer verbrecherifchen
jefuitifchen Regierungspolitit fi in die Arme zu merfen und von bem
Vorrath von Achtung und Anerkennung früherer Sahre zu zehren. Er
benugte nicht die landſtaͤndiſche Verfaſſung, um hinter ber von ihr fancs
tionirten Majeftät und Unverantmwortlichkeit feiner Perfon die Hoheits⸗
rechte der Krone einfeitig auszuüben und unter dem Schleier der Mini:
flerverantwortlichleit den andern Theil der Verfaffung, die Volksrechte
und Freiheiten zu vernichten. Er war Keiner jener Megierenden, bie
unter der Maske der Liberalität und unter dem Schuge einer fcheinbaren
Begünftigung der materiellen Sntereffen ihre Volk zur Nullitaͤt und
Willenloſigkeit herabdrüden , indem fie durch ihre Frohnvoͤgte planmäßig
jede freie Lebensdußerung des Volks vernichten, und deshalb war Chriftoph
auch weit entfernt, die Freimuͤthigkeit feiner Landftände und ihre Bevors
wortung des Nechts und ber Wahrheit übel zu nehmen, fo wenig, daß
er ihnen gegenüber zumeilen fogar einen ercuficenden Ton annahm. Nies
mals fühlte er ſich deshalb verfucht, feine Stände auseinander zu jagen,
noch weniger ihnen ein fchnödes Verleumdungslibell in bie Deimath
nachzuſchicken.
Wir haben ferner geſehen, wie weit entfernt Chriſtoph davon war,
die Volksvertretung durch ſeine von ihm abhaͤngigen, willenloſen, ſtets
2*
20 ahriſtoph von Wurtemberg
Ja ſagenden Amtmaͤnner zu corrumpiren und dadurch bie ganze Lanb⸗
ſchaftsverhandlung zu einer bemitleidenswerthen Farce herabzuwuͤrdigen.
Die oben beſchriebene Conceſfion an die Staͤnde in Betreff der zweiten
Beftimmung ber Declaration zum Tübinger Vertrag giebt Zeugniß hiervon.
Chriſtoph Hatte ferner die Verfaffung beſchworen und niemals wäre
es ihm in den Sinn gelommen, feinen Eid zu brechen. Wir haben
ebenfalls gefehen, wie gewiffenhaft er in Beziehung auf feine fürftlichen
Zufagen war; vor dem nieberften Knechte hätte er fich gefchämt, als ein
Eidbruͤchiger auf dem Throne zu figen und den Meineib zum Funda⸗
ment feiner Staatsverwaltung und Regierungspolitik zu machen. Noch
weniger verabredete er fih mit andern Herrſchern zu einem Eidbrudy und
nie wollte er feinen Ständen gegenüber den Bruch feines früher ges -
ſchworenen Eides mit einer fpäteren Verabredung plaufibel machen. Bei
fü bewandter Sefinnung war e8 denn ganz natuͤrlich, daß er in feinen
fpäteren Regierungsjahren nicht die Hauptftüge der Reaction und jeſuiti⸗
Then Ariſtokratieverſchwoͤrung geaen die Volksfreiheit im füdlichen Deutfch«
land wurde. — Er Eannte die Aufgabe der kleinern Kürften Suͤddeutſch⸗
lande, eine Vorhut gegen habsburgifche Dynaftieintereffen und Freiheits⸗
unterbrüdung zu bilden, zu gut, als daß er ſich zum bupirten Organ
einer Deutſchlands Untergang herbeiführenden Politik hergegeben hätte.
Da er fo war, fo wurde er auch niemals der Feind politifcher Entwicke⸗
fung In andern deutfchen Staaten.
Da unfer Fuͤrſt ein. wahrer Freund der Volksfreiheit war, fo
brauchte er auch zu Eeinen elenden Kunftgriffen feine Zuflucht zu nehe
men, um feine Politik nicht nadt werben zu laffen. Er brauchte feinem
Volk keinen Sand in die Augen zu fireuen.
An der Wahl feinee Raͤthe war Chriftoph gemwiffenhaft und glüds
ih. — Ein großer Theil der Verbefferungen und mwohlthätigen Inſtitute,
die er in's Leben rief, Ift das Werk feiner ‚alten Raͤthe.“ Diefe waren
fo felbftftändig und ehrenhaft, dag fie oftmals dem Herzog ſtaͤrker oppo⸗
nirten als der Landtag felbft, weshalb fie auch ein fo großes Vertrauen
genoffen, daß die Stände ſich ihrer ebenfo wohl zur Leitung ihrer Ges
fchäfte bebienten als der Herzog felbfl. Woher kam dies? Daher, daß
der Herzog achtbare Rathgeber hatte, Ehrenmänner,, die niemals einer
Politik ſich hingegeben hätten, durch welche Staatsoberhauptsintereſſe
und Volksintereſſe feindlich einander gegenuͤbergeſtellt wird, Ehrenmaͤnner,
die nicht um den Preis ihrer Ehre den Miniſterpoſten behauptet und
ſich zu Mitſchuldigen eines Eidbruchs gemacht haͤtten, nur um Miniſter
zu bleiben. Einen Menſchen, der Mitglied einer rechtsmoͤrderiſchen ge⸗
heimen Inquiſitionscommiſſion geweſen, haͤtte Chriſtoph niemals an die
Spitze der Gerechtigkeitspflege geſtellt.
Die Gerechtigkeit war ihm heilig und theuer, er ſchaͤndete ſie nicht
dadurch, daß er die Geſetzgebung als Mittel fuͤr ſeine abſolutiſtiſchen
Zwecke benutzte, indem er etwa Geſetze ſchuf, die anerkannten Rechts⸗
grundſaͤtzen Hohn ſprachen. Die Geſetze machte er nicht zu Fallgruben
für die Freiheltsbeſtrebungen des Volkes und zu einer Waffe für feine
Chriſtoph von Wuͤrtemberg. 21
übermäthigen Amtmaͤnner. — Beleidigung ber Amtsehre kannte ſein
Goder nicht. Da alſo unter. Ehrifloph’s Regierung keine Juſtizmorde
wegen Amtsehrebeleidigung veröffentlicht wurden, fo ſah er ſich auch nicht
gendthigt, zu verleumderifhen Schmähartikeln feine Zuflucht zu nehmen,
um bie Veröffentlichung mißliebiger Thatſachen angeblich Lügen zu ſtra⸗
fen. Endlich hörte man nie davon, daß unter Chriftoph mwürtembergifche
Untertbanen plöglich den Reißaus genommen und Über bie Grenze ges
flüchtet feien, aus Furcht vor dem plöglichen Dereinfallen bes Fallbeils
der Amtschrebeleidigung, denn damals waren bie Befege und die Berichte
noch nicht fo corrumpirt, daß jede freimärhige Aeußerung als Amtöchres
Beleidigung , jeder herrſchaftliche Zaglöhner als Beamter galt.
Au die Beamten hatten fi unter Chriſtoph noch nicht zu einer
Bureaukratle ausgebildet, die ebenfo durch hölzerne Geiſtesbeſchraͤnktheit
als übermäthige Gewaltthaͤtigkeit eine Landplage geworden wäre.
An zwei wärtembergifchen Erbfünden hat jedod, Chriftoph Fbenfalls
gelitten. Sein Hofhalt erforderte ziemlich viel Geld und feine Bauluſt
verführte ihn zu Ausgaben, die zu den Kräften bes kleinen Reichs in
keinem Verhaͤltniß fanden. Doch Aberfchritt er nie auf eine die Gefühle
feines Volkes verlegmde und deſſen Noth vermehrende Weiſe die Geſetze
der Wirthſchaftlichkeit. Dies hätten fchon die Stände nicht zugegeben. —
So viel über den Privarcharakter biefes würtembergifchen Fuͤrſten.
Aus dem Bisherigen ift erſichtlich, daß der Herzog Chriftoph einer ders
jenigen feltenen Sürften war, bie, weil fie nicht durch eine verkehrte
Erziehung eine fchiefe Richtung angenommen, von redlichem Willen ers
füllt find, das Wohl ihres Landes nach Kräften zu fördern. Um jedoch
bauptfächlich feine ftantsrechtlihe Stellung und feinen Einfluß auf die
tünftige Entwickelung des Volkes beurtheilen zu können, find noch einige
weitere Momente anzuführen.
Außer einem Landrecht, deſſen einziger Fehler ber ift, daß es mit
feiner Proceßordnung noch jest gilt, gab Chriftoph auch eine Polizeiord⸗
nung heraus, Zwar find darin noch Feine Beflimmungen über Thier⸗
quaͤlerei getroffen, allein fonft überfchreitet fie alle Begriffe von aͤngſtli⸗
her, Bleinlicher, alle Räume und Verhaͤltniſſe des öffentlichen und Pri⸗
vatlebens umfpinnender Bevormundung. E6 find darin Gefege wider
das GBottesläftern und Fluchen, gegen Zauberei und Hererei enthalten.
Es iſt der gefchlechtliche Umgang unverheiratheter Perfonen, mie noch
heut zu Rage, unter die Dbervormündfchaft und Leitung ber Polizei ger
ſtellt. Das Trinken, die Zahl der Hochzeitgäfte, die Größe der Hochzeit
gefchente, die Zahl der Gerichte bei Taufen und Hochzeiten, die Art und
Meife des Tanzens, bie Kleidung bee Männer und Weiber ift polizeilich
vorgefchrieben, regulirt, tabellirt, regiſtrirt, rubricirt, ſo genau, daß bie
Zahl der Falten an den Beinkleidern, Farbe und Qualität bes Tuchs
ganz fehneidergerecht beſtimmt find. Außerdem enthält diefe Polizeiord⸗
nung flrenge DBerorbnungen gegen landesuͤbliche Gebräuche, Volksfeſte
und Volksbeluſtigungen.
Verwandt mit biefer ethiſch⸗ polizeilichen war eine andere Thaͤtigkeit
22 Chriſtoph von Wuͤrtemberg
unſeres Herzogs. Chriſtoph hatte die Reformation mit aller Liebe und
dem Eifer umfaßt, den ihm ſein Gefuͤhl fuͤr Wahrheit und Recht ein⸗
gefloͤßt hatte. Eine ſeiner wichtigſten Regierungsſorgen war es daher,
das ganze Fuͤrſtenthum vom Papſtthum und katholiſchem Mißbrauch zu
reinigen und dagegen die gereinigte Lehre einzufuͤhren. Eine Menge
Verordnungen und Einrichtungen ſtrebten dahin. — Er ſelbſt zeigte ſo
viel Eifer und betheiligte ſich perſoͤnlich ſo ſehr dabei, daß der Erfolg
nicht ausbleiben konnte. — Chriſtoph umgab ſich mit einem wahrhaft
theologiſchen Hofſtaat, die angeſehenſten Theologen waren um ſeine
Perſon. Er fuͤhrte eine neue Kirchenordnung und Kirchenzuchtordnung
ein, wodurch er die Prieſter mit Strafgewalt gegen Vergehen wider die
Sittlichkeit belehnte. Er errichtete Seminare zur Bildung angehender
Theologen und dotirte und erweiterte das theologiſche Seminar zu Tuͤbin⸗
gen, gab der proteſtantiſchen Kirche mittelſt des Kirchengutes eine ſichere
Stellung, errichtete das Conſiſtorium und die Kirchenviſitation, welche
das Benehmen und die Auffuͤhrung der Prieſter im Lande zu beaufſich⸗
tigen und zu berichten hatte. Er ließ eine eigene wuͤrtembergiſche Con⸗
feffion abfaffen und unterließ nichts , was den Begriff des Proteſtantis⸗
mus als Kirche zu vollenden im Stande war.
Durch dieſe ethifch > polizeiliche und klrchliche Richtung aber legte ex
den Grund zu dem boppelten Krebefchaden, an welchem das Land noch
jegt laborirt, er legte den Grund zu der Bevormundung und Unterdrüs
Aung des Volles barch weltlihe und geiftliche Polizei. Das wuͤrtem⸗
bergifche Volt wurde nach und nad) befonders in neuerer Zeit in zwei.
Heerlager gefchieden, in Beamte und Nichtbeamte, oder mas baffelbe ift,
in Herren und Diener; dort ift alle Activität, bier alle Paſſivitaͤt, dort
ift alle Geltung, ‚hier ift die Nichtigkeit, dort allein ift Leben und Bes
wegung, bier allein Ruhe und Gehorfam, dort find die Zriebräder, hier
it die. Maſchine, welche nichts zu thun hat ale zu probduciren, und
Jeder, der ein Raͤdchen trillt an biefer Polizeimafchinerie, hat mehr
Würde und Recht als der erſte Bürger.
Die Kirche hat fich feither zu einem priefterlichen Staat ausgebildet,
der in dem Staatsoberhaupt audy ben oberſten Landesbifchof verehrt.
Die Priefter werden von berfelben Gewalt angeftellt, die auch die Lieus
tenants ernennt, und haben ſich mit ber weltlichen Polizei vollſtaͤndig
in die Obrraufſicht über das Volk getheilt. Bureaukratiſch gegliedert
und in einen Centralpunkt auslaufend fleht dieſes proteftantifche Prie⸗
ſterthum in ebenfo jefuitifcher Stellung dem Volke gegenüber mie das
katholiſche, nur mit dem Unterfchied, daß es zum Theil eine befondere
peoteftantifche Heuchelei und Suͤßlichkeit in Anwendung bringt. Herr⸗
[haft um den Preis der Verbrüderung mit der meltlihen Gewalt und
unter dem Vorwand, die Zwecke Gottes und der Kirche zu fördern, dieſes
fcheint oft das Schibolsth diefer Kafte. Aus den Chriftophinifchen Klofter-
fhulen und dem Zübinaer Seminar find zum Theil Pflanzfhulen bes
Pietismus, diefer eflen Carricatur des Jeſuitismus, geworben; die geift-
lichen Raͤthe und Kirchenfürften, welche Chriftoph an feinem Hofe vers
—
Communiſmus. 28
fammelte, arteten bald nad ihm im eine hierarchiſche Oligarchie aus,
deren Mepotismus das Land jegt noch bitter empfindet. Kurz die pros
teftantifche Kirche verfumpfte im Laufe der Zeit fo fehr, daß fie das
Volt faft um die Reformation und ihre Theorie der Glaubengfreiheit
betrog und mit der katholiſchen Kirche um jedes Merkmal einer Zwangs⸗
anftalt in dogmatifcher und hieracchiicher Beziehung wetteifert. .
Mollen wir die Schuld diefer Corruption dem Herzog Chriftoph
aufbürden? Dazu flimme ih nit. — Er für feine Perfon meinte «6
gut, aber fein guter Wille unterlag dem Fluche feiner flaatsrechtlichen
Stellung.
Als Privatmann hätte Chriftoph mit feiner Vorliebe für kirchliche
Reformen und polizeiliche Sittenaufficht wenig gefchabet, da er aber
„Kraft feines von Gott befohlenen Amtes, aus Gottes Gnad zum Regl⸗
ment des Fürftenthbums und Gemeinde berufen und verordnet,’ alfo
von Gottes Gnaden, alfo Statthalter Gottes war, fo nahmen nad
und nad alle Candle der Staatsgewalt die Richtung und Farbe des
Dberhauptes an, wie bie Arterien, wenn das Herz mit Quedfilber ans
gefühlt wird. Das Volk wurde in feiner natürlichen Entwidelung ges
ftört, e6 wurde geimpft, dreſſirt, durch eine außer ihm flehende, wenn
auch noch fo wohlmeinende Gewalt fortgefchoben, daburch wurde ber
Grund zu feiner Paffivität gelegt, das Gängelband kam zu Anfehen,
die Volkskraft erfchlaffte und auf ihrem Krankenbette erhoben fidy andere
unvoldsthümliche Mächte, bie fo lange fortwucherten, bis der jegige Zus
fland eintrat.
Sch fchliege diefen Abfchnitt mit dee Behauptung: Yo lange das
Staatsoberheupt nicht im Sinne einer wahrhaft freien, einer britifchen
oder belgifchen Verfafiung das Organ des felbfibewußten Volkswillens
iſt, iſt es, auch wenn Marc Aurele und Antonine herrfchen, zwar mit
ehrbarem Privatcharatter verfehen, aber in einer publiciftifyeunfittlichen
Stellung, die früher ober fpäter dem Volt nachtheilig wird und die Res
gierung eines ſolchen Fuͤrſten hoͤchſtens zu einem erleuchteten Despotis⸗
mus ſtempelt. Abt.
Communismus. Einleitung. Seit wenigen Jahren iſt in
Deutfchland vom Communismus die Rede und fdhon ift er zum drohen
den Gefpenft. geworden, vor dem die Einen fich fürchten, womit die
Andern Furcht einzujagen fuchen. Der Spuk ſchwindet, fobald man
ihm zw Leibe geht. Wenigftens ift der Communismus als Doctrin nicht
gefährlich, wenn man fie im Lichte der Deffentlichleit, das gar bald feine
ſchwachen Seiten beleuchtet, frei ſich entwideln läßt. Die Berechtigung
zur Verkündung einer Lehre, ohne andere Schranke, als daß die ver⸗
brecherifche Aufforderung zum Verbrechen einem gerechten Öffentlichen
Gerichte des Staats und dem Urtheife der oͤffentlichen Meinung anheims
falle, war ja von jeher das beſte Mittel gegen jede heimliche Verbrei⸗
tung des Irrthums, bis Ddiefer unerwartet zum gewaltfamen Ausbruche
kam. Aber auch bie gewaltfamen Verfuche, ben Communismus in’s
Leben einzuführen, koͤnnen zwar Verwirrung erzeugen, aber nicht dauernd
2 | Communiſmus.
ihn durchſetzen. Man braͤchte es hoͤchſtens, unter ſelten zuſammen⸗
treffenden Umſtaͤnden, auf kleinem Raume zu fluͤchtigem Erfolg.
In allen Abſtufungen hat es der Communismus auf allgemeine
und bleibende, darum auf zwingende Guͤtergemeinſchaft, wenigſtens
für die unbeweglichen Guͤter abgeſehen. Damit ſteht keineswegs
im Widerſpruch, daß er, den einzelnen Bekennern oft unbewußt, in
einer irrigen allgemeinen Weltanſchauung, zumal in Pantheismus und
materialiſtiſchem Atheismus, ſeine tiefere Wurzel haben kann. Er ver⸗
traͤgt ſich doch auch mit dem Theismus, insbeſondere mit dem Chriſten⸗
thum, wenn gleich nur mit einer unvollſtaͤndigen und einſeitigen Auf⸗
faſſung deſſelben. Jene Guͤtergemeinſchaft dagegen iſt die eigentliche
Frucht der communiſtiſchen Lehre, woran ſich dieſe als folche erkennen
laͤft. Aber freilich giebt es nicht Wenige, die ſich ſelbſt wohl Com⸗
muniſten nennen, ohne es ſchon zu ſein oder ohne es noch zu ſein.
Bei den Letztern iſt gewoͤhnlich der Communismus in eine andere Art
des Sociallsmus uͤbergegangen. Denn jener iſt ſelbſt nur eine Art des
Sotlalismus, oder der Lehren, wonach an die Stelle der jetzigen Geſell⸗
ſchaft, zumal der jetzt beſtehenden privat rechtlichen Beziehungen, ein
weſentlich Anderes geſetzt und damit die Geſtalt der heutigen Welt von
Grund aus umgewandelt werden ſoll.
Die verſchiedenen Sociallehren der Neuzeit haben ſaͤmmtlich die
Natur des Menſchen, freilich in abweichender und meiſt ſehr einſeiti⸗
ger Auffaſſung, als das Princip fuͤr die Begruͤndung neuer Zuſtaͤnde
anerkannt. Sie weichen aber unter ſich auch in den Mitteln zum Zwecke
ab, und das den Communismus eigenthuͤmlich unterſcheidende Mittel iſt
gerade die Aufhebung des Privateigentbums. Was dagegen bdiefe Lehren
über fonflige gefellfchaftlihe Beziehungen anlangt, wie über Ehe und
Familie, über Aufhebung ber häuslichen Erziehung durch die Öffentliche,
ober über Vermittlung und Verbindung der einen mit ber andern u. ſ. w.
— fo unterfcheiden ſich dartn felbft die eigentlichen Communiften fo fehr
von einander oder flimmen beziehungsroeife mit anderen Socialiften fo
fehr überein, daß darin das Wahrzeichen bes Communismus nicht ge=
ſucht werden darf. Die Aufhebung des Privateigenthums aber — der
gegenwärtige unb andere verwandte Auffäge bes Staatslexikons werden
die Behauptung rechtfertigen — fteht im grellen Widerſpruch mit ber in
ihrer Zotalität erkannten menſchlichen Nature und mit der fchon befchrits
tenen höheren Stufe des Voͤlkerlebens. Diefer entfpricht ſchlechthin nur
ein beftändig vermittelter Uebergang vom Eigenthum des Einzelnen in
bas des Staats, vom Eigenthum des Staats in das des Einzelnen.
Eine folhe Bewegung in ber dem Menſchen unterworfenen Sachen⸗
welt iſt in den herrfchenden Syſtemen der Befleuerung von Vermögen,
Erb und Erwerb jegt fchon eingeleitet und in ihren Anfängen ausgeführt.
Doch muß fie freilich noch in viel weiterem Umfange durchgefegt werben,
wenn dem drohenden Kampf zwifhen Armen und Meichen vorgebeugt,
wenn noch auf friedlichen Wege ber fehneibend gewordene Zwieſpalt bes
Gommunismud. | 26
feitigt, wenn die wahre Beftimmung bes Menſchen in der Geſellſchaft
und durch fie erreichbar werden ſoll.
Droht gleich den beftehenden Zuftänden in ber Art Leine Gefahr,
daß gerade ber Communismus fie verdrängen und ber Gefchichte fein
einförmiges Gepraͤge aufprefien koͤnnte; fo ift er doch das aͤußerſte Symp⸗
tom des Uebels einer ſiech gewordenen Zeit. Er ift dagegen fo wenig
die Krankheit felbft, als die wilden Phantafien des Fieberkranken das
Zieber find; er ift fo wenig das Heilmittel, als es etwa das Geluͤſte des
Kranken if, fi) aus dem Fenfler zu flürgen, um ber Bellemmung zu
entgehen.
Das Uebel, für defien Befeltigung zu wirken bie heiligfte Pflicht
eines Jeden ift, der ſich nicht felbftfüchtig abfchließen mag vom Schick⸗
fal feiner Mitbürger — iſt die wachfende Ungleichheit in der Vertheilung
des geifligen und materiellen Beſitzthums; das zunehmende Proletariat
Derjenigen, die in ungeficherter Eriftenz nur von Hand zu Mund leben,
für bie nicht blos bie gegenwärtige Noth, fondern auch bie beflemmende
Borftelung des kuͤnftigen größeren Elends eine dauernde Pein iſt; die
der ſchlimmſten Zprannei ſich preisgegeben fehen, ber bes blinden unver:
nünftigen Zufalls; die unter dem Drud folcher Zyrannei felbft das Ge -
fühl ber Menſchenwuͤrde verlieren ober ſich dieſer Würde nur noch in
Haß und Stimm gegen ihre gluͤcklicheren oder glüdlicher fcheinenden
Mitbuͤrger bewußt find; Die buch bie Noth dem Verbrechen in bie
Arme gefchleudert und durdy das Elend abgeftumpft werden, fo daß «6
für iheen Stumpffinn nur noch einen grellen Contraft geben kann,
ben einer beftiatifchen Leidenfchaft ,. die ſich zerſtoͤrend gegen ſich ſelbſt
und gegen Andere wendet. Diefe Leidbenfchaft abet — wer kann es bes
zweifeln? — vermag wohl im gefährlichen Augenblide weithin anſteckend
ganze Maſſen zu ergreifen und die Dämme zu durchbrechen, die ihr Die
organifirte Macht ded Staats entgegenfegt, bie fie ein reißenber Strom
mit ſchaͤnmender Wuth über Trümmer ſich hinwaͤlzt.
Wie «8 in einem großen Theile Europa’ zu biefem Zuſtande kom⸗
mem mußte und marum fi) das Uebel unter den noch beftchenden
Berhältniffen nothwendig fleigert, iſt für Seden Mar genug, ber mit
unbefangenem Blick bie Veränderungen unferer Culturverhaͤltniſſe auch
nur in ben legten Jahrzehnten in's Auge faßte.
Eine gewaltige Revolution, vielleiht nur das Vorfpiel größerer Um⸗
wälzungen, wenn ihnen nicht die Weisheit und der energifche gute Wille
der einzigen Machthaber unferer Zeit, der Maͤnner bes Vollsvertrauens,
zeitig vorzubeugen weiß, hatte Millionen und aber Millionen aus den
gewohnten Kreifen ihrer Lebensweife und Denkweife herausgerifien. Das
Hohe wurde erniedrigt, das Miedrige erhoben. In ber Reibung aller
Kräfte ſchien ſich der Unterfchieb dev Stände und Glaffen, der Gebildeten
und Ungebildeten, der Befigenden und Vefislofen aufzuldfen. Eine neue
Völkerwanderung, die fi) von Frankreich erſt nach Oſten und Süben
ergoß, um fi) dann ruͤckwaͤrts zu waͤlzen, hatte auch die Nationen durch⸗
einanber gefchättelt. Im gewaltfam vermittelten Verkehr von Meafchen
28 | Gommunismus.
und Völkern, wie ihn die Welt feit länger als einem SZahrtaufende
nicht erlebt, find veränderte Anfichten und Intereſſen aufgetaucht; und
jene fuͤnfundzwanzigjaͤhrigen Kriege, worin ſich größere Maſſen als je
zuvor gegen einander drängten, haben mit ihrem tauſendfachen raſchen
Wechfel von Gluͤck und Ungläd, von Entbebrung und Genüffen neue-
Anfprüde, Bedürfniffe und Gelüfte geweckt.
Jetzt erfolgte der Uebergang von langen Kriegen zu dauernbem
Frieden. Das Schwert fraß nicht mehr Zaufende von Denfchenleben.
Und nicht blos fchloffen ſich die Luͤcken, die ber Krieg gefchlagen, fondern
das Wahsthum der Bevölkerung fo mie gleichzeitig die Vervielfältigung
und Vervollkommnung des Menfchenkraft erfparenden Maſchinenweſens
nahm in fteigendem Verhältniffe zu. Schon in diefer Vermehrung ber
Bevölkerung allein, die binnen wenigen Jahrzehnten, trog Auswande⸗
sungen‘ und verheerenden Seuchen, auf viele Millionen geftiegen iſt
(f. Bevoͤlkerung), liegt ein hinreichender Grund, daß fich ganz ans
dere DVerhältniffe des Beſizes und des Anſpruchs auf Beſitz ausbilden
mußten. Und bdiefe Millionen, fie vergrößern zu wenigftens drei Vier⸗
theilen von Jahre zu Jahr die anfhwellende Maffe eines grollenden
Proletariats.
Gleichzeitig begannen jene politiſchen und oͤkonomiſchen Grundſaͤtze,
deren Herrſchaft ſchon vor der franzoͤſiſchen Revolution angefangen hatte,
ihre Folgen in groͤßerem Umfange zu entwickeln, ja die Revolution ſelbſt
war in der Hauptſache nur ihre beſchleunigte Vollſtreckung. Der
Aufhebung der Leibeigenſchaft, der Entfeſſelung des Menſchen vom Bo⸗
den, der Beſeitigung des Feudalzwangs, der Aufloͤſung des Zunftver⸗
bands — dem Alten lag ein humaniſtiſches Princip zu Grunde: nicht
mehr follte der Menſch von der Sachenwelt abhängig fein, fondern frei
über diefe fchalten und walten. Aber damit hatte man nur die Herr⸗
fchaft eines leeren Abftractums ber Freiheit und Gleichheit aller Menſchen
anerkannt, ohne ihr einen Inhalt zu geben. Man hatte Leib und
Seele getrennt, alfo daß der Leib ber Freiheit verfümmert, während bie
Seele als eitles Phantom, als höhnender und quälender Kobold umgeht.
Denn die fogenannte freie Concurrenz, die als Heilmittel gegen alle
früheren Mißftände pomphaft verkuͤndet wurde, mas ift fie noch Anderes
als nur die Offenbarung eined Geiftes der Verneinung, als bie bloße
Auftöfung ber bisher beftandenen corporativen Vereine, worin bei aller
unzwedmäßigen Vertheilung von Arbeit und Genuß body ein ficherndes
Mechfelverhältniß der Rechte und Pflichten zwiſchen den Betheiligten
beftand, oder diefe wenigſtens durch ein bleibendes Intereſſe feiter an⸗
einander gefnüpft waren? Nur das leere Recht der Arbeit und bes
Erwerbs, nur der hohle Zitel des freien Staatsbürgers ift bis jegt den
Armen und Ungebildeten bewilligt. Was hilft es auch, wenn in Wer
faffungsurfunden verkündet wird, daß jedem Talent, ob «6 aus ben
hoͤchſten oder unterften Schichten der Gefellfchaft auftauche, die Bahn
offen ftehe, die es nach innerer Berufung und Befähigung zu durch⸗
laufen beſtimmt ſei? Was hilft es, wenn in abſtract gleicher Weife
Eommmnismus, 27
Jedem und Allen geflattet wird, nach Bildung, Befisthum, Wohlftand
unb Reihthum zu ringen und der Srüchte ihrer Anftrengung und ihres
Fleißes zu genießen? Eben diefes Recht ſchlaͤgt doch, bei den jetzigen
Mifftänden in der Vertheilung ber Drittel zu geiftiger und materieller
Production und Confumtion, zum ſchwerſten Unrecht aus. Für den
Armen, ber zum flets fid) erneuernden Kampfe mit der Noth des Tage,
ber zu Unmifienheit, Rohheit und Verbrechen unerbittlich verdammt bleibt,
wirb felbft die Gottesgabe der befondern Befähigung und des Talents
zum befonderen Unglüäd, das ihn die ganze Hoffnungslofigkeit dev Lage,
in der ihn ein ehernes Schickſal gebeugt hält, nad ihrem ganzen Ums
fange tiefer empfinden laͤßt. Mit der Anerkennung dieſes Rechts der
freien Concurrenz für Gebildete und Ungebildete, für Reiche und Arme,
ftelt wohl bee moberne Staat den Einen wie ben Anderen auf freiem
Selbe den Iohnenden Kampfpreis vor Mugen. Er giebt das Zeichen
zum Wettſtreit. Er giebt ihn auch den Armen, die zur Stiftung eines
kuͤmmerlichen Daſeins gezwungen find, um den niebrigften Preis ihre
Geſundheit und. ihre Kraft an den reichen Mitkaͤmpfer zu verhandeln.
Und nun erſt fühlen. fi die Millionen, im Gegenfag zu den wenigen
Begünfligten, an Händen und Füßen gebunden. Gie fühlen den Hohn,
dee felbft im der Anerkennung jener werthloſen Sreiheit, jener ſchein⸗
baren Gleichheit liegt, auf melche fie die Vornehmen und Reichen mit
ihrem noch ungebrochenen Egoismus der Intereſſen ſpottend hinweifen.
Sie fühlen ihn um fo fchmerzlicher, wem aufs Gerathewohl einige
Broden geifliger oder leiblicher Speife ale Almofen unter die Menge
ausgsworfen werden. Denn zu Mehr als zum erniebrigenden Almofens
geben haben es ja bie Weiten noch nicht gebracht; zu mehr koͤnnen es
die Eingelnen nicht bringen. Darum ift die wahrhaft freie Con.
currenz erſt gegründet, wenn die Geſammtheit einem jeden ihrer Mit
glieder, gegen mäßige und verhältnißmäßige Arbeit, das zur Erhaltung
und fleten Erneuerung der Kräfte Mothiwendige verbüärgt, mern fie
ihm damit eine freie Stellung verfchafft, damit er von ihr aus, mit
noch unerfchöpfter Kraft, in den Wettſtreit der Kräfte fi, einlaffen
md, wenn ihm das Gluͤck nicht Iächelt, fi) doc, wieder in die von
Alten geficherte Stellung zurückziehen koͤnne. Darum aber iſt auch jenes
nedende Trugbild der blos ſcheinbar freien Concurrenz das eigentliche
Mittel geworden, um Schein und Sein immer fchärfer unterfcheiden
zu laflen; um dem Proletariat ber neueren Zeit zum Bewußtfein
der focialen Erniedrigung und eben damit zum Dafein zu helfen.
Der Krieg der Meichen gegen die Armen wird fchon lange geführt,
vom lügnerifhen Wörfenfpieler an bis zum Wucherjuden, ber methobifch
berechnend den Bauersmann Stüd für Stüd nicht blos um die Früchte
feiner Arbeit, fondern auch um die Mittel zum tünftigen Erwerb be;
trügt. Mie fol man fi) denn wundern, daß auch der Krieg der Armen
gegen die Meichen in wachfenden Kreifen zum Ausbruche kommt? Wir
find bereits mitten barin. Er befteht nicht blos in jenen zeitweife er⸗
neuesten Werfuchen der Arbeiter zur Exrprefiung «eines höheren Lohns; in
28 Communismus,.
ben Aufftänden ber Fabrikarbeiter gegen bie Fabrikherren, ober ber noch
zehent⸗ und robotpflidhtigen Bauern gegen die Grundherren; in jenen
piöglichen Ausbruͤchen des Haſſes und der Wuth, wie fie in gemwaltfamer
an bes Eigenthums , in Mord⸗ und Brandfliftungen zum Vor⸗
hein kamen, bie nicht felten epidemiſch ihre anftedende Kraft über :
ganze Gegenden verbreiten. Er wird als Fleiner Krieg ununterbrochen
fortgeführt durdy die mwachfende Menge der Verbrechen gegen das Eiyens
‚ thum; wie davon bie Criminalſtatiſtik allee Staaten ein Zeugniß giebt,
obgleich nur ein fehr geringer Theil folcher Verbrechen zur Kenntniß
kommt. Und in diefem Kriege, in Mitte umfers militärifch und polizei⸗
lich bewaffneten Friedens, vergrößert fi fort und fort die Zahl ber An«
greifer. Denn mit bem Gefühle der Noch, mit dem Bewußtſein ber
widernatuͤrlich ungleihen Vertheilung bes Eigenthums ift zugleich bie
Achtung vor dem Eigenthbum in fchnellem Sinken begriffen. Haben ſich
doch ſchon communiftifhe Schriftfleller bie zu der Verirrung fortreißen
laſſen, eine Rechtfertigung des Diebſtahls zu verſuchen und ein „ſtehlen⸗
bes Proletariat“ in Ausſicht zu flellen. Und find doch, was hierbei im
befonderen Betracht kommt, die Ucheber einer folchen Lehre zum Theil
aus dem Proletariat felbft hervorgegangen. Dies deutet auf eine mora⸗
lfche Berrifienheit in ber Sefellfchaft, bie zu fchleuniger Abhilfe beingenb
mahnt.
Uebrigens fol man ſich hüten, alle vom Stachel augenblidlicher
Noth oder vom Haſſe der Unbemittelten gegen bie Bemittelten erzeugten
Ereeffe, wie fie unter dem Schlachtruf: „WBrod ober Tod”, „Vivre en
travaillant, ou mourir en combattant!‘“ ſtets wieder ſich erneuern —
leichthin als communiftifch zu bezeichnen. Dies gefchieht allzu haͤu⸗
fig von einer officiellen und halbofficiellen Preffe, bie den Communiss
mus als Popanz im Intereffe ber Reaction zu benugen weiß; fo wie
anderer Seits von communiftifhen Docteindren,, die fo gern glauben,
was fie wünfdyen, und jeden Vorfall folder Art zum Beleg ber Ders
breitung ihrer unmaßgeblihen Meinungen ſtempeln. Allein die Unruhen
die fchlefifchen Weber, dee Fabrikarbeiter in Böhmen, der Bauern in
Galizien, dee meiften ähnlichen Erfcheinungen in Frankreich und Groß⸗
britannien find doch nur thatfächliche Proteftationen proletarifcher Maf>
fen gegen bie ungleiche Vertheilung bes Einkommens, ohne daß ſich das
. Bott bis in die fire Idee einer Aufhebung des perfönlichen Eigenthums,
auch nur an unbeweglichen Gütern, verrannt hätte. Es hat nicht ein»
mal eine Vorftellung von dee Möglichkeit einer folhen Aufhebung. Die
fie zu haben glauben, find nur wenige boctrindee Separatiften, die fich
vom eigentlihen Boden des Volkslebens ſchon losgeriſſen haben und,
vom Minde der eigenen Lehre fortgeriffen, als irre Geiſter in den Luͤf⸗
ten flattern. Wohl aber haben die Gedankenblitze der Sreiheit und Gleich«
heit auch in die Maffen eingefchlagen. Die Nacht erhellend, ſcheinen
fie der getäufchten Menge ſchon der Anbruch des freudigen Tags. Als
lein ihr flüchtiger Schimmer ließ bald nur das Dunkel dunkler erfchei«
nen, fo daß fie ſich in tieferes Elend verſtrickt und verlaffener als zus
Gommuniömus, | 29
vor fühlte. Doch find wenigſtens bie Mißſtaͤnde ringe umher deutlicher
erfanntz und manches Herz füllt fidy mit dem Glauben, daß das Schoͤ⸗
pfungswerk einer neuen befferen Gefellfchaft gelingen. werde, wenn erſt
wieder die einzig und allein alles Große fchaffende Macht einer lichten
Begeifterung zur Voͤlkerthat fortreißt.
Jeder neue fociale Glaube hat feinen Aberglauben. Diefer iſt un:
ter mancherlei Wandlungen, bucch alle Perioden der Weltgefchichte, auch
in bee Zorm des Kommunismus zum Vorſchein gefommen. Für die
neuere Zeit brach er wieder aus der franzöfifhen Revolution und ihren
Zäufchungen hervor. Daran Enüpft fi alle fpätere Entwickelung beffels
ben. In dieſer Entwidlung aber hat er eine ganz andere Geſtalt ges
wonnen. Die Zahl ber eigentlihen Communiſten bat fon feit gerau⸗
mer Zeit abgenommen, obgleich jest mehr als zuvor von Communismus
bie Rebe if. Denn in dem Maße, ba er mehr fein mollte als eine
bloße Verneinung bes Beftehenden, da er ſich zur pofitiven Lehre einer
neuem Geſellſchaft zu geftalten fuchte, mußte er feiner Unmöglichkeit fich
bewußt werben. So ift der Communismus nur ein Schatten, ber ſich
ſelbſt entflieht,, da er fich felbft zu begreifen flrebt; der nie und nimmer
die Wirklichkeit zu beberrfchen vermag. Aber er verdient fcharf in's Auge
gefaßt zu werben ; denn er iſt wenigſtens ein Schatten, der die Stunde
zeigt, bee warnend darauf hinweiſt, was an der Zeit ifl.
Geſchichte des Eommunismus. Die ganze menfchliche Ge
ſellſchaft befindet fih in einer nothwendigen Gemeinfchaft des - Lebens.
Was auch der Einzelne thue, ob diefes Thun im engerem oder weiterem
Kreife mit Bewußtfein erfannt und empfunden werde, er greift mit jes
dem Pulsichlage, mit jedem Athemzuge in das Dafein und Werden der
Menichheit mirbeftimmend ein. Wer diefen Gedanken einer unwillkuͤr⸗
lichen organifchen Verbindung, einer ununterbrochenen Wechſelwirkung
nur in feiner Allgemeinheit auffaßt, kann ſich mohl bis zum Traum
einer allgemeinen und uͤberall nothwendigen Gütergemeinfchaft verirren.
Der Begriff der Einheit hat ihn den der Mannichfaltigkeit, der Begriff
dee Geſammtheit oder des Ganzen ber Menfchheit hat ihn ben ihrer Glie⸗
berung überfehen laſſen. Aber ber Menfch, der zugleich ein Ganzes für
fih, der Individuum ift, tritt ſchon mit der Geburt in eine beftimmte
Weit von Sinnssentpfindungen, darum von Vorftellungen, Begriffen
und Willendußerungen ein; er tritt alfo, wie mit befonderen Gliedern
dee Derfonenwelt, fo mit beftimmten Theilen ber Sachenwelt, vor je:
bem Anderen in mannichfachere Berührung, in innigere Verbindung.
Das tft eben fein individuelles Leben und es hängt gar nicht von feinem
Wien ab, daß dies nicht gefchehe, fo lange er lebt. Diefes nothwen⸗
dige ſich Einleben in befondere‘ Theile der Sachenwelt ift aber ber
aus der vernünftigen Erkenntniß der Menfchennatur gefchöpfte Grund
bes ſtets fich erneuernden Anfpruch® auf geficherten Beſitz, auf perföns
liches Eigenthum und felbft auf Erbrecht; wie zahlreich) übrigens die
Irrthuͤmer in der Erkenntniß, wie vielfach die Mißgriffe und Mißbraͤu⸗
80 Communismus W
he in dorr Regulirung der perſoͤnlich⸗dinglichen Verhaͤltniſſe gewe⸗
ſen ſeien.
Dieſelbe Nothwendigkeit der engeren Verbindung jedes Menſchen
mit gewiſſen Theilen der Sachenwelt laͤßt ſich wieder in zweifacher Be⸗
ziehung auf einſeitig abſtracte Weiſe nehmen. Hält man fich nur das .
ran, daß Jeder wie Alle auf eine folche Verbindung hingewieſen tft, fo
kommt man in bie Verfuhung, ben Anfpruc jeder Perſoͤnlichkeit am
bie Sachenwelt nach einförmig gleihem Maße zu bemefin. Man
übsrfieht die nothwendige unendliche Verfchiebenheit in den Weiſen
ber Production und ber ihr entfprechenden Gonfumtion; in Aeußerung
und Verinnerung: im Hinausgreifen und im Heransgreifen für fi
oder für fein Ich. Legt man dagegen das Gewicht mefentlid auf
‚ diefe Verſchiedenheit, wie fie ſich ausprägt in den abmweichendften
individuellen Beziehungen nady außen, fo hält man es allzu leicht für
für überflüffig, daß jeder Perfönlichkeit bie ihrer Productionsfaͤhigkeit
entfprechenden Productionsmittel im Verhaͤltniſſe zu Anderen gefichert
werden. Das blinde Walten des Zufalls, der fubjectiven Willkuͤr und
des Egoismus wird damit zur Marime erhoben; ber Starke und Ders
mögende, der ſich gerade im Befig eines reicheren Maßes von Productions⸗
mitteln befindet, greift dann mehr und mehr ausfaugend in die Sphäre
bes dürftiger Ausgeftatteten ein. Dan gelangt fo zu einem Syſtem ber
yſtemloſigkeit, deſſen Wekung Ueberwucherung auf der einen und Ver:
mmerung auf ber anderen Seite ift. In unferer jegigen Periode über:
wiegt nun gerade biefer abftracte Individualismus, deſſen Ausbrud
die Tyrannei der Reichen über bie Armen, ber Gebildeten über die Uns
gebildeten iſt. |
Wie mit befiimmten Sachen, fo tritt — wie ſchon geſagt — jes
dev Menfch mit beflimmten Perfonen vor Anderen in nothwendig en⸗
gere Verbindung, die zum ebenfo nothwendigen Bewußtfein und Aus-
drud ber Einigung und Einheit wird. So enthält jede Samilie, in den
roheften Zuftänden ber Fifchers und Jaͤgervoͤlker, ſchon den Embryo der
Gemeinde; mie fchon die mwandernde Gemeinde, der Nomadenſtamm,
den des Staats enthält. Das ift indeg dee Gang der Weltgeſchichte,
daß auf ihren erften Stufen noch nicht der ganze Reichthum der menſch⸗
lichen Natur, daß dieſe erft einfeitig und unvollftändig zur Erfcheinung
tommt. So gefhah es auch mit dem einhritlichen oder communiftifchen
Element, mit bem ber abftracten Gleichheit, und endlid mit dem ber
abftracten Ungleichheit oder der fchrankenlofen individuellen Freiheit.
Nicht als ob auch nur ein einziges dieſer Elemente zu irgend einer Zeit
und in irgend einem Staate völlig befeitigt worden wäre. Eine folche
Befeitigung waͤre bie an ſich unmögliche Vernichtung der menfchlichen
Natur felbft gewefen. Aber es mußte doch jedes derfelben nad) Dem an⸗
deren, in mannichfachen Webergängen und Verbindungen, zu übermwies
gender Herrfchaft gelangen, die fi vom Standpunkte jeder folgenden
Periode aus als einfeitig darftellt. Stehen wir nun endlid in Wahr⸗
heit auf einem fo freim Standpunkte, von bem aus bie ganze Reihe
Gommunismud. 31
der früheren Entwidiungen als einfeitig zu erkennen ift, fo follten wir im
Stande fein, in einer neuen ſocialen Wiffenfchaft die ganze Natur bes
Menſchen, die gleihmäßig harmoniſche Befriedigung feines Beduͤrfniſſes
ber Einheit, der Gleichheit und der Freiheit, zur Darftellung zu brins
gen. Daß bies gefchehen Tolle, daß der ganze Menſch als Princip
bee Sociallehre anzuerkennen fei, wird uns freilih auch von unferen
neueren, Communiften und Socialiften zum Weberdbruß wiederholt. Aber
daß dies noch keineswegs gethan I ft; daß fich vielmehr die neue foge-
nannte Wiffenfchaft dev Gefellfchaft noch im Zuftande der Confuſion bes
findet, da man nur den einfeitigen Individualismus durch einen ebens
fo widernatürlichen drittels menſchlichen Communismus oder eine ab⸗
firacte Gleichheitslehre todtzufchlagen verfucht, dies wird fpäter noch
fhärfer hervorgehoben werden. |
Eine vollftändigere Bildungsgefchichte des Eigentums, womit aud)
die der Staaten zufammenhängt, kann hier nicht verfucht werden. Die
Dinwelfung auf einige Hauptmomente, die zur befferen Würdigung des
modernen Communismus dienen, muß genügen !).
Bei dünner zerfireuter Bevoͤlkerung hat ſich die menfchliche Thätig-
Leit noch nicht im gemeinfamen Intereſſe zu befonderen Berufözweigen
abgegliedert. Jede Familie, die durch gefchlechtliche Vereinigung unb
Abſtammung zunaͤch ſt Verbundenen, forget für Nahrung, Bekleidung
und Obdach und greift, je nach dem Gebot des Beduͤrfniſſes von einer
Thätigkeit zur anderen übergehend, die zu naͤchſt liegenden Mittel für
ihre Zwede aus der Sachenwelt heraus. Auf diefer unterflen Stufe,
bei Fifchers und Jaͤgervoͤlkern, ift alfo die Occupation noch bie vor⸗
berifchende Form ber Aneignung. Aber diefe f. g. Occupation, ale eine
bewußte abfichtliche Thätigkeit zum Zweck der Aneignung, iſt ſchon Ars
beit und begründet eben dadurch den vernünftigen und naturgemäßen
Anfpruh auf Eigenthum. Wer fi einen Vorrath an Wild oder
Fiſchen gefammelt, bat auch für fi) und bie ihm enger Verbundenen
gefammelt. Er fucht fi) gegen die Gewalt eines Dritten im Beſitz zu
behaupten; denn ex hat gearbeitet und will für keinen Anderen gears
beitet haben; er hat die Natur ausgebeutet und will fi) von einem
Anderen ausbeuten laſſen; er mill nicht bee Sklave, nicht das Werk⸗
zeug bed Anderen fein. In gleicher Weife vertheidigt er die Höhle, die
Hütte, die ihm zur Wohnung dient; alfo den Theil des Bodens, ben
er. [einen Zwecken unterworfen hat. Aber auch der Zifcher, der am
1) Vergl. jedoch: Adel; Alodium; Bauer; Beſitz; Deutfches Recht; Eigen:
thum; Erbuͤchkeit; Erbrecht u. f. w. im Staatslexikon. Auch ben Artikel
„Eigenthum“ im Rechtslexikon. Kerner: „Die Perfönlichkeit des Eigenthums
in Bezug auf den Socialismus und Sommunismus im heutigen Frankreich. Bon
Dr. 9. ®. Kaifer. Bremen 1843.” In diefer Beinen Schrift ift viel Mas
terial zufammengebrängt, fo daB man dem Berfafler einige Begriffstortur, wos
durch er die Geſchichte zwingen will, die Hegel'ſche Schulſprache zu fprechen,
wohl verzeihen Tann. was gar zu naiv fagt er gegen ben Schluß, nachdem
er die Befleuerung als bad Mittel zur Ausgleihung aller grellen Ungleich⸗
82 ... Gommunidmus,.
Ufer die Angel oder das Netz auswirft, ober ber Jäger, ber mit Bogen
und Pfeil dem Wilde auflauert, fucht fi) und bie Seinigen gegen jebe
Störung bei der Arbeit feinee Occupation in der Herrſchaft über ben
Theil des Bodens zu behaupten, den er zur Erreichung feines Zwecks
mit Aüsfchließung von Anderen beherifchen muß. Fa für den Fiſcher
oder Jäger, der wisberholt an demfelben Orte feiner Beute nachgeht,
entfteht fchon daraus allein ein nothmendiger Anfpruh auf vors
zägliche Benugung dieſes beſtimmten Theils bes Bodens. Er iſt
gerade mit die ſer Localitdt vertraut geworden, er hat zumal diefen Theil
dee Sachenwelt in feine Anfchauungen und Vorftellungen aufgenommen
und fie eben barum zum befonderen Gegenftande "feines Denkens und
Thuns gemadt. Wer ihn alfo in der Benugung hindert, greift eben
damit in das eigenfte Weſen feiner Individualität ein. So finden wir
fhon auf den unterfien Stufen der Gefellfchaft den Keim des Indivibuels
len Eigenthbums nicht blos an beweglichen, fondern eben fowohl an ums
beweglihen Sachen; wie denn überhaupt für die Bewohner der Erde
eine individuelle Derefchaft über Mobilten ohne eine entfprechende an SImmor
bilien an fi) unmoͤalich ift.
Eine höhere Stufe befchreitet das nomadiſche Hirtenvolk, mit fels
ner mannichfacheren Benugung der Thiere durch. Zaͤhmung, Sorge für
Fütterung und Vermehrung. Damit bildet fi) ein Eigenthum an bes
weglichen Sachen In größerem Umfang und an mehrerlsi Gegenftänden.
Am Zufammenfluß der Dienfchen bemältigt der Starke ben Schwachen.
Neben und bald auch vor der unbedingten Herrfchaft des Zamilienvas
ters über Frauen und Kinder, alfo neben der Sklaverei in ber Samitie?),
tritt der Unterfchied von Herrn. und Knechten hervor. Der Knecht iſt
der vom Anderen und für einen Anderen gesähmte Menſch. Er ift
feiner freien individuellen Thaͤtigkeit in Beziehung auf die Sachenmelt
möglihft entäußert, ee hat darum für ſich nichts Eigenes mehr.
Die Entftehung der Sklaverei hänge alfo keineswegs mit ber erſten Ents
ſtehung des individuellen Eigenthums zufammen, mie einige Commu⸗
niften phantafirt haben, fondern mit dem erften Verluſt beffelben.
Sie ift gerade diefer Verluſt. Auf dieſer Stufe wird bie verftändige
Herrſchaft über die Natur noch zumeift durch münbliche Weberlieferung
von Geſchlecht zu Gefchlecht begründet und durch den größeren Reichthum
der perfönlichen Erfahrungen, wie ihn nur ein längeres Leben verleiht.
So entfteht ein Erbrecht mit Bevorzugung ber Erfigeburt. Aber auch
beiten des Beſitzes und Sigenthums bezeichnet bat: „Wie der Staat das durch
eine folche Befteuerung brigte an die Nichtbefiger unterbringen fol, das zu
fagen wollen wir uns wohl hüten, das gehört der Empirie, ber Nationaldkono:
mie an, der Entwidelung des Lebens ſelbſt; bier ift das Felsriff, an dem jede
Theorie fcheitern würde.” Go? Aber darum gilt's. Sol der Verſtand ſtill
fteben, wenn er bis an die Hauptaufgabe feiner Zeit gekommen ift?
2) Ueber die Milderung der Sklaverei in der Familie, durch die Entftehung
ber SElaverei bei Fremden, äußert fih Beijer in den Vorlefungen über ſchwe⸗
difche Geſchichte.“ (Monatöbl. der Allg. Zeitg. Auguft 1845.)
Communismus. 38
der Maͤchtigſte der maͤchtigſten Familie oder des maͤchtigſten Stammes
behauptet ein natuͤrliches Uebergewicht. Er wird vor Anderen das les
bendige Geſetz, wodurch bie fortwährende Occupation des Weidelands
geordnet und verwaltet wird. Der individuelle Anſpruch auf beftimmte
Thelle bes Bodens verſchwindet alfo aud jest nicht, fondern tritt
nur in anderer Form hervor. Als Gefammtheit aber fucht ſich das no⸗
mabifirende Hirtenvolk jedem fremden Stamme gegenüber in einem bes
flimmten Bezirk zu behaupten; und wie früher bei dee noch mehr ifo»
lit lebenden Familie, fo entfteht nun bei dem Nomadenvolle, neben
den fort und fort ſich erneuernden individuellen Anfprücen, zugleich, ber
Anfprud auf ein Gefammteigenthum an einem gemwiffen Theile der Erde.
Kortfegung: Drientalifhe Staaten. Wie bei den Heer⸗
zügen einer Armee, fo bilden ſich bei den Wanderzügen der Hirtenvoͤlker
aus dem Beduͤrfniß Aller die Unterwerfung unter einen Willen und
damit eine Art militärifcher Subordination und ımbedingten Gehorfams,.
Und wie im erften Fortſchritt die natürliche Herefchaft des Familienhaupts
zue Derrfchaft des Stammhaupts geworden iſt; fo wird auf bie meitere
Stufe der Anfäffigkeit und der vorherrfchenden Beſchaͤftigung mit Aders
bau die patriarchaliſche Gewalt als Despotie fhon mit hinübergenommen.
Der Despot behält alfo die Dispofitionsbefugnig über die Gegenftände
des Beſitzthums, darum auch über die Vertheilung des Grundbeſitzes.
Er erhebt fidy aber, da er Über reichere Mittel gebietet, zu größerer
Macht, als fie das nomadiſche Stammbaupt haben fonnte. Der Staat‘
und Alles im Staate wird nun ale fein Eigenthum betrachte. Das
indioiduelle Eigenthum geht alfo für Alle, mit Ausnahme-des Despoten,
verloren; d. 5. Alle, außer ihm, find zu Sklaven gerworden. Die eins
zelnen Grunbbefiger find jegt Exrhpächter, und auch dies nur factifch,
fo lange der Herrfcher mil. Die Grundfteuer,, die fortan entrichtet wird,
hat noch ben Charakter des Tribute: fie muß nicht, fie ann nur zum
Beften Aller verwendet werden. Mit dem durch den Aderbau gefchaf:
fenen größeren Reihthum an Capitalien entftehen neue Berufszmeige°),
die fih von Gefchleht zu Gefchlecht fortpflanzen, bis die Gewohnheit
wohl auch als Megel und Geſetz ausgefprochen wird. So entſtehen ges
feglich erblihe Kaften oder gemohnheitsmäfig erbliche Stände mit erblis
chem geiftigen und materiellen Beſitzthum, fo weit nicht ber abfolute
Herrfcher von einem Stand in den anderen erhöht ober erniedrigt und
Befisthum zufpricht oder raubt. Ein ſolcher erblicher faint= fimoniftifcher
Dapft*), der ſich vermißt , wie früher ber Kamilienvater unter den Gliedern der
Samilie, fo unter Millionen die Verdienſte der Einzelnen zu erkennen
und abzufchägen, ift noch in eminentem Grade der Kaifer von China.
Aber daffelbe Ingrediens des St.: Simonismus fpielt auch noch far?
genug in das europdifche Monarchenthum hinüber. Steht nun in einer
3) Ueber das Geſetz der Gliederung der Production f. meine Schrift: „Die
Bervegung der Production ıc. Zuͤrich 1844.”
. 4) Bergl.: „St.sSimonismus.“
Suppl. 3. Staatélex. I. ö
8% | Communismuß.
Geſellſchaft ohne erbliches Kaftenwefen ein abfoluter Gewalthaber an
der Spige von Staat und Kirche; fo iſt diefer dem herrfchenden Rechts⸗
begriffe nach die einzige vollftändtge Perſoͤnlichkeit und darum der
einzige wahre Eigenthuͤmer. Sind Kaften vorhanden, fo konnten
fie nur durch Uebechebung ber einen über bie andere entftehen. Das
aemeinfame Imtereffe verbindet bie höher Geftellten. Es kommt zum
Bunde der Fürften, als der Häupter der Kafte der Krieger und weltlichen
Beamten mit ber SPriefterkafte; bis unter den Verbundenen felbft der
‚Kampf über das Maß des Vorrechts ausbricht. Hier gelten nur bie
Mitglieder der höheren Kaften als wahre Perſoͤnlichkeiten und freie Eis
genthämer.
Selbſt im einheitlichen Despotenreiche, wie im Kaftmflante, tft je⸗
boch die auf Einzelne übertragene Vorausſetzung der vollen Perſoͤnlich⸗
keit und des freien Eigenthums bis zu gewiſſem Grade eine bloße
rechtliche Ficetion. Diefes oder jenes Individuum und fein Befitz⸗
thum kann wohl der despotifchen Derrfcherlaune zum Opfer fallen, ohne
daß dies als Rechtsverlegung betrachtet wird. Im Ganzen aber bils
den doch Gewohnhrit und Geſetz beflimmte Formen aus, denen felbft
der abfolutefte Alleinherrfcher unterworfen bleibt, die er bei Strafe ber
Revolution nicht zu verlegen wagen darf. Auch Fommen auf biefer wie
auf allen Stufen der Gefellfehaft neben der nothwendigen Anerfennung
bes Inbividualidmus noch gleichheitliche und einheitliche Elemente zum
Vorſchein. Dahin gehören 3. B. in China die herkoͤmmlichen und ges
feglichen Vertheilungen von Nahrungsmitteln und Kleidern an bie Ars
men; aber die in großem Maßſtab ausgeführten gemeinfchaftlihen Be—
wäfferungsanftaltenz oder die wirthfchaftlichen Wereinigungen mehrerer Fa⸗
milien. Laßt fi ja nie das Bewußtſein völlig unterbrüden, daß Jeder
ein Mecht auf die nothwendigen Subfiftenzmittel habe, und daß die Be:
fugniß der individuell abgeſchloſſenen Benugung des Beſitzthums im aus
genfätligen Intereffe der Gefammtheit ihre nothwendige Schranke finde.
Immer giebt jedoch der vorherrſchende Individualismus einer
einzelnen Perfon oder einzeiner Kaften den orientalifchen Reichen ihr be⸗
fonderes Gepräge. So ift in China der Kaifer der oberfte Beherrſcher
aller Dekonomie, der jebem feiner Unterthanen die Grundftüde, die er
befist, wegen fchlechter Bewirtbfchaftung entziehen kann. Die Grunds
befiger koͤnnen nicht frei im Zeftament über ihre Ländereien verfügen,
und bei Zheilung ber Erbfchaften in bie Kamilie findet von Staatswe⸗
gen eine genau beftimmte Gontrole flatt. In Altindien war aller Bo⸗
den den: Königen abgabepflichtig, außer die Befigungen der Braminen.
Allee Land in Altaͤgypten befand fi im Eigentum des Könige, ber
Kriegerkafte und der DPriefterkafte, fo daß die Aderbauer nur um Zins
auf Grund und Boden biefer drei Glaffen faßen. Das Land der Prie⸗
fterfchaft jedes Tempels war in gemeinfchaftlihes und privates getheilt.
Hier kam alfo ein einheitliches Element neben dem individuellen oder
gleihheitlihen zum Vorfchein, aber nur innerhalb: ber Nechtefphäre
einer befonderen Kaſte. Da die Aderbauer nicht ben: eigenen Grund
Communismus. 36
und Boden bearbeiteten, ſo wurde ihnen ſchwerlich eine individuell un⸗
gleiche Vertheilung deſſelben uͤberlaſſen. Es iſt alſo ſehr wahrſcheinlich,
daß die Bewohner jeder Ortſchaft die ihnen zugewieſenen Aecker gemein⸗
ſchaftlich bebauten und daß vom allgemeinen Ertrag jeder Arbeiter eine
Quote bezog. Ueberhaupt waren die rechtlichen Verhaͤltniſſe des Eigen⸗
thums und Befitzes am Unbeweglichen Vermögen ſchon früh ausge⸗
bildet, nachdem der Uebergang zum ackerbauenden Staate erfolgt und
der Grund und Boden als Hauptquelle alles Reichthums erkannt war.
In geringerem Grade war dies bei dem noch verhaͤltnißmaͤßig unbedeu:
tenben beweglichen Vermögen ®) der Fall; da man es dem Einzelnen
(don mehr überlaffen konnte, fich in deffen Beſitz und Benugung zu
behaupten. Wenn alfo Diodor berichtet, daß in Altägnpten die Diebe
in der Art privilegirt gemwefen, daß fie nur verpflichtet waren, das Ge:
ſtohlene bei ihrem gefeslich beſtimmten Oberhaupt niederzulegen, von
dem es der Beftohlene gegen Zahlung von J bes Werths zuruͤckfordern
tonnte; fo bat man doch ſchwerlich damit ein communiftifches Diebftahle-
recht anerkennen, fonbern ein nicht völlig zu bemältigenbes Uebel auf
ein Minimum zurädführen mwollen®). Cine Scugmwehr geaen Las
ſchrankenloſe Walten des Individualismus in der Aneignung von beweg⸗
lichem Vermögen findet fi) dagegen in der auch im römifchen Recht
wiederkehrenden altägnptifhen Beſtimmung, daß Niemand ein ausgeliches
- nes Capital duch die Zinfen um mehr ald das Doppelte vergrößern -
dürfe. Auch in Altperfien, mo die Theokratie der Magier die Lönigliche
Machtvollkommenheit wenigſtens für die Hauptmafje der Bevölkerung
nicht aufhob, berief man fish auf ein Geſetz, daß dem Könige erlaubt
fei zu thun mas er wolle Er galt als Eigenthümer von allem Land
und Volk; die Grundbefiser waren bloße Pächter. Das alte Stamm»
land Perſis bezahlte zwar keine Abgaben, doch war für jeine Bewohner
der Despotismus nur herkoͤmmlich etwas gemilbert. Endlich gilt in den
jesigen weftafiatifchen Staaten voch der Grundfag, dab das volle Eigens
thumsrecht an die beftimmte Perfon des Herrſchers geknüpft fei. Dies
fer Grundſatz wurde noch in neuefter Zeit dur Mehmed Alt?) ſelbſt
factiſch auf auf eine Spige getrieben und er fommt namentiidy in den
zahlreichen mwillfürlihen Gonfiscationen zur Anwendung. Indem aber
diefe Confiscationen unter der Form von Strafen verhängt werben, liegt
doch darin zugleich die indirecte Anerkennung bed gegründeten Anſpruchs
. Allee auf rechtlich geficherten individuellen Beſitz.
Die orientalifhe Vorſtellungsweiſe, daß das völlig freie Eigenthum
nur einer beftimmten Perfon im Gegenfas zu Anderen zuſtehen koͤnne,
greift auch im die jüdifche Gefeggebung ein, wornach Jehovah felbft als
5) Siehe „Mobilien.“
6) Unter Anderem deutet die Erzählung von Zofeph, Benjamin und ben
filbernen Becher auf viel ftrengere altäguptifche Gefege gegen den Diebſtahl.
7) Siehe „Aegypten.“
3*
86 Communismus
Obereigenthuͤmer und König des Landes Kanaan?) betrachtet wurde.
Nach ſeinem Gebot ſind daher die Aecker der Leviten zehentpflichtig.
Der Zehent war die Beſoldung fuͤr die geiſtlichen und weltlichen Functio⸗
nen des levitiſchen Beamtenſtandes; und noch auf andere Weiſe war fuͤr
die Diener des jenſeitigen Koͤnigs Jehovah geſorgt. Gegen die Berufung eines
dieſſeitigen Alleinherrſchers vergebens warnend hatte Samuelben Juden das
abfolute Recht des orientalifchen Gewalthabers verfündigt, über das Be⸗
fisehum nad) Gutduͤnken zu verfügen?) und nad) Willfür feine Beam:
ten zu ernennen und zu belohnen!9). Aber die einmal im Namen Je⸗
hovah's, darum als dauernd und unabänderlid) verfündeten Gefege konn:
ten von den Königen nicht aufgehoben werden, wenn fie zum Theil auch
außer Brauch kamen. So gefchah e6 mit jener zeitweifen Ausgleichung
der Ungleichheiten des Befiges, wie fie durch die mofaifche Gefeggebung
in den Beflimmungen über das fiebente und fünfzigfte Erfagiahr ange»
ordnet wurde!!). Se das fiebente Jahr follte ein eigentlih commus>
niftifches Feierjahr fein !?). Die Knechte, Mägde, Tagelöhner, Haus⸗
genoffen und Fremden folltn wie bie Eigenthämer von den Fruͤch⸗
ten des Feldes eſſen. Doch die Wahrheit vor Augen, baß die Arbeit
ein Recht auf die Früchte derfelben verleiht, gebot Mofes, dab im fie-
benten Jahre Niemand den Boden befäe, daß kein Eigenthuͤmer fein
Feld oder feinen Weinberg bebaue. Die Sorge um Nahrung im fieben>
ten und achten Fahre warb durch die Verheißung Jehovah's befeitigt,
„ec wolle je im fehlten Jahre feinem Gegen gebieten, daß er breier
Sahre Getreide machen folle.” Im fünfzioften (oder neunundvierzigften)
großen Jubel und Halljahre follten überdies, mir Ausnahme der ver-
auften Häufer binnen der Stadtmauer und der dem Heiligtum ver⸗
lobten Aeder, alle fonft veräußerten Aecker und Häufer auf dem offenen
Lande an die vorigen Eigenthümer oder ihre Erben ohne Erftattung des
Kaufpreifes zurücfallen, ‚damit Jeder wieder zu feiner Habe und feinem
Geſchlecht komme. Wie hiernady die Kaufpreife, womit im Grunde
nur eine Reihe von Ernten gekauft wurde, je nach dem größeren ober
geringeren Zeitabftande bis zum naͤchſten Halljahre zu berechnen feien,
8) Le. 25, 23: „Darum follt ihr das Land nicht verlaufen ewiglic;
denn das Land ift mein, und ihr feid Fremdlinge und Bäfte vor mir.” 1.8.
Sam. 8, 7: „Denn fie haben nicht dich, fondern mich verworfen, daß ich nicht
fol König über fie fein.”
9) Sam. 1, 8, 1%: „Eure beften Aecker und Weinberge und Delgärten
wird er nehmen und feinen Knechten geben,” ıc.
Sam. I, 8, 16: „Und eure Knechte und Mägde und eure feinften
Zünglinge und eure Efel wird er nehmen und feine Gefchäfte damit ausrichten.”
Wie auch der letzte Theil diefes Spruchs noch im modernen Beamtenftaat zur
Anwendung kommt, bedarf keiner befonderen Bemerkung.
11) Daß die Anordnungen über das Sabbathjahr nicht fehr fireng und bei
weitem nicht immer eingehalten wurden, dafür führt Micharlis „Mofaifches
Recht,“ Bd. 2, binlängliche Belege an.
12) Die focialiftifhe Bedeutung des Sabbathe bob Proudhon in feiner
Schrift Aber die „„Sonntagsfeier” hervor.
Communismus. 37.
darauf warb ansbrhdiid hingewieſen. Diefe merkwuͤrbige Anorbnung, in
Verbindung mit einem fehr ausgedehnten Ruͤckkaufsrecht zwifchen zwei
Halljahren und einem fehr ausgedehnten Armenrecht, hatte den bes
flimmt ausgefprochenen Zwed der Verhinderung von drüdender Armuth .
und übermäßigen Reichthum fo tie ben der Bewahrung der alten Gleich⸗
heit des Beſitzes, doch freilich nur mit Rüdfiht auf die urfprüngliche
Vertheilung des Landes an die einzelnen Geſchlechter!?). Eine folche
Ausgleihung aller ſchroffen Ungleichheiten bes Beſitzes, die nad) der mos
ſaiſchen Gefeggebung an beftimmte Perioden gebunden war und darum
aur floßweife eintreten Fonnte, follte nad) ber klar vorliegenden Aufgabe
unferer neueften Gefeggebung ununterbrochen, darum allmälig
und mit Rüdfiht auf alle Glieder der Geſellſchaft erfolgen 1*).
Sortfegung: Aeltere heilenifhe Staaten. Ein natur
Präftiger, mit tüchtigen Anlagen ausgeftatteter Volksſtamm mag unter
förderlihen aͤußern Berhältniffen des Klimas und ber Dertlichleit aus
ſich felbft heraus eine Lebensweife entwideln, modurd nad einigen
Schwankungen eine Reihe individueller Kräfte und Zhätigkeiten gar bald
zu einer Art politifchen und focinlen Gleichgewichts gelangt. Jeder weiß
fi dem Andern gegenüber in feiner Selbftftändigkeit zu behaupten, aber
Keiner kann des Anden entbehren. Hier find nun die Bedingungen
für ein Gemeinwefen vorhanden, das auf der Baſis einer gleichen Bes
techtigung feiner mefentlidy activen und felbfithätigen Mitglieder ruht.
Stößt eine foldye Genoſſenſchaft mit Fremden feindlich zufammen, fo
werden Dielenigen, die in bie Gewalt ber fiegenden Genoffenfchaft fal-
In, die Sklaven dieſer Genoſſenſchaft felbft, denn fie find duch
gemeinfchaftliche Thätigkeit erbeutet worden. Im Gegenfag zu bie:
fen paffiven Mitgliedern des Gemeinmefens bildet ſich dann bei dem
berrfhenden Volt das Bewußtſein der gleichen Berechtigung Aller
um fo fchärfer aus und kommt fo lange ale abftract einförmige Gleich⸗
beit zur Anerkennung, als ſich noch nicht bie einzelnen Individualitaͤten
beftimmter ausgeprägt und in mannichfach eigenthümlihen Weifen ber
Production und Conſumtion von einander unterfchiedben haben.
Alle diefe natürlichen und hiftorifhen Bedingungen trafen in Gries
chenland zufammen, um demokratiſche Gemeinwefen auf der Grundlage
dee Sklaverei entftehen zu laſſen. In den alten bellenifchen Staaten
waren die Ländereien in drei Theile getheilt: für die Götter ober Pries
13) Darauf iſt es auch mit ber Beflimmung abgefeben, daß alle Töchter,
bie Erbtheil befißfen, nur Einen „vom Gefchleht des Stammes ihres Waters
freien ſollen, damit nicht ein Erbtbeil von einem Stamm auf den andern falle.”
(Rum. 36, 8. u. 9.)
14) Bergl. on 25. Im Deut. 15 wirb au bas fi ebente Jahr in der
Art ale Erlagjahr beftimmt, daß man das Geliehene von „feinem Nädften
und Bruder nicht einmahnen, "fondern es ihm erlaffen ſoll.“ Uebrigens ifl ſich
die mofaifche Geſetzgebung darüber Mar genug, daß fie den Unterfchieb von Ars
men und Keichen nicht aufheben wollte und konnte. Es heißt zwar: „Cs fol
allerdings Fein Bettler unter euch ſein;“ aber au: „Es werben allegeit Arme
fein im Lande.”
‘
fler , für das Gemeinweſen und für. die einzelnen Vollbuͤrger. Die oͤf⸗
fentlichen Lindereien waren Gefammteigenthum, fo dag nur eine Ver⸗
theilung der Nugungen ‚unter die Einzelnen fkatt hatte; und damit mar
alfo ein einheitliche® oder. communiftifhes Element anerkannt. In Hin:
fiht des Privateigenthbums an Grund und Boden. war der Beſitz der
Einzelnen gleid) gemacht. Jeder hatte fein beftimmtes Loos, worin feine
Erben ungetheilt figen blieben. Weil e8 um Erhaltung der Gleichheit
dieſer Samilienlgofe zu thun war, waren Veraͤußerungen unter Lebenden
und auf den Todesfall, alfo audy XZeflamente, unterſagt. Gtarb eine
Zumilie aus, fo fiel ihr Land an den Staat, der es einem Nichtbefiger
zutbeilte. So wat e8 früher in der Hauptfache au in den ionifchen
Staaten, wie denn noch Solon buch das Verbot beliebiger Ankäufe
eine gerviffe Steichheit der Ländereien zu erhalten fuchte. Doch erhielten
ſich diefe Zuftände längere, Zeit bei den Völkern des dorifhen Stammes.
In Oparta wurde das in 9000 gleihe Güterloofe getheilte Land von
den ber Gefammtheit angehörenben Heloten oder auch von tributpflichti=
. gen Periöfen gebaut. Jedes Gut fland im Eigentum der gefammten
Samilie, und wenn ber dltefte Sohn Erbe war, war er es doch nur ale
activer Eigenthbum, fo daß auch die Andern-.Antheil am Genuffe hat:
ten. Noch aus anderen Staaten weiß man von verfchiedenen Beſtim⸗
mungen zur Bewahrung der Gleichheit des Grundbefiges, wie vom Ber:
bot der Verpfändung der Grundftüde in Elis; von Gefegen für Erhal⸗
tung der Gleichzahl der Bürgers und Güterloofe in Altkorinth; von ber
Unveräußerlichkeit der legteren in ber korinthiſchen Pflanzſtadt Leufas ;
von einer zeitweife eintretenden Ausgleichung bes Vermögens in The
ben, ähnlich wie bei den Juden. Ein communiftifches Element in Bes
ziehung auf Confumtion waren die gemeinfchaftlihden Mahlzeiten. Zu
den Spffitien in Sparta hatte Jeder eine beftimmte Quote von Lebens:
mitteln beizutragen ; in Kreta wurden fie aus bem Ertrag der Staats:
ländereien, den Zributen der Peridken und aus Beiträgen der Einzel:
nen befkritten. Für die genauere Ausbildung des Privateigenthums an
beweglihen Suchen war ein geringered Bebürfniß vorhanden. Wo
die Sklaven, wie in Sparta, das Eigenthum des Staatd waren, mo
gemeinfchaftlihe Mahlzeiten gehalten wurden, mo der Beſitz von edlen
Metallen verboten war und die Einführung eiferner Münzen die An:
bäufung bemeglicher Gapitalien erfhwerte; wo die Entwendung bemeg=-
licher Sachen alg militärifches Bildungsmittel betrachtet wurde: da blie⸗
ben kaum andere Mobilien übrig als Waffen, Hausgeräthe und beweg⸗
liche SSnftrumente der Arbeit. Daran fand zwar Eigenthum flatt, aber
zugleich gab es fich von felbft, daß fich für alle Bürger bis zu einem
gewiſſen Grade ein gemeinfhaftlihes Nutzungsrecht, zumal an den
Arbeitswerfzeugen, wie an Zug: und Laftvieh u. dgl., ausbilden Eonnte.
Fortſetzung: Spätere hellenifhe Staaten. Römer.
Germanen und Mittelalter. Keine Gefeggebung vermag eine ab:
folute Gleichheit des Erwerbs und Befisthums feftzuhnlten; je nach In⸗
dividunlität und Gunſt der Umftände areift doch Jeder fogar unwillfürs
Communismus. 80
lich in die Sachenwelt ein, um ſich das Eine vor dem Andern anzueig⸗
nen. Iſt dies in groͤßerem Umfange geſchehen, ſo tritt die Ungleichheit
bes ſaͤchlichen Vermögens in's Bewußtſein; und wie man erſt die thats
ſaͤchliche Gleichheit deffelben zur rechtlichen zu machen und gefeglich zu
fihern bemüht war, fo verfudht man es nun mit der deutlicher gewor⸗
denen factifchen Ungleichheit. Bei den Mächtigeren und Wehr Befigen-
den erwacht das Steben, biefes Mehr fi) und ben Ihrigen zu erhals
tm. Dan knuͤpft alfo die nothwendigen Mebergänge des ſaͤchllchen Ver⸗
mögend auf Andere, zunaͤchſt und hauptfächlich wieder die des Grundei⸗
genthums, an befondere Bedingungen der Berdußerlichkeit unter Le⸗
benden und für den Todesfall. So entfliehen reichere und baum _
mächtigere Familien von Grunbeigenthümern, bie mehr und mehr auch
politifche Vorrechte an ſich reißen und daburch zum Adel werben koͤn⸗
nen, ohne es jedoch dadurch allein fchon gu fein. Diefer Bildungs»
gang zeigt fich deutlich bei den Hellenen der fpitern Zeit, bei ben Roͤ⸗
mern und bis zum Ende des germanifchen Mittelaltere. Zunaͤchſt trat
das Moment des Individualismus bei den ioniſchen Boͤlkern, zumal im
Athen, deutlicher hervor und offenbarte ſich in ber freieren Veraͤußerlich⸗
keit des Grundeigenthums. Damit verband ſich jedoch die Sorge
einer moͤglichſten Befeftigung des Familienbefiges im Verbot ber Teſta⸗
mente bei dem DBorhandenfein von Leibeserben, und in ber Bes
vorzugung des Mannsſtamms. Später war auch in Kreta det Ans
Lauf neuer Ländereien nicht mehr verboten, und in Sparta geftattete
ein Gefe die beliebige Verſchenkung des Grundbefitzes, wodurch größere
Gütercomplere an Einzelne und an Frauen kamen. Auch das Verbot
des Beſitzes von edlen Metallen wurde nicht mehr geachtet; das Eigen⸗
thum an mehrerlei beweglichen trat beftimmter hervor und mit der Vers
mebrung der möglichen Gegenftände des Obligationenrechts prägte fich
dieſes felbft ſchaͤrfer aus.
Die jährliche neue Vertheilung des Landes im Guevenbunbe, wo⸗
von Caͤſar berichtet und. worauf Zacitus als auf ein gemeinfames
germanifches Inſtitut hinzumelfen fcheint, deutet auf das Uebergewicht
eines einheitlichen und gleichheitlichen Elemente. Wahrſcheinlich gründete
ſich diefe Einrihtung auf eine noch halb nomadifche und halb anfäffige
Lebensweiſe, wornad diejenigen Mitglieder der Genoſſenſchaft, die im
Intereſſe der Geſammtheit während des einen Jahre in Heereszuͤgen oder
al8 Hirten ein MWanderleben geführt hatten, im naͤchſten Jahre zur Bes
bauung des Feldes berufen waren. Als dann die nomabifche Lebensweife
mehr in den Hintergrund trat unb man zu einer dauernden Verthei⸗
lung von Grund und Boden kam, mar es ohne Zweifel das Princip
der gleichen Vertheilung an alle Freien, das man zur Anmenbung
brachte. Die pofitiven Rechte bilden ſich nad Maßgabe der Bedürfniffe.
Um auf eine fernere Zukunft hinaus die möglichen Folgen einer ſocialen
Anordnung vorauszufehen und hiernady vorbeugende Gefege zu erlaffen,
wird fchon ein höherer Grad von Cultur erfordert. Darum finden ſich
40 Communismus.
bei ben aͤlteren Germanen nicht ebenſo ausgebildete Beſtimmungen über
Erhaltung der Befigesgleichheit wie bei Griechen und Juden, bie viel
früher in die Reihe der Culturvoͤlker eingetreten waren. Die thatfäch:
liche Ungleichheit des Beſitzes war Thon in höherem Grade vor
handen, als man zu näheren Beſtimmungen über Erhaltung beffelben
in den einzelnen Samilien gelanzte. Dahin gehörte, daß bie Veraͤu⸗
Gerung bes Grundeigenthums in der Megel nur mit Einwilligung der
naͤchſten Erben erfolgen konnte und daß bei erlaubten Veraͤußerungen
die Erben ein Recht des Vorkaufs ober binnen Jahr und Tag ein Recht
des Retracts hatten. Finden aber gefegliche Beſchraͤnkungen binfichtlic)
der Veraͤußerungen aus der Familie ftatt, fo trägt dies zwar zur Er⸗
haltung der bereits vorhandenen Ungleichheiten bei, aber es er⸗
fhwert auch auf der andern Seite die Entftehung größerer Ungleichs
heiten. Darin liegt alfo noch keineswegs ein Abfall vom Grundſatz
der Gteichheit, und man muß allzu fehr in den Hegel’fhen Kategorien-
gang verfangen fein, um bei ben Germanen oder bei irgend einem Volke
an ein plögliches Umfchlagen vom Princip der Gleichheit in das der Un»
gleichheit zu glauben. Sit die Veräußerung von Grunbeigenthum nicht
unbedingt verboten, fo ift mehr oder minder ein anbauernder Fleiß und
eine verftändige Bewirthſchaftung erforderlich, damit e8 der Samilie we:
nigftens erhalten werde. Es ift alfo fehr erklaͤrlich, daß Diejenigen,
die fih nod im Befig eines durch mehrere Generationen vererbten
Stammguts befanden, auch bei den germanifchen Völkern als aus guter
Familie ſtammend betrachtet wurden und in Anfehen flanden. Aber
dies war nur eine der Perfönlichkeit des Einzelnen dargebrachte freie
Huldigung, die noch lange feinen erblichen Geburtsabel begründete, der
fih erft aus dem Feudalweſen entwidelte!°). Als ſich aber einmal der
Gegenfag von Alod und Lehn gebildet hatte und als die Lehen ihren
urfprünglichen Charakter eines jährlichen durch Landbeſitz bezahlten Krie:
gerfolds verloren, mußten die Beftimmungen für Erhaltung des Beſitzes
bei der Familie nothwendig auch auf die Lehen Anmendung finden.
Auch die gemeinfchaftliche Gewere, oder die Gewere zur gefammten
Hand an Stammgütern und Fideicommiffen, mit einem oder mehreren acti=
ven Eigenthümern, bis die andern Berechtigten durch Erbfolge an ihre
Stelle traten — mar urfprünglid nur ein Ausdrud für das Gefammt:
eigenthum der natürlih nothmwendigen Affociation der Familie. Erſt
mit Aufnahme von entfernter ftehenden Perfonen durch Erbverträge und
Sanerbfchaften, oder durch Anwendung auf juriftifhe Perfonen erhielt
die gemeinfchaftliche Gewere eine ausgedehntere fociale Bedeutung. Eine
ſolche Bedeutung hatte dagegen von Anfang an, als die Anerkennung
der Einheit einer aus mehreren Familien beftebenden Genoſſenſchaft,
das Inſtitut der Allmend und der gemeinen Marl. Die legtere fland
15) Von der Worausfesung eines in bie Alteften Zeiten hinaufreichenden
germanifihen Abel geht auh Kaifer in der genannten Schrift aus. Siehe da⸗
gegen: „Adel.“
Communismus. 41
nicht allein im Geſammteigenthum einer Gemeinde, ſondern oft in dem
mehrerer Kantone und ganzer Gaue. Da die Benutzung Allen frei ſtand,
ſo richtete ſie ſich factiſch nach der Groͤße des Privatbeſitzes, wie z. B.
bei gemeinſchaftlichen Weiden nach dem —28 — jedes einzelnen Ge⸗
noſſen. Dies wurde ſo lange nicht als Rechtsverletzung empfunden, als
noch, von einzelnen Schwankungen abgeſehen, ber Privatbefig ſelbſt we⸗
ſentlich gleich war. Spaͤter erhob ſich jedoch zwiſchen ben aͤrmeren und
reicheren Benutzern dieſes Geſammteigenthums nicht ſelten Streit, der
ſich oft durch Jahrhunderte bis in die neueſte Zeit fortgeſetzt hat 10).
Endlich verwirklichte ſich noch die Idee ber Einheit in den Verbindungen
zu gemeinfchaftlihem Handeln fo wie in der Gefammtbürgfchaft oder im
der Haftung Aller wegen der auf dem Gebiete der Genofjenfchaft vers
übten Vergeben; und in zahlreichen Corporationen und Innungen, nas
mentlich dee Handwerker. Nachdem aber innerhalb der Vereine der
Freien das Recht des Individualismus, oder das Recht, ungleich zu ers
werben und zu befigen, zur Geltung gekommen war, dehnte es ſich end»
lich auf die Unfreien aus. Zuerſt bildete fich eine Gewere des Unfreien
an beweglichen Sachen, fo daß fid) das Recht des Herrn nur noch bei
Kodesfällen im Beithaupt zeigte. Später entftand auch für einen Theil
der Hörigen , mit der gleichzeitigen Entmwidelung ihres Erbrechts, eine
abgeleitete Gewere an Grund und Boben, wie für Erbzinsmänner und Andere.
Der deutfche Rechtsbegriff von der Gewere legte ein großes Gewicht
auf das factifhe Verhältniß der Perfon zur Sache, auf die Lörperliche
Herrſchaft über die Sache. Im römifhen Begriff von dominium murde
das einmal Erworbenhaben und das Fefthalten des Erworbenen mit
dem Willen ein befonders hervortretendes und in feine dußerften Con⸗
fequenzen uusgebildetes Moment. Diefer ausgedehnteren Befugniß, mit
dem Willen feftzuhalten, entfprady die andere, duch Willensäußerung
das Eigenthum aufzugeben. So war felbft die Veräußerung bes ager
16) Wie z. B. der Streit der f. g. „Hoͤrner“ und „Klauen“ im Kanton
Schwoz, der au zu einem politifchen Parteiftreite wurde. Weberhaupt zeigt
ſich im Hinblick auf die altgermanifchen Allmend = und Markverhältniffe, aumal
was die Gemeindeweidın betrifft, auf das Allerbeutlichfte, wie neben der Thei⸗
lung des Bodens zu Privateigentbum doch auch im Gemeindegut die Einheit in
der Vielheit , die Gemeinſchaftlichkeit in der Abfonderung ihren Ausdruck behals
ten hatte; wie aber fpäter für bie aͤrmeren @emeindeglieber feibft das gemein
Ihaftliche und abſtract gleiche Recht Aller an ber Benutzung bes Gemeindeguts
Immer mehr feine factifche Bedeutung verlorz wie eben dadurch der Arme noch
ärmer, der Reiche noch reicher wurbe , da jeder unglüdtliche Zufall, der Jenen
in feinem Privatbefig betroffen hatte, aud unmittelbar feine Benutungs⸗
fügigleit des Gemeinguts verkürzte und verkuͤmmerte. Um fo gewiffer ift bie
fortwährende Ausgleihung der ſtets fchroffer gewordenen Ungleichheiten des Bes
fies die Aufgabe des Staates geworben , des Vertreters der Einheit und Ges
meinſchaftlichteit aller Glieder der Geſellſchaft. Es ift alfo auch klar genug, daß
die allfeitig geforderte Soctalreform im Wefentlihen nur eine Reftauration von
uralten rechtlichfactifchen Verhättniffen ifts indem wieder für das nie verfchwuns
dene, aber feiner Realität entleerte Recht aller Glieder der Gefellfchaft der
eonerete Inhalt gefunden werben muß.
in italico solo unter Lebenden an feine Einwilligung bee naͤchſten Er
. ben oder der Agnaten gebunden. Sin diefer Beziehung zeigte fich alfo bei
den Mömern früh ſchon eim deutlich hervortretendes Mecht der Indivi⸗
dualität 17). Doc blieben Erwerbung und Veräußerung von Eigenthum;
namentlich für befondere Arten von Sachen, mie bie res mancipi, an
befchränkende Foͤrmlichkeiten gebunden, die aber wefentlid nur den Zweck
batten, das Dafein des befonnenen und entfchiedenen Willens zur Ders
dußerung objectiv gewiß zu machen. Daffelbe Princip des Individua⸗
lismus fand darin Anerkennug, daß die Dinterlaffenfhaft, in die fein
suus eintreten mußte, zur res nullius warb und alfo nicht dee Gemeins
ſchaft, dem Staate, zufiel, fondern der Occupation jedes freien Bürgers
unterworfen war 10). Auch der suus mar nur nothiwendiger Erbe, als
bee mit dem Erblaffer fort und fort Occupirende; und bie Erbrecht
gebende Arrogation oder Adoption, durch das vom Volk vermittelt einer
lex beftätigte f. g. Teſtament in den Comitien, war nur bie Aufnahme
eines Dritten als suus. Als das Imölftafelngefeg, neben dem Inteſtat⸗
erbrecht der Agnaten und Gentilen, ſchon bie freie testamenti factio ges
währte, war auch bies bie Anerkennung einer fehr ausgedehnten Befugs
niß bes individbuelen Eigenthuͤmers 10). Uebrigens war ta Rom wie
überall das volle Eigenthum zunaͤchſt nur möglicd für bie völlig freien
Staatsbürger, für den hHerrfchenden Stamm der Quiriten, fo baß es
nur ein wahres Eigenthum ex jure Quiritium gab. Darum mar nur
den Patriciern die Occupation und Benugung des ager publicus, der.
Staatsdomäne, erlaubt. Erft in dom Mafe, als ſich die Plebejer die
flaatsbürgerlihen Rechte erlämpften, errangen fie fid) erſt den Mitbefig
und Mitgenuß am früheren Eigenthum des Staates, nachdem zuvor
das Licinifche Gefes vom Jahre 378 das individuelle Beſitz⸗ und Be⸗
nutzungsrecht der Patricier am ager publicus befchränft hatte. Damit
kam man zu einer freilich nur theilmeifen und vorübergehenden
Ausgleihung einiger Ungleichheiten des Beſitzes.
Fortfegung: Spätere Römer Neue Zeit. Der Gedanke
einer fortwährenden Ausgleihung der die freie Entwidelung jedes Mens
fchen hemmenden Ungleichheiten des Beſitzes, durch ſtets ſich erneuernden
Uebergang des Privateigenthums in oͤffentliches und des oͤffentlichen in
privates, gehoͤrt erſt der neueren Zeit an. Er gruͤndet ſich einerſeits auf
die Ueberzeugung vom Zuſammenhang alles Menſchenlebens, wonach
17) In anderer Beziehung, wie z. B. in der milderen vaͤterlichen Gewalt,
in der groͤßeren Rechtsgleichheit der Ehegatten u. ſ. w., trat ſchon im altger⸗
maniſchen Rechte die Bedeutung der Individualitaͤt ſchaͤrfer hervor. Vergl. „Deut⸗
ſches (Privat⸗) Recht.“
18) Erſt nach der ſpaͤtern lex Julia caduciaria fielen die erbloſen Guͤter
dem Volke, dem populus, zu, und unter den Kaiſern, wahrſcheinlich ſeit Ca⸗
racalla, dem kaiſerlichen Ficus; alſo nicht mehr Einzelnen, ſondern der ganzen
Geſellſchaft oder dem Repraͤſentanten ihrer Einheit.
19) Dieſe freie Dispoſitionsbefugniß war auch im testamentum per aes ot
libram anerkannt, obgleich noch dieſe Uebertragung von Sachenrechten an eigen⸗
thuͤmlich ſtarre Formen geknuͤpft war.
Kommunismus. 43
geiler Weberfluß und drädender Mangel nur als entgegengefegte Krank⸗
heiten erfcheinen , die in ber gefunden Gefellfchaft beide verſchwinden fols
len; fo wie anderer Seits auf die Anerkennung der freien Perfönlichkeit
und Menfhenwürbe in jedem Menfhen als einziges und darum als
allgemeines Menfchenreht. Die wirkliche Vollziehung diefes Gedankens
iſt erſt möglich geworden durch Einführung einer regelmäßigen Bes
fleuerung. Diefe konnte wohl anfangs als neue Laſt empfunden
werden, ift aber in ihrer Entwidelung und vernünftigen Anwendung das
zu beftimmt, nicht blos die Wunden zu heilen, die fie felbft gefchlagen
bat, fondern überhaupt ein frifche® und gefundes gefellfchaftliches Leben
zu vermitteln. Die allgemeine Befteuerung aller einzelnen lieder der
Geſellſchaft nad) Verhältniß ihres unbemweglihen und bemeglihen Vers
mögens knuͤpft fih an die Ausbildung des Geldſyſtems und im xömis
fhen Reiche wie in den germanifchen Staaten an bie Entflehung einer
unumfchränften monarchiſchen Gewalt. Die Legtere wurde hiernach als
lerdings die Bruͤcke, aber nur die fhon überfchrittene Brüde zu einer
höheren Stufe der Geſellſchaft. Denn trog aller Tyrannei vieler roͤmi⸗
fen Imperatoren und trotz dem „Pétat c’est moi‘ eines Louis XIV.
wurden doch nie die Monarchen des Decidents glei den orientalifchen
Despoten ale Alleineigenthämer betrachtet, fondern vorherrſchend nur ale
Beſchuͤtzer und Gewaͤhrleiſter der rechtlihen Möglichkeit aller Einzelnen,
Eigenthum zu erwerben und zu befigen.
Diefer Zuftand der noch abftracten Möglichkeit Aller, in rechts
lich gleicher Weife wie jeder Andere Eigenthümer zu fein oder zu werden,
wurde durch eine lange Reihe von Entwidelungen herbeigeführt. Die
treibende Wurzel der ganzen Bewegung war das in wachfenden „Kreifen
erwachende Bewußtſein, daß jeder Menfcengeift in feiner Weife zur
Theilnahme an der Herrſchaft über die Sachenwelt berufen ſei. So
wurden die Vorurtheile und Vorrechte, die einzelnen Ständen und Glafs
fen der Bevoͤlkerung eine privilegirte Herrſchaft verliehen hatten, mehr
- und mehr duchhbrochen, und bamit im Zufammenhang bildete ſich ein
gleihmäßigeres Recht für die Behandlung aller Arten von Sachen aus.
In Rom flellte das jus gentium des prätorifhen Rechte dem Eigenthum
dee Quiriten erft das in bonis habere und das fingirte Eigenthbum der
bonae fidei possessio durdy Ufucapion zur Seite. Trajan gab felbft
an den res mancıpi ein bonitarifches Eigenthum und Juſtinian bob
endlich den Begriff des firengen Eigenthums der Quiriten ganz auf, fo
daß nun alle Rechtshandlungen, die früher nur bonitarifches Eigenthum
gaben, jegt das volle Eigenehum begründeten. Auch bei ber Emphyteu⸗
fig wurde materiell der Befiger beinahe zum Eigenthümer. Der ager publi-
cus ging immer mehr in Privateigenthbum über; Domitian fchenkre den
Gemeinden die von ihnen befeffenen Antheile und endlich verwandelte ein
Geſetz vom Jahre 423 den bisherigen Befig an diefer Staatsdomaͤne in vol⸗
les Eigenthum. Zugleich wurde das Erbrecht mehr und mehr cognatifch
und trug zur Verbreitung des Beſitzthums wefentlich bei. .
Bei allen Verfchiedenheiten im Einzelnen war dod im Ganzen
44 Communismuß,.
bei den germaniſchen Voͤlkern der Neuzeit die Entwidelung eine weſent⸗
lich gleiche wie im römifchen Staat; mit dem großen Unterfchiede jedoch,
daß fie zugleich die Keime einer neuen Zukunft in fich entfalteten. Die
vermittelnde vogteiliche Gewalt der Regenten gemann größere Bedeutung,
als die mächtigen abgefchloffenen Stände und Gorporationen in gegen:
feitigem Kampfe ihre Kräfte mehr und mehr aufrieben; als die Staͤdte,
die Induſtrie und der Handel ſowie das bewegliche Vermögen im Ges
genfag zum Grundeigenthum ein größeres Gewicht in die Wagſchale
warfen: als die Fürften, auf diefe neue fociale Macht geftügt, ihre po=
litiſche Gewalt zu ermeitern vermochten. In naͤchſter Oppofition gegen
die auf Grundbefig bafirte Macht des Adels und der Geiftlichkeit begann
nun der Staat durdy Aneignung von Regalien und durch Befteuerung
in das Privateigenthbum ein:ugreifen, moburd er fich für eine fernere
Zukunft die Möglichkeit anbahnte, ein durchgreifendes Syſtem der Aus⸗
gleichung in’s Leben zu führen. Das Eindringen des römifchen Rechte
that dem Individualismus und dem individuellen Eigenthum, gegenüber
dem ftändifhen und corporativen Befisthum, meiteren Vorſchub. Aber
auch die Reformation und jene einflußreichen Erfindungen und Entbes
ungen , welche auf ben Trümmern des Mittelalters eine neue Welt
theils fchufen, theils fanden, wirkten in der gleichen Richtung. Die
endliche Folge von dem Allen war die reformatorifche und revolutionäre
Umgeftaltung der feitherigen Verhältniffe des Beſitzthums: Vermiſchung
der Stände, Aufhebung ber Leibeigenfchaft, Befreiung des Grundeigens
thums, Auflöfung des Zunftverbands — kurz bie Herrſchaft der unge⸗
bundenen flatt der ftändifch und corporativ gebundenen Goncurrenz. Auf
der Grundlage der Statiftit erhob fih nun bie neue Wiflenfchaft der
politifhen Oekonomie, bie in ihrer weiteren Ausbildung die Arbeit
als Quelle des Eigenthums !erfannte. Darauf gründete endlich die
neuefle Sociallehre bie Forderung, baß Jeder wie Alle mit ben zureichen=
den Mitteln auszuftatten fet, um aus diefer Quelle fehöpfen zu koͤnnen.
Sortfegung: Aeltere communtiftifhe Lehren. Vor—⸗
hriftliher ascetifher Communismus. Der NRüdblid auf bie
Gefchichte der Entftehung des Eigenthums und feiner Ummwandlungen
beftätigt e8 deutlich genug, mie bald das communiftifche, bald das gleichs
heitliche Element und bald das des Individualismus vorherrfchend
war, ohne daß je das eine durch das andere völlig verdrängt werben
Tonnte. Bedrohte nun das wachſende Uebergewicht des Individualismus
die früher in größerem Maße auf gemeinfchaftlihen ober gleichen Befig
gegründete Gefellfchaft, fo ftellten fih ihm communiftifhe Doctrinen
oder Gtleichheitslchren entgegen. Vom weſentlich politifhen Standpunfte
aus gefchah dies ſchon in Griechenland, unter Anderen duch Phalens,
Hippodamos uud hefonders durch Platon. Der Erftere wollte durch
gleiche Erziehung und durch Maßregeln bei der Verheirathbung, wonach
der Meiche Mitgift geben, aber keine annehmen follte, die möglichfte
Gleichheit des Grunbbefiges erhalten haben. Hippodamos theilte feis
nen Staat von 10,000 Bürgern in brei gleiche Claſſen der Handmerker,
N Communismus. 45
Aderbauer und Krieger, und das Land in ähnlicher Weife mie Altgries
chenland. An neuere focialiftifche Doctrinen erinnert fein Lehrzmang und
feine Beſtimmung, daß der Erfinder einer gemeinnügigen Neuerung nur
mit der idealen Münze der Ehre zu belohnen fei. Die Republik Pla=
ton’s beſtand nady feiner Dreigliederung der Menfchennatur in Wiſ⸗
fenden, darum Sefeggebern und Herrfchenden; in Kriegern, und in Ges
‚meinen oder Aderbauern und Handwerkern. Aehnlich mie im neueren
St. Simonismus, follte der Staat den Stand und für jede Perfon
den Kreis ihrer Thaͤtigkeit beflimmen. : Damit war bie Perfönlichkeit
des Eigenthums aufgehoben: die Aderbauer bearbeiten den Allen gemein⸗
ſchaftlichen Boden, die Fruͤchte werden unter Alle vertheilt. Auch die
Frauen find gemeinfhaftlih und werden noch gleich den Sklaven als
Sache behandelt. In feinem Werk über die Gefege verlangt er jedoch
für Jeden fo viel Befig, daß er eim fittlidhes Leben führen könne, und
geftattet eine Vermehrung des beweglichen Vermögens bis auf's Künfs
fahe. Damit nähert er fid) den Anfichten bes Ariftoteles, der den
mittelmaͤßigen Beſiztz eines Jeden für das Beſte erklärte; der die Pers
föntichkeit des Eigentums und darum auch feine Unterfchiede nicht auf-
gehoben haben wollte, aber doch eine gemeinfchaftliche Benugung wie in
Sparta noch für zweckmaͤßig hielt.
Durch Sahrtaufende hindurch, im Zufammenhang mit einer eigens
thümlichen rel igioͤſen Weltanfhauung, zieht ſich eine meitere Reihe
von communiflifchen Lehren, von Gründung feparatiftifher Communis
flenvsreine und von gewaltfamen Verſuchen zur communiftifden Umge⸗
ftaltung der Geſellſchaft. Die Selbftunterfcheidung des Menſchen in
Geift und Sinnlichkeit ſchlaͤgt immer wieder in einen feindfeligen Gegens
fag, barum in einfeitige Vorherrfchaft des einen oder andern Elemente
aus, fo Lange noch nicht die fort und fort verföhnende und ausgkeichende
Ueberzeugung vom Dafein einer felbfibewußten Einheit alles Ge
worbenen, von einem ewigen Gott, welcher Schöpfer und Träger der
geſammten Welt des Geiftes und der Materie ift, da8 ganze Menfchen-
leben zichtend und leitend durchdrungen hat. Ueber biefen feindfeligen Dua⸗
lismus, ber bald den Geiſt der Sinnlichkeit, bald diefe dem Geifte zum
Dpfer brachte, kam die heidniſche Weltanfhauung nie vollftändig hin-
aus; nicht einmal in ber jüdifchen und hellenifchen Vorſtellungsweiſe
mit ihren materiellen Sühn: und Dankopfen. Da man bas aus
ber Entzweiung bes Geiftes mit fich felbft entfprungene Böfe noch night
vom finnlichen Uebel unterſchied, machte man bie Materie zum Gig
und Quell des Boͤſen und verfinnlichte fich den irrig aufgefaßten Gegen⸗
fa des Guten und Böfen in der Vorftellung des Kampfes zwifchen
Goͤttern des Lichts und der Finfterniß, zwiſchen Ormudz und Ahriman,
ober unter fonftigen Namen und Bildern. Kamen nun die fchlimmen
Folgen der einfeitig vorherrfchenden Sinnlichkeit augenfälliger zu Tage,
fo traten Einzelne mit der Verachtung ober dem Haſſe gegen alle Ma⸗
terie entgegen. Diefe Oppofition offenbarte ſich dann entweder in ber
quistiftifchen Verzichtleiftung auf materiellen Befig, oder in ber ſtreno⸗⸗
465 Ä Gomnmmismus.
ven Ascefe einer Abtödtung des Fleiſches und einer bdirecten Beſitzes⸗
feindfchaftl. Da aber gleichwohl das Leben mit unauflöslihen Banden
an die Materie gebunden bleibt; da zugleich die in der Oppoſition ges
gen den Beſitz Befindlichen gerade in der Gemeinfchaftlichkeit diefer Rich«
tung firh zufammenfinden mußten: fo entflanden bald au Gemein
fhaften, deren Mitglieder, mit Verwerfung des Privatbeſitzes
und Privateigenthums, eine mehr oder minder ftrenge Enthalte
famkeit und bie Befchräntung des Genuffes auf ein Pärglihes Maß
zur gegenfeitigen Pflicht fi) machten. Damit ging das quietiftifche und
. ascetifche Bettlerthum in die ſociale Oppofition des ascetifchen Commu⸗
nismus über 29).
Aus Aften miffen wir aus ältefter und neuefter Zeit von den oft
feltfamen Kaftelungen indifcher Gpmnofophiften. Der Buddhaismus
wird zwar mit Recht als der aͤlteſte orientalifche Proteftantismus bezeich⸗
net. Er war e8 aber nit in dem Maße, um jenen Dualismus zu bes
feitigen, und feine Sittenlehre rechnete vielmehr den Gläubigen die Los⸗
reißung vom Materiellen und bie Unterbrüdung der Sinnlichkeit zum
befondern BVerdienfte an. Daher noch jest in Mittel« und Dftafien die
vielen auf Almofen angewiefenen budbhaiftifchen Klöfter mit Kafteiungen,
Coͤlibat und Entfagung von irdifhen Gütern. Solche orientalifhe Ans
fihten waren ohne Zweifel von Einfluß auf die Verfaffung des auf Guͤ⸗
tergemeinfchaft gegründeten puthagoräifhen Bundes und auf feine zum
Theil ascetiſchen Lebensregeln. Bei dem Zerfall der römifch»griechifchen
Melt erſchloß ſich der Occident wieder mehr als früher dem orientalie
fhen Geiſte. Der Neuplatonismus trieb zwar Feine ascetifchen Gemein⸗
[haften hervor, aber doch rang Plotin felbft nad) dem Verbienft der
Enthaltfamteit. Und diefe neuplatonifchen Lehren griffen bald auch in
die Bildungsgeſchichte des Chriftenthums ein.
Schon teit früher hatten die orientalifch=aecetifchen Anfichten bei
den Auden Eingang gefunden und bei ihnen entftanden aud) gegen Ende
der alten Gefchichte ascetifche Genoſſenſchaften. In der Secte der The⸗
rapeuten am aͤgyptiſchen See Möris lebte zwar jeder Einzelne in feiner
Zelle; aber am Sabbath hatten fie doch gemeinfchaftliche Pärgliche Lies
besmahle und für Alle galt das Gebot der Ehelofigkeit, des ſtrengen
Faſtens und ber dürftigen Nahrung. Ein jüngerer Zweig diefer Secte
waren die Effener in Paldflina, die gruppenmweife an der Weſtſeite des
todten Meeres oder auch einzeln in den Städten lebten. Da Mofes
den Aderbau in dem zu gleichen Loofen an alle jüdifchen Familien ges
theilten Lande zur geehrten Beſchaͤftigung gemacht hatte, fchloffen fich
auch die Effener von Aderbau, Viehzucht und friedlihem Gewerbe nicht
aus. In ihrem hierarchiſch fireng und vielfach abgefluften Orden galt
20) Siehe den fehr beachtenswerthen und inhaltreihen Auffag: „Der Kom:
munismus und bie ascetifhe Socialreform im Laufe der hriftiichen Jahrhunderte.
Bon Dr. C. B. Hundeshagen,” in Ulimann’& und Umbreit’s „theo-
logifchen Studien und Krititen. Jahrg. 1845, Oft: 3 und 4.
Communismus. 47
jebody‘ gleichfalls das Dogma, daß das Fleiſch das Gefängniß des Gei⸗
fies, der Quell des Böfen ſei. Darum mußte jeder Eintretende fein
Bermögen der Gemeinfchaft übergeben; das täglih Erworbene mußte
noch am Abend in die gemeinfame Drdenscaffe abgeliefert werben, wel⸗
he die Mittel zur Beftreitung ber Bedürfniffe im Ganzen und Einzels
nen hergab. Auch ließ man nur die vor dem Eintritt in ben Orden
abgefchloffene Ehe gelten, die von da an enthaltfam fein mußte.
Fortſetzung: Der ascetifhe Communismus im Ges
biet des Chriftenthums bis zur Reformation. Die Bluͤthe⸗
zeit des Effenerthums und die Ausbildung bes neuplatonifcdyen Pytha⸗
gordismuß fiel mit der erften Entfaltung des Chriftenthums zufammen.
Man hat fich fchon früh Mühe gegeben , dieſes aus dem Effenismus
berzuleiten und als eine Werallgemeinerung des letzteren aufzufaffen. In
neuefter Zeit gefchah bies auch von Seiten einiger Gommuniften 21).
Allein das allen Völkern geprebigte Chriftenthum mit feiner Idee der
bruͤderlichen Gleichheit, mit feiner Oppofition gegen die den freien Ges
nuß und die freie Benugung der materiellen Welt noch vielfach befchrän-
ende moſaiſche Religion, war feinem Weſen nad) ganz verfchieden vom
Effenismus, der in vielfacher Beziehung nur ein auf die Spige getriebes
ner Mofatsmus gewefen if. Es hatte nichts zu thun mit ber geheis
men Weisheit der Effener, die von den Novizen an bie zu ‘ben Epop⸗
tm in verfchiedenen Graden offenbart wurde, und nichts mit ihren as⸗
cetiſchen Lebensregein und ihrer Bleinlichen dußern Moral, nad dem
chriſtlichen Grundfage, daß dem Heinen Alles rein, dem Unteinen Als
les unrein if. Mit dem Princip eines Gottes der Liebe, der Schöpfer
des Menfchengeiftes und der ſinnlichen Welt des Menfchen iſt, bleibt
die Forderung, daß die Sinnlichkeit dem Geifte zum Opfer gebracht
werde, fhlechthin unvereinbar. Damit ift alfo auch der ascetifhe und
überhaupt jeder allgemeine und zwingende Communismus unverträglich,
weil diefer für Wiele doch toleder zum ascetifchen werden muß und weil
fi) die freie Liebe nicht blos im Binden und Verbinden, fondern aud)
im Löfen ımd Befreien bethätigt. Die Worte: „Es ift ein Geift, aber
der Gaben find mancherlei“ weifen deutlich genug darauf hin, daß nad)
dem Sinne ter chriftlihen Lehre die Individualitaͤt keiner abftraeten
Einheit oder Gleichheit geopfert werden fol. Es waren alfo nur fehr
unvollftändige hiftorifche Andeutungen oder beliebig generalifirte Stellen
von ganz conereter Bebeutung??), wodurch man bas Chriftenthum zu
er &o hat fih z. B. Weitling aus Chriftus kurzweg einen Effener
gema
22) Dahin gehört zumal bie berühmte Stelle der Apoftelgefh. 2, 42. und
44 — 46. über die Urgemeinde von Jeruſalem, bie feit Shrofoftomus, alfo
erft von ber zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts an, von der einer ascetifchen
Lebensanſchauung verfallenen Partei im eigentlich communiftifchen Sinn gedeu⸗
tet wurde: „Sie blieben aber beftändig in der Apoftel Echre, und in der Ges
meinfchaft, und im Brodbrechen, und im Gebet”... „Alle aber, bie
gläubig waren geworben, waren bei einanber, unb hielten alle Din
\
48 | Communismus
einer communiſtiſchen Doctrin umſchaffen wollte; waͤhrend an hundert
andern Stellen das perſoͤnliche Eigenthum, die Begriffe von Tauſch,
Kauf, Lohn u. ſ. w. entſchieden anerkannt ſind. Wahr iſt jedoch, daß
das Chriſtenthum mit dem Grundſatz der Liebe ein ausgleichendes ſocia⸗
liſtiſches Princip aufgeſtellt hat, das zur fortſchreitenden Bewaͤltigung
des Gegenſatzes von Arm und Reich auffordert und daß die Geſetzgebung
unferer nur fogenannten chriftlihen Staaten noch lange nicht durchdrun⸗
gen bat. Auch in dem von Proudhon befonders hervorgehobenen
GSteichniffe vom Himmelreihe und Familienvater (Ev. Matih. 20), der
jedem feiner Arbeiter fuͤr längere wie für kürzere Arbeit einen Grofchen
ale Zagelohn giebt, liegt nur die Anerkennung eines gleichen Rechts, ſich
durch Arbeit das gleich Nothwendige zu verſchaffen. Dies ift aber von
geswungener Gütergemeinfchaft oder Gleichmacherei nicht blos verfchieden,
fondern fleht damit geradezu im MWiderfpruch.
Ein Theil der Belenner des Chriſtenthums fuchte indeß die Lehren
des Effenismus mit den chriftlichen in Einklang zu bringen und kam
hierdurch in bie Stellung einer reactionairen Oppoſition innerhalb des
Gebietes der neuen Keligion. Nach dem noch im Dualismus befanges
genen Manichäismus follte der Menſch, als Verehrer des guten Bots
tes, kein Eigenthum haben bürfen. Nur der Genuß von Wegetabilien
wurde geftattet und dadurch die nothwendige Vermiſchung mit der ſchleſch⸗
ten Materie wenigſtens auf ein gewiſſes Maß befchränkt. In weiterer
Entwidelung enıfland daraus eine erneuerte efjenifche Ordensverfaſſung,
worin bie electi ohne Ehe, Geld und But, ohne Entweihung ihrer
Hände durch irgend ein meltliches Gefchäft leben follten. Ebenfo lehnte
fi) dee Gnofticismus in feiner muthmaßlid, aͤlteſten Form an den Eſſe⸗
nismus an. Die erneuerte Verbreitung ber Anfihten über Verdienſt⸗
lichkeit der Faſten, bes jungfräulichen Lebens, der Selbflentmannung
führte zunaͤchſt wieder zu einem einfiedlerifchen Leben männlicher und
weiblicher Anachoreten; zumal in der thebaifhen Wüfte, doch auch in
andern Gegenden von Nordafrika. Unter Umftänden ſchlug die Gleich⸗
gültigkeit oder die Verachtung gegen den materiellen Beſitz in thätigen
Haß gegen bie Befigenden aus. So mifchten ſich die in Nordafrika ale
ascetifche Bettler herumfchweifenden Circumcelliones in den Streit ber
gemein, Shre Güter und Habe verkauften fie, und theilten fie aus unter alle,
nah dem Jedermann noth war.” Hier ift deutlich genug nur von ber
freien Gewohnheit einer gegenfeitigen Unterftügung die Rede, nicht aber von
einem communiftifhen Gemeindegefes. Ebenſo unleugbar ift jedoch, daß ber
chriftliche Staat, der fich nicht felbft zur Lüge machen will, das allgemeine fitt:
lich religidſe Gebot der Liebe auch in feiner Gefengebung objectiv zu machen,
daß er alfo auch von feiner Seite für eine Austbeilung der Güter zu forgen
bat, „nah dem Jedermann noth ift.” Die firengere ascetifche Auslegung,
wornach jeder irdifche Beſitz mit der chrifttichen Heiligkeit unverträglich fein fol,
ftägte fich noch beſonders auf die Aufforderung von Ehriftus an ben reichen Juͤng⸗
ling (@uc. 18, 22.), feine Babe zu verkaufen und fein Gut unter die Armen
auszutbeilen.. In bdiefer Stelle von ganz individueller Beziehung Tonnte und
follte jedoch Erin ascetiſches Princip ausgeiprochen werben.
\
Gommunismud. “
Donatiften Aber Trennung von Kirche und Staat. Sie fammeltn fich
unter eigenen Anführern zu einer für das göttliche Mecht kaͤmpfenden
beiligem Schaar, welche die Unterdruͤckten befchügte, fich der Sklaven ger
gen bie Herren, ber Schuldner gegen die Gläubiger annahm unb bie
Güter der ihren Geboten nicht gehorchenden Eigenthuͤmer verwuͤſtete.
"Der Kampf bauerte vom 3. 311 bie weit in die zweite Hälfte des 4.
Jahrhunderts.
Bel den Anachoreten mußte wieder der Trieb ber Gemeinſchaft er»
wachen. Gegen Mitte des 4. Jahrhunderts fammelte fie Pachomius in
größeren zufammenhängenden Gebäuden, unterwarf fie beflimmten Mes
geln und Vorgeſetzten, gnliederte fie nach Claffen und bildete fomit das
Anachoretenleben zum Möndıthume um. An der erften Hälfte bes 5.
Jahrhunderts zählte der Mönchsverein auf der Nilinfel Zabennd nicht
weniger als 50,000 Mitglieder. Neben den religisfen Kunctionen wurs
den die Mönche auf Iandwirthfchaftliche und induftrielle Arbeit angetoies
fen und gegen Ende bes 4. Jahrhunderts hatte jedes Klofter fein eiges
nes von Mönchen erbautes Schiff. So erhielt das ascetifche Leben eine
feſtere Drganifation, und die Gewoͤhnung an flreng geordnete gemein-
ſchaftliche Thaͤtigkeit wirkte auch nad) außen anregend und fördernb.
Eine aͤhnliche Drganifation ber Arbeit in geiftliden Communiften-
vereinen wurde im Abendland buch Augufin, Hieronymus, 3.
Caffianus, befonders Benedict von Nurfia zu Stanbe gebracht.
Indem aber bie Macht ber Affociation mit den Genußmitteln auch bie
Genußſucht fleigerte,, begann der Verfall des Klofterlebens. Als Refor-
matoren gegen bie Zuchtlofigkeit der Moͤnche traten ſchon zu Anfang
des 9. Jahrhunderts Benedict von Aniane und Anbere auf. Im
11. Jahrhundert begann fogar die ascetifche Fdee von Neuem ihre Ber
wegung im Gegenfag zur entarteten Welt und verweltlichten Kirche.
Eine größere‘ Menge lebte wieber als Anochoreten, bie ſich dann zu neuen
Drden fommelten und geftalteten. Zugleich ahmte man die mönchifchen
Vereine im canoniſchen Verbande von Weltgeiftlihen nad fowie in ben
geiftlichen Ritterorben. Es entitanden communiftifche Eorporationen aller
Art, die über unermeßliche geiftliche und materielle Mittel geboten;
beven Macht aber auch immer mehr zur drüdenden Feudaltyrannei über
das arme Volt wurde. Darum erhob ſich eine ſtets mächtiger anſchwel⸗
Inde Dppofition, welche theils politifch war, theils im Schooße ber
Kirche felbft ihren Urfprung hatte.
Je mehr die Kicche die eigene Ehrfucht und Habſucht nährte, um
fo mehr trat ihre frühere Sorge für die Armen, ihre focialiftifche Func⸗
tion einer Ausgleihung dee Ungleichheiten des Beſitzes in ben Hinter:
grund. Sie wurde gleichzeitig die turannifche Beherrfcherin ber weltli-
chen Gewalthaber wie der Maſſe des gehorchenden Volks. Hiernach
sing auch die Proteftation gegen die Uebermacht bes Klerus theild von
ben weltlichen Zeudalberren aus, wie in Suͤdfrankreich, mo fie durch
den Albigenferkrieg erſtickt wurde, theild vom Volle, vom 10. bie 13.
Jahrhundert, in zahlreichen Aufftänden wegen ber kirchlichen Zehn:
Suppl. 3. Staatslex. U. 4
50 Communismus
ten und Frohnden, bis zum Stedingerkrieg (ſeit 1234) und dem zu
einem Kreuzzug gegen die Kirche gewordnen Kreuzzuge in der Picarbie
(1251), theil® von den Kürften, wie zumal im großen Kampf der
Hohenftaufen gegen die Päpfte und in dem Philipp’s des Schönen.
As dann zunaͤchſt von Frankreich aus die Uebermacht der Päpfte ges
brochen war und die weltlichen Gewalthaber ſich mehr! und mehr von der
Kirche emancipirten,, wurde vom Volt der Drud der weltlihen Feu⸗
dalherren fchärfer empfunden. Ein Zeugniß deſſen find die Bauernauf-
flände im 14. bis zu Anfang des 16. Sahrhunderts, die Jacquerie in
Frankreich, die Empdrung Wat Tyler’& in England, der Käfebrödter
in ben Niederlanden, des G. Dofa in Ungarn. Nur in Suͤddeutſch⸗
land kamen noch häufige Bewegungen gegen Biſchoͤfe und Aebte vor.
Sonft aber machten bei diefen Aufftänden gegen die weltlichen Herren
"die Mönche nicht felten die Lobredner und zumeilen die Anführer.
In der Mitte bes Latholifchen Klerus traten feit dem 11. Jahr⸗
hunderte Reformatoren bes Moͤnchsweſens auf, wie zumal der berühmte
Bernhard von Clairvaur. Xrog ſolchen theilmeifen Beſſerungen, bie
nur den Verfall anerkannten, ohne ihn hindern zu koͤnnen, erhob fich
von anderer Seite ein Sturm, der nicht blos die Kirche, ſondern das
ganze ſociale Leben erfchütterte. Alle Verfolgungen hatten in’ ber orien⸗
talifchen Kirche die gnoftifch = manichäifchen Secten nicht auszurotten ders
mocht. Die zahleeiheren Verbindungen mit dem Drient durch bie Kreuze
züge gaben auch im Abendlande den kathariſchen Secten eine ausge:
dehnte Verzweigung. Sie kamen faft ducchweg darin überein, daß fie
eine Reformation der Kirche vom Laienflande aus forderten und daß
fie ſtreng ascetiſchen Grundfägen huldigten, wonach fie die Ehe vers
toarfen und alle animalifhe Nahrung verboten haben wollten. Als nun
dee calabrefifhe Abt Joach im von Flora den Plan zu einer in apoflos
liſcher Einfachheit und Armuth lebenden Verbindung religiöfer Perfonen
für reformirende Thaͤtigkeit gefaßt hatte, fteigerte fid, die Gaͤhrung im
Volt und verbreitete fih in Suͤdfrankreich, Oberitalien, Deutfchland,
England, Niederlanden und bis in den Kirchenftaat. Die Moͤnchsidee
fhien die Wurzel einer von unten auf betriebenen Socialteform zu
werden. Da ergriff die mweitfehende Politid des Papftes Snnocenz Il.
das Mittel, den gährenden Elementen wenigftens theilmeife eine kirchliche
Faſſung zu geben und fie dadurch der Disciplin und Herrſchaft der Kirche
zu unterwerfen. Dies geſchah zunaͤchſt (i. 3. 1209) durch Ausfähnung
der Kirche mit den Anhängern des Durand von Huesca, den pan-
peres catholici oder Humiliaten , die fich zu freimilliger Armuth, Keuſch⸗
heit und firengem Faſten verpflichteten, außer ihrer Kleidung Feine Art
von Eigenthum befaßen und in religiöfer Gemeinfchaft lebten. Aus aͤhn⸗
lichen Elementen bildeten fi die feit 1220 zuerft in ben Niederlanden
hervortretenden Begharden, die Wereine unverheiratheter Männer, meift
Weber und andere Handwerker, bie unter einem Meifter in gemein-
fhaftlihen Häufern lebten und fi mit Andahtsubungen, Dandarbeit
und Liebeswerken befchäftigten. ine noch größere Verbreitung hatten
Communismus. | 61
Thon feit dem 11. Jahrhunbert die gleichfalls bei bem Wolke ehr bes
liebten weiblichen Beghuinenvereine erhalten. Diefe volksthuͤmliche Partei
eeligiöfer Socialceformer ſchwoll mehr und mehr an, als ihre Kraft durch
Errichtung der beiden großen Bettelorden, zumal der Franciskaner, ger
brochen wurde. Dies war eine ausweicdhende Conceffion an den herr⸗
fhenden Volksgeiſt; denn bie aus dem Volt ftammenden Möndye Halfen
nun felbft die Oppofition gegen bie Kirche niederhalten. Zwar wurde
der alte Unabhängigkeitsgeift gegen bie Curie, aus dem die Bettelorden
hervorgegangen waren, in biefen felbft nie ganz unterbrüdt. Aber der
Gedanke einer Socialceform trat doch in den Dintergrund, da bie Ins
dividuellen ascetifchen Tendenzen wieder innerhalb der Kicche ibre
berechtigte Stellung und Befriedigung fanden. Schon bei bem Tode
des heiligen Franz von Affifi (1226) zählte fein Orden viele Laufende.
Diefee war nicht auf gemeinfhaftliches Beſitzthum, fondern auf
Armuth und Bettlererwerb gegründet ſowie auf Heiligung burch Abs
thuung der Fleifchestuft und des verführerifchen Reichthums. Später
wurde dem Orden der Nießbrauch an den ihm zufallenden Gütern ges
ſtattet. Und wie fi) fchon die Manichder in auditores und electi ges
theilt hatten, fo bildeten ſich bei den Francislanern bie einer milderen
Kegel untertoorfenen Zertiarier, denen die weltlichen Geſchaͤfte oblagem
und bie Beforgung des weltlichen Verkehrs mit der fündigen Gefells
ſchaft 22). Uebrigens war die Bewegung zu mächtig, ale daß fie durch
Errichtung der Bettelorden völlig gebämmt werden konnte. Schon um
die Mitte des 13. Jahrhunderts wurde Gerardo Segarelli in Parma
ber Gründer ber f. g. Apoftel. Die Mitglieder diefes Vereins mußten
firenge Armuth angeloben und alle Begüterten bei ihrem Eintritt allem
Beſitz entfagen. Doch hatten fie gleichfalls eine Claſſe von Tertiariern,
denen Ehe und Arbeitserwerb erlaubt waren. Bei ihnen erwachte wieder
ber kaum befchwichtigte Trieb ber ascetifchen Unabhängigkeit und bie
Forderung einer Laienreformation.. Im S. 1303 ftelte ſich der feurige
Schwaͤrmer Dolcino mit feiner Genoffin, ber ſchoͤnen Margerita
von Trank, an die Spige der Bewegung. Er fanb großen Anhang
unter den Bewohnern ber piemontefifhen Alpen. Dolcino forderte
den Uebergang vom dufßern zum innern Gehorfam, predigte Armuth,
brüderliche Gleichheit, Haß gegen Reiche und Befigende. Er wurde das
Haupt eines religidescommuniftifhen Bauernkriegs, den er mit feinen
Patarenern vier Jahre lang meift fiegreich führte, bis er endlich
wit feiner tapferen ſchwaͤrmeriſchen Schaar auf ben eifigen Höhen bes
28) Aehnlich den urfpränglichen Bereinen ber Begharden gründete Gerhard
root zu Ende des 14. Jahrhunderts die Senoffenfhaft der Brüder bes
gemeinfamen Lebens, die von der Kirche anerkannt wurde, ohne ein eigent-
licher Moͤnchsorden mit feffelnder Regel und übertriebener Ascefe zu fein. Die
Genofien lebten in Bruderhäufern und hatten Gütergemeinfchaftsz biefe jedoch nur
als Mittel zur förderlichen Verbreitung des Unterrichts im Wolke und zur Er⸗
füllung der Pflichten der Wohlthätigkeit gegen die der Genoſſenſchaft nicht Ans
4*
!
‘52 Communiſmus.
Monte Cebello dem Hunger und dem Bunde geiſtlicher und weltlicher
Herren erlag.
Trotz allen Autodafes und allen Martern, womit man die Ketzer
verfolgte, dauerte die haͤretiſch⸗ſocialiſtiſche Oppoſition im Volke fort.
Sie befreite ſich von einer laͤſtigeren Asceſe und erhielt eine mehr un⸗
mittelbare Beziehung auf Staat und Geſellſchaft, als ſeit Anfang des
13. Jahrhunderts durch den Einfluß der ariſtoteliſch⸗averroiſtiſchen Natur⸗
philofophie zumal in Paris pantheiſtiſche Anfichten auftauchten und
auch im Volt Eingang fanden. Davon wurden namentlich die Beghars
ben ergriffen und es entftand bie Secte dee Brüder und Schwe⸗
fern des freien Geiftes. Sie lehrten, daß die Natur an ſich
nichts iſt; daß Gott vorzugsweiſe da lebe, wo Geift fet, alfo im Men»
ſchen; daß hiernach göttlihe und menfchliche Natur in Eins zufammen-
fallen. Der gute und gerechte Menſch wirkte das Nämliche was Gott
wirke; er babe mit Gott Himmel und Erde geſchaffen, Gott könne
ohne ihn nichts thun. Es komme Alles auf die gotteinige Geſinnung
an. Gott wolle, wenn ſich dee Menſch zu einer Handlung dispo⸗
niet fühle, und habe Gott gewollt, dag der Menſch fündige, fo
dürfe diefer nicht wuͤnſchen, die Sünde nicht begangen zu haben. Die
Sünde feh überhaupt nur die Befonderung. Alſo müffe ber reine
Urzuſtand vor dem Falle, dba noch die Menfchheit das Bewußtſein ihrer
Einheit mit Gott gehabt, wieder hergeftellt werden, und zwar durch
Aufhebung der durch das Geſetz in der urfpränglich gleichen Menfch«
beit entflandenen Unterfchiede. Die Brüder und Schweſtern bes freien
Geiftes zogen wandernd umher, Behrten bei Gleichgeſinnten ein, machten
fi) bequeme Zage und betrachteten die Verbreitung ihrer Lehre als wich»
tigſtes ober ausfchließendes Geſchaͤft. Staat, Kirche, Gefellfchaft mit
allen Ständen und Gliederungen wurden negirt. Man mollte nichts
mehr mwiffen von Obrigkeit, bürgerlicher Ordnung, Privatbefis, Familie
und Ehe, welches Iegtere zugleich als Grund und ale Folge der Abfon-
derung oder Sünde betrachtet wurde. In ihrer Spige lief alfo diefe
Lehre auf Gemeinſchaft der Güter und Weiber hinaus. Selbſt verhüls
lende Kleider galten als Abweichung von Natur und Unfhul. Darum
hielten die Sectirer verborgene Zufammenkünfte, oft in unterirbifchen
Behaufungen, Paradiefe genannt, wo in „heiligen Nächten” nackte
Prediger vor Männern und Frauen über die durch das Geſetz ber Ehe
widernatürlich verdrängte freie Gefchlechtsvereinigung prebigten. Unter
verfchiedenen Namen verbreitete ſich die Secte vom 13. Jahrhundert an
in Frankreich, Italien und Deutfchland.
Aeltere und neu entflehende ascetifche Secten wurden von ber pan=
theiftifchen Lehre bes freien Geiftes befonders da ergriffen, wo ohnehin
der Volksgeiſt mit der Hierarchie zerfallen war. So kam auch biefe
Art Kreigeifterei im Huffitenkrieg zum Vorfchein, obgleich diefer in feiner
Hauptrichtung einen ganz anderen Charakter hatte. Im Kampf mit
dem entarteten Merus und Moͤnchsweſen uͤberwog bei den Huffiten zu⸗
naͤchſt ein ariſtokratiſches, dann aber, mit Nikolaus von Duffinecz
=
, GCommmiſmus 52
und beſonders mit Ziska, ein theoktatiſch⸗demokratiſches Element. Die
Tabotiten und Horebiten, welchen der Kelch das Symbol der Einigkeit
und Gleichheit in einer ſchoͤnen Zukunft war, gingen allerbings auf Zer⸗
flörung der bisherigen Staates und Kirchenordnung aus, aber doch nur,
indem fie den fchon als fertig vorgefundenen Staat der Ifraeliten aus
der Richterperiodbe zum Muſter nahmen. Daher entbrannte der tabori⸗
tifche Bauernfrieg wider die Ariftokratie der Barone und Städte, ohne
daß es auf eine totale Soctalummälzung abgefehen mar. Dies war
nur der Fall, fo weit ſich Ascetifches einmifchtes befonders aber feit 1421
durch den Einfluß der Brüder und Schweftern des freien Geiſtes. Es
bilbete fich nämlich eine Secte der Abamiten, die nadt gehen mußten.
Ihe Stifter ließ fi Sohn Gottes und Adam nennen. Sie hatten
Gemeinſchaft ber Weiber, dody mar zur jedesmaligen Beiwohnung bie
Erlaubnis Adam’s erforderlih. In ihren Augen waren Alle Unfreig, .
welche Kleider und befonders Hofen trugen. Darum morbeten fie bie
bekleideten Huffitiichen Landleute als Kinder bes Teufels und begingen
Ausfhweifungen aller Art, bis fie durch Ziska vertilge wurden umd
unter Gefang und Jubel den Feuertod erdulbeten.
Neben ber ascetifchen Oppofition, welche endlich, von pantheiſtiſchen
Elementen ducchbrungen,, in einen graffen Communismus ber wiberlichs
ſten Art ausgelaufen war, hatte fich inzwiſchen eine evangelifche Oppo⸗
fitton gebildet, die als Vorläuferin ber Reformation auf das unverfaͤlſchte
Chriſtenthum zurädzuführen trachtete. Wie aber jede religiöfe Welt⸗
anſchauung, die ſich in Widerfprud mit dem Beſtehenden fest, enblich
ein menes fochaliftifches Elsment in fi entwideln muß, fo geſchah «6
im germanifchen Mittelalter. Zunaͤchſt auf der Grundlage eines abſtrac⸗
ten Scheiftglaubens begann mit Anfang bes 12. Jahrhunderts ein
Kampf gegen die Kieche, aus dem die pauperes de Lugduno, Leoni-
stag etc. und feit 1170 die MWaldenfer hervorgingen. Das Ziel war:
chriſtliche Bruderliebe, Gemeinfchaft, Maßregeln gegen Sittenverberbniß und
Selbſtſucht. Die Natur follte wieder in ihre Rechte eingefegt werben, was
jedoch die erften Führer mit Zmangsmitteln ducchzufegen fuchten. Dan
erhob ſich gegen die Erſchwerung der Ehen, bei benen eine Mitgtft
mehr gegeben werden follte, damit fie nicht aus Eigennutz gefchloffen
würden. Daher verheirachete Heinrich von Lauſanne Leibeigene nıit
Freien unb kleidete fie aus dem vom Molke in feine Hände gelegten
- Selbe. Aus diefem noch wirren Zuftande erhob fidy die gelduterte Lehre
der Waldenſer, die mahrfcheinlich von früh an keine eigentliche Güter
gemeinfchaft einführte, fondern nue zu gegenfeitiger Unterflügung ver
pflichtete; fo tie fie auch den katholiſchen Prieflern ben Coͤllbat zum
Borwurf machte.
Sortfesung: Communismus zur Zeit der Reformation.
Bei der ſichtlichen Ausartung der Kirche drang der Geiſt der Oppoſition
bis in die höheren Claſſen und in die Geiſtlichkeit ſelbſt ein. Allein die
tümmerlichen Reformen, welche die Eirhenverfaffungsmäßige Oppo⸗
fition auf den Soncilien von Pifa, Coftnis und Bafel verfuchte, konnte
54 j Gommunismus.
den Beuch nicht verhindern. Die Lehre Luther's von ber Rechtferti⸗
gung durch den Glauben, im Gegenfag zu der dußerlichen Werkheiligs
Leit der roͤmiſch⸗katholiſchen Kirche und zu ber ascetifchen Selbſtverherr⸗
lichung, war der noch unvolllommene, theologiſch verhüflte und darum
vielfacher Mißdeutung fähige Ausdrud für die Wahrheit, daß fich der
Geiſt nur in fich ſelbſt von der Sünde befreien könne, nicht aber
durch ben Kampf mit der außer ihm gefepten Materie. Um ſolchen
Mißdeutungen möglihft vorzubeugen, wurde fpätes ausgefprochen, daß
zwar bie Medhtfertigung durdy den Glauben allein erfolge, aber nicht
ohne des Geſetzes Werke, die wie gute Srüchte vom guten Baum aus
dem lebendigen Glauben hervorgehen.
Die Idee ber Reformatoren von ber „chriſtlichen Freiheit,“ gegen⸗
über dem traditionellen Glaubenszwang ber roͤmiſch⸗katholiſchen Kirche,
blieb ‚nicht ohne Einfluß auf den Ausbruch des Bauernkriegs. Seinem
WBelen nach war er jedoch politifcher und focialiftifcher Natur. Auch
twaren fchon vor der Reformation, feit Mitte des 15. Jahrhunderts, die
Bauernaufftände zumal in ben Heinen reichsunmittelbaren Gebieten von
Suͤddeutſchland häufiger geworden. Mit den berühmten zwölf Artikeln
ber Bauern war es auf Befeitisung des ſcheußlichſten Feudaldrucks, doch
keineswegs auf eine Ummälzung ber Gefellfchaft in ihren Grundlagen
abgeſehen. Wohl aber erhob man fi in Schwaben und Kranken bis
zu großartigen Planen einer Reichsreform, wovon Damals alle Bemüther
erfüllt waren. Die religidfen Motive follten übrigens die gerechte
Sache der Bauern unterftügen. Sie follten zeigen, baß ihre Korberung
oͤkonomiſcher und politifcheer Reformen auch mit der evangelifchen Lehre
in Einklang fiche. Gerade dadurch wurde biefer deutfche Bauernkrieg
ein weltgeſchichtliches Moment von hichfter Bedeutung. Er war vom
gefunden Sinne des Volles aus die prophetifhe Verkündigung
des neuen Staats und der neuen Gefellfhaft, im Geift der wahren .
Freiheit und des Achten Chriftentbums. Darum hatte bereits die Ge⸗
fhichte ſelbſt wenigſtens die theilmeife Rechtfertigung diefer deutfchen
Mebellen übernommen, die unter dem Schwert und bem SHenterbeile
geiftlicher und weltlicher Bedränger ihr Blut vergoffen. Sind body
endlich jene Feſſeln, in die noch der Grundbeſitz gefchlagen war und bie
fchon jene gerchtien Bauern zu zerreißen hofften, in allen Ländern des
meftlihen Europa entweder geldft ober durch eine neue Revolution ges
fprengt worden. Und iſt doch auc die Idee einer polltifchen Reform
des deutfchen MWölkervereins an Haupt und Gliedern toieber in Kopf
und Herz aller Claſſen der Nation gedrungen. Aber freilich für jenen
„Heiftlihen Staat," wie ihn die deutfchen Bauern im Namen ber
„chtiſtlichen Sreiheit” verlangten, ift auch jest noch das Wenigfte ge:
than. Denn was wollten die Bauern, als fie die Befeitigung drüden:
der Zehnten und Frohnden verlangten? Sie wollten den fauern Schweiß
ihrer Arbeit nicht fort und fort für Andere, fie mollten ihn nicht
für die mäßigen Reichen vergiefen. Der Kern ihres Gedankens
war alfo bie Forderung des Rechts auf den freien Genuß der Früchte
Communismus. 8
ihrer Arbeit, im Verhältniffe zw bdiefer Arbeit. Denn darauf
kommt es wenig an, baß fie biefe ſocialiſtiſche Forderung noch nicht
in eine allgemeine Formel einzukleiden mußten; baß fie biefelbe nur für
Das ausfprachen, was ihnen zunaͤchſt Ing, was fie al6 unmittelbar brüs
dend fühlten und erfannten. Aber gerade biefes Recht ift noch umter
der Anarchie der ungebundenen Concurrenz und bei ber jegigen Tyraanel
ber Reichen über die Armen ebenfo wenig verwirklicht als unter ber
früheren Herrſchaft des Feudalzwanges.
Es if bekannt, wie Luther zwar den geiftlichen und weltlichen
Tyrannen, durch deren unbarmherzige Härte der Bauernkrieg erzeugt
wurde, berbe Wahrheiten fagte und ihnen verkündete: „Thun's biefe
Bauern nicht, fo muͤſſen's andere thun;“ wie er aber auch unmittele
bar nad einem entftellenden Bericht über den Exceß in Weinsberg
ein einfeitiges Verdammungsurtheil ausfprach und sum Vernichtungskrieg
„wider die räuberifhen und moͤrderiſchen Bauern“ auffordert. Er
meinte, daß dem „Seelenheil“ des fogenannten „gemeinen Manns,” ber
fonft allzu üppig werde, eine ſchwere Laft von Arbeit und Entbehrung
dienlich ſei. Er buldigte alfo einem Vorurtheile, das fi im Hinblick
auf unfern neueren demoralifitten Fabrikpoͤbel von felbft widerlegt, bins
ter dem ſich aber auch jegt noch die Selbſtſucht ber Reihen und Vorneh⸗
men zu verſtecken fucht. Weberdied war bei ihm bir politifhe Ruͤckſicht
entfcheibend, daß ohne Unterflügung ber durch den Bauernaufſtand be⸗
drohten Fürften und Adeligen das Werk der Reformation ſcheitern muͤſſe.
Dazu kamen einzelne Ausbruͤche eines ſchwaͤrmeriſchen Wahnfinns, die
zwar befonbere und ganz andere Wurzeln hatten als ber eigentliche
Bauernkrieg, bie man aber biefem felbft unterfhob, ohne fie noch bei dem
Drange ber Begebenheiten in ihrer Beſonderkeit zu erfafien und zu be
greifen, Dean hat alfo nicht Urfache, mie dies in neuerer Zrit gebraͤuch⸗
lich geworden, das Verbammungsurtbeil eines Luther gegen den Bauern⸗
krieg mit einem ebenfo einfeitigen Verbammungsurtheil gegen Luther
zu erwiden. Kein Einzelner, wie body er feine Zeit uͤberrage, vermag
ſich den herrſchenden Vorurtbeilen biefer Zeit ganz zu entziehen, und je
folgenreicher das neue Princip ift, das er verfündet, um fo weniger vers
mog er felbft den ganzen Umfang biefer Folgen zu ermefien. Seit ans
derthalb Jahrtauſenden hatte die Kirche weltliche Macht und Reichthum
an ſich zu raffen gefuche, während fie die enterbten Möller mit ihren
Anmweifungen auf das himmlifche Jenſeits vertröftete. Diefe Lehre, in
dee auch der Auguſtinermoͤnch großgezogen war, ließ ihn den Leib und die
ganze reiche Simnlichkeit bes. Menfchen noch als „flintenden Madenſack“
betrachten; während er body felbft gegen Kafteiung und Faſten, gegen
den Ablaßkram und alle anderen blos dußerlihen Opfer und Werke ber
Scheinheiligkeit eiferte. Die Mafie des Volkes hatte aber, wie immer,
einen richtigeren Sinn für die Wedürfniffe der Maffe, ale es jeder Ein⸗
zelne ihrer Lehrer und Weifen haben konnte. So erkannten auch bie
deutfchen Bauern im weiteren Umfange als die Reformatoren ſelbſt, daß
die Rechtfertigung durch den Geiſt des Evangellums nicht ohne bie Werke
56 Gommmnismuß;
bes Ihm entfprechenben Geſetzes fein koͤnne. Sie forderten daher ale
das Werk eAnes folchen Geſetzes bie gerechtere Bertheilung der Arbeit, des
Ertserde and Genuſſes.
Trug der Bauernkrieg ein ſolches ſocialiſtiſches Element in feinem
Secheeße fo war dies doch keineswegs ein communiſtiſches oder abſtract
gleichheitliches. Dieſe traten vorübergehend nur da hetvor, wo fich eine
mit dem Princip ber Reformation im Widerſpruch ftehende veligiöfe Welt⸗
anftcht gebildet hatte. So war es ſchon vor ber Reformation bei bee
bin Hans Boͤheim im J. 1476 im Würzburgifchen bervorgerufenen
Bewegung, wonach kein Papft, Kaiſer, Fuͤrſt, geiflliche ober weltliche
Obrigkeit beſtrhen, jeder Zoll, Steuer und Zehnt gänzlich abgefchafft und
Jeber nIS des Anderen Bruder leben follte. Eine entfchkeden commmmis
ſtiſche Richtung hatte aber die Bewegung ber Wiedertäufer oder „Geiſt⸗
ler,” die von Anfang an auf die „Brüder und Schweflern bes freien
GSeiſtes“ hinwriſt und mie den im Stillen fortgepflanzten Lehren derſel⸗
ben im beutlichen Zuſammenhange ſteht. Aus dem pantheiftifchen Spi⸗
ritnallemus dieſee Älteren Secte erklären fich auch die Anfprüce der Wie⸗
dertäufer auf Viſionen und unmittelbare Infpiration. Ihr Grundbogma
iſt wieder bie Eatgegenſetzung von Fleiſch und Geiſt; ihe Biel bie
Daeſtellung des reinen Gelftesmenfchen. Dem @rundgebanten der Mes
formation entgegen Kilgt bee Menſch nad) der Lehre der Wiedertaͤufer
dutch den freien Mitten feines Beiftes die Sünde an feinem
Fleifche. Sie erkannten darum weber Erbſuͤnde noch Chriftus als
Suͤndentilger an und derwarfen hiernach die Kindertaufe. Dagegen war
Ihnen Ghriftus ber Lehrer des aöttlichen Lebens, der die Menfchen erlöfe,
wenn fie feinen Fußſtapfen folgen. Sie gingen alfo von einer aͤußerlichen
Sefepesftrenge aus und zumal von einem buchſtaͤblichen Fefthalten
an den Vorfchriften der Bergpredigt. Bei Vielen aber fleigerte fich dies
bis zum Wahn, daß In wahrhaft MWiedergeborenen und Heiligen fortan
dee Geiſt allein herrſche; daß er Eeines Lehrers mehr bebürfe; daß er
auch aller bürgerlichen Geſetze entbunden ſei. Dies ftellte fi zumdchft
dar in dem 1521 durch den Tuchmacher Nik. Storch geftifteten und
meift aus Handwerkern beftehenden Bund ber ſ. g. himmliſchen Pros
pbeten. Sie lehrten Guͤtergemeinſchaft, Aufhebung ber Ehe In der
beftehenden Form und Einführung der Wielweiberei, Abſchaffung aller
weltlichen und geiftlihen Obrigkeit. Mach ihrer Vertreibung aus Zwickau
fanden fie Unterflügung In Wittenberg, wo fich ihnen Carlſtadt zuge⸗
fellte, der gleichfalls von einem ftarım Feſthalten am Buchſtaben ber
Schrift ausging und ſich gegen jede wiffenfchaftlihe und gelehrte Ausle⸗
gung derfelben erhob. Dieſes Treiben dauerte, bis ihm Luther durch
feine Beredtſamkeit ein Ende machte. Es kam aber von Neuem zum
Vorſchein buch Th. Münzer, ber 1522 in Zwickau Prediger geweſen
war, nach manchen geiftiihen Fahrten nad) Thüringen zuruͤckkehrte und
. zumal in Mühlhaufen großen Anhang fund, blis zu feiner Niederlage bei
Frankenhauſen (1525). Es iſt ſehr bezeidmend, aber auch ſehr erklaͤr⸗
lich, daß die damaligen, wie viele der neueren Communiſten, von Anfang
Communismuß, 37
an bew feſten Boben des Waterlanbe unter den Füßen verloren, baß bei
ihnen, bie es in ihrer Iuftigen Schwärmerei ſogleich auf eine Reform ber
Menſchheit in Bauſch und Bogen abgefehen hatten, bie dee einer Res
form. dee beutfchen Reichsverfaſſung wie bei den Bauern in Oſtfranken
gar nicht zum Vorſchein kam. Schon vor feinem Auftreten in Mühls
haufen war Münzer mit feiner Gemeinfchaft aller Dinge, die Jedem
„wo Rothdurft und ‚nach Gelegenheit” ausgetheilt werden follten, mit
feinem Reich von Deiligen und Gerechten obne Obrigkeit und Gericht,
ein fertiger Communiſt und nichts weiter. Nach weniger als zehn Jahr
ren ſchlug der wiedertaͤuferiſche Communismus, feinem Weſen nad) un⸗
veraͤnbert, in Muͤnſter feinen Sitz auf. Nur hatte er in Thuͤringen
mehr in der Roth des armen Volks feine Quelle, während er in den
wohlhabenden Städten Niederbeutfchlande gar bald in ein raffinirtes Sys
ſtem der Genußſucht ausfhlug und zur Lüberlichkeit im Namen bes
„frelen Geiſtes“ ſich verzerrte.
Nach dem baldigen Kalle des weſtphaͤliſchen Zions im Jahr 1585
verbreitete ſich die wiedertaͤuferiſche Lehre durch verſprengte Anhaͤnger in
den Niederlanden und drang unter mancherlei Wandlungen von da in
Feankreich und abermals in Norddeutſchland ein. Unter Druck und Ver⸗
folgung läuterte fie fih durch Menno Simonis. In anderen Ver⸗
zweigungen dir Seete gährten aber bie früheren Eiemente fort und bilde
tm fih im ben Merken ber beiden Nicberländer David Joris und
Coppin zu einem Syſtem auf der pantheiſtiſch⸗myſtiſchen Grunblage
eines aldurchdringenden freien Geiftes, ber Alles unmittelbare voll
bringt. Der von ihm Beſeſſene oder Wiedergeborene weiß nichts mehr
von Sünde, umterfcheibet nicht mehr Gutes und Boͤſes; iſt frei von je⸗
dem Geſetz, denn der Geiſt treibt ihn, und feine Begierden und Thaten
find Gottes Begierden und Thatn. Darum ift Dem Alles erlaubt, der
nicht zweifelt. Welt, Teufel, Sünde find Wahn. Dies tft auch Jeder,
den bee Geiſt Gottes noch nicht umgeſtaltet hat. Der Wiedergeborene
Dagegen iſt bereite mit Ehriſtus vom Tode zum Leben und zum vollkom⸗
menen Genuſſe der Seligkeit durchgedrungen. Darum ift es thöricht,
eine andere Auferfiehung, namentlich bes Fleiſches, zu erwarten; ba ber
Geiſt in Sort zurädgeht und alles Uebrige als Wahn vernichtet wird.
Mit dem ſich felbit Befeg geworbenen freien Geiſte find Obrigkeit und Eis
genthum imverträglih. In der Gemeinſchaft ber Heiligen giebt es nichts
Eigenes: Seber nimmt aus ben Guͤtern des Anderen, was ihm beliebt.
Auch die Ehe binder nicht; der Geiſtliche (Miedergeborene) kann und foll
geiſttiche Ehen eingehen, mit wem und nuf tie lange ber Geiſt begeht.
Diefe Anfiht wurde zumal von Joris auf die Spige getrieben. Er ew
Plärte die in der Ehe erzeugtm Kinder für Kinder ber Boshelt und pres
digte bie freie Vereinigung in brünftiger Liebe Gottes zur Erzeugung
eines reinen Geſchlechts, wobei Keiner an eine einzelne Perfon gebunden
ſein ſolle. Kür diefes Syſtem der Ungebundenheit fuchte man vorzüglich
die höheren Stände durch möglichiten Aufwand ven Geift und chriſtlich
klingende Sprache zu gewinnen. So kam die geſchminkte Beſtialitaͤt
55 Sommunismuß.
noch einmal in Benf bei der Partei ber Libertiner, zumal bei vorneh⸗
men Fraum und Männern, fo wie im benachbarten Neuenburg zum
Borfhein — bis im Zahr 1544 Calvin bem Treiben mit Erfolg ent»
gegentrat.
Im geraden Zuſammenhang mit diefem Zweige der Wiedertaͤuferei
fteht die durch einen Anhänger von Joris, H. Niklas aus Münfte,
um das Jahr 1545 in Holland und England gefliftete Gecte ber Fa⸗
miliften, womit ſich auch die bee Renters verband. Die von Niklas
gegründete Liebesfamilie wurde mehrfacher Ausſchweifungen befchuls
digt, bie indeſſen nicht erwiefen werben tonnten, Die Familiſten verlos
ven fih nah einem Verbot ber Königin Ekifabeth im Jahr 1580.
Bel den ſchwaͤrmeriſchen Levellers kam mehr ein ascetifcher Haß ges
gen. den Beſitz, oder doch gegen bie Reichen, als eigentlicher Communie-
mus zum Vorfchen. Auch in ber Gemeindeverfaffung bee Herrnhuter
finden fi nur communiftifhe Elemente **). Sonſt giebt es aber noch
von alten Zeiten her einzelne communiftifche Gemeinden, wie bei Thiers
in ber Auvergne, deren Urfprung nach einigen Angaben in’s Jahr 780,
nah andern in's 12. ober 13. Jahrhundert fällt und in diefem Fall
wohl mit den religiöfen Bewegungen jener Zeit zufammenhängt.- Kon
ihrer fonft entfchieden communiflifchen Verfaſſung find noch zahlreiche
Spuren vorhanden und fie heißen noch jest communantes. Es waren
Familienvereine. An ber Spige der Verwaltung fanden gewählte
Meifter und Meifterinnen zur Vertheilung allee Geſchaͤfte nach der
Fähigkeit. Alles Vermoͤgen, aller Erwerb, alle Arbeit waren gemein-
ſchaftlich. Um ihre Fortpflanzung zu erleichtern, hatte ihnen Papft
Leo X. im Voraus Dispenfe für Eben zwiſchen Werten und Baſen
m. fe mw. ertheilt. Aehnliche landwirthſchaftliche Gemeinden beftanden
Sahrhunderte lang In der Picardie“ 25),
Sortfesung: Communiftifche und foctatiflifhe Utopien.
Communiſtiſche Lehren bis zur Revolution. Mider die Miß⸗
flände des überwiegenden Individualismus kam, unabhängig vom religiös
communiftifchen Sectenmwefen , eine Doctrin zum Vorſchein, die ſich zu-
naͤchſt darin verfuchte, die Gegenbilder eines idealen Staats und einer
idealen Geſellſchaft zu zeichnen. Seit der 1516 von Thomas Morus
herausgegebenen Utopia, wohin der berühmte englifche Kanzler eine Ge:
meinfchaft der Güter und dee Arbeit verpflanzt, ohne jedoch bie ber Frauen
zuzulaſſen, find ſolche Utopien bis auf bie neuefte Zeit ziemlich zahlreich
geworden. Schon das 17. Jahrhundert hate die civitas solis und bie
monarchia Messiae des calabrefiihen Moͤnchs Campanella; die nova
Atlantis des großen Reformators der Philofophie und Staatemanns Ba⸗
con, bie Oceana von Harrington u. a. hervorgebradht. Doch find
24) Wergl. z. B. „Grund ber Verfaſſ. der evangel. Brüder Unität Auge⸗
burgi cder Genfef, ion.” S. 277 ı
25) Michelet: Le peuple Paris 18465 Briefe aus ber Auvergne.
Morgenbi. 1845.
Communismuß, .
die beiden Letzteren nicht eigentlih communiftifh. Vom 18. Jahrhun⸗
dert an trat Die communiſtiſche Lehre theils nur in einzelnen Andeutun⸗
gen, theils fchon etwas volftändiger ausgebildet und in mehr wifſen⸗
ſchaftlicher Kaffung auf; immer jedody im Zufammenhang mit einer res
ligiöfen oder philoſophiſchen Weltanfchauung, ob dieſe nun chriftlich hieß,
oder beiftifch, theiſtiſch oder atheiftifch materialiftifch war.
Auf Einelnes ift hier um fo weniger einzugehen 2°), als fidy bie
communiflifhen Meinungen bes 18. Jahrhunderts im 19. wiederholen,
indem fie zugleich in fchärfere Formen und Unformen ausgeprägt wur⸗
den. Nur auf eine Hauptſache ift aufmerffam zu machen. Die wich
tigften Schriften, aus denen die neueren feanzöfifhen Communiſten ge⸗
ſchoͤpft haben, auf die auch einige deutfche liebäugelnd zurüdbliden, find
außer denen des epiturdifchen Deiſte Moreliy die von Holbad,
von Delvetius und das wahrfcheinlich aud von Hol bach herruͤhrende
Systöme de la nature. Es find alfo matertaliftifche und zum Theil ents
fchieden atheiftifche Schriften, wie fie aus dem von England nad Frank:
reich verpflanzten noch einfeitigen Senſualismus hervorgehen mußten.
Darin ift fhon viel die Rede von ber ‚freien Leidenfchaft”, ber freien
Begierde und freim Sinnlichkeit; wie bei den „Geſchwiſtern des freien
Seiſtes“ und bei den „Geiftlern” der Reformation vom „freien Geifte”
Die Rede war. Auch unter unfern beutfchen Communiften finden ſich
fsiche Renommiften des ‚freien Geiftes. Mit dem komiſchen Dünkel
des bornirteften Sectengeiftes verfuchen fie auf bie angeblih Unfreien
herabzuſehen, feit fie fih aus ihrer „freien Sinnlichkeit” zwar ein gol⸗
denes, aber ein fehr natürliches Kalb aus Zleifh und Bein gemacht ha⸗
ben, in bem fie ſich felbft mit ihren Launen und Geluͤſten verehren.
26) Näheres in: „Die fociale Bewegung in Frankreich und Belgien. Darmft.
Leste 1845 ,’ von K. Grün, ber feiner Seits die „Reife in Starten‘ ausges
beutet zu haben fcheint. Einzelnes auch in: „Die heilige Familie“ ıc. von F.
Engels und K. Marr. Frankf. 1845. Gine ausführliche Befchichte des
Sorialismus und Communismus vom 18. Sahrhundert an haben Mary, Heß
und Engels unternommen. Die Herausgabe fol bei der beutfchen Genfur auf
Schwierigkeiten geftoßen fein. Möchte man doch die communiftifchen Doctrinäre,
wie in den Verſuchen einer bogmatifchen Geftaltung ihrer Lehre, fo in der Ge⸗
fhichte des Communismus ungehindert ſich ergeben und fie mit dem JInſtinct der
Einfeitigkeit Alles auffpüren lafien, was ihnen nach ihrer Meinung zu foͤrder⸗
ler Nahrung dient. Die fyflematifche Darftelung erleichtert doch nur bie
Diagnofe aller dem Communismus eingeborenen Hauptkrankheiten, wovon ihn
ſchon jede einzeln töbttich if. Und "die von feinen Verehrern ausführlich abge⸗
handelte Geſchichte wird gar bald ale Beweis erfchrinen, daß auch der jüngfte
Sommunismus fchon in ber Wiege zum altersfchwachen Greife wurde. Er kann
nichts erklecklich Neues mehr hervorbringen , er fchwelgt alfo ſchon in der Vers
gangenheit mit dem Gefühl, daß er keine Zukunft vor ſich hat. ebenfalls wird
durch die ſchon in's langweilig Breite gehende communiftifche Literatur der Reiz
der Neuheit um fo fchneller verfchwinden; man wird immer deutlicher erfennen,
wie unbaltbar ter Gommunismus im freien beivegten Fluß des Menfchenlebens
it3 man wird um fo eher aus windigen Träumen wieder auf den feften Boden
ie ſtehen kommen, auf den ſich allein im wahren Intereſſe des Volks die He⸗
I anlegen laffen zur Befeitigung der Uebel der gegenwärtigen Geſellſchaft.
08 Commmisſsmus
Darin liegt kein Wiberſpruch, weil dieſer ſogenannte freie Geiſt body nur
der unfreie, zum Sklaven der Sinnlichkeit gewordene if. Wer fi
einbildet, Aber ben Unterfchieb von Gott und Menfchen weg zu fein,
während ihm body der platte Atheismus, das bloße inhaltleere Weg
leugnen ber Gottheit nicht mehr genügt; wer fich alfo dennoch getries
ben fühlt vom ewigen Bebürfnig der Vernunft nach Einheit und einem
Lebensprincip der bat nichts Anderes übrig, als daß er entweder auf
ben Geift des Menſchen ober auf feine Sinnlichkeit den Nachbruck
lege. Im erften Falle kommt er zu jenem ibealiftifhen Pantheismus,
der von einen bewußtloſen Geiſte ausgeht, um ihn erft im Menfchen
zum Selbſtbewußtſein überfchnappen zu laſſen; im anderen Salle zum
materiatiftifchen Pantheismus, dem ber Geift mır noch als raffinierte Sinn⸗
lichkeit erſcheint. Aber auch jener Idealismus ift nur ein Ummeg, um
‚ doch wieder unter bie rohe Herrfchaft der Sinnlichkeit zu fallen. Denn
hat fich erſt der Menſch zum allein freim Geiſte, zum Bott geträumt,
fo entdeckt er bald in jedem Sinnenkitzel ein göttliche® Gchot. Darum
iſt die Asceſe, bie vom felbfignügfamen Menſchengeiſte aus bie Einns
lichkeit beberrfchen wollte, gerade auf bem Punkte, ba fie biefe Herr⸗
[haft errungen zu haben meinte, flets wieder in die Knechtſchaft ber
Sinne zurücdgefallen. In ben endlichen praktiſchen Kolgen iſt es auch
weſentlich gleichgültig, ob dieſer Bildungsgang mit Philofophie beginnt
unb eine Zeitlang in Begrifföformeln fich fortfegt, ober ob man durch
pieriftifchen Gefühlskigel über den Unterſchied zmifchen Gott und Mens
ſchen fich wegſetzt. Der Pietismus, der die unmittelbare Einkehr Gottes
in den Menſchen herbeisubeten wähnt, tft doch nur ein praktiſcher Pan⸗
theismus, der auf feinen legten Stufen zur aufgeresten Sinnlichkeit des
Mudertbums wird. Darum ftehen die philofophirenten Machhegeler die⸗
fem Muderthum lange nicht fo fern, als fi ihre Philofophie träumen
laͤßt. Und darum iſt ihe monoton verhallendes Gefchrei vom „freien
Geiſte“ oder von „freier Sinnlichkeit” doch nur das alte Lied, das mit
immer gleihen Strophen bald von vorn nad hinten, bald von hinten
nach vorn gefungen wird und mit fehneidendem Mißton durch Sahrtaus
fende dev Weltgefchichte klingt. Diefe Diffonanz kann einzig ihre Auf»
Iöfung finden dur die vollftändige Geltendmachung des chriſtlichen
Theismus auch in den gefellfchaftlichen Verhältniffen des Menfchen zum
Menſchen.
Fortſetzung: Der Communismuß ſeit ber franzoͤſiſchen
Revolution. Der immer deutlichet erkannten, immer bitterer em⸗
pfundenen Ungleichheit in der Vertheilung von Vorrechten und Uns
rechten an die verfchiebenen Claſſen ber Geſellſchaft Eonnte die franzoͤſiſche
Revolution in ihrem Beginne nur den noch inhaltleeren Begriff ber
Gleichheit der Rechte entgegen fegen. Doch wurde von biefem Gtands
punfte aus ſchon in: ber Conſtitution von 1791, neben der Anerkennung
des Eigenthums „als eines unverleglichen und ‚geheiligten Rechts“, zu:
gleich auf „eine oͤffentliche Einrichtung“ hingewieſen, um allen Bedürftis
gen Unterſtuͤzung zu gewähren und ben „gefunden Armen Arbeit zu ges
,
Communismus. 61
ben, wenn fie ſich ſelbſt Leine verfchaffen innen.” Wäre biefe ‚öffent
che Einrichtung” wirklich getroffen worden ; wäre fie in dem vernünftig
nothwendigen Umfange getroffen worden, daß der Staat jedem feiner
Mitglieder in einem beſtimmten Quantum Arbeit und Arbeitsverdienſt
zugleich die Subfiſtenz und eine Baſis freier Entwidlung gefichert hätte:
ſo wäre bie Idee der Freiheit und der Gleichheit in der Einheit bes Staats
zugleich verwirklicht, fo waͤre die weſentlich nur politiſch gebliebene frane
zoͤſtſche Ummälzung von Anfang an auch eine durchgreifend feciale ges
worden. Dies ift jedody bis zur Stunde nicht gefchehen, weber im
Frankreich noch in irgend einem anderen europdifchen Staate, ber in ben
Kreis der von. dort ausgegangenen Bewegung hineingezogen wurde. Dar⸗
um iſt bie franzoͤſiſche Revolution, eben ſowohl als die deutfche Reforma⸗
tion, nur Beuchftüd. Und darum iſt es erklaͤrlich genug, daß bie zuruͤck⸗
gefegten, nur mit einer unerfüllten Verheißung abgefundenen Glieder der
Geſellſchaft in ihrer Weife fich felbft Recht zu fchaffen fuchten, wobei
benn Ausfchweifungen in That und Lehre ebenfo wenig ausblieben, als
fie im Befolge der Reformation ansgeblieben fird. War ja das thatfäch-
lich vorhandene Proletariat fchon durch die Konftitution von 1791 auch
ein ausdrücdtid, beeechtigtes geworben, ba man ihm die Ausficht auf ges
fiherten Erwerb verfaffungsmäßig eröffnet hatte. Freilich wäre «6 gm
ben Kämpfen des hungernden Proletariats auch ohne jene Verheißung
gekommen. Aber die Sormulirung feines Rechts in der Verfaffung war
doch die Anerkennung einer focialen Nothwendigkeit von Seite des Staats
und trug wenigſtens dazu bei, dem Geiſt der proletarifhen Maſſe von
vorn herein einen Anhaltpunkt und eine beflimmte Richtung zur Ber:
folgung beflimmter Rechte zu geben; fie trug alfo bei, daß ſich Prole:
tariat und befigende Bourgeoifie erſt unterfcheiden lernten, um fich ſpaͤter
feindfelig entgegenzutreten. Die Verfaffung von 1791 erklaͤrte, „daß
die Bürger Leinen anderen Unterfchied unter fi) anerkennen als ben
ber Tugenden und der Talente”; umd forderte doch für die Ausübung
des activen Staatsbürgerrechts eine dem Werth dreier Arbeitätage gleiche
kommende bdirecte Steuer, fo wie für die Wählbarkeit ben Nachweis eines
beſtimmten, wenn auch nicht beträchtlichen Befitzes. Robespterreis
Entwurf einer Erklärung der Menfhens und Bürgerrechte forte bie
Eonftitution von 1793 erflärten bie „Öffentlichen Unterſtuͤzungen für eine
gebelligte Schuld.” Sie erkannten alfo abermals ein durch ben
Staat zu verwirklichendes Recht bed Proletariats an, zwar in unbe
flimmterer Faſſung als 1791, aber auch ohne bie Widerfprüche in ber
Conſtitution dieſes Jahres. Zugleich murde, mie früher, das Eigens
thum garantirt. Mit der gleichzeitigen Anerkennung einer „geheiligten
Schuld öffentlicher Unterftügung” erkannte ſich alfo der Staat für ver»
pflichtet, jedem Geſellſchaftsgliede das ihm nothwendige Eigerthum zu
garantiren; ein Gedanke, den Condorcet in ber geſetzgebenden Ver⸗
ſammlung mehr entwickelt hatte. Dies geſchah auch factiſch waͤhrend
ber Schreckeneherrſchaft, da ſich bie Gewalthaber auf bie unteren Claſſen
.& Gommunismus.
ſtuͤzten und alfo bie temporäre Sicherſtellung ber Subſiſtenz ihrer Hel⸗
fer ihre nahe liegende Sorge war.
Nach dem Sturz der Schreckensherrſchaft, als wieder bie Verfaſſung
von 1795 die politifchen Rechte von Befitz und Eigenthum abhängig ges
macht hatte, fahen ſich die nicht oder nicht genügend Beſitzenden durch
die ausfchließend ober vorzüglich Beſitzenden abermals vom activen Staate
ausgeſchloſſen. Sie wurden alfo zur Oppofition gegen den auf Eigen-
thun gegründeten Staat; und ihre Oppofition mußte fi gerade in Ihrer
erfien Phafe als bloße Verneinung des individuellen Eigenthums, ale
Communismus offenbaren. Diefer fand feinen Ausdeud und Sammel»
punkt in der Verſchwoͤrung Baboeuf’s und feiner Gefährten. Seine
Lehre verfündete die gleiche natürliche Berechtigung jedes Menſchen auf
ben Genuß aller Güter und den auf gemeinfame Arbeit gegründes
tm gemeinfhaftlihen Genuß. Gie bezeichnete jede ausfchließliche
Aneignung ber Güter des Bodens oder ber Induſtrie als Verbrechen.
Ein befonderes Gewicht wurde auf bie Gemeinfchaftlichkeit des Bodens
und auf die Organifation der communiftifchen Landwirthſchaft ge:
legt, während die Induſtrie nur nebenbei in Betracht kam. Sehr na⸗
tuͤrlich, da ſich in Frankreich das große Grundeigentum allmälig zerſplit⸗
terte, während ſich die große Induftrie erft ausbildete. Die ganze Be⸗
wegung der evolution war im Anfange gegen ben grundbegüterten
Adel und Klerus gerichtet. Große Fabrikherren waren noch wenige vor⸗
handen. Alſo Eonnte ſich der erfte Communismus noch auf Feine Maffe
von Fabrikarbeitern ſtuͤtzen, ſondern nur auf den nicht befigenden und
nicht arbeitenden Pöbel der großen Städte fowie in zweiter Linie auf das
Proletariat auf dem Lande, oder auf die große Zahl Derjenigen, die noch
nicht Grundeigenthuͤmer waren. Einzelne unter ben communiflifchen
Betheiligten wollten fogar bie Stäbte zerfiört haben. Sie gingen In ber
Sudt, die ganze Geſellſchaft in eine einfsrmig gleiche Maſſe zu ver:
fhmelzen, fo weit, baß fie felbft jeder Auszeihnung durch Kenntniß und
Bildung vorbeugen wollten. ine gleiche Erziehung für alle Kinder
follte Ale auf ein gleiches Maß von Bildung befchränten; eine tyran⸗
nifhe Genfur folte darüber wachen, daß fich die platt getretene Ge⸗
ſellſchaft über diefes Niveau nimmer erhebe. Es war nur eine Conceſ⸗
fion für die mit Baboeuf in Verbindung getretenen Republikaner und
Anhänger der Verfaſſung von 1793, daß diefe als wahres Gefeg der
Frauzoſen verfündet wurde, weil das Volk fie feierlich angenommen habe.
In der That follte aber nach ber Anficht der eigentlichen Baboeuviſten
der Staat in feiner früheren wefentlichen Bedeutung völlig verfchwinden:
als einzige Obrigkeit follte fortan nur cine Thellungsbehörde beftehen für
Vertheilung der Arbeit, für Einfammlung aller Producte in öffentlichen
Magazinen und für ihre Verabreichung an Gemeinden und Einzelne. Es
verfteht fi), daß bei folhen Ausgangspunkten für die Gründung einer
neuen Geſellſchaft am mwenigften von Kirche. und Geiſtlichkeit die Rede
war. Ebenſo wenig kam aber ein atheiftifches Element zur Entwidlung.
Baboeuf und viele der ihm Verbundenen liegen noc in ber Weife eis
Communidmus,. 63
nes Robespierre neben ihrer communiflifchen Tugendgeſellſchaft ein
hoͤchſtes Wefen gelten; doc fanden ſich Gott und Menfchen blos Au:
gerlich und gleichgültig einander zur Seite. ' Die Zugend felbft war
ebenfo dußerlich geworden und einzig in das Gefeg verlegt, das für
Ude tugendhaft war, da es eben zwang, nicht Mehr und anders zu fein
und zu haben als jeder Andere. In ſtrengſter Confequenz hätte man
von da zu einer Gemeinſchaft der Weiber kommen müffen. Aber keine
Lehre entfaltet ſogleich alle ihre Folgen. Und fo ſprach denn felbft der
epnifchsmaterialiflifche Sitvain Marehal, nah Baboeuf md Dar:
the einer der communiftifhen Hauptführer, noch mit einiger Salbung
vom Menſchen in der Familie und vom häuslichen Frieden ?7).
Mit unerſchuͤttertem Muthe und feflhaltend an ihrer Ueberzeugung
ſtarben Baboeuf und Darthe auf dem Schaffot. In einer Gefellfchaft,
welche die erkannte Pflicht gegen ihre leidenden, zu leiblihem Elend und
füttlicher Verwahrlofung verdammten Mitglieder nicht erfüllt, muß fih
ſelbſt jeder Irthum und Wahn für gerechtfertigt halten, und der Fana⸗
tismus erringt fi) die Krone bes Maͤrtyrerthums. Gleichwohl fchien
die commmuniftifche Lehre fchon im Blut ihrer erften Opfer erflidt. Doc
fo ſchien es blos, denn fie ließ ſich mit ganz Frankreich nur feſſeln durch
den beraufchenden Zauber des militärifchen Ruhme, um ſpaͤter mieber
trogig berausfordernd hervorzutreten, ohne Viel gelernt und Biel vergefien
zu haben. Noch unter dem Solbatenkaifer und dem Geraͤuſch der Wafı
fen verbreitete St. Simon In Meinem Kreiſe feine Lehre, aus ber alle
fpdteren Gründer von Theorien einer neuen Geſellſchaft, auch fpätere
Gommuniften mehr oder minder ſchoͤpften 2°). Die Verfuche der Reſtau⸗
ration zur Herſtellung der Herrſchaft der Ariftokratie und Hierarche hiel⸗
ten alle Gegner einer Reaction, über welche ſchon die erfle Revolution
ben Stab gebrochen hatte, in noch compacter Maffe zuſammen. Nach
ber Julitevolution handelte es fi zunaͤchſt um ben blos politifchen Kampf
einer republikaniſchen Partei gegen bie Monardie. Im Verlaufe deſſel⸗
ben wurde es jedoch immer deutlicher, daß auch der neue Bürgerfönig
nur an ber Spitze einer neuen Ariſtokratie des Reichthums ſtehe. Die
Nation fchieb ſich hiernach mehr und mehr in ben Begenfag ber Bour⸗
gecifie, die ſich im Beſit eines irgendwie auf Gapital gegründeten zurels
enden Nahrungsftandes befindet und zur Erhaltung ihres Beſitzthumes
an den Thron ſich anlehnt, um unter feinem Schug mit dem Muth
dee Angſt ſich ſelbſt umd ihre Habe zu vertpeidigen; und in da6 Proles
tarlat oder bie große Zahl Derjmigen, die im ungeſicherten ober unvoll⸗
27) Bergl. Stein: „Der Socialismus und Communismus des heutigen
reiche.” Leipz. 1842, ©. 365. ıc. Die Lichtfeite des Baboeuvismus fucht
. Grün a. a. D. S. 299 ıc. noch mehr durch Das hervorzuheben, was er
verfchweigt, al& was er fagt.
28) ueber St. Simon und feine Lehre, über Dwen und feinen Gom-
munismus, fobann über ben Socialismus Kourier’s, über &. Blanc und
Drganifation ber Arbeit und über das Gleichheitsſyſten Proubhon’s
ehe die betr. befonderen Artikel des Staates Lerikons.
64 Gommunismus,
ftänbig geficherten Erwerb burch Arbeit nur von Hand zu Mund leben:
So mußte endlich die Hauptmaffe aller Unzufriedenin von ſocialiſtiſchen
Anſichten bucchbrungen werden, die aber darum noch lange nicht com»
muniſtiſch find. \
. Eine eigentlich communiflifche Faſſung erhielt bie Unzufrieden⸗
beit bei einer Fraetion bes peuple, erft nad) dem Siege ber Regierung
im Jahr 1834 über die republikaniſche Geſellſchaft der Menſchenrechte
Der aͤußere Anlaß dazu war die Verbreitung einer Geſchichte der Ver⸗
ſchwoͤrung Baboeuf’s von Bnonarotti, einem ber hervorragendſten
Mitvirſchworenen. Seine Schrift machte Propaganda unter den gefans
genen Republilanern, ‘die nun theilweife als Baboeuviſten die Kerker vers
ließen und. nach wiederholt mißlungenen Verſuchen ben Hebel zum Um⸗
ſturz dee Monarchie im Communismus gefunden zu haben meinte.
Die erneuerte Lehre wurde fortan im Proletarlat verbreitet. Zugleich
trat die fchon lange keimende Spaltung zwifchen der communiftifchen und
alten repubtitanichen Partei Thärfer zu Tag. Die communiftifche Frac⸗
tion brachte e8 im Jahr 1837 zu einem erftin oͤffentlichen Organ, bem
moniteur republicain, der fich fogleich mit biutbürftiger Gleichmacherei
an bie Leidenfchaften und Gelüfte des voheften Poͤbels wandte. Etwas
gemäßigter in ben Ausdrücken trat bee „„homme libre‘ auf und ging
näher auf Darftellung der Baboeuf’fchen Lehre ein. Auf eine fociale
Umwaͤlzung in diefee Richtung, doch ohne ein beflimmteres Ziel, war
es auch bei dem aus der „Geſellſchaft ber Jahreszeiten” hervorgegangenen
Aufftand vom 12. Mat 1839 abgefehen. Der auf offıner Straße Übers
wundene Communismus hatte fi, da er feine Zollfühnheit büßte, zu⸗
gleich Im feiner Schwäche gezeigt. Er kam nur nod in wereinzelten At⸗
tentaten (Queniffet) zum Vorſchein oder zog fih in geheime Geſell⸗
[haften zurüd, um fich vorerſt als Doctrin in verfchiedener Weile aus
zuprägm. So hielten ſich die travailleurs Egalitaires noch an ben Ba⸗
boeuvismus, den fie in mancher Beriehung auf eine aͤußerſte Spige trie⸗
ben. Ihre Doctrin predigte die Verkündigung des Materialismus,
weil er das unveränderliche Gefes der Natur fei; die Aufhebung ber ein⸗
zenen Familie, weil fie die Zerfplitterung der Zuneigungen erjeuge;
und die dee Ehe, weil es ein ungerechtes Geſetz fei, welches das Fleiſch
ale perfönlihes Eigenthum fehe; die Zerſtoͤrung der Städte, ale
der Mittelpuntte ber Beherrſchung und Beſtechung u. dgl.
Bon biefem Unfinn zurücgefchredit bildete fi in den Reformiften
eine Partei fockaliftifcher Proletarier, die ſich vebliche Mühe gaben, Über
die Gebrechen der Geſellſchaft und die Mittel ihrer Heilung zum Ders
ftändniffe zu kommen. Sie feinen «6 jedoch zu Mehr nicht gebracht
zu haben als zu einigen communiftifchen Anflügen und Allgemeinheiten.
Ein beftimmteres und im Gegenfas mit den Rafereim der Egalitaice®
zugleich ein humaneres Gepräge erhielt dagegen der franzöfifhe Commus
nismus durch Cabet, welcher denn auch weitaus von ber großen Mehr:
zahl der feanzöfifchen Communiſten als geiftiges Oberhaupt betrachtet wird.
Zur friedlichen communiflifhen Propaganda auf dem Wege der
Communismuß, 66
Lehre und Ueberzeugung bat Cabet eine raſtloſe llterariſche Thaͤtigkeit
entfaltet, ohne bei. den zahlreichen Anhingern feiner Theorie auch im der
Praris eine beſonders förderliche Unterfiigung zu finden. Konnte er «6
body, trog allem Aufforderungen an feine „100,000 Communiſten“ und
trotz aller Schaufteitung feiner Verdienſte um die communiflifche Sache,
nicht dahin bringen, daß fein monatlich erfcheinender Populaire in ein⸗
wöchentliche Beitfchrift verwandelt wurde 2°). Im Widerſpiel mit feinen
meiſten Worgängern, bie fich entweder in trübfelige Träume von Zerflörung
und Gleichmacherei eingiwiegt oder in nur vagen Skizzen eines commu-
niſliſhen Himm⸗ ireichs auf Erden verfucht hatten, gab fih Cabet in
feinem Hauptwerke, der „„voyage en Icarie“ die unfchuldige undankbare
Mähe, feine blonden und brünetten communiflifhen Engel mit allem
fieben Regenbogenfarben auszumalen und feinem gläubigen Publicum mit
allen Farben weiß zu machen. Sein ntopifches Schlaraffenland If eine
Seßnerſche Idylle in’s Communiſtiſche überfegt, nur daß man vor Scha⸗
fen Beine Schäfer ſieht; fein Staat iſt ein Gabinet von Wadrsfiguren,
Die mit Federn verſehen find und wie Vaucanſon's Ente kauen und
| Darum giebt's auch in Ikarien „beinahe kein Zahnweh mehr.”
Als größtes Uebel, das einen fonft eifrigen Harifchen Theiſten faft am
Dafein Gottes zweifeln laͤßt, bleibt nur übrig, baf bie „unfchuldigen
Kinder” die Zähne nicht ganz ohne Schmerz bekommen. Sonſt ift «6
en Vergnügen trank zu fein, denn die Harifchen Arzeneien find wahre
Uebrigens tft Cabet nicht thörihht genug, um gleich den meiften
deutſchen Communiſten ben Staat, bie Nationalität und das Ber
ſet in der f. 9. freien und gleichen Gemeinſchaft „aufbeben” zu wol
Im. Er chut es fo wenig, daß vielmehr ‚la loi““ den „funfzig Millionen
Ikariern“ Ihe ganzes Thun und Laſſen vordenkt und vorfagt. La loi
fege die tägliche Arbeitszeit auf fo und fo viel Stunden und Minuten
feR; ia loi ordnet an, wann und wie lange fämmtliche communiflifche
Männlein und Fräulein Zollette zu machen haben; la loi führt ein
‚meues Bemüfe” in allen ikariſchen Daushaltungen ein; la loi forgt für
„kalte Küche” zu ben Harifhen Landpartien. Der Communiftenflaat
Ikarien verdankt feine Geburt einer großen Revolution unter ber Fuͤh⸗
rung des „bon Icare‘® gegen eine ſchoͤne Königin und ben böfen Minis
fler Birbox. Darum gebietet la lei, gleich wie die Engel im Himmel
Hoßelujah fingen, daß die Ikarier immer und immer die große Natio⸗
nalhynme fingen zu Ehren befielben „bon Icare,‘‘ der muthmaßlich im
ber „ſchlechten Geſellſchaft“ M. Cabet hieß. Dies foll mitunter im
Chöcen von „100,000 Stimmen” gefhchen. Auch verorbnet la loi,
baß ber Jahrestag diefer Revolution viel fplembiber gefeiert werde ale
die Julitage in Paris. Da werden am Morgen des erſten Feſttags bie
29) Siehe Cabet: Etat de la question sociale en Angleterre, en
Ecosse, en Irlande et en France. Paris 1843. -
Suppl. 4. Staatslex. II. 5
-
80 Communismus.
überraſchten Buͤrger durch den Ton ber Sturmglocke geweckt; Flin⸗
tenſchuͤſſe fallen, Kanonen donnern, Barrikaden werden errichtet. Die
erſte Barrikade des koͤniglichen Militaͤrs“ wird von einem tapfern ikari⸗
ſchen gamin erſtiegen. Zwar wird bei dem großen Nationalfeſte nicht
mit Kugeln geſchoſſen, aber zur Erhoͤhung des dramatiſchen Effects be⸗
fichlt la loi dem gamin, daß er wie todt nlederfalle u. dgl. Bei all
biefem Glanze ift den guten Ikariern nicht erlaubt, zu fehreiben und
drucken zu laffen, was fie wollen. Aehnlich wie in Baboeuf’6 Com«-
muniſtenſtaat, bat in Ikarien la loi befohlen, daß bie nicht officiell gut
geheißene Literatur als fchlechte Preſſe' verbrannt werde. Zum Er⸗
‚fab dafür bdejeuniren, diniren und foupiren die Ikarier zu Daufe oder
Bri Ihrem „‚restauratetr repnblicain‘“ viel beffer als bei ben beiten Trai⸗
teurs in Paris und London 29%). Gegen den Schluß feines Werks hat
noch Sabet mitrnicht geringem Fleiße ein biftorifches Raritätencabinet
- angelegt, worin fehr viele berühmte oder namhafte Männer: der Vergan⸗
genheit, meiſtens wegen gelegentlicher und ſehr beildufiger Aeußerungen,
als ikariſche Communiften paradiren müffen ”!). Und fo ift biefes ganze
Werk von Anfang zu Ende ein Haufe kindiſcher Pebantereien und pedan⸗
tifcher Kindereien. Bon allen Völkern koͤnnten am wenigſten bie Frans
zofen nur ſechs Stunden in biefem ikariſchen Communiftenflaate aus:
halten. :; Aber auch Das reizt, was unferer Natur recht gruͤndlich wider⸗
ſpricht. Die „voyage en Icarie‘‘ hat mehrere Auflagen erlebt; fie hat.
Epoche gemacht; fie ift das Credo ber großen Mehrzahl aller leichtglaͤu⸗
bigm Gommuniften geworden, die in diefem Buch einen Beleg für bie
Ausführbarkeit Ihrer Traͤumereien zu finden mwähnen, ohne nur zu ges:
wahren, role In Ihrem Ikarien bie ganze Freiheit der Individualitaͤt mit,
ihrer unermeßbar reichen Bethätigung entweder zu Tod gefüttert oder:
mit der feidenen Schnur des milden: ifarifchen Gefeges zu Tode
gewürgt wird. |
Bei dem Allen hat Cabet, wie ſchon gefagt, das große Verdienſt,
daß er ſich dem Unſinn der Egalitaires entſchieden entgegenſetzte. Ihm
ift namentlich die Ehe und das Familienleben heilig. Er hat in feiner,
Weile feine Stunden der Andacht und hält wenigſtens feft an einem
fümmerlihen Deismus, der fid in feinem Ikarien auch dußerlidy fol
gebaren dürfen, ohne daß er in ben .noch plattern Atheismus fällt. In
feinem viel verbreiteten „communiftifchen Glaubensbekenntniſſe,“ wie fehr
es im Sanzen an Unbeftimmtheit leidet, fpricht ſich doch ein ehrliche®
Wohlwollen aus, und einigen feiner fogenannten „Uebergangsbeſtimmun⸗
30) Die Phantafie des guten Geſchmacks eines braven und gutmüthi-
gen beutfchen Handwerkers Tonnte die eines Cabet in ihrem höheren Kluge nicht
erreihen. Gr brachte es in feinem communiftiihen Giborado, in feinem
„Zaufendjährigen Reih von A. Dietfh. Aarau 1843 nur bie zu einer uns
gewoͤhnlich ſtarken Gonfumtion von Pfannkuchen. .
31) Sabet berichtet von fich felbft (Kitat etc. p. 79), er habe die Reife
in Ikarien während feines fünfjährigen Erils in England verfaßt, „apres avoir-
etudie les opinions de tous les philosophes (plus de 1000 volumes)‘“ !
Communismus. 67
gen,” bie er zur Vermittelung bes für einen Fortfchritt gehaltenen Ruͤck⸗
ſchritets in ben Sommunismus für nöthig achtet, ann man ale bleis
benben Beflimmungen zur fortmährenden Befeitigung der Ungleich⸗
beiten des Beſitzes wohl beipflichten 3°). Der Idyllendichter Gabet fand
indeß neben großem Anhang auch entfchiedene Gegner unter den Com⸗
muniften ſelbſt. Namentlich trat ihm Dezamy mit feinem atheiſtiſch⸗
beftialifchen Communismus entgegen. Da wird im „Code de la Com-
munaute‘ wieder kurzer Hand alle Regierung in Verwaltung ver«
wandelt: an der Spige bes Staats fleht ein Rechnungsfuͤhrer und
ein — Regifter. Die Arbeit braucht nicht erzwungen zu werben;
man hat nur allen Naturantrieben freien Spielraum zu laffen, dann cons
eordiren fie durchweg In ihrer Sefammtheit. Folglich braucht es
feines Geſetzes. An feine Stelle tritt die Wiffenfchaft, die wohl
auch in's „Regiſter“ gehört 3°). Am Namen biefer Wilfenfhaft
wird die Ehe verworfen; fie wirb durch die Maturphitofophie der Hunde
auf der Gaſſe erfegt. Aller Atheismus wird erſt recht confus mit dem
Bemühen, ſich verfländlich zu machen; fo rebet auch Dezamy in einem
Achem von ber Welt „als einer intelligenten Maſchine,“ und von
dem Atom als Element, von ber Bewegung als Princip.
In Belgien, wo eine zahlreiche Bevoͤlkerung von Fabrikarbeitern
zu wiederholten Malen drohende Anſpruͤche erhob; wo de Potter, einer
der früheren Hauptführer der repubſikaniſchen Partei, fchon im Jahr 1831
erlärte, "daß bie politifchen Ummälzungen nichts helfen, daß man eine
- focdale Revolution madyen müffe: bat fid) body der Socialismus noch
nicht bis zur Ungeſtalt des Communismus aufgetrieben, ob ihm gleich
bie Lehren eines Bartels, Jottrand und Kats ziemlich nahe ftehen.
Bon der weiteren Verirrung zum atheiftifchen Communismus fcheint
fich ſelbſt die entſchiedenſte Oppofition gegen den Batholifchen Klerus fern
gehalten zu haben. Wenigſtens liegen Peine öffentlichen Belege vor, daß
e8 Irgendwo in Belgien bis zu dieſem Abfall vom gefunden Volksver⸗
Rand gekommen fei ??). Der weite Boden des freien Nordamerika iſt
noch ein Verſuchsland für alle möglihen Theorien. Europa hatte ſich
aus Amerika eine Krankheit geholt, die nad) dem neu entdediten Welt»
thelle Ihren erften Namen erhielt. Zur fpäteren Wiedervergeltung bat
es ihm etwas Sommunismus und Atheismus zulommen laffen. Unter
den taufend Zeitungen und Zeitfchriften in ben Vereinigten Staaten ber
finden fich einige wenige von communiftifcher Färbung. Schon vor ber
europäifch »focialen Bewegung forwie im Verlaufe derfeiben haben fich
92) 3. 8. feinen Beſchraͤnkungen des Erbrechts, das erft in feinem
Itarien völlig aufgehoben wird. ,
33) Dazu Hatfcht K. Grun in die Hände und ruft aus: „Endlich wirft
Dom mie ſicherer Hand das ganze Gebaͤude ber Geſetzlichkeit über
n Haufen.”
) Ueber den Gommunismus in England, defien Vater R. Owen ift, f.b.
Nah neueren Rachrichten bat feine communiftifche Berfuchscolonie Harmony in
Dampfhire Bankerott gemacht. 5% 6
68 Communismus
dort in engeren Kreiſen, wo ſie uͤberhaupt nur ausfuͤhrbar ſind, einige
communiſtiſche Gemeinſchaften gebildet. Die juͤngeren Gemeinſchaften
haben die Probe noch nicht beſtanden. Von den aͤlteren gedeihen nur
diejenigen oͤkonomiſch gut, welche geiſtig um ſo ſchlechter gedeihen. Es
ſind die von den Anhaͤngern eines bornirten Pietismus gegruͤndeten, die
ſich in ihrer Stumpfſinnigkeit um ſo leichter der dictatoriſchen Leitung
eines weltlichen und geiſtlichen Oberhaupts fuͤgen. Dies gilt zumal von
der Harmoniſtencolonie Economy am Ohio, wo nach mehreren Nachrich⸗
tem der Stifter Rapp trog allem Communismus nicht bios ber allein
Vornehme, fondern auch der Vorwegnehmende fein fol. In aͤhnlicher
Lage ift die felt 1819. zu Zoar im Staate Ohio gegründete Colonie würs
tembergifcher Separatiſten; fo wie die zehn communiflifhen, aus je
3— 800 Mitgliedern beftehenden Gemeinden der Shaters , einer vor
nahe 80 Jahren geftifteten ſchwaͤrmeriſchen Methodiftenfecte, mit uns
mittelbaren Infpirationen und Bemühungen des „heiligen Beiftes” im
alien Zuppalien ihres befchräntten Daſeins. Diefe proteftantifchen Sec⸗
tirer begannen mit einer Ascetik, wornach fie die. erſt fpäter wieder ge⸗
flattete Ehe und jebe fonftige gefchlechtlihe Verbindung für unerlaubt
erlärten. Im JInſtinet der Selbſterhaltung haben fie dafür geforgt, daß
nicht Erziehung und Unterricht ihre Anhänger ein fehe knapp zugemeſ⸗
fenes Maß von Bildung überfchreiten laſſen. Sonft beftehen noch einige
kleinere, wenig bekannte und meift. jüngere communiſtiſche Gemeinfchafs
ten in Penfplvanien, New: York, Maflachufets, Ohio und Wisconfin-
Zu bemerken ift noch, daß den communiſtiſchen Separatiften ber fteie
Austritt. aus ihrer kleinen Gemeinfchaft in bie große Gefellfchaft geftattet
iſt; woburd die Erhaltung des Communismus im engeren Kreife auf
etwas längere Zeit möglich wird. .
Die communiftifche Seuche hatte eine geringe Anzahl der in Paris
lebenden beutfchen Handwerker ergriffen. Won da wurde fie durch Weits
ling in bie Schweiz verfchleppt, ohne ihre Anſteckung auch hier in wei⸗
tem Umfange zu dußern?%),, Es ift zu erklären und zu entſchuldigen,
85) Außer den Schriften von Weitling felbft, einer Reihe fonfliger eom⸗
muniftifher Broſchuͤren und bald wieder verfommener Beitfchriften, die bier an⸗
zuführen nicht ber Muͤhe verlohnt, vergl. den Bericht dee Dr. Bluntfchli
ber „Die Sommuniften in der Schweiz ıc. Zürich 18435” die verfchiedenen Be⸗
richtigungen dieſes Berichtes fodann bie Berichte über die in Neuchatel 1845
Aber die Sommuniftenvereine und über die fogenannte ‚geheime beutfche Propa⸗
anda” geführten Unterfuhungen. Die deutfche Ueberfegung des „Generalberichts
ber die ach. deutfche Propaganda’ ift mit einer feltfamen „Einleitung“ audges
ftattet, worin der Xerfaffer, ein f. a. Liberal-Conſervativer, in der
Perſon eines verfchollenen Deutfchen, Fried. Rohmer, feiner verlornen Sache
in ganz aͤhnlicher Weife einen Meffias verkündet, wie dies die Leicht:
plämbigften unter den bis zur Ungereimtheit leichtglaͤubigen Sommuniften zu. thun
pflegen. Der Sommuniftenbericht von 1843 enthält, neben mehreren Unwahr⸗
beiten und Webertreibungen, einzelne nicht unintereffante Notizen. Im Nebrigen
ift er eine einfeitige Parteifchrift und der Berichteritatter hat friſchweg berichtet,
ohne ſich die geringfte Mühe zu geben, in Geſchichte und Bedeutung bes So⸗
cialismus und Gommunismus tiefer einzubringen.
Communisſsmus 60
daß bie Lehre Weitling's, eines proletarifchen Autodidakten, bie Be⸗
friebigung ber Sinnlichkeit im Menſchen vorzugemweife zum Zielpunkt
hatte. In mancher Beziehung trat ihm fpäter ein gewiffer Dr. Kuhl⸗
mann entgegen, ber fi darin ein nicht allzu hoch anzuſchlagendes
Verdienſt erwarb, daß er feine gläubigen Anhänger von einer Richtung
ablenkte, bie in weiterer Fortfegung zum Materialismus ausfchlagen
konnte. Sonſt ift die einzige, von ihm bekannt gewordene Schrift, bes
ren Titel ſchon viel Hochmuthsnarrheit verräth 3%), ein in ber feierlich
zuverfihtlichen Sprache der ſelbſtgenuͤgſamen Beſchraͤnktheit vorgetrage⸗
ner Wirrwarr ; zumal mit einigen Abfprüngen in das Gebiet ber Pfychos
logie, die mitunter an bie „pfochologifchen Studien über Staat und Kirche.
Bon Dr. Bluntfchli’ erinnern. Der neue Prophet des Communis
mus wurde mit den Worten verkündet: „Dieſer Mann, den unfere
Zeit erwartete — er ift aufgetreten. Es ift der Dr. Georg Kuhl⸗
mann aus Holftein”?”). Darin zeigt fi bas Gefühl der Unzulaͤng⸗
lichkeit, das die Communiften von ihrer eigenen Lehre in fich tragen,
daß bei ihnen ber Slaube an einen communiftifhen Meſſias, ber end⸗
lich ihre Stuͤckwerk zu einem Ganzen made, immer wieder auftaucht.
Aber darin zeigt fi auch für Deutſchland ein fehr betrübenbes Sym⸗
ptom, daß es unter den deutfchen communiflifhen Handwerkern Maͤn⸗
ner giebt, die an Geiſt und tüchtiger Gefinnung ihre Propheten und
Lehrer weit überragen und fo leicht boch von Jedem fich täufchen laffen,
der aus der fogenannten gebildeten Gefellfchaft mit dem Schein des bef»
feren Willens in ihre Mitte tritt. Es iſt das von ber Gefellfchaft in
die Wuͤſte hinausgeſtoßene, das mit dem reblichften Eifer nach Erlöfung
und Bildung ringende Proletariat,, welches im Sladerfeuer jedes Stroh⸗
kopfs die Flamme bes Heren zu fehen meint, bie ihm in das gelobte
Land der Verheißung hinliberleuchtet.
Mit dem von mehreren Seiten näher rüdenden Communismus
hätte bie deutiche Preffe ſich befaffen müffen, auc ohne die Schriften
und Schickſale Weitling’s, die indeß einen befonderen Anftoß gaben.
Diefe Schriften fol man nicht allzu gering achten. Im dem von Ans
fang an verlorenen Spiel hat Weitling feine Truͤmpfe ausgefpielt.
Aber ob er gleich manche Verkehrtheit zu Tage gebracht und fid) aus ben
Lehren: ber franzoͤſiſchen Commmiften nicht wenig angeeignet bat, er ers
faßte doc, feine Aufgabe mit origineller Kraft. Seine Schilderungen ber
„ſchlechten Sefellfchaft” haben bei aller Webertreibung viel Wahrheit.
Mag audy mitunter etwas Neid des zurüdgefesten und ſchon mißhan-
beiten Proletariers hineinfpielen, in der Hauptfache fpornte ihn doch, we⸗
36) „Die neue Welt, ober das Reich des Geiftes auf Erden. Verkuͤn⸗
digung. Genf 1845.”
37) Faft buchſtaͤblich, wie der fehon genannte Kr. Rohmer einem
lachenden Publicum angetündigt wurde. Denn auch für ihn hatte man ein
Kalbsfell gefunden, auf dem er als confervativer Meſſias ausgetrommelt
25* „nett Analogie zwifchen vorderen und hinteren Ertremitäten iſt fehr
rend.
70 Communismus.
nigſtens bei ſeinen erſt en Erguͤſſen, eine wahre und ſtarke Leidenſchaft,
bie zuweilen aͤcht poetiſch witd und in wenigen Schlagworten einen weis
ten Kreis von Begenftänden beleuchtet. Sollte er mehr und mehr unter
ale Kritik finken, fo bat es nur die deutfche Kritik ſelbſt verfchuldet
mit ihren maßlofen Hätfcheleien ober maßlofen Belhuldigungen. Vor
Alem ift.an ihm zu loben, daß er fich nicht jener Denkfaulheit ergab,
die über ihre Impotenz fich felbft und die Welt mit der immer wieder⸗
holten Verfiherung zu taͤuſchen ſucht, daß man erſt mit ber alten
ſchlechten Geſellſchaft tabnla rasa machen müfle, ehe man pofitiv Neues
geſtalte. Weil es ihm Ernſt mit feiner Sadye war, rang er doch mit
feinem Stoffe; er fuchte ihn zu durcharbeiten und für fein proletarifches
Publicum im Ganzen und DBefonderen faßlich zu geftalten. Darum iſt
der zum Literaten gewordene Handwerker immer noch weit mehr werth,
al& die zu Handwerkern ‚gewordenen Literaten, die ſich mit ihrer angelo⸗
genen Leidenfchaft für das Wohl der unteren Claſſen in den legten Jah⸗
ren fo platt auf Communismus geworfen haben. Selbft die wunder⸗
lichſten Erfindungen Weitling’s, feine „Commerzftunden” und das
„Trio“ feiner geträumten Handwerkerwelt find höher anzufchlagen als
das gar Nichts diefer ſchlechthin unfruchtbaren, aus dem Baume ber
— Schulweisheit herausgewachſenen communiſtiſchen Waſſer⸗
choͤßlinge
In der deutſchen communiſtiſchen Literatur iſt ſelbſt die Carricatur
des franzoͤſiſchen Communismus noch zu einem Zerrbilde entſtellt. Sie
hat ſich ſelbſt die Spitze abgebrochen, da ſie ſich in die Leerheit der ab⸗
folut bequemen, abec auch abſolut abgefhmadten Verneinung alles Be⸗
ſtehenden hinausgetrieben hat. Sie iſt nicht einmal eine Blaſe mehr
auf der Oberflaͤche eines gaͤhrenden Volkslebens; ſie iſt ſchon die zer⸗
platzte Blaſe, ſie iſt zu eitel Wind geworden. In der Lehre eines Weit⸗
ling hatte der Communismus noch einen Kern in rauher Schale. Seit
ſeiner Verfluͤchtigung durch die Juͤnger einer neuphiloſophiſchen Schule
iſt er nur ein widerliches Waſchweibergeſchimpfe gegen die „ſchlechte Ge⸗
ſellſchaft“, gegen die gutſWsenden Kannibalen“, gegen die „iſolirten,
einfaͤltigen Bloͤcke.“ Dieſe Species communiſtiſcher Doctrinaͤre, ihrer
Unfaͤhigkeit bewußt, etwas Beſonderes zu Stande zu bringen, hat ſich
mit dem Gemeinen ſogleich aufs Allgemeine geworfen; um keine Sot⸗
tifen im Kleinen zu machen, hat fie die Sottifen gleihy im Großen ges
madt. Indeß foll man nicht diefe ganze fogenannte communiftifche
Literatur der ſtarken Worte und ſchwachen Gedanken in Bauſch und
Bogen verdbammen. Es verſteht fih, daß bier nur von den Werken
ber tonangebenden Führer die Rede iſt. Sonft giebt es in unferer neue:
ſten ſocialiſtiſchen Preſſe noch gar Viele, die ſich Communiſten nennen
oder dafuͤr halten, weil ſie es weder mit Namen noch Sache ſehr
genau nehmen, weil ſie eine ſchon alt gewordene Mode noch als
neue Mode mitmachen; oder weil ſie in gutem Glauben neben
die Scheibe ſchießen, da fie ſich den Communismus ale das End⸗
ziel der großen ptoletariſchen Bewegung der Neuzeit vorſpiegeln. Bei
Communismus,. 71
ihnen finden ſich Manche, die ſich duch Schilderung geſellſchaftlicher
Mißſtaͤnde, wohl auch durch einzelne praktiſche Vorſchlaͤge zu ſocialen
Beſſerungen Verdienſte ermarben??). Aber Das thaten auch Andere.
Es bleibt dennoch wahr für die ganze ſocialiſtiſche Literatur: was darin
taugt, ift nicht Communismus, und was Communismus ift, taugt nicht.
Auch liegt bie eigentliche Miſere befonders darin, daß felbft Solche, bie
den feften Boden, die Kenntniß der Menfchennatur, des Volks, feiner,
Bedürfniffe und Intereſſen noch nicht völlig unter den Süßen verloren
haben, mit klaͤglicher Unfelbftftändigkeit des Geiſtes und Charakters den
bochfahrenden Phrafen einiger Schreier Beifall Elatfchen; bag es noch
immer eine allzu zahlreiche communiftifdy angeftrichene Literatenheerde
giebt, die fünf oder ſechs Worbrüllern blindlings nachrennt und fich von
ihnen zum Beſten halten läßt. Daran bat ſich eine Maffe gereimter
und ungereimter communiftifcher Poefie??) und Belletriſtik angehängt.
Und fo ift ein ganzer Schweif von Literatur entitanden, wodurch deutfche
Wiffenfhaft und Dichtkunſt im minder hart gewähnten Auslande blas
mirt werden koͤnnten, wenn man bort nicht Beſſeres zu thun hätte, als
davon Notiz zu nehmen. Das würde freilich die deutfchen Sommuniften
fehr wenig kümmern, ba fie es in ihrer genügfamen Selbflzufriedenheit
fogleih auf eine Alteweltszufriedbenftellung abgefehen haben und fich aus
dem bischen Vaterland und Volk fo wenig machen ale dieſes aus ihnen.
Betrachten wir nun zumal die deutfdy=communiftifhe Doctein in
ihrer ungeberdigen Verneinung von Eigenthum und Erbrecht, von Staat,
Geſetz, Vaterland, Nationalität, Religion und anderen Kleinigkeiten.
Dies kann in der Kürze gefchehen, da fchon in der Bildungsgeſchichte
des Eigentums und Communismus die verurtheilende Kritik des legtes
ren liest.
Der Communismus im Widerfprud mit ben gefeglid.
anertannten Berbindungen bes Menſchen mit.der Sachen
welt. Eigenthbum, insbefondere Eigenthbum an Grund
und Boden. Erbrecht Es giebt nur individuelles Menfchen-
leben, nur Xhätigkeit von fich, d. h. von feinem Ich aus oder nad)
ſich bin. Das Leben ift alfo in beftändigem Wechfel Production und:
Gonfumtion im weiteften Sinne?®). Indem ich meine Thätigkeit dus
83) Dahin gehören: ‚Die Lage der arbeitenden Clafle in England. V. $.
Engels,’ der fih die gründliche Erforfhung feines Gegenftandes Zeit und
Opfer hatte koſten laſſen; unzeine Auffüge oder Bruhflüde von Auffägen im
„Buͤrgerbuch“ (befondere Wolff über die fchlefifchen Zuftände und Unruhen);
in den, „Rbeinifchen Sahrbüchern für geſellſchaftliche Reform,“ im „Zeitfpiegel” '
u. e. A.
39) Das „Lied der ſchleſiſchen Weber” iſt mehr werth als neun Zehntheile
der ganzen Übrigen focialiftifchen Poeſie.
40) In diefem Sinne ift Ein= und Ausathmen Sonfumtion und Production.
Da wir keine Luft ausathmen, ohne erſt Luft eingenommen zu haben, fo ift das
ganz richtig, was zumal Proudhon bemerkt, daß hier und in allen Zällen,
der Production eine Conſumtion vorausgeht. Allein die Folgerungen find
grundfalſch, womit fich die Ginen eine abftracte fociale Gteichheit, die Anderen
1 Gommtmismus,
Bere, anf beflimmte Gegenſtaͤnde richte, wirken biefe fogleich auf mich
zuruͤck; ich nehme Eindrüde von ihnen in mich auf, ich trete alfo vor
anderen Denfchen mit biefen Segenfländen in eigenthuͤmlich beftimmte
und beftimmende Verbindung. Dies ift, wie ſchon hervorgehoben wurde,
ber in der Menſchennatur liegende Grund für die nothwendige Ent
flehbung des inbiniduellen und mannichfacher Arten des befondes
ven Eigenthbums, durch Die ausdrädtiche Anerkennung der zum
Staat verbundenen Geſellſchaft, d. h. durch das Geſetz. Und dies
gilt eben ſowohl für das Eigenthum am Boden, wogegen der Communis⸗
nme hauptfächlich zu Felde zieht, als für das an beweglichen Sachen.
Sa die Bildungsgrfchichte des Eigenthums zeigt ganz deutlih, daß füch
überall das Recht an Grund und Boden zuerft vollftändiger entwis
delt bat. Dies war ſehr natürlih. Gerade darum, weil wir der Erde
alle unfere beweglichen Güter durch Dceupation und Arbeit entnehmen,
war mit der Sicherung des Rechts von Individuen, Familien oder fon«
fligen Denfchenvereinen an beftimmten heilen des Erbbobens, zugleich
das Recht auf die Früchte bdeffelben gefichert. Mäherer Beflimmungen.
über das Eigentbum an Mobillen beburfte es dann erſt, als größere Gas
pitalien am beiweglichen Gütern gefammelt wurden.
Wie ſollte auch je das befondere Eigentum an Grund und Bos
den aufgehoben werben können? Die Kraft des Individuums und jedes
befonderen Vereins, der fi mit Bebauung des Bodens abgiebt, findet
ſtets in fich ſelbſt und in der Thaͤtigkeit Anderer eine nothwendige
Grenze. Schon darum ift die communiſtiſch⸗-herkoͤmmliche Phrafe,
daß die Erde gemeinfchaftlih fein muͤſſe wie die Luft, eben nur eine
Inftige Phraſe. Die Anerkennung jener Nothwendigkeit und ihrer Fol⸗
gen im Stante ift aber fchon die Anerkennung eines befonderen Eigen:
thums. Das märe eine faubere Wirtoͤſchaft, es wäre eine Probe jener
„Anarchie, momit bie „vorgerüdteren‘ Sommuniften uns beglüden wol⸗
Im, wenn der Eine dba Kraut ſaͤen Eönnte, wo der Andere Rüben gefäet
hat. Dergleichen koͤnnte aber nicht blos, es müßte auch gefchehen, wenn
nicht die landwirthſchaftliche Thätigkeit in bemeſſene Sphären gewie⸗
fen wäre.
Ermwidern dagegen die Communiften, daß mit‘ einer folchen noth⸗
wendigen Theilung der Iandmirthfchaftlichen Arbeit Anſpruch auf gemein-
fhaftlichen Genuß oder gleiche Wertheilung ber Fruͤchte des Bodens
nicht aufgehoben werde, fo erwidern fie nur in anderen Worten mit
berfelben Ungereimtheit. Man denke fi zwei gleich zahlreiche Gemein»
ben mit glei großen und gleich, fruchtbaren Gemarkungen, von denen
jede ihren Boden gemeinfchaftlich bearbeitet. Dies ift fchon eine leere
Abſtraction, wie fie nur die Anhänger der abfoluten Gleihmacherei zu
eine abftracte Bemeinfchaftlichkeit daraus deduciren wollten (f. oben). — Hanbelt
es ſich um eine Geſchichte und Statiſtik dir Production, fo giebt es fich von
feibft, daß nur von ber gefchichtlich germorbenen, d. h. von der in weiteren Krei⸗
fen ertannten und beacdhteten Production bie Rebe ift.
Gommuniömus,. 73
machen pflegen, weil folche Gleichheiten in ber Wirklichkeit nicht
vorfommen und vorlommen können. Aber gefest, ed wäre an Dem,
fo bfieben doch ba und dort die Individuen ungleih. Sins
den fib nun in ber einen Gemeinde mehr Mitglieder, die Arm und
Kopf für rationelle Bewirthfchaftung nicht viel anftıengen, fo haben fie
vorläufig damit ihre Individualitaͤt befriedigt. Wer Lönnte fie bins
dern, in einer relativ größeren Trägheit zundächft ihren Genuß zu fin»
ben? Die leiblich und geiftig X’hätigeren der anderen Gemeinde wer⸗
dem umter fonft gleichen Umftänden mehr Früchte probuciten; und weil
Dies die Fruͤchte ihrer befonderen Thätigkeit find, fo ſtehen fie zu dies
fen Fruͤchten vor ben Anderen in engerer Beziehung. An dem et⸗
waigen Genuß der größeren Bequemlichkeit, womit die Landwirthfchaft
in der anderen Gemeinde betrieben wurde, koͤnnte man fie nicht mehr
Antheil nehmen lafien, wenn fie auch wollten. Dit diefer Moͤglich⸗
keit ift e8 fchon lange vorbei, wenn ihre Früchte reif geworden find.
Will man fie alfo zwingen, diefe Früchte dennoch mit denen ber ande
ren Gemeinde in Gemeinfchaft oder gleihe Theilung zu werfen, fo
greift man in ihre individuelle Weife der Bethätigung gemaltfan ein,
fo maht man fie zu Sklaven, melde für Andre thätig fein mußten.
Dies ift eine Anwendung des auch von Proudhon aufgeftellten Sapes,
daß ber Communismus in allen Formen und Mobdificationen die Tyrans
nei der Schwachen über die Starken, daß er alfo die unnatürlichfle und
unbaltbarfte aller Zyranneien ift. Ä
Was im Verhältniffe zwifchen Gemeinden gilt, gilt für: das zwi⸗
Shen Einzelnen. Communiftifhe Gemeinden befiehen oder haben ber
ftanden. Indem fie ſich bildeten, baben die Theilnehmer ihr perfönlis
des zu ihrem gemeinfchaftliden Eigenthum gemacht und von dem als
lee Anderen unterfchieden. Und fo ift daraus doch nur wieder ein
befonderes, wenn aud kein individuelles Eigenthum entftanden. Ale
diefe Gemeinden oder die niemals in allen Beziehungen auf Communie-
mus gegründeten Kleinitanten*!), in denen eine gewiſſe Gemeinfchaft
———
41) Als Beleg für die. Möglichkeit bes Sommunismus in größeren Staaten
berufen fi) wohl auch dic Anhänger bdeffelden (wie Cabet) auf Altperu. Aber
im monardifch = theofratifchen Reich ber Inka beftand eine Ahnlihe Theilung
des Grundeigenthums wie in den altgriechifchen Staaten; fo wie in den eingels
nen @emeinden eine gemeinfchaftliche Arbeitsleitung und Arbeitsorbnung. Außers
dem ließ man fich in ziemlich weitem Umfange die Sorge für die Armen ange
legen fein; aber bag es Arme und Felder der Armen gab, ift fchon cin
Beweis gegen ben Beſtand eines peruanifchen Gommunismud. Cbenfo wenig
tann man ſich auf das frühere Paraguay, auf dieſes jefuitifche Ikarien berufen,
wo bie erft der Geſellſchaft Jeſu unterworfenen fünfzig Sndianerfamilien zulest
auf 300,000 gewachſen waren. Haben auch Montesquieu (eapr. de lois I.
IV. c. VI.), Herder (Adraftca) u. X. mit den Lobfprüchen auf den merkwuͤr⸗
digen Priefterftaat in gewiſſem Betracht ganz recht; fo ift doch nicht zu über:
fehen, daß ber Zefuitenorden der eigentliche Eigenthuͤmer und Arbeitshere, und
daß das ganze Land eine große Plantage war, bie mit geiftlich gezähmten und
leiblich wohlgenährten Sklaven beftellt wurbe.
va Communiſsmus
von Production und Conſumtion moͤglich war, konnten uͤbrigens nur ſo
lange beſtehen, als ſich nicht im Fortſchritt der Bildung die Indivi⸗
dualitaͤten mit eigenthuͤmlichen Forderungen, Anſpruͤchen und Intereſſen
ſchaͤrfer hervorhoben. Darum war es immer die Bedingung ihres Be⸗
ſtands, daß alle Theilnehmer moͤglichſt unter daſſelbe Niveau nieder⸗
gedrückt wurden. Soweit nun dieſe negative Bedingung, dieſe kuͤm⸗
merliche Einfoͤrmigkeit der Bildung und Intereſſen noch vorhanden iſt,
ſoll der Staat der Gruͤndung ſolcher Gemeinſchaften nicht in den Weg
treten. Man mag deren ſo viele ſtiften als man will und ſo lange man
kann, wenn nur der freie Austritt geſtattet und damit das Recht ge⸗
ſichert bleibt, auch für ſich zu ſein und zu erwerben, alfo inbividu»
eller Eigenthämer zu roerden. Aber alle diefe Communismen find
kein foclaler Communismus. Diefer wäre erft da, wo ſich der Einzelne
der Gemeinſchaft nicht fo weit entziehen fönnte, um feiner Indivi⸗
bualität nad), darum mit Ausfchluß Anderer, für fi) zu erwerben. und
"zu haben. Als allgemeines und barum als nothmendig zwingendes
Inſtitut bleibt aber dieſer Communismus nur das Gedankending einer
unmöglichen Tyrannei; wie ſehr man biefe auch mit der Verheißung
von taufenderlei Genuͤſſen u. dergl. zu verſchleiern bemüht fei. Er ifl
ſelbſt unmöglich in jedem größeren Staate mit freier und darum mans.
nichfaltiger Bildung. Er iſt es fo fehr, daß felbft Cabet in feinem
Ikarien ein perfönliches Eigenthum als herkoͤmmlich fort und fort
vorausfegt, wie fehr er fih auch Mühe giebt,. diefe Vorausſetzung
nicht auszufprechen. „La loi laͤßt feine fo herrlich und in Freuden
lebenden „„fermiers“ im ruhigen Befig ihrer Landguͤter. Es beftinmt
nur, welches Quantum von Früchten fie in die „öffentlichen Magazine” -
abzuliefern haben, mas denn nichts weiter als eine Naturalabgabe
ift, weil ſich Cabet in den Kopf gefest hat, das Geld abfchaffen zu
wollen. Er hat die meitere Gaprice, daß es angenehm wäre, wenn
bie Leute familienweife zufammenmwohnten. Statt nun bie Leute biefe
etwaige Annehmlichkeit gerade fo theuer bezahlen zu laffen, als fie
ihnen merth iſt, läßt er „la loi“ befehlen, daß die nicht zur Familie
gehörigen Nachbarn einer zahlreicher gewordenen Familie Plug zu mas
hen haben. Daß dies nur in dieſem Falle gefchehen foll, deutet doch
wieder auf ein gefeglich gefchügtes Beſitzthum, mit den vom Gefeg
ſelbſt mit Rüdfiht auf ein angeblich allgemeines Intereſſe beflimmten
Ausnahmefällen. Es ift aber freilich nur wieder Cabet's Laune, bie
er „Geſetz“ nennt und die von anderen Gommuniften „Wiſſenſchaft“
getauft wird.
Mas vom Eigenthum, gilt im aleihen Maße vom Erbrecht für
bie unter fih und mit beftimmten Theilen der Sachenwelt enger ver⸗
bundenen Sindividuen. Es gilt alfo namentlid für das Erbrecht in ges
rader Linie und zmifchen Ehegatten. Sobald fich irgendwo Individuen
in ein beflimmtes Befigthum, in eine damit zufammenhängende eigen:
thümliche Weife der Confumtion und Production eingelebt haben, ift
das gemwaltfame Herausreißen aus dem Boden, worin bereits diefe ober
r Sommunismus, 75
jene Perſoͤnlichkeit ihre Wurzeln geſchlagen hat, doch nur ein nichtkwuͤr⸗
diger, verlezender Eingriff in das Recht der Individualitaͤt ?2).
In einem Auffag „gegen bie Sommuniften” von 8. Heinzen
kommt biefer doch fchließlich zu dem Vorſchlag einer Gonfolidirung alles
Grundeigenthums in der Hand des Staates, einer Verpachtung deſſel⸗
ben an Einzelne und einer Aufhebung des Erbrechts2). Möge er fi
hüten, daß ihm nicht bie Communiften ihre „Bravo!“ zurufen; daß fie
ihn nicht trotz aller Verwahrung un'er „ihre Leute” einregiftriren. Es
bat indef feine Noth mit dem Amt des Staats als Generalverpäcdhters,
mit neuen nflituten nach dem Mufterbilde eins Mehemed Alt.
MWill nicht der. Staat — und er dürfte nicht wollen — die ſchimpf⸗
liche Rolle jener irifchen und englifhen Grundeigenthümer mit willkuͤrli⸗
cher maſſenweiſer Entfegung der Pächter fpielen, fo wuͤrde er doc, den
rechtlichen Beſitz derfelben anerkennen und bdiefe Anerkennung im Ge⸗
feg ausſprechen muͤſſen. Damit würde fih, wie man die Hand unıs
kehrt, doch wieder der Pachk in perfönlihes Srundeigenthum und ber
Pachtzins in Steuer verwandeln. Ganz fo ift es mit dem Erbrecht.
und anders kann es nicht fein! Trotz allen Mißftänden in der jegigen
Vertheilung des perfönlichen Eigenthums an beweglichem wie an uns»
beweglichem Gut, ift diefes doch fo tief im Weſen des Menfchen begrün>
det, daß 28 bie Herren immerhin in Gedanken zur einen Thür hin⸗
auswerfen koͤnnen; es kommt ihnen doch wieder zur anderen Thür hers
ein, wenn ihnen nur nicht der Verſtand felbft communiſtiſch ſtillſteht.
Fortſetzung: Arbeit. But. Waare Werth. Confumtion.
Gapital. Geld. Taufdh. Kauf. Pacht. Zinfen. Kohndienfte.
Derf. g. organifirte Productenaustaufh des Communismuß,
Jede Arbeit ift Production, aber bei Weiten nicht jede Production Arbeit.
Die Arbeit ift bie verftändige Thätigkeit bes Menfchen zur Umbils
bung eines Segenftandes der Sinnenmwelt, damit er zu einem menfchli«
hen Zweck diene, zu etwas gut fei, zu einem Gut merde. Als vers
ſtaͤndige Thaͤtigkeit muß die Arbeit ihren Zweck erreichen ober doch auf
dem rechten Wege zu beffen Erreichung fein. Schon in der Volksſprache
ift das Alles genau genug bezeichnet. Das Volk nennt ebenfo wenig
das 5106 zufällige Kinden oder die bloß fpielende Xhätigkeit mit
ihrer möglichen zufälligen Production eines Guts Arbeit, als das Zer⸗
flören oder das von Anfang an als vergeblich erfcheinende Bemühen um
Erzeugung eines Guts. Das Lestere bezeichnet es etwa als ein „ſich
Abarbeiten” und faßt es alfo als Gegenſatz ber vom Ich aus auf
ein Anderes gerichteten Arbeit. Was für den Einen, kann für den
Andern noch in höherem Grade gut fein. Im Austauſch von Gut ges
42) Ueber die Mißftände und Ausmwüchfe des jegigen Erbrechts, auch in
ber geraden Linie, fiche „Erblichfeit.”
49) ©. „Die Oppofition 1846. Es iſt indeß zu bemerken, dag Heinzen
feine unmaßgebiichen Vorfchläge nur andeutet, ohne dabei in den communiflifch
herkoͤmmlichen Dünkel der Unträglichleit zu fallen.
70 Communiſsmus
gen Gut wird es zur Waare. Dabel wirb ein Gut mit dem andern
verglichen, das eine wird nach dem andern geſchaͤtzt; der Ausbruck
dieſer Vergleichung iſt der Werth; und im concreten Falle der Preis
oder das was bie Arbeit koſtet. In feiner wirklichen Verwendung zum
Zweit fällt das Gut unter den allgemeinen Begriff der Gonfumtion.
Durch feine befondere Beflimmung für ben Zwed einer weiteren Pros
duction wird es zum Egpital**). Diefelbe Sache wird alfo zu Diefem
oder Jenem je nach ber Beftimmung, die ihr der Menſch giebt. So
ift ein beſtimmtes Grundftüd, das fidy unter dem: Pflug befindet, Ge⸗
genftand der Arbeit oder Arbeitsftoff; mit Ruͤckſicht auf bie daraus zu
gewinnenden Fruͤchte ift es Arbeitömittel, Arbeitsinſtrument und
Capital, fo gut wie der Pflug, womit baffelbe bearbeitet wirdz im
Austauſch gegen andere Sachen wird es zur Waare, hat Werth, bes
ftimmten Preis u. f. w. Werben die Früchte davon geerntet, fo wirb
es confumirt; denn bie Sonfumtion eines Guts ift immer nur deffen
Verwendung zum Zweck, wobel bie Materie, der Stoff nicht vernich⸗
tet, fondern nur anders geftaltet wird, mie es denn überhaupt Feine
Dernichtung, fondern nur eine beftändige Zransformation der Dates
rie giebt.
Das Alles ift auch auf das Geld anwendbar. Die Communiften
haben feine Bebeutung nicht begriffen und fuchten fi, alfo eine Satis⸗
faction für ihre Confuſion dadurch zu verfchaffen, daß fie das verrüde
tefte Kauderwelſch über die „fchnöde Schlacke,“ den „allgemeinen Pluns
der,’ den ‚Pfahl in unferm Fleiſche,“ über die „ntäußerung des
Mefens des Menfhen im Gelbe”, über die „Im Gelbe ſich ſelbſt
teanfcendent gewordene Menfchennatur”‘, über das „als Geld ver:
goffene fociale Blut”, über da „Geld ale realifirtes Weſen des
Chriftenthums” (!) u. dgl. zu Markt brachten, was als allgemein nicht
geltend freilich Beinen Heller werth iſt. Diefe communiftifhen Veraͤch⸗
ter der Autorität der Gefchichte und des Wölkerlebeng , diefe Gegner des
Sndividualismus haſchen doch beyierig nach individuellen Autoritäten.
Da werden ein Locke u. A. citirt 2°), wenn fie etwa in einem ſchwachen
Augenblick eine vage Bemerkung gegen das Geldweſen hingemworfen ha⸗
ben. Reicht die Profa nicht aus, fo verftedt fi) bie communiftifche Ge⸗
dankenlofigkeit hinter die Poefie. Für weit die meiften Verkuͤnder der
44) Die gewöhnliche Bezeichnung bes Capitals als ‚aufgchäufte oder ge⸗
fammelte Arbeit ift falfh. Dean kann fich diefen Ausdrud nur ald Dinweifung
darauf gefallen Laffen, daß in der Regel bad Capital das Erzeugniß einer
länger dauernden Arbeit ift. Weiteres darüber bei „Proubhon,’ beffen irrige
Lehre zum Theil auf der irrigen Auffaffung von Capital beruht ; ber aber
in der Conſequenz feines Irrthums noch fo fcharffinnig ift, daß er zu ben we:
nigen bem Communismus nahe ftehbenden Gchriftflellern gehört, auf deren
—* naͤher einzugehen der Muͤhe werth iſt.
45) Sogar Montesguieu mit einigen Bemerkungen über das Geldweſen
in ganz fpecieller Beziehung auf beftimmte Staaten und beftimmte Staats:
einrichtungen.
Gommunismus. 77
Gemeinſchaft, für diefe fchreienden, zappelnden Kinder, bie fich ſelbſt
mit dem Bade ausfchütten, ift nun gerade das Halloh für die Abſchaf⸗
fung des Geldes zum Schiboleth geworden. Der relativ Verſtaͤndigſte
unter den deutſchen Sommuniften von einigem Ruf eder Verruf iſt
wieder Weitling. Er hat body eine Ahnung davon, daß fich ber freie
individuelle Austauſch von Gut gegen Gut nicht verhindern läßt. Das
sum will er den Mitgliedern feiner fchlechten Gefellfchaft neben ben
ſechs Stunden Tagesarbeit, wozu Jeder verurtheilt ift, noch fogenannte
Commerzſtunden oder meitere Arbeitsftunden geflatten, die in Commerz⸗
bücher eingetragen. und gegen beliebige Güter, etwa eine Commerzflunde
gegen eine Flaſche Wein, ausgetaufcht werden koͤnnen. Er fegt alfo
nur ein ſchlechtes, unbequemes Papiergeld an die Stelle bed bequemen
Metallgelds. Damit aber ja keine größeren Gapitalien gefammelt wers
den koͤnnen, will er die armen und in feiner Vorausfegung armfeligen
Individum auf eine beftimmte Zahl Commerzflunden befchränten.
Das kümmert ihn nicht, daß dieſes oder jenes SSndividuum nur gerade
jest die Kraft und Neigung haben ann, über das feftgefegte Maß bins
aus im Voraus für ſich zu arbeiten. Er will alfo bie, freie Bethäti-
gung. der Individualität in ihren Verbinbungen mit ber Sachenmwelt zwar
nicht ayfgehoben, aber dach gründlich verflümmelt haben.
Das Gerd ift Gut, Waare, Werth u. ſ. w., wie jedes andere Er-
zeugniß ber Arbeit, je nach der Beftimmung, die man ihm giebt. Es
wird in jedem Augenblide confumirt, da es zu feinem Zwecke verwendet,
db. h. ausgegeben wird *%). Sein Zweck ift, als moͤglichſt aligemei-
ne6 und darum vom Staat garantirtes Taufchmittel zu. dienen. Da»
mit es dazu dienen koͤnne, werden die zu verwendenden Metalle in ein»
zeine Werthzeichen. (Münzen) verprägt, bie einzeln oder. in Summen
möglichfi alle Werthe ausdruden, bie eben darum der bequeme Maß⸗
ftab für die Schägung aller Waaren find. In diefer vervolllommmer
ten: Geflalt, die nicht mehr bie erfte rohere Form des Geldes iR, ‚dient
es auch zur Befeitigung ber beitdufigen Ungleichheiten des befonderen
Tauſches: fol eine Waare von größerem gegen eine von geringerem
Werthe vertaufcht werden, fo wird die Differenz mit Geld ausgegli⸗
hen. Fernar iſt es dadurch ein zweckmaͤßiges Werkehrsmittel, dag es
vielfach einer laͤſtigen Sorge fuͤr die Erhaltung und Aufbewah⸗
rung ſowie für den Transport von Waaren uͤberhebt, einer Sorge,
die gar oft nicht einmal ihrem Zweck erreichen Einnte. Der Baͤcker, der
zum Ueberfluffe für den eigenen Bedarf Brod gebaden und gerade ein
46) Die Verwirrung, bie noch da und bart in ben Begriffen über das
Geldweſen berrfcht, beruht zum Theil darauf, daß die Münzen nur einer langs
famen Abnugung unterworfen find und barum, nach einem noch herrfchenden
Borurtheil, Teiner eigentlichen Gonfumtion unterliegen follen. Aber das Abſchlei⸗
fen der Münzen durch die Sonfumtion ift fo wenig dieſe felbft ald das Abnu⸗
gen von Handwerkszeug burch den Gebrauch , oder als das Eſſen eines Stüͤcks
Brod6 das zerfaute Brod if. Das Alles find nur Kolgen einer als „Con⸗
fumtion” bezeichneten Th ätigkeit des Menfchen.
Mm
78 Communiömus.
Paar Schuhe nöthig hat, braucht nicht erſt fein Brod trocken werben
zu lafien, um dann noc den vergeblichen Verſuch zu machen, feine
werthlos gewordene Waare gegen Schuhe auszutaufhen. Und weil
ber des Brodes Beduͤrftige diefes für Geld Laufen Tann, bat er
nicht nöthig, ſich erft bei dem’ Bäder zu erkundigen, ob und welcher
Schuhe diefer bedarf, um dann hungrig in der Welt umherzulaufen, bis
er das zur Befriedigung des anberfeitigen Bebürfniffes gerade paſſende
Taufchmittel aufgetrieben hat. Was für den Meinen täglihen Verkehr
gilt, gie in noch viel höherem Maße für’ den großen Verkehr In bie
Ferne, wofür das Metaligeld , die darauf bafieten verfchiebenen Arten
des Papiergeld8 und der hierbucch in größerer Ausdehnung etft möglich
gewordene Credit bei Weiten die wichtigſten Mittel ber Erleichterung
und Befchleunigung geworden find #7). Ä
Das Geld kann aufgehäuft und geſammelt werben, wogegen
fi) bie Communiſten beſonders ereifern. Daß dies gefchehen kann,
ohne daß es verdirbt, macht es gerade zum zweckmaͤßigen allgemeinen
Tauſchmittel. So kann auch bet Wein in den Zäffern gefammelt wer:
den und Hat noch die befondere -Eigenfchaft, daß er während geraumer
Seit durch‘ das bloße Liegenlaſſen und eine fehr geringe Sorge um ihn
fit) verbeffert, daß er fih in felnem Werthe erhöht. Diefe Ei⸗
genfchaft hat wenigfiens das Geld nicht, weil es als Tauſchmittel ſei⸗
nen Nugen immer nur dadurch bringt, daß es vertaufcht, daß es fort
und Fort in: Circulation geſezt wird. Aber gerade weit: dus Geld in
größeren oder’Heineren Summen geſammelt werben kann, kann e8 auch
uͤberallhin verthellt werden. Jene Sammlung ifl ja ſchon eine Ver
thellung. Und wie das Gelb feinem Weſen und Zweck nah zunaͤchſt
der Erleichterung des individuellen Verkehes und ber Ausgleihung der
Ungleichheiten des Tauſches dient; wie es alfo von Anfang an ein Mit:
tel zur Erhaltung einer wahren und vernünftigen Gleichheit gemefen
ft: fo kann das Geldweſen gerade in feiner jegigen volllommneren Ent⸗
widelung‘ für’ den Staat das Mittel und zwar das allein zueeichende
Mittel werben, durch zwedimäßige Befleuerung alle widernatuͤrlichen,
die freie individuelle Ausbildung hemmenden Ungleichheiten des Beſites
und Erwerbs fort und fort zu befeitigen. Darauf alfo fol ſich vor Allem
die Thaͤtigkeit der wahren Volksfreunde richten, die fich ſchaͤmen, das
hungernde Proletariat mit faulen Phrafen gegen das f. g. Geldſyſtem
abfüttern zu mollen. Alle jene communiftifchen Diatriben haben doch
47) Bergl. den Art. „Geld.“ In der Gefchichte der Production iſt bie
Erfindung des Metallgeldesſganz Daſſelbe für den materiellen Verkehr, was
die Erfindung der Buchftabenfchrift für den peiffigen Verkehr. Daß dies fo tft
und fo fein mußte, babe ich in der Schrift „Die Beanegung der Production”
gezeigt. Dagegen find die Herren M. Heb und K. Gruͤn mit den feidhteften
nwenbungen aufgetreten. Es verftebt fich, daß fie die Bedeutung bed Geldes
nicht verfteben, daß fie fi) um die Gefchichte des Geldweſens nicht bekuͤm⸗
mern durften, um in Ihrer Weife communiftifh darüber phantafiren gu können.
Näheres in „NRumismatit.”
Communismuß. 79
nur: ihre Entſchuldigung, aber keineswegs ihre Rechtfertigung in bem
Bucher verfchiedmer Art, der auch mit dem Gelde getrieben wird, im
bee. . durch die fchlechte Wertheilung bes Geldes möglich gemorbenen
Ausbeutung ber Armen durch die Reihen. Nun ja! Auch der Stahl
laͤßt ſich zum Banditendolch fchleifen und das Geld läßt fi nicht we⸗
niger mißbrauchen, als ‚die communiftifhen Schriftiteller das Denken
und die Schrift mißhandeln. So gut fie aber das Geld im Hinblid
auf: die „fchlechte Geſellſchaft“ befeitigen mollen, eben fo gut dürfte fich
von je: zwei dieſer Communiften Jeder die Augen ausreißen, weil er
den Andern vor Augen hat. Es bat indeß keine Noth mit all den uns
gereimten Declamationen gegen das Geld. Die proletarifchen Bewegun⸗
gen haben mit bem ‚Verlangen begonnen und werden mit der Befriedi⸗
gung des Verlangens endigen, nicht bag das Geld abgeſchafft werde ),
fondern dab ſich jeder Arbeiter gegen mäßige und geficherte Arbeit ein
binlängliches Quantum von der zum allgemeinen Zaufchmittel fo taug⸗
lichen „ſchnoͤden Schlacke“ verdienen koͤnne. Und darin hat das
Bo ganz Recht.
Die mannichfachen Beduͤrfniſſe der Gonfumtion wecen eine mans
nichfaltige Production. Im daraus nothwenbig entfichendben Austaufch
der Produete iſt auch ber Kauf, das Dingeben einer Sache gegen Gelb,
nur eine befondere Korm bes Tauſches. Mit dem Gelb waͤre alfo ber.
Kauf abgefdyafft, d: h. der Kreis der möglichen Aeußerungen einer. freien
en Ihktigkeit! waͤre gewaltſam beengt und beſchraͤnkt. Wie
gegem en Kauf und Verkauf, fotglich gegen \den: Handel, den fie nur in
feiher jetzigen Zerriſſenheit und 'in:.feinen Auswäcfen:auffeßten, find.
bie Sonmmuniften zumal gegen Pacht und Pachtzins losgefnhren, ob
letzterer nun Selb s- oder: Naturalzins ſei. Und dies thaten fie. aus dem⸗
ſelben Grunde, weil ſie in ihrem Haß gegen das perſoͤnliche Elgenthum
ſtets ſo weit gehen, daß fe ſich nicht einmal den Begriff ber Sache an:
eignen, :Die'fie beplaubern. Darin bethaͤtigt ſich die freie Judividualitoͤt,
de h. der wirkliche und leibhaftige ganze Menſch, daß er nad). feinem
Willen. von einer Weiſe ‘der Conſumtion und Production zur andern
übergeht und darum feine Probnctionsmittel‘. "gegen andert vertaufcht.
Hat: der Eigenthünter eines Grundſtuͤcks etwa. Neigung, ein Jahr lang
das Schteinerhandwerk zu treiben, und ein Schreiner. das Grundflüß
zu bebauen und die Krüchte davon zu ziehen: fo koͤnnen ſich Beideda⸗
bin vertragen, daß Jener dem Schreiner ıfein Grundftüd, daß Die
fer dem Srunbeigenthümer etwa einen Vorrath .an Holz überläßt.. Was.
fe The das eine Jahr befäloffen haben ,. koͤnnen fie für. das folgende
Jahre oder im Voraus für eine ganze Reihe von Jahren befchließen.
Und flatt den Arbeitsftoff Boden gegen den. Arbeitsſtoff Holz zu ver:
taufchen, Tann der Pächter eben fomohl Gelb gegen Boden vertaufchen,
alſo einen Pachtzins entrichten und dem Verpächter es überlaffen, tie
— —
48) Proudhon iſt vernuͤnftig genug, das Geld in feiner Geſellſchaft
beibehalten zu wollen. Das wird ihm von K. Gruͤn ſehr uͤbel genommen.
80 Communismus,
er Ihn anwenden wil. Ganz bdaffelbe gilt bei dem Darlehen: in
Geld gegen Geldzins. Denn es ift wieder völlig gleichgültig, - ob ein
fo oder fo beflimmtes But gegen ein anderes Gut ausgetaufcht wird,
oder ob dies in der Form des allgemeinen Tauſchmittels, des Geldes,
gefchieht. Der Eine Eönnte ſich doch wieder für das empfangene Capi⸗
tal den Arbeitöfloff Boden, der Andere für den emfangenen Geldzins
den Arbeitsftoff Holz oder was fonft verfchaffen.
Die Phrafen gegen den Geldzins find alfo durch und durch gehalt«
los. Sie find gerade fo hohl, ale das communiftifche Zetergefchrei gegen
ben Eohndienft, als 3. B. der Zabel eines 8. Grün gegen Proud⸗
ben, daß auch er nicht „über die Kategorie bes Lohndienftes hin⸗
weggefommen ſei.“ Dem Miether des Dienftes iſt es nicht um bie Ar⸗
beit zu thun; er kauft für Geld nicht die Arbeit, nicht die Thaͤtigkeit
bes Menſchen, fondern das Product der Arbeit, die gearbeitete Sache,
ob nun bdiefe in einem gepflügten Ader, in gebürfteten Kleidern,
in gepugten Stiefeln oder was fonft beſtehe. Wenn fich die durch
die Arbeit probuciete oder modificirte Sache von felbft ‚machte, bedürfte
es keines Lohne... Da dies nicht ber Kal iſt, wird eine geacbeitete Sache
gegen eine andere gearbeitete Sache, gegen Geld, umgetaufcdt.. Alfo
find Kauf, Pacht, Miethe, Lohndienfle immer und immer nur Verträge
über den Austauſch von Sachen. Ohne verlegenden Eingeiff in has
ewige und einzige Menſchenrecht ber freien Berhätigung ber Individua⸗
litaͤt koͤnnen ſolche Verträge nur ungültig fein, wenn fie in ſich felbfi
eine Verletzung enthalten; alfo bei wefentlihem Irrthum und bei pſy⸗
chologiſchem oder muterielem Imang (Betrug und Gewalt), Darauf
hat aber :bie „fchlechte Jurisprudenz“ ſchon lange Bebacht genommen,
ohne erſt auf die moderne communiftifche Verfchlimmbeflerung warten zu
maͤſſen *°).
Wird eine Sache, die am allgemeinen Maßſtab des Geldes ges
meffen einen größeren Werth hat, mit Bewußtſein und. freiwillig gegen
eine Sache von geringerem Werth vertaufcht, fo erhält der Vertrag im
Beziehung auf die Differenz die Bedeutung einer Schentung. Da
ber Grund ber Ueberzahlung nicht in ber Sache liegt, für die eine
werthvollere hingegeben wird, fo fann fie nur in einem beflimmten per
fönlichen ntereffe des Schenkers für den Beſchenkten liegen. Aber
auch diefes perfönliche Intereſſe iſt das Erzeugniß einer Thaͤtigkeit des
Befſchenkten; hätte gleich feine XThätigkeit nur Unwillkuͤrlich produ⸗
cirt und beftünde das Product in nichts Anderem als etwa in dem das
Mitleid erwedenden Ausfehen eines Menfhen, das den Schenker
49) Eine ungulänglihe Auffaffung des Werhältniffes ber Arbeiter zum Pros
duct im berühmten Werke von A. Smith, womit auch eine ungenügende Auf⸗
feflung ‚von (Srundrente und Gapitalrente zufammenhängt, bat fih Verwirrun
ftiftend in die Volkswirthſchaftslehre eingefchlichen. Diefen Irrthum babe fi
Proudhon und die ihn nachtretenden communiftifchen Scyriftſteller ange
eignet, aber zugleich in ihrem Ginne auszubeuten geſucht. S. barüber
„Proudhon.”
Communismus 81
zum Schenken beſtimmt. Darum iſt ſelbſt die ſ. g. reine Schenkung
doch immer ein Austauſch von Erzeugniffen menſchlicher Thaͤtig⸗
keit; nur daß nicht jede menſchliche Thaͤtigkeit Arbeit und nicht je⸗
Des Erzeugniß dieſer Thätigkeit etwas Erarbeitetes it). Auch im
Geblet der Schenkung muß alfo diefelbe freie Berhätigung der Indivi⸗
duen, wie bei Kauf, Pacht u. bgl. anerkannt werden®!). Es ift mit:
bin fo thöricht als unausführbar, die Beflimmung der Waaren preiſe
von etwas Anderem abhängig machen zu wollen als von ber freien
Concurrenz der Meinung, aus der fi) fort und fort eine äffentliche und
vorherrfchende Meinung entwidelt 52). Nur muß diefe Concurrenz, und
barauf kommt Alles an, eine wahrhaft freie fein.., Dies iſt fie
nidyt bei bem jegigen Uebergewicht der Reichen über die Armen, ber Gas
pitaliften und Arbeitsherren über bie Arbeiter. Sie ift es überhaupt nicht,
ſoweit einem Menſchen das ihm Nothwendige nicht gefichert iſt; for
bald er alfo durch Entziehung des Nothwendigen gezwungen werben
Tann, das etwa in zwoͤlfſtuͤndiger Tagesarbeit von ihm Erarbeitete gegen
das in einflündiger Arbeit von einem Andern Erarbeitete umzutaufchen.
Darum aber ftellt fi) immer wieder als die einzige Aufgabe hervor,
daß jedem Mitglied der Geſellſchaft, gegen mäßige und verhältnißmäßige
Arbeit, vom Repräfentanten ber öffentlihen Meinung, vom Staat, das
Nothivenbige gefichert werde. Iſt für jeden Einzelnen dieſe Lebensbafis
einer freien Entwidelung nicht blos in Worten, fondern auch ber Sache
nad) garantirt, fo macht fich alles Weitere von felbfl. Jeder vers
taufcht dann nur die Erzeugnifie feiner Thätigkeit gegen die Erzeugniffe
der Thätigkeit des Anderen, wenn ihm diefe mehr werth find als feine
eigenen, fo daß im Austaufc, Keiner mehr verliert, fondern Jeder ges
winnt. Dann braucht man fid) zumal auch darum Leine Sorge gu ma⸗
chen, daß bejondere Talente unverhältnißmäßig belohnt, daß etwa die
Rouladen einee Sängerin mit Zaufenden bezahlt werden fönnten.
Was meint nun der Communismus an die Stelle der freien Per
föntichkeit fegen zu koͤnnen, die fich von geficherter Baſis aus auch im
freien Austaufh der Erzeugniffe ihrer ZThdtigkeit offenbart? abet
und Weitling erfinden fich öffentliche Magazine, in die alle oder body
die nicht der unmittelbaren Gonfumtion der Producenten überlaffenen
50) Roch weniger ift jedes Product ber Menfchenthätigkeit, auch nicht jedes
uct ber Arbeit, der mögliche Begenftand cines weitern Austaufches
und des möglichen Marktverkehrs. Dabin gchöfen z. B. die Erzeugniſſe der
tünftlerifchen Arbeit von Schaufpielern, Sängern u. f. w., die fogleih con=
fumirt werben.
51) Die fogenannten Schenfungen auf den Todesfall und Bermaͤcht⸗
niffe aller Art find Feine wahren Schentungen. Das vernünftiger Weile
anzuertennende Erbrecht beruht darum auf etwas ganz Anderem als auf der
Dispofitionsbefugniß des Grblaffers über feine Lebenszeit hinaus. S. „Erblichkeit.“
52) Auch wenn der Staat eine Polizeitaxe feftfept, wenn er 5. B. die früher
herkömmlichen Brobpreife ermäßigt, ftüßt er fi) doch nur auf bie öffentliche
und vorherrfchende Meinung der Brobconfumenten und handelt als Repräfentant
berfelben gegenüber ber befonberen Meinung ber Bäder und Brodverkaͤufer.
Suppl. 3. Staatslex. II. 6
z2 Communiſsmus
Producte abgeliefert werden muͤſſen, um von da an die Conſumenten
als normalmaͤßig zugeſchnittener Bedarf vertheilt zu werden. Man hat
Magazine und Waarenlager errichtet und mag ſie ferner nach Luſt und
Lieb errichten, damit Jeder nach Auswahl die Erzeugniſſe Anderer gegen
die ſeinigen eintauſche. Aber wenn er nun dieſe Wahl ſchon in der Naͤhe
getroffen, wenn er ſich bei dieſem oder jenem Producenten gerade bie
Sache ausgefucht oder beftelle hat, die feinen Bedürfniffen, Interefſen
nnd Wuͤnſchen entfpricht — marum fol biefe Sache entweder gar
nicht producirt, oder doch erft an andere Perfonen und andere Orte
abgeliefert werden, wo fie vorerft nicht confumirt, nicht zu ihrem
Zwecke verwendet wird? Warum foll der gerade dieſe Sache Begeh⸗
rende erft noch in das „fociale Magazin” wandern, ober es erſt abwar⸗
ten, ob ihm etwa ber Zufall der Vertheilung die begehrte Sache zufals
fen oder nicht zufallen laͤßt? Diefe ganze fogenannte Organifation
des Productenaustaufches, wodurch der den Gommuniften fo verhaßte
individuelle Handel befeitigt werden foll, läuft body nur auf bie wider⸗
natuͤrlichſte Beſchraͤnkung des individuellen Handelns hinaus. Sie
zwingt vom geraden Wege ab zu Ummegen, auf denen das Biel der
Befriedigung der Individuen nur fehwieriger oder gar nicht erreicht wer⸗
den kann. Statt eine Abkürzung der Arbeit zu fein, ift diefe Drganls
fation genannte De sorganifation des Handels bie augenfälligfte und laͤ⸗
herlichfte Verſchwendung von Zeit, Transport und Arbeit. Cabet
fühlte dies felbft: darum müffen die zahlreichen ikariſchen Eiſenbah⸗
nen’ herhalten, vermittelft welcher der ganze Hustaufch fehr gef hwind
von Statten gehen fol. Hinter dieſer Zafchenfpielerei fol die ge⸗
ſchwinde überflüffige Verſchwendung von Kräften verftedt merden.
Eine ſolche Gefhmwindigkeit ift freilich am menigften Dererei und Ca⸗
bet ein Herenmeifter.
Noch viel bequemer machen es fich die nachhegel’fchen Doctrindre
bes deutfchen Communismus. M. Heß decretirt den „organifirten Proz
ductenaustaufch” fchlechtmeg. Aber darin liegt’ eben, daß jeder Menſch nur
von fich aus den Kreis feiner individuellen VBedürfniffe und Intereffen
fo wie der Mittel ihrer Befriedigung beftimmen Fann, daß alfo auch
ber Austaufch der Producte von den Einzelnen aus und in freien Ders
einen, alfo nach Individualität und Dertlichkeit, fort und fort ſich felbft
organifiren muß; daß eben darum das Privateigenthbum und der freie
Austaufh in Kauf, Pacht, Miethe, Lohndienften. Schenkung u. oͤgl.,
kurz daß der ganze freie Handel nothmentig bleibt, wenn nicht die
Menfchennatur felbft mißhandelt werden fol. Da reden aber biefe
Communiften davon, daß ein focialer Zuftand gefchaffen werden folle,
„worin Jeder den Lohn für feine fociale Thätigkeit in diefer felbft
ſuche und finde;” morin e8 „Eeine Vertheilung vin Arbeit und Ges
nuß gebe; worin „Production und Confumtion nicht auseinanderfallen ;’'
morin „der Gegenfag von Arbeit und Genug aufgehoben werde.“
Der Arbeiter wirkt auf einen Gegenftand hin und darum mirkt der Ge
genfland auf ihn zuruͤck. Diefe Ruͤckwirkung mag der Arbeiter al6 an,
. |
Communismus. 83
genehm oder unangenehm empfinden, fie ift doc immer etwas Anderes
als die Arbeit ſelbſt. Man könnte eben fowohl den „Gegenſatz“ von
Aus⸗ und Einathmen in der abftracten Einheit des Athmens aufheben”
wollm. Das ganze Gerede ift aber nur eine Sammlung verpfufchter
Phraſen über die einfache Forderung, daß nicht die Arbeit für den Ar
beiter erfchöpfend, feine Sefundheit und Kräfte aufreibend fein folle.
Ebenſo ſchnell iſt KR. Grün mit der ganzen „alten ſchlechten Welt”
fertig. Er ift ein leidenſchaftliche „Sonfument.” Cr prophezeit,
„daß «6 Phyſik und Chemie zur unglaublihen Sage machen werben, daß
es eine Zeit gegeben, worin man mwähnte, ed könne zu viel con[umirt
werben. Solche Kleinigkeiten, daß etwa bei Mißwachs zu viel Kartof⸗
fein als Branntwein confumirt werden koͤnnten, ſtoͤren ihn nicht in
feiner Abftractionsfeligkeit.e Er will die Confumtion eines Jeden nicht
duch die Production, fondern „dur die Confumtion Aller garans
tier” haben. Er ſucht „die wahre Aufhebung der ſchlechten Ertreme
darin, daß man die Begriffe Start und Schwach aufhebt und Jeden
nad feinem Beduͤrfniß confumiren läßt.” Er verfündet,, daß „Pros
duction und Sonfumtion Eins und Daffelbe find, von verfchiebenen
Seiten angefehen.” Indem er das Biod, das er nicht verbient,
confumirt, tröftet ex fih damit, daß er den Efel produeirt, ber
das Mehl zum Brede aus der Mühle ſchleppt. Daß ſich Confumtion
und Production gegenfeitig beftimmen, wußte man ſchon lange vor
der Mißgeburt der neucommuniftifchen Weisheit. Aber gerade darum
wird in diefer Welt der beftimmten Productionen und Gonfumtionen
susglichft dafür geforgt, daß die communiftifchen Gonfumtionseifrigen
gerade dm concreten Braten, den fie fi) nicht verdient haben, ben
Anderen nicht wegeſſen. Durch allen Unfinn der communiftifchen Docs
tein ſchimmert doch in halblichten Augenbliden dann und wann die
dunkle Ahnung von ber Unmöglichkeit einer Befeitigung des Privateigens
thums duch. So verfichern die neueren Communiften in der Schmelz,
daß fie das von ihnen f. g. wahre perfönliche Eigentum nicht ab»
f&affen, fondern Herftellen wollen. Aehnliches findet fih bei Heß
und Grän. „Das wahre individuelle Eigenthum,“ fagt dieſer, „tft
die fortwährende Garantie der Mittel zu meinem individuellen Leben.”
Mun ja! Aber wenn nicht der Communismuß über ſolche leere Allges
meinheiten hinauskommt, ift er Fein Daarbreit vernünftiger geworden,
und wenn er darüber hinauskommt, ift ee ein Communismus mehr.
Das individuelle Leben ift eben eine fortwährende Aneignung von Lebens⸗
mitteln und eine fortwährend vom Individuum ausgehende Verfügung
barüber. Mit der Garantie diefer Mittel würde alfo doch wieder bie
bie ganze „ſchlechte Gefeifchaft” garantirt mit ihrem Privateigenthum
und allen „ſchlechten Kategorien’ von Kauf, Pacht, Lohndienft u. bal.,
über die der Communismus „binausfommen” möchte.
Die communiftifhe Confuſion wird noch größer, menn man bie
an die Spise geftellten fogenannten Principien ber Lehre in's Auge faßt.
Der Franzoſe Cabet giebt ſich damit zufrieden, daß nit die Natur,
6*
| 4 Ä Communisſmus.
ſondern daß der Menſch die Erde getheilt habe. Daß dieſe Theilung
gerade aus ber Menfchennatur entſpringen mußte, kuͤmmert ihn nicht.
Darum madıt er fich fogleic daran, feine Oberflächlichkeit in's Einzelne
auszufpinnen. Weitling phantafirt über „Harmonie der Begierden
und Fähigkeiten” als Ziel des Communismus; erklärt nur den Zufries
denen für glüdlicd, und kommt vom Princip des Handwerksneids zu ber
unfinnigen Behauptung, ‚daß man nur zufrieden fei, wenn man Alles
haben könne, was jeder Andere habe.’ Als wenn man nicht vorzuges
weiſe das hätte, was man gerade mit feiner Arbeit producirt, und als
wenn ber Einzelne produciren koͤnnte, was Alle zufammen probuciren.
Er macht davon eine fpecielle Anwendung auf den Feldheren, der nach
ihm, wie jeder gemeine Soldat, hungern und frieren fol. Daß ber
hungernde und frierende Seldherr fein Heer im ſchlimmſten Sinne ans
führen müßte, fällt ihm nicht einz genug, baß ber Seldherr hat, was
jeder Andere bat: Hunger und Froſt. Am meitelten holt Heß aus,
um weniger als nichts zu fagen. Weit fich die individuellen Kräfte im
ihrer Aeußerung gegenfeitig mweden und erregen, foll nad) ihm „das
Leben Austaufc probuctiver Thätigkeit fein” und bie Geſellſchaſt
zum „gegenfeitigen Austaufc, individueller Thaͤtigkeit“ werden. Ob
er jemals Innerhalb feines individuellen Organismus, innerhalb feiner
„Oberhaut“ fein etwaiges Denken gegen bie riechende Thaͤtigkeit der Ge⸗
ruchsnerven ausgetauſcht hat und zu wohls ober übelrischenden Ge⸗
danken gefommen ift? Aber er befeitigt nicht bios die Unmoͤglichkeiten
innerhalb der „Oberhaut.“ Diefe ärgert ihn jedoch, darum hebt er
fie auf und laͤßt die Individuen heraus und in den allgemeinen Menſch⸗
heitsbrei des „gegenfeitigen Austaufches der Thätigfeiten‘ krachend
hineinfpringen; denn er hört es fchon, wie „die Schranten ber Ins
dividuen Erachend zufammenfallen.” Fortan wird das Individuums
zum „Mittel” und die Gattung zum „Zweck“ gemacht, vermittelt der
„kLiebe, die mächtiger als der Egoismus ſei.“ Denn „ſelbſt die noch nicht
bentenden Thiere vergäßen ja ihren Selbfterhaltungstrieb, wo er mit
ihrem Gattungsmwefen 5°) oder Productionsinftinet in Colliſton ges
rathe. Rasen hungerten freiwillig Tage lang, um ihren Gattungs⸗
trieb befriedigen zu koͤnnen, auch aus Sram über den Verluſt ihrer
Zungen, die Ihnen gewoͤhnlich von graufamen Menfchen geraubt würden.”
Aber in dieſem Katzenjammer fällt ihm nicht ein, daß der Kater bie in⸗
bividwelle Unart hat, fogar die von ihm gezeugten ungen zu freſſen,
ohne ſich um das „Gattungsweſen“ zu betümmern, und daß fich der „Sram“
der Kage Mutter abermals fehr individuell auf die von ihr gefäugten und
mit ihe in befondeter Verbindung ftehenden Jungen bezieht °*).
53) Wie wird fich mit biefem abgefchundenen „Gattungsweſen“ K. Marr
zurechtfinden,, der in feiner „heiligen Familie“ die Tafhenfpielerei der nachbegel’
{hen „Kritik,“ die den Dingen der Sinnenwelt die Wechfelbälge ihrer Abflraction
unterfchiebt , treffend genug verfpottet hat ?
54) In einem Auffab ‚Der deutfche Sommunismus” (‚Die Oppofttion”’ 2.)
dat fih A. Rage bie befondere Mühe gegeben, die antiwiſſenſchaftlichen Atten⸗
Communismub. 85
Bei dem Unverfland der commmuniftifchen Lehre verſteht es ſich von
ſelbſt, daß auch das Talent, das eine eigenthuͤmlich hervortretende Probucs
tionsweiſe ift, welche bie ihr entfprechende Gonfumtionsweife fort und fort
erzeugt und erzeugen ſoll — daß aud) das Talent im „organifirten Pros
ductenaustauſch“ nur in aleicher Weife mit allen Anderen zum Nachtheil
für ſich felbft und die Anderen abgefüttert werden Tann. Und es find
befonder® wieder die beutfchen communiftifchen Docttindre, welche nur
das Senle verehren, woran fie felbft Ueberfluß haben: das Gonfus
e. *
, Der Communismus im Widerſpruch mit den geſetzlich
anerkannten Verbindungen in der Perſonenwelt: Ehez
Familie. Erziehung. Die Ehe iſt eine Verbindung, worin Mann
und Frau zugleich eine geiſtige und ſinnliche Befriedigung ſuchen, welche
darum ihrem wahren Begriff nach im Vertrauen des einen Ehegatten auf
Die ganze Perfönlichkeit des andern abgefchloffen wird. Die Perſoͤnlich⸗
keit in ihrer Offenbarung ift das Individuelle Leben ſelbſt. Darum kann
die Ehe nur auf Lebenszeit abgefchloffen werben. Es giebt fchon keine
wahre Sreundfchaft, viel weniger einen Ehebund auf Termin. Die
Freundſchaft wäre gar nicht zur Eriftenz gelommen, wenn fie fih im
Boraus eine Grenze gefegt hätte; ihre Befchränktung iſt fchon ihre Auf⸗
hebung. So gründet fich bie Ehe auch, aber nicht einzia und allein auf
gegenfeitige Achtung. Sie mußte alfo in ihrer jegigen Bedeutung, als
lebenslängliche Verbindung und zwar vorberrfhend ale Monogamie, von
ber Zeit an zur Entwidelung kommen, da audy im Weibe bie volle Idee
des Derfönlichkeit mehr und mehr erkannt wurde. Den Keim biefer durch
das Ehriſtenthum nur geförderten Entwidelung enthielt ſchon das ältere
germanifche fowie das fpätere roͤmiſche Recht; das letztere vom Verſchwin⸗
den ber die Frau zur Sklavin des Mannes machenden firengen xös
-mifhen Ehe an. Jede andere gefchlechtliche Verbindung auf Termin,
ober zur blos vorübergehenden Befriedigung der Ginnlicheit, oder zur
Erlangung irgend eines aͤußeren Vortheils ift keine Ehe. Es ift mithin
fehr natürlich, daß ſolche Verbindungen gerade darum, weil fie nicht
aus eimer beiderfeitigen Anerkennung der ganzen Perſoͤnlichkeit hervor
tate eines M. Heß in ihrer Bidße zu zeigen. Ganz gut! Warum aber bie
Behauptung, daß „ber Einzelne im Staat nit Drgan, fondern Zweck ſei?“
Gr iſt Zweck und Organ, denn er fteht mit feinen Staatsgenofien vor Anderen
in einer nothwenbig engen Verbindung und wirkt in eigenthämlicher
Weiſe ſtets auf fie ein, wie fie auf ihn. Warum gar bie nagelneue Erfin⸗
dung, baß es keine allgemeine Menfchenliebe, daß es nur ſpecielle Liebe
gebe, und daß bie Liebe der ‚‚entfchiedenfte Egoismus“ fei? Wie grundfalfch
dies ift, gerade wenn man ben „Menfhen zum SPrincip” madht, wie Ruge
will — barüber einige Worte in „Pſychologie.“ Es Hätte biefer neuen abftracs
ten Regationen wahrlih nicht bedurft, um den Sommunimus eines Heß zum
Spott zu maher. Weil Ruge die „[peciellen” Kirſchen liebt, meint er ben
Kirfhbaum wegleugnen zu müffen, woran fie gewachfen find. Aber fo iſt's in
der Polemik der nachbegel’fchen Schüler unter fih: da fucht immer nur ein Wind
den andern zu vertreiben.
86 ECommunismus
gegangen find, im Vergleiche mit ber Ehe nach dem Urtheile ber oͤffent⸗
lihen Meinung in Mißachtung ſtehen. Allee blinder Eifer gegen diefen
nothbmenbigen und darum fehr vernünftigen Ausdrud eines fittlichen
Bolksgefuͤhle, tote oft auch diefer im einzelnen Falle zum unbilligen Urs
theile werden möge, beruht auf einer Verwirrung der Begriffe.
Ebenfo natürlich iſt es, daß der Staat In feiner Gefeggebung von
ber Ehe Notiz nimmt, als von der wichtigften Verbindung, wodurch fruͤ⸗
bere foctale Verhaͤltniſſe gelöft und neue gegründet werben und wodurch
dee Geſellſchaft die Ausficht auf Vermehrung ihrer Mitglieder gegeben
wird. Aber nur in feiner Freiheit rechtfertigt das Leben fich felbft, und
gerade weil die Ehe auf Lebenszeit abgefchloffen ift, muß fie trenmbar
fein, damit fie im ſtets ſich erneuernden Willen der Fortbauer der ehells
hen Gemeinſchaft fidy rechtfertigen Eönne. Sowohl das gefrhliche Vers
bot dee Scheidung als das Bebot des Coͤlibats iſt alfo gleich widernatuͤr⸗
lich; da ſich dritte Perfonen, die Geſetzgeber, ein Vorurtheil über
das Beheimniß der Individualität anmaßen, das ſich nur aus ber eigenen
und von Eeinem Anden ermeßbaren Tiefe heraus offenbart. Jenes Vers
bot ift auch dann ein verlegender Eingriff in das Innerfle Wefen ber
Menſchennatur, wenn zwar die vorübergehende Aufhebung der ehelichen
Gemeinſchaft, nicht aber ihre Auflöfung und die Eingehung einer neuen
Ehe geflattet wird. Dagegen ift es in fich gerechtfertigt, daß nicht jebe
flüchtige Mißlaune des einen ober beider Ehegatten zum Grund ber
Scheidung gemacht werden kann; daß vielmehr der Gefesgeber im Ins
teceffe der gefammten Geſellſchaft vorerft vermittelnd eintritt; daß die
Auflöfung der Ehe an gewiffe Kormen und Bedingungen gefnüpft wird.
Der Streit gegen die von dieſem Gefichtepunfte aus betrachtete
f. 9. Zwangsehe ift auch in den Sommunismus gedrungen. Er bat
indeß feine eigentliche Bedeutung nur in dee Richtung genen daß die Ehe
zum Sacrament verunftaltende katholiſche Kicchnrecht. Auf dem Gebiet
des Proteftantismus kann es fih nur um das Mehr oder Minder und
um das Wie der einzelnen Beſtimmungen ber Ehegefege handeln. Noch
von anderer Seite her beherrfcht ein unnatürlicher Zwang die gefchlechts
lichen Verbindungen: in der aus oͤkonomiſcher Noth oder Gewinnſucht
entfprungenen Proftitution in und außer ber Ehe. Es iſt Mar, daß
biefe anderswo als in einer falfhen Auffaffung der Ehe ihren Grund
hat; baß fie auf der ſchon befprochenen ungleihen Vertheilung bes
Eigentbums beruht, mwodurd die Einen von den Andern perſoͤnlich
abhaͤnaig erden.
Das gefund: Urtheil des Volks hat die maßlefen Angriffe des fruͤ⸗
heren Communismus gegen das Snftitut ber Ehe, und feine Träume
von einer Abſchaffung derfelben faft durchweg zu Schanden gemacht.
Weit die meiften neueren Sommuniften erfennen die Bedeutung ber Ehe
und folalidh die der Familie in ihrem vollen Umfange an. In ihrem
tieferen Grunde beruht diefe Anerkennung auf einer heileren Einficht in
das MWelen der Perfönlichkeit bei Mann und Frau. abet decretirt
fogar,, daß die Maͤnner den Frauen Dankharkeit, Achtung, Liebe und
Communismus. 87
Hingebung ſchuldig feienz daß überall den Frauen ber erſte Platz und erſte
Antheil gehoͤre; daß vor Allem die alten Frauen der Gegenſtand einer Art
Cultus ſein ſollen. Von fruͤher her, zumal ſeit dem aus dem St. Si⸗
mortsmus (f. d.) entſprungenen Gerede über die f.g. „Emuncipation des
Fleiſches“, find den neueren Communiſten theils nur einige Unklarheiten
und Rohheiten übrig geblieben, theils einige blos Lächerliche declamatoriſche
Uebertreibungen 59). Entfchiedener dagegen zeigt ſich noch ihe tyrannis
ſches Geluͤſte der Echererei über einen Kamm in den communiftifchen
Vorurtheilen über die Aufhebung der häuslichen, oder über das Verhaͤlt⸗
niß diefer zur äffentlichen Erziehung, |
. Der atheiftifche Communismus, ber bei feinem Wegleugnen einer
ſelbſtbewußten Gottheit auch die menſchliche Perfönlichkeit am wenig»
fen begreift, faͤllt Hierbei wie immer in den grelfften Unfinn. „Kein
zerſtuͤckeltes Samitienleben mehr!” ruft Dezamy; „Beine häusliche Er⸗
siehung! Bein Kamilismus!” abet dagegen hat wieder feine fcharf
und willkuͤrlich abgemeffenen Claffen: bis zum fünften Jahr fol die Er⸗
ziehung eine häusliche, von da an eine Öffentliche fein. Andere
kamen auf den kindiſchen Einfall, die Öffentliche Erziehung vom 18. Jahr
an noch eine Zeitlang in Arbeiterarmeen fortfegen zu laſſen, bie zw
öffentlichen Arbeiten commanbirt werben, ober vom 16. Jahr an in
Sungfrauenarmeen, die indeß in gemeinfchhaftlichen Küchen, We⸗
bereien u. dgl. nur Garnifonsdienft thun follen. Alſo gerade in dem Als
ter, wo die Fähigkeiten und Neigungen für beftimmte VBerufszweige
entfchiedener bervortreten, foll wieder bie tyrannifche „Geſellſchaft“ der
immer unb immer en bloc behandelten „Menſchheit“ ihr communiftifches
Joch auflegen. |
Bei dem Sintereffe Aller an der gebeihlihen Entwidelung jedes Ein-
zelnen verfteht fich freilich in j.dem nicht ganz rohen Staate die Sorge
für Öffentliche Erziehung von felbft. Aber gerade damit eine freie indie
viduelle Entwidelung möglid werde, barf nie die häusliche Erziehung
durch die Öffentliche aufgehoben werden, fondern ihr nur ergänzend zur
Seite fiehen. Auch muß zur Erreihung bdeffelben Zwecks den Eltern in
den Beflimmungen über die Erziehung ein nicht ungemeffener, aber eben⸗
fo wenig ein allzu befchränkter Einfluß bleiben. Die Eltern find es, bie
mit den Kindern in der nächften und innigflen Verbindung flehen. Nur
die Liebe als Leidenſchaft kann blind machen; aber die ber Eltern zu ben
55) &o bricht 3. B. Einer in die Erclamation aus: „Kein Pfaff und kein
Rotar foll das Recht haben, zwei Menfhen an einander zu fehmieden. Wenn
es zwei Weiber zufrieden find, einen Mann zu haben, wer kann es ihnen
vermehren?” Gebt diefe „ Zufriedenheit” nicht in das Verbrechen ber Biga⸗
mic und bamit be3Betrugs über, fo ficht darauf eben keine befondere Strafe.
Nur bat die „ſchlechte Gefellfchaft” auch ihrer Seits recht, wenn fie dieſe
Sorte Sommunismus nicht mehr Che nennt, fondern 9... .-.. Terner:
„Man zeugt einige häßliche Kinder in dem Brodem eines verhaßten Betts —
unb ber 3wed der Ehe ift erreicht.” Muß dis etwa in der communaute unter
freiem Simmel gefcheyen ? ⸗
96 Gommunismus,
Kindern fieht in hundert Fällen ſchaͤrfer als jeder Andere ſehen kann.
Darum fireitet die aus ber Menſchennatur gefchöpfte Vermuthung bas
für,. daß vor Allen die Eltern die Eigenthuͤmlichkeit der Kinder am ges
naucften erfennen und am richtigften beuetheilen. Und darum find die
Geſetze über Erziehung die beſten, bie der Beurtheilung des befonderen
Fans einen noch freien Spielraum gewähren und die äffentliche Erzies
bung nit als einen Zwang, fonbern als die Erfülung bes eigenflen
Wunfhes ber Eitern erfcheinen laſſen.
Bortfegung: Religion und Kirche Ehriſtenthum.
Geiſtlichkeit. Im Verkehr der Menſchen mit Menſchen dußern ſich
nothwendig auch bie religioͤſen Anſichten und Vorſtellungen, und bie
offenbar gewordene Uebereinſtimmung derſelben in weiteren oder engeren
Kreiſen findet ihren nothwendigen Ausdruck in beſtimmten Kirchen
und kirchlichen Formen. Religion und Kirche laſſen ſich im conſequent
fortgeſetzten Denken, ſobald man in Wahrheit den wirklichen und leben⸗
dig⸗thaͤtigenMenſchen zum Princip“ gemacht hat, fo wenig wie Geiſt
und Leib auseinanderreißen. Darum ift auch der moberne Atheismus,
in der Sonfequenz feines Irrthums, von ber erſt blos aͤußerlichen
Dppofition gegen Kirche und Geiftlichkeit flets bis zum Verſuch der Res
lgionsfrefferei felbft fortgetrieben worden. Er konnte indeß nur bie
Schale benagen und fand bald feine Abmeifung und Schranke am ums
verwäftlich gefunden Kern der Denfchennatur und bes Volkslebens, an
ber unerfhhtterlichen Ueberzeugung, daß das menfchliche Selbſtbewußtſein
einen ewig felbfipemußten Weltgeift als Quelle vorausfrgen muͤſſe. Go
brachte in Frankreich ſchon die Herrſchaft des eigentlihen peuple im
Fahr 1793 dem doctrinaͤren Atheismus des 18. Jahrhunderts und ber
vornehmeren Gefellfhaft eine entfcheibende Niederlage bei: Dann fand
ee noch einmal feinen cpnifchen Ausdrud in der Volkshefe, bei den Ega⸗
litaires, und endlid am die logifche oder unlogifche Nachgeburt des todt⸗
gebornen Kindes in ber Lehre eines Dezamy zum Vorſchein.
Bei aller Oppofition gegen die unlebendige Abart bes Chriftenthums,
weldye mit fchlecht verhuͤllter Selbſtſucht das Reich der Liebe in das Jen⸗
feits verweift und in jedem Jenſeits ein neues ſich erfinden würde; bei
allem gerechten Eifer gegen Pfafferei und gegen den Theil der Geiſtlich⸗
Beit , der fih die Religion zum Rotterbette macht, um die Stürme ber
Zeit zu verfchlafen, wobei oft nur überfehen wird, wie weit auch die bes
fonderen riligisfen Kunctionen nur eine nothwendige Anwendung des als
les Voͤlkerleben beherrfchenden Geſetzes der fortfchreitenden Gliederung von
Production und Arbeit find; bei alem Kampfe für freie religioͤſe Ents
twidelung gegen den Glaubenszwang veralteter Dogmen und Culten, in
dem freilich) die Sommuniften nur eine beildufige Rolle fpielen — bei
diefer ganzen gerehten Dppofition gegen Mißträuche und Mißftände,
die nur mituntee im Einzelnen ihr Ziel überläuft, hat fich die große Mehr⸗
heit der Anhänger des Communismus nicht fo weit mit dem Volk in
Widerſpruch gefegt, um der Religion und dem Chriftenthum den Krieg
zu erklaͤren. Dies gilt fo gut für die franzefifchen Gabetiften als für
Eommunismus. 89
weit die meiften beutfchen Sommuniften °°%). Eine Ausnahme bildet im
Deutfchland wieder nur das aͤußerſte communiftifche Ende bes nachhe⸗
gel'ſchen Schweifs; der Zopf der deutfhen Wiſſenſchaft, der fidy mit
dem Kopf verrcchfelt, eine Beine Schaar literarifcher Krebfe mit dem
Feldgeſchrei: „Vorwaͤrts!“
Bon dem Standpunkt dieſer Bornirtheit aus hoͤrte man denn
Klagen, daß ſelbſt die franzoͤſiſchen Communiſten nicht Aber die „Be⸗
ſchraͤnktheit der Religioſitaͤt“, nicht über den „religioͤſen Tic“ hinausge⸗
kenmen find 87). „Der deutſche Socialismus“, bemerkte dagegen ein
dentſcher Communiſt, „hat im Ganzen noch keine Abrechnung mit
der Religion gehalten; bei mie aber, meinen Freunden und allen ſelbſt⸗
bewußten Socaliften ift er antireligids.” Wettling bat fidy
zumal in feinem „oargeiium des armen Suͤnders“, von ber falfchen
Hopotheſe aus, daß das Chriftenthum aus dem Geheimbund der
Effener entftanden fei (f. oben), aus abgeriffenen Lappen einen feltfamen
chriſtlichen Communismus zufammengrflidt. Doch Eonnte er wenigſtens
auf feinem Irrwege nicht bis zu dem Unfinn kommen, das Chriſten⸗
thum, bie Lehre und bie That der Liebe, für „die Theorie, die Logik
bes Egoismus” auszugeben. ine ſolche Ungereimtheit konnte nur ven
einer afterphilofophifchen Doctrin ausgebrütet werden. Es giebt nur
eine Ungereimtheit, die noch größer iſt: das Verbot ber communiftifchen
Schriften biefer Sorte mit fo augenfäligen Beweiſen der gänzlichen Wer:
kehrtheit und Bebeutungslofigkeit ihrer Verfaſſer. .
Zortfegung: Staat. Baterland und Vaterlandsliche.
Befepgebung Insbeſondere Strafgefege. Politik. Als
Folge davon, daß das communiftifche Abftractum der „Menſchheit“ body
nur in den Individuen leibt und lebt, wahr und wirklich ift, wurde fchon
Darauf hingewiefen, daß «8 gar nicht in ber Willkür des Menſchen fleht,
nit einem Theil der Menfchen Feine engere Verbindung als mit Ans
deren einzugehen. Jede Verbindung ift aber ein verhältnißmäßiges (res
latives) Ausihließen Anderer und Abſchließen von Anderen. In der
Reihe der nothwendigen Wereinigungen ift der Staat bie umfaffendfte
Aſſociation jener Affocintionen, in die ſich das große Ganze ber Menſch⸗
heit gegliedert hat und immer gliedert. Die fortwährende Anerkennung
der Eriftenz bes Staats iſt zugleich die Anerkennung eines im Gtaat
56) Dabei laufen freilich bei den Communiften, bie fi) aus dem Abftracs
tum „‚Dkenfdy" doch noch einen eigenen Bögen zurecht gemacht haben, manche
Abernheiten unter. Einer bersXpoftel des Sommunismus verfünbet „feinen Aus-
erwaͤhlten,“ baß fie nicht um Erhaltung der Wahrheiten des Chriſtenthums be«
forgt fein follen. „Aber,“ fagt er, „nennt Euch künftig nit Shriften, fons
dern Menfchen!” Er vergaß nur, im Namen ber ‚allgemeinen Bräberfchaft”
beizufügen: „Nennt Euch Tünftig nicht Menfchen, ſondern Säugethiere.
57) Einer dieſer deutfchen communiftifchen Doctrinäre berichtet, daß er
Gabet vergebens begreiflidh zu machen gefucht, „wie es der Menſch fei, der
Sott geſchaffen, nicht etwa Gott, der den Menfchen erfchaffen habe.” Schließ:
U ruft er aus: „Und ich glaube, daß der Feuerbach hinter die Franzoſen
fommen muß!” Gr ift fchon hinter ihnen.
0 Communismus.
vo r herrſchenden und darum bie Vereinigung zum Staat be herrſchenden,
eines hoͤchſten oder ſouverainen Willens, der nur darum auch Geſammt⸗
wille heißt, weil von ihm aus alle Mitglieder des Staats fort und fort
Beſtimmungen empfangen. Wohl koͤnnen Vereinigungen zu Sonder⸗
zwecken, wie namentlich kirchliche Vereinigungen, uͤber die aͤußeren Gren⸗
gen des Staats weit hinausceichen. Aber zur foͤrderlichen Erreichung
aller Menfchenzwede Bann es nur eine hödfte und legte Vereinigung
geben, welche eben Staat genannt if. Wo etwa die Kirchengewalt
mit dee Staatsgewalt in Kampf teitt, kann darum cuch biefer Kampf
ſtets nur im Staate flattfinden. Und wäre vielleicht die Kirche ſiegreich,
fo hätte fie body nur ihren Willen zum herrfchenden Willen gemacht;
fo wäre body nur eine Staatsgewalt an die Stelle der andern getreten,
ohne daß damit Begriff und Er ſtenz des Staats felbft aufgeheben wür«
den. Wollte man endlich den Traum eines Fourier von einer cen⸗
tealen Leitung aller menfhlihen Production träumen, fo bliebin bens
noch in ber allgemeinen Aſſociation befondere Affociatiorten mit ihrem
Sonderwi'en, und man kaͤme auch nach tiefer Theorie wenigſtens nie und
nimmer über die Korm eines menfdlichen Bundes ſtaats hinaus.
Die natürliche Bafls des befonderen Staats iſt die Gemeinſchaft
bes Lebens im Vaterlande, wie fie in Volksgeſchichte, Sprache und
Sitten fi offenbart. Denn der Staat ſelbſt ift nur die umfaſſendſte
Aeußerung dieſer Gemeinſchaft. Die Willkuͤr kann die natürliche Ges
meinſchaft zerreißen ; fie kann das Staatenweſen verunſtalten, fie hat es
gethan. Aber jede wirkliche Nationalität, die noch nicht mit einer
anderen Nationalität fi verfchmolzen hat, aͤußert fich gerade fo weit, als
dies noch nicht gefchehen kit, im Streben nach Erhaltung oder Herflellung
jener Gemeinfchaft des Lebens. Die Schidfale, Sitten und Sprade
meines Volks haben audy mich und meine Individualität vor den Schick⸗
falen anderer Voͤlker beſtimmt. Sch muß alfo theilnehmen am Leben
meines Volks mit lebhafterer Liebe, mit Iebhafterem Daß; und es iſt nur
eine widerliche Ausnahme, wo dies nicht gefchieht. Wer etwa dem Deuts
{hen zumuthet, erſt Menſch und dann Deutfcher zu fein, der muthet
ihm auch zw, fich felbft zu zerſtuͤckeln, ftatt eines ganzen individuellen
Menſchen ein Halbmenſch zu fein. Es ift dies gerade fo albern als die
Zumuthu-g an bie Mutter, daß fie ihr Kind nicht vor andern Kindern
liebe, daß auch die Mutter im Abftractum „Menfd” verfchwinde.
Abermals find «6 hauptfächlidh einige deutfche Doctrindre, bie In ih:
ren Rodomontaden über und gegen Staat, Vaterland, Vaterlandsliebe,
mit der Sahne der „Menſchhe't“ in der Hand, den Gipfel des Unfinns
erfteigen. Sie haben die Emancipation der Menfchheit damit begonnen,
daß fie ihr Gehirn vom Denken emancipirten. Sie delititen nun von einer
Befeitigung der „Schranke des Staats.“ Sie wittern „Nationalegois⸗
mus”, wo etwa ein bilgifcher oder franzöfifcher Sorintift oder Communiſt
zunächft ein belgifches Volk oder eine frangififhe Nation vor Augen hat.
Was die ftumpf und blind Gewordenen nicht mehr fühlen und fchen,
haben fie ‚vernichtet. So wirft einmal Weitling die rhetori[che
Communismus. 91
Floekel Hin: „Nur wer etwas befist, wer etwas von ben Vätern erbt,
bat ein Baterland; ber Arme hat Feines!” Und ein Anderer ruft aus:
„Weitling gerträmmert den Begriff des Vaterlants, ber Nation!”
Im Unding dieſer Species communiftifcher Gemeinſchaft fol bie
Anarchie oder Herrſchaftsloſigkeit an die Stelle ber Herrſchaft treten; bie
“ Berwaltung an die Stelle der Reaierung ; die Wiflenfchaft an die Stelle
des Geſetzes. Als wenn nicht aud) das Befes und feine Vollziehung eine
verwirklichte Wiſſenſchaft wäre; als wenn ſich die Geſetzgeber nicht erſt
das Wiſſen Defien zu ſchaffen hätten, was den nterefien der Bes
meinſchaft entfpriht, um das Sollen aussufprehen! Als wenn bie
Produetion der Regeln des Sollens für die möglichen Aeußerungen
der Thaͤtigkeit in jeder Staat genannten Gemeinſchaft nicht gerade fo
natürlich wäre ale etwa die Production bes Brods aus Mehl: und als
wenn biefe Regeln des Sollens gefchaffen werden könnten ohne die Sor⸗
gen für das Vollbringen! Auch diefe „Abfchaffung” des Gefeges wäre
eine „Abfchaffung” der Menfchennatur felbft. Aber die communiftifhen
Spießbürger im Reiche des Gedankens merken es nicht, wie fie immer
den lebendigen Denfchen an den Spieß ihrer Doctrin fleden und auf
ber einen Seite braten laffen wollen, bamit er auf der anderen Seite
nicht erfriere.
Beſonders viel thun ſich Die meiften communiſtiſchen Dilettanten
der „Wiffenfchaft‘ auf die angebliche Entdedung zu gut, daß die Ver⸗
brecher als Kranke zu behandeln feien, daß die „Geſellſchaft“ für ihre
Beflerung zu forgen und die Kurkoften zu bezahlen habe. Abgefehen
von der verwerflichen und immer mehr verworfenen Zodesftrafe, hat man
es auch ohne Communismus fchon lange fo meit gebracht, die Strafe
zur Beſſerung oder Heilung des Verbrechers anwenden zu wollen. Aber
auch die möglichfte Heilung des durch das Vergehen entftandenen
Schadens ift Zweck der gerehten Strafe. Die Verbüßung der ges
rechten, d. 5. der einem wirklichen Vergeben angemeffenen Strafe
legt alfo au im fittlichen wie im focialen Sintereffe des Verbrechers
feloft,, der fonft immer und immer wieder der ihre Heilmittel nicht gar
genau anmeffenben Privatrache der Verletzten ausgefegt wäre. Es
banbelt fi alfo immer um Heilmittel; aber man nennt einmal
dieſe fpecififhen Heilmittel Strafen, und bas Regime ihrer Anwen⸗
dung Strafgefeggebung.
Wer vom Strafrecht nichts wiffen will, brauche ſich über deſſen
Reform nicht den Kopf zu zerbrehen. Er behilft ſich mit foldhen Aeu⸗
Ferungen wie die eines De zamy, baß „die Jury eine bürgerliche
und föderatliftifhe Einrichtung, folgtich (!) das ſchlimmſte aller
Geſetze ſei. Wer fit) gar den Staat und das Befeg als „etwas über
ihm und außer ihm Seiendes“ aus dem Kopfe gebracht hat, um mei:
teren leeren Raum zu gewinnen, fümmert fich nicht mehr um Politik
und Staat, trog allen Klagen, daß die Reichen den Armen im Staate
das Grfeg mahen. So haben fich denn auch einige deutfche Commu⸗
niften ihre Kategorien von „Politikern, „Liberalen“ und „Rationalen”
\
9 Gommunismus.
zurecht gemacht, an denen fie fih bis zum Nichts und bis zur Nichte
wuͤrdigkeit abzurelben fuchen. Es giebt Politiker, die nur in anderen
Formen ber Verfaſſung und Verwaltung da® Heil erbiiden; bie bei ber
überall fi geltend machenden Theilung der Arbeit vielleicht vor⸗
zugsweife in einem befonberen Zweige der Staatswiſſenſchaft oder Staates
kunſt zu Haufe find; denen das Volkswirthſchaftliche und Socialiſtiſche
entfernter liegt und bie gleichwohl mit größerem Nutzen und waͤrmerem
Eifer für das Wohl des Volks arbeiten als alle Bönhafen des Socialis⸗
mus. 6 giebt freilih auch f. g. Liberale, die fi eine bequeme
ehetorifche Oppofition zum nicht hoch anzufchlagenden Geſchaͤft machen;
oder ſ.g. Nationale mit ſeltſam vaterlaͤndiſchem Rococogefhmad. Die
Rüge und Zuͤchtigung folder Einfeitigkeiten und Verkehrtheiten mag er-
fprießlich fen und ift wahrlich nicht bloß die Sache der Anhänger des
Sommunismus. Aber darum find jene leeren allgemeinen Diatriben ges
gen Politik, Liberalismus, Nationaliemus, wie fie jest in Deutfchland
einige communiflifche Heerdenfährer ihrer folgfamen Schaar vorfagen,
nicht minder abgeſchmackt. Diefe geiſteskranken Aerzte, die der „ſchlech⸗
ten Geſellſchaft“ die Nafen abfchneiden wollen, um ihr ben Schnupfen
zu vertreiben, koͤnnten fogar gefährlicd, werden, wenn fie nicht blos
lächerlich wären.
Schluß. Freiheit iſt die tieffte treibende Wurzel des Men⸗
ſchenlebens. Mit der Kraft ſeines Willens, der zugleich beſtimmt und
beftimmend iſt, wirkt jeder Menſch geftaltend und umgeſtaltend in bie
Welt feiner Anfchauungen und Vorftellungen hinein, und nur aus
der Freiheit jedes Einzelnen erzeugt fi, die Harmonie Aller. Im freien
Spiel des Lebens tritt bald das Beduͤrfniß der engeren Verbindung und
Gemeinſchaft mit Anderen in Eleinerem oder größerem Kreife hervor;
bald das Bewußtfein der wefentlih gleichen Wirkfamkeit mit gleichen
Anfprüchen; bald auch das der individuell verfhiedenen Xhätigkeit mit
ihren nothwenbig ungleihen Forderungen. Darum befleht der ganze
gefelfchaftliche Verkehr nur in diefen immer mwechfelnden Webergängen
von der Einigung und Einheit zur zeitweifen Nebenordnung in Gleich⸗
ftelung und Gleichheit, oder zur zeitweifen Ueber: und Unterordnung
in Unterfcheidung und Ungleichheit. Und Feine Lehre foll überweifer
fein wollen ale das Leben, das in fich felbft das Geſetz feiner Entwicke⸗
lung trägt und es allen nicht Verblendeten beutlidy offenbart. Diefer
Sünde des doctrindren Hohmuths hat fi aber auch der Communismus
mit feiner abftracten und ausfchließlihen Korberung der Gemeinſchaft
fhuldig gemacht trog feinem ſcheinbar anfprechenden Wahlfpruche: „Alle
für Seden und Jeder für Alle.” Denn darin liegt e8 eben, daß Jeder
für Alle viel weniger wäre, als er fein kann, wenn er nicht zugleich da&
unverfümmerte Recht hätte, für fich zu fein und feine Eigenthuͤmlich⸗
keit auch in eigenthbümlichen und darum ausſchließlichen Verhältniffen
zur Sachenmelt auszuprägen. Diejenigen aber, die in einem Athem von
der allgemeinen Gemeinfchaft und von der freien Affociation res
den, wiſſen nicht was fie thun. Die freie Affociation fegt nicht blos
‘
Communismuß. 98
den ungeswungenen Eintritt voraus, fondern auch die Möglichkeit, nad
den Im Voraus feftgefesten Bedingungen innerhalb der Affociation auf
gleihe oder ungleiche Weife zu prodbuciren und zu confumiren. Und
fie hört immer fo weit auf frei zu. fein, als fie nicht auch ben freien
Austritt geftattet und damit das Recht anerkennt, wieder für ſich zu
fein, für ſich zu erwerben und derjenigen Affociation, deren Mitglied man
war, ſelbſtſtaͤndig zur Seite zu ftehen.
Das Eigenthbum ift das in der Geſellſchaft Durch den Staat aners
kannte Recht, daß der Eine vor allen andern Mitgliedern ber Gefellfchaft
über beſtimmte Theile der Sachenwelt verfügen dürfe. Gerade weil es
auf der Anerkennung und Gemwährleiftung des Staats beruht, ift die
Gewalt des Eigenthümers durch bie Staatsgewalt nothwendig beſtimmt
und befehräntt, nad) dem Grundſatz, daß das äffentliche Recht dem Pri⸗
vatrecht vorgeht. Dem Princip nad) hat es alfo ein unbellimmtes und
darum unbedingtes Eigenthumsrecht in dem Sinne nie gegeben, daß das
durch die nothwendigen Zwecke jedes Glieds der Geſellſchaft und
darum des Staats ſelbſt vereitelt werden duͤrften. So iſt denn auch
theoretiſch ſchon lange genug anerkannt, daß durch das individuelle Ei⸗
genthumsrecht des Einen kein Anderer in ſeinen nothwendigen Bildungs⸗
mitteln und Lebensmitteln verkuͤrzt werden ſolle. Die vollſtaͤndige und
ausreichende Verwirklichung dieſer Wahrheit iſt nun die Aufgabe unſerer
Zeit. Das Eine und Alles, worauf es dabei ankommt, beſteht darin,
daß jedem Mitgliede der Geſellſchaft, nach dem in der Geſellſchaft vor⸗
herrſchenden Begriffe des Nothwendigen, die nothwendigen Bildungsmit⸗
tel und Arbeitsmittel fort und fort gewaͤhrleiſtet werben °9). Damit wer⸗
ben aber die Grundlagen der „alten ſchlechten Geſellſchaft“ keineswegs
„aufgehoben und vernichtet”, fondern befefligt und nach ihrem wahren
Wefen entwidelt.e. Damit fommt man nicht — wie die Communiften
traͤumen — über „die auf den Begriff des Lohne, des Verdienftes und
der Steafe, des Kaufs und Verkaufs gegründete Welt hinaus” und in
ben Unfinn hinein; fondern durch die Befchräntung bes Zwangs und
des Irrthums auf möglichft enge Grenzen wird erft die f. g. freie Con⸗
currenz im bie wahrhaft freie, und der Tauſch in feinen verfchiedenen
Formen in den wahrhaft freien Austaufdy ber Güter verwandelt.
Die Vorfechter des deutſchen Communismus haben in bie Welt
hinausgeſchrieen, daß fie die wahre Menfchennatur zum Princip ihrer
ſ. g. neuen Wiffenfchaft erforen; und fie find es, die nah allen Seis
ten hin die Natur des Menſchen verfannt und in ihren Afterlehren un«
gebührlichft mißhandelt haben. Bei Einigen mag die Schwäche mit ih⸗
sem guten Willen entfchuldigt werden. Sie möchten in aller Gutmüs
thigleit das „arme Volk“ behandeln, wie jener mitleidige Irlaͤnder den
abgemagerten, ausgehungerten Hund, dem er den Schwanz abhieb und
zu frefien gab. Bei Anderen dagegen ift die völlige Denkfaulheit, Die
Marktfchreierei und die oft empörende Srivolität, womit fie über die wich⸗
58) Ueber bas Wie f. „„Drganifation der Arbeit” und „Socialismus.“
94 Confoͤderation.
tigſten Gegenſtaͤnde das Vorurtheil einer fuͤr untruͤglich gehaltenen Na⸗
feweisheit abgeben, ein ſchlechter Beweis von tiefer, ernſter und wahrer
Liebe zum Molke, die fie doch durchweg zum Aushängefchild nehmen.
Ihnen iſt die Noth des Proletariatse nur der dunkle Hintergrund, vor
bem bie doctrindee Eitelkeit ihre Spiegelfechterei treibt. Sie find in ih:
ver nicht unfreiwilligen Verblendung die Werkzeuge der Reaction ges
worden, bie fie zu befämpfen vorgeben, ba fie die überall hin abſchreckende
Sage ihres widerlichen Communismus den gerechten Forderungen des
Volkes vorfchieben. Für jeden ächten Volksfreund aber ift es wohlges
than , fein ehrliches Theil beizutragen, daß endlich diefe communiftifchen
Gaukeleien verfhwinden und dem klaren Bilde einer möglichen befferen
Zukunft der arbeitenden Glaffen den Plag räumen. Wilh. Schulz.
Gonföderation, Bund, Bundes» oder Eidgenoffens
fhaft, nah ihrer biftorifhen Entwicklung dargeftellt*).
Jedes Welen erreicht feine Beftimmung, menn es ben inwohnenden
Kräften Entwidiung und Spielraum verſchafft. Die That ift alfo
Bedingung und Zweck des Daſeins; Anfpannung und Webung ber
Kraft Begriff des Lebens. — Des XThieres That ift an das Sinns
‚liche und Leiblicye gebunden, der Menſch befigt neben diefem Anlage
und Beruf zur Sittlichkeit und Vernunft. Die Beſchraͤnkung
des rein leibliche Begehrungs- und Strebungsvermögens
durch das Gewiſſen oder den angebornen, von ber Erziehung und dem
Leben entwidelten Rechtstrieb bereitet den Boden der Sittlichkeit.
Der in benfelden eingeftreute Same heißt Pflicht, die Frucht wird ſitt⸗
Ihe Handlung oder Tugend. Die angeftammte, durch Unterricht,
Uebung und Leben entwidelte Sähigkeit, Einheit, Maß und Ziel in dem
vielfachen, verworrenen und planlofen Stoff ddr Sinnen: ımd Kör:
permelt zu finden, oder ihr ein geiftiges, in und aus fi beſtimm⸗
*) Den Gang, welden die Entwidelung des freien Eonföberationgs
princips im Mittelalter und in der neuern Zeit nahm, hat die in ben
Jahren 1827 und 1829 herausgegebene Entftehbungsgefhichte der freie
ſtaädtiſchen Bünde forgfältiger als es bisher gefchehen war zu befchreiben
getrachtet. Die folgenden Bogen fchliegen fich in fofern dem obigen Were an,
als fie denfelben Gegenftand, freilich ohne genauere Darftellung der Thatſachen
behandeln und nur den flaatsrechtlichen Zufammenhang vor Augen behalten.
Dagegen wohnt biefer Abhandlung die Eigenthümtichkeit bei, daß fie theils den
Weg der Sonfdberationen weiter zurüd und vorw aͤrts verfolgt, theild manche
Iufäge und felbft WBerichtigungen in Bezug auf die bereits früher erörterten
Bragen und gefchichtlichen Gvolutionen derfeiben enthält. Sie trachtet einen
biftorifhsflaatsrehtlihen Sefammtüberbiid der Anftrengungen
zu geben, ducch welche der Abel des Menſchengeiſtes feine höchften Güter, Recht
und Freiheit, wider innern und Außern Drud zu fichern fuchte, und
ſtellt eine Generalkarte biefer oft fehr verfchlungenen Kämpfe auf.
Anmert. des Verf.
Die Rebaction freut ſich, bei der Wichtigkeit und Schwierigkeit der Echre
von ben Gonföberationds oder Bundesverhaͤltniſſen, dieſen belehrenden neuen
Artikel des berühmten Verfaſſers den Artikein Bund und Deutfher Bund
beifügen au koͤnnen. Anmerk ber Reb.
Gonföberation. 9
Bares, freies Vermögen entgegen zu fiellen, heißt Vernunft. Ihr
Keim iſt die Erkenntniß, ihre Frucht bie geiflige Zugend oder
Wahrheit. Die Religion aber beruht auf dem Glauben an eine
allgemeine fittlich » geiftige Weltorbnung ale nothwendige
Folge und Ergänzung des Gewiſſens und der Vernunft. — Die
Bereinigung vieler Gemeinden, welche mit Freiheit und Allhinlängs
lichkeit, d. h. möglichftee Gegenſeitigkeit, der Ausbildung des leiblichen,
fittlihen und geiftigen Elements (Stoffes) nachftreben, gründet den
Staat (nolıg, respublica). Er liegt ebenfo beftimme im Wefen bes
Menfchen, als bie einfachfte und naturgemäßefte NWerbindung zwifchen
Mann und Weib den Uebergang aus der Kamille in die Gemeinde
darſtellt. Wer aus Unvermögen oder aus Kraftvolllommenheit am büro
gerlihen Vereine Leinen Theil haben kann oder will, ber ift entweder
ein Thier oder ein Gott. Die VBerfaffung, des Staats Leben
und Seele, Liegt in dem Principe, nah welhem die Obrigkeiten
aufgeftellt und die Verhaͤltniſſe der felbfiherrlihen Macht (Souve⸗
rainetät, Hoheit, zo «vgsov, majestas) beftimmt werden. Je freiern
und feftlern Spielraum die Entwidelung des Rechtstriebes (des Ges
wiffens) und der Vernunft findet, deſto vollkommener ift die Verfaſ⸗
fung; je fchranfenlofer und ohne fichere Bürgfchaften das leibliche Bes
gehrungsvermögen ſchalten darf, befto mangelhafter erfcheint die
Berfoffung. Obenan ftehen deshalb die durch Uebereinkunft (Pact) und
wechſelnde Vertreter (Repräfentanten) beſchraͤnkte Volksherrſchaft
( Demokratie) und ihr Uebergang, die gefegliche (conſtitutionelle) Mons
archie; unten treten auf die unbedingte Kürftens und Volles
gemalt (abfolute Monarchie und abfolute Demokratie). — Ein auf
Bernunft und Recht ruhender Staatsbefchluß heißt Geſetz; ihm
gebührt als Ausdeud des Sefammtwillens Anerkennung ober Gehorfam.
Sortwährende Widerſpruͤche zwiſchen dem Gefeg und ben ſittlich⸗vernuͤnf⸗
tigen Zweden bes gefellfhaftlihen Vereins führen zu Reformen
und, wenn biefe zaudern, gemaltthätigen Aenderungen oder Revolns
tionen. Ihr Eintritt ift fo unabweisbar als die Pflicht des Gehor⸗
ſams gegen GStantebefchlüffe des Rechts und dee Vernunft. —
Wenn der Staat, in den bisher betrachteten Verhättniffen gleichfam
einwaͤrts gekehrt, feine anziehende Kraft (Attraction) nah außen
richtet und Stellung zu einem fremden oder verwandten felbft-
berrlihen Semeinmwefen nimmt, fo beginnt bie bundes genoͤſ⸗
fifhe Wurſamkeit (die flaatliche Affociation). Die erfte Gattung ders
felben erfcheint als ein zeitliches, d. h. für beflimmte Frift und bes
fondere wechfelnde Zwecke abgefchloffenes Verhaͤltniß zweier oder mehrerer
ſelbſtherrlicher Staaten. Iſt gegenfeitigeer Schug wider einen außern
Feind der leitende Beweggrund, fo entfteht das Vertheidigungs»
oder Wehrbündniß (dminaria bei den Griechen); verpflichten ſich
beide Theile neben der Schirmung auch zum erobernden Angriff, fo
heißt die Verbindung Schugr und Trugbündniß (ovanayla). Bes
ligioͤſe Feierlichkeiten, Eidſchwur und Unterfchriften, Gegenfeitigkeit der
94 Conföderation.
tigften Gegenftände das VB orurtheil einer für untrüglich gehaltenen Nas
feweisheit abgeben, ein fchlechter Beweis von tiefer, ernfter und wahrer
Liebe zum Wolke, die fie doch durchweg zum Aushängefchild nehmen.
Ihnen tft die Noth des Proletariats nur der dunkle Hintergrund, vor
dem bie boctrindre Eitelkeit ihre Spiegelfechteret treibt. Sie find in ih⸗
ver nicht unfreiwilligen Verblendung die Werkzeuge der Reaction ges
worden, bie fie zu befämpfen vorgeben, da fie Die überall hin abfchredende
Fratze ihres widerlichen Communismus den gerechten Forderungen bes
Volkes vorfchieben. Kür jeden Achten Volksfreund aber iſt es wohlge⸗
than, fein ehrliches Theil beizutragen, daß endlich diefe communiftifchen
Gaukeleien verfchwinden und dem klaren Bilde einer möglichen beſſeren
Zukunft der arbeitenden Claſſen den Plag räumen. Wilh. Schulz.
Gonföderation, Bund, Bundes» oder Eidgenoffens
haft, nah Ihrer biftorifhen Entwicklung bargeftellt*).
Jedes Wehen erreicht feine Beflimmung, menn es den inwohnenden
Kräften Entwidiung und Spielraum verfhaffte Die That ift alfo
Bedingung und Zwei des Daſeins; Anfpannung und Uebung ber
Kraft Begriff des Lebens. — Des Thieres That ift an das Sinns
‚ Lie und Leibliche gebunden, der Menſch befigt neben diefem Anlage
und Beruf zur Sittlichkeit und Vernunft. Die Beſchraͤnkung
des rein leibliche Begehrungs- und Strebungsvermäögens
durch das Gewiſſen oder den angebornen, von der Erziehung und bem
Leben entwickelten Rech tstrieb bereitet den Boden der Sittlichkeit.
Der in denfelden eingeftreute Same heißt Pflicht, die Srucht wird ſitt⸗
Ihe Handlung oder Tugend. Die angeflammte, durch Unterricht,
Uebung und Leben entwidelte Fähigkeit, Einheit, Maß und Ziel in dem
vielfachen, vermorrenen und planlofen Stoff br Sinnen: und Koͤr⸗
permelt zu finden, ober ihr ein geiftiges, in und aus ſich beſtimm⸗
*) Den Gang, welden die Entwidelung des freien EConföberationgs
princips im Mittelalter und in der neuern Zeit nahm, hat bie in den
Jahren 1827 und 1829 herausgegebene Entſtehungsgeſchichte der freis-
Rädtifchen Bünde forafältiger als es bisher gefhehen war zu befchreiben
getrachtet. Die folgenden Bogen fchliegen ſich in fofern dem obigen Werke an,
als fie denfelben Gegenftand, freilih ohne genauere Darftellung der Thatfachen
behandeln und nur den flaatsrechtlichen Zufammenhang vor Augen behalten.
Dagegen wohnt biefer Abhandlung die Eigenthümlichkeit bei, daß fie theils den
Weg der Sonfbberationen weiter zurüd und vorwärts verfolgt, theils mandhe
Zufäge und felbft WBerichtigungen in Bezug auf bie bereits früher erörterten
Fragen und gefchichtlihen Evolutionen derfelben enthält. Sie trachtet einen
biftorifhsflaatsrehtlihen Geſammtuͤberblick ber Anftrengungen
zu geben, durch welche der Adel bes Menfchengeiftes feine höchften Güter, Recht
und Freiheit, wider Innern und außern Drud zu fichern fuchte, und
fient eine Generalkarte bdiefer oft fehr verfhlungenen Kämpfe auf.
Anmert. des Verf.
Die Rebaction freut ſich, bei der Wichtigkeit und Schwierigkeit der Lehre
von den Gonföberations s oder Bunbesverhältniffen, bdiefen belehrenden neuen
Artikel des berühmten Verfaſſers den Artilein Bund und Deutfcher Bund
beifügen zu koͤnnen. Anmerk der Red.
Gonföberation.. 89
bares, freies Vermögen entgegen zu fielen, heißt Vernunft. Ihr
Keim ift die Erkenntniß, ihre Frucht die geiflige Zugenb oder
Wahrheit. Die Religion aber beruht auf dem Glauben an eine
allgemeine fittlich » geiftige Weltordnung ale nothmendige
Folge und Ergänzung bes Gewiffens und der Vernunft. — Die
Bereinigung vieler Gemeinden, welche mit Freiheit und Althinlängs
lichkeit, d. h. möglichfter Gegenfeitigkeit, der Ausbildung des leiblichen,
fittlihen und geiftigen Elements (Stoffes) nachſtreben, gründet den
Staat (nolıg, respublica). Er liegt ebenfo beftimme im Wefen des
Menſchen, als die einfachfte und naturgemäßefte NWerbindung zwifchen
Mann und Weib den Uebergang aus dee Familie in die Gemeinde
darſtellt. Wer aus Unvermögen oder aus Kraftvolllommenheit am buͤr⸗
gerlichen Vereine keinen Theil haben kann oder will, der ift entweder
ein Thier oder ein Gott. Die Verfaffung, des Staats Leben
und Seele, liegt in dem Principe, nah mwelhem die Obrigkeiten
aufgeſtellt und die Verhältniffe der ſelbſtherrlichen Macht (Souve⸗
rainetät, Hoheit, zo nvgsov, majestas) beftimmt werden. Je freierm
und feftern Spielraum die Entwidelung bes Rechtstriebes (des Ges
wiffens) und der Vernunft findet, befto vollkommener ift die Verfaſ⸗
fung; je fchranfenlofer und ohne fichere Buͤrgſchaften das leibliche Bes
gehrungsvermägen ſchalten darf, deflo mangelhafter erfcheint die
Verfaſſung. Obenan ftehen deshalb die durch Uebereinkunft (Pact) und
wechſelnde Vertreter (Repräfentanten) befchräntte Volksherrſchaft
(Demokratie) und ihre Uebergang, die gefegliche (conftitutionelle) Mons
archie; unten treten auf die unbedingte Fürftens und Volkes
gemalt (abfolute Monarchie und abfolute Demokratie), — Ein auf
Vernunft und Recht ruhbender Staatsbeſchluß heißt Geſetz; ihm
gebührt als Ausdrud des Geſammtwillens Anerfennung oder Gehorfan.
Fortwaͤhrende MWiderfprüche zwifchen dem Gefeg und ben fittlichvernänfs
tigen Zwecken des gefelfchaftlihen Wereins führen zu Reformen
und, wenn bdiefe zaubern, gemwaltthätigen Aenderungen oder Revolns
tionen. Ihr Eintritt ift fo unabmweisbar als die Pfliht des Gehor⸗
ſams gegen Staatsbefchlüffe des Rechts und der Vernunft. —
Wenn der Staat, in den bisher betrachteten Verhaͤltniſſen gleichfam
einmärts gelehrt, feine anziehende Kraft (Attraction) nah außen
richtet und Stellung zu einem fremden oder verwandten ſeibſt⸗
bertlihen Bemeinmwefen nimmt, fo beginnt die bundesgendf-
ſiſche Wurrſamkeit (die flaatliche Affociation). Die erfie Gattung beis
felben erfcheint als ein zeitliches, d. h. für beflimmte Stift und bes
fondere wechfelnde Zwecke abgefchloffenes Verhaͤltniß zweier oder mehrerer
felbftherrlicher Staaten. Iſt gegenfeitiger Schug wider einen äußern
Feind der leitende Beweggrund, fo entfteht das Vertheidigungs⸗
oder Wehrbuͤndniß (dmiuaxia bei den Griechen); verpflichten fich
beide Theile neben der Schirmung auch zum erobernden Angriff, fo
heißt die Verbindung Schugr und Trugbündniß (ovunayla). Mes
ligiöfe Feierlichkeiten, Eidſchwur und Unterfchriften, Gegenfeitigkeit der
y aw‘
9 Gonföderation.
vorbehaltenen oͤffentlichen Rechte und Freiheiten, Anerkennung ber gleis
chen flaatlichen Befugniß und Hoheit begleiten ben Vertrag. Der Treue
und dem Glauben übergeben hieß er eben deshalb ‚bei den Römern
foedus, als dem Vertrauen (fides, fido) entfprofjen und durch dafs
felbe gewaͤhrleiſtet. Kein Xheil geht in dem andern auf, den Verbuͤnde⸗
ten bleibt für die Dauer des Verhältniffes diefelbe ungeminderte Rechts:
linie (foedus aequum , onovdal dl 77 Foy). Sie gilt, wenn nicht
ausdruͤcklich befchränkt, auch im andermweitigen Bezuͤgen bes gegenfeitigen
Verkehrs, tie fie namentlich duch Handelsübereintünfte können
geregelt und feflgefegt werden.
Die zweite, nicht auf zeitlichen, fondern bleibenben Bes
ftand theild von vorn herein berechnete, theils ſtillſchweigend vorausges
fegte Entreidelungsast der Bundesgenoſſenſchaft bietet nad, ihrem
bifkorifchen, organifch gegliederten Verlauf einen dreifachen Gang bar.
Der flaatlihe Affociationstrieb ndmlih, allmälig zum klareren
Seldftbewußtfein dauernder Zwecke und Kräfte ausgebildet, trachtet
entweder nach möglich feiter Sicherung bes außern (materiellen) Guts
wider die Gelüfte des immerdar regen Begehrungsvermögens,
oder er fucht durch eigene Anftalten die Anfprüce und Gewinnſte der
fortfchreitenden Vernunft wider rohe Unfitte und finnliche Geiſtestraͤg⸗
beit zu gemähkleiften, ſtrebt endlicy nad) möglichft ſtarken und bauers
baften Bürgfchaften des Rechts und geiftigen Kortfchritts wider
Bemaltthbat und Geiftesdrud. Als Zeihen und Früchte diefer
Affociationseinrichtung entftehen für den erften Kreis die Landfrie⸗
densbündniffe, für den zweiten die Geſittungs⸗ (Cultur⸗) Buͤnd⸗
niffe, für den dritten die politifchen Bündniffe oder Confoͤdera⸗
tionen im engern Wortverftande. (Eidgenoffenfhaften, frei«
ftädtifche [republitanifhe] Bünde) — Sie bilden den eigentlichen
Kernpunkt, welchem bie übrigen Einigungsverfuhe den Weg bahnen.
Die theilnehmenden Glieder gehören in der Regel demfelben völkers
(haftlihen Geſammtkoͤrper an; mit ihm treten fie entweder in
freundliche oder feindfelige Berührung je nach der Befchaffenheit und
dem Zweck des Bundes. Der erfte Sal tritt für das Landfriedens⸗
und Gefittungsbündniß ein, der zweite gilt für die politifche
Eidgenoffenfchaft, welche ſich gewoͤhnlich nad längerm oder kuͤrzerm
Kampf von dem nationalen Muttergebiete als eigene Selbſtherrlich⸗
feit trennt, bisweilen auh innerhalb bes ftantsrechtlihen Be:
fammtverbandes den Kreis ihrer unabhängigen Gntwidelung
nimmt. Diefen allgemeinen Gefegen folgen, fonft vielfach verſchieden,
Alterthum, Mittelalter und neuere Zeit; überall tritt die drei⸗
fahe Stufe des Affociationsprocefjes unter abweichenden Formen und
Namen hervor. — Blidt man zuerſt auf das Ichendige, vielgeflaltige,
eigens und freifinnige Griechenland, fo erfcheint hier die Zandfrie=
densverbindung (der Polizeibund) als frühefter Keim des fpäter für
Gefittung und Staat volltommener entmwidelten Bundesweſens.
Kaum hatten nämlich die Dellenen (Griehen) den nationalen Kampf
A
Gonföberation. | 97
mit dem diteen, prieflerfürftiich (theotratifch) vegierten Drientas
Lenvold der Pelasger größtentheils glücklich beendigt und den Send
in Ilion (Troja) darniebergeworfen (1194 v. Ch.), nis das fortdauernde
Fauſt⸗ und Fehderecht, bald der heilenifhen Stämme und Voͤlker⸗
f&haften, bald ihrer Fürſten und Edlen (Anakten, Heroen), wach⸗
fende Unbilden und Drangfale [hufen. Die Großen, von beutegieris
gen Gefolgſchaftsleuten oder Befellen (Beranovres) umgeben,
faßen in Burgen und ummauerten Städten feft, eine Plage bes
nahen und fernen Landvolks, auch bem Fremden gefährlich, wenn er in
den Bereich der Wegelagerer am. Denn es galt nur die leibliche Kraft,
daB Webergewicht der Stärke; man raubte, brannte, morbete, führte bie
Befiegten in Knecht⸗ und Leibeigenfchaftzs man verwüftete die Saaten,
hieb Fruchtbaͤume um, zerftörte Brunnen, Wafferleitungen und andere
gemeinnuͤtzige Werke; felbft der Tempel wurde nicht immer verfchont,
obgleich Furcht vor den Göttern auf den gewöhnlichen Abenteurer
und Raubritter zügelnd eingriff. Rohe Grauſamkeit und wilder Ueber:
muth zierten den Starken; Dienfchengefühl, Milde, Gerechtigkeit, ber
teachtete er als verächtliche Eigenfchaften des Poͤbels (Plutarch, The⸗
feu8 ©. 6.). Diefelbe Unficherheit bot das Meerz kuͤhne Freibeuterei
Brachte Beute und Ruhm; das Gewerbe galt nicht ale Schmach, fonbern
als Ehre. „Seid ihr Kaufleute oder Seeräuber?’” war bie
gewoͤhnliche Srage der einander treffenden Unbekannten (Thuchbides J. 5.).
Zwar forderte herkoͤmmliche Sitte, daB die Fehde durch den Herold
( Keryr) angelündigt und wiederum gefchlichtet wurbe, aber viele Fürften
und Edle kuͤmmerten fi nicht um den Brauch. Heimifche Blutrache,
Familien⸗ und Stammesfeindfchaften mehrten den Zrog des
gefelligen,, freilich oft duch Geſang und Froͤhlichkeit erheiterten Lebens.
Altes ftand auf der Spitze des Schwertes; der Kraftvolle war in
der Regel auch der Gerechte, und der Schwache galt als ber fchuldige
Theil. Diefem Unmefen der Selbfthilfe und des Fauſtrechts bes
gegneten allmälig arößere und Heinere Landfriedensbünpniffe.
Benachbarte Voͤlkerſchaften und Fuͤrſten traten nämlich unter dem
Schup eines gefeierten Gottes und Tempels ale Nahbarsver:
eine (Amphiktyonien, aupsxriovia, aupızzlovss) zufammen. Dies ge»
ſchah befonders in dee Gegend des Detagebirges, wo zwölf fpäter
weit verbreitete Völkerfchaften um den Tempel des delphiſchen Licht⸗
gottes, Apollon, gefchnart Zucht und Ordnung der aufleimenden Ges
ſellſchaft wider rohe Leibeskraft zu ſchirmen unternahmen. Ihr Eidſchwur
lautete dahin, daß ſie keine amphiktyoniſche Stadt (Gemeinde) von Grund
aus zerſtoͤren, keine im Krieg oder Fricden des Waſſers berauben, ben
Meineibigen aber überziehen und ftrafen, auch das Helligthum bes
Gottes beſchuͤßen wollten wider Raub und Gemwaltthat und zwar mit
Händen und Füßen, mit Stimme und ganzer Kraft. — Jaͤhrlich wur⸗
ben zweimal, im Srühling und Herbft, bald zu Delphi, bald unmeit
bem Thermopylenpaf Verſammlungen ber Abgeordneten (Pylagoren,
Dieronmemonen, d. h. Pfortens und Kirchenredner) abgehalten, voͤlker⸗
Suppl. 3. Staatslex. U. 7
—
8 Gonföberation.
rechtliche Klagen angehört und erledigt, Streitigkeiten der Bundesglieder
unterfucht und gefchlichtet, über Fried⸗ und Eidbrühige Bußen und
andere Strafen ausgefprochen, kurz die Sagungen eines möglichft aliges
meinen beilenifchen Lands und Voͤlkerrechts nad Kräften gehand⸗
habt. Jahrmaͤrkte, Turnſpiele, Wettgefang und mannicdfaltige Volks⸗
feöhlichkeit begleiteten den beiphifhen Landfriedensverein, welcher
unterflügt von dem Apollocultus und weithin berühmten Orakel
die Sitten milderte, Eintracht und Vaterlandsliebe nährte, den Gegen
fag des helleniſchen Volksgefuͤhls zur Fremde (Barbarei) unters
bielt und verftärkte. Aehnliche, jedoch auf engere, landfchaftliche Kreife
beſchraͤnkte Amphiktyonien beftanden im böotifhen Oncheſtus, auf
der Inſel Calaurea zu Ehren Pofeidon’s, in Argos und anderswo. Enge
mit diefen Landfriedensvereinen hingen bei den Hellenen bie
GBefittungs= oder Eulturbündniffe und gleichartige Einrichtungen
zufammen. Kaum war nämlid, die Sicherheit des äußern Guts noth⸗
bürftig gewonnen, al& der angeborne Schönheits« und Kunftfinn,
wetteifernd mit dem bedeutenden Vernunft: und Staatsbedürfnig, Spiels
raum fuchte und fand. Denn überalf gefellte ſich zum Ernſt die Froͤh⸗
lichkeit, zum rationeßen Forfchen das den Himmel und die Erde gleiche -
fam einigende plaftifdy = poetifche Kunſtvermoͤgen, welches hier die Gebilde
des Dichters fchafft, dort in feften Stoffen verkörpert und dem leiblis
hen Auge anheimgiebt. Ehr⸗ und Vaterlandsliebe, oft freilich
nicht dem Ganzen, fondern dem Theil zugewandt, verftärkten ben
wiffenfhaftlih=fünftlerifchen Kinigungstrieb, und die Reli⸗
gion trat hinzu, ihm durch den Hort der Gottheit eine höhere Weihe -
zu geben. So blühten denn jene eigenthbümlihen Wettkaͤmpfe oder
Turniere (aywves) der Geiftes: und Leibeskraft auf, buch
welche das fo vielfach zerfplitterte und baderfüchtige Hellenenvolt
für längere oder kuͤrzere Zeitfrift nationale Eintracht und Befriedung
gewann. Wettlauf zu Fuß, Roß und Wagen, Rings und Fauſtkampf,
Springen und Diskus: (Sceiben:) Werfen bildeten den Hauptftoff der
leiblichen Mebungen (ayav yuuvızos), Geſang, Muſik und Rede,
namentlich gefchichtlicher Vortrag, bezeichneten das Gebiet der geifligen
Nebenbuhlerfchaft (ayav uovoıxog). Jedem Freigebornen, wohl beieums
beten Hellenen mar die Bewerbung um den von Kampfrichtern
(Hellenoditen) und Geſetzeswaͤchtern (Nomophylaten) nad) forgfäl=-
tiger Prüfung ertheilten Preis des Dlivenkranzes vergoͤnnt; der Fremde
und von irgend einer Makel befledte Inlaͤnder blieb ausgefchloffen. Ein
feierlich ausgerufener Sottesfriede, am Frevler ſchwer geahndet, galt
für die Dauer der Keftlichkeitz unzählbares Volk ſtroͤmte aus allen
Bauen bes Mutterlandes, oft auch der fernen Pflanzungen, herbei.
Dergleihen Wettkaͤmpfe, zu Nemea, Delphi, auf ber Meerenge
von Korinth (dem Sfthmos) für Gefammthellas begangen, haben
im elifhen Olympia unter dem Schirm des Zeuscultus an Vollſtaͤn⸗
digkeit, großartiger Ordnung, Maffe der Bewerber, Zufchauer und Zus
börer, weit verbreitetem Ruf, den Höhepunkt gewonnen, Etwa drei⸗
Gonföberation. 9
hundert Jahre nad) dem flifchen Kriege durch Lykurg, Spartas Geſetz⸗
geber, regelmäßiger eingerichtet und hundert und acht Jahre fpdter (776
v. Ch.) durch die erfte Aufzeichnung des Siegers als Ausdrud eines
vierjährigen Zeitabfchnittes feftgeftellt, überragte der olympifche Ges
ſittungsbund alle ähnliche Anftalten. Für die tonifhen Bewchner
der Kykladen und Kleinafiens galt lange vor und nah) Homeros
(1000 v. Eh.) die delifche in die Ehre des Apoliinarifchen Lichtgottes
geſtiftete Feſtlichkeit als ein engerer Werband des Leiblihen und geis
fligen Wettlampfes. Kunftvolle Reigen (Chöre) und Preisgefänge vers
berrfichten in beftimmten Kriften das von Männern, Frauen und Kin»
bern zablreich befuchte Feſt und förderten den Sinn wie für die gemein⸗
fame Stammes: und Volksgenoſſenſchaft, fo für das Schöne und Wahre
in ben Werken bes Geiſtes. ine zweite Wurzel bes hellenifchen Bes
fittungsbänbdniffes tritt in den weit verziweigten, über Thracien,
den Cherfones, die Propontis, Vorderafien, Oftafrita, Suͤd⸗
italien, Sicilien, Sardinien, Sädgallien (Maffilia) u. f. w.
ausgebreiteten Dflanzungen (Colonien, anoınlas) hervor. Sie vers
koͤrpern eine wirkliche, organifch gegliederte Propaganda des Hellenis»
mus und fliften eine Art von Univerſalherrſchaft, welche nicht
fowohl durch Waffen denn durch Weberlegenheit ber geiftigen und ges
werblihen Kraft fiegend auf das Ausland (die Barbarenmelt) eingreift
und hier den Feuerherd nie raſtender Bewegung errichtet. Uebervoͤlke⸗
rung, Handels» und Gewinnſucht, politifche Imietracht, vor Allem uns
ruhige Abenteurerei und Thatenluſt wirkten für biefes nimmer mübe
Ebben und Fluthen helleniſcher Voͤlkerzuͤge, welche inmitten frember
Maſſen meiftens heimifche Sitte, Sprache und Bildung bis zum Er⸗
Löfchen der Leuten Lebensfafer bewahrten, aber daneben in vielfach eigen⸗
thuͤmlichen Geſtalten ausprägten. Man verfuhr dabei von Seiten bet
Mutterfladt (unreomolıs) mit ebenfo großer Vaͤterlichkeit als, Umficht.
Die Colonie bekam die heimifhen Staats: und Kirhenrechte, ging,.
bas an dem Altar des Geburtsorts angezundete. heilige euer gleichſam
voran und mit aller Nothdurft ausgerüftet, an ihre Beſtimmung ab,
richtete fich Hier unter der Leitung des beigegebenen Ordners (Stifters,
olxsoens) ein, blieb wie das für mündig erflärte Kind im Haus⸗ oder
Dietätsverhältniß zur elterlichen Heimath, welche man durch Opferfpens
den, Boten und ähnliche Auszeichnungen ehrte, im. Nothfall auch durch
Waffen und Geld unterftügte, behielt dagegen für die eigenen Angele⸗
genheiten genug der fubjectiven Freiheit, um des Mutterlandes Gefege
und Bräuche je nad) dem Beduͤrfniß der neuen Dertlichleit abzuändern.
So gewannen die beilenifchen Pflanzftädte ohne Preisgebung ber Heimath
fruͤhzeitig den Charakter der Unabhängigkeit (Autonomie) und mit
ihr den Hauptnerv rafcher Bluͤthe. Diefe wurde jedoch auch nicht felten
zerknickt, wenn das üppige Wachsthum theilß der Pietätspflicht entgegen>
trat, theils durch unbedachtſame Aufnahme fremder Eulturftoffe dee -
eingebornen Volksthuͤmlichkeit Feſſeln anlegte. Am reichten und mannich⸗
faltigften entwickelte fich endlich das politifche Sundealen. Denn
100 Gonföberation.
getragm von ben aͤltern Vereinen für Landfrieben und Geflttung
Eonnte es im günftigen Augenblick defto freier und Eräftiger bie rein
fiaatsbürgerlihen Angelegenheiten ergreifen unb orbnen. Jedoch
haben landſchaftlich⸗voölkerſchaftliche Rüdfihten (föberalis
ſtiſche Principien) und die herefchaftlichen Beftrebungen einzelner Hau pts
flädte den Weg zu einer Befammtverbindung der hellenifchen-
Republiken gefperrt und faft niemals ausgehende Eiferfuht, Spannung
und Zwietracht unterhalten. Trotziges Selbſtvertrauen, balsflarriges
Beharren in peovinziellen, nationalen und politifchen Gegenfägen,, das
gleihfam den Hellenen gegebene Vorrecht, felten Fremde, meiſtens
Einheimifche zu betämpfen und dadurch den Gedanken bes von ben
edelſten Gemüthern und koſtbarſten Augenbliden der Geſchichte erfaßten
Gefommtoaterlandes thatfächlich zu untergraben, — biefe und aͤhn⸗
liche Erfcheinungen bezeichnen die Schattenfeite der von Griechenland
ausgehenden Confoͤderationsverſuche. Den erften ſchwachen An⸗
fang zeigten die Weſtkuͤſſte Kieinaflens und die benachbarten Infe ln.
Hier bildeten die eingetwanderten X eolier (feit 1069) einen lofen Staͤd⸗
teverein von "zwölf Gliedern (Dodekapolis), welche religids ber
Tempel des duch fein Orakel berühmt gewordenen Grynaͤiſchen
Apollon zufammenhielt; am Vorgebirge Canes im fo geheißenen
Panaͤolium gefhah die jährliche Verſammlung der rathfchlagenben
Bolksgemeinde und ihrer Ausgefchoffenen. Die dolifhe Markung
ging von Cycieus bi6 an ben Hermus. Zwiſchen dieſem Fluß und dem
Vorgebirge Pofidion fiedelten (etwa feit 1050) die aus Attila einge»
wanderten Jonier, deren zmwölfortiger Städtebund, religiös durch
den Dienft des Helikoniſchen Pofeidon geeinigt, feine jährliche Tage⸗
fahrt anfangs im Panionium unweit Mykale, fpäter zu Epheſus
hielt, über etwaige Rechtsſtreitigkeiten, Krieg und Frieden rathfchlagte
und entfchieb. Neben den Ausgefchoffenen (nmooßovioı) Eonnte
jeder Bürger beliebig an der Verſammlung Theil nehmen und abflim»
men. Seierliche Opfer, Wertlämpfe und Sahrmärkte begleiteten die
Bundeshandlung. Suͤdwaͤrts endlich breitete fih an der carifchen
Küfte,. auf den Inſeln Cos und Rhodos, der dborifhe Sechs⸗
bund (Hexapolis, feit 1000) aus, deſſen kirchlichen Mittelpunkt ber
Zempel und Eultus des Triopifchen Apollon an der carifhen Küfte
darftellten. Hier gefchahen, mit Wettfpielen und Meſſen verknüpft, die
jährlihen Bundesverfammlungen. Diele drei Conföderattos
nen Kleinafiens litten an einem Hauptgebrechen. Sie maren ndmlid)
nicht nur zerfplittert in fcharf getrennte, einander eiferfüchtige, ſelbſt
feindfelige Stammesgenoffenfhaften, fondern befaßen auch in
den einzelnen Bundeskreiſen Keine hinlängliche Kraft dee Ober»
Isitung. Jede Stadt mit ihrem Gebiet blieb ſelbſtherrlich und
ordnete die inneren Verhältniffe nach eigenem Belieben und ohne Ruͤck⸗
fiht auf das Sefammtmwohl. Daher brachen heftige Parteitämpfe
zwiſchen Ariftofraten und Demokraten aus, traten häufig ein⸗
zelne Machthaber (Tyrannen) an die Spige bes gemeinen Wefens, ſchal⸗
Gonföberation. 101
teten Aberhaupt Ehrgeiz, Handels⸗ und Gewinnſucht, bald auch Ueppig⸗
Leit und Verweichlichung. Kür Künfte und Wiflenfchaften, für Ges
werbe und Verkehr Hatten beſonders die Jonier gluͤckliche Empfaͤnglich⸗
keit, aber rauhe Manneskraft und aufopfernde Buͤrgertugend wurden
dem Wolke gemach entfrembet. Umſonſt riethen Thales und Bias,
ben lockern Verein durch eine bleibende Bundesregierung, deren
Sitz Teos werden koͤnnte, fuͤr nahende Gefahren zu ſtaͤrken. (Hero⸗
bot I. 170.) Dieſen Centraliſationsgedanken, welcher wie en
I auftaudhend aus zwölf felbftherrlichen Städten eine Bun
desrepublik bilden und die einzelnen Glieder als abhängige Gaue
(Demen) der Sefammtheit unterorbnen wollte, verwarf die Menge.
Sofort erlag fie dem heranziehenden Ungewitter des perfifchen Reiche,
weiches bie freien Gemeinden. bisweilen nach ruhmvollem Kampf in Un⸗
terthanenlande ummwanbelte (546-- 500). Das Gerüft ber Frei⸗
beit biieb in manchen Hellenenftädten unangetaftet, aber die Seele ent:
ſchwand; halb willig, halb gezwungen folgten die Pflanzer dem Banner
bes Oberherrn gegen das Mutterland und wurden, als hier Webers
legenheit des Geiſtes und Muthes den glänzenden Sieg bereiteten, nur
dem Namen nad) frei. Denn bald traten an den Platz Perfiens
für die Hellenn Borderafiens und der Infeln Athen und
Sparta. Es hatte nämlich unter der Leitung diefer beiden Haupt⸗
ſtaaten das wider die Fremden vereinigte Feſtland duch Eintracht und
Vaterlandsliebe die von Außen her drohenden Gefahren niedergefchlagen,
auf dem Schlachtfeld von Plataͤaͤ für die Eräftige Kortfegung des Krie⸗
ges eine allgemeine helleniſche Eidgenoffenfhaft (ovaparle)
errichtet, das bleibende Bundesheer auf 10,000 fchmergerüftete Fuß⸗
folbaten und 1000 Reiter „ die Slotte auf 100 Schiffe vorläufig feſtge⸗
ſtellt, jährliche Zufammenkunft der Bundesräthe (neoßovio:) und
ein allgemeines Freiheit sfeſt verordnet, welches alle fünf Jahre auf
der geweiheten Wahlftätte Plataͤus begangen werden follte. (Plus
tar, Ariſtides C. 21.) Diefer großartige Plan eines Geſammt⸗
bundes fcheiterte theild an dem Gluͤck und Uebermuth der Sieger,
theils an der felbftfüchtigen Eiferſucht des dorifhen und ioniſchen
Stammes mie feiner ſtaͤrkſten Vertreter. Alſo entmidelten ſich etwa
innerhalb dreißig Jahren (479— 449) zwei unabhängige, gemach
eiferfüchtige und feindfelige Bundesgenoffenfhaften (Symmachien),
welche den Schooß der kurzem gemeinfamen Eidgenoffenfchaft vers
ließen und bald mit Buͤrgerblut befledten. Auf der einen Seite ſtand
Sparta, der bleibende und überwiegende Vorort bes doriſchen
Deloponnefus, auf der andern Athen, in demſelben ſtaatsrechtli⸗
hen Verhältnig gegenüber dem Jonismus. Dort galten Aderbau
und Landmacht, bier auf Handel und Golonien ruhende See⸗ und
Küftenherrfchaft als Strebepfeiler der dußeren Politil, dort Demos
Tratie und bier Ariftotratie als leitende Grundfäge der inneren
Staatsordnung. Jedes Mitglied der fpartanifchen, aud) außerhalb der
Dalbinfel wirffamen Bundeggenoffenfchaft beſaß vollkommene, fees '
ofen finbarı © Tb Rhsertichenie Cum), Be data
lich
oder © b iß totelis Sti cht
—F efugniß ar ad uf —3 mu recht auf dm
Tag
— bei den —— * * Bürger, unb wenn
verſchiedene Gemeinden in Conflict kamen, den Vorſchlag zur Aufflellung
rines Schiedsgerichts. Beiträge an Mannfchaft, 8 und: Schif⸗
fin wurden je nach din Kräften der Einzelnen, wie fie etwa bie Bunte
desmatrikel feſtgeſtellt hatte, Heforbert und entrichtet. Diefes Geſchaͤft
freie Ge ⸗
beſorgte der bleibende Vorort, welcher daneben bellebig bie Wundesges
noöoſſen nach der Hauptſtadt, gen Olympia oder anderewoͤhin zur
— en Kagefayung befchled, alle Bundssongelegenbeiten, .
bſtimmung
ie , Frieben, VWertraͤge vorberieth und zur A
brachte, Gen Dberbefehl übre Slotte und Banbbeer führte. Ein Bun⸗
desſchatz fehlte. Aehnliche Einrichtungen hatte anfangs die attiſch⸗
a Wehrgenoffenfhaft (Symmachie). Ihre Mitglieber beſaßen
Rechtsgleich heit (Iſonomie), Ertbfiherrlichkett und
—— gegenuͤber dem bleibenden Vorort, rathſchlagten un⸗
tee der Leitung deſſelben auf —8 in Delos abgehaltenen Tagefahrten pr |
era Bundesfahen und lieferten neben. Schiffen und Kriegern ihre
um Bundesſchatz, welchen die aus Athenern erwählten
—3— (Elinvoraplas) verwalteten. Als dieſe dem attiſchen
Staate Gelegenheit gaben, feinen politiſchen Einfluß über Gebühr autzu⸗
behnen und das Schatzamt in die Hauptflabt zu verlegen, entſtauben
Streitigkeiten und offene Fehden. Aber die zwieträchtigen und vereinzels
ten Bundesgenoffen unterlagen und verloren größtentbeils ihre Unab⸗
hängigkeit, fie mußten als Unterthbänige ober Zinspflidtige
(Soredeig) dem Vorort orbentlihe Jahresſteuern — im Ganzen
600 Talente, 630,000 Thlr. — und außerordentliche Abgaben entrichten,
auf Eriminalrechtöpflege verzichten und die Innenverhältniffe nad) dem
demokratiſchen Princip ordnen. Jedoch blieben noch einzelne ſelb ſt⸗
herrliche (autonome) Bundesgenoſſen, welche wie die Chier, Pla⸗
taͤer, Methymnaͤer auf Lesbos, Meffenier in Naupaltos,
Akarnanier u. f. w. den früheren Rechtsſtand behaupteten. Die bers
geſtalt in den beiden großen Conföderationen Spartas und Athens
zufammengedrängten Hauptkräfte des Hellenenthums entzünbeten bei wach⸗
fender Eiferſucht und Feindfchaft den peloponnefifhen, 27 Sabre
lang tobenden Bürgers und Revolutionskrieg (431—404). Sein _
größtes Unglüd lag darin, daß der Gedanke an ein Gefammtvaters
Land gleichfam geächtet, die fo geheißene Hegemonie oder Dictatorfchaft
eines Hauptftaates, bald Spartas, bald Athens, zulept The⸗
bene, und bie bienflbare Abhängigfeit-der Heineren, bier zinspfliche
tigen, dort ſcheinbar felbfiherrlichen Voͤlkerſchaften anerfannt, endlich den
Fremden, Perfen, Maceboniern, Römern, bie Pforten allmaͤlig
geöffnet wurden. Dabei verfolgte namentlich Sparta jede freiere Mes
gung bes demofratifhsconföderativen Principe und förderte
unter dem Dedmantel der Maͤß igung bie den Kern des Maſſenle⸗
Gonföderation. 108
Gens zerbroͤckelnde Wirkſamkeit der oͤrtlichen ober kantonalen Hoh eits⸗
geluͤſſte. Die Fortſchritt erſtrebende Entwickelung der Bundesbegriffe
ſtarb jedoch nicht aus, fie trieb vielmehr neue ober bisher nur mangelhaft
erfchienene Lebenswurzeln hervor. Dem wachſenden Bedürfniffe der Eis
nigung naͤmlich konnten weder die zwar gleichrechtlihen (ifonomen)
aber lockern Vereine Kleinaſiens, noch bie aus dem gefcheiterten Nas
tionalbunde heroorgegangenen bleibenden Dictaturen der attifchs
fpartanifchhen Conföderation genügen. Etwas volllommener trat des⸗
halb ſchon die uralte, an bie bleibende Hegemonie Thebens gebundene
Eidgenöffenfchaft der dolifhen Boͤoter hervor. Religioͤs getnäpft
en den Dienft der itonifhen Athene und die Zeftlichleit der Pamboͤs⸗
tien, übertrug fie die gefeggebende und über Krieg, Frieden, Ver⸗
träge befchließenbe Gewalt den vier Raͤthen Boͤotiens; bie
feldherrliche und vollziehende Macht beforgten ein Jahr lang
neben dem Dräfidenten (Archon) fieben, fpdter ef Boͤotarchen,
von welchen ber Vorort zwei ernannte; die Urkunden fertigte der
. Staatsfhreiber (ypauparevg) aus; in außerordentlichen Fällen trat
Die Landsgemeinde (dxxinala) aller flimmfähigen Bürger zufams
men. Meben ben felbfiftändigen, der Zahl nach wechfelnden Bun⸗
deögliebern fand man unterthänige oder zinspflichtige Gemein⸗
den, alfo daß trotz ber in ben vier Raͤthen und den Boͤotarchen ſicht⸗
baren organifchen Einridhtungen die boͤotiſche Confoͤderation theile
an dem Princip der Rehtsungleichheit, theild an den Folgen
zuͤgelloſer Adels⸗ und Volksherrſchaft verbluten mußte. — Einen
weitern Kortfchritt bezeichnet der nach kurzem Beltand duch Sparta
und Macedonien aufgelöfte olyntheifhe Städtebunb auf der
Halbinfel Chalcidice. Die Mitglieder befagen volllommene Rechtes
und Bürgergleichheit, laut welcher kein Privilegium bes leitenden
Bororts galt und die Angehörigen ber einzelnen Gemeinde überall im
Gebiet der Eonföderation ihr Bürgerrecht ausüben konnten (ovumo-
kiras, lsonolizas), ferner Gegenſeitigkeit der Ehen (Epigamie)
und de8 Landerwerbs. (Xenophon Hellen. V, 2.) Nach heiden-
muͤthiger Gegenwehr von den herefchfüchtigen Spartiaten unterbrüdt
(379 v. C.) fand dee Städtebund Olynths bald ein vorwaͤrtsſtre⸗
bendes Gegenbild in dem bisher zerriffenen und deshalb ohnmaͤchtigen
arkabifchen Gebirgsjande. Hier traten ndmlih, ale Theben bei
Leuktra über Sparta gefiegt hatte (371), an vierzig größere ober
Beinere Ortfchaften dem arkadifchen Nationalbunde bei (371), übers
teugen bie Sentralgewalt dem jährlid wechfelnden Ausfchuß der fo
gebeißenn Zcehntaufend (Myrioi), welche als Repräfentanten
ber einzelnen demokratiſchen Gemeinden in der neuen Haupt: und
Bundesſtadt Megalopolis faßen, über Krieg und Frieden, Bünbnifie
und flaatsbürgerlihe Klagen entfchieden, die vollziehenden Beamten
und Feldherren wählten, den diplomatiſchen Geſchaͤftsgang beforgten,
überhaupt die Gefammtheit (70 xo1v0v, commune concilium Arca-
dum) nah Innen und Außen hin vertraten. Als Kern des man»
10 | Gonföberation.
1
nichfaltig zuſammengeſetzten Bundesheeres diente bie beſolbete und
trefflich eingeuͤbte Schaar ber Eliten (Epariten), welche gleichzeitig als
eine Art von Polizeimannfhaft für den Vollzug ber Regierungss
befehle beſtimmt war. — Eiferfucht, Eigennug und Heinlicher Ortsgeiſt
auf der einen, [partanifche Derrfchgier auf der andern Seite hinderten
bie volls Entwidelung bes Bundes und befchleunigten dadurch weſentlich
ben Verluſt der bellenifhen Nationalunabpängigkeit. Aber ges
rade das nicht unverfchuldete Ungluͤck ftärkte den entfchloffenen Sinu ber
ebelften Vaterlandsfreunde und Eräftigften Völker; man erkannte bis
Nothwendigkeit verbefjerter Bünde und benugte dafuͤr die reichen Enders
gebniffe der Erfahrung und des Nachdenkens. Ueberdies weckten bie
fhauerlihen Morbs, Raub» und Brandzüge der Celten (Gallien),
welche Macedonien, Theffalien und Phocis heimfuchten (280.
279 v. ©.) das ſchlummernde Selbft- und Ehrgefühl. Go traten
denn gleichſam als Abendröthe / des fterhenden Dellenenthums bie
legten Eidgenoffenfchaften der Aetoler und Achaͤer hervor, jene
im Norbweſten, diefe im peloponneflihen Süden wirkſam. Beide
Vereine, welche Stäbte und Landbezirke umfaßten, bezeichneten
dadurch einen bedeutenden Kortfchritt, daß fie keine eigentlihe Unter»
thaͤnigkeit oder Zinspflicht geflatteten und die organifche Glie⸗
derung zweckmaͤßig verbefierten. — Bis zu den Zeiten Philipp’s
und Aleranber’s von Macebonien hatte das freibeuterifch » flreitbare,
rohe und halbwilde Volt dee Aetoler Leinen Ruf gewonnen. An ben
fruchtbaren Küften und in rauhen, wildbewachſenen Gebirgen feßhaft,
der Jagd, Viehzucht und Fehde ergeben, ohne eigentlihe Städte und
feit Menſchengedenken auf weit entlegene Meierhöfe, Dörfer und Flecken
befhräntt (Thucyd. III. 94), kannte e8 weder die Freuden und Vor⸗
theile nod) die Beſchwerden und Gebrechen des verfeinerten Lebens. Das
übrige Griechenland betrachtete die fernen Gebirgsleute ald Fremde und
Halbbarbaren. Allein ein günftiges Scidfal jparte die ungebrochene
Naturkraft diefer ſpaͤten Nacyzügler des Hellenenthums für die Zage ber
Moth auf und verzögerte dadurch mefentlid den allgemeinen Untergang.
Als naͤmlich Alexander's Tod (323 v. E.) das Zeichen zu kühnen,
wenn auch nicht erfolgreichen Unabhängigkeitsbeftrebungen ber
Hellenen gab, da verftärften aud die tapfern Aetoler ihre alte
Stammesgenoffenfhaft und ermeiterten fie allmälig zu einem
mwohlgegliederten Bundesftaat. Diefer, in den Zagen des Geltens
krieges (280. 279) den Grundzügen nad ſchon ausgebildet, ruhte auf
der unbetingten Rehtsgleihheit (Sympolitie) ohne bleibenden
Vorort (Directorium, Hegemonie) und zinspflichtige Unterthanen,
auf der jährlich im Herbft nach dem offenen Flecken Thermus entbotenen
gandsgemeinde (Panaetolium, concilium Panaetolicum), welche als
Ausdrud der Volkshoheit und der Befammtbürgerfhaft über
Krieg, Frieden, Bündniffe, Verträge, Wahlen und gemeine Ordnungen
entſchied, Streitigkeiten fchlichtete und felbft in die Snnenverhälts
niffe der einzelnen, fonft unabhängigen Städte ober Landgemeinden
Gonföderation. 108
nöthigenfalls als Geſetzg eber eingriff, endlich auf ben jährlich erneuer⸗
tm Bundesbeamten. Diefe beftanden aus mindeftens breißig Glie⸗
bern des Landraths (Mathe der Erlefenen, Apofleten), welcher
Die Geſchaͤfte ber Tageſatzung ober Landsgemeinde vorbereitete,
bisweilen auch ohne legtere hanbelte, dem Strategen oder Feldherrn
und Praͤſidenten, welcher jeboch bei Berathungen über Krieg und
Stieden der Umparteilichleit wegen nicht abflimmen durfte, daneben für
den Vollzug der Befchläffe forgte, dem Reiterobrift (Dippacch), des
Strategen Gehilfen, und dem Staatsfchreiber (dnuocsog Ypappa-
zeug), welcher die Urkunden ausftellte und befiegelte. Geſetzſchreiber
(Nomographen) traten wohl nur außerordentlich auf, wenn über einzels
ne Segenftände, 3. B. Kaperei und Plünberung , allgemeine Bundesbe⸗
fehle ergingen, oder wenn innere Angelegenheiten einzelner Glieder
duch die Dazmwifchentunft der Gefammtbürgerfhaft (Bundesgemeinde)
außerordentlich geregelt wurden. So verbunden trachteten die Aetoler
mit Erfolg nach Ausdehnung; denn es gelang ihnen, in ber Nähe bie
meiften Gemeinden der Lokrer, Phocier, ein Stuͤck Theſſaliens
und Alarnaniens, in ber Ferne Cephallene, Elis, Meffenien,
theils duch Güte, theils duch Gewalt zu gewinnen. Allen Habgier
und Bedrückung einzelner Abhängigen, 5. B. der Meffentier, vor
Allem aber Eiferfucht gegen den gluͤcklichen Nebenbuhler im Peloponnes,
die Achder, trieben die nordweſtliche Eidgenofienfchaft zum unnas
tuͤrlichen Bündnis mit Macedonien, bem gemeinfchaftlichen Feind,
und ſchwaͤchten dadurch bie wohlthätige Ruͤckwirkung auf Geſammthellas.
Dergeftalt vereinzelt unterlagen die Aetoler nad) heidenmüthigem Wi⸗
derftande den Römern (189 v. ©. Olymp. 147, 3), melde fih an
ben Plag ber abgeſchwaͤchten Macedonier gebrängt und bie legte Bruſt⸗
wehr ber helleniſchen Unabhängigkeit zum Abfchluß trüglicher Freundſchaft
verlocdt hatten. Diefe ſchickſalsvolle Stellung naͤmlich bieten die Achderz
in ihnen erfcheint die Abendröthe der untergehenden Freiheit, deren
Schlagſchatten den volllommenften, an Großthaten reichften, obwohl ver⸗
fpäteten Hellenenbund treffen. — In dem fchmalen, Elippens und bergs
vollen Küftenlande, welches Ach aj a beißt und vom Vorgebirge Araru
bis zum Gebiete Sicyons hinaufreicht, ftifteten die erſten Anfiebler
ionifhen Stammes einm Landfriedens: und Tempelverein
(Amphiktyonie), welcher geknuͤpft an das Nationalheillgehum Pofeis
don’s zu Helice zwölf Gaue und Fleden umfaßte. Darauf kamen
bie duch den doriſch-heraklidiſchen Wölkerzug aus Archos und
Lafonien verbrängten Achaͤer, befesten das Land der hinmeggefchober
nen Jonier, ummauerten die Flecken derfelben und verknüpften bie
neuen, anfangs koͤniglich, darnach republikaniſch-demokratiſch
(ſeit 700 v. C.) regierten Staͤdte durch einen loſen Verein, deſſen
religioͤſer Mittelpunkt der Tempel des Zeus Homagyrlius (d. bh. des
verfammelnden Zeus) unmelt Argium bildete. Die zwoͤlf durchaus felbfts
herrlichen (autonomen), durch keinen Directorialvorort befchränkten Stadt⸗
gemeinden, von Morgen nach Abend gezählt, hießen: Pellene, Aegira,
O1 XVCR)
Ks Mus, Parın, Wenn, Ahopé, Patraͤ, Zritde,
Paa.g. Prrad, I aa n tt, Sitten⸗ und
st, Na Day a Arpage Dedecoerachtung, Redlichkeit im Hambef
Ne yeit.!$2 una Stillleben der alten Adyäer meilkens
weitet -wı Mies or Adenderung vom ber hrlienifdyen Befanume
NR aus Na ten Macedonier und IZwingberren (Murau
—8 X we in rem und Freiheitsgefuͤhl ſanken; ber Buub,
Zaunt Mefle Errdnungen zufammmengehalten, wid aus den
ig. Ny zuteiiieite. Maturmißgefchide traten auflöfend hiayas
line wur Musa werfäwanden in ben Meereswogen (378 v. Che),
Ana. Dienas und Argd im Elend, während Leontium unb
CCBAA umgertamen. Endlich weten Noth und Drud ben ſchluu⸗
ran Eingeben? der beffeen Zage erhoben fih Dyme
war Daried, ven den Aetolern unterflügt, wider Macedonier unb
Aea (280 v.Chr. DI. 125, 1); Zritda und Phard folgten;
Jeyınma verjagte fünf Jahre fpäter (275 v. ©.) bie macedoniſche
‚ Bura und Cerynea brachen das Tyrannenjoch (255)5
tuentium, Aegira, Dellene ſchloſſen fih an; eine neue, weient
we wen e Eibgenoffenfhaft ber Achder breitete fidy za
wÄaR Aber das Küftenland, darnadı über den größten Theil der peles
zeumeftfden Dalbinfel aus; eine frifche Kraft ſtroͤmte vorzüglich ſeit ber
VDiefceiung Sycions durh Aratus (251 v. C.) in den halb erflarz
sen Kürper des Hellenenthums ein und bewerkſtelligte eine verjüngenbe
Wiedergeburt. Wenn nämlih ber Bundeszweck den Sturz ber
Macedonier und Zmingherren, bie Befeſtigung der allgemeinen vaterläns
diſchen Freiheit erfixebte (Polyb. II. 43), fo haben die Mittel und or⸗
ganifchen Anflalten diefem hochgeſteckten Ziele vollkommener denn jemals
entiprochen. Denn bie gleichrechtliche Stellung ber frühern oder
fpätern Glieder, die Gebundenheit der einzelnen Städte und Lands
ſchaften gegenüber dem Auslande, welches nur von dem Ganzen
feindlich oder freundlich berührt werden follte, die beinahe durchgreifende
Gleichheit dee Münzen, Maße, Gewichte, Gefege und
Dbrigkeiten in den moͤglichſt demokratiſch regierten Kantonen
oder Bunbdestheilen (Polyb. II. 37), dieſe Einrichtungen fchufen einen
wirklihen Bundes- und Volksſtaat, welchem, wie fih Polnbius
bildlich ausdrückt, für den Abfchluß derfelben großen Stadtgemeinde nur
die Mauern fehlten. Die hoͤchſte Gewalt über Krieg und Frieden,
Buͤndniſſe und Verträge, Gefege und conftitutionelle Ordnungen, Aufs
nahme neuer Mitglieder, Wahl ber Beamtar und politifche oder den
Bund betreffende Klagen, ſtand bei ber Bundbesverfammilung, ber
großen Lands= und Bürgergemeinde (dxxinain, auvodog, avvi-
dgsov), welche jeder dreißig Jahre alte Achaͤer befuchen durfte. Gie
wurbe regelmäßig in jedem Jahre zweimal bei Aegium im gemeihten
Hatne des Zeus Homagyrius oder Homorius, des Bunbesgottes, abge
halten, im Zrühling nad) dem Aufgang der Plejaden für die Beamtens
.
Konföberatin. 107
wahl und andere Begenflände, und im Herbfl. Ihre Dauer war auf
hoͤchſtens drei Tage beftimmt; jeder Theilnehmer durfte, vom Herold
eingeladen, da6 Wort ergreifen und felbft Anträge fielen, jedoch nur
über bie der Berathung von den Behörden übergebenen Angelegenheiten.
Dies geſchah, um den Mißbraͤuchen der Demokratie vorzubeugen und um
Drdnung, Zeit zu gewinnen *). Die Abmehrung gefhah nad dem
Städten ober Kantonen, welche Gleichheit des Stimmrechte befaßen und
bereitö vor dem Beginn des Bundestages ihre vorläufige Meinung abe
gaben. Den Vorfig und die Leitung der Debatte hatte der jährlich ers
wählte, nach der Nieberlegung feines Amtes wiederum wählbare Stra«
teg (Feldherr). Er führte das Bundesfiegel, beforgte die nöthigen Aus⸗
fchreiben, bie diplomatifchen Angelegenheiten, ſoweit fie nicht an bie
Landsgemeinde kamen, forderte die Beiträge an Mannſchaft und Gelb
ein, vollzog die Befchlüffe und befehligte das Bundesheer. Sein Gehilfe
und allfaͤlliger Stellvertreter war der Reitergeneral (Dippach). Das
neben unterftügte ihn der jährlich erneuerte Bundesrath (Bovin), in
welchem, fcheint es, Abgeordnete der erften zehn achäifchen Stäbte unter
dem Namen der Demiurgen (Volksraͤthe) regelmäßig Play
hatten. Die Zahl ber übrigen Rathsglieder ift unbelanntz fie wechfelte
wahrfcheintich nach den Zeiten und Umftänden. Der Bundess oder _
Landrath bereitete Alles vor, was an die Landsgemeinde kommen
follte, und hielt deshalb auch eigene Verfammlungen, deren Präfident ber
Stroteg war. Diefer bekam eine zweckmaͤßige und dennoch gefahrlofe
Macht, feitbem man fünf und zwanzig Jahre nad) der Aufrichtung des
Bundes (255 v. C.) die Doppelte Strategie abgefhafft hatte. Denn
fortan Eonnten ſich große Perſoͤnlichkeiten entwickeln und bei ber vorbes
baltenen Wählbarkeit des abgetretenen Bundespräfidenten gemeinnügige
Plane ausführen. Dafür zeugen Aratus, Dhilopömen, Lykor⸗
tas, Polybius, in den Zagen des Verfalls Reuchter militaͤriſch⸗ſtaats⸗
miännifcher Zugenden. — Die Ausfertigung der Urkunden endlich bes
forgte dee Staatsfchreiber (Grammateus), welcher wie alle Bundes⸗
beamte jährlich wechſelte. — Go gegliedert hielt die achaͤiſche Eidges
noffenfchaft den Todestag Griechenlands über hundert Sabre hin und
beftand ihn, als Zwietracht, Exrfchlaffung dem erobernden Römerthum
entjcheidende Weberlegenheit gebracht hatten, mit ehrenhaftem, wenn auch
unglüdlichem Heldenmuth (146 v. C.).
In Italien, dem zweiten Hauptfis des Alterthbums, fanden
bie Confoͤderationsideen verbältnißmäßig nur einen befchränkten
Spielraum. Denn bie voreömifche Bevölkerung hatte für Bundes⸗
gedanken feine hinlänglihe und fruchtbare Empfänglichkeit, der roͤmi⸗
ſche Staatsgang aber fuchte, fobald er die Ännenverhältniffe
georbnnet und das Bewußtſein der Stärke gewonnen hatte, mehr durch
*) Ebenfo durfte nach der fchweizerifchen Mediationsacte (1803) bie
Landgemeinde nur Begenflände erörtern, welche der Landrath vorgelegt
1068 Sonföberation.
leitende Concentration benn freie Bunbesgenoffenfhaft nad
außen. bin zu wirken. Indeß fehlen auch für Italiker und Römer
föderaliftifche Beſtrebungen keineswegs; man vermißt jeboch bei ihnen
ben flufenmäßigen und organifchen Fortfchritt, welchen die heileniſchen
wenn aud mangelhaften Verhältniffe zeigen. igentlihe Landfries
dens⸗ und Tempels (Qultur) bündniffe treten als Anknuͤpfungs⸗
punkte der politiſchen Einigung nirgends in fcharfen Umriffen hervor,
obfchon Religion und Eultus ihre ruͤckwirkende Kraft auf völkerrechtliche
Angelegenheiten audy auf ber verhängnißvollen Halbinfel vielfach offenba»
ren. Die Ältefte, dem vorrömifchen Stalien flellenweife eigenthuͤm⸗
liche Bunbesmtwidtung ift die cheofratifchsföderatiftifche Ges -
ftaltung der Tusker, befonders im mittlern Gebiet (Centralhetrurien,
Zoscana). Zwölf, für ihre Innenverhäftniffe felbfthertliche, vom Pries
fleradel (Lucumonen) regierte Stadtgemeinden (Kantone) verfnüpfte
bei gemeinfamen Unternehmungen und Gefahren das lockere Band der
Tagefahrt. Diefe wählte für die Dauer des Feldzugs ben Oberkoͤnig,
welchen zwölf Lietoren, aͤußerllch Mepräfentanten der Städte und
andere Ehren auszeichneten. War dns Werk beendigt, fo trat das
einftweilige Bundesoberhaupt wieder ab. Später, als das priefterfärft-
liche Princip dem weltlichsariftofratifchen wich und bie zwoͤlf Fuͤrſtenthuͤ⸗
mer Etruriens in ebenfo viele ariſtokratiſche Freiſtaaten ummanbelte,
ging die buͤndiſche Vorſteherſchaft jährli auf ben aus der hohen Adel
ſchaft ernannten Dberbeamten (Lars d. h. Here) über. Eine freie
Bürgerfchaft fehlte; die Volksmaſſe diente als Client (Schugbefohlner)
ober auch als Leibeigener dem Herrenftand ; der Boden gehörte diefem
und den Tempeln; ein etwas lebendiger Umlauf ber materiellen und pos
litifhen Güter wurde unmoͤglich; eine allmälige Faͤulniß beſchlich das
fonft tunftfertige Tuskerweſen und führte e8 den Römern entgegen. —
Lofe, durch Landsgemeindben und für die Dauer der Gefahr er⸗
nannte Feldhauptleute (Embraturs, imperatores) zufammengehaltene
Einigung verknüpfte das tapfere, freibeuterifche, am Liebften dem Schwerte
recht vertrauende Berg⸗ und Hirtenvol® der fabellifihen Samniter.
Es haßte die Städte, wohnte in Meierhoͤfen, Dörfern, offenen Sieden
und folgte im Frieden wie im Kriege willig dem Befehl patriarchalifch
geehrter Aelteften ober Samilienhduptlinge, um melde ſich
Schaaren abhängiger Schugbefohlner (Elienten) verfammelten. Das
Stamm : und Sippfchaftsleben gli den Glanfchaften der galifchen
Bergſchotten und konnte fchon wegen diefer einmwärts gefehrten, wenn
auch hier ftarfen (intenfiven) Befchränttheit Reine frifche, nach außen ges
richtete Conföderationswurzel hervortreiben. Das GSamnitervolf
ftarb an der ſtarr behaupteten Einfalt feiner ſtammlichen Verhättniffe. —
Für das Städtes und Bürgerthum bradıte dagegen Latium lange
vor Roms Gründung freien und ziemlich tief eingreifenden Spielraum.
In jener fruchtbaren, die Vortheile der See und des Aderlandes verbin:
denden Ebene blühten angeblid dreißig Stadtgemeinden auf und
flifteten in die Ehre des Latinifchen, durch gemeinfame Opfer gefeier⸗
A
5
Gonföberation. 109
ten Jupiter den gleichnamigen Bunt, welcher von den Mitgliebern
gleiche Rechte und Pflichten forderte, auf dem Albanerberge,
an der ferentinifhen Quelle die Abgeorbnetm zur gemeine
ſchaftüchen Rathſchlagung und Beſchlußnahme über Krieg und Frieden,
Banduiſſe und Verträge einlub, jeder einzelnen, fonft ſelbſtherrlichen
—— Gegenſeitigkeit der Ehen (ius connubii), Bürgerrechte
und Erwerbsbefugniß (ius commercii) goͤnnte. Ya die Staͤdte,
durch Rath (senatus) und Buͤrgerverſammlung (concilium) re⸗
giert, durften für eigene Rechnung Krieg erklären und Frieden abfchlies
Sen. Anfangs galt Erbfürftenthum, feit ber Mitte bes achten Jahr⸗
hunderte etwa Republik. Fortan vertraten jährlich erwählte, von dem
Senat aͤngſtlich überwachte Dictatoren und Prätoren die Stelle
bes Koͤnigs Die Vorortfhaft des Bundestages und felbherrliche
Leitung fand Menfchenalter lang bei der mächtigen Gemeinde Alba
Longa, nad dem Verfall und Untergang berfelben burd; Rom (668
v. E.) bei zwei von einem Zehnerausfhuß unterflügten, jährlich
wechſelnden Prätoren. Das Völkerrecht gegenüber dem Aus⸗
Lande handhabten bie geweiheten, unverlegbaren Fetialen; fie kuͤndig⸗
ten, wenn Genugthuung verweigert wurde, ben Frieden auf und bie
Fehde an, fie heiligtem Sühnverträge und Freundfhaftsbünd»
niffe. Schutzbefohlene, börige Leute (Slienten) fehlten; ber Bo⸗
ben war feop der großen Zempels und Staatsgüter (ager publicas)
ziemlich eegelmaͤßig vertheiit. Häufig zinfeten jedoch kleinere Orte als
» UnterthHanen ben größeren Stabtgemeinden. Mad langem fe
gensreichen Wirken unterlag die Latinifche Einigung, welche in ih⸗
ver Bluͤthezeit den repräfentativsfödberaliftifhen Grundzug
trägt, den blutsverwandten, centralifirenden Römern (339-336 v. C.).
Diefe haben in der allmälig entflandenen, feit dem Fall ber Samniter
und Tusker (290 v. C.) abgefchloffenen italifhen Bundesger
noffenfhaft mehr das Bild eines vom bleibenden Vorort und
Heren geleiteten Wölkervereins denn politifhen Staatens
bundes verwirkticht. Alle Lebensadern trafen naͤmlich in der Hoheit
des vollen römifhen Bürgerrechts ((optimum ius civitatis) zufants
men und duldeten eben. deshalb Feine freie Bewegung für die mannichfals
tig abgefluften Glieder der Genoſſenſchaft. Die Stadt Rom und bas
ftaderömifche Bürgerrecht entfchieden; von der die Hoheit darftellens
den römifhen Bürgergemeindbe und den Obrigkeiten derſelben,
namentlih dem Senat und Gonfulat, gingen bie das gefammte
Itallen bewegenden Kräfte (Impulſe) aus. In größerer oder geringeren
Abhängigkeit folgten die Bundbesgenoffen (zoeii) dem Anftoß des
Mittelpunttes, etwa fo geordnet, daß zunächft dem römifhen Vollb uͤr⸗
ger (civis) die Freiſtaͤdte (Municipien) mit eigenem Gemeinderath
und Cultus, bisweilen auch römifhem Stimmrecht (ius snffragii)
ohne Befugniß der Niederlaffung (ius domicilii) erfcheinen, darnach
die Bundesgenoffen Iatinifchen Rechts (socii iuris Latini), melche bei
eigener Berfaffung in Rom anmefend mitflimmen durften, folgen,
20 Gonföberation.
ihnen ſich die Bundesgenoſſen italifchen Rechts (socii inris Italici)
in der Art anſchließen, daß fie mit Rom im Ehe- und Erwerb⸗
verband (ins connubii et commercii) ftehen, darnach die zahlreichen,
meiſtens aus militärifhen Gruͤnden geflifteten, von der Mutterfladt
umbebingt abhängigen Eolonien aufteeten, endlich die eigentlichen, ‚non
tömifhen Voͤgten (Präferten regierten Unterthanen (dediticii)
ben legten Ring der bundesgenoͤſſiſchen Gliederung‘ bilden. Dieſes
gefammte eigenthümliche Staatsverhaͤltniß behauptete fich, fo lange
Rom Maͤßigung, Sroßmuth und Edelfinn entwidelte. Als aber diefe
Zugenden mit der auf Koften Karthagos, Sriehenlande, Afiens,
Spaniens und Galliens errungenen Weltherrfchaft gemach vers
ſchwanden, Eigenfucht, Ehrgeiz und Ueppigkeit ſchneidender gegenüber ben
abhängigen oder unterjochten Völkern des Ins und Auslandes hervor⸗
teaten: da ſchlug auch mit dem Verfall der conftitutionellen Grundge⸗
febe das Bundeswefen um. Viele und zwar nicht bie fchlechteften Ita⸗
liker,wie die Marfer, Peligner, Picenter, Samniter, ges
dachten ihres frühen Glanzes, ihrer uralten Unabbängtafeit und
forderten Aufnahme im das unbedingte Bürgerrecht. Armuth ber
Maſſen, Parteiungen zwifhen Demokraten und Ariſtokraten
traten gleihfam hervor, um bie ſchwebende Lebensfrage zu verwirren.
Den Knoten mußte das Schwert zerhauen ; der folgenreiche, greuelvolle
Bundesgenoffentrieg brah aus (90 — 88 v. G.), Vorbote der
lauernden Bürgerfehden. Zwei Sonföderationsprincipien bes
Tämpften einander; Rom, von ben Colonien und meiften Latinern
unterftügt, ſtritt für die alte, vielfach gefuntene ftädtifhe Central»
republik; auf Seiten ber Italiker fland der Gedanke eines foͤde⸗
raliſtiſch-italiſchen Freiflaate. Die Entwidlung deffelben bezeichs
net gegenüber dem bisherigen Gemeinmwefen ber Halbinfel einen wahr⸗
haften Kortfchritt, fie ruhte auf dem Princip ber rvepräfentativen
nationalen Befammtrepublit. Die Bundes: oder Eidgenoffen
naͤmlich — ein feierliher Schwur hatte die Häuptlinge und Gehilfen ver«
pflichtet — überteugen die verwaltende und gefeggebende Macht
einem oberften Bundesrath oder Senat von 500 Sliedern, welche
aus den verfchiedenen Staaten Nords, Suͤd⸗ und Mittelitaliens
gemähle zu Corfinium (Italica) im Lande der Peligner den Gig
der Regierung auffhlugen, mit bictatormäßiger Vollgewalt Krieges
und Kriedensgefchäfte beforgten, jdhrlid aus ihrer Mitte zwei Ober»
feldderen (embraturs, consules) und zwölf Unterführer (praetores)
für die einzelnen Landfchaften erloren, den Bundesſchatz verwalteten,
mit einem Wort, die hoͤchſte Militär: und Civilbeamtung barftelle
tn. (&. Dıodor. Sicul. I, 37. fr. p. 186 ed. Bip. unb. fragm. 1.
37 bei Majo Il. 112. Strab. I.; V. c, 4.) — Allein das großartige
‘Unternehmen fcheiterte theils an dee vömifhen Gefchloffenheit,
tbeils an der Diplomatik bes Gegners, weldyer den Bund der Ita:
liker ducch einzelne Zugeftändniffe aufioderte und darnach im guͤn⸗
fligen Augenblid erdrüdte. Die trogigen Samniter wurden ale
Gonföderation. 111
WVolk beinahe ausgerottet; ıMilitärcolonien thaten bier wie ans
derswo das Uebrige; die roͤmiſche Republik aber, unfähig, bie vers
mehrte und zwieträchtige Bürgermaffe zu tragen, Pämpfte bald für ihr
eigenes Daſein und ging zur anfangs befchränften, dann zügellofen
Monarchie Über; das Alterthum endete, buch Knechtſchaft
und Unfittlichleit dem Reinigungsfeuer des Germanen⸗ und
Chriſtenthums entgegengeführt.
In der feit dem Untergang Weftroms (476) gemach aufgehenden
neuen Welt des Mittelalters treten bei vielem der griechiſch⸗
römifchen Ordnung Gemeinfamen für den Gang ber Conföderas
tionsbegriffe mehrere unterfcheidende, eigenthbämliche Merkmale
hervor. Erſtens verfchmilzt das religioͤſs⸗-kirchl iche Element inni⸗
ger mit dem ftaatlichen oder politifchen und zwar fo, daß anfangs
eine gleichlaufende, autonome, darauf etwa feit dem Ende des zwölften
Jahrhunderts eine überwiegende, prieftersfürftliche ober hierar⸗
ch iſche Macht erficebt und auch gewonnen, jedoch keineswegs behaup⸗
tet wird. In diefem zuerft friedlihen, dann feindfeligen Gegenfag bee
fRaatlihsweltlihen, in den Fürften-und Völkern niebergelegten
Srundkraft auf der efnen, des religioös⸗kirchlichen Principe auf
der andern Seite liegt der rieſenſtarke Acchimebeshebel ungeheuer Bewe⸗
gungen, colofjaler Thaten bes Abend » und Morgenlandes. Wie nämlich
in dem feit Kari dem Großen an die Deutſchen gefnüpften Reich
(d. i. Stärke, Sefammtheit) und Kaiferchum die Vorſteher⸗ und
Drotectorfhaft der hriftlihen WäIkerconföberation gegenüber bem
Deidenthum und morgenländifhen Islam als Abwehr und Angriff,
ſelbſt als höhere Ausgleihung des von Klerikern und Laien verübten
Unrechts erfcheint: fo bezeichnet bie allgemeine chriſtliche Kirche,
gemah am Papſte zu Rom bdargeftellt, den geifllichen Vorſte her
und Protector bed chriſtlich-katholiſchen Glaubens und
Zebrbegriffs, ſelbſt den Wächter und flrafenden Richter bes
weltlichen Unrechts. In dem Laiferlichsweltlihen Kreiſe jügeln
bertömmliche Rechte, Sreiheiten und Reichstage den Selbftwilien,
in dem kirchlichen übernahmen Ähnliche Anftalten, vor Allem bie
großen Rathsverſammlungen (Spnoden), das Xribunat mibder
Mißbrauch. Diefer konnte in den einander befchränfenden, jedoch viel
fach verlegenden Ringen bee weltlichsfaiferlihen und kirchlich⸗
päpftlihen (hierarchiſchen) Confoͤderation nicht fehlen. Beide
Principien fchritten, als das Lehenweſen den Begriff des Achten
Eigenthums zu verdrängen begonnen hatte, vielfach wider einander aus;
die Kämpfe zwiſchen geiftlicher und weltlicher Macht begannen im
geoßen Styl feit der Mitte des eilften Jahrhunderts und brachten bie
außerordentlichſten Erfchütterungen hervor; bie dem Alterthbum in der
Art unbekannte Verflechtung des Staats und der Religion war feit
dem national⸗kirchlich en Conflict zwifhen Drient und Occident
mittelft der Kreuzfahrten unabweisbar geworben. Bald traten auch
während biefes gewaltigen Fluthens und Ebbens der moslemitifchen
112 Gonföberation.
und chriſtlichen Wölkermaflen innere Reaetionen (Begenwirkuns
gen) hervor wiber die zwifligen Stammbalter und Protectoren der welts
lichsfaiferlihen und geiftlichspäpftifchen Reichsherrſchaft. Pos
litiſche und kirchliche Kegereien nady größerem Maßſtabe begannen;
jene flämmten ſich in anwachſenden Gonföderationen ober Eidge
noffenfhaften den Mißbraͤuchen und Pladereien der Lehen ariſt o⸗
Pratie entgegen, dieſe erftrebten Glaubensfreiheit gegenüber ben
unbedingt bindenden Satzungen der vom Kalfer und Reich troß ber
Zweiung gewöhnlich aut dem Buchſtaben bes Gelübbes thatfächlich
unterflügten Hierarchie. Die Dinge geftalteten ſich fofort aͤußerſt
ſchwierig und verwickelt; der Bruch zwifchen Staat und Kirche murbe
vollſtaͤndig, als ihre. Vertreter je nach dem Gebot des Nugens mit
einem natuͤrlichen Feind proviforiihe Bunbdesgenoffenfhaft abs
fhloffen und dadurch bie Kolgerichtigfeit des bisherigen Benehmens zu
Sunften der fleigenden revolutionären Bewegung aufgaben. So unters
flügte 3 B. Dapft Alerander III. den Lombarbenbund gegen
Kaiſer Friedrich I, und vergönnte der gleichnamige Enkel des Letztern
der sationaliftifchfegerifch en Reaction wider Dogma und Staat er
recht der Kirche im Ganzen freien Spieltaum.
Für die Entwidelung bes mittelalterlihen Conföberationss
wefens wirkte ferner eigenthämlich und entfcheidend der einge
borne doppelte Trieb des alten Germanen, bier zum heimiſch⸗
haͤuslichen, bort zum abenteuerlichstriegerifchen Leben, ober
die gleich ftarke Anziehungskraft der wehrs und lehenfreien
Genoſſenſchaft. Zwei einander fremde und mit Mühe befreunbete Ur⸗
ftoffe (Elemente) herbergten gleihfam unter demfelbin Dach der Na:
tion, wenn auch in verfchiedenen Zeiten und Lagen. Die Wehr oder
Allodialfreiheit des Kreifaffenthums ruhte als angeflammter
Rechts⸗ und Volksbegriff auf dem Befiß eines eigenthümlis
hen, vererbbaren, fteuerlofen Hofes oder Grundftüds (Allods,
d. h. Guts [Od] Alter), nebſt zugehöriger, Wald, Flüffe, Seen um:
faffender Gemeindenugung (Almende), auf der Pfliht und Ehre,
im allgemeinen, für Haus und Hof, Volt und Land entbotenen Heer⸗
bann ohne Sold zu dienen, auf dee Schöffenbarkeit oder ber
Theilnahme an dem Öffentlih dur; den Grafen gehegten Ding
(Gericht), endlich auf dem Befuch der hoheitlihen Volksverſamm⸗
lung (Landsgemeinde), welche über Krieg und Frieden, Bünbdniffe und
Verträge entfchied und die Wahlen der anfangs nicht lebenslänglichen
Dberbeamten vollzog. Diefe waren hauptfächlih dee Graf für Die
Hegung der Rechtspflege, ber Herzog für den Oberbefehl bes
Heerbanns; man nahm fe häufig aus alten berühmten Gefchled=
tern, wie den Amalern und Balten bei Oſt⸗ und Weftgothen,
den Asdingern bei den Vandalen, dachte jedoch dabei an Fein
eigentlihes Erbfuͤr ſtenthum. Den Mleinften innigften Ring bildete
das Haus, heilige Freiftätte für den ehrenmerthen Slüchtling und Wurzel
der Feind: und Zreundfchaften, welche vom Vater, gebornen Rich
2
‚ Conföderation. 113
ter für Rinder und Gefinde, auf ben Sohn übergingen; die Verpflich-
tung zur Blutrache und Fehde, wenn der Beleidiger feinen gütlichen
Losfauf duch Genugthuung (Sühne) antrug, war faft allgemein.
Je hundert Haushaltungen bildeten eine Mannie oder Dunderts
ſchaft (Hundrede), mehrere, Mannien die Mark, mehrere Markge:
noffenfhaften den Gau, mehrere Gaue ben legten, großen Rıng,
bie Nation, das Boll. Diefer einfache, in verfchiedene völkerfchafts
liche Kreiſe zerfplitterte Kriedensftaat der germanifhen Wehrfreis
heit fand einen gefährlichen, meiftens fiegreichen Nebenbuhler in der
gleichlaufenden, fpäter befchleunigten Entwidelung des lehenherrli⸗
hen Kriegsftnates. Er entfprang aus dem abenteuerlich : militäri»
fen Drang nach Heerfahrt, Beute, Waffenruhm und Dienjt um Land
flatt de8 Soldes. Seine urfprüngliben, uralten Wurzeln lagen in
den Waffengefolafhaften, welde junge, freiwillige Mitglieder
(Gefellen, vasalli) um den ditern, Eundigen Bormann und Führer
(Zürften) auf längere oder kürzere Friſt vereinigten und in mehreren
Stufen der Eriegerifchen Unterordnung als eine corporationsmäßig geglie⸗
Derte Geſammtheit darſtellten. Denn Ehren, Streifen und Belohnun:
gen wirkten für das Haupt, den Aelteſten (senior), Treue und
GSehorfam für die Untergebenen oder Dienflleute, Dienft-
mannen. Heerbann und Gefolge, oft unter ber Leitung deſſel⸗
ben lebenslänglichen Fürften oder Waffenktönigs, festen ſich gemach
als Eroberer in den Landfchaften des zerrütteten Roͤmerreichs feft
und übertrugen auf das neue Vaterland die Verhditniffe der Heimath.
