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Full text of "Staats-Lexikon oder Encyklopädie der Staatswissenschaften"

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BSiaais. exikon 


oder 


Encentiopäbie 


der 
Staatswifſenſchaften 


in Verbindung mit dielen der angeſehenſten 
Publiciſten Deutſchlande | 


herausgegeben 


von 


Carl von Rotteck und Carl Welcker. 





Dritter Band. 





Altona, 
Berlag von Johann Friedrich Hammerich. 





1836. 








Staatsl exikon 


oder 


Encvtiopädie 


der 
Staatswifſenſchaften 


in Verbindung mit dielen der angeſehenſten 
Publiciſten Deutſchlands 


herausgegeben 


von 


Carl von Rotteck und Carl Welder, 





| Dritter Band. 





Altona, 
Berlag von Johann Friedrich Hammerich. 





1836. 


| er N ii Sr 


Inhalt des britten Bandes. 





Brelögau. — Bon Bader. 
Bremen. — Bon Bülau. 
















— Bon Weigel, : 
Cinnohme, Bruttos Orttag, [- 
Grnhabme tnd Grtrag. . 
Bußrruderkanf. Rötted, \ 
Wuahandel.— Wen Kottedı . - 
Bücher z Genfur, 1. Genf 
Biden: Raaprud 





—————— — v 

—— on. 

Bunt, Mundetorzfofiung, Etdetene ddr 
Gelterereing ober Steratofgfime, Ind 
befendere: @taatenbünl 
Sun, Bundetz ber Gtastin) ran. 
— Ten Beide 

Bunt, deutfäer, — Bun —R 
Kuntseiehunsen ⏑ 
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— orte‘ mit Yorabem u. unterHRofe 
mit bem ganzen althebrälfgen Walt, um 
AG son ihm zum Ratlonaltönig wählen 
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Kintaid, f. Züie 

Bueneparte, Rapolton, und ie si 

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Rürgerkeieg, f. . 
Bücgermilteirn {+ Stitgbverte 
Büro reed — Dom iRittermaler. 




































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— Gebinetebefehf, Qadiners:Bkints 
55 — 
Tung, Sabine * —— 


—— Mir, Geßineitcänfeng; %ı 
ung una Unabbängiste br Hätreie 
em Grmalt von der teglerenben und ges 
ebenden. — Bon Belder. . 


— Bm Belder. 





Seiner fr Gpanlin. 
Galsanı, [. franzöffee Revolution, 

















ite 
Sefotn. — Von Paulnb. » ... 
18 Gamarile. — Ron We lden oo. 
Sambaceres. Bon Be iv u... 
Sanereisifafgaft, —* uf, 
1. ünter &. W 


genen, I Ku} 





one 
Sandie 7 — — 


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Gononieus, —X Kat f. 





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sinn —— —8 











Gaptt, 

Sa, 1,2 . 
Gapital. . 
Serielin.e ‚Steuer. — Won Ro tte 8. 


Wietfge Meifefung 
Von Rotted. 


f- Kitgenverfoflung. . 
Seriitaptn, fe euriae Belege. 
Sapiti Bon ® 















Teata 
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— X 
8 — — Y Kutiscer Be 
ii rum. _ . ® . .. 





Selina Gertaniaeung Bamders 
genfiß, Branbendurgicaz und (hr Betz 
böttnid au den früheren, mie zu dem 
zeusten Gtrofgcipacdungen). — Mon 

el 

Gartel, f; —— ieh: 

Gafpifhed Meer. — lan... 

Goflationehef. — Men Ro : 

— ker Erarählnt,j.Gtaatäine, 

Saft (OrflenGofel, Oburfüchentb. Sfr 

en). — Won Sordan. 

Gaftanee, f. Spanien 

Guten, f. Kaften. 

Gatilien, f. Spani 

‚Gaflereagh. — Bon 

Getalanlan 1 Benin. - > 0 > 

Gotafter, f. Kafater. . 

Gotbelicidmie , [. Katholtds * 

Sauteln, Gautelarjuriöprubeng. — Won 

den 002 00 en. 

Senat lb Öitengetiät In alter und aruct 























Me 
Genfud, Insdefondere Bahlcenfus. — 
Rotted 2000. 











te, f. deutſde Gerichtéverfaſ⸗ 
ng oo. 
Gentzalifation. — - Von — elder. oo 
Gentral s Unterfuhungs = Gonmiffion, f. 

Karlsboder Befdhlüfe. . . - . 
Gentral Verwaltung, f. ven Stein. . 


Gentrum der Deputixtens Kommen. ind! . 


aefondere Ber feanpöfifgen. — Bon 
e ce. . [) U} 
Geremoniel; Gtikette. — Bon R otted. 


Geflion, f. Abtretung. - 


Gnatif, Ghalifat. — Don Rotted. u 


Chambre introuvable, f. rentriichs 
neueſte Geſchichte.. .. 

Chargd d'afaires, f. Gefandter. “ . 

Charta matgua, f. Onglif e Verfaffung. 

Charre, Verfaffungs-Urkunde, Freiheite⸗ 
Brief; igrdeſontere jramoſiſche Charte. 
—⸗ Von Ro teck. . [) ®. . 

Chatam. — Bon Beipel. . 

Ghatmübriand. — Ven Weipel. 

Edatoule-Güter, f. Gwillite. . 

Eherusker, f. Altdeutſche Völker. 

Chile: — Von Bülau. . 

China, f. Sınu. . » 

Gholera. — Ben Baumgärtner. 

Gyouanıd, ſ. Zranzöftihe Revolution. 

Ghriftentbum,, qriftiiche Beligion und 
Moral’ in ihrem Verhältniß zur politis 
hen Quitur vder yum Recht und zum 

taat. — Bon Belder. . . oo 

Ghurfürften, f. Auctuften. oo 

Gicero, f. römıfhes Acht. . 

GSisalpiniſche Republik, f. Stalien. 

Gitadele: — Von v. zheobalb. 

Givile Grat, f. Butgıt. 

G:vıl = Gerihtsordnung, f. Gerichtsord⸗ 
nung. » 

Civilliſte, Privat⸗ oder Shatul : oter 
Gabinetsstgur. Arondotution. — Von 
Welcker. 

Eivilrecht, bürgerliches Acht; 3 Gioile oder 
bürgertiches Rechtögefep und Befepdug. 
-- Von A fried. . 0.0. 

Giafienteuer, ſ. iafſennerer. W 


— 


Sri, | Dolen 

Gtub, f . Affociatıon und franyöfffehe Re 
valution. . . ® eo e . ® ® 

Goalition, ſ. Aianz. .. .. 


Gebieny f. framefıde Revolution. - . 

Code civil frangais, franzoſiſches Reit. 

Goder, ſ. römiihes Richt. - 2. 

Gegnaten, f. Bermantifdaft. © 4 

Sälibar, f. Ebelofigteit. . - » a 

Vollecten; Gollectiten, Collectanien. — 
Von Belder. . 

Gollegium ; Gollegials und büreaufcatifches 
Bufen der ‚Wermaltung. Von 
Belder : 

Goliffion‘ der Gefepe und Ned te hore⸗ 
thetiſche und abſolutgedietende e Selepe. 
— Din Belder. . . . . 

Golufen: — Von Bopp..- 

Golont, Solonat, f. ler. . 

Golonten. — Con BWeipel. 

Golumdia. — Von Bülau. 

Gomitat,ſ. Echenweien. - » 





Selte 

Gomitd, f. Tueſhuß. .. 653 

Gomitien, f. römifde Verfaffung. .. 655 

Gommenderie, f. Riitterorden. - o. . 5355 

Commiſſion, f. Gabinete:QZuftil. - - . 553 

Gommilflond-Handel', ſ. Handel. „ . 553 

Gommodatum, f. Leibeonirat. - - . 553 

Gommunalgatden, f. Ratienalgarden. . 833 

Gompasnie, f. Handelscompagnit. .. 553 

Gomrenfation. — Von Dd. . . 636 

Gompetenz. — Won Dd. a 0. + Bi 

Gomplort, f. Verfhywörung. - » . 564 

Gompofitionen-Enftem (älteres Strafrecht 
der Vokter, vorzüglich altdeutſches), Nas 
turſtand, Seldfrhülſe und Fehderecht, 

Frceiſfaͤtte and Löſegeld (oder Buße, Wette, 
Gompofitio, Emendatio, Wergelt) und 
Fredum(orerBrüge),@efammtdürgfchaft 
und Zalion. — Bon BWelder. . . 565 

Gompromip, f. Echiedsgeridt. . . . DNB 

Gonat, f. Verſuch. 835 

Goncefflon, „Folteitiä und polteifä- — 
Bon Kottet... eo. . 8585 

Sencilien: — Bon Daulus. eo. . 5A 

Gonclaoe, ſ. Poriwall. „. - 0 4 « 612 

Goncotdate.- — Von Rotted. . . . 612 

Goncubinat. — Von Bopp. . . + 923 

Goncurrenz, f. Zufammenfluß. . 628 

Gonturs oengerot, Gant, daimnth. — 

Von B on .. . 0... 6238 
Goncuffion, f . Grpreffung 8%. . 613 
Gondorcet ( Maria Jehann Anton Yeicos 

las rt Rarquis von). — Bon 

Bei 613 
—— — Bon P a ulu * 646 
Gonfirmation, f. Beftätig .. . 635 


Gonfidcation des — onscotlon 
einzelner beftimmter Sadın; Geldſtra⸗ 
fen. — Von Rotteck.. 606 

Gonföberation, f. Bund und Polen. 

Gonfronzatten (Gegenficlung). 


. 653 


661 
X ha 
Gonsteh, Gongreffe,, Congreßarte, insb 


fondere jene von Wien. Gongrefle der 
neueften Bett, Inebefondere jene von 
Jachen, von Karlsbad, von Troppau, 
Laidach, Verona; Gonferenzen von Wien 
und von London; Gongreß von Panama. 
— Von Kotted. 
Gongrevefhe Raketen oder Brand: Rakcten. 
— Bon v: Iheobald. . . . . 
Gonfertption. — Bon Rotted. - » © 
Conſens. — Bon BVelder. . - . 
Cinsilium abeundi, f. Univerfität. . 
Gonfitorium; f. -Qurie NR und Kits 
&enverfoffung (proteftantifche) . 
Gonftant (Benjaminde).— Bon Welpe L. 
Gonftentinopel,, f. Tütkei.. 
Gonftitutton; Gonftitutionen; Gonftitutios 
nelles Prinzip und Syſtem3 confitutios 
nel und enticonftitutioncd. — Bon 
Rottec. 
Gonſul, f. Bipfomatifde Derfonen. .e 
Gonfumenten, f. Producenten. .. » 
Gonfumtion, Genfumtionsfteuer, f- Ders 
schtung, Berzchrungsfieuer. . . 
Gontagieufe Krankheiten, ſ. anftedende 
Krant hei ten. o 0° 


7 
71 





B reisgau. Mit ber hiſtoriſchen Schilderung dieſer Landſchaft, des 
ſuͤdweſtlichſten Theiles im Großherzogthum Baden, iſt ganz vorzüglich 
auch verknüpft die Geſchichte von Freiburg, dem Wohnorte ber 
beiden Herausgeber des Staats⸗Lexikons, welche Stadt bereits zu Kaiſer 
Joſeph I. Zeit der Sig ruͤhmlicher Beſtredungen für Aufklaͤrung und 
Dumanität war, und befonders auch in unfern Tagen durch ihren ents 
fchieden liberalen Geiſt einen nicht geringen kirchlichen und politiſchen Ruf 
erlangte, was ſelbſt von Seiten anerkannt wird, wo kein verdaͤchtiges Lob 
zu vermuthen ſteht. Schon dies mag es rechtfertigen, wenn wir eine 
ausführlihe Daritellumg der Schidfale der Eleinen Landfchaft den Artikeln 
des Staats⸗Lexikons einreihen. Aber auch außerdem zeichnet fich dei Breis⸗ 
gau mit feiner Hauptfladt in mehrfacher Beziehung vor vielen Gegenden 
Deutſchlands fehr bemerkenswert aus. Denn nicht nur iſt er eine ber 
wohlgelegenften, f&hönften und fruchtbarften, fondern feine Gefchichte bies 
tet mehrere Partien dar, welche theild für den Alterthumsforfcher, theils 
"nf für den Staatsmann von beiehrendem Intereſſe find, 

Die Ausdehnung des Breisgaus erfiredt fi) von der Hoͤhe bes 
Feldbergs füdli bis an den Rhein (bei Sädingen), nördlich bie zum 
Schuͤlersberg (in dee Gegend von Homberg) und weſtlich bis wieder an 
ben Rhein, fo daß die Landfchaft ein ohngefaͤhr 8 M. langes und halb 
fo breites Viereck bildet, defien Inhalt die mannichfaltigfte und angenehm: 
ſte Abwechfelung von Hochgebirgen, von minder rauhen Bergreihen, von 
Hügeln, Schluchten, Thälern und Ebenen barbietet. So gehören namentlich 
(außer dem Feldberge) bie drei höchften Gipfel bes füdlihen Schwarzwalds 
zum Breisgau, der Belchen, Blauen und Kandel. Vom ſuͤdweſtlichen 
Fuße des Feldberg aber zieht fic das herrliche Thal der Wiefe, welche 
Hebel fo ſchoͤn beſungen hat, bis hervor in die Gegend von Bafel; 
. am weftlihen Abhange des Blauen ruht der Babeort Badenweiler, mo 
anf der alten Schloßruine bie Ausficht über die naͤchſten Rebhuͤgel, Über 
die Kornfelber bis zum Rhein, und jenfeits bis in die Thaͤler der Voge⸗ 
fen, an dem malerifchen Zauber italienifchee Landfchaften erinnert. Alde 
dann folgt ber weite Sarten um Freiburg, mit dem Kaiferftuhl, dem 
Treiſam⸗, Glotter⸗ und Elzthale, wo ſich dem Wandrer bei jeder Wens 
dung, auf jeder Anhoͤhe eine neue Ausſicht uͤberraſchend eroͤffnet. Wer 
bewunderte nicht die wildromantiſche Natur des „Hoͤllenthales“, die ſon⸗ 
nenheitern üppigen Gefilde des „Dimmelreiches”, und zunaͤchſt der Stabt 
das reiche, unvergleichlihe Panorama auf St. Loretto! . 

1 


4 Breisgau. 


Das Bergland iſt die groͤßere Haͤlfte des Breisgaues, wo das kraͤf⸗ 
‚tige, ſchoͤne Volk ſich in der Regel theils von ber Viehzucht und von 
Holzhandel, theils von der Uhrmacherei ernaͤhrt; doch baut man oft bis 
auf die rauheſten Höhen, auch überall Kartoffeln, Hafer und Sommer⸗ 
roggen. Ein um fo fruchtbareres Erdreich enthalten dagegen bie Thaͤler 
und die Gegenden an den Vorhuͤgeln des Gebirge, wo fich die unzähs 
ligen Bergwaifer zu belebenden Bächen und Fluͤſſen fammeln. Hier fin« 
det man in den Gemarkungen der meiftentheils befrächtlihen Dörfer und 
Flecken die uͤppigſten Wiefen, die ſchoͤnſten Getreidefelder und einen bes 
fonders reichen Obfts und Weinwachs; der Markgräfler ift berühmte durch 
ganz Schwaben. Außerdem pflanzt man auch Hanf, Rüben, Hülfens 
feuchte und Küchengewächfe aller Art, und treibt eine täglich gebeihlichere 
Rinder», Schweine» und Schafzudt. Nicht minder gefegnet find bie 
weiten Ebenen längs dem Rheine hin, nur daß ſich unter dem Volke 
bier leider Häufig die Einwirkungen ber Nahbarfchaft des Eifaffes, der 
Schmuggelei und des Branntweind, auf eine beflagenswerche Weiſe 
fund thun. 

Hiftorifh ift die breisgauifhe Landfchaft einer der beutfchen 
Gaue, deren fhon in den Alteften Dentmälern namentlihe Erwähnung 
geſchieht. Die roͤmiſche Reichſsnotiz vom Ende des vierten Jahrhunderts 
zählt unter den im römifchen Heere dienenden Deutfdyen bie Brisigavi, 
weicher Name fogleih an die keltiſch⸗ römifche Niederlaffung zu Brei⸗ 
ſach (mons Brisiacus, Brisiacum) erinnert *). Weberhaupt ftößt ber 
Alterthumsforfcher hier allenthalben auf Spuren ber früheften Anfieblung 
und Gultur durch Kelten (Gallier) und Römer. Unb nachdem die Ales 
mannen ſich des Rheinthales bemeiftert hatten, erfchien ihnen keine Ges 
gend fo einladend zu bleibender Bemohnung, ald die Thäler und Vorhuͤ⸗ 
gel bes füdmweftlihen Rheinwinkels, an deſſen Spige das alte Basilea 
GBaſel) ſich erhob. Dies bezeugen die fehr frühe, zum Theil fchon im 
fiebenten Jahrhundert urkundlich vorlommenden Namen der meilten jegt 
beftehenden (auch vielee abgegangenen) breisgauifhen Ortſchaften. 
Selbit das Licht des Evangeliums verbreitete fih hier früher als irgends 
wo in Deutfchland nach den Stürmen ber Völkerwanderung. Bereits 
unter Klodwig 1. ftiftete der ſchottiſche Miffionde Fridolin das Kloſter zu 
Sädingen, und hundert Jahre fpäter legte fein Kandsmann Zrutbert den 
Grund zu der Abtei feines Namens im Münfterthale **). 

Diefe gefegnete, uralt bevdlkerte und angebaute Landſchaft ift auch 
bie Wiege jenes um beutfches Bürgerthum fo verdienten Fuͤrſtengeſchlechts, 
welhem das großherzoglich badifche. Haus feinen Urſprung verbanft. 
Noch erhebt ſich, ohnweit Kreiburg, auf der Höhe eines gegen die Ebene 


*) &. nofitia dign. imperii rom. ex n. recens. Philippi Labbe, 
8. J. Paris. 1651. und vergl. Schöpflin, Alsat, illustr. Tom. I. pag. 191. 


**) S. Neugärt, episcopat. constant. Tom. I. Proleg. pag. 39. und 
pag. 7, 42. 


Breiögau. 5 


bervortretenden Hügeld ber Thurm von Bähringen, ein ehrwärbiger 
Ueberreft aus ben Zeiten der alten Herzoge. Vermuthlich baute benfelben 
Graf Bezelin (mie deffen Vetter Ratbod im Aargau den Thurm Habs 
burg) zum Schuge feiner in der Umgegend gelegenen Güter; zum Wohnfige 
aber wählte ihn erſt Herzog Berthold II., welcher ſich aus dem für fein 
Geſchlecht fo unheilvollen Schwaben ganz auf die breißgauifchen Stamm⸗ 
güter zuruͤckzog, wie er denn zugleich auch das von „ſeinem Vater bei der 
Burg Ted gegründete Kloſter St. Peter in die Nachbarſchaft der Burg 
Zähringen verfegte und zur Familiengruft erlas. Don dem an erfreute 
ſich der ‚Breisgau fortwährend des Gluͤckes einer fo mwohlchätigen Herr⸗ 
fhaft, mie man die Zähringifche Überhaupt nennen muß. Die Derzoge 
bielten fiteng auf Ordnung und Sicherheit in ihren Landen, gründeten 
zur Aufnahme des Handel und der Culture, wie anberwärts andere 
Staͤdte, fo im Breisgan bei einem alten Jagdhauſe an der Treiſam 
das Gemeinweſen von Kreiburg, und am Rhein bie Stadt Neuen⸗ 
burg; fie erweiterten Breiſach und thaten Manches auch zur * beffern Auf: 
nahme der breisgauifhen Kiöfter *). 

Bei dem 1218 erfolgten Einderlofen Tode Herzog Berthold des Rei⸗ 
chen, mit welchem der herzogliche Stamm von Zaͤhringen erloſch, fielen 
die breisgauiſchen Eigenguͤter mit den Staͤdten Freiburg und 
Neuenburg an ſeinen Schwager, Graf Egon von Urach, deſſen Nach⸗ 
kommenſchaft ſich bald in die zwei Linien von Freiburg und von Fuͤrſten⸗ 
derg unterſchied. Nach ſolcher Veränderung aber ber breisgauiſchen 
Verhaͤltniſſe ziehet jetzt beſonders das freiburgiſche Gemeinweſen un⸗ 
fern Blick auf ſich durch fein freudiges Emporbluͤhen und feinen muthi⸗ 
gen Kampf gegen den Druck der neuen Herrſchaft. Die Stadt war 
1118 von Herzog Berthold UI., welcher während einer Gefangenſchaft 
zu Köln das ftädtifche Leben hatte kennen und fchägen lernen, auf feinem 
eigenthümlihen Grund unb Boden gegründet und zu einem Marktorte 
beftimmt worben, weswegen er anfangs faft nur Kaufleute zur Nieder 
laffung dahin einlud, und ihnen befonders feinen Frieden, ſicheres Geleit, 
Zollfreiheit und Erftattung des in feinem Gebiete durch Unficherheit erlit⸗ 
tenen Schadens gewährte. Herzog Konrad aber, fein Bruder und Nach⸗ 
folger, ertheilte dem Gemeinmwefen 1120 die Urkunde feiner fläbtifchen 
Berfaffung, welche in allen Hauptpunkten bee koͤlniſchen nachgebildet war. 
Eine Mark freien Eigenthums reichte hin, um das Bürgerrecht der 
neuen Stadt zu erwerben, und wer fich barin nieberließ, erhielt zur Er⸗ 
rihtung feines Wohnhauſes einen Hofraum von 100 Fuß in der Laͤnge 
und 50 in der Breite. Alle Buͤrger waren frei, genoſſen eine vollkommene 
Gleichheit des Rechts und gaben kein Vogtgeld (jus advocatiae) von ihren 
Gütern; fie wählten als ſeibſtſtaͤndige Gemeine ihren geiftlihen und welt⸗ 
lichen Vorſteher: den Leutprieſter oder Pfarrer, welchem der Herr die 
Kiche verlieh, den Vogt, und alljährlich den Schultheiß, welche er be 


*) Vergl. Schöpflin, histor. Zaringo-badens., Tom. I. und eeicht— 
Lin, die Zaͤhringer. Freib. im Breiſg. 1831. B 


’ 





Staats.ſ exikon 


— 





oder 


— — — 


der 
Staatswifſenſchaften 


in Verbindung mit vielen der angefehenften 
Publiciſten Deutfhlandd 


herausgegeben 


von 


| Carl don Rotteck und Carl Welcker. 





Dritter Band. 





Altona, 
Verlag von Johann Friedrich bammeriqh. 





18 36. 


c  yı)ıZ 
— N 


Inhalt des dritten Bandes, . 


j Seit⸗ 
Zeerer —BonBaber, . 
remen. — Ben Bülau. . 










Ben f. Sure. 2... 
Breoier. — Bon .. 
Briefabel, 1. Adel. . 
Briefgebeimmis, f. Sit 








Ubeemitte. 




















ge Hy 
Sam I om 





Alva 


nMeipel, : Fa Ben Be 
—— — Brutto s atttao· Ganen, Sanonleub, eh Ra, £ 
Sinnahme And @rttag. . . . - Kirhentet 
Bußttudtrtanf. Rottek. Ganton, 
Bucbandel."— Man Rotted, . noffenf&aft. 
Düget = Cenfur, .. Gerste fe, r Beriaisfände, viie⸗ 
—— —3* 
Bäder Baker, 1, . gene 1. es 
Buenes-Kpred. Fre 








— vꝛiai. 






Bund, Bundes (oder Etastens) © 

— Ben Belder. 1 
Bunt, deutfder, bitch Bundeiteg, 

Buntsttetungen x., [.Beutfäer Bund 













und Mbeinbund, aud Deutäland. . 116 
Mund Gottes rahem u. unteräRofe 

mit dem ganzen altbebräifdien Bolt, um 

4 ven ihm Jum Rotionaltönig wählen 

Bulefen. — Ben Paulub. . . . 116 
@ündniß, f. XU 123 
Buenapartt, Rare 

— Bon 


Kürger. 
Würgerkrieg, f. Krieg, 
2 K 








’g.treht. 
aataulm, (€ Säulen 
erfend. — Ben Miiterwaler. 






et, Gabinetöregies 
— Bon ” ° 5 ⸗ 


elite 8 — Km 
rung _ımd Unabhängigteit 
Alm Grmalt von Dre erden —8 ge 








fpsrdenden. — Ran Weider... 163 
euren dern Ben Bel der m 

Bett 1. Oorted Bf 190 
Galender, f. Zeitr 190 
Seimariige üalın, 190 
1arde, 190 
Dre 1 franjäßfäe Reselatl . 180 





Inte ss ————— 
r] 





Gepitelim-Ettuer. on Kotted. ı 
Gapitel, f. Krhemeerlaflung. - > - 
— f. deurfhe Gelehe. > > 
Sapitülatien. — Bon Belt 

’SReiab, 1. griehlfäe Revolution. 
Gatagenen. — Bon Bül 











Surbenarl unb Calderarl sebeime Ser 
et — Gertineteotigtum, f Sur 
(römifce). . .. 
Gut, — eo... 

on, f 
“= der Be T. Kortidader nes 









Don Belpel. . . 





line ($e egeriätdorönung, Bambers 
ienfiß, Brandenburgica; und ihr Were 
“Es au ben wie zu dem 


zruchen © rrafockpeebungm)- — Ken 
Di 

Garteli, f, —— Sregfsclngen. 
Gafsifhhes Meer. — Lion Bülau. ., » 
Vefetlnkhefen Men Reid 
Saflation ber Etaatediener,[.Staatäblener. 
Sarı (Gefln-Safıt, Gburfüchenth. Hefe 

Ef} 


rdan. . 








Getalonlen, f. @penien. 
Gatafter, |. Kafafter. 

Gathelicidmie , f, Katbotleismus. 
Seuteien, Gautelarlurlprubeng. 





‚Genfur alß Sirngeigt ind in iter und neuer 
Beit. — Bon 
eat ber Drudfäriften. — — Km XRX 


Genfub, inedeonbere 8 Tem 
Rotted. .. 











te, ſ. deutſche Gerichtéverfaſ⸗ 
Gentralifatlön. — Von welter. * 
Gentral⸗Unterſuchungs⸗ Commiſſion, ſ. 

Karlsbader Beſchlüſſt. 
Gentral Verwaltung, ſ. ven Stein.. 


Gentrum der DeputixtensKomudsen. ias⸗ 


befondere Ber franjoͤſiſchen. — Bon 
Welcke 

Geremoniel; @tikette. — Von Rott ee. 

Gefjion, f. Abtretung. . . 

Gratif, Ghalifat. — Bon Rest. . 
Chaurbre introuvable, Frentreichs 
neurſie Geſchichte. 

Chargeé d'affalres, ſ. Geſandter. . 

Charta magna‘, f. Engliſche Verfoffung. 

Ghorre, Verfaffungs⸗Utkunde, Freiheits⸗ 
Briefz imebelondere frangöff de Gharte. 
— Von RXottec. . . . 

Chatam. — Bon BVelsel. . - 

CEhatenubriand. — Von Weigel. 

Ghatoulle⸗:Güuter, f. Cmwillite. . 

OHeruster, f. wtbeutige Võolker. 

Shile: — Von ® ul au. . oo. 

Gina, f. Sınu. . - 

Cholera. — Ven Baumgärtner. 

Giyouanıd, f. Zranzöfifhe Revolution. 

Ehriſtrnthum, riftiihe Weligion und 
Moral’in ihrem Verbältnig zur politis 
(gen Qultur vder 3m, Acht und zum 

tat. — Bon Bıldeır. . . . 

Ghurfürften, ſ. Kuctürften. » 

Gicero, f. roͤmiſches Acht. . 

Gısalsinifhe Aepublit, f. Stellen. 

Citadelle — Von v. zheobalb. 

Gidile Etut, f. Budgit. 

G:vil s Gerihtsordnung, ſ: Gerichtsord⸗ 
nung... 