So traten denn dort wie hier Wehrfreie und feßhaft gewordene Ges
folgfchaftsleute in machfende Spannung und ZFeindfchaft ein.
Denn jene fiebelten auf eigenthuͤmlichen, diefe auf gelichenen,
für unbedingte Heeresfolge vom Könige oder Fürften ausgetheilten
Sreundflüden (Reben, fe-od, d. i. Lehengut, feudum). Bald vers
zehrte die militärifch gegliederte und weit verzweigte Körperfchaft der
obern und untern Lehenträger den Kern der Wehrfreien, deren
viele, den Pladereien zu entyehen, ihre Höfe einem angefehenen welt:
lichen oder geiftlihen Herrn als Lehen übergaben ; andere verarmten,
fanten in Hörigkeit (halbe Freiheit), ja Leibeigenfhaft. Munde
Bezirke und Voͤlkerſchaften, durch Gebirge, MNiederungen, Entlegenheit
geſchirmt, behaupteten ſich zwar in der urfprünglichen Sau: und Wehr:
freiheit, aber die großen Gebiete und Maſſen wichen dem Andrang
der an Umfang und Mitteln überlegenen Lehenmacht. Legtere ergriff
und durchdrang feit der zweiten Haͤlfte des neunten Jahrhunderts bei-
nahe alle Lehensbezuͤge. Ihr buldigte die Wiffenfhaft, melde
meiſtens in den Dienft des durch Geluͤbde gebundenen Klerus ırat, bie
MWaffenehre, deren Bertreterin auf Koften des Heerbanns die neue,
ritterfchaftliche Kriegerzunft wurde, die Religions: und Kits
hengemeinfchaft, deren Centrum auf den Papft «ls Statthalter
des ihn belehnenden Heilandes übergeht, die Erde, wilde bei den mei⸗
fien Völkern germanifch »romanifchen Stammes gemach den Begriff des
Suppl. 3. Staatsler. II. 8
214. Gonföberation.
eigenthämlichen Frei⸗ und Erbguts verllert. Allein gerabe biefer wit«
geheure Umfchwung des gepanzerten und ſtreitbaren Lehenſtaats mit
einen Großthaten und Verbrechen erzeugte allmälig einen zügelnben
„Gegenſatzz; die Gonföderationen beginnen und trachten bald das
materielle Eigentum, bald das geiftige But der büärgerlihen
Freiheit und Sitte zu fchirmen wider den Ueberbrang dufßerer und
innerer Feinde. Das Alles gefchicht namentlich auf der ausgebehnten
und vielfac, ‚gegliederten Markung des Reichs deutſcher Nation.
Den erſten Anftoß zu den Polizei⸗ oder Landfriedensbüunduiffen,
welche perſoͤnliches und fahliches Eigenthum wider bie Rohheit
des Saufl- und Fehderechts firmen, gab, wie bei den Griechen
“ ber Tempeldienſt, die hriftsfacholifche Kirche. Alſo verordnete ber
zuerft tm fennzöflichen Aquitanien, darnach unter Kalfer Konrad
dem Salier in Burgund und mehreren deutſchen Gauen aufgerichtete
© ottesfriede (treuga Domini, 1034 und 1038), ba von Mittwod)
Abend bis Montag früh die Waffen ruhen, bie Webertreter aber in ben
geiſtüchen Bann und des Meiches Acht fallen follten. Diefe
ggen blieben jedoch meiftens fruchtlos; bie wilde Bemüthsart bes Beitalters
,‚ mb bie tief eingewurzelte Rechtsgewohnheit, Unbilden perſoͤnlich
an dem Beleidiger zu ſtrafen, hemmten den wirkſamen Bollzug bes. geiſt⸗
lichen Heilmittels. Daher kam bie Staategewalt durch den ſogeheißenen
Landfrieden dem Gottesfrieden zu Hilfe. agte
nämlich nicht wie dieſer bie Fehde für gewiffe Tage, fondern unter
ſchied zwiſchen gerechter and umgerechter Eigenmacht, beftimmte ſchaͤrfer
bie Säle und Bußen ber Friedbruͤchigen. Das erfte befannte Beifplel
ber Art ſtellte Kaiſer Sriedrih Barbaroffa in dem uNürnberg
ausgefertigten Frie dbriefe (30. Dec. 1188) auf. „Wer, lautete ex
neben Anderm, „in eigener Fehde auf Raub und Brand ergriffen wich,
der foll, er fei Freier oder Dienfimann, in bed Reiches Acht und den
Bann der Kirche kommen. So Jemand Weinreben oder Obſtbaͤume
aushaut, Fällt er in die gleiche Strafe mit dem Mordbrenner. Wer
den Anbern rechtmäßig befehdet, der fol ihm zum wenigſten drei Tage
zuvor abfagen durch einen Boten. — Kein Here fol für Brand und
andere Schädigung, welche die Knechte auf der Meife oder zu Hauſe
ohne Geheis ausüben, haften, er fchhge oder haufe denn die Thäter.”
— (©. Pertz men. h. g. IV. 183 und Gemeiner, Gefchichte des
Herzogthums Baien. S. 455.) Aehnliche Landfrieden, von fpds
tern Königen und Kaifern oft verfündet, trugen nur ‘eine halbe Frucht;
benn theils galten fie als eigentlihe Waffenftiliftände nur für
etliche Jahre, theils fehlte ihnen eine hinlaͤnglich ſtarke Aufſichts⸗
und Vollziehungsbehörde. Da trat bei wachfender Zügellofigkeit,
weiche die Abnahme und ber Fall des hohenftaufifchen Haufes bes
reiteten, der altgermanifche Einigungss oder Affoctationstrieb
heilend hinzu. Das Bürgerthbum, am fchwerften bedroht, gab ben
unſichern Landfriedensorbnungen einen neum Anfloß und ſchloß meiſtens
allein, bisweilen dem Adel und der Kürftenfchaft vereinigt, Bünbe
y
Gonföderation. 115
niffe ab. Diefe, anfangs mehr polizeilicher denn politifcher
Art, festem Schiedsrichter ober Austräge nieder, deren Sprüche
für alle Deitglieder der Einigung verbindliche Kraft hatten, und Bun⸗
besbauptleute, um die gefältten Urtheile zu vollziehen und ben
Widerfpänftigen zu demütbigen. So entwidelten fi im Norden bie
Anfänge der beutfhen Hanſa (feit 1241), im Suͤdweſten ber
rheiniſche Städtebund (f. 1254). Diefer, anfangs zmwifchen den
Bürgern von Mainz, Worms und Oppenheim, durnadı fechezig
Städten von Bafel bis gen Weftphalen, von Zurich bis Bres
men, mehreren Erzbifchöfen, Biſchoͤfen, Zürften und Grafen abge:
fhlofien und von König Wilhelm in des Reiche Namen anerkannt
(1255), befam bald (1254) eine angemeffene Berfaffung As
Vororte oder Kreisftädte ndamlih folten Mainz mit den un»
tern, Worms mit den obern Bundes- und Eidgenoffen
(coniurati) in allen gemeinen Sachen ben Briefwechſel führen, ihnen
die Befchwerden, Mahnungen und anderweitigen Angelegenheiten Fund
geben, jährlid viermal die mit Vollmachten (Snftructionen) verfe:
benen Boten der Städte und Herren, je vier von dem einzelnen Bun:
desgliede, zur Tagefahrt berufen, die Segenftände der Rathfchlugung
vorlegen und die Befchlüffe vollziehen. Alle, welche den Frieden be
ſchworen hätten, follten tiachten, für den Aufbrudy ehrbar und ehren-
voll bewaffnet zu fein, die Städte von der Mofel an bis Bafel hundert,
die untern aber fünfhundert Kriegsfchiffe bereit halten und mit Schügen
verfehen, babei auc nad) Kräften für die Rüftung der Neiterei und bes
Fußvolks Sorge tragen. — In diefem ftädtifhen, urfprünglic für
zehn Sahre berechneten Landfriedensbündniffe, welches, wie die
Urkunde fogt, Reihen und Armen, Weltgeiftlihen und Mon:
hen, Laien und Juden nüglid fein follte (Pertz, mon. h. g. IV. 1.
p. 869), war ein fruchtbarer, folgenreiher Grundfag niedergelegt, die
Kebre von der bewaffneten Einigung (Eidgenofienfchaft) wider
Unrecht und Gewaltthat. Auch wirkte das gegebene Beifpiel des
mehr durch Abwehr denn Angriff ausgezeichneten, nach glüdlicher That⸗
kraft durch Zwietracht der geiltlichen und meltlichen,, adeligen und buͤr⸗
gerlihen Stoffe gelähmtn Städtebundes auf die Zukunft zurüd.
Denn theild griff jener merfwürdige Verſuch in die Geſchicke der fpätern
politifhen Bündniffe ein, theils diente er als Vorbild dem fogeheiße-
nen ewigen KEandfrieden, welchen an der Scheide bes fünfzehnten
Jahrhunderts Kaifer Marimilian und die Meichsftinde in Worme
befchiworen (1495) und zu handhaben trachteten.
Die rein politifchen oder ftaatsbürgerlichen Vereine zeigen
im Hintergrund des beginnenden Mittelalters die ſaͤchſiſche Bun-
desrepublik, welche den wefentlichen Kern der altgermanifchen Gau⸗
verfaffung wider den erflarkenden Andrang des fränkifchen Leben ſta a:
tes zwifhen dem Niederrhein im Weiten, dir Eider und Trave im
Norden, der Unſtrut gen Süden zu behaupten trachtete. Das ges
fammte Land zerfiel in drei Kreife oder Gaue, Weſtphalen
8
16 3 Gonföberation.
(Abmdland) zwifchen ber Ems, dem Gebiet der Frieſen und Franken,
Dftphaten (Morgenland) gen Aufgang bis an die Elbe und über dies
feibe hinaus, und Engern In der Mitte längs der Wefer und an der
Alter. Was jenfeits der Elbe lag, hieß bald Oſt phalen, bald Nord⸗
albingien, Land der Nordleute, gleihfam vorgefchobene Poften der
weitlihen Nationalmaffe. Segliher Gau hatte feine felbftherrliche
Gemeinde, welhe den Grafen oder Vorſteher des Schoͤffenge⸗
richte nebft dem Bauernmeifter (burmeister, villiens) oder untern
Richter (tungerefa bei den Angelfachfen) für den Frieden, ben Ders
309 für den Krieg ermählte, feine Edelinger oder Adeligen, jedoch
ohne Vorrechte, feine Krilinger oder Freifaffen und Lazzen
(lazzi, lidi), welche perfönlicy frei als Pächter einen Theil des adeligen
und freifaffifchen Guts befteliten und im Uebrigen alle ftaatsbürgerlichen
Mechte befaßen. Diefe drei Gaue bildeten aber zugleih den Stoff einer
hoͤhern Gemeinheit,, dee Bundesrepublit oder fähfifhen Eidges
noffenfhaft. Alljaͤhrlich nämlich erfchienen je zwölf Boten der Weſt⸗,
DOftphalen und Engern, aus den drei Ständen ermählt, im Gan⸗
zen alfo ſechs und dreißig, zu Marklo an der Wefer bewaffnet und
unter freiem Himmel, vatbfchlagten und entfchieden nad beendigtem
Dpfer Über Krieg und Frieden, Bündniffe und Verträge, innere Streis
tigkeiten, Anträge ausländifcher Boten, handelten mit einem Wort ale
Gevollmädtigte der Geſammtheit. (©. Vita Lebuini bei Pertz,
m. g. h. II. p. 362.) Drohte ein allgemeiner Krieg, fo ernannten bie
drei für denfelben gewählten Gauherzöge durch das Loos aus ihrer
Mitte den Oberfeldherrn oder, wie man ihn heißen koͤnnte, Nas
tionalherzog, (Wittechind, Annal. I. 634. Meibom.)
Zwar verlor durch Karl den Großen diefe einfache, mohlgegliederte
Bundesrepublik die dußere Unabhängigkeit, aber noch Jahre
hunderte lang behaupteten fich einzelne Nechte und Grundfäge wider dem
Andrang der Lehengewalt. — Aehnliche Verfaſſung entwidelten
zwifchen der MWefer und Süderfee die Kriefen; ihre Wehrbund, feit
dem eilften Jahrhundert aufgerichtet und in fieben Seelande getheilt, übte
unter der hohen Eiche bei Aurich, beim Upstalboom (Gerichtebaum),
durch Abgeordnete geſetzgebende Macht aus, entfchied über Krieg
und Frieden, fchmwierige MNechtsfälle, innere Steitigkeiten. Zwietracht
und klug eingreifende Adelsherrfchaft zerftörten im vierzehnten Sahrhundert
den Bund der freien, edlen Ftiefen, deren ſtammverwandte Voͤlker⸗
[haft im Gau der Stedinger, ein Bauernfreiftaat, dem Weber:
gewicht geiftlicher und weltlicher Herren bei Altenefc in vernichtender
Feldſchlacht erliegen mußte (1234). Dagegen rettete im weftlihen
Winkel zwifchen der Elbe und Eider ſeßhaft die Tahfifche Voͤlkerſchaft
der Dithmarfchen ihre uralte Gaufreiheit bis zur Mitte des
ſechszehnten Jahrhunderts (1559). Das ganze, zum Theil der See
abgewonnene Ländchen zerfiel in fünf Döffte (Bezirke) und zwanzig
Kirchfpiele, das Volk in eng verbundene Geſchlechter und Klüfte
«Sumilien), welche gemeinfchaftlich zum Kampf auszogen und bie Pflicht
Gonföderation. 117
ber Blutrache anerlannten. Das größere Kirchfpiel hatte vier, das
Heinere zwei jährlich vom Volk gewählte Vorſteher oder Schlie er
(Sluter), welche dort mit vierundzmanzig, bier mit ſechszehn Ges
ſchwornen zu Recht faßen. Don ihnen durfte ſich der Beklagte an
die Kichfpielgemeinde, von diefer an die Landsälteften, fpdter
die 48. Regenten, zulest an die große Landsgemeinde berufen.
“ Mifftel dem Betheiligten der legte Gang zur Eaiferlihen Kammer, fo
konnte er das Land meiden, feinem Widerfacher Fehde anfagen und mit
getsehrter Fauſt Genugthuung fuchen. (Neocorus Chronik des Landes
Dithmarfchen. 1. 365.) Ueber Gefengebung, Krieg, Frieden,
Berträge, Wahl der Obrigkeiten entfchieb bie früher bei Mel⸗
dorp, fpdter auf dem Marktplag zu Heide abgehaltene Landesge⸗
meinde. Ihr durften alle freie Kandleute beimohnen. Etwa feit der
Dritte des Fünfzehnten Jahrhunderts vertraten des Landes Stelle ale
gevollmaͤchtigte Boten fünf Voͤgte, die 48, etwa 60 Schließer und
3 — 400 Geſchworne; was fi) fonft von Bauern einfand, fah und
hörte zu, gab Zeichen des Beifall und Tadels, nahm auch wohl burdy
einzelne Stimmführer Theil an der Verhandlung. Die regierende und
vermwaltende Macht mar anfangs bei wechſelnden Landesälteften
(Ratgebern) aus den Kirchſpielen und Landesgefchlechtern, darnach bei
dem lebenslänglihen Ausfchuß der 48er (Megenten), welchen ein
Ganzler oder Landfchreiber zur Seite fland. (S. Dahlmann
zum Neocorus. I. 597 ff.)
Eine ähnliche, von Häuptlingsariftoßratie gezügelte, obfchon
vielfach, anders ausgeprägte Bauernrepublik entwidelte fi im hoch⸗
nordifchen, von ftandinavifchen Norwegern allmälig befesten (f. 864)
Island. Die zerftreut gelegenen Höfe und Dörfer wurden allmdlig
(f- 928) zu einem Gemeinwefen verbunden und bie bisherigen Ge:
rihts= und Tempelherren (Boden) oder Häuptlinge der. ge
trennten Genoſſenſchaften mit geminderten Redten in den Staates
verband aufgenommen. Das ganze Eiland zerfiel in vier Gaue, der
Sau in drei Bezirke (Viertel, Harben), der Bezirk in neun Zehn⸗
ten (Hrepar), jene mit erblichen Gerichtshe:ren und Vorftehern (Goben),
Diefe mit fünf gewählten Aelteften. So bildeten fid vier Gaue und
zwölf Bezirksgerichte aus, welchen bei fleigender Proceßſucht das Fünfte
gericht, 36 Glieder ftart, als Appellationshof und felbftfländige
Behörde zugefügt wurde (um 1000). Die regierende, oft au in
die Gefesgebung und das Richteramt eingreifende Gemalt wurde in
der Ldaretta (Gefegeshof, Landrath) niedergelegt. _ Sie beftand aus
144 theils ordentlichen, gebornen, theils jährlich geroählten Mitgliedern *) ;
48 gehörten ben erblichen Gerichtsherren oder Boden an, die übrigen
der Sefammtbürgerfhaft. Den Vorſtand (die Praäfidentfchaft)
*) &. Dahlmann, Gefhichte Dänemarks Th. 2. 189 ff. Souverän
mar Übrigens die lögretta nicht, wie hier berichtet wird; das Geſammtvolk
übte mit dem Ausfchuß die hobeitliche Gewalt aus.
—X Coaſtderuivc··
befergte der anfange fü brei Jehee, Dtm Hg St nat Rage
niaun öber Befesrkann. Jährlich eiumal, im Fruhling, verfammelss
fih am Ger Thingvalla (Gerichtsfelb) die Sanbsgemeinde (Atthiag)s'
fiK entfchleb unter ber Leitung ber Lögretta und ‚des Lagmanns über
Steg und Frieden, gemelnheitlihe Drbnungen, Büntniffe, Berteige
furcht vor bem Alter und der Erfahtung binberte Dißbräuche bes Mollte |
tages; er entwickeite ſich Menfchenalter lang mit Ruhe und Drbnung
t#öß’Heftiger Leidenfchaften.- Darum —* bluͤhte Island SW
uf’ —* des dretzehnten Jahrhunberts (1262) im Freiheit, Kuntt/
Wiffſenſ chaft und Handelsverkehr auf.
Fuͤr bie — ber ſtaͤdtiſchen Eidgenofſenſchaften, welche Site
her hinter den Vereitien freier Landfaffen zirüdhlieben, gab Dbers
italien den entſcheidenden Anſtoß. Der Lombardenbund (sodetas
Lotkbardorum) namlich wurde bei wachſendem Zermürfniß mit der
beutfhen Rec utib dem Kalfer Friedrich J. zunaͤchſt für zwanzig
Sabre in’ dem Ktofler Puntibo zwiſchen Mailand und Bergunio auf⸗
gerichtet umnd befchworen (7. April 1167). Die Boten jener zwei Bes
—** Cremonias, Breſscias, Veronas, Mantuas, Ferrä⸗
ras, LTrevigis, Bicenzas, Pabnas, Marmas, Piacene
zas, Mobenas, Bolognas und Benedigs ‚gelobten, einander m
Sat und Blut zu fchiemen wider jeglichen Menſchen, weldyer fie durch
Krieg und auf andere Weiſe heimfuchen, ober eines der feit Heinrich’
IV. Zeit wohl erworbenen Richte ſchmaͤlern wolle, ohne genieinfamen
Beifall weder Frieden noch Waffenſtillſtand abzufchließen, jedwedem Bun⸗
desgenoſſen etwaigen Schaden zu erſetzen und dieſen Eid mit Ausnahme
der Pfaffen, Tauben und Stummen von allen Bürgern zwiſchen 14 '
und 60 Fahren zu fordern *. Die lombardifche Einigung, durch
den Conftanzer Frieden (1183) anerkannt, jedoch der Pflichten gegen
Kalfer und Reich ale eine etwa volllommene, nationale Souve-
ränetät nicht entbunden, trug den ſcharf ausgeprägten Charakter eines
föderativen Defenſivbundes, welcher eben deshalb Parteiungen,
örtlichen Sonbergelüften nicht leicht vorbeugen konnte. Die meiftene
jährlih aus den ftädtifchen Confuln oder Rathsmeiſtern gemählte
Dherbehörde der Rectoren (praesides, rectores societatis Lombardo-
rum, rettori degla Lombarda lega) 'Teitete bie allgemeinen Angelegens
heiten, berief ohne beftimmten Wohnfig und Gehalt die gevollmäcdhtigten
Gonfuln der Städte zu den Parlamenten oder Tagefahrten,
legte die Gegenftände der Berathung ver, beauffichtigte die Debatte und
fammelte die Stimmen, deren Mehrheit gefeggebende Kraft hatte. Kla⸗
gen wider einzelne Bundesglieder mußte bad Parlament, der
hoͤchſte Gerichtshof, innerhalb ſechszig Tage entſcheiden; jcde Ges
ſetzesurkunde durch das Bundesfiegel, einen Adler mit ausgefpreizten
Flügeln, und die Unterfchriften der anweſenden Gefandten bie canzleis
*) S. Urkunde bei Muratori, antignit, IV. 261.
Gonföderation. 119
mäßige Weihe (Sanction) befommen, jeder Rector acht Tage vor
dem Austritt den Tuͤchtigſten unter feinen Freunden oder Bekannten
zum Nachfolger vorfhlagen. Die Zahl der Ausfchußgliedber fland
nicht feſt; fie wechſelte nad) den Verhaͤltniſſen. Den Vollzug ber
Parlamentsbeſchluͤſſe beforgten für den Bund die Rectoren,
für da6 befondere Gemeinwefen die Confuln. Bunbesfhas,
etwa durch bleibende Beiträge gefammelt, bündifcher Oberbefehtl, obs
glei Mailand eine Art militärifher Vorortſchaft bdarftellte, und
Ahnlihe organiſſche Eintidhtungen fehlten. Deshalb fanden große
Derfönlichkeiten felten freien Spielraum; Alles geſchah langfam,
vereinzelt, nichtsdeſtoweniger meiſtens gluͤcklich, ſo lange bie Gefahr,
die Begeifterung für Vaterland und Unabhängigkeit ben zerfplitterns
den Eigennug der Parteien und Drtsbürgerfchaften zuräddrängs
ten. Allein trog der Mängel wirkte der Lombardenbund ald welt-
gefhichtliches Ereigniß auf Gegenwart und Zukunft zurüd; denn er
ſchob dem monarchiſch⸗ariſtokratiſchen Lehenſtaat ben Riegel der bürs
gerlih=-republitanifchen Gegenmadht (Reaction) vor und zeigte
thatfächlih die Stärke der Einigung (Concordia), namentlid für
die nach dem Fall der Hohenftaufen ſchwer bedrohten Deutfchen.
Diefe, damals ein ftreitbares, ungefüges Volk, bier für adelig⸗fuͤrſt⸗
liches, dort buͤrgerlich⸗freiſtaͤndiſches Wefen in corporatis»
ver Richtung empfänglich, verfolgten den von Lombardien gezeigten
Weg; es entwidelten fi, zumal noch manche lebendige Trümmer der
altgermanifchen Gaufreiheit beftanden, im Nordoften und Suͤdweſten
politifhe Städtebündniffe, dort als Hanfe, hier als Derein ber
rheiniſch⸗ſchwaͤbiſchen Reichsgemeinden. Dazu gaben die voran
gegangenen, fortfchreitenden Landfriedenseinigungen den dufßern
Anſtoß, Rechts⸗ und Freiheitsgefühl den innern, nährenden
Kern, Gewinn- und Hanbelstuft ben zäben, nachhaltigen Stoff
anziehender und abfloßender Natur. — Entfproffen ber dreifachen Wur⸗
zel des Paufmännifhen Privatvereins (Hanfe == Brübderfchaft *),
Hanbelsgilde), des Landfriedensbündniffes, zunaͤchſt zwiſchen Ham⸗
burg und Lübed (1241), endlich des flaatsbürgerlichen Corpo⸗
rationstriebes, hat ber beutfche Städtebund oder die große Hanſe
etwa innerhalb eines Jahrhunderts (1367 Coͤlner Conföderationsacte)
feine Grundgeſetze abgefchloffen, gleichzeitig erobernd beſonders wi⸗
dee Dänemark und Skandinavien gemirkt, den Weltverkehr
gen Dften über Novgorod mit Lievland, Curland und Rußland,
an MWeften mit Deutfhland, Flandern, Großbritannien
geleitet, in einer langen Reihe von Kämpfen beinahe völlige, Unabhaͤn⸗
gigfeit von Kürften» und MReichsgewalt errungen, 60 bis 64 Gemein»
den, meiftens in der altfähfifhen und fränfifhen Markung,
allmdlig zum Anfchluß bewogen und Flotten bemannt, melde an Zahl
*) Hanfa urfprünglich = Zollabgabe, Gelcitögeld (f. Lübecker Urkunden
buch Rr. 7 und 123 dann = Banbeldgefellfchaft, Bruͤderſchaft. Nr. 291.
S
Li, I Gonföderation.
d
⸗
der Schiffe, Muth und Geſchicklichkeit der Mannſchaft im Norden Ih
res Gleichen nicht fanden. Auch wirkten felten Freihe itsllebe, Ges
winnfucht und Ehrgeiz, die flärkiten Hebel fiaatlicher Hand⸗
lungen, fo verbunden für ein Biel, Unabhängigkeit nad innen,
Herrſchaft nah außen. Aber letztere, wiewohl häufig auf Koften
dee Sefammtheit, war keine. rein militärifche, fondern mercantil⸗
coloniale, vielfach vergleichbar der attifchen in den Tagen des Pes
rikles. Denn der Spruch deſſelben: „wunderſtark ift die See‘*)
gilt wie für das heutige England, fo für die mittelalterlihe Hanfe.
Der belebende Hauch diefes gewaltigen Umfchwunges liegt hauptfächlidy
. in dem freien, damals “reich entwidelten Senoffenfhaftsprincip,
welches die deutſche Reichsverfaſſung bervorgetrieben und fpäter
durch Mißbrauch zerftört bat. — Die hoͤchſte, gefesgebende Madıt
übte der alle drei Jahre um Pfingften in Luͤbeck verfammelte Bun⸗
des (DHanfes) tag.. Gebildet von den Abgeorbneten der Vollmacht
(Inſteruction) ertheilenden Städte, ftellte er gemeinverbindliche Ordnungen
auf, entfchied über Krieg, Frieden, Bündniffe und Verträge, unterfuchte
und beurtheilte die Klagen wider Fremde und einzelne Glieder, beftinmte
die Beiträge an Mannſchaft, Schiffen und Geld, bezeichnete überhaupt
den focinlen Mittelpunkt des weite Raͤume umfpannenden Bundeskreiſes.
Luͤbeck, Vorort, und die benachbarten Städte im Wendenlande
(Stralfund, Greifswald, Wismar, Roftod) flellten den vollziehenden
nud regierenden Ausfhuß oder Bundesrath bar, welcher bie
meiften Zagfahrten und Unternehmungen betrieb, die laufenden Gefchäfte
beforgte, den Briefwechfel führte, die Gegenflände der allgemeinen Rath:
ſchlagung entwarf, die Befchlüffe vollſtreckte, bei außerordentlichen
Gefahren als Dietator hunbelte, endlid den aus Bußen, Geldbeiträgen
und Waarenabgaben (Pfundgeld) gebildeten Bundesſchatz vermaltete.
As Zwangsmittel dienten nad) dem Grade der Schuld abgeftufte
Strafen; leichtere Vergehen traf Geldbuße, fchwerere der große Bann
oder Ausfchließung von den Rechten, Freiheiten und Handelsvortheilen
der Senoffenfhaft;z Niemand durfte mit einem VBerhanfeten
verkehren. Nicht leicht gefhah Wiederaufnahme; Schadenerfag, Bußen,
Dpfer, Abbitte mußten der aufrichtigen Reue nachfolgen. Dagegen ents
309 der kleine Bann nur die Stellvertretung am Hanfetage, nicht
aber den Umgang mit Schwefterftädten. — Den verwidelten Ge:
ſchaͤftsgang zu fördern, wurde die bündifche Marfung in drei Haupt:
bezirke (Drittel) getrennt, den wendiſchen, weſtphaͤliſchen und
füähfifhen fpäter (f. 1447) in neun Kreife (Quartiere). Die
Leitung derfelben hatten als Kreisftädte Kübel, Hamburg, Magdeburg,
Braunſchweig, Miünfter, Nymwegen, Deventer, W-fel und Paderborn.
Sie hielten namentlid) Vorberathung für den allgemeinen Bundes:
taz. Wie fhwach bei dem Allen die politifche, durd Orts: und
Hundelsrüdfichten gehemmte, faſt unmöglidde Einheit (Unione-
*) Thuc. I. 143. ‚„ueya yag zu rijs Holacong aparog.“
!
_ . &onföberation. 121
prindp) war, erhellt aus dem Grundgefes, laut welchem Niemand in
zwei Städten zugleih Bürger fein durfte. Diefe von dem
ſchroffen Sorporationggeifte des Mittelalterd hervorgerufene Aech⸗
tung der Mitbürgerfhaft oder Sympolitie und die allmälige
Aufnahme der römifhen Rechtsgelehrten (f. dem 15. Sahrh.) haben
befonders den freien Entwidelungsgang der Hanſe gelähmt. Eigen⸗
fucht, Rechthaberei, Zwietracht ſchlichen ſich ein und öffneten den mates
riellen Önterefien die den Gemeinſinn ausfperrende Pforte. Auch
verhadhläffigte man das Landvolk, mweldes auf dem ftädtifhen
Gebiet fo gut wie auf dem fürftlih=sadeligen häufig hoͤrig und leib⸗
eigen blieb, und gewoͤhnte fi), unbetümmert um die Folgen, bei Lands
‚und Seefehden an d.n Bebraudy fremder Soldknechte.
Sn Sudweftdeutfhland ging aus dem rheinifhen Land:
friedensbündniffe und dem verſtaͤrkte GCorporationstrieb
- Der große Städtebund hervor. Er umfaßte anfangs (1376) vier
zehn ſchwaͤbiſche, darnach 42 in Schwaben, am Ober: und
Mittelrhein gelegene Reihegemeinden (f. 1381), unter wels
hen Ulm, Gonftanz, Mainz, Straßburg, Regensburg,
Nürnberg, Frankfurt, Speier, Worms dur Alter, Wohle
land, Bildung und Thatkraft hervocragten. Die Einigung ging mehr
auf Abwehr denn auf Angriff; man gelobte einander gegenfeitige
Hilfe wider alle ungefeglihe Gewalt, Schlichtung der Streitigkeiten nad
Minne und Recht und unverbrüdliches Sefthalten der Reihsunmite
telbarkeit. Ulm beforgte die Geſchaͤfte des Vororts, welcher uͤbri⸗
gens keine hinlänglihe Amtemarjt und Gliederung befaß. Bei den viels
artigen und raͤumlich burh Kürftens und Herrenlande getrennten
Beftandtheilen, bei dem gleihmäßigen Gegengewicht ber ritterfchafts
lich⸗fuͤrſtlichen Sefellfhaften zum Löwen und St. Georgs⸗
[child konnte der ſchwaͤbiſche Städtebund fih nicht lange bes
baupten; er unterlag nach muthiger Gegenwehr bei Weil oder Doͤf⸗
fingen (1388) und fant, politifch aufgelöft (1389), zum allgemeinen
Landfriedensbündniß herab; die drohende Gefahr ging für Kür-
fen und Herren vorüber, das Buͤrgerthum verzichtete auf unab⸗
hangige Bündniffe; es blieb hauptſaͤchlich ſieglos, weil ihm die Ver⸗
bindung mit den Lundfchaften fehlte; 2000 Bauern wirkten weſentlich
für die Niederlage der Städte bei Doͤffingen.
Bauerndemofratie und gemäfigte Stadtariftofratie,
freies Landfaffens und Buͤrgerthum trieben den das ganze Mit:
telalter hindurch grünen Rebensbaum der hohbeutfhen oder fchmei-
zerifhen Eidgenoffenfhaft hervor. Erwachſen aus einer Reihe
von andauernden Kämpfen (1308—1394 Aufftand in den Waldfiätten
— 20jaͤhriger Friede) nicht mit dem Reich, fondern mit Habsburg,
von fhrittiings einander folgenden Bündniffen und Verträgen der um
den Kern des Hochgebirges (Schwyz, Uri, Unterwalden) verfammelten
acht, fpäter dreizehn Kantone (Orte), ruhte der. Eidgenoffen-
Bund auf gegenfeitiger VBerbürgung der Rechte, Zreiheiten, Ehren
188 Gonföberation.
und Guͤter. Die beſchworne Hilfe kehrte fich wider „alle bie und
wider einen Seglichen, ber bie Sefammtheit oder den Ein
zelnen mit Gewalts oder Unrecht heimfucte an Leib oder
an Gut.” (Der ewige Bund von 1315, 9. Decbr.) Den Altes zus
fammenhaltenden Eckſtein bildeten gleichſam bie drei Waldſtaͤtte,
Eidsgenoffen mit allen, mit Luzern (1332), Bern (1853), Zürich
(1351), Zug, Glarus (1352); von ihnen gemahnt mußten bie Glie⸗
ber bes lockern, vom Geiſt der Unabhängigkeit befeelten Wehrbundes dem
bedrohten Theil Hilfe leiſten. Diefen acht alten Orten, Stäbten unb
Ländern, tratin durch mannichfaltige Verhaͤltniſſe angenthert und bes
freundet die fünf jängern Kantone, wiederum Städte und Läns
der, im funfzehnten und fechszehnten Sahrhundert bei, Freiburg und
Solothurn (1481), Bafel und Schafhaufen (1501), endlich
bie Bauern- und Hirtendbemofratie Appenzell (1513). Das
bei galt jedoch nicht unbedingte ſtaatsrechtliche Gleichheit; So»
lothurn und Freiburg 3. B. follten ohne Wiffen und Willen der
alten Orte mit Riemandem Eriegen, Leinen neuen Bund annehmen, bei
Fehden der alten Kantone mittel bleiben unb um Frieden handeln, bei
Angelegenheiten, welche bie Altern Bundesgenoſſen allein beträfen, weder
Sitz noch Stimme haben. — Begenfeitige Hilfe wider unbillige
Gewalt und eidgenöffifchee, durch Schiedsleute gefprochenes Recht
ausgenommen, war ber einzelne Stand oder Kanton ſelbſtherrlich
(fouverän); er hatte unabhängige Regierung, Rechtspflege und geſetzge⸗
bende Macht, kannte Buͤndniſſe mit fremden Staaten annehmen oder
verwerfen und biefelbe Freiheit bei Militärcapitwlationen, Zollver⸗
trägen u. f. w. beobachten. — Allgemeine Bundesfachen behandelte bie
meiftens alljährig einberufene Zagefagung, mweldye von dem Vorort
Zurich geleitet und in der Regel von zwei an Snftructionen (Boll
machten) gebundenen Boten des einzelnen Kantons befucht wurde. Es
galt Stimmengleihheit ohne Ruͤckſicht auf Größe und Bevoͤlke⸗
rung; man verhandelte und entfchied durch Mehrheit über Krieg und
Frieden, Bündniffe und Verträge, Landesgefege, innere Streitigkeiten,
Prüfung und Wahl der Voͤgte in ben gemeinen, der Eidgenoffenfchaft
angehörigen Herrſchaften. Der Berfammlungsort wechfelte Häufig; man
tagte im Kienholz des bernifhen Oberlandes, in Stanz, Zürich
und anderswo während des Mittelaltere, in Bader und Frauenfeld
ſeit dem fiebenzehnten Sahrhundert. Bon ben eilf Bundesgenoffen
der dreizehn fouveränen Kantone Hatten etliche ald zugemanbdte Orte
(socii, assucies), tie der Abt und die Stadt St. Gallen (f. 1451 u.
1454), die unter der Hoheit des Biſchofs von Baſel befindlihe Stadt
Biel (f. 1352), Muͤhlhauſen (f. 1515) und Rothweil (f. 1519),
befchränktes Sig: und Stimmrecht auf ben Xagefahrten, andere
itanden ale Bundesverwandte (confoederuti, allies) nur in einem
Iofen Schirm⸗ und Schugverhältnif. Diefe Stellung hatten bie von
einer eigenen Conföderation (f.1471) zufammengebaltenen Grau:
bündner (f. 1497), bei welchen 26 faft unabhängige Republiten
N
T.
Confoͤderation. 123
( Hochgerichte) galten, die in ein oberes Herren⸗ und ein unteres
Dienſtland getrennten Walliſer (ſ. 1475), das um den Anfang des
achtzehnten Jahrhunderts (1707). unter preußiſche Hoheit geſtellte
Fürſtenthum Neuenburg - Valengin (Valendis), die Reichsſtadt
Senf (f. 1526) und der Bifhof von Bafel. Das Stift Engel:
berg endlih und bie Republik Gerfau mit taufend Einwohnern ftans
den als freie Gemeinweſen unter dem Scug ber vier Waldſtaͤtte.
As Untertbanen (345,000), mwelhe Wuffengemwalt geivonnen
batte, gehörten 21 gemeine Vogteien ber dreizehnortigen Eidgenoſſen⸗
ſchaft an, welche auf etwa 950 Geviertmeilen 1,900,000 Köpfe zählte.
Wenn aus diefem vielgliedrigen, dem deutfchen Reiche ähnlichen
Bundesgebaͤude der Eriegerifch-bürgerliche Geift entwih, menn Mißmuth
umter die Unterthanen Pam, dann mußte bei der Unbehilflichkeit des Sans
zen die zehrende Flamme bis auf den Grundſtein eindringen und ihn er⸗
weichen. Hinuͤbetgetragen aus dem corporativ: föderaliftifhen
Mittelalter in die jüngere, Einheit und Gleichmaß fuchende Zeit,
empfand die ſchweizeriſche Eidgenoffenfhaft allmdlig das Bedürfniß
ber Reform und, da biefe zauberte, der Revolution.
Der Eintritt eines neuen, auf den Trümmern des taufendjährigen
Mittelalters erbauten, von der Vergangenheit aber keineswegs
losgeriſſenen Zeitalters begeichnet auch) für den Entmwidelungsgang ber
freim GSonföderatiönen einen bedeutenden, vielfach abmeichenden
Wendepunkt. Sie ftreifen naͤmlich gegenüber dem Ziel und der Rich
tung den provinziellen Grundzug mehr und mehr ab zu Gunften
des höhern, nationalen Einigungsprincipe (der Union), ſu⸗
chen ftatt der frühern corporativ=ftändifchen Gliederung mit groͤ⸗
Berem oder minderem Erfolg eine aus der Sefammtbürgerfchaft
erwaͤhlte, periodifch twiederkehrende Wertretung (tepräfentativer Staat,
tepräfentative Republif), beren beflimmendes Merkmal der Cen⸗
fu 8 (das dußere Gut) wird, wandeln gegenüber der Gemwährleiftung
aus wachfendem Mißtrauen das bisher meiftens durch Herkommen
überlieferte Gewohnheitsrecht in eine ſchriftliche, durch Uebereins
kunft (Pack) feftgefiellte Verfaſſungsurkunde um, berufen fih '
Dabei nicht nur auf das hiſtoriſche Recht (Compromiß, Brauch), fons
dern auch auf das natürliche (jus naturae) und bringen an den Plag
der voltscthümlichen Sitte und Gewohnhrit univerfellere Vernunft⸗
principien, fordern hinſichtlich ber vorwärts dringenden Hebel bei
dem durch tie Reformation d:E fechzehnten Sahrhunderts entzünbdeten
Brand neben der politifhen aub religiöſe oder Slaubensfreis
heit, ein Doppelbanner, welches Alterthbum und Mittelalter in
der Art nicht aufgeftedt hatten, merfen endlich hinfichtlid der Form,
da alle Fehde einzelnse Bürgerclaffen als gefchloffener Corporationen
endigt, die Fahne des Luandfriedensbundniffes über Bord. —
Nah Geſchichte (einem zweiundvierzigjährigen Freiheitskriege,
von 1566— 1609) und Grundfägen (hiftorifh:ftaatsredht:
Lichen) bereitet den Uebergangspunft aus dem freiftädtifchen Bun:
Be „ Gonföderation
besieben bes Mittelalters in das ber neuern Belt die nieberläns-
bifche oder beigifche Eidgenoffenfchaft (Republik der Generalſtaaten/
Belgium foederatum). Sie ruhte auf zwei Grundgeſetzen und Haupt⸗
vertraͤgen, der a Fa Union und ber Unabhängigkeitsertid
rung von Philipp II., König der Spanier und bisherigem conftitus
tionell befchränkten Exbfürften, der durch feinen Vater, Kaifer Karl V.,
zu einem einzigen Staatslärper verbundenen (1685) XVII bels
giſch⸗bataviſchen Landſchaften (Provinzen). Diefe, durdy das loſe
Band der Generalſtaaten oder allgemeinen Staͤndetage zus
fammengehalten,, —* in die fuͤnf neuen Lande Groͤningen,
Friesland, Utrecht, Beldern, Oberyſſel, und die zwoͤlf alten,
d. h. Brabant, 2 mburg, £uremburg (Herzogehimer), Slans.
dern, Artois, Hennegau, Holland, Seeland, Namür,.
Zütphen, (Graffhaften), Antwerpen (Markgraffchaft) und Me:
heim (Derrfchaft), Sieben Provinzen, die fünf neuen und von ben
alten Holland und Seeland fchloffen bei wachſendem Fortſchritt dee
wider Spanien und die wallonif hen (füblihen) Lande geführten
Sreiheitökrieges die Utrechter Union ab (23. Sinner 1579), das erſte
Grundgefes für bie Republik der fieben vereinigten, gemach
- duch den Beitritt anderer Städte und Provinzen vergrößerten Nieder»
Lande. Sie follten Iaut der Gonföderationsacte einen unauflöslihen
Körper bilden, einander zu Schutz und Trug mechfelfeitige Hilfe nad).
beften Kräften leiften, über gemeinfame Angelegenheiten, als Krieg,
Frieden, Bündniffe, Verträge, Steuern, auf den Zagefagungen oder
Generalſtaaten durch Gevollmaͤchtigte einhellig oder mittelft
der Stimmenmehrheit entfcheiden, über bie Aufnahme frember Fürs
fin, Herren und ‚Städte in den ewigen Bund nur mit gemeinem
Rath und mit VBerwilligung aller geeinigten (unirten) Lande erkennen,
Streitigfeiten einzelner Provinzen nie durch ausmärtige Schieds⸗
rihter oder Vermittler, fondern durd die Entfcheihung der jeweis
ligen Statthalter oder parteilofen Landſchaften erledigen, in allen
nicht den Bund betreffenden Sachen bie Hoheit der einzelnen
Provinzen genehmigen ‚ welche wie die Städte und Drte in ihren
Kuren (Sagungen), fo in den herfömmlichen Freiheiten (Privilegien),
Ordnungen und Bräuchen verbleiben, in Religions, Staates, Polizei,
Domänen: und Finanzſachen obrigkeitliche Machtbefugnig ausüben dürf:
ten. — Das zweite Staatsgrundgefeg liegt in der von den
Gen'ralſtaaten erlaffenen Unabhängigkeitserfiärung (26. Juli
1581), welche die Republik der vereinigten Niederlande ale
ein felbftherrliches, von dem fpanifchen Könige ale Fürften
der Niederlande getrenntes Gemzinmefen . bezeichnet, alle Amtleute,
Richter und Stantsdiener des Königs vom Eide des Gehorfums entbin-
det, die Eöniglihen Siegel, Namen und Ehren abſchafft und ald Beweg⸗
grund des entfceidenden Acts die Pflicht anführt, Kindern, Weibern
und Rachkommen die angeftammte, ſchwer bedrängte Freiheit zu bewah—
ven. Denn für ſie fole man nad) dem Gefes ber Natur Leib und Gut
Gonföderation. Ä | 135
wagen. Nicht um bes Fürften millen fein die Völker erfchaffen
worden, um etwa gleich leibeigenen Knechten nur zu thun, was jener
befehle, Goͤttliches oder. Ungöttliches, Nechtes oder Unrechtes, fondern der
Zürft fei um des Volkes willen da, daß er demfelben mit Vernunft
vorftehe, er als ein Vater feine Kinder liebe und felbft mit Gefahr des
Lebens ſchirme. —
Obſchon, wie diefe und anderweitige Stellen beweifen , bereitd allges
meine fiaats = und naturrechtliche Begriffe ben Boden der that:
ſaͤchlich en (factifhen) Gefeufchaftsverhäftniffe erweiht und durchdrun⸗
gen hatten, fo ruhte dennoch die republifanifche Verfaſſorng größtentheils
auf biftorifchen, conftitutioneller Grundlagen, melde man nur vers
ließ, wenn Lüden und offenbare Mängel, vor Allem aber die Gewalt der
Umftände Neuerung und Zufag forderten. Dem gemäß behielten
die Generalſtaaten, feit 1592 an den Haag als bleibenden Vorort
gebunden, die alte Zufammenfegung aus landſchaftlichen Abgeordneten
des Adels, der Bürgerfhaft und vor völliger Aufnahme des res
formirten Bekenntniſſes auch der Geiſtlichkeit, und übten, jährlich
drei s bis viermal verfammelt, die früher bezeichneten Rechte der höchften
Bundesbehärde aus. Sie ernannten daneben den Oberfeldherrn
und Großadmiral und beauffichtigten mit Hilfe der fünf Admirali⸗
tätsämter das gefammte Seeweſen; ohne Rüdfiht auf Größe, Bevoͤlke⸗
rung und Vermögen der Landfchaften galt Stimmengleichheit; der
bin und wieder theoretifch auflommende Begriff eines repräfentativen
Bundesflaate® mußte vor dem eines repräfentativen Staatens
bundes zurüdweihen. Den ftehenden Ausfhuß der Generalftan:
ten (ſtaͤndiſches Comite) bildete der Rath der Abgeordneten (Com:
mittirte, delegatorum consessus); aus Gliedern des Adels und ber
Bürgerfhaften zufammengefegt, vollzog er bie Befchlüffe der Ges
neralftanten und bereitete außerorbentjiche Verſammlungen berfaaben vor.
Während die übrigen Abgeordneten mechfelten, blieb lebenslänglich die
Würde des Landſyndicus, Advocaten, fpäter Rathpenfiondre
von Holland (Hollandiae advocatus). Er trug auf den Sigungen
der Generalftaaten und ber Committirten feine Meinung zuerft
vor, wie bei den Römern der erfte Senator (princeps senatus), ſam⸗
melte die Stimmen und gab, wenn fie gleich flanden, den Ausfchlag.
Umfang, Reichthum und Verdienfte Hollands um die gemeine Wohl:
fahrt fchufen ein Amt, welches großen Perfönlidykeiten Spielraum ge:
währte und in gefährlichen Augenbliden Fräftigend auf den lodern Bund
zurüdmwirkte. — Der Staatsfchreiber (greffier) hatte die zweite
Stelle im Ausfhuß. — Dir Staatsrath (Rath der Staaten), nad
dem Tode bes DOberftarthalters Wilhelm von Dranien (1584)
aus zehn nicht lebenslänglihen Abgeordneten der einzelnen Landfchaften .
duch die Generalftaaten ernannt, übte befchließende Gewalt in al:
len Sachen des Landkrieges aus und trieb die für denfelben bemwil-
ligten Steuern ein. — In den Provinzen, welche mit Ausnahme
des Bundespflichten ſelbſtherrlich (ſouveraͤn) waren, vollzog der
f ) u .
186 , Gonföberation,
Statthalter die bündifhen und landſchaftlichen Gefege, übte bas
Begnadigungsrecht aus, befebligte die Mannſchaft und erwaͤhlte
aus den vorgefchlagenen Bewerbern die Vorfteher ber meiften Behörden
(Collegien), wie bie Obrigkeiten in mehreren Städten. Der Appelka-
tionshof, mit einem SPräfidenten und 9 oder 10 rechtskundigen Raͤ⸗
then befegt, welche auf den Vorſchlag der Staaten der Statthalter
für Lebenszeit ernannte, entfchied als oberfte Gerichtsbehoͤrde der
Landſchaft über/peinlihe und bürgerliche Klagen. — Aus dem buch
gefahroolle Krifen berbeigeführten Brauche, bie Oberſtatthalterſchaft
mehrerer oder auch ber meilten Provinzen für den Lands» und Sees
krieg einem Dranide ober Mitglied des um bie nieberländifche Sreiheit
hochverdienten Haufes Ordnien zu Übertragen, entiwidelte ſich allmaͤlig
ein monarchiſches Prindp in republikaniſchen Staatenbunds*).
Die Kämpfe dafür und dawider enbigten zulegt dahin, daß die allges
meine Erbſtatthalterſchaft nehft dem Oberbefehl zu Wafler
und Lande von ben ſieben vereinigten Provinzen eingeführt und dem
Fuͤrſten Wilhelm IV. von Dranien Übertragen wurde (1747). Fort⸗
an mwurzelten bei innern Widerfpsüchen der Staatsgrunbfäge bie Bers
wuͤrfniſſe und Parteiungen feſter; der loſe, vielfacher Reformen bebürftige
Bund erlag dem Sturm der franzöftfchen Revolution (1795% Dar
für wirkten auch der Mangel an Gewiſſens⸗ und Preßfreiheit,
welche in der fonft thatkräftigen und Iebendigen Republik der vereinigten
iederlande Feine priucipienmäßige Geltung gewonnen hatten.
Aehnlich, d. h. nach fucceffiv hiſtoriſchen Grundlagen, jedoch
mit bedeutenden Kortfchritten eines gefunden Staats⸗ und Vernunft⸗
rechtes, entwidelte fi die britifche, England, Schottland
und Irland umfafiende Conföderation. Sie durchſchritt Die mans»
nichfaltigften Zwiſchenſtufen, bevor ein bleibender Abfchluß geſchah. An⸗
fange erfchien die angelfähfifche Gauverbindung, welche unter dem
Namen ber Siebenherrfchaft (Heptarchie) den eingedrungenen ger»
maniſchen Volksſtamm zu einem lodern Schug: und Wehrbünd:
niffe verknüpfte (450— 827). Seder Gau hatte feine aus dem
Waffenadel, den Wehr: oder Allobdialfreien, fpäter, nah Aus
nahme des Chriftenthums, audy dem Klerus gebildete Volksge⸗
meinde, den Ausfchuß der Weifen oder Wiffenden (Witenage-
mote), feine Örafengerichte (Shire gemote) und damit verfnüpfte
Anmefenheit der Freien, feine Häuptlinge oder Fuͤrſten für dem
Eriegerifchen Oberbefehl. Schottland und Irland blieben unabhängig
nebft Wallis und Cornwallis als Sige einer andern, meiſtens
galifhen Volksthuͤmlichkeit. Darnach verfhmelzen bie fieben Gaue
des Sreiftants zum erſten angelfähfifchen Neid, (8471066)
*) „Cine Republik ift nicht frei, in welcher man Geburtsanfprüde auf
hohe Staatsämter anerkennt; eine Wahl tft nicht frei, wenn bie Söhne der
Wäter die Nachfolge in bedeutenden Stellen erhalten.” Jean de Witt, re-
solutions importantes p. 109. Amsterdam. 1725.
. Gonföderation. 127
mit einem duch das Herlommen und Geſetz beſchraͤnkten Könige,
einer Reihsverfammlung, dem MWitenagemot, und verfciedenen
Srafengerihten. In bie Fugen und Lüden dieſes fchon halb
lehenherrlich geflalteten, zwietraͤchtigen Reichsweſens ber Angels
ſachſen brady die normännifche, foharf gegliederte ariftoßratifche
Feudalmo ſnarchie zerfegend und erobernd ein (1066 —1154). 60,215
Ritterlehen, von melden faft die Hälfte der Geiftlihkeit, 1400
der Krone und 700 ber größern (Baronien) ausſchließlich Norman⸗
nen anheimfielen, erdruͤckten den bieher noch Iebendigen Begriff bes
Sreifaffenguts; die Srafengerichte wanbelten fih um in Lehen»
hoͤfe, die Reihstage (Mitenagemote) in unregelmäßige, von bem
böhern Lehenadel und Klerus befuhte Parlamente. — Lestere bilde:
ten jedoch allmälig buch Zufammenmirken der Städte, untern Ritter
(knights), nidyt ganz vertilgten Kreifaffen unp der von dem hohen
Adel oft ſchwer bedrängten Krone den Grundftein eines neuen, con» |
flitutionellen Staatsgebäudes. Diefes feinen Hauptzügen nad) bes
reits im Mittelalter unter der Waltung des Königshaufes Anjou:
Dlantagenet (1154—1485) vollendet, ruhte auf dem Princip ge:
noffenfhaftiidh:ftändifcher Vertretung. Unmittelbare Lehen:
träger oder größere Barone, Erzbifhöfe, Biſchoͤfe und Aebte
bildeten im jaͤhrlich wenigſtens einmal (f. 1312) verfammelten Parla-
ment die Kammer ober das Haus ber Derren (house of Lords feit
1343); Abgeordnete der Grafſchaften (Ritter, knights), Städte
und Flecken (boroughs) faßen, nad einem mäßigen Genfus des Grund»
vermögens erwihlt, in ber Kammer oder dem Daufe der Gemein:
den (house of commons),. Um den Andrang ber Armen abzuhalten,
galt die Wahlbefugniß nur für foldhe freie Eigenthümer (free-
holders), welche von ihrem unbeweglichen Gut eine jährlihe Einnahme
von wenigſtens vierzig Schillingen (13 Rthlr.) bezogen. — Des Par:
lamente Gewalt entwidelte fih dahin, daß es namentlich durch die
Gemeinden Steuern bewilligte, über Gefegesanträge (billa)
mit Beiwirtung der Krone entfchied, die gefammte Staatsverwal⸗
tung unterfuchte, Mißbraͤuche rügte und nöthigenfalld die oberften
Beamten (Minifter, Geheimräthe) in Anklageftand fegte. Der König
dagegen, binfichtlih feiner Perfon und Ehre unantaftbar, berief, ver»
tagte und entließ die Reichs ſtaͤnde, beftdtigte den von dem Haufe
erwählten Präfidenten (Sprecher), nahm durch Verwerfen oder Be
flätigen der Bills Theil an der Gefeggebung, beftellte die Richter
und übrigen Beamten, befehligte Flotte und Landheer, führte den
biplomatifchen Verkehr, entfchied über Krieg und Frieden, Buͤnd⸗
niffe und Verträge, obſchon hier wegen des Geldbedarfs vielfach abhängig
vom Parlament, unterhielt theils auf Koften der beträchtlichen Kronguͤter
und Befälle, theild der dafür fteuernden Stände ein zahlreiches, glänzens
des Hoflager, befaß überhaupt der gefeglihen Mittel genug, um bei
Seift und Kraft das bedeutende Kronvorrecht (Prärogative) wider
feindfelige Verſuche der etwaigen Adels: und Volkspartei nicht nur zu
128, | Gonföderation.
firmen, fondern aud) auszubehnen. Jedoch galt als flantsrechtliche
Wahrheit für England der von Fortefceue*) ‚verkündete politifche
Staubentfag: „Der König ift beftelle und berufen, um eben,
Gut und Geſetze feiner Unterthanen zu [hirmen; dafür
empfängt er vom Volke Gewalt und befigt feinen recht⸗
mäßigen Anfprud auf irgend eine andere Machtbefugniß.“
— Sn ber Rechtspflege gewannen neben den Lehenhöfen die
angelfähfifhen Grundbeflimmungen über Grafengeriht und Ge-
ſchworne allmälig wieder Boden und verftärkten den Umſchwung ber
parlamentarifhhen Kräfte. Sie blieben beshalb trog der Innern und
äußern Kriege unerfchüttert und gewannen gerade durch den häufigen
Conflict eine nahhaltige, obgleich noch vielfachen Prüfungen der Zukunft
entgegengehende Stätigkeit. — | | .
Irland, unter dem Plantagenet Heinrich II. nach hartnaͤckigem
Miderftind erobert (1154 — 1171) und England in abhängiger Stels
lung angefchloffen, blieb ein firenger Lehenftaat voll Druds der
Herren und Sammers dei dienftbaren eingefeffenen Bevölkerung. Zwi⸗
{hen ihr und dem zahlreich im oͤſtlichen Dritetheil der Inſel (the pale)
angefiedelten Siegen keimte bitterer Haß auf. Die Verfaffung bes
englifchsirländifchen Parlaments entbehrte hei der geringen Zahl
der Städte und freien Landſaſſen des bürgerlih-demofras
sifchen Gegengewichts; fie blieb fireng adelig und hielt das Haus der
Gemeinden in dauernder Abhängigkeit von den Lords oder großen
Grundbefigern, von welchen viele fogar Befugniß zur Privatfehde,
fetpftftändige Gerichtsbarkeit und willfürlihes Beſchatzungsrecht
der Gutsangehörigen und Eöniglihen Unterthanen befaßen. Sa die Poie
ningsacte, unter dem erften Könige des Haufes Tudor (1485 — 1603),
Heinrich VII, erlaffen (1494), dehnte die Gültigkeit aller vom engs
Lifchen Parlament in öffentlichen Angelegenheiten getroffenen Verord⸗
nungen auch auf Irland aus und gebot, daß Fein ırländifches Par:
Iament ohne Angabe der zu beruthenden Gegenftände und ohne Erlaub:
niß des Königs verfammelt werden follte. — Schottland, daß dritte
Glied der fpäter vollftändig entwickelten britifhen GConföderation,
blieb während ded ganzen Mittelalters in national unabhängiger,
England meifteng feindfeliger Stellung. Diefe hörte größtentheild auch
da nicht auf, als das [hortifche Königehaus der Stuarts (ſeit 1371)
bei dem Erlöfhen der Zudors mit Elifabeth (1603) durch Jacob
Stuart VI. (1) die Zbronnadjfolge in dem nunmehr vereinigten
fhortifheenglifhen Reihe (Groß: Britannien) gewann und
unter den außerordentlichiten Mechfeln einhundert und eilf Jahre lan
(1603 — 1714) behauptete. -— Das [hottifhe Parlament zeigte
ein beftimmtes Uebergewicht der feudalariftotratifchen Corpora—
tionskraft.e Denn obfhon in ihm Abgeordnete der Geiſtlichkeit,
untern Ritterfchaft und feit dem vierzehnten Jahrhundert auch der
\
*) De laudibus legum Anglige 713. ©, 32.
,
* Gonföberation. 139
nicht gahlreihen Bürgergemeinden faßen, hatten dennoch die geoßen
Lehentraͤger eine entfchiebene Ueberlegenheit. Jene hemmten und
leiteten als Grundſaͤulen einer Art Lehenrepublit das ſchwache, von
keiner niedern Ritterfchaft und Bürgerlichkeit unterflügte Königthum,
bezeichneten und beherrſchten durch einen vorberathenden Ausfhuß
(the lords of the articles) den parlamentarifchen Geſchaͤftsgang,
lähmten durch Willkuͤr und Selbfthilfe die Bermaltung und Rechte
pflege. Bu
Hervorgegangen aus ben Stürmen ber kirchlich⸗ſittlichen
Reformation (f. 1534) und der politiſch-kirchlichen Revo⸗
Iution unter König Karl Stuart I. (1625— 1649), bei kurzer
Dauer (1649 — 1660) nah innen und außen hin zerſtoͤrend und
ſchaffend, bat die englifhe Republik (the commonwealth of Eng-
land) trotz vieler Gebrechen und Auswuͤchſe tief einfchneidende, zum Theil
dauernde Aenderungen berbeigerufen. Die Lehren von der Volkshoheit
(Souveränetät), von einer periobifch wiederkehrenden Vertretung ohne
Rüdfiht auf Geburt und koͤrperſchaftlich⸗ſtaͤndiſche Vorrechte,
von freiem, durch Feine Zehnten und andere Laften beſchwerten Bo⸗
den, von möglichft wirkfamer Einigung aller dem britifchen Neid
angehörigen Landfchaften zu demfelben vepräfentativen Körper, von
Glaubens⸗ und Gewiffensfreiheit, von der Unvertraͤglich⸗
Leit ber Cenſur mit dem ftaatsbürgerlihen Recht der Gedankenaͤuße⸗
rung, von der unabhängigen, Öffentlihen, mit Gefhwornen vers
tnüpften Rechtspflege, von der Staatspflicht, für Unterricht, Er⸗
ziehung und Sittlichkeit des Volks zu forgen: diefe und ähnliche
Grundfäge der Politit wurden nicht nur durch Schrift und Wort viel«
feitig erörtert, fondern auch häufig verwirklicht. Die englifhe Re»
publik, welher Schottland und Irland gemady (1653) beigefügt
wurden, durchlief hinfichtlich ihrer conftitutionellen Öliederung zwei
bart aufeinander folgende Kreife. Anfangs naͤmlich befam dad Haus
ber Gemeinen, von ben Lords befreit, als Parlament und ein»
jige Vertretung der Gefammtbürgerfchaft die gefengebende, der
38 Glieder ftarke, vom Parlament ernannte Staatsrath (council of
the state) bie vollziehenbde’ Gewalt. Darnach wurde auf Betrieb
dee von Dliver Crommell bearbeiteten Militaͤrmacht da6 Parlament
geftürzt (1658), eine neue Berfaffungsurfunde angenommen und
bie Republik alfo georbnet, daß im Protectorat, Parlament
und Staatsrath die Hauptorgane bes gemeinen Weſens erfchienen,
Der Drotector, einſtweilen auf Lebenszeit Dliver Cromwell,
ſpaͤter durch Wahl des Staatsraths beftellt, follte mit dem Parlas
ment über Krieg, Trieben und Bündniffe, Landheer und Flotte ent
fheiden, allein den diplomatifchen Verkehr beforgen, alle Öffentlichen
Urkunden ausfertigen, zu Friedens» und Krieggämtern ernennen, das
Begnadigungsrecht üben, mit Ausnahme der Moͤrder und Verraͤther, bei
dem Antritt feines Amtes die Nechte, Herkommen und Gewohnheiten
des Landes, bie Freiheit der Gewiſſen, Papiflen vorbehalten, zu
Suppl. 3. Staatelerx. I. 9
100 | Gonföberafion.
handhaben ſchwoͤren, alle drei Jahre ein Parlament verfammeln.
Diele, 400 Glleder ſtark und mit Ausfchluß der Katholiken frei
von Staatsbuͤrgern erwählt, welche jährlich wenigftene 20 Pfund Ster⸗
ng besichen, ſollte Geſetze erlaſſen, über Steuern und Abgaben
verfügen, mehrere höhere Beamte, 3. B. den Kanzler, Schatzmeiſter,
Admiral, ernennen. — Als vollziehende und verwaltende Ober:
behoͤrde endlich follte dee 13 — 21 Glieder zählende Staatsrath dem
Protector, welcher ihn ernannte, zur Seite flehen.
Parteiungen, infonderheit firhlichsreligiäfe, Bewaltthätigkeiten
und Fehlgriffe der Machthaber, Weberläuferei und Verrath riffen zwar
Die Rothbräde der englifhen Republik ein, vermochten aber nicht,
die reiferen Endergebniſſe derſelben zu zerſtoͤren und das geläuterte Rechts⸗
gefuͤhl der betrogenen und einander betruͤgenden Englaͤnder abzuſtumpfen.
Alſo wurde dem ohne Capitulation wiedereingeſetzten Könige Karl li.
(1660— 1685) unter Anberm die Habeas-⸗Corpus⸗Acte (1679)
abgetwonnen , weldye die perfönliche Freiheit ficherte und willkuͤrliche Ver⸗
haftung binfichtlich der Richter und Gehilfen der gefeglichen Strafe übers
lieferte, zehn Jahre fpäter (1689) dem flüchtig gewordenen König
Jacob H,, als welcher den Grundvertrag zwiſchen Kürften und Volt
gebrochen habe, der Thron abgefprochen, dem bisherigen Erbftatthalter
Wilhelm von Oranien und feiner Gemahlin Maria, Tochter
Jacob'a/ II., die Nachfolge zuerkannt, bie conflitutionellsparlas
mentarifche Freiheit endlich buch bie Rechtebill (bill of rights)
für Gegenwart und Zukunft geſichert. Dan erklärte nämlich, daß hin
ſichtlich de Rechts pflege die Krone ebenfo wenig von den Wirkuns
gen des Geſetzes entbinden als geiftliche oder anderweitige Gerichtshöfe
aufftellen könne und bürfe, dag ruͤckſichtlich des Parlaments vollkom⸗
mene Freiheit der Wahl, Verhandlung und Steuerbefugniß gelten, jede
Anwerbung eines ftehenden Heeres und Verkuͤndigung des Kriegsgeſetzes
ohne Parlamentsbefhlug als Bruch ber Conftitution erfcheinen, und
dag jedem Bürger Befugniß bleiben muͤſſe, Bittfchriften zu über»
reichen. „Die Geſetze Englands hieß es weiter, follen als das unverletz⸗
bare Recht des Volkes gelten und den König überragen, Könige und
Königinnen, wenn fie den Thron befteigen, diefen Gefegen gemäß regie⸗
ven, ihre Beamten und Angeftellten ihnen auch biefen Grfegen gemäß
dienen.” — Diefer Grundvertrag, von beiden Seiten treu vollzogen,
bildete den Edftein der nunmehr vollendeten Staatsverfaffung,
welche im Könige die mon archiſche, in beiden Häufern des durch bie
Zrienntalacte (1695) gegenüber der Zeitfrift genauer beftimmten
Darlaments bie ariſtokratiſch-demokratiſche Kraft niederlegte
und feit der gefeglih anerkannten Preßfreiheit (1694) einen
neuen, mächtigen Bundesgenoſſen für bie Zortfchritte politifch = wiſſen⸗
fhaftlicher Bildung gewann. Dagegen blieb bie religiös «kicchliche Un =
duldſamkeit als ein Noftfled am fonft ziemlich heilen Spiegel des
englifchen Volkolebens Fleben; denn Katholiken, melden in Srland
jedoch der Vertrag von Limerid (1691) freie Religionsübung vers
Gonföderation. 181
gonnte, und proteftantifche Diffentere oder Nichtanglitaner
(Bebenner ber bif höflichen Kirche) mmurden von allen höhern Staates
und Kirhenämtern ausgefchloffen. Langfam, aber ficher arbeitete
der Reformgeift diefen und anderem Mipftänden entgegen, zumal der
duch den englifhen Freſiſt aat geweckte Einigungstrieb von Neuen
zu wirken begann. Denn um ben Anfang des achtzehnten Jahrhunderts
(1707, 1. Rai) verfhmolzen Schottland und England alle zu
derfelben Nationalrepräfentation, daß für die ſchottiſche Pair⸗
haft ſechszehn, für die Gemeinden fünfundvierzig Abgeord nete
im britifchen Ober⸗ und Unterhaufe erfchlenen. Dreiundneungig
Fahre fpäter (1800, 22. Zuli) gelang nach unfäglihen Hemmniſſen
auch bie Vereinigung (Union) mit Irland, weldhes 32 Pairs,
4 Biſchoͤfe, 28 Weltlihe und 100 (feit der Reformacte 105) Ge
vollmächtigte ber Gemeinden fenden follte. Alfo zählte im Ganzen
die britiſch⸗repraͤſentative Meichsconföberation für das Unter»
Baus 658 Stellvertreter, von melchen 513 (feit ber Reformacte 500)
auf England und Wales fallen, für das Ober haus 3O geiftliche
und 432 weltliche Lords (überhaupt 462), mithin 1162 Angehörige
beider Häufer. Die aͤußerſt ungleichen und in Kolge einer biftorifchen
Laune an laͤngſt erlofchene Corporationss und Drtsverhältniffe
geknäpften Wahlbefugniffe hob theilweife die im Jahr 1832
erlofiene Reformacte auf, indeß kurz vorher (1829) der Emancie
pationsbefchluß den Katholiken, namentlih Irlands, bie vor
enthaltenen Staatsbärgerrechte zurädgeftellt hatte. Aber die Höhe
des Cenſus für das active wie paffive Wahlrecht, welches 3. B.
vom Abgeorbneten ber Graffchaft 600, von demjenigen der Stadt oder
des Fledens 800 Pfd. jährlichen Einkommens fordert, bie religioͤs⸗kirch⸗
lichen Brechungen (Sractionen), denen gemäß z. B. kein Priefter, Dechaut
oder Geiſtlicher dee ſchottiſchen Kirche wählbar ift und die engliſche
Hochkirche ben Herrn fpielt, die, wenn fie will, überall lähmende
Gewalt der Pairſchaft oder des Oberhauſes, das fleigende Miß⸗
verhältniß der auf Grundbeſitz, Handel, Gewerbfleiß ruhenden Geld⸗
macht (Mutarchie) zu den Anfprüchen des Armen und bes Mittelſtan⸗
bes (der demokratiſchen Grundkraft), die wachſenden Collifionen
zwiſchen dem herrſchenden Dlutterlande und ber dienſtbaren uns
geheuren Colonialmarkung, den Korderungen ber See⸗ und Lande
macht, melde den Nerv der Nation zu zerfchneiden drohen und einer
doppelten Diplomatif Raum eröffnen, bie künftlihe Schwebes und
Gleichgewichtétheorie hier monacchifch » ariftofratifcher, dort demo⸗
kratiſch⸗ republikaniſcher Kräfte (Potenzen) — diefe und ähnliche Fragen
bat die beitifche Voͤlker⸗ und Staatenconfäderation theils geflif»
fentlich gemieden , theils verBleiftert und als unheimlichen Gaſt der Zus
kunft in einen ſchwach beleuchteten Winkel der Gegenwart gefchoben. —
Manche Aufgaben der freien Conföderationsbegriffe aber, welche bie
englifhe Revolution bes fiebenzehnten Jahrhunderts ale Ueber⸗
gang aus dem Mittelalter in eine newe-Beit nicht ion wollte umb
*
-
288 _ Gonföberation.
Eonnte , wanderten über die See nach Nordamerika. Gleichwie bie
Revolution beffelben (1775— 1783) vielfach als Fortfegung ber
englifhen erfcheint, fo haben auch die flaatsbärgerlihen End»
ergebniffe bald den alten hiſtoriſchen Faden weiter fortgefponnen, bald
abgefhnitten und in ein neues Gewebe aufgenommen. Hier empfindet
der transatlantifche Welttheil die Attractionstraft Europas, welches
feine Einrichtungen, Sitten, Parteien verpflanzt, dort üben die felbft-
herrlich gewordenen Colonien ale Bund der dreizehn nordameris -
tanifhen Freiftaaten eine Segenbewegung (Reaction) auf
Mutterland und Europa aus. Jenes großartige polarifche
Wechſelverhaͤltniß, in welchem während ber Blüthe des Mittelalters
Drient und Occident flehen, entwidelt fi) gemach für die alte
und neue Welt. Denn Iegtere ftellt, nicht zufrieden mit dem Conflict
zwifchen feinem Norden und dem germanifchen England, im erflen
Jahrzehnt des neunzehnten Jahrhunderts auch den Süden in bie
Schranken wider den [panifhen Romanismus. — In ber Ent-
widelung des nordamerilanifhen Staatenprincips, fe es
gegenüber dem vereinzelten Gemeinwefen oder der Verbindung
(Gonföderation),, treten beftimmte, von dem bisher dargeflellten Gange
vielfach verfchiedene Merkmale hervor. Sie bilden das Kennzeichen
der norbamerilanifhen, aus Nachdenken und Erfahrung
entfproffenen politifhen Schule, namentlich in Bezug auf den orga-
nifchen Eonflitnirungsact. — 1) Verfhmelzung bes hiflos-
eifhen und natürlihen Rechts und zwar in ber Art, daß bei
Gollifionen bie erſte Grundkraft der zweiten mweihen muß. Denn
es giebt angeborne Menſchen⸗ und Bürgerrechte, bern Gültigkeit
weder die Zeit durch Verjährung noch die Gewalt durch leibliche Weber:
legenheit tilgen Tann. Dahin gehören Freiheit der Perfon, des
Glaubens, bes Eigenthbums, ber Preffe und die Machtbe⸗
fugnig (Souverdnetät) des Volks, ber faatsbürgerlihen Ge:
fammts oder Mehrheit, welche entweder unmittelbar wirkt durch
Wahl der Beamten, Gefchwornen, oder mittelbar durch frei und
gleichmäßig ernannte Repräfentanten. (S. Jefferson, correspondence
IV. 404.) — 2) Den Grund und Boden darf keine bleibende,
auf Gegenwart und Zukunft gerichtete Abgabe (Zehnten, Bodenzins
u. f. mw.) befchweren; er muß frei fein; denn „Gott ſchuf bie Erde
für die Lebendigen, nicht für die Todten.“ (Jefferſon IV. 406.)
Da jedoch bei der Abhängigkeit des Menfchen vom Sinnlichen bie
flantsbürgerliche Sefellfchaft einer mäßigen Garantie des Fleißes und
Eigentbums bedarf, fo muß für die Wählbarkeit der Repräfen»
tanten ein billiger Cenſus, bauptfählih nah Liegenfhaften,
gelten. Der volllommene Abſchluß erfolgt jedoch erſt, wenn nicht
allein der Grundbeſitz, fondern auch die Perfon ihre hinlängliche
Stellvertretung findet. — 3) Soll der lodere Staatenbund, in
welchem jedes Glied (Provinz, Kanton) ſelbſtherrlich war, in einen
feften Bundesflant (die Union) mit vollommens Souveraͤne⸗
Gonföberation. 138
tät gegenäber bem Auslande oder den Bürgern einzelner dee Union
angehöriger Staaten umgewandelt werden, fo bleibt das Gleichge⸗
widye zwiſchen dem unitarifchen (Bund) und föderatiftifhen
(Landfhaft, Kanton) Princip ber vorherefhende Ausgangspunkt
der Gonftituirungstunftl. — Dean die unbedingte Bundesge⸗
walt (Sentralifation) führt zu militärifch= politifcher Dictatur ober
Hegemonie des Vororts, bie ſchrankenloſe Hoheit ber einzelnen
zur Ohnmacht und Zerriffenheit des Gefammtvereine.
Alſo müflen die Theile in Bezug auf ihre Sonderbürger und Sons
derangelegen heiten (Interefien) frei und felbftftändig dem einfachen
sroßen Sanzen (Bund) rüdfichtlich der allgemeinen Dinge nit uns
tergeordnet (fubordinirt), fondern gleichgeordnet (coorbinict) er⸗
fheinen. 4) Als Unterpfand für die flaatsbärgerlihe Gleichheit
und als Mittel gegen Mißbrauch muß die grundfaͤtzliche Gewalten⸗
trennung in eine gefesgebende, vollziehende und richter⸗
liche dienen. Brauch und Erfahrung empfehlen für die Legislative
Macht zwei Kammern (Häufer), welche einander am ſchicklichſten er»
gänzen und zügeln. Mag au immerhin bie Einheit dem Begriff
und der Schnellkraft mehr entfprechen, dennoch bleibt ein langfamer,
ſicherer Geſchaͤftsgang, durch das Gleichgewicht ber beiden Kammern
bewahrt, für den dermaligen Bildungsftand der Bürger eine fichere und
dabei gefahrlofe Gewaͤhr. — Nach dieſen leitenden Grundfägen hat
Nordamerika theils die VBerfaffungen der dreizehn anfangs fous
veränen, zu einer ewigen Eidgenoffenfhaft verknüpften unabs
hängigen (f. 4. Juli 1776) Staaten (feit 4. Det. 1776) georbe
net, theils bie lofe Confoͤderation in einen feftlen Bundesftaat
(Union 17. Septbr. 1787) umgewandelt. Für denfelben ftellt der
Congreß den Mittelpuntt der gefeggebenden, vollziehen»
den und rihterlihen Gewalt dar. Gebildet aus einem fechsjährie
gen Senat, zweijährigen Repräfentantenhaufe und vieriährigen
Dräfidenten entfcheidet er über Steuern, Anleihen, Handel, Münzen,
Maß und Gewichte, Krieg und Frieden, Lands und Seemacht, gemein«
fame Ordnungen, Bündniffe und Verträge, Aufnahme neuer Staaten
in die Union. Der Dräfident als Ausdrud der vollziehenden
und vermaltenden Bundesmacht beforge ben biplomatifhen Ber
kehr, für welchen er Votfchafter, Handelsanwälte (Conſuln, Refidenten)
bezeichnet und empfängt, ernennt die Staatsfchreiber (Minifter)
des Innern, des Haushalts, Kriegs, Seeweſens, die Mitglieder des Ober⸗
gerichts umd fonflige Bundesbeamte, befehligt Landheer und Flotte der
Union wie der einzelnen Staaten, ſchließt mit Einwilligung des Sennts
Bündniffe ab, beruft den jaͤhrlich wenigſtens einmal zufammentretens
den Congreß auch außerordentlich und vertagt ihn, jedoch ohne
Befugniß der Aufldfung, übt, Staatsverbrehen vorbehalten,
das Begnadigungsrecht aus, beobachtet den gefammten Gang ber
Union und fchlägt für den Nugen derfelben zweckdienliche Maßregeln
vor. GSteneranträge ftellt allein die Repräfentantentam»
258 Gonföberation.
mer; der Senat kann aber Verbefferungen vorſchlagen. Dit richtet»
lihe Bundesmacht geht von dem Dbergerihtshofe aus und
von ben durch Congreßbeſchluͤſſe von Zeit zu Zeit verorbneten Uns
tergerichtshäfen. Den. Stoff bilden vornehmlich die Sachen ber
Gefandten, GConfuln und Gefchäftsträger, der Admiralität und Seege⸗
richtöbarkeit, de8 Bundes, wenn er Partei iſt, einzelner Staaten
und Kantonsbürger gegenüber andern Staaten und Kantensbürgern.
Anklagen gegen bie Staatsverwaltung, gegen Congreßglieber und
ſelbſt den Praͤſidenten bringt das Repraͤſentantenhaus vor
den Senat, welcher ſodann als Anklagekammer (court of im-
peachment) auf Amtsentfegung, Verluſt der Ehrenfähigkeit erkennen
darf. Jedoch bleibt der uͤberwieſene Theil dennoch ber Anklage vor
dem Sefhmwornengeriht, dem gerichtlihen Werhör, der Verur⸗
theilung und Beftrafung unterworfen. (Bundesurkunde, Artikel 1, drite
tee Abfchnitt, 6. 7.) Während alfo Mißbrauch der den hoͤchſten Beam⸗
ten anvertrauten Gewalt beinahe unmöglich gemacht wurbe, befchräntte
man im Befondern die kantonale oder föderaliftifhe Hoheit
verfaffungemäßig dahin, daß kein einzelner Staat mit einem andern
oder einer fremden Regierung Verträge zu Schug und Trug abfchließen,
Kaperbriefe ausſtellen oder Repreffalien anwenden, Münzen fchlagen,
Schuldſcheine auswerfen, Aechtungsgeſetze erlaſſen, Adelsbriefe verleihen,
Ein⸗ und Ausfuhr ohne den Willen des Congreſſes beſteuern, in den
Tagen des Friedens Landheer oder Kriegsſchiffe unterhalten, Fehden be⸗
ginnen ſolle, es ſei denn, daß er wirklich angegriffen wuͤrde und Aufſchub
augenblickliche Gefahr braͤchte — Als Endzweck der Union, fuͤr
welche man ſich Beſſerungen burh Zuſatzartikel ausdruͤcklich vorbe⸗
hielt und die republikaniſche Regierungsweiſe jedem einzelnen Staate
gewaͤhrleiſtete, wurde die Pflege des Rechts und der Gerechtig—
teilt, der gemeinfamen Vertheidigung, Wohlfahrt und
Freiheit für die Zeitgenoffen und Nachkommen angekündigt,
alfo ein moralifchspolitifcher Standpunft der weiteften, beinahe
weltbürgerlichen Art genommen. Darum fhloß auh Nordbame-
rika weder fein Volksthum noch feine Staatenconföderation
ein für allemal ab; es knuͤpfte Wahsthum und Größe bei dem unges
heuren Umfang des Raums und ber geöffneten Einmwanderungen weſent⸗
ih an die Zukunft, in welche die Gegenwart mit ihren geordneten
Bundes: und Staateneinrichtungen als feſte Brüde einführen
folte. Altes teug daher troß der beflimmten und umfichtigen Geſetzge⸗
bung eher ben Charakter des weltbürgerlihen Humanitätss und
Freiheitsprincips denn einer gefchichtlich abgemarkten und für tms
mer gefchloffenen freieren Volksthuͤmlichkeit, wie fie fi bis⸗
her namentlih in Europa mit ihren fchroffen Gebrechen und Tugenden
entwidelt hatte. Kaum Eonnte daher in dem alten, von mannichfal⸗
tigen Segenfägen ber Geſchichte bewegten Welttbeil der Verſuch,
einen weltbürgerlih nationalen Bundesſtaat als Republik zu
gründen, gelingen. Diefes Stadium burchfchritten ihrem politifchen
Gonföderation. | 185
Kerne nach bie franzöfifhe Revolution und bie Staatsſchule
derfelben, jene als zerflörende, biefe als fchaffende oder aufbauenbe
‚Gewalt. Sn beiden Kreifen herrſcht eigentlic, dei gleiche Dauptgrunbfag
vor, ber Haß aller gewordenen oder geſchichtlichen Stoffe und
Verhaͤltniſſe. Die Revolution aͤußert fi dabei rein deſtructiv
und negativ, indem fämmtlihe Errungenfchaften ber Vorzeit ohne
weitere Wahl zwiſchen dem wirklich Brauhbaren und Veralteten
nad) beiten Kräften von der Gegenwart abgelöft, zerfest und vers
fluͤchtigt werden, bie ſtaats maͤnniſche, organifirende Schule ber
Revolution tritt gegenüber dem real⸗hiſtoriſchen Princip aus
dem bezeichneten Grunde gleichfalls verneinend (negativ) auf und
nmimmt eine abſtract⸗ ideale ober naturrechtlich s univerfelle
Bafis als Ausgangspunkt, vor welcher fih die Wirklichkeit als
Abfall von dem Gedanken beugen muß. Diefer kraͤftige und Jahre
ang folgerichtige (confequente) Idealismus oder unbedingte Ratio
walismus Außer fih als politifhe Gonftituirungstunft in
verfchiedenen Abftufungen nach drei Dauptfeiten hin. Gegenüber dem
Zweck des flaatlihen Verbands wird die Behauptung der angebornem,
allgemeinen Menſchen⸗ und Bürgerrechte, namentlih in Bezug
auf Freiheit, Gleichheit und Widerftandsbefugniß, verkän-
digt (proclamirt), gewiffermaßen das ununterbrochene Veto eines polls
tiſchen Tribunats eingeführt, gegenüber ben Vollziehungsmitteln
die ruͤckſichtsloſeſte Einheit oder Sentralifation als ſchneidende
Waffe wider die Lähmung des provinziellscorporativen Foͤde⸗
ralismus angewendet und ein unbebingtes. Aufgehen ber Theile im
Ganzen bes Maffenftaats erfirebt, endlich gegenüber ber raͤum⸗
lihen Markung an die Stelle einer abgefchloffenen, nah Sitten,
Sprahen und Sagungen verſchiedenartig ausgeprägten Boltsthäms-
lichkeit (Mationalität) das weltbürgerlihe Staates: und Hus
manitätsprincip gebracht, thatſaͤchlich (factiſch) aber die dadurch
erzeugte Reihe gleichartiger Einheitsrepublilen und Central⸗
GSonföderationen duch einen mehr oder weniger flarden Filial⸗
verband dem franzöfifhen Mutterfreiftaat als Mittelpunkt
dee Bewegung angefchlofien. So gegliedert und im Ganzen gleich⸗
artig eingerichtet, tritt die republilanifche Liga Frankreichs mit
feinee Directorialverfaffung (feit 1795), der Schweiz (heives
tifhen Republik, f. 1798), Hollands (der batavifhen Be
publik, f. 1795), Oberitaliens (ber cisalpiniſchen Republik,
ſ. 1797), Liguriens (Genuas f. 1797), Roms (croͤm. Republik,
ſeit 1798), Neapels (parthenopaͤiſche Republik, ſeit 1799) der
monarchiſchen Confoͤderation ſiegreich entgegen, iſt aber unfaͤhig
in Folge der vielfachen Widerſpruͤche und Mißgriffe, den Stand ber Dinge
zu behaupten. Die Urfachen fpringen leicht aus dem Widerſtreit hervor,
welchen die bezeichneten Drganifationsprincipien gegenüber dem
biftorifch s realen Boden finden und bis zur endlichen Aufloderung
umd Confumtion bes etwa an Frankreich gefnüpften Republilaniss
186 Gonfoͤderation.
mus ſteigern mußten. Denn bie Lehre vom allgemeinen Menſchen⸗
und Bürgerrecht als hoͤchſtem Staats zweck wurde nur zu oft von
der armen, bedrängten, verwahrloften Maſſe, von den felbftfüchtigen, ehr⸗
geisigen Stimmführern und Machthabern bis zur Gefeglofigkeit ausges
beutet, die unbedingte Sentraltfation als nie verfiegende Quelle pros
vingiellecorporativer Unruhen nur durch Waffengemwalt behauptet ind
das weltbärgerlidhe Humanitätsprincip von dem geſchichtlich
entwidelten Bollsthum mit Mißtrauen, zulegt Haß empfangen und
nach Kräften abgeftoßgen. — Den am meiften ausgebildeten Kern des
aus dem franzöfifhen Revolutionsproceß und der abſtract⸗na⸗
turrehtlihen Schule defjelben hervorgegangmen flaatlidhen Or⸗
ganismus enthält die fo geheißene Directorialverfaffung der einen
untbeilbaren Republik. Sie konnte bei etwa reineren Sitten und
Derfonalbezügen, namentlidy der Oberbeamten und Machthaber, bei firen«
germ, von ihre nicht ganz verfchmähten Anfchluß an die real=biftorifche
Seite auf längere Wirkſamkeit zählen, einmal jedoh durch Factionen
und Gewalt umgeworfen, den verlornen Schwerpunkt nimmer wiebers
finden. Die vepräfentative Sentralrepublit Frankreich, durch
bie im Ganzen zmedimäßige Conftituiion vom 23. September 1795 eins
geführt, rudte dem Weſentlichen nach auf folgenden Grundgefegen. —
Neben den Menſchen⸗ und Bürgerrehten, melden die Befugniß
bes bewaffneten Widerſtandes und ber politifchen Volksgeſellſchaften nicht
angehören, giebt e8 Pflichten. Ihre Infumme ift: „Thue Andern
nicht, was du nicht willit, daß man dir thue! Krmeife ſtets Andern
das Gute, welches du felkft von ihnen zu erhalten wuͤnſcheſt!“ — Die
Geſammtheit der Bürger ift der Souverdn. — In den Urver»
fammlungen ftimmt jeder Franzofe, auch der ganz Wermögenslofe,
wenn er einen Feldzug mitgemacht hat; in den Wahlverfammlungen,
welche von den erftern ausgehen, entfcheidet ein beftimmter Grundbefis. —
Der gefesgebende Körper befteht aus zmei Kammern, einem Rath
der Alten von 250 Bliedern, und einem Rath der Fuͤnfhundert.
Jener nimmt an oder lehnt ab, dieſer fehlägt vor; für jeglichen Rath
gilt jährige Erneuerung zu einem Deittheil. Die Gefammtheit ift
immerwährend (permanent), kann ſich jedoch auf beftimmte Friſten ver>
tagen. — Die vollziehende Gewalt befist, vom gefesggebenden
Körper aus feiner Mitte ernannt, das fünf Glieder ftarke, jedes Jahr
durch den Austritt und die Wahl eines Beiſitzers erneuerte Directos
rium. Daffelde forgt für die dußere und innere Sicherheit der Repubs
lik, verfügt über die bewaffnete Macht, bezeichnet die Oberfeldhern, Die
dipfomatifchen Agenten und fech8 unter ihm arbeitende Minifter, voll:
ſtreckt die legislativen Beſchluͤſſe, fuͤhrt den Verkehr mit dem Auslande,
legt jaͤhrlich Rechenſchaft ab über Einnahme und Ausgabe, fchlägt den
Krieg vor, über melden beide Näthe im Namen ber Nation entfcheis
den, fchließt Präliminarverfommniffe und kurze Waffenſtillſtaͤnde
ab, darf geheime Gonventionen eingehen,
Die Rechtspflege, von der vollziehbenden und geſetzge—
Confdderation 187
benden Gewalt ſcharf getrennt, ruhet auf den Grundſaͤtzen der Defs
fentlichkeit und Geſchwornen, von welchen Etliche zuerft über
- Die Anklage, darnach Andere über die Thatſache erkennen und da⸗
durch die von dem peinlichen Gerichtshofe angewandte Strafe des Ges
fees vorbereiten. Für die ganze Republik befteht ein Caffationshof;
ein hoher Juſtiz hof entfcheidet über die durch den legislativen Körper
ſewohl gegen feine eigenen Mitglieder als gegen bie des Vollziehungebis
rectoriums angenommenen Ank’agen.
Die überwiegende Wirkfamkeit des ideal⸗abſtracten Princips,
ein Hauptmerkmal ber franzöfifhen Staatsrehtsfhule während ber
Revolution, tritt In diefem fonft mohlgegliederten Grundgefeg und
der praftifhen Anwendung beflelben mehr von ber pfyhologifchen
denn volitifhen Seite ber an bie Oberflaͤche. Erftens nämlid
ignorirte man: gleihfam den durch die frähern Wechfel und Erſchuͤtte⸗
rungen bewerkſtelligten revolutionären Charakter des Volks unb
trauete demfelben einen Grad der Drdnungsliebe und des gebildeten
Rechtsſinnes zu, welchen es thatfächlich weder befaß noch wegen
der früheen Verſunkenheit befigen Eonnte. Da kamen Wahlen über
Wahlen bald mit, bald ohne Genfus, Geſchworne nach englifch : nordames
ritanifher Form ohne hinlängliche, durch Unterricht, Religion und Sitts
lichkeit gewonnene Reife, Berufungen an den Volksinſtinct für Recht
und Gerechtigkeit ohne in das Fleifh und Blut eingewachſene Bräuche,
Sitten und Früchte eines veredelten, von den Schladen der Prieſter⸗
berrfchaft gereinigten Gottes: und Chriftenglaubeng, welchen feit Jahren
die Acht der Staatsgewalt getroffen hatte, Appellationen an die Ein«
fiht und Kenntniß, während, trodene Reglemente abgerechnet,
dafür nichts von Belang geſchah; da flellten ſich endlih Reclamas
tionen ber mißtrauifhen Staatspolizei ein, welche im Widerſpruche
mit dem angekündigten Vertrauen alle häufige Acte der mwählenden
und hanthierenden fouveränen Volksmaſſe buch Agenten, Commiffäre
u. f. w. unter dem Vorwande des Gemeinwohls überwachen und leiten
mollte, bier die Hoheit der Nation anerkannte, dort bie ihr zugefagte
Detitionsbefugnig durch das conftitutionelle Verbot ber Collec⸗
tivbittſchriften und ratbfchlagender Gefellfhaften wiederum
verfümmerte (Titel XIV. 8. 361—364). Ferner enthielt die Gleich»
ftellung (Coordination) der gefeggebendben und vollziehenden
Macht den Keim der Eiferſucht und Zwietracht, welche zurüdtreten
mmpßte, fobald die zweite der erften nicht gleich, fondern untergeorbs
net (fubordinirt) wurde. Mit biefem Princip Eonnte fidy recht gut eine -
ſtarke Regierung vertragen, deren Frankreich bedurfte. Ueberdies
war die Fünfzahl ber oberften, faft ſelbſtherrlichen Vollzie⸗
hbungsbeamten zu Hein für den Begriff der collegialifchscorpeos.
rativen, zu groß für ben der unitarifchzcentralifirenden
Berwaltung, welcher die Einheit oder Zweiheit (Präfident, Duums
virat) unter gehöriger Controle beffer geziemen mochte. Dennoch hätte
bie Republik, auch abgefehen von den erwähnten confliturionels
188 - Sonföberation.
len Gebrehen und von mangelhaften Perſoͤnlichkeiten, längern
und feftern Befland gewonnen, wäre nicht drittens in dem fonft natur-
gemäßen Allianzſyſtem die gleihartige Umgeflaltung der Filiale
freiflaaten hinzugetreten. In Folge diefes Verkennens einer hiſto⸗
eifhsvoltschämlidhen Grundlage, biefes Strebens nad einem
univerfellstfosmopotlitifchen Princip, hinter weichen nicht felten
Eigenſucht, Ehrgeiz und Habgier lauerten, gingen manche fonft vielfach
wohlthaͤtige Schöpfungen auf dem Gebiet föderaliftifcher Freiſtaaten
fon in der Geburt zu Grunde. Dies gilt namentli von Holianb
und ber Schweiz, welche bei dem unteifen und vergänglichen Weſen
ber übrigen frangöfifhen Schwefterrepubliten bier allein Beachtung
fordern dürfen. In beiden Kernlanden des mittelalterlihen Foͤder alis⸗
mus arbeiteten Sitten, Gewohnheiten, Gefege der Volksmehrheit
wider den von Frankreich und heimifher Minderzahl empfohlenen
und eingeführten reinen Sentralifationsfreiftaat. Zwar hatten
bie Holländer bald nad dem Einrüden ber Franz oſen in Amfters
dam (19. Jänner 1795) den Untergang ber alten Generalſtaaten
mit ihrer Erbſtatthalterwurde, Iandfchaftlichs ftädtifhen, adelig⸗
kirchlichen Braͤuchen und Rechtſachen ziemlich gleichgültig angefehen, aber
mit bedeutender Mehrheit den erfien Entwurf ber einen und un⸗
theilbaren batavifchen Republik verworfen (1797). Widerwillen ges
gen unbebingte Sentralifation und die beabfichtigte Umwandlung
der Provinzialfchulden in eine Nationatfhuld führten das ber
patriotifchen Einheitspartei und ihren Befchirmern gleich unerwartete
Endergebniß herbei. Den erneuerten Anftrengungen ber Lift und Ges
walt wichen jeboch allmälig die $öderaliften, in den Urverfammluns
gen wurde der zweite Verfaffungsentwurf zu Gunften der Einheit und
bee Unitarier (Demokraten) angenommen (23. April 1798). Alte
Scattens und Richtfeiten des neuen franzöfifhen Grundgefeges gingen
auch auf Batavien über; e8 bekam feine acht, nad) Fluͤſſen und
Städten benannten Departemente, feine allgemeinen Grundfäge,
unter welchen die ehrfurchtsvolle Anerkennung des hoͤchſten Wefens
als ein fefteres Band ber Gefellfchaft jedem Bürger empfohlen wurde
($. 8.), feinen fünf Glieder ſtarken Vollziehungsausfhuß oder
Staas:Bewind, feine zwei Arme oder Kammern des ftellver>
tretenden, 90 Glieder zählenden Körpers für die Gefeggebung,
feine Departements: und Gemeinderegierungen, feine unab⸗
hängige, Öffentliche, vielfach abgeflufte Rechtspflege, jebod ohne
Geſchworne und mit eigenthümlihen Kriegsgerichten verbunden
feine ünftlihen Reglemente und mannidfaltigen,, geräufchvollen
Wahlen, fein jähriges Budget mit geheimen Ausgaben für den
Vollziehungsrath ($. 217), fein neues Finanz- und Steuer—⸗
ſyſtem, welches, unterftüst von dem Nationalfhyagamt und ben
Commiffarien des Nationalrtehnungsmwefens, nah Aufhe⸗
bung ber Zehnten und anderer Feudalgefälle vor Allem Gleichmaͤßig⸗
keit der Abgaben ohne Kopffteuer und Accife auf Lebensmittel der
Gonföderation, 489
Nothburft ($ 210) erſtreben und gemach die anwachſende Natio⸗
nalſchuld tilgen ſollte, feine die Verfaſſung pruͤfende Reviſions⸗
commiffion, welche jedoch allfaͤllig erſt zu Ende des Jahres 1808
eintreten duͤrfe, und feinen Nationalſchwur ober allgemeinen Bär»
gereid. „Ich erklaͤre, lautete der Kern, daß ich einen unveränderlichen
Abſchen vor der Statthalterfchaft, dem Föderalismus,
ber Ariftotratie: und dere Gefeglofigkeit hege.“ — Allein das
Alles werfing nur für Burze Zeit. Die verftändig nüchternen, an Volks⸗
ebämlichleit und corporativ-föderaliftifche Negierung ges
wöhnten Niederländer wollten keine Abfchreiber eines fremden,
univerfalstosmopolittihen Bundesftaates fein; Mißvergnuͤgen, Gleiche
gültigleit, Verachtung ber vielen papiernen Reglemente und theoretifchen
Borfchriften traten an die Stelle bes erften, bald — Eifers.
Kaum hatte daher in Frankreich die ſo geheißene Bruͤmairere⸗
volution (9. Nov. 1799) duch das Conſularregiment ein
militärifhsmonarhifches Princip in die eine und untheilbare
Mepubtit gebracht (18. Febr. 1800), fo Außerte ſich auch der Rüde
flag auf den batavifchen Freiſtaat. Die umgeftaltete Verfaſſung
Deffelben (16. Dct. 1801) verlieh dem zwölf Glieder zählenden Staate«
Bewind den Vorfchlag (die Initiative) der Gefepe, dem legislatis
ven, nur fünf und breißig Köpfe flarken Körper bie einfache Ans
nahme ober Verwerfung der Anträge, welche von dem Zwoͤlfer⸗
ausfhuß (Copie des franzoͤſiſchen Tribunats) vorher geprüft wors
ben, den aht Departementen die alten Namen und Grenzen ber
fiben Provinzen und Brabants, den Religionsgeſellſchaf—⸗
ten, welche ein hoͤchſtes Weſen anerkennen, Tugend und gute
Sitten begünftigen,, den gleichmäßigen Schuß des Gefeges ($. 11 der
B.:U., bei Poͤlitz II. 162), dem Feudalweſen endlid ewige Ab⸗
fhaffung ($. 16.), alfo daß ſaͤmmtliche Lehen für Allodialguͤter gelten
follten. Aber auch diefe mehr concentrirte Korm des Einheits⸗
ſtaates fand Beinen vollschümlidhen, an die Vergangenheit
geknuͤpften, daher feften Boden, Parteihaß, Gteichgültigkeit, Glaube an
die Macht eimer unabweisbaren Nothwendigkeit, welche ſich in dem
monardifchsmilitärifchen Kaiferthum des ohne Kampf entrepublifanis
firten Frankreichs darftelle, fleigende Kriegsbrangjale und Verluſte,
Mangel an einer großen patriotifchen Perfönlichleit — dieſe Umflände
führten die niederländifche freie Gonföderation immer rafcher dem
Grabe entgegen. Sie durchſchnitt mit verbundenen Augen die Vorballe
befjelben, welche fich hinter leeren, altvaterländifhen Wappenſchildern
und Formen täufchend und getäufcht aufthat. Unter der Mitwirkung dew
Kaifers Napoleon nämlich erhob fich nach dem Beſchluß des bata=
vifchen Volks, melches die überreichte Verfaffung annahm (15. März
1805), die monardhifchsariftotratifhe Dictatur bes Raths⸗
Penſionaͤrs und ber hochmoͤgenden Herrn. Sener, von einem
abhängigen, durch ihn ernannten Staatsrath, fünf Miniftern
und einem Generalfecretär unterflügt, wird von diefen, ben Re⸗
4
140 ” Gonföberation.
präfentanten der Republik, auf fünf Jahre gewählt, kann jedoch
fein Amt gu jeder Zeit nieberlegen; er befigt die ganze vollziehende
Gewalt, ausgenommen bie Genehmigung (Ratification) der Fries
dens⸗, Sreundfchaftes und Hanbelsverträge, ‚weiche wie bie
Kriegsertidrung auf feinen Vorſchlag an die hochmoͤgenden
Herren kommt; er leitet den Nationalſchatz, bereichnet alle hoͤhern
Sriedens: und Kriegsbeamte, beantragt die Geſetze, beflimmt
das jährige Budget und forget für die möglichite Vereinfachung bes
Staatshbaushaltes. Neunzehn auf drei Jahre von den acht Depars
tementsverwaltungen gewählte Repräfentanten oder Hochmoͤgende
fielen die gefeggebende Macht barz fie verwerfen eder billigen die
vom Rathspenfionär ausgegangenen Anträge, entſcheiden über bie
Bebürfniffe des Öffentlihen Haushalts, üben das Begnabigungss
recht aus, verförpern mit dem Rathépenſionaͤr die Hoheit des
batavifhen Volks. — So vorbereitet, von Schulden, Krieg, Sto⸗
dung bes Handels, Mißmuth und Zwietracht barniebergebrüdt endete
ruhmlos die neue batavifhe Republik, auf ben Wunfch der Hochs
mögenden hin durch ben Kaifer Napoleon in das von Frankreich
abhängige, dem Scheine nach felbftherrlihe Königreih Holland
umgemankelt (5. Jun. 1806). Diefen [hmählichen Ausgang nahm die
einft flarfe und Iebensvolle Confoͤderation der Niederländer haupt⸗
fächlich deshalb, weil fie im Eritifchen Augenblide weder das Alte zu
ſchirmen noch ihm das Neue ſchrittlings zu verfchmelzen wußte, fondern
mit einem Wurf und Sprung aus dem lodern Bunde der Generals
flaaten in die vepräfentativ-dbemofratifhe Centralrepublit
hinüberfegte und alte Zwiſchen glieder verabfäumte. Mit Mühe und
Noth entrann demfelben Koofe die ſchweizeriſche Eidgenoffenfhaft.
Ihr haben Natur» und Volkscharakter, fchärfere und maffenhaftere Aus⸗
prägung der Parteien, ſtaͤrkerer Umſchwung dee politifchen Begriffe, welche
allmälig eine nüglihe Fuſion des Föderaliftifhen und unitarie
[hen Princips erzeugten und duldeten, endlih Gluͤck, fchirmenbe, für
Holland vermißte Vortheile und Rettungswege gebradht. Der Ent⸗
widelungsproceß felber, durch das Sneinandergreifen heimifcher und frems
der, oͤrtlich⸗ corporativer und allgemeiner Plane und Triebfedern vielfach
verfchlungen und aufaehalten, durchſchritt drei Hauptkreiſe. Sie erfchei:
nen in der demokratifch srepräfentativen Bundeseinheit oder Gens
tralität (1798 — 1803), in dem Gleichgewicht der föderativs
centraliftifhen Kraft (Mebdiationsacte 1803 bis 1815) und dem
Mebergewicht bes föberativen Principe oder der Eantonalen Sous
weränetät, welche nach innen und außen durch den Iodern Bundes:
werein zufammengehalten wird (feit 1815). Das politifchs> fittlidhe
Leben des ſchweizeriſchen Mittelalters war abgelaufen; den Forderungen
und Bebürfniffen der neuen Zeit genügten weder die Grundgefege noch
die Formen der alten; indem man die Sühne zmifchen beiden Richtun⸗
gen verabfäumte oder die Reform im günftigen Augenblid für unbe:
Kimmte Friſt zuruͤckdraͤngte, brach wie cin Dieb in der Nacht bie hel⸗
Gonföberation. 14
vetiſche, buch Frankreich nicht hervorgerufene, nur befchleunigte -
Revolution aus. Mit theilmeifer Würde, jedoch planlos, ſank bie
Eidgenoffenfhaft der dreizehn Drte, der Zugewandten unb
Unterthanen auf verfchiedenen Schlachtfeldern; aus den Trümmern,
welche der patriotifchzabftracte Unionsgedanke mit feinen
neum Begriffen und Gefühlen gegenüber allgemeinere Freiheit und
Bteichheit zu beferlen trachtete, flieg im Ganzen nad) dem Vorbilde
Frankreichs die eine und untheilbare Republik Delvetiens
empor. Sie brachte in ſtaats rechtlicher Beziehung als praftifche
Drgane und Unterpfänder der durch eine ſtaͤndiſche, Srtlihe und
geſchlechterliche (patricifch sartftoßratifche) Worrechte gehemmten Ges
fammtheit da8 allgemeine Helvetifhe Bürgerrecht, bie Deffent;
lichkeit und VBereinfahung der Rechtspflege, welche fih an
ein unb baffelbe bürgerlich » peinliche Geſetz buch anlehnen und theils
weile Sefhworne aufnehmen follte, Religions: und Preßfrei⸗
heit, freien, von feinen unablösbaren Laflen befchmwerten Boden; fie
ſchuf und entwidelte in ftaatswirchfhaftliher Ruͤckſicht die Idee
bes Nationalguts, welches aus antonalem und corporativem
Beſitzthum gebildet für den sffentlihen Nugen verwendet werben
follte, fie verlieh Freiheit des Gewerbs buch Auflöfung bevorrechteter
Zünfte, laͤhmender Zolllinien; fie centralifirte in culturgeſchichtlich⸗
pädagogifher Beziehung den Volksunterricht und die Kirchen⸗
angelegenheiten duch das Minifterium des Cultus, burd Er»
ziehungs raͤthe und mande gemeingültige Vorfchriften; man faßte
fetbft den Gedanken einer Nationaluniverfitätz von verfchlebenen
Seiten ber kamen dem frifchern, wenn auch oft ungeflünen und etwas
zuchtloſen Volksleben anregende Kräfte und fördernde Hilfsmittel.
Nicht umfonft hieß es: „die Aufklärung ift dem Wohlſtand vorzuziehen”
( V.⸗Acte $. 4.) Raͤumlich zerfiel die neue Eidgenoffenfhaft
einflmweilen in zwei und zwanzig an Rechten und Pflichten gleiche
Kantone, unter welhen ſich die ehemaligen Unterthbauen, wie
Thurgau, Lugano, Bellinzona, oder Angehörigen einzelner
Drte, wie die Waadt, Aargau, endlih Zugewandte, wie St.
Ballen, befanden. Die gefeggebende Gewalt bekamen zwei von
einander unabhängige, mit verfchiedener, zum Theil flitterhafter Amts:
tracht ausflaffitte Raͤthe; der Senat, aus den Alt: Directoren und
je vier Abgeordneten der einzelnen Kantone gebildet und alle ungerade
Sahre (1, 3, 5) zum vierten Theil erneuert, ſollte die Beſchluͤſſe des
großen, aus je acht Kantonsvertretern zufammengefegten Rath6 ans
nehmen oder verwerfen , mit diefem über Iegislative Gegenftände, Steus
ern und Finanzen, Krieg und Frieden entfcheiden. Das fünfgliedrige,
alle Sabre um einen Beifiger ergänzte Directorium jollte ale oberfte
Vollziehungsbehörbe gegenüber ben Gefegen und Belchlüffen
wirken, für die innere und aͤußere Sicherheit forgen, den biplomatifchen
Verkehr führen, über die bewaffnete Macht, jedoch ohne unmittelbaren
Heerbefehl, verfügen, bie höheren Beamten, unter ihnen vier Miniſter,
142 Gonföderation.
meiſtens ernennen, in Verträge mit auswärtigen Mächten geheime Ars
titel aufnehmen, besgleichen über geheime, dem jährlichen Finanzbe⸗
eicht nicht beizufägende Gelder [halten dürfen. Die Entfcheidung über
höhere Criminalſachen befam der von den Kantonen erwählte Ober:
gerihtshof, welcher auch In Eivilfachen formwidrige Urtheile der uns
tern Gerichte zernichten (cafficen) und bei Klagen wider das Directorium
und die gefeggebenden Mäthe urtheilen follte. In den Kantonen be
ftanden für die VB ollziehung der Gefege und Polizei Regierungse
flatthalter, vom Directorium ernannt, für die Aufficht über den Haus:
balt, Handel, Aderbau, das Schul und Kirchenwefen von.den Wahls
koͤrperſchaften erkorne Berwaltungstammern, für die Rechte
pflege Kantonss und Untergerihte. — Geiftliche endlich wurden von
allen polittfhen Rechten ausgefchloffenz; fie durften weder Staats
ſtellen bekleiden noch den, Urverfammlungen beimohnen. ($. 26.)
— Obſchon diefes Seundgefeg der hel vetiſchen Centralrepublik
manche Vortheile und Fortſchritte bot, konnte es, abgeſehen von
der fremden, druͤckenden Schirmherrſchaft Frankreichs, wegen ber
Koſtbarkeit ſeiner Behoͤrden, des Verſtoßes gegen alle bisherige
Gewohnheiten und Einrihtungen auf die Länge hin nicht Stand
halten. Denn bie gleihfam vorweggenommenen, kuͤnftigen Staats⸗
fitten (mores), natürlich vielfach an die Vergangenheit geknäpft
und In jeder Republik die eigentlihe Grundlage, befanden ſich im
offenen Mißverhättnig, ja Segenfag zur Staatsverfaffung. Daher
bie Unmöglichkeit der Dauer, wenn, was nicht gefchah und binnen etli⸗
hen Fahren nicht gefchehen konnte, Feine durchgreifende Umgeflaltung der
Sitten mittelſt der Erziehung und bes Lebens begegnete. So kam
denn nach langem Vorgefecht der offene und maffenhafte Zufammen>
ſtoß des alten föderaliftifhen und neuen centraliftifhen Wes
ſens (1802). Durch Frankreichs Dazwiſchenkunft wurde bem blutigen,
für die Foͤder aliſten guͤnſtigen Buͤrgerkriege Biel geſetzt, darnach in
der Mediationsacte, welche Napoleon Bonaparte, Obercon⸗
ſul der franzoͤſiſchen Republik, und ber gen Paris entbotene ſchweizeriſche
Verfaffungsrarh (Confulta) abfaßten, eine im Ganzen glüdliche
Verbindung des föderaliftifhen und unitarifhen Principe nies
bergelegt (19. Febr. 1803). Nach diefem Gompromiß bes Alten und
Neuen umfaßte die Eidgenoffenfchaft dreizehn alte und fehe neue
Kantone (Aargau, Waadt, St. Gallen, Thurgau, Teffin und Buͤnden),
ſchloß für immer Unterthäntgkeit, örtliche, perfönlihe, Ge⸗
burtss und Familienvorzuͤge aus (M.⸗A. $. 3), vergönnte unbe⸗
dingte Gemwerbsfreiheit und Niederlaffungsbefugniß, jedoch
alſo, daß kein Bürger gleichzeitig feine politifchen Rechte in zmei Kantonen
üben ſollte, tilgte alle Innern Zölle und Gefälle von Ein - und Ausfuhr, un»
terfagte Particularbändniffe eines Kantons mit dem andern ober
mit einer fremden Macht, übertrug gemeinbünbifche Angelegenheiten
der abwechfelnd In Freiburg, Bern, Solothurn, Bafel, Züri
und Luzern verfammelten Tageſatzung, deren Präfidentfchaft in
Gonföderafion. 148
den senannten Directoriallantonen ber jeweilige Bürgermeifter
oder Schultheiß als Landamman und Mittelmann ber diplomas
tifchenw Verhältmiffe übernehmen ſollte ($. 16. 18.) gönnte den uͤbri⸗
gend wie alle Boten durch Inftructionen: befchränkten Abgeorbnneten
der größern Kantone Bern, Zürich, Waadt, St. Gallen, Aargau und
Graubuͤnden jeglihem zwei Stimmen ($. 28), feste die Befugniſſe ber
haͤchſten, alljährlich vier Wochen lang verfammelten Bundesbehoͤrd⸗
dahin feft, daß fie mit drei Vierten der Kantone über Krieg, Frie⸗
den umd Bundesverträge entfcheiden, Danbdelstractate und Mis
litdreapitulationen abfchliegen, die bewaffnete Macht beaufe
fichtigen und für die öffentliche Sicherheit gebrduchen, in ein
: Spadicat mit gleichen Stimmen umgemwanbelte Kantonalftireitigs
Leiten unterfuchen und beilegen, endlich für zwei Jahre den jedesmalie
gen Kanzler und Kanzleivorfteber bezeichnen follte. Der jähr-
ich wechfelnde Landamman, Siegelbewahrer dee helvetifhen Res
publik und vom jeweiligen Directoriallanton befoldet, ftellte die
vollgiehende und regierendbe Bundesgewalt bar, er leitete dem
biplomatifchen Verkehr, entwarf den Jahresbericht Über die innere
und aͤußere Lage der Dinge, fchlichtete geringere Streitigkeiten, entbot bei
ſchwierigern, auf Hilfebegehren des bedrohten Kantons, Kriegsmannſchaft
und berief eine außerordentliche Zagefagung ; er rügte das bundes⸗
widrige Betragen des einen oder andern Orts, beauffichtigte Heerſtraßen,
Wege und Ufer, gab endlich durch feine Unterfchrift als Nationalzeichen
den Urkunden volle Gültigkeit. — Bei den unleugbaren Fortſchritten,
welche der mittelalterliche Staatenbund in dem buch den Land⸗
amman befonders fefler zufammengehaltenen Bundesſtaat be
Mediationsacte niederlegte, traten auch andererfeits gegenüber ber
aufgelöften Einheitsrepublit manche Ruͤckſchritte hervor. Waͤh⸗
rend nämlich die kaum vermeibbare nationale Abhängigkeit von Frank⸗
reich blieb, büßte man namhafte, durch die hHelvetifche Revolution
erhaltene Sewinnfte und Errungenfchaften des gemeinfamen, feflm Bun»
deslebens ein. Denn es verfhmanden Obergeriht, Deffentlidh»
keit, Preßfreiheit, allgemeines Bürgerrecht, Begriff bes
N ationalguts, welches theilmeife für eidgenöffifche Bildungsanſtalten,
Heer s und Lagerweſen dienen Eonnte, bündifche Aufficht und Leitung bes
Öffentlichen Unterrichts; es Eehrten zuruͤck ädtifchscorporatives
Bermögen (Dotation) und Kloftergut (Zuſatzartikel 13. 1.), welches
bisher Einziehung oder Beſchlagnahme getroffen hatten. — Ueberdies bes
kam das oͤrtliche oder kantonale Sonderleben in ben Städten
und Gebirgslandfchaften, welche ihre Landesgemeinden und
Landräthe von Neuem einrichten durften, in der Mediationsacte
ziemlich freien Spielraum, und mit ihm traten die ehemaligen Ab = und
Buneigungen, menn auch milder und durch dm eifernen Krieg bes
Zeitalters gezügelt, hervor. Bei dem plöglichen Umfchlag des franzoͤ⸗
fifhen Waffengtüds und dem Sturz des Eaiferlichen Militärreiche bes
kam deshalb in der Schweiz bie duch Napoleon’s Mediation gleich
14 Gonföberatipn.
fam inmitten der Strömung gehemmte Foͤderaliſtenpartei gegen-
über der tiefgefuntenen centraliftifchen eritfchiebene Vorherrſchaft.
Alter, Zod und Verflüchtigung hatten den Stamm der hefostifchen
Einheitspartei ſchon feit Jahren bis auf etliche Trümmer gefällt,
das jüngere Geſchlecht genoß behaglich die Früchte des Baumes, welchen
das Ältere theils verwünfchte, theild zu bewaͤſſern unterlaffen hatte. So
trodneten feine legten Wurzeln aus; die Mediationsacte wurde zerriffen,
zum Staub ber Archive gelegt, ein neuer Bund foͤderaliſtiſch-kan⸗
tonaler Färbung eingeleitet, beſchworen (7. Aug. 1815), von den eu⸗
ropaͤiſchen Großmaͤchten anerfannt und mit der ſchweizeriſchen Neu⸗
tralität für Lünftige Kriegsfälle ale zweideutiger Beigabe ausgerüftet.
Gleichzeitig begann für die fouveränen Kantone eine überwiggend
ariflofratifhrcorporativ geftaltete Entwicklung, welde in ber
Bundesurkunde gerade wegen des abſichtlich locker Geſammtlebens eher
Sunft denn Hemmung fand. Die wefentlichflen Aenderungen, weldye
das Bundesverhälthiß erlitt, beziehen fi) auf vier Punkte Erſtens
wurde bie vollziehende und zufammenhaltende Gewalt des Landam⸗
mans ber Mediationsacte durch die Bundesverfaffung des Jahres
1815 bedeutend eingefchräntt. Der neue, zwellährige, an Bern, Zuͤ⸗
rich und Luzern gefnüpfte Vorort hängt ganz von den Kantonen
ab, welche ihm bei außerorbentlihen Umfländen duch die TZagfagung -
befondere Vollmachten ertheilen und eidgenöffifhe NRepräfentanten
beigeben. Er bat kaum Kraft für die gewöhnlichen, gefchweige denn
außerordentlihen Fälle; er ift nichts als ein Zifferblatt der Bun⸗
desuhr, welche Ihr treibendes Raͤderwerk in den Kantonen beſitzt. Auch
hat die Conföderation einenrein abmehrenden (negativen) Zweck;
fie fol Ruhe uud Ordnung im Innern handhaben, Freiheit, Unab⸗
hängigkeit, Sicherheit gegen alle Angriffe fremder Mächte behaupten
($. 1); der Charakter des urfprünglihen Landfriedenss und Wehr:
bündniffes Eehrt vorherefchend zurüd, verdrängt, lähmt den Begriff
einer politifchen Union, eines Bundesftaates (Bol. Media:
tionsacte Tit. 2. $. 13 —24 mit $. 8 der Bundesacte bes S.
1815.) — 3 weitens mwurde in demfelben Verhältniffe, in welchem
das Unionsprincip abnahm, das kantonale oder föberaliftifche
gefteigert. Die 22 Kantone find geradezu fouveran ($. 1) und
geben von ihrer Hoheit durch Abgeordnete, welche die Inſtruction bindet,
zur Mothdurft etlihe Stüde an bie vielgegliederte, bin und her gewor⸗
fene, wandernde Tagſatzung ab. Diefe durfte z. B. nah der Mes
diationsacte allein Militärcapitulationen und Handels
verträge abfchließen, während der neue Bund Militärcapitulationen
und Verträge über oͤkonomiſche und Polizeigegenftände den einzelnen
Kantonen überläßt ($. 8. B.⸗Acte). Durch diefe Befugnig werben, obs
ſchon Hanbelstractate in die Gompetenz ber Zagefagung fallen,
vielfache Mißgriffe und Mißbraͤuche gleichfam hervorgerufen und bie
diplomatifhsfinanziellen Beziehungen der Schweiz zum Auds
lande einer durchgreifenden, gemeinnügigen Befchlußnahme entzogen.
Sonföberation. : | 145
Drittens wurde bie theilwmeife von der Mediationsacte genommene
Rödfihe auf Bevoͤlkerung für das tagfäglihe Stimmrecht befei«
tist und eine unbebingte Gleichheit auf der ſtaatsrechtlichen,
Ungleichheit auf der finanziellen Linie eingeführt. Wenn naͤmlich
früher die über 100,000 Einwohner zählenden Kantone zwei Stimmen
befamen (Mebiationsacte Tit. 3. $. 28), fo erklärte der neue Bund
ducchweg gleiche Stimmbefugnig (Bundksacte $. 8) und ungleiche
Beiträge an Gerd und Mannſchaft ($. 3). “So fichen 3. B. politifch
Uri mit 136, Bern mit 4584 Mann Gontingents durchaus gleich,
ein Grundſatz, welcher wiederum entſchieden zu Gunften des föberatiftis
fhen Principe wirken und die Thatkraft des Bundes lähmen mußte. —
Brertens wurde das Syndicat oder das Richteramt bei eibge
noͤſſiſchen Streitigkeiten, welche Landamman und Tagſatzung
laut ber Mediationsacte (Tit. 3. $. 86) befaßen, aufgelöft, das in
der alten Schweiz üblihe Schiedsgericht wieder bergeftellt (Buns
desacte 5. 5) und dadurch die tagfäsliche Bundesgewalt bedeutend ges
mindert. Endlich übernahm die Eidgenofienfchaft die Gemwährleiftung
für den Fortbeſtand der Klöfter und Eapitel ($. 12) und hemmte
dadurch den freien Eulturgang der Zukunft, während bie bereits von
der Mebiationsacte ausgefchloffene Leitung des Nationalunterrichts keine
bündifhe Buͤrgſchaft empfing. In dieſer ungewiffen Stellung wurde
der ſchweizeriſche Staatenbund von den demokratiſch⸗ repräfentativen
Kantonalrevolutionen (183033) überrafht, welche auf ben
Bımdesverein Feine ruͤckwirkende Kraft übten und gerade dadurch die
Zerfplitterung wie das Mißverhältnig der Theile zur Geſammtheit fürs
berten.
Wirft man endlich einen fluͤchtigen Blick auf bie freien Conföberas
tionen Sädameritas, fo zeigen diefe republitanifchen Staatehvereine
in Zolge der gemifchten Bevoͤlkerung und langen ſpaniſchen Dienfibars
Leit Beine befondere Drganifationsfähigkeit. Durch Waffengluͤck, Talent
und Vaterlandsliebe einzelner Bürger nad) mehr oder weniger zähem
Kampfe (1808—1824) von der europälfchen Obergewalt befreit, folgten
die fübameritanifchen Freiftaaten und freiftädtifhen Buͤnde
bei der Gliederung ihrer Geſellſchaftsverhaͤltniſſe meiſtens dem hinfichtlich
der Kraft und Sittenſtrenge nicht erreichten Vorbilde des Nordens,
Ein gefeggebender Congreß mit zwei Kammern, welche beide auf
eigenthümliche Art den Antrag fielen, ein für vier Jahre mit ber
vollziehenden und feldherrlichen Macht ausgerüfteter Praäfident,
Preßfreiheit, Oeffentlichkeit der möglichft unabhängigen Gerichte, Volks⸗
fowveränetät — dieſe und ähnliche Organiſationsprincipien gingen über
auf die Republiten Columbia (1821), Merito (1824), wo neben
dee vömifchs Tatholifchen Kirche jedweder abweichende Cultus verboten
wurde, bie vereinigten Provinzen am Plataftrome oder ar
gentinifhe Republik (1819), Mittelamerila (Buatemala,
1824), Peru (1822), Bolivia (Dber-Peru, 1826), Chile (1818),
Montevideo (1830), den Schügiing Englands wider die Anſpruͤch⸗
Suppl. 3. Staatsler. IL w
N
des gleichfalkt ı durch Revolution sefaffmen Eu. —
gierten Kalſerthums Brafilien. Die ungeheure Ansbchnung ——
ſtens nur ‚dünn, bevöfferten Landes, herkoͤmmliche Sllavereimft auch zer
Be Druch, -vielartiger, im — — Nacan abgeſlafter
nfchenfchlag, die, entfittlichenden Nachwehen des langen, plögläch abge⸗
[hästelten Drucks — dieſe und Ähnliche ———— —— —
Bu gemeffenen Eatwicstungsgang ber’ füb- und? mienulameritaniſchen
— ünde, ja bereiten zwiſchen dem Norden um Süden. über‘
3, oder. lang, einen. feindlichen Zufammenftofi vor, welcher vieleicht Läue
term. auf, beide ae zuruͤckwirken mag. Andererſeits bleipft ahınisgem
der I „von Morde, Mittels und Südbamerik des;
bensfchule wahrſcheinlich daß.fie, ſich mit: vereinten Kräften bası etwal⸗
n „Plan einer Bari Europa ausarhenden Maffenanftekehtäg, ıgehdheher
fe auf dem ‚Wege ‚der Guͤte oder Gewalt, widerſehan nd: bat Wächent -
aufbau, einer neuen Monarchie nad Kräften hindern order. ;; 11. © 1
Der, Deutfche Bumd endlich liefert das. im Der Kirßkhlfptenbebi
confoderativen Prineips “fonft mirsends. angerräffone: MBeiſpiel solmesı
sei fir ſtlAch je (monarhlihn), jenoch velfach abgeſuften: 3 ante
*6. Bunf und driißig ſouverdne, ı geamäher. demd Vaand
‚berechtigte, Bürften. und vier freie. —
tähte, di memıbie Verpflichtung, bie. äußere ud Inene: &kifieesi
32 lande ſo wie die Unabhängigkeit un. Unseelsgbhn!
Eeit der einzelmen deutſchen Staaten als Bundeaz weck zu: betrachn
ten und. zu verfolgen. (Bundesaete vom. 8. Juni 1815): wei: petit’
(de Kräfte haben auf ben Urfprung, und die Richtung des Belammr.
beutihland ald Einheit nad außen und innen hin ergreifenden ?
und. bemegenten Bundes zuruͤckgewirkt, das tauſendjaͤhrige Reich und
die — * Rheinconföderation, kriegeriſch-dviploma⸗
tifche Bedrängniß und haſtige Eil fertigkeit arbelteten dabei für.ben
raichen Aufbau siner : politifchen Noth⸗ und Gelegenheitsbruͤke, welche
für Gegenwart und Zukunft ihre bildenden Stoffe aus dem Neid: und
theimbunp bezlehen follte. Fuͤr jenes ſprachen Volksthum mb
bes, fuͤr dieſen die Conſequenz eines Fehlgriffss und Frieden
ſuchende Bil ligkeit. Man hatie naͤmlich kurz vor der. Leipziger!
Schiacht durch den Rieder Vertrag (8. Oetober 1818) Baiern un
ter, ben Vorbehalt der vollkemmenſten Unabhängigkeit: und Sone
veränetät in die Reihen der Verbündeten aufgenommen und badurd)
bie Stellung bezeichnet, welche auch bie ‚Übrigen Glieder. der- Rhein⸗
conföberation bei ihrem Eintritt in den neuen deutſchen &taa-
- tenverein sinzunehmen hatten — den Vollgenuß der. Unabhängig»
keit und Souveränetät. Diefer ſtaatsrechtliche, indem Rhein»
bund zuerſt niedergelegte Begriff hatte begeits eine beflimmte Ausprä«
gung gewonnen. „Die Rechte ber Souveraͤnetaͤt, lautete Artikel 26,
find: Gefeggebung, obere Gerichtsbarkeit, Oberpolizei, mis
litaͤriſche Conſcription oder Reccutenzug, ‚und Recht des Auflagen.“
Auch fehlte bie practiſche Aawendung nicht; die — fen fon
ns
Gonföberation. Ä 147
veränen Ditglieder des von Frankreich geftifteten (1806, 12. Sult)
und beſchirmten Rheinbundes haben alsbald zwei und fiebenzig bis⸗
bee reihsunmittelbare Zürften und Strafen, drei Reichsritters
Thaften, die fraͤnkiſche, ſchwaͤbiſche und cheinifche, den deut:
Then Orden und zwei freie Reihsftädte, Frankfurt umd
Nürnberg, ihrer Hoheit unterworfen, ober metiatifirt. In die
ſem legtern Ausdruck liegt der zweite ſtaatsrechtliche Hauptbegriff,
welcher, eingeleitet duch den Reihsdbeputationsrece$ vom Sabre
1803 und gründlichee entwidelt duch ben Rheinbund, auf bie
neuen Berhättniffe Deutſchlands überging. Dieſe geflalteten umd
anertimnten demnah fürftlihe Souveränetdt und Mediation
Befugnis als Grundlagen des neun Staatenvereins, fo weit
er etwa in Folge der hiftorifhen Entwicklung feine leitenden Geſichts⸗
punkte aus der damals jüngften Zeit, der rheinbuͤndiſchen, bezog.
Denn fie wollte man eben nicht umgehen aus Furcht vor heimifchen
Wirren und in Folge der rein militärifhen Richtung wider das dan
malige, noch nicht befiegte Frankreich. Auch war ber Widerruf dee
nun einmal nod) während des Krieges den ehemaligen Rheinbunds
finaten verlichinen Concefflon theils unlogiſch, theils mißlich wegen
unabweisbarer Zermürfniffe- Ueberdies beftand das deutſche Reid
nicht mehr; es hatte ſich, längft untergraben, eben in Kolge der fran⸗
zoͤſiſch-deutſchen Verbindung aufselöft (6. Auguft -1806); feine
flaatsrehtlihen Principien aber, auch feit Menfchenaltera abges
ſchwaͤcht und zerfegt, befanden fich zum Theil im fchneidenden Conflict
zu den ſtaatsrecht lichen Ausgangspuntten und Fundamentallehren
der jüngern, aus dem langen Verweſungsprozeß des Reichs hervorges
gangenen Drganifation. Die gefchloffene, in Kaiſerthum unb
Reichstag niedergelegte Einheit (Gentralifation), welcher fi), wenn
auch langfam und mwiberfirebend, an breihundert und ſechszig Glüder
ze chtlidy unterordnen und fügen mußten, war feit dem Zwieſpalt Des
fterreih6 und Preußens factifch beinahe unmoͤglich geworben.
Ebenfo mwiderftrebte der fürftlichsterritoriate Souveränetätsbegriff,
wie ihn genau die Rheinbundsacte beflimme und die Uebereintunft
der Verbündeten mit Baiern und ben andern Gliedern dieſer auslaͤn⸗
diſch⸗ deutſchen Genoſſenſchaft anerkennt, dem Reichsſtatut. Denn
dieſes gewährte ja ſelbſt im weſt phaͤliſchen Frieden allen Ständen,
auch den freien Buͤrgergemeinden, unverkuͤmmertes Stimmrecht (jus.
auffragii) fuͤr gemeinſame Sachen der Geſetgebung, Steuerauf⸗
lagen, des Kriegs und Friedens, der Bündniffe und Ver⸗
träge, behielt für etwanige Particularverbindungen ausdruͤcklich
Kaiſer und Rei vor. Ebenſo wenig bezog fich das den Kurfürften und
Ständen beftätigte Territorialrecht in geiſtlichen und politifchen Dins-
gen auf den damals unbefannten Begriff volllommener Souverdnes
tät, fonbern auf die Befugniß, innerhalb eines gewiffen Raumgebiets mit
Beirath der Tandftändifchen Corporationsvertreter zu wirken. — Bei
dem twachfenden Conflict der urfprünglih reihsbündifchen und bins
10*
148 Eonföberation.
eingefchobenen rhein⸗ ober fremdbündifhen Verhaͤltniſſe und
Staatsrehte wurde für die Conftituirung Deutfhlande em
fogeheigener Mittelweg gewählt, oder der Verſuch gemacht, beide Zeis
tenwenden trog ſchlagender (dißparater) Gegenſaͤtze und Widerfprüche aus:
zugleihen. Alſo kamen von der Seite der Rheinconföderation
unbedingte Souveränetät und Medintifirungsbefugniß, von
Seiten ds Reiche nationale, d. h. auf äußere Unabhängigkeit
gerichtete Stellung in politifchemilitärifher Ruͤckſicht, Foͤ dera⸗
tionsverband, durch den Bundestag, oder die Vertretung der
fonveränen Staaten ohne eigentliches Principat (Oberleitung durch
den Kaifer), zufammengehalten, und eine Reihe inhalts= und folgenreis
her Staatsbürgerrechte, wie fie theils im alten Reich, theile
im neuern Entwidlungsgange niedergelegt waren. Dahin gehören
bauptfächlich die Befugniß des Grundermwerbs, ber Niederlaffung,
des freien Wegzugs, des Civil: und Militärdienftes in dem
einen oder andern Bundesſtaat (Be⸗A. 6.18), Glaubens» ober
Gewiffensfreiheit, indem die Werfchiedenheit der chriſtlichen Res
ligionsparteien keinen Unterfchieb in dem Genuffe der bürgerti»
hen und politifcyen Rechte begründen dürfe ($. 16) und auch dem
Juden auf dem Wege der Gefeggebung der Genuß bürgerlicher Rechte
verfchafft und gefichert werden ſolle ($. 16), auf gleihförmigen Verord⸗
nungen ruhende Preßfreiheit und Inndftändifhe Berfaffung (6. 13).
Da man aber bereit den Begriff dee Souveränetät aufgenommen
und ftillfehmweigend die oben bezeichnete Sinterpretation deſſelben durch die
Rheinbundsacte gebilligt hatte, fo mußte für die ſtaͤndiſch⸗mo n⸗
archiſche Entwicklung ein bedeutendes Hinderniß gemach hervortreten.
Entweder nämlich befchränkte die Conftitution den Gehalt der So u⸗
veränetät, oder fie that es nicht. Geſchah das Erfte, oder minderte
die Derfaffung den auf Legislation, Steuerbefugniß und obere
Gerichtsbarkeit bezüglichen Begriff des Fuͤrſten (f. Rheinbundsacte
$. 26), fo verfhmany die So uveraͤnetaͤt, weldhe doch am Eingange
der Deutfchen Bundesacte ſtand; begegnete der zmeite Fall, oder be⸗
ſchraͤnkte die Verfiffung den Soupveränetätsbegriff nicht, fo wurde
die ganze Repräfentation mehr ein Schatten denn eine Wefens
beit, das heißt, fie gewann Einen Antheil an der Geſetzgebung und
Steuerbemwilligung Die Bundesacte beging daher einen fols
genreichen Fehlgriff, wenn fie den Widerfpruch der beiden ſtaatsreſcht⸗
lichen Begriffe Souveränetät und Landftandfchaft (Art. 1u.13)
einerfeitd nicht vermied und amdererfeits nicht durch fchärferes Ausheben
und Abmarken der Grenzen möglichft zu verbeffern trachtete. Denn
ließ man den undeutfchen, rheinländifchfrangöfifhen Ausdrud und
Begriff: „fuͤrſtliche Souveränetät” fallen, fo wurde ber dreizehnte
Artikel leicht ausführbar und trug volle Früchte, oder die Verfaffung
konnte fich als Ausdrud der in dem Fürften und inder Befammt:-
bürgerfchaft niedergelegten Hoheit nicht nur aufündigen, fondern
auch bewerkthaͤtigen. Die Klagen über den mangelhaften Vollzug
Gonföberation. 149
des breigehnten Artikels treffen baher weniger die Regierungen. und
Boͤlker ale den politifhen Geſetzgeber, welcher umvereinbare Begriffe
zus einigen und auszugleichen ſuchte. Weberdies bildet natürlich nicht: bie
Genftitution an fi und ohne Rüdfiht auf den Gehalt bie Gluͤck⸗
feligfeit eines Volkes, fondern Ziefe und bauernde Nachwirkung beſtim⸗
men den Werth eines republitanifhen wie ſtaͤndiſch⸗fuͤrſtli⸗
hen Grundgeſetzes. Den loyifhen, oben bezeichneten Principien-
fehler abgerechnet, hat der deutfche Staatenbund sine im Gans
zen tüchtige, feinem angelündigten Zweck entſprechende Einrichtung
(Digamifation) befommen. Seine 39 fouveränen Mitglieder befigen
gleiche Rechte und Pflichten; fie verbärgen einander, fowohl ganz
Deutfhland als jeden einzelnen Bundesſtaat wider jeden Angriff
in Schug zu nehmen; fie fchließfen bei einmal erklaͤrtemn Bundes
Eriege keinen einfeitigen Waffenftillftand oder Friedensvertrag ab, eine
Lehre, welche die legten Reichskriege fo oft tauben Ohren gepredigt hat⸗
ten; fie geloben, in feine gemeinfchäbliche Verbindung einzutreten unb
ihre eigenen Streitigkeiten niemals dee Gewalt, ſondern dem rechtlis
hen Austeag durch den Bundestag ober eine gegliederte Austräs
aal⸗Inſtanz zu übergeben ($. 11 und Schlußacte 6. 21). Auf bie
felbe Weife kommen Befchwerden Über vertveigerte oder gehemmte Rechte
pflege in einem Bundesftaate an die zur Aufnahme der Klage vers
pflihtete Seneralverfammlung (f. Acte $. 29 und 30). Diele
ift permanmt; fie befteht aus den Abgeordneten dee einzelnen Staaten,
weiche unter dem bleibenden Vorfig Defterreichs je nah dem Maß
des Umfangs und der Bevoͤlkerung entweder eine eigene oder mit meh-
zeren zufammenfallende Stimme haben. Vorſchlaͤge darf jedes Bun
desglied machen; der Präfident muß fie in einer beflimmten Zeit ber
Berathung übergeben. Die engere, an gewöhnliche Kälte getnüpfte
Verſammlung entfcheidet 17 Stimmen ſtark durch abfolute Mehrheit,
Die weitere oder das Plenum durch mindeftens zwei Dritttheile der
69 *), Stimmen, melde nad dem Verhältniß der Größe der eingelnen
Bundesſtaaten vertheilt find. Diefes Plenum tritt zuſammen, wenn
es ſich handelt. um Krieg und Frieden, Aufnahme neuer Mitglieder,
Abfaffung und Abänderung der bündifhen Grundgefege, um Befchläffe,
welche die Bundesacte felbft betreffen, um organifche Bundeseinrichtun⸗
gen und gemeinnügige Anordnungen fonftiger Art (B.:A. F. 6.). Der
engere Rath übt dabei die Initiative, ber weitere bie einfache
Annahme oder VBerwerfung des Vorſchlages. Religiondange
legenheiten, neue Mitglieder und Grundgefege wie organi-
fhe Einrihtungen, das heißt, bleibende, für bie Erfüllung des
Bundeszwecks beflimmte Anftalten, fordem Stimmeneinhellig
keit (Schlußacte $. 13. u. 14.). Die vollziehende Macht gegen«
über den bie Sefammtheit bindenden Bundesbefchlüffen geht theils
*) Später belam Deffen- Homburg bie 70. Stimme.
Moetattn
h dem' Bundestäge, theiis im Beſondern von ben einzelnen’ Me⸗
ſwvouorränetät keinen döhern Iegislativen Willen anerkennen dacf —
(8%. 5: 17): Ein durchgreifendes Bundesgericht, welches etwa
ae NReichsge richt ſtaats⸗ umb e ærle⸗
digen follte ; fſcheiterte an den Sonveraͤnnetaͤtsan ſpruͤch en der Ein⸗
zeiſtanten. Um jedoch einigermaßen: auch. vor bem Recht dem loſen
FJoberallemus zu: einigen, wurde in ber Bunbesacte ($. 12) ıfefl-
Ta} Otaaten unter 300,000 Einwohnern fihb mit anbem
sgllebern, weiche wenigfiens eine. folche Wollszahl ansnddkten, zar-
| eined gerheinfchaftlichen oberfien Berichts gleich den vler
frelen ten vereinigen werben, und daß es bei dieſen gemeinfchaft⸗
Uqhan' Obergorichten: eder Partei ſolle geſtattet fein, auf Verſchi⸗
Burg’ der Acten an eltle dentſche Facul taͤt, ober an einen Schöppems
des Endurtheils
nraßte 'um fo Shnmmerlicher wirken, je mehr)nan fie ſputer beſchbaͤukee,
web die. Audſicht auf. ben enbikken Gewinn: einer gleichmäßigen
Reqhhtéepfltege für lange Zeit trüben. Denn fo fah man ſich gand«
A fito dir Staaten mit einander ober berStände: nie
vom 80. Det. 1834 die Ertichtung eines Schiedsgerichts für die
Streitigkeiten zwifchen den Regierungen und den Ständen, alfo
daß jeder Theil aus 34 für drei Jahre vom engern Bundesrath ers
naͤnnten Spruhmännern drei, vier oder acht Schiedsrichter
wählen und dem Urtheil derfelben bei Strafe der Erecution gehorchen
follte. ‚Das gleiche Verfahren blieb auch zwifligen Bundesgliedern
unbenommen. Jedoch, ſcheint es, veichen die erwähnten Austunftss .
mittel und Hilfswege nicht hin, um den Mangel eines all gemei⸗
nen Bundesgerichts zu ergänzen und die Conflicte zu erledigen,
welche zwiſchen der bündifchen Eentralgemalt und den einzelnen '
fouveränen Staaten bei Innern ober aͤußern Anläffen aufgehen und
weitet fortglimmen Binnen. — Derin neben ber ſchwierigen Vereinba⸗
rung bes bie gefammte Staatsgemwalt enthaltenden Souveräne-
tätsbegriffes und einer pofitiven lanbfländifchen Vertretung, mäg
auch das Janus⸗ oder Doppelgeficht einzelner Bunbdesglieder mit
der Zeit eigenthämliche umd bedeutende Schwierigkeiten entwideln. Die
auslaͤndiſchen Königreihe Holland und Dänemark nämlid
flehen, jenes für Luremburg, diefes für Holftein-Lauenburg,
in einem innen flaatsrehtlihen Verhaͤltniß zum deutfhen
‚ Bunde und find ans demſelben Orunde an biefelben Pflichten,
⸗
Conventionsfuß. 151
Laften und Vortheile gewieſen. Dieſe aber koͤnnen, ja muͤſſen bis⸗
weilen ben Pflichten, Laſten und Vortheilen der niederlaͤn⸗
diſchen ober daͤniſchen Monarchie widerſprechen und namentlich im
Fall eines großen Krieges wahrhafte Verlegenheiten erzeugen. Die auf
dem Wege des Verkommniſſes bewerkſtelligte Abloͤſung jener deutſchen
Eande von einer fremden Hoheit waͤre daher ein geeignetes Mittel,
um die beutfche Gonföderation nach Außen hin nicht nur zweckmaͤßig
abzurunden, fondern auch als wahrhaft voͤlkerrechtlichen Verein,
welcher Teine fremden Einwirkungen dulden will, zu bezeihnen. Die
laͤhmenden Ausnahmsgefese müßten, jenen Hauptbegriff ange-
nommen, fodann von felber als Früchte zeitlicher (tempordrer) Verhält:
niffe dahinſinken und mit ihnen die Fleineren und größeren Parteien des
Tages allmälig verwelten. — (Etliche den behandelten Gegenftand er:
Täuternde Hilfsfchriften. Weber die Griechen: St. Croix, des anciens
gonvernements federatifis; Tittmann's Br. Gtaatsverfaffungen
(1822); Kortüm’s Gr. Staatsverfaffungen (1821); Helwing's
Geſchichte des achaͤiſchen Bundes; Schorn, Geſchichte Griechenlands
u. ſ. w. 1808; Sestini, sopra le medaglie antiche relative alla
confederazione degli Achei. 1817; Merleker, Achaicorum libri tres.
1897; Koppius, resp. Boeotorum. 1886; Lucas, Ueber den dtoli-
Then Bund. Ueber die roͤmiſchen Bundesverhälmiffe; Kiene, Der
Bundesgenoffentrieg, 1845, und Merimee’s Guerre sociale. Mit:
telalter: Vogt, Der Lombardenbund. 1818; Leo, Verfaffung ber
lomb. Städte. 1821. Hanſa: Sartoriusstappenberg, Gefchichte
der Hanfa, 2 Bände, nebft Urkundenbuch; Burmeifter, Beiträge zur
Geſchichte Europas im 16. Jahrh. 1843. Dithmarſchen: Chronik
von Meocorus, herausgegeben von Dahlmann, 2 Baͤnde, 1827.
Republik Island: Annales Islandorum bei Langebek, Script. reram
septentrionalium, II. u. II. ; Dahlmann's Dänifche Geſchichte, Th. 2;
Are’s Islaͤnderbuch bei Dahlmann's FSorfhungen auf dem Ge
biet der Geſchichte, Th. 2. 1822. Rheiniſcher Städtebund: Ges
ſchichte deffelben von Schaab, Mainz 1843. Schweizerifhe Eid»
genoffenfhaft: Müller, 17865 Mayer von Kronau, 1829;
Kopp’s Urkunden, 18355 die Denkfchriften der hiſtoriſchen Geſellſchaft
des Waadtlandes, 1838, im 2. Band: Hisely, Essai sur l’origine
des libertes des Waldstetten und die Unterſuchungen des Herrn von
Gingins u. f. w. Niederlande: van ber Vynct's Geld. der
D. N. 17935 Kampen, Seh. d.B.NR., 2 Bde. 1831. Eng»
Iand: Rushworth, Historical Collections, 6 Bde; Godwin,
History of the Commonwealth of England. 4 Bde. 18285 Guizot,
Dahlmann, Geld. der engl. Revolution. Nordamerika:
Botta, Geſch. des nordamerikan. Unabhängigkeitökrieges, 1809; Ram⸗
ſay, Geſch. der nordamerikan. Revolution, 1791. Frieder. Kortüm.
Gonventiondfuß. Conventionsgeld. Es erinnert une
diefes an traurine Mängel der fpätern beutfchen Reichſs⸗ wie unferer
heutigen Bundesverhaͤltniſſe. Uns fehlt bie unendlich große Wohlthat
| Pr Sonny Dep it Drpas Erangelrum.
„von gleichem Maß, Gewicht und Geld in der gungen beuffchen Metiow.
Gegen die großen Nachtheile ber verfchiebenartigen - dgenmächtigen ,:- aft
wucheriſchen Ausmuͤnzungen fuchte man. im Reich durch lang⸗ Vechand-
lungen, zulegt auch 1690 und 1737 durch zwei rue zu hel⸗
fen, und die Verwirrungen, Störungen und Betruͤ den Muͤnz⸗
verhältniffen zu befeitigen. Aber jene Reichsgeſetze Aber = allgemri⸗
nen Reichemuͤnzfuß wurden nicht befolgt, und fo vereinigten ſich am ‚21.
Septbr. 1753 Sachſen, Defterreih und Baieen zu ‚folgender Gonventien :
Das Silber foll zu 20 Gulden bie feine Mark ausgeprägt. merken, zu
10 Species oder 13-Xhaler 8 Gr. Das Gold ſteht zum — *
14 zu 1. Weil mad dieſer Convention das Cemventionsgelb
Gulden von ber feinen. Mark ausgeprägt wird, heißt wer. — ————
‚der 20 Gulbenfuß. Von den noch duͤrftigen, boch an
Bemühungen des Zollvereins für gleichartige beſſere Mhngyerhätuuifle ir
Deutfhland f. Muͤnzweſen. ı. & Melcker.
Convoy. Hiermit bezeichnet man die Krisgefggiffe, welche ‚eine
Kauffahrteiflotte Mall. um fie gegen, feindliche Angriffe und. Gus-
zduber zu (chüben.. Nach den englifhen Gefesen find die Kauffahrer
nicht zu comvopiren, um nicht in Kriegs. zu gerathen wegen unmittelha⸗
zer Verlegungen ber. Kriegeflagge. Go veranlaßte ber jüngere Bernflorff
durch folches Eonvoyiren in Dänemark, das Tein Vater weiſe unterließ, den
Krieg mit England und das :Bombardement von Kopenhagen. ( S. Bern⸗
ftorff.) — Auch verſteht man. unter Convoy eine militaͤriſche Bedeckung
eines Tranßports von Lebens⸗ und Kriegsmitteln. Ihre gute Fuͤhrung iſt
oft hoͤchſt wichtig und ſchwierig. C. Welcker.
Corpus Catholicorum, Corpus Evangelicorum. —
Seitdem unter dem allgemeineren Namen der Proteitanten oder ber
Evangelifchen. und unter den beſonderen Mamen der Rutheraner. Refors
micten, Calviniſten und der anglicanifchen Kirche viele früher katholiſche
——— von dee roͤmiſch⸗katholiſchen Kirche ſich trenuten und num dieſe
angeliſchen übers. ihre Rechtsverhaͤliniſſe mit den Katholiſchen
in vielfache, meiſt gemeinſchaftüch gefuͤhrte Streitigkeiten und Kriege ver⸗
wickelt wurden, beſtanden von ſelbſt die zwei Hauptparteien ober
Bereine.des Evangelifchen. und der Katholifhen. Ob diefelben
als foͤrmliche juriftifche Corporationen in ber Zeit des alten beutfchen
Reiches follten angefehen werden, barüber war wenigſtens den Morten
nach Streit. Die evangelifchen Reichsſtaͤnde behanpteten ,. fie feien eine
Sorporation und auch in ben Öffentlichen: Verhandlungen und Friedens⸗
ige wiederholt fo anerkannt. worden ,. und fie, organifirten fich auch
ndig als eing Gorporatipm, als baf;.Corpus Hvangelicorum, nann-
. ‚Oerpas Oatholloorum, Corpus Eivangelicorem. 163
ten auch bie Patholtfchen MReichsftinde ein Corpus Catholicorum. Dieſes
aber lehnten dieſe von ſich ab und organifirten fich nicht als ein Corpus
Catholicorum, Hiergegen hatten fie Abneigung, ba im beutfchen Reich
die Eatholifchen Reichsſtaͤnde die Mehrheit bildeten (mährend jest im
deutſchen Bunde mehr Bundesregierungen der evangelifchen Kirche anges
hoͤren). Auch mochten fie wohl nicht ebenfo leicht alle außerbeutfchen
Satholifhen Fürften und namentlich den im breißigjährigen Kriege ihnen
feindlichen franzoͤſiſchen König mit fich zu einer gemeinfchaftlichen Cor⸗
poration vereinigen, wie dieſes alle evangeliſchen deutfchen Reichsſtaͤnde in
Beziehung auf alle außerdeutfchen evangelifchen Fürften, die oͤnige von
England, Schweden und Dänemark thun Fonnten und ſchon wegen bes
sven deutfchher Reichslande auch wirklich thun mußten.
Dagegen aber mußten die katholiſchen Meicheftände, ' gezwungen
durch die Haren Beſtimmungen der Religionsfrieden und insbefondere
auch des Weſtphaͤliſchen Sriedens, ebenfo wie auch heute die deutfchen
Bundesgeſetze, anerkennen, daß in allen Religionsfachen bie Evangelis
ſchen von den Katholifhen und umgekehrt völlig unabhängig feien, daß
alſo rädfichtlich ihrer auf Reichs⸗ und Bundestagen durchaus nicht
Stimmenmehrheit entfcheide, fondern daß hier itio in partes ftattfinde,
d. h. daß die verfchiedenen Religionstheile ſich als zwei völlig gleiche ſelbſt⸗
ftändige Partelen gegentiberftehen und nur durdy freie Vereinbarung ets
was Gemeinfchaftliches feftitelen können.
Und fie konnten es natürlich und zumal nach dem altdeutfchen Ei:
nigungsrechte den Evangelifchen nicht mehren, daß fie fich in der That
auch innerlih zu einem förmlichen Corpus Evangelicorum organffirten.
Auch wurde in gemeinfchaftlichen Verhandlungen und Urkunden‘
von den Katholiken felbft den Evungelifchen die Bezeichnung als Corpo⸗
ration beigelegt oder zugegeben. Thatſaͤchlich aber waren diefelben
fhon fo aufgetreten, ale fie im Mormfer Edict vom 8. Mai 1521
als eine gemeinfchaftlic, den Katholifchen negenüberftchende Partei behans
beit wurden, als fie ferner gegen deffen Vollziehung auf dem Reichstage
zu Nürnberg 1524 gemeinfchaftlich proteftirten, am 4. Mai 1526 ben
Torgauer Bund fhlofien, am 27. Auguft 1526 den Speyerfchen
Abſchied zu ihren Gunſten erfämpften, am 25. April 1529 zu Speyer
proteſtirten und appellitten, fodann den Shmaltalbifhen Bund
fchloffen und die Religionsfrieden von Nürnberg und Auges
burg, 1532 und 1555, erfimpften. 6 erklärte fchon auf dem Reiches
tag 1598 der Öfterreihhifche Geſandte, dag in Gewiſſensſachen nicht wie
in andern Sachen, fondern „durch befondere Räthe gehandelt würs
de, alfo daß die Katholiſchen einen befonderen Rath und die Andern aud)
einen befondern Rath hätten!). Auch verhieß Kaifer Leopold I. Er:
ledigung der Religions⸗Beſchwerden, „ſobald diefelben vom corpore Au-
gustanae confessionis an ihn würden gebracht werden.”2). Ebenfo ges
1) Shaurotb, Sammlung alter Conclusorum II. 798.
2) Schauroth a. a. D. II. 823.
brauchte 1719 Kurmainz ben Ausdrud Corpus Evangelicorum %; · Unb
jedenfalls _beftand, die Sache rechtögemäß, Als daher fpäter an des Midye
tigfeit einer Trennung und Benennung ber Reicheftände in ein Corps
Evangelicorum und ein Corpus Catholicoram gegmelfelt wurdet), er⸗
"Härten mit, Recht die Evangelifchen: Nach der Zeit des — Bledl
gionsfriedens hat man evangelifcher Seite, nebſt dem -abfonderliihen Di
rectorium, eigene Bedenken und Religionsbeſchwerden ubergeben / und
publice ohne Widerſpruch verwaltet, was einem corpori zufteht, fioechaß
ſchon 1582 auf bem Reichdtage zu Regensburg es sin Herkommen ge⸗
nannt worden*). Es könne ihnen ganz gleich gelten, ob man fia.fir ein
Corpus, Societaͤt, Collegium, Gemeinheit, oder (nad) dem: Ausdenck Der
Katholifchen, 15. Juni 1752) für einen Neichstheil halt. weile,
wenn ihnen nur dasjenige frei bleibe, was ihnen die Reichsgeſetze beilegten,
was mwohlbergebracht, fo. oft felbft anerkannt, und wovon der Grund —5
daß ihnen Zuſammenſetzungen, Buͤndniſſe und Vereinigungen zu machen
erlaubt und in den Reichsgeſehen und Wahlcapitulationen Mackie: Bi
— — fei®).
as Corpus Evangelicorum wurde nad) feiner Berfaffung ‚dur
‚alle Regierungen evangelifcher Meicdysländer, auch wenn bie Kürften ſelbſ
Katholiken find, mit Inbegriff ber Könige von England, Schweden unb
Dänemark gebildet. Die Regierumgen wurden repräfentiet durch bie Ber
fanbdten berfelben. Diefe hielten regelmäßig alle 14 Tage eine. —
ſaßten bie: e. (Concluaa) regelmäßig nach Stim⸗·
Gonfsren;, ) se
„menmebrheit. Diefe Concluse. ben Reichsgeſetzen gleich geachtet
und bildeten alſo eine Quelle des gemeinſchaftlichen evangeliſchen Kir⸗
chenrechts und gelten jetzt noch, ſoweit ſie nicht durch ſpaͤtere Landesge⸗
ſetze aufgehoben wurden.
Das Directorium in dieſen Religionsangelegenheiten hatte im An⸗
fang ber Reformation Kurſach ſen, im dreißigjaͤhrigen Kriege Guſtav
"Adolph und Oxenſtierna, dann wieder Sachſen. Später übernahm es
Kurpfalz und feit 1653 wieber Kurſachſen. Als 1697 Friedrich
—— I. katholiſch wurde, erhielt die Leitung Friedrich II. von Go»
tha und 1700 der Herzog von Weißenfels, beide unter Mitwirkung
des Geheimenrathscollegiums von Dresden. Als 1717 auch Friedrich
Auguft IL katholiſch wurde, entflanden Streitigkeiten wegen des Direc⸗
— Doch wurde es unter den noͤthigen Cautelen Kurſachſen uͤber⸗
l
Die große Literatur über biefen Gegenſtand giebt Puͤtter, Lite⸗
ratur des deutfhen Staatsrechts, Bd. ILL. $. 978 fi. 1086 ff.
1199. 1616. Bortfegung von Klüber, Bd. IV. — ss
8) Faber, ac, 85, >” L
h So t
5) Schauroth a. a. D
6) Schaurotb II. 759 e
N
\.
Dänemark. 155
Mit der Auflöfung des Reiche erloſch auch das Corpus Evangeli-
corum. Man bat feitbem oft defjen Erneuerung gewuͤnſcht (f. Klüber,
Deffenti. Recht $. 213 Note c) und zwar aus dem doppelten
Grund, daß für's Erſte um fo mehr, je mehr bie Eatholifhe Kirche in
dem Papftthum ihre Gentralifation und Einheit fefthält, eine gemein⸗
ſchaftliche Vereinigung und Fortbildung ber evangelifchen Kirche win:
ſchenswerth fei, und fobann daß bei den wachſenden ultramontanen und
jefuitifchen Anfeindungen des Proteftantismus gemeinſchaftliche Schutz⸗
maßregeln nötbig feien.
In beiden Gründen ift viel Wahres enthalten. Insbeſondere wäre
es ſehr ſeicht und politifch unmeife, die zulegt berührte Gefahr zu übers
fehen. Wohl mag fie befiegbar fein, wenn man thätig und wachſam
ihre entgegentritt, ficher nicht, menn man gegenüber der unermüblichen
energifhen Thätigkeit von der andern Seite die Hände in den Schoof
legt. Auch ift die unbedingte Einheit der Gegner und ihre Allianz mit
aller weltlichen Herifchfucht und Defpotie und mit vielen bethärten Macht⸗
babern und Ariftofraten, mit verrätherifhen Rathgebern und fanatifchen
Pistiften und Orthodoxen nicht zu überfehen. Die Sefuiten bewirkten
den breißigjährigen Krieg und Oeſterreich glaubt fi und feine Politik,
gegen ben Kortfchritt und die Sreiheit, duch die Sefuiten zu retten.
Wäre denn eine ähnliche Allianz gegen den Fortichritt und. die Kreiheit
heutzutage undenkbar? Was gefchieht in der Schweiz unter Mitwirkung
franzöfifher und äfterreichifcher Noten? Was gefchah und wurde beabs
fichtigt in Baden vor der Eräftigen Erhebung des früher zum Theil bes
shörten Volles! Mer Augen hat zu fehen, ber fehe!
Aber die Sorge für wahre völlige Glaubensfreiheit und bie nöthige
Borficht, um nicht etwa durch offenfive Gegenwehr das furchtbarſte Uns
glüd neuer deutſcher Spaltungen und Kriege felbft zu fördern — dieſe
verlangen jedenfalls auch ihre Beachtung. Weber den ganzen wichtigen
Gegenſtand foll der Artikel Deutſch⸗Katholicismus ſich weiter
verbreiten. C. Welcker.
D.
Dänemark. Friedtich VI. ſtarb am 3. Dechr. 1839 und Chris
ftian VII. beftieg den Thron. — Daß es nicht wohlgethban war, Däs
nemark und baneben SchleswigsHolftein blos berathende Provinzialftände
zu geben, bat ſich vollfommen hernusgeftellt. Die bänifchen berathenden
Ständeverfammlungen haben ihrer Aufgabe nicht genügt, ſcheinen fie
nicht einmal verflanden zu haben; noch weniger freilich hat bie Regie»
eung billigen Anfprüchen entfprohen. Daher ift jegt ein verwirrter un:
erquidlicher Zuftand in Dänemark, eine Gährung, bie vielleicht noch lange
nicht zur Klarheit kommt, jedenfalls aber nur durch. das Mittel dahin
Bemwyen
bor, nur geeignet, ben alten Rechtszuftand auszubeſſern, nicht aber ein⸗
zelne Zweige des Privatrechts und der ‚öffentlichen Inftitutionen, als des
Berichts » und Communalmefens, gruͤndlich zu verbeffern. Ein obers
flaͤchlicher Finanzbericht, den fie vorlegte, ergab traurige Mefultate, eine,
große Schuldenmaffe von ungefähre 130 Miltionen Meichsbankthaler, die
ſich hauptſaͤchlich in den leuten Friebensſahren gehäuft hatte, und Auss
ſicht auf ein jaͤhrliches Deficit dom mindeftens 300,000 Mthte., daher
noch Schuldenyermehrung, Auf Anregung der Stände legte Die Megies
rung fpäter freilich etwas bedeutendere Gefekentmiürfe vor, wovon inbef
nur nennenswertb find die wegen Aufhebung des Fagdregals, wegen Er:
laffung einer Communalordnung und wegen Abänderung im Freifuhr⸗
wefen. Das Jagbregal ift aufgehoben und in den Eöniglichen Difteicten ' .
ben Eigenthuͤmern das Jagdrecht gegeben, in den Graffchaften und Ba:
ronieen aber üben «6 mehrentbeild die Herrſchaften aus und die Unter⸗
gehörigen firfb mit mancherlei Jagdfervituten behaftet. Das Freifuhrwe⸗
fen,.tmelches darin beftand, daß Militaͤr⸗ und Civilbeamte von den obern
Verwaltungsbehoͤrden Fuhrpaͤſſe erhielten, wornach fie von Bürgern und
Bauern frei: befördert werden mußten, indem die Befiger ‚privilegirter Guͤ⸗
ter von der Laft befreit waren, gab zu vielen gerechten Beſchwerden Ver⸗
anlaffung; man hat aber bei der Abänderung keine allgemeine Staates
laft Daraus gemacht, fondern die bisher damit Belafteten nun mit einer
entfprechenden Geldlaſt bebürdet und den Adminiftrativbehärden bie will⸗
Fürliche Ausfchreibung uͤberlaſſen. Das Belle, was bie neue bänifche
Gefeggebung geliefert hat, ift die Communalordnung für Stadt und
Land. Dadurch hat Daͤnemark einen bedeutenden Kortfchriit gemacht;
es ift eine gefeglich geordnete Theilnahme der Bevölkerung an öffentlichen
Angelegenheiten entflanden, die man fonft nicht kannte, obgleich dieſe
Communalordnung ben befferen in den conftitutionellen beutfchen Staa⸗
ten, z. B. der babdifchen, nicht gleich, kommt. Durch die Veräffentlihung
der Verhandlungen und Belchlüffe der Gemeindebehörben und Vertreter
wird Kunde ber Verhältnifie und zugleich Gemeinfinn erweckt. In Beis
nen Gemeinden, beſonders der- Städte, hat man fogar Deffentlichkeit der
Verhandlungen eingeführt, in Kopenhagen. hat man fie mehrmals bean»
tragt, aber jedesmal iſt fie gefcheitert, befonder® an ber Oppofitton folcher
Männer, die früher nicht laut genug für Deffentlichkeit zu reden wuß«
Dänemark. 157
ten, wie bed Buͤrgermeiſters Algreen⸗Uſſing. Auch bie Deffentlichkeit
ber Staͤndeverſammlungen ift von biefen mehrmals beantragt worden,
aber die Regierung lehnt fie beharrlich ab. Die Veroͤffentlichung durch
eine fländifche Zeitung gefchiebt jegt vecht volftändig und raſch. Für
dieſe ftändifche Zeitung wurde aber eine Genfur eingeführt und dem Res
gierungscommiſſaͤr übertragen, da fonft rüdfichtlih der innern Angeles
genheiten in Dänemark Prepfreiheit herrfcht. Der bisherige Regierungss
commiffär hat freilich eine milde Cenſur geübt, hat aber dad) einige
Male, als über Verfaffungsangelegenheiten und internationale Fragen
zu freimüthig geredet ward, ben Drud verhindert, was große Unzuftie⸗
denbeit in den Verſammlungen hervorrief und einen ftändifchen Secretaͤr
veranlaßte, die Verſammlung ganz zu verlafien. Mit der bänifchen
Preßfreiheit ift es übrigens, wenn man die Sache genau anfieht, bod)
mißlich beſtelt. Das ftrenge abfolutiftifche Koͤnigegeſetz verbietet jeglis
hen Angriff gegen diefe Grundverfaſſung. Alſo bleibt eine gründliche
Discuſſion darüber fchon ausgefchloffen und es blieb felbft fraglich, ob,
als nody die Strusnfee’fche vollftändige Preßfreiheit beftand, ungeftraft
über die Grundverfaſſung des Reichs durfte gefchrieben werden. Diefe
dortreffliche Preßfreiheit ift aber ſpaͤter, namentlich durch das größere
Dreßgefeg von 1797 und einige kleinere Verfügungen gar gewaltig bes
ſchraͤnkt worden. Die eigentlichen politifhen Zeitungen, bie, welche über
bie Weltangelegenheiten und Ereigniſſe in den verfchiebenen Staaten bes
richten und abhandeln, fliehen unter Genfur, die übrigen, welche über
die innen Angelegenheiten bes dänifchen Staats, Wiffenfchaft, Kunft
u. ſ. w. fchreiben, dürfen ohne Gonceffion beftehen und ohne Genfur
erſcheinen, aber fie müflen ‚jedesmal vor ihrer Distribution einem Poli«
zeibeamten vorgelegt werden, der dann entiweber bie Erlaubniß zur Die:
tribution ertheilt oder die. Befchlagnahme verfügt. Erfolgt Befchlagnahs
me, fo wird ſolches der daͤniſchen Gunzlei gemeldet, bie dann weiter bes
ſtaͤtigt oder frei giebt. Beſtaͤtigt fie, fo muß gerichtliche Verhandlung
und Entfcheidung erfolgen, jedoch hat die Canzlei auch mehrfach die Ent»
ſcheidung über Beſchlagnahme den Gerichten entzogen, befonders wenn
es ſich darum handelte, ob ein Artikel als ein politifcher anzufehen fei
oder nicht. Erſt meulich ift auf vielfachen Widerſpruch angefehener
Männer eine Aenderung dahin getroffen, daß ‚die Entfcheidung den Ges
richtöbehörden anheim gegeben werben foll, wenn der Herausgeber eines
inbibirten Blattes dies verlangt. Bücher und Flugſchriften unterlagen
bisher gleichfalls der Genfur, wenn fie nicht über 24 Bogen ſtark wa⸗
ren, jegt iſt indeß die Aenderung getroffen, daß diejenigen, welche über 6
Bogen ſtark find, frei ausgegeben werden können. Die Preßgefege ver:
bängen theils Gefängnißftrafen, theils Geldftrafen, theils gilt auch die
Genfur als Strafe, indem ber Verfaffer des Buches oder ber Redacteur
eines Zeitblattes entweder auf gewifje Jahre oder auf Lebenszeit unter
Genfur geftellt wird. Die Regierung iſt der Preßfreiheit,, ſoweit fie nod)
befteht, nicht günftig, obgleich Chriftian VIE. bei feiner Thronbefteigung
erklärte, er fei ein Freund des Preſſe und wuͤnſche durch fis die Wahrs
var zu erfahren. Sin gleich nad) Einführung der betathinden Stände
Beabfichtigte fie dieferbe weiter zu befchränfen und wohl ganz aufzuheben.
. Da aber erhob ſich * Öffentliche Meinung fehe kräftig fuͤr die Preff⸗
„und es bildete fich eime grofie Preßfreiheitogeſellſchaft, welche anfangs eine
‚mehr confervative turg-hatte,, fpdter ſich aber mit Ausfcheidung des
confervativen Elements bem Kortfchritt zugelvandt hat und jege fortwaͤh⸗
rend nach größerer Preßfreiheit ſtrebt. Sie und der größere Theil des
Volkes, welcher mit ihr einverfländen iſt hat aber bisher nichte aus⸗
richten: können; bie Ständeverfammlungen, an melde man ſich wandte,
haben ſich freitich fuͤr die Preffreiheit erflder, jedoch bet Weitem Hit -
kraͤftig genug. Gigen ihren Rath aber hat die Regierung ‚noch dor mehr
teren Jahren eine Geſetzesverſchdrfung durchgeführt und in der lehten
Diaͤt, im Sept 1844, lt 2 —* einen Entwurf vor, wornach —*
die Prefifeeiheit alla tden follte, aber auch‘ nicht allein dit
—— periodiſcher Blätter gewaltig befchränft und fuͤr —*
ſten Vergehungen große Strafen feſtgeſetzt werben ſollten, wobei ed be⸗
ſonders igenthuͤmlich war, daß man die Regentenfamilie mie allen Ver⸗
weigungen bis wohl in's hundertſte Glied auf's Aengſtlichſte ——
Oeffentlichkeit zu ſchuͤzen ſuchte. Die Stände riethen dieſen €
ae ab; * man darf nicht erwarten, daß der neue —
die Regierung vorbereitet, viel freiſinniget ‚ausfallen mieb: Der Bi -
fehriften und Beitungen erfcheinen jegt viele. Beſonders beachtenswerth
darunter find vier; Collegialtidende (Eollegialzeitung), Berlinks Tidende
(Berling’fbe Zeitung), Fädrelandet (das Vaterland) und Kjoͤbenhavns⸗
poft (die Kopenhagener Poſt). Die Eokitglfittung wird von dem 'ges
heimm Staatsminiſter Derfteb herausgegeben und iſt als ein. vffitielles
Blatt -unzufehen: Die Berting’fhe Zeitung vertheidigt die Regierung,
erhält: volt: diefer umter der Hand Mittheilungen, ft halb efficiellz bie
andern: beiden find Oppoſitionsblaͤtter. Faͤdreland gehört hauptſaͤchlich Der
ſtandingviſchen · Partei an und vertritt vorzugsweiſe die nationalen Inter⸗
effen niit Wernachiäffigung / der conſtitutionellen, während Kibbenpaune,
mie diefe-in den Vorbergrund ſtellt.
Beſſer ficht es wiederum mit dem Finanzweſen. Da drangen die
Seinde, als ihnen das Dunkel ein wenig gelichtet ward, auf weitere -
Aufeikeung und drangen zugleih auf Debnung in der Finanzverwaltung
and. babeutende Arge irn fo fpectefker, je mehr fich ihre Einfiche:
erweiterte.” Ein recht ausfährliche® Budget und ein Verwaltungsbericht
ward auch gleich nach dem Megierungsantritt Chriftian’s VII. der Def⸗
fentlichteit übergeben und es wurden für die einzelnen und hauptſaͤchlich⸗
Poſte feſte Mormen angenommen; der König ſelbſt erklärte aber:
„mun- wollen wir ˖ Alle ſparen.“ Das Budget und die Sinanzberichte- find
auf Verlangen ber Stände jährlich vonftändiger geworden, aber bie Nor⸗
men find hinfichtlic, der Hauptfachen nicht inne gehalten, namentlic, find
die Ausgaben fürs Milltaͤrweſen fortwährend ſtark uͤberſchritten worden.
Deshalb haben die Stände immer von Neuem und immer emergifcher
= Wefpaeung Ben amd auf beffere Verwendung ber —
Dänemark. 159
Außer dem Militaͤrweſen haben fie befonders bie Givillifte und bie Apas
wagen, welche von dem Könige willkuͤrlich beilimmt worden, das Pen⸗
fions» und Gratialwefen fowie die Diplomatie zum Gegenftande ihrer
Rügen. gemacht, die bie jest aber wenig Beachtung gefunden haben.
Um das Penfionswefen zu regulicen, ift von der Regierung ein Geſetz⸗
atwurf ausgearbeitet worden, wobei aber der Wunfc zu fparen nicht
beräcfichtigt zu fein ſcheint, woneben auch noch das Gratialmefen, das
fa enorme Summen verfhlingt, wahrſcheinlich ferner fortbeftehen ſoll,
weshalb denn die Oppofitionspreffe nicht mit Unrecht meint, man folle
doch auch auf die drmeren Claſſen etwas Ruͤckſicht nehmen, auch diefen
einmal Fürforge zuwenden. Fuͤr die Melioration innerer Zuſtaͤnde, des
Ferſtweſens, des Aderbaues, des Fabrik⸗ und Gewerbeweſens, der Kuͤnſte
und. Wiſſenſchaften wird dabei Wenig aufgewendet; für Eiſenbahnen hat
Die Regierung fich intereffict, aber ducch Geldmittel fie wenig ‚gefördert
und kein durchgreifentes Syſtem angenommen und verfolgt, fo daß im
Herzogthum Holftein, wo nur durch Privatbetrieb die Eifenbahnen zu
Stande gelommen find, von Regierungswegen Feine nugbaren Eiſenbah⸗
. wem. angeregt, gefchweige denn hergeftellt worden find. Den Ständen
kann man allerdings zum Vorwurf machen, daß ſie biefe Amgelegenheiten
noch. nicht fpeciel genug zur Sprache gebracht haben. Wenn dennody
fig eine recht gute Bilanz im Finanzwefen zwifchen Einnahme und
Ausgabe herausgeftellt hat und jährlih fogar etwas von ber Staats⸗
ſchulb getilge ift, fo rührt dies daher, daß das Land in dem legten Jahr⸗
zebent fehr. gluͤckliche Conjuncturen gehabt hat, baß die Ernten gut gedie⸗
ben, die Productenpreife hoch fanden und. Viel ausgeführt wurde. Das
zus kommt feit 1838 eine große Mehreinnahme des Zollweſens aus den
Herzogthümern, welche trog dem, daß die Regierung fie den Herzogthuͤ⸗
mern allein in Ausfiche geftellt hat, in die gemeinfchaftlihe Staatscaſſe
floß. Dennoch bleibt die finanzielle Lage hoͤchſt bedenklih, und die Fi⸗
nanzpermaltung mangelhaft, fo daß, wenn einmal bie Gonjuncturen ums
ſchlagen und fchlechte Sabre eintreten folten, leicht Verlegenheiten ent:
ſtehen koͤnnen. Nach dem legten Sinanzbericht vom Jahr 1844 betrug
am 31. Decbr. des genannten Jahres bie Stuatsfhuld 110,750,306
Möthlr. 60 bß. Die Einnahme bes Jahres 17,522,962 Rbthlr. 80%
68... Die Ausgaben beliefen fi auf 16,362,793 MRbthlr. 784 bß., fo
daß ſich: alſo ein.Usberfhuß von 1,160,169 Mbthir. 2,% bß. heraus:
ſtellte Die Ausgaben für das koͤnigl. Haus betrugen 686,209 Rbthir.,
wozu noch kommen 271,871 Rothlr. 76 bß. für die Einige. Schloͤſſer
und an Apanagen 550,415 Rbthle. 32 bß. Der Ser - Militärs Etat
nahm weg 2,232,762 MRbthle. 544. bß. Der Land» MilitäesEtat die
Summe von 4,198,824 Rothlr. 24 bi. Die Diplomatie ober das
Departement der auswärtigen Angelegenbeitm 335,981 Rothlr. 45 bß.
Das Penſions⸗ und Gratialweſen 1,493,720 Rbthir. u. f. w.
Der finanzielle Zuftand zunddft, dann . aber eine dreartige Bewe⸗
gung in den Herzogthümern und das Vorbild, welches man in Norwe⸗
gen fah, vief endlich das Verlangen in Dänemark hervor nach einer
19Q Dänematf.
festen Staatöverfaffung, befonders als ber jegt regierende König, ber bie
normwegifche Verfaffung gegründet oder doc) befchworen hatte, den Thron
beſtieg. Deputationen des Volks erinnerten ihn gleich baram und fpäter,
als er von ber Krönung zu Sriedrichsturg nach Kopenhagen zurückkehrte,
auch die Communalrepräfentanten biefeer Stadt. Der König antwortete
ablehnend, die norwegifche Conflitution fei in der Eile gemacht, fie hätte
fonft auch beffer fein müffen, mas wohl nichts Anderes heißen kann als
ariftokratifcher, in Daͤnemark müffe man auf der Grundlage fortbauen,
welche ber hochfelige Vorgänger gelegt habe. Das Volk ſprach ſich
dann in Petitionen an die Ständeverfammiungen gleichfalls für eine
freiere Verfaſſung, befonders für das Steuerbewilligungsreht aus und
dieſe richteten desfallſige Anträge an die Regierung. Da flofien benn
aus ber Idee der Stantdeinheit der Derzogthümer mit Daͤnemark und
nad) dem Vorgange Preußens die Vorfchläge zur Einrichtung ſtaͤndiſcher
Ausfhüffe. Die dänifhen Stände nahmen fie an unter einigen Modi⸗
ficationen, aber die Stände der Herzogthuͤmer lehnten ab, weil fie fie
ungenügend erachteten, weil fie eine wirkliche Verfaffung begehrten muß⸗
ten und meil fie durch diefe Ausſchuͤſſe eine nicht zu münfchende Amals
gamirung mit Dänemark eingeleitet faben. Eben wegen bes Heranzie⸗
hens der Derzogthümer ‚nahmen aber hauptſaͤchlich die dänifchen Stände
an, verftanden ſich fogar dazu, daß menigften® einitweilen bei ben ges
meinfchaftlidhen Berathungen der Ausfchüfle die deutſche Spradye vor⸗
zugsmweife gebraucht werden folle. Wegen Ablehnung der Herzogthümer
ließ die Regierung das Proiect liegen und die Stünde haben audy die
Verfoffungsfrage feitdem nicht wieder zur Sprache gebracht. Sie wur:
den befonders von den nationalen Kragen in Anfprudy genommen und
verwidelten fi) damit auf eine üble Weife.
Das nationale Bewußtfein, melches mährend der legten Sahre bei
allen Völkern Europas mehr und mehr erwachte, erhob fih aud in
Dänemark, wo es theild als ein blos daͤniſches hervortrat, theils als ein
höheres ſtandinaviſches. Während die Regierung die Verbindung Düs
nemarks mit den drei Herzogthuͤmern aufrecht zu erhalten und allmälig
weiter auszubilden fuchte, dabei die Sonderheiten und Eigenthuͤmlichkei⸗
ten fchonte, nur dir Entwidelung und Ausbreitung der dünifchen
Sprache im Herzegthum Schleswig etwas Vorſchub leiftete, wofür wohl
die perfönlichen Enmpathien des Königs entfhieten, der bei feiner
Thronbeſteigung erflärte, er fei mit Leib und Seete Däne, verlangten
die nationalen Parteien im Volle ernftlihe Maßnahmen zu näherer
Berbindung der Herzogihümer mit Dänemark, befonders des Herzogthums
Schleswig, das man als ein Pertinenz Dänemarks betrachte, und for:
derten hier zuvörderft Gleichſtellung der dänischen Sprache mit der deut:
[hen in allen Öffentlihen Angelegenheiten, befonders auch in der ſchles⸗
wigfchen Ständeverfammlung, verlangten deshalb felbft Gewaltmaßregeln
gegen die Bewohner jener Lande. Nachdem ſchon die beiden dinifchen
Ständeverfammlungen des Jahres 1842 ſich in biefer Nichtung ausges
fprochen hatten, nahmen fie diefe ragen in ihrer Diät von 1844
Dänemark. 161
bar auf. Zuerſt beichloß die jütländifche Stänbeverfammlung zu Viborg
Anträge, bie fidy auf die dänifche Nationalitdt in Schleswig und bie
Seaatseinheit bezogen. Hier dämpfte noch etwas ber koͤnigliche Com⸗
miſſerius Conferenzrath Derfied. In der Ständeverfammlung für bie
daͤniſchen Inſeln zu Rothſchild trat man noch viel beftimmter hervor.
je fette der Kopenhagener Bürgermeifter Algreen:Uffing den Antrag,
ie Megierung declariren folle, die Herzogthümer und Dänemark
Akten eine Staatseinheit und die Staatserbfolge ſei in allen Staats:
teten diefelbe. Zu gleicher Zeit forderte er, daß die Regierung biefe
on mit Gewalt aufrecht erhalten und den Einwohnern der Her⸗
ee namentlich die Discuffion darüber verbieten folle Bier ers
fich ber koͤnigliche Commiſſarius beifälig und be&halb erregie bie
Seche ein auferordentliches Auffehen und eine energiſche Gegenerfiärung
von Seiten des Volks der Herzogthümer und ber eben noch tagenden
belkeinifchen Staͤndeverſammiung. Dan ift jegt eben (Anfang Juli
1846) ſehr gefpannt auf die Antwort, welche die Regierung ben naͤchſtens
zaſammentretenden Ständeverfammlungen des Königreichd wie ber Herzog:
thämer geben wird. Wahrfcheinlich wird fie beſchwichtigend und hinausfchies
hend Lauten ; bamit wird aber die Sache nicht abgethan fein, vielmehr werden
de Ständeverfammlungen auf beiden Seiten fie meiter führen, und na⸗
mentlich werden wahrfcheinlich die Stände der Herzogthuͤmer Beſchluͤſſe
faſſen, welche bie Selbftitändigkeit jener Lande, die ftaatliche Einheit
Schleswigs und Holfteins und die deutſche Nationalität ſicher zu flellen
und meiter zu entwickeln geeignet find. Diefe Internationalen und nas
tionalen Fragen bewegen jest auch auf beiden Seiten die Bevoͤlkerung;
in Daͤnemark aber machen fich deshalb befonders zwei Parteien bemerks
lich, die wir etwas näher in's Auge faffen müffen.
Die beiden Parteien haben wir ſchon bemerklich gemacht als bie
bänifche und die flandinavifhe. Die daͤniſch⸗ nationale Partei ifl
einem Geiſtesverkehr mit den beiden andern ſkandinaviſchen Reichen. nicht
abgeneigt, will aber mehrentheils nichts von einer politifhen Annäherung,
die zur Einheit führen Eönnte, wiffen, fondern den status quo in Däns-
mark aufrecht erhalten, in der Weife, daß die Erbfolge in Dänemark
und den drei Herzogthümern ſich gleich fei, daß die Herzogthuͤmer fo
viel thunlich in ihren Verhältniffen dem Rönigreiche. angenaͤhert, übers
haupt beide Theile mit einander möglichft verfehmolzen werben, daß dabei
feeilih mit Ruͤckſicht verfahren, aber befonders die Nationalität in
Schleswig kraͤftig gepflegt und gefördert werde. Die daͤniſche Partei
fieht das Verhaͤltniß zum deutfchen Bunde fo an, daß ber König von
Dänemark nur als folder für diefe Herzogthümer dem deutfchen Bunde
beigetreten fei. Mit ihr ift die Regierung im Allgemeinen wohl einver
fanden. Die national: flandinavifhe Partei ftimmt auch in ſoweit
mit ihr überein, daß fie gleiche Erbfolge und Förderung ber dänifchen
Nationalität in Schleswig will, fie erkennt aber ein näheres Bundes:
verhältnig Holfteins und Lauenburg an, und will, daß biefe beiden
Herzogthuͤmer eine befondere Verwaltung, auch eine befondere Verfaffung
Suppi. 3. Staatslex. II. WA
163 Dänemark.
erhalten follen, jedoch unbeſchadet des finanziellen Nutzens, ben Dänes
mark aus ihnen zieht. Dagegen will fie Schleswig Dänemark ganz
einverleibt wiffen, Dänemark foll bis zur Eider gehen, will Schleswig
zu dem Act der einftigen Vereinigung Dänemarks mit den beiden ans
dern flandinavifhen Reichen als Meorgengabe mitbringen. Um das
Herzogthum Schleswig zu danificen, haben beide Parteien gemeinfam
verſchiedene Vereine geftiftet, die durch Wort und Geld wirkfam find,
aber bis jest faſt gar nichts ausgerichtet haben. Diefe flanbinavifche
Bereinigung befteht bis jegt nur noch in der Idee, wird jest allerdings
viel befprochen, hauptſaͤchlich aber audy nur befprohen. Man hat in
Daͤnemark wie in den beiden andern Reichen fandinavifche Geſell⸗
ſchaften gebildet, die jedoch vorzugsweife nur freundfchaftlichen Verkehr
der Einwohner und literarifche Beziehungen zum Zwecke haben. Im
Hintergrunde ruht allerdings auch ein politifcher Iwed, indem man
gleichfalls eine ſtaatliche Annäherung will. Diefe denkt man ſich mehren:
theils als eine Föderation zwifchen den drei Reichen nad) Art des beuts
[hen Bundes, jedoch mit mehr vollschümlihen und demokratiſchen
Formen, fo baß neben dem Kürftenbund ein Voͤlkerbund entſtaͤnde, repraͤ⸗
fentirt duch ein ſkandinaviſches Parlament, wie «6 fchon die freien
Verfoffungen Norwegens und Schwedens mit Notwendigkeit erheifchen-
Daß disfe Idee an ſich recht fchön iſt, wird wohl kein Verſtaͤndiger in
Abrede ftellen, aber die ſtandinaviſche Partei in Dänemark fcheint dabei
außer Acht zu laffen, daß fie erſt dann realifirt werden kann, wenn Daͤ⸗
nemark zu einer freien Staatsverfaffung gelangt ift, ſcheint nicht zu bes
achten, daß es nie gelingen kann und wird, Schleswig unter Einer
Staatsverfaffung mit Dänemark zu vereinigen; fie fheint Überhaupt
noch nicht Refignation genug zu befigen, fondern von einem, man möchte fagen,
provinziellen Eigenduͤnkel befeelt zu fein, der fehr aͤngſtlich beforgt iſt, daß
Dänemark an fidy nicht bedeutend genug fei, ſich in der ffandinavifchen
Union geltend zu machen oder lieber zu prädominiren. Würde bdiefe
Partei, die übrigens immer mehr Anhänger in Dänemark gewinnt und
auch mehr und mehr zu einer größeren Klarheit gelangt, ſchon jet von
politifcher Klugheit geleitet, fo tmoürde fie ſich nicht um Schleswig kuͤm⸗
mern, fondern würde vor allen Dingen nad) einer conftitutionellen Ver:
faffung in Dänemark fireben und erkennen, daß gegenfeitige Freund:
[haft und Allianz ſowohl im Intereſſe Standinaviens als Deutfchlande
liege. Mir wollen hoffen, daß fie bald zu diefer Einfiht und dem ent⸗
ſprechenden Streben gelange.
Einer conftitutionellen Entwidelung in Dänemark ftehen aber auch
die ariftofratifhen Einrichtungen und Zendenzen noch entgegen. Man
hat in Dänemark wohl, gegenüber den Schleswig: Holfteinern, behauptet,
daß man feit Einführung der Abfolutherrfchaft Feine Ariftofratie habe,
weil man Fein gefchloffenes privilegirtes Corps hat, wie die fchleswig-
holſteiniſche Ritterſchaft iſt. Aber diefe Behauptung ift im Grunde
ganz nichtig. Zwar wurde die damals mächtige Ariſtokratie in Däne:
mars durch Einführung der Abfolutherrfchaft gaͤnzlich gebrochen, allein
Dänemark. 163
Die Abfolutherrfchaft ſchuf eine neue Ariftofratie, ihr unterthänig und
ihr dienend. Die jet in Dänemark beftehenden 19 Kehensgraffchaften
und 13 oder 14 Sreiberrichaften find alle nad; Einführung der Abfos
lutherrſchaft gegründet und von ben abfoluten Königen creirtz einige
noch in neuefler Zeit, nachdem fchon in der jütländifchen Ständevers
femmiung der Wunſch laut geworden war, der König möge doch von
fernerer Creirung abflehen. Die Lehnsgrafen und Freiherren genießen
befondere Vorrechte und werden im Hof⸗ und Staatsdienft unleugbar
bevorzugt. Ste wünfchen, mit wenigen ehrenwertben Ausnahmen, keine
Anderung des Zuſtandes, worin fie ſich mohl fühlen, wenn auch nicht
die Bauern auf ihren Gütern. Diefe ftreben jest, nachdem unter der
Regierung Chriſtian's VII. und Friedrich's VL die Seffeln der Leib⸗
eigenfchaft gebrochen mworben und fie der Bildung zugeführt find, nad)
Eigenthum und Selbftftändigkeit, die ihnen früher genommen worden,
befonders nody umter dem abfoluten Könige Chriftian V., worüber man
m Dahlmann’s „Sefhichte von Dänemark”, Bd. 3. unter der Uebers
ſchrift: „Der Bauern Untergang” erbaulihe Dinge lefen kann. Einige
Sutsherrfchaften, wie namentlich der humane Graf Knuth, haben die
billigem Wünfche der Bauern erhört und ihnen ihre Befigungen in Eis
genthum verwandelt gegen eine fefte Abgabe, während andere fie barſch
zurüdgewiefen haben und ben Freunden des Bauernftand:s in der Stän-
deverfammiung in hochariftoßratifcher Weife entgegentraten. Gegen bie
Bauernbewegung erließ im legten Jahre die bänifche Kanzlei ein Verbot
ber Berfammlungen, aber die Bewegung gewann nuraninnerer Energie, und
der König, dem vielfeitigen Anbringen nachgebend, hob das Verbot wieder
auf. Die Bauern haben verfchiedene Vereine geftiftet, theils um ihre
Angelegenheiten getrennt von denen der Gutsherrſchaften zu halten, theile
fogar um durch Geldbeiträge privilegirte Güter anzulaufen und zu zer
ſtuͤckeln. Beſonders einflugreich dürfte werden „die Gefellfehaft der Bauern»
freunde” , da hier politifc) freifinnige und gebildete Männer an der Spitze
fliehen und die Gefellfhaft wohl fchon 4000 Mitglieder zähle. Es ift
mehr als mwahrfcheinlich, bag in der nächften Ständeverfammlung dieſe
Berhältniffe wieder zuc Sprache kommen und von Neuem Anträge
gegen die Privilegien der Graffchaften und Baronieen und beſonders
Deren Vermehrung gemacht werden. Wohin endlich der Sieg hier in
dem Kampfe zwiſchen Demokratie uud Ariſtokratie fallen wird, kann nicht
zweifelhaft fein.
Schlimm ift es, daß es Dinemark in der gegenwärtigen gaͤhren⸗
den Periode an großen Staatsmännern fehlt, wie der geniale Struenſee
war und der weile Bernflorff, ja an recht tuͤchtigen Charakteren übers
haupt. In dem Dinifterium dänifchen Theils ragen hervor: Stemann
und Derfted. Erfterer ift ein Mann wohl über 80 Jahre alt, voll
Energie, aber durchaus abſolutiſtiſch gefinnt und nit im Stande, den
Geiſt und die Bewegung diefer Zeit mehr zu begreifen. Derſted befigt
ein außerordentlich ausgebreitetes MWiffen und einen humanen Willen,
aber ihm fehle zu einem bedeutenden Staatsmanne die Energie und das
iL*
164 | Dänemark.
plaftiiche Talent. Daher hat er den Erwartungen, welche man von ihm
begte, als die provinzialflänbdifcdye Inſtitution in's Leben trat, nicht
entfprochen, ift jest, auch fhon vom Alter gefhwächt, mit Verluſt
feiner Popularität als Eönigl. Commiſſarius, ohne ein bleibendes Werk
gegründet su haben, abgetreten und hat dem Etatsrath Bang Plag ges
macht. Daß diefer den Anforderungen genügen werde, wagen wir zu
bezweifeln. Während feiner Wirkfamkeit in der Ständeverfammlung
haben wir nichts Ausgezeidmetes an ihm bemerkt; Kunde der Verhäftnifie
iſt ihm nicht abzuſprechen, audy wird er wohl einen Schritt weiter gehen
als Derfled, Hat fidy aber durch feindfelige Aeußerungen gegen die Ans
fprücye der Herzogthämer ſchon in eine fchiefe Stellung gebracht und
wird fich wahrfcheinlidy ernfllichen und conftitutioneflen Beſtrebungen
opponiren. Unter andern öffentlihen Charakteren traten früher mit
einem gewiſſen Eclat hervor: Algreen:Uffing und Prof. David; aber fie
haben fi mit ber Regierung ausgeglichen und fcheinen jegt von frühes
ven Sreiheitsbeftrebungen gänzlih zu abftrahiren. Die übrigen und
jegigen Vorkaͤmpfer der Freiheit haben in den Gtänbeverfamm:
lungen nody nicht Anfehen genug. Unter ihnen wird am häufigften ber
Adv. Lehmann genannt, en Mann von Talent, befonders von Beredt⸗
ſamkeit; aber er hat als Abgeordneter eigentlich noch nichts für die
conflitutionelle Frage gethan und hat fid, in der Öffentlichen Meinung
damit ein fatales Dementi gegeben, daß er ſich anfangs weigerte, dem
abfofuten dominiam den Homagialeid als Advocat zu leiten, jedoch voͤllig
in ben Sinn und Willen der Regierung einging, als bdiefe ihm deshalb
die Advocatenbeftallung vorenthieltl. Kür einen Webelftand in Dänemark
müfjen wir das Ordens: und Titelweſen halten, das hier wie in den
drei Herzogthuͤmern in feltener Blüthe fteht. Alle, welche mit einem
Orden oder Titel begnadigt werden, treten in ber Rangordnung eine
Stufe höher ale andere ehrliche Leute, was der Eitelfeit, die man uns
hier im Norden wohl nicht mit Unrecht zu den Fehlern fohreibt, immer
neue Nahrung giebt, und leitet nicht felten gar Öffentliche Charaktere von
ihrer Bahn. In der öffentlihen Meinung hat e8 bereits einen bedeu⸗
tenden Stoß erlitten und fcheint immer mehr zu fallen, je weiter es ſich
ausdehnt; eine Reform wäre auch da fehr heilfam.
So fteht nun Dänemark da am Vorabend des Tages, wo feine
beiden berathenden Ständeverfammlungen und zugleich die Ständever-
fammlungen Schleswig - Hoifteins fi) zum fechften Male verfammeln.
Daß diefe bedeutende Schritte thun, Erhebliches leiften werden, wagen
wir nicht zu hoffen; aber etwas meiter werden und müffen fie unfere
Zuftände führen. Unendlidy viel weiter wären Dänemark und Schles⸗
wig=Holftein, wenn Friedrich VI. jedem gleich eine conftitutionelle Ver:
faffung gegeben hätte, ftatt biefer Stänbeinftitution; hoͤchſt erfreulich
aber wäre es, wenn Chriftian VIIT., der ohne Frage feine Mäthe weit
überfieht, der fiebenten Verſammlung, die zufammentritt, nachdem das
Volt neue Wahl geibt hat, den Entwurf einer folhen Verfaſſung vor:
l
Dänemarf. oo. 165
und bamıit weiteren Wirren vorbeugte, aber den Grund legte zum
2 Glaͤck feiner Voͤlker. Hanſen.
Auch wir find der völligen Ueberzeugung, daß die daͤniſche Regie⸗
zung nichts Weiſeres hätte thun koͤnnen, als daß fie, bei dem Wieder⸗
wachen des Wunſches und Bedürfniffes freier Verfafſungsrechte, diefels
ben großherzig und vollftänbig erfüllte. Daß fie es nicht that, dieſes
bet ihre die unangenehmſten innern Kämpfe, nicht blos des Volks
mit der Regierungspolitik, fondern der verfchiebenen Provinzen des
Geaates unter einander und bie größten Gefahren für den Fortbeſtand
des Reiches und die Erhaltung diefer Provinzen bereitet.
Bekanntlih, und wie in bem Artikel Holftein, Schleswig»
Holſtein gmauer ausgeführt werden wird, fieht man voraus, daß der
ge Kronprinz von Dänemark keine Nachkommen erhalten und
mit ihm der Mannsſtamm des Könige von Dänemark und Herzogs von
Schleowig⸗ Holftein Chriftians L von Oldenburg, erlöfchen wird.
Dadurch würden nad) den verfchiedenen Succeffionsgefegen bed Koͤ⸗
nigreichs Dänemark (der lex regia) und nad denen von Schleswig
und Holftein (dem auf frühere Rechte und Verträge begründeten gro»
Gen Freiheitsbrief Chriftians I.) ſowie auch nach den befonderen Suc⸗
esffions-Befegen des Herzogthums Lauenburg für diefe dreierlei verſchie⸗
Denen Beftandtheile ber jegigen dänifchen Monarchie dreierlei verfchiebene
Gucceffionen eintreten. Sehr natürlich ift nun der Wunſch des Könige
wie der däntfchen Provinzialftände, die Abtrennung der Herzogthümer
Schleswig Holftein und Lauenburg oder die Zerftüdelung der Monar:
„hie zu verhindern. Aber die Bemühung, durch gewaltfame Danifirung
Diefer Provinzen, allernächft Schleswigs, und durch gemwaltfame Unter:
drädung der befonderen verfafiungsmäßigen Succeffionsrechte dieſer
Provinzen und durch ihre gewaltfame KEinverleibung mit Daͤnemark
dieſen Zweck zu erreichen, diefes verlegt und beleidigt nicht blos die rechts
mäßigen Succefforen und bie Bürger und Stände diefer Länder, fondern
es verlegt die ganze deutſche Nation, die befanntlich Thon durch die Or⸗
gane verſchiedener Ständeverfammlungen und andere Öffentliche Volks⸗
demonftrationen ihre Gefinnungen zu Gunſten ihrer deutfchen Bruder:
flämme und ihrer innigen Verbindung mit Deutfchland ausdrüdkte.
Wie viel näher hätte nun auf ruhmvollerem und glüdlicherem
Wege die dänifche Negierungspolitit ihrem Diele kommen koͤnnen, wenn
fie nad) jener erwachten Sreiheitsliebe, flatt fic) an die deutfche Reactions⸗
politit von 1819 anzuſchließen, in einer Zeit, wo die Schleswig s Hol:
fleiner ſich wenig zu Deutfchland hingezogen fühlten, aͤhnlich der belgi⸗
ſchen und holländifhen Verfaflung, ihrem ganzen Reiche neben berathen-
den Provinzialftänden für die einzelnen Theile, eine wahrhaft freifinnige
Reichsverfaſſung gemährt hätte. Die deutfhen Provinzen Luremburg
und Limburg, Lothringen und Elſaß haben leider ihren Zuſam⸗
menhang mit Deutfchland der Freiheit ihrer größeren politifchen Vereine
166 Dei gratia. — Deutfchlands Stämme.
zum Opfer gebracht. War es denn nicht möglich, im einer Zeit, wo bie
Deutichen eben erft in Holftein als Fremde geftanden waren, um dem
Königreich Dänemark Norwegen zu rauben, und mo dann der deutſche
Bund die Herzogthümer SchleswigsHolftein duch die Beraubung ihrer
fräheren Preßfreiheit tief Eränkte und in Deutfchland aller Auffchwung
deutfcher Nationalität und Freiheit erloſchen fchien, mar es jegt nicht
möglich, die beutfchen Herzogthämer durch die gewährte gemeinfchaftlich
erhebenbe reichsftändifche Freiheit für die dauernde Vereinigung mit der
dänifhen Monarchie und für freie verfaffungsmäßige Regulirung der
Erbfolge durch Regierung und Reicheftände zu gewinnen! Diefer günftige
Moment ift durch die unfelige Sreiheitsfurcht für immer verloren. Die
Erbitterung in den Herzogthämern waͤchſt fortdauernd, zumal feit dem
töniglichen Patent vom 8. Juli 1846, welches bereit8 Lauenburg
und Schleswig Dänemark incorporiet, die Incorporation von Hol:
kein in Ausficht flellt und das verfaffungsmäßige Band Schleswigs
mit Holftein, worauf beide und ganz Deutfchland mit Recht fo großen
Werth legen, zwar nicht den Worten, wohl aber der That nad) zerreißt.
Die durch die gereigte Stimmung ber Herzogthümer unfehlbar hervor⸗
gerufenen Gegenmaßregeln und Gegendußerungen von Seiten der bänis
fhen Regierung und der daͤniſchen Drgane der äffentlihen Meinung
gegen bie fchleswig=holfteinifhe und die bdeutfche öffentliche Meinung,
fie werben das Uebel nur vermehren. Doc eine genauere Darftellung
und Betrachtung der Verhäftniffe wird der Artikel Holftein, Schles-
wig-Holſtein liefern.
Möchte es doch endlich allermärts klar werben, daß, zumal in einer
Zeit, wo, tie in der unfrigen, die Freiheit zum erkannten Lebensbe⸗
duͤrfniß fir die Völker geworden ift, die Regierungen durch Freiheitsfurcht
ihre Kraft und Eriftenz gefährden! C. Welder.
Dei gratia, von Gottes Gnaden. Die Beweiſe, wie
wenig in den deutfhen, überhaupt in den germanifchen Staaten jemals
eine wirklich theofratifche Bedeutung des „von Gottes Önaden’
zur Herrfchaft Eommen und die alten Vertragsgrundfäge befiegen oder
wohl gar hätte verdrängen Einnen f. in ben Artikeln Deutfhe Ge:
[hihte, Deutfhes Landesftaatsreht und Grundvertrag.
C. Welder.
Deutfhlands Stämme. Ferdinand Heinrich Müller be:
flimmt in erften Zheile feines umfaffenden Werkes über die deutfchen
Stämme bie heutigen Wohnfige derfelben ungefähr folgendermaßen:
In dem nordiweftlichen Niederdeutfchland zeigt ſich ein gemeinfamer
großer Sprachſtamm verbreitet, welcher aus den Umgebungen von Göt:
tingen und Duderſtadt an der obern Leine im Eichsfeld, und von dem
Thale der Diemel auf der Weftfeite der Wefer — an diefem Strome
hinab bis zum Meere, und jenfeits des Harzes von der Elbe an bie zum
Deltalande des Rheins hinuberreicht und fi) dann aud) über die Ge:
biete auf der Dftfeite der untern Elbe ausgedehnt hut. Es ift dies die
Sprache der Sachſen, das Niederdeutfche oder der niederfächfifche Dialekt
Deutſchlands Stämme. 167
der ſpaͤtern Zeit, woran ſich das Friefifche und die Sprache ber jüngern
Holländer eng anfchließt, forwie das Englifhe und Skandinaviſche noch
Immer feine alte Verwandtfchaft mit demfelben beurkundet.
Aber über das ganze Oberland von Deutfchland zeigt fid) eine ans
dere Sprache verbreitet, deren verfchiedene Dialekte ſich zwar alle einans
der näher ſtehen, jedoch auch hier noch ftreng von einander geſchiedene
und fcharf abgegrenzte Sprachgebiete bilden. Denn von dem Heflifchen
an fübwärts über den Main hinaus bis gegen Karlsruhe und Stuttgart
bin findet fih der fraͤnkiſche Sprachſtamm verbreitet, welcher auf das
Gebiet der deutfchen Kranken des Mittelalters hirfweifet und von Oſten
nah Welten, von Bamberg bis nad) Köln und Trier über den Rhein
hinausreicht. Auf der Oſtſeite diefer fraͤnkiſchen Mundart folgt die zweite
mitteldeutfhe Mundart zwifchen dem Xchüringerwald und dem Harz,
oder die Sprache ber Thüringer, welche unferer Schriftfprache fehr nahe
ſteht. Bon der Werra reichte fie anfangs nur bis zue Saale, dem Grenz
fluffe der Thüringer gegen bie Slaven, hat ſich aber nach Unterjodhung
der Leptern weiter nach Oſten ausgebehnt über das heutige Sadıfen und
einen Theil der brandenburgifhen Marken, mo ihr der Einfluß der
niederſaͤchſiſchen Sprache entgegengetreten if. Suͤdwaͤrts folgen fobann
bie beiden oberdeutfchen Dialekte. Denn von dem Thale der Murg und
von dem mittleren Nedar breitet fih am Rhein aufmdrts bis in bie
Hochthaͤler der Alpen die ſchwaͤbiſche oder alemannifhe Mundart aus,
deren Raute von Straßburg im Eifaß bis nach Augsburg am Lech ver:
nommen werben, und hinter diefem Sprachgebiet ber Schwaben folgt in
weiter Verbreitung die Volksſprache der Baiern, die von Augsburg und
Münden an der Donau abwärts bis nach Wien ſich erftcedt und vom
Sichtelgebirg und Böhmerwald aus der Oberpfalz fid) bis an das Alpen:
land von Tyrol hineinzieht.
Mit dieſer Darftellung unferes ausgezeichneten Ethnographen,
welcher wir in der Hauptſache gefolgt find, ſtimmen fämmtlidye neuere
Korfcher wefentlich überein. Zur Vergleihung möchten wie jedoch Dr.
Carl Bernhardi's Sprachkarte von Deutfchland empfehlen, obgleich dies
felbe hauptſaͤchlich nur die Begrenzung gegen das Ausland ſowie des Nieders
Deutfchen gegen das Oberdeutſche im Auge hat. In dem Vorworte der feiner
Karte beigegebenen Erläuterung wirft er die Frage auf: „Ob fih aus
den gegenwärtigen Sprachverhaͤltniſſen ber Völker und namentlid aus
der DBerfchiedenheit dee Mundarten des deutſchen Volkes, ſoweit biefelben
noch heutigen Tages raͤumlich abgegrenzt beftehen, ein Schluß auf bie
urfprünglihen Stammverhältmiffe ziehen, oder doch mindeftens ein
Hilfsbeweis für Forichungen über die Urgefchichte Deutfchlande gewin⸗
nen laſſe.“ Diefe Frage mird man unbedingt bejahen dürfen, wenn
man erwägt, daß die heutigen Sprachgrenzen im Wefentlihen mit ben
kirchlichen intheilungen des Mittelalters zujammenfallen, dieſe aber
beim Deangel aller wiffenfhaftlihen Geographie in jener Zeit nicht
anders als auf volksthuͤmliche Verfchiedenheiten begründet werden konnten,
auf denen auch ſchon aus Altefter Zeit die Abfonderung in ſelbſtſtaͤndige
188 Deutſchlands Stätte,
Gaue beruhte. Der Umfang der Gaue, wie er durch Vergleihung einer
zahllofen Maſſe von Urkunden aus ber Zeit der erflen deutſchen Kaiſer
wenigfiens für die wichtigern berfelben feſtgeſtellt ift, flimmt aber wie:
berum mit der Lage der Landftriche zufammen, welche bie römifchen und
griechiſchen Schriftfteller, insbefondere Caͤſar, Tacitus, Plinius, Strabo, Dio
Gaffius u. f. w. den einzelnen Bleinen deutfchen Voͤlkerſchaften anweifen.
An dem Aufßerft verbienftvollen Werke des Kaspar Zeuß über die Deuts
fhen und ihre Nachbarſtaͤmme find alle hierher gehörigen Stellen woͤrt⸗
ich in der Urſprache abgedruckt, wodurch Sreunde der deutfchen Volks:
gefchichte mit geringen Koften in den Stand gefegt werden, felbftftändige
Sorfehungen anzuftellen. Die Uebereinflimmung ber kirchlichen Eins
theilung und der Gaubegrenzungen mit benen ber deutſchen Urvoͤlker
bat für die Stammlande unferer Vorfahren hauptfächlic Leopold von
Lebebur in der Schrift „Das Land und Volt der Bructerer” nachge⸗
wiefen. Für die Schweiz find Albert Schott's Arbeiten von Intereſſe.
Den Einfluß der Bodenformen Deutfchlands auf bie gefchichtliche Ent-
widelung der einzelnen Stämme behandelt Mendelfohn’s „Germaniſches
Europa” mit Geift und Sachkenntniß. An Vollſtaͤndigkeit behauptet
jedoch das fehon genannte Wert von Kerdinand Müller bie erfte Stelle,
auf ihn muͤſſen wir daher Diejenigen befonders verweifen, welche eine
genauere Kenntniß alles deffen erlangen wollen, was in Bezug auf jeden
einzelnen Punkt der deutfchen Ethnographie bis jetzt geleiftet worden
if. Es finder ſich daſelbſt auch die betreffende Literatur immer voll-
fländig aufgeführt.
Mas uns betrifft, fo koͤnnen wir bier nur die mwichtigften Refultate
ſaͤmmtlicher Forſchungen, foweit fie uns als mohlbegründet erfcheinen,
anführen.
Aus der Vergleihung der Sprachen und des Goͤtterglaubens ergiebt
fi) als erfte, unumftößlihe Thatfache, daß fich von dem Alpengebirge
bes Himalaya an in nordmeftliher Richtung dem Hindu-kuſch entlang
zu beiden Seiten des Kaufafus, des Laspifchen und fchwarzen Meeres,
bis in das Herz von Europa eine große Völkerfamilie zieht, welche man
erft die indo=germanifche, dann die indo=europäifche, jest aber Die
arifche oder biblifch die japhetifche zu nennen pflegt. Zu bderfelben ge:
hören folgende Völker: Die Bramanen, die Eroberer Indiens, melche
jegt noch als erfte Kafte die unterworfenen Etämme malapyifcher, mon:
golifcher und negerartiger Race beherrfhen; zweitens die Iranen,
wozu die Meder, Perfer, Afghanen und die DOffeten im Kaukafus ge:
hören; ob drittens die Armenier, Georgier und Tſcherkeſſen vollftändig
hierher gerechnet werben dürfen und nicht vielmehr die Erfteren zu ben
ihnen füdmweftlih wohnenden Semiten, die Letztern zu dem finnifchmon-
golifhen Stamme, ben Ferdinand Müller in feinem fie befchreibenden
geoßen Werke die Ugern nennt, möge dahingeftellt bleiben. Dagegen
bilden die Wenden, im altdeutfchen Sinne für Slaven und Fetten ge:
nommen, unzmeifelhaft ein weiteres Glied der urifchen Familie; der
Hauptſtamm derfelben ift aber im Norden der Alpen ber germanifche,
r
Deutſchlands Stämme. 168
im üben derſelben der pelasgifche, welcher die alten Dacier, Ihracier,
fo wie bie Albanefen, Wallahen, Griechen und Römer umfaßt. Der
weftlichſte Zweig der Andos Europäer find die Kelten auf den britifchen
Inſeln, in Frankreich, in der Lombardei und in Sraubündten. Im
Gädweiten diefer weit hingeſtreckten Reiche gleichartiger Völker wohnt
eine andere große Kamilie, die der Semiten, als beren Stammvolt
wohl die Araber angefehen werben dürfen und zu welcher die Phönizier,
Syrer und die Juden zu rechnen find. Im Norboften find die Japhe⸗
"Pen von den ugriſch⸗mongoliſchen Völkern umgeben, als deren Zweige
bie Zataren, wozu die Türken und Turkomannen gehören, bie eigents
Uchen Mongolen mit den Kalmüden, ſowie die Zinnen und Ungarn
und die oͤſtlichen Stämme des Kaukaſus erfcheinen. Ob die Basen,
bie reinen Abkömmlinge ber alten Sberen und Liguren, in Verwandt:
ſchaftsverhaͤltniſſen zu den altfinnifchen Völkern flehen, von denen fie
dercch die Stürme der arifhen Völkerwanderung getrennt worben fein
Zönnten, oder 06 fie vielleicht der chamitifchen (abyſſiniſch⸗ berberifchen)
Familie Nordafrika's angehören möchten, oder eine felbftftändige Familie
bilden, iſt zur Zeit noch nicht zu entfcheiden. Daß dieſe großen
Stämme an ihren Berührungspuntten ſich mannichfach gemifcht und das
durch Veranlaffung zu Uebergangsvölkern gegeben haben müffen, liegt
in der Natur der Sache; vorzüglich fand dies unter ben Aren ſelbſt
ftatt, fo lange fie noch auf ihrer weiten Wanderung durch Zufall und
Kriegsgluͤck durcheinander geworfen wurden.
Die Zeit der großen Wanderung möchte ſich dereinft aus indifchen
Duellen annäherungsroeife beftimmen laſſen; der Ausgangspunkt ift zwei⸗
Telsohne der Hindustufh, der Gebirgsknoten an den Grenzen von
Zuran, Scan, Indien und der Mongolei. Bon bier zogen nad) Indiz
fen Sagen bie Bramanen füdlih, andere Stämme norbmeftlich.
Letztere müflen fich bei ihrem alfmäligen Weiterbewegen am Easpifchen
Meere getrennt und dadurch den Grund zu einer zweiten XTheilung ge:
geben haben. Nörblich in die Ebenen Sarmatiens, Deuiſchlands und
Frankreichs zogen Kelten und Germanen, erftere als die Vorhut Diefer
Bewegung und fhon getheilt in die beiden Hauptvoͤlker Galen und
Kymmern. Ob die Staven Beiden vorhergegangen oder nachgefolgt,
unterliegt zwar nody manchem Zweifel, doch läßt fi) aus ihrer ſtark an
die Mongolen erinnernden Körper: und Gemuͤthsbildung fchließen, daß
fie e8 geweſen, welche ſich zuerft und hauptſaͤchlich mit denfelben ge:
mifcht, beziehungsmeife die Sinnen nad) Nordrußland und in den Kaus
tafus verdrängt haben. Bei den Staven finden wir feſte Anfiedelungen,
Städte und Dandelsverkehr zu einer Zeit, wo die Germanen noch im
vollen unftdten Schwabenthum ber heutigen Kirgifen verhareten. Bei
diefer Gelegenheit fei es bemerkt, daß ſich unter Letztern noch eine
Menge rothhaarig⸗blauaͤugiger Geftalten befinden, nicht meniger ale
unter den Tuͤrken, welche bekanntlich in den nördlichen Verzweigungen
bes Hindu⸗kuſch ihre Stammfise haben.
Zur Beit als die Germanen auf dem Schauplag der Gefchichte in
mw Deutſchlands Stämme,
den Flächen Norddeutſchlands auftraten, waren fie im Süden und
Welten von Kelten, im Oſten von Slaven umgeben, fchweiften theils
weife jedod) noch mitten unter biefen, und zwar in dem Ländergebiet
längs des Nordabhange der Karpathen und des Rieſengebirgs, auf der
großen Heerſtraße der norbarifchen Völker. Die Kelten hatten fich mit
den Pelasgern in den Beſitz dee Donauländer, Griechenlands und Ita⸗
liens, mit den Iberen in den Suͤdfrankreichs und Spaniens getheilt,
Britannien dagegen ausſchließlich beſetzt. Ihre beiden Hauptabthei⸗
lungen, die Galen und Kymmern, Letztere von ihren Prieſtern, den
Druiten, gefuͤhrt, hatten ſich lange und blutige Kaͤmpfe geliefert, in
Folge deren die erſt angekommenen Galen von den Letztern in das
Gebirgsland von Hochfrankreich, in die ſavoyiſchen Alpen und auf das
echte Poufer, auf den britifchen Inſeln aber nad) Irland und Schott:
land gedrängt wurden.
Die Grenze der Kelten gegen bie Germanen war zu Caͤſar's Zeiten
ber Rhein, ber Main und der nördliche Theil des böhmifchen Gebirge:
kranzes. In Böhmen ſelbſt [cheinen fie mit den Slaven in Berührung
geftanden zu haben. Jedoch waren fhon einzelne beutfhe Heerhaufen
"in Belgien eingebrungen, andere hatten das ganze Land zwiſchen Main,
Neckar und Donau, die gallifhe Mark, wüfte gelegt und einen oͤden
Wald (Odenwald) ber leichtern Vertheidigung wegen um ſich gezogen.
An der Elbe und Oder laffen fih zwifchen Slaven und Deutfhen für
jene Zeit Beine Grenzen ziehen, da bie Letztern als Herren ber weniger
Eriegerifhen Wenden gemifcht unter ihnen lebten. Lestere Thatſache,
nämlich) der Längere Aufenthalt unter den Wenden, und bie baducdh
nothwendig erzeugte Einwirkung ber einen auf die andern, fcheint einer:
ſeits den Unterfchied zwifchen den urfprünglich öftlihen oder fuevifhen
Germanen gegen bie früher anfaifig gewordenen, wohl mehr mit Kelten
gemifchten weſtlichen Deutfchen hervorgebracht zu haben, andererfeits aber
auch den Unterfchied ziwifchen den Weſtſlaven (Polen und Gzechen) gegen
bie oͤſtlichen Staven oder die Anten, wozu bie Ruffen und Serben ge:
hören. —
Ob die von Käfer in Belgien aufgeführten Germanen beutfchen
oder kymmriſchkeltiſchen Stammes waren, möchte kaum noch zu ermit-
ten fein, da das Wort German von einer arifchen Wurzel herzuleiten
ift, melche in zahllofen Umänderungen in allen indoseuropäifchen Spra⸗
chen vorkommt und immer eine Verſtaͤrkung, etwas Furchterregendes,
Hohes, Rauhes, Kriegerifches bedeutet. So will German bei den Kelten
wohl nichts als Berg: oder Waldbewohner fagen (gor bei den Slaven,
giri bei den Indiern beißt nody Berg), und darum Eonnten ihnen die
Bewohner der Ardennen (die heutigen Wallonen) ebenfo gut als Gers
manen gelten als die in den Gebirgen des rechten Rheinufers mohnenden
Deutfhen. Blond und blaudugig find die Kelten nicht minder als bie
Deutfchen, tapfer waren fie ebenfalls, befonders der kymmriſche Theil
derfelben, die gerade in Belgien füßen, und da alle ihre Etädter und
Landſchaftsnamen keltiſch find, fogar die der Bataver, und ſich größten:
Deutichlands Stämme. 171
theils noch in der Picardie erhalten haben, fo wird man es uns nidye
verargen, wenn wir hierin der Darftelung Amedee Thierry's folgen,
weicher ſaͤmmtliche Belgen den Kelten zuzaͤhlt. Die heutigen Wallos
wen mögen zwar beutfches Blut in fich aufgenommen haben, ihr Chas
rakter, ihre Lebensweiſe, ihre Unreinlichkeit als Gegenfag zu den aus
deutſchen Saalfranken und riefen zufammengemadhfenen Flaͤmingen
zwingt uns aber, fie der Mehrzahl nady für romanifirte Kelten, wie den
größten Theil der übrigen Bewohner Frankreichs, zu erklaͤren.
Eine ähnliche Bewandtniß hat es mit den Gimbern. Die franzds
fifrhen Ethnographen nehmen fie unbedingt ald Kelten in Anſpruch, und
als Kymbern, Kumberländer oder Kambern. Die unzweifelhaft
Deutfchen Si⸗kambern oder Sustambern aus dem Suͤd⸗ oder Sauerland
in Weftphalen führen nun aber denfelben Namen und werden ausdrüds
li) von Plinius H. N. 4, 14 im Gegenfag zu den juͤtiſchen Cimbern
binnentändifche (Cimbri mediterranei) genannt. Das Wort Kimbern,
Kambern oder Kumbern gewährt uns mithin fo wenig als German
einen fihern Haltpunkt. Möglich wäre, daß beide in ber Voͤlkergeſchichte
fo hochwichtigen Namen zulegt von ein und demfelben arifhen Wort:
ſtamm berzuleiten wären und Gleiches bezeichneten.
Bei den Deutfchen hat ſich das Wort German oder Armin haupt
fächlid) in der Bedeutung für Kriegsmann oder Wehrmann geltend ge
macht und mir finden folcher Arminen, Herminen, Hermionen, Her⸗
munburen bei allen deutfchen Stämmen, und es hat darum biefes Wort
auch bier durchaus Leinen befonderen ethnographifhen Werth, obgleich
nicht zu leugnen ift, daß derjenige Theil des Volkes, welcher auf fleten
Deerzügen begriffen, jeder Witterung preisgegeben, in mannichfacher Be
rührung mit den Fremden ſich anders entwideln mußte als der ruhig
in der Deimath verbleibende Theil. Dies ift die zweite Urſache, welche
darauf hinmwirkte, die abfondernde Gliederung unter den urfprünglich
mehr gleichartigen deutfhen Stämmen zu vermehren.
Die dritte mochte dann der Einfluß des Bodens und Klimas ber
befegten Gegenden an und für ſich geweſen fein. Die Rachen Seegegen»
den zu beiden Seiten der jütifchen Halbinfel erzeugen andere Gemuͤths⸗
flimmung und andere Lautbildung als die abwechſelnden und trodnen
Berg und Zhalgegenden bes Oberlandes.
Am teinften haben fi die Niederbeutfchen, die Anwohner ber
untern Weſer erhalten, fie lebten im Innenlande, getrennt ducch bie
Mheinländer von den Kelten und durch die Sueben von den Slaven;
ihre Sprade, das Plattdeutſche oder Altfächfifche, fteht darum dem
Sanftrit näher als die oberdeutfchen oder fuebifhen Dialekte. Wenig
davon verfhieden find die Mundarten Weftphalens, des Sauerlandes,
des Niederrheins (Ripuariend oder des Riflandes), der Holländer und
der Flamingen. Beide, die Niederfachfen und die legtgenannte Reihe
der Weſtlandsbewohner, heißen bei den roͤmiſchen Schriftftellern vorzuges
weife Germanen, im Gegenfap zu den Sueben, welchen Heſſen, Thuͤrin⸗
ger, alle fpäter ausgewanderten Oftfchwaben und die durch mannichfache
\
ihnen hervorgegangenen Alemannen⸗ Schwaben und
jugezanır werben.
Keutige Gliederung Deutfchlands in mehrere größere Volls⸗
veit diefelben nicht außerhalb ihres WVaterlandes in fremden
1ayen untergegangen find, findet ſich bei Zacitus ganz Burg, bei
ms dagegen in ber oben ſchon bemerkten Stelle genau aufgeführt.
zu fie die Grundlage aller weitern Unterfuhungen bilden und bei uns
gezwungener wortgetteuer Auslegung einen Beweis für das Unwandel⸗
bare unfere beutfchen Volksthuͤmlichkeiten enthalten, fo wollen wir beide ’
- bier wörtlich abdruden.
Zacitus fagt Germ. 2: Manno tres filios assignant, e quorum
nominibus proximi Oceano Ingaevones, medii Herminones , 'ceteri
Istaevones vocentur.
Plinius H. N. 4, 14: Germanorum genera quingue:
1) Vindili, quorum pars Burgundiones, Varini, Carini, Guttones.
2) Alterum genus Ingaevones, quorum pars Cimbri, Teutoni ac
” Chaucorum gentes.
3) Proximi autem Rheno Istaevones, quorum pars Cimbri medi-
terraneı.
4) Hermiones, quorum Saevi, Hermunduri, Chatti, Cherusci.
5) Quinta pars Pencini, Basternae.. contermini Dacis.
Es braucht wohl kaum bemerkt zu werben, bafi biefe Eintheltung
fi) nur auf die Zeit vor den Kriegen mit den. Römern und alfo vor
ber dadurch bewitkten Bildung neuerer Völker ober Volksvereine, wie
der Sachſen, Franken, Alemannen und Baiern bezieht, mithin auf bie
Zeit, wo Deutfchland weſtlich und füdlih vom Rhein und Main be
grenzt war. Kerner ergiebt fih aus der Stellung bee Römer zu ben
Germanen, daß bier an Feine ſtreng Logifche Claffification zu denken fei,
fondern daß fie die Namen ber Abtheilungen aufzeichneten, wie fie ihnen
bald von bdiefer, bald von jener Seite zur Kenntnißgefommen waren, ohne
fi weiter um die Bedeutung der einzelnen Namen zu befümmern.
Da diefe aber, wie von dem meiften berfelben ohne. Schwierigkeit nad):
zumeifen ift, gar Beine Eigennamen find, denn ſolche giebt fih ein
Volk wohl nie felbft, fondern erhält fie immer erft von feinen Nach—
barn je nad) der Lage feines MWohnfiges, feines Ausfehens, feiner Tracht,
Bewaffnung und Verftändlichkeit feiner Sprache, fo mußte es fi auch
treffen, daß ein und derſelbe Volksſtamm bei feinen Nachbarn verfchie>
ben bezeichnet und je nad dem Kintheilungsgrunde auch verfchieben
Aaffifichrt werden mußte.
Dies vorausgefegt bietet bie Erklaͤrung der angefuͤhrten Stellen
nicht die geringſte Schwierigkeit dar.
Tacitus unterſcheidet blos drei Hauptftämme:
Ingaevones (Innenwohnende ?), zunaͤchſt am Deean, alſo durch die
andern Stämme von der Berührung mit ben Fremden gefcieden, die
heutigen Niederbeutfchen, Friefen und Oſtfalen, zu denen nach Plinius
nicht nur bie Bewohner der m Halbinſel, die Jüten, gehören
Deutfchlands Stämme. 178
Juͤten, Gothen und Tuiten oder Teutonen ift ein und bafjelbe Wort
und bedeutet Volt), fondern auch die Chauken zwiſchen Elbe und Ems,
beren Name fpäter durch den allgemeinen der Frieſen verdrängt wurbe,
fih aber im Pays de Chauchois bei Havre erhalten hat, denn die ganze
Nordkuͤſte Frankreichs bis zur Loremündung wurde beim Zerfall bes
roͤmiſchen Reichs von Niederſachſen vermüftet und theilmeis wieder
aufgebaut.
- Bringt man bagegen mit 8. Zeuß das Wort Ingaevo mit dem
norbifchen Ynglinger, Ingwinger, Ingen, welches Juͤngling ober Gelb
bedeutet, in Bufammenhang , fo märe dies eine weitere Beftätigung bes
Umftandes, daß die ſkandiſchen Germanen ſchon in ältefter Zeit in näher
rer Beziehung zu den Niederdeutfchen als zu den Sueven ftanden, würde
aber an der Thatſache felbft nichts ändern, wornach die Ingaͤren, Ing⸗
linger, Engerh, Angrivaren und Angeln die Vorfahren ber heutigen
Niederfachſen find.
Etymologiſche Erklärungen, wenn auch noch fo wiſſenſchaftlich bes
geändert, Eönnen überhaupt nur dann auf firenge Beruͤcſichtigung An⸗
ſpruch machen, wenn fie durd anderweitige Thatfachen unterflügt wer⸗
den. Es laſſen fi fämmtliche deutſche Volksnamen auf ein halbdugend
Stammmwörter zurüdführen, die mehrentheils Krieger bedeuten, wie ins⸗
befondere der Urname aller Indoeuropder Aren und Afen, welcher auch)
als Anhängfel gebraucht wurde, wie Bajowaren, Amfivaren. — War
ift im Englifchen heute noch der Krieg, die Wehre. Auf diefe Art
kann man Folianten fchreiben, ohne in ethnographifcher Beziehung ein
anderes Refultat zu erlangen als eben das, daß ſich dadurch kein ficheres
erlangen läßt, — daß alfo die Vergleichung mit fpätern durch die Bes
fhichte außer Zweifel gefegten Tharfachen allein im Stande ift, bie
deutfche Urwelt zu erklären.
Iſtaͤvo ven. (Weſtbewohner, Weſtricher?) Bezeichnung des weſi⸗
lichen Theiles der Niederdeutſchen, am Rhein her, wozu namentlich die
Bewohner des weſtphaͤliſchen Bruch⸗ und Moorlandes, die Bructerer,
ſowie die Sauerlaͤnder und die ſpaͤter aus ihnen hervorgegangenen Rif⸗
laͤnder (Ripuaren) und Saalfranken (Flamingen) gerechnet werben.
Es ſcheinen dieſe beiden Benennungen blos geographiſche zu ſein;
der Ausdruck Hermionen, Arminen, Germanen deutet dagegen entweder
auf den Unterſchled zwiſchen Flachlandsbewohnern (Falen, Flamingen
und Marſchlaͤndern) im Gegenſatz zu den Gebirgsbewohnern (Harzern),
oder darauf, daß dieſelben ſich vorzugsweiſe der Fuͤhrung des Krleges
widmeten und alſo eine Wehrmannſchaft bedeuten. Eine urſpruͤugliche
Stammverſchiedenheit iſt hiermit alſo ebenfalls nicht gegeben, Bergbe⸗
wohner oder Kriegsleute finden ſich ebenſo gut bei den oͤſtlichen wie weſt⸗
lichen Niederdeutſchen, nicht minder als wie bei den Sueven oder Ober⸗
deutſchen, darum kann Plinius unter den Hermionen ebenſo gut nieder⸗
deutſche Cherusker als oberdeutſche Schwaben, Hexmunduren (Thuͤtinger)
und Chatten (Heſſen) auffuͤhren; die niederlaͤndiſchen Sauerlaͤnder
174 Deutſchlands Stämme.
Sigambern, bei ben Kelten insbefondere Germanen genannt, hätte er
fuͤglich auch noch als Hermionen nennen können. -
Den unmittelbaren Beweis dafür, daß umter Dermionen nicht eine
Bezeichnung eines eigenthümlidhen Stammes zu ſuchen fei, liefert das
Diemelgebiet (der fächfifche Heffengau) und der Oberleinegau (die Gegend
um Göttingen). Beide find niederdeutſch, bildeten zur Zeit der Herr⸗
mannsfchlacht einen Theil des rings um den Harz ſich ziehenden Cheruss
ferbundes, kamen aber nad, dem Zerfallen deſſelben einestheild an die
Heffen (an den fraͤnkiſchen Heffengau), anderntheils an die Thüringer,
Beide oberdeutfchen oder fuevifhen Stammes. Hütten die Hermionen
oder die von Plinius aufgeführten Chatten, Cherusker, Thuͤringer und
Oſtſchwaben ein und diefelbe Mundart geſprochen, fo wäre kaum ein-
zufehen, warum die Harzgauer jest anders fprechen als ihre Nachbarn
und präfumtiven Stammpverwandten; am allerwenigften aber, wie es
tomme, daß die Diemel» und Oberleingauer, welche ſchon in den Zeiten
ber eriten Sachfenkriege mit den oberdeutfhen und chriftlichen Heſſen
und Thuͤringern vereint wurden, und das ganze Mittelalter hindurch
‚ziemlich einerlei Schidfale mit ihnen hatten, dennoch eine nieberdeutfche
Mundart beibehalten konnten. Es beweift dies auf die unzmelfelhaftefte
Meife die Unvergänglichkeit von Stammunterfchieden, welche fi) wohl
fhon vor dem Auftreten der Germanen in Deutfchland theilweife ents
widelt hatten.
Mit den Vindilern ober vanbalifhen Völkern bat es dagegen eine
andere Bewandtnif. Während die eigentlichen Stammgermanen zwiſchen
Rhein, Main und Elbe eingezwängt und ungemifcht mit Fremden ſich
dem Aderbau ergaben, aus Mangel an Raum zu feiten Wohnfigen
kamen und Sitonen oder Saffen wurden, blieb ein anderer Theil in
den weiten Flächen des Menbenlandes der frühern Lebensweiſe getreu,
fchmeifte als vitterlicher Adel auf Kriegsfahrten umher und überließ den
Aderbau den zurücbleibenden und zwar meift wohl den zur SHörigkeit
herabgedruͤckten früheren Anfiedlern. Solcher wendifchdeutfhen Stämme
werden nun bei Plinius bemerkt die Burgunden, welche fpäter den Main
hinab und den Rhein aufwaͤtts zogen und in ber meftlichen Schweiz
und im Saonegebiet ihre legten Wohnfige nahmen; dann die Wariner,
Warnen oder Werragauer, welche jegt einen Zheil der Thüringer bilden;
ber Name der Eariner ift verfchollen; dagegen glänzt der der Gothen
um fo mehr in der Geſchichte. Wendeler mie Gothen bezeichnen ur⸗
ſpruͤnglich durchaus Beinen einzelnen beflimmten deutſchen Stamm, obgleid)
er fpäter, wie ber der Schwaben, auf gewiffen Unterabtheilungen haften
blieb. So haben wir außer ben in Stalien und Gothalingien (Catalonien)
unter den Romanen eingegangenen Oft: und Weſtgothen ffandifche
Gothen in Schweden, bänifche oder kymbriſche in Juͤtland und ſchwaͤ—
bifche, nämlich die jütinger Schwaben zwiſchen Jller und Lech. Die
Vandalen, toelche‘ erft in Andalufien (MWandalufien) faßen, dann nad)
Aftika zogen, und von denen im Auresgebirge im Süden der Stadt
Gonftansine, wo im „Jahr 1846 fo viele Sranzofen erfroren, unzweifel⸗
Deutſchlands Stämme: 173
bafte Nachkoͤmmlinge heute noch übrig find, gehören ebenfalls zu dieſen
oſtſchwaͤbiſchen Wendlands⸗Gothen. Daß diefe Auresbewohner deutſche
Körpers und Gefidhtsbilbung, weiße duchhfichtige Haut, blonde Haare
umd blaue Augen haben, kann der Verfaffer diefes Auffages aus eigener
Anſchauung bezeugen.
In der polnifchen oder Lächifhen Mark herrfchten andere beutfche
Stämme, die darum wohl ihren Namen Lugier führten. Sie kämpften
fpdter in den Donaumarken gegen Marc Aurel, im Verein mit all den
ſchwaͤbiſchen Voͤlkern, welche vom Süden her durch die Römer maren
angegeiffen worden und aus deren Bufammenmwachfen nach und nach bie
Baiern ober Bajovaren, die Kriegsleute aus dem Bojer⸗ oder Boͤheimer⸗
Sande, entflanden.
Die urfprüngliche, aber zeitweis von [hmäbifchsthäringifchen Marks
maͤnnern unterworfene Bevölkerung Bojoheims war wohl ein Gemiſch
von Slaven und Feltifchen Bojern; fo daß legtere zweien ihnen felbft
ſowie unter fi) ganz fremden Völkern ben Namen gaben.
Ob fhon in urältefter Zeit zwifchen den einzelnen Stämmen ber
wendiſch⸗gothiſchen Völker eine Verfchiedenheit in ben Mundarten ſtatt⸗
gefunden habe, laͤßt fid, kaum noch beftimmen, doch ift dies anzunehmen,
da die Namen der Heerführer bei einigen Abtheilungen die niederdeutfche
Endung a, bei andern bie oberdeutfhe o zeigen. Da gegenmwärtiger
Auffag fi) nur mit den in Deutfchland gebliebenen Völkern befchäftigen
fo, fo dürften wir uns hierbei kaum länger verweilm, fo wenig ale
bei des Plinius fünfter Abtheilung, den Peucinen und Baftarnen, welche
einft mit dem macedonifchen König Perfeus und fpäter mit Mithridat
gegen die Römer fochten und fammt ben pelasgifhen Daciern, ihren
Nachbarn, von den Römern in die heutigen Walachen umgewandelt
urden
Aus dee Darftellung dee römifchen Schriftfleller ergiebt fi mit
Sicherheit, daß die deutſchen Völker fchon in Altefter Zeit in größere
und kleinere Abtheilungen zerfielen, nicht aber, ob bdiefe oder jene bem
ober s ober nieberbeutfchen, dem fraͤnkiſchen ober fächfifchen Stamme
nady heutiger Bezeichnung beizurechnen ſei. Das Lestere ergieht ſich
dagegen mit Zuverläffigkeit fuͤr alle niederdeutfhen Stämme wenigſtens,
und mit großer MWahrfcheinlichkeit auch für die oberbeutfchen, aus der
MWergleihung der kirchlichen und politifchen Grenzen des Mittelalters,
welche wie fchon bemerkt, mit denen der Urvoͤlker zufammenfallen. So
Finden mie durch eine fortlaufende Reihe von Rüdfchlüffen die ethnos
Sraphifche Bedeutung der alten Abtheilungen und fodann umgekehrt
us der gefhichtlich erwiefenen Vereinigung beftimmter Völker während
Der Roͤmerkriege die Mifchungsverhältniffe der neu entflandenen großen
Stämme der Nieder- und Oberfranken, der Lotharinger oder Weſtricher
und der Oſtfranken, der Heffen und Thüringer, der Niederfachler, per
Oſt⸗ und Weftphalen, der Sriefen, Holländer und Slamingen dann
der Alemannen, Schwaben und Baieen fowie der deutfchen Burgunden —
die noch ſpaͤter entſtandenen wendiſch⸗ deutſchen Wöiker vor der Hand
4
noch gar nicht zu berühren. — Denn bie flavifchen Marken an Elke,
Dber und — ſtehen Heute zum zweiten Male unter. deutſchem
Einfluß,. na bee erſt —— Germaxifirungsproceß durch den
—— der —e—— Kriegteſtaͤmme gegen Rom war unter⸗
wor
Der Austen Völkerwanderung läßt fich übrigens blos” in Bezie⸗
auf bie Wendlandsdeutſchen rechtfertigen, obgleich auch hier manche
baflr 3 da ein ziemlicher Theil von ihnen im Lande
ein muͤſſe, der Pl im 1 Kaufe eines halben Jahrtauſends
van den bie — der Bewohner bildenden, jedoch unterworfenen
Hörigen ſloweniſict wurde. Won ihnen mag ein Theil bes ſlaviſchen
Adels ſtammen, wie ber franzöfifche von ben alten Saalfranken, ‚ber
itellemifche von ben -Longobarden und Normannen, beren Eprade, Eitte
a Fr — Seftaie indeß durch Heirath mit den Eingebornen sehhten:
laͤngſt verwifche if. Der bem m Baierifchen nabe — Dialekt
der Umwohner bes —— des Kuhlaͤndchens, der Gegend um.
oe — ſegar ein fe daß fi nad. pen Abzug ber
das Tafelland det Donau jene noch.
mitten unter den Slaven —ã — mit rein deutſcher Bevoͤlkerung
en haben, weiche für bie unter ben erſten beutfchen Kaiſern miebers
unene Germaniſtrung von ganz Oſtdeutſchland Anhaltspunkte abe
n Blum befagte Wälcen Ip ſpaͤterer Einwanderung, To fäßen fie
— als dem herrſchenden Stanıme angehörig, im Klachlande und nicht
im Gebirge, wohin fie fi, dem Andringen ber Slaven weichend, zu⸗
ruͤckgezogen haben mußten.
Auf die heutigen Bewohner Thuͤringens, Oſtfrankens, Rheinfran⸗
kens, Deutſch⸗Lotharingens und der ſaaliſchen Laͤnder an der untern
Maas und Schelde paßt der Ausdruck Voͤlkerwanderung nur halb, eben⸗
fo wie für die Baiern, Alemannen⸗Schwaben und Deutſch⸗Burgunden.
Denn diefe fähmtlichen Stämme find nur zum Theil hervorgegangen
aus oſtſchwaͤbiſchen, in Maffe ausgewwanderten Völkern, dee andere Theil
beftand aus Wehrmannfchaften, arminifhen Gefolgſchaften aus ben
deutfhen Stammianden zwifchen Rhein, Main und Elbe, welche aus
Kriegsluft und um den Drangfalen ber Ueberndlferung zu entgehen, ſich
an bie aus dem MWendenlande vordbringenden Sueven anfcloffen. Das
durch erklärt fich die Volksmenge der gegen Rom andringenden deutfchen
Heere, welche, fo verichiebenartig auch ihre Zufammenfesung fein mochte,
doch immer als Maſſe den Namen desjenigen Volkes führen, das ges
ade den Anlaß zu der Bewegung gegeben hatte. Durch die Wechſel⸗
fälle des Jahrhunderte dauernden Krieges aufs Mannichfaltigfte unterein:
ander geworfen, mußten fie zu neuen eigenartigen Stämmen verwachſen,
unter denen jedoch das fuenifche, jest oberdeutfche Element das Ueber:
gewicht behielt, da die frühzeitig zu feſten Sigen gelangten Heſſen und
Thüringer den mächtigften Beitrag an Kriegsgenoffen abgaben. Zu bem
weſtlichen Theile der Alemannen kamen naͤchſt ben Fulder Heſſen auch
Zuzuͤger aus dem ſuͤdlichen Theile der iſtaͤvoniſchen (thein ſch⸗ nieder⸗
Deutichlande Stämme. 177
dbeutfchen) Stämme, woraus ſich hauptfächlich der Unterfchieb der Wer
wohner Rheinfrankens gegen die Nedar« und Donaufchwaben ergiebt.
Die Lotharinger ſtammen aus einem Ahnlihen Gemenge von Heſſen
und Mieberrhein, bie Slamingen dagegen haben fein ſchwaͤbiſches
Blut, fie gingen aus dem Verein von niederrheinifchen und friefifchen
Voͤlkern hervor, und zwar unter der Oberherrlichkeit der Salier und
Sigambern.
Uebrigens noch ehe die roͤmiſche Herrſchaft vollſtaͤndig am Rhein
und Donau gebrochen wurde, war ſchon der groͤßere Theil der Grenz⸗
länder germahifirt. Nicht nur mußten, wie ſich aus ber Natur ber
Sache ergiebt, alle römifchen Sklaven deutfchen Stammes fein, ſondern
in letzter Zeit auch weitaus der größte Theil der römifchen SHeere, bie
bier ihre Standlager hatten. Geſchah ein Einbruch von Deutfchen, der
nicht bewältigt werden konnte, fo traf man das Abkommen, die frems
den Krieger als Bundesgenoffen aufzunehmen und ihnen Sige innerhalb
ber römifhen Grenzen anzumweifen. Dadurch mußte es fi treffen, daß
oft die verfchiedenartigften Wölkchen neben bie Romanen zu wohnen
kamen, nicht nur Deutfche, fondern auch Hunberttaufende von Slaven,
welche namentlich die gothiſchen Voͤlker aus Suͤdrußland nah den
Donauländern als ihre Untergebenen mit ſich ſchleppten. Diefe find
als die erſten flavifchen Einwanderer in Kärnthen und Bulgarien zu
betrachten. — Als zulegt der ganze römifche Staat von unfern Ahnen
überzogen wurde, fo war es bdenfelben, als der Zahl nach weit unter
den Eingebornen ftehend, nur da möglich ihre Nationalität zu behaups
ten, wo das Land vorher fchon größtentheild germanifirt worden war,
ober da, mo ber oft mwieberholten Verwuͤſtungen wegen die romanifche
Bevölkerung ausgewandert war und durch Anſiedler aus den nahen
deutfhen Stammlanden wieder bevölkert werben Eonnte.
Der Ausdrud Markmannen, Grenzer, bezeichnet keine ethnogras
phifche Unterabtheilung, fondern, wie ſich von ſelbſt verficeht, denjenigen
Theil der Bevölkerung, der zundchfi dee Grenze in ben Marken wohnte
und darum auch nothwendig zuerft mit dem Feinde zufammentreffen
mußte. Ob die niederrheinifhen Voͤlker ihre Markmänner zu CAfar’s
Zeiten ſchon nad) Belgien vorgefchoben und dadurch Veranlaſſung zu
beigifch» germanifchen Wölkern gegeben hatten, ift zweifelhaft, dagegen
erzählt uns diefer Gefchichtfchreiber ausführlich feine Kämpfe mit den
fhmwäbifchen Martmännern am Oberrhein, von denen einzelne Abtheis
kungen (bie Zriboilen, Nemeten und Vangionen) ſchon früher im Elſaß
ſich fefigefegt hatten. Das aus der deutfchen Sübmark unter Ariovift
ee den Rhein gezogene Heer von Grenzern Lehrte nach verlorner
Schlacht wieder dahin zurüd, von wo «6 aufgebrochen, naͤmlich an den
obern Main, wo in jener Zeit die Marken der Chatten und Hermun⸗
duren, feiner Stammgenoffen, waren. Won da 309 fih Arioviſt in
die Oberpfalz und nad) Böhmen. Als die Römer von den Alpen aus
die Eeltifchen Lande bis zur Donau eroberten, hatten fie bundertjährige
Kämpfe mit den im Norden biefes Fluſſes ftehenden bentfhen Grenzern
Suppl. z. Staatsler. II.
178 Deutſchlands Stämme.
zu führen, denen nach und nach alle Völker bis aus ber juͤtiſchen Halb⸗
infel Verſtaͤrkungen ſchickten. Legtere zogen zulest in Maffe aus und
eroberten ſich Sige auf dem füdlichen Ufer des Fluſſes; fo die Sütinger
zwiſchen Iller und Lech, die Scheyern und Rugen in Niederbaieen und
Dberöfterreich, die Quaden in Mähren, die Longobarden in Oberungarn,
bie Gepiden in Siebenbärgen und die Gothen in der Moldau und im
füdlihen Rußland. Es war dies ber große beutfche Grenzkrieg in ber
Suͤd⸗ oder Donaumark, ber befonders unter Marcus Aurelius heftig
wüthete. Man nennt ihn den, Marlomannenkrieg, obgleich der am Rhein
von den alemannifchen Schwaben und ber weiter unten von ben Nieder⸗
theinern geführte ebenfo gut ein Markmannenkrieg mar. — Ein Theil
bee in's roͤmiſche Gebiet gedrungenen Völker ging unter, tie bie Gothen,
Gepiden und Longobarben, andere zogen ſich den hunnifchen Völkern
ausmweichend die Donau herauf und verfchmolgen hier mit den aus ber
Oberpfalz (dem balerifhen Nordgau) hereingebrochenen hermunduriſchen
oder thüringifchen Markmaͤnnern zum Volke der Balcın.
Als der ganze Nordrand der Alpen germanifirt war, ſchob fich der
Begriff des ſuͤdlichen Marklandes bis zur Etſch vor, wo wir noch heute
bie melfchen Gonfinien haben. Defterreich hieß bald die Oſtmark, bald
die der Hunnen, bald der Avaren, mie «6 heute für Deutfchland bie
magparifche if. (Hunnen, Avaren und Magyaren gehören zu ein und
bemfelben Stamme, dem finnifhstatarifchen vom Ural und der Wolga,
wo heute noch die Bafchkiren, Tſchuwaſchen und XZfcheremiffen, die
Verwandten berfelben, wohnen. Siehe hierüber Ferd. Müller: bie
Ugern und das Stromſyſtem der Wolga.)
Bon ben keltiſchen Urbewohnern ber jest deutſchen Donauland⸗
(haften, den Bojen, Rhaͤten und Carnen, haben fi außer den roma⸗
nifirten NRhätiern in Graubuͤndten nur die Namen erhalten, fo ber ber
Nhäten noch einmal im Nies bei Nördlingen, eine Gegend, die fonft
auch der fchwäbifche Nordgau heißt (Meißenburg im Nordgau), da bier
die Sütinger längere Zeit geftanden, ehe fie fich weiter über bie Donau
verbreiteten. Die Zufammenmerfung diefes fchmäbifchen mit bem an
ihn grenzenden baierifchen Nordgau oder ber Oberpfalz hat unter den
Gefchichtsforfchern zu manchem Streite Anlaß gegeben. Die beiden
Landfchaften find für Baiern und Oberſchwaben daffelbe, was für die
um den Bobdenfee wohnenden Lenzer-Alemannen das obere Mainland,
und für die des Rheinthales die Wetterau iſt, nämlich der Sammelplag,
von wo auß fie den römifchen Grenzwall zu durchbrechen fuchten.
Nach den Bojen und Carnen find die nunmehr flavifhen Marken
der Böhmen und Kärnther benannt, Beide zum Theil germanifirt, Letz⸗
tere von Balern, Insbefondere Salzburg aus, Erſtere von Defterreich
und Oberſachſen.
Oberfachfen ſelbſt aber ift ein von Nord: Thüringen aus zur Zeit
ber erften deutfchen Kaifer wieder erobertes Land; es mar ein Theil der
großen wendifchen Dark, bie, je nachdem fie von obers oder niederbeut=
[hen Stämmen nun zum zweiten Male germanifirt wurde, heut zu
Deutſchlands Stämme. 179
Tage wenbifchsoberbeutfche® oder wendiſch⸗ niederdeutſches Gepraͤge trägt.
Mecklenburg und Pommern wurde von ben Nieberfachfen, insbeſondere
Heinrich dem Löwen, und zwar nicht auf die allerchrifttichfte Weiſe bes
kehrt, ımterjocht und an Deutfchlandb gekettet, die brandenburgifchen
Marten auf diefelbe Weife von Halberſtadt und Maadeburg aus; beide
Städte find an ben Grenzen Ober s und Nieberbeutfchlande gelegen, bas
ber die gemifchte Mundart diefes Theil dee Norboftmark, während das
Meißnerland, die Laufig und Schlefien von dem ganz oberbeutfchen
Merſeburg aus mit Deutfchland vereint wurden. Die drei hier genann⸗
ten Städte Liegen aber in Nordthuͤringen, einem Landſtrich, ber in fels
nem füdlichen Theile zwiſchen Harz, Unftrut und Saale ober dem heu⸗
tigen Mannsfeldiſchen hauptfächlic, von Nordſchwaben, ben wohl zulegt
aus dem Wendenlande heribergezogenen oberdeutfchen Sueven bewohnt
ft, während nördlich davon niederfächfifche Völker bie Oberhand erhiele
ten und politifd; ihre Hohelt fammt dem Sachſennamen auf ganz Norbs
thäringen übertrugen. Dadurch erhielt das von hier aus germunifirte
Meißnerland ebenfalls den Namen Sachſen, obgleich es ethnographifch
nicht in der geringften Beziehung zu Altfachfen ſteht.
Die Nationalverfchiedenheiten, insbefonbere die Mundarten aller
wendiſch⸗deutſchen Völker von der Krain an bis nad) Wagrien in Hols
ftein ergeben fi immer aus zwei Factoren, einerfeits aus der Eigens
thuͤmlichkeit, die fie als befonderer wendiſcher Stamm ſchon vor der Gerz
manifitung hatten, anbererfeits aus der Natur bes fie bemältigenden
beutfchen Stammes.
Die deutſche Geſammtſprache, infofeen fie im heutigen Oberſachſen
zuerft als ſolche geltend gemacht wurde, iſt mithin ein wenbifchroberdeuts
fer Dialekt, gerade wie das heutige Sranzöfifche ein kymro⸗keltiſches
Latein, das Englifche ein kymro⸗keltiſches Niederdeutfch if. Wenn biefe
Miſchungen auch weniger in Bezug auf die Wortſtaͤmme erkenntlich
blieben, denn dieſe find in unſerer Geſammtſprache doch größtentheils
beutfche, fo tritt die um fo auffallender in der Ausfprache und Beto⸗
nung ber Wörter hervor. Die oberfächfifche oder Meißner Mundart,
bie fange für die befte Deutfchlands galt, fowie die oberdeutfche Sprech
weife der Niederfachfen ift over mar feiner Zeit ein in der Schule unb
Kirche ausgebildetes oder gewiffermaßen erlerntes Deutſch, während bie
Sprache der rein germaniſchen Stämme als naturwüchfig dem Urbeuts
ſchen viel näher geblieben if. Bel allen Bemühungen, bie Verwandts
ſchaftsgrade der einzelnen deutfchen Stämme aus ihrer Sprache zu ers
innen, muß barum das Schriftdeutfch ganz bei Seite gelafjen werben;
da nun aber blos biefe in fo vielen fonft hoͤchſt ausgezeichneten Werken
beſonders berüdfichtigt worden ift, fo bleibt der Forſchung im Gebiete
der naturwüchfigen deutfchen Mundarten noch ein meites Feld übrig.
Dem Weiterumfichgreifen des deutfchen Elements trat in Suͤd und
Weſt die Macht der romanifch gewordenen deutſchen Stämme entgegen.
Die Salier im nördlichen Srankreich, die Burgunden am Jura und bie
Longobarden in den Ebenen Oberitaliens fchügten ihre Unterthanen rn
Aı*
—
180 Deutſches Landes⸗ Staatsrecht.
maniſch⸗ keltiſchen Stammes gegen das weitere Anbringen deutſcher ero⸗
bernder Coloniften, fo dag die heutigen Grenzen bes bdeutfchen Volks
im Allgemeinen bier fo ziemlich denen gleihlommen, welche fi in den
Zeiten ber Merovinger nach und nad) ausgebildet haben. Bei jeder ein»
zelnen Lanbfchaft dagegen entfchieden wohl immer die Naturgrenzen, das
heißt gewiſſe Dinderniffe, welche Gebirg, Wald, Haide oder Sumpf dem
weitern Anbau einer Gegend oder dem Weiterumfichgreifen von einem
beftimmten, früher durch Vertrag oder offene Waffengemalt befegten Mit-
telpunkt aus entgegenftellen. Im Dften trat dem beutfchen Elemente
bis jegt Beine ebenbürtige Macht in den Weg, darum iſt hier der Ger:
manifirungsproceß noch im vollen Gange.
(Ueber bie einzelnen Unterabtheilungen ſiehe das Genauere unter
„Niederdeutſche, Dberdeutfche, Wendifhdbeutfhe Marken.)
Wilhelm Obermüller.
Deutfhes Landes: Staatsreht. Die in ben Artileln Adel,
Deutfhe Staatsgefhihte und Deutfches Landes: Staats»
recht niedergelegten Anfichten einerfeits über die wahren redhtsge>
fhidtlihen Grundlagen und Grundideen ber allgemeinen
deutfchen, der gefeifchaftlichen Standes » und der Reichs⸗ und landſtaͤn⸗
diſchen Verhältniffe, und anbererfeits uͤber die unerlofhene Rechts⸗
guͤltigkeit derfelben, ihre neue Sanction in Folge der Befreiungsfriege,
und ihre Vortrefflichleit bei neuer, zeitgemäßer Geftaltung — haben feit
bem Erſcheinen der erften Auflage des Staatslexikons in neuen fchrift-
fteerifchen Darftelungen *) und in ber oͤffentlichn Meinung ber Nas
tion bie erfreulichfte Zuftimmung erhalten. Insbeſondere find die in
dem vorftehenden Artikel entwickelten Anfichten von den Grundlagen und
von dem Wefen der bdeutfchen landſtaͤndiſchen Rechte dargeftellt worden
in bee Gefchichte der deutſchen Landftände von F. W. Unger
Bd. I. und I. Hannover 1844.
Durch viel zahlreichere und ausführlichere urkundliche Beweiſe, als
bie vorftehende Eurze Abhandlung liefern konnte, werben namentlich hier
folgende Grundanſichten beftätigt:
. Alle wefentlihen Rechte beutfcher Reichs⸗ und Lands
flände, auch die ber fpäteren Zeiten, und bie flaatsbürgerlichen Freiheits⸗
rechte, welche alle freien germanifchen Völker, 3. B. Engländer, Holläns
der, Belgier, Franzoſen, Norweger befisen,, die heutigen Deutfchen trog
ber neuen Anerkennungen doch großentheilß nur noch fordern, gründen
fih auf die altgermanifhen Volksrechte fhon zur Zeit
des Tacitus, ftehen in biftorifchem Zufammenhange bamit, und bie
fheinbar großen Verfchiedenheiten diefer Rechte in dem Mittelalter, in
ber fpäteren und in der neueften Zeit erfcheinen, abgefehen von vor⸗
*) So 3.8. werben die Vorurtheile von einem allgemeinen erblichen Abel:
ftand in ber altgermanifchen Beit auf's Neue zerftört in H. v. Sybel’s Ent:
ftebung des deutſchen Kdnigthums, Frankfurt 1844, und felbft Wais
(Deutfhe Berfaffungsgefhichte) muß fid von der Theorie feiner Leh⸗
ser ECichhorn, Grimm und Savigny losfagen.
Deutfches Landes: Staatsrecht. 181
äbergebenden fauftrechtlichen, befpotifchen und hierarchiſch⸗ theokra⸗
tiſchen Einflüffen, welche das Bewußtfein bes wahren befferen
Rechts faſt überali befämpfte und fiegreich wieder ausſtieß, als
lermeiſt nur ale befondere durch Zeitverhältniffe beflimmte dußere
Formen der Entwidelung und Ausübung jener wefent-
then und vernünftigen germanifhen Urredhte.
IL Diefe wefentlihften Rechte beftehen aber 1) in ber.
Begründung aller Rehtsverhältniffe duch die Zuſtim—
mung und Mitbeflimmung ber betreffenden rechtlichen Perfönlichs
feiten in Beziehung auf ihre Nechte und NRechtspflichten, auf die Frie⸗
dens s und Landes», Genoffenfchaftss und Schugverträge, 2) in ber
Ausübung biefer Zuftimmungsrechte vermittelft der Berathung, Ans
ordnung, und Entſcheidung der gemeinfchaftlihen Angelegenheis
ten, a) duch Verfammlungen ber Genofjen des Vereins und feines
Diſtricts, alfo des Reiches, bes Landes oder der untergeordneten Abtheis
kungen, b) unb zugleich durch Zuziehung und unter Leitung und Vor⸗
berathung der an der Epige der gemeinfchaftlichen Vereine und ihrer
Abtheilungen fiehenden Beamten, Anführer, Vorſteher, Schüger, Vers
treter und Vollzieher (Principes, Primores).
III. Neben dem unmittelbar demokratiſchen Mitſtimmen gab
es [bon in uralter Zeit Repräfentation. DE Rechtsgenoſſen
ober bie einzelnen Rechtsmitglieder bes Vereins treten zwar in ber alten
Zeit, zumal in den Gemeindes, Gau⸗, Provinz= und Reichsverſamm⸗
lungen, wenn fie nicht unter einem befondern Privarfhug eines Mits
glieds des Vereins ftehen, wenn fie alfo unmittelbare Glieder des
beitimmten berathenden Vereins find, oder unmittelbar unter dem
Schütz feines Vorftandes ſtehen, auh unmittelbar auf. Dagegen
werden fie durch ihren Privatfchüger vertreten und repräfentirt,
wenn fie in bleibendem Schugverhältniß zu demfelben flehen und wenn
er, ſowie die Familienhaͤupter und mie bie ſpaͤter erblichen Patronate »,
Lehns⸗ und Dinifterial: Herren, gutshereliche oder der Gutsherrlichkeit
nachgebildete feudale Obereigenthumsrechte am Gut erhält. In unruhis
geren Zeiten und eiligeren Faͤllen und ebenfo für untichtigere Dinge
oder zur bloßen Einleitung und Borberathung der mwichtigeren Sachen
und dann, wenn durch das Fauftreht und durch die Ausbildung des
Feudaladels bie Sreiheitsrechte der geringeren Vereinsmitglieder zwar nicht
rechtlich aufgehoben, aber doch mehr oder minder zurüdgedrängt, oder
wenn die Verfammlungen aller Mitglieder unausführbar, laͤſtig und uns
zwedimäßig find, alsdann werben auch jene unmittelbaren Genoffen zum
Theil nur repräfentirt. Sie werden zum Theil, fo wie ſchon bie
altdeutfchen Bürger durch ihre ermählten Gerichtefchöffen, ober fo tie
die alten Sachſen und bie fpäteren Friefen auf ihren Landtagen, ober
fo wie neben den Seubalftänden die fpäteren ftädtifehen Gemeinde » und
Amtscorporationen, ober wie heutzutage die freien Völker in ihren ges
wählten Volkskammern, durch erwählte Repräfentanten aus ih⸗
ver Mitte vertreten. Auch durch erwählte Ausfchäffe laſſen fi und
>
— E Bann Si Ei
ri Berein * * —8— aufs Ft en
chtigeren Freien bebrängenden Zeiten bed Mittelalters , des Faufl-
. sehe und bes Feudallsuus diefe Geringeren vielfach, auch durch jene
Datncipes oder Primores bei ber Regierung des Vereins repraͤſen⸗
tiven laſſen. Diefes iſt ſehr erklaͤrlich, ba früher alle geiftliche und welt⸗
Uch Beamten vom Volk erwählt wurben und alfo um fo natärlicher
die. Worforges, Schutz⸗ und Bertretungspflicht für bie Angehörigen
ihres Difiricts hatten, ‚ba ferner auch in ben fi immer mehr vermeh⸗
renben feuhalen Lehns», Schutz⸗ und Dienfiverbindungen jederzeit unb
zumal yor der Erblichkeit biefer Verbindungen die Vorſteher berfelben
von; ihren Schuͤtzlingen vertragemäßtg als ihre Schugherreen umb
tanten anerfannt sparen, und ba emblich auch ſchon bei ben
alten Volks » und Reichönerfammiungen zu des Tacitus wie zu Karl's
bes Broßen. Beiten jene Prindpes ober Primores in ihren Morberas
—— namentlich auch in ihren ——— ebonſo gut wie
Gerichtoſchoͤffen für den ganzen Verein wirkten. Ganz
* aber. wie in freilich ungeorbneter und gufälliger Bocm und Kaya Anzahl
FA ben „gehst Gerichtefigungen neben ben ffen das
in dem —— Umfand nach Belieben erfcheint und
—*— befragt werden. Und jedenfalls beweiſen alle Urkunden
und alle reichs⸗ und landſtaͤndiſchen Verhandlungen, wie es nun auf’s
Neue Unger aus allen dbeutfchen Ländern und aus den verfchiedenften
Zeiten unumſtoͤßlich dargethan hat, a) daß ber Gedanke der Repräfen:
tätion- in den beutfchen Rechtes und Staatsverhältnifien uralt ift,
ſchon neben ben unmittelbar bemoßratifchen Verfammlungen aller Ver»
einsgenoffen fogar dem Ausdruck nach befteht, mie denn ſchon in der dis
teften Zeit der Kamilienvater und Sandeigenthümer feine $amiliengenofs
fen und Hinterfaffen vepräfentirt (Lex Bipnar. Tit. de homine
iagenuo repraesentando); b) baß ber Gedanke ber Repräfentation
des ganzen Landes und Reichs, ber Mepräfentation des Wohle
und Rechts des gefammten Baterlandes, aller feiner Bür-
ger und Eingefeffenen, ber rechtliche Grundgedanke ebenfo bei der
Landſtandſchaft oder „der gemeinen Landſchaft“ wie bei der
reiche ſtar Chaft durch das ganze Mittelalter bis zur neuern Zeit geblie⸗
ben iſt. Wie roh, engherzig und vaubfüchtig auch bie Feudalrtitter jes
„weile ſich ale gaftenmäßiger Stand ausbilden, vom übrigen Volk ifoliren
und daſſelbe in fauftrechtlichen Unternehmungen berauben mochten, fo
roh waren ihre Begriffe, waren die des rohrften Mittelalters doch nicht,
als die von manchen feiner heutigen junkerlihen Verehrer, bie da glaus
ben und fogar zur Nachahmung aufftellen, daß in lands ober reichsſtaͤn⸗
diſchen Verſammlungen man allen Begriff von Staat und gemeinem
Deutfches Landes: Staatsrecht. 188
Meſen völlig verloren, daß jeder Reichs⸗ oder Landſtand felbft der aner⸗
Eannten Rechtsidee nach nur Vertreter feines eigenen Vortheils ober fei-
zer abgefonderten felbftfüchtigen und privilegieten Standesinterefien,
und nicht der Intereſſen und Rechte des ganzen Landes und aller feiner
Bewohner habe fein follen, daß die Ideen wahrer allgemeiner Landes⸗
und Volksrepraͤſentation als neuere Erfindungen und als jacos
binifch zu betrachten feien. oo
IV, Bon den dlteften Zeiten an feste ſich in Berichtes
and andern Berfammlungen, in den Vereinen der Gemeinden, Gentenen
ober Aemter, Graffchaften, Herzogthümer und des Reichs, und in ben
kirchlichen Verſammlungen dir geiftlihen Sprengel und Gapitel, in ben
vielen Verſammlungen ber Seubalvereine, der Hof» und Bauernſpra⸗
hen, der Minifterials und Mannenverfammlungen, in den vielen Ver:
fammlungen aller Unionen und in denen der Städte, und dann in ben
fpäteren landſtaͤndiſchen Verſammlungen, weiche vorzüglich durch bie
Städte und durch die Unionen ausgebildet und an die Stelle der Älteren
Eandesverſammlungen der Herzogthümer und Graffchaften, wie an bie
der Hofs und Mittertage gefegt und zur Grundlage der Ausbildung ber
neuern beutfhen Staaten und alfo auch der Landeshoheit der Fuͤrſten
gemacht worden warn — Überall feste fi die Ausübung jer
ner altdeutfhen Urrechte (fiehe 11.) fort. Obwohl durch bie
fremden Rechte und ihre Entmünbigung des Volks und durch den wach⸗
fenden fürftlichen Defpotismus immer mehr gemindert, blieb dennoch
bie Anerkennung und Ausübung diefer Rechte bis zu ber eben durch
jene Minderung berbeigeführten Auflöfung des Reiches, deren unheilvolle
Folgen dann wiederum zu ihrer zeitgemäßen Wiederherſtellung mahnten.
V. Diefe Redhte nun waren die im voranftehenden Artikel
unter V. gefcilderten. So wie von ber Reichsverfaſſung und ben
Reichsſtagen, fo galt bei der Ausbildung der deutfchen Landesverfaſſun⸗
gen und den Landfländen im Wefentlihen ber gleiche altdeutfche
Grundſatz, daß über alle wichtigen Randesangelegenheiten bie
Stände entfchieden (de majoribus omnes consentiunt),, Nicht
blos Steuers und Gefegbewilligung,, fondern Mitwirkung bei allen Ver⸗
faffunge « und bei den wichtigeren Regierungsfachen und felbft die Ges
eichtöbarkeit in den wichtigeren Fällen blieb, wie Unger ebenfalls auss
führlich nachweifet, ebenfo den Landftänden wie den Reichsſtaͤnden. Die
Gerichtsbarkeit wurde mehr und mehr durdy Ausfhüffe und dann durch
die unter Mitwirkung der Stände ernannten und befegten unabhängigen
Gerichtshoͤfe, die Mitwirkung bei wichtigen Regierungshandlungen in
fpäterer Zeit vermittelft der Steuerbewilligung ausgeübt. |
Als völlig hohl und bodenlos alfo erfcheinen alle jene Theorien,
welche die früheren deutfchen Iandftändifchen und die neuern conflitutios
nellen Verfaffungen freier germanifcher Staaten als nicht aus den uralten
vernünftigen und biftorifchen Urrechten aller deutfchen Völker, fondern
als zufällig oder als durch Ufurpation entftanden, oder als zu irgend einer
Zeit vechtegültig erloſchen darſtellen möchten. C. Welder. .
ir Deutſcher Bunt. "Dte Sekittuns bes Bundes und
bei Bunbesrchte durch den Bundesvertrag.
Ind ber zweiten Poriode und bei dem definitiven Ab»
rer des Bundesgrundvertraas aber fiegte vollſtaͤndig der voͤlker⸗
—— Staatenbund. As ſolchen bezeichnen ihn auch ausdräd«
Ad bie Bunbesverhanblungen feit feiner Eröffnung ?) „ auch bie
Schiußacte im Art. 1). Dan muß‘ nur bierbei das durch die
Bundesacte wirklich begründete Rechtsverhaͤltniß, die wirkliche Ab⸗
[Echt der Gruͤnder bei dem definitiven Abſchluß des ſetzgen Bundesver⸗
trage, fo wie beſſen Wortſinn unvermifche laffen mit allen fruͤheren
ober —— Anfichen und Wuͤnſchen Aber das, was etwa das öffentliche
Wohl erdeiſchen m
Man muß ** im Auge behalten, baß die Bundesacti aut
druͤcklich Aberal in den Bundesgeſetzen, fo wie mittelber auch tk
ben Landesverfaffungs» WBerträgen, ‚die fle au Grunde legten‘:
„als ber Grundvertrag und als das erfte Grundgefet des
„Bundes“ erflärt wurde, deſſen Grundcharakter, Geiſt und
Indbeit uͤberall die vehtlihe Wirkſamkeit des Bundes
„bedingt und begrenzt”, fo daB ihm kein Bundesbeſchluß wider
ſprechen und Im Widerfpruch mit ihm competent und gültig ſein
konn (Bundesacte 1.2.7., Wiener Schlußaete von * Are
4. 9. 10: 18. 17. 19. 26. 65. 56. 60. 64.616:66.78:) mb
Daß: etwaige ihm widerſprechende flantsrecätfiche Beſtimmungen sit: We
ſchraͤnkung bee wathrlichen oder der poſitiven Rechte der Buͤtgee, olkt
dern landesverfaſſungẽmaͤßige Zuftimmung, nicht vechtögültig werben
tonnten (Schlußacte Art. 55. 56.). Dieſes ermeift insbeſondere auch
Rudhardt in feinem Reht des deutſchen Bundes. Diefer be:
waͤhrte und befanntlicdy auch officiel und tief eingeweihte bairiſche Publi⸗
ciſt fagt ©. 30: „Solche Dem Grundvertrag widerfprehende
„Bundesbefhläffe, felbft wenn fie formell zu Stande ges
„Lommen wären, würden unbeilbar nichtig oder ber Bund,
„da die Societät Ihre urfpränglihes Wefen verloren
„bitte, factifh aufgeloöͤſt fein.“ Hiermit flimmt aud) die ge
möhnliche bairifche Formel der Verkündigung der Schlußacte und al:
ler Bunbesbefchläffe, „„fomweit ſolche der Landesverfaſſung nidt
„widerfprehen”, überein. Die Bundeserflärungen aus den erften
vier Fahren des Bundes beftätigen die erwähnte Grundanſicht, befonders
auch In Beziehung auf die dem Staatenbunde entfprechende volle Souves
ränetät der Bundesftanten. &o namentlich die Sompetenzorbnung
bes deutfchen Bundes von 1817.
Sie fagt (Prot. $. 223.): „Da der Begriff voller Souve-
„ränetät ber einzelnen Bundesftaaten der Bunbesacte zu Grund
„gelegt ift, fo liegt unbezweifelt jede Einmifhung der Bundesverſamm⸗
Präfibialvortrag 2. Nov. 1816. Nr. 1.
Deutfcher Bund. 185
„tung in bie inneren Abminiftratios Verhättniffe außerhalb der Grenzen
„ihrer Competenz” 2).
Diefe rechtliche Natur und Abficht des Bundesgrunbvertrags wird
uns völlig erflärt und beftätigt ducch die Gefchichte feiner Entſtehung.
Schon in ber früheren Periode, und während der ganzen Verhandlungen
über den Bund, traten nämlich ben übereinftimmenden Abfichten aller
übrigen beutfchen Regierungen Über bie Begründung eines ſtaatsrecht⸗
lihen Bundesftantes, zwei deutſche Fürften, die Könige von
Bhiern und Württemberg, auf das Entfchiedenfte entgegen. (Vergl.
V. am Ende.) Als nun nad Napoleon’s Rüdkehr von Elba die Noth
zu fchneller Abfchliegung des Bundes dreingte, kam ein Vergleich
der beiden widerfireitenden Hauptanfichten unter ben Gründern bes Buns
des zu Stande.
Einerfeits mwilligten die übrigen Bunbesregierungen ein, an ber
Spitze des Bundes bie volle Unabhängigkeit der Bundesſtaa⸗
ten und ihre Erhaltung ale Bundeszmwed aufzunehmen, und
verzichteten auf eine allgemeine flantsrehtlihe Natur, Zweckbe⸗
ſtimmung und Gewalt des Bundes, und mithin audy auf alle
Eigenthuümlichkeiten des ſtaatsrechtlichen Bundesſtaates,
an deren Stelle nun bie bes voͤlkerrechtlichen Staatenbundes
angenommen werben. Die vier und dreißig mittleren und klei⸗
neren fouveränen Fuͤrſten und freien Städte gaben bie früher von ih⸗
nen fo energifch verlangte Miederherftellung des Reichs und der Kaifers
mürde auf. Defterreich, Preußen und Hannover verzichteten auf bie
früher in ihre Entwürfe aufgenommene ftaatsrehhtliche, durch tegels
mäßige Stimmenmehrheit wirkende gefeggebende, ſtrafende unb
rihtende Dbftgemalt des Bundes und auf bie. bafüe, und für
eine ſtaatsrecht liche Erecution beftimmte Kreiseintheilung mit Kreiss
oberften, mit einem höheren Bundescolleg derfelben, fo wie auch felbft auf
bleibende Bundesgerichte. An die Stelle aller diefer ſtaatsrechtlichen Or⸗
ganifationen traten jegt ein auf blos formelle Gefchäftsleitung be⸗
ſchraͤnktes Praͤſidium, diplomatifhe Unterhandlung durch Gefandte der
volftändig und gleich fouveränen Regierungen, blos vorübergehende
gewählte Schiebsgerichte und vertragsmäßig regulirte Kriegshilfe zur Er⸗
fülung und Erecution der Bumdesvertragspflichten. Alle verzichteten
auf die früher beabfichtigten, In den Entwürfen bereits enthaltenen flaates
rechtlichen Beſtimmungen über Handel, Poften, Münzen, Univerfitäten,
Kichen, überhaupt über gemeinnügige oder dem flantsrechtlichen Zweck
des Geſammtwohls entfprechende Anorbnungen. Sie gaben endlich für
Alles, was nicht in Beziehung auf das auswaͤrtige Doheitsrecht der voͤl⸗
kerrechtlichen Vertheidigung bereits, fo wie 3. B. die Bundesfeflungen,
2) Vergleiche über diefe Grundfäge überhaupt Rudhardt ©. 16, 23 bis
27, 29, 44, 50, 56, 60, 63, 65, 106, 201, 238—41, auh Behr, über bie
Bränzen der Bundbesgewalt. — ©. f. Jordan, deutſches Staats
recht, $. 179. Zittmann, über Bundbesverhältniffe, S. 62, 117,
119, 137 und Klüber, offentliches Recht, $. 104. 214.
real gemeiufgafetid gemacht iß, ja * u.
tſcheidung du
—
bier noch für alle wichtigeren Faͤlle, an
meheheit auf. ¶ Bundes ·Act.
willigten auf: ber enden Seit⸗ Balern und Wür⸗
demberg jegt «in, daß indem, feinem Weſen nad volkerrech tli⸗
den Staatenbund, enbangsmeife unb neben ber vegeimäßigen
ber Staeten doch aus nahmswelſe
einige beſtimmte Rechte allen bentſchen Bürgern als ein
Brnisßes verbärst, unb daß fo. m einige .;
eines deutſchen Berianetdennes aund ‚atignalen
| —* bes des
haufen e ausgefpenchen: wurde
werinbgte fich ‚um, wia man fo — **
„bie beutfche Nation wenigfims durch bie wefentlichfte Erfhliung das Ihe
a a
Anſtraugungen
9— Aber Ansrksunungse und Zulagen wur jege in Aer-Defie
aicioen. unbesacte: unter ber Ueberſchrift: ne
kimmyngen‘“; auch ſchon der Äußeren, Form nach muy -alk ein.
- bang” ber „allgemeinen vein wöllerrechtlichen Bunbası Mokiıms
her
mungen” ** —* np ſelbſt —— Br
Einleitung gu —* eſondern Bıefimmungen,
vdlkerrechtlichen Artitel „ben Bund
ſondern zur
—— — die. If schtlihe. Rasur und Bafendeiti un
Bwedbeffimmung ‚geben folten.
Noch der. Istte aller Entwürfe der Bunbed-Werfaffung wußte busch«
aus nichts von Diefer Anordnung. Vielmehr flanden bier noch beide
verfchiedenen Arten von Beſtimmungen, die über bie Rechte der Bürs
ger und über die Bundesswede und Einrichtungen, ganz ungetrennt und
untermifcht. Erſt auf die noch ganz zulegt an die baierſche Geſandt⸗
ſchaft ergangene Juſtruction ihres Hofes wurde die neue Abtheilung und
Einrichtung gemacht. (Klüber, Acten U. ©. 479, 631.) Unb-
forgfältigft wurde jest in der auf bie voͤlkerrechtlichen —— be⸗
ſchraͤnkten, an ihre Spitze geſtellten Zweckbeſtimmung des Bundes ſowie
ſich ſogleich ergeben wird, alles Staat srechtliche getilgt.
Erſt nach allen dieſen Conceſſionen willigte Baiern
endlich ein in ben Bundesvertrag. Wuͤrtemberg wollte ſogar noch
jegt nur bie elf rein völferrechtlichen Artikel anerkennen, gab indeß bald
die gleiche Zuftimmung wie Baiern (Kluͤber IL. ©. 624).
Somit ſpricht benn alfo nun für die voͤlkerrechtliche Natur,
Zwedbeflimmung und Gewalt des Bundes:
1) die angeführte Entſtehungsgeſchichte des Bunbesgrundvers
trags und die über ihn flattgefundene Vertragsverhandlung feiner Gruͤn⸗
ber. Eben weil man bem baierifdys wärtembergifchen Widerſpruch gegen
die ſtaatsrechtliche GBeftaltung und ihrer Korberung ber vollen Souveraͤ⸗
netät der Staaten und Verfaffungen und des Mechts ber Regierungen
und der Bürger auf biefelbe hatte nachgeben und deshalb auch bie Rechtes
Deutſcher Bund. 187
zuficherungen für die Bürger fo fehr beſchraͤnken muͤſſen, deshalb druͤck⸗
tem ja auch bei der Unterzeichnung der Bundesacte viele andere Gefandten
ihr Bedauern aus, „baß nun ber Bund ben gerechten Erwartungen der
Nation noch nicht völlig entfpredhe”, indem er noch nicht genügende
echte ertheile und indem er, tie Hannover ſich ausdruͤckte, „jetzt
„mar ein politiſches Band unter den verſchiedenen Staaten”, nicht „aber
„im Begriff der alten Verfaffung eine Bereinigung des
„geſammten dbeutfhen Volkes in fih faffe” (Klüber ©.
624, 629, 632, 546, 547, 551);
2) der jegige Eingang der Bundesacte. Statt bie in allen frü- 1
beren Entwürfen hervorgehobenen ftaatsrechtlihen Verhältniffe von:
Deutſchland auch nur zu erwähnen, beginnt die jegige Bundesacte mit
ber blos bei voͤlkerrechtlichen Verträgen gewöhnlichen Formel:
„Im Namen der allerhöchften und untheilbaren Dreieinigkeit” und mit
dem völterrechtlichen Motiv: ‚Die fouveränen Zürften und freien Städte
„Deutſchlands, den Wunſch hegend, den fechsten Artikel des Parifer
„Friedens in Erfüllung zu fegen, und von den Vortheilen überzeugt,
„welche aus ihrer dauernden Verbindung für die Sicherheit und Unabs
„bängigkeit Deutfhlands und dad Gleichgewicht von Eus
„ropa hervorgehen werben, find übereingelommen u. f. w.“;
235) die ausbrüdliche Beftimmung des Zwecks ober ber grundgefeg:
lichen Aufgabe bes Bundes. Diefe Zweckbeſtimmung ift, fo wie übers
haupt die rechtliche Natur und Gewalt des Bundıs, da man aus
beren unrichtiger Auffaffung fo große Verlegungen ber Bürger und
Regierungen ableiten will, von unermeßlicher Wichtigkeit. Sie bedarf
daher ebenfalls einer volllommen unbeftteitbaren Dazlegung.
Die Zwedbeflimmung war früher ftaatsrechtlich geweſen, hatte
Die Rechtsverbürgung für bie Unterthanen mit in fi) aufgenommen.
So hieß «6 in dem Entwurf, welcher zuerft den Verhandlungen zu
Grunde gelegt wurde, im Art. 2.: „Der Zwed diefes Bundes ift
„die Erhaltung der äußeren Ruhe und Unabhängigkeit
„and die innere Sicherung ber verfaffungsmäßigen Rechte
„teder Claſſe der Nation u. f. w.“, oder wie ber König von
Hannover neben der voͤlkerrechtlichen Sicherheit den ſtaatsrecht⸗
lichen Zweck bezeichnete: „Siherftellung gegen Mißbrauch der
Gewalt im Inneren u. f. w.“ Allein gerade diefem ſtaatsrecht⸗
lichen Zwede fegten Baiern und Würtemberg mit Erfolg die Un>
abhängigkeit oder Souveränetät der Bundesſtaaten und des⸗
balb bie blos voͤlkerrecht liche Natur des Bundes entgegen (Klüber
I. 65. II. 91, 94, 97, 107, 114, 167). Nun wollte man nad) jener
Bereinigung zuerft noch durch ben Zufag helfen: „daß keine andere
„als die inderBundesurkunde fpeciell feftgefegten Rechte
„beijener inneren Sicherung gemeint feien” (Kiüber IL
300). Doch auch felbft diefes befriedigte Baiern und? Würtemberg
noch nicht, und es wurde deshalb endlich jede Erwähnung irgend eis
nes flaatsrechtlichen Zwecks, eines allgemeinen Wohls, einer ſtaats⸗
iechlllchen Sicheruug u a 1. aufhencben mb vielmehr beffen Gezen⸗
Koll, die endefgränfte Unabhängigkeit der Bundesſtaa⸗
ten, — Der Bunbdeszweck wurbe nun definitiv im Art. 1.
beftimme als: „Erhaltung der Anferen und inneren Sicher⸗
heit“ —— und der Unabhängigkeft and Unver⸗
ntegbätkett der einzelnen beutfhen Staaten.” Die Wie»
ner Sälufacte: 'von 1820 til es vollends noch unmwiberfprechlicher
machen, daß er. ne: reln volkerrechtliche Sicherung ver⸗
ſtanden werben ſolle, nur das was vorher ſchon ein öfterreichiicher Ent»
ion warf Ad Bonbeewes aufgeſige theater, naͤmlich: Erhaltung der
„duſßerrn Fuhe und Unabhängigkeit bes Bundes und bie
Stäbe dei Verbündeten in Ihren mechdieniifen ges
see inander u ſJ. w.“ 1. 1). Die Schlußacte erklaͤrt
"Düher an ihrer Spige Art, 1. und 2: fogar ausbrädliih: „Der Bund
Aſt ein völferrehtlier Verein der deutſchen ſouveraä⸗
„wen Kürffen und freien Städee.” Sie fiellt dann In ber Im
gabe dere die Bewahrüng ber Unabhängigkeit und Um
„verleßbarkeit ihrer Im Bunde begriffenen Staaten“ foger
noch vor Die „Erhaltung des Bundes” ober „ber inneren
„und dußeren Sicherheit Deufätande.” bot
Bundesnerein’ fer: „in feinem Sühtren eine Semeinſchaft
et unter fi unabhängiger Staaten mit
Avechſelſeitigen gleichen Wirtrhgsredien und Vertrags⸗
„obliegenhelten et Kann man deutlicher in ber juriſtiſchen
Sprädie den Sieg jener obigen batetifch würtembergifchen Anficht von
dem hoͤchſten Gut der Souperänetät für die Unterrhbanen
wie für die Fürften und von ber nur voölkerrechtlichen
Natur des Bundes und feiner Sicherung bezeichnen? Die
voͤlkerrechtliche Siherung Im Bunde aber ift natürlich eine mehr:
fache: einmal die äußere Sicherheit Deutſchlands, das heißt bie
voͤlkerrechtliche Sicherung des ganzen Bunbdesgebiets, nad Außen,
ober gegen alle Sremden, ebenfo bie nah Innen, das heift gegen die
Gewalt der einzelnen Bunbesflaaten felbit. Damit verbindet ſich dann
die befondere ausdrückliche volkerrechtliche Garantie der Bewahrung ber
Unabhängigkeit und Umverlegbarkeit der einzelnen deut⸗
fhen Staaten, bie völkerrechtliche Sicherung biefer Unabhängigs
keit und Integrität gegen Frembe, gegen jeden einzelnen an»
. bern deutfhen Staat und gegen ben Bunbesverein felbft.
— Es waͤre nach allem dieſem allerdings, wie vorzuͤglich auch Rud⸗
hardt a. a. O. hervorhebt, gegen die ſonnenklare Abſicht und gegen
den natuͤrlichen Wortſinn, wenn man mit Manchen unter der „in⸗
neren Sicherheit Deutfhlande” irgend eine ſtaatsrechtliche,
irgend eine gefegliche, poltzeiliche, richterliche, militärifche
Sicherung für das Innere der einzelnen Bundesflaaten unb
nicht blos jene obige rein völkerrehtlihe Sicherung von ganz
Deutfchland, vom ganzen Bundesgebiet, ale ſolchem, gegen
Deuticher: Bund. | 189
die Gewalt feiner Glieder verftichen wollte. Diefe erſtreckt ſich zwar auch
auf das Innere des Bundes ober bes Vereins, ober Deutſch⸗
Lande, aber dennoch nur auf die äußeren, niht auf die inneren
Verhaͤltniſſe der einzelnen Bunbesflaaten. jene entgegen:
ftehende Auslegung führt, abgefehen vom entgegenftcehenden Wortfinne
und ber aus den Verhandlungen ber Gründer des Bundes fidy ergeben:
ven Abſicht derfelben, nur zu Abfurbitäten.
Es würde ja alsdann, wenn man die innere Sicherheit Deutfch-
lands auf das flaatsrechtliche innere ber einzelnen Staaten
begieht, diefe völkerrechtliche Sicherung des Vereins gegen innere Ge:
malt, diefe Sicherung feines Kriedenszuftandes in feinem In—⸗
nern, dieſer Dauptbeftandtheil des Bundeszwecks, in befien Ans
gabe unbegreiflicherweife ganz fehlen.
Es hätten ferner alsdann, wenn ſchon die Sicherheit Deutfc:
lands auf.die innere Sicherung ber einzelnen Staaten bezogen wer-
den follte, auch nicht „Deutfhland” und die „einzelnen deut⸗
fhen Staaten” in demfelben Sag entgegengefegt werden bürfen.
Sie burften es nit, wenn beide daffelbe, wenn aud fchon
Deutfhland bie einzelnen beutfhen Staaten bezeichnen follte.
Es waͤre alsdann auch die doppelte Bezeichnung felbft eine unfchid:
Tiche Wiederholung. Mit andern Worten: alles Andere außer der in⸗
neren und dußeren Sicherheit von Deutfhland hätte ganz
twegbleiben müflen.
Es hätte endlih „die innere Sicherheit”, wenn fie fi als
eine ſtaatsrechtliche auf die „einzelnen Staaten” hätte beziehen
- follen, offenbar vor diefe, nicht aber in der Bundes = und Schlußacte
getrennt von ihnen und nur bei ihrem Begenfag, „bei Deutfhland”
oder dem Bunde ſtehen müffen.
Doch die Verhandlungen über ben Bundes⸗Vertrag fegen auch In
Diefer Beziehung unfere Auslegung vollends außer allen Zweifel.
Mod, der legte Entwurf bes Bundes:Vertrags nämlich, welcher, nachdem
man bereits jene Aufnahme eines ſtaatsrechtlichen Zwecks wegen bes
baierifchen und würtembergifchen Widerſpruchs gegen denfelben aufgege:
ben hatte, die Grundlage der neuen Verhandlungen bildete, hatte wirklich
ben Bundeszwed ohne jene erft ſpaͤter — alfo gewiß abſichtlich
gewählte — Entgegenfegung und Wiederholung „Deutfhlands” und
der „einzelnen dbeutfhen „Staaten“ folgendermaßen beftimmt:
„Erhaltung der-Seibfiändigkeit, ber Außeren unb innes
ven Sicherheit fo wie der Unabhängigkeit und Unverletz⸗
barkeit der deutfchen Bundesſtaaten.“ Hiergegen aber erg
innerte in ber nun folgenden erften Sigung ber holfleinifche Geſandte
Straf Bernftorff, daß ja die innere Sicherheit der beutfchen
Staaten gar nicht zu den Zweden des beutfhen Bunbes
gehöre.” Er fchlug deshalb und um jede Zweibeutigkeit ganz auszu⸗
fließen, die Zaflung der Zweckbeſtimmung gerade fo vor, mie fie jegt
wirklich die definitive Bundesacte enthält, alfo: „Erhaltung ber
190 Deuticher Bund.
Y
äußeren und „inneren Sicherheit Deutſchlanbs und der
„Unabhängigkeit und Unverlegbarkeit der einzelnen Deuts
fheu Staaten.‘ ——
Dieſes ſollte gerade die ausdruͤckliche Beſchraͤnkung der inne⸗
ren Sicherheit auf den Bund, auf feinen ganzen voͤlkerrechtli⸗
hen Frieden bezeihnn. Baiern, bei feinem eifrigen Kampfe für
die Ausfchliegung der inneren Verhältniffe der fouveränen Staaten von“
der Einwirkung der Bunbesgewalt, fiimmte fogleih nachdruͤck⸗
lich bei, und in der zweiten Sigung wurde deshalb mirkiih dieſe
jegige Saffung als bie richtige allgemein angenommen (Kläber II.
S. 309, 315, 345, 408).
Ä Auch in „andern Stellen” über die Bunbesverhältniffe verfichen
bie Begründer des Bundes unter der „inneren Sicherheit” die
voͤlkerrechtliche Sicherung bes Friedenszuftandes gegen die An:
griffe der Bundesſtaaten (f. 3. B. Schlußacte 18.) Dagegm er»
Mären noch bie fpäteren Bundesgefege (Provif. Compet.»Orbn. v.
1817. 5. 223. Schlußacte 25. 32. 51. 53. 61.), daß der Bund
feinem Wefen oder der Regel nach in bie inneren flantsrechtlihen Ver⸗
bältniffe dee Staaten gar nicht einzuwirken babe, daß alfo foldhe Eins
wirkung aus dem allgemeinen, bie Regel ber Bunbesthätigs
keit bildenden Zwed gar nicht abgeleitet werden koͤnne, in ihm
nicht enthalten fei (daß fie mithin nur auf jene einzelnen fpeciellen
Ausnahmen der Garantie der beflimmten befonderen Recht 6zuſiche⸗
rungen für bie Bürger fi) gründe und befchränte).
Die entgegengefegte Auslegung würde auch noch fonft zu doppel⸗
tem Widerfinne führen. Will man ndmlih für’s Erfte unter
Sicherheit überhaupt mit fo vielen Rechtslehrern (f. 3. B. Klüber,
öffentl. R. F. 1. Zaharid über den gegenwärtigen poli—
tifhen Zuftanb der Schweiz ©. 16) den Staatszweck, alfo
unter innerer Sicherheit die ganze gefeßgeberifche, richterliche, polizeiliche,
finanzielle und militärifhe Regierungsaufgabe verftehen, fo begründete
ja alsdann die innere Sicherheit im Bundeszweck, in diefem oder
im ftaatsrehtlihen Sinne genommen und auf die einzelnen
Staaten bezogen, indem fie zugleich jegt gerade völlig unbefhränft
dafteht,, in Verbindung mit der äußeren Sicherung offenbar den gan⸗
zen Staatszweck und eine allumfaffende wahre Staatsge:
walt für den Bund. Die gleichzeitig ald Grundlage und Zweck
des Bundes anerlannte „volle Unabhängigkeit oder Souveraͤ⸗
netät aller einzelnen Bundesſtaaten“ aber und die voͤlkerrechtliche
Natur des Bundes wären dann voͤllig zerflört. Man darf aber doch
die Bundesacte nicht fo auslegen, daß fie überall fich felbft und den
Staren Abſichten ihrer Gründer widerfprähe. Es durfte fuͤr's
Zweite auf ben Widerſpruch von Baiern und Mürtemberg nicht ein:
mal fo viel von einem inneren flaatsrechtlihen Verhaͤltniß im Bundes
zweck berührt werden, daß nut die Erwähnung der den Unterthanen
verbürgeen einzelnen Rechte Plag gefunden hätte Sie mißfiel
Deuticher Bund. | 191
auch trog des ausdruͤcklichen Zuſatzes: „bag auf dieſe einzelnen
„Rente fi alle Einwirkung des Bundes auf innere
Mechtsverhältniſſe der fouverdänen Staaten befhränte.”
Die Regierungen alfo Eonnten doch gewiß nimmermehr einwilligen
zur Aufnahme irgend eines noch viel allgemeineren Zwecks ſtaatsrechtli⸗
der Sicherung im Innern der fouveränen Staaten. Sie konnten nicht
mie Eifer Die jegige Faſſung bes Bundeszwecks in dem Sinne vertheis
digen, daß er die ftaatsrechtlihe Unabhängigkeit weſentlich befchränkt
sder zerflört, überhaupt in feinem andern als in dem obigen rein
vslkerrechtlichen Sinne.
Nach allem diefem ift alfo ſelbſt diejenige Auslegung achtungstwerther
Publiciſten unmöglich, welche bei den Worten „äußere und innere
Sicherheit Deutſchlands“ zwar jeden Gedanken an jene allges
meinſte ober irgend eine allgemeinere Sicherung im Innern der Staaten
ausfchließt und nur an die Gewähr der einzelnen in ben befonderen
Beſtimmungen der Bundesacte den Bürgern zugeficherten Rechte dachte.
Hätte man aber diefe in den Bundeszweck aufnehmen wollen, fo hätte
man dazu jene obigen, früheren befferen und beftimmteren, vorhin
(unter 8) ſchon erwähnten befchräntenden Bezeichnungen gewählt. Selbſt
Diefe aber verwarf man ja gerabe auf den baieriſch⸗ würtembergifdyen
Widerſpruch. Es war aud allerdings diefe Aufnahme fpäter, als man
den flantsrechtlichen Charakter des Bundes und ben größten Theil ber
früher für die Bürger vorgefchlagenen Rechtszuſagen aufgegeben hatte,
wahrhaft unpaffend geworden. Denn nun waren biefe wenigen übrig
gebliebenen einzelnen flantsrechtlichen Zuficherungen,, al& folche, allers
dinge blos ausnahmsmeife Verfügungen über die jura singulorum
der einzelnen fouveränen Bundesſtaaten. Sie waren nach dem Ansbrud
ber Schlußacte 15. Rechte, in Beziehung auf welche bie Bun⸗
besglieder niht In vertragsmäßiger Einheit, fondern
als einzelne felbftfländige und unabhängige Staaten pr
f&heinen.” Denn als folche jura singulorum erfcheinen im völker:
rechtlichen Staatenbund ber fouveränen Meglerungen ſtets alle inneren
ſtaatsrechtlichen Verhaͤltniſſe derfelben, uͤber welche daher, wie insbefons
dere auch über gemeinnügige Anordnungen, nur mit Stimmeneinhelligs
keit und, foweit Rechte der Bürger oder Stände beſchraͤnkt werden folls
ten, nur mit deren Zuflimmung rechtsguͤltige Verfügung möglich
ft (Bunbdesacte 1.27. Schlußacte 1.2. 3. 4. 9. 10.18. 18,
17. 63. 55. 56. 64. 66. Proviforifche Competenzorbnung
bes Bundes 1817. $. 223. Tittmann ımb Rudhardt a. a. O.
Ausnahmen aber kann man vernuͤnftigerweiſe nicht in ber bie
altgemeine Regel bejeihnenden allgemeinen Zweckbeſtimmung
eines Vereins aufnehmen. Sie wurden eben deshalb auch gar nicht
unter den Bundeszweck geftellt, aus welchem nach dem Obigen alfo dur,
aus gar Leine gefeggeberifhe oder vollziehen; Einwire
kung des Bundes auf die ſtaatsrechtl;
ber fonveränen Staaten — 8R —S—S——
N
192 Deuticher Bund.
Bunbeszwed ſteht vielmehr nur an bee Spige der „allgemeinen
Beflimmungen,” welche der völkertechtlihe Bund „feſtſtellen“ follte.
4) Doppelt fprechend für unfere Anfiht wird nun in Verbindung
mit allem Bisherigen (1. 2. 3.) eben jene obige Abtheilung derfelben:
die Feſtſtellung eines nur völkerrechtlihen Staatenbundes in dem
Haupttheil und die Verweifung der Garantie jener wenigen beflimm:
ten flaatsrechtlichen Rechte der Bürger in einen Anhang und bie Gtels
lung berfelben unter die Auffchrift „Befondere Beftimmungen.”
5) Dem Bisherigen entfpriht nun aud der ganze Inhalt des
Bundesgrundvertrage. Es begründet naͤmlich einerfeits nach dem Obi⸗
gen wirklich der für die Feftflellung des Bundes beflimmte
Theil des Grundvertrags alle wefentlichen Charaktere bes völkerrechtlichen
Staatenbundes, nirgendwo die eines flantsrechtlihen Bundesſtaats.
6) Und es ftehen hiermit auch andererfeits jene wenigen ausnahms⸗
weifen flantsrechtlichen Beflimmungen im Anhange nicht im Widerfprudh.
Die befondern Beſtimmungen in diefem Anhange find nämlich doppelter
Art. Ein Theil ift, obwohl er innere Verhältniffe berührt, doch an
fi) eigentlich noch völferrechtliher Art. Er befteht in der Annahme
und Erhaltung einiger beſtimmten früheren völkerrechtlichen Rechts»
vorbehalte, die gegen die Landesherren, bei ihrer Erwerbung der Doheit
über beſtimmte Claſſen von Perfonen, 3. B. der Standeöherren, zu
Sunften derfelben gemacht werden (Art. 14, 15 und 17). Der ans
dere Theil enthält eben jene wenigen beftimmten deutfhen Natio⸗
nals und Staatsrechte, welche zur Erfüllung jener Verheißungen
in den Befreiungskriegen und zur Erhaltung der Eriftenz und Freiheit
und inneren Verbindung einer deutfchen Nation allen deutfchen Staatse
bürgern in allen deutfchen Staaten durch den Bund gewährt wurden,
oder „zu den Rechten,’ welche nach dem Ausdrud des Art. 18, „die
verbündeten Zürften und freien Städte übereinfommen, den Unterthunen
bee deutfchen Bundesftaaten zuzufichern.”
Solche allgemeine Rechtszuſicherungen begründen, außer jenem
Nechtsvorbehalte für die Standesherren u. f. w. im Art. 14, 15 und
17, alle Beftimmungen des befondberen Theile. Hierher gehören
die Anerkennung und Verbürgung unabhängiger Suftiz im $. 12, bie
Zufiherung landfländifher Verfafjungsrechte im Art. 13, die Zufiches
rung gleicher politifcher Rechte im Art. 18 und bie in Ausficht geftellte
Steiheit von Handel, Verkehr und Schifffahrt im Art. 19. Die ge:
fammten Beflimmungen des befonderen Theils aber fihhern Feines»
wegs den Fürften oder dem Bund irgend ein Recht gegen die Unter»
thanen zu, fie fihern vielmehr nur den Unterthanen beflimmte
Nechte gegen die Fürften zu.
Es find insbefondere alle allgemeine Rechte der deutfchen Bürger
folhe Rechte, die zwar fhon beftanden, durch die neue Anerkennung
und Merbürgung aber doppelt den Charakter wohlerworbener
Rechte erhielten Kluͤber, Oeffentliches Recht, 5.105). Es find zus
gleich die für die Exiſtenz und vechtliche Freiheit einer deutfchen Nation
%
Dentſcher Bund und beutfcheg Bundesrecht. 193
abfolnt weſentlichſten Rechte, oder ein Minimum, welches,
wie die Gründer bes Bundes in den Verhandiungen überall fagten oder
anerkannten (Klüber I. 61), von den einzelnen Regierungen zwar
follten ausgebehnt oder vermehrt, aber nidht vermindert
werden fönnen. Bon einer Beſchraͤnkung der Unterthanenrechte aber
hielt die hohen Bundescontrahenten nad) ihrer Erklaͤrung ſchon bie ach⸗
tungswuͤrdige Rechtsanſicht ab, daB fie durch einen Vertrag blos mit
Dritten (mit andern Regierungen) ihren Unterthanen zwar Rechte zus
fichern, aber keine nehmen Einnten (daß, wie bie Pandelten L. I. de
negot. gest. fagen: naturalis et civilis ratio suasit, alienam eonditio-
nem meliorem quidem etiam ignorantis et inviti nes facere posse,
deteriorem non posse); oder daß, wie Hannover in den Verhandlungen
erklaͤrte, die Regenten nicht koͤnnten in dem Lichte erfcheinen wollen,
daß fie über ihrer Unterthanen Rechte mit fremden Regierungen tranfis
gkten, da ja biefe Rechte durchaus kein Begenftand ihrer Trans
acttonen ſeien. (Klüber, Acten I. Seite 68, 72, 73, 87. V.
S. 108.) Don einer Befchräntung ber Souverdnetät der Regierungen
in ihrer Anerkennung freierer Rechtsverhaͤltniſſe, von einer
bunbesmäßigen oder allgemeinen gefeggeberifhen oder polizei⸗
lichen Beſchraͤnkung der Unterthbanenrechte zum Schug der Res
genten der fouveränen Staaten oder wohl gar eines monars
Hifhen Principe, ift überall Leine Spur vorhanden. Aus
dem Bunbeszwed der völkerrechtlihen Sicherung, oder daraus, daß im
Eingange ber Bunbesacte die Bunbdesglieder fouveräne Fuͤrſten
und freie Städte genannt merden, läßt ſich eine Einmifhung bes
Bundes zur polizeilihen Sicherung und zur Erhaltung des monars
hifchen Principe, ober zur Erfüllung der Bundespflichten offenbar ger
rade ebenfo wenig ableiten, als ſich fo etwas aus dem Buͤndniß von
Chaumont für die ruffifchen, engliſchen, öfterreichifchen und preußi⸗
Then Staatsverhaͤltniſſe ableiten Tief, obgleich auch bdiefen Bund aus⸗
druͤcklich ſouve raͤne Fuͤrſten und für den Zweck gemeinfchaftlidher
Sicherung abſchloſſen und obqleich auch ihre Erfuͤllung ihrer Bun⸗
despflichten durch innere Zuſtaͤnde verhindert werden konnte. Eine Ab⸗
leitung des fo vieldeutigen monarchiſchen Princips und feiner willkuͤr⸗
lichen Folgerungen, aus der bleßen gelegentlichen Bezeichnung der Bun⸗
desglieder als ſouveraͤner Fuͤrſten, iſt um ſo unbegreiflicher, da ja da⸗
bei die freien Städte unmittelbar mit und neben ihnen als Bundesglie⸗
der genannt find. Man Lann aber doch nicht einen allgemeinen
Zwed und Grundfag des Bundes aus einer Bezeichnung ber Bundes:
glieder folgern, der für einen Theil feiner Mitglieder undenkbar iſt.
Ebenfo gut hätte man auf das Princip einer ftädtifhen, alfo einer
republikaniſchen Verfaſſung der gleichberechtigten Bundesgenoffen fchlies
Gen dürfen. Das Alterftärkfte gegen diefe Austegung aber iſt das, daß
ja die Bunbdesacte felbft in ihrem erſten Artikel, in ihrer Beſtimmung
Deſſen, was vom Bunde gefchägt werden dürfe, die Souverdnetät als
Staatsunabhängigkeit bezeichnet und daß hier und in den gankew
Suppl. 3. Staatslex. II. \3
104 Deuticer Bund und deutſches Bundesrecht.
Verhandlungen über den Bund keine Seele daran dachte, einen Zürften
in einem andern Sinne fouverän zu nennen als gerade zur Bezeichnung
der aͤußern Unabhängigkeit. Man bezeichnete damit alfo das Gegen-
theil von flaatsrechtlicher Einmifhung zur Erhaltung monarchifcher Ver⸗
faſſungsrechte.
Die Hauptergebniſſe der bisherigen Betrachtungen über unferen
om Rechts zuſtand koͤnnen wir in folgenden Sägen zufammen-
faſſen:
I. Der deutſche Bund iſt nach feiner grundvertragsmaͤßigen Zweck⸗
und Gewaltbeſtimmung und nad) feiner Organiſation ein voͤlkerrecht⸗
liher Staatenbund aller deutfchen Staaten für den gemeinfchafts
hen voͤlkerrechtlichen Schug Deutfchlande und ber einzelnen deutfchen
taaten.
11. In befonderen Zufag» und Anbangsbeflimmungen, die von
jenem voͤlkerrechtlichen Bundeszwed nicht ausgehen, aber feine Verwirkli⸗
hung unterflügen, verfprechen alle Bundesregierungen und garantirt
der Bund einige beftimmte Rechte für deutfhe Bürger, eins
zeine für beſtimmte Claſſen von Perfonen — die andern für alle Deut-
fen, und zwar die leßteren, um dem beutfchen Bunde eine nationale
deutfche Grundlage zu erhalten und zugleich zur Befriebigung der weſent⸗
lichſten Rechtsforderungen aller deutſchen Bürger und der ihnen in Bes
ziehung auf biefelben beim Beginn der Freiheitskriege gemachten feier
lichen fürftlihen Zufagen.
IUI. Keineswegs aber begründet der Bunbesvertrag innere ftaates
rechtliche Verbindlichleiten ber Unterthbanen oder, außer jener Garantie
der beſtimmten Rechte, irgend eine gefeßgebende oder vollziehende Gewalt
über die inneren flaatsrechtlihen Verhaͤltniſſe und zur Beſchraͤnkung der
Sreiheit der Unterthanen oder auch der Fürften. In Beziehung auf bie
Vermehrung der Unterthanenrechte vielmehr erkannte, gerade um alle
foldye Befchränkungen der Fürften und Bürger, welche obne alle Natio⸗
naltepräfentation die Regierungen und Bürger gefährden,
ja den Redhtszuftand ber Nation aufheben, gänzlid aus
zufchließen, der Bund bie vollkommene Unabhängigkeit ober
Souveränetät der Bundesflaaten, alfo ihrer Verfaffungen und
Verwaltungen, als grundvertragsmäßiges Necht der Regierungen und
Bürger an. Er nahm die Verbürgung diefer Unabhängigkeit ber
ten felbft ausdrüdlih in den allgemeinen Bundeszweck
auf.
So befldtigt es nicht blos ber klare Inhalt des Bundesgrundvertrags
wie die Geſchichte feiner Entſtehung. Go ertannte, beftätigte und inters
pretirte der Bund felbfl. In den Bundesverhandlungen und in den
Belchlüffen der erften vier Jahre jeit der Gründung ded Bundes
oder bis zu den Carlsbader Ausnahmsregeln findet fich eine Spur ents
gegengefegter Anſicht, Beine Spur einer polizeilichen oder
einer anderen Rehtsbefhräntung der Unterthanen durch
ben Bund, Sein monarchiſche Perincip und Feine ſtaatsreſchtliche,.
Deuticher Bund und deutſ ches Bundesrecht. 195
gefeggeberifhe Einmifhung zu feinen Gunſten oder für irgend
ein Recht der Regierung. Vielmehr beftätigten alle diefe Beſchluͤſſe und
bie damals veröffentlichten Verhandlungen vonftändig die ausaefprochene
Grunbanſicht von einer Beſchraͤnkung aller Einwirkung des Bundes für
die innern ſtaatsrechtlichen Verhaͤltniſſe nur auf die Schügung der den
Unterthanen bundesmäßig garantirten Rechte. In biefem Sinne fpricht
fich die zuvor erwähnte Gompetenzbeftimmung aus. In biefem Sinne
verwirklichte der Bundestag in dem Gefege vom 23. Januar 1817 tie
Freiheit von Nachfleuer und Abzugsgeld, welche der Art. 18 der Bun-
besacte in einem und dbemfelben Redefag den beutfchen Unter:
thanen mit der Preßfreiheit zugefichert hatte. Er dehnte felbft bundes⸗
gefeglich jene Freiheit zur möglichfien Gewährung des zugefagten Rechts
für die Unterthanen liberal fo weit aus als es irgend der Sinn bes
Art. 18 geftattet, und erkennt die natürliche Freiheit der Bundesregie⸗
zungen, dieſes Minimum der Mechte nody zu erweitern, als fi) von
felbft verftehend an.
An diefem Sinne ertheilte die Bundesyerfammlung, mit Ein:
ſtimmigkeit allee Mitglieder, der weimarifchen Verfaſſung, welche
ihren Unterthanen die vollftändigfte Preßfreiheit gewährt, bie
befondere ausdrädtiche Sarantie bed Bundes. In biefem Sinne
erklärte, mit einftimmiger Zuftimmung der Bundesgefandten, ber
Praͤſidialvortrag bei Eröffnung bes Bundes bie freie öffentliche Meinung
der Nation als einen Leitftern bei den Bunbesberathungen. In bdiefem
Sinne fand auch die freie Volksſprache durch Petitionen über allgemeine
und befondere Angelegenheiten freundliche Aufnahme und Ermunterung,
letztere fchon in der Eröffnungsverhandlung des Bundestags. In dies
fem Sinne fiel namentlih auch im Fruͤhjahre 1818, nach ben Snftrucs
tionen von allen Regierungen, bie fo hoͤchſt merkwuͤrdige feierliche Bes
rathung am Bundestage aus, welche eine Gollectiv » Petition mehrerer
Bürger verfchiedener bdeutfcher Länder, wegen Verwirklichung bed Art. 13
der Bunbesacte veranlaßt hatte und in welcher Defterreich, in Beziehung
auf das bundesmäßige Verfprechen ber landftändifhen Verfaffungen, bie
liberalen Erklaͤrungen abgab, das nah Inhalt und Zeit unbeflimmt
Verſprochene müffe in beider Hinſicht möglihft günflig für den Acceps
tanten, es muͤſſe fürftlih zur Ehre des Gebenden und zum Vortheil
des Nehmenden ausgelegt werden. Preußen aber ging, ebenfo wie auf
dem Miener Congreg noch, voran in liberalen Erflärungen ?), und alle
jest bald folgenden Iandftändifchen Verfaffungen von Baiern, Baden,
MWürtemberg u. f. w. verwirklichten In zeitgemäßen ſtaatsbuͤrgerlich repraͤ⸗
fentativen Formen voliftändig das oben Bb. 111. S. 800 angegebene,
biftorifch begründete, in den Congreßverhandlungen anerfannte Minimum
landſtaͤndiſcher Rechte.
An diefem Sinne aufgefaßt, als im Weſentlichſten wenig»
* Protokoll der Bundes: Berfammlung von 1818. V. 227. VI. 281
| 18%
\
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38. Bin u a bin Ba
Brad eruruurnd mb © b alle jene ansbeiittiä auch vom Bunbes⸗
tag Defkätigten großen Werheißungen wahrer Mechtezuftdübe
das deutſche Volk, nahmen auch die neum Verfaffungen den
mbeögrundverteag in ſich auf, und in bdiefem Sinne Ieifleten und
empfingen bie „Sürfen und bie Buͤrger bie Eibe auf die unverbruͤchliche
Bersahrung bee neuen Landeggrundverträge. - Nur in biefem Sinne
konnte man verfichen die öffentlichen Werkünbigungen des Bundesver⸗
trags und bie Werpfänbungen des Fuͤrſtenwortẽ feine treue Erfuͤl⸗
lung, weiche ber Kalfer von Deftrrreid mit folgenden Worten ausſprach:
„Thun bieralt Fund und zu willen ‚Sebermaun, befonders aber
‚Kiten, benen daran gelegen iſt: nachdem wir alle und jebe in
em Brundvertrag, ſowohl allgemeine als befonbere Bes
khmmungen orgfältig gepräft, erwogen und genehmigt haben, auch
„raft —— Beftätigungs Urkunde hiermit feierlich Beftätigen,
„fo verſprechen wir zugleich auf unfer Kaiſerliches Wort, gebachten
—— re nachzukommen, und haben zu deſſen mehreren
e Ratification un, unterzeichnet unb
‘ lelber Unfer —A Staatsſlegel anhängen laſſen.“
en —* a er lem Perl Bagarid 8* allerbings allem
—1
— "fg feonifict er entiweber, oder er * rgißt dr biefe Bes
ſchluͤſſe fi größtentheils geist als proviforifche Ausnahmsbefhläffe bes
zeichneten (Rubhardt S. 239— 241). Er überficht ferner die rechtll⸗
hen Bedingungen einer rechtögültigen Verpflichtung der Bürger und
einer Begründung und Einrichtung eines allgemeinen flaatsrechtlidhen
Vereins eines freien Volle. Gerade wenn der Bund in einen ſtaats⸗
rechtlichen Verein vertvanbelt werben follte, alsdann war ja Ausdeh⸗
nung flatt ber Beſchraͤnkung der freien Nationalrechte und ber freien
Mitſprache der Nation unentbehrlih. Eine Veränderung ihres grunds
vertragsmäßigen Verhältnifies,, ihres gegenfeitig zwiſchen Fürft und Volk
befchtwornen verfaffungsmäßigen Rechtszuſtandes, ein Verfügen des
Bundes über fie, find ohne Zuftimmung der Bürger oder ihrer Repraͤ⸗
fentanten und ohne Repräfentation am Bundestage rechtlich völlig
undenkbar. Solches einfeitige Verfügen ift mit einem wirklichen
Rechtszuſtande ganz unvereinbar. Auch nad) dem Grundvertrag des
Bundes felbft iſt jeder ihm und feiner rechtlichen Natur widerſprechende
Bundesbeſchluß rechtsunguͤltig.
Faſt alle deutſchen Regierungen hatten ben bei Ausbruch des neuen
Krieges zur Beruhigung der Nation uͤber ihren Rechtszuſtand ſchnell
abgeſchloſſenen Bundesvertrag mit dem ausdruͤcklichen Bedauern unter⸗
zeichnet, daß derſelbe wegen des Dranges der Umſtaͤnde den gerechten
Erwartungen ber Nation in Beziehung auf die zugeſicherten Rechte
4 Aläbey’ 6 Quellenſammlung. 3. Aufl. ©. 186.
Deutſcher Bund und deutſches Bundesrecht. 197
nicht fo entfprechendb babe genügen Binnen, wie es billig und ertwänfcht
gewefen fei, und daß die Zukunft bier nachhelfen mäffe. ®)
Und gewiß, diefem läßt fidy nicht miderfprechen. Dennoch aber
gab die Bunbesacte, ihre treue Durchführung vorausgefegt, wenigſtens
die mefentlihften Grundlagen eines würdigen Rechtszuſtandes.
Sie anerkannte außer der unentbehrlichfien völkerrechtlihen Siche⸗
sung Deutſchlands und der beutfchen Staaten jene oben Band II.
Seite 802 erwähnten wefentlihften deutſchen Zreiheitsrechte: die durch
unabhängige Berichte und buch ſtaͤndiſche Verfaffung zu
fchügende perfönlihe und Eigenthumsfreiheit (Art. 12, 13
umb 18) und bie freie fie verbindende Spraͤchedder Nation
und der Bürger durch die allgemeine Preßfreiheit und die Land-
fEände und durch das ihnen und den Bürgern gegebene Recht, den
Bundesſchutz für ihre garantirten Rechte anzurufen. War dabei auch
Das Recht auf reich&gerichtlihen und Baiferlihen Schug gegen jeden
Mißbrauch der Landeshoheit in keiner Weile erfest, fo vers
ſprach doch die zugeficherte allgemeine Preßfreiheit den unentbebrlichften
Erfag. Allgemeines und namentlih auch politifhes Petitionss
und Affociationsrecht erwähnt fie zwar nicht befondere. Aber
Niemand hielt es damals auch nur für möglih, daß dieſe natürlichen
echte aller freien Menſchen und Bürger der damals ſo hoch genchteten
Deutfchen Nation entzogen, daß fie und ihre Bürger für unmündig, und,
rechtlos erklärt werden Eönnten! War doch das freiefle Petitionsrecht
nicht blos während der ganzen Freiheitätriege und Wiener Congreßver⸗
bandlungen, fondern aud am Bundestage in ben erften vier Jahren
unbeſchraͤnkt ausgeübt und anerkannt, ja ausdruͤcklich ©) ermuntert wor⸗
den. Wer dacdıte damals bei den Freudenfeuern an den SZahrtagsfeften
des 18. Octobers, Volksfeſte, Verſammlungen und Neben an’s Volt
zu verbieten !
Die beftimmtere Geftaltung der ftändifhen Verfaffung übers
ließ man zwar den Vereinbarungen zwiſchen Kürft und Volt in ben.
fowveränen Bundesflanten. Aber man hatte deutſche landftänbir
fe Verfaffungen, alfo boch den wefentlihen Begriff dieſes
Rechtsinſtituts verbürgt, mithin jene mwefentlihen vier Rechte
deffelben (Bd. III: S. 802), welche man in den Congreßverhands
lungen allgemein als ein Wenigftes von Rechten anerkannt hatte, das
in dem Begriffe deutfcher Landſtaͤnde weſentlich enthalten ſei und welches
in ber That auch ſtets deutfchen Landfländen — meiftens verbunden
mit einem wahren Mitregierungsrecht — zuftand, welches auch alle
neuen beutfhen Verfaffungen in den erften vier Jahren des deutfchen
Bundes ebenfo wie die zeitgemäße ftantsbürgerlihe Repraͤſen⸗
tativform nicht minder anerkannten , als es in den übrigen europäls
fhen Berfaffungen anerfannt wurde. Es war dieſes der unbezmweis
5) Kluͤber, Acten Bd. U, ©. 298. 524. 542. 546. 565,
6) ©. oben ©. 28,
* —— a" Be —R
feibare allgemeine Sinn be Zufagen. Man dachte gar nit ai
Stände mit geringerem Recht.
Das bei dem Mangel einer Bundesftaatsverfaffung auch für die
Bürger fo unendlich wichtige, im Sinne der baterifhen und
märtembergifchen Ecrklaͤrungen fo feierlich verbuͤrgte Recht der ſt gats—
un, hen Unabhängigkeit der einzelnen Bundesſtaaten endlich, die:
es ſchien auf folhen Grundlagen für die Staaten eine freie wett
eifeende Entwidlung zu verbürgen.
Sealbſt bie ee beutfher Nationalität und Ratio:
n Ei De he M * [ten wenigftens nothduͤrftig verbürgt durch die Bundeseinheit
n Lande, durch die Uebereinftimmtung wenigſtens in ben bezeich⸗
* 9 —*2* deutſchen Nationaltechten und im der Rechtsgleichheit
ae m fo wie endlich durch ein allgemeines deutſches Bür—
—* jeſes letztere fuchte die Bundesacte noch weiter zu begründen,
aus durch vor! allgemeine freie Nationalfprache, theils ducch die Bundes:
Ka abzugsfreien Einwanderung, bes Anfaufs von Grundeigentbum
und des ungehinderten Dienfteintrittd in Beziehung auf alle deutſchen Bäns
der Ind ik durch die im Ausſicht geftellte Vereinbarung über gemein:
T&hafttiche freie Werfehts« und Handelsverhältniffe in ganz Deutſchland
(Art. 16, 18 und 19 vd: B.-.).
| 8 & war es dem ren daß auch bei nicht völlig beftiigten Er
n
nahm, fich der Hoffnung einer freien Rechts entwicklung und einer wuͤrdigen
4 ber beutfchen Nation unter den freien Völkern der Erde überließ.
C. Welder.
Do maͤn enkaͤufer. Ueber die weitern Schickſale der Sache der
Domänentäufer wird der Art. Verwaltung bes deutſchen Bundes
handeln. C. Welder.
Duldung. Eine erweiterte Ausbildung und eine neue große politifche
—— haben die Grundſaͤtze von Glaubensfreiheit und Duldung durch die
eutigen klichlichen Bewegungen, beſonders durch bie Deutſch⸗Katholiken und
eunde erhalten. Doch davon wird der Artikel Kirchliche Bewe⸗
— der neueſten Zeit, Deutſch-Katholicismus u. f. w.
handeln. C. v. Rotteck.
Dhyunaſtiſche Intereſſen in ihrem Verhaͤltniſſe zum
wahren, zum freien oder Rechtsſtaat. „Der Staat iſt ſeiner
aͤußeren Erſcheinung nach ein gegen Außen abgegrenzter Verein von anfäfs
figen Familien, mit Anerkennung einer vernunftgemäßen Beherrfhung,
und der Staat im der Idee nichts Anderes als die Vernunftvorftellung von
einem folchen Vereine‘, fo fagt der großherzoglich badifche Staatsrechtsleh⸗
rer Heinrich Zoͤpfl, während der koͤniglich preußifche Publicift Romeo
Maurenbrecher den Staat viel prägnanter al „bie zur Erreichung der
hoͤchſten Beftimmung des Menſchen Organifirte Geſellſchaft mit einem
beitimmten Landesbegirk definirt. = aber fage: Der Staat ift nur da
Dynaftifche Intereſſen u. f. w. 199
vorhanden, wo eine Befellfchaft Innerhalb eines beftimmten Landesbezirks
fi mit Selbfibewußtfein organifirt, eime höchfte Gewalt gefchaffen
und, von einem beflimmten Principe ausgehend, die Formen ihres Öffentlis
hen Lebens fo ftatuirt hat, daB dadurch jeder Einzelne die Möglichkeit,
als Menſch zu leben, echält. Bon diefem Standpunkte aus bie biftorifche
Entwidelung der factiſch beftehenden Staaten betrachtet, können biefe in
zwei Slaffen eingetheilt werben. In bie eine gehören diejenigen Staaten,
deren Berfoffung und Verwaltung dem Principe nach vollftändig auf ber
im Laufe der Zeit theils zufällig entflandenen, theild von einer bevorrechte⸗
ten Kaſte gemachten Grundlage der Feubalität des mittelalterlihen Raubs
ritterrechts, oder des Abfolutismus fußen, wenngleich dem jeweiligen Zeits
geifte einige Sonceflionen gemacht wurden. Die andere Claffe begreift dieje⸗
nigen Staaten, wo das Volk mittelft einer großen That des Selbſtbewußt⸗
feins dem Principe nad) und formell das hiftorifche Unrecht gebrochen und
mehr oder minder das Princip der Volksfreiheit und bed Nationalrechts zur
Grundlage der Staateverfaffung und Verwaltung gemacht hat, wenngleich
factiſch da und dort noch Ueberbleibfel aus dem Mittelalter übrig gelaffen
wurden. Abgefehen von ber focialen Frage, welche auch bie letzteren ausſchlie⸗
Ben würde, baben nur diefe, nicht die der erſteren Ctaſſe angehörenden
Zwangsanſtalten, gegründeten Anſpruch auf den Namen Staat.
Die Idee des Staates ift indeſſen fo mächtig und wahr, baß ſelbſt die Af⸗
terftaaten der Form und dem Gerippe des Staates und deffen wefentlichen
Inſtitutionen wenigſtens äußerlich fid) accommobiren muͤſſen. Dit diefen
flaatlichen Einrichtungen wird nun aber ein Mißbrauch getrieben, ber we⸗
fentlich darin beſteht, daß der Afterflaat die Form und die Einrichtungen
des wahren Staates uſurpirt, jedoch dadurch corrumpirt, daß er ihnen einen
Der Idee des Staates fremden, ja entgegengefegten Inhalt unterfchiebt.
Da der wahre Staat weſentlich nichts Anderes ift ald das mit Bewußt⸗
fein gefchaffene Product des fittlihen Geſammtwillens einer Nation, fo ath⸗
men alle feine Formen und Einrichtungen lediglich Feinen andern Zweck, ale
den Intereſſen und den Bedürfniffen ber Gefammtheit zu dienen. In dem
Afterſtaate, der weſentlich nichts Anderes ift ale ein theilß vom Zufall ans
geſchwemmtes, theild von einer außer dem Volke Tiegenden Macht gefchafs
fenes ſociales Conglomerat, verhält ſich bie Sache ganz anders. Hier ers
hoben fi) aus der Mitte des Volkes über baffelbe im Verlaufe der Zeit eine
Anzahl einzelner Uebermaͤchtigen, Raubeitter, Dynaften u. ſ. w., welche zuerfl
alle Macht abforbirten, nachher ſich gegenfeitig felbft zerfleifchten und am
Ende einigen vom Zufall begünftigten Machthabern zum Opfer fielen. Das
Weſen diefer abfoluten Herrfchaft beſtand in der Abforbirung der der Ger
fammtheit gehörenden Gewalt durch einzelne Privilegirte, in der Ausübung
diefer Gewalt als Privateigenthum durch einzelne Wenige, in der Vernichtung
der Freiheit der Webrigen und in der Benugung biefer Uebrigen für Pri⸗
vatzwecke und Samilienintereffen. Es hatte fi eine vom Wolke unabhän»
gige, unvolksthuͤmliche Macht, es hatte fich der Euftenmäßige ariftofratifche,
der dunaftifche Abfolutismus gebildet. Seine charakteriſtiſchen Merkmale
waren — Vernichtung der Volksfreiheit, Decupation der Staatsgewalt
w - — F
—— ww N
m. —— Baker
Ierungsgemalt Der —
Yale Gewalt, hat daher, im Staate die. Somveränstät nicht unab⸗
a m Volke, fondern nur mittelbar, iſt nicht abſolut, fondern *
—— —— —— ſeines Geſammtwillens, hat nur eine mit⸗
zugeſtandene er übertragene Gewalt, Dies muß fo fein;
nie nei, fo, fo «6 en — eine en Macht ald bie
| t ige über dem fiehende Exi⸗
| e, und fe u. Bolt he alfo. fuͤt ſich fouverdnem,
alfo fin D Macht wäre die Nation unterthan, als Elgenthum und Sache
Dan Rare Aufhebung ber N if, fo waͤre
elheit beraubt, eine Desrde von Krıschten *)
Staate hat ferner die Regierung kein anderes Intereffe und. —
? al8 die Erreichung des Staatszwedes. - Disfer-befteht,aber in
rem. als in der Exrsihung der höchften Beftimmung des. Men:
as Weſen des Meufchen befteht in der Freiheit amd Sittlichkeit,
fomit hat im Staate die Regierung bie Aufgabe, ihre vom Volk übertras
gene Gewalt nur zur Entwidelung.der Idee der Freibeit und zur Aufrecht-
haltung der Sittlichkeit auszuüben; lediglich in nichts Anderem beftcht ing
Staate bie Aufgabe der Regierung und diefe barf und kann Feine an
Zwecke und Intereſſen verfechten.
Banz anders bat fich im Afterſtaat⸗ bieſes boppelte Verhaͤltniß heſtal
tet. Hier iſt die Souveraͤnetaͤt, d. h. die Staatsgewalt, das Privateigenthum
einer nur durch Gewalt gegruͤndeten, vom Zufall conſervirten Dynaſtenfa⸗
milte, fo ſehr, daß die Herrſchaft über den Willen der „Unterthanen” ohne
bie freis verfaffungemäßige Begruͤndung, Feſtſetzung u. Einwilligung der Na⸗
tion auf den Erſtgebornen ber Familie vererbt wird, wie jede andere Sache auch.
Des Traͤger der hoͤchſten Bewalt ift daher im Afterftante nicht das natürliche
Drgan des Volkswillens, fondern ſteht in demfelben Rechtsverhaͤltniß zum,
Volke wie ein auswaͤrtiger Eroberer, oder wie ein mittelalterlicher Dynaſt
zu feinen Leibeignen und Unterthanen, d. b. im Verhaͤltniß der zufällig fo;
gewordenen Thatſaͤchlichkeit. Das Drgan ber hoͤchſten Gewalt leitet im
Afterflante feine Macht nicht vom Volke ab, fondern aus feiner eigenen
ſelbſtſtaͤndigen Machtvolllommenhsit — aus feinem Erbrecht, das man ges
woͤhnlich mit der „Gnade Gottes” aͤußerlich aalpı[OmutEn und zu um⸗
| a Ba — len, bemickt
€ Bu
* Sin: etwas — organiſche Auffaſſung uͤber die hochlten Gewalts⸗ und
——— ſ. unten Staatsverfaffung. Anm. d. Red. ;
Dynaftifche Interefien u. f. w. 201
ſchreiben pflegt. Diefe Corruption ber Staatsgewalt führte folgerichtig zu
bez mahnfinnigen Theorie vom göttlichen Rechte der Fürften, zu dem Prin⸗
eipe jener falſchen Stuartifchen Legitimität, zu der Lehre, welche bie wahre
hoͤchſte Gewalt im Staate, das Volt, aller Selbftftändigkeit entkleidet und
gu einem Haufen unmündiger Geifteseigenen flempelt.
Ihrem feudalen Uriprung gemäß, als eine unabhängig vom Volke ents
flandene und von einzelnen Wenigen behauptete Macht, welche die Ausübung
der Staatögewalt als ein erbliches Prärogativ in Anfprucd nimmt und dem
Molke gegenüber ale eine felbftftändige, ſouveraͤne, alfo dem Volk entgegens
geſetzte Macht auftritt, muß eine fo corrumpirte dynaftifche Regierung auch
ganz andere Intereſſen und Zwecke verfechten als volksthuͤmliche. Sie muß
das Intereſſe verfechten, das ihr zumächft liegt, und Das zum Hauptzweck
machen , was fie in Ihrer Stellung erhält. Ihr naͤchſtes Intereffe ift daher
nicht das Volksintereſſe, fondern , da fie eime felbftftändige Macht tft, ihr
befonderes, ihr Privatinterefle; ihre Hauptzweck nicht die Erreihung der
böchiten Beftimmung des Menſchen, fondern ihre Selbfterhaltung, die
Sonfervirung ihrer vom Volke unabhängigen Gewalt. Dynaſtiſches Ins
terefie, Familienzwecke, die Wohlfahrt: des regierenden Hauſes beftimmen
die ganze Thaͤtigkeit, bilden das charakteriftifche Merkmal der corrumpirten
Staatsgewalt des Afterftaates. In einem Staate, der das Ungläd hat,
eine Staatsgewalt zu befigen, die ohne Zuthun des Volkes entfleht und befteht
und die Ausübung ihrer Gewalt als ein erbliches Eigenthum in Anſpruch
nimmt, im einem ſolchen Staats berrfcht alfo der unnatuͤrliche Zuſtand, daß
die Regierung, flatt das Organ des Nationalwillens zu fein, eine dem
Volke gegenüberftehende Macht if, daß die Staatsgewalt ftatt das In⸗
terefle des Volkes zu wahren, nur ihre Privats und Sonderintereſſe verficht,
daß das Organ, welches die höchfte Gewalt nur zur Aufrechthaltung und
Erreihung der Freiheit und Sittlicdykeit ausüben follte, diefe Gewalt zur
Erreihung von Zwecken und Abfihten mißbraucht, die geradezu mit dem
Volkswohl collidiren. Der Afterftaat ſtellt alfo die Mißgeburt eines Orga⸗
nismus bar, in welchem zwei einander entgegengefeßte Willen, zwei Intereſ⸗
fen und zwei Hauptzwecke eriftiren. In der That ein Dualismus, meldyer
theoretifch die Einheit des flantlichen Organismus, die Einheit von Volk
und Regierung aufheben würde, wenn nicht factiſch das ſtaͤrkere Element
ſtets das ſchwaͤchere voliftändig abforbirte, fo daß entweder die unvolksthuͤm⸗
liche, fouveräne Staatsgewalt die Volksfeibftftändigkeit, oder biefe bie abe
folute Regierung aufzehrt.
Die entfeglihen Nachtheile diefes corrumpirten Verhaͤltniſſes Liegen
auf der Hand. Ein Bid auf ihre widernatuͤrliche Stellung bringt einer
foichen Staatögewalt jeden Tag die Gewißheit zum Bewustſein, daß das
Bolt, fobald es einen gewiſſen Grad von Selbſtbewußtſein erlangt hat, ein=
fehen muß, daß es politifcher Wahnmig fei, wenn die Mehrheit einer von
Wenigen ufurpirten Gewalt gehorche, die Feinen andern Rechtötitel hat, als
den der Thatfächlichkeit, als ihren feudalen Urfprung in ben Zeiten der Volks⸗
unmündigleit und Barbarei, und — ihre Bajonnette, bie als den wahren
hoͤchſten Zweck nur fi, ihre Willkür und Erhaltung verfolgt. Die Erkennt⸗
202 Dynaſtiſche Intereffen u. f. w.
niß dieſes Zuſtandes muß jedes Volk beleidigen und dahin führen, dieſe wi⸗
dernatürlichen Verhaͤltniſſe zu ändern und die Staatsgewalt von der Nation
abhängig zu mahen, und dafür zu forgen, daß fie Beine anderen Zwecke
und Intereffen mehr verfechte, als Volkszwecke und Volksinterefien. Eine
eorrumpirte Staatsgewalt hat alfo die Ausficht, daß der Geburtstag der
Volksſelbſtſtaͤndigkeit ihr Todestag fein wird, d. h. daß Ihre Vernichtung in
dem Erwachen bes Volkes beſteht. Darum hat auch eine folhe Staatsgewalt
feinen andern Zweck, als jenen Geburtstag fo weit als möglich hinauszus
fchieben, als ben ermachenden Nationalgeift zu lähmen und zu unterdrüden.
Entmidelt und befchleunigt wird das Erwachen des Volkes zum Selbft-
bemußtfein durch gewiſſe flaatlihe Einrichtungen, die dem Volke theild die
Augen öffnen über feine Lage, theils feine Serbftftändigkeit und Selbſtthaͤ⸗
tigkeit üben. Preßfreiheit, Affociationsrecht, Deffentlichkeit ber Rechtspflege,
Volksgerichte, Selbftverwaltung, freifinnige Municipalorbnungen u. f. w.,
das find diefe Inflitutionen , welche die Sreiheit des Volkes entwickeln und
erhalten. Die erfle Sorge einer abfoluten Staatsgewalt ift daher haupt⸗
fächlich auf die Unterdruͤckung aller diefer Einrichtungen, auf die Vernich⸗
tung und Gorrumpirung alles deſſen gerichtet, was das politifche Erwachen
des Volkes befördern und es zum selfgovernment führen Binnte. — Die
Thätigkeit einer corrumpirten Staatsgewalt ift deshalb dem Begriffe einer
voltsthümlichen Regierung, ale Schügerin und Pflegerin der Volksfrei⸗
heit, direct entgegengefeht,, fo zumider und fo corrumpirt, daß fie, ftatt die
höchfte Beftimmung des Menihen, Freiheit und Sittlichkeit, anzuftzeben,
eine Anftalt wird, deren letztes Ziel die Unfreiheit des Volkes, alfo Unſitt⸗
lichkeit iſt. — Freilich bringen fih die Träger diefer unnatuͤrlichen Gewalt
über freie mündige Wefen ihres Gleichen keineswegs eine folche frevelnde
Abſicht zum Bewußtſein. Vielmehr werden fie oft aus guten oder aus ſen⸗
timentalen Regungen, aus der Sucht, im In= und Ausland Ruhm und
Popularität zu gewinnen, beftimmt, den Schein freier Inftirutionen ihrem
Lande zu geben. Sobald aber die Bürger Ernſt aus der Sache machen
wollen, dann wird zurüdgenommen, unterdrüdt, die Zuſagen werden Fall:
ſtricke, die Freiheitöfreunde merden die Opfer diefer Täufchungen. Die
Gewalt, fo wie fie die Andern täuichte, taufcht fich ſelbſt, fieht in der
ehrlichen Freiheitsbeftrebung frevelbafte Anmafung und Untreue. So ent:
fteben ebenfo traurige ald gefährliche MWorttrüchigkeiten und gehäffige Re—
actionen.
So befhaffen ift das Werfen, fo ift die Stellung und Wirkfamteit
einer abfoluten, dynaſtiſche Intereſſen verfechtenden Regierung. Betrachten
wir, ehe auf die Gorruption der einzelnen ftaatlihen Inſtitutionen überge:
gangen wird, die Kunftgriffe, momit man die Vernünftigfett einer ſolchen
Megierung retten, und die Mittel, wodurch man fie unſchaͤdlich machen wollte.
Abfelutiften, Knechtsſeelen wie Maurenbrecher menden in eriter Be:
ziehung einen ganz abfonderlichen logifchen Kunftariff an, indem fie fügen:
Weil ein Staat ohne Höchfte Gewalt und ohne Staatsoberhaupt nicht be:
ftehen kann, deshalb muß die Soureränetät dem Staatsoberhaupt unmit-
telbar zukommen, und diefes eine vom Volk unabhängige Stellung und Be:
- Dynaftifche Intereſſen u. ſ. w. 208
walt haben. (&. oben Ancillon.) Die grobe, meift abfichtliche Begriffes
vertolerung , bie dieſem Schluffe zu Grunde liegt, iſt aber zu offenbar, als
daß man ein Wort dagegen zu verlieren brauchte; jener Schluß ift ebenfo
abfurd, als wollte man behaupten: weil jede Gemeinde einen Gemeinde
haben muß, deshalb muß diefer von der Gemeinde unabhängig
fein, von der Regierung ernannt werden, lebenslaͤnglich fein Amt inne haben
und einer Controle durch bie Gemeinde entzogen fein.
Staatsrechtslehrer von achtbarer Gefinnumg und ganze Nationen, wie
England, verfuchten das Raͤthſel, daß trog der Unverleglichkeit und wirk⸗
lichen Souveränetät der höchften Regierungsgemwalt alle Regierungsacte unter
dem Vernunftgeſetz und der rechtlichen Verantwortlichkeit fliehen und von
dem fittlihen Geſammtwillen der Nation abhängig fein und daß jedes Uns
recht rechtlich verfolgt werben muͤſſe, dadurch zu Iöfen, baß fie theoretifch
die abfolute Souveränetät des Staatsoberhaupts confervirten, aber durch
Teennung ober Theilung der Gewalten und die Gontrafignatur der Minifter
und deren Derantwortlichkeit factiſch befchräntten.
Es ift zwar nicht zu leugnen, daß jenes Soſtem der Vermittelung
zwiſchen Abfolutismus und Wolksfouveränetät den Abfolutismus und dyna⸗
flifche Intereffen bis zur Unfchädlicheit eindämmen koͤnnte, fo weit es mög»
ich wäre, die bee jenes Syſtems in ihrer ganzen Reinheit in’6 Leben tres
ten zulafien. Dazu aber gehört eine firtliche Geſinnung und eine politifche
Bildung des ganzen Volkes und eine foldye glüdliche und volllommne Aus⸗
bildung des ganzen Syſtems, die der Wirklichkeit wohl meift fremd find.-
Werfe man zum Beweife hierfür einen Blick auf die beftehenden Staaten.
England ſcheint faft nicht recht hierher zu gehören, denn England
koͤnnte man anfehen ats eine ariftofratifche Mepubiif *).
Aber Frankreich gehört hierher; Frankreich, das eigentliche Lund bes
Repraͤſentativſyſtems, mag in feiner jegigen Lage den Beweis liefern von
der Möglichkeit, auf der Grundlage des Beftchenden die Idee der conftitus
tionellen Monarchie aufzuführen, fo daß diefe in Wahrheit erfprießliche Kol
gen habe für das Boll. Trotz Preßfreiheit und Geſchwornengerichten exi⸗
flirt indeß wohl keine Regierung in Europa, die das Volk fo corrumpirt
hätte, als ber im Jahr 1830 von einigen Sutgldubigen auf den Thron
erhobene Louis Philipp, König der Franzoſen. Und worin liegt der Grund
dieſes traurigen Zuftandes von Frankreich, morin ander liegt er, als in dem
Einfluß der dynaſtiſchen Intereffen des Staatsoberhaupts, welche feine ganze’
innere und dußere Politik Leiten und bedingen? Nicht Frankreich und bas
Wohl des fennzöfiichen Volkes iſt das legte Ziel der öffentlichen Thätigkeit,
fondern das Wohl der regierenden Familie und das Intereſſe der Bour⸗
geoifie — das Volk ift Mittel für außer ihm liegende Zwecke und Abſich⸗
— ——— —— —
*) Daß England auch als muſterhafte conſtitutionelle Monarchie betrachtet
werden kann, in welcher die nicht durch die Verfaſſung, ſondern durch wiederholte
Eroberungsgewalt begruͤndeten — aber durch die Verfaſſung und politiſche Frei⸗
heit unendlich gemilderten und uͤberwogenen — feudalariſtokratiſchen Verhaͤltniſſe
täglich mehr auf friedlichem Wege beſiegt werden, daruͤber ſ. England und
Staatsverfaffung. Anm. der Rebdact.
r
ein conſtitutieneller zu ſein, er:
gm; —* —— hisc noch miete. unter Umſtaͤnden eins dynaſtiſche
Selten
VII., Ulfchbah, bie Stuarts, Wilhelm ber Oranier, ſelbſt Bears 1
walten) anerkaunt HR und wahre un: Die mefents
Freiheiten fehlen? e Staaten
find Teine Repräfentatioftanten, —— Di nu weſentlich
af dan Peincp der bier
GBpiegeiſechtecci. - N
Die Corruption der —— führt endlich auch die Berderöniß 8*
uͤbtigen —*ã und ihrer Organe mit ſich. Im Afterſtaate find alle,
auch die niederften Organe der Stantsgewalt vom Volke unabhängig, «ifo
dem Wolke gegenüber abfolut und bilden zufammen eine Macht, bie, alle po»
litiſchen Lebensäußerungen für ſich uſurpirend, das Volk für unmündig ers
klaͤrt und in den hinterſten Winkeln bes Reichs den Willen einer unvolks⸗
thuͤmlichen Staatsgewalt zur Ausführung bringt. Die Beamtenfchaft im
Afterftaate Hat nicht ihren Centralpunkt ins Volk und in der Verfaſſung, fon»
dern ihren Anfang und Ausgang in ber Gnade des abfoluten Staatsober⸗
haupts und bildet fo die Bureaukratie, jene vielkoͤpfige Boa constrictor,
weiche das Leben bes Volkes bis zum Erſticken zuſammenſchnuͤrt und an
allen Gliedern laͤhmt. Nicht die Bürger felbft verwalten bier mit Abwech⸗
felung und ohne andern Lohn als den der Pflihterfüllung, der Wirkungs⸗
freude, bee Ehre und ber patriotifchen Dankbarkeit ihrer Mitbürger die
Allen gemeinfamen Angelegenheiten. (Nur Schadloshaltung
hoͤchſtens ift hier angemeffen.) Hier werden vielmehr bie Aemter als Gna⸗
dengefchente oder Lehen des Souveräns auf Lebensdauer mit großen Ein⸗
kuͤnften übertragen, die Beamten follen zu einer dem Volke gegenuͤberſtehen⸗
den Macht firirt werden. Das Amt ift kein Bürgeramt mehr, fondern ein
Mittel für die unvolksthuͤmliche Staatsgewalt, ihre Diener bamit an ihr In⸗
tereſſe zu ketten. Die Wirkungen dieſes Verhaͤltniſſes ſind weſentlich fol⸗
gende: Bor Allem werden die Sunctionen ‚der Staatsbeamten zu einem
Dandwert berabgeimürdigt ‚zu eine Kunft ‚ die bes Beamte erlernt, wie
Dynaſtiſche Interefien u. |. w. 205
jeber andere Handwerkomann au, um bamit feinen Lebensunterhalt zu
verdienen. Die Organe der Staatsgewalt werden zu einer Berforgungsans
Raft für eine gewiſſe Claſſe von Menſchen, die darin fidh und ihre Familien
Man Emm deshalb füglicy behaupten, umter den Beumten des
Ufterfinateß treibt der eine das Handwerk des Menfchenveructheilens, ein
anderer bie Kunft des Drdnumgeunfrechterhaltens, ein Dritter die des
GStenereinzichens u. ſ. w.
Angenſcheinlich ift es daher, daß im Afterflaat alle Aemter bis zum
nisderfien herab ihrem wahren und gefunden Begriffe vollſtaͤndig entfremdet
werben, weil das Organ der hoͤchſten Gewalt corrumpict ifl. Jene Entfrems
bung und Costuption befteht nämlich auch hier weientlidy darin, daß der
Hauptzweck des wahren Staatsamts, die Vertretung ber Öffentlichen Ins
tereſſen, vollfiändig verfchlungen wird von dem Privat: und Sonderinterefle
bed jeweiligen „Donaſtiſcher oder eigener Egoismus iſt das cha⸗
rakteriſtiſche Merkmal abfolutiftifher Staatsbeamten und Söldlinge vom
erſten bis zum niederfien herab”, fo fagt ein neuerer Schriftfleller. Und
wer möchte es zu leugnen verſuchen, daß Privatrüdfichten und Privatinterefs
fen leitendes Motiv und Hauptzwed für die Thaͤtigkeit der unvolkethuͤmli⸗
chen Beamten des Afterflants fein? Wer Eönnte es beſtreiten, daß im Afs
terſtaate allermeift die öffentlichen Diener ihre publiciftiiche Stellung als ein
Mittel benugen, um auf Koſten der Geſammtheit ſich und ihre Familien zu
falviren oder im beſten Falle nicht ſowohl dem Vaterlande als bem Staates
oberhaupte in feinem Kampf gegen Volksrechte, Volksfreude und Dr
freunde treu zu dienen? Wer Lönnte aber auch die tiefe Torruption der
—— der das — fen —— Rennen, Jagen und Ha⸗
Staatsaͤmtern orgung auf Koſten des Volks zu beobachten
Gelegenheit hatts? ”
3a fonft iſt es eine Ehre, Beamter zu fen, und die ſchoͤnſte
Stellung — im Staate, aber ein Unterfchied iſt «8 auch Mir A roͤ⸗
miſchen Präter, zwiſchen einem engliſchen Friedensrichter und einem Bus
reaukraten bes Afterſtaates, der ein publiciſtiſches Handwerk betreibt.
Die tiefe Corruption des Afterſtaatsbeamtenſyſtems hat natuͤrlich auch
den groͤßten Einfluß auf die Moralitaͤt dieſer Functionaͤre Wenn man bedenkt,
daß alle Gewaltſtreiche und Rechtsverletzungen im Afterſtaate durch fie ausgeuͤbt
werden muͤſſen, wenn man erwaͤgt, wie die ganze Eriftenz des Afterſiaats⸗
Beamten von feiner Befoldung, alfo unbedingt von dem Befige feines Am⸗
tes, deſſen Belegung aber von der hoͤchſten Gewalt abhängt, fo wird man,
dieſes Verhältnig in Zufammenhang gebracht mit der Denkungsart gewoͤhn⸗
licher Menſchen, des Schluffes ſich nicht erwehren Binnen, daß im Afterſtaate
bie Beamten vom Himmel herabgeftiegene Engel fein müßten, um nicht
corrumpirt werden zu koͤnnen und Beine unfittliche Wirkſamkeit zu äußern.
Ich will Feine Beiſpiele anführen, odiosa sunt, aber wahrhaftig, Sanct
au 5 febft , Sm er ein fo —— Staatsamt annaͤhme, würde wohl
nur ſehr wenige Geſinnungsverwandte, hoͤchſtens vielleicht einige falſche Chri⸗
ſten auf feiner Seite erblicken. ⸗ 3 faſſche Chri
Wire
ſche
Bon pocht frellich Seitent der Herren Diener bes Afterſtaats gar
auf bie Unabhängigkeit ihrer Befiunung und beliche bie Anhänglichkeit
Brodherren nur für das Refultat ber redlichſten Ueberzeugung and
| | ſter⸗
— a na me
fter
eine Menge von Dienfimannen nöthig, deren ganze Thaͤtigkeit im Age
MN en befteht. So erhebt ſich über der [malen Kiuft
chaniſchen
der oͤffentlichen Geſchaͤfte eine ungeheure pyramidaliſch zugeſpitzte Bruͤcke in
hie Hoͤhe, nur um das vorraͤthige und ſupernumeraͤre Beamtenmaterial zu
verwenden, während bie Einfachheit der Functionen im Staate durch einen
gewöhnlichen Steg befriedigt würde.
Die Ausfiht, auf leichte und wenig anftrengende Weife fein Brod zu
verdienen; die Lüfternheit nach einem Antheil an der Staatsgewalt, die Ges
wißheit, im Beamtenfland eine Hagelverfiherungegefellihaft gegen die Ge⸗
witter und das Rifieo zu finden, die das Privatleben und Privatgefchäfte
bedrohen, endlich das Bewußtſein, nach einer gewiffen Anzahl in Ruhe und
Unterthänigkeit verlebter Jahre auf Staatskoften ausruhen zu dürfen, alle
diefe Reize locken ferner alljährlich eine große Anzahl Recruten unter die
Reihen des „figenden Beamtenheeres.“ Daß darunter ſtets eine Anzahl
guter Köpfe und tuͤchtiger Kräfte fich befinde, laͤßt fich nicht leugnen, ebenfo
menig aber auch, daß dadurch der Geſammtheit ein fehr empfindlicher Ausfall
an Talenten und tüchtigen Charakteren entfteht, die ſich auf nügliche Be⸗
ſchaͤftigungen verlegt und als tüchtige Bürger dem Vaterland genügt hätten,
während fie fo Ihre Kräfte im Dienſte einer unfittlichen Macht aufopfern
muͤſſen
Endlich entſteht durch alles dies aus dem Afterbeamtenthum eine
Staatsprieſterkaſte, eine Hierarchie, die im Dienfte einer abfoluten Gewalt
dem Wolle gegenüberftchend, durch ihre ganze Stellung und in ihrem eigenen
Intereſſe darauf angeiwiefen If, alle Freiheit und Selbſtſtaͤndigkeit im Volke
Det Unftand nämlich, daß bie Beawien bes Afterſtaates ..
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oder Schwurgerichte find fe weſentliche Merkmale dee
‚ daß fie als Maßſtab für die Volkefreiheit gelten ianın. Eden dee
kann fie aber auch der Afterſtaat nicht drauchen. Die adjelute Staate
gewalt hat bekanntlich ibre Privatzieede und Privatintereffen und kommt in
unvdermeidlichen Gegenſatz gegen Volksrecht und Volkefreideit. ie muß dee⸗
halb auch die Gerichte ihrem urfprünglicyen, wahren, dem Volkezwecke ent⸗
fremden, um fie ald Werkzeuge für ihre Abſichten miſdrauchen zu können.
Unabhängige Volksrichter würden fehr wenige politifche Proceſſe verurthei⸗
len, deshalb corrumpirt die abfolute Staatsgewalt die Berichte, laͤßt das
Recht durch ihre von ihr abhängigen und befoldeten Mechtfprecher bandhuden
und hebt Diefe auf Jeden, der unfchädlich gemacht werden ſol.
“= Deffientlichleit ber Gerichtsverhanblungen wuͤrde bie üdlolute Staate⸗
gewalt wohl ebenfo ſehr geniren als Geſchwornengerichte, deshalb bildet
fie die etwa vorhandenen wirklich unabhaͤngigen Gerichte dem Weſen nach
in abhängige, auserwaͤhlte Commiſſionen, bannt fie die Gerechtigkeit In
- geheime Amtsſtuben und Actenflöße und läßt ihre Gefangenen In den Kır-
Lern einer geheimen Inquifition verſchmachten, bie fie muͤrb⸗ geworden find
und geflehen, ober durch Zortur und Qualen aller Art Geſundheit oder gar
SH
g
m ;
bie Bebenälufl verloren haben, und dechalb einem Thinepfiichen Ted
gene Hand vorziehen.” —
: ua Gtaate find ferner die Geſetze ber
und ber Öffentlichen Biecal‘, dienen aber fonfk lediglich keinem andern Zwecke.
Yan Aftoeftant find auch fie durch bie abfelmte
bone fie threm mathrlichen Binerke entfeemdst und als Budtruchen fr
a a ——
„ wie en Beiten ifcher Imrperntormbef Gitroflategerien
für Majeftätsbeleidigung lebender und verſtorbener ad ‚ für Hochwer⸗
8
Herrſcher
und Verſuch zu Hochverrathsverſuch, für A und
vergnügen, für frechen Tadel * 2 Yet, — Annteh —23**
dann auch ſo gelehrig und mit ſolchem — Den Necht
erlangen,
ohne ſonderliche Gewiſſensſcrupel z. B. Im elnem Jahre mehr —2
leidigungen abſtrafen als Diebftähle, wie ſolches Laut amtlichen Notizen jängft
in einem — dem Scheine und dem Ramen nach conſtitutionellen Staat⸗
gegen das ſincere und bie Knute als eins rechtmaͤßige betrachten, fi
man ihnen begrelflich macht, daß ⸗es eine poſitive Knute ſei. Wahrhaf⸗
tig, dieſe Achtung vor dem poſitiven Recht, auch wenn es noch ſo corrumpirt
und heillos ſein ſollte, auch wenn es der Rechtsidee noch ſo ſehr widerſpraͤche,
fie beweift am Schlagendſten den tiefen Rechtsſinn und den moraliſchen
Kern, aber auch bie politifche Unmuͤndigkeit einer Nation.
Wie die Berichte, fo find auch die Verwaltungs« und Polizeibehörs
den im Afterflante corrumpirt. Der Rechts⸗Staat hat natürlich auch feine
Polizei, aber eine volksthuͤmliche, die nichts Anderes ift als das Erecutis
onsorgan theils für die Gerichte, theils für das öffentliche Sittlichkeits- und
Scyidtichksitsgefühl, |
Niemand wird daher einer ſolchen Polizei ihre Berechtigung abfprechen.
Ganz anders aber verhält es ſich mit der Polizei des Afterſtaates. Hier iſt fie
das naͤchſte und eigentlichfte Organ der Gewaltſtreiche und befpotifchen Will:
tür. „Ein Polizeibeamter des Afterſtaates ift ein Pafcha mit. drei Roßſchwei⸗
fen”, welchem die perfönliche Freiheit des Bürgers und deſſen Geldbeutel
bis zu einem gewiffen Strafmaß rettungslos zur beliebigen Dispofition in
die Hände gegeben ift, um unter der Firma der abenteuerlichflen und an den
Haaren herbeigezogenen Strafbeſtimmungen mißliebige Perfonen zu zuͤch⸗
tigen. Ein neuerer Schriftſteller ſagt deshalb mit vollem Recht: „Die,
Polizei — im engeren und weiteren Sinne des Wortes — macht das Weſen
des Abſolutismus aus, fo ſehr, daß abſolutiſtiſche Staatsſormen fogar den
Namen davon bekommen und als Polizeiftanten gebrandmarkt werden, zum
Beichen, daß Willkuͤr, heimliche Intrigue, Inquifition und Verfolgung
Fa
Dynaſtiſche Interefien u. ſ. w. 209
wie offene Brutalität obsrfles Princip, Entmünbigung und Knechtung des
Bolks ihr vornehmfler Zweck und Erfolg fei. — Ja die Polizei heißt, in's
Deutſche überfept, nichts Anderes ale Willkür, Gewalt. Ste bildet eine
vom Wolle unabhängige, nicht einmal durch gefegliche Sormen eingefchränkte,
fondern Alles Lediglich auf den Willen des Vorgefegten zurücführende Ges
walt. Die Polizei des Abfolutismus ift die fluchmwürdigfte Anftalt, eine
wahre Geißel der Völker, die unter ihr leiden. Sie ift das eigentliche
Drgan ber Rechtsunterdrädung und Brutalität. Alle Gewaltmaßregeln,
alle Schandthaten und Rechtöverlesungen werben zunaͤchſt von der Polizei
ausgeübt. Sie ift um jo furchtbarer, als ihrem Willen, ihrer Entfcheidung
augenblicklich die Verwirklichung nachfolgt. — —
Die Polizei iſt e8 vornehmlich, welche bie bürgerliche Freiheit vernichtet.
Wie zäher Leim hängen ſich die taufend und aber taufend Polizeiftantsverords
numgen an das Öffentliche Leben, wie der fchubtiefe Sand der Ukermark hins
bern die unzähligen Polizeidictate den Bürger an der freien Bewegung. Wie
ein Eifenbahngeleis reihen fich die verfchiedenen Pollzeiverordnungen an ein»
anber und ſchreiben bem bürgerlichen Leben feinen Gang vor. Wie ber gifs
tige Sandflaub des Samum bringt die Polizel in alle Räume und VBerhältniffe
des bürgerlichen Lebens ein, tödtet alles Leben und jegliche Freiheit, Selbſt⸗
fländigkeit und Muͤndigkeit des Wolle. Keinen Schritt kannſt du thun,
obne über eine Polizeiverordnung zu ftolpern. Die Polizei bildet eine große
Bormundfchaftsbehärbe, bie eine ganze Nation entmündigt und zu einem
Haufen unmuͤndiger Schultnaben berabwürdiat. Alles gefchieht mit hoher
obrigkeitlicher Bewilligung und Erlaubniß. Nicht eine Iffentlicdye Thaͤtig⸗
Leit ohne Polizei und Gensdarmen. Die Polizei regulirt das Zanzen, verfügt
über das Tabakrauchen, beauffüchtigt den Wirthshausbeſuch, ordnet Volks⸗
fefte, felbft den Gottesdienſt, 3.8. den der Deutſch⸗Katholiken und Licht»
freunde, kurz, pflanzt eine Maſſe von Geßlershüten auf, um das Volt an
unbedingten Gehorfam zu gewöhnen” — und alles Dies gefchieht unter dem
Vorwand, die Ordnung aufrecht zu erhalten, unb mit jenem perfiden
Kunſtgriff, dee die corrumpirte Inflitution für die gefunde und unentweihte
ausgiebt.
Soll ich endlich die Eorruption des Militärs noch berühren? In dies
fer Beziehung wenigftens glaube ich der Öffentlichen Meinung nicht nachhels
fen zu muͤſſen. Die Helllofigkeit eines Syſtems, welches die Mehrheit des
Volkes entwaffnet, um fie durch eine Anzahl Bajonnette in den Händen willen»
loſer Mafchinen bemachen zu laſſen, eines Syſtems, das ſtatt ber allgemeinen
Landwehr, einen befondern Zrabantenftand bildet, der die angebliche Vaters
_ Iandevertheidigung als Profeffion treibt, in Wahrheit aber als Spielzeug
und.Zuchtruthe in die Hände eines Menſchen gegeben Ift und um dem Volke
zu zeigen, wie wohlfeil fein Blut iſt, und die allgemeine Furcht zu erhalten
und vor $reiheit und Freiheitsfreunden abzuſchrecken, gelegentlich das Leben
der friedlichen Bürger bedroht — die Heillofigkeit eines ſolchen Syſtems ift
nachgerade zu allgemein anerkannt, als daß fie einer näheren Beleuchtung bes
te.
Suppl. 3. Staatelex. II. 14
210 Dimoft Sapieefich nf. — Cissgiüoffeniiaft
' , und in die Gtaatöges
der
Trotz dem aber wagt man es zuweilen in folchen Afterflanten von Frei⸗
heit ber politifchen Bkeinung zu ſprochen und nimmt ſich herauf, entweder
mit eine kaum ober "aber aus Unkenntuiß
’ | ber
‚ für bie Anhänger dieſes en, alſo umfltttichen polktifchen
Bas! für Hs unfentihen ——
gewalt bisfelbe Achtung, Beltung, Freihelt
|
‚ daß bie
—5—* ber werfe einen Blick auf den gegenwärtigen Zuſtaud von
„ ber betrachte bie Urkantone, wo bie demokratiſchſten Staatefermen
für Sonderintereſſen ausgebeutet wird.
Die Form kann nimmermehr den Geiſt erfegen und wenn in einer Res
publi der hehre Geiſt der Freiheit und eine ehrenhafte Bürgergefinnung
noch nicht erwacht oder wieder eingefchlafen iſt, dann erhebt fi in Mitten
des Volkes eine Heillofe Macht , welche die Inſtitutionen des Staats zur
Erreihung ihrer Privatzwecke und Peivatinterefien mißbraudt und das
Volk feiner Selbſtſtaͤndigkeit und Freiheit beraubt. Diefe Macht aber, ber
Abfolutismus iſt gleich ſchaͤndlich und verderblich, fei er nun auf dem
Haupte eines Dynaſten concentrirt ober von einigen privilegirten Familien
vertreten. Wo aber diefe unvolksthuͤmliche Macht ein Volk Enechtet, da
fol fie bekaͤmpft und der Unterfchied zwifchen ihr und ber aͤchten wahren
Staatsgewalt aufgedeckt werben. Abt.
Eidsgenoffenfhaft. (Zu ©. 620 nah dem erſten Abfag.)
Die Schweizer Eidgenofienfchaft ſchwankt zwiſchen einem voͤlkerrechtli⸗
chen Staatenbund und einem ſtaatsrechtlichen Bundesſtaat und es
fehlte ihr bis jetzt die politiſche Bildung und Kraft, die Verfaſſung eines
wahren Bundesſtaates zu erwerben, welche ihr vollends in den heutigen
europaͤiſchen Verhaͤltniſſen ſchon zu ihrer Selbfterhaltung voͤllig unentbehr:
lich iſ. S. oben Bund und unten Schweiz, neurfter Zuſtand.
(Zu S. 622 n. dem zweiten Abſatz.) Das doppelte Beduͤrfniß, das einer
rechtsgleichen freien Theilnahme aller Schwelserbürger an dem allgemei⸗
nen voterländifchen Gemeinweſen, und das einer Erhaltung und Vertretung
Eigenthum. 211
ber verſchiebenen Stasten und Regierungen und ihrer befonberen Rechte
umb Interefien läßt fich nimmer anders befriedigen als auf dem natur»
gemäßen Wege, den ber norbamerilanifche Bundesſtaat mit fo
glorreichen Erfolgen einſchlug, indem er nämlich neben einem Senat, ber,
fo wie die jegige Tagſctzung der Schweiz, jede Regiertiig ohne Rüdficht auf
die Bevoͤlkerung des Kantons durch einen ober zwei Abgeordnete vertritt, ein
nad) ber Bevölkerung gewähltes Repräfentantenhaus zum nationalen
Congreß beruft und vereinigt. S. Welder, Ueber Bundesverfafs
fung und Bundesreform zundhfi in Beziehung auf bie
Schweiz Leipzig und Stuttgart, 3. Scheible, 1834.
(3u ©. 628 ans Ende.) Wir haben die treffliche Darftellung des ehr⸗
würdigen Zſchokke abſichtlich unverändert wiedergegeben, und werben die ſeit
1837 eingetretenen Veränderungen und weiteren Entwidelungen, foweit nicht
die Artikel über einzelne Kantone, wie Luzern u. f. w. fie darftellen, in
einem befondern Artikel: Schweiz, neuefter Zuftand, geben.
C. Welder.
Eigenthum. Bekanntlich find feit den zehn Jahren, vor wel:
hen der teeffliche Rotted den voranſtehenden Artikel fchrieb, die Bes
fahren ber ſtets wachſenden Ungleichheit in den Eigenthumsverhältniffen,
wie die Anfeindungen und Angriffe gegen das Eigenthbum von Seiten ber
Befitzloſen und ihrer Anmälte noch weit bebrohlicyer geworden. Sie bebürs
fen ficher der hoͤchſten Aufmerkſamkeit und Borforge der Staatsmaͤnner. Aus
Ger dem Artikel Communismus werden die Artikel Socialismus
und Rechtsſyſtem die hierdurch entflandenen, zum Theil neuen poll
tifchen Aufgaben behandeln. Vorlaͤufig fei uns nur erlaubt, zwei Grund»
gedanken in Beziehung auf diefe Lehre auszufprechen. inerfeits verthets
bigen wir gegen communiftifche Theorien bie Helligkeit und Nothwendig⸗
Leit feſten vertheilten Privateigenthums. — Es iſt — und dieſes veranſchau⸗
lichen ia felbft die communiftifchen Theorien, die ja alle zu einem ſchreck⸗
lichen Defpotismus führen — nothwendig nicht bloß für die Cultur, fon-
bern vor Allem auch für die Freiheit. Es iſt gerade fo der rechtliche Leib
für Die freie juriſtiſche Perſoͤnlichkeit, wie der menfchliche Körper der Leib
und Träger für die freie Seele und Seelenthaͤtigkeit iſt. Es wird das Eis
genthum ein Theil der juriftifchen Perföntichkeit, welches fchon ber Sprach⸗
gebrauch mit den Worten mein, oder das Haus, das Land bes Titius aus⸗
druͤckt. Andersrfeits waren wir von jeher weit entfernt, die Eigenthuntter⸗
werbung, mit umferer flachen modernen Rechtstheorie, faft nur vom Zufall
oder von zufälligen formellen Bedingungen, vielleicht von materiell ganz uns
gerechten und wucheriſchem Erwerben abhängig zu machen. Wir forderten
vielmehr als Grundlage und die fortdbauernde Erhaltung eme materis
ell gerechte, eine je nach dem durch Verdienſt um bie allge»
meine Cultur legitimirten und juriftifh bewiefenen Bes
bürfniß verhältnigmäßig gleiche Eigenthumsvertheilung
und Eigentbumsgewährung für alle Familiknvaͤter, eine Verthei⸗
lung und Erhaltung mit dem möglichften Ausichluffe wucherifcher und un:
gerechter Erwerbungen ober Verletzungen bed Ermordmn und ber gleichen
%
213 | Einkommen.
Erwerbungsmöglichkeit, und zwar aller Verlegungen durch Privatwilltür
wie durch ungerechte Öffentliche Maßregeln, durch Erb» und Steuergeſetze,
Privilegien u. ſ. w. Die angegebenen Artikel werden nachwelfen, daß von
die ſen Grundideen bie Römer und noch das claffifchye römifche Hecht im ber
beſſeren Zeit ausgingen. Für die Römer machte freilich die ungerechte Skla⸗
verei und Rechtloſigkeit der Eroberten die Gerechtigkeit und Sreiheit unter
den Staatsbürgern leichter ; aber fie konnten dennody nur unvolllommen unb
vorübergehend ihre herrlichen Rechtsgrundfäge durchführen, weil die Krank:
heit des Unrechts auch den früher gefunden Theil des Staatskoͤrpers ergriff.
Bei uns aber beruht jegt die Rettung der Eultur und die Duchführung defs
fen, was allein wahr und gerecht und daher auch fuͤr Beſſere
verfuͤhre riſch in den communiſtiſchen Theorien iſt, in eben jenen unklar
aufgefaßten ewigen Grundideen der Gerechtigkeit und der gerechten Vermoͤ⸗
genstheorie des claſſiſchen roͤmiſchen Rechts. Es beruht die einzige Siche⸗
rung gegen den Vandalismus und den Deſpotismus, womit uns die fal⸗
ſchen Zuthaten, die raͤuberiſchen oder nivelliſtiſchen Geluͤſte des heutigen
Communismus bedrohen, in einer erweiterten und unſeren heutigen Verhaͤlt⸗
niſſen angepaßten Duchführung jener ewigen Srundfäge on Serechtigteit
elder.
Einkommen. Bon allen birecten Steuern, welche von dem
Befig eines rentirenden Vermögens oder von der Ausübung eines Berufes
(Wiffenfhaft, Amt, Kunft, Gewerbe, Handel) erhoben werben, läßt ſich
behaupten und wird behauptet, daß fir Ein kom men ſteuern fein. Auss
genommen davon find die Kopffleuern, unter welchem Namen fie auch
vorfommen mögen, und die von dem Befig eines nicht rentirenden Vermoͤ⸗
gens geforderten Abgaben. Kine allgemeine Einfommenfteuer , als ein=
zige Abgabe, mit Aufhebung aller übrigen, mürde unter den gegenwaͤrti⸗
gen Verhältniffen der europdijchen Staaten wohl nirgends den Bedarf für
Öffentliche Ausgaben decken. Daher find faft überall die einzelnen Zweige
des Einfommens befonders befteuert und außerdem noch diejenigen Genuß:
mittel und Bedürfniffe, deren Verbrauch jo groß und fo allgemein ift, daß
die Abgabe einen namhaften Ertrag abwirft, wie Salz, Bier, Wein,
Branntwein und Fleifh. Die indirecten Steuern madıen einen um fo
größeren Theil des Staatseinfommens aus, je mehr ſich die gewerbliche und
Handels: Thätigkeit entwidelt, alfo auch die Bevoͤlkerung zunimmt, melde
fih nicht mehr auf eigenem Boden oder ald Pächter oder Tagloͤhner von der
Feldarbeit ausfchließlic ernährt und außer den eigenen Erzeugniffen wenig
zu verbrauchen hat, fondern zur Induftrie übergeht oder im Handel und
Transportweſen Beichäftigung findet. Je größer und mannidjfaltiger der
Tauſchverkehr im Innern und im auswärtigen Handel wird, defto höher
fteigt der Ertrag der indirecten Abgaben. Die Beftrebungen der gegenmwär:
tigen Zeit für Verbefferungen im Steuerwefen find hauptfächlicy auf Verein:
fahung und gerechte Vertheilung der Öffentlichen Laften gerichtet, fo wie
auf möglichfte Befatigung der mit einem vermwidelten Abgabenmwefen vers
bundenen Hemmungen im Betrieb der Gewerbe, im Verkehr und der freien
Bewegung überhaupt. In all diefen Beziehungen ift Vieles zu thun, und
4a M
Eintommen. 218
zjemiih allgemein ift die Wahrnehmung, daß Diejenigen,’ welche großes
Bermögen befigen, hohes Einkommen beziehen, alfo auch den Schug und
die Vortheile im Staatsverbande vorzugsweife in Anfpruch nehmen, nicht
ia Verhaͤltniß zu den Leiftungen der weniger Bemittelten befteuert find.
Dies gilt fowohl von den directen Steuern, wo ber Mittelfland, nament⸗
lich der Handwerker am flärkiten belaftet iſt, als bei ben indirecten Steuern, .
wo die nothwendigſten Bebürfniffe fo mie diejenigen Genußmittel, auf
welche Jeder Anfprudy zu haben glaubt, vorzugsweiſe vor den feineren Ges
sußmitteln des Reichen beigezogen werben. Es giebt ſich daher auch viel«
fach das Begehren kund, einen größern Theil des Steuerbebarfs auf das Eins
kommen und zwar im Verhältniß zu deffen Größe zu legen. Daher 3. B. das
Berlangen preußiſcher Städte, die Mahl: und Schlachtfteuer gegen bie
Glaffenfleuer zu vertaufhen, um eine für die Armen hauptfächlich druͤckend⸗
Loft auf das Einkommen der Wohlhabenden überzumdälzen ; baher daB Vers
Yangen nad) einer Gapitalfteuer in Baden, wo die Zinsrente der einzige bis jegt
noch fleuerfreie Einkommenszweig iſt, während für andere Zweige fogar eine
progreffive Einkommenfteuer, die Claſſenſteuer, befteht. Und immer mehr
verliert fich die Meinung, daß eine gerechte Befteuerung des Einkommens der
Rechen nur in Zeiten der Noth als vorubergehendes Hilfsmittel am Plage ſei.
Das größte Beifpiel einer Ueberwaͤlzung von Abgaben, welche die Ars
meren Claſſen drüdten, auf die Reichen, welche fie ohne Belaͤſtigung zu tra»
gen vermögen, hat in unferen Tagen Sir Robert Peel gegeben. Angeblich
um den Ueberfchuß ber Staatsausgaben über die Einnahmen zu decken, führte
er al& vorübergehende Abgabe die Einfommenfteuer ein, welche früher nur in
Kriegszeiten beftanden hatte und mit dem eintretenden Frieden wieder vers
ſchwand. Allein allmälig bob er eine Reihe Läftiger Accisgattungen ganz .
auf, fegte andere herab, erließ oder ermäßigte die Eingangszoͤlle von etwa
800 Artikeln, fo daß jest, da das Gleichgewicht in den Finanzen Längft wie
der hergeſtellt ift, die arbeitende Claſſe ſich vielfach erleichtert fieht, die Ein⸗
kommenſteuer aber eine unentbehrliche, ftändige Hilfsquelle des Schages ge
worden ifl. In dem legten Kinanzjiahre (1846) zeigte ſich ein Ueberſchuß
ber Einnahmen von mehr ald 1 Million Pfd. Sterling, wovon, wie dies feit der
Abfchaffung des sinking fund üblicdy geworden, ein Viertheil auf die Vers
minderung ber Staatefchuld verwendet wurde ; allein Niemand dachte an
eine Aufhebung oder Ermäßigung der Einfommenfteuer.
Den Gemeinden, namentlich den Städten, welche ihren Aufwand
nicht aus dem Ertrage des eigenen Vermögens beftreiten können, fondern zu
Umlagen greifen müffen und biefelben nach dem Muſter des Staates, theils
direct, theils indirect (als Octroi) erheben, wäre in vielen Sällen zu rathen,
ftatt der verderblichen Detrois das Eintommen in Anſpruch zunehmen. Dies
geſchieht 3.3. in den freien Städten und könnte auch anderwärts mit Erfolg
geſchehen, da bie Verhältniffe des Einzelnen den Mitbürgern ziemlich befannt
find, alfo auch zu niedere Angaben berichtigt werden Einnen. Theuere Zeis
ten wie die gegenmärtige jind befonder& geeignet, Verbefferungen in der
Befleuerung der Gemeinden zu fördern. |
Karl Mathy.
b 5
FE. Eiſenbahnen und Game Cifenbahn, babenfche.
" Eifenbahnen und Gandie. (Bu S. 784. Zelle 10 von oben.)
wurbe biefer Cancl — Lubwigscanal genannt — In neun
Jehren vollendet und iſt berelts vollſtaͤndig für die Schifffahrt eröffnet: Der
Koftnkberfchlag des großen Werkes, welches ſchen Kari der Große bes "
‚ der gegenwärtige König von Balern aber ausführte, hetrug
, wurde aber bis zum Doppelten uͤberſtlegen.
Fu ©. 768 Bel 10». 0 ) Bekanntlich iR nich den) Holfkei=
niſchen Egoismus, fonden durch daͤniſchen, Ebert, dieſes chrems
—— bee Danfa, auf ‚eine empoͤrende Wolfe von allen
en en ausgeſchloſſen worden. Die beautragte
g zwiſchen Hamburg und Lübeck wurde 1836 von Daͤne⸗
et verhindert, die von Kiel nach Lüb eck ebenfo 1844 und — die
24 — hen auf die Hamburg⸗ Berliner Bahn (und nach
5** Es iſt zu Hoffen, daß ber Bund auf Die in dieſem Herbſt
hen
ma
von
)
werde Lübels fo grauſamer Bernichtung des Wohlſtandes
*7 dentſchen Staates durch das fremde Daͤnemark geſteuert werde und _
e Bänder mt frem-
den Furſten Inımer lebhafter erkannt und gefühlt werde
& Bilder.
außerorbentli⸗
Eifenbahn, badenfde Baden hat auf dem
chen Sandtage 1858 eine Eifenbahn von feiner nördlichen bis zur füblichen
Ging auf Staattkoſten beſchlofſen. Dieſelbe iſt auch von ber nördlichen
Grenze, an welcher fls-fich mit der ebenfalls eröffneten Nain⸗Neckateiſenbahn
von Frankfurt und Darmſtadt verbindet, feit länger als Sahresfrift bereits
bis Freiburg und in ihren beiden Seitenbahnm nah Kehl und Baden
dem Betrieb übergeben. Der Bau iſt fehr ſolid, zum Theil, wie die Stände
flogen, etwas luxurioͤs. Bel allem Verdienſt der Ausführung find doch
vorzüglich folgende Punkte wiederholt in der Kammer beklagt worden:
1) Die zu langfame Ausführung. Wollte aud) die Regie
rung nicht fchon fünf Fahre früher den ihr durch fremde Handlungshäufer
vermuttelft des Abgeordneten Welder auf dem Landtag 1833 gemadıten
Antrag zur alsbaldigen Ausführung ber Bahn durch eine Privatgefeilfchaft
annehmen, fo mußte fie doch die bei dem Gebanken an eine Baſel⸗Straß⸗
burger Bahn auf der linken Mheinfeite unter dem Minifterium Winter
1838 befchlofiene Staatseifenbahn alsbald, nicht blos im Norden, fondern
gleichzeitig im Süden In Arbeit nehmen taffen. Dann war die Concurrenz⸗
bahn von einer Privatgefellfchaft auf der linken Seite entfchieben unmöglich).
Ste fand nur Actienzeichner durch den hartnädig verbreiteten Glauben, Bas
den baue nicht weiter als bis zul ihrem Anfchluß nady Straßburg. Und im
der That fchien unter dem Miniftertum Blittersdorf jahrelang biefer un»
glaubliche Gedanke das Miniſterium zu beherefchen, bis endlich der immer
mehr erwachte Volksunmuth und der Sieg der Liberalen in den Wahlen ben
Bau In der oberen Landesgegenb-beginnen machte. Außer der foldyergeftalt
unnöthig geförderten Concuerenzbahn auf ber linken Rheinfelte, außer ber
Aufnahme des franzoͤſiſchen Bahnhofes in die Stadt Baſel, welche dieſes fo
gern durch rechtzeitige Verbindung mit der badifchen Bahn umgehen wollte,
Eifenbahn, babenfche. 216
entſtand fo auch ber große Nachtheil, daß alle bereits verwendeten Millionen
3* viele Jahre Länger ohne vollen Zinsertrag im Boden liegen und daß bis
Vollendung der badiſchen Bahn Perſonen und Sachen, die von Bafel
2*8* und von Norden jenſeits Straßburg und Offenburg nach Baſel
geben, die franzöfiiche Bahn wählen und natürlich felbft die fertige badifche
Strecke von Kreiburg bis Kehl nicht benugen können. Abgefehen von betruͤb⸗
ten geheimeren Gründen, welche bei dieſem Fehler mitwirkten, ſieht man body
auch hier wieder einen eigenthüämlichen neudeutſchen Mangel an hinläng-
licher muthiger Entfchlofienheit und Raſchheit in Ausführung heilfamer
Maßregeln. Stets will man das an ſich Vortheilhafte nur gezwungen unters
nehmen — fo wie die ganze Eifenbahn erſt nad) dem auf dem linken Rhein» .
ufer entflandenen Project. — Aber audy eine rafche, Eräftige, confequente
Ausführung if nie, wie in freien Staaten gegen Intriguen, Bedenklichkei⸗
ten, Eigenwilligkeiten einzelner Beamten gefichert
2) Die Wahl des von den übrigen deutfchen Eifenbahnen abweichenden
breiten Spurgeleifes.
3) Das unglüdtiche Seitwärtslaffen der erften Hanbelsflabt des Landes
bei der Hortfegung det Bahn von Heidelberg nach Norden.
Auf dem legten Landtage wurde nad) langem Kampfe eine Gonceffion an
eine Zuricher Geſellſchaft für den Bau von Waldshut bis an die badifche Bahn
ertheilt, auch einer etwa ſich bildenden Actiengefelfhaft zum Bau einer Eis
fenbahn von Offenburg durch das Kinzigthal nach Conſtanz und
dem Bodenfee, fowie zum Anfchluß an die würtembergifche Bahn an ben
Bodenſee gefeglich die Eonceffion unter günftigen Bedingungen angeboten.
Ebenſo wurde auch, nur unter etwas weniger günfligen Bedingungen, einer
etwaigen Actiengefellfichaft für eine Bahn von Karlsruhe nah Pforzs
beim und von da zum Anfchluß an eine würtembergifhe Bahn nad Stutt⸗
gart eine gefegliche Conceffion im Voraus gegeben. Ueber die Verbands
Iungen in Beiehung auf diefe Bahn eiferten ſchlecht unterrichtete wuͤrtem⸗
bergifche Blätter, als hätten die badifchen Abgeordneten, aus kleinlichem
Sonberintereffe, das große nationale Interefje aller deutſchen Bruderftämme
und ihrer moͤglichſt leichten Verbindung mit einander verlegen mögen. Doch
muß man anerfennend erwähnen, daß ein beſſer unterrichtetes wuͤrtember⸗
gifches Blatt erklärte, die wuͤrtembergiſchen Stände würden in ähnlichem
Halle ganz ebenfo wie die badifchen gehandelt haben. In der That fiel «0
auch keinem Badner ein, unſern wärtembergifchen Bruderſtamm verlegen
und die Verbindung mit ihm nicht zu wollen. Beſchloſſen wir ja ſchon
auf dem vorigen Landtage, obgleich die Wuͤrtemberger ſo lange alle Eiſen⸗
bahnbauten unguͤnſtig anſahen und ſoweit möglich zuruͤckzuhalten fuchten und
deshalb auch jetzt noch ſo weit mit ihren Eiſenbahnen im Ruͤckſtande find, daß
fie Baden noch lange nicht berühren werden, dennoch foͤrmlich einen Anſchluß
unferer Bahn an die zukünftige würtembergifche bei Pforzheim. Diefen Bes
ſchluß erneuerten wir jegt mit einer förmlichen gefeglihen Conceffionsertheis
Iung und forgten duch eine ſolche auch für ben Anfchluß In der Seegegend.
Daß wir aber in Beziehung auf Wahl der Bahnrichtungen und die größere
Beeilung unferer verfchiebenen Bauplane und die dazu dienliche groͤßere Bei⸗
eine Aber Dtfenburn, Im ben Wobrufer führen. will
wird jen⸗ erſte Bahn baum. Kr Waben aber und zunaͤchſt für feinen
Schwarzwald und oberen Landestheil IfE eine Bahn von Offenburg vun
gefeitfi
den konnte, fo war es eine weientliche Pflicht ber Stände, den offenbaren Ruin
eines großen Landestheiles zu verhindern und ſoweit möglich dahin zu wirken,
daß, ehe Würtemberg ſchon mit der badiſchen Eifenbahn durch unfere Mits
wirkung verbunden, feine Concurrenzbahn von Norden und Welten nad dem
Bodenfee auf Staatskoften bergeftellt und allen Verkehr auf diefelbe gezogen
bat, eine Actiengefellfchaft für den Bau der Eiſenbahn durchs Kinzigthal an
den Bodenfee ſich bilden kann. In dem dringendften Intereſſe, für moͤg⸗
lichſte Foͤrderung diefer Kinzigthalbahn zu forgen, kaͤmpften viele Abgeordnete
felbft gegen den augenblicklichen Vortheil eines andern badifchen Landestheils,
welcher die alsbaldige Gonceffionsertheilung zu einem Bau über Walds⸗
hut nad) Zurich wuͤnſchte, melden Bau man aber ebenfalle, um bie
Bahn durchs Kinzigthal Über den Schwarzwald nad) Conſtanz möglichft zu
fördern und diefe Gegend vor dem Unglüd eines Ausfchluffes von dem Eifen-
bahnnetze zu fichern, noch etwas hinauszufchieben fuchte. Und nun follen
bie armen badifchen Stände Deutfchland und Würtemberg verrathen haben,
indem fie nicht, flatt dieſer nothwendigſten Pflichterfüllung, eilten, vor Als
lem eine Bahn bis zur wuͤrtembergiſchen Grenze fertig herzi:ftellen, ehe ſei⸗
nerfeite Wuͤrtemberg auch nur den erften Spaten für eine ſolche Verbindungs⸗
bahn angefegt bat. Die verfchiebenen Verbindungen aber von ber badifhen
Nordſuͤdbahn nach Wuͤrtemberg durchs Kinzigthal an ben Bodenſee und
durch das obere Rheinthal nach Zuͤrich und ebenfalls an den Bodenſee, ſie wer⸗
ben ebenfo gewiß hergeſtellt werden, wie bie Verbindungen mit ben franzoͤſi⸗
Eifenbahn. 217
er unb rheinpreußifchen und beigifchen Bahnen über Straßburg unb
Saarbruͤcken. So wird alfo Baden, welches durch feine Lage in feinen mei:
Ken Landestheilen an der Eifenbahnitraße hingeſtreckt liegt, mit allen Haupts
bahnen Deutſchlands und des‘ europäifchen Feſtlandes verbunden iſt, im
Ganzen ein zum Bau und Betrieb der Eifnbahnen ſehr günftiges Ter⸗
rain befigt, feinen Wohlftand und feine Blüthe durch die neue große Erfin⸗
bung vorzugsweiſe gefördert fehen — *).
C. Welder.
Eifenbahn. Seit vorftehender Auffag erſchien, find ‚neun Jahre
verfloſſen; Vieles ift in dieſer Friſt gefchehen, Mehreres vorbereitet; manche
Borherſagungen find eingetroffen, andere nicht. Namentlich hat Deutſch⸗
land im Eifenbahnwefen eine Thaͤtigkeit entwidelt, welche kaum zu ertvarten
war 5 es befigt gegenwärtig 464 geogr. Dielen fahrbare Schienenmwege, bie
in 35 Bahnen zerfallen und ſich jährlich mehren. Frankreich iſt zwar nicht
„allen andern Nationen des Continents mit großem Beifpiele vorangegangen,“'
aber «8 bat als einheitlicher Staat die Ausführung feiner Hauptlinien geſetz⸗
Lid, geregelt. Das franzoͤſiſche Gefeg vom 11. Juni 1842 enthält im We
fentlichen folgende Beſtimmungen: 1) Es fo ein Eifenbahn » Spftem hers
geftellt werden, welches ſich erſtreckt: Von Paris: a) nad) der beigifchen
Grenze über Lille und Valenciennes (ift vollendet und feit 15. Juni
1846 dem Betriebe übergeben) ; b) gegen England nach einem ober mehr
reren Uferpunften des Canals (la Manche), welche ſpaͤter beſtimmt worden
(Havre); c) nach der deutſchen Grenze über Nanın und Straßburg;
d) nad dem mittelländifhen Meere über Lyon, Marſeille und Cette;
e) nach der fpanifhen Grenze über Tours, Poitiers, Angouleme, Bor⸗
deaux und Bayonne; f) nah dem atlantifchen Dcean über Tours und
Nantes; 8) nad) der Mitte von Frankreich über Bourges; b) vom Mittels
meer nad) dem Rhein über Lyon, Dijon und Mühlhaufen; i) vom atlans
tiſchen nad) dem Mittelmeere über Bordeaur, Zonloufe und Marſeille. —
2) Die Ausführung diefer großen Eifenbahnlinien wird flattfinden durch
das Zuſammenwirken des Staates, der durchzogenen Departements und
der betheiligten Gemeinden und der Privatinduftrie ; jedoch Finnen diefe Li⸗
nien auch ganz oder theilweife durch befondere Gefege unter den alsbann feſt⸗
zuftellenden Bedingungen der Privatinbuitrie überlaffen werben. — 3) Die
Entfchädigungen für abzutretende Srundftüde und Gebäude werben vom
Staats vorgefchoffen und demfelben von den Departements und Gemeinden
bis zum Belaufe von zwei Drittheilen wieder erfegt; die Regierung darf Uns
terflügungen, welche von Drtfchaften oder von Einzelnen an Grundſtuͤcken
ober Geld angeboten werden, annehmen. — 4) In jedem durchzogenen Des
partement wird der Departementsrath in Berathung ziehen: a) welcher Theil
an den zwei Deittheilen der Entfchäddigung von dem Departement zu übers
nehmen unb durch welche außerordentliche Mittel derfelbe im Halle der
UnzulänglichBeit der Zufagfteuern (centimes facultatifs) zu decken ſei; b) welche
*) Diefe ganze Ausführung über Baden wurbe fast ber fruͤhern unpaſ⸗
ſend gewordenen —*— von der Redaction eingeſchoben
4
gt gi bezeichnen folen und wie viel jebe im Wechditsiiffe gu
Kräften beizutragen habe. Die
Arbeit
-T) Rod) Ablauf der
|
ki
ii
audg den beſ
Borlage gemacht werben ſoll. — Weber die Eifenbahnpolizei iſt unterm 15.
Juli 1846 ein Befeg erlaffen worden. '
Wir haben die weſentlichen Beflimmungen dieſes Geſetzes hier aufs
genommen, um daran zu zeigen, wie vortheilhaft für die Angelegenheiten
einer Nation die Einheit iſt. In Deutfchland machen die Einzelftaaten große
Anftrengimgen für die &ifenbahnen ; wie fi) aber das nationale Transports
foftem geftalten mag, das hängt mehr oder weniger vom Zufalle ab und ins
zwifchen führt die Werfolgung der Sonberinterefien hier und da zu bedauerlis
chen Reibungen. Hätte, nach dem Wunfche des Verfaſſers (Fr. Liſt), der
deutfche Bund, oder, mas wohl minder ſchwierig geweſen wäre, der Zoll⸗
verein die Eifenbahnfrage in die Hand genommen, fo hätte über die wichtigen
Punkte, welche das franzöfifche Geſetz regelt, ein beutfches Uebereinkoms
men zu Stande gebracht werben Tönnen.
Ueber die Ergebniffe des Betrieb 6 hat man befonders aus Belgien
genauere Angaben, wo der Staat die Bauten ausgeführt hat und feit einer
Neihe von Jahren betreibt... Am Schluffe des Jahres 1844 hatte Belgien
111,8 Lieues (75% geogr. Meilen) Eifenbahnen, wovon 314 Meilen mit dep:
peltem und 433 Meilen mit einfachem Geleiſe. Es waren dafür 150,264,062
Fr. bewilligt und aufgenommen und die Anlagekoften berechneten fi auf
894,684 Franken die Lieue (mit Betriebsmaterial); fie gehören zu den
Coftfpieligfien auf dem Feftlande. Im Laufe des Jahres 1844 wurden
8,381,529 Reifende mit 10,496,068 Kilogr. Gepaͤck und 520,422,667
Kilogr. Güter transportiet. Die Einnahme betrug 11,230,493 Franken,
Eifenbahn. 2319
wovon 584 Procent auf Reifende und Gepaͤck, 414 Procent auf den Güter
transport kommen. Auf den Verkehr mit Deutfchland rechnete man 11,,,
Procent, mit Frankreich 9,,. (dieſer Verkehr ift ſeit Eröffnung der frans
zöftfchen Nordbahn Lebhafter geworben), auf ben Innern Verkehr 79, Pro⸗
cent ber Einnahme. Dieſes Ergebniß beftätigt den Sag, daß ber innere
Verkehr bei Anlage von Eifenbahnen vorzugsmeife zu berüdfichtigen if. —
Die Betriebs koſten Haben 5,765,431 Franken betragen, der Reins
ertrag belief ſich ſonach auf 5,465,062 Fr. ober 3,,, Procent des vers
wendeten Capitals. Wenn unter dem Ertrag weder bie eigenen Einnahmen
ber Verwaltung aus verfauften und verpachteten Grundſtuͤcken, an Miethzin⸗
fen, Erlös aus abgängigem Material und Inventarienſtuͤcken u. f. w. im
Anſchlag gebracht find , auch nicht die dem Staate unentgeltlich geleiftes
ten Dienfte durch den Transport von Poftftüden und Material, fo wie
die Erſparnifſe im Transport von Truppen, Gefangenen u. ſ. w. und der vers
mehrte Ertrag ber Poft: foift auf der andern Seite auch kein Refervefond für
größere Reparaturen und neue Anfchaffungen von Material in Anfas gebracht
(f. Eifenbahnzeitung von 1845 Nr. 15 und 33). Es werden überhaupt mur
wenige Eifenbahnen höhere Zinfen oder Dividenden abwerfen, befonbers
wenn nicht namhafte Ermäßigungen der Betriebskoften aufgefunden werben.
Die Verhättniffe zum Staat, unter denen Gefellfhaftsbahnen im
Deutfchland gebaut worden, find mannichfaltiger Art und wir wählen als
Beiſpiel die pfälzifche Lubwigebahn (Berbacher Wahn), welche ihrer theilwei⸗
fen Eröffnung entgegenficht. Diefer Bahn, welche in dem Kohlentrans⸗
porte von der Saargegend nad) bem Rhein eine fländige Einnahmsauelle
hat, ift von dem Staate ein Binfenertcag von 4 Procent vom Tage ber Volle
endung und Eröffnumg gerechnet, auf 25 Jahre gefichert, mogegen bie
Bahn nach 99 Jahren unentgeltlich dem Staate zufällt. Das Betriebs⸗
material und das übrige Mobiliarvermögen find darunter nicht begriffen;
der Staat kann fie nach fchiebsrichterlicher Abfchägung erwerben. Die Regtes
rung hat ferner das Recht, nach Ablauf ber Gewährfchaftszeit (25 Jahre)
das Eigenthum bee Bahn und ihrer Zugehörungen durch Vergütung bes
Anlagecapitals abzulöfen. Der Bauplan unterliegt der Genehmigung bes
Königs; ebenfo der Tarif, welcher in den erften drei Jahren jährlich, for
dann aber von drei zu drei Jahren feftgefegt werdenmuß. Die Wahl der Bes
triebs⸗ und Auffichtsbeamten unterliegt der Beftätigung durch die Regierung
und das. Verhälmiß ber Gefellfchaft zur Poſtanſtalt bleibt befonderer Ver⸗
handlung vorbehaltn. Einſtweilen ift die Zuficherung gegeben, daß nicht
beabfichtigt werde, die Geſellſchaft mit pecuniaͤren Leiftungen ober Entſchaͤ⸗
digungen zu belaften, vielmehr nur die Benugung der Bahn für die Zwecke
der Poft zu fihern. Zur Wahrung der öffentlichen Intereſſen wird die Oder⸗
aufſicht durch einen Eöniglichen Commiſſaͤr ausgeübt, welcher fid) von ber
fteten Feſthaltung der flatutenmäßigen Beſtimmungen zu überzeugen bat.
(Das Capital beträgt 8 Millionen Gulden in Actien su 500 fl.)
Die Beforgniffe des Berfaffers (Fr. Lift) über die Kriſen in Folge der
unbefchränkten Eifenbahnpapterfpeeulationen haben durch die gegenwärtigen
Zuſtaͤnde des Geldmarktes eine traurige Beftätigung erhalten. Koͤmen auch
Er
Die Metlimunternehmungen mid als ae ee a en
dauernden Geldklemmen bezeichnet werben, o haben damit getriebenen
Sauindelelen den erſten Aufioß dazu gegeben. ————
dabel erlitten muden, — — a a
87; ae ae 191, 13, je 107, =. ſ. w. Unter den’ über das
Eiſenbahnweſen erſchienenen Werken iſt beſenders das Eifenbahnbuch von
WB. v. Reben u mpfeblen. 8. Mathy.
ifenmann. Gottfried, wurd⸗ 1796 zu Bindung gi ber Sohn
eines armen Schuſtees Ausgezeichnet
Fuͤrſtenthron⸗
gem der deutſchen Freiheit und Ehre feindlichem Einfluß aber freilich bis jegt
unfer Vaterland nicht befreiten, bie geboffte politifche Freiheit ihm nicht
erwarben und vielmehr gar manchem patriotifd) begeifterten Juͤngling und
Manne, ganz ſo, wie dem unglüdlihen Eifenmann, flatt des Gluͤcks vater:
Iändifcher Freiheit vielmehr den Verluft des Vaterlandes und der Freiheit
durch Verbannung und Kerker brachten. Im Feldzuge erwarb dem muthi⸗
gen Eifenmann feine Tapferkeit ein militärifches Ehrenzeichen. , Nach
der Heimkehr widmete er fi dem Stubium der Medicin und bilbete ſich in
berfelben an dee Hand des berühmten Schönlein aus, welcher ihm fehr
befceundet wurde; wie denn Eifenmann überhaupt fich. die Liebe und
Theilnahme faft Aller, die ihn im Leben oder durdy feine Schriften näher
kannten, zu erwerben wußte. Während feines Studentenlebens hielt fid)
Eifenmann zuerft zur Burfchenfchaft, weiche befanntlicdy in dem Maße,
als feit 1817 die Stelle der Erfüllung der großen politifchen Verheißungen
eine freiheitsfeindliche Reaction einnahm, politifh gu werden begann und
num, bei Verboten derfelben , theilmeife in heimliche Verbindungen ausartete.
Eifenmann trat jegt (1821) dem auf mehreren Univerfitäten geftifteten
Sünglingsbunde bei. Er wurde bei der Entdeddung diefer geheimen politis
[hen Stubentenverbindung 1823 mit Andern verhaftet, nad) München ger
bracht und ein Jahr fpäter, da eine einſtweilige Aufhebung der Unterfuchung
wegen diefer fludentifchen Verirrungen befchloffen war, nad) Karlstadt bei
Wuͤrzburg gewiefen. Doch wurde nachher auch diefe Kreiheitsbefchränkung
aufgehoben und er erwarb ſich num als praßtifcher Arzt in feiner Vaterſtadt
[4
Gifenmann. 221
Würzburg ſehr ſchnell eine große ärztliche Praxis, und eine Reihe früherer und
fpäterer mediciniſcher Schriften bewährten ihn als tüchtigen mediciniſchen
Gelehrten. Als die Thronbefteigung des Könige Ludwig bei fo manchen von
demſelben als Kronprinz und feit feinem Regierungsanttitt befannt geworde⸗
nen erhebenden Aeußerungen und Handlungen ben Sreiheitsfreunden in Bai⸗
ern und Deutſchland neue Hoffnungen für bie erfehnte Ausbildung des Sp
ſtems wahrer flaatsbürgerlicher Freiheit erwedte, ba ſuchte auh Eifens
mann für diefe Ausbildung als politifcher Schriftfteller zu wirken. Er bes
gründete, nicht, wie fonft oftmals in Deutſchland, zum Lebensunterhalt, fons
dern aus patriotifhem Beduͤrfniß, eine politifche Zeitfchrift, das Bairi⸗
fhe Volksblatt. Es war, wie mit Reht Eifenmann’s Biograph
im Converfationsleriton ſich ausdrüdt, „Das erfle Organ einer fris
„ſchen ruͤhrigen, nicht blos in leeren Allgemeinheiten verſchwimmenden Op⸗
pofition. Es mar aber mit folhem Geiſte und folder politifcher Bildung
redigirt und auch von fo ausgezeichneten Publiciſten unterflügt, daß ed bald
in Baiern und Deutfchland ſehr verbreitet war, und Eifenmann blieb
zugleich dem conftiturionellen Princip fo treu, vertheidigte namentlidy ein erb⸗
liches, unverlegliches Königthum gegen die ſchon damals häufigen, an der
Vereinigung von Freiheit und Koͤnigthum verzweifelnden republikaniſchen
Wünfche vieler, zumal jüngerer oder weniger ausgebildeter Patrioten, fo daß ber
berühmtefle Präfident eines batrifchen Oberappellationsgerihtse — euer»
bad, diefes Eifenmann’fche Bairiſche Volksblatt „ein DRufter einer
conftitutionellen Zeitfcheift” nannte. Daß Eifenmann, in einem ihm
abgenöthigten politifchen Glaubensbekenntniſſe, in Beziehung auf die allges
meinen deutfchen Verhältniffe die aud) vom Minifter von Stein vorges
ſchlagene RationalsRepräfentation am Bunde wuͤnſchte — diefe® konnte nas
tuͤrlich in Feu erbach nicht tadeln und es wird am wenigften bei ſolchen
Staatsmännern für Eifenmann nachtheilig gedeutet werden, die es wiſſen,
in welchem Grade insbefondere auch bei den Alteren befonneneren Patrioten
diefe Idee in neuerer Zeit fic) verbreitet hat (zum Theil in der Geſtalt einer
Mepräfentation bei dem Zollverein) und wie diefelbe jegt für fo Viele der ein⸗
zige Rettungsanler ihrer Hoffnung für eine zugleich freie, fichernde und
ehrenvolle und zugleich ohne Umſturz denkbare politifche Geftaltung ber
deutfhen Nationalverhältniffe geworden ift und täglih mehr wird.
Auch gab jegt Eifenmann gleichzeitig griedrih von Spaun’s polis
tifches Zeftament, Erlangen 1831, heraus. Vielen, die man für -
wohlunterrichtet hielt, ſchien Eifenmann’s Zeitfchrift und feine Oppoſi⸗
tion von Oben her mehr begünftigt als angefeindet, und dieſes mußte auch für
Alle, welche an wahre ftaatsbürgerliche Freiheit und an den ernftlihen Willen
für fie glaubten und welche die große Mäßigung und Bildung des Eiſen⸗
mann’fhen Volksblattes im Vergleich mit fo manchen theils rohen,
theils radicalen damaligen Zeitblättern in Baiern verglichen, fehr natürlich
feinen. Aber dennoh — nach dem unhellvollen Falle Warſchaus —
welcher in Verbindung mit der Politit von Louis Philipp das völlige
Gegengewicht gegen die Wirkungen ber Julitevolution bildete, ergeiff ber
nur auf kurze Zeit zuruͤckgedraͤngte, jetzt verflärkt hervorbrechende Strom ber
_ wunetiundcen bautfäjen Poliit ſabſt auch bob Wakcijche Volkeblatt und fon
Ungluͤckliches Schickſal für uns arme Deutfche! den beiden großen
Erfchuͤtterungen * Abfoluttemus 1814 und 1850 nem andere Boͤl⸗
in
als dreißig Jahren bie Freiheit wicht. Und denn wir fie mm, jegt geſtuͤtzt
auf urkundliche unb Zuſagen, forbern — dann wir bie bitterſte
als: Jtonien — wer ſelen vu ungebulbtg, |. im Cturm
ſchritt bie Freiheit erobern. Und wenn neue Freiheit anderer Möller ums
biefe Rechte und Verbuͤrgung
kb —— —
ans aliſche Urthell der richeiaden
Datgeſchichte kaum ein ſehr zroßes Bericht darauf Legen, ob ſolche Pa⸗
teſeten, wenn fie nur an ſich rech tliche, ehren werthe Gefinnungen
hatten, in dem durch das Unrecht von der andern Seite veranlaßten Kampfe
zu einer juriſtiſchen Verirrung verleitet wurden, ober auch davon frei blieben.
Es wurde übrigens ſeit dem in Baiern, als nach bes Miniſters von
Sch enk Zuruͤcktritt die Artikel über innere bairiſche Verhaͤltniſſe cenſurfrei
waren, ſchon jetzt und vollends durch ſpaͤtere Schickſale cenſurfreier Schrif⸗
ten, ihrer Verfaſſer und Verleger und Drucker und Verbreiter deutlich genug,
daß man auch ohne Genfur durch polizeiliche und gerichtliche Werfolgungen bie
Preßfreiheit der Wefenheit nach vernichten kann. Am 21. Sept. 1832
wurde Sifenmann verhaftet, nach München gebracht und endlich zur Abs
Bitte vor dem Bildniß des Könige und zu unbeftimmter, d. b. eigentlich
lebenslaͤnglicher Zuchthausftrafe verurtheilt. Segt bereits 14 Jahre feiner
Freiheit beraubt, fand der nun Pränklid gewordene Mann auf ber Feſtung
Daffan durch die ihm vergönnte Anlage und liebevolle Pflege eines Kleinen
Gärtihehs auf ehemals oͤdem Fleck eine erheiternde,.Exholung, wurde aber —
. fo berichtet man uns weiter — nachdem ein Geiſtlicher dieſes Beſitzthum für
füch zu haben mwünfchte und Eifenmanm feine Lebensfreude eifrigft zu vers
theidigen fuchte, zu feinem Kummer in die rauhere Luft einer Bergfeftung
bet Bamberg verfegt.
Diefes ber aͤußere trockene Verlauf einer Criminalgeſchichte, welche fo
wie mehrere andere in Deutfchland und fo wie insbefondere die von Eifen-
mann’s Unglüdsgenoffen Behr (f. d. Art.), mag man fie an fich und nur
mit dem Blick aufunfere vaterländifchen Zuftände, oder mag man fie vol
lende in Beziehung auf das, 1006 in den übrigen, was in allen freien Ländern
Eifenmann. 223
ber heutigen civiliſirten Welt vorgeht, betrachten, bezeichnenber und bedeu⸗
tungsvoller iſt und dauernder in der deutfchen Geſchichte bleiben wird, als
manche Staatemänner zu glauben fcheinen. Die große moraliſch⸗ politifche
Bedeutung folder Vorgänge, ihr Verhältniß zu den wichtigſten politiichen
und rechtlichen Brundfägen, zu dem Schidfalen unferer Nation und zu ber
Ehre unferer neueren vaterländifhen Gefchichte fcheint e6 dem Staats:
lex ikon zur unerläßlichen Pflicht zu machen , ihre wichtigeren Punkte genau
darzuftellen und rechtlich und politifch zu beurtheilen.
Doch biefes ift uns leider wegen des Dunkels, in welch: diefe Vorgänge
gehältt find, ganz unmöglih. Nur daß Eifenmann wie Behr — und
andere der Nation weniger bekannte Mitbürger von der ſchauervollen geheimen
Criminalgewalt plöglich durch Verhaftung der Freiheit und dem Kreife ber
Ihrigen und ihrer Freunde entriffen und in ferne Gefängniffe fortgeführt
wurden, daß fie in diefen Gefängniffen abgeſchloſſen von den Ihrigen und
ihren Freunden längere Zeit der geheimen Inquiſition unterworfen waren,
daß fie dann unermartet zur Abbitte vor dem Bildniß bes Königs und lebens⸗
länglicher Zuchthausftrafe verurtheilt wurden und daß fie bei einigen wider
ruflihen Milderungen nun 14 Jahre lang ihrer Freiheit, der Ihrigen und
ihrer bürgerlichen Wirkſamkeit beraubt find, nur dieſes weiß mit genuͤgender
Zuverläffigkeit das Vaterland von feinen früher allgemein hochgeachtsten Mits
bürgern! Freilich gar Manches über die Grünbe der Anfchuldigung und ber
Verurtheilung, über den geheimnißvollen Gang ber Unterfuchung, ber Bes
richtsbildung und der Verurtheilung,, über Mitwirkung diefer und jener De,
fönlichkeiten und Umftände, theilen ſich Hunderte und Tauſende im Stillen
mit, glauben auch auf moraliſch glaubmwürdige Weile über vieles Wefentliche
unterrichtet zu fein. Aber wäre es für daB Staatslexikon recht umd bei
ber Cenſur auch nur möglich, die fo abfichtlich in officielles Geheimniß gehälls.
ten, uns nicht urkundlich: und offictell beweisbar mitgetheilten, vielleicht uns
angenehmen Thatfachen öffentlich mitzutheilen und fie wie actenmäßig erwie⸗
fene der Schärfe der Kritik zu unterwerfen? Wir koͤnnen diefes nicht, Aber
umfere Pflicht der redlichen wiſſenſchaftlichen Mittheilung unferer Ueberzeu⸗
gungen uͤber daß, was ruͤckſichtlich wichtiger im Publicum zum Theil gedruckt
verbreiteten Nachrichten in politifchen Beziehungen für die Sicherheit, Ehre
und Macht bes Vaterlandes, feiner Fürften und Bürger zu ftehen fcheint, dieſe
beitigfte Pflicht jedes politifchen Schriftſtellers beftimmt uns wenigftens zu
einigen Fragen und zu Andeutungen von Anfichten,, welche, fofern fie an fich
oder ihre thatfächlichen Vorausſetzungen irrig wären, nöthigenfalls durch
beffere Gründe oder durch Aufbellung ber Thatſachen leicht zu berichtigen
wären und alsdann zu Berichtigung verbreiteter Anfichten eine heilſame Vers -
anlafjung werben koͤnnten.
Freilich wir follten uns vielleicht ſelbſt Zweierlel entgegnen. Fuͤrs Erſte
Eönnten mir fagen, jede Kritik Diefer wichtigen Staate:Geiminalproceffe werde
durch die Forderung befeitiget,, man muͤſſe ber vollen Gerechtigkeit des gericht
lichen Verfahrens und Urtheils vertrauen. Und mit doppelter Freude würden
wir für eine deutfche Regierung, deren Oberhaupt fi) mit dem Nıuhme
ſchmuͤckte, fo wie kein anderer Fuͤrſt die ſchoͤnen Künfte zu fördern, unb
224 Eifenmann.
mit bem Auhme der Bemühung für die nationale Eelbfiftändigkeit des Va⸗
terlandes nach Außen, auch in jeder andern Beziehung Entfernung von
Mißſtaͤnden wünfden.
Was nun den erſten Einwand betcifft, fo kann alles menſchlich⸗
Berfahren und Uctheilen irren und fehlen. Und wenn auch der betreffende
Unterthan dem zufällig nicht weiter appellabeln Urtheil fi) fügen muß, fo
läßt ſich Das der freien Geſchichte, Wiſſenſchaft und Kritit und der freien oͤf⸗
fentlihen Meinung der Unbetheiligten nicht ebenſo zumuthen und auf:
wingen.
Mögen auch fie im Allgemeiner und bis gegentheilige Gründe und
Appellationen von Bedeutung vor ihr Forum gebracht werden, blos das Befte
anzunehmen geneigt fein, fo erfordert doch fogar ſchon jene Vorausannahme
ber Gerechtigkeit eines Sriminalproceffed und eines Strafurtheils gewiſſe
wefentlihe Bedingungen.
Was aber jenen bezeichneten doppelten Rahm und unjere willigfte An»
erkennung deifelben betrifft, fo könnte doch Fein tüchtiger Bürger einer ehren⸗
werthen Nation den wefentlihfien Ruhm, die allererfte Forberung
jedes würdigen Staates und Volks, die Forderung und den Ruhm der Ge:
rechtigkeit und bürgerlichen Freiheit, irgend einem andern’ nachfegen oder
opfern. Und abgefehen bier von der Verantwortlichkeit nur der Minifter für
alle etwa tadelnswürdigen Regierungshandlungen, fo ift, wie der fromme
und weife Boſſuet fagte, gerade Das bie größte Huldigung und Ehre für
bie Kürften, daß man fie werth und fähig hält, die Wahrheit zu hoͤren. Für
die nationale Selbftftändigkeit unferes lieben gemeinfamen Vaterlandes vol:
lends ift ebenjo wie für beffen innere Kraft und Blüthe die volle Wahrheit,
Freiheit und Gerechtigkeit unentbehrlich. Denn nur durch ihre Vernachlaͤſ⸗
figung und Unterdrüdung ſank das Vaterland in jene entfeglihe Schmach
und aͤußere Unterjohung. Diefe würde ficher zurüdkehren, wenn «8 ung
an Großherzigkeit und Muth gebräche, jene Güter und mit ihnen den hoͤch⸗
ften Ruhm zu bewahren.
So fteht denn alfo einer wohlmeinenden Belprechung jener für bie
ganze deutſche Nation jedenfalls hoͤchſt betrübenden politifhen Criminalpro⸗
ceffederneueren Zeit, bier aber zunähft des Eifenmann’fchen, auch in jener
zweiten Beziehung durchaus nichts entgegen. Jene Bebingungen nun für
die Borausannahme der Gerechtigkeit eines Strafproceffes und einer Verur⸗
theilung gegen einen Bürger find ſchon deshalb unerlaͤßlich, weil ja ohne
fie die allgemeine Vorausannahme der Rechtlichkeit diefes Buͤrgers, bie
praesumtio boni viri, gegen jene Vermuthung der Gerechtigkeit feiner Ver:
urtheilung ſtreiten würde.
Die zwei allgemeinften biefer Bedingungen find nun nad) dem na-
tuͤrlichen Recht und nad) dem Recht aller freien Völker und auch nach unſerem
biftorifhen deutfhen Rechte fürs Erſte Oeffentlichkeit. Es darf
mindeftens fein Geheimniß, kein abfihtlid den Augen und der Prü:
fung der Mitbürger und des Vaterlandes, ja felbit der Freunde und Fami⸗
lienangehörigen entzogenes Verfahren, Anklagen, Wertheidigen und Urthei:
len ſtattfinden. Selbſt als die altdeutfche unbedingte Deffentlichheit des
Gifenmann. 2235
ganzen Verfahrens und Eutſcheidens durch das Eindringen bes fremben Rechte
und des. fchriftlichen Verfahrens allmälig und nur zufällig Noth litt, ſelbſt
ba war doch nach gemeinen deutſchen, es war ſtets nach dem Reidsrecht bie
—— ber ganzen Proceßacten, der Anklage und Vertheidigung und
er Entſcheidungsgruͤnde ein unantaſtbares Recht der Angeklagten und Ver⸗
—* und ſchon bie Actenverſendung erleichterte auch für Unbetheiligte
die Veröffentlichung dieſer Acten. Die öffentliche Anklage eines oͤffent⸗
lichen VBergehens und Ehre, Freiheit und Recht bes Angellagten, des vie:
Leicht Dusch Die Uebermacht verfolgten Mitbürgers, und das in feiner Perfon
die allgemein rechtliche Freiheit der Bürger aufhebende Strafurtheil und
beflen Gründe — fie find die Angelegenheit ber ganzen Staatsgenoſſenſchaft,
fobalb eine Spur von Staat, Gemeinweſen und Gemeingeiſt vorhanden if.
Sie find ihrer Natur nach durch und duch öffentlih. Wo kommt
man bin, wenn man anders urtheilen will! Welches freie, achtbare Volt
ber Welt urtheilte je anders? Und wie iſt Vertrauen des Volks zu fordern,
bei eignem Mißtrauen gegen baffelbe, und gegen die Juſtiz —* Wie iſt
es zu fordern bei der Furcht, ſogar 28 geſchloſſenem Verfahren, ja nach
gefälltem Urtheil, das Thatfaͤchliche des Vergehens, das Verfahren, die Vers
theibigungs- und Beweis⸗, vollends bie Guticheibungsgründe de Urtheils
befannt werden zu laſſen! Sehrime Fehme, geheime Jnauifition — welche
erregen fie bei Jedem, ber fie nennen hört! (ine Gerechtigkeit,
die ſich —** ſich ſehen zu laſſen, was iſt fie? Und wie iſt eine ſolche
unnatuͤrliche Einhuͤllung in das Dunkel des Geheimniſſes vereinbar mit dem
Weſen und Zwed ehrlicher, rechtlicher Steafgerschtigkeit! — Selbſt von der
Verheimlichung der Entſcheidungsgruͤnde Losfprechender Erkenntniffe zu Gun:
ſten der durch die Regierung öffentlich verbächtigten Bürger, von der erbau⸗
lichen Fahndung auf biefe Erkenntniſſe, wozu Gerichte und Berichts
directoren fich bingeben mußten, um ja das gefährliche Publiciren unmöglich
zu machen, felbft von diefen Unbegreiflichleiten in einem andern deutſchen
Staate lafen wir biefer Tage in ben öffentlichen Blättern. — Aber wir fragten
und — wo find wir denn? In Deutfchland, dem glorreich befreiten Deutſch⸗
land bes 19, Jahrhunderts? Und was werben wohl andere Völker von einer
ſolchen Nation urtheilen, bei welcher Solches möglich iſt?
Die zweite allgemeine Bedingung jenes Vertrauens iſt völ-
lig unbefangenes, unparteiiſches Gericht, zu dieſem Zweck aber
ebenſo tie im deutſchen Reiche ſtets und wie bei allen heutigen freien Voͤl⸗
Lern, wie bei Franzoſen, Engländern, Belgiern u.f. w. völlig unabhän-
gige oder inamo vible Richter und zugleich die nat rlich en Michter bes
Angeklagten, für die Unterfuchung und für die Entſcheidung. Ja den freien
Voͤlkern genuͤgte dieſes noch nicht einmal für die Unparteilichkeit der Gerichte,
fie forderten zugleich noch Geſchworne ‚mit ausgebehntem Recufationsrecht
gegen alle irgend bafangen Scheinenden,, bie Belgier unb Norweger und
une fe 87 —8* Derfaffangen auch noch Miternennung ber Richter
durch bie Doc) leider, während barin die andern Bälle fortſchrit⸗
‚kon, iſt das —* Dekan in dem unglücklichen Kampfe eines falfchen
‚göttlichen mongrchiſchen Rechte gegen, umfere hiftorifch beutfäen und ‚neu.
Suppl. » Staatslex. IL
226 Eifenmant.
zugefagten Volksrechte zuruͤckgeſchritten, es iſt gegen alle feine früheren Eins
richtungen zur Belt des Reiches fehr vielfach ruͤckgeſchritten. Wir wollen
Einzelnes hier nicht berühren und ausführen. Nur unfere eigene allgemeine
naturrechtliche Weberzeugung wollen wir ausfprechen :
Da wo nicht die vor bem Eintritt eines beflimmten Vergehens und
Proceſſes für den Angeklagten gefeglich genau beſtimmten richterlichen Perſo⸗
nen, — feine natürlichen Richter, — und wo nit inamovible Richter
verfahren und richten, fondern wo fie etwa in einem Hanzen Königreiche unter
vlelen, vielen Gerichten von der Gegenpartei (der angeblich beleibigten und
anflagenden Staatsregierung) ausgefucht werden, wie man fie wünfcht,
und wo ferner von einem beftimmten Gerichte die mißbeliebigen Richter
durch Penfionirung und Verfegung ober durch beliebige Senatbildung aus:
gefchieden und beliebige andere an ihre Stelle gefegt werben, umd wo auch
dieſen durch folches Verfahren und durch ben fo begründeten Schein des hohen
Werth einer Verurtheilung für die Regierung noch vollends bie richterliche
Unbefangenhelt geraubt wird, da können wie Beine wahre Juſtiz, fondern
nur Commiſſionen und politifche ober Regierungsmaßregeln fehen.
Viele freilich werden ung biefeß nicht zugeben, und «6 werben vielleicht
manche neuere particuläre Verordnungen einzelner deutfcher Länder anders
beftimmen. Aber wie fprechen Im Allgemeinen und es kommt batauf an,
ob zum Weſen wahrer Juftiz und wahren jurifkifchen Richtens Un-
parteilichkeit und Unabhängigkeit bes Entſcheidens nach der eignen freien recht⸗
lichen Anficht und Ueberzeugung nothiwendig find, und ob biefelben nach ben
allgemein befannten Schwächen der menfchlihen Natur unter ſolchen Umftän-
den, wie die von un bezeichneten, juriftiifh angenommen werben
müffen. Das aͤcht deutſche und unfer gemeines Recht glaubten dieſes eben:
fo wenig al& die Sefeßgebung der heutigen freien Nationen.
Der berühmte Goͤnner führt in ber erſten Abhandlung feines Hand»
buchs des Procefies unfere Grundanficht auch pofitiv gefeglih, na⸗
mentlich auch nach den deutfchen Reichsgefegen und mit ftärkeren Worten
als man neuerdings in Deutfchland gelten laſſen will, gründlid) aus und be-
merkt unter Anderem ©. 23: „Als der Kaijer Franz I. beim Anfchauen
„des Grabes des Minifters Johann de Mantigu bedauerte, daß er
„durch die Juſtiz zum Tode verurtheilt wurde, antwortete der ehrliche Mare
„couſſi: „„Allergnaͤdigſter Herr! es gefhah nicht durch die Juſtiz, es
„„geſchah nur durch Commiſſarien.““
Der Cardinal Richelieu ſagte: „Gebt mir drei geſchriebene Worte
eines Mannes und ich will ihn an den Galgen bringen.“ Ich glaube, noch
viel eher waͤre es einem Miniſter moͤglich und leicht, jeden, auch den ſchuld⸗
loſeſten Gegner ſeiner vielleicht Thron und Land gefaͤhrdenden Maßregeln
nach Belleben verurtheilen zu laſſen, wenn er etwa von neun Richtern,
unter denen natuͤrlich uͤberall nicht viele von ſelbſtſtaͤndiger unerſchuͤtterlicher
Ueberzeugung, mehrere aber von weniger kraͤftiger Natur, andere ſchon durch
Parteianſichten gegen den Angeklagten befangen ſind — wenn er von ſolchen
neun Richtern auch nur zwei oder drei entfernen und durch andere ihm
taugliche erſetzen — wenn er ſich vollends unter 20 — 30 Richtern ſieben
—
Gifenmann. 2237
als Eriminal: Commiſſion oder als Criminalſenat auswählen darf. Wie
follte umter ſolchen Umſtaͤnden nicht einmal die Majoritdt für die gewuͤnſchte
Verurtheilung zu erhalten fen? Ja würde nicht, auch ohne daß es gefor:
dert würde und wenn etwa das Minifterium nur aus Aengftlichkeit vor wirklich
rechtswidrigem Einfluß Ihm unangenehmer Richter dieſe hätte befeitigen laſ⸗
fen, alsdann fhon ohne Weiteres eine Majorität zu Gunften der Regierung
fih bilden? Davon mollen wir bier gar nicht einmal reden, daß auch nur
eine Entfernung, eine neumodifche Verfegung ober Penfionirung eines Rich:
ters zum Machtheil, wegen unangenehmer richterlicher Entſcheidung, oder
"sine Beförderung, zur Belohnung wegen angenehmen Abflimmens, allen
Richtern eines Staate deutlich genug eine ihr Lebensgluͤck betreffende
Bedrohung oder Verſprechung für ihr befonderes Abſtimmen gegeben hätte.
Und noch weniger wollen wir das entfegliche Ungläd für den Staat und bie
Bürger ſchildern, wenn den legteren unter dem Schein Öffentliher
Gerechtigkeit nicht blos alle anderen Güter, fondern ſelbſt ihre Ehre ge-
raubt werden koͤnnte.
Auf unſeren beſonderen Fall duͤrfen wir nun freilich hier aus Mangel
actenmaͤßiger Kenntniß ſelbſt von jenen Grundſaͤtzen über jene beiden allgemei⸗
au sungen ber Vorausannahme ber Gerechtigkeit Beine Anwendung
machen.
Aber höchft wuͤnſchenswerth waͤre es jedenfalls, daß die Öffentliche Metz
nung officiell aufgeklärt und belehrt würde: ob wirklich, wie in gedruckten
und mündlichen Nachrichten mitgetheilt wurde, Eifenmann nur megen .
einzelner Artikel feiner Zeitjchrift, die Lange vor feiner Verhaftung überall
unbeanſtandet gelefen und verbreitet wurden, ja vorzugsweife wegen eines
aus einer cenficten Zeitung enmommenen Artikels verurtheilt wurbe, und
ob ähnlich gegen Behr die Griminalunterfuchung zuerft lediglich feine be:
kannte Drudfchrift über bairifche landſtaͤndiſche Verhaͤltniſſe betraf, welche
Sabre lang vor diefer plöglichen Unterfuchung unbeanftandet verbreitet, ja
den Ständen und dem Monarchen vom Verfaſſer eingefendet werden konnte,
und nur fpäter auch auf eine mündliche Aeußerung bei einem Feſte ausgedehnt
wurde?
Ob und warum ferner hier, wo felbft nach dem Det der Begehung
die iſolirten, nicht etwa ein Complott bildenden Vergehen nur bem Wohn:
orte der Angeklagten (Würzburg) angehörten, dennoch biefem ihrem natürs
lichen Unterſuchungs⸗ und Steafgericht bie Gerichte Münden (für bie
Unterfuchung) und Landshut (für die erfte Entfcheidung) fubftituirt wur:
den; und ob und warum in der Appellationss und Oberappellationsinftanz
aus der’ großen Zahl der übrigen Richter befondere Sriminalfenate zuſammen⸗
gefegt wurden?
Irren mir nicht und erwaͤgen wir vollends fo manche Einzelnheiten, bie
bier noch über Derfonen und Verhaͤltniſſe in der mündlichen Mittheilung am
das heimliche Verfahren und Enticheiden angefchloffen werden, fo muͤßte «6
fiher jedem patriotifchen Bater und Deutſchen erwuͤnſcht fein, wenn alle
diefe Berhätmiffe zur Befriedigung wahrheitsgemaͤß öffentlich gemacht
werden koͤnnten. Manche Baieen werden auch noch beſondere BERNER,
>
228 Gifenmann.
biefe Wünfche auch auf politifche Strafprocefie anderer Männer auszubehnen,
welche in größeren Kreifen nicht fo bekannt find als Behr und Eifenmann.
Doch auch abgefehen von jeder Frage über die dußeren Bedingungen für
die Borausannahme der Gerechtigkeit der Strafurtheile, des vollen Beweiſes
aller Thatfachen der verbrecherifchen Handlung und Abficht fowie ber richtis
gen parteilofen Befeganmwendung — bieten diefe Proceſſe noch andere Fra⸗
gen dar, deren befriedigende Beantwortung gleich wuͤnſchenswerth wäre.
Wird fi) etwa an fi nach humaner Gerechtigkeit und nach dem Bei⸗
fpiel anderer civiliſirter, vollends freier Staaten für einzelne [chriftliche ober
mündliche Arußerungen, für folche mit Eeinem Complott zufammenhängende
Aeußerungen von bisher allgemein hochgeachteten unbefcholtenen Männern,
eine ſolche furchtbare Strafe, wirb fi, um von der erniedrigenden Abbitte
gar nicht zu reden, die infamirende, ihrem Wefen nach Iebenslängliche Zucht:
hausſtrafe als nothwendig nachweiſen laffen?
Sodann ſehen wir hier die furchtbar harte Strafe bereits in die Jahr⸗
zehente fortbeſtehen, waͤhrend in allen civiliſirten Staaten, jetzt auch in dem
paͤpſtlichen, fruͤhere und ſpaͤtere ungleich ſchwerere politiſche Verbrecher laͤngſt
Begnadigung fanden.
Vergeblich erbaten eine ſolche für Eifenmann die wiſſenſchaftlichen
Fachgenoſſen der ganzen Nation und, wenn wir nicht irren, auch die Staͤnde
des eigenen Landes. Und doch muͤſſen wir uns fragen: verſtaͤrkten ſich denn
hier nicht ſo manche moraliſche Erwaͤgungen und Gefuͤhle, die nicht dem
Eindrucke der Strafe, wohl aber jeglicher Milde guͤnſtig ſind? Jene fo un⸗
nachſichtig hart beſtraften Aeußerungen, ſie waren Erſcheinungen eines poli⸗
tiſchen Kampfes. Es war dieſes ein Kampf, in welchem man doch ſicherlich
an ſich Ziel und Bewegung Derer, die für das Heiligthum eines freien,
ducch freie Verfaſſung fiheren und mächtigen Vaterlandes, diefes diteften,
legitimflen Rechtes aller Deutfchen, kaͤmpfen, für ebenfo rein und un⸗
felbftjüchtig präfumiren darf ale die der Kämpfer für die Regierungsmadht.
Es war ein Kampf, von welchem wahrlich Niemand, der die Gefchichte der
Nation, die ber Befreiungskriege und ihrer großen Zufagen und die der ſpaͤ⸗
teen Reaction Eennt, fagen wird, tweber daß das erfte herausfordernde,
noch) daß allein das Unrecht auf Seite ber Kämpfer für die Freiheit war.
Mag man nun mit großen Staatsmännern die in folchen Kämpfen bes
ftraften politifchen Werbrecher nur als die durch das Gefchi des Kampfes
unterlegenen Gegner, oder als die im Namen der Gegner parteiloß gerichtes
ten Verbrecher betrachten, ſtets wird hier jedes großmäthige, jedes edle menſch⸗
liche Gefühl, ja jedes wahre Gerechtigkeitögefühl für Milde fprechen.
Aber vieleicht werden Anhänger jener Haller’fchen Anpreifung der
ſtreng rächenden Verfolgung der Liberalen, als der angeblichen gefährlichen
Feinde der Könige, uns entgegnen: die Politik, bie Sicherung des König:
thums und der Könige fordern die unerbittlichfte rächende und abfchrediende
Strenge und Hätte.
Kein Wort hier über das wahre und allein fichere, das heißt das auf der
Freiheit einer edlen Nation begründete Koͤnigthum, über die wahren und ges
faͤhrlichen Feinde und über die leicht wankenden Freunde, die ariftofratifchen,
nn‘
Emancipation ber Juden — Englands Staatöverfafiung. 220
böftfchen und lohndieneriſchen, Fein Wort über die Kräftigung und Verherr⸗
Tichung der Throne und Staaten durch patriotifche Liberale oder Freiheits⸗
freunde, fo mie die britiſchen, und durch beren warme Kämpfe gegen ver:
derbliche Naßregeln der Regierung! Aber wenn es ber Politik, wenn
es der Sicherung des Koͤnigthums und ber Könige gilt, ihrer Sicherung
in unſerem heutigen bedenklichen Kampfe eines den früheren beutfchen wie
faft alfen heutigen europätichen Verfaffungen feindlichen, eines angeblich goͤtt⸗
lichen, abfolut monardhifchen Principe, ‚gegen das der wahren Freiheit bes
bürftige beutfche Volk — der Sicherung vollends durch eine die ebelften Ger
fühle verlegende Berfolgung entwaffneter Freiheitskaͤmpfer — alsdann
mögen welfe Rathgeber mahnen, des fo Leicht möglichen Wechfels der Dinge
zu gebenfen, und zu erwägen, welche fpätere größeren Behäffigkeiten aldbannn
die fruͤhern herausfordern könnten! Wer möchte all das Unheil verſchul⸗
ben ‚ welches entſtehen muß, ſobald Haller’ ſche und Macchiavelliſtiſche Grund⸗
ſaͤtze von der höheren Politik in bie des Volks uͤbergingen! Doch nicht kluge
politiſche Sich erung iſt unſer hoͤchſtes Ziel und Geſetz. Wahre ſittliche
Gerechtigkeit, Maͤßigung, großherzige und großmuͤthige Geſinnung — das
mar und iſt zu allen Zeiten ber hoͤchſte, der bauernbfte Ruhm ber Könige wie
der Voͤlker und der politifchen Parteien. E. Welcaer.
Emantipation der Juden. Mit Vergnügen fegen wir hinzu,
daß auf dem letzten badifchen Landtage auch die Mehrheit der zweiten Kam⸗
mer fich völlig uͤbereinſtimmend mit den bier entwidelten Grunbfägen für
die vollſtaͤndige ftaat#bürgerliche Gleichſtellung der Juden mit den Chriften
ausſprach und fo ihrerfeits den Makel zu tilgen fuchte, daß man geborenen
Landeseinwohnern und Mitbürgern zwar gleiche Laſten ber Steuern und der
Baterlandövertheibigung aufbürben, bie gleichen Rechte aber ihnen verwei⸗
gern will. C. Welcer.
Englands Staatsverfaſſung. Die engliſche Staats⸗
verfaffung bat auch in ben neun Jahren, ſeit welchen der ehrmärbige
Veteran Murhard mit feiner durch Selbſtſehen belebten Staatskennt⸗
niß das voranftehende Lehrreiche, anfchaufliche Abbild dieſes herrlichen
Meiſterwerks entwarf, ihre Vortrefflichkeit ftetd bewährt. Die eigne An⸗
ſchauung der englifhen praktiſchen politifchen Züchtigkeit und Meiſter⸗
ſchaft erfüllt jeden verſtaͤndigen Deutſchen, welcher bie jegigen bequemen
Verbindbungsmwege ber Länder benugt, um in England felbft in wenigen
Monaten fid) mehr politifche Bildung zu erwerben, ale ihm jahrelange
gelehrte Studien geben würden, mit Hochachtung und Bewunderung.
So erging es vor mehreren Jahren auch bem Verfaſſer diefer Zeilen.
England iſt die praßtifche hohe Schule ber Politit. Wie mancher
deutfche Zandemann, den ich nad ſeiner Ruͤckreiſe von England fah,
begegnete mir mit dem Außsrufe: Aber wie weit find wir Deutfchen
doch noch zurüd! Und fo iſt es mirklich in Gewerb und Handel, in
Polizei und Verwaltung, in der Handhabung der Öffentlichen Gerechtig⸗
keit und Sicherheit und der ausgedehnteften allgemeinen Steiheit in Fi⸗
nanz⸗ und Staats: Wirthfhaft, vollends in der höheren Politik und ber
dipfomatifchen Unterhandlungskunſt zur kraͤftigen Schuͤtzung
280 Englands Staatöverfaffung.
Nation und aller Bürger und ihrer Intereſſen gegen das Ausland,
in Erhaltung und Körderung der Macht und der Blüche ihres großen
Vaterlandes. In der That, wenn man die englifchen Verhältniffe in
ihrem Zuſammenhange in's Auge faßt, und alles biefes mit unfern lieben
deutfhen Miniſtern, Amtmännern, gelehrten Pedanten, fchwerfälligen
Gewerbsleuten, und wenn man die Ergebniffe für des Vaterlands Ehre,
Freiheit und Macht überhaupt in Beziehung auf alle hoͤchſten Güter des
Staatslebend für edle Bürger und edle Fürften betrachtet, wenn man
Englands ftete Fortſchritte und Verbeſſerungen und unſere täglichen
Ruͤckſchritte in Beziehung gerade auf jene wichtig ſten Güter gründlich
vergleicht, fo erfcheint unfere bdeutfche gouvernementale Weisheit fait
als Eindifh. Und wenn nun unfere deutfchen vornehmen und gemeinen
Spiefbürger irgend eine einzelne Schattenfeite, wie fie ſich Kberall fin
den, aus den englilhen Zuſtaͤnden hervorheben, um damit all unfere
Mängel vergefien zu machen, fo kann man ſich des Mitleids nicht er:
wehren. Da fprechen fie von englifchem Eigennug , ohne von dem uner:
muͤdlichen aufopfernden patriotifhen Gemeingeift der Engländer felbit
nur eine Ahnung zu haben. Wenn fie freilich darüber Elagen wollen,
daß ‚die Engländer als bebächtiges Volk, zumal im Handel, gerne alle
Vortheile an ſich ziehen, die ihnen weniger geſchickte und tuͤchtige Völker
und Regierungen einrdumen, gerade fo, mie es einft auch die Deutfchen
in der Zeit der Hanfa gegen Schweden, Engländer und Portugiefen
thaten,, fo waͤre der Verdruß heilfam, wenn er nur ben rechten
Gegenftand träfe Da fpricht man ferner von der entfeglihen Ar:
muth des englifhen Volks im Gegenſatz einiger wenigen Leberreichen,
ohne zu erwägen, daß nach unverwerflichen flatiftifchen Nachrichten von
den beffern Lebensmitteln, 3. B. von Fleifh und Wien, Brod und
Bier das zehn= und zwanzigfache in einem Jahre auf einen englifchen
Volksmann kommt, ald auf einen beutfchen, und daß durch die vollfom:
menfte Volksfreiheit und die lebendige, meiſt volksfeſtlich auggeübte
Theilnahme am vaterländifchen Gemeinwefen auch ungleih mehr gebo-
benes naterlandsftolzes Bewußtſein und höherer Lebensgenuß den engli:
fhen Bürgern zu Theil wird, als jeder Willkür preisgegebene gedruͤckte
Regierungs- und Volizeifklaven nur ahnen Eönnen.
Der reihen Ausführung Murhards uber die englifche Freiheit
und Verfaſſung möchten wir nur einige Bemerkungen nachtragen.
1) Die erfle befteht darin, daß wenn mir die Wirkungen der eng:
liſchen Berfaffung bei einer Vergleihung englifcher und deutſcher Zu:
ftände richtig würdigen wollen, wie Folgendes nicht überfehen dürfen:
Es befteben in England von der englifhben Verfaffung ganz
unabhängige, ſehr nachtheilige Verhaͤltniſſe, ungleid nad:
theiligere, al8 wir in Deutfchland haben. Diefe dürfen wir nım nicht
als Theile der englifhen Verfaffung diefer zum Nachtbeile, fondern wir
müffen fie ihr zum Ruhm anrehnen, weil troß diefer Hinderniffe dieſe
Verfaffung fo große bürgerliche Freiheit und fo große Kraft und Bluͤthe
des Nationallebens und des Staates begründen Eonnte, waͤhrend es un-
Englands Staatsverfaſſung 231
ferer Verfaſſung nicht zur Ehre gereicht, wenn bei ungleich günfligeren
Verhaͤltniſſen fie weniger Sreiheit, Nationalwohlfein unb politifche
Kraft giebt. |
England wurde nämlich wiederholt von ben Sachſen, Dänen unb
Normannen erobert, das Land großentheild. unter bie Sieger vertheilt
und ber Befiegte vom Sieger unterdrüdt. Dadurch entflanden aufer
großen perfänlichen Ungleichheiten und Bedruͤckungen, außer druͤckenden
Seudalverhältnifien, große Ungleichheit bed Vermögens, vorzüglich bes
Srunpbefiges. Die kraͤftigen altfächfifchen Sreiheitsgrundfäge, biefer
Kern: der freien englifhen Verfaffung und der freiheitlichen Volksbilbüng
und die auf ihren Grundlagen entwidelte heutige Verfaffung bewährte
nun die herrliche Kraft, dag fie die perfönlichen und feudalen Bes
druͤckungen und Ungleichheiten, die Leibeigenſchaft, die Lehnsverhaͤltniſſe,
bie Patrimonialgerichtsbarkeit, felbft die Zubenbedrüdung, fo wie bie
Beamtenwillkuͤr weit früher und ungleich vollſtaͤndiger befiegte, als un⸗
ſere deutfche Verfaſſung «8 felbft bie jegt vermochte, obgleich uns doch
ſolche Eroberungen und Vertheilungen bes Landes unter die Sieger und
die durch fie in England entflandene enorme Güterungleichheit völlig
fremd blieben. Die Gutsungleichheit, die in England fo groß ift, baß
ber Srunbbefig noch allein in den Händen von 33000 Familien (meift
jener alten Eroberer) ſich befindet, biefe konnte nicht die Verfaſſung,
fondern nur eine neue Revolution aufheben. Die Verfaffung aber hat
ein wahres Wunder bewirkt, daß fie das Nachtheilige biefes an ſich uns
glüdfeligen Verhaͤltniſſes, welches allein ohne jene DBerfaffung die Na
tion in Sklaverei geilürzt hätte, fo unendlich milberte, ja für das Be⸗
ftehen der größeften allgemeinen flaatsbürgerlihen Freis
beit unſchaͤdlich machte, fo daß felbft auch der reiche englijche Adel fie
liebt und ehrt, fie durch Eein einziges Vorrecht und Patrimonialcecht beein»
trächtigt und einzig nur das wohltbätig ausgebildete Palrieamt für ben
erfigebornen Gutserben als Adelsrecht befigt und mit verdienten zum
gleichen Amt erhobenen Bürgerlichen theilt. Auch die gleich große Schwie⸗
tigkeit einer ganz außerordentlichen Blüthe der Fabrikation und des Welts
handels, welche die freie englifche Verfaſſung ale mohlthätige Gegenges
wichte gegen die Gutsungleichheit und zur Gründung der unermeßlichen
englifchen Nationalmacht ſchafft und ſchuͤtzt, welche aber unvermeibdlich
neue große Gegenfäge von reich und arm hervorrufen, auch fie weiß bie
englifhe Verfaſſung der flaatsbürgerlihen Sreiheit und Sicherheit uns
fhäbdlih zu mahen. Sie vermag «es, ihre Gefahren und Schwierige
ten, welche deutſche Regierungen und Polizeimänner in Verzweiflung
fegen und täglich zu den verkehrteften Staatsſtreichen verleiten wuͤrden,
zu befiegen und immer mehr zu mindern. Auch das unglüdliche Ir⸗
land, deſſen Scidfale durdy feindfelige Gegenfäge der Nationalitäten
und Meligionen, durch wieberholte Exroberungen, buch bie mit Hilfe ber
Franzoſen gegen die englifche Freiheit geführten irländifche Kriege, ohne
Schuld der englifhen Verfaſſung herbeigeführt wurden, ſieht feine Uebel
durch dieſe Verfaffung fchon bedeutend gemildert. Dieſelben werden
Durch bie Eroberung Tue Ts ame, I
—5 — ei; ——
zugleic ' in die’ — |
beſt⸗ Regterung, die beten Mi-
— —
ker ch di ien erſammlung
on, * unter — bes + gleiche‘ ie aufgeflärten Mon: .
—* ee enefcheiber über die hoͤchſte Tuͤchtigkeit und Wuͤrdigkeit zu
den Minifterfteilen, und fo Lange fie diefes Vertrauens fich würdig zeis
en, iſt Wille und Kraft der Nation mit ihrer Verwaltung und die
Bor ition diene nur ihren Blick zu ſchaͤrfen, ihre Anftrengung für eine
terlande, dem Monarchen und der Nation heilfame und ehren-
. fletkenreine Berwaltung zu verdoppeln, und fie ſogleich zu entfer—
nen, fobald ihre Verwaltung fehlerhaft wird. Aber felbft den fonft per-
[önlih unangenehmen, gehaßten Mann unterftügen ‘König und Parla-
‚wenn er nur dee entfchieden befte, tauglichfte Minifter ift, fo den
4 {en Pitt, der dem König fehr unangenehm war, fo den jüngern
ber fo Vielen im Parlament perfönlich mißfiel, fo Cannin 2, WS ben
Ir ‚önig und bie in Mehrheit befindlichen Torys nicht liebten, fo des Baum:
wollſpinners Peel's großen Sohn, dem bie ſtolzen Torys abermals in Mehr:
beit als Ihrem Leiter huldigten und mit ben MWhigs feine patriotifch heilſa⸗
mer, ihnen verhaßten großen Maßregeln bewiligten. Ohne
freies, Parlament. aber wuͤrfeln ber Zufall, perfönliches Behagen bes
Für ger noch elende Hofintriguen und geheime eigennügtge
Factionen , allzu oft durch he Hilfe felbit das Ausland, die Minifter
au bie Spige des Stadte. find fie nf ef höchft imietelmä fig e,
unfähige Männer, ober, wenn fie fäh find aut ausgewählte
Werkzeuge einer ober eines verfa umgefintchen Abſolutismus,
WEaglands Staatöverfaffung: 283
Wirberber bes Landes. Auch bem guten Minifler: aber fehlt hier das volle
Vertrauen, die Zuflimmung und freiwillige Mitwirtung der Nation,
mwoburch im freien England jebe Regierungsmaßregel im Innern und
Aenferen unmiderftehlid, und fiegreic, wird, während im unfteien Staat
alle beften Einfichten und Kräfte fi erfhöpfen an der Bemühung,
die Freiheit und Einſicht und Kraft der Öffentlichen Meinung und des
Volke zu lähmen, fo daß die Miniſter für die Ehre und den Wohlftand
umd bie Kraft der Nation Reine Zeit haben. Könnt ihr euch mun noch
wundern, daß Englands Freiheit, Ehre, Macht und Größe ſtets waͤchſt,
daß feine Regierung alle Intereſſen vertritt und ihre Maßregeln uns
überwindlich werben, während anderwärts eine abgefchmadte ſtaatsver⸗
derbliche Maßregel die andere jagt, ein leichtfinniger frevelhafter Eigen⸗
finn und Eigenmwille die Interefjen des Vaterlandes verlegt, die Achtung
der Staaten nach Außen, ihre Sreiheit und Kraft im Innern zerſtoͤrt,
vor Allen aber das Licht der Wahrheit und einer freien öffentlichen Mei⸗
nung ausiöfcht, damit die ſtaatsverderbliche Politik nicht felbft durch das
Bild ihrer Jaͤmmerlichkeit und Lächerlichkeit incommobirt wird, damit
nur etwa bie andern gefcheidten Leute im Inn⸗ und Auslande fie fehen,
oder damit eigennüpige Factionen und Lotterbuben ungeftört den Staat
fo lange ausplündern und ruiniren Binnen, bis es endlich unvermeidlich
zu ſolchem oͤffentlichen Bankbruch kommt, wie in Frankreich in der Mes
volution oder in Deutfchland feit den Revolutionskriegen. Gewiß, es
gehört die ganze unwillkuͤrlich täufchende Gewalt verhärteter Vorurtheile,
mie die des göttlichen Rechts und Königsverftandes oder die Gewalt bes
Herkommens oder des ariftokratifchen Kaftengeifl:6, oder die der Selbſt⸗
täufchung zu Gunften eines hochmüthigen Eigenwillens dazu, um es bes
greifen zu innen, daß nicht wenigſtens dieſer eine entfcheidende
Hauptvorzug einer freien parlamentarifchen Reichsverfaffung für bie
Ehre und das Heil des Thrones wie des Volkes Überall und endlich auch
einmal proßtifch anerfannt wird, dag fo oftmals ohne böfe, ja bei wohl»
mwollender Gefinnung jene Ehre und jenes Heil von beiden den unges
ſchickteſten Händen, Rathfchlägen und Maßregeln jener Zufallemis
nifter überlaffen wird!
Den Engländern aber muß wohl eine ſolche Minifterbildung und
Mintfterernennung, eine folhe Staatseinrichtung, wie in den nicht freien
Staaten, nicht befier vorkommen, als die Dandwerks » Einrichtung ber
Heere barbarifcher Völker, weldhe nach dem Zufall bes Beliebens eines
Offiziers durch fein Commandowort die Schuhmadyers und die Schnels
der⸗Meiſter ſich ernennen laſſen.
Wir Deutſchen aber, wir werden auch noch zu ber engliſchen Ein⸗
ficht gelangen und bald. Nur die Art und Weiſe wie die Erkennt:
nig zum allgemeinen Durchbruch kommt, nur biefe iſt ungewiß. Ueber
das ob aber wird Niemand mehr zweifeln, der die fchnellen Kortfchritte
Eennt, welche jest die Volksmeinung in Deutfchland der Tiefe und ber
Breite nach macht. Ich fage die Volksmeinung, nicht die öffentliche
Meinung, weil bie beutfche Regierungspolitit Beine voichtigere Aufgabe
284 Englands Staatöverfaffung:
zu haben fcheint, als die Deffentlichkelt der Volksuͤberzeugung zu unter«
drüden. Doch fie cenfiren bald nur für ſich allein, und auch bie
Staatszeitungen und bezahlten Organe fchreiben nur für fie. Das
Volk Lieft fie nicht mehr, laͤßt fich nicht mehr taͤuſchen. Die Bluͤthe
und Ehre, die Kraft, die DVeritändigkeit ber freien parlamentarifchen
Megierung fehen auch, was Deutfche in England, Belgien, Norwegen,
Frankreich und Amerika täglidy deutlicher vor une und noch deutlicher
alles Segentheil zu Haufe. Sage es doch jeder mohlmollende Mann ben
durch ihre eigne Unterdbrüdung ber freien Wahrheit und Volksanſicht
Getäufchten, Achtung und Glauben und Vertrauen für die geheime Hof⸗
und Minifterweisheit find in folchem täglichen fchredhaften Abnehmen
in der Nation, daB man — und wäre e8 auch nur zur Mettung ber
Ehre des Verſtandes — der gefunden Vernunft je eher je lieber ihr
Recht gönnen follte!
3) Viel Streit herrſcht über bie gefhihtlihe Entſtehung
bes ewig bemundernswerthen Kunftwerks der englifchen Verfaſſung. Une
bat e8 immer gefchimen, der hauptſaͤchliche Grund der Verfchichenheit
und auch der Irrigkeit oder Einfeitigkeit der ſich mwiderfireitenden Theo⸗
rien liege bier wie bei dem Streit über die gefchichtliche Entſtehung
und Weſenheit anderer wichtiger Einrichtungen, 3. B. die der Regierung
und der Megierungsnachfolge, oder bie des Schwurgerichts und der
deutſchen Landftändifhen Verfaſſung. Diefe gänzliche Verſchiedenheit
und Einfeitigkeit kommt naͤmlich alfermeift von der Handwerks s oder zunft-
mäßigen Abfonderung und Entgegenfesung ber Standpunkte unferer
Gelehrten und von ihrer Neigung, die Dinge weniger in der vielfeitigen
Einheit ihrer lebendigen organifchen Verbindung, als von der befondern
Seite ihres einzelnen Faches zu betrachten, und diefe Seite, fo mie ihr
Fach felbft zur Hauptfahe oder zum Weſen des Ganzen zu erheben.
So fuht man denn diefe befondere Seite nicht etwa in ihre organifche
Verbindung und Zufammenwirtung mit den übrigen, fondern vielmehr
in eine abftracte Ssfolirtheit und in einen augfchließenden Gegenfaß zu
fegen. Die deutfchen Gelehrten bilden dann aus diefen Einjeitigkeiten
ganze Schulen, die hiftorifche, die philofophifhe u. f. wm. Sie Enüpfen
daran alsbald ganz falfche praftifhe Theorien.
So machen denn bei allen genannten Verhältniffen zuerft bie hi:
ftorifhen und die philofophifhen ihren einfeitigen Gegenfaß.
Nach den hiftorifchen haben ſich diefe Inſtitute, wie fie nun gerade
jeßt find, gefund oder verkehrt, allmaͤlig hiftorifch ganz von ſelbſt ge:
macht, und zwar gerade nur als Producte ihrer zufälligen befonderen
Umgebung. Die englifche Verfaffung Eonnte lediglih nur bei den in-
dividuellen englifchen Anfelbemohnern und auf ihrer Inſel entfichen, fo
daß jeder Verfuh, fie anderwärts ihrer Wefenheit nach einführen zu
tollen, abſurd wäre. Dabei geht man denn nun, fo meit moͤglich, auf
einzelne hiftorifche Anfänge der Entwidlung zurüd.
Mich aber bedünkte, die menfhlihe Vernunft, Natur und das
Beduͤrfniß jeder Gefellfhaft vernünftiger, vernünftig und frei fein wol-
Englands Etaatöverfaffung. 285
lender Menfhen, ihre Vernunft: Ideen von Kreiheit, Recht,
Geſellſchaftsverein — dieſes wären doch auch hiftorifche That⸗
ſachen und Erſcheinungen und viel dltere und gemeinfchaftlichere
als die britifchen Inſelbewohner. Und fie fcheinen mir gemaltig wirkſam
bei all diefen Inftituten. Ja es fcheint mir auch überall hiſtoriſch nach⸗
weisbar, wie in der mehr allmäligen ober mebr reformatorifchen ober re⸗
volutiondren Geftaltung diefer Inftitute Einzelne und Verſammlungen
des Volks mit mehr oder weniger unmittelbarer gefunder Anfchauung
und auch bewußtem Nachdenken, überhaupt aber mit Sreiheit, dieſe
alten Vernunftideen des Volks zu verwirklichen und über entgegengefehte
freie und unfreis Hinderniffe zum Siege zu bringen fuchten. Umgekehrt
aber vergefien bie Philofophifhen bie Bedingungen unb
Schranken und Entwidelungsformen menfchlicher Freiheit, die
individuell hiftorifchen und felbft zum Theil die allgemeinen, wenn fie
unpiftorifch jene Inftitute aus der Reflerionsphilofophie irgend einer Ges
feggebung ableiten und fie abfolut überall und auf jeder Gulturftufe der
Völker durchführbar halte. Wernunft und Gefchichte oder die aͤußere
allmälige Geftaltung und Ausbildung bedingen und einigen fih, unb
fir die Erfcheinung bedingen fie fi) auch ganz ähnlich wie Leib und
le.
Ebenfo ift es irrig, freilich meift mehr einfeitig als abfolut falſch,
wenn bei ber hiftorifchen Betrachtung, oft abermals je nach bem Vor⸗
wiegen befonderer Fachs⸗ oder Schulanfichten, dee juriftifchen, der pofis
tiven, der rechtsgeſchichtlichen ober der allgemeinhiftorifchen, ber alt s oder
neuzeitlihen einzelne Seiten oder Entwidelungsmomente be
Inſtitute, als deffen Wefenheit oder eigentliche Entftehung dargeftellt
werden. So behandelte man z. B. in Beziehung auf die englifche
Berfaffung Alfredo MWiederheritelungen, die Magna Charta, bie
Tormannen > Eroberung, oder ben befpotifhen Drud, wie Delolme
meint, oder die fchärfere Abtheilung in Ober: und Unterhaus, die erfle
oder zweite Revolution unter den Stuarts, diefe oder jene Verfaſſungs⸗
urkunde, die der Bill und bie der Petition of rbigts. Aehnlich leitet
man die bdeutfchen Landſtaͤnde ab von den Hof» und Rittertagen, von
den Herzogs⸗ und Grafenverfammlungen, von den Unionen, von bem
landesherrlichen Schuldenwefen und von dem gegen die Schuldenüber-
nahme ausgeftellten fürftlichen Sreiheitsbriefen.im 16. Jahrhundert u. f. w.
Ganz ähnlich fol die Jury entflanden fein aus den altgermanifcdhen
Eidhelfern oder aus den Schöffen oder aus ben angelſaͤchſiſchen Geſammt⸗
bürgfchaften oder aus der Uebertragung fandinavifcher einftimmiger
Zmölfmannengerichte u. f. w. Alle diefe Theorien fegen fi in mög»
lichſt fcharfen Gegenfag. Jeder will mas Neues und Eigenes haben.
Alle überfehen die Gewalt der Rechtsidee, verwehfeln fie mit
dem vorübergehenden Factiſchen, das ganze Wefen mit eins
zelnen Seiten und Kormen. So ift denn auch dem Einen das
Schwurgericht und die Repräfentativverfaffung abfolut fremdes; dem Ans
deren beutfches JInſtitut. Mir fcheint bei allen diefen drei Inſtituten,
2356 Englands Staatsverfaſſung
je länger nnd je mehr ich mich an biefen gelehrten Gegenfägen und
Streitigkeiten und Einzelheiten vertiefte und je mehr ich dann wieder von
der Künftlichkeit ihrer Bereife und Schlußfolgen, von ihrem Widerſtreit
und ihrer oft abftracten Dürre in der Auffaffung und Anfchauung ber
ganzen natürlichen urkundlichen Gefchichte zu befreien eilte, der Mittel⸗
pundt der Wahrheit vielmehr nur in folgenden Sägen zu liegen.
Englifhe und beutfhe ſtaͤndiſche Verfaſſung und
Shwurgeriht beruhen ihrer Weſenheit nah auf den alts
germanifhen Volks⸗(Reichſs⸗ und Landtages, Derzogss und Graf⸗
ſchafts⸗, fpäter auch den feubaliflifhen) Werfammlungen der Ver:
einsgenoffen, (entweder aller Einzelnen oder, wie es theilwelfe ſchon
ganz früh und fpäter immer regelmäßiger der Fall ift, der Reprdfentan:
ten aus Ihrer Mitte); ober fie ruhen mit andern Worten auf der allge
meinen aber von den Germanen in ihrer Weife anerkannten Vernunft,
auf der vernünftigen (auf der germaniſchen) Freiheit, wonach
nur die gemeinfchaftlihe Ueberzeugung oder Vereinbarung
der Genoſſen das gemeinfhaftliche (oder alle aͤußerlich verbin⸗
benbe Recht und Geſetz und Rechtsurtheil begränden Tann.
Wie verfchieben nun auch die Kormen und Verhältniffe der geſellſchaft⸗
lichen Verbindungen und Zuftände im Laufe der Gefchichte fich geftalten
mochten, bier allodial, dert feudal, hier durch fauftrechtliche oder Erobe⸗
rungsgewalt ober andere Umftände, durch Vereinigung oder durch Zer⸗
trennung ber diteren Vereme augenblidlich verftümmelt und zurüdges
drängt, immer und immer wieder bringt jener gefunde Lebenskeim, bie
germanifhe vernünftige Grundidee gerechter Gefellfchaftseinrichtungen tie:
der hindurch. Die Rechtsidee beſiegt das vorübergehende Factifche,
das Wefen bleibt im MWechfel einzelner Geftaltungen. Alle jene
verfchiedenen einzelnen hiftorifchen Erfcheinungen und Geftaltungen, die
nad) jenen Theorien Entftehung und Weſen fein follen, find nur ein:
zeine oft vorübergehende Seiten und Sörderungsmittel der Ent-
widlung und Geſtaltung des Weſens und Lebens jener drei Inſti⸗
tute, Aeußerlichkeiten, melde ſich jenes wahre bleibende Weſen und
Leben für feine Erhaltung und Fortbildung dienſtbar macht, affimilict
und benust, ganz aͤhnlich wie unfer eignes Leben die verfchiedenen Nah:
rungs- und Kleidungss und MWerkzeugsftoffe und die verfchiedbenen Ereig-
niffe und Begebenheiten feiner Wefenheit und Beſtimmung dienſtbar zu
machen fucht, felbft aber in allem Wechſel dauert.
Merhätt es fich in doch felbft ganz ähnlich mit der germanifchen
und englifchen Regierung und der monardifchen oder fürftlihen
Succeffion. Da fol diefelbe bald in diejer, bald in jener Zeit ent:
ſtehen, verfchieden in jedem germanifchen Volk. Es foll nach dem Ei:
nen bdiefelbe nur auf reiner Volkswahl und auf volfs-feuverinem Willen
beruhen, nad) dem Andern auf bloßem Erbrecht, welchem man dann bald
eine Art Eigenthums, bald eine Art göttlichen Redyts unterzufchteben oder bei:
zufügen fucht. Die Germanen und die Engländer aber fuchten mit der auch
bier wefentlichen Lebensgrundlage für eine freie legitime Regierung, nämlich
Englands Staatsverfaffung 287
dem cechtlichen Geſammtwillen ber Nation auch noch bie fo wohlthätige Dauer
und Zeftigkeit des Gentralpunftes der Regierung zu verbinden. Sie wähls
ten zuerſt der Regel nad) einen, zumellen auch mehrere ber Söhne des
früheren Fuͤrſten, oft den Einzelnen, fpäter alle Folgenden zum vor»
ans mit.. Dabei hielten fie flets jene Rechts idee der allein wahren
Zegitimität der Regenten fell. So namentlich durch die ſtete foͤrmliche
Erneuerung des Vertrags durch Zürfteneid und Huldigung auf bie
Verfaſſungs⸗ und Wahlverträge bei dem Regierungsantritt, und früher
durch ausdruͤckliche, fpäter durch ſtillſchweigende eder thatfächlihe Grunde
bedingungen, daß beim Dinwegfallen aller mitgewählten tüchtigen Erbfol⸗
ger, neue Wahl ber Nation eintrete, und daß durch alle verfafe
fungemäßig möglichen Mittel, z. B. Eid, Miniflerverantwortlichkeit,
Steuerbewilligungsrecht oder auch noch durch befondere Einrichtungen wait
ber in der englifhen Magna Charta, für die Erfüllung des Ver⸗
faffungs» und Wahlvertrags von Seiten des Regenten geforgt
werbe, ober baß bei anerfanntem Aufgeben bes Vertrags von feiner Seite,
fo wie bei der Berufung des Haufes Braunfchweig und fpäter in Franke
veih, Schweden, Norwegen, Belgien, ebenfalls neue Wahl eintrete.
Auch das folchergeflalt durch die Verfafſung gefeftigte, in diefem Sinn
eigenthuͤmliche Recht der Thronfolger und Könige und das durch gemeins
fchaftliche religiöfe Acte auch veligids geweihte und unter göttlichen Schutz
geſtellte Eönigliche Recht und feine volle Geltung und Wirkſamkeit im der
Berfafjung, fo daß nun im monachifhen England nad) defien Verfaſſung
keineswegs ohne bes Königs freie Mitwirkung und Zus
kimmung, em von ber legitimen koͤniglichen Gewalt getrennter,
ihr entgegengefester einfeitiger Volkswille (die Volks⸗
founveränetät entweder im revolutiondren oder im republis
Panifhen Sinne) beliebig über ben König verfügen koͤnnte.
Selbſt ein eigenthämliches Exbrecht und das Dei gratia in jenem
Sinne erkennen alfo die Engländer an. Sie thun es um fo wil⸗
liger„ ihre freie Ehrfurcht vor ihren Königen iſt um fo
reiner und größer und inniger, been Krone fist um fo feftee,
ſtrahlt um fo herrlicher, je mehr ihre Verfaſſung und Volksgeſinnung
ihnen jene, obigen Bürgfchaften ber Geltung des verfaffungsmäßigen Dr
tionalm Geſammtwillens geben, je fichtbarer ihre Koͤnigthum nicht auf
verſpotteten romantiſchen Schwaͤrmereien und Fictionen ober bem zufäls
ligen und rohen Factum der Gewalt und des Raubritterchums beruhe,
fondern auf dem Heiligfien und dem Maͤchtigſten, mas es auf
Erden giebt, auf dem fittlihen freien Gefammtwilien
einer ehrenvollen freien Ration. Um fo williger buldigen fie
ber wahren Eöniglichen Majeſtaͤt und ihren geheiligten Rechten, je mehr
jene Buͤrgſchaften ber Volkefreiheit und Volisehre und vwoch ‚befonbere.
parlansentarifche Criminalgeſete jenes wahnfinnige, wnvertragsmäßige und
dam Grundvertrag feindfelige göttliche Recht ausſchließen, melches die
Stuarte und Bourbonen wiederholt um Thron und Lehen brachte
und bie Kationen in Revolutionen fürzte, weiches mit Thomefius
fein großer Kurfürſt und Friedrich ber Große AS abgefchackt
und geundverberblih für die Staaten beträdgteten. - a. as Al
| Auch wir Deutfchen gaben nie ganz jene germanifchen Brunbibeen
über Stinde, Gefhworne und fürftlihe Succeſſton auf. Und «es iſt
mierkiwtiedlg, auf welche Meife fie felbft bei ber fuͤrſtlichen Regierung
und Nachfolge nicht bios im Meiche anerkannt blieben, nur daß Hier zu⸗
Teßt leider immer mehr alle Erblichkeit ſchwand, fordern wie fehr auch
-
in den einzelnen Staaten bie Verfaffungsurkunden, z. B. die von kauen⸗
burg und Schleswig-Holftein (f. beide Artikel), jene grundver⸗
fragsmäßige freie Huldigung, Anekennung und Wahl ber. Fluͤrſten und
Sürftenhäufer mit dem erblichen Mecht und der heiligen Würde ber Fuͤr⸗
fen zu vereinigen wiffen umb nicht blos mie Diefer, fonbern auch gegleich
mie Bniferlicher Betätigung und Beleihung. : Denn da in Deutfdyland
aus dern Früher einfachen Staate allmälig ein: Staaten» Staat oder eirie
Doppal-Berfaffung und Regierung, die bes Landes und des‘ Meiches
entitand, fo behielten bie Würftenthümer, Grafen ». uͤnd Herzgthänier
noch fehr lange, ja bis zu Ende des Reiches mehr ober minder die Ber
fralt Falferlicher und Reihe Memter. Deshalb fin es auch, fo
fange die Bürger ihre eigentliche grund vertragemaͤßige Verfaffung tim
Reiche und im MWahlkaiferthum fahen, keine Wer ' derfelben, teren
bie Kalfer bei der Ernennung ihrer Beamten oder Fuͤrſten verfaffungs⸗
mäßig mitwirken. Mitwirkung aber und Vortbauer ber Idee der alten
Dolkemahl der Beamten blieb menigftens der Rechtsidee nad) ftets und
der Ausübung nach wenigſtens allermeift auch der Landfchaft. Kacttfche
und fauftrechtliche Verlegungen, zum Theil entfchuldigt durdy bie Idee
bes Amtes und ber Befegung, Vertheilung und Verdußetung der Amts:
gewalt mit Zuftimmung des Laiferlichen Regenten koͤnnen niemals ein
einſeitiges willkuͤrliches Verfügungsrecht ber Fürften über ihre Länder
und eine fouveräne Regierungsgemwalt ohne verfaffungsmäßige freie An»
erfennung des Volks rechtlich begründen. Diefes ift weder durch die
Reichs⸗, noh duch die Landesgrundverträge begründet.
Durch das Weofallen der kaiſerlichen und der Amtsrechte und durch die
nen conflitutioneflen Verfaſſungen iſt vollends jede blos factifche Ge:
wait beſeitigt. Was aber etwa grundverfafjungswidrig hier und da un:
rechtlich factiſch vorkam, das iſt ebenfo gut, wie ja das ganze Rhein
bundss und des fremben Eroberers Anrecht mit dem Tage erlofchen, als
bei ber Erhebung zu den Befreiungskriegen von den Fuͤrſten ausgefpros
en und von den Völkern anerkannt wurde, daß das nationale Wolke:
recht wiederum erwache und neu fortlebe. Solche wahrhaft legitime Re⸗
ſtaurationen werden die germaniſchen Nationen nach jeder Unterdruͤckung
feiern, denn nationale Rechte verjaͤhren nicht. Dies gilt auch fuͤr die
Thronfolge in Schleswig⸗Holſtein und Lauenburg.
Der große Vorzug der Engländer und ber englifhen Verfaſſung
aber befteht num einestheil6 in jener eigenthümlihen Zaͤhigkeit
oder beffer Charakterfeſtigkeit des altfähfifhen Volks:
ſtammes, womit berfeibe Rats an feinen altgermanifchen
⸗
Englands Staatöverfaffung. aB9
Urrechten und feinen alten freien Inſtitutionen feſthielt,
and aus jeder gewaltfamen Unterbrüdung fie wieder hervorzog, womit
er felbft da, wo er bie factifche Verlegung nicht mehr abwehren konnte,
doch die Recht idee, die hohen Srundfäpe feiner alten Fre
beit, feiner engliſchen Urs oder Geburtsrechte (birt rhigts), wie er fagt,
in Anerkennung erhielt und fo für jede günflige Epodye ihr erneuertes
Aufleben in der zeitgemäßen Geſtaltung moͤglich machte. Er beftcht zu⸗
gleich in einer ebenfalls diefem Volksſtamme eigenthümlichen prakti⸗
fhen Tuͤchtigkeit, in einem Maßhalten md einer praftis
[hen Gemeſſenheit, bei der genügenden Kraft. Diefe Eis
genfchaften gehen durch die ganze angelfähhfifche Gefchichte, von dem er⸗
ſten Beginn derfelben. So hatten die verhältnißmäßig wenigen Einwan⸗
derer untere dem gebildeteren alten Britten ihre vaterländifchen Einrichs
tumgen ſiegreich gemacht und erhalten, fie auch nad) gänzlidyer Unterjochung
durch die übermächtigen Dänen im Stillen bewahrt und unter Alfred ’6
kuͤhner Leitung wieder zum Siege gebradht. So hatten fie nad) ber
furchtbaren Normannens Eroberung endlich fogar den Sieger vermodht,
in feierlichen Urkunden, bie wir noch befigen (in der f. g. Leges Edo-
- wardi), ihre altfähfifchen vertragsgrundfäglichen und „uralten”
Berfaffungs » und Rechtseinrichtungen als Reicheinflitutionen zu ber
ſchwoͤren und fi als den vertraggmäßigen Nachfolger der alten ſaͤch⸗
fifchen Könige zu erklaͤren, weshalb fie auch feinen Beinamen: conquest,
nicht ale Eroberer, fondern als „ Erlanger”, als rechtmäßigen Erwerber
überfeßten. Und beharrlich erfämpften fie gegen bedruͤckende Feuballaften
Erleichterungen, und in Sreiheitsbriefen, fo z. B. in der Charta de forestis,
Anerkennung ihrer beſſern alten Rechte. So erfämpften fie vollends, als
Johann ohne Land das Hauptfundament ihrer Verfaffunge .
rechte, ben Grundvertrag mit ber Nation dadurch verlegte, baß ex
feine Krone von Gottes Gnaden befigen, vom Papft zu Reben
nehmen wollte, in bewundernswerth einmüthiger Revolution, in welcher
bem König fieben einzige Vaſallen getreu blieben, ihre große Verfaſſungs⸗
urfunde, die Magna Charta. Darin flellten fie ihren Grundvertrag
mit dem König an bie Spige, ganz friedlich vereinbart mit dem Titel:
„von Gottes Gnaden“, organificten förmliche Rechtshilfe und für ben
ſchlimmſten Fall fogar ein Widerftande » oder Revolutionsrecht gegen
ben König, jedoch zugleich mit der hoͤchſten Maͤßigung nicht blos durch
forgfältige gegen Mißbrauch ſchuͤtzende Kormen, fondern auch mit auss
druͤcklicher Beſchraͤnkung alles Widerftandes auf die Bewirtung der Wie
deranerkennung bed Grundvertrage durch den König und mit ausdrädli-
chem Ausfchluß der damals in den Sreiheitsbriefen vieler Voͤlker, 3. B.
der Aragonier, ausgefprochenen Abfegungss und Richtergewalt über den
König. Die perfönliche Freiheit ſchirmten fie durch das ausdruͤckliche
Verbot aller Verhaftung vor einer Verurtheilung durch das Schwur:
gericht von 12 Genoſſen (pares). Schon diefes Grundgefeg des frühen
Mittelalters legte. durch allgemeine Sanction freier Auswanderung für
ale Einwohner des Landes und durch Beſtimmung gleicher echte
I Zu Englands Staatsverfaffung.
des unteren Bafallen gegen den Lehnsherren, wie diefer gegen ben Ober
Iehnöherren behauptete, die Grundlage der weſentlichſten Milderung und
ber fpäteren Aufhebung ber Leibeigenfchafts: und der Feudalverhaͤltniſſe,
womit die Engländer ganz Europa vorauseilten. Oft genug wurden in
ben fchweren Zeiten bed Mittelalters die Volksrechte der Magna
Charta factifch verlegt, aber die Engländer betvahrten auch unter dem
factifhen Webergericht bes Fauſtrechts doch immer mit Energie die An»
erdennung der Rechtsidee ober ihrer Mechtsgrundfäge und zwangen
mehr ale fehzigmal verlegende gewaltfame Könige zum neuen eid⸗
lichen Beſchwoͤren ihres Grundvertrags. Mit Eifer bewahrten fie ins:
befondere auch ihre alten Volksgerichte, ihre Volksrechte und ihre Wolke:
muͤndigkeit gegen das Eindringen der Romaniften der römifchen Sprache
und der befpotifchen Grundſaͤtze roͤmiſcher Kaifer, welche uns Deutſche
in’s Unglüd flürzten. Mit Energie wiefen fie namentlich die Doctoren
ber fremden Rechte aus den Gerichten und aus dem Parlamente.
In folder Weife behaupteten die Engländer und in günftigen
Momenten erweiterten fie ober bildeten beffer und zeitgemäß aus, und
ficherten beffer die altgermaniſchen Zreiheitsgrundfäge in den flänbifchen,
in den Regierungs =» und in den Schwurgerichtseinrichtungen. In fols
her Weife entſtand und entfaltete fi) das ganze altehrwürdige und
doch zeitgemäße Gebäude brittifcher Kreiheit und Verfaſſung, bie endlich
baffelbe als herrlichſter Tempel bürgerlicher und nationaler Freiheit vor
ben Augen ber bewundernden Welt baftanb.
4) Das Weſen ber englifhen Verfaſſung befteht in
ber menfhlihen, bürgerlihen und politifhen Freiheit
und freien Selbftregierung aller gemeinfhaftliden Ange:
legenheiten unter Leitung möglichft einfaher, zweckmaͤßi⸗
ger Gefellfhaftsgewalten,. die grundvertragemäßig aus
bem gemeinfhaftliden Nationalleben hervorgebend,
fih duch gefunde organifhe Wechſelwirkung zugleidh un⸗
terftügen und zugleich gegenfeitig in ihrengrundvertrage
mäßigen Schranten halten. Diefe gegenfeitige Beſchraͤnkung auf
die dem gefunden Staatsorganismus weſentlichen Schranken nennen bie
Engländer das Bleihgewiht Montesquieu, bieangemeffene
Vertheilung der Sewalten. Die Hauptfache ift dabei jene von
Murhard gefchilderte treffliche, immer volllommener ausgebildete Einrichtung,
daß Fein einzelnes Werkzeug ober Organ der Gewalt, alfo weder ber
König, noch eine Kammer, weder fie alle, noch bie Volksverſammlung
für fi allein und mechaniſch abfolut und zerftörend für die andere
und ihre Vorrichtung gegen das Grundgefeg und den gefunden Orga:
nismus der Gefellfchaft wirken kann, daß vielmehr ſolche verberbliche
Wirkfamkeit ausgefchloffen, verhindert, ober alsbald kraftlos gemacht
wird. Und in der That das Gleichgewicht in dieſem höheen or:
ganiſchen Sinne ift ebenfo die mefentlichfte Meifterfhaft bes Kunftwerke
der englifchen Verfaffung und die ſchwierigſte Aufgabe für jede wahre
politiſche Kunſt, als das Gegentheil berfeiben und zwar ganz ebenfo gut
Englands Statiffit — Engl. Bank⸗ u. Creditſyſtem. 241
eine fchrankenlofe Macht jacobinifcher Volksverſammlung, mie eine foldye
- Gewalt eines Einzelnen, der Stufe ber politiſchen Rohheit angehört, in
politifcher Hinficht ebenfo die armfeligfte niebrigfte Stufe ber Bilbung
einer Nation darftellt, wie im Thierreiche die Thiere mit einem einzis
gen Drgan, etwa einem Darmecanal, bie unterften Gefchöpfe der Thier⸗
welt find. C. Welder.
Englands Statiftil. (Zufag zu Seite 194 nad) dem erften
Abfag.) Ganz auf diefem Wege gefunder Verbefferungen fortſchreitend,
bat vor Allem in diefem Jahre dee vorteefflihe Staatsmann P eel durch
feine umfaflenden neuen Gefege auf. fchonende Weife die hohen Getreides
zoͤlle, nachdem fie neben ihrer Begünftigung der Gutsariſtokratie doch
auch weſentlich mitwirkten, der englifchen agrarifhen Gultur ihren hoben
Standpunkt zu fichern, fo mie gleichzeitig audy eine große Reihe früherer
Schutzzoͤlle mefentlid vermindert. Während die Freiheit bed Verkehrs
auf jede Weife gefördert, die Laften der großen Maſſe der Aermeren überall
bedeutend gemindert, ihre Kebensbebürfniffe mohlfeilee gemacht werden, wird
bie Stantscafe durch die nur die Wohlhabenderen treffende Peel'ſ he Eins
Sommenfteuer im jährlichen Betrage von 60 Millionen Gulden entfchädigt
und ficher geſtellt. Ruͤhmend durfte ein politifches Blatt, bie Rundfhau
von 8. Mathy, Nr. 9., neulic fagen: „In England find feit etwa ſechs
Fahren eine Reihe von Accisgattungen und die Cingangszölle von mehr
ale 700 Artikeln theils ermäßigt, theils aufgehoben, die Brieftare allgemein
auf ein Penny (3 Kreuzer) herabgefegt, endlich auch die Zölle vom Ges
treide bedeutend vermindert und ber gänzlihen Aufhebung entgegengeführt
worden.”
(Anmerk. zu Seite 205 nad dem erften Abfag.) Das eben
fheint uns der hoͤchſte Vorzug der englifchen Conftitution, welcher
fi) durch die außerordentlichen friedlichen gefeßgeberifhen Meformen,
welche ſchon wieder in den wenigen Jahren feit Abfafjung des obigen Artis
kels fowohl der Zorpminifter Peel wie bee MWhigminifter Ruſſell
durchfuͤhrten, beftätigt, daß die Engländer felbft in ihren feit dem Fauſtrecht
bes Mittelalters unendlich ſchwierigen Verhältnifien doch feit der Ausbildung
ihrer Freiheit ſtets Revolutionen duch Reformen zu verhindern wiſſen.
Diefe Berfaffung fichert ihnen das Gluͤck, daß ftets die genialften, geachtet-
ſten Staatemänner der Nation das Staatsſchiff leiten, daß die Schiffs:
mannfchaft freiwillig ihre Kräfte verboppelnd zufammenmirkt, um wirkliche
Stürme ohne Schiffbruch zu überwinden, und daß fie durch die Frei⸗
beit und freie Bewegung dazu Antrieb und Geſchick und Mittel hat.
Dieſes beherzige, du arme deutſche Staatsweisheit!
C. Welder.
Englifhes Bank: und Ereditfyflem. In dem Artikel
„Bank, Band I. ©. 155, ift bemerkt, daß die Beſtimmung von
1708, wonach keine Geſellſchaft von mehr als ſechs Theilnehmern Bank:
noten ausgeben durfte, im Jahre 1826 auf diejenigen Orte beſchraͤnkt
wurde, welche innerhalb 65 Meilen um Kondon liegen. Banken, welche
keine Noten ausgeben, find überall geflattet; fie bedienen fi der Noten
Suppl. 3. Staatsier. II. 16
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55323
*
—*
Dtm
legenheiten unter Leitung moͤglichſt einfaher, zweckmaͤßi⸗
ger Geſellſchaftsgewalten, bie grundvertragsmäßig aus
dem gemeinfhaftlihen Nationalleben hervorgehend,
fid durch gefunde organifche Wechſelwirkung zugleidh un:
terfiägen und zugleich gegenfeitig In ihren grundvertrags:
mäßigen Schranken Halten. Diefe gegenfeitige Beſchraͤnkung auf
Die dem gefunden Staatsorganismus weſentlichen Schranken nennen bie
Englände das Gleichgewicht Montesquieu, bie angemeffene
BDertheilung der Sewalten. Die Hauptſache ift dabei jene von
Murhard gefchilderte treffliche, immer vollkommener ausgebildete Einrichtung,
tein einzelnes Werkzeug ober Organ der Gewalt, alfo weder ber
König, noch eine Kammer, weder fie alle, nod die Volksverſammlung
für fich allein und mechaniſch abfolut und zerfiörend für die andere
und. ihre Vorrichtung gegen das Brundgefeg und den gefunden Orga⸗
niömus ber Gefellfchaft wirken Tann, dag vielmehr folche verderbliche
Wirkſamkeit ausgefchloffen, verhindert, ober alsbald kraftlos gemacht
wird. Und in der That das Gleichgewicht in biefem hoͤheren or:
ganiſchen Sinne ift ebenfo die weentlichfte Meiſterſchaft des Kunflwerke
der englifchen Verfaſſung und die ſchwierigſte Aufgabe für jede wahre
gositiche Kunſt, als das Gegentheil derſeiben und zwar ganz ebenfo gut
8
Englands Statiftit — Engl. Bank⸗ u. Greditfoften. 241
eine fchrankenlofe Macht jacobiniſcher Volksverſammlung, mie eine foldye
Gewalt eined Einzelnen, der Stufe der politifchen Rohheit angehört, in
politifcher Dinficht ebenfo die armfeligfte niedrigfte Stufe der Bildung
einer Nation darſtellt, wie im Xhierreihe bie Thiere mit einem einzis
gen Drgan, etwa einem Darmcanal, bie unterften Gefchöpfe der Thier:
welt find. C. Welder.
Englands Statiftil. (Zufag zu Seite 194 nach dem erften
Abfag.) Ganz auf diefem Wege gefunder Verbefferungen fortſchreitend,
bat vor Allem in diefem Jahre der vortrefflihe Staatsmann Peel durch
feine umfaffenden neuen Gefege auf. fhonende Weife die hohen Getreides
zölle, nachdem fie neben ihrer Begünftigung der Gutsariſtokratie doch
auch wefentlih mitwirkten, der englifchen agrarifchen Cultur ihren hohen
Standpunkt zu fichern, fo wie gleichzeitig auch eine große Reihe früherer
Schutzzoͤlle weſentlich vermindert. Während bie Freiheit des Verkehrs
auf jede Weife gefördert, die Laſten der großen Maffe der Aermeren überall
bedeutend gemindert, ihre Lebensbeduͤrfniſſe wohlfeiler gemacht werden, wird
die Staatscaffe durch die nur bie Wohlhabenderen treffende Peel'ſche Eins
kommenſteuer im jährlichen Betrage von 60 Millionen Gulden entfchädigt
und ficher geftellt. Rühmend durfte ein politifches Blatt, die Rundfhau
von 8. Mathy, Nr. 9., neulich fagen: „In England find feit etwa ſechs
Sahren eine Reihe von Acciögattungen und die Eingangszoͤlle von mehr
als 700 Artikeln theils ermäßigt, theils aufgehoben, die Brieftare allgemein
auf ein Penny (3 Kreuzer) herabgefest, endlich auch die Zölle vom Ges
treide bedeutend vermindert und der gänzlidhen Aufhebung entgegengeführt
worden.‘
(Anmerl. zu Seite 205 nad dem erflen Abfag.) Das eben
fheint uns ber höchfte Vorzug der englifchen Gonftitution, welcher
fih durch bie außerordbentlichen friedlichen gefeßgeberifhen Reformen,
welche fchon wieder in den wenigen Jahren feit Abfaffung bes obigen Arti⸗
kels ſowohl der Tory miniſter Peel wie der Whigminiſter Ruſſell
durchfuͤhrten, beſtaͤtigt, daß die Englaͤnder ſelbſt in ihren ſeit dem Fauſtrecht
des Mittelalters unendlich ſchwierigen Verhaͤltniſſen doch ſeit der Ausbildung
ihrer Freiheit ſtets Revolutionen durch Reformen zu verhindern wiſſen.
Dieſe Verfaſſung ſichert ihnen das Gluͤck, daß ſtets die genialſten, geachtet⸗
ſten Staatsmaͤnner der Nation das Staatsſchiff leiten, daß die Schiffs⸗
mannſchaft freiwillig ihre Kraͤfte verdoppelnd zuſammenwirkt, um wirkliche
Stuͤrme ohne Schiffbruch zu uͤberwinden, und daß ſie durch die Frei⸗
heit und freie Bewegung dazu Antrieb und Geſchick und Mittel hat.
Dieſes beherzige, bu arme deutſche Staatsweisheit! ER
. VWelder.
Englifhes Bank: und Ereditfyflem. In dem Artikel
„Bank, Band Il. ©. 155, ift beinerkt, daß die Beſtimmung von
1708, wonach keine Gefellfchaft von mehr als ſechs Theilnehmern Bank:
neten ausgeben durfte, im Jahre 1826 auf diejenigen Orte befchräntt
wurde, welche innerhalb 65 Meilen um London liegen. Banken, welche
feine Noten ausgeben, find überall geftattet; fie bedienen fih der Noten
Suppl. 3. Staatsier. II. 16
=
242 Englifches Bank+ und Greditſyſtem
ber Bank von England gegen eine Provifion von 1 Procent. Aufer
dem Disconto pflegen diefelben noch eine Provifion von etwa 4%, fo:
bann noch eine Gebühr für geleiftete Zahlungen, Verſendungen u, f. w.
in Anfag zu bringen. Dafle verzinfen fi aber audy bie bei ihnen
_ binterlegten Gelder mit 2 bis 3%. Ihr Nusen befteht in der Anfamm:
lung und Verwendung von unbefchäftigtem Geld, ihr Gewinn in bem
Mehrbetrag ber Uctiv» Uber die Paffiv» (dev Discont: über die Depofi:
ten«) Zinfe. Die Landbanken follten vor den Privatbanfen ben Vor:
theil größerer Sicherheit voraus haben, doch ift dies nicht immer der Fall.
Dom Jahre 1809 bis 1826 fallieten in England allein (mit Ausſchluß
von Schottland und Irland) 274 Landbanken, und zwar die größte Zahl
in den Saheen 1814 bie 1816, nämlid 92, und 1825 und 1826,
naͤmlich 58. Man hat verfchledene Maßregeln vorgeſchlagen, um das
Publieum vor den Nachtheilen Teichtfertig betriebener Banken zu fichern,
mie das Verbot ber Ausgabe von Noten unter 5%, Sicherheitstleiftung
ber Theilhaber für die Einlöfung ber Noten und Bekanntmachung ihrer
Verhaͤltniſſe. Die Zettelbanken müffen daher Quartals⸗Ueberſichten über
ihre Motenausgaben aufftellen, durch einen Eid befräftigen und bem
Stempelamte in London einfenden. Die Noten müffen geftempelt wer:
den und aufierdem hat jeber Theilhaber eine Licenz zu Iöfen und jährlich
zu erneuern, was jedesmal BO Pfdb. Sterl. koſtet. — In den Jahren
1805 bis 1825 wurden jedes Jahr zwifchen 4 und 12 Millionen Band»
banknoten geftempelt (1820 nur 3,574,894 Pfb., 1813 die böchfte
Summe mit 12,615,509 Pfd. ; im Sabre 1809 wurden zwar über 15
Millionen geftempelt, allein darunter find viele umgejtempelte 1 Pfb.:
Noten, für welche die Abgabe erhöht worden war). Seit 1826 beträgt
die jährliche Menge nur 1 bis 3 Millionen Pfd. und die Machtheile,
welche die ungeregelte Papiermaffe für den Umlauf herbeiführte, haben
zu ber Einfiche geführt, daß neue Notenbanken nicht mehr geftattet und
die Motenausgaben der vorhandenen nicht vermehrt werden dürfen. Die
Zahl ber jährlih genommenen Licenzen ſchwankt feit 1809 zwifchen
600 und 900 und hat feit dem Gefeg von 1826 abgenommen. Weber
die verfchiedenen Krifen ber Landbanken, ihre Urfachen und die Mittel
zur Verhütung ift in der Note IX. (Money) von M'Culloch's Ausgabe
von Adam Smith Vortreffliches geſagt (New edition, London 1839,
&. 480 u. f.). „Der Fortfchritt des Syſtems der Banken mit vereinigs
tem Fond (Joint-stock banking system) feit 1826 — heißt e8 dort unter
Anderem — ift merkwürdig. Bis 1835 wurden 56 Banken, alfo
durchſchnittlich etwa 6 regiftrirt. Befondere Umftände wirkten zufammen,
um im Sahre 1836 den Speculationsgeift anzuregen, und er wendete
ſich vorzugsweife auf Geſellſchaftsbanken; es entflanden deren fünfunb-
vierzig In dieſem einzigen Jahre. Allein ſelbſt diefe Zahl bleibt hinter
der Wirklichkeit zurüd, denn die meiften haben zahleeiche Verzmweigungen,
manche bis zu dreißig oder vierzig; man, kann daher wohl fagen, daß
1836 in England und Wales über 200 Bankanſtalten in das Leben ges
rufen wurden. Es läßt fi) annehmen , daß die in einem Augenblick der
*
Engliſches Bank⸗ und Cteditſyſtem 248
Aufregung errichteten Anftalten bezüglich auf Solidität mangelhaft wa-
ren. Die Actin waren met gering, felten über 50 Pfb. Sterl.,
mande 25, 10, ja feldft nur 5 Pfd. Sterl., und davon wurden nur 5,
10 His 20% eingezahlt. Wer 10 bis 20 Schilling entbehren Eonnte,
war In ber Lage Actionde zu werden. Leute in mißlihen Umſtaͤnden
traten bei, um ihren Credit aufzubeffern und Darleigen zu erhalten. Die
Moten diefer Banken füllten nun den Umlauf, der Wechfelcurs, welcher
im S$anuar 1836 pari und noch etwas darüber geflanden, begann zu
weichen und der Meberfluß an Papier veranlafte, daß Gold zur Ausfuhr
gefucht wurde, — bei der Bank von England. Der Andrang dauerte
ununterbrochen bis October, obgleich die Bank ihre Emiffionen in der
Hauptftadt beſchraͤnkte und den Zinsfuß im Juni von 4 auf 44 und
im Auguft auf 5% erhöhte. Wäre bie Bank allein befugt
gemwefen, Papier auszugeben, der Andrang nach Gold waͤre nicht
entflanden oder es wuͤrde ihm mwenigftens alsbald eine Schranke gefegt
worden fein. Sein Anwachſen zu einer Höhe, welche die Bank von
England in große Gefahr brachte, iſt lediglich dem Verfahren der Ges
ſellſchaftsbanken zuzufchreiben.. Angefichts des Andrangs nad) Metall:
münze, des raſchen Steigens des Zinsfußes und der großen Beforgniffe
im Publicum, fuhren fie fort ihre Notenmenge zu vermehren, flatt zu
vermindern. Der Rüdfchlag erfolgte, fobald der Drud auf dem Geld»
markt eine gewiſſe Höhe erreicht hatte, und ohne den Beiftand der Banf
von England würden mehrere Gefellfhaftsbanten untergegangen fein.
Solche Schwankungen aber werden fich immer ergeben, mo das Umlaufs-
mittel aus mehr als Einer Quelle fliegt.” —
Der Vortheil, melchen Handel und Verkehr in England, im Ver⸗
gleich mit dem fchmerfälligen Umlauf, wie er noch in Deutſchland tft —
von der allgemeinen Benugung bed Bankwefens zieht, tft fehr hoch an«
zuſchlagen; es liegt darin eine der Urfachen, melde durch Anfammeln
und Beſchaͤftigen von Geldcapital der britifchen Induſtrie ihr Ueberge⸗
wicht faſt auf allen nicht genugfam befhügten Märkten über die einhel-
mifche verfhaffen. Eine kurze Schilderung, welche John Prince Smith
in einer Meinen Schrift über Actienbanten entwirft, wollen wir hier bei-
fegen:
„Jedermann (in London), der eine Caſſe von irgend namhaften
Beträge bat, Legt feine Baarſchaft bei einer Bank nieder und leiſtet
feine Zahlungen nun durch Antoeifangen auf diefelbe, wozu ihm ein Heft
mit geflochenen Kormeln, die er nur ausfüllen und losfchneiden darf,
geliefert word. Alles, was er einnimmt, meiftentheil$ nur aus Bankan⸗
weifungen , fogenannten Checks, beftehend , [hit er taͤglich an feine
Bank und läßt durch diefe feine fälligen Wechfel unmittelbar eincaffiren.
Er wird aller Mühe mit Zahlen und Aufbemahren von banrem Gelbe
überhoben ; an großen Zahlungen bei einen ausgedehnten (Hefchäfte fer:
tigt ex die Anmeifungen zum Voraus an und verrichtet Gaffengefchäfte
zum größten Betrage mit einer Leichtigkeit und Gefchmwindigkeit, von ber
man Zeuge gewwefen fein muß, um fie fich vorftellen zu koͤnnen. Die
| 16 *
244 Enregiſtremen tt
Anweifung dient als Quittung; und da der Bankier des Empfängers
gewoͤhnlich darauf beseichner iſt, wird fie mur Jenem für Rechnung des
Bepteren ausbezahlt, kann alfo nicht in unrechte Hände gelangen und bat,
wenn fie verloren gebt, für den Finder Feine Gültigkeit. Man kann bem
exſten beften Boten rin WVerzeichniß von Forderungen von noch fo großem
Betrage zum Einzlehen geben ; er tritt in jedes bezeichnete Comptoit, ruft
ben Namen bes Abfenders und die Summe aus und empfängt in dem»
ſelben Augenblide die fertig liegende Anmeifung, obne daß nad) feiner
Legitimation nur gefragt wirb. Auf diefe Weife kann nöthigenfalls rin
Bettler von ber Straße einen Auftrag zum Einziehen von mehreren hun⸗
berttaufend Thalern in fünfzig verfchiedenen Poflen binnen wenigen Stuns
den ausführen. Zwiſchen den Runden berfelben Bank werden folherges
ftalt die Zahlungen ohne alle Baarfchaft, durch bloßes Ab» und Zus
ſchreiben in den Bankbüdyern entrichtet: Aber auch die verfchiebenen
Banken, welche von ihren Kunden Anweifungen auf einander haben, tau—⸗
ſchen diefelben täglich zu beftimmter Stunde in einem feftgefegten Local,
Clearing house, gegenfeitig aus und entrichten baar nur bie etwaigen
Differenzen. Auf diefe Weife wird im London an mandem Tage «in
Betrag von 50 Millionen Thalern mit weniger als 1 Million an baat
ausgeglichen. — Jedermann fucht natürlich feinen baaren Caſſenbeſtand
fo niedrig als möglich zu halten, weil baares Gelb keine Zinſen bringt.
Er bält nur fo viel vorräthig, als nörhig iſt, feine Auszahlungen zu
beftreiten, bis ihm neues Gelb eingeht, und je genauer er bie Ueber:
einftimmung zwiſchen Ab⸗ und Zugang bei feiner Caſſe allegeit abwaͤgt,
um fo geringeren Borrath zur Ausgleihung darf er halten, um fo ge
ſchickter ſind feine Baufmännifchen Operationen, Uber bie Gejammt-
fumme, welche ſich durch Zufammenmerfen aller zerjtreut liegenden kleinen
Gaffenbeftände, bei den Banken berausftellt, ift ungeheuer groß. Nicht
blos Handeltreibende, fondern auch alle irgend wohlhabenden Privaten,
befondere aber bie öffentlichen Anftalten,, beriugen die Girobanken. Und
wenn man nun bedenkt, welche erſtaunlichen Beträge fogar die aͤrmſten
Claſſen durdy die Sparcaffen zufammen bringen, wirb man wohl glaus
ben, daß die vereinigte Baarfchaft der Wohlhabenderen und Reichſten
betraͤchtlich genug ausfällt.” K. Mathy.
Enregiftrement (Einregiftrirung) ift im Allgemeinen die Eins
tragung eines Actes in ein bazu beftimmtes fortlaufendes Regiſter oder
Bud. Im alten Frankreich fpielte die Einregiftrirung der Ge—
fege (enregistrement des lois) durch bie Parlamente bekanntlich eine
wichtige Rolle, indem fich diefe Corporationen, welche ſich als Vertreter
ber Nation betrachteten, oft weigerten, koͤnigliche Befehle zu regiftriren,
die als Geſetze gelten follten , die fie aber mit den Sundamentalgefegen
(den „Sonftiturionen‘) des Staats und insbefondere mit den Rechten
und Privilegien der Stände oder der Geſammtheit des Volkes im Wi-
berfpruche hielten. Der männliche Muth, mit welchem bie Parlaments»
mitglieder fo oft der koͤniglichen Laune und Willkuͤr Trotz boten, verdient
alle Anerkennung, obfhon es ſich häufig blos um Standesvorrechte han:
‘
.
Enregiftrement. 245
belte. Oft wurben bie Parlamentsräche verbannt, manche von ihnen
eingekerkert, ohne daß fie dadurch zur Untermürfigkeit gebracht werden
Eonnten. Die abfolute Gewalt fegte freilich mit ihrer materiellen Macht
zulsgt allerdings Alles duch, — freilich nur, um fich felbft am Ende
defto gewiffer zu Grunde zu richten. —
Wenn man heute in Frankreich und ben mit demfelben verbun⸗
ben gewefenen Rheinlanden vom Enregiſtrement redet, fo verftcht man
darunter gewöhnlich bie Einregiftrirungsgebühr (droit d’enregie-
trement
).
Der Urfprung des Enregiſtrements findet fi in der durch Orbon⸗
nanz Eubwig’s XIV. vom Monat Auguft 1669 eingeführten f. g. Con»
trole. Der Zweck biefer Einrichtung war, ben Acten durch Eintra⸗
gung in gewiſſe Regifter ein fiheres Datum zu gewähren und ba:
durch vielen Fälfchungen und fonftigen WBetrügereien zu begegnen. Die
für jene Einfchreibung zu entrichtende Abgabe war, wie dies gewoͤhnlich
der Fall if, anfangs nicht bedeutend. Auch blieb die Verpflichtung zur
iſtrirung lange auf verhältnißmäßig wenige Gegenflände befchräntt.
in dem finanziellen Drange der Revolution erhielt die Einrichtung
ihre jegige Grundlage. Sie beruht Hauptfächlich auf den Beſtimmun⸗
gen des Geſetzes vom 22. Scim. VII, wozu fpäter die Verfügungen mer
gen der Gebühren ber Gerichtöfchreiberei (welche aber ebenfalls ber
* bezieht) und jene über die Abgaben von errichteten Hypotheken u . dgl.
amen.
Der dem Fiscus eintraͤglichſte Theil dieſer Einrichtung beruht in ber
Beſteuerung ber Käufe. Sogar von der Veräußerung von Mobilien
muͤſſen 2% des Preifes entrichtet werben; bei Immobilien fogar
vier Procmt, und dazu kommt noch weiter bie Transſcriptionsgebuͤhr
von 14 %. Schenkungen unter Lebenden find mit 5% beſteuert. Ja
unter Napoleon wurde noch überdies eine Kriegsſteuer“ beigefchlagen,
durch welche die urfprüngliche Gebühr bes Enregiſtrements, ber Trans⸗
feription u. f. f. um ein Zehntel erhöht wurde, — eine Auflage, die, obs
wohl fie in Frankreich längft abgefchafft war, in Rheinbaiern noch bis
zum Sabre 1831 forterhoben und auch dann blos auf Abrechnung gegen
Steuernachlaͤſſe in den Altern Kreiſen aufgehoben ward. Nur die f. g. -
„Sterbfaligebühren ,’ — welche felbft der Sohn von der Exrbfchaft bes
Vaters mit 1 % entrichten mußte (für andere Exrbfchaften betrug fie noch
mehr), hatte fchon der ruffifche Seneralgouverneur des Mittelcheing,
gleich bei Belegung des Landes durch die alliirten Heere, unterm LE. Fe
bruar 1814 bereits gluͤcklich abgeſchafft. Der heffifchen Rheinprovinz da⸗
gegen wurde die Wohlthat zu’ Theil, daß bie ganze proportionelle
Gebühr in eine fire von nur 28 Kr. (1 Franc) umgewandelt, oder viel«
mehr auf biefen für die Negifteirung der geringften Acten beflimm:
ten Betrag gleichmäßig herabgefegt ward. Nur bei bebeutendern Ver:
Laufen beträgt fie mehr — 4 Fl. 40 Kt.
Das Enregiſtrement ift allerdings an ſich eine nuͤtzliche Einrich⸗
tung als Controls für das Datum der Acten. Ste iſt uͤberdies (a nice,
246 Sphorat — Erhlchteit
fach mit ben übrigen Einrichtungen ber franzoͤſiſchen Gefeggebung vers
flochten, daß ihre unbedingte Abſchaffung nicht kurzweg burchgeführt wer⸗
den koͤnnte, ohne 5* Anftände hervorzurufen. Dagegen iſt fie
grundverderblich durch die enorme Größe der Auflage, durch die uns
geheure Höhe, in welcher die gemöhnlichften Geſchaͤfte des Lebens und
Verkehrs belafter find. Eine Folge davon iſt, daf fie zu Umgebungen
und Betruͤgereien führt, die oft fo tief und wahrhaft verberbfich in bie
Familienverbhältniffe eingreifen, wie man es urſpruͤnglich wohl gar nicht
als moͤglich geahnt hatte. Go traten namentlich die Folgen zu nie
beiger Angaben bei Immobiliarverfäufen nicht felten erſt nach Iahtz
zehnten, wenn Sterbfälle eingetreten find, zum Machtheile ber Mittwen
ober ber Kinder hervor, an bie man urfprünglich ‚gar nicht gebacht
hatte. So in humbert anderen Fällen.
Um fo übler iſt es, daß man namentlich im der bait. Pfalz den
Regiftrieumgsgefegen fortwährend eftte fo maßlos fiscalifche Auslegung
und Anwendung zu geben bemirht if, wie es in Frankreich ſelbſt nie
geſchah. Wergeblid; hat man ſich namentlih in ber bair. Ständever:
ſammlung dagegen erhoben, unter Anfuͤhrung ber grellften Beiſpiele.
Die Plusmachetei laͤßt ſich nicht fo kurzweg verbringen, denn wer dem
Fiſeus mehr zumendet, kann gewiß fein, dabucch nicht in Ungnabe zu
fallen. Zwar könnten bie Betheiligten gegen Weberforderungen proceffis
ren, aber theils find die einzelmen Beträge, um bie es fich handelt,
bei ber Koftfpieligkeit des bieffeitigen Gerichtsverfahren® hierzu meiftens
nicht groß genug, anberfeits bat man e8 mit einem Gegner zu thun, ben
das Proceffiren nichts koſtet, der alfo jede derartige Sache durch alle
Inſtanzen, bis zur hoͤchſten, ohne irgend einen Nachtbeil durchführen kann,
fo daß ein bochgeachteter und vielerfahrener pfälzifcher Mechtegelehrter (ein
Freund bes Verfaſſers, der verflorbene frühere Advocat, nachmalige Me:
gierungsrath Loͤw) geradezu ausfprach, „es fei Faft in allen Fällen das
Beſte für die Elagende Partei felbft, „mern fie nur gleih in erfter
Inſtanz ihren Proceß verliere” Diefer Mann hat. feine (übrigens
auf gaͤnzliche Abfchaffung der Regiftrirabgaben gerichteten) Bemerkungen
in einer fhon 1814 zu Speyer veröffentlichten (anonymen) Slugfchrift
unter dem Titel niedergelegt: „Geiſt der Enregiſtrementsgeſetze.“
©. Fr. Kolb.
Ephorat, Ephoren. Als den unmittelbarften Erfag eines Epho⸗
rats für die Regierung kann man die Verantwortlichkeit der Mini:
fter (f. den Art.), als den allgemeinften für alle verfaffungsmäßige Gewalten
und politifche Beftrebungen die allgemeine freie Öffentliche Meinung und thr
gewichtigftes Organ, die Preßfreiheit, betrachten. (S. Cenfur.) Beide find
ungleich großartigere heilfame politifche Inſtitutionen als die alten Epho:
rate, Genfurgerichte oder auch als platonifche Philoſopheme.
C. Welder.
Erblichkeit. (Zu Seite 223.) Bon den rechtlichen Verhaͤlt⸗
niffen, die zu ‚verfhiedenen Zeiten bei verfchiedenen Völkern in weſentlich
gleichartiger Weiſe zum Vorſchein kamen, ———— * voraueſeten, daß ſie
Erblichteit. 347
nicht das Erzeugniß der Laune von Einzelnen waren, fonbern bie gefehliche
Anerkennung eines im Verlaufe des Voͤlkerlebens natürlich hervortretenden
Zuftandes. Dies beftätigt ſich durch die nähere Betrachtung bes Entſtehens
und Verſchwindens ber Erblichkeit der Aemter, mie verwerflicdh fie auch von
unferm jegigen Standpunkte der Cultur uns erfcheinen mag. Kin Aehn⸗
liches gilt von der Erblichkeit des Privatvermögens und von den wefentlichen
Veränderungen , welchen biejelbe im Wechfel der Zuftände unterworfen war.
Sct Montesquieu’s Behauptung, dab das Naturrecht die Väter vers
pflichte, ihre Kinder zu ernähren, nicht aber, fie zu Erben einzufegen, wollte
man zivar vielfach die Erblichkeit des Vermögens als etwas rein Willkuͤrliches
betrachten, das einzig und allein nach zufälligen Rüdfichten der Zweckmaͤßig⸗
Leit bemeſſen worden ſei. Aber fchon die allfeitige Webereinftimmung in den
hauptſaͤchlichſten Momenten der Entwidlung bed Erbrechts (ſ. Erbrecht)
weift dafür auf einen allgemein menſchlichen Naturgrund bin, befjen Bes
beutung und Umfang näher ins Auge zu faflen ift.
(Zu Seite 229 an das Ende.) Nach dem Allen glauben wir die Aus⸗
dehnung der Sinteflaterbfolge auf die Seitenverwanbten, fo wie bie Einfuͤh⸗
rung des teflamentarifchen Erbrechts als einen Ausfluß jenes einfeitigen Ins
bivibualismus betrachten zu dürfen, der überhaupt der neueren Zeit fein Ges
präge aufdruͤckt und zum fchroffen Begenfage die gleich einfeitigen Beſtrebun⸗
gen des Communismus für Befeitigung aller Erblichkeit des Vermoͤgens
hervorgerufen bat. Gleichwohl laͤßt fi), unter den jest noch beftehenden
ftaatlihen Verhättniffen, das Gewicht ber [charffinnigen Gründe nicht vers
kennen, bie fchon in der erfien Auflage bes Staatslexikons, im Artikel „Erb⸗
recht”, gegen die Beſchraͤnkung diefes letzteren auf die gerade Linie ent⸗
widelt wurden. So lange ſich in unfeligem Zwieſpalt nody Staat und Volt
bald in heimlicher bald in offener Feindſchaft einander gegenüberftehen; fo
lange noch mit mehr oder weniger Grund von. einem raubgierigen Fiscus
die Rebe fein kann, wird allerdings jede Beſchraͤnkung der Dispoſitions⸗
befugniß der Einzelnen auf den Todesfall als verlegender Eingriff in die
individuelle Freiheit bitter empfunden werden. Ganz anders aber werben
fich die Verhaͤltniſſe geſtalten, und in günftigerer Weife wird fich die Öffente
liche Meinung über die Einführung eines Erbrechts zum größeren Vortheile
der Sefammtheit ausfprechen, wenn erft der geheime Cabinetsflaat zum
Volksſtaate geworben iſt; wenn er endlicdy wieder in höherem Maße als bis
ber feine Pflicht zur fortwährenden Ausgleichung der zufälligen Ungleich⸗
heiten des Beſitzthums anerkennt und fich der gerechten Erfüllung diefer Aufs
gabe gewachfen zeigt. Mur unter diefer VBorausfegung wird es gelingen,
dem Weberfluthen eines drohend anfchwellenden Proletariate vorzubeugen
und dem Einbruche eines rohen und zerftörenden communiftifchen Elements
unüberroimdliche Schranken entgegenzufegen. Bu diefem Zwecke ifl aber auch
die Anwendung noch mancher anderen Mittel erforberlich, auf welche im Ar-
titel „Socialismus“ hinzuweiien ift, wo überdies bie Worfchläge einiger
Pa Socialiften in Beziehung auf Erblichleit berudfichtigt werden _
ollen.
⸗
—
248 Erbrecht.
Zum Schluſſe mag inbeffen noch bemerkt werben, daß man das
burchfchnittliche Einkommen, das bei einer Beſchraͤnkung der Erblichkeit
des Privatvermögens auf die gerade Linte alljaͤhrlich dem Staate zufallen
wiirde, nicht allzu hoch anfchlagen darf. Aus vorliegenden ftatiftifchen That⸗
ſachen geht vielmehr deutlich hervor, daß die durch den Erbgang vermittelte
Bewegung des Vermögens weitaus zum größeren Theile nur zwiſchen
Afeendenten und Defcendenten ftatt hat. Im Grofiperzogthum Heffen, das
im Anfang 1844 eine Bevölkerung von etwas über 834,700 hatte und deffen
jährlidyes Budget gegen fleben Millionen Gulden beträgt, wird fchon feit
längerer Zeit eine auf 5 Procent fich belaufende Eollateralfteuer von allem
beweglichen und unbeweglichen Vermögen erhoben, melches durch Sterbfall
auf Seitenverwandte ober auf nicht verwandte Perfonen übergeht. Bei über:
lebenden Ehegatten, welchen blos die Mutznießung vom Vermögen bes verſtor⸗
benen Ehegatten zufällt, bleibt die Erhebung ber Eollateralgelder bis zu derem
Ableben ausgefegt. Won der Eollateralfteuer find nur befreit minderjährige
Geſchwiſter, wenn fie in ungetheilter Erbfchaft ftehen, und Erbfchaften von
Geſchwiſtern, bie noch nicht aus der Familie des Überlebenden Vaters oder
ber Überlebenden Mutter ausgetreten waren, in fo weit diefe Erbfchaften
in einer uote bed Nachlaſſes eines ihrer bereits verfiorbenen Eltern beftehen.
Dennoch betrug die Summe ber in ben brei mo 1843 erhobenen Eollas
teralgelber nicht mehr als 193,262, oder im jährlidyen Durchſchnitt 64,420
Gulden. Märe alfo ber Staat Alleinerbe geweſen, fo hätte fidy fein jährlis
ches Elntkommen um nicht ganz 1,300,000 Gulden, alfo nod) nicht um ein
Fünftheil feiner jegigen Einnahmen erhöht. Immer märe jeboch ein folcher
Zuſchuß, in Verbindung mit der Befeitigung alles unnfsen Aufwandes in
unfern foftfpieligen Beamten: und Militairftaaten, beträchtlich genug, um
bie Gefammtheit in ben Stand zu feßen, auf viel wirffamere Weife, als gegen:
märtig gefchieht, für die geiftige und fittliche Hebung der unteren Volksclaſſen
fo wie für bie Unterftüsung aller Hilfsbebürftigen Sorge zu tragen. Daß
hiermit auch dem wahren Eigenthum, dem durdy perfönliche Kraft und
perfönlichen Fleiß gegründeten Wohlftande der Familien, ein beflerer Schug
gewährt waͤre als durch polizeiliche Maßregeln gegen communiftifche und
foctaliftifche Verbindungen und Beſtrebungen, braudyt nicht befonders her:
vorgehoben zu werden. Wilh. Schulz.
Erbrecht. (Zu S. 237 zu Anf. v. Nr. IV.) Bei der ganzen vorhin
ausgefuͤhrten naturrechtlichen Begruͤndung des Inteſtat⸗ und teſtamentariſchen
Erbrechts darf aber niemals vergeſſen werden, daß dieſelbe keine abſolute
und grenzenloſe Eigenthumserwerbung begründen Bann. Als Eigenthums⸗
erwerbung ſteht auch die Erbrechtserwerbung unter den hoͤchſten Bedin⸗
gungen und Grenzen einer gerechten Eigenthumserwerbung, dieſe aber for⸗
dert eine verhaͤltnißmaͤßige rechtliche Gleichheit und eine wirkliche Erwerbung
nur je nach einem durch ein Verdienſt um die oͤkonomiſche Cul—
tur legitimirten Bedärfniß bes Erwerbers (f. darüber Roͤmi⸗
[ches Reht und das Syftem von Welder Bd. I. S. 605), wozu
ed denn nad) allgemeinen Durchſchnittsverhaͤltniſſen gebildeter pofitiver Nor⸗
men bedarf, um ben Streit zu befeitigen.
Erfahruug. 240
(Zu &. 241 nach dem erſten Abſatz.) Gerabe in unſerer Zeit find für
die Geſetzgebung ſehr erhoͤhte Gruͤnde gegeben, die in dieſem Artikel ange⸗
denteten Mittel zur Verhinderung eines zu ungleichen, unnoͤthigen,
verderblichen, den Beduͤrfniſſen der Geſellſchaft ſich entziehenden Vermoͤ⸗
gens, bei Beſtimmung ber Erbverhaͤltniſſe zu verwirklichen. Es wird
naͤmlich fuͤrs Erſte die Noth vieler Armen fo wie ihre Beduͤrfniß zu ges
hoͤriger Bildung dringender. Es liegt zweitens in den neueren Geſchaͤfts⸗
und Erwerbsverhaͤltniſſen, daß auf ungerechte und unbillige Weiſe ſich Reich⸗
thum in den Haͤnden der Reichen, der Grundbeſitzer, Großhaͤnbler, Fa⸗
brikanten u. ſ. w. anhaͤuft und den Arbeitern fuͤr ſie der angemeſſene Lohn
entgeht. Es fordert drittens, außer andern politiſchen Gruͤnden, ſchon
die Sicherſtellung ber Cultur⸗ und Eigenthumsverhaͤltniſſe gegen eigen»
thumsfeindliche verderbliche communiſtiſche Richtungen, daß jede wirklich
gegründete Klage und Empoͤrung über ungerechte, zu ungleiche und verberbs
liche Guͤterverhaͤltniſſe möglichft befettigt werde. Sollen hierzu nun auch Abs
züge und Befchräntungen, vorzüglich der großen Erbtheile durch Be⸗
fleuerung,, flattfinden , fo muͤſſen body recht deutlich und ficher die fo gewonne⸗
nen Gelder ben Armen zu Gute kommen durch Aufhebung der fie zundchfi
drüdenden Steuern oder durch Verwendungen zu ihrem Beſten. So kann
und muß Großes gefchehen , in Verbindung mit einer Peel'ſchen Einkom⸗
mentare nur für die Wohlhabenderen, das Unentbehrlichfte. in unfern heutigen
nationaldtonomifchen Zuftänden. |
Erfahrung. Zunaͤchſt Befeitigung der Einfeltigket-
ten unferer neueren beutfchen hHiflorifhen und philofo-
phifhen Schultheorien über Recht und Politik.
Wenn man in der Wiſſenſchaft und in ber Praxis, zumal in der polis
tifhen, und vor Allem in ber deutſchen politifchen Wiffenfhaft und
Draris die Hauptfehler und ihre En tſtehung auffucht, fo wird man
fichertich finden, daß diefelben fich auf die einfeltige Durchführung der in dem
vorftehenden Artikel behandelten Gegenfäge gründen. Diefe Einfsitigkeit
und übertriebene feindfelige Entgegenfegung entfteht wiederum aus der ver»
kehrt durchgeführten Theilung ber Arbeit, aus dem Kaſten⸗, Zunfts
oder Handwerksgeiſt, flatt ber lebendigen organifchen Verbindung und”
Wechſelwirkung. Nicht Alle können alle verfchiebenen Seiten des ganzen -
zufammenhängenden Lebens und ber Lebensaufgabe erforfchen und behan-
dein. Sie ſollen ſich ergänzen und unterflügen. Sie follten dabei das le⸗
bendige Banze ber Natur, der Menfchheit, ber Staatsgefellfchaft, das
lebendige Ineinanderſein und Ineinandergreifen aller Seiten, Theile und
Tätigkeiten dieſes Lebens und die für feine Geſundheit nothwendige Har⸗
monie und das liebevolle Zuſammenwirken niemals vergeffen. Aber falfche
Paftens oder zunftmäßige Vertheilung ber Arbeit, der Mangel freien lebendi⸗
gen Gemeinweſens und Gemeingeiftes und Kurzfichtigkeit und Selbſtſucht
bewirken nur zu oft diefeß Vergefien. So entſtehen denn jene verderblichen
kaſten⸗ und zunftmäßigen Abſonderungen, Einfeitigkeiten, Ausfchließungen
und feindliche Begenfäge (f. Encyklop. Einleitung); fo namentlich
die, im vorflehenden Artikel behandelten, die ber Vernunft und dr Er⸗
350 Erfahrung.
fahbrung. Statt des Ausdrucks Vernunft braucht man oft auch bie
Worte Phil oſophie, Theorie, natürliche ober ideale Lehre
(Rechts: und Staatslehre u. ſ. w.) und flatt des Ausdruds Erfahrung
auch Geſchichte, Praris, praktiſch gültige Lehre.
Häufig aber vermifcht ſich mit dieſem er ſt en Gegenfag auch ein zwei:
ter, der der Sreiheit und der Unfreiheit. Diefer wird oft bei dem
Gebrauche jener Worte mit verftanden. Doch iſt er an ſich davon verfchie>
ben, indem «8 auch materialiftifche, alle praktiſche Freiheit ausfchlie=
Bende, fogenannte Vernunft⸗ oder philofophifche Theorien giebt und umge:
kehrt Diele auch in ihren hiſtoriſchen und praktiſchen Lehren bie
Freiheit nicht ausfchließen.
Wie verderblich, wie gefährlich befonders uns Deutfchen diefe zunft⸗
oder handwerksmaͤßigen einfeitigen Auffaffungen und feindfeligen Gegenfäge
der Theorien unſerer Philofopben, Hiſtoriker, Theologen und
unferer pbilofophifchen oder hiſtoriſchen oder pofitiven Suriften und
Dolitiker find, diefes wurde bereits in den Artikeln Encyklopaͤdiſche
Einleitung, Alterchum und Erfahrung angedeutet. Jeder Tag
unferer jegigen Kämpfe für bie Wiedergeburt eined gefunden deutfchen
Staats» und Kirchenlebens aber beftätige ed dem aufmerkſamen Beobach⸗
ter ſtets neu, daß bier bie Hauptquelle unferer Krankheiten wie unferer
fortdauernden Verirrungen ſich findet. |
Auch die Verfuche, frühere einfeitige verderbliche und unpraftifche
Richtungen. zu bekämpfen, fallen meiftentheild aufs Neue in andere, ge⸗
wöhnlich die entzegengefegten Einfeitigkeiten. So bekaͤmpfte mit Recht die
Hugo’ihe und Savigny’fhe und Eihhorn’fhe hiſtoriſche
Schule und eine Schule hiftorifher Politiker die Kinfeitigkeit rein.
philofophifcher idealer Rechts- uno Stautstheorien, melde bie
naturgefesglihen, anthropologifhen und hiftorifiben Grund:
bedingungen, Entwidelungsperioden, die Grundlagen und Mittel für das
freie politifhe Zhun derfreien Perjönlihkerten, der Staaten und
der Einzelnen ganz überjahen und fo unpraktiih wurden, nichts Haltbares
gründeten. Aber die Hiftorifchen fielen in ven entgegengeſetzten Schler,
verwurfen gänzlich die Philoſophie und die praktiſche perjönliche Freiheit.
Vorzüglich Savigny’s Einleitung zu dev Zeitſchrift für die ge:
ſchichtliche Rechtswiſſenſchaft und die hier fo wie in feinem Be:
rufe zur Öefesgebung, früher aud) ſchon von Hugo ausgeſprochene
gänzliche Verwerfung des Naturrechts und die befunnte Redensart des
„Sichvonſelbſtmachens des Rechts’ veranfhaulichen dieſe Richtung.
Andererfeits gelangte auf ihrem philofophifchen Wege die Hegel'ſche
Philofophie in ihrem Gegenfag gegen die rein ibealifchen Philoſophen und
Theologen, welche die Natur, ihre Geſetze und Schranken überfahen, eben:
falls zu jener Verwerfung der praktiſchen Sreiheit und des praktiſchen
Sollens, zur Verwerfung der wahren, der freien unfterblichen Perfönlidye
£eit von Gott und Menfh. Sie gelangte der Wefenheit nad) zum völligen
Materialismus. Keine vornehme Hinweifung auf die ſchwer verjtänd-
liche Methode und Sprache der Zunft, Eein Eünftliher Wortſchein des für
Erfahrung. ' 251
bie philofophifchen Laien unergruͤndlichen fchulphilofophifchen Gedanken⸗
netzes befeitigte für die Urtheilsfähigen diefes Refultat und biefe Bedeutung
der „Wirklichkeit alles VBernünftigen und der Bernünftig»
keit alles Wirklihen” Mit diefer fuchte Hegel in der Vorrede
zu feiner philofophifhen Rechtslehre alles freie praktiſche Natur-
recht, das er bald Lächerlich macht, bald in der Perfon des ehrwürbigen
Philoſophen Fries den Machthabern als gefährlich denuncirt, zu befäms
pfen, während fein angebliches, 1820 in Preußen gefchriebenes Naturs .
recht, treu jenem Sage, die Aufhebung der Glaubens⸗ und der Preß⸗
freiheit, weil damals in Preußen wirklich, auh als vernünftig
vechtfertigte.
In einer neuen Wendung. behielten viele (die neuhegelifchen)
Schüler dieſer Philofophie ihrer materialiftifchen Grundlage (der Naturs
und Sdentitätsphilofophie) vollkommen treu die Ausſchließung wahrer
praktiſcher Freiheit und freier unfterbliher Perföntichkeit bei. Sie ge⸗
langten aber durch eine andere Wendung der bialektifhen Form ihrer
Schulphiloſophie zur völligen Verwerfung der hiftorifchen Religiongs, Kirchen:
und Staatseinrihtungen. Sie betrachteten blos ihre radicale Richtung
als wirklich und alfo aud vernünftig.
Wenn man nun forgfäliig den Blid auf das ganze gefunde
Leben gerichtet hielt, defjen vielfeitige Aufgaben ermog und von jenen
Einfeitigkeiten frei zu bleiben fuchte, fo mußte man mit Dank nicht blos
die frifche geiflige Gymnaſtik, die aus den Parteilämpfen der tüchtigften
Gründer und Genoffen diefer verfchiedenen Schulen hervorging, fondern
auch fo manche neue fhärfere Auffaffung der einzelndn Theile und Sei-
ten bes Lebens als reellen Geroinn ſich aneignen. Dean Eonnte fo trog
aller Nichteinflimmung in das Hauptergebniß body fich freihalten von
gehäffiger übermüthiger Verwerfung und Anfeindung der als einfeitig ers
ſcheinenden Syſteme. |
Nicht dafjelbe List fi) von den meiften Genoſſen diefer Parteien
fagen. So fpradyen mit der einfeitigfien Geringfhägung und Abneigung
die hiſtoriſchen Juriſten gegen Philofophie und jebe philofophifche Auf⸗
faffung des Rechts ſich aus. Hierbei widerfuhr aber dem erſten Meiſter
der biftorifchen Schule, dem hochverdienten Savigny in jener citicten
Abhandlung, als er gerade duch ein völlig ausgebildetes Syſtem und
einen oberften Grundſatz beffelben feine hiftorifche Rechtstheorie von aller
Philoſophie und philofophifhen Rechtstheorie ſcharf abzuſcheiden fuchte,
das fonderbare Schickſal, daß er gerade in die philofophifche Grundanſicht
der Naturphilofophen und feiner verhaßten Gegner und Collegen Hegel
und Gans hineingerieth. Nach diefer Lehre und nah Savigny's
MWiderwillen gegen alles freie Naturrecht und gegen weſentliche geſetzgebe⸗
tifche Reformen, find nämlid das Freie und Nothwendige ebenfalls
nur verfchiedene Seiten der Betrachtung befielben in Wahrheit
oder reell identifhen naturnothwendigen Ganzen, wodurch für das
wirkliche Leben und Handeln bes einzelnen Menfchen oder Volks oder
der einzelnen Zeitgenofienfhaft alle wahre Freiheit, freie Veränderung, .
252 Erfahrung
neue Geſetzgebung und jebe weſentliche Reform ganz aufhört und (auß
unabmweisbarer Huldigung gegen bie beffere Stimme des Gewiſſens und
bes Volks) nur eine Scheinfreiheit, eine täufchende Freiheit blos „Im
Begreifen”‘, in ber „Vetrachtungsweife” übrig bleibt *),
Die Abneigung gegen bie Phitofophen hatte den berlihmten Mann von
ber Kenntniß der philofophifchen Syſteme entfernt gehalten, und ihn nicht
bedenken Laffen, daß, zumal bei einer Nation, die fo geiftig, fo beweg⸗
lich und in ihren Anfichten von den Schulftubien und der Rrctüre fo ab:
hängig HE, wie die deutſche, jede neueſte Tagesphiloſophle durch Hums
derte von Gandlen ſich in dem ganzen geifligen Gebiet verbreitet, in bie
geiftige Lebensluft eindringt und wie eine mohlthätige Srfrifhung und
Reinigung oder wie eine miasmatlſche Krankheit, wie ein Schnupfen,
die Menfchen, oft felbft ohne daß fie es merken, ergreift. Will man
phitofophifche Irrthuͤmer vermeiden, fo muß man die Philofophie und
Geſchichte kenn«n. Man lernt aber nur recht kennen, was man liebt,
nicht was man haft.
Mo möglich noch hochmuͤthiger, intoleranter und gehäffiger behan—
bein viele Philofophen andere Parteien und Anfihten, die Religion,
bie Theologie, die Kirche, bie Vertheidiger hiftorifchen Rechts u. f. mw.
Sehen wir es ja täglich vor Augen, wie diefelben Philofophen, bie fo
eben das Koͤnigthum und Prieſterthum vor Allem deshalb bitter angeiffen,
weil diefe fih und ihren Anfihten eine befondere Autoritätbeilegen, fidy mit
denſelben Über bie Bürger als uͤber bie Laien erhaben duͤnken und weil fie die
Annahme ihrer Ueberzeugungen als ber alleinigen Wahrheit fordern, «8 nun
mit ihrer eigenen Schulphilofophie gegen die Nichtphilofophen und die an«
bers Ueberzeugten gar nicht anders mahen! Wer nicht annimmt, mas
ihee Schufphifofophie und die befondere Handwerksmethode bes Schulphis
loſophirens lehrt, der „Eann nicht vernünftig denken”. Sie find noch
intoleranter al® bie orthodboren Theologen , fie find „Nichtswuͤthrige“,
wenn fie etwa felbft alle höheren religiöfen und moralifdhen Grundlagen
aufgaben. he neueſtes ſchulphiloſophiſches Syſtem ift nicht blos die
allumfaffende, unumftößliche, alleinfeligmachende Wahrheit, ohne daß fie
in ihrer gluͤcklichen Selbſttaͤuſchung «8 nur erwägen mögen, wie noch
kurz zuvor ihre Vorgänger und mit ihnen die halbe gelehrte Welt, die
zufällig als Schuler in deren Hörfäle kam, das letztvorhergehende Sy:
ſtem, etwa das SKantifche, Fichteſche, gerade ebenfo als abgefchloffene
alltumfaffende Wahrheit, das oberfte Princip berfelben als unumftößlich
anbeteten,, obgleich auch biefe Syſteme, mie biefes jest von aller Welt
anerkannt ift, nur Eine Seite der philofophifchen Anfhauung und Ent:
widelung waren, und obgleich ihr hoͤchſtes Princip, ihre höchfter abfolut
geroiffer Srundfag noch mehr als. frühere religiöfe Dogmen und Sym⸗
bole ein jegt allgemein aufgegebener, oft verſpotteter Irrthum war. Sie
allein vermögen es nicht zu denken, daß es aller menſchlichen Wahrs
Se * die Ausfuͤhrung Vieruber in C. Welcker's Syſtem. Bd. I.
Erfahrung. 258
ſcheinlichkeit nach mit ihrem Schulfuftem in wenigen Jahren nicht ans
ders fein wird, ja theilweife jege ſchon fo iſt umd fo fein muß, wenn
das an fi herrliche Leben ber Philofophie dauern foll, und wenn
Fohannes von Müller’s ſchoͤnes Wort wahr iſt: „Die Philofos \
pbie iſt ewig wahr, die Philofophien find’s nicht.” Es iſt dieſes ſehr
ähnlich, wie auch die Religion ewig wahr und göttlich und aud ſteis
neue theologifche Korfhung unentbehrlich iſt, während die einzelnen
religiöfen Symbole und Dogmen, um wie viel mehr bie philofophifchen
Principien, als ſtets endblihe und unvolllommene Formen für
das Unendliche der Veränderung unterworfen find.
&o wird man denn, fobald man fidy einmal zu ber vielfeitigeren,
gefündsen, zur lebendigen Auffaffung des Staatslebens und feiner
Theorie hinwendete, zu derjenigen, welche die Artilel Encyklopaͤ⸗
diſche Weberficht und Ariſtoteles als die ber wahren praftifchen
Staatsmänner und der freien Völker, der roͤmiſchen, ber englifchen,
nachweiſen, bei aller Hochachtung für die Verdienſte jener deutſchen
hiſtoriſchen und philoſophiſchen Schulen doch ihre unmittelbare
Entſcheidung und Herrſchaft, man wird die Zwangsgewalt
fuͤr ihre Lehre uͤber Staat und Recht zuruͤckweiſen muͤſſen. Fuͤr die
unmittelbar praktiſche Rechts⸗ und Staatslehre, für den Rechts⸗ unb
Staatsmann iſt jene lebendige Auffaſſung und die logiſche Entwickelung
aus der Natur ber Rechts⸗ und Staatsverhaͤltniſſe und aus ben vernänfe
tigen Weberzeugungen ober Anerlennungen der Bürger ihr eigenthäms
licher Weg, den fie, ohme aus ber tbeologifhhen ober philofophifchen
Schulweisheit heraus oder in diefelbe hinüber pfufchen zu wollen, feft je Ä
halten haben. So ſchlimm iſt's nicht mit den freien Bürgern und V
kern beftellt, daß fie vom blinden Autoritätsglauben an jede Schulweis⸗
heit des Tages, welche ihnen in ihren eigenthümlichen Principien, Ent
twidelungen und Ausdrüden unverſtaͤndlich ober body wenigſtens ihrer Pruͤ⸗
fung entzogen und unter den theoretifchen Meiftern ſelbſt gänzlich beſtritten
iſt in ihrem gemeinſamen Leben und Handeln ſich müßten defpotificen
lafien.
Auch genügt vollftändig die objective allgemein zugängliche folhes
richtige (Logifche) Entwidelung aus allgemein erkennbaren, all;
gemein anerkannten XThatfachen und Grundlagen des menſchlichen
und gefellfchaftlichen Lebens freier Voͤlker zur Erkenntniß und Beweis⸗
führung aller rechtlichen und politifhen Grundſaͤte des freien Staats
lebens.
Savigny hatte fo gluͤcklich den Weg eingeſchlagen, aus ber ſprach⸗
lich und Überhaupt erfahrungsmäßig anerkannten aligemeinſten Na⸗
tur einzelner rechtlicher Inſtitute wie namentlich des Befiges, all
gemeine Grundfäge für alle Theile des Inſtituts (für alle Arten
und Theile des Befiges) abzuleiten, und indem er aus ihnen wieder die
entfprechenden Folgeſaͤtze entwidelte, ein natürliches Syſtem in biefer
ganzen Hauptlehre aufzuftellen, weiches die Wiſſenſchaft des vortrefflichen
folgerichtigen vernünftigen römifchen Rechts, die richtige Auslegung und
234 Erfahrung.
Anwendung deſſelhen weſentlich verbeſſerte. Haͤtte er doch nun mit ein⸗
facher logiſcher Folgerlchtigkeit und völlig entſprechend den Grundfägen
bee Herden ber roͤmlſchen Jurisprudenz nur einen Schritt welter ge⸗
‚than und alle einzelnen Rechtsinſtitute ebenſo als Theile eines gemein⸗
ſchaftlichen Ganzen, eines größeren Inftituts, des freien Nechtsfinates
nämlich , betrachtet, und aus beffen Natur ebenfo die allgemeinen
höchſten Grundfäge für alle Rechtsvethältniſſe entwidelt, tie
jene allgemeinen Befisgrundfäge für alle verfchiedenen Arten und Theile
der Befigiebre, fo wuͤrde er dann zu einem allgemeinen naturrechtlichen
und politifchen Spfteme gelangt fein und zwar er zunaͤchſt zu dem ber
claſſiſch römifchen Jurisprudenz, Diefer ebelften Frucht des halbtauſend⸗
jährigen römifchen Freiheits- und Nechtsfampfes, zu ihren berelichen
Grundfägen von ber freien Friedens: und Hilfsgemeinfhaft bes
Gemeinwefens (res publica als juris consensns et utilitatis commu-
nio), ferner von ber honestas, zequitas md bona fides (für die
drel Rechtstheile). Wie die Seele in bem Börperlichen Organismus, fo
hätte er auf folhem analytiſchen, hiſtoriſch-philoſophiſchen,
auf dem aͤcht juriflifch= politifhen Wege In dem Inneren und in bem
Bufammenbang aller einzelnen dußeren biftorifchen Theile des Rechts⸗ und
Staatsorganismus, die freien phlloſophiſchen Grundideen nicht einzelner
Schulphiloſophen, fondern des freien Volkes als die regierendbe Seele
gefunden. Und wahrlkh tiefer hiſtoriſch ala feine reinhiſtoriſche
Jurisprudenz und wohl auch tiefer phitofophifh wäre folhe Vereini:
gung von bee und Auferer Thatſache, von Philofopbie und Ge:
ſchlchte geweſen. Iſt denn nicht auch die Vernunft eine Thatſache,
und bie Altefte Thatſache in der Geſchichte gefitteter Nationen?
Und find die vielfeitig gepruͤften Ideen ganzer gefitteter Nationen über
ihre Gemeinfchaft nicht auch Vernunft? Auch den freien fittlihen
vernünftigen Willen für bie weſentlichſten praftifchen Grundfäge des
Rechts: und Staatsvereins, für die vonder Freiheit und Gleichheit,
überhaupt jene vorhin angedeuteten ewigen Grundfäge bes römifchen Volke,
hätte er, zumal in den großen Momenten und Reformen des gemeinen
Mefens , in der Anerkennung , in dem Willen und Streben jedes freien
gefitteten Volkes gefunden. Sreiheit, wirkliche praktiſche Frei—
heit für Gut und Boͤs, gerade fo wie fie dem einzelnen Menfhen
bas Gewiſſeſte alles Gewiſſen — fein Gewiſſen — als unvertilgbare
Wahrheit giebt, hätte er auch in dem gefitteten Volke, hätte er
als Seele feines hiftorifchen Lebens und feines pofitiven Rechts gefuns
den, ftatt dag er nun als pofitivee Juriſt aus Zunfteinfeitigkeit fich
und fein pofitives Necht in möglichften Gegenfas gegen alle Phitofo:
phie fegen mollte, und fo gerade in die Schuiphilofophie des Tages und
in das gänzlich unfreie Sichvonſelbſtmachen, in die „Vernünf:
tigkeit alles Wirklihen und die Wirklichkeit des Ver:
nuͤnftigen“ hineingerieth.
Doch dieſer große Gelehrte hat in ſeinem neueſten Werke (in der
Vorrede zu ſelnen Pandekten) dieſe einfeitige fruͤhere Theorie ſelbſt auf:
Srfahrung. 255
gegeben und ſich den allein politifch richtigen freieren hiſtoriſch⸗phi⸗
loſophiſchen Srundanfichten genähert. Iſt er ja doch auch aus ber
Schule in das praktiſche ſtaatsmaͤnniſche Leben übergetreten. Doc
feeilich, unferen deutfchen Miniſtern und Staatsbeamten fehlt noch viel
von der Gefundheit und Tächtigkeit roͤmiſcher und englifcher Staates
männer. Und audy der genannte ſo hoͤchſt ausgezeichnete Gelehrte fcheint
als Gefeggebungsminifter beinahe den Grundgedanken feiner Schrift über
unferen Beruf zur Gefeggebung, nämlid daß wir feinen folchen
bätten, praßtifch beweifen zu mollen; diesmal indeß nicht aus einfeitigem
Handwerdsgeift der Schule, fondern aus dem bes beutfhen Beams
tenftandes, der Bureaufratie, welche mit einer Verblendung
und Eigenfinnigkeit, die man faft mitleidswerth nennen Eönnte, wenn fie
nicht für Thron und Volt unheildrohend wäre, nicht fehen mollen, was
alte Welt fieht, naͤmlich daß endlich auch für die deutfche Nation die
böchfte Entwidelungsperiode, die ber politifhen Freiheit
eingetreten ift und trog allem Widerftande, ja durch denfelben täglich
unwiderſtehlicher ihre vollen Rechte fordert und geltend machen wird, und
daß von dem Siege dieſes Rechts Ehre und Exiſtenz abhängt. Ge⸗
rade nur, weil in Deutſchland noch nicht, wie bei freien Verfaſſungen,
die tüchtigften und geachtetften Männer der ganzen Nation die Minifter
werden, mißachten die unfrigen häufig noch, die Nation und die Bür-
ger als politifhe Laien mit „befchränktem Unterthanenverftand ,” als
willenloſe Mündel eines bereits lächerlich gewordenen göttlidyen Rechte.
Statt Theitnehmer eines freien vernünftigen lebendigen Gemeinweſens fein
zu wollen, ftreben fie auf Koften der Macht und Bluͤthe der Nation
ebenfalls nad Kaftenhertfchaft.
Die Jünger der Hegel'ſchen Philoſophie dagegen haben nach dem
Obigen bei aller ſonſtigen Abweichung von ihrem Meiſter, doch den philo⸗
ſophiſchen Zunftuͤbermuth und die materialiſtiſche Vernichtung
der Freiheit, der freien unſterblichen Perſoͤnlichkeit nicht aufgegeben.
Ja ſie haben beide faſt zu einem fanatiſchen Haß gegen das hiſtoriſche
Recht und die Theologie bei ſich geſteigert. Viele halten ihren Mate⸗
rialismus ſogar aus warmer Liebe fuͤr die Freiheit feſt, indem ſie waͤh⸗
nen, daß der Freiheit die chriſtliche Religion und die Unſterblichkeit Ein⸗
trag thue. Die Roͤmer konnten ſich die bewundernswerthen todtverach⸗
tenden tapferen Kaͤmpfe unſerer Vorfahren fuͤr ihre Freiheit gar nicht
anders erklaͤren, als durch deren feſten Glauben an Unſterblichkeit, an
ihr freudenreiches Jenſeits in Walhalla, und der Wahn ſucht nun ge»
trade in dem Glauben an Unfterblichkeit das Hinderniß der Freiheit!
So mwie,überhaupt moralifche Freiheit und ſietliche Züchtigkeit, welche
niemals bei irgend einem Volle ohne Religion entſtand und beftand,
nirgends materialiftifcher Setbftfucht und Genußfucht widerftand, die un⸗
entbehrlihhe allein dauerhafte Grundlage der politifchen Freiheit
ift, fo gab es vollends in der ganzen Welt weder eine philofophifche noch
eine religiöfe Lehre, melche mehr als das Achte Chriftenthum alle
Grundlagen der volltommenften politifchen Freiheit und ihrer aufopfern-
256 | Erfahrung.
den Vertheidigung enthielt (f. Chriftenthum). Und in Zeiten, wo bie-
ſes Chriſtenthum bie Völker am Eräftigften befeelte, fehen wir die Schwei-
zer im Hunderten von Freiheitstimpfen und Schlachten alle Heldenthaten
ber Alten ‚weit hinter fich zuruͤcklaſſen, ihre republikanifche Freihelt grün-
den und behaupten, aͤhnlich fpäter die Engländer und Niederländer. Und
unfere Philoſophen und philofophifhen Staatsreformatoren wollen ung
nun in ihrem zunftmäßigen Theologenhaß von Meligion und Un:
ſterblichkeit und Cheiftenthum befreien, damit tie politifdy= frei werben
Könnten! Mit faft fanatifcher Verblendung verfolgen fie in ihrem Zunft-
geifte Religion und Kirche, weil die chriſtliche Meligion, wie alles Beſte,
wie ja auch ber Name Freiheit oft ſchaͤndlich mißbraucht wurde und
weil leider auch gerade jegt bie Partei, welche bie unvermeidliche politifche
Entwidelungsperiode der beutfchen Nation bintertreiben will und fo
feibft den gewaltfamen Durchbruch berbeiruft , ebenfalls dieſen ſchaͤnd⸗
lichften Mißbrauch macht und den. blinden Glauben an die despotifdye
Staatsherefchaft durch blinden Kirchenglauben zu flügen waͤhnt. Frei⸗
lich entftanden auch andermärts aus ähnlichen Urſachen mindeftene ent»
ſchuldbar, oft unveermeldlid, und, wo bas Unrecht ber Gewalt
und verblenbeter Gonfervativen auf friedlihem Mege wirklich unbeſi gbar
mar, für das alddann allein rettende revolutionäre Fieber auch heilfam
die Ähnlichen verneinenden und revolutionären Richtungen eines Rouffeau
und Boltaire, ber Encyflopddiften und Kacobiner. Freilich kann
auch bei und jener Drang zur Mevolution als beilfame Mahnung für
ungerechte Bebränger, die täglih wachſende Unertraͤglichkeit
bes rechtlofen Zuſtandes, mie er immer mehr in dem naturwidrigen
Kampfe gegen das erwachte Mechtöbemußifein der Nation hervortritt —
er kann die abfolute Unvermeiblichkeit der Freiheit für Ehre und Eriitenz
der Nation anfhaulid machen und die unentbehrlihe Wahrheit, bie
Ueberzeugung aller ehrbaren Männer und Voͤlker veranfhaulihen, daß
für Ehre und Freiheit kein Preis zu hoch it, daß fie felbft auf bie
Gefahr von Zod und Untergang erkämpft werben müffen. Aber alles
Diefes und die Anerkennung der aufopfernbiten edelften Gefinnung fo
mancher Eraltirten darf doc) den gewiffenhaften befonnenen Mann aud)
bei der wärmften und entfchiebenften Sefinnung für den Sieg des
Rechts nicht verhindern, unferen wirklichen Standpunkt ruhig zu pruͤ⸗
fen, und Jerthum, Einfeitigkeit und Fanatismus als folhe zu erkennen.
Es darf ihn nicht hindern, eine zu frühzeitige Verzweiflung an allen
gefeglihen Mitteln, wenn fie auch ihn befchleihen will, zuruͤckzudraͤn⸗
gen und den befferen Glauben noch feſt zu halten. Zwei gewaltige
Maͤch te für die Freiheit uͤberſieht oder mißachtet der revolutiondre Fa:
natiemus. Die erſte ift die Einheit oder Disciplin in dem
Kampfe der Nation für die bürgerliche Freiheit. Diefe wird unter allen
ben verfchiedenen Streitern für fie duch die Achtung ber Geſetz⸗
lichkeit erhalten. Ohne biefe, und wenn Jeder auf eigene Fauſt den
Krieg beginnt, Diefer heute, Jener morgen, hier fo, dort anders, ift die
ganze Streitmacht in berfelben Lage, in welcher ein Kriegsheer dem Seinde
R |
Erfahrung. | 267
gegenüber ohne Disciplin ſich befindet. Gefeglichkeit iſt bie Disciplin im
bürgerlichen Kampfe für die Sreiheit. LUnbisciplinirte eigenwillige Kriegs⸗
untermehmungen Cinzelner gefährden das Ganze und alle Genoſſen und
fhreden Zaufende vom Antheil an dem ganzen Kampfe zurüd. Der
Anfang, die Grundbbedingung, das AB C aller Politik
„and politifhen Bildung und Madt if „Zuſammen⸗
halten.’
Wichtiger aber noch iſt die zweite Macht, nämlich die geiftige
und moraliſche Kraft, dem Feinde oder ber befpotifhen Willkuͤr
gegenüber im Rechte zu fein und im der ganzem Öffentlihen Meinung
De. Volks und felbfi der Gegner ben Vortheil der reinen unbefledten
guten Sache zu haben. In folher Lage wird bei beharrlicher Energis
des Rechtskampfes die Willkuͤr von Unrecht zu Unrecht, zu Schamlofigkeiten
und Thorheiten, zulegt zur völligen moralifchen Ohnmacht, und entwe⸗
der zum Nachgeben oder zum eigenen Beginne der für fie verberblichen
Resolution gedrängt, oder e8 macht fi) doch diefe nur durch ihre
Schuld und ohne Schuld der Freiheitsfreunde und barum,
wenn auch fpäter,, doch mit ungleich fihrerem, befferem Erfolge
für Die gute Sache bes Rechts. Auch für die Politik und die
politifhe Mache ift nicht die phyſiſche und mechaniſche, ſon⸗
dern die geiflige, und moralifche Kraft bie fiegende und herr»
fhende Kraft.
Ohne ein naturwidriges, ſerviles, verächtliches Werbammen jedes
unvermeiblihen Widerflandes , jeder vechtlihen Nothwehr gegen unwuͤr⸗
dige rechtloſe Untesdrüdung, oder jeder Betheiligung an einem durch
bie Unterdruͤckung ſelbſt hervorgebrachten Rettungsfieber ber Revolution,
wird man alfo wohl mit Recht und mit befferem Erfolge nicht bios
für die Ordnung fondern für die Freiheit wirken, wenn man alles Ern⸗
fles von fanatifchen eigenmächtigen Verfhwörungs » und Revolutions⸗
Planen abräch und für den offenen gefeslichen Weg kämpft, auf welchem
Muth und Aufopferung genug und oft mehr als auf dem revolutionde
son bewiefen werden kann.
Halten wir alfo feſt an dem Glauben, baß unfere große, reichbe⸗
gabte, tapfere Nation, mit ebenfo großer Tuͤchtigkeit wie in Beziehung
auf die religioͤſe im 16. und die allgemein geiflige Entwidelung im 16.
Jahrhundert, ſich und ihre Ehre auch in der politifchen Entwidelung nee
ben den übrigen uns bier vorangefchrittenen Nationen behaupten muß,
und auch feft an dem Glauben, daß das unvermeibliche Ziel noch auf
unblutigem Wege möglich iſt. Wollten nur immer mehr alle adhtbaren
Männer unferer Nation von 40 Millionen fid) für das Rechte und Une
vermeidliche ausfprehen: bie Entfernung der Revolution, die Ret⸗
tung der Freiheit und des Friedens wäre ficher |
Laſſen fid) aber, wie natürlich, nicht alle Freiheitsfreunde von ber
Entbehrlichkeit der Revolution Überzeugen, fo wäre der Fehler Einzeiner
aus den Millionen von Freiheitsfreunden nicht ber ganzen Partei aufe
zubürden. - Solche abgefchmadte Ungerechiigkeit follten am wenigften ehr⸗
Suppl. 4. Staatslex. II. Ni
258 Erfahrung.
liche Freunde der Megierungen begehen; denn wie wäre +8 mit ber Ehre
und Achtung von bdiefen beftellt, wenn man eimgelnes Unrecht von ihr
ober von Ihren Dienern und wahren oder angeblihen Freunden ihr zur
Laſt legen wollte.
Sogar aber diejenigen aus der Hegel’fchen Philofophie hervorgegans
genen philofophifchen Politiker, welche, wie die Anhänger Feuerbach's,
bie metaphufifhen Speculationen (das abfolute Nidyes) aufgaben und
ihre Lehre unmittelbar auf den Menfchen gründeten, halten den mate=
eialiftifchen Nihılismus feft, indem im Hintergeunde ihrer anthropolo⸗
giſchen Theorie doch noch die naturphilofophifche, materialiftifhe Weltan⸗
fchauung fie leitet. Es ſoll anderwaͤrts (ſ. Artikel Hegel'ſche und
Feuerbach'ſche Philoſophie) auch unmittelbar nach den hier zu Grunde
liegenden philofophifhen Grundlagen dargethban werden, daß biefe Theo—
rien ebenſo, wie diefes bei früheren Philofophien , 3: B. der Ficht'ſchen,
längft allgemein anerkannt ift, auf Einfeitigfeiten und logiſchen
Sprüngen beruben. Hier genügt «8, fo wie überhaupt auf
bem praftifhspolitifhen Standpunkt, unmittelbar auf bie
gefunde Vernunft, auf das Lebensbewußtſein, auf die Anerfennung
vernünftiger praktifcher Männer und Voͤlker, auf die unferer Nation,
uns zu berufen, auf ihr Bewußtſein und zwar nicht blos auf ihre Be:
wußtſein von ihrer finnlichen Matur , fondern auch auf das, doch min»
beftens ebenfo gemwiffe, felbft bei dem Boͤſewicht nie gänzlich zw vertil-
gende, das Handeln mehr oder minder befliimmende Bewußtfein ihrer
böheen moralifchen Natur, ihres Gemiffens, ihres Glaubens von Zugend
und Lafter, an moralifche Achtungswuͤrdigkeit der Tugend und die Ver:
achtungswuͤrdigkeit des Liſters; fo wie die fittliche Pflicht der freien Wahl
und That tugendhafter Handlungen und auf bie logifch damit zufammen-
bängende fittlihe muſterliche Weltordnung und Regierung.
Die Logik felbft zwingt fo Jeden zur Annahme mirklicher Freiheit,
ber noch am ſich felbft glauben, der Eugend und Rafter und fein Ges
wiſſen felbft nicht für reine Ammenmährchen erklären will.
Die Aufgabe einer wahren Philofophie wäre «8, beide Thatfachen
und: Nuturen: und Welten und ihre Verhaͤltniſſe im höchften abfolut
gersiffen Princip und durch fie richtig zu gewinnen und zu erklären.
Aber jeder gefunde praktiſche Mann verwirft ihr Reſultat unbedingt als
elnfeitig und falſch, wenn fie, ſtatt diefe Aufgabe zu Iöfen, die eine dies
fer Thatſachen vernichtet, entweder wie Fichte Die Wahrheit der finnlichen
itdiſchen Welt, oder: wie die Naturphilofophen die moralifhe Welt:
srdnung und ihre Grundlagen, die wahre moralifche Kreiheit und
die ſittliche unfterbliche Perföntichkeit Sottes und der Menfhen. Mögen
durch den einfeitigen Handwerksſtandpunkt einer beftimmten Schulphilofos
phie, oder durch den des Lebensberufes, weicher fo wie ber bes Naturfors
ſchers und Arztes beftändig nur die Naturfeite vor’ Auge bringt, oder
durch ben des gebankenlofen finnlichen Menſchen, dem freilich die Natur:
feite offener vors und näher liegt, oder durch Mißbrauch der geiftigen
Kräfte, die nihlliſtiſchen und materialiſtiſchen Arfihten noch fo viele ungruͤnd⸗
!
| Erfahrung. 259
liche und fanatifche Anhänger erhalten, vernünftige Völker und praktiſche
Männer laffen fi) dadurch nicht irren.
Auf diefem gefunden vernünftigen praktiſchen Standpunkt, wie Ihn
alle gefitteten Völker in ihren Geſetzen ſtets anerkann⸗
ten, ift auch das Verhaͤltniß der Freiheit (der vernünftigen freien
Beſtimmung, das ideale oder philoſophiſche Element) zu dem naturgeſetz⸗
lichen (zu dem erfahrungsmaäßigen in biefem Sinne) einfah. Es
ift ebenfo in dem Leben des Volks Innerli mit demfelben verbunden,
wie die freie Seele in dem Organismus des einzelnen Menfchen wirkt.
Aber fie felbft und die moralifchen Geſetze find doch mefentlih von dem
Naturorganismus, den Naturgefegen verſchieden, wenn auch die Gren
des Freien und Nothmwendigen oft nicht genau zu erkennen find. Dis
Freiheit ift für das ganze höhere Menſchenleben baffelbe, mas für die
phyfiſche Natur das Leben, die Lebenskraft ifl. Noch Leine Theorie hat
ihr Wefen ergründet, und die Schulphilofophen geben in ihrem Princip
ſtets nur eine endliche einfeitige Kormel für das Unendliche. Die
Freiheit wie das Leben oder die Lebenskraft aber find wirklich und wir
taffen fie uns nicht nehmen weil die Schultheorie nicht mit ihnen fertig
zu werben weiß.
Dem Naturgefeg theilwelfe unterworfen ift für ihre Erſchel⸗
nung im Volt und im Menfchen ſehr natürlich bie Freiheit, weil fie
für diefe ihre Erfheinung und für alle Wirkſamkeit im irdi⸗
[hen Leben eines irdiſchen finnlichen Trägers oder Körpers, finnlicher
Drgane bedarf, die mit der dußeren Natur in Wechſelwirkung ſtehen und
mithin wie Alles, was entſteht, waͤchſt, reift und vergeht in dem irdi⸗
[hen Leben, beftimmte Entwidelungsperioden haben, die nas
türlih auch für die Erfcheinung des freien Lebens Einfluß gewinnen
muͤſſen. Haben ja Juͤnglings⸗, Mannes» und Greifenalter audy bei dem
in ihnen noch freien Menfchen doch großen Einfluß Die Freiheit, die
an fich abfolute, göttliche Freiheit, die uns die Gottheit zw unferer
göttlichen Würde und Beftimmung verleihen wollte, erhält hier Grunde
bedingungen und Grenzen für ihre Erfheinung. Innerhalb
diefer Grenzen und Grundbedingungen aber ift fie wirkliche reis
heit. Wenn der freie Dann an einen beflimmten Ort, zu einem bes
flimmten Zweck nad) Norden ober nady Süden fahren will, fo bedarf
er allerdings de Brundbebingungen eines Wagens und eines Zugs
viehes ; die Freiheit feines Fahrens hat auch Grenzen. Er kann nicht
durch die Luft, nicht über fteile Felſen oder durch Stroͤme fahren.
Eine unbefiegliche Eigenmilligkeit oder ein Scheumerden des Pferdes, eine
Schwäche feines Fuhrwerks kann ebenfalls fo wie ein ſchwacher koͤrper⸗
licher Organismus feine Sreiheit begrenzen. Abgefehen hiervon aber fährt
er mit wirk licher Freiheit, wohin er will, nah Nord oder Suͤd,
und er ift nicht blos, wie mit den Naturphilofophen Savigny meint,
Theinfrei, indem etwa ihm feine Samilie, fein Boll oder das ſich
von felbft machende gefhichtlihe Recht die Arme lenken, daß er nad
Morden fahren muß, er aber in feinem Gedanken ſich von dur Sur
M
258 | Erfahrung.
liche Freunde ber Regierungen begehen; denn mie wäre es mit ber Ehre
und Achtung von diefen beftellt, wenn man einzelnes Unrecht von ihr
oder von ihren Dienern und wahren oder angeblichen Freunden ihr zur
Laſt legen wollte.
Sogar aber diejenigen aus dep Hegel'ſchen Philoſophie hervorgegan⸗
genen phitofophifchen Politiker, welche, twie die Anhänger Feuerbach's,
die metaphpfifhen Speculationen (das abfolute Nichts) aufgaben und
ihre kehre unmittelbar auf den Menfchen gründeten, halten den mates
rialiſtiſchen Nihılismus feft, indem im Hintergeunde ihrer anthropolo⸗
gifchen Theorie doch noch die naturphilofophifche, materialiſtiſche Weltan⸗
ſchauung fie leitet. Es fol anderwärts (f. Artikel Hegel'ſche und
Feuerbach'ſche Philofophie) auch unmittelbar nad) den hier zu Grunde
Uegenden philofophifhen Grundlagen dargethan werden, daß biefe Theo⸗
rien ebenfo, tie diefes bei früheren Philofophien, 3. B. der Ficht’fchen,
längft allgemein anerkannt ift, auf Einfeitigleiten und logiſchen
©Gprüngen beruhen. Hier genügt es, fo wie überhaupt auf
dem preaftifhspolitifhen Standpunkte, unmittelbar auf bie
gefunde Vernunft, auf das Lebensbewußtfein, auf die Anerlennung
vernünftiger praßtifher Männer und Völker, auf die unferer Nation,
uns zu berufen, auf ihr Bewußtfein und zwar nicht blos auf ihre Be
wußtſein von ihrer finnlihen Natur , fondern auch auf das, doch min-
deftens ebenfo gewiſſe, felbft bei dem Boͤſewicht nie gänzlid zu vertils
gende, das Handeln mehr oder minder beflimmende Bewußtſein ihrer
böhern moralifchen Natur, ihres Gewiſſens, ihres Glaubens von Tugend
und Lafter, an moralifhe Achtungswürdigkeit der Tugend und bie Vers
achtungswuͤrdigkeit bes Laſters; fo mie die fittliche Pflicht der freien Wahl
und That tugendhafter Handlungen und auf bie Logifch damit zuſammen⸗
bängenbe fittlide mufterliche Weltordnung und Regierung.
Die Logik felbft zwingt fo Jeden zur Annahme wirklicher Freiheit,
ber noch an ſich ſelbſt glauben, der Tugend und Lafter und fein Ges
wiſſen felbft nicht für reine Ammenmaͤhrchen erklären will.
Die Aufgabe einer wahren Philofophie wäre es, beide Thatfachen
und Nuturen und Welten und ihre Verhaͤltniſſe im hoͤchſten abfolut
gewiffen Princip und durch fie richtig zu gewinnen und zu erklären.
Aber jeder gefunde praktiſche Mann verwirft ihr Refultat unbedingt als
einfeitig und falſch, wenn fie, ſtatt dieſe Aufgabe zu Iöfen, die eine dies
fer Thatſachen vernichtet, entweder wie Kichte Die Wahrheit der finnlichen
fedifchen Welt, oder wie die Raturphilofophen die moralifhe Welt»
ordnung und ihre Grundlagen, die wahre moralifche Freiheit und
die fictliche unfterbliche Perföntichkeit Gottes und der Menfchen. Mögen
durch den einſeitigen Handwerksſtandpunkt einer beftimmten Schulphilofos
phie, oder durch den des Lebensberufes, weicher fo mie der des Maturfors
ſchers und Arztes beftändig nur die Naturfeite vor's Auge bringt, oder
ducch den bes gedankenlofen finnlihen Denfchen, dem freilich die Natur:
fette offener vor⸗ und näher liegt, oder durch Mißbrauch der geiftigen
Kräfte, die nihiliſtiſchen und materialiſtiſchen Anfichten noch fo viele ungränd«
| Erfahrung. 259
liche und fanatiſche Anhänger erhalten, vernünftige Völker und praktifche
Männer laſſen fi) dadurch nicht irren.
Auf diefem gefunden vernünftigen praftifchen Stanbpunft, wie ihn
alle gefitteten Voͤlker in ihren Geſetzen ſtets anerkann⸗
ten, ift auch das Verhaͤltniß der Freiheit (der vernünftigen freien
Beflimmung, das ideale oder philofophifche Element) zu dem naturgefeßs
lihen (zu dem erfahrungs maͤßigen in blefem Sinne) einfach.
ift ebenfo in dem Leben des Volks innerlich mit bemfelben verbunden,
wie die freie Seele in dem Organismus des einzelnen Menfchen wirkt.
Aber fie felbft und die moralifchen Geſetze find doch mefentlidh von dem
Naturorganismus, den Naturgefegen verfchieden, wenn auch die Grenzen
des Freien und Nothwendigen oft nicht genau zw erkennen find. Die
Freiheit ift für das ganze höhere Menfchenieben daffelbe, was für die
phyſiſche Natur das Leben, die Lebenskraft iſt. Noch Leine Theorie hat
ihr Wefen ergrüindet, und die Schulphilofophen geben im ihrem Princip
ftetö nur eine endliche einfeitige Kormel für das Unendliche. Die
Sreiheit wie das Leben oder bie Lebenskraft aber find wirklich und wir
laſſen fie uns nicht nehmen weil die Schultheorie nicht mit Ihnen fertig
zu werben meiß.
Dem Naturgefeg theilwelfe unterworfen ift für ihre Erfcheis
nung im Voll und im Menfchen fehr natürlich die Freiheit, weil fie
für diefe ihre Erfheinung und für alle Wirkſamkeit im irdi—
fhen Leben eines irdifchen finnlihen Trägers oder Körpers, finnlicher
Drgane bedarf, die mit der dußeren Natur in Wechſelwirkung fichen und
mithin wie Altes, was entſteht, wächft, reift und vergeht in dem irdi⸗
fen Leben, beftimmte Entwidelungsperioden haben, bie na
türliy auch für die Erfcheinung des freien Lebens Einfluß gewinnen
müffen. Haben ja Juͤnglings⸗, Mannes» und Sreifenalter auch bei dem
in ihnen noch freien Menſchen doch großen Einflug Die Freiheit, bie
an fich abfolute, göttliche Freiheit, die uns die Gottheit zu unferer
göttlichen Würde und Beftimmung verleihen wollte, erhält bier Grund⸗
bedingungen und Grenzen für ihre Erfheinung. Innerhalb
dieſer Grenzen und Srundbbedingungen aber iſt fie wirkliche Frei⸗
beit. Wenn der freie Dann an einen beflimmten Drt, zu einem bes
flimmten Zweck nad Norden oder nach Süden fahren will, To bebarf
er allerdings de Grundbedbingungen eines Wagens und eines Bugs
viehes; die Freiheit feines Fahrens hat auch Grenzen. Ex kann nidt
durch die Luft, nicht über fteile Felſen oder duch Stroͤme fahren.
Eine unbefiegliche Eigenwilligkeit oder ein Scheumerden des Pferdes, eine
Schwäche feines Fuhrwerks kann ebenfalls fo mie ein ſchwacher koͤrper⸗
licher Organismus feine Freiheit begrenzen. Abgefehen biervon aber fährt
ee mit wirklicher Freiheit, wohin er will, nach Nord oder Suͤd,
und er ift nicht blos, mie mit den Naturphilofophen Savigny meint,
fheinfrei, indem etwa Ihm feine Familie, fein Boll oder das ſich
von felbft machende geſchichtliche Recht die Arme lenken, daß er nad
Norden fahren muß, er aber In feinem Gedanken ſich von Aner Seite
7
dee Ecrreſſum
als frei betrachten darf, weil. er ja ſich olg Theil dieſes ganzen Bela
kes, blieſer Kamilie anzuſehen bat *), Ee iſt nicht King. Im er um
von einer Seite, fondern innerhalb jener Bepägen poll frei.
Solhergeftalt mögen. denn auch Theorie und Praris flets den wirße
lichen Glauben an. die wirkliche Freiheit feſthaiten und in der fittlichen
Vernunft die rechten Aufgaben und Mittel für das Volks⸗ und Men»
fehrnieben fuchen. Sie mögen ‚aber zugleich dabei beſtaͤndig jene dufer
ren erfahtungsmaͤßigen maturgefeglichen und anthropglogifchen Bebingutz⸗
en, Grenzen, Entwidelungsperioden für die Erſcheinung und Wirkfams
ei der Freiheit, überhaupt das rechte Verhältnig ‚und bie Wechfelwirkung
Pefus und der Freiheit ke ihrer irdiſchen Erſcheinung zu erkennen
ei mögen fie auf dem "fr Net und Pouitik allein rihtigen
amalptifchen biftorifh:philofophifden Weg erforſchen. Dann
ei emblich Einheit, Freiheit und Geſundheit in unſer Volksleben und
re Politit fommen und ‚die harmonifce Eintracht ſtatt jener beuse
—* theoretiſchen Spaltungen und jenes bantwertsmdfigen feindfeligen
genfäpe der an ſich nothwendigen Theile und Seiten des ganzen Mepe
*F und Staatslebens. Aledann kann in unferer täglich naͤherruͤcen⸗
ee ungezeit die Chre und a SR BR IR BOr
” amt und geßchert werden
end — * a ee
via: Kr Anwendung phyſiſcher Gewalt oder durch Exxer
gung der Auen vor da Websl bewirkt wurde. Nach juriftifhem Sprache
or heaut man nur rechtswidrige Möthigungen ſolcher Art Erpreſ⸗
Wenn daher z. B. Jemand den Räuber in Ausübung rechtmäßiger
Mother su etwas nöthigt, fo iſt dieſes Leine Erpreſſung. Aber im en⸗
gen Siane nennt man jur iſt iſch nur folche rechtswidrige Nöthigungen
prefjung,, die nicht ein anderes benanntes Vergehen bilden, 5.8. Raub
(wodurch man Jemandem den Befig beweglichen fremden Eigenthums in
gewinnſuͤchtiger Abſicht abnoͤthigt) oder unerlaubte Seibſthilfe, mo man ſich
durch die Naͤthigung zu ſeinem Recht zu verhelfen ſucht. Auch hat man
meiſt Erpre ſſungen der Beamten durch Mißbrauch ihrer Amtsgewalt theil⸗
tweife oder ſaͤmmtlich unter beſonderem Namen zu beſonderen Verbrechen er⸗
ben, mie nach roͤmiſchem Rechte in dem crimen repetundarum, nach deut⸗
em Hartichiercecht in dem Vergehen des Amtsmißorauchs. Es fragt ſich
nur, — es politiſch raͤthlich iſt, jenen allgemeinen Begriff rechtswidriger Noͤ⸗
thigungen oder Bedraͤngungen, die nicht ein anderes beſonderes Vergehen
ri zu einem gemeinſchaftlichen ſtrafbaren Vergehen zu erheben. Die
Römer thaten dieſes nicht. Sie huͤteten ſich vor ſolchom Generaliſiren im
trafrecht. Sie bildeten zwar unter dem Namen Concuſſion ein
außerordentliches Bergehen (delictam extraordinarium), beſchraͤnkten es
HHi⸗ weitere Enpwidelsag in F. Belder’s Soſtem Bd. L ©. 228.
Erpreſſung. 261
aber nur auf beſtimmte Handlungen, nämlich wenn Jemand durch Bedraͤn⸗
g mit einer Ausübung angeblicher öffentlicher Machtbefugnifſe oder durch
- bung mit Anftellung einer Criminals Anklage ben Andern zu dem
Augeftändniß eines rechtswidrigen Verlangens beſtimmt. Andere Erprefs
fungen alfo beſtraften fie nur dann, wenn fie zugleich ein anderes benann⸗
tes Vergehen wie Faͤlſchung und Betrug, Gewaltthaͤtigkeit u. f. w. bildeten *).
Außerdem begnüägten fie fid) mit den privatrechtlichen Klagen und Nachtheis
In, bie den Bedränger trafen. Und gewiß iſt es fehr zu billigen, daß
man nicht zu viele ganz allgemeine Begriffe von Handlungen zu allgemeinen
Criminalverbrechen erhebt, weil fonft allzuleicht fehr unbedeutende Rechtswi⸗
drigkeiten, welche durch die Privatllagen und ihre Folgen, Schadenerfag
und Proceßkoſten genügend geküßt würden, als Griminalverbrechen vers
folgt werden. Mindeſtens müßte man dieſes allgemeine Vergehen bes
ſchraͤnken auf ſolche Expreffungen, welche eine gewinnfüdhtige Eigen⸗
tbumsbeeinträhtigung bezwecken. Nichts iſt gefährlicher für bie
bürgerliche Freiheit und bequemer für die befpotiiche Unterdrüdung, als
wenn der Bürger bei jedem Schritt und Tritt in Griminalanklagen zu vers
fallen fürchten muß. Sind nur eimmal fo ganz allgemeine Reihen von
Handlungen zu Verbrechen erhoben, fo kommt nun die ſtets unfichere Aus⸗
legung und Ausdehnung noch hinzu, und unbedeutende, ja oft ſelbſt nicht
emmal rechtswidrige Handlungen veranlaffen einen unheilvollen Erimi⸗
nalproceß und geben die Bürger der Willkür preis. ebenfalls iſt feſtzuhal⸗
ten, daß der Charakter wahrer Rechts widrigkeit zu einem Vergehen
durchaus unentbehrlich iſt. Wer daher durdy Drohung mit einem Nachtheil,
den er das Recht hat eintreten zu laffen, 3.8. mit einer begründeten Civil⸗
age den Andern zu etwas zu beſtimmen Tucht, was, wenn berfelbe es thut,
an ſich Fein Unrecht iſt, der hat nicht rechtswidrig erpreft. (Qui jure uti-
tar suo, nemini facit injariam,) Etwas Anderes aber tft die Bedrohung
mit einer Criminalanklage. Diefe erklärten die Römer als Vergehen, weil
das Recht zu Criminalanklagen ein Öffentliches Recht iſt, wobel die Bürger
wie Staatsbeamten fid) hüten müffen, die ihnen nur für die pflichtmäßige
Foͤrderung des Öffentlichen Wohle anvertraute Öffentliche Gewalt zur Erpreſ⸗
[uns von Privatvortheilen oder von Iugefländniffen, wozu man nicht fchuldig
fl, zu gebraudhen. Man hat jene römifche Beſtimmung bei uns ausgedehnt
auf Bedrohungen mit Denwmeiationen und, da das Recht, Verbrecher zu
benunciren, ebenfalls ein Öffentliches Mecht der Bürger ift, fo kann man
biefes einräumen. Die moralifhe Schaͤndlichkeit, durch eine ſolche Dros
‘bung einem Andern die Einrdumung eines Gewinns abzundthigen, iſt auch
dann Mar, wenn die Denunciation an ſich Feine unrechtliche,, alfo keine wiſ⸗
*) Heffter, Lehrb. des gem. beutfchen Criminalrechts 8.565.
Irrig ift es, wenn ältere Griminaliſten, 3. 8. Grolmann, Grim. $. 300,
Beuerbad 5. 430 annahmen,, daß jebe Erpreſſung zugleich garraung fei.
uch bas iſt nicht nöthig, baß immer bie Erpreſſung duch Vorwand ober
Mißbrauch einer rechtlihen Gewalt ober meugnis ausgeübt wird. ©. Henke,
Handbuch des Strafrehts. Bd. IH. ©. 62,
Erpreffung.
entlich ſalſche iſt. Außerdem aber ift biefes auch rechtswidriger Miß⸗
— Öffentlicher Dick: Dagegen wird auch diefer nicht mehr vorhan⸗
Men a wenn ein Bür —— bie Drohung mit einer an ſich rechtlich
en Dieb bedroht, auf den Fall daßer nicht dem
wiebererfkattet. Denn der Bürger hat nicht wie
der Beamte un abfolute Pflicht, die ihm befannt gewordenen Vergehen
amtlich zu verfolgen, und er kann e8 mit feiner Bürgerpflicht vereinbar hal⸗
ten, bier die Denunciation zu unterlaffen. Am ftrafbarften find wohl die
Erpreffungen durch 22* der Amtsgewalt, ſei es daß fie
unmittelbar auf niedertraͤchtigen Vermoͤgensgewinn des Beamten gerichtet
find, ſei es, daß fie andere Einttumungen ber Bürger, 3. B. Geſtaͤnd⸗
niſſe oder Wahlſtimmen der Bürger, bezwecken. Zwar laffen fich hier Faͤlle
denken, wo ber Beamte nicht aus niedertraͤchtigen Motiven, fondern aus
ogenanntem übertrichenen Amtseifer handelte, und während gewinnfüchtige
prejjungen zur Rettung der Rechtlichkelt und ber öffentlichen Achtung. ber
unbebingt mit infamirender Gaffation zu ftrafen find, fo
muß bei dieſer zweiten tclaffe von Beamtenerpreffungen allerdings je
nad ben verf Um unterfchieben werben. Jedoch ift nie zu
——— daß die ihrem Weſen nad) rechtlich und gefeglich beſchraͤnkte Amtes
palt ein Heiligthum ift, das ben Beamten anvertraut wird und zur
ng ber Freiheit, Ehre und Sicherheit der Bürger und der Regie
rung gegen egen Mißbrauch) jeglicher Art moͤgl ich ſt Jossfättig geſchuͤtzt
nun fobann aber, daß audy biefem Mißbrauch der zweiten
emwöhnlih nieberträhtige Geminnfuht, das Streben
nach Beförderungen und anberen ähnlichen öffentlichen Gunften ju Grunde
liegt. Das ift bei fo vielen Inquirenten und ihren Erpreffungen von
Geftändniffen, zumal in politifchen Proceffen ber Fall und bei fo vielen
Beamten, welche durch Mißbraucd ihres Amts, ber Criminal= und Polizeis
und fonfligen Amtsgewalt, nur zu oft die fämmtlichen Umtsangehörigen
mit Nachtheilen aller Art bedrohen und durch deren Androhung und Zufüs
gung von liberalen Wahlen und Gefinnungsäußerung zurüdzuhalten und
ein entgegengefehtes Benehmen zu erpreffen ſuchen. Will die Regierung
nicht die Bürger corrumpiren und fih die Achtung zerftören, will man
nicht einen früh ober ſpaͤt verberblichen Krieg der Bürger gegen bie ihren
heiligften Rechten feindfelige Regierung und Verwaltung erweden, fo muß
man auch ſolche Erpreffungen ftreng beftrafen. Es gelten hier auch die oben
angeführten Gefichtöpunfte ruͤckſichtlich der Beftechung. (S. den Art.) Won
ben Erpreffungen ber Privaten find im Allgemeinen gewiß am ftrafbarften
ſolche Erpreffungen, welche durch ben gewinnfüchtigen Zweck un db durch bie
angewenbete ober angebrohte Gewalt bem Raub gleich ftehen und nur dadurch
fich unterfcheiden, daß fie nicht wie diefer bie Befigsabnahme einer beweglichen
Sadıe beimeden. Doc wird die größere Gemeingefährlicykeit der Mäuber
im Bergleich zu biefen Erpreffern die Strafbarkeit der erfteren höher ftellen.
Die neueren Gejegbücher find in Beziehung auf das Vergehen ber Expref
fung nicht blos außerordentlich verfchieden , fondern auch großentheils tadeln®:
werth wegen ungenüugender, unbeftimmter und allzu weiter Ausdehnungen
. Erskine 268
Des Begriffe des Vergebens. Siehe bieräber und über bie Literatur
Feunerbach's Lehrbuch bes peinlihen Rechts, 13. Ausg.,
Beforgt von Mittermaier 1840. $. 430 und 431.
G. Welcker.
Erskine (Thomas, Lord), einer jener ausgezeichneten englifchen Ju⸗
ziften, wie England bei feinem nationalen Recht und feiner freien Verfafſung
viele, Deutfchland bei dem Begentheil von beiden leider nur fehr, fehr
wenige hat, ein Mann, zugleich trefflicher fcharffinniger Juriſt, dabei von
« großer allgemeiner Bildung mit fiegreicher Beredtſamkeit und augleich ein Pas.
triot von warmer muthiger unerfchütterlicher Freiheitsliebe. Als dritter Sohn
des ſchottiſchen Grafen Buchan, wurde er am 21. Ian. 1750 geboren. Im
Alter von 18 Jahren verließ er die Univerfität, trat zuerft in die Marine, dann
in die Landarmee. Im 21. Jahre, noch ohne ein genügendes Einkom⸗
men, ſchloß er eine Neigungsheirath, Lämpfte ale Kamilienvater mit
Nahrungsſorgen und begann deshalb im 26. Jahre das Rechtsſtudium.
Er wurde nach dreijährigen Studien Barriſter und bewährte fi glänzend
glei in feinem erſten Proceß. Er führte denfelben für den Gapitain
Bailie, der wegen angeblichen Preßvergehens (libell) angeflagt worden
war, weil er die Mißbräuche in der Marineverwaltung ohne alle Schonung
und Furcht an das Licht. gezogen hatte. Auch der Anwalt bewies mit der
tüchtigften Rechtskenntniß und der trefflichften Beredtſamkeit zugleich unter
einer Damals fehr verfolgungsfüchtigen Verwaltung die rüdfichtslofe Unabs
bängigkeit des wahren Rechtsmannes. In freien Staaten iſt Das, was
in den unfreien in verderbenſchwangere öffentliche Verfolgungen ftürzt, deren
Schrecken dann aufs Neue die allgemeine Knechtfchaft vermehren, ber
ruͤckſichtsloſe Männermuth nämlich in der Enthuͤllung bes öffentlichen
Unrechts und in ber Vertheidigung der Verfolgten, der Weg zu Ruhm und
Größe und das Mittel zur Rettung der Freiheit des Vaterlandes. In Eng⸗
land wie in Rom bahnt ſolche Tüchtigkeit und die Advocatur den Weg zu
dem National⸗Vertrauen und zur politifhen Größe. Erskine's Ruhm
war mit feinem erſten Auftreten begründet. Alle bedeutenden politifcyen
Proceſſe, welche die verfolgungsfüchtige Regierung veranlaßte, wurben ihm
jegt übertragen und überall vertheidigte er fiegreich die großen Grundſaͤtze eng»
lifcher Freiheit und Gerechtigkeit gegen die Hinterliften und Mißbraͤuche der
Gewalt. In dem Proceß des Buchhaͤndlers Stockdale, der ebenfalls
wegen IiBell angeklagt war, 1789, bewies er zum erflenmal gruͤndlich, daß
dem englifchen Rechte nach die Gefchworenen, nicht, wie es biöher in die
Draris ſich eingefchlichen hatte, nur allein über die Thatſache der Verbreitung
der Schrift, fondern zuallererft darüber, ob die Schrift ein Libell fei, zu
entfcheiden hätten. Diefe Anficht ging zum wirkfamen Schuß der englifchen
Preßfreiheit und dadurch der ganzen englifhen Verfaſſung
in die Praris und durch ihn und Fox fpäter auch in die Geſetzgebung über.
Die Rüdfiht auf feine vortheilhafte Stelle eines Generalprocurators des
Prinzen von Wales hielt ihn 1792 nicht ab, die Vertheidigung des wegen
ſeiner „Menſchenrechte“ verflagten Thomas Payne zu führen. Er
verlor die Stelle und führte 1800 aud den Proc des Koͤnigsmoͤrders
264 Erziehung — Göpartero.
arbfteld, Gele 1783 Mitglied des Unterhaufes, feit 1806 Pate von
hottland und als Lord⸗ Kanzler in dem kurzen Miniſterium Grenville
vertheibigte er auch hier ſtets feurig die Sache ber Gerechtigkeit und Freiheit,
die vollen Nechte der Geſchworenen, bie Rechte ber iriſchen Katholiken, bie
Aufbebung des Sklavenhandels, für welche er 1814 eine Petition von BO
Geiſtlichen einreichte, die Befreiung Griechenlands und die wahren Princi⸗
pien der erſten franzöfifchen Revolution. Bekannt ift feine nad) dem Wiener
Congreß gehaltene herrliche Rede, im welcher der erfahrene reis fo nach⸗
drucksvoll bie Tuͤchtigkeit und Tapferkeit ber deutſchen Nation, ihre wohlbe⸗
gründeten Rechte auf wahre Freiheit amerfennt, und ihre Fürften glüͤcklich
preift, fofern fie nur es einfähen, wie ihr Ruhm und. ihre Erifteny davon
abhänge, daß fie treu ihren rechtlichen Bufagen und Pflichten diefe unver:
melbliche Freiheit redlich befhliken und verwirklichen, Erskin« ftarb am
17. Nov. 1823 drei umb —— Jahre alt. Seine beruͤhmteſten Ge:
eichtsreden erfchienen unter dem Titel Speeches on subjects connected
with the liberty of the press and against treasons. Eine fleine höchft
feeifinnige politiſche Schrift von ihm, View on the canses and consequen-
ces of the present war 1789, erlebte 48 Auflagen. Noch kurz vor feinem
Tod publiciete der freiheitliebende ehrwuͤrdige heitre Greis, ber ben Minis
ftern fo oft herb und ſtets Oppofitiondmann war, neben einer Schrift für die
Frelhelt der Griechen auch ein Gedicht auf den Landbau. Seine Palrowuͤrde
vererbte dieſer alte Adlige von aͤchtem Schrot und Korn auf feinen zmeiten
Sohn David Montagu Ersfine. GE. Wilder.
Erziehung. Wir fordern zugleich bie hoͤchſte Achtung ber Freiheit
ber Bürger, die ihre Kinder biefer oder jener Privat-Anftalt und Methode
anvertrauen wollen. Wir wollen bie Privat: Erziehungsinftitute von jeder
nicht abfolut unentbehrlihen Staatseinmifhung befreit
wiffen, ohne welche Freiheit die Infkitute und Methoden von Peſtalozzi,
Zellenberg, Lancaſter nie gediehen und für die Menfchheit lehrreich
und nüglich geworden wären. Weſentlich aber ift nur Kenntnißnahme und
Aufhebung von wahrer Betrügerei und Verlegung der Gefundheit und Sitt⸗
lichkeit in folchen Anftalten. |
| | C. Welcker.
Erziehung, phyftiche. Weber unſer heutiges deutſches Turn⸗
weſen, deſſen Gedeihen hoͤchſt wichtig iſt und namentlich auch in den Turn⸗
fahrten ähnlich wie unſere Gefangvereine die fuͤr geſunde Nationalbildung
fo wohlthaͤtigen Volksfeſte (f. Hefte) befördert, wird der Artikel Turnen
noch beſonders handeln. C. Welcker.
Espartero (Don Baldamero), fruͤher Regent von Spa⸗
nien, Graf von Luchana, Herzog von Vittoria und Grande von Spanien
erfter Claſſe, ift 1792 zu Sranatula in der Mancha geboren, wo fein Bas
ter das Handwerk eines Stellmachers betrieb. Das Leben und Wirken dieſes
außerordentlihen Mannes, die von Freunden und Feinden der Freiheit fo
- oft umrichtig dargeſtellt und beurtheilt wurden, find fo innig mit ber neueften
fpanifchen Geſchichte verbunden, daß fie, um Wiederholungen zu vermeis
2
⸗
Eſt e. 265
den, nur im Artikel Spanien im Zuſammenhange dargeftellt werben
dürfen.
€. Welcker.
Efte. Dem Staatsleriton gehört zunaͤchſt nicht das altberühmte
tealienifche Fürflenhaus Efte an. Wohl aber haben die von dem Sohn
Des verftorbenen englifchen und bannöverifchen Prinzen Herzogs von Suſ⸗
fer erhobenen eventuellen Exrbanfprüce auf die Kronen von England und
Hannover eine Beziehung zu umfern flaatsrechtlichen Eroͤrterungen. Diefer
Sohn iſt Auguft Friedrich von Eſte. Der Herzog von Suſſer,
der ſechote Sohn Georg's ILL, vermählte ſich am 4. April 1793 mit Lady
Augufte Murray, ber Tochter des fchottifihen Grafen Dunmore, eines
Nachkommen ber alten Herzöge Atholl, ohne Vorwiffen der beiderfeitigen
Eitern. Ein Geiſtlicher, der fpäter nicht mehr ermittelt werden Eonnte,
hatte bie Ehe vollzogen, aber kein Zeugniß über biefelbe ausgeſtellt. Doch
eriftiete ein fchriftliches Eheverfprechen des Herzogs. Um den Beweis einer
wirklich gefchloffenen Ehe zu fihern, murde hierauf in London die Trauung
ernenert. Am 5. Dec. 1793 wurde im Kirchfpiel St. George, nad) dreimas
ligem Aufgebot, ein Herr Sredertc mit Augufte Murray, die für das
Publicum Leute geringeren Standes zu fein fchimen, getraut und dann
die gefchloffene Ehe durch einen Traufchein beftätigt. Am 13. Januar 1794
gebar die Vermaͤhlte einen Sohn, Auguft Friedrich, den jegigen Oberft von
Efte. Der Geheimerath unterſuchte nun die Sache und von dem erzbis
ſchoͤflichen Bericht wurde die Ehe für nichtig erklärt, weil ein Geſetz Georg’s
II. von Jahr 1772 über die Verheirathungen ber Kinder ber Böniglichen Fa⸗
milie bie koͤnigliche Einwilligung als Bedingung gültiger Ehen erklaͤrt. Der
Herzog von Suffer hielt ſich indeß an die Ehe als eine gültige Ehe gebunden
und e8 wurde Ihm am 11. Auguft 1801 von feiner Gemahlin audy eine Toch⸗
ter, Auguſte Emma , geboren. Später erhielten die Kinder nad) der alten
Abftammung der hannoͤveriſchen Familie den Namen Efte und die Mutter
mit dem Titel hannoverifche Gräfin den Namen d'Ameland, einen Jahr⸗
gehalt von 4000 Pfund Sterling, der nad) ihrem Tode 1830 für die Kins
der verboppelt wurde. Noch bei Lebzeiten des Herzogs von Suffer fuchte
der Oberft von Efte die Anerkennung feiner Legitimität al eines Prinzen von
Sroßbritannien und Irland oder wenigftens von Hannover geltend zu machen,
wodurch er vor der erbfähigen Defcendenz des Herzogs von Cambridge,
abet nach derjenigen bes jegigen Könige von Hannover folgen wuͤrde. Diefes
veranlaßte in England und Deutfchland viele Erörterungen und eine Reihe
von Staatsfchriften. Fuͤr den Oberft von Efte fchrieb in Deutſchland
Kluͤber m den Abhandlungen für Geſchichtskunde, Bd. II. Frank
furt 1834, umd ebenfo K.S. Zachariaͤ Heidelberg 1834 5 gegen denfelben
Schmid Jena 1835 md Eichhorn Berlin 1835. Diefe Schriften dies
fer berühmten deutfchen Publiciſten enthalten fehr Intereffante Erdrterungen
über fürftliche Succeffionsrechte. Die Gründe für und wider die jegt vorldus
fig ruhenden Anſpruͤche des Oberſten Efte werden am beften im Zuſammen⸗
bange mit dem ganzen fürfllihen Succeffionsiccht im Artikel Succefftion
geprüft werben. C. Welcer.
266 Etymologie
Etymologie ift die Lehre von der Entſtehung ober Ableitung ber
Worte. Sie fuhrt Ihre urfprüngliche und wahre Bedeutung zu erforfchen,
fie auf ihre Wurzeln und Stämme zurädzuführen. Sie lehrt bie Beſtand⸗
theile bes Wortes, bie verfchiebenen Arten und Kormen und bie Bildung defz
elben durch Ablektung und Zufammenfegung fennen und zerfällt alfo in die
| damentallehre, Formenlehre und Wortbildungsiehre. Die Worte find
der Spiegel einerfeits unferer inneren Geiftes« und Gefuͤhlswelt, —“ An⸗
ſchauungen, Gefühle und Begriffe; andererſeits der Außenwelt, deren B
das Mittel des lebendigen Ausdruds und der Mittheilung unferer 2
Anſichten und Gedanken ſind. Das natuͤrlichſte menſchliche Intereſſe wie die
ernſte Bemuͤhung nach rt gründlichen Erfenntniffen giebt alfo der Ers
62 der urſpruͤnglichen Entſtehung, des Wechſels, des tieferen und
wirklichen Sinnes der Worte ein hohes, zum Theil ein poetiſches Inter⸗
eſſe. Daher iſt die etymologiſche Betrachtung der Worte alt. Aber
eben jenes ** poetiſche — verleitet hier haͤufig zu den groͤßten
Spielereien und Phantaſien, fo daß dieſes den Philologen Moif zu dem
Witzworte beftimmte, die Etymologie fei eine Wiffenfchaft, in — die
Conſonanten wenig und die Vocale gar nichts gelten, Erſt durch fo gruͤnd⸗
liche Erforfchung aller Elemente , Bildungsperioden und Geſetze ber Sprache,
ihrer verfchiedenen Dialekte und ihrer Darftellung ducd Schrift, wie wir
biefelbe für bie beutfche Sprache den unfterblich verbienftvollen Arbeiten ber
Gebrüder Grimm verdanken, wird die Etpmologie zu einer ficherern Wiffen-
ſchaft erhoben.
Ein ganz befonderes Intereſſe bat die Etymologie für ben Juris
fen. Es hat derfelbe (f. oben Bd. 1. ©. 13) vor Allem die Aufgabe, in den
wahren Willen und Eonfens bes Volkes, ber einzelnen Gefellfchaf:
ten unb Bertragfchließenben einzubringen, wozu das Eingehen in
ben urfprünglichen und wahren anfhaulichen Sinn der Worte höchft wichtig
ift. Ein großer Theil der wichtigften Begriffe in Beziehung auf Recht und
Staat find moraliſche Beariffe. Hier aber giebt die urfprüngliche und ety⸗
mologifche, oft die finnlich anſchauliche Bedeutung die wichtiaften Aufſchluͤſſe.
&o 3. B. fommt in dem römifchen Recht viele hundertmal bas Wort aequitas,
aequum ald Rehtsprincip und Rechtsgrund vor. Nach einer fpd-
teren, ich möchte" fagen, vornehmeren und gelehrteren Auffaffung wird diefes
als Billigkeit, ald Abweihung vom Recht aufgefaßt, und die neueren
Juriſten, felbft ein Hugo, uberfegten diefe Worte ohne Weiteres ſtets durch
Billigkeit und billig. Aber es ift wohl jetzt vollftändig erwieſen, daß bie roͤ⸗
mifche Jurisprudenz diefe Worte in ihrem urfprünglidhen Wortfinn
als Gleichheit und als gleich gebrauchte, und daß nur dadurch hunderte
bisher falfch verftandene juriſtiſche Beſtimmungen und das ganze römifche
NRechtsſyſtem ihren richtigen Sinn erbalten*). Ja ſelbſt da, mo fpdter und
ausnahmsweiſe in Rechtsfägen das Wort aequitas durch Billigkeit überfegt
werben darf, da erhält diefe, die juriftifche Billigkeit, erſt felbft wieder ihre
wahre Bedeutung burch den urfprünglichen Wortfinn: Gleichheit, denn
ng Belder, Syſtem. Bd. I. &. 605 ff.
—*
Etymologie. 367
man verfländ Darunter vorzugeweiſ⸗ eine verhaͤltnißmaͤßige Gleichheit
und Ausgleichung, die des prätorifchen Rechts, im Vergleich zu dem
ſtricten Buchſtabenrecht ber materiellen und Zalionsgleichheit der Alteften Zei⸗
ten. Man befolgte dabei den ariftotelifchen Brundfag: „Nur für Gleiche
und unter gleichen Verhältniffen ift das Gleiche gleich.” Diefe juciftifche
Billigkeit blieb alfo juriftifch eine wirkliche Gleichheit oder Ausgleichung unb
juriſtiſch gerecht. Sie ſchien aber dem Moraliften in unferem modernen
Sinn eine Billigkeit, als eine zu billigende Abweichung vom Recht. Eine ſolche
wollten aber die claffifchen römifchen Juriften nicht in ihr Recht einführen,
denn die g von Recht verpfufcht das Recht und im Recht dürfen
nur Rechtsgruͤnde entſcheiden. (S. das vorige Citat.) Ganz ähnlicy wie mit
biefem Grumdbegriff der aequitas verhaͤlt es fich mit andern juriftiichen Srunbs
begriffen, welche die Meiſter der claſſiſch⸗ römifchen Jurisprudenz ebenfo
oft als Rechtsgebote und Mechtegrundfäge, ald Gründe ber Geſetzgebung
und Entſcheidung anführen, „wie z. B. honestum (von honor juriftifche
&hre), bona fides (existimatio 0.0.0. &.582, 633). Die römifche virtus
teägt ebenfalls durch ihre etymologiſche Ableitung (von vir ber Mann) ihren
Grundcharakter an der Stirn.
Ganz auffallend erfcheint es allerdings auf ben erſten Blick, daß bie gro⸗
hen praßtifchen Meiſter des römifchen Rechts, ebenfo wie Cicero, ihre Ent⸗
widiungen der Rechts ſaͤtze des ganzen Rechts und ber einzelnen Rechtsmate⸗
rien (der einzelnen Titel) mit etymologiſchen Erklaͤrungen der Srundbegriffe
(3.3. jus, servus, persona, possessio, pactum) beginnen. An fi) ſchon
belaͤcheln unfere modernen Juriſten diefe Methode und halten fie vollends
nicht beachtenswerth, wenn ihnen diefe Etymologien oftmals als mißglädt er⸗
fheinen, wie benn wirklich die Etymologie bei den Alten bekanntlich noch
nicht fehr gründlich ausgebildet war. Aber felbft bei den hier vorkommen⸗
den Fehlern hätten die Modernen doch jenen herrlichen, fruchtbaren Grund⸗
gedanken der Alten achten follen, den Gedanken: alle Recht, bei voller Bes
achtung bes tieferen Vernunftgeſetzes, doc, aus dem freien Conſens, aus
ber freien Anerkennung der Buͤrger abzuleiten, es ſtets nur objectiv,
analptifhshiftorifhsphtlofophifch zu entwideln und fo auch wie⸗
derum zur freien allgemeinen Anerkennung zu erheben. Sie betrachteten
ſtets das Recht als eine freie allgemeine Öffentliche Sache des Volkes und Fuchs
tem es als folche zu erhalten. (S. oben bie Encyklopaͤdiſche Einlei⸗
tung.) Beides beweifen aufs Volltommenfte ſchon die erfien allgemeinen
Titel der Inſtitutionen und der Pandekten. Seibſt die mangelhaften ety⸗
mologifchen Ableitungen ber juriftifchen Begriffe aus der Volksſprache bee
flätigen wenigſtens diefe allein aͤcht juriftifche und politifche Methode und Be⸗
firebumg und fie dienen ihr meift, indem dabei die Urheber berfelben wenige
fiens die mit dem Rechtsinſtitut verwandten wirklich in ihm lebe! en
Volksanſchauungen und Volksgrundſaͤtze in's Auge faſſen und Ihre ©. .e
bamit verknuͤpfen. Wie weit entfernt hiervon iſt jene moderne vornehme,
volksverachtende, aus abftracten und apriorifchen Principien der Schulweis⸗
beit von oben herab beducivende Methode, welche fogar bie vaterländiirhe
Sprache — bie Bauernſprache, wie bie früheren Romaniften in Deutſch⸗
4
268 Eudämonismus.
land fie nannten — verachten umb das Recht fogar abſichtlich geheim, ums
verſtaͤndlich und unvollemdßig zu machen fuchten.
Nach allem Bisherigen ift die Etpmologie gewiß eine wichtige ju⸗
riſtiſche Hilfowiſſenſchaft. Für die griechifche Sprache ift das Etymologieum
magnum, herausgeg. von Schäfer, Lpz. 1816, das erfte Hauptwerk, mom
das Etymnlogicum Gudianum , herausgegeben von Sturz, 2 Bde. Lpj.
1818 — 1820, gehört. Für die Lateinifche Sprahe: Döderlein’ Ea⸗
. teinifhe Etpmologien und Synonyme, 6 Bbe. Lpj. 1826 bis
1838, mb Schmwent’s Etomologifhes Wörterbuch der latel—
nifhen Sprade, Darmftadt 1827. Mehrere Sprahen umfaffen
Whiter Etymolögicum universale, "2. Auflage Cambridge 1811, und daß
fonglottifhe Werk: Tripartitus seu de analogia linguarum libellus, Mien
1820— 1833. Für die Juriften ift ruͤckſichtlich des römischen Rechts auch
etymologifch wichtig das befannte Werf von Brissonins de verborum signi-
fieatione , und fir das deutſche Recht außer den etymologlſchen Werfen von
Graf, Biemann u, f. w. die bekannten Gtoffarten, die der mittel:
alterigen latemifchen (und galliſchen) Sprache von du Fresue oder du
Cange, Carpentier und Adelung und bie ber beutfchen Sprache von
- Shilter, Wachter, Haltaus, Scherz (herausgeg. von Oberlin)
und Weftenrieder. (S. unter Germanicum und Germaniftifche Lite:
ratur.) Gehe wichtig find für die deutſche Sprache überall 3. Grimm’s
Deutfhe Grammatik und deſſen Rechtsalterthümer.
GE. Welder:
Eudaͤmonismus, Egolsmus, Epikurdlsmus, Indivi—
bualismus, zunächſt in ſocialer politiſcher Bedeutung
und im Verhaͤltniß zum Communismus. — Die Grundlage
der wahren Freiheit und Kraft ber Völker und Staaten, alfo auch die des
Rechts und der Politik, ift Sittlichkeit und firtliche Würde. (©. Chriften:-
thum und Moral), Der allgemeinfte Gegenfag fittliher Richtung
und Beftrebung ift Egoismus oder Selbfifuht. Wenn man biefe
Richtung als philoſophiſche Lehre für die menfchliche Beftrebung aufſtellt,
alsdann nennt man diefe praftifche Lehre, deren Grundprincip bie Selbſtſucht
‚und ihre Befriedigung if: Eudämonismus. Cubämonismus iſt die
Anficht oder Lehre, melde die Gluͤckſeligkeit des Handelnden zum legten Ziel
feines Wollens und Strebens, alfo zum Maßſtab des Guten und Schlech—⸗
ten, und daher das Streben nad) der Gluͤckſeligkeit zum legten Beweggrund
des Handelns und zum oberflen Grundfag der Moral macht. Diefem Eus
daͤmonismus fleht der Grundfag aller wahren Moral entgegen, daß die Bes
fkiedigung bes Willens diefem Willen felbft noch keinen Werth giebt, und daß
Bas Gute und Böfe fich nicht darnach beſtimmt, was den Willen befriedigt,
fondern nad einer von allen Nebenrädfihten unabhängigen Beurtheilung
des Wollens ſelbſt. Die wahre Sittlichkeit geht aus von einer über dem
Selbſt, über dem Wollen des Einzelnen und feiner Befriedigung flehenden
höheren fittlichen Weltordnuma, welcher er mit feinem Selbſt ſich unterorb»
"nen llebevoll anſchließen und nöthigenfall® aufopfern muß. Hiernach muß
man, flreng genommen, die eubaͤmoniſtiſche Lehre geradegu als eben fo
Eudaͤmonismus. 269
umfittlich wie die rohe gemeine Selbftfucht erklaͤren. Aber man barf nicht
vergeffen, daß die Auffaffung der legten philojophiihen Principien ſtets
großen Schwierigkeiten und Mißverſtaͤndniſſen ausgefegt ift, daß alfo Mans»
cher mit an ſich fehlerhaften Grundfägen einen befieren Siun und nicht bie
ſtrengen logifhen Folgerungen verknüpft, ja daß, wenn er auch in feinem
philoſophiſchen Denken ſich zu einem ſolchen Srundfag verirrt, doch, wie E is
cero fagt, fein Derz beſſer ift als fein Kopf oder feine Philofophie. Bei fo
Vielen erweilen fi), ohnerbaß fie es ſich Elar bewußt werden, bie ald moras
liſche Muttermilch in der Jugend eingefogenen wahrhaft moraliſchen Gefühle
und Sefinnungen wirkfam. Dieſes untericheidet das eudaͤmoniſtiſche
philoſophiſche Spflem gar fehr von dem gemeinen, rohen Eyoismus. Auch
iſt der Begriff der Gluͤckſeligkeit, das heißt des Wohlfeins, welches in der
Befriedigung der Wünfche und Begierden liegt, an fich ganz unbeſtimmt,
fo daß ſchon beshald fi der Eudaͤmonismus verfchieden geftaltet. Ges
woͤhnlich unterfcheidet man einen groͤber en Eudämonismus, welcher die
Gluͤckſeligkeit blos im finnlihen Genuͤſſen fucht, ben robeften praftifchen
Moaterialismus, und einen feineren, welcher die Gluͤckſeligkeit in geiftige
Genuͤſſe oder in eine Mifchung von beiden feßt, wie der Epiturdismu,
Selbſt die religiöfe Moral kann eudaͤmoniſtiſch oder egoiftifch werden, infor
weit man die Tugend lediglich um der Belohnungen in biefem oder jenen
Leben empfiehlt. Doch wird gerade hier nie der Cudaͤmonismus ganz rein
fein, weil der Religiöfe in feinem Glauben doch ſich zu einer moralifchen
Weltordnung hinwendet und bewußter aber unbemußter fein Selbſt derfelben
unterordnet und eine höhere, unſterbliche, fittliche Beſtimmung anerkennt.
Auch werden fich fehr häufig in der philofophifchen Lehre den eudaͤmoniſti⸗
chen Srundfägen wirklich moralifche Beftimmungen einmifchen oder in ben»
felben verſteckt fich befinden, fo wie es z. B. in der ariflotelifchen Ethik
offenbar der Hals ift, während die Lehre des Ariftipp und Epikur ganz
ununmunden Genußlehre war.
Diejenigen, welche, wie jegt viele Neuhegelianer, gleichgültig ober feindfelig
gegen religiöfe wahrhaft moralifche Lehren, gegen die Lehren von einer höherem
fittlichen Weltordnung und von einer unfterblichen Beftimmung ber Menfches,
angeblich zu Gunſten ber Freiheit für materialiftifche,. eudaͤmoniſtiſch⸗ pls
kuraͤiſche Richtungen wirken, diefe follten zweierlei nicht vero⸗Nen: Fürs
Er ſie wird ImMWolke bie von ben (Bebitdeten noch mehr <, Apig und aud) mehr
mit fittlichen Principien vermiſcht aufgefaht- npämoniftifche ober epiku⸗
raiſche Lehre bald zum gemeinen Toben Materialismus und Egoismus,
Sodann aber verſchwindet in der zweiten und dritten Gmeration jene mit
der Muttermilch, eingefogene, einer fräheren teltgiöfen und moralifchen Beflts
tung angehörige und eine Beitlang wohlthaͤtig nachwirkende eblere religiöfe
und moralſche Auffafſungs⸗ und Gefuͤhlsrichtung immer mehr, bis zuletzt
ganz fo wie bei den ſpaͤteren Römern der roheſte, craſſeſte Materialismus
die Menſchen beherrſcht und jetzt Die Stelle ber aufgegebenen höheren Relis
gion der tollſte wechſelnde Abergiauben erſetzt. In foldiem Zuſtand verfaw
len die Menſchen fogar phyſiſch. Die Länder veroͤden, wie die römifcsen «6
—F
immer mehr thaten, ehe die frifchen germantfchen Stämme fie in Befig nah⸗
men und bie elenden verborbenen Refte bes früheren Volks beherrichten.
Zum Theil hoͤchſt vertvorrene und verderbliche Lehren haben in neuefter Zeit
zuerſt manche radicale Literaten und mehr oder minder große Abtheilungen
der unteren Volksmaſſen ergriffen. Sie koͤnnen unter Umftänden in
Deutfchland, mo kelneswegs, wie in den freien Ländern, die unermteßliche
Mehrheit der Nation durch ihre wirkliche ſtaatsbuͤrgerliche Freiheit befriedigt
und in den Befig ber Mittel zu jeder friedlichen Verwirklichung aller wahren
Volksbeduͤrfniſſe geſetzt ift und wo eben daher auch die politifche Freiheits⸗
partei gegen revolutionäre Alllancen mit umſtuͤrzenden, focialiflifchen und
eommmmniftifchen Beftrebungen ftets abgeneigt bleiben wird, hoͤchſt gefährlich
und verberblich werben. Was in unferer Lage die Lehre mohlmeinender beſon⸗
nener Freiheitsfreunde noc vermögen wird, wenn einmal irgend ein
größerer äußerer Anftoß durch Noth, Krieg oder partiellen Aufftand
gegeben ift, — das iſt wahrlich ſchwer vorauszuſehen. Eine falſche Regie:
rungspolitik hat zuerſt geſuͤndigt und unendlich viel verſchuldet und ſie ver⸗
mehrt das Uebel täglich. Zuerſt hat man die heutzutage unentbehrlich und
zum Lebensinftinet der Völker gewordene und allein fichernde politifche Frei»
heit buch reaetiondre Politik, trog aller früheren Zuſagen, zuruͤckzuhal⸗
ten oder en zu unterdrüden ober zu untergraben geſucht. Diefe ver:
hängnifvollen Beftrebungen und die Mittel zur Verwirklichung des Uns
natürlichen koͤnnen mahrlic die Achtung der Regierung, der Gefege und
ber Moral nicht befeftigen. Ga, da man felbft die Religion als Mitte für
das naturwidrige, unmoralifhe Bemühen mißbraudte, fo hat man felbft
ben naturnerhwendigen Gegenkampf und in ihm Haß und Geringfhägung
fogar gegen jene Heiligthlimer hervorgerufen. Ä
Sodann hat man die fFärfften natürlichen Enttwidelungstriebe
ber Nation, die ung heute zu gleich freienf politifchen Zuftänden hinnöthi-
gen, wie die anbern gefitteten europdifchen Voͤlker meift befigen, von ben
allein ungefährlihen Bahnen einer freien Preffe, eines parlamenta=
riſchen und geordneten conftitutionellen Freiheitskampfes, wo die ertremen
Richtungen durch geregelten Gegenkampf und durd; das praßtifche Bedürfnif
unſchaͤdlich werben, in das innere Leben ber Nation, in die Kirche, die Wiſſen⸗
ſchaft, die Kunſt, die Literatur, namentlich bie poetifche und Roman-kiteratur,
ja fogar in das Gewerbe hineingetrieben. Und ale num hier die Beftrebungen
eines neuen Lebens und neuer Freiheit ſich regten, da bat die politifche und
Polizeimacht ſich vermeſſen, fie fogar in diefen geiftigen Gebieten, mo fie
nicht Herr tft, zu bekriegen. So hat fie für die Regierungen auch hier den
gefährlichften Gegenkampf erregt. Sie hat in bem ganzen Körper bie Gäh:
rung verbreitet, Kirche, Literatur, Gewerbe revolutionaͤr gemacht. Das
Mebel frißt um ſich und kommt in Gefchwüren zu Tage. Dem ehrlichen
Zreiheitsfreund ‚bleibt nuc Warnung und Berichtigung der Begriffe nad)
beiden Seiten bin.
Zu den verwirrteſten Vorftellungen in diefem Kampfe gehören unter
andern auch bie, daß man neuerdingei den Egoismus mit dem Indivi⸗
dual is mus vermiſcht uud ſelbſt eine natuͤrliche fittliche Beſtrebung für die
Subdämonismus und Egoismus. a1.
genen perfönlichen Verhaͤltniſſe verwirft. Man will alles freie perfönliche
individuelle Brecht und Eigenthum, ja bie individuelle Kamille aufheben,
Alles gemein machen und glaubt fö die Selbftfucht aufzuheben. Aber Bott
und Natur haben uns einen individuellen Körper mit individuellen Be⸗
bhrfniflen als Träger und Organ unfers fittlichen Lebens gegeben und
das Recht folgt nur ihrem Geſetze, wenn es im juriſtiſchen Eigenthum ber
freien Derföntichkeit einen jurifkifchen Leib giebtund in der individuellen
Familie einen neuen individuellen Träger und eine Pflanzichule der erſten
und wefentlichften höheren gefelligen Beſtrebungen fichert. Gelbftfüchtig,
wahrhaft verwerflich egolftifch kann Der, welcher mit dem Andern aus ges
meinfchaftlicher Schäflel ißt, eben fo handeln und fi, beweiſen mie Der,
weicher einen-befonderen Zeller hat. Das tiefe vömifche Recht unterfchieb
mit Mecht und verband zugleich organifch und auf die tiefſte grünblichfle
Welle das Drivats (oder woͤrtlich Abſonderungs⸗) Recht und das öffent»
che (oder wörtlich das Volks⸗ umd gemeinfchaftliche) Recht. Es war und iſt
Krankheit, wenn ber berühmte Hugo und jest die Communiſten alles
Privatrecht, und Derr von Haller und die Abfolutiften alles wahre und freie.
Öffentliche Recht, ja wenn die allmaͤchtige Polizei heutzutage Beides zugleich
vernichten und verfchlingen wollen. Unfer germanifches Recht faßt bie per
fönliche Würde und individuelle Sreiheit noch energifcher auf als das roͤmi⸗
ſche Recht. Aber auch es hat in allen freien deutfchen Stadt⸗ und Lande
Verfaſſungen von jeher ein öffentliches Recht organiſch mit der Privat⸗
Freiheit verbunden. Es hat in feinem Grund vertragsſ⸗ und Gleich⸗
gewichtsſyſtem ſtets den abfurden Abfolutismus eines nur privatlichen
oder nur Öffentlichen Rechts, den heutigen Communismus wie den Sultanie⸗
maus verworfen.
Einige jener hierher gehörigen Verirrungen num fucht auch der nachfols
gende Artikel zu befeitigen. e. Velden.
Eudämonismus und Egoismus im Berhältnig zu
den foctaliflifhen und communififhen Theorien. Unter
vielen andern Redensarten über Individualismus“, „Familismus“ ac. iſt
auch der Egoismus öfter zu einem Stichwort geworden, womit der doctri⸗
näre Communismus der neuern Zeit feine Angriffe gegen die bisherige
Auffaffung von Staat und vernünftig organifirter Geſellſchaft auf feine
Kampfbuͤhne ruft *). Die VBodenlofigkeit und Ertravaganz der commus
niftifchen Doctrin iſt zwar bereits anerkannte Thatſache geworden, da aber
in Deutfchland Feine Verkehrtheit verkehrt genug ift, um ſich Beine An⸗
haͤnger mehr verfchaffen zu können, fo mag Immerhin die communiftifche
Anficht über ben Egoismus pder die angebliche Quelle alles focinlen Uebels
noch näher beleuchtet werden.
Der Communismus bezeichrtet die gegenwärtige Gefellfchaft als einen
Krieg Aller gegen Alle, in welchem Jeder den Andern auszubeuten, zu
*) Man verwechfelt nämlich den Inbivibualismus mit wahrem unfittlis
hen egoiftifchen Beſtreben. S. ben vorigen Artikel.
Anmerk. ber Redast.
NL
7 Eubdmpnisnmd und Egoismus
betrügen, zu berauben trachte, im welchem bie Menſchen von. einander
getrennt werden, in welchem die Gattung zum Mittel des Individuums
berabgewürdige ſei. Dies fei ein umnatürlicher Zuſtand, und der
Grund dieſes unnatuͤrlichen Zuſtandes ſei zu ſuchen im Geld und im
Privaterwerb. Geld und Privat» Erwerbs und Beſitz gilt den Commu ⸗
niften für die Wurzel alles Uebels auf diefer Welt. Durch dem Pri⸗
vaterwerb werden die Menfchen als einzelne Individuen, werden ‚die
abflracten, nackten Perfonen als bie wahren Menſchen erflärt, mwers
den die Menfcyenrechte, d. h. die Rechte bes unabhängigen Menſchen,
proclamirt,, alſo die Unabhängigkeit der Menfcen von. einander, Die
Trennung und Bereingelung als das Weſen des Lebens und ber freie
beit erflärt und die ifolirten Perfonen zu ferien, wahren, ‚natürlichen
Menſchen geſtempelt. Dadurch fei das Prineip der Sklaverei — die
Entäußerung des menſchlichen MWefens durch die Sfolirung der menſch⸗
lichen Individuen und die Derabmürdigung jenes Weſens zum Eriftenj«
mittel diefer. Indivibuen — allgemein in's Leben getreten. Diefer prime
eipiell durchgeführte Egoismus der modernen Gefellfchaft hebe allen une
mittelbaren Verkehr (welcher allein das wahre Wefen des Menſchen fei)
und alles unmittelbare Leben auf und geftatte baffelbe nur noch als Mits
tel zum Privaterwerb, |
Dies müffe anders werden, das Geld. dürfe nicht mehr das Ger
meinivefen des Menfchen bleiben, denn das Geld fei etwas Aeußetliches,
Mitteibares, ‚könne. alfo nie das wahre Eigenthbum, das wahre Weſen
bes Menfchen werden, weil diefes innig und unmittelbar mit dem Ber
figer und Menſchen verwachſen fein müffe. Das Vermoͤgen der Men:
fhen dürfe fernerhin nicht mehr außer ihnen im transfeendenten
" Gelbe, fondern im Zufammenwirken und Austaufd ihrer durch humane
Bildung entwidelten Kräfte, 2. 'nte und Fähigkeiten d. h. in der Herr⸗
[haft der Allgemeinheit beftehen. — ganze Bafis der bisherigen Ges
ſellſchaft müffe aufgegeben werden, m die‘ Stelle der Trennung müffe
de Einheit der Gattung, an die Stelle des Egoismus müffe der Socialiss
mus, an die Stelle des egoiſtiſchen Privaterwerbs, als chimdrifchen ats
tungsvermoͤgens, muͤſſe das wirkliche Vermögen der Sattung treten. —
Seli dies gefchehen,, feien die Menfchen gefellfchaftlich vereinigt, fo brau⸗
hen fie fich ihe (theoretifches und praktifches) Vermögen nicht mehr dus
ferlich anzueignen, um felig und glüdiich zu fein, fo haben fie nicht
mehr nöchig, fich privatim die menſchliche Arbeit (und Tugend) Hüds
weife, haufenweiſe einzufammelnszum davon zu zehren, um damit leben
and wirken und mucern zu Einnen.
Diefer Socialismus verwandle den bisherigen, fcheinbaren, dußerlie
chen, zufälligen und unmenſchlichen Befitz in wirkliches, unveräußerliches,
wohrbaft menſchliches Eigenthum. x bebe den Gegenfag von Privats
menfh und entäußertem Gemeinmefen auf und an die Stelle des bisheris
gen Egoismus laffe er als leitendes Princip die Liebe treten.
Dies Ifl, ipsissimis verbis wieder gegeben, die Theorie, wie fie von
der deutschen . Communiſten⸗ ober Socialiſtenſchule in ihren neueften
‘
’
Eudaͤmonismus und Egoismuß. 78
Schriften ⸗ntwickelt wurde. Entkleiden wir fie ihrer theils unverſtaͤnd⸗
lichen, theils unverflandenen doctrinaͤren Floskeln, fo läßt fie fich auf
falgende Säge zurüdführen: .
Weil das Geld das Medium der menſchlichen Thätigkeit iſt und als
Deren Stellvertreter gilt, konnte und mußte «6 gefchehen, daß es da und
bort unverhaͤltnißmaͤßig fi) anhäufte und, in diefer Anhaͤufung als fins
girte Thätigkeit geltend, andere feiner entbehrenden Theile ber Geſellſchaft
von ben bevorzugten Beſitzern abhängig machte. Dirfe Mittelbarkeiz
ber menfchlichen Production fo wie bie Aeußerlichkeit des Eigenthuns
exzeuge das egoifliiche Rennen und Jagen nach dem mittelbaren Verkehrs⸗
mittel und nad) dem Äußerlichen Beſitz und erzeuge dadurch die Zerrifiem _ ,
heit, den Egoismus der gegenwärtigen Geſellſchaft. Vernichtet koͤnne dies
fer Zuftand nur dadurch werden, daß man das Medium, den Stellvertreter
der menſchlichen Arbeit, das Geld, abſchaffe und an feine Stelle wieder
wie im Raturzuftande die unmittelbare Thaͤtigkeit fege, daß man ferner
Aberhaupt das dußerlihe Eigenthum vernichte und es dadurch mit dem
MWeſen des Menfchen verſchwelze, daß die Allgemeinheit zur alleinigen
Eigenthämerin gemacht werde. Sei dies gefcheben, fo trete an die Stelle
Des bisherigen Egoismus und der egoiſtiſchen Thaͤtigkeit des Indioiduunss
der Stun für die Algemeinheit und das Thätigfein für bie Allgemeinheit.
Das Einzelweſen werde nun Mittel für die Zwecke des Gattungslebens
and der Geiſt communiflifcher Liebe fchwebe über dem ehemnligen Chaos
ageiſtiſcher Triebe und Zerriffenkeit.
„In dieſer Theorie ift nun Wahres und Falſches fo bunt durch ein⸗
ander arten, dag man nicht weiß, auf weicher Seite die Confuflon
ee if.
Wahr ift, daß ber gegenwärtige Zuftand ber Gefellfchaft das Bilb
einer in taufend und aber taufend feindlich einander durchkreuzende In⸗
tereffen getrennten Maſſe darbietetzs wahr ift dee Mangel an jenem
großartigen Gefühl für die Allgemeinheit und menfchlicye Intereſſen,
welches zu Opfern bereit if; wahr ift das Dafein jenes roben na
hen Egoismus, der die Rechtes und Vermögensfphäre Einzelner auf
Koſten der Geſammtheit erweitert und dadurch eine Abhängigkeit der klei⸗
nern Befiger von den größeren erzeugt; wahr ift auch, daß durch dieſe
Ungleichheit des Befiges ein’ großer Theil der Menfchheit in eine Baum
mehr menſchenaͤhnliche Lage verfegt ifl. In der Kritil diefes Zuſtandes
muß man den focialiftifchen Beſtrebungen unferer ‘Tage volle Gerech⸗
tigkeit widerfahren laflen und allerdings zugeftehen,, daß bie Form bes
Staats allein und rein politifche Reformen an fich nicht geeignet find,
die Uebelſtaͤnde der Gefellfchaft abzuftellen. Allein ebenfo richtig als diefe
Kritik, ebenfo falfh und unbefonnen find die gemachten Borfchläge und
Ausführungen über den Urfprung bes Uebels, denn fie überfchießen volls
fommen das Ziel und fchlagen geradesu in das andere Erirem um. —
Der Dauptfehler der modernen Richtung befteht beſonders darin, daß
fie in ihrer Wuth gegen das Beſtehende ſtets das Weſen der Dinge
angreift, ſtatt deren corrumpirte Form, daß fie aus bem Mißbrauch fters
Suppl. Gtaatslex I. W
die Noth wendigkeit ableitet, 4 den Gebrauch zu vernichten, daß fie
toegen | der Corruption und Unnatur gewiffer Einrichtungen und Begriffe
auch bie Sinceritaͤt und Natur der Dinge überhaupt antaftın zu duͤrfen
glaubt:
or 80 foll alle Individualität bouff ͤndig verſchwinden und au ihre Stelle
das Thaͤtigſein der Einzelnen fuͤr die Allgemeinheit und eine abſtraete Ge—
oͤnlichkelt treten, weil num zufällig in der gegenwärtigen Form
der Gefellfchaft der Egoismus in feiner craffeften Geſtalt fat alle anderen
Befühle abforbirt und gllerdings traurige Ueberftände erzeugt ht, Alten
die Natur hat nun einmal die menſchlichen Individuen nidyt nad Art
eines Rattenkoͤnigs zufammengefnäuelt, noch weniger die Menfchheit als
ein Abſtractum auf die Melt kommen Taffen, fondern ganz ceoncrete,
fuͤr ſich ſeiende, mit individuellen Neigungen, Eigenfchaften und Be⸗
ſchaffenheiten verſehene Einzelnperſoͤnlichkeiten geſchaffen.
Das Individuum iſt nun Einzelnpetſoͤnlichkeit weſentlich dadurch,
Yaf es die Außenwelt und die Geſellſchaft als ſich gegenuͤberſtehend aufs
“af, daß es ſich als einen für fi feienden, von der Allgemeinheit ger
trennten Drganismus geltend madyt und deffen individuelle Beziehungen
und Bedürfniffe befriedigt Auf diefe Weiſe berhärigt fi) das Indie
vibuum als Individuum, #8 ſchafft ſich eine Sphäre feiner Ten
Thaugteit es bezieht das außer ihm Seiende auf ſich und für ſich.
Dieſer phpfiologifche Egoismus (wenn man unrichtig alles —*
tififche Streben fo nennen will) ift eine fo wefentliche Grundbedingung
alles menſchlichen Lebens in der Natur, daß er überall da hervortritt,
wo ‚organifche Entwidelung, organifches Reben .ift. Ueberall, wo ein
Pflanzenkeim, ein thierifches Ei ſich entwidelt und lebt, lebt und ent
midelt es fi) nur dadurch, daß es zu ber Außenwelt gegenfäglich fich
verhält und fein Intereſſe, feine Individualität ruͤckſichtslos geltend gu
machen fucht. Daher kann nur eine communiftifche Verftodktheit in dies
fen Individualismus an fi) den Grund unferer focialen Uebel erblidten,
man koͤnnte ebenfo gut das Dafeln des Menfchen überhaupt als legten
Grund unferer geſellſchaftlichen Unnatur erklären.
- Seiner natürlihen Seite. nad) ift auch der Menfh von jenem
phyſiologiſchen, rohen Egoismus durchdrungen und ihm unterthan, fo lange
er im Zuftande der Natürlichkeit fih befindet. Der Dienfch entwidelt ſich
aber, eben weil er Menſch ift, auch noch nad) einer andern Seite. Er
- - berublgt fich nicht bei feiner natürlichen Eriftenz, fondern entruͤckt ſich
mad und nach dem Zuftande der Natürlichkeit, er fommt zum Bewußt⸗
fein. Der zum Berußtfein gekommene Menſch kann nur in der Menſch⸗
heit exiſtiren, d. h. in der ſelbſtbewußten Allgemeinheit, in der orga⸗
miſirten Geſellſchaft, im Staate. Die Aufgabe des Staates beſteht
eines Theils darin, die natuͤrliche Seite des Menſchen, ſeine Indivi⸗
dualitaͤt, feinen. Egoismus ſich geltend machen und entwickeln zu laffen,
ſo weit es die Idee der perſoͤnlichen Freiheit erfordert, anderntheils aber
den rohen, natürlichen Egoismus auf das vernünftige Maß zuruͤckzudraͤn⸗
‚gen, weben welchem auch bie übrigen Individuen Platz greifen können.
Eudämonismus und Egoismus. 275
- Beurtheilt man von diefem Standpunkte aus bie Theorie der mo:
dernen Gommuniftens oder Socialiſtenſchule, fo ift augenfällig, daß
durch ihre widerfinnige Negirung der Individualität und der Rechte und
egoiftifchen Thaͤtigkeit der Einzelnperfönlichkrit die Natur des Menſchen
ſowie feine perfönlihe Freiheit volftändig vernichtet wird. Der Commu-
niemus vergißt voliftändig die natürliche Seite des Menfchen, und indem
er allen Egoismus aufhebt, hebt er zugleich auch das Ich auf. Ich bir
in einem Sommuniftenftaate nicht mehr Ich, mit meinen individuellen
Neigungen und Bedürfniffen, bin nicht mehr Selbitzwed und für mich
beftehender Organismus, fondern bin ein Werkzeug für ein todtes Ab»
flractum, bin „Mittel geworben für das Gattungsleben“ und drehe mid)
in ber großen Fabrikgefellfchaftsmafchinerie als ein einzelnes Rad, bas
nur im Zufammenbang mit dem übrigen Mechanismus thätig fein kann.
Nun ift freilich die Gattung nicht mehr zum Mittel für den individuellen
Egoismus herabgewürdigt, wie dies in der gegenwärtigen &efellfchaft
ber Fall fein foll, allein dafür ift man beim andern Ertrem angelangt,
im der abftracten Allgemeinheit ift ne Individualität, jeder Selbftzwed
bes Individuums untergegangen, es giebt nur noch einen Zweck, den
ame ber Algemeinheit, und für diefen müflen die Einzelnen thätig
ein *).
Solche Verkehrtbeiten koͤnnen ihren Grund nur in einer bodenlofen
boetrindren Theorie haben, welche zwifchen abfteacter und realer Allgemein»
beit nicht zu unterfcheiden weiß und letztere unaufhoͤrlich mit erfterer verwech⸗
ſelt. Abſtract aufgefaßt ift die Allgemeinheit ein hohler leerer Begriff, wel⸗
cher nur dann !Realität gewinnt, wenn man alle Einzelnen darımter be
greift. Alle Einzelnen als Begriff gedacht bilden bie Allgemeinheit, ers
iſtiren aber in der Wirklichkeit als vollftändig ausgebildete Individuen,
von welchen jedes ſich Selbſtzweck iſt. — Diefen. Selbflzwed zum Beften
eines leeren Begriffes zu opfern, heißt daher nichts Anderes, als die In⸗
bividuen ber Wirklichkeit aufheben und ihre Rechte, Befugniffe und Zwecke
auf einen Ieblofen Begriff ohne reale Eriflenz übertragen.
| Mit diefer Lehre von ber Allgemeinheit fällt auch die communis
ſtiſche 8 uͤber unmittelbaren Verkehr und Vernichtung des Privat⸗
beſitzes und Geldes.
So wenig die individuellen Beſtrebungen des Menſchen an ſich unſere
geſellſchaftlichen Uebel erzeugen, ebenſo wenig kann man dieſe dem Gelde
an ſich, als Medium des Verkehrs, aufbuͤrden. Die corrumpirte Form
bed Geldweſens und Beſitzthums bringt unſere abnormen ſocialen Zuſtaͤnde
hervor, aber nicht ſeine Mittelbarkeit. Nicht weil das Geld als Stell⸗
vertreter der menſchlichen Thaͤtigkeit gilt und ber Befitz ein äußerer iſt,
*) Dabei aber iſt natuͤrlich der eigentlich ſelbſtſuͤchtige und genußſuͤchtige
Trieb in den Menſchen, in den Liſtigen und Starken, in den Einflußrei⸗
chen nicht unterbrüdt, und fie benugen alſo ſehr natürlich bie Aufhebung aller
individuellen perföntichen Rechte zu ihrem Bortheil, zum f heußlichfien
Defpotismus. Ale werden Sklaven einer beipotifchen Ordnung, wie in
Aften. Anmert. der Rebact.
\B*
1
276 FR Eunuch unthom
ſind ſo viele —2 arm sah unglüdlich, fondern weil ihnen die Freie
heit fehlt, fich gegen die Eprammei der geldlidien Uebermacht zu —*
Darum handelt es ſich auch nicht um Aufhebung bes Geldes und Peis
vateigenthums, denn es würde dadurch entweder ber Maturgufland zuruͤck⸗
gerufen, wo der Menſch durch ſeine unmittelbare Thaͤtigkeit feine Ber
-. befriedigte, oder es entflände jene unnathrliche Allgemeinheit, in
ber Einzelne zum Fabrikarbeiter herabſinkt, der auf Rechnung
re Firma der Allgemeinen Verwaltung arbeitet und von biefer,
ohne Beihilfe des Geldes, ummittelbar verpflegt und verköftigt —
wie ein Soldat. Ueberdies iſt die Moͤglichkeit gar nicht abzuſehen, wie
uͤberhaupt die Kransfcenden; und Aeußerlichkeit der beſeſſenen Dinge abge
fchafft gi werden vermag, tie das wahre Eigenthum durch eine inner⸗
Eiche Verwachſung vom Beſitzer und Beſitz hergeftelit werden kann. Meine
Arbeit ift mein Eigenthbum, wenn ich fie in Geſtalt des Geldes in ber
Taſche habe, fo gut als wenn ich mic badurd bie Anmartfchaft en
bie Güter und nee, weldye die Allgemeinheit mir bereitet, erwerbe.
Und wenn ich Auferliche Dinge befige, ohne innerlich mit ihnen verwach⸗
ſen zu ſein, ſo iſt durchaus nicht einzuſehen, welche Gefahr dadurch dem
Weſen des Menften drohen ſoll. Der Hauptſache nach handelt
es ſich darum, daß jedem. —— die Moͤglichkeit verſchafft werde, ſeine
Thaͤtigkeit je nadı der Neigung und Fähigkeit des Individuums fo gut zu
vermerthen und fo viel von jenem Medium, von dem Gelbe, zu erwerben,
daß er ein menfchliches Dafein zu führen vermag. Diefes Ziel wird aber
nicht durch eine communiftifche Allgemeinheit ohne Egoismus, ohne Geld
und: Privatbefig erreicht werden, fendern weſentlich dadurch, daß bie Idee
des Staates in's Keben gerufen wird, daß man die Staatsformen für
Beine Primatr, fondern fuͤr Öffentliche Intereſſen, d. b. zum Wohle und
Beſten aller, Einzeinen benutzt, daß jedem Einzelnen Theilnahme an der
Staatövermaltung verbürgt umb durch geeiguete Geſetze dar Ungleichheit
des Brfigthame und dem Abdſolutiemus des Geldes —
wird. | be
i Er Gafkcat, Safration Gaftration it bekanntlich bie
Operet ion, wodurch bei Masfhen (ab Thieren) das Zeugungsvermoͤgen zer⸗
ſtoͤrt wird. Sie zerſtoͤrt, wenn fie vor Ausbildung dee Mannbarkeit vor⸗
gmommen wird, ſo ſehr bie Geſchlechtseigenth uͤmlichkeit, daß die Maͤnner
in koͤrperlicher und geiſtiger Hinſicht die Eigenthuͤmlichkeiten der weibtichen
Ratur, die Frauen theilweiſe die der maͤnnlichen Natur annehmen. Bar
laͤßt ſich ein empoͤrenderer, natucwidrigerer und unfittlicherer Angriff anf die
menſchliche Wuͤrde denken. Dennoch hat in Aſien orientaliſcher Deſpotismus
und die Damit verbundene Herabwuͤrdigung der Frauen und der Familienver⸗
bättniffe. durch Wolluſt ſchon Fehr fruͤh, ſpaͤter auch die der —
Natur — ascetiſche Schwaͤrmerei und dann die Berdorbenheit des
paͤpſtlichen Hofes und anderer fuͤtſtlichen Defpoten bis beinahe in unfere
Balken diefe Schaͤndung der Menſchenwuͤrde ſich erlaubt. Im
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Fu Eunuch. | 277
Oriente brauchten vornehme befpotifche Männer, zumal wegen der Vielwei⸗
berei, bie Caſtraten zu Frauenmwächtern , was ber griehifche Name Eunud
auch woͤrtlich bedeutet. Und bie Lybier follen fogar weibliche Caſtraten zu
Huͤterinnen der Keuſchheit von Frauen und Töchtern gebraucht haben. Dri⸗
genes (im dritten chriftlichen Jahrhundert) entmannte ſich felbft aus falr
adeetifchen Eifer, und von den Ballen in Afien, von ihrem Dienfte Der
SEybele kam die Gaftration mit diefem Dienfle nadı Rom. Eine fanatifche
Secte, bie Valerianer, durch das Beifpiel des Origenes verführt, hielten 6
fogar für veligiöfe Pflicht, die Caſtration nicht blos an fich ſelbſt, fondern an
Allen, mit denen fie in Berührung kamen, auszuüben. Doch gebührt dem
sömifhen Recht das Verdienſt, daß es biefe Entwürbigung ber
Menſchheit felbft in Beziehung auf Sklaven mit den härteften Strafen bes
.. begte, gerabe wie die Toͤdtung mit ber Todesſtrafe, mit welcher Strafe auch
Conſtantin und Juſtinian jenen ascetifhen Wahnfinn zu unterdruͤcken
fachten. Die Strafe traf Den, welcher caftrirte, mochte der zu Verſtuͤm⸗
mielude eingewilligt haben oder nicht, fo wie auch Den, weicher ſich freiwillig
caftrizen Heß, und das canonifche Recht wiedie Carolina wiederholten
dieſe Straffanetion *). Dennoch wurde ans griechifchen Kaiſerhofe die Ca⸗
Rration häufig, die Caſtraten fpielten am Hofe eine große Rolle und es gab
Hofftellen, ungefähr wie heutzutage die Kammerherren, unter dem Titel
Eunuden. In Conftantinspel iſt heute noch der Kißlar Aga, das Ober⸗
haupt ber Gaftraten, ein fehr hoher Beamter. Bei fpäterer Verderbniß
wurde auch am päpftlichen Hofe und in Italien bie Caſtration zu Gun⸗
en des Geſanges, weil die Gaftraten einen um ein Dritttheil Heineren Kehl⸗
topf und eine Knabenſtimme behalten ,. die leicht zur guten Sopranſtimme
auszubilden ift, wieder fehr häufig und in italienifhen Städten ein Gegen⸗
ſtand ſchimpflicher Öffentlicher Ankündigungen und eines ſchimpflichen Hans
deis , auch felbft noch nach dem Verbot von Clemens XIV., und erft in unfes
ver Beit ſtirbt mit den letzten Caſtraten in den Kapellen diefe Unwuͤrdigkeit
aus.
Mur leider dauert vielfältig noch bie moralifche und geiftige Caſtration
nicht blos der Geiſteswerke und dev öffentlichen DReinng, ja ber Völker und
Menſchen ſelbſt, die, in ihrer natürlichen Entwidlung und in ihrer menſch⸗
lichen Sreiheit gehemmt, verftüämmelt und unterdrüdt, unvermeidlich mos
raliſch gerade fo, ja noch weit mehr verfrüppeln als durch die phyſiſche Ca⸗
ſtration, obgleich auch diefe ebenfalls unkräftig, unmaͤnnlich, feig unb hin⸗
terliftig macht.
Auch die bloße Befhneidung an Nichtjuden beftraft das roͤmiſche
Recht gerade wie Gaftration **). Da auch biefe Verftümmelung an ſich die
Menſchenwuͤrde beleidigt und nach den beftinimteften Erfahrungen viele
Krankheiten und andere Gefahren mit ſich führt, fo ſollte fie mindeflens an
*) L. 3. §. 4. L.4.$.2. L.5. 6.6. ad leg. Corn. desicariis. C. 1.
de eunuch. Nov, 132, C. 5. X. de homicid. 9. Ger. :Orbn. $. 133.
*’) L. 11. pr. ad leg. Corn. de sic. C. 1. ne christ. mancip. u. C.
16. de Judaeis.
278 Evangelifch-proteftantishe Kirche Rheinbaierne.
Kindern und Nidyteintoilligenden nie vollzogen, am allerwenigften von chriſt⸗
fichen Regierungen gegen —— bei Baters erzwungen werden. (5.
Belbmeidung.) E. Welden
Evangeliſch— seoteftantifche Kirhe Rheinbaierns,
(Anmerfung u S. 324 Beile 9 von unten.) Der eben citirten Ver⸗
faffungsbeftimmung. bat: man in neuerer Zeit eine viel zu beſchraͤnkende
Bedeutung zu geben verſucht. Die Bundesacte, ber bie baierifhe Vers
foffungsurkunde angepaft werden mußte, garantirt im Artikel 16 al»
ben heiftlihen Religionsparteien gleiche Rechte. Die baie—
eifche Verfaffung jpriht nun nur das Nämlicdye aus, indem fie die
Rechtogleichheit aller beftehenden chriſt lichen Kirchengeſellſchaften pro=
clamirt. Daß die Zahl damals beſtandener blos drei betrug, iſt hoͤchſt
zufällig und gleichgültig. Eine Beſchraͤnkung für andere ſchriſtlich—
Neligionsparteien war nber dabei offenbar nicht beabfichtigt, Es geht
bied daraus Elar hervor, daß die Verfaffung gar nichts feſtſetzt, mie es
denn mit folchen andern Eonfeffionen gehalten werben foll, was fie
doch hätte thun müffen, wenn fie diefe von ber allgemeinen Regel ber
vollen Mechtsgleichheit hätte ausſchließen wollen. Als directen Grundfag
gegen die Hauptbeftimmung voller Rechtsgleichheit der Chriften, ver
Bündet fie vielmehr gleich im naͤchſtfolgenden Abfage: „Die —
chriſt lichen Glaubensgenoſſen haben zwar vollkommene Gewiſſensfrei—⸗
heitz fie erhalten aber an den flaatsbürgerlichen Mechten nur in dem
Maße einen Antheil, wie ihnen derfelbe in den organifchen Edicten über
ihre Aufnahme in die Staatsgefellfchaft zugefichert iſt.“ Alſo nur gegen
die „nidythriftlichen‘‘ Glaubensgenoffen verhängt die Verfaſſung eine
Rechtsbeſchraͤnkung. —
(An den Schluß des Artikels Evang. proteftantifcye Kirche Rhein—
baierns,) Die Beſchwerde gelangte bei dem baldigen Schluffe ber
Kammet und deren fchleppendem Gefhäftsgange leider nicht zur Erle:
digung.
Am December 1837 fand eine neue Generalſynode ſtatt. Die Par:
tei des Ruͤckſchritts hatte es befonders darauf abgefehen, eine von Dr.Ruft
verfaßte, durchaus in ihrem Sinne gehaltene Kirchen’: Agende für die prote=
- flantifche Kirche Rheinbaierns annehmen zu machen. Indeſſen mißlang
diefes ihr Streben aufs Schmählichfte: 36 Stimmen erkläcten ſich gegen
jenes (miffenfchaftlidy ohnehin unhaltbare) Machwerk, nur 4 dafür.
Eine zweite Niederlage ſchien die Ruͤckſchrittspartei dadurch zu erleiden,
daß ungefähr zu derfelben Zeit der Regierungsrath Sieh, ber Geiftesgenoffe
Ruſt's, als Vorftand bes Conſiſtoriums entfernt und diefe Stelle dem neu⸗
ernannten Regierungsdirector von Schnellenbübel übertragen ward,
der zwar keineswegs Partei für die freie Richtung nahm, aber doc) aud) gar
bald die Unmoͤglichkeit erfannte, dem Ruft’fhen Streben ſich anzufcließen,
zumal wenn er nicht feine eigne Selbftftändigkeit völlig aufgeben und ſich zu
einem bloßen Werkzeug jenes hertfchfüchtigen Menſchen machen wollte.
Je empfindlicher diefe beiden Niederlagen der Rüdfchrittspartei fein
mußten, um fo größere und entfchiedenere Thaͤtigkeit entwickelte fie jett.
Coangelifch-proteftantifche Kirche Rheinbaierns 279
War es ihr nicht gelungen, durch Hilfe ber Berichte die Preſſe zum
Schweigen zu bringen, fo feste fie es dagegen in München durch, daß bie
Genfur diefelbe verftummen machte. Ob dies rechtlich gefchehen konnte,
ift freilich eine andere Frage, indefien kann diefe fpecielle Erfcheinung nicht
wundern, wenn man die Verhaͤltniſſe kennt, in welche die Preſſe in Baiern
in allen Beziehungen gebradht ift!). Nunmehr befreit von der Con⸗
teole der Preſſe, ſonach befreit von bem Dffenkundige Werden ihrer einzelnen
Dandlungen, fomit ziemlich gefichert vor der moralifchen Macht der öffents
lichen Meinung, Eonnte jene Faction nun allerdings gar Manches durch⸗
fegen, was ihr fonft ſchwerlich gelungen wäre. Bald erkannten alle Geiſt⸗
lichen , welche in irgend einer Beziehung einer Nachſicht beburften, oder
welche eine Anitellung oder Beförderung fuchten, fei es für ſich ober ihre
Söhne oder fonfligen Verwandten, daß es am Vortheilhafteften für fie fei,
fh im Sinne des Muderthbums auszufprechen, um fo mehr, als das
Haupt diefer Partei, bei aller perfönlichen Schroffheit, doch für deren
Anhänger eine Thaͤtigkeit entwickelte, wie der gemäßigte Theil des Confiftos
riums lange nicht that. So bot denn die nad) vier weiteren Jahren wieder
Generalfpnode ein ganz anderes Bild als bie vorige bar. Bei
der Abhängigkeit der Dekane und gar der neu creirten Dekanat Vers
wefer, der Unfelbftftändigkeit vieler Pfarrer, und der Sachunkennt⸗
niß ber meiften der ausgewählten weltlichen Mitglieder, waren dieſes
Mal die beiden Parteien faft gleich flark vertreten ; und wenn die retrograde
für jest noch Beinen völligen Sieg davon trug, fo hatte fie allen Grund zu
hoffen , daß fie diefes Ziel in der allernaͤchſten Zukunft unfehlbar erreichen
werde. 4
Bereits freudetrunfen von dem für gewiß gehaltenen Triumphe bes
gann nun dieſe Partei, als Gegenbemonftration wider die früheren Bes
ſchwerden der Freunde ber Vereinigung , eine Schrift behufs der Unterzeich:
nung in Girculation zu fegen, in welcher dem Dr. Ruft für fein Wirken
das maßlofefte Lob gefpendet, er zu weiterm noch fchärfern Voranſchrei⸗
ten auf feiner Bahn aufgefordert und die Gegenpartei auf die unwuͤrdigſte
Weiſe angegriffen ward. Der Pomp und bie Oftentation, womit biefe
Manifeftation flattfand, nöthigte das Conſiſtorium in feine Major
rität und die Kreisregierung, hier hemmend einzufchreiten, fchon um des⸗
willen, weil man fonft eine Gegendemonftration nicht Hätte verhindern koͤn⸗
nen, zu der man es doch nicht kommen laſſen wollte. Die Sache ward von
Regierungswegen förmlich unterdrückt und die Anftifter erlangten nicht den
mit Zuverfiht für ſich felbft erwarteten Lohn. — Da ber Eifer für das
moftifchsptetiftifche Treiben bei gar Vielen bloß dußere Maske war und nicht
aus inmerer Ueberzeugung hervorging, fo reichte biefes an fich fo wenig bes
1) Da bie Preßzuftände in Baiern in mehrfacher Hinficht hoͤchſt bezeichs
nend find, auch binfichtlich vieler andern Berhättnifle in diefem Lande, fo ver:
weife ich auf meine Abhandlung : „Der Zuftand der Preffe in Baiern; mis au⸗
thentifchen Belegen”, in Dr. Weitl’s „Sonftitutionellen Jahrbuͤchern.“ Jahr:
gang 1846. Band LI.
deutende Vorkommniß aus , eine Stodung im feindlichen Deeressuge hervor:
zubeingen, Diefes einzeln ftehende Beifpiel, daß man burch Uebertreibungen
doc; nicht immer feine perfönlihen Zwecke erreichen koͤnne, genügte, um eine
ganze Maffe von Leuten zuruͤckhalten der zu machen !
Indeſſen wurden die Haͤupter ber Partei dadurch natürlich nicht zur Um:
Behr beftimmt. Ste ſehte ihre Operationen fort und namentlich waren ihre
Bemühungen bei Anftellungen von Dekanen und Pfarrern meiftens, wenn
auch nicht immer, von Erfolg begleitet. Insbefondere wurde eine Maffe von
Pfarrcandidaten aus ben jenfeitigen Kreifen diesfeits angeftellt, melche (mit
wenigen, aber hoͤchſt ebrenvollen Ausnahmen) dem Geifte der vereinigten
Kirche fich geradezu entgegen erklärten; ebenfo wurden viele Jahre lang alle
Wuͤnſche, Verfegungsbenehren u. dal. von Seiten Derjenigen, welche die frü—⸗
bere Beſchwerde an die Ständeverfommlung unterzeichnet hatten, foitema»
tiſch zuruͤckgewieſen. Das diesfeitige Haupt der Partei ließ fich auf feinen
Rundreifen Im Kreife mit einem Pompe empfangen, der jenen zu Ehren
eines katholiſchen Biſchofs nicht felten weit übertraf; wie beim Einzuge bes-
Könige wurden wohl fogar Triumphboͤgen errichtet, mit allen Gloden
geläutet, mit Böllern geihoffen u. dgl. mehr. Lelder fchien auch eine völlige
Hoffnungstofigkeit bei den Freunden der freieren Richtung fi immer mehr
feflinfegen, wenn gleich jener uͤbermuͤthig ſtolze Menfch nebenbei mandye
Heine Demuͤthigung erlitt, indem er es J. B. bei der Staͤndewahl nicht dahin
bringen konnte, aud) nur zum Wahlmanne ernannt zu werden, fondern
ſchon im erften Wahlmomente wahrhaft mit Eclat durchfiel (er konnte das
eine Mat nur eine, das andere Mal nur zwei Stimmen erlangen,
was ihn fo tief fchmerzte, daß er nicht einmal offene Aeußerungen darüber
zuruͤckhalten konnte).
In der neueſten Zeit traten nun zwei Ereigniſſe ein, durch welche die
Vertheidiger der unirten Kirche aus ihrer Lethargie erweckt wurden. Es ſind
dles: die projectirte Einführung eines neuen Katechismus und die Sache
des Pfarrers Frantz.
Die vorlegte Generalfynode hatte fih die Schwäche zu Schulden kom⸗
men laſſen, dem fortwaͤhrenden Andraͤngen des Oberconſiſtoriums, uͤber⸗
Haupt aber der Rüdfchrittspartei nachgebend, eine Commiffion zu ernen»
nen, welche den Entwurf eines neuen Katechismus ausarbeiten follte,
der fodann einer fpdteren Generals Synode zur Annahme vorzulegen fei. Die
Gommiffion befand aus ziemlich heterogenen Elementen; die retrograde
Dartei war darin eigentlich nur durch zwei, die freiere ober vielmehr die
mittlere Dusch vier Mitglieder repraͤſentirt. Das Schriftchen felbft ward
durch den zur Sommiffion gehörenden Dekan Scholler bearbeitet. Aber
kaum warb daffelbe bekannt, als ein Schrei des Unwillens und ber Entruͤ⸗
flung die ganze als durchbiang. "Eine Maffe von Dingen wird hierin
wiederhoit, die der Vernunft Hohn ſprechen, der ganzen Grundlage der ver:
einigten Kirche entfchieden roiderfireben, und die man mit Redyt längft als
befeitigt anfehen konnte. Der Verfaſſer, Dekan Scholler, ift deſſenungeach⸗
tet Bein Ueberläufer, wofür er nach dem Bekanntwerden dieſes Werkes viels
fach) gehalten wird ; er hat das Gegentheil erſt kuͤrzlich durch feine Abſtimmung
Coangefifcproteftantifche Kirche Rheinbaierns 281
auf dem legten baieriſchen Landtage bewieſen; auch liegt ein Entſchuldigungs⸗
grund für ihm in den allzu nachgiebig angenommenen Normen, in welche
die Generalſynode in diefer Beziehung eingemwilligt hatte; aber jener Mann
verfannte dennoch durchaus feine Aufgabe und — feine Kräfte, under wird
fich vielleicht jet, zu fpdt,, der Warnungen erinnern, welche der Verfaſſer
des Segenwärtigen vor Fahren fchon gegen ihn ausſprach. Genug, der
vorliegende Katechiemusentwurf fagt feinem Theile zu (dem freifinnigen muß
er allerdings am meiften und tiefften widerſtreben), und es fteht In dleſer
Sache nur noch das Fine zu hoffen: die totale Verwerfung des gans
zen Entwurfs durch die naͤchſte Generalſynode. (Möchten die Commiſſions⸗
mitglieder Selbfiverleugnung genug befisen, um felbit für Befeitigung
eines Werkes zu flimmen, bdefien Annahme ihre Mitbürger nun einmal als
eine wahre Satamität betrachten !)
Die Sache des Pfarrers Frantz von Ingenheim, über welche in uns
fern Zeitungen nie eine klare umd vollftändige Mittheilung gegeben wer⸗
den konnte, ba die Genfur ihre Gewalt fo fehr mißbrauchte, felbft die ein⸗
fache Meldung der erwiefenen Thatſachen zu flreichen , entwidelte fih im We
fentlichen in folgender Weiſe.
Dr. Ruſt hatte fi in einer bei Eröffnung der jüngften Benerals
fonode, im Herbft 1845, gehaltenen und auch durch den Drud verbreiteten
Predigt Schmähungen gegen Diejenigen erlaubt, welche nicht an die Gott⸗
heit Chrifti glaubten; er hatte namentlich auf fie als „Abtruͤnnmige“ ben
Haß und die Verachtung zu leiten gefucht und fie nebenbei als Vers
DBammte bezeichnet, die Bott von feiner Gnade ausfloße.
Den Meiften wird diefer Angriff, je nachdem fie annahmen, daß ber
felbe aus Ueberzeugung ober aus Heuchelel hervorgegangen, ein Lächeln ent
weder des Mitleids ober der Verachtung entlodt haben. Pfarrer Frans
von Ingenheim feinerfeits meinte dieſen allerdings böslichen Ausbruch bes
Zelotismus ernfthafter nehmen zu follen. Diefer durchaus gewiffenhafte unb
fireng rechtliche Mann wollte nicht für anders denkend gelten, als feine
Ueberzeugung ift, und glaubte daher, diefe feine Weberzeugung wiſſen⸗
ſchaftlich begründen und rechtfertigen zu müflen. Er veröffentlichte nun
in der von ihm herausgegebenen theologifchen Zeitfchrift „die Morgens
roͤthe“ eine Abhandlung unter der Ueberfchrift „von der Gottheit Jeſu
fieht nichtE in der Bibel.’ Dies war gleihfam das Signal, daß zwei
junge Pfarrer oder Pfarrverwefer, die ſich, aller höheren Befähigung ers
mangelnd, auf diefe Weife bemerkbar zu machen fuchten,, in Siugfchriften
über ben Mann herfielen, und zwar in der gemeinften, pöbelhafteften
Weife. Die Ausbrädye der Ungezogenheit hätte Srang wohl verfhmerzen
koͤnnen; da aber jene Flugſchriften auch befonders die Befchuldigung gegen
ihn enthielten, er fei ein Irrlehrer und Werführer der Gemeinde, und da diefe
Schmaͤhſchriften unter den Bewohnern feiner Pfarrei verbreitet wurden, fo
glaubte der aͤngſtlich gewiſſenhafte Dann, es fich und feiner Gemeinde ſchul⸗
dig zu fein, diefer Legten ein Bekenntniß feiner Anfichten über den angegrifr .
fenen Punkt vorlegen zu müffen, entichloffen, fo fchmerzlich der Schritt
ihm auch fein mußte, fein Amt freiwillig niederzulegen, fal®
Semeind ep 0 Blaubensba | N
atn fe. ap — en 16 (id
a läßt, nicht ob Seelenkampf aller Bluͤck
guter ehrenden ee faßt worden fein kann, zugleich ab ein
od it „der —25— — Rechtlichkeit und — un⸗
Ma Sm mn nun Frank ins a rauhen fcheiftlich vor
gelegt hatte, etäeten fh alsSald 164 feihffkändige Blicde et
fhriftlid palkommen ven — 24 gaben,
heile — — & Sur) fonftige perſb ——— Werbätnife ah
halten ms ab und. nur Amor — — *
Bi Glaubensbefenntn t ibt Stang. —
en — als die einem ehrlichen J und gewi
—** Fer —— offene Erklaͤrung über —
ensuͤberze rkeinen andern Zweck, als meiner an mir
at Omen — wahr und aufrichtig, wie auch —
aßen, „tes fie ſich zu mir und zu meinem Rache ed ZA
‚ verfehen habe.’ Allein fo ward die Sache von dem Speyerer Con-
+ 7 ht angefehen; man hielt ſich an dem Ausdrucke „Slaubens:
#" feit, wollte darin gleihfamein ganz neues Spmbolum finden
und —55 ausdrädtichen Erklärungen dr Pf. Fcang im ent:
ge um Ei in Ruͤckſicht, * — die Sache als ein von
— apoſtoliſchen Glaub 63 iſſe ‚abweihendes und bie
elben, wenn nicht als förmlichen fectirerifchen Abfall von
der Milan bee Kirche, doch wenigſtens als einen die Kicche mit ber
Gefahr des Abfalls bedrohenden Schritt. Wergeblich die wiederholten ent-
gegengefegten noch fo pofitiven Erklärungen des Angefhuldigten. Man
verlangte unbedingten Widerruf, und da Frang biefen, als ehrli—
her Mann, nicht ausfprehen konnte, fo verhängte das Confiftorium in
Speyer unterm 6. März; 1846 fogleich Umtsfuspenfion gegen ben:
felben. Vergeblich alle Neclamationen der ihren Pfarrer hochverehrenden
Gemeindeglieder, das Presbpterium an ber Spige; das Dberconji-
forium referibirte unterm 12. Mai 1846, daß, wenn Frans nicht unbe:
dingt widerrufe und namentlich das Dogma von der Gottheit Chrifti aus: ,
druͤcklich anerfenne, nady Verlauf von 6 Monaten feine Amtsentſetzung
verfügt werde. (Das Gonfiftorium zu Speyer fah alfo in der angeblichen
Aufftellung eines neuen Glaubensbefenntniffes das Verbrechen, das Obercon:
fifkorium dagegen erblickte es in der Beftreitung eines Dogma.)
Stang erklärte unverzüglich, daß er nicht widerrufen Eönne; feine
Gemeinde reichte aufs Neue eine Detition ein; eben dieſes thaten auch ans
dere Gemeinden und die Geifflihen aus mehreren Defanaten beim Könige
und beim Dberconfiftorium; endlich flelften felbft bie meiften Diöcefan-
—
⸗
2) Wuͤrde man die Sache uͤberall, wie hier, zur Ertſcheidung bringen,
ſo wuͤrde es ſich ſehr bald zeigen, daß weder Dr. Ruſt ſelbſt noch irgend einer
feiner Anhänger einer ſolchen Zuſtimmung ſeiner Gemeinde ſich erfreut.
eo“
Evangeliſcheproteſtantiſche Kirche Mheinbaiernd. 283
fonoden: der Pfalz Anträge auf Reactivirung jenes Mannes oder nuf Ber
enfung einer außerordentlichen Generalſynode. (Die allgemeine Thrilnahme
am der Sache hatte ſich zuvor ſchon kundgegeben, theild in Adreſſen an
Frantz, theils in folhen an feine Gemeinde. Städte und Landgemeinden
erflärten fi in gleihem Sinne. Selbit aus dem Auslande, aus Magde⸗
burg und Dalle, erfolgten Zufchriften, in denen Theilnahme und Zuftimmung
ausgebrüdt war.)
Erſt nahdem — nicht 6, fondern — 8 Donate (von ber Zeit ber
Suspenfion an) verfloffen waren, ertheilte das Oberconfiftorium an das
Presbyterium zu Ingenhrim eine Antwort auf deffen Eingabe. Es fchien,
als ob die Sache eine friedlichere Wendung nehmen werde, denn es war in
jenem Actenftüde erklärt, daß demnaͤchſt eine Verfügung an Pfarrer Frantz
‘ wgeben und von been Befolgung oder Nichtbefolgung die Aufhebung ber
Suspenfion oder die Anordnung anderweitiger Maßregeln abhängen werde.
Endlich traf diefe Verfügung ein. Sie enthielt, nad) einer vier Bogen
großen dogmatifchen Auseinanberfegung, die Erklärung, wenn rang nicht
bis zum 31. Dec. 1846 wiberrufe, fo werde feine Abfegung bei St.
Mai. dem Könige beantragt werden. —
So fteht heute diefe Sache. Wer dem Auftreten des Pfarrer Frang
iegend gefolgt ift,, wird gewiß fein, daß diefer gemwiffenhafte Mann nicht wi:
derrufen wird.
Welche Wendung nun die Sache für jenen biedern und uͤberzeugungs⸗
treuen Geiſtlichen perfönlich nehmen möge, — ob er al8 Opfer fallen, oder ob
das Miniftertum wirklich die Anträge des Oberconfiftoriums gebührend zuruͤck⸗
weifen wird , oder ob fich nicht nöthigenfalls noch andere gefegliche Mittel zu
deſſen Bertheidigung auffinden lafien, — eine mohlthätige Wirkung hat
der Vorgang bereits zur Folge gehabt: er hat weſentlich beigetragen, bie
Pfälzer Droteftanten aus dem Schlafe, aus der Gleichguͤltigkeit zu erwecken,
in die ſie feit Längerer Zeit bei dem Kampfe um ihre kirchliche Freiheit vers
fallen waren. Auf eine nur leife Anregung bin, und ohne alle Bekannt⸗
machung, verfammelten fi am 10. Nov. d. 3. zu Edenkoben Bürger aus
allen Theilen des Kreiſes, um zu berathen, was bei bem ſich eindrängenden
Glaubenszwange zu thun fei, bei dieſer Zuruͤckfuͤhrung auf länoft dem Grabe
verfallene Dinge, in diefer proteftantifchen Ketzerinquiſition. Dan hatte
nicht nöthig, darauf auszugehen, neug Rechte zu ertämpfen , fondern es
handelt fi) — ganz con ſervativ — bloß darum, bie geſetzlich beſtehenden
zu wahren.
Die Verſammlung, von der kaum Jemand geglaubt haben mochte,
baß fie über 40 — 50 Perſonen betragen werde, beftand, zur Weberras
[hung Aller, aus mehr als 200, — und zwar waren es durchgehende
nur hoͤchſt achtbare Bürger, Weltliche und Geiftliche, Mitglieder der Stände:
verſammlung und des Landraths, Bürgermeifter und Gemeinderäthe, Sys
nodals und Presbpteriumsmitglieder c. Ein Geift befreite alle Anweſen⸗
den, mit Stimmeneinhelligkeit ward eine Adreſſe an ben Künig
befchlofien und von allen 205 Anmefenden unterzeichnet, auf den Grund ber
65. 52 und 56 des Religionsedicts, alfo der Berfaffungsurkunde, in wel
RK
a
ven gabeikſchulen
cher entſchieden Beſchwerde gefuͤhrt wird, gegen die Anorbnungen ımb
Aberhaupt das ganze dem Beifte der Bereinigemgsurkunde geradezu entgegen⸗
geſetzte Streben ber geiſtlichen Oberbehoͤrden, zumal des Oberconfiftortung,
und worin der Schug des Staats angerufen mb die Bitte um Anorbuung
einer außerordentlichen Generalſynode ausgeſprochen wird. —
Em ſchoͤner Jufall fügte es, daß es an Kuther's Geburtätage wer,
an welchem die Verſammlung ſtattfand. —
Moͤgen bie ſelbſtſuͤchtigen Werkzeuge der Berbummung endlich erken⸗
nen, daß, während fie ſich ihrem Biele bereits nahe gewaͤhnt, dieſes in weitere
Gerne als je von ihnen gerückt iſt; mögen fie einfehen, daß ihre Arbeit fett
anderthalb Jahrzehnten, dem Erfolge nach Beine andere war al& die des
Opfiphus oder der Danaiden, einſehen, baf fie gleich vergeblich wie jene
fi abmähen, den Stein den Berg hinaufzuwaͤlzen ober ein durchloͤchertes
Faß zu fühlen ®). G. Fr. Kotb.
F.
Fabrikſchulen ſind Elementarſchulen fuͤr die in Fabriken ar⸗
beitenden Kinder. Sie werden haͤufig von den Fabrikherren ſelbſt errich⸗
tet und unterhalten. Sie koͤnnen loͤblich und verdienſtlich ſein, wenn
fle beſſer, als die Kinder vielleicht ſonſt in Ihrer Umgebung, in denſelben
unterrichtet werden. Uber «6 wird fehr bedenklich, fie ohne Weiteres
als Erfah der gewöhnlichen Volkoſchulen gelten zu laflen. Die ftärkften
Intereſſen beftimmen häufig die Fabriksherren und felbft die armen El⸗
tern der Kinder, die Arbeitszeit der Kinder weiter auszudehnen, als es für
genägende Erziehung und Bildung in Verbindung mit der nöthigen freien
Zeit und Freiheit für die übrige koͤrperliche und menſchliche Entwidelung
zutäffta ift. Hier muß nothwendig die Oberaufficht des Staates heilfam
fchügend einfchreiten.. Es ift höchlichft zu wuͤnſchen, daß für Wohlftand
und die Kraft und vielfeitige Mationalbildung, daß felbft zur Foͤrderung
unferer agrarifchen Culture das Fabrikweſen bei uns gefhüst und gefoͤr⸗
dert werde. Aber wir wollen ihm nimmer bie höhere menſchliche Ents
widelung und die Geſundheit unſerer Mitbürger mehr zum Opfer brins
gen — als infoweit dieſes aͤhnlich mie auch bei den übrigen Erwerbs⸗
zweigen unferer aͤrmern Mitbürger überhaupt unvermeidlich ber
8) Die meiften (Alteren) Actenftüdte über bie vereinigte proteftantifche Kirche
der Pfalz findet man abgedbrudt und beleuchtet in dem Werke: „Die Pro⸗
teffantifh sGvangelifhe unirte Kiche in ber Bairifchen
Pielz Bon Dr. 9. E. ©. Paulus. (Heidelberg 1840, bei ©. F. Win:
ter.) an bat zwar biefes Werk meines Freundes mit Befchlag belegt, aber
— widerlegen konnte man es nit! —
Baction — Sahne 285:
Fall iſt, Hier durch diefe, dort durch jene Urſachen. Und da die Fa⸗
bei uns erft neu in größerer Ausdehnung entſteht, fo ift es
um. fo leichter, Kabrikherren und Eltern die Bedingung unverfümmmerter
Ausbtibung und Befundheit der Kinder zu machen und darüber zu was
ben. Sind die Fabrikſchulen in diefer Hinficht beſſer oder gleich gut
cingerichtet als die allgemeinen Schulen, fo find fie zu billigen, ſonſt
wicht. Viele deutfche Länder haben ducch neuere Verordnungen dieſen
Gegenſtand heilſam zu ordnen geſucht. Weiteres im Artikel Gewerbes
und Fabrikweſen. C. Welder.
Faction. Der hochgeehrte Mitredacteur ber erften Auflage des
Staatslexikons, von Rotteck, der fich in der Sache mit dem vor
ſtehenden Auffage einverfianden erklaͤrte, hatte über bie Bebeutung bed
Warte „Zaction” einige abmeichende Anfi’oten ausgefprochen. Zur
Vermittlung des nur ſcheinbaren Widerſpruchs wenige Bemerkungen.
BR. hatte namentlich hervorgehoben, daß im Begriff der Faction nicht
4106 die Berfelgung politiſcher Zwecke mit hartnaͤckiger und Leidenfchafts
licher Thaͤtigkeit liege, fondern auch die Verfolgung eines ſelbſtiſchen
ober body particularen Zwecks durch rechtlich oder moralifch verwerfs
liche Mittel, Sehr wahr. Doc darf man wohl behaupten, daß jede
bartnddige Leidenfhaft, weil fie vor Allem nur ſich felbft zu befrie
digen fucht, fchon an ſich ſelbſtiſch und particular in ihren Zwecken ift,
ud daß fie im ruͤckſichtsloſen Streben nach Befriedigung bald auch zu
verwerflichen Mitteln greifen wird. Zufällig und voräbergehend
Tann aber doch das Intereſſe einer Yaction mit dem Geſammtintereſſe
ſowohl in Zwecken als in Mitteln übereinflimmen, ohne daß fie dadurch
allein als action zu eriftiren aufhört. Zur Unterfceibung von der
pelitifchen Goterie, die gleichfalls jelbftifche ober particulare Zwecke mit
verwerflichen Mitteln durchzuſetzen fucht, fo wie im Einklang mit dem
gewöhnlichen Sprachgebrauch, ift alfo die „leidenſchaftliche Thaͤtig⸗
keit“ das eigentlich charakteriſtiſche Merkmal der Faction.
C. Welcer.
Fahne iſt ein Stuͤck Zeug an einem Stabe von einer beſtimmten
Farbe oder mit einem beſtimmten Bilde gezeichnet und zu einem oͤffent⸗
lichen Symbol beſtimmt. Als Heerzeichen waren die Fahnen ſchon im
Alterthum bekannt. Nach Diodor ließen die Aegypter Thierbilder auf
Spießen vor den Kriegern hertragen. Die Roͤmer fuͤhrten als Feldzei⸗
chen anfangs ebenfalls Thierbilder, die Woͤlfin, den Eber, dann den Ab⸗
ler. Daneben aber hatten fie auch Fahnen. Seit Conflantin ſchmuͤckt⸗
der Anfongsbuchftabe von Xo⸗oroc die Fahnen. Später führten auch bie
Kirche und die Gewerbe Fahnen. Man fuchte in diefen Symbolen bie
beitigften Pflichten beſtimmter Vereine auszudrüden und fie alfo durch
dieſe Pflichten felbft und die religiöfen oder bürgerlichen Auctoritäten,
unter deren Wehr und Scug fie fanden, und die Andeutungen ihrer
Namen und Wappen zu heiligen, fo daß fie zum Heiligtum und zur
hoͤchſten Ehre des Vereins, ihre verfchuldeter Verluſt zur Schande ge
zeichte. Es wurde bei ihnen gefchworen (Fahneneid), fie dienten zum
Euer
286 Fahnenlehen — Finanjgefeb.
Ausdruck vom den wichtigften Entfchlüffen und zur Ermunterung in ben:
felben. Da die Menſchen finnlicher Natur find und gut gewählte Sym⸗
bole ergreifender und verſtaͤndlicher als bloße Worte für die Maffen ganze
‚ Gedanken» und Gefühlseeiche bezeichnen, ſo find fie, gut gewaͤhlt und
benutzt, vom unermeßlicher Wirkung ; fo die Oriflamme der franzd—⸗
ſiſchen Kriege, Die heilige Fahne des Propheten bei ben Tuͤrken,
die breifarbige Sahne bei den Franzoſen/ zumal in der ulirevolution, oder wie
die Fahne, welche im ber. Schlacht von Prag 1757 , der Feldmarſchall
Schwerin ergriff und mit weldyer er, dem Heldentode ſich mweihend,
die wantenden Batalllone zum Steben brachte, oder diejenige, ‚welche
Mapoleon in ber Schlacht von Lodi 1796 den Sturmeolorinen voran
trug Das Mecht Fahnen zu tragen, aufzupflanzen, hängt in freien
rechtlichen Zuſtaͤnden ganz vorn bem Rechte: ab, ben dadurch ausgeſptoche⸗
nen Gedanken auszufprechen und zu verwirklichen. Mer kein fremdes
Macht dadurch verlegen: oder’ fi anmaßen und kein Zeidyen zum Unredyt
geben will, der hat das Recht, beliebige Fahnen aufjupflanzen’ und zu
tagen: So erklärte es auch die badifche Geſetzgehung, nachdem we:
gem vorübergebender Beitverhältniffe die Bundesbefhläffe vom 5. Juli
4832 und hiernach auch eine badifcherproviforifche Verordnung Beſchraͤn⸗
tungen aufgeftellt hatten, die man auf bie ſchwarz roth goldene deutſche
Fahne be50g. Da die deutſche Nationalgefinnung , die fie bezeichnen Toll,
Eein Unrecht iſt und die” deutfche Nation Feine Feindliche umd Feine rechts⸗
verlehende Verbindung ift, fo wurde durch das ne ihr Ber:
bot befeltigt. (S. Affoeintion). E. Welcker
Fahnenlehen: So hießen bie vornehmeren, bie eigentlichen
relchefuͤrſtlichen Lehen, bei welcher der Kaifer aufer dem faiferlichen
GSerichtebann ober dem Grafentechte audy bie Eaiferlihe Heerbanns⸗ ober
urſpruͤnglich herzogliche Gewalt in einem Reichslande einem Herzog oder
Reihsfürften verlieh, wobei die Fahne das Symbol war und bie Be-
lehnung von dem Kaiſer ſelbſt, früher mittelft der Weberreichung einer
Fahne für. jedes übertragene bejondere Reichsfürftenland vorgenommen
"worbe. (8. Belehnung). : C. Welder.
Finanzgeſe. Bon nicht geringerer, in mancher Beziehung noch von
ein —2 als die geſetzliche Feſtſtellung der Mittel und Wege zur Be⸗
friedigung des Staatsbedarfs und folgeweiſe die Feſtſtellung dieſes Bedarfs
ſelbſt — das eigentliche Fin anzgeſetz — iſt die ſpaͤtere Prüfung des Voll⸗
zugs und die geſetzliche Anerkennung ſeiner Richtigkeit, die Genehmigung oder
die Ruͤge der eingetretenen Abweichungen. Es kann in dem Finanzgeſetze das
Gleichgewicht zwiſchen Einnahmen und Ausgaben vollſtaͤndig hergeſtellt, ein
Ueberſchuß fuͤr außerordentliche und unvorgeſehene Ausgaben vorgeſehen ſein,
und wenn das Jahr umlaufen iſt, zeigt ſich ein Deficit und eine Vermeh⸗
"zung. der fehmebenden Schu. Diefe Erfcheinung ift in Frankreich nicht
nur in einzelnen Jahren vorgekommen, ſondern ſie bildet die Regel in einer
Reihe von Jahren.‘ Es kann alſo durch bie Factoren der geſetzgedbenden Ge⸗
walt die fhönfte- Ordnung im Staatshaushalte hergeſtellt ſcheinen, aber in
der Wirklichkeit beſteht das gerade Gegentheil, ſei es durch Die Gewalt der
*
An
Finanzgeſetz. 287
Umſtaͤnde, welche die Voranſchlaͤge veraͤnderten, oder durch das Verſchulden
der Behoͤrden, welche ſich Nachlaͤſſigkeiten oder geſetzwidrige Maßregeln er⸗
laubten. Gegen ſolche Uebelſtaͤnde helfen die von der Regierung angeordne⸗
ten Controlen nicht, und es genuͤgt ebenſo wenig der Rchnungshof,
der ſich in der Regel auf die Pruͤfung der Rechnungen in formeller und ma⸗
terieller Beziehung obne Ruͤckſicht auf ihre Geſetzlichkeit und auf die Voran⸗
ſchlaͤge des Budgets beſchraͤnkt. Waͤre in conſtitutionellen Staaten die Pruͤ⸗
fung der in fruͤheren Jahren eingegangenen Staatsgelder aus deren Verwen⸗
dung den Staͤnden entzogen, ſo wuͤrde ihre Mitwirkung bei dem Finanzge⸗
ſetze nicht mehr von Bedeutung ſein. Sollte aber die letzte Controle der
Staatsrechnungen nicht bei den Ständen, ſondern bei dem Rechnungshofe
ſtattfinden und dort nicht eine bloße Taͤuſchung fein, fo müßten die Mitglie⸗
der der oberfien MRechnungsftelle nicht von der Regierung beftellt werden,
welche controlirt werden fol, fondern von den Ständen. Allein felbft In
diefem Falle koͤnnten biefe der Vorlage der Staatsrechnungen nicht entbehren,
weil man bie Ergebnijfe der Vergangenheit fernen muß, um die Bebürfnifie
der Zukunft mit Wahrfcheinlichleit bemeffen zu innen. So wie aber felbft
abfolute Regierungen die Nothwendigkeit fühlen, Uber die Rage der Finan-
zen mehr oder weniger vollftändige Mittheilungen zu veröffentlichen, fo fpricht
in conſtitutionellen Regierungen Alles für die Vorlage der Staatsrechnungen
der abgelaufenen Jahre an die Kammiern. In Frankreich gefchieht dies In
der Form eines Geſetzes, la loi des comptes; anderwärts erhalten die Kam⸗
mern diefe Mittheilungen ohne Geſetzentwurf und fie bringen ihre Genehmi⸗
gung und Ihre Ausftellungen in Adreffen an die Regierung. Diefer Gegen-
ftand ift in dem vorftchenden Auffag v. Rotteck 's überfehen und es find
ſonach da, wo von der Begriffsbeflimmung der Finanz⸗Geſetze und Gegen⸗
fländen die Rede war, die Staatsrechnungen einzufchalten: für ihre Prüfung
und Erledigung müflen nach der Natur der Sache die nämlichen Beſtim⸗
mungen gelten, wie für bie in dem eigentlichen Sinanzgefege zufammenger
faßten Voranfchläge der Einnahmen und Ausgabm. Gerade um biefen
Punkt aber drehen fich hauptfächlich die oben gedachten Verſuche der badifchen
erften Kammer, ihre Wirkſamkeit bei Finanzſachen auf Unkoften der verfafs
fungemäßigen Rechte der zweiten Kammer auszudehnen, Verſuche, die auch
auf dem legten Landtage 1846, jedoch ohne Erfolg wiederholt worden find.
Eben der Umftand naͤmlich, daf die fogenannten Rechnungsn achweiſun⸗
gen nicht in der Form von Gefegentmürfen vorgelegt und erledigt werben.
auch nicht, wie die einzelnen Budgets in einem Gefege, dem Finanzgefege,
sufammenfließen, dient der erften Kammer zum Vorwande, einzelnen Be:
fhlüffen der zweiten Kammer in der Adreffe über die Rechnungsnachweiſun⸗
gen ihre Zuſtimmung zu verfagen. Nun ift zwar aus ben oben anaeführten
Stellen der Berfaffungsurkunde klar, daß nicht nur jeder die Finanzen betrefs
fende Geſetzentwurf, fonden Vorfchläge irgend einer Art,
wenn fie Sinanzgegenftände bitreffen, und Finanzſachen über:
haupt zuerſt an die zweite Kammer gebracht werden, wie wenn fie von diefer
angenommen find, an die erfte Kammer gelangen, welche über die Ans
nahme oder Nihtannahme im Sanzen ohne alle Aendes
am — Es kann ferner keinem Zweifel untetllegen, baf
Finanzgegenftdnde find, daß alforjeme
auch dann auf fie Anwendung finden, wenn fie nicht
Wen | tin G feg erledigt werden. Deffen ungeachtet hat die erſte Kam⸗
— — —— 1 umd 1833, zwar mit der zweiten
Kanne ausgefprochen, aber einzelnen
arg — —*— — ———— und Ausgabepoſten fuͤr nicht ge⸗
aͤrt wurden, ihre Zuſtimmung verſagt. Man hat nun bisher,
—* ——— zu laſſen, was der Regierung nur unangenehm
Gen in tönnte, are Ausweg getroffen , vr die Adreſſe, ſowie fie von der zwei⸗
war, fteben blieb und die Bemerkungen der erften Kam⸗
mer am Shluf ß, beigefhat wurdenz dabei verwahrte ſich die zweite Kammer
ausdı dahin, daß durch ihre Einwilligung zu diefem Auskunftemittel
verfaſſungsmaͤßigen Rechte in Beyiehung auf Fınanzgegenftände nichts
vergeben fein jolle. Fuͤr die Zukunft aber dürfte das einfachfte und befte Mit⸗
um über ähnliche Streitigkeiten wegzukommen, in der Vorlage eines
—*
twurfs über tl die Rechnungsnachweiſungen gefunden werden. Aler-
ite alsdann bezüglich auf Poften, ‚die nicht für gerechtfertigt erkannt
wuͤrden, eine Bereinbarung mit der Regierung ſtattfinden ; es würdedaher an
je Stelle der ——— zwiſchen beiden Kammern, eine Er⸗
rtterung zwiſchen der Regierung und ber zweiten Kammer treten. Allein
gerade dies ‚ nad) unferer Anficht, ein Vortheil. Bisher war naͤmlich
dieſe fung des Staatshaushaltes in der abgelaufenen Finanzpe⸗
riode nicht * mehr als eine Spiegelfechterei. Ihre Ergebniffe mochten Eins
fluß haben auf die Abftelung von Mifbrägschen für die Zukunft, auf eine
forgfältigere Betrachtung der Woranfchläge; allein feit 1831 hat man nicht
mebr vernommen, baß Ausgaben , -die von der Kammer für nicht gerechtfer-
tigt erklärt worden waren, zum Erfag gefommen wären, Es lag nur eine
Adreſſe vor, welcher die erfte Kammer ihre Widerfprühe angehängt hatte,
8 war kein Gefes vorhanden, welches der Regierung zur Norm dienen
mußte und bie Befchlüffe verfhwammen in dem Meere der Vergangenbeit.
Eine foldye Scheincontrole [hyüst weder die Steuerpflichtigen gegen die Fol«
gen ungebübrlidyer Mehrausgaben, noch den Finanzminifter, welcher pflicht⸗
mäßig gegen nicht zu rechtfertigende Anforderungen an die Staatsmittel auf:
treten wollte, 8. Mathy—
Sinanzoperationen. Der Begriffvon Finanzoperationen ift
nicht befchränft auf ſolche Geld: und Creditgeſchaͤfte, welche von den Regie=
tungen ausgehen, fondern erſtreckt fi) auch auf bedeutendere Unterneh⸗
mungen an dem Geld⸗ und Capitalmarkte, wobei die Staatsverwaltung nur
mittelbar oder gar nicht betheiligt iſt. Nicht allein der Staat hat Kinanzen ;
08 haben fie auch Gemeinden, Sorporationen, Geſellſchaften, nicht nur bei
jenem , fondern auch bei diefen, kommen daber Sinanzoperationen vor. Da
aber zu ſolchen in der Regel entweder die Genehmigung des Staates erfordera
lich oder die Staatsaufſicht geboten if, fo liegt «8 jn der Aufgabe der Fi⸗
Nanzverwaltung, fo zu verfahren, daß weder die nügliche Thaͤtigkeit vereinter
Kräfte gehemmt, noch durch truͤgeriſche Giperulationen das Publicum ges
Finanzoperationen. 289.
fährbet weorde. Einer befondern Art von Privatgefchäften, wie fie nicht
vorfommen folten, erwähnen wir im Vorbeigehen. Als nach dem Frie⸗
den die europälfchen Staaten darauf bedacht waren, ihre durch den Krieg
gerrätteten Finanzen zu ordnen, fand ihr Beiſpiel Nachahmung bei mehrer
zen großen Srundbefigern in Deſtreich, namentlich auch ungariſchen Mag⸗
naten. Aus den zwanziger Jahren fchreiben fich eine Meihe von Anleihen
ber, welche durch Vermittelung angefehemer Däufer gegen Dinausgabe von
MPartialſchuldſcheinen aufgebracht wurden, deren Inhaber fi) dann auf das
Bitterfte getäufcht fahen, während die Schuldner firaflos ausgingn. Mäs
heres hieruͤber findet man in dem Werke des edein Ungarn Graf Stephan
Szechenyi, über den Grebit (deutfch bei Maret in Leipzig, 1830) und in
dem Buche: Die Kebrfeite dee modernen Sinanzoperationen mit beſonderem
Bezug auf die ungarifchen Privatanleihen mittelft Partialobligationen, eine
aktenmäßige Warnungstafel, Heidelberg bei Oswald 1832. In dieſem
Buche werben merkwürdige Auffchlüffe gegeben über die fürftt. Anton
Graſſalkowich'ſche Anleihe von 2 Millionen Gulden Conventionsmünge
vom Jahr 1825, „auf fichere Hypothek gegen 6 % jährlicher Binfen,” wos
von bald weder Zinfen noch Tilgung mehr bezahlt wurden und deren Schuld:
papiere nach mehrfachen VBergleich6verfuchen auf 15 bis 20 % des Nenn»
werths ſanken. In die gleiche Kategorie fallen bie geäflih C. A. Feſt e⸗
ttes’fhen Anleihen von 900,000 Gulden vom 2 „Januar 1828 und 2 Mile
lionen Gulden vom 1. Juli 1828; ferner die gräflih Adam Joſeph Das
die ’fche und Adam Hadik v. Futak'ſche, fo wie die graͤflich Joſeph Eſt er»
basy’fche Anleihe.” Solcher Unfug war freilich nur dort moͤglich, wo fich
der Schuldner hinter ungarifche Adelsprivilegien und Geſetzeschaos zuruͤck⸗
ziehen konnte, unerreichbar dem getäufchten Gläubiger. — So tief aber bie
Wunden fein mögen, welche derlei Beifpiele einem gewiffen Zweige des Gres
dits fchlagen , fie koͤnnen ben Grebit felbft eben fo wenig vernichten, als früs
here oͤſtreichiſche und ſpaͤtere ſpaniſche verdeckte Staatsbankerotte den öffentlis
chen Credit vernichtet haben. Unter den Finanzoperationen von Geſellſchaften
nehmen bie Actimunternehmungen bie wichtigſte Stelle ein (man vergleiche
den Artilel Actiengefellfihaften). Es haben insbefondere die zahlreis
"hen Gefellfchaften zur Erbauung von Eifenbahnen, neben ben auf
Staatskoſten untemommmm Bauten, vermehrt und ermuthigt durch
die lebhafte Neigung, Capital dabei anzulegen, weſentlich dazu beigetragen,
ben Beldmarkt in den gebrüdten Zuſtand zu verfegen, in welchen er ſich fett
Länger als einem Jahre (feit September1842) befindet. Wie früher zu den
abenteuerlichfien Planen von Bergwerks⸗ Handels u. a. Unternehmungen
in fernen Welttheilen, fo fanden ſich inneuerer Zeit Liebhaber zu Eiſenbahn⸗
aetien aller Art, ohne den Plan näher zu prüfen oder zu Eennen. Dabei was
ren Solche, welche bie Stimmung benugten, um bie gezeichneten Actien mit
Gewinn zu verkaufen, Andere, welche in der That glaubten, ihe Geld vor⸗
theilhaft angelegt zu haben, oder welche bei dem Bau felbft intereſſirt waren.
Was für Schwindeleien und Künfte in England getrieben wurden, barüber
enthielt die freie englifche Preſſe im legten Jahre vielerlei Aufſchluͤfſez nament⸗
lich erwarben fich die Times ein großes Verdienſt, indem fie auf die Folgen
Suppi. Staatslex. 10
20 Sinanzoperationen.
einer zu rafchen Aenderung in ber Anlage ungeheuer Capitalien hinwies und
das Treiben der Agioteure aufdeckte. Dort erfordert auch die Genehmigung
durch das Parlament und die Hinterlegung bedeutender Cautionen Zeit und
Koften, und wirkt abfchrediend gegen leichtfertige, auf Taͤuſchung berechnete
Projecte; dennoch fah fich die Geſetzgebung veranlaßt, bie Auflöfung bereite
gebildeter Geſellſchaften, wenn ſich die Mehrheit von der Unzweckmaͤßigkeit
bes Unternehmens überzeugte, zu erleichtern. Sn Frankreich, wo das ges
fammte Eifenbahnneg gefeglich beftimmt und bie Ausführung dem Zuſam⸗
menwirken des Staates, der Bezirke, Gemeinden und Privatinduftrie übers
— ‚ zeigt fich ebenfalls die Nothwendigkeit, den Theilhabern, denen es
ſchwkr faͤllt, ihre Verbindlichkeiten zus erfüllen und die ihre Papiere, bei ben
gefuntenen Preifen, nur mit großem Verluſte verdußern könnten, von Sei⸗
ten des Staats zu Hilfe zu kommen. Es follen zu biefem Zwecke ben nädhs
fen Kammern (Ende 1846) Gefegentwürfe vorgelegt werben und bie Friſten
zur Vollendung bes Baues, alfo auch zur Leiſtung ber Einzahlungen, zu vers
längern und die Gefellfchaften von der Ausführung ber Zweig⸗ und Nebenlis
nien zu entlaften, alfo das Baucapital zu ermäßigen. Ob ber Staat noch
weitere Opfer bringen und zu einer Anleihe fchreiten wird, um ben bebränge
ten Geſellſchaften mit Geld unter bie Arme zu greifen, iſt ungewiß. — D e fi
rei ch, welches den Grundſatz feſthaͤlt, daß der Staat bie Hauptlinien bauen
ſoll, welches ferner, um größere Störungen auf dem Capitalmarkte zu ver:
meiden, erklaͤrt hat, ba vor Vollendung ber im Bau begriffenen Unterneh⸗
mungen, bas heißt, vor bem Jahre 1850 Leine neum Geſellſchaftsbahnen
conceffionirt werben follen, weshalb aud) ein Geſuch für die Zyroler Bahn
(Verona⸗Bregenz) zur Zeit abgewiefen wurde, fab fich in neuefter Zeit, aller
Vorficht ungeachtet, dennoch veranlaßt, dem Actienmarkte zu Hilfe zu kom⸗
men. Sin der Wiener Zeitung vom 19. November 1846 erfchien bemnady
eine Bekanntmachung vom 18, wonach bei der Staatsfchuldentilgungsanftalt
eine außerordentliche Greditcaffe eröffnet wird, welche die Beftimmung bat,
aus den ihr befonders zugemiefenen Geldmitteln beftimmter inländifcher, bes
reits conceffionirter, auf Erweiterung und Benugung ber neueren Communis
cationsmittel berechneter Gefelfchaftsunternehmungen zu Preifen, welche ih⸗
tem wahren Werthe entfprechen, im geeigneten Wege anzulaufen. Das Hof⸗
Eammerpräfibium, welchem der Vollzug übergeben ift, erklärte zugleich, daß
der Preis der Eifenbahnactien nady dem Ertrag zu 4% bemeffen werben fol.
Ueber die Mittel zur Dotirung diejer außerordentlichen Greditcaffe ift nichts bes
Fannt gemacht worden. Doch deutet hierauf die Nachricht, daß die Central⸗
Gaffe:Anweifungen vermehrt werden follen. Diefe Papiere, welche feit 18.
Juni 1842 von der Bank auf Rechnung des Staates in Umlaufgefegt werben
(3u 50, 100, 500 und 1000 Sulden), dienen als Gelb, da fie jederzeit gegen
baar eingelöft werden und tragen 3 % Zinſen, weshalb fie ſtark gefucht wer⸗
den; ihr Betrag, der fih auf 5 Millionen belaufen ſoll, ift daher mohl noch
einer Ausdehnung fähig. Diefe Finanzoperation der Öftreichifchen Regie:
rung giebt mittelft einer Vermehrung der fchwebenden Schuld dem Actien-
marfte und folgeweife dem Papiermarkte überhaupt eine befjere Stimmung
weldye nicht nur ben Verkauf ber erworbenen Actien erleichtert, fondern auch
Sinanzoperationen. =
auf die Erfeichterung eines größeren Anleiheunternehmens (man fpricht von 40
Alllionen) berechnet ſcheint. Für die Kenntniß ‘der oͤſtreichiſchen Finanz⸗
operationen iſt zu empfehlen: das Buch des Profefiors Joſeph Salomon, bie
Sftweichtfchen Staatspapiere und Insbefondere die Staats⸗Lotterie⸗Anleihen,
ein nichlicher Leitfaden und Rathgeber für Banquiers und Kapitaliften, Wien,
Gel Cart Gerold, 1846. — In Baiern hat der Staat bekanntlich Die Muͤn⸗
Gensäugsburger Bahn der Geſellſchaft abgekauft und die ſaͤchſiſche Regierung
iſt ebenfalls Willens, mit dee Geſellſchaft für die ſaͤchſiſch⸗ baierſche Eiſenbahn
wegen Uebernahme des Unternehmens ein Uebereinkommen zu treffen, wozu
eine Generalverfammlung aufden 3 December nad) Leipzig berufen wurde.
In Dreufen Liegt das Eifenbahnmwefen fehr im Argen. Das neue Banks
ſtatut vom 5 October 1846 Eonnte hier nicht helfen, da auf Eifenbahnactien
Peine Darlehen gegeben werden; auch im Uebrigen wird die Bank ihre Beſtim⸗
mung, „den Geldumlauf des Landes zu befördern, Capitalien nutzbar zu
machen, Handel und Gewerbe zu unterftügen und einer übermäßigen Stei⸗
gerung bes Zinsfußes vorzubeugen” — nur in fehr befchränttem Diaße erfüllen
Tonnen, da mit dem Einfchußcapitale von Privaten im Betrage von 10 Mits
Uonen Thalern und der Vermehrung ber Noten bis auf 15 Millionen bei
einem Inſtitute, welches nach wie vor von Staatsbeamten geleitet wird, bie
Anforderungen bes Publicums nicht erfüllt, Privarbanten aber zur Beit nicht
geflattet werben. Wir ſehen baher im gegenwärtigen Augenblicke in Preußen
die Eiſenbahnarbeiten ſtocken, die Directionen Im Streite mit ben Actiondeen,
bie Regierung außer Stande zu helfen, well größere Grebitoperationen an bie
Suftimmung nicht vorhandener Reichsſtaͤnde gebunden find, Verlegenheiten
Aberall, bie wohl nur durch Worthalten in der Werfaffungsangelegenheit zu
Iffen ſind; Worthalten iſt — wie obm von Rotteck bemerkt, nicht nur die
ſchoͤnſte, befte und vortheilhaftefte Finanzoperation, ſondern aud) das befte
Verwaltungsprincip. Gar häufig kommt es vor, daß man bie eigentliche
Bedeutung von Finanzoperationen nicht aus dem angegebenen Zwecke ent
nehmen kannd Hierüber iſt unter Agtotage Einiges gefagtz als weiteres
Beifptel führen tote das franzoͤſiſche Sparcaffengefeg von 1837 an, wonach
bie Depofitencaffe des Staates die Sparcaffengelder empfängt und dafür 4 $
Renten zum Nennwerthe anlauft, — was eigentlich nichts Anderes iſt, als
eine verfteckte Anleihe aus den Erfparnifien des Volkes, bie man billiger ers
hält, als man fie von den großen Geldhändlern erhalten würde. Sodann
die von 1837 bis 1842 erlaflenen Gefege über bie öffentlichen Arbeiten, wo⸗
nach der Aufwand proviſoriſch durch die Mittel ber ſchwebenden Schuld, defi⸗
nitiv Durch die Dotation der Amortifationscafle für ben Ankauf von 5% Ren⸗
tem gedeckt wirbd. Dieſe Dotation wird barum nicht für ihre eigentliche Bes
ſtimmung verwendet, weil und fo lange der Capitalpreis der 5 Proc. Rente
über dem Nennwerth fleht. Die Geſetze aber, welche bie Regierung ermaͤch⸗
tigen, fie zum Anlauf von koͤniglichen Bons (ſchwebende Schuld) zu verwen⸗
den, bedeuten eigentlich eine verfteckte Aufhebung des Tilgungsplanes, von
welchem die 5 Proc. Renten factiſch ausgefchloffen und die hierzu beflimmten
Mittel anderweitig verwendet werden. Wir beſchraͤnken uns hier auf Anbeus
tungen, ba bie wichtigen Fianzoperationen in befonderen Auflägen behan⸗
19*
Bun
' (Kisrtifstien,- ‚Arftgnaten, € ——* a
ats äpiexs, ee Eönnen aber nicht umbin, bier
Dub vor vlelen Siaanzoperationen ein Ausſpruch gilt,
pafotupmentzeffen. ‚NRichelieu fagt nämlich in
Teſtamente: le peuple. n’est point taxe, il est pille ; les
mt pas per par l'industrie , mais par la rapine,. Und Goethe‘
— — und nee ben —— Ge:
: „Die — GbR, ‚baren Einfluß man 1 für e wichtig
;: Eomnmen nic merwiper ip VBeracht denn wenn es dem Ganjen feblt, fo
mon dam Einzelaen nung abnehmen, was t mühfam zuſammangeſcharrt
— ſo iſt der. Stoat — reich genug.” —
Karl Mathy—
BER FOR FEN. (Bu Seite 604, Beile 2 von oben.) Die erfle
g (A), bie Technik bed —— faßt blos das⸗
jenige in — ge jeder Walbwirth, ohne * hung auf den Staat
und auf die Verſchiebenhelten, welche qus der Art des Eigenthums fol⸗
‚gen, unter den gegebenen Umſtaͤnden zu wiſſen und zu thun hat, Diefe
MWaldwirthſchaft am fich” war von W. 2. Hartig eingetheilt im: Dolz: |
zucht, ugung , Sorftfehng und Korfttaration. Mach dem
‚Stande der M Wiſſenſchaft zerfältt fie gaigneter in folgende Hauptftüde,
“h Die Walbbaulehre, melde von Dervorbringung und Ernte ber
Malberzeugniffe handelt. Sie erfordert vor Allem Kenntniß der forft-
wirthfchaftlichen Eigenthämlichkeiten, Standort und Vorkommen, Eigen:
ſchaften in Bezug auf Anbau und Schlagführung,, fodann der Brauchbars
Leit der verfchiedenen Dolzarten. Sie bat in ihrer erften Abtheilung mit
ber Weſenheit des Waldbaues und deren Verhältniffen zu anderen Fächern
der Bandescultur, mit dem Charakter und den Entfcheidungsgründen zur
Wahl der verfchiebenen Betriebsarten einleitend bekannt zu machen.
In ihrer zweiten Abtheilung enthält die Waldbaulehre die Einzelnheiten der
Holzzucht, deren vormalige Eintheilung in „natürliche und „Lünftliche”
dem Fortfchritte ber Zeit weichen muß, da nun die ſogenannte " natürliche
Verjuͤngung“ nicht weniger, häufig nody mehr Kunft erfordert, als die
fogenannte „kuͤnſtliche“/. Die — begreift demnach 1) den Holz⸗
anbau (Saat und Pflanzung der Waͤlder, — die Saat immer mehr auf
den Zweck der Pflanzenerziehung beſchraͤnkend, das Gebiet der Pflanzung
durch Sicherheit und Wohlfeilheit des Verfahrens immer mehr ausdehnend),
2) die Schlagfuͤhrung, d. h. alle Operationen der Faͤllung und Ausbeu⸗
, tung des Holzes, ſowohl zum Zwecke feiner Ernte, als auch zum Zwecke des
befjeren Wuchſes und ber Nachzucht. Unter diefen Operationen find die
Durchforſtungen, mittelft deren das dem Alter und Standort ange⸗
meſſene Verhätmiß der Stammzahl und Bodenbefhäftigung erhalten wird,
in neuerer Zeit immer wichtiger geworben, theils wegen ihres günftigen
Einfluffes auf den Zuwachs des bleibenden Beftandes, theils auch durch die
Schon in der Jugend beginnenden und bis zur Haubarkeit oͤfter wiederholten
Forſtweſen. 208
Zwiſchennutzungen, welche dem Nachtheile eines zu [päten Ertengegenuffes
und dem VWorwurfe bes Zinfenveriuftes weſentlich entgegenwirken. Die
Durchforſtungen finden hauptfächlih Antoendung bei dem Hochwald⸗
betrieb, welcher den Beſtand feine relative Haubarkeit erreichen läßt, um
dann befien Wiederanbau durd, den abfallenden Samen (natürliche Ders
jüngung) oder durch Saat oder Pflanzung zu bewirken. Diefer Hochwalb⸗
betrieb iſt in der Regel ein [hlagmeifer; ausnahmsweiſe kann mitunter
noch jest Plantarwirthſchaft, d. h. das bloße Ausfehmeln ber je
ſtaͤrkeren und aͤlteren Stämme, ba raͤthlich werden, wo es barauf ans
' Bommt, den betreffenden Waldort flets mit einer entfprechendben Anzahl
ſchon ſtarker Stämme, untermifcht mit jüngeren, bedeckt zu erhalten. Die
Niederwaldwirthſchaft bewirkt nach Källung des Schlags die Wieberherftels
ung des Beſtands hauptfähhlich durch Stod: und Wurzelausfchlag ber mit
Rüdficht hierauf gefällten Stämme, kann jedoch, je nachdem bie Alter werdens
ben Stöde ihren Dienft verfagen, deren Erfag durch Saat und Pflanzung
nicht entbehren. Während im Hochwalde das Haubarkeitsalter und bie Um⸗
triebszeit fih auf 60 bis 140 Jahre erſtrecken, befchränten fie fi im
Miederwalde gemöhnlih auf 10 bis 20 Jahre. Naͤchſt den Durchs
forftungen bat die ausgebehntere Benugung ber Stöde, welche man
font verfaulen ließ, den Ertrag ber Hochwälder erhöht. — Die dritte
Abtheilung der Waldbaulehre betrifft die Nebennugungen, b. h.
bie Erzeugniſſe, welche der Wald außer dem Holze barbietet. Unter
dieſen iſt die MWaldftreunugung in der Regel die fchädlichfte, weil fie
dem Walde bie zum Gebeihen und Schuge nöthige Bodendede, mit
diefer zugleich feinen Dünger nimmt und den Boden entkraͤftet, daher
nicht allen bem jegigen, ſondern auch Fünftigen Holzbeſtand verberblid)
wird *); die Iandwirthfchaftliche Zwifchennugung dagegen iſt diejenige Ne
bennugung,, welhe, auf ein oder einige Jahre befchränkt, bie meiften
und mehrfeitigen Vortheile gewährt, nämlich einerſeits durch die ohne
Düngeraufiwand genommenen lanbwirthichaftlichen Erzeugniffe, anderfeits
buch den In Folge dieſer tranfitorifchen Bearbeitung des Bodens ein»
teetenden größeren Holzzuwachs. — Im II. Hauptftüde der „Waldroirth-
ſchaft an fi” faffen wir die Anftalten zum Holztransporte, ben Wald»
wegbau, bie weitere Zugutmachung der Walderzeugniffe und den Walbs
fhug zufammen. Lesterer, ber Korftfhug, betrifft die Vorkehrungen
bes Waldbeſitzers (abgefehen von desfallfigen in's Gebiet ber Forſtpolizei
gehörigen Einrichtungen und Verhaͤltniſſen des Staats) gegen fchädliche
Einwirkungen von 1) Menfhen und zahmem Viehe, 2) gegen wilde
vierfüßige Thiere und Vögel, 3) gegen Inſecten, 4) gegen fchädliche Ge:
wäcfe und 5) gegen Maturereigniffe und fonftige fehädliche Zufaͤlle. —
Das III. Hauptſtuͤck der Waldwirthſchaft an fi, die forftliche Be
triebs- und Gewerbslehre, hat zur Aufgabe die Ordnung ber
Wirthſchaft und die Kührung ihrer Gefchäfte, mithin 1) Kennmiß bes
*) M. f. meinen Bortrag über bie Werhältniffe des Waldſtreu⸗ und Holz:
ertrags ©, 15 des 15. Hefts meiner Jahrbuͤcher der Forſtkunde.
ne —— — Sm.
, namentlidy bie nn
der —2 (Betrieb ber MWaldarbeiten) „die
der Walderzeug das Re « und —
| an — pre aber body, w ‚inan dem
ten Ausbildung. enefpriche
den mehrfei Be —— Are wir m
‚empfehlen mar dürfen: Gotta’ Grumdeiß der —
dritte Auflage, Dresden und Leipzig 1848."
(3u &.611, 2. 18 v.u.) Diefen beiden Folgerungen iſt aber noch eine
dritte beizufügen, bie Ueberwachung ber Waldtheilung zur Vermeidung
roßer oder unzweckmaͤßiger Zerſtuͤckelung des Waldeigenthums, welche
orſtſchußz und die Bewirthſchaftung gefaͤhrdet, den Geſammtertrag
ink und, wie bie Erfahrung leider ſchon in vielen Gegenden
gezeigt hat, bie Verwaͤſtung der betreffenden Waldungen veranlaßt. Fin⸗
det man fuͤr eine Gegend die Handhabung der Forſtwirthſchaftspolizei
noͤthig, ſo darf man nicht unterlaſſen, die Zerſtuͤckelung von Waldungen
von einer.· vorherigen forſtpolizeilichen Prüfung und Genchmigung des
Theilungsplans abhängig zu machen.
Gu S. 613, 3. 16 v. u.) Ueberwachung der Vertheilung oder Zerſtuͤe
lung des Waldeigenthums, deren oben gedacht wurde, gehört nad den vielen vor⸗
Itegenden Erfahrungen zu ben Gegenftänden, welche hierbei durchaus nicht
außer Acht bleiben dürfen. Näheres enthalten: meine Abhandlung ©. 94 ıc.
bes 15. Hefts meiner Jahrbuͤcher der Forſtkunde und meine folgenden
Auffäge im Jahrgange 1844 der allgemeinen Forſt⸗ und Jagdzeitung,
Seite 241, „Weber die Privatwwaldungen in Beziehung auf Ihre Beſitzer, de⸗
ven Sintereffe und Verhaͤltniſſe“, Seite 281 „über die Verhältniffe des
Staats zu ben Privativaldungen‘ und Seite 321 „über Ordnung der Auf:
fight * Privatwaldungen.“ Hiermit iſt zu vergleichen die ſpaͤtere Preis⸗
Borfiwefen. 285
ſchriſt: „die Beauffichtigung der Privatwaldungen von Seiten bed Etants
von Dr. Grebe, Eiſenach 1845."
(3u Seite 615, Belle 21 von oben.) Der zu (2) vorerwähn:
ten Beſtimmung if namentlih auch bie Waldſtreunntzung
zu ſubſumiren. Dos ficherfte Mittel, die hieruͤber obwaltenden Bes
{werben zu befeitigen, mit der geringen Streumenge, melde bie
Waldungen koͤnnen, die Beduͤrfniſſe am wirkſamſten zu befriedigen
und übermäßigen Anſpruͤchen zu begegnen, beſteht darin, die Waldſtreu
darch —— auf ähnliche Weiſe, wie das Holz, ernten, in beſtimmte⸗
Fe (Haufen von beflimmten Dimenfionen) bringen und ale:
Bald imrter freier Coneurrenz verfleigern zu laſſen. Verbindet man hier:
wit bie Eirichtung, daß der Gelberlds dieſer Verfteigerung unter die Be>
verthellt wird, fo macht man es felbft den aͤrmſten berfsiben
meögiih, mit zus bieten. Ih beziehe mich deshalb auf meinen Vortrag „die
Ordnung ber Waldfireunugung” Seite 36 des 15. Hefts meiner Jahr⸗
bihcyer der Forſtkunde. Die hierin gemachten Vorfchläge find, auf ben
Grund eines Geſetzes v. 2. Juli 1839, im Großherzogthum Heſſen ausge:
füͤhrt worden und haben fich in ber Praris volllommen bewährt.
(da Seite 623 nah Fann Zeile 13 v. u.) Da Preußen, Baiern
und Württemberg Beine Centralforſtſtellen haben, fo ift es bort ein um fo
größerer und ſchon mehrfady fühlbar gemwordener Mangel, dag im Minifte-
eium des Innern, obgleich die Forſtpolizei überhaupt und die forfteiliche
Obhut bee Communalwaldungen insbeſondere fich. dort cemtralificen fol,
kein forfttechnifcher Referent angeftellt iſt, folglich. es bei allen biß zur Mi⸗
niſterialinſtanz gelangenbden Forſtſachen an einem fländigen, im Zuſammen⸗
ern fe und Mn n gehbrigee Ueberficht wirkenden Organe ſachverſtaͤndiger Beur⸗
A Str . 624, Zeile 8 v. u. nah zu fein.) Die Erfahrung
bat überdi, wo man fie abfchaffte, das Borurtheil ihrer Nochwendigkeit
toiberlegt und bie für Abfchaffung biefes ſchaͤdlichen Dienſtemoluments pre:
chenden Brände beſtaͤtigt. (M. vgl. meinen Auffag hierüber ©. 1.1c. des
28. Heftes meiner Jahrbuͤcher der Forſtkunde.)
(3u ©. 626, Belle 4 v. o. nach Wirchfhaftseinrihtung.)
(M: ſ. Näheres hierüber in: „Inftruetion für die Betriebsregulirung und
Holzertragsſchaͤzung der Horfle, von &. W. Frhrn. v. Wedekind. Durch
Beifpiele erläutert, nebft einem Beilagsheft. Darmfladt 1839 (bei Din-
geldey, nun Ph. Diehl).“
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"(Au Set 636,-Buite 18 ei Die — Boch
fear ward in neuerer Zeit, mihe und minder ausgedehnt, unter
dem Namen „forftliche Verhaͤltnißkunde“ eine Disciplin ange
reiht, welche zur Aufgabe hat, beiläufig in der nämlichen Reihenfolge, wie
bie Forſtwiſſenſchaft ſelbſt, alle numerifchen Verhaͤltniſſe forftlichen
Wirkens und Schaffens , Lebens und Webens aufzufaffen und in Zahlen
darczuſtellen, hiermit aber den Stoff zu einer Meßkunſt der forftlichen Kräfte
und Erfolge zu — Dieſe Verhaͤltnißkunde habe ich, wie die Wiſ⸗
ſenſchaft ſelbſt, in zwei Hauptabtheilungen gebracht, wovon die erſte, die
forftlich⸗ Sta tif, mit der erſten Hauptabtheilung der Wiſſenſchaft, der
Technik, cortefpondirt und fich befaßt mit Erörterung der numerifchen Ver⸗
hättniffe der Nataralerzeugung, der Arbeitökräfte und des Geldertrags.
Die zweite Hauptabtheilung, Verhaͤltnißkunde bes Forſtweſens in feinen
Beriehungen zur Nation und zum Staat, enthält bie Ergebniffe der forſt⸗
schen Statiſtik, fammelt. und ordnet ſomit die numerifchen Verhättniffe
der Dbjecte des Forſtweſens (namentlich die Verhältniffe der Waldflächen
zum Areal des Landes und zu anderen Nugungsarten bes Bodens, ſowie die
Berhältniffe dee Erzeugung zum Verbrauche), bie Berhättniffe der Ver⸗
waltung (namentlich die Verhaͤltniſſe der Verwaltunserforderniffe nach
Verſchiedenheit der Art des Betriebs und des Eigenthums, bie Verhältniffe
biefer Erforderniffe zu denjenigen anderer Zweige ber Gewerbſamkeit und
der Staatsveriwaltung), die Verhaͤltniſſe des Capitals, des Ertrags und der
Beſteuerung an fi) und im Vergleiche mit anderen Eulturarten und andes
ven Gewerbszweigen, endlich die Verhältniffe des Forſtſtrafweſens (nament-
lich die Verhaͤltniſſe ber Vergehen nad) ber Zahl der Fälle verfchiedener Ka:
Fourier's Theorie der Geſellſchaft, ıc. 297
tegorie und nach den Beträgen ber Strafen und Erſatzzahlungen, ſowie die
Berhältmiffe des Koſtenaufwands der Zorftftrafiuftiz.) M. ſ. mein Sy:
flem ber forftlichen Verhaͤltnißkunde Seite 146 des 18. Heftes meiner Jahr:
bücher der Forſtkunde.
(Zur Note unter Seite 336.) Die Hiermit im Wefentlichen über:
einflimmenbe neue Geſetzgebung und Reglementirung bes Forſtſtrafwe⸗
fens im Großherzogthum Heſſen hat fih nun fchon feit einer Reihe
von Jahren in der Prapis [ehr bewährt. Wir empfehlin daher das ſyſte⸗
matiſche, Handbuch ber Geſetze, Verordnungen und fonftigen Vorfchriften
für das Forſtſtrafweſen im Großherzogthum Heffen. Drei Hefte. Darm
ſtadt 1840— 1844, Verlag von C. W. Lese.”
Sch. v. Wedekind.
Kourier’8 Theorie der Geſellſchaft. (3u 8.646 3.170. 0.)
Das Leben des Univerfums beruht auf drei ewigen, unerfchaffenen und
unzerſtoͤrbaren Principien: Gott oder der Geift, das thätige oder bemes
gende Princip; die Materie, das leidende und bewegte Princip; bie
Gerechtigkeit oder die Mathematik, das orbnende Princip der Be⸗
wegung. Das Menfchenieben, der Mikrokosmus, ift ber !Refler bes
Alllebens.
BGu S. 650 3. 1v.u.) Hier ſetzt ſich Fourher mit feinem eigenen Sys
ſtem in Widerſpruch, ba nach feiner Vorausſetung jede Art der produc⸗
tiven Zhätigkeit angenehm und anziehend (attrayante et passionnee) fein
würde.
(Zu ©. 657 3.12v.u.) Vor Allem ift Fourier ſcharf in feiner Kritik
der Ungebühren des j:gigen Handels, von der Agiotage bis zum Wucher
im Kleinen, wie ec denn von fich felbft ausgefagt, daß er „ben Eid Dans
nibalß gegen ben Handel“ geleiftet habe.
(An d. Ende des Art.) Ueber die neueren Verfuche einer Anwendung der
Sociallehre Dwen’s find die Artikel „Großbritannien und „Socialismus”
zu vergleichen. Das Syſtem Fourier's bat feit dem Erfcheinen der
erfien Auflage des Staatsierifons auch in mehreren beutfchen Schriften»
eine ziemlich ausführliche Darftellung gefunden *). Es bietet kein befon
deres Intereſſe dar, auf die wunderlichen kosmogoniſchen Phantaflen
Sourier’s und die mwillfürlichen metaphpfifchen Grundlagen, worauf er
fein Syſtem aufzubauen fuchte, fo wie auf feine Träume von kuͤnftigen
Schöpfungen ber Erde und fpäteren Phafen der Menfchengefchichte näher
einzugehen, als dies bereits vor mehreren Jahren in vorſtehendem Aufs
ſatze geſchehen if. Hatte fih doch Fourier felbft von dieſen Zhorhels
ten, bie er als „Nebenſachen“ bezeichnete, fpäter frei zu machen geſucht;
und feinen Widerfachern gegenüber tabelnd hervorgehoben, daß fie darüber
bie Betrachtung dieſer Hauptſache überfähen, nämlich die Kunft, die
combinirte Induſtrie zu organifiren,, woraus das dreifache Probuct ents
*) Bergl. hauptfählih 8. Stein: „Der Socialismus und Gommunis:
mus des heutigen Frankreichs. Leipz. 1842. 8. Gruͤn: „Die fociale Bes
wegung in Belgien und Frankreich. Darmfladt 1845,
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bildet. Das Streben der Gruppirung aliebert ſich nach dem vier Trieben
har Freundſchaft, ber Liebe, des Ehrgeizes und des Familismus, oder des
ans verwanbtihaftlichen Banden entipringenden affectiven Triebs. End:
ld empfindet ſich der Menſch als Theil der geſammten Menfchheit umb
bat in biefem Zuſammenhange drei diſtributive Triebe, ober passions
rectricas, womit er über die äffeetiven hinausreicht und durch deren
Aeußerung bie Serien entitehen. Die diſttibutiven Triebe find: die pas-
sion cabaliste, wodurch fi das zeitwelfe Beduͤrfniß der Einfeltigkeit
offenbart, indem uns diefer Trieb aus dem gleichmäßigen Zuſammenleben
mit ganzen Reihen von Verhättnifien, Segenftänden und Wänfchen her
ausreißt, um unfere Kraft und Liebe bavon abs und auf ein beftimnites
gut hinzulenken, bie passion — oder alternante, worin ſich das
Beduͤrfniß der Veraͤnderung, des Wechſels, aͤußert; und, bie passion com-
Bee nn nn ——
®
*) Darum ließen bie Schäler Kourier’s ihrem am 10. Detober 1837 ges
ſtorbenen Meifter ale Brabfchrift fegen: '
Les Attractions sont proportionelles aux Destinees,
La Serie distribue les Harinonies.
Foutier’s Theorie der Gefellfchaft, x. 209
posite, odre der Drang nach Einheit, wodurch ſich der Menſch über den
Trub der Einſeitigkeit und bes Wechſels erhebt, und alle feine Triebe
umd Kräfte in einer Richtung zufammenfaßt. Diefe wird zum Enthu⸗
fieamms, wo fie ſich Einer beflimmten That zumenbet. Alle diefe Triebe
baben ihren Mittelpunkt im Uniteismus, ober ber Leidenfchaft
der Einheit, wodurch alle Beilimmungen fich verwirklichen und auf
eine Welt bingewiefen wird, worin jeber Trieb feine vollendete Befriedi⸗
gung und jebe Befriebiaung. bas Bemußtfein ihres lebendigen Triebs wie⸗
Sie wird andy als religiöfes Gefühl bezeichnet, welches bie
Harmonis bes ganzen inneren und dußeren Menſchen mit fi) und mit
der Welt bebingt, weldyes alle anderen Triebe in fich vereinigt und aus
fich erzeugt; fo wie das Weiße, alle einheitliche Farbe, allen befonderen
Farben und Farbenſchattirungen zu Grunde liege. Die fuͤnf ſenſuellen
Triebe wirken uͤberall ein und bilden, im Zuſammenhang mit ben: fiebeir
höheren affectiven und biftributiven Trieben, bie zwoͤlf Töne bes Accarbe,
Damit glaubt Fourier ben Satz bes Pythagoras erwiefen zu haben,
daß bie Harmonie der Welt und die der Muſik nicht verichteben find.
Außer jenen zwölf Trieben giebt «6 Beine anderen, und was fonft noch
als feibfiftändiger Trieb erfcheint, ift nur eine Wereinigung mehrerer der
zwölf Grundleidenſchaften. Solche WBerbinbungen bringen denn ges
mifchte Leidenſchaften in großer Zahl hervor. Das Ueberwisgen einer
oder mehrerer derſelben beftimmt den Charakter bes Individuums. Aber
die Vertheilung der Charaktere iſt Leine zufällige; fondern ihre Zahl umb
Art ſteht In genauem Verhälmig mit den Bebürfnifien der ſocialen Orb⸗
nung. Nach einer willkuͤrlichen Vorausſetzung ſollen fi ſaͤmmtliche Cha⸗
raktere, wie fie durch die Combination der Leidenſchaften entſtehen, im
810 Imbivibuen finden. Dazu, kommen noch 405 gemifchte oder zwet⸗
deutige Charaktere, die mit jenen zufammen fein Phalanflöre bevoͤlkern
ſollen. Fourier theilt die Charaktere in eintönige, bis zw fech6«, fieben-
umd alltänigen ein. Die Letzteren, von den fechstönigen an, finden ſich
nicht mehr In jeder einzelnen Phalange, ſondern bereichen Über mehrere
Phalangen und find hiernach Agenten ber Harmonie nach außen. Roufs
feaw wirb als fünftönigee Charakter bezeichnet, Bonaparte und
Friedrich der Große als ſechstoͤnige, Julius Edfar und Alcibias
des als ſiebentoͤnige. Sich felbft zählte Fourier wohl zu ben alltönis
gen, ba nach ihm ein alltöniger Charakter erfordert wird, um den Auss
weg aus ber ſocialen Vorhoͤlle unferer heutigen Civilifation zur fos
cialen Harmonie zu entdedien.
Einer diürftigen Pſychologie gegenüber, die noch von der Entbeckung
des ganzen Reichthums menfchlichen Geiſtes⸗ und Gemuͤthslebens weit
entfernt ift, laͤßt ſich der Lehre Fourier's von den Trieben eine gewiſſe
Ziefe, die Hinwelfung auf manche folgenfchmwere und feither verfannte
Wahrheit, fo mie ein ernſtes Streben nad Alffeitigkelt und Einheit in
keiner Weiſe abfprehen. Aber mas ift mit einer ſolchen Glaffification,
einem folchen Nebeneinander verfchiedener Triebe, für die Gründung ber
foeialen Harmonie gewonnen? Alte biefe Vipifectionen des Innern Men⸗
ul EI Roi bir HF.
feheny wieſehrſie in ſuhtile Einzelheiten tingehen, laufen bo ſtets auf
bie, Darſtellung elnes Lernen! Abſtraectums ıbinatıs, moͤge man gleich das
Fachwerk, in das die Individuen hineinpaſſen ſollen, noch fo mannich⸗
faltig machen. Sie muͤſſen nothwendig unbefriedigt laſſen. Denn für
die wirkliche und Lebendige Geſellſchaft kommt es nicht blos auf das Da:
fein der ſo oder anders bezeichneten Arten von Trieben ans ſondern
weſentlich auf den Grad ihrer ‚Stärke oder — 52 wofür es unend⸗
liche Abſtufungen giebt weil das unerſchoͤpfliche Leben ſelbſt, mit ewig
Verhaͤltniſſen und Betiehungen, jeden beſonderen Trieb jedes
beſonderen Menfchen in eigenthuͤmucher Weife erjieht und fort und fort
anders bilder; ſo daß man vergeblich bemüht ift; mit arithmetifchen Spie«
lerelen über mögliche — Fülle der Erſcheinungen auch
— fuͤhrt ſchlechthin Peine Bruͤcke von dieſer
Aſebe zu einer normalmaͤßi⸗
oem einer Sypothefe elfn. ‚Denn 26 gehört doch
ein uͤberſtarker Glaube bay, um von vorn herein anzunehmen, daß ſich
een —* und etlichen hundert Individuen verſchiedenen Geſchlechts
Alters fletd die Chataktere in der Zahl und Weiſe zuſammenfinden,
Herſtellung einer Fourleriſtlſchen Phalanx rennen
Man mag bavem abfehm ‚dab Mahrungstrieb und Geſchlechtstrieb, die
eine ſo große Rolle in jeder Gefrlifchaft ſpielen, und befonderd in 8
jenigen Foutier's, doch nur in: dem ſenſuellen Gefuͤhlstriebe gleichſam
verſteckt liegen; oder daß ſich feine passion composite* von feinem
Maiteiennus“ ſchwer unterſcheiden laͤßt. Es laͤßt ſich aber nicht einmal
behaupten, daß Fourier auch nur die: Hauptarten ber Triebe dollſtaͤndig
angefuͤhrt haͤtte. Er hat den Trieb vergeſſen, der erſt den Menſchen
zum Menſchen macht, der ihn ſelbſt fein Lebenlang beherrſcht hat; den
Teieb nach Wahrheit und Erkenntniß, der in den Beziehungen der
Menſchen zu Menſchen als Trieb der Gerechtigkeit ſich offenbart, und
entweder befeuernd oder maͤßigend in das Spiel aller anderen Launen
und Geluͤſte, Neigungen und Leidenſchaften unaufhoͤrlich eingreift. Und
wollte wan auch ſeinen Uniteismus mit dieſem Wahrheitstriebe fuͤr Eins
gelten laſſen, fo iſt doch fein Einfluß auf die Geſtaltung der geſellſchaft⸗
lichen Verhaͤltnifſe bei weitem- nicht nach vollem Maße gersürdigt worden.
. Mit. diefer Verſaͤumniß haͤngen alle weiteren Einfeitigkeiten der So⸗
clalfebee Fourier's weſentlich zuſammen. Wie ſehr diefer Socialiſt
bemuͤht war, den mannichfachſten individuellen Neigungen und Faͤhigkeiten
Anerkennung und Geltung zu verſchaffen, er hat dennoch die ganze Be⸗
deutung ˖des individuellen. Menſchengeiſtes und ber perſoͤnlichen Freiheit
nicht erkannt. Er hat es nicht beachtet, daß jedes Menſchenich der Mit⸗
telpuntt einer eigenthuͤmlichen Welt von Anſchauungen und Vorſtellun⸗
gen, von Begriffen und Gefuͤhlen iſt, deren Entwickelung aus ihrem in⸗
nerſten Kern und Keime heraus jeder Vorausberechnung ſpottet, und die
ſich erſt fo weit offenbart haben muß, als fie für andere Menſchen
zum Gegenſtand einer mehr ober minder sichtigen Erkenntniß werben ne
Yourier’s Theorie ber Geſellſchaft, x. 301
Nicht ganz ohne Grund iſt darum bem Fourierismus der Vorwurf des
Moterialiemus gemacht worden. Wohl liegt diefer nicht in der bewußten
Abſicht des Stiftere und feiner Anhänger. Verheißt doch Fourisr felbft
den Arbeitern auf dem Felde bes Geiſtes, den Männern der Wiffenichaft
und Kunft, vor Andern eine glänzende Zukunft in feiner Gefelfchaft,
und haben dody Fourier's Schüler, wie dies namentlih Conſidé⸗
rant gegen feine Gegner hervorgehoben hat, darin ganz recht, daß es fich
zunaͤchſt und vor Allem für viele Millionen um die Brfeitigung der mas
teriellen Noth handelt, wodurch zugleich jede geiflige und fittlihe Erhe⸗
bung der Waffen niedergehalten wird. Allein gleidiwohl hat jene vnvoll⸗
ſtaͤndige Auffafjung des Geiſtes im Menſchen ihren fichtbaren Einfluß
auf einige der wichtigften Lehren der fourieriftifchen Schule,
Dahin gehören zunaͤchſt die Anſichten Fou rier's über die gefchichte
len Verbindungen.. Er ift fo ſehr befefien vom einfeitig abflracten
Gedanken eines nothmendigen Wechſels im finnlichen Genuſſe, daß er
die fogenannte freie Liebe predigt, welche doch nichts Anderes wäre, ale
bie Einführung der von ihm fo fehr befämpften ungebundenen Concur⸗
renz in dem gefchlechtlihen Verkehr. Zugleich aber vermißt ex fi im
feiner Liebhaberei für Berechnung der Triebe zu einer Claſſification der
verfchiedenen Grabe in den Verbindungen der Liebe. Die drei vorzuͤglich⸗
ſten Stade find ihm die der Gatten (Epoux et Epouses), der Erzeuger
und Erzeugerinnen (geniteurs et genitrices) und der Beliebter, die diefen
Zitel führen (favoris et favorites). In feiner fogenannten Ehe der fies
benten Periode fol eine Frau gleichzeitig einen Gatten, einen Erzeuger,
einen Geliebten und außerdem beliebige Liebhaber haben können. Das
weibliche Geſchlecht theilt er in Veſtalinnen, Gattinnen, Demoifellen oder
Halbdamen und Gulanten. Der dem Kourierismus gemachte Vorwurf,
daß er es auf Zerfiörung der Familienbande abgefehen habe, iſt alfo teinets
wegs ungegründet. Der Irrthum aber, in den er verfallen ift, beruht,
wie bei einem Theil der Communiften, auf einer envolftändigen Wuͤr⸗
digung der Individualität; da gerade auf ben höheren Eulturftufen jede
blos bedingte und theilweife Dingebung in ber Liebe ala verwerflidh ers
ſcheint und ſich alfo über die Monogamie als die den ganzen Menſchen we⸗
ſentlich befriedigende Form der gefchlechtlichen Verbindungen darſtellt
(S. „Sommunismus.) Indeſſen muß bemerkt werden, daß Fous
tiere felbft die Werbreitung feiner Deinungen über den gefchlecdhtlichen
Verkehr fallen ließ, freilihh nur darum, weil fie für bie jegige Gefellfchaft
allzu anftößig feien; und daß feine Schüler keine Gelegenheit verfäumen,
um gegen jede Behauptung, daß es ihnen um eine Vernichtung der bes
ſtehenden familiensechtlichen Verhaͤltniſſe gelte, ernfllihe Verwahrung
einzulegen.
Fourier iſt fcharf und wahr im der Beurtheilung ber jegigen Zwangs⸗
ehe, ohne durchweg bie rechten Mittel zur Befeitigung des Uebels vors
geſchlagen zu haben. Achnliches gilt von feiner Kritik unſers gegenwärtigen
Erziehungswefens, mit feiner einfeitig vorherrfchenden Tendenz zur Un⸗
terdruͤckung der Reigungen und Triebe, wodurch fo oft bie jugendliche
| genug anzufhtegenbe Werzap-
Lehre ‚ daß fie entſchledener als je zudor auf Ws:
| Bortheile der combinirten Production fo le Dee Wer an
Verföhnung der noch zur Belt widerftreitenden Intereſſen er Ä
und Claffen ber Geſellſchaft aufmerkſam gemacht bat. Auch laͤßt fi
nicht die Möglichkeit befkreiten, daß in der Form ber vorgefchlagenen
ländlichen und ſtaͤdtiſchen Phalangen (f. den vorftehenden Artikel) Tau⸗
echt des Einzelnen, fich abzuſondern von ben anderen Bliedern ber Bes
feafpaft, um für fich zu leben, zu fchaffen und zu genießen, wenigſtens
- einigermaßen Rechnung getragen. Gleichwohl muß man im Namen ber
Freiheit, bie in den mannichfachften Weiſen ſich ausprägt, gegen jede Im
Voraus fertige Form des gefellfchaftlichen Lebens Verwahrung einlegen,
Nicht alle Charaktere, nicht alle Neigungen, Triebe und Fähigkeiten,
wärben in folchen Phalangen Wefriebigung und Ausbildung finden. Und
nicht blos bie Fähigkeiten und Neigungen find an fich unermeßlich ver-
fehleden; auch die Außere Natur iſt es und tritt, mit all ihren raͤumlich
und zeitlich wechſelnden Erſcheinungen, In ſtets veränderte und veraͤn⸗
derliche Verhaͤltniſſe und Beziehungen zum Menſchen und feiner kuſt bes
Schaffens und Genießens. Im vielfach durchſchnittenen Boden, in Alpen⸗
laͤndern, in waldigen Gebirgegegenden, auch in ausgedehnten Weidebe⸗
zirken und überall, wo ſich die Menfchen Über geößere Räume zerſtreuen
und vertheilen möfen, um die Natur zu beherrſchen und für ihre tau⸗
fendfachen Zwecke auszubenten, Tann ohnehin von ben nad) halben oder
gangen Quadratſtunden zugefchnittenen Phalangen keine Rebe fein. Alſo
fort mit all bieſen ſoclaliſtiſchen Schablonen! Wie fie auch fein und hei⸗
i
Bourier's Theorie ber Gefellſchaft, x. 808
Ben mögen, fie Laufen dennoch auf den ohnmächtigen Verſuch einer Iprans
nei der Schule und Schulweisheit gegen das Leben hinaus.
Richt nur in ber Lehre Fourier's, auch in den Angriffen ihrer
Gegner mifchten fi) Wahrheit und Irrthum. Bourier trat nicht mit
der Anmaßung auf, eine nzue Religion gründen zu wollen. Indem er
aber das katholiſche Dogma von der Unauflöslichleit der Ehe verwarf,
und bie verfehrten Begriffe von der Erbfünde befehdete, machte er zumal
Die Ultramontanen und alle Vertheidiger eines blinden Glaubens ſich und
feiner Schule zu Feinden. Milder gegen die neue Lehre geſtimmt find
Die Proteftanten Frankreichs, deren Drgan der „Semeur‘‘ und einige
andere Beitfchriften find. Ausgehend aber von einer ziemlich vagen bee
der chriſtlichen Liebe, machen es ſich bie Derausgeber dieſer Zeitfchriften
zur überflüffigen Eorge, ob nicht in ber Gefellfhaft Kourier’s ber
freien chriftlichen Liebe, wie fie in Werken der Milde und Barmherzig⸗
Reit fih offenbare, ein allzu enger Kreis abgeftedt fei. Aber was wäre
das für eine Liebe, bie ſich die Noth ganzer Claſſen ber Gefellfchaft
teferviren wollte, um daran fort und fort ihre Erercitien zu machen ?
die fich nicht gezwungen fühlte, alle Inftitutionen ber Gefellfchaft und
des Staats zu durchdringen und umzubilden, um im möglichft weiten
Umfange die Noth zu befeitigen und damit bie Dauptquelle der Verbrechen
zu verftopfen, um ben Lügentitel unferer fogenannten chriftlichen Staaten
endlich zur Wahrheit zu machen? Es kommt alfo für das Syſtem Fou⸗
rier's darauf wefentli an, ob und mie weit baffelbe jenen Zweck zu
erzeichen vermöge? Aber auf eine in bie Sache eindringende Beantwors
tung diefer Frage find jene proteftantifchen Halbgegner bes Syſtems
ebenfo wenig eingegangen, als A. Vinet in feiner Schrift „Du socia-
lisme consider€ dans son prineipe. Genève 1846. Diefer tritt gleiche
falls von feinem befonderen proteftantifchs theologiſchen Standpunkte
aus, als Gegner des Socialismus auf, wobei er zumal bie Lehre Fou⸗
rier's im Auge bat: Mit ſolchen Auffaffungen des Socialismus in
leerer Allgemeinheit und mit der bloßen Werficherung , daß er mit dem
durch das Chriſtenthum anerkannten Princip der freien Indivibgalit4t vn.
verträglich fei, iſt jedoch am Ende nichts gefagt. Schließlich erklaͤrt füch
Vinet für die Affociation, die auch mit feiner Anſicht wohl verträglich
fel; und [pricht von Bedingungen und Mitteln, wodurch die Im Ghriflens
thum gebeiligte Individualität auch In den Inftitutionen ihre Anerkennung
und Anwendung finden koͤnne. Aber eben auf dieſe Mittel geht er nicht
näher ein, und fo iſt auch bie Schrift des im Kreife ber reformieten Harte
gläubigen der Schweiz angefehenen Mannes doch nichts Anderes, als eine
theologifch bequeme Umgehung der Bauptfrage.
Die Doctrindre unter den Communiften haben ſich Ihren eigenen Mo⸗
dus der Zyrannel zurecht gemacht, und find hiernach in dee focialiftifchen
Muſterreiterei bie natürlichen Nebenbuhler der Fourieriſten (f. „‚Commus
nismus”). Ihe Tadel gilt zumal der Veriheilung der Producte nad)
Capital, Zalent und Arbeit, wodurch dreierlei Wermögensclaffen bes
gründet werden und das ben Reichen gefiherte Minimum ein anderes iſt,
’
Boris) Theorie der’@efenfähaft, ie.
als — für die übrigen Glieder der Geſellſchaft ) fo wie ber Bel-
"behaltung —— und eines et ante
ind FIT Metern — A
8 ber Erzeugniffe gerichtet find. — Bon eigentbüms
aus find aud) pestdpen {f. db.) und neuerdings
—“* e Lehtere jeboch mie einem
—— * ſich —— der un»
Ha tee pe — ——
it allen rn —— 3 ke A Er wollte
hheit keine Nationen mehr, ** nur Phalangen, Can⸗
—— und eine Welthauptſtadt. Aber bei allem
der Bedeutung der Nationalität, konnte er and
“nationalen franzöfifchen el fo wenig aud nur in Gedanken ber:
De an a. feanzöfifhe Sprache, wenlgſtens bie jur
ber kosmiſch ımiverfellen, die allgemeine Sprache: ern aan
IE mu, daß die fociale Reform unter jeder Regierung,
von Boa durchſetzen laſſe, erwartete er ſchon 1
Gem der — von Napoleon, und im feiner Vorliebe .
fir eine Gentralregierung lobte er ben Verſuch der MWelteroberung. In
feinen Hoffnungen getaͤuſcht, galt ihm fpäter Mapoleon als Ufurpator,
und Ludwig XVII. kam an die Reihe. Für Taͤuſchungen folher Art
war der Eindliche Blaube Fourier's erforderiih, dee nach einer Erzaͤh⸗
lang Beranger’s während zehn Jahren täglich um 12 Uhr nad) Haufe
ging, weil dies die Stunde war, bie er in feinen Schriften zum Gtells
dichein für den Reichen beftimmt hatte, der ihm zur Errichtung des erſten
Phalanfteriums eine Millten anvertrauen wolle. Diefen Illuſionen gegen-
über hatten die Iiterarifchen Vertreter der verfchledenen Schattirungen der
polttifchen Oppoſition leichtes Spiel, indem fie jede Hoffnung auf allges
meine Socialreform fo lange ale thoͤricht bezeichneten, als nicht vorerſt
in Frankreich und den anderen Staaten Europa's die politiſche Macht der
Ariſtokratie der Reichen gebrochen ſei.
Man muß indeß den Schuͤlern Fourier's zum Lobe nachſagen, daß
ſie im Kampfe mit ihren verſchiedenen Gegnern den Kampf ſelbſt gelernt
haben. Auf dem religioͤſen Gebiete wiſſen ſie es zu vermeiden, irgendwo
Aergerniß zu geben; und indem ſie die Grundſaͤtze ihrer Doctrin mit den
Principien des Chriſtenthums in Einklang zu ſetzen ſuchen, zeichnen fie
fidy vortheihaft vor einem Theil der Communiften und einigen beutfchen
Schulphiloſophen aus, welche ihre täppifchen Verfuche zur Emancipation
bes Volks damit beginnen, daB fie den religiöfen Ueberzeugungen des
- #) Bergl. 5. B. Cabet, „Etat de la question sociale.‘ Paris 1843,
Fourier’8 Theorie der Geſellſchaft, x. 805
VBolks vor den Kopf floßen. An allen politifhen Sragen, wie zumal
an derjenigen ber Wahlceform, nehmen fie in neuerer Zeit Iebhafteren
Antheil und find einfichtig genug, den unauflöslichen Zufammenhang der
Politik und der gefellfichaftlihen Reform in jeder Weife anzuerkennen.
MWäsrend die ganze Schule Fourier's aus firenggläubigen Anhängern
zu beſtehen ſcheint, die wenigftens oͤffentlich kaum einen directen Zweifel
an den Dffenbarungen’ ihres Meiſters laut werden laſſen, find fie doch fo
ug, den mathematifch ftarren und millfürlichen Behauptungen beffelben
eine dem Leben angepaßte Gefchmeidigkeit zu geben und zugleich alle
bebenklihen oder anftößigen Lehren, wie über Ehe und Familie, in den
Hintergrund zu ſchieben. Die Scidfale des St. Simonismus haben
ihnen, wie es fcheint, zur Warnung gedient. Diefer ging zu Grunde,
als er feine Auswüchfe zur Dauptfache machte und ſich mit feinen auf
bie Spitze getriebenen Thorheiten dem Urtheile der öffentlichen Meinung
blosſtellte. Der Fourierismus dagegen machte eine entgegengefegte Ent⸗
widelung duch: er bat fi) von feinen Schladen mehr und mehr ger
reinigt und eine Beftalt gewonnen, in welcher er an das wirkliche Leben
anzufnüpfen vermag. Darum findet er in wachfendem Kreife Beachtung
und Anerkennung, und ift in eine Periode des Fortſchritts getreten,
nachdem er ſchon dem Erloͤſchen nahe ſchien.
Letzteres war der Fall, als Baudet⸗Dulary, Verfaſſer der „Crise
sociale‘, damals noch Deputirtee, feine Befigungen in Conde⸗ſur⸗Ves⸗
gre® bei Verfailles den Fourieriften zur Verfügung geftellt hatte, um
anf einem Gebiete von 500 Hectaren den Verſuch zur Gründung einer
erfien Phalanx zu mahen. Man hatte zu raſch begonnen, das Capital
mangelte und das Unternehmen mußte aufgegeben werden. Diefes erfte
Mißlingen brachte den ganzen Fourierismus in Mißcredit. Jetzt mußte
auch die Zeitfchrift „Le Phalanstere‘“ oder „La reforme sociale“ aufs
hören, der ſich viele junge Kräfte, der Architekt Cefar Daly, Pellas
ein, Bantagrel, Pompery und Andere, zugewandt hatten. Auch
Victor Confiderant, em fchmungvoller Redner, war mit jugendlich
friſchem Eifer für die Grundfäge Fourier's in die Schranken getreten.
In dee polptehhnifhen Schule gebildet, erkannte er bald, daß die nus
merifchen Beweife Fourier’s für manche Verkehrtheiten in den jegigen
Einrichtungen zum Zwecke der Production nicht abzumweifen waren. Er
faßte alfo die Idee der Tandwirthichaftlich : induftriellen Gefellfchaftung
mit lebhaftem Intereſſe auf und hielt zu Metz einen beifällig aufgenoms
menen Gurjus über die neue Sociallehre. Als die Schule dem Bere
falle nahe war, Lehrte Eonfiderant nad, Partie zuruͤck, trat an die Spige
berfelben und gab ihr einen neuen Aufſchwung. Er fchrieb feine jegt
bis zum dritten Bande fortgerhdte: „„Destinde sociale, Exposition ele-
mentaire complète de la theorie societaire (1836 u. f.). Hier griff
er vor Allem den gegenwärtigen Zuftand der Civilifation an. Schon frü-
her, 1835, hatte er in einer viel Auffehen niachenden Rede, die von
den ultrakatholifchen Blättern, ber „Gazette de France” und dem „Unie
veord”, heftig angegriffen wurde, den Brundfag geltend gemacht, baß der
Suppl. 3. Staatöler. II. WM
J
306 Bouienis Theorie ber Gefellfhaft,nn +
Menſch durch feine Erkenntniß zur Gottheit fireben müffe, und daß bie,
Welt das Gebiet fei, worin uns die Gefege Gottes zur Erſcheinung
fommen. Zuglelch machte er ſich zum MWortführer der in Frankreich
« —* auftauchenden Reaction gegen jedes einſeitige Parteitteiben, worin
bie materiellen Bolkdintereffen allzuſehr vernachlaͤſſigt wurden. Er trat
Liberalen und Eonfervativen entgegen, fchrieb 1836 eine energifche Bro:
ſchuͤre: „Debacle de la politique‘*, und ſpaͤter ein Manifeft „Bases
de lu; politique positive.“ Inzwiſchen war auch wieder ein periodifches
Blatt der Fourieriften, die „Phalange‘‘, gegründet worden, die von 1836
am.erft monatlich zwei Biß drei Mal, dann wöchentlich drel Mal erfchien.
Endlich konnte die „Phalange” im Jahre 1843 im das unter dem Titel
„Democratie pacifique‘‘ täglich) —— de Blatt verwandelt werben.
Diefes, gehört zu dam -geblegenflen der frangdfifden Tournatifti, . Cs Iff
im ame ‚pubticiftifchen Suhl, 8 — jedoch fortwaͤhrend leitende
mit Betrachtungen im Geiſte der ſocletaͤren Schule und geht in
der. en ſehr einlaͤßlich und mit viel Einfiht auf die laufenden Fragen
des materiellen Intereſſes ein. Diefe Zeitfcheift hat noch fein fehr zahle
reiches, aber eim feſtes Publicum, zumal in den mittleren Glaffen.
Ueberhaupt muß man den Schülern Bourier's rg daß fie
ihr Biel einer gHefellfchaftlichen Reform mit raſtloſer Ausdauer und. einem
Eifer verfolgen, der arg Opfer fähig if. Obwohl ein weiterer Ver:
ſuch zue Gründung eines Phalanfteres in der ehemaligen Abtei Citeaur,
und ein anderer in Brafilien mißlungen ift, obgleich auch die Worbereis
tungen für Errichtung eines jugendlichen Phalanfteriums, um. bie Erzie⸗
hungsgrumbiäge Fourier's in’s Leben einzuführen, noch nicht weit gedie—
ben ſcheinen, ließen ſich boch feine Anhänger nicht abſchrecken, fondern
verboppelten vielmehr ihre Anftrengungen. Diernady hat die Kourieriftifche
Literatur im vielfach mwechfelnden Formen der Darftellung immer größere
Ausdehnung gewonnen. Es wurden eigene Buchhandlungen und Bud:
drudereien bafür gegründet; es erfchienen zahlreich verbreitete focialiftis
[he Almanache, Monatsfchriftn und Flugfchriften. Mor Allem aber
ließen die Häupter der Schule Beine Gelegenheit vorübergeben, um in
münblichen Vortraͤgen ihre Lehre zu verbreiten. So fanden ſich *
ger. derſelben, Conſiderant, Pompery, Dennequin u. A.,
dem woiffenfchaftlichen Congreffe zu Straßburg im Herbft 1842 ein und
fuchten den gegen bie Lehre ihres Meifters auftauchenden Angriffen zu
begegnen. Wie fchon früher in Paris, hielten die reifenden Apoſtel
in vielen anderen größeren Städten Frankreichs ihre Vorlefungen ; fo Con :
fliderant in Dijon (f. „Compte-Rendu de l’exposition dusyst&me so-
cietaire de Fourier. 1841); Henneguin im 3. 1846 zu Rouen,
lOrient und andern. Städten des nördlichen Frankreichs u. f. w. So
kommt es, daß fid in Frankreich die Aufmerkſamkeit eines zunehmenden
Kreifes der neuen Soclallehre zuwendet, daß früher gegen fie herrſchende
Vorurtheile verſchwinden, daß fich die Zahl der Gegner vermindert und daß
nach Befeltigung mancher Irrthuͤmer, Verkehrtheiten und Spielereien bie
wirklich zeitgemäßen Wahrheiten tiefer in. das Volk eindringen. Auch darf
I; n
Fourier's Theorie der Geſellſchaft, ic. 807
der heilfante Einfluß nicht unbemerkt bleiben, den die Kourieriftifche Lites
ratur und Journaliſtik mittelbar auf die ganze unabhängige periodifche Preffe
Frankreichs Außert, die mit dabucch gezwungen; wird, fi) neben den rein
politifchen Fragen zugleich mit ben materiellen Intereffen und mit der Noth
der arbeitenden Claſſen gründlicher zu befaffen.
Die enthufiaftifchen Anhänger Fourier's laſſen es nicht bei einer
thätigen Propaganda in Frankreich felbft bewenden. Jules Lehevalier
verfuchte fih mit feinen Vorlefungen in Berlin. Befonderen Beifall fanden
1846 die Vorträge Confiderant’s in Laufanne und Genf. Faſt alle
neueren Schriftfteller über politifche Defonomie, barunter einige der jünger
ven Rotionaldtonomen Spaniens, find genoͤthigt, die Kehren der focialiftfe
fchen Schule mehr oder minder in den Kreis ihrer Betrachtungen und Beurs
thellungen aufzunehmen. Und mögen fich auch nur Wenige zu dem Syſtem
in ſeiner Ganzheit und allen Einzelnheiten befennen, fo dringen doch manche
feiner unleugbaren Wahrheiten immer mehr in die Wiffenfchaft ein. Selbſt
in den vereinigten Staaten von Nordamerika hat die Lehre in A. Briss
bane u. %. ihre Apoftel gefunden, während in England früher Doherty
das Hourteriftifche Blatt, The London Phalanx“ herausgab.
Noch ift aus England einer Erſcheinung zu erwähnen, die für die Bes
ſchichte des Fortſchritts der focialiftifchen Meinungen, wie dee praktifchen
ſocialiſtiſchen Werfuche, von gleichem Interefls tft. Seit Kurzem betheiligen
ſich daſeibſt Mitglieder der hoͤhern Claſſen der Geſellſchaft an einem Plane
zu Srändung von f. g. hriftlichen Affociationen im Intereſſe dürftiger Ar»
beiter. Es find meiſtens Hodykirchenmänner und Tories, deren ausfchliehe
liches Ehriſtenthum oder ſtarres Feſthalten an politifchen Vorrechten fonft
fein günftiges Vorurtheil erweckt. Allein es finden fid) unter ihnen bie
Kamen von Männen, die ſchon früher ein lebhaftes und dauerndes Inter
effe für die Hebung der ärmeren Claſſen an den Tag gelegt haben. Der
eifrigfte Verbreiter diefer Idee, I.M. Morgan, hat zu dieſem Zwecke auch
das Feſtland bereift. Eine in großem Maßſtabe ausgeführte Zeichnung, wie
deren auch die Fourieriften von ihren Phalanfteren aufzumelfen haben , foll
den Plan zur Gründung eines aus 300 zufammenhängenden Häufern bes
ſtehenden Dorfs anſchaulich mad;en. |
Es handelt fi nämlich, wie bei ber Phalanr, um eine Colonie für
300 His 400 Familien, auf einem Gebiet von etwa 1000 Acres oder nahe
405 Dectaren. Das Nähere ift in einer Schrift „Colonie Chretienne,
Traduit de l’Anglais. Paris, Londres 1846‘ auseinandergefegt. Sie ift
Lord Aſhley, „dem beharrlichen Freunde des Volks, dem umermüdlichen
Beſchuͤtzer der Kinder des Armen”, geroidmet. Aus Gründen der Klugheit
ſcheint zwar der Verfafler abfichtlich jede Beziehung auf Kourter zu vermeis
den; allein die Idee des Ganzen und manche Einzelheiten erinnern doch
deutlich an die Quelle, aus der gefchöpft wurde.
Diefe Colonien follen gegründet fein auf die Principien des Chriftens
thums und auf eine chriſtliche Erziehung, jedoch nicht im ausfchließenden
Sinne irgend einer befondern Confeſſion. Darum wendet ſich der Urheber
des Plans an Proteftanten wie an Katholiten, obgleich die weſentlich gleiche
W*
BB Fonhiet’e Theotie der Gefeltfehaft, ze
Sebeiben berfelben betrachtet roicb. Audı dieſe Vor⸗
wie —— der Fourieriſten und aller andern neuern
Der re ein — Fans — eek gran
gung e gen
ns ‚ den Menfchen felbft und feine höhern Intereffen zum Opfer
und „von ne ee Orford und anderer
Br a der Theilmehmer am jeder = Eolonie als
will kuͤrlich chinen, felbft vom inner
—— — geſellſchaftlichen Vortheils aus betrachtet, eben
ſo wenig im. —* Ei ölonomifch iſt ald das Verfahren jener
Dekonomiften — der Goneuereng“ ſei.
Der That üb na mer — daß dieſes Syſtem ber Erniedrigung ber
chen zu abzunupenben.
Wilden, bie. den umhauen, + feine Früchte zu geniehem:
* — zurie® auf die Ideen einer geſellſchaftlichen
— nor ‚von dem geiftig hervorragendſten
verkuͤndet wurden, auf die Utopia eines
Thomas dr die vom Bifchöf Burnet tberfeßt wurde, auf, bie
Oceana von Harrington, auf bie dem Biſchof Berkelen zugefchrie:
bene Gaubentin. de Lucca, auf die neue Atlantis und auf Milton’s Anſich⸗
ten über. ſolche Verſuche einer focialen Umgeftaltung. Es wird hervorgeho-
ben, daß man zut Errichtung von Afforiationen für Verhütung und Beſei⸗
tigung ber auf den Maffen Taftenden phyſiſchen und moralifchen Uebel noch
keine Anwendung auf einen befonderen Theil der Geſellſchaft gemacht
habe, obgleich der Gedanke zur Gründung foldyer Vereine keineswegs neu
fei, wie er denn fchon im Jahre 1696 von. Bellers in einer Brofchüre
entwickelt werde: „A College of industry for 300 poor fellows‘‘, bie
Sir Morton Eden: in feinem großen Werke überdie Krmmengefege an⸗
ie in den Werken ber Fourieriften, fo werden in der engliſchen
Schrif als die wichtigſten Vortheile ſolchet Colonien hervorgehoben: die
Moͤglichkeit einer vollſtaͤndigen menſchlichen Erziehung und einer harmoni⸗
ſchen ſittlichen, geiſtigen und leiblichen Ausbildung; eine reichere und wohl⸗
feilere Production; eine der Geſundheit des Geiſtes und Koͤrpers foͤrderliche
Abwechſelung der Arbeit in landwirthſchaftlicher, induſtrieller und geiſtiger
Thaͤtigkeit. Darin aber iſt der Plan abweichend von der Phalanx der Fou⸗
risriften, daß die erſten Coloniſten nur der einen Claſſe unbeſchaͤftigtet Ar⸗
beiter angehoͤren ſollen; daß alſo die Colonie auf keiner Vermiſchung der
verſchiedenen Claſſen der Geſellſchaft mit abweichenden Geſinnungen und Ge⸗
wohnheiten, wit — Intereſſen und Neigungen beruhen ſoll.
Fouriers Theorie der Sefellfchaft, zc. 809
Damit Abereinftimmend find in der erſten Zeit nur einfache Gewerbe, in Ver⸗
bindung mitder Landwirthſchaft, zu betreiben. Auch fol bei den erſten Gruͤn⸗
dungen der Vertwaltungsrath die zu coloniſirenden Mitglieder ber Aſſociation
auswählen. Die Leitung der Colonie wird einer befoldeten Direction an⸗
"vertraut, beren Mitglieder nicht felbft Theilnehmer an ber Affociation find.
Nach Deimzahlung des zu 1,500,000 Franken (40,000 Pf. Sterl.) beredys
neten, vermittelfi Actin, Schenkungen und Darlehen aufzubrimgenden
Stiftungscapitals werden jedoch die Coloniſten fich ſelbſt regieren und ges
meinfhaftlihe Eigenthümer ber Colonie werden. Jedem
Coloniſten ſteht nad) vorgängiger dreimonatlicher Auftündigung der Aus⸗
teitt frei. Auf der andern Seite foll der Berwaltungsrath jedes unver:
befferliche Mitglied entfernen können, jeboch nur nad) dem Ausfpruche einer
aus Soloniften gebildeten Jury. Nach dem Alten ift für eine Präftigere Co⸗
lonialregierung, mit ausgedehnterer Competenz als in der Koutieriftifchen
Dialanr, geforgt. Die Voranfchläge über die erſten Koften der Anlage
find keineswegs zu gering und diejenigen über die mögliche Deimzahlung bes
Stiftungscapitals fo wie das mwahrfcheinliche Einkommen der Colonie nicht
übertrieben hoch gegriffen. Vom allgemeinn Standpunkte aus find die
dem Princip der Gleichheit mwiderfprechenden unverhälmigmäßig hohen Kos
fien für Wohnung und Befoldung des Directors und des Geiftlichen zu
tadeln, womit indeß nur den Umftänden und den noch herrfchenden Standes;
an, die nicht kurzer Hand zu befeitigen find, Rechnung getras
gen ill.
Dies find die Grundzüge einer Affociation , wie fie unter den befonnenen
Briten, die fich nicht Leicht in unausführbare und ausfchweifende Unter:
nehmungen einlaflen, zum Vorſchein gefommen find und Anklang gefuns
den haben. Nimmt die zu einem volftändigen Syſtem ausgebildete Lehre
der Sourieriften in wiffenfchaftlicher Beziehung ein größeres Intereſſe in Ans
ſpruch; fo gewährt doch der englifhe Plan beffere Ausficht auf unmittel«
baren Erfolg, da man mit einfacheren Elemmten zu beginnen beabfichtigt
und nicht allzu weit geſteckte Ziele im Sprunge zu erreichen hofft: Doc)
mögen auch hierbei die Schwierigkeiten nicht hoch genug angefchlagen
fein, die bei den Mitgliedern der zu errichtenden Colonien aus der Ge⸗
wohnheit ber Iſolirung ihrer Tätigkeiten und Intereffen entfpringen, und
aus der Eiferfucht ber Nichteoloniften und aller Anhänger ber ungebundenen
Goncureenz für die aufleimenden Colonien entfpringen Eönnen. Auch
mag man wohl erwarten, daß durch freiwillige Beiſteuer der Reichen hier und
da die Gründung einer ſolchen Colonie gelinge, womit aber für eine eins
greifende Befferung der foctalen Zuſtaͤnde erft ein ſchwacher Anfang gemacht
wäre. Dazu bedarf es vielmehr dee Duchführung eines allgemeinen Sy⸗
ſtems der Jugendbildung , die bei freier Entwidelung ber jugendlichen
Kräfte die ganze heranwachſende Generation vor Allem die Vortheile ber Vers
einigung diefer Kräfte und der Intereſſen aller Glieder der Geſellſchaft nicht
bloß theoretifch erkennen, fondern zugleich praktiſch erleben läßt; umd es bes
darf für die arbeitswilligen Erwachſenen der allgemeinen gefelfhaftlichen
Verbürgung eines Minimums zur Sicherung einer menfchenwürbigen Exi⸗
Breite von nınh Mafeogein erforderlich
tion ber Arbeit” mb „Secialismus”). Jnitia⸗
auögehen; und fo ficht man fich beun fort umb fort vom Gebiete bes Gocia⸗
liaus wieber auf daB ben Deiktiö-gewieken. - . as, ea, ’
.” J a Ba I. ui.
. Sranffurt am Main, euße bee viscfieien Gtäbte Deatfe
lande umfaßt jet auf einem Gebiste von 13-1. WE. 70,000 Einwohner.
Deſe roich⸗ und Intereffante Stabt welche wie Freiherr von Stein im
einem Schreiben, vom 13. Jull 1816 ſich auferte, auf den weſtlichen
Mell Deutſchiande feit ben fruͤheren Epochen unferer Geſchichte einen gro⸗
beu ——— behauptete“, bat auch in ihrer neueren Geſchichte
dewaͤhrt, ein freies ſtaͤdtiſches Gemeinweſen, bei allen ſeinen nothwen⸗
——
nur dem.