Giotittite, !rinats oder Shatul s NY 
Gadinetöstyur. Krondotution. — Von 
Welcer. 

Givtircht, dürgerliches Recht; ; Gioile ter 
bDürgerlihes Rechtsgeſeß und Veſepduth · 
-- Von A ericed. . o . — 

Glaflenfteuer, ſ. Klaffenfeurr.. ... 

Gioptefi, f Polen 

Glub, f. Affocietıon und franzöfffe Re 
volution. . eo.“ 

Goalition, f. Ylenz. .. .o. 

Gobieny f. franzöfiiche Revolution. . » 

Code civil fraugais, j. frunzoͤſiſches Kecht. 

Goter, f: roͤmiſches Kcht. - 2 0 . 

Gegnaten, f. Berwantefhoft. - o ° 

Gälibar, f. Ehelofigter. . . 

Bollecten; Golertixen, Golectanten. — 
Bon Belder . 

Goliegium; Gollegial⸗ und büreaukratifährs 
©yftenr der ‚Wermaltung. Von 
Belder . 

Goliffion der @efepe und Rechtes hore⸗ 
thetiſche und abſolutgebietende Gefepe. 
— Von Be (der. . . . . 

Golufion: — Von Bopr. . 

Golont, Solonat, f. Bauer. . 

Golonten. — Von Veipel. 

Golumbla. — Ven Bülau. 

Gomitar, f. Lehenwelen. + - 





Gate 

Gomite, f. Ausfäuf. . , .. 8558 

Gomitien, f. römıfde Verfaffung. .. 6555 

Gommenberier 1. Kiitterorden. 833 

GCommuffion, ſ. Cahinets-Juſtiz.... 553 

Gommiſſions: Handel‘, f. Sankell.e . . 6553 

Gemmobdatum, f. Xeihconiract. - - . 553 

Gommunalgatden, f. Nationalgarden. . 533 

Gompagnie, ſ. Handelscompagnie. .„ + 8533 

Gomzenfation. — Von d. . oo. . 55° 

Gompeten;. — Won D. . 0 0 0. 0 561 

Gomplort, f. Verſchwörung.. . 564 

Gompofitionen:Enitem (älteres Strafrfht » 
der Völter, vorzugli altteutfbes), Na= 
turſtand, Selbſrhülſe und Fehderecht, 

⸗Frceiffatte and Loͤſegeld (Coder Buße, Wette, 
Compoſitio, Emendatio, Wergelt) und 
Fredum(oterBruge),Gefammtdürgfdaft 
und Zalion. — Bon Belder. . . 865 

Gompromis, ſ. Sciedsgeridt. - . + 55 

Gonat, f. Verfud. . 635 

Gonceffion, peltieitic und potteif. — 

Von KRottetl. . « eo. . 58 
KBoncilien: — Von Dautus, ... 5A 
Gonclaode, ſ. Parftmall. -. © 0 . . 612 
Goncotbate. — Bon Rotted. . 0 0. 612 
Goncubinat. — Von Bopp. . . «+ 623 
Goncurrenz, f. Zufammenfluf. - - . 626 
Vonturs Bankerot, Sant, Zauiment). — 

Von Bor . eo 0. . 638 
Goncuffion, f . Erpreffung. . 643 


Gondercer (Maria Jehann Anton Rieo⸗ 
‚Saritat, Marquis von). — Von 
e 


— — Bon 9 a u ti u * 
Rat 1] 


GConfirmation, f. igung. = 

Gonfigcation des Bermögene ; Gonfiscotim 
einzelner beftimmter Caden; Geldſtra⸗ 
fen. — Bon Kottedl... 

Sonföderation, f. Bund unb dolem. 

Gonfcontation (Gegenſtellung). 

Boyvry. .- . 

Gongreh, Gongrefie , Gongreharte, insb 
fondere jene von Wien. Gongrefle der 
neueften 3ett, Inshefonbere jene von 
Jachen, von Karlsbad, von Zrorrau, 
Laidach, Verona; Gonferenzen von Bien 
und von Eondon 5 Gongreß von Panama. 
— Von Rotteck. 

Gongrevefhhe Raketen ober Brands Kafcten. 

— Bon o: Theobald. . . . 

Gonferietion. — Bonkotted. - . -» 

Gonfend. — Bon Belder. . . 

Crinsilium abeundi, f. Univerfi tät. . 

Gonfiforium; f. -Surie N und Kirs 
&enverfoffung (proteftantifge) . 

Gonftant (Benjamin de) .— Von Meipel. 

Gonftantinopel, f. Zurfll. . . 

Gonttitutton; Gonftitutionen 5 Gonftitutios 
nelles Prinzip und Syſtem; confiitutioe 
nel und anticonftiitutloned. — Bon 
Rotteck. W 

Gonſul, t biplomatiſche Derfonen. .o 

Gonfumenten, f. Prloducenten. '.. » 

Gonfumtion, Genfumtionsfteuer, ſ. Ders 
schtung, Verzehrungsfteuer. - - 

Gontagieufe Krankheiten, ſ. anftedende 
Krankheiten. . eo 0 0. 40 


798 
7”. 





Breis gau. Mit der hiſtoriſchen Schilderung dieſer Landſchaft, des 
ſuͤdweſtlichſten Theiles im Großherzogthum Baden, iſt ganz vorzüglich 
auch verknüpft die Geſchichte von Kreiburg, dem Wohnorte ber 
beiden Herausgeber bes Staats⸗Lexikons, welche Stadt bereits zu Kaiſer 
Joſeph I. Zeit der Sig ruͤhmlicher Beſtrebungen für Aaufklaͤrung und 
Humanitaͤt war, und befonder® auch in unfern Tagen durch ihren ente 
fchieden liberalen Geiſt einen nicht geringen Eirchlichen und politifchen Ruf 
erlangte, was felbft von Seiten anerkannt wird, wo fein verbächtiges Lob 
zu vermuthen fteht. Schon dies mag es rechtfertigen, wenn wir «ine 
ausführliche Darftellung der Schidfale der Beinen Landſchaft den Artikeln 
des Staats⸗Lexikons einreihen. Aber auch außerdem zeichnet fich der Breis⸗ 
gau mit feiner Hauptſtadt in mehrfacher Beziehung vor vielen Gegenben 
Deutfchlands fehr bemerkenswert aus. Denn nicht nur ift er eine der 
wohlgelegenften, fchönften und fruchtbarften, fondern feine Gefchichte bies 
tet mehrere Partien dar, welche theils für den Alterthumsforfcher, theils 
"or für den Staatsmann von belehtendem Intereſſe find. 

‚Die Ausdehnung bes Breisgau erſtreckt fich von ber Höhe des 
Selbbergs füdlih bis an den Mhein (bei Sädingen), nördlich bis zum 
Schuͤlersberg (in ber Gegend von Hornberg) und weftlic bis wieder an 
den Rhein, fo daß bie Landfchaft ein ohngefähr 8 M. langes und halb ' 
fo breites Viered bildet, deſſen Inhalt die mannichfaltigfte und angenehm: 
ſte Abwechfelung von Hochgebirgen, von minder rauhen Bergreihen, von 
Hügeln, Schluchten, Thälern und Ebenen barbietet. So gehören namentlich 
(außer dem Zeldberge) die drei höchften Gipfel des ſuͤdlichen Schwarzwalds 
zum Breisgau, ber VBelhen, Blauen und Kandel. Vom fübmweftlichen 
Fuße des Feldbergs aber zieht ſich das herrliche Thal ber Wiefe, melde 
Hebel fo ſchoͤn befungen hat, bis hervor in die Gegend von Baſel; 
. am wefllihen Abhange bes Blauen ruht der Badeort Badenweiler, to 
auf der alten Schloßruine die Ausficht über die nächften Mebhügel, Über 
bie Kornfelder bis zum Rhein, und jenfeits bis in die Thälee der Voge⸗ 
fen, an den malerifchen Zauber italienifcher Landſchaften erinnert. Als⸗ 
dann folgt ber weite Garten um Freiburg, mit dem Kaiferfluhl, dem 
Treiſam⸗, Glotter⸗ und Eizthale, wo ſich dem Wandrer bei jeder Wen» 
dung, auf jeder Anhöhe eine neue Ausficht uͤberraſchend eröffnet. Wer 
betounderte nicht die wildromantifche Natur des „Höllenthales”, die fons 
nenheitern üppigen Gefilde des „Dimmelreiches”’, und zunaͤchſt der Stabt 
das reiche, unvergleichliche Panorama auf St. Loretto! , 

1 


4 Breisgau. 


Das Bergland iſt bie größere Hälfte bed Breisgaues, mo das kraͤf⸗ 
tige, ſchoͤne Volk fih in ber Megel theils von der Viehzucht und von 
Holzhandel, theils von ber Uhrmacherei ernährt; doch baut man oft bis 
auf die rauheften Höhen, aud überall Kartoffeln, Hafer und Sommer: 
roggen. Ein um fo fruchtbareres Erdreich enthalten dagegen bie Thaͤler 
und die Gegenden an ben Vorhligeln des Gebirges, wo fich die unzaͤh⸗ 
ligen Bergwaſſer zu belebenden Baͤchen und Fluͤſſen fammeln. Hier fin« 
det man in den Gemarkungen der meiftentheils beträchtlichen Dörfer und 
Sieden bie üppigften Wieſen, die ſchoͤnſten Getreidefelder und einen bes 
fonder® reichen Obſt⸗ und Weinwachs; der Marfgräfler ift berühmt durch 
ganz Schwaben. Außerdem pflanzt man auch Hanf, Rüben, Hülfens 
früchte und Kuͤchengewaͤchſe aller Art, und treibt eine täglich gebeihlichere 
Rinder», Schweine⸗ und Schafzucht. Nicht minder gefegnet find bie 
weiten Ebenen längs dem Rheine bin, nur daß fid) unter dem Volke 
bier leider häufig die Einwirkungen der Nachbarfchaft des Eifaffes, der 
Schmuggelei und bed Branntweind, auf eine beklagenswerthe Weiſe 
kund thun. 

Hiſtoriſch ift die breisgauifche Landfchaft einer ber beutfchen 
Gaue, deren ſchon in ben Älteften Denkmaͤlern namentliche Erwähnung 
gefhieht. Die roͤmiſche Reichsnotiz vom Ende bes vierten Jahrhunderts 
zählt unter den im römifchen Heere dienenden Deutfdyen die Brisigavi, 
welcher Name fogleih an bie keltiſch⸗ roͤmiſche Niederlaffung zu Breis 
ſach (mons Brisiacus, Brisiacum) erinnert *). Ueberhaupt ftößt der 
Alterthumsforfcher hier allenthalben auf Spuren ber früheften Anfieblung 
und Gultur durch Kelten (Gallier) und Römer. Und nachdem die Ales 
‚ mannen fi bed Rheinthales bemeiftert hatten, erfchien ihnen feine Ges 
gend fo einladend zu bleibender Bewohnung, als die Thäler und Vorhuͤ⸗ 
gel des ſuͤdweſtlichen Rheinwinkels, an deſſen Spige das alte Basilea 
(Bafel) fi) erhob. Dies bezeugen bie fehr frühe, zum Theil fchon im 
fiebenten Jahrhundert urkundlich vorlommenden Namen ber meisten jegt 
beftehenden (auch vieler abgegangenen) breisgauifhen Ortſchaften. 
Selbft das Licht des Evangeliums verbreitete ſich bier früher als irgends 
wo in Deutfchland nad den Stürmen der Völkerwanderung. Bereits 
unter Klodwig 1. ftiftete der ſchottiſche Miffionde Fridolin das Kloſter zu 
Sädingen, und hundert Jahre fpäter legte fein Landsmann Trutbert ben 
Grund zu ber Abtei feines Namens im Münfterthale **). 

Diefe gefegnete, uralt bevoͤlkerte und angebaute Landſchaft ift auch 
bie Wiege jenes um beutfches Buͤrgerthum fo verdienten Fuͤrſtengeſchlechts, 
welchem das großherzoglich badifche, Haus feinen Urfprung verbankt. 
Noch erhebt ſich, ohnweit Sreiburg, auf der Höhe eines gegen bie Ebene 


*) S. notitia dign. imperii rom. ex n. recens. Philippi Labbe, 
8. J. Paris. 1651. und vergl. Schöpflin, Alsat. illustr, Tom. I. pag. 191. 


**) &. Neugärt, episcopat. constant. Tom. I. Proleg. pag. 89. und 
pag. 7, 42. 


[4 





Breisgau. 5 


‚bervortretenden Huͤgels der Thurm von Bähringen, ein ehrwuͤrdiger 
Ueberreft aus den Zeiten der alten Herzoge. Wermuthli baute benfelben 
Graf Bezelin (tie defien Vetter Ratbod im Aargau den Thurm Babes 
burg) zum Schutze feiner in ber Umgegend gelegenen Güter; zum Wohnfige 
aber mählte ihn erft Herzog Berthold II., welcher ſich aus dem für fein 
Geſchlecht fo unheilvollen Schwaben ganz auf die breisgauifchen Stamms 
güter zuruͤckzog, wie ee denn zugleich auch das von, feinem Vater bei der 
Burg Teck gegründete Klofter St. Peter in die Nahbarfchaft der Burg 
Zaͤhringen verfegte und zur Samiliengruft erlas. Von dem an erfreute 
fi) der Breisgau fortwährend bes Gluͤckes einer fo mwohlthätigen Herr⸗ 

ſchaft, wie man die Zähringifche überhaupt nennen muß. Die Herzoge 
hielten fireng auf Ordnung und Sicherheit in ihren Landen, gründeten 
zur Aufnahme ded Handel und ber ‚Cultur, wie anberwärts andere 
Städte, fo im Breisgau bei einem alten Jagdhauſe an ber Zreifam 
das Gemeinwelen von Sreiburg, und am Rhein die Stadt Neuen- 
burg; fie erweiterten Breiſach und thaten Manches auch zut beſſern Auf⸗ 
nahme ber breisgauiſchen Kiöfter *). 

Bei dem 1218 erfolgten Einderlofen Tode Herzog Bertholb des Reis 
hen, mit welchem ber herzoglihe Stamm von Zähringen erloſch, fielen 
die breisgauifchen Eigengüter mit den Städten Freiburg und 
Neuenburg an feinen Schwager, Graf Egon von Urach, befien Nach⸗ 
tommenfchaft fich bald in die zwei Linien von Sreiburg und von Fuͤrſten⸗ 
berg unterſchied. Nach ſolcher Veränderung aber der breisgauifchen 
Vechaͤltniſſe ziehet jegt befonder& das freiburgifche Gemeinweſen uns 
fern Blick auf ſich duch fein freudige® Emporbluͤhen und feinen muthis 
gen Kampf gegen den Drud! der neuen Herrſchaft. Die Stadt war 
1118 von Herzog Berthold III., welcher während einer Gefangenfchaft 
zu Köln das ftädtifche Reben hatte ennen und ſchaͤtzen lernen, auf feinem 
eigenthümlihen Grund und Boden gegründet und zu einem Marktorte 
beftimmt worden, meswegen ee anfangs faft nur Kaufleute zur Nieder 
lafjung dahin einlud, und ihnen befonders feinen Frieden, ſicheres Geleit, 
Bollfreibeit und Erſtattung des in feinem Gebiete durch Unficherheit erlits 
tenen Schadens gewährte. Herzog Konrad aber, fein Bruber und Nachs 
folger, ertheilte dem Gemeinweſen 1120 die Urkunde feiner ftädtifchen 
Berfaffung, welche in allen Hauptpunkten der koͤlniſchen nachgebildet war. 
Eine Mark freien Eigenthbums reichte bin, um das Bürgerrecht ber 
neuen Stadt zu erwerben, und wer ſich darin nieberließ, erhielt zur Er⸗ 
richtung feines MWohnhaufes einen Hofraum von 100 Fuß in der Länge 
und 50 in der Breite. Alle Bürger waren frei, genofien eine volllommene 
Gleichheit des Rechts und gaben kein Vogtgeld (jus advooatiae) von ihren 
Gütern; fie wählten ats feibftitändige Gemeine ihren geiftlihen und welt: 
lichen Vorſteher: den Leutpriefter oder Pfarrer, welchem der Herr die 
Kirche verlieh, den Vogt, und alljaͤhrlich den Schultheiß, welche er be- 


*) Vergl. Schöpflin, histor. Zaringo-badens, Tom. I. und eeiqt 
lin, die Zaͤhringer. Freib. im Breisg. 1831. 


4 


6 Breidgar. 


ftätigte. Dei Nach beftanb aus 24 Geſchworenen (conjuratores), unter 
deren Beſtimmung und Auffiche die Münze, Maaß und Gewicht gehörs 
ten. Ferner übte die Gemeine auch eine Gerichtsbarkeit in Streitigkeiten 
bee Bürger nach herkömmlichen und geſetzlichem Mecht, und feiner von 
bes Herzogs Leuten durfte in ber Stadt wohnen oder Bürger werben 
ohne ihre Zuſtimmung (nisi ex communi consensu omnium urbano- 
rum et voluntate), Saß ein Leibeigener, ungefordert von feinem Deren, 
Jahre und Tag in der Stadt, fo behielt er die Freiheit. Gegen ben 
Fremden (Saft) befaß der Einheimifche große Vorrechte; benn er durfte 
denfelben nicht als Zeuge annehmen, brauchte mit ihm feinen Zweikampf 
einzugeben und konnte eine erlittene Unbill, wenn er fie dem Richter 
angezeigt und ber Fremde fpäter in bie Stadt kam, ungeftraft an ihm 
rächen. Auch durfte Bein Bürger vor ein fremdes Gericht gezogen wer⸗ 
den. Mann und Frau flanden fid) völlig gleich (maren Genoffen) und 
erbten einander. Waren Kinder vorhanden, fo durfte der Water nad) 
dem Tode ber Mutter ohne dringende Noth nichts von ihrem Vermögen 
veräußern, und auch auf bem Todbette ohne Wiſſen und Willen der 
vechtmäßigen Erben nichts an Andere vermachen. Starb aber Jemand 
ohne Kinder und Verwandte, fo fiel deſſen Hinterlaffenfchaft in drei gleis 
hen Theilen an bie Armen, die Stabe und den Herzog. Ein der Uns 
treue überführteer Waifenpfleger war mit feinem Leib der Gemeine, mit 
feinem Gut dem Deren verfallen, und fein naͤchſter vaͤterlicher Verwand⸗ 
ter mußte alsdann bie Pflesfchaft übernehmen. Friede und Ordnung 
wurden durch firenge Geſetze gehandhabt: wer gewaltfam in das Haus 
eines Bürgers eindrang, war ber Mache beffeiben ſchutzlos überlaffen ; 
wer einen biutrünftig fchlug, verlor die Hand, und wenn der Verwun⸗ 
bete ſtarb, das Leben. Gefchah aber eine Verlegung bei Nacht oder in 
bee Schenke, fo entichieb nur der Zweikampf (quia tabernam nocti as- 
simulamus propter ebrietatem). Ale Raufereien hatten für ben. Schuls 
digen außer ber gefeglihen Buße die Ungnade bed Heren zur Folge; 
bei Streitigkeiten aber, worüber eine der Parteien nicht felbft Klage ers 
bob, konnte weber ber Herzog noch ber Richter etwas fügen; wenn das 
gegen einmal geklagt war, fo durfte alsdann auc Feine geheime Aus» 
gleichung oder Sühne mehr flattfinden. Dem Herrn war ber Bürger 
zu nichts verpflichtet, als zu einer jährlichen Hausfteuer von 1 Schilling, 
und zur Kriegsfolge auf einem Tag (ita tamen, quod quilibet sequenti 
nocte possit ad propria remeare), Wer fi) aber biefer entzog ohne ges 
gründete Urfache, dem murde dad Haus niebergeriffen. Jedem Bürger 
‚übrigens ſtand ein freier Abzug offen, und bee Here mußte ihm ficheres 
Geleit geben durch fein ganzes Gebiet *). 

Im Befige fo koſtbaret Freiheiten und unter dem Träftigen Schutze 
des herzoglihen Daufes, war Freiburg ſchnell zum erſten Gemeinweſen 


*) ©. Freib. Univerſitäts-Progr. 1833. enthalt. die ältefte Verfaſ⸗ 
fungs:Urk, der Stade Freiburg, zum erfienmal in ihrer ächten Geftalt 
herausgegeb. von Dr. Heinr. Schreiber. | 


Brelögau. 7 


bed Brelsgaues herangewachſen. Und biefe freubige Entwidelung feiner 
Kräfte währete audy unter den nähften Nachkommen Graf Egons noch 
forte. Die Vermehrung der Bevbikerung und andere Umftände erforder⸗ 
ten einige Abänderungen und Erwelterungen der ˖ Verfaſſung. Nament⸗ 
ich hatte dee alte, allmaͤhllg von ben abeligen Geſchlechtern beſette 
Math ber Werundzwanziger, durch ben Mißbrauch feiner Gewalt, bie 
Buͤrgerſchaft veranlagt, ihm zur Controle die gleiche Anzahl eines juns 
gen (ebenfalls jährlich ganz ober theilweis zu erneuernden) Rarhes aus 
den Kaufleuten, Handwerkern ımb Edlen an bie Seite zu flellen, ohne 
weichen Erin gemeines Gefchäft dee Stadt verhandelt werben burfte. 
Dem alten überließ man jegt die Mechtöpflege, doch fo, daß eine Ap⸗ 
pellation an ben jungen Math und an die gefammte Bürgerfchaft, rote 
von diefer an dem Lölnifchen Magiſtrat geflättet war. In allen wichti⸗ 
gen Dingen übrigens, weiche die Ehre und Wohlfahrt des gemeinen 
Weſens betrafen, ſollte die Mehrheit dee Bürger entfcheiben und eim 
Jeder ihrem Beſchluſſe gehorfam und geroästig ſein. Bald nach biefee 
Beränderung wurden 1292 nach gemeinfamer Beſtimmung bes G | 
bes Mathe und gemeinee Bhrgerfchaft die Zünfte und das Amt des 
Bürgermeifters eingeführt. Diefen und bie Zunftvecſteher ſetzte aber der 
Her nah Willkür, und die Zünfte waren noch blos eine militairiſche 
Einrichtung und etwa eine Gontrole bei Veräußerung ftädtifcher Güter. 
Jeder BZunftmeifter hatte die Gewalt und Pflicht, feine Zunft durch bes 
cm beſchworene Statuten in Ordnung zu halten, fie in Kriegen bes 
Stadt oder Herrſchaft unter bie Waffen zu rufen, und bie zuͤnftiſchen 
Satzungen umter Beiziehung des Schultheißen, Buͤrgermeiſters und der 
übrigen Zumftvorfteher nad) Nothdurft der Zeiten ımb Umſtaͤnde zu aͤn⸗ 
den *). So emtwidelte fih die freiburgiſche Verfaſſung und ging, 
wie ſchon früher auf die übrigen zaͤhringiſchen Städte, jegt auch auf 
mehrere frembe Gemeinweſen über, namentlih auf Kenzingen und Walde 
ich im VBreisgau **), und eine noch :weit größere Bahl nahmen zu 
Freiburg ihr Recht, d. h. fie wählten baffelbe zu ihrem Oberhof, gleich" 
wie es felbft dem feinigen von Alters her in Koͤln erkannte ***). Indeſ⸗ 
fen aber waren auch verfchiedene Polizel » Einrichtungen getroffen und 
mohlthätige Anftalten geftiftet worben; es hatte ſich die Bevölkerung zus 
fehend® gehoben, befonders durch den benachbarten Adel, welcher bie Vor⸗ 
theile des ftädtifchen Aufenthaltes mehr und mehr zu firchen anfing, und 
felbft die Markgrafen von Hochberg fanden es ehrend und erſprießlich, Buͤr⸗ 
ger in Freiburg zu fein. Bel foldem Zuſammenfluſſe ven Einwohnern 
mehrten fid) Handel und Gewerbe; die Stadt wurde wohlhabend, machte 


°% ©. Schreiber, Urk. Buch der Stadt Freiburg im Breisg. 1828. 
I. Band, + Abthig. R. XI., L und BIl. 

**) Urk. der Herren von Ufenberg von 1330 und 1860. Mic. Schere i⸗ 
ber a. a. DR. LIX I 


..) Bergl. tas angef. Untoerf. „Prog. ©. 7. 


8 Breisgau. 


Erwerbungen und vergrößerte fich; bie Zrechat fing an ſic zu fuͤh⸗ 
len und ihren Feinden furchtbar zu werden 

Aber ſchon damals war der Zuͤnder RR folgenden Zerwuͤrfniſſes ges 
legt. Es zeigt fi im ber erften beutfchen Bearbeitung bes alten Stadts 
rechts und in der neuen Verfaſſungsurkunde, welche die Erbfolge in ber 
Herrſchaft, bie Ergänzung des Mathe, die Jahrgehalte des Bürgermeis 
fters und der Vierundzwanziger, den Gang des Gerichtöwefens, die Bes 
flellung der Zünfte und Anderes beftimmt, manche Spur von Anmafuns 
gen duch die herrichaftliche Gewalt, und namentlich bing jegt die Ders 
leihung des Schultheifenamtes von dem Grafen ab, ber daffelbe, wenn 
es kein Vierundzwanziger annehmen wollte, an den Meiftbietenden ver: 
Laufen konnte. Ueberdies hatte fih Graf Egon IH. durch feine Fehde⸗ 
luft in eine große Schulbentaft geftürzt, zw deren Debung er 'an bie 
Stadt allzu ungebührliche Korderungen that, um nicht ihren Widerftand 
zu erregen. Und fo kam es benn zum entfchiebenen Bruce. Die ent 
fchloffene Tapferkeit der Buͤrgerſchaft indeffen vereitelte den bewaffneten 
Angriff des Strafen auf die Stadt, und benugte hernach die Geldnoth 
feines Sohnes und Enkels aufs Gluͤcklichſte zur Erweiterung ihrer Frei⸗ 
beiten und Macht. So edangte der Math bie freie Wahl des Bürgers 
meiftere und die Bimfte jene ihrer Vorſteher; ja, Graf Konrad ers 
teilte den Freiburgern 1327 um die Summe von 4000 M. ©., nes 
ben andern wichtigen Rechtfamen, die volle Gewalt, „fi zu verbinden, 
wann und mit wem fie wollen”, unb innerhalb eines Zeitraumes von 
kaum 20 Jahren ſtand Freiburg. nicht allein mit den angefehenften 
Staͤdten am Rhein, in der Schweiz und in Schwaben, fondern felbft 
mit Fürften, Vifchöfen und einer Menge des Adels in Verbindung **). 
Nichts Eonnte dena :freiburgifchen Gemeinmwefen in Wahrung und Ents 
widelung feiner Berfaffungsrechte, in Ermeiterung und Befeſtigung ſei⸗ 
nee Macht gebeihticher ſeyn, als biefes Recht ‚freier Einung oder Aſſo⸗ 
ration. Denn dadurch war ale Willkür von Selten ber Herrſchaft 
gehemmt, und der Graf. konnte nur durch Eintracht mit ber Stadt feis 
nen Einfluß behaupten, ober er mußte unterliegen. 

Als Konrad 1866 ahne männtihe Nachkommenſchaft verſtarb, ſollte 
die freiburgiſche Herrſchaft verfaſſungsgemaͤß an deſſen hinterlaſſene Ge⸗ 
mahlin erben; allein ſein Bruder Egon IV., auf welchen die Reichsle⸗ 
hen uͤbergingen, verdraͤngte die huͤlfloſe Wittwe aus ihrem Erbe, und 
ſuchte die über. ſolche Gewaltthaͤtigkeit entruͤſtete, ihm ohnehin abgeneigte 
Buͤrgerſchaft durch Werſprechungen für ſich zu gewinnen. Aber fie bes 
wies ihm nur. fo lange einen Schein pon Ergebenheit, bis er ihnen, 
wie feine Väter, durch Schulden Iäftig fiel und ihr erwachtes Selbſt⸗ 
gefühl durch Sewoltergteiſung zu demuůthigen ſuchte. Es kam abermals 


1 i 


ba on 
.% S. das Freiburger Urk. Buch, N. E. Band, 1. und 2, Abthlg. 


**) Vergl. Freiburger Urt. Buch und Säreiber, Greiburg mit feinen 
Umgebungen. Freiburg bri Herten 4828, .ı: 


i⸗ 





Breiögm 0 9 


zum atiege und bie Stadt wuͤrde wohl abermals geſiegt haben, wenn 
nicht ihr unfeligeß Zerwuͤrfniß mit den Straßburgern fie um eine tapfere 
Bundesgenofiin gebracht und die feindliche Macht durch deren Kriegsvolk 
verſtaͤrkt hätte. Aber trog ber 1366 bei Endingen erlittenen Nieberlage 
blieb fie gleidy ftandhaft in Vertheidigung ihrer Freiheit, und erneute fo 
ernfthaft ihre Rüftungen, daß dee Graf endlich davon abftand, fie wie⸗ 
der in feine Gewalt. zu bringen. Er ließ fih in Unterhandlungen ein, 
deren Erfolg feine völlige Berzichtleiftung auf Freiburg und beffen 
Gebiet war, mogegen ihm die Stadt bie hiezu erfaufte Herrſchaft Ba⸗ 
denmeiler mit einer baaren Summe. von 15,000 Gulden übergab. 

| Auf diefe Weife kamen die Freiburger zu ihrer Freiheit, aber auch 
zu einer kaum erſchwinglichen Schuldenlaſt, und follten fi innerhalb 
einer kurzen Zrift einen neuen Deren erwählen. Von verfciedenen Sei⸗ 
ten richtete man feine Blicke auf: die mwohlgelegene, wichtige Stadt, wel⸗ 
he felbft wohl am Lliebften den Gedanken eimer Verbindung mit ihren 
Freunden in dee Schweiz hegen mochte. Allein ber Adel arbeitete aus 
allen Kräften dagegen und sfterreihifche Unterhändler wußten klug ges 
nug die Umflände zu benugen, um das bedraͤngte Gemeinwefen durch 
das Derfprechen der Uebernahme eines Theils der Stadefhuld in bie 
Gewalt ihred Deren zu „practiciren“ *). Freiburg ſchwur 1368 an 
das Haus Oeſterreich und bildete..bald. ben vorzuglichften Ort ber öfterreis 
chiſchen Vorlande, namentlih nachdem es 1456 durch Herzog Albrecht III. 
eine Hochſchule. erhalten. hatte **). Aber gleichwie es fich bisher uͤber 
alle Dinderniffe kraͤftig emporgeſchwungen hatte, fo fing es jest wieder 
zu finten an, ba. Deſterreich fein Verſprechen nur ſchlecht erfüllte und 
jene Schuldenlaſt der innere Schaden blieb, an welchem das Gemeinwe⸗ 
fen fortan Eränkelte.. 

Neben Freiburg zählte das Haus Defterreih damals auch ſchon 
mehrere andere. -Befigungen im Breisgau, welche es zufehende ermeir 
terte, bis wir. im 15. Sahrhundert außer den badiſchen Herrfchaften 
Hochberg, Saufenberg und Roͤteln beinahe Alles, namentlidy aber die 
Städte Neuenburg, Breiſach, Endingen, Kenzingen und Waldkirch, nebft 
den Herrfhaften Koftelberg und Schwarzenberg, unter ihm vereinigt ſa⸗ 
ben, wie felbft auch die breisgauifche: Landgrafſchaft mit dem Landgerichte, 
deffen Lehen der Kaifer nad) dem Ausgange des Haufes Zaͤhringen an 
den Markgrafen zu Hochberg verliehen hatte, welches von bdiefem aber 
1318 pfandfchaftemweife an die Grafen von Freiburg und durch Konrad III., 
den Sohn- Graf Egons IV., endlih 1398 an Herzog Leopold den Stol⸗ 
zen gebieh ***y.: Diefes Landgericht, bie Sortfegung bes. alten Gauge⸗ 


op m Nach Tſchudys Ausdrud. ©. Ehron. der Eibgenoffen. I. Theil. 


9 met Stiftungeseif bei Schr eiber, Urk. Buch, IL Bänd. 2. Abthlg., 
nn.) ah Ausſage eines alten Mannes, welche 1434 urkundiich erho⸗ 
ben wurde. Freib. Urk. Buch, M. DXCVI. 


0 | Breisgau. 


gerichts, wurde nech im 14. Jahrhundert za Brombach, Offendingen 
ober Theningen, unter freiem Himmel, von zwölf Schöffen, mit dem 
Zandgrafen an ihrer Spige, feierlich abgehalten und entfchied über alle 
wichtigen Rechts⸗ und Griminalfälle. Es erſchienen babel als Mitrich⸗ 
ter nicht allein vitterbürtige Keute, fonbern auch Bürger und felbft noch 
Bauern *) Doch verloren ſich jene buch bie Eremtionen der Städte 
mehr und mehr von dem Gericht, woburd die freien Bauern genoͤthigt 
teurben, dem Abel endlich vollends zu weichen, ber ſich bie Schöffenbarkeit 
nun als Standes vorrecht anmaßte. Nach dem Webergange ber landgraf⸗ 
ſchaftlichen Rechte an Oeſterreich verlor ſich das Landgericht allmaͤhlig, fo 
daß ſpaͤter nur ſelten noch eine Spur davon zu entdecken iſt. 

Durch den Einfluß, zumal des Abels, welcher ſich in ben meiſten 
Städten zahlreich niebergelaffen hatte und meift die Rathsſtellen tie 
erblich bekleidete, wurde im Breisgau, wie in allen Öfterreichifchen Vor: 
landen, bald auch eine überaus eifrige Gefinnung für das Erzhaus ev» 
zeugt. Denn man wußte feinem Stolze zu fchmeicheln, und er opferte 
verſchwenderiſch Gut und. Blut für feine vermeintlichen Beſchuͤtzer, bie 
eitterlichen Zürften von Oeſterreich, während fie ihn, fo lange er etwas 
vermochte, felbftfüchtig gebrauchten, und nachdem er werarmt war, ſich 
wohlfeilen Kaufs in den Befig feiner Güter ſetzten. Doch raͤchte ſich 
diefes Syſtem wieder auf andrer Seite. Der oͤſterreichiſche Hof glaubte 
ben natürlichen Haß bed vorländifchen Adele gegen bie ſchweizeriſchen 
„Bauern“ auf’s Beſte zu benugen, indem er denfelben auf einen Grab 
fteigerte, wo die flolz mit der Pfauenfeber geſchmuͤckten Herren für nichts 
Anberes mehr einen Bli hatten und die Sache ihre Standes zu vers 
theidigen wähnten, da fie body (zu ihrem eignen endlichen Untergange) 
nur ein Werkzeug der oͤſterreichiſchen Politit waren.. Aber gerabe diefer 
gelotifh blinde Schweizerhaß vermehrte bie Fehden und Streitigkeiten 
nicht nur in's Unzählige, wodurch Kraft und Mittel zerfplittert wurden, 
fordern war auch hiedurch und neben ber feubaliftifchen Kriegsmanier 
meift die Urfache jener blutigen Niederlagen, welche auf Seiten Defterreich® 
die Schweizerkriege fo traurig bezeichnen. 

Denfeiben Undank dendteten auch die breisgauifhen Städte für 
ihee treue Gefinnung und ihre vielen Opfer. Als Herzog Friedrich 1414 
in die Reichsacht fiel, bewiefen mehrere eine wahrhaft ruͤhrende Anhäng- 
tichkeit an ihre Fuͤrſtenhaus, indem fie, wie befonders Freiburg, bie 
Huldigung unter das Meich möglichft verzogen und bereit waren, ben 
geächteten Herzog mit Gut und Blut in Behauptung feiner Lande zu 
unterftügen **). Auch ihre beforgte Thaͤtigleit und bereitroillige Leiſtun⸗ 


*) Vergl. oben Artikel Adel, Bd. I. &. 329. 

**) 5. Ernft, Friedrichs Bruder, fagte felbft In einem Schreiben an 
Freiburg: „Und da euer Vordern fich und ihr in lautrer und gerechter Sieb’ 
und Treu mit bereitem Willen euch gehorfamlid und dienftlich gegen unfre 
VWordern und und alkeit mit Leib und Gut manigfaltiglich erzeigt habt, und 
dei ihnen und uns männlich beftanden und verbiichen feld, fo bisten mad mah⸗ 





Breisgau. 11 


gen an Geld, Munition und Mannſchaft während ber nachfolgenden 
Kriege thaten diefe Anhänglichkeit genugfam kund. Und denmoch fcheute 
ſich Erzherzog Siegmund nicht, diefe treueftbermährten Lande aus Geldnoth 
und Politit als ein Pfandſtuͤck zuerft oͤffentlich an Burgund und alsdann ' 
heimlich an Balern hinzugeben. Jenes hatte freilid der vorländifche 
Adel felbft am meiften betrieben in der füßen Hoffnung, Karl des Kuͤh⸗ 
nen gewaltige Fauſt werde endlich das. fchweizerifche Bauern » Bünbnif 
niederfhmettern. Im Sommer 1469 wurden bie Grafſchaft Pfirdt, der 
Schwarzwald mit ben 4 Waldſtaͤdten, bie Herrfchaften im Sundgau, 
Elſaß und Breisgau an ben Herzog von Burgund unter der Beding⸗ 
nig verfegt, baß er für ben’ Erzherzog die den Eidgenofien feit dem 
Waldshuter Frieden fhuldigen Entſchaͤdigungsgelder übernehme, ihm feir 
nen Schutz gewähre und eine Summe von 80,000 Bulben vorftrede. 
Hierauf huldigte das verpfändete Land ber neuen Herrſchaft und erhielt 
zu feinem Verwalter den Landvogt Peter von Hagenbach, welcher von 
bem Adel mit ungemeiner Freude empfangen wurde und nun zu Brelfach 
feinen Sit auffchlug. 5. 

Aber wie bald verwandelte ſich dieſe Freude in Beſorgniſſe, in Un⸗ 
muth und Haß! Der beleidigende Stolz ber. burgundiſchen Großen, 
die übermüthige Härte des Landvogts und bie habfüchtige Inſolenz feis 
ner Diener empörten nicht allein das Landvoik und die Bürger der 
Städte, fondern felbft den Adel, wenn auch nicht durch ihre Verhoͤh⸗ 
nung alle beffern Rechts, aller Freiheit und Ehrbarkeit, doch endlich 
durch ihre Eingriffe in feine Jagden! Pagenbach nammtlid war 
ein Mann, der es gerne fühlen! ließ, daß er in diefen Landen der erfte 
Beamte des mächtigen Herzond von Burgund ſei; der hei gereizter Leis 
denfhaft oder im Verfolg feiner Intereſſen nicht ſchonte von Allem, 
mas dem Menfchen fonft heilig ft, und jeden Tag mit einer Gewalt» 
thätigkeit bezeichnete, oder buch Spott und Drohungen nod) bitterer 
reiste *). ' 

Solche Mißhandlungen durch bie frembe Obwaltung vereinigte 
endlich die früher vielfach getheilten Gemüther, und man lag jetzt dem 
Erzherzoge von verfchiedenen Seiten aufs Dringendfte an, bie verpfändes 
ten Lande wieder einzulöfen. Die daruͤber begonnenen Verhandlungen 
wurden befchleumigt durch die perfönlihe Erfcheinung des Herzogs in den 
Vorlanden und endlich, zur Reife gebracht durch die franzöfifche Politik, 
welche ſchon laͤngſt, eiferfüchtig auf die wachſende Macht von Burgund, 
dieſelbe jetzt zu ſtuͤrzen trachtete. Es war in den letzten Tagen des Jah⸗ 
res 1474, als Herzog Karl bie Pfandſchaft bereiſte. Die breisgauis 


nen wir auch begierlich, daß ihr noch alſo bei dem Haus Defterreich, als bei 
euern rechten und natürlichen Erbherren und Fürften, mit folcher Zreue wollet 
feftiglich verbleiben.” Freib. Urt. Buch II. Band, 1. Abthig., N. DXXI. 


ua O2 D58, Seſchihte von Bafel, IV. Band, © 241. ſeht fen gan- 


12 Breisgau. 


fchen und andere Städte erwarteten ihn mit ſolchen Beſorgniſſen, daß 
ſie ihre Mauern vorſichtig verwahrten. Und dieſe Beſorgniſſe waren 
keineswegs ungegruͤndet. Denn fein Kriegsvolk veruͤbte ſchon im Elſaß 
empoͤrenden Unfug an den Menſchen wie am Vieh, und als er nach 
Weihnachten von Breiſach wieder abzog, uͤberließ ſich auch die dortige 
Beſatzung ungehemmt den wildeſten Ausſchweifungen *). Umſonſt wen⸗ 
deten ſich die Breiſacher durch eine Botſchaft an den Herzog; anſtatt 
einer Abhuͤlfe erſchienen zur Verſtaͤrkung der Beſatzung weitere 400 Mann, 
„um das ungehorſame Volk im Zaume gu halten‘. Hagenbach ſchal⸗ 
tete nun vollends nach ſeiner Willkuͤr, und die Staͤdte am Rhein 
mußten Tag und Nacht auf ihrer Hut ſein, damit ſie nicht von ſei⸗ 
nen Schaaren uͤberrumpelt wuͤrden. 

Unm ſo dringender betrieben fie daher jetzt auch das Geſchaͤft ber 
Einloͤſung. Es geſchahen nach einander mehrere Verſammlungen und 
im Sommer 1474 endlich eine allgemeine Tagſatzung zu Conſtanz. Hier 
kam denn durch die Unterhändler des Königs von Frankreich zwiſchen 
Deſterreich und der Eidgenoſſenſchaft (mas kurze Zeit zuvor noch unglaub⸗ 
lich gefchienen hätte) ein volllommener Friebe oder die fogenannte ew i⸗ 
ge Richtung zu Stande und ihre Vereinigung wider Burgund; fers 
ner ein zehnjähriges Huͤlfsbuͤndniß (im Gegenfage des fchmeizertichen Eibs 
genoffen » Bundes ber niedere Verein genannt) zwiſchen dem Erz⸗ 
berzoge und Straßburg, Baſel, Colmar und Schlettſtadt, und bie Herz 
beifchaffung des Pfandfchillinge durch diefe Städte. | 

Sofort erging die Auftündigung der Pfandfchaft an ben Herzog, 
während der niedere Bund fi auf den Kriegsfuß flellte und Niemand 
mehr der burgundifchen Obrigkeit gehorchen wollte. Karl, hierlber wie 
außer ſich, drohte fuͤrchterlich und Hagenbach fuchte fich den Gehorfam 
zu erzwingen. Er veränderte zu Breifah den Rath nah feinem 
Intereſſe und ließ die Stadt befeftigen. Aber ſchon mar durch eine 
Verfhmwörung der VBürgerfchaft fein Untergang befchloffen. Als’ er am 
heiligen Dftertage das Volk nöthigen wollte, an dem Stadtgraben zu 
arbeiten, ergriff und verhaftete man ihn. Hierauf Fam der Erzherzog 
nah Baſel, ließ fih im Lande wieder huldigen und ordnete mit den 
Erädten das Geriht an, welches zu Breiſach Uber das Schickſal bes 
Landvogts entfcheidert follte. Es beftand daſſelbe unter dem Vorſitze bes 
Schultheißen von Enfisheim aus je zwei Bürgern von Straßburg, Ba⸗ 
fel, Solothurn, Bern, Schiettftabt, Colmar, Krenzingen, Freiburg 
und Neuenburg und achten von Breiſach, welche nad) einer langen Der: 
handlung den Landvogt zum Tode verurtheilten, worauf er unverweilt 
auch hingerichtet wurde **). 


.*) Es waren meift Picarder, welche „vorgenommen, den armen Leuten 
ihre Thüren und Thore der Häufer aufzubauen und aufzutreten, auch in die 
Häufer geftiegen, ihnen das Shrige genommen, ihre Ehefrauen und Töchter 
gef Awäct und viel Uebels begangen.” Gin Beitgenoffe, bei Ochs a. a. O 


”) Vergl. Ochs a. a. O. S. 197—%7. 





Breisgau. 13 


Diefe Verurtheilung war alfo mehr eine Volksrache, als ein or 
bentlicyee Prozeß, und Herzog Karl gerieth darüber, wie über die vers 
tragswidrige Auffündigung und Einnahme ber Pfandfchafl, in die 
äußerfte Entrüftung, wurde aber gluͤcklicherweiſe verhindert, bie dem 
Lande gebrohte Rache ſogleich zu verfolgen. Und inzmwifchen betrieben der 
Erzherzog und die Eidgenoffen ihre Rüftungen, dei niedere Verein ſtaͤrkte 
ſich durch neue Mitglieder und im November eröffnete man mit der Bes 
lagerung von Herkcourt den Krieg wider Burgund, deſſen trogige Macht 
ducch die franzöfifhe Lift und die eidgenöffifche Zapferkeit bei Murten, 
Sranfon und Nancy ein fo traurige® Ende nahm! | 

Sogleih nah Entfernung dee burgundifhen Herrſchaft hatten bie 
vier breisgauifhen Städte Freiburg, Neuenburg, Breifah und En⸗ 
dingen ein früher unter ihnen fchon beftandenes Buͤndniß wieder erneuert, 
bamit fie „deſto friedliher, ruhiger und beffer bei ihrer Herrs 
(haft von Oeſterreich beflehen umd verbleiben möchten”, und fi in 14 
Artikeln zu gemeinfhaftlicher Berathung und Führung al’ ihrer äußern 
Sachen in Krieg und Frieden verpflichtet *). Die Landfchaft Breisgau 
aber überhaupt trat in der nämlichen Abſicht einer mehrern Befeftigung 
der Sicherheit und Ordnung, mie aud) des ruhigen Verbleibens bet Ihe 
rem angeflammten Fürftenhaufe, mit den vier Waldftädten, der Ortenau, 
dem Eifaß und Sundgau in eine ähnliche Verbindung, welche den vors 
deröfterreihifhen Kandftänden ihren Urfprung gab. Die Praͤ⸗ 
laten ber Kiöfter, der Adel, die Städte und Landſchaften naͤmlich vertis 
nigten ſich zu einer feſten, georbneten landftändifhen Verfaſſung, und 
veranlaßten den Erzherzog, die Landesverwaltung hiemit in Einklang zu 
bringen. Siegmund errichtete fofort zur beffern Suftizpflege und Beſor⸗ 
gung der Eandesangelegenheiten in Enfisheim eine eigene, befländige Lane 
desftelle, welche aus dem Landvogte oder deffen Statthalter und 6 Raͤ⸗ 
then beftand, wovon 3 aus dem Abel und 3 von der gelehrten Bank 
waren. Im Breisgau fand diefe Verfaffüng auch eine fo gute Aufs 
nahme, daß felbft unmittelbare Reichsglieder ihrer Unmittelbarkeit freie . 
willig entfagten, und als oͤſterreichiſche Standesglieber den Ständen beis 
traten. Da der dritte Stand, melden bie Städte und Landfchaften oder 
Aemter bildeten, bei weiten der zahlreichfte mar, fo theilte er ihn in ver⸗ 
ſchiedene Bezirke oder fogenannte Landfahnen ab, und zum Breisgau 
wurden jest die acht Bezirke Sreiburg, Villingen, Neuenburg, Burge 
heim, Staufen, Waldkirch, Hauenftein und Frickthal gezählt, wodurch der 
Begriff der breisgauifchen Landfchaft eine ziemliche Ausdehnung eve 
biet. Freiburg murde die Leitung führende Hauptfladt des dritten 
Standes und gewann feitbem wieder einigermaßen an Mohlftand und 
Anfehen**). 


*) Bundbrief, im Freiburger Urkundenbuch, IL Buh, . Abtheilg., 
N. DCCXXXIII. 

*) Kreutter, Gefch. der vorderdftr. Staaten. J. Theil. Einleitung 
©. XXVII. II, Zhl, 6.170, und Schreiber, Freiburg mit feinen Umges 
bungen. ©. 25. 


14 Breiögau. 


Wenn wir nım auf bie Wirkſamkeit biefer Lanbftände einen Blick 
werfen, fo können wir lange Zeit (wegen bes Einfluſſes einer dienft- 
willigen Ariflokratie auf die Städte, welche wieder die Landfchaften bes 
flimmten) leider kaum etwas Anbered wahrnehmen, als wiederholte Bes 
willigungen von Hülfsgeldern, und nur durch bie herbiten Erfahrungen 
fehen wir fie zu einigem Widerftande gegen die fürftiihe Willkuͤr und 
zur Rettung bes Landes ſich erheben. Es tft in ber That bemunderungs- 
würdig, welche Opfer fie dem Haufe Defterreich gebracht haben, ohne viel 
Anzeres dafür einzuärnbten, als das Lob ihrer Treue, und hin und wies 
der die gnädige Gegenwart bes Fürften! Nach jenen harten Leiftungen 
im alten Schweizerfrieg, und nad) Verwilligung bed fogenannten Umgel: 
bed auf mehrere Jahre, verlangte Erzherzog Siegmund baffelbe 1483 
neuerdings, unter dem Verſprechen der Aufrechthaltung ber ftänbifchen 
Rechte und Freiheiten. As aber einige Städte und namentlih Frei⸗ 
burg, Beforgniffe hegten über die fteten Geldforderungen, wie über die 
Art und Weife derfeiben, als fie mit ihren Bunbesgenofien beriethen und 
dem öfterreichifchen Landvogte Vorftelungen machten, nahm ber Erzher⸗ 
309 ſolches ſehr ungnaͤdig auf, ließ ihnen ihre Berathungen unterfagen 
und brohte zur Eintreibung bes böfen Pfennings mit einer Erecution. 
‚Der freiburgifhe Rath warb hierüber Außerft betroffen, wollte aber doc) 
die fürftliche Ungnade nicht auf ſich laden, und uͤberſchickte dem Erzher⸗ 
zoge zur Abwendung berfelben eine getreue Schilderung von bem Zuftande 
des ihm anvertrauten Gemeinweſens. „Als Euer fürftlihe Gnad', hieß 
es darin, Hilfgeld von uns begehrt, haben wir in guter Meinung aus 
nothdürftigen Urfachen um Bebenkzeit gebeten, bie Anmuthung aber nicht 
abgefchlagen, fondern allein verzogen, weil unfere Zufage bei den andern 
Städten manchmal Unmwillen erregte, und wie mit Zins, Guͤlten, Zöllen, 
Meifen und täglihen Auslagen merklich befchwert find, bag Niemand 
mehr zu uns ziehen will und wir Leut' und Gut verlieren. Uns mit 
andern Städten zu unterreden, iſt von unfern’ gnädtgften Herren zu 
Defterreich, feliger Gedaͤchtniß, nie abgefchlagen, fondern allweg vergönnt 
und alfo gehalten worden, daß, wenn fie etwas begehret, was bie gemeine 
Landfchaft berührte, fie diefelbe verfammelten und es vortrugen, wie Fuer 
fürftlihe Gnad' ſolches früher auch ſelbſt beobachtet hat*). Nun find 
wir in Erhebung des böfen Pfennings gleichwohl fleißig, und zudem in 
Eur Gnab’ Gefhäften und Kriegen mit Leib und Gut willig gemefen; 
finden auch, baß unfere Vordern großes Gut der gnaͤdigen Herrſchaft von 
Defterreih zu Dienft wider deren alten Feind getreulich vorgefegt und 
fi) und ihre Nachkommen in ſchwere Schulden vertieft haben. Wies 
wohl wir nun unfere Binfen nicht bezahlen können, wiewohl wir den Abs 


*%) 6) ſchrieb fpäter feloft unter Marimillan (1497) auch Graf Kon: 
rad von Tübingen (ale Herr zu Lich te neck breisgauifcher Lanpftand) an den 
freiburgifchen Rath zur fleißigen Unterretung mit den Übrigen Etänden. „Denn 
mich will faft bedüinfen, fhricb er, daß man uns den Efel aufden Hals 
wölle legen. Freib. Urkuntenduh N. DCCLXXXIL 





Breisgau. 15 


gung ber Stadt und Zerſtoͤrumg bürgerlicher Einigkeit beſorgen, fo wollen 
wir bermody über unfer Vermögen mit unſern Bürgern, Kiöftern und 
Bugehörigen auch thun, wie die Sehorfamen, in der Zuverfidht, Euer 
Durchlaucht werde uns beffen in anderm Wege wieder 'ergögen‘‘ *). 

Der Erzherzog aber, ſchon ziemlich bejahrt und überaus bequem, 
dachte fich der drüdenden Laft, weiche ihm biefe Argerlichen Verhaͤltniſſe 
bei feiner großen Schuldenmaſſe nerurfachten, durch eine abermalige Ver⸗ 
pfändung der Worlande, unb zwar biesmal an Baiern, auf einmal zu 
entledigen. Schon waren bie Verträge darüber aufgefegt und die erzher⸗ 
zoglichen und baierifchen Unterhänbler ausgegangen, um das Gefchäft ins⸗ 
geheim vollends abzufchließen, als die Regierung zu Enfisheim von ber 
Gefahr unterrichtet wurde unb fie dem Kaifer, als Aelteften bes Haufes 
Deſterreich, verrieth, welcher fofort bie geeigneten Vorkehrungen traf, 
bie Verpfänbung zu verhindern. Er ermahnte die Städte, Zumal Freie 
burg, „als die Dauptflabt im Breisgau”, ſich vom Haufe Defterreich 

nicht temmen zu laſſen, ſondern „dem Vornehmen ber baieriſchen Her⸗ 
ten” zu widerſtehen und zur Berathung über dieſe Angelegenheit mit dem 
übrigen Städten einen Tag zu halten. &o wurde denn aud) das Land 
aus der nächften Gefahr gerettet, und als Siegmund 1487 durch einen 
allgemeinen Landtag ber vorderoͤſterreichiſchen Stände im Eintommen und 
in der Verwaltung ſich für feine genußfüchtige Bequemlichkeit zu laͤſtig 
beſchraͤnkt fah, bewog ihn ein zweiter Landtag um fo leichter zur Abtre⸗ 
tung des Regiments an den Erzherzog Darimilian, welcher bald ſernach 
den deutſchen Kaiſerthron beftieg**). 
Durch die aufgeklaͤrte gkeit dieſes für Vergrößerung und Be⸗ 
feſtigung ſeiner Hausmacht ſo unermuͤdlich beſorgten Fuͤrſten begann im 
Breisgau, und namentlich zu Freiburg, eine Zeit neuen Emporbluͤhens. 
Maximilian unterſtuͤtzte die Stadt in einer Anſtalt, welche fie zur alle 
maͤligen Abloͤſung ihrer druͤckenden Schulden errichtet hatte, beſtellte aus 
dem Rath und der Bürgerfchaft einen beſondern Ausſchuß zur Verwal⸗ 
tung des flädtifchen Vermögens, verlieh ihr einen dritten Jahrmarkt und 
das Privilegium, goldene Münzen zu prägen, hob für Streitigkeiten über 
Dinge unter dem Werthe von 20 Gulden bie Appellation vom Gtadis 
rath an bie Regierung auf unb verorbnete, daß kein Bürger durch ein 
Wappen ober einen Eaiferlichen Dienftbrief berechtigt. werde, ftädtifche 
Aemter abzulehnen. Auch die Freiburgifhe Hochſchule gebieh durch 
Maximilians wohlmollende Pflege zu einem bisher nie geweſenen Flor. 
Steudig mehrte fi) die Buhl der Lehrer und Schüler, und aus jenen 
wählte ſich der Kaifer felbft den Konrad Stürzel zum Kanzler, den Georg 
Reiſch, Verfaffer der erſten Encyklopaͤdie aller Wiffenfchaften (deswegen 
auch oraculum Germaniae genannt), zum Gemiffensrathe, und zum Ges 
ſchichtſchreiber feines Haufes den Jakob Männel; neben diefen Männern 


Freiburger Urkundenbuch, U. Band, 2. Abthlg. N. DCCKLIV. 
°) Ereiburger Urkundenbuch, N. DCCXLVI bis DCCLIV. 