> vaterkäbtifchen Sinn zu bele⸗
Be Angelsganheiten des Bes
en das Ende des 18. Jahrh
eichsſtaͤdtiſchen Berfaffung
* überladen. Die Vers
fung, in der die Sompetenzen verwirrt Durcheinander liefen, bie nicht blog
perfönliche, fondern auch reale Vermiſchung der Juſtiz mit der Adminiſtra⸗
tion, der Mangel einer für ſich beftehenden Polizeiverwaltung, indem deren
Wirkſamkeit unter viele der verfchiedenften Stadtämter zerfplittert war,
dann die Unterdrüdung der Nichtlutheraner,, die wahrhaft ſchimpfliche Be:
handlung der Sudenfchaft, und überdies ein unabläffiges Streiten zwifchen
Math und bürgerlichen Collegien, Corporationen und NReligionsparteien
über Publica vor den Reichsgerichten, bei welchen die Rubrik „Frankfurt
contra Frankfurt“ eine flehende geworden war, — diefes Alles konnte Fein
erfreuliches Bild darbieten. Die Erſchuͤtterungen, welche der franzöfifche Re:
volutionskrieg herbeiführte, hatten zunaͤchſt einen Einfluß auf Berfaflung
und Dermaltung. Als Guftine vor der Hauptwache dem Volke zurief:
„Habt ihr den bdeutfchen Kaifer gefehen, ihr werdet feinen mehr ſehen!“
ſprach er zufällig wahr; alfein den Geiſt der Frankfurter verfannte er völlia,
indem er in einer Stadt, wo der Mittelftand fo mächtig und überwiegend ift,
und der Erwerb (die fogenannte bürgerliche Nahrung) in der erften Linie der
Intereſſen fteht, die Armen oder Minderbegüterten hinter die Reichen
fegen wollte; bie Freiheit, die er und feine Begleitet verkuͤndeten, mußte ſchon
der Form halber dem Neichsftädter höchlich mißfallen, dem die Carmagnole
ein zu fchroffer Gegenfag gegen den gewohnten Menuet war; fo daß diefe
. Antäffe nur dazu dienten, über Vaͤterlichkeit und kindlichen Bürgerfinn fich
4
Frankfurt am Main 311
wohlverdlente Complimente zu machen und in Dankſagungen dafuͤr fich zu
ergießen. Im Uebrigen wurden die Kriegszuͤge der Franzoſen und Reiche:
voͤlker, die Emigrationen und Aſſienaten von Kaufleuten und Wirthen
wie billig benutzt; die Brandſchatzungen der Franzoſen ſtuͤrzten die Stadt
in Schulden, an denen ſie noch jetzt, nach beinahe 60 Jahren, zinſt und
bezahlt; und die Mißbraͤuche blieben weſentlich die alten, vermehrt durch
Ermahnungen zur politiſchen —— — geſchaͤrfte Cenſurverbote und
pouzen he Austreibungen der franzöfifchen Emigranten.
durch die Rheinbundss Acte dem früheren Reichserz⸗
*8 Karl von Dalberg, Fuͤrſten Primas, zu Eigenthum und Sou⸗
verdinetaͤt übergeben wurde (eine Handlung, gegen welche der Rath in einer
muthigen und discreten Proclamation feierliche Rechtsverwahrung einlegte,
worin er dieſe Veränderung eine „Kataſtrophe“ nannte und bie Ergebung
in beutfcher Umfchreibung als Folge ber vis major bezeichnete) — da ver⸗
änderte ſich Alles gewaltig. Karl von Dalberg ward, wie es in foldyen
Faͤllen gewöhnlih war, bald nad) dem Antritte feiner Frankfurtſchen
Regierung als Vater gepriefen und nach feiner Vertreibung als Ufurpator
gehoͤhnt; er ſtuͤrzte, zumal waͤhrend ſeiner Regierung als Großherzog von
Frankfurt, die reichsſtaͤdtiſche Verfaſſung um, von der er anfaͤnglich, vor⸗
gebend, er betrachte die Stadt nur als mediatiſirt, einige Truͤmmer hatte ſte⸗
ben und renoviren laſſen; er organifirte durch Ediete, wie damals nach dem
Staatsrechte des Rheinbundes bie Mode war, friſchweg und unermuͤdlich;
- ee gab dem Staate einen franzöftfchen Schnitt nah dem Muſter bes
Großherzogthums Berg und des Koͤnigreichs Weſtphalen; er brachte viele
Fremde (d. h. Einwohner aus feinen übrigen Staatsgebieten) an das Ruder
umb verwendete von Srankfurtern nur die Tauglichen, meiften® jeden an ſei⸗
ner rechten Stelle, verwies fubalterne Naturen auch zu fubalternen Dienfts
leiſtungen; er belaflete die Stadt, wie der Drang der Zeiten es nothwendig
machte, wie die Ausführung der Machtgebote des Protectors es erheifchte,
und fügte neue Schulden zu benen, die er vorgefunden hatte.
Auen feine Regierung, ein ſchnell verſchwundenes Intermezzo von
fieben Jahren, Hatte im Ganzen der Stadt Segen gebracht und gute Früchte
getragen. Er ordnete bie Verwaltung in allen ihren Zweigen ; bie Rechts⸗
pflege brachte er auf einen beffeen Fuß, durch Einfegung trefflicher Gerichte,
in wohlbemefienem Inſtanzenzuge, durch Einführung der franzoͤſiſchen
Geſetzbuͤcher für das bürgerliche und Strafrecht, und einer von Albint und
Seger bearbeiteten Procefordnung. Der politifche Unterfchled der Bekenner
ber cheiftlichen Gonfeffionen wurde aufgehoben, ben Juden das Recht des
Bürgers gegen Päufliche Abldfung ihrer befonderen Laften gegeben. Waren
die berathenden Landflände nur eine Fiction (Krankfurt fendete 5 Depus
tirte), die Municipalitaͤten willenlos, die Preſſe gebrüdt, die politifche
Dolizel dem Anfcyeine nad) ſtets thätig: fo waren biefes Nothwendigkeiten
des Tages und unvermeidliche Folgen des Kriegszuſtandes, des Gehorſams
gegen einen unbeugfamen Willen des Eroberers. Dagegen brady Karl von
Dalberg nie das Recht, weder aus Furcht, noch ans Kriecherei, noch aus
Herrſchſucht und Defpotie. Unter feiner Herrfchaft wurde keinem Frank⸗
812 Frantfurt am Main,
furter ein Haar auf dem Haupte gekruͤmmt, einer wegen feiner Meinungs-
dußerung, und auch damals ſprachen Viele freimüthig, verfolgt, Reiner
unter Gommiffionen geftellt, Eriner als Staatsgefangener in das Ausland abs
ührt. Bei feinen Sriminals Berichten war die „inquifltorifche Proceßart!
yalten, und ein liches Schlußverhoͤr in Öffentliher Sigung des
verfammelten Griminal» Gerichts ſowle eine öffentliche Sigung zum, Anhoͤ⸗
ven der Gerichts» Vorträge und der abzulefenden Vertheidigungsſchriften an-
geordnet. Aber in jenem Inquifitions-Verfahren waren die Qualen der Un⸗
terfuchung nie ihr Zweck. Die Zortur, auch durch die beſtimmte Vorſchrift
jener Griminal= Proceforbnung abgefhafft, Feb fie vorher wohl ſchon
aus ben Sitten ber Gerichte verfhmwunden, wurde niemals. unter jeiner
Herrſchaft durch bie Peinlichkeit der Unterfuchungehaft erſetzt. Seine
Criminal» Gerichte dehnten nicht, waren nie Über das lebhafte Betrngen
bes Angefchuldigten, Über den Schrei der Unſchuld entruͤſtet, befchränften
nie und bemmten nie bie heilige Freiheit der Mechtsvertheibigung. Sein
Herz, fein Streben war deutfch, frei und recht, fo. wenig er in den Praͤ⸗
ambeln feiner Edicte die Deutfchheit zu Markte trug. Sein Sceptet nelgte
immer „um Krummſtab.
- Karl von Dalberg, flüchtend von den Blitzen der Leipziger Schlacht, *
in Armuth. Mir Ruͤhtung gedenken die Frankfurter noch des Tages, ba
Kaiſer Franz, als follte Cuſtine's Weiffagung zu Schanden werden, an
ber Spige feines Heeres die Stadt. feiner Krönung betrat und in ben Dom
eitt, mo er einſt geweiht morben war. Es ift der Zag, an welchen Frank⸗
furt bie erfte Hoffnung feiner neuen Freiheit Enüpfte. Die viersehn
Bürger: Sapitäne, die Arlteften der Neihsbhrger, „in bem Drang ber Zei⸗
ten erhaltene Worftände ber Stadtquartiere”‘, waren die eriten, welche an
ben Kaiſer die Bitte um MWiederhberftellung ber alten Stabtverfaljung und
Commune richteten; ber dritte Punkt mar freilich dabei, „in der Stabt
Franffurt und deren Gebiete Feine Anikellung von Fremden allergerechteft ger
ſchehen, fondern zu allen Öffentlichen Stellen und Aemtern nur rebliche,
gutgefinnte und geſchickte Frankfurter allergnäbdigft gelangen zu laſſen.“
Durdy Entfchließung ber verbündeten Maͤchte vom 14. December 1813
warb genehmigt, daß die Stadt Frankfurt mit ihrem ehemaligen Gebiete
fi von dem Großherzogthume trenne, und eine eigene ftädtifche Verfaſ⸗
fung in der Art angeordnet, daß Frankfurt vorläufig in feine vormalige
MunicipalsBerfaffung zurüdtrete. Gleichzeitig wurden die alten Rechte in
bürgerlihen und peinlichen Rechtsſachen wiederhergeſtellt. Wohl zu ſchnell
und uͤbereilt. Die neuen Geſetzbuͤcher uͤber das materielle Recht hatten zu
kurz in der Stadt gelebt, als daß ſie ſich ſchon mit der Geſinnung der Buͤr⸗
ger haͤtten verſchmelzen koͤnnen. Man hatte ſie kaum begriffen und ſie wur⸗
den ſchon beſeitigt. Waͤre ihnen damals ein längerer Beſtand beſchieden ge⸗
weſen; — haͤtten ihre nothwendigen Umgebungen, oͤffentliches und muͤndl.
Verfahren in buͤrgerlichen Rechtsſachen und Strafſachen, Staat zanwalt⸗
ſchaft, Geſchwornengerichte, Handelsgerichte, ſich jenen zwei Geſetzbuͤchern
beigeſellt, gewiß wuͤrden Juriſten und Buͤrgerſchaft den hohen Werth dieſer
In germaniſchen Urbegriffen wurzelnden Einrichtungen erkannt und für ihre
Frankfurt am Mein. 318
Beibehaltung mit dem naͤmlichen Eifer ſich verwendet haben wie andere
deutſche Bolksftämme, welche mit dem Eräftigften Nationalgeifte die innigſte
Anhaͤnglichkeit an eine Errungenfchaft vereinen, die fie während ihrer vors
‚hbergegangenen Berbindung mit dem Auslande erworben. |
Dir Artikel 46 der Wiener Congreßacte begründete fpäter das Verhältse
niß einer freien Stadt, eines felbftftindigen Staates, Mitgliedes des deut
- fen Bundes, mit der Sundamentalbeflimmung , daß die Stantseinrichtuns
gen auf einer volllommenen Medjtsgleichheit unter den verfchiedenen chriſt⸗
lichen Culten beruben follen,, eine Gleichheit welche ſich auf alle bürgerliche
und politifche Rechte erſtrecken werde, und im allen Beziehungen der Res
gierung und Verwaltung zu beobachten fei.
An diefen neuen, fo lange erfehnten Zuftand reihten ſich mehrjährige
Berfaflungstämpfe; man wußte das Richtige nicht Leicht zu finden ; hin und
ber bewegt zwifchen der Liebe zum verfhwundenen Alten und der Nothwen⸗
digkeit des zeitgemäßen Neuen ſchwankte man in Verſuchen. innerhalb
zweier Jahre wurden mehrere proviforifche Conftitutionen erlaffen, vers
Endet, ſelbſt gehandhabt. Kinige dieſer Verfuche ftarben in der Geburt.
So hatte ber Rath einmal die Abficht, die nach den neuerm Zeitumfländen
nothiwendige unmittelbare Mitwirkung der Bürger bei der Geſetzgebung
durch eine Art von Comitien oder Volksverfammlungen eintreten zu laflen,
bei welchen die Bürger, in große Säle eingefperrt, über die Senats» Pros -
pofitionen , ohne Discuffion, mit Sa und Nein nad) der Reihenfolge abzus
ſtimmen hätten. Mit dergleichen Ideen konnte ſich ein gefunder Sinn nicht
befesunden. Großen Eindrud machten die Vorftellungen von fieben der aus⸗
gezsichnetften Sachwalter, welche (am 7. October 1815) mit Beftimmtheit
verlangten, daß der Rath die Bürgerfchaft dazu aufrufen möge, eine un«
mittelbare Repräfentation aus der Mitte aller Bürger frei und unabhängig
zu wählen, indem eine ſolche wahre Bärgervertretung allein die Vollmacht
befigen- koͤnne, über die Berfaffung zu beſchließen. — Die Löfung aller
diefer Wirren war durch Niederfegung einer Commiffion der XIIL (eines
Verfaflungsrathes) erfolgt, beftchend aus drei Rathegliedern‘, drei Mitglies
ben bes fländigen Bürgers Ausfchuffes oder Einundfünfziger- College und
fieben Mitgliedern von der gefammten Bürgerfchaft gewählt (4% Januar
1816). Diefe Commiffion hatte den Auftrag, alle Anfichten der Bürger
(in Form von Monita zu einem zwifhen Senat und Bürger: Ausfhuf
vereinbarten Verfaſſungs⸗Entwurf) zu hören und das Beſte daraus zu neh⸗
me. Das Werk diefer Commiſſion ift die gegenwärtig in Kraft beftehende
Verfaſſungs⸗Urkunde, Conftitutions:Ergänzungs-Acte genannt, welche durch
Viril⸗Abſtimmung der Bürger am 17. und 18. Julius 1816 angenommen
wurde.
An die Spige diefer Verfaſſungs⸗Urkunde ward das Princip gefest,
daß die alte reichsſtaͤdtiſche Verfaſſung im Ganzen totederhergefteltt fein folle,
mie fie auf Srundgefegen, Verträgen, reichsgerichtlichen Entfcheidungen und
Derlommen beruhte; und daß nur zweierlei Modificationen daran eintre⸗
ten ſollen, erſtens diejenige, welche der Artikel 46 der Wiener Congreß-Acte
vorfchreibe, und zweitens diejenigen, welche durch die veränderten {
314 Frankfurt am Main.
rechtlichen Verhaͤltniſſe und ben Zeitgeiſt geboten worden. Da das Herkom⸗
men und ber Zeitgeift zufammen mit ald Quellen des öffentlichen Rechtes
wurden, das Herkommen felbft aber, ſoweit es nicht auf bie
n von Mifbräuchen hinauslaͤuft, ſondern in rationellen Rechte:
gewohnheiten befteht, nichts Anderes ift, als eine Außerliche Darftellung
des Alteren Beitgeiftes, fo ergiebt. fich von felbft, daß diefe Verfaffung fo
wenig als irgend eine andere bes Einfluffes fortfchreitender Entwidelung ber
‚Öffentlichen Verhaͤltniſſe ſich zu erwehren vermag. Mit Recht iſt daher im
ihr auf eine Revijion in gemiffen Formen Ruͤckſicht genommen morben ; allein
auch abgefehen von biefen Formen ift es nicht zu vermeiden gewefen, daß in
der Ausübung Manches ſich anders geftaltete, und fo werden auch im Lauf
der Zeiten, bis zu einfliger Revifion, manche Abänderungen, theils unmerk⸗
lich, theils unter bem Vorwande von authentifcyhen Erläuterungen eintreten.
Anerfannt wurden im ber Conſtitutions · Ergaͤnzungs⸗Acte neuerdings bie alten
Mechte und Freiheiten der Bürgerfchaft, welche theils die eigentlichen Stadt⸗
bürgerrechte (Kommunalrechte) find, theild der Bürgerfchaft ald Trägerin der
Landeshoheit zuftehen. Hinzugefuͤgt wurden Rechte, welche den fämmtli-
den Einwohnern des Staates nothwendig mit zu Statten fommen, tie
das Abzugsrecht, bie Beftimmung, daß nur in Folge verfaffungsmäßiger
Anordnungen die Steuern und Abgaben entrichtet zu werden brauchen, die
Aufhebung der Strafe allgemeiner Vermögens » Gonfiscation; die Pref-
freiheit, „melde ber gefeßgebende Körper gleichförmig mit demjenigen regu⸗
firen werde, mas auf der deutichen Bundesverfammlung fejtgefegt werben -
bürfte. Doch ift, aus bekannten Gründen, in Betreff diefed legten Rech⸗
teö niemals das Geringfle an die gefeßgebende Verſammlung gelangt. Die
Hoheitsrechte der Stadt Frankfurt, ihre Rechte ber Selbjtverwaltung find
erklärt als zuftehend ber Geſammtheit der hriftlichen Bürgerfhaft. Dies,
bann bie Aufhebung aller Vorrechte des Patriciats (dev Gefchlechter) bat
bie früher controverfe Frage gelöft, ob bie Frankfurtſche Regierungsform
eine. Ariftofratie oder Demokratie ſei? (Morig, Staatsverfaffung ber
Meicheftadt Frankfurt, Ihr. I. ©. 318 — 322.) Es ift eine Demokratie;
biefe aber wird gar weſentlich temperirt durch den Einfluß der Geldarifto:
kratie und der Familien, durch Innungs=Privilegien und Aengftlichkeit; die
Demofratie ift aber auch in fofern nicht vorhanden, als die Vorrechte der
politifchsprivilegirten Bürger dem Mangel aller politifchen Rechte bei den an⸗
dern Staats⸗Einwohnern entgegenftehen,, folglich nicht dem Volke im eigent«
lichen Sinne die Staatshoheit zugetheilt Ift.
Sp günftig ndmlidy die Stellung der Bürger in Beziehung zum
Staate ift, fo nadıtheilig find die andern Claffen der chriftlichen Staats:
genoffen, die Beifaffen und Dorfbewohner, behandelt. Die Beifaffen find
nicht nur von aller Theilnahme an Öffentlichen Angelegenheiten ausgefchloffen,
fondern es fehlen ihnen auch alle Befugniffe des Ortsbürgerredhtes, fo daß
fie weber Dandel nody Handwerke treiben, weder der Advocatur noch ber mes
dicinifchen Praxis ſich ergeben dürfen und auf die niederen Gefchäfte von
Bedienten, Kutfchern, Ausläufern, Schubflidern und Handwerksgeſellen
fi) beſchraͤnken muͤſſen. Selbſt der Grundbeſitz iſt ihnen als Regel nicht
Frankfurt am Main. 815
erlaubt; nur Häufer in der Stadt, welchen Bein Realrecht zu einem bürs
gerlichen Gewerbe zuſteht, dürfen fie nad) einem Geſetz aus dem Jahre 1839
erwerben. Die Staatsweisheit hat bis jetzt für diefe harten Webelftänbe
keine vernünftigere Aushilfe zu erdenken vermocht, al6 daß man möglichft
wenige oder auch lieber gar Leine Beifaffen aufnehmen müfle; das Nä-
here, daß man ihnen von Rechtöwegen die Rechtsgleichheit ertheilen Tolle,
Begt noch immer zu entfernt.
Zu Frankfurt gehören acht Dörfer mit 9568 Einwohnern. An Einem
berfelben, Nieberrad, war in Folge des Artikels 51 der Wiener Congreßacte
Ein Biertheil Condominat an das Kaiferthum Defterreich gefallen, indem
Frankfurts Territorialbeftand nach dem Entſcheidungsjahr 1803 feftgefegt
ward, und jener Condominntstheil mit anderen Rechten und Gütern bis bas
bin dem Deutfchen Orden gehört hatte, der in Defterreich noch fortbefleht und
weldyem auch die Ausübung jener Condominatsrechte von Defterreich wieber
verlichen wurde. Indeſſen duch einen am 18. März 1842 abgeſchloſſe⸗
nen Staatsvertrag hat Defterreih, unter Mitwirtung des Doch» und
Deutſchmeiſters, alle Guͤter und Rechte der früheren Deutfc) : Ordens = Com⸗
mende Scankfurt und damit auch jedes Condominat an bie freie Stadt
Frankfurt kaͤuflich abgetreten und nur das deutfche Haus in Sachſenhauſen
nebſt der Deutich »s Drdenss Kirche bafelbft von diefer Abtretung ausgenom⸗
men. Bon da an wurde Niederrad in der Verwaltung und Bertretung ben
uͤbrigen Ortſchaften gleichgeflellt und erhielt diefelben Gemeinde: Ordnun⸗
gen und Steuer» Einrichtungen. Diefe Rechtsverhältniffe nun find folgende.
Die Dorfbewohner, Ortsnachbarn genannt, haben in ihren Dörfern bie
echte freier Bauern und wählen wie in ganz Deutfchland ihre Municipa⸗
lieäten aus ihrer Mitte ; dagegen können fie, was nirgends im monarchiſchen
Deutfchland mehr vorkommt, zu keinen Staatsdienften oder geiftlichen Stellen
irgend einer Art gelangen, und der Theologe, ber Bauernfohn iſt, kann
nicht Pfarrer in dem Dorfe werden, dem er mit Heimatherecht angehört;
einem eigenen Landverwaltungsamte iſt die nächfte Leitung der Angelegenbeis
ten ber Dörfer übertragen, damit das Verhältnis der Patrimontalherrichaft
echt anfchaulich bleibe ; ein eignes Steuergeſetz beſteht für den Landbezirk;
eilf Abgeordnete der acht Dorffchaften vertreten freilih ihre Localinters
eſſen im geſetzgebenden Körper, allein fie werden nur einberufen, wenn Com⸗
miunalfachen der Dörfer vorkommen, und wirken nicht mit bei der Geſetz⸗
gebung über allgemeine Angelegenheiten des ganzen Staates; fie müffen
ihre Deputirten aus Bewohnern der einzelnen Dörfer, weldye darin mit
Gemeinderecht anfäffig find, wählen, und diefe befigen nicht immer bie er⸗
forderlichen Fähigkeiten, um den Geichäftemännern der Stadt die Waage zu
halten ; die eilf Stimmen verlieren fi in der Menge und find ohne eigents
lihen Anhaltspuntt; die Landbewohner werden daher regiert, wohl mild
regiert, aber freie Bürger find fie nicht, fordern Unterthanen der Stadtbürs
ger. Ob ein foldyes Verhältniß dem heutigen deutfchen Staatsrecht gemäß
fei, ift fehr au bezweifeln.
Die privatbürgerlichen Verhältniffe der Juden wurden, nad) langem
und gehäffigem Streite, durch Vergleich und Geſetz im Jahre 1824 res
316 ‚Frankfurt am Main.
gulirt Viel Auffehen hatte die fruͤhere Einſchtraͤnkung ber Zahl ihrer jährlis
den Ehen gemacht — ein Gefeg vom Fahre 1834 hob diefe Einſchraͤnkung
a Ark: beibe Theile im ifraelitifhen Bürgerverbande flehen; und eine
im October 1846 getroffene legislative Entfchließung hat es als einen Gegen⸗
fand des freien adminiſtrativen Ermeſſens des Senates erklärt, auch bei
folchen ifraelitifchen Ehen, wo Ein Theil fremd fei, während iehm Fahren
verfuchsweife die Ehebemilligung au ertheilen, ohne an eine gewiſſe Anzahl
‚gebunden zu fein; hoffentlich wird vor oder bei Ablauf jener zehn Fahre auch
das, was hiemad) von jener Ehenbegrenzung noch uͤbrig geblieben fein kann,
ald eine zeitwidrige Antiquität befeitigt werden können. Im Ganzen neigte
ſich in dem fpäteren Fahren die Pegislation immer mehr zur Milde und
Menfchenfreundlichkeit gegen diefe Einwohner »Elaffe ; was die Juden den
allgemeinen politifhen Anſichten, ihren wirklichen und erheblichen Fortfchrits
ten in bürgerlicher Tuͤchtigkeit, ihrer Geldmacht, ſowie dem ſtets regen Eifer
verdanken, womit fie für die ungeftörte Erhaltung und thunlichfte Werbeffe:
rung ihrer Rechtsverhättniffe wachen. —
Die Staatsbehörden ber Stadt üben bie Hoheitörschte ber gefammten
Bürgerfchaft kraft des Nechtes aus, melches fie aus der von diefer Bürger:
ſchaft erfolgten Uebertragung ableiten. In erfter Linie ſteht die Gefep>
gebende Verfammlung. Sie beftcht aus 20 Mitgliedern, die ber
Smat, aus 20, welche ber Ständige Bürger- Ausfchuß, jeber aus feiner
Mitte, wählt, und aus 45 Mitgliedern, die durch ein Mahlcollegium
ernannt werben, bas bie gefammte Buͤrgerſchaft durch die Urwahlen jährlich
zufammenfest (Wahl » Collegium der 75). Bet diefen Urwahlen mitzu-
flimmen, find alle chriftliche Bürger ohne Unterfchied berechtigt; die Ab⸗
fimmung erfolgt in drei Abtheilungen, melche ſich folgendermaßen bilden:
erfte Abtheilung, Adelige, Gelehrte, Kuͤnſtler, Stantsdiener, Offiziere,
Gutsbefiger ; zweite Abtheilung, Kaufleute, Krämer, Wirthe; britte Ab»
theilung, Handwerker und zünftige Künftler. In Betreff der erften Abs
theilung ward durd) eine authentifche Erklärung vom 3. Detober 1838 gefegs
liche Fuͤrſorge getroffen, daß nur wirkliche Staatsdiener in diefer Abtheis
lung flimmen ; e8 hatten fich vorher zumellen widerrufliche niedere Angeftellte,
die in anderer Eigenfchaft Bürger waren und alfo in den anderen Abtheilun-
gen zu ftimmen hatten, als Staatsbiener mit Zetteln, die man ihnen In
die Hand gegeben, eingefunden; man fühlte das unbeftrittene Bedürfniß,
daß gerade auch die erfte Abtheilung durch Diejenigen vepräfentirt werden
muͤſſe, die ihre wirdtich angehören. Waͤhlbar iſt jeder felbftftändige chriftliche
Bürger, ohne Unterfchied der Größe feiner Steuerpflicht, wenn er 30 Jahre
ale iſt. Im Ganzen wird ſchon feit vielen Jahren beklagt, baf die Bürger in
geringer Anzahl und mit Lauheit zu den Urwahlen ſich einfindenz; aus drei
Gründen läßt fich dies erklaͤren: die Theilnahme ift ſchwach, weil die Wah⸗
len in den gefeggebenden Körper nur mittelbare Wahlen find ; die Theilnahme
fcheint Vielen unnöthig, weil in der Regel die naͤmlichen Perfonen gewählt
zu werden pflegen ; die Theilnahme wurde von Vielen verfhmäht, als «6
Sitte geworden mar und ımftatthafte Begünftigung gefunden hatte, daß
wenige Stadtcanzlei: und Polizeibeamte ſich der Keitung dev Wahlen, haupt⸗
Frankfurt am Main. 817
fächlich derer aus dem Stande ber Belehrten und Staatsdiener, bemeifters
ten, die wichtigſten Wahlen in allen Stadien lenkten und die Stimmfreiheit
flörten. Doc) haben ſich im neuerer Zeit dieſe Zuftände weſentlich gebeſſert.
Die letztgedachte Ungebuͤhr ward ihrer ferneren Machtloſigkeit fi bewußt
und trat zuruͤck. Ein feifcherer und reinerer Geift drang in die Wahlen
ein., Der Kortfchritt ward die Lofung ; und die Wahlberechtigten fahen ein,
daB für den Fortfchritt das Wichtigſte ſei die Feftigkeit des erſten Schrittes.
Die gefeßgebende Verfammlung , durch diefe Wahlen gebildet, aus 85
Deltgliebern beftehend, wird jedesmal auf den erſten Montag im November
an km Ihre ordentliche Sigungszeit dauert dann ſechs Wo⸗
chenz für fpdtere Beratbungen wird fie außerordentlich eingeladen. Aus
ihren ſenatiſchen Mitgliedern waͤhlt fie ihren Prifidenten. Die Wahlen gelten
immer wur auf Ein Jahr. In der Hegel gelangen alle Propofitionen an den
gefengebenden Körper von dem Senat, nur ausnahmsweiſe Binnen, waͤh⸗
rend der ordentlichen Sitzungszeit, auch der fländige Bürgers Ausfhuß und
bie einzelnen Mitglieder der gefeggebenden Verſammlung Anträge flellen.
Allein bei dergleichen Anträgen ift die Befchlußnahme der Verſammlung bar
auf eingefchränkt, über bie Zulaͤſſigkeit ſich auszufprechen und eine Ruͤck⸗
äußerung des Senates zu erfordern. Wenn nun diefe Rüddußerung. lie
gem bleibt, fo werden die Anträge vergeffen oder gleichgültig und das ganze
Necht ber Antragstellung «in wirkungslofes und müffige® Petittonsrecht.
Indem man dem Rathe eine Initiative vorbehalten wollte, gefährdete man
die Wirkſamkeit ber Initiative des geſetzgebenden Körpers weſentlich. —*
bat er die Befugniß, einen von dem Senate abgelehnten Antrag in drei
aufeinander folgenden Sitzungen ſich vorlefen zu laffen und alsdann über
daffen Inhalt definitiven Befchluß zu faffen ; allein der Geſchaͤftsgang wuͤrde
immer die Anwendung einer foldyen Befugniß vereiteln. Blüdlicher Weiſe
bift der Innere Drang der Dinge meiſtens über diefe formalen Schwierig»
Eeiten weg, indem Anträge von Bedeutung und Wichtigkeit fich von ſelbſt
Bahn und Gehoͤr verfhaffen und vom Rathe nicht unbeachtet bleiben.
Der Eompetenz der gefeßgebenden Verſammlung find folgende Anger
legenheiten zur definitiven Beratung und entfcheidenden Beſchlußfaſſung
vorbehalten und zugemwiefen: die geſammte Gefeggebung, mit Einfchluß bee
Befleuerung und der Erhebungsweife der Steuern; bie Sanction aller
Staatsverträge; die Genehmigung des jährlichen Budgets und die Ueberſicht
über den gefammten Staatshaushalt; die Entſcheidung in Verwaltungsfachen
und anderen zur Competenz des ftändigen Buͤrgerausſchuſſes gehörigen Ge⸗
genfländen, wenn Senat und Bürger: Ausfhuß fich in ihren Anfichten nicht
vereinigen koͤnnen (eine Entfcheidung, Die zur Zeit der Reichsverfaſſung
dem Reichshofrathe zuftand) ; die authentifche Interpretation ber Verfaſſungs⸗
Urkunde und der Geſetze; die Bewahrung und Erhaltung der Stadtverfaſ⸗
fung, mit Einfchluß der Beſchwerden Einzelner über Verlegung ihrer conſti⸗
tationsllien Rechte. Die Anzeigen von Berfaflungss Verlegungen bilden
übrigens den einzigen Fall, mo Petitionen ber Bürger bei der gefeggeben«
ben Verſammlung eingereicht werden Binnen , indem alle andere Petitionen
nur an den Senat gerichtet werden dürfen.
318 Frankfurt am Main
Diefer Wirkungskreis der gefeggebenden Verſammlung ift bedeutend
genug; überdies, die Wandelbarkeit ihrer Einſehung, ihre Mifchung aus
allen Claffen der Bürger, die jährliche Integrale Erneuerung der nn
ihrer Mitglieder, ihre Gefdyäftsordnung, welche eine freie mündliche Dis⸗
cuſſion einem jeden Befchluffe vorhergehen laͤßt, die Thaͤtigkeit der einzelnen:
Mitglieder in Specialcommiſſionen für jeden wichtigen Deliberationg-Gegen>
fand — altes dies bringt mit ſich, daß dieſe Berfammlung das bewegende
und erfrifhende Element im Staatsleben bildet. Ihre Functionen duͤrfen
daher als wohlthätlg, der Gebanke, dee fie neu in die Frankfurt’fche Ver⸗
foffung-einführte, darf als ein guter Gedanke bezeichnet werden. Ob nicht
nen dieſes Staatskoͤrpers verbeffert werden koͤnnte ? Db. eb
nicht vieleicht nüglicher waͤre, wenn die Mitglieder der Verſammlung lediglich
von der Bürgerfchaft getoähle wuͤrden und ber Senat nur durch Regierungs⸗
aus feiner Mitte vertreten wäre? kann hier nicht geprüft
werden. Das Wefentlichfte der Verhandlungen des gefeßgebenden Körpers
wird übrigens feit dem Jahre 1832 dem Publicum mitgetheilt, anfänglich in
einer Beitfchrift, dann feit dem Sabre 1838 In elmer eigens hierfuͤt verans
ſtalteten Beitungsbeilage. Gegenwärtig, im Spieperöftr 1846, iſt die,
fhon mehrmals erdrterte Frage von ber ntlichfeit feiner Sigungen
neuerdings und mit befonderer Energie in ung gebracht und wird
2 = ri erhalten, welche ben Var Bedürfniffen des
p
| Der, * (oder Rath) iſt das Reglecungs · Golle gium und bat
allein die erecutive Gewalt. Er befteht aus 42 Mitgliedern, die ſich in
drei Ordnungen ober Bänke theilen: Schöffen, Senatoren und Rathever-
wandte (jebe Ordnung von 14 Mitgliedern). Das Praäfidium führen bie
beiden Bürgermeifter ; dew ältere aus den Schöffen, ber zweite aus den Ser
natoren, jedesmal auf Ein Jahr, durch den ganzen Rath gewählt. Sit
eine Matheftelle erledigt, fo wird fie folgendermaßen wieder befegt: bie
fämmtlichen Senatsglieder wählen 6: Wahlherren, ebenfo wählen die 65
Mitglieder des geſetzgebenden Körpers, bie nicht zum Mathe gehören, gleich
falls aus ihrer Mitte 6 Wahlherren, diefe 12 Wahlherren bilden ein Con-
clave und fchlagen drei Candidaten vor, unter welchen die altherkoͤmmliche
Ku lung (das Loofen mit drei Kugeln, Aueh filbeenen und einer goldenen) ent»
det. Erforderniß ift bei der Rathsſtelle das Alter von 3O Jahren, ferner
(wie bei allen anderen Cwilaͤmtern) das Bekenntniß der chriftlichen Religion
und das Indigenat (der Gewählte muß entweder als Sohn eines Bürgers
geboren fein, oder fhon zehn Jahre lang im Bürgerrechte ftehen). Won der
zweiten Bant auf die erfte wird nach dem. Dienftalter vorgerüdt. Auf der
bristen Bank muͤſſen ſtets zwoͤlf Mitglieder dem Stande der züunftigen Hand»
werker angehören. So angemeflen es ift, jedem Stande feine Repräfens
tatton zu fichern, fo zweckwidrig erfcheint für ein eigentliches Regierungs⸗
Collegium wie ber Senat bie Vorſchrift, daß zwölf feiner Mitglieder Dem
zünftigen Handwerksſtande angehören müffen, und es würde vielleicht
die Behandlung der Geſchaͤfte nur gewinnen koͤnnen, wenn der ganze Senat
ans einer geringeren Anzahl von Mitgliedern, weiche aber alle ganz eigentlich :
Frankfurt am Main, 319
für bie Begierungsgefchäfte ausgebildet wären, beftünbe, das gefammte Cols
leglum nur über die allgemeinen Angelegenheiten des Staates beſchloͤſſe, die
Oberaufſicht über die einzelnen Fächer aber unter einige Senats Abtheilungen
vertheilt wäre, und hiernächft ſowohl bie Gerichte als die Verwaltungsftellen
nicht aus der Mitte des Senates, fondern mit Directoren, Richtern und Be
auntten, befegt würden.
Gegenwaͤrtig fondert fich der Senat in ben Großen Rath und ben
Engern Rath oder Verwaltungs: Senat. Im Großen Rath, meldyer alle
42 Mitglieder umfaßt, werden alle Gegenſtaͤnde, die zur Enticheidung des
gefeggebenden Körpers gehören, bie Gnadenſachen und Aemtervergebungen
behandelt. In dem Engern Mathe befinden fi nur bie Mitglieder, welche
mit der Juſtizverwaltung nicht befchäftigt find, dann bie fleben aͤlteſten Raths⸗
Verwandten; ber Engere Rath entfcheidet über diejenigen Verwaltungs⸗
fachen,, die dem Großen Rathe nicht vorbehalten find. Dem älteren Bürgers
meiſter iſt insbefondere noch die obere Leitung ber bewaffneten Macht (beftes
bend in einer zahlreichen und gutgeuͤbten Stabtwehr, dann In dem durch
neuere Beilimmungen, nach welchen bie Reſerve ſogleich unter bie SBoffen
geſtellt werden foll, auf 910 Dann vermehrten BundessContingente), dem
jüngern Bürgermeifter der Borfig bei der Leitung bes Polizeiweſens und der
Handwerksſachen, ſowie die Unterfuchung der Erjorberniffe bei Bürgeraufs
nahmen anvertraut. Der Senat verwaltet bie Gerichtsbarkeit in bürgerlichen
und peinlichen Sadyen,, In demſelben conftitutionellen Sinne, wie in mon⸗
archiſchen Staaten alle Zuftizpflege von bem Staatsoberhaupte ausgeht; mo»
nad) denn allerdings nicht gerabe alle Gerichte durch Senatsdeputirte befegt
fein muͤſſen und die beantragte Anordnung eines aus Handelsleuten beſte⸗
benden Handelsgerichtes keinem conflitutionellen Bedenken unterliegen
In Kolge der Conftitutions- Ergänzungsacte wurden eingefeßt: ein
Appellationss und Criminalgsricht, eim Eriminalamt (Unterfuchungsgericht),
ein Stabtgericht und Curatelamt, dann, für biegeringfügigen Rechtsſachen,
drei Stadtjuſtizaͤmter und ein Lands Auflizamt. Das —— —
Stadtgericht und Curatelamt beſtehen aus Senats⸗Deputirten.
kamen noch hinzu: das gemeinſchaftliche Oberappellationsgericht der Freien
Städte in Luͤbeck, der Zollrichter für Streitigkeiten und Sontranentionen Is in
Dinfiht auf das Rheinfchifffahrtss Reglement, das Polizeigericht, das
Bollunterfuchungsgericht. ine große Unregelmäßigkeit iſt, daß man durch
die im Jahre 1821 abgefchloffenen, in vielen Hinſichten der Stabt fehr
nachtheiligen Poftverträge dem Fürften von Thurn und Taxis geftattet hat,
Patrimonialgerichte zweier Inſtanzen fuͤr die Mitglieder ſeiner Generalpoſt⸗
direction in Frankfurt zu gruͤnden. Beſondere conſtitutionelle Rechte der Ge⸗
richtsuntergebenen in Beziehung auf die Rechtspflege ſind: die Befugniß,
bei dem Appellationsgerichte ſowohl in zweiter als dritter Inſtanz in allen
Sachen die Actenverſendung zu verlangen; ferner die Befugniß, gegen die
Straf⸗ oder Confiscationsverfuͤgungen der adminiſtrativen Stadtaͤmter den
Recurs an das Appellationsgericht mittelſt der Rechtsmittel der Appellation
und Reviſion zu ergreifen. Daß in Polizeiſtrafſachen und in Criminal⸗
320 Frankfurt am Main,,
ſachen das Recht der Actennerſendung, welches ſchon ber Bürger Wertrag
von 1613 fanctionicte, burdy den Buindesbefchluß vom 5. November 1836
aufgehoben wurde, iſt ſchwerlich an irgend einem andren Orte Deutſchlands
hmerzlicyer empfunden worden als in Frankfurt, wo die Freunde wie die
Feind diefes für die partetlofe und unabhängige Zuftigpflege Eleiner deutſchen
Staaten ſo wichtigen Inftitutes alle Gelegenheit gehabt hatten, deſſen
große Vor zuͤge kennen zu lernen. Der verfaffungsmäßige Anſpruch auf eine
dritte Inſtanz in Polizeifteaffachen wurde auf diefe Weife factifch zerſtoͤrt.
2 das Recht felbft zu wahren und vorjubehalten, hat die Gefehgebung
ber freien Stadt ihre inneren Anorbnungen , durch welche fie fi vorüber
gehend auf zwei Jnſtangen in’Polize-Steaf Sachen befpränkte, nur immer
—
rer, dann auf zwei Jahre, dann auf drei Sabre erlaffen, bis
beitte Inſtanz im anderer Welfe wieder gefunden fei. Wer uralte und
—* das Erkennen ihrer Vortheile theuer gewordene Rechte einziehen till,
kann nur dann auf Beiftimmung rechnen, wenn er Befleres oder gleich
Gutes ala Erfah bietet. Die Luͤcke nur reißen und dann Jedem uͤberlaſſen,
mie —— komme, iſt leicht und bequem, aber nicht weiſe und gerecht.
Nicht die bloße Verftümmielung alter ſchuͤtzender Formen der Strafrechts⸗
—*2 dem Staatswohl frommen. Neue F Formen muͤſſen geſchaffen
werden, wenn die alten ſich überlebten. Fuͤr — wer⸗
—2 nach der Üeberzeugung der gediegenften feiner Bürger, in allen Straf⸗
—* —— die —— und Muͤndlichkeit des Verfahrens
chaft ſehr hald nicht laͤnger intbehrt werden koͤnnen, und
3 Schubanſtalt der — —* wird gleichfalls wohl den ihr gebuͤh⸗
renden Platz einzunehmen berufen ſein.
Außer dem Senate, als dem Regierungs» und Verwaltungscollegium,
beſteht zum Behufe einer beſtimmten Mitwirkung und Gontrole bei ber
Berwaltung eine (ſchon im Jahre 1732 angeordnete) Ständige Bürger:
Repräfentation ober der Ständige Bürger: Ausfhuß, ſeit
1816 aus 61 Mitgliedern zufammengefest, unter weldyen ters 6 Rechtsge⸗
lehete fein: müflen. Den Vorfig in diefem bürgerlichen Collegium führt ein
Senior, auch nimmt daffelde einen rechtskundigen Confulenten an. Die
Defugniſſe diefer Staatsbehörbe find Im Allgemeinen: über bie Feſthaltumg
bei Verfaſſungs⸗Grundgeſetze zu wachen; bei wichtigen und neuen Aus⸗
gaben, bei Veräußerungen oder Erwerbungen von Stadtgütern, bei Proceßs
vergleichen, bei Anordnung ber Steuern und Feſtſetzung des Ausgaben « Bub»
gets, überhaupt in allen Finanzangelegenheiten dem Mathe, melcher mit
diefent Bürger » Ausfchufie fchriftliche oder mündliche Conferenzen, unmittels
bar oder durch bie Stadtämter pflegt, feine Meinung zu eröffnen ; endlich
bei fonfkigeri wichtigen Vorfaͤllen zum Beften des öffentlichen Weſens und zur
Verhirmig des Schadens, Vorſtellungen und Erinnerungen an ben Senat zu
richten und noͤthigenfalls Beſchwerde bei der gefeggebenden Verſammlung
zw führen. Eine fpecielle Mitwirkung und Controle bei der Adminiſtra⸗
tien übt aber der ſtaͤndige Bürger : Auefchuß auch dadurch noch fortwährend
aus, daß er einestheils zu allen einzelnen Verwaltungsſtellen und Behörden
pormanente Commifläre Guͤrgerliche Deputirte) abordnet, welche bei allen
Frankfurt am Main; sa1
Ausgaben über pünktliche Einhaltung der gefeglichen Etats und Bewilligun⸗
gen wachen und alle Zahlungs s Anweifungen gemeinfchaftlich mit den Ges
natöbeputirten vollziehen; und daß er anderntheils zur Controle bei der
Buchführung der Verwaltungs⸗Aemter befolbete Segenfchreiber anſtellt, die
ihm unmittelbar verpflichtet find. Ueberdies bilden neun Mitglieder bisfer
Behörde das Stadtrechnungs » Revifions s Colleg (den Rechnungshof ober das
Neuner⸗Colleg). — Wenn fich nicht leugnen läßt, daß durch biefe Eins
eichtungen, Gonferenzen und wmabläffigen Communicationen zwifchen drei
Staatskoͤrpern der Geſchaͤftsgang in reinen Verwaltungsfachen oft etwas
Schleppendes erhält, fo wird doch gewiß auf der andern Seite dadurch ge⸗
gen Malverſationen ein ſtarker Miegel vorgefchoben, dem Einfchleichen
und der Begünftigung von Mißbräuchen gefleuert, und es verbreitet fi)
in der Bürgerfchaft eine Maſſe praktifcher Erfahrungen über die Stadt⸗
abminifiration. In der Finanzverwaltung hatten ſich weſentliche Verbeſſe⸗
rungen als höchft nothwendig gezeigt. Die Einnahmen hatten nicht mehr
ausgereicht zur Deckung ber fehr beträchtlichen Ausgaben, welche, ohne das
Bedürfniß der Schuldentilgung,, jährlich ungefähr 1,100,000 Gulden heis
ſchen. Zur Ausfüllung der entftandenen Deficits hatten auflündbare Dar⸗
lehen aufgenommen werden maͤſſen. Diefe Uebel wurden im Jahre 1839
befeitigt._ Die außerorbentlichen, für die Bedürfniffe des Staatefchulden-
weſens beftimmten Abgaben und mehrere indirecte Steusen wurden einer
gründlichen Reoifion ımterworfen. Ein Gleichgewicht der Einnahmen und
dee gewöhnlichen Ausgaben ward hergeftellt. Die Staatsſchuld wurde in
bem Betrage von 84 Millionen Gulden confolidirt, ihr Zinsfuß herabgeſetzt.
Nachdem fie jedoch ſpaͤter durch allmaͤlige Rüdzahlungen auf 7 Millionen
Buben. ſchon vermindert war, iſt es Inden Jahren 1843 und 1846 noth>
wendig getworden, fie wieder um 7 Millionen Gulden zu erhöhen, um bie
Mittel für den Bau der Staates Eifenbahnen zu fihern. Es wird eine
firenge Pflicht der Verwaltung fein, in allen ihren Zweigen auf Sparſamkeit
t zu nehmen, damit aus eimer folchen Weberlaftung nicht neue Vers
legenheiten entfichen. Durch Steuern würbe ſich kaum helfen laſſen, ba
die vorhandenen ſchon nicht Leicht getragen werden. Der Gemeinfinn der
Frankfurter pflegt ſich weniger bei ihrer Steuersntrichtung als bei ihren
mwohlthätigen und gemeinnägigen Anftalten zu erproben, für welche bie größte
Theilnahme herefcht, indem durch der Bürger freien und kraͤftigen Willen mit
größter Leichtigkeit Inſtitute fich erheben, welche die monarchiſchen Regie
rungen von oben herab mähfam erfchaffen.
Aus Allem geht hervor, daß für Frankfurt Reformen wohlthaͤtig fein
koͤnnten: Reformen der Verfaffung im Sinne einer freieren Entfaltung
der Mechte der Bürger, Reformen der Verwaltung im Sinne ber Kräftis
gung umd Centralifation. Zu wuͤnſchen ift, daß ſolche Reformen nie ans
ders als auf dem Wege, den die Conftitution felbft erwähnt, eingeführt
werden möchten; durch Inneres Einverftändniß der Geſammtheit der Buͤr⸗
gerfchaft und der aus ihrer Mitte hervorgegangenen, fie vepräfentirenden
Stantekörperfchaften, ohne alle äußere Einwirkung.
Frankfurt ift durch die Bundesacte zum Sig der deutfchen Bundele
Suppl. 4. Staatsler. II. M
322 Zrankfutter Attentat; — Brankreid,
verfammlung erforen ; die Auferen Beziehungen der Stadt zu der Bundes⸗
verfammlung und zu den Gefandtfchaften find durd) einen bekannten Noten:
wechfel im October 1816 verbindlich feftgefegt. Allein Frankfurt hat Beine
Staatsbienftbarkeiten als Ausfluß jenes Verhaͤltniſſes Kbernommen, und
foldye Servituten fonnten deshalb ihm, als einem jelbftftändigen und ibeell
berechtigten Stante, nicht wider feinen Willen auferlegt merben.
Verhandlungen, weldye uͤber folche Anfinnen in tieffter Heimlichkelt
gen werben mußten, wurden wm fo druͤckender empfunden, als fie
nate durch vorübergehende dazu emfig benugte Anläffe hervorgerufen waren,
und in feinen pofitiven Normen des öffentlichen Mechtes wurzelten. Zu der
Sorge für die Wahrung ber Staatlichen Selbſtſtaͤndigkelt gefeilte ſich der Arg⸗
wohn, ber ben ſchwaͤcheren Theil bei ben Erörterungen, in welche der Stär-
fere ihn verwickelt, nur zu leicht einen Mißbrauch der Uebermacht fürchten
läßt. Als unerwarteter Lohn für foldye Bedrängniffe ift aber eine gekräftigte
und fehr vollfommene Hebereinfliimmung der Obrigkeit und der Bürgerfchaft
aus ben Gefahren jener Tage hervorgegangen *), : Dr. Reinganum.
Franffurter Attentat, f. Politifche Entwidlungen
und Kämpfe in Deutſchland und Geſellſcha tin, geheime.
Frankreich. Vorzüglich über die. Gefahren der poli—
tifhen Spkemeund Zuftände für Frankreich und Beusldr
land, Der am Scluffe des Artikels Frankreich ausgeſprochene
danke gilt auch noch heute, wie ſich denn überhaupt in den zehn ‚Jaheen, feit
welhen Here Golbery fehrieb, in dem damals fo bewegten sahen Reiche
weniger geändert hat, ald man hätte denken follen.
Mod; heute, wie bamals, fieht man’ in Frankreich jene nächtheifigin
Folgen früherer Regierungsfofteme und aud) der gewaltfamen Revolutionen,
Noch heute wird, wie damals, das franzöfifche Volk nad) ber fittlicyften und
, ruhmwuͤrdigſten Revolution, welche vielleicht jemals ftattfand, durch die in
biefer Revolution von ihm felbft auf ben Thron ‚erhobene Regierung mit
einer unmoralifchen teactiondren Politik beberrfcht. "Aber auch. jegt noch
iſt es klar und es ift immer Marer geworben, baf bie doch im Wefentlichen er:
rungene und behauptete polittfch freie Verfaſſung der Nation etwas früher
oder fpäter ben vollftänbigen Sieg , die freie und vollkommene Entmidelung
diefer durch ihre Werfaffung und nationale Einheit glüdlichen Nation mit
Sicherheit verbuͤrgt.
Bei bem hier wiederholten Tadel bes Juſtemilieuſyſtems haben uͤbrigens
auch wir die ſeltene politiſche Klugheit oder richtiger die Schlauheit, die mu⸗
ge, energiſche und zaͤhe Feſtigkeit, die Folgerichtigkeit und, was mehr iſt,
auͤch eine lobenswerthe Maͤßigung in der Durchfuͤhrung des reactionaͤren
*) Zu den wichtigſten literariſchen Werken über Frankfurt gehören das
Urtundenbuh der Reigsftabt Frankfurt von Böhmer, 1836;
Kirhner, Geſchichte der Stadt Frankfurt. 2 Bände, ——
ee ——— und Berichtigungen, 2 Bde., ebendaſ. 1809 — 1810,
nd J. K —8 Die Fntſtehung der ——— —
nb der Se it niffe ihrer Bewohner. Bra
X
Frankreich. 323
Syſtems niemals verfannt. Und diefe Eigenfchaften, welche einer Politik
im Kampfe mit Gegnern, die diefelben weder in gleihem Maße befigen, noch
auch durch fittliche und andere Kräfte überlegen find, ein Uebergewicht geben,
haben ſich in diefen zehn Jahren nur nody mehr bewährt. Ein freilidy oft
von Aeußerlichkeiten und Zufälligkeiten abhängiger glüdlicher Erfolg hat fie
noch glänzender hervortreten laſſen. Ja, es bat biefes Gluͤck für alle Dies
jenigen , welche nur nach,den nächften Erfolgen und nach oberflächlichen und
unfittlichen Geſichtapunkten bie menfchlichen Dinge beurtheilen, zu einer
wahren Politik ober Staatsmweisheit erhoben. Auch haben wir niemals das,
was in jener Juſtemilieupolitik an fid) Gutes und menigftens objectiv Rich:
tiges enthalten ift, verfannt. Wir meinen die Ablenkung von eroberungs-
und revolutionsfüchtigen Beftrebungen und die Bemühung für einen euro:
päifchen Friedenszuftand,, infomweit berfelbe auf würdigen, gerechten Grund⸗
lagen ruhte ımd mit treuer Wahrung ber Ehre und ber gefunden Entmwidelung
ber Nation vereinbarlid war. Endlich ift es auch nicht zu verfennen, daß keis
neswegs die ganze Juftemiliens Politit und ihre Reaction allein dem Daupte
berfelben zuzufchreiben ift. Vielmehr war biefelbe derjenigen Partei der frans
zoͤſiſchen Nation, weiche nad) dem Sturz der Feudalariſtokratie, des Abfolu-
tismus und der vorübergehenden revolutionären Kriege: oder Schredenss
berefchaft, welche vollends bald nach der Julirevolution das politifche Ueber⸗
gewicht erwarb und noch befigt, fie war der Bourgeoifie erwuͤnſcht, ſie
wird von ihr weſentlich unterſtuͤtzt. Man kann es auch wohl natuͤrlich fin⸗
den, daß der neugewaͤhlte Fuͤrſt dieſe Partei vorzugeweiſe zur Stuͤtze ſeiner
Politik und ſeines Throns zu machen und ihr ſelbſt fuͤr dieſen Zweck eine
sewiſſ⸗ Organiſation und Kraft zu geben ſuchte.
ber wer noch an eine ſittliche Weltordnung glaubt und an bie Noth-
menbigkeit und Heilſamkeit, daß ihre Geſetze vorzugsweife von den Fuͤrſten
geachtet und in Anerkennung gehalten werden, der wird ed nimmer billigen
koͤnnen, wenn bie erſte fittliche Grundlage ber Gefellfchaft, die öffentliche
Treue, aufgegeben und menn durch bie Regierungsmittel mehr die Unſitt⸗
lichkeit als Sittlichkeit und Ehre befördert werben. - Das Programm der
glorreihen Ssulicevolution, „ein Thron umgeben von republika⸗
nifhen Inftitutionen”, welches Ludwig Philipp vor ber Wahl
zum erledigten Thron auf bem Stadthaufe, mo Lafapyette präfidirte, wels
her mit Lafitte auf biefe Bedingung hin bie Wahl vorfchlug und bewickte,
foͤrmlich anerkannte und heilig zu halten verſprach, welches die neue Charte,
neben dem durch die ganze Revolution thatſaͤchlich und jetzt deutlicher auch
grundgeſetzlich ausgeſprochenen Grundſatz „einer Verwaltung nur durch
verantwortliche Miniſter“ unter dem Worte „Volksſouverai⸗
netät” an ihre Spitze ſtellte, und welches vor ber Vollziehung
biefer Mahl der zum König zu Proclamirende eidlich beſchwur — find biefe
in ber Pöniglichen Selbflregierung getreulich durchgefuͤhrt? — Das ift die
erfte Frage. Sind die dem neuen König anvertraute höchfte fittliche Be⸗
flimmung, Würde und Aufgabe der Nation für ihre inneren Entwidelungen
und Berhältniffe, und für die hohe einflußreiche Stellung, bie fie in ber
freien, füttlichen Gemeinſchaft der gefitteten Voͤlker einzunehmen hat, heilig
2U*
324 Frankreich. .
* oder find ſie anderen und eigenfüchtigen Intereſſen untergeorbut
ren Das iſt eine zweite Hauptfrag t
Erin nimmer wirb man es billigen, wenn der für freie Völker und
Staaten und ihre Für ur —— Egoismus und Materialismus
im > und zunaͤchſt In ber Bourgeoifte, wenn ihre ungerechte Zurüuͤck⸗
ng, ja zum heil —S des —— Volkes abſichtlich großgezogen
umb zur Herrfchaft gebracht, wenn fo diefe Bundesgenoſſin verdorben und
in a Verderbnif auch betrogen wird, wie denn wirklich die Juſtemilleu⸗
J diau die Herrfchaft biefer Vourgeoifie ihrer eigenen BGoamten. und
⸗Herrſchaft und die Ehre und Kraft und das dauernde Wohl ber gan-
gen Mation go Familien⸗ oder Dynaſtie⸗ Intereffen unterzuorbnien und aufs
—88
halten wir auch vom Standpunkte der Pollilk an jenen in
a oral, SER und — Intereſſen
—— fittlichen und rechtlichen Grundlagen mit einer größern Ent-
fdhiedenheit , nach immer mehr berährter Erfahrung vollfommen feft. Ihre
Achtung if, fo Tange noch bie ſittlichen Kräfte A den Nationen nicht er⸗
tofchen find, mefentlich für die wahre Stäntsweisheit und das wahre und
dauernde Wohl der Bölker, er das nicht glaubte, der müßte ſich folge⸗
tichtig zu den ſchandlichſten und ſcheußlichſten Hinterliften und —* —
| * macchiavelliſtiſchen Politik bekennen. Denn unter den Schlechten
überall, ftets ber, welcher in en Fache am ftärkften ift, der, wel⸗
cher die verru chteften Mittel am meiften ruͤckſichtolos, folgerichtig und ener:
giſch durchfuͤhrt. Deshalb Mo immer die wahren, die ganzen Jeſulten
über die halben. Die Politit wäre aber bei jenem Unglauben auch gar
nicht mehr ein Gegenftand fuͤr würdige Befchäftigung und für Ehrenmänner.
Das aber ift fie noch und Gottlob auch die Gefchichte fittlicher Nationen be:
währt wentgftens in Beziehung auf das dauernde Heil für fie und ihre
Fürftenhäufer bie edlere menfchenwürbige Politik. (S. Moral.) So er:
giebt es fich auch jegt ſchon im Beziehung auf Frankreich) und fo wird es ſich
fpäter immer vollfommener herausftellen. So liegt e8 namentlich bereite in
der Gefchichte ber gleich untreuen und gleich unglüdlihen buonaparti-
ſchen, der altbourbonifchen und ber Reſtaurations-Politik zu
Zage. Und fo hat benn auch ber noch nicht allzulange Beftand und ber bie:
herige Erfolg der Juſtemilleupolitik unfere in jenen Artikeln über fie ausge:
ſprochenen Anfichten im Mindeften nicht verändert. Diefe Erfolge find theils
ber gleichen ober größeren Unfittlichkeit und ben Fehlern der Politik der in:
neen und ber äußeren Gegner, theils bloßen Zufaͤlligkeiten zugufchreiben
und fie find an ſich aud) wahrlid wenig groß und beneidenswerth. Ja
die Folgen biefer Politik waren häufig augenblicklich und augenfällig dem
König und den Bürgern nachtheilig.
She Hauptnachtheit freilich beftand In ihrer unfittliken Wirkung und
in ber Unterbrüdung des fchönften und ebelften Auffchtwunges, zu welchem
fih in dem ganzen Laufe ihrer stoeitaufendjährigen Geſchichte die franzäfifche
atton erhoben hatte, in ber Unterbrüdung jener muthigen und doch fo
maßvollen,, alle inneren und aͤußeren Rechte und fittliche Schranken achten:
Frankreich. s35
ben Erhebung ber ganzen einmüthigen Nation, in welcher fie, im flolgen
Bewußtſein ihrer großen Beftimmung, den übrigen Voͤlkern in der heutis
gen, hoͤchſten Aufgabe, in der politifchen Freiheit voranzugehen dennoch
von Eroberungsſucht und Einmifchung in fremde Staateverhältniffe frei⸗
willig fich losſagte, und nur von ben defpotifchen Regierungen bie gleiche
Achtung des Voͤlkerrechts — die Nihtintervention — forderte. An
die Stelle der Vorherrſchaft diefer ebeiften fittlihen Richtung und ber vas
terlandsſtolzen Erhebung pflanzte das untreue, hinterliſtige, reactios
naͤre Syſtem Corruption, Materialismus, Egoismus und Erbitterung und
site alle älteren revolutiondren,, eroberungsfüchtigen Leidenfchaften aufs
me auf.
Die unmittelbaren Früchte diefes Syſtems waren auch nicht wahre
Achtung und Liebe der neuen Dynaſtie und des monarchiſchen Principe, ſon⸗
dern vielmehr das Gegentheil. Diefe Folgen bedrohen noch immer ihre
Exiſtenz mit Gefahr. Sie bewirkten zahlreiche, ja gegen hundert blutige
Aufflände in Paris und faſt in allen Städten und Theilen von Frankreich
und acht Mordverſuche gegen ben König und feine Familie. Niemand wird
doch wohl die Gefahren derfelben, bie zum Theil wahrlich nur zufällig übers
wunden würden, ihre vielen Opfer und Nachtheile, die dadurch nöthigen
Verwendungen unermeßlicher Gelder und Kräfte für eine ungluͤckliche, meift
geheimpolizeiliche und die Freiheit befchränkende Sicherung und alle ba»
durch entflandenen WVerlegungen der Lebensfreuben und ber Nationalehre
für geringfügig halten. Sie find es wohl ebenfo wenig, als bie Erfolge
für die Foͤrderung der inneren und äußeren Größe und Achtungswuͤrdigkeit
der Nation im Verhätmiß zu den ungeheuren, gegen früher mehr als dop⸗
pelten Staatslaften von anderthalb Milliarden, den Laften insbefondere
fe: den fünfzehnjährigen bewaffneten Frieden, groß genug genannt werben
dürften.
Wie fehr aber wirklich die unglüdlichen revolutionären Rettungs⸗
und Racheverfuche nur bie Solgen des untreuen reactionaͤren Syſtems waren,
diefes zeigt unmittelbar ihre Geſchichte. Es erfchienen auch die meiften
die Freiheit verlegenden reactiondren Regierungsmaßcegeln, welche die Vers
zweiflung und Empoͤrung der Urheber der Attentate und Aufſtaͤnde hervors
riefen, nicht etwa als unvermeidliche Schugmaßregein gegen ihre Erneue⸗
rungen, fonbern diefe Maßregeln waren zufammenhängende Beftandtheile
deſſelben Staatsſyſtems, benusten nur bie Empörungen als dienſtbare Mit⸗
‘tel für daſſelbe und die Empdrungen wurden Immer neu hervorgerufen durch
bie verlegenden Maßregeln und die Verftärkung des Bewußtfeins der uns
treuen, die Nationalehre kraͤnkenden reactiondren Juſtemilieu⸗Politik. So
knuͤpften fich offenbar die erſten großen blutigen Aufftände nach der Ver⸗
draͤngung des Lafitte’fhen Minifterlums zundchft an die empoͤrendſte
Untreue ber Politid des neueingefegten Königthums der folgen volksſouve⸗
ränen Nation, nämlich) an den fchimpflichen Verzicht auf jene edlen voͤl⸗
kerrechtlichen Grundſaͤtze ber Nichtintervention. Sich felbft hatte die ger
waltige Nation, als nach dem herrlichen Sieg in der Julirevolution alle
ſchoͤnen Erinnerungen ihrer herrlichen Kriege: und Giegsthaten wieder
id ——— — fo fehmer teten Böl:
& er | t, Br, nfer Y
Tinten Rh — ur —— Vorher:
9 grlipme bat
r . was 1
me Ruten ud at Pf
t gen mußte, neue
—* anerkannte, was zu bewahren mit
herab verſprach — And war die Nidhtintervention. "Es befand —*
in, daß die deſpotiſchen Mächte ebenſowenig die übrigen Voͤlker dadurch
beherefchten z ba fie, zur Zerſtoͤrung ber völkertechtlichen Freiheit und
Sicherheit, zum Schimpfe der franzöfifhen Nation, intervenirten, um bie
Voͤlker von freiwilliger Nachahmung des Beiſpiels der Freiheit abzuhalten,
um ihnen ihre eigmes befpotifches Spftem und bie Abhängigkeit von ihnen
aufjzuzwingen. Dennod, als bie unglüdlichen Italiener, bucch Beifpiel
und Aufmunterung bes an ihren Grenzen verfammelten franzöfifhen Hee—
res ermuthigt, fic für ihre Befreiung erhuben — da duldete hier, in Sta
fin — mo auch die ſchwaͤchſten franzöfifchen Könige niemals ohne Kampf
öfterreichifhe Uebermacht zuließen, da duldete hier das Julikoͤnigthum die
öfterreichifche Intervention zur Herftellung ber Defpotie und Defterreichs
Dberherrfchaft, ebenfo wie es ruhig zufah, daß gegen alle nationalen Gefühle
und Intereffen und gegen die Berträge die Ruſſen mit preußifcher Hilfe die
Refte polnifcher Nationaleriftenz, newerlichft auch die Aufere Erinnerung
daran vernichteten. Mar es ja fogar im Begriffe, die Wiederherftellung der
gegen Frankreich begründeten hollaͤndiſchen Herrichaft über das ſchon be>
freite Belgien felbft zu fördern, ehe die franzöfifchen Freiwilligen fie un:
möglich gemacht hatten. Es war überall biefelbe Politik, welche zu Guns
ften des dynaſtiſchen ntereffes und „des Friedens um jeden Preis‘, ſo⸗
weit e8 nur immer bie innere Empoͤrung ber eignen Nation zuließ, dad dem
frangöfifchen Einfluffe und Stantsfpfteme feindliche abfolutiftifche Syſtem
Frankreich. 827
untseflügte, welche die völßerrechtswibrige antifranzöfifche Unterbrüdung
der kleineren deutſchen unb italienifchen Staaten und der Schweiz dulbete
und ſchmeichleriſch förderte und zum Lohne dafür die Aechtung des eignen
Fuͤrſtenhauſes hinnahm, daß felbft der Fleinfte abfolutiftifche Prinz jede Ver⸗
bindung mit demfelben zuruͤckwies. Es war biefelbe Politik, welche bie
„feanzöfifhe Zreuverlegung und Heimtüde” gegen natür:
fiche und durch Zufagen getäufchte Bundesgenofien und Schüglinge der
freien franzoͤſiſchen Nation veraͤchtlich und fprichwörtlich machte. Gie war
es, welche zuerft mit den fpanifchen Liberalen unter Mina Allianz fchloß
und fie dann den Henkern der Tyrannei überlieferte, welche fpdter mit
England und den fpanifchen und portugiefifchen Königinnen ben Quadru⸗
pelvertrag zum Schuge der Freiheit ſchloß und dann ben Don Carlos, den
Kämpfer für ben Abfolutismus, durch Frankreich nach Spanien beförberte,
. ihm aus franzöfifchen Grenzſtaͤdten und zur See tractatenwidrig Dilfe leiſtete,
bis endlich bei ber empoͤrten Nationalftimme Fein franzöfifcher Miniſter bie
weitere Durchführung des Treubruchs wagen mochte. Zwei Miniſterien,
Soutit und Thiers, hatten, der oͤffentlichen Meinung huldigend, treuere
Erfüllung bed Vertrags zur Bedingung und Beide löften wegen der Nichterfül-
lung fih auf. Soult trat zuräd, weil ihm der König die Durchreife von
Don Carlos drei Tage verfchwiegen hatte. Diefelbe Politik zettelte, nachdem
endlich Spanien durch Espartero fo giüdlich befreit und beruhigt, nach
allen Seiten bin in herrlicher Entwicklung begriffen war, der unglädlichen
Nation — weil ein folches franzöfifches Syſtem das nahe Muſter fo großer
Tpanifcher Freiheit für fich ſelbſt fürchtete — neue blutige Bürgerkriege an
und bereitete ihr fo einen unnatuͤrlichen Juſtemilieuzuſtand, beffen Ab»
fchüttelung hier noch ficherer als in Frankreich neue Blutftröme Eoften wird.
Daran wird auch die neuerlich erliftete Heirath Nichts ändern. Es war
nur traurige Zolgerichtigkeit dieſes Syſtems, daß es auch das nachbarliche
Schweizervolk, das eine frühere beffere franzoͤſiſche Politik flets für Frank⸗
reich Zu gewinnen fuchte, vielmehr auf das Aeußerſte abfließ, indem «6 auch
dort im Verein mit dem Abſolutismus, Ariſtokratismus und dem neuers
lich befchüsten Jeſuitismus eine gefunbe freie Entwidlung zu verhindern
fuchte und bie freien Beflrebungen mit getwaltfamen Interventionen bedrohte.
Auch im Driente wurde die aufblühende aͤgyptiſche Macht, Frankreichs Buns
desgenoſſin, fammt dem altfranzöfifchen überwiegenden Einfluß, nad) den
koſtſpieligſten nutzloſen Kriegsrüftungen, den defpotifhen Mächten und
dem nebenbuhlerifhen England fo ſchimpflich preißgegeben, daß bei der hart⸗
nädigen Verweigerung der Abfendung der franzöfifchen Flotte ſelbſt ein
Thiers, ebenfo wie früher bei der Treulofigkeit gegen Spanien, zur Rettung
feiner Ehre, fein Miniflerium aufgeben mußte.
Diefer für das Julikoͤnigthum treulofen Unterorbnung unter bie be
fpotifchen Mächte und ihr Syſtem in der Außeren Politik entfprach gänzlich
auch die innere Politik fchon von jenem erſten Bemühen, das auf den freien
fouveränen Befammtwillen ber großen Nation gegründete neue Koͤ⸗
nigthum vielmehr auf das legitime Erbrecht der jüngeren Line, auf
die fpottweife fogenannte Quafilegitimität zu begründen. So wurde
efestoffene Beränberungt | m Princip der Wolksfouverdnetät
auf die Einleitungsftellen bed e hatte, Dem Undanke gegen das bes
zum größten Theile vom den polltiſchen Wahlrechten und von der
—S ausgeſchloſſene Volk vereinte ſich der Undank gegen bie
arſten Gründer des neuen Throne, gegen einen‘ Lafitteund La:
fave e. Haͤtte wohl im Inneren e6
fi gegen bie neue Freiheit zeigen können, als das Julikönigthung?
'- Gewiß 2, treutefften € ang eblich Erg gar Kg Beweiſe *
Pr g —J Gefchichte von Louis Bienen mit ine © Schärfe bezeichneten
Büge geheimer Hinterliften und Taͤuſ ‚gege
tin man bie erfien Aufftände, melde in Folge der fogar hinter
bem Rüden der —— *28 Italien und Polen befolgten Politik und —*—
fo bewirkten Ruͤcktritts Lafltte entſtanden mar
lm nah em Ba War Haut "(pedR 1880) m im Ohm
entftanden und fi 1832 wieber fortfegten, gluͤcklich, aber
nungen fürchten. I diefer Furcht el, man eins ber mwefentlichften
Nechte freier Völker, ihrer freien Berfaffung und Entwidlung , bas Recht
ber freien Affociation und mit ihr felbft das der gemeinfchaftlichen Petition.
Man zerftörte es fo fhonungslos, daß man das Recht, fi) mit mehr als
zwanzig Mitbürgern zu vereinigen, nicht einmal blos für vorübergehende Zei:
ten befonberer Gefahren und für bauernde Verbindungen, fonbern bleibend
und fo allgemein der völlig beliebigen MRegierungs = oder Polizelerlaubniß un:
terordnete, daß man auch einfache Gaftmahle und, troß bed ausdrüdlichen
Verfaffungsrechts völliger Religions: und Glaubensfreiheit, die Verſamm—
lungen der neufranzöfifchen Kirche unterbrüden Eonnte.
Neue blutige Aufftände waren abermals bie unmittelbaren Folgen bie:
fe8 natürlich empörenden Verbotes (März 1834) und zwar zunächft der ge:
fährliche Aufitand der Lyoner Arbeitervereine und faft gleichzeitig ber gleich
bebeutende Parifer Aprilaufftand (und die Aufftände in St. Etienne,
Grenoble und Zoulon) und nad) ihrer blutigen Unterdruͤckung die Der:
breitung vieler nun geheimen republifanifchen, communiftifchen und foria=
liſtiſchen Verbindungen in: ganz Frankreich, und zugleih immer neue
Aufftände, Verfhmwörungen und Morbanfchläge, unter legteren als einer
ber furchtbarften der bed Fieschi (28. Juli 1835) und feiner Hoͤllen—
maſchine. ‚Begreiflicherweife unterftüsten bei der Mehrzahl der frieb- und
rechtliebenden Bürger biefe Aufftände und Morbanfchläge die Regierung und
ihre teactiondren Tendenzen. So biente Fieshi’s Höllenmafchine zur
\
%
Frankreich. 329
Beſchraͤnkung ber Preffe und der Schtourgerichte durch die berüchtigten
Geptembergefege, welche ſelbſt der ehrwürbige Breis Royer⸗Collard
als verfaffungswidrig und unmwürbig befämpfte und fie als ſolche bucch feine
Stiwme auch den Bemäßigtften bezeichnete. Aber bie durch fie, durch bie
zenctiondee dußere Politik, die koͤnigliche Befchügung der reichen Capita⸗
Uſten gegen bie von der Kammer und ben Miniſtern gewollte hoͤchſt gerechte
Ventenreduction vermehrte öffentliche Mißſtimmung erfchwerte bem König
bie Bildung und Beibehaltung von Miniſterien in feinem Sinne; felbft bie
fo zahmen Kammern wiberftrebten dem Syſteme, und den Koͤnigemoͤrder
Fieschi folgte bald der geiftig und fittlich ungleich höher flehende Ali⸗
baud (Yun. 1835). Das am willigften der Eöniglichen Selbſt⸗ und Allein⸗
esgierung fi fügende Miniftertum Mole mußte endlich nach dem (22.
San. 1838 und 4. San. 1839) wiederholten Tadel bes Syſtems durch bie
Kammermajoritäten in ber Adreffe, und zulegt nach der unummundenen
Klage äber feinen entfittlihenden Charakter und nach vergeblich verfuchter
Kommerauflöfung, trog des Siege in Mexiko, zurüdtretn. Gelbft neue
Merdattentate, wie dievon Meunier und Huber, hatten es nicht halten
und die Nothiwenbigkeit wenigſtens einiger Conceffionen des reactionaͤren
Soſtems an die öffentliche Meinung, wie der Verzicht auf die beab⸗
fichtigte Räumung Anconas und die Amneftie und wenigftens die Zufage ber
Hentenconverfion, die Beſchuͤtzung Kralaus und des Dey von Tunis, bie
enbliche Abfchneidung ber Zufuhren für Don Carlos nicht verhindern Eins
nem. Schon vom Anfange an hatte bie öffentliche Mißſtimmung gegen das
Syſtem jedesmal dann, wenn fie am lebhafteften war, auch eine ganze Reihe
earliftifcher und wiederholt auch die Napoleoniſchen Verſchwoͤrungen und
Aufflände ermuthigt und hervorgerufen. Den von Louis Napoleon
in Straßburg Tonmte übrigens bei ber Öffentlihen Misſtimmung bas
reactiondee Spftem nicht einmal fo wie gewöhnlich zu feinen Gunſten aus⸗
beuten. Vielmehr verfchmähte das Schwurgericht in Straßburg, ſich zu einem
Werkzeug partelifcher ungerechter Cabinets⸗Juſtiz zu machen, welche den
prinzlichen Dauptthäter und den wichtigften Entfchulbigungszeugen zum
Nachtheil der bürgerlichen Angeklagten gänzlich bem Proceß entzogen hatte,
und bie Kammer verwarf mit Untwillen bie Gefege über bie Disjunction
und NRonrevelation und über Ausführung bee Deportationsfirafe
und gleichzeitig bie Apanage für ben Herzog von Nemours. (Jan. 1837).
Selbft die Kammeraufloͤſung und bie unter Einfluß der Stegesnachrichten
aus Algier und Spanien eifrig betriebenen Wahleinwirkungen konnten, wie
das Schickſal des Minifteriums Mole zeigte, auch in der neuen Kammer
bie Mifftimmung über das Syſtem, welches auch ber häßliche Proceß bes
Doltzeipräfeeten Gis quet im boͤſem Lichte gezeigt hatte, nicht befchwichtigen.
Mad) langen minifteriellen Krifen mußte der König ungern ein Miniflertum
Soult und dann ein Minifterium FT hier s und ihre Bebingungen für einige
Ermäßigungen des Syſtems und einer Verwerfung ber Apanage > Forderung
hinnehmen. in neuer Aufftand in Paris (12. Mai 1839) und ein neuer
Verfuch des Königemords, der von Darmes (15. Oct. 1840), bezeich⸗
nete auch jest die öffentliche Stimmung, welche befonders die hartnaͤckige
Frankreich
Jemuͤhung bed Könige, das unpopuldre Minifterium Mole und die fünf
— zu erhalten, und feine fpanifche und orientaliſche Politik gereist hat»
um; und welche aufs Neue auch Louis Napoleon benugen wollte.
Freilich theilte die Kammer die Verantwortlichkelt der teactiondren
Mafregein. Uber es Hit Thatſache, daß faſt immer nur mit der größten
Muhe duch Wahlbeftehungen, Furchterweckungen, durch Minifteriums:
ge nn burdy lange miniſterlelle Kriſen, durch ſchlaue
Benutzungen aͤußerer Umſtaͤnde und vorzuͤglich der fuͤr einen freien Staat un
natürlichen Gentralifations: und Polizelgewalt zuſtimmende Minifterien und
Kammermehcheiten gewonnen, oft erpreßt werben mufiten, und biefe mehe
einem energiſch ducchgeführten „untwandelbaren Gedanken” fi
anſchloſſen, als ſelbſt fuͤr die reactlonaͤren Mafregeln begeiflert waren, daß
fie vielmehr mehrere derſelben vereitelten und einige liberalere durchſetzten.
Auch die Entbehrlichkelt wenigſtens vieler Repreſſionsmittel wurde gerade
dadurch aͤußerlich anſchaulich, daß dieſelben ohne allen erkennbaren Nachtheil
vereitelt wurden. So vernichtete der Caſſationshof bekanntlich alsbald gaͤnz⸗
lich jene ungeſetzliche Verſetzung der Haupiſtadt in Belagerungszuſtand
(1832) mit allen an dieſelbe geknuͤpften Verhaftungen und den kriegsgericht⸗
lich zu entfcheidenden Eriminalpeocefjen. Die Kammer aber verwarf bie
Bevollmächtigung zu ſolchen Belagerungserklaͤrungen ebenfo mie
daB Diejunctionggefeß, das Gefet über die Ausführung der Deportation fo
tie das uͤher bie Nonrevelation oder über eine Verpflichtung zur Anzeige von
Hochverrathsanſchlaͤgen gegen den König. Ebenſo vereitelten wiederholt die
Schwurgerichte, einmal auch bie fie zum Theil verbrängende Pairdfammer
(diefe im Proceß gegen A. Garrel), die rächenden gerichtlichen Verfolgungen
gegen bie Feinde bes Negierungsfpftems. Unb wiederholt zwangen dem un⸗
wanbelbaren Bebanfen wiberftrebende Kammermajoritäten reactionaͤre Mini-
fterien zum Ruͤcktritt. Auch nad Außen hin erzwang , fo wie bei Belgien,
wile bei dem ebenfalls gegen bie franzöfifche Nationalehre bereits eingegangenen
Bocrtrag über da Duchfuhungsredht, ober wie nach Thiers' dop⸗
peltem Rüdtritt in Beziehung auf Spanien und in Beziehung auf Aegyp⸗
ten , ähnlich auch in Beziehung auf Algerien, bie empdrte Nationalftimme
mehr oder minder bie Zuruͤcknahme (himpfticher Zugeftändniffe gegen das
Ausland, ohme daß dadurch felbft auch nur „der Friede um jeden Preis”
wirklich icgend gefährdet wurde.
" Menn man zu all biefem noch in Frankreich felbft ſich überzeugte, wie
wenig fogar die das Julikoͤnigthum flügende Hauptpartei, bie von ihm ge:
fhmeichelte und gehobene Bourgeoifie, zu einer wirklich politifchen Herr:
ſchaft — ähnlich etwa einer englifchen politifchen Partei — herangebilbet ift,
wie ſehr diefelbe und ihre Kirchthurmsnotabilitäten ihre Leitung von außen
etapfangen, fo wird man noch weniger bas Suftemilieufyftem auf eine
Noͤthigung aründen. Man wird biefes vollends nicht, wenn man die Ge:
frmungen diefer Bourgeoifie vernahm, bie Gefinnungen diefer einzigen An⸗
haͤnger einer Regierung, die diefen dritten Stand nicht blos auf Koften
bes erften und zweiten, des Adels und der Geiſtlichkeit, fondern zur Zurüd-
fogumg des zahlreichſten vierten Standes, auf Koften des höhern Wohls
Frankreich. al
und der Ehre bes Vaterlandes privilegirte, fie in all ihren Maßregeln, in ihrem
Frieden um jeden Preis, wie in ber hartnddigen Erhaltung verderblicher Mo⸗
nopole und der fünf Procente dev Staatsſchuld parteiifch begünftigte. Spre⸗
chen benn etwa biefe Bourgeois eine wahre Achtung und Liche aus! Wahre
lich davon hört man nichts. Ste geben vielmehr die moralifche Verwerflich⸗
Leit des Syſtems zu, aber fie ruͤhmen unb gebrauchen deſſen Vortheile für
fih. Sie rühmen auch deffen Klugheit oder Schlauhelt wegen des Gluͤcks,
wegen feiner Erfolge. Freilich aber beftehen nun diefe Erfolge mehr darin, daß
der König und feine Dynaftie durch feltene glüdliche Zufälle in den Gefahren,
welche das Syſtem felbft herbeigeführt hatte, von dem Ver⸗
derben befreit blieben. Denn für einen von ber maͤchtigſten Nation der Erbe
einmüthig auf den Thron gerufenen, mitden größten Eöniglichen Mitteln und
Rechten ausgeſtatteten Monarchen ift denn doch biefed wohl noch Fein glors
reicher Erfolg, daß er und die Nation noch eriftiven dürfen, exiſtiren dürfen
mit dem Verzicht auf die hohe völkerrechtliche Stellung und Beflimmung
der Nation , mit ber dienflbaren Unterordnung ihrer wichtigften Intereffen
und Bundesgenoſſen unter die feindlichen abfolutiftifchen Mächte! Und das
iſt wohl noch weniger ein glorreicher Erfolg, daß der Monard) nicht frei unter
feinem Volke umbergehen und fich zeigen darf, ohne vor Meuchelmord zu zits
tern, und am allerwenigften das, daß ein König die moralifche Achtung des
Koͤnigthums, fo wie die feiner Nation und ihrer größten That, bie ihm den
Thron gaben, bei feinem Volke und im Auslande gefährdete, und bag er am
Ende einer furchtbar theueren und forgenyollen Regierung fein Volk in ins
nern und äußeren Verhältniffen zurüdiäßt, die bei Weitem nicht den gläns
zenden Erwartungen entfprechen, welche bei feiner Thronbefleigung begruͤn⸗
det warn. Wären denn etwa alle die Opfer und Nöthen, die Lebens» und
Staatsgefahren größer geweſen bei einer würdigen, wahrhaft Eöniglichen,
zwar der Mäßigung jenes Princips ber Nichtintervention und der Nichts
eroberang , aber zugleich ber Ehre und der hohen Beſtimmung der mädıtigs
ften und freieften Nation des Eontinents und ihres freigewählten Natio⸗
nalkoͤnigs entfprechenden Politik, ducch eine Politik, welche, angemefien ber
hohen Beftimmung ber franzöfiihen Nation in ber europdifchen Voͤlkerwelt,
deren Freiheit und freie Entwidelung gefördert hätte, flatt fie und ihre
Bundesgenofien im Vereine mit dem Abfolutismus zu unterdrüden ? Und
find denn etwa wirklich alle Gefahren für Frankreih und die neue Dynaftie
durch biefe verfchrobene,, ſchlaue, mühevolle Politik für immer überwunden
und nicht vielmehr blos hinausgeſchoben? Ja find fie nicht vieWeicht vermehrt
durch die geſunkene moralifhe Achtung des Koͤnigthums und der Nation im
In: und Auslande, durch den Unmuth und die zuruͤckgedraͤngten Wünfche,
Bebürfniffe und Pläne der verlegten und vernachläffigten unendlichen Mehr:
zahl des Volks, durch ihre fo im Geheimen wuchernden communiftifchen,
foctaliftifchen und republitanifchen, ihre zum Theil atheiftifdyen,, zum Theil
ulttamontanen , jefuitifchen und ariftokratifhen Beftrebungen und Verbin⸗
dungen? Wie aber mürbe eine fo Eleinliche Politik Frankreich erft ſtellen,
wenn bie Politik der Übrigen europäifchen Regierungen, insbefondere bie
beutfche, ber hohen Beſtimmung unferer großen Epoche nicht ebenfalls fo we⸗
nig entfpräche!
Gewiſſermaßen eine Entſchuldigung, zugleich aber auch eine Folge ber
Heinlichen, macchlavelliſtiſchen, ber Suftemilieus Politik ift die Verkehrtheit
———— die ihr gegenuͤbertrat, und zwar ſowohl die auf den Stra⸗
in den Emeuten und Attentaten, wie die in den Kammern.
Diefe doppelte Verkehrtheit der Oppofition entftand vorzüglich dadurch,
daß burch die hartnaͤckige Verweigerung freier Gemeindeverfaffung und öffent:
licher Affociation und der flir eine freie Nation unentbehrlichen größeren Aus⸗
dehnung der activen und paffiven Wahlrechte für bie Nationalrepräfentation
bieorganifhe Berbindung und Wechſelwirkung ber legteren mit _
dem Volk, feinen Bedücfniffen und Wuͤnſchen allzufehr mangelt.
Diefer Mangel bewirkte dann, daß die ſchwer verlegten Gefühle und
Intereſſen eines großen Theiles ber Nation, ſtatt der geordneten organtfchen
Mege und Mittel, im jenen ungluͤckſeligen zahlreichen Verſchwoͤrungen, Auf:
ftänden und Mordverfuchen Hilfe fuchten. Die Regierung reiste zugleich
durch ihre Reactionsmaßtegeln immer neu zu benfelben auf, und fie ſelbſt ver-
anlaßten und rechtfertigten die reactionaͤre Politik, wenigftens fcheinbar in
ben Augen des großen Haufens und weniger geünblicher Politiler. So fagte
man mit Redyt, die beften Alliirten Louis Philipp’s und feiner reactionaͤren
Juſtemilieu⸗Politik feien jene Attentate, feien die Königemörber und Auf:
ftände. Ohne biefelben hätte bie franzöfifche Nation gewiß nimmermehr alle
bie Sränkungen ihrer Ehre und ihrer theuerften Intereffen , nimmermehr bie
Hertſchaft einer fo geift: und Fraftlofen eigenfüchtigen Bourgeoifie geduldet.
Die entgegenftehenden befjeren Richtungen und Volkskraͤfte hätten ohne fie
gewißlich Befleres herbeigeführt.
Ohne den Mangel folcher organifchen Verbindung aber hätte auch bie
Kammer-Oppofition zu gleichem Ziele führen muͤſſen. Ohne benfelben Eonnte
fie nicht in fo klaͤglicher und immer kraftloferer Geftalt auftre
ten. Da fieht man faft immer nur Phrafen und Intriguen, nur Wettftreit
um unbedeutende perfönliche Sragen, um Miniſter⸗ und Präfidentenftellen.
Man fieht faft nie mergifches, Eraftvolles, maͤnnliches Wirken und Kim:
pfen für die verlegten ewigen und verfaffungsmäßigen Grundfäge des Rechts
und ber Freiheit. Ja bdiefe eleganten Deputicten wagten nicht, den vor:
‚nehmen Geſchmack der Parifer dadurch zu beleidigen, daß fie diefelbe Sache
oder Befchwerde zum zweiten oder dritten Male wiederholten, ftatt mit Neuem
aufzumarten unb zu unterhalten. Hätten beitifche Volksmaͤnner über die:
felben Verlegungen ber erften Rechte der Verfaſſung und dernatürlichen Men⸗
ſchen⸗ und Buͤrgerwuͤrde zu Magen gehabt, wie die franzöfifchen, über die
Unterdbrüdung ber Affociationsfreiheit, über die Septembergefege und ihre
Beleidigung der erften Grundrechte der Preßfreiheit und des Schwurgerichts,
über die Unterdrüdung dev Glaubens⸗ und Religionsfreiheit, über die abfolut
verfaffungswibrige, dauernde Unterdrüdung der Nationalgarben in fo vielen
Städten, über foldye das Volk wahrhaft beleidigende Wahlgefege, über bie
gänzlidy mangelnde Gemeindeverfaffung — wahrlich biefe Oppofi tionemäns
ner hätten nicht blos Hunberttaufende zu immer erneuerter unermäüblicher For⸗
I “
Frankreich. 388
derung des Rechts vereinigt, ſondern auch in jeder Sitzung die Klagen und
die Rechte des Volks vorgebracht. Die franzoͤſiſche Oppoſition aber war ſehr
artig und ſchwieg, und wenn ſie ja dann und wann nach Jahren einmal eine
dieſer Forderungen zu beruͤhren wagte, ſo geſchah es ſo zahm und mit ſo uͤber⸗
mäßig gemäßigten Forderungen, daß das Volk ſich unmöglich für fo Geringes
begeiftern Eonnte. Diefes entfernte den Eräftigen Theil der Nation fo fehr
von der Deputirtenkammer, daß biefelbe gegen bie antinationale Regierungse
politik wenig Kraft hatte, daß bie verfchledenen Volksparteien mit ihren Ins
tereffen und Beftrebungen nicht In ber Nationalrepräfentation,, fondern, von
ihr getrennt, auf anderen meifl verehrten Wegen Hilfe fuchten und noch
ſuchen. So denken denn auch die beften franzöfifhen Staatemänner, wenn
fie durch muͤhevolle parlamentarifche Kämpfe und Intriguen oder durch ernie⸗
drigende Unterordnung unter den „unveränderlichen Willen“, unter feine vers
fafſungswidrige Selbftregierung, enblich an bie Spige der Befchäfte kommen,
nicht an die Befriedigung ber wahren nationalen Bedürfniffe. Anderes if
ihnen wichtiger und liegt ihnen näher, fo daß wir auch auf die abermals von
Hrn. Guizot vor der neuen Wahl ausgefprochene Anerkennung der Noths
‚ wenbigkeit, von dem Syſtem des fleten Widerftandes, ber fleten Reac⸗
tion zu einer liberaleren fortfchreitenden Politik überzugehen, an fich noch
gar wenig Gewicht legen. Er geftand gezwungen Längft bie Nothwendigkeit
eines beſſern Wahlgefeges zu und dachte nie es zu Ändern. Auch felbft die
nach den neueften großartigen britifchen Maßregeln lauter: gewordenen Be⸗
ſchwerden über bie dem Nationalwohlſtand umd vielem Volksclaſſen fo nach⸗
theiligen übertriebenen Schugs oder monopoliftifchen und Prohibitiv⸗Zoͤlle zu
Bunften der reichen Stügen des Juſtemilien, auch fie werben, fo wie bie
Rentenconverfion,, zunaͤchſt noch nicht von diefen Kirchfplelönotabilitäten
und ihrem Patronate befeitigt werden.
Und gewißlich koͤnnten, nad) allem Bisherigen und bei ſolchem
einer organifch Eräftigen und wirkfamen Oppofition, nina in a
namentlich auch Mangeljahre bei ber ſtets anwachfenden 8 und
ber Ausdehnung des Proletariats und der communiſtiſchen und focialen
Beftrebungen, in ber fo leicht entzundbaren Nation größere Gefahren für die
neue Dynaſtie und für den bürgerlichen wie für ben äußeren Frieben ers
wecken, als bie, welche man bisher fo überängftlich zu bekaͤmpfen fuchte. Die
allerdings großartige und mit Schlauheit und unermüblicher Beharrlichkeit
von dem Julikoͤnigthum erſtrebte Befeſtigung von Paris (f. P aris) würde
fie dann fchtwerlich befiegen.
Doc) genug von ben Schattenfeiten franzöfifcher Zuſtaͤnde! Eilen wir
auch, bie günftigeren gebührend zu würdigen! Moͤge vor Allem Eein Suter
bei fremder politifcher Bedraͤngniß mitleidiger Deutfcher, wenn er mit
edlem fittlichen und rechtlichen Gefühl das Unrecht der Juſtemilieupolitik ms
pfindet, wähnen, wir Deutfchen hätten Urfache, ung über die Stanzofen
zu erheben, oder auch nur ihre politifchen Mängel und Gefahren fein ans
nähernd den unfrigen zu vergleichen. Auch nicht herabfegen und nicht einmal
über die Gebühr tadeln duͤrfen wir deshalb umfere lebensfrohen Nachbarn
er ann Mina ih bulbeten. — fie je —* *
zehn Jahre dan u eng j
Bene, die Hauptbedin bu eh bie Ehre, die
44 au ngun en! ‚ e,
Größe und Bluͤthe ihrer Natiom, die‘ zum Sieg,
und ‚ fobald diefelben und der ch
— ann Albin — Sie haben wahre —
en * — und mi
Millionen * —— ——— er:
beſihen —
Rationalfreipeit, die
— werden, die Gicjrheit von Prefon und
zllig un mebbngige ——— alſo lg a a
ıdige Preßfreiheit und el völlig 347 Batienaipartan lament
welches, fobald. die, Nation ermftsich wilt, fo wie fie es bei, k *
halb fo — ae wu
u ae unfebibase — * — ——
wa * —1
mißbittat en, üb Mimiſt eriums beweiſt, die mer —
+ In ſolchem Zuſtande ſind he Septemb engefehe, fo fehr
* auch den Grundfägen nach verlehend, vieleicht auch wenigen Einzel:
nen gefährlich ſind, doch der That nach ohnmaͤchtig gegen die volllommene
Preßfreiheit: Man betrachte doch die kaͤglichen franzöfifhen Zeitungen und
Slugfcheiften, ob in ihnen nicht ebenfo wie in den Öffentlichen Gerichten
und im Parlament und felbft im Pairsgerichtshof — (man erinnere ſich des
Vroceſſes von Armand Earrel) ⸗Alles gejagt werden kann und täg-
lichogefagt wird, was in Beziehung auf die freie Preffe nur irgend ver:
ſtaͤndigerweiſe gefordert werben mag. Selbſt die Verdrängung des Schwur⸗
gerichts bei einigen Anklagen durch die Angefichts der Nation öffentlich ver
hanbelnde Pairskammer, die Einführung der geheimen Abftimmung in
bemfelben und die erhöhte Gaution der Zeitungen — fie haben in ber
That dieſe volle Proßfreiheit nicht vernichten koͤnnen. Wohl ift es nicht
zu billigen), daß jene Septembergefe ge die bezeichneten Veränderungen
machten, baß fie auch Mißbilligung ber beftehenden monarchiſchen Berfaffung
bei Strafe verbieten, baß fie wenigftens einen Vorwand zur Anklage wegen
Nu og moralifcher Mitfehuld der Preffe bei Vergehen Anderer darbieten,
* fie auch zum Theil zu harte Strafen moͤglich machen. Dieſes kann Ein—
zelnen wirklich verderblich werben, obgleich wohl ſeit ihrer Exiſtenz nur Ein
Fall einer irgend bedeutenden ungerechten Verlegung befannt wurde. Aber
den thbatfählihen. Beftand der Preffreiheit in Frankreich hebt
bei der übrigen Kraft. der freien öffentlidyen Meinung und bei dem freien Na:
tionalparlament, wie die Erfahrung beweiſt, biefes einzelne Unglüd nicht auf-
— dieſe Amp durch ‚die feltene Menſchen⸗ und Weltkenntnig,
=
4
Srankreich. 335
bie außerordentliche Klugheit, Selbſtbeherrſchung und durch die Mäßigung
bes Könige werden überhaupt die Widrigkeiten und Nachtheile des Syſtems
geminbert und erteäglicher. Der Nationaleitelleit und dem Durft nach Na⸗
tionaltuhm gab man nad), wo man es ohne Beeinträchtigung des Syſtems
umb die Gefahr Für die dunaftifchen Intereffen thun zu Eönnen glaubte, wie
in den Kriegen mit Buenos Apres und Mexiko und bei der Befigergreifung
der Markefasinfeln, oder wo die Empörung über bie verlegten höheren
Grundfäge der Nationalehre weiteren Widerftand unmoͤglich machte, wie
in Beziehung auf die Vertreibung der Holländer aus Belgien oder in Bes
ziehung auf die Behauptung des eroberten Algeriene. Man wußte auch
wohl die Maſſen zu täufchen durch Paradeſtuͤcke, wie bie Befegung von Ans
cona (mit ruhiger Duldung, ja zum Theil mit Unterftägung der oͤſterreichi⸗
fyen Unterdrüddung der italieniſchen Sreiheit)., Dazu gemann bie neue Koͤ⸗
nigsfamilie durch das würbige Familienleben und durch die rüfligen tapfern
Söhne, felbft durch das Unglück des liebenswürbigen diteften Sohnes. Vor
Allem aber machten auch in Frankreich wie in allen Theilen Europa’ die Wirs
kungen des Friedens und der in ihm natürlich eine längere Beit bin:
durch wachſende materielle Wohlſtand fidy geltend, obgleich auch felbft in dige
fer Beziehung, fo wie auch rüdfichtlicy der ganzen Cultur, nicht Ein großer
Gedanke, nicht Eine aroße Unternehmung von dem Julikoͤnigthum ausging,
und obgleich felbft die Eifenbahnen nur langfam zum Siege kommen konn⸗
ten. Am Meiſten aber mußte die Wahrnehmung beruhigen, daß jene ber
fonders lebhaft erwachte Empörung der Nationalftimme gegen die kleinliche,
reactionaͤre und feige Juſtemilieupolitik diefelbe wiederholt durch Nöthigung
zum Ruͤcktritt der -MRinifterien ober zur Kammerauflöfung oder blos durch
die Verwerfung der Geſetze zu hemmen vermochte: Sie verbannte neulich
auch die von diefer Politik geheim begüunftigten Jeſuiten. F
Bei all dieſen Umſtaͤnden duͤrfen denn wohl franzöfifche Patrioten fi
mit ber Hoffnung troͤſten, daB alle bie Gebrechen bes öffentlichen Zuſtandes,
bie fie beklagen, daB die dringenden Beduͤrfniſſe und Wünfche für das Heil
und die Sicherheit ihres Volkes und feiner höheren Entwicklung auf friedlle
chem Wege ihre Erledigung finden, fobald es ihnen gelingt, biefelben durch
die Organe ber-freien Öffentlichen Meinung in der Nation zur allgemeineten
Anerkennung zu bringen. Selbſt bie Beſtrebungen und öffentlichen Aeuße⸗
rungen der Communiften und Socialiften fcheinen in dieſer berubigenden
Ausfiht den’ Charakter fo bittrer Verzweiflung und allgemeiner Anfeindung
und Verneinung, der atheiftifchen Verneinung Gottes und der revolufiondren
Verneinung felbft des Staates, den fie in Deutfchland wegen ber heillofen
Reactionspolitik leider täglich mehr annehmen, in Frankreich vielmehr abzu⸗
legen. Sa fie ſuchen zum Theil mehr und mehr die Verbindung mit chriſtlich
religioͤſen Brundfägen. Die frühere Voltairiſche Verachtung alles Religiöfen
ſchwindet allmdlig aud) in den höhern Ständen. Wenn diefes in genügender
Ausdehnung gefchieht und das religiöfe Bedürfniß lebendiger wird, fo muß
die Öffentliche. Beftrebung gegen den Ultramontanismus ber höheren und ges
gen die Rohheit der niederen katholiſchen Geiſtlichkeit und ihres Volksunter⸗
richts und uͤberhaupt auf religioͤſt Reformen ſich richten, |
86 ‚Frankreich.
ne i N 7
Diie Unmuth ein Sucialift (Grün im
der — — von Pärimann), dab v. *
Die Beſtrebungen von
— ——— die Grundlehren des Chriftenthums den freien
RE
Hin:
2:
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Hin
HH
— *
ib —22 ‚Doffnungsiofigkeit genägenbe Berod
in der.
nationaler Ehre un —— — 2 rn
Frellich tra der neueften literariſchen Er:
* biefem Bike hen ben Schredenden faft etwas Ko-
on fih. Die Stirner, Marr, Grün, Weitling bekaͤm⸗
He Si, wie bie WEIS und —8
it
al
“ man — nicht. blos bie Slörifelrungen von \ Babnenf,
Nobes Bm und Marat, „in 8 — u
eln und Robespierre „ein
hriftliche Geiftliche „abtränniger Berräther an bem —59—— *
wenn er auch für das Dieſſeits, für das liebevolle Fördern. des ir⸗
diſchen Wohls der Brüder zu wirken fucht, weil er nur auf das Jen⸗
eits angewiefen fei, fo heißen alle Chriften „eine Büßer = und Eunudyen:
nde” und Seber abergläubifch und ſtlaviſch, der noch irgend etwas
Altgemeimes über ſich, ober ber vollends „Enechtifch einen Gott über
und * demſelben unterwotfen anerkennt.“ Selbſt die Nationalitaͤt
albern.“ Dennoch rathen wir der oͤffentlichen Autoritaͤt, weder zu
Ächen — denn fie verfchuldet den naturgemäßen Gegenſatz feibft, mehr
ober minder alfo auch feine Auswuͤchſe — noch audy zu verbieten —
denn fie kann nicht ae von Candten — — aber auch nicht
Entwieklun stampfe. Und noch ift ni fo wie in — fuͤr
mt mung Kämpfe und Beftrebungen, für bie ab»
fotut unentbehrliche Freiheit der geſehliche Meg des Kampfes offen
und frei, und deshalb jede Allianz mit den Ertremen unmöglich ober
ungefährlih. Und hat man gar Feine Ahnung, wie jene tadicalen ner
girenden Richtungen im Volksinſtinct der nothwendi gen Freiheits⸗
entwictung Nahrung finden und ſich verbreiten !
&o wie in Beziehung auf biefe Gefahr, fo ſteht auch i in Beziehung
Freibutg. 837
‚auf das Uebel und die Eorruption und die Koften des Beamten» und Polizeis
Kaates Frankreich im Vortheil vor Deutfchland, fo groß auch dort bie Juſte⸗
milienpoliti® das Uebel gelaffen und gemacht hat. Was wirkt hier nicht
allein die Inamovibilitdt des Richters und Gelehrtenftandes, bie Trennung
der Kirche vom Staat, das Schwurgericht,, die Preßfreibeit und vollftändige'
Deffentlichkeit. O wahrlich, das Heinfte Uebel wird Euch Deutfchen hier
groß und übertrieben bargeftellt und von bem hundert» und tauſendfach grös
beten bei Euch verbirge und befhügt die Nacht weitaus den größten
heil!
In der außerorbentlicd, großen Zahl kleinerer freier Lanbbefiger aber fo
mie in dem mittleren Bürgers und auch dem Arbeiterflande befist Frank⸗
reich, felbit wenn Anfichtn, wie die von Michelet in feinem Bud:
„Das Volk’ ausgefprocyenen zu günftig wären, doch jedenfalls einem
tücdhtigen Kern gefunder neuer Entwidelungen. Auf die Politik, auf freie
politifche Entwidelungen und Verbefferungen , zum Theil ſehr tief greifenbe
fociale Verbeſſerungen find, als auf die Aufgabe ber heutigen Zeit, jebt alle
europäifchen Völker hingewieſen. Die große franzoͤſiſche Nation, weiche auf
dem Gontinente jo energifch, muthig und aufopfernb den Übrigen Völkern in
dieſem Kampfe voranging, kann und wird hier nicht zurlickhleiben. Sie muß
in diefen Beitrebungen und Entwidelungen ihre einfeitige Sreiheitsrichtung,
bie fich vorzugsweife nur für die allgemeine Gleichheit begeiftert, auch
auf die freie perfönliche Selbftjtändigkeit, auf die engliſche Bürgers und
Semeindefreiheit ausdehnen. Sie wird und muß die kleinlich engherzige
und eigenfüchtige Juſtemilieupolitik ihrer Zultdynaftie und ihrer Bourgeoiſie
abwerfen. Möge alsdann, wenn fie diefes thut, wenn fie vollends bei ihrer "
jugendfrifhen Energie und ihrer gesinigten nationalen Kraft, ähnlich wie
in ihrer Iulicevolution, einmal plöglich an einem fchönen Sonntagemorgen
drüdend gewordene Bande zu [prengen ſich entfchlöffe, fie unfer armes Deutſch⸗
Land beffer ducch befriedigende Freiheit befe ftigt und geeinigt finden, ale
wir es bis jegt find, bamit für beide Nationen die VBerfuchungen nicht alls
zugroß, für un® die Gefahren nicht verderblich werden. C. Welder.
Freiburg. Katholifche Ligue in der Schweiz. Um das
lodere Staatengemenge der Schweiz hängen bie Fetzen bes unter fremdem
Einfluſſe zugefchnittenen papternen Bandes einer Bundesacte, die bereits zum
Spotte aller. Parteien geworden iſt, welche im Lande der Eidgenoſſenſchaft
um die Herrſchaft flreiten. Die Zuftände der Heinen Schweiz und des aus⸗
gedehnten Deutfchlande bieten hiernach reichen Stoff zu belehrendem Ver⸗
gleiche. Obwohl dort das bemofratifche und hier das monarchiſche Princip
vorherrſcht, in beiden Ländern befindet ſich doch die hintangefegte Mafle
des Volks in einge Ähnlichen Stellung zu ihrer Bundesverfaſſung, während
bier und dort bie doctrinaͤren Theoretiker des Staatsrechts einen müßigen
Streit führen, ob ſich der hins und hergaukelnde Schatten der Einheit uns
ter dem Begriffe eines Staatenbundes oder Bunvesftaats fefthalten laffe.
In beiden Ländern herrfcht dem Auslande gegenüber ein der Zerfplitterung
entfprungenes Gefühl der Ohnmacht und Zuruͤckſetzung; sin Gefühl, deſſen
Wahrheit man vergebens bemüht ift, Durch ein nichtiges Pochen auf den Ruhm
Suppl. 3. Staatslex. II. 22
Freiburg.
Stang der Vorfahr n aufgedunſene Phraſen von €
* SRG OR u Sn anne An in beiden
Fe engen inniger Berbindung aller getrenne
Glieder, das ——— se rn
ve Jahre oder Jahtrzet war, und dem Aus⸗
tänder fehlt dann bie Kenntnif der war einen engeren Kreife von Beobach⸗
tern deutlich vor Augen liegenden Thatſachen, die ibn den Zufammenhang
mit der ſcheinbar umterbrocherien Kette fehherer Beltrebungen entdeden laf:
fen.’ Zu diefen letzteren Gantonen gehört Freiburg, das längere Zeit ber
Geſchichte kaum einigen Stoff darbot und erſt jest wieder in weiterem Um:
fange eine befondere Beachtung in Anfpruch nimmt.
Beben und Entwicklung find nicht ohne Kampf und Reibung, und «8 find
nicht immer bie glüdlichften Staaten, von beten am wenigſten zu; berichten
iſt. Dies gilt von allem Gantonen der Schweiz, die der geifttöbtenden läb:
menden Gewalt der hierarchiſch ultramontanen Faction verfallen find. Als
ſich die Meformation im größeren Theile der Eidgenoffenfchaft durchgeſetzt
hatte, wurde in der Fatholifchen Schweiz noch mehr als in den meijten anderen
katholiſchen Staaten Europas bie zeitweife auf die Vertheidigung des Beſte⸗
benden zuruͤckgeworfene Hierarchie zu einer einfeitig hemmenden Macht, bie
fich jedem Fortfchritte mit gleicher Eiferfucht entgegenftemmte. Die Folgen
(legen zu Tage. Zumal im den Eleineren rein Eatholifchen Cantonen —
die Thatſachen ber vergleichenden Statiftit find hier fprechend genug —
find weſentlich nur die alten Zuftände dev Rohheit und Unbildung , der mas
teriellen und geifligen Bärftigkeit und Kuͤmmerlichkeit conferviet worden.
Diefelben Urcantone, von deren ruhmwollen Thaten die Gefchichte der
Schweiz ihren Uefprung hat, die noch jegt von einer Bevölkerung von
gefimdent Kern und tächtigen Naturanlagen bewohnt find, fielen in eine
REN. ans der fie durch die Reizmittel ver ————— Partei erſt
Freiburg. 888
in juͤngſter Zeit zu krampfhaften Zudungen und Bewegungen geweckt wur⸗
ben, die nur den Schein des Lebens nachaͤffen und fie als die todten Werk
geuge einer unheimlichen Gewalt, eines von ihnen felbft unbegriffenen fremd⸗
artigen und unfchweizerifchen SIntereffes erfcheinen laffen. Unter den ans
deren , entweder ganz oder hauptſaͤchlich katholiſchen Cantonen waren es
zumal Solothurn und Teffin, welche, von einigen Schwankungen abgefehen,
die Bahn des Kortfchritts dauernd verfolgten. Zwar hatte der Anftoß der Er⸗
eigniffe von 1830 auch Freiburg in die Reihe der regenerirten Cantone ges
drängt. Aber ber böje Geiſt der Verneinung gegen alle freie und freudige
Entwicklung des Volkslebens, wie er feit ber verhängnigvollen Berufung
der Jeſuiten im Jahr 1822 Wurzel gefchlagen hatte, wirkte gleichwohl
nad) und drückte felbft der neuen Verfaffung vom Sanuar 1831 fen Bes
präge auf. Weit die meiften regenerirten Gantone hatten verfaffungsmäßig
jene Mititädrcapttulationen mit fremden Staaten verboten , wonach fidy die
Söhne der freien Schweiz, felbft unter der Autorität ihrer Regierungen,
zu leibeigenen Soͤldnern bes Abfolutiemus machen und den Haß ober die
Verachtung der nady Befreiung ringenden Völker auf den fhweizerifchen
Namen lenken durften. Die ſchon lange erkannte Folge berfelben war die
Bereicherumg einiger Glieder vornehmer Familien im Auslande, welche die
Oligarchie im Heimathlande verftärkten, während die große Maſſe der Soͤlb⸗
ner arm und mit der Gewohnheit der Traͤgheit dahin zuruͤckkehrte. Frei⸗
burg felbft hatte diefe Folge erfahren: von ber Zeit an, ale die Militär
capitulationen auflamen, war bie frühere blühende Induſtrie bes Canton
in Verfall gerathen. Aber gleichwohl enthält die Werfaffung von 1881
Feine Beftimmung über das im größeren Theil der Kbrigen Schweiz im
Mißachtung gekommene Soͤldnerweſen; und noch auf der Tagfagung von
1846 hat fi Freiburg emem Antrage Teffin’6 auf allgemeine Abfchafs
fung des offictellen Menfchenhandels lebhaft wiberfegt. Auch das fat uͤber⸗
all befeitigte Syſtem der indirecrten Wahlen, wodurch die lebendige Theil
nahme am republitanifchen Gemeinweſen fo ſehr geſchwaͤcht wird, iſt noch
in der freiburger Conſtitution in feinem ganzen Umfange beibehalten. Vor
Allem aber tritt die noch vorherrfhende Neigung zum Stillſtande in ben
Beflimmungen über Berfaffungsrevifion hervor. Nach Artilel 97 ber
Gonftitution follten vor drei Jahren nach Einführung der Staatsverfaffung
Leine Abänderungn auch nur vorgefchlagen werden duͤrfen, und für
die wirkliche Vornahme einer Abänderung wird uͤberdies vorausgeſetzt, daß
fie vom großen Rathe in drei ordentlichen Sitzungen von drei zu drei Jah⸗
ren genehmigt worden fel. Auch die Reviſion der Geſetzgebung ruͤckt nur
fangfam vom Plage. Das Ewilrecht beruhte auf einigen aus dem Mittelalter
ſtammenden Handoeften und Gewohnheiten. Sie waren in ſechs verſchiede⸗
nen Geſetzbuͤchern gefammelt, die nur in nicht völlig übereinftimmenden
Handſchriften eriflirten. Seit 1821 begann man für biöfen Canton mit
etwa 100,000 Einmohnern die Bearbeitung eines allgemeinen Civilgeſetzes,
wovon bis 1841 das Perſonalrecht, die erſte Abtheilung bes Sachenrechts
und das Erbrecht erfchienen waren. Als Criminalgeſetz galt bie Carolina;
eine 1833 zur Abfaſſung eines neum Sriminalgefeges ernannte Gommtiffion
22 *
weckte. J eine widerliche Proſel
felbft über-die benachbarten Gantone ihre Nebe auswarf und ftörend bis in
das innerfte Heiligehum der Familien eingeiff. Einzelne Befchwerden dage⸗
gen blieben erfolglos ; und war gleich ber Gefandte von Bafelland im Stande,
ber Zagfagung von 1846 ein langes Verzeihniß foldyer meift erſchlichenen
Bekehrungen vorzulegen, fo. wurde doch damit nur auf den Umfang des Uebels
bingewiefen, ohne daß von Mitteln zur Abhilfe die Rede war. Denn auch
die eidsgenöffifche Bundesbehörde pflegt, in allen das Gemeinwohl betreffen⸗
ben Angelegenheiten ihre Sompetenz darauf zu beſchraͤnken, ſich für incom«
petent zu erklären.
Seit der von ber Pflicht der Nothwehr gebotenen aargauifhen Klo-
fferaufbebung (f. d.) hatte fi bie herrſchende Partei in Freiburg noch
entſchiedener bei ben ultramontanen Umtrieben betheiligt. Die Sefuiten, in
Verbindung mit weltlichen und geiftlichen Beamten, bie ihnen ausdruͤcklich
ober ſtillſchweigend verbrübert waren, hatten bafür geforgt, daß die Mehrheit
des Volks über feine wahren Intereffen im Dunkel blieb; fo hatten auch
die. theilweifen Erneuerungswahlen im Jahre 1846 Feine Veränderung im
bisher befolgten Syſteme bewirkt. Im Mißmuth über biefen Gang ber
Politik traten einige gemäßigte Gegner berfelben aus ben höheren Staats:
behoͤrden. Doch felbjt unter ben ſchwierigſten Umftänden hielt ſich ftets eine
ehrenwerthe Oppofition aufrecht, bie ihre Hauptftärfe im gebildeten Mittel:
ſtande des Cantons zumal in der Stadt Freiburg felbft , fo wie im refor-
mieten Bezirke Murten hat. Zu erneuter Thaͤtigkeit wurde dieſe Oppofts
Breiburg. 841
tion durch bie Ereigniſſe angefeuert, bie aus ber zur europdifchen Frage gewor⸗
benen ſchweizeriſchen Jeſuitenfrage hervorgingen.
Die roͤmiſche Curie hatte von jeher die beſondere Wichtigkeit ihrer
Stellung in der Schweiz erkannt, in dieſem Lande der Mitte Europas, das
zugleich in das deutſche, franzoͤfiſche und italieniſche Volksgeblet eingreift und
bei ſeiner ſtaatlichen Zerſplitterung der Politik der hierarchiſchen Partei die
mannichfachften Anknuͤpfungspunkte darbot. Als biefe Partei feit der Reſtan⸗
ration von ber Defenfive wieder zur Offenfive ſchritt, trat der Gang ihrer
Politik deutlicher hervor. Die Revolution hatte bie Auflöfung der Metro⸗
politanverbande herbeigeführt, wodurch die ſchweizeriſchen Bisthümer mit
den großen Nachbarvoͤlkern, namentlich mit Deutfchland und Frankreich ver»
knuͤpft twaren, und bie ſchweizeriſchen Katholiken an allen Beſtrebungen feit
der Mitte des 18. Jahrhunderts beteiligt wurden, welche Die Wiederherſtel⸗
lung einer größeren Unabhängigkeit der katholiſchen Kirche von Rom zum
Ziste harten. Indem man nun den Katholiken der Eidgenoffenfchaft mit
der Ausficht auf die Errichtung eines fchmweizerifchen Erzbisthumes ſchmei⸗
chelte, vourden die Bisthümer, felbft im Widerfpruche mit den Beſtimmun⸗
gen des tridentinifchen Concils, nicht blos als Immediatbisthuͤmer erhalten,
bie ummittelbar unter Rom ober bem mit vielen erzbifchöflihen Rechten aus⸗
geftatteten päpftlichen Nuntius ſtanden, ſondern auch bie Zahl derfelben wurbe
vergrößert. Eben bamit wurde die Menge der von Rom abhängigen geiſt⸗
lichen Würbenträger vermehrt und alle ehrgeisigen Priefter, die nach ſolchen
Würden luͤſtern waren, wurden dem römifchen Intereſſe fefter verbunden.
Ueberdies wurde bie aus Geiſtlichen conferibirte päpftliche Schweizergarbe in
der Schweiz duch, Berufung der Jeſuiten verflärkt, der erklärten Feind⸗
des Proteftantismus und aller Duldung, die jedem Vaterlande und allen
vaterländifchen Intereffen abgefchworen haben und deren Dafein im Ger
biete der Eidgenoffenfchaft, wo ſich bie confeffionellen Gegenfäge und wider
ftreitenden Partelinterefien auf fo engem Raume hart berühren, noch eine weit
gefährlichere Bedeutung hat, als fie felbft in Deutfchland haben würde. So
fchuf fich die hierarchiſche Partei aus der Schweiz ihre eigentliche Operations⸗
bafts für alle weiteren Unternehmungen. Bon bier aus ſendet fie die ſtets
fich ernsuernden Schaaren der wohlabgerichteten Sklaven und Vollſtrecker
des Beiftesdespotismus über Jura und Alpem nach Frankreich und Italien;
von hier aus kann fie ihre jeſuitiſchen Miffionen bis an die Grenze bes ſuͤbli⸗
hen Deutfchlande mit feiner gemifchten confeffionelien Bevölkerung vors
fhleben und die ihr günftig fcheinenden Umflände abwarten, um zur geleges
nen Stunde den Samen ber celigiöfen Zwietracht über die Nachbarländer aus⸗
zuflteuen.
Schon in der Periode der Reſtauration hatten die hierarchiſchen Umgriffe
in mehreren Gantonen zwiſchen Staat und Kirche Iange dauernden Haber
erzeugt. Mach dem Aufſchwunge von 1830 traten endlich die Abgeordneten
mehrerer Stände zuſammen, um in ben Befchläffen der badener und luzer⸗
ner Conferenz die Grundlagen zu einem bie Selbftftändigkeit ber ſchweizeri⸗
ſchen Stliederfinaten fihernden Kirchenrecht und Kirchenſtaatsrecht zu legen.
Mochten gleich, einige wenige Artikel diefer badener Sonferenzbefchläffe durch
Be einer Reihe tumultuarifcher Auftritte in mehreren Theltm der Bas
tholifchen Schweiz Ber Died war namentlich in den Batholifchen Frei⸗
ämtern bes Aargaus und im beentfchen Jura der Fall. Später gelang «3 der
ultramon⸗
kLe
tanen Faction , durch bee Verbindung mit den ochlokratiſchen Elementen, bie
Cantone Wallls und Luzern zu roͤmiſchen Provinzen und * den Namen
ihrer demokratiſchen Verfaſſungen zum Spotte zu machen. Es gelang ihre
durch die Kuͤnſte ihrer Verführung, ſelbſt einige Dinner, bie feübee in den
erſten Reihen ihrer Gegner ftanden, in Apoftaten der Freiheit zu verwandeln
und bie ar ihres fonft geachteten Namens in die Schanze zu ſchlagen.
Endlich Erönte —* Werk durch bie Berufung der Iefuitm nad Luzern,
an einen dr (ho Bororte. .
gab — * der — — * den Vorwand, den Ruf der Religions:
gefahr wiederholt anzuflimmen und fon im September 1843 bie Einleis
tüng für den Abfchluß eines Bundes im Bunde zu treffen. Dies gefchah
auf ben Mothener und Luzerner Gonferenzen, bie von Abgeorbneten ber Gans
tone Luzern, Schwyz, Uri, Unterwalben, Zug und Freiburg beſchickt wur—
den. chen damals brachte einer der ultramontanen Führer die Androhung
" einer Trennung von ber Eidgenoflenfchaft zur Sprache, womit man unter Um:
fländen Ernft machen müfle. Auch wurden fofort in mehreren diefer Can⸗
tone Befchlüffe zur Organiſation der Bertheidigungsträfte gefaßt, um et-
waigen Angriffen zu begegnen. Um dieſe Zeit Dachte man aber noch an Feine
Freifchaarenzüge, und gleichwenig konnte nad, Erledigung der Klofterfrage im
Ginne der liberalen Cantone von Angriffen diefer legteren gegen die diſſen⸗
tirenden Stände die Rede fein. Hiernach war der Verdacht begründet, daß
- vielmehr der ſchon fcharf hervortretende Sonberbund einen offenfiven Cha-
rakter habe; daß wenigſtens feine Stifter darin ein Mittel zu finden hofften,
um den ihren Intereſſen widerfprechenden Beſchluͤſſen der Tagfagung unter
Umftänden felbft einen bewaffneten Widerftand entgegenfegen zu koͤnnen.
Die fpätere Berufung der Sefuiten nach Luzern veranlaßte bie Freiſchaa⸗
renzuͤge (f. — — Yefuitwmfcage) und gab den ultramontanen Can⸗
tonen im J. 1845 Yen wilfommenen Vorwand zum förmlicdhen Abfchluffe
ihrer katholiſchen — im J. 1845, welcher jetzt auch Wallis ſich anſchloß,
wo inzwiſchen bie hierarchiſche Partei duch Bürgerkrieg und Brudermorb
die Oberhand gewonnen hatte. Die betreffenden: ee über
Breiburg. 348
ben Sonderbund wurden zwar möglichft geheim gehalten; allein die Verfaſ⸗
fung bes Cantons Freiburg machte es doch nothiwendig , daß dem großen
Rathe der Vertrag felbft zur Genehmigung , und hiernad, wenigftens ein
Theil der darauf bezüglihen Documente zur Einficht vorgelegt werden
mußte. So gelangte deffen Inhalt zur Deffentlichkeit und ſetzte die ganze
Schweiz in Aufregung. Der Bertrag ber Sonderbündler beruft fich auf
dis „alten Bünde” in der Schweiz und enthält damit eine ziemlich deutliche
Beziehung auf den dem Proteftantismus feindfeligen borromäifchen oder
f. 9. goldenen Bund der VII Orte vom Jahre 1586. Er fegt für die con»
trahirenden Santone, zwar nicht den Worten, aber der Sache nad), ben Ars
titel & der Bumbdesacte außer Kraft, wodurch beftimmt wird, wie ein von
Außen oder im Innern bedrohter Canton eidgenöffifchen Beiltand anzurufen
babe. An die Stelle der vom Bunde aufgeftellten Organifation führt er eine
neue Organifation ein und conftituirt in der Errichtung eines befonderen
Kriegsraths eine Behörde, deren ausgedehnte Befugniffe mit ber Competenz
der Bundesbehörden im Widerſpruche ftehen und zu kaum vermeidfichen Col⸗
Ufionen führen muͤſſen. Endlich oͤffnet er den betheiligten Cantonen die Ausficht
auf außerordentliche donomifche Laften, die nach der eidgendffifchen Scala
vertheilt werden follen, fo daß Freiburg, neben den drmeren Cantonen
des Sonderbundes, daran befonbers zu tragen hätte. Gleichwohl wurde ber
Vertrag von ber Mehrheit des großen Raths in Freiburg angenommen;
allein gegen die energifche Proteftation nicht blos aller Abgeordneten bes
reformirten Bezirks Murten, fondern auch vieler ehrenwerthen Eatholifchen
Mitglieder, welche bie Würde und den gebeihlichen Zortbeftand ihrer Kirche
durch den Sieg des Jeſuitismus vielmehr gefährdet ale gefichert achteten.
Um die ganze Bedeutung dieſes Sonberbundes zu ermeflen, find vor
Allem bie Beziehungen einiger Haupturheber beffelben zum Auslande nicht
aus dem Auge zu verlieren. Aufder Zagfagung von 1846 verla® der aar:
gauifche Geſandte Briefe aus der Correſpondenz „getoiffer ſchweizeriſcher
Staatsmänner” mit auswärtigen Diplomaten, worin die Vorausfegungen
für eine fremde Intervention hergezählt werden. Darin offenbarten fich
zugleich die Gelüfte jener fogenannten Staatsmaͤnner, die Vorausfegungen
ber Intervention zur Wirklichkeit zu madyen, um durch Dilfe fremder Bajo⸗
nette eine Umgeftaltung der Schweiz herbeizuführen. Sehr zu beachten iſt auch
Das, mas im Großrathe des Cantons Zürich vom Abgeordneten Alfred Efcher
hervorgehoben wurde. Nach der anrgauifchen Klofteraufhebung erließ das
öfterreichifche Cabinet eine Depefche vom 27. $ebr. 1841, die 1845 neuerdings
beftätigt wurde. Sie giebt zu, daß Europa nicht dns Recht habe, bie Schweiz
zur Auftechthaltung ihres Bundes von 1815 zu nöthigen, fährt aber dann
mit den Worten fort: „Allein das Recht wird man den Mächten doch nie:
mals beflreiten wollen, zu fragm: „Was iſt denn bie Schweiz? Wo iſt
ber Bunb, mittelft welchem 22 fouverdne Cantone mit einander zu einer polis
tifchen Einheit verbunden find?" Ferner: „Solte die ſchweizeriſche Ein:
heit durch die Vernichtung des Bundes zerriffen oder in Zweifel geftellt
werden(!), fo würde Deflerreich fich nicht für gebunden erachten, die Fahne
ſchweizeriſcher Rationalität vorzugsweiſe in dieſem oder jmem Theile bes
Sonderbund
Im Hinblice auf den
dad ———2
R Staatemdnnse mit dem Auslande” theild amgebeutet,
| Wohl ifk man überzeugt, daß diefer Vor⸗
—— rg
— un MB der Stuten je ee
"Sri verzeiih Hi, beachten. fie. durch.eine ausführliche. Denk»
die Sache zuc. Verhandlung vor der Tagfagung von 1846., Hier
kam aber fein ailtiger Zwölferbefchluß zur Stande. Die zehn ganzen und
zwei halben Gantone, welche für Auflöfung des Sonderbundes ſtimmten, ve:
preäfentirten zwar die große Mehrheit ber fchmweizerifhen Bevölkerung, aber
nicht bie Mehrheit der Stände, Einen großen Theil dee Schuld baran trug
bie fchwanfende Politik Genfs, welche bei den Bewohnern dieſes Cantons eine
wachfenbe Erbitterung erzeugte und im October 1846 den Sturz der dortigen
Regierung fo wie eine Revifion der Verfaffung zur Folge hatte. Bald dar:
auf, am 25. Dctober, befchloß eine Volksverſammlung in Murten eine weitere
Befchmerdendreffe an den freiburger Großrath. Sie enthält unter Ande—
rem das Verlangen einer Rechnungsablage von Seite des Staatsraths Uber
ben Stand des Staatsvermögens; fo wie, bie Forderung ber gleihmäßigen
Beſteuerung bes Vermoͤgens und der Einführung des öffentlicdyen ftatt des
bisherigen heimlichen Verfahrens in Eriminalſachen. Unmittelbar nad) den
Genfer Ereigniffen fürchtete die Seluitenregierung in Freiburg ähnliche Auf:
teitte in ihrem Santon und ordnete Eofkipielige Rüftungen an. Noch gelang
es ihr, ihr Dafein zu friften, Immer ift jedoch ſchon Einiges damit gewon:
nen, daf die jeſuitenfeindliche Oppofition wieder zum Selbſtbewußt ſein
und zum Gefuͤhl ihrer Bedeutung erwacht iſt. Die guͤnſtigeren Umſtaͤnde
der auswaͤrtigen Politik werden nicht lange auf ſich warten laſſen, da die
greiſen Stuͤtzen eines Syſtems, das im Namen der legitimen Ordnung nur
die ſchweizeriſche Bundesanarchie zu conſerviren trachtet, im Oſten wie im
Weſten dem Grabe nahe find. Dann werden ſich auch die Bürger Freiburgs
erinnern, daß fie. bis: jeßt zwar weniger als andere Gantome, für den Ruhm
Frieden, Friedendfchlüffee 345
der Eidgenoſſenſchaft gethan , daß fie aber ihrem Namen zum Trotze noch im
ber Mitte des Cantons eine Zwingburg haben, von größerer Gefährde für bie
neue Schweiz, als es Zwinguri für die alte war. Wilh. Schulz.
Frieden, Friedensfhlüffe, befonders die wichtigſten
ber neueften Zeit. Wieder ein Zeitraum von acht Jahren iſt feit dem
Erfcheinen des vorftehenden Auffages verfloffen, und noch hat Bein Krieg
europäifcher Großmaͤchte den Frieden unſers Welttheild unterbrochen. Jen⸗
ſeits feiner Grenzen bricht ſich feit Jahrzehnten die nad) allm anderen Rich⸗
tungen überfluthende Macht des ruffifhen Reichs in blutigen Wellen an
den Selfenmauern des Kaukaſus und an der ehernen muthgefchwellten Bruft
feinen Bewohner. Wie verhallende Sagen dringt die Kunde von dieſem
wechfelvollen wenig beachteten Kriege nady Europa, mo ein anderer Kampf
um Sein und Nichtfein gefämpft wird, wo Laufende und Millionen. zur
Stiftung eines armfeligen Lebens um ihr tägliches Brod mühfam engen,
während die Selbftfucht der Reichen und Vornehmen in nimmerfatter Be—
friedigung über die Däupter der niedergebeugten Maſſen weg dem flüchtigen
Genuſſe nachjagt. Und doch bringt dieſe Kunde bis in bie Alpenthäler der
Schweiz die Lehre herüber, wie viel im Kampfe mit der flolzeften Macht
ſelbſt die kleinſten Völker vermögen, welchen noch nicht das auflöfenbe
Gift einer verweichlichenden Civilifation den trogigen Muth der Freiheit
und Unabhängigkeit vernichtet hat. Wohl läßt der Gang ber Weltgefchichte
ein großes Geſetz erkennen, dem fich Fein Volk auf die Dauer zu entziehen
vermag. Don den zu Trägern der Bildung gewordenen weftlichen Staa⸗
ten aus bringt diefe mit all ihren Segnungen und Uebeln, mit ihren Zur
genden und Laftern über alle Länder der Erde, bis ſich in ununterbrodhener
Gliederung, Leben gebend und Leben empfangend, Volk an Volk gereiht hat.
Indem ſich aber die Bewohner des Kaukaſus der mit der Farbe ber Givilifa>
tion geſchminkten ruſſiſchen Barbarei erwehren, gewinnen fie der Bildung
bes weſtlichen Europa die erforderliche Zeit, auch fie zu erreichen, und viels
leicht dann erſt zu erreichen, wenn fich ber noch in trüber Gährung hinflies
Sende Culturſtrom im weiteren Verlaufe ſchon in ſich felbft geldutert und ges
reinigt hat. Denn wer mag es leugnen, daß unfere ganze Culturgefchichte
einem Wendepunkt nahe fteht, daß wir einer vielfac, veränderten Beftalt
des Staats, des Rechts und der Gefellfchaft entgegengehben? Don dieſem
Höheren Geſichtspunkte aus erfüllen denn auch jene Priegerifchen Gebirge»
völker Afiens felbft unbewußt einen meltgefchichtlichen Beruf durch ihren
Widerftand gegen Rußland ; und nicht blos das gemeine Intereſſe politifcher
Rivalitaͤt follte die weftlichen Großmaͤchte beftimmen, ben unbeugfamen Geg-
nern dieſes Reiche eine thätigere und wirffamere Sympathie zu zeigen, um
Rußland in Aſien menigftens einen Theil der Schuld büßen zu laffen, bie
es durch feine. Mitwirkung zur Vernichtung Polens auf fid) geladen hat.
Wie Rußland in Aſien, fo hat ſich Frankreich in Nordafrika in uns
unterbrochene Kämpfe verwidelt. Diefer Kampf in Algerien, nady feinen
bisherigen Ergebniffen bemeſſen, hat nur die Bedeutung einer Kriegsfchule,
in welcher die Schwerter fcharf und blank gehalten werden, bis fie ſich wies
der gegen Deutfchland und Stalien richten. Aber freilich iſt es eine Schule
346 Frieden, Friedensfchlüffe
die nur um den Preis von Tauſenden von Menfchenopfern ———
wird, und von Millionen an Gut und Geld, deren beſſere
wohl dazu beitragen könnte , mit ber feindfeligen Bevölkerung im
Sande, mit dem mehr und mehr anſchwellenden —** ‚ einen länger
nn bewahren. Bon allen europdifchen Großmaͤchten bat
ritannien durch feine Kriege im Orient Erfolge angebahnt, bie
jest ſchon bedeutend ammorden ind und fuͤr die fo weſentlich zur Eultur⸗
gefhichte sdene MWeltgefchichte eine wachſende Bedeutung gewinnen
werden. Die Entdedim nr —
—— en und ſocialen Zu⸗
re Bon un —2 fluſſe kann es fein,
daß: Dh Di Gewalt der britifchen Waffen ein der Erftarrung anbeims
Reich, von einigen hundert Millionen bewohnt, auf viel ent»
ſchiednere Welfe, als je zuvor ber Fall war, in den Kreis der Intereffen und
Berechnungen der —— Politik, wie der nordamerikaniſchen Frei⸗
ſtaaten —— Be um diefeibe Belt, als ein ——
— und die wahrfcheintiche Kette neuer Kämpfe und Friedensfchläffe,
die fich muthmaßlich daran anfnüpfen werden, wohl noch tief eingreifen im
das kuͤnſtliche und tauſendfach verſchlungene Getriebe der eucopäifchen Pro-
buction und bes vermittelnden Welthandels. Aber nicht blos unmittelbar
Heilfame Folgen werben daraus hervorgehen, fondern auch größere Krifen
für Induftrie und Verkehr, welche bei der jegigen Stellung ber arbeitenden
Glaffen und bei der gegenwärtigen Vertheilung des Einfommens von einer
zahlreicheren Menge fchmerzlicher empfunden werden müflen. Dann werden
auch die Ruͤckſtoͤße gegen die noch beftehende fociale Ordnung oder Unord-
nung heftiger werden, bis endlich einer befferen Organifation ber Arbeit, fo
wie der gegenfeitigen Sicherfteltung, Berföhnung und Verfchmelzung ber noch
feindfeltg fich bekaͤmpfenden Intereſſen aller Claſſen der Bevölkerung die
Bahr 1 gebrochen wird. (Ueber den chineſiſchen Frieden f. „Tſchina.“)
Darf uns nun, trog allen geſellſchaftlichen Mißſtaͤnden, die feitherige
Sortdauer des Friedens in Europa als eine Bürgfchaft feiner Erhaltung auch
für eine fernere Zukunft gelten? „Der Krieg”, fagte ein großer beuticher
Dichter, „muß im Kriege felbft aufhören. Dies iſt ebenfo wahr für den
Frieden, denn auch diefer hört erſt im Frieden auf, che ſich die feindlichen
Kräfte wieder auf den Schlachtfeldern meſſen. Und hat er nicht wirklich
aufgehört, trotz allen dußerlichen Symptomen einer Ruhe und Ordnung, ber
man um fo mehr fich ruͤhmt, je größer die Opfer find, die für ihre muͤh⸗
felige Erhaltung gebracht werben muͤſſen?
In flebonjaͤhrigenn Buͤrgerkriego hatte fich endlich bie Parteiwuth in
Frieden, Friedensſchlüſſe. 347
Orasim (f.d.) erſchoͤpft, und dieſe Erſchoͤpfung nannte man bie Herſtellung
des Friedens auf der pyrenaͤiſchen Halbinfel und den Sieg des monarchiſch⸗
conftitutionellen Principe. Die Ruhe der Ohnmacht, durch das Blut von
fenden im ſuͤdweſtlichen Europa erkauft, ſtellte der Cabinetspolitik
auch der weftlichen Sroßftaaten die orientalifche Frage (f. d.) wieder mehe in
ben Vordergrund. Die Eroberungslaunen eines alten Paſchas [een den
Welttheil in Unruhe und bie zitternde Hand eines fiebenzigiährigen Greiſes
it noch flark genug, jene Quadrupelallianz zu zerreißen, die den abfoluten
Monarchien gegenüber das conftitutionelle England und das conftitutionede
Frankreich verbunden hatte. Frankreich fiebt fich von den anderen vier
Großmaͤchten bei Seite gefhoben. Der officielle Zorn eines Minifterium
Thiers und ber verlegte Stolz ber Nation flimmen in den gleichen Krieges
ruf zuſammen. Ganz Europa rüftet; für alle Völker in weitem Kreife ſtei⸗
gern fich die Koften des bewaffneten eucopdifchen Friedens um Millionen
und aber Millionen. Alle Erinnerungen der „großen Nation’, alle böfen
Geluͤſte des Ehrgeizes und der Eroberungsſucht erwachfen wieder in Frank⸗
reich; in tapferen Worten tritt ihnen der cenfirte Enthuſiasmus ber Deut-
ſchen entgegen. Inzwiſchen haben die britifhen Kanonen den dgpptifchen
Paſcha zuruͤckgeſchreckt. Der König durch die Thatſache der Barricaden, uns
terwirft füch der Macht der Thatſachen auch im Oriente. Der Erisgerifche
Apparat verfhwinbet vom Schauplage ; Louis Philipp wirft den Hel⸗
benmantel ab, das heroiſche Intermezzo iſt zu Ende und das lange buͤrger⸗
liche Trauerſpiel hat auf Koſten der Völker wieder feinen Fortgang. Indeſſen
find Die Budgets angefchwollen,, neue Anleihen abgefchloffen worden und die
Wölfe der Boͤrſe haben wieder am ſauren Erwerb des Volks gute Beute
gemacht. Aber ber Friede ift erhalten, bie Papiere fleigen im Werthe und
die europaͤiſche Ariftoßratie der großen Wucherer bat aus dem drohenden
Sturme nur die feftere Hoffnung gewonnen, dag fo bald Fein europdis
[her Krieg ihre friedlichen Speculationen flören wird.
Gelang «6 doch bald einem Minifterium Guizot, die Phrafe von
«einer „entente cordiale‘ zwiſchen Frankreich und England felbft jenfeits bes
Canals für kurze Zeit in Umlauf zu fegen. Aber bald wurde das herzliche
Einverftänbniß auf die Probe geftellt. Zwar fchien bie franzoͤſiſche Politik
in der fpanifchen Heirathsfrage mit einer gewiſſen Offenheit zu Werke zu ges
ben. Der Telegraph verkündete ja die Mannbarkeit der jungen Königin
von Spanien, und zum Iopalften Wettrennen fchienen allen prinzlichen Be⸗
werbern die Schranken geöffnet. Inzwiſchen hatte ſich jedoch das Cabinet
der Tuilerien ein leichteres Spiel zu verſchaffen gewußt: unter dem Schleier
der entente cordiale wußte es die Karten zu miſchen und den Einſatz zu ge⸗
winnen. Fuͤr Lord Palmerfton blieben nur nachträgliche Klagen über
die „‚Feanzöfifehe Treulofigkeit.” Noch vor Kurzem wußte die minifterielle
Preſſe Englands nicht genug die Weisheit des Nachbarkoͤnigs und feinen in.
der Maͤßigung fo flarken Miniſter zu rühmen: jest war ber ſtarke Mini⸗
fler zum „imbecillen geworben, und bie Weisheit wurde „Tafchenfpielerei”
genannt.
Eine verzweifelte Schaar hatte es gewagt, noch einmal bie Fahne ber
Unabhängigkeit Polens aufzuftelen und den brei norbifchen Mächten sie
ug Eu zu bieten. Auch die Verzweiflung bat nody ihre Illuſionen, unb
be eines Meinen Fleckchens Erde getraute fie ſich, ihre Hebel anlegen
und das noch feſt gefügte Gebäude des Abfolutismus fprengen zu Können. ı
So warb Krakau, der von ber Tafel der Großen der Freiheit jugeworfene
Broden, yum Herde auserfehen, von dem aus Über alle Provinzen des ehe:
maligen Polens die Flamme ſich verbreiten follte. Aber fie fchlug zuruͤck in
das Antlig Derjenigen, die fie entzuͤndet hatten, und nad kurzem Math:
ſchlage sin bie drei Mächte die Aufhebung des fogenannten Freis
flaats und feine Wiedervereinigung mit Defterreih. Ohne die Stimme
der Mölker zu hören, hatte der Wiener Congreß totderfprechende Elemente
t einem Königreiche der Niederlande zufammengethan ; und ohne befondere
trengung brad) die Fulicevolution, durch eine beildufige Seitenbemegung,
das Werk der diplomatifchen Paune auseinander. Als daher nach langer
Derbandlung die Trennung Belgiens von Holland anerkannt wurde, war
bies nur die Anerkennung einer Thatfache des Voͤlkerlebens felbft, bie fih
ohne das Ja oder Nein der europdifchen Diplomatie aus eigenfter Nothwen⸗
bigkeit durchgeſetzt hatte. Anders war es bei Krakau, Dort hatte weder
Bolt noch Regierung die drei Schugmächte um den Gnabenfloß der Po:
litik angeflehtz; es geſchah vielmehr ohne ihren Willen und ohne ihre Zus
—— daß bie unter dem Schirm ber europaͤiſchen Verträge für unab⸗
bängig erflärte Demofratie mit einem Federſtriche vernichtet würde, Sept
tießen fih aus Großbritannien und Frankreich bie heftigften Stimmen ber
Erbitterung über den Bruch ber Verträge von 1815 hören. Aber zugleich
jubelte man, daß fortan auch Frankreich nicht mehr gebunden feiz und in der
Naivetaͤt der erften indiscreten Offenbarungen war nicht blos von einer
Herfiellung der Seftungswerke von Huͤningen die Rede, fondern fogar von
einer Wiedereinverleibung der Republik Genf mit dem franzöfifchen Reiche.
Mit wahrem und ſehr erklaͤrlichem Schmerze hatte man in ben Demos
kratien ber Schweiz das unglüdliche und Unglüd meiffagende Schickſal
der Schweſterrepublik Krakau aufgenommen und hörte nun mit Erflaunen
von Frankreich ber den Grundfag einer neuen Moral verkuͤnden, wonach
e6 fuͤr zweckmaͤßig erlärt wurde, ben Schatten des hingerichteten Sreiftantes
etwa damit zu fühnen, daß man auch einem feiner Freunde und Verwandten
den Kopf abfchlüge.
| Es war den weftlihen Gabinetten fein Ernft mit ihrer zur Schau getras
genen Theilnahme am Sein oder Nichtfein des Meinen polnifchen Freiſtaats.
Wider die Anfchuldigungen, die felbft in den öffentlichen Blättern ihrer Mini⸗
fter gegen die nördlichen Mächte gefchleudert wurden, erhob ſich bald bie Ge⸗
genanklage, baß man fo gut im Hötel des Capucins als in London das
Krakau bevorftehende Schickſal ſchon vor der endlichen Abfaffung des Todes⸗
urtheils gekannt habe. Wer mag daran zweifeln? Dan war indefien in
Frankreich und England der öffentlichen Meinung eine Genugthuung ſchul⸗
dig, die zugleich zur Befehwichtigung dienen follte. Proteftationen aus den
Cabinetten von St. James und aus dem der Tuilerien wurden erlaffen. Die
franzöfiiche Staatsklugheit wollte die Gelegenheit nicht vorübergehen laſſen,
Brieden, Briedensichläffe. 849
den in der fpanifchen Hetrathefache gefpielten Handſtreich vergefien gu machen.
Der britiſche Miniſter des Auswärtigen wies die freundlich Dargebotene Hand
zuruͤck, und England wollte von keiner gemeinfchaftlichen Protsftation mit
Frankreich wiffen. Run verkünden aber triumphirende Stimmen aus Eng⸗
land, daß diefes nur eine fehr ſchwache Verwahrung eingegeben, wohl aber
das franzoͤſiſche Cabinet dahin gebracht habe, ſich den nordifhen Mächten
gegenäber zu „compromittiren.“ Alfo eine „‚Escamoterie” gegen die anders!
Und bis Vernichtung Polens , der teagifche Ernſt eines blutigen Dramas follte
mit der Pointe eines duͤrftigen Epigramms endigen, mit bem armfeligen Gas
lonſcherze eines beleidigten Miniſters im diplomatifchen Yuppenfpiele? Nicht
doch! Die Geſchichte fpielt wohl zuweilen mit Marionetten, aber nicht biefe
mit ber Geſchichte; und durch allen theatralifchen Lärm hindurch hat ſich
doch eine ernfle Wahrheit tiefer als jemals in die Derzen der Völker eingegras
ben. Wenn fchon vor Jahrzehnten ein berühmter Geſchichtſchreiber den Auss
ſpruch that, die Vorſehung habe die Berflüdelung Polens zugelaflen, um
die Moral der Großen zu zeigen ; fo find es num die Leiter der alten und vers
alteten Cabinetspolitik ſelbſt, es find die Miniſter an der Spige der Befchäfte
und ihre anerlannten Drgane, die in gegenfeitiger Anſchuldigung das
Woͤrterbuch der Majeftätsbsleidigungen bereichert, die mit ihren Erklärungen
den Bankbruch der Öffentlichen Moral auch Öffentlich verfündet haben.
Schon verhallt wieder der Schwall leerer Worte und thatlofer Dror
hungen, unb die zur gewöhnlichen Zeitungswaare gewordenen Declamatios
nen über das Verhängniß des legten Ueberreſtes einer großen Nation werden
kaum nody Monate lang die Geluͤſte müßiger Lefer jättigen. Der Friede ift
alfo auch jegt nicht unterbrochen, ja feine Erhaltung nicht einmal ernſtlich
bedroht worden. Was ift es aber, was jest und bei früheren Verwicklungen
das Schwert in der Scheide zurückgehalten hat? Es ift da und dort bie
Furcht vor dem eigenen Volke, zumal vor ber proletarifhen Maſſe. Aber
diefelbe Furcht, die jegt noch den Frieden erhält, kann den Krieg unver
meidlich machen. Jahre ber Noth und Zheuerung find für einen großen
Theil Europas gelommen, das in drei Jahrzehnten des Friedens die Zahl feis
ner Proletarier, die in flets ungeſicherter Eriftenz von Hand zu Mund leben,
um 30 bis 40 Millionen vermehrt hat. Der Hunger peitfcht die ungläds
lichen Irländer zu Verbrechen, und in Großbritannien verwifcht bie wach⸗
fende Roth des Augenblicks bei den arbeitenden Claſſen die Erinnerung daran,
daß ihnen vor noch nicht Langer Zeit die Stimme der Kanonen die Unters
werfung unter die einmal beftehenbe gefelfchaftliche Ordnung gepredigt hat.
In Frankreich, wo die demokratiſche Partei wie ihre conmmuniflifchen
ober halb communiftifchen Nachzuͤgler ſchon vor Jahren im Kampfe auf offer
ner Straße überwunden wurben; wo in Wahrheit die alten Parteien in
voller Auftöfung begriffen find, drängt fich wieder im vielen Provinzialftäds
ten das von ber Noth und den Gegnern ber Regierung gehegte Wolf zum
Aufftande, während ein groger Theil der Arbeiter von neuem focialen Ideen
ducchdrungen iſt und ſteigende Korberungen an den alten Staat und bie alte
Geſellſchaft macht. Auch Deutfchland hatte nicht bios feine Todten von
Leipzig und Köln, fondern zugleich die Aufftände der Fabrikarbeiter in Schle⸗
350 Frieden, Sriedensfchläffe.
fim und Böhmen, mit zahlreichen Heinen Nächfpielen; und von ba und
dort erhoben fich wieder bie bitterften Klagen über ſchwer erträgliche® Elend.
Noch iſt überall der bewaffnete Friede mit feinen Soldaten, Gensdarmen
und Polizeren Deifter geblieben. Er wird es auch künftig bleiben, wo zu⸗
fommengelaufene Haufen ber geordneten, geübten und von einem Willen
geleiteten Macht des Staats zu trogen wagen und die nackte Bruſt der Pha⸗
lanr ber Bajonette preisgeben, welche die Sicherheit des Eigenthums ſelbſt
in feiner jegigen ungleichen Vertheilung bewachen. Am menigften würde
ſich auch nur vorübergehend jemer Kommunismus gewaltfam durchzufegen
vermögen, ber in der Livree dieſer oder jener Doctrin nur feine Eitelkeit und
feine Unvereimbarkeit mit den wahren Bedhrfniffen der Menfchennatur zur
Schau trägt. Aber fo weit die communiftifchen Belüfte und die bleibenden
wohlerwogenen Intereſſen der unbemittelten Arbeiterbevölkerung auseinans
berfalten, es tft dennoch wahr, daß feit einem Jahrzehnt ein neues Ele⸗
ment ben Strom ber Weltgefchichte uͤber die alten Ufer und ihre Damme hin⸗
ausdrängt; daß das Proletartat und ber Hunger ber tief eingreifende Factor
einer Politik dee Zukunft geworden find, den der Schlendrian ber herkoͤmm⸗
lichen Politik nicht zu ermeſſen und in Rechnung zu ziehen verfteht. Denn
nicht die Revolution iſt noch für Europa zu fürchten, die fich in gefchloffenen
Meihen aufdas Schlachtfeld drängt; wohl aber jener Beine Guerillaskrieg, der
In ſtets wiederholten Angriffen bie Grundlagen der Geſellſchaft allmälig un:
tergraͤbt; dem jede zufällige oder abfichtlich herbeigeführte Stockung der Ar⸗
beit und bes Erwerbs neue Bundesgenoffen zuführt, der in der Statiſtik der
Verbrechen gegen das Eigenthum fein furchtbar machfendes Budget hat und
endlich die Sicherheit deffelben in einem Grade vernichtet, daß er den md-
figen wie den übermäßigen Befig, den ehrlichen wie ben wucherifchen Er:
werb mit gleicher Gefahr bedroht. Und diefer Krieg wird bereits im Often
wie im Weſten geführt. Ob man mit abfichtlicher Berechnung bei den Baus
ern Galiziens den Geift des Aufruhrs heraufbefchmor, oder ob es daflır
ee eines Außeren Anftoßes bedurfte — er ift einmal vorhanden, er wird
ſich durch die abgebrauchten Kuͤnſte der gewoͤhnlichen Politik nur ſchwer
bewaͤltigen laſſen und ſeihſt ſcheinbar überwunden, wird er im Stillen fort:
wuchern und feine Anftefung Über weitere Kreife verbreiten. Dafür iſt
Stoff genug vorhanden. Drangen doch ſelbſt aus dem Inneren des ftreng
abgefchloffenen ruffifhen Reiche unbeflimmte Nachrichten heruͤber von bluti:
gen Kämpfen leibeigener Bauern gegen ihre abeligen Grundherren , und wa:
ven die Gerichte übertrieben, fie fcheinen doc, nicht völlig grunblog geweſen
zu fein. So ift e8 der Pöbel der Fabriken und eine rohe gedrückte Bauern:
maffe, die ſich vom Weſten und Often her in ihren Angriffen gegen bie alte
Gefeufhaft die Hand bieten. Nor Allem kommt aber bier bie Lage Sranf-
reiche in Betracht, wo fid die Bewegung nicht auf die niedern Kreife bes
ſchrankt, fondern im Eräftigften Keen der Bevoͤlkerung, wo das Gift ber
Selbſtſucht noch am mwenigften eingefreſſen hat, das Selbſtgefuͤbl des Pro-
letariats am Weiteften entwidelt und faft die ganze Claffe der induftriellen
Arbeiter zu einer ſtets mächtiger werdenden Oppofition verbunden iſt.
Kommen zu den ſchon vorhandenen Elementen noch Handelskriſen und
Frieden, Friedensſchlüſſe. 851
Nothſtand; treibt der Tod bes jetzigen Könige wieber bie ermatteten Parteien,
fi von Neuem mit ihren ſich durchkreuzenden Planen zu verfahen: fo mag
es zwar der Staatsgewalt und dem gemeinfamen Intereſſe der Eigenthümer
gelingen, einer plöglichen Ummälzung vorzubeugen, doch fchwerlich wird man
eime Gaͤhrung verhindern koͤnnen, zu deren dauernder Beſchwichtigung es
außererdentlicher Mittel bedarf. Bon jeher war es aber ein nahe liegendes
NMothmittel der Politik, der aufleimenden Zwietracht im Innern durch einen
Krieg gegen das Ausland Einhalt zu thun. So wird früher oder ſpaͤter bie
eine oder andere franzöfifche Regierung, und es werben bie befigenden Claſſen
Frankreichs durch biefelbe Furcht vor dem Proletariat, die den Frieden erhals
ten bat, um ihrer eigenen Eriftenz willen zum Friedensbruche genöthigt
fein. Wohl hat die alte abgenügte Propaganda ihre frühere Bedeutung,
wenn nicht für Italien, doch wohl für Deutfchland verloren. Aber ſchwer⸗
lich wird Frankreich noch einen Krieg beginnen, ohne zugleich feinem Pros
letariat wenigftens einige Gonceffionen gemacht und ihm weitere Ausfichten
eröffnet zu haben; und kann es erſt wieder, auf die Überrebende Kraft einer
ſolchen Thatfache geftägt, fi) mit neuen Verheißungen an bie gedruͤckte
Bevölkerung der Nachbarftaaten wenden , werden fie dann bei ber Gentralifas
tion feiner Macht, bei der Eriegerifchen Luft, dem Ertegerifchen Muthe und
2. kriegeriſchen Fähigkeiten feiner Bewohner , dem Andrange fo Leicht wider⸗
en?
Ob aber ber nächfte europälfche Krieg von Welten ober Often komme,
für Deutfchland iſt er gleich gefährlich, wenn es mit gebundenen Armen und
getnebeltem Munde fein Verhaͤngniß erwarten muß. Aus den Reihen ber
Polen haben ſich Stimmen erhoben, welche davon fafelten, daß Deutſchland
bis an die Elbe, ja bis an die Weſer flavifch werden müffe. Mit gleich
thörichter Leichtfertigkeit über bie Arbeit der Weltgefchichte wegfpringend,
haben Deutſche in ihrer nationalen Kraumfeligkeit von einer Germanifirung
ber Polen phantafirt. Seit taufend Jahren iſt der flavifche Stamm ber
Ezechen mit Deutichland eng verknuͤpft, und wie weit haben wir es mit ber
„Germaniſirung“ gebraht? Auch die polnifche Rationalität wird nicht mit
deutſchen Federſtrichen ausgemerzt. Der Betft diefes Volks wird fortan in
anderer Geſtalt, mit anderen Hoffnungen und Beftrebungen erſcheinen; aber
Immer nody wird es Banquo's Geift fein, der die Gewalthaber fchredt und
verwirrt. Hat etwa Oeſterreich an Macht gewonnen, baf «6 num vor ben an-
deren norbifchen Mächten den Frieden auch in Krakau bewachen muß? Nur
das Eine ift damit erreicht, daß mit der Hoffnung der Polen auf eine revo⸗
Intiondre Herftellung ihres Vaterlands zugleich bie feindfelige Gefinnung
gegen Mußland mehr und mehr verfchwinden wich; baf fie nur mit dies
fem und durch dieſes wenigſtens die theilweife Erfüllung ihrer Wuͤnſch⸗
und bie Ausſicht auf eine beffere Zukunft erwarten Binnen. Es mag ſein,
daß Rußland von feiner jegigen Stellung aus, fo lange e8 noch an der
überlieferten Politik eines die Völker abfloßenden Despotismus feſthaͤlt, m
einem Offenfivfriege Bein allzu furchtbarer Gegner ift; es mag fein, bag es
in einem Kriege gegen Frankreich wohl ein gefährlicher, aber Bein ftarker
Bundesgenoſſe Deutfchlande wäre. Allein es hänge nur von ihm ſelbſt ab,
od: es Be ne ee En
| —— —— gezeigt, daß fich
Den pe nicht nmel Tre u Pe ohne
bag feltene Genie eines Napoleon, um mit. leichterer Mühe im Norben
und Dften bie gleichen ober größere Erfolge zu erringen, als fie diefer im
Meften und in der Mitte des Welttheils errang. Wer dürfte dann ertvarten,
daß Czechen, Slowaken und alle jene Millionen Slawen an ben Grenzen
Deutſchlands umd Ungarns die Berheifungen dev neuen Zukunft in ben
Wind fchlagen ‚ daß fie mit ihren Leibern einen Wall bilden würden, um
den im Ueberreft ber Verträge von 1815 garantirten Statusquo des deutfchen
Bundes zu ſchuͤtzen, um zu ihrer Germanifieung den Deutſchen ausreichende
Zeit und bequeme Muße zu verfhaffen? Für einen ſolchen ruffenfeindlichen
Enthufiagmus ber, mit Deutfchland politiich verbundenen Siavenftimme bes
bürfte es body wohl anderer Zriebfebern ald ber Heiligkeit der nicht mehr heir
lig geachteten Verträge ; es bebürfte Dazu ihrer Verbindung mit den Deut-
fchen durch ben Segen einer gemeinſchaftlichen Freiheit und eines bis in bie
unterften Volksſchichten verbreiteten Wohlſtands.
Dbder find die beutfchen Stammgenoffen in den fieben und -breißig
Staaten des deutſchen Bundes durch gleiche Liebe und gleichen Haß, durch
aleiches Intereffe und gleiche Meinung in fich ſelbſt fo feſt vereinigt; um
jeder Gefahr Frog bieten zu können? Der weite Begriff einer deutſchen Par
tel des Kortichritts bat feinen Inhalt, der zur gemeinfamen That führen
Pönnte: dieſe fogenannte Partei iſt in zahllofe Fractionen zerfplittert,
Darıim gehören bie Furcht oder die Hoffnung auf eine allgemeine Umgeltaltung
v
Frieden, Friedensſchluͤſſe 353
durch eine Volksbewegung von innen heraus, zu den weſenloſen Traͤumen.
Die doctrinaͤre deutſche Reiterei auf den Steckenpferden aller gelehrten un⸗
maßgeblichen Meinungen wird keine Carres ſprengen; und gegen die zer⸗
ſtreuten oͤrtlichen Ausbruͤche der Unzufriedenheit des Volks werden die berei⸗
ten Mittel der Unterdruͤckung noch lange ausreichen. Allein nicht um Das
gilt es, was das deutſche Volk thun, ſondern was es nicht thun wird, wenn
In einem neuen Kriege mit dem Auslande nur die begeiſterte That feiner
einmäthigen Erhebung den Sieg zu verbürgen vermächte. Gaͤbe es in Deutfchs
land eine Öppofition mit beflimmter Richtung und Har erfanntem Ziele,
man wuͤrde felbft noch im drängenden Augenblicke der Noth buch Gewaͤh⸗
rumg ihrer gerechten Forderungen die ganze Nation zum Eräftigen Handeln
fortreißen koͤnnen. Aber eine lähmende Mißſtimmung iſt allgemeiner ge:
worden, während die Quellen dieſer Mißſtimmung ſich vervielfältigt haben
und nun an allen Orten zugleich um fo ſchwerer zu verfchließen find. Jener
matve Enthufiasmus für deutfche Einheit und Freiheit, wie er in und nad)
dem Befreiungskriege zum Vorſchein kam , ift ſchon lange verbraucht. Wie
wäre e8 anders möglich , da eine eiskalte Politik bemüht war, mit wieder⸗
holten Sturzbädern die patriotifche Fieberhige bis zum politifchen Bloͤdſinn
herunter zu curiren? Giebt e8 doch nur in Deutfchland ein Häuflein fols
cher Thoren, welche Vaterland und Vaterlandsliebe, Staat und Nationalis
tät zum Aberglauben ftempeln möchten. Nirgends auch iſt eine‘ hervorra⸗
gende Perföntichkeit in einflußreicher maßgebender Stellung zu entdecken.
Finden noch jest, wie früher, die Gewalthaber ihre officiellen Schmeichler,
fo Hat ſich doch mehr noch die Zahl der heimlichen und fchleichenden Tabler
vergrößert, die ihre Schwächen und Fehler übertreiben, die jelbft jede ihrer
wohlmeinenden Abfichten von vorn herein verbächtigen, und mitten inne
fteht eine gleichguͤltige oder durch unerfüllt gebliebene Verheißungen getäufchte
Menge, die ſich unter der Herrſchaft des Preßzwangs für berechtigt hält, ſelbſt
jeder Lüge und Verlaͤumdung uf Koften der Mächtigen ein gierige® Ohr
‚zu leiden. Die gleiche Anarchie der Richtungen und Anfichten herrſcht im
Gebiete der Religion. Hier das fleinerne Medufenbild eines erflarrenden
Buchſtabenglaubens, dort die Fragen eines fogenannten „freien Geiftes” und
einer fogenannten „freien Liebe”. Hier theclogifche Zeloten und Profelys
ten werbende Seelenkaͤufer, dort die toll gewordenen atheiftifchen Kläffer,
bie dem katholiſchen und proteflantifchen Jefuitismus die Beute in die Garne
jagen. Hier die großen Paraden des Aberglaubens, dort die Beinen des
Unglaubens. Hier ein heuchleriſcher Spiritualismus, der aus dem Irdifchen
Sammerthale nad) einem himmliſchen Jenſeits weift und dem Volke vorpres
bigt, fich einſtweilen aus feiner Noth feine Tugend zu machen; dort ein
platter geiftlofer Muterialismus, ber die Lüderlichkeit in ein Spftem bringt
und fich vermißt, als Heiland der neuen Zeit das Volk an feine Krippe zu
laden, um bie tiefften Bebürfniffe des Geiſtes und Herzens mit dem pos
pulaͤr zugefchnittenen Stroh einer verfommenen Schulmweishelt abzufüttern.
Selbſt die Begeifterung für Ideen, für politifche und fociale Lehren und Lehr:
gebäude ſcheint erſchoͤpft. Mit der Verheitung weltbegluͤckender Syſteme
hat ſich zu oft ſchon der Hanswurſt in der Prophetenrolle gezeigt, als daß man
28
Suppl. z. Staatslex. II.
354 Frieden, Briedensfchläffe.
nicht von vorn herein mißtrauifch wäre ; und felbft neue Wahrheiten Erechen
fid) durch das Betreibe literarifcher Coterien und ihre Verſicherungsanſtalten
für grundloſes Lob und grundlofen Zabel jegt nur ſchwer und langſam Bahn.
Und träte ein Mann der Wiffenfchaft auf, der mit fo viel Klarheit als
Wärme alle im langen geiftigen Kampfe gewonnenen Wahrheiten in wiſſen⸗
fchaftlicher Einheit zufammenzufaffen wüßte, feine Stimme würde nicht
durchdringen durch das Geklatſch aller gelehrten und populären Eitelkeiten.
Nicht Schrift und Wort können noch helfen. Nur die fortgefegte
That dee lebendigen Liebe und Gerechtigkeit, die flatt der Werheißung mit der
Erfuͤllung begaͤnne, Eönnte wieder in heiligem Feuer das Vertrauen auf die
Zukunft des Vaterlands ftählen, den Staat und die Gefelfchaft läuternd
durchdringen. Viel vermöchte durch bie hinreißende Macht des Beiſpiels ein
ſchoͤpferiſcher Geiſt auf einem bdeutfchen Throne, der mit der Menfchenliebe
eines Joſeph ll. die größere Umficht des Staatsmann verbände; der mit
dem gleichen Muthe, wie biefer den Pfaffen, fo den Täufchungen und
Raͤnken einer ſelbſtſuͤchtigen Ariftokratie des Reichthums Trog böte ; ber aber
zugleich das Ziel feines Handelns und alle Schritte zur Erreichung befjelben
offen vor Augen legte, der daB Volk zum Mitarbeiter am Werke feiner Be:
feetung von Geiſteszwang und Leiblihem Elende machte und von Anfang an
auf die nichtswuͤrdige Eitelkeit verzichtete, die Begluͤckung einer Nation
zum tafchenfpielerifchen Kunſtſtuͤcke einer geheimen und geheimthuenden
Sabtnetöpotitit machen zu wollen. Aber wird man Fruͤchte von den Dornen
tefen? Binnen Eurzer Zeit ift in Deutſchland viel guter Eindlicher Glaube zu
Grabe gegangen. Darum mächft die Zahl Derjenigen, die vom Kriege
hoffen, was fie der Friede vergebens erwarten ließ. Sie hoffen, daß jeber eu:
ropaͤiſche Krieg, ob er gleich als Cabinetsfrieg begänne , doch als ſolcher nicht
endigen werde; daß er die Ideen vollziehen, die Wahrheiten in's Leben fuͤh⸗
ren werde, die im Laufe der Triedensjahre, wenn gleich mit noch fo zahl:
reichen Irrthuͤmern vermifcht, in das Bewußtjein der Völker gedrungen
find. Aber Deutfchland mürde vor anderen Staaten diefen Gewinn nur
unter großen Gefahren erreichen, nur mit den ſchwerſten Opfern erfaufen Fön:
nen; und ob es feinen Beruf erfülle oder nicht, feine Aufgabe bleibt es
doch, den Frieden bes MWelttheile zu bewahren und zu gebieten, oder im un:
vermeidlichen Kriege den Sieg an feine Fahnen zu feffeln durd) die nicht mehr
verzögerte Befriedigung des eigenen Volks. Man fürchtet das Nahen einer
europäifchen focinlen Ummälzung; und wer Eann es leugnen, daß fie im
Gefolge eines Außeren Kriegs mit allen Gräueln und Verwüftungen herein:
brechen Fonnte? Der drohenden Revolution war ſtets nur durch zeitige Me:
form zu begegnen und der Friede Deutfchlande kann nur bewahrt werden
duch die Berufung der Nation zur fchöpferifhen Zheilnahme am Staate,
fo mie durch eine Reihe von Maßregeln, die über die Tyrannei der Reichen
gegen die Armen, wie über den Wahnfinn des Communismug zugleich den
Stab brehen, indem fie endlid) in jedem Haufe der Bürger und Bauern, in
jeder Wohnung der Armen die Möglichkeit eines freien und freubigen Lebens
verbürgen.
Wilh. Schulz.
Fruchtſperre. 855
Fruchtſperre und andere Maßregeln gegen die
Theuerung im Sahre 1846. In den Artikeln „Korngeſetze,
Sperre, Theuerung” iſt zwar auch der Sruchtfperre gedacht; allein die
gegentwärtige Zeit bietet fo mandye neue Erſcheinung in Mitteln und Wes
gen, den Ausfall der Ernte zu decken und bie Menfchen mit Nahrungsftoffen
zu verforgen, daß es angemeſſen fein dürfte, Einiges darüber bier niederzu-
legen. Die allgemeinen Grundſaͤtze über Getreidehandel und die im Fall
einer Theuerung von Seiten des Staates und ber Gemeinden zu treffenden
Maßregeln find an den angegebenen Orten entwidelt ;_wir bemerken hier nur
kurz: daß der freie Verkehr die Nahrungsmittel am zweckmaͤßigſten ver-
theilt, indem er fie überall da holt, wo fis am billigften zu haben find, und
dort hinführt, wo fie am ſtaͤrkſten begehrt, alfo am theuerften bezahlt werden;
daß er alfo naturgemäß zur Ausgleihung von Mißoerhältniffen zwifchen
Vorrath und Bedarf hinwirkt. Maßregeln gegen Mangel oder Theuerung
koͤnnen daher nur dann zweckmaͤßig ſein, wenn ſie den freien Verkehr nicht
ſtoͤren, ſondern erleichtern und fördern, durch Ermäßigung oder Aufhebung
von Abgaben, Gebühren und Laften, oder auch ihm nachhelfen, wo er
nicht felbft Ausreichendes leiſtet, z. B. durch Ankäufe von Vorräthen, was aber
um fo weniger nötgig fällt, je weiter entwideit und ausgedehnt der Gupitals
reihthum und die Handelsthätigkeit einer Nation ifl. Hemmungen des Ver⸗
kehrs bewirken in der Regel das Gegentheil von dem, mas man beabfichtigt ;
nuͤtzlich und wohlthaͤtig aber find die Anftalten, welche in theueren Zeiten
den ärmeren Claſſen Arbeitsverdienſt und billige Nahrungsmittel verfchaffen,
und bei einem freien und. gebildeten Volke wird in diefer Beziehung von
Gemeinden und Vereinen fo viel gefchehen, daß der Staat nur Vorſchub zu
Leiften und ergänzend einzutzeten hat. Außerordentliche Fälle dagegen, 3. B.
Krieg, welcher den regelmäßigen Verkehr flört, oder eine Noth, wie fie in
Irland dur das Mißrathen der Kartoffeln und bie Mittelloſigkeit der
Volkemaſſe eingetreten ift, machen freilich außerordentliche Maßregeln noth⸗
wendig. — Go allgemein bieje Grundfäge in der Wiffenfchaft anerkannt
fein mögen , fo wird doch jedesmal davon abgewichen, wenn 66 gilt, fie feſtzu⸗
halten, insbefondere, fo weit fie den freien Verkehr verlangen, und da, wo
die Lehren der Volkswirthſchaft noch nicht Gemeingut der Bürger geworben
find. Die Furcht fpielt eben. immermährend ihre Rolle, und bei den Uns
wiſſendſten die größte ; despotifche Regierung ‚, Gewaltherrſchaft aber iſt am
eheſten verankagt, den Vorurtheilen nachzugeben. Allein jedesmal zeigt es
fich auch, daß diejenigen Staaten, welche den richtigen Grundfägen treu ges
blieben find, am beften davon kommen und auch weniger an den Nachwe⸗
ben einer XTheuerung zu leiden haben als jene, weldye burdy Hemmung
der naturgemäßen Verkehrsbewegung unmittelbar ber Landwirtbfchaft und
mittelbar den Gewerben gefchadet haben. Nach ben Theuerungen wird
in ber Regel über Verfall der Gewerbe und über Verarmung geklagt.
Seit 1842 waren in Europa durchſchnittlich nur ſchwache oder mittlere
Ernten, keme befonders ergiebig... Die Kartoffelkrankheit, welche 1845
eintrat unb 1846 wiederfehrte, vergrößerte in vielen Gegenden den Ausfall an
Nahrungsmitteln für Menſchen und Thiere; es wurden verftärkte Vezuͤge
DRS
856 Bruchtfperre.
nad) ſolchen Ländern, welche in gewöhnlichen Jah:
un en Bi fen — et eine Kasfeke bed aben. —
* — un hierbei em gluͤcklicher Umſtand, daß der Zoll⸗
ein —* —— unter den ihm angehoͤrigen Staaten hergeſtellt
drei vorhergehenden Theuerungen hatten In den Jahren 1770 bie
Tem: 4791 — 1798, 1816 und 1817 ſtattgefunden; jedesmal hatten
bie deutfdyen Staaten "nicht nur gegen das Ausland, fondern aud) gegen
einander gefperrt und «8 war beiden früheren an dem Reichstag, bei der legs
ten an dem Bundestage über Die Sperren geklagt, Uber Mobificationen nach⸗
—*8* nn —— ee fübtihen Staaten hatten ſich
* waren a u im Sü den
vor er an nu —— * —— Eifenbahnen,
« ind Wafferfiraßen, Ai tn war nen in der neh aan
fen ed des Transportſyſtems neuen Antrieb geben.
bat ſich der Seficjtskreis —* namhaft er⸗
es | anze Erde, Mit
Amerika führt auf Keeflicen Merkhrsmegen seine umerfeböpftichen Vorräthe
aus dem tiefert Inneren nach den Seehaͤfen, während der Mangel an fahr:
baren Straßen im füblihen Mußland den Donauländern und Ungarn jegt
doppelt fühlbar und zur Abhilfe ein maͤchtiger Sporn gegeben wird.
Unter den Maßregeln, meldye nicht auf die Leitung des Verkehrs
Bezug haben, ſondern fowohl übertriebenen Beforgniffen entgegenwirken
als auch für Verdienſt und Unterflügung der aͤrmeren Glaffen forgen follen,
erwähnen wir folgende:
1) Bekanntmachungen über das Ergebniß ber Ernte.
Solche find in Batern von Kreisbehörben, in Sachſen von der Gentral-
vegierung erlaffen worden. Letztere ſagt unter Anderen: ‚Die diesjährige
Ernte ergiebt gegen eine normale Ernte einen Minderertrag von ungefähr 22
Procent beim Winterroggen, 23 Procent beim Sommerroggen, 8 Procent
beim Weizen, 9 Procent bei der Gerſte, 6 Procent beim Hafer, 23 Pro:
eent bei Erbfen und Wien ; dagegen einen Ueberfchuß von 23 Procent beim
Haidekorn oder Buchweizen. Erwaͤgt man nun aber, daß das Getreide
durch Mehlreichthum ſich altszeichwet ; daß der Raubfutterertrag ben eines
Mitteljahres fo weit uͤberſchritten hat, daß minoeſtens 30 Procent mehr, im
Durchſchnitt, zur Winterfütterung eingebracht worden ; daß die Ernte von
Ruͤben u. ſ. w. eine ausgezeichnete getvefen iftz daß hierdurch allenthalben Ge⸗
treide und Kartoffeln zur Viehfütterung erfpart werben; daß bie Kartoffels
krankheit, felbft da mo fie in höherem Grabe ſich gezeigt, doch feit dem Ein⸗
bringen der Kartoffeln in zweckmaͤßige Räume nicht oder doch nur in einzelnen
v
Fruchtſperre 857
Faͤllen fortgefchritten ift: fo folgt hieraus — abgefehen davon, ob hier und ba.
noch größere Worräthe ſich befinden — allmthalben von felbft, daß ber wirk⸗
liche Ausfall an Getreide und Kartoffeln zur Nahrung der Menfchen zwar im:
mer bedauerlich, aber nicht fo groß iſt, als es hier und da geglaubt wird, und
zwar bie Entſtehung höherer Preife ertlärlich zu machen, nicht
aber die Beforgniß eines wirklihen Nothſtandes im Lande
zu erregen geeignet iſt.“ — Vollſtaͤndige ſtatiſtiſche Mittheilungen
über das Ergebniß der Ernte und ben Bedarf find bis jegt (Ende 1846) in
keinem deutfchen Staate bekannt gemacht worden; bie Statift:?, fo wichtig
für die Regierungen wie für ben Handel und die Inbuftrie, bedarf noch fehr
dee Pflege und Ausdehnung. Selbſt in den Vereinigten Staaten, wo
doch weniger regiert und gefchrieben wird als auf bem europdifchen Feſtlande,
veröffentlicht Die Regierung forgfältig gearbeitete Weberfichten über bie land»
wirthfchaftliche Production.
2) Ankauf von Lebensmitteln im Auslande. — Wenn bie
Statiſtik die Größe des bucchfchnittlichen Bedarfs und die Refultate ber Ernte
an die Hand gegeben hat, fo läßt fi) annähernd die Menge ber einzuführenben
Nahrungsmittel beftimmen, und dere Staat hat Mittel in der Hand, die
Speculation aufzumuntern und zu fchleunigfter Herbeiſchaffung des Fehlen⸗
den zu veranlaffen. Dies iſt In Frankreich geſchehen. Die Regierung bes
flimmte, daß alle Lieferungen für das Landheer und die Flotte nur in ausläns
difchem Getreide und baraus bereiteten Stoffen zu gefchehen haben, geftats
tete Vergütungen und bezeichnete die Häfen, woher bie Bezüge zu nehmen
feien: fie wußte den Handel raſch zu beleben; er kaufte am Rhein, in Hol⸗
land, felbft in England, bis dort die Preife höher fliegen, in ben Häfen ber
Mords und Oſtſee wie bes ſchwarzen Meeres, in Aegypten und Stallen; in
der Hälfte des December war der Bedarf gedeckt und die Preife begannen zu
weichen. Die Einfuhr In den erften sehn Monaten des Jahres 1846 hatte,
nach einer officiellen Angabe im Moniteur, 2,637,417 metrifche Sentner Ge:
treide, meift Weizen, betragen, wozu noch 30,966 Centner Mehl kamen,
von Anfang November bis Mitte December aber wurden 34 Millionen
Hektoliter Getreide eingeführt, das Vier: bis Fuͤnffache ber durchfchnittlichen
Einfuhr, etwa z der durchfchnittlichen Weizenproduction und über ZI, ber
gefammten Getreideprobuction. Auf Staatsrehnung unmittelbar wurs
den keine Aufläufe gemacht, benn man erinnerte fi, daß der Staat Im
Sabre 1817 an 80 Millionen Franken , welche für Ankauf von Früchten
aufgewendet worden waren, 49 Millionen verloren hatte, ohne ein merk:
liches Refultat zu erzielen; eben fo hatte die Stadt Paris, welche den Ein:
kauf und Verkauf felbft beforgte, 26 Millionen eingebüßt, und fpäter bie
Erfahrung gemacht , Daß fie weit bilfiger zulomme und mehr ausrichte, wenn
fie den Aermeren wohlfeiles Brod dadurch verfchaffe, daß fie den Bädern
den Unterfchied vergüte (dafür wurde 1830 die Summe von 1,400,000
Franken ausgegeben). Die Brodpreife aber fanden Mitte December 1846
nicht fo hoch wie im Jahre 1830. An Deutfchland und der Schweiz has
ben mehrere Regierungen Getreide im Ausland Eaufen laffen. Balern
ging voran; bie zu diefem Zweck beftimmte Summe foll gegen 2 Millionen
C
"r1
— wart ner Bildung , „feinen gefellichaftlichen und
Nahrungsverhättniffen dernachläfftgtes, Bolt, das in. ſich ſelbſt Eeinen Trieb
und keine Mittel findet, feine, Rage zu verbeffern und fidy über ſchlimme
Tage binauszuhelfen, in ein fo tiefes Elend ſinken kann, daß aud) die groͤß
‚ten Anftrengungen ber Stantögewalt nur wenig fruchten. Auf. der andern
Seite ift nicht zu verkennen, daß eine zweckmaͤßige Befchleunigung und Ver—
theilung in der Ausführung Öffentlicher Arbeiten von mwefentlihem Nugen
in theuern Beiten fein kann. , Diefe Arbeiten aber follen nicht blos Mittel
zur Beſchaͤftigung einer größeren Anzahl Menſchen fein, fondern an und für
fid) einen nachhaltigen Nuten gewähren, befonders durch Verbefferung ber
Verkehrswege (Landitraßen, Candle, Eiſenbahnen) und Vermehrung ber
landwirthſchaftlichen Probuetion (Urbarmachen oder Streden, Entwäfferun:
gen, Zrodenlegung von Suͤmpfen u.bgl.). Im Großherzogthum Heffen
find mehrere zwedimäßige Weifungen fowohl an die Baubehörden als an
die Domärenverwaltungen ergangen, morin benfelben anempfohlen murbe,
die Arbeiten, wozu die Mittel vorgefehen waren, möglichft zu ſolchen Zeiten
vornehmen zu laffen , wo der Arbeitsverdienſt überhaupt feltener wird, auch
ſolche, die erft ſpaͤter zur Ausführung beftimmt waren, früher vorzunehmen
und dabei bauptiächlich denjenigen den Borzug zu geben, wobei die einfache
« Handarbeit am meiften Belchäftigung findet (4.8. Straßenbauten) —
Die framzoͤſiſche Regierung hat ben öffentlichen Arbeiten ebenfalls einen
verftärkten Aufſchwung gegeben und: burch Erhaltung eines flüffigen Gelb:
umlaufs mit Hilfe ber Bank die Inbuſtrie in den Stand. gefegt, ihre Thaͤ—
Fruchtſperre. 859
tigkeit in ungefchmälertem Maße fortzufegen. Induſtriereiche Länder haben
gegen andere auch den Vortheil, daß die Bezugslänber, denen fie Getreide
abnehmen, geneigt werden, ihnen Manufacturwaaren abzutaufen, fo daß
fie zuletzt die Früchte nicht mit Geld, fondern mit Waaren bezahlen. —
Da bei fletgenden Preifen der Lebensmittel die arbeitende Claffe ihre Löhne
nicht fogleich mit dem erhöhten Bedarfe in ein richtiges Verhaͤltniß fegen kann,
und gerade in den Wintermonaten die einfache Handarbeit ſchwaͤcher gefucht
wird; da ferner die Mehrausgabe für Lebensmittel auch bie Mittelclaffen, na»
mentlich bie Befoldeten noͤthigt, ihren Verbrauch an andern, entbehrlicheren
Semußmitteln einzufchränten,, wodurch der Gewerbſtand leidet — fo wer⸗
den in ſolchen Zeiten Unterflügungen nöthig, zu denen bie Mittel der Armen:
pflege nicht ausreichen, auch nicht immer geeignet find. Auch in biefer
Beziehung wird gegenwärtig mehr als früher geleiſtet, und namentlich treten
die Hilfßvereine in größerer Ausdehnung ben Gemeinden und Wohlthätig
feitsanftalten zur Seite. Gemeinden und Vereine haben Anflalten ge:
teoffen, um Brod und andere Lebensmittel unter den Zars und Marktpreifen
an Unbemittelte zu vertheilen ; e8 werden Vorräthe im Großen angekauft und
zu dem Einkaufspreiſe, aud) nody nieberer, abgegeben; an mehreren Orten
find Gemeindebaͤckereien errichtet worden. Bon befonberem Nugen erweifen
fi die Suppenanftalten, welche unter ber Leitung von Frauenver⸗
einen eine gefunde und nahrhafte Koft in zureichendem Maße bersiten und
gegen fehr billige Preife — an ganz Arme unentgeltlich abgeben. Endlich find
auch Einrichtungen getroffen worden, um Denjenigen,, welche Arbeit fuchen,
anzugeben, wo folche zu finden iſt. Der Geift der Affociation, gerichtet
nicht nur auf vorkbergehende Linderung ungewöhnlicher Noth, fondern aus:
dauernd thätig für die fittliche Heranbildung der arbeitenden Claſſen, für die
Ausgleihung bes Mißverhaͤltniſſes zwiſchen Capital und Arbeit überhaupt,
ſcheint in unferem Sahrhundert beſtimmt, den Kormen ber politifchen Frei⸗
heit dad Weſen der ſocialen Geſtaltung zu geben, welche an die Stelle der
mittelalterlihen Emährungspflicht des Grundherrn gegen den Leibeigenen
und der Corporation gegen ihre Angehörigen in einem Verbande freier und
gleichberechtigter Menfchen zu treten hat. Es bilden ſich in Zeiten wie bie
gegenwärtige die Elemente, aus denen fich die noch nicht gefundene Löfung
der focialen Aufgabe ergeben wird.
Surrogate. Der Ausfall an Nahrungsmitteln bei unzurei-
chender Ernte bringt mit den fleigenden Preifen auch Vorfchläge wohlfeiler
Erfagmittel. Die nämlihen Vorſchlaͤge zu Mifchungen von Kartoffeln,
Ruͤben, Flechten: und Moosarten, Queckenwurzel u. dgl. unter bas Mehl
zum Brodbaden, welche in den Hungerjahren von 1770 bi8 1772 gemacht
wurden, find au 1846 wieder zum Borfchein gelommen, haben aber
immer nur bei fehr hohen @etreidepreifen und bei wirklicher Hungersnoth,
wo ohnehin Alles aufgefucht wird, was nur irgend zur Nahrung dienen
kann, eine ausgebehntere Anwendung gefunden.
Die Maßregeln, buch Leitung des Verkehrs der Theuerung ent:
gegen zu wirken, find im Durchſchnitt die minder zweckmaͤßigen; dies gilt
ziemlich allgemein von denen, welche duch Beſchraͤnkung des Verkehrs
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a 3 — beflimmten Vermoͤgens und gewiſſer perſoͤnlicher Eigenſchaften,
eines guten Leumundes u, dal. m. geknuͤpft iſt; die Zahl der Maͤkler ſoll
auf das Beduͤrfniß beſchraͤnkt werden. Einkäufe und Verkäufe follen nur
auf. den öffentlichen Märkten geicheben , das Ankaufen von Vorräthen, bie
auf bem MWege zum Markte find, die Vorkaͤufe, heimlichen und Schein:
kaͤufe find verboten. Die alte Hanfe kannte ähnliche und noch fhlimmere
Befchränfungen bes. Getreidehandels, um ihren Hanbdelsplägen und Kauf:
leuten die Bortheile deffelben zu fihern; bie franzoͤſiſche Revolution kennt
ſolche ebenfalls, in einer Zeit, wo zu ber Xheuerung noch der Aufftand im Rande
und ber Feind von Außen Fam, alfo unter Umftänden, bei denen die Selbft-
erhaltung zu den außerorbentliditen Maßregeln zwingt; aber daß biefe
Vorſichts maßtregeln mehr ober Beſſeres leiften, als ber freie Verkehr, daß fie
ber Theuerung abhelfen, bafür werben Beweiſe ſchwerer aufzutreiben fein als
vom Gegentbeile. In Kurheſſen 3.8. wurde der Ankauf von Kartoffeln
nur zum eigenen Verbrauche gefkattet, zum Branntweinbrennen verboten,
Mas das Grffere betrifft , fo wäre #8 ungleich mohlthätiger, wenn Jedem ber
Ankauf des eigenen Bebarfs möglich gemacht, als nur geftattet würde; foldye
Norfchriften erwecken Beforgniffe, die ben Wohlhabenden veranlaffen, ſchnell
nach dem Jahresbedarf zu greifen und dadurch ben Aermeren die Anſchaffung
ſelbft für kuͤrzere Zeit zu erſchweren. Das Verbot des, Branntweinbrennens
ſcheint mebr für fich zu „habenz allein abgeſehen davon, daß hohe Preiſe an
und für ſich ſchon das Brennen befchränken, wird ein unbebingtes Verbot
Fruchtſperre. 361
nachtheilig für den Vichfland, indem auf größeren Gütern das Brennen
häufig mehr um ber Maftung als um des Branntweins willen betrieben wird.
2) Die Maßregeln zur Leitung des äußern Verkehrs be
ftehen In Ermäßigung oder Aufhebung der Eingangszölle und Erfehwerung
oder Verbot der Ausfuhr. Das Zollſyſtem, wonach mit dem Steigen der
Getreidepreiſe auch ber Zoll auf die Ausfuhr fleigt, auf die Einfuhr abnimmt,
befteht noch in Frankreich ; England ift davon ab: und zu einem feften Zollſatz
übergegangen, welcher dem Handel regelmäßige Unternehmungen geftattet und
ihn von den Wechfelfällen der fleigenden und fallenden Zollfäge unabhängig
macht. Ob nun gleich der fefte Eingangszoll dermalen höher iſt, als es bei den
gegenwärtigen Preifen der frühere wanbelbare fein würde, fo beweifen boch bie
ungewoͤhnlich flarten Zufuhren, daß der Handel eine feſte Grundlage feiner
Berechnungen dem Schwanken vorzieht. Wehrigens wird die zollfreie
Einfuhr lebhaft begehrt, allein die Regierung hat fie bis jegt nicht zugeflans
den; das naͤchſte Parlament wird darüber entfcheiden. Frankreich bat
den Eingangszoli auf Weizenmehl von 14 Fr. 80 ©. für 100 Kilogramm
auf 2 Franken und von den übrigen Mehlforten nad) Verhaͤltniß herunter
geſetzt. Die Zollvereinsftaaten, deren Tarif die Getreideeinfuhr nur gering
befteuert (mit 3 Thaler oder 175 Zr. den Centner), haben [yon im Jahre
1845 größtentheild die Einfuhr frei gegeben und den Termin bis Ende Sep:
tember 1847 verlängert. Ebenfo Belgien; Holland begünftigt außerdem
die Zufuhr von Reis aus den Colonieen na dem Mutterlande. Die Auf
hebung des Eingangszolls iſt eine wohlthätige, ben Verkehr begüinftigende
Maßregel und es ift zu erwarten, daß auch der Zoll auf Reis, wo nicht ganz
aufgehoben, doc, wenigftens namhaft ermäßigt werden wird; in Baden
wird überdies die unentgeltliche Lagerung von Vorräthen auf drarifchen
Speichern geftattet. — Anfang October murde in der balsrifhen Rheins
pfalz die Ausfuhr von Getreide und Hülfenfrüchten, Mehl und Mühlen:
fabrikaten mit einem Zoll von 25% des MWerthes belegt und nad) den dama⸗
ligen Preifen wurben die Zolffäge beffimmt. Unterm 17. October wurbe die
Maßregel auf den ganzen Umfang bes Königreichs ausgedehnt und 8 Lage
fpäter ſchloſſen fih Wuͤrtemberg und Baden berfelben an. An der Rheins
grenze gerieth der lebhafte Zwifchenhanbel in's Stoden. Bebeutende Vor⸗
räthe, aus Holland zu Eingang, aber mit ber Beftimmung nad) Frankreich
und der Schweiz, nad) ben Handelsplägen am Rhein bezogen, follten den
Ausgangszoll bezahlen, ebenfo Getreide aus Vereinsflaaten, Preußen
und Heflen, welche fic der Beſchraͤnkung nicht angefchloffen hatten. Ein
Theil Diefer Bezüge, von benen nachzuweiſen war, daß fie vor Verfündung der
Maßregel angelauft waren, wurde frei nach Straßburg entlaffen ; bie ſpaͤte⸗
ren Bezüge aus Holland famen als Tranfitgut, welches, ftärker begehrt, im
Preiſe flieg; auch Preußen verlangte, daß Getreide, mit Urfprungszeugniffen
aus feinem Gebiete, frei durchgehe; Heffen ſchloß fich der Erſchwerung ber
Ausfuhr an. Die Schweiz, deren nördlicher und oͤſtlicher Theil ſich auf den
Märkten am Bodenfee mit den Vorräthen des getreidereichen Schwaben,
Baiern und Baden zu verfehen pflegt, marb empfindlich getroffen. Sie
Eaufte zwar, ungeachtet bes Ausgangszolls, was fie nicht entbehren konnte,
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Bu wenn die erwarteten Früchte ausbleiben, und es behalten Di Ilm
Recht, welche die Beſchraͤnkung des Verkehrs nicht für ein —— Mit⸗
tel halten, ber Theuerung zu begegnen. K. Mathy.
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Bagern, 9. Ch. Ev. (6.212 3. 3. v. o. Es iſt begreif⸗
lid — zurü ckgeben zu ftreihen, dann nach geführt werde fo fort⸗
zufahren): Im naͤmlichen Jahre 1835 ſtellte er einen Antrag: „bie Staates
regierung zu erfuchen, den Ständen uͤber die Bunbesbefchlüffe, die das Ver:
bot des Wanderns in die Schweiz ober auch nach anderen Gegenden betreffen,
genuͤgende Auskunft zu geben”; -— und weiter einen Antrag: „bie Staats:
tegierung zur Einleitung zu bewegen, damit von Seiten des beutfchen Bun
bes die behufigen Schritte gefhehen, daß der bürgerliche Krieg in Spanien
menſchlicher und dem Wölkerrechte gemäßer geführt werde.” Im Nor. 1838
fprad er gelegentlich der Berathung über die Adteſſe auf die Thronrede miß-
billigend über die immer noch, wenn auch weniger fireng , gegen die deut»
ſchen Handmerksgefelfen, welche nach der Schweiz wandern tollen, getroffe:
nen polizeilichen Maßregeln, fo wie rühmend über bie nicht lange vorher „in
Gagern, H. Ch. E. v. | 363
einem andern großen Rande’ (dem öfterreich. Italien) verkuͤndigte Amneſtie,
zum Zweck der Nachahmung im Großberzogthume Heſſen. „Wo auch der
Smpuls mag hergekommen fein, bie Amneflie war vollftänbig und die Ver-
geben, die Tendenz dort keineswegs geringer, das Zrachten ungefähr daffelbe.
Daß dort mehr Ariftokraten Antheil nahmen, neigt die Wagſchale zu Bun:
flen dee Deutfchen. Iſt man in ſolchen Dingen ftrafbar, fo find es die
Ariftofraten um fo mehr. Bei und waren «8 mehr Zünglinge mit falfchen
Anfichten. Diele find Tchon Über weite Waffer geführt worden, — nad
Amerika. Diefe Entfernung der Unzufriedenen ift unter allen conſerva⸗
tiven Maßregeln die befte und ſtaͤrkſte. Hätten doch viele jener Claſſe damit
angefangen. Es ift keine Entſchuldigung, aber bare Lage der Dinge, daß
dem Deutfchen zur Anftellung, zum Sortlommen und Abenteuer — kein
eigenes Amerika oder Auftralien, Bein Indien oder Nordafrika zu Gebote ſteht.
Meine beiligften Pflichten gebieten mir alfo , zu fagen: — es ift den Maͤchtig⸗
fen ſelbſt, «6 ift allen Fuͤrſten, es ift dem Bunde und allen Begriffen vom
Bundesſyſtem nachtheilig, es trübt und entfremdst die Gefinnungen, wenn
dieſem Mailaͤndiſchen Vorgange nicht in Deutfchland, je eher, je beffer, ges
folgt wird. In Italien hat nicht der Poͤbel, fondern die Maffe der Nation
gejubelt und dem Derifcherpaar gedankt.” Auf demſelben Landtage ftellte
er Anträge auf gänzliche Abänderung ber eidlichen Formel der den Juͤnglingen
eingehändigten Univerfitätsmatrikel zu Gießen und, durch Vermittelung ber
Staatsreglerung, zu Göttingen und überall, wo fonft wo Aehnliches vor⸗
kommt, ſodann an die Staateregierung zu gefinnen, baß von Seiten bes
Großherzogthums, jedoch mit ausbrüdlicher Erwähnung der Landftänbe,
dem Könige von Baiern für die Fraftvolle Führung der Donau⸗Main⸗Ver⸗
bindung Dank dargebracht werdeu.f.w. Im Dec. 1841, beim abermaligen
Zuſammentritt des Landtags, hielt Hr. v. ©. gelegentlich der Berathung ber
Adreſſe auf die Thronrede abermals einen längeren Vortrag, worin er, verans
Laßt durch eine Stelle jener Rede von beutfcher ‚Nationalität und Zufammen:
haltung”, fragte: „Was iſt und wo iſt diefe Nationalität und wie wird fie
geäußert und bewahrt? Fuͤrwahr, fie muß noch anderwaͤrts anzutreffen
fein als in den engen Kammern ber vifiticenden Recrutirungscommiffionen,
anberwärts als in dem Gabinet der Behörden, die die Patente für Offiziere
und Cadetten ausfertigen, oder in den Budgets, die unfere Belbhilfe und
Steuern anfpredien. Nationalität beftcht in befriebigendem und feftem
Staatsrecht, im richtigen und ſtarken Gefühl des Zufammengehörens, in
ber gereihten Dand, in der Verbrüderung der Völkerfchaften, im bewahr⸗
ten häuslichen und Kicchenfrieden, im der rechten Würdigung von Ehre,
Wahrheit, Wort und Freiheit, in der Entwidelung ber Induſtrie, in Ihrer
Beförderung durch Verträge, durch Wege und Bahnen — in der gebotes
nen Entfaltung auch auf den Waſſern und Meeresflaͤchen — und wenn,
bei der fo hoch geftiegenen Bevoͤlkerung, dus Schickſal fo will, auch in ber bes
förderten, begünftigten, überwachten Unterkunft in der Ferne.” Noch in
ber neuen Beit, als am 7.Nov. 1846 die erſte Kammer nad längerer
Pauſe zufammentrat, ſprach er von ben bevorjtehenden Gefeugebungsarbeiten
im Großherzogthume Heffen. „Ich bekenne wiederholt”, fagte er dabei,
gezogen hi wenn eine Verſammlung ber
ber Staatgmä —— deutſchen Laͤnder ein
allgemeines Geſehbuch in Auftrag —— hätte. Da dies aber ausblieb, ja
' ein Verſuch angedeutet wurde, fo erfcheint unfere Staatsregierung im aller
vl erechtfert! fi in ihrem Berufe, im ihrer Pflicht, wenn fie früher
fehreitet, Hatte fle noch gezaubdert, oder follte diefer
—— —* 8 kiss ich mich nicht geämen.” In Bezug auf das
— Recht, was in Rheinheſſen gilt und man dort zu behalten wuͤnſcht,
er. ſich dann mehr vermittelnd, nach beiden Seiten hin berichtigend.
Don Anträgen ftellte er aber im December 1846 einen über die Aus wan⸗
detung über —— ihre hohe Wichtigkeit und nationale Bervandtnig, einen
zweiten über die Auswanderung eimer Anzahl Einwohner aus Großzinmmern,
einen dritten auf ben Ständen von der ferung zu machende‘ Bi
as und Vorlagen u. ſ. w. Nicht ſowohl Antrag als Antegung war
der Wunſch etwas vergrößerter Deffentlichkeit der Sigungen der erften Kam⸗
mer, welcher denn auch In fo weit bereits Frucht trug, daß die Summarien
ihrer Verhandlungen nun auch immer in ber Großh. Heſſ. Zeitung zur
Anzeige lommen. (Morher wurden fie bloß als Protocolte gebrudt.) _
ſcha a * * 8 eg ei N Hefkmmnten Knfit ak
arf ausgeprägten Inbivibualität und en Anſichten fo
vorgeruͤcktem Pebensalter. bie neueren Erfahrtingen Deutfchlande in ya
ber Preffe nicht den vollen wuͤnſchenswerthen Eindrud auf Heron v. G
chen konnte; im Gegentheil, noch am 10. Dec. 1841 berührte er ungün
„Die Compofition unferer Literatoren, ihre Mannichfaltigkeit. A
Ideologie, ihre deutſche Derbheit, bie gar leicht in Anderes ausſchlaͤgt“, aber
babei bemerkte er doch, daß bei Weiten die große Majorität erweiterte, beffer
regulirte Mreßfreiheit mit Ungebuld erwarte, daß bitter die Beſchraͤnkungen
des Druds ſtaͤndiſcher Verhandlungen in öffentlichen Blättern empfunden
würden u. f. iv.
(Zu S. 214 3.6.) Mod; bis im die neuefte Zeit war Hr. v. ©. ſchrift⸗
ſtelleriſch ehätig.. So gab er im Jahre 1840 feine „Kritik des Völkerrechts,
mit praßtifcher Anwendung auf unfte Zeit‘ (Reipzig, 5. A. Brodhaus) her
aus und feine neuefte Schrift ift eine „Zweite Anfprache an bie beutfche Na⸗
tion über bie kirchlichen Wirren, ihre Ermäßigung und möglichen Ausgang,
Leipzig, 5. A. Brodhaus, 1846. Bei dem Zwieſpalt zwifchen Liberalismus
und Ariflofratismus und bei der diplomatifchen Art anzudeuten und zu fpres
hen, hat Hr. v. Gagern fich nicht populär machen noch eine Parteibedeus
tung ſich verfchaffen koͤnnen. Häufig geht es ihm meift wie einer Caffans
dra; feine Standesgenofjen glauben ihm nicht oder wollen ihn doch nicht
hören. Einen Glanzpunkt in feinen Reden bildete bie, melche er am 19.
März 1839 in ber erſten Kammer in Darmftadt über die hannoverfchen
Verhältniffe hielt. (Landft. Verh. der erften Kammer der Kandftinde des
Großherzogthums Heffen in den Jahren 1838 und 1839, Protocolle, 1. Bb.
&.219 — ©. 231). Zumeilen fpricht er auch wunderlich. Einen ber leb⸗
hafteften Angriffe hatte er in der legten Zeit von feinem Altersgenoſſen Arndt
‚wegen feiner Lobſpruͤche auf Talleyrand zu erfahren. 8.
Sagen, H. W. A v. 865
Gagern, Heinrich Wilhelm Auguft, Freiherr v., der Sohn des Vorftes
benden *), geb. am 20. Aug. 1799, war für die militdrifche Laufbahn beftimmt,
von 1812 bis 1814 in der Mititärfchule zu Münden; kam zurüd nad)
dem erften Parifer Frieden, um für den Civildienft fich auszubilden. Seine
Familie wohnte damals noch in Weilburg im Naffauifchen. Dier nahm er
alfo 1815, bei der Wiedererfcheinung Napoleon’s, Dienflund wurde mit
Ruͤckſicht auf feine militärifche Ausbildung Offizier. Bei Waterloo wurde
er leicht bleffirt. Nach beendigtem Feldzuge kehrte v. ©. zu feinen Studien
zurüd und ſtudirte von 1816 an zu Heidelberg, Göttingen und Jena. In
Heidelberg war er Mitſtifter der Burfchenfchaft ; in Goͤttingen gehörte er zu
Denen, welche fruchtlos Aehnliches verfuchten. Nach Jena ging v. ©. in
die Schweiz, wo er 1819 und 1820 fortftudirte. Während feine Brüber theils
in hollaͤndiſchem oder baleriſchem Krieges, theil6 in naſſauiſchem Civildienſte
Anftellung fuchten und erhielten, wandte fi v. ©. zum Großherzogthum
Heſſen, zu dem er durch feines Vaters Befigungen in Rheinheflen im Unters
thanenverbande fand. 1820 madıte er zu Gießen fein Eramen und wurde
Acceffift, 1821 Landgerichtsaffefior ; als folcher erfolgte 1823 feine Berufung .
zur Aushälfe inn Geheimen Staatsfecretariate bed Miniſteriums des Innern
und der Juſtiz unter v. Grolmann, 1824 wurde er Regierungsafleffor und
1829 wirklicher Regierungsrath.
3u ©. 2193. 2 v. 0. und bie — haben zu flreichen und Folgendes zu
leſen: v. ©. mußte in Rheinhefien erſt heimifch werden und fich heimiſch
machen, ehe er Die Weberzeugungen feiner Jugend und feines männlichen Als
ters gegen die Reaction von Neuem in thatkräftigen Kampf führen konnte.
Die ihm von feinen neuen Landsleuten gewordenen Auszeichnungen beweis
fen, daß jene Vorausſetzungen eingetreten find, und jein neueftes, ih bie
Deffentlichkeit hervortretendes Verhalten, daß er geneigt Ift, in Gemäß deſſen
zu handeln. Ende October 1846 präfidicte er in Alzev einer Berfammlung,
welche bafelbft zufammengetreten war, um diejenigen Maßregeln zu berathen,
welche zur Aufrechthaltung der beftehenden Geſetzgebung Rheinheſſens und
gegen bie Einführung eines neuen Civilgefegbuches zu ergreifen feien. Im
Darmftadt. wurde das fehr übel vermerkt, und es gingeh Gerüchte, daß man
ihn feines Poftens als Präfident des Iandwirtbfchaftlichen Vereins entheben
wollte. Indeſſen hatte er in diefer Beziehung durchaus das Nöthige gewahrt
und fo konnte die Maßregel felbft nicht ergriffen werden. — Durch feinen
Aufenthalt auf dem Lande und feine neu eingegangenen Familienverhaͤitniſſe
iſt v. G. dem Volke viel näher geruͤckt, als er früher war, — Etwas, was
nothwendig wohl auch auf feine politiſchen Gefinnungen, und wenn ich fo
fagen darf, auf feine guse Meinung vom Volke eingewirkt hat. Anläfie
dazu, dies noch entfchiedener Öffentlich zu zeigen, werben hoffentlich nicht ſehr
entfernte Zeiten darthun. Im Laufe des Jahres 1847 finden neue Land»
sagswahlen im Großherzogthume Heffen flatt, und v. G., der ſchon vor
drei Jahren bei flattgefundenen Partial: Wahlen Iandtagsfähig war, ift es
*) &. 215 3.13 v. o. flatt: geb. um 1797 — Lorſch Kolgenbes gu
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fie Hör eine ganz ge und mürtsnale Kirhenverfaffung im freien
rn ante hat. Insbeſondere zeigten dieſes auch die ſtelgenden
Anmafithigen der fatholifchen Geifttichkeit in Preußen, two fie 5.8. in Weſt⸗
phalen zn Dank für die Eöniglihhen Verzichte auf michtige Staats« und
Hoheitscechte über die Kirche auch die Ernennung ber Volkoſchullehter, alſo
die völlige Hertſchaft liber die ganze Volksetſtehung in Aniprudy nimmt,
Und mo die päpftlichen Beftätigumgen für Geiftliche, die ber Landesregierung
ergeben find, eben fo wie Heulith dem in Mürtemberg erwdhlten Bifchof
verweigert —2* In ber katholiſchen Kirche, deren auswaͤttiges Haupt
ohne 3 nach altfatboltfihen Srundfägen bie Raten zuziehende
nationale Synoden undermeldlich abfolnter Herrfcher Über die Kirche zu wer⸗
ben ſucht, iſt diefes an ſich ganz natürlich. Es iſt natürlich, daß ein fol:
ches Kirdjenhaupt duch polltiſch die Völker zu beberrfcyen ſtrebt Diefe
Kirche hat aber große ihe vom Staate biftorifch zugeftandene Begünfligungen
und Einflüffe, fo 3.8. in Beziehung auf die Ehe und die Familienverhält:
fiffe, auf den Unterricht und die Volfazuflände,- auf Vermoͤgensrechte Im
der todten Hand der Kirchengewalt u. ſ. w. Wäre 8 denn nun nicht thoͤ⸗
echt, ja gewiſſen los von der Stantögemwalt, diefe Kirdye nur als jeber am:
dern Gerttfcaft ober Affociation gleichitehend zu betrachten, ihr alle Ihre
vortheilhaften hiſt ori ſchen Berhältniffe vollftändig zu belaſſen, die noth⸗
wendigen ebenfalls Hiftorifchen Gegengewichte aber, jene gleichalten
oder Älteren kirchlichen Hoheitsrechte und die verfaffungsmäßigen Buͤrg⸗
3
Mn. ! J
Balticanifche Kirche 67
(haften gegen verberbliche Mißbraͤuche ganz aufzugeben? Dieſes todre bei
einer inneren Kirchengewalt verkehrt. Es wäre gewiſſenlos bei der Gewalt
einer auswärtigen, einer unnattonalen kirchlichen Derrfchergewalt und geiſt⸗
lichen Bafallenfchaft. Der Natur der Sache nach, und wie die Geſchichte
beweiſt, muß ja diefes nicht blos eine auswärtige Oberherrfchaft über den
Staat, über feine katholiſche Bevölkerung erzeugen, fondern auch eine unters
druͤckende und feindfelige Stellung berfelben gegen die Regierung und ihre
nicht Eatholifchen Bürger. Wird aber vollends das: ganze Mißverhaͤltniß
zu jener teaurigen Allianz des geiftlichen und weltlichen Ariſtokratismus und
Abſolutismus gegen bie Volksfreiheit benutzt, fo iſt das boppelt verderblich,
mindeſtens ebenſo verderblich, als wenn, fo wie in unſern Tagen fo vielfach,
ein proteſtantiſches ſogenanntes Oberbiſchofsrecht ohne das Gegengewicht
einer wahthaft freien Kirchenverfaſſung auf gleiche Weiſe für ben Despo⸗
tisemus des Poltzeiregiments, für kirchlichen und politifhen Obſcurantis⸗
mus mißbraucht wird. Aufmerkſamen Beobachtern konnte der neulich th
Baden von den hoͤchſten Kirchenbehoͤrden und ben Seftten Ftankteichs, der
Schweiz und Belgiens, im Berette mit franzoͤſiſchen und Polizeleinſtuͤfſen,
erregte fanatifche Vetitionsſturm gegen bie liberale Verfaſſung und Volkskam⸗
mer und gegen das urkundliche Verfaſſungsrecht ber Glaubensfreiheit eben⸗
fo viel zu denken geben als der von der Clerifei und Ariflofratie gefßcberte
Wallfahrtsſturmm nach dem Trierer Rod und als andererfeits die preußiſche
Verfolgung der freien Richtungen in der Proteftantifchen kirchlichen Entwicke⸗
ung. Ger natuͤrlich aber erweckten dieſe unzeitgemäßen, unflugen Beftre:
Büngen gegen die geiftige und bürgerliche Freiheit kraͤftige Gegenwirkungen,
zunaͤchſt die der deutſchkatholiſchen Kirche und die der Lichifreunde, fo wie
die Berdigungen der freleren Proteltanten in ben bekannten Kämpfen ge
gen Rupp's Ausſchließung und in Rheinbaiern. Ja der Haß gegen bie ob»
ſcutantiſtiſche Neaction, weiche dem nationalen faft inſtinctmaͤßig gewordenen
Bedürfniß feeier politiſcher Eutwoickelung entgegentrat unb weiche bie daͤ⸗
moniſchen, unkirchlichen und illegftimen“ Richtungen vft fo’
ſchaͤtechaft dekaͤnpfte, rief nicht blos dieſe feldſt, ſonbern auch wir the
ſtiſche und revolutiondre Geſtnnungen und Beftrebungen hervor. Troß ailes
Cenſur⸗ und Polhzeldruckes, ja durch denſelben vertarhtt, griffen dieſeiben jeät
im Dunkel immer voriter und welter fm deutſchen Volke um ſich und zer⸗
nagen wie ein freſſenbes Gift dble Bande ber gegenwaͤrtig beſtehenden Orb»
nung der Dinge. Doch über dieſe Verhaͤltniſſe werden die Artikel Ka»
tholiſche Kiche, deutſche, und Kirchliche und religiöfe Ber
wegungen ber neusten Zeit ausführlicher binden. N
In Frankreich aber hat geſetzlich das Rechtsſyſtem der galli⸗
canſſchen kirchlichen Freiheit, role es jene beruͤhmten Artikel und hre dem
Staate guͤnſtige Erweiterung in den Geſetzen der Revolutionszeit und des
Kalſerreiches feſtſetzen, keine Aenderung erfahren, denn die im Sinne ber
Reaction unter der Reftauration 1817 verfuchten Aenderungen durch neue
Goncordate und Gefege fcheiterten an dem Widerfpruche ber Kammern und
der Öffentlichen Meinung, und die in ber Reſtaurationszeit und neuerlich) von _
ulteamontanen Bifhöfen und Parteihduptern unter Witwirkung
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hen. Auf ud, a #ge, wurden unter der Meflauration auf die energifchen
muthvollen Anzegungen und Petitionen von Montlo fie ier 1828 den es
ſulten der Unterricht entzogen und im Jahre 1845 auf eine Interpellation
von Thlers die Jefuitencongregationen aus Frankreich verbannt und. alle
ihre Berfammlungs und Novizbäufer geſchloſſen. Nur wählte hier bie Ne:
gierung,flatt ber Staatsrathsentiheibung und ber koͤniglichen Ordannanz
frlalich Unterhanblung.. Der Papft.und der Jeſultengeneral wirkten auch
den energiſchen Erflärungen der Öffentlichen Meinung und der Kımmer,
mit denen man lieber unterhandeln als Krieg führen wollte, ganz friedlich mit
dem König zuſammen, Dagegen blisben bie einzelnen Jeſuiten unangefochten
in Frankreich, und alle andern geiftlichen Orden und Kloͤſter tolerirte man fer⸗
nerbin 1 Tilfcpmeigenb, So hatten gleichzeitig bie durch den Uebermuth ber
Jeſulten berbeigeführten „beftigen Streitigkeiten eines großen Theiles ber
Ben Eid Bifchöfe und Geiftlihen gegen bie franzöfifche Univerfität, gegen
ihre Auffichts: und Einwirkungsrechte in Beziehung auf ben Unterricht und
gegen die der taligiöfen und klechlichen Freiheit buldigenden Lehrer den hef⸗
tigften Streit und Standal erregt, Im dieſem griff die ultramontane Geiſt⸗
Au Ken nen |
e) Die hierher gehörigen Geſete und ihre Auelegung enthalten vollftäns
dig . —* der ——— en ge vom 2. und 3. Mai
2885 Kber die Jeſ
Sallicanifche Kirche 369
lichkelt das ganze grumbgefegliche Syſtem ber gallicanifchen Kirche an und
bewirkte vom Papfte eine Bannbulle gegen das franzöfifche Kirchen:
recht von Dupin, meldes bie Urkunden und die Vertheidigung der galli-
caniſchen Freiheiten enthält, aber ſchon während der Neftauration, und da-
mals unangefochten erfchienen war. Der Erzbifhof von Lyon (v. Bo-
nald) verkündete in einem Hirtenbriefe die Verdammung und leugnete
hierbei zugleich revolutionait die ganzen verfaffungsmäßigen Grundlagen des
feanzöftfchen Kirchenrechts, die gallicanifchen Artikel, das Concordat von
1801, das königliche Recht des Placetums , bie Berufung wegen Mißbrauch
u. f.w. Auf erhobene Beſchwerden caflirte der Staatsrath dieſen kirchlichen
Erlaß als Mißbrauch und Attentat.
Trotzig und verachtend den mit Eöniglicher Ordonnanz und Unterfchrift
publicirten Staatsrathsbeſchluß erklärten 60 franzoͤſiſche Bifchöfe ihre völlige
Zuflimmung zu dem verurtheilten Dirtenbriefe des Erzbiſchofs von Eyon.
Der König hielt es nicht nöthig, diefen Skandal officiell zu ruͤgen. Er duls
bete ihn des Friedens wegen. Er betrachtete biefe Erklärungen gleichfam ale
Drivatmeinung gegen bie gallicanifchen Kicchenfreiheiten, welche ſtets von einer
größeren ober Eleineren Partei der franzoͤſiſchen Geiftlichen mißbilligt wur⸗
den. Nur wirkten diefe trogigen Gehäffigkeiten gegen die gefeglichen Ge⸗
walten wefentlich mit zu dem Sturm ber öffentlichen Meinung gegen die Je⸗
fuiten, welchen man diefe fanatiſche Aufregung zufchrieb, fowie zu deren
Verbannung. Diefes beweiſen die fehr intereffanten Verhandlungen über
bie Sefuitenfache, die am 2. und 3. Mai 1845 In der franzöfifhen Depu⸗
tirten⸗ Kammer flattfonden. In denfelben zeichneten vorzüglich Thiers,
Dupin und Ddilon Barrot in ihren Reben für bie Ausmelfung und
Berryerund Lamartine in ihren Gegmreden fid) aus. Uebrigens wa⸗
ren alle biefe Redner nicht frei von einfeitigen Auffaffungen des rechten Bere
hältmifjes von Staat und Kirche und bes wahren Wefens ber verfaſſungs⸗
mäßigen Religionsfreiheit. Auch wird kein Surift Berryer’s Ausle:
gung der gefeglihen Verbote der Congregationen billigen koͤnnen,
daß durch fie nur der öffentliche corporative Charakter ihrer Gemeinfchaften
und die damit verbundenen Smmunitäten und Privilegien, nicht aber ihr
freies Beiſammenſein ale Individuen ausgefchloffen fein ſolle. Diefe Auss
legung zerftört den Wortfinn und die Abficht der Gefege, vollends die des Art.
291 über das Verbot der Affociationen. Aber leugnen läßt fich nicht, daß
allerdings in dem Verbote, fomeit es die natürliche Affociation und nicht
6108 die Verſagung öffentlicher Rechte betrifft, eine wahre Beſchraͤnkung der
Freiheit und auch der religiöfen und Picchlichen Freiheit und eine Verlegung
ihrer unbefchräntten Zuficherung in der Charte*) begründet wird. Und man
wird auch nicht mit Thiers zur Befeitigung diefer Schwierigkeit und vol⸗
lends zur Mechtfertigung ber Unterdruͤckung ber neufranzöfifch-Batholifchen
Kirche des Abbe Chatel Tagen Linmen, bie Sreiheitszuficherungen ber
Charte ließen natürlich und mit Recht alle ihnen widerfprechenden älteren
*) Chacun professe sa religion avec une &gale libert€ et obtient pour
son culte la même protection.
Suppl. 3. Staatöler. IL. 24
870
Befese in ihrer vollen
| — —— — warn
auch hier darin, daß, wenn
Oberhaupte und
waͤrtigen die Rede iſt, hier der ausm afluß
Staatsgefaht erzeugen ne 1 ng ee rei Im
wahrhaft — — bie. hrofchaf
| | Regierung fieht nach ihrem
fofteme diefe Einrichtung freilich gem. Sie Fann fo beliebig geheime und
öffentliche Gunft ausüben gegen bie Kirche oder ihre Haͤupter, zugleich auch
fie ihre Macht fühlen laffen, da fie ja auch ohne die Mitwirkung der Kam:
mer jeden Augenblid zur Vollziehung der Geſetze gegen die nicht gefeglich
autorifirten Orden und Klöfter einfchreiten barf, wie fie denn auch früher
wiederholt einzelne beſtimmte Kloͤſter ſchloß. Dagrgen ift es wohl nur eine
ber vielen Schwächen der Oppofition, daß fie in ber eigenen Dulbung dies
fer gefegwidrigen Vereine dem Princip der unterdrüdten Affociationgfreiheit
zu huldigen gedenkt. In bdiefer irrigen dee tabelten auch mehrere
Deputirten ber linken: Seite jene angeführte Aeußerung Odilon Bar:
rot's durd den Zwiſchenruf „wo bleibt da die Freiheit!’ ftimmten aber
doch mit für die Aufforderung an die Regierung, die Jeſuiten zu vertreiben.
Jene Ungleichheit, jene der Regierung geſtattete geſetzwidrige und gefähr:
lihe Willkür und die große Anhaufung der Klöfter in Frankreich find kein
Gewinn für die geſetzliche Freiheit. Und daß bie Regierung die gemöhnlichen
Affoeistionen einfeitig erlauben, die geiftlichen fogar gegen die Gefege, nach:
bem biefelben gefesmwidrig, ja verbrecherifch ſich einfchlichen , ohne bie bier
gefeglich nöthige Kammerzuſtimmung willkuͤrlich dulden oder unterbrüden
kann, diefes ift feine wirkliche, ift Eeine heilfame Freiheit.
Alte diefe Mängel ſchließen ſich als Folgen an den Hauptfehler an, daß
bie katholiſche Kicche in Frankrelch feine auf den altfatholifchen Grund:
fäsen, auf der Mitwicfung der geiftlichen und weltlichen Mitglieder aller Firch:
fichen Vereine beruhende, organiſch durchgreifenbe, freie natlonale MOON
AZ a en
Gallicaniſche Kirche. 671
Mepräfentativverfaffung befigt, ja daß feit 1682 auch die früheren unvoll-
kommenen frangöfifchen Generalſynoden eben fo ruhen, role feit dem Triden⸗
tinum bie allgemeinen Concilien der ganzen katholiſchen Kirche, daß mits
bin alle hoͤchſte Kirchenregierung dem auswärtigen päpftlichen Oberhaupte
und feinen Vaſallen anheimfällt, wie denn jene 60 Biſchoͤfe neuerlich thats
ſaͤchlich und wirklich ausfprachen, daß fie, trog ber Haren entgegenflehenden
Grundgefege, im Collifionsfalle nicht dem König, fondern dem Papft ge⸗
borhen würden .
Außer den oben gefchilberten ungenügenden, unvolllommmen, aber freilich
unentbehrlihen Gegengewichten gegen diefe Gefahren, befigt in Frankreich
bie weltliche Staatsgemwalt insbefondere noch das ebenfalls unorganifche und
für die kirchliche und bürgerliche Freiheit gefährliche Recht, daß der König
ohne alle Mitwirkung der Kammern alle Bifchdfe und Erzbiſchoͤfe ernennt
und auch auf die Ertheilung der Gardinalewürde an franzöfifche Bifchöfe
Einfluß befigt. Diefes für die Seibftftändigkeit der Kirche fo hoͤchſt gefaͤhr⸗
liche Recht, welches Despoten wie LudwigXIV.u Napoleon zum Verder⸗
ben der kirchlichen und meltlichen Freiheit zugleich benugen, wird denn
ebenfalls unorganiſch wieder babucch zu Gunſten ber kirchlichen Monarchie
und Ariftofratie aufgewogen, daß, abweichend von der altkatholifchen wie von
ber öfterreichifchen katholiſchen Kirchenverfaſſung, die Biſchoͤfe die unteren
Beiftiichen beliebig ernennen und fie auch abfegen Finnen, und daß fie die
ganze Bildung und Vorbildung der Geiſtlichen beflimmen und beberrfchen.
Mit diefer despotifchen Gewalt und geflügt auf den ausländifchen Kirchen»
fürften nnd feine Vafallenfchaft, hulbigen fie denn natürlich, fo wie es zus
vor angedeutet wurde, dem Ultramontaniemus und hierarchiſch⸗ theokrati⸗
ſchen Beflrebungen und fegen ſich allermeift in flille oder Öffentliche Oppoſi⸗
tion gegen die Doch grundgefeglichen gallicanifchen Kirchenfreiheiten, gefähr«
den ſchwache Regierungen, allliven ſich mit despotifchen gegen bie Berfaffung .
und werden jedenfalls der bürgerlichen Freiheit und Ordnung gefährlich. Am
nachtheiligften aber wirken fie dadurch für Staat und Kirche, daß der Stand
der nisdern Geiftlichen, welcher fich bei feiner vechtlofen Stellung und dem
Coͤlibat nur aus den unterften Claſſen ergänzt, in keinen tüchtigen vom
Staat gepflegten Schulen ſich bildet, in den bifchöflichen Seminarien meift
nur zu willenlofen Werkzeugen der geiftlichen Oberen und der flantsbürgers
lichen Sreiheit feindlich erzogen wird und, großentheild durch Rohheit und
Sittenlofigkeit, ducch unbürgerliche Sefinnung und fanatifhen Obſcurantis⸗
mus oder Pietismus feine große Beflimmung für die fittliche und geiftige
Bildung des Volke preisgiebt.
So zeigen ſich alfo wirklich auch in Frankreich überall die verberbs
lichen Folgen und Schwankungen, bie zumal für ganz oder zum größten Theile
Batholifche Bevoͤlkerungen entfliehen müfien, wenn Staat, Kirche und Schule
nicht mit richtig organificten freien Verfaflungen in der rechten organiſchen
Stellung und Wechſelwirkung zu einander flehen.
Doch die gegenwärtigen religisfen und kirchlichen Verhältniffe bieten
noch andere politifch intereffante Erfcheinungen dar, die zum Theil große po«
litiſche Gefahren begründen.
i 2"
a7 Betkanifge Schr
Das ſchon in dem Maturleben üͤberall hervortretende Gef au
Wirkung und —— — auch in Ya Volkoieben
— Spaltungen * —
Reactlonen auseinander und | |
Religion und ern iwie be Throns und ber Krilofratie. insbefonbere in
der von dem furdhtbaren Hebert (dem Päre Duschesne) eingeführten Ans
betung der fleifchlichen Vernunftgottheiten fehen wir die entfegliche zerſtoͤrende
Reaction gegen geiftliche und meltliche bespotifche Ariftofratie und ihre Allianz
mit bem abfoluten Königthum.
Aber auch diefes Syſtem des revolutionären Atheismus fand ebenfalls
wieder feine Gegenwirkung. Napoleon ftellte bie chriftlide Kirche und
Geiſtlichkeit wieder her, ordnete fie aber feinem Despotismus unter. Der
Papſt in Perfon befeftigte die Krone der legitimen Könige durch bie religtöfe
Weihe der Fatholifchen Kirche auf feinem Haupte. Er trug nad dem Aus:
drucke von Thiers Krone und Rechte bes Haufes Bourbon auf einen fran«
zöfifchen Offizier über. Er erkannte in dem babei vom Kaifer gefhmorenen
und von ihm genehmigten Eid*) und im Concordat die Freiheit der galli»
canifchen Kirche und die aller Culte an. Die franzöfifche Geiftlichkeit ſtellte
nad dem paͤpſtlich gebilligten Katehismus dem Wolfe die abfolute
Gehorfamspflicht gegen ben von Gott eingefesten Imperator, ben geliebten
Sohn der Kirche, unmittelbar neben bie Pflicht gegen Gott felbft. In
der Reftauration aber glaubte der uitramontanismus und die kirchliche Ariſto⸗
*) Der Eid lautete: „Ich ſchwoͤre, die Integritaͤt des Landes der Repu⸗
blik zu erhalten, zu achten und achten zu machen die Geſetze des Concordats und
die Freiheit der Eulte ꝛc.
Sallicanifche Kirche. 878
kratie die Zeit ihrer theokratiſchen Oberherrfchaft wiebergefunden zu haben,
und ba das reſtaurirte legitime Königthum thörichter Weife in neuer Allianz
mit ben treulofen ehemaligen Verbündeten Unterflügung und Schug für
feine Untergrabung ber Volksfreiheit zu finden glaubte, fo zogen bald bie
ganze päpftliche Vaſallenſchaft aller Kiöfter und Orden und an ihrer Spitze
bie Jeſuiten und ihre Miſſionen verfafjungstwibrig in das Land, und die alten
Anmaßungen Eehrten zuruͤck.
Doc) gerade dieſe geiftliche Dberherrfchaft erweckte gegen fich und das
mit ihe Verbündete reftauricte Koͤnigthum aufs Neue die ftärkfte Reaction.
VBoltaire’s Schriften wurben jegt in fünf Jahren mehr gedruckt als früs
ber in funfzig, und das Syſtem und ber darauf geflügte Thron flärzten
abermals durch den fehredenerregenden Zorn ber empörten Nation furchts
bar zufammen. Die gewaltfame Zerftörung ber Kirche in Paris durch einen
empörten Volkshaufen, al6 man in ihr bas Andenken ber verjagten Dynaſtie
feiern wollte, die Zerſtoͤrung auch bes Palaſtes bes freiheitfeindlichen Erz⸗
bifchofs von Paris, feine Verjagung — dieſe mahnten die Geiſtlichkeit, das
Schickſal der geftürzten Dynaftie mahnte ben neuen frei von der Nation
erwählten König, treu der freien Verfuffung von dem Streben nad) Unters
beüdung der Glaubens⸗ und Religionsfreiheit, von dem Streben nach Hers
ſtellung ariftoßratifcher geiftlicher Herrſchaft und ihrer Allianz mit bem
Koͤnigthum abzuftehen und ſelbſt den Schein derſelben forgfältig
zu meiden. |
Und in ber That diefen Schein vermieden längere Zeit beide. Doch
bie kirchliche Ariſtokratie und ultramontane Partei vermehrte unter Louis
Philipp im Stillen täglich ihre Vaſallenſchaft der geiftlichen Orben, der Kids
fee und Gongregationen , fuchte in jeder Weife, fo wie es nachher dargeſtellt
werben wird, die Sympathieen des Volks zu getoinnen, und jest auch unter
dem Schein der Volksfreiheit ihre Herrfchaft zu begründen. Immermehe
aber und zulegt bei dem jefuitifchen Bemühen, unter dem Titel ber Sreihelt
des Unterrichts ſich alles Volksunterrichts zu bemächtigen, fo mie in dem hefs
tigen Steeitgegen bie Univerfität, gegem freigefinnte Lehrer und Schriftfteller
und gegen bie gallicanifchen Kirchenfreiheiten und ihre Vertheibiger traten fie
Öffentlich genug mit ihren herrfchfüchtigen Planen wieder hervor. Durch die
Ausweifung der Jeſuiten erhielten diefelben jegt vorläufig eine Niederlage.
Der Gruͤnder und Meifter bes Juſtemilieu⸗Syſtems mußte.ficd) kluͤger
zu mäßigen und mindeſtens jenen Schein volltommen zu wahren. Und ges
rade Das, daß jetzt nach langer Zeit einmal die religiäfen
und firhlihen Verhaͤltniſſe und Beftrebungen freimwaren
von bedrädendem Zwang unb von dem häßlichen Schein,
daß fie meltlihen Intereffen feig, heuchleriſch und felbft-
füdhtig dienten, bewirkte, daß an die Stelle der religionss
feindlihen Rihtung, bie ber Aulirevolution vorberging
und noch im Anfang derfelben ſich zeigte, eine neue, eine
hoͤchſt wohlthaͤtige Gegenwirkung, eine außerordentliche
Zunahme ber Religioſität eintrat; ganz ebenſo, wie fruͤher
in Frankreich und heutzutage in Deutfchland, bei ber Be⸗
nutzung berfeligiom gegen die Freiheit und bei dem Reit
gtondzwange ber Freiheitsinftinet der Völker den Melis
gionshaß und den Atheismus bervorrief und als Nothwehr
für die Freiheit erfcheinen lieh. Im Frankreich, feitdem die Negie
rungspolitik die Religion nicht mehr verhaßt und veraͤchtlich macht, feit die
felbe nicht mehr durch Heuchelei, Zwang und den Dienft für die Knechtſchaft
und Verdummung entwürbigt wird, erhielten und erhalten jeßt die Meligion
und bie veligiöfen und kirchlichen Beftrebungen täglich mehr freie Anhänger,
mehr ald in einer langen Vergangenheit; bie Kirchen füllen ſich, die Literatur,
bie Philofophie, bie Gefeufchaft, ber Hof haben, ohne daf Zwang, Intereffe
oder auchnur Mode zu einer Scheinheiligkeit nöthigten, alle frühere At
dung und Geringfchägung gegen die Meligion abgelegt und diefelben mit
Ing Dier Hdfe und theologifepe Piteratur und feibft Die Baht
zeligiöfer Yournale wächft Ja die liberalen und radicalen, Die repu ⸗
biifanifchen, communiftifhen und focialiftifchen Reformbeftrebungen nehmen
geofientheild einen religiöfen Charakter an und ſtuͤhen ihre Syſteme auf reli:
—— (So Frankreich, Nachtrag.) Die pc een
\ 1 Achtung, die vielen. Milffionen werden mit Andacht gehört und,
bad Bedeutendite und Einflußreichite fit, das Band bedeckt fich, abe Bil
Staatsumterflügungen, blos durch —— Privatleiſtungen, taͤglich meht
mit voligiöfen Vereinen, mit religiöfen Leſe⸗ und Buͤcherverbreltungs⸗, Wohl-
ER mit Unterrichts» und Bekehrungsvereinen, Inſtituten, Aka⸗
bemien, Bruͤderſchaften, Congregationen und Kiöftern der verfchledenften
Art. Die 1822 in Lyon geftiftete Gefellfchaft der Verbreitung des Glaubens
J. B. zaͤhlt uͤber 700,000 Mitglieder ; die Gefellfchaft der auswärtigen Mif:
ſionen, welche den europäifchen Laͤndern gemeinfchaftlich ift, erhebt von
hren viertehalb Millionen Beiträgen bei Weiten den größten Theil von fran⸗
zöſiſchen Mitgliedern (mehr als zwei Millionen). Bei den mohlthätigen
Vereinen befchäftigen fich bie vornehmften Damen mit Erhebung und Ber:
tbeilung der Almofen. Einzelne derfelben zählen viele Tauſende von Mitglie:
dern und verbreiten ihre Agenten in ganz Frankreich. So hat der des „heilt:
gen Paul’ allein in Parig gegen brittehalb Taufend Mitglieder und Agenten
in funfjig Provinzialſtaͤdten. Die wohlthätigen Geſellſchaften widmen fich
den. verfchiedenften fittlichen und focialen Zwecken. So giebt es 3. B. einen
Verein zur Verminderung wilder Ehen, oder, wie ber der Frauen zu St.
Michet; zur Aufnahme ungluͤcklicher Mädchen, die fonft dem Lafter anheim⸗
fallen würden, und zug. Befferung der Sefallmen, Vorzuͤglich verbreitet find
bie Brüderfhaften ‚ wie z. B. die „Erzbrüderfchaft zum heiligen Herzen”.
Beſonders machfen auch die.geiftlichen Drden und Congregationen an Zahl
und Ausdehnung, die männlichen wie die weiblichen Kiöfter, mit welchen
großsutheils Erziehungsanftalten verbunden find, wie benn für die Erziehung
auch viele befondere Gongregationmn beftehen, 3. B. die „Brüder der chriſt⸗
lichen Lehre”, welche in ungefähr 300 Schulen 170,000 Zoͤglinge unents>
geltlich unterrichten. Die Frauensongregationen zählen über 10,000 Leh⸗
rerimen, welche über 600,000 Kinder unterrichten. Merkmürbig ift es,
nr
Gallicaniſche Kirche. 875
daß unter den geifllichen Orben gerade die ſtrengſten, namentlich bie der Trap⸗
piften und Karthäufer, vorzugsmweife Anhang finden.
Bei der außerordentlichen Zahl und Ausdehnung biefer religiöfen Ver»
eine ift vorzüglich Zweierlei politifch wichtig.
Das Erfte ift diefes, daß nicht blos die Klöfter und geiftlichen Congre⸗
gationen, ſondern die allermeiften der bezeichneten Vereine mehr oder minder
unter dem Einfluß ber jet fehr ultramontanen Geiftlichkeit ſtehen und alfo
ihren Zwecken dienen; fo 3. B. die Gefellfchaften zur Verbreitung guter Büs
her, für: welche meift bie Geiftlihen befondere eigene Drudersien befigen.
Dos Andere ift das, daß viele diefer Vereine und Congrsgationen
geheime politifche Zwecke verfolgen, namentlich die in Lyon; daß alfo die
öffentlich verbotenen Affociationen geheim und hier im geiftlichen Gewand
fortwirken.
So wie nun durch jenen ulttamontanen Einfluß eine neue freiheitver⸗
Legende Allianz mit dem Koͤnigthum möglidy wäre, fo koͤnnte möglichermeife
auch eine Allianz gegen baffelbe und für die Kreiheit flattfinden. Jene Libes
ralen Elemente koͤnnen entweder fih fpäter emancipiren und allein handeln
oder als Miliz der ultramontanen Partei die Negierung oder die Dynaftie bes
drohen. Gebraucht ja doch die jchlaue ulttamontane Geiftlichkeit in ihren
Hauptorganen, 5. B. in der Gazette de France des fanatifhen Hrn. v. Ges
noude, geradezu die ultrabemofratifchen Grundfäge als Lockſpeiſe zur Ans
werbung unter bie ultramontane Fahne, aͤhnlich wie früher Lamennais
mit dem Strafen Montalembert und mit Lacorbaireindem Avenit
aus Weberzeugung die demokratiſche Freiheit mit der ultramontanen ſelbſt⸗
fländigen Kirche zu allüiren fuchte und jegt gleich fo vielen andern Socialiften
und Communiften ihre Spfteme auf die chriſtlichen Moralgrundfäge, auf die
allgemeine brüderliche Liebe, Freiheit und Gleichheit gründet. Iſt es ja dem
Haupte der geoßen „Exrzbrüderfchaft zum heiligen Herzen”, dem Abbe Des:
genettes, gelungen, fogar die Geſellſchaft der Menſchenrechte und über:
haupt einen großen Theil der republifanifchen Partei unter feine Sahne an:
zumwerben. Ganz ähnlich aber wie die auf unwuͤrdige Weiſe unter Polizei»
willkuͤr und Strafgefeg geftellte Freiheit der Affocintionen und
namentlich der politifchen Affociationen in die geiftlihen Congregationen
ſich verfiedt, ganz aͤhnlich fucht auch der Widerwille gegen die viel zu auss
gedehnte politiiche Gentralifation und Polizeiherrfchaft In der Selbſt⸗
ſtaͤndigkeit der Kirche fih Hilfe zu ſchaffen. Der Fehler der Staatsvers
ers— der Mangel der Freiheit, das iſt die Hauptſtuͤtze der Prieſterherr⸗
chaft.
Faſt die ganze Jugend iſt jetzt fuͤr den Ultramontanismus eben ſo wie
die Geiſtlichkeit. So kann denn dieſe jetzt offen und ungeſtraft denſelben
grundgeſetzlichen gallicaniſchen Grundſaͤtzen den Krieg erklaͤren, welche die
Reſtauration — weil man damals politiſche Unterdruͤckung der Geiſt⸗
lichkeit fuͤrchtete und ſie haßte — noch im Jahre 1824 alle Oberen und Leh⸗
rer der Gymnaſien und 1826 alle Biſchoͤfe mußte beſchwoͤren laſſen. In
demſelben Sinne wird auch die voͤllige Freiheit des Unterrichts immer mehr
geliebt und gefordert in Frankreich.
di
816 Gallicamifche Kirche
- So fehr nun nach dem bisherigen Alles zu loben ift, was die gegenwaͤt⸗
ge Regierung gethan hat, um Innerhalb jener Landesgrundgefege wirklich bie
Serdftftändigkrit von Staat und Kiche und die Glaubens: und Reliz
—— zu erhalten, fo ſcheint doch auch bier bie Juſtemilleupolitik im
—* Hr ——— * en ne
Hößungen De
1836. Abe hat fe nl Im Glen — —* —— und
Anmaßung und gegen die klaten gefehüchen Beſtimmungen jene große Va⸗
fallenmacht des auswärtigen Kirchenfuͤrſten gehegt und geduldet, welche jetzt
on fo ende nicht ungefaͤhrliche Händel herbeiführt? iin 8 nicht die
t der Jeſuiten, welche einzeln und im Stillen auch nach dr
| Bin — in Frankreich wirken, in ber Schweiz ———
Ay ch in Berlehung auf die neue franzſiſch-katholiſche
eChatel eine freiere kirchliche Richtung, welche ein vortreffli-
des One genmittel gegen die geiftliche Hertſchſucht und Intoleranz der ultra
niontanen und ſeſuitiſchen Firchlichen Beſtrebungen abgeben Eonnte, par:
telifch zu Gunſten gerade diefer gefährlichen ftaatsfeindlichen Richtungen und
mit Verlegung der verfaffungsmäßigen Glaubensfreiheit unterdrüdt?
Im Fahre 1831 hatte befanntlich ber Abbe Chatel in jener natürli-
chen Gegenwirkung gegen bie verkehrte kirchliche Nidytumg ber Reftaurations:
zeit bie „franzoͤſiſch-katholiſche“ Kirche gegründet. Schon 1830
machte er bekannt, daß er und eine Anzahl von Batholifchen Prieftern alle
geiftlichen Verrichtungen unentgeltlid) vornehmen und aller Einmifhung in
weltliche Dinge fich enthalten wollten. Beſtimmter bildete er in Berbin-
dung mit Auzou und Blachere feine von der alten römifch-Tatholifchen
Kirche getrennte franzöfifchFatholifche Kirche im Jahre 1831 aus. Er ents
warf jest ein Glaubensbekenntniß, in welchem die fran zoͤſiſch⸗ tathos
liſche Kirche ganz fo wie die neue deutſch-katholiſche fi von einer
Reihe von Menfchenfagungen und Mißbraͤuchen der römifch = Lutholifchen
Kirche losſagte, aber bie chriftlichereligiöfen Grundlagen der alten Kirche bei⸗
behielt. Nur geftaltete fie ſich weniger frei und folgerichtig. Sie erklärte
fich vorzüglich gegen bie Unfehlbarkeit des Papftes und allgemeiner Concilien,
gegen ben Priefterchlibat, gegen bie blos von der Kirche beftimmten Ehehin⸗
derniffe, gegen die Ohrenbeichte der Erwachſenen. Sie verwarf aud allen
Gebrauch der römifchen ober lateiniſchen Sprache im Gottesdienſt, behielt
aber eine Hierarchie bei, welche aus einem Patriarchen, einem Coadjutor, aus
Biſchoͤfen und Diakonen beſtehen ſollte. Dabei aber trat Chatel gleichzeitig
in den Orden der „Neuen Zempelberren”, einer religiöfen Secte, die
%
Balticanifche Kirche. 877
aus ber gleichen gegenwirkenden Richtung gegen bie Kirche ber Reſtaurations⸗
zeit wie die franzoͤſiſch⸗katholiſche Kicche entfianden war und als ihren Grunds
gedanken die Herftellung der „hriftlihen Urkirche“ ausſprach, babei
aber romantifch phantaftifch fi) in die Formen bes alten XZempelherrens
Ordens huͤllte, feine Vorfteher auf der Stelle bes alten Tempels (Enclos
du Temple) wohnen ließ, einen Großmeiſter erwiählte, der Comthurhäus
fer in Afien, Afrika und Europa vergab. Chatel hatte fich hier zum Biſchof
meihen und zum PrimassCoabjutor von Gallien ernennen laffen und babei
ſchriftlich verfprochen, die franzoͤſiſch⸗katholiſche Kicche als bloße Vorfchule
der templerifchen „Urkirche“ und als abhängig von diefer zu betrachten.
Doc) hielt er dieſes Verfprechen nicht und bie Templer ſetzten ihn als Pris
mas⸗Coadjutor wieder ab. Die franzoͤſiſch⸗katholiſche Kirche aber ſelbſt ges
wann Anklang und Sortgang. Mehrere Gemeinden erbaten ſich franzoͤſiſch⸗
katholiſche Pfarrer und im November 1831 wurde zu Parts eine Halle im
Saubourg St. Martin als Primatlicche der neuen Religionspartei einges
weiht. Der Plan Chatel’s, zur Unterflügung ber neuen Kicche eine Actiens
geſellſchaft zu gründen und ber heimliche Abfchluß eines neuen Gefellfchaftes
vertrage® entzweite ihn 1832 mit Auzou und diefer näherte fi), als ber
Verſuch einer Ausfähnung auf einer neuen Synode mißglüdt war, wieberum
etwas mehr der römifch-fatholifchen Kirche, weshalb ihn Chatel, als Bifchofs
Primas durch die Wahl des Volks und des Glerus, für einen Apoftaten er⸗
Härte und feiner Seits die neue Lehre rationaliftifcher ausbildete. Er nds
berte fich hierbei wenigſtens der gefährlichen Klippe, an meldyer allein auch
ber Deutſch⸗Katholicismus Tcheitern koͤnnte. Diefe Gefahr befteht darin,
daß die Führer der neuen Kirche, welche durch die geiftige gymnaſtiſche Kraft
unb geiftige Aufklaͤrung der neueften Philofophie ihrer Zeit die Mißbraͤuche
und Menfchenfagungen erkennen lernten, womit man den Kern der dheifls
lichen Religion umhüllte, in dem Streit gegen die Dunkelmacher und die
verdunkelnde Regierungsdespotie menfchlichermeife doppelt verfucht find, die
Religion über ber Philofophie zu vergeffen. Sie find verfucht, das Glas für
ben Wein, die Waffe für den Kampfpreis zu halten und auszugeben. Sie
find fo nach Leſſing's Ausdruck verſucht, Brefche zu ſchießen In ihr eigenes
Haus. Thun fie aber dus, fo muß ihnen die Kirche unter ihren Händen
verfchwinden und fich verlaufen. Denn zwei ganz verfchlebene Dinge find die
Dhilofophie mit der philofophifchen Schule und die Religion mit der
Kirche. Zwei ganz verfchiedene Bedürfniffe haben die Völker. Sie haben das
Bedürfniß der Philofophie oder des freien Forſchens, Prüfens und Erken⸗
nen®, des Erkennens der Wahrheit und dev Eriftenz der Dinge oder ber
Nichtwahrheit und der Taͤuſchung ihrer Vorftellungen. Sie haben aber auch,
fo weit bie Weltgefchichte geht, das Beduͤrfniß der Religion, der religisfen Bes
friedigung, Beruhigung, Stärkung und Erhebung des Gemüths, der Sym⸗
pathie und Vereinigung ber Gefühle, Gedanken und Gefinnungen mit gleich
Fühlenden, gleich Slaubenden. Das philofophifche Streben wird die neuefte
Zeitz oder Zagesphilofophie, die des neueften philofophifchen Meifteri bes
friedigen. Mag nun die neue Phllofophie beftätigen, bauen oder zerftören,
unferem Gemüth wohlthun oder es verlegen, und mag fie auch wie ihre vielen
9”
a einem neuen,
— einem entgegengeſetzten Syfteme Piatz zu machen
fer Wechfet iſt noͤthig und gewiß, mögen wir ung dieſed geſtehen oder es
—— im vornehmen Duͤnkel unſere neueſte Schulphiloſo phie,
bei der Schwierigkeit des Studiums ganger neuer philofophifcher Sy⸗
e und ihrer neuen Schulfpradye nah ein ausſchließliches Befisthum
der Eingeweipten iſt, als den endlich gefundenen Stein der Weifen procias
micen. Die Gefhichte beftätigt-diefen Wechſel. Er ift auch in ber
Natur der Dinge begründet, da «8 unmöglich ift, das ganze unenbkiche
Umiverfum, das Weſen und Verhaͤltniß aller finnlichen und überfinnlichen
Dinge und Kräfte, alles wirklichen Seins und —* Vorſtellens unb
Denkens, in der endlichen beſchraͤnkten Sprach», Auffaffungs= und Bes
einzelner beſtimmter Menſchen, ihrer Indivibualitdten, Bildungs
en, ihrer zeitlichen und raͤumlichen Werhättniffe — und vollkom⸗
erfaſſen, darzuſtellen und zu begründen. Bei dieſer un ver⸗
meidlichen Unvollkommenheit der Erkenntniß und weil bei einem
für alle Beit fertigen und genügenden philoſophiſchen Sofieme das Wichtigfte,
das Leben, das Lebendige Ueben und Berhätigen , das Entwideln und Fort:
22 unferes Gelſtes einſchlafen wuͤrde, deshalb iſt dieſe Unvollkommen
heit, der Gegenſatz und Wechſel der philoſophiſchen Syſteme auch unent⸗
— und heil ſam. So gilt alſo ewig der Satz: die Philofophie —
das Streben mad) der für uns und unfere Zeit und Bildungsftufe möglichen
unferes Erkennens — iſt wahr, die Philofophien
find’s nicht. Das religiöfe Streben und Beduͤrfniß aber ift mit ſol⸗
cher wechſelnden Zagespbilofophie nimmermehr befriedigt. Das Erkennen
zur Befriedigung bes -religisfen Beduͤrfniſſes befchränkt ſich auf einen viel
engeren Kreis, auf bie unfer Gemuͤth befriedigende Auffaffung unferes Lebens
und Thuns zu einer höchiten göttlihen Vorſehung. Aber das religiöfe
Streben und Bedürfniß hat andererfeite nad) dem oben Angeführten einen
meiteren und anderen Inhalt und Gegenftand als das philofophifdye Be:
daͤrfniß und als das bloße Erkennen. Für die religiöfe Befriedigung ges
nuͤgt nicht und zu ihr führt nicht die der unendlichen Mehrzahl der Menfchen
ganz unzugängliche philofophifche, Begründung und Beweisſfuͤh⸗
sung ber wechfelnden Schul: und Zagesphilofophien. Es fordert eine un⸗
mittelbare für das Gemüth befriedigende, von ihm ald unmandelbar feft
gehaltene Wahrheit, eine bindende und beflimmenbe (daher religio), einen
Slauben. Freilich muß bei benfenden Menſchen die Vernunft diefen Glauben
prüfen und fein Fefthalten nicht unvernünftig finden. Aber nimmer
wird blos deshalb, meil hier in einem Gebiete, in welchem die Philofophen
ſelbſt ſchwanken und wanken, Niemand vollkommen Ear fieht, der Glaube,
welcher dem Gemüth, dem fittlihen Bewußtfein und Gewiſſen entfpricht und
fie befriedigt, blos deshalb aufgegeben werden müffen, weil er von dem
verfiändigen menfchlichen Auffaffen blos der seinen Seite des Lebens,
mlich dee unfreien finnlichen Naturverhältniffe, nicht gefhaffen oder er⸗
Hört werden kann. Die Thatſache des fittlihen Bewußtfeins oder des
Gewiſſens und die logiſch in ungertrennlicher Verbindung damit
⁊
A
Sallicanifche Kirche. 379
ſtehenben Thatfach en der Freiheit, des Guten und Boͤſen und einer freien
fittlichen Weltordnung — fie find ja eben fo gewiß als bie Thatſachen
und Geſetze ber finnlihen Natur. Beide find mir ja zulegt doch nur gewiß,
weil ich an mich felbft, an mein Bewußtfein von ihnen glauben will; die
finnlichen , weil ich an mein Sehen glaube, daß «8 wirkliche Dinge und nicht
blos mein Sehen ſieht, die überfinnlichen, weil ich an mein Gewiſſen glaube,
feine uͤberfinnlichen fittlihen und freien Thatſachen eben fo für wahr halte
and halten muß, wenn id} an mid) felbfl glauben und nicht in ewigen Wider⸗
ſpruch kommen will. So thun es ja auch jene Nihiliften und Materialiften,
welche das Weberfinnliche und Freie zwar ale Ammenmaͤhrchen verwer:
fen, aber es inder Achtung der Tugend, in ber Scham, Schande unb
Verachtung des Böen als wahr behandeln, ja im ihren ihm und allem
Chriſtenthum feindlichen Syſtemen den Kern und Mittelpunkt von beibem,
die Menſchenwürde und die Liebe, an die Spige fielen und ben
finnlihen Tod, das Aufgeben ber Sinnenmelt für biefelben, forbern.
So gewiß iſt das Gewiſſeſte das Gewiſſen. Esift alfo gewiß eine alberne
Zumuthung , jene fittlichen Wahrheiten blos deshalb zu verwerfen, weil fie
dem Kryſtallgeſetz nicht entfprechen, weil fie ein blos bie Maturfeite aufs
faffendes Denken und Philofophicen nicht erfchaffen und erflären kann, und
weil bie wahre Philoſophie, welche ihre höhere Vereinigung befriedigend
nachweiſt — bis jegt von der Philofophie zwar ſtets gefucht, aber noch nicht
gefunden wurde.
, Freilich werden wir dadurch unfere materialiftifhen Philoſophen nicht
bekehren. Aber mögen fie immerhin von ihrem einfeitigen Standpunkt aus
ben Glauben verwerfen, daraus folgt ja nur, daß fie im bie Kirche nicht
gehören. Das religiöfe Beduͤrfniß der Voͤlker aber werben fie nimmermeht
vernichten, noch auch mit ihrer nihiliftifchen oder materialiftifchen (oder ma⸗
teriatiflifchsanthropologifchen) Tagesphiloſophie befriebigen. Jede Kirche,
die fie darauf gründen wollten, wäre eine Lüge. Sie wäre gar Feine
Kirche, fie wäre nur eine Philofophens Schule, untauglicd für das Volk,
unbefriedigend für das religiöfe Beduͤrfniß, wechſelnd und wankend wie bie
Schulphiloſophien ſelbſt. Sie wird und muß fi) verlaufen und zerfallen.
Die Führer der franzöfifch sLarholifchen Kirche fielen übrigens keines⸗
wegs mit Entſchiedenheit diefem Fehler anheim, vielmehr war nur Ihr
Soſtem noch im der Ausbildung begriffen und ſchwankend. Auch führten bie
anbern oben berährten Maͤngel die neue Kirche nicht zum Untergange. Viel⸗
mehr machte diefelbe, trog ihrer Unfälle, noch 1834 und 1835 Fortfchritte.
Nur dem macchiaveliftifchen Juſtemilieu⸗Syſtem war ihre Unterdrüdung
vorbehalten. Es opferte fie der Intoleranz und Herrſchſucht der ultramon⸗
tanen und jefuitifchen Partei der roͤmiſch⸗ katholifchen Kirche, um deren Bes
gänftigung der neuen Dynaftie es buhlte. Es opferte fie diefer gefährlichen
Partei, obwohl diefelbe ebenfo das ſtaatsgrundgeſetzliche gallicanifcye Syſtem
der Nation wie die grundgefegliche Glaubens⸗ und Religionsfreiheit anfeins
det. Die Charte verbürgt allen Franzoſen als weſentlichſtes Verfaſſungsrecht
nicht blos die Freiheit des Glaubens und der Religion, fondern bie freie
Religionsausübung oder bie Freiheit ber Culte, und nım wendete man zur
Zerſtoͤrung dieſer frelen Religlonsausuͤbung das fruͤhere Strafgeſetz im
Code p£nal an, welches Affociationen von mehr als zwanzig Perfonen ber
—— Regteruriges oder Polizeiwillkuͤr prelsgiebt und ihte Mitglieder
‚, wenn fienicht zuvor die beliebige Polizei = Zuftimmung erhielten.
auf bin allein ſchloß man die Tempel der franzoͤſiſch⸗ Eathotifchen
Kiche und flellte ihre Mitglieder vor Gericht — während man bie wirklich
| | Fig verbotenen geiftlichen Orden und Klöfter ruhig beſtehen
und fidy ausbreiten ließ. Liegt denn aber nicht in dem Sinn eines freien Eul
jede Religion das, daß die Neligtonsanhänger fih im demfelden ver
einigen dürfen? Macht man dieſes gröfteund heiligfte Verfaffungsrecht
und feine ausdrückliche, ur kund liche Zuſicherung nicht zur offenbaren
kuͤg en man diefe Freiheit durch die Anwendung einer früheren Polizei:
Beſtin g gänzlich zerſtort Muͤßte man nicht allermindeſtens eine nicht
erbr * geſtatten und jene Verfaſſungs⸗ Beſtim⸗
—* durch, ein befondetes, jenen Ärtikel des Code penal aufhebendis Ges
ſetz derwirklichen ? Könnte man nicht in blos folgerichtigee Anwendung
— über Berechtigungen zur Erhebung von Steuern oder auch zıte
der Cenſur, das Serfaffungsmndpig zug ficherte Steuerbewilligungs:
Hd die Zuſicherung der Preffreiheit vernichten ? Doch hinweg über
—— — und a zut —— des wahren ehr⸗
lichen Sinnes der Berfaffungen. Es betweift aufs Nous die Verkehttheit
ber framoͤſſchen Oppoſſtion. die dieſe gefaͤhrlichſte und unwuͤrdigſte Werkes
ing Freiheit, diefe Werlegung gerade der Funda-
mentalrechte ber Berfaffung richt nebührend und in jeder Sisung neu
bekaͤmpft und fie aufzuheben, fich feldft aber einen feften Boden und die öffent»
Tiche Achtung zu ſichern ſucht. Es möchte vielleicht dabei das mitwirken, daß
gerade in der vornehmeren Mittelclaffe, alfo beiden Deputirten,, die platte
Gleichguͤltigkeit gegen das Religiöfe feit der Voltaire'ſchen Zeit am meiften fich
noch findet.
Gewiß aber ift es, daß gerabe durch den Wetteifer einer neuen Kirche
mit der alten, durch die im Weſentlichen zeitgemäßen und der freien Staats⸗
veifaffung entfprechenden Grundfäge der franzoͤſiſch⸗katholiſchen Kicche die
oben angedeuteten Mängel der franzöfifchen religiöfen und kirchlichen Zuftände
ar beften gemindert und der gefährlichen ftaatsverderblichen ultramontanen
jefuitifchen Herrfchaft eines großen Theils der Geiftlichkeit der befte und unge-
fähtlichfte Damm entgegengefegt werden koͤnnte. Doch lieber allirt ſich treu-
lofes dynaftifches Intereſſe mit diefer gefährlichen Partei gegen die Ver—
fäffimgsfeeiheit, als daß es diefelbe dem Volkswohle umterorbnet.
Die wichtigften Schriften Chatel's über fein Spftem find feine Agende
(Encologe) 1832, fein Catechisme 1833 und fein Code de l’humanite
1837,
"Die feit 1832 von ber frangöfifch « Tatholifchen. Kirche abgefonderte
Kirche des Abbe Auzou nannte ſich die franzoͤſiſch-evangeliſche und
fand ebenfalls nicht unbedeutenden Anhang, insbeſondere in Paris. Er
drang nur auf Reform der paͤpſtlichen und biſchoͤflichen Gewalt und nahm
bagegen die Batholifchen Dogmen an, verwarf aber ben von Chatel fpäter aus
-
Gallicaniſche Kirche. 881
Norh aufgefteliten Tarif für Gebühren. Mit Talent und mit ber Schärfe
ber Wahrheit geißelte Auzou die Anmaßungn und Schwächen des hoben
Clerus. Behr begreiflich aber mar gerade dieſes bei jenem vorhin gefchilderten
Juſtemilieu⸗Syſtem, welches wie die Reftauration diefem hohen auch in
Beziehung auf die Einnahmen ſtets begünftigten Clerus ſchmeichelte, waͤh⸗
rend man bie unteren Beiftlichen ihrer ſtlaviſchen Abhängigkeit von den hoͤ⸗
heren und ihrer Rohheit überläßt, der entfcheidende Grund, gegen die frans
zöfifchsevangelifche Kirche ebenio zu verfahren wie gegen die fran⸗
zöfifhstatholifhe. Man fchloß ihr allmaͤlig alle Tempel, zuletzt auch
Auzou’s Hauptkirche zu Elichy. Vielleicht ftand es größeren Erfolgen
und energifherem Widerftande der beiden neuen Kirchen aud) entgegen, daß
fie in einer Zeit entftanden, wo religiöfe Gleichgültigkeit und Abneigung noch
verbreiteter waren als jegt, und daß für eine geläuterte Auffaffung des Chris
ſtenthums von Seiten der religids und kirchlich Gefinnten in Frankreich
nicht ähnlich wie in Deutfchland religidfe Aufklaͤrung und wiffenfchäftliche
Bildung mitwirken.
Wie fehr insbefondere bei dem Mangel an gehndlicher Untverfitätsbils
dung der Beiftlichen und bei ber Rohheit der niederen franzöfifchen Geiſtlichkeit
die theologifche und religiöfe Literatur in Frankreich auch noch jest, wo doch
diefe Literatur und der Sinn für fie fo fehr wachſen, der deutfchen religioͤſen
und theologiſchen Literatur nachftehen, das zeigt ein Blick in die meiflen neues
ren theologifchen und religiäfen Werke. Welcher Mangel an gründlicher Kritik,
Eregefe und Kirchengeſchichte und auch an wirklich gründlich theologifcher
oder philofuphifcher Dogmatit, Syſtematik und Moral! Auch ber Zahl nach
find die ungruͤndlichſten theologifchen und religioͤſen Werke bei Weiten im
Uebergewicht, Gefchichte der Heiligen naͤmlich und Bücher im myſtiſch⸗
romantifchen Geſchmack des Mittelalters. Solche Werke finden fo viele Les
fer, daß fie oft im Eurzer Zeit zehn und mehr Auflagen erleben. Auch bei
den Predigern muß die Phantafie die Logik erfegen.
Solche theologifche und philofophifche Schwärmereien und Epielereien,
wie fie in fo vielm dieſer Schriften, auch in den Theorien des Gt.
Simonismus und bes Fourier herrfchen, würben in Deutichland
wohl das Licht ſcheuen, mindeftens Leine fo bedeutende Anzahl von Verth⸗
rern und Anhängern finden.
Die bedeutendſten Wirkungen religiöfer Beftrebungen Binnen nach bem
Ausgeführten in der nächften Zukunft theils von ber machfenden ultramon⸗
tanen jefuitifchen Partei ausgehen, theils von der Verbindung chriftlich«
religloͤſer Principien mit dem Republicanismus, Communtsmus und So⸗
claltenus. Diefe Verbindung , welche thörichter Weiſe die deutfchen So⸗
claliften und Communiſten aufs Aeußerſte verwerfen, kann ihnen Disc
plin, fittliche Haltung, Ausdauer und fanatifche Kraft verleihen. Sie
kann daher in Frankreich möglichermeife zur Verſtaͤrkung ihrer Gefahren
für die Regierung und die beftehende Ordnung beitragen. Dennoch wäre
es eine gefährliche Zäufchung, jene ercentrifchen Richtungen in Deutfche
land weniger gefährlich zu halten als in Frankreich. In Deutfchland vers
mehrt die Gefahr ber täglich wachfende, oft wilde Haß gegen bie Unterdruͤckung
ber wefentlichften Freiheitsredyte und die immer —5 Genion
—— U
Mangel der gefehlichen Wege für die — ——— nie *
Möglichkeit einer Allianz aller radicalen Parteien mit den an —
| Sedenfalls aber wird jene Verbindung mit
| fittigend. umd "bildend für. das Volk wirken. in Uebergewicht
folder ſchwaͤrmeriſchen, ——— religioͤſen Vorſtellungen und Rich⸗
tungen, wie in England und Deutſchland nach der ——— iſt auch
meh in unfrer heutige, überwiegend politifchen Zeit —
elder.-
Bu Gaͤſtrecht. Insbeſondere über das nationale Ver:
tebhrs» und Gaſtrecht oder bas nationale Bürgerrecht ber
Deutfhen in den Inn inet dentſchen Laͤndern. |
WVit ſtimmen volftändig, fo wie dem vorftehenden Artikel
des trefflihen Jordan, fo insbefondere auch, einen am Schiuffe ausgefprocher
nen naturrechtlichen Rechtsforderungen und Wünfhen in Beziehung auf das
in Deutfchland noch fo überaus mangelhafte Fremdenrecht bei. Ja wir hal⸗
ten diefelben ſchon durch —— eur —— Bölkerreht, vollends
aber in Beziehung auf Deutfche in gang ——— durch basnationale
Bundesrecht, und abermals für die Zollvereinsſtaaten auch durch dem
Zollverein. — Wir glauben ferner, daß, mo etwa **
Ausdehnung dieſer Rechte Zweifel entſtehen, die
Ehre der ——— gen Völker und eine wahre Staatsweisheit, indbefon-
dere auch die von Jordan oben 11, C. 2, angeführten Geſichtspunkte für bie
ben Fremdlingen und Gäften günftigfte Auslegung und Anmendung [predhen.
Und gewiß, es thut Noth, diefe richtigeren und höheren Geſichtspunkte
heutzutage mit moͤglichſtem Eifer hervorzuheben. Wir Deutfchen,, zwar feit
ber unfeligen Angſt vor der natürlichen freien Entwidlung bereits in jo Vie:
lem den freien gefitteten Nationen ber Erde nachſtehend, erfheinen doch
kaum in irgend einem Punkte fo ruhmlos, fo wenig unferer Nationals Ehre
entfprechend,, als in Beziehung auf die Inhumanität und Ungroßberzigkeit,
auf die Heinliche Furcht und die Willkür, mit welcher Gaſtrecht und Fremden⸗
polizei in unfern neueren deutfchen Staaten vor Allem gegen die eiges
nen beutfhen Landsleute gehandhabt werden. Preßfreiheit,
Boreinsfreiheit und Verkehrsfreiheitin ganz Deutſchland,
bas find die allerwefentlidjten, uns Deutfhen feit der
Herrſchaft des Reactionsſyſtems fehlenden, mehr als zu
irgendreiner Zeit der deutſchen Geſchichte fehlenden Rechte.
Keiner freien Nation der Erde wurden dieſe heiligen Rechte je aͤhnlich ent⸗
zogen, als der deutſchen feit ihrer glorreichen Befreiung 1813, 14 und
15! + Bon dem Afplreht, wovon wie von ihrem Gaſtrecht andere Völker
mit Stolz , von folchen Auslieferungen, wovon fie mit Verachtung pres
chen, foll hier nicht einmal, die Rede fein.
Was zunaͤchſt das allgemeine europaifhe Völkerrecht betrifft,
ſo gab es zwar in ber Zeit des Abfolutismus ber Höfe in den zwei legten Jahr⸗
EN
Gaſtrecht. 283
{ .
hunderten eine Anficht von demfelben, nad) welcher e6 nur in einer Ans
bäufung einzelner beliebiger Convenienzen biefer despotifdhen
Höfe beſtehen follte, die Leine Grundidee wahrer Gerechtigkeit beſeelte,
und welche aud) freie Bürger nichts angehen, fondern nur die despotifchen
Regierungen, welche nur die Intereſſen der legteren und nur mittelbar ihre
Sklaven und deren VBerhältniffe berühren. Hiernach konnten dieſe Herren
zu Sunften ihrer Willkuͤr aud) leicht zu dem Sage kommen, ja ſich den»
felben in gegenfeitiger Convenienz gegenfeitig einrdumen,
jeder Herr ſchalte über fein Staatsgebiet völlig nad grenzenlofem
Belieben, weife hiernach Fremde beliebig zurüd oder hinaus. Ließ man
ja auch nicht durch Mechte der eignen Unterthanen, mo diefelben unbequem
wurden, die grenzenlofe Regierungs: und Polizeiwillkuͤr beſchraͤnken, verjagte
im eignen Land aus Stadt und Provinz, warum follte man die Rechte
von Fremdlingen achten? Die rechtliche Schugpflicht gegen beide
wurde nur despotifhe Willkürbefugniß.
In dem Maße aber, als flatt bespotifcher Plantageherren wiederum aus
dem Verein freier Bürger beftehende freie Völker die völßerrechtlichen Rechte
und Pflichten gegen einander fich anerlannten, als in dem erwachten allge
meinen Rechtsbewußtſein aller gefitteten Nationen, ſelbſt wenn fie noch nicht
überall zur Ausübung ihrer Keeiheitsrechte durchgedrungen waren, doch bie
wahre Rechtsidee für das gegenfeitige Verhältniß der Mitglieder der gefitteten
Menſchheit wieder erwachte, da ergab ſich audy jene richtigere Grundanſicht
des Voͤlkerrechts, welche wenigftens dem Weſen nach fchon bie Römer und
welche der Vater des neueren Völkerrecht, Hugo Srotius, unter dem jus
genlium verftanden und welche auch die neueren befjeren Bearbeiter dieſer
Wiffenfhaft in geläuterter und erweiterter Geftalt wiederum feflhalten 1).
Es lebten jetzt jene gefunderen Rechtsgrundfäge auch Über den freien Verkehr
der Völker untereinander , über das Verhalten zu Fremden und Bäften wies
der auf, welche die durch Sitte, Religion und Ehre geheiligten gaſtlichen Schut⸗
sechte geſitteter Völker und Regierungen auch fchon früher wenigſtens dem
Weſen nad) geheiligt hatten.
Es umfaßte und umfaßt in der That das in der gefitteten Dienfchheit an⸗
erfannte jus gentium oder Völkerrecht mehr ale bloß Rechte zwiſchen dem
Regierungen, fondern auch Rechte dev Mitglieder ber Völker und ein Welt⸗
buͤrgerrecht für alle Einzelnen. Und wahrlich unfere chriftliche Religion hei⸗
ligt folche® brüderliche Gaſtrecht nicht minder, als die Götter des Alters
thums es beiligten.
Auch das Voͤlkerrecht im engeren Sinne, als das Recht der frei zu einem
Volk vereinigten Buͤrger und der zu ihrem Schutz verpflichteten Regierungen
zu den uͤbrigen Voͤlkern und ihren Regierungen, begruͤndet wahre allge⸗
meine Verkehrs- und Gaſtrechte. Iſt ja doch gegenſeitiger Ver⸗
kehr und Handel das erſte und aͤlteſte Recht, welches ſich geſittete Völker
in alter und neuer Zeit mit Frieden und Freundſchaft gegenſeitig
) & 3.8. Das Europäifhe Völkerrecht ber Gegenwart, von
Heffter. Berlin 1844. ©. Vf. Bu
| u — *
Berkehrs!
—
u
384 Gaſtrecht
— —* — mon me 7" jften Bölt
; ———
Ventree, du du sejour et du commerce). * —* |
red Recht auch aller Glieder des Volks gegen da
be Bolt und er Regierung. Aber — Fol Be
Jay Rep N herren do
in feinem formellen ** wenn es den Fremden nach Bei
‚oder hinausjagt. Allein man vergißt, daß man fo mi |
Hand wieder nimmt und gaͤnzlich oetört; mas man mit $
har Ben Recht des freien Verkehrs. Man vergift, ——
ge erde bem Zerritortum bie
3 hat, daß man ner ——
ale ifo ie fembe Betrug
yenlofem Belieben jenes 2
jenes Belieben, fo be doch nicht m
t, fonbern hödftems von beliebig zu erittender Gnade B
Und feid folgerichtig! Darf die Regierung alles Belie
verfügen auf ihrem Gebiet, ohme dadurch den voͤlkerrechtlichen Zuſtand und
Frieden zu verlegen, fo darf fie ja auch gebieten: der Fremde werde getöbtet
ober beraubt, der auf dem Gebiet fich findet; fie darf gebieten , daf man auf
dieſem Gebiet den fremden Regenten ſchmaͤhe oder Mordplane gegen ihn in’®
Werk fege, ohne ihm den Schug der Gerichte zu geben. Und erfennt dann
etwa bie Praris des europdifhen Voͤlkerrechts — etwa die traurigen Aus:
weifungen von Deutfchen in Deutfchland ausgenommen — jenen Wider:
ſinn ruͤckſichtlich des Verkehrs⸗ und Gaftrechts an? MWäre es etwa ganz recht
und mürbe es die Nation der Engländer, ber Amerikaner ‚ber Sranzofen als
voͤllig recht und als unbeleidigend gegen, achtbare Mitbürger und gegen ſich
felbft finden, wenn etwa irgend eine beutfche Regierung diefelben nach reinem
Belieben von Durchreife und Aufenthalt ausſchließen, ihre Päffe nicht ach⸗
ten und fie nad) aufgewendeten Koften mit Zerftörung rechtlicher Plane und
Unternehmungen von dem menfchlichen , geiftigen, inbuftriellen und Han:
belsverkehr, von dem Befuche ihnen verwandter oder fonft wichtiger Perfos
nen, ja von dem Durchpaß zu anderen Pänbern abfchneiden oder fie nach
früherer Aufnahme ploͤtzlich hinausjagen wollte? Sicher keine Regierung
glaube dieſes, keine wagt eine ſolche Behandlung eines Briten, eines Norbe
einem Rech
2) Precis du Droit des Gens, par G, F. de Martens, A Goettingue
1821. $. 141. 142, 144. B4. —3 a. D. $. 32.
3) Martens a. a. D. $.7
Gaſtrecht. 895
amerikanets aber Franzoſen. . Sie weiß es ficher, daß Mißverhältniffe, Re
toxſjonsmaßregeln, vielleicht Krieg von dieſen graßen Nationen, welche flets
die Verlegung bes völkerrechtlichen gegenfeitigen Friedens⸗ und Achtungsvers
haͤltniſſet, die Verlegung des friedlichen und freundfchaftlichen
Verkehrs, die willkuͤrliche Kraͤnkung der Intereffen und der
E e ihrer Mitbuͤrger als Nationalſache verfolgen „bie Un bill raͤchen
en.
Mur. allein Folgendes alſo kaun als allg emeinrechtlich⸗ Beſchraͤnkung je⸗
u Perkehrs⸗ und Gaſtrechts zugegeben werden. Es kann bie Ranbesge-
fnbsebung allgemeingeſetzlich ſolche Bedingungen und For⸗
men fuͤr die Ausuͤbung jenes Rechts, welche das Weſen deſſelben
ſelbiſt nicht aufheben, ihr aber nothwendig ober heilſam ſcheinen, zum
Voxraus feſtſeten und befannt machen. Sie kann Paͤſſe fordern, den Han⸗
del durch Zölle befleuen, wo es ihr Kandeswohl fordert u. ſ.w. Ste kann
in Der Noth, im Krieg u. ſ. w. voruͤbergehend, fie kann vollends zur Retorſion
gegentheiliger Beſchraͤnkungen die durch folche Veraͤltoiſſ⸗ nachn eisbar
gerehsfertigten. Beſchraͤnkangen eintreten laſſen.
Sie kaun z. B. wegen Krankheita⸗ oder RXegonoth allgemeine Spne
nafregeln anordnen oder zun.geheglichen Strafe wegen Vergehungen ge⸗
gm allgemeine Landesgeſetzz Fremde aneweiſen.
Aus dem doppelten Grund, weil nach ber richtigen voͤlk errechtlichen An⸗
ſicht civiliffeter Voͤlker Hier nicht blos die Registungen, fondern auch die Buͤr⸗
ger als berechtigt gegenuͤberſiehen, und: meil ihre. und bed Volkes Ehre ebenſo
dabei bathelligt find, daß das geheiligte Gaſt⸗ und Aſylrecht nicht durch Aue⸗
weiſung oder unguläffige: Auslieferungen verlegt werben, und weil nur auf
virfaffungsmäßig gefeglich ausgeſprochene Rechtsgruͤnde bin Beſchraͤnkungen
zulaͤſſig ind, follen billig,. fo wie in England ımb Belgien, die
Stantöverfaflung und bie verfaſſungsmaͤßige Geſegebung dieſe Verhaͤltniſſe⸗
vechtläch feſtſetzen. Dadurch wird zugleich die unbeleidigende rechtliche Na⸗
tur underweidlicher Beſchrankungen auch fuͤr das Verhaͤltniß der Voͤlker klarer
erkennbar. Es kann übrigens auch in einzelnen Faͤllen ber Ausuͤbung ˖ der
Megierungsrechtr die Auslegung und Entſcheibung ſchwierig fein, ob dieſe
Beflimmungen:bas Recht des Verkehrs und Handels feinem Weſen nad
icht beſchraͤnken, ‚oder. body nur auf eine foldhe, Weiſe beſchraͤnken, daß bie
* bstheiligten Nationen hoͤchſtens zur Retorſion der: nachtheiligen, oder
ob ſte zur Beſchwerde und Genugthuunig wegen willkuͤrlicher kraͤnbender und
vedletzender Behandlung ihrer Bürger veranlaßt und berechtigt werben. Die
Rechtswidrigkeit und Verwerflichkeit aller rein willkürlichen, aller als
rech olich begruͤndet nicht nachweisbaren, ſondern blos auf ſubjective
Laune und Beliebung geſtuͤtzten Beſchraͤnkungen aber wild. nirgends durch
eine. Schwierigkeit der Erkennbarkeit bei Rechtsgruͤnde und Rechtsgrenzen
aufgehoben. Am wenigſten wuͤrden hier wie. Set.andern Verletzungen jene
Regierungen, welche Epre.und Intoreſſe ihres Volks und-iprer Bürger als ihre
eigene Ehrenſache vertreten, die Ktraͤnkung, für weiche keine wirklichen Rechts⸗
gruͤnde nachweisbar ſind, durch den allzeit fertigen Deckmantel der Willkuͤr:
die „Staatsgruͤnd * duxrch dieſes aeue: car tel est notre plaisir, als
Suppl. 3. Staatslex. II.. 25
20 —
und ausgeloͤſcht le Sie würden ae allgemein geſetz⸗
* zum Voraus verkündete Beſchraͤnkungen nur dann als unver»
— —“ nicht vdlkerrechtswidrig das Ag han bes
— nl her etwa nut gegen fie oder eingelne Glaffen ihrer
Bürger gerichtet wären. Sie würden am uam —5 nicht begruͤn⸗
dete ungerechte beliebige:
Nun vollends zig die Bürger vn und — Nation
— bie Bürger einer freien einigen deutſchen Nation, dieſe ve
doch nicht weniger, fondern viel mehr und ausgedehnter untereinander Dies
—— bes Verkehrs und ber Wedfeliirkung und bes gaftlichen Schu
a tote die Bürger fremder Mationen
MWMWaͤhrend des deutſchen Reiches , wie oft auch faetiſche Erſcheinungen
bi Fauſtrechts und fpäterer desporifcher Willkür, zum Ruin beffelben,
a und ba ih * mochten, war doch nie re jener Grund⸗
Nur Verbrecher und icht unbefcholtene
Dr Dh onen ehe biurch die ale fe fhimpftiche Strafe
anerkannte eng en Ausfchliefung in deutſchen Reichslanden
werben. auch nur
e auflegen , Fr er das ganze Nationalband zerreifen.
In Beziehung ri ben deut ſchen Bund aber liegt de
vor, wie doch wenigſtens > era fogar urkundliche Anerkennun⸗
gen fand. So fehr auch ber ber Eile und die Scheu, die freie natio⸗
tliche Geftaltung ber ee durch befondere Bundes»
fasungen der Einmiſchung einer ftantsrechtlichen Bmangs: und Strafgewalt
des Bundes unterzuorbnen, bie pofitiv gefeglichen Ausführungen der Grund⸗
fäße verhinderte, jo wurden boch bie Grumbfäge felbft neu anerkannt. Es
wurde boch feierlich bie Wiederherftellung eines nationalen deut—
[hen Rehtszuftandes nationaler Verbindung und Einis
“ gung und die Grundfäge wirklichen nationalen Rechtözuftandes auch für
die einzelnen Bürger, ja eines allgemeinen deutfhen nationas
len Staatsbürgerrechts anerkannt. (S. oben Deutfher Bund
V. und VI.) Es war das Weſentlichſte eines ſolchen Bürgerrechte, bie
Sreiheit des Verkehrs und Handels mit freier Flußſchifffahrt (Art. 19. der
B.⸗A.), fo wie allgemeine geiftige Verkehrsfreiheit durch bie freie Preſſe
(Art. 18. d.) ausdruͤcklich zugefichert und neben der allgemeinen deutfchen
landſtaͤndiſchen Freiheit und dem Schug bes Bundes bei Verweigerung bun⸗
besmäßiger Rechte und der Juſtiz (Schlußacte Art. 29. und 53.) noch
insbefondere unbeldftigter Erwerb von Liegenfchaften in allen Bundes⸗
ändern, fo nie Freiheit ber Auswanderung und des Eintritts in ihre Staats⸗
dienfte (Art. 18. a. b. der BA.) garantirt. Es war nur eine logiſch
nothmwendige Auslegung biefer Rechte, die man auch noch am Buns
bestag ausbrüdlid als die Bürger, bie Nation und den Bund felbft hoch⸗
ehrend, als allgemeine beutfche Staatsbürgerrechte einftimmig anerkannte
und pries*), wenn ebenfalls auf dem Bunbestage in bdiefen größeren
4) Klüber, Deffentliihes Recht. 5. 228.
Gaſtrecht. 887
Mechten, 3. B. in dem völlig unbefchränkten, von Erſchwerungen ausdruͤck⸗
lich befreiten Recht jedes Deutfchen, in jedem deutſchen Lande ſich durch Ers
werb von Haus und Gut anfäffig zu machen, auch das Recht gefunden
wurde, in diefen Ländern reifen und in ihnen weilen zu dürfen (Kluͤber,
a.0.D.). Er follte ſolchergeſtalt urkundlich nodh ausgebehnter ge
gen willkuͤrliche Befchränkungen gefichert werden als der fremde Franzoſe,
Engländer, Amerikaner.
Mer hätte num vollends denken mögen, baß felbft diejenige Ver⸗
Behröfceiheit, die allgemein völßerrechtlich ift, die in jenen genannten Laͤn⸗
been keinem Fremdling ber Exde, alfo auch keinem Deutfchen verweigert
wird, welche auch felbft der maͤchtigſte deut ſche Staat ben fremden Ameris
£anern, Engländern, Franzoſen nicht zu rauben wagen würde — daß felbft
biefe in unferer neueften Zeit, von Eleinen und von großen beutfchen Staa-
ten hundert⸗ und taufendfach, ja faft tägich deutſchen Staatsbuͤrgern,
ohne alle Nachweiſung irgend eines Rechtsgrunbes, willkuͤrlich auf die bes
ſchimpfendſte und befchädigendfle Weife entzogen werden würde! Braucht
man von der neuen urkundlichen Befeftigung und Erweiterung diefer Vers
kehrsfreiheit buch den allgemeinen Zoll⸗ und Handelsverein nur noch zu
reden! Mo ift fie bei beliebiger Ausweifung ? Dürfen blos Ochfen und
Schafe nicht ausgewiefen werden , aber bie Menfchen !
Iſt es denn aber ein Geheimniß, trotz der Unterdrüdung ber meiften
und flärkfien Klagen duch die Genfur, ein Geheimniß, wie tief im
Ausland und im Inland foldye Verletzungen ber allgemeinen unb natürlichen
und der urkundlichen nationalen Sreiheitsrechte empfunden werben !
Jeder Ehrenmann aber und die Regierungen felbft müflen doch wohl
vor Allem wuͤnſchen, daß die Ehre des Vaterlandes und feiner Bürger, daß
bie Ehre und Achtbarkeit der Regierungen, der Glaube an ihr rechtliche® Bes
wußtiein, an das Vertrauen zu ihrem Volke, das Vertrauen zu der Güte
ihrer Sache, zu deren begeifterten Vertheidigung vielleicht morgen ſchon aufs
gefordert werden fol, im Inland und Ausland möglichft ungefchwächt erhalten
werben. Es ift alſo mohl audy eine heilige Pflicht jedes wohlmeinenden Buͤr⸗
gers, fo kraͤftig als nur möglich gegen folche Kränfungen der National: und
Staatsehre feine Stimme zu erheben. Die Regierungen mühen fich ab, fegen
Zaufende von Menſchenhaͤnden täglich in Bewegung, opfern Hunberttaufende,
um duch alle ihre Polizei⸗ und Cenſurmaßregeln und ihre Majeſtaͤtspro⸗
ceſſe jede fcheinbare Schwächung des guten Glaubens an fie, an ihren guten
Willen und ihre Kraft, des Glaubens an einen ehrenvollen und glüdlichen
Zuſtand zu verhindern und zu: rügen — fie find eben deshalb auch aͤngſtlich
gegen jebe vielleicht ihre Unterthamen anftediende Aeußerung von Freiheits⸗
grumbfägen und Klagen liberaler deutſcher Bürger anderer Länder. — Aber
vermehren denn nicht folche Maßregeln bei den Betroffenen und taufend
Anderen ungleich mehr Unzufriedenheit und liberale, ja übertriebene
und feindfelige Gefinnungen gegen bie fo vertheidigte Religion, Stantsorb:
nung, Regierung ?
Die Bundespolitit Hält zu gleichen Zweck viele in dem Bundesgrumb>
vertrag nicht begründete Ausnahmsmaßregeln (S. Deutfcher Bunb)
25 *
für nothwendig und heilſann Eine Reihe Jeſtin
Verkehrsfreiheit Het Ya m w. "gem Aastnafihget von Btik
direnden, Handwerkern. einzige: Berfüg Nur Verwick⸗
Hicung der urfumblichen aber beſchuͤtzt die peu Pen
Länger die Wirkungen Diefer Potitit verlennen 2
„ m &leht man nun von allem Uebrlgen ab, von ber'tiefen —*
bie Verlegung an ſich, von der Kraͤnkung, daß in Beziehung —* die
und den Mechtöfhut der wichtigften Verkehrorechte jeder legte —5— Eng⸗
laͤnder, Amerikaner in Deutſchland — — beutfcher
ſtaͤmme im Verhaͤltniß zu den adytba chen ſo hoc eich
vilegirt , diefer befchimpfand Ei: fo muß nach —— bie
folgende Vergleichung die nachthel Heften,
—— danken ken —
Auer —* | L |
—J ner tee rm
deſte Ge
und das, daf : 4 dort 218
münıdierhefcheidteften, geahterft en und —— en Männet
zudem: Minifterftellen gelangen läßt, diefe bewirken thatſaͤchlich
beinahe die vollftändige Freiheit. In England aber vollends iſt, nachdem
wman dort zuerfb die als bloße Ausn ah me maßregelin gefährlicher Kriege:
zeit erlaſſene Alienbitt umd dann bie Nochwendigkeit der Paͤſſe und Gar:
tificate aufhob (ſ. oben), gerade fo nie in Norbamerika gefeglich der Regie:
rung und Polizei das Recht entzogen ‚ bie vollſte Verkehrsfreiheit zu beſchraͤn⸗
fen, irgend einen der vielen Fremden aus Stadt und Fand beliebig oder
anbers als wogen Bergehungen gerichtlich aus⸗ ober zurädzumelfen.
Run bedenke man dieſen Zuſanmtenfluß von Fromden der ganzen Welt, man
bedenke die engliſche und amerikaniſche abfolnte Freiheit der Preſſe mb der
Volsverfammiung und die Entſernung anderer deutſcher Polizeinrittel, man
denke fich dann an die Spitze ſolcher Ränder ober Ihrer Städte von ein und kmei
Millionen Einwohner einen deutſchen Minlſter ober Polizeidirector, wuͤt⸗
den dieſe nicht verzweifeln — Nuhe und Ordnung und Thron und Gefetz ımd
Verfaffung auch nur einen Tag erhalten: zu koͤnnen Scheine dieſelben
nun aber zu behaupten, daß fie «6 auch bei uns zahmen guten Deutſchen im
unſeren viel kleineren Werhättniffen und tidtz uflet ſonſtigen deutſchen Regie:
sungsmittel nicht koͤnnden — wie bedenklich ,! fir vieteicht meeſtaͤtsbelerdi
gend. würde alsdann fü Staat: und Rederinz We dieſn rer
sung fein! en in
Moch wir wollen ———— weiter ausfuͤhrrn wir —— mut wohlt
meinende Regierungen zur ernſteſten Erwägung dieſes bedeutungeneflen Um
ſtandes veranlaſſen und fie nn, daß dietenigen Schmeichler und Rath:
geberſie auf — — hrlichſte Weiſo taͤcchen welche es Ihrtm berbvegen,
Gaſtrecht. 380
daß ſogar der nationale Lebensinſtinct ber Selbſterhaltung auch das deutjcht
Volk in ber Liebe und Erkenntniß von Recht und Freiheit und Volksehre taͤg⸗
lich vorwärts treibt, und daß fo hartnaͤckige Fortfezung und Erneuerung ber
uns gegen alle freien Völker und gegen unſere eigene Vorzeit zuruͤckſetenden
grenzenlofen despotiichen Polizeiwillkuͤr gegen die Verkehrs: mie gegen
die perfönliche, die Preß⸗ und Slaubensfreiheit,,‘ die einzige wahrhaft
gefaͤhrliche revolutiondee und regierungsfeindliche Unter⸗
grabung ber Achtung und Liebe der beſtehenden Ordnung, der Fürs
ſtenthrone iſt. Sie wirkt täglich verderblicher. Sie macht bie treueſten
Vertheidiger der Throne bald ebenſo zum Gegenſtand bes Spottes, wie es hie
armfetigen Scheingruͤnde zur Rechtfertigung jener Willkür dereits gewor⸗
ben find
Hätten wir freilich die Deffentlichleit und die Freiheit ber öffentlichen
Meinung conflitutionellee Verfaſſungen und ihren - Hauptoorzug., daß nur
die muthigften, genialften, vertrauensmertheften Männer bee Nation Dis
niftee werden koͤnnten, und nicht fo oft Gegenbilder derſelben, fo bebürfte
es keines weiteren Wortes. Das Bisherige wäre ſchon unnoͤthig. So aber
und bei dem leidenfchaftlichen Reactionskampfe gegen folche freie Werfafjung
befinden wir uns in den Kreifen ber Regierung und des Volks faſt wie in zwei
getrennten Welten. Wir fichen uns mit fo verfhiebenen Anfichten unb
Begriffen gerade von ben wichtigfien Dingen gegenüber, daß oft faſt jebe
Verſtaͤndigung abgefchnitten ſcheint, noch weit mehr :abgefchnitten als ſelbſt
in fruͤheren Zeiten, wo die Höfe eine dem Volk fremde Sprache rebeten. In
den Dunfikreifen der die Wahrheit faͤlſchenden und unterdruͤckenden Hof:
ſchmeichelei und ihrer Verbindung mit ſchwaͤrmeriſcher Romantik und Pieti⸗
ſtik, mit verlebter aber gereister hochmäthiger Artfkokratie, Bureaukratie
und Buchweisheit, glaubt man zuweilen für das deutfche Voll eine ganz
andere Freiheit und Ehre und Treue, eine ganz andere freie Verfaſſung,
Gerichtsoͤffentlichkeit, unabhängige Juſti , Glaubens: und Preffreiheit
u. ſ. w., Alles ganz anders und für dem Hof viel bequemer, als fie die
andern freien Nationen der Erde beſitzen, erfinden und wie ein neues
Lakaienkleid dem Volke anziehen und annehmbar machen zu koͤnnen. Dan
glaubt hochmüthig, den Geiſt ſelbſt machen oder ihn als göttliches Privileg
im Dienfte übermüthiger Willkuͤrherrſchaft gebrauchen zu Einnen, ftatt ihm
und der Wahrheit und Gerechtigkeit und Treue huldigen zu müffen.
Das Volk aber Lächelt oder murrt zu dem Allen und hält feft an ben alten
Begriffen aller freien Völker der Erde von jenen Dingen, von Treue und
Ehre der Völker und Fürften, von Freiheit u. f. f. Es huldigt nur dem wah⸗
rem Geift Gottes in feiner von ihm gewollten Lebensentwidelung. Lebens:
eraft aus Pflicht und Ehrtrieb treiben es zur endlichen thatſaͤchlichen Ueber⸗
einſtimmung mit den freien Voͤlkern und mit ſeinen eignen urſpruͤnglichen
Lebensgrundlagen. Mögen alle Wohlmeinenden mitwirken, daß, fo lange
es noch Zeit ift, jene unfelige Sprachverwirrung endet, daß Volt und Regent
unmittelbar mit einander fi) verfiändigen über das, mas Noth thut. Dann
würde Altes unendlic) viel einfacher und leichter , als «8 fheint.
Da wir aber leider fo weit noch nicht find, jo war zur möglichften
390 Gaſtrecht.
Verſtaͤrkung der öffentlichen Meinung über den hochwichtigen Gegenſtand
dieſes Artikels bier noch an drei beſondere Faͤlle der vielen neudeutſchen Ver⸗
letzungen des Verkehrs⸗ und Gaſtrechts zu erinnern, welche in gedtuckten Ver⸗
handlungen vor uns liegen und unfern Gegenftand In volleres Licht zu flellen
geeignet find.
ifv4L: Dir erfie ift beſchtieben In ber Schrift: Meine Ausmweifung
aus Baden, meine gemwaltfame Ausführung aus Rheins
baiern und meine Redhtfertigung vor bem deutſchen Volke
von Karl Grün. Zürich und Winterthur, 1843. Der Vers
faffer diefer Schrift, nach welcher wir, da wir nie einen euren gegen
‚biefelbe vernahmen, bie Thatſachen wiedergeben, Dr. Grün, ift geborner
Dreufße. Als Profefjor ber deutſchen Sprache und Literatur in Colmar
angeftellt, wurde er 1840 von dem bamals lebhafter erwachten deutſchen
Wationalgefühl und von der patriotifchen Erhebung gegen die frangöfifchen
aßungen fo wer daß er ſich nach Deutſchland zurücfehnte.
55* vollends der taͤgliche Spott der Elſaͤſſer und Franzoſen uͤber dieſe
ber noch unfrelen vislgethällten ——— * ihre —
ſiedelte * Mannheim über, wo indie, Mitwirkung bei ber —
bee Mannheimer Abend-Zeitung übernahm und dieſelbe bald zu bes
ben wußte. Unerwartet wurde er bier am 5. Detbr, 1842 durch Polizeibe-
fehl aus dem babifdyen Staate ausgewiefen und ihm unter Androhung von
perfönlicher Gewalt aufgegeben , innerhalb von drei Tagen Stadt und Land
zu verlaffen. Sein preußifcher Paß war in Ordnung, die badifche Aufent-
haltserlaubniß keineswegs abgelaufen , fein Gontract mit dem Zeitungseigen⸗
thuͤmer erneuert abgeichloffen. Der Lebensunterhalt für fid und feine hoch⸗
ſchwangere Gattin wurbe ihm plöglich zerſtoͤr. Die Angabe irgend eines
Rechtsgrundes — eines andern, als jener gewöhnlich der Willfür
dienende der „„ Staatsgründe”, Eonnte er bei feinen Vorftellungen und
Recurſen bei den Mannheimer Behörden und dem Minifterium in Karlsruhe
nicht erlangen. Sein fittlihes und bürgerliches Leben mußte der Miniftes
rialbirector, nach Einholung aller officiellen Erkundigungen, als gänzlich) ma=
kellos erklären. Nur fo viel ließ man ihm merken, daß drei unbedeutende Zei⸗
tungsartikel mißfälig aufgenommen worden wären. Vergebens ftellte er vor,
daß diefelben nicht von ihm, fondern von dem Zeitungselgenthümer herrührs
ten, indem er, weil er Bein Badenfer war, nur als Literat, nicht ale eigents
licher Redacteur für die Zeitung wirken konnte, daß der eine Artikel ja felbft
von der Genfur als unanftößig durchgelaffen, die zwei andern fcherzhaften
Artikel aber von der Cenfur ganz oder theilweife geftrichen und das Ges
firichene nicht gedrudt worden war, daß feine ſaͤmmtlichen Artikel — fo
beflätigt e8 in ber That der Abdruck derfelben in der Schrift — ernfte, loyale,
beutfch-patriotifche Geſinnung und vorzüglich gegen feinen König die höchfte
Ergebenheit und Anhanglichkeit bezeugten, daß auch nicht eine einzige Klage
-
Gaſtrecht. 891
ober Rüge über fein Leben und Wirken im Babifchen vorlag. Trotz alle
dem erklärte ber preußiſche Befandte in Karlsruhe und ſpaͤter das Mini⸗
ſterlum des Auswärtigen, ebenfalls, ohme auf irgend eine Verſchuldung des
Dr. Grün nur hinzudeuten, daß fie die verlegende,, fo ſchwer befchädigende,
von badifchen (vollends vermittelf der requiritten cheinbaierifchen) Behörden
fhenungsios und beichimpfend an dem preußifchen Unterthban ausgeführte
Landesverweifung „als rein innere badifche Angelegenheit anfähen, um
die fie direct ſich nicht befümmern koͤnnten (S. 136. 155)”. Der badiſche
Minifterialdicertor Eichro bt, der ſich bem perfönlich bei ihm Hlife fuchen-
den Verfolgten als Urheber der Maßregel bekannte, fagte ihm: „wer uns
‚am Lande ftört, mit dem machen wir feine Umflänbe, den putzen wir
„ohne Weiteres hinaus”. (&. 138.) Die Behörden vertveigerten
felbft den Suspenfiveffect bis zur Entfcheidung bes Recurfes im Miniſterium,
fo daß Grün, als während feiner Reifen nad) Karlsruhe und zurüd die
drei Tage abgelaufen waren, um perfönlicher Mifhandlung zu entgehen,
ſchnell nach Rheinbaiern flüchten mußte, ohne nur feine Sachen und es
ſchaͤfte irgend ordnen zu können. Ja in Rheinbaiern, obgleich ihm ber badi⸗
ſche Minifterialdicector felbft, flatt der Exrtheilung des Aufichubes bis zur
Miniſterialentſcheidung gerathen hatte, diefelbe dort abzuwarten, und obs
gleich fein preußifcher Pag von der Mannheimer Stabtdirection ohne allen
Beifag und auch von dem baieriſchen Ortsbürgermeifter vifirt war, wurbe er
auf babifche Requifition noch vor biefer Entfcheidung auf dem Schub mit
Sensdarmeries Begleitung, von deren Schimpf und Schrecken ex mit Mühe
bie hochſchwangere Gattin rettete, in's heffifche Gebiet fortgeſchafft. Einer
Beurtheilung der ganzen Behandlung und einer Darftelung bes peinlichen
Eindrucks, den biefelbe macht, bedarf es nicht. Den Verfafler indignirte
und empörte fie fo tief, bag er, fchon als-er feine Darflellung derfelben
ſchrieb, prophezeiete (S. 146), daß fie feine loyale patriotifche Richtung
wohl in die aͤußerſte rabicale ummanbeln würde. Und er hat richtig pros
phezeit und ift im diefer legteren im ber That rabical, energiſch und thätig
I. Der zweite Fall, die Ausweifung der Abgeordneten von Itz⸗
fein und Heder aus Berlin und dem preußifhen Staat am 23. Mai
1845, ift nach dem Eindruck, den er nach den Perfönlichkeiten und ber Stels
lung ber beiden Männer machte, zu einem biftorifchen Ereigniß geworden.
Ohne bier diefen Fall neu darftellen und beurtheilen zu wollen, begnügen
wir uns nur, aus ben Öffentlichen Verhandlungen der II. badifchen Kammer,
bie das Öffentliche Lob der Mäßigung erhielten, einige Stellen, welche bie
gerechte Forderung eines freien Verkehrs für Deutfche im deutſchen Vaters
Lande unterflügen, nach ben in ber (cenficten) Landtagszeitung v. 1846
&.365 ff. gegebenen Protocolien®) hier mitzutheilen. Um aber das
Bericht diefer Ausführungen auch nicht etwa durch einen Schein einer
badifchen gereisten Stimmung zu ſchwaͤchen, machen. wir noch befon-
ders darauf aufmerkſam, daß wir ja felbft ausführten, daß bie hier vorge
6) Der Abdruck ber officielen Kusgabe reicht noch nicht fo weit, 1
son‘ | Gaſtrecht.
allene Kraͤnkung des Gaſt⸗ und freien Verkehrscechts lelder von andern
deutſchen Regierungen und der badiſchen ſelbſt — den Rechtsgrundſaͤten
nach — auf gleiche Weiſe verübt, auch gegen preußifche Unterthanen vers
übt wurde, und daß die preußifche Regierung. ganz confequent mit ihrem
fpäteren Verfahren — obwohl nach unferer Anficht im Rechtsierthun — bies
ſes als rein innere Angelegenheit ber ausweifenden Regierung erklärte. Aber
gerade weil diefer Rechtsirrthum in fo richtiger Sache noch jet Befteht, ift
die möglichfte Widerlegung deſſelben Pflicht des Publiciften.
Der Abgeordnete Welcker brachte in ber Öffentlichen Sisung am
1. Juli 1846 die Sache zur Sprache, fo fpät, um, wie er andeutete,, jeden
Schein Leidenfchaftlicher Auffaffung diefer Angelegenheit auszufchließen, boch
ohne dadurch der ganzen Bedeutung der Sache etwas vergeben zumollen Ex
fagte nach kurzer Erzählung de8 Hergangs unter Anderem: „Meine Herrm !
Zwei Ehrenmänner, zwei beutfche Bürger, ich will den Nachdruck niche
darauf legen, baß fie vom Volk ermählte Abgeordnete diefer Kammer find,
mir däucht, der Titel „deuticher Bürger‘ aus dem Großherzogthum Baden
ift ein hoͤchſt ehrenvoller Titel; Männer, denen nicht das Mindeſte zur Laft
gelegt werben Eonnte, find aus einem beutfchen Staate ausgewiefen worden?!
Nachdem die eigenen Bewohner Preußens über den Schritt ihrer Regierung
fih in einer Weife ausgefprochen haben, mie es gefchehen tft, nachdem
Deutſchland, und ich darf, nad) dem, was über diefe Maßregel in englis
ſchen und franzoͤſiſchen Zeitungen zu lefen war, wohl fagen Europa, fich
audgefprochen hat, darf man wohl mit Recht annehmen, daß die peeußifche
Regierung nichts verfäumt habe, um auf Seite der beiden ausgewieſenen
Ehrenmänner eine Schuld zu finden, welche die Ausweiſung rechtfertigte.
Auch, der kleinſte Grund wuͤrde ihr groß genug gefchlenen haben. Allein man
hat nichts gefunden. Sie hatten vollgültige Paͤſſe und felbft der Mangel
derfelben Bann nad) den preußifchen Geſetzen nicht als Grund zur Ausweiſung
angefehen werden. Sie wurden gezwungen, ihre Reiſe aufzugeben, bie
Koften, die fie ihnen verurfacht hat, find vergebens gemacht; das iſt aber
eine Kleinigkeit gegen die Verlegung bes Rechts, der Ehre und Würde der
badener und der deutfchen Nation. Das allgemeinere Moment brauche ich
kaum hervorzuheben. Meine Herren, was heißt dad, wenn man fagt, es
giebt eine deutfche Nation? Deutfche Bürger find hinausgewieſen worben
aus dem Land, das deutich fi nennt, ohne Urfache, wie Halunken, die
man wegen Verbrechen verurtheilt und gegen welche die fchimpfliche Strafe
der Vermeifung aus dem Lande ausgefprochen wird. Zwei deutfche Bürs
ger find aus einem beutfchen Lande verwiefen worden, ohne den Gefandten .
ihres Hofes ſprechen und als Intercedenten gegen eine fo gewaltthätige Maße
regel aufrufen zu dürfen, die um fo auffallender bhervortritt, wenn Sie bes
denken, daß uns noch ein anderes Band mit Preußen umſchlingt. Es muß
volfends ganz unbegreiflich erfcheinen, da durch den Zollverein ein freier Hans
del und eine Verkehrsverbindung zwiſchen unferem und dem preußifchen Staat
ftattfindet. Diefe beiden Männer haben fi von unferer Regierung oültige
Reiſepapiere geben und von dem Vertreter der preußifchen Regierung vifiren
laſſen. Ich bedaure die Maßregel der Paßeinrichtung, fie ift nichts als eine
Saftrecht. 80
Beſchraͤnkung deu Freiheit, eine polizeiliche Bevormundung. In Amerika
ar: In: England find die Paͤſſe als unnöthig aufgehoben worden. Aber
wenn man Raſſe bedarf, foift das Viſa vom Vertreter des betreffenden Staats
eine foͤrmliche Reception, in das Land deffelben zu reifen. Mer den Schulds
loſen wieder zuruͤckweiſt, der verlegt Grundfäge, welche feine eigene Würde
betreffen, er verlegt feinen elgnen Geſandten, er thut, — ich will keinen
ſtaͤrkern Ausdruck gebrauchen — im hoͤchſten Grabe Unrecht, er verlegt nicht
blos im Allgemeinen die Pflicht des Gaſtrechts, nein, er bridyt das bereite
gegebene Gaſtrecht, das allen Völkern ber Erde, ſelbſt den unciviliſirten Ara⸗
been heilig iſt, er thut es, indem er aufgenommene Säfte mit Polizeigewalt
beſchimpfend aus dem Lande herausjagt. Was ift denn noch rechtlich, wenn
ſolche befhimpfende Behandlung in das Belieben einer Regierung geſtellt
it? Ich habe hier eine Schrift gegen die Vorwürfe, welche man der prette
Fifchen Reglerung gemacht hat, in der Hand, und body muß biefe zugeben,
daß ber voͤlkerrechtliche Schug beſteht. Es iſt biefe Schrift eine ſolche, die
man als halbofficielle Rechtfertigungemaßregel bes betreffenden Staats hat
anfehen wollen. Ich weiß nicht, ob dieſes der Fat if. Ich muß geflchen
zur Ehre des betreffenden Staates und der Regierung, von welcher es fich
handelt, ich will dies nicht annehmen , id) brauche es nicht anzunehmen und
kann es nicht annehmen. Ic habe einen Privatfchriftfteller im ber Hand.
Diefes Buch hat die Auffchrift:
„Ein völkerrechtliches Wort aus Beranlaffung ber Auswelfung des Hof⸗
gecichterath6 v. Itzſtein und Dr. Heder aus Preußen.” Berlin, bei Duͤmm⸗
ler 1845.
Diefe Schrift findet die Ausweiſung in der Orbnung, es fel von kei⸗
ner Rechtsverletzung die Rede. Ich brauche aber keine audern Schrift⸗
ſteller als diejenigen, die er ſelbſt anfuͤhrt, um dieſen Satz zü widerlegen.
Er fuͤhrt hier z. B. die Stelle an von oh. Jak. Mofer: ein Souveraͤn iſt
ſchuldig, den Unterthanen anderer Souveraͤne In Friedenszeiten die freie
und ſichere Durchreiſe durch feinen Staat zu geſtatten. Es iſt alſo eiwe
Rechtsſchuldigkeit, Einen nicht auszuweiſen. Moſer fuͤgt —— Hin
zu: ‚‚Indeß leidet doch dieſe Megel mancherlei Abfälle und innen nach But
achten eines Regenten getoiffe Perfonen davon ausgefchloffen werben”; un
fügt weiter hinzu: „um ausgewiefen werden zu koͤnnen, muß man das’
Verbot wiffen, nur dann können Einen bie Nachtbeile: treffen.‘ Arhns‘
lich ſprechen die obigen angeführten Schriftfteller. Sie fehen alfo, daß es
als Recht anerkannt iſt. Wenn nun diefe voͤlkerrechtlichen Schriftfteller fas
gen, die Regierung kann in gewiffen Sällen eine Ausnahme von biefem
nei machen, fo muß man bedenken, daß die Schriftfteller, die hier ſchrei⸗
ben, auf rein völkerrechtlichem Boden ftehen. Da handelt e8 ſich um Staat
degen Staat. Hier handelt es ſich nicht um die Innere Verfaſſung und Vers
waltung eines Staates umd die dadurch gegebenen näheren Beflimmungen
dieſes Rechts. Die Möglichkeit einer Auswelfung unter beftimmten Bedin-'
gungen giebt auch England zu, welches doch regelmäßig den Miniftern-Eeine
Gewalt einriumt, einen Dann aus dem Lande zu mweifen. Wenn nun
auch Berhältniffe eintreten Finnen, wo eine Ausweiſung rechtlich möglich
39 Gaſtrecht.
ft, — iſt dann das unter coilifieten Völkern fo zu verſtehen, daß es nach rel⸗
ner Willkür geſchehen koͤnnte ? Nein, England, als es jenes allgemeine Recht
befchränten wollte, madıte mit Zuftinnmung bes Parlaments 1793 ein Ges
ni bie Fremden⸗ Bill‘, worin unter beſtimmten Bedingungen ben Mint:
für die Zeit des Krieges ein ſolches wer rn men geftattet wurde,
und nad dem Frieden hob es diefe Ausnahme wieder auf. Somit ergiebt
u das, was im Voͤlkerrecht unbeflimmt gelaffen werden muß. Nun glaube
meine Herren, daß die preufifche Negierung — darunter verftehe ich ganz
allgemein Diejenigen, bie Namens der Regierung gehandelt haben, wer fie
Bd; weiß ich nicht, denn bisher Ift Niemand vorgetreten als das Inſtru⸗
ment, Herr Hofmann, ber fich felbft fo nannte — die Regierung, welche
biefe Werleyung beging, twürbe diefelbe nicht begangen haben, wenn fie einen
Abgeordneten bes englifchen Parlaments vor fidy gehabt hätte: Nein, meine
Herren, ich bin übelzeugt, nicht einmal an einem engliſchen Schufter hätte
man ſich vergriffen. Ebenfo nicht an einem Amerikaner, Man würde
ausgefprochen haben: bier müffen wir das Rechtsverhaͤltniß mit ber andern
Nation, mie Amerika, mit England oder Frankreich, achten. Wir riski—
ren die entfenlichften Unannehmlidykeiten, wenn wir es wagen wollten, grund»
108. einen Engländer, einen Amerikaner ober Franzofen aus dem Lande zu
jagen. Nun, meine Herren, bee Deutfche hat das ſchmachvolle Gefahl,
rechtlos zu fein, ja, meine Herren, rechtlos im eigenen Vaterlandel Es
ift aber die Sache von noch viel größerer Bedeutung für unfere eigene Regie:
rung, das Land und die betreffenden Männer, wenn man das Verhältniß ges
nauer in’® Auge fat.
Meine Herren, Sie Eenmen ben Art. 18 der deutfchen Bundesacte. Er
enthält das auf ein Minimum berabgefunfene Nationalrecht der Deutfchen,
daß gleicher Schutz allen beutfchen Unterthanen zugeficdyert wird. — In dem⸗
ſelben Artikel, welcher zugleich das wichtigfte aller deutfchen Nationalrechte
enthält, das zunleich den Schug Alten gegeben haben mwürbe, wenn nicht
duch Bundesbefchluß das Recht der freien Preffe genommen worden wäre,
ift feſtgeſetzt, daß jeder Deutfche in Deutichland Grundeigenthum erwerben
und befigen kann, ohne deshalb in dem fremden Staate mehreren Abgaben und
Laften unterworfen zu fein, al& deſſen eigene Unterthanen. Sich fage nun,
wenn man in einem andern Staate Grunbeigenthum, 5. B. ein Haus, erwer⸗
ben und befigen kann, fo muß man aud) das Fleinere Recht haben, in diefes
Land zu reifen. Denn das größere Recht fchließt das geringere in fih. Wenn
ich das Recht haben fol, in Würtemberg ein Landgut zu Eaufen, fo muß ich
auch das Recht haben, dorthin zu reifen und den Kauf abzufchließen. Sch
muß alfo aud in Würtemberg wohnen koͤnnen, wenn aud) nicht ald Unter:
tban, doch als Gutsbeſitzer. Es ift dies ein unmittelbarer Ausflug des Ei»
genthumsrechts, daß ich auf meinem Eigenthum wohnen kann. Ober will
man den Staatsmännern und Fürften, welche damals in einem ſchoͤnen
Mommt die Brundfäge der deutſchen Bundesacte abfaßten, die Abficht un»
terfchieben , fis hätten zum Dank dafür, daß die deutſchen Völker ihre Throne
gerettet haben, um das beutfche Vaterland wieder herzuftellen; will man, fage
ih, annehmen, die Fuͤrſten Hätten fagen wollen, daß es ihnen mit dem Arti⸗
| | Gaſtrecht. 898:
Lei 18 nicht Ernft ſei; was dort beſtimmt worden, ſei nur illuſoriſch, fie
hätten fo fagen wollen, du barfft dir ein Haus kaufen, aber wir laſſen bich
micht zu demfelben und nicht darin wohnen. Einen ſolchen Unſinn wird man
den Fuͤrſten nicht zutrauen wollen bei ihrem Zugeſtaͤndniß des allgemeinen
Seaatctbuͤrgerrechts, wie man es nannte.
—* der bekannten Proclamation von Kaliſch verſprach insbeſondere
allen deutſchen Staatsbuͤrgern die Wiederherſtellung eines ehr⸗
aan beutfchen Reiches ; aus bem ureigenen Geiſt ber Deutfchen wollte
mean Deutichland wieder erfichen laſſen.
: Darum richtete man bie Aufforderung nicht blos an Souveraͤne,
man forderte jeden Deutfchen auf, einzuftehen mit Gut und Blut, er
füche unter ben Zürften oder in den Reihen bes Volle. Dawar ber Deutfche
ein ſelbſtſtaͤndiger und freier Bürger. In ſolchem Sinne erklaͤrten die Be⸗
vellmächtigten des Könige von Preußen in den Verhandlungen über bie
Bunbebacte und jenes deutfche Bürgerrecht: „der König fieht es für eine
Negentenpflicht gegen feine Unterthanen an, bdiefe wieder im eine Verbindung
zw bringen, worin fie mit Deutfchland wieder eine Nation bilden und die
Vortheile genießen, welche daraus für bie Mitglieder berfelben erwachfen.”
Sie fügten am 18. Februar 1815 nad Napolson’s Ruͤckkehr hinzu: „bie
Errichtung einer deutſchen Verfaffung ift nothwendig nicht blos In Abficht
auf die Verhaͤltniſſe der Höfe, fondern ebenfo fehr zur Befriedigung der ges
** Anſpruͤche der Nation, die in der Erinnerung an die alte, nur durch
ſten Erei gniffe untergegangene Reichsverbindung von dem
2 durchdrungen iſt, daß ihre Sicherheit und Wohlfahrt und das Fort⸗
bluͤhen Acht vaterlaͤndiſcher Bildung groͤßtentheils von ihrer Vereinigung im
einen feften Staatskoͤrper abhängt, eine Nation, die nicht in einzelne Theile
zerfallen will, fendern überzeugt ift, daß bie Eräftige Mannichfaltigkeit der
beutfchen Voieeſt ſtaͤmme nur dann wohlthaͤtig wirken kann, wenn ſich dieſel⸗
ben in einer allgemeinen Verbindung wieder ausgleichen.“ Dieſes Na⸗
tionalband iſt bei der voͤlkerrechtlichen Natur des Bundes auf jenes Mini⸗
mum ber deutſchen Staatsbuͤrgerrechte beſchraͤnkt worden, welche der Art.
18 der Bundesacte enthält. Diefes Minimum murbe, meil nichts Brößes
zes zu Stande gebracht werben konnte, als unfchägbar gehalten, und man
wird doch nicht auch dieſes preisgeben wollen. In der Exöffnungsrebe
des deutfchen Bundes wurbe dieſes allen Staatsbürgern verlicehene Recht als
einse der herrlichfien Grundzüge bes beutfchen Zuſtandes gepriefen, weil
Dadurch Die Deutfchen mit dem Band eines Nationalbürgerthums umſchlun⸗
gen werben, und der Bundestagegefandte, ber die Eröffnungsrede hielt, ers
Härte dieſes Band als ein ſolches, das zum Stolz ber deutfchen Nation und
ihrer Kraft gegründet wurde. Und nun, meine Herren, wo iſt nun jegt noch
eine Entſchuldigung zu finden?! Mehr ale 365 Zage find umfloſſen, feit-
bem ganz Deutſchland diefen Schritt in Preußen mit Entruͤſtung aufge
nommen bat. Unſere Regierung mit inbegriffen, ift das babdifche, ift das
beusfche Vaterland noch immer nicht befreit von der Schmach, welche durch
diefen Act ihnen zugefügt wurde. Laffen Sie mid, meine Herten, mit
tiefflem Schmerze hinzuſetzen, diefer Act ift leider nicht der einzige ähnlicher
2. Gifte
Ast
u er der Unterdeiidung d der. sPeöffe umd noch anderer Freihelts⸗
rechte Leicht serftälich, — biefe Veriebung befonders in’s Auge gefaßt
batıı Fuer alten beutfdyen Staaten um ſo geößeres Aufſehen erregt;
als bie beiden betreffenden Männer im Volke befonders hervorragen. Meine
Herzen, der Sinn der" Engländer würde in diefer Beyiehung ein anderer ge=
weſen ſein. Wenn der geringfte Bürger Englands in diefer Weife verlegt
morben waͤre, fo hätte es benfelben Eindruck gemacht, es hätte die gekraͤnkte
‚ Nationalehre Englands eine Genugthuumg hervorgerufen. Leider iſt aber
unſere eigene Regierung in ftüberer Zeit von aͤhnlichen Vorwuͤrfen
jerfeei geblieben. Jener Schriftſteller ſagt ferner: Zum Reifen haſt
‚aber man muß wohl unterſcheiden wiſchen einem jus quaesituim
und einem allgemeinen Recht· Das Lehtere beſtehe nur fo lange, als es
‚ber Meglerumg nicht beliebt, es aufzuheben ; jeder einzelne Act des Beliebens
hebt e s auf. Warum nun die Bundesrechte Feine wohlerworbenen Rechte
fein follen , erflärt und biefer Mann nicht. Es kann diefes aber nicht aufe
fallen. Wenn Sie biele Schrift betrachten, ſo werden Sie darin
finden, — * wenn diefe Anſichten im Preußen wirklich gaͤlten, Preußen fo
weit vom uns entfernt waͤre mie eine Inſel der Suͤdſee. Hier herrſcht
durchaus der Grundgedanke vor, welchen Friedrich der Große als einen hoch⸗
Wahn bezeichnete , ber. bie gürften unglucklich mache und die
wonach ein ſchwacher Sterblicher die Macht baben foll, mit Willkür alle Ges
ſetze zu brechen‘, und wo es eine Auflehnung genannt wird, wenn man ſich,
mie dies von ben beiden Männern, von Seftein und Heer, behauptet
wird, fo viel herausnähme, mit freiem Urtheil über die Handlungen ber
Regierung. fid) als Richter zu erheben; wo ferner geltend gemacht wird, daß
es dem befchränkten Unterthanenverſtande nicht möglich fei, eine ſolche Re⸗
gentenhandlung zu beurtheilen.. Solche Gründe find eine Beleidigung für
den Staat felbft, den fie vertheidigen wollte. Selbft die beiden größten preu⸗
ßiſchen Zürften, der große Kurfürft und Friedrich der Große, haben dies
ſes ungluͤckliche göttliche Mecht verworfen, das fchon mehrere Throne geftürzt
hat. Der große Kurfuͤrſt vertheidigte feinen Schriftfteller Thomafius, ale er
das göttliche Recht der Fuͤrſten zuerft ernfthaft angriff und dann einem bei⸗
ßenden Spott unterwarf, und als man felne Schrift in Kopenhagen auf
dem Marktplag verbrannte, da erklärte fich der Kurfürft für die Grunde
füge biefe® großen Rechtsgelehrten und Philofophen und forderte Genug:
thuung. Friedrich der Große hat ausgefprochen, daß man verrüdt fein
muͤſſe, um glauben zu können, daß Zaufende von Menfchen gefagt hät:
ten, wir geben dir die Gewalt, unfere Gedanken nad) deinem Willen zu lei⸗
ten und nach Willkür mit ung zu verfahren. Nein, fagte der große König,
fie haben im Gegentheil gefagt, wir fchließen einen Vertrag mit dir ab, daß
du unfere Freiheit ſchuͤtzeſt. Nun, nachdem idy diefe Schrift nicht ale
officdele Quelle für das Syſtem der Hegierung von Preußen anfehen kann,
bleibt, wie gefagt, der ganze Act der preußifchen Negierung unbegreiflich.
Dh bie betreffenden Ehrenmaͤnner bei ſolchen Verletzungen, wo fie natuͤr⸗
ei
Ulich auch bie Ehre des Vaterlandes zu vertheibigen hatten, fich.am bie legitime
Behoͤrde wandten, verſteht ſich von ſelbſt. Sie erhleiten durch den Hru.
Winiſter des — auf ihre Eingabe. folgende Erklaͤrung: Obwohl
bie Herrn Redlamanten , wie wiederholt behauptet wird, von ihren Paͤſſen
Gedraud) zu machen unterlaffen haben, was auf die Forin des gegen fir ein⸗
gehaltenen W erfahrene nit ohne Einfluß geblieben ift, fo erſcheine doch
durch diefen Umſtand allein die Are und Weiſe, wie ſie an ber Fortſchung
ihren Reife gehindert worden, nicht. gerechtfertigt und werde baber: auch von
der koͤnigl. preußifchen Regierung wicht gebilligt. Uebrigens feien. aber aller»
bings erhebliche Gründe, in vorbergehenden Werhättniffen liegend, Für die
Polizeibehoͤrde vorhanden gemefen, um bie Reclamanten jur Unterbredieung
‚ ihrer Reife zu veranlaffen. Ohne auf eine-Erdrterung dieſer Brände weiter
einzugehen, muͤſſe ſich die Eönigl. preußiſche Regierung auf die Berficherung
beſchraͤnken, daß durch die von den Verhaͤltniſſen gebotene Maßregel ein⸗
Ehrentaͤnkung der Reelamanten in keiner Weiſe beabfichtigt worden Fei:‘!
Run; meine Herren, bier. habe ich wohl eine Erklaͤrung in Haͤnden, bie ich
ſehr hoch hinauf, wenigſtens in Beziehung auf bie preufifchen Verhaͤltniſſe,
bestehen ru. Ich achte die beſtehenden Verhaͤttniſſe, ich achte. das Ber⸗
hatentj unſerer Regierung: zu siner andern Bundeorrgierung, zu einer NMegie⸗
sung, welche durch ben Zollverband in näherer. Verindung mit uns ſteht
Darum will ic, am hier nicht verlegend zu fen, eine Kritik dieſer GErklä⸗
an wie ſie gegeben morben iſt, nicht abgeben. Ich will diefe Aittk den
atsmaͤnnern Europa's uͤberlafſen, fie werden, ‚glaube ich:, mit mit
en daß s& cine. betrkbemde Erklärung i,.betrübend für das betreffecibe
Gouvernement. Sie werden mir jedenfalls zugeben, daß dieſe — 7*
bonet Weiſe⸗ eine Genugthuung fuͤr die badiſche Regierung, für sine fouveraͤne,
eine im:boppelten Bundesverein ſtehende Regierung iſt. Wer kann ſich bes
mit begnichen, und tols- Tann eine Regierung zufrieden fein mit. einer folchen
Erklaͤrung, eine Regierung, die ihr eigenes Legitimationspapier: ſich vor. Die
Fuͤßs geworfen fieht? Eine Regierung, weil fie mehrere Millivnen Untep⸗
thalken: mehr zähle, behandelt einm andern Staat; ‚wie ſich diefes nimamn
mehr behandeln laſſen darf. Ich weiß nicht, mas Wahre an dir Sache
iſt, aber öffentliche Btätter Haben behauptet, Graf v. Arnim, Minifier des
Innern, der aus dem Mmiſterium getreten, habe darum feine Stells werles
ven, weil er die Verantworklichkeit dieſer Maßregel auf fich genommen habe-
Sch Hehe nicht an, zu erfläten,, werm biefe Thatfache wahr und officki bes
kraͤftigt waͤre, fo würde ich fie he tine volftändige Genugthuung halten.
Denn das iſt unter Verhätmiffen von Staat zu Stadt angenommener
Grundſatz, daß durch Beftrafung der ſchuldigen Behörden Benugthunng
gegeben werben kann. Das iſt aber nicht officiell und es liegt alfo: darin
keine Genugthuung. Es iſt hier die badiſche Regierung noch immer beleidigt,
«8 find: die betreffenden Maͤnner immer noch ſchwer gekraͤnkt. Es handelt
ſich wontſtens noch immot um eine Genugthuung für Die Regberung. Denn
ich mag nicht von der Genugthuung für die betreffenden Maͤnner ſprechen
ich glaub⸗ nicht, daß ſte noch einer beduͤtfen. Aus Köln, Berlin, ba ge
zenNinigraich Preußen: und aus ganz Deutſchland, übernliiher. —RXX
| MM; ßrege Rechtsgrund ſi
uf Da "2 glaube, fe ehem hoc in der Meinung de Baterlatte
bes: uUnd es gereicht nicht zum Ruhme für die Maßregeln der Megierenden,
wenn foldye Erklärungen Seo Dacoigenen Hnterthänen gegen.Becimde fie tref⸗
fen. Aber unfere Regierung: muß fidy noch eine Genugthuung a
feiss num, daß bie Regierung eine Erklärung fordert, daß der betreffende Ber
amte feine Stelle barum verloren habe, weil er die Verantwortlichkeit biefei
Mafregel übernahm, oder auf irgend eine andere Weiſe, ſonſt leidet da⸗
—— Genugth in's U ff Für
andere gthuung “ wi en für un⸗
—2 und Volksehre als Deutſche und Badener. Wir
el rügen, ſchon darum, damit foldye Acte fich nicht
erneuern, Wir muͤ —* an die Regierung ſtellen, daß fie
&ir in das "rotöcol diefes Haufes folgenden Antrag c an die — auf⸗
Die Kammer erflärt zu Protocol: „Die Großherzogliche
Regierung wolle auf ben geeigneten Wegen die zur St-
herung der deutfhen Mationalehre und der National:
einheit wefentlihe Erklärung der hoben dbeutfhen Re:
giezungen erwirken, daß die Anerkennung eines allgemeis
nen deutfhen Nationalrehts für alle Deutfchen, im Ars»
tikel 18 der Bundesacte, und insbefondere die Anerken⸗
nung ihres Rechts, in jedem Bundeslande unter den gleis
hen gefeslihen Bedingungen wiedieLandesbürger®rund>
eigenthum erwerben und befigen, alfo aud, wie fih von
ſelbſt verſteht, zu dieſem Zweck das Land zu jeder Zeit be»
treten und ihr Eigenthum bleibend bewohnen zu dürfen,
auch das geringere, dennoch aber hoͤchſt wihtige Recht in
fi fchließe, daß jeder Deutfhe unter Beobahtung der
allgemeinen RLandesgefege in allen Bundesländern unges
hindert reifen und zeitweiſe fih aufhalten dürfe“
Der Staatsminifter der auswärtigen Angelegenheiten Hr. v. Duſch
ertsiderte hierauf von der Regierungsbant aus: „Obgleich e8 mir nicht mög»
lich war, Alles zu verftehen, was der ehrenmwerthe Here Abgeordnete gefpco:
chen bat, und ich a. vieleicht Manchem von, dem, was er vorgetragen,
widerſprechen muͤßte, ſo erkenne ich Doch mit Vergnuͤgen an, daß er in feiner
Gaſtrecht. 899
Weiſe heute mit beſonderer Maͤßigung über biefen Gegenſtand gefprochen hat.
Sie werben «8 begreiflich finden, daß es mir leid thun muß, daß dieſer Bes
genftand oͤffentlich zur Sprache gekommen iſt, denn jede Öffentliche Beſpro⸗
chung eines Begenftandes von fo empfindlicher Natur kann nicht andere ala
nachteilig auf eine gänzliche Ausgleihung in biplomatifchem Wege wirken;
zu der ich die Hoffnung noch nicht ganz aufgegeben habe. Die koͤniglich preu⸗
Sifche Polizeiverwaltung hat in bdiefer Angelegenheit ſich eines Formellex
echte bedient®), das ſich vom völkerrechtlichen Standpunkte aus nit
beftxeiten läßt umd das der badiſche Staat felbft ſchon in manchen Fällen
ausgeuͤbt hat”). Die Sache felbft aber werben wir um fo weniger zu billigen
oder zu vertheibigen haben, als wir nicht im der Lage find, bie Gründe beur⸗
theilen zu 85 Die Regierung hat e8 vielmehr für ihre Pflicht gehalten,
auf das an fie gerichtete Erſuchen eine dringende Reclamation an die koͤnigl.
preußifche Regierung zu richten, und wenn biefe beiden Herren noch nicht
die vollftändige Befriedigung erhalten haben, die fie nothwenbig wünfchen
möffen, fo werden fie doch auch nach dem, maß fie eben von dem Herrn Reb⸗
ner vernommen haben, nicht verfennen , baß ihnen durch Vermittelung ihrer
Regierung hinfichtlich des Ehrenpunkts volles Genuͤge gefchehen ift, fo wie
ich denn auch Hinfichtlich der formellen Behandlung diefer Differenz, bie noch
nicht ausgeglichen iſt, von Seiten der koͤnigl. peeufifchen Regierung nur bie
volle Anerkennung ausfprechen kann.
Ich will nur noch weiter bemerken, bag allerdings ein größerer gemein⸗
ſchaftlicher Rechtsſchutz für die Bürger in den verfchiedenen beutichen Ländern
zu wünfchen fein würde, und ich zweifle nicht, daß bie großh. Regierung, wie
ich ſelbſt, gern bereit fein wird, zu Beſtimmungen hinzuwirken, dis bare
auf hinzielen. Laſſen Sie mich Ihnen noch ben Wunſch an's Herz legen,
daß diefe Discuffton nicht weiter geführt werde; oder, wenn Sie es wollen,
fo fchlage Ich Ihnen eine geheime Sigung vor, worin ich im Stande wäre, noch
weitere Erläuterungen zu geben. Won meinem Standpunkte muß ich durch⸗
aus wünfchen, daß die Discuffion nicht Länger fortgefegt werde.“
Es unterflügte nun ber Abgeordnete Peter (früher Mitglied des oben
ſten Berichtshofes) die geftellten Anträge. Er [agte babei unter Anderem .
„Meine Derem! daß der Menſch mit dem Menſchen verkehrte, daß er alſo
felbft auf die größten Entfernungen ihn befuchen bürfe, iſt doch wohl eine
Sorderung ber Moral und ein für ſich klares angeborenes Recht. Was
hierüber ber gefunde Verſtand uns fagte, gelehrte Männer, deren Urtheil die
gebildete Welt hoch zu ehren gewöhnt iſt, wie ein Montesquieu, Kant, Mes
fer, Zachariaͤ u. A., haben es laͤngſt betätigt. Sie haben nachgewieſen, da
jeder Staat, jeder die Staatsgewalt ausübende Souveraͤn ſchuldig ift, dem
Fremden in feinem Lande eine freie und eine fichere Reife zu geftatten; nur
Kriegszeiten begründen eine Ausnahme, und nur Vergehen, welche der
6) Rach den obigen Ausführungen wäre biefes nur bann wahr, wenn ein
allgemeingefeglidher, rehtlih zuläffiger KRechtsgrund nads
gewiefen wäre Anmerk. der Redact.
7) eeider! Anmerk. der Redaet.
im bet vilifietet Melt ash
a ae
—— | |
ser De Ort de Sefftinung and Gebiistibeiie Aue
in den Augen der koͤnigl. ptenfifchen Behörden als eine morali⸗
erſcheinen nun/ banmiltneß:eine foldhe,. don der: wie, mehr
* weniger ,-faft Alte nngefterkt ſind z denn auch wir tollen die *
Dann
ihrer Wahrheit. Uns allen; ja dem ganzen Kern des badifchen Volkes
müßte man alsdann bas Betreten des preußifchen Bodens
fol man uns aber auch nicht ferner ‚von! einer deutſchen Nation, von
einem deurfchen Bunde und feiner Verfaffung , von einem Art. 1300er 18 ıc,
der Wundeehete von einer zunehmenden Einigkeit oder einem geſicherten
Rechtsguftand In Deurfchland, und nichts mehr von deutfcher Treue und
Gtauben Sprachen. "Auf diermaterielie. Veruͤbung bes bezeichneten Us
rechte auf die bundes eſewideige Hemmung der Reiſe unferee Mitbürger
bar: ſich indeſſen die preußiſche Polhzei nicht beſchraͤnkt; ſondern fie hat noch
eine hoͤchſt kraͤnkende Form hinzugefuͤgt. Mit dem Dictat einer Friſt von
nicht ganz dritthalb Stunden zum Vollzug wurde ihnen die Nothwendigkeit
ber Ruͤckkehr eroͤffnet, und zwar unter Androhung einer bewaffneten Escorte;
Alles ohne botgaͤngiges Gehoͤr, ohne Angabe eines Grundes. Wie Ver:
brecher ober Vagabonden wurden dort Männer fortgetrieben, bie in Baden
oder andern Berfafiungsftuaten von Seite des Volkes ein Gegenſtand ber
befonderen Berebtung find! — Wird der Sachſe und MWürtemberger, ber
Badener wegen feiner conſtitutionellen Grundfäge in Preußen heute mißhan⸗
beit und vertrieben, morgen an der Seite des Preußen ebenfo freudig ben
genntinſamen auswärtigen Feind befümpfen; wird er fich für das. bundesges
wofleue Preußen ebenfo bereitwillig in den Tod flürzen, ald wenn er dort
* brüderliche Aufnahme und eine gerechte Behandlung erfahren hätte?”
- Det Abgeordnete Poter fügte nun — was dem Abgeordneten Wel⸗
ex unbekannt geblieben war — hinzu, daß die Verlegung bes freiem Ver⸗
Lehre: und Gaſtrechts gegen die Herren v. Isſtein und Hecker
noch fortgefegt werde. Er ſagte woͤrtlich: „In einem Hauptpunkte,
Meine Herren, wird aber die am 23. Mai 1845 begangene Rechtsverletzung
noch immer förtgefegt ; noch heute befteht , dem ſichern Vernehmen nach, die
hoͤchſte Ordre, welche der koͤniglich preußiſchen Geſandtſchaft in. Karlsruhe
Gaſtrecht. 401
verbietet, einem nach Preußen lautenden Reiſepaſſe ber Reclamanten das
Biſa zu ertheilen; noch heute alſo find v. Iäftein und Hecker vom preußi⸗
ſchen Stautsgebiete ausgeſchloſſen und keiner von ihnen koͤnnte dieſen Boden
betreten, weder um bie Rechte auszuüben, die ihm doch Art. 18 der Bundes⸗
acte fichert, noch irgend ein anderes ducch feinen Vortheil erheifchtes Ge⸗
ſchaͤft perfönlich dort zu beforgen ; noch um eine Deilquellezubenugen, die etwa
feine Geſundheit fordert, nody um eine Pflicht der Pietät gegen Verwandte
ober Freunde zu erfüllen. — ine Härte, die auf den Hrn. v. Itzſtein
um fo druͤckender wirkt, da biefer Mann im Herzogtum Naffau, ganz tn
ber Rähe der preußifchen Grenze, mit einem bedeutenden Landgute angefeflen
iſt. Erſt in dem Augenblide, wo die vollftändige Zuruͤcknahme diefer Ordre
erfolgt, wird ber ungaftliche, bundesrechtswidrige, gemaltthätige Zuftand,
der Act vom 23. Mai 1845 gefchaffen hat, wahrhaft zu Ende und
die badifche wie die Bundesehre gerettet fein. Meine Herren, ein Aufruf, im
Mamen der verlegten Nationalehre und des gekraͤnkten Rechtes ergehend,
solch in diefem Saale jederzeit einen kraͤftigen Widerhall finden.”
Da nun der Miniſter des Auswärtigen erklärte, daß er hierüber noch
Erläuterungen zus geben habe, fie aber nur in geheimer Sitzung mittheilen
wolle, fo befchloß auf den Antrag des Abgeordneten Weder die Kammer,
die Fortfetzung der öffentlichen Verhandlung auszufegen, bis biefe Erläuteruns
gen erfolgt fein. Da dieſes gefchehen war , fo nahm in einer fpäteren öffent»
lichen Sigung, in der 61. Sigung am 21. Auguft (Landtagszeitung
S. 782 ff.) die Kammer die Verhandlung wieder auf. Nachdem nın Wels
ck er fchon vorher fo viel von ben geheim gegebenen Minifterialerflärungen
: öffentlich erwähnte, Laß fie nicht etwa irgend eine geringfte Befchulbigung
gegen das Benehmen der Herren v. Itzſt ein und Heder zum Gegenftand.
gehabt Hätten, fo beantragte jegt der Mbgeorbnnete Peter, dem (früher mit-
in) Antrag des Abgeordneten Welder noch Folgendes binzuzus
gen:
„Die Kammer möge befchließen, die großherzogliche
Regierung zu erfuchen, der koͤniglich preußifhen Regie⸗
eung zu erklären, daß man bie buth das Benehmen ber
badifhen Staatsbürger v. Itzſtein und Heder auf Beine Art
gerechtfertigte und dennoch fortbeſtehende Beſchraͤnkung
des Aufenthalts der beiden Bürger in den preußifhen
Staaten niht allein als fortbauernde Verlegung bes durch
die Bundbesacte garantirten Rechtes der babdiſchen Staates
bürger, fondern aud ale tiefe Kraͤnkung der Würde bes
fouveränen Regenten Badens anfehen müffes daß ferner
die Kammer die zuverſichtliche Erwartung hege, daß die
großberzoglihe Regierung mit Nahdrud und mit allen
ihr zu Gebot fleehenden Mitteln dahin wirken werde, daß
bie von der Töniglih preufifhen Regierung gegen bie
genannten Staatsbürger verhängte Maßregel alsbald aufs
gehoben werbe.”
Hierauf veranlaßte ein Vorſchlag einer unbebeutenden Aenderung bes
26
Suppl. 3. Staatelex. IL
402 Gaſtrecht
Abgeordneten Stö fer (früher Hofgerichtsptaͤſident) noch nachfolgende kurze
Discuffion, die wir wörtlidy mittheilen:
——-GStöfer unterflügt die Anträge von Welder und Peter, legteren aber
nur bann, wenn ſtatt ber Worte: „des fouveränen Negenten’ geſetzt werde:
„bes fouverdnen babifhen Staates”, was umfafjender und der veıfaf-
fungsmäßigen Stellung der Kammern entfprechender fei. Man würde ba=
durch auch bie Deutung vermeiden, als eb man bem Regenten vorfchreiben
wollte, wie er die in ber preufiichen Maßregel liegende Beleidigung zu neh⸗
men babe, was Niemand beabfidhtige. Der Beſchluß wird endlih um fo
mehr Kraft und Nachdruck haben, mit je größerer Einftimmigkeit ex gefaßt
wird,
Trefurt hätte gewuͤnſcht, daß durch den Beſchluß dem Volke und ganz
Deutſchland Bar werbe, daß, wo «8 ſich um bie Ehre des Landes handelt, die
Regierung und bie Kammer keine verfchiedene Meinung haben. Das ange:
meffene Berfahren waͤre geweſen, nad) ben erhaltenen Auffhlüffen bas Ver⸗
trauen audzufprechen, bie Regierung werde mit allen geeigneten Mitteln
babin wirken, daß bie verlegende Maßregel zurüdigenommen werde. Darauf
flellt ex den Antrag und wird nur eventuell dem Vorſchlage des Abgeord⸗
neten Stößer beiftimmen. |
Welcker unterſtuͤßt ben Antrag des Abg. Peter, ba in den Beziehungen
nad) Außen der Fürft ber einzige Vertreter des ganzen Staates ift. Daraus,
folgt, daß eine Beleidigung gegen Angehörige des Staates eine Beleidigung
bes Megenten ift, die unter Umftänden zu bem Aeußerſten führen kann. Mit
biefemm Sage ſteht und fällt die Monarchie und im biefer Beziehung hatte
Montesquieu Recht, wenn er fagte, bie Ehre ift bas Princip der Monardjie.
Klar ift, daß biefes Princip aufgegeben würbe, wenn von einem Polizeides⸗
potismus gegenfeitige Beleidigungen der betreffenden Staatsangehörigen für
zuläffig erflärt, wenn ber triviale Ausdrud Geltung fände: „ſchlaͤgſt du
meinen Suben, fo fchlage ich deinen Juden.” Wenn ber Antrag des Abg.
Stößer, wie er zugiebt, ben Fürften und das Volk umfaßt, fo !eidet nur viel-
leicht die Deutlichkeit. Es wäre aber dann ein Grund vorhanden, von der
Faſſung des Abg. Peter abzugeben, außer wenn etwa größere Einftimmigfeit
erzielt würde. Ein befonbderes Vertrauensvotum dem Minifterium zu geben,
finde ich mich nicht veranlaßt, da ich noch einen Beweis einer wirffamen
Energie gefehen habe, und die Beleidigung noch immer fortdauert.
Beh. Rath Zolly bemerkt, daß die Negierung den Gegenſtand mit
Nachdruck, aber audy mit Gründlichkeit verfolge, die diplomatiſche Sprache,
welche den Kürften als Repräfentanten des Staates nennt, follte die Kam⸗
mer nicht gebrauchen, auch nicht Beziehungen auf die perfönlichen Gefühle
des Sürften in den Antrag aufnehmen.
Peter und Gottſchalk vereinigen ſich mit dem Antrag des Abg.
Stößer indem von dem Abg. Welder angegebenen Sinne.
Kapp bemerkt, dag von perfönlicdyen Gefühlen hier nicht die Rebe fet,
man verfolge ja auch Majeftätsbeleivigungen,, ohne vocher deshalb anzufra=
gen. Im vorliegenden Kalle habe die Bureaufratie, wie überhaupt, dem
monarchiſchen Princip nicht gebient.
Gaſtrecht 0408
Junghanns I. hält den Antrag bes Abg. Trefurt für den angemeffen-
ſten; allein es ift Allen daran gelegen, daß Einftimmigkeit erzielt und dadurch
der Regierung Gelegenheit gegeben werde, wirkſamer einzufchreiten. Des⸗
halb ſtimmt er dem Antrage des Abgeordneten Stößer bei.
Trefurt will keine Zerfplitterung herbeiführen und erklärt fich ebenfalls
für den Antrag bes Abgeordneten Stößer.
Nachdem nun Welcker noch hinzugefügt hatte, da nach dem Wort:
Laut und der wiederholten ausbrüdlichen Erklärung des Abg. Stößer fein
Ausdrud ebenfalls die Beleidigung des Regenten mit umfaffe, fo flimme er
demfelben ebenfalls bei. '
Die Anträge der Abgeordneten Welder und Peter wurden hierauf von
der ganzen Kammer einflimmig angenommen,
II. Der dritte Fall einer neubeutfchen Verlegung des Gaft: und
freien Verkehrstechts, welchen wir hier zur Veranfchaulichung der factifchen
Erfcheinungen und der Grundfäge in Beziehung auf diefen wichtigen Gegen»
fland mittheilen, betrifft die Ausweifung des deutſchkatholiſchen Pre:
diger Scholl von Mannheim aus Neuftadt in der baierifhen
Rheinpfalz, wo derfelbe einen Burgen Befuch bei einem Freunde machte.
Derfelbe übergab der II. babifchen Kammer eine Befchwerbe » Petition duch
den Abgeordneten Baffermann, welcher in ber 36. Sigung am 17. Juli
1846 (Landtagszeitung ©. 446) nachfolgende Stelle daraus vorlas.
„Es war weber eine gottesdienftliche noch überhaupt eine VBerfammlung
von mir gehalten worden; Beine Rede, nicht einmal ein Toaſt kam aus mei-
nem Mundel — Deffen ungeachtet erfchien am Dienftag Morgen in dem
Privathaufe, wo ich wohnte, ber koͤniglich baieriſche Polizeicommiffde von
Neuſtadt, fragte mic) nad) Namen und Stand unb erklärte mir, nachdem
ich Beides angegeben, daß ex ben höheren Auftrag habe, mir zu bedeuten, daß
ich binnen zwei Stunden die Stadt zu verlaffen habe, und im Fall ba ich
dennoch bliebe, Durch Gensdarmen forttransportiet würde. — Auf meine und
meines Hauswirths Frage, was ich denn verbrochen habe, das eine fo
ſchimpfliche Behandlung rechtfertige und auf welche höhere Weiſung ich auss
gewiefen werde, erlärteber Polizeicommiffdr, daß eine Verordnung, die erfl
vor wenigen Wochen erfchienen fet, e8 ausſpreche, daß „jeder deutſch⸗
Fatholifhe Prebiger aus Baiern zu verweifen fei” und der
aus Auftrag mir dieſes zu bedeuten habe. Sch verlangte von ihm etwas
Schriftliches über ben Vorfall, erhielt aber zur Antwort, daß dieſes nicht noͤ⸗
thig ſei und ich mich auf ihn berufen könne. Damit nicht zufrieden, ging
ich noch in den legten Minuten auf das Polizelamt felber und verlangte von
bem höhern Beamten, bem Landcommiſſaͤr, und in deſſen Abweſenheit von
dem herbeigerufenen Actuar, Aufllärung. Ich erhielt jedoch nur die Bes
ftätigung der Ausfage des untergeordneten Beamten, und bie Erklärung,
daß mir felber nicht, aber meinem Hauswirth, wenn er fich über diefe
Verlegung des Gaftrechts befchwere, eine fchriftliche Rechtfertigung dieſer
Verlegung zugeftellt werde. So blieb mir nichts übrig, als Neuſtadt zu vers
laſſen, nachdem ich bei dem Beamten wiederholt erklärt hatte, daß das
wahrlich ein großer Unterfchieb fei, wenn ich in meiner suarnfaaft ale
Prediger zu einer geiftlichen Functlon, zu einem Gottesbienft, zu Neben, zu
Merbungen für den Deutſchkatholiciemus heruͤbergekommen wäre, und wenn
es dadurch Volksverſammlungen und Auflauf gegeben hätte, oder wenn ich,
wie es der Fall war, blos komme, als Glaubensgenofie zu Glau—
bensgenoffen, als Freund zu Freunden, als Deutfcher zu
Deutihen, um nad) langer Zrennung fie wieber zu fehen und zu fpredyem 5
wenn ich mich bie wenigen Stunden meines Aufenthalte nur in einem ganz
Keinen Kreife gehalten und nicht eine einzige Rebe über meine Lippen ges
kommen iſt — nachdem Ich gefragt, ob ich denn nicht fo gut wie jeber Deut»
fhe, mie jeder Menfc das Recht habe, diefe Gegend zu befehen, und ob Ich
denn, wenn ich in Geldgefchäften , oder fonft aus einem mit meiner Eigen»
ſchaft als Prediger ebenfalls gar nicht in Beziehung ftehenden Grund her⸗
über müffe, jedes Mal ausgewiefen werde ? — worauf mir mit „a“ geant⸗
mwortet wurde, meil die Verordnung eine allgemeine fel’‘ ze. ıc.
In der Discufflon Über die Perition in ber 50. Öffentlichen Sitzung am
8. Auguft (Bandtagszeitung S. 598) fagte ber vom Abgeordneten Bren-
tano erſtattete Bericht: | |
„Die Commiffion” kann (wenn fle abfieht von befonderen Anerkennun⸗
gen ober Beftimmungen bee Verfaffung, des Völkerrechts oder eines Bun⸗
des und 3.8. von dem Art. 16 ber Bundesacte) „einer fremden Regierung
„das formelle Recht nicht beffreiten, die ihr mit dem Staatszweck unverein-
„barlich erfcheinenden Religionsgefelfchaften in ihrem Lande nicht zu dulben
„und hiernach auch die Anorbnungen zur Unterbrüdung ſolcher zu treffen.
„Hlernach muß bie Sommiffion auch das formelle Recht einer auswärtigen Re⸗
„nlerung: dahln anerfennen, daß ſolche bie Angehörigen anderer Staaten aus
Ahren Grenzen ausweifen darf, wenn biefelben den von ihr über das Befte-
„ben einzelner Religionsgefellfhaften erlaffenen Sefegen zuwider handeln,
„namentlich wenn fie in biefer Abficht gefommen find und diefe audy bereite
„an den Zag gelegt haben. Hütte ſich nun der Petent gegen bie Anordnung
„der baierifhen Regierumg beigehen laſſen, kirchliche Verſammlungen der
„Dentichkatholiten in Neuftadt zu halten, fo koͤnnte er fi) nicht über eine
„Berlegung des Gaſtrechts beklagen, — allein dies gerade beftreitet derfelbe
„auf das Allerentfchiedenfte. Obſchon wir nun zur Ehre der deutfchen Nas
„ton gern glauben möchten, daß hier blos eine unrichtige Geſetzesanwen⸗
„bung duch einen untern Beamten vorliege, fo haben wir doch bie Verord⸗
„nung nicht vor uns. und müffen alfo vor der Hand annehmen, baß fie ben
„Binn hat, den ihr die baierifhen Behörden unterlegen; — auch wurde
„dem Petenten ja bedeutet, daß er jedesmal aus Baiern ausgemiefen werden
„würde, wenn er auch wegen eines Privatgefchäfts dahin kommen follte.”
„Mag man über das Recht eine Staates, einem Angehörigen anderer
„Staaten den Aufenthalt zu verweigern, eine Anficht haben, welche man
„will, mag man fogar von beutfcher Nationalität fo erbärmliche Begriffe
„haben, um in Baiern den Badener als einen Ausländer zu betrachten,
„mag man dem gutmüthigen Deutfchen nur dann das Bild einer großen
„deutſchen Nation vor Augen Halten, wenn er Beiträge zu den Bundeskoſten
„leiten fol, oder wenn mian "feines Nationalgefuͤhls zur Befeſtigung der
AR
e |
Gaſtrecht. 4668
„Throne bedarf, möchte man ſelbſt ein allgemeines formelles Recht ber
Ddeutſchen Bundesſtaaten anerkennen, dem einzelnen Bürger des andern
Bundesſtaatet den Aufenthalt zu verſagen ®), niemals wird man doc) fo weit
„bie Grundſaͤtze des Völkerrecht und die Grundfäge der Eivitifation verleug⸗
„men wollen, daß man das Recht des einen Bundesſtaates anerkennt, feine
„Brenze abzufchließen gegen eine ganze Claſſe von deutfchen Bürgern, nur
weil fie eine veligiöfe Ueberzeugung im Bufen tragen, welche in ihrem engern
„Baterlande nicht verpönt ift, weil fie ein Amt verfehen, worin ihre eigene
„Regierung fie beftätigt hat. Ein folches Verbot, aus einem folchen Grunde,
„twiderftreitet dem Bundesvertrage. Zweck beffelben ift die Erhaltung der
„Außen und innern Sicherheit Deutfchlands und ber Unabhängigkeit und Uns
„verletzbarkeit der einzelnen deutfhen Staaten. Wenn nun aber Baiern
„eine ganze Claſſe badifcher Staatsbürger, welche den badifchen Gefegen ges
maͤß ſich in ihrem Lande benehmen, von balerifhem Boden ausfchließt, fo
„beißt dies die Gefege Badens verhoͤhnen und bie Sicherheit deutſcher Bürs
„ger , fo soie die Unabhängigkeit und Würde Badens verlegen. Der Artikel
‚1.8 der deutſchen Bundesacte wird dadurch illuſoriſch gemacht, und dem Ars
„titel 16, welcher beftimmt: „„die Verfchiebenheit chriftlicher Religionspars
„teien kann in ben Ländern und Gebieten des deutfchen Bundes keinen Un»
unterichieb im Genuß der bürgerlichen ind politifchen Rechte begründen
— ſchnurſtracks entgegengehandelt. Denn hiernach ifl es wohl Har, daß
„einem deutſchen Staatsbürger deswegen, weil er feine befondere hrifkliche
„Meligionsüberzeugung hat, der Aufenthalt in einem andern beutfchen Bun⸗
„desſtaat, wo er diefe Ueberzeugung nicht einmal geäußert hat, nicht unters
„fagt werben darf. Wir würden es der badiſchen Regierung 5. B. nicht ver⸗
„argen, wenn fie baierifchen Redemtoriſten, Minoriten, Franziskanern, Dos
„minikanern, Benedictineen, Kapuzinern und dergleichen Ordensbruͤdern
„unterfagen wollte, im Lande zu prebigen, um ihre al& verberblich aner-
„kannten Lehren unter das Volk zu bringen; wir würben auch keine Vers
„letzung bes Voͤlkerrechts darin erbliden, wenn ſolche Ordensbruͤder wegen
„Nichtachtung eines folchen Verbots ausgewiefen würden; allein für eine
„etwa nur durch abgenöthigte Retorfion zu entfchuldigende Verlegung bes in
„der Civiliſation begründeten Gaſtrechts und der deutfchen Bundesacte muͤß⸗
‚gen wir e8 halten und beflagen, wenn Däutfche deswegen, weil fie einem
„ſolchen Orden angehören, wenn fie ale Privatleute das Land betreten, Ges
„ſchaͤfte machen, Freunde und Verwandte befuchen oder durchreifen, zum
„Lande hinaus gejagt werben wollten. Wozu würde aud) Solches führen ?
‚Der Regent eines ganz Batholifchen Landes würde am Ende jeden Proteflan-
„ten von feiner Grenze fern halten, und umgekehrt, und die beutfche Freiheit
„beftände nur noch darin, daß gleiche Brundfäge darüber eriflirten, wie
8) Natürlich, und nach ben einflimmigen Befchlüffen in bem vorigen 2. Kalle
thut diefes die Sommiffion nicht. Webrigens zeigt ſich bei dem gegenwärtigen
Tal die Richtigkeit unferer obigen Theorien, daß nicht blos bie willkar⸗
liche Ausweifung rechtswidrig iſt, fondern auch diejenige, bie ſich auf. völker-
rechtlich unzuläffige Belege gründet. Anmerk. der Redact.
⸗
nieder Bundesſtaat ben A bes andern ben Aufenthalt verweigere.
‚„Mebrigens Bann bier die % ung nicht unterbrüdt werben, baß eine
„solche Verordnung von Baiern aus am mwenigften politifch erfcheint, bemm
„bie Reciprochtät, angewendet auf die Regionen balerifcher Ordensbruͤder, dürfte
„nicht wenig fühlbar fein. — Die Betrachtung, daß ſich Ausweifungen aus
„deutfcyen Bändern mehren, baß das Beifpiel zu locken ſcheint, daß man
„sogar die Ausweifung anf ganze Elaffen von Staatsbürgern ausbehnt,
„‚bürfte ein anergifches Auftreten erheifdhen, und es ſchlaͤgt bie Commiſſion das
unber vor: „„Die Petition dem großherzoglichen Staatöminifterium mit
„„dem beingendben Erfuchen zu übermweifen, auf bem geeigneten Wege zu er⸗
„mitteln, ob eine Böniglich baierifche Berorbnung in dem vom Landeommiffas
„„iat zu Neuſtadt angegebenen Sinne wirklich beftehe, und bejahenden
FKalls mit allen Ihe zu Gebot ftehenden Mitteln dahin zu wirken, baf bas
„„den Bunbesgefegen und ben Grundfägen der Givilifation widerſprechende,
„„die Würde ber badiſchen Megierung durch Verhoͤhnung ihrer Gefege ver⸗
Aetzende Verbot der koͤniglich balerifchen Megierung gegen den Eintritt
Pdeutſchkatholiſcher Prediger in das Band wieder aufgehoben, oder, wenn
LIeſes Verbot nicht in der Allgemeinheit befteht, unterfudyt werde, ob ber
„Bittſteller zu der gegen Ihn verhängsen Maßregel genügende Veranlaffung
„egeben, und verneinenben Falles ihm durch Beftrafung des betreffenden
„Beamten bie gebührende Genugthuung verfchafft werde.““
Der Reglerumgscommiffär Frhr. v. Stengel bemerkte hierauf:
„Der Petent hat ſich in kiner ähnlichen Vorftellung auch an die Regie⸗
rung gewendet und von Seiten des Gr. Minifteriums der auswärtigen An-
gelegenheiten find fofort Schritte gefchehen, um nähere und officielle Auge
kunft darüber zu erheben. Es iſt fomit im Wefentlichen da 8 bereits gefchehen,
was von ber Commiffion gewünfdt wird. — Wenn übrigens die koͤnig⸗
lich baterifche Regierung eine allgemeine Berorbnung erlaffen hat, wonach
fein Prediger ber deutſchkatholiſchen Kirche im Königreich reifen foll, fo wer⸗
den wie wohl Beine weiteren Schritte in diefer Beziehung bei der Eönigl. baie⸗
rifchen Regierung zu thun im Stande fein, denn fie würde uns, wie auch die
Commiffion es thut, antworten: Wir find in unferem formellen Recht und
befugt, eine folche Verordnung zu erlaffen, wer zu uns fommt, muß ſich
unferen Verordnungen fügen. Es wird weder unfere noch Ihre Sache fein,
zu prüfen, ob die baierifche Regierung Mecht oder Unrecht hat, folche allges
meine Verordnungen zu erlaffen. Wir haben darüber nicht zu entfcheiden.
Die baier. Regierung mag dies mit ihren Ständen ausmachen; uns berührt
dieſe Sache nicht’ P).
Wir laffen nun noch einzelne Theile der Discuffion folgen, welche zur
rechtlichen und politifchen Beleuchtung der wichtigen Frage geeignet [cheinen.
9) Hiernach dürfte fie auch verorbnen, daß alle auf ihr Gebiet Tommen-
den Fremden getdbtei werden follten. Wäre das völkerrehtlih? Würde
man gegen Engländer ober Rufen in Beziehung auf die anglikanifchen ober
griechiſchen Chriſten Achnliches wie der Herr Regierungscommiffär behaupten ?
| Anmert. der Redact.
14
-
Gaſtrecht. | 407
. Kapp. In der ganzen Sache fehe ich nichte Anderes als ein Symp⸗
tom jener von mit ſchon einmal bezeichneten illegitimen Ehe, die getrennt
werden muß, nämlich jener Mifchehe zwiſchen Polizei und Priefterthum.
Rindeſchwender. Man fagt, es fei keine Verhoͤhnung unſerer
Geſetze, wenn bee Mann, von dem es fi) handelt, aus Baiern getwiefen
wurde. Wer ift er denn aber? Er ift bei einer deutſchkatholiſchen Gemeinde
angeftellt, und die Staatsbehörde hat ihn beſtaͤtigt. Man weit alfo einen
von der Staatsbehörde beftätigten Angeftellten aus einem Lande, blos weil
ee ein Amt bekleidet, in welchem er von unferer Staatsbehoͤrde beftätigt iſt.
(Schaaff: Wir kennen ja die Thatſache noch gar nicht.)
Baffermann. „Man Eann hier, Angefichts des Art. 16 der deut⸗
ſchen Bundesacte, nicht von einem formellen Recht der baierifchen Regies
rung fprechen. Dierüber will ich jedoch Fein Wort verlieren. Wenn ber
Abg. Schaaff fagt , es fei fonderbar, daß die Sache in die Kammer komme,
fo weiß ih nicht, was am Ende die Kammer mehr interefficen fol, ob eine
Kaminfegerorbnung,, wovon wir geftern über eine Stunde lang fprachen, ober
das Recht eines badiſchen Bürgers, über den Rhein zu gehen, ohne von Gens:
b’armen zuruͤckgewieſen zu werden. Die fähhfifche Kammer hat ſich auch
darum befümmert, baß Defterreih allen Deutſchkatholiken Sachſens den
Eintritt in fein Land unterfagte, und wenn man von jener Seite behauptet,
Baiern fei in feinem formellen Recht und wenn wir ferner wiſſen, daß Bai⸗
ern in feinem Wahlfpruch das Wort „beharrlich“ hat, fo entgegne Ich , daß
durch eine Verwendung ber badifhen Regierung nicht viel erreicht werden
wird, wenn fie nicht eine Unterflügung erhält bucch das Gewicht der öffent
lihen Meinung, die ohnehin, wie es fcheint, von nun an berufen iſt, mehr
durchzuſetzen als alle öffentlichen Schritte der Staatsbehörben oder Diploma
ten. Deshalb hat der Petent wohlgethan, fi an uns zu wenden, und wenn
bie Regierung in diefer Sache einen ernſtlichen Willen hat, fo wird fie diefe
Unterflügung der öffentlihen Meinung und der Kammer gern annehmen.
Es giebt Wahrheiten, über die man nicht flreiten kann, weil fie durch
bie Befchichte bewaͤhrt find. So ſteht es feft, daß die Jeſuiten und die meiften
Aöfterlihen Orden ſchaͤdlich und ſtaatsverderblich wirkten. Wenn aber die
Deutſchkatholiken, die gar keine Hierarchie, Bein fichtbares Oberhaupt und
Leine Macht haben, fondern arme, verfolgte Gemeinden find, jest ſchon
- für flaatsgefährlic, gehalten werden , wie jener mächtige Orden, der am Ende
allen Monarchen über den Kopf wuchs, fo daß fie ſich im vorigen Jahrhundert
alle mit einander zu deſſen Aufhebung verbinden mußten, wenn man, fage
ich, dieſe Staatsgefährlichkeit dem Urtheile der Einzelnen anheinigeben will,
fo Hört Alles auf, was die Geſchichte und das Nachdenken überhaupt bar:
bietet. Der Abg. Sunghanns erinnert und au bie ſchrecklichen Webel, welche
Reiſeprediger in unferem Lande angerichtet hätten. Die erften Apoftel und
die Reformatoren des 16. Jahrhunderts find aber auch gereift. (Buff:
Das ift ein Unterfchieb!) Daffelbe hat man damals auch gefagt. Die Pathos
liſchen Fürften und Prilaten des 16. Jahrhunderts haben die Reformatoren
auch mit Hilfe ihrer Lanzknechte zuruͤckgewieſen und gefagt, es fei ein gro-
Ber Unterfchied zwifchen ihnen und jenen Apoſteln. Das ift aber gemöhn-
AUlch die ſchoͤne Ausrede für ein Unrecht, daß man fagt, es fei ein anderer Fall,
und 26 erinnert ums dies an jenen Edelmann in ber Fabel, der da glaubte,
ber Hunb bee Bauern habe feine Kuh gebiffen, worüber ex fehr böfe war;
> als er aber hörte, daß fein Hund des Bauern Kuh gebiffen, fagteer: dies
iſt ein anderer Fall. Der Abg. Buff hat bei einer frühern Gelegenheit am
bie barmherzigen Schweſtern erinnert. Hier findet aber offenbar eine Wer:
wechslung flat. Wenn diefe barmherzigen Schweſtern in unfer Land reifen
wollten — und e8 waren ſchon öfters welche da, ja erft neulich fogar eine in
biefem Haufe — fo würde fie wohl Niemand hinausweifen wollen. Es ift
aber ein großer Unterſchied, ob man Perfonen von verſchiedenen Confeſſio⸗
nen, bie in dem bitflofeften Zuftand find, der Profelptenmadjerei eines
Ordens, ber fic) diefelbe zur Pflicht macht, unterwerfen will und kann, oder
ob einem badiſchen Bürger bie Freiheit genommen werben foll, über die Rheins
brüde zu geben, ft das ein. Zuſtand ber Gerechtigkeit in Deutfdhland ?
Der Staat.oder bie Regierung, von welcher die Nusweifung ausging, gilt
ober gerixk fich wenigſtens ald Vertreterin der deutfchen Nationalität.
Auf dem Mürzburger Sängerfeft haben wir allerlei Exfreuliches ers
fahren und bie Worte „Deutfhland” und „Deutfchthum‘ hörte man bort
fehe häufig; allein einen Deutſchkatholiken aus. dem Lande zu weifen, fcheint
bott auch deutfch zu fein, und damit kann ich mich nicht verföhnen. Mir
fcheint «8, daß man, mie leiber neuerlich beabfichtigt wird, ſtatt nad) den
Handlungen und bem Verhalten der Menfhen, lediglich barnadı fragt, was
für politifche und religtöfe Gefinnungen fie haben. ir find damit auf bem>
felben gefährlichen Wege, auf dem mir im Laufe ber MWeltgefchichte bie
größten Gräuel erfahren haben. Wohin Eönnte e8 kommen, wenn man ſolche
Grundfäße wieder allgemein geltend machen wollte ?
Es könnte in einem proteftantifhen Staat ein Katholif wie Herr Buff
ausgerwiefen werden, wenn man nad) dem Glaubensbekenntniß fragte; ja
es Eönnte dahin kommen, daß eine Republik Bremen einen deutfchen Fürften
nicht über ihre Grenze ließe, weil fi) das monarchiſche Princip nicht mit einer
Republik vertrage. Fragen Sie ſich, meine Herren, melcher Zuftand der
Rechtlofigkeit, der Verwirrung und der Anarchie bei ung entflände, wenn
man nad) dem Glaubensbefenntniß fragte! Wenn Jemand den Gefegen des
Staats fid) unterwirft und die öffentliche Ordnung nicht ftört, fo hat er, nach
dem Art. 16 der Bundesacte und noch mehr nad) den allgemeinen Princi:
pien der Ordnung und des Rechts, die Befugniß, fi) überall aufzuhalten,
oder e8 giebt eben dann kein einheitliches Deutfchland mehr. Dan fagt, man
wiſſe nicht, ob nicht jener Mann etwas Sefeg: und Ordnungswidriges ges
than babe. Wenn aber dies nurim Mindeften der Fall wäre, glauben Sie
wohl, die baierifchen Blätter hätten es verfäumt, Solches gehörig und im
den kraͤftigſten Karben aufzutifchen ? Zudem Eenne ich den hochadhtbaren
Mann, dem diefe Kränkung widerfahren ift, genau, und feine Worte gels
ten mir mehr als die vieler Anderen, fo daß ich volllommen feinen Mitthei⸗
lungen vertraue. Außerdem befige ich das Driginalfchreiben des Polizei:
commiſſaͤrs in Neuftadt ; es if dies Die Antwort, die ber Gaflfreund, bei wel-
chem Here Schollwohnte, erhalten hat. Der Redner verlieft diefes Schreiben,
Allln.
Gaſtrecht. 200
worin es heißt, daß Here Scholl ausgewieſen wurde, weil er deutſchkatholi⸗
ſcher Prebiger ſei — und fährt dann fort: Es hat alſo genügt, daß Herr
Schoß felbft bemerkte, er fei ein Prediger einer deutichlatholifchen Gemeinde,
und man würde gewiß von Polizei wegen andere Gründe angeführt, nämlich
etwa gefagt haben, weil der Betreffende fih gegen die Gefege des Landes
_ verfehlte, denn wenn die Polizei fo etwas weiß, fo unterläßt fie nicht e8 anzu⸗
führen. Daß die badifche Kammer über diefe Sache zur Tagesordnung über:
geben twerde, glaube ich nimmermehr. Ich will hoffen, fie werde keinen
Unterfchied machen zreifchen Mitgliedern ihres. Hauſes, die aus Preußen, und
zwifchen andern Bürgern, die aus Baiern verwwiefen wurden. Und wenn e6
ſtatt eines beutfchs katholiſchen Geiftlichen der geringfle Mann des Landes
wäre, fo würbe es die Ehre dee Kammer fordern, mit der größten Energie
das Recht des freien Aufenthaltes für feine Perfon in andern bdeutfchen
Staaten geltend zu machen. Uebrigens Tann man fi) damit beruhigen,
daß die Dinge, wie fie find, nicht bleiben Finnen, und der Ausgewieſene mag
fich mit einem Reifeprediger des 16. Jahrhunderts tröften, der,. als er vers
toiefen wurde, fagte: „Einer — ja taufend! —. alfo iſt es mir bisher
gelungen, daß ich die Feinde noch nie gefurchten, aber fo diefe elenden Men»
fhen haben mic, bisher gefurchten und furchten müflen, denn ihr Gewiffen
ſteht für mich mwiber fie ſelbſt, umb fie fuchen mit Lug und Gewalt Schug ;
das bat auf die Länge keinen Beſtand.“
Heder. Darüber ift wohl kein Zweifel, daß Staaten, auch ſelbſt
abgefehen von dem deutſchen Bunde, ſich als gleichberechtigte, vollberechtigte
Perfönlichkeiten gegemüberfichen. Bei dem deutfchen Bunde umfhlingt .
aber diefe gleichberechtigten, fouveränen und felbftftändigen Perfönlichkeiten
noch ein weiteres Band, das des voͤlkerrechtlichen Friedens, das den gegen
feitigen Verkehr bedingt. Steht der Regierung das Recht zu, ohne Grund,
Urtheil und Verhoͤr Einen auszumeifen, fo ſteht es ihr auch zu, zehn und
hundert auszuweifen und allen Bürgern eines Staats den Eintritt in den ihri⸗
gen zu verwehren; fomit flünde der Krone Baiern ungeachtet der Bundes
gefeggebung und des gemeinfamen Bandes eines Staatenvereind das Recht
zu, Baden in einen Kriegszuftand zu verfegen, den bifrgerlichen und ge
werblihen Verkehr zu hemmen, und wir wären mit jenem angeblichen Aus
weifungsrecht dahin gefommen, daß mitten im Frieden und ungeachtet
des Bundesvertrags ein wahrhafter Kriegezufland vorhanden wäre. Es
liegt aber auch in diefem Beginnen noch eine viel confequentere Negation.
Man negirt uns das Vaterland. Wenn ich nicht mehr das Recht habe,
auf dem beutfchen Boden frei zu verkehren, wenn man mic) geradezu von
dannen jagen und jagen kann: Du haft blos fo viel Recht, als ich etwa dem
Hund einräumen will, den ich nach Belieben hinauswerfe, fo iſt das Vater:
land zur Gnadenſache geworden. Man negirt, fage ich, in dem Augens
blick, wo man fieht, daß drei Herzogthuͤmer von Deutfchland losgeriſſen wers
ben follen, den Begriff des Vaterlandes. Man macht und zu heimathlofen
Deloten , welche die Polizei beliebig wie Sauner fortiagen Tann. Bleiben
Sie nur bei diefem Spftem! im Angeficht eines beutes und eroberungs-
füchtigen Franzoſenthums, im Angeficht eines weltherrifchen Staventhums |
410 Gaſtrecht.
Dann appelliren Sie aber auch nicht an unfern Patriotismus, wenn «8 gilt,
bie beſtehenden Buftände zu retten. — Wenn ber beutfche Bürger ohne ein
nachgetwiefenes Vergehen, ohne Verhör, ohne Urtheit, fortgersiefen werben
darf, fo mache man auch den amerlanifchen Hintertwäldlern Feinen Bor:
wurf mehr, wenn fie die Lynchfuſtij üben, denn bei uns fagt man ja auch :
Die Gewalt erſetzt das Mecht, und wir erflären Dich für einen Verbrecher,
wenn du atıch gleich Erin Vergeben begangen haft. |
Das find keine Grundfäge, welche bie Dauer von Staaten begruͤnden
tönnen und bie man von jener Seite als die confervativen Grundfäge bezeich-
nen kann. Mit Kiöflern, Orden und Geberbüchern hilft man dem Staats:
koͤrper nicht auf. Sind wir denn bei ung nicht viel weiter zuräcd als felbft
da, imo man glauben follte, daß bie größte Unduldfamkeit herrfche? Blicken
Sie nad) Rom, dem Sitze des Primas der Eatholifchen Kiche, nach Wien,
der Dauptitabt des erflen Batholifchen Staates der Ehriftenheit. Dort be
wegen ſich Preöbpterianer, Anglikaner, Lutheraner, Armenier und Türken
frei umher, dort wagt man nicht zu thun, was man hier Im Saale der
Volksvertreter vorzufchlagen wagt. Betrachten Sie nur die Sache von bem
menſchlichen Standpunft und fragen Sie fih, ob e8 nicht eine Barbarei
ohne Grenzen ift, einen Mann zurüczuftoßen von der Grenze, beffen ſter⸗
bender Bruder darnieder liegt jenfeits des Mheins, deffen Theuerſtes und
Liebſtes das Verlangen fühlt, ihn noch einen Augenblick zu fehen; der will
den Bufprud des Himmels, den er mur von mir ertvartet, und blos weil er
nicht glaubt wie ber Herr Buff, Junghanns I. und Schaaff, foll Derjenige,
der nach bem Zuſpruch feines Bruders, feines Glaubensgenoffen lechzt,
elenb umb einfam verenden! Das ift alfo Foleranz von Ihrer Seite! Sch
kann hiernach nur ſtolz fein auf ben Fanatismus, den man uns Schuld giebt,
und wenn man nun vollends von dem Urtheil bes Volkes fpricht, fo fage
ich, ein fo einfaches Beifpiel, wie es bier gegeben morden, wird im Ge⸗
müth des Volkes beffer anfchlagen als die Fünftliche Deduction, die Deutfch-
katholiken feien Feine Chriften. Was den Sefuitenorden betrifft, fo till
ich miht an Pombal und ihre Vertreibung aus Portugal und Spanien
- erinnern, wohl aber auf den fRandaldfen Proceß verweiſen, der im vorigen
Jahrhundert vor dem Parlament der Seine verhandelt wurde, welches zwan⸗
zig Schriften (Buff: mit Gewalt —) auf ergangenen Richterfprud
durch Denkershand verbrennen ließ und von dem Jeſuitenorden verlangte,
er folle feine ftatutarifche Organifation vorlegen ; die Statuten find aber
nicht zu Tag gefommen. Man hat zwar ein ſolches Product zu den Acten
geben zu müffen geglaubt, hat es aber fpäter als nicht aͤcht dessvouirt. Wie
kann man nun fagen, die Statuten des Sefuitenordens liegen für Jeder⸗
mann zu Tag, der Deutfchlatholicismus aber, den Jeder Eennt, diefer,
wagt man hinzumerfen, arbeite im Geheimen ? — Ich fage aber, vor Euch
liegt fein Glaubensbekenntniß, die Verhandlungen feiner Goncilien, feine
‚ Organifation, er arbeitet in der Wahrheit und im Licht, und nur die Eulen,
die das Licht nicht ertragen und nicht fehen koͤnnen oder wollen, vermuthen,
daß er geheime Artikel habe. Warum aber? Weil man bei der Berufung
auf andere Verhaͤltniſſe jo viel von geheimen Artikeln wiſſen muß und meiß,
Gaſtrecht. 411
daß fie ſelbſt bei ganz offenkundig beſtehenden Geſellſchaften vorhanden find.
Man fucht mit fcheuem Gewiſſen hinter Anderen, was man felbft forgfältig
verſteckt. — Welches iſt der wahre Glaube, und wer ift berufen, hierüber
zu entfcheiden? Blicken Sie zuruͤck auf die verfchledenen untergegangenen
Indifchen und andere aftatifchen Religtonen. Denken Sie an das Concilium
zu Nikaͤa, wo Gonftantin Friebe fhaffen mußte durch Gewalt, weil bie
Bifchöfe ſich prügelten. Hat nicht der arianiſche Glaube neben dem roͤmi⸗
fhen befanden? In wie viel taufend Secten iſt nicht das Chriftenthum
zerfallen, wie viele taufend Streitigkeiten find nicht in feiner Mitte ent:
flanden, und ie wollen uns glauben machen, Sie hätten uns überzeugt,
oder koͤnnten uns überzeugen, welches der wahre Glaube fei?
So anmaßend find wir nicht, fo hoch ftellen mir ums nicht, daß wir,
Kraft einer Identificirung mit der Gottheit, fagen könnten, mir ſeien im
Stande, zu entfcheiden, welcher Glaube der rechte, der allein wahre fei.
Weil wir Menfchen find und menfchlich fühlen, müffen wir Jedem gegen⸗
über fagen: Du bift frei auf dem Gebiete beines Glaubens, und ich als Staat
habe von die nur zu verlangen, daß du Leine verderbliche Lehre predigfi und
ich mein Nothrecht nicht in Anfpruch nehmen muß, das da beginnt, mo du
meine Eriftenz zu untergraben drohſt. Das Urtheil der Dummen und Vers
bummten kann uns gleichgültig fein, aber die Vernuͤnftigen follen richten
zwifchen uns und ihnen, ob es Sanatismus iſt, wenn mir Jeden bas
glauben laſſen wollen, womit er gottgefällig und felig werben zu innen
meint, oder 0b es Fanatismus ift, wenn man mit Alba, Inquiſition,
Scheiterhaufen und Schwert, oder mit dem Schwert des modernen Polizei»
ſtaats die Andersdentenden zum Staate hinausfchlagen und zu unwürdigen
und nichtswuͤrdigen Heloten erklaͤren will.
Der Commiffionsantrag wurde nad) dem Schluffe der Discuffion mit
großer Mehrheit angenommen. Daß hier nicht volle Einſtimmigkeit flatts
fand, dieſes wurde lediglich durch die zum Theil veligiös:fanatifche Anſicht
einzelner Abgeordneten über ben Deutſchkatholicismus bewirkt.
Ueberblicken wir nun alles bisher Dargeflellte in Beziehung auf bie
Verlegung der Verkehrsfreiheit , des Gaſtrechts und bes beutfchen National:
rechts auf beide, fo fcheint in Beziehung auf bie Frage bes Rechts jedes
weitere Wort überfläffie. In Beziehung auf die Staatspolitit duͤrf⸗
ten bei Betrachtung der bier dargeftellten drei befonderen Fälle ſich zum
Theil befondere Bemerkungen aufbrängen. Zugleich aber find ung einige
allgemeine politifhe Erwägungen über die heutige deutfche Staates
politik fehr nahe gelegt, fobald wir hinbliden auf die Hunderte von Verleguns
gen derfelben Art, welche vorzüglich in ber neueften Zeit in beutfchen Staaten
vorfamen , jo 3. B. die faſt maffenweifen Ausweifungen, bie in Sachſen, ſelbſt
Angefichts der verfammelten Stände und nach der bei Gelegenheit ber Itzſtein'⸗
(hen und Heder’fchen Ausweifung mit fo feltener Einftimmigkeit und Ener:
gie ausgefprochenen Mißbilligung der Öffentlichen Meinung von Deutſchland
und Europa, gegen deutfche Schriftfleller verhängt wurden, bie alfo biefe
N.
412 BGaſtrecht.
effentliche Meinung ebenfo wenig verhinderte ale die Fortdauer ber Itzſtein⸗
ſchen und Heder’fchen Zurüdtweifung felbft. |
Sm Allgemeinen ſcheint wohl Mar zu Tage zu treten einer:
feits eine die ernfteften politifchen Erwägungen verbienende bedeutende Ent» .
sweiung ber herefhenden Politik mit der öffentlihen Mei:
nung, und eine wunderbar wach ſende krankhaft ger unb ängfl-
liche Scheu vor ihrer Freiheit und vor gewiſſen Organen berfelben,, vor ihrer
anſteckenden Wirkung auf die eigenen Bürger, andererfeits eine eben—
fo wachſende, bem Anſchelne nad faft planmäßige Nichtbe—
ahtung und Geringfhäsung ber öffentlichen Meinung ſelbſt. Die
Ausweifungen in den drei befonderen Fällen fheinen in bem erften
ben liberalen Schriftſtellern, vorzüglich. Zeitungsſchrift—
ſtellern, zu gelten, indem zweiten ben conftitutionellen Op—
pofitionsmännern und Berfaffungsgrundfäßen, im dritten
den Vertretern rellgiöfer Freiheit und Aufklärung, über
haupt aber. dem MWibderwillen und der Scheu vor ber felbft bie beuefche
Genfur = und geheime Eriminalinquifition bankbruͤchig machenden Wirkung
‚diefee Männer für bie Sreiheitsentwiclung,
Sollen wir num zuerft jene befonberen politifhen Motive
und Ridtungen an ber Hand ber gefhichtlichen Erfahrung und be-
mwährter Staatötweisheit politifch prüfen, fo ſprechen wir unbedenklich aus,
auch biefe Ausweilungspolitif wird ſich ebenfalls bankbruͤchig gegen die ums
aufbaltfam fortfchreitende beutfche Kreibeitsentwidlung erweiſen.
Diefen durch naturgeſetzliche Entwicklung, durch täglich wachſende Wechſel⸗
wirkung mit den freien Völkern durch Lebensinſtinct, Ehrtrieb und Pflicht⸗
gefühl ber Nation gebotenen Fortfchritt kann fie hier und da wirklich oder
ſcheinbar in dem äußeren und ehrlichen Hervortreten auf furze Zeit hemmen,
nimmermehr ihn verhindern, Mas fie allein vermag und fider
zur Folge hat, dieſes befteht darin, daß fie die wirklichen fo wie die bei
dem Freilaſſen der natürlichen Entwidlung nur in ber Einbildung beftehenden
Gefahren und Unannehmlichkeiten freier Verfaffungen für
die Regierungen und die Ariflofraten unendli vermehrt.
Sie thut e8 durch die unnatürlihe Hemmung felbft, durch die ungerech⸗
ten, unrühmlichen und unfürftlichen Mittel, zu denen fie räth, durch die Ver:
legung aller edelſten Gefühle ber Nation, durch bie dadurch hervorgerufenen
Anfeindungen und Geringfhägungen ber mit fo falfchen, mit fo gehaßten
und verachteten Mitteln vertheidigten Heiligthuͤmer ber Religion, der Fuͤr⸗
ſtenwuͤrde, der öffentlichen Auctorität, Gefeglichkeit und Ordnung.
Fa faſt in jedem einzelnen Fall erfcheint fchon gleich im Augenblick
ber Zweck jener Maßregeln verfehlt und die bemfelben entgegengefegte Wir⸗
fung hervorgerufen.
An fi ift e8 wohl unmeife, in Baden, in dem Lande, in welchem
von Karl Friedrich an und feit der Verfaffung gerade durch den Libe⸗
ralismus feiner Schriftfteller, feiner Stände und Bürger, durdy das Vor:
anftehen in freier zeitgemäßer Entwidlung für das Fürftenhaus und den
Staat allgemeine Achtung in Deutfchland und Europa, Rettung und Vers
Gaſtrecht. 418
groͤßerung feiner Exiſtenz und aͤußeren Macht, und gluͤcklich fortſchreitende
Entwicklung der Volksbildung, des Wohlſtandes, der geſetzlichen Ordnung
gefördert wurden — es iſt hier wohl unweiſe, ſich feindſelig, verfolgend ober
furchtſam gegen liberale Schriftſteller und Zeitungen zu zeigen, oder den
Schein einer unruͤhmlichen Allianz mit auswaͤrtigen Freiheitsgegnern und
einer ebenſo unruͤhmlichen Abhaͤngigkeit von denſelben auf ſich zu laden. —
Es fuͤhrt aber auch in Baden — ſo weit ſind wir nun fortgeſchritten — ſolche
Verfolgung nicht einmal einen augenblicklichen Erfolg zu Gunſten der Wahr⸗
heitsangſt herbei. Verſtummen etwa die unangenehmen Organe und Spre⸗
cher? Iſt dieſelbe Mannheimer Abendzeitung, in welche der ſeiner
Natue nach milde, damals deutſchpatriotiſche und Ioyale Karl Gruͤn ger
maͤßigte Artikel lieferte, fpäter in Hände gelommen, welche dem Royalis⸗
mus, der Staatsreligion, der heiligen Allianz und der Bureaukratie guͤnſti⸗
ger find, oder umgekehrt? Sein nähfter Nachfolger war fogar Hr.
Bernays!! Die einzelnen Schriftfleller kann man befchimpfen, fle und bie
Ihrigen ihres Lebensunterhalte,, Lebensgluͤcks und des Vaterlandes berauben.
Sie felbft aber werden wie Karl Gruͤn und Heinzen und Anbere in ihrer
Indignation gegen ungerechte harte Verfolgung, es werben Hunderte an ihren
Gefühlen Theitnehmende der ganzen beftehenben religiöfen, polttifchen und fo>
elalen Ordnung, der Kürftenhäufer tödtliche Feinde, begeifterte, fanatificte, er
findungsreiche und unermüdtiche Apoftel. Aus dem einen abgefchhlagenen
Haupte der Hydra ertwachfen hundert neue,.alle taufend Canaͤle verflopft ihr
nicht, und das in der Nation täglich wachfende Freiheitsbeduͤrfniß und das ges
rechte Gefühl der Sntrüftung über wachſende unrechtliche, freiheitsfeindliche
Unterdbrüdungen begünftigen fi. Ehemals loyale treue Anhänger ber Res
gierungen vermehren auf folche Weife täglich das feindliche Lager. Wir haben
früher es ausgefprohen (f. z. B. Euddmonismus, Ballicanifche
Kirche), wie gerade wegen ber nattırwidrigen Freiheits⸗ und Rechts⸗
unterdrücdhmg die allerradicalften aber auch eben deshalb gemeinfaßlich⸗
flen Oppofitionss und Negationstheorien im Volke täglich weiter greifen
und alle Grundlagen ber beftehenden Orbnung untergraben. |
.. Und hat denn, wenn wir den Blick auf den II. Fall werfen, ber hier
fich ausfprechende Widerwille und die Schen gegen die conftitutionellen Prins
cipien nicht anerfannt mehr als irgend ein anderes Ereigniß, mehr als
hundert liberale Feſtreden und Zrinkfprüche vermöchten, für die conftitutios
nellen Ideen und für den Ruhm ihrer männlichen Vertheidiger und gegen
die Regierungspolitik gewirkt! Sollte aber wohl ein Politiker ernftlich für
Preußen bie Anfeindung ſtatt der männlichen ganzen und folgerichtigen Ans
"nahme wahrer Nationalrepräfentatton als Staatsweisheit empfehlen? Der
müßte wohl vergeffen, daß Preußen durch das entgegengefegte Syſtem tägs
lich mehr in Widerfpruch mit dem Grundprincip feiner ganzen Staates
eriftenz, feiner Macht, feiner glorreihen Wiederherſtellung gefegt, täglich
mehr von bem einzig foliden Stuͤtzpunkt feiner Macht, der Achtung
umd Liebe der deutſchen Nation, abgezogen würde und feine wahre Rolle,
die des ruhmreichſten mächtigften Schirmherren aller minder mächtigen
Staaten, vertaufchte mit ber gleich ruhmlofen und gefahrvollen Rolle eines
414 Gaſtrecht.
ber. inneren und ber aͤußeren Achtung entbehrenden Trabanten ber phyſiſch
ſtaͤrkeren Großmaͤchte und vollends der in Preußen und Deutſchland verhaß⸗
bern ruſſiſchen Macht. Soll es wohl gar jene hohe Beftimmung aufgeben
e jene Rolle eines hier wie dort gleich mißnchteten Vermittlers zwifchen
uffenthum und Deutfchthum, zwifchen der Anute und ber Freiheit ober
endlich einer fuͤr das proteftantifche aufgeklaͤrte Preußen vollends faft laͤcher⸗
lichen Vermittlung zwiſchen dem von ſeinem großen Kurfürften und feinem
großen König verfpotteten mittelalterlichen Eatholifchen und bespotifchen goͤtt⸗
Then Recht und zwiſchen der europäifchen Freiheit und dem conftitutionellen
Koͤnigthum? Doc, überlaffen wir es ruhig dem gefunden Sinn der preu⸗
Fifchhen Nation und Regierung, bie Bedingungen und Confequenzen diefer
verfchiebenen Rollen und bie einer gar nicht ober halb und die ber entichloffe-
nen und männlichen ganz conftitutionellen Richtung zu erwägen. Wählt
man bie richtige, gewiß, dann braucht man zwei conftitutionelle Männer
nicht mehr zu fürchten und, um fie einige Tage ſchneller aus dem Staate zu
entfernen, fo gewaltige Staatsmaßregeln zu ergreifen, bie in Europa foldye
Eindrüde zurüdlaffen wie biefe. Uns wenigſtens [chiene eine dauernde Pos
litik in diefem Spfteme mehr geeignet, ben kuͤnſtlichen preußiſchen Staat
ohmmaächtig zu machen und aufzulöfen, als ihn zu befefligen, maͤchtig und
glorreich zu machen — und wir zweifeln nicht, baß der gute Genius Preu⸗
ßens und feine glorreihe Beftimmung endlich fiegen werben.
Nicht minder verfehlt erfcheint uns die im III. Fall erfichtliche Pos
Vitik religtöfee Verfolgung. Iſt fie etwa haltbar, diefe ebenfo hier mie fonft
erfichtliche baterifche Politik, um jeden Preis und felbft mit Verlegung der
verfaffungsmäßigen Glaubens- und Religionsfceiheit und der Bundespflichten
bie religiöfe Aufklärung zu befämpfen und die politifche Stellung und Macht
“in Deutfchland auf römifchen Katholicismus zu gründen? Welche Opfer
früher in energifhen Kämpfen zum Vortheile Roms und Oeſterreichs Baiern
brachte, wie e8 zu ihren Gunften auf den herrlichften Ruhm eines mächtigen
dbeutfchen Volksſtammes und Fürftenhaufes und auf die Einheit und Ehre
des großen deutſchen Vaterlandes verzichtete, diefes hat ſchon ber Artikel
Baiern ausgeführt. Aber nun, nachdem Baiern felbft fo große proteſtan⸗
tifche Provinzen in ſich fchließt, überall an feinen Grenzen, das katholiſche
Defterreich ausgenommen, an proteftantifche Staaten ftößt , tie kann heute
bei der nicht religiöfen, fondern politifchen und nationalen Zeitz
richtung Baiern feine Macht in Deutfchland auf intoleranten roͤmiſchen Ka⸗
tholicismus gründen! Und ifl denn nicht gerade die Megierungsallianz mit
dem firengen Kirchenglauben die einzig nachhaltige Nahrung für die unkirch⸗
lichen, unreligisfen Richtungen ? (Siehe den Art. Gallicaniſche Kirche.)
Regierungspolitif , die die Geifter ſich dienftbar machen will, fpielt immer
den Zauberlehrling. So die preußifche Politik, als fie das Stabilitätsfy»
ftem ducch die officiele Hegel’fche Philoſophie ftügen mollte, und ebenſo jest,
0 erzwungene Orthodoxie es in Preußen wie in Baiern fhügen fol. Die
Politik Spielt hier den Reactionskrieg in Gebiete, wo nicht fie, fondern die
Revolution Meifter if. Sie ruft das Gegentheil, Lichtfreunde und Illu⸗
minaten hervor. Und wenn fie fiegt, deſto [plimmer. In Frankreich find
Waſtrecht. 45
die Wunden der Unterbrüdtung bes Proteflantismus noch nicht:gehellt. Und
wie, wenn biefelbe in Deutfchland, oder wenn bie bes Chriſtenthums den roͤ⸗
miſchen Imperatoren geglüdt wäre! Baiern felbft erkennt es nach andern
Erſcheinungen feiner Politit an, daß heute nur Nationalität und Sreibeit
und freie Entwidelung die Kräfte find, durch die man Macht, Einfluß und
Ruhm erwirbt. Ihnen aber find Bleinliche rechtswidrige, ängflliche und obs
ſcurantiſtiſche Verfolgungen der Slaubensfreiheit und der deutſch-katho⸗
liſchen Kirche nicht förderlich, fondern hinderlich.
Iſt es endlich, was das Allgemeine betrifft, richtig, daß alle jene vers
Legenden Ausweifungen einzelner Männer hindeuten einestheilg auf eine
aus der Entzweiung der Regierung mit der Öffentlichen Meinung entflchende
Scheu vor freien Heußerungen und zugleich auch wieder auf einen gemeins
ſchaftlichen Entſchluß, ihr zu ttogen, flatt ihe zu huldigen? Iſt diefes rich⸗
tig, fo fragen wir, weil bei folchen Annahmen politifcher Tendenzen, die
wenigſtens nicht wörtlich eingeflanden werden, ber Einzelne ſich befcheiden
muß, daß er irren koͤnne, und nur das iſt ganz ficher, daB manche Rath⸗
geber es dahin zu bringen fuchen. Wäre es aber richtig, fo wäre es sin bes
denkliches Zeichen für die Weisheit und Kraft des bisher befolgten politifchen
Syftems. Man blicke zurüd auf jene Zeit, wo nad) langer Schmach des
Vaterlandes Fuͤrſten und Völker und ihre Staatsmaͤnner mit der höheren,
geiftesfreieren und fittliheren Kraft, welche nur fo feltene großartige Lebens»
momente verleihen, fi) zur Rettung und neuen heilfamen Geftaltung der
Staatszuftände erhoben, da erkannten fie alle klar und einmüthig und laut,
daß nur zeitgemäße Wiederherflellung uralter deutfcher Volks: und Verfaſ⸗
fungsfreipeit und innigfte Nationalsinigung die Kraft und
Größe der Nation und der Fuͤrſten begründen, fie vor Erneuerung der früs
heren entfeglichen Schmach und Todesgefahr fiherftellen koͤnnten. Sie ers
kannten zugleich, daß ber zeitgemäße Ausdruck dieſer Freiheit die volle
Freiheit und Geltung der oͤffentlichen Meinung, daß dieſe
oͤffentliche Meinung die geachtetſte Bundesgenoſſin und der Leitſtern
der Regierungen fein müffe Dean erkannte fie mit Recht als die
Stimme bes öffentlichen Gewiſſens und der Geſammtvernunft der Nation,
als die Stimme Bottes in ihr. Go vor und in den Befreiungskriegen,
vor und auf dem Wiener Congreß bei Begründung und fürftlichen Zuſagen
der Bundes: und Landesverfaffungsredhte, fo noch am Bundestage in ber
erften vier Jahren. (S. oben Bluͤcher ©. 550.) Welcher aͤußerſte Wider⸗
ſpruch der gegenwärtigen Regierungsmaßregeln mit den wefentlichften Grund⸗
principien des Bunbes und der Staaten und der Zeit, wenn man bie freie
Heußerung der Sffentlihen Meinung fürchten und haſſen müßte, wenn
man der wahren Stimme Gottes In der fittlihen Gefammtvernunft Trotz
böteund jenen hochmuͤthigen Eigenwillen der Herrſcher und der Rathgeber,
wenn man folhen hochmuͤthigen Eigenwillen,, der ‚die Stuarte und Bourbo⸗
nen flürzte, zum Bögen erhöbe! — Gewiß, wer dazu riethe, der riethe
falfh. Der öffentlihen Meinung, der Vernunft zu trogen — das wahrs
ih macht nicht groß und flart. Der ſchwaͤchſte, eigenfinnigfte Knabe
kann es. Wer wirklich die Öffentliche Meinung verachtet,, ber wird zuletzt
416 Gaftredht.
von ber Öffentlichen Meinung verachtet werben. Der riethe nicht. gut und
recht, denn er riethe gegen Gewiſſen, gegen Treue und Ehre, er riethe
fi) mit dem befferen Sefbft , mit all jenen im den Stunden erwachten Ge
wiffens ‚in den heiligften Momenten der vaterländifchen Geſchichte mit Fuͤr⸗
fienwort und Eib befiegelten heiligen Zuſagen und freien Berfaffungen in
Miderfpruc, zu fegen, biefe Zuficherungen und die freien Verfaffungen, ber
sen Weſenheit eben die Geltung ber freien oͤffentlichen Meinung ift, zur
Öffentlichen Lüge zu machen. Er riethe nimmermehr beilfam — denn Uns
beit fe Fuͤrſt und Volk war ſtets die Folge fo verkehrten Spftems, müßte es
vollends bet dem heutigen Erwachen der Völker fein. Unredlichfeit und die Laͤ—
herlichleit eines Syſtems find an ſich ſchon furchtbare Strafen für feine Ur
biber. Aber heutzutage, wo fo viele Gegner fie mit Freude begrüßen, ift bie
Gefahr größer. Eine etwaige Beſchwichtigung unferee Mahnungen, meil
ja doch bis heute die Ruhe noch leidlich beſtehe, diefe könnten wir unfererfeits
entträften durch die Thatfache, daß jedesmal noch an dem Tage vorher, ehe
in England, Frankreich, den Niederlanden bie ber öffentlichen
Meinung teogenden Regierungen zuſammenſtuͤrzten, daß auch noch kurz vor
ber Schlacht von Jena die ganze verblendete Hof» und Regierungspartei bie
unglüdlichen Kürften wegen der muthvollen und weifen Durdyführung ihres
vortrefflichen Reglerungsſyſtems begluͤckwuͤnſchten. Auch damit aber follen
jene ungluͤcklichen Rather nicht alle Mahnung leichtfertig befeitigen, daß fie
auf die Freue und Geduld und Gefeglichkeit der Deutfchen hinmeifen. Wohl
haben die Deutfchen dieſe Tugenden in den legten dreißig Fahren bis zum
Erftaunen ber Welt bewährt, Und gewiß, befonnene und gemwiffenhafte Maͤn⸗
ner kennen bie außerorbentlichen Gefahren und Uebel ber Revolutionen, felbft
deren, bie nur als unvermeibliche Rettungsfieber und in ſcheinbar milder Ge:
ſtalt ſich darſtellten. Sie möchten mit ihrem Herzblut auf dem friedlichen und
aefeglichen Wege des Vaterlandes Ehre, Freiheit und Eriftenz retten und trach⸗
ten dahin in jeglicher Weife. Aber überfehe man doch auch nicht, wohin der
vom erften Anfang fündhafte dreißigjährige MWiderftandsfampf gegen bie
Verwirklichung der Freiheitsrechte der deutfchen Nation, gegen ihre natur:
und zeitgemäße unvermeibdliche Entwicklung und für ihre Zuruͤckſetzung hinter
alle freien Völker der Erde ung hinführt, felbft unwillkuͤrlich und unabfichtlidh
die Megierungspolitit und die deutfchen Volkszuftände hinführt und täglic)
weiter führt. Einerfeits ergreift ber fo erzeugte Gaͤhrungsproceß trog aller
Genfur> und Poltzeimittel endlich alle Theile des Vaterlandes, zieht bie In⸗
tereffen aller Claſſen, bie religiöfen, dtonomifchen und politiſchen und fittlis
chen Intereſſen in ſich hinein und vereint fie gegen die Unterdruͤckung ber na⸗
türlichen Kebensentwidlung der Nation. Gleichzeitig werden andererfeite bie
Hemmungen und Verlegungen natuͤrlich täglich vielfacher und fühlbarer. Das
patriotifche, das rechtliche und fittliche Gefühl der wohlwollendſten Ehren»
männer wird verlegt durch alle die Rechts: und Freiheitsbefchränfungen, bie
theils als unrühmliche Zeichen beunruhigten Gewiſſens und ber Angft , theile
ale Zeichen beharrlicher Verfolgung unheilvoller Rathſchlaͤge, die edelften
Kräfte der Nation laͤhmen oder für jene Unterdrüdung verwenden, bie
Macht und Blüche des Vaterlandes hemmen, feinen Ruhm befleden und
AM
j Gelb, 417
die fo fichtlich das gelſtige, fittliche und Leibliche Wohl, oft bie Erhaltung
und Lebensrettung von Zaufenden unferer Mitbrüber unverantwortlich vers .
legen! So thun es ja taufendmal die Unterdrüdung der freien Wahrheit in
allen Gebieten des Lebens oder auch die der freien Vereine, ber Vereine felbft
für die edelften fittigenden und Leben und Unterhalt der Familien fördern:
ben Zwecke, der Vereine für Bildimg und Wohlfahrt armer Handwerker,
der PeftalozzisVereine für Kinder: und Waifenerziehung, der Auswanderungs:
vereine zur Rettung hilflofer Auswanderer. Go thun es ebenfo die Ber:
letzungen ber Religionsfreiheit und die hier zunaͤchſt befprochenen Verletzun⸗
gen des freien Verkehrs unter ben Gliedern derfelben Nation. Jeden Tag
liefern’ ja felbft die cenfirten Zeitungen aus verfchiedbenen Theilen Deutfchlande -
erſchreckende Beifptele aller diefer Verlegungen !
Zwei Dinge aber vor Allem find es, die zulegt die Geduld gerabe ber
Edelſten erichättern koͤnnten. Das Eine ift die Betrachtung, wie biefer
umnatürliche Kampf gegen bie Sreiheitsentwidlung der Nation, ganz fo wie
es die Natur fo hartnädiger Kämpfe auch in England und Frankreich mit
ſich brachte, vielen bereits fanatifch > revolutiondren Feinden aller veligiöfen
und politifchen Autoritäten der beftehenden Geſellſchaft das geiftig gegen fie
nicht bewaffnete unzufriebene Volk in die Hände liefert und fo vielleicht ſchoͤn
uns und unfere Kinder mit revolutiondren Greueln und bie Befittung mit
roh materialiftifchen, irreligioͤſen Richtungen bedroht.
Das Andere ift das, daß, wenn jene falfchen Rathfchläge Gehör faͤn⸗
ben, die Erſchoͤpfung aller Regierungsweisheit und Anftrengung für bie Frei⸗
heitsunterdruͤckung umb bie Kurzfichtigkeit und Untüchtigkeit reactiondter Zus
follsminifter nicht mehr blos unfere wichtigften nationalen Intereffen, uns
ſeren Wohlftand, unfere ruhmvolle und angemeffene Stellung unter den Ras
tionen der Erde, nein, unfere Ehre und Eriftenz englifcher, franzöfifcher und
vollende ruffifcher Uebermacht und Raubfucht abermals preisgäben.
Wahrli kein Mann, der ein Gefühl hat für fein Vaterland und
feine Pflichten, koͤnnte ruhig auch folche Gefahr ſich noch mehren und nähern
A
Deshalb alfo mögen alle wohlmeinenden Regierungen und Rathgeber
im ganzen beutfchen Vaterlande jene verderblichen Rathſchlaͤge befämpfen
und wirfungslos machen und frei laſſen und anerkennen bie Öffentliche Mei⸗
nung jede rechtliche Vereinigung und Verkehrsverbindung in unſerer deut⸗
ſchen Nation! C. Welcker.
Geld. Die Lehre vom Gelde gehoͤrt unter die Lehre von dem
Umlaufe ber Güter, von ber Bewegung, welche nöthig iſt um die jährlich,
erzeugte Dienge von Gütern unter Diejenigen, welche unmittelbar an ber
Production theilnehmen ober durch Dienflleiftungen aller Art ein abgeleitetes
Eintommen beziehen, zu vertheilen. Die urfprüngliche Vertheilung
weift dem Grumdbefiger die Mente zu, welche er für das Herleihen feines
Bodens anzuſprechen, oder, wenn er ihn felbft baut, fich zu berechnen bat ;
dem Gapitalbefiger ebenfo feine Rente ale Vergütung für hergelichenes Ca⸗
pital, beſtehe dieſes in Geldfummen oder in Gebäuden, Waaren, Geräth-
haften u. dgl.; dem Unternehmer den Erſatz der Productionskoſten und
Suppl. 3. Staatslex. IL a
ſenen, melde
‚ie Arbeitstheifung voraus umb entwidelte volkkmwirthfäaftlick
ltnifſe; fie macht eine Uebertragung, alio «ine Bemegung ber Büter,
n⸗iauf nothwendig. Dieler gebt aber nicht in der Weiſe vor fich, daß
wirkende fein Einkommen in ber Gattung von Gütern, bei berem
:erron er ald Arbeiter, Gapitalbefiger, Grundeigenthuͤmer ober Unter:
e betheiliar iſt, beröge; 6 wird ihm vielmehr nicht erwuͤnſcht fein,
avon zu erhalten, als er zu feinem Verbrauche bebarf. Dies macht
ı Lanbiwirtbe viel, bei ben Gewerbsleuten weniger aus. Feder wird
„we wolmfcben, fein Eintommen in einem Stoffe zu erhalten, ben er
nagen jede Art von Guͤtern in kleinerer oder größerer Menge en
id biefeer Stoff, biefes allgemeine Tauſchmittel, «8 beſtehe aus
Te, nennt man Geld. Mod mehr wird das Geld Bedürfniß
he, wie die Geſellſchaft außer ber Sorge für die unentbehrlichiten
muyöenbigkeiten, für Nahrung, Kleidung und Wohnung, noch für
unb hoͤhere Zwecke des menfchlichen Dafeins Mittel findet und Ein-
gen trifft. Es bilden ſich dann Geſchaͤfte, die nicht unmittelbar an der
‚beingung brauchbarer Sachen tbeilnehmen, aber doch auf diefelbe
indem fie bie Bedingungen der Production vervolllommnen, Kräfte
von, Maturgefepe kennen lehren, Werkzeuge verbeffern, Schaden ab»
Ohne Wiffenfchaft und Kunft, ohne Einrichtungen zur Erziehung
gend, zur Sicherung des Eigenthums und der Perfon, würde die Pro:
duction niemals eine Stufe erreichen, welche für Bedarf und Bebensgenuf,
für die Vermehrung ber Werthe und Kräfte, für den Fortfchritt nach Wer:
volllommnung des Menfchen mwünfhensmerth iſt. Die Menfchen, melde
ſich diefen Zweigen der TIhätigkeit widmen, haben aus der Maffe der ers
jeugten Güter ihr Einfommen ebenfalls zu beziehen, und fie erhalten es in
der Korm des Geldes, für welches fie die Sachen, die fie brauchen, eintau:
fhen koͤnnen. So wird ein Theil des urfprünglichen Einkommens abgege
ben an den Staat. Dies gefhab in Zeiten, wo ein allgemeines Umlaufe-
mittel nicht oder nicht In hinreichender Menge vorhanden war, in Arbeit:
leiftungen und Erzeugniſſen des Bodens, der Jagd, des Fiſchfangs, wovon
fich beute noch Beiſpiele finden in Frohnden, Zehnten und Abgabe von Zobel:
pelgen ; doch werden in civilifirten und freien Rändern die Abgaben in der Re:
get in Geld entrichtet ; aͤbnlich verhält es fich mir den Leiftungen für Kirche
und Schuie, für Bedärfniffe der Provinzen und Gemeinden. Gelehrte und
Kuͤnſtler, Aerıte und Anwälte werden ihr Eintommen menigftens nicht
sum groͤßeren Xbeile in Lieferungen für Küche, Keller und Kleiderichranf
erdalten. Doch kommt dies, wie bei Befoldungen der Beamten, fo aud
bei den vorgenannten Qlaffen immer noch vor ; in Amerika, befonders im
Innern, wo die mächtige Production nicht durch eine hinreichende Geldmenge
vertreten it, werden mwobl aud Zeitungsabonnements in Schweinefleife,
Medi und andern Erzeugniffen entrichtet. Die dienende Claſſe, Gefinde,
Huftatdeiter in den Gewerden, bezieden großentheild noch den Lohn haupt:
Geldumlauf. 419
fächlich durch unmittelbare Befriedigung ihres Bedarfs an Nahrung, Klei:
dung ımd Wohnung, und nur den geringeren Theil in Gelb.
Die Koften des Umlaufs der Güter, wozu außer dem Aufwand für den
Handel und den Transport auch jener für die Herftelung und Unterhaltung
des allgemeinen Tauſchmittels gehört, werden in den Preifen ber Güter er-
fegt , find alfo von den Abnehmern zu tragen. Diefe Koften zu verringern,
liegt ſonach im Intereſſe der Production und des Handels, da mwohlfeilere
Dreife die Nachfrage, mithin den Abfas vermehren und günftig auf die Pros
duction zuruͤckwirken. Anfchaffung und Verſendung non Metaligeld ift theuer,
ins Ländern raſchen Auffhmungs vermehrt es fi) auch nicht in dent Ver⸗
haͤltniß mit den Gütern, bie e8 im Umlaufe vertreten fol; der Dandel
ſucht daher mit möglichft wenig Geld möglichft viele Umfdge zu vermitteln
und dazu bient ihm der Credit. Hierauf, auf dem Vertrauen, daß die. ein-
gegangenen Verbinblichkeiten pünktlich, erfüllt werden, beruhen viele Einrich-
tungen, weldye eine Menge von Umfägen mit verhältnigmäßig geringer Bei:
hilfe von Geld möglich machen, e8 beruht darauf auch der Gebrauch eines
wohlfeileren Geldes, das feinen andern Gebrauchswerth hat, als den ihm
bas Vertrauen in feiner Eigenfchaft als Umlaufsmittel giebt, das Papiers
geld. — So kommt in der Lehre von dem Umlaufe ber Güter das Geld in
Berbindung mit dem Credit und die Lehre vom Gelde gewinnt bedeutend an
Umfang und Inhalt. Haben wir nun die Stelle dieſer Lehre in dem Gebiete
der Volkswirthſchaft angedeutet, fo erübrigt uns, noch auf die verfchiedenen
Theile hinzumelfen, unter denen fie im Staatslexikon abgehandelt wird,
ober mit denen fie In einer näheren Beziehung fteht.
An die unten folgenden Auffäge, welche das MWefen und die Eigenfchaf-
ten des Geldes im Allgemeinen, und in&befondere bes Metallgeldes behandeln
und ſich über deſſen Umlaufs> fo wie über die Verhältniffe feiner Menge
zu dem Bedarf, über Geldmangel und Ueberfluß äußern, fchließen ſich die Ar⸗
titel Aſfignaten“, „Papiergeld und Papierhandel”, fodann über „Muͤnz⸗
wem” an. Im Zufammenhange damit flehen „Banken, Cours, Actie,
Agio, Agiotage, Arbitzage, Credit, MWechfel und Wechſelcours.“ —
, Karl Mathy.
Geld umlauf. Wenn aus irgend einer Urfache das Angebot
von Geld hinter der Nachfrage bedeutend zuruͤckbleibt, fo entflehen die Ers -
fcheinungen, welhe man GeldErifen, Geldklemmen, gedrüdten
Zufland des Geldmarktes zu nennen pflest. Man muß unter
ſcheiden zwifchen dem Capitalmartte, wo dauernde Anlagen von Ca⸗
pital meift für die Landwirthfchaft, Baulichkeiten oder ftehende Einrichtuns
gen gefucht und geboten werden, und dem Geld markte, welcher Angebot
und Nachfrage von Geldfummen auf Eurze Zeit, meift im Handel und für
das umlaufende Gapital dee Induſtrie vermittelt. Auf dem Gapitalmarkte
find die Schwankungen geringer und folgen nur allmälig den Veränderungen
im Gelpwerthe; dort regelt fich dee mittlere Zirtefuß. Die Verhaͤltniſſe des
Geldmarktes, welche ſich im Discont ausdrüden, jinb häufigeren und ſtaͤr⸗
teren Schwankungen ausgeſetzt. Die Anleihen der Regierungen und die
Einlagen von Actingefellfchaften werben aus dem umlaufenden Capital ae:
27 *
420 Geldumlauf.
nommen; ein Zufammentreffen größerer Operationen dieſer Art macht ſich
baber zundchft auf dem Gelbmarkte fühlbar und berührt dem Disconto , wie
auch umgekehrt die Aenderungen bes Disconto auf den Cours ber Staats:
papiere und ber Actien Einfluß haben. Diefe Papiere find auch großentheils
in ben Händen der handel= und gemwerbtreibenden Glaffen und müffen da⸗
bee, da fie bei günftigen Berhältniffen angefauft, bei ungünftigen auge
vr werben, bie Veränderungen auf dem Geldmarfte mit empfinden,
as Sinken ber Staatspapiere vermindert das Nationalvermögen nicht,
indem babei Feine Güter zerilört werben oder verloren geben; es mindert
fi nur das eingebildete Vermögen der Inhaber, und diefe Wirkung der
Beldkeifen könnte noch am leichtellen verſchmerzt werden. Schäblicher iſt
ber Umſtand, daß bie Induſtrie und dee Handel auf dem Gelbmarfte , bei
ben Bankiers und den Bankanftalten bie Hilfe nicht mehr, oder nur gegen
fehe hohe Bezahlung finden, welche fie zum ungeflörten "Sortbetrieb ihrer
Geſchaͤfte bedürfen, Der geftörte ober erfchwerte Geldumlauf. ift daher
vollswirthfhaftlich befonders darum nachtheilig, weil die Dienfte des allge-
meinen Zaufchmitteld dem Mittelftande entzogen oder vertheuert werben,
weldyer doch durch feine Steuern die Staatsſchulden verzinft und tilgt und
bie Unternehmer der Anleihen bereichert, wie er durch feine Arbeit dem Geld:
befiser bie Zinsrenten verbient. — Die Zeichen, womit fidy eine Gelbfrifis
ankündigt, wollen wie, ba wir gern Beifpiele aus dem Leben greifen, bem
Vortrage des franzoͤſiſchen Finanzminifters (damals Hr. Duchätel) zu dem
Budget von 1838 entnehmen: „Auf allen großen Handelsplägen ift ber Preis
bes Geldes (der Discont) geftiegen. In den vereinigten Staaten ftand der—
felbe im Juli (1837) auf 2 Proc. für ben Monat; feit Detober hat er ſich
bis auf 2 und fogar auf 3 Proc. gehoben. In England hat die Bank ihren
Discont anfaͤnglich von 4 auf 44, dann von 44 auf 5 Proc. erhöht. Die
englifche Regierung war gendthigt, zweimal den Binsfuß von der ungeheuren
Maffe ihrer Schatzkammerſcheine höher zu flellen, von 24 auf 3 und von
3 auf 38 Proc. Die Amfterdamer Bank hat ihren Discont nad) und nady
von 3 auf und von 4 auf 5 Proc. geiegt. Sie mußte fogar eine Zeit lang
ihre Darleihen befchränfen, weil fie nicht über die in den Statuten gezogene
Grenze von 5 Proc. hinausgehen durfte. Die Banken in Hamburg und
Berlin haben ebenfalls bie Bedingungen ihrer Darleihen erfchwert; in Ham:
burg fleht der Discont auf 5, in Berlin auf 54 Proc. Unter allen euros
päifchen Banken war es die franzoſi ſche allein, — den Sag von 4 Proc.,
zu welchem fie feit vielen Jahren discontirt, feftgehalten und dem Handel die
nämlichen Bedingungen und die nämlichen Erleichterungen gewährt hat.
Allein ihre Reſerve, welche im Monat März 188 Mill. betrug, war im No⸗
vernber auf 89 Millionen geſchmolzen, ftieg aber bald wieder über 100 Mitt.
Im Monat März hattedie Bank Wechfel im Betrage von 80 bis 90 Millio:
onen discontirt; feit October zmifchen 140 und 150 Millionen. — Gleich⸗
zeitig war im legten Derbfte ein allgemeines Sinken aller europaͤiſchen
Staatspapiere zu bemerken. Im October und November fielen die englis
[hen 3 procent. von 91 bis unter 87, ‚die holländifchen 24 procent. von
56% auf 50.” — Eine nod) weit ſtaͤrkere, befonders für Deutſchland
32èFd
Geldumlauf. 421
empfindliche Geldrifis iſt feit dem Herbſte 1845 eingetreten und bis
jest (Anfang 1847) noch nicht gewihen. Den erften Anftoß aaben wohl
bie Anleihen von Regierungen und die Einzahlungen der Actiengefellfchaften
für die Eifenbahnbauten ; allein verftärkt wurde die Krifis durch den Ruͤck⸗
ſchlag bee Furcht auf das Spiel und den Schwindel mit Actien, deren In⸗
baber nur ein Intereſſe an der Speculation mit dem Papier, nicht an der
Ausführung der Unternehmungen hatten. Dazu kam die unergtebige Ente
von 1846, der Ausfall an Kartoffeln durch die ſchon 1845 eingetretene Krank»
beit, welche ungemöhnliche Zufuhren an Lebensmitteln, theils durch den
geroöhnlichen Handel, theils durch Aufläufe der Regierungen und Ges
meinden , felbft nach ſolchen Gegenden veranlaßte, die in gewöhnlichen Jah⸗
ren große Mengen auszuführen pflegen. Zu dem bierbucch veranlaßten Abs
uß an baarem Gelde fügen die zunehmenden Auswanderungen nicht unbes
traͤchtliche Summen. Ein Theil diefer Urfachen, wie ber erhöhte Geldbedarf
für Eifenbahnen und unzulängliche Enten, wirken auch außer Deutfchland in
andern europdifchen Ländern. England und Frankreich bauen Eifenbahnen
und führen Lebensmittel in ungewöhnlicher Menge ein; aber der größere Ca⸗
pitalreichthum dieſer Länder und die Hilfe großer Creditanſtalten mildert bie
Wirkung auf den Geldumlauf. Die englifchen 3 proc. flanden Ende 1846
auf 93 bis 94, die hollaͤndiſchen 24 auf 598, alfo bedeutend höher als 1837 ;
die franzöfifchen 3 proc. auf 832, 4 proc. auf 105. — Die franzöfifche
Bank discontirte fortwaͤhrend zu 4 Proc., obgleich ihre Vorräthe in Parts auf
72 Millionen gefchmolzen waren, wozu noch 25 Millionen bei den Filialans
flalten in ben Provinzen kamen. Am Sahresfchluß floffen übrigens 51
Millionen in ihre Saffen, fo daß fie ſchwerlich genäthigt fein wird, den
Discont zu erhöhen oder ihre Discontgefchäfte auf Papiere von Fürzefter
Berfallzeit zu befhränken. In Deutfchland dagegen waren z. B. die 3%
proc. preußiſchen und baierifchen Papiere, welche ſich vor der Krifis beftändig
über Pari hielten, auf 92 bis 94 geſunken, der Discont an den Handels⸗
plägen auf 5 bis 6 Proc. geftiegen. Hannover hat ein Anlehen zu 5
Proc. abgefhloften und Würtemberg wird ſich vorausfichtlich zu einer aͤhn⸗
lichen Operation entfchließen müflen. Bon Maßregeln der Regierungen '
zur Erleichterung des Geldumlaufs wiffen wir wenig zu berichten und koͤnn⸗
ten auch von ſolchen nicht viel erwarten. Preußen ift gegen den Actienfchtwins
del fcharf zu Kelde gezogen, ohme daß fich der Zuſtand des Geldmarktes ges
beſſert hätte; e8 bat zu der Berliner Bank Private mit Geld beigesogen,
allein die Leitung der Gefchäfte bleibt in den Händen der Beamten. Deſter⸗
reich laͤßt aus Staatsmitteln Actien rentirender Geſellſchaftsbahnen zu ihrem
wahren Werthe auflaufen und bat dadurch der Börfe einige Erleichterung
verſchafft. Allein, wie oben ſchon erwähnt, — die Geldllemme wuͤrde
den Hilfsquellen ber Volkswirthfchaft wenig Abbruch thun , wenn fie blos
den Papiers&peculanten und den Inhabern der Staatsfchuldfcheine Nach:
theil brächte, die fie zum Theil verfchuldet haben. Sie ſchadet jedoch dem
Mittelftande, dem die Banken und die übrigen Geldquellen meiftens nicht
unmittelbar, fondern durch Dritte zugänglich find, bie ſich ihren Beiſtand
ſchwer bezahlen laſſen; dem Mittelſtande, der, wo Greditanftalten nicht vor⸗
422 Genf.
handen oder ſchlecht eingerichtet find, — dem Wucher preisgegeben ift. Hier
iſt in Deutfchland noch viel zu thun, nicht nur fire Verbefferung des Credit
wefen® (vergl. ben Artikel Banken), fondern durch Förderung der Induftrie
und des Handel. Mir fehen Deutfchland gegenwärtig Früchte einführen,
Menſchen- und Gapitalfräfte ausführen, feine Induſtrie auf dem heimi:
ſchen Markte von der britiſchen Uebermacht bedroht, auf fremden Märkten
benachtheiligt, nirgends beſchuͤzt. ine ungünftigere Lage für eine große,
fähige, gebildete Nation giebt e8 nicht; eine längere Dauer derfelben müßte
zum immer rafheren Sinken des Wohlſtandes führen. Wohin foll Deutſch⸗
land noch gebracht werben unter ber Vormundſchaft feiner Beamtenftaaten?
| Karl Matby-
Genf. Mie fo oft in der Politik ein umentfchiedenes Schwanken
mit dem falfchen Namen der Mäfigung und Klugheit beehrt wird, falls es
nur eine Zeitlang gelingen mag, einen kuͤmmerlichen Statusquo muͤhſam
zuſammenzuhalten, fo hatte fich auch bie im Fahr 1846 geflürzte Genfer Re:
gierung vor allen anderen ſchweizeriſchen Gantonalregierungen den Ruf ber
taatsweisheit gewonnen. Hatte fie doch aus der Periode der Reftaura-
tion bie eilfertig befchloffene und angenommene Berfaffung vom 24. Auguſt
1814 mit ihren ariftofratifchen Elementen, mit ihrer ungefheuten Bevor:
zugung ber reicheren vor ben ärmeren Glaffen und mit ihrer Verwirrung ber
Bewalten,, felbit in den Stücmen nach ben ulitagen von 1830 vermittelft
einiger Supplementargefege zu erhalten gemußt- Aber bie f. g- meife Mäßi-
gung hat die Probe fpäterer Ereigniffe nicht beftanden ; und ift jest ber von
ben Doctrinaͤrs als ſchweizeriſcher Muſterſtaat geruͤhmte Canton einer ſchwer⸗
lich ſchon voͤllig abgelaufenen Reihe von Unruhen und Wirren preisgegeben,
ſo liegt der Grund in einer Politik, die den Beduͤrfniſſen der Zeit nicht in
vollem Maße Rechnung trug und durch ihr Flickwerk, durch ihre halben aus⸗
weichenden Conceſſionen das Volk mit ſeinen unabweisbaren Forderungen
mehr zu verſpotten ſchien, als zu befriedigen verſtand. Wohl geſchah Man⸗
ches von der Genfer Regierung, was der Ehre werth iſt. Dahin gehoͤren
zumal die 1838 getroffenen energiſchen Maßregeln, als die Ausweiſung Louis
Bonaparte's aus der Schweiz verhandelt und von Frankreich aus die
Unabhaͤngigkeit der Eidgenoſſenſchaft bedroht wurde. Allein die wachſende
Unzufriedenheit im Canton ſelbſt konnte weder durch eine oft nur ſcheinbar
liberale Politik in eidgenoͤſſiſchen Angelegenheiten dauernd beſeitigt werden,
noch auch durch eine gewiſſe Nachgiebigkeit in Einzelheiten, nicht einmal
durch eine ſtufenweiſe Herabſetzung des Cenſus der Wahlfaͤhigkeit und Waͤhl⸗
barkeit bis auf eine geringe Steuer. In der Errichtung eines radicalen
Vereins vom 83. Maͤtz 1841 fand endlich die Oppoſition das Mittel der
Einigung und der Organifation ihrer Beftrebungen. Die Veranlaffung zur
Gründung diefer Affociation war die Vertagung eines Gefeges tiber die Mu:
nicipalorganifation der Stadt Genf; denn lange ſchon war e8 ein Grund zu
lebhaften Beſchwerden, daß die fädtifche Gemeindevermwaltung und die Can-
tonalgemwalt nicht gehörig gefchieden feien. Das ſchwankende Benehmen der
‚Regierung in der Aargauifchen Klofterfrage veranlaßte am 18. October
1841 eine Volksverfammlung, wodurch der große Rath und der Stantsrath
—
—XX
Gef.‘ 428
zu einem entfchiebneren Benshmen in diefer Angelegenheit beftimmt wurbe.
Bald darauf (8.Nov.) wurde dam Staatsrath eine Petition der Reform⸗
freunde eingereicht, worin die wefentlichen Punkte für eine Geſammtreforni
dev Verfaſſung entwidelt waren. Der Staatsrath zögerte und ging auf den
Hauptpunkt, ein durchaus verändertes Wahlfpflem, nicht-ein. Die mili⸗
. tärifchen Vorkehrungen, welche derfelbe für die Verſammlung ber Repräfens
tanten am 22. Novbr. traf, erbitterten das Volt. — Die nicht fehr zahlreich
eintreffenden Milizen wurden entweder zerflreut oder gingen zum Volke über 5
bem großen Rathe (conseil representatif) wurde von den Leitern der Beides
gung die Forderung eines frei zu ernennenden Verfaffungsrathe für Ausarbeis
tung eines den Bürgern zur Annahme ober Verwerfung vorzulegenden Cons
flitutionsentwurfs geſtellt, und nach lebhaften Verhandlungen wurbe biefes
ne von bee Mehrheit der Nepräfentanten noch an demfelben Tage ge«
nehmigt. nt
Die wichtigften Gründe der Unzufriebenheit mit der bisherigen Vers
faffung find in einer vom patriotifchen Verein ausgegangenen Schrift, bie
übrigens den guten Eigenfchaften und dem ehrenhaften Benehmen der Res
gierung fett 1814 volle Gerechtigkeit widerfahren läßt, treffend auseinander
gefegt. Darin heißt es unter Anderen: „Die Verfaffung von 1814 ftellte
einen Repräfentantenrath von 250 Gliedern auf; diefer war der Souverän; -
er war eine Nachbildung ber ariftofratifchen „Zweihundert”. Won dem con-
seil general (dem wahren „Souverän”) war gar Beine Rebe. Obgleich ber
Mepräfentantenrath der Souverän fein follte, fo mar er doch eine fehr ohn⸗
mächtige Behörde, aͤhnlich den Großräthen der übrigen Schweiz während
ber Reftauration; er war eine Wahlbehörde, indem er bie Mitglieder bes
Staatsraths und der höheren Verwaltungs und Richterftellen ernannte; erſt
almälig rang er fich zu einiger Bedeutung heraus. In dem Staatsrath
von 28 Gliedern, einer Copie der alten „Fuͤnfundzwanzig“, war die ganze
Staatsgewalt concentrirt, in feinen Händen lag, faſt unumfchräntt, bie
ganze Verwaltung ; feine Glieder waren lebenslaͤnglichz er hatte Sig
und Stimme im Repräfentantenrath und die Initiative der Geſetzgebung in
ihrem ganzen Umfange Fam nur ihm allein zu. Selbſt die richterliche Ge⸗
walt hing vielfady von ihm ab; denn die Attribute der vollziehenden und rich⸗
terlichen Gewalt waren keineswegs ſcharf getrennt, fondern durcheinander ges
mifht, wie in allen VBerfaffungen der Reftaurationsepode.
Zu diefen großen Unvolllommenbeiten, welche dem neum Grundgefeg auf
nichts weniger Anfprucd geben als auf das Prädicat einer freien Ver⸗
faffung, kam noch, daß es in fich felbft unzufammemhängend und voller.
Miderfprühe war. Aber das größte Gebrechen Ing in dem angenommenen
Wahlſyſtem. Die Verfafiung gab fich für eine Nepräfentativverfaflung
aus; durch das Wahlſyſtem wurde diefer Name aber zu einer offenbaren
Taͤuſchung. Wir wollen nicht einmal den Eenfus von 63 Genfer Gulden jaͤhr⸗
licher Steuer für die Stimmfähigkeit, wodurd viele Bürger vom Wahlrecht
ausgefchloffen wurden, hervorheben; aber die Wahlmafchine ſelbſt war eine
Verhöhnung einer Repräfentativrepublit. Won den 250 Bliebern des Re⸗
praͤſentantenraths fielen jährlih nur 30 in die Erneuerungswahl. Bet
424 Genf.
dieſer faſt auf Null reducirten Einwirkung der Wähler auf ihre Repraͤſen⸗
tanten mußte ſchon alles Intereffe an den Wahlen erloͤſchen. Nun war aber
die Wahlart fo zuſammengeſetzt, kuͤnſtilch und verwidelt, daß bei dem er⸗
fin Wahlact kaum bie Hälfte der 30 Wahlen heraustommen fonnte; alle
fehlenden wurden dann inbirect durch ein befondered Wahlcollegium ges
macht, deſſen Dauptbeitandeheil der Repräfentantenrath felbft und ber
Staatsrath waren. Diefe indirecten Wahlen waren mithin nichts Anderes
als die verworfene Selbſtergaͤnzung der Stellvertreter, und für dieſen
Peg blieb immer die große Mehrheit der 30 Erneuerungswahlen übrig. Von
1819 (ind.) bis 1850 (incl.) fanden jähbelih im Durchſchnitt nur
7 dbirecte Wahlen flatt; ein einziges Mat 15, öfter 5, mehrmals nur
2 undim 3. 1824 gar feine, weil das Wahlintereffe gänzlich erftorben
war *). Bon ben 30 Erneuerungswahlen jährlich wurden alfo durchſchnitt⸗
lich 28 in dem angegebenen Zeitraum zu Selbftergänzungen,, wodurch das
alte Megentenperfonale ſich veremigtes; aber auch die 7 directen fielen ihm une
mittelbar durch feinen Einfluß in die Hände. Das ganze Wahlſyſtem war
alfo daranf berechnet, daß der Reptaͤſentantenrath und Staatsrath nmicht
das Volk repräfentieten,, fondern denjenigen Theil, der burch die Umſtaͤnde
in den Befis der Gewalt gefommen war und ſich fortdauernd darin erhielt.
Die, melde fih 1814 zu Berfaffungsmachern aufgeworfen hatten, rafften
in-der Eile aus den Adminiſtrationen und Gorporationen, die unter der
feanzöfifchen Herrſchaft fortgebauert hatten, ferner aus ber öfonomifchen Ges
ſellſchaft, aus der Akademie, den Rectoren und verfchiedenen hohen Zirkeln
ein legislatives und abminiftratives Perfonal zufammen, und diefes Perfonal
fchob ſich durch das Wahlſyſtem immer wieder felbft an’s Ruder. Es war
feine eigentliche Ariftofratie, denn es war feine privilegirte Kafte mit eigen=
thümlihen Sonderinterefien, welche beide Eigenfhaften zur Ariftokratie ge:
hören: es war, wie die Genfer fagen, eine „coterie gouvernementale‘“,
d. b. ein Sapacitätenregiment, das in den angeführten Verfaffungsmängeln
die Kunft erfunden hatte, fi; die Regentenfige zu affecuriren, zujam:
mengefest aus ehemaligen Ariſtokraten, reichen Gutsbefigern und Bankiers,
doctrinären Politilern. Zwar machte der Repräfentantenrat) — natürlic)
als Souveraͤn aus eigener Machtvollkommenheit, ohne des Volkes Mitwir:
tung — allmälig Beine Verbeſſerungen in diefer illiberalen Verfaffung; der,
Genfus ſchwand nah 3 bis 4 Neductionen endlih auf 7 Genfer Gulden;
die Amtsdauer der Staatsraͤthe warb auf 8 Fahre gefegt und ihre Zahl um 4
vermindert; das MWahlcollegium fupprimirt, fo daß die 30 jährlichen Er=
neuerungsmahlen direct wurden (die beiden legten Aenderungen im J. 1831);
aber bei diefen Reformen in homdopathifhen Dofen blieb ee. Die Grund:
gebrechen dauerten fort: die Uebermacht des Staatsraths dem Repräfentan-
tencath gegenüber, die lange Dauer der Amtsgewalten und das illuforifche
Wahlſyſtem von nur 30 jährlichen Erneuerungsmwahlen” **).
*) Rigaud, Constitution de la republique de Genève. 2. Ausg.
++) &% Snell, Handbuch des fehmweizerifchen Staatsrechts. Band II.
Seite 790 36. (Zürich 1845).
A e
Senf. | 425
So bot allerdings bie Genfer Verfaſſung von 1814 ein beſonders merk⸗
würbiges Beifpiel dar, wie man nicht blos unter der Form ber conftitutios
nellen Monarchie, fondern auch der repräfentativen Demokraͤtie dem getäufch«
ten Volke den Namen ftatt der Sache zu geben vermag. Allein es ifl auch
erklaͤrlich genug, daß fich diefe Conſtitution vor der Kritik des gefunden Volks⸗
verftandes nicht auf die Dauer halten tonnte. Die aus der Bewegung vom
1841 hervorgegangene, durch einen Verfaffungsrath entworfene und am 7.
Sumt 1842 vom Volke angenommene Verfaffung huldigte in der Hauptfache
den in ben Grundgeſetzen der anderen regenerirten Cantone ſchon zur Geltung
gekommenen Principien. Die gefeggebende und oberauffehende Gewalt
wurde einem großen Rathe übertragen, der von allen wenigſtens ein und
zwanzig jährigen Buͤrgern aus allen Staatsbürgern, die wenigſtens das 25.
Fahr vollendet hatten, ohne das Erforderniß irgend eines Cenſus, im Vers‘
bältniß von einem Abgeordneten auf je 333 Bewohner frei gewählt wurde.
An der Spige der vollziehenden Gewalt fland ein von und aus dem Großrathe
gewählter Staatsrath von 13 Mitglievern. Die richterliche Gewalt wurde
von der gefehgebenden und vollziehenden getrennt, und die Deffentlichkeit der
gerichtlichen Verhandlungen als Regel ausgeſprochen. Die Stadt Genf ew
hielt einen Gemeinderath von 81 Deitgliedern und einen von diefem gewaͤhl⸗
tn Berwaltungsrath von hoͤchſtens 11 Mitgliedern. Feder Vorfchlag einer
Verfaſſungsaͤnderung follte der Abftimmung aller Staatsbürger unterliegen.
Dieſelbe Verfaſſung gab in ihren Zufagbeflimmungen (Art. 120) dem
Staatsrathe auf, binnen Jahresfrift dem großen Rathe einen Befegesentwurf
über Einführung der Jury in Criminalſachen vorzulegen. Wie in allen Laͤn⸗
dern, wo diefes wichtige JInſtitut ſelbſt nur für kuͤrzere Zeit beftand, fo hatte
man es auch in Genf während deffen Einverleibung in das franzöfifche Kalſer⸗
reich ſchaͤzen lernen. So groß der Haß ber Genfer gegen die ihre Freibeit
und Unabhängigkeit vernichtende Fremdherrſchaft war, und ob man gleich nur
diefem Haſſe und ber Freude uber die endliche Derftellung der Selbſtſt aͤn⸗
digkeit des Kleinen Freiſtaats die Abereilte Annahme der monftröfen Verfafs
fung von 1814 zusufchreiben hat, fo erroachte doch fehr bald auch wieder
die Sehnſucht nach der Wiedereinführung der Schwurgerichte. Während
dreißig Fahren wurden dafür in Genf Anftrengungen gemadht*), aber fo
lange vergeblich, als die Gewalt in ber Hand einer doctrindren Artftokratie ober
Goterie lag. Auch unter der Derrfchaft des Grundgefeges vom 7. Juni
1842 mar diefe Coterie mit ihem eingewurzelten Vorurtheilen noch mächtig
genug, um bie Annahme bes Geſetzes über Einführung der Jury wenigſtens
eine Zeitlang zu verzögern. Diefe Annahme durch den großen Rath erfolgte
erft am 12. Januar 1844 mit 85 gegen 56 Stimmen. Nach den weſentlichen
Beſtimmungen diefes Geſetzes **) werden alle flimmfähigen Bürger des
Cantons, ober, was bamit gleichbedeutend ift, alle Wähler des großen Mathe,
*) Ganz ähnlich war es in den früher mit Frankreich vereinigten Jurabezir⸗
u <n den bier nicht bervorgehobenen Beſti ſchließt ſich die Genf
en rgehobenen mmungen e Genfer
Geſetgebung wefentlich ber —2 an.
Genf.
hen Reihenfolge ihrer Gefchlechtenamen in drei gleiche Ab—
:£ wur Je BOOO—4000 geſchieden. Eine jährlid; von den Groß
»dern jedes der 6 MWahlkreife nach Verhaͤltniß ber Bevölkerung ge:
Sroßrathscommiffion von 25 Mitgliedern bezeichnet jaͤhrlich aus der
»olge ber brei AÜbtheilungen aus einer berfelben 300 Bürger, aus wel-⸗
Präfident des Criminalgerichts durch das Loos öffentlich BO Namen
e fiir bie Dauer des Jahre die Gefchwornenlifte bilden. Bei jebem
* haben Staatsanwalt und Angeſchuldigter das Recht, neun
tur ver Lifte zu ſtreichen, und immer ſind nur 12 Bürger zu ben Ver⸗
zen als Schwurrichter berufen. Die Jury entſcheidet auch in Genf,
‚entlicher und mündlicher Verhandlung, nur über den Thatbeftand bes
hens, alfo auch über die Zurechnungsfähigkeit des Angeklagten ; wäh:
Falle ber Berurtheilung die Anwendung des Strafgefeges und bie Bes
ig des Strafmaßes dem gewöhnlichen Richter anheimfält. Er
ber ber tbeſtand eines Verbrechens nach den ſtets nur abftracten
iM ve» Strafaeſetzes als vorhanden, fo kann gleichwohl die Jury,
ü ia! efonderen Umftände,, die Straflofigkeit des Falles
jpr- durch ein feeifprechendes Urtheil jeder in der noth⸗
pet der Strafgeſetze liegenden Ungerechtigkeit vorbeu⸗
r hop kurzen Beit feines Beftandes bat fich das Schwur⸗
Pr] igfte in Genf bewährt, alfo auf dem ſcheinbar un:
emem Eleinen unb von Parteien vielfach zerriffenen
u et fand das ruhmwuͤrdige Beifpiel diejes Freiſtaats in
» zunsvnen der Schweiz baldige Nachahmung : ſchon ift die Jury auch
ım wsaabtlande eingeführt und für den Canton Bern beichloffen, während
ihre Einführung für den Canton Zürich vorbereitet wird. Bald wird ſich
alfo diefes heilfame Inſtitut im größeren Theile der Schweiz eingebürgert ha:
ben; und nur im faumfeligen Deutfchland auf der rechten Seite des Rheins
fheint man Willens zu fein, einer foftipieligen und langfamen, einer grau:
famen und ungeredhten einfeitigen Beamtenjuftiz noch Zaufende von Opfern
preiszugeben, ehe man ſich endlich für das von Theorie und Prari gleich:
mäßig empfohlene Schwurgericht entfcheiden will oder entfcheiden muß. |
Der Wunſch für Einführung der Jury in Genf war fo lebhaft und uns
abmweisbar geworben, daß die doctrinären Goterien feine Erfüllung nicht zu ver:
hindern vermodhten. Zum weiteren Bemweife aber, daß mit neuen politifchen
Formen nody nicht fofort ein neuer Geift gewonnen wird, gelang ed den ge:
ftürzten Machthabern oder ihren Meinungsgenoffen, felbft unter der Herr⸗
[haft der Verfaſſung von 1842, die Wünfche des Volks in anderer Bezie⸗
hung zu vereiteln und die Gewalt wieder in die Hände zu befommen. Ein
Grund daflır lag indeffen auch in den Beflimmungen der Gonftitution jelbft.
Zwar hatte diefe allgemeines Wahlrecht und eine fehr ausgedehnte Wähl:
*) Es war ein Hauptgrund, auf den fich in Genf die Gegner der Jury
ftüsten,, daß der Canton zu Blein fei, tum mehrere Schwurgerichte in der Art
wie etwa in Kranfreich einzuführen, wo bei Unruhen im einen Landestheil einem
davon unberührten anderen Schwurgerichte die Entfeheidung übertragen wird.
Genf. 427
barkeit eingeführt, allein ein directer Einfluß auf bie politiichen Angelegen⸗
heiten war der gefammten activen Staatsbürgerfchaft oder dem Conseil ge-
neral dody nur dann eingeräumt, wenn es fich um Aenderungen der Vers
foffung felbft handelte. Dagegen fehlte es dem fouveränen Volke an ver:
faffungsmäßigen Mitteln, wie ſolche in einigen anderen Cantonen vorgefehen
find, entweder den Volksgeiſt mit dem in den Staatsbehörden vorherrfchenben
Seife fort und fort in Einklang zu feßen, oder doch der Vollſtreckung fols
cher Anordnungen, die mit der Volksſtimmung im Widerſpruch fliehen, auf
geſetzlich e Weife vorzubeugen. Um fo eher erklärt es fi), daß nicht lange
nad) der Annahme der Verfaffung von 1842 die Marimen des altın Re
giments, mit feiner vornehm boctrindren Mißachtung der Anfichten ber
Mehrheit des Volks, wieder das Uebergewicht erlangen Eonnten. In wie ho⸗
hem Stade dies der Fall war, zeigte fi) 1844 bei der Abflimmung über
das Jurygeſetz, da von fämmtlihen 13 Mitgliedern des Staatsraths, ober
der Regierung, nur ein einziges für die fo populär gewordene Einführung
bes Schwurgericht® votirte*). Aber ſchon vorher hatten die Eonfervativen im
Sroßrathe und im Staatsrathe, die Radicalen dagegen im flädtifchen Ge⸗
meinderathe das Uebergewicht erlangt. Es Fam daher zu neuen Reibungen
und am 13. Febr. 1848, als es ſich bei den Repräfentanten um die dritte Be⸗
rathung eines ber vadicalen Yartei verhaßten Geſetzes wegen der Verwaltung
bes Staatsraths handelte, zu einem bewaffneten Auffiande. Allein die zum
Schug der Behörden aufgebotenen Milizen fanden fich zahlreicher als im
Juni 1842 ein und die Infurgenten mußten die Waffen niederlegen,, nach⸗
dem die Regierung am 14. Gebr. eine allgemeine Amneftie erlafjen batte.
Diefer Sieg der Eonfervativen mochte ihre Rüdfichtslofigkeit auf den Stand
der Öffentlichen Meinung noch vergrößern und zu der in der Sonderbundss
frage (S. Freiburg) befolgten haltlofen Politif beitragen, wodurch im
October 1846 durch einen neuen Aufftand der Sturz der Regierung und
eine abermalige Zotalrevifion ber Verfaffung herbeigeführt wurde.
Auf der Tagſatzung von 1846 hatte Zürich beantragt, daß das Sepa⸗
ratbündniß der Batholifchen Stände für unverträglic mit den Beflimmuns
gen des Bundesvertrags und hiernady für aufgelöft zu erklaͤren fei; daß bie
betheiligten Eantone für Beachtung dieſes Beſchluſſes verantwortlich zu ma⸗
hen feien und daß fich die Zagfagung für den Fall, daß ihm zumwibergehandelt
werde, bie weiter erforderlichen Maßregeln vorbehalte. Diefem Beſchluß, der
103 Stimmen auf fi) vereinigte, war Genf nicht beigetreten. Der Ge⸗
fandte dieſes Cantons erklärte, er twerbe feinem Stande referiren und behielt
fih das Protokoll offen. Hiernach ftellte nad) dem Schluffe ber Zagfagung
der Genfer Staatsrath dem am 21. Sept. 1846 verfammelten Großrathe
den Antrag, dem Votum von Zurich nicht beizuteeten, fondern auf bie Ein:
Berufung eimer außerordentlihen Tagſatzung hinzuwirken, damit diejenigen
Cantone, die auf ihrem Gebiet einen feindlichen Einfall in einen anderen Can»
ton entweder felbft organificen oder durch Andere organificen laffen, dafür
*) Kür das Schwurgericht flimmten dagegen fowohl alle jüngft abgetrete:
nen Staatsräthe als auch allg Berichtepräfidenten.
verantwortlich erklärt wuͤrben. Auch follten zeitweiſe dem Vororte eidgendf-
ſiſche Repraͤſentanten beigegeben werben; was ein förmlicdhes und in hohem
Grabe verlesendes Miftrauensvotum gegen Bern war, an welches mit An⸗
fang des 3. 1847 bie vorörtliche Leitung überging. Erft nad Ertheilung
diefer f. g. Garantien follte der Sonderbumd für aufgelöft erklärt werben.
Diefer Antrag des Staatdrathe wurde zwar vom großen Rathe nur in etwas
modificieter Form angenommen; allein es follte doch bei dem vorläufigen
Nichtbeitritte zu dem Züricher Votum bleiben, was mit einer Vertagung der
Sonderbundsfrage auf unbeflimmte Zeit gleichbedeutend war. Die geſammte
zahlreiche Oppofition gegen die ſtaatsraͤthliche Potitif verließ auf diefen Bes
fhluß bin in Maſſe den Sitzungsſaal. Noch am gleichen Tage (3. Oct.)
wurde eine Berfammlung von mehreren hundert Bürgern veranftaltet und
eine größere von einigen Tauſenden auf ben 5. Detober vorbereitet. Die
Lehtere erklaͤtte einmuͤthig den Großrathabeſchluß für conftitutionswidrig und
ungültig und ernannte eine f. 9. conſtitutionelle Commiſſion von 25 Mit:
gliedern zur Abfaffung der Proteftation und zur Mittheilung derfelben an
ben Borort und alle ſchweizer Regierungen. Inzwiſchen berief die Regie:
rung Truppen unb erließ am 6. Det. eine wirkungslos gebliebene Proclama⸗
ton. An demfelben Tage bildete fidy im Quartier St. Gervais am linfen
Rhoneufer eine Volksverſammlung. Sie befchloß zwar, keine Offenfive gegen
bie Meglerung ergreifen zu wollen. Allein auf die Nachricht, daß bie Werhaf:
tung einiger Häupter der Volkspartei beabfichtigt fei, bemädhtigten fich bie
Unzufriebenen am Abend der Vorſtadt St. Gervais und verbarricadirten fie
während der Nacht. Mach vergeblichen Unterhandlungen am folgenden Tage
ließ ber Staatsrath am Nachmittage bie Vorftadt befchiehen, allein die tapfere
Gegenwehr der Infurgenten wies überall die Angriffe der Milizen ber Re—
gierung mit ſtarkem Verluſte für diefe zuruͤck. Gleichwohl gedachte der
Staatsrath am 8. Detbr. die Befchießung fortfegen zu laffen. Allein eine an
demfelben Zage im Haupttheile der Stadt gebildete Volksverfammlung ließ
jest durch ihre Abgeordneten den Staatsrath zur Abdanfung auffordern.
Bon allen Seiten verlaffen, gab er nach und legte die Gewalt in die Hände
des Gemeinderaths. Eine Vollsverfammlung am 9. Dct. ernannte eine pro-
viforifche Regierung von 9 Mitgliedern unter dem Vorfige von James
Fazy, dem Hauptleiter dev Bewegung *), erflärte den bisherigen Großrath
für aufgelöft und in der Sonderbundsfrage den Beitritt Genfs zum Antrage
von Zurich. Zugleich wurde aufden 25. Oct. die Berufung eines neu ge:
wählten Großraths von 90 Mitgliedern, der Hälfte des früheren, befchloffen,
der zugleidy als Verfaffungsrath einen neuen Gonftitutionsentwurf aus:
arbeiten follte. |
Die gelungene Inſurrection in Genf gab für den Halbeanton Bafelftadt
den Anftoß zu einer bis jegt friedlich verlaufenen Verfaffungsrevifion und
wedte zugleidy in Freiburg (f. d.) die Hoffnungen der Sefuitengegner. Ein
Theil diefer Legteren ließ fich jedoch durch ein verfaffungswidriges Verbot der
*) 3. Fazy ift auch Werfaffer eines „Precis de l’histoire de la repu-
blique de Geneve jusqu’&ä nos jours. 2 vol. 1838 — 1840,
\ Genf. 439
Voelksverſammlungen von Geite bes freiburgifchen Staatsraths zu einem
übereilten revolutiondren Verſuche fortreißen, woflir der Zeitpunkt mit Ruͤck⸗
fiht auf die auswärtigen politifhen Verhältniffe (fichbe Freiburg)
ebenfo übel geroählt war, als er mit ungulängliden, fchlecht combinieten
Mitteln unternommen und ohne Nachdruck ausgeführt wurde. Mit haupt:
ſaͤchlicher Hilfe der ſchon lange fanatifirten Milizen des großen deutſchen
Bezirks, gelang es der Regierung ohne Mühe, bie in der Nacht vom 6.—7.
Sanuar 1847 gegen Freiburg aufgebrochenen Murtener, einige Hunderte an
der Zahl, wieder zuruͤckzuſcheuchen und damit zugleich die in den Eatholifcyen
Bezirken Stäfis und Bülle Herrfchende Gaͤhrung zu unterbrüden. So wurde
der Sefuitenregierung in Sreiburg durch die Unklugheit ihrer Gegner ein Leicht
errungener Triumph verfchafft, der indeß trog dem augenblidlichen Eindrucke,
ben er hervorbrachte, im der an politifchen Wechfeln fo reichen Schweiz nicht
viel zu bebeuten hat.
Inzwiſchen arbeitete man in Genf an bem neuen Verfaſſungswerke,
ohne daß man ſich durch die Zufammenziehung eines kleinen franzöfifchen
Zruppencorps an der Grenze, was von Seite Genfs und Waodts einige Ge
genmaftegeln zur Folge hatte, im Seringften flören ließ. Im Laufe diefer
Verhandlungen wurbe von bem ber Mittelpartei des tiers parti angehörens
ben Abgeordneten Senn der Vorſchlag zu einem in dee Bildungegefchichte
der Verfaffungen ganz neuen Wahlfyfiem, zu einer f. g. Repräfentation
der Meinungen gemacht. Der eigentliche Urheber deſſelben iſt jedoch
der bekannte Kowrierift V. Confiderant (f. Kourier), der kurz vor und
nad) der Genfer Revolution in Lauſanne und Genf focialiftifche Vorlefungen
gehalten und diefe Revolution als die erſte foctaliftifche In Europa begrüßt
hatte; womit er jedoch keineswegs ben thatſaͤchlich vorliegenden Charakter ber
Bewegung bezeichnete, ſondern vieleicht nur den Wunſch ausfprechen wollte,
daß fie in dieſem Sinne möge benugt und ausgebeutet werden. Um fich an
dem Ereigniffe noch weiter zu betheiligen, richtete Confiderant ein
Schreiben an bie Mitglieder des Genferfchen Verfaſſungsraths, worin er
unter Hinweifung auf einige fh einbare Mängel des bisherigen Wahlmobus
ein neues Wahlſyſtem aufflellte, das auf ber angeblichen Berechtigung ber
verfchiedenen Meinungen zur Repräfentation im Staate beruht. Hiernach
follten im Canton Genf während einer gewiſſen Zeit bie Wähler das Recht
haben, Sectionen zu bilden und Wahlprogramme ober Glaubensbekenntnifſe
aufzufegen, von denen jedes, fobald es zehn Unterfchriften trage, in ein Regi⸗
fler des Wahlbureaus einzutragen ſei. Nach abgelaufener Frift feien diefo
zu numericenden Glaubensbekenntniſſe nebft den Unterfchriften zu veröffents
lihen. Jeder Bürger folle dann in den Gemeindeverfammlungen die Zahl
des Programms, dem er beitrete, auf einem Zettel bemerken und da man nach
flattgefundener Zählung im ganzen Canton wiffe, wie viel Bürger jeder Mei⸗
nung beipflichten , fo folen enblid die Meinumgsgenofien nach dem ſchon
vorher feflgefegten Verhältnifie, 3. B. auf 100 Wähler einen Deputirten,
ihre Repräfentanten ernennen. Allein bei aller Achtung, in der Confibdes
rant flieht, hat fein Vorfchlag zur Bildung von Meinungs: Wahltreifen in
Senf keinen Anklang gefunden. Mit Recht wurde bemerkt, daß hiernach
\
Sermanifched, deutſches Necht.
fibietenden Programmenmader den ſtaͤtkſten Zulauf ba=
en. Weberhaupt kommt es in einem Freiftaate nicht darauf am,
Meinung, fondern baßdie wirklich hHerrfhende Meinung ver:
„de. In lebrigen iſt nicht blos durch ein ausgebehntes Wahl:
idern tſaͤchlich auch durch bie Gliederung und bie Competenz⸗
hei tebehörben bafür zu forgen, daß Alles durchgeſetzt wer:
waı - ae nicht jeder fichtigen Bolkslaune, wohl aber dem
‚und wenden Volkswillen entfpricht, und daß fo wenig als
om. werben kann, mas felbft der nur momentan vorherr⸗
— ung wider ſpricht.
* Januars 1847 war das neue Genfer Verfaſſungswerk
‚ und Fonnte in feinem Werthe oder Unwerthe noch nicht
Gewiß geben die Häupter der Volkspartei von einem rich:
imojage aus, wenn fie dem Conseil gendral einen mehr unmittels
itifchen Einfluß einräumen wollen; eine andere Frage ift es aber, ob
vorgefhlagenen Beflimmungen, namentlich durch die Ernennung
‚Srath& vermittelft unmittelbarer Volkswahl, der beabfichtigte Zweck
‚rnden Beruhigung des Cantons erreicht wird. Schon jegt ift
siche Oppofition gegen ben Berfaffungsentwurf in die Schranken
u wohl möglich, daß für Genf newe Wirren in Ausficht ſtehen.
* auch diefen Eleinen Freiftant noch beimfuchen mögen , fo tft
u Id derfelben in jener Politif der Reftauration von 1814 zu
the zureichenden Reformen verhindert und das Volk mit nur ſchein⸗
unse wuncehfionen abſichtlich ober unabfichtlich getäufcht bat-
W. Schulz.
Germanifches, deutſches Recht, und zwar insbefon:
dere deutfches Privatreht*). Man verfteht darunter in der An:
wendung auf deutfche Privatrechtsverhäftniffe den Inbegriff der aus den
die Rechtsentwidelung in Deutfchland begründenden Verhältniffen entftan:
denen Rechtseinrichtungen und Rechtsfäge und der auf die Anmendung
des Rechts in Deutfchland ſich beziehenden,, in Ermangelung befonderer in
einem Falle anwendbarer Vorfchriften und Gewohnheiten geltenden Grund:
füge. Der Ausdrud deutfhes Recht fteht zu dem: germanifches
Recht in dem Verhältniffe, daB das letzte das Recht aller Völker bezeichnet,
welche Europa bewohnen und als Abkömmlinge des großen germanifchen
Stamms nad) der Völkerwanderung, die vorher zum großen Theile von den
Römern bewohnten oder von anderen Völkerfchaften, z. B. den Galliern in
Frankreich eingenommenen Staaten eroberten und dort neue Staaten grün:
deten. Es iſt leicht erweislich, daß durch das ganze Mittelalter bin-
durch in Frankreich, in welchem die Salier wohnten, in den heutigen gleiche
falls von den Saliern bewohnten Niederlanden, in den von den Weftgothen
*) Der Verf, diefes Artikels halt es nicht für zwedimäßig, bier eine Maffe
von Beweisftellen beizufügen. Er verweift deswegen auf die in feinen Grund:
—— des deutſchen Privatrechts, 7. Aufl. Regensburg 1847, angeführten Be—
weiöftellen.
Germanifches, deutjches Hecht. 431
bewohnten Spanimund Portugal, wie in den von den Longobarben eroberten
italienifchen Staaten, wie in den nordifchen Staaten im Weſentlichen ein in
feinen Srundeinrichtungen und Rechtsanfichten vielfach übereinflimmendes
Recht galt, das noch jest praftifche Bedeutung hat, infofern viele in diefen
außerdeutfchen europäifchen Staaten felbft in den neuen Geſetzbuͤchern vor«
kommenden Rechtsfäge nur aus dem germanifchen Rechte, 3. B. in Sranf:
reich aus den contumes erklärt werden Einnen. Im Gegenfage diefes
durch die flammesverwandten europäifhen Völker ausgebildeten germas
nifhen Rechts fpricht man von einem deutfchen Rechte, infofern man
den Ausdrud auf das Recht bezieht, welches in den zu Deutfchland gehörigen
Staaten gilt. Die deutfche Recht hat noch eine befondere Bedeutung das
durch, daß in Deutfchland durch mannichfaltige Verhaͤltniſſe das römifche Recht
verbreitet wurde *) und folhen Einfluß erhielt, daß nicht blos, wie aud) in
den außerdeutfchen Gefeggebungen erkennbar ift, die vömifchen Rechtsans
fihten den ganzen Rechtszufland durchdringen, fondern auch in Deutfchland
das römifche Recht fo als das gemeine Recht betrachtet wurde, daß die Ges
richte die römifchen Rechtsfäge wie geltende Gefege verftanden. Auf diefe
Art find viele aus ben innerften Verhäftniffen des deutfchen Volkes hervors
gegangenen Rechtseinrichtungen und Rechtsfäge im Laufe der Zeit durdy das
römifche Recht verdrängt worden, und die römifchen ben deutfchen Verhaͤlt⸗
niffen und Bedürfniffen widerfprechenden Rechtsanfichten find dem deutfchen
Volke aufgedrungen worden.
(Zu Seite 269 Zeile 8 v.u.) Es iſt nicht ſchwierig, in ber Rechte:
gefchichte eines jeden Volkes folgenden Entwidelungsgang des Rechtes nach⸗
zumelfen. Zuerſt entfcheiden bei dem Volke nur die aus ben Sitten, den
Bedürfniffen und Verhaͤltniſſen hervorgegangenen Gewohnheiten, die in
dem Volke. leben und allen Richtern vorfchweben. Erſt als diefe Gewohn⸗
beiten häufiger werden und ſich zerfplittern, führt das Bebürfniß darauf, diefe
Gewohnheiten zu fammeln, daher alle urfprünglichen Rechts ſammlungen
feine Sammlungen von Befegen, die von bem Willen einer gefeggebenden
Gewalt ausgehen, fondern Sammlungen der Gemohnheitsrechte find. Es
ift dabei begreiflich, daß allmaͤlig fchon einzelne durch das Bedürfnig in Vers
bältmifien, in denen das Gewohnheitsrecht nicht ausreichen kann, verans
laßte Geſetze entftehen und unvermerkt felbft die mit dee Sammlung der
Gewohnheiten beauftragten Maͤnner ihre eigenen Anfichten oder die Gebote
bes Derrfchere in die Sammlung tragen, daher das Gewohnheitsrecht felbft
mobdificiren. Erſt fpäter tritt mit fleigendee Macht der Staatsgewalt auch
der Charakter einer eigentlichen von ben Willen des Herrſchers ausgegangenen
Sefeggebung hervor; die Willkür des Regenten giebt daͤnn Geſetze; man
fragt nicht mehr um das Recht, melches bisher gegolten hat, fondern der Geſetz⸗
geber erläßt Vorfchriften nach feinem Intereſſe, oft durch einzelne Vorfälle,
unter deren Eindrud er handelt, hervorgerufen, oft mehr nur als Entſcheidun⸗
gen eines einzelnen eben vorliegenden Falles erfcheinende Geſetze. Diefe Pe
riode ift in der Regel in der Rechtegefchichte eines Volkes bie am wenigſten
9) Meine Srundfäge d. d. P.⸗R. 5. 13.
432 Germaniſches, deutfches Recht.
erfreuliche; in ben europaͤiſchen Staaten tritt fie von dem 16. Jahrhunderte
an hervor. Erſt fpäter beginnt die Periode ber Vernunftherrſchaft auch im
ber Gefeggebung, wo ber Geſetzgeber, geleitet von den Forberungen ber Ge-
rechtigkeit, diefelben zwar nach den Bebürfniffen und Verhältniffen des Vol⸗
8, fie welches das Geſetz beftimmt ift, mobificitt, überall fich am das beſte—
hende Recht anfchliefit, dabei prüft, was davon ale zweckmaͤßig ſich bewährt
und Beibehaltung verdient , das nationale Element der Rechtsbildung beruͤck⸗
fihtigt und nur im Öffentlichen Intereſſe Gefegesvorfchriften erläßt. In
diefer Periode befinden wir ung , obwohl freilich nody die Vorurtheile der Ver-
gangenheit, die Anhaͤnglichkeit an bie bisher verbreiteten römifhen Rechts-
anſichten, die Bernadyläffigung der Kenntnif des nationalen Rechts und
bas Miftrauen , mit weldyem man die Benugung des Volkselements bei
Abfaffung der Geſetze unterläßt, die Urfachen find, aus welchen die neuen
Gefetzgebungen nod) nicht auf jener Stufe ftehen, auf welcher fie ftehen koͤnn⸗
ten und follten, um die für das Wohl des Volkes nothwendigen Früchte zu
tragen.
(Bu Seite 272% Zeile 14 v. 0.) Zwar darf man nicht aus der Art, wie
in einigen Staaten Europa’s, 5. B. in Frankreich und in England, das Lehen⸗
wefen fich verbreitete und alle Mechtsverhältniffe auch im Privatrechte
durchdrang, Schlüffe ableiten, baf auf ähnliche Weife auch in Deutſchland
bie Rechtsinſtitute ſich ausbilbeten; baber z. B. bie Bedeutung, melde ber
Feudalismus z.B. in der väterlichen Gewalt, in bem Eherechte, in der Vor⸗
munbdfchaft in Frankreich und England hatte, nicht auf die naͤmliche Art
in Deutſchland nachgewieſen werden kann, wo bie politifchen Zuftände und
bie Fräftige. Gegenwirkung gegen bie Macht des Kaifers bei der großen Ber:
ſtuͤckelung des Landes die Ausbildung des Lehenmelens in bem Umfange
hinderten, wie wir ihn in England erbliden.
(Zu S. 279 3.1 v.u.) Denn das römifche Recht, welches diefe
Inſtitute nicht Eennt, hat mit feinem Grundfage der Sreiheit der Verfügung
gefiegt, und der Richter hat immer zu fragen, ob in dem Lande und Rechte:
freife, auf deffen Recht e8 in dem Falle ankommt, nach dem Landesgefege
oder dem Gewohnheitsrechte das in Frage fLehende Inſtitut rechtlich gilt,
und wenn dies der Tall ift, ob nicht durch Gefeg oder Rechtsuͤbung oder durch
die rechtlich erlaubte Verabredung der Parteien eine Norm befteht, welche
in dem Salle angewendet werben muß. Findet der Richter Feine foldye zu⸗
naͤchſt anzuwendende Entfcheidungsquelle,, fo hat er das ausgebildete gemeine
Recht ebenfo anzumenben, als er davon in allen Fällen Gebrauch madıt, wo
zwar das Landesgeſetz Beſtimmungen enthält, diefe aber lüdenhaft oder
zweideutig find.
(3u ©. 2803. 1v.u.) Esift immer mehr durd) gefhichtliche For:
fhungen dargethan, daß das franzöfifche Givilgefegbucdh ohne die Kenntniß
der in den franzöfifchen coutumes aufbewahrten Gewohnheitsrechte nicht ver:
ftanden werden kann, daß aber diefe Gewohnheitsrechte, denen ein ſogenann⸗
tes droit commun zum Grunde lag, häufig mörtlidy mit dem deutfchen Rechte
zufammenftimmen. Säge, wie z. B. der Art. 2279 bes Code civil über
die Eigenthumsklage bei Mobilien, die erfien Säge des franzoͤſiſchen Erbrechts,
Germontfähes, deutſches Medi 403
die mungen über die eheliche Guͤtergemeinſchaft find nur aus dem alten
franzoͤfiſchen Gewohnheitsrechte zu erklaͤren.
Die neuere Zeit faßt erſt die wahre Bedeutung des nationalen Rechts auf
und erkennt das Beduͤrfniß, daß unſer Rechtszuſtand auf dies nationale Recht
gebaut werde. In mehrfacher Hinſicht iſt dies der Fall; allein es bedarf auch
einer gehoͤrigen Verſtaͤndigung uͤber den Sinn und die Richtung, in welcher
dies der Fall ſin muß. Man hat zum großen Unheil in Bezug auf unſeren
Rechtszuſtand an unferem nationalen Rechte ſich ſchwer verſuͤndigt; wir deu
ten dieſe Fehler hier an, um die Aufmerkſamkeit Derienigen, welche ihr
Vaterland lieben, auf das, was Noth thut in unferem Rechte, zu lenken.
I. Eine Verfündigung an dem deutfchen Geifte nennen wir es, daß
man nur das römifche Recht als das eigentlich gemeine deutſche Recht betrach⸗
tete und in jedem Falle gedankenlos die römifchen Rechtsfäge anwendete,
weil man annahm, daß nur römifches Recht in Beutfkhland etwa fo als
Geſetz eingeführt worden fei, wie in Preußen das preußifche Landrecht oder
in Defterreich das Hfterreichifche Geſetzbuch gilt, fo, daß man dem beutfchen
Rechte den Charakter eines gemeinen Rechts ableugnete und das Studium
defjelben nur aus Gnade neben dem des römifchen Rechts duldete, damit ber
Juriſt doch auch eine Einleitung in die verfchiedenen Lands und Stadt⸗
techte erhalte. II. Ein anderer Fehler war e8, daß man die deutſchen
Rechtsinſtitute und Rechtsanfichten faſt ganz verdrängte, alle unfere Inſti⸗
tute nur unter roͤmiſche Formen brachte, römifche Analogien anmenbete und
bie Natur des einheimifchen Rechts vernachläffigte. III. Nicht weniger
klagen wir das Unrecht an, daß man auf die wiſſenſchaftliche Entwidelung
ber deutfchen Redhtsinftitute, für welche das römifche Recht Feine Normen
bieten kann, Beinen Werth legte. IV. Zu beklagen enblich ift e&, daß man
bei Abfaffung der neuen Gefegbücher die Erforſchung germanifcher , Rechtes
ideen zu häufig unbeadhtet ließ und die Gefegbücher nicht mehr auf germas
nifche Grundlagen baute. V. Zühlbar endlich ift aber auch der Mangel an
Vorarbeiten für eine gute Nationalgefeggebumg in Bezug auf das Verhaͤlt⸗
niß des römifchen und deutfchen Rechts. |
1) Es konnte nur zu einer verderblichen Auffaflung des einheimifchen
Rechts führen, wenn man annahm, daß das römifche Recht in Deutfchland
als verbindliches Geſetz in feinem ganzen Umfange eingeführt worden fet,
und wenn man nur dieſem roͤmiſchen Rechte den Charakter des gemeinen
Rechts beilegte. Die nachtheilige Wirkung war, daß man auf jedes beuts
fhe, wenn auch den Roͤmern unbekannte Mechtsverhältniß römifche Säge
anwendete, wenn man alle Landesrechte fo auslegte, wie fie am mwenigften
von dem römifchen Rechte abwichen, und da, wo Jemand ſich auf ein deut⸗
ſches Inftitut berief, im Zweifel die Gültigkeit der römifchen Säge annahm
und dem Behauptenden den Beweis auflegie, daß das deutſche Recht in dem
alle anwendbar fei. Die Sefchichte lehrt, daß diefen Anfichten große Irr⸗
thuͤmer zum Grunde liegen. Allerdings ift das römifche Recht ein Theil des
gelammten in Deutfchland geltenden Rechtes geworden, aber nicht in feinens
vollen Umfange und nicht, wie ein Geſetz verbindlich if. Es gilt vielmehr
dies Hecht nur fo, wie es ducch bie Rechtsuͤbung in Deutſchland aufgenom⸗
Suppl. z. Staatslex. LI. 28
men, al® verbindlich angeſehen wurde, mit beutfdyen Einrichtungen und Sit»
ten Übereinftimmt. Niemandem fällt es ein, eine Klage bei ung zuruͤckzuwei⸗
fen, weil der Vertrag, auf welchen fich bie Klage bezieht, im roͤmiſchen Sinne
pactum fein würde. Man erkennt, daß bei und der Sohn durch abgefon=
derten Haushalt aus der väterlichen Gewalt trete, daß, wenn auch die Roͤ⸗
mer Peine Exrbverträge ald gültig geftatteten, bei und doch Erbverträge erlaubt
finds. Man beruft fidy zur Rechtfertigung foldyer Anficht auf die beutfche
Draris oder auf eine abweichende Gewohnheit. Darin liegt aber eben bie
Anerkennung des mächtigen Einfluffes des deutfchen Rechts. Es entitand
bei ber allmäligen Berbreitung bes roͤmiſchen Rechts durch bie Rechts—
übung aus ber Verbindung bes roͤmiſchen und deutfchen Rechts, aus dem tie⸗
fon Gefühle der Nothwendigkeit ein neues Recht, und dies ift das gemeine
deutſche Recht, im welchen allerdings das roͤmiſche Recht ein Hauptbeftand-
theil geworben iſt, meil man ſich allmälig daran gemöhnte, den römifchen
Mechtsanfichten in den meiften Rechtsinftituten zu folgen. Der Begriff
biefes gemeinen Rechts ift*) unabhängig von einer pofitiven Sanction,
melde für ein geroiffes Land diefem gemeinen Rechte bie geießgebende Ge⸗
walt gegeben hat; ebenfo auch davon, daß bie Länder, für welche es gelten
fol, nicht mehr durch ein. aͤußeres Band, mie einft im beutfchen Reiche
unter einer gefeggebenden Gewalt ftehend, "zufammenbängen, ober daß in
vielen diefer Länder neue Gefegbücher gelten ; denn ber Charakter bes gemei⸗
nen Rechts, gegründet auf die Gleichförmigkeit der Elemente ber Rechtsbil⸗
bung und auf das einft vorhandene Band. ber Einheit des Rechts, iſt auch da
vorhanden, mo durch die Rechtsuͤbung ein Recht ſich ausbildete, welches
allen Zandesgefeggebern ebenfo vorſchwebt, als «8 Diejenigen , welche Rechts—
gefchäfte eingeben, leitet, weil fie bei dem Gebrauche ihrer Ausdrüde auf
das allgemein bekannte im Volke lebende Recht bauen, und zugleich allen
Kichtern bei der Rechtsanwendung, bei der Auslegung der Landesrechte vor:
fhwebt. Wenn die Bürger in einem Ehevertrage die Ausdrüde: Morgen:
gabe, Wittum u. a. gebrauchen, fo fegen fie dabei eine gewiſſe Rechts⸗
meinung ale befannt voraus; diefe liegt, in dem über diefe Rechtslehren aus⸗
gebildeten gemeinen Rechte und in dem Sinne deffelben muß aud) der Rich—
ter die cinzelnen Streitfragen enticheiden. Dies gemeine Recht befteht,
wenn auch die Rechtsinititute nicht in allen deutfchen Ländern gefeglich gel⸗
ten; 3.3. das Einſtandsrecht (Retract) mag in den meiften Ländern jest
aufgehoben fein; dies hindert nicht, dies Inftitut dody als gemeinrechtlich zu
betrachten , infofern der Richter, wenn in einem Lande der Retract noch vor:
tommt , nad) dem in Bezug auf dies Rechtsinſtitut ausgebildeten gemeinen
Recht die einzelnen Streitfragen entfheider. Auf gleiche Weife giebt es ein
gemeines deutſches Wechſelrecht, welches jeder Richter befolgt, fo lange
*) Ueber die ung. eines folchen verfchicdene Anfichten inv Wäd:
ter Gemeines Recht ©. 18 Reyſcher in Zeitfchrift für bdeutfches Recht.
; X. ©. 159. Gerber, Das wiffenfchaftliche Princip des
gemeinen un Fu: Sena 1816. Meine Grundfäge des deutfchen
Privatrechts $. 8
m
Germaniſches, deutfches Recht 235
nicht in dem Lande, auf deſſen Recht es ankommt, über bie vorliegende
Streitfrage eine andere. gefegliche Vorfchrift gilt.
2) Jener oben gerügte Irrthum, um das roͤmiſche Recht als gemeines
deutſches Recht zu behandeln, hatte die nachtheilige Folge, daß man in jedem
Falle bei einem deutfchen Inſtitute nad) einer Analogie des römifchen Rechts
entfchied. Statt zu erkennen, daß das Wechſelrecht ein eigenthuͤmliches
deutſches Rechtsinſtitut ift, das unter Feine römifche Vertragsform geftellt
werden kann, glaubte man-den Wechfelausfteller als Verkäufer, den Wech⸗
ſelnehmer als Käufer betrachten zu koͤnnen, oder die Anficht von einer cessio
nominis zum Grunde legen zu bürfen. So kam man zu den vorkehrteften
Folgerungen. Man gab 3.3. zum großen Nachtheile des Handels dem
Wechſelnehmer ein Eigenthumsrecht an der Wechfelprovifion *) und ließ dies
im Concurfe des Traffaten zur ſchweren Beldfligung für den Ausfteller wir⸗
ten. Dan behandelte die Einkindfchaft als Act der Adoption **), man wendete
auf die deutfchen Reallaſten die Grundfäge von den Servituten an***).
Dadurch verloren die beutfchen Inftitute ihre wahre den Bedürfniffen ent»
fprechende Natur, man kam durch Anmenbung des römifchen Rechts zu den
verkehrteſten Kolgerungen und vernadhläffigte e8, die beutfchen Rechtsichren
gruͤndlich in ihrer nationalen Bedeutung zu entwideln, weil man in den Feſ⸗
feln des römifchen Rechtes fich befand. ——
3) Für unfere Rechtsbildung wäre es von höchfter Wichtigkeit getwefen,
eine große Zahl von Rechtebegriffen, welche das deutfche Recht enthält, im
unfer praßtifches Recht aufzunehmen und fortzubilden. Wir rechnen dahin
3. B. den Begriff der Senoffenfchaftr). Viele deutfche Inftitute, 5.8.
unfere Gemeinden, die Deich⸗ und Markgenoſſenſchaften, die Actiengefells
ſchaften u. a., laſſen ſich gar nicht richtig würdigen, wenn man nicht den alten
im Volle, wenn auch unklar wurzelnden Rechtsbegriff ber Genoſſenſchaft zu
Hifenimmt. Statt dies zu thun, bildeten fi unfere Juriſten ein, daß
durch die zwei im römifchen Rechte vorfommenden Formen: der universitas
und der societas, die ganze Fülle der möglichen Arten der Vereinigungen
mehrerer Menfchen zu einem Zwecke erfchöpft feis man verdarb unfer deut⸗
ſches Gemeinderecht burch die Anwendung der Srundfäge der römifchen uni-
versitas und vernichtete dadurch ebenfo oft den Wohlfland der Gemeinden
als das ganze Gemeindeleben. Auf ähnliche Weife hatte man das Vers
haͤltniß der ehelichen Bütergemeinfchaft verfannt und unter römifche Formen
geftellt. Ohne die Wiederbelebung und Entwidelung folcher deutfchen Rechtes
ae werben wir nie eine genügende Grundlage unſeres nationalen Rechte
erhalten.
4) Betrachtet man die neuen Civilaefegbücher näher und prüft, im
welchen Lehren fie eben am beften fid bewähren, in bem Volksſinn wurzeln
und am meiften praktifch werben, fo zeigt fi) das am meiften in denjenigen
*) Meine Grundf. bed Privater. $. 333.
**) Meine Grundf. 8. 368.
u Meine Srundf. $. 172.
+) Literatur in meinen Grundfägen $. 120.
28 *
436 Germanifches, deutſches Recht.
Lehren, im denen bie Gefegbücher zu den germanifchen Mechtsanfichten zu⸗
ruͤckk ·hren, 5. B. in der Lehre von der Vormundſchaft durch die Aufnahme
bes. Familienrathe, bei ern wegen Mobilien, bei bem Satze,
—* feiner befondern Erbſchaftsantretung beduͤrfe (le mort saisit le vif).
Wir Haben nur zu beflagen , daß dies nicht öfter geſchah und daß man, ein
mal gewöhnt an tömifche Rechtsanfichten, nur zu oft von ihnen fich leiten
laͤßt. Die römischen Vorftellungen von dem Pecullenrechte wirken noch un»
willkuͤrlich auf die Borfchriften über das Vermögen der Kinder ein; in dem
Geſetzbuͤchern finden fidy noch zu häufig Beftimmungen, melde nur Ausflüffe
ded römifchen Erbrechts find. Die Dienftbarkeiten find zu fehe durch Nach⸗
ahmung römifcher Vorfchriften unpaffend behandelt: Hier bedarf es am-
berer und befferer Vorarbeiten. Wenn wir aber von ber Nothwendigkeit fpre=
hen, daß unfere Gefegbücher auf nationales Recht gebaut werden, fo meir
nen wir damit nicht, daß wir alle früheren deutſchen Rechtsanfichten beibe-
halten oder wieder beleben follten, bloß weil fie dem deutſchen Rechte zum
Grunde liegen. Ein Beifpiel tiefert bie Deutfche Anficht von der Trennung
bes Vermögens in bewegliche und unbemegliche Sachen, fo daß ein anderes
Recht bei ben erſten, ein anderes bei bem zweiten galt*). Es iſt befannt,
daß im Code Napoleon biefe in den coutumes vorkommende Unterfheidung
fich findet, daß z. B. die Eintheilung der Klagen darauf beruht, daß die ge=
fegliche eheliche Gütergemeinfhaft, welche die Immobilien ausjchließt und alle
bewegliche Sachen als gemeinfchaftlid) betrachtet, die Folge der alten Anficht
iſt. Wir halten dies nicht für zweckmaͤßig, fondern fordern, daß der Geſetz⸗
geber auch überall prüfe, ob eine zwar national deutſche Anſicht nach unferen
geänderten Verhaͤltniſſen noch Beibehaltung verdient, z. B. wenn von ber
alten Anficht die Rede ift, daß die liegenden Güter in der Familie erhalten
werden müffen. Die Nothwendigkeit, die freie Verfügung und den Verkehr
zu begünftigen, widerfirebt der Beibehaltung diefer alten Anſicht. Wir wollen
nicht ein flehengebliebenes, nur wegen feines Alterthums ehrmürdiges, fon=
dern ein in feiner Fortbildung, in den fortgefchrittenen Bedürfniffen richtig
aufgefaßtes nationales Recht.
5) Es würde daher auch verkehrt fein, wenn man plöslich bei Abfaf-
fung neuer Sefegbücher der ganzen Erbfchaft des römifchen Rechts fich entledi⸗
gen und aus irrig gefaßtem Deutfchthum Alles nur auf ein fogenanntes deut:
ſches Recht bauen wollte. Das römifche Recht ift einmal durch eine Rechte:
“übung von mehr ald 300 Jahren ein Theil unferes Rechts geworden;
wir haben roͤmiſche Rechtsvorftellungen in uns aufgenommen; dies roͤmi⸗
fhe Recht wird ewig als ein Meiftermerk der feinften Analyfe, der conjequen:
teften Durchführung, als die Eoftbarfte Sammlung der .fcharffinnigften
Entfheidungen in höchfter Külle dem Geſetzgeber und dem Nichter aller
Länder, aller Zeiten nothwendig bleiben. Es kommt nur darauf an, recht
aufzufaffen, was von diefem römifhen Nechte Beibehaltung verdient, mas
unferen Bedürfniffen entfpricht, mas mit den ewigen Korderungen ber Ber:
nunft im Einklang ſteht. Solchet Vorarbeiten, welche eine Prüfung diefer
*) Meine Grundf. $. 148.
Geſelſchaften, geheime 487
Art fi) zur Aufgabe machen, bedürfen wir, wenn wir eine wahrhaft na⸗
tionale Rehtsanwendbung, eine beutfhe Geſetzgebung erhalten
follen. Mittermaier.
Sefellfhaften, geheime. Mach der Niederlage ber republika⸗
nifchen Partei in Frankreich im 3.1834, nahmen daſelbſt die fpäter entſtan⸗
denen geheimen Gefellfchaften einen vorherrfchend focialiftifchen Charakter
an. Dies ift fehr erklaͤrlich. Der große Gegenfag des Proletariats und ber
Bourgeoifie (f. Communismus) kam mehr und mehr zum Bewußtſein; und
nad) zahlreichen mißlungenen Verſuchen einer revolutiorären Republifanifis
zung tes Landes drang bie Weberzeugung durch, daß die auf dem Volke las
flenden Uebel nur durch eine Veränderung der Staatsformen nicht zu beſei⸗
tigen feien. Für einen jeher Eleinen Theil der Unzufriedenen wurde nun
diefe weit verbreitete Weberzeugung ber Antrieb zur Errichtung einer Reihe
geheimer Gefellfchaften, wie der Verbindung der f.g. Samilien und ber
Sahreszeiten, aus welchen der Parifer Maiaufftand von 1839 hervors
ging, dee Handwerke, ber Egalitaires. Auch wurben gegen Enbe
1843 die Mitglieder eines communiflifchen Vereins in Paris zuchtpolizeilich
verurtheilt, und es war bei dieſem Anlafje wieder viel von der angeblichen
ausgebehnten Organifation einer geheimen commmmiftifhen Verbindung in
Gruppen von je 21 Mitgliedern die Rede. Endlich wurde noch im 3. 1841
eine als „reformirte Carbonaria” bezeichnete Verbindung in Suͤdfrankreich
entdeckt, wonach ſich als wahrſcheinlich vermuthen läßt, daß auch die Charbon⸗
nerie bemocratique, obgleich vielleicht nur in ſchwachen Verzweigungen, bie
dahin fortgebauert hatte und wohl jetzt noch fortdauern mag. Bekanntlich
war Buonarotti, ber biß zu feinem Tode an der Spige biefer Verbindung
land, ein flarrer Anhänger der Grundſaͤtze feines früheren Mitverſchwo⸗
renen Babeuf; und hiernach iſt anzumehmen, dag auch die demokratiſche
Garbonaria, wenigſtens im ihren Fuͤhrern und Häuptern, neben politifchen
Planen zugleic) focialäftifche Tendenzen verfolgte.
Diefelbe Richtung tritt, zwar minder ſcharf, aber body immer deutlich
genug, aus den notorifc, gemorbenen Beftrebungen des jungen Italiens
bervor. Durch die von Kalfer Ferdinand J. den politifchen Verhafteten
und Ausgemanderten des Öfterreichifchen Italiens bewilligte ausgedehnte Am⸗
neftie, welche gegen die den oͤſterreichiſch⸗ polnifchen Infurgenten zu Ende
1846 gewährte f. g. Amneſtie fo ſehr abflicht, wurde die Thätigkeit des jun⸗
gen Italiens unterbrochen. Dies war jedoch nur für einige Jahre der Fall,
wie davon das Unternehmen der unglüdliben Brüder Bandiera im J.
1844 und die fpäteren Unruhen im Kicchenftaate Zeugniß geben. Eine
neue Unterbrechung fcheint feit 1846 durch die Bereitwilligkeit des Papfles
Pins IX., zu politiſch⸗ſocialen Reformen die Hand zu bieten, eingetreten zu
fein. Nach der Stellung des italienifchen Volles in der Reihe der europäls
[hen Nationen ift es indeß zu bezweifeln, daß damit allein die tiefer liegen⸗
den Quellen der Unzufriedenheit abgegraben werden koͤnnten. Ein Xhell
Italiens iſt einer Fremdherrſchaft unterworfen, die m jeder Beflalt, felbft
wenn fie in die mildeften Formen fich Beiden follte, allen für. bie Ehre des
Vaterlandes und der Nation noch glühenden Herzen als gehäflig erſcheinen
N
438 Geſellſchaften, geheime.
muß Und wer kann #6 derheifin itaftenifchen Jugend verargen, wenn fie
won Zeit zu Zelt durch die That zu erweifen bemüͤht iſt, daß dieſes Gefuͤhl auch
im ihr nicht erloſchen iftz ſelbſt wenn fie im ihren Unternehmungen bie erdrü:
‚ende Webermacht der Gegner allzu gering anſchlagen und wenn gleich durch
ohnmaͤchtige revolutiondre Zudungen die Schlinge nicht zertiffen , fondern
nur enger gejogen werben follte? In diefer flets neue Antipathien unver:
meidlich erzeugenden Fremdhertſchaft, fo twie in bem Umſtande, daß in dem
feine Bewohner fo leicht ernährenden füdlidyen Rande noch nicht in demfelben
Maße wie in andern europäildhen Staaten eine feindfelige Stimmung ber
aͤrmeren gegen die wohlhabenden Glaffen entftehen fonnte, iſt wohl der Grund
zu fuchen, daß die Italienifchen Unguftiedenen, unter denen bekanntlich Gius
feppe Mazzini eine befonders einflußretche Stellung einnimmt, fich mes
niger unmittelbar an bie proletarifchen Gelüfte und Intereffen ber großen
Maffe wenden und wenden können. Daf aber gleichwohl die foctatiftifchen
Anfichten dev Meuzeit in gewiffen Grade auch im der Mitte bes jungen
Staldens Eingang gefunden haben, davon giebt Mazzini's Rede Zeug—
if; die er vor wenigen Jahren in London im einer Verſammlung politilcher
Berbännten und anderer Ungufriedenen aus verichiedenen Ländern Europa’s
zum Beddchtniffe des polniſchen Maͤrtyrers Koinarski hielt. Was man
nun'von den einzelnen Unternehmungen halten möge, für deren Triebfeder
Maszinigilt, fo wird man doch feiner ausdauernden Begeiflerung für die
Sache, die er ergriffen, und feiner raſtloſen Thätigkeit dafür die Anerken⸗
nung nicht verfagen Eönnen; ein Urtheil, das bekanntlich auch im Bericht der
Frankfurter Gentraltommiffion ausgefproden wurde und zu ben in biefer
Staatsfchrift feltenen Beifpielen dee Unbefangenheit gehört. Auch darin
zeichnet ſich der kluͤgere Staliener vor einigen deutichen taͤppiſch doctrinären
Pfuſchern in den Gebieten der Politik und des Socialismus aus, daß er
ſich mit gleicher Entfchiedenheit, wie gegen den rohen naturmidrigen Commu⸗
nismus, fo gegen den platten Atheismus und Materialismus ausſpricht; Daß
er nicht den Volksglauben vor den Kopf ftößt und zugleich dem Aberglauben
fid) hingiebt, für die Sache des Volks thätig au fein.
Mefentli anders als in dem nur sum Theil einer Sremdberrfchaft
unterworfenen Stalien find die frcialen Stellungen bei dem politifchh aus:
einandergeriffenen polnifhen Volke. Hier ſtehen noch die grundherrliche
Ariftofratie und das Ländliche Proletariat der unterthaͤnigen Bauern hart
nebeneinander, ohne die zugleich trennende und vermittelnde Stellung eines
eigentlichen Mittelſtands und einer zahlreichen ftädtifchen Bevölkerung. Kine
Zeitlang konnte der ausgervanderte polnifhe Adel geneigt fein, in feinen
Unternehmungen zur Herftellung der Unabhängigkeit des Vaterlandes nur
auf. die Antipathien des Volks gegen die Gewalt der Fremden zu zählen.
So entftand eine Reihe geheimer Verbindungen von Ausgewanderten mit
polnifchen Unzufriedenen, die indeß meh: den Charakter von Gonfpirationen
für beftimmte revolutionäre Verfuche hatten, als den geheimer Sefellfchaf:
tem mit vagen Zwecken und langfamer Vorbereitung der Mittel für Er:
teichung derfelben. Endlich aber, für ihr nächfles Unternehmen zu fpät,
erfunnte die demokratiſche Partei der emigrirten Polen, was ſchon wäh:
Geſellſchaften, geheime. 489
rend der Revolution von 1830 hätte erkannt und zur Ausführung gebracht
werben ſollen: baß mit dem alten Haffe gegen die herrſchenden Ausländer
nicht allein auszureichen fei; daß man fich zugleich an das materielle Inter⸗
effe der großen Maffe der laͤndlichen Bevölkerung zu wenden habe. Dies
geſchah in dem durch vielverzweigte Verbindungen vorbereiteten Aufftande
vom Februar 1846 durch die Proclamation der nur wenige Wochen beftans
denen proviforifhen Regierung in Krakau, indem zwar den polnifchen Bauern
Leine Ausfiht auf eigentlihen Communismus (f. b.), aber doc) auf gleichere
Vertheilung des Befiges und Erwerbs eröffnet wurde. Daß gleichwohl bie
galiziſchen Bauern ihre Waffen gegen bie in ihrem angeblichen Interefie
umternommene Inſurrection gewendet haben, indem fie ſich nur des nahen
und unmittelbaren Druds ihrer Grundherren erinnerten, ift ein Beweis mehr,
daß audy in jenen Gegenden die proletarifchen Gelüfte und Intereſſen ſich
felbft zum Bewußtfein kommen, wenn fie gleich in ihrer erſten Aeußerung:
eine andere Richtung nahmen, als Diejenigen, die fie medien halfen, erwartet
hatten. Schwerlich werden die unter flavifchen Bauern durch die jüngften
Vorgänge gemediten Stimmungen und Beſtrebungen fo bald wieder zu bes
ſchwichtigen fein und fi) nur auf einen Meinen Kreis befchränten. Unb
es waͤre alfo nicht unmöglich, ba endlich Rußland durch die unter dem Lands
volke fich verbreitende Gaͤhrung eben ſowohl im Often zu einem Eroberungs⸗
kriege genoͤthigt werden koͤnnte, als Frankreich im Wellen durdy die Bewe⸗
gungen feines induftriellen Proletariats. (Vergl. „Nachtrag zu Friede, Fries
densſchluͤſſe“).
Bei den Deutſchen, die ſich von jeher in den ihrem Charakter nicht zu⸗
ſagenden geheimen Verbindungen am unbeholfenſten benommen haben, ſind
dieſe in der neueſten Zeit durchweg bedeutungslos geblieben. Gleichwohl
laͤßt ſich auch bei ihnen der allgemeine Bildungsgang ber unſere Zeit beherr⸗
fhenden Anſichten und Intereſſen keineswegs verfennen. Nicht lange vor
dem Frankfurter Attentat hatte ſich auf einigen deutfchen Hochſchulen unter
dem Namen Arminia eine Verbindung gebildet, deren Mitglieder an einer
noch für möglich gehaltenen revolutionären Erhebung des Volks theilzunehs
men. ſich verpflichteten, oder wohl auch erwarteten, den Anſtoß dazu geben
zu können. Als dann im April 1833 das mit fo unzulänglichen Mitteln
bedachtlo® begonnene Unternehmen gefcheitert war, wurde hintennad in
Frankfurt ynd der Umgegend ein f.g. Männerbund errichtet, der ſich
hauptſaͤchlich aus Handwerkern recrutirte. Die mehr als Alles entdeddenden
politifhen Unterfuhungscommiffionen in Deutfchland kamen auch biefer
geheimen Gefellfhaft auf die Spur; allein ob man gleich in officellen
Darftelungen der Sache einen möglichft in die Augen fallenden Anſtrich zu
geben fuchte , waren doch die Refultate der Nachforſchung kuͤmmerlich genug
und nahmen mehr in der gedruckten, Darlegung“ diefer Refultate ald in der
Mirktichkeit eine wichtige Stelle ein. Diefer „Männerbund” wie jene „Ar⸗
minia”, bie allem Anfchein nady bei ber erften harten Berührung, in die
fie mit Polizei und Juſtiz kamen, in Nichts zerronnen find, hatten nur eine
rein politifche Tendenz. Nun vergingen Jahre, ehe die beutfche Polizei
Selegenheit fand, durch Entdeckung einer geheimen Geſellſchaft der reactio⸗
nären
Partei einen neuen Dienſt zu erweiſen. Erft im Jahre 1840 fam man
wieber auf bie Spur einer in Frankfurt, Mainz, Darmftadt und einigen anz
baren Städten ber Mheingegenben beftandenen Verbindung, des f. g. „Bun:
bed der Geaͤchteten“. Die meiſten Mitglieder deffelben waren Handwerker,
bie zum Theil ſchon eine bürgerlich felbfiftändige Stellung hatten und wel:
den vor Gericht ein günftiges Zeugniß über ihren Lebenswanbel nicht vers
fagt werben konnte. Alle zur Verantwortung Gezogenen waren indeß nur
fo entfernt betheiligt, daß fie entweder nad gefchloffener Unterſuchung fofort
begnabigt, ober mach blos corrsctioneller Behandlung der Sache völlig frei
gefprochen wurden. , Diefer Bund der Beächteten hatte bereits eine ausge:
(prochene focialiftifhe Richtung , wenn ‚gleich den einzelnen Berheiligten die
ald nothwendig borausgefegten Derändserungen im Zuftande der Gefell-
| —— nur in ſeht unbeflimmten und ſchwankenden Umtiſſen vor Augen
hwebten
Inzwiſchen war bie in ber Schweiz entſtandene politiſche Verbindung
des jungen Deutfhlanbs auseinandergeſtaͤubtz und die deutſchen
Handwoerkervereine, bie fich fpäter daſelbſt bildeten, wußten ſich längere Zeit
X — von aller eitlen Geheimbuͤndelei frei zu halten. Sie waren offene
ereine für gegenfeitige Belehrung und Unterhaltung, und fo lange fie dies
waren, blieben fie geachtet und unangefochten. Durd) das Eindringen com=
muniflifcher Elemente von Frankreich ber, befonders feit ber Ankünft Weit:
ling’s (f. Communismus), entjtand eine Spaltung zumal zwifchen den am
Genferfee gebildeten Vereinen. Es traten eine communiftifche und eine
[. 9. jungbeutfche Partei einander gegenüber. Daß ſich die deutfchen Di:
lettanten bed Communismus in, ber Schweiz zu einer förmlichen geheimen
Verbindung organifirt hätten, bavon liegen wenigftens keine unzmeibeutigen
Berveife vor. Im erneuerten jungen Deutfchland aber wußten drei
oder vier verdorbene Literaten oder Studenten eine Rolle zu fpielen. Sie
creirten fich zu einer „ Propaganda” und machten ſich eine aus f. g. „Fami⸗
lien’ beftehende geheime Verbindung zurecht, vermittelft welcher fie die deut⸗
[hen Handwerkervereine, deren Mitglieder in ihrer großen Mehrheit jenem
Geheimbunde völlig fremd blieben, zu mißbrauchen und zu tyrannifiren fuch:
ten. Der yanze lächerlihhe Hocuspocus der Aufnahme in diefe nicht lange
geheim gebliebene Befellfchaft ift vor Kurzem zur Deffentlichkeit geflommen *).
Die drei oder vier „Propagandiften”, die fi) an die Spiße geftellt, gaben zur
„Auflöfung der alten Welt’ eine in wenigen Eremplaren verbreitete Zeit:
ſchrift, „Blätter der Gegenwart‘, heraus, die aus den trivialften Pıhrafen über
„Freiheit, Gleichheit und Humanität” zufammengefest wurde. Vor Allem
aber ließen fie es fich angelegen fein, den Atheismus und Materialismus in
jener platteften Geſtalt, wie er bei einem Theile der nachhegel’fchen Philofo:
*) ©. in der Eidgenöffifhen Monatsfchrift, Heft 4. 1846, den „General:
beriht an den Staatsrath von Neufchatel über die geheime deutfche Propaganda,
über die Clubs des jungen Deutfchlands, und über den Lemanbund.” Sodann
die zum Zheil bie zur Beluftigung, zum Theil bis zum Ekel naiven Geftänd-
niffe in der Schrift von W. Marr: „Das junge Deutfchland in der Schweiz.
Leipz. 1846.
Gefegliher Fortſchritt 1
phen aus dem Abgange der Lehre ihres Meifters hervorgegangen iſt, einigen
unerfahrenen deutichen Handwerkern genießbar zu machen. Dieb gelang
indeß blos für kurze Zeit und in bornirtem Kreife; und wenn alfo die neuen»
burger Behörden ihrer Entdeckung des jungdeutfchen Geheimbundes eine ber,
fondere Bedeutung zugefchrieben haben, fo ift dies nur ein weiterer Beleg für
die herkoͤmmliche officielle Wichtigehuerei, gegenüber der in die Form einer
geheimen Gefellfchaft gekleideten nicht officiellen. Nur in fofern hat die Ent»
dedung einiges Intereſſe, als damit ein wiederholter Beweis für alle jene
Sünden und) Mißſtaͤnde gegeben ift, die f yon vor Jahren in dem Auflage bes
Staatslexikons über geheime politifche Gefellfchaften als die kaum vermeid⸗
lichen Kolgen derfelben bezeichnet wurden. Denn auch im Rüdblide auf das
Treiben diefes f. g. jungen Deutfchlands und der communiftifdyen Vereine
in der Schweiz tritt dem Beobachter ein widerliched Gemenge von gegens
jeitigen Denunciationen, Angebereien und Intriguen der feindfeligen Par
teien vor Augenz von Klatfchereim und Indiscretionen nach allen Seiten
bin; von der maßlofen Eitelkeit einiger wenigen Kührer und von einer uns
verantwortlichen Nichtachtung und Mißhandlung braver aber noch unerfahs
rener Handwerker durch einige Halbgebilbete, die fidy zu ihren Däupten
aufwarfen und vor den Getaͤuſchten nichts Anderes als das größere Maß
der Unverfhämtheit und der Anmaßung voraus hatten.
So gering übrigens an ſich felbft der Einfluß der geheimen Geſell⸗
(haften auf den Verlauf ber politiſch focialen Creigniſſe anzufchlagen iſt, fo
muß doch wiederholt darauf aufmerkſam gemacht werden, daß biefe Geſell⸗
(haften wenigfiens als Symptome des Uebels, welches bie Volksmaſſen
niederdruͤckt, Beachtung verdienen. Dies gilt von allen nach 1834 entſtan⸗
denen Verbindungen ſolcher Art, ſelbſt die Frage des „jungen Deutichlande
in der Schweiz” nicht ausgenommen. Immer ift es die Unzufriebenheit ber
aͤrmeren Claſſen und ihr Haß gegen die Reichen, die entweder in den gehei⸗
men Befellfchaften der legten Jahre ihren Ausdruck fanden, oder bie fie doch
als Hebel der Agitation benugen zu können meinten. Darum liegt auch in
der Gefchichte der Entftehung und Entwidelung diefer Vereine eine ernfte
Warnung für Diejenigen, die nach ihrer Stellung einen Einfluß auf bie
Schidfale der Völker zu äußern vermögen, daß fie mit den für Beſchwoͤrung
des drohenden Sturmes fo Dringend gebotenen politifchen und focialen Refor⸗
men nicht länger ſaͤumen und zögern. Wild. Schulz.
Gefegliher Zortfchritt. Bedingungen feiner Mög»
lichkeit. Gefeglicher Fortſchritt, gemäßigter Fortfchritt, ruhiger Kortfchritt,
friedlicher Fortſchritt, vorfichtiger Fortſchritt, Hiftorifche Entwidelung — das
iſt das Feldgefchrei, womit hier politifcher Jeſuitismus das Drängen bes Zeit⸗
geiftes zuruͤckſcheuchen, das Feſthalten am status quo, die Conſervirung der
beſtehenden Webelftände und Mißbräuche maskiren will, hinter welchem bort
nicht felten boctrinärer Liberalismus Halbheit und Feigheit verbirgt.
Dffen die Nothwendigkeit und das Recht des Kortfchreitene vom Be⸗
fiehenden zum Beſſern zu Idugnen wagt wohl Niemand mehr, der irgend
auf die öffentliche Meinung und das Volksleben influicen will, oder irgend
eine Beziehung darauf bat, felbft Poliseicommiffäre und verkaufte Regie
u Geſehlicher gortſcheit
rungẽ eſtungen geben ſich nachgerade für Liberale aus. — Diefe bebeutungs⸗
dolle, feine unwiderſtehliche Uebermacht eingeſtehende — Anerkennung bat fich
das Princip der Freiheit, des Kortfchritts, der Bewegung erfäimpft, und nur
„im den geheimften Noten und Sendfchreiben empfiehlt etwa ein bankbruͤchiger
Diplomat unverblumt das Feſthalten am Princip ber Stabilität im Kampfe
milder das Bormärtsfchreiten der Zeit’. Wiele Diplomaten glauben bekannt:
Kidy die Entwidelung der Wölker in ihren Händen zu haben, wie den Willen
einer fürfflichen Drahtpuppe, und die ewlgen Gefehe der Menfchheit und der
Geſchichte auf Gonferenzen und Congreſſen vernichten zu Binnen.
Wenn nun aber auch bie Mothrvendigkeit und das Recht des Kortfchrei:
tens vom Beftchenden zum Befferen zugeftanden und verlangt wird, fo ge:
ſchleht «8 melftens nur unter der Bedingung und Voraudfegung, daß diefer _
Fortſchritt ein gefenficher ſel. Was heißt nun dies? Machen wir ung vor
. Allem den Begriff des Fortſchrittes in politifcher Beziehung Par. —
Feder factiſch gegebene Staat verwirklicht, wie Überhaupt jede Form,
Irgend tin Princip,; welches in allen’ feinen Theilen und Einrichtungen 'her=
vortrltt: Zwei Principien find es, welche im politifcher Beziehung einander
gegenüberftehen und je von ben Staaten in der Wirklichkeit vertreten werden,
das Prineip der Freiheit und das Princip der Unfreiheit, oder dad demofras
tiſche volksmaͤßige und das abfolutiftifche willkuͤrherrſchaftliche MWenn nun
in einem Staate irgend eine beftehende Einrichtung oder die gange Staatsform
ſelbſt in der MWeife vernichtet und durch eine andere erfegt wird, daf durch
dlefe Veränderung bas beftchende Princip aufgegeben und ein neues Princip
im Staate zur Anerkennung gebracht wird, fo ift dies ein polftifcher Forts
ſchritt. Ich mache dem politifchen Fortfchritt abfichtlich von der Aenberung
bes Principes abhängig, denn die Yenderung irgend einer gegebenen Form
oder Einrichtung im Sinne bes beftehenden Syſtems ift Eein mefentlicher poli:
tifcher Kortfchritt, fonft koͤnnte man z. B. eine in ihren praftifchen Folgen
mohlthätige Aenderung eines Geſetzes durch einen Autofraten ebenfalls politi⸗
ſchen Kortfchritt nennen. /
Geſetzlich ift der politifche Fortſchritt, wenn die politifchen Aenderungen
und Reformen ohne Verlegung der zur Zeit beftehenden Geſetze des Staates
und auf dem von den Geſetzen vorgefchriebenen Wege vor fich geben.
Gluͤcklich ift allerdings dasjenige Volk, deffen ftaatliche Verhältniffe von
der Art find, daß die beftehenden Einrichtungen nicht mehr als ftabile Hin-
berniffe der in der dee der Menfchheit begründeten Entwidelung bes Volkes
im Wege ftehen , fondern entfernt werden können, fobald e8 allgemein gefühls
tes Bebürfniß ift,, fie zu entfernen. Beneidenswerth ift eine Nation, deren
Staatsformen und Einrichtungen diefem Fortfchritte zum Beſſern fogar Rech⸗
nung tragen und felbft als die Organe des Fortfchrittes benugt werden. Ein
ſolches Volk hat die Periode des gemaltfamen Kortfchrittes, hat die Nothwen⸗
digkeit, pofitive Gefege des Stants zu verlegen, um den ewigen Geſetzen ber
Menfchheit zu genügen, hinter fich. Allein feben wir auch nach den Bedingun:
gen und Borausfegungen, an welche bie Möglichkeit eines ſolchen Zuftandes,
die Möglichkeit des gefeglichen Kortfchrittes geknüpft ift.
Die Geſetze find nichts Anderes als der in eine beſtimmte Form gefaßte
Sefeglicher. Fortſchritt. 443
Wille der Staatsgewalt ober fie find der Ausbrud der Gewalt, welche in
einem Staate herrfcht. Für die Möglichkeit des politifhen Fortſchreitens
innerhalb der pofitiven Geſetze kommt deshalb vor Allem die Natur diefer
herrfchenden Gewalt, deren Ausdrud jene find, in Betracht. Oder, da bie
politifche Entwicklung eines Volkes auf organifche Weife, von Innen here
aus, durch Selbftbeflimmung vor fich gehen muß, fo hängt fie weientlich da⸗
von ab, ob das Staatsprincip, die herrſchende Gewalt, alfo die beſtehenden
Geſetze eine ſolche organifche Entwickelung, diefe Selbftbeftimmung des Vols
kes geftatten. |
Um diefes Verhaͤltniß richtig beurtheilen zu können, müffen wir und an
den biftorifchen Proceß halten, welchen die Natur der herrſchenden Gewalt faſt
gleichmäßig bei allen europäifchen, befonders aber bei den Völkern germani⸗
fhen Stammes durchgemacht hat und, wo es noch nicht gefchehen iſt, durch»
machen muß.
Wir finden naͤmlich uefprünglich bei al? diefen Völkern, auch wenn
die ſtaatlichen Anfänge fonft noch fo roh und unentwidelt waren, body eine
öffentliche Gewalt, welcher fie gehorchten. Diefe herefchende Gewalt wurde
zwar theilmeife durch beſonders dazu vom Volke ernannte Sunctiondre, allein
in fehr vielen Faͤllen auch unmittelbar vom Volke ausgehbt, fie beruhte aber
in beiden Faͤllen auf dem Volke ſelbſt, fie war eine natürliche im Volke ſelbſt
. liegende und mit dem Volke verwachſene Gewalt. Geht natürlich waren
Daher auch die Sefege in diefem Zuftande nichte Anderes als ber Ausdruck des
Volkswillens, das Volk wurde durch fie nicht gehindert in feiner politifchen
Entwidelung , das Volk beftimmte fich felbft, war von Niemandem und Nies
mandes Gefegen abhängig ale von fich felbft und feinen eigenen und konnte
deshalb feine gefellfchaftlichen Einrichtungen je nach Bedürfnis, Gutbefinden
und gegenfeltigem Uebereinkommen abändern, ohne zur Gewalt feine Zuflucht
nehmen zu müffen.
Diefer Buftand erlitt aber im Laufe der Zeit eine wefentliche Umgeſtal⸗
tung und zwar namentlich durch zwei Momente, durch die Entftehung und
Ausbildung der Leibeigenfchaft und des Feudalweſens und durch die Ausbreis
tung — der bierarchifchen Umbildung des Chriftenthums. —
Es ift hier nicht der Ort, näher auf die Entflehung ber Leibeigenſchaft
und des Feudalweſens einzugehen, es handelt fich vielmehr hier nur um eine
Darftellung ihres Principe und ihrer ftaatsrechtlichen Bedeutung. Durch die
Leibelgenfchaft wurde ein Theil des Volkes feiner Sreiheit, feiner Menſchen⸗
würde und Menfchenrechte beraubt, es bildete fich über den getnechteten Leibs
eigenen und hörigen Lehnsleuten eine Gewalt, welcher fie jchlechthin unter»
than wurden, die Gewalt ihrer Herren, Raubritter und Seigneurs. Das Wer
fen diefer Gewalt beitand darin, daß fie ihre Untergebenen voliftändig ents
menfchte, als Menfchen vollftändig vernichtete, weil fie ihnen Die Selbftbes
flimmung ihres Willens benahm und ihe menfchliches Weſen außerhalb ihrer
felbft in einen fremden Willen fegte. Die Gewalt der Dynaften über ihre
Unterthanen ließ ſich weder ihrer Entftehung noch ihrer Wirkung nad) auf
einen vernünftigen Grund zurüdführen,, denn fie hatte ihren Rechtstitel ledig⸗
lich in ſich felbft, d. H. im der phyſiſchen Uebermacht oder im Zufall und benugte
freigeboene Menfchen durch außer ihmen liegenden Zwang zu fremden Zwecken.
Die Gewalt des Dynaſten über feine Leibeigenen war eine übermenfchliche,
der Gehorſam der letzteren ein unmenfchlicher. Diefe hatten keinen Einfluß
auf den Willen, der fie beberefchte, fie Eonnten fidy alfo weder mittelbar nod)
anmiltelbar ſelbſt beſtlmmen, fondern wurden beftimmt wie eine Sache,
durch einen fremden Willen, der in fie gelegt wurde. Jene waren in Bezle⸗
hung aufibhre WBefugniffe, auf ibe Recht über Andere unabhängig von den
Bebinigungen, welche für bie Rechtsverhältniffe zwiſchen Menfchen maßgebend
find, fie waren abfolute Herrſcher. Sie befanden ſich ihren Untergebenen
gegenüber in einer ebenfo unvernünftigen als unfittlihen Stellung; un»
vernünftig, weil ihre Gewalt vom Zufall datiete, unfittlich, weil fie Menfchen
zum Wieh machte. | |
Anfaͤnglich war biefe Gewalt rein privatrechtlicher Natur. Der Dynaft
war Eigenthuͤmer, ber Reibelgene befeffene Sache. Im Verlaufe der Zeit
und mit der allmäligen Ausbildung und Ausbreitung des Feudalweſens be:
kam fiejeboch einen flantsredhtlichen, einen politifchen Charakter, Die Pris
vatgewalt ber Dynaften verwandelte fih Im eine Öffentliche. Die Maͤchtigeren
abforbirten dte Schwädjeren und nahmen am Ende ald Herrſcher uͤber Land
und Leute auf ihrem Territorium eine politifche Stellung ein, aus den
Eigenthümern wurden fie Herrſcher. Die urfprünglich in unzählige Beine
Elgenthuͤmer zerfplitterte Privatgewalt über Leibeigene und Hörige concen:
teirte fich mach umd nad) auf einzelne Wenige. In einzelnen Ländern confos
lidirte ſich endlich Diefe fauſtrechtliche Gewalt nur auf einem einzigen Haupte,
auf dem Haupte Desjenigen , der in ben Zeiten ber Volksgewalt unter dem
Namen König ale Beamter des Volkes fungirt hatte.
So verwandelte ſich im Verlauf der Zeiten bie Volksgewalt, welche zu
exequiren die freien Genoffenfchaften urfprünglich ihren Kriegsanführern und
Dberhäuptern aufgetragen hatten, in die feudale Privatgemwalt der Fürften.
Dem Volke wurde gleihfam fein Wille, feine Gewalt genommen und auf
einzelne Wenige übergetragen.
Vermittelt wurde diefe Veränderung noch durch ein weiteres Moment.
Der urgermaniſchen Nationaltheorie gemäß wurde von den Völkern germani⸗
[hen Stammes der Staat als auf einem Bertrage beruhend aufgefaßt. Freie
Franken ſchloſſen z. B. unter fi) einen Grundvertrag und nannten biefes ihr
Staatsrecht fogar pactum Francorum. (Siehe Srundvertrag.) Ein fols
cher Vertrag ftellte eine ganz natürliche, menſchliche Gewalt dar, welche nichts
Anderes mar 6 der beſtimmt gefaßte Gefammtwille de Stammes oder des
Volkes. — — Über jeit der Gründung großer germanifcher Eroberungsteiche,
feit der Aufnahme einer neuen, der römifchen und ber chriftlihen Eultur,
die nicht leicht und ſchnell mit den germanifchen Lebens und Rechtsanfichten
zu einem harmonifchen Ganzen vereinigt werden Eonnten, feit der despotifchen
Gewalt, melde die Fürften und erobernden Krieger über die an Sklaverei
gewoͤhnten roͤmiſchen Unterthanen und Sklaven erwarben, loͤſte fich die alt:
germanifche Rechtsordnung immer mehr in einen anacdhifchen und faufts
rechtlichen Zuftand auf. Diefer wurde nur aͤußerlich durch dag feubale
patrimoniale Schugherrlichkeitsvechältniß der Mächtigeren über die Schwaͤ⸗
JJ
Geſetzlicher Fortfchritt. 45
cheren georbnetz bie mit ben Fürften und Mächtigen allürten Päpfte unb
Biſchoͤfe aber ließen fich durch die weltlichen Keubalherren ihre eigenen , meift
Durch Raub oder Benusung blinden Aberglaubens gewonnenen feudalen
Schutzherrenrechte über ihre Untergebenen und die blinde Glaubensgewalt
Über das Volk beſchuͤtzen und Leifteten den weltlichen Herren den Gegendienſt,
Daß fie die hriftlichen Srundfäge, weiche Freiheit und gleiche Bruderliebe for⸗
Derten, mißbrauchten und in ihr Gegentheil verkehrten, und alle geiftliche und
weltliche Obergewalt als auf eine wunderbare Weife durch den Willen Gottes
begründet und geheilige darſtellten. So wie in ber chriftlichen Kirche, To ſollte
aud) im weltlichen Verhaͤltniß nicht mehr der freie Wille, die freie
Weberzeugung und Einwilligung aller freien Chriften und
Bürger ihre eigenen und gefellfchaftlichen Verhältniffe beftimmen und fo
Durch Freiheit die göttlichen Abſichten verwirklichen. Vielmehr follte
der göttliche Wie, jegt rein von Außen duch die Bewalt und
das Belieben ber geiftlihen und weltiihen Maͤchtigen ſich
geltend machen. Aberglauben und Myſtik und Wunder, Geiſtes⸗ und
Wahrheitsunterdruͤckung, Keberverfolgung und Gewalt mußten dem großen
Betrugfpfteme Nachdruck geben. — — — Diele Veränderung des Begriffes
von Geſetz⸗ und Regierungsgemwalt war wohl eines der bedeutendften Ereig⸗
niffe der Weltgefchichte und In ihren Kolgen von unendlicher Wirkſamkeit.
Alte Kämpfe der Neuzeit ſowohl als früherer Perioden drehen fich in ihrem
legten Grunde um ben Widerfpruch zwifchen ber feubalen Staatsgewalt und
der menſchlichen Freiheit. — — Es ift der Kampf zwifchen der von Außen
kommenden Gewalt und dem von Außen kommenden goͤttlichen
Mecht, der Knechtſchaft, und zroifchen dem auf bem inneren, fittlihen
oder göttlich geleiteten freien Willen der Nation beruhen:
den, wahren fittlihen und göttlihen Recht der Freiheit und
Gewalt. — — — Auf der einen Seite wurden die größten Verbrechen be:
gangen, die biutigften Kriege geführt, Millionen dahin gefchlachtet, um den
Begriff der Staatsgewalt im feudalen Sinne aufrecht zu erhalten, und auf
der andern Seite ebenfo viele Opfer gebracht und Anſtrengungen gemadyt, um
biefen Begriff wieder auf das Gebiet der Menſchlichkeit herabzuziehen und ihn
als natürliche, menfchliche Volksgewalt barzuftellen. Aber fo tief hat er ſich
in die Denkweiſe der Völker Hineingefrefien, daß er fogar in republikaniſches
Staacsrecht oder wenigſtens in republitanifche Praris Eingang gefunden, wie
denn noch heut zu Tage die meiften Regierungen der Schweiz, jefuitifche oder
angeblich radicale, das demokratiſche Princip durch die Auffaflung der Staats:
gemalt als übernatürliches, göttliches, heiliges und hehres Inſtitut paralpficen,
indem fie die Regierung — als eine von dem freien Willen der Bürger unab⸗
bänagige, Außerliche Verwirklichung göttlihen Willens in ber Geſell⸗
(haft —, als eing Art Vorfehung betrachten, welche an fi) den unbe:
grenzteſten Anſpruch auf Ehrfurcht und Mefpect habe, und hoch über
den armen Sterblichen in den Wolken ber Majeftät ſchwebend, Deren Säid:
fale zu lenken beflimmt ſei. —
Beurtheilen wir nun das Wefen dieſer feubalen Staatsgewalt und ihr
Verhaͤltniß zu der ehemaligen natürlichen und menfchlichen Volkegewalt.
Um es mit einem Worte zu bezeichnen; fo ift fie weſentlich diefelbe Sub:
flanz , aus welcher die Gewalt der Raubritter über ihre Leibeigenen beſtanden
hatte. Der Feudalftaat repväfentirt das Princip der vollftändigen Nichtig«
Belt bes Volkes, der Willenlofigkeit, der Nechtlofigkeit des Volkes. Im Feus
dalſtaat liegt der. herrfchende Wille außerhalb des Volkes, die Quelle, aus
welcher alle gefeßliche Thätigkeit innerhalb des Staates fließt, Liegt außerhalb
des Volkes, das Wolf gehört nicht ſich ſelbſt an, es gehört Jemand außer ihm
Seienden, «8 ift ſchlechthin von einer außer ihm liegenden Gewalt abhängig.
Der Feudalſtaat repräfentirt daher überhaupt das Princip des Abfolutismus,
das Princip der Unfreibeit, der Stabilität, der abfoluten Gültigkeit des
Beftehenden. Das Volk ift in ihm Mittel fir fremde Zwecke, das Mittel,
um die beftehenbe Herrſchaft, die beftehenden Formen aufrecht zu erhalten.
In diefen Säsen ſcheint die Antwort auf die Frage nad) der Möglichkeit
bes gefeplichen Fortfchreitens im Feudalſtaate enthalten zu fein, Jeder Fott-
Schritt des Volks im Feudalſtaate verlegt das beftehende Princip und muß dee:
balb ein ungefeglicher fein, ‚denn das Wolf verlegt in demfelben Moment bie
beftehenben Gefege, in welchem es einen felbftftändigen Entſchluß faßt, ſich
felbft beftimmit; denn feine Unfceibeit, feine Unfähigkeit, ſich felbft zu beftim-
men, ift die Bafis des ganzen Stantsgebäudes, iſt der leitende Gedanke ber
en Geſetzgebung. Im Feubalſtaate iſt daher jeder gefegliche Kortfchritt
in wahrer Fortſchritt, denn als gefeßlicher greift er das beftehende Princip
nicht an, und jeder wahre Fortſchritt iſt Fein gefeglicher, denn er vernichtet
das beftehende Princip, er negirt das Recht ber herrfchenden Gewalt.
1 Dee gefegliche Fortſchritt im Feudalſtaate unter der Herrfchaft des gött:
lichen Rechtes ift aber ferner auch deshalb unmöglich, weil in einem ſolchen
Staate jedes gefegliche Organ für die politifche Entrwidelung des Volkes fehlt.
Sm vernünftigen und natürlichen Zuſtande fchreitet das Volk mittelft gemiffer
Inſtitutionen und Organe, welche in der Geſetzgebung des Landes garantirt
und beftimmt find, vorwärts. Sie dienen dazu, um dem Willen des Volkes
die Möglichkeit, fich zu dußern, zu verfchaffen. Dahin gehören die Preß⸗
freiheit, die Affociationsfreiheit, das Recht, Volksverſammlungen zu halten,
auch volksthuͤmliche Verwaltung und ein volksthuͤmliches Gerichtsweſen. Alle
dieſe Inſtitutionen fchließt der Keudalitaat aus und muß fie feinem Principe
gemäß ausfchließen. Das Volk darf im Feudalftaat Eeinen Willen haben,
ber herrſchende Wille liegt ja außerhalb des Volkes, eben deshalb Eönnen unter
der Herrſchaft des göttlichen Rechts auch Feine Organe für die Willensäuße:
rung des Volkes beftcehen. Die herrfchende Gemalt im Feudalftaat Eann die
Freiheit der öffentlichen Meinung nicht dulden, denn durch eine unbejchränfte
Kritik würde fie von ihrer myſtiſchen, übernatürlichen Höhe auf das menſch⸗
liche Gebiet herabgezogen ; im Feudalſtaat ift Beine Preßfreiheit, fondern die
Cenſur, welche die Gedanken der Unterthanen beauffichtigt und ihnen das
Hecht, eigenen Willen und eigene Meinung zu haben, abfpriht. Im Feu⸗
dalftaat find Volksverfammlungen und politifche Vereine verbrecherifche Un:
ternehmungen,, denn fie find die Aeußerungen eines felbititändigen Volke:
willens und eben deshalb verboten. Das Volk hat Beine Theilnahme an der
Gefeslicher Fortſchritt. 447
VWerwaltung und Geſetzgebung, denn das Volk ift nicht frei, jene Theilnahme
aber ift ein Merkmal der ſtaatsbuͤrgerlichen Freiheit.
So fehlen alfo dem Volke im Feudalſtaate alle diejenigen gefeglichen
Mittel und Organe, durch welche es feine Meinung, fenen Willen, feine
Wuͤnſche aͤußern und eine Veränderung der beftehenden Verhaͤltniſſe bewic⸗
ten Lönnte. Der gefegliche Fortſchritt fcheint alfo im Feudalſtaat nicht blos
principiell, fondern auch factiſch unmöglich, zu fein. — — Im Feudalſtaate
ift alfo, wenn einmal das Volk zum Bemußtfein der Taͤuſchung in Beziehung
auf jene Außerliche theokratifche Verwirklichung des göttlichen Willens, zum
Bewußtſein der völligen Menfchlichkeit jener menfhlihen Gewalt gelangt
und zum Bewußtſein feiner Freiheit und feiner Pflicht, das Bute und Rechte,
ben göttlichen Willen in feinen eigenen Lebensverhditniffen nad) reifer Pruͤ⸗
fung und Berathung der Bürger unter einander felbft zu verwirklichen —
alsdann ift hier gefeglicher Fortſchritt nur möglich, wenn die Gewalt. felbft
ganz und ehrlich das frühere falfche Princip mit feinen Folge⸗
tungen aufgiebt. — — Das Princip des Feudalſtaates oder Kberhaupt
jeder herrfchenden Gewalt, welche das Weſen und den Willen des Menfchen
durch irgend einen Zwang außer dem Menfchen fest, welche den Menfchen,
defien Idee es ift, frei zu fein, feiner Selbſtbeſtimmung beraubt und ihn
zu einem willenloſen Mittel für außer ihm liegende Zwecke macht, biefes
Princip führt ale unausweichliche Sonfequenz den ungefeglichen Kortfchritt in
feinem Gefolge, d. h. die Revolution. Revolution ift dieVernichtung eines
beftehenden Principe oder Zuftandes, in welchem diefes feine Verwirklichung
fand, und Erfegumg deffelben durch ein weſentlich anderes. Wie oben bemerkt
wurde, giebt es In Beziehung auf den Staat und politifche Dinge nur ein
richtiges Princip, das Princip der Freiheit. Jede Gewalt, welche das Prin⸗
cip der Unfreiheit vertritt, führt Deshalb — wenn fie nicht felbjt ihr eigenes
Princip aufgeben win bei dem zur Freiheit erwachten Bolt — als unvers
meidliche Nothiwendigkeit eine Revolution nad ſich, durch welche das Prin⸗
cip der Freiheit zur Anerkennung gebradyt wird. Die ganze Weltgefcyichte bes
weift Die Wahrheit diefer Behauptung und bezeichnet fie ale ein Poftulat der
Vernunft. Es hat noch Fein Volk gegeben, das — zur Freiheit erwacht,
Knechtſchaft und Selbſtentwuͤrdigung geduldet hätte, das nicht, wenn die Derrs
[haft ihr Princip und feine Kolgen nicht ändern, oder, wie wiederholt bie
Stuarte und dieBourbonen, nicht ehrlich und treu und folgerichtig
aufgeben wollte — nicht buch Revolution ſich frei gemacht hätte. Es giebt
vielleicht in Europa kaum ein freies Volk, das nicht das Princip des Feudal⸗
ſtaates durch eine Revolution vernichtet hätte. Blicken wir auf die verfchies
denen Revolutionen der Neuzeit. Die Reformation war eine Revolution,
durch welche das Princip der Eatholifchen Kicche , Ihre abfolute Gewalt verniche
tet wurde. Luther war nad) katholiſchem Kirchenrecht, war den Geſetzen der
katholiſchen Kirche gegenüber ein Empoͤrer, ein Revolutiondr, ein Verbrecher
an ben beftehenden Gefegen. Aber war ihm ein anderes Mittel geftattet, war
eine Vernichtung des Fatholifhen Principes ber Unfreiheit auf geſetzlichem
Wege möglih? Wer einen Begriff von Logik und Princip hat, muß dies
verneinen, denn es iſt der Fluch der Unfreiheit, es iſt Der Fluch der abſolutiſt
148 Gefeglicher Bortfchritt.
ſchen Gewalt, daß fie allermeift Leinen wahren Fortſchritt erträgt, denn ein
Princip, das man noch fefthalten will, laͤßt nich“ mit ſich maͤkeln, Läßt fich nicht
miodificiren, es beruhigt fich nur, wenn es ganz anerkannt iſt, und benußt jedes
Zugeſtaͤndniß, jede Conceffion zu neuen Forderungen. — Nur in Harmonie
mit feinem Grundprincip findet man Befriedigung. — Das Princip ber
Stuart'ſchen Staatsgewalt war das Princip der Unfreihelt, es wurbe vernich-
tet durch die englifche Revolution. Warum? Weil an die Stelle des alten
Principes ein anderes treten mußte und weil biefe Veränderung durch die bes
flehenden Befege — well e8 ohne voͤlliges treues Aufnehmen des neuen Prins
cips von Seite ber Gewalt — nicht möglich war.
Das Pılncip der bourbonifchen Staatsgewalt war das Princip bes Abs
folutismus, des Feudalſtaates, des göttlichen Rechtes. Wodurch wurde es
vernichtet? Durch die franzoͤſiſche Revolution. — War die Vernichtung die⸗
ſes Staatsprincipes auch ohne Revolution moͤglich? Nein, — wenn nicht
der Koͤnig und mit ihm und durch ihn Adel und Geiſtliche verſtaͤndig
genug waren, ehrlich ihre ariſtokratiſch abſolutiſtiſche Gewalt ſelbſt aufzu⸗
geben. — Erſt durch die Mevolution wurde der dritte Stand, d. h. wurde das
ganze Volk als berechtigt anerkannt und diefe Anerkennung bes Volkes war
eine Verlegung des bourbonifchen Staateprincips und der Gefege bes franzoͤ⸗
ſiſchen Feudalſtaats. Die Amerikaner vernichteten das Princip der Abhängigs
keit von England durch eine Revolution. Die Belgier vernichteten das Princip
der Abhängigkeit des Volkes von biplomatifchen Congreffen, alfo das Prindtp
der Unfreiheit, durch eine Revolution. — Die Franzofen vernichteten im
Sahre 1830 das Princip der Abhängigkeit von einem außer ihnen liegenden
Willen, der in der Einführung und im Geifte der Meftaurationscharte repraͤ⸗
fentirt mar, durch eine Revolution. Das Princip des Abfolutismus, d. h.
der über dem Volke ftehenden, ohne fein Zuchun entftandenen und ohne feine
Theilnahme herrfchenden Staatsgewalt , Bann in der Regel — da Verſtaͤn⸗
bigkeit und die Kraft zu neuem Leben in neuem Princip fehr felten bie Sache
ber meift gefehwächten, verborbenen, ſchlecht unterrichteten Höfe ift — nur
durch Revolution vernichtet werden.
Damit ift aber natürlich nicht gefagt, baß jede Revolution das beſte⸗
hende Staatsprincip vernichte. So murden in den dreißiger Jahren auch
in Deutfchland verfchiedene ſogenannte Mevolutionen gemacht, melde In
Mirktichkeit nichts Anderes waren als Straßenaufläufe, die einige factifche
Veränderungen zur Folge hatten. So revoltirten fie in Braunfchweig, wie
Böme fagt, um einen Vornamen, d. h. um die Beränderumg der Perfön:
lichkeit, aber nicht des Principes ihres Herrſchers. So in Dresden um
Anige Modificationen in der Verfaffung,, das herrfchende Staatsprincip blieb
in beiden Fällen daſſelbe — und nur das Bewußtſein, der Lebensinftinct der
Freiheit im Volke wurbe für fpäteren Sieg mehr geweckt und gefräftigt- —
| Eine beſonders wichtige Frage ift es, ob und inwiefern eine Revolution
auch von dem herrfchenden Principe der Unfreiheit, von ber herrſchenden
feudalen Staatsgewalt felbft ausgehen, d. h. ob eine Revolution eine geſetz
Liche fein Eine? Es laͤßt fi nämlich ber Fall denken, ein Träger ber feu⸗
dalen Staatsgewalt, ein abfoluter Derrfcher von Gottes Gnaden, mürbe
Geſetlicher Fortſchritt 449
aus freiem Stuͤcken und eigenem Antriebe bie Natur ſeined Gewalt verändern
und an die Stelle des herrfchenden Principes der Unfreiheit das der Volks⸗
freiheit fegen, d. 5. feinem Volke die Sreiheit Schenken — oder, richtiger ges
Sagt, zurüdgeben. — Factiſch ift eime ſolche Handlung möglich, denn ein
abfolnter Herrſcher kann Alles, er ift allmächtig, allein iſt fie auch pfychologifch
moͤglich? Ein feudaler Staatsherrfcher befindet fi — wenigſtens objectio,
mag der einzelne Derefcher die Einficht und Abſicht haben oder nicht — in einer
unfittlihen Stellung, feine Gewalt über die von ihm beherrfchten Unter-
thanen ift eine unmoralifche, weil fie weſentlich dieſelbe Subftanz ift, aus wel⸗
cher einft die Gewalt über Leibeigene beftand, meil fie die Freiheit im Men⸗
fchen vernichtet, weil fie, als auf der phufifchen Gewalt oder Täufchung, der
Erniedrigung der Regierten, gleichviel ob durch Raub oder dußeren Zufall be
ruhend, ber fittlichen Idee des Staates widerfpriht. Ein feudaler Staats:
herrſcher begeht in allen Acten feiner abfoluten Herrſchaft — gleichviel wie
feine Einfiht und Abſicht ift, menigftens eine objectiv unfittliche Hand⸗
Jung, weil er von einer unfittlihen Gewalt Gebrauch macht, das Unrecht
fortfest. Nur das Aufgeben der an fih unfittlihen un:
rehtlihen Willkuͤrgewalt ift ſittlich und rechtlich. Pſycho⸗
logiſch aber ift dieſes Aufgeben fchmerer, als von gewöhnlichen Naturen und
geiftigen und fittlichen Kräften erwartet werden Bann. — Dafür fprechen alle
Erfahrungen, welche bis jest die Weltgefchichte geliefert. Es hat wohl fchon
feudale Herrſcher gegeben, die im Drang ber Umftände ihren Unterthanen
einige factifche Conceſſionen machten, allein ber Fall ift wohl noch unerhärt,
daß ein abfoluter Regent das Princip feiner Staatsgewalt freimillig vernichtet
und an die Stelle der Willenlofigkeit des Volkes das Princip wahrer Volks⸗
freiheit gefegt hätte.
Eine folche gefegliche Revolution iſt audy mit dem Begriffe der Freiheit
ſchwer vereinbar. Die volllommene Freiheit ift weſentlich das Reſultat eines
Innerlichen Proceſſes, das Product einer organifchen Entwickelung, wel⸗
ches niemals blos von Außen einem Dienfchen oder einem Molke aufge:
pfropft werden kann. Daß die Freiheit nicht geſchenkt werden kann, iſt eine
alte Wahrheit, ein Volk muß fich felbft frei machen. So lange ein Volk feine
Freiheit, d. b. fein Wefen, feine Menfchenrechte von einer außer Ihm liegen-
den Gewalt erbittet oder erwartet, ift es nicht frei; es hieße deshalb alle Geſetze
des menfchlichen Denkens verfpotten, wollte man fagen, einem Volke koͤnne
durch einen Außeren Machtfprudy das Recht ertheilt werden, frei, d. b.
Menſch zu fein. So wenig ein einzelner Menſch von einem anderen bie Ers
laubniß frei zu fein befommen Tann, und fo wenig er dann frei iſt, wenn ihm
ein Anderer dieſe Erlaubniß ertheitt, ebenfo wenig Tann ein Volt duch
das Dictat einer fremden Gewalt frei werden. — Nur veranlaffen kann bei
der Wechſelwirkung des Aeußeren und inneren die von Außen gefommene
Freiheit die Erweckung oder Hervorbildung der inneren Freiheit, und ber Aus
Bere Freiheitsdrang des Volkes, die Innere Gerechtigkeit und Weisheit des
Herrfchers, unfittliche, unrechtliche abfolute Gewalt gegen höhere wahre Würde
und Ehre hinzugeben. Aber wie ſchwer ift für Völker und Herrſcher ſolche
Suppl. 3 Staatslex. IL 29
450 Befeglicer Bortferit
glückliche Wechſelwirkung und ber Sieg des Guten und Rechten in ihe — ber
Ungemwaltfame, unblutige Sieg! —
Diefes Verhaͤltniß führt eine weitere Frage nach fi. Iſt ber geſetzliche
Fortſchritt auch dann möglich, wenn z. B. eine feudale Staatsgewalt ihren
Unrerthanen einige factifche Gonceffionen gemacht, einzelne Befugniffe er-
theilt und das herrſchende Staatsprincip einigermaßen mobdificitt, im Wes
ſentlichen aber beibehalten bat? In dieſem Falle hängt die Beantwortung
ber Frage von dem thatfähhlihen Zuftande ab. Iſt die Natur ber herrs
chenden Staatsgewalt noch wefentlich feubal, läßt fie ſich in gerader Linie auf
bie Gewalt mittelalterlicher Raubeitter zuruͤckfuͤhren, fo ift der Staat, d. h.
Band und Beute, Eigenthbum bed Herrſchers und biefer letztere unmittelbar
fouverän, Regent in Folge göttlichen Rechtes, und das Volk ift nicht willens⸗
berechtigt; oder, um e8 anders auszudruͤcken, find in einem Staate die ber
ſtehenden Berhättniffe fo, daß die Staatsgewalt dem Volke gegenüberfteht
und gewifje Einrichtungen aufrecht erhalten kann, jelbft wenn die Majorität
bes Volkes fie verabſcheut und abgeändert wiſſen wollte, alsdann iſt ber gefeg-
liche Fortſchritt — nur durch ein Wunder von Weisheit und Gerechtigkeit
bes Herrſchers moͤglich. Ohne diefes ift er unmöglich, weil fie beweifen , daß
das Volk feinen gefeglichen Willen hat, fondern einer über ihm ftehenden Ge⸗
malt gehorcht, welche feinem Willen ben ihrigen mit Erfolg entgegenftellen
und durch phufilchen Zwang zurüdhalten kann.
Steht e8 übrigens in einem Staate fo, find factifch dem Principe ber
Freiheit Gonceffionen gemacht, während aber die herrſchende Gewalt nod)
weſentlich feudal, abfolutiftifc ift, fo ftehen zwei feindliche Principien einander
gegenüber, bie mit einander um bie ausfchliefliche Herefchaft Fampfen. Da
ein Princip niemals mit halber oder theilweifer Anerkennung ſich begnugt,
da in einem folchen Staate weder das Princip des Abfolutismus noch das der
wahren Volksfreiheit voliftandig anerkannt ift und herrfcht, fo fucht bag eine
wie das andere fid) vollftändig und ganz herzuftellen. Der Verlauf der politi=
ſchen Entwidelung in einem ſolchen Staate wird ſich alfo nothwendig fo ge:
ftalten, daß nad) längerem oder kuͤrzerem Kampfe entweder das eine oder
andere Princip ausfchließlicy zur Herrfchaft gelangt, daß alfo die Staatsge⸗
walt entweder zum Princip des reinen Abfolutismus zurüd, oder zum Prin⸗
cip der reinen Demokratie vorwärts gehen muß.
Wenn nun aber in einem Staate principiell das Princip der Unfteis
beit vernichtet, jedoch factifch die herrfchende Gewalt mehr oder minder un:
volksthuͤmlich und abfolutiftifch regiert, wie geftaltet fic) dann die Möglichkeit
bes gefeglichen Fortſchritts? In Frankreich 3. B. wurde durd) die Julirevo⸗
Iution das wieder eingeführte feudale Staatsprincip, das göttliche Recht prin⸗
cipiell vernichtet und an feine Stelle das Princip der Volksfouveränetät ges
fest. Die in Frankreich herrfchende und auf dem Haupte Louis Philipp’s
concentrirte Gewalt ift mwefentlidy eine andere Subftanz als die von Char:
les X. oder Louis XVI. oder irgend eines anderen feudalen Regenten; fie ift
ihrer Entftehung und ihrem Princip nad) die Gewalt des franzöfifchen Volkes,
wenngleich thatſaͤchlich der Volksfreiheit geradezu feindlic und in vielen Be⸗
jiehungen ebenfo gemwaltthätig und rechtöverlegend als bie nächfte befte abfo-
Geſetzlicher Zortfchritt. 451
Iutiftifche Staatögewalt. Oder Luzern 3. 3. ift der Form nach eine Repus
blik, die herefchende Staatsgewalt ruht dem Princip nad) auf dem Volke,
die dortige Regierung iſt der vom Volke gewählte Mandatar , in Luzern giebt
08 keine Unterthanen, bie Luzerner gehören Niemandım ; gleichroohl ift der
thatfächlihe Zuſtand dort fcheußlicher ald in manchem Feudalſtaate und bie
herrſchende Gewalt ſchaͤndlicher als mandye abfolutiftifhe. Oder Zuͤrich if
ebenfalls eine Republik, die Traͤger der herrſchenden Gewalt ſind vom Volke
eingeſetzt, das Volk iſt dem Princip nach vollſtaͤndig ſouveraͤn; allein die Re⸗
gierung verfolgt unter dem Scheine des ſogenannten legalen Liberalismus
theils durch rechtswidrige Geſetze, theils durch offenbare Gewaltſtreiche und
Verletzungen des demokratiſchen Principes eine ganz freiheitsfeindſelige Ten⸗
denz, die eben ſowohl von intellectueller Imbecillitaͤt als moraliſcher Schwaͤche
und Feigheit zeugt. Iſt nun in ſolchen Staaten der geſetzliche Fortſchritt moͤg⸗
ih? — Im Allgemeinen muß man dieſes bejahen. Er ift um fo
fiyerer möglich, je tüdhtiger das Volt und feine Männer
find — und je weniger auswärtige Unterftügung bes despotifchen Syſtems
den friedlichen Sieg des Rechts erſchweren. Gerade die den Hoͤfen und Hof⸗
lagern verhaßten muthigen Kämpfer für Freiheit und Wahrbeit und gegen
das Berderben, die Schmad und die Schande der Unterdrüdung können
bier den Thron und den Frieden noch retten. — Denn bier ift wenigſtens das
Princip der Vollsfouveränetät anerkannt und die gegebenen Geſetze und Eins
richtungen des Staates koͤnnen vom Volke zur Verwirklichung feines Willens
benugt werden, fobald es gelingt, ihm die Augen über ben beftehenden Zus
fland zu öffnen. Ob aber im concreten Galle eine Veränderung des beftehen»
den Zuſtandes auf geſetzlichein Wege wahrſcheinlich ift, und ob eine gewaltfame
Aenderung des Beftehenden mwohlthätiger oder weniger verderblich wäre als
längere Dauer des Unrechts, das kommt auf die Berhälmifie an. Jeden⸗
falls aber kann in Wahrheit behauptet werden, daß das Selingen bes zweiten
Freiſchaarenzuges nach Luzern diefem Lande taufendfältigen Sammer und
viel gräßliches Ungluͤck erfpart hätte, daß viele Familien jegt nicht an ben
Betrelftab und in’s Elend gebracht, daß viele Menfchenleben nicht verloren waͤ⸗
ven, daß das Land jegt nicht einem materiellen und moralifchen Ruin ents
gegenginge. So viel iſt gewiß. Vielleicht wird das jegige Regiment auf
geſetzlichem Wege geflürzt. Allein diefer gefegliche Weg ift lang, unenblid)
lang, und befchreibt fo viele Krummungen, baß eine ganze Generation
zu Grunde gehen Bann, ehe er an's Ziel führt. — Schwer find bie Fragen
zu entfcheiden, wenn man abrodgt: einerfeits Die moralifche und materielle
Verderbniß der Tyrannei, und ihe Gegengewicht, die nicht feige, ſondern
männlich und geſetzlich kaͤmpfende Ausdauer, andererfeits die Werderbniß der
Revolutionen und ihe Gegengewicht, ihre muthvolle Erhebung. Noch ſchwe⸗
rer iſt die Frage: wer hat das Recht zur Revolution? —
Ich komme hier an die allgemeine Frage, ob in politiſcher Bezie⸗
bung das Abweichen von ben poſitiven Geſetzen rech tlich erlaubt, d. h. mit
den Geſetzen der Moral vereinbarlich iſt? Hierauf antworte ich unbedingt:
Jeder iſt ein Verbrecher, nicht blos nach poſitivem Rechte, ſondern auch ge⸗
genuͤber der Moral, welcher auf politiſchem Gebiete die beſtehenden Geſetze
209*
Geſetzlicher Fortſchritt.
Staates verletzt — vorausgeſetzt, daß dieſer Staat auf dem Principe
iheit beruht, daß die herrſchende Gewalt dieſes Princip nicht verletzt
af die beſtehenden Geſetze dem Volke und jedem Einzelnen die Möglich»
rbieten, feine Anſichten, Wünfche und feinen Willen geltend zu machen.
Wie fteht es nun aber mit der Revolution vor dem Richterftuhl bes
nunftrechts, denn nur dieſes, nicht das pofitive kann hier in Betradht
men, benn bie Frage nach ber Mechtlicykeit einer Revolution ift „keine
bts =, ſondern eine Gewiſſensfrage.“ — Dom pofitiven Standpunkte
ig Frage zum Voraus gelöft, je nach den Ausgang. Siegt die despor
Gewalt, fo ift der Nevolutionde Hochverräther. _ Siegt die Revolu—⸗
., fo ift daß pofitive Gefe gegen fie vernichtet. Ja gemöhnlich wird das
eMecht, wenn auch unlöblich, ruͤckwaͤrts angewendet auf die Befiegten, die
b oft auch ala Werleger früher beftandnen Rechts erfcheinen. — Wann
ft nad dem Bernunftreht — Revolution oder überhaupt Verlegung
nfrinen Gefege erlaubt, um eine Veränderung der politifchen Zuſtaͤnde
a ringen? Unter Mevolution aber verftehe ich bier Fortfchreiten vom
rung der Unfreiheit zur Freiheit, es gehört alfo unter diefe Frage natür=
\e bie Gontrerevolution, d. h. der gewaltfame Rüdfchritt zuc Unftei-
| Beziehung auf die Revolution aber ift obige Frage folgendermaßen
itworten: Wenn in einem Staate bie beftehenden Verhältniffe und
tungen, bie herrſchende Gewalt und das Staatsprincip fo beſchaffen
aß durch fie den Beherrfchten diejenigen Rechte und Freiheiten entzogen
‚ welche die Menſchheit bedingen, daf fie ein freies Volksleben unmoͤglich
ouu)en, alfo einen unfittlichen Zuftand begründen, fo ift eine Verlegung
ber beftehenden Gefebe, eine Revolution — an fih und im Allgemeinen
. kein Unredht gegen die tyrannifchen Zuftände und Gewal⸗
ten. Und nurbdie Frage, was haben der Einzelne oder viele Ein:
zelne für Pflichten und Rechte nicht gegen dag tyrannifche Unrecht, fondern
gegen die unfhuldbige Bemeinfhaftdes unterdrüudten Volkes,
was hat in Beziehung auf fie und ihre Gefährdung durch vielleicht un:
gluͤckliche Revolutionen der Einzelne für Vollmachten und Befugniſſe,
nur diefe ift ſchwierig. Das Unrecht, die Tyrannei felbft kann keine Achtung
fordern. — — Begründet wird diefe Behauptung vor Allem durch die Ruͤck⸗
fiht auf den Staatszweck und die Idee der Freiheit. Freiheit ift der hoͤchſte
menſchliche Zweck — die Grundbedingung der Füchtigkeit und Würbe ber
Völker, das hoͤchſte Gefeg würdigen Staatslebene — welchem alle anderen,
vor Allem aber die Achtung vor den beftehenden Gefeben ſich unterordnen
müffen. Freiheit ift das Weſen des Menſchen, der Staat ift ihre Form,
die Form muß aber immer dem Weſen nachſtehen und darf niemals zum
Zwed erhoben werden. Die Rüädficht auf die beftebende Staatsform und
die Geſetze über bie Nüdficht auf die Sreiheit zu flellen, hieße daher nichts
Anderes, als das Mittel zum Zweck erheben und diefen jenem unterordnen.
— — Hierzu kommt, daß nad dem Dbigen bei der Herrfchaft des
Principe der Unfreiheit friedliche Umwandlung allermeift menſchlicher Weife
nad) faft nicht zu hoffen ift, daß aber felbft die zahmfte Despotie gezwungen ift,
das Volk täglich moralifch und geiftig zu verfchlechtern, um fo mehr zu ver:
”
Geſetzlicher Fortfchritt. ' 453
ſchlechtern, je mehr bie Sreiheltsregungen in demſelben ben Herrſchenden ges
fährden, Ängfligen, erzumen. — — Selbſt Zachariaͤ, dem man bo
gewiß keine zu große Hinneigung zu liberalen Ideen nachweifen kann, felbft
Diefer Publiciſt nennt die Revolution ein „heroifches Mittel, zu welchen jedoch
nur in den Außerften Faͤllen gegriffen werden dürfe.” Ein aͤußerſter Fall iſt
aber unftreitig dann vorhanden, wenn es ſich darum handelt, ob ein ganzes
Volk durch die Unfreiheit und den Despotismus fich gebuldig um Würde und
Eriftenz bringen laffen , oder ob es fein Joch abfchütteln fol.
Die Sefege find der Ausdruck der herrſchenden Gewalt, im bespotifchen
Feudalſtaate, im Zuftande der Unfreiheit, unter der Herrſchaft der Unfitt⸗
Lichkeit find fie deshalb nichts Anderes als das Mittel, um das Volk feiner
Freiheit zu berauben und die verbrecherifchen, moralifch verwerflichen Zwecke
des Abfolutismus zu verfechten. Kann man nun vom Standpunkte des
Vernunftrechts, vom Standpunkte ber Moral aus, im Allgemeinen
Achtung vor ſolchen Geſetzen verlangen ? Im Privatrechte giebt es gewiſſe
Verbindlichkeiten, zu welchen fih rechtlich Niemand verpflichten kann,
wie z. B. zur Entaͤußerung ſeiner perſoͤnlichen Freiheit, oder zu ſonſt einer
unſittlichen Handlung, eine ſolche Verpflichtung iſt als pactum turpe rechtlich
unguͤltig. So giebt es im oͤffentlichen Rechte gewiſſe Befugniſſe, welche den
Staatsangehoͤrigen nicht entzogen werben koͤnnen. Dahin gehoͤren alle dieje⸗
nigen Geſetze, welche gewiſſe Vorausſetzungen der Menſchheit, Menſchenrechte
aufheben, oder welche eine moraliſch indifferente Handlung oder eine recht⸗
lich erlaubte Handlung zum Verbrechen ſtempeln. Haben ſolche Geſetze An⸗
ſpruch auf rechtliche Guͤltigkeit, kann die Verletzung ſolcher Geſetze fuͤr na⸗
turrechtlich verwerflich erklaͤrt werden ? Ich ſetze z. B. den Fall, in einem
Staate beſtehen Geſetze, die durch einen unſittlichen Act, etwa durch einen
Eidbruch des Legislators geltend, d. h. poſitiv gemacht wurden ?
Wenn der einzelne Menſch nicht im Stande iſt, auf geſetzlichem Wege
ſeine Rechtsſphaͤre zu wahren, Angriffe auf ſein Recht abzuweiſen, ſo iſt er
im Stande der Nothwehr und darf ſich durch Selbſthilfe retten; dieſe iſt
nicht nur moraliſch, ſondern ſogar pofitiv rechtlich erlaubt. Sollte dieſes Ges
feg der Nothwehr nicht auch im öffentlichen Rechte feine Anwendung finden,
ſollte Mehreren, Vielen ein Verbrechen fein, was dem Einzelnen erlaubt
it? Ein Volk befindet fich derjenigen Gewalt gegenüber, welche es für willen»
und rechtlos erklaͤrt, welche ihm eine menſchliche Eriftenz unmöglich macht,
welche es mit einem Worte durch phyfiichen Zwang feiner Freiheit beraubt,
im Stande der Nothwehr — — die unterdrüdten Befiegten find es nad)
H. v. Haller ſtets durch die fliegende Uebermacht und Lift der Herrſchen⸗
ben. Es ift nah ihm „natürliche Orbnung Gottes”, womit bie
Mächtigen berrfchen über bie Schwächern, biefe Derrfchaft iſt nach ihm „von
Sort.” Aber fir wechfelt, und wenn der Schwache buch Muth und Klugheit
ber Starke wird, fo herrfcht jegt er von Gottes Gnaden. Diele an fi wahrs
baft unfittliche Theorie des Reſtaurators und Apologeten des Raubritterthums
aber nimmt doc) wahrlich eine andere Geftalt an, wenn die Gewalt nicht
gegen das wahrhafte menfchliche und göttliche Urrecht ber Freiheit, fondern
für daſſelbe gegen bie Unterbrüdung fiegeeih wird. — —
454 | Gefegficher Fortſchritt
Man hat gegen bie Rechtfertigung ber Revolution ſchon ben Einwurf gel:
tend gemacht , fie fet deshalb unzuläffig, weil fie an die Stelle des Staats
Ban Stand der Natur, d. h. Anarchie fege. Niemals hat es einen größeren
. Eohtfähluß gegeben. Gerade der Feudalſtaat, in welchem nad) göttlichen
techte gehertſcht und das Volk willenlos und unfrei gemacht wich, ift Fein
aat, denn der Staat iſt eine fittliche und vernünftige Anftalt, Der Feubals
t ifE nichts Anderes Als ein bleibender Kriegszuftand, eine pofitive Anat
alt; ein in Gefege gefaßter Desporismus, welcher gerade Durch bie Nevolution
in einen vernünftigen und fittlichen Zuftand verwandelt wird.
— — Nach allem diefem ift im Allgemeinen Achtung ber Frei:
belt und Streben, tägliches muthiges und unermüdliches, aufopferndes
Siteben für fie heilige Pflicht und Ehrenſache aller Völker umd Bürger, und
«8 if unmöglich, ohne Fäufchung, ohme Geiftesbeichränktheit, ohne Pflicht:
Verlegung das Gegentheil, bie fittliche Achtung ber Tprannei und ihrer Maß—
regeln oder fogenannten Gefeße zu fordern. Und dem Volt im Alige:
meinen ſprach wohl noch nie Jemand das Recht ab, ſich frei zu erklären
und frei zu machen um jeben Preis. Sqhwieriger aber ift die Frage über
dad Recht Einzelne. Wenn die elgene wahre Nothwehr für
Frau und Kind, für Familie, Ehre und Eigenthum, für die eigenen Rechte
mb fiir die des Mitbürger, wenn unwiderſtehliche Verzweiflung die Ein:
zelnen in ben Kampf mit der Iprannei treiben und duch Zuſtimmung
06 Bat Dam Revolution entſteht, fo hat nod) Beine Gefchichte, Fein Zeit:
alter ein moralifches Verdammungsurtheil ausgeſprochen. Aber der Ein:
zelne hat für eine niht in wahrem Nothwehrrecht auggeübte,
für eine kalt befchloffene Revolution, da wo nicht etwa zum Vor:
aus gegebene allgemeine Geſetze (mie bie ber Griechen und Mömer
über den Zyrannenmord ) ihn bevollmächtigen, Feine Vollmacht, über
dad Gemeinfame feiner Mitbürger zu befchließen und ben
Krieg zu erklären. Er Hat auch Feine Bürgfhaft, ihre Leiden
nicht zu vermehren. Seine Eigenmacht und eigenmäcdhtige Verſchwoͤrung
mißglüdt auch allermeift für ihn und für fie. Selten wird alsbaldige
allgemeine Zuftimmung und glüdlicher Ausgang ihm nachtraͤglich eine
nur vermuthete Vollmacht beftätigen. — —
Diefe Anfichten über die allgemeine Natur des nothmendigen und
felten auf friedlichen Wege moͤglichen Fortfchrittes von dem Princip des
Despotismus zu dem ber Freiheit theilen alle freien Völker. Privatverbrecher
teifft, überall derfelbe Abfcheu, fie werden in den meiften Fällen den Gerich—
ten ausgeliefert, wo fie fidy treffen laſſen, politifchhe Verbrecher dagegen
finden im freien Auslande ein ſicheres Aſyl und haben, fofern keine perfön:
liche unwuͤrdige Abfichten und Handlungen fie befleden, die Sympathien der
Sceibeitöfreunde für fih, während in der Heimath das Schaffot oder ewiges
Gefängnif fie erwartet. Das Andenken des politifhen Verbrechers und Re:
volutionaͤrs Washington wird nod) jet von einem ganzen Volke gefeiert, in
England wäre er wahrfcheinlich enthauptet worden; Mazzini lebt ruhig in
England, in feinem Vaterlande würbe er in einem Kerker verfaulen; in der
Schweiz find die Männer, weldye einen „verbrecherifchen Angriff auf den
N
Gewerbe⸗ und Fabrikweſen. 455
Felebiichen und ruhigen Jeſuiteneanton Luzern gemacht haben, eſehen
umb hochgeachtet, ja in neueſter Zeit ſogar in ihrer Heimath zu den n böchflen
Würden gelangt.
Enmm Moment iſt noch zu beruͤckfichtigen. Bei einem Angriff auf die
Set: und Einrichtungen einer abfolutiftifchen Staatsgewalt muß ſtets Die
ungefeblihe Handlung in einem richtigen Verhältniß zu dem Zwecke ftehen,
der durch fie erreicht werden foll ober erreicht werben kann — — und nie
wird auch hier das ſchaͤdliche Mittel durch den Zweck, nie eine des Ehren»
mannes unmürdige Handlung ſich rechtfertigen lafjen. — — Ebenfo koͤn⸗
nen auf politifche Vergeben bie criminalrechtlichen Begriffe von Uebereilung
oder Exceß in der Nothwehr angewendet werden.
Allgemeine Beftimmungen jedoch hierüber aufzuftellen iſt ſchwer. — —
Das gefunde fittliche Urtheil tuͤchtiger Männer und Völker wird in der
Beurtheilung bes concreten Falles das Richtige treffen. — —
Schließlich iſt noch zu bemerken, daß auch eine Bilfigung einer durch
die Umſtaͤnde gebotenen Revolution keineswegs die unbedingte Billigung alles
deffen involvirt, was Innerhalb oder während oder in Folge biefer Revolution
begangen wird. Die Nothwendigkeit der franzöfifchen Revolution, d. h.
die Vernichtung des Principe des franzoͤſiſchen Feudalſtaats, die Verle⸗
gung feiner ſchaͤndlichen Geſetze, feiner lettres de cachet, feiner Cenſur,
ſeiner Cabinetsjuſtiz, ſeiner Rechtsloſi gkeit, die Schilderhebung des franzoͤ⸗
fiſchen Volkes wird wohl Niemand fuͤr widerrechtlich, d. h. verbrecheriſch er⸗
klaͤren, der weiß, was es heißt, leibeigen zu ſein; allein ebenſo wenig wird man
Alles dasjenige, was nachfolgte, alle jene Graͤuelſcenen, ober einzelne Res
lutionaͤrs vertheidigen wollen, eben weil fie Revolutionäre waren. Ob ein
Volk das Recht habe, ſich für frei zu erklaͤren und fich frei zu machen um
jeden Preis, das iſt die Frage, diefe aber foll unbedingt bejaht werden
Gewerbe- und Fabrikweſen. (Statt des Abfchnitts II.
©. 781 —787 folge diefer in neuer Bearbeitung) H. Verfaffung
der Gewerbe. Wie die Zuftände der Zeldarbeiter, ald Sklaven, Hötige
ober Freie, und ihre Leiftungen, an perfönlichen Dienften, Frohnden, und
an Abgaben, Zehnten, Guͤlten, Feudallaften aller Art, oder nur an gleich»
mäßig umgelegten Staatsfteuern im Verhaͤltniſſe zu dem reinen Ertrag for
wohl dad Befinden der zahlreichen aderbautreibenden Menſchen ale bie
landwirthſchaftliche Production und bie Verforgung der Geſellſchaft mit ihren
Erzeugniffen wefentlich bedingen, fo hängt auch von ber Verfafſung ber Ge⸗
werbe ſehr viel ab, ſowohl fuͤr die Lage ihrer Angehoͤrigen als fuͤr den Ein⸗
fluß der Gewerdothaͤtigkeit auf die volkswirthſchaftlichen Zuſtaͤnde uͤberhaupt.
Die Gewerbe, urſpruͤnglich als Nebengeſchaͤfte mit der Landwirthſchaft ver⸗
bunden, loͤſen ſich allmaͤlig von ihr ab und bilden ſelbſtſtaͤndige Nahrungs⸗
zweige, fo wie Capital und Gelegenheit zum Abfag es möglich machenz fie
bilden fi aus durch Arbeitstheilung,, Anwendung von Kunftmitteln und Er⸗
weiterung ber Kenntniffe und gelangen endlich in der größeren Induſtrie
mittelft Anmwenbung großer Capitale und jeder Errungenfchaft geifliger
Thaͤtigkeit zu riefenhaften Erfolgen. Aber, fo mächtig und tiefgreifenb bie
456 Gewerbe: und Fabritwefen.
Umwaͤlzungen burch veränderte Betriebsart ber Gewerbe fein mögen, fo hat
doch feine einzelne die übrigen vollftändig verfchlungen und wird es auch in
Zukunft nicht. Heute noch flehen manche Gewerbe mit der Feldarbeit in Vers
bindung, und zwar nicht nur folde, die vom blos oͤrtlicher Bedeutung find,
wie bie Gewerbe ber Wagner, Schmiede, Bäder, Mesger, fondern audy an=
bere, welche an ben Erzeugniffen dis Bodens. die erfien Aenderungen vor:
nehmen, wie Spinnen, Weben und Flechten. Ebenfo hält ſich der Pleinere
Betrieb durch zahlreiche Unternehmer, welche zugleich Arbeiter find, neben
ben ausgedehnten Anflalten majfenhafter Erzeugung. Im Einzelnen aber
erleiden die Gewerbe durch die Fottſchritte und Uebergänge der Betriebsarten
mancherlei Nenderungen und e8 kann daher auch eine für gegebene Berhältniffe
paffende Berfaffung nicht als Mufter für andere Zeiten und Zuftände gel:
ten. ‚Es mag fein, daß Kaftengeift, Monopol und Zwang in Staat und Kicche,
Wiſſenſchaft und Kunſt, Handel und Gewerbe Rettungsmittel waren , gebo⸗
ten zue Selbfterbaltung in Zeiten der Barbarei. Es mag aud) fein, daß
foldye Mittel, immer noch feftgehalten, nachdem fie, Durch veränderte Um⸗
flände veraltet und [hädlich geworben waren, bie Reaction der Freiheit in das
andere Extrem, zur Bereinzelung trieben; aber die Ausgleihung folgt nad)
erbitterten Kämpfen und fie liegt für unfere Zage zwiſchen der Kafte und der
Bereinzelung in dem Gedanken der freien Vereinigung, weldyer den Keim ber
Zulunft in fid) trägt.
A, Die Zunftverfaffung. Es ift nicht unwahrjcheinlich, daß bie
Genoſſenſchaften, welche in Deutichland wie in anderen europäifchen Laͤn⸗
bern mit den Gemwerben zugleich entftanden find, von den Römern die Ein»
richtungen überfamen, welche der Corporationsgeift ausbildete. Die Römer
kannten ſchon bejondere Gefellfchaften für Gewerbe, die als die nüglichften
galten, denen barum Rechte und Vortheile eingeräumt wurden, wie Bäder,
Fruchtmeſſer, Fuhrleute, Schiffer, Schmiede, Bauhandwerker (corporati,
collegiati urbis). Als die Anlage von Städten in Deutſchland durch Hein⸗
rich 1. im zehnten Jahrhundert eifriger betrieben wurde, um das Land gegen
die Raubzuͤge der Ungarn zu fhügen, wurden den Handwerkern, melde in
die Städte zogen, Vortheile geboten; die Unfreien wurden frei. Es bilde:
ten ſich die Körperfchaften ber Handwerker, die Zünfte der Handelsleute
und anderer Gewerbe (Schiffer u.a.), Bilden, Innungen. Sie ent:
warfen ihre Statuten, Eraft dee Autoncmie aller erlaubten Gefellfchaften,
und um ihren DBerfaffungen den Staatsſchutz zu fihern, holten fie die
Genehmigung durd) die Zräger der Staatsgewalt ein; neben der gefchriebenen
Verfaffung bildete fih das Gewohnheitsrecht, der Handwerksbrauch. Die
Zünfte wurden zugleich die Kriegsmacht ber Städte; auf ihnen beruhte die
militäriiche Organifation ; fie gewannen Antheil an der Gemeindeverwaltung,
an der Regierung. So wurde durch die Zünfte ein unabhängiger Bürger:
ftand in den deutfchen Städten begründet und gefräftigt, und die Genoffen>
[haften der Gewerbe hatten zugleich eine große politifche und militäriiche
Bedeutung. Sie waren fo mädıtig, daß einzelne Zünfte Buͤndniſſe mit Fürs
ften fchloffen und Kriege führten. Das dreizehnte Sahrhundert war Zeuge
der zum Theil fehr blutigen Kämpfe der Zünfte gegen die Geſchlechter (Patri-
Gewerbe- und Fabrikweſen. 457
zier) in den Städten um bie Oberherefchaft. Das Gefühl der Kraft dußerte
ſich nicht felten in Prunf und Uebermuth; Vorſteher von Zünften legten fich
den Königstitel bei und die Reichſtage widerhallten von Klagen und Bes
ſchwerden, wozu theild Neid und Eiferfucht die Triebfedern, theils aber auch
gerechte Anläffe vorhanden waren. Schon auf den Reichetagen von 1231 und
1233 wurde die Aufhebung ber Zünfte befchlofien, konnte aber nicht vollzogen -
werben; ja e8 blühten ım folgenden Jahrhundert die Zünfte mächtiger al6 je
zuvor. Mit bem Steigen der Sürftengewalt, dem Sinken der Eaiferlichen
Macht und der Macht der Städte, mit bem allgemeinen Unglüd, das ber
dreißigjährige Krieg und feine Folgen über Deutfchland brachte, verloren auch
die Zünfte ihre politifche Bedeutung und ihre Priegerifche Einrichtung, wos
von heut zu Zage keine Spur mehr übrig iſt. In gewerblicher Beziehung
aber rifjen Mißbraͤuche ein, zu deren Abftellung eine Menge von Reichstags⸗
befchlüffen gefaßt wurden, namentlich in den Jahren 1731 und 1772. —
Die Mißbraͤuche verwebten ſich fo innig mit dem Begriff von Zünften, daß
fie zu den Kennzeichen derfelben gerechnet wurden, wie z. B. Juſt i um bie
Mitte des vorigen Jahrhunderts alfo definiert: „Die Zünfte und Innungen
beftehen in Gefellfchaften folcher Perfonen, die in einer Stadt ober Gegend
mit Ausfchließung Anderer einerlei Nahrungsgefchäfte treiben und zu dem
Ende gewiffe, theild gute und unverwerflihe, theild aberglaͤubiſche,
tbörihte, unnüge und [hädlidhe Einrihtungen und Ges
wohnheiten unter fich eingeführt haben.” — Das wefentlihe Merkmal
bes Zunftwefene ift der Zunftzwang, welcher darin befteht, daß außer
den Mitgliedern der Gefellfhaft Niemand das Handwerk ausüben barf, und
daß die, Berechtigten bei dem Betriebe an gewiſſe Vorfchriften gebunden find.
Wo der Zwang aufhört und die Zünfte doch noch bleiben, da beftehen fie
nur. dem Namen nad ; ihr eigentliches Weſen haben fie derloren. Sie find
dann nicht mehr, was fie waren, und noch nicht, was fie werden follen, es
ift ein Verhältniß, welches weder ben Zunftgenoſſen noch den übrigen Claſſen
ber Geſellſchaft behagt. Dies trirt namentlich da ein, wo bie Sortfchritte ber
Technik in dem Fabrikbetriebe den Zwang duchbrochen haben, wo fich ber
Handel des Abſatzes ber fabritmäßig verfertigtem Gewerbswaaren bemächtigt
bat und die Handwerker noch an Reften ber alten Zunftverfaffungen hängen,
die ihnen läflig werden, fie verhindern, der neuen Geſtaltung der Dinge zu
folgen , namentlich aud) von einer nicht mehr lohnenden Befchäftigung zu einer
andern überzugehen. — Die Zwecke, welche durch die Zunftverfaffung zum
Vortheile ihrer Mitglieder, dann auch für das Publicum erzielt werden
follen, find im Wefentlichen folgende:
1) Sicherung eines zureichenden Austommens für die Handwerker.
Hierzu follen folgende Mittel dienen:
a) Das Verbot oder body die Beſchraͤnkung bed Betriebes zünftiger
Gewerbe in den Dörfern, fo daß die Landbewohner ihren Bedarf an Ge:
werbswaaren in den Städten kaufen müflen ;
b) Die Beſchraͤnkung der Zahl der Meifter,, fo daß entweder nur eine
beftimmte Anzahl zugelaffen und ein neuer Bewerber erſt dann aufgenom>
men wird, wenn eine Stelle erledigt ift, oder baß bie Zunft felbft entfcheis
458 Gewerbe: und Kabrifwefen.
bet, 06 bie Abfagverhäftniffe bie Aufnahme neuer Bewerber erlauben. Die
Beſchraͤnkung auf eine beftimmte Zahl fand bei ven gefhloffenen Hand:
werden flatt, wurde aber ſchon durch das Meichsgefeg von 1731 für einen
Mißbrauch erklärt; dagegen gab das Ermeffen der Zunft dem Egois—
mus ihrer Glieder einen weiten Spielraum, und felbft da, wo die Staats:
verwaltung fich bie Entſcheidung vorbehält, find die Zünfte immer mic der Er⸗
kldrung bei ber Hand, baß neue Aufnahmen wegen Ueberfegung des Gewerbes
nicht rathſam feien, e8 müßte bern der Bewerber ein Meiftersfohn fein oder
bie Wittwe oder Tochter eines Meiſters heirathen wollen. Hierher gehören auch
bie Verzögerungen der Aufnahme neuer Bewerber, welche man nicht abtveifen
kann, die aber mehrere Jahre — Muthjahre — warten müffen.
€) Genaue Feftfegung bee Waaren, welche ein jedes Handwerk fertigen
darf, To baf die einzelnen Handwerke ſtreng abgegrenzt werben und nicht
bas eine im bag Gebiet bes andern Übergreife.
4) Vorfchriften über die Zahl ber Gefellen und Lehrlinge, welche ein
Meifter nicht befiebtg vermehren darf, fo daß auch ber Gefchicktefte nicht im
— tft, fo viele Kundſchaft an ſich zu ziehen, daß den Andern wenig übrig
liebe.
ee) Verbote und Beftrafımgen genen Jeden, der nicht Mitglied der Zunft
ift, in dem Handwerk zu arbeiten. Sölden „Pfuſchern, Böhnbafen, Sud»
lern, Stümpern u. f. w.“ wurde auf Betreten das Handwerkszeug weg:
genommen. Verheiratheten Gefellen wurde Feine Arbeit bei einem Meifter
gegeben.
Abgefehen von ben Gründen des Rechts und der Moral, melde gegen
foldye Befchränkungen ſprechen, lehrt auch die Erfahrung, daß fie ihrem
Zwecke, den Mitgliedern der Zunft ein genuͤgendes Ausfommen zu fidyern,
nicht mehr entſprechen. Es läßt ſich nicht ausmitteln, wie viele Gewerbs—
genoffen ſich an einem Orte ernähren koͤnnen, da duch Geſchick und Betrieb:
ſamkeit der Abfag am Orte felbft vermehrt, oder auch auf einen weiteren Um:
kreis ausgedehnt werben kann, befonders niit Hilfe der Ermeiterung und Bes
fehleunigung des Verkehrs durch die Eifenbahnen. Nicht nur Holz: und
Metallarbeiten, auch Kleidungsftüde, felbft Fleiſchwaaren koͤnnen meithin
verbracht werden und geſchickte Gewerbsleute, unabhängig von dem Verbrauch
an ihrem Wohnorte, reichlich befchäftigen. Auf der anderen Seite Eann eine
Aenderung im Geihmad, in der Meinung von der VBrauchbarkeit einer
Waare, die Ausdehnung bes Fabrikbetriebs u. dgl. die Nachfrage nach einem
Gemerbserzeugniß vermindern, und die Zunft ann ihre Mitglieder nicht
gegen Verarmung ſchuͤtzen. Ließe ſich aber auch die Zahl der Gewerbsleute,
welche am Orte ſich ernähren können, für die Gegenwart genau augmitteln,
fo ift e8 doch unmöglich, Fünftige Yenderungen vorauszufehen. Die Zahl der
Handwerke, welche durch Aenberungen in ber Tracht, in Geräthen u. dgl. ab:
genommen haben, theilmeife faft ganz verſchwunden find, ift nicht gering,
und indem der Zunftzwang den Uebergang von einem untergehenden Gewerbs⸗
zweige zu einem aufgehenden erſchwert oder unmöglich macht, trägt er zur
Verarmung flatt zum Ernährung ber Genoffen bei- — Von dem Stand»
punkte der Volkswirthſchaft aus ftehen obigen Beſchraͤnkungen noch andere
Gewerbe= und ZFabrikweſen. 439
Erunde entgegen. Die Preife ber Waaren werben durch die Koften der
„Sherftelung und durch das Verhältniß zmifchen Angebot und Nachfrage bes
Flimmt; jene Koften zeigen den natürlichen Preis und diefes Verhaͤltniß
wwegelt ben Marktpreis. Te mehr ſich der Marktpreis dem Koftenfage naͤ⸗
Hert, mit defto geringeren Opfern verforgt ſich die Gefelfchaft mit ihrem Bes
Darf an brauchbaren Suchen. Was die Koften vermindert, was einer kuͤnſt⸗
Widyen VBertheuerung entgegenwirkt, das ift nuͤtzlich für die Geſammtheit, ers
Weitert den Abſatz, alfo auch die Production. Der Zunftzwang aber bes
Ichraͤnkt das Angebot, vertheuert daher die Preife; er hält an hergebrachten
Regeln feft und hindert dadurch die Vervollkommnung des Betriebs, die Min⸗
derung der Herftellungstoften ; er veranlaßt unnöthigen Aufwand, 3.3. durch
schllofe Proceffe wegen Uebergriffen von einem Handwerk in das andere.
Durch alle diefe Umftände werden die Conſumenten benachtheiligt und die
Zortfchritte der Production gehemmt.
2) Die Erhaltung der Geſchicklichkeit in ben Gewerben iſt ein weiterer
Bortheil, welcher durch die Zunfteinrichtungen gefichert werden fol, und die
Mittel find:
a) Die Beſtimmungen über bie Lehrlinge, welche ehelich geboren fein,
ein beſtimmtes Alter erreicht haben und eine feftgefegte Zeit aushalten muͤſ⸗
fen , wonach fie förmlich ledig gefprochen werden ;
b) Das Wandern der Gefelen, unterflügt buch Geſchenke. In frös
Deren Zeiten machten die Geſellen, welche nach dem Beiſpiele der Meiſter
durch Genoſſenſchaften eine Macht bildeten, fo große Anforderungen, baß
Der Reichstag einfchritt und 3.3. im Jahre 1731 feftfegte: ein Gefchent
Dürfe nicht mehr als 5 Srofchen oder 20 Kreuzer betragen, fatt deſſen Ein
auch Effen und Trinken auf der Herberge verabreicht werden ; des Geſchenke
verluſtig wurde der Gefelle, welcher angebotene Arbeit nicht annahm. Aehn⸗
Liche Vorfchriften find in die einzelnen Randesverorbnungen übergegangen.
©) Die Prüfung der Meifter vor der Aufnahme durch Fertigung eines
Meifterftüde.
Faſt fo alt als die Zünfte find aber die Klagen über ſchlechte Behand⸗
Yung und mangelhafte Unterweifung der Lehrlinge. Sie wurden einen gro-
Ben Theil der Lehrzeit über zu Magbdienften und allerhand erniebrigenden
Leiſtungen verwendet, welche mit dem Gewerbe nichts zu thun hatten; fie
mußten fi von den Gefellen eine Behandlung gefallen laffen, welche junge
Leute, die eine beſſere Erziehung genoffen hatten, abhielten, ein Handwerk zu
lernen; der Egoismus der Meifter, welcher in den Lehrlingen fchon die Fünf:
tigen Mitbewerber Tab, Tieß fie die Unterweifung vernachläffigen. Die zur
Erlernung nöthige Zeit ift natürlich, je nach der Vorbereitung und den Anlagen
bes Lehrlinge, verfchieden; aber die Zunftvorfchriften machten darin Eeinen
Unterſchied, und Jahre gingen den Juͤnglingen nuglos verloren ; viele traten
als untüchtige Arbeiter in den Sefellenftand. Das Wandern ber Gefellen
bat für gut vorbereitere und fittlich Eräftige Juͤnglinge manchen Nugen. Sie
fammeln Lebenserfahrung und vielfeitigere Kenntniß der Betriebsarten ihres
Gewerbes. Wollte man entgegenhalten, daß Manche verwildern und mo»
raliſch verſinken, fo koͤnnte man benfelben Einwand gegen den Befuch ber
460 Gewerbe: und Kabrifwefen.
Hochſchulen erheben. Einmal muß der Mann doch hinaus in das Leben und
feine Kraft felbftftändig verſuchen, und die Gelegenheit zu allmäliger Gewoͤh⸗
nung follte aus allzugroßer Aengſtlichkeit nicht abgefchnitten werben. Allein
wie man eine Wiffenfhaft gruͤndlich erlernen und ausgezeichnete Kenntniffe
batin ertverben kann, ohne auf einer Hochſchule drei Fahre vermeilt zu haben,
fo iſt das Wandern nicht unumgaͤnglich nöthig zur Erlernung eines Gewer:
bes und follte daher auch nicht als unerläßliche Bedingung vorgefchrieben
fein. — Das Meiflerftücd endlich hat ſich nicht als zureichendes Mittel
bewährt, um über die Kenntniffe und Gefchidlichkeit eines Bewerbers in’s
Klare zu kommen. Häufig dagegen wurde diefe Bedingung zum Antritt des
Meifterrechts benutzt, um ben Bewerber zu plagen und abzufchreden, indem
ihm z. B. eine für feine Mittel hoͤchſt koſtſpielige und ſchwer verfäufliche Ars
beit aufgegeben wurde. — So find alfo auch bie Zumftvorfchriften für bie
Erhaltung der Kenntniffe und der Geſchicklichkeit in den Gewerben, weldye in
‚ Ermangelung befjeree Mittel früher gute Dienfte geleiftet haben mögen,
theils durch Mißbraͤuche ausgeartet, theils durch das Auffinden anderer Wege,
bie wir befprechen werben, unnüg und fogar zweckwidrig geworden.
3) Die moralifchen Vortheile, melde dem Zunftweſen nachgeruͤhmt
werben, bie ihm auch nicht abgeftritten werben Eönnen, beruhen hauptſaͤchlich
in dem Ehr: und Sittengefühl, welches in den Mitgliedern einer achtbaren
Körperfchaft geweckt und gefräftigt wird. Die unmittelbare Auffiht über
bie Zehrlinge, ber nähere Umgang mit ben Gehülfen , meldye in dem Haufe
bes Meifters wohnen, gewöhnt fie am eine Ehrbarkeit, ohne welche fie der
Aufnahme in bie Körperfchaft unmürdig wären. Diefe wacht über das Be:
fragen ihrer Mitglieder und hält fie in den Schranken der Sitte, damit fie
ihr nicht zur Schanbe gereihen. Die Unterftügung , welche den Armen und
Kranken, der Beiftand, welcher den Wittwen und Waifen der Zunftgenoflen
zu Theil wird, bilden eine ſchoͤne, humane Seite des Zunftweſens. So
groß auch die Schattenfeiten find, welche diefen Vortheilen das Gegengewicht
bilden, fo würden letztere doch für die Aufrechthaltung der Zünfte ein ſchwe⸗
ve8 Gewicht in die Wagfchale legen, wenn mit ber Befeitigung derfelben
kein fittlihes Band mehr die Gewerbögenoffen vereinigte, wenn fie in Ver:
einzelung zerfielen und der Polizeiftod das Chrgefühl erfegen follte. Die
Ausartungen des Zunftwefens waren allerdings aud) in Beziehung auf Mo:
tal und Humanität fehr groß. Es ift fhon erwähnt, daß unehelidy Gebo:
rene nicht als Lehrlinge zugelaffen wurden, eine nach heutigen Begriffen nicht
zu vechtfertigende Härte gegen Schuldlofe; desgleichen, daß verheiratheten
Geſellen Eeine Arbeit gegeben wurde. Diefe und andere Mißbraͤuche, 3.8.
das Schimpfen, Schelten, d. h. die Verrufserflärungen von Städten, Zünf:
ten oder einzelnen Meiftern , find zwar ſchon durch Reichsgeſetze verboten
worden, allein die Unfitte war mächtiger als das Geſetz. Manche Geſchaͤfte
twaren als unehrlich angeſehen, und e8 wurde ein Angehöriger einer Familie,
die folche Gefchäfte trieb, zur Erlernung eines zünftigen Gewerbes zugelaffen.
Dahin gehörten namentlich Dienftleiftungen,, die früher meiftens von Un:
freien betrieben wurden, wie Schäfer, Ortsdiener, Nachtwaͤchter, Schinber ;
das Meichsgefeg von 1731 befchränkte die Zahl ber unehrlichen Gewerbe auf
Gewerbe: und Fabrikweſen. 461
Wie Schinber bis zur zweiten Generation; im Sabre 1772" wurbe auch
Wiefer Makel aufgehoben. Auch manche Handlungen galten für unehrlich,
wwohl darum, damit einem frevelhaften Muthwillen gefteuert wuͤrde, wozu
Fruͤher ftärkere Abſchreckung nöthig fein mochte als bei dem zahmen Gefchlechte
Wer Neuzeit; dahin gehörte 3. B. das Toͤdten eines Hundes, einer. Rage, bie
SBeruͤhrung eines Selbſtmoͤrders. Eine Menge von Gebräuchen bei dem Les
Digſprechen ber Lehrlinge, bei dem Meiflerwerden u. dgl. verbilbeten ſich zu
Rohheiten und Zechgelagen; die Anlaͤſſe zu Luſtbarkeiten und Verſchwen⸗
dungen wurden immer haͤufiger und verderblicher. So kam es, daß in den
meiſten Staaten nicht nur die Geſetzgebung einſchreiten mußte gegen die
Mißbraͤuche, die fi) in das Zunftweſen eingeſchlichen hatten, ſondern daß bie
Aufhebung oder wenigftens die Umgeftaltung der Zünfte berathen und aus⸗
geführt wurde. Auf der legten franzäfifchen Reicheverfammlung vor der Re⸗
volution, im Jahre 1614, auf dem deutſchen Reichsſtage von 1672 wurde
fhon bie Aufhebung der Zünfte beantragt, und feither befchäftigten fid) Staates
männer und Schriftftellee mit Unterſuchungen über bie Mittel und Wege,
dieſe Aufhebung ohne Verlegung mohlerworbener Rechte fo mis ohne Nach⸗
theile für die Gewerbe und für die Confumenten zu bewerkftelligen. Je mehr
Licht die erweiterte Kenntniß der Gefege von ber Erzeugung, dem Verlauf und
ber Berzehrung der Güter auf die Nachtheile bes Zunftzwanges warf, deſto
mehr teiften die Plane zu einer Umgeftaltung des Gewerbeweſens. Als mit
dem Fortfchreiten der Technik und mit der Anfammlung der Capitale das
Fabrikweſen fid) auszubreiten anfing, wurde daffelbe von ben Regierungen als
eine neue Quelle von Wohlftand und Macht mit ebenfo großem Jubel em⸗
Dfangen und mit fo übertriebener Sorgfalt gepflegt, wie man jegt vor ihrer
großartigen Entwidelung und vor bem In ihrem Gefolge wachfenden Proles
tariat vielfach erſchrickt. Die Zabrikation aber gab den Ausfchlag, bie Zünfte
Über Bord zu werfen. In Frankreich verfuchte es fchon im 3.1776 der Mi⸗
niſter Zurgot,geftüst auf die Lehren des phyſiokratiſchen Spftems (f.
Politiſche Dekonomie), allein noch waren die Intereſſen bes Dergebrachten
zu maͤchtig und bie Zünfte mußten wiederhergeſtellt erden. Im Sabre 1791
erfolgte ihre definitive Aufhebung. Mehrere beutfche Staaten, Preußen *),
Baiern, Naffau nahmen mehr oder weniger bucchgreifende Aenderungen in
der Verfaſſung der Gewerbe vor und in der neueften Zeit (Ende Januar
1847) hat Schweden das Zunftwefen aufgehoben.
B. Die Gewerbsfreiheitt*). Im Gegenfage zum Zunftzwang
beſteht die Gewerbefreiheit darin, daß die Auskbung eines Gewerbes nicht
gebunden ift an eine beflimmte Zeit und Art ber Erlernung, an eine Wans
derzeit als Gehilfe, an eine Probe der Kenntniffe und der Geſchicklichkeit
durch Fertigung eines Meiſterſtuͤcks und an die Zahl der bereits vorhandenen
Bewerbögenofjen. Die Freiheit Ift der natürliche Zuftand, fie iſt das Recht,
*) In ben Zahren 1810 und 1811. ©. ben Artilel „Preußen”, wo
bie Aufhebung ber Zünfte unter ben Maßregeln erwähnt ift, burdy welche der
Auffhwung ber Ration gegen die Zrembdherrichaft vorbereitet wurbe.
9%) Bergl. wegen ber Lit. Bd. VI. &.782 die dafelbft befindliche Anmerk.
462 Gewerbe= und Fabrikweſen.
melches Beiner beſondern Nachweiſung bedarf; die Beſchraͤnkung ber Freiheit
bagegen muß als nothwendig für die Erhaltung der Rechte Dritter oder für
höhere Zwede ber Allgemeinheit. bewiefen werden. Die Freiheit iſt aber
weit verfchleden von Anarchie; fie findet ihre durch die Intereffen ber Ger
fammtheit gebotenen Schranken in bem Gefege. So haben auch die Gewerbe
in dem Zuſtande der Freiheit ihre Geſetze in einer freien Gemerbeverfaffung,
einer Gewerbeordnung, innerhalb deren fie fi) bewegen und ausbilden,
Der Uebergang von dem Zwange zur Freiheit ift für die Gewohnheiten mie
für die Intereffen, welche ſich unter Einwirkung des Erfteren gebildet haben,
oft nicht minder peinlich, als umgekehrt der Uebergang von ber Freiheit zum
Bwange für die entgegengefegten Intereſſen. Der Leibeigene, der fi bin:
fort durch eigenen Fleiß ernähren fol, ſtraͤubt fid) gegen die Wegnahme des
Joches, unter dem ihn der Herr zwar prügeln durfte, aber auch füttern
mußte; ber freie Dann ſtirbt lieber, als er fich einem ſolchen Joche beugt.
Der Bunftgeift fürchtet Verderben und Hungertob, wenn dem Metteifer
von Fleiß und Geſchicklichkeit die Schranken geöffnet werden; wo Gewerbe:
freiheit fo Lange befteht, daß die Fleifchtöpfe Aegyptens aus dem Gedaͤcht⸗
niffe des jetzt lebenden Geſchlechts verſchwunden find, ba begreift man nicht,
wie die Ausübung einer Thaͤtigkeit als ein Vorrecht gelten könne, welches bie
Mitglieder einer Körperfchaft für fich ausfchließlih in Anfpruch nehmen.
Als die Zünfte entftanden und ſich ausbildeten, da mußten fie in fich felbft die
Macht fhaffen, um Perfon und Eigenthum zu Ihügen, Gewalt abzumehs
von, ihre Intereffen zu fördern; fie mußten ebenfo den Unterricht und die
Borbereitung zu der Gemwerbthätigkeit einrichten. Die Stantsgewalt richtete
ihre Mittel und ihre Wirkfamkeit fait ausiclieflih auf den Krieg. Der
nügliche Zaufch bes Eörperfchaftlichen Privilegiums und Zwanges gegen
flaatsbürgerliche Rechtsgleichheit und Freiheit fegt voraus, daß die Gefammt:
beit zu Gefegen und Einrichtungen vorgefchritten fei, welche das Recht des
Einzelnen fihern und ihm die Gelegenheit bieten, ſich zu einem nüßlichen
Mitgliede der Geſellſchaft je nad) feinen Anlagen und Fähigkeiten auszu—⸗
bilden. — Nach Aufhebung des Zunftzwangs bleiben die Anordnungen des
Staates, wodurdy die Gefahren verhütet werben follen, welche bei manchen
Gewerben durch Ungefhidlichkeit oder Nachläffigkeit für Gefundheit, Les
ben und Eigenthum der Bürger entftehen können; ebenfo die Sorge für regel:
mäßigen Betrieb derjenigen Gewerbe, welche die Geſellſchaft mit den unent⸗
behrlichften Verbrauchsgegenſtaͤnden, befonders mit Lebensmitteln, verforgen.
Es wird ferner gefordert, daß Jeder angebe, welches Gewerbe, eines ober
mehrere, er treiben will, und das Mittel hierzu ift ein Gewerbeſchein (Pas
tent), welcher auf ein Jahr oder auf längere Zeit gelöft wird. Die Ges
buͤhr, welche für da8 Patent entrichtet wird, dient zugleich als Gewerbeſteuer,
doch nicht ausfchließlich, weil es ungerecht wäre, die Eleineren Gewerbsleute
ebenfo body zu befteuern tie die größeren. Es find daher nicht nur die An:
fäge für einen Gewerbſchein verfchieden, je nad) der Seelenzahl der Städte,
fo daß auch bei der Ueberfieblung von einer Eleineren in eine größere Stadt
der Mehrbetrag nachzuzahlen ift, fondern es muß auch der Anfag mit
Ruͤckſicht auf den kleineren Betrieb mäßig gegriffen fein, und ed kann eine
Gewerbes und Zabrikwefen, 463
verhältnißmäßige Befleuerung je nach dem Umfang bes Gewerbebetriebs
noch weiter ermittelt werben, wobei bie Zahl der Gehilfen, bie Raͤumlich⸗
Leiten, das Betriebscapital u.f. m. als Kennzeichen dienen. Fuͤr die Art
und Weife fo wie für die Dauer der Vorbereitung beftehen Beine Zwangs⸗
vorfchriften mehr; fie bleibt der freien Webereinkunft zwifchen den Eltern und
den Bormündern des Lehrlinge und dem Meiſter überlaffen, und es wird
überhaupt Leine Nachweiſung darüber verlangt, in welcher Weife das Bes
togebe erlernt worden iſt. Ebenfo wenig finden Zwangsvorſchriften für Die
weitere Ausbildung ber Gehilfen, namentlid) hinfichtlich des Wanderns flatt ;
in dee Sorge für das eigene Kortlommen liegt ein ftarker Antrieb, Kenntniffe
und Geſchicklichkeit auf dem geeignetiten Wege zu erwerben. Dagegen kann
Denjenigen, die ein Patent löfen wollen, freigeftellt werben, ſich einer Prüfung
zu unterwerfen, deren gutes Beftehen fie dem Publicum empfiehlt; es mich
aber eine Prüfung gefordert bei folhen Gewerben, deren ungefchidte
Ausübung leicht großen Schaden anrichten Eönnte, 5. B. bei Apothekern,
Särbern, Huffchmieden, bei Bauhandwerkern, Schornfleinfegern u. dgl. —
Der Uebergana von einem Gewerbe zu einem andern iſt bann in den meiften
Fällen an Beine andere Bedingung gebunden als an die Löfung eines Patents.
In den meiften Ländern, wo die Gewerbefreiheit mehr oder minder vollſtaͤn⸗
dig durchgeführt ift, wird der Betrieb mancher Gewerbe doch nody von einer
Sonceffion, d.h. von einer Genehmigung der Stantsbehörde abhängig ge-
macht, wie Buchdrudereien, Buchhandlungen, Wirthſchaften u. dgl. —
Das Conceffionswefen läßt fid) nur bei wenigen Gewerben und nur dann
vertheidigen, wenn nach feften Principien, die auf dem wahren Öffentlichen
Intereſſe beruhen, verfahren wird. Allein es wicb unbedingt verwerflich
und führt zu weit bedenklicheren Mißbraͤuchen als das Zunftweſen, nicht
nur in wirthſchaftlicher, fondern auch in politifcher und moralifcher Bezie⸗
bung, wenn es auf eine größere Zahl von erwerben ausgedehnt und von dem
Polizeiftaate als ein Mittel gebraucht wird, Günftlinge zu bevorzugen, red⸗
liche felbftftändige Männer fammt ihren Familien zu beftzafen und ungluͤck⸗
lich zu machen. Wenn wir zwiſchen der Beibehaltung der Zünfte mit ihrem
Zwange und zwifchen einer auf dem Conceſſionsweſen beruhenden Gewerbe⸗
ordnung zu wählen hätten, fo würden wir erſteren als dem Feineren Uebel
unbedenklich den Vorzug geben. Ueberhaupt wird bie Gewerbefreiheit ihre
Vorzüge nur in folhen Staaten bewähren, wo freie Staatseinrichtungen
beſtehen, unter denen fich die menfchliche Thaͤtigkeit ungehindert entfalten
und Vereine wirkten Eönnen, um gemeinfame Intereſſen zu fördern. Wo
aber die Polizeigewalt Alles zu meiftern und zu regeln gewohnt ift, ba wird es
bedenklich, berechtigte Körperfchaften,, felbit wenn fie in andern Beziehungen
ihre guten Zwecke nicht mehr erreichen, aufzugeben, weil fonft der Einzelne,
feiner legten Schugwehr beraubt, der allmaͤchtigen Polizeigewalt auf Gnade
oder Ungnade preisgegeben wird. Bei dem Webergange von bem Zunft
zwange zur Gewerbefreiheit find wohlerworbene Rechte zu achten, 3. B. bie
Inhaber verfäuflicher Meifterrechte zu entfchädigen, nach dem Preife, wel⸗
ches ihr Recht im gefchloffenen Gewerbe zur Zeit der Aufhebung hatte.
Solche Entſchaͤdigungen find zunaͤchſt aus dem Zunftvermoͤgen, und, fo weit
464 Gewerbes und Fabrikweſen.
I
dleſes nicht zureicht, von den Gemeinden zu leiften, welche die Mittel entweder
durch Umlagen auf alle Angehörigen oder von ben neu zugehenden Gewerbs⸗
leuten durch Beiträge zu erheben haben. So hat 3. B. die Stadt Breslau
im Sabre 1810 die Meafrechte mit einer Summe von 1,165,320 Thalern abs
* Die Schulden der Zuͤnfte find ebenfalls zu tilgen und werben vom
taate, welcher bie Aufhebung verfügt, übernommen , wieim Jahre 1822
in Naſſau geichehen ift, mo die Summe ſich auf 8836 fl. belief. Weitere
Uebergangsmaßtegeln zur Beſchwichtigung ſtarker Beforgniffe tönnen darin
befichen, daß man anfänglich nicht alle, fondern nut einzelne bisher zünftige
Gewerbe, bei denen am wenigflen Bebenklichkeiten obmwalten, ganz frei läßt,
bei andern dagegen, wo ein zus großer Andrang in der erften Zeit zu beforgen
waͤre, vorerft nur eine beftimmte Anzahl neuer Bewerber jährlid) zuläßt. In
Paris z.B. war die Zahl der Fleiſchbaͤnke befchränkt und es ergab fich aus den
Kammerverhandlungen von 1822, daß eine ſolche mit 100,000 Franken und
höher bezahlt wurde. Diefes Monopol vertheuerte die Fleifchpreife nachgewie⸗
fenermaßen faft um das Doppelte und hatte, in Verbindung mit dem Dctroi,
bewirkt, daß der Fleiſchgenuß beinahe um ein Dritcheil abgenommen hatte. Sm
Fahre 1825 wurde befchloffen, daß von 1828 an bie Zahl der Fleiſchbaͤnke
durch neue Gonceffionen bis zu 100 jährlic; vermehrt werden folle. An die
Ertheilung berfelben waren als Bedingungen bie Nachmeifung gehöriger Ge-
werbskenntniß und eine Gaution don 3000 Franken geknüpft ; wer brei Tage
fang den Betrieb einftellte, dem foll die Gonceffion ein halbes Jahr lang ent⸗
zogen werben. Die Gemerbefreiheit ift am beften geeignet, das durch den
Bunftzwang geftörte naturgemäße Verhältniß des Angebots zur Nachfrage her⸗
zuftellen. Die Mitbewerbung erweitert ſich, wo die Gelegenheit zum Abfag
zunimmt, ober duch Vervollkommnung und billigere Preife der Waaren fo
wie bucch erhöhte Thaͤtigkeit und Gefchicdlichkeit weiter ausgebehnt werden
kann ; fie vermindert ſich leichter, wo der Gewerbsmann nicht in fein Hands
wert eingebannt ift, fondern zu einem anderen Gefchäfte leicht übergehen
kann , fobald das feinige ihm nicht mehr ernährt. Die Beforgniß vor Ueber:
fegung der Gewerbe als Folge der Aufhebung des Zunftzmangs ift nicht in hoͤ⸗
herem Grabe gerechtfertigt als bei den Zünften ſelbſt, wo die vorhandene An=
zahl der Meifter, wie die Erfahrung lehrt, ebenfalls zu groß werben kann,
fobald Einzelne mit größerem Capital und vielen Gehilfen das durch ihre
Sefchilichkeit erworbene Zutrauen der Confumenten ausbeuten, oder fobald
fich die Fabrikation der bisher handwerksmaͤßig verfertigten Gewerbswaaren
bemächtigt und fie durch ben Handel abfegen läßt. Ja es zeigt die Statiftik,
daß in geiwerbefreien Ländern die Zahl der Gemwerbtreibenden in den meiften
Zeigen nicht nur nicht: größer, fondern häufig geringer ıft im Verhältniß zu
der gefammten Bevölkerung, als in folchen Ländern, die noch an den Zunft:
einrichtungen hängen. Diefe find auch — mie oben ſchon bemerkt — keines⸗
wegs mehr geeignet, durch ihre Vorfchriften über Lehrzeit, Wanderjahre und
Meifterftüd eine tuͤchtige Ausbildung zu gemährleiften, und es find daher
auch die Befürchtungen ungegründet,, daß durch ihre Aufhebung die Gewerbe
in Verfall gerathen koͤnnten. Ein gründlicher Kenner, Chaptal, erklaͤrt,
daß feit Aufhebung der Zünfte alle Zweige der Induftrie in Frankreich vor:
Gewerbe: und Fabrikwefen. 465
angefchritten find, und es Liegt gewiß in der freiem Mitbewerbung, in der
Nothwendigkeit, fich durch Thaͤtigkeit und Kenntniffe auszubilden, ein flärs
kerer Antrieb zu tüichtiger Vorbereitung, als in dem alten Schiendrian. Der
Erfindimgsgeift wird durch den allgemeinen Wetteifer geweckt, während ihm
bie Zünfte oft Hinderniffe in den Weg legten. Say erzählt z. B., daß James
Watt für feine Verfuche, die zur Erfindung der Dampfmafchine führten, im
Fahre 1756 eine Heine Werkflätte einrichtete; die Zünfte erhoben Eins
fprache und wollten die Werkftätte fchließen ; da legte ſich die Univerfität in's
Mittel, ernannte Watt zu ihrem ingenieur und riumte ihm ein Local zw
feinen Arbeiten ein. Argand, der Erfinder der nad) ihm benannten Rampen,
hatte mit den Zünften ber Blechner und Schloffer zu kaͤmpfen, welche das aus⸗
Tchließtiche Recht, Lampen zu verfertigen, in Anſpruch nahmen und den „Pfu⸗
fcher” bei dem Parlamente verklagten. Lenoir, ein berühmter Verfertiger
mathematifcher und phyſikaliſcher Inſtrumente hatte einen Beinen Ofen
hergerichtet, um für feine Modelle Metall zu gießen; die Gießerzunft zer⸗
flörte den Ofen und Lenoir mußte ſich an den König wenden, um ihn wieder
herftellen zu dürfen. Die Unterdrüdung der Heinen Unternehmer durch bie
großen endlich iſt nicht eine Folge der Aufhebung des Zunftzwanges, denn
bie Klagen darüber find nicht minder laut, wo neben ber großen Induſtrie
noch die Zünfte beftehen. Die Fortfchritte der Technik und die Anwendung
großer Sapitale auf den Gewerbsbetrieb führt zu Aenderungen inden Gewerbe⸗
verhältniffen, welche Durch die Zunfteinrihtungen nicht abgewendet werden
Finnen, falls ſich ein Land nicht ausfchließen will von einer neuen Quelle von
Wohlſtand und Macht, deren Erzeugniffe ihm al6dann aus andern Ländern
zuffteßen und im Handel erfheinen. Wohl aber erleichtert die Gewerbes
freiheit den Heinen Gewerben bie Mittel und Wege, jenen Veränderungen zu
folgen und fich neben denfelben zu halten. Gewerbe von rein Irtlicher Natur,
tie die Bauhandwerke, Metzger, Bäder, Anſtreicher, haben ein Feld,‘ wel:
ches ihnen die Fabrikation nicht nehmen kann. Andere erhalten ſich neben
demſelben, weil der Fabrikant fich nicht nach dem Gefhmad und den Nei⸗
gungen des Einzelnen richten, die für den unmittelbaren Gebrauch feiner Er⸗
zeugniffe nöthigen legten Verrichtungen nicht beforgen,, auch die Ausbefferun:
gen nicht vornehmen kann. Darum wird es, ungeachtet der" fabrikmaͤßigen
Vetfertigung von Holz: und Metallarbeiten, Uhren u.dgl. immer noch Arbeiten
für Uhrmacher, Schloffer, Büchfenmacher und Schreiner geben. Endlich
giebt es auch Handwerke, welche zwar einen Theil ihrer Erzeugniffe der Fa⸗
brifation überlaffen müffen, aber ducch erhöhte Kunſtfertigkeit vervollkomm⸗
nete Producte liefern Binnen‘, welche ihnen reichlichen Erfag gewähren und
ihr Beſtehen ſichern. — Es iſt Im Eingunge erwähnt, daß die Freiheit nicht
gleichbedeutend iſt mit der Vereinzelung. Nach Aufhebung einer auf Zwang
begründeten, Laftenmäßigen Verbindung, welche in den Organismus des
modernen Staates nicht mehr paßt und bie bei ihrer Entſtehung und Auss
bildung vorgefegten Zwecke nicht mehr erreicht, wird dus Beduͤrfniß des Zus
ſammenwirkens, gepaart mit Einſicht und Gemeingeiſt, freie Gewerbvereing,
die.Zünfte der neuen Zeit, zu gründen im Stande fein. Ein folder Verzin
kann mehrere einander ergänzende oder mit einander In Verbindung ſtehende
30
Suppk 3. Staatslex. IL
466 Gewerbe: und Zabrikwefen.
Gewerbe umfaſſen. Er wird zu Anftalten und Einrichtungen für gute
Vorbereitung und weitere Ausbildung mitwirken, alfo zur Einführung
von Gewerbſchulen, Anfchaffung von Schriften und Modellen; ee wird
die Behandlung und Unterweifung der Lehrlinge beauffidhtigen, wandernde
Geſellen, kranke, arme und arbeitsunfähige Angehörige, ihre Wittwen umb
Waiſen unterflügen, die Intereffen der Mitglieder bei der Gemeinde und
den Staatsbehörden vertreten. In foldhen Vereinen wären zugleid die Ele
mente gegeben zu einer weiteren Entwidlung ber Arbeitsverhältniffe, zu
einer Drganifation der Arbeit, gegenüber den Nachtheilen bes Krieges
Aller gegen Alle und der übermäcdhtigen Concurrenz ber großen Capitale gegen
den einzelnftehenden Fleineren Unternehmer. In einem beftimmten Locale
koͤnnten alle Beftellungen angenommen und fertige Waaren zum Verkaufe
ausgeftellt werden, wozu wir in den Induſtriehallen mehrerer Städte bie
Anfänge fehen ; die Arbeit koͤnnte unter die Wereinsglieder vertheilt und bei
dem Zuſammenwirken Vieler die Vortheile der Arbeitstheilung in bem Hand⸗
werksbetrieb in ausgedehnterem Maße benugt werden, als es da der Fall ift,
100 jeder Meifter und Gehilfe bald diefes bald jenes Gefchäft vornimmt, durch
den Wechfel der Vorrichtungen und Werkzeuge Zeit verliert und nicht in allen
Zeigen gleiche Vollkommenheit erzielen kann. Doch, mas jegt noch als
fociale® Problem die Denker beſchaͤftigt, das wird der Drang der Umftände
praktifh machen. — Der Schug, welchen der Zunftzwang auch dem Un-
gefchicten und Trägen gegen bie Mitbewerbung Dritter zu gewähren fucht,
bleibt bei der Gewerbefreiheit Denjenigen allein vorbehalten, welche etwas
Nuͤtzliches zuerft hervorbreingen. Die Erfindungspatente find bie eins
zige Beſchraͤnkung der Mitbewerbung, welche im Intereffe der Gefammtheit
den Eifer zu Verbefferungen rege hält, indem der Erfinder die Ausficht hat,
die Vortheile feiner Erfindung eine Zeit lang ausſchließlich zu benugen , bevor
legtere zur allgemeinen Kenntniß gebracht oder dem Gebrauche eines Jeden
überlaffen wird. Erfindungspatente werden fürneue Erzeugniffe
oder für ein neues Verfahren zur vortheilhafteren Verfertigung ertheilt
und geben ihrem Inhaber das ausfchlieglihe Recht, für eine beftimmte
Zeit das von ihm erfundene Verfahren anzuwenden oder bie neuen Erzeug⸗
niffe zu fertigen und zu verfaufen. Jeder Eingriff in dieſes Vorrecht wird
beftraft. Die Staatsbehörde, welche ein folches Privilegium ertheilt, hat
die Zweckmaͤßigkeit der Erfindung nicht zu prüfen, da die Geſammtheit
hierbei kein Intereſſe bat, und ein Urtheil darüber mit Zuverlaͤſſigkeit oft
nicht gefällt werden Bann ; dagegen iſt zu unterfuchen, ob bie Sache neu
ift, auch wird Feder zum VBeweife einer behaupteten Priorität zugelaflen.
Zeigt ſich ein Product als ſchaͤdlich für die Gefundheit der Confumenten,
fo ift das Patent aufzuheben. Der Nichtgebrauch in einer beflimmten Frift
zieht ebenfalls den Verluſt nad) fi. In England Eommen die Erfindungss
atente feit dem Anfang bes 17. Sahrhunderts vor; fie werden dort wie in
merika nicht auf länger als 14 Jahre ertheilt und die Bewerber müffen
ſchwoͤren, daß ihres Willens ihre Erfindung oder ihr Verfahren neu iſt.
In Baiern, Preußen und Oeſterreich iſt die Längfte Daueneines Erfindungss
patents 15 Jahres in Frankreich werben fie auf 5, 10 und 15 Jahre ertheilt.
Gewerbe⸗ und Fabrikwefen. 463
on 1791 bis 1836 wurden in Frankreich 5534 Erfindungepatente gegeben,
im Jahre 1836 allein 405; in England betrug ihre Anzahl jährlidy im
Durchſchnitt von 1781 bis 1800 — 63; in diefem Jahrhundert iſt bie
Durchſchnittszahl über 100 geſtiegen; in Defterceich ift fie noch bedeutender
(oon 1821 bis 1325 durchſchnittlich 180).
(Zu S. 819 unten.) Unter den neueren Beſtrebungen, bie Rage ber
Sabrilarbeiter zu verbeflern, verdienen die ausbauernden Bemühungen bee
H. Fielden, Parlamentsmitglied für Didham, einer ehrenvollen Erwaͤh⸗
nung. Wie alljährlich, feit feinem Eintritte in das Parlament, fo brachte
er zulegt in der Sigung des Unterhaufes vom 26. Januar 1847 eine Bill
ein, welche, in Anbetracht der geringen Gunſt, womit Vorfchläge zur Eins
mifhung der Staatsgewalt in die Bedingungen der Gewerbsthaͤtigkeit dort
aufgenommen zu werden pflegen, die Mäßigkeit ihrer Forderungen ſchon im
ber Benennung „Zehnftundenbill” zu erkennen gab. Er ſchlug vor, daß
vom 1. Mai 1847 an die Arbeitszeit in den Fabriken für Perfonen unter 18
Jahren auf wöhentlid 63 Stunden, vom 1. Mai 1848 an auf 58 Stunden
beftimmt weıden foll. Ex erinnerte daran, daß im Fahre 1833, als die Skla⸗
ven in den weftindifchen Colonien mit einem Opfer von 20 Millionen Pfund
Sterling emancipirt wurden, bie Arbeitszeit für die Meger auf 45 Stun⸗
ben feftgefegt ward, alfo 13 Stunden weniger, ald er für die Kinder der enge .
lifchen Proletarier verlange. Er erinnerte an die Worte von Sir Robert
Peel's Vater, daB ohne den noͤthigen gefeglichen Schug für Leben und Gefunds _
heit ber Arbeiter das verbefferte Maſchinenweſen der härtefte Fluch Englands
werden würde. Er führte aus amtlichen Berichten Zahlen und Thatſachen an,
welche ein fucchtbares Bild der Berwahrlofung in den Arbeiterfamilien ent»
bällten. Sp heißt es 3. B. in dem Vierteljahrsberichte des Generalregiſtrators
ber Geburten, Sterbfälle und Ehen: „Die Ueberfichten des abgelaufenen
Vierteljahrs beweifen, daß nichts Wirkfames zur Abwendung der Seuchen,
ber Leiden und Sterbfälle, wodurch fo viele Zaufende tmeggerafft werden,
geſchehen iſt. Die Verbefferungen tragen meiltens einen oberflächlichen
Charakter und dringen nicht in die Wohnungen und bie Lebensweife des
Volkes. Die Wohnung und die Kinder eines Arbeiter können nur durch die
emfige Thaͤtigkeit einer unterrichteten, fleißigen Frau reinlich und gefund ers
halten werden, tie Jeder weiß, der dem Gegenfland einige Aufmerkſamkeit
gewidmet hat. Dies wird in Rancafhire überfehen, wo die Srau oft fern vom
Daufe in Arbeit fteht. Die Kolge ift, daß Zaufende, nicht nur Kinder, fon»
bern auch Männer und Weiber an Seuchen flerben , die früher aus den naͤm⸗
lihen Gründen in Kafernen, Lagern, Gefängniffen und Schiffen fo große
Verheerungen anrichteten. In Mandhefter flarben in fieben Jahren 13,362
Kinder über die Zahl der natürlichen Sterblichkeitsverhaͤltniſſe. Diefe
Beinen Kinder, in unreinlihen Wohnungen und ungefunden Straßen aufs
gezogen, wurden Tage lang von ihren Müttern allein gelaffen, um, durch
Dpium beruhigt, die fchädlihen Dünfte zu athmen; von tödtlicher Krankheit
befallen, ftarben fie unter peinlichen Leiden ohne Ärztliche Hilfe, welche doch,
wie die Hoffnung, Jedem zu Theil werben follte; aber der Arzt wirb entwe⸗
ber gar nicht oder zu [pät gerufen. — Deren Bielden’s BIKE burfte zwar
30
466 Gewerbe: und Fabrikweſen.
Gewerbe umfaffen. Er wird zu Anftalten und Einrichtungen für gute
Vorbereitung und weitere Ausbildung mitwirken, alfo zur Einführung
von Gewerbſchulen, Anfhaffung von Schriften und Modellen; er wird
die Behandlung und Unterweifung ber Lehrlinge beauffichtigen, wandernde
Geſellen, Pranfe, arme und arbeitdunfähige Angehörige, ihre Mittwen und
alſen unterftügen,, die Intereffen der Mitglieder bei der Gemeinde und
den Staatebehörden vertreten. ſolchen Vereinen wären zugleich die Ele⸗
mente gegeben zu einer weiteren Entwidlung ber Arbeitsverhältniffe, zu
Drganifation der Arbeit, gegenüber den Nacıtheilen bes Krieges |
Kun, gegen Alle und der übermächtigen Concurrenz der großen Capitale gegen
dem einzeinflehenden Eleineren Unternehmer. In einem beftimmten Locale
en alle Beftellungen angenommen und fertige Waaren zum Verkaufe
ausgeftelft werden, wozu wir in den Induſtriehallen mehrerer Städte bie
Anfänge fehen ; die Arbeit koͤnnte unter die Wereinsglieder vertheilt und bei
dem Bufammenmwirken Bieler die Vortheile der Arbeitstheilung in dem Hand—
werkobetrleb in ausgebehnterem Maße benugt werden, als 28 da ber Fall ift,
—* jeder Meifter und Gehilfe bald diefes balb jenes Geſchaͤft vornimmt, durch
1 Wechfel der Vorrihtungen und Werkzeuge Zeit verliert und nicht in allen
eigen gleiche Vollkommenheit erzielen fann. Doc, was jeht noch ‚als
Rn les Ptoblem die Denker beſchaͤftigt, das wird der Drang ber Umſtaͤnde
praftifh machen. — Der Schug, ‚welchen der Zunftzwang auch dem Un:
aicım und Traͤgen gegen die Mitbewerbung Dritter zu gewähren ‚fucht,
bleibt bei der Gewerbefreiheit Denjenigen' allein vorbehalten, welche etwas
Nüsliches zuerft hervordringen. Die Erfindungspatente find die ein-
zige Beichränfung ber Mitbewerbung, welche im Intereſſe der Gefammtheit
den Eifer zu Verbefferungen rege hält, indem der Erfinder bie Ausficht bat,
die Vortheile feiner Erfindung eine Zeit lang ausfchließlich zu benugen , bevor
leßtere zur allgemeinen Kenntniß gebracht oder dem Gebrauche eines Jeden
überlaffen wird. Erfindungspatente werden fürneue Erzeugniffe
oder für ein neues Verfahren zur vortheilhafteren Verfertigung ertheilt
und geben ihrem Inhaber das ausfchliegliche Recht, für eine beftimmte
Zeit das von ihm erfundene Verfahren anzuwenden oder die neuen Erzeug:
niffe zu fertigen und zu verlaufen. Jeder Eingriff in diefes Vorrecht wird
beftraft. Die Staatsbehoͤrde, welche ein ſolches Privilegium ertheilt, hat
die Zweckmaͤßigkeit der Erfindung nicht zu prüfen, da die Geſammtheit
hierbei kein Intereſſe hat, und ein Urtheil darüber mit Zuverläffigkeit oft
nicht gefällt werden Pann ; dagegen ift zu unterfuchen, ob die Sache neu
ift, auch wird Jeder zum Beweife einer behaupteten Priorität zugelaffen.
Zeigt ſich ein Product als [hädlich für die Gefundheit der Confumenten,
fo ift das Patent aufzuheben. Der Nichtgebraud in einer beflimmten Friſt
zieht ebenfalls den Verluft nad) fih. In England kommen die Erfi indungs⸗
patente ſeit dem Anfang des 17. Jahrhunderts vor; ſie werden dort wie in
Amerika nicht auf laͤnger als 14 Jahre ertheilt und die Bewerber muͤſſen
ſchwoͤren, daß ihres Wiſſens ihre Erfindung oder ihr Verfahren neu iſt.
In Baiern, Preußen und Oeſterreich iſt die Längfte Daueneines Erfindungs⸗
patents 15 Sabre; ; in Frankreich werden fie auf 9, 10 und 15 Jahre ertheitt.
Geœwerbe⸗ und Fabrikwefen. 467
Bon 1791 bis 1836 wurben in Frankreich 5534 Erfindungspatente gegeben,
im Jahre 1836 allein 405; im England betrug ihre Anzahl jaͤhrlich im
Durchſchnitt von 1781 bis 1800 — 63; in diefem Jahrhundert iſt bie
Durchſchnittszahl über 100 geſtiegen; in Defterceich ift fie noch bedeutender
(von 1821 bis 1825 durchfchnittlich 180).
(34 ©. 819 untm.) Unter den neueren Beſtrebungen, bie Lage ber
Fabrikarbeiter zu verbeffern, verdienen die ausdauernden Bemühungen des
H. Fielden, Parlamentsmitglied für Oldham, einer ehrenvollen Erwaͤh⸗
nung. Wie alljährlich, feit feinem Eintritte in das Parlament, fo brachte
er zulegt in der Sigung des Unterhaufes vom 26. Januar 1847 eine Bill
ein, welche, in Anbeiracht der geringen Gunft, womit Borfchläge zur Eins
mifhung der Staatsgewalt in die Bedingungen der Gewerbsthaͤtigkeit dort
aufgenommen zu werden pflegen, die Mäßigkeit ihrer Korderungen ſchon in
ber Benennung „Zehnftundenbill” zu erkennen gab. Er fchlug vor, daß
vom 1. Mai 1847 an die Arbeitszeit in den Fabriken für Perfonen unter 18
Jahren auf wöchentlich 63 Stunden, vom 1. Mai 1848 an auf 58 Stunden
beftimmt werden fol. Er erinnerte daran, daß im jahre 1833, als die Skla⸗
ven in den weftindifchen Golonien mit einem Opfer von 20 Millionen Pfund
Sterling emancipirt wurden, die Arbeitszeit für die Neger auf 45 Stun⸗
ben feftgefegt ward, alfo 13 Stunden weniger, ale er für die Kinder der enge -
lifchen Proletarier verlange. Er erinnerte an die Worte von Sir Robert
Peel's Vater, daB ohne den nöıhigen geſetzlichen Schug für Leben und Geſund⸗
heit der Arbeiter das verbefferte Mafchınenwefen der bärtefte Fluch Englands
werden würde. Er führte aus amtlichen Berichten Zuhlen und Thatſachen an,
welche ein furchtbares Bild der Verwahrloſung in den Arbeiterfamilien ent»
bällten. Sp heißt es 5.3. in dem Vierteljahr&berichte des Generalcegiftrators
ber Geburten, Sterbfälle und Ehen: ‚Die Ueberfihten bes abgelaufenen
Vierteljahrs beweiſen, daß nichts Wirkfames zur Abmendung der Seuchen,
der Leiden und Sterbfälle, wodurch fo viele Zaufende teggerafft werben,
geſchehen iſt. Die Verbefferungen tragen meiſtens einen oberflächlichen
Charakter und dringen nicht in die Wohnungen und die Lebensweiſe des
Volles. Die Wohnung und die Kinder eines Arbeiters koͤnnen nur durch die
emfige Thaͤtigkeit einer unterrichteten, fleißigen Stau reinlich und gefund ers
halten werden, wie Jeder weiß, der dem Gegenftand einige Aufmerkſamkeit
gewidmet hat. Dies wird in Lancafhire uͤberſehen, wo die Srau oft fern vom
Haufe in Arbeit fteht. Die Folge ift, daß Zaufende, nicht nur Kinder, fon»
dern auch Männer und Weiber an Seuchen fterben,, die früher aus den naͤm⸗
lichen Gründen in Kafernen, Lagern, Gefängniffen und Schiffen fo große
Verheerungen anrichteten. In Mancheſter ftarben in fieben Jahren 13,862
Kinder über bie Zahl der natürlichen Sterblichkeitsverhaͤltniſſe. Diefe
Heinen Kinder, in unreinlihen Wohnungen und ungefunden Straßen aufs
gezogen, wurden Tage lang von ihren Müttern allein gelaffen, um, durch
Dpium beruhigt, die fchädlichen Dünfte zu athmen; von tödtlicher Krankheit
befallen, flarben fie unter peinlichen Leiden ohne Arztliche Hilfe, welche doch,
wie die Hoffnung, Jedem zu Theil werden follte; aber der Arzt wird entives
der gar nicht ober zu [pt gerufen. — Herrn Fielden's BILL durfte zwar
30
’ : i
h w 1—
zum erſten Mat verleſen werden, allein dies wurde nur Anſtands halber ges
ſtattet, und die Stimmung bes Haufes zeigte wenig Hoffnung, ba fie zum
Belek erhoben werde. Die Times erklärt. die geringe Theilnahme an dem
Schickſale der zahlreichen Claſſe ber Habrikarbeiter durch ihre Sfolirung von
ben übrigen Glaffen ber Gefellfhaft mit Ausnahme ber Unternehmer. ' Der
Landwirth meiß nichts von ihnen, als was er bei einer gelegentlichen unan⸗
gerrehmen Reife nad) einer Fabrikfkadt erfährt, oder aus der beſchwerlichen
Lectuͤre von Parlantentäberichten. Er kennt fie nur als Geſchoͤpfe, die fein
Kirchfpiet los geworden iſt. Sie finden daher Beine Thellnahme bei ben
Landwirthen. Eine dreifache Mauer fcheibet fie von der Maffe der Unter:
nehmer. Der Eigennug erhebt feinen maffiven Wall, um ihre Lage zu ver:
bergen, ihre Klagen zu erſticken. Und als ob der Eigennup nicht hinerlchte,
um feine Zwecke zu erreichen , predigt auch noch die Nationalöfonomie gegen
bie Bitten und Beſchwerden ber den Text des laissez aller, Allein die wahre
Nationaloͤkonomie iſt nicht —B gegen das Wohlbefinden, die Site:
lichkeit und die Gefundheit des Volkes. Wenn das Spftem des laissez faire
die unbebingte Lehre der Nationalötonomie wäre, dann hätte das gegenwaͤr⸗
— über vlelfache Verlegungen derfelben zu Elagen (die Unterſtuͤſungen
Irland). Die Nationalötonomie widerfegte ſich nicht einer Beſchraͤn⸗
kung ber Negerarbeit; fie verwirft micht bie Anordnungen zur Verbeſſerung
ber Befundheit in ben Städten, zur Beichränfung der Arbeit in den Berg⸗
werfen, zue Unterdrüdung lafterhafter Gewohnheiten und Launen, zur fitt
lichen Bildung bes Volles. Warum follte die Mationaldfonomie Einwen:
dungen machen gegen Mafiregeln zur Verhinderung ungebührlicher und unge
funder Befchäftigung von Weibern und Kindern? Zweifelt Jemand, daß eine
tägliche zwoͤlfſtuͤndige Einfperrung in Fabrikraͤumen für Kinder unter 10 Fah-
von ungebührlich und ungefund ift? Behauptet Jemand, baf die Abmwefenheit
ber Frauen von ihrem natürlichen Wirkungstreis, der Wohnung, Tag für
Tag, die Ruͤckkehr ſpaͤt am Abend, zu Tpät, um ihre Kinder zu warten, ihr fruͤ⸗
her Ausgang, zu früh, um bie Wohnung rein zu halten, Feine ſchlimmen Fol⸗
gen habe, die fich weit über die Raͤume der rauchigen Fabrik oder des ſchmuzi⸗
gen Wohnzimmers erflreden? Wenn Jemand daran zweifelt, fo gehe er nach
dem Norden, befuche Manchefter, Stadport, Dldham, Bradford und an:
dere Sammelpunfte einer gefchäftigen , aber Menfchen zeritörenden Indus
ſtrie. — (Man vergleiche auch die Artikel: Communismus und Sorialiemus,
und Organifation der Apbeit. )
| Glarus. Seit die auf der Grundlage ber allgemeinen ſtaatsbuͤrger⸗
lichen Freiheit und Gleichheit errichtete Verfaffung vom 2. October 1836
gegen die hartnaͤckige Oppofition einer hierarchiſch⸗katholiſchen Minderheit
ducchgefegt iſt, hatte dieſer Beine Santon — mit einem Flaͤchenraume von
12 bi6 13 Quabratmeilen und einer Bevölkerung von etwa 30,000 Bewoh⸗
nern, von der nahe $ Reformirte und nur etwa + Katholiken find — feine
friedliche und gedeihliche Entwicklung. Selbſt die politifch » confeffionellen
Streitigkeiten der legten Jahre, wodurch andere Theile der Schweiz aufs
Tiefſte erfchüttert wurden, ließen in ben Alpentbälern von Glarus bis jest
nur ſchwache Spuren zurüd. Und dies gefchah in einem Staate, der wohl
Glarus. 269
die volftänblafte Demokratie der Welt iſt; zum wieberholten Beweiſe, daß
Wirren und Unruhen nicht durch Gewährung der Forderungen ber Freiheit
und Mechtsgleichheit erzengt werden, fondern nur duch Verweigerung und
unzeitigen Widerſtand. Wichtige Gefege haben in den legten Jahren bas
Gemeindeweſen trefflich cegufirt und im Juni 1839 find zweckmaͤßige Beſtim⸗
mungen über Erneuerung, Berzichtleiffung und Verluft des Land = und Tag⸗
wenrechts*) getroffen worden. Zum Entwurf eines glarnerifchen Strafgefeh>
buches iſt feit 1846 eine Commiffton niedergefegt. Auch wurde im Jahr
1842 eine frieblich verlaufene Verfaffungsrevifion zu Stande gebracht. ‚Die
hierdurch bewirkten Veränderungen find jedoch im Ganzen unbedeutend. "Die
revidirte Berfaffung war In der Art auf vier Jahre angenommeh worden, daß
vor Ablauf diefer Zeit Bein Antrag auf Aenderung zulaͤſſig fein und daB fie wei⸗
tere vier Jahre In Kraft bleiben follte, wenn fih im Jahr 1846 die Lands⸗
gemeinde für Peine neue Reviſſon ausſprechen wuͤrde. Wirklich zeigte fich in
diefem Jahre kein Beduͤrfniß einer nochmaligen Reform; allein gleichwohl
laͤßt es fich keineswegs als zweckmaͤßige Beſtimmung betrachten, daß bie
Möglichkeit der Verfaſſungsreviſion an den Ablauf einer beſtimmten, wenn
gleich nicht fehr lange dauernden Frift geknüpft if. In den meiften ande
ten Santonen ber regenericten Schweiz hat man «6 In neuerer Zeit mit Be⸗
feitigung der Revffionstermine für paffender erachtet, die Möplichkeit einer
theitwweifen Neform ber Verfaffungen an Leine fefte Zeit mehr zu binden,
fondern fie von den ihr Ziel fich ſelbſt fegenden Bebürfniffen des öffentlichen
Lebens abhängig zu machen. Hatte doch die Erfahrung gelehrt, daß ſich
die Unzufriedenheit ber Parteien mit den beftehenden Verhältniffen oft in fols
hem Grabe anfammelte, um die voraus beflimmten Zeiten ber Verfaſſungs⸗
revifion für mehrere Cantone zu hoͤchſt Eritifchen Perioden zu machen, wos
durch diefe mit Unruhen bebroht und hier und da felbft in ihrem Beftande Bi
fährbet wurden. Dagegen war es eine wahre Verbefferung im Jahr 1842,
daß Im Verhättniffe zu dem ziemlich Äberflüffigen Rache der Geſchaͤftskreis
der früher aus 11, jest aber aus 9 Mitgliedern beflehenden Standescom⸗
mifflon, als der die laufenden Gefchäfte beforgenden Regierungsbehörbe,
erweitert worden iſt; und daß man zugleich auf einige Reduction bed ges
richtlichen Perſonals bebadyt war. Mit dieſer legteren Beſtimmung iſt indeß
ein Hauptuͤbel, an dem zumal die Heineren Cantone leiden, zwar vermindert,
aber keineswegs befeltigt worden 5; und noch immer iſt namentlich in Glarus
die Zahl der Staats» und Gemeindedmter fo groß, daß es trog ber auch
- in der Schweiz herrfchenden Aemterſucht ſchon an Bewerbern und mehr noch
an fähigen Männern fehlte, die ihrem Amte in jeder Weiſe getwachfen was
ten. Dies erflärt fich Übrigens aus der Eiferfucht des Volks auf feine Frei⸗
heit, das eine Garantie berfelben In der alle oͤrtllchen Intereſſen möglichft vers
*) Die 17 politifchen Gemeinden und Wahltagwen find zu unter
fcheiden von ben glarner Berwaltungsgemeinden, wofür gleichfalls das
Wort Tagwen gebraucht wird. Fuͤr bie Letzteren find die 25 alten Tagwen ober
Zagivengemeinden beibehalten worden. Dft trifft der Umfang eines Tagwen mit
den einer politifchen Gemeinde zuſammen; in einigen Ballen aber enthätt eine
politifhe Gemeinde mehrere Tagwen.
470 Glarus,
tretenden und ſich gegenfeitig controlirenden größeren Menge ber Stantsbies
finde. Auch läßt man es ſich überhaupt in der Schweiz fehr angelegen
in, der Entflehung eines eigentlichen Beamten ffandes, mit befonderen
esinteteffen und mit bureaukratiſchem Dünfel und Vorurtheilen , fo
* is möglich vorzubeugen. Indem, aber die meiften und gerade die wich»
tigften Aemter nur auf Bürzere Zeit verliehen werden und damit nur geringe
a * Beſoldungen verbunden find, finden ſich die wenigſten Beru⸗
Stande, Ihren bürgerlichen Beruf dem öffentlichen aufzuopfern;
(en darum if mahı genöthigt, für den Staatsdienft eine ungewöhnlich
Theilung der Arbeit eintretem zu laſſen. Zugleich bringt es dieſes Sp
mit ſich, daß bei ber Verleihung der Aemter die Reicheren vor ben Aerme⸗
ren er werben müffen. Ohne die Bortheile deffelben aufzugeben,
würden ſich feine Nachtheile ſchwerlich anders vermeiden laffen als durch
jrößere poll —8 ze abminiffrative Eentralifation bes gef ammten eibgendf:
| ens.
e Verfaffung von Glarus gehört gleich derienlaen ber. Urcantone
mb de eben Appenzell zu den abſolut⸗demokratiſchen, wonach der zur
inde berufenen gefammten Staatsbürgerfchaft die unmittelbare
wichtigften Hoheitsrechte zuſteht. Mehr aber als in allen
—— diefer Art hat man es in Glarus verſtanden, die neueren
— einer geläuterten Politik zur Anwendung zu bringen und auf dieſe
e die noch robe Form der abfoluten Demokratie zu veredeln. Dies geſchah
zumal durch eine zweckmaͤßige Trennung der politiſchen Gewalten, beſon⸗
ders der vollzlehenden und der richterlichen, ohne daß man doch das Princip
der Gliederung bis auf eine ſchaͤdliche Spige getrieben hätte. Wie breit gleich⸗
wohl die Bafis geblieben ift, auf welcher bie fouveräne Volksherrfchaft ruht,
dafür mögen — zur Ergänzung des Hauptartifels über Glarus und mit Be:
rüdfichtigung ber Veränderungen durch die Revifion von 1842 — hier nod)
einige Belege angeführt werden. Activbürger und zur Kandsgemeinde beru:
fen ift jeder in bürgerlichen Ehren ftehende ‚Landmann‘ fchon nad) zuruͤck⸗
gelegtem 18. Jahre. In die Competenz der Landsgemeinde fallen alle entfchei=
dende Beftimmungen in Beziehung auf Verfaffung und die gefammte Geſetz⸗
gebung; die DOberaufficht über die Landesverwaltung, weshalb der Lands:
gemeinde jährlich eine Ueberſicht ber Landesrechnung und des Standes der
übrigen Landesverwaltung vorgelegt wird; in Beachtung der Bundespflicht
die Entfcheidung über Krieg und Frieden, über Buͤndniſſe und alle nicht
durch ausdruͤckliche verfaſſungsmaͤßige Beſtimmung einer anderen Behoͤrde
vorbehaltenen Verträge mit eidgenoͤfſiſchen Ständen oder auswärtigen Staa⸗
ten; die Wahlen ber Mitglieder der Regierung und ber Gerichte; die Errich⸗
tung und Aufhebung Öffentlicher Beamtungen und die Feſtſetzung der Befol:
dungen ; alle hoheitlihen Verfügungen über Staatsgüter, Regalien, Münz,
Mas und Gewicht; das Steuerwefen und alle Verfügungen, melde die zur
Beftreitung der Randesausgaben erforderlihen Mittel betreffen; die Ent:
fheidung über alle Anftalten, Bauten und Anfchaffungen, deren Koften die
Summe von 2500 Gulden überfchreiten, außerordentlich dringende Um⸗
fände und Bedürfniffe vorbehalten ; die Extheilung und Erneuerung des
Glarus. . 471
kandrechts. Dagegen hat die Landsgemeinde kein Recht, auf bie von den
übrigen Behörden innerhalb ihrer Competenz erlafienen Exkenntniffe und
Urtheile einzutreten. Auch berathet und entfcheidet fie einzig, nach Maß⸗
gabe eines Reglements , über bie im Randsgemeinde: Memorial enthaltenen
Artikel und Gutachten des Landraths, indem fie jedocd mit Stimmenmehrheit
die an fie gelangenden Anträge annehmen, abändern, verwerfen, oder zur
nochmaligen Begutachtung und Erledigung an den dreifachen Landrath zus
ruͤckweiſen kann. Diefe ſehr wohlthätig wirkende Inftitution bes Landeges
meindes Memoriale in feiner jegigen vervolfommmeten Geftalt findet fi
in keinem der anderen abfolutsbemokratifchen Cantone. Daſſelbe wird jährs
lich vom breifachen Landrathe gebildet und vier Wochen vor der im Mai abs
zuhaltenden Landgemeinde in 1000 bis 1500 gedrudten Exemplaren dem
Volke mitgetheilt. Nicht nur die Behörden, fondern jeder ffimmfähige
Landmann bat das Recht, Vorſchlaͤge zu Gefegen und hoheitlichen Bes
fhlüffen an da® Landsgemeindes Memorial zu geben; und zu biefem Zwecke
werden jährlic) im Januar die Behörden und das Volk öffentlich aufgefordert,
ihre Vorfchläge innerhalb 14 Zagen der Behörde einzugeben. Die Eingaben
muͤſſen fchriftlich verfaßt, die Anträge beftimmt geftellt, mit den Erwaͤgungs⸗
gründen begleitet und vom Eingeber unterzeichnet fein. Sie werben vom
dreifachen Landrathe geprüft und nöthigenfals erſt an befondere Commiſſionen
gewiefen, wozu aud) fachkundige Männer außer feiner Mitte beigezogen wer⸗
den Zönnen. Die als erheblich und deinglich erfannten Anträge werden mit
dem Gutachten bes Landraths dem Memorial einverleibt: Aber auch bie für
unerheblich erklärten müflen unter einer eigenen Rubrik, jedoch ohne Guts
achten, in das Memorial aufgenommen werden. Weber Anträge der legteren
Art wird nur auf befonderen Vorſchlag an der Landsgemeinde eingetreten,
fo daß diefe entweder ihre fofortige Ablehnung oder ihre Begutachtung für das
folgende Jahr befchließt. Im Kanton Glarus fleht aljo die Fnitiative der
Geſetzgebung, wie dies freilich nur in einem kleineren Staate ausführbar ift,
in möglichfl großem und zugleich) in zweckmaͤßig bemeffenem Umfange allen
Staatsbürgern zu.
Jede Confeſſion hat nach der Verfaſſung ihrer Kirche und unter Auf:
fiht des Staats ihre confeffionellen Angelegenheiten felbft zu beforgen und
ſtellt fich zu diefem Zwecke einen eigenen Kirchenrath auf. Die Geiftlichen
beider Confeſſionen, die in allen bürgerlichen Beziehungen, in Civil» unb
Stiminalfachen unter den Gefegen und Gerichten des Landes flehen, werden
von den Kirchengemeinden gewählt. Nach Aufloͤſung bes Bisthums Con⸗
flanz war der Eatholifhe Theil von Glarus durch ein päpftliches Breve,
ohne Berathung und Zuflimmung der politifchen Behörden dieſes Cantons⸗
theils, bem Bisthume Chur proviforifch zugetheilt worden. Der Streit, ben
der Bifhof Boffi von Chur wegen dem der Geiftlichleit den Landeseib auf
Legenden $.74 der Berfaffung erhob, hatte am 19. April 1838 zu einer Aufs
bebung der proviſoriſch beflandenen Verbindung mit dem Bisthume Chur
geführt, wogezen jedoch ber Bifchof und der paͤpſtliche Nuntius Proteſtation
einlegten. Erſt nad) dem Tode Boffi’s wurde durch einen vom dreifachen
gondrathe am 22. Yuguft 1844 genehmigten Vertrag ber provfforifche
474 Glaubensfrelh eit.
m’ darf, was er glaubt, deffen innerſte Regungen und Thätigkeiten
reiner außer ihm liegenden Gewalt abhängen, deffen geiftiges Sein und,
Beben von der Poligei regulirt wird, deffen Verſtand und Gefühl fid nach
der vorgefchriebenen Inſtruction tichten muß / wie ein Gensdarm? Ein fol
her Menſch iſt gewiſſermaßen ein Thier, denn diejenige Befugniß, die ihm
Jum Menſchen macht, fehlt ihm, es fehlt ihm die Freiheit, nach Geſetzen zu
handeln und ſich zu beſtimmen, welche im ihm ſelbſt liegen. Er iſt nicht frei,
fein Geiſt iſt gebunden , zwar nicht wie beim Thier durch natuͤrliche Feſſeln,
durch feinen phyſiſchen Organismus, fondern durch kuͤnſtliche Bande.
Man ſollte in der That im den Zuſtaͤnden des 19. Jahrhunderts feine
Aufforderung mehr finden, gegen die Beſchraͤnkung dieſer Freiheit feine
Stimme zu erheben, und doch Geben gerade die neueften Bewegungen in
unferem Baterlande Veranlaffung genug, diefen Stoff zu behandeln: Dier
wird eine Anzahl Menſchen von dem Vollgenuß ihrer ſtaatsbuͤrgerlichen
Mechte ausgeſchloſſen, weil die Gebraͤuche, in welchen ihr rellgioͤſes Gefühl ſich
verwirklicht, nicht mit den Geremonien uͤbereinſtimmen, welche die Mehr:
zahl fuͤr alleln gültig erklärt, Dort wird ein anderer Verein, deffen Mitglies
ber fid von Symbolen und Lehrfägen losfagten, bie ihrem Gewiſſen nicht
mehr entfprachen, von ber Polizei chikanirt und gequält, auf eine Weife,
bie, man beurfch nennen fan. Anderewo bilden Gensdarmen und Polizel⸗
commiffäreein Glaubensgericht und inquiriren Leute, die im Verdacht ftehen,
anders zu glauben, als die Inſtruction es vorfchreibe. In diefem Staat ift
blefe Religionspartei nur gebulder und mit ihrer Gottesverehrung in das In⸗
nere ihrer Häufer gebannt, in jenem Lande widerfährt daffelbe einem Glau—⸗
ben’, der anderswo allein gültig iſt. Weberall nur Drud und Beſchraͤnkung,
nirgends bie wahre volle Freiheit. Diefe Freiheit habe ich nun zunaͤchſt im
Auge, welche in ihrer herkömmlichen und gewöhnlichen Bedeutung als Ge-
wiſſensfreiheit auf das religiöfe Gefühl des Menfchen und das Verhältniß
fi) bezieht, im welches bie Staatsgewalt zu feiner dußeren Darftellung fich
fegen fol. Es wurde diefes Verhaͤltniß theilweife ſchon in dem Artikel
„Dulbung” berührt, jedoch nicht in fo allgemeiner und erichöpfender Weife,
daß nicht ein zweiter Artikel gerechtfertigt wäre, der zugleich einen anderen
Standpuntt einnimmt.
‘Um einen richtigen Gefichtspunft zur Beurtheilung des Verhältniffes
zu: gerinnen, in welches fid) der Staat zur Religion oder vielmehr zu dem
religioͤſen Bekenntniß feiner Mitglieder fegen muß , bedarf es vor Allem als
Prämiffe für die tweiteren Ausführungen einer richtigen Auffaffung der hier:
ber gehörenden Begriffe.
Machen wir ung zuerft, und zwar von der objectiven Seite der Religion,
von ihrem Inhalte und Segenftand abftrahirend, das Wefen derfelben in ſub⸗
jectiver Beziehung Har. In dieſer Hinficht ift die Religion als das religioͤſe
Gefühl des Individuums eine Selbftbeftimmung, ein innerliher Zuftand
des Menfchen, alfo reine Privatangelegenheit jedes Einzelnen. Der Menſch
iſt religiös, er glaubt an den Gegenftand feines religisfen Gefühle, weil und
wie feine Individualität ihn dazu drängt, gerade wie fein finnliches Gefühl
einen Gegenftand des Geſchmackes goutirt, weil er feinem phyſiſchen Or⸗
—
Blaubensfreiheit. #75.
ganismus angemeffen iſt. Religion iſt alfo zunaͤchſt etwas rein Subjectives,
ſchlechthin Innerliches und Individuelles, der Glaube iſt ein Theil des inne⸗
ren Menſchen. | Ä |
As folcher bietet er für die Außenwelt noch keinen Anhalts⸗ und Bes
rührungspunft, dies gefchieht erft dann, wenn er aus der Sunerlichkeit her⸗
austritt und fich objectivirt. Der Glaube findet feinen Ausdruck, feine em⸗
pirifche Darſtellung in gewiſſen Gebraͤuchen und Handlungen, welche eine
fpmbolifche Bedeutung für den Religiöfen haben. Die Form, in welcher dieſe
Gebraͤuche ſich geltend machen, ift dieſelbe, welche auch auf anderen Gebies
ten des Geiſtes gleiche Sefinnungen und gleiche Zwede zu ihrer Befriedigung
wihlen, nämlich die Form des Vereins. Menſchen, welche ben gleichen ces
tigiöfen Anfichten, denfelben Glaubensichren angehören, bilden einen reli⸗
giöfen Verein , eine religioͤſe Partei, eine Serte.
Diele religiöfen Vereine find alfo nichts Anderes als die Form für ein
ganz individuelles Gefühl, für ganz individuelle Zwecke, und bie religiöfen
Ceremonien, der Cultus nichts Anderes als die Symbole irgend einer Gefühle:
richtung ober Privatneigung mehrerer Menfchen, und in fofern fallen fie
unter die Kategorie des Willkuͤrlichen, Beliebigen, Zufälligen. .
Der Staat dagegen iſt die Form, in welcher das gefellfchaftliche Leben
eines Volkes fich bewegt und organifirt und als folcher ift er die Form für
das Allgemeine, für das Nothwendige. Ebenfo ift der Staat die Form, in
welcher fich die Idee der Menfchheit, alfo bie fittliche Freiheit verwirklicht.
Dies iſt nur dadurch möglich, daß er einen gewiſſen (gefeglichen) Zwang aus⸗
übt und fo einen Rechtszuſtand ſchafft, welcher dem Einzelnen feine Frei⸗
heit und dee Geſammtheit die öffentliche Sittlichleit garantirt. Object des
Staats oder vielmehr bes ſtaatlichen Zwanges kann deshalb nur das fein, was
ſich auf die Rechtsverhältniffe ber Einzelnen zu einander und zu ber Ges
ſammtheit bezieht, was alfo entweber eine moralifche, oder eine allgemeine,
eine Öffentliche (politifche) Bedeutung hat. Dem unmittelbaren Eingreifen
bes Staates muß daher Alles verfchloffen fein, was willkuͤrlich, beliebig,
überhaupt unmefentlich iſt, was auch anders fein Eönnte, als es ift, nicht
minder Alles, was eine Beſchraͤnkung der perfönlichen Freiheit begründet.
In dieſen Merkmalen der beiden Begriffe Staat und Religion ift num
das Verhältniß angedeutet, in welches beide zu einander ſich fegen mäflen;
es läßt fidy mit wenig Morten fo ausdrüden: Der Staat darf in Bezie⸗
bung auf die Religion feiner Angehörigen weder einen pofitiven noch einen
negativen Zwang ausüben. Der Staat muß fich der Religion feiner Ans
gehörigen, d. h. ben einzelnen Belenntniffen und Secten und ben verſchiede⸗
nem Arten ber Gottesverchrung und des Cultus gegenüber indifferent ver⸗
halten. Er darf weber einen einzelnen Verein monopolificen, d. h. mit einem
ben anderen fühlbaren Staatszwang verfehen und dadurch zu einer Staats:
anftalt erheben, noch einen andern in feinen Privatangelegenheiten irgend⸗
wie befchränten. Er darf weder direct noch indirect Jemanden zu seinem Be⸗
kenntniß zwingen, noch aber ein folches Bekenntniß befchränten ober ver:
bieten. Die religiöfen Angelegenheiten müffen in den Augen des Staats als
Privatfachen gelten, welche Jeder nady feinem Belieben und feiner Indivi⸗
‚6 — n 9
dualitaͤt gemaͤß echt machen kann. Wen ber Staat te |
etfuͤllt, fo 28 ——— * oder —— eh
Kenne diefe Ag fpecieller end vorher en muf —* einer Fhreörte
welche im ihrer Auffaffung de® Stants und der Kirche
Ausführung geradezu miberfpricht, “ iſt dies die Theorie vom
rien Staate.“
Dieſe Theorle gender naͤmlich Feten den Star auf die ‚ehriftfiche
Meligion,” welche auf die —— des Staats Im der Art einwirken
daß er die Achriſtliche Religion” des Uetheils habe; nach
chem er feine an * J— Biete anfbr, feine woe
toeitigen Lehengoechd
* maps Gatehe Darin, uf © 5 Die heiſchende @-
Urfprungs fl; daß er den Beruf babe; fie im letzten Ziele zur
eh Bat und zur R a zu gebrauchen; daß er das
Giſtenthum nd die chriſtli feiner Angelegenheit mache in
Shug und Förderung; daß 55 Erfenntnif zu feiner
— ——
e a
re ." t: Rechte: nd Seaatel te"
3 —— * —— 154). *
154). °
wir mun dieſen chrifktihen A näher, fö cn ung zit⸗
ndehſt als Vorausſetzung, don welch er er Ausgeht, die grundfalſche Iden⸗
Hiflkirumg von Moral und Dogma, von Sitten⸗ umd Glaubendfehre, von
Weſen und Form entargen, Diefes Berhätmiß bedarf einer näheren Erin:
terung.
Die Theorie vom „chriſtlichen Staate” Tpricht ſchlechtweg vor der
chriſtlichen „Religion“, auf welche der Staat begründet fen müffe. Mas
heißt num, um ihre objective Seite zur betrachten, was heißt chriſtliche Reli—
gion — und in wiefern muß und kann ſich der Staat auf ſie ſtuͤtzen?
Loͤſen wir, um dieſe Frage zu beantworten, die chriſtliche Religion
oder vielmehr Kirche in ihre einzelnen Beſt indthell⸗ auf.
Das Weſen der chriſtlichen Religion, ihr Inhalt, ihr feſter unveraͤn⸗
derlicher Kern war zur Zeit ihrer Reinheit das chriſtliche Sittengeſetz, die
chtiſtliche Moral, durch welche das fittliche Bewußtſein ihrer Bekenner be:
ſtimmt wurde. Vermittelt wurde dieſe chriſtliche Sittenlehre durch den
Glauben an Gott und die goͤttliche Wuͤrde und Beſtimmung jedes Men—
(hen. Dieſer Glaube und diefe Anerkennung des chriſtlichen Sittengeſetzes
waren daher die beiden Elemente des Urchriſtenthums, des chriſtlichen Be—
wußtfeins in den Zeiten ſeiner Entſtehung. Beide waren an ſich Sache der
Innerlichkeit und fanden ihre empiriſche Darſtellung, das eine als Glaube
in dem Gultus, das andere als moralifche Beftimmung des Menfchen im
fittlichen Wandel. Beide wurden int Raufe der Zeiten weiter ausgebildet, es
entftand eine chriftliche Sittenlehre und es entftand!eine chriſtliche Glaubens:
tehre und ein chriftlicher Gultus. Die Entwicklung diefer beiden Seiten
der riftlihen Religion fchlug jedoch zwei fehr verfchtedene Wege ein.
Während das Sittengefeg, das uns ſchon in den erften Zeiten als etwas
Glaubenefreiheit | 41
Fertiges, Gegebenes entgegentritt*), faſt unverändert ſich erhielt und nur
durch ſehr unmwefentliche Zuthaten vermehrt wurde, entwidelte fih das Mi⸗
nimum de8 Dogma und des Gultus der Urkicche eigentlich erſt ſpaͤter. Der
Glaube des Urchriſtenthums ließ fich auf einen oder zwei Säge zurüdführen
und fein Cultus beſchraͤnkte fich auf einige wenige Gebräuche, Agapen, Zus:
fammenkünfte, die in der Natur der Sache begrändet waren. Das Urdgels
ſtenthum cultivirte faft ausfchließlich das Weſen des hriftlichen Bewußtſeins,
fein Sittengefeg, durch einen hriftlichen Wandel. Bereits im zweiten Jahr⸗
hundert fchlug jedoch die chriftliche Kirche eine Richtung ein, welche das
Wefen in den Hintergrund und die Korm, das Untvefentliche in den Vor⸗
dergrund drängte. Es bildete ſich eine chriſtliche Prieſterkaſte und biefe
hatte ihre befonderen Gründe, hauptſaͤchlich das hriftliche Dogma und den
Cultus anzubauen. Die Glaubenslehren und Seremonien wurben unend⸗
lich vervielfältigt und nad) und nad) fo fehr zur Dauptfache gemacht, daß
die Kirche bald in das Stadium der Gorruption eintrat, in welchem e6 wenig
mehr auf die Verwirklichung der chriſtlichen Moral, ſondern auf die Aner⸗
fennung der Aeußerlichkeiten, der unzähligen Dogmen und Geremonien ans
kam. Nun bildeten diefe das fpecififche Merkmal der chriftlichen Kirche fo
fehr, daß noch heut zu Tage die verfchiedenen chriftlichen Kirchen und Secten
nur durch die Dogmen und ben Cultus von einander fich unterfcheiden, wähs
rend fie in Beziehung auf die Anerkennung bes chriftlichen Sittengefeges
faum von einander abweichen.
Man fieht alfo, daß der Ausdruck „chriſtliche Religion” an ſich fo vag
und zweideutig ift, daß er, befonders wenn es fih um wiffenfchaftliche Debuc-
tionen, um ein Syſtem handelt, eine genaue logifche Zergliederung unmöglich
entbehren kann. E86 reicht nicht hin, einfach) zu fagen, der Staat muß bie
„chriſtliche Religion” zu feinee Grundlage machen, ſondern es handelt fich
weſentlich um die Frage, melches ber beiden chriftlichen Elemente muß bie
Baſis, das leitende Princip des Staats fein? Muß fich der Staat auf das
chriſtliche Sittengefeg fügen, oder auf die chriftlihen Dogmen und ben
Cultus? Muß er die hriftliche Moral zu feinem leitenden Gebanken mas
hen, oder die chriftlichen Geremonien und die chriftlichen Glaubenslehren?
und hier dann wieder katholiſche oder proteftantifche, rationaliftifche, pies
tiftifhe Sagungen u. ſ. w.? Muß er ſich auf das Wefen flügen oder auf bie
Borm? Diefe Frage präcis und mit logifcher Schärfe zu beantworten unters
laffen nun wohl weislich die Mitter des „hriftlihen Staats”, weil es ihnen
dienlicher iſt, hinter den wagen Ausdruck „chriſtliche Religkon” fid) zu vers
fhanzen, um fo eine gangbare Firma für ihre unhaltbaren Theorien zu ers
halten. Ich erlaube mir jedoch die Sache anders zu entfcheiden.
Inſofern nun das chriſtliche Sittengefeg identiſch iſt mit der Idee ber
Sittlichkeit und die Vorausſetzung enthaͤlt, ohne welche uͤberhaupt kein ſittlich
freies Zuſammenleben exiſtiren kann, muß es auch der Staat zu feiner Grund⸗
lage machen und in ſofern wird der Staat ſtets ein chriſtlicher ſein und ſein
bierhe —5 der katholiſchen Kirche, Caſuiſtik u. ſ. w. werden wohl nicht
4
_
muͤſſen· Allein die Herren Stahl und Gonforten meinen anders, ihr chriſt ⸗
licher Staat muß ſchlechthin die heiftliche „„Meligion oder Kirche, alſo
beide Elemente derjelben, das Sittengefe und die Glaubenslehre jo wie die
Geremonien zur Borausfegung haben. Den Grund diefer Forderung werde
ich unten näher beleuchten; hier noch einige Worte über die vernünftige
Möglichkeit des chriftlichen Staats in der Auffaffung von Stahl und Anderen.
Der oben berührte Ausdeuch, ber Staat muͤſſe die „hriftliche Religion“
zum Maßftab des Urtheils haben, nad) welchem er feine Ziele anftrebe und
ſeine Lebensverhaͤltniſſe ordne, kann vernunftiger Weife michts Anderes bezeich⸗
nem als die Sanction ber chriſtlichen Kirche durch den Stant, wodurch jene
einer polirifchen Inſtitution erhoben und mit einem auf die Verhaͤltniſſe
der Staatsangehörigen Influicenden gejeplichen Zwang beiehnt wird. Wie
bereits gezeigt wurde, find die chriftlichen Dogmen und Geremonien gegen
über dem chriſtlichen Sittengefeg nicht nur etwas rein. Individuelles, Will⸗
Lürliches, alſo nichts Nothwendiges, fondern auch etwas Unweſentliches,
was Im Verlaufe der Zeiten durch individuelle Zuthaten entſtanden if. Kann
nun der Staat diefes Zufällige und Unweſentliche durch gefepliche Sunction
zu etwas allgemein Bindendem, zu etwas allgemein Zwingendem machen?
Kan der Staat diefe oder jene Glaubenslehre, diefe.soder jene Geremonie
En lee far Kann ber Staat verlangen, daß man im 19. Jahr⸗
ʒert Säge für abfolut wahr halte, welche durch zufällige Umftände im
—— Jahrhunderten von pfiffigen Prieſtern und kaiſerlichen Despoten
onirt wurden? Kann er den Staatsbürger zum Ölauben an die Drei-
einigkeit, an die Zransfubftantiation, an Wunder, zur Unterwerfung un:
ter gewiſſe Geremonien gefeglic; zwingen? Allein, fagen die Bertheidiger
des chriftlichen Staates, Dogma, Eultus und Moral find unzertrennlih. —
Die tägliche Erfahrung lehrt jedoch , daß der blindefte Glaube, die hölzernfte
Uebung der Geremonien fehr häufig nur der Firniß für Dummheit und Un:
fitte ift, während die freiefte Weltanfhauung, die rationaliftifchfte Auffaf-
fung des Chriſtenthums, die größte Vernachlaͤſſigung des Cultus mit dem fitte
lihften Charakter ſich fehr wohl verträgt, zum Beweife, daß jene Dinge un-
mwefentliche Aeußerlichkeiten find. — Der Staat kann daher in Feiner Weife
berechtigt fein, diefen unmefentlihen Dingen einen gefeglichen Zwang bei-
ulegen.
’ Dies ift aber noch aus einem anderen Grunde unmdglih. Die Herren
bes chriftlichen Staats fprechen ſtets nur von der chriftlihen Kirche. Nun
giebt es aber zufällignicht eine chriftliche Kirche, fondern es giebt zwei,
drei, es giebt mehrere hriftliche Kirchen. Alle diefe verfchiedenen Kirchen
‚ flimmen dem Wefen nah in Anerkennung bes chriftlihen Sittengefeges
überein, allein der Form nad), in Beziehung auf das Unmefentlidhe, in
Beziehung auf Glaubenslehren und Geremonien unterfheiden fie ſich fo fehr
von einander, daß gerade diefer Unterfchied ihre ſpecifiſchen Merkmale bil-
det. Welches ift nun der rechte Ölaube, welches find die rechten Geremonien ©
Sobald ſich der Staat auf die Beantwortung diefer Fragen eintäßt, d. h. fo:
bald er Glaubenslehren und Geremonien für politifch relevant erklärt, fo muß
er entweber die Lehren einer beftimmten Kirche für allein gültig proclamiren
Glaubensfreiheit 419
und daher gefeglich fanctioniren. Diefes Verhalten iſt num allerdings fehr
confequent und principmäßig, allein der Staat macht ſich dadurch, abgefehen
von der Unverträglichkeit diefer Privilegirung einer einzigen Kirche mit der
Geroiffensfreipeit, zum Theologen, der Staat macht fid) zum Glaubensrich⸗
ter, der über theologifche Controverſen entfcheidet und dogmatifches Schul
gezaͤnk aburtheilt. Der Staat begiebt ſich alfo auf ein Gebiet, wohin er
gar nicht gehört, auf ein Gebiet, das dem Wefen bes Staats und der Staates
gewalt vollftändig widerſpricht. Oder aber muß der Staut mehreren Kirchen
gleiche Rechte ertheilen,, er muß zwei, drei, er muß mehrere Staatslicchen,
zwei, drei und mehrere Blaubenslehren und Ceremonialgefege fanctioniren,
Dadurch aber fündigt er gegen den Begriff des Geſetzes. Gegenitand eines
Geſetzes kann nur das Nothiwendiye fein, denn zum Unnöthigen kann Nies
mand rechtlich gezwungen werden, das Geſetz muß daher ſtets einfach Bates
goriſch fein, das Geſetz ſchließt [hlechthin jedes Entweder Dder aus, das
Geſetz enthält das einfache Muß. Nicht dies oder das, nicht dieſe oder jene
Art Bann gefeglich fein, fondern einfach nur das beftimmte Dies, die bes
flimmte Art. Der Staat kann daher confequenter Weife entweder nur
eine beflimmte Kirche fanctioniren oder gar keine. Sobald er mehrere Kir:
hen zu Staatskirchen macht, hebt er fogar felbft die Staatskirche und ben
„chriſtlichen Staat” felbft auf, denn er proclamict indirect das Princip der
Sectenfreiheit. Der proteflantifche Abfall von der Eatholifchen Staatskirche
batirt 3.3. daher, daß es Einzelnen und Mehreren nicht mehr beliebte, fie ans
zuertennen. Sobald nun der Staat aud) eine proteftantijche Staatskirche
ſchafft, fo fanctionirt er dieſes Belieben Einzelner und zwar nicht blog in der
Vergangenheit, fondern confequenter Weife auch für die Zukunft, d.h. er
muß den beliebigen Abfall von der Staatskirche anerkennen‘, fo oft Gelegen⸗
beit dazu iſt. Damit aber ift der Begriff der Staatskirche als einer allges
mein gefeglich bindenden Anſtalt vernichtet. Diefe Nothwendigkeit fühlt der
Fatholifche Staat fehr gut, darum giebt es 3.3. in Defterreichh auch nur
eine Staatsfiche, denn die Staatögemwalt hütet fi), durch die Emancipas
tion ber Proteftanten ihren Fatholifchen Unterthanen das Lebendige Beifpiel
zu geben, daß etwas Gefegliche® unweſentlich fei, daß man etwas zum Ges
feg gemacht habe, was nicht nothwendig iſt, was man alfo auch nicht noths
wendig und nicht eigentlich zu befolgen braucht. |
Der chriſtliche Staat harakterifirt ſich ferner dadurch, daß er „bie Ges
bote der chriſtlichen Offenbarung zu feiner Vorausſetzung hat.
Inhalt der Offenbarung iſt ſtets ein den menſchlichen Willen beſtim⸗
mendes Geſetz, das unabhaͤngig von ihm entſteht, von oben herab auf ihn
kommt und auf abfolute Guͤltigkeit Anſpruch macht. Jeder Staat, deſſen
Einrichtungen und Grundprincip auf eine Offenbarung zuruͤckgehen und ihre
Guͤltigkeit von einer Offenbarung ableiten, enthaͤlt daher nothwendig fol⸗
gende Momente:
Da der Staat eine Anſtalt iſt, welche auf feine Mitglieder einen geſetz⸗
lichen Zwang ausübt, fo übt ein auf Offenbarung baflıter Staat einen abfos
Iuten Zwang aus, d. h. die Staatsgemwalt leitet ihr Mecht zu herrſchen nicht
aus dem Willen der Bürger, fondern aus einer von dem Gefammtwillen
free"
unabhängigen Macht, nicht aus einer menſchlichen, natürlichen, ſonbern
aus eier uͤbermenſchllchen, uͤbernatuͤrlichen Duelle ab, Daburch erzeugt
ich die Lehre von dem fo beruͤchtigten göttlichen Mecht der Hertſcher, mel:
bes man fuͤgllch ale bein lepten Grund der meiften Nevolutionen neuerer Zeit
anfehen Fann, ein Recht, das mit der Yes des Staates, mit ber menſch⸗
lichen Freiheit, mit dem Menſchenthum abſolut unvereinbar iſt, teil 08
freigeborene Menſchen zu willentoſen Gegenftänden macht, bie Eraft einer von
ihnen unabhängigen und außer ihmen fiegenden Urfache beſtimmt und ges
aucht twerben koͤnnen wie eine Sache. Durch die Zuruͤckfuͤhrung feiner Ges
walt und feiner Geſetze und Einrichtungen auf eine Offenbarung verfegt der
Staat ſich ſelbſt und feine Thaͤtigkeit auf ein Gebiet, das der menfhlichen
Vernunft ebenfo ehe als dem menſchlichen Wilten verfchloffen iſt, auf das
myſtiſche Gebiet ber Urbermenfchtichkeit. So ein „Arifklicher Staar” iſt un:
erträglich mit der Freiheit der menſchlichen Keitit, Denn fobald es geftattet
ift, die Dffienbarung auch in Zweifel zu ziehen, fie zu beurtheilen, fo geräih
das Geoffenbarte in fahr, andy nicht als Offenbarımg anerkannt zu werben.
Dir „riftliche Staat” muß daher die Frelhelt des menſchlichen Urtheits
vernichten. Zufaͤlliger Wolfe aber hat fich die menfchliche Vernunft ſchon
geraume Beit daran gewöhnt, nicht mehr ſchlechthin zu glauben, fondetn zu
prufen, wie «8 fchom der Apoftel Paulus angerathen hat; die mienfchliche
Vernunft muß daher dert „hriftlichen Staat” mit Proteft zurädtveifen.
Was geoffenbart iſt, ſtammt aus höherer, unfehlbarer Duelle, es
formit abfolute Güftigkeie Haben, denn hätte es diefe nicht, Könnte es
auch falſch und fehlerhaft fein, fo würde dadurch bie Offenbarung compromit⸗
tirt. Was abfolute Guͤltigkelt hat, iſt fchlechthin gut, und zwar gut ſo, wie
es ift, ſchließt deshalb jede Veraͤnderung und Verbefferung aus, denn diefe
wäre ein Beweis, daf die urfprüngliche Offenbarung unvollkommen, fehler:
haft war. Der auf „Dffenbarung” baſirte „chriſtliche Staat’ repräfentirt
Daher das Princip der Stabilität, die abfolute Gültigkeit des beflehenden
Zuftandes, er fchließt Reformen, er ſchließt das Princip des Fortfchreiteng
aus und iſt fomit unverträglich mit dem erſten und hoͤchſten Naturgeſetz
des Lebens, mit dem Gefeg der Bewegung. Der „chriſtliche Staat” führt
daher nothmwendig zur Nevolution, er hat dazu geführt und wird dazu führen.
Die Offenbarung wird vermittelt durch die Diener des offenbarenden
Weſens, d. h. durch die Priefter. Prieſter find Menfchen, durch die Offen:
barung aber werden fie zu untrüglichen Gefäßen des göttlihen Willens ges
acht und Ihren Ausfprüchen göttliche Autorität beigelegt. Der „chriſtliche
Staat” gerät daher in Gefahr, Alles das fanctioniren zu müffen, was die
Priefter als göttliche Wahrheit ausgeben, und in der That ift Erin Unfinn fo
groß, der nicht irgendwann oder irgendwo ein Glaubensartikel geweſen wäre.
Priefter find, feit die Melt fleht, die Avantgarde des Despotismus,
die ſchwarze Gensdarmerie, welche auf Alles fahndet, was ſich frei regt und
betvegt im Reiche des Geiftes. Der „chriſtliche Staat” räumt daher einer
Kaſte, deren Gefchäft es ift, die menschliche Freiheit zu befehden, einen un:
mittelbaren und mittelbaren Einfluß auf das Volksleben ein, d. h. er liefert
das Volk feinen geiftigen Henkern in bie Hände.
Glaubensfreiheit. 481
Endlich hat zu allen Zeiten der thatfächliche Zuftand des chriftlichen
Staates fo Löftliche Früchte getrieben, daß er auch erfahrungsmäßig verurs
theilt werden muß. Während in den menfchlichen Staaten, wo die Gemalt
aufdas Volk zuruͤckgefuͤhrt wird, die Freiheit bluͤht und ein geordneter Rechte:
zuftand,, floßen wir in „chriſtlichen Staaten” allnthalben auf Eenfur und
Vernichtung jeglicher Sreiheit, auf Majeftäts: und Hochverrathsproceſſe, auf
Polizelwillkuͤr und Mangel an einem bie perfönliche Freiheit garantirenden
Rechtszuſtand. | Ä \
Kehren wir nach diefer Apoftrophe zum Hauptthema zurüd. Ich ftellte
oben denjenigen Zuſtand als das richtige Verhältniß zwiſchen Stant und
Kichhe, als Gewiſſens⸗ und Meligionsfreiheit dar, in welchem der erftere In
Beziehung auf die religiöfen Angelegenheiten feiner Mitglieder ſich indifferent
verhulte, alfo weder einen pofitiven nody einen negativen Zwang altsübe.
Die Religion, d. h. der Glaube, und die Symbole, welche jenem zur Folle
dienen, bezeichnete ich als &egenftände einer individuellen Neigung, als
Privatangelegenheiten,; welche dee Staat ebenfo wenig zur Allgemeinheit
erheben, d.h. mit publiciflifchem Zwange belchnen dürfe, als 3. B. das
Schoͤnheitsgefuͤhl der Einzelnen und bie Formen, in melden diefes ſich
etwa objectivirt, oder als bie Freundfchaft und die Symbole, welche fi
daran knuͤpfen. Ebenfo wenig al z.B. der Staat Geſetze in Beziehung
auf die Freundſchaft erlaffen oder ein Symbol der Freundfchaft, 3.8. das
Anftoßen mit Weingläfen und nachfolgenden Haͤndedruck, fanctioniren
darf, ebenfo wenig hat er das Recht, in Beziehung auf die Religion einen
Zwang auszuüben und gewiffe Symbole und Gebräuche zu einer Nothiven-
digkeit zu machen, der ſich Alle unterwerfen müffen.
Durch diefe Forderung wird der herkoͤmmliche Begriff von Gewiſſens⸗
freiheit bedeutend erweitert. Die gewöhnliche Doctrin begreift unter Gewiſ⸗
fensfreiheit folgende Rechte: .
1) Riemand kann zu einer anderen Religion gezwungen werben.
2) Jedem fteht frei, zu einer anderen Religion überzutreten.
3) Keinem darf feiner Religion wegen ber Staatsfhug verfagt werben.
4) Die Ausübung bes Gultus oder die Gottesverehrung iſt Jedem
wenigſtens im Haufe geflattet.
Diefe Definition iſt jedoch weiter gar nichts Anberes als eine Paraphrafe
des Gewiſſenszwanges, tie ihn die Verfaſſungen oder die Praris der „chriſt⸗
lihen Staaten” ausübt. Um vorerſt von den übrigen Punkten zu abſtrahi⸗
ven, enthält bereits die erſte Beftimmung die Sanction des Gewiſſenszwan⸗
ges, benn fe geht von ber Vorausfegung aus, daß der Staat das Recht
babe, feine Angehörigen überhaupt zum Anfchluß an eine der beſtehenden Kir⸗
chen oder Gonfeffionen zu zwingen. Die rechtliche und logiſche Unmoͤglich⸗
keit dieſes Zwanges habe ich jedoch bereits nachgerviefen, er beruht, wie gefagt,
auf der falfchen Identificirung von Moral und Eultus und auf ber falſch
aufgefaßten Forderung , daß der Staat ohne Religion nicht beftehen könne.
Diefer Sag ift ganz richtig, wenn man babei das Wefen der Religion, Ihren
Anhalt im Auge hat und unter Religion die Anerkennung und die Herrfchaft
des Sittengefeges verficht. Identificirt aber der Staat mit biefem Sitten⸗
Suppl. 3. Staatslex. II. 31
}
482 Glaubensfreiheit
" pr ) ' . :
gefeg, bie Aeußerlichkeiten ber Meligion, die Glaubenslehren und die Gere
monien , fo geräth er auf die oben berührten Abfurbitäten und übt in optima
forma einen Gewiffenszwang aus, weil er zur Anerkennung gewiffer Foͤrm⸗
fichleiten zwingt, bie num einmal file viele Leute nur leere Foͤrmlichkeiten
d. Ein Staat, der pofitiven Glaubensywang ausübt, d. h. ber feine
Ungehörigen zwingt, die Aeußerlichkeiten irgend einer der. beftehenden Kirs
‚d.5. ihre Dogmen und Geremonten, anzuerkennen, ber kann confe=
quenterweiſe jeden Einzelnen nöthigen,, jeden Tag die Meffe oder jeden Sonn:
tag die Predigt zu hoͤren, fo und fo oft oder überhaupt das Abendmahl zu
nehmen, denn das Abendmahl ift fo gut eine Ceremonie ald bie Zaufe
ober die kirchllche Einfegnung der Ehen, welche der „hriftliche Staat” mit
‚einem Alle bindenben Iwange belegt. Ein ſolcher Staat greift in die innerfte
Freiheit des Menfchen.ein und maßt fih an, ba zu befehlen, wo Miemand
herrſchen foll als des Menfchen eigenfter Wilke.
Als ‚zweite. Borausfegung ftellt die Glaubensfreiheit die Forderung am
den Staat, daß er in Beziehung auf rellgiöfe Angelegenheiten keinen nega—
‚tiven Zwang ‚ausübe; Diefer negative Zwang kann ſich direct. und indirect
Einen directen Zwang uͤbt der Staat auf das religiöie Gefühl feiner
‚Mitglieder aus, wenn er in irgend einer Weife hindernd oder befchränfend in
bie Form ihrer Äußeren Gottesverehrung, alſo in ihre kirchlichen Gebräudye
‚eingreift. Einen folhen Zwang darf der Staat nicht ausüben, denn er ver:
fett ebenfo die perfönliche Freiheit, old wenn er zum Anſchluß an irgend eine
der beftehenden Gonfeffionen zwingt. Das religiöfe Gefühl ift, mie ſchon
bemerkt , eine innerliche Seite bes Menfchen, ein Ausdrud feiner Indivi⸗
dualitaͤt; bie Freiheit des religiöfen Gefühls ift daher ein Merkmal der per-
fönlichen Freiheit, und ber Staat ift gerade diejenige Anjtalt, in meldyer
jeder Einzelne feine Individualität frei entwideln können muß. Der Staat
hat deshalb in keiner Weife das Recht, ſich in bie inneren Angelegenheiten
eines Vereines zu miſchen, in welchem das religiöfe Gefühl einzelner Staats⸗
angehörigen feine Befriedigung findet. Solche Vereine ftehen zum Staat
in demfelben Verhältniß wie 3.8. die Hausordnung, die häuslichen Ge:
wohnheiten und Gebräuche der Samilie, d. h. fie find weſentlich ſich felbft
beftimmend,, von ſich felbft abhängend und auf fich felbft angemiefen. Die
Samilie, ihre Gewohnheiten, die Hausordnung, das Schlafzimmer find
Heiligthuͤmer, die jede freie Verfaffung refpeetirt, ebenfo ift das religiöfe
Gefühl des Menſchen und die Form, in welcher e8 zu Zage kommt, ber
Zempel feiner Individualität, der jedem profanen Eintritt verfchloffen fein
muß. Wie würde man eine Staatsgewalt beurtheilen, welche durch Geſetze
‚ober die Polizei 3.8. dem Familienvater die Hausordnung, die Stunde dee
zEſſens oder Schlafengehens, die Zahl der taͤglichen Gerichte vorſchreiben
wuͤrde? Ein ſolcher Zwang wäre nicht blos verletzend, ſondern abſurd, er
„tpäre ſogar laͤcherlich, er waͤre, komiſch. Daſſelbe Urtheil muß den Zwang
treffen, welchen der Staat in religiöfen Angelegenheiten ausübt. Und doch
.mird er ausgeübt in einem Jahrhundert, in welchem man e8 nachgerade un-
begreiflich findet, daß man in früheren Zeiten Menfchen todtſchlug, die an:
!
Glaubensfreiheit. 488
dern Glaubens waren, daß man Fegerifche Nationen ganz zu vertilgen ſuchte,
da man Kinder der Andersgläubigen für Baftarde erklärte, daB man Ketzer
mit Hunden und Gensb’armen in die Tempel ber privilegirten Kirche beste,
daß man fie aus dem Lande jagte, ihnen bürgerliche Ehre und Menfchenrechte
entzog, ihnen die Merkmale der öffentlichen Gottesverehrung, z. B. Soden,
Kirchen, Begräbnißpläge verbot. In unferen Lagen kann nun freilich ein
unfittliches Princip nicht mehr in der crafjen Form auftreten, weldye es früher
charakterifirte, ein Nero und Ziberius gehören zu den moralifhen Unmoͤg⸗
lichkeiten des 19. Sahrhunderts, obgleich das Princip, das diefe abfoluten
Herrfcher repräfentirten, noch allenthalben dominirt. So best man benn auch
die Keger nicht mehr mit Hunden in die peivilegirten Tempel. der Staats:
Eirche, aber man druͤckt fie auf andere Weife, man läßt Polizei, Gensd'ar⸗
men und widerrechtliche Gefege und Verordnungen gegen fie los. Hier
darf die Gottesverehrung der Katholiken, dort der Cultus der Proteflanten
nicht öffentlich ſich bliden laſſen; bier ift diefer, dort jener religiöfen Partei
nur die Hausandacht geflattet; hier wird diefe, dort jene Confeffion in ihren
religiöfen Gebräuchen befhränkt und gehindert. Vorzüglich Hat diefes Schick⸗
fal in neuerer Zeit die Deutfchlatholiten getroffen. Nicht genug, daß man
fie in den meiften Staaten geradezu unter die Guratel der Polizeidiener
ftellte, daß man ihnen Öffentliche Gottesverehrung, Öffentliche Einladungen,
das Recht, Öffentliche Kirchen zu haben , unterfagte, daß man, um die Lds
cherlichkeit und Abfurdität auf die Spige zu treiben, ihnen fogar die Größe
ihrer Betſaͤle nach Quadratſchuhen vorfchrieb , wurde der Webertritt zum
Deutſchkatholicismus hier und da dem Hochverrath gleichneftellt und gefeglich
verboten. Iſt dies nun nicht daffelbe Princip, nach welchem früher bie
Hugenotten in Frankreich, die Huffiten in Böhmen u- f. w. behandelt wur:
den? Kann man nicht mit demfelben Rechte zu glauben verbieten, Daß zweis
mal zwei 4 fei und die Erde um die Sonne ſich drehe ? Ja man könnte «6
und würde es thun, wenn man ein Intereſſe und die Macht dazu hätte.
Hierher gehört auch bie Gewiſſensfreiheit in Beziehung auf die Einfeg-
nung gemifchter Ehen durch Eatholifche Priefter. Wenn bee proteflans
tifche Staat diefe Legterm zwingt, wider ihre Weberzeugung und bie Lehren
ihrer Kicche gemifchte Ehen einzufegnen,, ohne das Verfprechen der Ehe:
leute, die Kinder Batholifch erziehen zu wollen, fo ift dies ein Eingriff in
die Gewiſſensfreiheit Latholifcher Priefter, und wenn der katholiſche
Staat Proteflanten zwingt, jenes Verfprechen vor der ihnen unentbehrlichen
priefterlichen Copulation abzulegen, fo ift dies eine Verlegung der Gewiſſens⸗
freiheit von Proteftanten. In diefes Dilemma geräth jeder Staat, der eine
Staatskirche fanctionirt hat, und es giebt für ihn nur einen Ausweg, naͤm⸗
lich die Emancipation der bürgerlichen Verhältniffe, alfo auch ber Ehe von
der priefterlichen Sanction, d. 5. Aufhebung der Staatskirche.
Bon gewiſſer Seite her wird nun zwar freilich behauptet, der Staat
erfülle die Forderungen dee Gewiſſensfreiheit fchon dadurch, daß er Jeder⸗
mann glauben laffe, was er wolle, d. h. daß er nicht in das Innere des
Menfchen durch phyſiſchen Zwang eingreife. Diefe innere Gewiſſensfreiheit
dürfe aber Beine Außere werben und begrünbe keineswegs den Anſpruch auf
| 3l*
484 Glaubensfreiheit
unbeſchrantte Berwirkitchung des Glaubens, d. h. auf Freiheit des Cul⸗
{a8 und der dußeren Gottesverehrung. Diefe feien dem Bereiche der Staates
gewalt verfallen, meldhe ein Recht Habe, fie zu befchränten. Es enthält diefe
Behauptung jedoch einen Paralogismus , der nur durch die Perfidie feiner
Ucheber erklaͤrt werden kanm. Gegenftand der Einwirkung der Staatsgewalt
in nur ein Gegenftand fein, d. b. nur etwas, was aus der Innerlichkeit in
die Sinmenmwelt heranstrite. Der Glaube Aufert ſich nun als Cultus. Für
ben Staat iſt alfo der Glaube nur als Cultus greifbar, die Gewiffensfreiheit
fomte nıre als Gultusfreiheit zu ſtatuiren oder zu verlegen. Aufdas Gefühl
an fich, auf das Innere des Menſchen unmittelbar einzuwirken ift noch Fels
nem Despoten gelungen und wird aud) feiner Gewalt je gelingen, die aufer
dem Menſchen liegt, ſonſt wäre längft Bein Gedanke und fein Wille mehr
in ber Welt, fonft hätte der Menſch feine Willensbeftimmung laͤngſt auf dem
Poltzefburenu zur holen. Was man alfo nicht hindern kann, das kann man
auch nicht geftattenz denn gefkatten kann man nur das, was man auch) vers
—9 Birne. Die Möglichkeit einer Einwirkung ber Staatsgewalt auf das
veltgtöfe Gefühl des Menfchen kann fich deshalb mur auf deffen Aeußerung,
auf ben Cultus beziehen! Unter Gewiſſensfreiheit ift fomit nichts Anderes
zu verſtehen als Religlonsfreiheit, d. h. Frelheit der äußeren Gottesverehrung.
Auch diefe Ausführung bemeifet wieder zur Genuͤge, welch' befchränkten
Standpunkt die herkömmliche Definition der Gemwiffensfreiheit, die oben
efühet ift, einnimmt. " Wenn diefe Definition es ale ein Merkmal der
— bezeichnet, daß die Ausuͤbung des Cultus Jedem wenig⸗
ſtens im Haufe geſtattet fein miäffe, fo verfällt fie in den eigenthuͤmlichen Feh⸗
fer, daß fie etwas als Freiheit bezeichnet, was weſentlich Befchränfung ber
Freiheit involviert. Sobald einer Religionspartei nur die Hausandacht ge:
ſtattet iſt, fo ift ihr damit die Freiheit der öffentlichen Andacht genom>
men und diefe Beſchraͤnkung verlegt ebenfo fehr die perfönliche Freiheit, ale
fie jedes vernünftigen Grundes entbehrt.
Indirect übt die Staatsgewalt einen negativen Zwang auf das religioͤſe
Gefühl der Staatsbürger aus, wenn fie ben Vollgenuß der ſtaatsbuͤrgerlichen
Rechte, bie Ausübung gewiſſer politifcher Befugniffe von dem Anſchluß an die
Staatskirche abhängig macht, und Denjenigen ihre politifchen Rechte ver:
kuͤmmert, welche einem nicht privilegirten religidfen Verein angehören. Die:
fee indireete Zwang geht neben dem directen her und ift auch demfelben Urtheil
verfallen. Die kirchlichen Gebräuche fiehen in gar keinem Cauſalzuſammen⸗
hange mit den bürgerlichen Rechten. Der Staat, wenn er feiner Idee ents
ſpricht, kennt nur Bürger und Menfchen , aber Feine Rechtglaͤubigen und keine
Diffidenten, er kann von feinen Angehörigen nur die Anerkennung ber
Geſetze und die Erfüllung der bürgerlichen Pflichten verlangen, aber nim⸗
mermehr die Anerkennung gewiſſer Glaubenslehren und Geremonialgefege.
Alſo auch in diefer Beziehung fanctionirt die gewöhnliche Definition von
Gewiffensfreiheit ganz eigentlih den Gewiſſenszwang, wenn fie an .den
Staat nur die Forderung, Keinem feiner Religion wegen ben Staatsfhus zu
verfagen, ftellt. Auf den Staatsfchug kann Jeder Anſpruch machen, der
das Territorium eines Staates betritt, find ja doch in neuerer Belt fogar die
Slaubendfreiheit, 485
Lin unter den Staatsſchutz geftellt worden. Eine Gewiſſensfreiheit, die
ffidenten nichts weiter gewährte als ben Staatsſchutz, würde daher
biefe In policifcher Beziehung nicht über bad, Thier flellen.
Ich Habe nun in Beziehung auf die Emancipation der nur gebulbeten
ober in der einen und anderen Weiſe befchränkten religiöfen Vereine noch
Einiges zu bemerken. Dian beruft fich beſonders auf Seite der Juriſten fehr
häufig auf das pofltive Recht, auf bie im Staate geltenden Geſetze, und hat
dies befonder® in ber deutſch⸗ Latholifchen Angelegenheit gethan. Es iſt dies
daffelbe Verfahren, welches auch in den Petitionen und Kämpfen für Der
flelung der Preßfreiheit und anderer Menfchenrechte gewöhnlich beobachtet
wird. Alten abgefehen davon, daß die Geſeze in den meiften Allen einer
doppelten Auslegung unterworfen werden Eönnen und fehr häufig fogar
der Gewiſſensfreiheit und Gteichftelung faͤmmtlicher religiöfer Vereine ges
radezu widerfprechen, gilt, fobald es fi) um Menfchenrechte handelt, der
Grundſatz, den Börne in feiner Art mit den Worten ausbdrürkte: „bie Preß⸗
freiheit, fonft hole Euch alle der Teufel.” Ja, Prebfreiheit und Religions:
freiheit, überhaupt Anerkennung unveräußerlicher Menfchenrechte, ſonſt hole
Euch allerdings der Teufel. Mechte, welche bie Menfchheit bedingen, Rechts,
ohne deren Dafein der Menſch nicht mehr Herr über fich felbft und feine inner⸗
ſten Gedanken und Gefühle iſt, ſolche Rechte Binnen durch Fein poſitives Recht
unterdrückt werben, ein ſolches Recht iſt rechtlich ungültig. Aber dieſe Aps
pellationswuth an das pofitive Recht iſt eine wahre Nationalkrankheit ber
Deutſchen und ein fehr zweideutiger Beweis ihres Freiheitsgefuͤhls. Wenn
bie erſten Menſchenrechte unterdrüdt werden, wenn Preßfceiheit und Ge⸗
wiſſens freiheit vernichtet ift, wenn beutfche Stämme vom Vaterland und
der Nation losgerifien und vererbt werden follen wie eine Sache, fo beruft
man fi im Kampfe gegen biefe Gewaltchätigkeit nicht. auf fein natürliches .
Recht, auf feinen Willen und fein Freiheitsgefuͤhl, fondern auf eine äußerliche
Beſtinmung, auf Paragraphen eines Gefeges, das vieleicht ohne Zuthun
und Zuſtimmung ber Betheiligten ftatuirt wurde. Dies tft politifche Bes
ne Mangel an Freiheitsgefauͤhl, welcher der Feigheit oft nahe ver⸗
wandt
Ebkdeanſo involvirt die gewoͤhnliche Art der Emancipation Andersglaͤubiger
immer noch Gewiſſenszwang, weil fie ſtets nur den negativen Zwang auf
hebt. Handelt es ſich z. B. um Emancipation ber Juden oder Deutſchkatho⸗
liken, oder werden dieſe wirklich emancipirt, fo geſchieht dies nur in dee Weiſe,
daß fie den Angehörigen der Staatskirche gleichgeftellt werden. In diefer
Gleichſtellung iſt aber Immer noch der Zwang für die Staatsangehörigen ents
halten, zu irgend einer pofitiven Glaubenslehre, zu irgend einem Ceremo⸗
nialgefeg fich zu bekennen. Es wied dadurch in Wahrheit der Glaubenszwang
nicht vollſtaͤndig aufgehoben, ſondern bie Zwangsanſtalt wird nur erweitert,
es wird neben der beſtehenden Zwangsſtaatskirche noch eine weitere Zwangs⸗
kirche geſchaffen. Die wahre Emancipation, die vollſtaͤndige Vernichtung
des Glaubenszwanges, bie gaͤnzliche Herſtellung der Gewiſſensfreiheit kann
ſich daher niemals auf eine beſondere Secte beziehen, ſondern muß allgemein
gefaßt fein in dem Grunbſatz: ber Staat zwingt Niemanden zu einem ber
486 Glaubensfreiheit.
ſtimmten Dogma und zu irgend einer Ceremonie, der Staat verhaͤlt ſich dem
Glauben und feinen Symbolen gegenüber völlig indifferent , er ſtatuirt wahre
Geriffensfreiheit.
leſe Korberung ſucht man hin und wieder burch den Einwurf zu ent:
Präften, daß durch eine foldye Gewiffensfreiheit der Zerfplitterung des Vol:
tes in unzählige religiöfe Secten Thür und Thor geöffnet werde. Befon-
ders die Schwärmer für eine allgemeine Nationalkirche find über biefen
Punkt fehr geiftreich geweſen. Jedoch ein klarer Blick in das Wefen der Re⸗
liglon und eine nur einigermaßen philoſophiſche Auffaffung der hierher gehö-
renden Verhältniffe muß obigen Einwurf und den Gedanken an eine Natio-
nalticche ober Nationalftaatskicche augenblidlic in feiner logifchen Schwäche
erkennen. Die Religion bes Indivlduums iſt nichts Anderes ald das Reful-
tat feiner individuellen Befchaffenheit, der Ausdrud feiner Individualität
und ber Culturſtufe, welche jeber Einzelne einnimmt. Das religiöfe Gefühl
gehört zu den fpecififchen Merkmalen dee Individualität, ebenfo gut als
jedes andere Gefühl des Menfchen, oder die Art und Weife, mie er ſich felbft
beſtimmt und die Außenwelt auf fich bezieht. Was fo durchaus individueller
Natur iſt, kann deshalb nlemals nad, einer allgemeinen Norm regulirt wer:
den, weil ſonſt die menfchliche Individualität verwiſcht und ihre Freiheit an:
gegriffen würde. Es kann feine allgemeinen Beſtimmungen für den Ge-
ſchmack des Menſchen geben, denn jeder Einzelne wird durch die Außenwelt
fo afficirt, wie es feine Natur, fein ganzer Organismus beftimmt. Ein
allgemeiner Nationalgefhymadverein wäre deshalb eine Abfurbität. Es wäre
unnatürlic), gewiſſe allgemeine Geſetze aufftellen zu wollen, denen ſich das
Privatgefühl jedes Einzelnen zu accommodiren hätte. In Beziehung auf bas
religiöfe Gefühl ift daher nur Dasjenige der natürliche Zuftand, in welchem
vollftändige Freiheit und der unbegrenztefte Spielraum für bie Individualitaͤt
jedes Einzelnen herrſcht. Erfahrungsgemäß wird diefe apriorifche Wahrheit
durch den Eicchlihen Zuftand der nordamerifanifchen Freiſtaaten bewieſen.
Hier hat das religiöfe Gefühl vollftändige Kreiheit, hier ift das Vaterland
der Secten, weil ſich Jeder zu derjenigen religiöfen Anficht bekennt, die fei-
ner Individualität zufagt, diefe Individualitdten aber find fehr verfchie-
dener Natur. So lange daher die Menfchen nicht alle über einen Kamm
gefchoren find, wie man zu fagen pflegt, ift die Zerfplitterung in Secten der
nätürlichfte Zuftand eines Landes in kirchlicher Hinſicht. Wäre e8 gegen:
theile in der Idee der Religion und in der Natur des Menfchen begründet,
das religiöfe Gefühl der Einzelnen in eine Alle umfaffende Anftalt zu zwingen,
fo würde ſich diefer Zuftand da von felbft einftellen, wo die Natur volle Srei-
heit hat, fich zu entwideln. Oder wenn das Zuftandelommen eines ſolchen Zu⸗
ftandes längerer Zeit bebürfte, fo müßten wenigftens die Keime dazu in den
Eicchlichen Zuftänden Amerikas bereits fichtbar fein. Es findet aber geradezu
das Gegentheil ftatt, denn tagtäglich bilden fich neue Secten und Vereine,
neue Anfihten und Gebräuhes Zwar ſucht ſich in diefer fluctuirenden
Maffe die Eatholifche Kirche als fefter Kern zu confolidiren, um etwa einer
fpäteren Kryſtalliſation einen Anhaltepunft zu bieten. Die Sectenfreiheit ift
jedoch fo fehr in der Natur des Freiſtaates begründet, baß über Eurz oder lang
Slaubensfreihet. 487
&
der Batholifchen Kirche in Amerika eine wefentliche Umgeftaltung droht. Das
tepublitanifche Bewußtſein und das dem Proteftantismus zu Grunde liegende
Princip der Geroiffensfreiheit ift bereits fo mißtrauifch geworden, daß ein
Principientampf nicht ausbleiben kann. Diefer aber wird fi) zunächft um die .
Oberherrlichkeit des Papſtes drehen, und ift dieſe einmal verneint und vernich⸗
tet, dann ift der Eatholifchen Kirche der Schwerpunkt, der bindende Kitt
genommen, dann fft in ihr Syſtem ber Stabilität eine Breſche gefchoffen,
durch welche eine Fluth von Secten und Parteien eindringen wird.
Ueberhaupt lehrt die Geſchichte aller Kirchen, daß biefe nur in der Unter:
druͤckung ber Freiheit des individuellen religiöfen Gefühle die Möglichkeit
ihrer Eriftenz haben, fo fehr, daß dieſe Unterdruͤckung das fpecififche Merk:
mal, das Lebensprincip der Kicche bildet. Eine Kirche, welche bem Indivibu-
ellen Blauben , den befonderen Anfihten und Meinungen Freiheit gewaͤhrte,
würde in demfelben Augenblide, in welchem fie dieſes Princip aufftellte, auf⸗
hören Kicche zu fein, denn fie ſanctionirte dadurch die Freiheit der Kritik, dieſe
aber laͤßt ſich keine Schranke gefallen, laͤßt fich Beine Grenze ziehen, über melche
fie nicht hinaus darf. Tine Nationalkicche müßte daher entweder ein bins
dendes Slaubensgefeg aufftellen, oder aber die individuelle Meinung frei ges
ben. In jenem Falle geht die Freiheit verloren, in diefem Falle iſt bie
Kirche unmöglich, weil fie fi) in Secten und Parteiungen auflöfen muß. °
Endlich ift die Feindfchaft gegen die Zerfplitterung des Volkes in veli-
gioͤſe Secten mit ber richtigen Auffaffung der Religion unverträglich, denn fie
ſetzt das Wefen berfelben in das Dogma und den Gultus, und nicht in das
fittliche Princip. In Beziehung auf diefes legtere find alle Secten im AU:
gemeinen einverflanden, während fie nur bie äußere Sorm, Verſchiedenheit
der Glaubensanſichten, verfchiebene Gebräuche von einander trennm. Man
kann, wie ſchon gefagt, ein ganz fittlicher Menſch fein, ohne ſich viel an Dogma
und Cultus zu Eehren ; ja die tägliche Erfahrung lehrt, daß fehr häufig dieje⸗
nigen Secten, welche in Beziehung auf die religiöfen Aeußerlichleiten von .
dem Ritus und den Lehren der herrfchenden Kirche gar fehr abweichen , ihre
Mitglieder viel moralifcher machen als die Staatskirchen ihre Unterthanen,
eben weil bei jenen Secten Alles mehr auf das Werfen, auf das fittliche Princip
geſtellt ift und dieſes daher auch lebendiger in ihnen iſt al& ba, mo die Form
zum Weſen gemacht wurde.
Diele glauben auch, durch die Berfplitterung eines Volkes in religioͤſe
Secten werde feine politifche Einheit geftört. Allein abgefehen bavon, daß
die Geltendmachung der Indwidualitaͤten auf ben wahren Staat nicht nach⸗
theilig influiren kann, weil e8 in ber dee des Staates begründet ift, fie zu
geftatten, üben die religiöfen Secten nur dann einen flörenden Einfluß auf
die Einheit des Staates aus, wenn bie Staatsgewalt eine falfche Richtung
und Tendenz verfolgt. Als eine folche bezeichne ich diejenige Stellung einer
Regierung , in welcher fie aus unwuͤrdigen Rüdfichten ben Umtrieben und
Machinationen der Priefter irgend einer religiäfen Partei, jenen Umtrichen,
welche allein religiöfe Feindſchaft und Unduldfamkeit gegen Andersdenkende
erzeugen, nicht kraftvoll entgegentritt, weil fie vieleicht mit dieſen Prieſtern zu
einem gemeinfamen Zwecke Hirt if. In einem auf das Princip der Sreiheit
bafleten Staat, wo die Reglerung Beine freih⸗ feindlichen Zwecke verfolgt und
wuͤrdige madhdn + Stellung den teligiöfen Parteien Bene ein«
— erben biefe ri Garn einander wohnen und ſich in politifcher Hin⸗
ei lieber einer Genoffenfchaft, eines freien Staates betrachten, und
ia anatifche Priefter es wagen, dieſen Srieben zu flören, jo hat eine
5 same —— in * —* — Bee bes Menſchen⸗
ee len * * Air, 1 en
eife verfchmwiftert bat,
nd? Ich führe Er an N:
menbeit, die rer Gewalt au —* hoeil. im mei
| en en. als der Urquell ber geſammten atsgewalt und Kraft betrach⸗
ber Monarchie dagegen idte Staatsgewalt das Recht eines be-
ubjectes, dat t der Perfom, welche herrſcht. ‚Beide Arten von
haft ftellen einen Willen dar, der ſchlechthin abfolut, d. h. von einem
andern abhängig ift, unterfcheiben ſich jeboch darin von einander, baf der in
der Demokratie herrfchende abfolute Wille nur an ſich abfolut ift, während
er In der Monarchie tranfcendent ift, außer dem Volk fteht und fo zum Ab—
folutismus wird. Ebenfo Enüpft die Kirche ihre Geſetze an die dee bes
Abfoluten, b.. b. eines ſchlechthin abſoluten Dafeins oder Willens. Die
Kirche ift eine Anftalt, in welcher das Geſetz diefes abfoluten Willens verfün:
digt und zur Anerkennung gebracht wird. Die Kirche und die abfolute Mon:
archie find baher zwei einander ganz nahe verwandte Anftalten.
Sin beiden gehordyen bie Unterthanen einer über ihnen ftehenden, von
ihnen unabhängigen abfoluten Gewalt. Beide find die Formen, in welchen ein
abfoluter Wille realifirt wird. An fich unterfcheidet fich der Abfolutismus
der Kirche von dem politifchen dadurch, daß ihr zunaͤchſt der phyſiſche Zwang
fehlt, wodurch ſie die Anerkennung ihrer Geſetze erzwingen kann, ihr ſteht
zunaͤchſt nur der pſychologiſche Zwang oder die freiwillige Untertoerfung ihrer
Unterthbanen zu Gebot. Dies find jedoch nicht immer und nicht für alle
Zeiten hinreichende Garantien, um die Unterthanen im Gehorſam zu erhal⸗
ten, die Kirche ſieht ſich deshalb nach einem Bundesgenofjen um, welcher
ihr feinen Arm, feinen phufifchen Zwang leiht. Diefer Bundesgenoffe ift
der ihr verwandte politiihe Abfolutismus.
Ebenſo reichen die Mittel, melde diefer befigt, nicht für alle Fälle zur
Erzwingung des Gehotſams feiner Unterthbanen aus, denn ein Zufall oder
*) Monarchie bier als abfolutes Kdnigthum geñnommen. DB.
| Slaubendfteiheit. 489
fonft eine Urfache kann diefen die phnfifche Uebermacht verfchaffen. Der '
politifche Abſolutismus muß ſich deshalb ebenfalls nad) einem Bundesgenoſ⸗
fen umfehen , welcher ihn des Willens feiner Unterthanen verfichert, wel⸗
her einen pfochologiichen Zwang ausübt. Diefer Bundesgenoffe ift der kirch⸗
liche Abfolutismus. Beide verbänden fih nun, ergänzen fich gegenfeltig und
helfen einander ihre Zwecke zu erreichen. |
Der politifhe Abfolutismus zwingt feine Unterthanen zum Gehors
ſam gegen die Gefege der Kirche, er fchafft eine allein gültige, privilegirte
Staatskirche, welcher feine Unterthanen angehören muͤſſen. Die Kirche
in ihrer Dankbarkeit für den geleifteten Dienft giebt dem politifchen Abſo⸗
lutismus bie Weihe, ftempelt feine Gewalt zu einer abfolut gültigen, zu einer
göttlichen und unantaftbaren. Die herrfhende Gewalt zwingt die Unterthas
nen zum Gehorfam gegen die Kirche, und die Kirche erzicht fie zum Gehor⸗
ſam gegen den Staat, Beide finden in biefem doppelten Gehorſam ihre Rech⸗
nung, die Quelle ihrer Eriftenz, die Garantie ihrer Macht.
Diefe Gründe, die natürliche Verwandtſchaft beider Gewalten und ihr
gemeinfames Intereſſe flifteten den Bund zwiſchen der chrifllichen Kirche und
. dem römifchen Imperatorens Despotismus unter Gonftantin, den man ben
Großen nennt. Die Folgen davon waren fehr bald fichtbar. Mas urfprüngs
lich freiwillig geweſen, was in ben Zeiten des Urchriftenthums in das Belieben
jedes Einzelnen gelegt war, wurde jegt geboten. Direct und indirect wur⸗
den die Nichtchriften zur Unterwerfung unter das Gefeg der chriſtlichen Kirche
gezwungen, der Austritt aus ihr gefeglic verboten und eine Abweichung
von dem vorgefchriebenen Blauben mit den empfindlichften Nachtheilen
und Strafen bedroht. Die Gewiffensfreiheit hatte ein Ende.
Im Abendlande geftaltete ſich das Verhaͤltniß zwifchen Staat und
Kirche anfangs anders. Go lange die Träger der Staatsgewalt nicht abfolut
waren, fo lange fienur eine vom Volke übertragene Gewalt ausübten, war
ihre innerfle Ueberzeugung von der abfoluten Gültigkeit, von der Goͤttlichkeit
der Lehren der Kirche der Hauptgrund, welcher fie bewog, ihren weltlichen
Arm ber Kirche zu leihen, abtrünnige Keger zu verfolgen, überhaupt Gewiſ⸗
ſenszwang zu üben, oder auch die felbftherrliche Surisdiction der Kirche anzuers
kennen. Später äußerte aber auch hier die oben berührte Verwandtſchaft
beider Gewalten ihre Wirkung, es erzeugte ſich nach und nach ber fürftliche
Abfolutismus , die Lehre von dem göttlichen Rechte der Herrfcher und ber
göttlihen Natur ber Staatsgewalt. Zwar Fam der kirchliche Abſolutismus,
als durch die Anmaßung ber Päpfte die Selbftftändigkeit der Throne Immer
mehr gefährdet wurde, mit der politifchen Herrfchaft In Collifion, allein
dieſes Zerwuͤrfniß berührte nur das gegenfeltige Verhaͤltniß zwifchen zwei
verwandten Gewalten, für das Verhältniß, in welchem fie zu den Unterthanen
ftanden, und beforiders für die Freiheit der Regteren blieb e8 ohne Einfluß.
Nach der Reformation wurde der Zufammenhang zwiſchen beiden Ge
walten immer inniger. Die Eatholifche Kirche hatte durch die Firchliche Res
volution einen zu gemaltigen Stoß erlitten, als daß fie fich In dem meltlichen
Abfolutismus nicht wiederum eine Stuͤtze hätte fuchen müffen. Die protes
ſtantiſche Kirche, fchon in ihren erſten Anfängen auf bie Unterflügung der po⸗
400 Glüdtöfpiele, |
Titifchen Gewalt angemiefen, verſchmolz zulest fo innig mit diefer, bafi in
proteflantifchen Staaten, wie im Chalifat, der Regent zugleich kirchliches
Oberhaupt wird, — wenn auch mißbraͤuchlich wird, da das peoteftantifche
—— Oberbiſchofsrecht über den Glauben keine Gewalt geben follte.
[ber alle und jede Gewalt artet aus, wird bespotifch, wenn nicht bie allgemeine
Freiheit aller Gtieder fie beftändig in Schranken hält. Das fehlte aber big-
ber in der proteftantifchen Kirche, einen Theil der Reformirten und die neue:
ven Sonodalverfaffungen ausgenommen. Und auch letztere find unvollſtaͤn⸗
big. — So beitand denn feither meift zwifchen dem politifchen Abfolutig-
mus und ben Klrchen bie innigfte Freundſchaft. Beide greifen in einander
und umterftügen ſich gegenfeitig, beide verbindet bad gemeinfame Intereffe,
das Volk auf berjenigen Gulturftufe zu erhalten, auf welcher es eine abfolute,
außer ihm liegende Gewalt anerkennt. Die Priefter ehren, daß die Obrig-
keit von Gott eingefegt fei und bie politifche Gewalt fucht jeder Neuerung
auf irchlichem Gebiete entgegen zu treten, jede Abweichung vom Fichlichen
Lehrbegriff, jede freifinnige Auffaffung ber religidfen Dinge zu befchränfen.
Ueberall wird die Orthodoxie durch die Polizei unterftüst, überall Hält man ſich
Seitens der Regierungen zu betjenigen Partei, melde ben kirchlichen Ab—
ſolutlsmus vertritt, Diefer innige Zuſammenhang zwifchen Staatsgewalt
und Kirche ift befonders aus ben neueren Bewegungen auf Firchlihem Ge:
biete erfihtlih. Man fürchtete den Deutſchkatholicismus, weil er Ficchlich
revolutionäre Elemente enthält, weil er bie Macht der Priefter lähmt, feinen
eigenen Prieftern faft gar feine Handhabe giebt, an welcher die Staatsgewalt
fie faffen kann; man fürchtet den Deutfchkatholiciemus, weil er bei dem
engen Zufammenhang zwiſchen Kirche und Staat politifche Bedeutung hat,
weil er das Princip ber Stabilität angreift, bie Fahne des Fortſchrittes auf-
pflanzt und biefer Kortfchritt bei der innigen VBermandtfchaft beider Gemalten
nothwendig beide afficiren muß. Kirchliche und politifche Freiheit find eben:
fo nahe verwandt als ihre Gegenfäge, als Eirchlicher und politifcher Abjolutis-
mus. Wer in Sadyen des Glaubens und ber Kirche zu denken anfängt, der
wird auch in politifcher Beziehung nicht mehr blindlings glauben und ge:
horchen.
Daher fchreibt fich der Widerſtand, welcher fich dem in feinen Folgen
feinem Urheber wahrſcheinlich felbft nicht Elaren Antrag des Pfarrers Zittel auf
Religionsfreiheit entgegenftellte. Diefer Antrag, wäre er realifirt worden,
hätte dem ganzen Staatsgebäude ein anderes Fundament gegeben. So et-
was läßt fich aber nicht durch eine Kammerbebatte bewerkſtelligen. Abt.
Gluͤcksſpiele. (Zu S. 73 3. 3 v. u.) Allerdings waltet bei Vielen
dabei ein Vertrauen auf ihr Gluͤck ob; ſie wollen dem Gluͤcke eine
Thuͤr bei ſich oͤffnen. Daß aber dieſes Vertrauen kein ſehr feſtes iſt, geht
ſchon daraus klar hervor, daß die Spieler, um ſich den Erfolg zu ſichern,
ſo oft theils zu den aberglaͤubiſchſten Dingen greifen, theils zu Berechnungen
(zunaͤchſt uͤber das Wahrſcheinlichkeitsverhaͤltniß dieſes oder jenes Ergebniſſes),
welche Berechnungen aber jedenfalls wenigſtens für den gerade eintretenden
einzelnen Fall doc) immer völlig ungewiß, rein ein Ergebniß bes blinden Zu⸗
falls find. .
Gluͤcksſpiele. | 491
(Zu Seite 79 nach der zweiten Anmerkung.) Die baterifchen Stände
haben auf allen Landtagen ohne Ausnahme die Abfchaffung des Lottos
dringend verlangt. Das Wort des Königs hat diefelbe feierlich verheißen
im Landtagsabfchiebe von 1819 , fobald naͤmlich der Finanzzuſtand eine folche
Abſchaffung möglicd mache. Seitdem rühmt ſich die baisrifche Regierung
„bes glänzendften Finanzzuſtandes, und es iſt in Folge der einfeitigen
Seftfegung des Budgets (ohne Beachtung der fändifchen Gegenerinnerungen)
allerdings dahin gefommen , daß fich im Staatshaushalte ein Gelduͤberſchuß
herausſtellt, der ſich alljährtich auf mindeſtens ſechs Millionen Bulk
ben beläuft. Dennoch erfolgt die Aufhebung der Lotterie nicht; es erfolgt
nicht die Einlöfung des verpfändeten Koͤnigs wortes. a fie erfolgte felbft
ungeachtet des ausdruͤcklichen ſtaͤndiſchen Anerbietens nicht, ben ganzen Be⸗
trag durch jede von der Megierung felbft zu beflimmende andere Steuer zu
deden. Im Landtagsabfchiede von 1843 war hierauf ausdruͤcklich erklärt
worden, daß die Regierung nur deshalb auf dieſes Anerbieten nicht eingebe,
weil das Lotto eine indirecte Steuer fei, zu beren Forterhebung das Gou⸗
vernement nie einer fändifchen Zuftimmung bebürfe, was bei ben
directen Steuern allerdings der Fall iſt. Es grenzt aber ans Unbegreifliche,
wie man In folcher Weife ein widerſtrebendes Intereſſe der Regierung gegen
die Öffentliche Moral und überhaupt das ganze Landeswohl fo ungefchent felbft
proclamiren mag!
(3u ©. 79 nad) dem erften Abfage.) — In England beſtand früs
ber eine Claſſenlotterie; fie wurde im Jahre 1826 für immer aufgehoben ;
Frankreich hatfic fett 1. Januar 1838 aller Öffentlichen Spiele, der Zahlen-
lotterie, der Parifer Spielbanken entledigt, nachdem die oͤffentlichen Kam⸗
merverhandlungen im Sabre 1836 zureichende Gründe dafür an die Hand
gegeben hatten. Es war dort unter andern Erfahrungen angeführt worden,
dag in den 21 Departements, wo fich die Leidenfchaft des Lottofpiels am ſtaͤrk⸗
ften zeigte, die Zahl der Hausdiebflähle, der unehelichen und Sindelfinder eben⸗
fo groß war als in den übrigen 65 Departements zufammengenommen ;-man
batte ferner ermittelt, daß in den drei Monaten unmittelbar vor den Kams
merverhandlungen fünf Befucher der Spielbanken fi aus Verzweiflung
das Leben genommen, daß zwei wegen Raub oder Diebflahl verurtheilt:
worden waren, welche Verbrechen fie begangen hatten, um anvertrautes
Geld, das fie im Spiel verloren hatten, wieber zu erfegen. In Deutſch⸗
Land beſtehen noch ungefähr zwanzig öffentliche Spielbanken, — Aachen,
Baden, Cöthen, Doberan, Ems, Homburg, Pyrmont, Wiesbaden find
bie bebeutendfien — außerdem zehn Claſſenlotterien und drei Zahlenlottos.
Unterm 18. April 1844 ſtellte die würtembergifche Regierung bei der Bundes⸗
verfammiung den Antrag: alte innerhalb des Bundesgebiet# beftehenden öffent»
lichen Spielbanken, Claffenlotterim und Lottos — und wenn einer derarti⸗
gen Vereinbarung für jegt noch unüberfleigliche Hinberniffe entgegen ſtehen
foßten — zum wenigſten die oͤffentlichen Spielbanken. fofort aufzuheben.
Ueber die Werwerflichkeit der Gluͤcksſpiele im Allgemeinen waren fämmtliche
Mitglieder der Bundesverfammlung einverftanden ; mehrere unterflügten auch
ben würtembergifchen Antrag; die Mehrzahl trat auch dem Antrage, bie
392 Gtädsfpiele.
öffentlichen Spielbanken aufzuheben, bei, doch unter beſchraͤnkenden
Vorbehalten. So 5.8. Baden unter der Bedingung, daß auch alle Elaf:
fen. und Zahlenlotterien unterdrückt würden, woran Heffensdomburg
den weiteren Vorbehalt knuͤpfte, daß felbft dann die Aufhebung der Spiel:
banken nur in einem fehr entfernten Zeitpunkte flattfinden duͤrfe. Dagegen
erflärten fi) alle Regierungen, in deren Gebiet Zahlenlottos und Claſ⸗
fenlotterten beftehen, gegen deren Aufhebung und fo zerfiel der würtember:
gifche Antrag gänzlich, der ohnehin nur durch Stimmeneinhelligkeit hätte
zum Beſchluß erhoben werden können. — Die Aufhebung diefer Gluͤcksſpiele
in Deutfchland durch eine gemeinfame Maßregel der Wundesregierungen iſt
daher fo bald nicht zu erwarten; wären biefe Spiele Zeitfchriften oder Wächer,
fo würde die Stimmeneinhelligkeit ohne Zweifel alsbald ſich ergeben haben.
Die babifchen Stände, befonbers die erfte Kammer, haben ſich in den Jah⸗
ren 1843, 1844 und 1846 mit dieſem Begenftande befchäftigt und Anträge
an bie Regierung gebradjt. Der vom Staatsrath Nebenius im Jahre
1844 erftattete Commiffionsbericht auf die Motion des Treibern von Andlam,
fo mie der Bericht vom Geheimenrath Klüber von 1846 find werthvolle
Arbeiten. An Baden find alle Hazarbfpiele verboten, frühere Vorſchlaͤge
auf Errichtung einer Zahlens oder Claſſenlotterie für finanzielle Zwecke wa⸗
ven von der Regierung ſtets von der Hand gewieſen worden, obgleich dafür
angeführt wurde, daß eine inländifche Anftalt das Spielen in auswärtigen
(baierifhen und Frankfurter) Lotterien vermindern wuͤrde, welchem durch
kein Verbot geſteuert werden kann. Eine Ausnahme beſteht nur fuͤr die oͤffent⸗
liche Spielbank in Baden⸗Baden waͤhrend der Kurzeit. Gegen dieſe Spiel⸗
bank war daher zunaͤchſt der Antrag gerichtet. Das Spielen kam in den
1790er Jahren mit vornehmen Gaͤſten nach Baden; es war verboten, aber
die Polizei fand es der Umſtaͤnde wegen gerathen, ein Auge zuzudruͤcken und
bald, um den größeren Nachtheilen des heimlichen Spiels zu begegnen, das
Öffentliche Spielen zu geftatten. Anfänglic, wurde m den Gafthöfen gegen
eine tägliche Zare, dann gegen eine mäßige Pachtſumme für die Dauer der
Badezeit zu fpielen erlaubt. Mit dem vermehrten Beſuch fleigerte die Con:
eurrenz den Pacht von 9900 Fl. im Jahre 1809, bis 27,000 Ft. in dem
Pachtvertrage mit Chabert von 1834 — 1839. Nach dem neueften Vertrag
von 1839 bis 1853 bezahlt Benazet jährlid 40,000 St., welche für bie .
Verlängerung der Spielzeit um 26 Tage im Jahre 1841 auf 45,000 Fl.
erhöht wurden , nebft einer Verwendung zu Neubauten und bleibenden Wer:
fhönerungen von 5000 Fl., feit 1841 ebenfalls auf 9000 Fl. erhöht.
Außerdem erlegte Benazet bei Antritt ſeines Pachtes 140,000 Fl. zur Tilgung
älterer Schulden der Babecaffe und giebt feit 1841 noch jährliche 1000 FI.
an die Waiſenanſtalt in Lichtenthal. Seine jährliche Leiftung beträgt alfo
jest 55,000 $1., die Rente der 140,000 ZI. ungerechnet. Die Aufopferung
dieſer Summe ift ein Hauptbebenten, welches gegen die Unterdruͤckung der
Spielbant vorgebracht wurde, mie denn auch finanzielle Gründe von Selten
der betheiligten Regierungen ber Aufhebung der Lotterien entgegengehalten
werben. Außerdem murbe hervorgehoben, daß das heimliche Spielen an
einem ſtark befuchten Badeorte gänzlich zu unterdruͤcken nicht möglich, bas
.
, Gluͤcksſpiele. 493
polizeilich uͤberwachte Öffentliche Spiel aber jedenfalls minber gefährlich und
verderblich ſei; endlich würde die einfeitige Unterdrüdung des Spiels in
Baden dem Orte einen Theil feiner Nahrung durch Abnahme ber Gaͤſte ent
ziehen, wenn die Maßregel nicht eine allgemeine für ganz Deutfchland fel.
Zugleich drängte ſich die Betrachtung auf, daß die Vortheile der Unterbrüdlung
des Öffentlichen Spiels nur bann in entfprechendem Maße erreicht werben wuͤr⸗
den, wenn zugleich mit den Öffentlichen Dazardfpielen auch die in mehreren
beutfchen Ländern beftehenden Glaffen: und Zuhlenlotterien verſchwaͤnden.
Der Einfluß diefer Lotterien befchräntt ſich weder auf die höheren Glaffen ber
Geſellſchaft, wie die Spielbanken (wenigftens zum größeren Theil), nod auf
das Land, in welchem fie beftehen. Die Claffmiotterien beuten vielmehr
vorzugsweiſe die mittleren, die Zahlenlotterien vollends die unteren
Volksclaſſen aus, und zwar mit um fo größerem Erfolg, als fie einestheils
durch hohe Gewinne im Verhaͤltniß zum Einfage die Begehrlichkeit mehr reizen,
anberntheils durch ihre Einrichtung dem Unternehmer ungleich größere Vor⸗
theile zufichern als die Spielbanken. Der Vortheil der Legteren beſchraͤnkt
ſich je nach den Spielarten auf 1 bis 5 Procent, während die Claffenlottes
rien einen Gewinn von 10 bie 12, die Zuhlenlotterien 33 bis 39 Procent
von der Summe aller Einfäge abwerfen. Die Rüdficht, daß «6 von Seiten
einer Regierung, welche das öffentliche Spiel in ihrem Gebiete noch irgend⸗
wie duldet, Saum ſchicklich wäre, den Bund um Unterbrüdung beffelben ans
zugeben, bewog im Jahre 1844 die erſte Kammer, ſich auf den Wunſch zu
Protocol zu befchränken: die Regierung möge die Mittel zur Befeltigung
der größsren Nachtheile, welche das öffentliche Spiel für die einheimifche Bes
voͤlkerung in Folge der Herflellung der Eifenbahn vorausfichtlich herbeiführt,
in forgfame Erwägung ziehen 5 fie möge ferner zur Abfchaffung aller oͤffentli⸗
chen Spiele in den deutfchen Staaten, fowohl der Spielbanken in Bäbern als
auch der Zahlen und Glaflenlotterien, innerhalb eines beflimmten Zeits
punftes, fo viel an ihr liege, auf die ihr geeignet fcheinende Weife nachz
druͤcklich und beharrlich wirken. — Als im Jahr 1846 der Antrag erneuert
wurde, lag der verunglüdte Verſuch Würtembergs am Bundestag in ber
Mitte und bie erfte babiiche Kammer nahm daher Umgang von einem Apr
teag auf Abſchaffung der Glaffenlotterien und Zahlenlottos bei der Rundes⸗
verfammlung und befchränkte ſich auf die äffentlihen Spielbanken, zu
deren Unterbrüdung durch einhelligen Bundesbefchluß ober durch Verwendung
bei den einzelnen Regierungen hingemwirkt werden möchte. Dies koͤnnte
wenigftens in den Rheingegenden in nicht fehr ferner Zukunft Erfolg haben,
ba die Spielverträge in Aachen jedes Jahr gekündigt werden Binnen, in Baden»
Baden im Jahr 1853, in Wiesbaden und Ems 1855 ablaufen. Wenn duch
die Ausdehnung der Eifenbahnen die Wirkungsfphäre der Spielbanken eine
ausgebehntere wird, ba mehr Spieler und aus weiterer Entfernung ab» und
zugeführt werben, fo liegt doch in diefer erleichterten Verbindung auch ein
Grund zu ftärkerem Befuche ber Badeorte überhaupt, fo daß eine Abnahme
ber bisherigen Frequenz in Folge der Unterdrüdung der Spielbanken nicht
gu beforgen if. — Die erfle Kammer beantragte ferner, daß die Verord⸗
nungen, welche das Spielen in auswärtigen Zahlen» und Claſſenlotterien
492 Gluͤcksſpiele.
öffentlichen Spielbanken aufzuheben, bei, doch unter beſchraͤnkenden
Vorbehalten. So z.B. Baden unter ber Bedingung, daß aud) alle Claſ⸗
fen. und Bahlenlotterien unterdrückt würden , woran Heffen- Homburg
den welteren Vorbehalt Inüpfte, daß felbft dann die Aufhebung der Spiel:
banken nur in einem fehe entfernten Beitpunfte flattfinden bürfe. Dagegen
erklärten ſich alle Regierungen, in deren Gebiet Zahlenlottos und Glaf-
ſenlotterlen beftehen, gegen baren Aufhebung und fo zerfiel ber wuͤrtember⸗
giſche Antrag gaͤnglich, der ohmehin nur durch Stimmeneinhelligkeit hätte
— erhoben werden Finnen. — Die Aufhebung dieſer Gluͤcksſpiele
in Deutſchland durch eine gemeinſame Maßregel der Bundesregierungen iſt
daher fo bald nicht zu erwarten z wären dieſe Spiele Zeitſchtiften oder Bücher,
Br bie Stimmeneinhelligeit ohne Zweifel alsbald fich ergeben haben,
Die badifhen Stände, beſonders die erfte Kammer, haben ſich in den Jah:
ren 1843, 1844 und 1846 mit diefem Gegenftande befhäftigt und Anträge
an die Regierung gebracht. Der vom Staatsrath Nebenius im Jahre
1844 erftattete Commiffionsbericht auf die Motion des Freiherrn von Andlaw,
fo tote der Bericht vom Gehelmenrath Klüber von 1846 find merthvolle
Arbeiten. In Baden find alle Hazardfpiele verboten, frühere Vorfchläge
anf Errichtung einer Zahlen oder Glaffenlotterie für finanzielle Zwecke wa⸗
ven vom ber Regierung ftets von der Hand gewieſen worden, obgleich, dafür
angeführt wurde, daß eine inlaͤndiſche Anftalt das Spielen in auswärtigen
(Bairrifchen und Frankfurter) Lotter ien vermindern würde, welchem durch
kein Verbot geſteuert werben kann. Eine Ausnahme befteht nur für die öffent:
liche Spielbank in Baden-Baden während ber Kurzeit. Gegen biefe Spiel:
bank war daher zumächft der Antrag gerichtet. Das Spielen fam in den
1790er $ahren mit vornehmen Gäften nad) Baden; es war verboten, aber
die Polizei fand es der Umſtaͤnde wegen gerathen, ein Auge zuzudrüden und
bald, um den größeren Nachtheilen bes heimlichen Spiels zu begegnen, das
Öffentliche Spielen zu geftatten. Anfaͤnglich wurde in den Gafthöfen gegen
eine tägliche Tare, dann gegen eine mäßige Pachtfunme für die Dauer der
Badezeit zu fpielen erlaubt. Mit dem vermehrten Beſuch fleigerte die Con:
eurrenz den Pacht von 9900 Fl. im Jahre 1809, bis 27,000 Fl. in dem
Pachtvertrage mit Chabert von 1834— 1839. Nach dem neueften Vertrag
von 1839 bi8 1853 bezahlt Benazet jährlich 40,000 Fl., welche für die.
Verlängerung der Spielzeit um 26 Tage im Jahre 1841 auf 45,000 Fl.
erhöht wurden, nebft einer Vermendung zu Neubauten und bleibenden Ver:
fhönerungen von 5000 Fl., feit 1841 ebenfalls auf 9000 Fl. erhöht.
Außerdem erlegte Benazet bei Antritt feines Pachtes 140,000 Ft. zur Tilgung
älterer Schulden der Badecaſſe und giebt feit 1841 noch jährliche 1000 Fl.
an die Waifenanftalt in Lichtenthal. Seine jährliche Leiſtung beträgt «ifo
jest 55,000 Fl., die Rente ber 140,000 FI. ungerechnet. Die Aufopferung
dieſer Summe ift ein Hauptbedenken, welches gegen die Unterdrüdung der
Spielbank vorgebracht wurde, mie denn aud) finanzielle Gründe von Seiten
der betheiligten Regierungen ber Aufhebung der Lotterien entgegengehalten
werden. Außerdem wurde hervorgehoben, daß das heimliche Spielen an
eimem ſtark befuchten Badeorte gänzlich zu unterdruͤden nicht möglich, das
Gluͤckoſpiele. 493
uͤberwachte Öffentliche Spiel aber jedenfalls minder gefährlich und
po
verderblich ſei; endlich würde die einſeitige Unterdruͤckung des Spiels in
Baden dem Orte einen Theil feiner Nahrung durch Abnahme ber Gaͤſte ent⸗
ziehen, wenn bie Maßregel nicht eine allgemeine für ganz Deutfchland ſei.
Zugleich drängte ſich die Betrachtung auf, daß die Vortheile der Unterdruͤckung
des öffentlichen Spiels nur dann in entfprechendem Maße erreicht werben würs
den, wenn zugleich mit den Öffentlichen Hazardfpielen auch die in mehreren
Deutfchen Ländern beſtehenden Glaffen: und Zuhlenlotterien verſchwaͤnden.
Der Einfluß diefer Lotterien befchräntt ſich weder auf die höheren Glaffen ber
Geſfellſchaft, wie die Spielbanken (wenigftens zum größeren Theil), noch auf
das Land, in welchen fie beſtehen. Die Claſſenlotterien beuten vielmehr
vorsugsweife die mittleren, bie Zahlenlotterien vollends die unteren
Volksclaſſen aus, und zwar mit um fo größerem Erfolg, als fie einestheils
durch Hohe Gewinne im Verhaͤltniß zum Einfage die Begehrlichkeit mehr reizen,
anderntheils durch ihre Einrichtung dem Unternehmer ungleich größere Vor⸗
theile zuſichern als die Spielbanken. Der Vortheil der legteren beſchraͤnkt
ſich je nach den Spielarten auf 1 bie 5 Procent, während die Claffenlottes
rien einen Gewinn von 10 bis 12, die Zahlenlotterien 33 bis 39 Procent
von ber Summe aller Einfäge abmwerfen. Die Rüdficht, daß es von Seiten
einer Regierung , welche das Sffentliche Spiel in ihrem Gebiete noch irgenbs
wie duldet, kaum ſchicklich wäre, den Bund um Unterbrüdung beffelben ans
zugeben, bewog im Sabre 1844 die erfte Kammer, ſich auf den Wunſch zu
Protocoll zu befchränten: die Regierung möge die Mittel zur Befeitigung
der größeren Nachtheile, welche das öffentliche Spiel für die einheimiſche Bes
völßerung in Folge der Herflellung der Eifenbahn vorausfichtlich herbeiführt,
in forgfame Erwägung ziehen ; fie möge ferner zur Abfchaffung aller oͤffentli⸗
chen Spiele in den deutfchen Staaten, fowohl ber Spielbanken in Bäbern als
auch der Zahlen» und Claſſenlotterien, innerhalb eines beftimmten Zeit⸗
punktes, fo viel an ihr liege, auf dis ihe geeignet fcheinende Weiſe nach⸗
druͤcklich und beharrlich wirken. — Als im Jahr 1846 der Antrag erneuert
wurde, Ing der verunglüdte Verſuch Würtembergs am Bundestag in der
Mitte und die erfte babifche Kammer nahm daher Umgang von einem Apr
trag auf Abfchaffung der Claffenlotterien und Zahlenlottos bei der Rundes⸗
verfammlung und beſchraͤnkte fi) auf die Öffentlichen Spielbanken, zu
beren Unterbrüdung durch einhelligen Bundesbefchluß oder durch Verwendung
bei den einzelnen Regierungen hingemwirft werden möchte. Dies koͤnnte
wenigftens in den Rheingegenden in nicht fehr ferner Zukunft Erfolg haben,
da die Spielverträge in Aachen jedes Jahr gekuͤndigt werden innen, in Baden»
Baden im Jahr 1853, in Wiesbaden und Ems 1855 ablaufen. Wenn durch
bie Ausbehnung der Eifenbahnen die Wirkungsfphäre der Spielbanken eine
ausgebehntere wird, dba mehr Spieler und aus weiterer Entfernung abs und
zugeführt werden, fo liegt Doch in dieſer erleichterten Verbindung auch ein
Grund zu ftärkerem Befuche ber Badeorte überhaupt, fo daß eine Abnahme
ber bisherigen Frequenz in Folge der Unterdrüdung der Spielbanken nicht
zu beforgen ifl. — Die erfie Kammer beantragte ferner, daß die Verord⸗
nungen, welche das Spielen in auswärtigen Zahlen⸗ und Claffenlotterien
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neten Heliquellen Buͤndtens, wodurch) em ganzen Canton neue Erwerbs:
quellen öffnet werben Eönnten, noch nicht im gebührtenden Maße befutcht
und.benugt werben*). Umfaffender find die in anderen Gebieten ber Geſetz⸗
gebung theils eingeleiteten, theild fchon befchloffenen Meformen. Ein ge:
meinfames Civilgeſetzbuch wird entworfen, und namentlicdy find Gefege zur
Befeitigung des bunten Gewirrs der gefeglichen oder berfömmlichen fo mie
ber teftamentarifchen Erbrechte entweder erlaffen oder vorbereitet. in Ge:
feg von 1843 enthält Beftimmungen über die Strafgerichtsbarkeit des Can:
tonsappellationsgerichts bei Verbrechen und Vergehen gegen ben Staat.
Zodesurtheile koͤnnen in diefen wie in allen anderen Fällen nur mit 7 von 9
Stimmen gefällt werden. Für die Strafbeflimmung gilt das revidirte Straf-
oefeg von 1829 als Norm, jebody „mit billiger Ruͤckſicht auf die milderen
Strafgrundfäge neuerer Zeit.” Einen merkwürdigen Beleg aber, wie im
naturwüchfigen bündnerifhen Staatsverbande die Gefege und Mafregeln
ſtets nur nad) den gerade vorliegenden Umftänden befchloffen wurden, ohne
daß man ſich viel darum kümmerte, von allgemeinen Principien geleitet aud)
bie Zukunft und ihre möglichen Fälle in Erwägung zu ziehen: gab unlängft
—
*) Auch die langen und langſamen Verhandlungen zur Rettung der von
einem Bergſturze des Calanda bedrohten Gemeinde Felsberg, durch ihre Ueber—
ſiedlung an einen anderen Ort, weiſen auf das Beduͤrfniß einer ftärferen, wenn
auch dem Volke verantwortlichen Regierung, der es geftattet fein müßte, unter
dringenden Umftanden energifch einzufchreiten.
Graubimbten. 2
die eigenthämliche Behandlung bed Gnadengeſuchs eines zum Tode verurfgells
ten Verbrechers. Erſt mußte ſich der große Rath verfammeln, um nur gu
entfcheiden, wen das Begnabigungsrecht zuſtehe. (Er erfannte daſſelbe als
eine Befugniß des fouveränen Volks und ſchrieb hiernach das Geſuch auf bie
Käthe und Gemeinden zur Abſtimmung barüber aus, ob fie Gnade vor Recht
wollten ergehen lafien. Im beiahenden Halle follte das Cantonscriminais
Gericht die Art der Strafumwandlung beftimmen. Go verzögerte ſich noch
Monate lang bie Entfcheidung, bis fich endlich bie Mehrheit der Gemeinden
für Bollſtrekunz des Todesurtheils erklaͤrt hatte. Erſt der fo augenfällig ges
wordene Mißſtand veranlaßte einen Auftrag des großen Mathe an die Geſetz⸗
gebungscommiffton, einen Geſetzesvorſchlag über Ausäbung bes Begnabigunges
rechte zu Hinterbringen. Einem Mißſtande anderer Act, der aus der Aemter⸗
fucht entſprungenen förmlichen Berfleigerung ber Öffentlichen Stellen in eini⸗
gen Gerichten, bat ein von den Gemeinden angenommenes revidirtes Geſet
über Abfchaffung der bei folchen Gelegenheiten herkömmlichen Uerten, Tas
zen und Geſchenke zu begegnen geſucht. Endlich iſt bucch ein Preßgefeh vom
13. Juli 1839 das fruͤher nur herkoͤmmlich beftandene Recht der freien
Meinungsäußerung durch den Druck, ausdruͤcklich gemwährleiftet worden.
Bor Allem find aber die neueren, von Behörden und Privaten aus⸗
gehenden Beftrebungen rühmend zu erwähnen, wodurch allen weiteren Forts
f&ritten vermittelfl Werbefferung und Ausdehnung ber Volksbildung eine
fihere Grundlage gefchaffen werden foll.
Gerade im Erziehungsweſen find zu einer größeren Gentraltfation bedeu⸗
tende Schritte gefchehen, bie indeß keineswegs über bas vom Beduͤrfniß ſelbſt
gefegte Ziel Hinausgingen. Während früher bas Volkeſchulweſen nur unter
den Localbehörden und den Geiſtlichen fland, und alle Verbeſſerungen faſt
ausichließlich von zwei confeffionelen Privatvereinen ausgingen , ift feit dem
6. Juli 1838 das Elementarfchulmefen einem Santonalerziehungsrath beider
Gonfeffionen untergeorbnet, wodurch allmälig Ordnung und Zuſammen⸗
hang gewonnen wurde. Ein weiterer Schritt gefchah 1843 durch Abroga⸗
tion dieſes und durch Gründung eines neuen gemeinfchaftlichen Erziehungs:
raths nicht nur für da6 Elementarſchulweſen, fondern auch für die höheren
Lehranſtalten (Santonsichuien), wofür fräher zwei getrennte confeffionelle
Behörden beftanden hatten. Diefer paritätifche Exziehungsrach bat neum
Mitglieder und ebenſo viele Erfagmänner, wovon zwei Drittel enangelifcher
und ein Drittel Batholifcher Confeſſion find; ein Verhaͤltniß, das Überhaupt
bei der Belegung von Standesämtern, Commiffionen und Deputationen
zue Anwendung kommt. Geit Errichtung beffelben find erfteuliche Fort:
ſchritte im Volksſchulweſen, zumal in den fehr vernachläffigten katholiſchen
Gemeinden, bemerkbar geworden. Die Oberaufficht über das ganze Erzie⸗
hungswefen fteht dem gefammten großen Rathe zu.
Im confeffionelien Organismus find die oberften und oberauffehenden
Behörden für die äußeren Beziehungen ber beiden Kirchen (temporalia)
das evangelifche und das Eatholifche Großrathscollegium. Das Erſtere nt:
wirft die Darauf bezüglichen Geſetze, die aber, wie die allgemeinen Staats⸗
gefege , den betreffenden Gemeinden zur Genehmigung vorgelegt werden
Suppl. 3. Staatelex. I. 32
498 Graubindten:
Fuͤr die rein kirchlichen Angelegenheiten dev evangelifchen Confeſſion
er eine aus fammtlichen orbinirten Beiftlichen und drei weltlichen Aſ⸗
oren gebildete Synode: Doch müffen auch die rein kirchlichen Gutachten
| alfer Epmobe, wenn fie vom evangelifchen Grofrathecollegium gutgeheißen
find und in die eigentliche Gefeggebung einſchlagen, den veformirten Ges
meinden zur Sanction vorgelegt werden. Endlich ſteht ein evangelifcher Kir
chenrath, fuͤr Vollziehung der Gefege und Leitung der kirchlichen Angelegens
heiten, unmittelbar unter der Regierung. Dat katholiſche Großrathscolle⸗
gium hat die oberſte Aufſicht über die Bisthumsgüter, deftn Bermaltung
jeboch in gewiffen Fällen dem gefammten Großrathe zukommt. Die Stelle
des Barholifhen Kirchenraths vertritt die mit viel ausgedehnteren Befugniffen
als ber. reformierte Kirchenrath ausgeſtattete biſchoͤfliche Curie. Die Geift:
Uchen beider Eonfelfionen werden von ven Gemeinden gewaͤhlt und ebenſo
von dieſen muuaſſen
‚rt bie Umgelffe der Bifchöfe, namentlich gegen das feit der Mitte
bes 17, berts hervorteetende Streben der roͤmiſchen Gurialpolitif,
das Landesbischum Chur der Laftvogteilihen Schirmaufficht des: Gottes:
bausbundes und fpäter der drei Bünde zu entziehen, hatte die Buͤnbner Re
—— heftige Kämpfe zu beftehen *). "Si bat indef die ſtaatskirchlichen
mit größerem Nachdrucke, als in vielen anderen Gantonen der Fall
tar , zu. behaupten gewußt. Diefer Kampf bat fid mit zeitweifen Unter
brebhungen und in —— Phaſen bis auf die neueſte Zeit fortgeſetzt;
und noch vor Kurzem ſahen ſich die buͤndneriſchen Behoͤrden in einen kaum
erſt geſchlichteten Streit Er dem Bifchofe verwidelt. Neben einem bifchöf:
lihen Seminar beitanb in Chur eine katholiſche Cantonsſchule, die aber
gleichfalls der nur ein eimfeitiges theologiiches Intereſſe verfolgenden Se:
minarverwaltung überlaffen war und ale Gymnaſium den Bedürfniffen des
katholiſchen Landestheils in Feiner Weife entfprach. Um fie diefen ſchaͤdlichen
Einflüffen zu entziehen, befchloß der große Rath 1832 die Zranslocation
der Santonsfchule nad) Difentis; aber wegen Abgelegenheit dieſes Orts im
3. 1842 ihre Wiederverlegung in das Klofter St. Luci bei Chur. Nach
manchem Zwieſpalt mit dem Biſchofe kam fuͤr zwei Jahre ein Vertrag uͤber
die Fortſetzung der Lehranſtalt in St. Luci zu Stande. Nach Ablauf der
feſtgeſetzten Zeit erneuerte jedoch die nach der Herrſchaft uͤber die Cantonsſchule
ſtrebende biſchoͤfliche Curie eine heftige Oppoſition. In verſchiedenen Ge⸗
genden waren Verſammlungen von Katholiken veranſtaltet worden, die fuͤr
die biſchoͤflichen Anſpruͤche Partei ergriffen. Die Curie ſelbſt verweigerte die
Benutzung der Kloſtergebaͤude, worauf der Staat ein ausdruͤcklich anerkanntes
Recht hatte; ein feindſeliger Hirtenbrief gegen die Regierung wurde von ihr
an die katholiſchen Geiſtlichen erlaſſen und von den Kanzeln verleſen, und
die Schule wurde als eine „ſchismatiſche“ darzuſtellen geſucht. Um dieſen
Umtrieben ein Ende zu machen, wurde auf den Rath wohldenkender Katholi:
*) Ueber ben bünbnerifchen Bisthumsftreit vergl. bie officielle: „Piftorifch-
flaatsrehtlihe Beleuchtung der Hoheitsrechte bes Standes Graubündten in An-
gelegenbeit des Bisthums Chur. Chur 1835.
Sraubündten. 409
Een bie Gruͤndung des paritdtifchen Erziehungsrathe von 1843 befchloffen,
wegegen die bifchöfliche Behörde Verwahrung einlegte. Die Regierung lieh
ſich indeß von ber geraden Bahn ihres Rechts nicht abiwendig machen , und
fo kam es endlich gegen dm Schluß des J. 1844 zu einer friedlichen Erledi⸗
gung des Schulſtreits. Der Curie wurde freigeftellt, fich in der katholiſch
confeffionelien Section des Erziehungsraths durdy zwei Geiftlicye vertreten
gu laflen,, wie auch der reformirten Geiftlichkeit in der evangelifchen Section
eine ſolche Vertretung eingeräumt iſt. Dierauf erfolgte von Seite des Bifcheofs
bie Anerkennung des paritätifchen Erziehungsraths und der Batholifchen Gans
tonsichule, welcher jegt noch die biſchoͤfliche Schule einverleibt wurbe.
An den Cantonen, wo dem Volke gegen Gefegesvorfchläge das Mecht
des Veto zufteht, wird body von diefer Befugniß nur in feltenen Sdllen und
meift nur dann Gebrauch gemadht, wenn ein fehr entſchiedener Widerwille
gegen bie beabfichtigte Neuerung vorhanden iſt. Häufiger ift die Verwerfung
von Befegentwürfen in Bündten, wo biefe ben Gemeinden zur Abflimmung
vorgelegt werben müffen. Es liegt in der Natur der Sache, baß dies den
Entwidlungsgang der Legislation verzögern und hemmen muß. Noch groͤ⸗
Ber find die Schwierigkeiten, wenn es fih um Verfaſſungsreformen han⸗
beit. Hat der große Rath einen Antrag auf Abänderung gutgeheißen, fo
fol diefer, nach nochmaliger Prüfung ducch die Standescommiffion, auf die
Gemeinden ausgefchrieben werden; allein während für die Annahme von Be»
fegen die einfache Stimmenmehrheit genügt, bebarf es für jede Reform der
Gonflitution einer Mehrheit von zwei Drittheilen der Gemeindeſtimmen.
Als ein weiteres Dauptgebrechen der Verfaffung wird erkannt, daß die Mit⸗
glieder des Pleinen Raths nur ein Jahr im Amte bleiben und zwar im 2.
Sabre wiebergemählt werben, aber ihre Stelle body nicht länger als zwei aufs
einander folgende Jahre bekleiden Binnen. Wirklich find vom großen Rathe,
feit dem Beftande der gegenwärtigen Verfaffung , diefelben Mitglieder nur
einmal audy für das zweite Jahr gewaͤhlt worden. Es iſt Har, daß fidh uns
ter biefen Umftänden die zur Regierung Berufenen bas zur zweckmaͤßigen
Beforgung der Gefchäfte erforderliche praktiſche Geſchick nicht aneignen koͤn⸗
nen, und daß ſich überhaupt kein feſtes politifches Syftem auszubilden vermag.
Gleichfalls nachtheilig, wenn auch in geringerem Grade, iſt der fchnelle
Wechfel der Mitglieder des großen Raths. Ein weiterer Mißſtaud iſt eb, .
daß ber Feine Rath, oder die Regierung, zugleich als eine Art Caſſations⸗
hof fungicen und als Recursinitanz oft ihre befte Zeit auf Entſcheidung von
Fragen über formmidriges uftigverfahren verwenden muß. Endlich find
über die lanafame Eoftfpielige Juſtiz und die Organifation ber Gerichtsbe⸗
hoͤrden in neuerer Zeit manche Kiagen laut geworben. Nach der Conſti⸗
tution foll es bei den am 20. Dec. 1813 feftgefegten Suftizeinrichtungen
bleiben. Zwar hat nach Art. 5 der Verfaffung jeder Gerichtsbezirk das Recht,
mit Zuflimmung von % aller ihm zugehoͤrenden Theile Abdnderungen in
feiner Suftisverfaffung vorzunehmen, wenn nicht dadurdy eine größere Zer⸗
ftüdelung der Juſtizbezirke herbeigeführt wird. Allein [yon 1814 war die
vor der helvetifchen Verfaffung beftandene Zerfplitterung in eine Menge klei⸗
ner Gerichte hergeftellt worden ; und um fo lebhafter wurden die Beſchwerden
32
l
500 Griechenland (Geſchichte Meugriechenlands).
über mangelhafte Tape den unteren Inftanzen, als ein Weiterzug an das
— — nur moͤglich iſt, wenn der Streitgegenfland wenigſtens 1000
Buͤndner Gulden betraͤgt! Indeſſen iſt der Anfang einer Reform durch dem
ſeit einigen Jahren beſtehenden Reformverein, der ſchon manches Nipliche
angeregt, wenn auch noch feine großen Erfolge erreicht bat, fo wie durch den
im December 1846 verfammelten Großrath eingeleitet worden.
Mit dem ſchnellen Wechfel der Mitglieder der Regierung und dem
Mangel eines feften Spftems hänge die nicht felten unentfchiedene Politik
diefes Canton in eidgenöffifhen Angelegenheiten und der Umſtand zufammen,
daß Bündten in der Reihe feiner Mitſtaͤnde noch nicht die volle politiſche Be—⸗
beutung erlangt hat, die ihm feinem Umfange und feiner Lage nad gebuͤh⸗
rem wuͤrde. Diefe ſchwankende Haltung bat die europäifche Diplomatie noch
voe Kurzem in ihrem Intereffe anszubeuten verfucht. Bon Seite Defter
weiche, bas zur felleren Begründung feines eigenen Einfluffes ze 1814
auf Trennung Bündtens von der Eidgenoffenfhaft hingewirkt hatte, wurde
nach der Tagfapung von 1846 der ehemalige Gefchäftsträger in der Schmweis,
von Philippsberg, 2 abgeordnet, um dahin zu arbeiten, daß
Bünbdten zur eines Imöiferbefcyluffes gegen den Sonderbund
*8 —8 19) u. Borum’”jurdeknehnen oder modificiren möge. > Es foll
der Eranfitbegünftigung über den Splügem und ber damit
a terung des Kornbezugs gedroht worden fein. Deffent⸗
Uche Blätter haben der Regierung von Bündten das Lob der Standhaftigkeit
gegen folche Anmuthungen er£heilt; und gewiß würbe jede ſchwache Machgie-
bigfeit wider. ungeziemende Korderungen bes Auslands dieſelben Gefahren,
die eine ungeitige und unfluge Furcht zu vermeiden fuche, für die Schweiz
nur um fo geriffer herbeiführen. Wilh. Schulz.
Griebhenland (Geſchichte Neugriehenlands) Auch
nad) der Zeit der Abfaffung unfers erften Artikels dauerten die Mipftände in
der Regierung Griechenlands fort. Mochte gleich der König Dtto, ſchon
feiner ferbft wegen, das Aufblühen des Landes allerdings wuͤnſchen, fo mar
er doch zu ſchwach, daffelbe irgendwie durchzuführen. Guͤnſtlinge herrſchten;
das Nuͤtzliche und ſelbſt das Noͤthige wurde verſaͤumt und vernachlaͤſſigt, waͤh⸗
rend die Mittel des Landes zerſplittert, wo nicht vergeudet wurden. Dabei
draͤugten die auswärtigen Mächte auf Erfüllung der Verbindlichkeiten Grie⸗
chenlands wegen Versinfung des von jenen Staaten garantirten Anlebens.
Das Volk hatte Feine Stimme. Vergeblich, daß man fo viel möglich Ge⸗
währung der ausdruͤcklich verheißenen VBerfafiung forderte. So ſchwach
fich König Otto in andern Dingen zeigte, fo entfchieden wies er jede dahin
zielende Anforderung zuruͤck. Gewiſſe auswärtige Einflüffe mögen das Ihrige
dazu beigetragen haben.
Sedermann fah ein, daß die Dinge in der bisherigen Weife nicht fort:
gehen Eönnten: das Volk, das Deer, ja felbft ein Theil der Diplomaten
erkannte dies; nur der König nicht und die ihn umgebende Samarillı. In
den engliſchen Blättern war vorbergefagt, daß eine Umwaͤlzung unvermeid:
lich fei.
Da brach in der Nacht vom 3. (15.) Sept. 1843 zu Athen eine Revolu:
*
Griechenland (Geſchichte NReugriechenlands). 501
tion aus. Die Truppen verließen in ber Nacht um 2 Uhr ihre Kaſernen, —
bie reguläzen von dem Obriften Kalergis, die irceguldren von Makrijannis
angeführt. Sie zogen vor das koͤnigliche Schloß; eine Menge Volkes mit
ihnen. Man verlangte eine Berfaffung. Der König, auch jegt noch
bebarrlich in Verweigerung eines ſolchen Zugeſtaͤndniſſes, ſendete nach der Ar⸗
tillerlekaſerne, um eine Mahnung an die vorhandene Verpflichtung mit Kar⸗
taͤtſchenſchuͤſſen zuruͤckzuweiſen. Vergeblich. Auch die Artillerie ſchloß ſich
der Bewegung an. Die Kanonen wurden aufgefahren, aber — gegen das
Schloß gerichtet.
Mittlerweile hatte ſich der Staatsrath verſammelt, defſen Mitglieber
zum Theil Kenntniß von den vorbereiteten Dingen gehabt. Waͤre dies aber
auch nicht der Fall geweſen, ſo draͤngten die Umſtaͤnde: dieſe Koͤrperſchaft
ſah ſich von ber allgemeinen Bewegung fortgeriſſen. Sie ſendete eine Depu⸗
tation mit einer Adrefle an den König, in weicher Lsgten nicht nur um Ans
nahme eines anderen Miniſterlums, fondern auch um Einberufung einer
Nationalverſammlung innerhalb eines Monats gebeten ward, damit biefelbe
eine Verfaſſungs urkunde entwerfe
Auch jegt noch wollte der König nicht nachgeben. Zwei Stunden
verhandelte bie Deputation des Staatsraths vergeblich mitihm. Da fol: deum
Kalergis energifc, eine befriedigende Erklaͤrung verlangt baben , wie es feheint .
unter Hinweiſung auf bie gegen das Schloß aufgeführten Kanonen. Jetzt
gab denn ber König freilich nach. Die betreffenden Orbonnangen wurben vom
Gtaatsoberhaupte umterzeichnet und verkündet, und bie Truppen zogen mit
Wngendem Spiel in ihre Kafernen, ba6 Volk in feine Wohnungen zuräd.
Es war mittlerweile Morgen geworden. Das Ganze war völlig friedlich, ohne
Irgend ein Blutvergleßen oder fonftige Störung ber Drbnung voräber ge
gangen.
Die Revolution vom 3. Sept. erſcheint aber doppelt bewunderungs⸗
werth, wenn man Die nicht offen bervorgetretenen Einwirkungen näher ums
Zu Denen, welche bie Ummälzung am-meiften vorbereiten halfen,
gehörte der ruffifche Gefandte Katakazi. Der Hauptleiter bes ganzen Unter
nehmens, Obrift Kalergis, fühlte wohl, daß er einer fo bedeutenden Stuͤtze
fi nicht entfchlagen dürfe. Er durchſchaute aber auch gleichmäßig bie eigens
nüsigen Abfichten des Moskowiten. Diefer zielte unverkennbar darauf, e—
babin zu Bringen, daß ber König Otto aus dem Lande vertrieben werde ober
dieſes ſelbſt verlaffe; dann war es zu erwirken möglich, daß Griechenland,
wenn auch nicht dem Namen, doch der That nach, eine ruſſiſche Pro⸗
vinz werde, — daß es etwa einen ruſſiſchen Prinzen als Koͤnig erhalte. So
wenig es ſich verkennen laͤßt, daß Viele eine Vertreibung Otto's wuͤnſchten,
und daß nur ſehr wenige Griechen ihm wahrhaft innerlich zugethan waren, ſo
galt es doch unter dieſen Umſtaͤnden, feine gaͤnzliche Entfernung zu verhindern,
um die verderblichen moſkowitiſchen Plane zu vereiteln. Ruſſiſche Liſt und
griechiſche Schlauheit kaͤmpften nun um die Wette, und — die letzte trug
den Sieg davon. Der kluge und entſchloſſene Kalergis brachte es dahin, daß
der helleniſche Staat eine Repraͤſentativ⸗Verfaſſung erlangte; er wußte es
aber zu verhindern, daß bie Dinge auch nur einen Schritt weiter gingen. —
508 Griechenland (Gefcichte Neugriecheniande).
Die Aufgabe war indeffen um fo ſchwieriger, als ber ſchwache König
ſich verleiten ließ, dan Verſuch einer Begenrevolution, wo nicht felbft zu wa⸗
gm; ——— zulaſſen. Sein Adſutant, der fuͤngere Kolokotroni,
der entlaſſen⸗ —— Rhalli, beides Anhänger der ruffifchen Partel,
55 den König, Jedermann wuͤnſche eine Contre-Revolution, und
ch felen die Truppen zur Ausführung einer folchen bereit. Die Nacht
1 10. Det. warb zur ndfährung des Planss beftimmt. Kolokotroni begab
fich unmittelbar aus ben koͤniglichen Schloß in die Kaferne und verlangte im
Namen des Königs, daß fogleich zwei Gompagnien Infanterie (die er bereits
unter den Waffen ftehend glaubte) nach dem Patafte marſchiren follten, In
der Kaſerne aber hatte Niemand Luft zu einer Gegen-Umtälzung. Ber»
‚berief fi) Kolofotroni auf einen unmittelbaren Befehl des Könige:
— 1ä Dee Safer erklärte ihm, daf er ohne Befehl des Com⸗
mandanten von Athen Peine Truppen ausrüden laffen werde, — Die mittler:
toeile von dieſen Vorgängen benachrichtigten Gefandten Frankreichs und Eng⸗
lande eilten in das Schloß und drangen in das Staatsoberhaupt, das ihm
hochlſch compromitticende Benehmen feines Adjutanten au mißbilfigen. Dies
geſchah denn endlich. Koloforconi a er nad) Stalien zut reifen,
umd die Ruhe warb nicht meiter geflört, obwohl noch Manches vorfam, was
die Griechen allerbings erbittern mußte*). |
Die ——— der Natlonalverſammlung wurde wiederholt
ohl ſchwerlich ohne den Nebengedanken, daß durch Zoͤgerung
immerhin Einiges im abfolutiftifchen Sinne gewonnen werben könne. Am
20. Nov. 1843 begannen denn endlidy die Sigungen. Die Berathung bes
mittlerweile verfaßten Gonftitutionsentwurfs dauerte bis zum 6. März 1844.
Mach einigen darauffolgenden Verhandlungen mit dem Könige beſchwor biefer
denn am 18. (30.) März feierlid) das neue Verfaſſungswerk.
Die griechiſche Verfaffung ift am meiften der belgiſchen ähnlich,
diefer jedoch keineswegs blindlings nachgebildet. Folgendes fi find ihre wich—
tigften Beſtimmungen (wobei wir auf die hier eigenthümlidhen befondere
Ruͤckſicht nehmen).
Die griehifhe Kirche ift ale die herrſchende erklärt, dabei je-
doch nicht blos im Allgemeinen Sewiffensfreiheit, fondern freie Yusübung
jedes Cultus geſichert. —
Es find ferner proclamirt: Gleichheit vor dem Geſetze; Sicherung
gegen ungefesliche Verhaftungen; Nichtdulden der Sklaverei; Freiheit der
Preſſe; „Cenſur wird auf eine Weife geftattet” ; auch kann Feine vorläus
fige Saution bei Herausgabe einer Zeitung gefordert werden. — „Das Brief:
*) Dabin gebören: bie gefucht ausgezeichnete Aufnahme, welche Koloko⸗
troni am Hofe zu München fand; die plumpen Ausfälle der hierin halbofficiellen
baierifchen Allgemeinen Zeitung gegen die Griechen; endlich felbft die Erkiärun-
gen in officiellen Actenftüden, wie der König von Baiern darauf bebarre,
daß die koͤnigliche Gewalt in Griechenland auf eine breite und feſte Grundlage
gebracht und mit ſolchen Waͤllen umgeben werde, daß die uͤbermaͤßige Ausbdeh-
nung des bemoßratifchen Elements verhindert werde” u. dal., während doch der
König von Griechenland felbftftändig handeln follte zc. |
Sriechenland (Geſchichte Neugriechenlande). 508
geheinmiß iſt unverletzlich.“ — „Nur griechiſche Bürger koͤmen Staatsaͤmter
bekleiden.“ —
Das Recht der Initiative bei Geſetzvorſchlaͤgen ſteht dem Koͤnige und
jeder Kammer zu. — „Keine Handlung des Koͤnigs iſt guͤltig oder kann
vollzogen werden ohne die Contraſignatur des (dafuͤr verantwortlichen) be⸗
treffenden Miniſters.“ — „Der König iſt die hoͤchſte Staatsbehoͤrde im
Reiche. Er befiehlt uͤber die Land⸗ und Seemacht, erklaͤrt Krieg und ſchließt
Friedens⸗ und Bundesvertraͤge und Handelsverbindungen.“ Er gewaͤhrt
aber beiden Kammern „die noͤthigen Aufſchluͤſſe, ſobald das allgemeine Inter⸗
eſſe und die Sicherheit des Staats es erlauben. Handels⸗ und andere Ver⸗
traͤge, welche das Reich belaſten oder die Griechen perſoͤnlich verpflichten, ſind
ohne die Genehmigung der beiden Kammern ungültig.” — Der König et:
nennt die Beamten, er darf aber Keinem eine nicht vom Befege beftimmite
Stelle ertheilen.
Der König ift befugt, die Kammern aufzulöfen. Das Auflöfungsbecret
muß indeffen zugleich die Zufammenberufung der Wähler binnen 40 Tagen,
und der Kammern binnen zwei Monaten enthalten. — Der König hat .das
Recht, die Eröffnung und die Fortfegung der jährlichen Kammerfeffion zu ver:
fhieben. Der Auffchub darf aber nicht einen Monat überfchreiten, noch
ohne die Genehmigung der Kammern während des Landtags erneuert wer:
den. — Der König kann Strafen erlaffen, nur bie gegen Minifter verhängten
nicht. — Adels: und fonflige nicht gefegliche Unterfcheibungstitel darf er nicht
ertheilen.