16 j Breisgau. 


aber glänzten noch ein Zofius, welcher 1520 das in bamaligem Geifte 
nad) roͤmiſchen Rechtsgrundſaͤtzen umgearbeitete freiburger Stadtrecht neu ˖ 
berausgab, ein Wimpheling, Erasmus, Glarean, Mynſinger, Locher 
(Philomosus suevus) und Dartung *). | 

Allzu kurz jedoch mwährte diefe hoffnungsreiche Zeit. Die Nachwe⸗ 
ben der Opfer im neuen Schweizerkrieg, die Verwirrung des Bauern⸗ 
aufruhrs 1525, die Leiftungen im ſchmalkaldiſchen, franzöfifchen und Tuͤr⸗ 
kenktiege ftürzten das Land in die alte Noth zurüd. Denn nur von 
1528 an bis 1568 bemilligten die Stände, obne die Mannfchaft und 
das gewöhnliche Umgeld, als außerordentliche Steuer, gegen 800,000 
Gulden, fo daß es wirklich ſcheint, das Vermögen des Landes fei, wie 
ber ſanktblaſiſche Gefchichtfchreiber von MWorderöfterreih naiv ſich ause 
brüdt, unerfhöpflih, und bee Dienfleifee grenzenlos getvefen. 
Aber es herrſchte allenthalben Armuth, und namentlid, ſchmachtete das 
Zandvoll unter dem Drude oft des tiefften Elendes. Und gleichwohl’ 
wurden die Breis ga uer nicht wankend in ihrer „eifrigen Treu‘ und 
in ihrem „unterthänigen Gehorſam“ gegen das „gnaͤdige Erzhaus“, wie 
fie denn folches nicht allein durch die fortgefeßgten Leiftungen, fondern 
auch durch die ſtandhafte Bewahrung bee roͤmiſch⸗katholiſchen Glaubens⸗ 
form bewiefen. In keine breisgauifche Stadt, außer Kenzingen, konnte 
bie Reformation Eingang finden. Zu Freiburg hatte der Stabdtrath 
zur Vorſicht alle verdächtigen Bücher, welche ſich unter die Bürgerfchaft 
eingefchlichen, requiricen und auf dem Münfterplage oͤffentlich verbrennen 
laſſen; und ber einzige Dann, welcher 1568 noch einige proteftantifche 
Gefinnungen verrieth, der redliche Syndicus Schnepf, mußte die Stadt 
verlaffen, worauf der Erzherzog Ferdinand ausdruͤcklich befahl, deffen hin⸗ 
terlaffene Bücher und Schriften forgfältig auf die Seite zu räumen**), 

Und um endlich den fo gluͤcklich bewahrten Glauben auch für bie 

Zukunft zu befeftigen, ſchickte Erzherzog Leopoid 1620 die Sefuiten. 
Umſonſt hatten die Väter der Hochfchule lange gegen beren Aufnahme 
getämpft; ein Machtſpruch nöthigte fie dazu. „Der Eintritt dieſes Or⸗ 
dens verfcheuchte ben fhügenden Genius der hoben Schule; ihr Ruhm 
. fant, das Intereſſe ihrer Glieder warb getheilt, und ihre Erhaltung ims 
mer mehr gefährdet. Die alten Univerfitätsglieber waren zwar noch von 
Liebe für ihre alma mater befeelt ; fie betrachteten menſchliche Kenntniffe 
als ein Gemeingut der Menfchheit, wurden, aber verkegert und buch 
Gabalen unterdrüdt. Die Sefuiten trieben mit ihren [parfamen Kennts 
niffen ein Monopol, ſorgten nur für fid) und ihr werdendes Collegium, 
und fuchten das, was fie nicht offen mit Gewalt durchzufegen vermoch⸗ 
ten, durch Lift zu erfchleihen. Mur einzelne Männer konnten fi) noch 
auszeichnen, im Ganzen war bie Univerfität im Verfall. Fruchtlos hats 


t 


*) Schreiber, Kalfer Marfmilian auf ben Reichsſstage zu Freiburg, 1498. 
unter den Feſtreden zur Säcularfeler der Geburt des Großh. Kari Sries 
drich von Baden. Freiburg, bei Groos. 1828. 

. **) Vergl. Sefchichte von Worderöfterreih. IL Thl. ©. 222. 





Breiögau 17 


ten bie Jefuiten einen ihrer getehrteften Männer, ben Entdecker ber Son⸗ 
nenfleden, Scheiner, hieher geſchickt, fruchtlos wohnte ber (Erzherzog im 
Jahre 1625 felbſt mehrern Vorleſungen bei; bie innere Ruhe war dahin, 
der Ruhm, der Wohlſtand der Akademie verfielen, und dieſer Verfall 
wurde durch aͤußere Drangſale noch mehr befchleunigt.”*) . 

Mas der Breisgau, was namentli Sreiburg. und Breiſach 
durch harte Belagerungen im SOjährigen Kriege litten, welche Wunden 
der folgende feanzöfifche, und nad Lurzer Erholungspit ber : fpanifche 
wie der öfterreichifche Erbfolgelrieg in den Rheingegenden zuruͤckließen, 
da biefelben vorzuglih der Schauplatz des Waffengetuͤmmeis und der 
Verheerung waren, uͤber dieſe trqurigen Ereigniſſe wollen wir hinwegeilen 
und uns an dem freudigen Bilde weiden, wie nach dem aachener Frie⸗ 
den durch den- Reichthum des. breisgauiſchen ‚Bodens, durch die Kuͤhrig⸗ 
keit feiner Bewohner, und zumal durch bie alle guten Talente und Kräfte 
hervorrufende und hebende Regierung Kaifer Joſephs II. ein neuer Hlüs 
hender Wohlftand, ein neues, auch geiftig reiches Leben ſich entfaltete. 
Noch mit fehnfüchtiger Erinnerung Spricht das Volk von .jener „guten 
alten Zeit”, wo durch alle Glaffen eine gewiffe Woblhabenheit und ats 
Kolge derfelben eine muntere Lebensluft ſich verbreitet. hatte... Fuͤr Frei⸗ 
burg aber ganz beſonders iſt bie. Joſephiniſche Beit sine Glanzperiode; 
feine Hochſchule gruͤndete damals den Ruhm, welchen ſie ſeither behaup⸗ 
tet hat, als eine der erſten unter den katholiſchen Univerſitaͤten zu ſtehen, 
von wo aus fuͤr die heilige Sache der Wahrheit, des Rechts und der Auf⸗ 
Aaͤrung mit ebenſo gluͤcklichem Erfolge als redlichem Eifer gearbeitet 
wurde. Anerkannt ſind die Verdienſte eines Riegger, Sauter, Kıhıpfel, 
Manker, Hug, Schwarzel und eines Ruef, der duch feinen Freimuͤ⸗ 


Uhigen, im Genuffe der von Joſeph ertheilten Preffreiheit, in den 


Angelegenheiten ber Kirche und ber Lehranſtalten eine gluͤcliche Reform 
begann **). .. 

Die Folgen der franzöfifchen Revolution hemmten aber bald dieſe 
wohlthaͤtigen friedlichen Entwidelungen, und der Breisgau mit feiner 
Hauptftadt erfuhr neuerdings alle Unbilden einer verwircenden und er: 
fchöpfenden Kriegszeit. Neuerdings erwies. das breisgauifhe Volt 
auch aufs Glaͤnzendſte wieder feine alteverbte Anhänglichkeit an das Haus 
Deſterreich; hatte aber das Schidfal, auf mehrere Jahre an ben Herzog 
von Modena und enblid 1805 bleibend an Kari Friedrich überzu: 
gehen, den wuͤrdigſten Enkel ber Gründer Freiburgs. 

Mie fhmerzlih den Breisgauern, und befonders unter ihnen 
den Bewohnern von Freiburg, dee Verluft ihrer alten Herrſchaft auch 
fallen mochte, fo mußten fie body bald nad) ihrem Webergange an Bas 
den eingeftehen, wie fehr fie in gar mancher Beziehung gewonnen haben. 


2) Schreiber, Freiburg mit feinen Umgebungen. S. 246. ' 

”") Vergl. Ammann, von den Beſtrebungen an der Hochfch. Freiburg 
im Kirchenrecht. II. Beitrag. Zur Srinnerung an Profeſſor Caspar Ruef. 
Zreiburg, Heidelberg und Karlsruhe, bei Groos. 1836. 

Staats = Eerikon. II. 2 


18 | Breisgau. : Bremen. 


Namentlich; erfreute ſich urg einer ſchnellen Wiederaufnahme, indem 
Alle oben Behörbert des Treiſamkreiſes bahin verlegt, die Hochſchule neu 
bekräftigt und nucch: detn Taut ausgeſprochenen Wunſche der Stände reiche 
lich dotirt, auch eine proteltantifche Gemeinde gegründet, und endlich felbft 
der_bifchöflihe Sitz von Conſtanz bahin Übertragen wurde. Die Stadt 
hergrößerte ſich und gewann ungemein an Leben und Betriebſamkeit und 
ein reger, "Aufgekiäitör -Geift entwickelte ſich unter der Einwohnerſchaft, 
der fi in neuefler Zeit unzweideutig geoffenbaret hat. Freilich erfuhe 
ſolches eine ſehr verſchiedene Schaͤtzung und hatte Folgen, welche den bes 
gonnenen Flor keineswegs begunftigen. Doch wird eine fpätere Zeit ben 
Mebel zerſtreuen und das Vergangene im wahren Lichte erfhehen (offen. 

de ' 


ader. 
Bremen. Fäuͤr Deutſchlands politiſche Groͤße iſt das Sinken 
der Hanſe verderblicher geweſen, als der Verfall ſeines roͤmiſchen Kaiſer⸗ 
thums. Wie ganz anders wuͤrde ſeine Stellung in unſern Tagen ſein, 
wo Geld, Schifffahrt und Handel die feſteſten Stügen politiſcher Macht 
find, wenn die Bluͤthe der Danfe ſich bis im die. Zeit der Entdeckungen, 
der Dampffchifffahrt und der Boͤrſenhertſchaft erſtreckt -hätte.. Ebenſo if 
vieleicht durch nichts fo viel. innetes Gluͤck zu Grunde gegangen, als 
durch die Untetiochung dee Reichsſtaͤdte. Sie waren fo unſchaͤdlich, fie 
hatten durch nichts ihre Freiheit vermirkt, fie hätten fo gut zur Grund⸗ 
lage einer beffern Ordnung dee Dinge dienen können, mo jedes einzelne 
Element der Staatenwelt, das nur frgend eines felöftftändigen Lebens 
fähig waͤre, ſich Beffen erfreute, und der Staat auf feine urfprüngliche 
Beitimmung, einet großen Schug« und Mecursbehörbe, zurlidfäme. Im 
ber That wird man manchmal an unfern Staateibeen irre, wenn 
man ſich feagt, was eigentlich gewiſſe größere Städte und die meiften 
Landgemeinden von ihrer innigen Verbindung mit dem: Staate haben, 
das die großen Opfer, die fie ihr bringen muͤſſen, nur im Entfernteften 
aufmwiegen koͤnnte. Und doch ift für Städte und Staaten mit dem 
Verluſte dei Unabhängigkeit, die nur etwas Ideales fcheint, fo viel Reelles 
verloren. Doc, feit Militaire und Finanzkraft ein Monopol ber Fuͤrſten 
geworden waren, beruhte die Sicherheit der Meichsftädte nur noch auf 
dem alten Rechtsſtande und wo dieſer gebrochen war, wurden fie wider⸗ 
ſtandslos zu Landſtaͤdten. Nur einige fpärliche Reſte leben noch davon; 
vielleicht nur erhalten, well fie eines dem Andern gönnte; aber auch jegt 
noch durch ihre innere Bebeutung den Werth der Selbſtſtaͤndigkeit bes 
weifend. Darunter Bremen, die Beherrſcherin des Weſerhandels. 
Bremen war ſchon frühzeitig ein bedeutender Plag im Tächfifchen 
Gaue Wigmode und bereit® 780 Teste Karl dee Große daſelbſt einen 
Driefter ein, dem er bald darauf bifchöflihe Würde verlich. Die Sach⸗ 
fen um Bremen widerſtrebten dem Kaiſer am harmädigften, nur der 
Krummftab zügelte fie allmaͤlig. Im Jahre 858 ward das hamburgifche 
Erzbiſsthum mit dem Bisthum Bremen vereinigt und da Erzbiſchof 
Anfchar feinen Sig an legtern Drt verlegte, fo hört man von ba an nur 
von einem Erzbischum Bremen, deffen Wirkungstreis ſich anfangs über 





Bremen. 19 


den ganzen Norden erſtreckte und das zur Verbreitung des Chriftenthums 
in bem nördlichen Deutfchland und in Scandingvien bad Meifte beige 
tragen bat, das aber ſpaͤter durch feine eigenen Erfolge, perkürzt ward. 
Mit dem toeiter verbreiteten und tiefer befeftigten Chriſtenthume entſtan⸗ 
den neue Bisthümer und Erzbischlimer, die den Sprengel ihrer Mutter⸗ 
fiche verengten. Se ferner diefe geiftlihen Sitze dom Mittelpuntte des 
Reichst lagen und je ſchwieriger ihre Aufyabe unter, den heibnifchen oder- 
neubekehrten Wölkerfchaften und unter den ungezuͤgelten Nachbarn mar, 
deſto eifriger und erfolgreicher mußten fie nad) Vereinigung mweltlicher 
Macht mit ber geiftlihen trachten. Es ift bekannt, wie zu ben Zeiten 
Kaifer Heintichs IV. der geiftvolle Erzbifchof Adalbert von Bremen bie 
Schwaͤchung des Herzogthums Sachſen zur Aufgabe feines Lebens machte; 
ein Streben, das in der Zukunft gelang, aber nicht. feinem Bisthum zung 
Beten gereichte. Ex erlebte nur das Gegentheil von dem, was er wollte 
As er die Gunft des Kaifers verloren, erneuerten die ſaͤchſiſchen Derzöge 
ihre Angriffe auf das Erzbisthum und verringerten fein Landgebiet um 
zwei Drittheile, die Adalbert feinen Feinden zu Lehn geben ‚mußte. Noch 
zu feiner Zeit lebte Adam von Bremen, ber uns in einer Kirchenges 
fhichte von Bremen und Hamburg eine wichtige Quelle ber deutſchen 
Geſchichtskunde hinterlaffen hat. An den fächfifhen Herzoͤgen raͤchte ſich 
das Biethum Bremen, indem es an ber allgemeinen Beraubung Deins 
richs des Löwen gleichfalls feinen Antheil nahm. Später trat jeboch dee 
Erzbifhof auf die Seite des Gegners, durch deſſen Hülfe er die 
Dithmarſen zu bezwingen hoffte. Auf diefe erwarb das. Erzbischum noch 
befondere Anfprüche, als es von feinem Erzbifhof Hartwig (1143) die 
Graffhaft Stade gefchenkt befam. Die freien Völkerfchaften der Um⸗ 
gegend zu bezwingen, warb bald ein Hauptſtrehen diefer geiftlichen Herr⸗ 
ſcher. So fprady der Erzbifhof von Bremen den Bann gegen die 
Stedinger aus und ließ 1230 zu Bremen dad Kreuz gegen fie predigen. 
Die Diehmarfen, die eine Zeit lang in daͤniſchen Dänden gewefen, ers 
tannten, nah Herſtellung ihrer Volksfreiheit, den Erzbifhof von Bre⸗ 
men als geifttihe, nicht aber als weltliche Obrigkeit an. ie zahlten 
jedem neuen Erzbiſchof 500 Marl. 1232 ward der Streit zwiſchen 
Bremen und Hamburg über den eigentlichen Sig des Erzbisthums, der 
factifh fchon Längft zu Bremens Gunſten entfhiedben war, durch Ver⸗ 
gleich geſchlichtet. Mit der Stadt Bremen, bie fchon von Kaifer Heins 
rich V. 1111 die Reichsfreiheit erhalten zu haben behauptete, hatten die 
Erzbiſchoͤfe fortwährende Händel, die 1289 durch Verttag mit dem Erz⸗ 
bifhof Giſelbert dahin verglihen wurden, daß in allen ‚weltlichen Anges 
Iegenheiten der Rath allein Macht haben, das geiftlihe Regiment aber 
dem Erzbiſchof verbleiben ſolle. Die Bedeutung der Stadt wuchs, als 
fie, mit Hamburg und Luͤbeck den Handel ber untergegangenen oder in 
Verfall gefommenen Stavenftädte Zulin und Bardewyk an fich ziehend, 
eines der erſten Mitglieder der Hanfe geworden war. In diefer Eigens 
(haft nahm fie an dem Krieg gegen König Waldemar von Dänemark 
Theil. Doch haben die Bremer immer etwas Abgefchloffenee behauptet und 
2* 


20 Bremen. 


nicht, wie Luͤbeck, im Vorkampf Für allgemeine Intereſſen geſtanden. 
Nur ſelten, aber doch zuweilen, ſind in Bremen Tagſatzungen der Hanſe 
gehalten worden. Der Biſchoͤfe ward Bremen durch die Reformation 
entledigt und in der Belagerung, die ihm die Vertreibung des Erzbi⸗ 
ſchofs nach der Schlacht von Muͤhlberg zuzog, ward es durch Graf 
Mannsfeld und die Hamburger entſetzt. Das Herzogthum Bremen, auf 
welches namentlicy die landesherrlichen Rechte und Anſpruͤche der Erzbi⸗ 
ſchoͤfe übergegangen waren, das aber menigftens über die Stadt eine 
factifche Autorität behaupten. konnte, hatte keine eigenthümlicdye Dpnaftie, 
fondern fiel in dee Regel dem in der Umgegend mädhtigften Landesherrn 
zu. Doch mar eine zweimalige Belagerung ber Stadt durch bie Schwes 
ben, in den Jahren 1654 und 1656, die Folge dieſes Verhaͤltniſſes. 
Ebenſo, daß der Dom bis zum Frieden von Amiens unter berzoglicyer, 
fpäser kurhannoͤveriſcher Botmaͤßigkeit fland; ſowie auch bis dahin Kurs 
bannover einen Stadtvogt feste. Sonſt hatte Kurhannover 1731 aus 
druͤcklich die Meichöfreibeit der Stadt anerkannt. 1810 wurbe Bremen 
durd) das Reunionsdecret franzöfifhe Provinztalftadt und. Hauptort des 
Departements der Wefermündungen. 1813 erhielt es feine Selbſtſtaͤn⸗ 
digkeit, ſoweit eine folche bei der Werfaffung des beutfchen Bundes bes 
ſteht, zuruͤck. 

Bremen beherrſcht ein Gebiet von etwas über 5 Quadratmeilen, 
mit etwa 60,000 Einwohnern, wovon: drei Viertheile in der Stadt woh⸗ 
nen. Es enthaͤlt, außer der Stadt Bremen, zwei Marktflecken: Vegeſack 
(2000 Einwohner) mit einem Werferhafen, und: Bremerhaven, am Aus⸗ 
fluß ber Geeſte in die Mefer, ſowie 58 Dörfer In 12 Kirchfpielen. Es 
grenzt auf dem rechten Weferufer an Hannover, auf dem linken an 
Hannover und Oldenburg. Die Wefer, die 15 Meilen von Bremen in 
die See mündet, theilt das Gebiet in bie beiden Landherrfchaften. Auf 
ihrem vechten Ufer fließen die Werpe und die Wumme, nad ihrer Vers 
einigung mit dee Damme Lefum genannt; auf dem linken die Dchum. 
Die Erträgniffe des übrigens fruchtbaren und gutbebaueten Bodens 
kommen gegen die bes Handels nicht in Betracht. Bremen ift ein wich⸗ 
tiger Spebditionsplag für den ausmärtigen Handel aller Weferprovinzen, 
namentlich für den Vertrieb der Leinewand und Garne nah Amerika 
und die Einfuhr von Tabak, Zuder und Kaffee von dort. Es hat weit 
über 100 Seefchiffe. In Bremen befteht viel gediegener Wohlftand, der 
in der Stille manch einträgliches, wenngleich nicht eben gemagte® Ge: 
fchäft macht. Es iſt fchon etwas Holländifches in biefemm Weſen. Den 
freien Weltbürgerfinn des Hamburgers darf man in Bremen nicht ſu⸗ 
chen; vielmehr ift dort wohl noch manche altreichsſtaͤdtiſche Beſchraͤnktheit 
und vieler Geldflolz, wie er aus dem Slauben an unerfchlitterlichen Wohl⸗ 
ftand entfpringt. — Die Religtonsbelenntniffe ftehen, was die bürgerli- 
chen Rechte anlangt, in völliner Gleichheit. In ber Stadt bilden bie 
Zutheraner, im Gebiete die Reformirten die Mehrzahl. Außerdem hat 
Bremen etwa 1500 Katholiten und einige anfäffige Judenfamilien. — 
Die Regierung wird. duch Senat und Bürgerconvent gehandhabt. .Der 


Bremen. 21 


Senat befteht aus 4 Buͤrgermeiſtern, die im Vorſitz halbjährlich wechfeln, 
2 Syndicen und 24 Eenatoren, worunter 16 Gelehrte und 8 Nichts 
geiehrte. Gewählt wirb er, nach dem Wahlgefet von 1816, duch ſich 
fetbft nach dem Vorſchlage der durch's Loos beftimmten 8 Wahlherren, 
von denen wieder 4 Senatoren find und die dem Genate drei Candi⸗ 
daten bezeichnen. Die Stellen find lebenslaͤnglich. Die Wertheilung ber 
einzelnen Stellen im Senate an die Senatoren liegt ganz in den Haͤn⸗ 
den des Senats. Der Bürgerconvent umfaßt die Steuerpflichtigen der 
wichtigften Abgabenzweige. Die Geſetzgebung iſt zwilchen beiden Ge⸗ 
walten getheilt; der Rath bat die Initiative, aber ohne beiderfeitige 
Uebereinflimmung wird nichts zum Gefege. Zur Erhaltung bes ver 
foffungemäßigen Ganges ber Verwaltung trägt es mefentlic bei, daß 
auch an ben einzelnen Verwaltungsgefchäften bürgerliche Deputiste Ans 
'theil nehmen. Daß dies namentlich bei dem Handels⸗ und Schifffahrts⸗ 
weſen der Fall ift, kann diefen Zweigen nur vortheilhaft, daß es bei 
Fuftiz und Polizei weniger vorlommt, dieſen nur nachtheilig fein. — 
Zür die Juſtiz beſteht das beliebte Dreiinſtanzenweſen, das jeboch nicht 
vollkommen durch firenggefonderte Behörden realifirt if. Im erfier 
Inſtanz handeln ein Obergericht, ein Untergeriht — beren beiderfeitige 
Competenz fi) nad dem Objectöwerthe regelt — und ein Griminalgericht, 
in den beiden Flecken die Amtmänner ; in Zunftflreitigleiten die zu Mor⸗ 
genfprachsherren ernannten Senatoren. Breite Inſtanz if das Ober 
gericht; dritte theils baffelbe, theils das Oberappellationsgericht zu Luͤbeck — 
Die Staatseinnahme, die mit der Ausgabe im Gleichgewicht fieht, bes 
Läuft fih im Durchſchnitt auf 500,000 Thlr. und fließt durch drei Er⸗ 
bebungsbehörben in die Generalcaffe. Die Staatsſchuld beträgt 34 Mit. 
Thlr. — Den Vorſtand des Handelsftandes bilden die Aelterleute.. — 
Bremen ftellt 485 Mann Militaie zur zweiten Diviſion des zehnten Ar: 
meecorp& bed deutfchen Bundes. Dafür befteht eine Militairdeputation. 
Außerdem Hat es eine Bürgermehr von ungefähr 2800 Mann, deren 
Züchtigleit dadurch gefördert wird, daß die Dienftpflicht fi vom 20. 
nur bis zum 35. Jahre erfiredt. Auch unter biefen Altersdaffen find 
die Männer vom 20. — 25. Sabre ausgefchieden und bilden ein befon- 
detes Corps leichter Infanterie, das. auf Koften des Staats uniformirt 
wird. Staatsbeamte, Geifttiche, Lehrer, Aerzte find dienſtfrei. Die Leis 
tung ber Bürgermehrangelegenheiten beforgt bie Bewaffnungsdeputation. — 
Das Wappen von Bremen ift ein filberner, ſchraͤg rechtsliegender Schlüffel 
mit aufwärts und links geehrter Schließplatte in Roth. Die Flagge 
ift weiß und roth. Bremen theilt ſich mit den andern. brei freien Staͤd⸗ 
ten bes Bundes in die 17. Stelle des engem Raths des Bundestags 
und hat im Pienum feine eigene Stimme. Zur Bunbescaffe beträgt 
fein regelmäßiger Beitrag 500 Fl. — Zu den Merkwuͤrdigkeiten Bre⸗ 
mens gehört der Dom und fein Bleikeller mit den Alteften unvermweften 
Leihen, fowie der Rathskeller mit ben aͤlteſten ſtets veredeiten Weinen 
Deutſchlands. Buͤlau. 
Breve, ſ. Curie. 


22 Breviẽer. 


Brevier, Bioviariam.' So nennt man das Andachtsbuch, 
aus welchem' fuͤr jeden katholiſchen Geiſtlichen, der ein Beneficium oder 
doch eine der hoͤhern Weihen hat (alſo wenigſtens die Weihe zum Sub⸗ 
diaconus) In ber Regel auch für jeden Moͤnch, jede Nonne und Stifts⸗ 
dame auf ſieben beſtimmte Zeiten jedes Tages (horae canonicae) ein 
beſtimmter Abſchnitt geſetzliche Aufgabe iſt. Weiſe Kirchenbehoͤrden er⸗ 
kannten, daß der Inhalt und die Art des Gebrauchs eines ſolchen Wer⸗ 
kes ihre ganze Sorge — weiſe Staartsbehoͤrden, daß dieſer Gegenſtand 
ihre Aufſicht in Anſpruch nehme. 

Nach der aͤchten Verfaſſung der katholiſchen Kirche ſteht die Be⸗ 
fugniß, Alles, was menſchlichem Ermeſſen beim Gottesdienſt anheimge⸗ 
ſtellt erſcheint, zu ordnen, für jede Dioͤceſe gemeinſchaftlich dem Biſchof 
und feiner Synode zu. Zwar ließen wohl die meiſten Dioͤceſen ſich be⸗ 
wegen, Roms Brevier anzunehmen, aber mehrere haben hierin ſtand⸗ 
baft ihre Selpftftändigkeit behauptet und ihr eigenes Brevier beibehalten, 
namentlih jene von Paris (1581) und jene von Angers (1603), 
worüber van Efpen ausführlich berichtet *). Den erften Entwurf des 
jesigen römifchen Breviers fegt man unter Innocentius III. Unter 
mehreren Päpften, zulege unter Urban VIII. (1631), hatten angebliche 
DVerbefferungen flatt. Die Rebaction wird Franziskanermoͤnchen zuge⸗ 
fchrieben. Das Wert bildet eine Sammlung von Gebetformeln, geift 
lihen Gefängen und Auszügen aus ber Bibel, den Kirchenvaͤtern und 
aus Legenden; einen flarten Band für jede der vier Jahreszeiten. Eis’ 
ner ber gelehrteften Sorfcher**) vermuthet, der nicht fehr paſſende Titel 
Brevier, db. 1. kurzer Auszug, möchte, wie dies auch fonft vorkam, urs 
ſpruͤnglich einem etwa vorausgefchichten bloßen AInhaltsverzeichniffe der fuͤr 
jeben Tag vorgefchriebenen Stuͤcke angehört haben, und irrthuͤmlich fpäs 
auf das ganze Merk bezogen fein. Andere VBermuthungen find we⸗ 
niger begründet. 
Mer einen Begriff von ber in Deutfchlanb verbreiteten Bildung 
bat und weiß, mie dadurch befonbers ein großer Theil unferer chriftlis 
hen Geifttichkett fi) auszeichnet, vorzüglich in religiöfer und kirchlicher 
Hinfiht, der wird den Inhalt des Andachtébuchs fehr auffallend finden, 
welches mar in einer der chriftlichen: Kirchen diefem Stande nody in 
unfern Tagen aufsmingen will. So weiß man: ein Unbelannter im 
8. oder 9. Jahrhundert ftrebte, für die angemaßte Herrfchaft des Pas 
triachen von Rom über alle übrigen Patriarchen und Biſchoͤfe und für 
die Unabhängigkeit der Geifttichen vom Staate die fehlenden Beweiſe das 
durch zu ſchaffen, daß er von jedem der ſechs und dreißig erften Biſchoͤfe 
zu Rom, feit Clemens I. — welchen er als unmittelbaren Nachfolger 
des Apoftele Petrus betrachtet — bi in's Jahr 383, eine Decretale 
(d. i. ein Scjreiben, welches Verordnungen in Kirchenſachen enthält) ober 








*) Jus eccles. universum, P. I. T. XVI. c. 12. $. 27. et in Append. 
iu. F. G. 


**) Quesnellus ap. Du Fresne, Glossar. I. 719. 


Brevier. 23 


mehrere erdichtete. Mach dem Inhalte dieſer erdichteten Urkunden waͤ⸗ 
een von ben Apoſteln herab während der erſten vier Jahrhunderte jene 

—— Roms und der Geiſtlichkeit wirklich Beſtandtheile der Ver⸗ 
faſſung der Kirche geweſen, die doch damals in der That noch nicht 
vorkamen. Derſelbe Unbekannte ober ein anderer verfaͤlſchte im 9. Jahr⸗ 
hundert buch Einſchaltung jener Erdichtungen, auch andere Verfaͤlſchun⸗ 
gen in gleichem Geiſte, eine damals in vielen Gegenden gebrauchte und 
in großem Anſehen ſtehende Sammlung der Kirchengeſetze, die den Nas 
men des heiligen Iſid orus trägt, obgleich wir nicht mehr wiſſen, wel⸗ 
chen Antheil diefer Letztere an ihr hatte. Der Betrliger wird daher jegt 
der falſche Iſidorus (Pfeudo:Ifidorus) genannt. Alle ſpaͤtern Samm⸗ 
lungen der Kirchengeſetze, auch die neueſte, das Corpus juris canonici, 
entiehuten das Weſentliche diefer Maffe von Verfaͤlſchungen, ohne ben 
Betrug zu entdeden. „Aber heutzutage — fagt Eichhorn *) — bedarf die 
„Unächtheit der Pfeudo:Iftdorifchen Decretaten keines Beweiſes mehr, da 
„fit aligemein, auch von den. abfoluten Gurialiften, eingeftanden ift. 
„So 3. B. von Walter, Kirchene. 4. Ausg, ©. 135 u. f., wies 
 woohl er. nach feiner Art den Vetrug als etwas hoͤchſt Unſchuldiges, als 
„Bemuͤhung, „„aus den zerſtreuten Huͤlfsmitteln die verloren gegangenen 
„„Materialien ber kirchlichen Geſchichte und Geſetzgebung moͤglichſt her⸗ 
„„Zuſtellen, und dadurch die herrſchende Disciplin zu belegen, WE darſtellt.“ 
So weit Eichhorn. Walter**) geſteht: „Schon im 14. und 15. 
„Jahrhundert wurde bie Unaͤchtheit ſehr beſtimmt behauptet. — Aus⸗ 
„fuͤhrlichen Beweis führten von Seiten der Proteſtanten bie magde⸗ 
„burger Genturiatoren (1564), waͤhrend katholiſcher Seite faſt gleichzeitig 
„Le Conte (Contius) in ſeiner Ausgabe des Corpus juris canonici 
„und Ant. Auguftinus Beiträge bazu lieferten. — Gelbſt die Car 
„dinaͤle Baronius und Bellarmin erklärten fih dagegen” Nun 
find aber die meiften ***) jener ſechs und breißig aͤlteſten römifchen Bis 
fhöfe als Heilige an beflimmten Tagen nad) Anleitung des Breviers 
mittelft eigener Andachtsübungen zu verehrten, zu melden unter Andern 
das Lefen kurzer Lebensbeſchreibungen gehört, deren Inhalt — wer follte 
es glauben? — großentheild noch immer kurze Aufzählung jener erdichte⸗ 
ten Verordnungen ift. 

Noch andere längft em ae ähnliche Erbihtungen weiſt van Es—⸗ 
pen +) als in's Brevier aufgenommen nad. Wie wenig auch im Uebel 
gen die darin als Lefeftüde befindlichen Lebensbefchreibungen ber Tages⸗ 
heiligen den Forderungen des deuiſchen Gelehrten am geſchichtliche Kritik 
entſprechen, mag man ſchon nach folgenden Stellen ermeſſen. 21. Maͤrz. 


2) Gruntfäge des girchenrechts (Goͤttingen 1831) Bb. 1 S. 167. 
”) A. a. O. 6. 14 f. 
***) Zünf derfelden fehlen wenigftend im Snhaltöverzeichniffe. 

+) Diss, de horis canonicis, P. 1. C.4 4. _ 


24 Brevier. 


Als dem heil. Benebiet Mönche, deren freie Leben er tadelte, Gift 
in einem Becher reiten, machte er mit ber Hand das Kreuz über 
diefen, ber ſogleich zerbradh. Ihm war die Gabe der Prophezeiung 
verliehen und er fagte auch feinen Todestag um einige Monate voraus, 
Zwei Mönche fahen, wie feine Seele, in einen koſtbaren Mantel gehüllt, 
von glänzenden Lampen umgeben, gen Himmel fuhr, während ihnen 
eine firahlende würbige Mannsgeftalt bei der Leiche erfchien und austief: 
- Bier ift dee Weg, auf welchem Benedictus, ber Geliebte des Her, 
zum Himmel flieg. — 8. Mär. Als der heil. Johannes be Deo, 
ein Portugiefe, geboren wurde, erblidte man auf feinem Haufe unges 
woͤhnlichen Glan, und die Soden tönten von ſelbſt. — 9. Maͤrz. 
Die heil. Sranzisca wurde mehrmals beregnet, ohne naß zu roerden. 
Wenige Städe Brod, welche kaum für drei Nonnen bingereicht hätten, 
fegnete der Herr auf ihr Gebet, daß ihrer funfzehn gefättige wurden 
und ein großer Korb voll übrigblieb. — 2. April. Unter den Wun⸗ 
dern bes heil. Franz de Paula tft vorzliglich berühmt, dag auf feis 
nem Mantel, wie auf einem Schiffe, er und ein Freund Über die Meer⸗ 
enge von Gicilien fegten. — 7. Mai. Als der heil. Stanislaus, 
Bifhof von Krakau, ein Dorf, welches er für bie Kirche gekauft hatte, 
herausgeben folte, weil er die Kaufsurkunde nicht vorlegen konnte, faftete 
und betete er drei Tage und hieß am dritten Tage, nachdem er eine 
Meſſe gelefen, den vorigen Eigenthümer aus dem Grabe auferftehen. 
Der Auferftandene legte vor dem Könige und deffen Umgebung fein 
Zeugniß ab und entfchlief dann zum zmeiten Dial im Herrn. — 26. Mai. 
Das Herz des heil. Philippus Nerius entbrannte fo von Liebe zu 
Sott, dag Gott feine Bruft dur) den Bruch von zwei Rippen wunder 
bar erweiterte. Bisweilen wurde er beim Gottesdienft in die Luft gehos 
ben und allenthalben von Übernatürlihem Glanz umgeben. Ein Engel 
begehrte bei ihm Almofen. Als er bei Nacht den Armen Brod bradıte 
und in einen Abgrund fiel, bob Ihn ein Engel unbeſchaͤdigt empor. 
Mehrmals erfchien er Abweſenden und brachte ihnen Hülfe; auch erweckte 
er einen Zobten. Defters erfchien ihm Maria. Mehrere Seelen fah er mit 
Glanz umftrapit gen Himmel fahren; fagte auch bie Stunde feines Todes 
und andere zukünftige Dinge voraus. — 27. Mai. Dem heit. Papft 
Johannes TI. auf feiner Reife nach Conftantinopel wurde: ein Pferd ges 
lieben, deffen fich bisher die Gattin des Eigenthuͤmers, weil es aͤußerſt 
fanft und folgfam war, bedient hatte. Es ließ nachher feine Gebieterin 
nie mehr auffigen, wie wenn es unter feinee Würde gehalten hätte, ein 
Meib zu tragm, nachdem ber Statthalter Chrifti auf ihm gefeflen. 
Ein größeres Wunder war, fo fährt das Brevier fort, daß der Papft 
zu Conftantinopel in Gegenwart des Kaifers und alles Volks einen 
Blinden fehend machte. Diefen Papft ließ nachher der kegerifche König 
Theoborich im Kerker verſchmachten. Aber bald darauf ftarb ber Koͤ⸗ 
nig. Da fah ein Einfiedler, wie deffen Seele durch jenen verftorbenen 
Dapft und den Patrijir Symmachus, den der König getödtet hatte, 
in bas euer eines liparifhen Vulkans hinabgemworfen wurde. — 





Brevier. 95 


6. Juli. Simon der Master gab fi für Chriftus aus und behaupe 
tete, er koͤnne fliegend ſich zu feinem Water erheben, erhob fih auch 
wirklich mittelſt magifcher Künfte in die Luft. Da ‚betete der Apoftel 
Petrus auf den Knien liegend au dem Deren und fein heilige® Gebet 
hberwand den magifchen Trug. Denn durch daffelbe warf Petrus den 
Magier, wie gebunden, aus boher Luft herab und zerbrach ihm bie 
Beine an einem Felfen. — 1. Auguſt. Eudoxia brachte dem Papfte 
Die Kette, welche der Apoftel Petrus auf Befehl des Herodes zu 
Jeruſalem getzagen und ihre Laiferlihe Mutter bort auf einer Wallfahrt 
zum Geſchenk erhalten hatte. Dayegen zeigte ihre der Papſt eine andere 
Kette, welhe Petrus zu Rom unter Nero getragen. Da vereinige 
ten ſich plöglich ducd, ein Wunder die beiden Ketten, fo daß es fchien, 
als wären fie flet® nur Eine gemefen. Zur Erinnerung an das Wuns 
der ift auf den 1. Auguft ein eigenes Zeit geftiftet (Petri Kettenfeier). — 
19. Sept. Der heil. Januarius wurde in einen brennenden Ofen gewor⸗ 
fen, aber das euer verlegte nicht einmal feine Kleider, ja ſelbſt nicht 
ein einziges Haar. Als er den wilden Thieren vorgeworfen wurde, lege 
ten fih ihm diefe zu Süßen. Der Gouverneur befahl hierauf, ihn bins 
zurichten,, erblindete im naͤmlichen Augenblide, wurde aber auf das 
Gebet ded Heiligen fogleidy wieder fehend. Sein Leichnam, jest in Nea⸗ 
pel, wirkte viele Wunder. Vorzuͤglich denkwuͤrdig iſt, daß er einft bie 
Slammen des Veſuvs Löfchte und dag fein Blut, welches geronnen in 
einer glaͤſernen Flaſche verwahrt wird bis auf den heutigen Tag, fobald 
es zu dem Daupte des Heiligen gebracht wird, durch ein Wunder fluͤſ⸗ 
fig zu werden und aufzuwallen anfängt. — 20. Eept. Der heil. 
Euftahius erblidte auf der Jagd zmifchen dem Geweih eines Hirfches 
von außerordentliher Größe Chriftus am Kreuze mit Glanz umgeben und 
ihm rufend. — 26. Sept. Kür den heil. Cyprianus, vorher Magier, 
wurde Anlaß zur Belehrung, daß ein böfer Geiſt ihm auf Befragen ant: 
wostete, feine magifchen Künfte würden nichts gegen wahre Chriften ausrich⸗ 
ten. — 8. Octob. Die heil. Brigitta erblickte in ihrem zehnten Jahre 
Jeſus am Kreuze friſch biutend und mit ihr über fein Leiden fprechend. — 
22. Novbr. Die heil. Caͤcilia hatte gelobt, nicht zu heirathen. Dennod) 
gezwungen, bie Gattin des Valerianus zu werden, benachrichtigte fie 
diefen in der Hochzeitsnacht, dag ihre Sungfräulichkeit unter dem Schuß 
eints Engels ſtehe. Da diefen der Gemahl zu fehen wuͤnſchte und fie 
verficherte, dazu fei noͤthig, Chriſt zu werden, fo ließ er fi von Papft 
Urban taufen. Bon da zurückehrend traf er feine Gattin betend und 
bei ihr einen Engel in himmliſchem Glanze. Auch fein Bruder, nachdem 
diefer ebenfalls Chrift geworden, durfte den Engel fehen. Der Präfeet 
befahl, fie in ihrem Bade zu verbrennen. Einen Tag und eine Nacht 
war fie in dem brennenden Gebäude, ohne von den Flammen berührt 
zu werden. Der Scharfrichter, welcher fie nun enthaupten follte, brachte 
es nicht dahin, den Kopf vom Rumpfe zu trennen, obgleich fie nad) 
drei Hieben halbtodt war. Sie lebte noch drei Tage. — 23. Novbr. 
Der heil. Papft Clemens I., als die am Orte feiner Verweiſung in 


26 Brevier, 


Marmorbruͤchen arbeitenden Chriſten durch Waſſermangel litten, betete; 
worauf ihm: durch ein Wunder auf einem Hügel ein Lamm erſchien, 
welches mit dem rechten Fuß eine Quelle fügen Waſſers zeigte, das 
bann ihren Durft ſtillte. Auf Befehl Trajans wurde der Heilige in's 
Meer geworfen, nachdem man zuvor einen Anker an feinem Halſe bes 
feftigt hatte. Hierauf beteten die Chriften an der Küfte, da wich plößs 
lich) das Meer drei Meilen von berfeiben zurüd ‚und man erblidte auf 
dem Meeresgrund einen Heinen Rempel von Marmor, in demfelben -in 
einem gleihen Sarge die Leiche des Märtyrers, daneben jenen Anker. — 
Mer bezweifelt, daß das Brevier auch von den Heiligen ber übrigen 
Tage Achnliches berichte, kann fich leicht belehren. 

Daß in den Auszügen aus den Decretalen des Pſeudo⸗Iſidorus 
und auch fonft im Buche völlig ulteamontane Anfichten berrfchen, wirb 
Niemand anders erwarten. Dennoch dürfte es auffallen, dag am Feſte 
bes heil. Gregors VII. (25. Mai), fogar folgende Stelle im Leſeſtuͤcke 
vorkommt: „Segen die gottlofen Angriffe bes Kaiſers Heinrich fland 
ner als Eräftiger und unerſchrockener Kaͤmpfer und fuͤrchtete nicht, ſich 
„vor das Haus Sfrael, als eine Mauer hinzuſtellen. Denſelben Heinrich, 
„der in den Abgrund bes Böfen verfunten war, ftieß er aus ber Gemein, 
„ſchaft der Gläubigen, entfegte ihn der Regierung und zählte 
„beifen Unterthanen von dem geleifteten Eide der Treue 
„los *).“ In Defterreih wurde am 7. Mai 1774 und wiederholt 
am 15. Juni 1782 verordnet, diefe Stelle zu verfleben, bei funfzig 
Bulden Strafe für jedes Esemplar *cj. Aber mit Recht finder Prof. 
K. Ruef ***) auch das darauf folgende Gebet bedenklich, das fo lautet: 
„Bott, der du ben heil. Gregor mit Standhaftigkeit zum Echuge der 
„Freiheit der Kirche befeelteft, gieb, dag wie nach feinem Beifptel 
„und durch feine Fürbitte alle Hinderniffe Eräftig befiegen +). 
Es iſt über das Bud wohl hier genug gefagt, um den Verſtaͤndi⸗ 
gen aud von feinem übrigen Inhalt Alles eher erwarten zu laffen,. als 
Anbetung der Gottheit im Geift und in der Wahrheit, auch abgefehen 
von dem, was felbft erleuchtete Katholiten ſchon längft gegen jede uns 
mittelbare Anrufung ber Heiligen, die barin einen großen Theil ber Ras 


—3 Contra Henrici Imperatoris impios oonatus fortis per omnia athleta 
impavidus permansit, seque pro ınuro domui Israel ponere non timuit, ac 
eundem Henricum, in profundum malorum prolapsum, fidelilum communione 
regnoque privavit, atque subditos fide ei data liberavit. 


**) Der Sreimüthige, von einer Geſellſchaft zu Freiburg. Ulm, Wohle 
1782. 8. Bd. II. ©. 8 ff. 


7 Ebend. UI. 44 ff. 


) Deus, qui b. Gregoriam confessorem taum atque pontificem pro 
tuenda 2 eelesine libertate virtute constantiae roborasti, da nobis ejus ezemplo 
et intercessione omnia adversantia fortiter superare. 





Brevier. 27 


gesaufgaben biidet, erinnert haben *). Doch mag noch bie Lehre an⸗ 
geführt werden, welche katholiſche Mönche über den Gebrauch dieſes Ans 
dachtsbuchs zu bilden fich veranlaft fahen. Der Jeſuit Taberna, nad 
befien Buche **) viele Sabre in Defterreich vorgelefen wurde, fagt 
wörtlich: „Gewiß ift, das Brevierbeten erfordert wenigſtens äußere 
„Aufmerkfamkeit. (Aeußere Aufmerkſamkeit, erklärt ein anderer Sefuit, 
„ga Croir ***), iſt Unterlaffung äußerer Danblungen, bei welchen innere 
„Aufmerkſamkeit gar nicht möglidy wäre.) Wer daher, während er 
„malt, fpielt, Briefe ſchreibt, im Schaufpiel ift, das Brevier auswen⸗ 
„dig berfagte, würde dem Gefege nicht Genuͤge leiften. Aber es fragt 
„fi, ob überdies audy innere Aufmerkfamteit erforderlich fei. (Innere 
„iſt, ſagt La Croix a. a. D,, die Richtung bed Geiſtes auf die Wor⸗ 
te, ihren Sinn und die Gottheit.) Hierüber find bie DReinungen ges 
„theilt. Nach der einen iſt innere noͤthig. Die andere Meinung tft, 
„aͤußere Aufmerkfamkeit fei hinreichend, Mer folglich das Brevier auch 
„mit freiwilliger Zerſtreuung bete, ber genüge dem Geſetze.“ (Folgt 
eine Reihe Gewaͤhrsmaͤnner.) „Unfere Antwort ift, fo fließt Taberna: 
„1) Um dem SKirchengefege zu genügen, ift wenigſtens Aufmerkfamteit 
„auf die Worte nöthig. 2) Innere Aufmerkfamkeit auf den Sinn 
„der Worte ift nicht nöthig. Denn Miele find verpflichtet, das Brevier 
„zu beten, welche den Sinn der Worte gar nicht verftehen, 3. B. bie 
„Kiofterfrauen +). La Eroir fagt geradezu: „Dan kann annehmen, bag 
„innere Aufmerkſamkeit nicht nöthig ift, um die Pfliht bed Brevier⸗ 
„betens zu erfüllen.” Sogar fagt biefer, was ſich hier nicht Überfegen 
läßt: etiam cum venter exoneratur, horae recitari possunt ++). 
Auf Befehl und nach dem Plane des Erzbiſchofs von Chln, Marie 
milian Sranz, eines Erzherzogs von Defterreich, verfaßte um 
1790 Prof. Derefer, wenigftens für Stiftedamen und Klofterfrauen, 
unter dem Titel: Deutfches Brevier, ein befferes Erbauungsbuh, im 
weiches namentlich ftatt ber Legenden nur Auszüge und Erklärungen ber 
Bibel aufgenommen find. Es wurde in mehreren Diöcefen gebraucht, 
namentlich in jenen von Chln, Münfter, Osnabrüd, Speier und felbft 
von dem Fürftbifchof von Würzburg, Franz Ludwig, der aud Stiftes 


*) Bon Beftrebungen an ber Hochfchule Freiburg im Kirchenrecht, II. Bels 
trag. (3ur Erinnerung an D. K. Ruef. Dit Auszügen aus feinen Schrife 
ten.) Don Prof.D. 9. Ammann. (Freib., Heidelb. u. Karlsr. Groos, 1836. 
8. ©. 119 — 1%. 

**) Synopsis theologiae practicae , P. III. tr. 3. c. 1. 

***) Theologia moralis. (Col. 1729.) In ind. voc. attentio et horae. 

+) Das Brevier iſt nämlich Tateinifch zw beten; denn auch hierbei hielt 
und häft man fogar noch für confequent, diefe Sprache dort beizubehalten, wo 
fie nicht Mutterſprache, ja wo fie nicht einmal verftanden fl. 

+) Den lateinifhen Zert der beiden Sefuiten giebt K. Ruef (Freim. 
II. 102 ff. Freib. Beiträge V. 460. I 


28 Brevier. Broglie. 


herren, bie ſich uͤber das lateiniſche Brevier als ein für Geiſt und Herz 
unbrauchbares Buch beklagten, erlaubte, ſich dieſes deutſchen, ſtatt des 
lateiniſchen, zu bedienen. Durch die neue Ordensregel, welche den im 
GSroßherzogthum Baden, als Lehr⸗ und Erziehungsinſtitute für Maͤd⸗ 
chen, noch gebliebenen Frauenkloͤſtern gegeben wurde, iſt, einverſtaͤndlich 
mit dem biſchoͤflichen Ordinariate, „den Lehrerinnen und Candidatinnen 
„ausdruͤcklich unterſagt, das lateiniſche Brevier fortzubeten” *). Beſſere 
Buͤcher ſind theils eingefuͤhrt, theils der eigenen Wahl der Frauen uͤber⸗ 
laſſen. Hofft ihr, daß auch die roͤmiſche Curie einſehen werde, es beſtehe 
die wahre Conſequenz des Chriſtenthums in ſtetem Fortſchreiten zum 
Beſſern? Noch in der Note des Cardinals Confalvi vom 2. Sept. 
-1817 left man unter ben Vorwürfen, welche unferm verehrten Freih. 
von Weſſenberg gemacht wurden, Folgendes: „Zur Beftitigung der 
„Berroerfllichleit Idres Benehmens bei Regierung ber Didcefe von Cons 
„Stanz dienen die Dispenfen von der Pflicht, das Brevier zu reciticen, 
„welche Sie in der Eigenfhaft als General s Bilar mehreren Geiftlichen 
„bewilligten” **). . 

Briefadel, f. Adel. 

Briefgeheimniß, f. Befhlagnahme: 

Britannien, f. England. 

Broglie (Victor, Herzog von), eigentlih Broglio, geboren 
1785, flammt von einer piemontefifhen Familie. Sein Großvater mar 
der Marfchall von Broglio, der fih in dem fiebenjährigen Kriege auch 
in Deutfchland einen Namen gemacht hat. Der Vater, Karl Ludwig 
Victor, kämpfte in dem amerikaniſchen Unabhängigkeitskriege für die Sache 
‚ber Sreiheit, der er fih aud in feinem fpätern Leben ergeben zeigte. 
Bei dem Ausbruche der Revolution erklärte er fih für die Grundfäge 
derfelben und ward in die conftituirende Verfammlung ernannt. In ben 
erften Feldzuͤgen biente er mit Auszeichnung, flieg bis zu dem Grade 
eines Generals und gab dann feine Entlaffung. In der furchtbaren 
Zeit, wo Telbft das Werbienft und die Tugend einer wahnfinnigen Ges 
walt Verdacht einflößten, ward er, mit fo vielen Opfern der Herrſchaft 
des Schreckens, eingezogen, und endete fein Leben auf dem Biutgerüfte, 
Diefes Vaters zeigte der edle Eohn, Victor, ſich würdig. Alle Glieder 
der angefehenen Familie hingen der alten Monarchie an, die fie nad 
Kräften unterftügten. Nur Victor und fein Vater waren für Frankreich, 
da Frankreichs Sache aufgehoͤrt hatte, die ſeines Regentengeſchlechtes zu 


*) Bad. Reg. BI. 1811. ©. 118. $. 80. 


“) Servono a somprovare la condota riprovabile da Lei tenuta nel 
:Governo della Diocesi di Costanza le dispense dall’ obbligo di recitare le 
ore Canoniche accordate a piü Ecclesiastici nella qualita di Vicario Gene- 
rale di Costanza. Deut t de das Verfahren des römifchen Hofe bei 
der Ernennung "des Freih. v. Weſſenberg zum Nachfolger im Bisthum 
Sonftanz. Kurler. Ser. 1818. Fol. ©. 22 ff. 