In Betreff der Thronfolge gingen die Beſchluͤſſe der Nationalver-
fammlung dahin: der nächte König muß fich zur griechifchen Kirche bekennen.
Sollte König Otto Feine männliche , fondern nur weibliche Nachkommen hin⸗
terlaffen, fo gebt die Krone auf diefe über. Im andern Falle (nad) ben,
übrigens ohne Mitwirkung Griechenlands abgefchloffenen, Staatsverträgen
von 1832) auf den Prinzen Luitpold von Baiern. Weigert ſich diefer, zur
seiechifchen Kirche überzutreten, fo kann er zu Bunften eines feiner Söhne
abtreten.
In Betreff der obigen Beſtimmungen (Art. 40 der DVerfafiungsur:
kunde) erflärte übrigens der König Otto: „Er nehme biefe Entfcheidung für
feine eigenen Nachkommen an.” — Die Frage wegen der eventuellen Thron⸗
folge ift fomit noch nicht ale definitiv entfchieden anerkannt. —
Stirbt der König, fo verfammeln ſich die Kammern ohne Zufammen-
berufung fpäteftens am 10. Tage nach dem Todesfalle. Wären die Kam:
mern gerade aufgelöft und auf eine fpätere Zeit als 10 Tage nach dem Tode
einberufen, fo verfammeln fi) die aufgelöften wieder und fegen ihre Arbeiten
bis zur Conftituirung der neuen fort.
Vom Gterbetage des Könige bis zur Beeidigung feines Nachfolgers oder
des Regenten (in Gegenwart der Kammern) wird die conflitutionelle Gewalt
des Könige im Namen ber griechifchen Nation von dem Minifterrathe
verwaltet:
Im Falle des Eintretens einer Regentſchaft ift beflimmt: der Regen
muß 30 Jahre alt und griechifcher Confeifion fein. Er wird durch 3
=
504 V — — — Griechenland (Statiſtik) —2
rheit von beiden (vereinigten) Kammern gewählt, Hinterlaͤßt König
| Dtto er unmündigen Sobn, fo übernimmt ausnahmstweife die Königin
Im Falle len Erledigung bes Thrones teten die beiden Kam⸗
ı in eine zuſammen und erwaͤhlen vorläufig den —— zur Ein⸗
Leere ne welch⸗ —5 — binnen zwei Monaten geſchehen
— neuen ‚wählen dann den König.
Es beftchen wei-Romimeen, Die re der Deputirten iſt auf 80, ine
bie Gematorem anf 27 Bi 40 feftgefegt. Die Mitglieder ber Deputirtenkam ·
——— eine monatliche tung ‚von 20, jene des. eine
ſole Drachmen waͤhrend der Dauer des Randtags. Die Terz
vom Könige ernannt. Die Kammern a
| vom frätehens am 3-(15. Jan.) —— | ws
—— und ge BB mr in der .£ ws B
j und im ganzen ge, od nur u enigen
“ut
%
| orenen das Buͤrge Mur
Bellimmung Bot ta ua pr lafeahen Clans ange nommen.
ie neue Verfaſſung mar zwar. allerdings nicht im Stande, die
‚und bie Verhältniffe mit einem Dale völlig umzuwandeln. Den-
durch fie unverkennbar manches Ueble von dem Lande abgewendet,
ıte. wenigftens begrlinbet worden, Es ift mindeftens der Anfang
zu einer volfsthümlichen,, nationalen Regierung ;. und wie hart
d unverfchuldet aud) manche Deutfehe gelegentlich diefer Umwandlung zu
Ieiben hatten, fo muß biefelbe doch, vom höhern Stanbpunft aus betrachtet,
als eine erfreuliche Erfcheinung begrüßt werben.
Das während der Revolution gebildete Miniflerium unter dem ruf:
fifch gefinnten Metaras Eonnte ſich nicht behaupten; aud) der vorzuͤg—
lich auf England ſich ftügende Maurofordatos vermodte es nicht. Da-
gegen hält fi das Minifterium Kolettis, das zwar von Frankreich unter:
ſtuͤtzt wird, aber die meiften nationalen Befinnungen zu vertreten ſcheint.
Der König findet fih in feine Verhältniffe, indem er die Selbftregies
"rung ziemlich aufgegeben hat. Da er jedoch keine Nachkommenſchaft befigt,
und auch fein Bruder Prinz Luitpold von Baiern nicht geneigt fein foll, feine
\ Gonfeffion zu dndern, fo erfcheint die Zukunft wegen der Thronfolge noch
ungewiß. Ein Hauptübel aber liegt in dem unter der nn des Abfolu-
tismus zerrütteten Finanzzuſtande. (ſ. unten.) G. Fr. Kolb.
Griechenland, jiin ſtatiſtiſcher Hinſicht. An das Ende
des Artikel mit Weglaffung der Nachfchrift.) In Sachen des Cultus
find verfchiedene wichtige Veränderungen erfolgt.
Die Verfaffungsurfunde felbft beſtimmt, „daß die griechifche Kirche
dem Seife und den Dogmen nad) ungertrennlic) verbunden fei mit der Haupt:
— in Conſtantinopel und mit allen übrigen Staubensgenoffen,, während
fie ftaatsrechtlich unabhängig ſtehe unter einer heiligen Synode.“
Ein im Jahre 1845 erlaffenes Geſetz fteilt fodann diefe Synode unab⸗
bängiger von der Stantsgewalt. Zwar gelang es der Megierung, durchzu:
ſetzen, daß die Mitglieder diefes Collegiums ale zwei Jahre nach dem Dienft-
Griechenland (Statiftif). 505
alter von ber Regierung ernannt werden. Dagegen fiel ber koͤnigliche Staats:
procurator bei derfelben hinweg, dem mancherlei Befugniſſe eingeräumt
waren; fobann wurde der von den Mitgliedern zu leiftende Eid abgeändert,
fo daß diefelben auch dadurch in eine weniger abhängige Stellung vom Gous
vernement kommen; ferner wurde im Kirchengebet der König und die Koͤ⸗
nigin übergangen; endlich die geiftliche Cenſurgewalt verfchärft, auch ber
Geiſtlichkeit einige Befugniffe in Beziehung auf Ueberwachung der von
Fremden gegründeten Schulen eingeräumt und ebenfo der Clerus von allen
Gommunnllaften befreit.
Was die Katholiken betrifft, fo beträgt deren Anzahl 22 — 24,000.
Sie haben einen Exrzbifchof (zu Naros), 3 Biſchoͤfe (zu Syra, Tinos und
Santorin), fobann (im Jahre 1841) 43 Kirchen, 7 Kloͤſter, 83 Capellen
und 2 Seminarien.
Mohamedaner leben nur noch zu Chalkls.
Sinanzwefen. Die Kinanznoth zwang fehon vor der September:
revolution zu.anfehnlichen Reductionen im ganzen Gtaatshaushalte. So
wurde bie Zahl der Gouvernements von SO auf 24, jene ber Untergouverne-
ments von 18 auf 7 herabgeſetzt; ebenfo bei ber Armee die Reiterei von 6 auf
4 Escadronen, beim Fußvolk die 8 Bataillone auf 5 reducirt (3 Linien » und
2 Sägerbataillone) , endlich auch das Beurlaubungsſyſtem eingeführt, dem
zufolge ſtets ein Theil ber Truppen ohne Sold nach Haufe entlaffen wirb.
Der Finanzzuſtand ſcheint fich zwar zu beſſern, doch reichen alle bisheri⸗
gen Maßregeln nicht aus, die Regierung in den Stand zu fegen, ihre Vers
tem, namentlich gegen die auswärtigen Gläubiger, vollſtaͤndig gu
erfüllen.
Dürfte man einer officisllen Zufammenftellung unbedingt trauen, welche
die griechifche Regierung Ende 1844 ben auswärtigen Mächten mitteilte,
um ihre künftige Zahlfähigkeit zu beweiſen, fo hätten fi Einnahme und
Ausgabe in den verfhhiedenen Jahren folgendermaßen geſtellt, und fomit im
Der legten Zeit weſentlich verbeffert: ut
Jahr. Einnahme. Ausgabe.
1838 7,721,370 Drachmen 12,852,605 Drachmen.
1884 11,132,6897°° = 16,760619 =
1835 13.635990 : 16,906,896 ⸗
1836 13,623,817 ⸗ 16,817,537 ⸗
1837 14,196,047 s 16,693,000 ⸗
1838 14,094,860 > 14,756,676 =
1839 14.298400 = 13,880665 =
1840 15,84000 » 13,71000 s
1841 15,147,493 : 13,449,018 „
1842 14,600,000 ⸗ 13,424,000 ⸗
Indeſſen beruht dieſe Aufſtellung unverkennbar in mehrfacher Beziehung
auf Taͤuſchung.
Unter den Einnahmen ſind die Ertraͤge von Anlehen
mit aufgeführt, während der Staat ſeine Verbindlichkeiten als Schuld⸗
ner theils gar nicht, theils hoͤchſt unvollſtaͤndig erfuͤllte. Auch ſtellte das
Budget von 1843 folgende Ergebniſſe dar:
506 Griechiſche Volksanſichten von Recht und Staat.
Ausgabe. - - > 2 2.2.0... 18,666,482 Dramen.
Einnahme - : . 2 2 2 02. 15,669,795 ⸗
Was die aͤlteren Anlehen betrifft, ſo wurden von dem 1824 negocirten
ſeit dem Juli 1826 keine Zinſen mehr bezahlt, und ebenſowenig von jenem
1825 aufgenommenen feit dem Juli 1827! — Bon dem aus der baterifchen
Staatscaſſe erhaltenen Anlehen von 44 Mill. Drachm. find gleichfalls erſt
2,740,600 Dradymen zuruͤckbezahlt. Und daß es noch fchlimmer fleht mit
bem durch die 3 Großmächte garantirten Anlehen von 60 Mil. Fres., if
befannt. Jene Mächte, namentlih Frankreich), mußten große Vorſchuͤfſe
leiften zur Abtragung ber verfallenen Binfen.
Die griechifche Regierung führte In einer Note an bie fremden Mächte
Folgendes an zu ihrer Mechtfertigung in der Anlehnsſache: Griechenland habe
in den Fahren 1837 — 1840 für Verzinfung und Zilgung der großen Anlehen
6,300,000 Drachm. felbft gedeckt. Die Großmaͤchte hätten zum naͤmlichen
Behufe bis 1845 27,143,950 Dradym. von dem Anlehens capitale ver:
wendet. An bie Pforte hätten 12,531,164 Drachm. bezahlt werben müffen.
Die baterifche Truppenfendung habe 22,340,862 Dradym. gekoſtet. Roth⸗
ſchild habe für Negocirung des Anlehens 6,660,000 Dradym. gezogen x. x.
Im Ganien feien von dem Rothfchild’fchen und dem balerifchen Anlehen nur
437,323 Drachmen für innere Verbefferungen übrig geblieben!! (Und
doc) ift das arme Land nun mit einer fo enormen Schuldfumme belaftet!)
®. Sr. Kolb.
Griebifhe und allgemeine altgriehifhe Volks—
anfihten von Recht und Staat. In unſeren Tagen entwidelt
ſich mehr als ſeit langen Jahrhunderten in den Völkern und aus bem Volks⸗
Heben heraus eine bemußte Erneuerung und ein Kampf der Grundanfichten
über die Rechts⸗ und Staatsverhaͤltniſſe, über die legten Grundlagen derfel-
ben. Mehr aus dem Volke und feinen wahr oder falfch aufgefaßten Beduͤrf⸗
niſſen ale aus den Stubenphilofophien entflehen die neueren focialiftifchen,
communiftifchen und Verfaſſungs⸗ Theorien. Bewußter oder unbemußter
hängen diefelben mit ben geichichtlichen Grundlagen des Culturlebens der Na⸗
tion, alſo den claffifchsalterthümlichen, roͤmiſchen und griechifchen und den
chriſtlichen und germanifchen zujummen und mwenigftens wird für ihre Zeitge⸗
mäßheit und beiliame Geftaltung eine gründliche Kenntniß derfelben boppelt
wichtig und fchon der Vergleihung wegen anziehend. Bekannt ift «6, wie
in der franzöfifchen Revolution die Volksfuͤhrer piöglich ihre Blicke auf: die
republikaniſchen Verfaffungen der Alten und auf die alten, namentlich bie
römifchen Rechtsideen mendeten. Und glüdlicher ale die fhon von Rouf:
feau dorther entlehnten, [ehr einfeitig aufgefaßten Ideale der Staats⸗Ver⸗
faffungen wirkten die zu focialiftifhen Verbefferungen, für Aufhebung aller
feudatiftifchen Befchränkungen angewendeten, in den fpäteren Code Napo-
leon aufgenommenen , ewig wahren Grundfäge des römifchen Rechts über Die
Sreiheit der Perfon und des Eigenthums. Die damalige allgemeine Volles
begeifterung für römifche Staats» und Rechtsanfichten ſprach fich ſchon aus
in den jet eingeführten römifchen Titeln, Aemtern, Einrichtungen, Tribus:
nat, Sonfulat u. f. w.
Griechiſche Volksanſichten von Recht und Staat. 507
Bet diefem größern Intereſſe und prattifchen Einfluß, den jet die rich»
tige Kenntniß griechifcher und roͤmiſcher Volksanſichten von Recht und Staat
und ihres Verhältniffes zu unjeren beutigen Zuftänden und Bebürfniffen has
ben muß und vielleicht bald noch mehr erhalten kann, foll jegt da6 Staats⸗
Leriton in feiner zweiten Auflage kurze Darftellungen derfelben enthalten,
die in dieſem Artikel mit den alten und allgemeiner griechifchen Rechts⸗ und
Staatsanfichten beginnen und durch Darftellungen der Lykurgiſchen fpars
tanifdyen, der Solonifchen athenifchen und der vömifchen Rechts⸗ unb
Gtaatstheorien ergänzt werden follen.
Eine Darftellung des Geiſtes der griech iſchen Geſetze und Rechte wird
durch mehrfadye Gründe erfchwert. Zrerſt dadurch, daß wir dieſe Geſetze
nur fehr mangelhaft, unvoliftändig und meift ohne die Worte der Geſetz⸗
geber befigen ; dann durch Die Art der wifienfchaftlichen Behandlung, welche
denfelben bisher meift zu Theil wurde. Ohne ihren inneren Geiſt und Zuſam⸗
menbang unter ſich felbft und mit den Anfichten ihrer Ucheber von Leben und
Staat zu erforfchen, wurden fie, öfter fogar ohne Trennung der verfchiedes
nen Zeiten und Völker, neben einander gereiht, und es läßt fich von ber gans
zen Bearbeitung fagen, mas Heyne von einem Theile derfelben klagt ):
versantur viri docti in verbis enarrandis et declarandis, vix unquam in
ipsa re constituenda. J
Dazu kommt vorzuͤglich noch die Vielſeitigkeit der Bildung und ber
Anſichten der Griechen. Faſt alle Kraͤfte des Lebens entfalteten ſich bei
dieſem ewig einzigen Volke, welches des Orients herrliche Bluͤthen mit des
Occidents reifenden Fruͤchten auf ſchoͤnem Stamme vereinte, zu hoher Voll⸗
kommenheit und beſtanden neben und durch einander in ungeſtoͤrter Harmo⸗
nie. Wie in ihren Heroen Goͤttliches und Menſchliches, wie In Ihrer Phi⸗
loſophie, als deren Repräfentant vorzuͤglich Platon gelten muß, begei⸗
fterte Anfhauung und befonnene Reflerion in wunderbare Vereinigung tras
ten, fo war in ihrem ganzen Leben eine finnliche und überfinnliche Welt. in
feftem Bunde. Theokratiſches fteht in ihren Verfaffungen neben dem rein
Menſchlichen, ohne daß, was fonft leicht gefchieht, eines dem anderen Würde
und Heiligkeit raubte, ohne daß je die Grenze beider vollkommen aefunden und
eins von dem andern ganz getrennt werden koͤnnte. Es bat das griechiiche
Leben eine eigenthuͤmliche Befundheit, Ganzheit und Unzerriffenheit. Da
ift nicht da8 Allgemeine und Befondere, Beiftige und Sinnliche auseinander
gerifien, im Gegenſatz, entzweit und der Verſoͤhnung bedürftig; heibnifch im
beften Sinne des Wortes , unmittelbar menſchlich Verbunden erſcheint es. Die
ganze harmonifche Menfchennatur nad) abftracter oder ſchwaͤrmeriſcher Theos
rie giebt das Geſetz. Südlich, wenn in fittlicdy gefunder Harmonie das Höhere
in Ihr vorherrſcht! So gluͤcklich und human diefe innerliche Verbindung war,
fo wird es doch eben dadurch ſchwer, einzelne, aus dem Zufammenhange
geriffene Erfcheinungen auf ihre Achte Quelle zuruͤck zu führen und ihre
mahre Natur zu erkennen. Dazu können die folgenden Zeilen nur einige
Andeutungen geben zu wollen Anſpruch machen.
1) De judic. publ, Opusc. acad. IV. p. 16.
508 Griechiſche Wolksanfichten von Hecht und Staat
Zwei Perioden vorzüglich muͤſſen für Betrachtung ber griechifchen Ge⸗
fege und Rechte getrennt werden: die vor ben kuͤnſtlicheren Geſetzgebungen
und Staatöverfaffungen, die Heroenperiode, und: die nach diefer-tünft«
licheren Begründung der Staaten, die Bürgerperiode. Inder erfteren
herrſcht, in ihrer Ausbildung wenigſtens, bie theoßratifche Anficht mehr vor;
aber auch außerdem ergeben fich bedeutende Unterfchlede von der letzte⸗
ren. Inder erfleren find, fo meit unfere Kenntniffe reichen, alle gries
chiſchen Völker fich ſehr aͤhnlich, in der letzteren verbienen vorzüglich bie
Geſetzgebungen des Lykurgus, des Zaleukus und Charondas und bie
des Solon gefonderte Betrachtung. Die Übrigen, minder originell, ver:
ſchwinden um fo mehr hinter jenen, da unfere Nachrichten von ihnen noch
mangelhafter find.
Der ganze rohe und wilde Zuftandb®) der älteften Griechen verſchwand
bald, als Colonien aus gebildeteren Ländern zu ihnen eimmanderten , fie aus
ihren Wäldern und Höhlen lockten und ihnen ihre religtöfe, gefellfchaftliche und
geſetzliche Cultur mitzutheilen ſtrebten?). So wurde das Recht, welches in
der Kindheit eines jeden Volkes Sinnlichkeit und Stärke behaupten, gemildert
und zum Beſſeren gelenkt. Hercules und Theſeus ftehen nicht nıchr ale Mes
präfentanten roher Sinnlichkeit und ber bloß phnftfchen Kraft da, fondern
werben al& ihre Bekaͤmpfer, ald Retter aus ber Gewalt thierifcher und menſch⸗
licher Ungehöuer, als Anordner und Beſchuͤtzer beflerer Rechtes und Gefell⸗
ſchaftsverhaͤltniſſe verehrt und fpäter vergättert. Mit voller Beftimmtheit
fest [hon Hefiodus biefes beſſere Recht, von ben Goͤttern geheiligt, dem
früheren Sinnlichkeitsrechte entgegen:
Nur der Gerechtigkeit folg’ und gänzlich vergiß der Gewaltthat;
Solch ein Geſetz warb Menfchen von Zeus Kronion geordnet.
Fiſche der Flut, Raubthier' und Eraflichte Bögel bes Himmels
Hieß er freffen einander, bieweil fie deö Rechtes ermangeln;
Aber den Menfchen verlich er Gerechtigkeit, welche der Güter
Edelſtes ift*).
&o kennen denn auch bie Homerifchen Helden überali ein befleres
Recht als das ber rohen Bewalt, nämlich ein von Zeus ſtammendes und
den Königen zur Erhaltung vertrautes®), umd jede Herrfchaft nach bloßer
Zilltür und Uebermacht iſt ihnen Zuftand der Barbarel und gaͤnzlichen Recht⸗
gkeit 9).
r Selbft in der Goͤtterwelt und über biefelbe herrfcht die dan, das Schick⸗
fal, die dunkle Idee und Quelle der Gerechtigkeit”).
In dieſer Periode, in welcher in dem freisren und fittlicheren Verhaͤlt⸗
niffen die theokratifche Anflcht bedeutend vorherrſcht, hatten die Gelege oder
2%) Pausanias VII. 1. Acschyl. Prom. vinct. V. 342 zegq.
3) Ucber den Einfluß ber Fremden vergl. Hceren, Ideen, III. 8b. 1.
Abth. S. 103 f.
4) Tagewerke V. 275 f. nah Voß.
5) 3. 8. Ilias II. 206.
6) Odyss. IX, 112 f.
7) Platon de Rep. ed. Bipont. p. 19.
)
x
Griecchiſche Wolkanfichten von Recht und Stasi. 608
die Sitten der Menſchen meift ihre Heiligung durch bie Götter ®), welche
durch ihre Draßel, Wunder, Scher und Prieſter die Menſchen lenkten ?).
Prieſterthum und Regierung des Staates waren daher auch in den fruͤheſten
Beiten bei den Griechen vereinigt 1).
Meben der religiöfen Auffaſſung beftand auch fchon jest ein Recht bes
Freiheit und Gleichheit, überall das Streben nad) Unabhängigkeit, Freiheit
und Gleichheit, die hohe Achtung ber Perfönkichkeit, der Ehre bes freien
Mannes. Auch bie Verfafjungen entfprechen meift ſchon dieſen Anfichten,
und es fcheinen Viele dem: „Einer fei König!” das Domer im Kriege,
wo die Gewalt der Könige größer war als außerdem !!), und wohl Aber
haupt nur. in Beziehung auf die erecutive Gewalt einen feiner Helden fas
gen läßt, au viel Gewicht beizulegen. Schon des Minos Gefeggebung
Hatte vorzüglich Freiheit und Gleichheit der Bürger im Auge !?) und nach
Theſeus' Anordnungen waren die gejeggebende Gewalt und die Aemterver⸗
gebung und fomit die eigentliche Souveränetät in den Händen bed Volks '?),
weiches fie oft genug gegen das königliche Anfehen mißbrauchte, wie z. B.
gegen Thefeus, melden es verjagte. Auch die Homeriſchen Könige find
nichts mehr ald Anführer im Kriege, Prieſter, Wächter der Geſetze, und
zum Thell Richter, haben ihre Ehre und Rechte nur ale Geſchenk des Vol⸗
des!) und duch Vertrag mit ihm?®), regieren keineswegs nad) Willkuͤr,
fondern find einestheils an die väterlichen Sitten !°), anderntheild an einem
Rath der Helteren und Vornehmeren gebunden, welcher letztere dann bie Raths
ſchlaͤge dem Wolke vorlegte 17). Diefe Raths⸗ und felbft die Volksverſamm⸗
lung nimmt auch am Richteramte großen Antheil!®). Den rechtiofen und
wilden Buftand der Kyklopen befchreibt daher Homer dadurch, daß bei
9) Feithii Antiquitt. Homeric. 1I. 1. Ilias II. 206.
9) Siehe 3. B. Herodot II. 52. Ilias I. 63. XIX. 400.
10) Odyss. I. 404f. Apollodor. II. 15. Daher noch fpät zu
Athen der dem Öffentlichen Gultus porfiehenbe Arhen König big. Demo-
sthen. in Neaer. P- 1370. e eiske. Aehnlich zu Rom.
' 11) Feith. II. 32. So war e8 ja aud bei den alten Franken, wo
Ehlodowig, der fonft überall durch Bolkeverſammlung befchräntt ift, bei der
Heerſchau einen Mann niederhaut.
12) Strabo X. p. 480 f.
13) Plutarch, k p- 11. Demosthenes in Neaer. p.
873. Aristotel. Pol. III. 1%. IV. 10. Diodor. 8.1. 238. Euri-
pidis Suppl. V. 404. Heracl. v. 424. In ber erften Stelle von Euri-
pid. beißt es: denn es herrfcht nicht ein Mann, fonbern frei ift der Staat
und das Bolt herrfcht und giebt jährlich Aemter diefem oder jenem.
14) Hesiod. Theog. v. 85 f. Odys». VII. 150. XI. 175. Ari-
stot. Pol. V. 10.
15) Odyss. I. 388—398. XXIV. 483 und 545 f. Es ſcheint mir nach
biefen Stellen, wie in mehreren alten Reihen, 3. B. bei den Aegyptiern
(Pauw IX) und bei den Ssraeliten (Michaelis, Mofatfhes Recht
$. 55.) das Volk die Familien gewählt au haben.
16) Feith. II. 2.
17) Ilias II. 24. 63. I. 238. II. 270. IX. 97. Odyas. VII. Ari-
stotelis Eth, III. 5.
18) Tlias XVL 386. XVII. 497 f.
506 —* Volksanſichten von Recht und Staat.
dent BL NE ES I ZU ze '18,666,482 Dradymen.
nabme . . . u. + 1 415,669,795 s
Was die älteren Anlehen beteifft, ſo wurden von dem 1824 negocieten
kenne feine Binfen mehe bezahle, und ebenfomenig von jenem
Er —— 18271 — Bon dem aus der balerifchen
erhaltenen Untehen von 4% Mill. Drahm. find gleichfalls erft
| ) Dradimen zuruͤckbezahlt· - Und daß es noch fchlimmer fteht mit
Bekannt. Jene Migte, ——— yoße Bor
t. Jene e, namentl } große
leiften zur Abtragung ber verfallenen Binfen.
& A ger there rar führte in in einer Note an bie — Mächte
n zu ihrer Mechtfortigung in der Anfehnsfache: Griechenland habe
in In ben abıım 1837 — 1840 für Verzinfung und Tilgung der großen Anlehen
6,300,000 Drachm. felbft gedeckt. Die Geoßmächte hätten zum nämlicyen
Behufe bis 1845. 27,143,950 Drachm. von dem Anlchenscapitale ver:
wendet. An die Pforte hätten. 12,531,164 Drachm bezahlt werden muͤſſen.
Die baieriſche Truppenſendung habe 22,340,862 —— gekoſtet A
ſchild habe für Negocirung des Anlehens 6,660,000. Drachmg a,
Im Gangen felen von dem Rothſchildſchen und dem bateeifepen — nur
437,913 Dradymen für innere Verbefferungen übrig geblieben!! (Und
doch iſt das arme Land num 77 eier re enormen ee
1 De ru Ao
au Griechifche und. "all meist altgriehifche Volks—
anfidten von Recht und Staat. In unſeren Tagen entwidelt
ſich mehr als ſeit langen Jahrhunderten in den Völkern und aus dem Volks—
leben heraus eine bemußte Erneuerung und ein Kampf der Grunbdanfichten
uber die Rechts⸗ und Staatsverhältmiffe, über die legten Grundlagen derfel-
ben. Mehr aus dem Volke und feinen wahr oder falſch aufgefaßten Beduͤrf⸗
niſſen als aus den Stubenphilofophien entflehen die neueren focialiftifchen,
communiftifhen und VBerfafjungs: Theorien. Bewußter oder unbewußter
ängen diefelben mit ben gefchichtlichen Grundlagen des Gulturlebeng der Na:
on, alfo den cläffifchsalterthümtichen, vömifchen und griechifchen und den
hriftlichen und germanifchen zufammen und mwenigftens wird für ihre Beitge-
mäßheit und heilſame Seftaltung eine gründliche Kenntniß derfelben doppelt
wichtig und fchon der Vergleichung wegen angiehend. Bekannt iſt es, wie
in der franzöfifchen Revolution die Volksfuͤhrer plöglich ihre Blicke auf- die
vepublilanifchen Verfaffungen der Alten und auf die alten, namentlidj die
römifchen Rechtsideen wendeten. Und glüdlicher als die fhon von Rouf:
feau dorther entlehnten, fehr einfeitig aufgefaßten Sdeale der Staats: Ver:
faffungen wirkten die zu focialiflifchen Derbefferungen, für Aufhebung aller
feudatiftifchen Befchränkungen angewenbdeten, in den fpäteren Code Napo-
leon aufgenommenen , ewig wahren Srundfäge des römifchen Rechts über die
Freiheit der Perfon und des Eigentbums. Die damalige allgemeine Volks:
begeifterung für römifhe Staats: und Rechtsanſichten ſprach fid) [hon aus
im den jest eingeführten römifchen Titeln, Aemtern, Einrichtungen, Zribu:
nat, Confulat u. f. w. 5
‘
Griechiſche Volksanſichten von Recht und Staat. 507
Bei dieſem größern Intereſſe und praktifchen Einfluß, den jegt die rich»
tige Kenntniß griechifcher und römifcher Volksanfichten von Recht und Staat
und ihres Verhältniffes zu unjeren heutigen Zuftänden und Bedürfniffen has
ben muß und vielleicht bald noch mehr erhalten kann, foll jegt das Staats⸗
Lexikon in feiner zweiten Auflage kurze Darftellungen derſelben enthalten,
die im diefem Artikel mit den alten und allgemeiner griechifchen Rechts⸗ und
Staatsanfichten beginnen ımd durch Darflellungen der Lykurgiſchen ſpar⸗
tanifdyen, der Soloniichen athenifchen und der roͤmiſchen Rechts⸗ und
Staatstheorien ergänzt werden follen.
Eine Darftellung des Beiftes der griechifchen Geſetze und Rechte wirb
durch mehrfache Gründe erfchwert. Zuerſt Dadurch, daB wir diefe Geſete
nur fehe mangelhaft, unvolftändig und meift ohne die Worte der Geſetz⸗
geber befigen; dann durch Die Art der wifienfchaftlichen Behandlung, welche
denfelben bisher meift zu hell wurde. Ohne ihren inneren Geiſt und Zuſam⸗
menbang unter ſich felbft und mit ben Anfichten ihrer Ucheber von Leben und
Staat zu erforfchen, wurden fie, öfter fogar ohne Trennung der verfchiedes
nen Zeiten und Völker, neben einander gereiht, und es läßt ſich von der gans
zen Bearbeitung fagen,' was Heyne von.einem helle berfelben klagt):
versantur viri docti in verbis enerrandis et declarandis, vix unquam in
ipsa re constituenda. . Be .
- Dazu kommt vorzuͤglich noch die Vielſeitigkeit der Bildung und ber
Anſichten dee Griech en. Faſt alle Kräfte des Lebens entfalteten ſich bei
dieſem ewig einzigen Volke, welches des Orients herrliche Bluͤthen mit des
Occidents reifenden Früchten auf ſchoͤnem Stamme vereinte, zu hoher Voll⸗
kommenheit und beflanden neben und burdy einander in ungeftörter Harmos
nie. Wie in ihren Herom Göttliches und Menfchliches, wie In Ihrer Phi⸗
loſophie, als deren Repraͤſentant vorzüglid) Platon gelten muß, begeis
flerte Anſchauung und befonnene Reflerion in wunderbare Vereinigung tcas
ten, fo mar in ihrem ganzen Leben eine finnliche und überfinnliche Welt in
feftem Bunde. Theokratiſches fteht in ihren Verfaſſungen neben dem rein
Menſchlichen, ohne daß, was ſonſt leicht gefchieht, eines dem anderen Würde
und Heiligkeit raubte, ohne daß je die Grenze beider vollkommen aefunden unb
eins von dem andern ganz getrennt werben koͤnnte. Es hat das grischifche
Leben eine eigenthümliche Geſundheit, Ganzheit und Unzerriſſenheit. Da
ift nicht da8 Allgemeine und Befonbere, Geiftige und Sinnliche auseinander
geriſſen, im Gegenſatz, entzweit und der Verſoͤhnung bebürftig; heidniſch im
beften Sinne des Wortes , unmittelbar menſchlich verbunden erſcheint es. Die
ganze hHarmonifche Menſchennatur nach abitracter oder ſchwaͤrmeriſcher Theo⸗
rie giebt das Geſetz. Südlich, wenn im fittlich gefunder Harmonie das Höhere
in ihr vorherrſcht! So glücklich und Human diefe innerliche Verbindung war,
fo wird es doch eben dadurch fchwer, einzelne, aus dem Zufammenhange
geriſſene Erfcheinungen auf ihre Achte Quelle zuruͤck zu führen und Ihre
wahre Natur zu erkennen. Dazu können die folgenden Zeilen nur einige
Andeutungen geben zu mollen Anfpruch madıen.
1) De judic, publ, Opusc. acad,. IV. p. 16.
508 Griechiſche — OREEND und Staat.
Zwel Perloden —— ——6 Ge⸗
Bw —— vor den kuͤnſtlicheren ——— |
und Staatsverfaffungen, die — und‘ die nach diefer
licheron Begtuͤndung der Staaten, he, Nr In der erfleren
theokratifche Anſicht mehr vor;
em ſich Unterfchiede von det Tegte>
Ben find, ar unſere Kenminiſſe reichen, “alle geie-
der Be ‚betbienen vorzüglich die
A, "de
Eis unb ———
minder originell ‚„ Ders
anfere Naiheichten von ihnen noch
amt RE —*⁊
d Bunker
he us, des
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——““ mente,
Mit ——
——— gehätffgt, dem
es
tüßeren —— Are
Nur ber Gerechtigkeit, folg' und gänzlich vergiß ber Gewaltthat;
Sol ein Geſetz warb Menfchen von Zeus Kronion georbnet.
Fiſche der Flut, Raubthier' und Erallichte Vögel bes Himmels
Dieb er freffen einander, dieweit fie des Medhtes ermangeln ;
Aber ben Menfchen verlich er Gerechtigkeit , welche der Güter
Edelſtes ift*).
So kennen dennaud bie Homeriſchen Helden überall ein beſſeres
Recht als das ber rohen Gewalt, nämlich ein von Zeus ftammended und
den Königen zur Erhaltung vertrautes®), und jede Herrſchaft nad; bloßer
Militär und Ueberntacht iſt ihnen Zuftand der Barbarei und gänzlichen Recht⸗
gkeit ). —
* Selbſt in ber Goͤtterwelt und über dieſelbe herrſcht die oinn, das Schick⸗
ſal, die dunkle Idee und Quelle der Gerechtigkeit”).
—In dieſer Pertode, in welcher in ben freisren und fittlicheren Verhaͤlt⸗
niſſen die theokratifche Anficht bedeutend vorherrfcht, hatten die Gefege oder
nal I [| ER
J
4 1
2) Pausanias VIII. 1. Acschyl. Prom. vinct. 442 seq.
= 7 a te der Fremden vergl. Hceren, nn mM. 8b. 1.
t
4) Zagewerfe V. A Al nah Voß.
5) 3. B. Ilias IM.
6) Odyss. IX. Br
7) Platon de Rep, ed. Bipont. p. A
Griechiſche Wolßsanfichten von Red und Scaat. 600
bie Sitten der Menſchen meift ihre Heiligung durch die Götter ®), weiche
durch ihre Orakel, Wunder, Seher und Prieſter die Menfchen lenkten ®).
Prieſterthum umd Regierung des Staates waren daher aud) in den fruͤhe ſten
Zeiten bei den Griechen vereinigt 10).
Meben der religiöfen Auffaſſung beſtand auch fchon jegt ein Recht bes
Freiheit und Gleichheit, überall das Streben nad) Unabhängigkeit, Freiheit
und Gleichheit, die hohe Achtung ber Perſoͤnlichkeit, der Ehre des freien
Mannes. Auch die Verfoffungen entſprechen meift fchon diefen Anfichten,
und e6 fcheinen Viele dem: „Einer fei König!” das Homer im Kriege,
wo die Gewalt der Könige größer war ale außerdem !!), und wohl uͤber⸗
haupt nur in Beziehung auf die erecutive Gewalt einen feiner Helden fas
gen läßt, zu viel Gewicht beizulegen. Schon des Minos Gefeggebung
hatte vorzüglich Freiheit und Gleichheit der Bürger im Auge !?) und nach
Theſeus' Anordnungen waren die gejeggebende Gewalt und die Aemterver⸗
gebung und fomit die eigentliche Souveränetät in den Händen bes Volks 1),
welches fie oft genug gegen das königliche Anfehen mißbrauchte, wie z. B.
gegen Theſeus, weichen es veriagte. Auch die Homeriſchen Könige find
nichts mehr als Anführer im Kriege, Prieſter, Wächter der Geſetze, und
zum Theil Richter, haben ihre Ehre und Rechte nur als Geſchenk des Wol⸗
tes!*) und durch Vertrag mit ihm!®), regieren keineswegs nad) Willkür,
fondern find einsstheils am die väterlichen Sitten 10), anderntheild an einen
Rath der Aelteren und Vornehmeren gebunden, welcher letztere dann bie Raths
ſchlaͤge dem Wolke vorlsgte 17). Diefe Raths⸗ und ſelbſt die Volksverſamm⸗
lung nimmt auch am Richteramte großen Antheil 18). Den rechtloſen und
wilden Zuftand der Kyklopen befchreibt daher Homer dadurch, daß bei
8) Feithii Antiquitt. Homeric. II. 1. llias II. 206.
9) Eiche 3. B. Herodot II. 52. Ilias I. 63. XIX. 400.
10) Odyss. II. 404f. Apollodor. Ill. 15. Daher noch fpät zu
Athen ber bem Öffentlichen Gultus zorſtehende Archon König hieß. Demo-
sthen. in Neaer. p 13 ed. Reiske. Achnlich zu Rom.
11) Feith. U. 32. So war es ja auch bei ben alten Franken, wo
Ehlodowig, der fonft überall durch Volksverſammlung befchräntt ift, bei der
Heerfchau einen Mann en
12) Strabo X.
13) Plutarch, Phes us p .11. Demosthenes in Neaer. p.
873. Aristotel. Pol. II. 14.’ . 10. Diodor. S. I. 8. Euri-
pidis Suppl. V. 404. Heracl. v. 424. In ber erften Stelle von Euri-
pid. beißt "4 denn es berrfcht nicht ein Dann, ſondern frei ift der Staat
und das Wolk herrfcht und giebt jährlich Aemter diefem oder jenem.
14) Hesiod. Theog. v. 85 f. Odyss. VII. 150. XI. 175. Ari-
stot. Pol. V. 10.
15) Odyss. I. 388—398. XXIV. 483 und 535 f. Es ſcheint mir nach
diefen Etelten, wie in mehreren alten Reichen, z. B. bei ben Aegyptiern
(Pauw IX) und bei ben Seraeliten (Michaelis, Moſaiſchet Recht
$. 55.) das Volk die Familien gewählt au haben.
16) Feith. II. 2.
17) Ilias II. 24. 6 I. 238. III. 270. IK. 97. Odysa. VII. Ari-
stotelis Eth, II. 5
18) Ilias XVL 386, XVII, 497 f.
so Guiechſche Wollsanfihten von Recht und Stadt.
ihnen weder Geſetz noch Nathsverſammlung des Volkes fei,,fondern Jeder nach
re ge und ſchrecuch· Rache will Zeus an Bewaltfam Harfe
en 20
Aber 28 wurden die Mechte der Sinalithleit mehenur vingefehräntt J
geadelt, als fie weber durch Religion noch Geſetze ganz verdrängt und
beherrſcht werben konnten. Dazu waren die Griechen jetzt überhaupt noch
nicht reif genug, oder «8 fehlte ihnen wenigſtens ein Dann von
ber Kraft und Begeifterung , der fie durch erhabenere Religionsideen und
Gefeßgebung ganz unter die. Derrfchaft der Götter und eines reineren
s zu feffeln vermocht hätte; welchen Mangel auch fpäterhin die Grie-
Aka dies mit ihrer übrigen hohen Cultur contraftirenden niedrigeren Reli
glondanfichten verdankten; benn Blaubenslehren werden pofitiv nur durch
begeifterte Propheten gebeſſert, außerdem fommt ihnen bei hoͤchſter Bildung
nur eine negative Beſſerung, durch Unglauben ®).
Es bedarf nur eines Blids auf die Geſchichte jener Zeit, vorzüglich
auf Homer’s herrliche Gefänge, um ſich zu überzeugen, wie fehr neben beffe:
ven Ideen auch Sinnlichkeit und K ihre Gültigkeit behaupteten 2
Votʒůglich in diefet Art ber Entſtehung und Bildung des Rechts, wel⸗
Se nicht allmälig aus bem Volke ſelbſt, bei rag
Baer durch die von außen mitgetheilten fremden Religions» und
Rechtsidern ziemlich ſchnell und fruͤh bildete, jcheint neben andern auch eine
Quelle der fortdanernden eigenthümlichen Rechts» und Stantsanficht der
Griechen zu liegen. Denn wenn auch auf diefe Weife jener niedrige Egois⸗
mm, der nur auf Befriedigung rohſinnlicher Zriebe, auch durdy die unans
ftändigften Mittel, bedacht ift, verfchwinden mußte, fo konnten doch Feines:
wegs die Perföntichkeit und Selbſtheit des Einzelnen und die fruͤheren Rechte
der Sinnlichkeit ganz in ihre gehoͤrigen Schranken verwieſen werden oder in
rein ſi ttlichen Ideen aufgehen; ſondern gerade die etwas egoiſtiſche Perſoͤn⸗
lichkeit, in veredelterem Geiſte und mit einem unreflectirten Antheile fittli-
her Sdeen: als freies, unantaftbares, ſich felbft geſetzgeben—
des Wefen, wurbe bleibend der hoͤchſte Charakter des griehifhen Rechts, der
Mittelpuntt des Strebens, die Ehre und das Gluͤck des frein Mannes und
Staates. Hohe Achtung der vollfommenften Unabhängigkeit und
eben darum der völligen Gleichheit mit allen Freien, keineswegs
zur überfinnlichen Idee gefleigert und als Rechte einer andern Melt, fondern
als weſentlichſtes Bürgerrecht jedes Freien auf dieſer Erde und in ir diſchen
Bedingungen betrachtet, uͤberhaupt eine vollendete Maͤnnlichkeit und Aus⸗
bildung des irdiſchen Menſchen, was den Griechen ihre aoern bezeich⸗
nete, nicht ein Vergeſſen und Aufopfern des Irdiſchen fuͤr ein Ueberirdiſches,
war die Seele des griechiſchen Rechts und der griechiſchen Tugend; wenig—
19) Odyan IX. 110 f.
20) Ilias XVI. 385 f. Ats Priefter und zugleich ale Nachkommen der
were und Heroen haben die Könige gewiß auch theofratifchen Einfluß.
21) Diefes wird oft, namentlih auh von Filangicri, bei feinen Bor:
prägen zu Religionsverbefferungen (VI. 7), überfeben.
2) Selbſt im Diymp haben fie eine gewiffe Sanction. Ilias VII. 18 ff.
Griechiſche Bolfsanfichten von Recht und Staat. 511
ſtens fofern bie legtere von der Religion, von bloßer Pietät fich trennte ??).
Sie war das hoͤchſte Gut, welches die praktifche Philofophie der Griechen, die
ſtets von ber Idee eines höchften Gutes ausging, für Recht und Politik fand,
für welches diefe felbft Mittel waren , und welches durch ben täglicdyen Gegen⸗
fag der durch feinen Mangel erzeugten Niedrigkeit und Exrbärmlichkeit der
Sklaven nıuen Werth fo wie durch die SHaverei und felbft durch die den
Griechen eigenen Religionsvorftellungen, durd ihre Kunft und Poefie 3*)
Unterflügung, Nahrung umd Ausbildung gewann.
Es war diefe Rechtsanſicht in ihrer guten Anwendung Quelle bed Herr⸗
lichſten und Schönften im bürgerlichen Leben der Griechen, ihrer unbeflegs
baren Liebe zur Freiheit und zu ihrem Vaterlande, welches ihnen dieſelbe ges
waͤhrte, welches fie als einzige Bedingung ihres hoͤchſten Gutes, der vollen
Seibſtſtaͤndigkeit und Gleichheit, anfehen mußten, fie war Quelle bes reichen
Lebens, bes freien Spiels aller Kräfte, wie es ſich außer Hellas nie wieder ent⸗
faltete.
Sie mufte die auf volllommenfte Freiheit und Perfönlichkeit der Ein«
zelnen, auf vollkommenes und ganzes Leben Aller und darum auf gleichen Ans
theil an irdifchen Gütern, namentlich aber am Öffentlichen Leben, berechne⸗
ten Rechtes und Staatsverhältnifie, geheiligt durch die Götter des Vaterlan⸗
des, jenen herrlichen Gemeinſinn der Griechen in ihrer befieren Zeit, fie mußte
immer mehr jene große überall in den griechiſchen Staaten erfcheinende, in
der Platonifchen Republik unuͤbertrefflich entwickelte Anficyt des Staates,
23) Ganz in dieſem Geiſte find die unten folgenden ſpartaniſchen unb
athenienfifchen Geſetze aufzufaffen, welhe Ehre und Tapferkeit als
Grundbebingung bes Rechtsverhältniffes betrachten und bloße Keigheit als
Verbrechen ſtrafenz ebenfo bie Ariftotelifche Definition bes Staates: als
einer freien und gleichen Vereinigung zur Erhaltung eines unabhängi-.
gen und felbfigenugfamen Zuftandes (Eth. V. 10.); feine Behauptung,
daß nur unter freien und gleichen Menſchen ein Rechteverhältniß mög»
lich fei (ibid.), dag Ehre die Stücfetigkeit der befferen und für das buͤrger⸗
liche Leben fähigen Menfchen (Eth. I. 3) und daß gegen fich und feine Freunde
ſchlecht handeln das Schänblichfte fei. (Eth. V. 3). Erſt Platon, von hoͤ⸗
beren fittlichen Ideen ausgehend , welchen auch das Hecht unmittelbar dienen
follte, griff entfcyieben biefe Art der Freiheit ats Höh ften Charakter des Rechts
anz vorzüglich an den bekannten Stellen, wo er gegen die durch die griedhifche
Rechtsanſicht berrfchende Meinung, welche das flets als etwas Sklaviſches ges
dachte Unrechtleiden für das höchfte Uebel hielt, auszuführen fuchte: daß
Unrechtthun ein höheres Uebel fei. Noch weiter von der Rechtsanftcht ber
Alten, welche, volle GSeibftfländigkeit und Freiheit als das Höchfte achtend,
nichts ehrenvoller hielten als ihre Schügung, namentlich auch durch Tyran⸗
nenmorb, entfernen fich die für chriftlich ausgegebenen Grundfäge, welche Frei⸗
beit felbft um der Sittlichkeit willen nicht wollten und über die anbere Welt
diefe und die wahre Zugend in ihr vergaßen, wohin das unbebingte Geduld⸗
predigen (3. B. Augustin. de Civ. Dei XXlII. 6. Epistol. 166.
Lactant, inst. div. V. 20.) gehoͤrt.
234) Es ift befannt, wie namentlid Homer und der Geift des Home:
rifhen Heldenlebens Hierfür wirkten und von Geſetzgebern ber freieften
Staaten dafür benugt wurden; wie denn das lestere überhaupt Duelle und
Mufter dafür war.
Mr
512 Griechiſche Volksanſichten von Recht und Staat.
— nicht, wie Im neuerer Polltik, Sendern une nee
* ——— Eebenskräfte einent äußeren ober einfeitigen 3
geordnet werden und als blofes al in den Händen des ——
un re oder der Regierung erfterben, — fondern als der Menfchheit
im Großen, als einer moralifchen Perſon, welche ſich ſelbſt, oder, wie Ari:
teles 08 ausdrüde, wo Alle von Allen regiert werden 2°), wo alle Glie-
bie feftefle ——— und — Leben finden ſoll⸗
unmittelbar die erfannten
md Früchte der Menfehbet, all die noch —* Meifterwerke,
woran die Hellenen fo ce nsaden, Ihen und wachfen. Und gewiß
wer dleſen Reichthum des Hellenifchem Lebens kennt und fühlt, wird die
_ kingelnen Mifklänge, die oft ſelbſt durch die volltommenfte Freiheit aller und
—* —8* — —— erzeugten Störungen, ja die meiſt kurze
thezeit uͤberſehen und wird, wenn er denſelben etma
an ee — el Tebendigen god eines chineſiſchen Reiches bält,
fühlen, daß von vielem einfeitigen Maßſtabe ber der äußeren Ruhe und der
Zeitdauer für die Schägung bes Lebens der einfeitigfte fein möchte, daß fein
wahres Leben, am wenigſten ein Griechenleben allein nad) der Zeit zu meſ⸗
fen iſt. |
Aber es war diefelbe Rechtsanſicht auch Quelle des meift unglückfelis
gen Strebens nach materieller Gütergleichheit, wovon die Alteften griechi⸗
fhen Staaten faft alle ausgingen 27) und dadurdy vorzüglich früher große
Verwirrung erfuhren, welche auch noch bie zwei größten Gefeßgeber der Grie-
chen, Lykurg und Solon, der Erftere mit großen Aufopferungen ganz,
und der Lestere immer noch in gewiſſem Grade 28) herzuftellen fuchten. Eine
ſolche Gleichheit fchien da, wo die aͤußere Rechtsſphaͤre nicht blos fittlichen
Sweden diente, fonbern als an ſich gültig betrachtet wurde, zumal bei Mangel
— — —
25) Eth. V,8f. Pol. IX. 3. VI, 13.
26) Wie fehr 1 allein dem öffentlichen Leben angehörten, f. Herren,
Ideen Bd. IV. ©. 474 f.
27) Aristot. Pol. an vielen Orten des zweiten Buches. Manfo,
Sparta. Th. I. 1. ©. 81 und 112f. I. 2. S. 109, Schwerlich dürfte wobl
biefes Streben nad) Sleichheit in den sufälligen außeren Umftänden gefucht wer:
den, worin es Heeren |. c. ©. 242 findet
28) Plutarch. in Solon. ueberhaupt ift, fagt Ariftoteles Eth.
V. 4., in ber Demokratie der Maßſtab der im Rechte nothwendigen Gleich—
beit, der gleichen Austheilung von Gütern und Aemtern, nicht die Würdig-
keit, fondern allein die Freiheit.
Griechiſche Volksanſichten von Recht und Staat. 513
der Trennung des Intellectuellen vom Materiellen, als ein nothwendiger
Charakter des Rechts und namentlich fuͤr die voufte Unabhaͤngigkeit und
Selbſtſtaͤndigkeit der Einzelnen unentbehrlich. Daher deuten denn auch,
wie ſchon erwaͤhnt wurde, die griechiſchen Bezeichnungen der auf Gerech⸗
tigkeit Bezug habenden Begriffe auf eine gleiche Austheilung hin 29). Bes
Tannt find außerdem die griechifhen Benennungen des Rechtsverhaͤltniſſes,
wie es ihnen ſowohl wegen der Forderung ber Gleichheit überhaupt als auch
vorzüglid) wegen des gleichen Antheild am öffentlichen Leben, der Selbſt⸗
gefeggebung jedes Freien, als das richtige erfchien: Freiheit und Gleich⸗
heit oder: auzovoula, loovopla, Zoouospla, loomolırela, loorelsıe,
Zoopnpla und Zonyoola.
Verberblicher noch wurbe öfter gerade die legtere Anwendung der vollen
Gleichheit und Freiheit Aller, welche man auf vollkommen gleihen Antheil,
nicht blos an Geſetzgebung, fondern auch an Regierung des Staates machte,
und fo zulegt zur fchredtichflen Pöbelherrfchaft führte, toie fie von Athen
vorzüglih Ariftophanes in den Rittern mit grellen Farben malt.
Bei ihrer fpäteren Vorherrſchaft oder da der Despotismus hier vom Volt,
nicht von Königen ausging, iſt es fehr erklärlich, u die edleren fpäteren
Scriftfleller der Athener, Sokrates, Plato, Ariflophanes, faft
alle gegen die abfolute Demokratie ſchrieben oder lehrten und Ariſtokraten
geſcholten wurden.
Daß die entwickelten Grundideen des griechiſchen Rechts dahin fuͤhren
mußten, alles objective, alles Zwangsrecht auf die Einwilligung aller
Freien zu gründen, leuchtet von ſelbſt ein ®%). Darum definirten auch bie
Griechen das Geſetz „als einen gemeinſchaftlichen Vertrag Alter” ‚(noksag
svvön«n xoivij) ®ı), verflanden bekanntlich überhaupt unter vonog nur
ein „in der Verfammlung Aller gegebenes oder gebilligtes Gefeg”, unter
Fxonovdos einen Bundbrüdigen und zugleich einen Rechtlofen ??), unter
Fvonovdog den, mit welchem man in Rechtsverhältnifien war 23). Aber
auf oft verberbliche Weife glaubte man dieſes Beſtehen des Rechts auf Ein:
willigung Aller, glaubte Jeder feine volle Perſoͤnlichkeit und Unabhängigkeit,
nur dann, wenn ftete Auslegung und Anwendung des allgemeinen Willens,
wenn Gefesgebung, Regierung und Richteramt in den Hin-
den Aller unmittelbar, oder wenigſtens ihrer durch ihren Willen erwähls
29) Philof. Th. I. 1. vopog, veuecıs, Ilnmog, dındorng re
ig 5 vorzügl. Platon im Kriton; Aristotel. Pol. i 6. Rhe
I. 1.
31) Demosthen. in ber in gut 2 de legg. aufgenommenen Stelle aus
Orat. I, adv. Ariste p-
32) Thucyd. II, 6
33) Oefter bei Demosthen. Henr. Stephan. thes. L. Gr. 3. 940,
Außer und vor dem Staatsvertrag beftanb der vorzüglich in den
den Griechen fo heiligen Gaftrechten, |. 4. 3. Tlias VI Schwerlich
braucht man bei diefer Gründung des Ne t8 auf Vertrag, um Ai "erflären, daß
die Fremden feine eigentlichen Rechte batten, auf bie Stadtverfaffungen der
Griehen Rüdfiht zu nehmen, wie Heeren, Ideen Bd. IV. ©. thut.
Suppl. 3. Staatöler. II 3 .
314 Griechifche Wolksanfichten von Recht und Staat.
en und ihnen zur fliten Rechenſchaft verpflichteten ?*) Mepräfentanten
rl se wenn fo Jeder nur von feines Gleichen , Alle von Alten gerichtet
werben Eönnten 39%) — kurz nur in bee Demokratie (demm das Angege-
bene machte ihren weſentlichen Charakter bei den Griechen °7) — hinlänglid)
realifirt und gefihert; in dem fehr natuͤrlichen, noch meueren Philofophen
danen Irrthume, daß nur jo Jeder fich ſelbſt, Keiner der Willkür des An⸗
bern gehorche, daß fo ſtets dar wahre allgemeine Wille zur Realität komme.
Mur in ber Demokratie, welche, wie Herzdo t ſagt, allein den erhabenen
Charakter ber Freiheit und Gleichheit, der Sfonomie bat, fanden fie bas
wahre Recht und Gläd ?®), fagten fogar nur von ihr, daß fie durdy Geſetze,
daß fie gerecht regiert wuͤrde ®9), festen fie, als den Staat bes Rechts und
ber Freiheit (oft unter dem Mamen avrovoula), dem Königthume ober
ber Despotie, welches letztere ihnen gleich bedeutende Begriffe waren, ent-
Bd, haften nichts mehr als monachifhe Verfaffung und Unter
ng des gleichen Antheils an der Regierung bes Staates und feierten
durch fpäte Feſte und Gefänge ihre Befreier ‚davon. Aoysicı Ö£, fagt
PDaufanias, Ars lonyoglar xal ro aurovonov dyanavess Ex
nalaorarov
Schon Rhadamantus ſoll daher durch ein Geſetz Jedem Straf:
loſigkeit zugeſichert haben, welcher an einem übermüthig Herrſchenden Rache
genommen *?). Ja das Stecben nach ſolcher Freiheit und Gleichheit ſpricht
ſich fo früh aus, daß ſchon die Argonauten den Hercules darum ausge
fchloffen haben follten, weil er im Verhaͤltniß zu den Usbrigen zu ungleich
fei *°), fo wie auch fpäter die Ephefter den edlen Hermodorus ausfdyloffen,
indem fie fagten: unter uns foll Fein vorzüglicherer Menſch geduldet wer:
den *2). Ganz aus demfelben Streben entftand und rechtfertigt Arifto:
teles das merfwürdige Inftitut des Oftracismus #5). Periander mußte
bei dieſer Rechtsanficht das Ideal einer guten und gerechten Staateverfaffung
34) Obrigkeiten, die das nicht, nicht Ynevdvvor waren, waren dem Grie
chen Zyrannen. Aristot. Pol. II. 12. IV. 10,
35) Aristot. Pol. Iv. 15.
36) Aristotel. Pol. VI. 2.
37) Ibid. IV. 14.
38) Herodot Ill. 80. V. 78.
39) Aeschin. in Ctesiph. ed. Reiske p. 389. Euripid. Suppl.
V.40%4. Heracl. V. 424.
40) Herod. |. c. Thncyd. I. 29. — Pol. III. 1. und 14.
Strabo p. 547. Joseph. antig. hist. XIII. 7. Daß die früheren grie:
chiſchen Koͤnige nicht Monarchen in unſerem Sinne — wird ſich nachher
zeigen.
41) Corinth. c. 19.
43) Apollod. Bibl. II..4. 9. Arist. Eth. V.8. Dies war in
ganz Griechenland gültig. Xenoph. Hellen. VI. 3. Gelbft die Kinder
des Zyrannen, dem das allgemeine Ajvlrecht verfagat war, mußten meift die
Rache der beleidigten Brunel erdulden. Meurs. Them. 1. 33.
43) Arist. Pol, LIII. 13.
44) Ibid. V. 36. Cic. Tusc. V. 32,
45) Ibid. II. 13.
Griechiſche Volksanſichten von echt und Staat. 513
nicht beffer anſchaulich zu machen, als indem er auf einer Kornfaat die hervor:
ragenden Achren abfchnitt und fie fo den übrigen gleich machte 26). Py⸗
thagoras, welcher zuerft unter den Griechen über Zugend und Recht philor
fophirte #7), ging ebenfalls von jener Gleichheit, als dem höchften Charakter
bes Rechts, aus und ftellte daher das ganze NRechtsverhältniß als eine Wie:
dervergeltung dar *8).
Ueberhaupt ‚ftellt die innere Geſchichte der grischifchen Staaten ein
fletes Streben und Kämpfen für diefe Rechtsanficht, früher vorzüglich mehr
für Gleichheit im materiellen Güterbefig, fpiter für gleichen Antheil an
Gefetzgebung und Regierung , für volle Perfönlichkeit und Unabhängigkeit *°)
der Einzelnen wie der Staaten dar. Diefe Art der Freiheit und des Rechts
erkannte man ale das Hoͤchſte, welchem man willig das Beſte und felbft Rechte
der Einzelnenim anderem Sinne zum Opfer brachte. Inſofern kann man fagen,
daß das Privatrecht der Alten , oder richtiger ihr Privatbefig, dem öffent:
lichen Rechte untergeorbnet war und oft darin verfhwand. Aber unrichtig
fcheint es, dies unbedingt zu behaupten und, wie Viele thun, fich ben Egois⸗
mus von ihren Rechtsverhaͤltniſſen entfernt zu denken; zu wähnen, es fei ihe
bürgerliche® und politifches Streben bloß durch Gemeingeiſt und fittliche
Ideen geleitet worden, es habs ber Einzelne nicht feine Selbftheit und fein
Recht gegen das Ganze behauptet, es fei nicht feine Rechtsſphaͤre im
Allgemeinen Mittelpunkt feines Strebens und Seele feines Handelns gewefen.
So war es keineswegs; nur betrachteten bie Alten als weſentlichſtes und
erſtes Recht jedes Bürgers, nicht etwa einen Privatbefig, ſondern den gleichen
Antheil an dem öffentfichen Mechte, an der Regierung des Staates, des auf
foldye Weiſe Allen gemeinfchaftlichen Vermögens, die volle Freiheit und
Selbfigefeggebung in dieſem Sinne. Der materielle Beiig des Staates war
Gemeingut Adler, der intellectuelle Antheil eines Jeden durch die allgemeine
Geſetzgebung und Regierung war das Privatvermögen jedes Einzelnen, wähs
rend ea bei uns umgekehrt iſt. Das Recht beitand ihnen ferner auf dieſe
Weiſe, infofern es fi) vom Blauben trennte, zwar auch durch freie Einwils
ligung und Erklärung Aller, aber e8 war nicht wie bei und eine durch Er⸗
klaͤrung objectiv gewordene rein moralifche Norm, blos darum eine Freiheits⸗
ſphaͤre für den Einzelnen heiligend , daß ihm dadurch die Erfüllung feines ins
neren Gittengefeges gefichert würde, ebenfo wenig als fie einen Privatrechts⸗
befig fire blos finnliche Genuͤſſe machten; fondern als Exftes tritt überall bie
freie Perſoͤnlichkeit und Selbſtſtaͤndigkeit des Einzelnen, feine Gleichheit mit
allen andern Freien hervor, welche weder rein fittlich noch viel weniger aber
von Sittlichkeit entblößt, fondern nur nicht mit Reflerion als fittlich noth⸗
46) L. c.
47) Aristot. magnor. morak I. 2.
48) Arist. Eth, I. 1. V. 5. Das ganze 5. Buch der Eth. enthält über:
haupt eine Menge von Belegen für bie gefchilderte griechifche Rechtsanficht.
49) Selbft durch Arbeit, Handel und Gewerbe glaubte man die volle Unab⸗
haͤngigkeit und Seteiftänbigteit gefäbrbet und bielt fie meift für etwas Skla⸗
viſches. Arist. Pol. U. 7. III. 5. 47. VII. 10. Xenoph, Mem. V, He-
rod. II. 167. Plut. apoph. Lac, 2. Aelian. VI. 16,
33 *
516 Griechiſche Volksanfichten von Recht und Staat.
wendig geheifigt und einer rein fittlichen Idee untergeordnet war, welche In
biefer Hinficht etwas Theofratifches hatte.
Hierin, nicht fowohl, wie Diele wollen, in dem mehr Sittlichen
und Unegoiftifchen der Nechtsanficht der Alten, welche man oft auf unfere
Koften über Gebühr erhebt, liegt dieVerfchiedenheit ihrer und unferer Rechts⸗
und Staatsverhältniffe. Auch bei ihnen lag im Weſen des Rechts eben ſowohl
etwas Egoiftifches und Getrenntes ald bei und; nur bekam bei ihnen felbft
ein egoiftifches Streben häufig eine vortheilhafte Richtung für das Allen
Gemeinfchaftliche, fuͤr das Gange 59), während in unferen Rechtöverhältniffen
das Streben des Einzelnen, wenn es blos egoiſtiſch ift, feine Ptivatrechts⸗
ſphaͤre immer mehr vom Ganzen und Allgemeinen loszureißen fudyt; was
aber keineswegs im größeren Egoismus, fondern blos in den duferen Ver:
hältniffen liegt, darin, daß, wiePiaton fagt, eben jenes Gemeinſchaft⸗
liche und Deffentliche flets new verbindet, das ganz Geſonderte dagegen
trennt 51). Meder aber die Alten noch die Neueren verdienen Zabel wegen
biefer egoiftifchen Seite des Rechte. Egoismus ift in gewiſſer Hinſicht uns
zertrennlich von allem Rechte. So wie des Menfchen phyſiſches Leben und
Wirken nur auf eigenem, von Andern getrenntem Körper wurzelt, nur von
da aus Verbindung mit der uͤhrigen Schöpfung fi anknüpfen läßt, fo muß
ihm auch in einer intellectuellen und fittlihen Drdbnung der Dinge, wenn er
als imtellectixelles und fittliches MWefen im Irdiſchen fortdauernd beftchen und
gelten foll, ein fefter und eigener Boden fein, worauf er fiehe, von wo aus
er mit Freiheit wirke, fein Reben mit der Idee bes Ganzen verbinde und
es ihr opferez; und diefer Boden ift das Mechtsgebiet. Bei ben Alten be»
ſtand e8 im Antheile am öffentlichen Leben, bei uns, benen jener nicht ge:
worden ift, in dem Privatbefige. Wer und auch diefen rauben wollte, uns
ter dem Vorwande ober im Wahne, daß es zur Vernichtung des Egoismus
fromme, verfündigt ſich an unfern Menfchenrechten, welche er vernichtet und
— unſere Tugend und Gluͤckſeligkeit in Sklaverei und Niedrigkeit ver⸗
graͤbt.
Nur das iſt der Fehler, wenn bie egoiſtiſche Rechtsſphaͤre als Selbſt⸗
zweck aufgeſtellt iſt und das freie Handeln nicht aus ihr heraustritt, wenn
aller Antheil ſittlicher Ideen daraus verſchwindet und ſie ſo gaͤnzlich niedriger
Sinnlichkeit dient. So ſtuͤrzte die Größe und Freiheit der Alten in Nichtig⸗
keit und Sklaverei, als ihr Streben nach Gleichheit und Antheil am öffent:
lichen Leben von aller Sittlichkeit entblößt wurde, nicht mehr der freien Per:
föntichkeit und Würde des freien Mannes und Staates, fondern blos finn:
50) Gerade diefes ift’s, was fehon Herodot V. 78. von diefen Rechtsverhaͤlt—
niffen rühmt.
51) De legib. IX. p. 875 A. Vielleicht wäre die Periode der vollen:
beten Sündhaftigkeit oder des vollendeten Egoismus, worin Fichte
(Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalter) die jegige Zeit verfegt,
die Periode des vollendeten Privatrechts zu nennen, ohne daß ung eben jene Suͤnd—
baftigkeit fehr zur Sünde angerechnet werden, oder uns an fih, nicht blos in
Beziehung auf die Staatsverhältniffe, in Vergleich mit den Alten, zum Nad):
eheile gereichen koͤnnte.
| Griechiſche Volksanfichten von Recht und Staa. 517
lichen und niedrigen Zwecken galt, als Jeder feinen Einfluß mißbrauchte, um
für ſchnoͤden Gewinn die Kraft des Ganzen zu ſchwaͤchen, als ihnen, wie
Horaz fagt, ihre Privathabe auf Koften des öffentlichen, des Gemein. Gutes
immer mehr anwuchs, gang fo, wie ung dies Alles Ariftophanes Meis
fterhand in den Rittern, und im Gegenfag gegen die alte beffere Zeit, im
den Wolken ſchildert. So werben auch die Neueren ſinken und in Despo⸗
tie ihren mürdigen Lohn finden, wenn ihre Privatfreiheit nicht mehr ber
Sittlichkeit und Humanität, ſondern dem Lüften dient.
Für Vereinigung bes griechifchen, durch den Willen aller Freien aus⸗
gefprochenen und objectiv gemachten Rechts mit höheren fittlihen Ideen,
mit der Idee der ewigen Gerechtigkeit, wirkten früher vorzüglich die reli⸗
giöfen Inftitute, namentlich die Orakel, dann außer den zur Erhaltung der
Srundgefege und der ethifchen Seite ber Rechtsverhältniffe beftimmten Bes
hoͤrden, wie der Ephoren zu Sparta, bes Areopagus zu Athen,
vorzüglich auch die überhaupt in Griechenland von Homerifchen Zeiten an
beftehende, von den beiden genanuten Staaten uns ausführlicher bekannte
Einrichtung, die bedeutenderen Angelegenheiten, ehe darüber der Wille Aller
in der allgemeinen Verſammlung (dxxInola) gefeglich entfchieb, von den
älteren und wuͤrdigſten Bürgern, in einem mit wechfelnden Mitgliebern bes
fegten Rathe (BovAn), oder in einem aus befländigen Mitgliedern beftehens
den Senate (yeoovola) berathen und einleiten zu Laffen ; und es iſt befannt, -
daß der Verberb der griechiſchen Staaten und der Gerechtigkeit in ihnen mit
dem Verfall diefer Inſtitute und des Anfehns der Religion und Orakel
gleihen Schritt hielt. Aber auch das iſt nicht zu leugnen, daß alle diefe
Snftitute jene Aufyabe bei Weitem nicht vollkommen loͤſten. Die Religions
anfichten der Griechen waren felbft zu niedrig, um ihren Rechtsverhältniffen
einen ganz und rein fittlichen Charakter zu geben ®2), und jene Männer des
52) Daß die Religion der Griechen neben vielem unleugbar heilfamen Gins
fluß, den überhaupt fchon jede Religion als folhe bat, auch pofitiv verberblich
wirkte, duch ihre niedrigen Vorftellungen der Gottheiten, in welchen faft jeder
Lafterhafte ein allgemein verehrres Ideal, einen Schugheren feines Egoismus
und feiner Verderbtheit und alfo auch Entſchuldigung und Beftärkung fand,
ift zu unleugbar durch die Natur ber Sache und Gefchichte und auch durch den
Kampf der fpäteren griehifchen Philofophen gegen biefe Worftellungen erwies
fen, und es fcheint daher unrichtig, wenn Heeren 1. c. S. 84 Ieugnet, daß
die Fehler und Vergehungen der Götter zur Entſchuldigung für die Nachabs
mung bei den Griechen hätten bienen Eönnen, wovon z. B. auh Ariftopb.
Wolken V. 899 f. B. 1048 f. und vorzüglich V. 1080 das GBegentheil
erweifen. Die erſte überhaupt intereffante Stelle aus dem Streite der alten,
ber gerechten Lehre mit der neueren, ber ungeredhten Lehre, welche,
Alles auf niedrigen egoiftifchen Wortheil berechnend, die höhere, über Willkür
und Gewalt erhabene Gerechtigkeit Teugnete, oder nur ihren Schein zu erfünfteln
ſuchte, ift folgende:
Die ungerechte Lehre.
8. 899. Denn, fag’ ich, es giebt durchaus Fein Recht.
Die gerechte.
»s giebt Feind, fagft du?
ie ungeredte.
Run, wo iſt's denn wohl?
518 Griechiſche Volksanſichten von Recht und Staat,
Rache und Senates konnten fidy wohl über die Schledjteren im Volke, nicht
aber über bas Volk ſelbſt, und über die in ihm allgemein herrſchenden Anfichten
erheben. Wenn daher aud) kein Kundiger bejweifeln wird, daß die Griechen
im Algemeinem ein über dem pofitiven Ausfpruche des Volkes ftehenbes,
freilich nie gänzlich von Religion und Tugend getrenntes Recht, ein Natur:
recht anerkannten, welches der Mille Aller, bie Gefrggebung nur objectiv
gemacht hatte und machen follte 8°) ; fo ift doch diefem Rechtsideal, gerade
wie es oben gefchilbert wurde, gewiß keineswegs ber Charakter der Einfeis
tigkeit und des Egoismus ganz abzufprechen.
Daraus, baf bei ben Griechen In den Rechts: und Staatsverhältniffen
fhon früher der Egoismus oͤfter zu viel vorherrfchte, folgt unter Anderem
auch das neibifche Mißtrauen und die Eiferfucht, ſowohl zroifchen ben einzelnen
Bürgern, welche, oft alle Ruͤckſichten auf Vaterland, auf bie edelſten Ver⸗
bienfbe und Dankbarkeit vergeffend, dem Staate unheilbaren Nachtheil
brachte 5%); als auch die zwiſchen dem griechifchen Staaten untereinander,
wodurch, fo fehr auch durch befannte herruche Inſtitute ihrer großen Männer
für Vereinigung gewirkt wurde, doch ſtets Herrfchfucht, ungerechte Be⸗
druͤcung, Zwieſpalt und Zerſtoͤrung entftand **). Vorzuͤglich aber rührt
daher das barbariiche Woͤlker⸗- und Kriegsrecht, welches immer als
ein Flecken in ber Geſchichte ber fonft fo hochgebildeten Griechen bafteht *0).
’
Die gerechte.
Bei ben Göttern ift’s. | f
Die ungeredhte.
Warum benn bleibt, wenn’s denn ein Recht
Biebt, Zeus fo beftehn, ber feine Hand
An ben Bater aeleat ?
Die gerechte.
Auweh, ja das
Geht mir fehr zu Leib. Ein Beden mir ber! u. f. w.
(Nah der Ueberſetzung von $. G. Welder.)
53) Man müßte, ‚um dieſes zu leugnen, das VBerhältniß der Religion zu
den griechifchen Staaten, man müßte die in den Dichtern, Philofophen, Hiſto⸗
rifern und Kebnern berrfchenden Begriffe von einem außer dem pofitiven Ge:
feße beftehbenden Gerechten und Ungerechfen nicht fennen. Ja es wäre
ohne diefes der in Yoriger Note erwähnte Kampf der gerechten und un:
gerechten Lehre, das ſchon von Archelaus (Diog. Laert. I. 16), dann
von den Sopbhiften, von der Ariftippifchen Secte und von Epikur
(Diog. Laert. X. 151) verfuchte Beftreiten der vorhandenen Annahme
eines über pofttiver Willkür ftehenden Rechts — welches le&tere offenbar ſchon
Pythagoras (Arist. Eth. I. 1. V. 5.), dann vorzüglih au Sofra:
tes (Xen. Mem. IV. 4. 19. Feuerlein, De jure naturae $8o-
cratis. Altorf 1719), fo wie unbeftritten Platon, Ariftotelee (Eth.
V. 7.) und die Stoifer lehrten — gar nicht möglich gewefen.
54) Es liegt viel Wahrheit in der Bebauptung bri Herodot VI. 236,
„daß es Lieblingegefinnung der Griechen fei, ben Glüdlicheren zu beneiden und
den, welcher Vorzüge vor ihm habe, zu haſſen.“
55) Wic allein der große peloponnefifche Bürgerkrieg verderblich und
zerftörend für Griechenland und die befferen KRechteverhältniffe wirkte, bat Thu:
cydides Meifterhand in der berühmten Stelle III. 823 gezeichnet.
56) 3. 8. Thucyd. IN. 36 ff. Pausan, IX. 15. Noch fpät erklaͤ—
Griechiſche Volksanfichten von echt und Staat. 519
Nur auf Erhaltung der eigenen Perfönlichkeit und Freiheit erſtreckte ſich
ihre Tugend und ihr Recht. Berftörende Rache, welche keiner Menfchens
rechte achtete,, drohte den Feinden. Eine eroberte Stadt wurbe in Schutt
und Aſche verwandelt, ihre fämmtlichen Bewohner niedergemacht oder in
ſchmaͤhliche Sklaverei geführt. Die Verfündigung an den Rechten ber
Menſchheit, wenn eine halbe Welt in Sktavenfeffeln vor ihnen im Staube
fi wand, fühlten fie fo wenig, daß noch ſpaͤt einer ihrer erften Philoſophen
davon die ausdrüdliche Vertheidigung übernimmt 57).
So beftand alfo neben der beffern Seite ihrer Rechtsanficht ſtets noch
ein wahres Recht der Gewalt, welches ſich fogar nicht blos auf Sklaven und
Srembe beſchraͤnkte. Es gehört dahin außer den fleten Ungerechtigkeiten ber
griechifchen Staaten gegeneinander, vorzüglidy der faft rechtlofe Zuftand, den
bei diefen Rechtöverhältniffen, woran der Natur der Sache nad) nicht allzu
Biele Antheil nehmen konnten, ein Theil der Bürger der unterften Claffe, tote
die TTevéorou in Theflalien, die IIeplosxos in Eacedämon und bie Oifreç
in Attika meift erdulden mußten, damit die Anderen jene volllommene
Freiheit um fo beffer genießen Eonnten. Es gehört ferner dahin, außer mehres
rem unter die Strafgefege Gehörenden, z. B. auch das abfcheuliche Athe⸗
nienfifche Geſetz, daß in einer Belagerung von Athen alle die, welche nicht
nüglich wären (inutilis aetas), ermordet werden follten *8), fo wie das Spar»
tanifche Geſetz, welches alle Kinder zu töbten befahl, welche nicht Durch
kraͤftigen Körper dem Staate einft gute Soldaten verfpradyend®). Es gehört
eben dahin die geringere Achtung der Frauen bei den Griechen, welche ihnen,
felbft nad) dem Ariftoteles, nicht jener Selbſtſtaͤndigkeit und Freiheit, alfo
auch nicht wahrer Rechte fähig erfchlenen, und deren Zuftand auch nach den
humanſten Gefegen zuweilen an eine Art von Mechtlofigkeit grenzt. So iſt
z. B. nach Solon’s Geſetz die gewaltfame Entehrung eines freien ehrbaren
Mädchen nur damit ſcheinbar geftraft, daß ber Nothzüchtiger fie ehelichen
ſoll ꝰ0).
Doch iſt nie zu uͤberſehen, daß, wie die Gefuͤhle und Anſichten der Al⸗
ten uͤberhaupt ſchon durch die groͤßeren Gegenſtaͤnde, welche die Rechtsſphaͤre
der Einzelnen ausmachten, oft großartiger und edler wurden, als ſie unſere
ren die Athenienſer allein rohe Gewalt als ihr Recht gegen Fremde, als ihr
Boͤlkerrecht. Thucyd. IL 4. Auf eine egoiſtiſche Trennung ber einzelnen grie⸗
chiſchen Staaten wirkten ſelbſt die Gefege hin. Xen. Hellen. V. 2.
87) Nach ber griechtfchen Rechtsanficht ganz confequent, verfucht Aristot.
im Anfang der Pol. die Rechtfertigung ber Sklaverei für die, welche nicht
fersfftändig fein könuten, und halt Sklaven nöthig, um Muße zu den oͤffent⸗
lichen Gefhäften zu gewinnen. Pol. II. 9.
58) Syrian. in Hermog.
59) Plat Lyec.T. 16. ed. Bryan. p. 49.
60) Petitus de Legg. Attic. VI. 1 und 4. Bei ber griechiſchen
Rechtsanſicht mußte namentlich auch der Diebftaht als Verlegung eines bei ben
Alten ſehr untergeorbneten Recht gering erfcheinen, wie alle Gefege gegen ihn
(„.8. Pollux III. 3.48. Petit. VII. 5. VII. 4.) bemweifen; während
bei uns blutige Strafen diefe Verlegung des Privatbefiges, unferes Hauptrech⸗
tes, belämpfen.
FB Wrunbdefeh, Grunbertrag
Privatbefisthumer geben Finnen, die Griechen aufer dem vortheilhaften
Einfluß ihrer öffentlichen Poefie und Kunſt, vorzliglich auch in der allgemet-
nen pofitiven Religion des Staates, in dem Glauben an bie fortbauernde
Offenbarung der Götter, eine große Schutzwehr vor Unedlem und Niedrigem
fanden. Was zulest feine Entſtehung bem Egoismus verdanfte, das vers
ebeiten und beiligten fie, verbanden das Getrennte, ergänzten die ſchwache
‚menfchliche Kraft, und dieſe Richtung zum Nbealen gab ſtets dem Reben hd=
heren Schwung und Abel. | C. Welder.
Grundgefet, Grundvertrag, Verfaffung. Die Ver:
teagsform des vernunftrehtlihen oder freien Staates
im Gegenfaß bespotifhen ober Dertrenrehts und theo=
Eratifhen oder aöttlihben Rechte. Die Gefahren der Ber:
fennung ber politifhen Bertragstbeorie. Die Frage ihrer
Unwendbarfeit auf Deutfhland und Preußen. —
I. Einleitung. Gerade in diefen Tagen, mweldye ich zur neuen
Bearbeitung ber Lehre vom Staatsgrundgefes, biefes wichtigſten Gegen⸗
ſtandes eines Staats-Lexikons, beftimmt hatte, wird das neue Gefeg
über den vereinigten preußifchen Landtag verkündet.
- Billig überlaffen wir übrigen Deutſchen zunächft unferen preufifchen
Brüdern über diefe bedeutungsvolle Sache die entfcheidende Stimme. ne
deſſen ftehen alle Stämme bes gemeinfhaftlichen beutfchen Vaterlandes in
einer untrennbaren Gemeinfchaft unferer politifhen Entwicklung, unferer
Hoffnungen und Gefahren.
Das neue Ereigniß felbit begrüße ich meinestheils — mögen dieſes viele
liberale Stimmen aud) tadbeln — doch mit Freude. Denn mwenigitens bietet
e8 den Preußen, den Deutfhen, wenn fie der Ehre und des Glüds der
politifhen Freiheit werth find, Gelegenheit, diefes zu beweiſen und in dem
friedlichen Kampfe für fie fiegreich fortzufchreiten. Mit den Folgen, die
ſich fo oder anders daran knuͤpfen müffen, wird es für die preußifche und deut:
ſche politifche Entwidlung und Zukunft höchft wichtig, vielleicht entfcheidend
werden.
So mie ftets, jo wird alfo auch hier das Staats-Lexikon feine all
gemeine ſtaatswiſſenſchaftliche Entwidlung dur ihre Anwendung auf die
wichtigften vaterländifchen Verhäftniffe anjchaulich und fruchtbar zu machen
fuchen und in diefer Entwidlung hinwiederum für eine richtige und heilfame
Beurtheilung und Behandlung jener Verhältniffe den ungetrübten Spiegel
leidenſchaftsloſer Wiffenfchaft darbieten.
I. Begriffe des Örundgefeges, des Grundvertrags
und der VBerfaffung des Staates: — Grund heißt Dasjenige,
worauf etwas Anderes beruht ober woraus es hervorgeht. Grundgefeg
des Staates ift alfo das hoͤchſte Gefeg, worauf die übrigen Gefege der Staats—
gefellfehaft beruhen, woraus fie hervorgehen follen.
Welche Sefese haben diefe Natur? Etwa das neuefte preußifche über
den vereinigten Landtag, welches die englifhen Zimes bedeutungs:
vol als einen Grundvertrag (compact) des Throne mit der Nation
begrüßen wollten? Diefes muß die nähere Betrachtung ergeben.
Grundgeſetz, Grundvertrag. 521
Ein Grundgeſetz heißt in ſofer Grundvertrag, als es bie
Form eines Vertrags der Geſellſchaft erhält, ihm müflen alsdann
andere Verträge und Geſetz der Geſellſchaft entſprechen oder ſich unter⸗
ordnen.
Man nennt das Grundgeſetz ober den Grundvertrag auch Verfaſ⸗
fungsgefeg ober auh Verfaffung im engeren Sinne, während
man unter Verfaffung im weiteren Sinne zugleih mit dem Ver⸗
faffungsgefeg auch die ihr entfprechende bleibende Drganifation oder
Form der Regierung zur Vollziehung bes Derfaffungsgefeges mit
begreift ?).
Der allgemeinfte Charakter jedes Grund⸗ oder Verfaſſungsgeſetzes ift die
in der Mortbedeutung und in dem Begriff enthaltene Feftigkeit; im ver
nunftrechtlihen Sinne alfo feine verbindliche Kraft auch, für die Regierung.
Es begründet fomit Rechte auch gegen bie Regierung, fo daß dieſe es nicht
einfeitig nad Belieben aufheben darf. Sonft wäre Willkuͤr
die Srundverfaffung. Es kann vielmehr ein Srumdgefeg nur mit Eins
willigung der Regierung und ber verfaffungsmäßig berechtigten Megierten ges
ändert werden. Dadurch ſchon wird es, wie auch die Deutfchen ſtets
‚anerkannten, indem fie ihre Srundgefege Grundvertr Age rannten, zum
Grundvertrag. Zu einem Vertrage wird ein Grundgefeg auch gerade ebens
fo wie jede angenommene Schenkung, wenn «6 ald octroyirte Verfaffung
urfprünglich nur von der Regierung entworfen wurde und von den Bürgern
nicht zurücgewiefen, fondern angenommen wird.
II. Berfhiedenheiten ber Entwidlungsflufen und der
VBerfaffungen ber Voͤlker. Die Verfaffungsgefege beftimmen mit den
Srunbcharatteren der Staaten zugleich die wichtigften Verſchiedenheiten der⸗
felben
Die Staaten find lebend ige Vereine will kuͤrlich handelnder
Menſchen. Diejenigen Geſetze, welche für das wil lkuͤrliche Handeln des
im Staatsleben überwiegenden Theiles feiner Bürger die Vorherrſchaft
behaupten, haben diefe Vorherrfchaft auch für den Staat.
Im Handeln der Menſchen aber behaupten die Vorherrſchaft (nicht
Aleinherefchaft) entweder das niedere ſinnliche, egoiftifche, oder
das höhere fittliche oder göttliche Geſetz. Dieſes letztere ift mies
berum entweder mit blindem Glauben ober es iſt mit prüfender
Bernunft aufgefaßt. Das finnliche Gefeg begründet durch feine Vor⸗
herrſchaft im Staate die Despotie, das blinde Glaubensgefeg die Theo»
Eratie, das Dernunftgefeg den Rechtsſtaat oder den freien Staat.
Im despotifchen Staate find die Unterthanen Leibeigene, im theos
kratiſchen willenlofe Unmuͤndige, im Rechtöftaat freie Bürger.
Andere als diefe dreifachen Grundgefege — 1) das bed Despotifchen
oder Herrenrechts, 2) das theofratifche, das bes blinden Glau⸗
bens oder bed göttlihen Rechts, und 3) das der fittlihen Ver:
nunft oder des freien Rechts, kann es nicht geben.
1) Bergl. Band I. ©. 31 ff.
522 Grundgefeg, Grundvertrag.
Bei den Deutſchen herrſcht das bespotifhe Herrenrecht vor,
feitbem in der Völkerwanderung die neuen Eroberungsreiche entflanden ober
im Fauſtrecht und ber rohen Feubalgeit, bad theofratifhe Recht in
bee Hierarchie jeit Gregor VII. und das Bernunfte ober Freiheitss
gefe 8 allmälig feit ber Reformation ?).
Da dieſe Grundgefebe ſich einander widerſprechen und bekaͤmpfen, der
Staat aber ebenfo wie der Menſch nothwendig nad Harmonie ftrebt,
nur In ihr Befriedigung, Geſundheit und Stärke finden kann, fo muß auch
eine® diefer brei fich widerſprechenden Grunbgefege in feiner natürlichen
Periode die Vorherrfchaft erhalten und immer größere Vor herrfchaft erſtre⸗
‚ben, es muß bie Zerſtoͤrung ober Unterordnung ber beiden andern, oder ihrer
Reſte, die im Staate wie im Einzelnen aus ber früheren Periode nody im
bie [pätere Zeit hinuͤber dauern, zu bewirken fuchen.
Jedes Wolf und jeder Einzelne bat fo mie Alles , was wird und lebt im ber
Matur unb unter dem Geſetze der Zeit, 1) eine Periode des Keimens und
Wachſens, 2) des Blühens und 3) ber Reife; biefe nennt man bei
ben einzelnen Menfhen und Völkern Kindheit, wo das ſinnliche Geſetz,
Fünglingsalter, wo das blinde Slaubensgefes, Mannesalter, wo
das Gefes der prüfenden Vernunft vorhereicht. Bei aller Eigenthuͤm—
lichkeit und inneren Freiheit ihres Lebens muß diefes Leben
doch, je gefunder e# fein foll, um fo mehr ſich im der irdifchen Natur den
allgemeinen Grundbebingungen und Entwidlungsformen ge
maß aeftalten.
In den Artikeln des StaatssLerifons: Deutfhe Staatsge—
ſchichte und Deutfhe Staatsverfaffung, find biefe drei Entwid:
lungsperioden und Grundgefege ausführlicher naturgefeglich und bei verſchie—
denen Völkern, und befonder& bei ung Deutfchen, biftorifch nachgewie⸗
fn. Es wird dort gezeigt, wie ſich ihnen gemäß, bewußt oder unbemußt,
mehr oder minder die ftaatsgefeufchaftlichen Verhältniffe und Einrichtungen
verfchieden geftalten,, wie fie alfo wirklich im Leben der Staaten wie der Ein:
zelnen herrſchen, wie fie zwar keineswegs ausſchließlich und all.in — aber doch
vorherrfhen, und wie die Staaten und Regierungen ihrer Harmonie und
Kraft und Befriedigung wegen die möglichft vollſtaͤndige Vorherrſchaft des
zeitgemaͤßen Geſetzes erſtreben muͤſſen.
Neuerlich hat Gervinus?) ebenfalls brei Entwicklungsperioden bei
—
2) Tacitus, der tiefe Kenner der Grundgeſetze des geſchichtlichen und
Staatslebens, findet in der Entmwidelung der römifchen Rechts- und Staats
verfaffung aanz biefelben drei Perioden und Srunbverfchiebenheiten (Annalen
111.26). Er bezeichnet die erfte als Willkuͤrherrſchaft im Anfange des
Staates (Nobis Romulus ut libitum imperitaverat), die zweite als Aber-
glaube (Numa populum religionibus devinxit), die dritte ald Rechtsgleicdh :
heit (aequum jus der XII Zafeln).
3) Die Miffion der Deutſchkatholiken, v. G. Gervinus, 3.
Aufl. mit der Artwort an Dr. Schenkel. 1346. ©. 9. 116. 119.
120. Gleichweit entfernt von materialiſtiſcher Anſicht, welche die praftifche
Freiheit im gefchichtlichen und Staatsleben ganz aufbebt, wie von der ideal:
philoſophiſchen, welche die naturgefeglichen Grundbedinguungen, Formen
Grundgeſetz, Grundvertrag. 538
den Voͤlkern, nammtlich auch den Engländern, den Franzoſen, den Deuts
ſchen, auf eine geiftvolle und lehrreiche Weife nachgewiefn. Er hat ges
zeigt, daß zuerſt ihre Kräfte, Richtungen, Beſtrebungen und Kämpfe vors
zugeweife durch die religiöſen und kirchlichen Intereffen und
für ihre freie Geſtaltung in Anfpruch genommen werden, fo wie bei den
Deutſchen in und nach der Reformationgzeit, dann durch die der allgemeis
nen Geiftesbildung, der Literatur, der Wiſſenſchaft, Poeſie und
Kunſt, wie bei ben Deutfchen feit Leffing, Kant, Goethe, Schiller,
und endlich buch die der politifhen Bildung und Freiheit, fo
wie bei den Engländern und Franzoſen feit ihren Revolutionen,, bei ung
Deutſchen feit den Freiheitäkriegen.
Und ganz fo wie wir auch bei unferen obigen drei Perioden barauf hin⸗
deuten mußten, daß, wenn, fo wie bei uns, die Nation in ihrem naturgefegs
lien und gefchichtlihen Entwicklungsgange einmalızum Uebergange in’s reife
männliche Alter durchgediungen iſt, biefelbe, um Gefundheit, Gluͤck,
Kraft und Leben zu behaupten, nad) immer größerer Vorherifchaft des
Freiheitsgeſetzes ſtreben und dafuͤr frisblich oder bei Widerfland auf Leben
und Tod kämpfen und entweder fliegen ober kraͤnkeln, verfrüppeln und un⸗
tergehben muß — ganz fo behauptet daffelbe auch Gervinus von der Ras
tion in feiner dritten — ber polit iſchen — Entwidlungsperiode. Er bes
bauptet es von unferer zum Uebergang in dievolle politifche Freiheit
"völlig Herangereiften deutfhen Nation. Doffte man denn
nicht auch in der That vergeblich in Berlin und Wien eine neue literas
riſche, poetifche Bluͤthezeit heraufzubeſchwoͤren und durch fie die politiſchen
Freiheitsbeſtrebungen in den Hintergrund zu ſtellen, fie zu abforbiren? Aber _
fein Adam Müller und Friedrich Schlegel und Hr. v. Haller und kein Ritter
Fouque, Beine Adels⸗ und Berliner Wochenzeitung, ein Schwanenorden,
Leine glänzende Berfammlung ber Grofpenfiondre der Romantik und my»
ftifcher Philofophie und Staatslehre, Leine Jeſuiten und keine Autonomen
und Majoratsherren, Bein Aufgeben der Kirchengrundfäge hier des Kaiſer
Joſeph, dort des großen Friedrich, vermochten dieſes. Mein, die polis
tifhen Interefien und Freiheitsbeftrebungen, fie find die lebendigen.
Sie ergreifen täglih mehr die ganze Nation. Sie ziehen
alle anderen Kräfte und Intereſſen, fo weit fie noch lebensfähig find, die
gefchichtlichen, philoſophiſchen, religioͤſen und kirchlichen, in ihren Kreis und
machen ſich diefelben dienftbar *). Mur hier ift Leben, Zukunft und Ruhm.
und Entwidlungsperioden überfieht, in welchen eine wahre, obwohl
in ihrer Erfcheinung bebingte und begrenzte individuelle Freiheit
fi) bewegt, fuchte ih allgemeine Befege der Sntwidelung für die Ges
jchichte und das Staatsleben zu finden, die ausführlicher entwidelt find in
meinem Syftem Bd. I. Buch 1. Es mußte mich freuen, bei einem fo gründs _
lihen und geiftvollen Gefchichtstenner wie Gervinus die Ueberzeugung aus⸗
gelpeohen, zu finden, daß auf diefem Wege ein wefentlicher Fortſchritt zu ges
winnen fei.
4) Seibft in Defterreih, wo das Stabilitätöfyftem mit größter Klugheit
und Kolgerichtigkeit ducchgeführt wurde, brechen endlich überall, felbft durch
6 Grundgefeg, Grundvertrag.
Hic Rhodas, hic salta! Möchten dieſes beutfche Staatsmaͤnner als Berk:
ther mohlwollender Fürften bedenken. Auch nicht etwa irgend ein Neben= oder
Spielwerk, das man beliebig in willkuͤrliche kleinere Portionen und fo oder
fo zugerichtet und mißftaltet dem Volke darbietem koͤnnte, iſt jest die poli⸗
tifchye Freiheit und Berfaffung. Nein! Die enbliche Reife zur Urbergange:
zeit ift daz die Geburtsſtunde der Freiheit hat gefchlagen. Seht thut Erleich⸗
terung und Förderung bed Uebergangs Noth.
Jedes Eräftige gefunde Volk will die Freiheit ganz ımd lebendig. Es
will fie auch unſer deutſches Volk vollftändig — fo wie bie freien Völker
‚ Europas. — Ja e8 muß fie wollen, auf eben und Tod, es mill fie aus Les
bensinftinct um feiner Xebensharmonie umd feiner Selbflerhaltung, um fei-
ner naturgemaͤßen gefunden und Präftigen Lebensentwicklung willen, umd zur
Vermeidung bes Siechthums, der Verkruͤppelung und einer polniſchen Thei⸗
fing. Es will fie und muß fie wollen mit Mannesentfhluß und Männer:
muth, um ber Ehre millen. Es tft nicht weniger als alle die freien Völker
der Erde würdig des hoͤchſten irdiſchen Gutes, der Freiheit. Es darf in dem
Wettkampfe mit ihnen nicht täglich ſchwaͤchlicher, ärmer, wuͤrdeloſer werden,
wenn fie täglich wachſen an Kraft und Wohlftand und ſtolzem Nationals
gefühl. Es darf ſich nicht herabdruͤcken laſſen von der ruhmvollen Beftim-
mung, die ihm Gott und feine Geſchichte gegeben. Hier gilt keine Willfür.
Febe Hemmung ber natürlichen Entwicklung wird ausgeftoßen oder führt zu
unnatürlichen gefährlichen Stodungen. So ſpricht mit ber Bernunft das
Naturgeſetz und die Geſchichte. Gut und ruhmvoll, heilſam und dauernd
wirken in und außer ben Ständeverfammlungen nur die Staafsmänner,
welche mit Freiheit ihnen huldigen und ihnen gemäß einen friedlichen voll:
ftändigen Uebergang in die neue Lebensſtufe möglichft zu fördern und unfere
neue Zeit frei, maͤnnlich und muthig harmonifc) zu geftalten wiffen.
Ditieſe drei von Gervinus aufgeftellten Perioden, die der religiöfen,
literarifchen und politifchen Entwidelung, ſtehen keineswegs in einem
‚Widerfpruche mit den zuvor aufgeftellten drei Hauptepocen, der despo—
tifhen, theofratifhen und freien Verfaffung. Es find vielmehr
jene nur richtige Unterabtheilungen ber dritten oder der vernunft-
rechtlichen Periode, als welche fie Gervinus felbft dadurch hinftellt, daß
er fie erft mit der Neformation beginnen läßt.
Diefe Unterabtheilungen find nicht allein geſchichtlich nachweisbar, fie
die Außerfte Cenſur und fogar im Regierungsbefchlüffen, die Keime neuen politi—
fchen Lebens hervor. Haben ja doch die um meiften ariftofratifchen Stände der
Welt, die jetzigen von Niederdfterreich, im vorigen Jahre von ihrem Kaifer
nicht blos Aufhebung der Feuballaften für die Bauern, fondern deren Zuziehung
zu den Ständen und Wiederherſtellung wahrer ftändifcher echte erbeten und
ſich mit allen übrigen Deutfhen auf die großen Verheißungen der Freibeits-
kriege berufen. Dabei fügen fie die merkwürdige naive Erklärung hinzu, daß,
als nach den Freiheitskriegen, ftatt der gehofften Wiederherftellung ihrer frübe-
ren Rechte, vielmehr neue Befhränkungen erfolgt feien, fie im Eindlichen Ver—
trauen zu der Regierung gehofft hätten, es möge vielleicht zum Beſten des Lan—
des gereichen. Diefes fei aber keineswegs der, Ball gemwefen!
Grundgeſetz, Grundvertrag. bb
wiebie Hauptabtheilungen find in ihrer Stufenfolge auch völlig natuͤrliche, pſy⸗
chologiſche Entwickelungen. Es ift natürlich, daß in der Kindheit bei dem
Anfang der Lebensentwidelung, in der Zeit des Wachethumes, wo auch im
Voiksleben die Kräfte und Drgane für die Vorberrfchaft des höheren Lebens
noch zu ſchwach find, die finnlichen und felbftfüchtigen Triebe vorherrſchen,
daß in dem Jünglingsalter das zwar jest zur Vorherrichaft erwachende
höhere aöttliche Leben doch bei noch ungereifter Kraft der reflectirenden pruͤ⸗
fenden Vernunft und ihrer Organe, z. B. der freien Wiflenfchaft, jegt nur
unvolltommener vermittelft der Phantafie und des Gefühle, alfo in finnlicyen
Hüllen aufgefaßt wird, daß es fo den Menfchen noch durdy den blinden Glau⸗
ben an die aͤußeren finnlihen Offenbarungen und an ihre prieflerlichen
Ausleger beherrſcht. Erſt im männlichen Alter iſt der Menfch, find alle Or⸗
gane und Träger des höheren geiftigen Lebens auch im Volke fo herangereift
und im Gleichgewicht, daß er in feinem eigenen Innern, in feiner eigenen
peüfenden Vernunft und freien Ueberzeugung die Entſcheidung und
Gefeggebung für fein eigenes Thun und in gemeinfhaftlider
freier Anertennung und Vereinbarung das gemeinfhaftlidhe
fieie Orundgefeg des Staates ſucht.
Es ift gleich natürlich in diefer dritten Periode, daß bei dem nur allmaͤli⸗
gen Erwachen und Reifen der felbftftändigen geiftigen Kraft bes Volks, daß
bei feinem Austritt aus der blinden Glaubens: und Priefterherrfchaft zu⸗
erft das Meligidfe, die Reinigung und Befreiung feiner relis
giöfen und kirchlichen Verhältniffe in feinen Intereſſen und Beftrebuns
gen vorherrſcht 9).
So war «8. nad) der Reformation zwei Jahrhunderte lang ; bie religiäfen
und kirchlichen Beſtrebungen drängten felbft die gerechten politifchen Forde⸗
rungen eines Ulrich von Hutten und der armen Bauern im Bauerntriege
in den Hintergeund. Selbſt die politifchen Freiheitsgrundfäge der größten
Könige, eines Friedrich und Joſeph, verfiand und ergriff ja die Maſſe des
Bolkesin ihrer Zeit noch nicht. Nur die religiöfen wurzelten. |
Es ift ferner natürlich, daß, wenn diefe religtöfen und kirchlichen Inters
eſſen und Kämpfe ſich endlich erfchöpfen, die heranreifende felbft fländige
Geiſteskraft zumächft in ber allgemeinen Beiftesbildung, in
literarifch er Beſtrebung, daß fie jest, noch näher ftehend der Vorherrſchaft
‚ von Phantafie und Gefühl, die auch noch in der religiöfen Periode fortdauernd
lebendig angeregt blieben, zunaͤchſt in Poeſie und Kumft, fpäter in Philos
ſophie und Gefchichte ſich ftärkte und entfaltete.
Die ſchwerſte und hoͤchſte Aufgabe, diepolitifch freie Lebensentwicke⸗
fung, bie Aufgabe der Vereinigung aller Beftiebungen in harmonifcher Ver⸗
einigung und Wechſelwirkung in freien politiichen Gemeinweſen, vom kraͤf⸗
tigen befonnenen praktifchen Manneswillen gegründet und erhalten, bie höchfte
Entwidelung des erhabenften Kunſtwerks, die des freien Staats, diefe
‚I Gervinus ſcheint bei der Erklaͤrung ber Stufenfolge ber religidfen,
literarifchen und politifchen Periode von ftufenweifem Vorherrſchen des Empfins
dungs⸗, Denk⸗ und Willens vermoͤgens auszugehen.
' 526 Grundgefeg, Grundvertrag.
freiefle, größte That ber Völker, biefe find natuͤrlich die fpätefte,
die hoͤchſte Aufgabe eines Volks. Sie find dte Aufgaben von Deutfhland,
von Preußen in unferer heutigen Zeit. Die früheren Pöntglichen Erklärungen
und Gefege im der ſchweren Unglädszeit unter Stein und Hardenberg,
dann bei der durch diefe Böniglichen Zuſagen herbeigeführten glorzeihen Met:
tung, und jegt das neue politifcdye Geſetz, fie ftimmen mit allen Verftändigen,
mit ber Geſchichte felbft überein in der Anerkennung biefer endlih dringen«
den hoͤchſten Aufgabe unferer Zeit.
IV. Der Grundvertrag. — Die weitere Entwidelung wird fol-
gende Säge rechtfertigen:
1) Die wefentlihe Grundform für dag feinem inneren We:
ſen nach goͤttliche oder fittlid vernünftige Geſetz der politi—
ſchen Freiheit und für feine Verwirklichung als außeres gemeinfhaft:
Uches Gefellfhaftsgefes freier Männer (oder in unſerer beutis
gem dritten Periode, f. IL.) ift deſſen möglichite freie Anerfen»
nung, iſt bie Bertragsmäßigkeit. |
5,2). Wie die politifche Freiheit oder die vernunftrechtliche Freie
Berfaffung bes Rechtéſtaates felbft bie hoöͤch ſt Aufgabe gefitteter Völker
in ihrem reifen männlichen Alter, wie e8 die unfrige und die Grundbbedin-
gung unferes Heils ift, eben fo ift es der Sieg der Vertragsmäßigkfeit.
Denn ohne fie giebt es gar feine wirkliche politifhe Freis
beit, Eeine wirkliche, lebendige, freie Berfaffung. Ohne fie
ift entweder nur (f. Il) dbespotifhes Herrenrecht oder blinder
Glaube an ein aͤußeres theofratifches aöttlihes Rechtz wo
aber biefer Glaube fehlt und dennoch ein foldyes Außeres göttliches Recht des
Herrſchers erzwungen werden foll, da ift ebenfalls nur Despotie und die uner⸗
träglichfte Knechtſchaft.
3) Die Vertragsmäßigkeit oder die freie gegenfeitige Anerfens
nung und Vereinbarung freier Menfchen mit erwachter eigener prüfen:
der Vernunftüberzeugung , diefe wefentlihe Grundform für ihr ge:
meinſchaftliches fittlich vernünftiges Geſetz ihrer Geſellſchaft, ift zugleich das
wefentlihe Mittel, ihre inneren ſittlich vernünftigen Ueberzeugungen über
ihr gefellfchaftliches Leben allgemein dußerlih erkennbar und gül:
tig zu machen und fie in freier friedliher Gemeinfhaft zu ver»
wirtlihen‘). Das unentbehrlihe Mittel aber zur beftändigen Er-
haltung und Verwirklichung diefer Vertragsmaͤßigkeit oder der Sreiheit und
freien friedlichen Verwirklichung des Geſellſchaftszwecks ift die freie Orga—
nifatiog der Geſellſchaft oder die freie Conftitution. Es ift alfo die
Aufgabe, die ganze Verfaffungs:, Regierungs: und Verwaltungseinrich-
tung möglichft vertragemäßig oder, was daſſelbe ift, conflitutionell
frei zu geftalten. Vertragsmäßigkeit oder freie Conſtitution find
hiernach nicht irgend ein Nebenpunkt, fondern die Hauptſache der po-
litifchen Freiheit oder ihrer Verwirklichung, ja diefe felbft.
4) Alle freien Völker der Erde erkannten diefes in Wort und That an.
— —— — —
er
6) &. auch Bd. I. ©. 13,
Srundgefeg, Grundvertrag. 537
ZJebes ernſtliche Ableugnen und Bekaͤmpfen der Vertragsmaͤßigkeit und ihrer ,
mefentlichen Folgen von Seiten der Regiernden und ihrer Partei führte
daher beiihnen und bei zur Freiheit erwachten und nach Freihelt firebenden
Völkern, fuͤhrte nach aller Gefchichte zu todfeindlichen Kämpfen. . Die Fürs
ften führte e8 zum despotifchen Herrenrecht, bei den Regierten aber führte
das Verkennen der Aufgaben des Vertragsprincips hier zu trägem Ergeben
in jede verderbliche Willkür und Sklaverei, bort zu eigenmächtigen verehrten
revolutionären Unternehmungen. So find denn bie Vertragsmaͤßigkeit,
ihre richtige Auffaffung und Durchführung von unermeßlicher Wichtigkeit und
entſcheidend für die rechte Beurtheilung und bie rechte Behandlung auch der
Verfaſſungsgeſetze, fie find zeitgemäß.
. (Zu Seite 255 an den Schluß von 4.) Nimmermehr aber wird man
wohl eine fesie, friedliche und fefte Ordnung der Staatsgefellfchaft unvereinbar
halten mit denjenigen Volksrechten, welche alle freien Völker befigen, welche
die Regierungszufagen und Entwürfe der Bundes⸗ und Eandesverfaffungen
in den Befreiungskriegen und in der Wiener Congreßverhandlung, und
namentlich die Böniglih preußifhen, als unentbehrliche zur zeitges
mäßen Wiederherftellung deutfchen Rechtszuftandes erflärten”), naͤmlich:
A. „eine aus allen Claſſen der Bürger zu bildende Re;
„präfentation des Volkes“;
B. „als ein Minimum von landfländifhen Rechten für dieſelbe:
a) „das Recht der Berwilligung und Regulirung ſaͤmmtlicher zur Staats:
„verwaltung nöthiger Abgaben”,
b) „das Recht der Einwilligung bei neu zu erlaffenden allgemeinen
„Landesgeſetzen“,
c) „das Recht ber Mitaufſicht über die Verwendung der Steuern zu
„algemeinen Staatszweden (welches hinlänglich durchgeführt, in Verbin:
„bung mit den anderen drei Rechten, eine Gontrole und wenigſtens eine
„indirecte Mitwirkung bei allen Regierungsrechten begründet)”,
d) „das. Recht der Beſchwerdefuͤhrung, insbeſondere in Fällen der Mal⸗
„verſation der Staatsbiener und bei fi) ergebenden Mißbraͤuchen jeder Art.”
C. Als allgemeine Staatsbürgerrechte: a) Preßfreiheit; b) unabhän«
gige Juſtiz; c) die Petitiong» und die altdeutfche Aſſociationsfreiheit; d) na⸗
tionale beutfche Staatsbürgerrechte.
Wahrlich — da Jedermann übereinflimmt, daß man einen Mann
und ein Volk nicht mehr erniedrigen, nicht armfeliger daritellen kann, als
wenn man ihn für unfähig oder für unwürbig derjenigen Freiheit erklaͤrt, die
alle anderen freien Männer und Völkerrecht gut ertragen und für die Macht
und die Bläthe ihres Vaterlandes verwenden — fo wird Niemand nur allein
die Deutfchen oder nur allein die Preußen für unfähig erklären, dieſe Rechte
mit der nothwendigen Ordnung des Staats zu vereinen.
Es müßte alfo ein anderer Geund der Unmöglichkeit folder
Rechte nachweisbar fein. Sonſt fordert das Grundprincip des freien
Staates, das Vertragsprincip, die möglichfte Durchführung deſſelben zugleich
7) S. den Art.: Deutfches Landesſtaatsrecht.
'
"
mit jenen Bufagen und umferem hiſtoriſchen Recht, diefe Ausdehnung der
Diefe angegebenen Mechte verroirklichen zugleich mit der Bertragemd-
‚Bigkeit die politiiche Freiheit. Sie bilden das, was wir heute in der zeit:
‚gemäßejien beften Geftaltung auch conftitutionelles oder repräfen=
tatives S yſtem nennen. Man kann diefes oder Die Derrichaft der Ver:
tragsmaͤßigkeit in der Geſtaltung und Regierung des Gemeinweſens einer
Nation auch die Derefchaft ihrer öffentlihen Meinung oder auch
die Berwirtlihung ihrer Gefammivernunft durch ihren Ge—
fammtmwillen nennen. Kann es aber etwas Böttlicheres und Herrlicheres
‚und Mächtigeres geben in der gansen Menfchenwelt als diefes und als die
Majeftät des Fürften, der Negterung , bie an ihrer, Spise jene Berwirkli:
hung leiten, die da regieren durch und mit dem freien Willen, der freien -
Buflinmmung und der ganzen vereinigten geifligen, moralifhen und mate⸗
riellen Kraft einer edlen, einer fittlich vernünftigen, freien mächtigen Nas
tion und für die gemeinfame hoͤchſte Beftimmung und Ehre derfelben! Wei:
ches andere göttliche Mecht als dieſes, nicht an Furcht, Sinnlichkeit und
Aberglauben willen: und rechtloſer Sklaven, ſondern an bie innere göttliche
Vernuͤnftigkeit, Liebe und Freiheit, an den freien Willen freier gottähnlicher
Menſchen ſich richtende, durch fie anerfaunte und wirkende, auf fie begruͤn⸗
dete, biefes freie vernünftige göttliche Recht! |
VI. Sortfegung — Das VBertragsprineip oder bie
- freie Berfaffung und Eonftitution verwirklichen fidh, 5) in=
dem fie allein dem Staat bie beften Minifter, ftets bie
befte Verwaltung verfhaffen. Mie überall, fo zeigt ſich gerade
in Beziehung auf den Hauptpunkt für alle Politik, patciotifhe Güte, Weis:
heit und Kraft der Regierung oder, was baffelbe ift, in Beziehung auf die
Güte, Tuͤchtigkeit und Kraft der Minifter, der Rathgeber und Diener der
Regierung, die Vortrefflicheit des Vertragsprincips. Nämlich vor Allem
auch bie beften Minifter, welche daffelbe, weldhe die Ge:
fammtvernunft der Nation durh ihren Gefammtmillen
möglihft gefhidt und glüdlih durhführen, und bie befte
Dermaltung bewirkt das Vertragsprincip, bewirkt die wahre conftitu:
tionelle Verfaſſung.
Nach dem Vertragsprincip ober in dem Acht conftitutionellen Syſtem
von England, Belgien, Frankreich, Amerika kann 1) kein Miniſterium ſich
halten, das nicht aus den geadhtetften Patrioten, aus den genialften, praftifch
bemwährteften Männern der Nation befteht. Es find diefes wahre Natios
nal- oder Staatsminifter, mährend außerhalb deffelben häufig nur
Zufallsminifter, nicht duch ftaatsmännifche Vorzüge, fondern durch
Hofintriguen, durch Factions⸗ oder auswärtigen Einfluß, duch Schmeiche⸗
leien und Schlechtigkeiten, durch veligiöfe, gefellfchaftliche oder fonftige an:
genehme Eigenſchaften und Richtungen an bad Staatsruder kommen und fid)
dann allzu häufig entweder ald Verräther am Staate oder als Unfähige bes
weiſen.
Grundgeſetz, Grundvertrag. ; 529
Es kann fi) auch 2) ein folches wahre Staats⸗ und Nationalminis
fterium nur fo lange halten, als es fi) in folcher Weife als übereinftim-
mend mit ber Nationalvernunft und als tüchtig, fie glüdlich zu verwirk⸗
lichen, darſtellt, während Zufallsminifter allzu oft von dem In⸗ und Aus:
Lande Längft als Unfähige oder ald erkaufte Verräther erkannt, in ber Nation
verwuͤnſcht und verhußt fein und Ruhm, VBlüthe und Macht des Staats
auf Menfchenalter, vieleicht unrettbar ruinirt haben können, ehe der um:
ſtrickte Fürft es merkt oder ſich von ihnen befreien Bann. |
Ein wahres Staatsminifterium ift natücli 3) auch in ber Nation Eräfe
tig und nach Außen fo mächtig, als die ganze vereinte Nationalkraft ſelbſt ift,
während Zufallsminifter oft die eine Hälfte ber Nation nicht für ſich und ihre
Maßregeln und bie andere gegen fich haben. Es braucht endlich 4) das
mahre Staatsminifterium nicht die befte Zeit und die beflen Staatskräfte zur
Bekämpfung der inneren Freiheit und der Öffentlichen Meinung, der Prefie,
der Affociationen,, zur Verdummung, Unterdrüdung und Schwächung ber
Nation zu verwenden, wie Zufallsminifter, fondern es hat Zeit und. alle
Kräfte frei für die Blüte, die Ehre, den Ruhm, die Macht der Nation,
für die Freiheit, den Schug und die Ehre der Bürger.
5) Es ruft vielmehr die volle Freiheit dev Preſſe, der Affociation, das
volksmaͤßige Verwalten, das selfgovernment, täglih zu feinen Allirten
auf und begründet fo die beſte Acht vertragemäßige und volksmaͤßige Ver:
mwaltung.
Einer der größten Staatsmaͤnner aller Zeiten war anerkannt ber ditere
Dirt, fpäter Lord Chatam. Ihm verdankte England ſolche Vermehrung
feiner Größe und Macht, feines politifchen Aufſchwungs und feiner Mittel, wie
die Weltgefchichte eine folche in fo kurzem Zeitraume in feinem andern Reiche
aufzumweifen hat. In der Königsgruft zu Weftminfter, welche in Hochachtung
und dankbar fein König ihm zur Muheftätte öffnete, ſchmuͤckte das dankbare
Vateriand feinen Denkſtein mit ber einfach echabenen Denkſchrift, „daß unter
„Seiner Amtsführung die göttliche Vorfehung Großbritannien zu einer jedem
„früheren Zeitalter unbelannten Höhe der Wohlfahrt und des Ruhms erhob.”
Aber dem großherzigen Staatsweifen verdankte ebenfo bie politifche Freiheit
wie die Macht ber Nation einen großartigen Aufſchwung und er war in mare
mer Vertheidigung ihrer höchften Srunbfäge fo energifch, daß ihn die Höflinge
haften und auch dem Monarchen gehäffig zu machen fuchten, fo fehr, daß er
ihn einmal „die Lärmtrompete des Aufruhrs“ nannte. Ein folder Minis
ſter wäre undenkbar gemwefen in einer abfolutn Monarchie. Dahlmann
fagt: „Den Charakter Chatam's befigen, wäre in Frankreich (vor der Ver:
faffung) Hochverrath gewefen.” Ein Blick auch auf die englifhen Miniftes
rien nach Lord Chat am, auf die von feinem Eohne, dem jüngeren Pitt,
von Canning, von Graf Grey, von Lord Ruſſell und Peel, erklaͤ⸗
em fie es nicht, daß England deshalb der blühendfte, ruhmvollſte, mächtigfte
Staat, die Briten darum bie erfte Nation der Welt werden mußten, weil
fie am frühften und volflommenften bie freie Verfaffung und durd
fie die beften Minifter erhielten? Und gerabe die genannten Mi⸗
nifter,, unvergängliche Zierden und Beförderer der Größe ihres Vaterlandes
Suppl. 3. Staatsler. II. 34
%
530 Grundgefeg, Grundvertrag.
in den ſchwlerigſten Zeiten und Verhaͤltniſſen, zeigen fie nicht, wie in Eng⸗
land alle Hinberniffe ſchwinden, wo «8 gilt, die tauglidften Männer für
bas Volkswohl an die Spige ber Verwaltung zu ftellen? Da hindern Feine
Verfiimmungen und Intriguen des Hofes und der mächtigen Ariftofratie.
Die Sache des Nationalwohls ſiegt, felbft wenn, wie bei Pitt, augenblid-
liche Ungunft des Wolf, ja wenn felbft zugleich, fo wie beit Canning, die ne
tücliche Eiferfucht einer zuerft fogae in der Mehrheit befindlichen parlamenta-
rifchen Gegenpartei, ja wenn auch), wie bei Peel, fogar eine Verſtimmung
bes. größeren Theils der eigenen Partei der Wahl des beften Minifters im
Wege ftehn. Bei der allgemeinen Hochachtung vor der genialen Meifter:
ſchaft des gerade für das Vaterland nothwendigen Minifters, bei der bald
undberwindlihen Stimme ber freien Öffentlichen Meinung kann Nichts fein
Belangen zur erſten Minifterftelle verhindern. Bon jenen abgeneigten Ge—
fühlen bleibe Nichts übrig ala jene fo mwohlehätige Oppofition, die, wenn
fie nicht von felbft fich ergäbe, fogar für ein gutes Minifterium erfunden wer:
den müßte, dieſe Oppofition, welche allein erft die vollkommenſte, vielfeitigfte
Prüfung der politiſchen Maßregeln, die Enthällung ihrer Schwaͤchen und
welche bei endlich fiegreichem Kampfe für dieſelbe das wohlthätige Vertrauen
und die Uebergeugung ihrer Nothwendigkeit für fie begründer, ihre fo oft
heilfame Kühnheit und ihr richtiges Wagniß rechtfertigt, oft allein moͤglich
macht, welche endlich bie weniger fähigen, pateiotifchen und glüdlichen Mi:
nifterien zum Deile des Vaterlandes bald befeitigt!
Mod ein Mal! England mußte groß werden, weil ihm fein durch⸗
geführtes Princip des Vertrags oder der Öffentlihen Meinung,
weil ihm feine conftitutionelle Berfaffung die beften Minifter und bie befte
Verwaltung gab, Deutichland dagegen Elein, weil e8 anders war. MWerden
wir wohl biefe Wahrheit noch weiter auch dadurch veranfchaulichen müffen,
daß wir die englifhen und die deutfchen, daß wir — die glorreiche Zeit der
Beachtung der Nationalüberzeugung im dAußerften Unglüd und in den Ret⸗
tungseriegen ausgenommen — die preußifhen Minifterien und minifteriellen
Mafregeln prüfend mit einander vergleihen? Jene preußifchen Minifterien
und Mafregeln von der zweiten oder dritten polnifchen Theilung oder von
der Verdrängung Herzberg’s an, die Convention von Pillnig und den
Bafrier Frieden, die Annahme Hannovers, die allerunglücfeligfte und fol:
genfchwerfte Hilfe zur Unterdbrüdung Polens, die abhängige Hingebung für
die nebenbubhlerifche ruffifche und oͤſterreichiſche Politik, die Unterhandlungen
- über die Freiheit der Rheinſchifffahrt, die englifhen und holändifchen Hans
delöverträge, die über Hannovers Beitritt zum Zollverein, die neueften Relis
gionskriege u. ſ. w. u. ſ. w.? Und wie fteht es endlich mit dem Vertrauen der
Nation zu deutfcher Minifterweisheit? Fürften von fofeltener Geiſteskraft
und Tüchligkeit, wie fie nicht einmal in jedem Sahrhundert auch nur Einmal
zu erwarten find, Eönnten vielleicht unter lauter abfoluten Monarchien fo gläns
gend voranftehen, daß fie das conftitutionele Princip zu erfegen fcheinen.
Doch wenn nun aud, ihr Adlerblid für ihre Zeit die beften Minifter findet oder
erfegt; und wenn fie auch fo wie Friedrich det Große die geiftige und
moralifche Kraft der Nation fördern — was verbürgt die zeitgemäße Fort:
Grundgeſetz, Grundverrg. 531
fegung ihres Werkes, nicht etwa in ihren vielleicht veralteten nun verberbli-
chen Jormen, fo tie nach Friedrich's Tod, fondern in ihrem Geiſte? Wer
bärgt nad) einem Friedrich gegen einen Woͤllner, oder gegen den fieg⸗
reichen politifchen Unverftand der Minifter nad; dem zuruͤckgewieſenen weis
fen Rath feines Horberg? Großen Fürften dient auch die conftitutionelle
Form. Ihr Geiſt fiegt überall. Aber Schwachen ift fie Stüge und Hilfe
gegen ihre ober ihrer Sünftlinge Verirrungen. Deshalb verfprady fie das
Geſch von 1815 zur Verbürgung einer ftetigen Herefchaft guter Regierungs-
grundfäge. Dreimal war Preußen unflerblich groß und legte auch noch für
fpätere Bröße folche Grundlagen, daß nur dadurch die lebensgefaͤhrlichen pos
litiſchen Mißgriffe in anderen Zeiten vielleicht überwunden werden Eonnten.
Es war groß, als es phufifch Elein war, unter dem großen Kurfürften,
Teitbem er fid) von ausmwärtigem Einfluß, von den Fallſtricken feines Minis
ſters, bes öfterreichifchen Sefuiten Schwarzenberg frei machte; dann unter
Dem großen König und endlich ale das fürchterliche Unglüd alles Heil in
Der Befreiung und Geltung bes Volks und ſeiner öffentlichen Meinung fuchen
Lieb. Jedes Dal waren es Zeitendes Sieges ber Geiſtes⸗ und Re⸗
Kigionsfreiheit und der Volksaufklaͤrung, der Befreiung
und Achtung der öffentlihen Meinung. Im jenen beiden erſten
Perioden verkuͤndeten die Sürften vom Throne das VBertragsprincip, in ber
letzten fuchte es der König, fuchten es feine Minifler Stein und Harbens
berg und Humboldt zu verwirklichen buch VWolksreprdfentation
und conftitutionelles Syſtem. Aber Stein und Humboldt
werden verdrängt; Hardenberg ſchwach — nicht ein tüchtiges Miniſte⸗
rium, fondern die unglüdfeligfte Reaction fiegte. Denn noch war bie con⸗
ſtitutionelle Verfaſſung nicht ins Leben getreten.
XIV. (Zu S. 289 an das Ende des Artikels.) Weber göttliches,
monarchiſches, fouveränes und abfolutesRegierungsrecdt,
wahres und falfhes. Ihr Verbältnig zum Vertrag und
Königswort.‘ — Dftmals, ohne im Allgemeinen das Vertragsprincip zu
beftreiten,, vernichtet man es mittelbar für Diejenigen Staaten, für deren
Sürften man bie oben angeführten Rechte in Anfprucd nehmen zu Finnen
glaubt. Mit diefen Rechten verbindet man meiftentheil® verwirrte Begriffe.
Diefe und häufig bloße Mißverftändniffe in Beziehung auf diefe Rechte ers
zeugten ebenfo wie die Mißverftändniffe über die Volksſouveraͤnetaͤt (oben VIE.)
viele ganz unnöthige Streitigkeiten und Erbitterungen, ja häufig fo ſchwere⸗
blutige Kämpfe zwiſchen Fürft und Volk, daß gewiß eine für beide befriedigende
Löfung diefer Mißverfländnifie erwuͤnſcht ifl. |
Behauptet nun Jemand unter dem Namen jener angeblichen Rechte
eine aänzlihe Aufhebung alles wahren Rechtszuſtandes für
das Volt und den Sürften, behauptet er wirklich entweder eine auf
blinden Glauben bes Volks an bie Böttlichkeit des Herrſchers gegründete theo⸗
kratiſche oder eine auf Furcht gegründete despotifche, eime in beiden Fällen
dann natürlich ſchrankenloſe Gewalt, in ber Theokratie über rechtloſe Unmuͤn⸗
dige, in der Despotie über Sktlaven — nun fo iſt nur zu erinnern, daß
wenigſtens für bie deutfche Nation, dag für die Preußen niemals ein folcher
34
632 Grundgeſetz, Grundvertrag.
abſolut rechtloſer Zuſtand beſland, daß fie vollends heute im neunzehnten
Jahrhundert mit Abſcheu und Empörung jede aͤhnllche Zumuthung zuruͤck⸗
weiſen wuͤrden. Dieſes würden ſelbſt bie Könige thun. Sie moͤchten weder
ſich durch Behauptung ihrer Goͤttlichkeit dem allgemeinen Spott ausſctzen,
noch ihre Megierungemafeflär über eine geachtete Nation mit der zerbredh-
lichen verhäßten Herrengewalt uͤber rechtlofe Sklaven vertaufhen. Sie
mwiffen auch, daß, wenn ihre Gewalt nicht innerhalb des wahren Rechts ſteht,
folche Unterthanen, melde weder blinder Glauben noch Furcht feffelt, minde:
ſtens feine Rechtspflicht vom Umſturz ihrer Herrſchaft zuruͤckhaͤlt, vor welchem
alle ſultaniſchen Herren ſtets zittern muͤſſen und ber, wenn er glüdt, den
fiegeeichhen Rebellen zum gleih Tegitimen Derm macht, als es fein ent
thtonter Vorfahr war.
Will man aber eine ſolche Gewalt mit ihren unvermeidlichen Conſequen⸗
zen nicht, ſondern will man die Wuͤrde, die Ehre und Sicherheit eines recht⸗
chen Zuſtands — nun dann fei man auch folgerichtig. Alsdann hat man,
was zu feinem Wefen gehört, Gegenfeitigkeit von Recht und
Pflicht, gegenfeitige Anerkennung, Vertrag. "Sobald man
dem Volke und den Bürgern gegen ben Regenten irgend Rechte zugefteht, ihn
nicht zu jeder Willkuͤr, zu jeden Mord und Raub berehtigt erklaͤrt, fo
koͤnnen biefe Rechte gegen den Megenten felbft und die darin enthaltenen
Rechtepflichten beffelben rechtlich nimmermehr von dem einfeitigen Belieben
bes rechtlich Verpflichteten, ſondern nur mit und nad Einwilligung der
Bürger verändert oberaufgehoben werden. Das Tiegt abjolut im We:
fen bes Rechts. Sebe fich mechfelfeitig bedingende Anerkennung von
gegenfeitigen Rechten und Pflichten, jede für ihre Erhaltung ober Verdnbe:
rung zufammenflimmende gegenfeitige Einwilligung des Berechtigten und
Verpflichteten aber ift Vertragsverhältniß.
Sofern alfo göttlihes Recht, monarchiſches, ſouveraͤnes
oder abfolutes Fürftenrecht irgend verftanden würden als rechtlich ſchran⸗
Benlofe , über Recht und Rechts- und Staatsvertrag ftehende willkuͤrliche
Gewalt, fo wären fie ebenfo wie ſchrankenloſe Volksſouveraͤnetaͤt (f.
oben) gänzlich unvereinbar mit dem rechtlichen Zuftande, mit der Freiheit
der Bürger, mit ihrer und der Fuͤrſten Ehre, fie wären Sultanismus,
vielleicht in Afien und für Raͤuberhorden, nicht aber in Deutfchland erträglich.
Es laͤßt fich aber auch ein mit Recht und Freiheit vereinbarlicher Sinn
mit jenen Begriffen verbinden.
Nach der obigen Entwidelung foll die ganze Rechts: und Staats:
ordnung einer freien Nation, alfo aud) ihre obrigkeitlihe Einrichtung, dus
Regierungsrecht im Allgemeinen und deffen Ertheilung an beftimmte Re:
genten, ihrem inneren Wefen nad) das fittlich vernünftige oder göttliche Ge:
feß verwirklichen, jedoch ftetö nur in der Sorm bes freien Con:
fenfes des Volks. Die von ihm begründeten Einrichtungen, alfo aud)
die Obrigkeit, find felbft nach der juriftifchen Vorausfegung (Präfumtion)
auch vernünftig oder göttlich. Diefes vernünftige oder göttlihe Recht aber
ift für das Volk Fein von außen Eommendes und wunderbares,
fondern «8 kommt ganz natürlich von feiner inneren vernünftigen fittlichen
Srundgefeb, Grundvertrag 583
oder religiöfen Ueberzeugung und freien Vereinbarung, ift alfo zugleich ſtets
vertragsmäßgig. Es iſt nach feinem Umfang wie nad) feiner Entftehung
unzertrennlidh an den Volksconſens gebunden, durch ihn juris _
ftifch entflanden und begrenzt. .
So ift es nicht blos nach natürlicher und pofitiver Staatstheorie, fon»
dern auch nad dem Achten, namentlich auch nad) dem proteflantifchen
Chriftenthbum. Denn das Chriftenthum menbet ſich mit allen feinen
fittlihen Geboten an die innere freie fittlihe und religiöfe
Ueberzeugung der Menfchen, will, daß von ihr, von freier Liebe
allein ihre Handlungen ausgehen, vermeidet aber forgfältig, über die Einrichs
tung der Staatsverhältniffe auch nur ein einziges unmittelbares
Gebot zu geben, überläßt fie vielmehr der freien und gleichen brüber-
lichen Vereinbarung, welche, falls die Menſchen chriſtliche Geſinnungen
haben, von diefen befeelt fein wird. Daher Eonnte zwar ber Apoftel Baus
lus, nicht von fürftlicher Gewalt, fondern von ber obrigkeitlihen oder
Staatseinrihtung im Allgemeinen fagen, baß fie fittlich vers
nünftig oder von Gott gewollt und achtbar fe, ber Apoftel Petrus aber
fonnte ebenfo, und ganz hiermit vereinbarlih, zugleich jede beftimmte
Staats: oder obrigkeitliche Einrichtung eine menfchliche Anordnung nennen®).
Darin flimmte fogar das doch viel mehr theokratiſche altteſtamentliche
Recht aus Achtung der Freiheit überein. Selbſt der göttliche Regent gruͤn⸗
dete ja feine Regierungsgemwalt und feine Gefeggebung und deren Annahme
auf ausdruͤcklichen feierlihen Bunb und Vertrag zuerft mit Abraham,
dann im Moabiterland und am Sinai, mo die Volksverſammlung fo wie auch
fpäter förmlich über Annahme ſelbſt der goͤttlichen Geſetze berieth und befchloß,
ebenfo wie fpäter über die Annahme von Saul, als fie einen König gewollt
hatte”). Auch hat die chriſtliche Kirche diefe ebenſo tiefe alß einfache, zus
gleich ſittliche oder religioͤſe und zugleich freie oder rechtliche Anficht im
Wefentlichen ſtets beibehalten.
Es ift hoͤchſt bemerkenswerth, wie auch in jenem frommen Mittelalter,
aus welchem man doch fpäter ein fo ungoͤttliches, despotiſches göttliches Recht
ableiten wollte, noch zu viel Freiheitsachtung und praktiſcher Verftand herrſch⸗
ten, als daß man von einem göttlidhen Recht ber Könige, ohne Begründung
der rechtlichen Gültigkeit durch die Rechtsform bes Volks vertrags
oder gar gegen denfelben etwas hätte wiffen mögen. Ueberall fteht, fo wie im
alten und neuen Zeflament und im Titel der feierlich erwaͤhlten und an
foͤrmliche Wahlbedingungen gebundenen 19). deutſchen Kaiſer oder wie im
Inhalt der fich felbft als Grundver trag begeichnenden englifhen Magna
8) Die vollftändige Beweisführung enthält der Artikel Chriftentbum,
vorzüglih ©. 473.
9) ©, die Art. Bund Gottes und Hebräer.
10) Schon von Karl’s des Großen Wahl berichtet Eginhard (außer
dem Eid auf die Berfaffung) folhe Wahlbebingungen, nad beren Annahme
fowohl von der Nation wie vom Kaiſer es beißt: susceptae sunt utrimque
oonditiones; hierauf wird dann Karl consensu ommlum k'rancorum gewählt.
534 Grundgeſet Grundvertrag.
Charta neben der religiöfen Auffaſſung, neben dem Dei gratia ausdruͤcklich
be Bollsvertrag")..
11) Dei favente clementia et ordinatione imperii hieß es in Zubwig’s
bes Frommen Zitel, fpäter „von Gottes Gnaben erwählter römifcher
Kaifer.” Selbſt zu dem gewählten Polenkönig fagte, tro& ber Wahl unb bes
liberum veto, ber Primas von Polen gerabe bei ber Proclamation ber Wabl:
„sm Namen Gottes ernenne ich bich zum ey eben ſowohl wie g ewähl:
ten und auf die Regierung unb nad) den Reidhegrumbverträgen beeibigten Rös
rig von Schweden ber Bifhof von Upfala: Sta et retine locum tibi a
Deo demandatum. &ogar felbft die bänifhe Souperänetätsacte und
Lex regia leitet ihre Königögewalt außbrüdlich von dem Bertrage
mit ber sangen Nation ab, Halbweg verftänbige Vertheibiger des göttli:
hen Rechts fühlten fich Angefichts dieſes gefhichtlichen Staatsrechts ber euros
päifchen Staaten gendtbigt, baffelbe burch den Bollevertrag zu legitimiren
und prattifch zu machen, fowie Abbadie, welder in Feiner Defense de la
nation Britannique 1659, p. 211. (f. aub Real⸗Staatswiſſenſch. IV,
2. $. 28.) Tagt: „Die Gewalt der Könige kommt von Gott, welcher fich aber
bes freien NRationalwillens als bes allein ertennbaren” (alfoaud für
chen allein Außerlih gültigen ober legitimen) „Weges bebient,
wm fie ihnen‘ (bei Erbmonarchien alfo den zum Voraus mitgewählten Nas
gern) „zu übertragen.” In biefem Sinne berichten die Annaliften ftets bie
nbefteigaungen ber beutfchen Kaiſer. So heißt eö in ber vita Henriei sancti
(bei Gretser, de Div. Bamb, ce. 1) von ber Wahl Kaifer Heinrich’s 1002:
omnia vota nuta divino ad eum inclinantur, Hic ergo ab omnibus pari
voto et communi eonsensu accersitur, divina utique disponente
clementia u.f. m. Heinrich IV. vereinigte ‚auf bem Reichötage 1099 auch
no Erbrecht mit bem MWollsvertrag in den Worten: me in imperio natum,
tuem Deus et Vos rebus ıbumanis imposuistis, Don ber Wahl bed Kaifers
Dtto aber, mo auch noch die Eönigliche Ernennung unbefchabet bes Vertrags bin:
aufommt, berichtet Wittehind von Gorvev: Defuncto patre, omnis po-
pulus Francorum atque Saxonum jam olim designatıum a patre filium
ejus Oddonem elegit, und dann von feiner Krönung zu Aachen, daß der Papft,
ehe er ihn falbte, fich zur Erhaltung freier Anerkennung der Wahl an das Volt
wendete: Et reversus ad populum: En, inquit, adduco vobis a Deo electum
et a Domino rerum Henrico olim designatum , nunc vero a cunctis princi-
ibus regem factum Oddonem. Si vobis ista electio placeat,
exteris in coelum leyatis significate.e Ad haec omnis populus dexteras
levans etc. Viele ähntlche Stellen bei Pfeffinger Vitr. illustr. I. p. 73.
Sogarnoh Gregor VII. mußte in der Verordnung über die Papftwahl für
biefelbe wiederholt vorfchreiben (f. Dist.23 C.1), daß die Einwilligung des
Volks und der gefammten Geiftlichfeit in die Wahl eingeholt werde, sicque
reliquus clerus et populus ad consensum novae electionis accedat. Cr
fand es nothwendig, da in den altteftamentlichen und chriftlichen Urfunden und
in den bisherigen canonifchen Gefegen ebenfo wieim romifhen Recht alle
Geſellſchafts-Geſetze und Gewalten, bie Wahlen allerBifhdfe
u. f. w. durchaus aus Conſens und Bertrag gearündet waren. Man vergleiche:
1. Mof. X. XV. XXL. 23 f. 2 Mof. X. XXVIT. XXIX. 1. Sam.
vu. 9. VID. 4. 9. X. 14—29. XI. 15. Richter IX.6—13. 1. Kbdn.
XII. 2. Kön. XI. 17. XVIL 15. XXVII. 35 ff. Serem. XXXIV. 13.
14. 1. Maccab. XIV. 35. 4. Michaelis, Mof. Recht 8.35 und 54.
Apoſtelgeſch. I. 6. 22—26. II. 44. III. 25. V. 19. 20. 29. VI. 1—6.
Hebr. XI. Theffat. V. 21. Petr. I. 13. V. 13. Canon, Apostol. 35;
ferner f. (mit Gratian's Bufäßen): c. 1—9. Dist. I. c. 23. D. IV.
c. 2. D. D. VIII. c. 9, D,XL 0.6 D. XII. «12. 14. D. XVI.
Grundgefeg, Srunbvertrag. 935
Daß alfo fromme Menſchen, Völker und Zeiten die Stadtögefege und
beſonders die fo wichtige obrigkeitliche Errichtung , gleich viel ob monarchiſch
oder republikaniſch, wie ja auch ihre übrigen Verhältniffe auf bie
Vorfehung und auf Bott zurüdführen, und zwar die Regierenden zunaͤchſt
aus Dankbarkeit, Demuth, ausdem Gefühle ihrer fittlihen
Verantwortlichkeit, die Regterten zunaͤchſt aus Achtung der gefellfchafts
lich anerkannten fittlichen Nothwendigkeit geſetzlicher obrigkeitlicher Einrich⸗
tungen und ihrer Heiligkeit — dieſes göttliche (d. h. nach frommer Aufs
foffung religiös heilige) Recht rechtmaͤßiger, d. h. nad) ber Verfafs
fung oder dem Brundvertrage beftehender Regierungen, wer koͤnnte es
tadeln wollm? Doch wohl nur jene atheiftifchen Vertheidiger fouveräner
Volkswillkuͤr, welche fehr erlärlih ber Werzmweiflungstampf gegen
die defpotifche Reaction und gegen beven eigennügigen, knech⸗
tifhen und verrätherifhen Mißbrauch der Religion in täglich
größerer Anzahl zur Anfeindung aller Schranken und Autoritäten fortreißt.
Wer aber von der freilich erflärlichen und entfchulbbaren Einfeitigkeit
und Leidenfchaft des Kampfes fich frei Hält, und wer nicht blos an die Verneis
nung und den Krieg, fondern an die pofitiven Srundlagen und Ge⸗
ft altungen unferes freien Staatslebens denkt, der wird nicht verkennen,
daß die fittlichen, die religiöfen chriftlichen Grumdideen und Auffaffungen
weſentlich wichtig für uns find 12). Nur vergefle man nicht einen Augenblid,
daß diefelben die Kreiheitsformen nicht ausfchließen dürfen, daß auch diefe -
heilig zu halten und vollends, foweit man fie verfprach, zu gewähren find.
Man bedenke wohl, daß heutzutage verderblich auch für die Religioſitaͤt,
Pietaͤt und Autorität wirkt, wer ohne Achtung ber Sreiheit und auf ihre Kos
ften für fie wirfen wild. Es wirkt vollends verderblich, wer hochmuͤthig und
ſchmeichleriſch die chriftlichen Religionsurkunden, die von einem myſtiſchen
Koͤnigsrechte n icht das Geringſte wiſſen und nicht despotifche Herrſchaft
und ſklaviſche Zuſtaͤnde, ſondern bruͤderliche Liebe und Freiheit wollen, zu Guns
ſten des Despotismus verdreht.
Bor Allem bedenke man, daß in rechtlicher Hinſicht allein das
conſentirte vertragsmaͤßige Recht als vernuͤnftig und heilig
gilt! Subjective religioͤſe Anſichten und Vorſtellungen vom göttlichen Recht
duͤrfen alſo dieſes nimmer verlegen. Das wäre unchriſtlich, jedenfalls un⸗
rechtlich und rechtsunguͤltig. So und nur als durchaus verwerflich ſtellt fich
D. XIX. c. 1.3.D. B. c. 15. D. LXI. c. 26. 27. D. LXII. c. 5
D. XCV. c. 5. 15—18. C. 8. Q@. 1. c. 29. de R. J. In 6to. Concil-
Constant. 8. IV. et V. Concil. Basil. 8. II, III. Cyprian. Oper. Brem.
1694. ep. 14. 16. 17. 19. 31. 34. 69. 67. Freilich diefelbe fpätere hierars
chiſch⸗des pot iſche päpftlihe Macht, die flatt des freien hriftlichen
Annehmens und Glaubens der chriftlihen Religion gewaltfame Ketzer⸗
bekehrung wollte, gab fchon in ber fpäteren Zeit Gregor’s auch der paͤpſt⸗
lichen Gewalt andere Grundlagen.’ Aber wer hält diefe für Acht hriftlich, oder
vollends für tauglich zur Begründung weltlicher rechtlicher Regierungsgemalt !
12) Das Staats-Lerikon fucht diefes überall und namentlich auch in bem
Art. Chriſtenthum zu entwideln.
c.6.
u. T.
[3
>
536 Srundgefeg, Grundvertrag
rechtlicher Hinficht dar das dem Wolke voniau fen Eommende, das nicht
rn feinem freien fittlichen Gonfens ausgehende wundervolle gött-
liche Recht, ſoweit es irgend gegen bie Verteagemäßigen Rechtsverhaͤltniſſe gel:
tend gemacht werben foll, LP |
In der Ausbildung des theokratiſchen paͤpſtlichen Weltreichs erklärten
die Päpfte bekanntlich als durch Gott ſelbſt eingefegte, goͤttlich infpiriete
Stellvertreter, ja buchfläblih als Gott auf Erden. — Sie legten aber
das göttlihe Recht nur ſich felbftbei, den Königen höch ſtens im
fofern und in fomeit, als biefelben ſich als Bafallen bes Papftes von
ihm ihre Gewalt leihen und aud) In deren Ausübung feinem Willen als dem
bes alleinigen fichtbaren Stellvertreter® Gottes ſich unterwerfen wollten, Da⸗
gegen weiß es jeder Kenner des toͤmiſchen Katholieiemns, des paͤpſtlichen und
canoniſchen Rechte, daß fie, abgefehen von foldyer päpftlichen Vaſallenſchaft,
weit entfernt waren, den Koöͤnigen ein felbftftändiges göttlicyes Mecht
zuzufchreiben,, daß fie vielmehr, wo ihre Macht nicht collidirte, ‚auch im
canonifchen Recht die vömifchen, deutfchen, althebrdifchen und chriftlihen
undſaͤtze der Volköfreiheit und des FreiemGonfenfes grundfäg-
lich feſthlelten, ja daß fie, mie ſchon die päpftlichen und canonifchen Urkun⸗
ben in Beziehung auf Karl Martell und die mit ausdruͤcklicher päpftlicher
Billigung ausgefprochene Volfsabfenung der Merovingifchen Königsfamitie
bezeugen, #8 fogar nicht verfchmähm , theils-bie hifkorifche Königliche Gewalt
ber Kürften von fauftrechtlicher und Räubergewalt abzuleiten, dem Volke ein
ebenfo unbeftreitbare® Mecht zusufprehen, feine Könige abzuſetzen al fie
durch Wahlvertraͤge su Königen zu machen 13), und daß fie unzählige Male
die Einfesung und Abfegung der Fuͤrſten felbit ausfprechen oder bie Voͤlker
dazu auffordern, daß felbit auch Pius VII, mit Preisgebung bes Mechts der
fegitimen bourbonifchen Köntgsfamilie den von der Nation gewollten Napo—
leon förmlich Fircylich und päpftlich Erönte und falbte, wie ja auch andere
Paͤpſte das Königsrecht anderer Wahlfürften der Nationen, namentlich in
England, Schweden, Spanien, Portugal, zum Nachtheil des legitimen Nechts
früherer Fürften ald legitim anerkannten. An die bekannten Sefuitenlehren
von Volfsfouveränetät, ja von Koͤnigsmord wollen wir gar nicht erinnern.
Gewiß kein verftändiger Staatsmann möchte ein päpftlic Fatholifches
göttlihesKönigsreht zur Stüse des Throng, zur Grundlage der Rechte
feines Fürften machen.
Don jenem päpftlichen katholiſchen göttlihen Recht und vollends von
jenem innerlichen vernünftigen ift welentlich verſchieden jene Abart, das
zumeilen in romantifcher Schwaͤrmerei und dunkel aufgefaßte, oft auch blos
zur Begriffsvermirrung und Zaufchung der Schwachen macchiavelliſtiſch be:
hauptete ebenfalls Außeslihe und wunderbare oder muftifhe an-
13) Der Papft erklärte (fe. Avent. Ann. Boic. III. 9. 3.): Princeps
populo, cujus beneficio dignitatem possidet, obnoxius est. Quaecunque
enim habet, potentiam, gloriam, divitias, honorem, dignitatem, a populo
accepit; plebi accepta referat necesse est, Regem plebs constituit, eun-
dem et destituere potest,
Grundgefeb, Grundvertrag. 537
gebliche göttliche Recht, womit deöpotifche Könige ſich ſelbſt oder ihre
Schmeichler dem Volt ihren Uebermuth und ihre Willkür, ihr Unrecht
ſchrankenloſer Gewaltanmaßung befchönigen,, ohne dabei weder bie päpftliche
Vaſallenſchaft noch auch jene vernünftige rechtliche Begründung und
Begrenzung anerkennen zu wollen. Die Wunder und göttlichen Inſpira⸗
tionen und Gemwaltübertragungen, womit man ſich an den Aberglauben ber
Schwachen wendet, fo wie die Weberbeingung des Salboͤls für Chlobdos
wig durch den heiligen Geift, wovon der taufendfte Theil eines Tropfens zur
Vergöttlihung genügte, und fi noch für Karl X. vorfand, find belichig
fo oder anders. Diefes weder die theofratiichen noch die rechtlichen Grund⸗
gefege anerkennende rein willfürliche göttliche Recht iſt, fo weit es nicht völlig
mäßige und unverflänbliche Formel und dadurch unschuldig bleibt, weſentlich
despotiſch. Es wird, falls es etwa nad) den Srundfägen Heinrich’s VIIT. von
England oder des türkifchen Kaiſerthums oder auch ruffifcher Autokcaten die
päpftliche oder geiftliche Gewalt mit der öniglichen vereinigt gegen Verfaflung
und Freiheit des Volkes gebrauchen wi, fultanifch. Die angebliche bes
fondere Stelvertretung Gottes durch die Könige und bie befondere Ebenbild⸗
ſchaft von Bott, wovon natuͤrlich das ChriftentbHum nichts weiß, das
vielmehr jeden Dienfchen als göttlichen Geſchlechts und als Bottes Ehenbild
darſtellt, entfprechen ſolchem Urfprunge 1%).
Mit dieſer Abart des göttlichen Rechts fällt das feinem Weſen nach eben«
fo despotiſche, aber gewoͤhnlich von ben Hofleuten ebenfalls mit unklarem Bes
griff aufgefaßte Princip eines Thrankenlofen oder abfoluten fous
veränen oder eines ſolchen monarchiſchen Rechts völlig zufammen.
An fih find Souverdnetät und monarchiſches Recht oder
Princip ganz unfhuldig und, fomeit fie verfaffungsmäßig
rechtlich begründet find, rerhtlich geheiligt. Aber fchmeichlerifch und
despotifch Hat man fie in mpftifche Nebel gehuͤllt und dann beliebig ihre Begriffe
verdreht und erweitert.
Souveränetät heißt der urſpruͤnglichen und noch gültigen Worts
bebeutung und dem wahren franzöfifchen und biplomatifchen Sprachgebrauche
nah weiter nihts als das, was In feiner Art das Hoͤchſte ift.
So heißt cour sonveraine das hoͤchſte Appellationsgericht. Das durch bie
bekannte Souveränetätsacte für fouverän erklaͤrte Herzogthum Schleswig
follte nur fo viel heißen als das von der höheren bänifchen Lehnshoheit befreite.
Unbeſchraͤnktheit ber Rechte und Befugniffe liegt durchaus nicht im
Begriffe der Souverdnetät, wie denn ber fouverdne Gerichtshof an alle
Schranken durch die Gefege und die Gerichtsverfaffung,, der founeräne Her:
zog von Schleswig anerkannt durch damals fehr ausgedehnte vertragsmäßige
14) Wenn die Theologen mit wirklicher ſchimpflicher Werbrehung ber
Maren hriftliden Srundfäge (fiehe den Artikel Chriſtenthum)
ein myſtiſches, des potiſches göttliches Königsrecht lehren und bamit ge:
rade die Kreunde der Freiheit und Wahrheit, flatt fie zu befchren, aus ihren
Kirchen treiben und gegen eine fo unſittliche Kirchenlehre empören, fo ift
dabei außer der Hoffchmeichelei wohl auch der Zunftgeift wirkfam, der die welt:
lihen Staatsverhältniffe gern im die geiftliche Domäne hinüber zoͤge.
Verfaffungsrechte des Volkes befchränkt blieb. Souveraͤner Regent ifl.alfo
ber, welcher, wie 3.3. ber König vom England, keinen höheren Regenten
über fich hat, obgleich er, die Ausnahmen der Föniglichen Praͤrogative abge:
rechnet, ganz ebenfo mie die beutfchen Fürften an die Mitwirkung der
Stände oder des in England mächtigeren Unter⸗ und Oberhauſes gebunden
ift, ja mit ihnen gemeinſchaftlich erſt bie vollftänbige höcdyfte Regierung von
England, das Parlament, bildet.
Ob ein Monarch da iſt, der Die fouveräne, d. h. die höchfte Regie»
‚rungsgewalt hat, ober nicht, diefes iſt lediglich die Frage ber pofitiven Verfaſ⸗
fungen der verfchiedenen Länder. Weshalb alfo im Allgemeinen über die
Souveränetät ber Regierung bie Könige und Völker in Streit fegen ?
Wenn noch nicht entfchieben ift, wie die Negierungsform einzurichten fei, wie
juͤngſt eine Zeit fang im neuen belgiſchen Staat, fo ift diefes lediglich Frage
der Politik, nicht des Rechts.
Das Recht fordert nur, baf bie Souverdnetät verfaffungsmäßig oder
grundvertragsmaͤßig, alio rechtlich begremit ent ſtehe und ausgelbt werde,
d.h. daß fie das Grumdgefag des Staates als über fich ſtehend und ſich durch
baffelbe oder die Berfafjungsrechte und die verfaffungsmäßige Regierungsform
befchräntt anfche. |
Das Verfaſſungsgeſetz, den Grundvertrag, und bas Recht, ihn
zu [hliefenund »wändern, nennt man Ubrigens auch häufig Souveraͤ⸗
metät. Diefe Bertaffungsfouveränetät ſteht natürlich der ganzen
Nation und ihren Organen, alfo auch der beftehenden Regierung, falls
eine ſolche eriftirt, gemeinfhaftlid zu. Iſt der König bisher
alleiniges Organ für die allgemeinen Staatsangelegenheiten, fo fteben
ihm natuͤrlich die zweckmaͤßigen Einrichtungen zu, bie Nation gebörig
zur Sprache zu bringen. So verordnete 3.3. der vorige König von
Preußen außer Preßfreiheit u. f. w. in dem Gefeg von 1815 einen Zufam:
mentritt von Bürgern mit den Beamten zur Entwerfung der Verfaffung-:
In Württemberg, Weimar, Hannover rief man mitconftituirende
Ständeverfammlungen zufammen.
" Aud nennt man die Unabhängigkeit des ganzen Staats,
ber Nation und ihrer Regierung von ausmärtiger Gewalt
Souveränetät. Sie fteht wiederum der Nation und ihrer Regierung ges
meinſchaftlich zu, und die Regierung, wenn eine eriftirt, hat fie nad) Außen
zu repräfentiren. Ueber diefe dußere Souveränetät follte man doch
ebenfo wenig Fürft und Volk mit einander in Streit bringen. Beide haben
ja nur Ein gemeinfchaftlicyes Intereſſe, daß fie erhalten werde.
Die Regierungsfouveränetät ift alfo nah dem Bisherigen das
durch die Verfaffung und Regierungsform begründete und befchränfte Recht,
in hoͤchſter Inftanz (alfo auch ohne perfönliche Verantwortlichkeit) zu
regieren oder die Verwirklichung des Geſellſchaftszwecks zu leiten.
Steht nun diefes Regierungsrecht nach der pofitiven Regierungsform
eines beftimmten Staats einem Fürften zu, fo daß er entweder allein oder in
Verbindung mit Ständen, ſtets jedoch ohne perfönliche VBerantwortlichkeit und
ohne Unterordnung unter eine höhere Regierungsgetvalt, zu regieren hat,
Grundgeſetz, Grundvertrag. 339
alsdann iſt dieſes und nichts Anderes das fouveräne monarchiſche Recht
oder Princip in dieſem Staat, welches in der Regel durch die beſondere
Regierungsform noch andere Beſchraͤnkungen hat.
Aber auch da, wo der Monarch allein die hoͤchſte Regierungsgewalt be⸗
fitzt und allein auszuuͤben das Recht hat — und dieſes nennt man abſolute
monarchiſche Gewalt — iſt dieſe mindeſtens im Rechtsſtaate durch
diejenigen Grundverfaſſungsrechte der Nation und der Bürger, welche in der
Natur des Rechtsſtaates liegen (VII), befchräntt.
Nur Begriffsverwirrung, Hofichmeichelei oder ein durch das Regieren
leicht erzeugter Uebermuth und despotiſche Laune ſtreben dieſes ſtets recht⸗
lich begrenzte monarchiſche Souveraͤnetaͤts⸗Recht grenzenlos
und zum despotiſchen Herrenrecht, ſtreben es abſolut in dieſem
Sinne zu machen. Dazu wird denn der falſche Begriff und zunaͤchſt jene
obige Abart des göttlichen Rechts benugt.
Hierher gehört nun jene® monardhifche und Souveraͤnetaͤts⸗ und goͤtt⸗
liche Recht, welches vorzüglich unter Ludwig XIV. gleich anderer franzds
fifher Verderbniß feines glänzenden verborbenn Hofes an europdifchen
und deutſchen Fürftenhöfen eine unglüdfelige von Friedrich dem Gro> .
Ben fo tief beklagte Nachahmung fand, welches nad kudwig's beſtaͤndiger
Anſtiftung die ungluͤcklichen Stuarte und ſpaͤter ſeine eigenen ungluͤcklichen
Nachkommen zu ihrem Verderben den Vertrags⸗ oder Verfafſungsrechten ihrer
Völker entgegenfegten. Ohne rechtliche Begründung und Begrenzung ſteht
das monarchiſche Recht ganz außerhalb bes Rechts, iſt alfo ſelbſt eben-
fo rechtlos, al& es die Andern machen will.
Es unterfcheibet ſich num dieſes ſchrankenloſe Souveraͤnetaͤts⸗ ober mon»
archiſche oder ab ſolute ober göttliche, beſſer das ſultaniſche Recht (und auch
das paͤpſtliche) von jenem inneren fittlich⸗vernuͤnftigen oder göttlichen Recht,
welches man, um die Verwechslung mit dem verwerflichen zu verhüten, Lieber
nicht mehr göttlihes Recht nennen follte, vorzüglich in folgenden
Hauptpunkten:
1) Das vernuͤnftige und aͤcht chriſtliche Recht iſt unzertrennlich mit
der rechtlichen Freiheit, mit den Vertragsrechten der Nation verbunden, es
iſt eine Heiligung und Stuͤtze für fie. Das falſche und das paͤpſtliche
göttlihe Recht dagegen zerflört alles Recht des Volkes und
der Bürger.
Die nothwendigen oft unwillkuͤrlichen, aber unvermeidlichen Con⸗
fequenzen dieſes göttlichen, abfoluten, fouveränen und mon:
achifhen Rechts und Princips, welche überall in dem Kampfe
für daffelbe, welche namentlich auch in dem der Stuarte und Bourbonen
ſtets zu Tage kamen und das wahre fittliche gättlihe Recht, über»
baupt alles Recht des Volks und des Kürften gänzlich zerſtoͤ⸗
ren, fie in Sultanismus und Sklaverei verwandeln, fir Fürft und Volt
alfo auch alle Sicherheit aufheben, find naͤmlich die folgenden:
a) Die Einſicht des menſchlichen Koͤnigs von dem angeblichen oder
wirklichen Vohi des Staats und das — Belieben ſtehen ebenſo wie
540. Grundgeſetz, Grumbvertrag.
De über bem Grundgefeg und über allem
Recht.
b) Weber bie Lönigliche Weisheit in Staatsſachen, über alle Regierungs⸗
beſchluͤſſe, für die Lediglich gegen Gott Werantwortlichkeit ftattfindet (alfo auch
mit Ausfchluß der Minifterverantmwortlichkeit), fteht dem befhränften
Unterthanenverfland (bee Sklaven oder der Unmünbigen)
fein Urtbeil zu,
c) Die Könige koͤnnen die ihnen und ihren Bamitien verliehenen Rechte
nicht rehtsgultig ſchmaͤlern, aufgeben, ober was daſſelbe ift, fie
konnen nicht die durch die Natur der menfchlichen Verhaͤltniſſe überall begruͤn⸗
beten, oft übergroßen ungeordneten Schranken in geordnete wohl:
thätige rechtliche Formen und Grenzen verwandeln.
d) Sie können alfo auch durdy Bein Pönigliches Verfprechen gegen ihre
Unterthanen ſich oder ihre Familien befchränken, mit welchem fo gänzlich
unköniglihen und unrltterlichen Grundfag dann freilich wieber bie hierin von
ſelbſt liegende gefährlichfte Beſchraͤnkung dev koͤniglichen Macht und Autocität
verbunden ift, baß fie feine wohlthätigen Einrichtungen verbürgen und fi und
ben Staat durch Prin Koͤnigswort retten koͤnnen, und daß das Koͤnigswort
zuglelch mit feiner Geltung auch das Vertrauen und den Glauben verliert.
Die fouderdnen, bie abfoluten Könige felbft werden in fofern un—
mundig, unfähig, interbicirt, weſentlichſt befhränte
) Alfe Unterthanen= und Verfaffungsrechte dee Bürger find Lediglich
Ausflüffe der Gnade, die die wahre oder vorgefpiegelte höhere göttliche Mes
genten = Weisheit und Beliebung nad ihrer Wohl: oder Lebelmeinung vom
Wohl des Staats und ber unmändigen Bürger redhtsgültig flets widerrufen
kann.
| f) Es muß alfo audy die Nothwendigkeit und die entfprechende Kraft der
Bersilligung zu Steuern und Gefegen megfallen.
g) Da aber nach altdeutfchen und englifchen Anfichten ein Eigenthum,
welches ein Anderer nach feinem Gutduͤnken nehmen kann, rechtlich Eein Eigen:
thum ift, und da unter Herrſchaft des göttlichen Rechts auch die Vernichtung
von Freiheit und Leben durch willkuͤrliche Eönigliche Befchranfungen der Unab:
hängigfeit der Gerichte und der ſchuͤtzenden Gefege, überhaupt durch beliebige
koͤnigliche Maßregeln offenbar ift und ebenfo audy die faft unvermeidliche
Verderbniß des Fuͤrſten durch fchraukenlofe Gewalt, fo muß «8 einem ge⸗
funden Volfsverftand, felbft ohne die empoͤrenden fervilen Erklärungen
der Hoffchmeichler, Elar werden, baß nicht blos die Entmündigung, fon:
dern auch feine patrimoniale bespotifche Leibeigenſchaft und
Vernihtung von Freiheit und Eigenthbum der Bürger das
unvermeidlihe Endrefultat diefes Syſtems find.
2) Das fittlich = vernünftige Recht, welches von der inneren und aufßeren
Freiheit des ganzen Volkes ausgeht und bekräftigt ift, macht den Fürften
ſtark und verbindet ihn mit der Nation. Das von Außen kommende gött:
liche Recht, 3.8. wenn der Papft die Völker an feine Vaſallen verſchenkt
ohne Ruͤckſicht auf ihre Einwilligung, oder wenn ein Eroberer nicht in nach:
folgender rechtlicher Einwilligung, fonbern im göttlihen Recht von Lud⸗
Grundgeſetz, Srundvertrag. :541
wig XIV. feinen Rechtsgrund fucht, die Willkür heiligt und der Freiheit und
Ehre der Bürger feindlich entgegen fteht, ift natürlich um fo mehr , je edler
und ausgebildeter eine Nation wird, von der Volksliebe verlaffen. Es iſt an»
gefeindet und ſchwach. Das mahre befefligt Achtung und Vertrauen, bas
falfche Mißtrauen der Regierten gegen den Regierenben.
3) Das falfche macht feinen Inhaber uͤbermuͤthig und leichtfinnig, das
wahre erhöht nur feine brüderliche Liebe und Gewiffenhaftigkeit in Behand⸗
lung feiner freien Mitbürger.
4) Das wahre ift förderlich für Ausbildung fittlicher und religiöfer Ge⸗
ſimung und Auffaffung der Geſellſchaftsverhaͤltniſſe. Das falfhe empört
durch den verlegenden Uebermuth, der meift fein Quell ift, und durch den
beleidigenden Mißbrauch, den es mit der Religion und der Moral gegen b a8
heiligfte Recht, gegen das Recht felbft, gegem die Freiheit treibt, auf das
Arußerfte, verfeindet Die Maſſen gegen Religion und Sittlichleit, wirkt für
Atheismus und Materialismus. Es thut diefes auch dadurch, daß
es neben der Gehaͤſſigkeit zugleich auch lächerlich wird.
Iſt nun das wahre vernünftige Mecht und eine fittlichereligiöfe Aufs
fafjung der Regierungsverhältniffe für die Regeneration unferer Geſellſchafts⸗
verhältniffe und bei den Kämpfen, bie fie nothwendig mit fid) führt, do p⸗
pelt wohlthätig und vortrefflich, fo ift das falfche gerade jest, in
der Aufregung des Streits und bei dem erwadhten Haſſe
alles Aberglaubens und Uebermuths geundverderblidh. So
giebt e8 denn kaum irgend etwas Unglüdlicyeres, als wenn etwa mohlwollende
Megenten durch Vorurtheile, Begriffsverwirrung , Uebergewicht der Phanta⸗
fie oder falfche Rathgeber dahin geführt würden, das richtige mit dem unrichs
tigen göttlichen Recht zu vermifchen, mit dem richtigen zugleich Freiheit und
Vertrag zu verwerfen und fo unwillfürlih und unvermeidlich und
je meiter der Kampf tommt, um fo mehr zu jenen grundverderblichen Con⸗
fequenzen fortgeriffen würden.
Jene oben aus dem falfchen göttlichen Recht abgeleitete Folge bee Un»
guͤltigkeit koͤniglicher Verfprechungen, alfo ber Unfähigkeit der Könige zu
glaubmwärdigen Zufagen, ihrer Ausfchließung von diefem heiligen menfchlis
chen Rechte, hat kranke deutiche Stubenweisheit unferee Tage noch auf andere
Art zu begründen verfucht. ,
Naturphilofophen , vorzüglich Neuhegeltaner und Anhänger der unbe:
wußt von der Naturphilofophie gegängelten hiſtoriſchen Zuriftenfchule kamen
bazu, durch die Grundlage ihrer Anfichten, bie Naturphilofophie. Ihre
naturgefegliche materialiftifche Identitaͤt, „die Vernünftigkelt alles Wirk⸗
lichen”, ihre naturgefegliches organifches Sichvonfelbftmachen fchließen
überhaupt praktifche Freiheit und Vertrag und bie freie Selbſtbeſchraͤnkung
aus 15). Da nun viele Anhänger biefer Lehre bie abfolute Gewalt als durch
— —
15) Es bedarf wohl kaum der Bemerkung, daß nicht alle Naturphiloſo⸗
phen und Neubegelianer und biftorifhe Juriften alle Gonfequenzen ihrer
ke hutpbftofopdie fefthatten. Manche, fo 3.8. Junius, erkennen die Freiheits⸗
form des Wertrags vollftändig an.
542 Grundgefeg, Grundvertrag.
natürliche Revolution demnädhft in die Hände des fouverdnen Volks über:
gehend ſich denken, To gefällt ihnen boppelt ihre matertaliftifhe und
bie Rouffeau’fhe ihrankenlofe höhfte Gewalt biefes Volks:
willens. Vorlaͤufig geftehen fie die Schranfenlofigkeit aud) nody dem mon>
archiſchen Haupte zu. Dabei freuen fie fi) des Volkshaſſes, welchen fo
unnatürliche Gewalt in der Hand eines ſchwachen Sterblichen dem Könige be⸗
reiten muß, als eines Hauptmitteld zum Siege. Vorzuͤglich aber begrüßen
fie und alle abfichtlicyen Revolutiondre mit ſchlecht verhehlter Schadenfreube
Alles, mas fie fo deuten zu koͤnnen glauben, als ſolle das Königewort, Das
heitigfke Königswort, was je gegeben wurde, nicht erfüllt werden — als folle
Ehre und Rechtlichkeit fürftlicher Treue durch ein die Achtung der Bürger und
ihrer Rechte verlegendes myſtiſches, despotlſches, göttliches Recht verdrängt
werben. — Gewiſſe Erklärungen, bie alle beforinenen treuen Sreunde des Koͤ—
nigrhums und friedlicher Entwidlung, bei Vorausfegung foldyen Sinns der»
felben, erfchredten und tief beteübten, erfüllten fie mit Freude, weil ihnen
die neulich auch von Hen.v. Florencourt !®) gefchilderte durch den Glau⸗
ben an die Nichterfüllung des Koͤnigsworts im fhlichten praktiſchen Volks:
finne bewirkte tiefe Erſchuͤtterung bes moralifchen Vertrauens den revolutios
nären Sturz bes ihnen verhaften Königthums zu nähern fchien. Um nun ja
bie unglüdliche, wie wir hoffen, irrige Deutung jener Worte allgemein zu ma=
chen rechtfertigten fie gefliffentlich den Bruch oder bie Ungültigkeit und Un—
glaubmürdigkeit jedes Koͤnigswortes.
Ihnen und Allen, die an friedlicher Freiheitsgewährung verzweifeln, und
allen Feinden bes Koͤnigthums muß überhaupt Alles erwünfcht fein, mas bie
mocalifche Ehre, Achtung und Liebe beffelben ſchwaͤchen, das Vertrauen auf
daſſelbe und auf feine Vereinbarkeit mit der dem Volk immer unent:
behrliher werdenden Freiheit zerfiören und diefes daher in Vers
zmweiflung und Empörung flürzen kann. Willigft entbinden fie den fouves
ränen König darum von allen Redhtspflichten gegen das Vol, machen ihn zum
gebornen Todfeind deffelben, um eine wirkliche oder ſcheinbare Entbindung
von der Freupflicht gegen den Thron, Freibriefe zur Revolution zu ver:
ſchaffen — vielleiht aud) um die Schranfenlofigkeit zufünftiger fouveräner
Volksverſammlungen zu rechtfertigen. Alles dieſes läßt fich fördern, wenn
man die Bürger durch das Bild willkuͤrlicher Zyrannei von der Monarchie
abfhredt und den Spottgegenihre gutmüthigen Vertheidi:
ger erwedt. Natürlich kommt biefe confequente Richtung nicht allen er:
tremften Radicalenzum Bemwußtfein. Und ic brauche nicht zu wieder»
holen, daß die tägliche Vermehrung disfer Richtung lediglich das
Merk rechtloſer Reactionspolitit und der Verzweiflung an friedlichem Sieg
der Freiheit ift, und daß fie durch ben Lebensinſtinct des Volkes für feine Net:
tung nur allzu leicht hervorgerufen wird. Im Verzweiflungskampf bleiben
nur Wenige leidenfhhaftslos und geiftesfrei.
Waͤre e8 aber denkbar, daß felbft fürftliche Nathgeber, verblendet durch
16) Zur preußifchen VBerfaffungsfrage. Hamburg 1847. ©.195 ff.
Grundgeſetz, Grundvertrag. 543
jene falfchen Schultheorien oder durch Charakterſchwaͤche, fih auf Seiten diefer
koͤnigsfeindlichen Partei ftellen , ihr wirkſamen Vorſchub Leiften möchten !
Kam die flubenphilofophifche Einfeitigkeit der Naturphitofophie ſehr
natürlich zum Untergange alles Privatrechts, des Rechts der Einzelnen
gegen das naturgefegliche Banze, „bes Glieds gegenden Kopf“
und fomit ähnlich wie Rouffeau und Hugo zur unbeſchraͤnkten abfolus
: tem Regierungsgewalt und zur Aufhebung des wahren Vertrags wie der
Guͤltigkeit des Koͤnigsworts, fo kamen die Feubaljunker des Fauſtrechts und
an ihrer Spige Hr. v. Haller zur Auflöfung alles Staats⸗ und alles
Öffentlihen Rechts, zur Ungültigkeit und Unglaubwuͤrdigkeit alles Koͤ⸗
nigsworts in Beziehung auf oͤffentliche Rechte. Kür fie giebt es ja Bein rechts .
liches Bemeinwefen, keine rechtliche Perfönlichkeit der Bürger als Bürger ober
ale Mitglieder des Bemeinmwefens, und des Volkes als Vereins zu einem Ges
meinweſen. Natürlich giebt ed dann auch für das Ganze bes bloßen Ag»
gregats oder Haufens der verfchtedenen Privatfchüslinge oder Knechte gar
Fein öffentliches Organ. Blos der Herr iſt ihnen zufällig gemeinfchaftlich ges
worden. Höchftens privatrechtlich, in privatrechtlichen Dingen foll Koͤnigs⸗
wort noch gelten und verpflichten. Unbegreiflich mochte auch ein Schrift⸗
fleller , mie ber in der legten Note genannte, ſich dDiefer Theorie fogar in Be⸗
ziehung auf die jegige angeblich abfolute preußifche Monarchie anfchließen
und die Nation und ihren König fo tief herabfegen, daß er beide jenen fauft-
rechtlichen Aggregaten gleichftellt. Diefes iſt an fich in der That noch ein
ärgerer Mißgriff als dee, dab Hr. v. Blorencourt, bei feiner befonderen
Ableugnung der Rechtsverbindlichkeiten, aller durch Koͤnigswort, Gefeg und
provinzialftändifche Werfaffungsurkunden gegebenen Zufagen und Rechte, es
gänzlich überficht, daß ja hier in den Ständen und ſtaͤndiſchen Wahlkoͤrper⸗
fhaften, in ihren Vorftelungsrechten an fich bereits ſogar befondere
berechtigte verfaffungsmäßige öffentlihe Drgane für öf⸗
fentliche Verhältniffe und Zufagen vorhanden find. Er übers
fieht, daß es im ber Welt nicht abzufehen iſt, woher denn für eine wirkliche
Repräfentativverfaffung , die doch der Verfafler wünfcht, die von ihm ders
felben zugefprochene Feftigkeit gegen Lönigliche Willensänderung kommen
fol, wenn fie die bereits beftehenden Verfaffungsrechte rechtlich nicht haͤt⸗
ten, und wenn die neue Verfaſſung auf ihre rechtswidrige Verle⸗
ung, aufden Sumpf bloßer Willkür erbaut werden ſollte. Ja
ed ſcheint uns jene Beleidigung noch unbegreiflicher felbft als die Erklärung,
ber vorige König habegar Nichts verfprechen wollen, ſondern nur einige Piäne
für ein ſpaͤteres einfeitiges beliebiges Handeln zufällig veröffentlicht und koͤnn⸗
ſolche Bauriſſe natürlich beliebig ändern und zuruͤcknehmen. Die ganze Welt
iſt Zeuge, daß in Europa ſtets die Könige ihren Völkern, auch abgefehen
von beftehenden Ständen, feierliche und eidliche Rechtszuſagen machten,
und baß fie ſich felbft und daß die Welt fie verpflichtet hielt, ihr Fuͤrſten⸗
wort zu erfüllen. Ste ift ebenfalls Zeuge, daß ber vorige König in ber
Proclamation von Kalifh und in denen „an das preußifche Volk“, an Frei⸗
willige und Landwehr, das Volt und die Einzelnen, bie er aufforderte, zur
Rettung bes ne die Waffen zu ergreifen und mit Wegeifterung Gut
‚544 | Grundgefeg, Grundvertrag
und Blut freudig einzufegen, und denen: er dagegen feierlich verſprach
„Herſtellung eines ehrwürdigen Reiches aus dem urelgnen Gelfte der Nation”
und „eeihaftändifche Wolksrepräfentation‘, daß er biefes Wolf
und die Einzelnen nicht für millenlofe, thierifche Heerden, fondern für recht:
AUche Merfönlichkeiten hielt und erklärte, für fähig zur Annahme rechtli⸗
her Bufagen ‚daß er ihnen ferner wirkliche Verſprechungen machen wollte, zu
ſeinem eigenen Vortheit machen wollte, zu dem Zwed der Rettung des eigenen
Thrones und feiner Ehre. Wer daran noch zweifeln koͤnnte, ber lefe alle jene
Ecklaͤrungen ! Er leſe namentlich die koͤniglich preußiſchen Erklärungen am
Wiener Congreß, als Napoleon’s Ruͤckkehr von Elba aufs Neue die Throne
bedrohte, jene ausbrüdliche Erlärung, „daß man vor Allem die
Völker über „ihre Zukunft und ihre Rechte beruhigen müffe,
baß man nur ſo neue Freudige Begeiflerung und Rettung
' ber bebrohten Throne boffen koͤnne“7). Und in biefer Zeit nun
beeilte man fi) , zu dieſem Zwecke bie früheren Föniglichen Zufagen ſchnell
noch vor Ausbruch bes furchtbaren Krieges auch in die Form bes Grundgeſetzes
vom 22. Mat zu Eleiden und die baldigfte Verwirklihung der Volks:
‚repräfentation zu verheifen und grundgeſetzlich feftzuftellen. — Bal:
digſt und großberzigft und voltftändigft, obne alles Drehen und
Deuteln leiftete das Volk zum zweiten Male feinerfeits Altes das, wo:
gegen man ihm unter Koͤnigswort fo königliche Verſprechungen machte.
Das ganze preufifche Volk handelte damals Acht ritterlich, fo meit
man irgend mit diefem Wort Hohes und Edles verbinden kann. Das gefchab
num vor zwei und breißig Jahren und nod) lebt bas rechtliche Gefühl
ber Gültigkeit biefes Koͤnigswortes heute fo frifch als bamals in der Nation.
Diefes fagt ausdruͤcklich ſelbſt Hr. v. Slorencourt und er führt aug,
dag nichts, gar nichts dem praftifhen und fchlichten Verftand des Volks fo
Mar fei als dieſe Rechtsverbindlichkeit, und er fügt noch hinzu, wie fehr bag
Vertrauen erichütternd und aufregend die Nichterfüllung täglich mehr
wirke. Er fügt ferner hinzu, baß der vorige König in feiner fchlichten redli:
hen Sefinnung, tie entfeglic fchwer (wegen ausmwärtiger und innes
rer Gegenwirkung und Beängfligung) es ihm auch wurde, zur Er:
füllung zu fommen, doch bis zu feiner Sterbeftunde ſich redlich und ritterlich
durch fein Verfprechen verpflichtet hielt. Ja, berfelbe erklärte es für die
größte Schändung feiner Majeſtaͤt, an diefer Sefinnung und der wirklichen
Erfüllung auch nur Zweifel zu äußern !°). Niemand, der die preußifche Geſetz⸗
gebung und Staatögefcyichte kennt, wird aud) leugnen , daß in beiden ſtets
der Grundſatz der Gültigkeit des Fuͤrſtenworts und der auch in fo vielen Ge:
fegen niedergelegten verfaffungsmäßiygen Zuſagen gegen einfei:
tige Regierungsmwilltür auch der Nachfolger anerkannt war. Von dem vorigen
17) ©. alle diefe urkundlichen Erklärungen im Artikel Blücher.
18) Die Antwort des Königs auf die Adreffe der Stadt Coblenz 1818 lau:
tete bekanntlich: ‚‚Wer den Landesherrn, der die Zuficherung einer Landesreprä:
fentation aus freier Entſchließung gab, daran erinnert, ber zweifelt frevel-
baft an der Unverbrüdhlichleit der Zufage.’
Grundgeſetz, Grundvertrag. 545
König leſe man beifpielsmeife nur das Geſetz vom 17. San. 1820 über das
Staatsfhulbenwefen, das zur „Sicherung des Vertrauens“
für alle ünftige Zeiten unter reihsftändifche Controle and Mit⸗
garantie geftellt wird und au allen Staatsgläubigern „für uns
und unfere Nachfolger In der Krone mit dem gefammten
Vermögen der Staatsdomaͤnen“ u.f.w. haftet, und deſſen Bes
flimmungen fo unwiderruflich fein follten, daß die VBerwaltungsmitglieder mit
einem Eörperlichen Eide beſchwoͤren mußten, fie auch gegen Befehl nicht zu ver⸗
legen. Daß aud) dem gegenwärtigen König keine diefen ehrwuͤrdigſten Grund⸗
fägen ber legitimen Monarchie und feines Koͤnigshauſes widerfprechenden
Grundſaͤtze zugefehrieben werden dürfen, verfteht fid) von felbft, geht auch
aus folchen urkundlichen Erfiärungen beffelben hervor wie bie im Landtages
abfchiede vom 9. Sept. 1840 an die preußifchen Stände. „Wir eröffnen
„denfelben, daß wir ihnen in einer In hergebrachter Form au’gefertigten Aſſe⸗
„curationsurkunde die fefte und unverbrählihe Aufrehthaltung
„der beftehenden ftändifchen Verfaffung ber Provinz, wie fie durch die etlaſſe⸗
„men Sefege begründet ift, bei Unferem Söniglihen Wort zufihern
„wollen.
Hätte alfo doch jener geiftvolle Schriftfteller lieber dem reblichen, ſchlich⸗
ten, praßtifchen Verftande des ganzen Volkes vertraut als armen Spigfindigs
keiten. "
Diefelben haben une ſchwer verlegt, wenn wir fie auch keineswegs in
diefelbe Kategorie fegen wollen wie jene Dabelemw’fche von bem „bloßen
DHoffnungsrecht der Preußen und Deutfchen”, oder wie jene bes
kannten Shmalzifhen und Kampgifchen Debuctionen, daß in Preus
fen Niemand an die Rönigliche Zufage und an würbige Männerfreiheit auch
nur gedacht habe, daß die Preußen fämmtlic aus gar Reiner großherzigen Be⸗
gefterung und Erhebung für Freiheit, fondern aus gemeiner (verdamnts
ter ?) Schuldigkeit ihre Soldatenpflicht hätten ableiften wollen; ja daß, tie
noch das neuefle dide Kampsifche Bud, über die preußifche Verfaſſung
ausführt, der König gar feine andere als die in den beftehenden Prodin⸗
zialftänden völlig genügend verwirktichte Reichsſtandſchaft, Conſtitu⸗
tion und Volßsrepräfentation verfprochen habe. Doc) Bottlob! zu allgemein
ift das In der Unfreiheit allmaͤlig erfterbenbe fittliche Rechtsgefuͤhl wieder im
preußifchen und deutſchen Volke erwacht , als daß nicht bie Achtung vor ihnen
eine befonbere Widerlegung fo verächtlicher Sophismen und Verbrehungen
des Rechts und des Koͤnigsworts verböte. Auch jede andere Demonftration,
aͤhnlich wie jenes Anfchlagen an den Galgen und das öffentliche Verbrennen,
durch welche man früher die Dabele w'ſchen und Kamptziſchen Belei⸗
digungen der gefunden Vernunft und der Nationalehre zu raͤchen verfuchte;
auch fie müßten heutzutage bei biefem allgemein erwachten Rechtögefühle
jedenfalls fchon als überflüffig unterbleiben.
Ich aber glaube im Sinne aller eblm und gerechten Fürften, ja der Mon⸗
archie felbft, deren Princip die Ehre iſt, im Sinne aller gefitteten Nationen
der Erde zu fprehen und nur die Ausfprüche ber edelften Fuͤrſten felbft zu
wiederholen durch die Forderung, daß man Kürftenmwort nidht dre⸗
35
Suppl. 3. Staatslex. II.
[|
ben und beuteln, fondern Föniglih oder grofherzig erfüls»
‚Ien foll, daß das durch fürftlihe Derfprechen ertheilte Recht
gegen dem Fuͤrſten ſelbſt heilig und ein umerfchütterlicher Edflein fein muß,
daf gerade In ber großherzigen Erfüllung des Fürftenmorts die Achtung ge:
bietendfte fürftliche Gefinnung, daß in folder Erfüllung des von dem Re:
gierungsvorfahten verpfänbeten Fuͤrſtenworts gerade die edelfte Pierät
egen dbenfelben ſich zeigt, daf endlich anerkannt die Verpflichtungen
durch Öffentliches Königewort eines Fürftengar niht minder als feine
Rechte, daß fie in ungertrennlicher Verbindung mit biefen auf ‚ben legi-
timen Nachfolger vererben , daß gerade Hierdurch die höchfte Ehre und Si—
jerheit des Monarchen und der Monarchie, Glaube und Vertrauen auf das
ücfternwort begründet find, ein Glaube und ein Vertrauen, weiches in Preu⸗
Ben 1813 Thron und Staat retteten und zu neuer Rettung ſchon morgen
wleder weſentlich fein Finnen, Wäre nun hiermit etwa eine blos einfeitige
Erklärung des Fürften vereinbarlich, daß nach feiner Meinung die Erfüllung
bes Fuͤrſtenworts den Unterthanen , bie diefelbe wuͤnſchen, nicht zum Beten
‚gereiche, und daß ihr wohlerworbenes Recht auf diefelbe ihnen alſo, gleichviel
ob fie bamit einverftanden feien oder nicht, entzogen werben folle? Würde die»
fed die Unterthanen nicht blos ald willenlofe Unmündige und als,
Ihrer Regierung gegenüber völlig rechtlos barflellen? Ber
ftörte es nicht, ebenfo wie bie ganze rechtliche Verbindlichkeit, fo auch allen
fo oftmals die Könige rettenden Glauben an das Fuͤrſtenwort?
Simon in feiner Schrift über die neuen Verordnungen führt S. 69
für den Uebergang ber rechtlichen und moralifhen Verpflichtung ber Könige
auf ihre Nachfolger oder den Grundfag der legitimen Monardie: „der Kö:
nig oder der Thron ſtirbt nicht” die Ausfprüche deutfcher Publici—
ften an, wie Mofer, Weftphal, von Kamptz, Leif. Man könnte alle anfuͤh⸗
ren, die als folche geachtet find, die Geſchichte und das Urtheil aller europäi:
fchen Völker mit rechtlichen Verfaffungen. Nur der Königsfeind Macchia—
velli räth den Königen zu Gift und Meuchelmord und — auch zum Wort:
bruch.
Doch kehren wir zu jenem Gedanken zurüd, welchen die deutfche Reactions⸗
zeit — fruchtbarer an politiſchen Verkehrtheiten als frühere ganze Jahrhunderte
— nährte, das Volk könne in der Monarchie wegen Mangel an juriftifcher
Perfönlichkeit und befonderer Verfaffungs-DOrganifation Feine Rechtszuſagen
erwerben, mithin auch Feine Nechtsverbindlichkeiten übernehmen. Kecklich
leugnet man Solches, obgleich wir e8 in der ganzen europäifchen Geſchichte,
namentlich auch bei den gegenfeitigen eidlichen Verſprechungen bei den Thron⸗
befteigungen in Huldigungs: und Verfaffungseiden anerkannt finden, obgleich
wir es ferner auch bei dem MWegfallen früherer und der Bildung neuer Regie:
rungen alebald von ganz Europa anerkannt, wiederfinden, fo z. B. in Frank⸗
reich und England nah Entfernung der Stuarte und Bourbonen, ebens
fo auch in Norwegen und Belgien nad) dem Ende der dänifchen und der
holländifhen Herrſchaft. Ja man hat für die monardhifcd regierten
Voͤlker zugleich mit dem Grundgedanken eines Gemeinmefens fogar den
Namen Staat gänzlich aufzuheben geſucht. Zuerft gelangte hierhin Hr.
Gtundgeſetz, Grundvertrag. 347
v. Hall er im feiner rohen Cople der Feubalanarchie und bes Fauſtrechts, die
er Reflauration der Staatswiſſenſchaft nannte.
Allerdings Löfte dieſes anarchiſche Fauſtrecht die früheren zum Theil
ſelbſt nody rohen Staatsverhaͤltniſſe auf. Allein die nicht ganz erftorbene Cul⸗
tur und menfchliches Bebürfniß führten auch in dem Fauſtrecht und zur
Beendigung biefer Zerrüttung unmittelbar ſelbſt die Schüglinge des Hrn.
v. Haller, die geiftlichen Gorporationen und die Feubalariftofraten , die
Städte und die Landgemeinden, dahin, theils ihre befonderen Vereine wieder
zu Staaten auszubilden, theils fich mit ihnen und andern Vereinen zu neuen
‚Staaten und Gemeinwefen auszubilden. Im Reiches wie im Landesſtaat
fahen fi Reiches und Landſtaͤnde, die ſich als rechtliche Fortfegungen und
Ausfhüffe an die alten Volksverſammlungen, an bie Landesgemeinden an»
ſchloſſen, als Vertreter des Geſammtwohls des Vaterlandes
und der Rechte aller feiner Glieder an und unterhandelten To
mit ihrem Regenten , oft auch nad) Außen bin 9). Mie und nirgends im
Mittelalter wurbe die Idee eins Gemeinweſens und Staats ganz
verloren oder aufgegeben. So roh als ihre neueren Vertheidiger und Ber
wunderer waren felbfi bie Fauſtrechts ritter nicht. Doc) Jene lei⸗
tete ihr Haß gegen die neuen Verfaffungen. Sie dachten durch das „Theile
und Herrfche” die moralifche und phufifche Kraft ber Völker zu brechen und fie
als willenlofe Beute der fürftlichen oder abeligen oder geiftlichen Bedruͤckung
uͤberliefern zu Sinnen. Und fo entftand jene abgeſchmackte Haller’fche Theo»
tie, nach welcher der Fürft nur mit ben einzelnen Unterthanen oder höchflens
einzelnen Ständen abgefonderte Verträge hat, welche und deren Verlegung
die andern rechtlich ebenfo wenig etwas angehen, ald ben einen Knecht ber bes
fondere Dienflvertrag feines Mitknechts. Edle bureaukratiſche Dienftbeflifiene
für den Despotismus ihres Herrn fingen dann an, zur Schande deutfcher-
Zuftände und der Bildung und des Rehtsgefühls ber Deut»
[hen im neunzehnten Jahrhundert und nicht allzulange nad)
jenen glorreichen Befrelungskriegen , den Begriff, ja den Namen Staat fo
weit zu tilgen als mönlih. Da follte es nicht mehr heißen Staatsdie⸗
ner, fondern Herren oder fürftlicher Diener, nicht Staat s miniſter, fon»
dern koͤniglicher Minifter u. f. m. — Daß Herr wörtlich Despot heißt, dies
ſes wußten fie nit. — Ein deutfcher Public, Hr. Romeo Mauren:
brecher in Bonn, flimmte infeinem „Staats recht“ mit ein in dieſen
vandalifchen Vertilgungskrieg gegen ben Staat. Rur allein die Schuls
ben ber Herren, daran follte, nah Hrn. Maurenbrecher, das Volk gnds
bigft Theil haben, diefe follten ihm gehören und Staatsfchulden heißen und
fen. Es iſt, als Hätte er mit fürchterlicher Ironie daran mahnen wollen,
daß aus fo unwürbigen Zuftänden, wie fie dieſe Hoffchmeichler täglich mehr
zu machen fuchten, nur ein Staatsbankbruch retten koͤnne. Manche fonft
Wohlmeinende mochten ſich vielleicht dadurch zu fo großen Begriffſsverwirrun⸗
gen und Sehlgriffen verführen laſſen, daB man ihnen vorfpiegelte, daß das
Privatrecht und Privateigenthum für Fürften und Unterthanen eine
19) &. Deutſches Landesſtaatsrecht.
Ir
548 Gtundgeſetz, Grunbvertrag.
größere Heiligkeit und Sicherheit habe und gebe als das öffentlihe Recht.
Bon diefem führte man, fo wie Hr. v. Haller und das Berliner Wo:
henblatt, flets nur mißbraͤuchliche Verzerrungen an. An das wahre oͤf—
fentliche MRecht tüchtiger Verfaſſungen, welches an ſich herrlicher und erhes
bender ift als alled Privateigenthum, welches aber auch bie Privatrechte
und zwar allein genügend und ungleich beffer als ber Abſo—
Intismus ober ariflofratifhes Fauſtrecht ſchuͤtzt — biefes wollte
man nicht und fuchte es durch jene Verzerrung verhaßt zu machen. Daß im
zeitgemäßer Derftellung unferes Staatsrechts vor umd in ben Freiheitskriegen,
in ben Gongteßverhandlungen über die landſtaͤndiſche Verfaſſung, über die
Preßfreiheit und deutfche Staatsbuͤrgerrechte und über die neu zugefagten oder
neu eingeführten Verfaffungen gar Niemand an einen foldyen barbarifchen
Staatshaß, an ein. despotifches oder Herrenrecht, an diefe mehr als fauſtrecht⸗
lichen Rohheiten dachte, biefes Liegt in allen Urkunden vor Augen. So na
mentlich aud) in ben preußifchen, feit Stein und Hardenberg, in jenen
Aufrufen „an mein Volk“, in jenen Zuſagen einer „aus allen Elafs
fen der Staatsbürger zu bildenden Repräfentation des
Volkes‘ und aud; in ſolchen aͤcht Eöniglichen Worten wie die des vorigen
Königs: „das Heer gehört meinem Volk, das es bildet und bezahlt“, oder in
einem anderen [hönen Worte beffelben Fuͤrſten: „das preußifche Volt hat es
durch feine heldenmuͤthigen Aufopferungen verdient, gegen Erneuerung fo
furchtbaren Unglüds gefhüst zu fein.“ Der König fagte Dirfes in Bezie—
bung auf den Erwerb ber ſaͤchſiſchen Elbfeſtungen. Er fagte es thatfächlich
auch in dem Gefeg über das neue Bollwerk einer Reichsverfaffung, diefem
fchönften „Pfand feines Vertrauens” zu feinem Voll, Don jenen
Staatsmännern aber ſcheinen die nicht abjolut Nichtswuͤrbdigen ſehr an Man:
gel oder Verwirrung der Begriffe zu leiden. Sie vergeflen ganz das, mas
abfolut folgerichtig in jenen reactiondren Srundfägen liegt. Sie
überfahen, daß ein Volk, das nicht Staat ift, nicht lediglich von einer
Staatsregierung und von wahren Staatsbeamten regiert wird, das
oder deſſen Regierung im Gegenfag einem Deren (Despoten) gehören,
rechtlich nur eine HDeerde Sklaven und bloßes Familieneigenthum,
und daß der Herr auch nicht mehr König und Majeftät, fondern Privatfkla=
venherr wäre, ein Despot, ein foldher, der, wie e8 Herr v. Haller in fei:
ner Gedankenloſigkeit felbft darſtellt, durch Gewalt das Privat⸗Gluͤcksgut eines
ſolchen Herrenrechts erwarb und befigt und ebenfo legitim durch bie flär:
kere Gewalt oder Dinterlift zum Unterthan gemacht werden kann. — — Diefe
Folgerichtigkeit überließen jene Eugen Staatsmänner bei ihrer für Zürft und
Volt gleich fehr beleidigenden Lehre — unferen neudeutfchen Nadicalen,
Fuͤrſtenfeinden und Revolutionaͤrs zu höchft nugbarer Beute. —
Herr v. Haller aber ſuchte dadurch die Gefahr für den Herrn, ber Weber:
macht eines Anderen zu erliegen, etwas zu befeitigen, daß er auch in fofern
feine „natürliche Ordnung Gottes“ des ariftokratifchen Fauſtrechts verfälfcht,
als er verfchwieg, tie alle Claſſen der Unterworfenen des Herrn, Minifte:
tialen, Vafallen u. f. mw. ſich keineswegs wie abgefonberte Knechte deffels
ben Heren benahmen, fondern fi) alsbald unter einander vereinigten und
Grundgefeß, Grunbvertrag. 549
als eine Senofienfchaft ſich gegen ben Heren fchüsten und hundertmal in allen
europälfchen Ländern ihre Herren im Stiche ließen, beraubten und entthron⸗
ten, fo daß im Mittelalter in dem meiften europäifchen Reichen der Lehns⸗
Adel die meiften Könige entthronte oder ermordete oder boch mindeſtens, fo
wie die dänifchen, fchmebdifchen und deutfchen feudalen Reichsraͤthe, um
ihre Güter und ihre Gewalt brachte, bis es einzelnen diefer Herren beffer als
dem deutfchen Kalfer gluͤckte, entweder fo wie Lubwig XI. in Frankreich feiners
feite mit Mord und Raub, ober wie 1660 der König von Dänemark durch
Hinterlift, die Macht der abeligen Vaſallen zu vernichten und biefelben in Höfs
linge und Stellenjäger zu verwandeln.
Zu keiner Zeit wurde Übrigens in Deutfchland die fürftliche Gewalt, das
Regentenamt, wie «6 Reichs⸗ und Lanbesverfaffungen anfahen,, ein despotis
ſches oder Herren⸗ oder bloßes Privatrecht und noch weniger rechtsguͤltig abſo⸗
Iut. Die rechtsguͤltig nicht aufgehobene, im Bund theilwelfe hergeſtellte Reiche:
verfaffung fchüste fogar durch gerichtliche Hilfe die Unterthanen gegen Miß⸗
brauch ber Landeshoheit, wozu fie gemeinfchaftliche Syndicate zur Beſchwerde⸗
führung errichten durften. Nie fehlte e8 ganz an politifchen Gorporationen,
bie rechtliche Zufagen in Empfang nehmen konnten, und fogar neben benfels
ben, wie vielmehr da wo diefelben fehlen, find bie einzelnen Buͤrger als folche
berechtigt, politifche Rechte zu erwerben und geltend zu machen durch Vorſtel⸗
lungen, Preßfreiheit u. ſ. w.
Ganz ungluͤcklich iſt uͤbrigens der Verſuch, bei ber angeblichen Uns
gültigkeit des Koͤnigeworts in Beziehung auf öffentliche Rechte, — doch da⸗
duch bie Schmach eines rechtlofen Zuſtandes befeitigen zu wollen,
bag man die Mechtsverkindlichkeit der Zufagen in Beziehung auf die Pri⸗
vatrechte behauptet.
Selbſt wenn jene rohe Anficht gälte, daß die Bürger bisher gar kein ſtaat⸗
liches Ganzes bildeten und Beine Rechte in Beziehung auf baffelbe hatten, fons
dern ald abgefonderte Privatfhüglinge, aber mit heiligen Privatrechten dem
Fuͤrſten gegenüberftanden, fo waren doch alle Einzelnen und alle Eorporationen
rechtlich intereffirt und berechtigt, rechtliche fürftliche Zufagen uͤber
Einführung "befferer Schügung ihrer Privatrechte durch Verfaſſungseinrich⸗
‚tungen anzunehmen und ihre Erfülung zu fordern, foweit fein gültiger Wider⸗
ſpruch wegen Verlegung der Rechte von Dritten außer dem Fuͤrſten nachweis⸗
bar wäre. Daffelbe it vollends der Fall, wenn X Ile bereits als Bürger eines
gemeinfchaftlichen Staates umd politifhen Vaterlandes wenigſtens das Vers
faffungsreht befigen, daß der Fürft als rechtlicher Schüßer deſſelben
gegen Alle verpflichtet ift, Ihre Privatrechte heilig und fie und das Vaterland
möglichft vor Verlegung zu bewahren. Wenn er nun zum befferen Schuge
diefer Rechte, zum Wohle aller Einzelnen und ihres gemeinfamen Vaterlandes
ihnen Allen rechtliche Zufagen, vollends Zufagen ber zeitgemäßen Wiederher⸗
ftellung früherer, nie rehtsgültig aufgegebener Verfaſſungs⸗
rechte macht, fo läßt fi) das Recht der Bürger auf Erfüllung dieſer
Zuſagen nicht beftreiten, fobald fie überhaupt als rechtliche Perföntichkeiten
im Rechtsverhaͤltniß zum Fürften flehen. Nur wenn rechtlofer ſklaviſcher
Buftand beftände, koͤnnte der Fuͤrſt einfeitig Ihre durch feine Zufagen gegen
=
550 Grumdgefeb , Grundvertrag
ihn felbfl erworbenen Rechte zuräcinehmen. Sonft aber wären fie ſchon als
Privatrechte der Einzelnen gegen ihn heilig. Sie find e8 als Verfaffungss
rechte, wenn er fie allen Bürgern als Bürgern, als berechtigten Theilhabern
Fr dem gemeinfchaftlichen Vaterland machte, Jeder und Alle können die Er
füllung fordern, |
Mile dürftig und frank erfcheinen doch überhaupt gegenüber der gefunden
praktifchen Weisheit aller freien Voͤlker der Erde, welche abfolut ohne Aus:
nahmen ihre Verfaffungen und ihre politifhe Freiheit auf Vertrag gründen
und fie und bie rechtlichen Zuſagen der Fürften für rechtsverbindlich halten,
gegenüber all ihren großen erfahrenen Staatsmännern, gegenüber ber Ges
fchichte und ihren furchtbaren Mahnungen — alle jene theoretifchen Angriffe
auf diefen Grundſtein der Wölkerfreiheit und ber, Volksgroͤße, die Angriffe
bald auf bie Heiligkeit des Private, bald auf bie des öffentlihen Rechts,
bier von gutmüthigen Schwärmern, wie Bonal d, dort von eigenfüchtigen
ſchmeichleriſchen Säflingen, von phantaftifhen und fanatifchen Religiöfen
und Xriftofraten, wie. Hr. v. Haller, bort endlid von unpraktifchen deut⸗
——— und Philoſophen. Mur zu oft ſieht man dieſe Letzten,
xrauſcht von ber neueſten indivlduellen Stubenphiloſophie, ſich allein „das
vernuͤnftige Denken‘ zuſchreiben und auch in unmittelbar praktiſchen Dingen
ſich zu Geſetzgebern freier Männer aufwerfen, ftatt bie in ihrer Anerkennung
ausgeſprochene gemeinfame Weberzeugung als ihr gemeinfhaftlich und Außerlich
gültiges Staats geſetz anzuerkennen. , Voll Achtung für die ewig wahre leben:
bige Philofophie, die in dem nothwendigen öftern Wechfeln und den
Gegenfägen der einzelnen Syſteme — mie unvollkommen und nur von einzels
nen Seiten aus fie das unendliche Urwefen und das göttliche Leben deffelben
auch auffaffen mögen, doch bie herrliche Gymnaſtik des Geiftes, bie ſtets
neuen Antriebe und Kräfte zur Bekämpfung der Nebel des Aberglaubens und
der Vorurtheile den Nationen darbietet, — trotz biefer hohen Achtung, ja
wegen berfelben — finde ich jene deutſche Handwerkseinſeitigkeit
und Befangenheit, die ihre befondere Zunft-Lehre zum allgemeinen
äußern Geſetz ftempeln möchte, bei Philofophen doppelt verkehrt. Daß
die Erfinder philoſophiſcher Syſteme, die mit Anftrengung und Entfagung
aus den tiefen Schachten der Speculation ihre Silbererze an's Licht ziehen und
dann heute, wie Fichte, die ideale, morgen, wie die Naturphilofophen, die
materiale Seite, heute die logifche, Gedanken⸗, morgen die Gefühlswelt zu
neuem Spfleme conftruiren — daß diefe bann in ihrem mühevollen genialen
Merke die ganze Wahrheit gefunden zu haben mähnen, das ift begreiflich.
Weniger verzeihlich aber ift es, daß die Schüler, daß praktiſch und politifch fein
wollende Männer nicht bedenken, daß ihr Glaube an die abfolute Vollkommen⸗
heit ihrer Schulweisheit lediglih) auf dem aͤußerlichen Zufalle beruht,
daß fie nicht zu den Süßen von Kant, fondern zudenenvon Schelling
oder Jacobi oder von Hegel oder Feuerbach faßen, daß fie fonft die gerade
entgegengefegten Sundamentalprincipien als alleinfeligmackjende Weis⸗
heit verehren würden, daß fie weit entfernt find, nur die Philofopbie,
oder das lebendige Streben nad) Wahrheit für abfolut wahr zu halten, jedes
einzelne Syſtem aber für unvolflommen, Diefes und daß fie ihre oft nicht
Grundgeſetz, Grundvertrag. 551
einmal richtig erlernte theoretiſche Schulweisheit auch alebald allen Anders⸗
denkenden, allen anders philoſophirenden freien Maͤnnern, dem Staate
und der Kirche als allgemein undaͤußerlich guͤltiges Rechts: und
Staats⸗, Religions» und Kirchengeſetz aufzwingen wollen,
daß fie fanatiſcher und, fo weit möglich, gewaltſamer ihre unerprobteſte
Schultheorie Andern aufbringen, al von ihrem einfeitigen Handwerksgeſichts⸗
punfte verbiendet, der fanatifchefte Priefter feine alte Kirchenlehre, als der
despotifchefte Fürft feine Staatspraris, — dieſes iſt mindeftens ſehr unphis
loſo phiſch. Nähmen fie doch wenigftens an dem tiefſten, ibealften, für die
Philoſophie begeiftertfien Phitofophen, nähmen fie an Platon fidy ein Mus
fter! Diefer, m feinen rein philofopbifchen, idealen Sonftructionen auch den
Staatövertrag wie andere unbequeme Grundbedingungen ber Wirklichkeit zur
Seite laffend, huldigt ihm, buldigt diefer irdiſchen Grundbedingung und
Korm für die Freiheit doch, ſobald er nur dem wirklichen Staatsleben freier
Männer ſich nähert. Aufgeforbert zu einem Gefesesvorfchlag läßt er feine.
göttlichen Philoſophen und ihre philofophifche Herrſchaft in ber geträumten
Repubiit gänzlich fahren und gründet in feinem Werk über bie Geſetze
ale dieſe Gefege und bie ganze Regierung ebenfo wie fein großer Schüler Ari⸗
ftoteles 29) auf den freien ſich mechfelsweife bedingenden Conſens oder
Vertrag aller freien Bürger 21). Und wo er es mit praltifchen Fragen in
Beziehung auf das wirkliche Staatsleben feines Vaterlandes zu thun hat, wie
im Kriton, da iſt ihm ebenfalls ber Staatsvertrag bie Grundlage
aller Rechte und Rechteverbindlichkeiten. Selbſt feinen philoſophiſchen Meiſter,
den Sofrateg, läßt er hier, um feine Pflicht zu begründen, baß er nicht Durch
bie Flucht der bereits ausgefprochenen ungerechten Nerurtheilung und Strafe
ſich entziehe, nicht etwa fhulpbilofophifche Ideen, fondern die athenifchen
Freiheits- und die Vertragsgrundfäge anführen. Hier antwors
tet naͤmlich Sokrates, der vor ber Verurtheilung dem Proceß durch das
freiwillige Exil ſich hätte entziehen Dürfen, dieſes aber nicht gewollt, ſich
alfo dem Ausgang des Procefjes unterworfen hatte, auf den Vorſchlag, jegt
noch gefegwidrig zu entfliehen: „Wuͤrden nicht alsdann die athenienfifchen
„Bürger ober vielmehr ihre Geſetze mit Recht zu mir fagen fönnen: Wir
„Stellen es Jedem frei, wenn er gefehen hat, wie es bei ung befchaffen ift, wie
„das Recht gefprochen und der Staat regiert wird, das einige zu nehmen
„und hinzugeben, wohin er Luft bat; mer aber bei ung bleibt und ſich unfere
„Art der Rechtsverwaltung und Staatseinrihtung gefallen Iäft, von dem
„glauben wir auch, daß er Alles, was wir fordern, zu thun ſich habe verbuͤr⸗
„gen wollen; denn Niemand kann einen Staat lieben ohne feine Geſetze.
„Du aber, Sokrates, würbeft um fo mehr ung beleidigen, wenn bu durch
‚Ungehorfam gegen uns, fo viel an die iſt, uns vernichten wollteſt, da wir
„gerade von dir vorzuͤglich große und fichere Beweiſe haben, daß es dir bei ung
„gefallen hat und du dich alfo vorzüglich ſtark gegen uns verpflichtet haft. Dies
„jenigen aber, welche den Geſetzen fich entziehen, handeln gegen Berfpres
an S. diefen Artikel im I. She.
21) ©. meine Lesten Brände &. 430.
ge und Verteng, melche fie ohne Zwang und Taͤuſchung mit dem
„SDtaate eingegangen haben.“ PlatoPonmte bei diefer Gelegenheit dem
Sokrates und den athenienfifhen Gefegen die Vertragsgrundfäge nicht
in den Mund legen, wenn fie nicht allgemeine Rechtsanſicht waren. Auch
————— neben den bekannten dewokratiſchen Rechten aller
eger zur mechfelfeitigen Mitbeffimmung der Staats ein—
eihhtungen ein befonberes Geſeh jedem Bürger bie legte Hilfe zur Erhal⸗
tung des Vertragsprincips, wenn jene Rechte ungtüdlicher Meife für den
Einzelnen nicht gentigten, die Freiheit nämlich , mit allen feinen Gütern hin⸗
zugeben, wohin er wollte, wenn er in den Staat nicht mehr einmwilligen fonnte??),
Selbft für den angeklagten Verbrecher [chüte vor feiner neuen befonde=
ren Einmillia ung in den Griminalproceß die athenienfifche Freihelts⸗
fiebe und Humanität biefes Necht, ie
TIXV Das politifhe Vertragsprinelp und das falſche
göttliche, —————— abſolute, monachifhe Recht im toͤdt—
iſhen Kampfe. Für bie praktiſche Güte von Staatstheotien kann es
feine beffere Gewähr geben als die von dem erprobteften praftifhen Meiftern
hen Erfahrungen! Welche beffere Gewähr für die Güte der Vertrags:
undfäge kann man alfo wohl benfen als bie, daß die beiben freieften,
am meiften praftifihen Völker der Erde mit ihren Gefehen umb
atsmännern durch ben Lauf ihrer ganzen Geſchichte biefelben fefthielten?
So aber thaten e8 die Römer und die Engländer.
Schon feit dem heiligen Grundvertraͤgen der leges sacratae, melde bie.
Plebejer frei machten, fie mit ben Patriciern vereinigten umd von beiden
feierlich befchmworen wurden, und nach mweldyen noch die praftifcdyen Staats:
männer zu Gicero’g Zeit bie wichtigften praftifchen Fragen entfchieben,
fuchten die Römer während ber ganzen Zeit ihrer Freiheit die Vertragsgrunds
fäge durch ihre freien Verfaffungseinrichzungen, durch das Zribunat, durch
Volksverſammlungen und voltsmäßige Gerichte, zu verwirklihen. Als aber
durch die Folgen ungerechter Eroberungspolitit auch im Inneren Freiheit und
Recht Factifch vielfach durch Imperatoren⸗Despotismus verlegt wurden, da
hielten, wenigftens in der, Rechtswiſſenſchaft, die legten der Römer, Rome
meiftechafte juriftifche Staatsmänner die ewigen Grundiäge unerfchütterlich
feft._ In einem der großartigften Werke der Welt, in der römifchen Juris⸗
prubdenz, behaupteten und entwidelten fie diefelben und begründeten fo viel»
fahe Milderung des factifhen Unrechts in der untergehenden alten Welt
und weit über ihr Vaterland und ihr Sahrtaufend hinaus Schugmwehren der
Freiheit.
Sogar fuͤr uns Deutſche mußten dieſe das entſetzliche Ungluͤck min—
dern, das fuͤr unſer Volksleben die unverſtaͤndige unmittelbare Aufnahme
fremder, in fremder Sprache verfaßter Geſetzbuͤcher natürlich begruͤn⸗
den mußte.
Noch unfer roͤmiſches Corpus Juris kennt gar keine andere Grunde
lage der Rechtöverbindlichkeit al die aus freiem Volks-Conſens oder
— -
32) Petitug, Attifhe Sefege IL 3
Grundgefeß, Grundvertrag. 553
Bertrage Das praktiſche juriftifch gültige Naturrecht beruht
ihm, fo wie alles Gewohnheitsrecht ??), auf dem Conſens (dem Conftis
tuiren) durch flillfchweigende Einwilligung. Es ift ſtillſchweigender Grund»
vertrag bee freien gefitteten Völker (welche legibus [d. h. durch Wolke»
gefege oder Volksfreiheit) et moribus reguntur) 2%); die Hauptart aller po⸗
fitiven Befege und die eigentlihe Quelle alles pofitiven Volksrechts iſt
der Volksbeſchluß, die Lex, welche von den Öriechen und im Corpus
Juris gleichmaͤßig befinirt wird als feierliher gemeinfhaftlidher
Vertrag der freien Staatsgenoffen (communis rei publicae
sponsio, zoAsmg auvdnjan zo 2°). Alle andere pofitiven Geſetze gelten
nur, fofen ſie durch dieſen Vertrag anerkannt, mittelbar ver»
tragsmaäßig find (in vicem legis). Go hat felbft der Kaiſer und feine
Gonftitution ebenfalls nur dadurch rechtliche Getwalt (quum lege regia, quae
de ejus imperio lata est, populus ei etin eum potestatem suam conce-
dat). 3°) Noch nach fünfbundertjährigem Kaiſerthum ift fortdauernd ber
Volksconſens, die Urquelle alles Rechts, thätig in der Rechtsbildung.
Derfelde führt duch Gewohnheiten, „ſtillſchweigenden Gonfens und Vers
trag”, neue Geſetze ein und [hafft frühere ab (nam cum ipsae
leges nulla alia ex caussa nos teneant, quam quod judicio populi receptae
sunt, et ea, quae sine ullo scripto populusprobavit, tenebunt omnes;
nam quid interest, suffragio populus voluntatem suam declaret an re-
bus ipsis et factis? Quare reclissime etiam illud receptum est, ut leges
non solum suffragio legislatoris, sed etiam tacito consensu omnium
perdesuetudinem abrogentur??),. Diefe als noch gültig in das
Corpus Juris aufgenommenen Grundſaͤtze findebenfo praftifch für die
Beurtheilung der juriftifchen Bedingungen wie der Wirkungen des Gewohn⸗
heitsrechts. Es ift die Hauptaufgabe der erflen Zitel der verfchiedenen cds
mifhen Geſetzſammlungen, biefe VBertragsgrundfäge als die einzigen
Rechtsgrundlagen für die Rechteverbindlichkeit und die praktiſche
Auslegung der Rechtsnormen feflzuftellen. Nicht ein einziger politifcher
Schriftfteller und kein Juriſt diefer politifch freieſten und im Recht unübers
troffenen Nation verläßt diefelben. Noch nach halbtaufendjähriger Impera⸗
toren» Herefhaft wußte und magte man in den Geſetzen und in ber Rechts
wiſſenſchaft Beinen anderen Rechtsgrund der Verbindlichkeit des Staats
und des Geſetzes aufzuftellen ale Vertrag), Vertrag in dem obigen.
ſittlichen und freien Sinne.
Daß aber die roͤmiſche Jurisprudenz auch in factifcher Despotie dieſe
ewigen Srundlagen der Freiheit feſthielt, und die wenigen Ausnahmen von den
233) Consensus utentium, tacita conventio civium. ©. 5.9. J. de jure
naturali und L. 32 und 35. de legibus.
24) ©. $ 1. 2. und 11. de jure nat. und L. 2. de legibus.
25) L. 2. de legibus.
26) ©. } 5. und 6. de jure nat. und $. 1. de constit. princip.
237) L. 32 und 35. de legibus, :
28) ©. die vorigen Roten und L. 5. de captiv. und C. 4. de legib,
und C. 7. si contra jus,
554 Grundgeſetz, Grundvertrag.
freleften Rechtsgrumdfägen, die fie nicht gänzlich Ausftoßen Fonnte, nur ale
Ausnahmen ſtrict interpreticte, alle freien Redhtsgrundfäge aber ausbrhnte
unb aus ihnen das Syſtem bildete, dieſes rettete die Großartigkeit bed römifchen
Mechts bis auf ben heutigen Tag. Diefed bewirkte, daß die Franzoſen aus
ihm In der Revolution die Befreiung des Bodens und der Preffe vom Feu⸗
dalidmus und überhaupt bie wichtigſten perfönlichen Freiheitsgrundfäge
fhöpften und daher bis zur Annahme roͤmiſcher Namen, Tribunat, u. ſ. w.
ſich für Rom brgeifterten, daß unfer Weber aus ihm bie liberalfte
a een entwicdelte, die Europa kennt, daß bie liberalften
rundfäge ber Eigenthum und Beſitz, Anklageproceß umd Strafrecht, über
Mothwehr und Widerſtand, Gewohnheitsrecht, Geſellſchaften, freie Affos
cdationen und Corporationen?®), — diefe Grundlagen deutfcher Städtes
freiheit und des Micderaufbaues freier Staatöverfaffungen im Mittelalter —
Nechtögrundfäge, freier, als wir Deutfchen bes neungehnten Jahrhunderts fie
heute befigert; noch jegt aus ihm zu ſchoͤpfen find.
Ihre altgermanifchen Vertrags» und freien Zuſtimmungsrechte, ihre
Friedend« und Geſammtbuͤrgſchaften, freie Volks: und Gemeindeverfamm:
lungen und Gerichte ſtellten die Angelfahfen in England in einer
unter dem Zitel leges Edowardi noch heute vorhandenen Aufzeihnung unter
Wilhelm dem Eroberer deſſen factifhem Despotismus entgegen und
er befhwor fieihnen als ihr Recht. Das Volk aber, auch im Ungtüd
wenlaſtens Teine freim Nehtsgrundfäse fefthaltend, deutete feinen
Beinamen conqueror als „Erlanger, der nicht durch Gewalt, fondern
durch das verfaffungsmäßige Erbrecht (das er wirklich angefprochen hatte)
ben Thron befige. Und als Johann ohne Rand zu anderer Unbill auch
noch bie für bie freien Engländer höchfte hinzufttate, daß er durch Annahme
paͤpſtlicher Belehnung den Vertragsgrundfag beeinträchtigen wollte, da kün«
digte ihm die ganze Nation fo einmüthig den Gehorfam auf, daß nur fieben
einzige Vaſallen ihm treu blieben. Das große Grundgefeg der Magna
Charta ftellte nun mitdem ausdrüdlic, wiederholten Namen „als Grund»
vertrag der Nation mit dem Könige” die Volksfreiheiten, Schmurgericht
u. f. w. zufammen und organifirte förmlich für den Fall eines Bruchs diefes
. Vertrags von Seiten des Königs allgemeine Verweigerung des Gehorſams
und Widerſtand — „bis der König den Grundvertrag mie:
ber anertenne und heilig zu halten beſchwoͤre“. Und viele
Male forderte das Volk von ihm und feinen Nachfolgern folche erneuerte eib:
liche Zufage des noch jest gültigen, im Kroͤnungseid aller Könige mit bes
ſchworenen Grundvertrags, diefes in fo vieler Hinficht herrlichen Grund:
vertrags, der zu feinem Ruhme, obwohl im rohen Mittelalter und in einer
Revolution entftanden, doch weislich die fpätere Anmaßung einer Richter:
und Strafgewalt über den König von Seiten der andern Vertragspartei auss
ſchließt. Auch in den fhlimmften Zeiten hielt in Gemeindeverfaffungen und
autonomifchen Vereinen , im Öffentlichen Volks-⸗Gericht und vor Allem durch
abgefonderte oder gemeinfchaftliche Bewilligungen der Steuern, durch welche
29) ©. biefe beiden Artilel und den Artilel Stadtverfaffung.
Grundgeſetz, Grundvertrag. 555
mittelbar bie Regierungsbefchlüffe bewilligt werben, das englifche Volk feine
grumdvertragsmäßigen Urrechte (english birth-rights) fo gut wie möglich
feſt. Als endlich unter den Stu arts bie ſchweren Kämpfe des Volks für
bie Behauptung und zeitgemäße Ausbildung freier Berfaffungsrechte entftans .
den, ba war ber Vertrag in Widerfpruch mit einem papiftifchen goͤtt⸗
lichen KönigesRecht ber Mittelpunkt diefes welthiftorifchen Kampfes.
Vermoͤge jenes göttlichen Rechts behaupteten die vier fuartifchen Könige
ſtets, fobald fie e6 nur wagen zu können glaubten, ebenfo wie ſpaͤter bie
Bourbonen, das göttlihe monarchifche Recht mit allen feinen vorhin
angegebenen Folgefägen. Sie empoͤrten noch mehr durch biefe beleidi⸗
genden Grundſfaͤtze als durch bie factifchen Verlegungen bie Gemuͤther.
Kilmer unternahm «6, in feinem Buch Patriarcha, in welchem er
Adam als den erfien von Bott eingefegten Patriarchen und König barflelite
und in ununterbrochener Reihenfolge bie Könige und ihr göttliches Recht an
denfelben anreihte, die unglüdliche Theorie förmlich zu vertheidigen. Gen
fiegeeicher Gegner Algernon Sidney flarb am 18. Dec. 1683 auf dem
Schaffot, nachdem fein Werk über bie freien Vertragsgrundfäge vom Blut⸗
richter Jeffries als gültiger Hochverrathszeuge gegen ihn erklärt worden
war. Wenige Monate zuvor war [yon fein Unglüdsgenofie Lord Rufs
fell durch das Henkerbeil gefallen, er, der noch jept ben Engländern ale
Märtyrer ihres freien Rechts und als flandhafter Vorkaͤmpfer der Lehre vom
thätigen Widerftand negen Unterdrädung hochſteht. Ex hätte fein Leben
retten tönnen, wenn er den Grundſatz hätte verleugnenwollen, „daß eine freie
„Nation, wie die engliſche, das Recht habe, Religion und Freiheit zu vers
„theibigen, twenn fie angegriffen würden, gefchähe es auch unter Vorſchuͤtzung
„von Geſetzen“. An feinem Kobestage, den 21. Julius 1683, erließ die ſer⸗
vile Dienerin des Abſolutismus, Die Univerfitdt Oxford, ein Decxet,
welches zu Ehren der heiligen Dreifaltigkeit ewige Verdammniß ausfpeicht
über die Lehren: „daß die bürgerliche Gewalt vom Volk ausgehe, daß ein
„Vertrag im Staate obwalte, einerlei ob ſtillſchweigend oder ausdruͤcklich abs
„geſchloſſen, durch deſſen Verlegung von der einen Seite auch die Verbind⸗
„lichkeit des andern Theile erlöfche, daß der Fuͤrſt, welcher nicht gemäß
„ben göttlichen und menfchlichen Geſetzen regiere, fein Recht auf die Regies
„rung verwirke”. Zugleich wurden vier und zwanzig Säge aus den Schriften
von Buhanan, Milton, Knox, Hobbes und Andern ale ketzeriſch
und gottesläfterlich bezeichnet und bie Verbrennung ber Bücher, aus denen
fie ſtammen, befohlen, der große John Lode aber aus dem Orforder
CEhriſt⸗Church⸗Collegium ausgefloßen. Aber— fo fagt Dahl»
mann — „ber Tag kam und war nicht fern, ba bem Locke“ (deſſen von
bem VBertragsarundfas ausgehende politifche Theorie ber Oberrichter Lorb
Gamden im Parlament ald aus dem Herzen der englifhen
Verfaſſung geſchoͤpft erklärte) „fein Recht widerfuhr; und aud) den
Buͤcherverbrennern. Im erſten Jahr der Königin Anna, welche durch
bie Praris des Widerſtands“ (oder befler des Wertragsgrundfages) „den
Thron beſtieg, iſt jenes Oxforder Decret auf Befehl des Parlaments oͤffent⸗
556 Grundgeſetz N Grundvertrag.
lich den Flammen uͤbergeben“ ?0). * Ja, man ging, gereizt durch das immer
und immer neue Unglüd, welches das göttliche Recht durch bie Angriffe
auf bie Vertragsgrundſaͤtze fuͤr das Koͤnigthum und das Volk hervorrief, end»
lich fo weit, die Behauptung des göttlihen Rechts und feine Angriffe auf
Bertragsgrundfäge in noch heute unaufgehobenem Geſetz als Hochverrath
mit bem Zode zu bedrohen. Und furchtbar ungluͤcklich endete die Befireitung
der engliſchen Grundvertraͤge durch die ftuartifchen Könige. Als endlich felbft
die enufeslichen Mahnungen des Unglüds Karl's I. von feinem Sohne
Kartli, und noch mehr von Jacob II. vergeffen waren, ba fiel am Ziele
der langen, flets erneuerten blutigen Kämpfe zwi (den den feindlie
den Principien jenes görttlihen Rechts und des Vertrags
bie Krone von Jacob’8 Haupt und fein Koͤnigshaus ftarb aus in Verban⸗
mung und Bergeffenheit,
Unter dem Vorfige Sohn Hampbden’s, des Enkels jenes geprüften
—— geſetzlichen Widerſtand, beſchloß am 28. Januar 1689 das
ein Jacob hat burd) feinen Verſuch, die Berfaffung diefes Königs
„reiches zu vernichten, indem er ben urfprünglihen Vertrag ziwi>
kden König und Volk brach und durch feine Verlegung der Grund⸗
naelege, bem ee der Fefuiten und anderer gottlofen Leute gemäß, und
„durch feine Entweichung aus dem Königreich die Regierung niedergelegt und
„der Thron ift dadurch erledigt.”
Das Oberhaus ſtimmte bei und auch Jacob's legitimem Sohne
wurde bad Erbrecht entzogen und mit BVeraͤnderung ber Thron—
folgeordnung Wilhelm von Dranien und Maria und dann
das Haus Hannover auf den Thron berufen. Europa erkannte alsbald diefe
neue Dynaſtie ald legitim an. Feſt und unerfchüttert blieben ſeitdem Die
englifhen Vertragsgrundfäge. Im ungeftörteften Krieden, ohne irgend einen
befannten Verſuch, ihnen das faljche göttliche Recht wieder entgegen zu fegen,
und ohne daß die hoͤchſte Verehrung, die dem englifchen Könige:
throne und Königsrechte feit der Befeftigung der Vertrags:
geundfäge mehr ale faft inirgend einem andern Lande zu
Theil wurde, in den freieften Parteitämpfen und Reformverfuchen irgend
gefährdet märe, entwidelte ſich ſeitdem immer fteigend die Macht und der
Ruhm und das Glüd des Throns und des Reichs von Großbritannien.
Der gegenwärtige erfte englifhe Minifter, Sohn Ruffell, groß
und allgemein geachtet wegen feiner praftifchen Staatsweisheit und ein gruͤnd⸗
licher Kenner und Bearbeiter der englifhen Staats: und Verfaſſungsgeſchichte,
führt in feiner Geſchichte der britifhen Verfaffung die Noth:
wendigkeit und Wohlthätigkeit der VBertragsgrundfäge und die Gefahren ihrer
Verleugnung aus. Er ſtimmt Hume und Montveran (II. 22) bei,
nad) weldyen die Stuarts wegen Nickhtanerfennung der Lehre
vom Staatsvertrage den Thron verloren. Erfagt: „Einzig
30) Dablmann, Gefhichte ber englifhen Revolution. 3. Aus⸗
gabe ©. 330,
Grundgeſetz, Grunbverteag. 557
„den falfhen Begriffen, welche Jacob I. von bee Koͤnigsge⸗
„walt batte, iſt der Fall des Daufes Stuart zugufchreiben. Diefe Fürs
„fen warm von Natur nichts weniger als tyeannifch. Aber fie glaubten,
„bie abfolute Gewalt fei ein ihnen von der Vorſehung übertragenes Recht.
„Willkuͤrliche Auflagen, Confiscationen, Geldſtrafen, Zodesurtheile waren
‚in ihren Augen nur Ausflüffe ihrer Iegitimen Gewalt. Jacob vererbte
„dieſe Lehren auf feinen Sohn Karl, der feinen Kopf verlor, weil er fie
„geltend machen wollte. Sein Enkel, ber fie im feiner ganzen Confequenz
„berzuftellen teachtete, fiel vom Throne. . Die Familie erlofch zulegt ganz,
„nachdem fie die Welt laͤngſt vergeſſen hatte. Das hieß die Unausführbarkeit
„einer Theorie theuer bezahlen. Aber dennoch wäre ihre Ausführung den
„Engländern noch theurer zu ſtehen gekommen“.
Waͤre es nicht fo unendlich ſchwer, wenigſtens für gewöhnliche Mens
ſchen, gegen ihre Vorurtheile und Lieblingsneigungen die Erfahrungen ihrer
Brüder zu ihrem eigenen Velten zu benugen, fo hätte man gfauben follen,
blos allein diefe englifchen Gefchichten hätten für immer die Fuͤrſten und ihre
Rathgeber von deren Wiederholung und von dem unglüdlihen Wahne des
göttlichen Rechts befreien müflen. Doc) dem war nicht fo.
Auch das Recht und die Berfaffung des franzöfifchen Reiche ruh⸗
ten auf den altgermanifchen Vertragsgrundfägen und auch hier wurden fie
factifh verlegt. Aber fie wurden auch hier weder in Beziehung auf die Pros
vinzial» noch auch rücfichtlich der Reichsverfaſſung jemals von den Ständen,
von den Rechtögelehrten und vom Volke gänzlich vergeffen und aufgegeben ?1).
Und es mar ficher die größte Schwäche in der glänzenden Regierung Lub⸗
wig's XIV., es war — man muß es wiederholen — die Quelle derjenigen
BVerkehrtheiten feiner Regierung, welche die Revolution und das
Unglüd feiner Nachkommen begründeten, daß er bie Vertrages
geundlagen, daß er bes großen Heinrich Brundfäge vergaß.
Doch gerade das immer fihhtbarere Hervortreten des göttlichen Rechts
und feiner Kolgen rief die alten Vertragsprincipien wieder wach umd im den
Kampf. Es entfland fo auch hier der blutige Streit zwifchen biefen feinds
feligen Principien, welcher ebenfo den Kern und Mittelpunkt der franzoͤſiſchen
wie den der englifchen Revolution bildet. Unter den Folgen jener Verkehrtheiten
meinen wir zunaͤchſt die Schuldenanhdufung für die unfinnige fürftliche Pracht,
fodann die unnoͤthigen Kriege für das vergätterte Rönigthum, für das fuͤrchter⸗
liche: l’etat c’est moi, und für jenes int ſpaniſchen Erbfolgekrieg verfochtene,
aber befiegte legitime göttliche Herrſcherrecht. Dieſes follte als angebliches
Erbrecht detoute necessite, dem Könige und den Eöniglichen Prinzen ſelbſt
die Freiheit einer Thronentfagung zerſtoͤren.
Das Recht zu folcher Entfagung follte ebenfo wegfallen role das Recht
ber Könige für fi und ihre Nachfolger irgend eine Beſchraͤnkung ihres Koͤ⸗
nigswillens und alleinigen beltebigen Entfcheidens zu bewilligen, da auch bie
weniger guten und einfichtigen Fürften fih auf „den göttlihen In⸗
flinct der Könige” verlaffen koͤnnten. Es waren diefes derfeibe koͤnig⸗
81) ©. bie Artikel Deutſche Staatsgefhichte und Frankreich.
liche Inſtinct und baffelbe göttliche Recht, welche nach ber damaligen gögen-
dienerifchen und abergläubigen Königetheorie unfehlbare weife Regierungs⸗
befchlüffe bewirkten und zugleich — mie man in Frankreich glaubte — durch
bie Berührung der Eöniglichen Perfon alle Kröpfe heilten, oder, tie man im
Dänemark nah Vandal's Vertheidigung der ftuartifchen Theorie waͤhnte,
den Königen bie Kraft verlichen, durch die Worte: „von Gottes Gnaden ich
ber König’, alle böfen Beifter oder die Geſpenſter zu bannen.
Sogleich in den erften Anfängen der franzöftfchen Revolution tritt dieſes
göttliche Recht in den Entſcheidungskampf mit den immer lauter werdenden
Vertragsgrundſaͤtzen. Dieſer tödtliche Kampf veranlaßte fehr erklaͤrlich auch
ſchreckliche Webertreibungen, Mißbraͤuche und Ausartungen der Vertrags:
grundſaͤtze. Und diefe und ihr Kampf veranlaßten jegt ähnliche Greuel,
wie fie in bee Feudalzeit undunter Louis XIV., unter dem Regen
ten und unter Louis XV., wie fie in der Bartholomäusnacht, in den Huges
nottenverfolgungen und Dragonaden, das göttliche Koͤnigsrecht er⸗
zeugte. Sie veranlaßten ähnliches Unglüd für zahlloſe unſchuldige Familien,
wie jene Eroberungskriege des abfoluten Koͤnigthums, welche fo verſchwen⸗
berifch das Blut und das Vermögen dee Bürger opferten, welche aber
Louis XIV. „das eigenthümliche Vergnügen der Könige”
nannte. Buchftäblich fo wie in England genügte auch in Frankreich die erfte
blutige Revolution, die Entfegung und Verbannung der Königsfamilie, noch
nicht zur Heilung bes verderblihen Wahns. Der Streit erneuerte fi
auch bier nach der Zuruͤckberufung des Rönigshaufes und wurde auch hier erſt
durch die zweite Revolution, durch die neue Entfegung und Verbannung ber
alten Dynaſtie zum bleibenden Siege des Vertrags oder des cons
flitutioneßen Principe entfchieben.
Mur wenige Einzelnheiten dürfen hier an biefe Kämpfe erinnern, um
unfere Srundanficht von denfelben zu beftätigm. Die hoͤchſten Gerichtshöfe,
die Parlamente, in ihrer Entftehung zufammenhängend mit den alten
Reihe: Parlamenten, zunaͤchſt mit Ausſchuͤſſen derſelben, fuchten ben
Mangel der Einberufung ber Reichsftände, welche dies vertragsmaͤßige Vers
haͤltniß der Geſellſchaft zu erhalten beflimmt find, einigermaßen zu erfegen.
Sie vertheidigten,, dem nationalen Königthume gegenüber, bie nationalen
Vertragsrechte. Sie thaten dieſes befonders unter ZudwigXVL Sie thaten
es bei ihrer Beharrlichkeit und bei der Unterftügung ber Volksſtimmung meift
fiegreih. Sie verweigerten wiederholt die Billigung und Einregiftrirung der
Steuers und Anlehengefege, forderten endlich mit der lauten Volksmeinung
Sicherung der Volksrechte durch Einberufung von Reicheftänden. Sie nah⸗
men auch, trog koͤniglichen Gegenbefehls, Anklagen gegen den Minifter an.
Der Hof fuchte durch Einberufung blos berathender Notablen der Einberus
fung einer wahren Reicheverfammlung zu entgehen. Er feßte der legteren
das göttliche Recht und jenen Srundfag von Ludwig XIV. entgegen, daß ein
König ſelbſt und allein entfheiden müffe und auch da, wo bie
Einficht ihn verläßt, ſich auf den göttlichen Inſtinct der Könige ver
laſſen koͤnne. Aber die Notabien von 1787, welche man durch Eeinliche Mit⸗
tel, durch Sicherung ber Stimmenzahlen vermittelft Eünfllicher Abfonderungen
Grundgeſetz, Grundvertzag. 569
nach Ständen und Sectionen und durch lächerlich werdende Beſchraͤnkungen
ihrer Berathungen 2) zu entkrdften und zu beherrſchen ſuchte, reisten nur
noch mehr auf. Dean fah deutlih den unglädlihen Mangel an Vers
trauen zur Nation, die zu gleihen Waffen herausfordernden beleidigenden
pfiffigen Kriegsliſten. Ebenſo erbitterte die gerade damals vorgenommene
ungerechte Beguͤnſtigung des Adels, dem man das ausfchliefliche Recht zu
Offizierſtellen verlieh. In ihm fuchte man unglüdfeliger Weife die Hilfe
gegen die Freiheit und empörte dadurch das Volk mehr als durch jeden ans
deren Mißgriff. So erzwangen denn die Forderungen des Volks und der
Parlamente endlich die Reichsftände, zuerſt nur das zögernde Verſprechen ihrer
Berufung in fünf Jahren, dann 1788 für's nächfte Jahr. Am 3. Mai 1788
hatte das Pariſer Parlament einftimmig gegen bevorſtehende Lönigliche
Edicte Die Rechte der Nation verwahrt und namentlid ihre Steuerverwillis
gungsrechte, die Unabfegbarkeit der Magiſtrate, die perfönliche Freiheit der
Bürger fo wie das Recht der Parlamente, die der Verfaſſung der Provinzen
und bes Reiches widerfprechenden Böniglichen Befehle nicht einregiſtriren zu
müffen. Das Parlament erklaͤrte es dabei für feine Pflicht, „mit unerfchüts
„terlicher Standhaftigkeit alle Plane zu befämpfen, welche die Nation gefähre
„den, und insbefondere auch das Syſtem des einzigen Willens, wel
„Ges ſich in den verfchiedenen dem Könige abgewonnenen Worten klaͤrlich
barftele und den traurigen Plan ber Miniſter aufdede, die Grund⸗
„Lagen der Monardie zu vernichten”.
Solche Andeutungen des Spitems des göttlichen abfoluten Rechts, weis
chem hier das Parlament jene Nationalrechte und feinen Widerfland entgegens
fegte, waren unter andern Worte wie die des Königs in der Läniglichen
Sitzung von 1787: „Ein großer Staat bedarf einen einzigen König, ein
„einziges Geſetz, eine einzige Einregiftrirung”; vollends aber die Worte ſei⸗
ned Kanzlers Lamoigon in feiner Rede Über das koͤnigliche Verſprechen
ber Reichsftände , welche die oͤffentliche Meinung aufs Aeußerſte erbitterten:
„Es verſteht fi) von felbft — fo lauteten diefe unglüdlichen Worte — daß
„biefe Reichsſtaͤnde nur berathende find, da ber König das ihm und feis
„ner Familie von Gott verliehene Recht niht ſchmaͤlern darf”,
Er deutete noch ferner mit der alleinigen Verantwortlichkeit des Könige gegen
Gott, auf die auch von den Stuarts ſtets feftgehaltene, jedes Rechtsgefuͤhl
und jeden freien Dann empörende Folge des göttlichen Rechts, daß daſſelbe
über allen Rechten und Verträgen und Fürftenworten und ihren Befchräns
Bungen ftehe, daß alle Rechte und Zufagen nur willkürlich wiberruflidhe Gna⸗
dbenprivilegien feien. |
Doch nicht minder lebendig als bei den Parlamenten und Schriftftellern
hatten fich die alten Vertragsrechte in den Ständen mehrerer Provinzen des
Reiches erhalten. Ihre Berfammlungen waren wenigftens zum Theil keines⸗
wegs wie die der Reichsftände feit Anfang des 17. Jahrhunderts ganz erlos :
32) Der Volkswitz fagte: „man babe die Hühner (das Bott) durch fie
fragen laffen, in welher Brühe, aber nit, ob fie überhaupt vers
zehrt fein wollten.”
558 Grundgeſetz Grundverrag
fiche Infkinet und dafferbe göttliche Recht, welche nad) der damaligen gögen«
bienerifchen und -abergldäubigen Königstheorie unfehlbare weife Regierungs⸗
beſchluͤſſe bewirkten und zugleich — wie man in Frankreich glaubte — durch
bie Berührung ber königlichen Perfon alle Kröpfe heilten, oder, toie man in
Dänemark nad) Vandal's Vertheidigung der ftuartifhen Theorie waͤhnte,
ben Königen bie Kraft verliehen, durch die Worte: „von Gottes Gnaden ich
ber König”, alle böfen Geifter oder bie Gefpenfter zu bannen.
Soglelch in den erften Anfängen ber frangöfifchen Nevolution tritt Diefes
göttliche Recht in den Entſcheidungskampf mit ben immer lauter werdenden
Vertragsgrundfägen. Diefer tödtliche Kampf veranlaßte ſehr erklärlih auch
ſchreckliche Uebertreibungen, Mifbräuche und Ausartungen der Vertrags:
grundfäge. Und diefe und ihe Kampf veranlaften jest ähnliche Greuel,
mie fie in ber Feudalzeit unbunter Rouis XIV,, unter dem Regen-
ten und unter Louis XV,, mie fie in der Bartholomäusnadht, in den Huges
nottenverfolgungen und Dragonaben, das göttlihe Königsredht er
zeugte, Sie veranlaßten ähnliches Unglüd für zahlloſe unfchuldige Familien,
tie jene Eroberungsfriege bes abfoluten Koͤnigthums, welche fo verſchwen⸗
derifh das Blut und das Vermögen der Bürger opferten, welche aber
Louis XIV. „das eigentbämlihe Vergnügen der Könige”
nannte. Buchftäblich fo wie in England genügte auch in Frankreich die erfte
blutige Revolution, die Entfegung und Verbannung der Königsfamilie, noch
nicht zur Heilung des verderblichen Wahns. Der Streit erneuerte fich
auch hier nach der Zuruͤckberufung des Koͤnigshauſes und wurde auch hier erft
durch bie zweite Revolution, durch die neue Entfegung und Verbannung ber
alten Dynaftie zum bleibenden Siege des Vertrags ober des cons
ſtitutionellen Princips entfchieden.
Nur wenige Einzelnheiten dürfen hier an diefe Kämpfe erinnern, um
unfere Grundanſicht von denfelben zu beftätigen. Die höchften Gerichtshöfe,
die Darlamente, in ihrer Entftehung zufammenhängend mit den alten
Reihs:Parlamenten, zunddft mit Ausfchüffen derfelben, fuchten den
Mangel der Einberufung der Reiheftände, welche dies vertragsmäßige Vers
haͤltniß der Geſellſchaft zu erhalten beftimmt find, einigermaßen zu erfegen.
Sie vertheidigten, dem nationalen Königthume gegenüber, die nationalen
Vertragsrechte. Sie thaten diefes befonders unter Ludwig XVI. Sie thaten
es bei ihrer Beharrlichkeit und bei der Unterflügung der Volksſtimmung meift
fiegreih. Sie verweigerten wiederholt die Billigung und Einregiſtrirung der
Steuers und Anlehengefege, forderten endlich mit der lauten Volksmeinung
Sicherung der Volksrechte durch Einberufung von Reicyeftänden. Sie nah:
men auch, trog Pöniglichen Geyenbefehls, Anklagen gegen den Minifter an.
Der Hof ſuchte durch Einberufung blos berathender Notablen ber Einberu:
fung einer wahren Reihsverfammlung zu entgehen. Er feste der legteren
das göttliche Recht und jenen Grundfag von Ludwig XIV. entgegen, daß ein
König felbft und allein entfheiden müffe und aud) da, mo bie
Einfiht ihn verläßt, fi auf den göttlichen Inſtinct der Könige ver:
laffen könne. Aber die Notablen von 1787, welche man durch Eleinliche Mits
tel, durch Sicherung der Stimmenzahlen vermittelft Fünftlicher Abfonderungen
Grundgeſetz, Grundvertrag 559 |
nad) Ständen und Sectionen und durch lächerlich werdende Befchränkungen
ihrer Berathungen 32) zu enikräften und zu beherrſchen fuchte, reizten nur
noch mehr auf. Man fah deutlih den unglüdlihen Mangel an Vers
trauen zur Nation, die zu gleichen Waffen herausforbernden beleidigenden
pfiffigen Kriegsliſten. Ebenfo erbitterte die gerade damals vorgenommene
ungerechte Begünftigung des Adels, dem man das ausfchliekliche Recht zu
DOffizierftellen verlieh. Im ihm fuchte man unglüdfeliger Weife die Hilfe
gegen die Freiheit und empörte dadurch das Volk mehr als durch jeden ans
deren Mißgriff. So erzwangen denn bie Forberungen des Volks und ber
Parlamente endlich bie Reichsftände, zuerſt nur das zögernde Verfprechen ihrer
Berufung in fünf Jahren, dann 1788 für's nächfte Jahre. Am 3. Mai 1788
hatte das Parifer Parlament einflimmig gegen bevorfichende Lönigliche
Edicte Die Rechte der Nation verwahrt und namentlich, ihre Steuerverwilli⸗
gungsrechte, die Unabfegbarkeit der Magiſtrate, die perfönliche Freiheit der
Bürger fo wie das Recht der Parlamente, die der Verfaſſung der Provinzen
und bes Reiches mwiderfprechenden koͤniglichen Befehle nicht einregiflriren zu
müffen. Das Parlament erklärte es dabei für feine Pflicht, „mit unerfchäts
„terlicher Stanphaftigkeit alle Plane zu bekämpfen, welche die Nation gefähre
„den, und insbefondere audy das Syſtem des einzigen Willens, wel
„Ges fi in den verfchiedenen dem Könige abgemonnenen Worten klaͤrlich
„barftele und den traurigen Plan der Minifter aufdede, die Grund⸗
„Lagen der Monardie zu vernichten”.
Solche Andeutungen bes Syſtems des göttlichen abfoluten Rechts, wels
chem hier das Parlament jene Nationalrechte und feinen Widerſtand entgegen»
fegte, waren unter andern Worte wie die des Königs in ber koͤniglichen
Sitzung von 1787: „Ein großer Staat bedarf einen einzigen König, ein
„einziges Geſetz, eine einzige Einregiftrirung”; vollends aber die Worre ſei⸗
nes Kanzlers Lamoigon in feiner Rede Über das koͤnigliche Verſprechen
ber Reichsftände , welche die Öffentliche Meinung aufs Aeußerſte erbitterten:
„Es verficht fi von ſelbſt — fo lauteten diefe unglüdlichen Worte — daß
„dieſe Reichsflände nur berathende find, da der König das ihm und feis
„ner Samilie von Gott verlichene Recht nicht ſchmaͤlern darf”,
Er deutete noch ferner mit der alleinigen Verantwortlichkeit des Königs gegen
Bott, auf die auch von den Stuarts ſtets feftgehaltene, jedes Rechtsgefühl
und jeden frein Dann empoͤrende Folge des göttlichen Rechts, daß daſſelbe
über allen Rechten und Verträgen und Fürftenworten und ihren Beſchraͤn⸗
ungen flehe, daß alle Rechte und Zufagen nur willfürlich widerrufliche Gna⸗
denprivilegien feien. Ä
Doch nicht minder lebendig als bei den Parlamenten und Schriftftelern
hatten ſich die alten Vertragsrechte in den Ständen mehrerer Provinzen des
Reiches erhalten. Ihre Berfammlungen waren wenigſtens zum Theil keines⸗
wegs wie bie der Reichsſtaͤnde feit Anfang des 17. Sahrhunderts ganz erlo⸗
—
32) Der Volkswitz fagte: „man babe die Hühner (das Bolt) durch fie
fragen laffen, in welher Brühe, aber nit, ob fie überhaupt vers
zehrt fein wollten.”
ſchen. Doch ſelbſt die ber Dauphine, bie feit 1628 nicht mehr verſammelt
waren, verſammelten ſich jetzt von ſelbſt und forderten ebenfalls Reiche»
fände. Aber ſchon früher gingen die Stände und das Volk von Bretagne
‚mit rerailde: ertheidigung des we io voran. Schon 1782 hatten
‚hier die Stände gegen eine willfürliche Veränderung in einem an ſich umbe-
deutenden Rechte gekämpft. Da vernahm ihre Deputation aus dem Munde
des Königs die Worte: „daß ihre Rechte ihnen nur durch bie Königliche
Gnade feiner Vorfahren bewilligte Privilegien und alfo widerruflich feien”.
Diefes erweckte allgemeine Entrüftung und die Stände proteftirten ſchriftlich
gegen den König. Ste ferien: —
unſere Vorrechte und Freiheiten find mefentliche Bedingungen bes
„Vertrags, durch welchen Sie über die Bretagne regieren. Wir föhnen
‚ Site, die traurigen Folgen von Ausdrüden nicht verheblen,
welche den alten Grun dſaͤßen des Natſonalrechts von Grund
‚aus widerſtreiten. Sie find hoͤchſt beunruhigend für Unterthanen,
— ihrem Souveraͤn ebenſo ergeben als auf ihre Verfaſſungstechte eifer:
„Nüchtig find, für Unterthanen, die nicht an Enechtifchen Gehorfam, fon-
„dern an einen Gehorfam gewöhnt find, ber durch verſtaͤndige Gefege geleitet:
"ft, welche Ew. Majeftät zu achten gefhworen haben. Diefe Gefinnung ift
„in unfern Herzen eins mit ber Liebe zum Vaterlande. Ja, Sire! biefen
heiligen Namen Eermen die rule: fie haben ein Vaterland, fie haben
„Pflichten zu erfüllen, fie haben Rechte, bie fie um des Intereſſes Ihres
„Staates tolllen nicht vergeffen dürfen. Als Vater Ihres Voikes werben
„Sie nur die Gefege ausüben. Die Gefege herrſchen durch
„Sie, und Sie herrfhen durch die Geſetze. Die Bedingun:
„gen, welde Ihnen unferen Gehorfam ſichern, machen einen Theil der Ge:
„ſetze Ihres Königreiches aus”.
Die Empdrung der Gemüther im Volke über die Verlegungen ber
Vertragsgrundfäge und die Mißſtimmung des Hofes über die Bekimpfung
des göttlichen Rechts führten zu militärifcher blutiger Gewalt. Dablmann
fagt bei diefer Veranlaffung: „Ludwig mar’ (durdy das görtliche Recht)
„Despot geworden, ohne es zu wollen‘. Von nun an aber fieht man bie
Bretagner ſtets in den vorderften Reihen bes Sreiheitsfampfes und fpäter der
Revolution. Als am 8. Mai 1788 der König in einem lit de justice gegen
den Miberjpruch der Parlamente die Einregiftrirung der Steuergefeße er:
zwang, den Parlamenten das Einregiftrirungsrecht nahm und andere Aende—
rungen machte, unterzeichnete bie Mehrzahl der bretagnifchen Ebelleute eine
Schrift, im welcher fie Jeden für ehrlos erflärten, der in der neuen Ordnung
der Dinge eine Stelle einnähme, und ließen durch zwölf Abgeordnete dem
König eine Anklage der Minifter überreichen. Als diefe Abgeordneten in die
Baftille geſetzt wurden, ſchickten die Stände noch eine zahlreichere Deputa:
tion, um ihre Loslaſſung zu fordern. Sie veranlaften in Paris lebhafte
Verhandlungen, in welchen auch Adelige anderer Provinzen ihre Erklärung
unterzeichneten. In der Provinz nöthigte man ben Intendanten der Provin;
zur Flucht. Bald zeigten fit unruhige Bewegungen aud) in anderen Pro:
Geundgefeg, Srundvertrag, 561
vinzen; Verbindungen ber Bretagner für die Volksrechte aber enthielten ben.
Keim zum [pätern Sacobinerclub.
Es liegt tief in der Natur der Sache und «6 liegt Har in der
Geſchichte der Franzöfifchen Revolution zu Zage, daß gar nichts Andes
res fo fehr das Mißtrauen und die Empdrung der Gemuͤther aufftachelte,
daß nichts fo fehr die wohlthätige, unentbehrliche Achtung des Koͤnigthums
unterdrüdte, und die Außerfien Kriegsmittel in den Augen der Uns
geduldigen, der an friedlicher Rechtsgewaͤhrung Verzweifelnden, rechtfertigte,
als jene Entgegenfegung der Principien des göttlichen Rechts gegen die bes
reits durch Koͤnigswort zugefagten Volksrechte. Bor Allem wirkten auf ſolche
Weiſe jene unheilfhwangeren Bemeife und Anzeigen, daß bie
Königin und der unglüdliche König den von den emigrirten Ariſtokraten her:
übertönenden von ausmwärtigem Königebund unterftügten Verlodungen über
Koͤnigewort erhabenen göttlichen Rechts nachgegeben hätten. Jede neue
gewaltfame Scene der franzöfifchen Revolution, ausgehend von der Erfchüts
terung bes Öffentlichen Glaubens an die Treue des Königs in feinen Zufagen
und dieſe unglüdfelige Erfhütterung vermehrend, Enüpfte ſich fort:
an jedesmal an neue Entdedungen foldyer Beweife: |
Als nach endlich gemonnener Rüdkehr die fo lange verbannte Könige:
familie und die revolutionsmüde Nation in der Charte, duch welche Zub:
wig XVII. nah ausdruͤcklicher Erklärung den von ber Nation ges
wünfhten Berfaffungszuftand ihr hatte verbürgen möllen,
einen vereinigenden und fihhernden Vertrag gefunden zu haben ſchien, da
war es wiederum jener nichts vergeflende und nichts-Iernende Adel der Emi⸗
gration , welcher durdy das göttliche Recht ihn zerriß. Es war an feiner
Spige jener feinem Königshaus und fich felbft verderbliche Ritter bes Mittel⸗
alter, der Herzog von Artois (Charles X.), welcher — abermals
huldigend dem Uebermuthe und der Willkür des göttlichen Koͤnigsrechts und
auch aberz:ald ermuthigt durch neue ausrodrtige heilige Allianz abfoluter Koͤ⸗
nige, durch einen das Mationalgefühl empörenden auswärtigen Einfluß,
das göttliche Recht dem Grundvertrag entgegenfegte. Nicht auf ihm, jo
erklaͤtte man täglich in Wort, Schrift und That, fo erklärte feierlich der koͤnig⸗
liche Kanzler d'Ambrai in Öffentlicher Kammerfigung, „niht durch
Bertrag, fonden durh Bott und das Schwert feiner Vors
fahren regiere ber König.” Man hatte abermals vergeffen oder noch
nie begriffen, daß Gott ein Gott der Treue und Wahrheit, ein Schirmer auch
des Rechte der Völker, ein Rächer der Untreue und menfchlichen Uebermuths a
iſt. Man hatte vergeffen oder nicht begriffen, welche Gewalt, bei einmal ers
wachtem Sreiheitögefühl eines Volkes, in ben Worten liegt, bie ein Volksmann
im Anfang der erſten feanzöfifchen Revolution dem angeblichen hiſtoriſchen
Recht des feudalen Ariſtokratismus und Abfolutismus entgegenfegte: „Das
„tirt Ihr — fo lauten feine kecken Worte — datirt Ihe Eure Nechte von denz
„Tage der Eroberung, nun fo datiren wir bie unfrigen von dem Tage vor der
„Erdberung; gründet Shr fie auf Gewalt, wohl, fo kommt her!”
Vergeblich warnte der dem Königthum fo treu ergebene , der ſtaatsweiſe,
ehrmwürbige Greis Royer Collard. Er ſetzte in der Sisung vom 24. Fe⸗
Suppl. z. Staatsier. II. 36
*
I
‘
562 Grundgeſetz, Grundvertrag.
bruar 1824 jener Unheilsichre des göttlichen Nechts im Parlamente die Ver⸗
tragsgrundfäge und ihre Vertheidigung entgegen und fagte dabei unter andern
folgende Worte:
| „Die Quelle unferer Könige ift nicht, wie die des Nils, in unzugäng»
„lichen Wüften verborgen und wir wiſſen, daß fchon bei Anfang unferes Koͤ—
„migthums das Volk der Franken ein Öffentliches Recht hatte, welches
„don Ihm felbft ausging, weldes «# nicht von feinen Königen ers
„halten hatte und bas man ibm nit rauben Fonnte, Diefes öf:
Fentliche Recht ruhte gänzlich auf der Xheorie vom Vertrage
„und von der „Wechſelſeitigkeit.“ Es hat die Wanderung durch
„bie langen Jahrhunderte der Feudalmongrchie gemacht, und welche Aus:
„behnung auch bie Fönigliche Gewalt fpäter erhielt, fo konnte fie doch jenes
‚öffentliche Recht niemals gaͤnzlich zerflören. Märe es in den Gefegen un⸗
„terbrüdt worden, es wuͤrde ſich in den Geiftern erhalten haben, dieſem unger:
„„Störbaren Aſyle für die Würde des Menfchen gegen die Anmaßungen der
„Autorität.’ | u |
Doch vergebens! Zu unüberwindlih waren die Verblen:
dungen der Vorurtheile derunbürgerlichen Erziehung und prinzlichen
und ariſtokratlſchen Uebermulths. Die weiße Verſchwörung für das
goͤrtliche monarchiſche Recht fiegte jeht im demſelben Frankteich, in
welchem foldye Ströme von Blut und benſo die Verbannung Napoleon’s
wie die frühere ber Bourbone endlich bie friedliche Herrfchaft des Vertrags
ober ber Freiheit verbirgt zu haben ſchlienen. Im Inneren wie nah Hufen
feindete jene Verſchwoͤrung die Volköfreibeit an. Sie fegte fih mit Kari X.
auf ben Thron. Die unbeifvollen Karlsbader Befchlüffe in Deutſch—
land wurden jeßt für bie franzoͤſiſchen Feeiheitsfeinde abermals verderbliches
Beilpiel und Ermuthigung. Als das auch bier wiederum weit mehr durch
jene freiheitsfeindlihen Piincipien wie durch materielle Tyrannei empörte
Rechtsgefuͤhl der Nation fi) ermannte, als man in geheimen Verbindungen,
in der angefeindeten Preffe, in Parlament, endlidy auch in den Wahlen
dem göttlichen Recht immer dbrohender entgegen trat, da wagte diefes in den
Suliordonnanzen feinen legten Gewaltſtreich gegen die Vertragsprincipien, zus
nächft gegen ihre Hauptorgane, gegen die Freiheit der Preffe und der Wahlen.
Aber ſchnell entbrannte der allgemeine Unmwille der beleidigten Nation
und drei Öenerationen von Königen — aud) hier wie in England Unſchuldige
gie Schuldige — flürzten mit Einem Schlay von dem herrlichen Throne ihrer
„Väter. Die ſchlummernden Völker erwachten, die abfoluten Throne er:
bebten in ihren Grundfeften und alle ihre Organe beugten ſich ſchweigend
vor der göttlichen Gerechtigkeit, welche fo furchtbar das ungoͤttliche Recht des
Uebermuths und der Untreue zerfhmetterte. Die frangöfifhe Nation erneuerte
jetzt förmlicher und ausdrüdlicher ihre Grundverträge mit dem von ihr er:
wählten neuen Königshaus. Sie fuchte diefelben gegen Anmaßungen des
göttlihen Rechts zu fihern, duch) die in der Brundvertragsurfunde ausge:
fprochene freilich mißverftändliche Volksſouveraͤnetaͤt, durch die fanctionirte
Unmöglichkeit der Aufhebung der Preßfreiheit, durch größere Ausdehnung
R |
Grundgeſetz, Grundvertrag. 563
und Sicherung ber Wahlfreiheit und durch eine ausdruͤcklich zum Schug des
Nationalvertrags aufgeforderte Nationalmehr.
XVI. Unglüdszeit von Deutfhland und Preußen burdy
die Shwähung des Vertragsprincips und vorzüglih durch
das ungerechte Webergewicht des Adels in den Reihs- und
Landftänden. Wir Deutfchen und vollends die Preußen ſchienen gegen
jenes falfche göttliche Recht am meiſten gefihert. Zu Har waren in Deutfchs
land durch alle Sahrhunderte hindurch, alle Reichs: und Landesgrundgeſetze
dem Ramen wie der Thatnad) „Reichs: und Eandesgrundverträge”;
und zwar im Reich zwifchen ben reihsunmittelbaren Bürgern oder
Ständen bes Reichs, für fich und ale Repräfentanten ber in ihrem vertrags⸗
mäßigen Schuß ftehenden Hinterfaffen, unter einander und mit bem
von ihnen gewählten Kaiſer; im Lande dagegen ziwifchen allen Lan⸗
besunmittelbaren, für fi und ald Vertreter ihrer Schüglinge, unter
einander und mit dem urfprünglich gemählten, ſpaͤter mindeftene frei ans
erkannten Landesfürften. Die Rechte diefer Fürften nahmen audy in fofern
eine grundvertragsmäßige Geſtalt an, da fie ald Beamten bes
erwählten Nationalkaifers nad den Reihsgrundverträgen te
gieren follten.
Scien num ſchon wegen dieſes Hervortretens ber Grundvertraͤge im beuts
ihen Wahlkaiſerthum das falfche göttliche Recht weniger gefaͤhrlich, fo gab
es noch befondere Gründe gegen biefe falſche Grundanſicht. Die deutfchen
Kaifer und ihr Reich waren für alle germanischen Staaten und Fürften gleichs
fam die Vorfechter gegen das angebliche göttliche Recht der Oberherr⸗
(haft des Papſtthums. Ste waren daher fortdauernd im Streite mit dem⸗
felben. So Eonnten fie denn natuͤrlich audy nur dem Schein einer paͤpſt⸗
lichen Vaſallenſchaft und Ihrem göttlichen Recht durchaus nicht günftig fein.
Maren fie es doch, die früher fogar die Paͤpſte ernannten oder beftdtigten.
So kam es denn, daß unter Ludwig dem Baier der Kaifer und bie
Reichsſtaͤnde in ihrem Streite mir dem Papſtthum fogar feierlich und
grundgeſetzlich gegen dieſes göttliche Recht proteflieten, indem die kaiſer⸗
liche Krone nur durch die freie Wahl der Reichsſtaͤnde verliehen werde, alfo
bei fittlich veligiöfer Auffaffung nur eine durch den Nationalconfens aner⸗
kannte innere Vernünftigleit ober Goͤttlichkeit im obigen unfchuldigen Sinne
ftattfinden koͤnne.
Das deutfche Reich wurde audy in der That nicht durch das göttliche
Recht des Kaiſers, fondern duch das ungerechte Uebergewicht des Adels im
den Reichſ⸗ und Landftänden zerftört. Keine ſtaatsbuͤrgerliche Matios
nalmadıt ſtand dem Kaifer zur Seite, die wenigen Reichsſtaͤdte waren zu
ſchwach. Seine adeligen Vaſallen beraubten, zerftörten feine Macht, die
Einheit und Kraft unferes Nationafreiches , oftmals Leider ſelbſt mit auswaͤr⸗
tiger Hilfe.
Diefe mächtigen Vaſallen aber ahmten meiftentheils in ihren Fürftens
thümern das franzäfifche göttliche Recht zum Sammer ihrer Völker nach.
Dagegen ſchien für das neu aufblühende proteftantifhe Preußen eben
ſowohl jenes äußerliche, päpftliche, theokratifche als jenes von Ludwig XIV.
36 *
—
Svaerdoeſeh Gruutn · n
ausgebildete myſtiſche, phantaſtiſche, ſeinem Weſen und feiner Wirkung nad
aber bespotifche göttliche Recht gänzlich unmoͤglich. Denn der Proteftantismus
u aͤcht riftlichen Grunbfäge. wieder. her, welche nur jenes von der
rt freiheit ungertrennliche unſchuldige fittlihh «vernünftige Königsrecht zus
Ten, mit der Anmaßung einer unbefhränkten Gewalt Über freie Brüder und
tbiieger aber oder mit einer bevorzugten Einficht oder auch mit einer Ber
lung von ben Bertragepflichten gegen fie abfolut nicht s zu thun has
ben, fondern ihnen vielmehr gänzlich entgegenfteben. |
- Preußens ganze Staatseriften; und Größe war unzertrennlich mit ber
Geiftesfreiheit und Aufklärung und ‚dem. Fortſchritt der Meformation ver:
Entpft. Man bezeichnete daher auch bas Staats> und Dpnaftieprincip der
ossublichen Monardjie als geifligen Fortfchritt umd Licht und Reh.
Es eutſprach daher ‚einer tiefem Einfiht in die wahren geſchichtlichen
dlagen und Grundfäge der Monarchie und des Fürftenhaufes wie des
ten Proteflantisrmus und des wahren Fuͤrſtenthums, daß der mefentlichite
Begründer der preußiſchen Monardyie, ber große Kurfürft, und: dag
ebenfo auch, ber erfte.und daß der geößte preufifche König, daß Fried
eich, L und I, das „goͤttliche monardifhe Recht”, welches gerade
damals von bem verborbenen fultanifchen franzoͤſiſchen Hofe die übrigen euro:
pälfchen Hoͤfe zu entlehnen fuchten, fo eutſchieden zuruͤckwieſen. Diefe
Bürften thaten dieſes, indem ihre Regierung ſtets den ächten Proteftantiss
mus, Ölaubensfreiheit und. Geiftssaufflirung nach Kräften beförderte und
regem geiſtigen Hortfchritt huldigte. Der große Kurfürft insbefondere ſprach
ſich auch noch Elar genug dadurch gegen das göttliche Necht aus, daß er den
berühmten Samuel Pufendorf, den entfchiedenen Bekaͤmpfer des goͤtt⸗
lihen Rechts?9) und Vertheidiger der Wertragsgrundfäge, der wegen Die:
fer feiner „naturaliftifhen‘ Grundfäge in Stodholm in einen Crimi—
nalproceß verwidelt worden war, gegen Ende feiner rühmlichen Regierung
zu feinem eigenen Biographen und Hiftoriographen mit dem Geheimen:
Rathstitel nach Berlin berief. Sein Sohn König Friedrich I. folgte oanz:
lich diefem Beifpiel, indem er die Krone ohne irgend eine geiftlihe Salbung
fi auffegte und indem er den ebenfalls wegen gleicher rationaliftifchen oder
rationalen Anfichten und Freiheitsgrundſaͤhe in Keipzig ſchwer verfilgten und
flüchtig gewordenen Zhomafius nad Halle berief und vorzuͤglich durch
ihn die neue Univerſitaͤt, dieſe Pflanzſtaͤtte der Aufklaͤrung, begruͤnden ließ.
Er nahm feinen Profeſſor ſogar, als man deſſen Bekaͤmpfung und Verſpot⸗
tung des goͤttlichen monarchiſchen Rechts in Kopenhagen oͤffentlich durch Hen⸗
kershand verbrennen ließ, gegen die daͤßiſche Regierung in Schutz. Friedrich
8. Große endlich erflärte mit feinem hellen prattifchen Königsverftand und
mir ;ziner guten Kenntniß der Staatsgefchichte, namentlich feines eigenen Rei:
ches, geradezu das Princip des göttlihen monardhifhen Rechts
ald die verpeftete Quelle des Verderbens für Fürft und Voll, Er
führte ald Kronprinz in feinen Considerations sur le corps politique de
l’Europe und dann fünfundvierzig Jahre fpäter als König in feinem
33) ©. deſſen jus naturae VII. 3,
\
Grundgeſetz, Grundvertrag. 565
Essai sur Jes formes de gouvernemerit et surles devcirs des Souverains
noch energifcher die freie Vertragstheorie aus und fagte hier unter Anderem
(Oenvres posth. de Fr. II. t. II. pag. 47. 60. 82):
„Wenn meine Betrachtungen das Gluͤck haben, zu den Ohren ber
„Fuͤrſten zu gelangen, fo werden fie Wahrheiten darin finden, die fie nie
„mals gefunden haben würden durch den Mund ihrer Hofleute und Schmeich⸗
„ter. Ja vielleicht werden fie mit Erſtaunen diefe Wahrheiten fich neben fie
„auf den Thron fegen fehen. So vernehmen fie e8 denn, daß bie falfhen
„Brundfüge die vergiftete Quelle bed Unglüds der europdifchen
„Staaten find. Folgendes ift der Jrrthur der Mehrzahl der Fürften. Sie
‚glauben, daß Bott die Menge von M. jchen, deren Heil ihnen anver:
„teaut ift, ganz befonders und durch eine befondere Aufmerkſamkeit für ihre
„Groͤße, ihr Gluͤck und ihren Stolz gefhaffen habe, und daß ihre Unterthas
„nen beftimmt find, Werkzeuge und Diener ihrer Neigungen zu fein’ (das
„Haller'ſche Privatgluͤcksgut der Herrſchaft). Sobald ber
„Srundfag, vonwelhem man ausgeht, falfch ift, fo muͤſſen
„auch die Kolgerungen bis in's Unendliche hinein falfh und
„verderblich fein. Daher die verkehrte Liebe für einen falfchen Ruhm !
„aber diefer heiße Wunſch, Alles zu überwältigen! Daher die Härte ber
„Abgaben, womit das Volt belaftet ift, daher die Traͤgheit ber Fuͤrſten,
„ihr Stolz, ihre Ungerechtigkeit, ihre Snhumanitit, ihre Tyrannei! Wenn
„die Kürten fi) von ſolchen irrigen Vorftellungen frei machen wollten, fo
„würden fie ſehen, daB der Rang, auf welden fie eiferfüdtig
‚Kind, daß ihre Erhebung. auf den Thron das Werk ihrer
„Bölker ift, daß dieſe Zaufende von Menſchen, die ſich ihnen anvertraut
„haben, fid) nicht zu Sklaven eins einzigen Mannes machen wollten, damit
„ee furchtbar und ſtark werde, daß fie ſich nicht einem ihrer Mitbürger”
(Friedrich nennt in diefen Abhandlungen gewöhnlich feine Unterthanen mit
den heute von ıınferer Reaction verhotenen Worten „„ses citoyens‘“ oder „ges
„Cconcitoyens““) unterworfen haben, um Märtyrer feines Eigenfinnes und
„der Spielball feiner Phantafien zu fein, fondern daß fie Diejenigen
„aus ihrer Mitte erwählt haben, von weldhen fie die ge⸗
„wehtefle Regierung erwarteten. — Alsdann würden fie empfinden,
‚Daß der wahre Ruhm ber Kürften nicht in der Vergrößerung ihrer Macht
„und in Vermehrung der Zahl ihrer Sklaven beftehe, fondern darin, bie
„Dflihten ihres Amtes zu erfüllen und in jeder Dinfiht der Abficht
„Derer zu entfprehen, die fie mit ihrer Gewalt bekleidet
„haben, von welchen fie ihre Herrfhaft und ihre Würde
„beſitzen.“ — ‚Die große Wahrheit, daß man die Andern behandeln muͤfſe,
„role man von ihnen behandelt fein will, d.h. Gleichheit, iſt das Prin⸗
„cip aller Gefege wie des gefellfhaftlichen Vertrages. Da aber
„die Sefege nicht erhalten und vollzogen werden konnten ohne einen
„beitändigen Wächter derfelben, fo gab dies den Urfprung der Obrigkeiten, -
„bie fih das Volk ermählte. Praͤge man es ſich wohl ein, daß die
„Erhaltung der Sefege der Grund ift, der die Menfchen beftimmte, ſich
„Obrigkeiten zu geben, und daß hierin derwahre Grund der Souverdnetät
566 Geundgefeg, Grundvertrag. |
— ‚Müfte man nicht verruͤckt fein, um fich einzubilden, bie Men⸗
—J hätten zu Einem ihres Gleichen gefagat: Wir erheben Dich uͤber uns,
„weil wir Sflaverei lieben, und geben Die Gewalt, unfere Gedbanfen
„wmach Deinem Willen ju leiten! Gie haben vielmehr im Gegen»
„theile gefagt: Wir haben Dich nöthig, um die Geſetze aufreht zu er:
„balten, denen wir gehochen wollen, um uns weiſe zu regieren,
„um uns zu vertheibigen. Webrigen® aber fordern wir von Dir, daß Du
„unſere Freiheit achteft !“ — „Wenn der Fürft der erfte Minifter, der erſte
„General der Geſellſchaft ift, fo iſt er es nicht, um zu reprifentiren, fon-
„dern um die Berbindlichkeiten zu erfuͤllen, welche diefe Namen ihm auflegen.
Er iſt nichts als der erfte Diener des Staats I). "
Freitih fand Friedrich In feiner Zeit nicht den Sinn und Wunfch
des Volks für conftitutionelle Freiheit vor. Er begnuͤgte fih, die ſtaͤndiſchen
Mechte, mie er fie vorfand, zu achten und die Befchränfung der branden⸗
burgifchen Stände durch ben Minifter Schwarzenberg zu tadeln. An
neue — dachte damals Niemand in Deutſchland und Europa, die
alten aber hatte in ganz Deutfchland leider der Feudaladel durch die gleich
nachher zu ſchildernde Unbill verhafit gemacht. Friedrichs und Kofepb's
Hauptaufgabe war es, einestheils die verſchiedenen Provinzen, fo wie es
in Frankreich feit Ludmi g XI. gefchah, zw einem ganzen Staat zu einigen,
und dann bie feubaliftifchen Rechte, überbaup t bie Mefte des hierarchifchen °
unb feubalen Mittelaltersmäglichft Subefeitigen und aud) fo die innere Staats:
einheit zu fördern. Hierdurch, durch Aufhebung der ariftofratifchen Volks—
unterdruͤckung, der Leibeigenfchaft und anderer Feubällaften, durch Aufklaͤ—
rung und Volkebildung, Herftellung der Gleichheit in der Befteuerung, in
dem Recht zu Aemtern und in der Kriegspflicht und vor Allem durch Bildung
und Befreiung der Öffentlichen Meinung mußten Friedrich und feit dem
Ungläd 1806 voliftändiger der vorige König die Grundlagen einer
wahren ftaatsbürgerlihen Keihsverfaffung ſchaffen. Es war
das entfesliche Unglüdt, die innerliche Gorruption und Faͤulniß, als Folge
der VBerfaffungslofigfeit und der ungerechten feudaliftifchen Adele:
Privilegien, mie fie in und nad der Schlucht von Jena zu Zuge famen,
nothmendig, um dem ganzen Volke das Bedürfniß zu erweden, die ver:
fhiedenen Laͤnder⸗Theile wie die getrennten Stände des Staates zu einigen
und duch eine allgemeine freie Reihsverfaffung zu einem freien
und Eräftigen unttennbaren Volks: und Staatsförper zu
verbinden, ihm für den Wettkampf mit den an phnfifher Macht über:
legenen größeren europäifchen Staaten vor Allem die nöthige moralifche Kraft
und Größe zu geben und zu erhalten, durch deren Uebergewicht allein Preu:
Ben fi) und feinen Ruhm, feine Aufgabe und Stellung in der Welt bebaup:
ten kann.
Schon unmittelbar nach dem furchtbaren Zufammenfturz des preußis
— —— — — —
34) Ganz aͤhnlich den Worten Friedrich's ſprach auch der große öfter:
ne Kaifer Joſeph HI. in feiner Einleitung zum Entwurf der Steuerre:
gulirung
Grundgeſetz, Grundvertrag 567
ſchen Staatsſyſtems ſeit 1806 und vollends in der Zeit der Befreiungs⸗
Eriege ergriffen daher große Staatemänner, Stein, Schön, Scharn=
horſt, Dardenberg, Wilhelm von Humboldt die ganze Auf:
gabe, in friedlichee Reform den preußiſchen Statt durch zeitgemäße Vers
jüngung der alten nationalen Freiheits⸗ und Nechtsgrundlagen neu aufzus
bauen und ihm durch sine wahrhaft vol&sfreie, zeitgemäße repräs
fentative Reihsverfaffung die einzig mögliche innige und dauernde
Bereinigung feiner verfchiedenen Provinzen und Stände unter fi, mit dem
Fürftenhaus und mit dem deutfchen Gefammtvaterland zu begründen. Es
ift ein wohlthuender, erhebender, mit fo vielen Mängeln und Sünden beuts
[her Regterungs » und Minifterpolitit verföhnender Anblick, dieſe großartige
Beſtrebung der preußiſchen Staatsmaͤnner in dem noch ungeftörten Verein
mit dem redlihen Willen des ſchwer gebeugten Fuͤrſten. Es ift ermuthigend
für jede gleich zeitgemäße, vorurtheilsfreie Politik, zu fehen, welche Wun⸗
der fie damals bewirkte; wie fie allein, nad) fo furchtbarem Ungläd und fo
großer Schwächung den Staat glorreicher wiederherftellte,, als ex je vorher im
größten Gluͤcke gewefen war.
Allgemein bekannt ift es und das Staats⸗Lexrikon hat es wicber:
holt urkundlich belegt 2°) , wie Die Summe der Politik des ganzen Wiederauf⸗
baues des preußiſchen Staatd in wahrer verfaffungss ober grund»
vertragsmäßiger ftantsbärgerliher Freiheit des ganzen
preußifhen Volkes beftand. In diefem Sinne begann urs
Eundlich der größte Reformator Preußens, der unfterblihe Stein, das
große Werk mit den Worten: der freie Wille freier Männerfoll
der Örundpfeiler des Staats und bes Thrones werden.
In diefem Sinne wurden auch die unterften Staatsbürger von allen
Feudallaſten befreit und allen die flaatsbürgerliche Gleichheit in Laften und
Rechten, Steuern, Soldatenpfliht und Aemtern ertheil. In dieſem
Sinne erging der Eönigliche Aufruf: zur Befreiung, die Proclamation von
Kaliſch ausdruͤcklich au an alle Einzelnen „in den Reihen des
Volks“, forderte fie zur begeifterten Mitwirkung auf in der Erfämpfung
der Außeren Unabhängigkeit wie zur zeitgemäßen „Herſtellung deut»
her Freiheit und Berfaffung aus dem ureigenen GÖgifte
der Nation”. In diefem Sinne verkündete fchon der preußifche
Feldherr bei feinem Vorruͤcken nach Sachſen die freie Volksſprache oder bie
freie Preffe, die fhon feit dem Unglüd alle Stantögebrechen ungehemmt
belsuchten durfte ; und unter eifrigfter Mitwirkung Preußens wurde der gans
zen. deutfchen Nation urkundlich die Preßfreiheit zugefihert. In dies
fem Sinne erklärte man wiederholt und feierlich noch vor Eröffnung ber -
Berathung der vaterländifhen Angelegenheiten auf dem Wiener Congreß
wie bei der Eröffnung des deutfchen Bundes die freie Sffentiihe Mei⸗
nung der Nation, für welche neben freier Preffe auch Petitionsfreis
beit als weſentlich anerkannt war, für den Leitftern der Regierungen unb
35) ©. bie Artikel Blüher, Preußen, Deutfhe Staatsge⸗
ſchichte, und Deutſches Landesſtaatsrecht.
68 Grundgefeg, Grundvertrag.
ihrer Staatsmaͤnner. In die ſem Sinne enblid verſprach der König
felerlich der Nation „eine mit Zuziehung ber Feier zu begrüns
dende, in einer Verfaſſungsurkunde feſtzuſtellende reiheftändifche Verfaffung
ober Eonftitution, und eine „aus allen Elaffen bes Volkes
zu bildende Repräfentation”.
Us das Wenigfte der Rechte der Vollsverttetet hatten auf des Koͤ⸗
nigs Befehl in dem Gongreßverhandlungen- Über dieſe aus allen Claſſen
des Volks zu bildende Volkivertretung die koͤniqlichen Bevollmaͤch⸗
tigten in ihren Entwürfen der Bunbesacte und ihren officiellen Erklärungen
am bie zwei und dreißig Regierungen deutfcher Länder über die wefentlichen
beutfchen Volksrechte jene oben angeführten Mitentſcheidungsrechte und
Gontrolcechte bei Landesgefegen und Steuern beharrlich gefordert. |
In diefem biftorifhen Bufammenhange, in biefem groß:
hergigen und aͤcht grundvertragsmäßigen Sinne wurden unter
der vorigen Regierung jene königlichen feierlichen Zufiherungen und Geſetze
gegeben, bie als die preußifhe Magna Charta der weiteren Ent
widelung feines Rechts zuſtandes zur Grundlage bienen follten.
Gerechter und politifch weiſer, mehr durch das Elarfte hiflorifche Recht
und biefprechendften Erfahrungen gerechtfertigt als diefe Zuſagen und ihre volle
großhersige Erfüllung mag kaum im Gebiete der Politik icgend eine Regie
rungsſhandlung gefunden merben fönnen.
Urkundlich und klar liegt es jeht, nach ben Forſchungen aller gründlichen
Beobachter des deutfchen Rechts, allen Urtheilsfreien vor Augen, daß Überall
in Deutfhland, fo wie überhaupt in ben germaniſchen Staaten, bie voll»
ftändbige Volksfreiheit das urfprüngliche, das wahre hiſto—
riſche Recht iſt; ihre Unterbrüdung aber nur das Werk unrechtlicher
Gewalt, revolutiondärer Lebergangszeiten des Fauſtrechts
und des Abfolutismuß.
Auch in allen preußifhen Provinzen, in Brandenburg
und Oftpreußen, in Zrier und Köln, wie in Jülich, Cleve
und Berg, in der Mark und MWeftphalen, erhielten fi, fogar durch
das fauftrechtlihe Mittelalter hinduch noh ein Zroßer Xheil der
Bauern die alten deutfchen Freiheitsrechte: vertraggmäßige Bewilligung
der Abgaben und Laften, Mitentfcheidung bei Geſetz und Gericht. Sie übten
fie auch noch mit den Stabtbürgern und Rittern in Randesverfammlungen
aus. Die Landftände befaßen außerdem faft überall, namentlich auch in Oſt—
preußen und Brandenburg, nody nach den vom großen Kurfürft beftätig-
ten Urkimden noch größere Rechte in Beziehung auf Ernennung oder Vor:
mundfhaft ber Megenten, und die Zuflimmung felbft zu Bündniffen und
Kriegen und auf ben gemwaltfamen Widerftand gegen Vertragsbruch der Re—
gierung, größere, als wir gemäßigten Liberalen heutzutage fordern. Dar:
über enthalten die urkundlichen Stellen in den Artikeln Deutfches Lan—
desſtaatsrecht und Preußen und die dort citirten ausführlichen Werke,
insbefondere auch die neuere Gefchichte derfandftände von Unger
und Simon’s Preußiſches Staatsreht Bd. I. S. 114 ff. die
unwiderleglichen Urkundenbeweiſe ˖
Grundgeſetz, Grundvertrag 569
Dieſe Schriften und die ganze Geſchichte geben aber auch zugleich Auf
ſchluß darüber, wie diefe ſtarken Verträgsrechte entlräftet wurden,
fo daß dadurch unfer Ungiäd und zu deſſen zulünftiger Abwehr zeitgemäße
Erneuerungen unvetmeidlidy wurden.
1) Die feudalftändiihe Form wurde unzeitgemäß umb
ungerecht mit dem Verfchwinden der Verhaͤltniſſe des Mittelalters, und die
provinziellen entfheidenden großen Rechte der Stände
wurden binderlich, als viele Heinere Länder ein großer einheitlicher
Sräftiger Staat wurden.
2) Zu biejen nathrlihen Gründen der Ungunft ber Fürften gegen die
Landftände kam der Einfluß bes verderblichen despotifhen Beifpiels von
Frankreich.
3) Doch der Hauptgrund beſtand in dem Uebergewicht des
Adels in den Staͤndeverſammlungen. Jene citirten Schriften
enthalten die nicht minder klaren Urkundenbeweiſe, daß leider großentheils auch
in den preußiſchen Provinzen, wie faſt überall in Deutſchland, in Frank⸗
reich und anderen Ländern, der Adel noch mehr ale mit ber fauſt⸗
rehtlihen Schwertesgewalt duch ben Mißbrauch fein«s
Uebergewihts in ben landfiändifhen Verfammlungen,
mit Hilfe unvaterländifcher Juriften und der Fürften, denen cr für Hof
gunft und Privilegien die Rechte feiner Mitftände und die Kraft der land»
ftändifhen Verfaſſungen opferte, die Bauern allmälig aus Gerichts» mad
Landesverfammiungen verbrängte und mit Srohnden , Binfen und Leibeigars
(haft, mit faft alleiniger Steuern⸗ und Soldatenpflicht belaftete, zum
Theil durch abgenöthigte Abtretungen und Auskaufungen un ihren Gutsbeſitz
brachte. Auch ohne ſolche traurige Züge, wie auch in Brandenburg die Bauer n
ebenfo wie in füddeutfchen Ländern zur Zeit ber Bauernkriege, fobald fie
rechtlichen Widerftand gegen ungerechte Belaftung verſuchten, blutig un:d
geaufam zu Boden gefchmettert, wie fie in Brandenburg bei Weigerung d er
meift ungerecht aufgebürdeten Frohnden durch Spießruthen zerfleifcht wu rs
den — auch ohne ſolche Züge iſt dieſer Theil der Deutfchen Geſchichte, bie fe
Unterdrädung der Bauern vorzäglih durch die unvolkeß⸗
mäßigen Lanbflände und durch das Uebergemicht bes Ade Is
in denfelben, die allertraurigfie Seite ber ganzen beu t>
(hen Geſchichte. Und als nun ber Adel durch Unterdrüdung des frei en
Bauernſtandes, diefer wefentlichften Grundlage gefunder Staaten, ja zum
Theil felbft durch Verdrängung der Städte die Ständeverfammlungen vollen b6
beherrfchte ; ba wurde biefes nicht blos zur Erwerbung ber Freiheit von Stau: rm
und Kriegspflicht, fondern aud) der beften Aemter am Hof, in ber Kirdıe,
im Civil⸗ und Militaͤrdienſt benugt. Die Verfaffungsrechte wurden cu ch
nicht. 6106 oftmals gegen Hofgunft oder aus Trägheit und Furcht fchlechtm
Fuͤrſten preißgegeben. Sie wurden auch oft zu einenfinniger Hemmung a us
ter Regierung mißbtaucht, fo daß die Fürften fie nicht achteten und .d. 18
Volk das furchtbare Wort Schloͤzer's von der privilegirten Landesve rs
rätherei nur allzu oft gerecht fand. '
Freilich mag man ſehr Unrecht thun, ein zu hartes Urtheil blos Kb er
‚570 Grundgefeg, Grundvertrag.
den deutfchen Adel daran zu knuͤpfen, demm leider — ſeitdem ber breifige
Jährige Krieg nicht blos deurfche Fluren und Dörfer, ſondern audy die deut
Shen Gemuͤther verwüflet hatte, nachdem das Beifpiel des befpotifchen göfts
lichen Rechts des franzoͤſiſchen Könige'fo verderblich wirkte — halfen auch
umvaterländifche Juriſten und Beamte und Fürften, und nicht minder bie
Barholifchen und proteftantiichen Praͤlaten. Beide lebteren theilten für. ihre
Domänen und geiftlichen Güter den Raub derunglücfeliaften Unterdrückung.
Dis übrigen Geiftlihen, die Städter, das ganze Bold aber wurden ebenfalls
Mitſchutdige des ſchmachvollen Unrechts im Baterlande. Denn
fie bulbdbeten ohne energifhen rechtlichen Gegenkampf dieſe
größte Entmannung und Verderbniß des Vaterlands, die Vorbereitumg aller
fpäteren Schmach, der fchimpflichen Berftüdeling, der Auflöfung und Uns
terdruͤckung des Reichs durch die Fremden.
Selbſt nicht Das, daß der Adel oft ebenſo fittlich wie politiſch fo tüef
font ‚ an bem Uebermuth und ber Derberbnif der Höfe Theil nahm, fort
dauernd alle übrigen Glaffen dee Geſellſchaft zu uͤbervortheilen ſuchte und
wie in fonft keinem europdifchen Lande fi immer kaſtenmaͤßiger und hoch⸗
nadıthiger von allen anderen Ständen abfonderte, daf er, großentheils in Döf-
lingsverderbniß und Stellenhunger verfunken, weder die ihm jetzt allein ans
vertrauten Berfaffunigsrechte treu bemwahrte, noch auch die Pflicht der Verthei⸗
bigung bes Vaterlandes, fuͤr welche er doc; feine Lehnguͤter beſaß, fo übte, daß
SRirderlagen, wie die von Aufterlis und Jena, unmöglich wurden —
oc das berechtigt nicht zu bitteren Vorwuͤrfen gegen Menſchen, fondern
sur gegen bie fchlechte Faftenmäßige ungerehte privilegirte
Btandeseinrihtung und gegen die fchlechte Verfaſſung. Nie darf
man, fobald man einmal irgend eine Elaffe, fobald man alfo den Adel zur un:
gerecht privilegirten Kafte macht, noch den Menfchen, fondern mun muß
ber grundverderblichſten, ungerechteften, der unfittlichften
rund unchriſtlichſten aller Einrichtungen die Vorwürfe mahen —
SBormwürfe, die fie naturgefeglih, pſychologiſch und hiftorifch gewiß ſtets
rind überall fich wieder verdienen wird, wo die ungludfe:
Ligfte Politik fieduldet oder gar neu einführt ?%). Wenn ihr aus Berbien:
dung ſuperkluger Weisheit oder Trägheit tie Menſchen in Berhältniffen
geboren und erzogen werden und beftehen Laßt, welche ſchon
ifirem ganzen Grundweſen nach verkehrt find — wie kann man fid) wundern,
wenn diefe Menfhen naturnothwendig entarten!
Laffe man ein ganzes Volk oder einen Theil deffelben in_geiftiger und
p olitifcher Keibeigenfchaft, wie kann mun ſich wundern, wenn e8 immer mehr
e atadelt, unpatriotifch, unpolitiſch und felbfljüchtig wird, wie man jegt fo
le iufig dem deutfchen Volke oder doch einzelnen Glaffen deffelben vorwirſt!
36) Natürlich gehoͤren bicher nicht folche für das allgemeine Wohl
Alller unentbehrliche oder entfchieden beilfame Pairie-Aemter, wie ın
Gingland, freie grundvertragsmäßige mit Aller Zuftimmung be—
g ründete ober beftehbende Rechte, und noch viel weniger das heilſame
ee e Recht, fo weit es für das Wohl des Volks der Grundvertrag
giligte.
y; 1
Grundgeſetz, Grundvertrag. 571
Es iſt namentlich auch gar nicht zu verwunbern, wenn ſo der Adel voͤllig
unchriſtlich wurde. Denn wie kann Der aͤcht chriſtlich bleiben, der, wenn auch
zuerſt ſchuldlos, die erſten chriſtlichen Gebote der bruͤderlichen Gleichheit ſelbſt
ſchon durch fein bloßes Daſein tagtäglich verletzt, der, um nicht beſtaͤndige
Vorwürfe zu empfinden, ſich dieſen Haupttheil der chriſtlichen Lehre ſophi⸗
ſtiſch wegdeuteln und verdrehen muß?
Hier eins der vielen Beiſpiele, wie die Geſchichte nicht etwa blos des
deutſchen, ſondern jedes nicht conſtitutionellen privilegirten Adels dieſe An⸗
ſichten beſtaͤtigt.
Auf dem ungluͤcklichen legten franzoͤſiſchen Reichſstage, welcher der Re⸗
volution vorausging, auf dem von 1614, ſuchten zuerſt die Abgrorbneten
des dritten Standes, die Städte, ſich den Ständen der Geiftlichkeit und des
Adels freundlich zu nähern mit der Erklärung ihrer Bereitwilligkeit, für das
Wohl des Baterlandes mit ihnen gemeinfchaftlidy und zu jedem Opfer bereit:
willig zu wirken. Dabei drüdten fie fi) mit gutmüthiger naiver Unterorb>
nung unter die höhere Würde und die Vorrechte der beiden andern Stänbe
aus. Sie ſagen, es habe Gott gefallen, der Geiſtlichkeit, als den erftgebor:
nen Söhnen Frankreichs (aine) , die vollen Rechte und Güter der Erſtgebutt
zuzuweiſen, dem Adel’ dann , al® den Zmweitgeborenen (puine), ebenfalls die
geeigneten Vorrechte zu verleihen , beide aber werden wohl mit ihren jüngften
Brüdern (cadets) zum Wohle des lieben Vaterlandes zufammen wirken. Da
entbrannte ber hochmüthige Adel im heftigen Zorne, daß diefe „gemeinen
Bürgerlichen‘ es ſich angemaßt, fie Brüder sunmnen. Nicht zufrieden
mit unmittelbarer roher beleidigender Zurüdweifung , uberguben fie dem
König eine befondere Befchwerde über die ihrem Adelſtand mwiderfahrene Be:
ſchimpfung. Sie fchämten fi, fo ſprachen fie zum König, nur die Worte
zu nennen, die fie beleidigt hätten: les terınes qui nous ont offenses. En
quelle miserable condition sommes-nuus tombes, tellement rabaixsee,
qu’elle fut avec les vulgaires en la plus etroite societe, qui soit parmi les
hommes, qui est la fraternite. Die Bürgerlichen aber ſchilderten nun in einer
fiändifchen Beſchwerdeſchrift an den König die Bedruͤckungen, Rohheiten und
Verderbniſſe des Adels fo wie der von adeligen Offizieren befehligten ſtehenden
Truppen, ihre furchtbaren Gewaltthaten gegen das Volk, gegen welches diefels
ben drger hauften, als jemals die Suracenen gethan hätten, und welches fie
buchftäblich zwaͤngen, ſich mit wilden Sräfern zu nähren. Sie nennen bie
Adeligen: hommes affames, insatiables en la cupidité d’autrui u. f. w.
Diefe Schrift enthält ungefähr alles Böfe vereinigt, mus jemals von dem
Adel ift berichtet und gefagt worden.
So wurden auf diefem durch Zwietracht der Stänbe erfolglofen Landtag
die Maitreffen-Regierungen, die Nevolution und die furchtbare Erbitterung
gegen den Adel vorbereitet. Die letzte Beſchimpfung erlitten bie Bürgerlichen,
als fie 1789 zu der königlichen Eröffnungsfigung des Reichstags durch eine
fhmale Hinterthür einziehen und mit unbededitem Haupte figen mußten,
wahrend der Adel bedeckt war.
XVII. Neue Verwirklichung der Vertragsgrundfäge feit
der Unglüdszeit durch zugefiherte und begonnene Begrän>
572 Grundgeſetz, Grundveritag.
bung freier Berfaffungen. Zunm aͤch ſt dns neue preußifhe
Befes. — Es ift der Gegenftand befonderer Artikel des Staate-Rerikons
und mußte thellweiſe auch hier angedeutet werden, wie nach dem furdhtbaren Un:
luͤck in den franzoͤſiſchen Kriegen und vollends in der Zeit der Erhebung gegen
die auswärtige Erobrrungsgemale die Kürften und die Nation einftimmig
den Grund bes vaterländifchen Ungluͤcks in den kaſtenmaͤßigen Standesver:
haͤltniſſen und in dem Mangel freier ſtaatsbürgerlicher Berfaf:
fungen, bie Bedingung ber Sicherung gegen ähnliche Schmach, die Bedin⸗
gung der Wiedererwerbung der und gebührenden Stellung und Mache unten
ben Böllern in der Begründung folcher Verfaſſungen fanden. Es wurde
angedeutet, was in diefer Beziehung bereits gefchehen iſt. In der Natur der
Ver haͤltniſſe lag #8, daß bie conftiturionellen Berfaffungen der Meineren umd
mittleren deutfchen Staaten, auch bei dem beſten Willen, jener großen Auf:
gabe für das Sefammtvarerland nicht genügen konnten, daß fie auch in ihren
inneren Zuftänden bie woblthätigen Wirkungen ihrer Verfaſſung ſtets ver-
kuͤmmert ſehen mußten, fo lange nicht Defterreih und Preußen in ehrlicher
Erfillung des wahren Sinnes jener fuͤrſtlichen Zufagen und der Beflimmun-
‚gen der Bundesact⸗ dem Muſter der freien Länder Europas und der beutfchen
«onftitutionellen Staaten folgen wollten. Bis dahin blieb «8 eine Hauptauf:
gabe für die Waterlandsfreunde in diefen kleineren Staaten, fo weit es ihnen
nur immer bie maßlofen Hinderniffe und Berfümmerungen ihrer rechtmaͤßlgen
Freiheit durch Einwirkungen der größeren erlaubten, den Sinn für conſtitu⸗
Uonelle Freiheit und fie politiſche Blldung möglichft zu wecken und Teben-
dig zu erhalten.
Fest thut nun Preußen in dem vereinigten Landtag einen neuen Schritt,
welcher Deutfchland auf der Bahn zur Nutionalfreiheit außerordentlich vors
wärts führen koͤnnte und ſollte, der aber, wenn die glänzende preußiiche Na⸗
tionalverfammlung an ihrer fchrierigen Aufuabe vor der Augen Europas
banfbrüchig würde, ung meit zuruͤckwerfen — und gerade nur dadurdy unab:
fehbare Gefahren bereiten Eönnte.
Deshalb verdient dag neue Gefes die größte Beachtung und auch im
Staats-Lexikon noch eine weitere Vergleichung mit den bisher entwidel:
ten Grundſaͤtzen. Doch haben ſchon die mah.end des Micderfihreibens diefer
Zeilen erfchienenen Schriften preußifher Staatsbuͤrger über das neue Gefeg
binlänglich die Anfickt beftätigt, daß ich die genauere Erwaͤqung der einzel:
nen Beftimmungen des preußiichen Rechts preußifchen fachkundigen Män-
nern überlaflen Fönne.
Urkundlich fcheinen bereits folgende Dauptpunfte fo Fehr erwiefen zu
fein, daß ich brgierig wäre, zu vernehmen, was man ihnen wohl entgegenfegen
möchte ꝰ7).
37) Befonders vollſtaͤndig und ſcharſ find die urkundlichen Beweiſe zuſam—
mengeſtellt in der Schr t: Annehmen oder Ablehnen? Die Ver—
faſſung vom d. Februar 1847; beleuchtet vom Standpuntte
ae Rechts, von H. Simen. Leipzig, bei Georg Wigand.
1847.
Grundgeſetz, Grundvertrag. 373
I. „Das feit 1807 —1823 vielfach wiederholte vechtsverbindlichfte
Koͤnigswort des verftorbenen Königs, defien Verpflichtung nad) den Grund⸗
fügen der legitimen Erbmonarchie in vollem Umfange auf feinen königlichen
Thronfolger überging, verbürgt nad) feinem wahren und redlicheh Sinn den
Preußen eine „conftitutionslle repräfentative Reichsverfaſ⸗
fung, welhe mit Zuziehung von Bürgern zu begründen und in eine
Berfaffungsurkunde aufsunehmen iſt.“ Diefelbe fol aus allen
Glaffen der Bürger eine Repräfentation des ganzen Volkes
bilden, Preßfreiheit, allgemeines Petitionsrecht und die zum
Weſen der conftitutionsilen VBerfaffungen gehörigen Rechte, wie fie alle freien
Völker Europas befigen, und mindeitens die obigen vier Dauptrechte, die Nas
mens des Königs feine Bevollmächtigten auf dem Wiener Congreß als ein
Minimum deutfcher Iandfländifcher Rechte anerkannten, gewähren. Diefes
Koͤnigswort und die bezeichneten Rechte find zugleich in dem deutfchen hiftoris
ſchen und preußifchen Landftändifchen Rechte, in den noch ungleich größeren
gefhichtlichen Rechten deutfcher und preußifcher Landflände begründet. Die
legteren ſollten nur gegen Einführung der fchon jeit 18:10 ftatt ihrer zugefagten.
zeitgemäßen neuen freien Verfaſſung rechtsguͤltig aufgegeben werden. Sie
find auch begründet in den Wünfchen und Beduͤrfnifſen der preußifchen Nas.
tion, die, wie ebenfalls eine neue preußifche Schrift ?®) energiſch ausführt, eine
nationale, König und Volk eininende, Beiden Macht und Ehre fichernde
Regierungspolitif roffen dürfe.” |
Il. „Diefes feinem Weſen nady ſchon grundgefegliche Koͤnigswort iſt
zum Theil bereits auch in der aͤußern Form von Grundgeſetzen naͤher
feſtgeſtelt, namentlich in dem vom 22. Mai 1815, in dem Gefepe Über die
Staatsfyulden von 1820 fo wie in den provinzialftändifhen Verfaſſungen
von 1823.’
IL. „Die neueften Verordnungen über den vereinigten Landtag find
als Mittel der Vereinigung der Nation mit ihrem Könige über eine befriedis
gende Verfaſſung fehr dankenswerth und heilfum. Sie enthalten aud) einige
ebenfalls fehr erfreuliche und dankenswerthe woͤrtliche Anerfennungen fehr
wichtiger Srundfäge, wie die vom Wefen des hiftorifchen deutſchen
landftändifhen Rechts und von dem Worte des verflorbenen Koͤ⸗
nige ald Grundlagen neuer Berfaffungsbeflimmungen, fodann
die vom fländifchen Zuſtimmungsrechte bei neuen Steuern und Anlehen.“
Sie enthılten endlich — was wenigftene wir, mie abweichend auch: Viele
urtheifen mögen, nach unferer alten Ueberzeugung billigen müffen, eine ers
freuliche Annärerung an das conflitutionelle Zweilummernfpftem und das
durch überhaupt an die zeitgemäßen conflitutionellen Formen der freien euros
paͤiſchen Völker.
„Allein es vereitelt und verlegt, nach jenen Ausführungen, ber übrige
Inhalt diefer Verordnungen nicht blos jene wörtlichen Anerfennungen , fons
dern das bereit3 in feiner gefeglihen Wirkſamkeit beftehende, an ſich ſchon
% 1
38) Die vier Fragen in Bezichung auf die Verordnungen
vom 3. Februar. Leipzig, bei DO. Bigand. 1847.
z J
57a Grundgeſetz, Grundvertrag.
ſehr dürftige Verfaffungsrecht der preufifchen Nation gerade in feinen wefent:
— Beſtandtheilen“
1) Mach Form, Wort und Inhalt der neuen Verordnungen um⸗
gehen dieſelben nicht bio⸗ die Erfuͤllung der unter J. enthaltenen koͤniglichen
Berſprechungen, die wohl bereits allzu Lang verſagt wurde, — und bie doch
jegt endlich ſchien erwartet werden zu duͤrfen, wo man die große neue Eins
‚ richtung des vereinigten Landtags bilden Eonnte. Sie verlehzen aber auch die
oben erwähnten grundgeſehlichen pofitiven Beflimmungen darin, daß aller:
mindeftend und unbedingt alsdann bie roahre nach dieſen Geſetzen, nament-
et dem Geſetz von 1820 jährlich fi verfammelnde reichs—
ſtaͤndiſche Wolfsrepräfentation hätte in’s Reben treten müffen, wenn
Staätsanlehen gemacht werden follen; Letzteres aber geſchah bereits und foll
nun nach den neuen Verorbnungen mit Verlegung des Grundgefeges von 1820
ferner ſtets ohne Bugiebung der ungut geſchehen. Auch foll mit gleicher
Verlegung die reiheftändifche, im jährlichen Berfammlungen ausjuübende
controlirende Mitwirkung bei der Verwaltung der Staatsichulden ebenfalls
wegfallen. Mac Wort und Sinn der neuen Verordnungen vom 3, Februar
naͤmlich follten und Eonnten dieje Beine mit Zuziehung der Bürger entwor:
fene Gonftitution , Beine Bolksrepräfentation fein,’
„Ste verlegen nah jenen Ausführungen ferner —
| felbft abaefehen davon, daß ber vereinigte Landtag nie die Stelle einer
ſolchen wahren jährlichen reihsftändifchen —— und einer Reptaͤ⸗
fentation des preußifchen Volkes einnehmen kann:
2) den Sinn und Buchſtaben jenes Grundgefeges von 1820. Diefes
fordert unbedingt die Zuftimmung der verfammelten Reicheftände für
alle Anlehen, nicht blos fiir die Anlehen in Friedenszeiten und für ſolche,
für welche das ganze Staatsvermögen verpfändet ift. Es fordert ferner diefe
Zuftimmung und die controlirende Mitwirkung bei der Bermaltung der Stuate:
fhulden, indem die Verordnungen jene größten Befchränfungen hinzufügen
und fogar dem vereinigten Landtag hier wie in den allermeiften Faͤllen neuer
und erhöhter Steuern das fon faft illuforifhe Zuftimmungsreht auch
noch dadurch entziehen, daß fie dem möglicher Weife in Menfchenaltern nicht
wieder zu verfammelnden Landtag einen bloßen Ausſchuß und diefem wie:
der eine Deputation von acht Mitgliedern unterfchieben.‘
„So wird alfo die unermeßlich mohlthätige, wenigſtens rathende und
indirecte Mitwirkung der Nationalvertretung gegen vielleicht grundverderbliche
Kriege gaͤnzlich ausgeichloffen und vielleicht, fofern mın namlich der Natur
der Sache und gefhichtlichen Erfahrung Glauben ſchenkt, der vereinigte Lund:
tag felbft durch feinen Ausfhuß abgefchafft.‘
3) „VBerlegt würden auch die bisherigen Beftimmungen des grundgefegli:
chen pofitiven preußifchen Verfaſſungsrechts über das Staatseigenthum der
Domänen, insbefondere deren Beſtimmung für die Stantsfchulden, fo wie
auch die Beſchraͤnkung der angeſetzten Summe fuͤr den Hof (die Civilliſte).“
4) „Verletzt würde ferner das nach natuͤrlichem Rechte, nad) poſitivem
preußiſchen Staatsrechte und nach der bisherigen Praxis beftchend: Petitiong:
recht der Bürger und ———— „ der Wähler der Ständemitglieder über
Ku
Zn
Grundgefeg, Grundvertrag. 575
allgemeine Landesangelegenheiten — vielleicht die wohlthätigfte Wirkung der
ganzen Iandfländifchen Verfaſſung, — indem fie in diefer Dinficht alle Lebens⸗
verbindung der Provinzialftände, des vereinigten Landtags und der Ausfchuffe
mit dem Volk faft zerfchneiden und diefes politifch zu entmündigen und theils
nahmslos zu machen, die Stände zu ifoliten und Euftenmäßig zu machen
drohen.”
5) „Insbeſondere würde für die bisher fo wichti en Bitten der preus
Sifchen Nation un zeitgemäße Verbefferung und Aenderung von allgemeinen
Verfaffungsbeflimmungen jedes Organ megfallen, wenn ber vereinigte Lands
tag, ber fie allein vorbringen darf, vorausfichtlich in fehr langen Zeiten oder
überhaupt gar nicht mehr zufammen berufen würde.”
6) „Sie entzögen ebenfalls gegen das bereite in Wirkſamkeit beftchende
preußifche Verfaſſungsrecht den Provinzialftänden ihr Recht, mindeftene
alle zwei Sabre über alle allgemeine Angelegenheiten und über neu zu erlafs -
fende Geſetze die Nationalwuͤnſche und Bedürfniffe vor dem Throne und dee
öffentlihen Meinung zu berathen und auszufprehen. Kine reiheftändifche
Volksrepraͤſentation eriftirt nicht und der vereinigte Landtug wird möglichers
weife nie mehr verfammelt. Durch Bildung der Herrenbank mit einer nach
Belieben zu vergrößernden Mitgliederzahl aber wird das an fid) ganz unna⸗
türliche Webergewicht des Adels vermehrt, der Derrenftand, ja ein flarkes
Dritttheil deffelben werden berechtigt, alle Wolkswünfche von dem Ohr dee
Königs enıfernt zu halten. Auch die Ausfchäffe verfammeln fih nur alle
vier Jahre, bieten aber auch fonft gar Leinen genügenden Erfag diefer Bera⸗
thung der Provinzialftände dar.”
7) „Diefe Verlegung fcheint noch fehr vermehrt zu werden durch die jegt
eingeführte Einrichtung, daß auch bei neuen und erhöhten Steuern nicht
blos den Provinzialftänden ihes bisherige Begutachtung entzogen wird, fon:
dern daß auch nun bei der Steuer: und Anlehnsbewilligung das Uebergewicht
ded Adels, jelbft der Standesherren, die zum Theil von Steuern befreit find
und die fonjt in befondersr VBerfammlung mit nur Einer Stimme über Ein
Dritttheil alle Volkswuͤnſche vom Thron ausfchließen dürfen, hier ganz aus
Becordentlicher Weife mit der zweiten Verſammlung vereinigt, in einfachen
Stimmenmehrheitsbefhlüffen fo bedenkliche Bewilligungen bewirken koͤnnte.
Die Stelle diefes vereinigten Landtages nehmen bei den wichrigften,, ja den
wahrfcheinlich einzigen Befchlüffen über neue Steuern und Anlehen fogar die
Ausfhüffe ein, in welden die neuen Verordnungen die fo uͤberaus unvers
haͤltnißmaͤßige Zahl der Adeligen noch bie zu voller Stimmenglaͤchheit mit allen
uͤbrigen Vertretern der ſiebenzehn Millionen preußiſcher Buͤrger vermehren. —
Ja oftmals habe die Deputation mit ihren acht Mitgliedern dieſe Rechte
auszuuͤben.“
8) „Zu dieſen materiellen Verletzungen und Verſchlimmerungen der
grundgefeplihen in anerkannter Wirkfamkeit beitebenden Verfaffungsrechte
komme dann die formelle hinzu, daß im Widerfpruch mit den beftihen«
den preußifchen ſtaatsrechtlichen Beftimmungen der proyinzialftändifchen Urs
kunden und anderer älterer und neuerer Örundgefeße die neuen Belege weder
dein Staatsrathe noch den Provinzialftänden zur Berachung und Begutach⸗
576 Grundgeſetz, Grundvertrag⸗
tung vor ber Sanction vorgelegt worden ſeien, weshalb nach jenen preußiſchen
Schriftſtellern diefelben als geſetzwidrig und fogar nach Art. 66 der Wiener
Schlußacte ungültig und mithin nur als Entwuͤrfe zu betrachten ſeien.“
9) Auch ergebe fich noch folgender formeller Fehler: Diefe neuen
gen wollen offenbar durch ihre Feſtſetzungen, Aenberungen, Er⸗
meiterungen und Beſchraͤnkungen In Beziehung auf bie Verfoffungscechte der
Nation Berfuffungsbeftimmungen geben. Diefe aber koͤnnen nur durch freie
vertragemdfige Annahme gültig, nie aber durch einfeitige Negierungsentfcheis
bung wieder vernichtet werden. Sie find fonitgar keine wahren Verfaſſungs⸗
zechte,, tosber Überhaupt; noch nach dem Sinne der koͤniglichen Zufagen und
ber Grundgefeße von 1815 und 1820, Dennoch aber folle nad) den neuem
Verordnungen ber vereinigte Landtag kein Zuſtimmungstecht, fondern nur
bloße Begutachtung bei Xenderungen haben.”
40) 1,,Die gegenwärtigen Mitglieder der Provinzialftände,, welche jeßt
löslich umd unerwartet als vereinigter Landtag fie die ganz unermeßlich wich⸗
tige, vielleicht über die Zukunft und Ehre der Nation entſcheidende Aufgabe
nach Berlin berufen fein, bie neuen Veroronungen für die Nation wenig:
ftens —* anzunehmen und gültig zu ‚ron bie wre und
Aufbe der bisherigen Berfaffung gut au heißen, — biefe feien dazu
gar nicht gewählt und bevollmaͤchtigt.“ Sie wurden alſo von jenen Schrift:
” Hierindeh muß ich von jenen Schriftftellern etwas abweihen, indem
mir dazıı eine vollftfändige Competenz für diefe große preu—
ßiſche Nationalverfammlung begründet ſcheint, daß fie bem
König mit dem ehrfurdhtsvollen Danke für feine Abficht, durch ihre Verfamm:
lung die preußifche Werfaffungsangelegenheit weiter zu entwideln, ebenfo
offen als vertrauensvoll die wahren Wuͤnſche und Bedürfniffe der Nation in
diefer größten enticheidendften vaterländifchen Angelegenheit vortragen.
Zugleich aber würden fie alsdann bei erfolgter weiterer Zuftimmung bes
Könige vollftändig competent werden, mit den von ihm bezeichneten Staats⸗
beamten die neuen Verfaffungsbeftimmungen, die der König aus eigenem Ans
triebe oder veranlaßt durch die Wünfche der Verfammlung ihnen vorlegen
würde, zuberathen,, und fomit an die Stelle der im Geſetz von 1815 erwähns
ten Bürger zu treten, die der König zur Entwerfung der Verfaſſung zu be>
rufen für gut findet. Denn offenbar fteht es in dem Ermeffen des Königs,
näher zu beſtimpen, welche Bürger am Geeignetften find, bei diefem großen
Werke die Nation würdig zu vertreten.
Die ebenfo fchwierige ale wichtige Beſtimmung diefer Vertretung, bie
gleich rsichtige als ſchwierige Löfung aller Anftände in Beziehung auf die neuen
Verordnungen, die wichtigfte und ſchwierigſte Aufgabe für König und Volk,
die befriedigende Vollendung des preusifchen Verfaffungsmerfes — alles
diefes, wie koͤnnte ed gluͤcklicher und Eöniglicher bewirkt werden, als wenn
der König die vereinte Verſammlung aller bisherigen Vertreter feines Volks
zur gemeinfchaftlichen Berathung der Verfaffungsbeftimmungen ermädhtigte ?
Das bloße Gutachten über das Werk von Seitem des Staatsrathes und
der Provinzialftände Ednnte alsdann der vorhandenen Gefege wegen immers
Grundgeſeh , Grundvertrag. 577
hin vor ber Sanction erfolgen und würde bern in folcher großartigen Weiſe reifs
ich berathenen großen Werke keinerlei Schwierigkeit begründen.
Wir unfererfeits vermöchten nad) beftem Wiſſen und Gewiſſen einen
befferen Weg in diefer großen Angelegenheit zur glüdlichen Vereinigung von
Fürft und Volk, zur Verwandlung der bedenklichſten Schwierigkeiten in beider
hoͤchſte Ehre durchaus nicht zu finden. Nach dem oben angedeuteten Stand⸗
punkte aber ſtellen wir dle Erwägungen über bie zu ergreifenden Mittel und
Wege der Weisheit und Geriffenhaftigkeit der erlauchten Verſammlung
anheim und erlauben ung nur noch wenige wiffenfchaftliche Andeutungen über
einzelne Punkte des in den neuen Verordnungen behandelten preußifchen Ver:
faſſungsrechts.
So viel die Form der Verfaſſungsrechte betrifft, ſo erſcheinen
nach dem Obigen bei den Rechten des Fuͤrſten auf Treue der Buͤrger, auf
Achtung ſeiner Regentenbefugniſſe die Nation und die Buͤrger, bei ihren
Rechten auf Achtung und Schutz ihrer Freiheit und der dazu beſtimm⸗
ten verfaffungsmäßigen Einrichtungen dagegen der Regent als
die rechtlich Verpflihreten. Die Regenten können alfo nicht eins
feitig, fondern nur vertragsmäßig, nur mit Zuftimmung der Bürger biefe
Verpflichtungen ändern oder aufheben. Alle Verfaſſungsrechte find Vers
tragsverhaͤltniſſe, werden nur durch freie gegenfeitige Zuſtimmung rechts:
gültig und koͤnnen nur durch foldye Einwilligung rechtsguͤltig verändert werden.
Es mar nad) dem Obigen ein an fich richtiges koͤnigliches Gefühl, welches
ben vorigen König beftimmte, mit Empörung ſchon Diejenigen als Schänder
feiner Majeftät zu erklären, die nur Zweifel öffentlich äußerten, daß er voll⸗
ftändig das heiligſte Koͤnigewort Iöfen würde, das je gegeben war. Aber «8
war eine Taͤuſchung feiner Rathgeber, wenn er etwa glaubte, völlig belles
big über die Zeit der Erfüllung verfügen zu Binnen. Wichtiger erklaͤrte Des
ſterreich, deſſen liberale Erklärungen bie preußifche Regierung damals noch
überbot, in der denkwuͤrdigen Bundesberathung über die Petition wegen der
Verwirklichung ber Zufage des 13. Art. der Bundesacteim Frühjahr 1818,
daß in dem Inhalt unbeſtimmte Verfprechungen möglichft zu Gunſten ber
Annehmer und zur Ehre der Verfprechenden, in ber Zeitbeflimmung unbe
flimmte in ber möglichft kurzen Zeitfrift erfüllt werden müßten, wobei indeß
über die Möglichkeit felbft allerdings der Fuͤrſt, jedoch nicht nach Willkuͤr,
fondern nach feiner rechtlichen ehrlichen Ueberzeugung zu entichels
den hat. Die bald moͤglichſte Erfüllung aber iſt deshalb RAppelt wichtig,
weil die rechtlichen Zufagen ſich ſelbſt auf frühere öffentliche Rechte gründen,
die, wie auch bie Stände in Königsberg bemerkten, nur gegen zeitgemäße
neue Geftaltung des verfaffungsrechtlihen Verhaͤltniſſes (alfo durch den Ab⸗
ſchluß des neuen Verfafjungsvertrages im Sinn des Geſetzes von 1815) aufs
gegeben werden.
Wer in ſtaatsrechtlichen und politifchen Dingen urtheilsfähig iſt, ber
wird übrigens wohl nicht behaupten, man dürfe es mit den Formen in
Verfafſungsfragen leicht nehmen, es komme Alles auf guten Inhalt, ja blos
auf den fubjectiv guten Willen wechfelnder Perfönlicyleiten und Stimmungen
an, wir Isgten alfo zu viel Gewicht auf die Kormen der Vertragsmaͤßigkeit der
Suppl. 3. Staatslex. II. 37
578 Grundgefeg, Grundpertrag
Annahme und Abänderung von Verfaffungsrechten, Die Natur alles
wahren Rechts iſt Ausfhluf einjeitiger Willkür dex Wers
pflichteten. Bel Verfaffingsrechten, bei ci Örumdgefe und Verfaſſung
und ihrer Begrundung aber iſt bie rechtliche. Form faft das Weſen felbſt,
— untrennbar von ihm. Ein fefter dechtilicher Grund
ir das be Geſellſchaftsverhaͤltniß, ein Grund, welcher Dauer und alls
ertrauen, ‚allgemeine Rechtsbeftiedigung verbürgt, ein Damm
—* ee ſoll gelegt, foll erbaut werden. Sit ba der Grumbs
u jelbfl; unb feine Behandlung ‚ feine genügende Geſtaltung Feſtigkeit und
fichere Lage gleichgültig ?
a Natur eines wahren Rehtöftaates für Preußen, nach
33 — —* —— ‚und ‚der preußifchen Staatsge⸗
* le sk Erklärungen und Urkunden feit 1807, auch
nur zu ‚bezweifeln, biefe len wir. ‚für ſchwer beleldigend. Auch dürfen
wir.nimmer glauben, daf die Minifter eines Nachkommen bes Großen Fried»
rich die Natur und Harmonle der rechtlichen Grumdprincipien jemals gefährs
den möchten durch Einmiſchung widerfpredhender Principien.
1. Deshalb halten wir es auch für Pflicht, in den Eingangsworten bed neuen
ents von einigen mißverftändlichen Ausbrüden abzufehen und dabel nur
an jene hochachtungs und heilſame ſittlich-⸗religioͤfe Auffaſſung der
rechtlichen Staatsverhältniffe in „Welche mit der verfaffunge = ‚oder
ñ——— fich vortrefflich *—
* des Vaterlandes gerichtet feien. Er ift, tote Friedrich der Gros Be
fi nannte, Sohn und Bürger beffelben, er ift rechtlicher Regent eines be>
rechtigten Volkes.
Bon felbft verſteht e8 fich aber biernady auch, daß man in jenen Stellen
auch nicht das oben beftrittene Princip der Ungultigkeit freier Befchränfungen
der monarchiſchen Gewalt durch den Regenten felbft finden darf. Alles Kö:
nigsrecht ift, wie Friedrich der Große übereinjtimmend mit allen freien
gefitteten Nationen der Erde fo vortrefflich ausführte, öffentliches Recht,
bloß beftehend für das sffentlihe Wohl und deshalb lediglich ab:
hängig von den verfaffungsmäßigen Staatsgewalten, alfo von dem König
unb der Nation und, fo weit fie dazu beftimmt find, von anderen verfaſſungs⸗
mäßigen Organen der Staatsgewalt. Es ift alfo Fein Privatrecht des Königs,
noch wenigeußber. erbberechtigten Agnaten, deren Erbrecht, abgefeben von
etwaigem Privatvermögen der Familie, ebenfalls nur öffentliches
Recht, lediglih zum Wohl des Staates und nad) der jedesmali-
gen, für diefes Wohl verfaffungsmäßig begründeten Landesverfaffung zu
beurtheilen. Der König barf und foll nad) feiner Königspflicht feine Rechte
beſchraͤnken, wenn er ſich überzeugt, es entfpreche dem Wohle des Water:
landes, für welches alle feine Söhne, alle Bürger und gewiß ebenfo die Koͤ⸗
nige und Prinzen nöthigen Fans Gut und Blut bereitwillig einfegen müffen.
Der König ift um fo berechtigter dazu, wenn es hiftorifch Elar ift, daß die
Rechte des Volks früher weit größer waren und rechtsgiltig
anders ale gegen zugefagte zeitgemäße neue DBerfaffung
Grundgeſetz, Gtundvertrag. 378
nie aufgehoben wurden. Er thut weile, ſobald es dem Volkswohl
entfpricht, Aenderungen zu machen. Die diefem Wohl widerfprechenden Rechte
find gefährdet und gefährden das ganze Regierungsrecht. Schon Lykurg
wies mit der Billigung des Ariftoteles den Vorwurf der Verwandten
feines königlichen Muͤndels, er befchränke die Koͤnigsmacht, zurück und fagte:
„Ich mache fie dauerhafter.“ Davon fol hier gar nicht die Rede fein, daß
die Beſchraͤnkungen des Koͤnigthums in conftitutionellen Staaten, 5.3. die
in England, gar nicht größere find ale die bes abjoluten Fürften, die da, two
der König von England dem Parlament, bem reiflicy geprüften Wunfche
der ganzen Nation nachgiebt, dee menfhlihen Natur zufolge durch
tägliche Intriguen, Liſten, falfche Nachrichten, Aufrelzungen der Hofpar⸗
teien und auswärtige Einflüffe beftimmt werden. Der Unterfcied iſt nur,
daß es bort der Ehre und Macht des Throns und des Landes und ber fürftiis
chen Familie frommt, hier fie gefährdet; daß dort für einen verftändigen
. König die Beſchraͤnkungen alle geordnet, ſelbſt feſt begrenzt, klar und übers
ſichtlich find und Innerhalb derfelben bei dem Licht der Öffentlichen Wahrheit
—5 und die Wahl wahrhaft frei iſt, wie faſt nie im despotiſchen
uſtand.
Auch waͤre eine andere Theorie uͤber das Recht des Koͤnigs, die Regie⸗
rungsgewalt zu beſchraͤnken, inconſequent und mit dem neuen Geſetze ſelbſt
in Widerſpruch. Auch dieſes enthaͤlt ja Beſchraͤnkungen, die in der aller⸗
letzten Zeit nicht da waren, ſogar, wie der folgende Satz ſagt, uͤber das Ver⸗
ſprechen des koͤniglichen Vaters hinausgehn. Entweder gar keine Beſchraͤn⸗
kung oder jede dem Wohle des Vaterlandes entſprechende! Jeder andere
Sag ſagt zu wenig oder zu viel ®P).
Mir find überhaupt ficher, Daß nicht Einer von allen unterzeichneten Mi⸗
niftern gegenüber der erwachten Vernunft der Nation und der gefitteten Welt
ein anderes göttlicye® Recht als das von uns behauptete, keinen anderen Zweck
ber Megierungsgewalt, Feinen anderen Maßſtab für ihre etwaige Beſchraͤn⸗
tung öffentlich zu behaupten wagen kann, daß keiner je als Förderer und ges
heimer Bundesgenoß jener Feinde des Koͤnigthums erfcheinen möchte, die ihm
Liebe, Achtung und Vertrauen freigefinnter Bürger zu entziehen fuchen,
durch deſſen behaupteten Gegenſatz gegen bie öffentliche Vernunft.
Was aber wäre das für eine flaatsrechtliche Weisheit, die ſich nicht
einmal am vollen Licht des Tages fehen laffen dürfte !
Ruͤckſichtlich des Umfangs der Berfaffungsrechte, welche
bei der Vollendung ber jegigen Entwidlung einer freien Verfaffung der preus
Fifchen Nation zu Theil werden follen, erinmert das königliche Patent ſehr
39) Beſonders fhön hat der von dem großen Kurfürften gu feinem Biogra-
phen erwählte Pufendorf in feinem Jus naturae VII. 3. das fpäter von
Friedrich dem Großen ald grundverberblich beftrittene falfche göttliche Recht
durch das wahre erſetzt. Gr fagt bier : „Richt blos das kommt von Gott, was
derfelbe felbft unmittelbar wirkte, fondern auch dad, was bie Menfchen,
um feine Gebote zu erfüllen, nah ihrer gefunden Vernunft zeitgemäß
anordnen. Duck ber Bürger vertragsmäßige Ginmwilligung erhält alfo bie
Regierung ihre moralifche Heiligung wie ihre Kraft.”
37 *
580 Grundgeſetz/ Grundvertrag
erfreulich an die zwel Grundprinelplen ruͤckſichtlich des Umfangs der ſtaͤndiſchen
Rechte, naͤmlich:
4) ambie im Weſen deutſcher Verfaſſung enthaltenen ; und
- 2) am bie durch das Fuͤrſtenwort des vorigen Königs zugefagten ſtaͤndi⸗
ſchin Rechte,
- Der ganze Inhalt und das, was die Einiglich preußifche Regierung flets.
als das Menigfte der Verfaſſungs-Rechte erklärte, die den Deutfchen.
und Preußen werben müßten zur Befriedigung ihrer weſentlichen gefchicht-
lichen Rechte, ihrer Wünfche und Bedürfniffe, diefer wurde genügend oben
dargeftellt. Und ſſcherlich nidyt minder vollftändig und großherzig, als nach,
a feierlichen Aufforderungen und Zufagen die Nation ihrerfeits
le Wunſche ihres Fürften erfüllt, wird auch ihr das Gegenverfprechen erfüllt
2 F Hiernach kann wohl das neue ſtaͤndiſche Geſetz auch in dieſer Beziehung
noch nicht als das vollkommene und ganze preußlſche Verfaſſungsrecht angefe:
ben werben, was auch felner ‚eigenen jo wie früheren Erklärungen wider:
fpeicht,, fonbern nur al8 Grundlage zur weiteren Ausbildung deffelben
unter Mitwirfung von Männern bes Volks, tie fie das Geſetz von 1815
vorſchreibt. ua! |
Insbeſondere ift auch die Befchränfung ſtaͤndiſcher Zuftimmung blos zur
Erhebung neuer oder erhöhter Steuern fo wenig im Wefen beutfcher
ſtaͤndiſcher Rechte enthalten, daß eine ähnliche Beſchraͤnkung vielmehr nur
in. den unglüdlichften undeutfcheften Zeiten der Nachahmung des franzoͤſi—
[hen Despotismus von Ludwig XIV., überhaupt nur mit bem Zer⸗
fall ber deutſchen fändifchen Verfaffungen in Deutfchland Eingang fand.
Sie war ein Haupttheil jener verfaffungslofen verdorbenen Zuftände, welche
alles Ungluͤck Deutfchlande und die Schladht von Jena herbeiführten. Auf
dDiefen elendeften Zuftand der deutfchen Gefchichte kann man nicht das we=
fentlihe deutfche hiftorifche Recht gründen, auf folche verkehrtefte
Zuftände kann man nicht den Neubau preußifcher Freiheit, Rechtsordnung
und Zukunft gründen wollen !
Man kann diefes um fo weniger, da die einzige Entfchuldigung der
Verlegung der allgemeinen germanifchen unbedingten Steuerbewilligungs-
rechte, die Entſchuldigung, die darin liegt, daß in großen Monardien,
melche aus verfhiedenen Provinzen mit blos abgefonderten Provinzialftänden
beftanden, gefürchtet werden konnte, ihr Schickſal würde möglichermweife von
beſchraͤnkten Anfichten dieſer Provinzialftände zu abhängig oder es wuͤrde
ein Streit der Provinzen herbeigeführt werden, bei einer Vermilligung
durch die Reicheflände ganz wegfällt. Wer aber wagte es zu fagen, daß die
Parlamente von London, Paris, Brüffel ihre vollen Steuer : Bewilligungs:
rechte mit ihrer Gontrole der Bermendungen und mittelbar der ganzen Staate>
Vermaltung zum Verderben von Thron und Staat gebrauchten! Sicher die
preußifchen Reicheftände würden e8 auch nicht thun, und am menigften, wenn
man ihnen wirklich vertraut , ihnen wirklich befriebigenden Rechtszuſtand
und die gerechte Rechtsgleichheit gewährt und nicht durch das Gegentheil ent:
Grundgeſetz, Grundvertrag. 581
weder Theilnahmlofigkeit am Gemeinmwefen oder einen verberblichen Krieges
ftand organifirt.
Auch die Beſchraͤnkung ber Steuers und Anlehensberoiliigungen In
Beziehung auf Kriege wäre, abgefehen von ben neueren unbedingten Zus
fiherungen, gefaͤhrlich, weil fie die wichtigfien Rechte einfeitigem Belieben
preisgiebt, fomit eine Quelle des Haders würde. Gerade wegen Kriegen ent>
ftehen die meiften und wichtigſten Steuererhöhungen und Anlehen. Und
nirgends mehr als bei dem folgenfchweren Beſchluß eines Krieges ift die
Mitwirkung ber Nation wefentlih, zur Verhinderung verderblicher Kriege,
zur Begründung des allgemeinen Vertrauens ber Nothwendigkeit und Gerech⸗
tigkeit eines befchloffenen Krieges und der freudigen Vereinigung aller Natio⸗
nalträfte für denfelben.
Nach den früheren deutſchen reichsſtaͤndiſchen und Iandftändifchen
Srundverträgen, auch den preußifchen, hatten die Stände geradezu Mit:
beftimmung bei Bündniffen und Kriegen. Dan kann der Krone jest allein
diefeß Recht einräumen. Aber eıne mittelbare Mitwirkung durch die regel:
mäßigen Bewilligungsrechte in Beziehung auf Anlehen und Staatsſteuern,
wie fie in England und Frankreich und bei allen freien Völkern zum
Heil für Fuͤrſt und Volk befteht, warum will man diefe den preus
ßiſchen Ständen entziehen, warum ihnen weniger vertrauen ?
Als befonders bedenklich erfheint uns, auch abgefehen von bem bereits
beftehenden Recht, die oben erwähnte Befchränkung bes natürlichen Rechts
der Petition dee Wähler und Buͤrger.
Frage man die Engländer , die doch fonft ungleich mehr Mittel haben,
den patriotifchen Bemeinfinn ber Bürger zu wecken und zugleich mit den Wüns
[hen und Bebürfniffen der Bürger ihre befonderen Verhältniffe zur oͤffent⸗
lichen Sprache zu bringen und 'cine lebendige organifche Wechſelwirkung
zwiſchen der Nation, ihrer Regierung und ihren Ständen zu erhalten —
frage man biefe praftifhen Meifter in der Politik, ob fie nicht dennod) das
Petitionsrecht für unermeßlich wichtig und wohlthätig , ja nothwendig halten !
Ihre wichtigften Maßregeln, 3. B. die der Sklavenemancipation, der Par⸗
lamentsreform, der Aufhebung ber Getreidezölle, wurden bei ihnen durch Pes
titionen und Derfammlungen zu ihrer Berathung reiflich vorbereitet und fo
bewirkt. In Baden iſt unter erfahrenen Regierungs⸗ und Kammermitglie:
dern Darüber nur eine Stimme, daß das Petitionsrecht außerordentlich
‚heilfam zur Entwidlung des Gemeingeiſtes, zur Enthällung und Berüdfidys
tigung vieler fonft unbeachtet gebliebener Bebärfniffe und Verwaltungs:
mängel, zur Durchführung ber einflußreichflen Maßregeln wirkt und eben-
fo menig als in England je einen weſentlichen Nachtheil begründete. Eine
weife Regierung muß die ganze Anſicht und Stimmung ber Bürger kennen.
Welches Mittel ift hierzu trefflicher Es vermehrt das Vertrauen, die An:
haͤnglichkeit der Bürger für die Regierung und Verfaffung. Es ift überhaupt
eins dee wefentlichen Mittel zur Bildung eines freien Volkes, zur Bildung
und Verwirklichung einer freien Gefammtübergeugung und öffentlichen Mei⸗
nung. &8 tft abfolut wefentlich, um dem Kaftens und Privtlegiengeift
- Inden Ständelammern entgegenzuwirken.
582 | Grundgeſetz, Grundvertrag.
Iſt irgend ein Grund vorhanden, auch hier wieder das preußiſche Voll
den übrigen Völkern nachzuſetzen, ihm zu mißtrauen?
Dile freien Petitionen faft aller peeußifchen Stäbte für polltifche Freie
beit, für Preffreiheit, Erweiterung der ftändifchen Rechte waren, wie ſchon
erroibnt, bie wichtigſten und ſchoͤnſten Früchte der preußifchen Provinzial:
ftände,, der hoͤchſte Ehrenpunkt der preubifhen Nation im Ins und Auslanbe,
Sie wirkten wahrſcheinlich vorzugsweiſe mit, die koͤniglichen Beſchluͤſſe Aber
den vereinigten Landtag zu veramlaffen. Warum nun diefe heilfame Duelle
des Guten plößlich verftopfen | Nicht blog alle Wähler der Stände, fondern
alle Bürger müffen das freie Petitionsrecht, und Feinedwege zur Förderung
des Egoismus. befchränft auf bloße Privatangelegenbeiten,, fondern zur Ers
weckung des Gemeinfinns, auch für alle patriotifchen Angelegenheiten ha⸗
ben. Bitten und Waſſertrinken muß doch wohl Allen erlaubt jein, wo von
Freihelt die Rede fein ſoll
Vertrauen, volles Vertrauen zwiſchen Fuͤrſt und Volt, das erkannte
mit Recht ber vorige König, das erkannten auch die neueften Eöniglichen Er>
klaͤrungen als das Gluͤck und als bie Kraft des Fürften und des Volkes an.
Kann es dieſes Vertrauen fördern, wenn in Beziehung auf bie theuerſten
Angelegenheiten, die bes Vaterlandes, die Sprache, die Bitte, die Wünfche
ber Bürger nicht frei zum Thron wir zur Bandesvertretung gelangen £önnen ?
Dlieſes gilt auch in Beriehung auf die Beſchraͤnkung der Bitten ber Stände.
Wozu fie beſchraͤnken auf innere Angelegenheiten? und ferner durch eine Mehr:
heit von jweiDrittheilen? Ä
Wozu vollends die neue Befchränkung im neueften Geſetz, daß in zwei
Perfammlungen zwei Drittheile zufammenftimmen müffen? Warum foll
nicht, wie in England, jeder der beiden größten, befonnenften Corporatio—
nen das freie Wort an ihren König bleiben ! Zuerſt jerreißt man die Staats:
bürger nad) geichichtlich heutzutage nicht mehr eriftirenden Verhältniffen in
abgefonderte ftändifche Kaften, gründet durch ihre Abfonderung und ihre
verfchiedenen Rechte und Vorrechte einen Gegenfag ihrer Intereſſen, menſch⸗
licherweife Eiferfuht und oftmald Spannung, giebt dann bem einen, dem
Adelftand, die höchft ungleiche überwiegende Reprafentation, dann aber:
mals einer Eleinen Fraction des Abdelftandes bie ganze Hälfte aller ſtaͤndi⸗
ſchen Autorität und die Bevormundung der ganzen andern Verſammlung.
So bemirft man, daß vieleicht die Wünfche, ntereffen und Bitten
der unendlich überwiegenden Mehrheit eines Volkes, die, auf deren begeifter:
ter Liebe und Vertheidigung ihres Vaterlandes die Kraft und die Sicherheit
von Thron und Staat beruht, gar nicht einmal zum Thron Eommen fönnen.
Was früher fo Viele betrübte, diefes wird jegt durch die neue ungleich ver:
mehrte Befchränfung zehnfach betrübend,, wird es noch mehr, je wichtiger das
Recht felbft durch die erhöhte Bedeutung eines allgemeinen Landtags im Ge:
genfaß gegen einen provinziellen und durch die Ausfchließung aller allgemeinen
vaterländifchen Angelegenheiten von dem befondern wird.
Früher gelangten vielleicht doch in einzelnen Provinzen bie Gefühle und
Wuͤnſche des im Stimmrecht fo weit nachgeftellten Bauerns oder Buͤrgerſtan⸗
Srundgefeg, Srundvertrag. 583
des an ben Thron, wenn ber Abel ber Provinz theilmeife bürgerlich mit ihnen
fühlte. Jetzt kann möglicherweife ihre Stimme ganz unterdrüdt werden.
Alte aͤngſtliche ſuperkluge Feinheit, den Ausdrud der Volkswuͤnſche zu
hemmen, verlegt das fittliche Gefühl. So auch der Sontraft, daß, wenn bie
Bürger wünfchen, ſolche Erſchwerung eines Belchluffes flattfindet, wenn
aber die Miniſter wünfchen, die Stimmen der Mitglieder ber erſten Kam:
mer jegt Belchlüffe durch einfache Majorität in der zweiten Kammer zu
Stande bringen Einnen. Durd die itio in partes wird die Sache noch
gefährlicher. Hat die Stimmenzahl von 2 in beiden abgefonderten Kammern
dem Minifterium noch nicht genügt, um unangenehme Beſchluͤſſe zu ver
hindern, hat auch die erfte Kammer und ihre beliebige Vermehrung bis in's
Unenbdliche nicht geholfen, die vom Miniſterium qewuͤnſchten Beſchluͤſſe
durch einfache Stimmenmehrheit mit Hilfe der Mlitglieder der erſten Kam⸗
mer zu erlangen, fo kann die itio in partes aushelfen, um bie unangenehmen
Beichlüfle zu verhindern, die angenehmen zu erhalten, 3. B. Steuer: und
Anlehnsverweigerungen in Berwilligungen zu verwandeln. Sobald es naͤm⸗
lich dem abgefonderten Intereſſe eines einzigen Standes oder einer einzigen
Provinz gut fcheint oder fobald die Regierung in demſelben die genügende
Mehrheit ſich zu gewinnen weiß, fo bald kann ſich möglicherweife biefer eins
zige Stand, diefe einzige Provinz ale In ihren befonderen Intereſſen gefährdet
erklären und bie Kraft des ganzen Beſchluſſes, der ganzen Steuer: ober Ans
lehnsverweigerung, alfo auch bie ganze Kraft des Bersilligungsrechts zer⸗
flören, indem fie den Diniftern die beliebige Entſcheidung anheimftent.
Oder giebt e8 einen andern Sinn dieſer Beftimmungen über die außer
ordentliche itio in partes, über diefes veto der kleinſten Fraction des Reiche»
tags, dieſe eigenthümliche Wiederholung des veto und der Parteifpaltumg,
wodurch einft Polen unterging ?
Befonders eigenthuͤmlich der preußifchen Verfaſſung ift bie Bil⸗
dung der Landſtaͤnde nah ben alten Keubalftänden mit Aus
ſchluß übrigens der Geiſtlichkeit und mit fernerem Ausſchluß eines fehr gros
fen Theils der Nation und vorzüglich das durch die neuefle Verordnung noch
fo fehr vermehrte erfiaunenswerthe Webergewicht des Abel. Alles
dieſes ſcheint einer Längft entfchwundenen Lebergangsperiode angehörig, un«
fern heutigen Zuftänden, Bebürfniffen, Rechten imangemeflen.
Es iſt anerkannt, daß nad, urbeutfchem echte vor der fauftrechtlichen
theilweifen Unterdrüdung alle Staatsbürger berehtigt waren,
in den demokratiſchen Gemeindes, Gau: und Reichsverfammlungen mit zu
flimmen, in Geſetz⸗ und Steuerbewilligung, in Gerichts: und wichtigen Res
gierungsfachen. Es ift anerkannt, daß auch durchs ganze Mittelalter hins
durch bis zur Reihsauflöfung flets der Grundſatz galt, daß jeder un»
mittelbar unter der Regierung ftehende Bürger an ben Steuer: und Ges
ſetzbewilligungen Antheil zu nehmen das Recht hatte. Es wurde dieſes Recht
theilweife fchon in uralten Zeiten, 3. B. bei den altfächfifchen Randtagen oder
bei der allgemeineren Wahl von Schöffen für die Gerihtsverfammlungen
duch erwählte Repräfentanten ausgeübt. Es wird jetzt in der ganzen
germanischen Welt ganz zweckmaͤßig fo ausgeübt.
| — ’
Mur wer in ber jet hiſtoriſch völlig erlofchenen Ueber
gangsperiode der Feudalzeid blos mittelbar durch einen adligen Schuße
herrn umter der Regierung ftand, wurde durch diefen. vertreten und von
ber eigenen Repräfentation ausgefebloffen. Jetzt, wo biefer Grund fammt
"allen früheren VBerhditniffen, melde, fo wie des Adels ausſchließ⸗
liche Leiſtung der Kriegädienfte, unterdeffen gaͤnz lich aufgehört haben,
wegfaͤllt, dennoch die alte Bevorzugung fortdanern laffen, ja fie nen, gang
nen in's Beben rufen — jept dem Adel ungleiche finatsbürgerlihe Rechte
zur Auchdfegung der übrigen Bürger geben wollen — dieſes ſcheint ebenſo
völlig unhiſtotiſch zu fein als ungerscht gegen die Zuruͤckgeſetzten.
Ebenſo iftes längfl erwiefen, daß troß der einfeitigen Bildung der Land»
fände waͤhrend jener Feudalverhaͤltniſſe die deutſchen Landſtaͤnde wie bie
beutfchen Meichsftänbe Hiftorifch als wirkliche Bandes» und Reichs—
zepräfentanten »erfhlenen, und daß mithim die repräfentative Reiche»
ſtandſchaft als Vertretung nicht etwa eingelner Stände, fondern des gan:
gen Landes und Reiches, bes ganzen Volkes und feines Wohls
amd feiner Rechte wohlbegrünberes hiflorifches Recht iſt #9),
Nur haben ganz natürlich und nothwendig nach der Zerftörung jener feudalen
Schutzverhaͤltniſſe der adligen: Dinterfaffen, Leibrignen und Patrimoniab
bauern, jest wieder alle Glaffen der Staatsbürger das natür—
Uche, verbäftnißmäßig gleihe Recht der Theilnabme an
ber Landesrepräfentatiom. | er
Die feubalftändifche Vertretung aller Dinterfaffen und Schüg-
linge iſt jegt Eein hiftorifh beftehbendes Recht mehr, weil fie für
die Ausübung der Mitftimmungsrechte aller Bürger bei Geſetzen und Steuern
eine Form mar, bie fich lediglich auf die gänzlich erlofhene Hin—
terfäffigkeit gründete, die allgemeine Repräfentation des ganzen Landes
durch) feine gefammten Stände gegenüber der Regierung aber iſt gülti:
ges hiftorifhes Recht, weil diefed wefentlihe Recht für die
Nation nie zerflört und als zeitgemäß allgemein neu anerkannt wurde. Das
Recht aller Bürger, entweder felbft oder durch Mepräfentanten die Ge:
fege und Steuern zu bemilligen, ift ebenfo hiſtoriſch begründetes Recht, weil
der einzige Grund der Ausuͤbung ihrer wefentlichen Rechte durch Seudalftünde,
ihre Hinterfäfligkeit, aufgehört hat.
So grünbete ſich alfo die gegebene Verheißung einer Mepräfentation des
ganzen preußifchen Volks nicht nad) Feudalftänden,, fondern „aus allen
Slaffen der Bürger” ebenfo wahrhaft auf das wirkliche
biftorifhe Recht wieauf die wahre Gerechtigkeit.
Wodurch kann man- alfo rechtfertigen eine Ausfchliefung des ganzen
geiftlichen, Gelehrten» und Beamtenftandes, des ganzen Fabrik⸗ und Ges
werbsſtandes als foldyen, d.h. fofern einzelne Glieder nicht etwa zufällig durch
befonderen ftädtifhen Gutsbeſitz berechtigt werden ?
Das, was einer Nation, was ihrem Könige vorzugsweiſe politifche
40) Die urkundlihen Beweiſe in den Artikeln Deutfhe Staatgge:
ſchichte und Deutſches Landesftaatsreht im Staatöskerifon.
I J
Grundgeſetz, Srundvertrag. 585
Kraft und Sicherheit giebt, iſt nicht die Zerriffenheit und ber Gegenfag in
möglichft abgefonberte Provinzen und Stände weit abgefonderten, ja ent
gegenftchenden Intereſſen, Rechten und VBeflrebungen. Nur eine jammers
volle Staatsweisheit der Despotie Eönnte die ſaͤmmtlichen Unterthanen als
Feinde anfehen und dann das „heile und herrſche“ in Beziehung auf fie gels
tend machen. Aber wahrlich in unferem freiheiteluftigen Eurcpa, bei ber
beutigen ernften Richtung der Völker, große und freie Nationen
zu bilden, ift verfländiger Weije eine ſolche Politik kaum denkbar, fie
müßte unfehlbar alsbald im Inneren Schiffbruch leiden oder nyürde bei zers
riffener, gefhmächter Nationalkraft, bei Anlodung zu ausländis
ſchem Einfluß auf einzelne Stände, wie fie in Polen und fonft
oftmals ftattfand, im gefährlihen Kampf» mit den großen gut geeinigten
anderen Staaten, Thron und Staat ruiniren.
Am Mittelalter war jeder fauftrchiliche Baron König in feinem
Land nad franzäfifcher Redensart, Unterfönig nad) flandinavifcher. Diefe
kleinen Könige föderirten fih zum Krieg gegen die Oberkoͤnige
und die Städte und Bauern, beberrfchten fo viele Hinterfafien, als fie
hatten unterwerfen koͤnnen, und dadurch und durch ihre ausſchließliche Befchäfs
tigung mit Krieg waren fie natürlich ganz abgefonderte Stände Ebenſo fös
derirten fich die Stadtbürger zu felbflftändiger Vertheitigung und Regierung
ihrer republikaniſchen Gemeinden und ihrer Hinterfofjen und zur ausſchließ⸗
lichen monopoliftifhen Betreibung von Handel und Gewerb und zu ihren
Städtebündnifjen für diefe Zwecke und für die gemeinfame Vertheidigung.
So ftanden fie dem Adelflande ebenfo wie den von Kriegsehre, von
Handel und Gewerb, mehr und mehr aud) von der Freiheit ausgeſchloſſenen,
niedergebrüdkten, leibeigenen, patrimonialen Bauern entgegen.
Welche Hiftorifhe Weisheit und Gerechtigkeit aber wagte e8 wohl, und
wie verderblid, der wahren Königsmacht und dem Frieden und der Blüthe des
Volks wäre es, biefe Verhaͤltniſſe heute neu fchaffen au wollen !
Alles, was heut zu Tage von Standesverhältniffen noch beſteht, ift von
zufälligen, jeden Tag wandeltaren, von den heute fo ſchnell wechfelnden Vers
Echrsverhältniffen, von inbivituellen freien Meinungen und Saunen abhäns
gig. Was unterfcheidet einen gebildeten wohlhabenden Landmann vom Edel
mann, was den auf dem Land wohnenden Kabritanten vom Stadtbärger ?
Iſt es ſtaatsweiſe, folche lockere Verhätmiffe zu dauernden Grundlagen bleis
bender Verfaffungen zu machen nach Phantafiebildern vergangener Zeiten,
die heiligen Verfaſſungsrechte der Staatsbürger zu fpalten, ungleich zu mas
chen, die Menfchen willkürlich in juriftifch verfchiedene Kaften zu zerzeißen
undin folden ſich gegenüber zu flellen?
Giebt es wohl in der ganzen Welt etwas Aufreizendsres, als
Im wichtigen Dingenden Minoritdtsbefchlüffen feiner Mitbürs
ger ſich unterordnen, durch fie leiden zu müffen!
Wodurch iſt es ferner zu rechtfertigen , daß die Adeligen fdyon früher und
volfende bei der jegt neuen Errihtung einer erſten Kammer und
bei dem Mecht, jederzeit eine beliebige Zahl neuer Abeligen in die erſte Kammer
zu rufen, unb bei dem echte der itio in partes der einzelnen Stände zwanzig⸗
AU
mal mehr gelten follen als die Bürgerlichen, daß fie mit dem unendlich viel
Eleineren Steuer diefe mit Steuern und Anlehen belegen, ihnen mit
Steuern, bie vielleicht vorzugsmeife fie treffen, Ihe Vermögen aus der Taſche
votiren Pönnen® Iſt ein adeliger Kopf oder Arm, eim adeliges Herz oder
Land zwanzigmal fo viel werth als jeder preufifche bürgerliche Kopf und Arms,
als jedes bürgerliche Herz und Land? Sollen fie fo viel mehr an dem hoͤch⸗
flen Gluͤck, der hoͤchſten Ehre ber Nation, an der politifchen Freiheit Antheil
haben, follen fie politiiche Gewalt über die Bürgerlichen erhalten ? |
Vertrauen, möglichft gehobenes, allgemeines Vertrauen, patriotlſch
gleiche Liebe und Aufopferung für König und Vaterland, diefes hoͤchſte Ziel
auch der hen Verfaffung, find fie denn auf die Dauer auch nur moͤg⸗
lich bei biefer Einrihtung? ?
Wahrllich, meine Schriften beweiſen «8, ich bin kein Feind bes Adels
und bisher vielmehr ſtets rin unmwandelbarer Bertheidiger ebenfo vom einer
erſten mehr arlitofratifchen Kammer wie von der Erbmonarchie.
Aber foll ic) dem Adel vertrauen, dann muß man ihn nicht in fo
unnatürliche ungerechte Stellung und Bevorzugung ſetzen, welche gang na⸗
tuͤrlich Überall, wo fie in ber Weltgefchichte eriftirte, melche in ganı Deutſch⸗
land, in Preußen und ben anderen europälfchen Staaten fo unfelige Folgen
erzeugte.
MB man bie ſehr ſchwere Aufgabe einer guten, für unfere heutigen
Beten und für die deutſchen Verhaͤltniſſe paffenden Nachbildung des engli-
pen Oberhauſes Löfen, nun fo muß man fo viel möglich ein englifches
berhaus und einen englifhen Adel fchaffen. Dann muß man vollends
nicht gerade zu alle enalifchen Gegengewichte gegen die damit verbundenen
Gefahren zur Seite laſſen. Man nehme in das Oberhaus felbft mindeftens
ähnliche Mitglieder wie die Bifchöfe und Oberrichter und die ſtets aus den
verdienten Männern aller Stände hinzulommenden Pairs. Mean fege
bem Oberhaus vor Allem ein fo Fräftiges Unterhaus mit feiner beinahe
alleinigen Steuerbewilligung,, eine fo Eräftige politifhe Volksfreiheit gegen:
über. Dan entferne vor Allem alle adeligen Vorzugsrechte aus dem Unter:
haus und aus allen Staatögefegen, man befeitige hierdurch und durch Be:
ſchraͤnkung des Adels auf die Befiger des Pairsamtes, durch eine Entfernung
nur allein deutfcher adeliger Vorurtheile über Mißheirathen die furchtbarfte
aller Gefahren, wahrlich heutzutage noch mehr für die Throne als die Völker,
die Gefahren eines eigenfüchtigen, herrichfüchtigen Kaftengeiftes, eines durch
ftändifche Privilegien und die mit ihnen erworbenen Hofe: und Amtspri⸗
vilegien übermächtigen Adels, eines Adels vollends, der, jest nicht reich,
durch feine Privilegien und für fie Reichthum fuhen müßte, der heute
die übrige Bevölkerung zur Mevolution oder zur Auswanderung treiben
tönnte, wie er fie früher in Leibeigenfchaft und Frohndpflicht verftieß und zum
Bauernkrieg trieb. |
Sch bin fonft nicht gewohnt, zu ſchwarz zu fehen. Aber es ift dennoch
möglich, daß ich esthue. Darum wuͤnſche ich, daß man an der Hand der
Geſchichte und der menſchlichen Natur meine gerade dort gefhöpften Beſorg⸗
niffe befeitige, denn fie find in Beziehung auf diefen Punkt fo groß, daß ich
a %
Weundgeſetz, Grundverteng. 687
es für ungleich weniger verderblich und gefährlich für Thron und Staat bielte,
alle und jede politifchen Freiheitsrechte der preußtichen Nation gegen völligen
Abſolutismus zu vertaufchen, als eine folche Einrichtung durch meine Mit⸗
wirkung dausend und dann In ihrer weiteren Entwicklung unvermeidlich grund⸗
verderblic) zu machen.
Doch edle verftändige Stimmen aus dem preußifchen Abelftand felbft wer
den für eihe Befeitigung der hier berührten Verlegungen und Gefahren wir⸗
ten, folche,, die wie der edle Stein und Schön die früheren Ungleichs
heiten befeitigten,, die wie Hardenberg ımd Humboldt Namens ihres
Könige wahre Volksrepraͤſentation aus allen Claſſen ber Staatsbürger for»
derten, welche, wie der Adel in den Königsberger Ständen, auf Privilegien,
namentlich auf eine Herrenbank gegen eine erbetene Rechtegleichheit und ges
rechte Volksrepraͤſentation verzichteten.
Man wird übrigens die angeregten Bedenken nicht etwa dadurch bes
feitigen wollen, daß ja die erwähnten Verletzungen ſchon In ben provinzials
ae Einrichtungen beftanden und bis jegt noch nicht weſentlich geſcha⸗
det hatten.
Ich will es Anderen überlaffen, bie Frage zu beantworten, ob bie bier
allerdings beftehende auffallende, fo ungleiche und mangelhafte Vertretung
nicht das allgemeine Vertrauen und die Kraft diefer VBerfammlungen fo we⸗
ſentlich laͤhmte, daß fie in einem Vierteljahrhundert gar fo wenig nüsten,
daß man felbft an die nicht fernere weitere Beſchickung derſelben im Bürger
ftande dachte, ob nicht doch in manchen adeligen Bevorrechtungen und Zuräds
fegungen der Bürgerlichen die Einwirkungen dieſer fonft fo unkraͤftigen Ins
fitutionen gefunden werden können.
Aber die allgemeine Stimme des Mißmuths ber Bürgerlichen ift in dem
Maße lauter geworden, als man nur den Provinsiallandtagen einige Bedeu⸗
tung beizulegen anfing, wenigſtens die beilegte, daß fie als Organe ber Bitte
um Verwirklichung ber Reicheftände dienen könnten.
Aber feitbem iſt nun das Uebergewicht jener beifpiellofen Adelsvertretung
auf die allgemeine preußifche Nationalverfammiung übergetragen und durch
die befondere bloße Adelskammer mit ihrem beifpiellofen Rechte der Stimmens
durchzaͤhlung bei Steuer: und Aniehengefegen und mit ihrer grenzenlofen Vers
mehrbarkeit und vollends durch jene itio in partes noch verboppelt und vers
dreifacht worden. Diefelbe wird nun aber, auch abgefehen hiervon, um
fo druͤckender, je höher in der Bedeutung der allgemeine Landtag über dem
Provinztallandtag ſteht. Sie wird doppelt drädend durch die entſcheiden⸗
den echte bei Steuern und Anlehen, die bem erften jetzt beigelegt find. So
lange bie Provinziallandtage gar nichts vermochten als mit fo geringem Er⸗
folge zu bitten, da kam es wenigſtens auf die Stimmenzahlen der verfchiedenen
Stände bes Landtags an. Jetzt, wo er Steuern und Anlehen zu biefen ober
jenen Zwecken, in dieſer ober jener Weife bewilligen oder verweigern kann, jegt
wird die Sache eine ganz andere.
Hat man wohl überall ſchon ganz das Weſen der Steuerbewilligung,, das
natürliche und im Acht deutſchen Recht begründete Weſen diefer Steuerbewilli⸗
gung bedacht ?
588 Grundgefeg, Grundvertrag
‚Das Staats = Leritom hat im Artikel Bede urkundlich nachgewieſen
baf von ben aͤlteſten Beiten an in Deutſchland, daß nad) den Reichsgeſetzen,
die noch im. 15. Jahrhundert sine Vergleihung: mit bem einzelnen nicht
teptäfentirten Eigenthuͤmer Über die Steuern. forderten ‚. wie nad) ‚den Lan:
bedverträgen bie Befteuerung wefentlih von der Gefepgebung uns
terichteden wurde, daß die Bemilligung vom Steuern gerade fo mie ſtets
bei din Engländsın als ein Ausfluß des Privateigenthums br
trachtet wurde, indem, wern mein Eigenthum wirklich mein Eigenthum fein
folle, Niemand: e8 mir blos nad) feinem Exrmeffen nehmen duͤrfe.
Diefe auch von Burke, dem Todfeinde jacobinifcher Grundfäge,
vertheidigte, ja felbft von Den, v. Daller zugeſtandene Rechtsgrundan⸗
fiht, brachten die größten britiſchen Stagtsmänner, wir ford Chatam, bie
erften Juristen, wie Lord Gamben und Ersfine, zu Gunften ber ame:
rikaniſchen Eolonien, die man ohne deren Bewilligung mit der. Stempel
ſleuer belegt. hatte , in beiden Käufern zu jo vollftändigem Siege, daß die
Stempelfteuer zuruckgenommen werben mußte, daß König, Ober: und Unter:
baus fomit jenen Maͤnnern beiftimmten, dab ihre vereinte Macht das uns
abaͤnderliche Urrecht aller freien Männer, nur mit Zuſtimmung
Ihrer wahren Nepräfentanten befleuertzumerden, recht sguͤlt ig nicht auf:
heben tönne. Es fetrrlaubt, einige Stellen aus jenen Parlamentsveden zur
Beranfhaulihung der Rechtstheorie diefer Staatsmaͤnner hier zu wiederholen,
Der ältere Pitt, fpäter Lord Chatam, fagte 1766 in feiner berühmten Rede
unter Underem: „Der Gegenftand ift von größerer Wichtigkeit, als je einer dies
„ſes Haus befchäftigt hat, blos jenen ausgenommen , als vor hundert Jahren
„Die Frage war, ob Ihr felbft Sklaven oder freie Menſchen wäre‘. (Ob
nämlich der König Karl. die Engländer eigenmächtig befteuern Eönne.) „Ich
„bin der Meinung, daß diefes Königreich, ob e8 gleich in allen andern Hinſichten
„die Regierungsgemalt und hoͤchſte Geſetzgebung über Amerika hat, gleichwohl
„kein Recht befist, die Golonien mit Steuern und Abgaben zu belegen. Sie
„find zwar bie Unterthanen diefes Königreiches, aber ebenfo berechtigt als Ihr
„ſelbſt zu allen natürlihen Menſchenrechten und zu den Freiheiten
„der Engländer. — Die Amerikaner find Englands Söhne, nicht Baſtarde.
„Das Recht, Steuern und Abgaben zu fordern, ıft weder ein Recht der aus⸗
„Üübenden noch der gefeßgebenden Geralt. Steuern und Abgaben find blos
„Freiwillige Gaben und Beroilligungen der Gemeinen. An der Geſetz⸗
„‚gebung nehmen alle drei Stände des Reiches Antheil, aber die Miteinflimmung
„ber Pairs und der Krone zu einer Taxe iſt eine bloße Kormalität. In alten
„zeiten (nad) der Eroberung) befaßen die Krone, die Barone und die eift:
„lichkeit alıs Land. In diefen Tagen gaben und bemwilligten (give
und grant, dieſes ift die Kormel parlamentarifcher Steuerbewilligung), gaben
„und bewilligten die Barone und die Geiftlichkeit, was fie der Krone geben
„wollten, gaben und bemilligten ed aus ihrem Eigenthum.
„Jetzt, feit der Entdeckung von Amerika und durch andere Umjtünde, find
‚die Semeinen Befiser des Landes geworden. Die Krone felbit hat ihre groͤß—
‚ ‚ten Domainen veräußert, die Kirche, Bott fegne fie, hat blos eine Apanage.
„Das Eigenthum der Lords, verglichen mit dem Vermögen der Gemeinen, ift
\
Srundgefeb, Srundvertrag. 580
„wie ein Tropfen im Dcean. Diefes Haus repräfentirt die Bemeinen. —
„Bern wir daher in diefem Haufe geben und bewilligen, fo geben und
„beroilligen wir aus unferem Eigenthum. Aber eine Zare auf Amerika, was
„hun wir da? Wir Em. Majeftät Gemeinen von Großbritannien, geben
„und bevilligen Eurer Majeftät — was? unfer eigenes Eigentbum? Rein,
„wir geben und bewilligen Eurer Majeftät das Eigenthum von Ew. Majeſtaͤt
„Gemeinen in Amerika. Ein absurdım in terminis.‘*
„Der Unterfchied zwiſchen Gefeggebung und Beſteuerungsrecht iſt we⸗
„ſent lich noͤthig zur Freiheit. Die Krone, die Pairs find als mit⸗
„geſetzgebende Gewalten den Gemeinen voͤllig gleich. Waͤre das Beſteue⸗
„rungsrecht ein Stuͤck der Geſetzgebung, ſo haͤtten die Krone und die Pairs
„eben das gleiche Recht, Steuern aufzulegen, wie Ihr ſelbſt.“
„Die Gemeinen in Amerika, repraͤſentirt in ihren verſchiedenen Land⸗
„tagen, find immer im Befig geroefen, haben immer ihr verfaffungsmäßiges
„, Recht, ihr eigene3 Vermögen, zu geben und zu bewilligen; ausgeübt. Sie
„wären Sklaven geweien, wenn fie dieſes Recht nicht genoffen haͤ
Dem Minifter Örenville entgegnete Pitt: „Der geehrte Gentleman fagt,
„Amerika ſei hartnddig, fei faft in offenbarer Empoͤrung befangen. Ich freue
„mic, daß Amerika widerftand. Drei Millionen Menſchen, fo todt gegen alle®
„Freiheitsgefuͤhl, daß fie ſich freiwillig zu Sklaven hingäben, würden treffliche
‚Werkzeuge geworden fein, auch aus uns Uebrigen Sklaven zu machen.”
Der beruͤhmte Rechtsgelehrte, der Oberrichter Lord Camden, beftäsigte
im Oberhaufe ebenfo nad dem Naturrecht wie nad) dem pofitiven eng⸗
liſchen Staatsrecht, völlig dieſelben Mechtegrundfäge und fügte unter An⸗
derem: „Ich würde die Zeit nur verderben, über die einzelnen Punkte
„des Inhalts der Bill etwas zu fagen, da bie ganze Bill illegal iſt,
„vollommen illegal und ſowohl den Grundfägen des Naturrechts zu⸗
„wider ift als den Grundgefegen unferer Verfaflung, die auf die ewigen
„anveränderlichen Srundgefege der Natur jelbft gegründet wurde, eine Ver:
„faſſung, deren Bafis und Centrum Freiheit iſt. Mylords, es iſt Beine
„meue Lehre, fie ift fo alt als die Conſtitution felbft, fie iſt mit ihr zugleich
„entftanden, fie ift eigentlich ihr Grundpfeiler: Zaration und Reprä:
„fentation find ungertrennlih verbunden Gott hat fie
„zufammengefügt, kein britifhes Parlament kann fie trens
„nen. — Mein Sag ift diefer, ich wiederholte ihn, ich will ihn bis zu meiner
„legten Stunde wiederholen: Zaration und Repräfentation find uns
„zertrennlich. Diefer Say ift auf das Naturrecht gegründet, noch mehr, er
„iſt felbft ein ewiges natürlihes Grundgeſetz. Denn eines
„Menſchen Eigenthbum ift fein abfolutes Eigenthums Nies
„mand hat das Recht, es ihm zunehmen, wenn er nicht ſelbſt
„ober duch feinen Stellvertreter feine Einwilligung ba:
„zu giebt. Wer es verfucht, mir das Meinige zu nehmen, verfucht ein
„Unrecht, wer es wirklich nimmt, begeht einen Raub, se wirft allen Un⸗
„terſchied zwiſchen Freiheit und Sklaverei nieder.” — „Die hoͤchſte Macht
„kann Keinem etwas von feinem Eigenthum nehmen ohne feine Einwilligung,
„ſo fagt Locke, das find die Grundfäge des großen Mannes, die Eurer sch;
590 Grundgeſeh , Grundverteng.
en mwerth find: Seine Grumdfäge find aus dem Herzen uns
erer Conſtitution entnommen, er verftand fie von Grund aus. — Sollte Die
achtausuͤbung, naͤmlich die Befteuerung der Amerikaner
ihre Zuſtimmung fortwähren, fo würden die Amerikaner nichts mehr
Ahr Eigenthum nennen Bönnen, oder um Rode’s Worte zu gebran-
„ben: „Was kann Derjenige fein EigenthHum nennen, bem
a,in Anderer das Recht Hat, fo oft er will, fo viel er will,
„nu nehmen und ſich zugueignen?”"
Bekanntlich erneuerte man nach der Zuruͤcknahme der Stempelacte
ſpaͤter nochmals die Verlegung diefes großen Grundfages durch einen an fich
ſehr geringen Theezoll, und auf der Verlegung und Behauptung diefeg
Einen Rehtsgrundfages berubte die ganze nordamerifani-
e Revolution und Freiheit, dieſes größte Ereigniß unferer neuern
chichte.
Auf's Meue vertheidigten auch damals die groͤßten Staatsmaͤnner den
Rechtsgerundſatz und jetzt als Mitglied des Oberhauſes fagte unter Anderm der
—— —— „Es iſt kein * ne Bettler in den
—* ** darf als —— die frembe Berührung a
«6. Repräfentation, wirkliche freie virtuelle Repräfenta=
* n und Beſteuerung muͤſſen beiſammen bleiben.“
Ich weiß es nicht, ob bie noch nicht ſehr bewaͤhrte beutfche Staats:
meisheit unferer Zage andere Grundfäge und Grundlagen gerechter Staats⸗
verfaffungen und großer, mächtiger, blühender und freier Reiche beliebig mas
hen kann, andere, als die ewige Natur und die ihr huldigende Weisheit aller
freien Nationen und ihrer Staatsmänner erfhufen. ich will bier abfehen
davon, zu welcher graufamen, vaterlandöverderblihen Unterdruͤckung und
Belaftung ihrer Mitbürger, zu welchen ungerechten Privilegien das frühere,
damals weniger ungerechte, Uebergewicht des Adels in den Ständen führte.
Aber Bedenken trage ic) doch, ob e8 gut und befriedigend lauten, ob es dauernd
heilſam wirken würde, wenn nicht blos im Gegenfag zur englifchen Verfaſſung,
die in der Befteuerung auch der badifchen zum Mufter diente, die Adelskam⸗
mer mit der zweiten Kammer gleiche Rechte erhält, fondern wenn abelige Her:
ren und Ritter mit ihrem nad) Verhältniß zwanzigfach überwiegenden Stimm:
cecht, ja mit ihren Steuerprivilegien, — fagen könnten: „Wir Herren und
Adeligen geben und bewilligen Ew. Majeftät — „Was? Unfer Eigenthum ? ?
„Nein! Das Vermögen Ihrer bürgerlichen, Ihrer nicht, oder nicht genügend,
„nicht gleicy mit uns repräfentieten Unterthanen, wir geben und bemilligen
„Ihnen das Vermögen Ihrer Gewerbsleute, Fabrikanten, Gelehrten und Bes
amten, ihrer Gapitaliften, Stadtbürger und Bauern”.
Nicht gering fcheinen alle in Preußen bereits laut gewordenen, bier
zum Xheil näher beleuchteten Bedenken. Mir ftellen die Beurtbeilung ders
felben und der Gefahr der Verantwortlichkeit verkehrter Entſchluͤſſe in diefem
entfcheidenden Augenblicke, billig ber bedeutungsvoliften politiſchen Verſamm⸗
Grundgeſetz, Grundvertrag. 501
fung, bie in bee preußiſchen Monarchie je Statt fand, anheim. Sie Tann
nicht unehrenvoll vor Europa baftehen.
Ihr König, welche Verfchiebenheit ber Anfichten und ber Standpunkte
auch flattfinden möchte, fordert Wahrheit von ihnen, ihr Vaterland, auch
in monarchifchem Intereſſe, die Wahrung des Rechts und der Ehre ber Ras
tion und gerechte Befchlüffe für ihr ganzes kuͤnftiges Heil, wobei bie Bequeme
—* des Augenblicks ſich unterordnen muß den Ruͤckſichten auf eine lange
ukunft.
Faſt beiſpiellos iſt es, — man blicke in die Geſchichte der freien Voͤl⸗
ker der. Erde, man wird es eingeftehen — faſt beiſpiellos iſt es, daß ber
Uebergang zur wahren politiſchen Freiheit der Völker ohne gewaltſame Res
volution von Statten ging. Wäre es dem deutfchen, dem preußifchen Volke
vorbehalten, dieſes Beifpiel zu geben — das Beifpiel nicht von unwuͤrdigſtem
Verzicht auf die hoͤchſte Beſtimmung und Würde, auf die hoͤchſte Ehre und
Stüdfeligkeit der Voͤlker, auch nicht das Beifpiel von Zaghaftigkeit und von
unfittlihem und verberblihem Dinausfchieben diefer Beſtimmung, nachdem
die Zeit und die Reife für biefelbe gelommen ift — nein, das Beiſplel von
weifer und großherziger Verſtaͤndigung aller Betheiligten — gewiß, bann
flünde das deutfche, das preußifche Volk größer und ruhmvoller unter ben Nas
tionen. Und welche entfehlichen Uebel und Gefahren der gewaltfamen Ent⸗
widelung wären glüdlich befeitigt! Aber an wen geht nun, wenn wahre
und ganze politifhe Freiheit, wenn freie Verfaſſung wenigftens mit ihren
wefentlichften natürlidyen und gefchichtlichen Rechten unentbehrlich find —
an wen geht hier die größte, die ſchwerſte Zumuthung? Weife, gerecht, treu
dem Thron und dennoch mannhaft und unerfchütterlich entfchloffen und feft
— freilich follen und müffen und werden hoffentlidy Die bürgerlichen Abgeord⸗
neten, die Vertreter der unendlichen Mehrzahl des preufifchen Volkes fein.
Aber mit alle dem können fie doch ohne ein freies Nachgeben der Regierung
und des Adelftandes nimmermehr die weſentlichen Verfaſſungsrechte fried⸗
lich erwerben.
Nie gab es einen günftigeren Moment für den Abel, zugleich alle fruͤ⸗
here flaatöverderbliche Unterdrüdung der Volksrechte zu fühnen und für eine
Lange Zukunft ſich die achtungsvolle Dankbarkeit und unangefeindeten Beſit
der natürlichen und dem Staate wirklich heilfamen und nicht ungerechten Vor⸗
züge zu ſichern.
Aber aud) bei Worausfegung gerechter und patriotifcher Richtung bed
Adels bedarf es boch noch der praktiſchen Weisheit, der Einficht, daß das Opfer
einiger Vorrechte, bie nach dem Bisherigen mit einer wirklich freien zeitgemaͤ⸗
Ben politifchen Verfaſſung abfolut unvereinbar find, unentbehrlich und daß
es durch die erhöhte würdigere Stellung in der aufblühenden Größe eines freien
und mächtigen Staates hundertfach aufgewwogen ift. Möge Gott zu der Größe
ber Sefinnung die praftifhe Weisheit der richtigen Erwägung unferer Zeit,
unferer Rationalehre, unferer Bedürfniffe gefellen !
Endlich zum Schluffe noch eine Wahrheit! Die politifche Frei⸗
heit iſt ebenfo ein Organismus wie der Despotismus.
Jeder Drganiamus firebt naturgefeglih auf Leben und Tod nach Harmonie,
\ f)
|
5° N Ge '
Foigerlcheigkeit und Voltſtanbigkeit mich Ausſtoßung, Ummwandlu LER
Vern Htung des Entgegengeſehten. — iſt vollends a
dei en fe Holfändiger das Bewuftfein des Volkes über die Natur die:
Ber erwacht IE. * einzelne twefentliche nn
yon polit ft und laßt andere bes Abfofuisrnus, —* nm
nicht fo * Bee "Schweden, — England
—— een en — bet
* *
—— — 1800
Sem ct ne A "or
—* kennt ſi * —* Beitung * neue Runder von ihnen Menn be num au:
legt unvermeidlich größere Conflicte entſtehen, fo wird die Regierung bei zu:
fälligen äußeren Unterftüßungen, jo wird auch die Gegenpartei weiter ge:
trieben. Er wurde despotifch, ohne es zu wollen, in fo unnatürlicher
Lage,” fagt Dahlmann von dem guten Ludwig XVI.
Die Natur der Dinge, fie unterdruͤckt, fie beherrfcht Niemand.
Deshalb alfo — wenn Ihr Eönnt, fo führt den Organismus der Skla—⸗
verei durch — koͤnnt Ihr aber nicht — o dann laßt um Eurer felbft willen ben
Organismus der Freiheit frei ſich entwideln, gründet Die ganze Frei:
heit, wie auch die andern freien Völker fie haben! — Geſtattet, falls Euch
nicht die Kämpfe, Die verdrießlichen, die gefährlichen Kämpfe eine Freude
find — die Freiheit je eher je lieber! So will e8 die öffentliche Mei:
nung, fie, die der gefcheidtefte der Minifter gefcheidter als alle Mintiter
nannte. Don ihre zu lernen, iſt Keiner zu hoch geftellt. Ihr zu huldis
gen ift Ehre. In der glorreichften Beit, die Deutfchland je hatte, hul:
digten ihr alle Könige und Staatsmänner.
C. Welder.
Grundfteuer. Wir haben an vorftehendem Auffege ebenfo wenig
etwas abgeändert — denner ift ein Wert von Rotted’s Geiſte — als zu:
zufuͤgen; — denn es find ung bezuͤglich auf die Grundſteuer feine neuen
Erſcheinungen von einiger Bedeutung befannt geworden. Die Beſteuerung
und Belaftung von Grund und Boden aͤndert ſich nur ſchwer und im Gefolge
—
Seunbfteuer. 308
allgemeiner durchgreifender Bewegungen, weil in ruhigen Beiten weder bie
Geſetzgeber an dem Gewohnten zu rütteln lieben, noch die Steuerpflichtigen
In dem Reuen etwas Beſſeres zu erwarten pflegen. Was die Anlage ber
Stundfleusr betrifft, fo iſt oben ſchon auf ben Artikel Katafler verwieſen,
welcher hierüber Mäheres enthält. Wir befchränken uns daher hier auf zwei
Bemerkungen :
1) Der neueſte Fortſchritt in Werbefferung ber Grunbſtener it ie
Griechenland geſchehen, feit daſſelbe im die Reihe der conſtitutionellen
Staaten eingetreten iſt. Dort verſteht man unter Grundſtener die
Abgabe von dem rohen Ertrag, welche in Europa als Zehnt bekannt
ift, die einzig mögliche in einem Lande, wo der Verkehr noch gering mb
ſchwierig, Gewerbe und Handel wenig entwidelt, das Umlaufsmittel fdten
if. Diefe Grundſteuer war verpachtetz bie Staatspaͤchter we
laubten ſich alle möglichen Bedruͤckungen gegen bie Bauern, denm fie weit
mehr abnahmen, als fie zu fordern berechtigt toaren, und blieben auf ber ans
dern Seite mit Entrichtung ihrer Pachtſummen an die Staatscaffe regelmäßig
im Rüdftande. Sie raubten fo viel und zahlten fo wenig als ihnen möglich
war, und mußten fid) mit den Beamten zu verfländigen, um Huͤlfe für ihre
Erpreffungen und Nachficht für die Ablieferungen zu erhalten. Das Bes
deihen der Landwirthichaft war unter dem Drucke ſolcher Blutſauger unmög-
lich, und der Staat führte flatt des Ertrag der Abgabe einige Milllonen
Drachmen Rüdftände in feinen Rechnungen nad. Im Fruͤhjahre 1846
wurde ein Brundfteuergefeg den Kammern vorgelegt und von den⸗
felben angenommen. Dieſes Geſetz ſchaffte das verberbliche Pacdhıfyflem
ab und laͤßt die Abgabe von Einnehmern erheben, indem es zugleich Bes
flimmungen giebt, um den Mifbrduchen und Erprefiungen vorzubeugen.