Broglie. 29 


fein. In feiner Jugend zeigte er große Neigung für Wiſſenſchaft und 
Kunft, und alle Mittel der Bildung wurden zur Entwidelung feiner 
gluͤcklichen Anlagen angewendet. Neigung und Umgebung vereinten ſich, 
ihm in Erweiterung feiner Kenntniffe zu dienen, und felbit feine gefells 
fchaftlichen Verhaͤltniſſe, die er fich nach feinem Geſchmack wählte, trus 
gen dazu bei. Im die geiftceihe Geſellſchaft der berühmten Frau vom 
StaëSl gezogen, theilte er die Belehrung und Unterhaltung derfelben, 
und ſchloß ſich ihr durch die Bande der Verwanbtfchaft an, indem er ſich 
mit einer Enkelin Neders vermihlte. Unter dee Kaiferregierung bekleis 
dete er mehrere Stellen mit Auszeichnung und ward befonderd im diplos 
matifchen Sache gebraucht. So ſah man ihn abmechfelnd in Jllyrien 
und Spanien, zu Wien, Prag und Warfhau. Da er 1814 in bie 
Kammer der Paird getreten, war ihm das Mittel geboten, in diefer has 
hen und felbfifländigen Stellung den ganzen Werth und Reichthum feis 
nes Geiſtes und Gemuͤths zu entfalten. Vielſeitiges Wiffen, eine gründs 
lihe Kenntniß der Staaten und ihrer Verhättniffe, der Bedürfniffe und 
Anſpruͤche der Zeit, eine männliche Freimüthigkeit und ſtrenge Redlicykeit 
zeichneten ihn bier, wie in feiner ganzen Laufbahn, aus. Mit folhen 
Gaben und Sefinnungen mußte er ben. Parteien des Tags oft gegenübers 
fliehen. Was aber aud) die Ausfchweifungen und Verirrungen der Zeit, 
die er nie theilte, an ihm zu tadeln fanden, die allgemeine Achtung konn⸗ 
ten fie ihm nicht entziehen. Sein Öffentliches wie fein Privatleben blieb 
vorwurfsfrei. In dem Prozeffe gegen den Marſchall Ney gehörte er 
zu der Eleinen Zahl der Edelen, die das Nicht ſchuldig ausfprachen. 
Gegen die Proferiptionen und Erceptionsgefege trat er mit Nachdrud 
auf, erklärte fi) gegen die um fich greifende Macht der Polizei, welche 
die einzige bewahrende und erhaltende Gewalt des Staates zu werden 
droht, gegen die ungebührliche Beſchraͤnkung der Preffe und alle die Ges 
fege, Anordnungen und Belhlüffe, in denen Regierungen, bie ben Zus 
ftand der Gefelifchaft, wie fie fich gefaltet hat und fortentwideln muß, 
durchaus verdennen, zu ihrem Verderben Heil und Rettung fuchen. 
Nach den Ereigniffen des Juli von 1830, die ein Bürgerfönigthum bes 
gründen follten, ftand Broglie in der Reihe der Wohlwollenden und 
Aufgeliärten, die den Staat der Theorie mit dem Staate, wie er in 
der Wirklichkeit, nach Lage, innern und dußern Verhaͤltniſſen zu geftals 
ten ift, den Staat, wie er fein foll, mit dem Etaate, wie er fein ann, 
in Einklang zu bringen ſuchten. In das Minifterium berufen, zeigte er 
fih feines Berufes würdig, fo entmuthigend auch die Lage, in der er 
ſich befand, oft auf ihn wirken mochte. Freiwillig gab er feine Stelle 
auf, und er war vielleicht der Einzige, deſſen Entlaffung mit auftichtis 
gem Bedauern aufgenommen ward, und bem ber unbefledte, ja unans 
getaftete Ruf bei feinem Austritte aus der Verwaltung folgte, ben er 
in fie gebradht. Broglie's Laufbahn iſt nicht zu Ende. Wir haben 
diefe Hoffnung, dieſen Wunſch, im Intereffe Frankreichs, im Intereſſe 
unſeres Welttheils, im „Intereffe der Menfchheit, weil alle diefe Intereffen, 
audy nach dem Glauben Broglie’s, ineinander fließen, ſich gegenfeitig 


14 


30 _ Broglie. Bröugham. 


eördern und, wohl verſtanden, nur ein Geſammtintereſſe bilben. Beös 
glie's Anftelung‘, wenn er ſich dazu verſteht, wird ‚für eine Buͤrg⸗ 
ſchaft der Achtung und Dauer der Regierung gelten, in deren Dienft 
er teitt. a 
Das war bie heenvole Meinung, die Broglie fuͤr ſich hatte und 
durch den Inhalt feines öffentlichen Lekens auch verdiente. Od fie bie 
Meinung bee Aufgeffärten und MWohlgefinnten, welche die Gewalt achten 
nicht 'nach dem, mas fie in ihrer Kraft vermag, fonbern nach dem Ges 
brauche, den fie von ihrem Vermögen gentacht, auch jetzt noch Aft, mag 
bier unerörtert- und unbeantwortet bleiben. . Das Ungeheuer bed -Aprils 
prozeffes Yon 1825, das noch größere Ungeheuer einer Gefesgebung, dee 
ein fchändlicher Mordverfuc gegen ben König und feine Familie zum 
Vorwand biente, ein Ungeheuer, welches das Verbrechen eines Boͤſewichts 
mit der Schwaͤche und dem Leichtfinne einer charakterlofen Kammer ches 
brecherifch erzeugte, wird die Geſchichte wuͤrdigen. Die Geſchichte wird 
diefe Geſetze und die, welche fie ins Leben gerufen, mwürbigen, wenn fie, 
aufgeklaͤrt durch den Erfolg, zugleich Berichten kann, mie ſolche Mittel, 
ſchon verwerflich durch fich felbft, noch vermerflicher gemorben find, weil 
fie dem Zwetke entgegenwirften, den fte fördern follten; wehn fe zeigen 
kann, daß ſie dem Koͤnigthum, das ſie erhalten und befeſtigen ſollten, 
verderblich waren. Man wuͤrde die Weisheit und den Muth, womit 
die Regierung, im dringender Gefahr, bie Frechheit zu zuͤgeln verftand, 
beroundert haben, hätte fie den allgemeinen Unwillen, der dieſer Frechheit 
galt, nicht verrätherifch benusgt, um bie Waffen, die ihr gegen: biefe fo 
bereitwillig gegeben wurden, gegen die Freiheit feibft zu brauchen. Dars 
über wird die Geſchichte richten, über das Benehmen ber franzöfifchen, 
tie über das der fpanifchen Negierung, welche beide die Wehen der krei⸗ 
fenden Zeit mit grauſamer Kunft verlängerten, um bie Mutter zu ei⸗ 
(höpfen und von einer Mißgeburt zu entbinden. Sollte auch ber Her⸗ 
zog von Broglie dieſen Vorwurf theilen muͤſſen, dann wuͤrde fein Bei⸗ 
ſpiel die traurige Erfahrung beſtaͤtigen, daß ſelbſt der beſſere Menſch ſich 
ſeiner Unſchuld oft nur ruͤhmen darf, weil ihm die Stunde der ſchweren 
Verſuchung und harten Pruͤfung nicht geſchlagen hat. Weitzel. 
Brot, Brot-Taxe, Schau u. ſ. w., f. Lebensmittel, 
Brou gham (Heineih), 1779 zu Edinburg geboren, ſtammt 
von einer alten, aber wenig begüterten Familie. Er machte feine Stus 
dien in den Untereichtsanftalten feinee Geburtsftabt, wo fie in weit beſ⸗ 
ferem Zuftande als in England find, das Mühe hat, fih von den alten 
Sormen und den hergebradhten Inſtitutionen lodzumwinden. Ihm marb 
der unfchäsbare Vortheill, daß fein Oheim von mütterlicher Seite, der 
berühmte Gefchichtfchreibee Robertfon, feine wiſſenſchaftliche Bildung 
leitete. Diefe nahm indeffen eine Richtung, die feine fpätere Beſtim⸗ 
mung nicht ahnen fie. Mit Vorliebe und befonderem Fifer ergab er 
fi) den mathematifhen Wiffenfchaften, in denen er fo rafche Kortfchritte 


machte, daß er, noch im jugendlichen Alter, in diefem Face fih auf ' 


eine ausgezeichnete Weiſe verfuchte. In feinem fiebenzehnten Jahre gab 


Broughamı 31 


er eine: Schrift über das Licht heraus, bie mit Beifall aufgenommen 
word. Einem anben mathematiſchen Werke verbankte er feine Aufs 
nahme tm die Lönigliche Geſellſchaft, zu deren Mitglied ee 1803 ernannt 
ward. Später trat er feine Meile nach dem Gontinente an, wie die 
Englänber es zu thun pflegen, und machte zu Paris die Bekanntſchaft 
bes großen Bürgers Carsot. Das Gebiet der. Gperulation genügte 
indeſſen feinem wiſſenſchaftlichen Streben noch weniger als feinem Chrs 
. geize, und er betrat Die Laufbahn des Mechtögeledrten, bie, in conftitus 
tionellen Staaten, dem Xalente bie weitefte Ausficht eröffnet. Er ers 
warb ſich als. Anwalt einen großen Ruf, und bahnte fid, durch ihn: ber 
Weg zum Parlamente. Mit den Angelegenheiten bes Staates fuchte 
er fi) auf eine gründliche Weiſe bekannt zu madyen, und 1803 gab er 
ein umfaffendes Werk Über bie Colonialpolitik heraus, das eine Ueberſicht 
der Geſetze enthaͤlt, weiche bie Griechen, Carthager und Römer bei, ihrer 
Coloniſirung zu befolgen pflegten, und dann auf bie neueren Zeiten uͤber⸗ 
seht und das bei demfelben Begenftande beobachtete Verfahren prüft. 
Brougham zeigt in bemfelben ben Urfprung und die Verbreitung bes 
Negerhandels und erfiärt fi) mit Untoillen über biefe graufame Derabs 
würbigung des Menfchen und bie Verhöhnung feiner .beiligften Rechte. 
Zugleich fpricht er die Hoffnung aus, daß die afrifanifchen Schwarzen 
eined Tages zu dem friedlichen und vechtmäßigen Befige .des Bodens von 
Weſtindien gelangen wärben, ben fie und ihre Väter mit Schweiß und 
Blut geduͤngt. | | 

Beinahe in berfelden Zeit verband er fich mit mehreen jungen Mäns 
nem von Geiſt und Kenntniffen zur Gründung einer Zeitſchrift din- 
burgh review, die nicht ohne bedeutenden Einfluß auf ben öffentlichen 
Geift und die politifchen Sefinnungen des Landes geblieben if. Da ein 
Drozeß der Herzoge von Roxburgh zur Entfcheibung vor das Oberhaus 
gebracht worben war, begab ſich Brougham nah London, um bie 
Sache in Perfon zu führen. Der große Beifall, den er ſich hier vor 
ben Schranken des hoͤchſten Gerichtshofs des Reichs erwarb, beftimmte 
ihn, feinen Aufenthalt in der Hauptftadt zu nehmen. Seine vielfültis 
gen Berufögefchäfte entfremdeten ihn indeffen den Angelegenheiten bes 
Staates und ber Menfchheit nicht, denen er beftändig ein warmes Herz 
voll Theilnahme bewahrte. Er behandelte die große und wichtige Frage 
der Danbelsfreiheit mit Scharffinn und Beredſamkeit. Faſt alle großen 
Männer, und gewoͤhnlich die größten, haben das Schickſal, daß fie ihrer 
Zeit voraus find, und den Samen ausſtreuen zur fruchtbaren Ernte, 
die erſt fpäter reift. Sie beftehen den Kampf; der Ruhm und ber Lohn 
des Sieges fälle Andern, am Tage der Entfcheibung, zu. Doc gehört . 
Brougham zu den feltenen Beguͤnſtigten, die noch vermirklicht, wenig⸗ 
ſtens anerfannt fahen, mas fie gewollt und als bas Beſſere dargeftellt. 
Aud) die Sache der Hanbelsfreiheit hat Fortfchritte gemacht und wird, 
wie alle große Fragen ber Menfchheit, ihre befriedigende Löfung finden. 
Ein Mißbrauch führte Brougham 1810 in das Haus ber Gemeinen 
ein, ber Mißbrauch des Wahltechts ber verfaulten Flecken. Es ift bes 


82 | Brouyham. ' 


merkenswerth, daß die meiſten ausgezeichneten Mebner und Staatsmaͤn⸗ 
ner auf biefem Wege zu einem Gige im Unterhaufe gelangten. Der 
Mißbrauch hatte die Folgen eines weiſen Gebrauchs. Der Herzog von 
Gteveland, ein Pair, der zur Oppofition gehörte und über die Wahl von 
Winchelſea zu verfügen hatte, ernannte ihn zum Etellvertreter dieſes 
Drts im Parlamente. Brougham glaubte, nad fo manden gläns 
genden Erfolgen, fi) ben Wählern der. Stadt Liverpool vorftellen zu 
bürfen,. um ihr. Mepräfentant zu werben, hatte aber zum Mitbewerber 
Canning, der ihm vorgesogen ward. - Einem Canning nachzuſte⸗ 
ben, darin lag felbft für Brougham Leine Demüthigung; biefer 
ſchien indeffen die Zuruͤckſetzung fehmerzlih zu empfinden und wollte 
fit) mit dem redlichſten und entfchloffenften Staatemanne, ben England 
in den neueften Zeiten hatte, nie recht befreunden. Brougham zeigte 
fih unermüdlich in feinen Beſtrebungen füs die Sache der wahren Frei⸗ 
heit, die Intereſſen feines Landes, die. Rechte des Volkes. Mit der 
ganzen Macht feiner Einſicht und Beredſamkeit trat er der Reaction 
entgegen, bie fich, beſonders feit 1815, in den Maßregeln und Abſich⸗ 
ten der Megierungen -offenbarte. Für den Primair⸗ oder Elementars . 
unterricht, das erſte und weſentlichſte Beduͤrfniß der untern Staͤnde, ver⸗ 
wendete er ſich mit Eifer und Beharrlichkeit, und da dieſer wichtige Ges 
genſtand, 1818, im Parlamente zur Sprache kam, zeigte er eine Viel⸗ 
feitigkeit der Kenntuiffe und einen Ernſt de& Willens, bie felbit feine 
Gegner in Erſtaunen fegten und bei jedem Unbefangenen Anerlennung 
fanden. Sein Entwurf einer Nationalerziehung ift ein bleiberides Dents 
mal, das er fich gefest. Aber ale Vorſchlaͤge biefer Art hatten ihre 
Zeit noch nicht gefunden. Die Vernunft, das Recht, felbft das wohls 
verftandene Intereſſe, das mit Vernunft und Recht nie im Wider 
fpruche ftehen Eann, ‚waren für ihn, gegen ihn aber, was mächtiger ift, 
die Vorurtheile, die Ueberlieferung, die Vorrechte und Begünftigungen 
dee Etände und Körperfchaften. Auf. geradem Wege war bem Eräftigen 
Kämpfer nicht beizukommen; man wählte den verfchlungenen der Arglift, 
der Lüge und des Betrug. Brougham marb als ein Feind der 
Kirhe und der VBerfaffung des Landes, wie fie als ein heiliges Ders 
mächtniß von den Vätern gekommen waren, bargeftellt, ald ein Veraͤch⸗ 
tee der Gefege und Sitten feines Landes, ber feine antinationale Vorliebe 
für Nordamerika und Frankreich nicht verleugnen koͤnne. 

Die Art, wie er die Sache der Königin führte, bie Georg IV. 
bes Ehebruchs anflagte,. war nicht weniger ehrenvoll. Dieſer ſchmaͤhliche 
Prozeß, den der König vor dem verfammelten Parlamente führen ließ, 
erniebrigte die Krone und befledtte bie Perfönlichkeit bes Mannes, der fie 
trug. Brougham hatte für jene bie zarte Schonung, bie ihm fin 
diefe oft unmöglidy war. Diefes Verdienft muß man bei Brougbam, 
ber die Deffentlichkeit mit allen ihren Folgen fonft nicht zu ſcheuen pflegt, 
in Anfchlag bringen. Bei den Verhandlungen über bie fogenannte 
Emancipation der Katholiten — 1828 und 1829 — zeigte er ſich in 
der eriten Meihe und “wirkte. Eräftig zu dem Erfolge einer Maßregel, 


Brougham. Buchdruderkunſt. 33 


bie, wenn fie andy kaum eine halbe war, doch dem Rechte und ber 
Menſchlichkeit etwas näher kam. Seinen ſchoͤnſten Sieg feierte er in 
feinem merkwürdigen Antrage, die Werbefferung bes bürgerlichen und peins 
lichen Verfahrens und bie Strafgefeßgebung in England betreffend, für 
ben er im Unterhaufe fieben volle Stunden fprah. Bier berührte er 
eine ber wundeſten Stellen, bie ſich leichter bezeichnen als heilen läßt. 
Brougham war auf feinem Boden, und wenn Großbritannien In diefer 
Beziehung eine Wohlthat — eine der größten, die man ihm ermeifen 
Bann — erwarten burfte, dann konnte fie, vor Allen, von diefem Manne 
Sommen , bee dazu die rechte Einficht und den rechten Muth befigt. 
Da, im Sommer. des Jahres 1830, ein Wehen ber Freiheit durch 
unfen Welttheil ging, und in ben Regionen harter, verhaßter Knecht⸗ 
fhaft das Wehen zum Sturme ward, der Throne brach, fiel aud) das 
Minifterium Wellington und in ihm eine große Hoffnung bes rüdgäns 
gigen Theils von Europa. Der edle Herzog, als ftche er vor einem 
Deere, dem er eine Schlacht anzubieten die Gelegenheit günftig fand, er⸗ 
klaͤrte im Parlamente, er halte eine Reform deſſelben für unnüg und 
ſchaͤdlich Brougham trug fogleich auf diefe Maßregel an, die beifäts 
lig aufgenommen ward. Der Herzog von Wellington trat ab und 
Graf. Grey an feine Stelle. Diefer bot Brougham die höchfte 
Würde des Reiche, bie eines Kanzlers, an. Diefer nahm keinen Anftand, 
das neue Cabinet zu unterftügen, ward, im November, unter dem Titel 
Brougham and Daur zum Baron ernannt und ließ fi, als Präs 
fident des Haufes der Lords, auf dem Mollfad nieder. Mit welchem 
ausdauernden Fleiße, mit welchen Muthe ex an diefer Stelle feinen ernften 
und ſchweren Beruf erfüllt, das wiſſen wir, und wie er alle Maßregeln zum 
Beiten des Landes ohne Menfchenfurcht unterftügt und den Haß der Zaus 
fende, die von Mißbraͤuchen leben, immer ſchwerer auf fich geladen hat. Er 
zeigte Tih in Wort und That feinem Glauben aufrichtig zugethan, und 
mit Vergnügen fah ihn ber Freund ber Wahrheit und bes Rechts über 
die frömmelnde Scheinheiligkeit der fetten Pfruͤndner der Hochkirche und 
die politifhe Gleisnerei ber ſtarren Ariſtokratie die Geißel ſchwingen. 
Noch ift das Drama, das eine Schickſalstragoͤdie zu werben fcheint, In 
welchem auch Brougham eine Rolle zugefallen, nicht ausgeſpielt; noch 
find wir im Acte der Wermidelungen, die fich furchtbar zu entwirren 
Brougham wird fo wenig als wir den Ausgang fehen. 
Möge er, ſich feibft und dee Sache treu, die er zu ber feinigen gemacht, 
bie Rolle bis zun Ende des Spielers — ba wir das Spiel felbft nicht 
enden ſehen — durchfuͤhren. | dWeitzel. 
SBrutto⸗Einnahme, Brutto⸗Ertrag, f. Einnahme 
und Ertrag. 
Buchdruckerkunſt. Die Sprache iſt das von der Gottheit 
dem Menſchen geſchenkte Hauptmittel, menſchlich zu werben, d. h. 
Verſtand und Vernunft, Gefuͤhl und Sittlichkeit, zu welchem Allem er 
bios die Anlage oder Faͤhigkeit hat, zu wirklichen und thaͤtigen Kräften 
im ſich ſelbſt und mechfelweis Einer im Andern zu entwideln, zu nähe 
Staats «Exrsiton, ILL - 5 


34 | Buchdruckerkunſt. 


ven ‚und fortzublden. „Nur mit der Organiſation zur Rede“, ſagt 
Herder, „empfing ber Menſch den Achem ber Gottheit, den Samen 
zue Vernunft und ewigen Vervolllommnung. „Won ber Mede hängt 
Alles ab, was Menfhen je auf der Erde Menfchliches dachten, wollten, 
thaten und thun werden: benn Alle liefen wir noch in Wäldern‘ umber, 
wenn nicht diefer göttliche Odem uns angehaucht hätte und wie ein Zaus 
berton auf unfern Lippen ſchwebte. Die ganze Geſchichte der Menfche 
beit, mit allen Schaͤtzen der Zrabition und Cultur, ift nichts als eine 
Folge ber Rede.“ „Durch fie ift meine denfende Seele an die Seele 
des erften und vielleicht des legten denkenden Menſchen gefnüpft. Kurz! 
Sprache ift der Charakter unferer Vernunft, durch welchen fie allein Ges 
Kalt gewinnt und fich fortpflanzt.“ — 0 
Aber das unmittelbare Geſchenk ober die unmittelbare Anflalt ber 

Natur oder Gottes ift bios die Sprahfähigkeit; die Entwidlung- 
und Ausäbung berfelben, alfo die Bildung wirklicher Sprachen 
unb ihre fortfchreitende Vervolllommmung an Klarheit, Reichthum, 
Kraft, und zumal die Ausbreitung ihrer wohlthätigen Wirkſamkeit 
duch Erweiterung des Kreifes und der Dauer ihrer Vers 
nehmbarkeit und Verſtaͤndlichkeit blieb dem Menſchen felbft 
überlaffen. Aber ber menſchliche Geift, indem er feine fchaffenden 
Kräfte diefee Aufgabe zumendet und dem Ziel ihrer moͤglichſt voll 
ſtaͤndigen Loͤſung unermüdet mit immer neuen Erfindungen ober Vers 
befferungen entgegenfchreitet, hanbelt wahrhaft im Sinne ber Gottheit, 
und jeder Erfinder eines weitern Mittels zu dem heiligen Zweck, jeber 
Berbefferer der bereit erfundenen erſcheint ald Werkzeug bes göttlichen 
Willens. Wer alfo fih vermäße, dem auf ſolchem Wege wandeinden 
Geiſte Einhalt zu thun oder der Wirkfamkeit feiner, den hoͤchſten Nature 
zwecken, naͤmlich bee Beförderung der Humanität, dienenden Schoͤ⸗ 
pfungen ein gebieterifches: „bis hieher und nicht weiter!" emtges 
genzufegen, oder buch liſtige Gegenanſtalten jene koſtbare Wirkſamkeit 
auch nur zu verfümmern — ber erklärte hierdurch entweder eine fündhafte 
Auflehnung gegen ben Willen Gottes oder ein aus trauriger Verblens 
dung oder Befangenheit ſtammendes Nichterkennen deffelben. 

‚ Von ber Erfindung und Fortbildung der Sprachen ſelbſt, und 
von dem ihnen allen wunderbar eingeprägten Stempel bes allgemeinen 
Menfhengeiftes wie bes befondern Nationalgeiftes und Chas 
rakters haben wir hier nicht zu reden. Nur auf die zwei großen Er⸗ 
findungen bliden wir, wodurch allererft möglich warb, daß bie Sprache 
ihre höhere Beftimmung erfülle, daß fie nämlich werbe ein Organ 
der Geiftes» und Gemuͤthsmittheilung, nicht nur zwifchen wenigen, 
fondern zroifhen allen zugleich Lebenden, und nit nur zwifchen 
diefen, fondern auch, zwifchen allen früheren und fpätern Ge⸗ 
ſchlechtern der Menfchen, folgfidy ein die gefammte Menfchheit 
umſchlingendes Band, ein ber ganzen Menfchheit beiliges und koſtba⸗ 
us Geſammtgut. Schrift und Buchdruckerkunſt find biefe 


Buchdruckerkunſt. 35 
| Erfinbungen ‚ bie legte bee unmittelbare Gegenfland unſerer gegenwaͤr⸗ 


Buchſtabenſchrift und Drud haben zwar auch als Hauptmittel 
ber eigentlichen Sprachbildung gewirkt, d. h. zu mehrerer Beftimmung, 
Reinigung, Bereicherung, überhaupt zur fortfchreitenden Vervollkomm⸗ 
nung der Sprachen märhtig beigetragen, ja es tft ohne fie eine höhere 
Ausbildung derfelben kaum gedenkbar; aber wie blicken für. jegt von 
Diefer Eimwirfung weg und vorerft nur auf die Unentbehrlichkeit der 
beiden Erfindungen für die Verbreitung und gefiherte Dauer 
der durch die Sprache (nehmen wir an, fie fei ſchon ohne Schrift zw 
hoͤchſter Ausbildung gelangt) mittheilbaren Erkenntniſſe, Ideen, Gefühle, 
überhaupt ber einem größern Kreife gewibmeten Weberlieferung. Die‘ 
mündliche Rede ift jedenfalls bloß einem kleinen Kreife unmit- 
telbar vernehbmlich, und jebe weitere Miittheilung durch das Organ 
der urfprlinglichen Hörer an Andere der vielfachften Verfaͤlſchung, durch 
Vergeßlichkeit, Mißverſtaͤndniß ober boͤſe Abficht, unausweichlich preisge⸗ 
geben. Auch ſind ihre Eindruͤcke nur voruͤbergehend oder augenblicklich, 
db. h. in Bezug auf Fortdauer ober Erneuerung von der Treue 
des Gedaͤchtnifſes abhängig, folglich unzuverläffig und meiſt in kur⸗ 
zer Friſt völlig verfchreindend. Die Schrift, welche an die Stelle der 
ſchnell verhallenden Sprachlaute fihtbare, beharrliche Zeichen ſetzt, 
hilft dieſen Mängeln ab, doch in unendlich verfchtedenem Grabe, je na 
der Beſchaffenheit folcher Zeichen und der Mittel zu ihrer Hervorbrin⸗ 
gung. Schon die Schriftmalerei oder Bilderſchrift, fo mühe 
fans und fo befchränkt auf nur wenige, ſolcher Darftelung empfängliche, 
Gegenftände und auch fo ausgefegt dem Mißverftändnig oder dem Ders 
geffen ihrer urſpruͤnglichen Bedeutung (menigftens der, die blos im Alt 
gemeinen bargeftellte Thatſache oder Idee näher charakterificenden, 
befonderen. Orts⸗ und Zeits Beflimmungen, überhaupt umſtaͤndli⸗ 
ern Ausführungen) fie tft, giebt dee Weberlieferung eine koftbare und 
die Fortpflanzung durch bloß geſprochene Worte weſentlich amterftügende 
Hülfe. Ihre Ummandlung in Hierogiyphenfhrift,.d. h. in ſym⸗ 
bolifche Bezeichnung, vermehrt und erleichtert ihre Anwendbarkeit, wenn 
audy auf Unkoften bee Deutlichkeit. In noch größerem Maße gefchieht 
dieſes, wenn man neben oder ftatt der ſymboliſchen Zeichen wills 
Türliche fest, deren Bedeutung fobann als rein kuͤnſtlich, nur durch 
bas Gedaͤcht niß kann feftgehalten, aber auf alle gedenkbaren Sachen 
mag ausgedehnt werben. Doc erft durch die Vertauſchung der die Sa⸗ 
hen ſelbſt — natuͤrlich oder ſymboliſch — bdarftellenden Zeichen 
mit folchen, welche die Namen ber Sachen, überhaupt bie Sprache 
laute, womit Gedanken ober Empfindungen ausgedrüdt werden, ans 
deuten, geſchieht der Uebergang zur wahren Schrift, und erft durch 
die (dee unbehüfflichen, wiewohl noch heute in Sina uͤblichen Woͤr⸗ 
ter» und au der Sylbens Schrift unendlich voranftehenden) Wu ch» 
ſtaben⸗Schrift, d. h. durch die Auflöfung der articnlirten Töne in 
ihre einfachften und baher wenig zahlreichen Elemente Buchſtaben 

8 


36 Buchdruckerkunſt. 


genannt) und deren Bezeichnung durch willkuͤrlich dazu ausgemählre 
Charaktere wird der große Schritt gethan zur leichten und zuverläffie 
gen UWeberlieferung nicht nur der Worte. jedes Redenden (mfofern 
fie der Aufzeichnung werth erfcheinen) als bes Erzaͤhlers, Dichters, Leh⸗ 
vers, Gefengebers u. f. w., fondern aud ber ftillen Betrachtungen und 
Empfindungen des einfamen Denkers, beren Gebädhtniß er ſich 
ferdft oder Andern aufbewahren will, an Mitwelt und Nachwelt. 
Durch diefe große, faft mwunderähnlihe Erfindung (deren unbelannten 
Urheber auch wirklich die Sage mit der Glorie eines Wunberthäters 
oder Halbgotte® umgibt) wird bie getreue Mittheilung jedes von irgend 
einem Menfhen Gedachten, Empfundenen, Erzählten ober Innegewor⸗ 
denen an alle andern, von ihm nady Raum und Zeit wie weit immer 
entfernten Menfchen möglich; doch freilich noch nicht fofort in vollem 
Maße ober dem VBebürfniß der Menfhenbildung entfprechenb, fondern, 
je nad) bee Befchaffenheit der Schreibe s Art und ber Schreib » Mates 
riolien und namentlih dee Wervielfältigungsmittel ber Schrif⸗ 
ten, bald mehr, bald weniger leicht ober ſchwer, fehnell oder langſam 
verwirklicht. 

Herrliche Schäge des Geiftes und Gemuͤthes ber vor Jahrtauſen⸗ 
ben, begrabenen Sefchlechter, Eoftbare, vielfach Iehrreiche Gefchichten, Glau⸗ 
bensbücher, Gefege und echte, Meiſterwerke des Genies in fchöner 
und ernfter Wiſſenſchaft, find mittelſt dieſer unfchägharen Erfindung 
durch die lange Nacht des Mittelalters theils unverfehrt, theils wenig⸗ 
fiens in koͤſtlichen Bruchſtuͤcken zu uns gelangt; die uralte und bie clafs 
fifhe Welt find dadurch mit der neuen und neueften in unmittelbare 
geiftige Verbindung gebracht, der Givilifation der letztern eine eble Grunds 
lage und vielfach beftimmende Richtung ertheilt und, was bie Weiſen 
der grauften Vorzeit dachten, lehrten unb geiftig fchufen, zu einem ganz 
unverlierbaren, auf die fpäteflen kommenden Gefcylechter ſich verecbenden 
Beſitzihum gemacht worden. | 

Uber die Fuͤlle ſolcher Wohlthaten, zumal bie Sicherftellung 
ihrer Sortbauer, die Allgemeinheit ihrer Verbreitung und ihre leichte 
Zugänglichkeit für Jeden find erft aus einer mweitern- großen Er 
findung hesvorgegangen, melde, ohne am innem Wefen der Buchs 
ftabenfcheift (Bezeichnung der Elemente ber Eprachlaute, d. h. der Buch⸗ 
ftaben, durch willkuͤrlich dafuͤr beflimmte Charaktere oder fichtbare Mars 
ten) etwas zu ändern, bios die Art des Schreibens ummanbelte, näms 
ih an die Stelle der Hand» Schrift eine Mafchinen » Schrift fegte 
und dadurch die Vervielfältigung der Schriftwerke, bie urfpränge 
ich Tangfame, mühfelige, Eoftfpielige und ben Gefahren ber Unrichtig⸗ 
Leit ober VBerfälfhung fortan unterworfene, zu einer mwunberbar ſchnel⸗ 
Ien, leichten, wohlfeilen und moͤglichſt zuverläffigen, d. b. correcten und 
gleihförmigen machte. Die Buchdruckerk unſt ift diefe Erfindun 
eine duch ihre Wirkungen fo unermeßlich gewaltige und fegenreiche, für 
das Schickſal ber ganzen Menfchheit fo entſcheidend beftimmende, daß 
man fie, ob auch allernächft hervorgegangen aus dem Geifte eines 





Buchdruckerkunſt. 37 


Mannes oder einiger genialer Männer, democh fuͤglich als Frucht 
einer goͤttlichen Erleuchtung derſelben, als ganz eigentliches, wenn 
auch nicht unmittelbares, doch durch auserwaͤhlte Organe verliehe⸗ 
nes Geſchenk des Himmels betrachten kann. 