2) Bon befonderer Wichtigkeit war Die Grund ſtene r in dem Syſtem
dee Phyſtokraten oder Detonomiften (f. den Artikel: politifche
Dekonomie). Nach ihrer Lehre liefert die Erdarbeit allein eine Vermehrung
der Erzeugniſſe über die Koften, fie allen vergrößert daB Wermögen. Alle
übrigen Zweige ber vollswiethfchaftlichen Thaͤtigkeit, Die Gewerbe, weiche
die Beſchaffenheit, die Handelsgeſchaͤfte, welche den Ort ber Bodens
erzeugniffe verändern, bringen nichts Neues hervor. Die Erdarbeit allein
liefert hiernach ein veines Einkommen, einem Ueberſchuß Aber den Aufwand
für die Production, welcher ben Grundbefitzern zufaͤllt. Dieraus werden alle
übrigen Elaſſen der Befellfchaft (classe sterile) für ihre Dienſte bezahlt; fie
ſchoͤpfen auch die Abgaben, die Ihnen aufgelegt werden, aus diefer Bezahlung, .
oder mit anderen Worten, fie laſſen fi) den Betrag - ihrer Abgaben von
den Grundeigenthuͤmern erfegen. Aus diefen Saͤtzen wird gefolgert: daß
der Staat feine Einnahmen aus Beiträgen der Bürger am einfachflen und
mwohlfeilften beziehe, wenn er fie unmittelbar von den Grundbeſitzern als
einzige Steuer (impöt unique) erhebe. Die Grumdbefiger hätten dann um
fo weniger an die dienftleiftenden Claſſen abzugeben. Diefe Lehre von der
einzigen Grundſteuer ift die ſchwaͤchſte in dem Syſtem der Phyſiokraten und
ihre anerfannte Unhaltbarkeit hätte zu der Erkenntniß führen muͤſſen, daß
man bie Begriffe von Vermögen und Production zu eng gefaßt hatte, wenn
Suppl. 3. Staatslex. U. 38
694 Gultigkeit.
‚man nicht vorgegogen haͤtte, um das Syſtem zu retten, nach anderen Erklaͤ⸗
xungsgruͤnden für die Unbaltbarkeit der Anwendung auf die Befteuerung zu
suchen, Bekannt ift, daß Markgraf Karl Friedrich von Baden ben
Verſuch machte, imeinigen Dörfern die einzige Grundfteuer einzuführen,
‚daß aber dieſer Verſuch mißlang, obgleic) er auf dem Lande noch eher als in
den Städten — einſchlagen müffen, weil dort wirklich die Erdarbeit faſt
alles liefert. K. Mathn.
nn Bi Itigkeit, abfolute bes Beftehenden. Sreibeit der
Öffentlichen Meinung und Keitif in Bezug auf baffelbe.
Man hört in neuerer Beit gar häufig die Klage über Angriffe auf das Befte
bende, ber beabfichtigten Umſturz alles Beflehenden und zwar hauptfächlic
‚auf Seite derjenigen, welche ſich vorzugsweife damit abgeben, das Beſtehende
yu conferviren.: Diefe Klagen feinen unzweifelhaft von der Anſicht auszu⸗
eher, daß das Beftehende auf abfolute Gültigkeit Anfprud zu machen
. habe, wenigſtens erklärt fi hieraus am beften jener Abfchru und convulſi⸗
viſche Schauder, welchen die fogenannten Gonfervativen vor jeder Meinung
und jedem: Urtheil an ben Tag legen, das, weil e8 nicht ſchlechthin an bie Um:
‚ontaftbarkeit des Beſtehe glaubt, einen Angriff auf dafjelbe enthalten
fol. Man wird durch diefe ſo heftig outrirte Deiligkeit des Beſtehenden un
helicd) zu der Frage gedrängt, ob denn das Beftehende überhaupt und
wlefern und wie weit es ſchlechthin anzuerkennen, als abfolut. gültig zu
betrachten fei?ı Ich verfuche 28, im Nachfolgenden diefe Frage zu beantworten
und bei diefer Gelegenheit die hierher gehörenden Principien, Verhälniffe
und Zuftände ind Klare zu feßen.
Seder Staat repräfentirt ſowohl durch feine Verfaffung und feine poli-
tifchen Inſtitutionen, ald auch durch die Zendenz, melche für die Thaͤtigkeit
‚feiner herrfchenden Gewalt maßgebend ift, ein gewilles Princip. Diefes
Princip nun, fo wie die Sormen, in welchen es fich verwirklicht, bildet das
jeweilig Beftehende und es find fomit einerfeits gewiſſe Grundfäge darunter
zu begreifen, welche den ganzen Staatsorganismus durchdringen und das
Syſtem der herrfchenden Gewalt bedingen, und andererfeits bie Einrichtungen
und Anftalten, in welchen diefe Srundfäge zur Zeit ihre praktifche Geltung
und Anwendung finden.
Zwei Principien find es, welche in diefer Beziehung ; je von den beftehen:
den Staaten (mehr oder minder mobdificirt, oder in allen ihren Gonfequen-
zen) verteeten werden, das Princip der Freiheit und das der Unfreibeit,
‚oder das Princip des Kortfchritts und der Bewegung, und das der Stabilität.
Staaten der legteren Gattung gehen ‚fei ed nun aus reiner Ueberzeugung und
im guten Glauben oder aus unreinen Motiven, von dem Grundfage aus, daß
der jemweilig beftehende Zuftand ſchlechthin der befte, alfo abfotut gültig und
für immer und ewig fei, und Enüpfen daran die Forderung an die Staates
angehörigen, diefes Beftehende fchlechthin für berechtigt anzuerkennen , ohne
weitere Unterfuchung daran zu glauben.
Staaten erflerer Art dagegen ftellen an die Spige ihrer Verfaſſung und
ganzen Verwaltung ben Grundfag, daß die beftehenden Kormen, Einrich⸗
tungen und Zuflände nur fo lange gültig feien und gefhügt werben müffen,
Guültigkeit. 595
als fie beftehen, daß fie aber den jeweiligen Bebürfniffen unterzuorbnen und
bei Seite zu legen ſeien, fobald die Nothwendigkeit dazu vorhanden if. In
diefem Falle wird dem Beſtehenden nur relative Gültigkeit zuerkannt.
Iſt nun die legtere Theorie an ſich unbedingt richtig * Darf das Prin⸗
cip der Bewegung überhaupt gar keiner Modification unterworfen werden ?
Iſt der Fortſchritt nicht an gewiſſe Bedingungen und Schranken geknüpft ?
Giebt es überhaupt nichts abfolut Guͤltiges, Pofitives, das unter allen Um⸗
flönden confervirt und als der fefle Kern, als die Baſis des Staats bei
allen Veränderungen, Reformen und Revelutionen aufrecht erhalten werben
muß ?
Die Antwort auf diefe Fragen ift in der Beſtimmung ‚in ber Auf⸗
gabe enthalten, welche ber Staat zu erfüllen hat.
Der Staat ift diejenige Form ber menfchlichen Geſellſchaft, in weicher
der Menſch zu feinem Weſen gelangt, in welcher er zu bem wird, mas dr
werden muß, um feiner Idee zu entfprechen. Die bee der Menfcheit bes
ruht auf der Freiheit. Frei ift der Menſch, wenn ex ſich felbft durch das Sit⸗
tengefeg zum Dandeln beftimmt, und diefe Selbſtbeſtimmung befleht darin,
daß fie eben fomohl von dußerer Gewalt als von ber Natürlichkeit, d. h. den
ſinnlichen Trieben unabhängig ift. Jenes Verhälmiß bezeichnet die Äußere, dies
ſes die innere Freiheit des Menſchen. Dier kommt nur die erftere in Betracht.
Der Staat als die Form des gelellfchaftlichen Lebens, als etwas Empiri⸗
ſches, hat nur die dußere Kreiheit des Menſchen berzuftellen. Diefe iſt von
der Anerkennung gewiſſer Brundfäge abhängig, welche für fie die conditio
sine qua non enthalten und mit den Merkmalen der Freiheit correfpondiren.
Im Allgemeinen laſſen fi diefe Srundfäge auf die Forderung zurüdführen,
baß der Staat Leine Thätigkeit ausuͤbe und Leine Einrichtungen ſtatuire,
durch welche die Motive der menſchlichen Willensäußerung außer den Mens
Then geſtellt würden, durch welche der Staat aufhoͤrte eine fittliche Anftalt zu
fein. Dahin gehört 3. B. der Grundſatz, daß der Staat bas Verbrechen bes
ſtrafen, daß er jedem Einzelnen die Mittel einer menfchlidhen Exiſtenz garan-
tiven muß, daß er die Freiheit der Meinung, die Mittheilung ber Gedanken
nicht hindern , daß die herrfchende Gewalt nicht unabhängig von dem Willen
der Sefammtheit und nicht im Widerfpruch mit ihr die öffentlichen Angelegens
beiten verwalten darf u.f.w. Von diefen Grundſaͤtzen hängt das Beſtehen
des Staates, die menfchlicye Freiheit, die Herrſchaft des Sittengeſetzes ab, fie
find deshalb abfolut gültig. Sie bilden die Lebensbedingungen für den Staet,
für den ſittlichen Organismus der Menſchheit, wie gewiſſe andere Grundgefege
die Lebensbedingungen für den phyſiſchen Organismus bilden. Wie die
Zeiftung des legten 3. B. von dem Blutumlauf, von dem Einathmen der
atmofphärifchen Luft abhängt, fo hängt ber ſittliche Organismus des Staats
von der Anerlennung jener Grundſaͤtze ab.
An diefe abſolut gültigen Grundgeſetze hat fih nun auch jede Berändes
rung im Staatsleben, jebe Umwandlung beitehender Einrichtungen anzulehs
nm. Sie bilden den feften Kern, das Pofitive, das Abfolute, welches
unter keinen Umftänden angetaftet werben darf. Kein Staat, Leine Partei,
keine politifche Bewegung hat das Recht, disfe ewigen, abfolut uuen Grund⸗
id igen Staaten iſt fie
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is &r 1a Iılefithir ahfr Ubet
j fe abfolute Gültigkeit jener Grundfäge und Inftiturtonen fette}
* Kir ein Bobtet, das nicht ER: * Menfhen liegt, ſondern weſent⸗
ti In dem Menſchen fetöft und in derjenigen Fähigkeit, welche ihn zum Men:
hen macht, in feiner Vernunft. Ihre Anerkennung wird dem Menſchen
nicht von außen aufgedrungen, fondern fie ift ein freimilliges Erzeugniß feiner
Vernunft, fie iſt nicht Sache des Glaubens, fondern des Willens, fie ift eine
erfahrungs= und vernunftgemäße Erkenntniß.
Eben deshalb ift jene abfolute Gültigkeit aud nicht in dem Sinne ab:
folut, daß fie Über der menſchlichen Vernunft ftünde. Obige Grundfäße
und Grundmwahrheiten find nicht in fofern abfolut, als fie dem menſchlichen
Urtheile unzugänglich wären, nicht in fofeen heilig, daß fie nicht nach ihrer
vernünftigen Berechtigung befragt werden dürften, nicht in fofern unantaſt—
bar , daß fie nicht Gegenſtand der Kritik fein dürften. Sin den Staaten, deren
Baſis fie bilden, befteht und eriftirt garnichts, Fein Princip und feine Korm,
kein öffentlicher Act und keine politifche Anftalt, welche nicht der oͤffentlichen
Kritik verfallen, welche nicht jeder Unterfuchung ihrer inneren Nothwendigkeit
preisgegeben wären, welche nicht Jedermann Rebe ftehen müßten, nicht von
Jedermann beurtheilt werden bürften. Diefe abfolute Gültigkeit beſchraͤnkt
ſich einzig und allein darauf, daß gewiſſe Grundfäge und Inftitutionen factiſch
nicht verlegt werben bürfen.
Anders verhält es fich mit der abfoluten Gültigkeit, welche gewiſſe Staa⸗
ten für ihre beftehenden Zuftände in Anfprudy nehmen. Das Merkmal diefer
abfoluten Gültigkeit befteht darin, baf fie ſchlechthin anerkannt werden muß,
ohne daß dieſe Anerkennung ben Proceh des Urtheils durchgemacht hätte oder
Gültigkeit. 397
darchzumachen brauchte. Nicht weil das Beſtehende auf einer inneren Roth:
wendigkeit beruht, nicht weil es von dem vernünftigen Geſammtwillen für
nothivendig und abfolut berechtigt erflärt wurde, nicht weil es ein Poflulat ber
menſchlichen Vernunft ift, foll es abfolut gültig fein, fondern weil es ein.
mal ba ift, weil es einſt entflanden, weil es hiftorifch, weil es thatfächlich iſt.
Die Anerkennung dieſes Beftehenden hat fomit nicht ihren Grund in ſich felbft,
fondern fie wird von außen geboten. Sie ift nicht Sache ber Erkenntniß,
ren Sache des Glaubens, nicht Sache der Freiheit, fondern Sache des
en e abfolnte Gültigkeit bes Beftehenden erſtreckt ſich deshalb nicht blos
darauf, daß es überhaupt factiſch nicht angegriffen und vernichtet werben
darf, fondern es ift fo ſehr Sache des Glaubens, daß die menfchliche Vernunft
überhaupt gar nicht nady feiner Wahrheit und Berechtigung, nad) den Gruͤn⸗
den, bie fein Dafein rechtfertigen, fragen darf. Jede Kritik, jede Unter:
ſuchung muß vor diefem Beftehenden verſtummen, der Menſch darf Ihm
gegenüber nicht Menſch fen, dns Object iſt zum Herrn, zum abjoluten
Despoten des Subjectd gemacht, der menſchliche Geiſt hat eine ſchwere dunkle
Maſſe vor fidy, welche, jedem Lichtfirahl unzugänglich,, ſchlechthin angebetet
werden muß. Die Vernunft muß fich vor der uebermacht außer ihr liegender
Gegenſtaͤnde ohne Widerrede beugen.
Die Zuſtaͤnde ſolcher Staaten ſind ſomit auf ein Gebiet verſeht, wo
die Menſchheit aufhoͤrt, auf ein Gebiet, wo der Menſch aufhoͤrt, Menſch
zu ſein, wo er nur noch ein willenloſes, zerknirſchtes, deprimirtes, gebeugtes
Weſen iſt, Alles aufgebend, was den Begriff Selbſt bezeichnet.
Fuͤr die Beurtheilung dieſer abſoluten Guͤltigkeit des Beſtehenden kommt
natürlich deſſen Qualität gar nicht in Betracht, es handelt ſich einfach um bie
Frage, ob im vernünftigen menſchlichen Staate etwas, und wäre es auch
das Befte, in fofern abfolut fein darf, daß es der Kritik fchlechthin ala etwas
Mnantafibares gegenüber ſtehen, daß es überhaupt gar nicht mehr Gegen»
ſtand des menfchlichen Urtheils fein darf? Ich fage Nein, denm es iſt ſchlecht⸗
hin mit den Bedingungen, unter welchen überhaupt der menfchliche Geiſt
exiſtirt, unvereinbar, daß ein Gegenftand zum abfoluten Herrn über ihn
gemacht werde. Der menſchliche Geiſt ift fo untheilbar,, fo fehr ein Ganzes,
daß er gerade fo weit aufhözt frei zu fein, als ihn irgend etwas dominirt,
als ihm irgenb etwas nicht erlaubt, ihm nahe zu fommen. Grforfchen,
unterfuchen, prüfen, überhaupt zu feinem Gegenſtand machen muß ber
mienfchliche Geift Alles Finnen, was eriftiet, und er muß darin durch gar Feine
anderen Schranken gehindert fein, als burdy die feines eigenen Wefens und
Drganiemus, fonft iſt der Mani nicht frei, fonft hat er ſtets etwas vor
ſich und uͤber ſich, das ihn abſolut beherrſcht.
An fich hat natuͤrlich kein Gegenſtand und kein Zuſtand, alſo auch das
„Beſtehende“ nicht, die Macht, dem menſchlichen Geiſte ſich als Schranke
gegenuͤber zu ſtellen, als Hinderniß, das ſeine Thaͤtigkeit laͤhmt, denn es
bat Beinen Willen. An ſich bietet jedes Object ber Kritik fi) dar. Geine
abfolute Gültigkeit, feine Helligkeit und Unantaftbarkeit kann ihm deshalb
nur von einem Willen, der aus ihm herausſpricht, vindieirt werben.
Eine ſolche abfolute Gültigkeit des Beſtehenden ertheilt demnach irgend
eitem Willen im Staate die Moͤglichkeit, alles Mögliche mit dem Stempel
ber Unantaftbarkeit zu bezeichnen / was ihm beliebt, jene abfolute Guͤltigkeit
des Beftehenden kann zum Rechtstitel fir alles Unrecht und für jeden Unfinm
Henne werden, den man zu conferviren irgend ein Intereſſe hat. Handelt
ſich 3. B. um elme Kritik der beftehenden kirchlichen Werhältniffe und Glau⸗
benstehren, fo kann jede Unterfuchung darüber abgefchnitten werden durch
Berafung auf die abfolute Guͤltigkeit bes Beſtehenden. Gewiſſe Lehren und
Symbole find einmal da, befteben einmal und dadurch ift jede meitere Frage
nach Ihrer vernünftigen Berechtigung abgefhnitten , die Kritik hat fich „in
— 82 rm —*— —— iu bewe⸗
und bie Kragen ee inneren wendigkeit ng auf das
Betnede, iR an Decbrk —
Erxiſtirt —7* Fehlechtes Sefes; oder find die Geſetze überhaupt
are und Are jeder ee —* gr: wäre ein Angriff auf
henden
Alm — — — welche mit ber menſch⸗
tichen Freiheit unvereinbar find, oder entbehrt ein Staat überhaupt gefegti:
cher Garantien der Freiheit, fo unterftebe fidy ja Niemand, dies nicht in ber
Drbnung zu finden, benn diefer Mangel ift ein beftehender und fomit abfolut
berechtigt.
Kurzum durch dieſe abfolute Gültigkeit, durch diefe Heiligkeit des Beſte⸗
benden, mag es noch fo ſchlecht, mag es auch aut fein, wird die menfchliche
Freiheit vollftändig vernichtet und der menſchliche Geift unter die Herrfchaft
eines über ihm ftehenden Willens spe, welcher feine Gedanken und fein
Urtheil ihm vorfchreibt.
In feiner ganzen Reinheit teifft man dieſes Princip jedoch nur noch hin
und wieder. Die meiſten Staaten haben es in ſoweit bedeutend modificirt,
als ſie faſt alle politiſchen Verhaͤltniſſe der Kritik und dem Urtheil der oͤffent⸗
lichen Meinung uͤberlaſſen. Es iſt dies beſonders in den conſtitutionellen
Staaten der Fall. Eine Einrichtung iſt jedoch auch hier als Ausnahme privi⸗
legirt, eine Einrichtung ift auch bier der öffentlichen Kritit verfchloffen und
zum Segenftand bes Glaubens gemacht. Es ift dies das Königthum. Alles
Andere darf die Preffe in ihren Bereich ziehen, alles Andere darf fie bezweifeln,
bekritteln, prüfen, nad) feiner vernünftigen Berechtigung und inneren Noth⸗
mwendigkeit fragen, an die Nothwendigkeit des Königthums aber muß fie
glauben, diefe Form der Herrſchaft wird für abfolut gültig ausgegeben und
diefe abfolute Gültigkeit ald fo ausgemachte Wahrheit dargeftellt, daß jede
weitere Unterfuchung darüber verboten if. Es kommt für die Beurtbeilung
diefes Verhältniffes natürlich die Frage nach der Qualität und den Vorzügen
des Koͤnigthums gar nicht in Betracht, fondern es handelt fic lediglich um die
Gültigkeit. '599
Möglichkeit, ob rechtlich irgend eine Einrichtung im Staate dem öffentlichen
Urtheile entruͤckt fein koͤnne. Geſetzt auch das Koͤnigthum ſei bie abfolut befte
Herrſchaftsform, fo muß jene Möglichkeit im Intereſſe des Koͤnigthums felbft
verneint werden. Alles, was dem Öffentlichen Urtheile fich entzieht, ladet Vers
dacht auf fih. Im wahren Staate muß Altes Gegenſtand der freien Kritik
fein, in ihm darf gar nichts exiſtiren, was dem menſchlichen Geiſte als
Schranke ſich entgegenftellte,, bis zu welcher er frei fein darf, hinter Der aber
feine Unfreiheit anfängt. Denn unfrei ift der menfchliche Geift diefer abs
foluten Gültigkeit des Königthums gegenüber, es fcheidet fein Vermögen,
feine Befugniß ducch eine Schranke ; dieffeits derfelben, auf dem Gebiete der
vollziehenden Gewalt, ift Alles menfchlich,, feiner Kritik preisgegeben, und er
deshalb frei, aber jenfeits derfelben fängt die Lebermenfchlichkeit an, die im
pofante Majeftät der abfoluten Gültigkeit, vor welcher er fi in Staub wer⸗
fen muß.
Es fei mir hier erlaubt, in dieſer Beziehung eine Autorität zu citiren,
die Autorität eines Mannes, der viel zu gefcheidt war, als Daß er nicht zumeis
len die Sprache der Wahrheit Hinter feiner diplomatifchen Maske redete.
Zachariaͤ fagt bei Gelegenheit feiner Abhandlung über die conftitutionelle Mons
archie (Vierzig Bücher vom Staat III. Bd. ©. 299. Neue Ausgabe, Heidel-
berg 1839), in Beziehung auf die Freiheit der öffentlichen Meinung unter
Anderem Folgendes: „Es verfteht fich von felbft, daß mit der Freiheit der
Preſſe und mit der Verfaffung der conflitutionellen Monarchie eine Cenfur
unvereinbar fei. Denndie Eenfur ift ein rechtsfräftiges Urtheil über das Recht,
feine Gedanken Andern durch den Druck mitzutheillen. Wem aber auch die
Genfur anvertraut und wie fie auch ausgeubt und geleitet werbe, allemal
ſtehen Diejenigen, welchen fie übertragen iſt, über ber öffentlichen Mei⸗
nung, anftatt daß in der conftitutionellen Monarchie die Öffentliche Meinung
gleich als ein höheres Wefen Aber Alle und Alles gebieten
fol. Sei die Gefahr, mit welcher Sceiheit von der Genfur verbunden ift,
auch noch fo groß — man hat nur die Wahl, entweder die Cenſur aufzuges
ben, oder die conftitutionelle Monarchie in ein Schattens ober in ein Trug⸗
bild zu verwandeln. — Jedoch Senfurfreiheit iſt noch nidt Preß⸗
freiheit. Wahre Preßfreiheit beftcht nur da, wo (mie in den Vereinigten
Staaten) ber Schriftfteller oder deffen Verleger wegen des Inhalts einer Druck⸗
ſchrift, in fofern diefer den Staat oder einen Öffentlihen Charakter,
als folchen, betrifft, überall nicht zuc Verantwortung gezogen werden kann
(!!). Dagegen iſt eine Preßfreipeit mit fogenannten Repreffivgefegen in der
That keine Preßfreiheit; fie unterfcheidet fich von der Genfur nur dem Namen’
und nicht der Sache nad, ober nur fo, wie der indirecte Preßzwang von dem
bireeten. Ja ſie ift fogar fchlimmer als bie Genfur, da Repreffivgefege ſtra⸗
fen, ohne vor der Strafe genugfam warnen zu können, die Cenſur aber den
unvorfichtigen Schriftflellee weniaftens ungeftraft laͤßt.“ (Zachariaͤ kannte
natürlich die neue Erfindung, Schriftfteller fogar wegen nicht verbreiteter,
singeftampfter oder unter Cenſur erfchienener Schriften durch die Gerichte
des Landes zur Feſtungsſtrafe verurtheilen zu laſſen, noch nicht, oder hielt
er ein ſolches Verfahren wohl für unmoͤglich.)
Aber nicht bios bie conftitutionellen, fondern auch die republleaniſchen
Regierungen Europas, d. h. die Regierungen der Schweiz , ——
maßen und in Sinn von dem Grundſatze der abſoluten G |
ber ümantaftbaren: Deitigkeit gewiffer Inftitutionen im Staate sw. Nicht
als od im politifcher Beziehung nicht grundfäglid Freiheit der Meinung, ers
a jedoch, beſonders in den Jeſultencantonen, thatſaͤchlich oft nicht
‚eriflirt), oder als ob die Form der Herrſchaft nicht in Frage geſtellt werben
bünfte, aber im anberee Dinficht wird: der Begriff der Regierung auf das Ge⸗
biet des Glaubens, der veligiöfen Verehrung jefpielt, Es wird. naͤm⸗
lich die Megierung als ein fo heillges, majeftätifches und uͤbermenſchliches
Inſtitut dargeſtellt, daß diefelbe unter allem Umftänden und Bedingungen an⸗
erkannt und mit‘ einer gewifjen myſtiſchen Ehrfurcht behandelt werden foll.
Ob die Regierung ſich diefer Anerkennung würdig erweife oder nicht , ob fie
durch offenbare — * wie Die Luzerner, oder unter der Firma eins
geiſtloſen Kormalismus, wie die Zuricher, ihrem Begriff und ihrer Aufgabe
— A fie, fol für ihee Beurtheilung durchaus micht
e folche Theorie ift in der abfoluten Monarchie vollftändig. ber ech ·
tigt und run min wie fie aber mit dem Princiy ber Demokratie und ber
kepublicanifchen Staatsform, Im mweldyer die Negierung lediglich nichts An⸗
deres iſt als der Mandatar des Volkes, fich vereinbaren laffe, das Läße fidy
nimmermehr einfeben. Diefe Theorie i vollfiändig unrepublicanifch, ein,
wie noch manches Andere, theilweife von außen eingefhmuggeltes, theilmeife
vom ehemaligen Patricierftaate übriggebliebenes fremdes Element, das fich in
ber Schweiz nur deshalb erhalten fonnte, weil die Republik dort nur that:
ſaͤchlich, aber nicht principiell fich entwickelt bat. Auf geiftigem Gebiete aber
herefcht mit unabweislicher Nothwendigkeit ber Grundfag, daß nur das Werth
hat, was Product ber Selbftehätigkeit des Geiſtes ift, was erfannt wurde und
aus dem dialektifchen Drocefie bes Selbſtbewußtſeins hervorging. Wo dieſe
Bedingung fehlt, da find die adaͤquateſten Kormen nicht hinreichend, den Geift
zu erfegen, und fo iſt e8 auch zu erflären, daß in den demokratiſchſten Staats:
formen dev Schtoeiz oft die größte Unfreiheit in geifliger und politifcher Bezie⸗
bung herrſcht, wie ſolches der Zuftand der Urcantone fattfam beweift.
Die abfolute Gültigkeit des Beſtehenden ſpukt ferner auch befonders
amf religisfem und kirchlichem Gebiete, welches denn auch als das eigents
liche Vaterland diefer Theorie gelten kann. Auch hier gilt der Grundſatz,
daß die Qualität des Beſtehenden nicht in Betracht kommt, fondern nur die
Trage, ob im Staate etwas über das menfchliche Urtheil geftellt werden darf ?
Diefe Frage wurde fhon in dem Artikel „Glaubensfreiheit“ berührt und ich
Tann deshalb fürglich auf das dort Geſagte verweilen. Co viel aber ſteht feft,
daß dieſe abfolute Gültigkeit der befiehenden Symbole und Dogmen zum
Rochtstitel für die fchamlofefte Freiheitsvernichtung benugt werden fann und
auch benugt wird. Am mwenigften verträgt es fich mit der dee des Staates,
wenn fich die Regierung, eine politifche, eine naenfchliche Macht, zur Beſchuͤtze⸗
in bes Hergebrachten auf religiöfem Gebiet aufwirft. Mit welchem Rechte
Gültigkeit. 601
kann 3. B. ein Miniſter, ein weltlicher Beamter über bie Vernuͤnftigkeit ober
Unvernünftigkeit beftebender Dogmen und Spmbole entjcheiden ? Iſt denn
feine Anficht, feine Meinung fo infallibel, daß er ſich zum authentifchen In⸗
teepreten des göttlichen Willens aufwerfen kann? Mit welchem Rechte
kann ein Staatsbeamter dem menſchlichen Geifte gebieten: „bis hieher und
nicht weiter”, dies ift zu glauben und dies ift fchlechthin als Wahrheit anzuere
£ennen ? Iſt denn ein Staatsbenmter zualeich auch Priefter der Offenbarung,
Verkuͤndiger göttlicher Infallibilitaͤt? Nein, er iſt dies nicht, aber er ift im dies
fem Fall Vertreter einer Macht, die in letzter Inftanz ſtets Recht behält —
weil fie die Gewalt hat, die, wenn Gründe nicht ausreichen, alle weitere
Discuffion mit dem Worte „So will ich“ abfchneiden kann.
Die Abfurdität diefer politifchen Theologen iſt in neuerer Zeit fo meit
gegangen, daß fie den lieben Derrgott geradezu unter den Schug ber Polizei
geitellt haben. Gensd’armen und Polizeicommiffäre find jest die Wächter
des Heiligthums, die Befchüger der Rechtgläubigkeit geworden und berufen,
um bie Eriftenz des perfönlichen Gottes aufrecht zu erhalten. Sie wäre traus
rig, diefe Wahrnehmung, wenn fie nicht die Geroißheit gewährte, daß dies
der Anfang des Endes tft. Eine Lehre, die duch phyfifhe Gewalt aufrecht er:
halten werden muß, ift dem Untergang verfallen und eine Anficht, die durch
Gewalt unterdrückt werben foll, wird und muß am Ende doch durchdringen.
Endlich find es in neuerer Zeit befonders die Eigenthumsverhältniffe,
welche unter den Schug der abfoluten Gültigkeit des Beſtehenden ben Ans
griffen gegenüber geflellt wurden , welche von jenen Theorien, die man unter
dem Namen Communismus und Socialismus kennt, ausgehen. Es laͤßt
ſich nicht leugnen , daß diefe Richtung gar Manches zu Tage gefördert hat,
was dem Meiche des Unfinns angehört, ebenfo wenig aber laͤßt ſich auch
beſtreiten, daß die beftehenden Verhältniffe in diefer Beziehung einer wefent:
lichen Umgeftaltung resp. Organifatien bedürfen, wenn ein großer Theil der
Menfchbeit zu feinem Weſen gelangen fol. Man folte daher glauben,
dag in einem freien vernünftigen Staate der Austaufc der Meinungen über
disfe Verhältniffe nicht nur nicht gehindert würbe, fondern daß im Gegen:
theil die Regierungen, die ja ihrem Begriff nad) die Drgane des Kortfchrit-
tes und der pelitifhen Entwicklung eines Volkes fein follen, fich für eine mög:
lichſt ſchnelle Entfheidung und Aufklaͤrung in dieſem Wirrwarr von fo ver:
ſchiedenen Doctrinen und Anfichten lebhaft intereffiren follten. Diefer Glaube
fegte jedoch) eine Auffaffung der Regierungen voraus, wie fie fein follten und
nicht wie fie find, denn er vergißt, daß auf dem Feſtlande von Europa keine
Regierung exiſtirt, melche fich nicht als die perfonificirte Herrſchaft des Bes
flehenden gerirte, flatt fich freimillig zum eigentlichen Organe des Zeitgeiſtes
und der Entwidlung des Volkes zu machen. So wurde denn auch faft allent⸗
halben die Unterfuhung über die innere Nothwendigkeit und vernünftige
Berechtigung der beftehenden Eigenthums : Vechältniffe kurz abgemacht durch
die Berufung auf die abfolute Gültigkeit des Eigenthums. Dieſes wurbe
für Heilig erflärt und jede Discuffion über feine Nichtheiligkeit verboten.
Ein ſolches Verfahren ift da ganz conſequent, wo bie beftehenden Befege und
Staatseinrichtungen uͤberhaupt Leine öffentliche Meinung anerkennen, mo
die Gedantken der Unterthanen vorher bie Genehmigung ber berrfchenden
Gewalt haben müffen, ehe fie berechtigt find, ins Reben zu treten, ein folches
Verfahren ift auch ferner gewiſſen Ständer und Glaffen der Bevoͤlkerung
ber confequent, deren Einzelne nicht nur in Beziehung auf ihren koͤr⸗
Habitus, auf die Form ihrer Haupt und Barthaare von bem Willen
der Regierung abhängig find, fondern deren Gedanken fogar, deren Anfichten
und Meinungen ſich nach dem Reglement richten müffen. Allein im hoͤchſten
Grande verfaffungsverlegend und mit bem Staatsprincip abfolut unvereinbar
iſt ein foldyes Verbot in einem Bande, mo die Wolkefouveränetät anerkannt
iſt und jeder Einzelne als freier Mann gilt. Trotz dem aber find es auch bier
wieder einzelne Schweizer Regierungen, melde in biefer Beziebung fogar wei⸗
ter gingen, als es in monarchifch reaterten Sraaten gefchehen ift. Nament:
lich Hat ſich bie Züricher Megierung in biefer Beziehung durch das berüchtigte
Gommiüniftengefes ein Denkmal errichtet, das fie in den Augen jedes Ver⸗
nünftigen und jedes Freundes der Freiheit genugfam charakterifict.
Außer Frankreich und England war in neuerer Zeit befonders die Schweir
Em! für die foclaliftifchen und communiftifhen Docteinen. Ungeftört
j —
dleſe einige Jahre entwickeln, bis es einigen Regierungen beliebte,
| Freiheit bee Meinung auf diefem Gebiete der Miffenfchaft ein Ende zu
machen, und zwar haben befonber® fibetale oder radicale Megierungen die
Eh ierin thätig geweſen zu ſein, wie denn überhaupt der Radicalismus
ft ber Schweiz dazu auserfören zu fein ſcheint, augenblicklich feinem Princip
ingetren zu werden, fobald er zur Derrfchaft gelangt. Zunaͤchſt verbot die
Zuͤricher Reglerung einem ihrer Bürger, Vorlefungen über Socialismus zu
halten, und ernannte fodann eine Commiffion, um auf gefeglihem Wege
gegen diefe Theorie einzufchreiten. Diefe Commiffion arbeitete einen Entwurf
aus, deffen erfter Artikel folgendermaßen lautete: „Es ift unterfagt, Dieb:
ftahl oder andere Verbrechen Sffentlich zu rechtfertigen, ober eine Claſſe von
Bürgern gegen andere, z. B. Befiglofe gegen Befigende, zum Haſſe aufzureizen,
oder überhaupt durdy Angriffe auf die Unverleglichkeit des Eigenthums oder
anderer im Staate gefhügter Rechte die beftehende rechtliche Ordnung boͤs⸗
willig zu gefährden. In den Verhandlungen des Großen Rathes trug ein
Mitglied darauf an, diefen Artikel durch folgenden zu erfeßen: „Wer durch
die Preffe und öffentliche Reden bie Sicherheit des Privateigenthums boͤs⸗
willig angreift, oder verbrecherifhe Handlungen in einer Weife empfiehlt
und vertheidigt, wodurch die öffentliche Ruhe bedroht wird, oder die öffent:
lihe Moral und chriftliche Religion dem Spott oder der Verachtung preise:
giebt, verfällt, auch wenn kein anderes im Strafgefegbuch vorgefehenes mit
Strafe bedrohtes Verbrechen vorliegt, in eine Geldbuße von 40— 1000 Frans
ten, momit Gefängnißftrafe bis auf 2 Jahre verbunden werden kann.“
h
Diefer Antrag, fo mie ein anderer, das ganze Gefeg im Intereſſe ber
Ehre der Regierung fallen zu laffen, ging jedoc) nicht durch, dagegen wurde
der Artikel in folgender Kaffung angenommen: „Es ift unterfagt, den Dieb:
ftahl oder andere ihm verwandte Verbrechen oͤffentlich zu rechtfertigen, oder
wegen Ungleichheit des Beſitzes eine Claſſe von Bürgern gegen eine andere
Gültigkeit. 608
zum Haffeaufzureizen,, ober burch Angriffe auf bie Unverleglichkeit bes Eigen»
thums die Ruhe und Wehlfahrt des Staates boͤswillig zu gefährden.”
Diefes ift num eines jener berüchtigten Geſetze, welche durch allgemeine
Ausdruͤcke, durch „Aufreizen“ und andere Stichwörter der freien Kritik den
Mund fchließen follen. Es ift natuͤrlich, daß fein vernünftiger Menſch die
Unverleglichkeit des Eigenthums in der Weife preisgeben will, baß ein factis
fher Angriff auf daſſelbe erlaubt fein fol, allein fann etwas, kann das
Eigenthum fo unverleglich fein, daß ihm gegenüber die Wiffenfchaft ſtumm
fein muß, daß ihm gegenüber es nicht erlaubt fein dürfte, im Hinblick auf
die beftehenden focialen Mißverbältniffe die Frage aufzumerfen, ob dieſen
nicht durch eine andere Organifation der Eigenthumsverhaͤltniſſe abzuhelfen
fit Wenn ſolche Kragen gefeglich verboten werden koͤnnen, dann fann man
auch ein Gefeg fchaffen, deſſen erfter Artikel fo lautet: „Es ift unterfagt,
überhaupt das Beſtehende nicht vortrefflic, zu finden , oder Durch Beſprechung
beftehender Webeiftände Unzufriedenheit zu ftiften und die ruhigen Bürger aufs
zurelzen, ober überhaupt die vernünftige Berechtigung beftehender Verhaͤlt⸗
niffe in Frage zu jtellen und dadurch die Ruhe und Wohlfahrt des Staates boͤs⸗
willig zu gefährden.” Wenn es erlaubt ift, Gefege zu machen, wie dieſes
Züricher Sommuniftengefeg, dann hat «6 die Regierung überhaupt In ber
Hand, die Entwidlung der Wiffenfchaft durch ein Gefegesdictat nach Will⸗
für zu regulicen, dann find Proudhon, Garlyle und alle Diejenigen, welche
wiffenfchaftliche Mevolutionen hervorbringen, Verbrecher, dann kann bie
Regierung beftimmen, die Sonne bemigt fid) um die Erde, dann muß Gali⸗
Let feine Irrthuͤmer abſchwoͤren, dann darf Bein Pulver, keine Schießbaum⸗
wolle, Leine Dampfmafchine erfunden werben, denn jede neue Erfindung
vernichtet das Beftehende, greift die Heiligkeit und Unverleglichkeit bes Beſte⸗
henden an.
Diefes Züricher Communiſtengeſetz fteht übrigens nicht iſolirt, auch ans
derwärts und fonft noch haben Schweizer Regierungen mit Landesverwei⸗
fung und andern polizeilihen Gewaltſtreichen gegen Solche gewuͤthet, bie
im Verdacht des Communismus ftanden. Diefer Communismus fpielt in
der Schweiz biefelbe Rolle, wie in Deutfchland die Revolution. Er ift das
Schreckbild, das Gefpenft, das allen Denjenigen fchlaflofe Nächte verurfacht,
weiche am Ruder find. Wie ift diefe krampfhafte Furcht der Schweizer Res
gierungen zu erflären? Eines Theile ift fie eingegebensvon der Furcht vor der
Öppofition, welcher man Gonceffionen machen zu müflen glaubt. Dies
war namentlich im Canton Waadt ber Fall, deſſen hoͤchſte Würdenträger
ſelbſt einer vernünftigen Auffaffung der Eigenthumsverhältniffe nicht fern
ftehen und jedenfalls nicht mit jener philifterhaften Bornirtheit behaftet find,
weldye das Beftehende für fo unverleglich erklärt, daß ein Zweifel Daran zum
Verbrechen gemacht wird. Im Allgemeinen hat die Communiftenfurdht jedoch '
einen tiefen Grund. Jede berrfchende Gewalt repräfentirt bie Herrfchaft bes
Beſtehenden und iſt der natürliche Feind einer folhen Veränderung, wodurch
das berrfchende Princip vernichtet und in ein weſentlich anderes verwandelt
wird. Eine folche totale oder principielle Veränderung führt die potitifche
Demokratie als Confequenz nad ſich, denn fie ift ihrem Weſen nady nur das
604 | Guizot.
Mittel, um einen Zuſtand herzuſtellen, im welchem jedem Einzelnen eine
menſchliche Exiſtenz garantiert iſt. Dies iſt jedoch nicht möglich obne weſent⸗
liche Umgeftaltung resp. Drganifation der beftehenden Eigenthums: und Vers
ichröverhältniffe. Bewußt oder unbewußt iſt daher diefe Organiſation der
Grundgedanke jeber demokratiſchen Verfaſſung. Wie daher ber politifche
Abſoluismus ſtets eine politifche Mevolution zu erwarten bat, fo wartet vor
ber Thuͤre jeder demokratiſchen Verfaſſung eine Aenderung der focialen Wer:
bältmiffe, - Inftinetmäßig fühlen dies die Perföntichkeiten wohl, die in der
Schwei jeweils am Ruder find, allein fie haben den Muth nicht, an bie
Spitze der Bewegung fid> zu ſtellen. Dazu. gebört vor Allem eine fefte und
ſſchere Stellung bes Eat. — Sufın und Innen , diefe aber iſt in ber
Schweiz bei ihrer inneren Zerriffenheit und Abhängigkeit von äußeren Ein:
flüffen nicht vorhanden. » Dann aber ift die fraglihe Bewegung eine jo bes
dantend⸗ und durchgreifende, daß ein Mann des Jahrhunderts dazu gehört,
mit der nöthigen Meberlegenbeit des Geiftes und Charakters, um ſich an ihre
Spihze zu ſtellen — in der Schweiz aber ift, wie faſt überall, die Mittelmaͤßig⸗
keit am Ruder, die ehrſame Beſchraͤnktheit, welche einen großen Gedanken
nicht au faffen vermag. Mechnet man noch dazu, daß die herrfchenden Perſoͤn⸗
lichkeiten, wie namentlich in Zuͤrich, gewoͤhnlich jener Claſſe der Gefellſchaft
—2 ‚welche bei einer focialen Umgeſtaltung allerdings einige Opfer
bringen und einige Privilegien aufzugeben hätte, fo werden die politifchen
* pſychologiſchen Nama dieb Heilisfprechung. des — ger
ee
Guizot, ur {8 Für längere Beit ale itgend ein tar =.
zoͤſiſches Minifterium, feit der-Julirevolution, hat ſich dasjenige, deffen Seele
Giuizot geworben, an der Spitze der Gefchäfte zu erhalten gemußt; und ſoll⸗
ten bie vor Kurzem eingetretenen VBerwidlungen mit England die Entfer:
nung von feiner einflußreschen Stellung zur Folge haben, fo würde doch
fhwerlicy auch das aus der doctrinaͤren Schule hervorgegangene Syſtem fallen,
deſſen hbauptfächlichfter Vertreter er if. Das Wefentliche dieſes einfeitig
confervativen Syſtems ift die nad) willfürlichen, engen Grenzen bemeffene
Kusfcheidung und politifche Bevorrechtung eines Eleinen Bruchtheild der Ma:
tion, gegenüber der Maffe mit ihren Millionen von geiftig und oͤkonomiſch
feöftfländigen und unabhängigen Staatsbürgern. Mit Unrecht hat man daſ⸗
felbe euphemiftifch als eine Derrfchaft der Mittelclaffen bezeichnet. Es ift
nur eine Ariftofratie des Reichthums, fo lange nicht menigftens der Geſammt⸗
heit derjenigen Staatsbürger, die als Nationalgarde zur Vertheidigung ber
inneren Ordnung berufen find, ein felbfithätiger Antbeilan der Entwidelung
diefer Ordnung und das volle Recht der Wahlfähigkeit und Waͤhlbarkeit in
die Nationalvertretung eingeräumt wird. Wohl hat fi) Guizot, ale
früherer Minifter des Unterrichts, unläugbare Verdienfte um die Verbrei⸗
tung der Volksbildung erworben, alſo auch mittelbar um die Entwidelung
der Fähigkeit zu einer befonnenen Theilnahme an den Angelegenheiten des Ge⸗
meinmefens bei einer wachfenden Zahl der Bewohner Frankreichs. Allein
wenn feine Anhänger der Meinung find, daß er die für politifch reif gehaltes
nen Staatsbürger in Wahrheit zu jener Theilnahme zulaffen möchte, fo trauen
Geigot. 606
fie ihm entweder allzu viel zu, ober müflen boch zugeben, daß ihm ber Doch:
muth einer doctrinaͤren Schulweisheit zur Abwägung bee politifchen Faͤhlg⸗
keiten eim eigenthuͤmliches Gewicht in die Hand gefpielt hat, wornach felbft
Zaufende der Tüchtigften als allzu Leicht, nicht wenige Unfähige hingegen als
ſchwer genug befunden werben. Zwar hat man ruͤhmend hervorgehoben, "daß
das jetzt noch in Frankreich geltende Wahıfuftem ein Eorrectiv feiner Un⸗
vollkommenheit in fich ſelbſt trage; daß biernach in den 11 Jahren von
1831 —42 die Zahl der Wähler von 166,000 auf 220,000, alfo um ein
Dritcheil geftiegen ſei, während fich die Beboͤlkerung nur um 16 vermehrt
babe. Allein [yon 1842 bemerkte mit Recht der „ Courrier frangaie”’, um«
ter Hintveifung auf eine Adnliche Zunahme und Abnahme der Wähler waͤh⸗
rend ber Reftauration, daß jene Vermehrung nur die Folge einer Steigeramg
der Zufanfteuer fei, die während des gleichen Zeitraumes Im mehreren Depar⸗
tements von 30 — 40 auf 75—80 Zufagcentimes:ı erhöht werben mußte.
Und wenn im Jahre 1842 doch erſt ein Wähler auf je 164 Einwohner kam,
fo ift dieß immerhin ein Mißſtand, der einer wachſenden Unzufriedenheit in
ber Mehrheit der Nation Vorſchub thım muß, ſollte ſich gleich das offictelle
Frankreich der gegenwärtigen Orbnung der Dinge noch fo enge anfchließen.
Mrd man aber mit den herkoͤmmlichen Mitteln der Repreflion, wofür Gul⸗
zot und feine Anhänger ftets fo eifrig geflimmt haben, eine Gaͤhrung bau»
eind niederzuhalten vermögen, bie fi) unter befonberm auf die Volksmaſſe
druͤckenden Umftänden wohl über weite Kreife ausdehnen därften? Buijot
ſcheint «8 zu hoffen. Als am 18. Januar 1841 feln Gegner und Vorgaͤn⸗
ee im Miniſterium, Thiers, über die von ihm in Anregung gebrachte
Befeftigung von Paris den Abgeordneten feinen Bericht erftattete,, unters
flügte 8 ui 30t in einer eneraifchen Rede den Antrag, indem er die Befeſti⸗
ung nicht blos als eine nothwendige Barantie für Erhaltung des europdifchen
riedens bezeichnete, ſondern zugleich als ein Mittel, um Europa zu überzen«
gen, „daß eine Revolution in Frankreich nicht mehr möglich fel.” Under
mag darin richtig geurtheilt Haben, daß bei dem gtoßen Einfluffe ber Haupt:
ſtadt durch Ihre Befefligung eine ploͤtzlichen Ummälzung mit einem
Schlage, wie in den Julitagen von 1830, vielleicht für immer vorges
beugt ift. Allein die fort und fort fich erneuernden Goalittonen und Aufftände
der Arbeiter, die Unruhen zu Zonloufe und in anderen Städten im J. 1841,
bie auch politifch ausgebeuteten Hungeremeuten in den Jahren 1846 und
1847 geben Zeugniß dafür, daß keineswegs die Gefahr der Örtlichen und in
wachſender Zahl ſich wiederholenden Bewegungen vorüber ift, die in ihrer Bes
fammtheit wohl gleichfalls die Wirkung einer Mevolntion haben und Frank⸗
reich mit Gewalt aus dem Geleiſe feiner bisherigen Politik heransdraͤngen
innen. Die Inhaber der Macht und Diefenigen, die um die Macht buhlen,
"namentlich der feit ſechs Jahren für eine nothwendige Stüge des Status:
quo gehaltene Guizot, fiheinen indeſſen in den fo gefährlichen „unberweg-
lichen Gedanken” der Erhaltung allzu feft verrannt zu fein, als daß es nicht
ernſtlicher thatfächlicher Mahnungen bedürfen ſollte, um endlich auch wieder
Für Frankreich die Bahn zu Reformen zu brechen, die eine wahre und blei⸗
bende Befrlebigung des Kerns der Nation zue Folge haben. Ä
!
®
Als Gulzot mit den andern Vertretern der boctrindeen Partei im
April 1837 aus dem Miniſterium Mole getreten war, betheiligte er *
ſpaͤter bei der auf den Sturz deſſelben gerichteten Coalition ber 221. I
Febr. 1840 wurde er unter, dem Minifterium Soult Gefandter in London,
‚als gerade mit Ausſchluß von Frankreich bie anderen europaͤiſchen Großmaͤchte
im der orientalifhen Frage ihren Quadrupelvertrag vom 15. Juli 1840 vor:
bereiteten. Er behielt die unter ſolchen Umfländen befonders wichtige Botſchaf⸗
terftelle auch nach dem Abfchluffe des Vertrags unter dem Eriegerifhen Mini:
fterium Ehiers,in welches einzutreten er fich gemeigert hatte. Nach defjen
Befeitigung am 29. Detober 1840 übernahm Buizor unter Soult’s Pri-
ſidentſchaft, aber in einem Miniſterium, für beffen Bildung er hauptſaͤchlich
thätig war, die noch jest, im Februar 1847, ihm anvertraute Leitung ber aus:
wärtigen Angelegenheiten. Schon durch die Gemähr feines Namens ver-
ſchwanden die Beforgniffe Europas vor den trogigen Herausforderungen des
in feiner Iſolirung grollenden Frankreichs. Bald legte ſich auch in diefem
‚Bande felbft die. Eriegerifche Aufregung , obgleich ſchon damals — alfo ſechs
Jahre vor der Vernichtung Krakau's — eine zahlreich verbreitete Volkaſchrift
mit dem Motto: „Nieder mit den Verträgen von 1815!” das Feuer Au
ſchuͤren fuchte; und obgleich bie ganze journaliftiiche Oppofition, über % ber
damaligen Parifer Zagespreffe, gegen die in den Neujahrsreden von 1841
gegebenen Ftiedensverſicherungen Einfprache that. Schon an den Unterhand:
lungen wegen ber thracifhen Meerengen und an dem am 13. Juli 1841
untergeichneten Vertrag ber Großmächte über die orientalifchen Angelegenhei—
ten hatte Frankreich wieder Antheil genommen. Ein langmwieriger und lang»
weiliger Etifetteftreit mit dem ruffifhen Hofe im Anfange des Jahres 1842
309 feine ernftere Verwidelung nad fih; und Frankreich fhien vielmehr
geneigt, feine Wiederanndherung an bie Politit der anderen Großmächte auf
alle Weife zu bethätigen. Dies zeigte ſich namentlicd) im Benehmen Gui⸗
zo t's gegen die Schweiz, als die Berufung der Jeſuiten nad) Luzern und die
dadurch veranlaßten Freiſchaarenzuͤge zur diplomatifhen Tagesordnung Fa:
men. Das Gabinet der Zuilerieen war fo erfreut über feine Wiederzulaffung
in den Rath der Großmächte, daß der Minifter des Auswärtigen, im Wider:
fpruche mit den von Thiers und zumal von Lamartine entwidelten Anſich⸗
ten uͤber die Stellung Frankreichs zur Eidgenoſſenſchaft, ſelbſt einen noch
hochfahrenderen Ton als die oͤſtlichen Maͤchte gegen den kleinen republikani⸗
ſchen Staatenbund anſchlug (f. „ſchweizeriſche Sefuitenfrage”) ; und daß er
im nahe liegenden Intereſſe Oeſterreichs Bein Bedenken trug, die dem Frank⸗
reich der Julirevolution naturgemäß zugeneisten Sympathien der Mehrheit
der fchweizerifchen Bevölkerung in die Schanze zu [hlagen. Dies geſchah,
als man fidy in Frankreich felbft wenigftens zu einer fcheinbaren Nachgiebig>
keit gegen die jefuitenfeindliche Majorität der eigenen Nation gezwungen fah.
Und ſchien gleih Guizot eine Zeitlang zu einer diplomatifhen Einmiſchung
weniger geneigt, fo war er e8doch, der im März 1845 ben franzöfifhen Geſand⸗
ten in London, den Grafen St. Aulaire, beauftragte, den damaligen briti:
fhen Minifter des Aeußern, Lord Aberdeen, den erfolglos gebliebenen
Vorſchlag zu machen, daß Paris zum Mittelpunfte der zwifchen den Groß⸗
Guizot. 607
flaaten über bie fchmeizerifchen Angelegenheiten zu eröffnenden Unterhandlun-
gen gemacht werde. Erſt nadı der Einverleibung Krakau's in die Öfterreichifche
Monarchie und als in Frankreich das flüchtige Belüfte verraufht war, das
Unrecht an Polen durch ein Unrecht gegen die Schweiz zu vergelten, ift vielleicht
eine Wendung in der franzöfifchen Politik eingetreten, die den Intereſſen Frank⸗
reichs angemeffener als die früher befolgte Richtung fein dürfte. Nach einigen
Anzeichen ift e8 wenigftens nicht unwahrſcheinlich, daß fortan die Schweiz
von Paris her ein minder rüdfichtslofes Benehmen zu erwarten hat, und
daß man von franzöfifcher Seite darauf Bedacht nehmen wird, ſich für den
Nothfall eines europdifchen Krieges am fchmeizerifchen Volke, wenn nicht
einen Bundesgenoffen , doch eine wahrhaft neutrale keineswegs verächtliche
Schutzwehr zu verichaffen.
Was die Vernichtung ber Republik Krakau betrifft, fo mag man, nad)
der wenigftens theilweife erfolgten Veröffentlichung der hierüber geführten
diplomatifchen Correfpondenz, wohl einrdumen, daß dem franzöfifhen Minis
fer des Auswärtigen die Verlegenheit einer officiellen Mittheilung bes bevors
lebenden Schrittes erfpart worden iſt. Allein doch kann man ſich des Gedan⸗
kens nicht erwehren, daß Guizot von Dem, was im Plane lag, hinlaͤnglich
unterrichtet war, um noch bei Zeiten kraͤftiger einfchreiten zu koͤnnen, als durch
eine Proteftation nady vollendeter Thatjache. Indeſſen war die durch das Er⸗
eigniß bei der franzöfifchen Nation gewedte Stimmung mädytig genug, um
feloft ihren Friedens⸗Miniſter zu einer ziemlich entfchieden lautenden Verwah⸗
rung zu beftimmen. Inder von Guizot anden franzöfifhen Borfchafter in
Wien, Grafen von Fll ahault, gerichteten und dem Fürften von Metter⸗
nich in Abfchrift zugeftellten Depefhe vom 3. Dec. 1846 wird unter Andes
rem hervorgehoben, wie in Europa die Vernichtung des Eleinen Staats Krakau
die Principien der Ordnung und Erhaltung zum Beften der blinden Leidens
fehaften und der gewaltfamen Anſchlaͤge ſchwaͤche. Gegen eine Stelle in der
Depefche des Fürften von Metternich vom 6. Dct. 1846, worin er fagt,
bie drei Mächte hätten für ſich allein, am 3. Mat 1815, den Beinen Staat
Krakau gefchaffen, und hernach „dem Wiener Congreß die zwiſchen ihnen zu
Stande gebrachte Uebereinkunft zur Regiftricung vorgelegt”, bemerkt der frans
zöfifche Miniſter: daß feine Regierung eine Behauptung nicht zugeben könne,
die den Principien und felbft der Sprache der das Öffentliche europdifche Recht
ausmachenden großen Verhandlungen fo fremd fei. Unabhängige, auf ben
Fuß der Gleichheit unterhandelnde und über gemeinfame Intereſſen zu Kath
gehende Regierungen feien nie daͤzu da, um ohne ihr Zuthun gefchehene Ent»
fhließungen und Handlungen zu regiftriren. Den Beflimmungen über
Krakau und Polen feien lange Discuffionen zwifchen den MRepräfentanten
fämmtlicher Congreßmaͤchte vorausgegangen und der Text des Wiener Vers
trags felbft beweife, daß das Loos Polens durch eine europaͤiſche Berathfchlas
gung fefigefegt worden. Zwifchen den Artikeln 6— 9 über Errichtung. ber
Republik Krakau und denjenigen, welche Preußen einen Theil der Staaten
des Könige von Sachſen geben, beftehe nicht der geringſte Unterſchied.
Auch erklärten die Artikel 10 und 118 des allgemeinen Vertrags vom 9. Juni
1815 ausdrüdlich, daß bie Beflimmungen des fpeciellen Vertragsvom 8. Mai
608 Guizot.
„dieſelbe Kraft und Bebeutung haben ſollen, als waͤren fie in ben allgemeinen
Bertrag buchftäblich eingeſchaltet.“ „Die Regierung bes Könige”, fo fchlief
die Note Guizot's, „macht alfo nur Gebrauch von einem offenbaren Reit
und erfüllt zugleich eine gebieterifche Pflicht, indem fie gegen die Unterdrückung
ber Republlik Krakau als einen dem Buchſtaben mie den Sinne des Wiener
Vertrags vom 9, Juni 1815 pofitiv entgegenflehenden Act feierlich protes
ſtirt. Nach den langen und furchtbaren Aufregungen, welche Europa fo tief
eefchärtert haben, iſt die europaͤlſche Ordnung gegründet worben und erhält
h buch die Achtung der Verträge und all der Rechte, weldye von ihnen bie
ihe erhalten. Keine Macht kann ſich davon fret machen, ohne zugleid
alle andern davon frei zu madben. Frankreich hat das Beifpiel eins
folhen Angriffs auf die Erhaltung: und Friedbenspotitil
nicht aegeben. Frankreich hat nicht vergeffen, welche f[hmerglihen
Opfer ihm die Berträge von 1815 aufgelegt haben. Es könnte ſich freuen uͤber
einen Het, ber es berechtigen würde, in gerechter Gegenſeitigkeit
fortan nur den vorfehenden Gateul feiner Intereffen zu befragen, Und doch
iſt es Frankreich, das die Mächte an getreue Beobachtung diefer Verträge un
innert, von denen fie bie Dauptvortheile haben, dem vor Allem die Aufrecht⸗
haltung der erworbenen Rechte und bie Achtung ber Unabhängigkeit ber Stan
ten am Herzen liegt.” Trotz biefer „Achtung der Unabhängigkeit der Stau
ten’ braucht man nicht gerade viel zwifchen den Beilen zu lejen, um in be
Note Guizot's die ziemlich unummunbene Erklärung zu finden, baf
Franfreich zur Benutzung der erften ihm günftig ſcheinenden Umſtaͤnde bereit
fet, damit es fich ‚in gerechter Gegenfeitigkeit” für bie durch bie Wertrdat
von 1815 aufgelegten Opfer Erfag verfchaffe.
Der eigentliche Mittelpunkt, von dem feit Jahren die Politit Guizot’
ausgeht, iſt indeffen das nach allen Richtungen verfolgte Streben einer Stei-
gerung bes franzdfifchen Einfluffes in Spanien, fo wie bie Gefälligkeit des
Minifters gegen die Kamilienfpeculationen feines Monarchen. Alles, was
Guizot während feines Minifteriums vom 29. Oct. 1840 an gethan und
geduldet hat, laͤßt fich nur von diefem einen Punkte aus erklären und richtig
beurtheilen. Hierbei kam vor Allem die Eiferfuhht Englands und e8 kamen
die Mittel in Betracht, modurd fie für die franzöfifchen Intereſſen ſchadlos
gemacht werden konnte. Im Verlaufe der Jahre Eonnte e8 an mandherlei
Anlaß zu vorübergehenden Reibungen zwifchen den beiden meftlihen Groß:
ftaaten nicht fehlen. Dahin gehörten die Kriege Frankreichs in Algier und ges
gen Marocco; die franzoͤſiſchen Colonifationsverfuhe im Südmeere, mie auf
den Marquefasinfeln und zumal in Zahiti; vor Allem die Unterhandlungen
über die Erneuerung des Durchſuchungsvertrags zur Verhinderung des Skla⸗
venhandels, wodurch in den franzöfifchen Kammern eine lebhafte Debatte und
eine heftige DOppofition gegen den Minifter des Auswärtigen hervorgerufen
wurde. Was diefen legteren Punkt betrifft, fo balf man ſich durch ein fünf:
jähriges Proviforium , indem man den Durdhfuchungsvertrag vom 6. März
1846 an erloͤſchen und die Kammern 10 Millionen Franken zur Ausrüftung
von 26 franzöfifchen Kreuzern gegen die Sklavenfchiffe an der weſtafrikaniſchen
Küfte bewilligen ließ. Ohne ber Würde Frankreichs allzuviel zu vergeben
Guizot «09
mußte body Gutzot in allen biefen politifchen Zwiſchenfragen eine gewiſſe
Nachgiebigkeit gegen England zu beobachten, und niemals trieb er die unter⸗
. geordneten Streitpuntte auf eine gefährliche Spige." Nebenbei wurde unter
feinem Minifterium ein beſonders freundfchaftlicher perfönlicher Verkehr zwi⸗
fchen der franzöfifchen Regentenfamilie und der Königin von Großbritannien
eröffnet. In den Fahren 1843 und 1844 fah man den Beſuch der Prinzen
Aumale und Joinville in London; den der Königin von England in
Frankreich; ben des wahrfcheinlichen Regenten, des Herzogs von Nemours,
mit feiner Gemahlin in London, nachdem erſt Guizot im vorhergehenden
Sabre das zumal von Lamartine heftig angefochtene Regentfchaftegefeg
durchgefegt hatte; den Louis Philipp's in England, wo ber König der
Franzoſen bei allen Gelegenheiten von Friedensworten und Betheuerungen der
Freundſchaft überfloßs endlich gar, im Jahre 1845, einen zweiten impros
vificten Befuch ber Könign Victoria in Eu, um fih in ber Mitte der frans
zöfifchen Königsfamilie, wie das Sournal des Debats bemerkte, „von den
pompbaften Feften Deutſchlands auszuruhen.“ Alle jene Nachgiebigkeiten
gegen England und dieſer Austauſch gegenfeitiger Artigkeiten zogen dem franzoͤ⸗
fifhen Minifter, der von feinen Widerfachern und vom Volke als mini-
stre de l’etranger bezeichnet wurde, die heftigſten Angriffe zu. Man erin»
nerte ſich auch feiner fchon früher zur Schau getragenen Dinneigung zu Eng»
land. Aber mächtiger als feine nur theoretiſche Vorliebe für die freieren Ins
flitutionen Großbritanniens war der unmittelbare Einfluß des Könige, dem
er feine Stelung verdankte. Guizot feheint daher zu keiner Zeit die [pas
niſche Heirathsfrage, bie ihm zur Hauptfache gemacht wurde, aus dem Auge
verloren zu haben. Die Eonceffionen gegen England, mit allem Aufwande von
freundnachbarlicher Höflichkeit und Schmeichelei, machte er fich hiernach zu jes
ner berüchtigt gewordenen „entente cordiale‘* zurecht , unter deren Deckman⸗
tel die franzoͤſiſche Diplomatie ihre Umtriebe ungebinderter zum Ziele lenkte.
Schon jene Proteftation der Königin Marie Chriftine vom 19. Juli 1841
gegen ihre felbftverfchuldete Entfegung von der Regentfchaft und gegen ihre
Entfernung aus Spanien wurde ohne Zweifel unter franzöfifchem Einfluffe
erlaffen, ben man es wohl gleichfalls zugufchreiben hat, da die ehemalige Res
gentin als reuige Sünderin vor dem Papfte erfchten und ſich hiermit für wei⸗
tere Plane der Unterſtuͤtzung ber hierarchiſchen Partei zu verfichern fuchte. Auch
ſchrieb man fhon damals Louis Philipp die Abfiche zu, mit Hilfe der
Königin Mutter den erft 1844 mit der neapolitanifchen Prinzeffin, Herzogin
von Salerno, vermählten Herzog von Aumale zum Gemahl Sfabellens
beflimmen zu laffen. Seitdem entfpann fid), unter mandyerlei Wendungen
und Krüämmungen, ein durch vielfacye Zweideutigkeiten, Liften und Dinterlifte
Sabre lang ſich durchziehender Faden diplomatiſcher Unterhandlungen, den bie
franzoͤſiſche Politik erft möglichft zu verwirren fuchte, um endlich mit einem
fait accompli abzufchneiden. Nach endlicher Veröffentlichung der betreffenden
Actenftüde*) und nad) Bekanntwerdung des Refultats — Wermählung der
fpanifchen Königin mit einem Prinzen, der von allen Bewerbern bie geringfte
*) Augsb. Aug. 3tg. Januar 1847.
Suppl. . Staatslex. UI, 39
610 Guizot.
Auoſicht auf legitime Nachkommenſchaft giebt , und der für Spanien in Aus
ficht geitellte Herzog von Mont penfier mit feiner reichen Gemahlin und mit
feinen zu erwartenden Spröflingen — bat fich die Öffentliche Meinung dabin
feftgeftellt, baf England in biefem klaͤglichen Handel, der mit feinen kleinlichen
Finten an bie fchlechteften Zeiten der alten Diplomatie erinnert, auf unwüͤr⸗
dige Weife geräufcht worden ift. Vor Allem ift dies von franzoͤſiſcher Seite
duch das freilich nur zweideutig ausgeſprochene und nicht gehaltene Verſpre⸗
chen geſchehen, daß bie Vermaͤhlung Montpenfier’s erfi nad) der Geburt
einer zur Xhronfolge berufenen Nachkommenſchaft Ifabellens Statt fin
ben folle.
So hat nun Guizot fein Spiel für Pouis Philipp gewonnen; aber
eine andere Frage iſt #6, ob nicht fpäter diefre Gewinn zum großen Scjaben
für Frankreich und Europa ausfchlagen werde. Das verſchlaͤgt wenig, ob und
wie lange die feindfeligen Minifter Pal mer ſton und Guizot die audmär-
tigen Angelegenheiten Englands und Frankreichs nod) gleichzeitig zu Leiten ver:
mögen. Aber gewiß ift, daß eine dauernde Beruhigung der pprendifchen
Halbinfel nur durch das offene und ehrliche Einverftändniß der beiden Mächte,
wozu Frankreich ſelbſt ſcheinbar die Hand geboten, bewirkt werben konnte,
England, ob nun Whigs ober Fories an der Spige der Gefchäfte ſtehen, iſt
fortan gemöthigr, die frangöfifchen Einflüffe auf Spanien und Portugal in
aller Weife zu durchkreuzen. Und traͤte gleich nie ober erſt in [pätern Fahren ber
Fall einer Berufung ber Herzogin von Montpenfier ober ihrer Machkom⸗
men auf ben fpanifchen Thron ein, fo bieten doch die Zuftände der pyrenaͤiſchen
Halbinfel noch Anhaltpunkte genug, auf welchen die britifche Dolitik ihre Hebel
gegen Frankreich kann fpielen laffen. Aber fie kann es nicht, ohne zugleich
den Welten Europa’s, ohne Europa felbft durd) neue Erſchuͤtterungen zu be:
drohen.
Nach Allem läßt ſich fhwerlich Teugnen, daß im Oſten die einfeitige
Vernichtung Krafau’s, daß im Welten die brüsfe fpanifche Doppelheirach ben
mühfelig erhaltenen langjährigen Frieden von Neuem gefährden. Auch alle
Schwierigkeiten der nur vertagten orientalifchen Srage werden über kurz oder
lang wieder hervortreten; und jetzt ſchon ift die Anarchie, die man fonft nur
im Volke juchte, alle Fäden der herkoͤmmlichen Politif zerreißend bis in bie
Gabinette der Sürften gedrungen. Um fo größer wird die Gefahr, wenn erft
mit Louis Philipp und Metternich diefe Politik ihre gewohnten An:
haltpunfte verliert. Dann mag die vom franzöfifhen Minifter des „Frie—
dene um jeden Preis” nicht gelöfte Aufgabe der Erhaltung des Friedens oder
der Beichränfung des vielleicht unvermeidlichen Kriegs auf feine engften Gren:
zen kaum noch anders erfüllt werden, als duch Preußen, im innigften und
durch ein allfeitiges Vertrauen der deurfchen Nation gefefteten Vereine mit dem
conftitutionellen Bundesftaaten. Und darum richten fich felbft vom Stand:
punkte der auswärtigen Politit aus jest alle Augen auf die Röfung der eben
erſt angeregten preußifchen Verfaffungsfrage. Wohl hat man ſchon rügend
hervorgehoben, daß die wichtigften Beftimmungen über die dem ‚vereinigten
Landtage“ octropirten Befugniffe, namentlich über das Recht der Steuer:
verwilligung, allzu deutlid, an die geheimen Beſchluͤſſe des Wiener Minifte:
Guizot's politifche Doctrinen. 611
rialcongreffe® von 1834 erinnern, als daß darauf große Hoffnungen zu bauen
felen. Dan bat darauf hingemiefen, baß bei der Zufammenfegung der Stände,
bei dem großen Uebergemwicht des Adels, die ftändifche Vertretung des Volks
nur um fo gewiffer als Illuſion erſcheinen müffe, fo lange nicht durch Gewaͤh⸗
rung der Preßfreiheit, in Verbindung mit der Deffentlichkeit der Verhandlun⸗
gen , allen Bebildeten der Nation wenigftens ein mittelbarer Antheil an den
Arbeiten für das Gemeinwohl eingeräumt fei. Man hat endlich mit Recht
bemerkt, daß bei der Befchränkung der Befugniffe der preußiſchen Stände auf
ihr am 3. Febr. 1847 beftimmtes Maß die Kluft zwiſchen Preußen und den
Völkern des conftitutionellen Deutfchlande noch größer werden muͤſſe, weil
diefe zu beforgen hätten, daß man allmälig auch ihre verfaffungsmäßigen Rechte
auf den in ber preußifchen Monarchie feftgefegten Normalftand zuruͤckzufuͤh⸗
ven verfuchen werde. Allein der König biefes Staats hat ja Vertrauen ges
zeigt und Vertrauen gefordert ; und er, wie die Stände, find gleich entfernt vom
vermeffenen Dünkel, die Ebicte über den vereinigten Landtag, den vereinigten
ftändifhen Ausfchuß und die ſtaͤndiſche Deputation für das Staatsſchulden⸗
wefen für das abgefchloffene Werk untrüglicher Weisheit zu halten und die
gefpannten Erwartungen der deutfchen Nation von vorn herein zu täufchen.
Bor Allem werden fich die bald verfammelten Stände Preußens erinnern, daß
auch die Vertreter des Würtembergifchen Volks und die des Großherzog:
thums Heſſen, bei dem erften Anerbieten neuer Verfaſſungen, ihren Fuͤrſten
ein keineswegs in blinde Unterwürfigkeit ausgeartetes Vertrauen gezeigt has
ben, deſſen hrilfame Frucht die von Volk und Fuͤrſten mit gleicher Freude
aufgenommenen und vertragemäßig zu Stande gebrachten Srundgefege waren.
In allen Fällen wird ader Preußen nur im aufrichtigen Bunde mit der ge-
fammten beutfchen Nation die hohe Frieden gebietende Stellung, wozu es
berufen ift, behaupten und die volle Reife der blutigen Saat verhindern koͤn⸗
nen, die nach allen Anzeichen auch Gui zot über Europa ausgeftreut hat.
Wilh. Schul;.
Guizot's politifhe Doctrinen. Nachtraͤglich zu den in den
Artikeln „Doctrin“ 1) und „Doctrinaͤrs“, fo wie „Srundverteag‘ und „Gui⸗
zot“ gelegentlich bereits angeführten politifchen Anfichten biefes jedenfalls bes
deutendften der jegigen franzöfifchen Staatemänner, Redner und Staatsge⸗
lehrten fcheinen noch folgende einer befonberen Erwähnung zu verdienen, da
fie ſich auf einige der wichtigften Stantsfragen ber Gegenwart beziehen.
Zunddft GSuizor?’s Anſichten über die englifche und franzoͤſiſche
Revolution, bie ei in ber Einleitung zu feiner ebenfo geiftvolen als gruͤndli⸗
chen und unpartelifchen Befchichte der englifchen Revolution (die leider! noch
unvollendet Ift) ausgefprochen hat. Es kann kein Zweifel darüber fein, daß
1) Dazu auch Dahlmann's bebeutendes Schlußwort: „Dem König
Wilhelm verbantt England feine Freiheit, foweit Kreiheit verliehen werben Tann,
und Wilhelm hat bie größte von allen Staatöfragen, bie von ber politi-
fhen Freiheit ber Wölker, fo mädtig in den ganzen Weittheil mit
ihrer fcharfen Ede hineingerädt, daß, wer in ihrer Nähe blos ſchaudernd bie
Augen zugubrüden und allenfalls ein Kreuz zu fchlagen weiß, fich früher ober
fpäter daran den Kopf einrennen muß”.
39 *
612 Guizors politiſche Doctrinei,
heutzutage Jeder, der eine Elare Einficht in ben politifhen Principienkampf
unferer Zeit, ſowie ein begruͤndetes Urtheil Uber bie zweckmaͤßigſte Pöfung der
bermaligen politifchen Hauptprobleme haben will, zunaͤchſt auf das Stubium
der englifhen Verfaffung und Verfaſſungsgeſchichte zurädgehen muf und
mit Recht fagt Dahlmann (Geſch. d. engl, Revol. Einl.) vom jener Pe
tiodbe: „Es giebt vielleicht Beinen fo mannigfach lehrreichen Zeitraum Im ber
ganzen neueren Geſchichte, und er bahnt ung den Weg zur einbringenden
rthellung des folgenreichſten Errigniffes unferer Zage, der von Mord
amerifa und von Frankreich ausgehenden Umgeflaltung von zwei |
fen.’ Bor allem aber ift es nöthig und für unfere Entwidelung in Deutfd-
land gang unerläßlich, daß richtige Anfichten über ben allgemeinen Charalter
bee englifchen fowie ber frangöfifchen Revolution allgemeiner in der Öffentli-
en Meinung verbreitet werden, als bie jegt ber Fall ift. Noch immer kommt
vor, daß, wie Arnbde ſchon vor faft einem Menfchenalter geklagt bat, die re
aetlondre Partei benfchlechten Abvocatenkniff braucht, duch das Schred⸗
bild der Erceffe der franzöfiichen Nevolution die „gute Lehre vom Staatsver
trag und Nepräfentativfoftem"‘ zu bekämpfen ?). Selbft ber in fo manchen
Punkten ächt feetfinnige Freiherr v. Bülow: Eummerom läßt ſich ver
leiten, zu fagen (Preufen ıc. II. 1843 ©. 5): „Das Symbol ber frangd-
ſiſchen Eonftitution ift ber Freiheitsbaum, er ift im jeder Dinficht ein febr
ſprechendes derfelben. Ein Ieblofer Baum ohne Wurzeln, der Meprir
fentant einer Idee, ein Baum, der feine Zweige zu treiben, feine Fruͤchte
u tragen vermag. Die franzöfifchhe Verfaſſung ift ein Product ber furcht⸗
barften Revolution, welche die Gefchidhte ung mitzutheilen bat; aus
ber Theorie (!!?) entfprungen, if fie aufden Trümmern alles Beſtehenden
errichtet. Der Grundgedanke diefer Verfaffung ift eine ideale Gleichheit und
Freiheit, und in der Confequenz davon wird die Souveränetät ale im
Volkswillen vorhanden gedacht. Um diefe Gleichheit und Freiheit gegen
die Regierung zu [hügen, find Beſchraͤnkungen eingeführt, welche ihre Kraft
völlig laͤhmen und fie zwingen, ſich immer ben Parteien felbft anzufchließen,
um duch fie in der Macht zu bleiben.” Natürlich liegt nun der Gedankt
2) Geift der Zeit, Berlin 1818, Bb. IV, ©. 105: ,‚DIene übertreiben:
den Lobredner des Alten und Vergangenen und Zabler und Ankläger des Neuen
und Werdenden brauchen faft Alle einen Kunftgriff , den fie mit jedem Sad:
walter gemein haben, ber eine fchlechte Sache führt, die er auf geradem und
ehrlihem Wege durchzubringen verzweifelt. Sie werfen nun alle Gebreden
und Verbrechen ber Zeit, alle ihre XKafter und Unarten, alle Ausfchweifungen
und Verfehrtheiten in Begriffen und Zhaten, ja alles Abgefhmadtefte und
Abfcheulichfte, was von franzdfifhen Umtehbrungsmännern bier un
da als ewige Wahrheit, ja ale Grundgefegbud eines freien und hochfinnigen
Volkes ausgefprochen ift, auf die Lehre vom Vertrage und Stellvertre:
tung, und ftellen fie dar als nothwendige Folgen und Geburten dicfer Xebre.
Armer Martin Luther, wie beftebft Du, wenn man fo gegen Dich ſchließt, ja
Du armer Jeſus Chriftus, Sohn Gottes und Heiland der Welt, wie beftehft
auch Du, wenn Du verantworten follft, was verrüdte und verworfene Menfchen
Sn Deiner bimmlifchen Lehre zuweilen erklärt und wozu fie fie gemißbrackdt
aben“!
Quizot's politiſche Dortrinen. 618
fehe nahe, daß das Mepräfentativfpftem ein vevolutiondres, wälfches Pros
duct fei, und ganz unvertedglich mit bem Princip der Monarchie! — Auch
Lamartine hat erft vor einiger Zeit, in feiner Rebe vom 6. Mai 1845 °),
ſich zu der Bemerkung veranlaßt gefehen: „Die franzoͤſiſche Revolution fei
noch nicht in das neueuropaͤiſche Staatsſyſtem aufgenommen” (n’est pas
encore classee en Europe). Und noch ganz neuerdings lafen wir von einem
Vorfall, der in der That nur zu fehr beweift, wie irrig noch felbft bei hochgeſtell⸗
ten Staatsmaͤnnern die Anfichten hierüber find*). Wahrlich, folche Verken⸗
nungen einer welthiftorifchen Thatſache, und ber Wahn, als ließe ſich durch po⸗
Hizeiliches Verbot bie wahre Würdigung derfelben verhindern, erinnern nur
zu fehr an die Zeit des polktifchen Rococoismus®), und an die Wahrheit der
3) Vergl. Frankf. O.P.⸗A.⸗Zeitung v. 18. Mai 1845.
4) Die Beitungen, 5. B- Bean D.P.,%.sZeitung v. 5. Kebr. 1847, theil-
ten die Nachricht mit, der befannte Pr. Prutz bürfe feine im Januar in Ber:
lin vor einem zahlreichen und gebildeten Yublicum begonnenen literar = hifto-
rifhen Vorleſungen (worüber auch die Augsb. Allg. Zeit. günftig berichtet
hatte) nicht fortfegen, weil, wie ihm ber Miniſter des Innern felbft gefagt,
„er in ber erften Vorlefung die franzdfifhe Revolution gelobt. habes
folches dürfe in Berlin nicht gefchehen”. — Nun ift zwar ganz richtig und erft
neuerdingde von Bervinus (Miffton ber Deutfchlathol.) mit - Recht. einges
fhärft worden, daß wohl „einwücfige” Staaten und Völker, wie England
und Frankreich, folche Revolutionen überbauern koͤnnen, in welchen das zer:
ftüdelte Deutfchland gang untergehen würde; allein damit, daß man bas
Gute, was bie Idee der franzdfifchen Revolution bat, anerkennt und lobt,
nimmt man nicht ihre Erceffe in Schuß und forbert nicht zu Revolutionen
auf. Auch preußifche, ſehr Ioyale Yubliciften und Hiſtoriker haben jenes ſchon
laͤngſt gethan und nachgewiefen, wie viel Deutfchland und aud Preußen ber
franzöftfhen Revolution verdankt, und daß bie. franzdfifche evolution nicht
blos als eine franzöfifhe, fondern als eine allgemein europäifche angufeben
ift; vergl. darüber Steffen 8, d. gegenwaͤrt. Beit. 1817. &. 4W. Kr.
Buchholz, Sourn. für Deutfhl. Berlin 1817. ©. 249. Rante, hift.>polit.
Zeitſchrift. 1832. I, 81. Thilo, die Volksfouveränetät. 1833. &.82. Arndt,
Schr. an f. lieben Deutfch. 1845. II. G. 83.
5) Einer unferer berübmteflen Hiſtoriker, der Königl. Pr. Geh. Archivar
u. Prof. K. A. Menzel in Bresiau, erzählt (Befchichte unferer Zeit ac.
1. &. 296 f. der 3. Ausg. Berlin 1829):
„In der Haupterfcheinung der franzdfifhen Revolution mit ihren
Urfachen und Wirkungen fand der ruffifche Kaifer Paul nicht eine Aufforderung
zur befonnenen Prüfung ber in den Monarchien’ eingeriffenen Mängel und Miß⸗
braͤuche, ſondern nur einen Gegenftand des Leidenfchartlichen Haffes, ter ſich
mit Ungeflüm ganz auf das Aeußere und Zufällige warf. Weil kurz vor’ der
Revolution die Strenge der Hofgebräuche überall nadygelaffen hatte und feit
derfelben eine bequemere Kleidertracht unter den höhern und mittleren Ständen
der europäifchen Geſellſchaft bie Altern fteifen Kormen verdrängt hatte, meinte
Paul die Kraft ber meltverwirrenden Ideen dadurch zu brechen, daß er bie,
Tnechtifchen Ehrenbegeigungen, bie vor Alters der Perfon und dem Palaſte bes
ruffifchen Herrfchers hatten erwiefen werden muͤſſen, wieberberftellte, und runbe
te, zopflofe Haare und lange Beinkleider zu tragen unterſagte!!“
Es tft merkwürdig, daß Paul's Beiſpiei damals auch von einem deut⸗
hen Yürften nachgeahmt ward, nämlich dem Kurfürften von Heſſen. In ber
vor zwei Jahren erfchtenenen Biographie bes Buchbindermeifters Adam Henß
614 Suizo’s politifehe Doctrinei. >
Mahnung, daß es heutzutage „des Arms gelbter Steuerleute, d. h. Staats
männer bedarf, welche in Geſchichte und Staatsrecht tief eingeweiht find,
nit Fdeen fürdten und darauf ſchelten“, weil fie Ideen nicht faffen u. ſaw.).
Beſonders aber ift, wie gefagt, eine richtige Anficht jener zwei Hauptrevolu⸗
tlonen umerläßlich — und in diefem Sinne theilen wir aus der Gulzot'ſchen
« Einleitung folgende Haupeftellen mit:
„Bor der Frangdfifhen Staatsumwaͤlzung war die englifche das
öfte Greigniß in der Gefchichte Europas. Daß man bie fe und bie
— eſſelben verkennen moͤchte, fuͤrchte ich nicht; unſere Revolution ſteht
Wwar er, aber fie bat ber engliſchen nichts von ihrer Bebeutung ent:
zogen. Es iſt ein zweifacher Sieg in bemfelben Kampfe und
um Bortbeile berfeiben Sache: beiben ift berfelbe Ruhm gemeinfchaft-
ich, fie heben einander wechfelfeitig und eine verdumfelt nicht bie andere, Du
biefelben Urfachen herbeigeführt, durch ben Verfall ber Keudalarifto=
Eratie, ber Kirche und ber Ebniglihen Gewalt, haben fie auf einen
gleichen Zweck bingearbeitet, auf die Oberberrfchaft bes Volks in den Staatöver:
eniffen; fie haben beide für die Freiheit gegen bie unumfchränfte
Gewalt gekämpft, für Gleichheit gegen bie Bevorrehtungen, für
ba Forefihreitende und allgemeine Intereffe gegen bas ftehende
‚und verföntiche. Ihre Werhältniffe find verfchieben gewejen, ihre Kräfte
Agleich; was bie eine beffimmt und Par aufgefaft, hatte bie andere mur
net geahnt; bie eine bat ihre Bahn bis zum Ende durchlaufen, bie andert
bald ftehen geblieben. Die eine hat auf ben Schlahtfeldern Ruhm einges
erntet, die andere nur Niederlagen erlitten ; die eine bat in zügellofer Immo:
— geſündigt, die andere durch Heucheleiz die eine war weiſer, die andert
tächtiger, aber ber Unterfchleb Liegt allein in ben Mitteln und in bem Er:
Folge“ Seit und Urfprung waren aleihz; die MWünfche, die Anftrengungen und
das Boranfchreiten waren auf baffelbe Ziel gerichtet; was bie eine verfucht ober
vollendet bat, das bat auch bie andere vollendet ober verſucht.“ — „Einer jett
unter Bielen verbreiteten Anficht zufolge möchte es feheinen, als wären biefe
Ummälzungen feltfame Begebenheiten, aus vorher unerhörten Grund:
fäsen hervorgegangen und zu ebenfo unerhörten Zwecken ausgedacht ; Bege:
benheiten,, welche die Gefellfehaft aus ihren alten und natürlichen Verhättnif:
fen herausgefchleudert haben, Stürme, Erberfchltterungen, eine jener geheimniß:
vollen Erfcheinungen, welche, losgebunden von den von Menfchen gekannten
(Sefegen, unerwartet eintreten, wie das gewaltige Eingreifen ber Vorſehung,
vielleicht zerftörend,, vielleicht auch neu gebaͤrend und verjüngend. Freunde und
Gegner, Lobpreiſer und Zadler fprechen fich hierüber auf diefelbe Weife aus:
nad der Meinung der Einen hätten diefe ruhmvollen Erfchütterungen zum ers
in Weimar (Iena bei Frommann 1845. ©. 165) fteht Folgendes zu leſen: „In
Kaffe, wohin ich nad ein Paar Zagen gelangte, gehörte ich eigentlich zu
den Seltenheiten. Das ganze männliche Gefchlecht ging dort mit martialifchen
Dreimaftern auf dem Haupte in der Stadt herum, ih fah nicht eine Perfon,
mir gleich, mit einem runden Hute bededt und in Pantalons. Der da:
malige Kurfürft war ein abgefagter Feind beider Kleidungsftüde.. Man er:
zählte mir, er babe, um dieſe damals Mode gewordene Kleidung zu verbrän:
gen, feine fAmmtlichen Züchtlinge mit runden Hüten, Pantalons und Halstuͤ—
dern, in welchen das Kinn halb verftedt war, befleiden laffen. Diefer fpaß:
hafte Kampf mit der Mode Eonnte fie wohl, da man dem Herrfcher möglichft
nachgab, eine Zeitlang aufhalten, aber nichts weniger ald dauernd unter:
drüden u. f. w.
6) 3. G. Weider, von ftändifch. Verfall. 1831. S IX.
Guizot's politifche Doctrinen, 615
fien Male Wahrheit, Kreibeit, Gerechtigkeit in die Welt geführt; vor ihnen
wäre nichts als Thorheit, Unbilligkeit und Despotenbrud geioefen ; ihnen allein
verdanke bie Menfchheit ihre Rettung; nach den Anbern hätten diefe beweinens⸗
würdigen Greignifle ein langes Zeitalter der Weisheit, der Tugend, des Gluͤcks
unterbrochen; ibre Urheber hätten @rundfäge aufgeftellt, Anfprüche erhoben und
Gräuelthaten begangen, welche bis dahin ohne Beifpiel waren; in cinem Anfall
von Wahnfinn wären bie Völker von der gewohnten Bahn abgewichen, ein Ab:
grund habe fich unter ihren Küßen gedffnet. Auf gleihe Weife, fie preifend
oder tadelnd, fie ſegnend ober ihnen fluchend, vereinigen fih alle Stimmen,
um alles Andere biefen Staatsummälzungen gegenüber zu überfeben, um fie
gänzli von ber Wergangenheit loszureißen, ſie für das Schidfal ber Welt
verantwortlich zu machen, um fie allein mit Fluch ober Lob zu uͤberhaͤufen.“
„Ss ift indeffen an ber Zeit, von biefen trügerifchen und Einbifhen Re:
den fich loszuſagen. — Weit entfernt, ben natürlichen Gang ber Begebens
beiten in Europa zu unterbrechen, hat weber bie englifche noch unfere Staats:
ummälzung je etwas gewollt, gefagt, getban, welches nicht Hundert
Male vor ihrem Ausbruche fhon gewuͤnſcht, gefagt, gefhan ober
verfuht worden. Sie haben die Ungefeglichkeit der unbefchränkten Gewalt
aufgeſtelltz aber die freie Einwilligung zu Gefegen und Beſteuerung, bas Recht,
mit den Waffen in ber Hand fich zu widerfegen, waren auch unter der Zahl ber
verfaffungsmäßigen Grundfäge der Yeubalordnung und bie Kirche bat oft bie
Worte des heit. Iſidor's wiederholt, welche wir in ben Beſchluͤſſen der vierten
Synode zu Zoledo finden: „Der ift König, welcher fein Volk mit Gerechtig⸗
feit regiert, handelt er anders, fo foll er nicht mehr König fein.” Sie haben
die Bevorrechtungen angegriffen unb darauf hingearbeitet, mepe Gleichheit in
die gefellige Ordnung einzuführen; baffelbe haben bie Koͤnige in ganz Europa
gethan und bis auf unfere Zage iſt bie Entwidelung der bürgerlichen @leichs
beit auf die Belege gegründet worben und bat gleichen Schritt mit ber Aus⸗
bildung der Eöniglihen Gewalt gehalten. Sie haben gefordert, daß bie dffents
lien Aemter allen Bürgern offen ftehen, daß fie nah dem Verdienſte gegeben
und daß die Gewalt mit Öffentlicher Bewerbung zugetheilt werben folle: und
diefes ift auch das Srundprincip der inneren Berfaffung ber Kirche, welches fie
nicht allein geübt, fonbern auch beſtimmt ausgefproden hat. Man mag auf
die allgemeinen Grunbfäge oder auf die Anwenbung derſelben in beiden Umwaͤl⸗
zungen Rüdficht nehmen, mag von ber Regierung bes Staats ober von der bür-
gerlichen Geſetzgebung, von Eigenthum oder Perſonen, von Freiheit ober von
ffentliher Gewalt bie Rebe fein, man wirb auf nichts ſtoßen, beffen Erfindung
ihnen angeböre; nichts, das fich nicht fonft noch fände oder wenigftens in ben
Zeiten ſich ausgebildet hätte, weiche wir gemöhnliche nennen. — Roc mehr:
diefe Grundfäge, biefe Entwuͤrfe, diefe Kraftanftrengungen, welche fo ausfchlies
ßend der englifchen und unferer Staatsummwälzung zugefchrieben werden, finb
niht allein mehrere Jahrhunderte früher als fie dageweſen, fonbern ihnen
verdankt auch die bürgerliche Gefellfchaft in Europa alle ihre Kortfchritte. Hat
benn die Feudalariftotratie durch ihre Unordnungen, ihre Borrechte, buch
ihre rohe Gewalt und die Unterbrüädung des Menſchen unter ihr Joch an ber
Sntwidelung der Völker heil genommen? Das nicht, aber fie hat gegen die
Zyrannei des Koͤnigthums angekämpftz fie hat ihr Recht, zu widerftehen,
ausgehbt und die Gefege ber Freiheit erbalten. Warum haben die Wölter bie
Könige gefegnet? Geſchah dies wegen ihrer Anfprühe auf ein von Gott
flammendes Recht, auf eine unbeichränkte Gewalt, ihrer Verfchwendung, ihres
Hofs wegen ? Nein, aber die Könige haben gegen die Keudalverfaffung,
gegen bie ariftofratifchen Bevorrechtungen gekaͤmpft; fie haben in bie Gefehges
Bund in die Verwaltung Einheit gebracht; fie haben das Auffireben nach
Gleichheit unterftügt. Und was hat der Geiftlichkeit ihre Macht gegeben?
Bis hat fie zur Bildung beigetragen? Etwa indem fie ſich von dem Wolfe loss
fagte, fi vor der Vernunft bes Menſchen fürchtete, ober indem fie in dem
616 Guizots politifche Doctrinen
Namen des Himmels bie Tyrannei heiligte? Rein, aber fie hat ohne Un:
ferfchich die Niebern und Hohen, die Armen und R en, die Schwa⸗
und die Gewaltigen in ihren Kirchen umb unter dem Geſetze Gottes verdi-
€ hat die Wiffenfhaften geehrt und gepfle % ei geftifter, die
reitumg des Sichts und „bie Zhätigkeit keit des Gei günftigt. — Man
e bie Gefchichte ber Herren ber Belt; man inan — che den Einfluß der
iebenen ee, welche über ihr Schickſal entfchieden haben: überall, we
5 etwas Gutes darfeltt, wo ein dauernder Dank der Menfchen — =
ag Dienft geleiftet worden, ba ift ein annähernder Schritt zu dem
eiched die englifche Revolution wie die unfrige verfolgt bat; ba wird einer
heiten Grund ſaͤtze je ge welche fie — zu machen ſuchten. —
& Ale denn auf, fie als wibernatürliche Erfcheinungen in der @ef
—S— man fpreche nicht mehr von * ten unerhoͤrten Anfprüchen,
ifhen Ausgeburten: fie haben bie Bilbung in bemfeiben
Er —— auf welchem fie ſich ſchon ſeit viergebm
ahr underten befindetz ri haben fi zu Grundſaͤtzen bekannt, fie hate
W b Pen DVerbefferun feines — 23 —— ttban,
8 un '
Ks ei ichkeit, Abel und Könige mit Berbienft und Ruhm gekrönt bar
Wir fügen dieſem noch eine Mittheilung aus einer der neueſten Reden
Guizot's bei. Sowohl für die Theorie bes conftitutionellen Lebens ober
Repraͤſentativſoſtems als für die Prar PH deſſelben ift bekanntlich bie Frage
wichtig, od die Volksvertreter ſich von ihren Wählern vorfchreiben
iſſen dürfen oder müffen, in welchem Sinn fie in gewiſſen Fällen zu voti-
een haben? oder mit einem Worte: das Dogma von ben imperativen
Mandaten oder ben bedingten Vollmachten. — Bekanntlich bat man «8
bisher als einen mefentlihen Unterfchieb des conftitutionellen Spftems vom
alten. feubalftändifchen angefeben,, daß bie Deputicten des erfteren Feine In—
ftruetionen von Seiten ihrer Wähler annehmen bürfen, fondern (wie in ben
meiften Gonftitutionen ausdruͤcklich vorgefchrieben) nur nach jedesmaliger ei:
gener Leberzeugung zu flimmen haben, meil fie eben das ganze
Volk, d. b.die allgemeinen ntereffen vertreten follen (vergl. Polig,
das conftit. Leben S.97, Vollgraff, Politit IV. S. 407). Gleichwohl
bat fich neuerdings in Srankreich eine entgegengeſetzte Praris gebildet, ins
dem in den Wahlcollegien die Candidaten nur gewählt werden, wenn fie nicht
nur im Allgemeinen ihr politifches Glaubensbekenntniß abgelegt (mas aud)
in England auf den Hustings geſchieht7), fondern auch fpeciell fich verpflich:
tet haben, für diefe oder jene Srage in diefem oder jenem Sinne zu ſtim⸗
men. Auch in Deutfchland hat man bereits feit Jahren in einzelnen
Staaten dies nachgeahmt , jedenfalls ift diefe Sache eine höchft wichtige, eine
wahre Lebensfrage für das Repräfentativfnftem, und deshalb jeder Beitrag
zu einer verfländigen und verfländigenden Löfung derfelben gewiß von Intereſſe.
In Frankreich iſt diefelbe öfters fhon „aufs Tapet“ (wie man bort,
oder „auf den Ambos“, wie man in England, Beides fehr charafteriftifch,
fagt) gefommen; im vorigen Jahre wiederum bei Gelegenheit der Prüfung
7) Vergl. darüber Goede's England, Wales ꝛc. Bb. IT. S. 71; von
Stael:Holftein über bie SEND. u. Rerwaltung Englands, überf. von
Scheidler. © 238.
Guizot's politiſche Doctrinen. 617
ber Vollmacht eines Dir. Drault, der von feinen Wählern In Poitiers das
bedingte Mandat, für die Wahlreform zu flimmen, angenommen hatte.
In der Debatte, welche in der Deputirtenfammer zu Paris am 31. Aug.
1846 hierüber vortam ®), ergriff nun auch Guizot das Wort. Er fagte im
Eingange feiner Rede: „Die Frage von den bedingten Vollmachten If
während der jüngften Berathungen fhon mehrmals angeregt worden; bie
Kammer hat jedoch Feine Neigung gezeigt, darauf einzugehen es iſt freilich
eine zarte, eine ſchwierige Frage; man kann fie nicht berühren, ohne zugleich
unſere heiligften und theuerften Rechte mit zu berühren; fie muß darum mit
Außerfter Vorſicht behandelt werben. Inzwiſchen iſt fie nicht zu umgehen,
iſt ihre nicht auszumeichen: fie mird zu allen Zeiten in geoßen Verfammiuns
gen angeregt werden. Die bedingten Vollmachten, ihre Begrenzung, bie
Autorität ber Wähler, das Verhaͤltniß der Candidaten — alle diefe Punkte
erfordern die genauefte Erwägung. Ich erkenne es für meine Pflicht, dar⸗
auf einzugehen und werde diefe Pflicht erfüllen mit dem tirfften Gefühl, wie
ſchwierig die mir geftellte Aufgabe iſt, und mit der aufrichtigften Abficht, alle
Rechte, die babei in Betrachtung kommen, zu reſpectiren, die Fretheit der
Waͤhler und die Kreiheit der Minoritäten — mefentliche Rechte, auf deren
Grundlage alle umfere Freiheiten beruhen.” Mach dieſem Vorwort, das bie
gefpanntefle Aufmerkſamkeit erregte, entwidelte der Redner feine Theorie,
wie folgt: „Meine Herren! Es ift das Verdienft, die Weisheit, ich möchte
fagen die Schöne unferer Regierungsform, daß die abfolute Gewalt nirs
gende darin gefunden wird; es giebt in unferen Inſtitutionen keine Macht,
die das Recht hätte, ohne Discuffion, ohne Unterfuchhung zu fagen: „So
ift mein Wille; diefes muß Geſetz werden.” Eine folche Macht wuͤrde die ab⸗
folute Gewalt befigen ; bei ung eriftiet fie nicht. So oft eine Frage zu loͤſen,
eine Maßregel zu ergreifen iſt, kann die Frage nicht gelöft, die Maßregel nicht
ergriffen werden ohne vorgängige Discuffion und freie Prüfung, freie Prüs
fung im Schooße des Volks mittelft der Sreiheit der Preffe, im Schooße ber
Regierumg felbft mitreift der Berathung bei den großen öffentlichen Gewalten.
Ueberall bei und heften ſich freie Discuffion und freie Prüfung an alle Pros
bleme, an alle Acte der Regierung; nichts wird möglich, nichts erlangt Ge⸗
ſetzeskraft, ohne vorher discutirt worden zu fein — discntirt aller Drten und
von allen Staatsgenoffen. Dier liegt das Fundament unferer Regierung,
hier der Sinn der drei großen Artikel der Charte: bes Artikels 7, der die Frei⸗
heit der Preffe einführt, des Artikels 16, der die Berathung und das freie
Votum in den Kammern begründet, bes Artikeld 12, der Die Verantwortlich⸗
Eeit ber Miniſter -vorfchreibt. Hier liegen unfere Barantien gegen die zwei
großen Gewalten — gegen (contre) iſt nicht das rechte Wort, ich follte Tagen
in Bezug auf (envers) die zwei großen Gewalten — die unter verfchiedenen
Formen und mit verfchiedenen Rechtsanſpruͤchen beide von jeder Verant⸗
wortlichkeit entbunden find: die Krone und die Wähler. Die Krone und
die Wähler bezeichnen die Individuen, deren Zuſammenwirken die Negierung
bildet. Die Wähler ernennen bie Deputirten, die Krone ernennt bie Palıs und
8) Vergi. Frankf. Ober: Pofts Amts» Zeitung vom 6. Sept. 1846.
‚618 Guizot's politiſche Döctrinen,
die Dinifter; die Pairs, bie Deputirten, die Miniſter discutiren dann im aller
Freiheit; aus ihrem gemeinfamen Handeln entfteht bie Reglerung; aber fie
koͤnnen nichts thun, nichts entfcheiden, ohne freie und vollftändige Pruͤ⸗
fung, ohne freie und vollftändige Discuffion. So ift unfere Regierung.
Meine Derren, das imperative Mandat zerſtoͤrt das Alles; es
est den entfcheibenden Willen, die definitive Entfchliefung vor die Pi:
ung, vor die Discuffion; es hebt die Freiheit der Prüfenden, der Discuti-
senden auf; es giebt die abfolute Gewalt, das Recht, zu entfcheiden, Denen,
bie nicht prüfen, nicht discutiren. Dies ift die wahre Wirkung des im-
perativen Mandats: biefes Mandat fchafft die freie Regierung ab —
c'est abolition du gouvernement libre. Was würde man fagen,
wenn bie Krone ben Pairs, welche fie ernennt, imperative Mandate gäbe?
Gewiß, Sie Alte würden in einem folhen Verfahren die Aufhebung der Frei:
heit der Pairs feben. Ich bitte die Kammer, auf die Worte zu achten, de»
ren ſch mid) bediene: ich fpreche von imperativen Mandaten (Boll:
‚ ‚machten, in weldyen der Mandant dem Mandatar bindend vorfchreibe, wie
er zu ſtimmen hat; — Vollmachten, die mit diefer Bedingung behaftet von
dem Mandbatar angenommen worden find‘, deren Befolgung er auf
Ehre augefagt bar); folherlei Mandate giebt die Kroneinie den Pairs ;
bie Wahlcollegien können und follen deren ebenfo wenig den Deputirten geben.
Thun fie es dennoch — miffen Sie, meine Herren, was dann die Wahl:
collegien thun? Sie fegen die föberative Regierung an bie
Stelle der repräfentativen Regierung. Die repräfentative Re-
gierung befteht gerade in ber wunderbaren Vereinigung. dee Sympathie und
der gegenfeitigen Freiheit der Wähler und der Gewählten. Giebt man die be-
bingte Vollmacht zu, fo tritt, wie geſagt, die föberative Regierung an bie
Stelle der repräfentativen und zwar gefchieht dies dann in der nachtheiligften
Weiſe. Bei der föderativen Verfaffung geht doc der Ernennung der Man:
datare in den einzelnen Staaten, welche fie aborbnen, eine wahre Prüfung
der fchmebenden Fragen voraus: ed wird über die Dinge berathen, ebe
man über die Perfonen entfcheidet. In Frankreich aber würde man,
bei Zulaffung bedingter Vollmachten, den Wahlcollegien, die doch, nach
Vorfchrift des Gefeges, nicht discutiren und prüfen, fondern nur Depus
tirte wählen follen, abfolute Gewalt und volle Souveränetät einrdumen.
Noch ein anderer Mißftand leuchtet in die Augen: mit dem imperativen
Mandat wäre nicht nur die conftitutionelle Freiheit, fondern aud)
die nationale Einheit aufgehoben; man würde 459 Heine Souveräne
einander gegenüber ftellen; und was fol dann gefchehen,, wenn die binden:
den Vollmachten, wie ed mehr ale nur wahrſcheinlich iſt, unter fid ab⸗
weichen? Sie Eönnen von dem Mandatar, der fein Ehrenmwort gegeben
bat, fich fireng darnach zu richten, nicht modificirt werden; man müßte fie
fomit immer an die Mandanten zurüdgeben; mas wäre das unders ale
Anarchie, gouvernementale Machtlofigkeit, Zerftörung der conflitutionellen
Steiheit, Auflöfung der Regierung?) — ' Scheidler.
9) Im Verfolg der Rede mildert Guizot uͤbrigens die Schaͤrfe ſeiner
Habsburger. 619
8.
Habsburger und ihre Politik, mdt befonderer Rüd:
fiht auf Deutfhland. Es giebt Feine Dynaſtie in Europa, welche
mehr vom Gluͤcke begünfligt worden wäre als die habeburgifche. Won klei⸗
nen unfcheinbaren Anfängen ausgehend hat fich diefes Gefchlecht in Kurzem
zur Herrſchaft faft über die Hälfte der civififirten Welt emporgeſchwungen,
und wenn diefe Epoche des Ganzes auch nicht fehr ange mwährte, fo hat es
von diefer Zeit an doch niemals aufgehört, als eine Großmacht von Europa
zu zählen und als folhe auf die Geſchicke dieſes Erdtheils einen mächtigen
Einfluß zu üben. Wie gefagt aber, diefes Mefultat wurde weniger burd)
den Geiſt und die Tüchtigkeit der einzelnen Kamilienglieber hervorgebracht,
als vielmehr durch gluͤckliche Zufälle aller Art: meiftens durdy Heirathen,
duch Erbfchaften erhielt das habsburgiſche Beſitzthum jenen ungeheuern
Zuwachs, den es heut zu Tage noch inne hat. Als der Gründer der Größe
des Daufes, Graf Rudolph von Habsburg, im Jahre 1273 zum deutfhen
Kaifer gewählt wurde, beftanden feine Befigungen blos aus einigen Graf⸗
[haften in der Schweiz, im Breisgau und im Elſaß. Kaum aber war er
Kaifer geworden, fo gelang es ihm, feine Hausmacht um ein Betraͤchtliches
zu vergrößern. Durch den Sieg über ben König Ottokar von Böhmen, wel⸗
cher ſich während der Zeit des Zwifchenreiches auch der äfterreichifchen Lande
widerrechtlich bemächtigt hatte und Rudolph als Kaifer nicht anerkennen, noch
weniger Defterreich herausgeben wollte, wurbe eben dieſes Land erledigt, und .
Rudolph ertheilte es ſofort feinem Sohne Albrecht 1283 als ein Lehen des
Reiches. Es umfaßte damals bereits Defterreicd, ob und unter der Ens,
Steyermark und Krain, und mochte ohngefähr ein Gebiet von 1200 U]
Meilen betragen. Im Laufe des 14. Jahrhunderts vergrößerte fich das
habsburgifche Erbe bereits um das Doppelte: 1335 kam Kärnthen hinzu,
und zwar durch Reichsbelehnung, 1363 die Grafſchaft Tyrol durch Erbſchaft,
1365 — 1895 die Grafſchaft Feldkirch, Breisgau, Pludenz, Hohenberg,
Theorie. Waͤhrend er die imperativen Mandate verwirft, erkennt er doch
das moraliſche Band an, das zwiſchen den Waͤhlern und den Deputirten,
die ſie in die Kammer ſchicken, beſteht. „Die repraͤſentative Regierung in ihrem
geregelten und wirkfamen Zuftande ift nur möglich durch die Bildung und das
ebeneinanberbefteben großer politifher Parteien und biefe Parteien
find nur moͤglich durch treues Halten an politifhen Verpflidhtuns
gen. In biefen Verpflichtungen liegt das Band zwifchen Wählern und Gewähls
ten.’ Es ift aber ein Unterfchied zwifchen der Verpflichtung, bie moralifch
bindet durch Gemeinſamkeit der Anfichten und Meinungen, und ber politifchen
Knechtſchaft, die mit dem imperativen Mandate verknüpft if. Die Schwie-
rigkeit beftebt in der Betimmung ber Grenze. Sie ift auf dem Yuntte zu fins
den, wo der unbebingte Einfluß ber Wähler aufhören muß, wenn die Gewaͤhlten
ihre freie Bewegung behaupten follen.
620 Habsburger,
Laufenburg durch Kauf, 1374 die Goͤrziſchen Güter in Krain durch Erb⸗
vertrag, 1380 Trieſt durch Unterwerfung. Die vielfachen Thellungen wäh:
rend des 14. umd 15. Jahrhunderts fhienen nun allerdings die Maffe ber
habsburgifhen Güter wieder zerfpfitteen zu wollen; allein Marimilian L,
der deutſche Kaifer (+ 1518), brachte die verſchledenen Beſtandtheile alle wie:
der zufammen, und fügte auferbem noch neue, höchft bedeutende Erwer⸗
bungen hinzw. 1500 erwarb er durch Erbvertrag die Graffchaften Goͤrz und
Gradisca, 1503 im Frieden niit Baiern die Städte Kufftein, Kitzbuhel,
Rattenberg und andere Bebietstheite im heutigen Tyrol, endlich durch feine
Bermählung mit Maria von Burgund, der einzigen Tochter Karl’ bes
Kühnen, erwarb er die Miederlande, welche allein ein Gebiet von 1436 II
Meiten betrugen. Wald aber follte die Größe des Haufes noch einen höheren
Auffhwung nehmen: denn ber Sohn Mapimilian’s und Maria’s, Philipp
bee Schöne, heirathete Johanna von Caſtilien, das einzige Kind Ferdi—
nand’s von Aragonien und Sfabella’s von Caftilien und fomit die einzige
Erbin der gefammten fpanifchen Monarchie. Philipp der Schöne ſtarb zivar
ae 1507: allein er hatte Söhne hinterlaffen , welche bie unge
were Erbſchaft antreten Fonnten. | Di
unter Katl V,, dem aͤlteſten Sohn Philipps des Schönen, Enkel
Marimilian’s, feit 1519 deutfcher Katfer,; fchien wirklich das Haus Habe:
burg auf dem Wege nach einer Untverfalmonardyie zu fein. Es beſaß Spa-
nien, Neapel, Steilien, außerdem bie amerikaniſchen Länder, fobann bie
Miederlanbde, bie alten habeburgiſchen Güter in Schwaben, Oeſterreich, Kaͤrn⸗
then, Krain, Steyermatk, Tyrol. Zu diefen ausgedehnten Befisthüimern
famen endlich noch, feit 1526, zwei höchft wichtige Zander, nämlich Boͤh—
men-und Ungarn. Auch diefe waren durch Heirath erworben worben, in
ſofern als Ferdinand, der Bruder Kaifer Karl's, die Anmartfchaft auf beide
Kronen von der Schwefler des legten Könige, welche feine Gemahlin mar,
berleitete. :
Diefe große Länbermaffe blieb allerdings nicht beifammen. Das Haus
Habsburg theilte fi nach der Abdankung Karl’ 1556 in zwei Linien, in
die beutfche und in die fpanifche. Die legtere befam die Niederlande, Spa:
nien, Neapel und Sicilien, Mailand und bie außereuropäifchen Länder: fie
ift aber bereits 1700 mit Kart Il. ausgeftorben. Die deutfche Linie, mit
welcher wir es hier allein zu thun haben, behielt fammtliche deutfche Laͤn⸗
der. Sie bat zwar im Laufe des 17. Jahrhunderts Kiniges verloren; fo
mußte fie 1621 die Laufis an Kurfachfen abıreten, 1648 einige Stüde im
Etſaß, Sundgau und Breiſach an Srankreih. Dafür aber wurde im 18.
Sahrhundert Virles gewonnen: 1713 im Utrechter und Raſtadter Frieden
Mantua; 1714 die fpanifchen Niederlande, Mailand, Neapel und Sici—
lien (welches legtre freilich 1735 wieder verloren ging), Pavia und Piacenza;
1718 im Paffaromwiger Frieden das Banat, Serbien, die Walachei bis an
die Aluta, die türkifchen Antheile von Stavonien und Bosnien: Serbien
und bie Walachei gingen freilich im Belgrader Frieden von 1739 wieder
verloren. Nichts defto weniger hinterließ Karl VI. bei feinem Tode 1740
feiner Tochter Marin Thereſia ein Gebiet von 10,200 [JMeiten: unter
v
u 1
Dabsbusger. 61
Leopold I. (+ .1705) war bie Öfterreichifche Monarchie nur 900 D Mes
len groß.
In der erften Zeit von Maria Thereſia's Megierung wurde nun aller
dings Einiges eingebüßt: fo 1742 und 1763 ein Zhell von Schlefien und
der Grafſchaft Glaz an den König von Preußen, 1743 einige Theile von
Mailand, die Herzogthümer Parma und Pincenza. Dagegen wurde erwor⸗
ben 1772 Galizien, Lodomerien und die Bukowina, das Innviertel und
einige Parzellen in Deutfchland, wie Ortenau, Falkenſtein, Zettnang, fo
daß die gefammte oͤſterreichiſche Monarchie zu einem Umfange von 11,680 U)
Meilen angewachſen war. Unter Stanz I., in ben untuhigen Zeiten der
franzöfifhen Revolutionskriege, verlor die Monarchie wiederum fehr Vieles,
naͤmlich Mailand, Mantun, die Niederlande, Tirol und Vorarlberg, Vor:
deröfterreich, Weftgalizien, einen Theil von Dityalizien, Salzburg und Berch⸗
tesgaden , das Innviertel, einen Theil vom Hausruckviertel, Kaͤrnthen, Krain,
Goͤrz, Trieſt: gewann aber bei dem allgemeinen Frieden alle dieſe Provins
zen wieder, mit Ausnahme der Riederlande und Vorderoͤſterreichs, und ers
bielt dazu noch das venstinnifche Gebiet, Iſtrien, Dalmatien, Salzburg,
Mailand und Mantua, die Salzwerke von Wieliczka und den Zarnopoler
Kreis Saltziens. Ganz Oefterreich betrug nun 12,167 DMeilen*).
Zu diefem umfaffenden Befigthum, das an Ausdehnung nur von einem
einzigen europaͤiſchen Staate übertroffen wirb, an inneren Hülfsmitteln und
Bortrefflichkeit der Natur aber keinem etwas nachgiebt, Fam nun noch bie
deutfche Kaiſerwuͤrde, welche feit dem Jahre 1437 faft ununterbrochen —
nur 1742 — 1745 ift der Thron von einem Baiern, Kart VIL., befegt ge
weſen — bei dem Haufe Habsburg geblieben iſt. Auch das war ein Gluͤck,
deſſen fich Leine andere Dynaftie rühmen konnte. Denn kein einziges beut-
ſches Haus, von den Sachſen an bie zu den Luxemburgen, faß länger als
obngefähe ein Jahrhundert auf dem deutfchen Kaiferthrone, während die
Habsburger denfelben über vierthalb Jahrhunderte inne hatten.
Behält man nun diefes Im Auge und wirft man fobann einen Blick
auf die geographifche Lage des habsburgiſchen Befisthums, fo ſtellt fi Einem
unwillkuͤrlich die große Aufgabe vor, zu welcher das Schickſal dieſes Geſchlecht
berufen zu haben ſcheint. Es war eine doppelte. Einmal follten bie Habs⸗
burger, unterftügt durch eine Hausmacht, welcher Bein anderes beutfches
Fuͤrſtenhaus gleich am, und durch einen jahrhundertelangen ununterbroches
nen Befig der Kaiſerwuͤrde, die Einheit Deutfchlande erhalten, Eräftiger be⸗
feftigen, und auf ſolche Weiſe den fehnlichften Wunfc der deutfchen Nation
erfüllen. Zweitens mar ihre Aufgabe, den Orient mit deutfcher Bildung
zu befruchten , ihn zu Deutfchland in ein freundliches Verhaͤltniß zu fegen,
ihm zu diefem Reiche Intereſſe einzuflößen, und auf diefe Weife ben ger
manifchen Einfluß für immer und ewig an den Geftaden der Donau herr
fhend zu machen.
Dt. er ben alwat en Anmadhe ber „oferreichifhen Monarchie
m . vos Ö n er, e 7 ⸗
——E»———— —* GV d Feſchichte ber Ofen
622 " Habsburger.
Es ſcheint jedoch, als ob die Habsburger biefe ihre Aufgabe entweder
nicht begriffen oder doch nicht zu Löfer verftanden hätten. Sehen wir zunaͤchſt,
ob und in wiefern fie dazu befähigt gemein. Werfen wie demnach zuerft
einen Blid auf den Geift diefes Haufes. Zwar iſt innerhalb der Familie, mie
bel jeder anderen, Mannichfaltigkeit und Verſchiedenheit nicht zu verfennen,
welche durch die Befonderheit der Individwalitäten bedingt ift, und deshalb
möchte es auf den erften Blick gewagt erfcheinen, uͤber eine ganze Dynaftie
ein Urtheil zu füllen. Nichts defto weniger geht ein Grumdzug durch die
ſſammte habsburgifche Familie hindurch, welcher nur in einigen wenigen
dern Ausnahme erleidet und der es eben daher erlaubt, diefelbe im
"Allgemeinen zu charakteriſiren.
Den Habsburgern ift Verftand keineswegs abzufprechen. Er findet
fidy vielmehr bei ihnen häufiger wie im den Gliedern anderer Dynaftien: ja
ſelbſt ſolche Individuen, die fonft als unbedeutend erfchienen, find es doch von
Seite des Verftandes nicht gemefen; manchen Gliedern der Familie iſt in die⸗
- fer Beziehung Unrecht gefchehen. Allerdings ift diefer Verſtand von einer
eigenen Art: ich möchte ihn einen hausbadenen Verftand nennen, der nur auf
das Naͤchſte gewöhnlich gerichtet, aber nicht daran denkt, einen höheren Flug
zu nehmen. Demgemäß ift audy ber Charakter ihrer Politif. Sie feinen
ihr großes Reich als ein Eonglomerat von Landguͤtern zu betrachten , zu wel⸗
cher Anfchauungsweife allerdings die Art des Zuſammenkommens berfelben
und die eigenthuͤmliche Befchaffenheit ihrer verfchiedenen Elemente berechtigen
zu Können ſcheint. Es tritt in ihnen das Element des eriverbenden, zuſam⸗
menbhaltenden forgfamen Dausvaters hervor, der aus feinen Gütern fo viel
wie möglidy pecunidren Bortheil zu ziehen fucht, und der Überhaupt darein
das Endziel feines Lebens und feine Beftimmung fest. Etwas wahrhaft: Ges
niales ift der habsburgiſchen Dpnaftie fremd. Sie hat daher während ihres
mehr als fünfhundertjährigen Beftehens eigentlich nur zwei wahrhaft aus:
gezeichnete Geifter hervorgebracht; es ift dies Marimilian Il. im 16. und
Sofeph IT. im 18. Jahrhundert. Diefe beiden Männer wurden aber von
ihrer eigenen Familie fo fehr als Anomalien betradhtet, daß die folgenden
Geſchlechter ſich alle Mühe gegeben haben, das, mas beide Schönes, Bro:
es und Geiftvolles ausgeftreut, mit Stumpf und Stiel wieder auszurotten.
Große weltumfaffende Ideen kamen daher in den Habsburgern nicht
auf. Es mochte dies feinen Grund außer in der natürlichen Geiſtesanlage
auch noch in einer gewiffen Zrägheit des Willens haben, welche den Habe:
burgern nicht minder angeboren ifl. Sie lieben es nicht, activ zu Werke zu
gehen, in den großen Verhältniffen die Snitiative zu ergreifen, fondern fie
loffen die Dinge an ſich kommen, und fhreiten nicht leicht eher zum Dan-
dein, als bis fie müffen. Sie find daher eigentlich nicht Eriegerifcher Natur;
es ift keineswegs ein heidenmäßiges Geſchlecht und die allermenigften ihrer
Befigungen find durdy Eroberung gewonnen oder audy nur durch Waffen:
gewalt behauptet worden. Man wird daher den Habsburgern nicht vor:
werfen Eönnen, daß fie darauf ausgegangen feien, den Srieden von Europa zu
ftören, um in der allgemeinen Verwirrung ſich zu bereichern, fo begierig fie
auch jede Gelegenheit ergreifen, um auf friedlihem Wege ihrer Krone neue
Habsburger. * 633
Edelſteine hinzuzufügen. Auf der anderen Seite hat aber auch jene Kraft
ber Traͤgheit raſche heilfame zeitgemäße Drganifationen Im Innern des weits
Schichtigen Reiches gehindert. Sie ließen auch hier die Dinge gehen, wie fie
gingen, wenn etwa die Einführung eines neuen Syſtems zu viel Mühe ges
macht oder auf entfchiedenen Widerftand von Seite der Mächtigen geftoßen
wäre. Wo diefer fich geltend machte, hat immer die Thätigkeit der Habs⸗
burger aufgehört. Man fieht daraus ſchon, worauf eigentlich der Conſer⸗
vatismus der Habsburger beruht; es iſt nichts Anderes als die Kraft der Träg:
heit, welche nirgends anders, außer vielleicht in China, ftärker ift, aber
auch nirgends fonft fo viel Nahrung erhält als gerade in Oeſterreich. Daher
bier die Erſcheinung von fo viel Flickwerk, von fo viel politifchen Lappen
und Flecken, die Gott weiß mie viel Jahrhunderte alt find, und nur des⸗
halb beftehen, weil fie zufällige Weife mit der Gewalt der Dynaftie noch
nicht in feindliche Berührung gekommen find.
Nur in einem Stüde haben die Habsburger in der That große Thaͤtig⸗
keit entfaltet, zwar auch nicht in gewaltigen Schlägen, fondern unvermerft
und fucceffive, naͤmlich in dem Beſtreben, die Kraft der Traͤgheit zu dem
herrſchenden Princip in ihren Völkern zu machen, und hier gelangen wir
denn zu einer neuen Seite ihres Charaktere. Es ift eine pſychologiſche
Erfahrung, daß derjenige, welcher Ruhe und Behaglichkeit liebt, die entges
gengefegten Elemente um ſich herum nicht recht leiden mag, hat er die Macht,
fie von ſich abzumeifen, fo wird er es thun. Die Habsburger, als folche
Charaktere, die nicht gern aufgeregt find, fondern fid) am liebften in dem
gewohnten Gleiſe einer beflimmten Thaͤtigkeit bewegen, waren daher von
jeher gegen ein lebendiges, wechſelvolles, feuriges Volksleben eingenommen,
und von Albrecht J. an haben fie ſich demſelben feindfelig gezeigt, wenn es ihnen
auch erſt in fpdteren Jahrhunderten gelungen ift, die unliebfamen freien
politifchen Inflitutionen aus dem Wege zu räumen. Es iſt für fie fehr cha⸗
rakteriftifh, und hängt mit dem in Rede Stehenden zufammen, daß fie eis
gentlich niemals große Staatsmänner gehabt haben. Natuͤrlich verftche ich
unter einem großen Staatsmann nicht einen in den Künften der Intrigue,
des Wortbruchs, der Treulofigkeit bewanderten Diplomaten, fondern einm
Mann, der die ewigen Grundfäge des Rechts, bie Beflimmung feiner Nas
tion, den Geiſt feiner Zeit aufzufaffen und darnach zu handeln weiß. Wie ges
fagt aber: dergleichen Staatsmänner zählt Defterreich fehr wenige; nicht, als
ob fie nicht vorhanden geweſen wären (das oͤſterreichiſche Volk fleht an guten
Anlagen keinem anderen deutfhen Stamme nady): nein! fie find abfichtlich
nicht in die Nähe des Thrones gerufen worden. Denn ein gewaltiger Geiſt,
verbunden mit einem tüchtigen Charakter, an der Spige der Staatsverwal⸗
tung, ſchien nicht minder gefährlicy ale das Princip der Freiheit felber. ind
ja eben deshalb die befferen einſichtsvolleren Prinzen biefes Haufes abfichtlich
von der Zheilnahme an den Staatsgefchäften abgehalten worden, weil man
ihre Einwirkung in liberalerem Sinne fürchtete. Auch war für die Art von
Police, wie fie die Habsburger übten, in der That kein hervorragendes Ta⸗
lent nöthig. Denn dieſe war eigentlich nur darauf berechnet, niederzus
halten, zu befchneiben, zu unterbrüden, nicht neue Schöpfungen hervor
624 . .* Habsburger
— und neue Entwickelungen anzubahnen. Jenes aber vermag auch
— Kopf, wenn er nur das Talent der Intrigue beſitzt. Eben
ſolche Köpfe aber waren den Habsburgern recht; denn fie entgingen dadurch
bee Moͤglichkeit, von ihnen beherrfcht zu werden , tie dies in anderen Mon:
ien fo häufig der Kal war. In ber That, bie Habsburger ‚find viel mer
niger von ihren Miniftern abhängig geweſen als vielleidyt jede anbere Dy⸗
naftie in Europa: vielleicht war aber aud) Feine fo eiferfüchtig auf die Bewah⸗
zung ihrer perfönlichen Selbftftänbigkeit. Dies gilt bis auf die * Zeiten
herunter. So iſt es z. B. unrichtig, wenn man behauptet, der letzte Kaiſer
fei von feinem Staatskanzler beherrſcht geweſen: Franz I. war vielleicht eben:
fo felbftftändig wie Joſeph II., und gewiß hat fein erſter Minifter nie etwas
von Wichtigkeit gethan, wozu nicht Franz entweder den Anſtoß gegebem ober
feine volllommenfte Auftimmung ertheilt hätte.
Die Politik der Habsburger alfo ihren Völkern gegenüber iſt Des potis⸗
mus. Und dieſe Politik wurde von ihnen angewendet, weil fie ihnen bie be⸗
quemfte fhien. Um den Unannebmlichkeiten zu entgehen, welche bie und
ba ein frifches freies Volksleben den Machthabern gegenüber hervorbringt,
haben fie es für beffer gefunden, lieber den Merv dieſes Volkslebens ſelbet
zu unterbinden. Sie haben baher all’ ihr Augenmerk darauf gerichtet „ben
Geiſt zu unterbrüden, wo und in welcher Geftalt er fich zeigte, und. an bie
Stelle deffelben Verdummung, Sinnlichkeit und Materialismus.zu f
Daher ift ihre furchtbarer Haß gegen die Reformation und die unausgefegte
Verfolgung des Proteftantismus in ihren Ländern zu erklären.
Diefes Spftem der Habsburger, welches die unpartelifche Gefchichte
ruͤckſichtslos zu enthüllen die Aufgabe hat, würde gewiß nicht in em Maße
reuffirt haben, wie es in der That der Fall war, wären ihnen nicht andere
Momente zu Hüffe gefommen, melde wiederum in ihrer Perſoͤnlichkeit
ihren Grund hatten. Sie wurden ndmlidy einmal durdy jenen oben bereits
erwähnten hausbadenen Verſtand unterflügt, der ihnen hier einen gewiſſen
Takt in der Verfolgung ihrer Plane vorzeichnete. Sie fielen nicht leicht mit
der Thuͤr ins Haus, fondern unterhöhlten allgemady den Boden, auf dem
fie ihre Nege ftellten; trafen fie unvermuthet auf Widerftand, wie z. B. in
den Zeiten des Mittelalterd und noch im 17. Jahrhundert, fo zogen fie ſich
wohlweislich zuruͤck, um ihre Verſuche auf paffendere Zeiten zu verfparen.
Sodann befaßen fie bei alem Mangel an wahrhaft großen Eigenfhaften , die
fie als Helden oder Genies hätten erfcheinen laſſen koͤnnen, doch einige, welche,
von ihnen auf das Beſte benust und zur Schau geftellt, jene anderen recht
gut, wenigſtens für ihre fpeciellen Zwecke, zu erfegen vermocten. Dahin
gehörte eine gewiſſe Zähigkeit des Willens, welche, obſchon häufig mit
Eigenfinn gleichbedeutend, denn doch in ihren Aeußerungen und ihren Refuls
taten fehr oft mit Charakterfeftigkeit verwechfelt wird, namentlich bei regie—
renden Häuptern. Diefe Zähigkeit ift ein Grundzug der Habsburger ; ſelbſt
die ſchwaͤchſten Charaktere unter ihnen befigen fie; weshalb fie niemals, felbft
unter den fchlechteften Ausfichten, fi und ihre Sache gaͤnzlich aufgegeben
haben; hundertmal zu Boden gefchlagen, ftanden fie, wenn aud) gekruͤmmt
und gebuͤckt, bennod) wieder auf. Es liegt in diefem Zuge etwas Altrömifches,
Habsburger. 625
wenn man will, etwas Großes. Dan kann ſich wenigftens denken, wie ein
Volt, das Fürften mit ſolch vnverwuͤſtlicher Lebenskraft an feiner Spige
fieht, eine Anhänglichkeit an fie gewinnen kann, welche im Laufe der Jahrs
hunderte zur Treue und zur Ergebenheit führen muß. Und gewiß haben bie
Habsburger diefim ihrem Familienzuge einen großen Theil ihrer Popularität
zu danken.
Noch mehr unterflügte fie aber ihr perfönfiches Auftreten, ihre ganze
Haltung der Geſellſchaft gegenüber. Die Habsburger alle haben etwas Volke:
mäßige® an ſich; fie befigen ein wahrhaftes Talent, mit dem Volke zu vers
Echren und bei demfelben freundliche Eindruͤcke zuruͤckzulaſſen. Schon bie
Gefchichte von dem Emporkommen diefes Haufes trägt einen volksmaͤßigen
Charakter. Der Graf von Habsburg, ein Heiner unbedeutender Herr, der
ſich noch um feine Habe herumfchlagen muß mit feinen Zeinden, ber es nicht
verfchmäht,, in bie Dienfte einer reihen Stadt zu gehen und als Feld⸗
hauptmann die Truppen derfelben anzuführen, dann durch feine perfönliche
Züchtigkeit zum deutſchen Koͤnigsthrone gerufen, in diefer neuen Stellung
aber darauf bedacht, überall Ruhe und Ordnung und Sicherheit herzuftellen,
dadurch ein Förderer und Unterſtuͤzer des fleißigen betriebfamen Bürger
thums — was iſt das für eine prächtige Figur, durchaus für das Volk bes
rechnet! Die Habsburger haben nicht verfäumt, ben Ahnherrn für ſich aus
zubeuten , und bie vollsmäßigen Beziehungen ihrerſeits fortzufegen. Die un«
mittelbare Berührung zrolfchen dem Throne und dem Volke bat baher in
Deſterreich nie bergeftalt aufgehört wie anderwärts: es hat in Wien nie ein
fo fteifes Hofceremoniel beftanden wie in Verſailles ober in Madrid; bie
Katfer und bie Prinzen haben mit dem Wolke immer dazwiſchen verkehrt,
haben in feiner eigenen Sprache mit ihm geſprochen, find in feine Ideen
und Vorftellungen eingegangen. Sa, fie haben abſichtlich manchmal einen
gewiffen Cynismus affectirt. Diefes vollemäßige Benehmen war für bie
Habsburger von unbefchreiblihem Vortheile. Denn durch diefe ihre per⸗
fönliche Freundlichkeit hoben fie die ſchlechte Wirkung , weiche ihre politifchen
Maßregeln machten, größtentheil® wieder auf; fie verzuckerten baburch gleich⸗
fam die bitteren Pillen, welche das Öfterreichifche Volk zu verfchluden gezwun⸗
gen ward. Ja, es ftellte fi) nun ohngefähre die Meinung bei dem Wolke
feſt, daß fo freundliche liebevolle Herren es doch nicht 656 mit Ihren Unters
thanen meinen könnten und daß die ſchlimmen Streiche, welche gefpielt wärs
den, doch nur von den Miniſtern und den Mäthen ausgingen, und baß bie
guten Herren wahrfcheinlich um den größten Theil des Böfen, was gefchähe,
gar nichts müßten. Uebrigens benimmt die Möglichkeit eines freieren pers
fönlihen Verkehrs mit dem Monarchen (mie fehr auch diefer nur auf ben
Schein berechnet fein mag) dem Abfolutismus einen großen Theil feiner
ſchlechten Wirkung. Dan wird zugeftehen muͤſſen, daß jener bekannte Aus»
ſpruch des Tyrolers gegen ben Erzherzog Johann („bu bift ebenfo ein
©..... z, wie bein Bruder, bee Kalfer: man Bann ſich auf einen von Euch
verlaffen”), auch nur als Factum betrachtet , feine Bedeutung hat. Die
Habsburger kennen bas: fie opfern deshalb gern den Schein, den fie dem
Volke laffen, um die Realität für ſich felber zu bewahren.
Suppl. z. Staatslex. U. AU
u „Die Habsburger une, ihre Volksthuͤmlichkelt auch noch als ‚gute
Menſchen, als Famillenvaͤter u. ſ. w. zu vergrößern. cheet,
wird man finden, daß es damit nicht ſeht weit her iſt. Schon im 14. Jaht⸗
hundert ſind die Streitigkeiten jwifchen.den einzelnen Gliedern der Familie
ausgebrochen ; noch ärger find bie, welche am Schluffe des 16. und Anfang
des 17. Jahrhunderts efunden, unter den Kaiſern Rudolph Il, und Ma-
thias. Dben haben wir bereits bemerkt, wie aus Eiferfucht gegen bie nad
gebornen Prinzen diefe legteren von den Regierungsgefchäften ausgefchloffen
worden; bie Regierung des legten Kaifers iſt befonders reich: an dergleichen
Vorkfommenbeiten. Uebrigens haben fie auf Strenge ber Sitten von jeber
meht gehalten als jeber. andere Hof von Europa: die Liederlichkeit wurde
in Wien niemals fo zur Schau geteagen wie in Verſailles. Und auch biefet
verlieh der Eaiferlichen Familie etwas Bürgerliches, Volksmaͤßiges.
Faſſen wir numall dieſe Züge des Haufes Habsburg zufammen und ver-
gleichen: wir fie mit ber oben angedeuteten Aufgabe, melde das Schickſal ihm
geftelle zu haben ſcheint, fo mäffen wir von vornherein zu dem Refultate gelan-
gen, bag es für diefelbe nicht gefchaffen war. Dafuͤr hätte es mehr Joralet
in feinem ganzen Naturelle haben muͤſſen. Der Grundzug der Habsburger
aber ift Egoismus. Höhere, außer dem Bereiche ber Subjectivitaͤt Liegende,
Intereſſen kennen fie nicht. Begeifterung für eine große Idee, Aufopferung
für,diefelbe, felbft der Ehrgeis, ein rs unrühmlicyes Blatt in ber Gefchiche
einmal auszufüllen, wie ihn manche Eroberer gehabt haben, iſt ihnen fremd
Die Habsburger haben daher ihre hoͤchſt guͤnſtige Stellung weder für bie ein
noch für bie andere der beiden Aufgaben , die fie zu löfen hatten, benutzt
Betrachten wir zuerft das Eine: ihr Berhältniß zu Deutfchland, ibt
Bemühen für die Erhaltung und Befeftigung der Einheit des Reiches. Hier
nimmt nun allerdings der Ahnherr des Haufes, Rudolph von Habsburg,
eine ehrenwerthe Stelle ein. Es iſt befannt, wie diefer Kuifer nach einer
mehr denn zmanzigjährigen Anarchie wieder Ruhe und Ordnung in unferem
Baterlande herſtellte und duch fein wahrhaft volksthuͤmliches Walten die
Gemüther wieder mit dem deutfchen Kaiferthrone befreundete. Auch wollen
wir e8 ihm keineswegs zum Vorwurfe machen, daß er gleich die erfte Ge
legenheit benugte, um feine Hausmacht zu vergrößern; denn ohne eine folde
wäre es einem Kaifer, wie damals die Sachen ftanden, nun und nimmermehtr
moͤglich gemefen, etwas Erfprießliches für Deutfchland zu thun. Aber gleich
in Rudolph's Sohne Albrecht I. nimmt diefes Streben einen anderen Cha:
rakter an. Es geftaltet ſich nun zu unerfättlicher Laͤndergier: dieſe wird
und bleibt nun bag legte Ziel des habsburgifchen Haufes, und anftatt daß die
Hausmacht von ihnen nur als Mittel benugt wurde, um das Reich zu fra
tigen und zu erweitern, wurde umgekehrt von ihnen immer die Kaifermürde
als Mittel zur Verfolgung ihrer felbftfüchtigen dynaftifchen Entwürfe auf
gebeutet. Gleich diefer Albrecht brachte dadurch Alles gegen fi auf. Zuerſi
wollte er die thüringifchen Lande an fein Haus bringen; wie diefes mißglüdte,
fo wandte er fein Augenmerk auf die Schweiz. Es ift befannt, wozu diefes
führte. Die Schweizer erhoben fich gegen das Haus Oeſterreich und haben in
zweihundertjährigen Kämpfen ihre Selbftfländigkeit zu behaupten gewußt.
Habsburger. 037
Aber fie gingen in Folge davon für das beutfche Reich verloren. Diefen
Verluſt haben wir dem Haufe Habsburg zu banken. Weber ein Jahrhundert
nad; Albrecht I. blieben die Habsburger vom deutfchen Throne ausgeſchloſſen.
Wie fie nun wieder zu demſelben berufen murben, fo zeichnete fich gleich Die
Regierung des zweiten Kaiſers aus diefem Haufe, nämlich Friedrich's LIE.
(Albrecht II. faß nur von 1437 — 1440 auf dem deutichen Throne), durch
ihre geenzenlofe Schwäche aus. Diefer Fürft hat durch feine Laͤſſtgkeit und
Unfaͤhigkeit wefentlich mit dazu beigetragen, daß die deutfchen Geſchicke eine
fo unerfeeuliche Wendung genommen. Damals war in unferer Nation nach
allen Seiten hin ein neues frifches Leben erwacht; fie mollte eine größere
Einheit des Reichs, eine energifchere Stellung bes Kaiſerthums, Unabhäns
gigkeit im Birchlicher Beziehung vom Papfte, und bot zur Erreihung aller
diefer Dimge die bedeutendften Hilfsmittel dar; der britte Stand, für uns
fere Kaiſer immerdar die befte und die ſicherſte Stuͤtze, tft niemals bedeu⸗
tender, mächtiger, zahlreicher geroefen. Dennoch geſchah ımter riedrich IH.
gar nicht für die Entwidlung der allgemeinen deutſchen Angelegenheiten:
ja, «8 hat ſich unter feiner Regierung Alles einer größeren Auflöfung gends
hert. Er ließ die fchönfte Gelegenheit, welche ihm das Baſeler Concillum
bot, um dem Papſte gegenüber eine unabhaͤngigere Stellung ſich zu erkaͤm⸗
pfen, ungenugt voruͤbergehen; ja, er befsfligte die Unterwuͤrfigkeit Deutſch⸗
lands unter den römifchen Stuhl nur nody mehr. Ebenfo ſchwach bmahm er
ſich gegen die deutfchen Fuͤrſten. Diefen erlaubte er, ihre Landeshoheit im⸗
mer entfchiedener auszubilden und fi) von der Einheit des Reichs mehr
und mehr zu entfernen.
Sein Sohn Martmiltan I. (1493 — 1518), welcher nad) ihm den
beutfchen Thron beftieg, mar allerdings eine andere Natur. Es finder ſich
an ihm , wie bei wenigen feiner Familie, etwas Poetiſches: er war ein ritters
licher Zürft, in alfen Leibesübungen zu Haufe, dabei en Förderer der Wifs
- fenfchaften und der ſchoͤnen Künfte. Aber feine Verdienfte um Deutfchland
find gering. Denn der größte Theil der Thaͤtigkeit, womit fein Leben erfüllt
war, galt eigentlich doch nur der Vergrößerung feines Haufes; all die vielen
Kriege und diplomatifchen Unterhandlungen, welche er geführt, find zu dies
ſem Zwecke unternommen; das deutfche Reich, welches freilich immer dabei
war, follte nur feine familiaren Pläne unterflügen: es felber hatte bavon
keinen Vortheil. Selbſt an ben zwei politifchen Inſtituten, welche feine
Zhellnahme an der Entwidiung des deutfchen Reiches beurkunden follen, an
der Errichtung des ewigen Landfriebend und des Kammergerichts, hatte er
weniger urfprünglichen Antheil, ale ihm zugefchrieben zu werden pflegt. Sie
waren eigentlich nur die Nefte von dem Entwurf einer umfaſſenden Reichs⸗
reform, melchen ber Erzbifhof, Berthold von Mainz gemacht, und der
offenbar bie Einheit des Reiches weit ficherer geſtellt hätte als alle Unters
nehmungen Maximilian's. Aber gerabe darauf wollte Letzterer nicht einges
ben: Daß er beffenumgeachtet In der Öffentlichen Meinung ale ein Kaifer
galt, dem das Wohl des gefammten Vaterlandes fehr am Herzen lag und
der dafür that, was in feinen Kräften fland, hat er zwei Dingen zu ver
40
628 Habsburger.
banken. Einmal feiner Perſoͤnlichkeit, welche in der That: ausgezeichnet
war, mochte man auf fein Tiebenswärdiges Auftreten gegenüber vom allen
Ständen und Glaffen der Gefellfchaft , oder auf feine Ritterlichkeit, oder auf
feine Empfänglichkeit für alles Schöne und Große in Wiffenfhaft und Kunft
. Nüdfiht nehmen. Zweitens der geoßartigen nationalen Richtung ‚| von wel:
her damals bie erften Geiſter unferes Volkes ergriffen waren. Diefe er
fehnten mit aller Kraft einer jugendlidyen Seele die Derftellung ber Größe des
Reihe, des Kaifertbums und einer impofanten auswärtigen Politik; fie
klammerten fidy an Alles an, was zum Zlele zu führen ſchien; was lag ihnen
aber mäher ala der Kaifer, der zu fo vielen Erwartungen berechtigte? Alle
nationalen Plane und Hoffnungen, welche von unferen Patrioten ausge:
fpeochen worden, werden baber In Verbindung mit Mapimilian gebracht: er
bildet gewiffermaffen immer die Folie, auf welcher jene ſich aufbauen.
Keinem Kaifer aber wäre es leichter gewefen, all biefe Wünfche zur
Erfüllung zu beingen, als Marimilian’s Nachfolger, KatlV. Die Haus:
macht hatte unter ihm die höchfte Stufe erreicht: Beine andere Dynaftie in
Europa konnte ihm die Wage halten. Und daneben war jene eben befpro-
chene nationale Richtung in Deutfchland zu einer Kraft und Stärke gedieben,
welche der größten Zhaten und Aufopferungen fähig war. Altes fchien zus
fammengefommen zu fein, um bie Nation in jeder Beziehung einer geoßen
Zukunft entgegenzuführen. Denn um diefelbe Zeit war auch die lange vor-
bereitete veligiöfe Bewegung zum Ausbruch gefommen , welche im innigften
Bunde mit der politifchen Richtung anfänglidy nur den großen Zweck ber
Befreiung von dem päpftlichen Joche ſowohl in Anfehung des Glaubens als
ber nationalen Seibftftändigkeit verfolgte. Was hätte ein Kaifer, der die Zeit
und die Nation begriffen, damass nicht Alles durchfuͤhren können, zumal
da das Volk ihm faft ftündlih in Flugfchrifien aller Art zurief, was er zu
thun habe, was die Nation erwarte, wozu fie bereitwillig und entf&hloffen
fei? Aber Karl V. verkannte die Zeit wie die Bedürfniffe und bie Hoff:
nungen des deutfhen Volks, und gab eben dadurch zu dem traurigen Zwie⸗
fpalte Anlaß, der von nun an Jahrhunderte hindurdy Deutfchland in zwei
Hälften theilen follte. Die gänzliche Verkennung der nationalen und der po:
litiſchen Bedeutung der Reformation ift als einer der Grundfehler nicht nur
feiner Politik, fondern der hHabsburgifchen überhaupt zu betrachten; ein Zeh:
ler, der in feinen Folgen ungeheuer war; denn an denfelben fnüpften ſich
alle traurigen Erfcheinungen der fommenden Zeiten, die allmälige Auflöfung
des Reichs, die Zerfplitterung und Trennung der einzelnen Zheile und endlich
der fteigende Einfluß der Sremden. Denn dieReformation, weit entfernt die
Trennung des deutfchen Volkes zu beabfichtigen, erſtrebte vielmehr urfprüng:
lich eine größere Einheit deffelben, die erhöhete Bedeutung der Kaiferwürde,
die Beſchraͤnkung fürftliher Machtvolllommenheit. Einem Kaifer mit diefer
impofanten Hausmadıt, wie-fie Karl V. befaß, wäre «8 ein Leichte® gemwe:
fen, dieſe Wünfche der äffentlihen Meinung zur Ausführung zu bringen;
er durfte nur gutheißen, was von Seite der Nation gefhah, er durfte die
Unternehmungen der Patrioten, wie eines Hutten und Sidingen, nur
Habsburger. 629
bdurch ſein kaiſerliches Anfehen unterſtuͤtzen *). Aber Karl V. hatte für bie
Bewegung in Deutfchland Fein Verſtaͤndniß; auch ihm war Im Grunde ges
nommen diefes Reid) NRebenfache; mas ihn beftimmte, war wiederum nichts
Anderes als die Hausmacht, das Erbe der habsburgiſchen Dynaſtie. Seine
Politik war daher nur eine Familienpolitik, Beine volksthuͤmlich⸗deutſche. Die
Hausmacht, Spanien, Stalien, Niederlande, Oeſterreich, Ungarn und Boͤh⸗
men, ftand ihm in erfler Linie; erſt in zweiter kam ihm dann das deutiche
Reih. So hinderte ihn benn die Ruͤckſichtnahme auf feine fpanifchen und
italieniſchen Befigungen, in Deutfchland einen Weg einzufchlagen,, der allein
zum Ziele führen konnte; fo opferte er um ber Bundesgenoſſenſchaft bes
Dapftes willen, die er in Italien gegen den König von Frankreich nöthig
hatte, die außerordentliche großartige Bewegung auf bem Gebiete der Reli⸗
gion. Durch dieſe feine feindfelige Stellung gegen die Reformation aber hat
er weſentlich die unerfreulihe Wendung herbeigeführt, welche fie von nun an
genommen bat. Denn die veformatorifche Bewegung , fo von dem Kaifer
mißverftanden und mißhanbelt, wurde allmälig kuͤhler und indifferenter ge
gen ihn, und da auf ber anderen Seite die deutſchen Fuͤrſten gleich nad) dem
Bauerntriege klug genug waren, fi an die Spige berfelben zu ftellen, wur⸗
den fie auch wiederum von ihr unterftügt und gehoben; fie erhielten an ihr
einen Bundesgenoſſen, der viele andere aufwog, aber zugleich war Damit auch
der unfeligfte Zwielpalt in das deutfche Volksleben hineingeworfen, indem die
Fuͤrſten die Reformation nur für ihre fpeciellen fuͤrſtlichen antilaiferlichen
Zwecke benugten. Allerdings hat bann fpÄter, im Sabre 1546 , ber Kalfer
Karl jene großen Pläne, mit melchen die Nation feit einem Jahrhundert
ſchwanger ging, noch auszuführen gefuchtz; damals uber war der rechte Zeit
punkt ſchon verfäumt: er fonnte nicht mehr auf die Unterftügung ber öffent
lichen Meinung rechnen, und überbie® war bie Art von Herrſchaft, wie fie
Karl beabfichtigte, durchaus nicht im Sinne der deutfchen Nation; es war
eine fpanifche Autokratie, durch deren Einführung natürlich das deutfche
Volt nichts gewonnen hätte. Das momentane Uebergewidht, welches Karl das
mals gehabt, diente nur dazu, um ihn feine wirklichen Pläne ganz offen ents
büllen zu laſſen und Alles gegen ihn aufzubringen ; es rief dann zulegt jene
Oppofition Moritzens von Sachſen hervor, durch weiche er gezwungen ward,
den Vertrag von Paffau einzugehen (1652), in welhem Karl V. nicht nur
alle Vortheile aufgeben mußte, die er neuerdings errungen, fondern in Folge
he die fürftliche Gewalt in Deutfchland feſter begründet warb wie je
vorher.
So war denn das Unheil ausgefärt. Won jest an gehen bie beutfchen
Geſchicke einer immer traurigeren Zukunft entgegen. Und was bie Habsburger
gleich bei den Geburtswehen einer neuen Zeit verfäumt, das haben fie fpäter
*) Vergl. darüber mein Werl: Der Geift der Reformation und
feine Begenfäge. Erſter Band. (Erlangen, Yalm, 1843) und meinen Aufs
fat: Ulrich v. Yutten und Deutſchlands politifhe Berhältniffe
m Reformationsgeitalter in meinem Buche: „Zur politifchen Gefchichte
Deutfchlande”. Stuttgart, Franckh, 1842, |
nicht mehr gut zu machen gewußt ; fie find vielmehr auf dem Wege fortgefah-
ten, den Karl V. eingefehlagen; und biefe ihre fortwährende befchränkte
Stellung, bie fie den neuen Entwidelungen gegenüber eingenommen, bat
weſentlich mit das [pätere Unglüd von Deutſchland verſchuldet. Nah Karl V.
kamen allerdings zwei Habsburger auf den deutſchen Thron, welche die
von einen verftänbigeren freieren Stanbpunfte aus behandelten: Ferdinand
(1656— 1564) und Marimilian II. (1664— 1576). Aber einmal war ſchon
zu viel verdorben, und zweitens bitten Ihre Bemühungen, von denen insbe»
fondere bie Maximilian's Il. alle Anerfennung verdienen, durch die folgenden
Kaifer fortgefegt werden muͤſſen. Dies war aber nicht der Fall. Im Ge—
gentheil: eben diefe zeichnen fich nicht minder durch ihre Unfähigkeit wie
durch ihren grengenlofen Fanatismus aus. Unter Rubolph Il. (1676— 1612)
Eam das Reid) in einen noch nie gefehenen Verfall: zugleich gelangten bie Se»
fuiten zur hoͤchſten Stufe von Einfluß und Macht; es bereiteten füch unter der
langen Regierung dieſes Kalfers ungehindert die Momente vor, welche bald
den dreifigjährigen Krieg herbeiführen follten. Wir wollen zwar die Schuid
biefed Krieges nicht allein ben Habsburgern aufbürden: wenigftens die unmit⸗
telbare Veranlaſſung ging von Anderen aus. Aber ebenfo gewiß iſt daß
ber ganze Charakter diefes Geſchlechts einen mefentlihen Antheil daran hatte,
und baf ohne die befannte Richtung der einzelnen Familienglieber der Krieg
weit eher beendet worden wire, Mar es ja doch nur ber biutige Fanatis⸗
mus Berdinand’s IL, fein gewaltthätiges Verfahren gegen die proteftanti-
ſchen Unterthanen feiner Erblande, welches die Böhmen beftimmte, bie
Maffen zu ergreifen, um einen ſolchen Herrfcher von fid) abzumeifen. Wie
nun die eeligiöfe Beſchraͤnktheit Ferdinand's die Urfadhhe zum Anfange des
breißigjährigen Krieges war, To mar es diefe wiederum, welche ihn binderte,
eine fpätere glüdliche Wendung defjelben zu Gunften des Kaifertbums und
des deutfchen Reiches zu benugen. Mad) der Beendigung des danifchen Krie⸗
ge8 (1627) hatten die Faiferlichen Waffen eine glorreiche Stellung eingenom:
men. Durch feinen Generaliffimus Wallenftein herrfchte Ferdinand faft
unumſchraͤnkt in Deutfchland; und in jenem Augenblide wäre e8 ihm leicht
gewefen, sine Reorganifation des deutfchen Reiches vorzunehmen, bei welcher
die größere Einheit ber Nation und die Erhöhung Eaiferliher Machtfülle zum
Principe erhoben worden wäre. Auch ift bekannt, wie Wallenftein in diefem
Plane wirkte, wie alle feine Bewegungen auf die Erfüllung deflelben gerichtet
waren. Was that aber Ferdinand? Er beutete diefe feine überaus vortheil:
bafte Stellung im Sinne und zu Gunften der Jeſuiten aus; anftatt dur
Aufſtellung des Princips religiöfer Duldung alle Religionsparteien zu verföh:
nen und feinen Intereſſen geneigt zu machen, erließ er das Neftitutiongedict,
welches keinen Zweifel mehr übrig ließ, daß der Kaifer feine Macht nur für den
Dienft der Sefuiten gebrauchte, daß alfo die Erhöhung feiner Gewalt gleichbe:
deutend fei mit der Allgemalt eines hierarchifchen Terrorismus. Sa, noch
mehr: eben diefen feinen General Wallenftein, dem er fo Vieles verdankte,
opferte er den Jeſuiten und zugleich ben deutfchen Fürften, welche beide an
dem Sturze deffelben ein gleiches Intereſſe hatten: denn die Eaiferliche Ge:
walt, wie fie Wallenftein beabfichtigte, mar den Fuͤrſten nicht minder wie
Habäburger. 681
dee Kirche gefährlich; und biefe Aufopferung Wallenſtein's gefchah noch dazu
in einem Momente, to bereits ein anderer rüfliger Feind, der König von
Schweden, das Schwert gegen den Kaiſer gezückt hatte. Hiemit war nun
auch diefe günftige Gelegenheit, das Kaiſerthum zu dem früheren Glanze zu
erheben, ungenügt vorübergelaffen worden. Seitdem bot fich Bein ähnlicher
günftiger Moment wieder dar. Zwar wurde 1632 nach den Siegen Guftav
Adolph's Wallenitein wieder an die Spige der kaiſerlichen Deere geflellt; aber
unterdeffen hatten fich die Verhaͤltniſſe burchaus geändert, und buld fiel er fels
ber noch einmal als Opfer der Jeſuiten. Diesmal begnügte fich aber der Kai⸗
ſer nicht mehr mit feiner Abdankung, er ließ ihn ermorden. An dem ſpaͤ⸗
teren Unglüd bes breißigjährigen Krieges tragen allerdings die Habsburger
nicht mehr Schuld als die übrigen deutſchen Fürften und die Fremden,
wiewohl fie an Zreulofigkeit und Perfidie diefen nichts nachgeben. Jeden⸗
falls aber bleibt an ihnen hängen, einmal daß ihre religiöfe Befchränktheit die
Veranlaffung zu demfelben gegeben, und zweitens daß fie im Laufe des Kries
ges die beften Gelegenheiten, einen Frieden zu fchließen, aus demfelben Me⸗
tive verfäumt haben, fo mie auch die hoͤchſt günftigen Ausſichten, das deutfche
Reich zu einer neuen großen Bedeutung zu echeben. Was biefer dreißigiähr
rige Krieg endlich für ein Reſultat gehabt, ift bekannt; er wurde durch ben
weftphälifchen Srieden beendet. Diefer Friede war fo zu fagen das Leichen«
begängniß des deutfchen Reichs. Nicht nur verloren wir an die Fremden
einen beträchtlichen Theil unferer Provinzen, ſondern digfe erhielten nun das
Recht, in unferen inneren Angelegenheiten mitzufprechen; unfere Reichs⸗
verfaffung erhielt dadurch und durch das entfchieden ausgefprochene Souverd»
netätsprincip ber beutfchen Fürften den gewaltigften Stoß! Es war damals bes
reits zu einem Staatenbunde herabgefunten! — Und die Regierung nad)
dem dreißigjährigen Kriege, welche faft ein halbes Jahrhundert währte, die
Regierung des ſchwachen Leopold I. (1658 — 1705) war nun ganz dazu ges
eignet, um die Erbärmlichkeit, Nichtswürdigkelt und Jaͤmmerlichkeit der
deutfchen Zuftände in dem beutlichflen Lichte erfcheinen zu laſſen: unter dem
Kaiferthume diefes Habsburgers geſchah es, daß Ludwig XIV. Straßburg und
andere deutfche Gebietstheile im Elſaß wider alles Völkerrecht hinwegnahm
(1681), ohne daß von Seite des Meichs etwas dagegen geſchah: ja, der
Kaiſer beftätigte fpdter (1684) diefen Raub dem franzöfifchen Könige. So
wurden mir von den Fremden allenthalben gehöhnt; und diefe Nation, bie
einft fo mächtig war, daß fie den erfien Rang unter ben Völkern Europas
behauptet, die in fich felber eine fo unverwüftliche Bildimasfähigkeit trug,
daß fie faſt an jedem neuen Auffchwunge bes europdifchen Geiſtes den leb⸗
hafteften thätigften Antheil genommen, die gerade beim Beginne der moder⸗
nen Zeit fo tief wie Beine andere das Bebürfniß nach einer politifchen Umge⸗
ftaltung fühlte und bereitwillig war, Alles daran zu feßen , diefe Nation wurde
gerabe in die unfeligften Zuflände zuruͤckgeworfen, ſowohl mas aͤußere poli⸗
tifhe Geltung als die Geſtaltung der inneren Angelegenheiten betrifft, und
zwar ducch bie Unfähigkeit, Befchränktheit, Pflichtvergeffenheit und Eigen:
ſucht gerade desjenigen Geſchlechts, bem es am Erſten zugefommen wäre,
andere Entwidelungen herbeizuführen!
P
Alſo um das beutfihe Reich haben ſich die Habsburger wahrhaftig Leim
ſarblenſt erworben ! Obſchon ihnen Hilfämittel zu Gebote ftanden mie gar
Reiner anderen ber früheren Dpnaftien, obfchon «8 ihnen geſtattet war, über
brei Jahrhunderte ununterbrochen dem beutfhen Thron einzunehmen, ob»
ſchon fie bei Allem, mas auf gröfere Einheit des Reichs und Förberung ber
Motionalität abzielte, entfchieden. von ber Öffentlihen Meinung unterfbüpt
getvefen wären, fo haben fie body nicht nur viel. weniger gethan ale jebes bar
früheren Koͤnigegeſchlechter, fondern fie haben fogar das deutſche Meich feis
ner Auflöfung entgegengeführt. Sehen wirnun, mie fie fich zu. ber anderen
Aufgabe verbielten, bie wie oben amgebeutet, nämlich die auferbeutfchen
Befigungen für das germanifhe Intereffe heranzuziehen und den beutfchen
Einfluß im Orient herrſchend zu machen.
eider kann man ihnen hier Bein befferes Zeugniß ausftellen. Viel⸗
mebr haben fie durch bie Art und MWeife, wie fie mit diefen nichtbeutfchen
Dölkern verführen, dem beutfchen Antereffe mehr gefchadet, und nadıhalti-
ge. als wenn biefe Ränder immerfort umabbängig gemefen wären. Dieſe
nder, fämmtlid von flavifhen und magyarifchen Stämmen bewohnt,
fanden zu der Zeit, als fie dem Haufe Habsburg anheimfielen, noch auf eimer
niederen Stufe der Bildung. Ohne Zweifel würden fie mit Dankbarkeit ge
gen die Deutfchen erfüllt worden fen, wenn ihnen von diefer Sekte die wohl⸗
thätigen Fruͤcht⸗ der Givilifation gebracht worden wären. Durch folde
Bande hätte man fie enger und dauernder mit dem beurfhen ntereffe ver
+ bunden als durch fübes andere Mittel, und fie würden eben deshalb gegen
den Andrang bed Dftens die befte Schutzwehr gebildet haben. Man hätte
nicht nöthig gehabt, ihnen ihre Nationalität zu nehmen; diefe würde, von
deutfchet Bildung befruchtet, durch diefe einer ebleren Entwidelung entgegen;
geführt, uns niemals gefchadet haben. Sie würde vielmehr zu uns in einem
freundfchaftlichen VBerhältniffe geftanden fein; Deutfchland hätte ſich in diefen
Nationalitäten geiftige Colonien herangezogen, welche mit dichteren aber auch
zugleich ebleren Ketten dem Mutterlande verbunden gemefen wären als ſaͤmmt⸗
liche Colonien der übrigen Staaten. Freilich wäre hierzu erforderlich gewe⸗
fen, daß man mit wahrem Mohlmwollen aufgetreten, daß man fich bemüht
hätte, die traurigen politifchen Zuftände zu verbefiern, daß man namentlich
die niederen Menfchenclaffen von den Feſſeln befreit hätte, in welchen fie noch
ſchmachteten, kurz daß man die Hinbderniffe wahrhafter Civilifation hinweg⸗
geräumt und dafür bie nothwendigen Inſtitutionen für die Entwidelung der:
felben ihnen verliehen hätte! Aber mas thaten die Habsburger? Sie be:
trachteten diefe fremden Ränder Immer als eroberte, mit denen man umgeben
dürfe mie mit Seindes Land. Anſtatt durch Milde und Freundlichkeit diefe
Nationen mit der fremden Herrſchaft zu verföhnen, haben ſie diefelben gleich»
fam zu Verforgungsanftalten für die raubgierige Öfterreichifche Bureaukratie
und Soldateska umgewandelt. Denn Eein anderes habsburgifches Land wurde
fo fehr durdy die Beamten ausgefaugt mie gerade diefe fremden. Insbe—
fondere Ungarn wurde von ben Habsburgern wahrhaft mißhandelt. Hierher
wurden denn immer die fchlechteften Sfterreichifchen Keldherren und Adminis
frativbeamten gefendet, melde diefe ihre Aemter nur benugten, um ſich
Haböburger. 683
Reichthuͤmer zu fammeln, aber nicht daran badıten, ben Zweck ihrer Sen⸗
dung zu erfüllen *). Das war mit ein Hauptfehler der habeburgifchen Polis
tik, Daß fie den eigenen Talenten In jenen Ländern Beinen Raum geftattete, un
ſich zu entfalten, fonbern daß fie Alles und Jedes nur ducch bie oͤſterreichi⸗
fhen Beamten verwalten ließ. Wir haben aber oben bereit angegeben, von
welchen Gefichtspunften fie hier ausging, daß es ihr nämlich auch hier nicht
um Talente zu thun war, fondern nur um willenlofe Werkzeuge ihres Willens
So kam e6 denn, daß jene fremden Länder bie Deutfchen von ber allerfchlechs
teften Seite kennen lernten; fie waren gewohnt, in ihnen nur despotifche habs
füchtige Bureautraten zu ſehen, welche die gefkwornen Feinde ihrer Natios
nalität, ihrer Sreiheit feien, von deren Joche fich frei zu machen ihnen zus
legt als heißeſter Wunſch fih aufdringen mußte. Nun, wir wiſſen auch,
wie häufig Empdrungen In jenen Ländern erfolgten: in Böhmen 1618,
in Ungarn und Siebenbürgen 1606 unter Stephan Botskai, [päter öfter im,
Laufe des breißigiährigen Krieges, dann 1661 — 1664, 1682 unter Ts
kely, 1703 unter dem jüngeren Ragorzt. Die Habsburger haben dann jede
glücklich gedämpfte Empörung, wie z. B. die böhmifche, dann die ungarifche
1664 auf das Beſte benugt, um ihre autofratifchen Pläne weiter zu verfolgen,
den Detpotismuß in jenen Ländern noch mehr herrfchend zu machen. An eine
Erleichterung des Looſes der niederen Menfchenclaffen, an Einführung von
humanen politifhen Einrichtungen war natürlich nicht zu denken; fie ließen
alles Schlechte, welches fie vorgefunden, beftehen, und fügten diefem nur
noch das Unheil der Bureaukratie und des Abſolutismus hinzu, fo weit fie dies
ſes vermochten. Allerdings ging dieſes nicht allnthalben, wie denn z. B.
die Ungarn trog aller Verfuche bes Wiener Cabinets dennody ihre eigene Ver⸗
faffung zu behaupten gemußt haben.
Alſo das ſchlechte Nefultat hätten wir den Habsburgern ebenfalls zu vers
danken , daß fie ben deutfchen Namen bei jenen fremden Nationen in Verruf
gebracht haben, daß diefe uns als Unterdrüder nationaler und politifcher
Selhfiftändigkeit anzufehen gewohnt find. Ihre durchaus fhlechte Politik
in jenen Gegenden ift aber auch ferner daran Schuld, daß der deutfche Einfluß
dafelbft nicht größer geworden, und daß biefer fpäter vom ruffifchen verdrängt
werden Eonnte. Als Befiser von Ungarn wäre es ihnen ein Leichtes gewe⸗
fen, fi der Donaufürftenthümer zu bemächtigen, zumal da Uber zweihundert
Fahre fortwährender Krieg mit den Türken geführt ward, und dadurch diefem
deutfchen Strom eine wahrhaft deutfche Bedeutung zu verfchaffen. Allein fie
verftanden es nicht einmal, Ungarn zu behaupten, geſchweige denn eine größere
Ausdehnung ihres Gebietes zu erlangen. Die Urfache davon war, daß fie in
der Regel bie fchlechteften unfähigften Subjecte nad) Ungarn ſchickten, Die e6
wohl verftanden,, die Nation zu drüden und auszufaugen, aber keineswegs
den Türken die Spige zu bieten. Daher iſt der unglüdliche Ausgang der fürs
Eifchen Kriege meiften® der fch'echten Anführung der Öfterreichifchen Feldhaupt⸗
leute zuzufchreiben. Hätte das Wiener Cabinet auch hier fi) mehr auf das
*) Vergl. „Gefchichtliche Fragmente, und das ungarifche Staatsleben
neuerer Beit.”’ Erfter Theil. Leipzig, bei Köhler, 1846.
ungariſche Volk verlaffen,, das wegen feiner Tapferkeit und Kriegstundigkeit
bekannt ift und natürlid am meiften Intereffe haben mußte, fi ben Tür
ken gegenüber feine Unabhängigkeit au bewahren, fo hätten bie Dinge hoͤchſt
wahrfdeinitdy eimen anderen Ausgang genommen. Denn wo Ungarn An:
führer waren, ober wo fie allein kaͤmpften, waren fie faft immer im Gluͤc.
So jedoch; glaubten die Habeburger Altes durch ihre Ereaturen leiten laſſen zu
"müffen, und fo geſchah es denn, daß im 16, und 17. Jahrhundert der ——
Theil von Ungarn am bie Zürten abgetreten, ja ſogar von dem übriggebliche:
nen Stüde ein Tribut an den Sultan gezahlt werden mußte. Gegen Ende
bes 17. und im Anfange bes 18. Jahrhunderts waren fie allerdings gluͤcklicher,
das ausgezeichnete Genie des Prinzen Eugen von Savoyen war baran
Schuld. Sie eroberten nicht nur alles von Ungarn Abgeriffene mieber,
fondern auch noch Serblen und einen Xiheil der Walachei. Aber anftatt nun
Mi dem bettetenen Wege fortzufahren, ſchlugen fie wieder den chen
heren ein; ja fie-fn nun Verbindungen mit den Ruffen an und
Unterftügten dadurch zuetft die Piäne dieſer Macht auf bie Türkei, welche
ſpaͤter für Oeſterreich und für Deuiſchland fo gefährlich werden follte. Der
neue Krieg gegen die Pforte, welchen das Wiener Cabinet unter ruffifdyem
Einfluß und mit diefer Macht im Bunde unternommen (1736— 1739),
wurde von Selte Oeſterreichs wegen der Unfählgkeit und Jaͤmmerlichkeit der
Seldherren fo erbärmiich geführt, daß #6 1739 zu dem ſchmachvollen Frieden
von Velgrad fidy entfchliefen mußte, wodurch es ſich verpflichtete, die
lebten hoͤchſt vortheilhäften Groberungen auf tuͤrkiſchem Gebiete alle wieder
herauszugeben.
So entwidelte benn bie Politik der babsburgifchen Dynaſtie ihre verberb:
lichen Früchte. Diefes Streben nad uneingeſchraͤnkter Herrſchaft, nad
Unterdrüdung des Volksgeiſtes, nach Feffelung des Gedankens, woburd; fie
hoffte, Alles huͤbſch in Ordnung und Ruhe erhalten und um fo leichter regieren
zu koͤnnen, führte nur dahin, dem Staate die Quelle zu verftopfen,, wodurch
er fich zu verjüngen hoffen durfte. Vaterlandsliebe, Sinn für das Gemein:
wohl, Aufopferung für die Öffentlichen Angelegenheiten, Entwidelung neuer
großer Talente — davon war keine Spur zu fehen. ine überall gehätfchelte
Bureaufratie und Ariftokratie war das einzige Moment, das durch die Habe:
burger herangezogen ward und diefe beuteten denn den Staat für ihren Privat»
vortheil und für ihre Intriguen aus.
In der zweiten Hälfte dieſes Jahrhunderts nimmt fie allerdings eine bef-
fere Stellung ein. Die Regierungen Maria Thereſia's, beionders aber To:
ſeph's II. verlaffen das bisherige verwerfliche Spftem und fuhen im Sinne
der neuern Zeit zu wirken. Es zeigte fich aber bei ihnen, mie wahr das Wort
des großen Roͤmers fei: ingenia oppresseris facilius quam revocaveris: Die
Verfuche, befonders Joſeph's II., fo anerkennenswerth fie an fich fein mögen,
fielen auf einen Boden, der durdy die Behand'ungsart feiner Vorfahren faft
ganz unfruchtbar getworden war. Doch verdient ed diefer Habsburger, mel:
cher an Geiſt und Herz weitaus feine Familie überragt, daß feine Pläne etwas
"näher gewürdigt werden. Joſeph bat, wie nicht leicht einer feiner Borfab:
ten, die große Aufgabe erfaßt, welche das Haus Habsburg zu Löfen hatte,
Haböburger. : 635
und faft nach allen Richtungen bin den rechten Weg angebeutet, den es ein-
fchlagen muͤſſe, um fid eine dauernde Größe zu fihern. Er hat vor allen
Dingen eingefeben, daß man den Geiſt von den Feſſeln befreien muͤſſe, in
welchen ihn bie habeburgifche Politik geworfen; er als Keind jedes Obſcuran⸗
tismus, mochte er nun im Gewande der Neligion oder haarzöpfifcher Politik
erfcheinen, hat das große Wort der Gewiſſens⸗ und der Redefreiheit ausges
fprochen und die geeigneten Inftitutionen hervorgerufen, welche biefelben bes
dingen. Er bat fodann, wenigftens im Anfange feiner Regierung, dem
deutfchen Reiche eine aufrichtige Theilnahme gewidmet und iſt mit dem Plane
umgegangen, heilfame Reformen in der Verfaſſung deffelben vorzunehmen
und diefe® morſche baufdllige Inflitut mit dem humanen freien Geifte einer
neuen Zeit zu befruchten. Wie ihm dies mißgluͤckte, indem er allenthalben
auf den Widerftand des eiferfüchtigen deutichen Fuͤrſtenthums fließ, als deſſen
Vertreter ſich beſonders der König von Preußen bemerklich machte, fo Dachte
ee daran, wieder einen Plan aufzunehmen, der in manchen Epochen ber
deutfchen Geſchichte von ber Nation felber gemünfcht und vorgezeichnet ward,
nämlich feine Hausmacht allmälig dermaßen auf Koften anderer deutfcher
Gebiete zu vergrößern, daß die Ummanblung der beutfchen Reichezuftände auf
eine radicale Weife durchgeführt werden könnte. Das Land, mas ihm am
nächften lag zur Abrundung der öfterreichifchen Hausmacht, war Batern, und
Joſeph IL hat zu wiederholten Malen Verſuche gemacht, diefen Volksſtamm
an fein Haus zu bringen. Indeſſen fland ihm Hier ebenfalls die Eiferfucht
ber Fürften im Wege, und Sofeph II. konnte ſich jest durchaus nicht in der
Art auf die Öffentliche Meinung ftügen, wie es Marimilian I. oder Karl V.
oder felbft noch Kerbinand Il. bet einem weniger jefultifchen Syſteme hätte
thun Binnen. Denn die Furcht vor den jefuitifchen oder zum Wenigften hoͤchſt
eigenfüchtigen Tendenzen des Daufes Habsburg war eben durch diefe feine
Vorgänger fo allgemem im deutichen Wolke eingewurzelt, daß felbft ein fo
edler Fuͤrſt, wie Joſeph, mit diefen humanen menſchenfreundlichen Abfich-
ten, nicht fAhig war, diefelbe zu zerfireuen. Jedermann im Reiche fah eben
die Ermeiterung ber Eaiferlihen Macht als ein Unglüd an, weil mem ſich ſchon
längft Daran gewoͤhnt harte, vom Haufe Habsburg nichts Gutes zu erwarten.
Demnach mußten alle Berfuche Joſeph's, die er hinfichtlich einer Verbefferung
der deutfchen Reichszuſtaͤnde machte, an dem Widerwillen gegen feine Dyna⸗
flie ſcheitern. Betrachten wir num felne dußere Politik, fo fcheint er auch
bier von dem rechten Geſichtspunkte ausgegangen zu fein. Er wollte feine
Grenzen auf Koften der Türken erweitern, er wollte die Donauländer im
Beſitz nehmen und dadurch fid) in den wirklichen Genuß diefes Stromes fegen,
der in mercantiler Beziehung von einer fo außerordentlichen Bedeutung für
Defterreich ifl. Das Einzige, was man ihm hierbei vorwerfen kann, iſt,
daß er fich zu fehr mit den Ruffen eintieß, beren Bundesgenoffenfchaft noch
keinem ihrer Nachbarn zum Nutzen gereicht hat. Dadurch ging ihm ein großer
Theil der Vortheile, die er durch einen Krieg mit den Türken erlangen zu
koͤnnen hoffte, von vorm herein wieder verloren, denn bie Ruſſen thun nichts
umfonft und trugen ebenfo fehr ein Geluͤſte zu ben Donaulaͤndern wie Jo⸗
ſeph II. felber. An der Thellumg Polens hat er eigentlich keinen Antheil,
‚636 Habsburger.
fondern nur feine Mutter Marla Thereffa. Joſeph IT. bat aber auch bier,
in diefom neu erworbenen flavifchen Lande, ebenfo wie in den anderen bereits
früber befeffenen,, bie einzig richtige Behandlung, die man ben nichtdeutſchen
Völkern angedethen laffen müffe, eingefcehen und gelbt; er begann naͤmlich
die vielfachen Feſſeln zu zerbrechen, in welchen bie niederen Menſchenclaſſen
ſchmachteten, und fie zu einem gebildeten Dafein heranınzichen. Durch ein
foldyes Vorfahren kam die öfterreichifche Reglerung zu diefen Landen natür:
lich in ein gang amberes freumdlicheres Verhaͤltniß als durch die ewige Unter
brüdung und Bevormundung derfelben.
Joſeph II. war freilich bei allem Guten, was er mollte und anſtrebte,
immerhin ein Autokrat, wie fein Beitgenoffe Friedrich II. und fo tragen bemn
manche feiner Mafregeln viel Despotifches an ſich, wie er denn von Eigen⸗
willen nicht frei war. Man wird ihn dennoch in Hinblick auf die damaligen
politifchen Zuftände, in welchen alle Formen fich übertebt hatten und faft eine
einzige mehr ein gefundes Element in fidy barg, entſchuldigen können. Man
‚kann es begreiflich finden, wie ein Mann, der fi eines guten Willens,
ner Abficht und eines überragenden Beiftes bewußt iſt, die große Macht, die
das Schickſal verliehen hat, dazu anzumenden ſich berufen findet, um mit
inem Male radicat mit dem Wufte aufzurdumen , den frühere barbarifce
Jahrhunderte angehäuft haben. Der Despotiemus eines folhen Fürflen mie
Joſeph's konnte nur die Webergangsftufe zu einer freieren felbfibewußteren
Entmwidelung bes Volkslebens fein.
Aber Joſeph mit feiner ganzen Richtung mar, wie ich oben bereits fagte,
eine Anomalie in dem Daufe Habsburg. Die Regierung feines Meffen, det
Kaifers Fran; (1792 — 1835) hatte gleich im Anfange nichts Eiligeres zu
thun, als Alles wieder auszureuten, was Joſeph angepflanzt hatte, und das
Spftem ber früheren Zahrhunderte in feiner ganzen Ausvehnung , nur viel:
leicht mit mehr Gonfequenz und mit mehr Routine wieder aufzunehmen.
Das Minifterium Thugut, welches bis in den Anfang des 19. Jahrhunderts
die Leitung ber Öffentlichen Angelegenheiten übernahm , paßte ganz vortrefflid
dazu. Es hatte richtig es dahin gebracht, das Bischen Geift, den Defter:
reich unter Tofeph eben zu entwideln begann, wiederum auszutreiben, und
in die Verwaltung, welche Joſeph ein wenig von ihren zahllofen Mißbräu:
hen und Nichtsmwürbigkeiten gefäubert hatte, von Neuem den gerrohnten
Schlendrian, Beftechlichkeit, Mittelmäßigkeit und Unfähigkeit zuruͤckzufuͤh⸗
ten. Und die Refultate? Die Kriege mit Napoleon enthüllten fie zur Genüge.
Freilich, in Frankreich war in Folge der Revolution eine Ordnung der Dinge
eingetreten, welche im directeften Widerfpruche mit dem Geiſte der habsburgi⸗
then Dynaftie ftand. Dort war eine Zeitgefommen, wonur ber Geift und das
Zalent und die Züchtigkeit emportommen konnte, wo felbft ein Dictator,, mie
Napoleon, ſich nur mit Männern umgeben zu dürfen glaubte, welche ihr
Benie zu dem Poften befähigte, den er ihnen anweiſen wollte. Aber in Defter:
reich herrfchte wieder bie verfnächerte intriguante felbftfüchtige Bureaufratie;
im Gabinete wie im Felde wurden den unfähigften Köpfen die michtigften Po:
ſten anvertraut; zeigte fich etwa einmal ein hervorragender Geift, wie der
Erzherzog Karl, fo wußte man nidhts Eiligeres zu thun, als ihn fofort von
Habsburger. | 637
feinem Poften zu entfernen ober feine Pläne und Anfchläge zu durchkreuzen.
Wie konnte man unter ſolchen Umftänden, wider einen Gegner wie Napoleon,
das Feld behaupten! In allen Kriegen, die es wider ihn unternommen, zog
das Wiener Cabinet den Kürzeren. So erfolgten bald nady einander die Fries
den von Campo Formio, von Lüneville, von Preßburg, von Wien! Damm,
nachdem die Öfterreichifche Regierung fo oft gedemüthigt worden, fügte fie ſich
in dad Ungluͤck, ruhig erbuldend, was nicht zu ändern war, durchaus an der
Möglichkeit einer Wiedererhebung verzweifelnd! Man weiß, wie Eurzfichtig
es die Lage der Dinge beurtheilte, als Napoleon in dem unglüdlichen ruffis
[chen Seldzuge zugleidy feine Armee und die Unbeftegbarkeit feiner Waffen eins
gebüßt hatte. Damals hatten die Habsburger nody Leine Ahnung von dem
großen Bottesurtheile, das über den Dictator Europas hereinbrechen follte;
feine Ahnung von dem erhabenen Auffchwung, der die Völker ergriff und wel⸗
her allein die außerordentlichen Reſultate berbeiführte. Ya, Defterreich
tadelte damals, daß bie Fürften an der Seite ihrer Völker erfchienen, mit
ihnen im Bunde, auf fie vertrauend; denn immer noch glaubte «6, bie
politifchen Verwickelungen auf dem Wege biplomatifcher Intriguen erledigen
zu innen. Wie lunge biplomatifirte «6, bar aller großen aufopfernden hel⸗
denmäßigen Gefinnung, bin und ber? Wie lange ſprach es gegen Napo⸗
leon die Sprache der Freundſchaft, unverbruͤchlicher Allianz und Anhängliche
Eeit? Und als es zulegt doch nicht anders konnte — mie läffig, lau und matt
ift es dann In den großen Völkerkrieg eingetreten? Wie wenig haben im
Grunde die Öfterreichifchen Truppen gethan? Wie hat fi) namentlicd, in dem
Feldzuge in Frankreich der Öfterreichifche Generaliffimus im Auftrag feines
Gabinets immerfort als ein Hemmſchuh aller Fühngn raſchen militärifchen
Bewegungen bewährt? Wie hat Defterreicd, durch feine befländigen Fries
densverſuche, durch feine politiſche Halbheit Alles verzögert? Und welch eine
Rolle hat es auf den zwei Parifer Frieden gefpielt, welche jenen für Deutſch⸗
land fo nachtheiligen Charakter außer durch Englands und Rußlands Bemüs
hungen vorzugsweife durch bie Slauheit und Intereffelofigkeit des habsburgi⸗
ſchen Cabinets erhalten haben! —
Nach dem Sturze Napoleon’s aber — was bot ſich der habsburgifchen
Dynaſtie noch einmal für eine glänzende Gelegenheit dar, um Alles das wieder
gut zu machen! Allenthalben rief man nad) einer Reorganifation des deuts
ſchen Reiches! Die Wiederherftellung der Kaiferwürde unter dem Banner
Defterreichs war das Erfle, was man verlangte, und nicht etwa In den vers
alteten Formen, wie fie das 18. Jahrhundert gefehen, nein! befruchtet von
dem Geifte einer neuen kräftigen Zeit, mit dem energiſch durchfahrenden
Principe der Einheit *)! Und nicht nur die Völker, nicht nur die Öffentliche
Meinung verlangte diefes, nein! faft fämmtliche deutfche Fuͤrſten baten
den Kaifer von Defterreich in einer feierlichen Adreſſe um die Wiederan⸗
*) Siehe meinen Aufſatz: „Ueber bie öffentliche Meinung in Deutfchland,
von den Freiheitskriegen bis zu ben Garlöbader Beſchluͤſſen“ im Hifkorifchen Tas
ſchenbuch von K. v. Raumer. Jahrgang 1846.
nahme dev beutfchen Raiferwürbe, weil. für eine fo große Nation, wie die
deutfche, eine, andere Berfafjungsform weder angemeſſen, noch ehrenvell
genug feil Was aber thaten die Habsburger Eee
Sieſe Dynaſtie batte Deutſchland ſchon laͤngſt den Rüden gekehrt,
Moch in dem letzten ⸗ Jahrzehent des achtzehnten Jahrhunderts wurden von
iht die deutſchen Reichsangelegenbriten nur nebenbei behandelt ; man wartete
fajt ſtuͤndlich auf das. enblicht Auseinanderfallen dieſes politiſchen Körpers,
ohne ſich die geringfte Mühe zugeben, etwas dagegen zu thun. Noch vor
der Gründung des Rheinbunds hatte Franz den Namen eins Eibkaiſers von
Defterreichh angenommen ; ein deutlicher Beweis, auf was er gefaft war« Die
Auflöfung des deutſchen Reichs machte daher nicht den mindeſt en Eindrud.
Und auch jegt, nach dem Stucze Napoleon’s, wo eine neue Ordnung der Dinge
anheben konnte und ſollte, war die Geſinnung der habsburgiſchen Dynaſtie
ruͤcſichtlich Deutſchlands Leine andere geworden. Sie begnuͤqte ſich damit,
eine europaͤiſche Macht durch ihre Erbſtaaten zu. fein, und dieſe durch Laͤn⸗
dertheilungen und Tauſchungen ‚auf das Beſte zu arrondiren z aber aus
Deutſchland etwas Großes zu machen, dieſem Volke eine ‚Zukunft zu ver⸗
Ihaffen, welche es hoffte, mad) weicher ſich Alles auf das glühemdfte fehnte,
kam ihr nicht in den Sinn! Jener Anteag der deutſchen Furften auf dem
Wiener Congreffe wurde daher einfach abgelehnt. Härte nun Deflerreich we⸗
nigfiens dafuͤr geſorgt, Daß in ber Werfaffung, welche an die Stelle des Kaifer-
thums treten. follte, mindeſtens annäberungsweife die Hoffnungen ber deut:
ſchen Nation: befriedigt worden wären! Allein aud) diefes war nicht der Kall.
Mir willen wohl, daß der öfterreihifhe Staatskanzler allerdings einige Vor:
ſchlaͤge machte, welche auf größere Einbeit und Kraft der deutfchen Conföderas
tion abzielten! Allein wir dürfen nicht vergeffen, daß die erften Vorſchlaͤge
hierzu von dem preußifchen Gabinete ausgegangen waren, und daß Defterreid)
fo zu fagen nur nachtrat! Außerdem aber wurden dieje und ähnliche Vorjchläge
von Seite der habsburgifchen Dynaſtie keineswegs mit der erforderlichen
Energie unterftügt! Es ift gewiß, daß, hätte Oeſterreich ernftlich gewollt,
Alles eine fchönere Löfung aufdem Wiener Congreſſe gefunden hätte! Denn
auf Preußen konnte man rechnen, ebenfo auf die Elzineren deutfhen Staaten.
Widerſtand leifteten eigentlic nur Baiern und Würtemberg, welche aus
Souveränetätseitelfeit fich nicht fügen wollten. Was hätten aber diefe allein
gegen das geſammte übrige Deutſchland machen Eünnen? Früher oder ipä-
ter hätten fie dody nachgeben müffen, um fo mehr, da die Beherrfcher diefer
Länder ſich ſchon nicht mehr auf ihre eigenen Völker verlaffen Eonnten! Es
ift alfo anzunehmen, daß im Grumde genommen der [chledyte Ausgang der
deutfchen Angelegenheit auf die Schultern Defterreichg zu werfen iſt — dieſes
trägt, wenn auch nicht die unmittelbare pofitive Schuld, doc) wenigfteng eine
mittelbare, die Schuld der Laͤſſiakeit.
Werfen wir nun aber einen Blid auf dieRolle, welche die habsburgifche
Politik vonnun an in dei beutfchen Angelegenheiten fpielt und fuchen wir auerft
das Wefentliche ihrer Politik im Ganzen ins Auge zu fallen: die Beziehungen
zu Deutfchland werden dann leichter zu beurtheilen fein. Wie oben fchon er⸗
wähnt: die Habsburger gingen nach der glorreichen Regierung Sofeph’3 IT. wie»
Haböburger, 09
ber zu dem alten Spfteme über, und felbft aus ven hoͤchſt Lehrreichen Jahren des
Revolutionskrieges und der Napoleonifchen Dictatur hatten fie keine Lehre ger
zogen. Im Gegentheil: das alte Regime wurde nad) Napoleon’s Sturze noch
ftraffer angezogen, mit noch mehr Gonfequenz durchgeführt. Das jedoch) ent»
ging der Regierung nicht, daß feit der franzoͤſiſchen Revolution faft über die
ganze civilifirte Welt bie liberalen Ideen gedrungen waren, welche ſich troß
der Wiederherſtellung der alten Ordnung der Dinge doch nicht mehr ganz aus
den Köpfen bringen ließen. Ja, fo lange diefelben nur irgend einen Ort oder
irgend eine Inſtitution fanden, an welche fie ſich anlehnen konnten, war
immerhin noch zu fürchten, daß fie wieder erſtarken und früher ober ſpaͤter doch
wieder die Runde um die Welt machen würden. Dieſes aber gerade follt auf
alle Weiſe verhütet werden: und das war denn die Aufgabe, welche ſich von
nun an die habeburgifche Dynaftie geſteckt, zur Unterdrüdung der liberalen
Ideen Alles beizutragen, was in ihren Kräften fland, dagegen das conſer⸗
vative, oder vielmehr das abjolutiftifche Princip fo weit wie möglich zum
herrfchenden zu machen. Zum erften Dale treten die Habsburger activ auf:
fie ergreifen die Snitiative: fie entwideln hier eine Thaͤtigkeit, wie fie viels
leicht niemals früher geübt, wenigftens nicht in diefem Maße; freilich hat
diefe Thätigkeit Beinen andern Zweck, ald einen entgegengefegten Zuſtand
herbeizuführen, den Quietismus. In der That, die Habsburger find'hierin
einzig. Wohl hat es große Staaten und Fuͤrſten gegeben und giebt es noch,
welche etwas auf die Unumfchränttheit ihres Herrſcherwillens hielten und fi)
denfelben auf keine Weife verfümmern ließen. Aber fie haben ihre Thaͤtig⸗
keit nicht blos darauf befchränkt, ſondern haben außerdem noch große Plane
verfolgt. Ein Heinrich IV., ein Ludwig XIV., ein Peter der Große, ein Alexan⸗
der, ein Nicolaus von Rußland find fammt und fonders Autokraten, aber zur
gleich Eroberer, Meiſter in der äußeren Politik, wobei fie ihre fonftige politifche
Theorie blutwenig incommobirt. Die Politik des Haufes Habsburg aber feit
dem 5.1815 geht im Ganzen umd Großen nur darauf aus, das Dogma des
abfoluten Herrſcherwillens unter den Völkern zu verbreiten! Diefer Aufgabe
ordnet fich denn auch die aͤußere Politik unter — hoͤchſt felten nimmt ſie, aber
nur momentan, eine ſelbſtſtaͤndige Stellung ein — die dußeren Beziehungen,
in welchen Defterreich activ erfcheint, find alle aus jenem Urmotive hervors
gegangen. Freilich hatte Defterreich vielleicht mehr wie jede andere europäifche
Macht ein Intereffe daran, den Geiſt des Quietismus zum berrfchenden zu
machen, benn die Zuſammenſetzung feines Staates, aus diefen heterogenen
einander faft diametral entgegenftehenden Elementen, mußte am allererftenlins
ruhen, Bewegungen befürchten Laffen, wenn in die verfchtedenen Beſtandtheile
politiſche Bildung, politifches Bewußtfein kommen follte. Deſterreich hatte
es, tie bereits erwähnt, nicht verftanden, die fremden Nationalitäten durch en
geiftige® Band, durch das Band der Civilifation und der Dankbarkeit an ſich
zu ketten; «6 konnte ſich daher nichts Gutes von baher verfehen, wenn einmal
die Völker von ber Frucht der Erkenntniß genoffen hätten! Ein anderer Staat,
bee im fich felber eine natürliche Einheit hat, hervorgebracht durch die Gleich⸗
artigkeit feiner Bewohner, durch gleiche Nationalitaͤt, Sitte und Weife,
kann fchon leichter einen Stoß aushalten, weil in ihm ſelbſt immer wieder
=
bie Bedingung feiner Zufammengehörigkeit liegt. Aber ein Staat, ber nur ein
Amalgam von verfhiedenen Volkselementen iſt, die wetter durch fein Band
als durd das eines gemeinfamen Herrſcherhauſes aneinander geknüpft find,
denen ihre Verbindung durch nichts Lieb geworden ift, durch keine freie In»
ftitutton, ducch Bein großes Nationalglüd, welche vielmehr in dem, was fie an⸗
einander feſſelt, nur — Trauer und zur Unzufriedenheit erblicken koͤn⸗
nen, ein Staat ohne alle natuͤtlichen Grundlagen zu einem wahren politiſchen
Gemeinwefen, ohne alle Freithätigkeit feiner Mitglieder, eine bloße todte Mas
ſchine, ein folher Staat kann feine großen Stoͤße vertragen, mögen fie mun
von Außen kommen oder von Innen durch die Zerfehung feiner Beſtandtheile.
Die öfterreichifche Regierung fühlte das tief. Und da fie num einmal nicht
gefonnen zu fein ſchien, in ihrem Benehmen zu den beherrfchten Völkern et»
was zu ändern, jo konnte die Politik, die ihr nun uͤbrig blieb, Feine andere fein
als bie eben angegebene. Zunaͤchſt arbeitete fie darauf hin, den gangen Kaffer»
ftaat nady allen Seiten hin hermetiſch abzufcyließen, damit das Gift potitifchee
Aufklärung ja nicht in benfelben hineinkommen könnte. Aber mern die benach⸗
barten Völker derjelben theilhaftig waren , fo war das dody nicht gamy zu ver⸗
büren. Alſo beffer, auch diefe Möglichkeit hinweggerdumt und die Sands
wuͤſte in weiten Kreifen um bie ganze Monardyie gezogen: und fo immer weiter,
bis zulegt gar feine Spur mehr übrig blieb, ;
Das Land, welches für Deflerreich am gefährlichften war, einmal wegen
ber Nähe, dann wegen Gemeinſamkeit der Abftammung und Geſchichte, war
Deutſchland. Ein Hauptaugenmerk der Habsburger war daber barauf geridh:
tet, bie freie politifcdye Entwidelung in unferem Baterlande zu hemmen. Sie
wandten daher ben Einfluß auf die deutfchen Angelegenheiten, den fie immer;
hin noch ineinem hohen Grade befaßen, in diefem Sinne an, und was fie hier
geleiftet haben, beftätigt zur Genüge die Wahrheit unferer obigen Behauptung,
daß fie nämlich, wenn fie nur gewollt, auch in anderem patriotifhen Sinne
hätten wirken Finnen. Bekanntlich waren ung alle Inftitutionen verbeißen,
die zu dem Gedeihen eines mahrhuften Volkslebens unentbehrlich find: Ver⸗
faffungen, Preßfreiheit, Gemeinfamkeit des Verkehrs u. ſ. w. Ja, einige
der minder mädhtigen Staaten, wie Naffau, Sadjfen- Weimar, Baiern,
Baden, Würtemberg, hatten ſchon Hand angelegt, dem Beifte der Zeit, den
Bedürfniffen der Nation folgend, neue Entwidelungen anzubahnen; in die:
fen Staaten wurden Verfaffungen gegeben, die, wie Manches audy an ihnen
noch zu wünfchen fein mochte, doc) wenigſtens den Anfang einer neuen Aera
verbießen, auch ſchien die große Erregtheit der deutfchen Nation, welche ſich
noch von den Zeiten der Freiheitskriege erhalten, dafür zu bürgen, daß fie rafts
108 jenes Ziel verfolge, was ald dad allgemeine Biel des großen Freiheits:
kampfes betrachtet ward, freie Entwidelung der Nationalität. Was war «6
nun für eine Politik, welche zunaͤchſt den König eines großen deutfhen Volks:
ftammes, Friedrich Wilhelm III. von Preußen, beftimmte, von der Bahn eines
freien deutfhen Volksthums, die er zuerſt eingefchlagen, abzumeidhen und in
die entgegengefeßte einzulenken; welche an Allem, was im Sinne des Fort⸗
fchritts in Deutfchland geſchah, mälelte, zerrte und riß und namentlich über
die deutfche liberale Prefie Sodom und Gomorrah ſchrie; welche fi) bemühte,
Habsburger. 641
überall, wo ein ſchoͤner Bund zwiſchen Volk und Regierung beftand, wie z. B.
in Weimar denſelben aufzuloͤſen und gegenſeitige Feindſeligkeit an bie Stelle
beffelben zu fegen ; melde das Schreckbild einer furchtbaren weitverzweigten
deutſchen Verſchwoͤrung erfand, um bie beutfchen Regierungen damit zu über:
tumpeln und zu vermögen, in großartigen Style auf Ihre Reactionsvorfchläge
einzugehen ?: Wir Eennen jest hinlänglich die Geſchichte ber Karlsbader
Beſchluͤſſe. Wir wiffen, welcher Aufwand von Entſtellungen, Unwahr⸗
heiten, ja offenbaren Lügen gemacht werden mußte, um zum Zwecke zu ges
langen*). Aber bie Urheber erreichten eben doch, was fie wollten. Sie
unterbanden auch in Deutfchland den Nerv eines frifchen, freien Volkslebens;
fie legten auch hier den Hemmſchuh der Reaction an und bewirkten durch Ihre
raſtloſe Thätigkeit , daß wirklich von den großen Hoffnungen, mit denen fih
das deutfche Volk getragen, keine in Erfüllung ging.
Noch ein anderes Volk, deffen Geſchichte mit ber unfrigen viele Aehnlich⸗
keit hat, das ttalienifche, erhob ſich mit den anderen gegen bie Gewaltherr⸗
ſchaft Napoleon’6; auch dieſes wurde mit ben Berfprechungen einer ſchoͤnen
großen Zukunft getäufcht ; nur in der Ausficht auf die Einheit Italiens, auf die
MWiedererneuerung eines freien Staatslebens hatten die Patrioten die Waffen
für die alten Dynaftien ergeiffen. Aber die Habsburger wollten ja bie Lom⸗
bardei, wie konnten fie die Einheit Italiens gutheißen! Sie wollten ferner
bie Lombarben ebenfo behandeln wie ihre Übrigen Unterthanen ; wie konnten
fie freie politifche Inſtitutionen dulden! Alſo vorerft jeden Verſuch zur Eins
beit Italiens unmöglich gemacht ; die Habsburger brachten es dahin, daß
die Italienifchen Staaten nicht einmal zu einem Stantenbunde zuſammen⸗
traten , wie die Deutfchen: deſto entſchiedener konnte das Uebergewicht Oeſter⸗
reichs fi ch geltend machen. Und diefe® wurde insbeſondere durch bie Unter
ftägung erreicht, welche Defterreich willig den italleniſchen Regierungen ans
gebeihen ließ, in ihren Beftrebungen, das alte Regime in ber ganzen Verwerf⸗
lichkeit früherer Zeiten wieder einzuführen. In der That, das war noth-
wendig. Denn an fic waren bie italtenifchen Regierungen nicht ftark genug,
um dem Unmwillm bes Volkes Stand halten zu können, nur buch die Waf⸗
fengewalt einer fo impofanten Macht, wie bie Öfterreichifäe ‚ tonnte ihnen
gelingen, ſich zu behaupten.
Aber was wider die Natur ift, kann ſich auf die Dauer nicht Halten.
Die Reftaurationen nad) dem Sturze Napoleon's, welche nicht ſchnell genug
alles Verwerfliche ber vergangenen Zeiten wieber einführen tonnten, übereilten
fi einigermaßen ; die Völker griffen zu den Waffen ; es erhoben fi 1820
die Spanier, die Portugiefen, die Neapolitaner, die Piemontefen , die Stier
chen; felbft in Deutfchland brachen Unruhen aus, und fogar unter den regte
senden Häuptern ftellte ſich nachgerade die Uebergeugung feft, daB man
furchtbar getäufcht worden fel, und daß man im Begriff ſtehe, durch die
Nachgiebigkeit gegen gewiſſe Einflüfterungen das ganze Vertrauen der Voͤlker,
bie ganze Öffentliche Meinung zu verlieren. Daher der Verſuch im dem
*) Berg: „Wichtige Urkunden — den Rechtszuſtand ber deutſchen Nation.“
Sezaußgegeben von ©. Welcker. Mannheim, Baflermann. 2%. Auflage. 1845.
Suppi. 3. Gtaatsier. II. al
642 Habsburger.
zwanziger Jahre bei — a —
——————— Dr Shan
Es war bamals für Defterreich —S Zeitpunkt, und leicht hatu
A in andere Wendung nıhmen können. Aber das Gl, weiches fo.oft
burger begünftigt, unterflügte ſie auch biefes Mal. Es gelang in Ber
mit den übrigen abfoluten Mächten, die ganze Bewegung zu unter
** zuerſt die italienifche im Jahre 1821, wodei die Oeſterreicher mie
er, die Hauptrolle fpielten, dann die fpanifche im Jahte 1823 durch bie
ofen, welcher dann die entichieden durchgreifende Meaction in Deuiſch⸗
| land folgte. Der Schlauheit öfterreichifher Politik gelang «6, die ganze. ge
waltige Oppofition des minder mächtigen deutſchen Fuͤrſtenthums, welche ſich
ondere am beutfchen Bundsstage zeigte, aufzuloͤſen und jene befanntı
un de8 Bundestags eintreten zu laffen,
+... Die Bewegungen in Folge der Julivevolution, welche vielleicht noch ge:
icher waren als die nad) den Freiheltßfriegen, wurden von ben Habsbur
gern auf diefelbe Weife behandelt und auch befeitigt. Sie erfchienen zus
in. Stalin, wo ſich der Drang nad) politifcher Freiheit dies mal wie
—— hatte, in Modena wie im Kirchenſtaate (1831), als bie
ah politifchen Stocdmeifter und halfen den dortigen Regierungen ihre
an den empoͤrten Unterthanen ausüben. Sie gabenfihdann alle Muͤhe,
rend welche nicht minder politifch erregt waren und denen es beraiıs
gelungen war, ihre Fuͤrſten zu Eonceffionen zu bewegen, wieder in das ge
55 Gleis politiſcher Bevormundung zuruͤckzufuͤhren. Es erfolgten die
ndesgeſetze von 1832 und bie rn Miener Conferenzbefchläffe vom
Sabre 1834; es trat wieder eine Zeit politifcher Debe und Traurigkeit in un
ferem VBaterlande ein, welche der von 1824 — 1830 nichts nachgab.
Und wie haben fich denn die Habsburger zu der anderen Aufgabe ver:
halten, die wir oben ebenfalls als die ihre bezeichnet, nämlih für Deutfd:
land gleichſam die Vorhut gegen den Often zu fein? Anfangs allerdings ſchei⸗
nen fie ıhre Stellung richtig beurtheilt zu haben. Auf dem Wiener Congrefie
widerfeßten fie fi mit vieler Energie dem Streben Rußlands, durch die
Befisnahme des Herzogthums Warfchau fich des größten Theiles von Polen
zu bemädhtigen und dadurch ſich immer weiter gegen den Weften vorzu
fhieben. Wir mwiffen, daß dazumal ein Bund zwifchen Oeſterreich, Eng⸗
land und Frankreich zu Stande gekommen ift, welcher unter Anderem zum
Zwecke hatte, diefe ruififhen Vergrößerungsplane zu zerflören. Die unver
muthete Wiederkunft Mapoleon’s loͤſte nun freilich diefen Sonderbund auf,
und Rußland wußte fich doch im Befige des größten Theile von dem, was es
wollte, zu behaupten. Die Eiferfuhht Defterreiche gegen Rußland hörte aber
nicht auf, und fie zeigte ſich namentlich bei der Infurrection der Griechen.
Die Unermüdlichkeit, mit welcher Defterreichh damals gegen die Griechen
agierte, namentlidy gegen ihre Unterftügung von Seiten der Großmaͤchte, hatte
allerdings aud) ihren Grund in dem Widerwillen der Habsburger gegen jede
Sceiheitsaußerung — fie warfen den Unabhängigkeitsfampf der Griechen in
Eine Kategorie mit den revolutionären Verſuchen in den anderen europdifchen
Ländern — aber es war dies nicht der einzige; zugleich nämlic, hatten fie das
Habsburger. 648
Uebergewicht Rußlands über die Pforte int Auge, weiches nach ihrer Be⸗
rechnung erfo:gen mußte, fo wie die Griechen reuſſirten, insbeſondere aber,
wenn fie durch die Ruffen unterflügt würden. Die Öfterreichifche Politik
tannte recht gut das Project der Ruſſen, ſich über kurz oder lang in die Erb⸗
fhaft der Türkei au fogen,, und gab ſich dann, da eine ſolche Vergrößerung
des Nachbarreiches ihr durchaus nicht genehm fein konnte, alle Mühe, baffelbe
zu verhindern. Es war freilich eine armfelige Politik, auf Koften ber armen
Griechen das erreichen au wollen, und es hat ſich bald herausgeſtellt, daß alle
SIntriguen, welche Defterreich ahwundte, um die Dellenen wieder in bie Feſſeln
des Halbmonds zu werfen, zu nichts führten, vielmehr wurde die Unab⸗
haͤngigkeit derfelben von Seite der Großmaͤchte anerfannt. Deſterreich bes
barrte jedoch, und mit Recht, bei feiner eiferfüchtigen Haltung gegen Ruß⸗
Land und hatte bald noch mehr Gruͤnde dazu als bisher. Die Ruffen hatten
es nämlich durch ihre Schlaubeit dazu gebracht, daß zwifchen ihnen unb
der Pforte im Fahre 1828 ein Krieg ausbrach, der von ber suropäifchen
Diplomatie nicht mehr gehindert werben konnte. Nichts hatte man aber mehr
gefürchtet als gerade diefes, weil man glaubte, daß die Pforte dann rettunges
los verloren fei und Rußland ale Sieger ſich nur mit dem Beſten begnügen
werde. Nichts fchien.unter foldyen Umftänden retten zu koͤnnen als ein Bund
der anderen vier Großmächte gegen die ruffifdyen Eroberungsentwürfe.
Defterreich unternahm #8, einen ſolchen Bund zu Stande zu bringm. Es
ift dies die großartigfte That, welche in der neueſten Zeit von der habe:
burgifchen Politik ausgegangen iſt, und wir find geneigt, fie von ganzem
Herzen anzuerkennen. Nur freilich fragte es fi, ob die habsburgiſche
Diplomatie diefeibe Meifterfchaft, welche fie gezeigt, als «6 fih darum
banbelte, die europdifchen Regierungen gegen die Volksbewegungen zu vers
einen, auch jegt nıwideln werde, als ein Bund gegen den gefährlichfien
Feind der Unabhängigkeit der eutopaͤiſchen Staaten zu Stande gebracht wer⸗
den follte. Und da müffen wir geflehen: die Habeburgifche Diplomatie wurde
von der moskowitiſchen weitaus uͤberfluͤgelt. Jene konnte höchftens Eng⸗
land auf ihre Seite ziehen, während dieſe Frankreich und Preußen für fich
gewonnen hatte, und zwar in einem foldyen Grade, daß fich diefe beiden
Mächte in einen Bund mit Rußland gegen die beiden andern einzulaſſen ges
neigt waren. Deſterreich fürchtete aber einen allgemeinen Krieg , befonders
wegen der inneren Politik; es gab alfo nach; fo Fam ber Friede von Adria⸗
nopel 1829 zu Stante, durch welchen das Uebergewicht Rußlands in den
orientalifchen Angelegenheiten fo ziemlich entfchieden warb.
Es folite ſich aber bald eine faft noch beffere Gelegenheit zeigen, um Ruß⸗
land zu ſchaden, nämlich die Revolution ber Polen im Jahre 1830, 1831.
Auch bier fcheinen bie Habsburger anfangs den rechten Geſichtspunkt gehabt
zu haben. Es ift befannt, daß fich die Öfterreichifche Negierung zuerſt freund⸗
ſchaftlich zur polnifchen Inſurrection verhielt, daß fie derfelben verflattete, auf
ihrem Gebiete bie nöchigen Aufläufe zu machen, ja daß fie ben Polsm ihre Uns
terſtuͤzung verhisß, wenn fie nur verfprechen wollten, keine republikanifche
Verfoffung einzuführen. Unbegreiflicher Weife jedoch änderte ſich auf einmal
das Verhalten der oͤſterreichiſchen Regierung: fie trat nun plöglich feindfellg
41*
644 Habsburger,
gegen bie Inſurreetlon auf, und dieſer Wechfel der Geſinnung hat nicht ſein
Be Theil zu dem Umſchwung der Dinge in Polen beigetragen. Wenn
Mi bedenkt, wie große Erfolge bereits die Dolen errungen hatten ‚ mie
ſchwach dagegen die militaͤriſche Bedeutung ber Ruffen ſich berausftellte, fe
mußte jeder unbefangene Beobachter zur Ueberzeugung gelangen, daß bie Po:
fen, wenn fie noch dazu einen Ruͤckhalt an einer fo grofen Macht wie Oeſter⸗
eeich gehabt, zweifelsohne reuffirt haben würden, und Defterreich hätte gerade
hier die eclatantefte Genugthuung für alte Niederlagen erhalten , welche u
gegen die ruffifche Politik bisher erlitten. Um fo ambegreiflicher, wie gefagt,
war bie plögliche Wendung In der habsburgifchen Politik. Man: fudyte ſich
biefe Thatſache bald durch Allerlei au eeäten; wo bie Beſtechung denn
auch ihre Rolle fpielte. in
Aber vorm biefer Zeit an Ändert fich überhaupt * habsburgiſche MPolitit
iht em oͤſtlichen Nachbar gegenuͤber. Sie ſcheint die ganze Vergangenheit ver:
ſſen zw haben, fo groß iſt der Wechſel, welcher in ihrer Haltung vitttrat.
ee dehnten ihren Einfluß immer weiter aus, insbefonbere im den
Donaufiteftenthümern; Moldau und Walachei fanden faft ganz unter ihrer
Bormäßigkeit; in Serbiem hatten fie die Karten fo gemifcht, nen
ber dortigen Wirren kaum ohne fie zu Stande gebracht werden zu koͤnnen
ſchien; in Bosnien und in Montenegro hatten fie ihre Anhänger‘, fafeiber
in den öfterreichifchen Rändern hatten fie ihre flnvifchen Propagandiften ver:
gefhoben. "Aber die Habsburger verhielten ſich ruhig zu all dieſen Machine
Anm, fie thaten nichts, um dem ruffifchen Einfluß nur einigermaßen die
Mage zu haften, ja ſie benutzten nicht einmal Verhaͤltniſſe, die ihnen fo zu
fagen auf dem Präfentirtellee entgegengetragen wurden, wie z. B. die fer:
bifchen ; wie gern hätten fich die Serben ſchon unter Czerny Georg an Defter:
veich angefchloffen! und weldy mächtigen Anhalt hätten die Habsburger da:
duch für ihren Einfluß in den orientalifchen Angelegenheiten erlangt! Aber
fie verbielten fi durchaus paffiv! Thaten fie ja nicht einmal etwas, um bie
Verfandung der Donaumündungen aufzuhalten, welche die Ruffen abficht:
lich einreißen ließen! Man Fann fich diefe gänzliche Unthätigkeit gegenüber
der angeftrengteften Rührigkeit der Nuffen leicht erklären. Die Habsburger
fürdyten nichts mehr al8 einen allgemeinen Krieg, in der That mit Redıt,
weil ihre Staatsverhältniffe einem ſolchen nicht mehr gewadjien find. Aber
anftatt mit Kraft und Energie den faulen led in denielben hinmwegzurdumen
und neue Schöpfungen hervorzurufen, welche fähig wären, drohenden Stür:
men zu begegnen, begnügen fie ſich mit Palliativmitteln und mit Friedens:
gefinnungen, welche hier natürlich nur mit Schwäche gleichbedeutend fein
£önnen. Sie glauben, auch hier helfe ihnen ihre gewohnte Taktik, die Dinge
geben zu laffen, wie fie gingen, und nicht unnöthiger Meife die Snitiative
‚ zu ergreifen, welche zulegt zu verderblichen Entwidlungen führen könnte.
Und wozu hat denn aber die Politif der Habsburger geführt ? Faſſen
wir einmal die Refultate ind Auge! Allerdings, in Deutfchland ift es ihnen
gelungen, die politifche Entwicklung aufzuhalten, aber nur die äußere, nur
die Entwicklung der politifcdyen Formen, keineswegs die innere, die Entwick⸗
lung der Geifter, diefe ift vielmehr in demfelben Maße geftiegen,, als die
Haböburger. . 645
Reaction ſich breit gemacht hat, umb die Daltlofigkeit der jegigen politifchen
Zuftände von Deutfchland.ift niemals fo fehr die Weberzeugung der öffentlichen
Meinung gewefen wie in der Gegenwart, niemals war fie ſich aber auch fo
klar über die Rolle, welche Oeſterreich bezüglich unferer Zuftände gefpielt,
ale jetzt. — Und ift e8 den Habshurgern etwa gelungen, „das Gift‘ der
politifchen Aufklärung von ihren eigenen Völkern abzuhalten, dadurch, daß
fie den politifchen Zod ihrer Nachbarvoͤlker intendirt € Keineswegs. Mäch-
tiger denn je haben fıch in den legten Jahren die Nationalitäten ber eins
zelnen Deſterreich unterworfenen Völker erhoben; energifcher denn je regt
ſich in ihnen der Drang nad politifcher Selbftftändigkeit. Selber in den
deutſchen Provinzen fängt num eine Oppofition ſich zu geftalten an, welche
mit jedem Momente an Breite und Tiefe gewinnt, deren Bedeutung ſchon
aus dem einzigen Umflande zu erkennen ift, daß die gefammte deutfche liberale
Literatur dost gerade ihren größten Abfag findet, trog aller Polizei, trop allec
Geifteefperre! Und die Staven, die Ungarn, die Staliener? Iſt es den
Habsburgern etwa gelungen, bie italienifche Nationalität aufzulöfen? Iſt
nicht vielmehr der Haß gegen fie zum Nationalcharakter der Italiener ge
worden? Unb fireben nicht die Ungarn mit jedem Jahre nach einer weiteren
Entwidlung ihrer nationalen und politifchen Inſtitutionen? Wie aber die
Slaven gegen die Regierung geſinnt find, bat man bei den Vorgängen in
Salizien gefehen. Diefe Erxeigniffe enthüllen beffer wie alles Andere die
Bodenlofigkeit der habsburgifchen Politit. Die Zuflände in diefem Lande
waren gräßlich, namentlich die niederen Menfchenclaffen befanden fich in den
traurigften Verhältniffen. Sie waren der Regierung nicht unbelannt. Hat
fie aber freiwillig irgend etwas gethan, um fie zu mildern? Nein! dem
felbft die vortrefflihen Einrichtungen, welche Joſeph II.. getroffen, bat bie
jegige Regierung allmälig wieder In Verfall gerathen laffen. Es war ihr nicht
darum zu thun, überhaupt das Loos des Volkes zu verbeflern, das ihr gleich»
gültig iſt. Sie glaubte ſich auf die Treue des Adels verlaffen zu können,
dem fie den gemeinen Dann geopfert; was brauchte fie mehr ? Sie ließ alfo
die Dinge geben, mie fie gingen. Nun aber erfolgte die Stevolution vom
vorigen Jahre. Diefe zeigte denn zur Genüge, wie unterhöhlt der Boden
war. Es mar gerade der von ihr begünftigte Adel, welcher ſich an bie Spitze
derfelben ſtellte. Er hätte, wie verfichert wird, auch den gemeinm Mann
mit ſich fortgeriffen, dem Erleichterung feines Loofes verfprochen werden
foute. AU diefe vielfach gerühmte Politik der Habsburger hat es doch nicht
dahin gebracht, dag man eine Empdrung mit den gewöhnlichen ordnungs⸗
mäßigen Mitteln dämpfen konnte. Nein! Dan mußte zu den Schredniffen
der aufgeregteften Zeiten greifen. Und was thut die Regierung weiter? Sie
verfpricht Linderung bes Loofes der Bauern, Ablöfung der Frohnden und
Zehnten, kurz Abſtellung von Mißbräuchen, die noch aus dem Mittelalter
ſtammen, über melche bie neuere Zeit laͤngſt den Stab gebrochen, welche jedoch
die conjervative Politif der Habsburger fortwährend wie Schooßkinder gepflegt
hat, deren Beibehaltung fie zur Niederhaltung der Volksentwicklung für noth⸗
wendig erachtete. Alſo nun muß fie dergleichen doch verfprechen ? Und noch
dazu gezwungen durch eiferne Nothwendigkeit? Muß endlich body baran
646 Hambacher Feſt.
gehen, Ähnliche Mißſtaͤnde In der geſammten Monarchie aufzuheben ? Alf
fie muß? Alſo es ift ihe mit allen den ungehruern Mitteln, die fie aufg:
wendet, doch nicht gelungen, fich den Forderungen der Zeit zu entziehen?
aber urtheilt man ? Abgebrungene , abgetrogte, erprefite Gonceffionen haben
nie die Wirkung, welche bei rechter Zeit gewährte haben können. Sie
‚beurfunden vielmehr die Schwäche der Regierung, mährend bie legterm
von dem Wohlmollen derfelben zeugen. 8. Dagen.
Hambacher Fef.— Blutige Ereignifie am Jahrestage
deffelben zu Hambad und Neuftadt an der Haardt. — Dir
Landauer Affiffe!), 1. Die frangöfifche Julirevolution brachte in
Rheinbalern einen befonders lebhaften Widerhall hervor, Bu den allge
meinen Befchwerben der gefammten deutfchen Nation über Unterbrüdung der
Prefie, Abſchließung durch Mauthen, Nichtverwirklichung des Mepräfente:
tlvprincips im Geiſt⸗ und in der Wahrheit — kamen hier noch viele beſondere
Klagen, zum Theil von bedeutender Schwere; fo namentlih: Beizichung
des Landes zur Tragung der baierifchen Staatsſchuld, während dafjelbe fein:
eigenen Schulden als Gemeindefhulden allein tragen mußte; Abgabemüber
bürbung ; Hinweghlehen geoßer Geldfummen aus dem Lande?) ; ungünftig
Liquidation der Forderungen rheinbaterifcher Bürger an Frankreich, vorge
nommen durch die baleriſche Regierung ?); Wiedererrichtung von Kloͤſtem
1) Der wichtigfte Theil unferer beutfchen Gefchichte in den letzten deri
fig Jahren ift das Streben nad) politifher Freiheit umd die Reaction bagesın
In biefem Kampfe fpielen eine ſehr bedeutende Rolle an fich traurige — virl:
leicht, wenn fie, wie zu fürchten ftebt, fich erneuern, böchft gefährliche Kämpft
bes Militärs gegen bie Bürger in vielen Städten zur angeblichen ober wirt:
lichen Wieberberftellung geftörter Ruhe. Es ift politifch michtig und Tehrreid,
folhe in ihren Urfacdhen wie in ibren Wirkungen böhft bedeutende &:
fheinungen zur Belehrung und Warnung in leidenfchaftslofer Wahrheit, mi
fie vorzüglich der Ablauf einer längeren Zeit nach ihrem Gintritt möglich macht,
vor ben Richterftubl der öffentlichen Meinung der Nation zu ſtellen. Deshalb
hielten wir cs für Pflicht, diefer Darftcllung eines hochgeachteten Mannes, di
uns von den anerlannteften Männern der Provinz beftätigt wurde, die Aufnahm:
nicht zu verfagen, und werden es in Beziehung auf die Vorgänge in mebreren
anderen Städten, wie Leipzig, Köln u. f. mw. ebenio halten. Soli
trog unferer Sorgfalt dennody irgend in einem Punkte cin Irrthum unter:
laufen fein, fo wird eine Berichtigung uns felbft willkommen und den Berheilig:
ten die DVeranlaffung dazu vortheilhaft fein, da die hier mitgetheilten Erzählun:
gen in ber Provinz verbreitet find und allgemein geglaubt werben.
Anm. der Redact.
23) Nach der Angabe des damaligen Directore ber rheinbaierifchen Finanz:
fammer Frhrn. v. Seutter, in feinem Werke über „Befteuerung der Völker
wurden von 1816 bis 1827 über zwanzig Millionen Gulden aus Rheir:
batern nach dem Mutterlanbe hinübergegogen.
3) Als das Land mit Deutfchland wieder vereinigt wurde, hatten fehr viel
Bewohner, Gemeinden u. ſ. f. noch Geldforderungen an Frankreich. Die baic:
tifhe Kegierung nahm dic Unterhandlungen an fich und fihloß unterm 25. Apr.
1818 einen Vertrag mit der franzöfifchen Regierung ab, nach welchem die legte,
zur Zilgung jener Forderungen, 500,000 res. Renten in Anferiptionen in das
große Buch (ein Sapital von 10 Millionen repräfentirend) mit Genuß (Zinfen)
vom 22. März 1818 an, an Baiern abtrat, unter Anderem mit der ausdrüd:
Hambacher Fefk 647
und überhaupt Bekaͤmpfung einer freieren geiftigen Richtung ; dabei Zuruͤck⸗
fegung der Rheinbaiern bei Anftelungen im Eivils und Militärbienfte des
Staarst)u.f.f. Diefe und eine Reihe anderer Regierungsanordnungen
ftetgerten die Aufregung und Exbitterung in einem hohen Grade; fo naments
lich die verfuchte (durch die Unabhängigkeit der Gerichte vereitelte) Verſetzung
des Landeommiffäre Siebenpfeiffer als Zuchthausvermalter; die Untere
drädung ber Zeitfchriften: „Deutſche Zribäne” von Dr. Wirth und „Werft:
bote”’ von Dr. Sirbenpfeiffer (dabei insbefonbere die ungeſchickt verfuchte
Rechtfertigung des Verſiegelns der Druderpreflen mit dem Srundfage: die
Polizei dürfe auch die Backoͤfen verfiegeln!) Die fpätern Veränderungen
im Perfonalftande der Gerichte und ber Verwaltung, VBerfegung oder Penflo»
nirung freifinniger Männer, Anftelung von Leuten, wie des Kammer⸗
herren von Böhnen, der, kaum zum Friedensrichter ernannt, durch ein Ur»
theil des Appeuhofs wegen Betrugs im Spiele zur Zuchthausftrafe verur-
theilt werden mußte; willtürliche Verhaftung und Austreibung fogenannter
„Ausländer, d.h. anderer Deutfcher, aus dem Kreiſe; unverfennbares Ders
vortreten von Spionerien und Denunciationenz; Einlegen von Gensd'armen
in Die Wohnung eines Bürgers , felbft bei Nachtzeit, u. dgl. mehr.
Es laͤßt fih denken, mie alle diefe und noch manche andere Vorkomm⸗
niffe auf bie Volksſtimmung wirken mußten. Dennoch verdankte das hieran
fi) reibende Hambacher Feſt, fo wie es ftattfand, eigentlich mur einem
Zufalle feine Entſtehung.
Einer oder der andere der Gaſtwirthe von Neuftabt an der Haarbt
wollte eine größere Luftbarkeit veranftalten, unverkennbar zumaͤchſt nur in
feinem pecuniären Intereſſe. Um die Sache lockender zu machen, follte
diefelbe am Jahrestage ber balerifchen Conſtitutionsverkuͤndigung, 26. Mat
1832, ftattfinden, und zwar auf der (von Neuſtadt nur eine Stunde Weges
entfernten) Hambadyer Burgruine, nach welcher Die Bewohner von Neuſtadt
und ber Umgegend ohnehin von jeher haͤufiz Ausflüge machten. "Die ano»
nym veröffentlichte Aufforderung wurde von einem Manne abgefoßt, ber
lichen Bebingung, daß „am Ende eines jeden Monats benjenigen Individuen, des
ven Forderungen liquidirt fein würden, bie betreffenden Inferiptionen im Dris
ginale ausgehändigt werben follten.” (Art. 8.) Dies gefchab aber nit. Wan
liquidirte zu München über 10 Jahre lang und gab dann den Bläubigern im
Jahre 1825 — 40 Procent ihres anerfannten Buthabens, das ift nicht einmal voll:
ftändig die verfallenen Zinfen, und gar nichts vom Kapital! (©. die
Drudicrift: „Worftellung an die hohen Stände des Reichs von Seiten ber Abs
„geordneten Culmann, Wilih, Klein, Schuls, Heidenreich, Fitting, Schicken⸗
„dang und Foliot, die Forberungen baierifcher Otaatsangepbriger an Frank⸗
„ceih, und die unter biefelben in Gefolge der Verordnung vom 7. Apr. 1828
bertheilte Summe betr. München, 1831, gedrudt bei Dr. Wolf.”
) Des Krei⸗landrath bat dieſen Beſchwerdepunkt wiederholt hervorgeho⸗
ben, unter Anderem im Jahre 1832 unter Angabe des folgenden factiſchen
Berhältniffes: „Der Rheinkreis zähle jezt 115 Givilbeamte aus dem jen⸗
feitigen Staatsgebiete, welche nicht weniger als 13,000 fi. Gehalt begögen,
wägeen von den diefleitigen Staatsbuͤrgern hoͤchſtens 5 in den älteren Kreifen
ommen gefunden hatten. *" Und nody ſchlimmer ſteht es bei dem Militär. —
648 Gambacher gef,
ſich nicht bes beften Rufes erfreute und namentlich eines gemeinen Vergehens
wegen früher als Beamterrcaffirt morben,mar.
Siebenpfeiffer, der damals in Haardt bei Neuſtadt wohnte, war unge
em darüber, daß hier ein Sonftitutionsfeft auftauchen follte, wäh
send er die baierifche Verfaſſung als ein Hinberniß bes Kortfchritts , dar⸗
um als fchädlich und verwerflich betrachtete; auch erbitterte e8 ihn, baf
etwas Derartiges ohne ihn geſchehen folle. Darum verfaßte er einen Auf:
euf zur Abhaltung eines anbern Feſtes, das zwar am naͤmlichen Ort
(als dem geeignetften Plage) , aber am 27. Mai und den nichftfolgenden Zu
gen fkattfinden und „nicht dem Errungenen, ſondern dem zu g
gelte , nicht bem ruhmvollen Sieg, fondern. dem mannbaften Kampfe, bem
Kampfe für Abfhüttelung innerer und äußerer Gewalt, für Erftrebung gefeg
licher Freiheit und deutſcher Nationalwuͤrde.“
Der Regierung verurfachte fchon die erfte Ankündigung ziemlichen
Schrecken. Aber auf die zweite ‚hin glaubte fie entſchieden einfchreiten zu
müffen. Der damalige Öeneralcommiffär im Rheinkreife, Srhr.v. Anbrien:
Werburg, erließ ſonach ein Publicandum, in welchem das beabfichtigte Feſt
als unerlaubt erklaͤrt, und beigefügt murbe: „bie Partei der Uebelge
finnten firebe unter einer fcheinbaren Legalität nah Aufldfung der befte
benden Ordnung.” Das fragliche Feſt wurde als „febitiöfer Tumult und Zu
fammenzottung” qualificirt, die gewaltfame Ausrinandertreibung ber Ber
ſammlung angeordnet, und überdies verfüat, daß vom 26. bis 28. Mai fo
wohl in Neuftabt als in ben benahbarten Orten Winzingen, Ober:, Mittel:
und Unterhbambadh ‚allen Frembden, b.b. allen nicht dort domicilirten ober in
Dienften jtehenden Derfonen ein Zutritt oder Aufenthalt nicht geftatter far”;
die Polizeiflunde warb für jene Zage auf 8 Uhr feitgefegt ; der Zufammenttitt
von mehr ald 5 Perfonen unterfagt u. ſ. w. u. f. mw.
Eine folche Blokadeerklaͤrung ganzer Gemeinden inmitten des Frie⸗
dens, von der man, fo lange die bermalige Geſetzgebung befteht, Fein aͤhn⸗
liches Beifpiel hat, ermangelte nicht, die Erbitterung ungemein zu vergee:
fern. Es regnete Proteftationen, worunter eine vom Neuftädter Stadtrathe
felbft,, andere, mit Taufenden von Unterfchriften, Famen aus allen Theile
des Kreiſes. Die Staatsregierung erkannte, daß die angeorbneten Maß⸗
regeln nicht durchzuführen feien: fie desavouirte ihren Generalcommilfär
öffentlich (durdy Bekanntmachung ihres Refcripts an denfelben). v. Andrian
mußte das erlaffene Verbot wenigftens bedingt zuruͤcknehmen, für Die
jenigen naͤmlich, weldye ein „Conſtitutionsfeſt“ feiern wollten. Es genügte
Solches nicht mehr. Der eben zufammenberufene Landrath begann feine
Sigungen damit, eine Beſchwerde durch Eftafette an den König zu fenden.
Unmittelbar nad) diefer Abfendung erklärte der Generalcommiſſaͤr das Verbot
des Feſtes unbedingt aufgehoben.
Es war dies der legte Sieg, deffen fich der Liberalismus in den 1830er
Fahren in Rheinbaiern erfreute.
Das Hambacher Feft fand flatt. Derdem Haupthöhenzuge der Haardt
etwas voranftehende Berg, auf welchem ſich die Ruine des Hambacher Schlof:
ſes befindet, mar mit 10 bie 15,000 Menfchen bededt. Die meiften Mit-
Hambacher Zeil. 649
glieder des Kreislandraths hatten fich eingefunden. Auch Boͤrne war aus
Paris gelommen. Viele Reben wurden gehalten — bie meiften ohne eini=
gen Werth, alle ohne praktifche Bedeutung. Es waren meiſtens allge
meine Phrafen gegen Unterdruͤckung durch die Sürften ; nicht ein Vorſchlag,
was dagegen zu thun fei. Die Worte der Sprecher verhallten in ben Luͤf⸗
ten ; die wenigſten der Anweſenden konnten Senen nahe genug kommen, um
fie aud) nur verſtaͤndlich zu hören. Außer Wirth und Siebenpfeiffer fprachen
ohnehin nur ganz unbedeutinde Perfonen. Bon den eigentlihen Korpphäen
des Liberalismus trat, außer etwa den beiden genannten Männern, nicht
Einer auf. Im Ganzen herrfchte auch nicht eine leitende Idee. Planlos
ward bin und her gefprochen und declamirt. Niemand fland an der Spige,
der die Verhaͤltniſſe und die Aufgabe der Zeit wirklich klar begriffen Hätte —
Wie dem fei: friedlih und ruhig ging des Abende das verfammelte Volk
aus einander, unter den Dauptleitern des Feſtes aber war ber Same der
Zwietracht aufgegangen. Dr. Wirth hatte in feiner Rede entfchiebenen
Franzoſenhaß gepredigt und — das Comite des Preßvereind angegriffen, an
defien Spige fich der Abgeordnete Advocat Schüler befand. Die Ber:
bandlungen, welche am naͤchſtfolgenden Tage unter den hervorragendſten
Betheiligten im Schießhaufe zu Neuftadt ſtattfanden, vergrößerten ungemein
die Spaltung. —
Bu dem Hambacher Feſte mar man von allen Seiten herzugeſtroͤmt,
ohne daß nur Einer ſich zuvor Elar gemacht hätte, was und auf welchem
Mege etwas erfirebt werden koͤnne. Die Einen waren gelommen, um
ſich veben zu hören, die Andern wollten vorerfi nur hören und dann nad)
Umftänden abs und zugehen. So fehlte von vorn herein jeber Plan, jede
Einheit in der Sache. Man bonnerte mit allgemeinen Phrafen gegen die
Fürften, ale die Verderber des Volksgluͤckes, hütete ſich aber wohlweislich,
zum Sturze bes Fuͤrſtenthums aufzufordern, was, wenn auch noch fo unaus⸗
führbar unter den gegebenen Verhälmiffen, doch das einzig Confequente
geweſen wäre. Ein Hauptfehler beftand insbefondere darin: man hatte die
englifche Sitte einer großen politifchen Volksverſammlung nachgeahmt.
Man vernachläffigte aber die weiſen englifchen Einrichtungen eines Praͤ⸗
fidenten u. f. w., um die Ordnung zu erhalten. Man befolgte noch weniger
die engliſchen Srundfäge kräftiger praktiſcher, aber gefeglicher Beſchluͤſſe
und Mafregeln.
Ueber das Hambacher Feſt Hatte eigentlich Niemand ſich zu freuen Urs
fache als — der Abfolutismus. Jene Verſammlung konnte deffen Macht
nicht anzugreifen wagen, dagegen entzündete fie die Fackel des Zwiftes und
mitunter bes giftigen perfönlichen Haffes unter manchen ber Wortführer des
damaligen Liberalismus, und — biente zum erwünfdhten Vorwande, mit
den grellften Reactionsmafßregeln offen und gemaltfam herporzu>
treten.
Mit Riefenfchritten begann denn von jegt an wirklich die Reaction.
Die bekannten Bundesbefchlüffe vom 28. Juni 1832 erfchienen; fie ftügten
fih bekanntlich ganz befonders auf die Vorgänge beim Hambacher Fefte
obſchon feitbem ermittelt worden, daß fie ſchon vor demſelben intentirt und
!
650 Hambacher Feſt
verabredet waren. In gleicher Welfe erlleß die baterifche Meglerung bereits
fon unterm 2. Juni ein Publicandum, in weichem fie erklärte, wenn die
„Geſetze“ des Rheinkreiſes zur Baͤndigung einer aufrührerifhen Faetion
nicht ausreichen follten, fo werde man „mit voller Macht und allen den
Mitteln einſchreiten, welche von der Vorſchung in die Hände des rechtmaͤßigen
fan gelegt feien.” Zugleich wurde der Marſchall Wrede mie einer um
ehnlichen Truppenmacht nadı dem Rheinkreife gefendet; die Hambacher Red
ner, namentlidh Wirth und Siebenpfeiffer, wurden verhaftet ; bie im Sande
noch anweſenden Polen ausgetrieben, und gegen ben Deputirten Schüler
u. U. Verhaftbefehle erlaffen, denen ſich diefelben nur durch die Flucht ent»
zogen. Andere Verhaftungen folgten in Menge. — Nach allen Beziehun:
a bin vollführte man jeht jene Mafregein, die man Insgeheim zuvor
— Beabftchtigt, ſelbſt verabredet und befchloffen Hatte. Das Hambadır
Feſt aber mußte Überall als Vorwand, als Deckmantel dienen. Darum gin⸗
or auch jene Mafttegein weit über Alles hinaus, was man vernünftiger
eife mit dem Hambacher Fefte in irgend einen, fetbft nur mittelbaren Zu
fammenbang bringen konnte, —
Ssoo kam es, daß namentlich in Rheinbalern fehr bald ber Schreden
über das ganze Land herrſchte. Außerben vorbin fpectell angegebenen, trugm
d andere Vorkommniffe dazu bei. Insbeſondere entftanden vielfach Strei⸗
tigkeiten zroifchen dem Militär und ben bürgerlichen Einwohnern, bie nicht
* ohne Provocatlon der legten, zu deren Nachtheil, und zwar blutig, en
IT. Ein erſter b.deutenderer Vorgang biefer Art trug fich zur met
brüden, bei der Irheimer Kirchweihe zu, mo Soldaten einige Wirthſchafts—
gärten und Tanzſaͤle mit Steinwürfen angriffen. Ein geachteter Bürger,
Kaufmann Thenfon, trat heraus, um die Soldaten zu beruhigen: ein
Säbelhieb über den Kopf flürste den wehrlofen Mann zu Boden. Die
anmefenden Givilperfonen fuchten fih nun mit Prügeln zu vertheidigen. Es
entftand ein heftiger Kampf. ine alte Bauersfrau, die über die Straße
eilen wollte, wurde niedergefhlagen; ihr Sohn eilte herzu, ihr beizuftehen:
auch er flürste, durch einen Saͤbelhieb ſchwer in den Kopf verwundet, nie
der. Man zählte zulcgt auf beiden Seiten 30 bi8 40, mitunter ſchwer Vers
mundete.
Das gräuelvollfte Ereigniß dieier Art trug fih aber am erften Juhres:
tage des Hambacher Feſtes — am Pfingftmontag (27. Mai) 1833 — zu
Hambach und Neuſtadt zu. Mas daffelbe betrifft, fo recurriren mir
zuerſt auf eine authentifche Schrift — das von der Regierung ſelbſt amtlich
veröffentlichte (menn auch allerdings nur in ganz wenigen Eremplaren aus:
argebene) Protokoll des Kreislandraths von 1833.
In diefem Protokolle lieft man woͤrtlich Folgendes:
„Sisung des Landraths vom 6. Juli 1833.
„Vorfälle in Neuftadt an der Haardt am 27. Maid. J. betreffend.
„sn feinem Protokolle vom Jahr 1832 glaubte der Landrach feine
heifigfte Pflicht dadurch erfüllt zu haben, daß er Euerer Königlihen Majes
ftät die Urfachen aufführte und die Gründe entwidelte, welche Veranlaffung
| Hambacher Fell. 651
zu ber Damals im Rheinkreiſe herifchenden Gemuͤthsaufregung ber Bewohner
gegeben hatten. Der Landrath hielt es im Intereſſe des Landes und feiner
Bewohner für nöthig, Euerer Königlichen Majeftät offen und unummımben
zu erklären, daß die wegen Localgebrechen flattgehabten unruhigen Auftritte
an manchen Orten des Kreifes blos entftanden feien, weil von Seiten ber
Koͤnialichen Regierung ſich ungefeslicdhe Schritte erlaubt worden, meldye die
Freiheit der Perſon des Bürgers und deſſen Eigenthum in hohem Grade ver:
legten; zugleich machte er auf Mängel im Kreishaushalte aufmerkfam, bie
das materielle Wohl der Kreiseinwohnerſchaft gefährdeten. Euere Königliche
Majeftät haben allergnädigft geruht, die desfalls zu den Stufen des Thro⸗
nes niedergelegten Wünfche des Landraths theilweife zu würdigen; auch hat
der Landrat im feiner vorjährigen Sigung dies dankbar anerkannt; andere
Wuͤnſche deſſelben, abzielend auf geiftiges und materielles Gluͤck des Rhein»
kreiſes, blieben unberüdfichtigt, und doc) verzichteten die Bewohner des Krei⸗
ſes, im Vertrauen auf Euere Majeſtaͤt, noch nicht auf bir frohe Hoffnung,
daß Alternöchfldiefeiben ihnen fpäter gewiß wärden Erhoͤrung in ihren gerechs
ten Forderungen angebdeihen Laffen.
„Die Bewohner des Kreiſes ertrugen ihre Rage mit Geduld und erwar⸗
teten von ber nahen oder entfernten Zukunft eine allergnädigfte Gewährung
ihrer Bitten, blickten indeſſen um fo zuverfichtlicher auf den Schug Euerer
Königlichen Majeftät, als fie in ſich die Ueberzeugung fühlten, nie die Schran⸗
ten des Geſetzes, welches fie für das hoͤchſte But des conftitutionellen Staats:
bürgers betrachteten, Üüberfchritten zu haben, und hielten daher ihre Perſon
und ihr Eigenthum vor den Unbilden der Gewalt gefichert.
„Allein diefes ihr gerechtes Erwarten iſt leider getäufcht, wenn fie Ihr
heute noch von Iammerthränen triefendes Auge auf die verabſcheuungswuͤr⸗
digen blutigen Scenen werfen, welche durch das bei und in Neuftadt unter
dem DObers Commando eines Generalmajors ) und in Anweſenheit eines
Commiffärs der Königlichen Regierung ®) zufammengezogene Milıtär her⸗
beigeführt wurden, und welche zweien feiner Mitbürger das Leben raubten und
einigen hundert andern friedlichen Einwohnern von Neufladt und der Um⸗
gegend theild ſchwerere, theils leichtere Verwundungen zugezogen haben.
„Der Landrath, von diefen biutigen Vorgängen, welche in Öffentlichen,
unter ber Senfur ſtehenden Blaͤttern, zum Nachtheile der Wahrheit, ent
ſtellt erfheinen, und deren Miderlegung die naͤmliche Cenſur nicht
geftattet, unterrichtet, fieht fih von feiner Pflicht durchdrungen, feine Stimme
vor den Stufen des Thrones Euerer Königlichen Majeſtaͤt zu erheben, mit
der Bitte, bier beſonders ſtrenge Gerechtigkeit uͤben zu laſſen.
‚Die Benehmungsmeife des Militärs iſt alle Grenzen der Geſetze über»
ſchreitend und fo außerordentlich gräßlich, daß die Feder es faft nicht vermag,
fie in ihrem wahren Lichte darzuftellen. Die Soldaten liefen mit gefälltem
5) Bon Horn.
6) Zürft Karl von Wrede, bamald Regierungsdirector in Speyer, auf
bem Iepten baierifchen Landtage oft genannt wegen feiner Angriffe auf den Mi:
nifter Abel in der Reichsrathskammer. .
652 Hambacher Feſt.
»
Bajonette und fprengten mit gezogenen Saͤbeln bie Gaffen auf und ab, ritten
‚und: hieben zufammen, wer ihnen in den Weg kam; Weiber und, Kinder,
Greiſe und wehrloſe Männer, mit einem Worte, Unfculdige erlagen unter
‚ben Streidyen ber Soldaten.
Ein junger achtzehnjähriger Mann wurde buch Bajonettſtiche mitten
‚in der Straße von hinten her verwundet und — farb ploͤtzlich. —
Ein anderer Bürger aus Hambach iſt durch einen Flintenſchuß, eben:
falls von hinten, getroffen worden und bald nachher an den Folgen diefer
Berwundung geftorben.
+ „Einige hundert Andere, wie gefagt, wurben fo verwundet, daß mehrer:
davon heute noch Frank darmieder liegen, ſelbſt der Stadt> Adjunct Penner,
verſehen mit feinem AUmtszeichen und von ben mit amtlichen ——
‚verfehenen Sicherheits⸗ Barden begleitet, wurde noch bei hellenn Tage, in
dem Augenblide, wo er, gemäß feiner Dienftespflicht, zur Rettung feiner
"Mitbürger aus den Händen der Soldaten, berbeieilte, mit fieben Wunden
bedeckt. Diefer Beamte fo wie die übrigen auf dem Stadthaufe verfammel
ten Municipalräthe mußten ſich, als fie fich nad) Daufe begeben wollten,
zu ihrer Sicherheit von der Gensd’armerie escortiren laffen.
„Bei diefer Beurtheilung ber blutigen Vorfälle muß es jedem Unbe
fangenen auffallend ecſcheinen daß auch nicht ein einyiger Soldat dabei ver⸗
wundet worden iſt.
Der Landrath will * Urtheile der Gerichte nicht vorgreifen, er
hofft aber, daß Euere Koͤnigliche Majeſtaͤt, Allerhoͤchſt deren Gefuͤhl ſich
beim Empfang der Nachricht über dieſe beklagenswerthen Vorfaͤlle empört
haben-mußte, allergnädigft dem Königlichen Fuftiz-Minifterium anempfehlen
werden, ber Wichtigkeit der Sache wegen, unverzüglich eine aus Mitgliedern
des Königlichen Appellationsgerichts von Zweibrüden, welche mit dem im
Rheinkreiſe geltenden Geſetze befonders bekannt find, beftehende Commiſſion
zu ernennen, die alsdann, das Gefchehene in feiner ganzen Ausdehnung um:
faſſend, erforfchen möge, ob nad) der Gonftitution und dem Willen der
Geſetze das Militär zum Einfchreiten von Seiten der competenten Civil: Be:
hörde ift requiriet, und eine dreifach wiederholte Aufforderung an die anweſen—
den Bürger, fich zurüdzuziehen, ift gemadıt worden? Ob fodann zu ders
artigen Einfchreitungen hinlänglicher Grund vorhanden war, indem bie ftatt:
gehabt haben follenden Medereien lediglich zu polizeilichen Maßregeln hätten
Anlaß geben Eönnen; und ob nicht gerade hier die angegriffenen Perfonen
durch ihr paffives Verhalten gezeigt haben, daß fie vorgezogen, eher grobe
Mißhandlungen zu erdulden als ſich Setbfthilfe zu verfchaffen.
„Euere Königlihe Majeftät werden, der Landrath ift es überzeugt,
diefe aus dem reiniten Pflichtgefühl hervorgehende Bitte um firenge Gered:
tigkeit allergnädigft erhören, und die Gefchichte wird dereinft fügen, daß
Alterhöchftdiefelben den trefflihen Wahlſpruch: „gerecht und beharrlich“ mit
Geift und Ueberleaung, im vollen Sinne des Worts, Sich erforen haben.‘
Was in diefem Actenftüde blos angedeutet ift, findet fich näher aus:
geführt und mit Angabe der Namen verfehen in der nirgends widerlegten
Druckſchrift: „Darftellung der blutigen Ereigniffe vom Pfingftfefte 1833,
BE.
Hambacher Feſt. 658
auf dem Hambacher Schloßberge, im Dorfe Hambach und in Neuftabt an
der Haardt. Neuſtadt 1833”, welche von den ſaͤmmtlichen Mitgliedern des
Neuſtaͤdter Gemeinderaths individuell unterzeichnet iii. Wir befchränten ung
bier, die wichtigften Momente gedrängt zufammen zu ftellen. — Endlich wirb
man doc der Gefchichte, der diefe Vorfaͤlle laͤngſt angehören , ihr- Recht
widerfahren laſſen muͤſſen. —
Um die Mitte des Monats Mat 1833 erließ die Regierung einige
Refcripte, aus denen hervorging, daß fie eine Wiederholung des „Dambacher
Feſtes“, und zwar am Sahrestage deffelben,, verhindern wolle. Da fich die
Redner bei jmer Volksverſammlung ſaͤmmtlich in Unterfuchungshaft befans
den, überdies auch Beinerlei Anftalten zu einem ſolchen Feſte weder aus⸗
gefchrieben noch fonfl befannt wurden, fo ließ ſich nicht wohl erklären, worin
ber Grund jener Befürchtungen liege. Indeſſen erließ die Locals Poligels
behörde, der ihe gewordenen Weifung gemäß, Anordnungen, um jede etwa
beabfichtigte politifhe Verfammlung zu ber bezeichneten Zeit und an den ans
gegebenen Orten zu verhindern. -
Man Eonnte ſich indeffen des Erftaunens nicht entfchlagen, aus ben
erlaffenen Regierungsrefcripten zus erfehen, daß die oberfte Landesftelle von
: ‚bedrohten Punkten“ fprach; daß fie anzuordnen nöthig xadhtete, wie man
fie vermittelft „Eſtafetten oder reitender Boten’ von vorkommenden „Betwes
gungen” in Kenntniß jegen folle; daß fie vom Einfchreiten der bewaffneten
Macht ſprach, jedoch unter der ausdruͤcklichen Weifung an die Landcommif-
fariate, „verläffige Fuͤrſorge zu treffen, bamit die dreimaligen gefeglichex
Aufforderungen durch einen Polizeibeamten gefchehen, ehe die Militärgemalt
einfchreite.” Gleichzeitig ward verkündet, daß eine weitere Truppenabthei⸗
lung aus dem jenfeitigen Baiern nad) dem Rheinkreiſe gefendet werde, und
daß „auch die. Hälfte der Gefammtinfanterie bes (baierifchen). Heeres, und
die gefammte Meiterei (45 Escadronen), mit der gefammten Artillerie in
marfchfertigen Zuſtand verfegt fei”, um noͤthigenfalls auf Koften des Kreifes
in denfelben augenblidlich gefendet zu werben. U
Schon am 22. Mai ruͤckten 6 Compagnien Infanterie vom 15. baleri⸗
ſchen Limienregiment in Neuſtadt ein. Ihnen folgten am 27. eine Abthei⸗
fung des 5. Chevaurlegersregiments, das ganze 2. Jaͤgerbataillon, ein Ba⸗
taillon bes 6. Linienregiments und eine Abtheilumg Artillerie mit 4 Kanonen.
Alte diefe Zruppen wurden in dem Städtchen und den nächfigelegenen Ges
meinden einquartiert. Regierungsdirector Fuͤrſt Wrede dictirte eine unvers
hältnigmäßig ſtarke Zruppeneinlage in bie Häufer verfchiedener Bürger, bie
ihrer liberalen Gefinnung wegen bekannt waren (fo wollte er 50 Mann mit
Offizieren in ein einziges Haus gelegt wiſſen, bie bie abfolute Unmöglichkeit
der Unterbringung derfelben nachgewiefen war, worauf er feinen Befehl in
bie Hinfendung von 8 Offizieren, fammt Bedienten und Pferden umwan⸗
delte). Wie vielfach die Soldaten in ben Quartieren hauſten, daruͤber
hertſchte eine faſt allgemeine Klage. Gleich beim Zruppeneinmurfche ſchon gab
es Beſchwerden über Mißhandlungen von Civilperſonen durch Militaͤr hohen
und niedern Grades. —
Da ſeit unvordenklichen Zeiten die Hambacher Schloßruine als Vereini⸗
654 Hambacher Bet.
gungss und Vergnuͤgungsort am Pfingftmontage dient, der bezeichnete Tag
aber: diefes Mal zufällig auf den 27. Mat, alfo den Jahrestag des großen
Feſtes, fiel, fo erklärte der Megierumgsdireetor Fuͤrſt Wrede den Neuftadter
Stadtraͤthen, fie follten nicht gehindert werden ‚ diefen Drt zu befuchen:
ABchen Sie hinauf auf das: Schoß”, fuhr er fort, „Seien Sie luſtig und
vergnügt: nur forgen Sie, daf Bein Öffentlicher Zug mit Fahnen und Feine
(öffentliche) Reden fattfinden.”
+ Deffen ungeachtet ward am 27. Mai die Burg durdy Truppen befept,
und bie Eigenthuͤmer derfelben, die ſich, nichts hiervon ahnend, mit andern
kuſtwaudelnden dafelbft einfanden, ſahen ſich anfangs fogar ben Zutritt auf
biefes ihr Eigentbum verwehrt; dann räumte man ihnen endlich die Ter—
vafle- Auf dem Wege nach dem Schloffe erfuhren mehrere friedliche Leute,
namentlich Frauenzimmer, Mifbandlungen durch Soldaten, befonder® mit
Gewehrkolben. Auf der Höhe ſelbſt ward die Ruhe vorerft nicht geftört. Da
ſah man auf einmal auf einer andern, entferntern Bergböbe zwei roth⸗
ſchwarz⸗ goldene Faͤhnchen. Noch heute ift nicht ermittelt , wer biefelben
aufpfianzte (und ebenfo ſchnell wieder binmwegnahmı) ; ob Muthwille oder die
böstiche Abſicht, einem Vorwand zu weitern ſchlimmen Dingen zu
geben , hier im Spiele war. Gewiß iſt, daß ſich Niemand hierdurch zu einem
unüberlegten Schritte peovociren lieh. |
“> Nach aufgehobener Mittagstafel begaben fidy die beiden Ober beamten
(General Horn und Regierungsdirector Fuͤrſt Wrede) von Neuſtadt nah
Hambach. Mun erging dad Commando an die ſaͤmmtlichen Soldaten umd
Gensd’armen, den Berg fogleich zu fäubern und die dort befindlichen Men:
ſchen mit dem Waffen wegzutreiben.
„Es it ſchwer“, beißt es in der oben angeführten von den Mitgliedern
des Stadtraths ausgegangenen und individuell unterzeichneten Druckſchrift,
„ſich einen. Begriff davon zu machen, mit welcher Wuth diefer Befehl voll:
zogen wurde! "Ohne daß den friedlich gelagerten Bürgern von irgend einer
Seite die Mittheilung gemacht worden wäre, ihr fernerer Aufenthalt an dirfer
Stelle, deren Beſuch nicht verboten war und bisher nicht den mindeften
Ereeh veranlaßt hatte, Eönne nicht geduldet werden ; ohne daß noch weniger
von den gegenwärtigen Focal: und höhern Polizeibehärden (Staatsprocurator,
Landcommiſſaͤr u. f. w.) die verfeffungsmäßige Requifition an den Militär:
chef zum Einſchreiten des Militärs gegen unbewaffnete friedliche Bürger ges
ſtellt worden waͤre, als wozu ja nicht die mindefte Veranlaſſung gegeben 5 ohne
daß endlich die breimalige Aufforderung an die Bürger, ſich zuruͤckzuziehen,
ergangen wäre, ohne welche jedes Einfchreiten der bewaffneten Macht als ge
fegrwidrig und ftrafbar erfcheint — fielen die Soldaten und Gensd’armen
uͤber die noch gegenwärtigen Bürger, die ſich deffen gar nicht verfaben, ber
und trieben fie (es mögen noch einige Hunderte gewejen fein) den fteilen Berg
hinab. Mit den Gewehrkolben, den Saͤbeln und den Bajonetten wurden
Männer, Weiber, Zünglinge, Maͤdchen, Greife und Kinder graͤßlich miß-
handelt. ... Nicht genug, die Menichen von der Spike des Berges weg⸗
getrieben zu haben, verfolgten die Soldaten und Gensd'armen fie aud) noch
den fleilen Berg abwärts; die Verfolgten fielen, flürzten überall in der Eile
DE.
Hambacher Beil. | PN)
ber Flucht von Felfen zu Felſen; ihre bewaffneten Verfolger blieben ihnen
ſtets auf der Ferſe, und wo fie einen Flüchtling erreichten, war er der Kolbens
ftöße und Bajonettfliche gewiß.”
Eine Reihe einzelner Vorkommniſſe, der Mißhandlung einzelner, in
ber citirten Schrift namentlich aufgeführten Leute, giebt ein wahrhaft er⸗
ſchreckendes Bild. Ein Knabe, der des Verkaufs einiger Lebensmittel regen
auf den Berg gekommen war, wurde mit dem Bajonett verwundet, ja beinahe
erflohen. Einem alten ſchwaͤchlichen Mann erging es ebenfo. Sogar ein
in der Nähe feiner eigenen Wohnung Schlafenber ward von den Soldaten
überfalien und mißhandelt. Ein Sicherheitsgurde von Hambach, der dem
Militaͤrchef den Weg nach der Burg hatte zeigen müffen, ward auf feinem
Ruͤckweg überfallen, gepruͤgelt und faſt erſtochen. Ein Mann (Peter Heinr.
Scharfenberger von Hambach) befam auf ber Flucht vom Berge herab mehr
als 20 Kotbenftöße, ſodann Ins Geſicht 4 Diebwunden und 2 Bajonettfliche ;
„ale er unter biefen Streichen zufammengeflürzt war, riß ihn ein Gensd'arme
‘ auf und zog ihn mit Bewaltan dem (verwundeten) Arme den Berg hinab,
bis der obere Markknochen aus dem Schultergelen herausgeriffen war; trotz
feines erbarmungsmwärdigen Zuſtandes wurde er gefchloffen ins Arreſthaus
gebracht, und erft nad) zweimal 24 Stunden, bie er ohne Bett zubringen
mußte, wurde ihm Ärztliche Dilfe verfchafft.” Keinerlei Vergehen kommts
gegen biefen Unglüdlichen erwiefen wecden ! |
Allein mit ſolchen Berfolgungen noch nicht zufrieden, brachte man auch
Seuerwaffen in Anwendung. Bis in die Straßen von Hambach hinein fielen
Schuͤſſe. Go wurden zwei junge Bürgersföhne (Emanuel Lambert, 17 —
und Paul Bed, 14 Jahre alt), die fih in den Straßen ihres Wohnorts
befanden, von hinten gefchoffen. Ein braver Bürger und Kamilienvater
(Joh. Georg Bayer, 37 Jahre alt), ein Sicherheitsgarde, erhielt
gleichfals eine Schußwunde, an beren Kolgen er, unter unſaͤglichen Schmer⸗
zen, am 7. Juni 1833) flarb. — —
Und dies Alles gefchah, obwohl „Niemand, bee Augenzeuge war,
irgend eine Beſchimpfung bemerkte, die ſich ein Bürger gegen einen Soldaten
erlaubt harte; Niemand weiß, daß irgend ein Bürger fi) zur Wehre ge⸗
ſetzt Hätte, Niemand ſah einen einzigen bewaffneten Bürger.” — —
Nachdem auf diefe Welfe die Räumung des Hambacher Berges volls
bracht war, kehrten Fuͤrſt Wrede und General Horn nach Neuſtadt zuräd.
„Schon am Nachmittag dußerten, wie man fpäter erfuhr, mehrere
Soldaten gegen ihre Quartierträger tiefe Bekuͤmmerniß uͤber die gran»
famen Befehle, bie an bie Soldaten ergangen feien. „,„Bie haͤtten
Ordre, fagten fie, jeden Bürger, der einen weißen Hut, einen weißen Rod,
Laubwerk, eine Blume oder dergleichen trage, zu mißhandeln.““ Andere
Soldaten vertrauten ihren Quartiertraͤgern an, daß Fürchterliche Dinge
ausgeführt werden follten; fie riethen ihnen ab, den Abend ihr Haus zu ver:
Ken, baten fie, Fallen zu alien und Rismandm ein» noch ausıulafs
en. Ja mehreve-Boldaten machten gegen er die Aeußerun
würde ein Todten⸗Marſch gefpielt erden, herang, am Abend
„Thaͤtliche Mißhandlungen von Seiten des Militärs gegen Bürger bes
656 Hambacher Feſt.
gannen ſchon gegen Mittag und nahmen bie gegen Abend an Zahl und Roh⸗
heit progreffiv zu, obwohl von Seiten der Bürger weber Beranlaffung noh
Widerftand eingeteeten war.”
Die Mifpandlungen von Givilperfonen begannen nun befonders in
den ar : „Die Polizeibeamten derfuchten zwar anfüngs den Exceſ⸗
illtaͤrs Einhalt zu thun, allein bald famen bieje in ae
> die Polizeibeamten den Bürgern erklärten, fie fönnten mi
Willen ihnen nicht helfen, fie ‚möchten der Gewalt weichen umd fi —*
— ben Straßen wurden sie Ereeſſe be8 Militärs gegen dies
noch weit auffaltender ; überall fah man Soldaten mit und o af
über einzelne Bürger ohne alle Beranlaffung herfallen und fie mit Obrfeigen,
Fauſtſchlaͤgen Kolbenſtoͤßen, Saͤbelhieben ıc. mißhandeln.“
Kutſ vor der Abfahrt des Militaͤr⸗ Chefs und des hohen Clvil⸗Beamten
nad; Hambadı, begaben fich einige Bürger und Sichet heits garden zu denfelben
ins Wirthhaus, hoffend, daß eine bloße Anzeige der vorgehenden Exceſſe
ſchleunige Abhllfe veranlaſſen würde, Allein es fruchtete ichts und eben·
fo wenig die Mittheitung an den Civilbeamten.”
Allen, welche aus dem Freien jurlichfehrten und eich Reitz ‚ein Blatt,
aa ln teuer, yon insichenn KBifihlächt Kom welchem Alter fie fein med-
ten, riffen oder ſchlugen die Soldaten diejelben hinteg.... An ber Haupt:
wade, im der Hauptſtraße —*c— hatten die Soldaten eine förmlice
Pruͤgelanſtalt organifiet.” Ein Unteroffizier befand fich mit einem eifer:
nen Ladſtock an ihrer Spige, ... Ein aögenmärtiger Offizier von höherem
Mange eiferte bie Soldaten nod) an, die Mißhandlungen gegen ganz friedliche
Bürger fortzufegen. Als man ihm erfuchte, den Erceffen ein Ziel zu feßen,
war die Antwort: die Bürger von Neuftadt hätten Züchtigung verdient!
Es würde viel zu weit führen, alle, mitunter fucchtbaren und empörenden
Mißhandlungen, die flattfanden, einzeln aufzuzählen. Eine Menge berfel:
ben ift in dem oft citirten Schriftchen aufgeführt. Einige allgemeine Anbeu:
tungen mögen zur Bezeichnung dee Vorgänge dienen.
‚Nicht zufrieden, die Bürger in den Straßen zu mißhandeln, verfolg:
ten die Soldaten fie auch bis in das Innere ihrer Häufer und Höfe
und übten da noch ihre Erceffe aus, zeritörten, was ihnen in den Weg kam,
und entweiheten jo das gefeglich heilige unantaftbare Hausrecht Yes Bürgers.
„Bon 9 Uhr an hatte, alle Action der Focal: Polizei-Beamten aufgehört,
die Local: Polizei war überwältigt durch die eingetretene militärifche
Anarchie; Erin Polizei Beamter, kein Sicherheitgmächter durfte ſich mehr
auf der Straße fehen laſſen, noch weniger verfuchen , den Soldaten abzumeh:
ten, ohne fich felbft den ärgften Eörperlichen Lebensgefährlichen Mißhandlungen
der Soldaten aussufegen.”
„Alles dies war jedoch nur ein ſchwaches Vorfpiel derjenigen Gräuel:
fcenen, von denen die Bewohner Neuftadts noch am nämlihen Abende
theils die Opfer, theilg die entrüfteten Zeugen fein mußten.”
„Zwiſchen 6 und 7 Uhr Eamen der Mifitäcchef und der hohe Civilbeamte
von Hambach nah Neuftadt zurüd; zugleich Eehrten die Soldaten, die das
Hambacher Zeft. 657
Hambacher Schloß den Tag über befegt gehalten und eben ben Berg gefäubert
hatten, nad Neuftadt zuruͤck.“
„Wer Neuſtadt, das uͤbervoͤlkerte, in ein enges Thal geklemmte
Staͤdtchen mit ſeinen nahen volkreichen Umgebungen kennt, den wundert das
gewoͤhnliche Volksgewimmel in den engen Straßen des Staͤdtchens nicht; noch
belebter natuͤrlich find dieſe Straßen an Sonn» und Feiertagen. So kam es
denn, daß die Straßen von Neuſtadt an dieſem Abend, wie gewoͤhnlich an
den Feſttagsabenden, mit Menſchen ziemlich angefuͤllt waren; nirgends aber
konnte man irgend eine beunruhigende Bewegung von Seiten der Buͤrger
wahrnehmen.“
„Da erſchienen ganz unerwartet Patrouillen bewaffneter Infanterie und
Cavallerie mit ihren Officieren oder Unterofficieren an der Spitze und durch⸗
zogen alle Haupt⸗ und Nebenſtraßen der Stadt nach allen Richtungen hin.
Unter anderen flellte fi) auf dem Marktplage ein Piquet Chevaurlegers in
Reih und Glied; ein Wachtmeifter oder Corporal commandirte: „ben Saͤbel
heraus, in die Straßen gefprengt, Nichts verſchont!“ und die Drdre wurde
nur zu pünktlich befolgt. Die Patrouillen nahmen die ganze Breite der Stra⸗
fen einz bie Cavallerie bewegte ſich meiſtens in ſtrengem Trab; uͤberall
flüchteten nun die Bürger aus einer Straße in bie andere und fielen fo, vor
einem Feinde flüchtend,, dem anderen in die Hände; wer vom Bürgerflande
durch bie patrouillicenden Soldaten erreicht wurbe , ohne Unterfchieb des Ber
ſchlechts und Alter, wurbe niebergeritten,, geflochen, gehauen, mit Kolben»
ftößen und Säbelhieben mishandelt und verwundet; im Nachfegen der flüchs
tenden Bürger zerſtreuten ſich die Soldaten, und überall ſah man, wie einzelne
Soldaten einzelne Bürger erreichten und mishanbelten und dann wieder,
auf das Signal des fie commanbirenden Officiers oder Unterofficiers, ſich
fammelten, um vereinigt deſto beffer die einzelnen Bürger mishandeln zu
koͤnnen; viele Bürger wurden in den buch Neuftadt fließenden Bach ger
fprengt. Häufig wurden Bürger, bie fi) in eigene oder fremde Häufer
geflüchtet hatten, bis ins Innere der Wohnhaͤuſer verfolgt und mishandelt, ja
die nachfegenbe Gavallerie drang mit ihren Pferden m Wohnftuben ein; an
vielem Häufern wurden Zenfter und Läden von den Soldaten zerfchlagen und
zerhauen, weil die Eigenthümer fie nicht ſchnell genug geſchloſſen hatten.’
Der Bürgermeifter von Neuftadt hatte zuvor ſchon feine Entlaffung
gegeben. Der erfle Adjunct (Namens Penner) verfah befien Stelle. „Schon
bei Anfang ber unerhörten Exceſſe, gegen 8 Uhr, als es noch ganz hell war,
hatte diefer von den Fenſtern des Rathhaufes aus mit Enträftung den mörs
derifchen Scenen auf der Straße einige Zeit lang zugifehen, als er gerade vor
dem Rathhaufe einen Bürger von dem benachbarten Orte Winzingen bes
merkte, der unter den gehäuften moͤrderiſchen Stceichen der ihn umgebenden
Soldaten zu erliegen ſchien. Der Adjunct, die eigene Gefahr nicht achtend,
entſchloß fich ſchnell, mit einigen muthigen Sicherheitsgarben, diefen Mann.
wo möglich zu retten. Der Adjunct, ein großer, ſtattlichr Dann, mit
feinem Amtszeichen verfehen (einem breiten blauen Bande mit großem fils
bernen Medaillon) eilt in Begleitung feiner Gehilfen die außerhalb des
Rathhauſes angebrachte breite Stiege herab, von wo aus ihn ſchon Jeder⸗
&uppl. $ Staatslex. IL 42
658 Hambacher deſt
mann auf der Straße fehen und erkennen konnte. Unten an ber Treppe am:
gelangt, macht er auf fein Amtszeichen aufmerffam, erklärt, er fe
ber Bürgewmeifter-Adjunct, und macht den Soldaten bie eindringlichften und
befäjeibenften Vorftellungen. Man madıt ihm Plas, und es gelingt ihm,
bis zur Mitte ber Straße zu bem mishandelten Bürger burchzubringen. Raum
bier angelangt, ſieht er die Soldaten einen engen Kreis um ihn fchließen,
und von allen Seiten mit Säbeln, Bajonettm und Flintentolben auf ihn
eindringen; 5 Diebwunben in ben Kopf und in das Gefiht, 2 Säbelhiebe
auf die Hände, ein Bajonettftich in den Kopf und unzählige Kolbenfchläge
und Stöße auf den Kopf, in das Genid und auf den Rüden waren bie
Früchte der edeln Dingebung des Beamten und der vandallſchen Wuth der ihn
umgebenden Soldaten, welchen berfelbe ohne Zweifel unterlegen wäre, wenn
die zu biche fallenden Diebe und Stöße fic nicht Häufig gegenfeitig felbft auf
gefangen hätten, und wenn #8 nicht feinen Gehilfen gelungen waͤre, ihn nad)
umd nad; wieder an bie Treppe des Rathhaufes zuruͤckzuziehen und hinauf
ga bringen. Won Blut teiefend, mit biutiger, zerriffener Kleidung, ohn⸗
Hut, der ihm im Gebränge entlommen war, mit biutbefleditem Ammtszeichen,
trat der Buͤrgermeiſteradjunct nieder in die Amtöftube ein und mußte bis
10 Uhr In diefem Zuftande hier verweilen, da kein Arzt, Erin Chlrurg füch auf
die Straße magte, und mweber der Abjunct noch eines ber übrigen auf dem
Rathhauſe verfammelten Mitglieder des Ortsvorſtandes ohne Lebensgefahr
feüher die Straße betreten Eomnte, um zu feine Wohnung zuruͤckzukehren
„Nach der früheren Anordnung der Polizei erfchten Abends 8 Uhr ein
ftarke Anzahl (hierzu eigens aufgebotener) Neuftadter Bürger auf dem Rath
haufe, um den Dienft als Siherheitsgarbden zu verfehen. Als aber di
Mishandlımgen auf der Straße vor dem Rathhaufe ſich haͤuften, flüchteten
fid viele Bürger in diefes Gebäude. Die Soldaten ftürmten ihnen nad.
Auch die Sicherheitgarbe fah ſich genöthigt, vor ihnen zu fliehen und fi mit
jenen anderen Bürgern auf den Speicher des Haufes ıc. zu retten.” —
Es ift unmöglich, die Gräuelfcenen vollftändig zu fhildern, bie nım
in unzähliger Menge flattfanden. Kinder (von 7 Sahren) wurden nieder
geſchlagen, auf eine Frau eine wahre Zreibjagd angeftellt; Leute, die ihrer
Arbeit wegen ausgegangen waren, wurden zum Theil mit 6 bis 8 Hieb : und
Stichwunden, von Säbeln und Bajonetten, bededt. Der Kantonsphyſikus
aber durfte e8 nicht wagen, ihnen an diefem Tage zu Hilfe zu fommen. Ein
alter Mann ward auf der Straße niedergefchlagen; fein Sohn und feine
Tochter, denen es gelungen war, ſich in ein nahes Haus zu flüchten, mollten
ihr, nach dein die Soldaten ihre Wuth befriedigt hatten, nah Haufe bringen;
fie fließen auf einen anderen Zrupp. Die Soldaten ſchrieen: „Was Civil
ift, bauen wir zufammen; jest haben wir Freiheit.” Und nun mußte
namentlid der Sohn durdy eine Reihe von etwa 80 Militärs gleichfam
„Spießruthen laufen”. Ein Dann, der feiner Eranken Frau an dem feinem
Haufe gegenüber befindlihen NRöhrbrunnen Trinkwaſſer holen wollte, ward
faft ermordet; ein in dem Nachbarshauſe einquartirter Soldat holte endlich
der Franken grau Waffer! Man hörte und fah, mie ein Officier einen Trupy
Soldaten aufftellte und in altbaieriſchem Dialedte ausrief: „Haut Alles zu
Hambacher Fe 659
fammen, was Euch begegnet, fprecht kein Wort zu Niemand. Ich wi das
Hundsvolk Thon von den Straßen bringen, das Canaillenzeug!“ Sogleich
fprengten die Soldaten in der ganzen Breite der Straße voran, Alles über
reitend und niederhauend, was ihnen in den Weg kam. Ein Verfolgter flüch-
tete fi) in das nahe Daus eines Schuhmachers. Infanteriften drangen
ihm nad) in daſſelbe. Im Zimmer fanden fie einen ſchwachen, gebrech⸗
lihen Denfchen (vertrüppelt, mit einem Höder). Dielen mishandelten fie
aufs Furchtbarſte; fie ſchlugen ihm ben Arm entzwei, fo daß die Knochen fich
durch das Fleiſch hervorfchoben und das Kapfelband bes Armgelenks völlig
zerriffen wurde. — Ein Bürgersfohn aus Neuftadt, Joh. Hhil. Kipp, 21
Sabre alt, feines Gewerbes Zeugſchmied, wollte, nachdem er einen Bekannten
beſucht, um 8 Uhr nad) Haufe gehen. Er ward von einem Krupp Soldaten
angefallen und mishandelt; es gelang ihm, ſich bis auf den Markt zu retten.
Hier umringten ihn wieder 10 — 12 Soldaten und mishandelten ihn mit
Kolbenftögen, Saͤbelhieben und Bajonettflihen. Man hörte das durch⸗
dringende Geſchrei des unglüdlichen jungen Mannes, man hörte ihn um
Schonung um fein Leben bitten und flehen; er rief: „Laßt mich doch geben !"
und eine rauhe Soldatenflimme antwortete ihm: „Halt's Maul Du Vieh!“
Das Geſchrei des Armen ging in ein fchwaches Winfeln über, dann noch ein
heftiger Schrei, hierauf Todten ſtille. Der Unglüdliche war ermorbet.
Diejenige feiner Wunden, weldye nad) ber ärztlichen Erklärung bie fogleich
toͤdtliche geweſen, war ihm von hinten, unverkennbar mittelft eines Bajos
nettſtichs, beigebraht. — Man lieferte nicht einmal bie Leiche ben Ver⸗
wandten aus (mas man gefeslich fogar bei hingerichteten Verbrechern
ſchuldig iſt!), man vertveigerte derfelben fogar ein „ehrliches Begräbniß”,
indem man fie in der Stille dev Nacht durch Soldaten beifegen ließ und
jebe andere Leichenbegleitung aufs Strengfte verbot.
Man wird uns nicht zumuthen, die Graͤuelſcenen weiter auszumalen.
Genug, diefelben dauerten in der Argflen Ausdehnung drei Stunden lang,
von 7— 10 Uhr, ohne daß es dem anweſenden Militaͤrchef eingefallen wäre,
die Soldaten früher in ihre Quartier zurüdzurufen. — Die Baht der mishan⸗
beiten und vermundeten Givilperfonen Äberflieg mehrere Hunderte.
Dagegen war au) nicht ein einziger Soldat oder Gensd'arme verwun⸗
det! Dennoch ift, fo viel bekannt, auch nicht gegen einen Militär auch
nur die geringfie Strafe ausgefprcchen worden!
Man bat feiner Zeit ben Vorgang In Hffentlichen Blaͤttern, namentlich
der halbofficiellen Münchener politifchen Zeitung, In einer Weife dargeſtellt,
die wahrhaft empoͤrend war. Man wollte glauben machen, es habe fich gleich⸗
fam um die Niederbrüdung eines Aufftandes gehandelt! Und doch
konnte man nicht ben entfernteften Schein eines ſolchen, auch nicht einmal
irgend einen Vorwand zu biefer Befchuldigung auffinden. Ja, bie Ber
voͤlkerung leiſtete felbft dann nirgendwo auch nur ben geringſten Wiberftand,
als jene maflofen Mishandlungen begangen wurden; eine Maͤßigung, bie
(mo es fi) um das Unterlaflen jedes Widerftandes handelte, gegen das Eins
dringen im das eigene Haus und das ſich Mishandelnlaſſen in demfelben) in
vielen einzelnen Fällen fogar hart an Feigheit angränzte! Genug aber,
42 +
660 Ä Hambacher Fell. |
Jedermann ohne Ausnahme beiältigte feine empörten inneren Gefühle,
weil man alsbald genug fah und hörte, um die Richtigkeit der von einzelnen
menfchenfreunblichen Militärs angebeuteten Warnungen zu erkennen,
— genug, um nicht zu zweifeln, baß die aufgeftellten geladenen Kanonen, bei
denen Soldaten mit brennender Lunte flanden, wirklich beſtimmt fein,
Im Falle bes geringflen wenn auch noch fo legitimen Widerſtandes, die ganze
Stadt in einen Schutthaufen zu verwandeln 7). — —
Zum Schluß flehe hier noch ein Auszug aus einem Berichte, den ein
allgemein geſchaͤtzter Beamter von Neuftadt damals direct an ben König ein
fendete.
„Das Feſt auf dem Hambacher Schloß, welches in dem vorigen Jahr
fo fehr verbächtigt worden war, wurde biefes Jahr durchaus nicht gehalten,
obwohl ber Hr. Regierungspräfident v. Stengel fo wie ber Hr. Fürft Wrede
kurz vorher bei verfchiebenen Belegenheiten ſowohl bem verfammelten Stadts
rath als dem Adjuncten perfönlich die Verficherung gegeben hatten, daß nicht
dieſes an und für fi), fondern nur der voriges Jahr ſich und gegebene Geiſt
unterdruͤckt werben müffe, um höhern Orts nicht anzuſtoßen, To daß die Be
wohner von Neuſtadt erft dann theilmeife auf das Schloß fpazieren gingen,
als ihnen die Verficherungen diefer beiden höchften Kreisbeamten fo wie ein
Stadtrathsbeſchluß, worin Jedermann auf die Aufrechthaltung ber gefef
lichen Orbnung hingewieſen wurde, bekannt worben war, ein &, g
auf die romantiſche Burg, welche auf Pfingfimontag fchon durch unfere Ur
väter befucht wurbe.
75) um ben Sachverhalt Elarer zu machen, mögen bier noch einige Bemer⸗
kungen über die Localitäten angefügt fein, weldye damals aus ber Feder eines
‚in der Pfalz allgemein hochgeſchaͤtten Beamten floffen.
„Reuftadbt ift mit einer Bepolkerung von 6000 Seclen auf einen fehr
‘ Beinen Raum eines engen Thals befchränkt. Ohne die Hauptſtraße gerade mit
der Judengaſſe in Frankfurt in Parallele fegen zu wollen , ift fie doch enger als
bie Rue St. Honore in Paris und wird am paffendften mit der Schuftergafle
in Mainz verglihen. In ihrer Mitte wird fie von dem 16—20 Fuß breiten
Speyerbach durchfchnitten, über welchem eine hölzerne Brüde liegt. Die Häufer
find 3 und 4 Stockwerke boh .... In diefer engen, dunkeln und ſchmutzigen
Hauptftraße bewegt ſich von Morgens bis in die Nacht ganz Neuftäbt und bie
ungemein flarke Bevölkerung der Nachbarfchaft. Die Nebenftraßen find bagegen
ft menfchenleer und wie ausgeftorben.
„Bolte an einem foldhen Orte ein Aufruhr ausbrechen,, fo fällt es in bie
Augen, daß ermit Reiterei nicht geftillt zu werden vermöchte. In wenigen Bis
nuten wäre die Brüde abgebrochen, ein über die Straße gezogener Wagen vers
fhaffte die Beit, das Pflafter aufzureißen und Barrikaden anzulegen, und wie
wollte eine Reitercolonne fich in folchem Engpaß gegen ben Plagregen ber von
Dächern und Fenſtern herabgeworfenen Ziegel, Steine und Blumentöpfe fchügen ?
„Mehr Mittel, obgleih auch ſchwierige und nur im aͤußerſten Rotbfalle
anwenbbare, bat die Infanterie in Beflürmung der Häufer.
„Ze nun, bie Brüde wurde nicht abgebrochen, Eeine Barrilade errichtet,
kein Steinchen, und wenn auch keine Blumen, doch auch kein Blumentopf berabs
geworfen. Eben fo wenig fah man ſich im Kalle, ein Haus zu erflürmen. —
on einem Aufſtande ober auch nur einer Begenmwehr der Bürgerfchaft kann
daher Beine Sprache fein.” — —
Sammbadher geſt. 661
„Wenn es einer feindſeligen Partei gelingen konnte, den Geiſt der Be⸗
wohner hieſiger Stadt und ſelbſt des ganzen Rheinkreiſes zu verdaͤchtigen und
dieſe Gewaltmaßregeln hervorzurufen, fo hat ber ganze Hergang jeden umn⸗
befangenen Beurtheiler überzeugen muͤſſen, daß der Bewohner des Rheinkrei⸗
ſes zu beſonnen iſt, als daß er ſich zu Handlungen hinreißen laſſen koͤnnte, welche
ein unuͤberſehbares Ungluͤck über feine Mitbürger bringen müßten. Denn
trog dem, daß man in ber Nacht ganz im Geheimen ohne Benachrichtigung
der Behörden das Hambadyer Schloß, welches ein Privateigenthum
verfchiedener hiefiger Familien iſt, mit Militaͤrmacht befegte und ben Eigens
. thüümern den Zutritt nicht geftattet hat, ja fogar biefelben mit Gewalt von
ihrem Eigenthum verbrängte, trog dem, baß fo viele Hunderte Augen«
zeugen der fuͤrchterlichen Morbdfcenen waren, wodurch bie menfchliche
Geduld auf eine unerhörte Weiſe auf die Probe geflellt wurde, verhielt ſich
Jedermann ruhig und zog ſich In feine Wohnung zuruͤck, fo daß von 7 Uhr
bes Abends Niemand es mehr wagte, dem fchredlichen Angft» und Nothge⸗
fchrei feiner Mitmenſchen Gehör zu geben, um biefelben aus den Händen ihrer
Mishandler zu befreien, da die Vernunft ihm gebieten mußte, burdy kei⸗
nerlei Gegenwehr diefe Wüthenden zu veranlaflen, noch weit größeres Un:
gluͤck über feine Vaterſtadt zu bringen, da die Lunten zur Eindfherung
derfelben. fchon bereit waren.” —
II. Endlich, kam denn bie Unterfuchung gegen die Hambacher Rebner
zum Schluſſe. Sie hatte ein ganzes Jahr lang gedauert, — weit länger,
als man unter ber Herrſchaft der franzöfifchen Proceburgefege für möglich
gehalten hatte. Viele Klagen waren daher zuvor erfchollen über abfichtliche
Verzögerung des Proceffes. Auch warın fehr auffallende Perfonalveräns
derungen an dem mit Einleitung der Sache befaßten Appellationsgerichte der
Dfalz vorgenommen, insbefonbere waren mehrere als freifinnig befannte
Richter penſionirt oder verfegt worden; den Präfidenten des Gerichtshofs
(von Birnbaum) hatte zuerft das Loos des Quiescirtwerdens getroffen. —
Es erließ jegt das bezeichnete Gericht, als Anklagekammer, unterm
29. Mai 1833 ein Urtheil, durch welches in Anklageſtand verfegt und vor
ein Affifengericht verwiefen wurden: 1) Dr. Wirth, 2) Dr. Siebenpfeiffer,
3) Pfarrer Hochdörfer, 4) Candidat Scharpf (von Homburg), 5) Bürftens
macher Beder von Frankenthal, 6) Literat Dr. Große, 7) Rechtscandidat
Dr. Piſtor von Bergzabern, 8) Buchdrucker oft von Zweibruͤcken, 9) Kaufs
mann Baumann von Pirmafens, 10) Abvocat Schüler (dev Deputirte),
11) Advocat Savoye, 12) Advocat Gelb, 13) Theologie: Canbidat Eifler.
Die Anklage gegen die 9 Erfigenannten lautete auf Provocation zur Em⸗
poͤrung und zum Umſturze der Regierung, die jedoch ohne Erfolg geblieben,
jene gegen Nr. 10—12 auf ein Complott zum Umſturze ber Regierung, und
die gegen den Letztgenannten auf Mitſchuld am ebenerwähnten Verbrechen ;
— den 9 Erſten fland alfo Landesverweifung, den 4 Letzten bie Tobes⸗
ſtrafe in Ausfiht. Diefe Anklagen gründeten fich bei den 7 Erſtgenannten
hauptſaͤchlich auf deren beim Hambacher Feſte gehaltene Reben, nebenbei -
auf die Herausgabe von Drudichriften, deren Inhalt als aufrührerifch bes
zeichnet ward; bei Nr. 8 auf den Druck, bei Nr. 9 auf Verbreitung
S
ſolcher Schriften (auch die Anfchaffung von Senfen, die mach bee Art ber
pofnifchen Senfenträger angeblich benugt werben ſollten), bei Nr. 10—12
auf ihre Stellung als Vorftände, und bei Mr. 18 auf jene als Secretär bus
Preßvereins. Mit Ausnahme ber geflüchteten drei Advocaten fo rote Pifler’s
und Grofe’s, befanden fich alle Angeklagten in den Händen der Jufkiz. Eine
bebeutende Anzahl anderer Perfonen wurde, zumeift wegen angeblicher Amts
beleidbigung von Angeftellten in Drudfchriften, vor die verfchiedenen Zucht:
poligeigerichte des Kreifes verwiefen ®). |
Zur Aburtheilung diefes Griminalproceffes ward vom Appellationk
gerichte nicht bie gemöhnliche Quartal⸗Aſſiſe beftimmt, fondern die Abbal:
tung einer außerorbentlihen Affife angeordnet. Auch follte biefelke
nicht am gewöhnlichen Berichtsorte, zu Zweibrüden, fondern In ber Feſtung
Landau flattfinden. Unter dem desfalld angeführten Motiven bemerkte man
befonders das folgende: „daß durch bas Abhalten diefer Aſſiſe in Landbau allen
Beforgniffen wegen flörendee und nachtheiliger Einwirkung auf bie Und⸗
f beit des Urteils der Geſchworenen möglichft vorgebeugt werde, will
in Landau bie öffentliche Ruhe und Ordnung leichter und ſchnelt
als an irgend einem anderen Orte bes Rheinkreifes gehandhabt und die un:
geftörte Aburtheilung der Sache gefichert werben koͤnne“ 5 — ein Mrotiv, je
welchem bie während ber Verhandlung erfolgten enormen Exceſſe von Seiten
vieler Soldaten (welche an die Neuftadt: Hambadher erinnerten und über
welche wir unten einiges Nähere fagen werden) bald einen feltfamen Gem
mentar lieferten. —
Diefe Affifenfigung beaann am 29. Juli (1833). Die gefammte Ar
lage war von der Staatsbehörde in 3 Theile getrennt worden. Die erſte un)
Hauptverhandlung war die gegen Wirth, Siebenpfeiffer, Hochdoͤrfet,
Scharpf, Beer, Roft und Eifler; die zweite blos gegen Baumann; di
dritte gegen die Fluͤchtlinge Schüler, Savoye, Geib, Große und Pifker.
Gegen die Lesten fand ein Gontumacialverfahren ftatt, bei welchem bekannt:
lich Leine Gefchmorenen mitzuwirken haben.
Das in Rheinbaiern noch geltende Napoleonifche Procedurgefeg legt dir
Bildung der Geſchwornenliſte ausfchließlich in die Haͤnde des Präfecten odit
Megierungspräfidenten (damals Frhrn. v. Stengel). Es war fonad vorher:
zufehen, daß unter den zu Schwurmännern Berufenen fih Fein Anhänger
der Angeklagten befinden werbe. Dagegen war aud) Nichts zu erinnern. Sn:
deſſen erſcholl ein Schrei allgemeiner Indignation, ale die Lifte ſelbſt bekanrt
ward. Unter ben 24 zu Geſchworenen ernannten Leuten befanden fich nc-
men:lih : 6 Bürgermeifter oder Adjuncten ’), 4 Eöniglihe Domainen:
8) Es laͤßt fich unmöglich verfennen, daß dieſes Urtheil des Appellaticene:
gerichts in fehr grellem Widerfpruche fteht mit einem andern Urtheile diefes nehm:
lihen Gerichtes, durch welches daffelbe ein Jahr zuvor eine verfuchte Anklage
gegen Dr. Wirth wegen feiner Drudfchriften,, inöbefondere in Sachen des Pre:
vereins für durchaus unſtatthaft erklärt hatte. Zur Erlaffung beider ur:
tbeile wirkten zum Zheil die nehmlichen Richter mit.
9) Bürgermeifter und Adjuncte dürfen in Rheinbaiern nicht vem Molke cr:
wählt werben, fondern die Regierung allein ernennt biefelben, und zwar
auf Ruf und Widerruf !
Hambacher Feſt. 668
infpeetoren, Rent⸗ und Hypothekenbeamte, 3 koͤnigliche Cantonsphyſici,
2 koͤnigl. Forſtmeiſter und 2 koͤnigl. Notaͤre, ſonach von vorn herein 17 Bes
amte der Regierung. Und auch den Reſt ber Richtangefteliten hielt man aus
andern perfönlichen Verhaͤltniſſen ber Mehrzahl nach, keineswegs für ums
befangen. —
Gleich in ber erſten Sitzung ftellte ber eine der Verteidiger, ber (auch
als Deputirter ehrenvoll bekannte) ausgezeichnete Anwalt Culmann (ber ältere
Bruder) den Antrag auf Streichung von & der auf bie Geſchwornenliſte ger
festen Beamten, weil diefelben nicht einmal die aͤußeren Bedingungen befäßen,
Geſchworene fein zu Einnen. So unwiberlegbar bie Richtigkeit der Einrebe
fchien, fo glaubte doch das Bericht, d. h. es glaubten bie hierin allein entſchei⸗
denden angeftellten Richter nad) anberthalbftündiger Berathung biefen
Antrag zuruͤckweiſen zu müflen, nicht weil er unbegründet fei, fonbern —
weil das Gericht fih incompetent halte, die von ber Regierung einmal
aufgeflellte Lifte zu prüfen, — eine Theorie, nach welcher es der Res
gierung freiftand, 24 Chevaurlegers in eine Affifenfigung zu fenden, aus beten
Anzahl dann die 12 Geſchworenen ohne Widerrebe genommen werben müßten.
Die Verhandlungen des erflen (Haupt) Proceſſes dauesten nun in
19 Sigungen bis zum 16. Auguft. Die Anklage wurde in mehrfacher Bes
ziehung fehr ungeſchickt geführt durch ben Generalſtaatsprocurator Schenkl,
einen wenig befähigten, wie Viele glaubten, nur wegen feiner blinden Er⸗
gebenheit gegen bie Megierung zu jenem hohen Poften beförderten Dann.
Die Vertheibigung , welche eine Fuͤlle von Intelligenz in fich vereinigte, war
ihm weit überlegen. Dazu kamen bie dußeren Berhältnifle den Angeklagten
fehe zu flatten. Die Art der Bildung der Geſchwornenliſte und jenes In⸗
competenzurtheil des Affifengerichtes hatten den Eindruck und zwar auch bei
den Schwurmännern felbft gemacht, als habe man ihnen bie unwürbige Auf⸗
gabe zumeifen wollen, als blinde Verurtheilungsmafchinen zu wir⸗
ten. Außerdem fchadete fich die Regierung ebenfalls ſelbſt, indem fie den
Drud der Verhandlungen unter Cenſur feste — eine Maßregel, bie einer
feits verfaffungswibrig war, indem nach ber Eonflitution mur „die politifchen
Zeitungen und periobifhen Schriften politifchen ober ſtati⸗
ſtiſchen Inhalte” der Cenſur unterliegen ſollen, und bie andrerfeits doch
Nichts nuͤtzte, indem das in Baiern Geftrichene bald im Auslande gedruckt
ward, nachdem es ohnehin, bei ber Deffentlichkeit ber Verhandlung, Dunderte
gehört hatten. —
Aber auch abgefehen von allen derartigen Dingen, Eonnte das Refultat
bes Proceſſes ſchon während ber Verhandlung nicht zweifelhaft fein. Die An»
lage gründete fid, auf eine Verlegung der Beflimmung bes Art. 102 des
franz. Strafgefepbuches, welcher von „unmittelbarer — directer“ —
Aufforderung zum Aufruhre ꝛc. handelt. Nun haben wir oben ſchon bei
Schilderung des Hambacher Feſtes hervorgehoben, wie die Redner bios in
leeren Declämationen gegen bis Fürften fich ergingen,, ohne irgend einen wei⸗
teen durchgreifenden leitenden Gedanken, ohne irgend einen befkimmten Ans
trag ober Vorſchlag, umb wäre e8 auch der praktiſch unverſtaͤndigſte geivefen.
— Es wurden bei der Verhandlung nicht iger als SO Belaftungszeugen
\
vernommen, Leute aus den verſchiedenſten äußeren Verhaͤltniſſen und von den
abwelchendſten politifhen Meinungen, Aber nit Einer Fonnte ausfagen,
iegend gehört zu haben, daß einer der Angeklagten in feinen Feſtreden „direct“
(wie 8 das Gefes ganz ausdrücklich befagt) zum Aufruhr aufgefordert habe;
Telbft die von den Verwaltungs: und Gerichtsbehörden an Ort und Stelle ge
fendet geweſenen Beamten , wie namentlidy ber Landeommiffär von Meuftabt
und der Staatsprocurator von Frankenthal, mußten die Frage verneinen,
ob fie einen folhen „unmittelbaren Aufeuf vernommen hätten ?
Es war fomit augenfdyeinlic , daß die Regierung fehr übel berathen ge
wefen, al& fie diefen Proceh begann. Die Gefangenen feierten jegt erſt einen
wahren Triumph, indem fie ald grundlos Verfolgte, ald Märtyrer erfchienen.
Ihre Betheuerung, daß fie um Erhaltung der Ruhe am Angelegentlichften bes
forgt_gemefen, wußte Jedermann auf den wahren Werth zuruͤckzufuͤhren.
Allein ihre Vertheidigung, namentlich die Reben von Wirth und von Sieben:
pfeiffer, daneben insbefondere bar meifterhafte Vortrag bes älteren Gulmann,
— eigentlich alle Reden der Gefangenen und alle der Bertheibiger — ftellten
bie Regierung , ſowohl in Beziehung auf bie Befählgung iheer Organe mie in
Beziehung auf die Abſichten, im übelften Lichte dar.
IV. Ehe nun aber die Verhandlungen zum Schluffe gelangten, trugen
ſich zu Landau Vorgänge zu, bie alles Nechtsgefühl empörten. Es war
moralifh unmdalid, baf bei bem obwaltenden Thatbeſtande, — bei
dem unverkennbaren Nichtvorhandenfein einer „directen“ Empörum
derung, — die Geſchwornen ein anderes Verdiet als das des „Nich tſchul⸗
dig!" ausſprechen Eonnten. Das Gegentheil wäre ein augenfcheinliche
abfichtliher Juſtizmord gemwefen, und biefen traut man in einem Lande,
in welchem das ganze Volksthum mit dem Juryinſtitute gleihfam verwachfen
ift,, den Schwurmännern nie zu. Die Freunde der Angeklagten fahen dahet
mit vollfter und freudigfter Zuverficht der Entfcheidung entgegen. Sie hatten
nicht nur Fein Intereſſe, irgend flörend einzuwirken, fondern e8 mußte über:
haupt Alles, was biebei ftören Eonnte, ihren Wünfchen und Abfichten im
höchften Grade entgegen fein. Zudem wäre es, felbft bei entgegengefegter
Sachlage, eine wahrhaft wahnfinnige Handlung gewefen, in der ſtark
befegten Feftung — mit ihrer Garniſon von mweniyftens 4000 Dann fammt
Hunderten von Kanonen — eine Ruheftörung verfuchen zu wollen. Wenn
eine folche alfo dennoch flattfand, fo hat man die Veranlaffer vernünftiger
Weiſe uͤberall eher als in den Reihen der Sreunde und Anhänger der Angeklags
ten zu ſuchen. —
Mie dem fei — die Ruhe und Ordnung in Landau ward auf einmal
arg geftört.
Mehrere Tage lang fuchten die Soldaten, namentlid vom Megiment
Wrede, Streit mit Civilperfonen. Nachdem eine auffallende Mishandlung
eines geachteten Gaſtwirths zu Landau durch einen Officier vorangegangen, gab
am 12. Auguft die Kirchweihe in dem eine halbe Stunde von der Stadt ent;
fernten Dorfe Bodramftein eine befondere Gelegenheit. Indeſſen gelang es
dem dortigen Bürgermeifter, zu verhindern, daß es zu mehr ald einzelnen
Mishandlungen von Civilperfonen Fam.
EEE
Hambacher deſt 668
Am Nachmittage des 13. Auguft zogen In Landau Soldaten von dem
genannten Regimente in Haufen in verfchtedene Bierhaͤuſer. Sie fuchten
Händel und ſchrieen: „Es lebe Altbaiern! Es lebe der Fuͤrſt Wrede!“ (Der
Regierungsdirector Fuͤrſt Wrede befand fich feit zwei Tagen in Landau.) Man
vernahm fogar von in den Straßen umherziehenden Soldaten bie Aeußerung:
heute müffe es über bie Liberalen hergeben. — Die Eivilperfonen wichen jedoch
den Streitfuchenden aus, indem fie fich namentlicd) aus jenen Bierhäufern
entfernten.
Es war um 8 Uhr Abends, als ein in dem benachbarten Orte Nußdorf
mwohnender Bürger (Schimpf), in Begleitung zweier Frauenzimmer, auf
dem Heimmege begriffen, ruhig durch die Straße ging, an welcher das Ber
zicksgefängniß gelegen iſt und im dem während der Dauer der Affıfe die Ans
geklagten untergebracht waren. Eine daftehende Wache vermehrte barfch das
Vorübergeben., Dem Nichts ahnenden Dann entfuhr ein Ausbrud des Er⸗
ſtaunens. Augenblicklich fiel der wachehaltende Soldat Über ihn her und
nahm — gefegwidrig — beffen Verhaftung vor. Gogleich erfchtenen nicht:
etwa eine Wache, fondern — eine Dienge einzelner Soldaten. Gie fielen
nicht nur über jenen Bürger, ſondern über alle zufällig in der Nähe befind⸗
lichen oder unter ihren Thuͤren ſtehenden Leute mit geänzenlofer Wuth ber.
In einiger Entfernung meinten verfchiedene Leute, «8 brenne im Gefängniß,.
weshalb auch fie dahin eilten. Die Soldaten aber fielen wie rafend auch
über fie her, unter dem Feldgefchrei: „Ihr bürgerlihen Hunde!” Häufig
hörte man auch ben Ruf: „Wir wollen bie Sreiheitsprediger niebermachen,
wir wollen ihnen bie Köpfe abfchlagen.” Aber nicht blos die auf der Straße
anwefenden Leute wurden mishanbelt, bie Soldaten fchlugen in der ganzen
Gegend alle Kenfter zufammen. Einzelne Haufen drangen felbft in bie
Wohnungen ber Bürger ein. Ein Kind in der Wiege foll fogar mie:
handelt worben fein. Steine wurden in bie Zimmer gefchleudert. Der
Wurf eines dicken Steines traf einen Mann auf ben Kopf und verlegte ihn
lebnesgefaͤhrlich. Weberhaupt wurden viele Perfonen ſchwer verwundet. So⸗
gar ber Lönigliche Landcommiſſaͤr, der hoͤchſte Civilbeamte in Landau, ber
berbeigeeilt war, mußte bie Slucht ergreifen. Mehrere Menfchen fluͤch⸗
teten in den Hof des (nahe gelegenen) Eöniglichen Landeommiffariatsgebäudes.
Die Soldaten drangen ihnen nah. Ein Diener des königlichen Landcom⸗
miſſaͤrs, der das Thor des Gebäudes zu fchließen fuchte, ward von ben Ras
fenden angefallen, geprügelt und bis in das zweite Stockwerk des Haufes vers
folgt. In das Haus eines andern Bürgers (Schnell) drangen ebenfalls 7 ober
8 Soldaten, mishanbelten ben Dann und wollten ihn gewaltfam auf die »
Straße reißen. Selbft an Häufer im ganz entgegengefegten Theile der Stadt
(3.8. an jenes des Kaufmanns Wolf) kamen Soldaten mit blanfen Waffen
und unter mörberifhen Drohungen. — Drei ſchwer verwundete Bürger,
denen auch nicht das geringfte Vergehen nachgöwiefen werden konnte, wurden
auf die Hauptwache geſchleppt. Der Staatsprocurators Subflitut des
Landauer Bezirksgerichts ſelbſt hielt zu feiner Sicherheit nöchig ; ſich von zwei
Gensd'armen nach Haufe begleiten zu laffen. Der eine der Vertheidiger,
der fich um biefe Zeit (8 Uhr) bei feinem Clienten befand, mußte ſich ſchrift⸗
666 Hambacher Belt.
Ulch an ben Generalprocurator wenden, um ein fichered Geleite im feine Mob»
nung zu erhalten. Selbſt nad 9 Uhr durchtitten Chevaurlegerd-Patrowillen,
zum hell im Galopp, zum Theil in geſtrecktem Trab, die engen Straßen
der, Stadt, wobei fie nach den ihnen aufftoßenden Eivilperfonen mit ben Saͤ—
bein hieben, fo daß mehrere Leute durch Streifhiebe verlegt wurden.
Um folgenden Morgen, 14. Auguft, begannen die Exceſſe von Neuem
Soldaten, die ſchon in aller Frühe betrunken waren, ſchlugen in mehreren
Häufern der Judengaffe, ohne die geringfte VBeranlaffung , die Fenſter «in.
&o ziemlich alle hatten Geld, um in ben Wirthshäufern nach aller Luft zu
Bei Eroͤffnung der Affifenfisung vom 14. Auguſt fillte Anwalt Cul⸗
mann ber Aeltere den Antrag, daß ber Präfident des Berichts zur Sicherheit
ber Rechter flege und des ruhigen Hortganges der Verhandlungen in Beziehung
auf bie ſtallgehabten und die noch deobenden Vorfälle bie geeigneten Mai
regeln treffen möge, Auch bat er, daß mit den Verhandlungen nun ununter
beochen fortgefahren werde. Ein anderer der Vertheidiger, Anwalt Golfen,
fügte bei, daß den Gefhmworenen, für ben Fall fie ein Nicht ſchuldig
erflärten, gedroht morden ſei. Mehrere der Juries, namentlich Brun
ner, Botte und Dechen, beftätigten bies; ber Letztgenannte fügte in
deſſen mit ebrenbafter Feftigkeit bei: man möge ſich darüber berubigen, bie
Geihworenen mürden ſich in ihrem Urtheile durch Drobungen nicht beftim:
men, nicht jchreden laffen. — Siebenpfeiffer hob hervor, daß ce von
ben Fenſter feines Gefängniffes aus zugefeben habe, wie ein Bürger von Sol:
baten auf abfchenliche Weiſe mishanbelt worden fei; von feinen Gefühlen
überwältigt, habe er ihnen zugerufen: „Bluthunde, laffet den Mann ge
hen!” Im Augenblick fei auf ihn das Gewehr angefchlagen worden, fo daf
er, um nicht erfhoffen zu werden, fih vom Fenfter habe hinweg
flüchten müffen. Wie e8 fcheine, wolle man wieder ſyſtematiſch wie in Neu:
ftadt und Hambach verfahren: derfelbe Reiter oder Anftifter fei ja gegenmärtig.
Sie, die Angeklagten, wollten nun, um die Sache zu befchleunigen, Nichts
weiter mehr zu ihrer Vertheidigung fprechen. — Fuͤrſt Wrede blieb aleichfam
theilnahmlog bei diefem Vorkommniſſe in der Sigung, doch verließ er nad
derjelben alsbald Landau wieder. — Der Affifenpräfident erklärte auf die an
ihn gerichtete Aufforderung, er habe blog die Ordnung im Sigungsfaale
aufrecht zu erhalten. Der Generalprocurator fuchte die Vorfälle zu verfchleiern
und al8 unbebeutender barzuftellen. Da indeffen die Nachricht von den am
nehmlichen Zage neuerdings vorgefommenen Erceffen bekannt wurde, fo rich:
tete der Affifenpräfident ein enerzifches Schreiben an die Stadt: und Feſturgs—
commanduantfchaft, worauf der commandirende General Brauan denn felbfi
in der Stadt umher ritt, um die Ordnung aufrecht zu erhalten. Offenbar
hatte man falfhe Gerüchte unter den Zruppen verbreitet, um fie gegen die
Civilperfonen zu erbittern. Auch war es auffallend, woher die Soldaten daß
Geld zum Zechen erhalten hatten; man wollte behaupten, es fei folches unter
ihnen ausgetheilt worden. — Einen tiefen Eindrud batte namentlich der
Umftand hervorgebracht, daß fhon am Morgen des 13. eine ganze Stunde
lang Uebungen mit einer Kanone aufdem Wall in der Weile vorgenommen
sr...
-
x
r
Semi 0
wurben, baß durch dieſelbe gerabe diejenige Straße beftrichen warb , in wels
cher fidy das Sigungslocal bes Affifengerichts befand. —
V. Da einer der Sefchworenen (Brunner) aus Alteration erkrankt war,
fo mußten die Affifen-Sigungen einen Tag lang unterbrochen werben. Dann
aber wurden fie fortgefegt und möglichft beſchleunigt. Schon am 16. Auguft
erfolgte die Entfcheidung?). Die Geſchworenen fprachen auf alle an fie
gerichteten Fragen das Nihtfchuldig aus; — ein Spruch, der (obwohl
man ihn mit Beflimmtheit vorhergefehen) dennoch einen umbefchreiblic) täefen
Eindrud im ganzen Lande, ja in ganz Deutfchland hervorbrachte; — ein
Spruch überdies, den man im übrigen Deutfchland, wo man die Verhält
niffe nicht genügend kannte, vielfach als Ausfluß der Parteileidenfchaft darzu⸗
flellen und als fchneidende Waffe gegen das unfchägbare Inſtitut der Jury zu
misbrauchen fuchte, — während es in Wirklichkeit Beine Freunde ber Anger
klagten, fondern einfeitig von der Megierung ausgefuchte Männer, größten:
theils fogar Beamte waren, von denen bie Entfcheidung ausging, von
benen fie aber gerade in ber Weife, wie fie erfolgte, gefprochen werden mußte,
wenn diefelben nicht gegen den Maren Buchſtaben des Geſetzes handeln, wenn
fie nicht augenfcheinlich wiſſentlich einen empörenden Juſtizmord auf ihr
Gewiſſen laden wollten. — Die Regierung mar es gewefen, bie einen
Fehler begangen hatte, Indem fie eine folche, in der Art wenigſtens, mie fie
erfolgte, duch Nichts begründete Anklage erhob. Eigentlich war es ohne:
bin fchon ein Misgriff, diefe dee Mehrzahl nach fo hoͤch ſt unbedeutenden
Leute zu ben ihr Hochgefährlichen Gegnern zu flempeln, während diefels
ben, Wirth und Siebenpfeiffer ausgenommen, kaum beachtenswerthe, ja
höchft unbedeutende Menſchen waren. In jedem andern Falle würden bie
Megierungsorgane nicht ermangelt haben, fich über dieſe Studenten, Can⸗
bidatn, Bürftenbinder, Krämer, arme Buchdrucker u. ſ. f. luſtig zu machen,
als über Leute ohne Einfluß und ohne Befähigung.
Indeſſen wurben von den unfhuldig Erklaͤrten nicht mehr als zwei
(Scharpf und Eifler) wirklich in Kreiheit gefegt, indem man die Hambacher
Meden und bie Drudfchriften, auf welche fi die Griminalantlage ge
gründet hatte, nunmehr zu zudhtpolizeilichen Verfolgungen benügte,
obfhon von der andern Seite, jedoch völlig erfolglos, ber alte Rechtsgrund»
fag: non bis in idem , geltend gemacht zu werden fuchte.
Nach Freiſprechung der Hauptangeklagten war die Nichtfchuldigerkläs
rung Baumann’s eine Nothwendigkeit. Sie erfolgte bei Beendigung der
zweiten Abtheilung bes Procsfies am 22. Aug. Auch biefee Dann warb
übrigens nachträglich noch vor das Zuchtpolizeigericht geftellt.
Den dritten Theil des großen Procefies bildete das Contumacialverfahren
(mobei, tie bemerkt, Beine Geſchworene mitwirken) gegen die 5 Fluͤchtlinge
Schüler, Savoye, Selb, Große und Piſtor. Es begann am 24. Auguſt und
endete am 29. Die 3 Erften wurden wegen bes Complotts freigefprochen,
und Geib überhaupt unfchuldig erklärt; Exhüler und Savoye dagegen wegen
— m
10) Die Soldaten bes Wrebe’fchen Regiments waren an biefem Tage in
ihre Gaferne beordert.
668 Hambadher deſt
eines Beitungsartifels zu 10jähriger Verbannungverurtheilt; gleiche
Strafe ward wider Große verhängt, und Piſtor zu einjährigem Gefängniffe
condemnirt. |
Eine furchtbare Reihe von zuhtpolizeilihen Proceffen unb (mit
an; wenigen Ausnahmen) von Verurtheilungen ſchloß fih an jene
Affifenverhandtumg an. Der Artikel 222 des franz. Code penal erhielt auf
einmal eine Auslegung, bie man bisher gar nicht geahnet hatte, — er mufte
num gleihfam auf alle möglichen Fälle paffen, bie in einem ganzen Preß-Coder
vorzufehen fein mögen; ja noch weit mehr als dies! Wegen einer unſchicklichen
Aeußerung gegen den König ward ber Art. 222 anwendbar erklärt, dad
Staatsoberhaupt ſonach (ganz direct gegen alle fonft fo ftreng feſtgehaltenen
Grundfäge) zu einer bloßen Magiftratsperfon geftempelt!!!) Hatte
Demand eine Rigierungsmaßregel getadelt, fo. mußte er mindeftens bie Mi:
nifter beleidigt haben und er verfiel der Strafe des Art. 222! Hatte Jemand
eine Proteftation gegen bie befannten Bunbesbefchlüffe vom 28. Juni 1832
unterzeichnet, fo mußte er die „Delicateſſe“ des baier. Bunbestagsgefandten
verlegt haben; er verfiel dem gleichen Strafartifel! Hatte Jemand auf der
Lanbftraße einen Chauffeefrager (Wegaufjeher) gefhimpft, fo kam berfelbe
Paragraph des Code penal in Anwendung wie beim Staatsoberhaupte! —
Traurige Zeit, aus der man foldye Dinge, und zwar in Moffe, erzählen kann!
Es würbe zu weit führen, wenn mir alle darauf begruͤndeten Condem⸗
nationen einzeln aufzählen wollten. Genug, es wurden namentlid Wirth,
Hochdoͤrfer, Siebenpfeiffer u. f. f. zum Marimum ber Strafe verurtheilt.
Dem Festen gelang es zwar, aus feinem Gefängniffe zu entfliehen , die An:
dern aber wurden in dem Gentralgefängniffe zu Kaiferslautern gezwungen,
fih mit gemeiner Arbeit zu befchäftigen 5; ja gemwiffe hoc) ftehende „Ma:
giftratsperfonen” zu Speyer und München äußerten ihre durch das Gefeg
oder vielmehr die Gerichte fo gewaltig in Schug genommene „Delicateſſe“ in
der Meife, daß fie ſich eigens diejenigen Strümpfe von dem Inſpector jenes
Sefingniffes fenden ließen, welhe Wirth und Hochdörfer hatten ftriden
muͤſſen. Und deffen rühmten fie fih! — Eine Kleinlichkeit, aber bezeich-
nend für bie herrichenden Zuftinde und — die Menſchen. —
Wie die politifhen Proceſſe maffenweife flattfanden, mag man
u. %. daraus erfehen, daß man 30 Unterzeichner einer Proteftation gegen
die befannten Bundesbefchlüffe auf einmal und gemeinfam verfolgte (ein
Proceß, der am Zuchtpolizeigerichte zu Kaiferslautern, dem Appelihofe zu
Zweibrüden und dem Gaffationshofe zu Mündyen verhandelt ward, und ebenfo
11) Der Art. 222 des in der Pfalg geltenden franz Code penal lautet:
„Wird einer oder mehreren obrigkeitlichen Perfonen (magistrats) aus dem Mer:
waltungs: oder Qufti:fache in der Ausübung ihrer Amteverrichtungen oder gele:
gentlich diefer Ausübung irgend eine Beleidisung durch Worte (par paroles)
zugefügt, die ihre Ehre oder Delicatefje angreifen, jo foll Derjenige, der fie auf
foiche Art beleidigt bat, mit cinem Gefängniffe von einem Monate bis zu zwei
Zahren beftraft werden.” — Diefer Art., der ausdrüdtich von Beleidigungen
„duch Worte” handelt, mußte nun namentlich einen ganzen Preßcodex er:
etzen.
EEE
.
-
.
“
Hambacher Belt. 669
mit VBerurtheilungen zu Gefängnißftrafe endigte). Ebenfo wurden ein ander⸗
mal 38 Frauen und Sungfrauen von Neuftadt vor Gericht geftellt, weil fie
weibliche Arbeiten hatten ausfpielen lafjen, um mit dem dadurch erlangten
Seldertrage die — meiſtens aller Mittel mtbehrenden — Familien ber bei
der Landauer Aſſiſe Angeklagten (nicht einmal diefe felbft) zu unterſtuͤtzen. —
Leider reiheten ſich aber auch noch andere traurige Vorkommniſſe an bie
bezeichneten an. Faſt überall her vernahm man von Streitigkeiten zwifchen _
Militair und Civil, die vielfach biutig endeten. Die dem Bürgerftand An-
gehörenden hatten Längft genug erfahren, um, mit feltenen Ausnahmen, nicht
muthmillig die oft entzügelte Soldatesta herauszuforderın. Einzelne Vor⸗
kommniſſe bei dem aͤrgſten jener Streithändel beweiſen audy durchgehende
allein ſchon deutlich genug, auf welcher Seite die Erceffe flattfanden. Go
mußte zu Speyer, Anfangs Juni, dee Adjunct vor den ihn mit bloßen Saͤ⸗
bein verfolgenden Soldaten flüchtig gehen ; zu Pirmafens ward in der zweiten
Hälfte des Juli felbft der Polizeicommiffair duch Militairperſonen, bei
einem argen Kampfe, ben biefe mit Bürgern hatten, verwundet ; in Zwei⸗
brüden fah fih der Staatsprocurator Heing, als er nad) ber Lans
dauer Affife mit zweien der Vertheidiger einen Spaziergang machte, gends
thigt, mit diefen zu fliehen, um Mishandlungen zu entgehen; zu Dürkheim
namenilich aber wurden zur Zeit bes Wurftmarktes (28. Sept.) Civilperfonen
in Maſſe des Abends von Gensd'armen und Soldaten mit Waffen überfallen
und verwundet. Dennoch hörte man lange Zeit gar nicht, daß auch nur ein
Militate wegen Erceffen gegen Bürger beftraft worden fel. Als aber end»
lic) ein Gensd'arm doch einmal wegen greller Mishandlung zur Strafe ges
bracht wurde, erfchien alsbald eine bloße Werorbnung, durch welche die
Sensd’armerieunterdie Militairgerichtsbarkeit geftelltwarb, während
fie den beſtehenden Gefegen nad) unter ben gewöhnlichen (Cwil⸗)
Gerichten fand. —
VI So verhielt «8 fi in Wahrheit mit dom Hambacher Sefte, der
Landauer Affife und dem; mas ſich unmittelbar daran knuͤpfte. Das Bild
ift freilich ein anderes als das, welches man ſich gewöhnlich nach ben bis
jest faft allein befannt gewordenen Angaben von Hofpubliciften entwirft.
Dennoch iſt es ein wahres und treues Bild. Auch kann der Verfaffer um fo
mehr mit Unpartellichkeit fprechen, als er, wie man gleich aus dem Anfange
biefer Abhandlung erfehen haben wird, Kein Freund von „Hambachiaden“ iſt.
Zum Schluffe fei nur noch bemerkt, daß, als der Kronprinz von Balern
fi) 1842 vermählte, überall in der Pfalz Geldfammlungen veranftaltet wur⸗
den, um ihm ein Hochzeitsgeſchenk zu machen. Die Perfonen, welche ſich
an die Spige der Sache ftellten, Bauften mit dem Extrage die (menig koſt⸗
fpielige) Hambacher Burgruine und machten diefelbe nun bem Kronprinzen
zum Geſchenke. Sehr allgemein ward diefer Schritt als hoͤchſt ungeeignet
getabelt. Insbeſondere würde es den Leitern ſchwer gehalten haben, nach⸗
zumeifen, daß gerade die ſes Geſchenk im Namen des Kreifes gegeben
werden koͤnne; — das Banze ward als ein Werk blos einer Handvoll Leute
bezeichnet, unter denen Beamte bie Hauptrolle fpielten. Anderſeits ward
bies gleichfam als ein Sähnopfer für bie aufjenem Berge beganger
‚670 | Hamburg:
litiſchen Keßereien bargeftellt. Bier dem — — —
vuine feitdem wieder aufbauen, und fein Vater, — hatte
die allerhoͤchſte Gnabe zu genehmigen, dafı diefelbr be tusthuhtep keu
Marburg (nad) dem Namen des —— führen dürfe. Die er
Hambach felbft aber ließ ſich beftimmen, dem Beſitzer ber Burg für
‚alle Zeiten das Iagdrecht im gangen Banne der Gemeinde als Geſchenk
darzubringen, — ein Schritt, der ebenfalls ftarken (term duch unter den ge:
Km ini br Dur Die frage Divtuten gi abgehen
R a
Sagd- Rechte erblicken will.
Hamburg. (Zu ©. 785) Wenn diefe Sligge, nach akt
Zahren von derfsiben Hand überarbeitet, in ihren xalfonnireniden Theil
mehrfach und weſentlich verändert erfcheint, fo wid wenigſtens bie Eon-
fequenz bes politifchen Standpunktes, aus welchem fie damald und jegt
gefaßt worden, ſich nicht verleugnen. Man kann darauf dringen, daß
keine ee peräbfängnt al * ri re ben Ber
+ ge nen ju tollen. Dan t kann dem Gegebenen und
lebenden, der Ars zu ta Theorie und den gangbarften Spftemen
—* — fein Recht einräumen; man mag alle natuͤtliche und löbliche Scheu
bewahren, ohne Moth ing Lebendige zu fchneiden, wenn «8 blos der Theorie
ober gar bem Erperiment zu Liebe fein follte: aber fo lange e8 wahr bleibt, daß
ein Zag den andern lehrt, fo lange werben die Zeichen der Zeit wahrgenommen
werden müffen, um das Maß der zu erfirebenden Neformen zu beflimmen.
Wenn man darauf verzichtet, aus irgend welchem theoretifhen Geſichte—
punfte die gegebenen Zuſtaͤnde einer Kritik zu unterwerfen, nad) irgend wel:
chem Spftem fie umjuformen, als hätten fie nicht bereits ihre Gefchichte,
als follte das Werk der Schöpfungstage von vorn wiederum anheben ; wenn
man dagegen ſich befcheidet, die Erfahrung zu befragen, ob bie Formen ſich
überleb haben oder nicht, ob bie Anftitutionen ihren Zweck erfüllen ober
nicht, fo mwirb man bie Bahn des Fortſchritts nicht abichliefen, man mirb
fie offen halten müffen. Wird das Begehren mäßiger Conceifionen überhört,
fo muß man nicht nachgeben noch ftehen bleiben, fondern man muß weiter
gehen und ein Mehreres verlangen. Die Erfahrung waltet in den politt:
fhen Dingen glei) der Sibylle: verſchmaͤht ihre Gabe das erjte Mal und
das zweite, Ihr werdet für den Meft den vollen Preis zu entrichten haben
und wird Eud) Fein Scherflein erlaffen werden. Eine Zeit der ungewohnten
Ereigniffe, der ſchweren Prüfungen ift vor Allem geeignet, Beides bie Stärke
der Öffentlichen Sinftitutionen zu erproben und ihre Schwächen zu eutbüllen;
eine folche Zeit hat in den leuten Fahren der Hamburgifche Freiſtaat durchlebt.
Mir reden von den Maitagen 1842 und deren Folgen. Nicht bier
kann ber Det fein, wieder zu erzählen, „was wir ſchaudernd ſelbſt erlebt.‘
Hamburg. 6871
Wohl aber iſt ein Blick zu werfen auf bie politifche Phyſiognomie des Er
eigniſſes.
N Mangel einer Eräftigen Einheit der oberfien Leitung gehörte zu ben
allgemeinſten, von keiner Seite abgeleugneten, oder auch nur beftrittenen
Wahrnehmungen. Der entfchiedenfte Anhänger heilfamer republikaniſcher
Eiferfucht gegen das monarchiſche Princip und was dem anhängt, kann ſich
nicht darüber täufchen, daß eine Verfammlung, fo zahlreich wie der Ham⸗
burgifche Senat, nur wenig geeignet fein kann, in ganz außerordentlichen
Umftänden zu walten, wie das Bedürfniß des Augenblicks es erheiſcht. Die
ausgebildetfte Gefchäftsordnung, bie volllommenfte Xheilung der Arbeit
würde die Einheit nicht erfegen. Zugleich aber muß uns vergönnt fein zu
glauben, daß die Buͤreaukratie anderer Staaten der furchtbar ſchweren Aufs
gabe nicht bisher genügt haben würde. Nicht zu den oberſten Civilbeamten,
fondern zu militärifchens Oberbefehl würde man ohne Zweifel in der Haupts
ftadt eines monarchiſchen Staates unter auch nur entfernt ähnlichen Verhälts
niffen feine Zuflucht genommen haben. ber es hätte irgend eine hervorra⸗
gende Perfönlichkeit des Fürftenhaufes das Vorrecht der Geburt und die Ges
wohnheit des Herrſchens und vermuthlich auch die Mebung des militärifchen
Befehlswortes für fich in Anfprudy genommen. Run, wir find ber Mei⸗
nung, daß eine republitanifche Verfaſſung es ſich nicht verwehren müßte,
noch ſchlimmer dabei fahren möchte, einen Dann bes öffentlichen Vertrauens
für ſolche Bälle an die Spige zu fielen. Dis Gefchichte hat das Beifpiel
der römifchen Dictatur nicht vergebens bewahrt. Diefer Eindrud, uns
mittelbar nach dem Urgläd fo lebhaft und meitverbreitet, ift am früheft:n
dem behaglichen Gefühl der hergeftellten Alltagsorbnung gewichen. Es hätte
nicht fo fein müflen. Eine fo ernfte Warnung muß nicht verloren geben.
Dog an die Nichtbeachrimg folcher Erfahrung die Wiederkehr einer geoßen
Gefahr fich knuͤpfen kann, tft nicht etwa ein Staatsgeheimniß, das man dien⸗
lichſt verbergen, es iſt eine Wahrheit, die man anerkennen und deshalb
Fuͤrſorge treffen müßte für die Zukunft. |
Andere dagegen und erfreuliche Wahrnehmungen finden wir unmittels
bar in der Natur republitanifcher Werhättniffe begründet. Die Züge von
unerſchrockener Pflihterfüllung, von aufopferndem Muth (erinmern wir nur
an die an ein Wunder gränzende Rettung der Boͤrſe durch neun Männer,
unter ber Leitung von Theodor Dill, dem ber Entſchluß angehört) —
folche Züge find wir weit entfernt, an und für fi in eine Verbindung mit
befonderen Staatsverhältniffen bringen zu wollen. Aber wer es gefehen bat,
wie dem moralifchen Einfluß des Einzelnen weit und frei die Bahn eröffnet
war; wie Derjenige, der das Rechte empfahl und Hand ans Werk legte, bie
willigfte Folgeleiſtung fand, ohne bag ein Menſch nach feinem Auftrag, nadı
feiner Vollmacht gefragt hätte; wie diefe Art der freiwilligen Thaͤtigkeit nicht
allein, fonbern des umbeauftragten Ordnens und Gebietens, durch das Ge⸗
fammtbewußtfein gerechtfertigt, von ber Menge ſowohl ale von den Behörden
als felbftverflanden betrachtet ward; mer das Zuruͤcktreten bes Einzelnen
nach vollbrachter Muͤhwaltung, überhaupt das Zurüdweichen aller beſonde⸗
ren Anfprüche, im Lohn des ſtillen Bewußtſeins, ohne irgend welchen Nim⸗
ı -
672 Hamburg.
bus einer Äußeren Auszeichnung, beobachtet hat, ber wird geſtehen, baf
die Anftrengung und Aufopferungsfähigkelt des Einzelnen für bas Ganze in
Bürgerftaaten einen unterfcheidenden Charakter trägt. Auch ein organiı
en Element erprobte die Kraft des Buͤrgerthums, mitten unter ben
Birren, auf überraſchende Weife. Als die Gefahr aufs Hoͤchſte flieg , durch
die frevelnden Ausbruͤche, weiche im allen großen Städten bei folchen An—
läffen das Thier im Menſchen auf Augenblicke losgelaffen zeigen, «als durch
wahnmisige Gerüchte (bei großer Volksnoth ein unausbleibiidyes Hebel) bas
Schreckliche noch uͤberboten ward; da trat mit unglaublicher Schnelligkeit und
unfehlbar ſchlagender Wirkung eine freiwillige Würgerpolizei ins
Leben. Was die Behörden dabei gethan, beſchraͤnkt fich auf eine Eurze Aufı
forderung des Senats, welche den bezeichnenden Sag enthält: „bie Polizei
bürger werben patriotifch den Geiſt dieſer in der Eile entworfenen Inſtruction
mehr als ihre Worte vor Augen haben.” Bon großer Bedeutung bielbt #6
jedenfalls, daß die legte Spur einer Umordnung überwunden warb, obne
daß auch nur dem Misverfländnif Raum blieb, als hätte es daz u ‚einer aub
wärtigen Mitwirkung bedürfen können,
Nimmt man hinzu, was den Handels flaat unverfehrt aufrecht hielt:
daß, während das gefprengte Rathhaus die Silberbarren der Bank berfte, bad
tägliche Umfchreiben der Bank, die Baſis aller kaufmaͤnniſchen Operation,
Beinen Zag unterbrochen war; nimmt man —2* ber Boͤrſe, dir
großherzige Enefchloffenbeit, mit weldyer einige M (die Macht von Sa:
lomon Heine’s Beifpiel bleibt unvergeffen) jeden Verſuch des Eigennugs
aufs Haupt fhlugen — ſo mwird man dem Gemeinwefen Gluͤck wuͤnſchen
zu ber Lebenskraft, die es in ben Zagen der Prüfung bewährt bat.
Was foll man von ber brüderlihen Hilfe fagen, die in den heißen
Stunden von den Nachbarn, von der brüderlihen Zheilnahme, die, ale das
Werk der Zerftörung vollendet war, von nah und fern der bedrängten Stadt
geworden Wohl? hat die Bewegung nicht auf das Vaterland fich befchräntt;
wohl hat an fernen Kuͤſten, jenfeits der Meere, das Mitgefühl beim Wed:
fel alles Irdiſchen, wohl hat aud) die Kunde, daß eine Stätte des Melt:
handele ſchwer betroffen jei, das Ihrige gethun. Aber die Bewegung iſt
doch vorzugsweiſe als eine nationale aufgetreten; der edle Wetteifer bet
Völker und Fuͤrſten Deutfchlands galt nicht allein der Linderung menfdli:
her Noch, nicht der Welthandelsftadt, nody der Stadt, aus welcher bei je:
dem ähnlichen Anlaß reichlihe Spenden weithin gefteömt waren, er galt dir
deutſchen Stadt, bei deren Verhängniß deutfches Einheitsbewußtſein leb⸗
haft und nachhaltig erregt war.
Und aud in der Stadt war man fich bemußt, daß und in welchem
Sinn die Augen von ganz Deutfchland auf Hamburg geheftet feien. Wie wird
Ordnung in diefen Wirren, Stetigkeit für das Werk der neuen Ordnung ge:
monnen werden, toie wird über den rauchenden Zrümmern das Leben ſich ge
ftalten © Wird den taufend Anforderungen, den beijpiellofen Aufgaben des
Staates die Form der Selbftregierung, das theuer erfämpfte Vermaͤchtniß der
Vorzeit, genügen ?
a _
Hamburg. ent |
Kür ſolche Kragen fand fich ein Augenblick, und noch einer, bei ben
flüchtigften Begegnungen , fetbft ſchon an jenem Sonntag nach Himmels
fahrt, am 8. Mai, als in der Gegend, die jetzt „Brandsende“ heißt, das
Flammenmeer fein abgrenzendes Ufer erreicht hatte. Daß Vieles andere
werben muͤſſe, darüber waren Viele längft einig geweſen; daß es bei dieſem
Anlaß anders werben muͤſſe, das war eine Mahnung, bie Keiner verkennen
durfte. Eine Ztugfchrift (in einem Tag vergriffen, in der Macht mit vers
ſchledenerlei Schriften wieder aufgelegt) und der Eindruck, ben fie machte, iſt
von ihrem Urheber felbft nicht als Urfache, fondern nur ale Wirkung betrach⸗
tet worden: denn fie faßte zufammen, was auf taufend Lippen fchwebte, was
in fpäten Abendflunben unter Freunden, nach vollbrachten Tagesmuͤhen, be
flimmter durchgeſprochen war.
Es kam darauf an, für den Austaufc) ber Anſichten einen geeigneten
Kreis, für die ſich begegnenden Wünfche einen feften Vereinigungspunkt zu
gewinnen. Beides bot ungefucht in den wöchentlichen Verſammlungen ber
patriotifchen Geſellſchaft fi) bar. Hier warb eine Petition an den Senat
befchloffen und der Entwurf, als die bamit beauftragte Commiſſton ihn vor⸗
gelegt, mit 500 Unterfchriften (barımter fehr viele angefehene Bürger) bes
beit. Die Discuffion zeigte fo deutlich wie der Inhalt der Petktton ſelbſt,
daß bie große Mehrzahl nicht ein neues Werfaffungswerk , wohl aber in man-
chen wefentlichen Punkten foche Reformen begehrte, wie fie längft als noth⸗
wenbig erkannt, aber, wie es In einer Zeit des behaglichen Wohlſtandes zu
gehen pflegt, durch die Kraft ber Traͤgheit verzögert warn. Den gewalti⸗
gen, dußeren Anftoß, den das Ereigniß fo eben gegeben hatte, zur ernſtll⸗
hen Anbahnung foldyer Reformen zu benugen, das erfchien geradezu als
Pflicht %. Beifpielweife waren mehrere Punkte namhaft gemacht und
das Tchließliche Geſuch ging dahin, daß der Kath eine Bürgerdeputation beans
tragen wolle, um Innerhalb einer zu beflimmenden Zeitfeift einen demnaͤchſt
zu veröffentlichenden Bericht Uber bie arigebeuteten und fonflige allgemein
gehegte Wünfche in Betreff der Verfaffung und Verwaltung zu erftatten.
In zahlreichen Stugfchriften, gutentheils mit mehr Wärme als Kennts
niß der Verhaͤltniſſe gefchrieben,, hatte es an wohlgemeinten Rathſchlaͤgen
nicht gefehlt. Politiker, welche ganz ungenirt außerhalb des Beſtehenden
ihren Standpunkt nehmen, pflegen zu vergefien, daB man außerhalb bes
Beſtehenden nicht mohl einen Stuͤtzpunkt findet, um ben Hebel anzufegen.
Und jene Politiker hatten es dazumal noch nicht fo weit gebracht, auch nur
in irgend einem Verein von Bürgern irgend einer Claſſe für ihre vereins
zelten Stimmen einen Refonanzboben zu ſchaffen. Wenn bie Führer bee
Bewegung in ben Wünfchen, welche fie voranflellten, nicht weiter gingen,
fo waren fie gerechtfertigt durch das Maß der politifchen Bildung, welches
fie bei denkenden und wohlgefinnten Bürgern vorausfegen durften. Diefe
*) „Es find freilich nur Strohhalme, bie im Wiege liegen; aber um über
fie Hinwegzufchreiten, bebarf es doch einiger, wenn auch geringer Mädfichtös
loſigkeit, die das Grbtheit der ruhigen Zeiten nicht ift.” Ueber Reformen Ham⸗
burgs, &. 7. (Zena 1844. Frommann.)
Suppl. 3. Staatslex. 11. 43
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in ber a N a konnte natürlicher fein, als bie ein
fache Sprache des Vertrauens zu erwidern und — den Rath beim Wort zu
nehmen. Eine befondre Rüdficht Fam hinzu. Die Lage der Dinge bracht
bie Nothwendigkeit mit fi, daß eine namhafte Anleihe abfeiten des Staat
abgefchloffen werde. Aller Credit, auch der kaufmännifhe, auch ber bu
Staaten, beruht auf einer moralifhen Grundlage. So fehr jene Aengſt⸗
lien irrten, bie da meinten, jede Aeußerung einer Unzufriedenheit mit dem
Beftebenden werde dem Staatscrebit Eintrag thun, fo zuverfichtlich ließ ih
erwarten, baß ein einmüthiger Ent[hluß zu Reformen bie um
verfehrte Rebensfraft des Staates und die gedeihliche Förderung aller Anter:
effen in den Augen aller Urtheilsfähigen verbürgen werde. Auch dag fefle
Auftreten einer in ihrer Ueberzeugung klaren, inihren Maßregeln umfidti-
gen Reformpartei, felbft dem ausgefprochenen Widerftand der Behörden ge
genüber, wird die gute Meinung Auderer in Bezug auf die Confolidirung
eines Gemeinweſens niemals [hmälern. Aber fo lange die Möglichkeit eines
einmüthigen Hand in Hand⸗Gehens nicht abgefchnitten war, fo lange durfte
und mußte man ben Entfchluß vorausfegen. Sollte übrigens jene Vermu⸗
thung, daß man dem Senat durch die Petition etwas Angenehmes habe er:
jeigen wollen, wirklich irgendwo im Ernſte gehegt worden fein, fo bat der
Senat felbft fid die Mühe genommen, fie bald und unzweideutig genug zu
widerlegen.
Er gab in gehaltenen und ruͤckſichtsvollen Ausdrüden eine in der Haupt
Hamburg. 675
fache (was die Bevollmächtigung einer Bürgerdeputation betraf) ablehnende
Antwort. Es trat ziemlicdy Mar hervor und hat fi) auch nachher beftätigt,
daß der Rath in Bezug auf die Nothwendigkeit der namhaft gemachten Re:
formen nicht eben andrer Meinung gemwefen, daß er auch das Geſuch keines:
wegs erorbitant gefunden, daß ihn aber die Bewegung felbfl und die ‘Bes
nugung des Anlafjes unangenehm berührt. Dean fagt, dad Motiv feiner
abfchlägigen Entgegnung fei in dem Brundfag zu ſuchen: einer Aufregung
müffe man nicht durch Conceffionen begegnen. Diefe Regierungsmarime
bat das Wahre, daß man billige Eonceffionen machen müßte, ehe die Auf:
regung fich einftellt; zugleich aber das Gefährliche, daß fie in ihrer Con⸗
fequenz zu dee Nothwendigkeit führen tann, am Ende weit größere Conceſſio⸗
nen zu maden, als gegen die man zu Anfang ſich geiträubt. Wenn der
Senat auf diefe Gefahr hin es glaubte wagen zu können, wenn er die
Popularität verſchmaͤhte, welche ein fofortiges Eingehn auf die ihm vorges
tragenen Wünfche ihm umfehlbar zugeführt haben würde, fo hat er übrigens
eine ganz richtige Schägung ber Mittel an den Tag gelegt, über welche die
Zührer der Bewegung fürs Erſte verfügen konnten.
Die Geduld ift eine republitanifche Tugend. Wer auch immer diefen
Ausſpruch gethban haben mag; wenn er meinte, daß man mit Ausdauer
ſich waffnen müffe, wo es gilt, die Ueberzeugung Vieler allmälig zu gewins
nen und die Gleichgültigkeit Vieler allmälig zu überwinden, weil ein Durch⸗
geeifen, ein Bei⸗Seite⸗Schieben der Dinderniffe fich von ſelbſt verbietet —
wenn er das fagen wollte, fo hat er die ganze Empfindung ausgedrüdt, mit
welcher Einer, der den Dingen nicht fern fand, die Erinnerung an Beſtre⸗
bungen niederfchreiben mag, die, treu gemeint, in ihrem unmittelbaren
Erfolg der verheißenden Zeichen gar wenige aufzumeifen haben.
Es war im Wefentlichen disfelbe Verſammlung, welche zuerft zu pes
titioniren befchloffen, die nad der ablehnenden Antwort bes Mathe das frühere
Gefuch dringender und umſtaͤndlicher motiviert durch eine bis auf zwanzig
Bürger verflärkte Commifflon wiederholen ließ. Als nadı geraumer Zeit auf
dies zweite Geſuch gar Feine Antwort erfolgt war, beſchloß man (5. October
1842), die Arbeit, die man einer vergeblich beantragten Bürgerdeputation
zugedadht hatte, ohne Vollmacht einer Behörde, deren es in der That nicht
bedurfte, felbft befchaffen zu laſſen. Die ſchon erwähnte Commiſſion von
20 Bürgern warb beauftragt, „dem Senat in einer ausführlichen und motis
virten Darftellung die Wünfche und Anfichten der Bürger in Bezug auf
Reformen der Verfaffung und Verwaltung vorzutragen”.
Es ward fofort Hand ans Werk gelegt, die Theilung der Arbeit vers
abredet,, die Sectionen eingerichtet. Nach ſechs Monaten (genau mit Ab⸗
Lauf der geftedten Friſt) konnte die Anzeige gemacht werden, daß der Auftrag
erfuͤllt ſe. Die Verſammlung befchloß, daß die Arbeit, die einen betraͤcht⸗
lichen Umfang erreicht hatte, in Korm eines Berichtes an die Committenten
bucch den Druck veröffentlicht werden follte. Ein flarker Octavband — der
„Sommiffioneberihtan bie Unterzeichner der Petition vom 8. Juni 1842
(Damburg, 18435 bei Perthes, Befler und Mauke)“ — giebt Zeugniß von
der Thätigkeit von 76 Abendfigungen, abgefehen von ber auf die Redactions⸗
43
676 Hamburg.
arbeiten verwendeten Zeit. Es mag anberwärts vielleicht ohne Beiſpiel fein,
baf eine Anzahl vielbefchäftigter Männer fi abmüßigt, um ohne allen öffent:
lichen Auftrag , Lediglich der Privataufforderung dee Mitbürger ——
derartige gemeinſame Arbeiten zu uͤbernehmen, wie es in ehe
legten Jahren bei mehreren Beranlaffungen vorgekommen iſt. Daf te |
Aufforderungen willig und thätig entſprochen wird, mag immerhin als ein
Beichen der bei Vielen in gleihem Maße wirkſamen Anhänglichkeit für bat
Gemeinweſen betrachtet werden, einer Anhaͤnglichteit bie um fo aufrichtiget
iſt, je ſchlechter der Ehrgeiz rechnen würde, der ſich ein Verdlenſt daraus
machen wollte; denn , wenn irgend etwas, fo gilt das unter uns für ſelbſt
verftanden, daf Diejenigen einer ſolchen Bemühung ſich zu unterziehen hab,
bie man dazu fire befähigt hält. Zugleich aber wird es erlaube fein zu
ben, daß derlei Arbeit nicht ganz. vergeblich fein kann; nicht allein der Eifer,
ohne welchen fie niemals unternommen wäre, fondern vor Allem de de
wmein ſamkelt der Berathung, die Ergaͤnzung der Erfahrung een
das Nachdenken desAndern, die Berichtigung theoretifcher ——
durch die Erfahrung des Praktikers, 2 —— der Anſichten, auch
wohl die fchärfere Stellung der G das Altes moͤchte vielleicht felbf
oh gg en „deutſcher — 2 nicht weniger und wird dem
prattiſchen fniſſe nicht ſelten mehr antſprechen als en eine ambb
stofe Felfkuig des einfamen Schreibpultes.
Det erſte Theil behanbelt die eigentlichen Werfaffungefeagen, *
bie Drganifation der Juſtiz und Polizei, der dritte bas Schulmefen. Scen
diefe Zuſammenſtellung, abenteuerlich wie fie erfcheinen mag, zeigt, daß mar
ernſtlich darauf ausging, die wirklichen Schaͤden aufzudecken, Hand m
Merk zulegen, mo es eben Noth that, nicht ein Syſtem in die Luft bie:
zuſtellen, deſſen Fachwerk wohl ganz anders ausgefallen fein wuͤrde. Dre
erſte Theil fuͤhrt faſt aͤngſtlich den Grundſatz aus, nicht weiter zu gehn, als
das dringend erkannte Beduͤrfniß gebot. Der zweite bewegt ſich freier auf
einem Gebiet, auf welchem die Sympathien des Fortſchritts in allen Staaten
deutſcher Zunge ſich begegnen. Dem dritten ward die unerfreuliche Aufgabe,
der Geſetzgebung die alten Suͤnden beiſpielloſer Verſchleppung und Gleich⸗
guͤltigkeit vorzuhalten. Das Ganze ward im Vorwort als eine Vorarbeit
bezeichnet, als ein Material, worauf fernere Beſtrebungen gleichen Sinnes
wuͤrden fußen koͤnnen.
So weit iſt Alles in der Ordnung. Aber ein Buch iſt ein Buch;
was auch ſein Werth ſein mag, fruchtbringend wird er nur, wenn er ſich in
Scheidemuͤnze umwandelt. Ideen ſind beſtimmt, ins Leben zu dringen,
und Reformen auf dem Papier machen eine traurige Figur. Mit einem
Wort: nun war der Augenblick da, wo die Agitation mit beſtimmtem,
praktiſchem Zweck beginnen mußte und — nun war ſie zu Ende. Es iſt ein
leidiger Troſt, daß auch groͤßere Staaten als Hamburg ihr unterbrochenes
Opferfeſt der Reformen gehabt haben. Wie es ſich zutragen konnte, wird
auch für den Fernerſtehenden nicht ganz ohne Intereſſe ſein. Wir Deutſchen
find allefammt ſtark im wechfelfeitigen Unterricht über die Unzulänglichkeit
unſres politifchen Xhuns und Treibens. Auch wir, wir meinten, ber Bode
Hamburg. 677
beutel ſel im großen Feuer verbrannts und flehe da, er war gerettet, gerettet
und geborgen! |
Dos Natürlichfte war doch wohl, daß bie Commiffion ſelbſt, bie eins
mal da war, ſich an der Spige ber Bewegung behauptet hätte. Die Freiheit
der Affociation befteht in unſrem Freiſtaat ungefymälert. Darin liegt, wie
Jedermann weiß, dasunerfchöpfliche Zeughaus nach einer verlorenen Schlacht ;
tie viel mehr für den beginnenden politifchen Kampf. Es blieb unbenugt.
Die Commiffion erklaͤrte durch Abftattung des Berichtes ihre Sunctionen
beenbigt. Verſchwiegen darf nicht werben, daß Bedenken ſich aufthaten ges
gen bie Sonftituirung einer „Behörde ber Agitation”. Auch nicht (mas erheb⸗
ficher war), daß ein ferneres, enggefchloffenes Zufammenmwirken aller Mit⸗
glieder durch Verhaͤltniſſe und Stellungen, die mit ber Reform gar nichts
zu thun hatten, unthunlich geworden. Enblich nicht, baß bie öffentliche
Aufmerkſamkeit auf ganz andre Dinge, zum Theil in peinlich perfönlichen
Beziehungen, ſich concentrirte.
Zum Verftändniß iſt es nöthig, auf ben Bang ber durch ben großen
Brand veranlaßten Staatsmaßregeln zurädzulommen. Daß auf dem ges
wohnten Wege ber Verhandlungen mit den bürgerlichen Collegien die Vor⸗
bereitung auch nur der allernothwendigſten Maßregeln nicht befchafft werden
koͤnne, darüber waren nicht zweierlei Meinungen in ber Stadt. Die Bars
faffung felbft giebt für ſolche Umftände das Mittel einer außerorbentlichen
Rath» und Bürgerbeputation an die Hand. Daß ber Rath eir.e folche bean«
tragen werde, baran zweifelte Niemand. Aber er zögerte fünf Wochen, bis
er der Bürgerfchaft zum erften Mal nad) bem Ereigniß gegenübertrat- Eine
frühere Verſammlung des Bürgerconventes hatte Jedermann erwartet; man
war berechtigt, fie zu erwarten; die Collegien, wenn fie irgendwie als Ders
treter ber Bürgerfchaft ſich fühlten, Hätten nicht unterlaffen bürfen, darauf
zu bringen. Der Vorwand, daß es an einem geeigneten Local gefehlt habe,
iſt ganz unhaltbar z In einer abgebrannten Stadt, beren Rathhaus in die Luft
gefprengt worden, iſt man in Bezug auf die Räumlichkeiten genügfam ; ein
freundlich Gefuh, ein Wort vom Herzen zum Herzen findet überall feine
Stätte. Der Rath wollte es andere. Daß er die herrſchende Aufregung ge⸗
fürchtet, ift nicht wahrſcheinlich; ein offnes Entgegenkommen hätte einmuͤ⸗
thige Entfchließung gefördert, gegenfeitiges Vertrauen befefligt. Dinte,
Feder und Papier, dazu langes Warten und der Curialſtyl find nicht die bes
ſten Wärmeleiter; das lebendige Wort ift ein ander Ding, zumal im Aus
genblid, wo bie Gemüther deſſen harren, mas da kommen fol. Aber «6
fcheint, daß der Rath großen Werth darauf legte, bie erften Vorfchläge, bes
ſonders die erſten finanziellen Maßnahmen felbft auszuarbeiten. Die Aufs
flelung einer Rath⸗ und Vürgerbeputation von vorn herein würbe bem Ges
nat die Arbeit weſentlich erleichtert haben. Was er vorläufig mit ber Kam⸗
mer (der aus Bürgern ausfchließlich beftehenden Finanzbehörbe), vereinbart,
war das Ergebniß einer ſtaunenswerthen Tätigkeit. In dem Beiſpiel diefer
Anſtrengungen lag eine hinreißende Gewalt; es hat in allen Öffentlichen Kreis
fen nachgewirkt und ben Glauben an die Möglichkeit wie an ben Erfolg der
aͤußerſten Anſpannung aller Kräfte gepflanzt. Das tft „die moralifche
678 Hamburg:
Seite der Sache. Die politiſche Seite ift ohne Bweifel Diefe, daf der Senat,
im Intereffe feines eigenen Anſehens, im Augenblid, ald eine auferor
dentliche Behörde, mit ungewöhnlicher Vollmacht ausgeruͤſtet, Ins Beben tre⸗
ten follte, das Bebuͤrfniß empfand, die Bedeutung feiner oberften
Leitung zur Anſchauung zu bringen. Mer 06 weiß, mas für ein Segen
eine Bräftige Regierung und der Blaube an eine foldye, zumal in einem Bir:
gerſtaat, ift, der wird die Berechnung richtig finden, auch wenn er beflagt,
baß fie auf Koften einer früheren und herzlicheren Begegnung mit den Theil⸗
‚nehmeen der hoͤchſten Gewalt durchgeführt worden. Den Bauplan zu vol
enden, war phyſiſch unmöglich; aus einer Mittheilung des Raths erficht man
aber, daß +8 die Abfiht gerwefen, felbft biefen dem erſten Bürgerconvent ſchon
vorzulegen. Weber die Mittel zur Bezahlung des Keuercaffen- Schadens und
bie Erleichterung der Betheiligten fand erft im britten Bürgerconvent (2. Juli)
eine Vereinbarung über wiederholt modificirte Anträge durch Rath» und Bür
gerfchluß ſtatt. Gleich im erften aber (16. Juni) ward eine Rath⸗ und Buͤr⸗
inprentadoo exwaͤhlt. Der Rath deputirte 5 Mitglieder, die Buͤrgerſchaft
0, darunter Männer, bie fi in den Kirchfptelen mit befonderer Energie
sgeſprochen hatten (mehrere derfelben befanden ſich gleichzeitig in der Com:
iffion , die das Vertrauen weiter Privatkreife zur Ausarbeitung der Reform:
vorſchlaͤge berufen hat); das erſte Collegium und das zweite ordnete je ein
Mitglied ab, die Kammer deren zwei. Der Rath hatte ausdruͤcklich bevor:
wortet, wie wichtig es fei, dab Männer des Vertrauens gemählt
würden, Eine große und ſchwere Verantwortlichkeit war auf ihre Schul:
tern gelegt. Sie follten einerfeits Befhlüffe vorbereiten, in Bezug auf
den Bauplan, die Erpropriation, die Baupolizei, das Loͤſchweſen ; anderer:
feit8 waren fie zu definitiven Beſchluͤſſen, beziehungsweife mit dem Rath,
bevollmächtigt über die Anleihen und dahin gehörige Finanzfragen; über die
Erlaubniß des fofortigen Bauens in gewiſſen Straßen, über nähere und
dringende baupolizeilihe Verfügungen für den abgebrannten Stadttheil und
zur Verftändigung mit dem Rath über die für die Unterflügungsbehörde anzu:
wendenden Grundfüge. Die in der erften Beziehung vorberathenen Punkte
follten vom Senat unmittelbar an das Collegium der 180 Bürger und an
“ die Bürgerfchaft gebracht werden. Ein Gleiches war vom Senat in Bezug
auf folhe Punkte vorbehalten, „welche er zu erheblich eradhten würde, um
fie mit der Deputation allein zu erledigen.
Man muß die Eiferfucht fennen, mit welcher in Hamburg jede Auss
nahmsbehörde jederzeit von ben conftituirten Gewalten betrachtet worden iſt,
um zu mwiffen, mas es heißt, daß diefe Vollmacht der Rath: und Bürgers
deputation dreimal (11. Mai 1843, 6. Juni 1844, 24. April 1845) e:
neuert worden und daß fie erſt nach Zigjähriger Dauer erlofh. Die Entmwer:
fung des Bauplans, die Beſtellung eines Schägungsgerichted für die Er:
propriation, die Gontrahirung der Anleihe gehörte zu den dringendften Auf:
gaben. Wenn die Anleihe den Beweis gab, daß der Staatscredit durch bie
Kataftrophe nicht berührt und daß das Gefchäft den rechten Händen anvır
traut war, fo gereichte e8 zur Ehre der Deputation wie der Bürgerfchaft, dab
ver am 1. September 1842 vorgelegte Bauplan fofort auf einen Wurf an
I
Hamburg. 679
genommen ward. Es war ein großartiger Schritt über Privatinterefien
(was reichlich ebenfo ſchwer geht) über alte Gewohnheiten hinweg. 3
Jeden kommen und ſehen.
Ueber die Arbeiten der Deputation und das Schickſal ihrer einzelnen
Geſetzentwuͤrfe wird man hier Peine Nachweiſungen erwarten. Die Wuͤrdi⸗
gung des Geſammtcharakters ihrer Tätigkeit muß ber Zukunft und einem
unbefangenen Geſchlecht vorbehalten bleiben: heute noch ſchwankt deſſen Bilb
„von dee Parteien Haß und Gunſt entftellt". Daß die Deputation in Pris
vatinterefien vielfach einzugreifen hatte, was ohne Berfiimmung niemals
und ohne Verlegung beim beften Willen felten vor fi) geht 5 daß fie Die ſchwie⸗
rigſten, verwideltften Fragen zu Löfen hatte, wobel ein Wiberflreit ber Mei⸗
nungen nicht ausbleiben kann und lebhafter Widerſpruch nicht ausbleiben darf,
wenn man nicht heilfamer Prüfung ben Kappzaum anlegen will, das lag in
ber Natur der Suche. Nicht allein der Vorwurf berrifhen Schalten in»
nerhalb der Grenzen Ihrer Vollmacht, fondern bie ernftere Anklage einer
Ueberfchreitung ihrer Befugniſſe tft gegen fie erhoben worden. Zugleich
aber ift von allen Seiten anerkannt, daß die Deputation eine an bie dußerfte
Grenze perfönlicher Kräfte gehende Thaͤtigkeit entwickelt hat, und aus den
Angriffen zahlreicher, energifcher und ruͤckſichtsloſer Gegner wird die Nach⸗
welt, wenn fie auf die erregteften 2 Blätter der Zagesliteratur zuruͤckkehrt,
ſich derneugen, daß auf bie Motive der Deputation kein Schatten gewoe⸗
fen
N war, ale bie Deputation ein umfaſſendes Spftem untericbifcher Ab⸗
zugscandie, zus Entwäflerung und Reinhaltung der Stadt, auszuführen bes
gann, daß die Angriffe zuerft anhoben. An ben berufenen „Sielſtreit“ —
gluͤcklich unſre fernen Lefer, zu deren Ohren ber Name kaum gebrungen! —
reihten fich ähnliche Kämpfe über andre , großartige, überaus Loftfpielige Pro»
jecte, welche fämmtli) von dem ingenieur William Linbley ausges
gangen, der [yon vor dem großen Brande zu den Behörden als Sachverſtaͤn⸗
diger in Beziehungen geflanden und während des Brandes eine freiwillige,
allgemein anerkannte Thaͤtigkeit bewährt batte. eine Eigenfchaft ald Eng»
Länder iſt ale ausfchließlicher Grund der Feindſchaft der einen, wie der Gunſt
ber andern Partei betrachtet worden. Daß Ueberzeugung fpricht und nicht
Neigung oder Abneigung allein, hat der Accent ehrenwerther Sprecher im
beiden Feldlagern erwiefen. Was die oft angefchuldigte Ausldänderei und
Englaͤnderei einflußreicher Derfonen anlangt, fo ift es eine natürliche Reaction
gegen eine frühere Inländerei, welche gegen Erfahrung und Rath von Außen
ſich auf eine dem Semeinwefen nicht förderliche Weiſe abzufchtießen pflegte.
Das jegt vorherrfchende Ertrem wird nicht vochalten; aber es koſtet uns
erftaunlich viel Geld, und wenn es wörtlich Alles erfüllt, was
es verheißt, fo würden wir es durch andre Folgen, für bie man es
nicht unmittelbar verantwortlid machen darf, wenn man nicht ım-
gerecht fein will, noch: immer zu theuer bezahlt haben.
Wir meinen bie. Kämpfe felbft und das in weiten Kreiſen erfchütterte
Bertraum. Das Eigenthämtliche bei dem gungen Streit iſt, daB" ein Urtheil
in der Sache nur ein ſachkundiges, auf ber Höhe ber Technik unfrer
Tage ftehendes Urtheil fein kann, waͤhrend alle
nimmt ; für und wiber die Sadye, im Vertrauen (
ten) zu ben — deren Stimme dem
ordentliche Behörde * ann ohne ihrer
bares Maß und Biel zu ſtecken. Und wenn ——
reg ber * Tagen das von Einem
ſt
—— ſo ke San daß fie eine doppelt ſchwere mn un
auf fi genommen hat, weil fie ein eignes techmifches: Urtheil in der Sauce
t geltend machen konnte und well fie in der. Form bis am die dufierjle
ihrer Befugniß vorgegangen war,
Fuͤgen wir aber. ebenfo unummunden hinzu: die Verantwortung trifft
die conſtituirten Behörden, trifft vor Allem bie Buͤrgerſchaft felbſt, weiche
thun konnte und deren Einfprache fo wenig als felbft eine Sr
cation und Beſchraͤnkung der ertheilten Vollmacht hätte unberhdlfichtige Blei:
ben bürfen. ihm alfo die rechtliche Verantwortlichkeit, abgefeben von
dem unbezweifelt guten Glauben, in welchem die Deputation verfahren ‚buch
Dasjenige, was die Bürgerfchaft theils fchmeigend jugelaffen , theils aus
druͤcklich gutgeheißen, wegfaͤllt, wird die moralifche im weitem Umfang ven
Dielen getheilt werben müffen.
Mer die Aufregung Eennt, in welche das Publicum durch ben öffent
lichen Streit verfegt war, der wird nicht umhin koͤnnen, zu fragen, wo wa
ren Diejenigen, melche die Verfaffung zu Wächtern der bürgerlichen Ge
techtfame eingefegt hat? Konnten fie es gleichgültig anfehen, dag angefe:
bene und ehrenwerthe Stimmen die ſchwerſten Vorherſagungen an Dasjenige,
was fie ein offenbares Unrecht nannten, von Zag zu Tage fnüpften — wur
es nicht ihre Pflicht, die gründlichfte Unterfuhung des Sachverhaͤltniſſes zu
veranlaffen? War e6 nicht ihre Sache vor Andern, dahin zu fireben , daß
ihren Mitbürgern die Beruhigung zu Theil werde, die nur aus der Ueber:
zeugung fließen kann, daß eine bürgerliche Controle zu rechter Zeit, am red:
ten Orte, jedes ungemöhnliche Verfahren uͤberwache? Aber von einer leb⸗
baften Zheilnahme, von einer darauf begründeten Zhätigkeit, wie fie den
bürgerlichen Collegien zuftand, hat man wenig vernommen. Sie waren um
fo mehr berufen, zu machen und aufzufehen, weil die Verhandlungen auf
ungewohntem Wege, mit Vorbeigehung bes üblichen Geſchaͤftsganges, vor fid)
gingen. Dielen hat bei biefer Wahrnehmung die Ueberzeugung fich aufge
drängt, daß dies Inſtitut der Collegien, in feiner heutigen Form, fid über:
lebt habe. Zu zahlreich, um vorbereitende Verhandlungen als Ausſchuß mit
Erfolg zu pflegen, eignen fie wiederum durch die Art ihrer Wahl fich wenig,
ale Vertreter der Bürgerfchaft zu wirken. Ihre Zhätigkeit ift bei wirklichen
x"
Hamburg. 681
Reformen gar felten als förbernd genannt worden. Gar häufig find fie dem
Fortſchritt entgegengetreten. Seit ben großen Brande hatte das Puhblicam
wohl bemerkt, daß ein oft und ſchwer gerügter Mißbrauch — das Aufrüden
ins Collegium der Oberalten nach dem Alter — factifch abgeftellt fei; nad)
Jahr und Tag erfuhr die Bürgerfchaft ganz gelegentlich, daß bie Oberalten
einen verbefjerten Wahlmodus am 4. Dct. 1843 unter fich verabredet, welcher
auch vom Senat ſeitdem gutgebeißen worden. So ſehr das Zweckmaͤßige
des neuen Wahlmobus durch mandye ſeitdem ftattgefundene Wahlen fich er=
probt hat, fo wenig konnte das Collegium berechtigt fein, ohne ausdruͤck⸗
liche Genehmigung der Bürgerfchaft fo in aller Stille einen Wahlmodus ſich
anzueignen. Die Sache hatte den Anſchein, als fei fie eher aus Scheu denn
aus wirklicher Achtung vor ber Öffentlichen Meinung gefchehben. Dazu nody
ift e6 dem Collegium begegnet, mit der Öffentlihen Meinung bei mehreren
Antäffen ſich in entfchiedenen und auffallenden Widerfpruch zu ſetzen.
Was den Bürgerconvent felbft anlangt, fo haben bie bezeichneten Ver⸗
haͤltniſſe nur zu deutlich an den Tag gelegt, wie fehr die unbehilflichen For⸗
men einer felbfiftändigen Bewegung, vollends einer felbftthätigen Anregung,
auch wo fie noch fehr Noth thäte, im Wege flehn. Es iſt immer fraglich ges
worden, ob der Ausdruck der öffentlichen Stimme auch Innerhalb der Buͤr⸗
gerverfammiung ſich Bahn brechen, unb ob ihre Befchlüffe mit bemfelben,
felbft in wichtigen Angelegenheiten, übereinflimmen werden. Genug, bie
Erfcheinungen , weldye bie legten fo bewegten Jahre darboten, haben Man:
chem das Bebürfnif von weiter greifenden Reformen ſehr nahe gelegt.
Für die Ausfichten dee Reform aber kormte nichts niederfchlagenber
fein als eben die angebeuteten Kämpfe, in welchen bie Parteim um eins
zeine Perfönticykeiten fich fchaarten. Wenn bei ben Fuͤhrern allerdings ein
Princip obenanftehen mochte, fo waren dagegen perfönliche Beziehungen nur
allzu häufig das entfcheidende Moment für die große Zahl ihrer Anhänger,
und das Intereſſe wie bie Abneigung in Bezug auf gewiffe Perfönlichkeiten
ſprach ſich unverholen aus und fuchte in gleichem Sinn die Zahl der Profes
Ipten zu mehren. Die großen und allgemeinen Fragen traten in den Hinter:
grund: für oder wider Linbley bedeutete mehr al& für oder wider einen
Grundſatz der Verfaſſung. Eine Zeit verbiendeter Parteiungen bringt es
mit fich, daß unter ben in entgegengefehten Feldlagern der Tagesfrage Eitrels
tenden ein Zuſammenwitken für gemeinfame, davon unabhängige und darüber
ſtehende Zwecke nur in Ausnahmefällen herzuftellen iſt. Die Heformbeftre:
bungen (um auf diefe zuruͤckzukommen) bat nicht Ermattung, fondern heftige
Anfpannung, nicht Abkühlung, fondern Erhigung für andersartige Kämpfe
unterbrochen.
Fest, mo in ben vorherefchenden Bewegungen eine Paufe eingetreten zu
fein fcheint, muß es fich zeigen, ob eine Reformpartei ſich bilden kann, welche
vor Allem diejenige innere Disciplin ſich aneignet, daß den Einzelnen auch
bei entgegenftegenden Anfichten über diefe ober jene Tagesfrage ein bauerndes,
erfreuliches und nachhaltiges Zuſammenwirken für ſolche Zwecke möglich werbe,
—* deren Nuͤtzlichkeit fuͤrs Gemeinweſen einſtimmige Ueberzeugung ſtatt⸗
et.
682 Hamburg.
. — — pen an
ö — c
sy (Zu ©. 753.1 6.u.) Eeifkein —— —
-
burgiſchen Staatswefen, daß Fein Gefeg vorhanden ift, welches auch dem
Michtbegüterten «8 möglich machte, von ber Verwaltung ber auf Pebensjd
ertheilten Ehrendmter im höheren Alter ſich zuruͤckzuzichen. So lang ü
Ehrengehalt in jedem einzelnen Falle von einer Verhandlung mit der Bürger
ſchaft abhängt, wird das Einfchlagen diefes Weges zu den Seltenheiten gr
hören. Es ift aber eine ſehr übelverftandene Sparfamkeit, welche es vor:
zieht, eine Thaͤtigkeit, die durch die Paft der Jahre und die in deren Gefolge
fich einftellenden Schwächen nicht unberührt bleiben kann, als vollgenügen
borauszufeken, anſtatt unter würdiger Anerkennung früherer Leiftungen,
jüngeren Kräften die Bahn ber Nacheiferung bei Zeiten zu eröffnen,
(Zu S. 788 3. 3 v. u.) Kin ernewerter Berfuh des Mathe in aͤhn⸗
lihem Sinn ift in den legten Zeiten beim erjten buͤrgerlichen Collegium zwar
auf unerwarteten Widerftand geftoßen; aber die Ööffentlihe Meinung bat in
diefer Beziehung doch Fortfchritte gemadyt, und man barf hoffen , daß das
Unmirdige und Ungerechte, mas in dem Verhalten des Staats zur Su
denfrage liegt, nicht allein im Äntereffe ber Juden, fondern im Intereſſ
des Staates felbit in nicht ferner Zukunft werde befeitigt werden. Wie
unverkennbar aud die Schwiertafeiten find, meldhe bei den befonderen Ver:
hältniffen der vollen Durchfuͤhrung des Grundfages „gleiche Pflichten,
gleiche Rechte, abgefehen von jeder Berfchiedenheit der Confeffion‘ fit
entgegenftellten, fo laßt ſich doch die bisherige Geſetzgebung in Bezug auf
die Stellung der Juden dadurch nicht entichuldigen. Eine fortfchreitend:
Durchführung des Gebotes der Vernunft und der Gerechtigkeit wird mur
mit andern flaatsbürgerlichen Reformen Hand in Hand geben Eönnen-
Hamburg. 688
(3u ©. 789 3.17 v.u.) Die Baſis der Erbgeſeſſenheit, einft mit dem
allgemeinen Stimmrecht aller Bürger gleichgeltend , fpäter in dem Gedanken
feftgehalten, daß der Grundbeſitz ein Intereffe am Wohlergehen des Staats
mit Zuverficht erwarten laſſe, diefe Bafis hat weniger durch die Erhöhung
der erforderlichen Summe des fchuldenfreien Werthes als burdy die veraͤn⸗
derten Verhaͤltniſſe des Grumdeigenthums ihre Bedeutung verloren. Abge⸗
ſehen von der auffallenden Nichtberuͤckſichtigung des Faufmännifchen
Capitals, würden es heute viel mehr die bupothekarifchen Glaͤubiger fein als
die Hausbefiger, bei welchen jenes Intereffe mit feinem ganzen Gewicht
voraußzufegen wäre. Dazu kommt, daß die Speculation Grundſtuͤcke zum
Bebauen und zum Vermiethen zum hell in großem Umfang zu erwerben
längft getwohnt war, daß alfo die Zahl der Echgefeffenen nicht nur einer fteten
Schwankung, fondern auch einer Verminderung unterworfen iſt, ohne daß
irgend ein Gefeg das Marimum des in der Dand eines einzelnen Specu⸗
lanten fi anhdufenden Grundeigenthums beftimmt hätte. ine fo ver»
altete Bafis der politiichen Berechtigung würde ſich gar nicht vertheidigen
laſſen, wenn nicht bie Öffentlichen Laften, welche auf dem Grundeigenthum
haften, dem Grundeigenthuͤmer auf bie Theilnahme am Recht der Selbſt⸗
befteuerung einen unabweisbaren Anſpruch ficherten; und wenn nicht an⸗
drerfeits beinahe für Jeden, der an den Öffentlichen Angelegenheiten Theil zu
nehmen wuͤnſcht, die Möglichkeit gegeben wäre, ohne ein allzu großes Opfer
ſich erbgefeffen zu machen und dadurch, fofern nicht gefegliche Worfchriften
anderer Art entgegenftehen, das Ziel zu erreichen. Alle Verhältniffe wohl⸗
erwogen, würde neben dem Cenſus und der Rüdfiht auf die
Intelligenz noch immer die Erbgefeffenheit eine brauchbare Baſis für
die politifche Berechtigung abgeben. Gegenwärtig knuͤpft fidy daran das
perfönliche Stimmrecht in den Bürgerconventen, und es wird zundchft zu
betrachten fein, in welcher Weife dieſes geübt wird.
. (du ©. 800 3. 20 v. 0.) Someit haben wie unfre frühere Aufs
faffung dieſes Inſtitutes unverändert bier wiederholt. Es iſt aber vor wes
nigen Monaten in einer Heinen Schrift von Dr. Bau meifter (Ueber bie
Entſcheidungs⸗Deputation. Hamburg, 1846. Perthes, B. und DM.) bie
feüher ſchon von einem andern Schriftfleller gelegentlich aufgeftellte Behaups
tung mit ungemeinem Scharffinn durchgeführt worden: daß dies Inſtitut
nur füc ben Kal beſtimmt fei, wenn ber Rath einen von der Bürgers
ſchaft felbftftändig erhobenen Antrag anzunehmen fidy weigere, und daß dee
Kath Bein Recht habe, aufdie außerordentliche Entfcheidung zu provociten,
wenn eine feiner Propofitionen von der Bürgerfchaft abgefchlagen fei.
Die biftorifch = Eritifche Ausführung läßt wohl noch einige (vielleicht nie
aufzuhellende) Dunkelheit, aber kaum einen Zweifel übrig, daß ber urs
fprüngliche Gedanke der Geſetzgebung in ber That kein andrer gewefen als
diefer: das Gehaͤſfige eines fortgefegten Widerftandes des Senats gegen ein
Begehren ber Bürgerfchaft zu mildern, ohne ihn doch ber Nothwendigkelt
auszufegen, mit Verleugnung feiner feftgehaltenen Anficht ſelbſt nachzu⸗
geben, ımb ohne bie Buͤrgerſchaft in Verſuchung zu führen, auf die oft
erprobte Gewalt ihrer unwuͤrdigen Zwangsmittel zuruͤckzukommen. Gomit
haar nicht befugt fei, ihr abfolutes Veto zu beftreiten. Indeſſen täites
hie gegen ben ee abfolutes, dem Rath gegen bi
Bürgerfhaft nur ein fuspenfives Vet wohlverſtanden, daß bie
Bürgerfchaft nicht etwa durch —— ge den Rath zwingen, fon
dan daß fie nur durch das Mittel einer auferordentlichen Entfcheibungste
börde den Rath in die Möglichkeit einer Miederlage verfegen Auf:
fallend in hohem Grade bleibt «8 immer a daß nur
dev Rath «6 gewefen, der auf die außerordentliche Entfcheibungsbehörd:
(bis jeht ſieben Mal) provociet hat, und zwar in Fällen, wo feime Antröge
wiederholt abgelehnt waren; und daß die Bürgerfchaft zu verfchtedenen Bel
ten zwar verfchiebene Gründe anführte, aus welchen fie das Mittel, um
ftatthaft erachtete, noch nie aber den einen Grund, der im der Matur dir
Sache gelegen und alle andern Gründe erfegt hätte, daß naͤmlich der Katy
fid) denken, daß der Ruth den Verfuc gemacht, auch jeinerfeits auszubas
ten, mas zu Gunſten der Bürgerichaft eigentlich vorbehalten war, und duf
über dieſen mehrmaligen Verfuchen (die man nicht nnd „Drohmittel”
genannt hat) der Bürgerfchaft die wahre Bedeutung des gangen £
abhanden gefommen fein mag. Es läft ſich dies um fo leichter denken, wenn
man fich erinnert, wie gering die Bekanntſchaft mit ben (bis vor 60 Jahten zu
den Literarifchen Seltenheiten gesählten) Abdruͤcken dev Grundgefege
Foßt man die Sache praktiſch ins Auge, fo möchten wir bezmeifdn,
daß ferbft die Schaͤrfe diefer Auffaffung für den einzelnen Fall ein *
lich verſchiedenes Reſultat herbeiführen kann als dasjenige, das aus unfer
obigen Darftellung ſich ergeben wird, nach welcher dem Ermeffen und tim
Gewiffen der Bürgerfchaft anheimgeftellt bleibt , ob fie glaubt, auf das Min
einer außerorbentlichen Entfcheidung eingehen zu follen. Daß es Kälte gieht,
in welchen Math und Bürgerfchaft verfchiedeneer Meinung find, mähren)
doch der Page der Dinge nah etwas geſchehen muß, wird nicht wu
leugnen fein. in jolcher Fall war der von 1829, als die Prolongation der
Zollordnung von ber Bürgerfchaft wiederholt und bebarrlih angetrage:
ner Maßen abgefchlagen war. Der Rath bielt eine Ermäßfiuung dis
Zolls für fo bebenklih, als die Buͤrgerſchaft diefelbe wuͤnſchenswerth erad»
tete: Niemand war der Meinung, daß Hamburg für die nächfte Zeit ganı
ohne Zolleinnahme bleiben follte. Beim Alten Eonnte e8 nicht bleiben, eben
weil die Prolongation des Alten abgefhlagen war: Etwas mußte
gefhehen. Entweder man muß für ſolche Fälle, auch wenn ſie zunaͤchſt
durch eine Nathepropofition veranlaßt find, die Enticheidungedeputation ins
Mittel treten laffen, oder man muß anerkennen, daß die Verfaflung für
ſolche Fälle eine bedauerliche Küde hat, und muß fuchen, Diefelbe durd
ein andres, aͤhnliches Inſtitut möglichft auszufüllen. Der Ausfnruch der
1829 erwählten Deputation lautete auf eine längftens viermonatliche Prolen
gation der beftehenden Zollordnung, „falls nicht durd) einmüthigen Befchluf
E. E. Raths und Erbgeſeſſener Buͤrgerſchaft bis dahin ein Andres beliebt
werden ſollte.“ Vor dem Ablauf der Friſt war auch bereits eine den Wuͤn⸗
ſchen der Buͤrgerſchaft entſprechende Reduction des Zolls durch einmuͤthigen
Beſchluß ins Leben getreten.
Nehmen wie dagegen den zweiten Sal, in welchem es zur Wahl ber
Ausnahmebehörde gekommen iſt. Am 12. Sept. 1844 beantragte der Rath
zum dritten Dal die zweimal abgelehnte Katification der Dresdener Elbzoll⸗
verträge. Die Bürgerfchaft lehnte zum dritten Dal ab: der Rath propos
cirte auf die Entfcheidunges Deputation. Halten wir nun, abgefehen von
ber Sache ſelbſt und ihrer Zweckmaͤßigkeit, uns lediglich ans Formelle, fo
nehmen wir Beinen Anftand zu erklären, daß wir keineswegs der Meinung
find, bie Bürgerfchaft ſei verpflichtet geweien, auf die Wahl ſich einzu⸗
laſſen und die Entfcheidung einer Ausnahmsbehoͤrde anheimzugeben. Eins
von Beiden konnte geſchehen; es konnte ratifichet werben:ober nicht. Blieb
die Bürgerfchaft bei ihrem Nein, fo ward nicht ratificirt; ein Mefultat war
alfo vorhanden; wollte die Bürgerfchaft die Folgen auf fih nehmen, fo
war fie in ihrem vollen Recht, wenn fie dies Reſultat herbeifuͤhrte. Sie
bat aber bekanntlich gewählt , und die Werträge find ratificirt worben.
Daß übrigens das Inſtitut beffer organifirt werben koͤnnte, und daß dem
Looſe weniger anheimzugeben wäre, geben wir zu, wie wie denn auch anums
wunden bie früher geäußerte Anſicht zuruͤcknehmen, daß die Wahrſchein⸗
lichkeit eines Uebergewichts auf die Seite der Bürger ſich neige, ba allers
dings die geringe Zahl der Perfonen bei der Zwiſchenwirkung bes: Loofes
eine MWahrfcheinlichleitsrechnung überall nicht zuläßt.
Schwerlich wird ber Rath es Leicht auf die Probe anlommen lafſen;
wiefern dieſe Anſichten bei der Buͤrgerſchaft Eingang gefunden haben mögen.
Doch glauben wir, daß das Vorhandenſein bes Inſtituts für gewiſſe Fälle
um fo eher den Damburgifhen Staat der Nothwendigkeit uͤberheben wird,
die Schlichtung einbeimifcher Differenzen dem Schiebegericht bes deutſchen
Bundes zu übertragen — maß jedenfalls unanmwendbar bleiben wird, fo lange
irgend ein Mittel der Ausgleihung im Innern des Staates vorhanden iſt.
©. 801 3.5». u) Wir babear diefe Frage fruͤher ‚verneint;
Wir bejahen fie jegt und find Über die Gründe biefer nicht ohne lange und
ernſte Prüfung veränderten Ueberzeugung Rechenſchaft fchuldig.
Daß im gewöähnten Gang der Dinge jene aus alter Zeit und ganz ans
dern Verhaͤltniſſen herſtammenden Formen wohl nicht ohne hemmenden
fluß blieben, aber ohne den Staatszweck ſelbſt zu gefährden, hatte eine
lange Beobachtung gezeigt. Seit dem Brande find immer fchwiertgere und
verwideltere Aufgaben an den Staat herangetreten; aͤußere Berhältniffe laſ⸗
fen deren noch mehrere erwarten; und bie Erfahrung beiveifet nur zu beuts
lich, daß die alten Formen nicht genügen, uns zu ber Loͤſung auszuchften.
Die Rathsanträge find gutentheilg umfangreiche Denkſchriften; eine Dis:
euffion allein kann die Bürgerfchaft in den Stand fegen, ein volles Bes
wußtfein der Dinge, wie fie find, zu geroinnen. Solche Diecuffion durch
die Vorberathung des dritten bürgerlichen Collegiums (der 180er) zu erfegen,
war der Vorfchlag des Commiſſionsberichts. Ein Surrogat, wenn es zu er⸗
zeichen ſtuͤnde; aber body nur ein Surrogat, deffen Wirkung nur mittelbar
bee Geſammtheit der Stimmberechtigten zu Gute kommen wuͤrbe. So
wie die Sache jegt: flieht, werben bie Rathsantraͤge von ber Bärgerfchaft in
mehreren Vereinen discutirt. Nichts ſteht Im Wege, dieſe Diecufften in
weichen die Gntfepeibung ih, daß Diet ine
es —— — Deuten wie uns. mim bie fünf Kir
noch greller fich herausftellen als ber getrennim.
Eben Die Mershuigung bee Riechfpiate; die nicht ausbieiben Ca mn, nei um
jur Repräfentativ » Verfaſſung berüberfeiten. nur
„Dat pefiniche Stmmege wi wg en Watte ufargehn we
welches letztere uͤbrigens zeitgem ee
Öffentlichen Angelegenheiten ausdehnen wird. Dennoch nennen
im felbe
chen Berechtigung Überhaupt fich drtweitert bat; Dii
eiane Hand ſich bei der Gefeggebung betbeiligt , war das ſchon
Vorcecht einfacher Verhältniffe. Das Standesvorrecht und der Gorper
tionsgeift des Mittelalters find der breiteren Bafis der Nepräfentarion al
Staatsbürger, wenn auch allmälig nur und widerſtrebend, gewichen. In‘
größeren, ſich ftete ertoeiternden Stadtgemeinden ift derfelbe Gang bemerkbir;
war die urfprüngliche Bafis bier eine breitere, fo Eann fie um fo meniger
fi) erweitern, wenn bie directe EBeilnahme an ber Befeggebung fert:
beftehen fol. Es giebt eine äußere Schranke der Möglichkeit, die kaum
in den Verſammlungen ber bemofratifchen Gantone ufter freiem Himmel
wegfaͤllt.
Außer dieſet Schranke der raͤumlichen Möglichkeit giebt es für bie
Theilnahme ber Bürger noch eine andre: es ift die der individuellen
Willkür in ber Benutzung politifhher Rechte. Geſtehen wir, diefe Be
tradhtung konnte nicht ohne Einfluß auf die Beftärkung unfrer Ueberzeugung
bleiben, Jetzt fieht der Bürger die Theilnahme an der Gefeßgebung als ein
Recht an, das er üben kann oder nidyt, nach Belieben; ald ein Recht,
das ihn befähigt, mitzureden, wo er feine Intereſſen betheiligt glaubt, oder
wenn feine Freunde in ihrem Intereffe, für die Foͤrderung Deffen , was ihnen
am Herzen liegt, ihn erſuchen, in die Bürgerfchaft einmal ausnabmemeife
binzugehn und Ja zu jagen oder Nein zu diefem oder jenem Antrag. Die
neueften Erfahrungen — indbefondre noch von dem Vürgerconvent om 11,
März 1847 — haben es wieder gezeigt, mie es von zufälligen Umſtaͤnden,
von der größeren ober geringeren Thaͤtigkeit einer Partei im Deranzieben von
„Freiwilligen“ abhängt, nad) welcher Seite hin bie Entfheidung der Kirch⸗
Hamburg. 687
ſpiele fich neigt, Eine namhafte Geldbewilligung, unter Umfländen, welche
wenig Ausficht auf Willfaͤhrigkeit verheißen hatten, mag dem Senat ſelbſt
unerpartet gewefen fein. Aber man hatte audy viele an ber Boͤrſe, in Geſell⸗
ſchaften, nicht aber in der Bürgerfchaft wohlbekannte Erfheinungen zum
exſtenmal in ber legteren geſehen: fie Hatten gedient, den Ausfchlag zu geben.
Ein Gleiches hätte durch ebenjo feltne und zufällige Säfte nach ber andern
Seite hin gefchehen können.
Es giebt aber eine würbigere Auffaffung ber politifhen Thätigkeit als
biefe der perſoͤnlichen Berechtigung , bei der man an ſich oder an feine Freunde
dent. Es ift der Standpunkt der Pflicht. Der gewählte Wertreter
feinee Mitbürger, der Mann bed Vertrauens, der nicht aus eignem Mecht,
fondern durch den Auftrag Andrer erfcheint, hat eine Pflicht zu ers
füllen. Und wenn das Aufgeben des perfönlichen Stimmrechts für den
Einzelnen als ein Opfer erfcheint, fo ift’E ein Opfer zu Bunften bes Ge
meinweſens, das durch Diejenigen, die durch bie Idee ber Pflicht auf ihren
Doften geftelit find, beſſer und erfolgreicher berathen fein. wird.
In diefem Sinn iſt die Sache in ber vaterflädtifchen Section ber pas
triotifchen Geſellſchaft zur Discuffion gefommen. Es muß ſich zeigen, ins
wiefern bie öffentliche Meinung für ſolche Anfichten einen Boden, und ihre
allmdlige Rüdwirkung auf die conflituirten Gewalten einen praßtifchen Ein»
flug te wird.
. (Zu &.804 3.150. u.) Die Abnormität dieſes Verfahrens if alte
genfällig ; baß es fich fo Lange erhalten Eonnte, ift nicht weniger zu verwunbern,
als daß bie vor einem Jahrzehent in England dem Angeklagten, wenn bie
Anklage nicht über „Belone” binausging, kein Rechtsanwalt zur Seite ſtand.
(3u ©. 804 3.2 v. u.) Die im. Eingang erwähnte Petition vieler
Bürger (vom 8. Juni 1848) hatte unter Anderem „weitere und vollfländige
Durchführung des Brunbfages der Trennung der echtöpflege von ber Vers
mwaltung” verlangt. In wenigen Staaten mögen, abgefehen von dem allges.
meinen Geſichtspunkte, befondere Gründe in foldem Maße wie in Ham⸗
burg diefer Trennung das Wort reben; und in ber That nicht allein Brände;
die aus den Bebürfniffen der Juſtiz, fondern auch weſentlich ſolche, die aus
den Anforderungen an die Regierung hergenommen find. Der Senat er⸗
roiderte, er habe mit einer Erwägung dieſes Gegenflandes fich feit Längerer:
Beit bereits befchäftigt. Der zweite Theil des „Comuniffionsberichtes” moti⸗
virte nicht nur das obige Geſuch, fondern beantragte eine Umgeftaltung bes
‚ Zuftizwefens, im Einklang mit der Immer allgemeiner anerlannten Anfors
derung ber Zeit, und entfchieb ſich namentlich mit großer De Rimmmiheit, im
Gegenfag zu dem actemmäßigen Unterfuchungsproceß, für das oͤffentlich⸗
mündliche Anklageverfahren. (Die dritte Beilage des Berichtes weilt nach,
wie das mündliche Verfahren bei ben Hamburgifchen Gerichten nach und *
durch das eingeriſſene ſchriftliche verdraͤngt worden.) Ueber bie Frage ber
Geſchworenengerichte giebt der Bericht kein abgeſchloſſenes Ergebniß, neigt
ſich indeſſen mehr auf bie Seite ſtaͤndiger Gerichte, Im Sinn der von G. Bes.
ſeler ‚entwidelten Anfihten. Es tzeffen viele Umflände zuſammen, welche
es wahrſcheinlich machen, daß in Hamburg bie öffentliche Meinung nicht
fer eingrelfende Reformen beantragt worden ; er ſelbſt, der Senat, Tet veranlı®
worden, biele biefer Vorſchlaͤge (namentlich, wenn auch zoͤgernd und erſt ne⸗
allfeitiger Prirfung, die durchgaͤngige Mündlihbeit in ber Form
des Anklageverfahrens) ſich anzueignen. So feidenn auch eine gam
mene und volftändige Strafprocekordnung nöthig gemorben. Vom Straf
geſetzbuch fei der Entwurf des ſchwierigeren allgemeinen Theiles beendigt. Die
Bürgerfchaft ſprach bei diefer Gelegenheit den Wunſch aus, „daß faͤmmt⸗
liche in der Civiljuſtiz erforderlichen Reformen gleichzeitig mit den Meformen
in der Griminaljuftiz vorgenommen werden und im dag eben treten mögen",
in welchen Wunſche denn auch mindefteng eine Gutheifung des Grumndfabe
durchgängiger Muͤndlichkeit bes Verfahrens liegt. Fuͤt die feſtere Begründung
und weitere Verbreitung gelämterter Anfichten über das Juſtizweſen und für
die Anbahnung fernerer Verbefferungen ift es von großer Wichtigkeit, das im
Spätjahr 1846 ein „Verein Hamburgiſcher Juriſten“ ſich gebildet bat (der
übrigens auch nicht rechtögelehrte Mitglieder zählt, welche entweder in ben
Gerichten gefeffen haben ober ſich für das Rechtewelen intereffiren), deſſen
Sitzungen oͤffentlich ſind und bis jetzt durch vielfache Discuſſionen uͤber den
Fortſchritt des einheimiſchen Rechtsweſens ausgefuͤllt worden. Die (fteilich
nur partielle) Anwaltverſammlung hatte den aͤußeren Anſtoß zur Bildung
des Vereins gegeben; dieſen Augenblick wird eine zweite allgemeine, bie
vielleicht gleichfalls in unferer Mitte ſtattfinden wird, vorbereitet, und es ſteht
zu hoffen, daß auch dadurch das angeregte Intereffe in immer tweitere Kreife
dringen wird.
DE.
: (3u ©. 806 3. 14 v. o.) Demnach iſt der Zutritt zu den Gerichten
dem beſchwerten Buͤrger verſperrt und von dem Gutbefinden ber Adminiſtration
abhaͤngig. Es iſt dies ein Punkt, welcher eine Wandelſchaffung um ſo drin⸗
gender erheiſcht, da bie Sache Alles, was anderwaͤrts zu Sunflen der Bes
amıten (man denke an die garantie des fonctionnaires publics!)’befteht, weit
überbietet und kaum in einem Redhtöftaat ihres Gleichen finden dürfte.
(Bu S. 809 fiatt ber Worte: bie allg. Polizeibehörde — verfahren,
Folgendes.) Wohl aber bedurfte die Einrichtung einer Reviſion, und ber
Kath ergriff Die Gelegenheit, am 23. November 1843 zu beantragen, daß
diefelbe Deputation, am welche die Juftizperbefferumg vertiefen war, auch
eine neue und definitive Polizeiorbdnung entwerfe. Nach ben neueften Mit⸗
thellungen fteht zu hoffen, daß ir Jahr 1860, wenn nicht früher, der gegen»
waͤrtige — Zuſtand ſeine Enbſchaft erreichen werde.
(Bu S. 810 3.5 v. o.) Daß uͤbrigens die Handhabung bet Cenſur
in Hamburg durch dieſelben Inconſequenzen bezelchnet wird, welche dies
Inſtitut der Willkuͤr, woruͤber die Öffentliche Meinung laͤngſt "gerichtet bat,
überall mit ſich bringt, das ſpringt eben dadurch bier mehr im die Augen, weil
wirklich in den legten Zeiten bie ſtaͤrkſten und ſchaͤrfften Dinge hin und wieder
zu Tage gefommmm find.
(Zu ©. 811 3.16 v. u.) Zwar find detailfiete Mittheilungen biefer
Art in den ketzten Jahren regelmäßig gemacht worden, aber nicht in genuͤ⸗
gender Weiſe; und die ſchweren Laften, weiche feit dem Brande auf bem Buͤr⸗
ger ruhen, madyen e8 zue Pflicht, unbedingte Offenheit und Deffentlichkeit in
die Marime der Finanzverwaltung aufzunehmen.
(Bu S. 811 3. 6 v. u.) Diele — bie Commerzdeputation — befteht
aus fieben Kaufleuten, je auf ſieben Jahre erwaͤhlt (unter welchen wenigſtens
ein Schiffecheder fein fol; früher war immer ein Schifferalter das flebente
Mitglied). Kür ein austretenbes Mitglled fchlägt die Deputation vier Kaufs
leute vor; bie verfammelte Kaufmannfchaft fügt * vier Kaufleute hinzu
am mählt aus ben fo zum Vorſchlag Gebrachten dur 4 Stimmenmehrheit
(Bu ©.815 3.1 v. o.) Für bie mannichfachen Gebrechen der Kirchen⸗
verfaſſung wird Bein Heilmittel zu ſinden fein, als wenn man das Princip
dee Trennung ber Kirche vom Staat ſich aneignet und die Kirche dann, ber
Vormundſchaft enthoben, ihre Innere Berfoffung (dte ſchwerlich eine andre
als die —— fein wird) ſich waͤhlen laͤßt
(Zu S. 816 3.5 v. o. ſtatt der Die Behree — erforberlch.)
Der Wirkungekreio dieſer Behoͤrde beſchraͤnkt ſich aber auf bie Staatsan⸗
ſtalten (die Gelehrtenſchule des Johanneums, eine Realſchule und ein alas
demiſches Gymnaſium, das in gemeinnuͤtigen oͤffentlichen Vorleſungen feine
hauptſaͤchliche Wirkſamkeit findet und deſſen Reform laͤngſt, aber vergebens,
in Anregung gebracht iſt). Aus dem dritten Thell des, Commiſſionsbe⸗
tichtes"” erficht man, wie es in Damburg weder eine allgemeine Schulpflich⸗
tigkeit giebt, noch eine allgemeine: Schrbehdrde, noch eine Schulorbnung,
umd in euelchern unglaublichen Buflarb überhaupt die Geſetzgebeng, trotz eines
mehe td cin Iuhrhundeet altin Berſprechens, das Schulweſen getaffen bat.
©uppl. 5. ©taatsler. II.
ER
* — ——
—— ap als —— *
feiner viertelhundertjährigen Regierung gegen die engiiſche
‚war Dampbden bie feinem ode auf. dam Schlachefeibe, fi
Be — sauce Eos, ned fen un geaheften Wett
Kuren | =
De Die Beipiratimpfe fine Batrladss un fr Die potife
heit überhaupt iſt Hampden, obwohl er nuc,im Parlament, im weichen⸗
bie Petition of. rights erfämpfte, und fpäter im Bürgerfriege auch ᷣ
Krlegsmann voranſtand, doch vorzugsweiſe bedeutungsvoll, als Helb w
Vorbild des geſetzlichen Widerſtandes. Durch dieſen errangen ®
vertheidigten bie beiden freieſten und am meiften praktiſchen Voͤlker der Ei,
die Roͤmer und die Engländer, ihre Freiheit. In England aber ijt dere
jegt au einem jo vollftändigen Spfteme organifirt, daß dort, ſoweit birld
überhaupt unter Menfchen moͤglich ift, zugleich die Unterdrücfung der Fui
heit und das Unglück gewaltfamer Revolution ausgefchloffen, das Volk m
der Thron alfo gegen diefe beiden größten Gefahren mehr als irgenbmo ir
ber Welt gefhügt erfcheinen. |
Das Spftem des gefeglichen Widerftandes im Sinne der Engländer abe
beiteht darin, daß bie Bürger es für heilige Waterlandspflicht halten, jet
freiheitsfeindlihe Regierungsmaßregel beharrlih und nachdruͤcklichſt zu br
fimpfen. Cs gilt im Volk und felbft in den Richterjprüchen als Ehre bt
Bürger, wenn fie auch die ihre eigene Perfon gar nidht betreffenden Bere
hungen und Berlegungen ber verfaffungsmäßigen Freiheit ihrer Mirbürge
und des Vaterlandes entfchloffen und muthig befümpfen. Aber es fol —
foweit nicht etwa die Nothwehr gegen unmittelbare Verlegung oder gegen üu
Berite verfaffungsmwidrige Gewalt die Gegengewalt rechtfertigt — nur offen!
gefegliche Vertheidigung mit friedlichen Mitteln flattfinden. Geheime Gr
ſellſchaften und Verſchwoͤrungen alfo und eigenmächtige revolutionäre Gr
walt, Gift und Dolch follen ausgefchloffen fein.
Das einflußreichſte Beifpiel eines ſolchen gefeglihen Widerftandes at
Dampbden, nachdem er jhon früher ſelbſt durch Gefangenfchaft fic nid!
Hampden 691
hatte zwingen laflen, zu einem verfaffungswibrigen gezwungenen Anlehen
beisutcagen, im Sabre 1637, in jener gefährlichen Zeit, in welcher Karl J.
gariz ohne Parlament zu regieren befchloflen hatte, was er in England nur
bucch ein tereoriftifches Syſtem eilf re lang bucchzufegen vermochte.
Hampden lebte damals als Privatmann auf feinem Gute in Budingham.
Der Vorgang ſelbſt fo hier mit Dahimann?’s Worten bargeftellt werden. *)
Karl war entfchloffen, fortan ohne Parlament zu regieren. Zu dem
Ende mußte er aber vor Allem Friebe haben. Und es ward nicht ſchwer, mit
Frankreich abzufchliefen, da La Roc) elle ohnehin fchon gefallen war (1630).
Im Sabre darauf kam auch der Friede mit Spanien zu Stande.
Wenig fehlte, fo hätte Karl ſich fogar mit Philipp IV. zur Bezwingung
der General⸗Staaten verbündet, unter der Bedingung, baf er bie Infel See⸗
land für ſich behalte. Dody ex wagte das am Ende nicht.
Jetzt aber galt es, raſch Hand anzulegen, um ohne Parlament bie
Einnahme der Krone zu vermehren. Das Pfund» und Zonnengeld warb
forterhoben, mandyer Zoll erhöht. Die (Eicchlichen) Recufanten fegte man
auf beftimmte Summen, bie fie jährlich in den Schatz einzuzahlen haben,
und man behnte Die Korderung mit der Zeit (1637) auch auf bie Irlänbifchen
Recuſanten aus. Der fchottifche Adel mußte jet einen Theil ber geifklichen
Guͤter herausgeben, auf welche die Krone Anfpräche machte. Viele Forſten
wurden der Krone zugefprochen.
Man ging weiter und fchlug einem Weg ein, welchen König Jakob ans
gebahnt. Dieſem machten die unaufhörlichen Seuchen in London Sorge,
er fchrieb fie ber Uebervoͤlkerung zu, wollte nun bie Hauptftabt nicht weiter
wachſen laffen, verbot durch eine Verordnung die Aufführung neuer Gebäude.
Weil aber die Gerichtshoͤfe dahin entfchieden, daß es dazu eines Geſetzes bes
bürfe, fo blieb die Sache beruhen und die Stadt erweiterte ſich jugendkraͤftig
nad) allen Selten. Karl nahm nun die Sache wieder auf, ließ durch Com⸗
miffarten die Eigenthämer der neuen Häufer vorladen. Da mußten Diele
ſchwere Geldbußen zahlen und ihre Gebäude wurden obendrein niedergerifien,
wodurch z. B. ein einziger Speculant zweiundvierzig Gebäude verlor.
©o kam es, daß die Mehrzahl ſich gluͤcklich fhägte, mit Bruͤchen und
einer jährlichen Hausſteuer davon zu kommen. Der König flieg nun höher
noch mit gelehrten Forſchungen in das Alterthum hinauf, um nugbare Ho⸗
beitsscchte aufzufpären. Während des letzten franzoͤſiſchen Krieges hatte er
von den Seehaͤfen und den Küftengebleten die Stellung von bemannten Krieges
ſchiffen gefordert. Diefes Anfinnen war bem gegenwärtigen Seeweſen nicht
mehr angemeffen, allein die Krone berief ſich auf ein altes Herkommen und
auf das, was für die Königin Eliſabeth in ben Tagen der Armada gefchehen.
Diefes Beifpiel paßte nicht, es galt damals die Vertheibigung des eigenen
Landes mit Anfpannung aller Kräfte, allein man gab für ben Augenblid
nad. Sept aber warb in tiefem Frieden eine Stellung von Kriegsfchiffen
ausgefchrieben (1639) und zwar über das ganze Königreich, und fo follte es
») ©, heilen Bergiäte ber englifden Wirte
ganz kleinlaut und anſpruchslos, aber Immer gleich feſt, ſprach er die richten
liche Entfcheidung an, ob er wirklich ſchuldig fei zu zahlen. Die Michter m
Schatzkammer hätten lieber gefhtwiegen ; am Ende entfhieden fie ihrer adt
gegen vier wider ihn (1637), allein rings im Volke hielt man Hampben?
Gründe für fiegreich und fein Name ſcholl weit durdy das Fand, Männer
von folcher Haltung wie Hampden find zu allen Zeiten felten. In gamı
anderer Art trat damals Prynne auf, ein Sachwalter, ganz erfüllt von puri
tanifhen Meinungen, der in feinem Histriomastix, einem Quartband ven
taufend Seiten, Tanz und Maskenzüge und Schauſpielweſen und ganz be
fonbers die Verkleidung von Männern in Weibertracht als Werk des Leidigen
Zeufels verdammte. Es fchilbert feinen Charakter, daß er auf die Frage: ed
er denn nicht bei einer Verfolgung von Ehriften durch Die Heiden fi in Mit
chentracht gerettet haben miürde? antwortete: „lieber den Tod.“ König und
Königin tanzten gern, liebten Maskenzüge, die Königin ließ ſich auch in Her:
fhaufpielen bewundern. Alsbald befchloß der Eiferer Erzbiſchof Laub, für
Gottes und des Hofes Ehre Alles aufzubieten, ließ niht nad), bis Pronne
als Verletzer der Majeftit vor Gericht geftellt war. Der Mann erklärt,
König und Königin gar nicht gemeint zu haben; half nichts, er muft:
durch Richterfpruch (163&) beide Ohren verlieren, am Pranger ftehen, 5000 |
Pfund Buße zahlen, fein Buch verbrennen fehen und follte nun emig im }
Gefängniß bleiben. Seine Obren fielen, er ließ fie annähen und fie wuchſn
ihm im Kerker wieder an. Er ward nicht matt, fehrieb wieder und erlitt nad
drei Jahren daffelbe Urtheil. Während des Proceffes fprach Lord Find ir
— —
EG:
_ Hampben. | 6B8
Oberrichter: „Ich glaubte, Here Prynne Hätte Beine Ohren mehr, aber
mir kommt's vor, er habe nod) Ohren”, und ein Gerichtödiener mußte nad)
fehen. „Mylords“, rief Prynne, „ich bitte Gott um nichts, ale daß
er euch Ohren geben möge, um mid) anzuhören.” Während der Vollziehung
ſprach Prynne zu der Volkemenge, die unzählig zufammengefirömt war:
‚Shriften, waͤre es und um unfere eigene Freiheit zu thum geweſen, fo ber
fänben wir uns nicht hier’ (denn er hatte Genoſſen feines Schidfals*) und
ebenfo heidenmäthige) ; „um eurer Aller Freiheit willen haben wir die unfrige
auf das Spiel gefeit. FRachet über biefe, ip bitte euch, haltet feft, feid trem
he Sottes und des Landes, fonft werbet ihr und eure Kinder im
—* Knechtſchaft gerathen.“ Man rief ihm Beifall zu. Die Vermaͤhlung
von Lirchlicher und politiicher Freiheit warb damals im Derzen bes Wolkes
eingefegnet. Mochte ber Eins dem Damp den als Muſter folgen, mochte
dem andern bas Beiſpiel Prynne’s vorleuchten, man erkannte den gekhen
Boden, auf welchem Weide ſtanden.
Zur Verteidigung des gefeglichen Widerftandes und ſeines großen Dom
zugs vor geheimer Verſchwoͤrung und eigenmädhtiger revolutiondrer Gewalt
bat neulich ein achtungswerther Schriftfteler, I. Ven eday, unter bew.
Titel John Dampden und die Lehre vom gefeglihen Wiber-
fand, 2. Aufl. Belle⸗Vue 1844 ein beſenderes [che empfehlerewer⸗
thes Buch gefchrieben. Er ſchließt feine dem franzoͤſiſchen Staatsmanne Gui⸗
zot entlehnte hiſtoriſche Schilderung des Peoceſſes (mähcend befien 9 amp⸗
den verhaftet war) mit den Worten
„Dreizehn Tage dauerten biefe Verhandlungen, in denen Hampdsn
und feine Anwälte Die Geſetze des Landes vertheidigten, während die Raͤthe bes
Sönigefe angeiffen und zulsgt Die Richter Hamp den verurtheilten. - Der
König, feine Räche und Höflinge freuten ſich ihres Sieges. Sie ahneten nicht,
daß es ihr legter fein. follte: fie wähnten fidh am Ziele; auch waren fie wird“
lich am Ziele, an ber. Grenze des Geſetzes, an der Bronze ihrer Macht auge
tommen. Ganz England hatte In dem Proceſſe gm Hampden var Ge⸗
richt geſtanden und feine Rechte vertheibige und ganz England war in ihm ver⸗
urtheilt worben. Alle Welt hatte —— daß es kein Recht mehr
für das. Volk Englands gebe, und dad genügt bei einem Wolke von Männern,
um fsin Recht zu ſchuben wu wieder zur Anwentung m bringen. Das Beh
— —
19) ——— Be Barton und einen —2 — Beibe —8
wegen freifinniger Ne de Schrift zu e Prynne vs
urtheilt. Wei ber Urtbeilsuollgiehung = Burına nem Se ber 0 bat Bolt
gurüdweifen wollte, zu: „kaß fie, auf Kane re
58
muß.” Cine Frau Bi zu ibm: „Akein "Men ee n Ba, a
die ihr je gehalten je etwiberte: es, iR Yet No e, 3
BR a Su Bd a ES
er zu: „Mein a n He n
unb wenn ich ber Kraft noch mehr bebürfte, fo würde Gott —A —*
len laſſen.“ Gleich tapfer vͤlieb und frac der Argt.. So ſchlug der tyran⸗
nie Due Proceß wegen Mai —— gen um Berberben der * Da:
1 Einige 6 Richter
Briät, dis Kerl]. jum Zode —— warte Zpane “
— —ss — —
ederholten den N den im
ie men ——
erhoben — kann. Und — ** es wohl ringe in? Ant
führung, Esift flar, dafiträge, unedle, unmaͤnnliche Völker, die, ohn
SGemeingelft und Aufopferung für die vaterlänbifche Ehre und Freiheit, ſtil
jede Verlegung derſelben und jede Schwaͤchung hinnehmen, fo mie leider jum
Theil allzu viele Deutfche es thun, Freiheit weder verdienen noch erfämpfen.
Wenn fie aber nicht durch das Beifpiel aufopfernder geſetzlicher Kämpfe me:
ralifdy erregt und gefräftigt werden koͤnnen, fo helfen Gewaltthaten noch viel
weniger. Karl's erfter Minifter, Lord Budingham, fiel durch politifchen
Meuchelmord. Die Folge war, daß ber eifrige Liberale Windmortb,
nachmals Lord Strafford, und mit ihm der Erzbifhof Laub die Mi
nifter des Königs und unendlich viel gefährlichere Werkzeuge des Despotiemui
wurden als ber nichtige Höfling Lord Budingham. Es ift ebenfo klar, melde
Mirkungen ein in einiger Allgemeinheit burchgeführter gefeglicher Widerſtand
haben muß. Alte Kraft des Staates liegt ja im Volke; alle Gemalt der
Regierung, alle Mittel derfelben hängen von ihm und feinem Willen ab,
find wirfungslos gegen denfelben, vollends fobald nicht Selbſtſucht, for
dern fittliche Kräfte ihn beftimmen.
Einer befonderen Ausführung bebürfen wohl vorzüglih nur die beibm
Hauptpunkte: fürs Erfte, warum denn ein folcher offner gefeglicher Wider
— —
ſtand den geheimen revolutionaͤren Mitteln vorzuziehen iſt; fodann zwei: }
tens, welche Hauptmittel des gefeglichen Widerftandes in ber Regel nah
liegen und angemeffen find.
In Beziehung auf bie erfte Frage ift es befonders wichtig, die Grin)
lagen und bie Natur ber politifchen Freiheit ins Auge zu faffen. Wahre,
Hampbden. 695
dauernde Freiheit ruht ihrem inneren Wefen nah auf
Sittlichkeit, ihrem dußeren Hervortreten und Beſtehen
nah auf Conſens oder dem freien Uebereinſtimmen der
freien Männer einer freien Nation. *), Aud in Beziehung auf
die Erhaltung oder Herftellung der Herrſchaft der Freiheit nun gilt ber Grund⸗
fag, daß nur die Kräfte, welche eine Herrſchaft begründeten, fie auch erhalten
müffen (imperium iis retinetur artibus, quibus initio partum cst).
Geſetzlicher Widerfland nun oder bie Beſtrebung, durch offene gefegliche
Mittel die gemeinichaftlihe Freiheit und Verfaſſung zu begründen oder ber»
zuftellen, ihre Anfeindungen zu befämpfen, fie entfprechen dieſen beiden
Grundkraͤften der Freiheit; geheime eigenmächtige revolutionäre Unterneh»
mungen widerfprechen ihnen oder gefährden fie.
Mer offen der Tyrannei entgegentritt, der legt Dadurch eine Öffentliche
Berufung an die fittlihe Gefammtüberzeugung, an den
Gemeingeiſt und die fittlihe vaterländifhe Geſinnung fe
ner Mitbürger ein, er fpricht den Glauben und die Aufforderung aus, daß
fie ebenfalls ihre Schuldigkeit thun und mit vaterländifcher Gefinnung und
That für die Freiheit Lämpfen würden. Er ſelbſt bemährt diefe Ges
finnung und feine VBereitwilligkeit zu Opfern für die Helligthümer ber
Sreiheit, indem er ſich offen der Mifgunft der Macht und ihren Verfols
gungen ausſetzt. Er achtet aber auch zugleih den Gefammtmwillen
feines Volkes und ordnet ſich demfelben unter und ruft mit dem fittlichen
Gefuͤhl zugleich dieſen Sefammtwillen feines Volkes, alfo die möglichft ſtar⸗
ten unuͤberwindlichſten Kräfte in den Kampf gegen das Unrecht, gegen bie
beleidigende Verlegung bes Geſammtwillens durch den Despotismut ;
der Sefammtwille des Volkes ſpricht fich ſoweit möglich in feinen bisherigen
Geſetzen aus, welche die Nation als die allgemeine Korm und Megel für
das Handeln der Bürger aufitellte. Deshalb ift, wie e8 auch OCon⸗
nell, der fiegreihe Kämpfer für bie allmälige Befreiung Irlands, ſtets
bewährte, ber gefegliche Weg für bürgerliche Kämpfe gerade daffelbe für das
Volt, was die Disciplin für das Kriegsheer. Diefes iſt verloren, wenn
jeber Krieger nach feinem Eigendünkel, der Eine bier, der Andere dort, der
Eine früher, der Andere fpäter auf eigene Fauſt losſchlagen wi. Durch
biefen gefeglichen Weg, durch den offnen ehrlichen aufopfernden Kampf auf
demfelben, durch bie darin enthaltene Aufforderung an die gleiche fittliche
patriotifche Beſtrebung dee Mirbuͤrger vereinigt man leicht diefe Mitbuͤr⸗
ger, macht fie zu Mitftreitern, zu Kämpfern mit unüberwindlichen fittlichen
Kräften. Alles biefes verhält ſich andere, meift entgegengefegt, bei gehei-
men Verbindungen und Verſchwoͤrungen und bei eigenmächtiger revolutio⸗
närer Aufhebung gefeglicher Wege und Verhältniffe. So wie hinter geheime
Verbindungen , bei Vielen wenigſtens, der Mangel an Ehrlichkeit und ent:
ſchiedener Bereitwilligkeit zu Opfern fich verſteckt, fo iſt es auch ganz unvers
meiblih, daß im Dunkel und in der Abfonderung von der Nation, in bem
eigenwilligen, eigenmächtigen Aufgeben ber Gemeinſchaft mit dem Volk,
*) &, oben Bd. I. G. 11.
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yah Ia.bee Aumafum, fe 0
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— de Ci ee —
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66 Sminiftern —7236 bald bi { Ä ——
"und Ludwig 8 XVL von —— fie en ihn ht zu men e it, ben
Gefühlen, Ynfı Hten, Bedürfniffen der Nation, werben berfelben zumal
Zeiten neuer Bewegungen täglic; fremder, verlieren die Kraft, auf fie zu wir:
fen, und die Weisheit, fidhhvon ihnen beratben und warnen zu laffen.
Der gefeglihe Gang und die moraliſche Kraft folder fittlichen Anftren:
gung, wie die eines Luther, eines O'Connell, entwaffnet auch bie moralfär
Kraft der Gewalt, während gefegwibriger, geheimer, hinterliftiger Krieg ib
tprannifchen Gegenmittel herausfordert und gewiffermaßen rechtfertigt. , &
märe das Allergefährlichfte für einen Fürften, wenn durch Sittlichkeit und
offne Wahrheit, durch Nechtfchaffenheit und Gefeglichfeit ber Freiheitsfreund,
durch deren Muth und Aufopferung für das Gemeinwohl und bie Ehre det
Daterlandes, der entgegengefegte Charakter feiner Beſtrebungen beſchaͤmt
und zum allgemeinen Volksbewußtſein gebracht werben koͤnnte. Wo bis
ber Fall wäre, dba wäre die Sache bes Despotismus oder Herrenthums unten
bar verloren.
Wo aber ein Volk wohlgerüftet und wohldisciplinirt ih auf moedigen
Mege feine Freiheit felbft ſchuf, da wird e8 diefelbe fich aud) gegen natuͤrlich
Ruͤckſchwankungen, gegen neuen Despotiemus zu fidyern wiffen. Daß auch
frühere deutiche Freiheitsbeftrebungen durch jene Kinfeitigfeiten vielfach ibr
Ziel verfehlten, wer mag diefes leugnen! Daß es jest, vorzüglich wohl durd
Einwirkung volfsmäßiger Ständefammern, allmälig befjer wird, Diefes il
der ftärkfte Grund unferer Hoffnungen auf glüdlidyen Ausgang unferer Frei:
heitsbeitrebungen. Man denkt endlich wieder daran, daß das Volk durch ger
Hampden. 697
meinfame fittliche tüchtige That fich feine Freiheit erwerben und daß es dazu
moralifc) erhoben werden müffe. Das leere Hoffen auf den Knalleffect einer
Emeute, einer geheimen Verſchwoͤrung oder gar bloß auf ein Bringen der Frei⸗
heit von Außen macht dem Streben Plag, alle Kräfte der Freiheit zu üben, zu
bilden und bereit zu fein für jede günftige Gelegenheit, welche ben Vorbereite-
ten nie fehlen Eann.
Daß daneben täglich mehr eine ganze Reihe negirender, ercentrifcher,
revolutiondrer, namentlidy auch communiftifcher teligidfer und politifcher
Tendenzen und Kräfte durch hartnädige Wahrheits⸗ und Rechtsbedruͤckungen
von der Begenfeite hervorgerufen werden, dieſes ift jegt in ber unvermeidlichen
Natur der Dinge begründet, aber Lediglich durd die Schuld der Freiheits⸗
feinde veranlaßt. Es darf diefes aber die gefeglichen Freiheitskaͤmpfer in ihr.m
Gange durchaus nicht irre machen. Zwar werden fie Schmähungen von
beiden Seiten genug erfahren, hier baß fie Bundesgenoffen der Revolutio:
naͤre, dort daß fie die der Macht feien.
Ihr Gegner muß immer nur allein ber Despotismuß bleiben, fo lange
er die Webermacht hat und zum Kampf gegen ihn alle Kräfte nothwendig find.
Ihr Kampf wird um fo ruhmvoller und moraliſch größer, wenn er von beiden
Seiten Anfeindungen erfährt, hier tgrannifche Verfolgung , dort bie Verhöb:
nung. Und in der Geſetzlichkeit ihres Kampfes dürfen fie auch dann fich nicht
irren laſſen, wenn bei der politifhen Indolenz der Nation begeifterte Revo:
Intiondre beilfam für die Belebung der Gefühle der nationalen Ehre und
Schande, des Zornes gegen die Unterdbrüdung und des die höchften Opfer
aufwiegenden Werthes ber Freiheit wirkten, nicht minder auch für die Maͤßi⸗
gung der Machthaber, die nur allzu oft blos aus Furcht daß geben, mas fie
aus Achtung des Rechts nicht hätten vermeinern follen. Dennod) muß das
Gute auf gefeglihhem Wege zum Ziele geführt werden. Es wird fo erreicht
werden , wenn das Volk irgend gefund iſt. Nur erft wenn die Gewalt felbft
Nevolution und Aufloͤſung ber gefeglicdyen Zuftände herbeiführt, ober wenn
die Nation wigen Mangels der Ausbildung im gefeglihen Kampfe fich den
Geſetzloſen ganz in die Arme mürfe und fo der Krieg ausbraͤche, alsdann würs
den die Lesteren Einfluß befommen und die Gefeglihen in dem Kriege ihr
Mitfkreiten natürlich nicht zuruͤckweiſen Finnen, fo wenig als im Kriege gegen
die franzoͤſiſche Tyrannei die Koſaken und Baſchkiren. Nach dem Kriege
bleibt dann der Nation die Entfcheidung über die Zukunft.
Herr Venedey, welcher nad eigenem Geftändniß früher auf dem
Wege revolutiondrer Beftrebungen und geheimer Verbinoungen für die Freie
beit unſeres leider noch gar fehr unfreien Waterlandes zu wirken fuchte und
dann mit Entfchiedenheit fih von diefem Weg: losfagte, hebt mit der durch
die eigene Anfdyauung belebten Darftellung eine ganze Heihe von Momenten
bervor , welche die obigen allgemeineren Säge vollftändig bewahrheiten. Und
ſehr mit Unrecht haben ihn Manche, großentheils Solche, bie mit ihm oder
nach ihm die einzige Rettung in dem revolutionären Wege fahen, als einen
Apoflaten der Freiheit angefehen und feine jegigen Grundfäge als ſervil
darſtellen wollen. Vielmehr zeugt auch diefe Schrift und ein neueres Bud)
über die durch faft unbegreifliche Verirrung ber Staatspolitik Ve
698 - Hampben
preufifchen Verhaͤltniſſe (Vier Wochen Heimatheluft) nicht minder
warme Baterlands» und Freiheitsltche er wie feine früherm
Schriften (von welchen befonders die über das preufifche Unterrichtswelen
böchft beachtensmwerth If), Erhatnur ben Weg zum Ziele verändert, und
blefes —— mit Recht. Seine fortdauernde volle Achtungewuͤrdigkeit beweiſt
dem Buch angehaͤngte minifterielle Correſpondenz. Ste ancerkennt
* volfftänbigft ber ebenfalls mitgetheilte Brief von Fein, von dieſem
tuͤchtlgſten, unermüblichften, aufopferndften und gemäßigtiten umter den beut-
ſchen Revolutionäre. Und auch er hätte wohl ſchon den richtigeren Meg
eingefchlagen, wenn nicht deutſche ſtaatzmaͤnniſche Verblendung durch reactios
ndre Maßregeln in Kirche, Schule und Staat taͤglich mehr alle Grundlagen
unferer Geſellſchaft unterwühlte und felbft die radicatften Gegentämpfe feider
fogar ſonſt befonnenen Männern als nothwendig erfcheinen ließe. Auch kann
man wahrlich nicht fagen, daß Here Weneden bie Forderung der Belchrän
kn Ren name auf gefegliche Mittel und Wege etwa in fr
—— re und allzu weit ausdehnte, Er erkennt an, was ſelbſi
Gens und Haller nicht zu leugnen wagten, daß eine
———— ber Regierung, zumal, bie gegen ——— unvet·
au en —— gerichtete, bje Öegengewalt rochtfartigen
—3 — * ſogar die Mahrheitsumterd druͤckung durch bie —
u ae Gewaltzuftand. (S. 84 u. 139.) Er nennt ————
tel der Gemalt gegen die Freiheit des Geiſtes.“ Und man könnu
* wenn er uͤberhaupt die Abſicht hätte, die Rechtsgrenzen zwiſchen ver:
brecherifchen und nicht verbrecherifchen Rebolutſonen aufzuffellen, wohl vor:
werfen, daß er diefe Örenzen zu unbeſtimmt, vielleicht zu weit aufgeftellt babe.
Mamentlidy hat auch er die Fälle der Nothwehr gegen die Verlegungen der
Privatrechte der einzelnen Bürger, bei welchen zu ihrem Schug das englifche
wie das gemeine deutfche Recht auch dem Mitbürger ben Beiftand des Be
drängten gegen die Dränger erlaubt, und bie Fälle der Vertheidigung der
öffentlihen Nechte als folcher nicht unterfchieden. Auch bat er in
Beziehung auf die legteren den gemöhnlihen Mangel einer Bollmadt,
im Namen bed Gemeinweſens revolutionäre Gewalt anzumenden — dieſen
ftärtften Rechtsgrund gegen die meiften revolutiondren Unternehmun:
gen — nicht ins Auge gefaßt. Doc fein Buch beabfichtigte ebenfo wenig
als diefer Artikel die der Lehre von den Revolutionen angehörige genauere
Unterfuchung über jene Rechtsgrengen. Er mollte nur im Allgemeinen die
Vorzüge offner gefeglicher Freiheitsbeftrebungen vor den fo häufigen geheimen
und eigenmächtigen nicht zu rechtfertigenden revolutionären Beſtrebungen
darftellen.
Hier aber hat er volllommen recht und er wirft gerade zum Vortheil der
wahren Freiheit durch die Vertheidigung de gefeglichen Miderflandes. Was
hätten auch nicht alfe die Anftrengungen und beabfichtigten oder nicht beab:
fichtigten ſchweren Opfer. fo vieler deutfhen Männer und Juͤnglinge für bie
vaterländifche Freiheit nügen Eönnen, wenn man auf offnen gefeglihen We:
gen das Rechts: und Zreiheitsgefühl und die Thatkraft der meift in die un:
rühmlichfte Trägheit und politifche Gleichguͤltigkelt verſunkenen vornehmen
Hampben. 699
und gemeinen deutſchen Spießbuͤrger erweckt hätte, flatt ihnen und den Res
gierungen durch geheime revolutionäre Unternehmungen bequeme Vorwaͤnde
gegen die Sreiheitsbeflrebungen zu liefern. \
Auch iſt gerade bier *) ein Punkt, mo man die Nachahmung bes fran⸗
zöftfchen Liberalismus, flatt der Freiheitsbeſtrebungen ber praktiſch tüchtls
geren Engländer, manchen beutfchen Liberalen mit Recht zum Vorwurf mas
chen Bann. Denn ber größte Mangel ber Sranzofen ift Mangel an lebendigen
fittlichen Rechtsgefühl und an dem Vertrauen zu ibm, iſt Mangel an Ach⸗
tung bes Geſetzes. Daher fieht man einerſeits, daß bie Sranzofen und auch
bie franzöfifchen Liberalen die Außerften Verlegungen der erften Rechtsgrund
fäge, wie 3. B. eine allgemeine bleibende Aufhebung ber Affoctationsfreis
heit und mehrere Beſtimmungen der Septembergefege, ober Verfaffungsvers
Lesungen, wie bie längere Dauer der Auflöfung der Nationalgarden in vielen
Städten, durchaus nicht mit einer folchen allgemeinen Empörung ber Gefühle
aufnehmen und fortbauernd unermüdlich bekämpfen, wie dieſes unfehlbar im
England gefchehen würde. Auch dulden ſelbſt die liberalen Franzoſen ſtill⸗
ſchweigend noch andere napoleonifche Beſchraͤnkungen der natürlichften
Freiheitsrechte, 3. B. des nad) engliſchem wienach gemeinem beutfchen Rechte
unbeſchraͤnkten Nothwehrrechts und rechtlichen Widerflandes gegen geſetz⸗
mwidrige Gewalt öffentlicher Diener , oder audy bes Rechts der freim Klage -
gegen Amtsmißbrauch ohne Regierungsautorifation. Die Engländer finden
mit Recht in den unbeſchraͤnkten natürlichen Rechten ber Bürger nicht blos
die Mealitdt und den Schug der Freiheit, fondern auch den Schutz vor Mes
volutionen , die gerade dadurch entſtehen, daß Unrecht und Willkuͤr unbe⸗
merkt und ungeftraft bis zum Unerträglichen wachſen und bie Beamten ver»
derbt werden. Die Franzoſen trauen fidy oder den Bürgern Leine fittliche
Achtung ber Rechtsgrenzen zu. Anberntheils aber greifen bie Franzoſen
bundertmal zu intriguanten und zu geheimen und revolutionären Mitteln,
Meuchelmorden, Ementen, revolutionären Vereinen, mo. bie Engländer,
bie ihre Geſetze zu benugen und geiftig und moralifch zu beleben wiſſen, bie
in ihnen und in dem gefeslichen Widerfland die fefle Burg ihrer Freiheit
finden, an revolutiondre Mittel gar nicht denken würden ‚und wo bei gehoͤ⸗
tiger Nachhaltigkeit in ber gefenlichen Wertbeibigung des Rechts auch in’
Frankteich hundertmal eher Hilfe zu finden geweſen wäre. In dem Maße,
als für diefe edelfte und verdienſtlichſte patriotifche Thätigkelt Sinn und
*) Gewoͤhnlich iſt bekanntlich ber Vorwurf, bie conftitutionellen beutfchen
Berfaffungen feien franzöfifdy, alfo für gute Teutonen haſſenswerth, und bie
beutichen Eonftitutionellen ahmten die Franzoſen nach, ein Berädungsmittel ber
Gent ſchen Hinterliſt für den deutſchen Michel. Die conftitutionellen Verfaſſun⸗
en find, wie ſchon Montesquteu fagte, zeitgemäße Ausbildungen beuts
Her Freiheitsgrundfäge und heute Gemeingut aller freien Voͤlker ber gefitteten
Wet, ebenfo wie Hierarchie und Feudalismus allgemein in Europa waren.
Der Despotismus der aber wurde wenigftens in Deutfchland gar fege
dem —RB are nad eabmt unb biefe —Aã— Radab>
mung ber Branzofen wo en verewigen, b Rachahmun
der Franzoſen buch die Sonftitutionellen mn i dehmung
[ 4 u — ——
ben des Märtpeertbums für bie Freiheit den Sinn für geſetzlichen Widerſtand
verbreiten.
3) Erfinbungsgeift und Unermüblichfeit in der Entdefung und Br:
nußung aller Mittel und Wege, vum durch diefe oder jene in: oder auslänbife:
Preſſe, durch handſchriftliche Mittheiluugen, Briefe, Demonftrationen,
d. h. Sefinnungsäußerungen, Trinkſpruͤche, Derfammlungen, Reifen,
Adreſſen, Metitionen, Unterſtuͤzungen armer Patrioten, beſonders abe
der Verfolgten u, f. w., und da endlich, wo Neben unmöglich. oder un:
fhidlih wäre, weniaſtens duch ausbrudsvolles Schweigen, durch unter
laſſene Huldigungen bie Wabrbeit und die Uebergeugung der Befferen im
Volke deutlich und eindringlidy zu machen und um einen Abereinflimmenden
Gefinnungsausdrud des Volks immer allgemeiner und färfer zu machen.
Mie eng ber Raum bes Geſctzes auch fei, wie Elein und unfcheimbar
ber Standpunkt des Handelnden, wie gering feine That — fein Samım:
forn gebt verloren für das von Gott gewollte Gute, für die göttlidye Kreibeit.
Es ift eins unſichtbare moralifdye Gemeinſchaft aller patriotifchen Herzen und
Beftrebungen in einem bedruͤckten Volke, ein Zufammenmwirfen von heute auf
morgen, von Nord nah Süd, Die Tropfen bilden Bäche, die Bäche den
Strom. Man glaubt es oft nicht und verfolgt e8 bei genauerer Betrachtung,
wo fie möglich ift, mit Erftaunen, wie viel ein einziger unfcheinbarer Bürger
durd) treues unermüdliches Sprechen und Thun für das Gute zuerſt in Blei
nerem, dann durch Mitteleperfonen in erweiterten Kreife wirken Efann. €
ift das ſchlimmſte Zeichen der Selbftfucht unferer Tage und des Mangels an
=. WAET
L
Hampden. TOL
politiſcher Bildung, wenn Viele wegen des Mangels an Mitteln und der Uns
edbuld, bie Früchte ihrer Beftrebungen felbft zu fehen, an der Sache der
Freiheit verzweifeln und menigftens bie Hänbe in den Schooß legen. Wollte
es in Eriegerifchen Feldzügen , bie doch ihrer Natur nach fchnellere und ſicht⸗
lichere Erfolge haben muͤſſen als innere Entroidelungen, der einzelne Sol:
dat aͤhmich machen, bie Sache des Vaterlandes wäre mit Sicherheit verloren.
Wie unermeßlich wichtig iſt oft felbft auch die geringfte Anftrengung,
ſelbſt das Schweigen, die unterlaffene Huldigung, diefe oft allein mögliche
und ſchickliche Art, den Fürften die Wahrheit zu fagen, fie vor falfchem
Syſtem und Rath ihrer Umgebung zu warnen! Und mie ſchwer kommen
Deutſche zu diefer geringften Zapferkeit! Man muß wohl öfter dies Vers
geffen der patriotifchen Pflicht in diefer Beziehung, fo z. B. in Würzburg,
in Breslau, lieber aus dem Mangel politifcher Einſicht in die Wichtigkeit
und Wirkſamkeit diefer Pflichtausuͤbung erklären als aus Feigheit und
Selbſtſucht, welche Hier zu Verrath an den Heiligthuͤmern des Vaterlandes
führen Einnten.
Ganz daffelbe gilt von den unmöglich zu unterbrüdenden Aeußerungen
der rechtlichen und fittlichen und der menfchlich theilnehmenden Gefühle bez
öffentlichem Unrecht, vollends bei Proceffen und Martern folcher Art wie bie
Jordan'ſchen, bei welchen felbft in langen Jahren fo wenig von alter heffl-
ſcher Tapferkeit und Rechtſchaffenheit in ber Kammer der Volksvertreter, im
Stadt und Land zum Vorfchein kommen wollte. Sehr wahr fagt Vene⸗
dey: „So lange ein Volk ruhig und ſchweigend zufehen kann, daB feine
ebeiften Maͤnner um feiner Rechte und feines Wohls willen in Gefaͤng⸗
niffen verfümmern, iſt daſſelbe ſtillſchweigend zur Schmach und Knecht⸗
ſchaft verurthellt. Wer zu feig iſt, am rechten Dit zu reben, der mag ges
Laffen in das dumpfe Schweigen ber Rechtlofigkeit fi) fügen”. Bel Weiten
bie traurigfte Wirkung längerer Freiheitsunterdruͤckung if die Entadelung,
iſt die ſittliche Exrniedrigung der Völker. Ein Dann muß eine Ueberzeus
gung haben und den Much, fie auszufprechen und zu vertreten. Wie viele
Hunderte von Caſtraten und Zwittern, flatt ganzer Männer, aber [chen wir
tägliy in Deutfchland!
4) Eifriges patriotiſches Zufammenmwirken mit achtbaren Mitbuͤrgern
für alle diefe Zwecke, vorzüglich auch Befeitigung der kaſtenmaͤßigen Abſonde⸗
rung und eines vornehmen Perruͤckengeiſtes unter den Freiheltsfreunden beffel-
ben Vaterlandes.
5) Insbefondere find alle Sorporationen, als unfterbliche moralifche
Perſoͤnlichkeiten für unfterbliche Zwecke, doppelt intereſſirt und verpflichtet,
für den wahren bauernden Rechtszuftand des Gemeinweſens alle rechtlichen
Mittel zu gebrauchen. Ihre Schritte find auch doppelt wirkſam wegen Ihres
mocalifchen Anſehens und weil bei ihnen der Verdacht der Leidenfchaftlichkett
und revolutiondrer Abfichten wegfaͤllt. Es iſt ein Zeichen tiefen moralifchen
Verfalls ducch den aͤußerſten Despotismus, wenn man diefe Gorporationen
entweder gleichgültig gegen ben öffentlichen Rechtezuftand, oder ihre Stimme
für denfelben unterdruͤckt ſieht. | |
In Beziehung auf die gegen göttliche und natürliche, in Deutſchland
‚auch gegen pofitive Rechte ber Nation und, alter Bürg eingeführte Wahr:
— —— wuͤrde freilich aus jenem beten see bes Deren
enedey auch bie Nechtfertigung Derer abg werben koͤnnen, meld
durch Genfurumgehung und durch Verbreitung ihrem Inhalte nad) rechtliche
‚gebructer Mitthellungen biefer unnatüirlihen Gewalt widerfireben. Er felbfi
legt aber befonderes Gewicht darauf, daß man den Grundfag, unparteliſch für
und wider die Öffentliche Gewalt, ihre Gegner und ihre Freunde fich aut
zuſptechen, was bei freier Preffe unbedingte Pflicht fei, unter ber Genfur dar
um ganz aufgebe, weil unter einer Genfur, die nur das Angenehme yuldit,
a unterbrüdt, das Angenehme — ungerecht, ſchmeich
lerifch und luͤgenhaft wird und das Volk verführt. Erfagt: „Jedes Blatt,
— —— ben zu tabeln nicht | ‚ wird durch bad
Lob zum gemeinen Augendlener des Gelobten umd bemeiik, daß #8 eime Be
bientenrolfe verfehen Bann, aber nicht weiß, mas Ehre und Würde vom Mann
verlangen. Selbſt das Recht zum Lobe fehlt, wo man nicht tabeln darf.“
Daher will er auch bei folcher Cenfurbedruͤckung keine Erwähnung, Bein kob
des Fuͤrſten, der fuͤrſtlichen Verhaͤltniſſe, kein Lob der Minifter und ühre
Freunde, feinen Zadelihrer Gegner. In dee That ra ſich auch dar
bie edelften Schriftfteller entwaffnet,, ſelbſt gegen religiös und politiſch reue
Iutiondre Männer tabeind aufzutreten und dadurch mit den ihre
hervorrufenden Unterdrüdungs: Grundfägen und Mafregeln gleihfam *
meinſchaftche Sache zu machen, ſich ihnen dienſtbar und fdmeichlerifch an
zuſchließen, fo lange es unmöglich ift, ebenfo offen und maͤnnlich —
ber Gegenſelte zu enthuͤllen. Faſt nur fo unwuͤrdige Männer, welche durch
ſolche veraͤchtliche Dienftleiftung und Schmeichelei für bag Schlechte und Da:
terlandsverberbliche ſich einen Freipaß für einige liberale Neußerungen erfau:
fen mögen, cder Gimpel fieht man jest noch, bei dem endlich erwachenden
befferen Zafte in der beutfchen Nation, mit lauten Abfcheuserflärungen gegen
die Gegner der Macht auftreten, während fie die Wahrheit über diefe ſelbſt
freiwillig unterdrüden oder unterdrüden müffen.
Gewiß ift es traurig, aber es ift das gefährlichfte Uebel der Wahrheit:
und Rechtsunterdrüdung , daß die Öffentliche Macht die rechtfchaffenen Min:
ner von ſich ftößt, ihnen ihre Vertheidigung unmöglich oder felbft die für
fie geführten Waffen flumpf madıt, ja fie dem Spott oder der Verachtung
ausfegt, wenn fie den Thron, die gefegliche Ordnung vertheidigen, Billigung
und Liebe für fie ausfprechen und erwecken wollen. Aber es iſt diefes die
unvermeidliche Folge des Unrechts. Kein ehrlicher mürdiger Mann Eann feltft
das Recht vertheidigen, Feiner Bann vollends das Unrecht fördern durch dienft:
bar ſchmeichleriſche Huldigung gegen das Schlechte.
Freilich die eigenen allgemeinen Grundſaͤtze über religioͤſe, kirchliche,
politifhe Verhältniffe, über die rechte und gefegliche Behandlung Derfelben
barf da, wo er bavon zu reden hat, der rechtliche Mann nicht verleugnen.
Aber allgemeine theoretifche Srundfäge wirken wenig, doppelt wenig
in leidenfhaftlichen Kämpfen. Der allgemeine öffentlihe Kampf gegen die
genannten Feinde der beftehenden Autoritäten felbft — diefer iſt es, welcher
in einem würbigen freien Zuſtand diefelben entwaffnet. Ja diefe Feinde
Hampben. 708
werben in ſolchem Zuſtand entweder gar nicht entflehen ober im Vorgefuͤhl
diefe6 Kampfes und ber Verurtheilung durch eine freie und wahre öffentliche
Meinung nicht aufzutreten wagen. Aber diefer perfönliche Kampf nun , diefe
bereitwillige huldigende Unterflügung und Bundesgenoffenfchaft für die Wahrs
heit und Recht unterdruͤckende Gewalt, diefe ift unmöglid. Und biefes
ift — wir wiederholen es, bei der Unnatuͤrlichkeit und der tiefen inneren Gaͤh⸗
zung und Entzweiung dee Gemüther, welche bei dem immer mehr erwachen⸗
den Beduͤrfniß und Bewußtſein des Rechte und bei der immer Länger und
verlegender fortgefegten Reaction taͤglich waͤchſt — die gefährlichfte Seite uns
ferer öffentlichen Zuſtaͤnde. Wir wiederholen diefes, weil wir innigft wünfchs
ten, mit unferer Warnung das Ohr wohlmeinender einflußreicher fürftlicher
Rathgeber erreichen zu können.
Die rechtfchaffenen aufrichtigen Sreunde des Vaterlandes und feiner
Freiheit und Ehre aber werden alle Wege gefeglicher Freiheitsbeſtrebung und
gefeglichen Widerflandes zur Befeitigung jener und aller Gefahren fo lange
anwenden, bie friedlich die Gerechtigkeit fiegt,, wenn nicht, ohne ihre Schuld,
die Gegner der Freiheit das furchtbare Mittel ber Revolution für dieſen un⸗
vermeidlichen Sieg felbft herbeiführen.
Denn jene Worte Benedey’s, die er begeiftert für die Geſetzlichkeit
der Mittel oft wiederholt, daß in allen Fällen die gefeglichen Mittel die
Freiheit fiegeeich machen koͤnnten — biefe find wohl ſchoͤner und troͤſtlicher
als wahr. Ste wären nur dann wahr, wenn alle Bürger fo vortrefflich wären,
ſich im gefeglihen Widerfland zu vereinigen, oder wenn es der Wahrheit und
Rechtfchaffenheit ber befferen Bürger gelänge, die Macht von ihren Verblen⸗
dungen zu heilen. Das vermodten ja aud) Hampden und bie tüchtigen
Briten nicht. Eine allgemeine patriotifche Vortrefflichkeit aber, die bei ihnen
nicht flattfand, darf man bei der gutmäthigen Trägheit, Pedanterei und po⸗
litiſchen Rohheit fo vieler Adeligen, Gelehrten, Beamten und Bürger bei
uns gewiß fo bald noch nicht hoffen. Nur ſtreben muß man, auch jenen Gieg
zu erringen, jedenfalls die heilige Sache ber Freiheit und des Volkes rein zu
erhalten und zur einzigen Rache die Schuld ganz auf die Seite der Gegner hin»
überzumälzen ; für den ſchlimmſten Fall aber das Uebel auf dem geringften
unſchaͤdlichſten Grad zu befchränten. Dieſes aber gefchieht ficher durch moͤg⸗
lichſte Verbreitung allgemeiner politifchen und patriotifchen Gefinnung , Vils
dung und Sreiheitsvertheidigung. Sie macht entweder eine Revolution ganz
unnöthig oder verringert doch Die Uebel ber Despotie, die Schwierigkeit des
Sieges über diefelbe fo wie die Rohheit und Zerſtoͤrungswuth des Kampfes.
Bon ber patriotifhen Zugend aber, welche hierzu erfordert wird, iſt dieſe
vielleicht die wichtigfte, daB man an der guten Sache des Vaterlandes nicht
verzweifle, daß man den fittlihen Glauben an feine Zukunft fefthalte, jeden-
falls lieber mit ihm dulde und fein Uebel nach Kräftın mindere als ihm, fo wie
jegt fo viele Auswanderer, den Rüden kehre. Gerade die Gefchichte Englands
unter Karl J. zeigt es, wie viel näher, als man denken mag, oft der Sieg über
ben fcheinbar unüberwindlichfien Despotismusbevorfteht. Selbſt Hampben,
mit Ihm fein Vetter Dliver Crommell und Pym waren im Jahre 1639
im Begriff, England, welches noch immer ohne Parlament unter dem Despo⸗
— * —
= =
en Englanb wurde meuertiht das Leben und Wirken Hampbden’s wieder
holt befchrieben, zuerft von Nugent: Some memnorials of John Hamy- |
den, his party and his times, 2Vol. London 1831, bann von D’5#:
eaeli: Eliot Hampden and Prym. London 1832.
C. Weller.
Handel. Sobald die wirthfchaftlichen Zuftände aus der anfänalichın
Beſchaͤftigung mit dem Sammeln und Bereiten der Stoffe für dem eigenen
Gebrauch zur Theilung der Arbeiten vorfchreiten, treten die Menſchen in Ber:
kehr und kommen bie Güter in Umlauf, Die Gewerbe, zuerft rohe Ne
benbefchäftigung der Fiſcher, Jaͤger, der nomadifirenden Viehzuͤchter und der
Landiirthe, trennen und heben ſich zu felbititindigen Nahrungszweigen,
theilen fich immer weiter, fomohl in ihren einzelnen Verrichtungen als in da
Betriebsart. Capital, Kenntniffe, Fertigkeit leiften ihren mächtigen Bri
ftand für die Ausbildung der Induſtrie, welche ald unentbehrliches Element
des Wohlſtandes und der Macht in ben Staaten der Neuzeit ihre Anfprüde
auf Pflege und Beförderung mehr und mehr geltend macht. Nach zwei Sei—
ten hin haben ſich die getheilten wirthſchaftlichen Arbeiten mit dem Tauſche
zu befaffen. Ste taufchen bie Stoffe und Werkzeuge ein, beren fie zu ihrem
Betriebe bedürfen, und fie taufchen ihre fertigen Erzeugniffe an die Verbrau
her aus; der Erlös erfegt ihnen die aufgemendeten Koften und befähigt fie zur
Bortiegung der Production. Der unmittelbare Tau fch wird früh zum Ein:
kauf und Verkauf, zum Handel mittelft des allgemeinen Zaufchmittels, |
des Geldes, und fobald ſich der Handel nicht mehr auf den Ort und di
EN |
N
Handel. 708
nächte Umgebung befchränkt, bleibt ex nicht Länger Nebengefchäft ber es
werbe, er ſcheidet fi von diefen aus, wie ſich Die Gewerbe von ben Erdar⸗
beiten ausgefchieden haben, und wird in Folge einer neuen Arbeitstheilung ein
felbftftändiger Nahrungszweig. Und dies gefchieht, weil es zweckmaͤßig iſt.
Die Production ſelbſt erfordert in dem Maße, wie fie ſich ausbildet und aus⸗
dehnt, alle Mittel und Kräfte ber Unternehmer , denen es alsdann nicht Läns
ger zufagen kann, einen Theil berfelben auf den Handel zu verwenden, bie
alfo ihren Vortheil dabei finden, wenn fidy Andere eigens damit befcyäftigen
und ihnen die Dienfte des Handels vollftändiger und billiger Leiften. Die
Verzehrer finden durch den Handel eine größere Auswahl von brauchbaren
Sachen zur Befriedigung ihres Bedarfs und Genuſſes, und in feiner höheren
Bedeutung vermittelt derfelbe den Voͤlker⸗ und Weltverlehr, dem Tauſch ber
Erzeugniffe aller Zonen gegeneinander folgt der Tauſch der geifligen Güter, ber
Kenntniffe und Gedanken.
In der einfachften Seftalt erfcheint ber ſelbſtſtaͤndige Handel als Haus
fir handel 3 der Kaufmann kommt perfönlich zu dem Producenten, nimmt ihm
die Waare ab und fucht fie mit Gewinn abzufegen; den feßhaften Kaufleuten
fpäter verhaßt, iſt doch dieſe Betriebsart nicht zu vertilgen und für manche
Gegenden und Waaren eine bleibende Nothwendigkeit; von einer andern
Seite erſcheint als Ertrem die Sundfluch der Handlungs und Muſter⸗Reiſen⸗
den, jene Hauſirer des Großhandels und der großen Induftrie, um die Maſ⸗
fen der Erzeugniffe in taufend Candien zu vertreiben. Bald bedient fi
bann ber Handel ber Vortheile ber Arbeitstheilung,, und e6 trennen ſich zus
naͤchſt die eigentlichen Umlaufsgefchäfte von dem Einkauf und Verkauf,
der Waaren. Die Bewegung der Guͤter wird von eigenen Unternehmern
beforgt, welche ihre Zransporteinrichtungen, Schiffe und Fuhrwerke, dem
Handel zur Verfügung ftellen; die Bewegung des allgemeinen Taufch mits
tels, bes Geldes und der Ereditpapiere, ſtreift fi) von den Waaren ab und
wirb der Gegenſtand eines befonderen Gefchäftszweiges, de6 Geld: und Par
pier handels.
In der Landwirthſchaft iſt es der Boden und die ſchaffende Natur, an
denen ſich bie menſchliche Arbeit uͤbt; in den Bewerben und dem Handel If
06 vorzugsweife ber menfchliche Geiſt, welcher den Naturgefegen nachgebt,
Einrichtungen teifft und vervolllommmet und die Arbeit befruchtet. Die Kuss
bildung der Gewerbe und des Handels wirkt nicht allein dadurch belebend auf
bie Landwirthichaft zuräd, daß fie ihren Erzeugniffen einen größeren Abfas, -
ihrem Bedarf an Werkzeugen und Unterhaltsmittein eine größere, beffere und
billigere Auswahl bietet, fondern die durch Gewerbe und Handel vorzugsweiſe
geförderte Anfammlung von geifligem und materiellem Capital theilt ſich auch
der Landwirthichaft mit, beſſert ihren Betrieb, Felt ihn auf wifienfchaftliche
Grundlagen. Erſt aus der in Handel und Gewerben erzielten höheren Ents
widelung gehen die Mittel zu großartiger Pflege der Künfte und Willens
ſchaften hervor, welche auch bie Benüffe der Grundbeſitzer in gleicher Rich⸗
tung veredeln, und in ber aͤußerſten Spige der Verfeinerung ber Induſtrie,
ber Geld⸗ und Greditgefchäfte,. zeigt fich auch wieder die Umkehr zu dem
Ausgangepunkte ber vollswirthfchaftlichen Thätigkeit, zu der Landwirthfchaft.!
Suppl. 3. Staatslex. IL. 45
yıuuvssı wi, YUER WU KUSIED ANESLLID (vs. NZLUNMEDEEHLEUYSED
fertigt, für welchen bei den einzelnen Zweigen der volkswirth ſchaftlichk
tigkeit nicht die Handmerkofeite herauszufehren, fondern bie Stells
Bebeutung ins Auge zu faſſen iſt, welche diefelben in dem ganzen .
mus einnehmen. &s find aber auch die Andeutungen über den Entwi
gang der vollswirthfchaftlichen Zuftände, das Ausfcheiben der Bern
Landbau, des Handels aus den Gemerben , nicht fireng geſchichtlich
men und ausnahmslos nachzuweiſen; es iſt vielmehr damit nuc b
gemäße, normale Gang erklaͤrt, wie ex fich felbft bei einer Anſied
Ohio darftellen wird. Damit ift eine durch beſondere Verhaͤltniffe
apbere Entwidelung nicht ausgefchloffen, es iſt 3. B. die Erſcheim
ausgefchloffen, daß in einem Vorlande mit feetüchtiger Bevoͤlkeru
as Phoͤnizien oder Holland, die Schifffahrt früher fi) ausbilbe, ba
den Gewerben vorauseile, anfänglich genähet von den Erzeugnifien
terländer und den bafüg eingetaufchten Producten entlegener Gebiete,
biefer Zwiſchenhandel fpdter erſt eine eigene Production, Purpur
oder Tabakfabriken, erziehe.
Die Frage, ob der Handel productiv ſei, das heißt, ob fa
tigkeit, wie jene der Erdarbeiten und der Gewerbe, das Nationalı
vermehre, wird verfchieden beantwortet. Die Einen, und Dies iſt
Anficht des griechiſchen und roͤmiſchen Alterthums, behaupten, baß:
del ben, Waaren, mit deren Einkauf und Verkauf er ſich befchäftigt
höheren Werth beilege, indem er Feine Beränderung an ihnen vornehn
fie zum Gebrauche tauglicher mache; die Gewinnfte der Kaufleute fe
auch nicht. die Frucht einer hervorbringenden oder floffveredeinden Aı
entfprächen nicht einer in den Beſitz der Gefellfchaft gelangten neuen
menge, fondern beftünden lediglich in Bermögenstheilen, welche, vor!
nnd uni san .. “a man
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nicht aufzukonmen, wenn man bad Weſen des Handels in dem Tauſche,
in dem Einkaufe und Verkaufe ber Wanren, ausſchließlich findet. Allein bei
naͤherer Betrachtung wird man noch etwas Anderes wahrnehmen.
Der Taufch aͤndert freilich nichts am bem Werthe der gegen einander
hingegebenen Gegenſtaͤnde; er betrifft Gleichwerthe, welche ber Marktpreis
beſtimmt, und wird gefchleffen, weil ‚beide Theile ihren Vortheil babet fin
den. Ein weiterer Wortheil, der etwa dadurch erzielt wuͤrde, daß die Uns
wiffenheit uͤberliſtet oben die Noth ausgebentet wird, waͤre nicht fehe vers
ſchieden von jenen Vortheil, bes aus falfchem Maß und Gewicht entſpringt.
Allein wie der Taufch bei den Gewerben ein Nebengefchäft iſt, welches ihren
Erzeugnifien keinen Höheren Gebrauchſswerth giebt, fo iſt er auch bei dem
Handel nicht die Hauptſache; dieſe befteht vielmehr in dem Umlaufss
gefchäfte, in der Bewegung der Güter von dem Drte, wo fie zu haben find,
an den Ort, we fie gebraucht werben. So mie aber die Veränderung ber
Beſchaffenheit der rohen Stoffe eine Bedingung ihrer Brauchbarkeit fie
menfchliche Zwecke iſt, ebenfo unerlaͤßlich ift dafuͤr die Voraͤnderung des Or⸗
tes, wodurch ſie in den Beſfitz der Verbraucher gelangen. Das Spinnen
und Weben der Wolle ift nöthig, damit diefelbe ale Kleidungsſtoff dienen
Sonne; nicht minder noͤthig zu demſelben Behufe iſt «8, daß bie Stoffe von
dem Orte ber Erzeugung bahin gebracht werben, wo man Ihrer bedarf.” Wer
Kraͤuter fammelt oder Zifche fängt, thut auch nichts Anderes, und Niemand
zweifelt, daß diefe Wefchäftigungen produetiv find; eben darum, meil er die
Veränderung an dem Orte ber Erzeugniffe vorninmt, die zu ihrem Ges
brauche ebenfo nothwendig iſt als jene an dee Befhaffenheit der Stoffe,
darmm iſt der Hamdelproduetiv. Die mit dent: Drte vorgenommene
muwandlung ſchafft einen neuen Werth, ber im der Möglichkeit odee
groͤßeren Bequemlichkeit bes Erlangens brauchbare Sachen in Menge und
Mammichfaltigkeit liegt und den man ſich durch die Vorftelung verdeutlichen
kann, wie geoß der Unterſchied Ift, ob Jemand nach Italien gehe, um Drans
gen zu genießen, ober ob er fie wenige Schritte von feiner Wohnung um
bißige Preife haben kann. Die Bewegung ber Gütermaffen iſt «6 auch,
auf weiche ber Handel hauptfächlid, Capital und Arbeit, — die zweckmaͤßigſte
Leitung berfelben von dem guͤnſtigſten Einkaufsplatze nad) dem beften Abfag»
orte ifb es, worauf er feine geiſtige Thaͤtigkeit richtet z die Erleichterung unb
Belchleunigung diefer Bewegung, des Verkehrs und Umlaufs endlich iſt «6,
wofür die Befammtheit, der Staat, geoßartige Anftalten trifft, Eifenbahner -
. mb Sandfe, Lagerhaͤuſer, Hafeneinrichtungen u. f. w. herftellt. —
Es folge auf dem hier Geſagten, daß diejenigen Handelszweige nicht
ober doch nur mittelbar productio genannt werden dürfen, welche Beine Vers
Anderung an dem Orte der Wanren vomichmen. Sie koͤnnen dagegen die
Production befoͤrdern und unterflügen. Dahin gehören ber Geld: und
Paplerhandel (vergl. die Artikel Actienhandel, Agiotage, Bank, Credits
anflalten, Geld, Papterbamdel) und außerdem eine Reihe von Handelsge⸗
ſchaͤften, welche mic dem Kauf und Verkauf nicht eine Dr t s veraͤnderung ber
Warren verbinden, fondern nur eine günftige Zeit abwarten. Diefer
Gpreutationshandel, wie ihn Say nad einem Mertmee benennt, DR
*
‘
108 | Handel.
übrigens auch Eeinem anderen Zweige fehlt, kauft, wenn bie Preife nieder
ſtehen, um bei einem hohen Stande wieder zu verfaufen. Eine nügliche
Seite hat diefer Handel in vollswirthfchaftlicher Beziehung, indem ex durch
feine Nachfrage bei ſinkenden Preifen einer weiteren Entwerthung, alfo ards
ßeren Berluften der Producenten vorbeugt und durch fein Angebot bei geſtie⸗
genen Preifen die Mitbewerbung vergrößert, alfo einer höheren Theuerung
entgegentritt, daß er mithin einnimmt, wenn Weberfluß, und giebt, wenn
Mangel vorhanden ift. Allein nicht minder richtig ift, daß bei dieſen Geſchaͤf⸗
ten häufig auf die Noth ſowohl der Probucenten als der Confumenten pe
eulirt wird, daß fchmuzige Gewinne gemacht werden, deren ſich ein Ehrens
mann nicht freuen koͤnnte, mit denen aber die Betreffenden ihre Seele ab»
finden, da fie das Bewußtſein nicht haben, dee Geſellſchaft nüslich zu fein.
Endlich ift wahrzunehmen, daß die Sucht, leicht und ſchnell veich zu werden,
Ausartungen ſolcher Speculation herbeiführt, welche die Natur bes
ablegen und jene von Wetten auf Preisunterfchiede annehmen (f. Agiotage).
Hauptfächlicy hat diefer Unfug dem Papierhandel ergriffen, er dehnt ſich aber
aud) auf den Productenhandel aus und wendet die ſchlimmſten Kuͤnſte an,
um die Preife zu drüden oder zu fleigen. Die Geſellſchaft hat von biefer
Ausartung der Speculation keinen Nutzen, fie hat vielmehr zu beklagen, daß
dadurch eine Menge von Mitteln und Fähigkeiten einer fruchtbaren Anwen
dung entzogen und der Befriedigung einer niedrigen Leidenſchaft zugewendet
werden ‚ welche nach Schägen hafdıt und häufig den Bettelftab erfaßt.
Im Waarenhandel, den wir hier vorzugsweife im Auge haben, umter:
fcheidet man, bezüglich auf den Umfang bes Betriebs, zwifchen dem Groß⸗
handel, der große Maſſen auf weitere Entfernungen hin in Umlauf beingt,
und dem Kleinhandel, welcher den täglichen Bedarf von Waaren an Ort
und Stelle in beliebigen Quantitäten befriedigt und als Vermittler zwiſchen
dem Großhandel und dem Verbrauche, der Beftimmung des Handels, bie
Vertheilung der brauchbaren Sachen zu beforgen, ihre Vollendung giebt.
Indem fid) das Detuilgefchäft von dem Großhandel ausfcheidet, kommt diefer
in die Lage, alle Zeit und Mittel zur Erweiterung und Vervollkommnung
feines eigenen Betriebes zu verwenden. Jenes dagegen vermehrt und bes
ſchleunigt den Umfag mit kleineren Capitaten in kürzeren Friſten und dient
dem Verbrauche, der geringer fein würde, wenn größere Vorraͤthe angefchafft
werden müßten.
Kein Zweig der volkswirthſchaftlichen Thaͤtigkeit verlangt fo vielfache
und großartige Anftalten und Einrichtungen von dem Staate als ber Hans
del. Er verlangt fie aber nicht in feinem Sonderintereffe, ſondern weil er
das Triebrad der ganzen Bewegung und Vertheilung der Guͤtermaſſen iſt,
weil ex bie Verbindung und das Verhältniß zwifchen Production und Con⸗
fumtion herftellt, alfo im Intereſſe der gefammten Volkswirthſchaft. Wir
wollen nur diejenigen Anflalten und Einrichtungen benennen, weldye in das
große Gebiet der Handelspflege fallen und nicht der Rechtögefeggebung (mie
Handels⸗ und Wechſelrecht, Dandelsgerichte u. f. w.), fondern der Verwal⸗
tung angehören, auch nicht befondere Zweige, fondern den Handel im Allge⸗
meinen betreffen. Zür die Borbereitung zu dem Handelsgeſchaͤfte dienen
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Handel. 709
binfichtlich der Vorkenntniſſe und Hilfsfächer,, beſonders in Sprachen und
Naturwiſſenſchaften (zum Zweck der Waarenkenntniß), die mittleren und hoͤ⸗
heren techniſchen Lehranſtalten, bei letzteren find auch wohl eigene Handels⸗
Fachſchulen. Die Einrichtungen, welche dem Verkehre der Menſchen und
dem Umlaufe der Guͤter uͤberhaupt, alſo vorzugsweiſe dem Handel Sicherheit
und Leichtigkeit geben, fo weit dieſer Zweck nicht durch fiscaliſche Abſichten
wieder verfümmert wird, find: Lands und Wafferftraßen, mitden Ein
richtungen für die Benugung berfelben; die Poft, Maß⸗, Gewicht: und
Geldweſenz zur Förderung, der Interefien des Handels dimen ferner bie
Dandelstammern, die Mäklerorbnungen, die Boͤrſen und
Börfenhallen (Lioyds), die Werfiherungsanftalten (beſonders auch
für Waaren auf dem Transport). Mehr der Vergangenheit angehörig find
die Meffen, deren Hilfe, nad) der Meinung Vieler, der Handel entwach⸗
fen tft, ſeit Gelbe, Credit⸗/ Transport⸗ und Poſtweſen weiter ausgebildet
und forgfältiger behandelt werden; ſodann die Diittel zur Ermunterung
größerer und gewagter Hanbdelsunternehmungen, welche man in Ertheilung
von Privilegien, Monopolen und Unterflügungen an Gefellichaften fand.
Die meiften der genannten Einrichtungen find ihrer allgemeinen Wichtigkeit
wegen in eigenen Auffägen beſprochen, «8 ift daher überflüffig, hier weiter
darauf einzugehen. M
Der Binnenhandel, welcher inländifche Boden: und Gewerbserzeug⸗
niffe im Inlande abfegt, ift im jedem Lande von einiger Ausdehnung —
defien Gebiet nicht auf eine Stadt oder eine Beine Inſel beſchraͤnkt iſt —
an Umfang ber bebeutendfte; er fegt mehr Güter in Bewegung als der aus⸗
waͤrtige Handel, namentlich wenn man den unmittelbaren Abfag der Pros
ducenten an die Verzehrer bazu rechnet. Dies ift felbft für Großbritannien
richtig, welches freilich mit feinen Befigungen in allen Erdtheilen eine Welt
für ſich bildet, die fi auch im Handel ſelbſt genügen könnte. Schon ein
Blick auf die Gebrauchsgegenſtaͤnde in den Wohriungen des Volkes zeigt uns
überall, daß weitaus die meiſten Sachen inländifchen Urfpeunges find, was
in ben Paläften der Großen, menigftens in Deutſchland feider weniger ber
Fall ift. Der Binnenhandel iſt die Bedingung einer ausgedehnten, mans
nichfaltigen Production, welche er in ein richtiges Verhältniß mit dem Bedarfe
bringt ; fein regelmäßiger Bang, mit leichter Bewegung , mäßigem Gewinne,
aber auch geringeren Wagniſſen, ift mwünfchenewerth als Bindemittel, wel
ches vielgeftaltigen Arbeiten der Volkswirthſchaft Zufammenhang und Stetig⸗
Leit giebt. Er ift es auch Hauptfächlich, für welchen die Anftalten und Einrich⸗
tungen zur Sicherheit und Erleichterung bes Verkehrs getroffen werden , für
welchen Staat und Gemeinden das in Land: und Wafferftraßen, Eifenbahnen
und Canaͤlen, Brüden und Lagergebäuben u.f. w. angelegte ſtehende
Gapital aufwenden, während bie Kaufleute hauptfächlich mit umlaufenden
Gapitale, Vorräthen, Arbeitsloͤhnen, Aufwand für ben Transport, arbeiten,
welches ebenfo wie bie Zahl der befchäftigten Hilfsperfonen größer iſt als in
jedem andern Hanbelszweige. Dem Binnenhandel dienen hauptfächlich auch
die Einrichtungen des Marktweſens; die Sahrmärkte, bie Märkte für
einzelne Erzeugniſſe ber Landiwirthfchaft und ber Ländlichen Induſtrie, wie
ſatz eigenthuͤmlicher Gewerbserzeugniſſe, z. B. den Schwarzwaͤlbe
Uhren, die fie in ber ganzen Welt vertragen. Kür ſoiche Hölle m
firpatente ausgeflellt, bamit nur zuverläffige Leute fig mit bis‘
beichäftigen und ben Hauptvorwuͤrfen gegen benfelben, daß ex
ſchlechte Waaren aufdringe und Aermere zu unnoͤthigem Kauf
möglichft begegnet werde. Den Binnenhandel betreffen endlich ar
lizeitaxen, die man in Städten wenigitens für die noth vendig
bedürfniffe, namentlich für Brod und Fleiſch für zweckmaͤßig KL
befchränkter Mitbewerbung von Außen die Preife in angemeſſen⸗
niffe zu dem Koftenfage zu erhalten. Es zeigt jedoch bie Erfahru
ſchraͤnkungen des freien Verkehrs auf Märkten und im localen Da
fie über die erforderlichen Maßregein zur Echaltung der Ordnun
huͤtung von Betrügereien hinausgehen ‚ ihren Zweck, bie Aufchaff
barfs den Confumenten um billige Preife zu fihern, weniger ex
se durch ben freien Verkehr ſelbſt erreicht wird. Solche Beſchraͤnl
ſonders zur Verhütung bes Vockaufs und des Eindrängens von |
bem Marktverkehr, werden von fchlauen und kecken Leuten ſtets
und zu ihrem Vortheil ausgebeutet, und führen häufiger zu ſtark⸗
ungen in den Preifen der Marktnictualien, als es bei freierer Be
Verkehrs der Fall iſt.
Wie der Binnenhandel ausichlieflid bie inlaͤndiſche
wit dem Verbrauche in Verbindung bringt, auf beibe beiebend «x
Verhaͤltniß regelt, fo hat umgekehrt br Bwifhenhandel ken
telbare Einwirkung auf bie Hesvorbeingung, Vertheilung und !
brauchbarer Sachen, auf bie Volkswirthſchaft. Er kauft auslaͤr
ducte im Auslande und verkauft fie wieber in das Ausland; er E
Waaren nicht in den inländifchen Verkehr, fondern lagert fie hoͤ
Handel. ya
Transport befchäftigten Gewerbe und Hiffsarbeiter vermehrt ben Verbrauch;
die Bezugsquellen und Abfagwege für fremde Erzeugniſſe werben auch für
eigene benugt; ber Eigenhandel ermuntert eine eigene Induſtrie. Die Ges
ſchichte zeigt, daß einzelne Länder, Städte und Häufer durch foldyen Handel
zu großem Reichthum gelangt find, indem fie ihre Lage an den größeren
Handelswegen, die Seetüchtigkeit und den kaufmaͤnniſchen Geiſt ihrer Au⸗
gehörigen fo wie große Umgeflaltungen im Voͤlkerverkehr und Entbeddungen
kuͤhner Seefahrer thatkräftig zu benugen verftanden. Sie zeigt uns Phoͤni⸗
zien und Karthago, reich durch Handel, italieniſche Serftäbte, die Hanfe,
Holland, deutfche Städte an der Donau und dem Rhein, die Rheder bes
felfigen Hydra; fie nennt uns die Samilien der Medici, Grimaldi, Fug⸗
ger, fo mancher niederländifhen Haͤuſer, die im auswärtigen Handel, an
welchen ſich Kolonien und Fabriken knuͤpften, geoße Schäge erworben has
ben. Solche Beifpiele brachten die Meinung zur Herrfchaft, daß das Gelb
der wahre Reichthum, nicht nur für Einzelne, fondern für ganze Völker, und
baß der auswärtige Handel, wenn er gehörig geleitet werde, die ergiebigfte
Geldquelle fei. Allein eben jene Beifpiele zeigen auch in dem meiteren Ber
Lauf ihrer Gefchichte, daß eine Aenderung der Umftände, beren gefchidkte
Benugung jene Reichthuͤmer gefchaffen, den Zerfall herbeiführte, daß alfo ber
auswärtige Handel nicht dauernde Grundlage, das Geldfammeln durch foldhe
Handelsgewinnfte nit den Wohlftand und die Macht der Nationen bes
gründen kann. Der Verkehr mit bem Orient, durch bie Kreuzzuͤge ange
bahnt, brachte italienifche Seeftäbte, ber große Handelszug längs ber Do:
nau und dem Rheine brachte deutfche Städte zur Biäthe. Der Seetveg nach
Oftindien änderte dies und dort erntete Holland, was Portugal gefäet hatte.
England erbte wieder von den Niederlanden und die Ruͤckkehr zu dem alten
Landiveg wird wieder andere Städte und Länder begünftigen. Hier liegen
Elemente bes Wohlftandes für Dertlichkeiten, aber nicht Grundlagen für
dauernden Nat ional wohlſtand. Und was find endlich, auch der Menge
und dem Werthe nach, die in einzelnen Staͤbten und Familien angehäufsen
Handelsreichthuͤmer, verglichen mit ben gleichheitlicher vertheilten und über:
all verbreiteten Erzeugnifien und Erübrigungen ber vielfeitigen und mans
nichfaltigen Betriebſamkeit eines großen Landes, welches bie Hilfsquellen
feines Bodens und feiner Gewerbsthaͤtigkeit zu benutzen, auszubehnen und zu
vervollkommnen verfteht!
Der Zwiſchenhandel, zu deſſen Betrieb einzelne Handelsſtaͤdte und
kleinere Handelsvoͤlker befonders geeignet find, fegt einch auswärtigen
Handel voraus, ben jener vermittelt, der aber auch unmittelbar von ben vers
Lehrenden Völkern betrieben wird. Der auswärtige Handel fest inlaͤn⸗
difche Erzeugniffe im Ausland und frembe im Inland ab. Er iſt eine fort
gefegte Arbeitstheilung unter den Völkern der Erde, die gegen einander Stoffe
zur Verarbeitung umd Genußmittel austaufhen und in einem Weltverkehre
die Verfchiedenheiten ausgleichen, welche Natur und Verhältniffe begründen.
Die Erzeugniffe des Bodens wie die Bebingungen zur Entfaltung einer
großen Inbuftrie find ungleich auf der Erde vertheilt und bamit iſt die Noth⸗
wenbigkeit eines Tauſchverkehrs ber Völker angezeigt. Die Jaduſtrie lag
n£oblenflögen, ben Erzeugungsorten ober bem fie erfegenden
unuual DER Nohftoffe, ba mo Gapital, Arbeit, Abfag unter günfti-
„gungen zu haben find; die gemäßigte Bone ift ihr zutraͤglich. De
haben die Tropenländer ihre herrliche Vegetation, bie Gebirge ibrm
(: und Holtzreichthum, die Ebenen ihr Getreide. Eimer bedarf bes
in und ber teltverfehr ift es, im welchem flatt in Wölfertwandberungen
vo : Igem die Wölker der Neuzeit Ihre welthiſtoriſche Senbun
1. ....ation fenbet anderen bie Erzeugniffe, welche fie Leichter un
"on... und findet in der Production Über ben eigenen Bedarf bir
Wwendung von Gapital und Arbeit. Sie nimmt dafür von
u ‚ie felbft nur mit größeren Opfern erzeugen Bönnte , ober mas bis
m Boben und Fleife gänzlidy verſagt. Die Vortheile find, mir
uſche zroifchen Einzelnen, gegenfeitig, ſonſt würbe ber ausmärtig
af bie Dauer nicht beftehen. Doch ift natürlich der Vortheil Dev
welche nicht nur den Kauf und Verkauf, fondbern auch den. Zran
uni Aus: und Einfuhrgegenftände beforgen, größer als ber Bortbeil
:, bie ſolche von Andern abholen und ſich zuführen laffen (f. Activhan⸗
Die Gefahren, dur Störungen im auswärtigen Verkehre Barlulı
Ind allerdings vorhanden; Kriege, Regierungsmaßregeln , glüd:
werbung Dritter Eönnen bie Ausfuhr ins Stoden bringen un
ffenden Productionszweige nachtheilig zuruͤkwirken. Allein bie
elche fich um der Gefahren willen von der Theilnahme am Wat:
„ısichließen wollte, wuͤrde bie weit größere und unvermeidliche Gr
unge uufen, welcher ftets ber Schwache ben Stärkeren gegenüber ausgeſcht
ift. — Die Maßregeln und Einrichtungen der Staaten zur Beförderung dei
auswärtigen Handels werden in den nachfolgenden Artikeln, mit denen aud
‚„Mercantilfpftem’ und „Zoͤlle“ zu vergleichen find, weiter erörtert.
Karl Matbr.
Handelögerihte. Seit dem Erfcheinen der erften Auflage ds
St.⸗Lex. ift die Gefeggebung über Handelsgerichte bedeutend fortgebilder wer:
den, fo daß jest die Anficht von der Nothwendigkeit folcher Gerichte als all⸗
gemein anerkannt betrachtet werden fann. In Bremen find durch Gel
vom 16. uni 1845, im Großherzogthum Baden durdy Gefeg vom 6. Min
1845, und im Königreich Sardinien durdy das Handelsgefegbud von 1842
Buch IV. Handelsgerichte eingeführt worden. Ueber die Belegung disfer
Gerichte ift freilich große Verfchiedenheit der Anfihten. Während nach
den fardinifchen Gefesen das Handelsgericht nur aus Kaufleuten befteht un
jelbft der Prafident Kaufmann ift, bei jedem Handelsgerichte aber ein rchr*
gelehrter Rathgeber (consultore legale) ernannt wird, welcher bei den Sigim:
gen und Berathungen des Handeldgerichts gegenwärtig ift, jeine berathende
Stimme über alle Rechtspunkte abgiebt und bei der Medaction der Urtheile
mitwirft (Codice di Comercio art. 661 — 70), befteht das BremifcheHun:
deldgericht aus zwei rechtsgelehrten Mitgliedern des Senats (von denen Einer
den Vorſitz führt) und 7 Kaufleuten der Bremifchen Börfe. Das Handelt:
gericht in Baden befteht aus dem Amtsrichter und zwei mitflimmenden Han:
delöleuten. Ueber die Wirkfamkeit des Hamburgifchen Handelsgerichts feit
"Ze:
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“
Handelsgerichte. 718
1815 giebt ein Bericht !) wichtige Auffchlüfle, bezeugt, wie wohlthätig dies
Gericht fi) bewährte und auf welche Weife das Gericht verbefjert werben
koͤnnte. Weber die von dem Hanbelsgerichte in Genua bisher gefällten Ur⸗
theile giebt zugleich mit einer Vergleichung ber von den franzöfifhen und
ktaltenifchen Handelsgerichten ergangen Urtheile und mit wiſſenſchaftlicher
Berglieberung ber leitenden handelsrechtlichen Srundfäge eine fehr beadhtungee
wuͤrdige Zeitfcheift Nachricht 2). Merkwuͤrdig ift, daß in Italien die herr⸗
ſchende Anficht gegen eine Befegung der Handelsgerichte ſich erklärt, bei wel⸗
her rechtögelehrte Richter und Richter aus dem Kaufmannsflande zufams
menwirken, während in Deutfchland die Verbindung des rechtsgelehrten und
bes Faufmännifchen Elements für nothwenbig erachtet wird. Man beforgt
in Stalien, daß bei der Einrichtung , nach welcher ein rechtsgelehrter Richter
mitftimmt ober fogar den Vorfig führt, der vechtögelehrte Richter eigentlich
das Urtheil FÄlt, in einer Angewoͤhnung an die flarren juriftifhen Grundſaͤtze
zu wenig die Handelsgewohnheiten und techniſchen Beduͤrfniſſe und Ruͤck⸗
ſichten beachtet, und durch Gewandtheit und Ueberredung leicht einen ber
taufmännifchen Beifiger auf feine Seite bringt, fo daB das Urtheil nach
feinem Willen gefällt wird. Webrigens ift e8 Sitte, daß auch inden Dans
beisftädten Italiens die Kaufleute Advocaten als Rathgeber an der Seite
haben, ſich vorher mit ihnen berathen, fo daß das juriflifche Element nicht
vernadhläffige wird. Kür fehr zweckmaͤßig hält man bie Theilnahme eines
rechtsgelehrten Rathgebers bei dem Gerichte, wie er nad) dem farbinifchen
Sefegbuche vorkommt. Zür den wichtigften Punkt wird von ben Männern,
welche mit dem Gange der Urtheilsfällung bei Handelsgerichten vertraut
find, der geachtet, daß nicht die Handelsgerichte in Fällen, in denen die Pars
teien auf Handelsgemohnheiten oder auf technifche Rüdfichten fid) beziehen,
zu leicht auf Beweis der Gewohnheit erkennen oder ein Verfahren mit Beizies
hung von Sachverfländigen anordnen. Rechtögelehrte Richter thun dicEhern.
Die Bremifche Dandelsgerichtsordnung hat weife in 6 51—53 dem Dandelss
gerichte überlaffen, felbit in die Sitzung Sachverfländige vorzulaben oder auch
nach eigner Sachkunde zu entfcheiden, ebenfo nach $. 54 über das Dafeln
bandelsrechtlicher Gewohnheiten aus eigener Wiſſenſchaft zu erkennen, fo
daß ein Erkenntniß auf Beweis der Gewohnheit nur ausnahmsweife erfolgt.
Auch das badifche Gefeg 5.35 macht den Beifigern der Handelsgerichte biefen
einfachen Weg einzuſchlagen moͤglich ?). Mittermaler.
1) Gommiffionsberiht an bie Unterzeichner ber Petition vom 8. Juni
1843. Hamburg, 1843. S. 1%.
2) Giurisprudenze del Codice di Comercio compilato del Mr, Mantelli.
Alessandria feit 1844. Bis jest 3 Theile.
3) Nachrichten Über die neuefte Gefeggebung in Bezug auf Hanbelsgerichte
FR meinem — in dem ah für civil. — re S. 75—%.
e gute n erfahrene vor ben en Hanbelsgerichten
in Bonoenne, theorie de la procedure civile, tom, 2 (fortgefegt von Bour-
rcau) Paris, 1847. pag. 115—417.
ne und Arbeiterpereine, Eee: die fs
vage zum Hauptthema des Tages macht und man ben ——
yon den bezahlten und nicht bezahlten Müffiggängern aller Art
nr arbeitenden Glafjen eine wohlverdiente Aufmerffamkeit zu [
defto ungeflüämer drängt ſich die Nothwendigkeit Auf, Die materieh
er arbeitenden Claffen fiher zu ſtellen und Ihre geiftige Birdung g
m. Organifation der Arbeit —1 Loſung des un db. bh. Bermank
V gegenwärtigen Buftandes der Unordnung, ber Desorganifation,
a ber Zufall regiert, in ein auf Principien bafirtes Syſtem ber Arbat
»öduction. Diefe Drganifation ber Arbeit oder die Regulitung bi
niſſes zwiſchen Arbeit und Verdienſt gründet fih hauptſaͤchlich auf
rker⸗ und Arbeitervereine, die, wenn auch nicht als bloße Uebergangt
sch al letztes Ziel foclaler R formen betrachtet werden mürffen.
n die hierher gehörenden Momente ins Klare zu fegen, mmüffen mir
olid auf den hiftorifchen Verlauf werfen, welchen bie Handwerke un
»sarfaffung genommen haben. Die Frage, welche Maßregeln müfen
aats⸗ und Corporationswegen getroffen werden, um ein richtiges Ber
zwiſchen Arbeit und Verdienſt herzuftellen und erfterer. den nothwen
Schuß zu gewähren, wurde zu verfchiedenen Zeiten verſchieden beanb
Br ehrt in diefer Beriehung füglich 3 Perioden unterfcheiden.
Mittelalter, deſſen charakteriftifches Merkmal die ſtrenge kaſten
bung des Volkes in befondere Stände und Berufsarten bilde,
der plumpen Weiſe jener Zeit zu dem zunaͤchſt liegenden brafl
ſcyen Derrrel des Zunftzwanges, um der Arbeit einen Schuß zur verleihen
den man für nothwendig erachtete. Diefer Schuß war indeffen mehr Sıtı
bes Inſtincts als der Meberlegung. Die einzelnen Handwerker fchloffen fit
je nach ihrer Belchäftigung in befondere Gorporationen ab, deren Zugänglis-
keit Durch verfchiedene oft ſehr lältige Bedingungen erfchtuert wurde. inne:
halb ber Zuͤnfte felbft mar die Zahl der Meiſter, oft auch die ber Gefellen be
ſchraͤnkt. Die einzelnen Arbeiten waren ffreng von einander geichieden, dr
Webergang von einer Berufsart zur andern ungemein erfchwert und jedem
einzelnen Handwerk feine Sphäre angemwiefen, welche au überfchreiten böclıe
verpönt war. Der Arbeiter war gemwiffermaßen ber Leibeigene feiner Arbeit,
an diefe gebunden, wieder Hörige in einem andern Verhaͤltniß an die Scelk.
Die Arbeit war allerdings organifirt, allein auf jene plumpe, desporifche Weiſt
welche durch todte Geſetze das Weſen erfegen will, welche durch Formeln un)
von außen fommende Beſtimmungen bag von innen heraus ſich entwickelnde
Leben, bie Freiheit au erfegen glaubt, Diefe Organifation der Arbeit dur
Zunftiwang verhält fih zur wahren Organifation tie der Polizeiftaat zum
Rechtsſtaat, mie ein polizeilich regiertes und bevormundetes Volk zum freien
Gemeinleben und zur Selbftregierung. Alle etwaigen Vortheile des Zunft:
weſens wurden auf Koften ber Freiheit erfauft. Die Entwidelung der Hand:
werke wurde durch ftabile, jeder Neuerung abholde Geſetze befchränft, dat
Zalent zu Gunſten der Mittelmäßigkeit niedergehalten, kurz im Gefolge dei
Zunftweſens befanden ſich alle Mifverhältniffe und Uebelftände, melde hir
Beſchraͤnkung ber Freiheit mit fich führt.
*
Handwerker⸗ und Arbeitervereine g1,
Warum follte der geſchickte Arbeiter eine gewiſſe Branche von Geſchaͤf⸗
ten, bie nun gerade nicht auf feinem Inder ſtanden, nicht übernehmen duͤr⸗
fen? Warum follte es nicht geflattet fein, irgend ein Geſchaͤft zu betreiben,
ohne vorher bie vorgefchriebenen Grade und Stadien ale Lehrling und Gefelle
durchlaufen zu haben?
Disfe und ähnliche Fragen erhoben ſich mit der Entwickelung der ſtaats⸗
bürgerlichen Freiheit und Bleichheit, mit der Idee eines allgemeinen Bürgers
thums und wurden vom Beitgeifte ſtets zum Nachtheile des Zunftzwanges
beantwortet. Dit den Schranten, im welchen das Mittelalter die Menſch⸗
heit kaſten⸗ und claſſenweis eingepfercht hatte, fielen aud) Zünfts und Zunfts
zwang. Die Organifation der Arbeit trat in ihre zweite Periode.
Unter dem Einfluß abftracter Freiheitsibeen trat an bie Stelle des ches
maligen Zunftziwanges theils vollſtaͤndig, theils mehr oder minder modificirt
bie Gewerbefreiheit, die freie Concurrenz, das Schiboleth der modernen Bour⸗
geoifie. Diefe Veränderung war die reinſte Negation, eis Kortfchritt,, der
das Beſtehende vernichtete, ohne etwas Anderes dafür zu fegen, es war eine
jener Reformen abflracter Politik, deren charakteriftifches Merkmal es iſt, ſtets
nur um die Formen, niemals aber um das Wefen fich zu bekuͤmmern. Aller
dings wurden die Sormen des Zunftwefens , feine mit der Freiheit unvertraͤg⸗
lichen, befchränkenden Geſetze aufgehoben, allein biefe Negation an ſich war
fogar noch weit weniger geeignet, ber Arbeit ben nöthigen Schus zu gewähren,
als das ehemalige Zunftweſen. Statt daß vorbem wenigſtens ein Princip, ein
Syſtem, wenn auch ein unrichtiges, geherrſcht hatte, wurde jest Alles ſich
felbft und dem Zufall überlafien. Es war eine Veränderung gemacht worden,
aͤhnlich derjenigen, welche nach einer, ein falſches Staatsprincip, eine uns
haltbare Staatsverfaffung vernichtenden Revolution ſich mit biefer begnügen
und den Staat ohne Verfaffung , ohne Organifation belaffen würbe, den
Schwaͤcheren dem Stärkeren preisgebend und den Zufall und das plumpe
Uebergewicht phyfiſcher Kräfte zur Herrfchaft echebend. Die Bewerbefreiheit,
die freie Concurrenz ohne Organifation der Arbeit iſt die Sanctionirung bee
Herrſchaft des Capitals , der Uebermacht des Geldes über die Arbeit.
Das Geld ift ber Stellvertreter menfchlicher Arbeit, das Medium , weis
ches in dem Verkehr, in dem gegenfeitigen unendlichen Austauſch der Probucte
flatt der unmittelbaren menſchlichen Thaͤtigkeit des Naturzuftandes dem Ein⸗
zelnen feine Lebensbebürfnifie verfchafft. Als ſolches erfcheint es gleichſam
als geprägte, greifbare, metallifirte Menſchenkraft, welche in gewifien Maſſen
vereinigt, Capital genannt wird. Wird diefes Sapital, in dem nicht organi⸗
firten Verkehrsleben fich ſelbſt überlafien, in die Production geworfen, fo
wird es Stellvertreter der menſchlichen Thätigkeit im fdhlechten Sinne bes
Worte. Der Capitalift hat in Korm feines Capitals Menfcyenkräfte, welche
für ihn arbeiten, er befindet fich in demſelben Verhältniffe wie der Sklaven⸗
befiger , nur mit dem Unterfchiedbe, daß diefer Menſchenkraͤfte in Lebensgroͤße,
in natura , lebendige Arbeiter gu feiner Verfügung hat, und für ſich arbeiten
läßt, während jener fie in Zahlen befigt, die auf dem allgemeinen Verkehrs⸗
mittel ausgeprägt find. Wäre 3. B. die Kraft oder die Arbeit eines Sklaven
gleich 1000 fi., fo hätte ber Beſitzer eines Capitals von 40 000 ſi., wenn er
916 Handwerker⸗ und Arbeitervereine,
ſolches unmittelbar in die Production wirft, 10 Sklaven zu feiner Vertio
gung , bie für ihn arbeiteten. Da nun bie —— bie freie Gonan:
renz jeden Einzelnen fich felbft überläßt, fo ftellt fie einen Kampf bar, m
32 der einzelne Arbeiter dem Capital gegenüberſteht. In diefem Kampfı
müffen natuͤtlich Diejenigen obfiegen,, welche in Form von Enpital ber Kraft
bes einzelnen Arbeiters fo viele Menfchenkräfte mtgegetsftellen können, als
durch ihre Gapitalfumme fingirt werben.
Daraus entfpringen taufend Wortheile, bie dem Gapitaliften in biein
Beziehung ein Uebergewicht ber den einzelnen Handwerker ober Arbeiter in
die Hand geben. |
Der Eapitalift kann durch Befchäftigung vieler Arbeiter jenes Ineinam
bergreifen der einzelnen Arbeiten herftellen , welches die Production fo une:
lich befehleunigt. Er Eamn die Rohftoffe lets aus der erften Hanb beziehen,
Mafchinen und fonftige mechanifche Hilfsmittel, die dem einzeln flehenden Ar
beiter nicht zu Gebot ftehen, erleichtern ihm die Production in folcher Au
behnung, daß der Unvermögliche außer Stand geſetzt wird, gleichen Scheitt
mit ihm zu halten. Der Gapitalift kann momentane Verluſte leichter ame
gen, ober er kann fich ſolche freiwillig auferlegen, oder mit geringem Gemim
fich begnügen, um die Preife fo herabzudruͤcken, daf fie dem Arbeiter ohne Eu
pital nicht mehr bie nöthigen Rebensmittel verfchaffen und ihn ſomit ruinieem.
Der Capitalift kann ausgebehnte Handelsverbindungen anknüpfen, Eann bi |
Gelegenheiten des Abfages, die Märkte u. f. mw. mit Leichtigkeit austunb
ſchaften und fo weit fchneller verfaufen. Kurz dem Eapitaliften ftehen fo wid |
ber Arbeit des Einzelnen überlegene Mittel zu Gebote, daß biefer in je
Beziehung bald überflügelt ift, wenn er mit dem auf die Production gemer
fenen Capital concurriren muß.
Die Folge diefes Syſtems ift daher nothmendig der Untergang dee ur:
vermöglichen Arbeiter. Diefer verliert feine Selbſtſtaͤndigkeit und gerärh auf
die eine oder andere Weife in die Abhangigkeit des Capitaliften oder Zabır
Fanten.
Der gegenmirtige Zuftand Englands, audy Frankreich, ift der lebendigt
Beweis von der Wahrheit diefer Ausführungen.
Die Handwerker der Zunftperiode haben vollftändig den Fabriken un!
Fabrikanten Platz gemacht. Die Selbftftändigkeit des fogenannten Mitte
ftandes ift dahin, ift ein Dpfer geworden des Capitals, welches dag Valf
dort in zwei durch die große Kluft des Reichthums und der Armuth gefhie:
dene Claffen theilt. Aber auch in Deutfchland, mo die freie Concurrenz ned
nicht einmal in ihrer vollen Ausdehnung herrſcht, werden die Wirkungen det
aufdie Production gemorfenen Capitals nachgerade auf ſehr unerfreulide
Weiſe fihtbar. So z. B. giebt es den neueften ftatiflifhen Nachrichten zu
Folge in Berlin nahe an 4000 felbftftändige Schneider aller Art, von denen
zwei Dritttheil Eeine hinreichende Beftellung haben. Dagegen findet man 206
Kleiderhändler, welche Vorrathe zu Spottpreilen beziehen. Die Zahl der
felbftftändigen Schuhmacher beläuft ſich in Berlin auf 3000 ; und ihr Ver:
hältniß zu den Händlern iſt, wenn auch nicht ganz daffelbe, doch ähnlich mie
das der Schneider; 837 felbftftändige Seidenwirker arbeiten faft fämmtlid
Handwerker⸗ und Arbeitervereine. 117
für 113 Händler , oder fogenannte Fabrikanten, welche im Beſitz eines Capi⸗
tals ben Handel auf Koſten der unfichern Gewerbthäfigkeit ausbeuten. Die
Zahl der Tiſchler, welche von ben Händlern abhängen, beläuft fich auf.
2000, die Zahl der Weber auf 20,000 und biefe Leute Finnen auch im
„gluͤcklichen Falle der Arbeit nicht von ihrem Verdienſt leben.“
Der Schriftfteller,, dem diefe Notizen entnommen find, befchreibt das
Verhaͤltniß der unvermöglichen Handwerker zu dem Capital folgendermaßen:
„Die fogenannten Heinen Meifter find nicht tote die Gefellen auf feſten Vers
dienft angewieſen, noch Binnen fie, wenn es an einem Orte ſchlecht geht, fi
teiter umfehen. Ste find an ihre Werkflätte gebunden, und muͤſſen zu ihrer
Erhaltung wöchentlich ihr Gewiſſes verdienen. Die Heinen Meifter arbeiten
daher die Woche hindurch oft ohne Sicherheit, blos auf die Möglichkeit him,
ihre Arbeit am Ende der Woche zu verwerthen. Ferner aber find fie gewoͤhn⸗
lid) gezwungen, die jedesmalige Arbeit bis zum Ende der Woche fertig zu lie⸗
fern , weil fie meiſtens die Auslagen dazu erborgt haben und ſolche, um neuen
Credit zu befommen, am Ende der Woche abzahlen müflen. Iſt ihnen dies
nicht möglich, fo Haben fie für die folgende Woche Leine Arbeit und keine
Eriftenz. Nun ſuchen fie, wenn fie nicht zufällig unter der "Hand verkauft
oder Beitelung erhalten haben, am Sonnabend ihre Arbeit an die Händler
zu verkaufen. Diefe Händler, Peine Befigende, welche nichts arbeiten, fons
dern nur ihre Geld tm Hanbel fpielen laffen, Eennen die kleinen Meifter und
ihre Verhäteniffe genau. Sie wiffen, baß die Unglüdlichen ihre Arbeiten um
jeden Preis verwerthen müflen, da die Gefellen und das Material für die Io
beit zu bezahlen find, fo bieten fie benn auch den Meiftern einen Spottpreis
für die Waare, indem fie über die fhlechten Beiten klagen und Ihre wohlge⸗
fülten Magazine zeigen. Der Meifter ift immer gendthigt, feine Waare zu
dem gebotenen Preife loszufdylagen, und wenn er feine Geſellen und ben ges
borgten Stoff wieber besahlt, hat er kaum fo viel, daß er mit feiner Familie
vegetiven kann. In ber folgenden Woche fängt dann das Lied von Meuem an,
und dabet ift immer vorausgefegt, daß ihn kein Unfall betrifft. Seine Arbeit
muß tadellos fein, wenn er nicht Alles daran verlieren foll ; eine einzige Kranke .
heit, Taufe oder Begräbnißkoften eines Kindes find im Stande, ihn vet
tungslos in noch tieferes Elend, d. h. ganz außer „Brod“ zu ſetzen.“ f.
Der Hauptgrunddiefer Mißverhaͤltniſſe liegt darin, daß das Capital; auf.
bie Production geworfen, nicht blos den gewöhnlichen Bine, fondern auch.
noch einen befonderen Unternehmungsgeminn für ſich beanfprucht und auf
biefe Weife gewiffermaßen einem focdalen Mord begeht. Der Arbeiter hat
von Rechtswegen Anſpruch auf den ganzen Werth feiner Arbeit, denn biefe
ift fein wahres, mohlerworbenes und eigentliches Eigenthbum. Steht er aber
im Dienfte des Capitals, fo muß er an dieſes unter der Form des Gewinnes
einen Shell feines Verdienſtes abtreten, der geroöhnlich ſehr beträchtlich iſt.
So z. B. verdient der fchlefifche Weber täglich im Durchſchnitt einen Silber⸗
grofchen und 3Pfennige. Betraͤgt nun aber auch unter den beftehenden Vers
hältniffen und abgefehen von der Frage, ob nicht Aberhaupt die Arbeit gleiche
Anſpruͤche habe, der Werth der Arbeit des fchlefifchen Webers nicht mehr als
täglich einige Pfennige ? Und wenn er mehr beträgt, warum befommt dieſer
Handwerker und. Arbeitervereine
ter. nicht den vollen Werth feiner Arbeit, wem kommt ber größte Thril
zu Gut? Dem — in deſſen Dienſte er ſteht, dem ex umterthänig
den iſt deshalb, weil die Verhaͤltniſſe der Arbeit nicht geordnet find.
Sapital-raubt alfo dern Arbeiter einen Theil feines Werbienftes , «3 *
alſo dem Arbeiter einen Theil feines wohlerworbenen €
tan eines Andern, der zufällig die Mittel hat, den A von fi
gig zu machen, und da die Arbeit bag Lebensmittel für ——
„muß in Folge dieſes Mißverhaͤltniſſes der Arbeiter einen Theil fehre
senbigen Rebendurittel an einen Andern abtreten. Zwiſchen dem Ver
des Arbeitens, un de Pf er Reste enfeBna
- lag, der als Unternehmungsgerwinn auf die Producte gelegt wird, od
ie Wegnahme eines Berdienittheiles durch das Capital, eine Differm,
8 dem Ürbeiter unmöglich ma... | ne Lebensbeduͤrfniſſe befriedigm
m. „So iſt es ohne Ausnahme bei. illen Ständen, fagt Proudben;
pieiber, der Schreiner , der Schmied, ver Druder, ber Commis ıx. bis
Eagelöhner und Winzer Eönnen ihre Producte nicht wieder Baufen , weil
v einen Geſchaͤftsherrn produciren, der unter der einen oder andern Form
— Ba gl mad, ſie muͤſſen Ina Ict⸗i falbfk theurer bezahlen
n
„wurd, entſteht jene Ungleichheit des Befiges, jener Keebefcabe der
nen Geſellſchaft, der auf der einen Seite einen Theil der Menſchhei
‚beitenden Claſſen, in eine Lage verſetzt, mo es ihnen unmöglich iff, bu
vendigen Lebenabebürfniffe fich zu verfchaffen, während ſich auf ber ar
dern Seite eine Elaffe von Feuten erzeugt, welche ihr Capital für fich arbeiten
laſſen, welche von dem mohlermorbenen Eigenthum und Verdienſt des Ar
beiter# leben, welche verzehren, ohne zu arbeiten.
Wie ft nun bier abzuhelfen? Zum Zunftzwang zuruückzukehren, ii
aus oben angeführten Gründen unmöglid) ; die Gewerbefreibeit oder die freit
Gonceurienz in bisheriger Weife fortmüthen zu laffen, ift ebenfo unmöclie,
weil fie den Arbeiter ans Meſſer des Capitals liefert; was ift alfo zu thun!
Die Geſchichte ber Arbeit muß in ihre dritte Periode treten. Die freie Com
euerenz ift, rote oben gezeigt wurde, nichts Anderes als die reine Negatien der
Formen und Gefege des Zunftweſens und als foldhe ohne alle Drganifation
und Formen, eine fociale Unordnung , in welcher ftatt eines Gedankens ſtatt
eines Princips ber rohefte Egoismus und der Zufall regiert. Der Einzelne ıf
ifolirt, fteht auf eigene Kauft da, Fämpft in dem großen Wettfampfe mit den
Mitteln, die er zufällig befigt, und muß deshalb, fobalb ein Stärferer über ihn
kommt, unterliegen, feine Freiheit und Selbitftändigkeit verlieren. Seinen
Gegenfas findet diefer Zuftand in der Affociation. Iſolirung, Vereinzelung if
das Merkmal des Maturzuftandes, der Unordnung und Rohheit; Gemein
(haft, Affeciation die Korm für das Bewußtſein, für die Cultur, überbaupt
für den Geift. Diefer Satz, der bisher ftetd nur auf politiſche Werbältniffe
angewandt wurde, hat feine Geltung ebenfo qut für die Arbeits: und Ve:
Eehrsverhältniffe als für den Staat. So wenig die Gefellfchaft als politiſche
Gemeinde ber DOrganifation entbehren kann, ebenfo wenig kann fie es al
arbeitende. Zweck diefer Organifation ift die Emancipation der Arbeit vom
Kenbwerfenr und Arbeitexvereine. 119
Capital, ihr Mittel die Affociation, die Handwerker⸗ und Arbeitervereine.
Der Macht des Capitals, der todten, in Zahlen ausgeprägten Menſchenkraͤfte,
muß die Macht der vereinten lebendigen Kräfte entgegengsflellt werben. Diefe
Vereine der Arheiter muͤſſen an die Stelle des Capitals treten, müflen ſelbſt
Gefchäftsherren werden, die ben vollen Werth ihrer Arbeit ſelbſt genießen und
nicht au anbere abgeben müffen. Es müflen alfo die einzelnen Arbeiter ſich
in Gefellfchaften vereinigen, welche auf gegenfeitiger Garantie errichtet und
auf den Hauptgrundfag bafirt find, daß jeder Einzelne ben vollen Werth ſei⸗
ner Arbeit befommt. Auf die einzelnen Momente, namentlich barauf naͤher
einzugehen, in welches Verhaͤltniß die einzelnen Aſſociationen des Landes zu
einander , zu einer Gentraldicection oder zur Staatsgewalt, Behufs ber Her
gulirung des Verhaͤltniſſes zwifchen Production und Conſumtion, fich ſetzen
muͤſſen, wie ihnen der nöthige Credit zu fchaffen und wie die Geſellſchaften
ſelbſt zu organifiren fein, ift hier nicht des Det, eimem befonderen Artikel
über die „Orxganifation der Arbeit” fei Died vorbehalten ; allein fo viel ſteht fefl,
dag den hisherigen Productions» und Verkehrsverhaͤltniſſen gewaltige Veraͤn⸗
derungen bevorftehen, Veränderungen, die über Schutzzaͤlle und Freihandels⸗
ſyſtem hinausgehen, bie in die eigentliche Lebensfrage unſeres Zeitalters eins
greifen. | . .
Es find bereits hin und wieder Werfuche gemacht worden, weiche in⸗
flinctartig diefen Weg ber Affociatioy, einſchlagen. Go haben fidy in ver⸗
fehiedenen Städten Handworkerversing gebildet, deren Mitglieder auf gemein⸗
ſchaftliche Rechnung produciren und verfaufen. Schreiner, Schneider grüne
deten Befelifchaftsmagazine, wohin der Einzeine feine fertigen Waaren ab⸗
Liefert, um fpäter feinen Gewinn pro rata zu erhalten. Es find: dies freilich
nur rohe Andeutungen und. meiter nichts als wieder nur Aſſociatienen de@
Capitals, allein fie fchügen doch den Eleinen Meiſter einigermaßen vos den
Folgen der freien Concurrenz und. beweiſen, Daß im Scheoße.der Hanbiverkan
felbft fi ein wenn auch unbeſtimmtes Gefühl regt, in dieſem großartiges
Kampf der freien Goncurrenz auf Leben und Tod einigermaßen ſichere Am
haltspunkte zu gewinnen. | *
Nur auf dieſem Wege iſt dem mehr und mehr wachfenden Pauperiemus
ein Damm entgegenzuflellen, dieſem Pauperismus, der auch in: Deutfchlamb
in manchen Fabrikgegenden ebenfo.bedenklich zu Lage gekommen, der bereit
an mehreren Octen das Einfchreiten der bewaffneten Macht: gegen die verziweh«
felte Nothwehr halbverhungertee Arbeiter provocirte Un 3. B. auf bie
ſchleſiſchen Weber zurüdzulommen, giebt es ein anderes Mittel, ihrer wahr
haft verzweifelten Lage abzuhelfen, als die fo eben bezeichnete Affociation ? —
Woher ſtammt ihr Elend? Daher, daß fie den größten Theil ihres Arbeits⸗
verdienſtes als Gewinn an ihre Gefchäftsherren abgeben mäffen, daher, daß
biefe Gefchäftsherren, die Fabrikanten, die Eapitaliften ſich den größten Theil
des Eigenthums ihrer Arbeiter aneignen und diefen dadurch die nothwendigen
Lebensmittel entziehen. Sollen aber diefe Capitaliſten etwa den Bohn bee.
Arbeiter erhöhen? Das wäre ein Act der Gnade, aber keine Ambderung des
Principe. Das Princip aber muß geändert werden und dieigefchieht nur
bdadurch, daß dem Zuſtande ber Principloſigkeit, der Desorganiſation inber
4
erweitern. Am großartigften find diefe Arbeitervereine in den Län
—2 — Inſtitutionen. In England beſtehen ſolche Affoctatton:
erſammlungslocale, Leſezimmer, Bibliotheken, Modelfammiung
großartigem Maßſtabe zur Dispoſition haben. Hier werden beleh
unterhaltende Vortraͤge aller Art gehalten, hier findet der Arbeiter fi
Geld Gelegenheit ſich auszubilden, ſich mit Kenntniſſen, die in
einſchlagen oder bie Intereſſen des Tages berühren, zu bereichern.“
reich giebt es ebenfalls ſolche Anftalten, auch in der Schweiz triff
jeder größern Stabt einen Dandmwerkerverein. Nur in Deutfchiant
biefe Anſtalten, wie überhaupt Alles, was auf Vereinigung Bezug
ein gemeinfames Streben beurkundet, was in ber fogenannten unt
das Denken befördert, wo nicht unmöglich gemacht, doch fehr forg
argwoͤhniſch überwacht und bevormundet. Ja es ift mit Gicherheit
men, baf eine von einer beutfchen Regierung jüngfl ausgegangen !
welche abermalen ihren Handwerkern das Reifen in der Schweiz verbt
Grund lediglich in der Furcht vor dieſen Arbeitervereinen hat, in m
Sage nach communiſtiſche Theorien ventilirt werden. Dies if
ſehr wahrfcheinlich, denn es laͤßt ſich nicht leicht denken, Daß beutf
ter, wenn fie in der Schweiz Vereinen beitreten, fid) felbft cenfire
Thema nicht befprechen follten, weldyes zur Tagesfrage, zur Mob
worden. Wenn es nun freilich mit einem Staate fo fleht, daß feir
beit durch Discuffionen gefährdet wird, welche einige feiner Angeh—
Auslande über gewiſſe Angelegenheiten uncenfirt unternehmen, t
eine vorforgliche Regierung allerdings ſolche flantsgefährliche Dir
durch ein Verbot, in jene uncenfirten Länder zu reifen, abfhneiden. 2
iſt eine ſolche Maßregel erflärlich, wenn entweder eine Regierung da
Mohr I h dio Macht hat. die Gehanken und Moden ihrer Nntsr
. mn
BEE.
" Hannover. | 7a
abhielte und alle ſtaatsgefaͤhrlichen Aeußerungen und Handlungen verbin-
derte ? t.
Hannover. Gerade in den Tagen, in melden ich aus ber Feder
bes trefflihen Steinader die Zortfegung feines Artikels Hannover bis
auf unfere Zage erwartete, kommt mir die erfchütternde Nachricht feines allzu
frühen Todes. Das Vaterland verlor an ihm einen feiner ebeiften Söhne,
den reblichfien und unermüdlichften Kämpfer für feine Freiheit. Beſchaͤftigt
mit einer männlichen Vertheidigung des Öffentlichen Rechts in Preußen, uns
terlag die zarte Geſundheit des berclichen Mannes feinen patriotifchen Ans
firengungen.
Schon diefe Veranlafiung machte mir die Kortfegung des Artikels Hans
nover zur traurigfien Arbeit. Sie ift aber auch durch ihren Inhalt uner>
freulih. Sie erinnert allzu fehr an die großen Gebrechen unferer beutfchen
politifchen Zuftände.
Sie ſchildert einen Kampf eines großen Theils des hannoͤveriſchen Vol⸗
kes gegen feine Regierung. Ein folder Kampf giebt freilich noch nicht an
ſich Veranlaffung zur Zrauer, da zwifchen den Regierungen und Völkern,
weil beide aus ſchwachen irrenden Sterblichen beftehen, jeweilige Kämpfe
möglich find, diefelben aber , wenn fie dem Heiligthum der Verfaſſungsrechte
gelten, durch den Gegenſtand veredelt und doppelt bedeutend werden.
Traurig aber ift jeder Kampf mit völlig ungleichen Waffen, doppelt,
wenn fo wie bier die ſchwaͤcheren Waffen und in Folge berfelben das Unters
liegen auf der Seite Deſſen find, der nach unferer Weberzeugung für die ges
rechte Sache Fämpfte. Daß aber hier das Recht aufder Seite der Kaͤm⸗
pfer für da8 Grundgefeg von 1833 war — dieſes glauben wir mit und nad
den Ausführungen Steinader’s in dem voranftehenden Artikel. Wir
glauben e8 mitden Ständeverfanmmlungen von Baden, Baiern, Würs
temberg, Sachſen, Großherzogthum Heffen und Braun»
ſchweig, welche in den hannoͤveriſchen Ereigniffen eine für die ganze beutfche
Nation verlegende und gefährliche Störung des Rechtszuftandes , befonders
aber eine Gefährdung aller beftehenden conititutionslien Verfaffungen ers
blickten und deshalb wiederholt ihre Regierungen batem, zu Gunſten bes
Rechts des hannoverifchen Volkes bei dem beutfchen Bunde zu wirken. Wir
glauben es endlich mit fo vielen deutfchen Schriftftellern und mit den über»
einflimmenden Gutachten der brei Suriftenfacultäten von Heidelberg,
Jena und Tübingen, welche bie Stadt Dsnabräd gefordert und
erhalten hatte *).
Am traurigften aber wird vollends dadurch biefer Kampf, daß er uns
die betrübendften Verhältniffe unferes vaterländifchen Zuftandes vor Augen
ſtellt.
Ein einzelner deutſcher Volksſtamm von noch nicht zwei Milllonen
122 Hannover.
Seelen, ſollte bier kaͤmpfen gegen feinen eigenen Fürften, der ſich im thatfäch-
lichen Befige unbefchränkter Machtvolltommenheit über Geldmittel, Beamte
und Heer befand. Und mas mehr iſt, er follte einen folchen Kampf in Deutſch⸗
Land unter Derrfchaft des deutfchen Bundes beftehen. Die Ausnahmsgefege
des Bundes aber entziehen dem Volke faft alle weſentlichen Mittel des geſetz⸗
lihen Kampfes der Völker für politiſche Freiheit, die Preßfreiheit, das Recht
des Volkes, fi) zu verfammeln und über Petitionen und andere politifche
Mittel zu berathen, ja das Necht der Steuervertveigerung. Dem Fürften da:
gegen verbürgen fie, ſobald, gleichviel ob durch feine Schuld oder nicht, im
politifhen Kampfe Volksgewalt ſich zeigt, die übermächtige Hilfe des Bun:
des, ja fogar das alsbaldige ungefuchte Einfchreiten der benachbarten Fürften
gegen das Volt. Dem unterdrüdten Volke iſt zu einer Bundeshilfe gegen
die aͤußerſte despotifche Unterdrüdung feines Fuͤrſten, ſchon nach den fpäte:
ren Bundesgefegen, vollends aber nad, ber bisherigen Praris, ja nach der
Natur der Drganifation des Bundes, faft keine Hoffnung auf irgend einen
wirkfamen Bundesfchug geftattet. Auch wurde er ben Hannoveranern gänzlich
verfagt, obgleich ihr Rechtsanfpruch durch eine fo allgemeine öffentliche Mei⸗
nung der Nation, wie fie ſich felten In Deutfchland bildet und ausfpricht, und
ſelbſt durch die Stimmen vieler bdeutfcher Bundesregierungen unterflügt
wurde.
Eine große Reihe von Städten, von Landgemeinden, landſtaͤndiſche
Corporationen, Zandtagsabgeordnete, Wahlmänner und andere Staatsbürs
ger flehten wiederholt bei dem Bundestage um rechtlichen Schug ihrer Ver
faſſung gegen bie einfeitige Aufhebung derfelben. Es waren der Magiftret
und die Altersleute von Dsnabrüd, die Landflände von Oſt friesland,
viele osnabrüdifche Landgemeinden, Magiftrat und Stadtverordnete
von Efens, Magiftrat, VBürgervorfteher und die Wahlmänner von Hil⸗
besheilm und Haarburg, Magiſtrat und Bürgervorficher von Ha⸗
meln, von Stade, von Hannover, die Wahlcorporationen des Landes
Kehdingen, von Neuhaus Oſten, von Oſterſtadelehe, vom Kirch⸗
fpiel Bene, von Bremſche und Endger, vonneun Gemeindevorfte
bern des Kicchfpiel® Badbergen, von zehn Wahlmännern des Bauern»
flandes des Fuͤrſtenthums Os nab ruͤck, von drei Bürgerreprädfentanten und
fieben Wahlmännern ber Stadt Celle u.f.w. Sie flehten um diejenige
Rechtshilfe, welche der deutfche Nationalbund ſchon durch feine Grundidee ber
Erhaltung eines friedlichen allgemeinen nationalen Rechtszuftandes auch für
das gewaltiam unterdrüdte Volksrecht zu verbürgen ſchien. Sie flehten um
diejenige Mechtähilfe, welche der Art. 53 der Wiener Schlußacte von
1820 aud) ausdrädlih „allen Betheiligten” In Beziehung auf diejeni⸗
gen Rechte verheißt, welche wie die Iandftändifchen in feinen befonderen
Beftimmungen allen deutfchen Unterthanen zugefichert find und welche
namentlich auch der Artikel 56 noch befonders dadurch zufagt, daß er ausdruͤck⸗
lich verbietet, „in anerlannter Wirkſamkeit beftehende Landftändifche Ver⸗
faffungen (mie es die hanndverifche von 1833 vor dem Regierungsanteitt des
ireigen Konige war) anders ald auf verfaffungsmäßigem Wege zu
m.
Hannover. 7128
Doch die Bunbesentfcheibung *) erfolgte abweislich und zwar abgefehen
von Bemängelung einzelner Vorftellungen wegen Formfehlern, deshalb:
„weil für die Bitefteller die Legitimation in den Beſtimmungen der beut-
ſchen Bundess und Schlußacte nicht begründet ſei.“
Auch befondere Anträge, welche bei der ſtets wachfenden Thelinahme ber
Öffentlihen Meinung zu Sunften der Vertheidiger des Staatsgrundgeſetzes
in der Sigung vom 23. Auguft 1838 Sachſen, dann am 26. April 1839
Batern, Sachſen, Würtemberg, Baden, Heſſen⸗Darmſtadt, die fächfifchen
Fuͤrſtenhaͤuſer und die freien Städte machten, daß die Bundesverfammlung
weiter auf die Sache eingeben und die banndverifche Regierung zur Erklaͤ⸗
rung auffordern möge, hatten zulegt bei der Ungunft Defterreiche und Preus
ßens für die hannöverifche Volksſache, eine Ungunft, die man ſchon In dem als⸗
baldigen freundfchaftlichen Befuche des gegenwärtigen Königs von Preußen in
Hannover zu fehen glaubte, durchaus kein andres Refultat, als daß nach lans
gen wiederholten Verhandlungen und Snftructionseinholungen endlich am 5.
September 1839 die Bundesoerfammlung den Mehrheitsbeſchluß faßte :
„Daß den in der Sigung vom 26. April d. J. geft.Iten Anträgen auf ein
Einfchreiten des Bundes in der hannoͤveriſchen Verfaffungsfrage keine
Folge gegeben werden koͤnne, da bei obmwaltender Sachlage eine bundes⸗
gefeglich begründete Veranlaffung zur Einwirkung in diefe innere Landes⸗
angelegenheit nicht ftattfinde.”
„Dagegen hege die Bundesverfammlung bie vertrauensvolle Erwartung,
daß Se. Majeftät der König von Hannover Allerhoͤchſtihren Iandesväters
lichen Abfichten gemäß geneigt fein werden, baldmöglichft mit den der:
maligen Ständen über das Verfaſſungswerk eine den Rechten der Krone
und der Stände entfprechende Vereinbarung zu treffen.”
Obgleich man nun in diefer Erklärung das Verfahren der hanndverifchen
Regierung keineswegs als geſetzlich bezeichnete, fo erließ doch die hannoͤveriſche
Regierung fogleih am 10. Sept. eine Proclamation, in welcher fie dieſen
Bundesbefchluß publicirte und dabei ausdruͤcklich fagte:
„Es bat hiermit diejenige Brundlage des in Unferm Königreiche beſtehenden
Rechts eine Anerlennung gefunden, welche von Uns ſtets als die allein güls
tige erkläre iſt“, nämlich die Verfaſſung von 1819).
Der König fpricht dabei die Erwartung aus:
„Daß bie aus mangelhafter Auffaffung der Rechtsverhältnifie hervorgegan⸗
gene ierthümliche Anficht nunmehr (durch den Bundesbeſchluß) hinlaͤnglich
berichtigt fein werde.“
Freilich proteftirten alsbald In dee Bundesverfammlung Baiern, Sach⸗
fen, Würtemberg , Baden, Großherzogthum Heffen und die fürftlich fächfis
ſchen Häufer zu Protokoll: „Daß jener Beſchluß, der nur ruͤckſichtlich ber Ans
träge einiger Bundesglieder, in die hannoͤveriſche Streitſache ſich von
Bundeswegen einzumifchen , ausfprechen wollte, ‚, ‚daß ber Bund in der ob >
waltenden Sachlage keine Beranlaffung dazu finde”, "gar nicht hätte
publicirt werben follen, daß er jedenfalls den Sinn einer Entfcheibung über bie
*) S. die in der folgenden Rote citicte urkundliche Darftellung.
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dem bannöverifchen Wolke jede Hoffnung auf Rechtshilfe entzogen ho
Nach feiner Entfcheidung auf die Beſchwerden br Betheilig
bie frühere Ständeverfammlung felbft flagen mäflen. &
hatte der König aufgelöft, und eigenmächtige Verfammlungen , ı
früheren deutfchen Lanbesverfaffungen zum Schug ber ſtaͤn
Rechte zulichen, hatte das Grundgeſez von 1833 mit fa ai
ven Berfaffungen verbotm. Sobald alfo hiernach ein Fuͤrſt bie
mäßiger Wirkſamkeit beftehende ftändifche Verfaſſung gänzlich zerftd
er Rechtshilfe unmöglich. Und doch mar auch die Bundesentſcheidu
Befchwerbe der waldeckiſchen Stände im Jahre 1836 Uber
letzungen ihrer Verfaſſung, die zum Theil fo offenbar waren, daß fi
Bundesverfammlung felbft als ſolche anerkannte, in ber 3. Sigung |
beshalb abweifend, „weil bie meift bleibenden fuͤrſtlichen Verfuͤgu
Berlegungen und keine Abänderungen ber Verfaſſung enthielten.” **
von dem in den Minifterialconfermzen zu Wien 1834 erfunbenen
ſchiedsgericht Hätten die hannoͤveriſchen Bürger ober Stände keine Hi
ten koͤnnen. Es iſt nämlich das Schickſal der Bitte der kurhe
Stänbeverfammlung: bie hohe Bundesserfammiung molle ihr m
rechtöverlegenden Ianbeöherrlichen Aneignung bee Rotenburger
und wegen der Verweigerung ber Juſtiz in Beziehung auf dieſelbe,
„durch das Bundesſchiedégericht oder in fonfliger geeigneter Weiſ⸗
„licher Erledigung verhelfen” ; ebenfalls ſchon durch bie öff
bekannt geworben. Zwar verpflichtet ber Artikel 29 allgemein Di
besverfammlung zur Hilfe gegen Juſtizverweigerung und ebe:
pflichter das Befeg vom SO. Det. 1834 die Bunbesglieber 6
tigkelten mit den Ständen zur Zulaſſung des Schiedsgerichts.
murben bie kurheſſiſchen Stände nom 2A. uli 1839 mit ihrem R
Hannover. 725
als für bie Stände nur facultativ, nicht aber obligatorifch*), und auch das
bundesgefegliche Recht der Hilfe gegen Juſtizverweigerung wurde den Bes -
ſchwerdefuͤhrern nicht zu Theil.
Mir unterlaffen es, die ſchmerzlichen Eindrüde ber ermähnten Beſchluͤſſe
zu vermehren durch weitere Anführung gleichmäßiger Abweiſungen faft aller
Bitten von Bürgern ober Landftänden um Bundesſchutz, während bes
kanntlich Competenzerflärung und Bundeshilfe den Reclamationen einzelner
oder vereinter Standesherren und Adeligen ſtets bereitwiligft und
in übervollem Maße zu Theil wurden. Wir wollen auch biefe für die öffent:
lichen Zuftände von Deutfchland hoͤchſt bedeutuna@volen Erſcheinungen weder
politifch nach ihren Folgen wuͤrdigen noch auch pfuchologifch erklären. Fuͤr das
Letztere braucht man übrigens nur zu erinnern an bie gegen frühere Vorſchlaͤge
beliebte Bildung der Bundesverſammlung nur aus ben meift abeligen Geſand⸗
ten ber Fuͤrſten, welche in Sachen ber Volksrechte nur allzuleicht als Gegen⸗
partei erfcheinen koͤnnen. Als unabweisliches praktiſches Ergeb:
niß aber müffen wohl die Vertheidiger der Volksrechte ſich aus diefen That⸗
fahen die Marime entnchmen, daß fie in ähnlichen Verhälmiffen wie bie
hannoͤveriſchen nicht wie die Hannoveraner in wahrſcheinlich ebenfalls leerem
Hoffen auf Bunbeshilfe andere wirkfamere Mittel und Anſtrengungen für
ihr Recht verfäumen, und daß fie noch viel weniger ihrer Sache die wenig⸗
ftens fcheinbare und wirkſame moraliſche Niederlage bucch eine Verurtheilung
von Seiten der höchften Behörde der Nation bereiten dürfen.
Wie hoͤchſt nachtheilig In beider Hinficht für die Vertheidigung des von
der Regierung umgeftürzten Staatsgrundgeſetzes die Zuflucht zu dee Bundes⸗
hülfe wurde, dieſes beftätigt bie ganze Geſchichte des hannoͤveriſchen Verfaſ⸗
ſungskampfes.
Daß aber eine wirkliche Bundeshilfe für bie in ihren Verfaſſungserech⸗
tem durch die Regierung bebrängten Unterthanen nach den bargeftellten Vot⸗
singen nicht wohl zu hoffen iſt, follte mohl diefes noch weiterer Beweiſe bes
dürfen? -
Laͤßt die einer Verfaffung feindliche Regierung die Stände ſelbſt noch
formell beftehen und zerſtoͤr nur dem Wefen nach das Verfaffungss und
ftändifche Recht, fo erfolgt die Abweiſung, weit bei bloßen Verfaſſungsver⸗
legungen von Seiten ber Regierung ein Einfchreiten des Bunbes unzuläfe
fig fei.
Jagt fie aber mit Gewalt die Stände auseinander und laͤßt fie nicht
wieder zufammentreten, fo erfolgt die Abweifung, weil alfe Einzelnen unb
öffentlihen Corporationen im ganzen Lande zur Anftelung dev Beſchwerde
nicht competent oder nicht legitimirt feien.
Auch die Anträge anderer Bundesregierungen haben wohl keine Hoff:
nung auf Erfolg, wenn fie in einem ſolchen Falle wie der hannöverifche, bei
folcher Rechtsuͤberzeugung der Sachkundigen und der öffentlichen Meinung
zurüdgewiefen werden. Diefes iſt vollends der Fall, wenn das Argument
& a urkundliche Darftelung bei G. v. Struve a. a. O. Thl. II.
eine Buntes » Sommifflon zur Prüfung der ganzen Angelegenbei
fegen, nicht befeitigt, fondern fiegreich geworden wäre — wien
wobldann noch ein wirklicher Sieg des ſogar aner
Rechts in Hannover gegen die unterdeß furtbauernd thätige 9
übermacht entfernt gemefen!
Mißverſtehe man übrigens unfere bisherige Darftellung nv
bag wir bei der jegigen Drganifation der Bundesven
wefentlihe Einmifchunaen derfelben in innere Landesverhältniffe
raͤnen Bundesftaaten wuͤnſchten. Des aber, was jeder Ned:
wünfchen muß, ift Gleichheit des Rechtsſchutzes für beide Theile,
und Regierung. Auch der Heinfte deutfche Volksſtamm befäße n
vollkommen befriedigende Rechtszuſtaͤnde, lebte er getrennt vom 2%
frei von feiner Einmiſchung, etwa auf einer Inſel oder nur in dhn
wie die einzelnen Schweizerflaaten. Aber was muß endlicht
fein, wenn die übermächtige Bundesgewalt in alle inneren Q
niffe für die fürftlihe Gewalt und gegen die Volksfreiheit, wen
Sachen der Preffe, des monarchiſchen Principe, der Adelsrechte,
der Polizei, des Unterrichts, der Bedrohung der Ruhe u. f. w. dr
dehnte Geſetze und Erecutionsmaßregeln einfchreitet? Mögen «
Vaterlandsfreunde entfcheiden, ob nicht das Rechts» und Ehr= und
gefühl und damit bie Eriftenz der Nation, oder ber Beſtand voı
tungen, die fo fehr fie bedrängen , gefährdet werden, wenn bier ı
einträte. Nationalrepräfentation im Bunde Einnte fie freilich g«
wird man dieſe bewilligen ?
Iſt nun biefe Seite des Verfaffungstampfes eines einzelnen
Volksſtammes, bei der bundesmäßigen Entziehung feiner weſentlich
pfesmittel, bei der beftändigen Bedrohung der ausmwärtigen Einmi
Hannover. 727
fluß auf die neue verfaffungemäßige Geſtalt ber Dinge gewonnen, fo wenig
die günftige Gelegenheit benugten, einen ſolchen neuen Verfaffungszuftand
zu erobern, der wenigſtens, foviel nur immer möglich, die Forderungen wahr
rer Öerechtigkeit und Freiheit befriedigte, der dem Volke alfo auch das allges
meine Gefühl eines auf Leben und Tod zu vertheidigenden Werthes flatt
jener zuaft allzu ftumpfen und gleihgüftigen Stimmung bei deſſen Zerſtoͤ⸗
rung erzeugt hätte.
Aber da faß von jenem erften Anfange an, wo bie Regierung, erfchäts
tert durch den plöglichen gewaltfamen Ausbrud, des Volksunwillens gegen
die unverantwortliche Mißachtung aller alten und in den Freiheitskaͤmpfen
neu erworbenen heiligften Rechtsanfprüde, zu ihrem und des Landes Wohl
Leicht Beſſeres bewilligt hätte, bie beutiche Pebanterei und Spießbürgerlich-
Leit zu Rathe. Man bedachte nicht, daß der gefeglichite Mann doch genug
thut, wenn er felbft Ungefeglichkeit nicht begeht und hervorruft, daß man
aber gerade aus Liebe zur Gefeglichkeit aldbann, wenn nach jahrzehnt= und
jahrhundertlanger verderblichfter Bedruͤckung des Volks endlich der Unmille
eine Revolution herbeigeführt bat, dieſelbe zur Verhinderung neuer
Bedrüädung und neuer Revoldtion, durch möglihft freie Verfaſ⸗
fung benugen muß. Ohne diefes zu bedenken, mäßigte man bie natuͤrlich⸗
ften Rechtsforderungen bis zum Aeußerſten und machte ein ſchwaͤchliches, Leicht
hinfälliges Werk. Fa man hätte gern die Revolution, die doch nur das Re
gierungsunrecht herbeigeführt hatte, vuddwärts wieder aufgehoben. Die cons
ftituirende Ständeverfammlung, die nur allein bucch fie exiſtirte, frafte fie,
indem fie das Wort unterbrüdte, tmelches, wie in Sachſen unb fonft
allerwärts in ähnlicher Lage, für die ungluͤcklichen Gefange⸗
nen Befreiung forderte. Minifter mögen, wenn fie das Rechte nur halb
durchführen koͤn nen, befchränten und mäßigen. Die moraliſche Kraft der
Volksmaͤnner und Schriftfteller dagegen, wenn fie nicht das ganze, fondern
nur das halbe Recht fordern, iſt zerſtoͤrt und von dem halben Recht geht
dann wiederum mindeftens eine Hälfte verloren. In gewöhnlichen Zeiten
get die Freiheitsentmidelung wahrlich langfam genug vormärts, oft durch
die natürliche Beſtrebung der Gewalt, welche täglich im Befig aller
Mittel wirkſam ift, während die Stände nur in langen Zwiſchen⸗
räumen aufteeten, und allzu oft auch durch hewußte Reaction nur ruͤck⸗
märts. Thoren, die ihr felbft in feltenen glüdlichen Uebergangszeiten «6 [cheut,
daß die Freiheit einen Sprung thue, wie «8 doch felbft die Natur in Ueber:
gangsperioden thut! Einer ber Hauptmänner in der conflituirenden Ständes
verfammlung, ein in vieler Hinficht verehrungsmerther Mann, Stüve, war
doc) fo befangen, daß er die füddeutfchen Verfaffungsfreunde,, daß er ehrliche
gute Deutfche, wie 3. B. Pfizer, Uhland, Schott und Andere, als „fran⸗
zoͤſiſch“ perhorrescirte, daß er — bie Preßfreiheit für die Deutichen verwarf!
So weit verliert fih Deutſchmichelei felbft in die höheren Stände ! Die Ver-
foffungsurkunde aber, die der wackre Stäve fpäter mit fo ruͤhmlichem from:
men und gefeglichen Eifer, mit Aufopferung und Zalent vertheidigte, enthielt
über die Preßfreiheit die fir die damalige Zeit und die hannoͤveriſchen Zus
ftände wahrlich mehr als verkehrte Beflimmung :
regierung als Hinderniß der Erfüllung ihrer Rechtspflicht gegen ihr
gegen" Diefes nahm das hannoͤveriſche Voll, treugehorfamft fü
ſolches Unrecht, jest fogar in die vertragsmäßige Derfaffung mit ı
nahm es jest auf, nachdem die Sranzofen in drei Zagen eine dh
ſchraͤnkung als unerträgliche Beſchimpfung der Nationalehre von
ſchuͤttelt hatten, nachdem diefe Verlegung für die gefeglichen Deutf
m dem zweiten Jahrzehent fortdauerte, nachdem yerade dieſe
MWahrheitsunterdrüdung in Hannover wie in Braunfhmeig, Sach
heffen, Altenburg, zuerft die Eränkendfte Volksbedruͤckung, und bı
Iutionen vırurfacht hatte. Sa, mas noch mehr ift, die übergemäf
weifen Staatsmaͤnner in den hanndverfhen Ständen fiherten nic
wenigftens diejenigen Reſte der Preßfreiheit, die felbfi mit den 4%
Ausnahmsgefegen vereinbar waren, durch gefeglihe Beſt immu
überlieferten auch ihre neuen Verfaſſungsrechte wie die früheren I
ungskrieg erworbenen Rechtsanſpruͤche des Volkes den alten 5
tifhen Cenfurbeliebungen, der grenzenlofeften Wahrt
drüdung. So war denn fehr natürlich die politifhe Bildung u
nung des Volks für die neue Verfaffung und die wichtigſte Schi
ihrer Verteidigung in der Zeit der Gefahr gaͤnzlich zerftört.
In dem banndverifchen Verfaffungsfampfe, welcher mit ben
niglichen Acten begann, kamen fpäter, nachdem die Minifter, welch
faffung von 1833 zu Stande gebracht hatten, unruͤhmlichſter Weiſe
tee Hrn. dv. Schele degradirt, ihre Stellen ſich und fid) dem Staate
allerdings auch) fehr hochachtungswerthe Erfcheinungen vor. WB
dahin vorzüglich den rühmlichen Schritt ber fieben Profefforen
übrigens bei der erften königlichen Weigerung, das Grundgefeg zu
amnrlaich J— Aalen mörs 1le mac 3
Hannover. | 729
frommen, übergemäfigten und fchulpebantifchen Politik machen molite *).
An Dsnabrüd ſchloß ſich borübergehend mit feinem Stabtdirector Rus
mann felbft Hannover an. Es ift dies der unglüdlihe Dann, welcher
bei jenem wichtigen Regierungsact bes Könige, bei deffen Vertagung ber
Ständeverfammlung vor feinem verfaffungsmäßigen Eide, die unbeilvolle
Schwäche und Ungefeglichkeit fofortiger Aufhebung der Sigung fid) zu Schul:
den fommen ließ, bann ploͤtzlich in Eräftiger Oppoſition erfcheint und dann
ebenfo unerwartet bei trefflicher Penſionirung feinen Srieden mit der Regie⸗
zung ſchließt.
Gehoben und unterflügt durch die öffentliche Meinung in Deutfchland,
dauerte indeß der Verfaffungelampf im ganzen Lande mehrere Jahre. Nur
der Adel, in früheren Zeiten auf Koften bes Landes und feiner Freiheit über.
mäßig bevorzugt, dann in dem Grundgefeg von 1833 meniyer privilegirt,
unter der jegigen Regierung aber fehr natürlich neuer größerer Bevorzugung
entgeoenfehend,, verfchloß fich dem moralifchen Eindruck der öffentlichen Met
nung der Nation und fchien auch durch Leine politifche Erwägung der moͤgli⸗
chen Gefahren eines reactionaͤren Soſtems für den Thron und den Adelſtand
ſelbſt ſich beunruhigen zu laffen. Die Beamten erfchienen felbft nach dem
Gewiſſensacte jener fieben Profefforen größtentheils als abhängige willens
lofe Diener der Regierung und befhmichtigten hoͤchſtens fo mie das Ober:
appellationsgericht durch eine Eleine fcheinbare Formalitaͤt die etwaigen Kor»
derungen des Gewiſſens, der Vaterlandstreue und der öffentlichen Ehre. Der
Buuernftand mar großentheil® ununterrichtet über den Werth freier Ver⸗
faffung, deren allzu frühe Zerſtoͤrung ihn der Freiheit und des Eigenthums bes
raubt und unbillig belaftet hatte. Der Mangel aller Preßfreiheit und pos
litiſcher Volksrechte, die Einſchuͤchterung durch Criminalproceſſe, polizeiliche
Verfolgungen und willkuͤrliche Freiheitsbeſchraͤnkungen, wie z. DB. die gegen
den Moorcommiſſaͤr Wehner und den Hauptmann Boͤſe, und die aͤußerſte
Beherrſchung und Verfaͤlſchung der Wahlen genügten der allerdinge klugen,
entfchiedenen und folgerichtigen Regierung. Auch ohne irgend blutige ober
graufame Sewaltthaten und, mag der Ruhm nun ale größer oder als Heiner
angefehen werden — dennoch ift er begründet und muß ehrlich eingeflanben
werden, ohne Jord an'ſche und Weidig’fche, ohne Behr'ſche und Eis
ſenmann'ſche Proceffe, fchlug fie bei dee Veriaffenheit des Volks von Geis
ten des Bundes, ja bei der Furcht vor der Bundes: Hilfe gegen das Volk, in
wenigen Jahren allen Kampf für die Verfaffung wenigſtens vorläufig gaͤnz⸗
lich nieder und brachte eine neue Verfaſſung fo ziemlich, in ihrem Sinne
zu Stande.
Auf den 20. Februar 1838 wurde nach dem Staatögrundgefe& von 1819
eine Ständeverfammlung nach Hannover berufen, melchenod die Stein:
aderfhe Darftellung erwähnen konnte. Um den Bürgermeiftee St uͤve
aus der Stindefammer entfernt zu halten, rief man das durch die Verfaffung
von 1819 geforderte Schagcollegium, deſſen Mitglieder als foldye Sig in ber
Kammer hatten, nicht wieder ins Leben, behielt jedoch die durch ba6 Grund:
*) &. unten ben Artikel Möfer.
‚gefeg von 1833 begründete Die Be
‚theidiger bes — — von 1888 hatten ſich de Plan bi
‚den neuen Wahlen nicht verftändigt. Einige Staͤdte, rn er mt
Minden, wählten gar nicht, andere nur mit Verwahrung für die fer
dauernde Güttigkeit des Staatsgrundgefeges von 1833. Mühfam brot |
— ee ge pa legte ihr eimen nur
BVerfaffungsentwurf mit der Drohung vor, daß, wenn er nicht angenommn
würde, der König nach Mafigabe des Patents von 1819 die nötbigen Be
Änderungen in ber Organifation ber Stände allein — ‚Du
Entwurf war aͤußerſt illiberat.
In der neuen Verfammlung wurde die Frage der Gültigkeit des Gmb
geſehhes von 1833 oder von der Sompetenz der einberufenen Stände mise
holt angeregt und ihre Beantwortung hinausgeſchoben. Seibt in der afe
‚Kammer bildete fi eine eine
ſich Oppoſiti bei |
——— übergebene Petition für bie Gültigkeit bes fruͤheren Gmb
entſchied die Mehrheit der zweiten Kammer, die Sache auf fih km
zu laſſen, worauf fo viele einflnfreiche Mitglieder der Oppofition dir Bio
Ze verlichen, daß Diefe immer kleiner und unbebeutender wurde, Ei
‚wurde, 2, BOB Enns Tribes Babpe3.000 —
tagt bis nah Oftern, konnte aber wegen Mongel der ——
wieder am 3. Mat eröffnet werden.
Unterdeß aber nahm die Oppofition einen andern Plane a Die rüb
Wahlen wurden jämmtlic vorgenommen und entſchiedene Opee
— gewaͤhlt. Dies mar offenbar ber rechte Weg. Stets mühe
bie nad irgend einer Form dazu berufenen Männer aus dem Wolfe mit ale
übrigen Vertretern zufammenmwirfen, um fo bie rechten Befchlüffe zur
Schutze der Volksrechte, Proteflationen, Verwerfungen, Belchwerden ı
Stande zu bringen. Sie bereiten nur zu leidht ben Gegnern den wenigſter
formellen, bald auch materiellen Sieg, wenn fie zu Haufe bleiben und du
Befferen und Schwaͤcheren in ber Verſammlung den verderblichen Emmi:
fungen preisgeben, fie nicht halten, nicht unterſtuͤtzen, nit geminnen.
Osnabrück und andere Städte erhoben jest ihre Befchwerden ba
dem Bund. Der neue Vorfaffungsentwurf wurde ohne eigentliche Dit
cuffion verworfen urd nun am 27. Juni 1838 die Verſammlung abermilt
vertagt, Die Stadt Denabrüd holte nun die Gutachten der drei Äuri:
ftenfacultäten zu Gunſten der fortdauernden Gültigkeit des Grundgeſchet
von 1833 ein und viele deutſche Erändeverfammlungen verwendeten fich für
deſſen Erhaltung. Die Regierung aber veränderte einfeitig die Organiſatien
bes Landes und fuchte Adreffen zu ihren Gunften auf eine für fie nicht ven
tbeilhafte Weile zu erwerben. Steuerverweigerungen erfolgten, doch ohnt
Mideritand bei ben Erecutionen.
Auf den 15. Kebruar 1839 wurde die Ständeverfummlung mirde
zufammenberufen, mußte aber wegen Mangels der nöthigen Anzahl ned
mals bis aufden 23 Mai vertagt werden, wo dann endlich nach neuem zehn
tügigen Harren die nöthigen 37 Mitglieder der zweiten Kammer aufammen:
gebracht werden konnten. Dieſe verwarfen das neue von der Regierung vet:
FF
Hannover. 781
gelegte Budget, beiwilligten aber bat fruͤhere nochmals auf ein Jahr. Sie
wurden dann am 20. Juni vertagt.
Der Criminalproceß gegen Stüve, bie Suspenfion des Stadtbirector
Rumann von Hannover, die dadurch und durch die Theilnahme der oͤffentli⸗
hen Meinung im Lande wachſende Oppofition, die Proteftation auch der
Stadt Hannover für das Grundgeſetz von 1833 machten die Lage der Mes
gierung täglich fhwieriger. Eins Acht deutfche ſpießbuͤrgerliche Volksdemon⸗
flration einer fehr großen Anzahl von Bürgern, die eine Petition in das
Schloß uͤberbrachten, erwirkte einen nachgiebigen Beſchluß. Eilig holte man
erſt hintennady Truppen herbei, um den König gegen aͤhnliche Ueberra⸗
ſchungen zu ſichern. Aber was man beſchwerend forderte und erreichte —
es war — die Zuruͤcknahme einer Verfuͤgung uͤber Einſetzung eines Vice⸗
buͤrgermeiſters — Nichts weiter. — Haͤtte man aͤhnlich um die Wiederher⸗
ſtellung des Grundgeſetzes gebeten — welche menſchliche Weisheit berechnet,
was die Ueberraſchung, der Moment vermoͤgen! — Doch jetzt in der ſchwie⸗
rigſten Zeit kam der Regierung die obenerwaͤhnte Entſcheidung des Bundes⸗
tages zu Hilfe.
Die Staͤndeverſammlung wurde jetzt auf den 19. Maͤrz 1840 berufen.
Dieſe nahm nun mit einigen Modificationen die ihr vorgelegte Verfaſſung an
und bewilligte ein neues Budget.
Abermals vergeblich riefen viele Corporationen gegen dieſe neue Ver⸗
faſſung jetzt die Hilfe des Bundestages an. Die Beſorgniß eines neuen
franzoͤſiſchen Krieges leitete die Theilnahme vom Verfaſſungsſtreite ab. Ver⸗
geblich proteſtirten auch die Provinziallandtage von Oſtfriesland und Os⸗
nabruͤck.
Doch die am 2. Juni 1841 eröffnete neue Staͤndeverſammlung, obwohl
man durch die Eläglichfien Minoritätswahlen die minifterielle Partei verflärkt
hatte, befchloß eine neue Petition zu Gunſten des Grundgeſetzes von 1833
und erklärte die Rathgeber der Krone als des Vertrauens unwertb. Doch
die erfte Kammer verweigerte ben Beitritt, die Stänbeverfammlung wurde
aufgelöft und nach der auf die Entwaffnung dee Oppofition gut berechneten
neuen Berfaffung da6 Budget als auf drei Jahre fortbeftehend erklärt.
Mit aͤußerſter Wahlbeherrfhung brachte zum 2. December 1841 die
Regierung eine neue ihr günflige Kammer zu Stande, in welcher das Grund»
geſetz von 1833 nicht mehr erwähnt wurde.
Die Oppofition zog füch jegt immer mehr zurüd, gab ihren Widerſtand
zu Gunſten des Grundgeſetzes von 1833 auf oder vertagte — wie man viels
feitig fich äußerte — denfelten auf günftigere Zeiten.
Die neue feitdem in Wirkfamteit beflehende Verfaſſung vom 6. Auguft
1840 begründet der That und ſchon dem Eingange und dem erften Artikel
nad) eine Landesrepräfentation; benn an deren Stelle bloße Feu⸗
balftände mit Repräfentation nur ihrer Selbſtſucht zu fegen, eine ſolche
unhiſtoriſche, zeitwidrige und flaatsfeindliche Haller'ſche Grille fiel felbft dem
Gabinet Schele nicht ein. Die Verfaffung wird als verttagemäßig und zum
Schutz des ganzen Landes beflimmt erklärt. Die Vertreter werden aus allen
Volksclaſſen erwaͤhlt, das Petitionsrecht aller Bürger auch an die Std:
782 Hannover.”
keineswegs, fo wie nur allein in Heſſen⸗Darmſtadt und etwa im neueſten
preußifchen Entreurf, zerftört. Die Landesrepräfentation beſteht aus zwei
Kammern.
Die er fie Kammer befteht aus folgenden Mitgliedern: 1) Den koͤnig⸗
lichen Prinzen. 2) Den Derzogen von Aremberg und von Loog=:C ors«
waren und dem Fürften von Bentheim, als Befigern ihrer Standesherr:
fhaften. 3) Dem Erblandmarfchall des Königreiches. 4) Den Grafen von
Stolberg » Wernigerode und von Stolberg: Stolberg wegen der Graffchaft
Hohnſtein. 5) Dem General⸗Erbpoſtmeiſter. 6 und) Den Aebten von Loc
cum und von Set. Michaelis in Lüneburg. 8) Dem Präfidenten der Bre⸗
mifchen Ritterfchaft, als Director des Kloſters Neuenwalde. 9) Dem ober
den Eatholifhen Biſchoͤfen. 10) Einem auf die Dauer bes Landtags vom Kös
nig zu ernennenden angefehenen evangelifhen Beiftlichen. 11) Den von dem
König mit erblihen Virilſtimmen begabten Majoratsherren. 12) Dem Dis
rector der koͤniglichen Domänentammer. 13) Den in ben Provinziallands
haften erwählten Mitgliedern des Schagcollegiums, welche abelige Mitglieder
einer Ritterfchaft find. 14) Aus ben von den Ritterfchaften für jeden Land»
tag zu erwählenden 33 Deputirten ber verfchiebenen Ritterfchaften,, voeldhe
nach Abzug der Zinfen von Schulden und Laften aus ihrem Grundbefitz 600
Thaler Einfommen haben. 16) Einem auf die Dauer des Landtages vom
König zu ernennenden Mitglied adeligen Standes. $. 8&—87.
Die zweite Kammer befteht ausnachfolgenden auf bie Dauer bes Lands
tage8 zu ermählenden Deputirten:
1) Den in den Provinziallandfhaften erwaͤhlten Mitgliedern des Schatz⸗
collegiums, welche nicht adeligen Standes find. 2) Drei Mitgliedern, welche
der König wegen des allgemeinen Klofterfonds ernennt. 3) Drei Deputirten
von feche frommen Stiftungen, die von biefen mit Zusiehung von höheren
Geiftlichen und Prebigern aus der Zahl der proteftantifchen Geiftlichen oder
Schulmaͤnner zu erwählen find und unter welchen fidy wenigften® zwei or
diniete proteftantifche Geiftliche befinden muͤſſen. 4) Einem Deputirten der
Univerfität Göttingen. 5) Zwei Deputirten der evangelifhen Confiftorien.
6) Einem Deputirten des Domcapitel6 zu Hildesheim. 7) Aus 36 Des
putirten der Städte und Flecken mit einem reinen Einkommen von 300 Tha⸗
lern oder einer jährlichen Dienfteinnahme von 800 oder bei Gemeindeämtern
von 400 Thalern. An ihrer Wahl nehmen außer den flimmführenden Mit:
gliedern des Magiftrats auch die Bürgervorfteher und diejenigen Wahlmaͤnner
Theil, welche hierzu von den Bürgern befonders erwählt werben. 8) Aus
39 Deputicten der fämmtlichen übrigen Grundbefiger aus den Freien und
dem Bauernftand mit einem reinen Einfommen von 300 Thalern aus Grund⸗
vermögen. Sie follen, einige befondere Diftricte abgerechnet, von Wahl:
männern gewählt werden, die von den Bevollmächtigten der Gemeinden beftellt
find. 6. 88—91.
Ein Landtag dauert 6 Jahre, wenn nicht Auflöfung eintritt. Die Wah⸗
len und Ernennungen der Mitglieder gelten für die ganze Dauer diefer Zeit.
$.105. Die Zufammmenberufung erfolgt alle 2 Jahre.
Die Rechte der Stände umd Bürger find fo ziemlich die gewöhnlichen
Hannover. 788
deutſcher conflitutioneller Verfaffungen. - Nur find 1) bie hannoͤveriſchen
Stände vorzugsweiſe befchränkt in der Bewilligung, der Erhebung, der Ver⸗
wendung und der Gontrole ber Steuern und Einnahmen des Landes durch die '
Trennung der fogenannten Eöntglihen und der Landescaffe Die
önigliche Caffe ſoll „allein vom Könige abhängig fein und nach feinen Ans
ordnungen vertvaltet werden.” 5. 138. Sie wird gebildet aus den Einkünften
von Domänen und Regalien, $. 120—135, aus den Ueberfchüffen der Lot⸗
terien, von dem Intelligenze Comptoir zu Dannover und aus ben Sporteln
der Behörden. 5.137. Die reinen Einnahmen ber koͤniglichen Caffe follen
verwendet werden für die Zinfen und die allmälige Zilgung der Schulden, bie
auf ihr haften, zur Beſtreitung der Bebürfniffe des Königs, ber Königin und
der Prinzen und Prinzeffinnen, auch zur Beftreitung eines Theils der Koſten
der Landesverwaltung und für einen zur Unterhaltung bes Heeres zu leiſten⸗
den Beitrag. 6.138. Die Landescaffe wird gebildet aus dem MReinertrage
der directen und indirecten Steuern (fo weit legtere nicht zu ben Regallen
gehören). $. 169. Die Steusen werden von den Ständen verivilligt und ihre
Verwaltung fteht unter der Aufficht und oberen Leitung des Finanzminiſters
dem Schagcollegium zu, welches theils durch Ernennungen des Könige, theils
durch ftändifche Wahlen gebildet wird. $. 154 — 160.
2) Das ntfcheidende fländifche Zuflimmungsrecht zu Landesgeſetzen
iſt befchränkt auf Geſetze über Steuern ober folche, durch welche den Unters
thanen oder einzelnen Claſſen derfelben neue Laften ober Leiftungen auferlegt
werden (6.118). Der wefentlihe Inhalt anderer Geſetze muß vor
deren Erlaffung den Ständen zur Berathung und Erflärung vorgelegt wer⸗
den. Wenn die Stände ablehnen oder vom Könige nicht genehmigte Aen⸗
derungen beantragen, fo müflen fie, wenn der König dieſe Befege fpäter voll
ftändig redigirt ihnen wieder vorlegt,, diefelben Im Ganzen annehmen oder ab»
lehnen, ohne neue Anträge auf Aenderungen, Zufäge ober Bedingungen zu
_ madhen. $. 116. -
3) Alte Deffentlichkeit ber ſtaͤndiſchen Verhandlungen ift außgefchloffen
und die Stände haben felbft nicht einmal das Mecht, In ihre Protokolle etwas
Anderes al6 Anträge und Beſchluͤſſe aufzunehmen. Die Mittheilung aller
Verhandlungen unterliegt noch außer der Genehmigung ber Regierung unbes
dingt ber gewöhnlihen Cenſur. Lanbftändifche Gefchäftsorbnung 6. 53.
4) Bon irgend einer Zuſicherung von Preßfreiheit enthält die Wer
faffung gar keine Spur.
5) Auch die Minifterverantwortlichkeit, gegenüber ben Ständen, iſt
aufgehoben. $. 168.
Ja das Cabinet Schele hatte bei dem Bundestage als Beflimmungen
bes Srundgefeges von 1833, bie das monarchiſche Princip verlegten und
bie Unterdrädung dieſes Grundgefeges nöthig machten, insbeſondere auch
jene nichts fagende Hinweiſung auf die einflige Bumdespießgefeggebung 5.40
in demfelben angeführt, „weil fie wenigſtens das Princip der Preßfreiheit,
wenn auch unter Modificationen, zugeſtehe“ *). |
*) G. v. Struvea. a. D.L ©. 338, ’
LU
784 Hannover.
Unter den Beſtimmungen, welche das Cabinet wegen ihrer verehrten
politifchen Richtung ale folche bezeichnete, weshalb man das Brundgefeg von
1833 nicht habe beſtehen laffen können , gehört auch der vierte Sas bes 6.31,
„weil er eine völlige Befeitigung des privilegirten Serichtöftandes in Ausfict
ſtelle.“ Ebenſo der 6. 83: „die allgemeine Ständeverfammlung ift bes
rufen, die geundgefeglihen Rechte des Landes zu vertre:
ten und bdeffen dauerndes Wohl möglihft zu fördern.”
Dieſer $. tege, fo fagt das Cabinet, „dem Weſen deutfcher Landflände ent
gegen, denen nad Art. 57 der Schlußacte lediglich eine Mitwirkung Ye
Ausübung beflimmter Rechte der Regierung zuftehen folle, der Staͤndever⸗
fammlung einen allgemeinen RepräfentativsCharakter bei’I!! Eben fo der
6.88, weil er den Ständen eine Initiative bei ber Geſetzgebung gefkatte ;
der $. 115, weil er die Deffentlidgkeit der Verhandlungen,
der $. 161, weil er die Verantwortlichkeit der Minifter fanctionire*). Als Br
einträchtigung ber monarchifhen Megierungsgewalt verwarf der Kinig das
Bedingen der Erbhuldigung ducch das Verfprechen der Deilighaltung der Lans
besverfaffung im $. 18, das Zuftimmungsrecht zu allgemeinen Landesgefegen
im $. 86, bie Beftimmung der Penfionsregulative mit Zuflimmung der
Stände im $. 140, die Entlaßbarkeit der Richter nur durch Urtheil und Recht
im $.163, die Nothiwendigkeit der Contrafignatur der Minifter im $.151**).
Dee deutiche fouveräne Bundesfürft von Hannover hatte bei feiner
Reife nach England dem auswärtigen Souverän den Unterthanen » Eid ge
fhworen. Seinen Unterthanen aber wurcen fo gaͤnzlich gerade die herrlich
fen britifchen Rechte vorenthalten, obwohl der hannoͤveriſche Geſandte auf
dem Wiener Congreffe erfiärt hatte, daß diefe Rechte den Thron feines maͤch⸗
tigen Monarchen nur befeftigten, obwohl alle diefe Rechte und noch viel
größere Act deutſch und in den alten hannoͤveriſchen Verfaffungsurkunden
enthalten waren.
Nicht weniger nieberfchlagend für deutſches patriotifches® Gefühl als
ſolche Erfcheinungen in dem Inneren der Staatsverhältniffe eines deutſchen
Volksſtammes war in Beziehung auf die Thätigkeit des deutfchen Bundes
eüdfichtlich derfelben insbefondere auch noch der damals in den öffentlichen
Blättern mitgetheilte Bundesbefchluß über die oben erwähnten Facultäts:
gutachten zu Gunſten des Grundgefeges von 1833. ***)
Wie unwirkſam zum Schutz, ja wie verderblidy für ihre Sache den
hanndverifhen Bürgern ihre Anrufung der Bundeshilfe wurde, dieſes ift
oben bargeftellt. Ungleich wirkſamer war dagegen die Beſchwerde des Königs
gegen jene die Volksſache vertheidigenden Auriftenfacultäten. Obwohl ber
Öffentlichen Meinung der Nation jene erfte Beſchwerde als durch die Bun»
desgeſetze unterftügt, die zweite aber als denſelben widerſprechend etſchien,
wurde jene abgewieſen, dieſe aber erhoͤrt.
*) S. das vorige Gitat,
**) Struven. a. . 359. In je neuen. Verfaſſung machte man je⸗
doch —2 Zugeſtaͤndniſſe. S. $. 177, 538 ‚$. 40
. Urkunden bei Etruve ©.
Hannover. 736
Die hannöverifche Regierung hatte nämlich bei dem hohem beutfchen
Bunde gegen die Tuͤbinger Juriftenfacultät Beſchwerde geführt, Unter:
druͤckung jener von Dahlmann herausgegebenen drei Rechtsgutachten und
Beftrafung der Theilnehmer am Tübinger Gutachten gefordert, weil biefes
legtere „eine völlige Theorie der Revolution enthalte.‘ Mach der Anklage
der hannoͤveriſchen Bundesgefandtfchaft vom 29. April 1839 follte daffelbe,
außer den Beleidigungen gegen den König, directe Aufforderungen der Diener
und Unterthanen deſſelben zur Verfagung des pflihtfchuldigen Gehorſams,
ja Aufforderung zur offenen Rebellion enthalten. Es fei mit den aller:
flaatsgefährlichften Grundfägen und Ausführungen angefüllt. Es entwickele
nad, der von ihm nicht mißbilligten Vertragscheorie *), daß ber Landesherr,
welcher , den Worten einer Verfaffung zuwider, die auf ihn vererbte Regie:
rung ohne Verfaffungsanerfennung angetreten babe, als nicht zur Regie
rung gelangt, als rechtswidriger Zwiſchenherrſcher, die Widerfeglichkeit der
Unterthanen aber als Nothwehr anzufehen ſei. Die Beamten würden als
Mandatare der Staatsgewalt und dem Lande für Aufrechthaltung der Ver:
foffung verantwortlich bargeftellt und verpflichtet, die Rechtmäßigkeit der Ans
ordnnungen der Vorgefegten, aud wenn fie ſich auf hoͤch ſt en Befehl berufen,
zu prüfen. Der ftaatsbürgerliche Gehorſam, felbft der militairifhe Dienſt⸗
gehorfam würden als durch die Verfaſſung bedingte Pflicht dargeftelit. Wenn
der Regent den Verpflichtungen der Verfaffung zumider handle, fo ericheine
er, nach diefer Ausführung, infofern nicht als Regent und die Unterthanen
folten alsdann, wenn fie zuvor um der öffentlichen Ordnung und der fittli-
hen Beftimmung des Staates willen gütliche Ausgleichung vergeblich vers
fucht Hätten, bei Gefährdung wahrſcheinlich unmiederbringlicher Rechte nicht
blos zu paffivem Ungehorfam und Steuerverweigerung, fondern auch zu thaͤ⸗
tigem Widerftande berechtigt fein. '
Die Hohe Bundesverfammlung faßte hierauf nach weiterer Verhand⸗
Iung am 30. September 1839 den Bundesbefchluß:
1) „Da das Gutachten der Suriftenfacultät zu Tübingen in der hannoͤveri⸗
fchen Verfaffungsfache vom 26. Februar 1.3. flaatögefährliche, mit der
Aufrechthaltung der bürgerlichen Ordnung unverträgliche Grundſaͤtze
vertheidigt, fo wird der weitere Debit und jede Wiederauflage diefes
Gutachtens unterfagt und werden bie Regierungen erfucht, die Be
fchlagnahme ber etwa in den Buchhandlungen nody vorräthigen Exem⸗
plare zu verfügen.”
2) „Die Großherz. Weimarifche Regierung iſt zu veranlaffen, wegen des
zu Jena flattgefundenen Druds diefer Schrift das Geeignete und ben
Bunbesgefegen Entfprechende zu verfügen.“
3) „Der K. Würtembergifchen Regierung wird die vertrauensvolle Erwar⸗
tung ausgeſprochen, dieſelbe werde hinſichtlich derjenigen Profefforen
der Tübinger Juriftenfacultät, welche am befagten Gutachten Theil
*) Auch die neue Verfaſſung erklärte das Publicationspatent vom 1. Aug.
ehr Pr der Eingang ald buch Bertrag mit ben Gtänden zu Gtande
786 Hannover,
genommen, bie Beftimmungen des Bundesbeſchluſſes vom 20. CL
1819 in nähere Erwägung ziehen und nach Befund der Umſtaͤnde iv
wohl hierwegen als wegen der gegen ben König von Hannover im junm
Reditsautachten vorkommenden perfönlihen Werlegungen gegen ih
Strafwürdigen das Erforderliche verfügen.‘
4) „Binfichtlich des megen Mechtsgutachten über Fragen, melde fi
BDerfaffung des Bundes oder einzelner Bundes ſtaaten betreffen, ü
$. 205 des diesjährigen Protokolls geftellten Antrages (ibees Verben
wird ben noch vorbehaltenen Erklärungen entgegengefehen.” |
Es iſt wohl teicht erklärlich, warum dieſer Befchtuß die Fchmerzlicien
Eindrüde machte.
Man verglid, die Entſcheidung über bie Befchwerden zum Schus In
Verfaffungsrechte des hanndverifchen Volkes mit derjenigen über bie Bo
ſchwerbde des Herrſchers.
Man erwog, daß ſelbſt in den umfangreichen, für die deutſche Natim
fo ſchmerzlichen Ausnahmsgefegen des Bundes über die Preffe eine Begrin
dung der hier gegen eine mehr als zwanzig Bogen ſtarke Druckſchrift, zue
ein officielles Butachten eines deutſchen Spruchcollegiums gefaßten Befalifi
nicht Dargeboten fei.
Man erwog ferner, wie man mit Zuftimmung der Meichsgefege It
in Deutfchland,, wie man nody zur Zeit ber Begründung des Bunde hi
Actenverſendung und Einholung der Rechtsgutachten von Juriſtenfacultin
als eine Wohlthat für die bürgerliche Freiheit, als ein Schugmittel für Ki
Öffentliche Gerechtigkeit begünftigte, und daß auch nur in diefem Ein
der Artikel 12 der Bundesacte, woran man fpäter das direct Eintgegengefas
anfnüpfte, gegeben worden war.
Man ermwog die traurigen und bebenflihen Folgen, die es für cm
Nation haben muß, wenn die Macht bei jedem ihr etwa mißfälligen ein:
nen Gebrauch mohlthätiger allgemeiner verfaffungsmäßiger Einrichtunin
und Rechte ohne Weiteres diefe wohlthätigen verfaſſungsmaͤßigen Eintich
tungen und Rechte felbft aufheben will und aufheben kann.
Man erwog endlich, daß naͤchſt der bis zur Auflöfung des Reiches aud
in Deutfchland beftandenen vollfommenen Unabhängigkeit der Juſtiz durd
Inamovibilität der Richter die gleiche Selbftftändigkeit der Univerſitaͤten und
Profefforen den wohlthätigften Einfluß für die Rechtsſicherung, für den Di
terlandsftolz und auch für die Sicherung der Regierungsrechte hatte, di}
aber mit der entzogenen Unabhängigkeit, mit der willfürlihen Abſetzbatken
oder auch nur Verſetzbarkeit das Öffentliche Vertrauen und die Achtung für
Ausfprüche der Gelehrten wie der Richter täglich) mehr [hmwinden. Die are
ftoßratifche Reaction vernichtet hier gerade die wohlthätigften ariftofre:
tifchen Gegenwirkungen gegen zerftörende Volks- und Regierungswillkuͤt.
Die wiürtembergifhe Regierung indeß muß wohl dieſen oder ähnlichen
Erwäyungen Gehör gegeben und aud Lie im Zübinger Rechlsgutachten auf
geführten Rechtsanfichten, die nicht blos nad) dem englifhen Staatstecht,
fondern auch aus den deutfchen Reiche: und Landesgrundverträgen, aus den
Entfcheidungen der Reichegerichte und durch bewährte deutſche Staatsrechts
N
Hannover. 7337
lehrer begruͤndet wurden, nicht fuͤr ſtaatsgefaͤhtlich erachtet haben, denn ſo⸗
viel bekannt iſt, hat ſie gegen die Mitglieder der Tuͤbinger Juriſtenfacultaͤt
und ihr Gutachten nie das mindefte Unangenehme verhängt.
Wohl wird eine Zeit kommen, in welcher auch in Deutfdyland die Ans
erfennung neu fiegt, daß wahre moralifche Adıtung der Regierungsredhte
ganz unmöglich iſt ohne Heiligkeit dev Volks⸗, der Freiheits⸗ und Vers
faffungsrechte. Alle treuen Freunde der Regierungen aber müffen dringend
wünfchen, daß fie bald komme, ehe die falfchen Freunde und Rathgeber
bie mohlthätige unentbehrliche moralifche Achtung und Liebe für die Regie⸗
rungen zu tief erfchüttern.
An diefer Erfchütterung wird jegt täglich gearbeitet — es iſt eine Treu⸗
pflicht, dieſes nirgends zu verfchtoeigen — es wird, mie auch die hannoͤveri⸗
fhen Gefchichten es zeigten, daran gearbeitet durch thatfächliche Mißachtung
der Ehre und ber Rechte der deutfchen Nation und vieleicht noch mehr durch
eine immer mehr erkannte und immer mehr verhaßte oͤffentliche Wahrheits⸗
verfaͤlſchung. Wir meinen aber hier zunaͤchſt nicht ſelbſt die Senfur, unter
deren Einwirkung freilich jene öffentliche beleidigende Unmahrheit ebenfo wie
die thatfächlichen Rechtsverlegungen nur allein möglich find.
Was wir hier zunächft meinen, das find jene urfprünglicd) von einigen
fanatifchen Freiheitsfeinden ausgegangenen , ſeitdem faft privilegirten Ber:
fälfhungen der gefchichtlichen Mechtsverhältniffe unferer Nation, worauf
man nun fedlich ein Syſtem unferes Rechtszuftandes erbaut, das une allen
freien Völkern der Erde meit nachſetzt, das der Ehre, den Wünfchen und
Bebürfniffen und ben unzerftörbaren Rechten unfers Volkes ebenfo wie dem
wahren hifterifchen Rechte gänzlich widerfpricht. Faſt zu deren Ver:
hoͤhnung predigt man kecklich unumfchränktes göttliches monarchiſches Recht
und eine bie Selbftfucht und Enftenmäßige Abfonderung ariftofratifcher Stände
zum neuen Unglüd des Vaterlandes herausfordernde Mepräfentation bios
dieſer Stände und Ihres Eigennuges ftatt wahrer ſtaatsbuͤrgerlicher Repraͤ⸗
fentation der Ehre und des Wohls, des Rechts und der Einheit des Volks.
Man predigt diefe und andere Abgeſchmacktheiten, zu welchen in foldyer
craſſen Geſtalt auch die allerroheſten Zelten bes Kauftrechts und der Vorberels
tung der Schlachten von Aufterlip und Jena und aller furchtbaren
Schmach und Gefahr des Vaterlandes ſich nicht bekennen mochten (f; Deut:
ſches Landesftaatsreht und Grundgefeg). Was, ummit He:
gel zu reden, „bie abfolute Gedankenloſigkeit“ eines Haller
in dicken Büchern vor der Welt allen Sachkundigen und Verftändigen zum
Spott, mas bie beruͤckende Schlauhelt eines Hrn. v. Seng im geheimen
Dipfomatenkreifen enthalten, es bat mehr, als man je fir möglich gehal:
ten, in manchen höheren Regionen und unbewachten Köpfen Wurzel ge
f&lagen. Die Öffentliche Wahrheitsunterdruͤckung aber bat manche Maͤch⸗
tige verhindert, die Laͤcherlichkeit und die Verberblichkeit der ernftlichen Anwen»
dung folder Erfindungen auf die wirklichen Staatsverhältniffe einer achtbaren
Nation zu erkennen.
Diefe in ihren gedrüdten Verhaͤltniſſen ſprach bis jet nicht deutlich
genug ihren Mißmuth aus. Diefer tiefe Mißmuth aber waͤchſt taͤglich mehr
Suppl. 3. Staatsier. II. Ai
Deffentlichkeit ihrer Verhandlungen erbeten. Aber fie wurden
Zeitungsberichte, abſchlaͤglich befchieden, „weil Deffentlichkei
quifit conftitutioneller, nicht aber deutfcher, nur mit landſt
fafjungen verfehener Bundesſtaaten anzufehen fei’‘ *).
Mas mochten nun wohl die Rathgeber bei der Angab
Srundes ſich denfen? Die conftitutionellen Verfaſſungen al
päifchen Völker find nad) der Anerkennung aller Sachkundi
des Montesquicu die den heutigen Gefellfchaftes und €
niffen entſprechenden Ausbildungen unſeres äht deutfi
Wodurch follen nun Verfaffungen beutfher Bundes ſta
denfelben unterfcheiden? Doch wohl nicht dadurch, Daß bei.
red ſtaatliches Gemeinweſen und Bein berechtigted Volk er
Mechte durch bie Stände vertreten würden, fondern, nach Hri
u. Hrn. v. Beng, nur ein fauftrechtlicher Haufe einzelner Fer
ſtaͤndiſcher Kaften mit bloßen Privatvortheilsrehten und ange:
feibft , ihren Eigennus und Eigendünfel zu vertreten, keines
Vaterland und deffen Ueberzeugungen von feinen Rechten und !
Sollen wir denn wirklich die baare hiftorifche Lüge glauben, au
beren beutfchen Reiches und Landſtaͤnde hätten jemals zu fo
Umkehrung der beutfchen Verfafiungsrechte ſich bekennen n
follten wir biefelbe heute neu einführen? Nicht als befond«
Stänbe, fondern als bie damaligen alleinigen reihsunn
und landesunmittelbaren Bürgerclaffen des Mei
des Landesſtaates fegten fie die alten Reiche: und Landtage,
Landesgemeindeverfammlungen fort und vertraten mit des
terlandes Wohl und Recht auch Wohl und Recht ihrer
Schüglinge. Und jest, da diefe ehemaligen Schüglinge mit
Hannover. | 739
Deffentlichkeit der Verhandlungen diefer Vertreter aber ift doch wohl
ein wahres Recht ihrer Wähler und der Volksgeſammtheit. Sie ift wohl
ſchon nöthig, damit die Wahlen heflfam und verftändig ausfallen Finnen.
Sie ift unentbehrlich, damit die Gemählten in beftändiger lebendiger Verbin:
dung mit ben repräfentirten Mitbuͤrgern, mit ihren fittlichen und rechtlichen
und politifchen Ueberzeugungen, Bedürfniffen und Wünfchen bleiben, da»
mit fie ehrlich und heilfam für des Vaterlandes Wohl und Recht wirken, ba:
mit en Eräftiger Gemeingeiſt, ein Eräftiges organifches Gemein⸗
weſen, ein Eräftiges Volt und ein mächtiger Thron fich bilden. Es muß zu»
gleich mit dem Dunkel ber Heimlichkeit der ſtaͤndiſchen Verhandlungen eine
der Hauptgefahren befeitigt werden, daß unfer beutfches Ständemefen aber:
mals nah Schloͤzer's Worten in feige und felbftfüchtige Randesverräthe:
FH übergehen und abermals das Vaterland in Schmach und Elend ftürzen
nnte.
Aber nicht blos für Werfchlechterung der Stände wirkt allzu leicht bie
Heimlichkeit. Auch die Miniſter verbeffert eine wahrhafte öffentliche ftändifche
Berfaffung und Verhandlung. Sie allein fichert erſt die Wahl der beften und
tüchtigften Miniſter, mie diefes oben ausgeführt wurde. (S. Brundgefes
VIH.) Sie begründet zugleich die unentbehrlichfle und weſentlichſte Verant⸗
mortlichkeit, die vor dem Richterſtuhl der Öffentlichen Meinung der Nation
und der Welt, biefer Öffentlichen Meinung, die doch wohl nur Thoren gering
ſchaͤtzen koͤnnen. Freilich auch die Minifterverantwortlichkeit ſcheuen Manche
und auch die Gruͤnder des neuen hannoͤveriſchen Verfaſſungsentwurfes. Ge:
ſchaͤhe dieſes zur Rettung jenes falfchen göttlichen unbefchräntten ober des⸗
potifchen monarchiſchen Rechts, oder aus Scheu vor ber wahren zeitgemäßen
tepräfentativen Verfaſſung, fo mollen wir die Beſtreitung diefer irrigen
Grundlage hier nicht wiederholen. (5. Grundgefes.)
Das aber wollen wir bemerken, daß es fürs Erſte ein großer Irrthum iſt,
wenn man glaubt, die Verantwortlichkeit bee Miniſter finde nicht In jedem
rechtlichen Zuſtand eines irgend freien aufgeklärten gefitteten Volkes aud) ohne
fpecielle Beftimmungen ftatt. Sobald die Miniſter irgend reshtöverlegende,
verbrecherifche, landesverderbliche Regierungsſyſteme und Handlungen des
Fuͤrſten ausführen, ja fo lange fie bei ſolchen Minifter bleiben und ſich alfo
nicht von dee Schuld reinigen, den Fuͤrſten mittelbar ober unmittelbar durch
ihren Rath oder ihr Schweigen zu denfelben verführt oder doch in ihnen unter:
fügt zu haben und deren Kortdauer noch zu unterflügen — fo lange find fie
vor dem Richterſtuhl der Hffentlichen Meinung verantwortlich, und Eein polis
tifch einfichtiges fittliches Volk befreit die Verantwortlichen von der Strafe
des Öffentlichen Vorwurfes, der Verachtung oder des Abfcheues, wenn fie, bie
es wiffen müffen, daß das Unrecht des Fuͤrſten aufhört, wenn er keine Mini:
fer findet, unter dem Vorwand, ihr unfittliches Bleiben fei heilfam, bie
BVortheile der Stelle fich zu erhalten fuchen. Ja die Minifter innen aud)
sechtlich vor Gericht als Miturheber, Gehilfen und Begünftiger beſtraft mer:
ben. Wenn der Despotismus diefes factifch verhindert, fo ift dieſes ebenfo bei
anderen Verbrechen der Fall. Mit dem Sturz ber bespotifchen Allmacht
47
a
40 Hegel (Neuhegelianer).
— —
—— *
rechtigkeit nicht blos die Bürger und den rar —*
auch den Thron, den Ruhm und bie Sicherheit, * Hett
ſchaft fuͤr ſich und ihre Familie. Sie gefährden fie ungleich md
old durch die zeitgemäße Wiederherftellung der Volksrechte, deren Berne |
gerung man fo rechtsungültig als verkehrt durch die Vorſchuͤtzung angrbüd
Rechte ber Familie begründen will.
Gewarnt wahrlich wurden wir durch eigene und fremde Gefhide
ſchrecklich genug! MWerden wir nun nicht endlich ehrlich huldigen der Gert
tigkeit, der wahren Öffentlichen Gerechtigkeit umferer Nation, ftatt jmn
verkehrten Theorien, die ja der gefunde Volksverſtand bereits ala vräkt
liche Erfindungen ber Rüge und uͤbermuͤthiger Willkuͤr, als Taͤuſchungt
und Berüdungsmittel ſchwacher Fuͤrſten und Voͤlker erfannt hat?
E. Welcker.
Hegel. Neuhegelianer oder die neueſten Entwidelur |
gender Degel’fhen Philofophie und Schule in ihren Bein
hbungen zu dem Öffentlihen Leben der Gegenwart fait m
legtverfloffenen fieben oder acht Jahren. An ſich betrachtet ein geringfüs
ger Zeitraum ; aber diefer Zeitraum erfcheint in mehrfacher Hinſicht als dr
fonders wichtig und folgenreich. Kinerfeits gehören demfelben mehrere Erz |
niffe an, mweldye auf das unmittelbare Verhältniß jener Schule zum mit
lichen Feben Bezug haben und durch ben Zufammenftoß bes Hegelianism |
mit jenem die praftifche Untauglichkeit oder Unanwendbarkeit veffelben fr
eine genuͤgende Löfung der verfchiebenen Probleme unferer Zeit — namentlit
—
-
Hegel (Neuhegelianer). 741
ber fo bedeutend in den Vordergrund getretenen religioͤſen und kirchli⸗
ch en Tagesfragen — viel eindringender, als es durch irgend welche theoretiſche
Polemik moͤglich geweſen waͤre, gezeigt haben; daher denn auch dieſe Phi⸗
loſophie und Schule zu der oͤffentlichen Meinung ſeitdem in «in gang
andere® Verhaͤltniß getreten if. — Andererfeits fällt in jene Periode das
für Preußen und fomit für Deutfchland fo bedeutungsvolle Jahr 1840, von
welchem an aud) die äußere Stellung jener Philofophie zu dem genannten
Staate eine durchaus veränderte ward, indem diefelbe mit dem in immer groͤ⸗
ßerer Entſchiedenheit hervortretenden, fchon früher erwähnten Verſuche, „fich
mehr herabzuſenken in die concreten Sphären des Lebens und die abfolute
Idee zur praftifhen Macht zu erheben”, fo völlig fcheiterte, daß fie,
die nur eben erſt ale fogenannte koͤniglich preußifche Hof» und Staatsphilos
ſophie bominirt hatte, plöglich zur ecclesia pressa herabfant und das Schick⸗
fal der Hekuba erlitt !). Zugleich-ift jedoch dieſer Umſchwung ober die Reac⸗
tion gegen biefelbe von der Art, daß auch der fonft entfchiedenfte Gegner ders
felben nicht umhin kann, im Intereſſe der höher flehenden und allgemeinen
hierbei in Stage kommenden Grumdfäge, namentlich der Preß⸗ und alas
demifchen Lehrfreiheit, diefer jegt unterdrüdten Schule, in ſoweit
das Recht auf ihrer Seite ift, eben fo entfchieden fi) anzunehmen. Uebri⸗
gens handelt es ſich bier überhaupt nicht um Einzelheiten und Perfönlichkei:
tm, fondern vorzugsweife eben um bie Principien und deren nothwen⸗
dige Confequenzen; und von biefem Standpunkt aus betrachtet möchte
es Baum je einen Zeitraum gegeben haben, in welchem für irgend eine philofos
‚ phifche Lehre eine entſchiedenere und rüdfichtslojere Darlegung der erfleren
und eine folgenreichere und rafchere Entwickelung der legteren flattgefunden,
als in dem genannten ber Fall gerosfen, der eben deshalb als einer ber lehrreich⸗
ften bezeichnet werden muß. |
Es tritt dies fofort hervor bei dem der Zelt nach erften bedeutenden
Ereigniß diefer Epoche, welches fogar in gewiſſer Hinficht feiner politifchen
Folgen wegen ein welthiftorifches genannt werben kann — ber Bes
ufung des Dr. David Strauß als Profeſſor der Dogmatik auf die Hoch⸗
fchule von Zuͤrich und ihren Antecedentien und Zolgen; ein Ereigniß, zu
welchen die neuefte Gefchichte in der Zeller’fchen Angelegenheit in Bern
einen merkwuͤrdigen, ebenfalls noch zu befprechenben Pendant geliefert hat.
Daß das Merk von Strauß „dans Leben Jeſu“ durchaus aus der
Hegel'ſchen Philofophie hervorgegangen, if ſchon früher nachgemwiefen, auch
von Strauß felbft (in feinen theol. Streitfchriften Heft III.) ganz offen zu⸗
geſtanden worben ; baher denn auch eine ziemliche Anzahl namhafter Hegelia-
ner ganz offen für Strauß Partei genommen hat, wogegen ſich nataͤrlich
an und für ſich nichts einwenden läßt. Ebenfo bekannt und evident iſt aber,
dag die Strauß'ſchen Anfichten im ſchroffſten Widerfpruch mit den Lehren
der hriftlichen Kirche ſtehen, ja diefe legtere geradezu negiren 2). Auch hat
1) „Modo maxima rerum, tot generis natisque potens — nunc trahor
exul, inops !“ " Ovid.
2) So Prof. Michelet im 2. Bande feiner Gefchichte der letzten Syſteme
|
|
M-ν HYUSL BUUJERLEINY) FTETUJTETIERL [EREE IYULUT»
In Zürich dagegen hatte es die nach der Julirevolution und
bildungen in der Schweiz zur Regierung gelangte liberale (oder vi
cale) Partei für ihre Zwecke entfprechend gefunden, den Dr. Sti
von ihr im Jahr 1832 geftiftete Dochfchule zu berufen. Manı
ben, daß die Tendenz diefer Regierung, welche fehr ausgezeichnet
in ihrem Schooße hatte (namentlidy den berühmten Rechtsgelehrt
einen der bedeutendften Schuler des Herrn v. Suvigny unb
des Legtern Lehrftuhl inne habend), im Allgemeinen eine lobens
die Hebung des Volkes in geiftiger Beziehung gerichtete war, dal
die Mechtepflege und das Volksſchulweſen (erftere duch Kell
ducd Scherr) fehr heilfame Reformen erhielten. Aber nicht mı
ift, daß dieſe Regierung fid) in den Mitteln und Wegen durchaus ı
mentlich in Bezug auf die Strauß’fche Vocation, und zwar eben d
fie dabei jene oben ſchon erwähnten falſchen politifchen und fla«
Princhpien in Bezug auf das gegenfeitige Verhältnig von Sta
und Univerfitdt praktiſch geltend machte, welche nach der H
der Philofophie, wobei zugleich bie Hegelianer Roſenkranz, Bat
Benary ale Anhänger Strauß’d genannt wurden. (Mergl. die !
von Kahnis inber Schrift: Dr. Ruge und Hegel, 1838, &. 99 ı
clarationen Michelet’s , „ber genau fo, wie wenn Straßenbube:
gelei arrangiren wollen, Roſenkranz zuruft: Ber zu mir! un
Du haft Dich zu mir gehalten, ich will mich auch zu Dir balten
bat Dr. Meven in feiner Streitfchrift gegen H. 2eo ©. 37 wor
„Ich billige Strauß vollflommen und halte feine Zendenz vollkom
lang mit Hegel.” Diefer Dr. Menen ift bekanntlich erſt vor K
Maieftätsbelcidigung auf bloßes fubjectives Meinen tändiger R
Hegel (Neuhegelianer). 743°
den Staat vergötternden Philoſophie allerdings die allein richtigen find, obwohl
fie ale grundfalfch bezeichnet werden müffen. |
Es ift ſchon früher darauf hingewieſen worden, daß biefe Philofophie,
ſowie diefelbe das Weſen der Religion und namentlich bes Chriftenthums
durchaus verfennt (was auch kuͤrzlich erſt in der trefflichen Schrift: der deut⸗
fche Proteftantiemus, feine Vergangenheit und feine heutigen Lebensfragen
u. f. w. nachgewieſen ward)*), fo auch das Wefen der Kirche und das
Verhaͤltniß berfelben zum Staate und Volksleben ganz falfch auffaßt. Statt
einzufehen, was body als Thatſache der Geſchichte vorliegt, daß die Kirche eine
in der Natur des Menfchengeiftes mit berfelben Nothwendigkeit wie die Fa⸗
milie und der Staat 'gegründete , namentlid) keineswegs erft durch den Staat
geftiftete und ihrer Natur nach eine Autonomie in Ihren inneren Angelegen-
heiten mit Recht anfprechende Gefellfchaft ift*) und daß dies Alles vorzugs⸗
weife von der hriftlichen Kirche gilt, die viele Jahrhunderte Älter als je⸗
der der heutigen Staaten ift und deren Verfaffung während bes ganzen Mittels
alters als Typus der damaligen politifchen nachgebildet ward) — wird
diefe Kirche von dem Hegelianismus ganz en bagatelle, al& eine bloße unter:
geordnete Staatsanftalt, kurz à la Napoleon behandelt, — man kennt
ja das Napoleon’fche Prineip, nach welchem „bie Erziehung in der Hand
des Staats und für den Staat, die Kirche in der Hand des Staats und für
den Staat’) und ebenfo „auch die Wiſſenſchaft wie die Kirche es ſich
gefallen laſſen muß, in das Syſtem bes Staats verflochten und * deſſen
Zwecke, ſelbige moͤgen geiſtig oder leiblich, himmliſch oder irdiſch ſein, henutzt
zu werden“7). Nach dieſem Princip nun verfuhr die Zuͤricher Regierung,
indem ſie die bisherigen hoͤhern Lehranſtalten ſaͤmmtlich aufhob, namentlich
auch das Chorherrenſtift zum großen Muͤnſter, welches ſeit mehr als tauſend
Jahren beſtand (Kari der Große fand es mit einem Beſtand von 12
Chorbrädern vor, verboppelte deren Zahl und erweiterte die Beflgung diefes
älteften Denkmals der Cultur in der Schweiz bedeutend, daher bie damit
verbundene Gelehrtenfchule ihm zu Ehren Schola Carolina genannt ward).
Dies Chorherrenftift, von welchem im Fahr 1921 die Majorität feiner Glieder
fich für die Reformation erklaͤrt und diefe legtere fehr gefördert hatte, deſſen
3) Von einem proteft. Theologen (bem freifinnigen Prof. Hundesha⸗
gen da en der jetzt nad Heidelberg berufen worden). Frankfurt 1847.
4) Pfizer, Gedanken uͤber Recht, Staat und Kirche. I. S.5 ff. Schmitt:
henner, Zwölf Buͤch. v. Staat. I. ©. 2. 320 ff. J. Schön, d. Staats:
wiſſ. S. 10 ff. 229. 242 (ed. 2). Dahlmann, Polit. S. 310 ff.
5) Wachsmuth, Europ. Sittengefh. I. S. 189 ff.
6) Seidenftider, Krit. Literatur des Napol. Rechte. I. S. 155.
7) Daf. &. 321. — (Man vergl. damit bie eigenen Aeußerungen Napo⸗
leon’s über Einrichtung und Disciplin der Univerfität in ben 1833 bei F.
Dibot zu Paris erfchienenen Opinions de Napoleon sur divers sujets de po-
‚Jitique et l’administration etc., die wir im Auszuge in Bran’s Minerva
1833, Juni, &. +17 mitgetheitt haben.) Vergl. auch ben Artikel Gallicanifche
Ku und Welder’s Rechts-, St.= u. Geſ.-Lehre T. ©. 366 ff. ; vgl.
jene :Oerujuug AU hinoern ” ); vergedens HALLE AUG) DIe THE OLOG
der Univerfitdt Zürich felbft proteſtirt 1%)! Die Regierung bı
berfelben. Dir Bürgermeifler M. Dirzel (ein übrigens |
werther Dann) erklärte diefe Berufung „für eine wahre We
(angeblich) völlig fintiondr gewordene reformirte Kirche‘, |
(Hirzel) nad) der ſtrengſten Prüfung davon überzeugt fei, daß
ſicht mit dem Chriftentyum nicht in Widerfprudy ſtehe, wi
Strauß als den Prediger des Geiſtesglaubens dem große
Ulrich Zwingli ganz gleidy ftellte !! — Wir feben alfo
fo entſchieden undhriftliche und unproteflantifhe oder Napo.
Hegel'ſche Bevormundungsprincip, welches die Kirc
Magd des Staates macht und zwar noch dazu in einer conftit
Republik fid geltend gemacht! Man wird hierbei ganz um ei
hunderte in jene traurige Zeit zurüdverfest, wo fogar Philofoph:
noza 11) und Hobbes!?), lehrten, daß die Religion nur durch den
Obrigkeit fanctionirt werde, legtere nah) ihrem Gutduͤnl
Schrift auszulegen und ben Unterthanen den ganzen Gottesdier
ben das Recht habe; oder in die Zeiten der weftphälifchen Friebe:
gen, wo proteftantifche Fuͤrſten es für „unmiderfprechlicy‘‘ er
einem jeden Reichsſtande freis und bevorftehe, feine von G
vertrauten Unterthanen, ohne einiges Abfehen, auf ebe:
in welhem er vor feine ſelbſteigne Perfon die Seligkeit zu
getraue, zuleigen und zu führen, zumal fich nichts meh
8) Sechszehn diefer Schriften finden fih in der Hall. Allg. €
Auguftheft —— By. auch bie Deutfche Allg. Zeit. 1832. Str,
Beriüinninen 1439 — Hl Baranf anartranen mar Hark
4—
Hegel (Neuhegelianer). 745
daß der Unterthban feiner Obrigkeit und feinem Herren folge
und feine Religion amplectire”, wie ein Reichsſtand damals behauptete "I! !
Es handelt fich hierbei, wie ſchon angedeutet, um das Princip! Ge:
fieht man einmal, nad) Hegel’fhen Grundfägen, der Staatsgewalt das
Recht zu, nad) ihrem fubiectiven Gutdünfen der theologiſchen Facultät,
weiche die religiöfen Volkslehrer zu bilden hat, folche Lehrer aufzudrin⸗
gen, welche die vom Gouvernement beliebte ſogenannte Aufklaͤrung pro
pagiren follen,, während fie not oriſch die Baſis des Kirchenglaubens unter»
minirt baben,, fo muß man dann aud) confequenter Weife im entgegengefeg-
ten Falle, wenn die Regierung etwa a la Wöllner den orthoboreften Ob⸗
ſcurantismus gelehrt und verbreitet wiſſen will, ihr ganz diefelbe Befugniß
einräumen. Ganz abgefehen davon, daß die Hirzel’fche Anficht in Bezug
auf die angebliche Vereinbarkeit ber Strauß'ſchen Auffaffung des Chri⸗
ſtenthums mit dee chriſtlichen Kirchenlehre eine offenbar irrige war 1%), Liegt,
wie ſchon angebeutet, der Dauptfehler darin, daß bie Züricher Regierung ale
eine weltliche Behörde eine Machtvollkommenheit, die ihr in diefen Ge:
bieten gar nicht gebührt, geltend gemacht 1°), das ganze Verhältniß der Uni:
verfität zur Kirche und zum Staat unrichtig gefaßt und das Eigenthümliche
der thbeologifchen Facultät, welche grundweſentlich und zumächfider Kirche
angehört 10), ganz ignorirt hat, ein Punkt, auf welchen wir bei ber Befpre:
hung des Bruno Bauer’fhen Falls noch näher zuruͤckkommen merden.
Was Krug in Bezug auf das Verhaͤltniß des Staatsoberhauptes zur Kirche
fagt 7), daß ein Regent als ſolcher in disfer Hinficht nichts iſt als ein bloßer
Late, gilt ganz ſo in Bezug auf die Wiffenfchaft, in deren Gebiet er als Regent
fo wenig eine Stimme hat als jeder andere Idiot!s). Seine fubjective
Anficht darf weber in dem einen noch in dem andern Fall ſich als maßgebende
13) Bl. Feuerbach, Die Längft entfchiebene Baage über d. ob. Episko⸗
palrccht. 1823. ©. 55. Deffen Kleine Schriften. 1833. II. &. 29.
14) Dr. Str. hat betanntlic einige Jahre fpäter felber eine „Chriftiiche
Glaubenslehre“ herausgegeben, in Bezug auf deren Darmonie mit dem
N man nur an ben darin auf das Entfchiebenfte ausgefprochenen und
gehaltenen Gegenſatz zu erinnern braucht zwifchen den ‚Stäubigen“ und
den „Wiffenden”, weiche die „Sache der Kinder am Geifte”, den Glaus
ben.von ſich gethan und benen ber Dualismus, den das Chriftentyum zwifchen
Welt und Gott, bem Dieffeits und Jenſeits anerkennt, eine Thorbeit (I.
22. 355). Eben bafeibft (677) wird gelehrt, die Menfchen wären cben aud)
nur wie bie andern Zhiere, Pflanzen 2c. aus der Erde bervorgewadfen, fo wie
auch (Vorw. VI) jebe andere Weltanfiht als diefe autotheiftifche ald Hetero⸗
nomie, Unpbilofophie bezeichnet wird.
.. 19 „Der Staat, fo hoch er ftcht, bat nicht allein die Gewalt; durch
ihn geht eine Ratur der Dinge, bie er zuvor anerkennen muß, bamit fie ihm
bebingt bienes cr kann meiftern an ber Äußerfi Bewegung und Darftellun
ber Wiffenfchaft, ohne ihren Inbatt abändern zu können; vor Allem if
die Religion dem Staate überlegen.” Dablmann, Polit. S. 310.
‚16) Shleicrmader, Weber Univerfit. S. 73. Deffen Reben üb. d.
Relig. ©. 241. (ed. 4. Anm. 22 zur 4. Rede.)
. I7) Kicheneeht S. 145.
18) Bol. Scheidler, Die Idee der Univerfit. S. 100,
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JEVE VIEUEIUJL IV TV TDENL ENLJETTIIE WDeriuTVung VETIEIDEN 5
Andenken an jenes herrliche „altfrisifche” diectum classicu
legenheit aufzufriſchen, wie dieß bekanntlich erfl vor Kurzen
befprochenen trefflihen akademiſchen Rede des Deren von R
Fall getvejen ift??).
u —
19) Andre&’s Hesperus 1829. Nr. 15. ©. 60.
20) Ih. I. Zit. II. $. 1 ff. 5. 55. 73. ff
21) Vgl. Bretfchneider's Sendfchreiben an einen Staa
1. ©. 7. Bran’s Minerva 1835. April. ©. 72.
22) Bol. Deutfche Allg. Zeit. Nr. 32. v. 1. Febr. 1847. $
3) Diefe Rede (in Leipzig bei Brodhaus bef. cerfchienen)
nach Inhalt noch in ihrer Form etwas irgend Verwerfliches.
dic große Wahrheit, dab das Staatsoberhaupt fih durchau
Religionsangelegenbeiten des Volkes cinmifchen fol, und fagt, dc
zufolge von den Goncilien und Synobden einer befangenen Geift
gensreichen Wirkungen zu erivarten find. Daß die fogenannte „,|
diefe Rede fofort als cinen verftedten haͤmiſchen Zadel befanntı
Bifcher Regierungsmaßregeln deutete, Tann Hrn. v. R. unmöglich
fendern etwa nur Denen, welche durch Aufrechterhaltung ber Cenſi
find, daß es eine „ſchlechte“ Preffe giebt, weil die Guten und
aus Ekel vor der Bevormundung zurüdzichen. Dies bat Arndt
feinee Schriften für und an feine licben Deutfchen ©. 628 ff. |
gewiefen, und fehon vor 40 Jahren Hr. v. Gens in feinem meltb
fhrciben an den verftorbenen König von Preußen (worin es I
beißt : „bie einzige heutzutage erlaubte Schmeichelei gegen einen
daß man ihn für würdig halte, die Wahrheit zu vernehmen‘
Entfchuldigungsfchreiben der Berliner Akademie (ſ. Deutfche A
Nr. 63. vergl. Nr. 93) ift von der gefammten deutſchen Preffe
des Rhein. Beobachters, der die Unverfhämtheit gehabt bat,
einen „Gaſſenbubenſtreich“ [gaminade] zu nennen ıveral. We—
Hegel (Neuhegelianer). 747
Allerdings wird Niemand das Recht der Regierung in Abrebe ftellen,
durch Sorge für die Verbreitung der wiffenfhaftlihen Bildung in-
direct auch die rel igioͤſe Aufklärung des Volkes zu fördern, wovon die
guten Wirkungen fi unzweideutig in ber Gefchichte gezeigt haben 29; allein
legtered war nur da der Fall, mo die Regierung ber ſtillwirkenden Macht der
nicht zu entfchulbigen babe). — Wie oft find fchon feit Sarl von Moſer's
und? Schloͤzer's Zeiten bie Klagen über die „deutſche Hundsdemuth““ und
die „Staatslakaiengefinnung” unferer Gelchrtenwelt ertönt! welche Ichtere das
Ihrige dazu beiträgt, uns Deutfche im Auslande noch mehr, als wir es feit den
Garlshaber Beſchluͤſſen (welche W. von Humboldt, f. Schlefier’s Bios
graphie U. &. 391, für „Fhändlih, unnational, ein dentendes Bolt
aufregend “ erklärte) ohnehin fchon find, verächtlich zu machen (vergl. Welcder,
die Vervolltommnung der organ. Entwickelung des beutfchen Bundes 1831 ©. 51).
Da dies leidige Ereigniß mit der Verbffentlichung des Patents v. 3. Febr.
coincidirte, fo würde dies ein fhlimmes Omen für die Entwidelung bed con⸗
ftitutionellen Geiſtes und Lebens in Preußen fein, wenn niht Dahl mann's
Wort tröftete: „Bei allen Völkern, die es zu etwas Großem in der Welt ge⸗
bracht, hat man nicht die Gelehrten zuerſt genannt, ſondern Diejenigen, die ein
reiches Wiffen und vaterlänbifhe Tugenden ausprägten” (f. Dahl:
mann’s erften Vortr. in Bonn 1842). Die deutfchefte Tugend ift aber freie
WBahrheitsliche und freies Ausſprechen berfelben (mie ſchon uns.
fere Sprache felbft in dem Ausdrude anbeutet: deutfch mit Einem reden),
der „Männertrog vor Königsthronen, von bem ein Luther,
Thomas Mofer, Schlözer, Fichte u. A. befeelt waren, und ber Gott⸗
lob! auch jetzt noch nicht in unferer (nicht:preußifchen) Gelehrtenwelt Yu
ausgeftorben ift, obwohl man faft feit einem Menfchenalter eifrigft darauf hin⸗
gearbeitet hat. Auch in dem preußifhen Bolke ift_ derfelbe keineswegs ver⸗
fhwunden, das haben die preußifchen und rheinifchen Stände, die (jest freilich
verbotenen) Bürgerverfammlungen, die Weigerung mehrerer Städte, die uerleb-
ten Provinzlallandtage zu befchicten, und bie bekannten Vorfaͤlle in Königsberg,
Magdeburg, Berlin und Breslau bewiefen, wo bie Magiftrate und Stabtver-
ordneten zu den Eöniglichen Rügen und Verweiſen nicht ftill fchwiegen,, fonbern
ihre Recht in freimüthigen Immebiateingaben verfochten; vergl. Biedermann,
Unf. Gegenwart u. f. w. Bb. V. 1847. ©. 248. — Doc) feien wir nicht unge-
recht gegen bie preußifchen Gelehrten, da namentlich unter den afabemifchen Leh⸗
rern —* ſo manche auch durch aͤchte Freiſinnigkeit ausgezeichnete Maͤnner fin⸗
den, wofür es genügen mag, an das Bonner Triumvirat Arndt, Dahlmann
und Welcker, ferner an die Königsberger Lobed, Burbah, Rofens
franz und Sache, fo wie an bie tüchtigen Philologen Meier in Halle unb
Haafe in Breslau, auch an bie Theologen Dav. Schulz und Wegſchei⸗
der, fo wie an das mannhafte Gutachten der philofoph. Zacultät in Berlin
in Sachen des Dr. Nauwerk zu erinnern. Gewiß wird auch der Anfang des
conftitutionellen Lebens, den Preußen nunmehr endlich (tandem aliquando!)
gemacht hat, auf die gefammte Gelehrtenwelt in diefer Hinficht günftig zuruͤck⸗
wirten und namentlid in berfelben einen ächten politifchen Gemein⸗ und Gor:
porationsgeift erwirfen, Eraft deffen Einer für Alle und Alle für Einen ftehen-
Dann wird man auch bei den Gelehrten-Corporationen nicht mehr an eine be=
kannte Xenie, oder an das befannte Wort Arndt’s denken: „Aber ich begreife,
wie Alles impertinent gelehrt und doch fo bumm ift. dab man Mauern
und Thore damit einrennen koͤnnte!“ Geift der Zeit 1807 ©. 27 (vergl.
Scheidler, —F 3. Ausg. S. 160).
24) Bergl. Schoͤn's Geſch. und Stat. d. Civiliſ. S. 254, 259, 272,
Scheidler, Idee d. Univ. S. 17. Deſſ. Hodegetik S. 137, 211 (ed. 3).
lichkeit eines mächtig beftimmenden Einfluſſes auf den Kirchen
der Wiffenfchaft eine Doppelte Pflicht auf, hierbei die in Der Mat
liegenden Schranken nicht zu Überfpringen , woran Weldier |
Jahren 2°) und ebenfo neuerdings mehrfach gemahnt Hat 27). U
die Zionsmwächter lächerlich, welche (mit Zeffing zu reden) fofer
fen, fobald fie etwas im Dunkeln ſchimmern fehen, ohne zu unter
am Ende nicht gar ein Streifchen Nord licht geweſen ſei. Aber
ift die Pflicht jedes Gliedes einer Kirche, das Seinige zur Erhaltı
lichen Geſellſchaft beizutragen, eine ebenfalls fonnenklare. G
Zweifel darüber, ob eine wiffenfhaftliche Richtung ber T
Princip des vernünftigen Fortſchritts gemäß oder wirklich deſtr
Kirche iſt, fo hat hierüber nicht der Staat oder irgend eine weltli
fondern eben nur zunaͤchſt der Lehrftand der Kirche ſelbſt unl
Wiſſenſchaft felbft theils in ihrem allgemeinen Organ de
theils in ihren pofitiv anerkannten fpeciellen der akademiſchen,
theologifhen Facultäten zu entfcheiden?®), gerade fo wie
Juſtizcollegien, und nicht etwa bie Minifter ober andere Behoͤrt
die Regenten felber!), einen entftandenen Streit, obirgenb ein
das Forum jener Behörden gehöre oder nicht, felber zu entfcheiden
dem Straußifchen Fall bedurfte es übrigens keiner befonderen X
ber Widerfpruch feiner Lehre gegen das wirkliche Chriſtenthum
fiructive Princip berfelben mar durch zahlloſe Schriften (wobei ;
daß auch Fein einziger nambafter fog. Rationalift für Strauf
nonmen) fattfam erwiefen, ganz notorifch und fomit auch nach d
kanoniſchen Recht (c. 8.X de cohab. cleric. c. 3 X de test.) ei
[ax —% 0. - w.o . “. an .. 4 ou. . a nu .s 0
Hegel (Reuhegelianer). 0
Beweisfuͤhrung nicht mehr bedürftig ; namentlich hatte auch bie hierbei allein
competente theologifche Facultaͤt ber Univerfitdt Zürich fi) wider Strauß’s
Berufung erflärt, wie [yon bemerkt worden.
Der weitere Verfolg biefer Sache gehört nicht hierher und iſt auch bes
kannt genug. Die hartnddig an ihrem (Mapoleon’fchen oder Hegel'ſchen)
Princip fefthaltende Regierung wurde durch den „Putſch“ vom 6. Dec. 1830
geftürzt; ein Ereigniß, das uͤbrigens nicht eigentlich eine Revolution zu
nennen ift, da weder die Beherrſchungs⸗ noch bie Regierungsform des Can»
tons Zürich dadurch geändert ward, ja nicht einmal das eigentliche Organ des
dortigen Souverains (des Volkes), naͤmlich der Große Rath (der ſich erfl
fpäter freiwillig ſelbſt auftöfte und wieder ergänzte), fondern blos das Regie
rungsperfonal, was fonady nur dem erzwungenen Abtreten ober Sturz eines
Minifteriums in conftitutionellen Staaten zu vergleichen ift, was manchmal
(exempla sunt in promptu) eine hoͤchſt wohlthaͤtige und fegensreiche Sache iſt.
Bald nad) diefem Ereigniſſe fand in Preußen bie ſchon angedeutete
Veränderung in der dußern Stellung ber Hegel’fhen Philofophie und Schule
flat. Der Minifter v. Altenftein, welcher Degel nad) Berlin berufen
und ſich fortwährend als entfchiedenften Goͤnner feiner Philoſophie zeigte (wie
ihm denn die Halleſchen Jahrbücher 1838. 1. Bd. ©. 1204 den etwas vers
wunderlich klingenden Lobſpruch ertheilten: „daß er die genaueſte Kenntnig
nicht 5lo8 der Terminologie, fondern auch [sic!] der Begriffe der
H.'ſchen Philofophie habe!) — biefer Diinifter , defien übrige große Vet⸗
dienfte um die Wiffenfchaften Niemand in Abrede ftellen wird, farb im Fruͤh⸗
jahr 1840, und an feine Stelle kam bald nach dem fo folgenreichen Regierungs⸗
wechſel Hr. Eichhorn, ber bekanntlich früher unter Stein’s Centralver⸗
waltung (morüber er eine Sehr intereffante Schrift veröffentlichte) und ebenfo
als intimer Freund von Schleiermadher, v. Savigny, Niebuhr
fi) einen fehr guten Namen gemacht hatte; übrigens in der neuern Zeit fehr
entfchteden Partei für die pofitiv e Richtung ergriffen zu haben ſchien. An
und für ſich betrachtet wird man es feinem Staatsmann verdbenfen, am we
nigften einem Miniſter der geiftlichen Angelegenheiten, wenn er bie beftes
hende Kirche in ihren Rechten f[hügt, zumal wenn, wie in Preußen und
allen lutheriſchen Staaten der Fall, nun einmal die Staates und Kirchens -
getvalt vereinigt find. Ebenſo war es offenbar ein durchaus ale gluͤcklich
zu bezeichnendes Ereigniß, daß jene Periode der Begünfligung der Hegel'⸗
ſchen Philofophie endlich aufhörte, und zwar nicht nur für die Kirche, fondern
auch für die Wiffenfchaft und den Staat felber; denn, wie Schleiermacher
richtig fagt: „es giebt nichte Verhaßteres, nichts , was gutes Vernehmen und
gegenfeitiges Vertrauen fo fehr Schwächen muß, alg wenn eine Regierung
Parteinimmein Sachen der Philofophie, indem fie eins oder das
andere der flreitenden Spfteme ausfchließt ober zurhdftöße” 2°). Als nun
im October 1840 der Prof. Stahl aus Würzburg auf den Kehrfluhl von
Gans berufen ward, fo wurde dies fofort von der Hegel'ſchen Partei als
ein Zeichen gebeutet, daß ber Minifter gegen die akademiſche Lehr⸗
29) Weber Univerfitäten S. 98,
Ed ru 9°") „als ei Fu ec näleberbleiäf
ee
* i . J ro, ” a j
ph —9 — 5— Sehe ee Lane
30) keipz. Allg. 3eit. 1840 Nr. 331 und 334.
31) : 4 bem Schreiben aus Berlin v. 26. Ron.
32) 286 des Hamb. Gorrefpondenten v. 3. Dee. 1840. Ebmi
eclatant, ie biefe Berufung Stahl's dem bisher in der MWiffenfihart m
errfchenden freien Geiſte gegenüber tritt, bat ſich auch die Stimmum x
Studirenden wie der ſich in der Philoſophie Intereſſirenden dagegen geäußert. —
Es befteht gegen Stahl bereits eine foftematifde Oppofition, mi
feinem eimfeitigen Parteiftreben auf das Kräftigfte entgegen zu treten aelme
ift. Gebe Werlesung des freien pbilofopbifchen Geiftes wirb durch Zeichen 8:
Mißfallens beftraft, und feine'Vorlefung ift eigentlich nichts als der Kam !
eines Einzelnen gegen eine entſchiedene Majoritaͤt.“ Dann folgen eine Iizs
Invectiven gegen Stahl und hierauf: „Und biefen Mann, biefen geiftigt
Sohn Haller’s, bat man zum Nachfolger von Gans gemacht, beffen kr
licher freier Gift, beffen gluͤhende Beaeifterung für die Freiheit noch fo frie
in dem Unbenten ber Studirenden lebt, ber fo auf Händen gefragen we
ber Bebeutung batte fir die ganze Hauptſtadt! Es ift fein Wunder, bee zer
biefe Betrachtung einen bittern Eindrud auf bie, Gemuͤther ber Jugend madt
Aber laffen wir uns badurch nur nicht irre machen, freuten wir uns viel
baf ein fo entfchiedbener Geift ber Oppofition bei uns teae ift, an dem die I
action nothwendig feheitern muß. — Bis jest follen + Studenten bei Hm. &
belegt haben. Die übrigen Zuhörer (gegen 100) find nur um ber Dypefinir
willen ba.’
3) Bran’s Minerva, Januar, 1341. ©. 153 f.
4) „Jene machen Partei, welch unerlaubtes Beginnen !
Aber unfre Partei — freilich verficht fich von felbit
Goethe.
„Hegel (Meuhegelianer). 751
auf welche es nur zu bedauern iſt, daß ein alabemifcher Lehrer Eein Briareus
ift, um gegen folche ungeladene Säfte oder Hoſpitanten „Haus recht“ zu
brauchen und fich ihrer brevi manu zu entledigen®®). Ueber alle Maßen laͤcher⸗
Lich iſt die Bezeichnung Stahl’s ale geiftigen Sohn Haller’s, da der-
feibe im 2. Bd. j. Rechtsphiloſophie eine hoͤchſt ſcharfe Kritid der Hal⸗
ler'ſchen Patrimonialtheorie geliefert hat 3°), ſowie fpäter eine nicht minder
fharffinnige und gelungene Widerlegung der Lehren Maurenbreher’s?T),
weicher Letztere jene Bezeichnung In der That verdiente, übrigens merkwuͤr⸗
diger Weife in feinem berüchtigten Buch: „Die deutfchen regierenden Fuͤrſten
und die Souveränetät”’ (1839) die Hoffnung, daß feine Patrimonialtheorie
wiederum die herrfchende werden möchte, zum großen Theil auf die Mitwir⸗
kung der — Hegelfhen Philofophie flüge (!), indem jener Theorie
(S.15) „buch Hegel wenigftens ein philofophbifch er Boden gegeben
worden iſt, deſſen bisheriger Mangel allein, bei dem zeitherrichenden Geſchmacke
am Philoſophiſchen, genug geweſen ſein mag, es ſo ſehr, wie der Fall zu ſein
ſcheint, um Credit und Anſehen zu bringen“ (!!). Gleichergeſtalt hat Stahl
ſich auf das Entſchiedenſte gegen den theok ratiſchen Charakter des chriſt⸗
lichen Staates ſowohl in Bezug auf den Urſprung des fog. göttlichen
35) Ucberhaupt muß man fich durchaus gegen das Princip erklären, daß
Studenten fib in öffentlichen „Demonftrationen’’ bei den Streitigkeiten ber
Meifter in der Wiffenfchaft oder Gelehrtenrepublik betheiligen. Treffend bat
fhon Thib aut (über die fog. hiſtoriſche und nichthiſt. Schule 1838 im Archiv
uf. d. civ. Praris Bd. XXI. Heft 3 ©. 34 f.) geſagt; „Der Zuhörer, noch un:
bemanbert in bem Lehrfach, hat im Ganzen Eein gereiftes Urtheil, alfo ift fein
Lob mie fein Tadel etwas fehr Schwaches. Ic habe meinen Zuhörern, ohne
daß fie unwillig wurden, mehrfach laut vom Katheber herab gefagt: Euer jetziges
Urtheil ehrt und ſchreckt mich nicht viel.” — Es war daher durchaus ein Miß⸗
griff, daß Mar heineke im März 184%, ale ihm bie Hegeliancr zu feinem Ge:
burtötage eine Nachtmuſik gebracht hatten, fie förmlich wegen diefer „Manifeſta⸗
tion”, ja „Demonſtration“ belobte ! (&. 2. Beil. 3. ZH. Zournal Nr. 90 v. 28,
März 1844). Mit fehr treffenden Worten hat dagegen Schelling ein paar
Sabre vorher bie akademiſche Jugend vor folchem erfahren gewarnt, dabei
aber ausbrüdlih anerkannt, „baß e& um eine Univerfität erft dann gut ſtehe,
, wenn fih in ihr eine harattervolle Jugend und ein Achter wiflenfchaft:
Ude Femeingeiſt bildet” (vergl. Frkf. O.⸗P.⸗A.⸗Zeitung v. 8. Decbr. 1842,
eilage).
36) Seine ſchneidende Polemik leitet er mit den Worten ein: „Haller's Re⸗
ſtauration hat in Deutſchland vielleicht am meiſten Aufſehen erregt, obwohl
fie die werthloſeſte von allen Schriften dieſer (tontrerevolutionaͤren) Geſin⸗
nung ift, fo daß fie meber. das enorme Lob ihrer Partei, noch die enormen
Vorwürfe ber despotifchen Gefinnung, bie ihr gemacht wurden, wirklich verdient.
Haller ift der Rationalift unter ben contrerevolutionären Schriftftellernz er vers
folgt nicht, wie die Andern, lebendige und mannichfache Anfchauungen, fondern
führt gleich dem Naturrecht einen oberften Sag mit logiſcher Kolgerichtigkeit
dur alle Verhältniffe dur. Sein voluminöfes Werk ift in der That bei
Weitem ärmer an Gedanken als eine Eleine Brofchüre Ad. Müllers. Es be:
5 dieſe ganze Maſſe auf einem Paar einfachen und nicht ſehr bedeutenden
Saͤtzen und man wird die vollkommenſte Einſicht in dieſelbe erhalten, wenn
man dem eigenen Motive Haller's nachgeht.“
37) In Richter's Jahrbuͤch. V. ©. 97 ff.
Rechts der Fürften, en die ehee —
ala rent
\ bechefißtigenben —
—* der die Ben Dr mus in —
iii im Dienf der ©. 5 Banden, Deefümnäpten ve
arte — * erclufive Weſen * Unweſen und sähften, —* nur —*
im Gegentheil unter ihren Mitarbeitern eine Anzahl ausgezeichneter Gelehrten,
bie der H. Philofophie nicht nur nicht zugethan, fondern im Gegentheil geger
biefelbe ganz indifferent, wo nicht feindlich gefinnt waren und bei denen ned
weit weniger von einer Oppofition gegen bie preußifche Regierung und dat
Chriftenthum im wahren Sinne die u fein fonnte. Es genügt bier, a
die Namen Jac. Grimm, Dafe, Göttling, Drovfen, Warnti:
nig, Witda, Bülau, Bluntfchli und jelbft Leo zu erinnern , welde
ſaͤmmtlich zu den erften Jahrgängen Beiträge geliefert haben. Auch maren
diefe Jahrbuͤcher Anfangs fo wenig in Oppefition gegen Preußen , daß fie die
übrigen Deutfchen nur in der allgemeinen Annahme oder dem Glauben an
eine auch in ihnen vertretene Eönigl. preußifche Hof: und Staatsphilofephi
auf das Entfchiedenfte beftärkten. So ließ fih 5. B. Arnold Muge im.
1838 Nr. 50, ©. 1199 bei Gelegenheit einer Rec. von Leo's Sendſchreiben
an Görres über deſſen Athanafius auf eine Weiſe vernehmen, die nicht bies
wegen des Gontraftes mit ben fpätern Anfichten, fondern auch * und fuͤr ſich
zu merkwürdig iſt, als daß wir bier nicht wenigſtens die Hauptſtellen in Er:
innerung bringen follten. — Es ift darin die Rede von der fran zoͤſiſchen
Revolution und Leo's Furcht, daß der deutſche Liberal ismus ebenfalls
zur Revolution fuͤhren werde.
Pe — —
38) Mechte: und Staatölehre 1846 ©, 156. f.
39) Deshalb polemifirte auh Huber in feinem Sanus eutfchieben gegen
St. 1845 9. XII. S. 820.
EN
Hegel (Reuhegelianer). 7583
„uns Preußen”, fagte nun A. Ruge, „geht die Sache nur bem Bes
griffe nah an. Es muß ein für alle Mal von Preußen biefes Geſpenſt ab⸗
gewendet werben, weil bier alle Bedingungen fehlen, bie es fürchten lafien koͤnn⸗
ten, dba bei und die Regierung fortdauernb in ben Proceß der Zeit eingeht und
wefentlich die hoͤchſte Sntelligens bes Landes zu ihrem Dienfle verwendet und
felbft darftellt. Alle freifinnigen Einrichtungen, die Gemeinſinn und Einheit des
Staatöbewußtfeins hervorrufen können, von der Stäbteverfaffung bie zur Milt-
tärorbnung, in welcher Jeder fich bem Allgemeinen zu wibmen bat, find frei-
willig durch die Regierung gelommen; und es bat fich 1830 deutlich genug ges
zeigt, daß Preußen keine Revolution zu fürchten bat. Der Grund ift gang
einfach der, daß Preußen im Princip der freiwilligen Gntwidelung, dem
Princip der Reformation, bie Garantie gegen gewaltfames Forttreiben befigt.‘
„Erſt muß eine allgemeine Werunreinigung , eine große Schuld über Wort
und Regierung gefommen fein, bevor eine folhe Blutwäfche nothwendig
wird; erft müßte z. B. eine folche bodenlofe religidfe und politifche Tyrannei,
wie fie in ben willtürlihen und finnverwirrenden Gedanken unferer Revolutio-
näre liegt, unfer yanzes freies Leben und Wiffen mit ihrem vergifteten Rachen
verfchlingen, erft uns Alle, die wir den Kopf gerade zwifchen den Schultern und
das Herz auf ber rechten Stelle haben, zu Boden fchlagen, erſt diefe Gerechtigkeit
und Freiheit brechen, die wir genießen, erft Zucht und Bann der Priefter, erft
den Uebermuth des rohen Adels über uns bereinführen, erſt jede Tyrannei ver⸗
wirffihen, ehe der deutſche Geift in die Roth der Franzoſen kaͤme, bie fie
ur Revolution trieb. Diefen Tag werben wir nicht feben, meine Freunde, unb
jeder freie Dann in Preußen wird dazu thun mit Wort und That, daß unfer
Rationalbewußtfein immer inniger die Segnungen ber Gegenwart fchäsen
und unfer geiftig und fittlich hohgeftelttee Staatswefen mehr und
mehr erkennen und lieben lernt. Die thörihten (!?) Kategorien bee mecha⸗
nifhen und organifchen Staates, der Bureaufratie und (sic!) bes
Beamtenftaates, finden bier gar keine Stätte. Der Staat ift
ber objective in der Wirklichkeit ausgelegte Geiſt, er tft weder eine Mas
fhine, noch ein Organismus (!?), er ift ein Bewußtes, ein Sittliches,
und wenn es wirklich wahr wäre, daß die Leo’fchen Abftractionen bes organi-
fhen und mechanifchen Staates fo gang und gebe wären, als er meint, fo
könnte das nur als eine abermalige Zrübung bes Gedankens angelehen werden,
worin man eine unbeholfene Bilderfpracdhe für Rechts: und Staatsphilofophie, eine
ungeſchickte Gleichnißmacherei für politifche Weisheit hält. Das Reich der
Sittlichkeit ift in Preußen zu einer bewundernswürbigen Wirk:
lichkeit gediehenz nirgends wird man das Pfliht- und Rechtsgefuͤhl
efhärfter, wirkſamer und gebildeter finden als bei ung; dad Beamtenver:
Bältniß dient nur dazu, ben Gemeinfinn zu verwirklichen, man braucht
nicht weit nach Süden und Oſten zu reifen, um ben interfchied zu erfahren 5
ferner bas Recht des Staates auf den Einzelnen hält dag Militärwefen
gegenwärtig und ift eine wichtige Cur ber Feigheit und Philiftereis das Fa⸗
milienleben endlih und das Leben des Verkehrs, wo ift ee in wah⸗
rerer Seftalt, als eben jezt bei und? — Das Selbſtbewußtſein diefes
Reiches ber Sittlichleit, auch das fehlt und keineswegs; täglih mehr durch⸗
bricht es die pedantifhen Schranken der Heimlichkeit, unb wahrlich, wir haben
uns in nichts vor ung felber gu fchämen als darin, daß diefe glüdliche und
hochgebildete Gegenwart auch nur auf Augenblide von irgend einem
hit verfannt werben konnte, wie bies von Leo in feiner Traumqual
geichieht.‘
Alſo damals (1838) war in dem abfolut vegierten Preußen, das
neben feiner (vom Freiherrn v. Stein und von Niebuhr gut charafteris
firten) Bureaukratie (die kurzweg geleugnet wird!) nur eine Scheinvertretung
in bloßen, gar Leine wirklichen politifchen Rechte befigenden und nur den
Suppl. 4. Gtaatsier. I. 48
beimniß mehr, welche Richtung dieſer Etaat, dem einftmale bi
anvertraut wurbe, bie Geiftesfreiheit zu fehirmen und durch ihren
gen , einfchlägt; es ift zu erwarten, ob er im Laufe der Zeiten '
ef im Stande fein, oder ob ein anderer proteftantifcyer
aterlandes dic Motive des gegenwärtigen Geiftes und mit ihneı
und das Steuer der deutfchen Gefchichte ergreifen wirb 53 das a
erwarten, daß fich Fein einziger Staatsmann finden follte, ber
nicht gelehrt, wodurdy Preußen gefticgen und wodurch Sachfen
Stellung eingebüßt. Dies ift keine Lebre der Hegel'ſchen Phi
Brille von Diefem und Jenem; es ift die Weltgefchichte und d
Voͤlker mit feinem ganzen Gewicht, von dem diefe Stimme ertönt.
ift da, die Aufgabe ift nothwendiq, diefe Praris ftcht der freien X
bevor, früher oder fpäter muß fie ins Leben treten, wenn auch jes
tannt werden kann, weicher deutſche Zürft Geift und Muth gen
nah diefem Kranze, der über feinem Haupte fchwebt, die Band <
Und worin befleht nun diefer Abfall von der Philofophie ?
heit (wenigſtens damals) nur darin, daß die frühere Beguͤnſtigu
{chen Philofophie und Schule von Seiten des Staates aufgehört,
den Prof. Stahl fowie fpäterhin Schelling nah Berlir
um eben auf wiffenfhaftlichenm Wege der Hegel’fhen P
ihren verberblichen Einflüffen auf das Staats» und Volkslebı
wirken. Dawider iſt dod) offenbar nichte einzumenben, obwohl al
terhin mehrere zu erwähnende Mafregein vorgelommen fint
niger vertheidigen laſſen. — Uebrigens ift die Erklärung , Preu
fallen von der Philofophie, auch in fofern eine ganz wunderlich
loſophie ja nicht ein Attribut oder Monopol ber hoͤchſten Staats
nur überhaupt von denfelben abhängig, fondern die Sache der
die jedenfaUs den Namen von Philofophen nicht verdienen würden
Lehrſyſtem wie eine Uniform auf Befehl ber Regierung wechfelter
ee ..£.ta 2... x. L .2MmM .ı
Hegel (Nenhegeliane), 755
arbeiter anerkennen mag, fo wird man body eben im Intereſſe der Wiſſenſchaft
und Geiſtesfreiheit felbft es bedauern muͤſſen, daß bie Oppofitton jener ſowohl
durch ihre fchroffe Form, als auch dadurch, daß fie die Rechtsbeſtaͤndigkeit des
pofitiv Beftehenden in Kirche und Staat fihlechthin negirte, namentlich
das Chriſtenthum und die hriftliche Theologie fuͤr „abgethan“ erfiärte (wo⸗
bei zugleich die ältere Hegel’fche Schule, ja Hegel felbft ſcharf den Text gele⸗
fen bekam) *), die Grenzen überfchritt, welche die Philoſophie auch in ihrem
feeieften Gebahren, dem Poſitiven aegenhber, nothwendig anzuerkennen
bar *?). Ganz verwerflid, war auch die mehrfach in jener Zeitfchrift her⸗
vortretende Werfpottung bes Principe der Nationalität (das doch
gerade in der jegigen Zeit immer mehr zur allgemeinen Anerkennung gelangt)
fowie die zugleich laͤcherliche Gallomanie, die den Deutfchen fogar Ihren
Ruhm im der Philofophie abfprechen wollte *?) ; endlich auch, daß dieſe Zeit⸗
Poeten für Einen Arnold Ruge, und ihren Tübinger Kritiker bau.” — Ruge's
Schriften erfcheinen jet in einer Geſammtausgabe; ihr Verbot ift keine Wider⸗
legung-.
41) In Rr. 12 v. Jahre 1830 in einem Auffag über ben Pietismus im
Reuvorpommern wird zunädhft (S. 96) „altgebadenen Hegelianern”
vorgeworfen, daß fie das Conventikelweſen begünftigten, und dann gefagt: „Dit
dem Lobe des einen Goͤſchel und mit dem laͤch erlich en Ausdbrud der Ueber⸗
einftimmung mit bem Chriſtenthum bat uns der alte Hegel al biefen
Qualm ind Haus gezogen. Webereinftimmung?.ift das Monismust Iſt bas bie
ewige, einige, nur einmalige Wahrheit? Die Philofophbie hat mit nichts
übereinzuftimmen als mit fich ſelbſt, und nicht bie Hhilofophie ſtimmt mit
der Wahrheit, fondern fie iſt die Wahrheit.‘
42) „— Auch bier wollten oͤfters Gelehrte, vergefiend bie Pflichten gegen
Staat und Kirche und entweihend die Wiffenfchaft, in beleidigendem Angriff,
in frecher Sophiſtik und Gpötterei fi von dem Heiligen losreißen oder bem
Staate und ber Kirche feindlich gegenübertreten. Sie wollten freveinb ben hei⸗
ligen "Namen der Wahrbeitsichre mißbrauchen und mit Verlegung rechtlicher
Freiheit und ber fie fchügenden vereinbarten weltiihen und kirchlichen
Ordnung das, was fie felbft nach bloß individuellem Meinen, oft genug irrig,
für Wahrheit hielten, mit Eigenmacht in die dußern Werbältniffe einführen. —
Sie verfuhten fo auf fo verdehrte und frevelhafte Weife, fo weit es geben wollte,
ſich ſelbſt zum Gefeggeber von Staat und Kirche aufzumwerfen.”
Weller, Rechtes, Staats: und Befehgeb.:Lehre I. 526 f.
43) In Nr. 247 v. 17. Det. 1842 theilen bie beutfchen Jahrbuͤcher den
Auffag eines Franzoſen, Jules Elyſard, mit, den die Rebaction mit folgenden
Worten einleitet: Wir theilen bier nicht blos eine Merkwuͤrdigkeit mit, es ift
eine neue bedeutende Thatſache. Dilettanten und abhängige Schüler, wie Goufin
u.%., bat bie deutfche Philofophie fchon früher im Muslande erzeugt; Leute aber,
die den deutſchen Philofophen und Polititern philofophifh den Kopf gewafchen,
find bis jest nicht außer unfern Grenzen zu finden gewefen. So entreißt ung
denn das Ausland (I!!!) auch den thbeoretifhen Kranz unb wir duͤr⸗
fen nicht hoffen, daß die neue Thatſache: ein Branzofe verſteht und über:
fiebt die deutſche Philofophie (?!!) ſowohl die „von der firicten Dbs
fervang” als die von der „rechten Mitte” und vom „Ertrem” — manchen
Siebenſchlaͤfer von feinem Lorbeerfaulbette herunterwerfen werbe. Wielleicht bat
Hr. Jules Sipfard Recht, wenn er uns eine große praftifche Zukunft verheißt;
aber gewiß bat er fi in uns geirrt, wenn fein Beifpiel * nicht vermoͤgen
**
UEyirrusy stv VE WU WER ι
einander ziemlic, die Wage haltende Maͤchte gegenuͤberſtellt,
die Schiußmworte hindeuten). Wenn z.B. die Times in ein
gegen die englifche Regierung Partei ergreifen, fo iſt bies wirt
reiches Ereigniß und der Ausgang des Kampfes wenigſtens zweif
er in der Regel zu Gunſten der Journalpreſſe fein wird. Ein An
fi) aber allerdings in Deutfchland beiden beſtehenden Pri
wunderlich genug wo nicht lächerlich aus, zumal wenn von de
der deutfchen Staaten die Rebe ift, deffen Regierung wirkitdy ı
um dies in der Sprache des franzäfifch » deutſchen Liberalismus
auszudruͤcken, welche „regiert und gouvernirt”, und Deren M
neuerer und neuefker Zeit Beine fonderliche Luft. gezeigt hat, ⸗
neller König nach Hege l'ſcher Façon zu werden, d.h. nur Ja!
den Punkt aufs J zu machen!” Doc, das iſt nur Nebenſache
tend in Vergleich mit dem Inhalt des Artikels felber.
Zunaͤchſt wird bemerkt, daß bie preuß. Regierung „nad;
Manifeftation ihrer dermaligen leitenden Principien‘ in b
„eine gewidhtige Oppoſition“ gefunden; ferner wirb Hin
jenes Journal ſich bezeichne ale „das Organ der neueften |
deren Miffion Beine geringere fet ale die, das ſchlummernde 2
Menfchheit zu erwecken und dem menfchlihen Geiſte die erfı
heit endlich zu ertämpfen, und zwar wiſſenſchaft!
Rationaliemus und politiſch durch den Liberalism
chen beiden ſich der Herr Redacteur der Hal. Jahrb. mit ebenfo
licher Srifche und Kraft als Ehrlichkeit und wiſſenſchaftlicher
bekenne.“
Die darauf folgenden Auseinanderfegungen ſprechen nun
EB — auch malis! LK... ho Gut Dh —
—
Hegel (Neuhegelianer). 757
„Eben darin, daß beibe (Rationalismus unb Liberalismus) bier
zufammen und zwar verbynden auftreten, Liegt fchon zum Theil die wiffenfchaft:
lihe Züchtigkeit, der Rationalidmus wirb ganz richtig als die Wurzel bes
Liberaliemus bezeichnet und das Gemeinfame beider Richtungen wirb in das Aus
tonomifche (in bie Belbftherrfchaft) hier des denkenden, dort des handelnden
Geiftes gefeht. Aber auch jedes für ſich, ſowohl der Rationalismus als der
Liberalismus, treten bier in eonfeguenteren Geftaltungen auf: beim Rationalismus
finden wir bier nicht mehr das Lleinlihe, mühfame Abmarkten zwifchen ber
Bernunft und dem Lieben Gott, nicht mehr die Unentfchiebenheit eines halb
biblifchen, halb vernünftigen Syſtems; an ein folches Hin» und Herſchwanken kann
bier um fo weniger gedacht werben, als die Wirklichkeit Gottes ibentifis
eirt wird mit dem menfhlichen Geiſte felbft, deſſen freie Entwidelung zur
Kreibeit bin eben nichts Anderes als das Leben Gottes ifl. An bie Stelle
der unmündigen Vernunft in ber Form der Vorſtellung tritt die bewußte
in der Korm der Speculation. ben fo ift der Liberalismus aus ber alten
Bormundfchaft getreten, welche er mehr oder minder anerfennen mußte, fo lange
er noch einen außerhalb der Menſchheit wirflihden Bott erkannte,
von deffen Bnaden die Könige ihre Macht herdatirenz und in
dem er fomit in dem fireng durchgeführten Nationalismus, db. h. im Pans
thbeismus eine gründliche wiffenfhaftliche Bafis gewonnen bat, hat
er durch denfelben zugleich feinen Gipfel erfliegen: wenn er nämlich bisher bei
einzelnen Verbeſſerungen bes focialen Lebens, etwa bei den Bemühungen für
Conftitution, Bollsvertretung und Preßfreiheit ftehen blieb, fo
ift ihm hier in dee Autonomie, oder, was baffelbe beißt, in der Erlans
gung göttliher Rechte für den Menfchen ein gang anderes Biel vor:
geftellt. Es hätte alfo diefe Phafe der Hegel'ſchen Philofopbie eine bisher noch
vermißte Ginigung zu Stande gebraht: Thun und Denten find nicht mehr
auseinander, die Speculation ift nicht mehr unpolitifch, ber Liberalismus nicht
mehr unmiffenfchaftlih und der menschliche Geift wäre durch die Anerkennung,
daß Gott nur inberMenfhheit fein Dafein habe, in den Anhängern
der bezeichneten Theorie zu feiner endlichen Concretion gekommen“ #6).
Es ift wohl unndthig, noch befonders nachzuweiſen, daß dies Credo
nicht nur mit dem der preußifchen Regierung, fondern audy mit dem ber ge
ſammten Chriftenheit (260 Millionen Menſchen nah Balbi’s neuefter Zähs
lung), ja mit dem Glauben aller Völker in Widerfpruch ſteht, da das We⸗
fen jeder Religion in dem Glauben an höhere über dem Menſchen und der
Weit unendlich erhabene, oder an Ein höchſtes (fupras und ertramundanes)
Weſen beftehtz daher alle Religionen, fo abweichend fie auch fonft in ihren .
Dogmen find, wenigftens darin uͤbereinſtimmen, baß fie die Vorftelung, ale
(um Goethe's Worte hier zu gebrauchen) — »
„Als gaͤb's einen Gott nur im Gehirn
Da! hinter des Menfchen alberner Stirn!”
46) Dann wird hinzugefügt: „Im Gegenfag hiermit fcheint nun allerdings
bie Zendenz der neuen preußifchen Regierung auf dem fehr beflimmten Bewußt⸗
fein eines auh außerhalb der Menfhheit realen Gottes zu beruhen:
und daß von diefem Bewußtfein aus die ganze politifche, religiöfe und wiſſen⸗
fhaftliche Anficht derfelben mit der der Hau. Jahrb. in fcharfe Differenz treten
muß, bedarf wohl kaum der Erwähnung. Namentlich Tann dem Menfchengeifte
von dieſer Seite ber Eeine Seldſtherrſchaft mehr zugefchrieben werben, es
fe? denn, daß die Herrfchaft des perſoͤnlichen Gottes mit der Herrfchaft bed Mens
fhengeiftes in Eins zufammenfalle, d. h. daß ber Mille des Menſchen fih mit
dem Willen Gottes auf abfolute Weiſe geeinigt babe’ u. f. w.
%
*
mus und die Einfeitiskeit des Urtheils Über Alle, was nicht zur.
Philoſophie oder Schule fidh bekennt (3. 3. in der vielbefprocdhenen !
der deutſchen Univerfitäten) entidhieden tadeln muß.
Es ift zur Genuͤge bekannt , daß die gedachte Zeitfchrift, nach
aus Hallefhen indie Deutfhen Jahrbuͤcher verwandelt uı
dacteur ſich nach Dresden übergeficdelt hatte, endlich ganz aufboı
indem die koͤnigl. fächfifche Regierung ſich gemüßigt fab, dem Verleg
ceffion dazu zu entziehen. Die Sache kam, wie ebenfalls befannt, ı
ın der zweiten fächf. Kammer zur Frage und Verhandlung, was fis
verdiente, da «6 fidy hier um das Princip und zwar ein bddyf
handelte. So wenig man auch die Brundfüge, welche vorzugswei
fer Zeitfchrift verfochten und verbreitet wurden, billigen kann, fc
durchaus von Jedem anerkannt werden, daß jene Zeitfchrift mı
Waffen der Riffenfhaft flritt, atfo von Rechtswegen u
gleichen Waffen belämpft werben durfte. Darüber, baß Gelehrte ı
ſchaftlich Gebildete überhaupt — und nur diefe waren ja das Publ
Jahrbuͤcher — nicht von Seiten irgend welcher Regierungsbehärden
auf ihre Lectire bevormundet werden türfen — da es eine wahre
keit it, anzunehmen, als wären jene Behörden ale foldye im AU,
Kriteriums der Heilſamkeit oder Schddlichkeit einer Schrift, was fe
Paul treffend veripotter hat *”) — und daß eben deshalb Eeine Mec
echt hat , Bücher zu confiscieen®®),, darüber follte man doch end
47) ©. Hegel, Vorleſ. üb. d. Gefchichte. ber Philof. I. 2
Menſch, der fie (naͤmlich Fehler, Schwachheit , Sünde) bat, ift
durch fich ſelbſt abfolvirt, infofern er nichts daraus macht.’
+8) Auch den Berliner Zahrbüchern f. wiff. Kritik iſt nachzuruͤ
17 fie in der literariſchen Jeurnaliſtik Epoche machten u. bedeutende Mir!
u2 ' * ten; vergl. Al. Jung im Königeb. Literat. Blatt 1841 Nr. 2,
j 49) Xreiheitsbiichliin S. 54.
Hegel (Neuhegelianer). 759
fehe ins Klare gekommen fein, wie über. bas Unhaltbare bes ganzen „Gen⸗
fur” genannten Inſtituts, in Hinficht deſſen bier nur an den merkwürdigen
Ausfpruch des Großh. heffifchen Miniſterialrath Fau p in der Germaniſten⸗
verfammlung des vorigen Jahres erinnert werden mag °!). Selbſt angenom:
men, aber nicht zugegeben, daß eine Senfur bei Zeitfchriften ober Jour⸗
nalen im mweiteften Sinne unerläßlich fei (mährend doch die Erfahrung von
England und Frankreich das Gegentheil ſattſam erweift und andrerfeite gewiß
iſt, daß Tageblaͤtter, Zeit » und Flugſchriften bie Shwungfebern in den
Slügeln ber Drudfchrift find) 92), fo müßte Dennoch jedenfalls ein großer Un⸗
terſchied zwifchen ſolchen Journalen gemacht werden, weiche in die Hände des
„Volks“ im ſchlechten Sinn dieſes Worte, der oben ungebildeten Maſſe
(von der Goethe fagt, fie fei nur im „Zufchlagen refpectabel, im Urt hei:
Len miferabel‘) und zwifchen folhen, die in die Hände des überhaupt und
des nun vollends wiffenfhaftlih gebildeten Publicums kommen.
Beſonders ein vorzugsweife proteflantifcher Staat dürfte nie die Mah⸗
nung Luther’s vergeffen: „Man laffe fie (die falfchen Lehrer) nur getroft
und friſch predigen, was fie innen und wider wen fie wollen ; denn es müffen
Secten fein und das Wort Gottes muß zu Felde liegen und kaͤmpfen. If
ihre Geiſt vecht,, fo wird er ſich vor uns nicht fürchten und wohl bleiben. Iſt
unfrer recht, fo wird er ſich vor ihnen auch nicht noch vor Jemand fürchten.
Man laſſe die Geiſter auf einander plagenundtreffen! Werben
uni (nt tu —
und zu entfcheiden, was für Schriften Jeder ohne Schaden Iefen darf? Nur bie
Öffentlichen gemeinfchaftlichen Weranftaltungen” Mebrerer fteben unter ihrer Auf⸗
fiht. Nun ift zwar jebe Belanntmadhung einer Schrift dur den Drud ins
fofern eine Öffentliche Handlung, als dadurch der Schriftfteller mit Jedem redet,
der fih ihm nahen will; und eben beswegen kann fich die Öffentliche Anzeige zum
Berkaufe nicht fchlechterbings der Aufficht entziehen. Wenn aber ein Einzelner
ein Buch lieſt, fo iſt diefed doch jedesmal nur eine Privatmittbeilung der Ges
danken, welche uneingefhränktte Freiheit genicht. Hiervon find biejenis
gen Schriften ausgenommen , bie eine Handlung des Verfaſſers gegen bie bürs .
gerlihen Gefege enthalten, F B. wenn in einer Schrift gelehrt wirb, man
müffe gegenwärtigen Gefeden ni ? geboren, fo darf ihr Debit verhindert wer-
den; denn jeder Anftifter von Berbrechen wird gehindert, biefen Endzweck zu
erreichen. Rehberg, Saͤmmtliche Schrift. I. .
51) Augsb. Allg. Zeit. 1846 v. 30. Septemb. Nr. 273 (vergl. O.⸗P.⸗
A.s3eit. v. 6. Det. 1846 u. v. 6. April 1847): „Wie Lange bat man ſich ver:
gebens nah Preßfreiheit gefehnt, und nun erklärt eine „erlauchte” Kam:
mer — erlaudht, weil fie aus den Prinzen, den Standesherren beftebt — , daß bie
Cenſur ihrem Zwecke nicht genüge, daß bie Bundedacte fie nicht forbere und
daß alle Deutfhe ein Reht auf Preßfreiheit Hätten.” („Stürmifcher
und anhaltender Beifall.)
52) Baharid, V. Staat. 1820. Bb. II. ©. 3535 vergl. Welder, db.
ganze u. vollf. Preßfreih. S.11 und Immermann’s Wemorabil. I. &. 126 ff.
Der bairifhe Erminifter von Abel, welcher früper ale Minifterialrath in ber
Gtändeverfammiung von 1831 bie Preßfreiheit Außerft berebt vertheibigte (f. d.
Zrant. Mercur Nr. 81 v. 1840), konnte aber freilih 1840 kaum Worte genug
finden, um gegen die Journaliſtik zu eifern (vergl. an. Anzeig. d. Deutfch.
1840 Rr. 89), deren er fih doch felbft auf genugfam bekannte Weife bediente
und noch bedient (vergl. Deutfche Allg. Zeitg. vom 5. April 1847 &. 822).
760 .
etliche indeß verführt: wohlan, fo gehets TER EEE
und Schlacht ift, da muͤſſen erliche fallen und verwundet werben; wer abe
gablich ficht, wird gefrönt‘‘®®),
Um diefelbe Zeit bald nah Schelling’s Berufung zeigte fi ein ar
derer und ernflerer Gonflict der neushegel’fchen Schule mit der
h ebefonders darum nähere Beachtung verdient, weil es fich hierbei um —*
eip ber deutſchen —— —— n, das ber afabeml:
ram, Eehrfreibeit, umd zwar im Gebiet ber theologifchen Facultät hav
54), Der Picentiat der Theologie Bruno Bauer in Bonn hatt
er mehrere Schriften, namentlich durch feine Kritik der e Gaſchau
‚ bre Synoptiker, ſich auf eine Weiſe über bie Schrift „ bie matt:
wendig großes Auffehen und die Frage verahlaffen mußte, ob ein Gchri
ſteller, der fotch e Grundfäge aufftelfte, akademiſcher Lehrer einer pofitinm
Wiſſenſchaft bleiben koͤnne? Das koͤnigl. preuf. Mintfterium des Cuitus unn
Unterrichts ſchritt nicht unmittelbar ein, fondern lieh ſich erſt Gutachten —*
theologiſchen Facultaͤten über dieſen Fat einreichen, und entjog
dem D, B. Batter die venia legendi, nachdem diefe ſich einflimmig fü per
Entziehung erklärt hatten®®). Dies wurde nun fofort von ber neusbhegel'fdn
Partei in ihren Organen, namentlich den « en oder Damals ſchon Dat
ſchen Kahrbüchern und der Leipziger Allg. g als ein underantwortlide
Eingriff in die akademiſche Lehrfreiheit angefeben oder vielmehr a
da es fich im der That gang anders hiermit verhält. Da die Sache theils de
Wrincips jener Freiheit willen, theils weil baraus recht deutlich erbelit, zu nd
hen Gonfequenzen die H. Philoſophie in ihrer Anwendung auf die Fheologii
führt, fo mag fie hier kuͤrzlich eine Stelle finden. Zunaͤchſt ift der —
Thatbeſtand feſtzuſtellen, wobei es am zweckmaͤßigſten erſcheint, die B. B auet
ſche Partei ſelber reden zu laſſen. Die Deutſchen Jahrbuͤcher brachten wur!
in Nr. 103 vom 29. Det. 1841 ©. 412 eine Anzeige des Buches im x
men des Verlegers (d. h. natürlich nichts Anderes als eine fogenannte Selbſt
recenfion bes Verfaſſets), und fodann in der Nr. 105 vom 1. Mov. S.417f.
von einem Berliner Anonnmus (offenbar den Bruber B's. Edgar Baucı
„Borläufiges über B. Bauer’s Kritik” ıc., worin behauptet wird , daf nun:
mehr die totale Nevolutionin der Xheologie vollendet unb durd
die Schrift von B. Bauer felbft Strauß's Kritif fo weit überholt ım)
antiquiet fei (5. 419), daß B. Bauer nicht nur offengegen Strauf
als ‚denjenigen, melcher bie poſitiven Intereſſen innerhalb der Kritik rept—
jentirt und das Abbild der Orthodoxie felbft innerhalb des Meiches ta
Negation ſei“, auftrat, fondern fogar Strauß mit Hengftenberg ww:
fammenftellte. (1!) Darauf beißt es:
53) Schreiben v. 3.1524 an die Fürften v. Sachfen, üb. d. Wiedertäufer. 16.
Th. ©.20. ed. Bald.
5+) Vergl. Bran’s Minerva 1842, Maiheft ©. 231 ff.
59) Auh Marbeineke's Scyaratvotum fprach fih dahin aus, daß Brun:
Bauer unmöglich in der theologiſchen Kacultät bleiben £önnte, daß ihm
dagegen eine Profeffur in der philofophifchen ertheilt werben foltte.
Hegel (Neuhegelianer). 761
„und wodurch unterſcheidet ſich Bauer’s Schrift von der Strauß’fchen ?
Mit einem Worte: während Strauß noch Vieles als wirklich gefchichtiichen
Bericht über das Leben- Zefu gläubig annimmt, in den wichtigften Punkten einen
sefhihtlihen Kern vorausfest und fonft die fog. mothifchen Berichte in -
der Meberlieferung der Gemeinde: fich bilden laͤßt, fuht Bauer nachzumeifen,
daß au kein einziges Atom in ben Evangelien geſchichtlich, daß
vielmehr Alles Freie fchriftftellerifche Schöpfung ber Evangeliſten
iſt. Die pofitiven und mpyfteriöfen Vorausſttzungen der Strauß ſchen Kritik hat
Bauer in dem Sage und in der Ausführung aufgetöf, daf die Evangeliften
in einer Reihe fteben mit Homer und Hefiod, die, wie Derobot fagt, den
Griechen ihre Bötter gemacht baden. Den pofitiven Borausfegungen Strauß’s '
geaenüber hat Bauer das menfhlihe Selbftbemußtfein als den all-
mächtigen Schöpfer der heiligen Gefhichte aufgeftellt, daſſeibe Selbft-
bewußtfein, welches Feuerbach als den Schöpfer der beflimmten Dogmen
zu beweifen ſucht.“ — „Die Kritil, die Revolution ift mit fich felbft zerfallen
und es wird nicht mehr Tange dauern, fo werben die Birondiften und der
Berg in offenem Kampfe auf Tod und Leben ftehen. Selbſt biefe neue Wendung
der Dinge ift Grund dazu, baß wir ruhig fein dürfen: bie Wahrheit kann
buch den Kampf nur gewinnen” 56).
Nichts deſto weniger verlangte B. Bauer ald Profefjor der Theologie
angeftellt zu werden und fuchte (in Verbindung mit feinem Bruder Edgar) 7)
auf alle Weife feine Ausfchließung ale eine Verlegung des Princips der akad.
Lehr: und proteft. Blaubensfreiheit (!) naczumeilen. Ueber bas
Letztere verlieren wir Bein Wort; wer Bann fid) einen B. B. al Dr. der Hei.
Schrift, die er, fo vieler vermochte, entheiligt hat, und als einen Nachfolger
unfere Martin Luther denken, der zugleich der Doctor aller Doctoren der
heit. Schrift, wie der größte Held unſers beutfchen Volkes iſt, und der da
ſprach:
„Das Wort ſie ſollen laſſen ſtahn,
„and keinen Dank dazu haben!“
Die Sophifterei in Bezug auf die angebliche Verlegung ber alademifchen
Lehrfreiheit müflen wir aber noch etwas näher beleuchten, da hier eine fehr
56) In einer Rachfchrift des Hrn. Rebacteurs (Arnold Ruge) wird ges
fagt: „Die Zheologie ift keine Wiffenfhaft von Bott, denn das
Biffenfchafttiche in ihr handelt nicht von Bott in einem eminenten Sinne, es
handelt von bem Menſchen, feiner Gefchichte und feiner Philofophies daß aber
die Dogmatil noch etwas von Bott Iehren könne, glaubt weder ber Lehrer noch
der Schüler, Beide haben diefe Worftellungen Iängit hinter fi), wenn fie daran
geben, fie zu betrachten. Die Theologie alfo hat keinen andern Gegenfland als
bie übrigen Wiffenfchaften vom Geifte, und was bie Dogmatik bisher für Lehre
von Gott audgegeben hat, ift — fagt Feuerbah — nur ber objicitte
Menfchengeift, alfo Borftellung vom Menfchen, Anthropomorphismus. Gr brüdt
dies mit kurzen Worten aus: bie Theologie ift die Anthropologie! Ob
dies wahr ift, nehme man fich die Mühe, an den Dogmen zu unterfuchenz und
wenn bie Theologie im eminenten Sinne ober bie biöherige beotogie keinen Gott
für fi) hat, wenn fie nur den Menfchen vergöttert,, fo ift fie als aparte Wiffen-
Theft am Ende. Es bleibt ihr nichts übrig als Sphftofophte und Gedichte zu
werben; benn iſt irgendwo ein Gott, fo ift er hier, während er aus ben alt=
theologifchen Disciplinen laͤngſt ausgewandert ift und -ihre Geiſtloſigkeit aller
Welt offenbart hat.” ’
57) Bergl. Leipz. Allg. Zeit. 1843 Nr. 100, 114, 119, umd die Schrift
„üb. bie Anſtell. v. Theol. u. few.” Berlin, 1842.
Medtsbegeiffe vorfommen , Wweitene
———2 Lehrer im e
‚ iverden ſou. Norürlic if meiften der Gall, ——
—— — in —— ft, welche
des Staats vereinbar, die Kirch⸗ alfo anzuerkennen fei, oder nicht. Un
wenn auch in Beriehung auf die Univerfirät ſich nicht fo wie bei dem Erm
bol einer Kirche ein beſtimmt abgefchloffener Canon von Pebrfägen aufitelr
läßt, über welchen die wiffenfhaftliche Korfhung und die akademiſche Mu
theilung der Mefultate berlelben nicht hinausgehen dürfte, fo muß doc «nt
bier ein Oberauffichtsrecht des Staates anerkannt, darf nicht vergeſſen wır
den, daß bie Univerfitäten dem Volks: und Staatsleben anaebim,
zu dem beftimmten Zwecke der Körberung und Vervollkommnung deſſelben,
keineswegs blos für die Wiſſenſchaft beifimmt und vom Wolke un!
Staate dazu erhalten werden, wie dis u. A. Dablmann ")und Welder
entwidelt haben. Die Sace leuchtet auch ficherlich dem gefunden Menfcm:
verftande ſchon an und fire ſich ein, der bei alfer Achtung vor der Freihen der
Forſchung und Mittheilung auf unfern Univerfitäten do einfehen mut,
daß, ſowie die bürgerliche und politiſche ſowie die Proßfreikiit
nicht in ber völligen Ungebundenbeit oder Straflofigkeit beitebt, fo auch di
Fobrfreibeit Schranken anzuerkennen bat. Wer würde fich nicht empört
fühlen, wenn irgend ein afabemifcher Lehrer, felbft in der re'ativ freieften
Facultaͤt, der philoſoph iſch en, ein Soſiem ungehindert vortragen bürfte,
wodurch bie Grundveſte des Staats: und Volkslebens erſchuͤttert würde; 358.
wenn ein Profeffor ber Philofophie öffentlih den Atheismus, den fogenonn:
58) Politit &, 2915 vgl. 316 f.
59) Rechtes, Staats: und Gefehgebungsstehre I, ©. 526,
AN
i \
Hegel (Reshegelianer). 7168
. ten Materialismus im Sinne jener franzöfiichen Philofophen, welche unter
dem: Namen ber Encyklopaͤdiſten fo übel berüchtigt find, und namentlich die .
Lehre vortragen wollte, der Glaube an Vorſehung und Unfterblichkeit, .an
bindende Kraft bes Sitten= und Rechtögefenes fei ein Wahn, eben fo der
Glaube an Heiligkeit der Eidſchwuͤre, der Ehe, der Gültigkeit des Privatels
genthums u. dal., im Begentheil fei Ehebruch und Unzucht überhaupt erlaubt,
ebenfo Kinderausfegung und Kindermorb kein Verbrechen u.d.m. Daß alle
dieſe oder Ähnliche Srundiage von fogenannten Philofophen alter und neuer
Zeit wirklich gelehrt und ausgefprochen find, ift befannt, und eben fo braucht
man ſich ja nur an die fogmannte „junge Literatur”, welche bie Emanci pa⸗
tion des Kleifches prockamirte, und am bie antiſocialen Spfleme des St.
Simonismus, des Robert Owen, Fourier, Proubbon, abet, und wie die
Haͤupter des Socialismus und Communisſsmus weiter heißen, zu erinnern,
worin der thatfächliche Beweis geliefert ift,, wie ſolche Grundſaͤtze nach und
nach aus der Literatur in das Volkoleben eingehen. Run find die Uni:
verfitäten namentlich für Deutfchland ohne alle Frage die einflußceichflen
Snflitute, und auf ihnen ſolchen Lehren nicht nur Duldung zu geftätten,
fondern fie wohl gar durch Anſtellung als Profefforen von Staatswegen zu
autorifiren ober auch nur indem man diejenigen, welche ſich zu foldhen Sy:
ſtemen bekennen, ale akademiſche Lehrer fungiren läßt — dies waͤre
offenbar eine hoͤchſt tadelnswerthe Nachläffigtelt oder Pflichtvergeffenheit der
Staatsgewalt in ihrer wichtigen Beztehung als oberfte Auffichtsbehärde für
das Gebiet der Volksbildung, wie denn bekanntlich auch die freieften
Staaten unferes Welttheils, England und Frankreich, Leine Angriffe auf bie
öffentlihe Moral und Religion dulden, wohl wiffend, daß damit
die eigentliche Baſis auch des politifchen Lebens zerflärt werden wuͤrde 9).
So wenig demnach ein Lehrer der positiven Rechtswifienfchaft blos feine
fubjectiven Anfichten [über das Naturrecht, die Mechtephilofophie, ſondern
eben nur die Kemntniß bes wirklich geltenden ober pofitiven Rechtes
zu lehren hat, fo verhält es fich offenbar auch mit den Lehrern der Theologie.
Geſetzt, ein juriftifchee Profeffor, 3.8. des deutfchen Staatsrechts, wollte
lehren, daß das Princip der Volkseſouveraͤnetaͤt in dem Sinne, wie die Stans
zofen es verftehen‘!), das allein richtige politifche Princip und die wahre
‘Grundlage alles Staatsrechtes ſei, oder bie demofratifche (foges
nannte republicanifche) Staatsform die einzig vernünftige, die monarchi⸗
ſche dagegen ohne Rechtsgrund fei, oder daß das Privateigenthum und
die beftehenden Verträge Beine bindende Kraft hätten, oder geſetzt, ein pro⸗
teftantifcher Profeffor des Kirchenrechts erklaͤrte die Reformation für
eine fchlechthin miberrechtliche Revolution und ſich entfchieden für die Wie
derherſtellung bes Papſtthums u. d. m.; — fo würde offenbar in allen diefen
Fällen bie Staatsgewalt mit Recht fagen: „ſolche Lehrer des pofitiven
Rechts kann Ich nicht brauchen” und fie demgemäß entfernen. In noch hoͤ⸗
60) Dahl mann, Polit. ©. 254 ff.
61) Jener Ausdruck bat auch einen richtigen Sinn, wie Hegel, Dablmann,
Thilo etc. gezeigt.
Hegel (Reuhegelianer)
n Grade gift dies aber natürlid vom der Theologiez denm im bier
t offenbar Alles auf wirkliche lebendige Ueberzeugung von ber Wabt
8 religiöfen Glaubens an, und Keiner fann religiöfer Volkslehrer im
m Sinne des Mortes fein, der nicht eimen lebendigen Glauben befiye.
an daher auch bei der pofitiven Jurisprudenz fich benfen läßt, daß Je
‘“ audy bei der Ueberzeugung von der Ungerechtigkeit der Pofitivgefe:
bh ein gerechter Michter fein koͤnne, ſofern bei ibm das Amt umd die
‚on Btoeierlei fein Eönnen und-fofern er in praxi ſich fireng an das pofitin
hält: fo gilt ein Gleiches unmöglich vondem Theologen, und auf
ı Fall kann die Kirche in ihrer mit der allgemeinen Univerfidt
mbenen Hochfchule, melde eben bie theologifche Facultaͤt ift, folde
er brauchen, welche blos wiffenfchaftliche Zwecke verfolgend bie Kir
(ehre untergraben und bie negative Richtung bie zu jenem Ertrem treiben,
ich fo offen in B. Bauer ausfpricht‘?). Es bleibt alfo der Sag ausge
rt, wiffenfhafttihe und Lehrfreihelt find durchaus nicht dafı
r, indem bie letztere ber Natur ber Sache nad) bei allen Staatsanftaltm
- Schranken anerkennen muß, wenngleich allerdings im Allgemein
rfrefheit ald Regel anzuerkennen und jehe Schranfen als Aut:
we nicht zu eng zu ziehen und ftets auf das Strengfte zu interprecken
Uebrigens ſollten ſolche Gelehrte fo viel edlen Stolz befigen, um nidt
‚2) Ganz fo urtheilt Hunbeshanen in ber Fürglich erfchienenen geiftre
nen Schrift: Der beutfche Proteftantismus 1847 S. 306 f.: „Laͤßt nicht di
ganze Debatte über abfolute Lehrfreibeit ummillfürlich ben Einbrud übria
als fei die Kirche nur dazu da, um für die Entwidelung des wiſſen—
ſchafthichen Beiftes einen freien Spielraum, ein auch materielles Subſtret
zu acwähren? Auf die Sefabr hin, von gewiſſen Seiten als cin araer Ki
verfchrieen zu werden, müffen wir die Frage entfchicden verneinen. Allertinss
ift der ganze Umfang des Lebens mit dazu da, um den miffenfchaftlichen Ei
zu reizen, ie Wiffenfchaft zu fordern und von ihr gefördert zu werden; auch ti:
religiofe Leben und die Kirche haben durch ihren unendlichen Inhalt unter dir
hriftlichen Völkern die Wiffenfhaft ven jeher angeregt, genährt und gerfleat:
fie werden es ferner tbun, nicht nur um Außeren Smpulfen zu genügen, fonter
weil ihr innerfter Rcbenstrich es fordert, ſich der Blaubensobjecte auch wilten:
Ichaftlih zu bemaͤchtigen. Aber nicht nur bat jede Wifjenfchaft an ihrem eianta
Snbalte ihre Schranke, ſondern die Pflege der Wiffenfhaft in dem Sinne u
ihrem Gegenftande zu machen, wie cs von den Wertheidigern der unbedinztn
firchlichen Lebrfreibiit gefordert wird, d. b. zu ihrem vorwiegenden oder an
ausfchliegtichen Intereſſe, hinter das jedes andere zurüctritt, bieße offenbar idt
das aus den Augen rien, was ibr Hauptziel ift, ihre große Aufgabe, die idt
von ihrem gettlichen Etifter geftellt ift: dic Begründung des Reichs Gottes
auf Erden, die bekanntlich nicht mit dem Rufe zum Wiffen, fontern u:
Bufe und Bekehrung begann. Der Zwed der Kirche iſt die lebendige Sir:
ftellung der Keinigkeit der innern und Außern Beziebungen des Menfchen zu fi:
nem Bott und zu feinen Nebenmenfchen durch unabläfftgen Kampf mit der Suͤnde.
In diefem Werke fittlicher Sclbftvollbringung wird zwar die Kirche weſentlid
unterftügt durch die Sntellectualität, beionders da fo viele Formen ker
Sünde mit auf Irrthum beruhen; aber jicherlich ift für die praftifchen Zien
der Kirche das wiffenfhaftliche Intereſſe als folches immer nur cin
fecundäres.”
Hegel (Neuhegelianer). 765
nach einer Anftellung in einem Amte zu trachten, das grunbgefeglid) und we:
fentlich für die Ausbreitung einer pofitiven Lehre, die fie durch ihre Wiſ⸗
fenfchaft zu deſtruiren fuchen, ja für fhon vernichtet erklären, geftiftet iff.
(Man denke body an den berüchtigten Antifte® Hurter m Schaffhaufen, der
viele Jahre lang ſich von der proteftantifhhen Gemeinde befolden ließ
und es auch erſchrecklich übel nahm, als dem Papiften endlidy die Maske
abgeriffen ward !) — Daß die ganze Degel’fche Schule das wiſſenſchaft⸗
liche Intereſſe allein anerkennt und über alles Andere fest, ift eben der Grund»
fehler und zugleich ein Beweis, daß diefe Schule, obwohl fie die Philofophie
darauf befchräntt, „ihre Zeit in Gedanken erfaßt” zu fein, unfere jegige Zeit
nicht verfteht, welche legtere allem, auch dem wiſſenſchaftlichen, bloßen A ris
ſtokratismus feind ift und das demokratiſche Princip (im Achten
Sinne biefes Worts) zur Anerkennung gebracht wiffen will. „Freilich (heißt
es in diefer Hinficht nur zu wahr in bem eben angeführten trefflichen Buche:
Der deutfche Proteftantismus ©. 309) ift es aber gerade das hriftliche Volk,
dem in dem Hader zwifchen Symbol und Lehrfreiheit bie jegt keineswegs biejeni
Berüdfichtigung zu Theil geworben ift, welche es anzufprechen doch wohl ein febr
begründetes Hecht hat. arum? Für uns wenigflens ertlärt fich dieſe Er:
fheinung aus der mehrberührten ariſtokratiſch⸗ bureaukratiſchen Haltung, weldye
unfere gebildeten Stände dem Wolke gegenüber einzunehmen ſich Längft gewöhnt
haben ®2). Die Korderung einer unbefhräntten kirchlichen Lehrfrei—
beit erfcheint uns rein als Product jener Form bes Bemußtfeins und Lebens:
intereffes, welche in dem mobernen Polizeiftaate die herrfchende gewor⸗
den ift. Mögen fo radicale Ingenien, wie etwa Edgar Bauer**), immer:
bin wähnen, gerade mit jener Forderung ein tücdhtiges Stüd von dem „Zopf“
einer ‚überlebten Zeit abgethan zu haben, fo fcheint es uns dagegen, als hänge
diefer Zopf gerade damit nur um fo länger Binten:gerabe jene Forderung erfcheint
uns als eine obfolete, als bie einer Betrachtungsweife der Korm und Gliederung
unferes Öffentlichen Lebens, über welche wir feit den Freiheitskriegen binausges
wachfen fein follten und jet nur zu großem Schaden und Verwirrung noch feft
gehalten werden. Mögen uns auch die vielen Rechtlichgefinnten, welche noch
mehr oder weniger in biefer Betrachtungsweife befangen find, nicht zuͤrnen über
unfere Behauptung, fondern diefelbe mit Ernft und unbefangenem Nachbenten
prüfen: wir unſers Zheils können nun einmal nicht umhin, die Sache fo anzus
ſehen, ale ob in dem Bewußtſein unferer beamtlicy gebübeten Welt nur dass
jenige einen lebendigen Nefler fände, was für dbiefe Glaffe Intereſſe und Bes
deutung bat, entweder im beſſern Sinn als ernfte wiffenfhaftlidhe For⸗
fung, oder in dem weniger edlen, als leichtes amüfantes Spiel des Literas
riſchen Geiſtes“ *°).
63) Dieſe Bemerkung macht zu Wunften des gemeinen Mannes gegenüber
dem Hanbelsftande, Beamtenflande, Gelehrtenflande — wenn auch wohl in etwas
übertriebener Weife — u. A. ein die beutfchen Nachbarprovinzen bereifender
Belgier. Vgl. die Grenzboten von Kuranda 1844. Nr. 3. ©. 704.
. 64) Weber die Anftelung von Zheologen auf ben beutfchen Univerfitäten.
Theologifches Wotum. Berlin 1842. Ä |
66) „Man möchte fich auf dieſem Gebiete die Freiheit recht ungenirt erhal⸗
ten, zugleich aber ber materiellen Subftdien nicht ledig geben, die dazu erforbefs
lich find, um fich diefem Hange in irgend einer feiner Formen hinzugeben. Daß
e8 daneben noch andere Leute geben könne, welche auch in Betracht zu kommen
Anfprud ben können, fällt diefer ſich ariftofratifch nur. auf fich felbft bes
ziebenden Glaffe nicht ein. Daß dieſe Leute materielle Güter Tchaffen, den @
Nebrigend vertweifen mir In Bezug auf. Bauer’s ‚ zum Theil
ſoclaliſtiſche oder communiftifche fehriftftellerifche und dem Werth
: Philofophie, fo wie das gefammte literarifche Treiben bee Gebrübt
auf einige feht gehaltvolle Auffüge des befannten hoͤchſt freiffnnigen
Dr. Alerander Jung in dem von ihm redigirten Königsberger Eiteratur-
bfatt, namentlich in der Nr. 57 f. im Jahrg. 1844, überfchrieben:
Kritik in Charlottenburg.” Am Schluffe diefer letztern wird fehr rid-
bemerkt (Mr. 59), mie ungenügend die ganze Bauer’fhe, bios auf
erfiandesflügelrien beruhende Weltanficht ift, welche es damit ge
than und den Zweck der Geſchichte damit erreicht glaubt, baf, indem man dem
Volke Handarbeit giebt, man demfelben, mie man zu fagen pflegt, gute Kage
bereitet. Nachdem gezeigt worden, daß dies eine fehr gemeine und unnuhedige
Anſicht von der Gefchichte aymannt werden muß, wobei überdies, „‚mährend
man bermeffen genug war, den Menſchen hun teibhaftigen Bott zu ma:
hen, uns ſchon wieder bie losgelaſſene Hyäne des Päbels aus dem
— an entgegen grinſt“, heißt es dann zum Schluß:
ee ee
E einbüben, daf man, wenn man geroilfe Anfihten über — ober. u:
—*5 und die Seibftgewißheit zur Kap Inftanz a riyp® be:
cha Mahn. aber ein fiir ne Prierit Pe F en —3 er *
um. N) —3 er, als er une enlofe Bermirrun gen be A ic wiſſen redt
‚ bafi * bie Ge ſer biefen Wahn aufs Zapet ke babın;
or fie baben ihn en und haben ibn bis zu jenem rabicalften aller Ertrem
ausgebildet, und haben bamit eben dieWerwirrung bewirkt, bie jest fo roh durch
einanber tobt, in der Einer den Andern angreift und über "den felber fchon Rab
fhlagenben einen noch viel verrenkteren Purzelbaum ſchlaͤgt. Es ift die to
fourniren, auf ihren Schultern tragen und bafür einige Beruͤckſichtigung verbie
nen, fiegt man nachgerade wohl cin, liebt cs neuerdings wohl auch, mit cinm
poetifchen Blick auf ihre Zuftände fich zu ergögen. Aber baf in biefen Eriften
zen voll fehwerer Arbeit und oft tiefer Noth auch tiefere religiöfe Beduͤrfniſſt
berrfchen als anderwärts, Bedürfniffe, welche die gebildeten geiftreichen Kreiſt
nicht empfinden ober nicht zu empfinden alauben, oder über welche fie fid fit
hinweggeſetzt haben, daß dort bie bildlich, markigsconerete religiöfe Vorſtellunge—
weife ber Bibel, des Katechismus, Gefangbuchs und ber alten „„Zröfter”‘, bie
man anberwärts entbebren Au eönnen glaubt, nicht nur bie einzig eingängliden
find, fondern auch allein ein Phantafiebebürfnig befriedigen, für deſſen —
gung ben hoͤhern Elaſſen eine Menge anderer Mittel zu Gebote ſtehen, das
dort die abftracte Religion das Sehnen von taufend Gemüthern ungeftillt Laßt,
die Willkür der freien Theologie taufend Gewiſſen beängftigt, daß eine evangc:
lifhe Gemeinde nicht dazu ba iſt, um Freien Gelegenheit ku geben, du
Eebrfreibeit zu ererciren — von Allem biefen feheint man dort feine
Abnung zu haben. Man erklärt es vielleicht auch für ungebilbet, rob, brutal,
obfeurantiftifch, pfaͤffiſch, demagogiſch, an die Anfprüche diefer Claſſe zu erinnern;
man haßt gerade bort ben Pietismus zum Theil fo grimmig, weil er volts
mäßig ift, und bedenft nicht im Mindeften, — man mit der Forderung un—
bedingter Lehrfreiheit bei allem Liberalismus nichts Geringeres verlangt, als
auch die Kirche, die den Einfältigen und Schlichten mitunter allein geblicben if,
zu einer Pfründneranftalt zu machen für Mitglieder einer geiftigen Arifte:
tratie.“
N
‘
Hegel (Neuhegelianer). 167
Farce, die je ein tolles Kiebergehirn herausphantafirt hat, und doch noch bazu
eine Farce ohne Phantafie, aus purer dünner Verſtaͤndigkeit it
Zeber diefer rabicalen Herren ift die umherwandelnde leibhaftige Selbſtgewiß⸗
heit, und boch fpricht Jeder einem Jeden diefer vielen Gelbitgewißheiten die
Seibftgewißheit, bie Wahrheit wieder ab!’’*e)
Auch andere, neuerdings veröffentlichte Urtheile über B. Bauer (der fich
bekanntlich ducch feine Angriffe gegen den Staat mehriährige Seftungsflrafe
zugezogen) lauten nicht beſonders tröftlich und ehrenvoli °7). Zu
66) „‚Und dennoch erfahren ed die Herren Bauer fchon felbft, daß das Ding
nicht weiter zu treiben geht, als fie es getrieben. Denn biefe Welt, die bier
kritiſch zurecht gemacht wird, ift in der That nur eine endliche. Wo aber eu
man noch bin, wenn es nicht weiter gebt, wenn die Welt, alfo auch das Exr⸗
trem, ein Ende hat? Manmuß zurüd! Und fo gefchah es! Go fehr hat auch
ale Kritik ein Ende; fo wenig ift auf ihre Abfolutheit Berlaß! Und fo kom⸗
men denn die Herren Bauer — wir trauen unſern Augen kaum — bereits zu
Aeußerungen, worin ſie das reactionaͤre Princip ſchon wieder vertheidigen! Aber⸗
auch dieſe Zuruͤcklenkung wieder iſt keine Selbſtbeſinnung, ſondern eben weil ſie
bei der Reaction anlangt, ein neuer Schwindel jener radicalen Drehkrankheit. —
Wie ſehr jedoch durch dergleichen Haltloſigkeiten den liberalen Principien geſcha⸗
det wird, das iſt kaum ſtark genug auszudruͤcken. Lauter Verzoͤgerungen und
wieder Verzoͤgerungen, um bie Hauptaufgabe der Gegenwart, das fociale und
zwar das phufifche und intellectuelle Wohlfein der Voͤlker, zu löfen. Alle bie
aber find gerade fo frivol und wahnwitzig, welche dafür halten, ſolches Wohlſein
könne ohne Religion gegründet werden, als die es find, welche meinen, es
widerftreite ſolches Wohlfein ter Religion. Man ift aber freilich auf der
rabicalen Seite in ber Tollheit fchon fo reif, nicht blos das Aufhören der Phis
Lofophie, ber Theologie, der Religion zu behaupten, man behauptet bereits das
Aufhören der Moral. Das find die allerliebften Ausläufer ber Bauer'ſchen
Vorurtheitslofigkeit! Wenn nun einer diefer Herren in der Buhl'ſchen Monats⸗
fchrift bei Gelegenheit von Eugen Sue in einem Auffag, der mit Zeinheit in
vielen Punkten das Rechte trifft, über das finnlofe Bemühen um Zugend fid
erhigtz fo weiß er zwar nicht, daß längft das Chriſtenthum unendlich mehr lehrt
unb fordert als bloß fogenannte Zugenbz aber, was er feiber im Grunde
weiß und will, wenn das realifirt würde, fo müßte jene Zarce eines toll ges
wordenen Literatenthbums in eine allgemeine Volkerwuth aus-
brechen, kein Bürgerkrieg mehr, fondern die Selbftzerfleifhung und Ber⸗
fhlingung ber entfeffelten Thierheit im Menfchen ! (Hört!) Dann
träte jene tellurifche Bluthochzeit der Bartholomäusnacht ein, daß die Thierheit
des Menfchen das menfchliche SGefchlecht von der Erbe tilgte und das Gefchlecht
der cigentlichen Thiere den Menfchen übertebte! Die Menfchheit wäre dann
wahnfinnig oder vielmehr toll geworben und an einer totalen Tollwuth geftorben, .
und die Thiere wären zur Vernunft gelommen und ftürben nach wie por eines
natürlichen Zodes. — Wenn aber die Herren Bauer in Charlottenburg im Pas
radiefe bes reinen Menfchenthbums dergleichen Gonfequenzen ihrer unangreifbar
ſich duͤnkenden Kritik erlebten, daß fie im Paradiefe felbft noch einmal ſterben
und zwar unter ben cannibalifchen Händen der Pöbelmuth fterben müßten, To
würde doch hoͤchſt wahrfcheinlich alle Kritik auf ewig verfhwinden. @ine Kritik
aber, die auch nur fterben Tann, ift keine unangreifbare, viel weniger eine uns
wandelbare, erfte Wiffenfchaft !"
67) Berg, Hundeshagen, Der deutſche Proteft. S. 182. Wiganb’s
Gpigonen. 1846. I. &. 303 ff. (worin zugleich die Anhänger Bauer’s, 9. 2.
Köppen, v. Körfter, Szeliga, &. Fränkel fcharf gegeißelt werben)
und Kuranda’s Grengboten. 1847. Nr. 13. &. 563. Es wirb darin gerades
zu gefagt: B. 8. babe ſich überlebt, das Feuer der Begeiſterung fei erlofchen,
168 Hegel (Meubegelianen)
Wenn man in diefer wichtigen Principienfeage dem Verfahren ber
Regierung durchaus beiftimmen muß und in demfelben ae
der akademifchen Lehrund Geiftesfreiheit Überhaupt fehen Fann, fo ift dis
dagegen nicht in andern Fällen möglich, in welchen fie Maßregeln gegen Un:
bänger des Hegelianigmus ergriff, bie mit Dem Princip jener Greibeit, das doch
— Regierung mehrfach laut anerkannt werden, nicht übe:
mmen
Es gehört hierher zunaͤchſt, daß im Winter 1843—1844 dam Dr.
Nauwerck, der mit vielem Belfall politifhe Vorlefungen in Berlin
hlelt *), ſobbi⸗ dem Profeſſor Hinrichs in Halle, bei dem daſſelbe ber Fall
war, bie Fortſetzung derſelben unterfagt ward. Dies war offenbar ein Ein:
geiff in die alademifche Kehrfreiheit, mie — bioher auf un:
feen deutfchen proteſtantiſchen Univerfitäten beftand und fogar von dem
Staatsrath dv. Jakob umd zwar im einer 1820 (alfo nach den Karlsbadet
Belchlüffen!) erſchienenen Schrift unummunden vertbeibigt wurde 6°). Die
Berliner philoſophiſche Facultät hatte in einem trefflichen Gutachten (f.
Leipz. Deutſche Allg. Zeit. v. 31. März 1844 Beil.) einftimmig fic dahin
erklärt, daß in Dr. Naumwerd’s Schriften feine fubnerfinen Theorien
enthalten feien, mie dad Minifterium meinte. Die Naumwerd’fdyen Bor:
lefungen ſowohl als die Hinrichs'ſchen erſchienen dann (erflere in Wi:
gand’s Vierteljahrsfchrift, die Einleitungsvorlefung ſchon früher als „ein
Wort über freie Staatsverfaffung‘), und wenngleich beide vom: fireng wiffen-
ſchaftlichen Standpunkt aus ſchwerlich allen Forderungen unferer Zeit genügen
möchten, fo muß man doch auch hier das Primcip feilhalten, daß ein Mini»
jterium des Gultus ale ſolches Fein competentes Ucrtheil über den
wiffenfhaftlihen Werth von akademiſchen Vorträgen har ?®). Weber:
haupt ift e8 ganz verwerflid), die venia legendı blog von dem Belieben sn
Staatsbehörden abhängig zu machen; wie leider! felbft in conftit:
nellen Staaten geſchieht?)). Daffelbe Princip müffen wir hier noch beim:
gen andern fpütern Vorfällen geltend machen; fo z. B. in der Sache dir Air:
Liner Profefforen Vatke, Hotho und der beiden Benary, welche umdi
Erlaubniß zur Herausgabe einer neuen Zeitfchrift eintamen 72). Dieſe nur
ihnen verweigert, meil ber vorgelegte Pian ihrer Stellung als „Pie:
fefforen fremd ſei.“ Die Actenftüde hierüber find befanntlich bald darauf
in einer eigenen Brofchüre erfchienen und man hat fih, wie ein Berict
erftatter in der Augeb. Allg. Zeitagbemerfte, ſowohl von Seiten des Minike:
und das cr zur Darftellung, zur Gefchichtsfchreibung fein Zalent babe, mi:
nachgerade auch feine leidenſchaftlichſten Verehrer einräumen.
68) Vergl. Deutfhe Allg. Zeitg. v. 28. März 1844.
a 2 Ueber atad. Freih. u. Disciplin. Vergl. Scheidler, Hodegetik £.230
ed. 3)
70) Berg. Pfizer, Ged. üb. Recht, Staat u. Kirche T. 305.
71) Vergl. d. Verband. d. 1. Kammer in Karlerube v. 12, Febr. 1844,
= ne: Ubendz. Nr. 40, 4l; u. Kuvanda’s Örenzboten 18544 Wr. 12.
72) Vergl. Deutfhe Aug. Zeitg. dv. 17. Zuli 1844.
Hegel (Neuhegelianer). 7169
riums als jener Profeſſoren gegenfeitig bie Wahrheit offen gefagt. Das
Princip, welches das Miniſterium verfolgte, war offenbar ein irriges;
benn es kommt ihm Bein competentes Urtheil darüber zu, ob Leiflungen ak a⸗
demiſcher Lehrer, die als folche jederzeit zugleich im Dienfte der Wiſ⸗
fenfhaft ſtehen und als Schriftfteller fi ihren Wirkungskreis felber
beftimmen ??), was auch der ehemalige preuß. Geh. Rath Nöffelt treffend
auselnandergefegt hat 7), den Sorderungen der Wiſſenſchaft entiprechen oder
nicht ? — Auch die Behandlung des Hegelianers Rupp in Königsberg (die
erſt im vorigen Fahre durch defielben Ausflogung aus der Beneralverfamm-
lung des Guftav-Adolphe Vereins eine folgenreiche Nachwirkung gehabt) ift hier⸗
ber zu rechnen ”?®), nicht aber die des Hegellaners Wislicenus, der ohne
Trage mit Recht feiner Pfarrftelle enthoben ward, da er nicht, tie Rupp,
nur gegen das Athanafifche Symbol zu proteflicen ſich begnügte, fondern
gegen das Princip der proteftantifchen Kirche felber, daher er denn auch
ganz confequent fpäter alles Kirchliche oder Symboliſche verwarf und eine
fogenannte freie Gemeinde bildete, bie ebenfalls als ein Ausläufer des
Hegelianismus anzuſehen, welcher aber ſchwerlich ein guͤnſtiges Prognoftiton
für ihre Fortdauer zu ftellen fein möchte 7°). : ‘
Saft gleichzeitig mit dieſen Ereigniffen in Norbdeutfchland entwickelte ſich
in Würtemberg, deſſen Hochſchule Tübingen mehrere namhafte Hegelia⸗
ner befigt, eine bedeutende Reaction gegen bie Ausbreitung biefer Philos
fophie; wobei nur zu bedauern, daß man auch bier nicht blo8 mit Waffen
der Wiffenfhaft kaͤmpfte. Es gilt dies befonders in Bezug auf die Ans
gelegenheit des Profeſſor Wifcher, die noch in zu frifchem Andenken ift, ale
daß fie weitläufig befprochen zu werden brauchte. Viſcher ward wegen feiner
beim Antritt der Profeffur der Aeſthetik 1845 gehaltenen Rede wegen mehrerer
Heußerungen angellagt und von der Regierung'auf ziel Jahre feines Lehramts
entbunden. Die Rede liegt gedruckt aller Welt vor und enthält nichts, was
nad) dem gemeinen deutfchen Recht irgend ftrafbar wäre; mithin laͤßt fich auch
73) Scheibler, Idee d. Univerfit. S. 381.
74) &. deſſ. Biogr. v. Niemeyer Bd. H. ©. 121 ff. Berg. Stef:
fens, über Deutfchl. prot. Univ. 1819 ©. 74 u. Schleiermadher, Lehre
v. Staat 1845 ©. 203. (Bergl. auh Dahlmann's erft. Vortrag in Bonn
1842.) Selbft Symnafiallehrer, oder auch Volktsfhullehrer, wenn
fie Zalent und Luft zur Schriftftellerei haben, bürfen von Staatswegen nicht daran
ebindert werben, fo ferne fie Beine Amtepflicht darüber verlegen; daß auch
terbei die preuß. Regierung das richtige Princip nicht anerkannt bat, beweifen
die bekannten Falle und Proceffe des Sberlehrers Witt in Königsberg u. bed
Lehrers Wander in Hirfchberg-
75) Vergl. die Schrift: die Abſezung des Prediger Rupp, Wolfenbüttel,
1846 und Raſche, Dr. Rupp’s Öff. Wirken, Königsberg 1846. (Höchft bedauer⸗
lich ift, daß, wie eben die Zeitungen melden [Deutfche Allg. Zeitg. v. 10. April]
Rupp’s Anhänger ſich gewaltfam der Anordnung ber Polizei widerſetzt haben.
Die Liberale Partei follte am Wenigften beriei fich zu Schulden kommen laſſen.)
755) Bergl. Wislicenus, d. freie Gemeinde in Halle. 1817. (Sie beffebt
jest aus 73 Mitgliedern, in Bezug auf welche geringe Zahl W. fih mit Wer:
mr die ebenfalls geringfügige Anzahl der erften Ehriften tröftet! Ale
wenn bier Gleichheit oder auch nur Aehnlichkeit der Verhältnifie vorläge I!)
Suppl. 3. Gtaatöler. II. 49
Pa
TO", Segel (Meubepelianer)
jene Suspenfion vom Standpunkt des Mechts nicht rechtfertigen. Hält man
ihn aber mit Grund Überhaupt für einen „gefaͤhrlichen“ alabemifchen Lehrer,
fo hätte man ihn auch nicht als Privatdocenten dulden bürfen, jeden-
falld wäre dann die Suspenfion eine fehr ungenuͤgende Maßregel. Allein darf
man vergeffen, daß die Aeſthetik der freien philofophifchen Facultaͤt an:
gehört? Es ift wohl auch nicht zu beforgen, daß die wahrhaft abfurde Petition,
mit welcher die Bürger und Bauern in Marbach (Schiller’s Geburts
ort!) und anderwärtd gegen Viſcher's Neactivirung eingelommen 77) find,
— — igung finden wird. Die beſte Antwort darauf fteht Sef.
38, f.
Dies führt uns auf das neueſte, ſchon früher nte Ereigniß eines
Gonflicts bes Hegelianismus mit dem Pofitivismus, die Berufung des Dr.
Zeller in Tuͤbingen als Profeffor der Theologie auf die Hochfchule zu Bern.
Yiefe Sache fheint durchweg ganz die Wiederholung des Strauffihm
dels in Zürich zu fein. Auch Zeller gehört im Allgemeinen der He: |
gel'ſchen Schule an und in Bezug auf bie Theologie der „[peculativen Katik, |
bie als ſolche nidyt blos mit dem fogenannten Supranaturalismus, fondern
auch mit bem fogenannten Rationalismus (ber eine Bereinigung des pofitio
chriſtlichen Glaubens mit der Vernunftreligion DREHEN auf dem prof
tifchen Wege erfirebt) in Widerfpruch fteht. Auch Beller’s Berufung
ging blos von der Regierung aus, welche nicht nur den Widerſpruch ber
Beiftlichkeit als des Vertreters ber Landeskirche, fondern auch dem der the
fogifhen Facultät?®) in Bern durchaus nicht achtete. und ganz fo mt
ber Bürgermeifter Hirzel dem Volke in einer Proclamation erklärte, fein
Beforgniß wegen jener Berufung fei eine durchaus ungegründete, indem dem
Chriſtenthum duch Zeller nicht im Geringften Gefahr drohe. An eine
Aufregung des Volkes fehlte e8 auch nicht, wie die zahlreichen Volksverſamm—
lungen und Petitionen gegen jene Berufung und bie öffentlichen Blaͤtter be
tiefen, melde Zeller's (geglaubte) Ankunft in Bern mit den Morten an:
zeigten: „der Antichriſt fei da!” In der entfcheidenden Sitzung die
großen Mathe im Monat März ward ganz fo wie in Zürich nach einer 14itün:
digen Debatte mit einer impofanten Majorität die Aufrechterbaltung jmer
Berufung durchgefegt und fo fehlt in der That zu einem vollftändigen DaCapo
der Straußiade eigentlih nur nod), daß aud) in Bern ein „„Putfch‘ mit ihn:
licher Wirkung ftattfände |
77) S. Frankf. Journal v. 6. April, Beilage, Deutfche Allg. Zeitg. u ®.
Xpril.
. 75) Der akad. Senat bafelbft hat fich mit großer Majorität (19 geger
7) für neutral in diefer Sache erklärt. Dies ift keineswegs zu billigen; von
ben offentlich anerkannten Organen und Vertretern der BWiffenfchaft ermartet man
mit Mecht ein die Sache aus ihrem wahren höheren Standpunkt auffaffende un!
nach feſten Brincipien biefelbe augleih entfcheidbenbe Anficht ; eine foldı
Paſſivitaͤt ftellt fich felber ein testimonium paupertatis in diefer Beziehung auf.
Und dies vollends in einer Demokratie, in ber bas Solonifche Geſetz, daß cher
Bürger bei entſtandener Spaltung Partei ergreifen muß, und welches auf bi
entargengefeste Benchmen (det Apragmosyne, vergl, Aul, Gell, Noct, At.
I, 12) die Strafe der Infamie fest, durchaus anwendbar ift.
AP
. Hegel (Neuhegelianer). 771
Nichtsdeſtoweniger iſt aber der Fall hier in mehreren weſentlichen Punk⸗
ten ein ganz verſchiedener. Während Strauß grundweſentlich für das Ehri⸗
ſtenthum deſtructive Anfichten in feinem Syſtem entwidelt und durch die
von ihm gewählte Form der Veröffentlichung feines Buches die Abficht, unmits
telbar auf den Glauben der Laienwelt einzupirken, ganz unverkennbar an den
Tag gelegt hat, gehört Zeller jener Fraction der älteren Hegel'ſchen
Schule an, welde eine Vermittlung ober VBerföhnung sejfchen Glauben und
Wiffen oder der Theologie und Philofophie durch Hilfe eben des Hegel'ſchen
Spftems und feiner Kritit auf dem fpeculativen Wege anftrebt, fich
dabei ftreng auf ihrem rein wiffenfhaftlihen Standpunkte Hält und
beſchraͤnkt, auch deshalb auf mehreren deutfchen Univerfitäten bedeutende
Anhänger ober Vertreter diefee Richtung gezählt hat .oder noch zählt, weldye
ihre Anfichten ohne alle Beeinträchtigung durch ben Staat oder die Kirche
bisher entroidelt haben, wie dies auch ganz dem Princip ber akademiſchen
Lehrfreiheit angemeffen iſt. Es genügt, Daub in Heidelberg, Mars
heineke und Vatke in Berlin und befonders Baur ??) in Zübingen
zu nennen, weil Zeller vorzugsmeife als des Legtgenannten Schüler (und
zwar als „der gelehrtefte und geiftvollfte”‘, ſ. Jenaiſche Lit. Zeit. Nr. 248 vom
16. Oct. 1846) anzufehen if. Dan wird freilid) auch von diefer Fraction
für die eigentlichen ‚‚Lebensfragen” unferer proteftantifchen Kirche nicht zu viel
hoffen und ihrer „Uebereinſtimmung mit dem Chriſtenthum“ 80) nicht zu viel
Werth beilegen dürfen, allein immer muß man ihre wiffenfhaftliche Bes
rehtigung und ihr Streben felbft anerkennen, felbft wenn auf dieſem
Wege das Ziel — umd dies ift ein hohes, da in der That die Verfähnung
zwifchen bem Glauben und Wiſſen die wichtigfte aller dermaligen Lebensfragen _
genannt werden muß — nicht zu erreichen wäre, in magnis voluisse sat est!
Was Zeller beteifft, fo bat derfelbe fidy nicht nur ducch manche gebiegene
Schriften in jener angebeuteten Richtung ſowie auch durch feine Geſchichte
der griechifchen Philofophie und trefflichen Auffäge über das deutfche Uni⸗
verfitätswefen (in Schwegler’s Jahrbuͤchern der Gegenwart 1845 und
1846) vortheilhaft befannt gemacht, fondern ift auch feit einer Reihe von Jahr
ten als Privatdocent mit vorzüglichem Erfolge an derfelben Hochſchule wirk⸗
fam gewefen, von weldyer Dr. Strauß gleich nach dem Erfcheinen feines Bu⸗
ches fofort entfernt ward. Der Tübinger Senat bat ihn wiederholt zur Pros
feſſur ſowohl in der theologiſchen ale auch in der philofophifchen
Facultät vorgefchlagen ; allerdings vergebens, weil dem Vernehmen nad an -
„hoͤchſter Stelle” die Zuſtimmung verfagt ward). Werhält es fich hier⸗
mit wirklich fo, fo iſt dies nur ein neuer Beleg dafür, daß auch in Deutfch-
land, felbft in conftitutionellen Staaten, bie Stelumg der Univerfität zur
Staatsgewalt nicht eine ſolche iſt, wie fie der Idee ber Univerfitdt und dem
79) Es fei bier an das ausführliche Werk —I — „die chriſtliche Lehre ‘von
der Dreieinigkeit und Menſchwerdung Gottes“ (3 Bände) erinnert. Vergl. bie
Rec. dieſes Buches in der Neuen Jenaiſchen Lit.⸗Zeitung 1847. Nr. 27—29,
‘ ⸗ 9
80) Vergl. Carove, über kirchl. Chriſtenth. S. 347, Note.
81) Näheres hieruͤber berichtete die Weferzeitung Yufange Februar 1847.
*
die — ein competentes Urtheil,
walt oder der Regent ſelber, ee gerichtet"
werben müffen, mie ſchon bemerkt, an ein blofer Eaie“ ober
resp. Idiot.“ Man erinnert fi, daß der Raifer Sigiemundb auf einem
Reichötage — ſich barüber vertwundernd, daß ein grabuirter Ritter, ftatt auf der
Praͤlatenbank, auf der Herrenbanf fine Sit gmommen — öffent fa
„sch kann in einer Stunde Hunderte zu Rittern fchlagen , zu Grafen und
Fuͤrſten erheben ; aber in meinem ganzen Leben nicht Einen zum Dor:
tor promoviren”®2), Darin ift ganz das richtige Princip: die Anır
kennung der weltlihen Incompetenz in diefer aus geſprochen,
forwie die Anerkennung ber alleinigen Berechti — enfda —
Corporatlon. Es iſt ganz daffeibe Werbättniß wie
ſtlichen Aemter, wo offenbar die fogemannte
Drdination, burchaus nicht von ber wel ausgeben
ebenfo wenig bie Auferliche Anftellung v
ber und ihrem Organ, der Geifllichkeit, —* follte; wie wen.
im Katholicismus gilt, fonbern auch nad ben wahren Principien bed Pretr |
ftantismus der Fall fein müßte. bat bekanntlich Luther im einerde
nen Schrift „daß eine chriftliche —* das Recht habe, ſich ihre Prhıe
ſelbſt zu waͤhlen“ ausführlich nachgewieſen.) Allerdings iſt leider! gefchic
lich, nachdem das leidige fogenannte Zerritorial= oder Conftftorialinftem m
funden und mit ber Kirche auch die Univerfitäten ihrer Corporativrechte im |
Staat gegenüber beraubt worden ®°), dieſes Syſtem pofitiven Medte:
einher: allein dies ift, mwiein Bezug auf das fogenannte Kirchentegiment
des Etantes, erft noch neuerdings von unfern berübhmteften proteftantiihen
Theologen (Großmann in Leſpzig, von Ammon in Dresden und Bi
[hof Eylert in Berlin®?) nachgemiefen, eben eine bloße Ufurpatien,
melcher der Staat von Rechtswegen entfagen müßte. Selbft in dem Fall ſe
doch, daß man der Staatsgewalt das Recht der Ertheilung der akademiſten
Profeffuren, befonders der theologifchen, fortwährend zuerfennen molt,
dürfte die Verweigerung einer folhen auf den Grund einer blos ſubfecti—
ven Anficht des Regenten bin nicht gerechtfertigt erfheinen, fonbern mu:
dann, wenn der Docent, von bem die Rede, ſolche Grundfäge entſchieden
ausgeſprochen hat, welche nicht nur der Staatsgemalt ald der oberaufie
henden Behörde als deftructiv erfcheinen, fondern dies auch nach dem Urrbrüs
der competenten wiffenfchaftlichen Corporation wirklid) find. In einem !
— und Vertreter ber — im Bag auf die Zange |
— — —
— — —— —
A2) Kremfier, über ben Einfluß ber Wiſſenſch. 1827. S. in
A) Vergl. Dafe, db. gute alte Recht db. Kirche. 147. ©, f.
a4) Wir haben dieſe Stimmen in Bran’s Minerva 1646, "Apı ih
ſammengeſtellt. Vergl. Scheibler, üb. db. Berbältnift zwiſchen Staat Ki
Kirche, in Polig's Tahrbüch. 1834 Dec., 1835 Mai.
Gegel (Neuhegelianer), 713
ſolchen Falle wuͤrde aber auch bie Wirkfamkeit als Privatbocent nicht geitattet
werden dürfen, da zwifchen ihr und der Profefiur gar Bein wefentlicher Un⸗
terfchieb flattfindet. Man wirb body wahrlich nicht glauben, daß mittels ber
letztern als einer bloß dußern Anerkennung durch einen Zitel und etwaige
materielle Unterftügung von Seiten des Staates, in bem Lehrſyſtem des
Docenten eine Transfubflantiation vor fi ginge! — Hätte nun, um auf
den vorliegenden Kal zuruͤckzukommen, Zeller, ein fehr beliebter Privatdos
cent, das Chriftenthum wirklich „‚untergraben”: wie hätte man ihn fo viele
Jahre lang in diefer fo bedeutenden Wirkſamkeit 85) Laffen, wie ihn von Seis
ten der Facultaͤt und des Senats zur Profeffur vorfchlagen fönnen! Wenn
Zeller demnach für das ohnehin vozzugsweife zum Myſticismus und Ortho⸗
doxismus genrigte und gerade in academicis theologicis ultraconfervative 8°)
Mürtemberg rechtgläubig genug war, fo wird aud) das Berner Chriften-
thum von ihm nicht „defteufet” werden! Endlich iſt auch die Oppofition
der Geifttichleit und des Volkes in Bern gegen feine Berufung eine fo alls
gemeine und entfchiedene, wie fie es in Zürich gegen Strauß war, fo daß
ein „Putſch“ deshalb nicht ſehr wahrfcheinlich erfcheint. Uebrigens ift die
Sache im gegenwärtigen Augenblid 87) noch nicht zum völligen Abſchluß ge⸗
tommen, und immerhin möchte «6, da doch einmal eine nicht unbeträchtliche
Zahl von Berner Bürgern, beſonders aber die theologifche Kacultät felber
fi) gegen Zeller's Berufung erklärt hat, angemefjener fein, davon ganz
abzufehen oder Zellen in die philoſophiſche Facultaͤt zu verfegen, über
welche weder ber Kirche noch dem Laienvolk eine Eontrole oder ein competentes
Urtheil über Anftellungsfähigkeit zuſteht.
Es ift bisher Ludwig Feuerbach's noch nicht beſonders gedacht wors
den, der gemöhnlih mit Strauß und B. Bauer als „der Dritte im
Bunde“ (gegen das Chriſtenthum) bezeichnet zu werden pflegt, To wie als Einer
von Denen, welche auf der „Außerften Linken” der Hegel’fchen Schule
feinen Plag genommen hat. Derſelbe gehört ohne Zweifel zu ben ausgezeich⸗
netften jüngern Philofophen und in fofeen zur Hegel’fhen Schule, als er
eine Reihe von Jahren entfchiedenfler Anhänger derfelben war, ald weldyer er
85) „Ein alademifher Lehrer wirkt bei gleichen Kräften tiefer in.
den Staat hinein und hinunter ald taufendb Autoren, bie er noch dazu mit
bilden balfz auf feinem Lehrfluhle dreht er eine Spinnmafchine von taufend
Spindeln um. ine Akademie ift die eigentlidhe innere Staatsmiffion und Pros
paganda, da fie eben bie rüftige, leichtempfangende und lange fortgebährende
Zugend mit ganzen Generationen befruchtet.’ Sean Paul, Freiheitsbüchlein
86) ft es nicht ein wahrer Skandal, daß in unfrer Zeit auf der protes
ftantifhen Univerfität eines noh dazu conftitutionellen Staates, in
Zübingen, für die proteflantifche Theologie Studirenden das möndifc oder
Hoftermäßig organifirte Stift noch fortbefteht, in welchem dic Gtudenten ben
größten Theil des Tages eingef perrt find (2 Stunden dürfen fie in die Stadt,
und wie fie dieſe Freiheit enugen, d. h. furchtbar mißbrauchen, haben die
Halle'ſchen Jahrbücher 1839 ausführlich erzählt)! — Auch Ewald's neucfte
Schrift über Tübingen beweift, wie nöthig gerade dort Reformen find.
7) Anfang April 1847. . 98
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anıge Dara zu Einer richtigen Deurigeuung Dejjsiven Dem x
zu geben. Das erfte befteht nun eben darin, daß Feuerba
wefentlihe Differenz von Hegel urgitt.
„Meine Religionsphilofophie ift fo wenig eine Erplicat
fhen, wie der übrigens fehr geift: und kraftvolle Verfaſſer
(Bruno Bauer) will glauben machen, daß fie vielmehr nur aus d
gegen bie Hegel’fche entftanden ift, nur aus diefer Dppofit
eurtheilt werden fann. Was nämlich bei Hegel die Bedeutu
dären, Subjectiven, Kormellen hat, das hat bei mi
des Primitiven, bes Dbjectiven, Wefentlidhen.
+ B. die Empfindung, das Gefühl, das Herz die Form, in di
-dersher ftammende Inhalt der Religion verfenten fol, dam
um des Menfchen werde; nach mir ift der Gegenfland, de
ligiöfen Gefühle felbft nichts Anderes ale das Wefen des ©
wefentliche Unterſchied, tritt auf eine bhöchft deutliche Weife ſchon
vor, wie Hegel und wie ih gegen Schleiermader, den le
bes Chriſtenthums, polemifire. Ich table Schleiermacher nich:
Hegel, daß er bie Religion zu ciner Gefuͤhlsſache mad)
deswegen, daß er aus theologifcher Befangenheit nicht dazu 1
Tonnte, bie nothwendigen Confequenzen feines Standpunktes 3
nicht den Muth hatte, einzufehen und einzugeflehen, daß o
feld ft nichts Anderes ift als das Wefen des Gefühle, we
Gefühl die Hauptſache der Religion iſt. Ich bin in dieſer Be;
gegen Schleiermacher, daß er vielmehr eine wefentlihe €
fachliche Beftätigung meiner aus der Natur des Gefühle gefı
tungen ift. Hegel ift eben deswegen njcht in das eigenthuͤmlich
ligion eingedrungen, weil er als abftraceter Denker nicht üı
Gefühle eingedrungen iftl. — Hegel identificirt die Ne
Philoſophie, ich hebe ihre fpecififche Differenz bervors
die Religion nur im Gedanken, ich in ihrem wirtlidhen
findet die Quinteffenz der Religion nur im Compendium t
ih ſchon im einfaden Acte bes Gebete; Hegel objecti
LET) s
Anetinn 1aatiusien Ka? Nhiastinane Canal Falle Kia
Hegel (Neuhegelianer). 775
gan und Gegenftandbz Hegel geht vom Unenblichen, ih vom Endlichen
aus; Hegel feht das Endliche in das Unenbliche, weil erw noch ben alten
metaphyſiſchen Stanbpuntt bes Abfoluten, Unenblichen zu feinem Ausgangspunkte
yet und zwar fo, daß er im Unendlichen die Rothwendigteit der Begrenzung,
ſtimmung, Endlichkeit aufzeigt, ich ſeze das Unendliche in dad Endliche;
Hegel ſett das Unendliche dem Endlichen, das „Speculative“ dem Empi⸗
riſchen entgegen, ich finde, eben weil ich ſchon im Endlichen das Unendliche,
ſchon im Empiriſchen das Speculative finde, das Unendliche mir nichts Anderes
iſt als das Weſen des Endlichen, das Speeulative nichts Anderes als das
Weſen des Empiriſchen, auch in den „fpeeulativen Geheimniſſen“ der Religion
nichtö Anderes ale empirifche Wahrheiten, wie z. B. in dem „fpeculativen My⸗
ſterium“ der Trinität Leine andere Wahrheit als diefe, daß nur gemeinfames
Leben Leben ift — alfo Zeine aparte, transfcendente, fupranaturaliftifche, ſon⸗
bern eine allgemeine, dem Menfhen immanente, populär auögebrüdt, na =
türlihe Wahrheit. — Es ift daher nihte alberner, als die Gedanken mei:
ner Schrift, die gerade aus ber Dppofition gegen bie abflracte, d.i. von dem
wirklichen Wefen her Dinge abgefonberte Speculation entftanden find, für Pro:
ducte einer „abfkracten Dialektik“ zu erllären. Sind diefe Gedanken Probucte
der abftraeten oder Hegel'ſchen Dialektik, fo ift auch ihr Verfaſſer mit‘ Haut und
Haaren, mit Fleifh und Blut, mit Knochen und Nerven ein Probuct der ab:
firacten Dialektik; denn diefe feine Gedanken find fein Werfen !"
Noch ftärker lauten folgende Aeußerungen Feuerbach's 80):
„Was nun aber das Werhältniß der Hegel’fchen Philofophie zu dieſem Zus
ftande einer weithiftorifhen Heuchelei betrifft, fo kann ihr keineswegs bie
Shre vindicirt werden, benfelben entlarot und wahrhaft überwunden zu haben.
Sr ift vielmehr ebenfo viel in ihr überwunden ale nicht überwunden. Hegel
it duch und durch ein Widerfprud. Es gehört wefentlic zur Cha⸗
rakteriſtik feiner Philofophie, daB fich ebenfo gut die Drthobdorie als bie
Heterodorie auf ihn flägen kann und fich wirklich geftügt hat, daß fich eben-
fo gut, Übrigens nur mit größter Anflrengung und Willkür, bie
Zone der „Pofaune” aus ihr bervorbringen laffen, als die füßen einfchmeicheln-
den Flötentöne ber Harmonie des Glaubens und Unglaubend. Hegel ift die
Aufhebung bed abgelebten Alten im Alten. Wie überhaupt die philofophis
fhen Spfteme, fo ift auch und zwar insbefondere das Hegel’fche Syſtem ein
unerläßliches bleibendes Zucht⸗ und Bildungsmittel des Geiftes, bad Keiner um
geftraft ignoriren kann. Aber fo nothwendig die Schule, fo nothwendig ift die
Ueberwindung der Schule. Nicht die Schule, fendern die Freiheit von
ber Schule ift der wahre Zweck derſelben. Nothwendig ift es, ſich durch ein phi⸗
Lofophifches Syſtem zu beflimmen, zu bilden, aber bie feftgehaltene, die firicte
Beftimmtheit ift Befhränktheit. Nur die flüffige Pbilofophie, die
Philoſophie, welche aufhört ein fired Syftem zu fein, welche die Wahrheit
der vorhandenen Syſteme in ſich begreift, ohne felbft ein abgefchloffenes Syſtem
zu fein, und doch zugleich keine Eklektik ift, nur diefe ift die Philofophie des Les
ns, der Zukunft. — Die Hegel'ſche Philofophie kann Thon deshalb nicht feſt⸗
gehalten werden, weil die verzwidte, untergeordnete, unnatürliche Stellung ber
atur in ihr gang der Bedeutung widerfpricht, welche immer mehr im Leben
und in der Wiffenfchaft die Natur gewinnt. Die währe Stellung der Natur
finden wir aber nur, wenn wir an die Stelle bes abftracten Spectrum bes
„Weltgeiſtes“ den lebendigen Menfchengeift fegen. Die Hegel’fche Phitofophie
ift überhaupt in ihrer Methode viel zu einfdrmig, in ihren Ueber:
gängen ‚viel zu willtürlih und unnatürlid, in ihrem Bau viel zu
complicirt, in ihren Beftimmungen viel zu abgefondert von der An:
fhauung des Menſchen in der Natur, in ihrem ganzen Wefen viel zu wider:
— u mn j
89) Deutſche Jahrb. 1842, Nr. 40,
\
776 Hegel (Nenhegeliaer). oo.
ſpruchsvoll, in ihren biftorifchen Beziehungen viel zu fehr noch behaftet mit
allerlei Antiquitäten, als daß nicht auch hier, d. b. alfo auf dem Gebiete
ber Philofophie ebenfo gut wie anberwärts die Scheibung bes
Lichts von der Finſterniß, der Rothwendigkeit von der Willtür, der Ein:
heit vom Widerfpruch , des Wefens vom Scheine, ber Wahrheit vom Irrthum
ein dringendes Beduͤrfniß fein follte. — Meine Schrift ift nun gerade hervor:
gegangen aus dem Beftreben, die bisher trot ihren gepriefenen „Smmanenz‘’ im:
mer fo trandfcendente - und deöwegen fo wiberfpruchevolle und complicirte Phi:
loſophie „zunaͤchſt auf dem Gebiete ber fpeculativen Religionsphilofophie”' auf
ihre einfahften, dem Menfhen immanenten Elemente zu rebus
eiren, zu fimplificiren. Aber cben diefe Tendenz begründet einen weſent⸗
lichen Unterſchied zwifchen der Hegel'ſchen und meiner Religionsphiloſophie.
Daher ift mir der Mittelpunft der Religion, die Incarnation Gottes, der “he:
anthropos nicht, wie dem Hegel, cin widerfpruchsvolles Compofitum von Ge:
genfäben, kein fonthetifches, fondern analytifches Urtheil — die finnliche Eon:
fequeng einer Prämiffe, die daffelbe nur auf unfinnlihe Weife fagt. Daher ift
der Grund und das Refultat meiner Schrift nicht die Identität des menfchlichen
und eines andern Wefens, fondern die Identität des Wefens des Menſchen
mit ſich felbft. Die Hegel’fche Religionsphilofophie ſchwebt in der Auft,
meine fteht mit zwei Beinen auf dem heimathlichen Boden ber Erde fefl. Die
Hegel’fche Religionsphilofophie hat kein Pathos in fih, kin Leidendes Wes
fen, fein Beduͤrfniß, kurz feine Baſis; bei mir ift die Bafis der Reli:
gionsphilofophie in ihren niedern Zheilen die efoterifche Anthropologie,
in ihren böhern Theilen die efoterifche Pſychologie. Die Religionsphilo-
fopbie im Sinne der efoterifhen Pfvchologie ifteine neue und frucht⸗
bare Wiſſenſchaft. Jeder Philoſoph, der eine Religionephilofophie in einem
- andern Sinne geben will, fann fi von nun an nur blamiren. Kurz
meine Religionsphilofophie ift die geradezu auf den Kopf oder vielmehr auf ihre
wahre Baſis yeftellte umgekehrte bisherige religidfe Speculation, felbft die
Hegel’fche mit eingefchloffen. S. die Anmerk. S. 18 meiner Schrift.‘
Da wir hier es nur mit ber Hegel’fchen Philofophieund Schule zus thun
haben, fo kann von der Feuerbach'ſchen weiter feine Rede fein. Doch wird
es vielleicht manchem unferer Lefer intereffant fein, wenn wir ihn auf eine Kri⸗
tik des genannten Werks von dem Redacteur des Königsberger Literaturblatts,
Alerander Zung °9), aufmerkſam machen und einige Hauptftellen daraus
beifügen.
Nachdem gefagt worden, daß aller Wahrfcheinlichkeit nah man jene
Schrift, deren unverkennbare Abficht es fei, die ganze Theologie und was ihr
zu Grunde liegt, für einen „Jahrhunderte langen Irrthum zu erklaͤren“,
von ber einen Seite als gottesläfterlich oder für infam erklären, von
der andern Seitediefelbe vornehm und heuchleriſch ignoriren merbe,
wird diefelbe (und zwar mit ber ausdrüdlichen Erklaͤrung, daß der Recenfent
mit dem Verfaſſer großentheils in die firengfte Oppofition treten müßte)
für eine Außerfi bedeutende Erfheinung in ber Wiffenfhaft,
bedeutend ihrem Inhalt wie ihrer Ausführung nach erklärt: |
90) Nr. 8 vom 24.Nov. 1841. — Ucher Feuerbach ift noch zu vergl.:
Baumgarten: Erufius, Recenſ. d. Schr. „d. Wef. d. Ghrift.” in d.
Jenaiſchen Lit. = Zeitg. 1843, Jan. Nr. 1., Schwegler’s Jahrbuͤch. d. Lit.
1816, Det. S. Yol ff., Hundeshagen, d. deutfch. Proteft. 1847, ©. 182 ff.
und Haym, Feuerbach u. d. Philof. Halle, 1847. (Vergl. auh Reinwalpd
d. 3., Vb. populäre Geſetzkunde, 1846 ©. 44, Note,
" Hegel (Neuhegelianer). 777
„Ja, wir glauben, daß ſich an dieſes Werk, wie an die Do matik von
Strauß, in deren beiderſeitiger höchfter Schärfe des Negativen, eine Ummäl-
zung für die Theologie unfehlbar knuͤpfen wird, die in Werbindung mit den gro:
Ben Entdeckungen, welche in pofitiver Weife der Philofophie allerdings bevor:
ftehen, die entgegengefegten Ergebniffe von demjenigen veranlaffen muß,
was Feuerbah, was Strauß, was größtentheild die ganze Linke Geite ber
Hegel'ſchen Schule in Betreff Gottes, des Chriſtenthums und ber menſch⸗
lihen Natur herausgebracht haben.” '
Nach einer Parallelifircung von Strauß und Feuerbach heißt es dann
(S. 60):
„Die Polemik gegen die Unvernunft, der Kampf bes Üüberlegenften Verſtandes ges
gen die bloße Despotie eines dumpfen Glaubens ift nie vielleicht fo gluͤcklich ges
führt worden wie in diefer Schrift: Ia, wenn wir und an das Ende unſeres
Werkes ftellen und nun das ganze Feld bes Unternehmens, bie ganze großartig
angelegte und durchgeführte Taktik des Angriffs überfehen, fo müflen wir ben
Sieg — in wie weit er erfochten worden — nur um fo höher anfchlagen. Allee,
was England und Frankreich in der Polemik gegen die pofitive Re⸗
Ligion hervorgebracht haben, ift, gegen dieſen Angriff Feuer bach's gehalten,
ein wahres Kriegsfpiel von Kindern und für Kinder. Das Ausland — ſa⸗
gen wir ed nur geradezu heraus, denn es ift fo — bat noch gar feine Ahnung
von einer philofophifchen Bildung, auf deren Höhe allein ein folder Angriff
möglich war; benn, was ihn vollbringt, ift neben dem bewunderndwürdigen
Scharffinne des Verfaſſers die ganze vortrefflich aber durchaus nur von einer
Seite hier angewandte Dialektik Hegel’s, Feuerbach's ganzer Angriff bildet über-
haupt immer nur ben linken Flügel, bat zu feinem rechten bie Dogmatik von
Strauß und hat zu feinem eigentlichen Gentrum und fichernden Hinterhalt die
ne Phaͤnomenologie. Wo wäre denn überhaupt fein Buch ohne
ieſe?
Es wird jedoch von Alex. Jung, nachdem er das Bleibende und Ver⸗
dienſtvolle an Feuerbach's Schrift näher angegeben ?!), noch hinzugefügt:
— — —
91) „Während Strauß in der Dogmatik eine dialektiſche Auflöfung jedes
einzelnen Dogmas, durch fich felber, mehr auf dogmengefchichtlihem Wege giebt,
zerfegt Feuerbah, wenn man ibm feinen Standpunkt einräumen
darf, die ganze Theologie, das GChriftenthum, ja das Wefen aller Religiom,
ebenfalls durch jenen dialektiſchen Proceß, nur mit dem Unterfchiebe, baß er Pos
fitiveres ald Strauß zu Leiften fcheint, indem er im 1. Theile, dev ung bie
Religion in ihrer Webereinftimmung mit dem Wefen des Menſchen fchildert, eine
Art phänomenologifher Entwidelung des Religiöfen durchführt und dann erft
im 2. heile die eigentliche Auflöfung folgen läßt, die daher auh im Gans
zen noch bei Weiten verneinender ift als die von Strauß. Und diefed Verfah⸗
ven, — doch nicht zu überfeben, wenn man ben Ausgangspunkt zus .
giebt —, iſt Höhft gelungen zu nenuen, zeigt uns den Gegenftand in feis
ner entfhiedbenen Unmdglidhfeit. Welch eine Reinheit und Strenge,
welch eine Zucht des wiffenfchaftlihen Sinnes, welch ein etbifcher Antrieb! Welche
Zerſtoͤrung alles Vorurtbeils, aller bloßen Vorausſetzung und Weberlieferung jener
Leute, die fih immer nur bie Wahrheit aus dem Auge vüden wollen! Welche
nur wahre, nur im Sein und im Denten ewig begründete Auffaffung ber Natur
‚und ihrer einzigen und unmanbelbaren Gefegmäßigkeit! Man wirb nirgenb
ein reineres, vollendeteres Ideal für die Wiffenfchaft und das wiffenfehaftlihe
Verfahren aufftelen können, als Feu er bach In feinem Buche hervorhebt. So
ift die Wiffenfhaft, fo ift fie allein, wie Feuerbad fie charak⸗
terifirt, wie er ihre Strenge unerbittlich gehalten wiſſen will.“
Hegel (Neuhegelianer), |
ir &önmen ben Ausgangséspunkt Feuerbach's nicht zugeben,
von bem er in biefer Schrift, von bem er in allen feinen Wer:
— anf und vielleicht ber groͤßte Theil gern a Schule,
Mur m dußt, ihre Vernichtung folgerecht ausüben. Denn — biefer
ee bloße Hypotheſe, und noch dazu eine Hupothefe, bie
‚mar „ Denker ald völlig unmahr erweiſt. Und diefes ift denn
punkt unferer Betrachtung. — Feuerbach’s eigentliches Unter:
munh darauf gerichtet, zu beweifen, bie ganze Theologie, das
‚ja alle Religion fei in ber That nichts als purer Anthropomor⸗
ſei bas Alles nur eine Folge der Bebhrftigkeit bes Gefhhts. „,,,Rein
ann, fagt er, in feinen Gefühlen, Borftellungen, Gebanten feine Ratur
. Bas es auch ſetzt, — es ſetzt immer ſich ſelbſt. Jedes Werfen bat
tt, fein höchftes Wefen in fich felbft. Preifeft du bie Herrlichkeit
‚0 preifeft du bie Herrlichkeit bed eignen Weſens. — Gott ift das
» audgefondberte fubjectiofte Mefen des Menſchen.““ — „Es kam
ſes nun in gewiffem Sinne wah 1. Es kann von bier aus wirt
Grundloſigkeit vieler bisber fuͤr wayr uuögegebenen Lehren nachgewicen
(fo wie wir benm übergeugt find, daß ein großer Theil unfrer heutige
chen Doctrin rettungslos aufgegeben werben muf), und bennody bleibt
ad eigentlihe Wefen bes Ehriftentbums, der Theotogie und
a völlig umerfhüttert. — Es iſt aber der Grundfebler in allem
nbiren Feuerbach's und Straußens, wodurch all ber ihnen eigene u:
Scharffinn ein gang unnüßer Luxus wird, der, da ß fie fih im naive:
ben irbifhen Standpunkt, von bem aus ihr Denken erft moͤglich
z genebm fein Laffen und nun vergeffen, daß fie eben burd
tten in ben ungeheuren Procef bes Univerfums bineinge:
‚nd, obme doch bas Recht zu haben, zu behaupten, biefer Standpunkt
» Univerfum. — So aber verfahren ſie. Gerade fo als hätten fie bie
vv neh”.
Uebrigens ift merkwürdig, daß B. Bauer, ber ermähntermafen
Strauß und Hengftenberg in diefelbe Claffe gebradıt hat, auf
dem Ludwig Feuerbach nachweiſen will, daß er mit dem Pofitiven
den Gegenfaß bildet, in welchen die Unbeftimmtheit des Hegel’fhen
Syſtems verfiel” (f. die „Norddeutſchen Blätter”, in welchen die Charter
tenburger Bauer’fche Literaturzeitung wieder auflebte) 97).
92) Die Stelle findet fih auh in Otto Wigand's Epigenen 1846. Br J.
©. 307: „Sie (F. und d. Pofitiv.) gehören zufammen, waren gleich berechtigt
und Eonnten fich nichts anbaben. Die Wahrheit lag erſt in ibrer fpätern ES:
bern Vereinigung: an die Stelle beider entgegengefegten Anfchauungen (die Ar:
ſchauung von dem Wefen, in welches fich die Perfönlichkeit aufhebt, und ver
dem Verhältniß zweier pofitiven Perfönlichkeiten, von denen jede ihre Schrankt
und ihre Unendlichkeit fest) — trat fpäter der Gedanke der Perfontichkeir uͤber—
haupt, die der Urheber ihrer Attribute und ihres Weſens iſt.“ „Eine Kritik, Ne
in jedem Momente immer nur das einfache Wefen im Auge bat und ibren Mi:
genfag an demſelben mist, ift auh in jedem Augenblide fertig, bat keine Ent:
wicelung in fich, fehreitet nicht in Sturmfchritt vorwärts, fondern ſpringt, um
von einem beftimmten Gegenftande zum andern fortzugchen, erleuchtet nicht, for:
dern ſpricht nur, indem fie den beftimmten Gegenftand der Kritit im Weſen
augenblicklich fich verzehren laßt, fie blendet, indem fie eine Beſtimmtheit wir
die andere in die Glorie des Weſens bincinhebt, und verfchließt fich den Bi in
die Widerfprüche der Geſchichte. Die Kritik iſt erft welterfchütternd, wenn fi
weiß, „daß die Unterſcheidung des Individuums von feinem Wefen fein eigenes
Hegel (Neuhegelianer). 779
Ihrerſeits haben übrigens auch die Alt» Hegellaner nicht unterlaffen,
Keuerbach in die Reihe der Gegner diefer Philöfophie zu Tegen und ſich ent⸗
ſchieden gegen ihn zu erklaͤren, z. B. Marheinete in feiner Eintel-
tun, in d. öffentl. Vorlefung. u. f. 1. 1842°®), fo auch Rofentrang*).
Es ift früher gezeigt worden, wie die Hegel'ſche Philofophie bereits im
vorigen Jahrzehnt von einem namhaften Gefchichtfchreiber der Phitofophie
(Chalybäus) als die philofophifche Theorie für die neueren foctaliftifchen
Spfteme des St. Simonismus ıc. zc. bezeichnet worden iſt ?s). Auch für
diefe Behauptung hat die neuefte Befchichtenoder das gegenwärtige Jahrzehnt
mehrfache Belege gegeben. Dan erinnert ſich des in Zürich verhanbelten Pros
tätiges , fich bewegendes Wefen, das Weſen aber feine That ift, die Perſonlich⸗
keit, die der Urheber ihrer Attribute und ihres Weſens ift.’
93) Nachdem (&. 36) gegen die junghegel’fche Schule, namentlih Strauß
u. f. w. polemifirt worden, heißt es:
„Nah Feuerbach, bdeffen Werk ‚Ueber das Wefen des Chriftenthums‘
eine vollftändige, auch mit Pathos gefhmüdte Leichenrede auf das Ehri-
ſtenthum ift, foll ed mit dem Chriſtenthum fchon gänzlich aus fein. „„Wir
haben ung” ", fpricht der Redner gleichfam betrübt, „ehrlich und redlich eins
zugefteben , daß das Zodte tobt “ alle Wiederbelebungsverfuche alfo eitel und
vergeblich find, und uns daher eine neue, lebensfrifche, aus unferm eignen Kleifch
und Blut erzeugte Anfchauung der Dinge zu ſchaffen.““ (Deutfhe Zahrb.
&.39. 40.1842.) „„Die Religion ift nichts Anderes ald das vergegenftänblichte
Weſen des Menfchen, das Werk der. Phantafie, ein Zraum, worin unfre eignen
Vorftelungen ale Wefen außer uns erfcheinen, ein Spiel mit Bildern und biefe
find die Sache ſelbſt. Offenbarung ift die Selbflentfaltung des menschlichen We⸗
ſens, das Wunder ein realifirter fupernaturaliftifher Wunfd und im Gebet
betet der Menſch fein eignes Herz an. Gott ift das offenbare In⸗
nere, das ausgefprochene Selbft bes Menfchen. Die Erifteng Gottes mäßte
ja finnlihes Sein fein. In der Zrinität find nur Zäufchungen, Phantasmen,
Widerfprühe und Sophismen zu finden. Das oberfte Princip des Chriſten⸗
thums ift die Hppofrifie.- Das EChriſtenthum ift eine grund verder b⸗
liche Illufion, die Theologie nichts weiter als Anthropologie u. ſ. f. —““
„Dieſe Lehre ift ein füßer Egoismus, ein mehr ald Berkeley’fcher Idea⸗
liemus, dabei ein höchft populär gehaltener Subjectivismus. Aus bem blos Fir
nomenologifchen, pfychologifchen Standpuntte, ben Feuerbach einfeitig (eh it,
kann Alles in der Religion und fie felbft Leicht als Widerſchein nur des eignen
Selbfts erfcheinen. Aber der unendliche Inhalt der Idee iſt bier unbeachtet pe
lLaffen und verlommen. Feuerbach, deffen frühere Schriften im
Sinne der Degel’fhen Philofophie ihm fehr gur Ehre 'gereis
hen, eufcheint in der gegenwärtigen als ermattet, fi unnatürlich montirend
und ſich erſchoͤpfend in geſuchten Paradoxien, häufigen Repetitionen, blendenden
Schlaglichtern, nicht mehr im Stande, das ſich Widerſprechende zur hoͤheren Ein⸗
heit zu bringen, d. h. einen fpeculativen Gang zu machen, fondern er bleibt in
den Dornen der Gegenfäge hängen und überläßt der natürlichen Bernunft,
nicht dem Geiſte die Entfcheibung. Wer wie er den Geift des Vaters und
Sohnes nicht anerkennt, wem er eine zu: „yage und precäre, blos poetifche Pers
fonification, ein die Symmetrie Störendes” und nicht vielmehr erft diefelbe wahr:
haft Bewirkendes ift, kann aud vom Geiſte des Chriſtenthums kaum noch
eine Ahnung behalten u. f. wm.’
94) Hegel's Leben ©. XIX ff.
95) Hiſtor. Entwickl. der Ph. v. Kant bis Hegel. 1887. ©. 338.
0 Hegel (Neubegelianer).
ceſſes des Schneidergefellen Weitling aus Magdeburg, mwordber ‘vom
Staatscath Bluntſchli ein actenmäßiger Bericht veröffentlicdyt ward. In den
darin enthaltenen Briefen jener deutſchen Communlſten fpielt namentlid) in
D.M. Hefi, der fid) fpdter auch ducch feinen Befellfhaftsfpiegel befannt (und
unleugbar durch die vielen merkwürdigen Thatſachen, die er in Bezug auf dm
Pauperismus zur Öffentlichen Kunde gebracht, wirklich verdient) gemacht hat,
eine bedeutende Rolle und zwar wird er darin?) als ein Degelianer vom
„reinkkin Wafler‘ bezeichnet. Als folder hat er fi benn auch durch mehrere
Auffäge indenvon Hermweg b herausgegebenen „21 Bogen aus ber Schweiz”,
ſowie duch feine Schrift: „bie Europdifhe Triarchie“ gezeigt?”). Di
auch die B. Baner’fche Schule hierher gehört, iſt [don angedeutet worden,
Am meiften Auffehen hat ſedoch im biefer Hinficht ber Hegelianer Mar
Stirner durch fein Buch: „ber Einzige und fein Eigenthum“ (1845) ge
macht, ‚der, beiläufig bemerkt, ebenfalls ben &, Feuerbach, mit dem er fih
doch in Hinficht auf fpeculatives Talent und twiffenfhaftliche Tüchtigkelt mic
im Entfernteften vergleichen Bann, einen Pfaffen fhilt!?®) und die unfinnig
Idee des Communismus, alles Eigentbum abzufhaffen, auf die Spige trieh.
Ueber feine Schrift und ihre Beziehung zum Hegelianismus heißt es ſch
u. In den Blättern für lit. Unterhalt. 1846, Nr. 34 vom 5. Fk.
u 4:
‚Stirner’s Buch ift für die Gefchichte der He gel’Tchen Baar
f opbie von feiner geringen Bebeutung. Nirgenbs Fhiegelt fich Auflbe
fung des Hegelthums in feiner ſchulmaͤßſgen Form beſſer und deutlich
als bier. Die Dialektik bat ſich in ihren Durchgangspunkten vollkommen erſchoͤpf
Sie bat durch Feuerbach das Zenfeits geftürgt, ſie befimpft durch Bautt
bie einzelnen Disciplinen ber Theologie, obne aber felbit noch vom theologiſche
Standpunkte frei werden zu Bönnen. In Stirner wendet fie fich nun ac
das, was fie bisher als ihr „Weſen“ angenommen bat, gegen ben „Bct
ſelbſt. Sie gelangt in Stirner zu einer Verfpottung und Verachtung des Kt
ftes. Weiter tann cine Schulphiloſophie aber nicht fommen als zur Werachtim:
des „Geiſtes“, mit dem fie fo lange Hocuspocus aetrieben, den fie fo lange ir
„zierliche ſpaniſche Stiefel’ eingefchnürt bat. Wenn fie das Reich dis Sci,
welches fie lange Zeit zu beberrfchen fih Mühe gab, gar felbfl als einen „Sur,
als einen „Sparren“ belennt, dann bat fie zu gleicher Zeit fich ſelbſt vermie:.
Der Eifer, mit dem fie ſich an die Vernichtung des Geiftes macht, nachdem X
glaubt, alles Uebrige geftürzt zu haben, kann aber für den, dem der Get nıt
etwas Anderes als ein „Sparren“ ıft, mir als der Paroxysmus eines Sterker:
96) ©. 5035 val. d. Briefe v. 31. San. u. 15. Mai 1843.
97) Auch war es unfers Wiffens derfelbe, der mit dem Dr. Ruge nad
Paris reifte, welcher Letztere übrigens bekanntlich die Frage des Communismu:
ftets lächerlich gemacht und bekämpft bat; vergl. Ob.P.-Amtszeit. vom 3. Jar.
1247. (Berm. Nachrichten.)
98) ©. Hundeshagen, Der deutſche Proteft. S. 187. — Ein Ex
rakteriſtit M. Stirner's findet fih in Kuranda's Grenzboten 1847. N. 13. &.
563 (woſelbſt unter Anderm gefaat wird: „Vor einiger Zeit ſetzte M. St. in
der Voſſ. Zeit. Berlin durch die Aufforderung in Erftaunen, ibm auf Perfe:
naleredit 500 Thaler zu leihen! — ihm, der gegen alle Begriffe des Rechts,
dev Pflicht „ ter Treue cin fo leidenfchaftiiches Manifeſt in die Wett geſchickt“.
Auf das Gefaͤhrliche der Theorie Stirner's iſt erſt kuͤrzlich in der Augsb. Als.
Zeit. v. 28. März 1847. ©, 693 hingedeutet worden, "
—2&
| Hegel (Neuhegelianer). 781
den erfcheinen. In der That, mit der Schulphiloſophie iſt es aus. Ihre
Dialektik, ihre Kunſtſtuͤcke ſind vollkommen erſchoͤpft. Es iſt in ihrem Bau kein
weiterer Fortſchritt moͤglich. Sie muß zu Grunde geben, ihr Kreis iſt vollendet.
Aber es ift eine Anmaßung der Schulpbilofophie, zu glauben, daß, weil,
fie fterben muß, auch der Geift überhaupt, ben fie fo lange gefchulmeiftert,
fterben müffe, und es iſt ein Grundirrthbum bei Stirner, die Auflöfung der Des
gel’fhen Schulphilofophie mit der Auflöfung des Geiftes zu identificiren und
zu behaupten, weil die Sonfequenzen einer. Schulpbilofophie unpaltbar wären,
fei der Geift felbft unhaltbar, „Spuk“, „Unfinn”, „Sparren“, „Sefpenft.” Die
Philofophie der Griechen ftarb in Spisfindigkeiten, ber „Geiſt“ lebte fort; die
Scholaſtik Yes Mittelalters ftarb in Spiefindigkeiten und der „Geiſt“ Iebte fort;
die Hegel’fhe Philofophie hat fich ebenfalls in einer übertriebenen und
übertreibenden Dialektik ausgelebt, aber ber „Geiſt“ wird damit nicht zu
Ende getommen fein, in ihm liegt das Abfolute’‘99).
Man darf allerdings der Hegel'ſchen Phitofophie es nicht zum Vorwurf
machen, daß fie ſich um die fo wichtigen foctulen Probleme der Gegenwart
betümmert, welche auch für uns Deutfche, bei dem unleugbaren Ans
wachfen des Pauperismus und Proletariats 100), fo bedrohlich erſcheinen;
aber daß von diefer Schule als Heilmittel die völlige Vernichtung aller Bafis
des focialen Lebens empfohlen 101) und die unter dem gedankenlofen Pöbel
leider! ſchon viel zu fehr verbreiteten communiftifhen Umtriebe begünftigt
werben, iſt um fo bedauerlicher,, als dies nicht etwa bloß für Verirrung einzel⸗
ner Schüler anzufehen ift, fondern, wie [hon Chalybaͤus gezeigt, im Sy:
ſtem des Meiſters ſelbſt liegt. |
In Bezug auf diefe ſocialiſtiſchen Zräumereten und Ertravaganzen, welche
ein Theil der JungsDegel’fhen Schule bei uns zu propagiren trachtet, vers
dient noch in Erinnerung gebracht zu werden, daß man fogar in Frankreich
das Abgeſchmackte und Werderbliche derſelben fehr wohl einfieht,, wie fich dies
— L
99) Der Recenfent fchliegt mit folgenden auch für Richt-Degelianer fehr zu
beberzigenden Worten: ‚‚Webrigens kann man es nicht verkennen, daß das vor:
liegende Werk noch eine andere Bedeutung hat als eine blos ſchulphiloſophiſche.
Es fpricht ein großes Geheimniß aus, das größte Geheimniß unferer Zage.
Es predigt den Egoismus mit einer Offenheit und Ehrlichkeit, wie er fich
fonft noch nirgends hervorgewagt bat. Der Egoismus, wie er unfer ganzes Les
ben bucchdringt, bat feine befondern Zwecke immer hinter eine „gute Sache,
Recht, Freiheit, Vaterland” sc. verborgen. Stirner wirft dieſe Larve weg unb
zeigt ihn offen, er zeigt ihn in feiner ganzen Nadtheit, er macht einen Cultus
aus ibm. Aber gerade die orbinären Egoiften fcheinen fih am meiften zu ents
fegen über die Kedheit, mit der Stirner ihre ftillen Wünfche ausfpricht und aus
ihren Apfichten feine Gonfequenzen zieht; fie flellen die ‚gute Sache”, die „Sitts
lichkeit” 2c. voran und verfchreien den einfamen Propheten Stirner. Daß Stir⸗
ner den Egoismus aufgebedt bat, das kann nicht anders als gebilligt werben;
aber daß er diefen Egoismus, fo weit ber feinige auch von bem orbinären uns
terfchtegen fein mag, zum Cultus machen will, das ift und bleibt eine Ver⸗
zung.”
100) Bgl. Scheidler in Bran’s Minerva 1844, Oct., Nov. und Dec.
„die neueften factifchen Mahnungen an bie Lebensfrage der Civiliſation.“
101) Bgl. &. Stein, Ueber Socialismus und Gommunismus ©. 4023 f
und Fr. Baltifch (Prof. Hegewifh), Eigenthum und Bielkinderei. 1836.
838 ae) die Augsb. Allg. Beit. v. 22. Febr. 1847. Beil. (d. ABE des Gom⸗
munismus.
782 Hegel (Neuhegelianer).
w%. aus ber erſt kuͤrzlich veröffentlichten Erklärung eines ber berühmtefim
jolitifchen und focialen Freiheitdapoftel, des Abbe Lamennals, ergubt,
wir bier m ‚ weil es Schade wäre, wenn fie als bloßer Zeitunge
artikel vergeffen würde 102). u.
Uebrigens fommt man, Gottlob! aud in Deutfchlanb neurrbing
immer mehr zu der richtigen Einficht, daß eine blos wiſſenſchaftliche, nu
mentlich fpeculative Ausbildung eine Einſeitigkeit und die fitrlid:
religiöd fe Charakterbildung bie Hauptfache audy für die Entwidelung det
politifchen Freiheit und die Beſſerung unferer focialen Buftände if.
! 5 i
102) Man lieſt im National vom 22. März.1847 (vgl. Kranff. DPI’
Beitung vom 27. März 1847. Nr.86): „Einer umferer Freunde, ber in Erfa-
E gebracht, man wolle ben Namen Lamennais mit ben focialiftifden
Agitationen vermengen, bat fidy an ben berühmten Schriftfteller gewendtt,
um zu erfahren, was er von ben focialiftifchen Doctrinen hält. Wir theilen in
Nachitebendem die Antwort mit, welche er auf feine Anfrage erhalten bat. —
„„Paris, den 2. März 1847. Ich foll Ihnen fagen, was ich von ben fociali-
Ki hen Syſtemen benfe, bie in unfern Zagen erfonnen und in Umlacf
acht worden. Da Sie nicht verlangen, daß ich mich in eine ausführlik
ſſion einlaffen fol, die über die Grenzen eines Schreibens weit hinausgehe
würbe, fondern nur meine perfönlihe Anficht in wenigen Worten kennen j
lernen wünfchen, fo wirb es mir leicht fallen, Ihrem Begehren zu entſpreche
Sch fehe in ben Doctrinen, bie bis daher aufgetaucht find, nur ein Somptm
beö tief gefühlten Bebürfniffes, das bie Gefellfhaft empfindet, eine gerechtet
Zutheilung bes Arbeitslohnes zu ermitteln, fo baburch bie gegenwärtig |
beflagenswerthe Stellung der Arbeiter verbeffert werben möge. Bon biefer Sch
angefchen, können bie Werfuche, ein leider noch fo fernes Ziel zu erreichen, nır
belobt werden. Ganz anders aber verbält es fich, nach meiner Anſicht, mit dw
Mitteln zum Z3weck, welche von den verfchiebenen Schulen voraefchlase
werben. Alle, die ich Eenne, fommen mebr oder weniger arradezu auf den Schlut
daß ber perfönliche Befis (l’appropriation personelle, was man fonft das &
genthum nennt) bie Urfache bes Uchels iſt, dem abgebolfen werden ſe
Daraus folgt dann, daß nach jenen Spftemen (oder Eräumen!) Das Eigenthu
aufhören follte, indivibuell zu fein, um ausfchlichlich in die Hande des Grau
zu tommen, ber, als alleiniger Befiser ber Werkzeuge zur Arbeit, bieie ;
organifiren babe. Jedem würde, dies vorausgefeht, wine jperielle Function en
gerviefen, zu welcher man ihn fähig faͤnde. Die Frucht aber dir Arbeit ſoll mas
gerwiffen Regeln — die in den verfchiedenen Syftemen verfchieden aufacfteltt ſird
— unter Alle vertheilt werden. Fur mich ift es evident, daß ein ſolches Switn
die Völker zu einer Knechtſchaft führen würde, wie die Welt noch Eeine geichn
bat; der Arbeiter würde damit zur Maſchine, zum Werkzeug berabgewürdigt; cr
würde in der Reihe der Wefen unter den Sklaven finfen, den der Pflanzer nar
Willkür verwendet. Ich glaube nicht, daß noch jemals beillofer falfche, üͤber
fpanntere, erntiedrigendere Ideen in dem menfchlicben Geiſte aufgefommen fir:
Sollten fie aber auch, wie ich doch feft überzeugt bin, diefe Bezeichnungen nicht
verdienen, fo würde es doch jedenfalls keine geben, die radicaler unausefübrbar
wären — il n'y en aurait point de plus radicalement impraticables. Si:
Ko urierismus und einige andere der St. Simonifttiihen Schule entwah:
fene, in ihren flaatswirtbfchaftlichen Principien nicht weniger finnlofe Sec—
ten charafterifiren fich überdem durch die mebr oder weniger unbedingte Negatien
aller Moral. Ueber diefe habe ich nichts zu fagen. Das öffentliche Urtheil hai
fie bereits gerichtet. Sie wollten meine Meinung wiſſen. Ich habe fie dargelegt.
(Gez.) Lamennais.““
Hegel (Neuhegelianer). 183
Daran mahnte ſchon der edle Freiherr v. Stein, indem er „GSittlichleit
umd Meligiofität” als die unerläßlichfte Bedingung für die Entwidelung des
conflitutionellen Lebens bezeichnete 103); ebenfo Zſchokke 10%) und
noch viele Andere 10%), unter denen wir nur noch fpeciell an einige Worte
von Bervinus erinnern wollen, welche das Hauptuͤbel unferer Zeit und
feine Quelle ober Wurzel auf das Treffendſte bezeihnen. In des Schrift:
„Die Miffton der Deutſch⸗Katholiken“, 1846 (S. 78) fagt Derfelbe: „Dem
Geſchlecht diefer Tage fehltdie Fähigkeit zu Handeln; die Bes
reitwilligkeit, Bpfer zu bringen, die Freiheit, eine Ueberzeugung rüdfichtslos
zu befennen, ift noch gar au felten und neu. Alles Größere fcheitert bei uns
an der Armfeligkeit des Geſichtskreiſes oder der Muthloſigkeit unſter Beam:
tenwelt, an der Engherzigkeit unfers Adels, an dem Mangel an natios
naler und geiftiger Unabhängigkeit, an bem Mangel an verbundener Intellis
genz und Kraft. Denn dies ift bisher Immer unfer Verderb geweſen, daß es
unſrer Einficht überall an Energie und unfrer Energie an Einficht gefehlt hat.”
In der eben erſchienenen Schrift: „Die preußifche Verfaffun g und das
Patent vom 3. Februar” finden fih in dem legten Abfchnitte vortreffliche Bes
103) Briefwechfel mit dem Frhrn. v. Sagern ©. 341. "*
104) Prometheus 1833. Bd. II. S. 44: „ine freie Verfaſſung wie die
Freiheit felbft ift einer goldenen Bildfäule glei, die auf irdenen Füßen ſteht,
wenn fie der Grundlage der Moral ermangelt. Erft die moralifhe Gefin-
nung Derjenigen, die an ber Regierung Sheil nehmen, und Derjenigen, die res
gie r werden, iſt es, was der Freiheit und ihren Verfaſſungsformen das Leben
einathmet.
105) Vergl. z. B. einen Aufſatz in ber Augsb. Allg. Zeit. vom 19. März
1841. Beilage, überfchrieben: Pia vota für Deutſchland; ferner Allg. Zeit. v. 15.
März 1844. Beilage 8.597; Krankfurter O.⸗P.⸗A.⸗Zeitung 1844. Nr. 288. Beil.
(‚Wer uns den Moft der Freiheit faffen will, der forge vor Allem für einen gu⸗
ten neuen Schlauch bazu. Wer bie abfolute Rechtsidee und das Gelee
zur ſchuͤzenden, jede Willlür abwehrenden Rorm bes Lebens machen will, der
forge vor Allem für Menſchen, in benen bie Rechtsidee und das Geſetz lebt
und waltet” 2c. Aus einer zu Kreuznach gehaltenen. Rebe.) gl. befonders
Karl Hagen in Schwegier’s Jahrb. 1844. Sept. S. 812 (in einer Rec. über
B. Auerbach's Schwarzwälder Dorfgefchichten). Zu welchen traurigen Folgen
biefe Charakterloſigkeit und die in unferer Beamtenwelt daraus hervorgehende
Staatslataien-Gefinnung unvermeidlich führt, hat Huber in feinem
Janus in Bezug auf die bekannten tragifchen Vorfälle in Leipzig vom 12,
Aug. 1845 ſehr einleuchtend nachgewiefen, Heft 19 und 20, ©. 501: „Daß
man fich nicht gegen den Buchſtaben des Gefeges ober der Dienftinftructionen,
fondern blos gegen bie allgemeinen fittlichen Pflichten der befondern amtlichen
Stellung verfündigt Hat, — daß ed an nichts fehlte ald an Geiftesgegenwart
und Muth, an dem rechten Manne, an dem rechten Worte zur rechten Zeit, ift
wahrlich ein fchlechter Troſt. Das Bild al der Herren vom grünen Tiſche,
wie fie, flatt den Zumultuanten mit ernftem, muthigem, frifhem Wort entgegens
utreten, den Prinzen und fich felbft glauben zu machen fuchen, es fei gar fein
umult, gar keine Gefahr ba, es fei ein „Wivat oder Hurrah ihm zu Ehren”,
wäre wahrhaft komiſch, wenn die ganze Sache nicht zu ernft, ja tragifch wäre.
Zragifch befonders auch deshalb, weil uns hier mikrokosmiſch Schwächen, Mäns
el vorgeführt find, bie wir in weit größern Werbältniffen nur zu oft wiebers
nden — ber Alp, ber Fluch des grünen Tiſches u f. wm.”
. S
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)e8 Vol nicht nur reif, fondern vielmehr für de
Politik überreif zu nennen ift, weil daſſelbe ber
entgegengeht, weshalb eben eine wahre Entwid
nellen Lebens in Preußen (Ale Danch Da6 }
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Ef un — in eier ne
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Gebiet in unfreiwilliger Hemmniß zuruͤck. Es begann in ——
bei allem Still ſtand gef r unge Fu es
aller Stockung gefchieht, Webe und gen und &
fteßen, es begann, mas alle Meberfülle mit fih bringt, ſchlech
fchlechte Exiſtenz, eö begann, was bie Folge jeder ſchlechten Eriftı
roftung ber Charaktere, und was die Folge jeder ſchlechten Arbeit
niß bes eigenen, chemals vortrefflich geförderten Werks, In einer
fleinen Zeit iſt es bei uns bahin aefommen, dab nach einer große
Periode geiftigen und moralifchen Lebens Heligton und Sitte
ften Grunde erfchüttert, die fehöne Kunſt in ihr Gegentbeil verzerr
Wiſſenſchaft vollig untergraben if, — Ein Bli auf den Geift
1418, wie er fich in den Werken der Litcratur, in ben eben dei
den Idealen der Dichter unb den Ideen der Bhiloforben zeigt, 1
vor 30 Zabren in Deutfchland cin geſundes Gefchlecht erblicken
religios-hierarchiſchen Anflug nah Luthers Gläubigkeir ſtrebte, as
terlicheariftefratifchen Anflug Koͤrperkraft und Scelchadel zu ver]
das in einem friichen conftitutionellen Monarchismus politiſche Focal
mit ber Wirklichkeit nicht unverfehnbur waren, bas Wiſſenſchaft uı
ten in feine Getübbe aufnabm und für Schiller’s ibeelle Dichtuna b
Dies Gefhleht bat man unterdrückt, und nach 15 Jahre
fere Pireratur einen andern Charakter angunebnen, der jest in allı
fertig ftebt, Es iſt traurig zu fagen, aber nicht minder wahr, da
Standpunkt gehalten, den ein Theil unferer jüngsten tire
Philofopbiein fittlicber, religiöfer und politifcher
eingenommen bat, die franzöfifche Literatur des vorigen Jahrl
Borläuferin der Mevolution, Voltaire’ Deismus und Dumanismus
eine erbauliche Religion erſcheint. Der berrichende Geiſt in dieſer
ratur, der reichten in Europa, die micht wie die franzofifche des von
Wenigen gepflegt und von Wenigen gelefen, fondern von Allen gef
gs:
Hegel (Neuhegelianer). 785
zugänglich, von Maſſen ausgehend und zu Mafien eingehend, verberblicher,, lei⸗
denfchaftlicher, ihrer Zwecke bewußter ift, hat ſich mehr und mehr auf einerlet
Biel gerichtet : jeden Srundfag und jebe Sitte zu lodern, jedes Vorurtheil, aber
auch zugleich jedes gefunde Urtheil zu zerftören, gegen alle beftehenden Dinge
zu verflimmen, an bie Stelle ber Bildung Entfittlihung und Verwil⸗
derung zu fesen, die Gemüther mit der Macht des Böfen auszuflatten,
wo ed auf Reformen ankommt, das Princip aller alten Reformer zu verleugnen,
die fih auf Tugend, auf edle Grundfäge und Wahrheiten ſtuͤtzten, fchlechtes
Leben als ein Zeichen der Kraft, Luͤderlichkeit als das Kennzeichen bes Genies
auszugeben und bier und ba gegen befferes Gefühl zu erheucheln. — In Eng⸗
Land haben die ähnlichen Beftrebungen keinen Boden, feldft in Frankreich
haben fie keine Gefahr; große materielle Intereffen lagern fich dort ben Phans
tasmagorien der idecllen Zräumer gegenüber unb aͤußere Gollifionen leiten bie
ausfchweifenden Gedanken ab; bei ung Deutfchen aber fält all biefer vers
derbte Geift mit voller Gewalt quf die Nieberungen bes Privatlebens, auf bie
innere Eriftenz und Bildung der Nation, von keinen großen Dbjecten im
Staatsleben aufgewogen ober uͤberwogen, von keinem aa roßer politi-
ſcher Ideen ober Befchäftigungen gehemmt. ft es ihm erft vollfländig gelun-
gen, allen ſittlichen Grundfag, alle vernünftige Einſicht, allen bürgerlichen
Sinn zu zerflören, was wird dann unfre Zukunft fein, wenn auf dem Culmi⸗
nationspunfte der Verwirrung die Frucht diefer Literatur und dieſer neuen
politiſchen Moral aufgeht? Die furchtbarfte aller Zerruͤttungen wird
aus ber Bereinigung der verwilberten Bildung, ber moralifhen Ber:
funfenbeit und des politifhen Wahns unausbleiblidh hervorgehen” 108).
Bei diefer Lage der Dinge ift es num allerdings fehr erklaͤrlich, daß, wie
fon oben bemerkt , bie Hegel'ſche Philoſophie und Schule bermalen nicht blos
zum Staate und zur Kirche, fondern auch zu bee Öffentlihen Meinung,
diefer mächtigften der Mächte, in allen praktiſchen Beziehungen und troß
aller Anerkennung ihrer theoretifchen oder wiſſenſchaftlichen Bedeutung in ein
gi anderes und zwar fehr ungünftiges Verhältniß getreten ift 17). Schon
ean Paul bat bie in einer erft neuerdings veröffentlichten Aeußerung
ausgefprochen 108): .,, Hegel if ber fcharffinnigfle unter allen jegigen Philo⸗
fophen, bleibt aber doch ein dinlettifher Vampyr bes inneren
Menſchen“. Auch ein Urtheil With. v. Humboldt's ift hier ganz
beſonders darum zu erwähnen, weil es zugleich fehr treffend andeutet, daß und
warum Segel felbft an den Verirrungen ſeiner Schüler Schuld hat. Es
findet fi, in einem Briefe W. v. H.'s an Geng 1%): „Hegel ift gewiß
ein tiefer und feltener Kopf; allein daß eine Philofophie diefer Art tiefe Wur⸗
zel fchlagen follte, kann ich mir nicht denken. Ich wenigftens habe mich,
fo viel ich bis jegt verfucht,, auf keine Weiſe damit befreunden koͤnnen. Viel
mag ihm die Dunkelheit des Vortrags ſchaden. Diefe ift nicht ancegend und
106) Vergl. dazu Hunbeshagen, Der deutiche Proteft. S. 171 ff. und
das, was oben aus d. Koͤnigsb. Literaturbl. über B. Bauer angeführt worben,
und daffelbe BI. in d. Nr. 5. vom 15. April 1843. ©. 38.
107) Bgl. die Note 1. des Nachtraged gegebenen Rachweifungen.
108) 3. Hunt, Erinnerungen aus meinem Leben ıc. 1839. ©. 125. — In
Aler. Zung’s Königeb. Lit.-Bl. Nr. 44. vom 3. Aug. 1842 wird eines „be
rühmten beutfchen Gelehrten” gedacht, der gefagt: „er ziehe zwei Sabre Zucht:
hau Wat e der Lectuͤre von Hegel's Phaͤnomenologie des Geiſtes vor.“
09) &. Geng’s Schriften, herausg. von Schleſier. Bd. V. ©. 298.
Suppl. 3. Staatsier. II. 50
7186 Hegel (Reuhegelianer),
wie bie Kantifche und Fichte’fche coloffal und erhaben, wie bie Finſterniß bes
Grabes, fondern entfleht aus fichtbarer Unbehilflichkeit. Es ift, als
wäre die Sprache bei dem Verf. nicht durchgebrungen. Denn auch wo er
ganz gewöhnliche Dinge behandelt, ift er nichts weniger als leicht und ebel.
Es mag an einem großen Mangel an Phantafie liegen. Dennoch möchte ich
über die Philofophie nicht abfprechen. Das Publicum fcheint fi) mir in An»
fehung Hegel's in zwei Claffen zu theilen: in Diejenigen, die ihm unbedingt
anhängen, und Die, welche ihn wie einen fchroffen Eckſtein weislich umgehen.
Er gehört übrigens nicht zu den Philoſophen, die ihre Wirkung blos ihren
Id een überlaffen wollen, ee maht Schule und macht fie mit Abs
ficht. Auch die Jahrbücher find daraus entflanden. Sch bin fogar darum
mit Fleiß in die Gefellfchaft getreten, um anzudeuten, daß man fie nicht fo
nehmen folle. Ich gehe Übrigens mit Hegel um und fiche äußerlich fehr gut
mit ihm. Innerlich habe ic für feine Fähigkeit und fein Zalent große und
wahre Achtung, ohne die eben gerügten Mängel zu verfennen 2c.”. — Noch
viele andere Stimmen könnten wir im diefer Hinfiht anführen, menn ber
Raum e6 geftattete!!0).
Ohne Frage hat Fein anderes Spitem in der Öffentlihen Meinung bie
Ueberzeugung allgemeiner verbreitet, daß mit bloßer Schulphilofophie
nicht zu helfen ift, und daß diefelbe eigentlich auch gar nicht gemeint fein kann,
wenn man von eineni wohlthätigen praktiſchen Einfluffe dieſer Wiffenfchaft auf
das wirkliche Leben redet; ein Punkt, den mit fpeciellem Bezug auf Hegel
in ihrer originellen Weife Bettina in ihrem Koͤnigsbuch ebenfalls beleuchtet
bat !!!), Muß man die Verbreitung diefer Ueberzeugung als ein Verdienſt
110) Vergl. darüber Augsb. Allg. Zeitung, Artikel aus Berlin vom 22. Der.
1839; ferner 1841, vom 6. Nov. Beil. Rr. 310; 1844, Beil. v. 19. Mai;
einen Artikel über deutſche Philof. in d. Allg. Beitg. v. 7. u. 8. Febr. 18475
Leipz. Allg. Beitg. 1841 vom 29. Sept. Beil. Nr. 272; Deutfche Allg. Zeitg-
v. 20. Aug. 1844. Paulus, Gonverfationsfaal oder Geiftesreuue S. 467 ff.
476 ff., 787 ff.; Kuranda’s Grenzboten 1844. Nr. 15. ©. 463. Nr.17. ©.
528. Nr. 20. ©. 297 ff.; Blätter f. lit. Unterhaltung 1843 Nr. 64 v. 5. März,
‚ 1835 Rt. 347 v. 13. Hec., 1846 Nr. 86 v. 3. Febr.; Arndt, Schriften für u.
an f. lieben Deutfchen 1845 Bd. 11T. 8.294; Schopenhauer, Welt als Wille
u. ſ. w. Vorrede S. XX. (2. Ausg.) ; Chalybäus, Die moderne Sophiſtik; Dro-
bifch in den Monatsblaͤttern zur Allg. Zeitg. 1845 Ian. („Blicke auf die philoſ.
Zuftände der Gegenwart” am Schluffe); Bahmann, Ueber Schattenfeiten
unferer Literat. 1 8.7 ff. 31ff.53 (Hundeshagen) Der beutfche Protes
ftantismus. 1837. ©. 179 ff. 306 ff. —
111) 8.162: „Wie der Frühling raſch alles abgeftorbene Verpelzte abftreifelt,
damit die Sonnenftrahlen den neuen Keimen huldigen koͤnnen und ein Duft, der
lauter Geift athmet, in die Lüfte ſteigt fo muß ein cdel Regiment losgehen! —
mit dem Harnifch angethan des Zeitgeiftes fih auf die Hinterfüße geftellt,
als ein feuriger Bewerber um die Zukunft, ihr tühn ine Auge gefehen! Tauſend⸗
fapperment ! Mit ungefchnürten Armen den Scepter hoch geſchwungen alles maͤch⸗
tigen und neuen Beginns; ein folches Regiment könnte mich verzädt machen.“ —
„„Sie find eine vortrefflihe Frau (fagt der mit der Frau Rath ftreitende Pfars
rer) und bie Modificationen Ihrer Dentweife find vom hoͤchſten Interefle für
den Denker und Ihre Beweggründe find Indicationen , die nicht ohne Werth
find für die philofophifchen Syfteme jener großen Zorfcher, bie
Hegel (Neuhegelianer). 187
anerkennen, das fich die Heg. Philof. u. Schule, freilich ganz wider ihren Minen,
erworben hat, fo iſt dagegen auch der Nachtheil nicht gering, ber hierdurch der
Phitofophie überhaupt in der oͤffentlichen Meinung zugefügt worden. ‚Bei
alledem muß man jedach einerfeits nicht vergeflen, daß die Verirrungen jener
ihren tiefer liegenden Grand (wie Hundeshagen und Gervinus ers
mähntermaßen gezeigt) in dem politifhen Reactionsfyflem haben,
und daß andrerfeits das allgemeine Princip der freien geifligen Entwicklung
auch diefer Schule zu Gute kommen maß, und zwar ſelbſt in ihren Mephiftos
phelifchen Ausläufern 12). Auf das Entfchiedenfte muͤſſen wir uns daher ges
gen alle directe unb indirecte Maßregeln ber Staatsgewalt erklaͤren, durch
welche im Widerſpruch mit dem Princip der wiſſenſchaftlichen und akademiſchen
Lehr⸗Freiheit jene Philoſophie u. Schule unterdruͤckt werden ſoll, und wir
ſchließen mit den in dieſer Beziehung ſehr zu beherzigenden Worten rn dr’6''?).
‚Die deutfche Philoſophie unfrer Tage hat fich auf eine wunderbare Weiſe
nach Außen geworfen und ift mit ihrer Sprache und Rede unter das Volk getres
ten. Das hatte die franzöfifche weiland auch gethanz ich brauche nur an
Boltaire, Diderot, Condorcet und an die Encyklopäbiften zu erinnern. Aber biefe
beutfche ift doch wirklich zu mager und luftig für das Volk, ich follte fagen zu
dünn und zu geiftig für ein Volt von ftarfen, dicken Lebensglieern, als daß fie
Volksſpeiſe werben könnte. Sie reckt und ſtreckt ſich freilich aus allen Kräften,
um in den Begriff und Ergriff des Wolke binein reichen zu Eönnen, aber ich febe
nicht, daß fie mit ihren Armen irgend Eräftig wohin reiche. Das junge Deutſch⸗
lanb meint zwar fo und fpricht noch mehr fo, aber die Lehre bleibt meift noch
in dem Krimskrams ihrer Formeln fteden und hat bis jest die Kunſt noch wenig
gelernt, aus ihren Hüllen berauszufpringen. Wo fie fi in einzelnen verbranns
ten Köpfen nun an das Waͤlſchthum und Zranzofenthunn hängt, da erfcheint
fie fogleich ald der Wechfelbalg,, der in bie deutfche Wiege gelegt worden, und
wenn die Narren, bie fich zu der verruͤckteſten und biutigften wälfchen Rarrheit
verftiegen haben, fich vor uns auch gebehrden und weiffagen, fie haben in ihrer
Verruchtheit für das Heil des deutfchen Waterlandes etwas Außercrbentliches
erfunden, fo bleibt ihnen nicht einmal der Ruhm der Erfindung: fiehe, diefes tolle,
verworrene Zeug war ſchon lange vor euch da, und die Welt ftcht noch. Wahr:
ich, diefe neueſten Jünger einer abfcheulichften und dummſten Staatsiehre werben
Diejenigen nicht verführen, welche die Zahre 1780 und 1790 und die von 1819
und 1830 beftanden haben. Vieles mag uns Deutfchen gebrechen, aber Gottlob
wir find noch nicht fo unglüdtic als viele Engländer, noch nicht fo verdorben
jegt auftreten und ber geiftigen Welt einen gewaltigen Umfhmwung
zu geben verheißen““. — „So ein Forſchen, erwidert die Frau Rath, fo
ein alter Labmer Raubvogel, der aus feinem langweiligen Berdauungsfchlafe
ſich aufrappelt, um alles gelehrte Federvieh in Einklang zu bringen mit feinem
Alles verfhludenden Spuftem, mit den er ed aus der philofophifchen
Sadgaffe herauszuführen verfpricht aufs Feld der Freiheit; der vermag fich ja
felbft nicht über den alten Zaun vom Hühnerhof zu ſchwingen, wo er alfo ruhig
boden bleibt und den verheißenen gewaltigen Umſchwung höchftens an irgend ei—
nem alten Zinshahn verfucht, deſſen Ueberwinder er fich nennt, und dazu fingt
er triumphirend: Namen nennen Dich nicht! — Was meinen Sie, Herr Pfarrer,
daß Der follte dem Erdball den gewaltigen Umſchwung geben, ber über feinem
Selbſterdenken nicht gewahrt, wie die geiftige Welt fih ruhig über ihn hinaus
gefchmungen hat?“
112) „Es muß auch folhe Kaͤuze geben!” Kauft.
113) Werſuch in vergleich. Boͤlkergeſch. 2. Aufl. D843. ©. +15.
an
788 Hegel (Neuhegelianer).
als viele Franzoſen, als daß ſolche Graͤuel bei uns wurgeln könnten. — — Aber
jene andern übermüthigen jungen Philoſophen, die ung alle Sitt lichkeit
vertilgen, bie uns die alte Zreue untergraben wollen, die uns das Ghriften.
thum, worauf all unfer Leben und Gluͤck ruht, als cine Priefterfabel als einen
Betrug, mildeftens als einen pbantaftifhen Traum ber eignen Bruſt zeigen, wohin
follen wir mit ihnen ? was follen wir mit ihnen anfangen? woburdh follen wir fic
bändigene Ich fage: laßt gewähren, Laßt firdömen und für men!
Waſſer und Wind will feinen Lauf haben; wie fann man fo Dünnes und Unbe⸗
greifliches hemmen, fo Unfichtbares faffen? Dies ift meine Antwort. Denn wenn
man gumeilen wünfchen möchte, daß einmal eine ſtarke Kauft drein führe und
drein fchlüge, wo habt ihr die menfchliche Weisheit und Maͤßigkeit, die folche
Fauſtſchlaͤge am rechten Orte und zu rechter Zeit vollführten? wo wollt ihr bie
teten Hemmer , Halter, Wächter und Lenker finden? und können die geiftigen
Mächte, die wie Wind und Waffer wehen und fließen , koͤnnen fie gefaßt werden?
und wird der Proteus, den du zu fangen meinft, dir nicht in der Hand zerflic-
Sen und fich verwandeln und die Angſt und bie Jagd immer von Reuem begin:
nen möäffen? Freiheit der Majeftät des freien Seiſtes und bes freien Lebens!
Das komme audy den Narren uns Thoren zu Gute. Sch weiß wohl, in wel:
chem böfen Geſchrei die beutiche Philofophie und Theologie bei den Völkern ftcht,
die-faum eine haben; aber dies ift eben das Wehen und Fließen des deuts
fhen Beiftes, wovon die Fremden cine Ahnung haben und worüber fie alfo
Kein fo leichtes Urtheilrausfprechen follten, als fie gewöhnlich thun und als manche
befchräntte Köpfe bei ung ihnen nachbeten. Wir Deutfche leben cinmal in dicfer
Luft und haben Jahrhunderte darin gelebt und werben hoffentlich auch künftig
darin leben und dadurch nicht untergehen. Es muß alfo heißen:
Laß fließen, was fließet, laß weben, was weht!
Du weißt nicht, von wannen, wohin daß es geht.
Denn ficht diefe Luft auch fo gefährlich did und faul aus, daß Peft, fo fchmwarz
und zufammengerollt, daß Wolkenbruch geweiffagt werben kann, wer fennt und
unterfcheidet hier Gottes verborgenen Rath? wer mag hier unter dem Schwall
und Wuft mepbitifcher und giftiger Waffer und Dünfte das Troͤpfchen und Lüfts
chen berausfinden und unterfcheiden, worin vielleicht die Erquidung des beilfams
ften Lebens fließt und haucht?
Karl Hermann Scheidler.
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