Die Erwaͤgung ber Zeit und der Weltlage, mworein die große Erfin⸗ 
bung fällt, dient ſolcher Anficht zur eindringlichen Bekraͤftigung. Wäre 
fie früher gemacht worden, in ben finftern Jahrhunderten des milden 
Fauſtrechts und des weltbeherrfchenden Hildebrandismus, fo hätten bie 
Völker ihren Werth gar nicht erkannt, oder, wofern davon eine Anwens ' 
bung im Dienfte des Lichts und des Rechts waͤre verfucht worden, fo 
hätte bie vereinte Macht des Schwertes und bed Krummſtabes die jugend- 
liche Prefie ohne Mühe unterdruͤckt oder gefeffelt, und der Gewalt, 
zumal der geiftlihen, ausfchließend bienftbar gemacht. Der Bann⸗ 
ſtrahl wire gegen bie profanen Buchdruder und auch gegen bie Leſer pros 
faner Bücher gefchleubert und, wie von den aͤgyptiſchen Prieftern die 
Hieroglyphe und von den indifchen Braminen bie Schrift, fo jest von 
der chriftlichen Hierarchie die Preffe als Eigentum der Kirche in Anſpruch 
genommen und zum Werkzeug des Aberglaubens oder der bleibenden Gets 
ftesunterjochung mißbraucht worden. Sie aber erfchien gerade in ber 
verhängnißreichen Epoche des im Abendland wieder angebrochenen Kichte® 
und des bereits hoffnungevoll begonnenen Kampfes des Geiftesfreiheit ges 
gen Geiſtestyrannei, fo mie auch der bürgerlichen Freiheit gegen Zwing⸗ 
berefchaft, wo jener, um ihe den Sieg über diefe zu fichern, eine fchnelle 
und maͤchtige Huͤlfe vonnöthen war. Bereits war bem Defpotismus durch 
die fchon geraume Zeit früher ind Leben getretene Erfindung des Schießs 

_ pulvders eine furchtbare Waffe verliehen worden und durch das begin« 
nende Emporkommen ſtehender Heere hatte die Gefahr für die Voͤl⸗ 
er ſich drohend genähert, bereits rar aud, der Hildebrandismus durch 
das Verlangen nad Reform, mwelhed in Conſtanz und n Bafel 
erfiungen, aufgefchredit worden, und ein mit vermehrter Lebhaftigkeit und 
mit Waffen der Lift mie der Gewalt geführter Krieg mider das aufs 
bämmernde verhaßte Licht war bie Folge davon. Haͤtte in dem Zeitpunkt, 
da Luther das Panier der Gemwiffensfreiheit erhob, bie taufendftimmige 
Preſſe noch nicht geiebt, ja hätte fie nicht fhon zwei Menfchenalter fruͤ⸗ 
ber begonnen, ihe wohlthaͤtiges Licht auszuftreuen und die Nationen‘ ems 
pfänglich für die Lehren der Reformatoren zu machen, fo hätte das welt⸗ 
umkehrende Werk der legten, das auch unter den begänftigendften Um⸗ 
‚fländen immer noch unendlih muͤhevolle und gefährliche, wohl nimmer 
vollbracht werden koͤnnen. Alsdann aber hätte Europe in bleibende Nacht, 
in den traurigften Geiftesfchlummer verſinken mögen. Der geifttiche und 
mit ihm (fei es dienend, fei es herrſchend) verbunden auch der weltliche 
Defpotismus hätte die Nationen allgewaltig unter bie Füße getreten und - 
die etwa jegt erft erfundene Buchdruderkunft hätte fie nimmer erloͤſet, 
fo wenig als in den Ländern, worin das Pfaffenthum über die Reforma⸗ 
tion entfcheidend fiegte, veie 3. B. in Spanien oder im Kirchens 
ſtaat, bie alldort in ſchmaͤhliche Feſſeln gelegte Preffe währen des Lau— 


38 | Buchdruckerkunſt. 


fes von drei Jahrhunderten (die neueſten Ereigniſſe finb meiſt bie Wir⸗ 
kung auswaͤrtigen CEinfluſſes) vermochte, die Nebel bes Aberglaubens 

zerſtreuen und mit den erwaͤrmenden Strahlen des Lichts und der 
—2 die verfinſterten Maſſen zu durchdringen. 

Was aber die Preſſe unter guͤnſtigen Verhaͤltniſſen oder auch nur 
unter ſolchen, die nicht allzu feindlich ihrem Wirken ſich entgegenſtellen, 
fuͤr herrliche Fruͤchte zu bringen faͤhig, ja natuͤrlich berufen iſt, und wie 
unermeßlich die Wohlthaten ſind, die auch wirklich von ihr aus, trotz 
mancher gewaltſam und kuͤnſtlich ihr entgegengethuͤrmten Hinderniſſe, uͤber 
die Nationen und mittelbar uͤber die geſammte Menſchheit gefloſſen ſind, 
lehrt ſchon ein fluͤchtiger Blick auf ihre Natur und Geſchichte, verglichen 
mit jenen der einfachen Schreibekunſt. 

Vor Erfindung der Buchdruckerkunſt war es auch dem Talentvollſten, 
Wißbegierigſten, durch buͤrgerliche Stellung Beguͤnſtigtſten und mit pecu⸗ 
niairen Huͤlfsmitteln Beſtverſehenen aͤußerſt ſchwer, ſich eine umfaſſende 
wiſſenſchaftliche Bildung anzueignen. Die Buͤcher waren ſelten, der 
Ankauf eines einzelnen Manuſcripts von Bedeutung und Umfang 
war — zumal vor der Erfindung bes Linnens Papiers — leicht fo 
Eoftfpielig als heut zu Tage der Ankauf einer mäßigen Bibliothek, 
und nebft dem Gelde war erft noch die Gunft des Zufall nothwendig, 
um zur Kenntniß ober zum Befig folcher Manuſcripte zu gelangen. Der 


Geiſt des nach Wiſſenſchaft Dürftenden, der leicht zugänglichen, beich 


venden Mittheilung früherer oder auch gleichzeitiger, jedoch entfernterer 
Denker und Forſcher beraubt, oder auf wenige, vereinzelte Beruͤhrungs⸗ 
punkte mit denfelben beſchraͤnkt, ſah fich faft ausfchließend an die eigene 
Kraft und Mühe gewiefen und mußte daher — anftatt da fortfahren zw 
Eönnen, wo die Vorgänger flehen geblieben — unkundig der frühern 
Entdeckungen, jebesmal faft von vorn anfangen, und konnte alfo, wenn 
er auch für fich feibft den Ruhm ber Genialität oder des raſtloſen Stre⸗ 
bens errang, die Wiſſenſchaft an ſich nur wenig fördern. Selbſt koͤnig⸗ 
liche Schäge — verwendet zu Anſchaffung der theuerften Werke ober 
etwa zu Reifen Behufs perfönlicher Anfchauung und Beſprechung — konn⸗ 
ten ſolchen Mangel nicht heilen, und um fo weniger vermochte ber in 
befchränkteren Vermoͤgensumſtaͤnden Befindliche denfelben durch irgend eine 
Anfteengung zu erfegen. Viele und gerade die wohlthätigften 
Hälfsmittel, deren jego der Freund der Wiffenfchaft ſich erfreut 
beftanden vor ber Buchdeuckerkunſt nicht und konnten gar nicht beflehen. 
Mie Hätte man, befchränkt auf blos handſchriftliche Mittheilung, 
daran denken innen, jene größeren, umfaffenderen, die Geiftesfrüchte 
von Sahrhunderten ober von ber Geſammtheit ber Zeitgenoffen in fich 
fließenden, ober die Tag für Tag new angeftellten Unterfuchungen, Be⸗ 
urtheilungen und Beleuchtungen von Lehrmeinungen und Xhatfachen und 
deren Ergebniffe mittheilenden Werke hervorzubringen, welche heut zu 
Tage den Studien fo vielfache Erleichterung und bem Geiftesblid eine 
fo audnehmend erweiterte Ausficht gewähren? Ohne Preffe befüßen wie 
Seine, oder nur wenige und kuͤmmerlich ausgeftattete, Wörterbücher 





Buchdruckerkunſt. 39 


aller Art, keine reichhaltigen Sammlungen ober fortlaufenden 
Niederlagen von Berichten, Entdedungen, Anſichten und Streitver⸗ 
bandlungen über gelehrte Gegenftände oder Hiftorifche Merkwürdigkeiten, 
feine Eritifchen und periodiſchen literarifchen Blaͤtter, keine großen, 
die vereinte Geifteschätigkeit Wieler in Anfprudy nehmenden Werke, wie 
allgemeine ober befondere Encytlopäbien u. dgl., und es wäre fonadh, 
obfhon freilich das Genie jeberzeit, wenigftens in einer ober ber andern 
Sphäre, ſich Bahn zu brechen im Stande bleibt, dennoch bie univers 
ſal iſtiſche Bildung felbft dem Talentvollften ganz unmöglich, und 
aud in jeber einzelnen Sphäre die Tuͤchtigkeit oder Vollkommenheit uns 
vergleichbar ſchwerer zu erreichen gewefen; bie von Natur minder reich 


Begabten aber hätten, bei allem Eifer des Studiums, doch dem Tems . 


pel bes höhern Wiffens ftets ferne bleiben müffen. 

Die Schwierigkeiten und Hinderniffe, womit folchergeftalt jeder Ein» 
zeine bei feinem Streben nach Erkenntniß zu ringen hatte, ſehten natuͤr⸗ 
lich und noch wirkfamer auch dem Kortfchreiten dee Wiffenfhaft im 
Ganzen fi) entgegen. Noch andere nachtheilige Umflände kamen aber 
bier dazu. Vor Erfindung der Buchdruckerkunſt mochten leicht die ſchoͤn⸗ 
ſten Entdedungen des Einen allen Andern verborgen bleiben ober — bei 
dem jedenfalls höchft befchränkten Kreife der Mittheilung — wieder vergefs 
fen werden. Dagegen mochten bie größten Irrthuͤmer, welche in Schriften 
niedergelegt waren, aber etwa nicht zur Kenntniß Derjenigen Samen, bie 
fie nach ihrem beffern Wiffen hätten berichtigen ober widerlegen koͤnnen, 
unbetämpft im Buche fortfhlummern und, wenn dieſes fpäter an's 
Tageslicht kam ober auch wenn eine frühere Wiberlegung wieber vergefs 
fen war, die verderblichſten Zäufhungen bervorbringen, und aud bie 
verftändigften Forſcher auf noch meitere Abwege führen. Weberall gab 
es feinen gemeinfamen Schag ber Erkenntniß, womit jeder 
Einzelne zum Frommen der Sefammtheit hätte mwuchern und der ſich durch 
Die fortgefegte Arbeit ber Gefchlechter immerwährend und bis in’s Unend⸗ 
tiche hätte vermehren können. Allem dem ift aufs Vollftändigfte abge 
boifen duch die herrlihe Buhdrudertunf. Durch fie ift, wie 
Herder fo fhön fagt, „die Geſellſchaft aller Dentenden in allen Welt 
theilen eine gefammelte und fichtbare Kirche geworden”. — Unzählige 
Arbeiter mochten von nun an mit unermeßlichen Hülfsmitteln 
und gemeinfam ben Prachtbau ber Wiffenfchaft weiter führen und 
jedes Gefchleht dem nachfolgenden den geficherten Fortbefig des Er: 
sungenen fowohl als aller Mittel zu weiterer Erwerbung binterlaffen. 
Vor Erfindung der Buchdruderkunft blieb folcher Fortbeiig immer nur 
ſchwankend. Früher mochte die jedenfalls nur befchränkte Zahl von Abs 
(dyeiften dee — etwa den Inhabern der Gewalt verhaßten — Bücher 
und die geringe Anzahl ber vorhandenen Bücher überhaupt einem liſtigen 
Defpoten oder einem Verein von Gemwaltsherrfhern ben Gedanken und 
den Muth einflößen, das ihnen Gefahr drohende Licht der Wahrheit durch 
Vertilgung ber ihnen mißfälligen oder gar aller Bücher überhaupt zu 
erftiden. Dat doch ſchon vorlängft in Sina der Thronraͤuber Tſchi⸗ 


— 


40 Buchdruckerkunſt. 


Hoang⸗Ti einen ſolchen Buͤcherbrand verordnet und ausgeführt. Heut 
zu Tage aber iſt zwar noch moͤglich, das Erſcheinen oder die Verbreitung 
einzelner erſt werdender oder kaum gedruckter Buͤcher zu verhindern 
oder niederzuſchlagen: doch ein Vertilgungskrieg gegen alle bereits vor⸗ 
handenen, in umbeſchraͤnkter Vervielfaͤltigung und in unzaͤhligen Privat⸗ 
bibliotheken zerſtreuten Buͤcher wuͤrde ſelbſt einem weltbeherrſchenden 
Napoleon — ſo große Luſt er auch dazu fuͤhlen moͤchte — zu ſchwer 
und, ohne allen beabſichtigten Erfolg, nur zu ſeiner ewigen Schande aus⸗ 
ſchlagend ſein. 

Nicht nur bie Gelehrten⸗Republik, und nicht nur bie Wifs 
fenThaft an ſich haben dergeſtalt durch die Buchdruckerkunſt uners 
meßlihen Gewinn errungen; fondern, was noch wichtiger iſt, das Licht. 
iſt duch fie auch in die Maffen der Bevoͤlkerung geführt, die Er⸗ 
tenntniß, wenigſtens in ben dem Menfhen und Bürger. wichtigften 
‚Dingen, auch ben niedrigſten Claffen - zugänglid) geworben. Ohne bie- 
Preſſe würden wir keine hinreichend verbreiteten Volksbuücher, eine 
bem ElementarsUnterriht in den gemeinm Schulen, Beine der 
jedem einzelnen Stand oder Beruf eigens nöthigen Bildung ges 
wibmeten Schriften, menigftens weitaus nicht in genügender Eremplariens 
zahl, befigen; die Grundmaſſe der Nationen würde fortwälrend ber . 
Theilnahme an ben Kortfchritten der Erkenntniß beraubt und die Scheides 
wand zwifchen ber gelehrten und ber ungelehrten Claffe nimmer nieder 
geriffen worben fein. Die Preffe erft hat möglidy und leicht gemacht, 
den Unterricht über alle Stände zu verbreiten, die ganze Nation 
zur Erkenntniß der Menfchen» und Bürgers Rechte und Pflihten heran⸗ 
zubilden und fo bie Idee eines wahren Recht sſtaates, d. h. eines. 
auf allgemeines, nämlich allen natuͤrlich Wollbürtigen gemeinfames, 
Sefeltfhaftsreht und auf bie Herifchaft eines vernünftigen 
Geſammtwillens begründeten, zu verwirklichen. Welches auch die 
pofitiv beftimmten Formen einer DVerfaffung feien: fie ift vechtlih und 
das Gemeinwohl verbürgend, nur infofern neben ber Thaͤtigkeit der po⸗ 
fitto aufgeſtellten Gewalten eine Iebenskräftige Sffentlihe Meis 
nung befteht, welche biefelben controlicte oder leite. Mur durch bie - 
Prefſe kann in einem ausgedehnten Staat eine folche Sffentikhe Meis 
nung erzeugt werden oder in zuverläffige Erfcheinung treten. Ihr alfo 
ift gegeben, die Regierungen zum Guten, zu jeder zeitgemäßen Reform, 
zu jeder heilfamen Maßregel zu lenken; ihr ift in legter Snftanz die - 
Garantie alles Iffentlihen und felbft alles Privatrecht 
anvertraut. Sie emdlih hat eine Rednerbühne errichtet, von wel⸗ 
her man gleihzeitig zu Millionen fprehen, berfelben Verſtand 
und Gefühl für bie Beduͤrfniſſe des Augenbtids in Anfprud nehmen 
und dadurch eine zur Abwenbung des Unheil® oder. zur Bereitung de6 
Öffentlihen Wohles entfcheidende Gemeinſchaftlichkeit der Rich 
tung erzeugen kann. Sie erhält die Staatsbürger in fortlaufen- 
der Kenntniß ber das Gefammtwohl berührenden Angelegenheiten, und 
den Weltbürger in jener der für bie allgemeinen politifchen und hu⸗ 





[4 


Buchdruckerkunſt. 41 


manen Intereſſen wichtigen Ereigniſſe und Umſtaͤnde, und belehrt auch 
jeden Einzelnen Zug für Tag über die auf feinen beſondern Lebens⸗ 
beruf oder auf jenen feines Standes Einfluß dußernden, ihm alfo zu 
wiflen nothwendigen oder nüglichen Verhaͤltniſſe, Begebenheiten, Erfin⸗ 
dungen, überhaupt günftigen oder ungünftigen Erfcheinungen, ebenfo 
über die dee aligemeinen ober bee befondern Freiheit drohenden 
Gefahren und die dagegen vorhandenen oder fid) vorbereitenden Vers 
theidigungsmittel und Anftalten, und fest durch folche Beleh⸗ 
wung ihn in den Stand, ein würdiger Staates und Weltbürger, ein 
feine Stellung mit Klarheit erfennender BZeitgenoffe und ein das eigene 
Sntereffe und das der ihm näher Angehörigen nidyt minder als jenes 
ber größern Gefammtheit mit Einfihe und Erfolg wahrender und för 
dernder. Mann zu fein. 

So mannidjfaltige und wahrhaft unermeßliche Wohlthaten fpenbee 
die Preffe oder iſt geeignet, fie zu fpenden. Wem verdanken wir das 
unſchaͤtzbare Geſchenk? — Etwa dem Staat ober ben Stantenlen« 
Fern? Wahrli nein! Manche ſchoͤne Entbedungen fonft und manche 
Beförderungsmittel der Humanität zwar gingen. von Staaten oder Mes 
gierungen aus oder gediehen wenigſtens nur durch derfelben wirkfame 
Unterftügung. So viele der großen geographifhen Entdedungen — 
wie jene des Vasco be Gama und felbft de8 Columbus — fo 
auch mandye veichbegabte Gründungen für Kunft und Wiffenfhaft, 
Religion und Handel, fo die Schusanftalten gegen bie Peft und 
gegen die Poden, viele fegenreihe MWohithätigkeitsanftalten 
u. a. m. Dod die allergrößten und entfcheidendften Forts 
fohritte dee Humanität find nicht das Werk der Staaten, fondern dee 
freien Menfchengeiftes gemwefen, der ba freilih ald Bedingung 
feinee nad) Außen gehenden und gefiherten Wirkſamkeit das Leben 
im Staate vorausfegt, doh unabhängig von ihm, blos auß eiges 
ner inwohnender Kraft feine Wunder hervorbringt. Ganz vors 
züglich ift diefes von der Buhdruderkunft wahr. Diefelbe ift nichts 
Anderes, ale ein Theil — und zwar ber vollendende Theil — ber 
aus der innerfien Natur des Menfhen, d. h. aus feinem mächtigen 
Zriebe, fih mitzutheilen und Mittheilung zu empfangen, 
bervorgegangenen großen Kunft der Sprache, die da in fich faffet 
nicht‘ blos die mündliche Rede, fondern aud) die der Augen, Mies 
nen und Geberden, fodann jene der Schrift und enbdlid der 
gleichzeitig taufend und taufendmal redenden und fchreibenden Preffe. 
Diefe göttlihe Kunft der Mittheilung von Gedanken und Gefühs 
ien, diefe® heilige, die Menfchheit umfhlingende Band iſt das 
ber auch das mefentlich freie und unantaftbare ECigenthum ber Mens 
fhen, nicht minder als die mitzutheilenden Gedanken und Gefühle 
ſelbſt; keine willkürliche Schranke kann ihrer Ausuͤbung geſetzt 
werben, fondern bloß jene de Rechts geſetzes, welchen nämlich alle 
Sphaͤren der äußern Wechſelwirkung der Menfchen unterfichen und beffen 
Pe Princip die Nichtverlegung ber gleihen Freiheit Al⸗ 
er ik. | 


A Bruuchdruckerkunſt. 


Da wir nach unſerem Standpunkt allernaͤchſt nur die allgemeine 
politifhe und humane Bedeutſamkeit ber Preſſe in's Auge 
zu faſſen haben, fo duͤrfen wir bei der Geſchichte ihrer Erfins 
dung nur wenig verweilen. Denn für jene allgemeine Bedeutſamkeit 
find Vaterland und Ort der Erfindung und Name der Erfinder ziemlich) 
gleichguͤltig. Auch ift wohl Eeiner unferer deutfchen Lefer, der nicht mit 
gerechtem Dankgefuͤhl und patriotiſchem Stolze die Namen der Haupt: 
erfinder in Liebender Erinnerung trüge, zumal den Namen bes trefflichen 
(aus einem alten mainzifhen Rittergeſchlecht flammenden) Johann 
Gutenberg von Sorgenlod) (von väterliher Seite eigentlich) Genß⸗ 
fleifch zu nennen), weldyer der Exite den großen Gedanken nicht nur 
im Innern erzeugte, fondern auch, nad vieljährigee Geiftegmühe und 
Bekämpfung ſchwerer Hinderniffe, endlich in glänzende Ausführung ſetzte, 
allerdings nicht ohne wirkſame materielle und geiftige Hüffeleiftung Jo⸗ 
bann Fuſt's, eines reihen aber geizigen Bürgers in Mainz, und bes 
geſchickten Peter Schäffer aus Gernsheim, body die Ehre des eigents 
lichen Urhebers mit keinem Anbern theilend. Ob er (mie zumal 
Schöpflin darzuthun ſich bemüht in Vind. typogr. Argent. 1760) 
bereits in Strasburg, wofelbft er von 1424 bis gegen 1445 gelebt, - 
die Daupterfindung (nämlich das Drucken mit beweglichen metallenen 
Lettern) gemacht, oder erft nad) feiner Zuruͤckkunft in Mainz (allwo, 
zumal feit 1450 unb deutlicher feit 1454, bie ungmweibeutigen Spuren 
der Vollendung, theils in Zeugniffen, theils in wirklichen Druckwerken ers 
fhienen) ift von geringer Wichtigkeit. Selbſt die (zumal von Gerard 
Meermann in feinen Origines typographicae 1764 vertheidigten) Ans 
fprüche, welche die Stadt Harlem in Holland an die Ehre der Erfins ' 
dung macht, indem fie diefelbe ihrem Mitbürger, Laurenz Sanffoen, 
Küfter an ihrer Parochialticche (geb. 1370, geft. um 1440), zuſchreibt, 
zu fo intereffanten gelehrten Erörterungen auch dee daruͤder geführte Streit 
die Veranlaffung gab, mögen wir dahingeftellt fein laſſen. Es ift mög» 
lich, daß gleichzeitig oder faft gleichzeitig mehrere erfinderifhe Köpfe, 
ohne etwas von einander zu wiffen, ben im Grunde einfachen Gedanken 
gefaßt haben, anftatt der fchon lange vorher erfundenen gefchnittenen 
Holztafein, womit man nicht nur Bilder, fondern auch kurze Säte 
druckte, beweglihe Buchſtaben — anfangs gleichfalls aus Holz und 
fpäter aus Metal — zu fehneiden, und noch fpäter ben wieder nicht 
eben ſtaunenswuͤrdigen Gedanken, die metallenen Ketten zu gießen, 
wornach dann jede weitere Wervolllommnung bem Nachdenken talentvols 
- lee Männer kaum mehr entgehen Eonnte. Es ift alfo möglich, fagen 
wir, dag in Mainz und in Harlem ungefähr gleichzeitig dieſe faſt na⸗ 
tuͤrlich aufeinander folgenden Schritte gefchehen find; doch fcheinen bie 
Gruͤnde derjenigen überwiegend, welche dem harlemer Küfter zwar 
etwa den Ruhm der Vervollkommnung dee Holzſchneidekunſt ober 
der xylographiſchen Druderfunft neben Gutenberg überlaffen, 
biefem legten aber ausfchließend jene der eigentlichen, nämlich ty pogra⸗ 
phifchen Kunft, zufprechen. Schon bes alten Abtes Erithem Beugaiß 





Buchdruckerkunſt. | ‘ "43 


(loannis Trithemil icon Hirsaugiense ad ann. 1450) iſt von 
großer Beweiskraft, umb viele andere find gefammelt in mehrern außs 
führlichern Schriften aber bie Erfindungsgefchichte, am .reichhaltigften in 
bem neueften Werk von C. A. Schaab: „Die Gefchichte der Erfindung 
bee Buchdruckerkunſt durdy Johann Gengfleifh, genannt Gutenberg, zu 
Mainz, ptagmatiſch aus ben Quellen bearbeitet u. f. w.”, Mainz 1830. 
1851. 3 Bände. 

Auch die ferneren Schickſale der Buchbruderkunft, ihre fchnelle Ver⸗ 
breitung — großentheil6 buch deutfche Unternehmer — über die civis 
lifirten Länder der Welt, und das Verzeichniß der merfwürbigern dltern 
D rke überlaffen wir den Bibliographen zur umftändlihen Darftellung. 
€ die gerechte Lobpreifung der durch Vervollkommnung und eble 
Anmenbung ihrer Kunft feit der Zeit ber Erfindung bis auf den heutis 
gen Tag vorzüglich ausgezeichneten Buchdrucker. Nur zweier in ber 
neueften Zeit gemachten, bie Zwecke ber Preffe ganz ausnehmend förs 
dernden Verbeſſerungen haben wir noch zu gedenken. Die eine ift bie 
Erfindung bes flereotypifhen Drudes und die andere jene der 
Schnelipreffe. Die erfte — von Firmin Dibot in Paris, 
wenn auch nicht erfunden, doch weſentlich verbeffert — bedient fich, ſtatt 
einzelner Lettern, ganzer Platten, mozu die Matrizen auf finnreid) 
erdachte Weiſe verfertigt werben, zum Abdrud und gemährt dadurch ein 
treffliches Mittel, ohne Wiederholung des Drudfapes, eine unermeßs> 
Lich große Anzabl von durchaus gleichförmigen und moͤglichſt corres 
cten Eremplarien eines Werkes, und zwar um wohlfeilen Preis, zu 
liefern. Sie iſt alfo zur Verbreitung 'von Merken, von denen man 
wuͤnſchen muß, daß fie in Jedermanns Hände oder doch in möglichft 
viele Hände gelangen, ald von anerkannt claffifhen Schriften, oder 
auch von Volksbuͤchern, Schulbühern u. f. w. beftimmt und ges 
eignet. Die zweite, naͤmlich bie Schnellpreffe, beruht auf einer 
Lünftlichen Vervollkommnung des Mechanismus, wodurch man, nach mehs 
ern in Niederlanb, England, Ameritaund Deutfhland durch 
erfinderifche Köpfe gemachten Fortfchritten, endlich in ber neueften Zeit da> 
hin gelangte, in einer Stunde an 2500 Eremplare einer Form, ſonach 
zehnmal foviel, als mit dem gewöhnlichen Preßapparat zu fertigen 
möglich ift, abzudruden. Der deutſche Kuͤnſtler, König in Würze 
burg, bat ſich dur WVerfertigung folcher Preffen ganz vorzuͤglich ausges 
zeichnet. eine verfeinertften, wahrhaft bewunderungswuͤrdigen, Maſchi⸗ 
nen bruden beibe Seiten bed Bogens gleichzeitig ab und bie, wenn 
man will, aud buch Dampf zu bewirkende Thaͤtigkeit derſelben, alfo 
zumal bie durch eine Dampfmafchine hervorzubringende gleichzeitige Ars 
beit mehrerer folcher Preflen eröffnet der ſchnellen Vervielfältigung 
der Eremplare eine unendliche Ausficht, erleichtert die tagtägliche Beleh⸗ 
rung ber Nation, die tagtägliche Verhandlung der Öffentlichen Angelegens 
beiten auf eine früher ganz ungeahnete Weife und macht es möglich, in 
Augenbliden, wo es Noth thut, gleichzeitig zu Millionen zu fprechen. 


44 Buchdruckerkunſt. 


Die Frage, ob es rechtlich zulaͤſſig und ch raͤthlich ſei, die 
Druckerpreſſe duch polizeiliche Vorſchriften zu beſchraͤnken, ins⸗ 
beſondere ob — außer der ſich von ſelbſt verſtehenden Befugniß und 
Pflicht des Staates, den durch die Preſſe etwa zu begehenden Verbre⸗ 
hen, d. h. Rechtsverletzungen, duch geſetzliche Strafandrohung 
zu begegnen und die wirklich begangenen nach dem Ausſpruch der Ge⸗ 
richte zu beftrafen — auch Praͤventiv⸗Maßregeln, namentlich die 
Anordnung einer vorläufigen Cenſur, oder auch polizeiliche Befchlag- 
nahme von Schriften, polizeiliche Bücherverbote, und andere viel 
namige polizeilihe Befhräntungen bee Schriftftellerei, des 
Bücherdruds und bs Buchhandels u. f. w. ftattfinden follen 
oder im Rechtsſtaat flattfinden dürfen, werden wir umſtaͤndlich den 
eigens der Preßfreiheit, ber Genfur und dem Preßgeſetz zu 
widmenden Artikeln unterfuhen. Doch liegt die Anteutung zur Loͤſung 
biefee tagen ſchon in ben voranftehenden allgemeinen Betrachtungen. 
Bei ihrer Aufftellung wurde natuͤrlich abgefehen von der etma unter 
außerorbentlihen Umftänben, alfo nur ausnahmsmeife und bloß zeits 
lich, eintretenden oder gedenkbaren Nothwendigkeit oder Zuläffigkeit einis 
ger Beſchraͤnkungen. Man ann foldhe Zuläffigfeit anerkennen oder bas 
bingeftellt fein laffen und gleihwohl die Beſchraͤnkungen, wenn als 
Regel geltend gemacht, für verwerflich erklären, fowie auch 3. B. die 
Dabeascorpus:Acte in England durch Parlamentsbeſchluß zeitlich mag ſus⸗ 
pendirt und überall eine Stadt oder ein Bezirk in Belagerungsftiand 
mag erklärt werden, ohne Schmäterung des ordentlichen Rechtsanſpruchs. 
As Regel nun oder als bleibendes Princip für die Polizei der 
Dreffe gedacht, iſt, wie dem Unbefangenen einleuchten muß, nur jenes ber 
Repreffion (duch Strafgefeg und Strafvollzug) heilfam und zugleich 
ungefährlich, weil naͤmlich blos gegen dag Rechts widrige gerichtet und 
(roofern die Strafgefege vernünftig und die Gerichte gut befegt und gut 
geregelt find) dem Mißbrauch wenig außgefegt, jene der Prävention 
dagegen, zumal alfo dee Genfur, nad) feinem Begriff ober nad) feiner 
Weſenheit unausbleiblih zur Willkür führend, in der Anwenbung das 
Mipfällige mit dem Rechtswidrigen verwechſeind, auch praktiſch gar 
feiner Beſchraͤnkung durd irgend ein anderes Princip empfänglich 
und — weil Verheimlihung fein Werfen it — überall die Möge 
lichkeit der Rechtfertigung ausfchließend, daher tödtend für das 
Recht, d. h. der Gnade oder dem guten Willen der Machthaber baffelbe 
überantwortend. Nichts ift nach Aufftellung diefes Princips natürlicher, 
als daß es nach Drt und Zeit und nad den vielfach wechſelnden In⸗ 
tereffen, Befücchtungen, Aengitfichkeiten, überhaupt fubjectiven Richtungen 
der Häupter auch mit fich felbft in Widerſpruch gerathe, db. h. heute 
oder hier verwerfe und unterbrüde, was es geftern oder dort gepriefen und 
begänftige hat, nichts auch natliclicher, als daß es im Ganzen feine 
Strenge fortwährend fteigere, und endlich nicht bios die Bücher 
der edelſten Weifen, Gefchichtfähreiber, Phitofophen, Rechts⸗ und 
Religionslehre, fondern fogar das heilige Evangelium felbft den 


+. 


a 


Buchdruckerkunſt. Buchhandel. 45 


Augen des — wiewohl ber Chriftuskicche angehörigen — Volkes zu ent⸗ 
sieben fich verfucht fühle. Sa, in feinee Conſequenz iſt gelegen, fo 
weit die Ausführbarkeie nicht mangelt, neben dem Druck auch die 
Schrift und endlih au die mündlihe Mittheilung, ja die Geo 
banten ſelbſt der nämlichen Beſchraͤnkung ober Gontrole zu untermwere 
fen. Denn nothiwendig muß, wer eine Wahrheit für gefährlich achtet, 
bald auch alle andern ſcheuen. Das Weich dee Wahrheit it ein 
Tempel; in keinem Xheil, in Eeinem Winkel deſſelben kann ein Licht 
aufgeftedt werden, ohne daß davon mwenigftens ein bämmernder Schein 
auch auf die benachbarten Raͤume, ja nad) Umftänden audy auf tie ents 
fernteften falle. Das natürliche, ja faft nothwendige Ziel der zum Prin⸗ 
cip erhobenen Wahrheits⸗ oder Lichtbefchränfung ift — die völlige 
Sinfterniß. Motted. 
Buchhandel. Schreibekunſt und Buchdruckerkunſt würden bie 
Hälfte, ja neun Zehntheile ihres Werths verlieren, werm nicht der Bud) 
handel ihnen hülfceich zur Seite ſtaͤnde. Denn nicht daß die Bücher 
gefchrieben ober gebrudt, fondern daß fie gelefen werden, b. h. 
alfo, daß fie zu demjenigen, welche bes Leſens begierig oder bebürftig 
find, gelangen, ift die Hauptſache. Unter allen Gattungen bes Hans 
dels erfcheint hiernach der Buchhandel als die edeiftd und fegenreichite, 
oder muß als folche wenigſtens von allen denjenigen anerkannt werben, 
welche bie geifligen und moralifchen Intereſſen höher achten, ‘denn 
die materiellen. Auch finden wir in der Regel die Buchhändler an 


Geiſtesbildung und Charakter allen andern Glaffen der Kaufleute vore 


anftehend. ihre Beſchaͤftigung bringt ed mit fih. Eie find die nd« 
her: berufenen Diener des Zeitgeiftes ; fie haben der Befriedigung der hoͤ⸗ 
heren, idealen, auf Veredlung ber Menfchheit gerichteten, Bebürfniffe 
fi) gewidmet, nicht bloß jener der finnlichen oder gemeinern. Von 
diefer edlen Bedeutung ihres Gewerbes werden auch unwillkuͤrlich alle, 
von ber Natur nicht völlig verwahrlofte, Genoffen beffelben angefprochen, 
und in feiner andern Sphäre bes Handels finden ſich fo viele und 
fhöne Beifpiele von uneigennügiger, ja felbft aufopfernder, Verfolgung 
idealer Zwecke, als in dieſer. (Meben demſelben freilich auch Beifpiele 
von niedertraͤchtiger Schmuggelei und Verfälfhung, worin naͤmlich das 
faubere Gewerbe der Nahdruder befteht.) 

Der große Xhätigkeits: und Wickungsékreis bes Buchhandels er⸗ 
öffnete fi) ihm zwar erft durch die Erfindung der Buchdruderfunft, doch 
beftand folder Handel, freilih in nur geringem Umfang, ſchon in ber 
alten Welt. In Rom finden wir ihn gewöhnlih duch Freige⸗ 
laffene betrieben. Diefelben leiten fich ihre Abfchreiber, welche, 
je nach Bebürfnif, die Eremplare vervielfältigten, und zwar nach einem 
ihnen angegebenen — größern oder Heinen — Format. Auch Spuren 
von verfchiedenen folhen Ausgaben (b. h. Abfchriftformen) eines 
und beffelben Werkes, auh Honorarzahlungen an Gchriftfteller 
baben die Alterthumeforfcher entdeckt. Auch in den größern Proving 
Städten wurde diefer Handel getrieben. In Alerandrien zumal, alle 


46 Buchhandel 


wo er Übrigens ſchon wor bee römifhen Herrſchaft befanden, zeigte er 
eine bedeutende Lebhaftigkeit. Im Mittelalter zog fich die Schreibe 
kunſt, forsie die Lefeluft, meift in die Kloͤſter zuruͤck. Alldort ſammel⸗ 
ten ſich durch den Fleiß der Mönche — freilich meift mit ſchlechter Aus⸗ 
wahl — Pie Buͤcherabſchriften, kamen aber gar nicht oder nur wenig in 
Verkehr. Erſt, nach dem Entftehen ber Univerfitäten, namentlicd) 
jenen von Bologna und von Paris, begann wieder, zum Theil uns 
ter der Aufficht jener Hochſchulen, einiger mweltlihe Buchhandel. Die fi 
damit abgaben, hießen Stationari. Doc, blieb er meift auf das Bas 
bürfniß der Studirenden befchränkt und, obfchon durch die. Erfindung 
bes Baummollen= und fpäter des ZLinnenpapiers bie Theuerung 
ber Bücher ſich vermindert hatte, dennoch durch bie mefentlihen Mängel 
ber blos handſchriftlichen Wervielfältigung und durch andere Ungunft der 
Zeit, ſowohl nad) Gegenftand als nach Ausbreitung aͤußerſt dürftig. 
Aber die Buchdruckerkunſt heilte jeme Mängel, und fofort nahm der 
Buchhandel einen heilfamen Aufſchwung. Die erften Buchbruder waren 
zugleih auch Händler, wie namentlih Fuft und Schäffer bie von 
ihnen gedrudten Bücher felbft nad) Frankreich zum Verkauf brachten. - 
Solcher Selbftverlag der Buchdruder dauerte noch geraume Zeit. Spaͤ⸗ 
ter trennten fidy die zmei Gewerbe. Die Buchdruderei liefert jegt 
in ber Regel auf Beftellung eines Verlegers oder auch des Schriftftellers 


die Bücher in der verlangten Zahl der Exemplare, und ber Buchhan⸗ 


dei, nah feinen zwei Hauptrihtungen in Verlagshandel und 
Sortimentshandel getheilt, verbreitet diefelben in allen Sphären 
ber Leſewelt. Diele Werlagshändler jedoch, ja die größern in der Megel, 
befigen zugleich aucd, Drudereien, und viele Sortimentshändler find zu« 
gleich auch Verleger. Die am meiften vervolllommnete Geftalt hat ber 
Buchhandel in Deutfhland erhalten, mwofelbft nämlid die Geſammt⸗ 
heit der Buchhaͤndler deutſcher Zunge (und auch einiger Nachbarländer), 
zumal mittelft der leipziger Buͤchermeſſe und ber in Leipzig anges 
ftelten Commiffionaire allee bedeutenden Buchhandlungen, fich wie 
zu einem großen Vereine’ gebildet hat, woraus dann eine Centras 
lifation und ſchoͤne Regelmaͤßigkeit biefes Handels, und dadurch eine 
außerordentliche Erleichterung ;des Verkehrs entftanden if. Diefe Ein» 
eichtungen und theild ausdrüdtichen, theils ſtillſchweigenden Verabredun⸗ 
gen beziehen fich meift nur auf den Handel mit neuen Büchern, deren 
erftes Erſcheinen ober wiederholte Ausgabe ber jeweilige Meßkatalog 
anzeigt; jener mit Altern oder feltenern Büchern, welcher ehebeffen 
von den eigentlihen Buchhändlern mit betrieben warb unb außerhalb 
Deutſchland meift noch jego betrieben wird, iſt jest bei uns meiſt einer 
eigenen Claffe von Buchfuͤhrern, ben fogenannten Antiquaren, über 
Icffen und durch ſolche Beſchraͤnkung auf Wenige, foweit thunlich, gleich⸗ 
falls (für Käufer und Verkäufer) erleichtert worden. ' 

Der alfo geregelte und durch täglich fih anknuͤpfende neue Verbin- 
bungen allmälig über alle -civilifirte Länder fi) ausbreitende Buchhandel 
iſt, wie einleuchtet, ein für die Sortfchritte der Wiſſenſchaft, überhaupt 


Buchhandel. 47 


der Humanltaͤt, unermeßlich wohlchätiges Hülfsmittel. Nur durch ihn 
wird e6 jedem einzelnen Wißbegierigen, wo immer er wohne, möglich, 
. amd, wofern er nicht ganz vermögenelos ift, felbft Leicht, ſich die ihm 
nah Maßgabe feines Standes, Berufes oder feiner freigemwählten Stu⸗ 
dien nothwendigen ober nüglihen Bücher zu verfchaffen, feinen Geift 
durch ſtets bereite Berührung mit andern Geiftern zu nähren und zu er» 
auiden, die Weifen der Vorzeit, wie jene ber Gegenwart, bie erleuchtete 
ften und tugendhafteften Lehrer, bie begeiftertfien und erhabenften 
Sänger und Seher, nad) eigener Auswahl und jeden Augenblick zu bes 
fragen, fid) mit ihnen vertraut, wie der Freund mit bem Freunde, zu 
unterhalten und die Mittheitung ihrer tiefften Gedanken und aller Schäge 
ihres Herzens, wie ihres Geiftes, zu empfangen. Jedem, dem es nicht 
an Talent und Eifer gebricht, ift nun möglich, nicht nur mit dem alls 
gemeinen Gange der Wiffenfchaften gleichen Schritt zu halten, d. h. jede 
neue Bereicherung berfelben und jebe neue Entdedung fofort fi) anzu« 
eignen, fondern auch ſelbſt erfolgreich mitzuarbeiten und den gemeinfamen 
Schatz durch felbfteigene Beiträge zu vermehren. Die wirkfamfte Vers 
anlaffung oder Ermunterung zu folcher Mitarbeit aber geht großentheils ' 
von der weiſen Induſtrie würdiger Verlagshändler aus, von ihe 
auch der allernähft in dem erhebenden Bemwußtfein, durch eigene Geis 
flesfrüchte viele Lefer, fern wie nahe, belehrt, zum Guten gelenkt oder 
darin beftärkt, erfreut ober fich befreundet zu haben, liegende, dann aber 
and) der, je nach ben perfönlichen oder Familienverhaͤltniſſen des Schrift 
ſtellers ihm oft unentbehrliche, d. h. die unerlaßlihe Bedingung feiner 
literarifchen Tätigkeit ausmachende, jedenfalls wohlverdiente, pecuniaire. 
Lohn. Den Verlagshändiern, die man hiernach nit nur die Ges 
burtshelfer, fondern auch gar oft die Erzeuger von Büchern nen: 
nen kann, verdanken wir die Anregung oder den Entwurf zu man« 
hen hochwichtigen Literaturwerken, nicht minder al® die Bildung der da⸗ 
zu nöthigen Gelehrtenvereine und die behartlihe Fortführung 
des Unternehmens trotz ſchwerer Hinderniffe und gehäufter Ungunft ber 
Zeit. Ein Verlagshänbler, der die Bedeutſamkeit feiner Stellung Eennt, 
und bie zu berem mwürbiger Erfüllung nöthigen Geiftess und Gemuͤths⸗ 
kraͤfte und auch materiellen Huͤlfsmittel befigt, ift in Wahrheit eine 
Macht, eine naturgemäß dem guten Princip befreundete und viel 
fach hülfreiche, vom böfen Princip aber mit Recht gefuͤrchtete Macht. 
Ein edeldenkender Verleger reicht dem aufkeimenden, doch noch fchüchter 
nen und ber materiellen Hülfsmittel emtbehrenden Talent feine unters 
ſtuͤzende Hand, führt es beſchirmt und empfohlen durch feinen geachtes 
tem Namen in bie gelehrte Welt ein und verleiht ihm dadurch Muth 
und Kraft zu größern Anftrengungen und früchtereichen Werken. Er 
bringt die Erzeugniffe des Genies, bie wiffenfhaftlichen Entdeckungen des 
einfamen Forſchers, die an die Landes⸗ und Zeitgenoffen gerichteten Mah⸗ 
nungen bes Patrioten und Menfchenfreumbes, die lebenskraͤftigen Protes 
flationen wiber das Unrecht und den Unverfland möglichft ſchnell unter 
alle Claſſen der Geſellſchaft, in den Bereich aller Theilnehmenden, Ver⸗ 


48 | Buchhandel. 


ftändigen, dem Zeitgeift aufmerkſam horchend und liebend Zugemandten. 
Er erzieht oder belebt ganze Vereine von wiſſenſchaftlichen Korfchern, von 
Kaͤmpfern für Wahrheit, Licht und Recht, und gibt dem Strome ber 
öffentlihen Meinung in mehr oder weniger weiten Kreifen Rich—⸗ 
tung und Kraft. Diele Beiſpiele fo vortrefflihen Strebens und Wirs 
tens waͤren zu nennen aus Älterer, neuer und neuefter Zeit. Wir ent 
halten uns der namentlihen Aufzählung, weil die Grenze der Nennens⸗ 
wuͤrdigkeit ſchwer zu ziehen iſt und Nichtgenanntwerden für Nichtgeache 
tetwverden gelten Bönnte. Webrigens ift freilich bier, wie in andern Stäns 
den, das Ideale nicht überall zugleich das Verwirklichte, und viele Ver⸗ 
leger find, die, von ſchnoͤden materiellen Intereſſen ausfchließend beherrſcht, 
ihren hoͤhern Beruf theild gar nicht erkennen, theils engherzig hintane 
fegen. 

Mas wir von dem natürlihen Rechtsanfprud auf Freiheit der 
Preſſe gefagt haben, gilt auch von jenem auf Freiheit bes Buch⸗ 
handels. Ohne die legte würde bie erfte zum bloßen Spott. Sprache, 
Schrift, Bücherdrud und Buchhandel machen miteinander ein Ganzes 
aus, dad Princip der Freiheit oder jenes der Beſchraͤnkung gilt gleiche 
mäßig ober ift ertödtend gleichmäßig für Alle. Dee Macchiavellis—⸗ 
mus jebodh und noch mehr der Napoleonismus haben folhe Frei⸗ 
heit gleich argliftig als gemwaltthätig angefeindet, und es find aus dee — 
bei dem Defpoten Napoleon freilich begreiflihen, bei wohlwollenden 
Megierungen aber blos der Gefpenfterfurcht zu vergleichenden — Scheu 
vor bedrucken Blättern bie und ba die tiefft betrübenden Erfcheinungen 
hervorgegangen. Man hat den Verkauf eines — nicht etwa verbreche⸗ 
rifhen, fondern blos dem Genfor oder dem Minifter mißfälligen — 
Buches mit Criminalftrafen und mit Entziehung des Ges 
werbrechts bedroht; man hat bie Befammtheit ber bereits vorhan« 
denen und ber künftigen Verlagsartitel eines in Ungnade gefalles 
nen Buchhaͤndlers mit Verbot belegt; man hat auf auswärtige 
Drudfachen einen fo enorm hoben Zoll gelegt, daß er wie ein unbe 
dingtes Verbot (welches auszufptehen man ſich etwa ſcheute) wirken 
‚mußte; man bat feibft die Anfündigung von erft im Druck be⸗ 
findlihen Büchern verboten, wenn deren Titel ober Verfaſſer miß⸗ 
fällig waren, und noch weitere mannichfaltige polizeiliche Beſchraͤnkung 
und Controle zur Hintanhaltung verhaßter oder gefürchteter Blätter er⸗ 
dacht. Wohin ein folhes Syſtem endlich führen müßte, wenn es 
fortbauerte, iſt Leicht zu erfehen. Aber es ann nicht fortbauern. - 
Es widerſtrebt allzufehr dem Selbftbewußtfein der civilifirten Voͤlker und 
dem feinen Gang unaufhaltfam verfolgenden Zeitgeift. Die Sreiheit des 
Buchhandels wie jene der Preffe — mit alleiniger Ausnahme der durch 
die Gerichte für verbrecheriſch erklärten oder als folche vor ben» 
felben angetlagten Schriften — wird wiederkehren, und vielleicht tft 
der Tag nicht fern, wo man liber die gegenwärtig in einigen Staaten 
-obmaltende maßlofe Strenge fi) eben fo freimüchig wird aͤußern duͤrfen, 
als man jego über die Inquifition und die Auto⸗da⸗Fés thun 





Bücher » Senfur, - Budget. . 49 


darf. Es IR für bie Moglesungen nicht minder ag fuͤr Die. Völker zu 
wänfcen, baß biefer Tag recht —E F Rotteck. 

Buͤcher⸗Cenſur, f. Cenſur. . Ä 

Buͤcher⸗Rachdruck, f. Nahdrud. 

Buͤcher⸗Verbot, f. Cenfur . ER 

Budget. Urſpruͤnglich ein Wort in dee englifchen Sprache, wel⸗ 
ches eigentlich eine Meittafche, eine Bebarfstafche, im uneigentlichen Sinne 
einen eingefammelten Worrath, ein ausgedachtes Project bedeutet; daher 
fand es in der parlamentarifchen Sprache in der Bebeutung eines Ent⸗ 
wurfs der zu den. Staatsausgaben erforderlichen Auflagen oder Zaren, 
weichen der Kanzler der Schaglammer (chanoellor of ihe Exchequer) 
jährlich dem Unterhaufe zur Bewilligung vorlegt, Eingang, Durch bie 
Mebensart to open the Budget bezeichnete man ben Termin für bie 
Bekanntmachung dee fuͤr das bevorftchende Jahr nöthig erachteten öffent 
chen Ausgaben. Aus der englifhen Sprache iſt das Wort Budget im 
der Bedeutung von Staatsbudget in andere europälfche Sprachen übers 
gegangen und hat beſonders in ber Sprache bes conftitutionellen Staates 
rechts überall das Bürgerrecht bekommen. 

Die Erhaltung einer bauernden Ordnung in bem Sinanzhaushalte 
eines Staates und in beflen Fuͤhrung erheifcht eine moͤglichſt vollſtaͤndige 
und möglichft begründete Weberficht ſowohl bee Beduͤrfniſſe der Staatsverwal⸗ 
tung, als der Mittel, Über welche biefelbe zu deren Dedung und Befries 
Digung verfügen kann. Dies begmed Die Aufftellung von Finanzetate, 
Die im Allgemeinen in einer hinlänglic belegten Nachweifung und Dara 
ftelung derjenigen Sffentlichen Einnahmen, bie theils nad) Maßgabe der . 
auf die Refultate der vorhergegangenen Jahre gegründeten Erfahrungen, 
theils unter Vorausfegung gegebener Umflände und Verhäitniffe in einem 
beſtimmten Zeitraume (Sinanzperiode) aus einer beflimmten Verwaltung 
mit Gewißheit oder doch mit. Wahrfcheinsichkeit zu erwarten, fo wie der⸗ 
jenigen öffentlichen Ausgaben, bie in dem nämlichen Zeitraume von eis 
ner folhen Verwaltung zu beftreiten find, beftehen. Das Staatsbudget 
(der Staatsgrundetat, Hauptfinanzetat) iſt die Darftellung und ber Vor⸗ 
anfchlag ber Staatsausgaben und Staatseinnahmen für den ganzen 
Staat in einer beflimmten Periode, und bei befien Entwerfung muß 
ebenfowohl die Vergangenheit, als bie Gegenwart und Zukunft in Be⸗ 
tracht gezogen werben. Chaque budget — fo heißt e& fehr richtig in 
dem in ber franzöfifhen Kammer über bie loi des comptes im Jahre 
1822 erftatteten Commiffionsberichte — doit pour le service, qui lul 
est propre, embrasser les trois divisions du tems: dans les ante- 
cedens, oü il puise des exemples; dans le pr&sent, qui Iui 
offre des regles; dans l’avenir, dont il doit prevoir les besoins, 

Jedes Staatsbudget zerfäßt fonach im zwei Abtheilungen: das Eine 
nahme» und das Ausgabebudget, wenn baffelbe ben ganzen Staatshaus⸗ 
halt in ſich begreift, und jede biefer beiden Abtheilungen bes Haupt⸗ 
finanzetats ſchließt wieder in Beziehung auf einzelne Hauptzweige ber 
Verwaltung (Domainen, Bergwerke, Forſte x.), oder auf Verwaltungs⸗ 

Staats s Lerikon. I. 4 


ı ' 


> 


\ 
50 Budget. 


bezirke (Provinzen, Departemenks; Kreiſe x.) verſchledene Hauptetats in 
ſich, die bamm wieder fo viele Spedaletats enthalten, als es Elementar⸗ 
verwaltungen gibt. Der im Staatsobudget bargelegte Häupte ober Ges 
neralgrundetat enthält bie Refultate aller Special» und Individual⸗ oder 
Elementaretats. Er gibt die Totalſummen der Staatsausgaben unb 
Staatseimmahmen nad den Hauptrubriken an, bie jeboch alle fpeciellen 
Rubriken unter fi) befhffen muͤſſen. Alle darin vorkommende Angaben 
iverben gerechtfertigt durch bie Specialetats ber einzelnen in ihnen ent» 
haltenen Rubriken; biefe werben wieberum gerechtfertigt durch die Etats 
der. Rubriken, welche fie im fich begreifen, und legtere bekommen ihre 
Rechtfertigung durch bie Thatſachen, welche bie Individual⸗ oder Ele⸗ 
mentaretats enthalten. Dieſe find daher die Baſis, auf welcher am 
Ende das ganze Etatsweſen beruht; von der Richtigkeit aller auf That⸗ 
ſachen ſich ſtuͤtzenden einzelnen Eiementaretats hängt alſo die Richtigkeit 
aller im Budget aufgeführten Etats ab, fo daß man bei allen allgemei⸗ 
nen und fpecielen Etats nur bie Nichtigkeit ber Thatſachen zu prüfen hat. 
Die im Staatsbußger aufgeftellten Etats enthalten theils beftimmte 
und gemwiffe, theils unbeftimmte oder ungemiffe Einnahmen 
ober Ausgaben. Erſtere find folche, welche ſowohl ihrer Größe als ber 
Zeit und andern Umſtaͤnden nad) beſtimmt und gewiß find; letztere 
folche, die, wenn es gudy beftimmt und gewiß ift, daß fie erfolgen, doch 
ihrer Quantität ober andern Umſtaͤnden nach unbeflimmt und ungewiß 
find, ober auch wohl ſolche, wovon es noch gänzlich ungewiß und unbe» 
ftimmt tft, 0b fie Überall erfolgen, die aber doch möglich oder mahrfcheins 
lich find. Alte Etatsfäge müffen aber von dem, der den Etat anfertigt, 
begelinbet werben. Daß bie Ausgaben und Einnahmen richtig angeges 
ben felen, tft aus ben Gefegen ober andern Documenten und Zeugniffen, 
aus Rechnungen ıc. erwweislih zu machen. Die blos muthmaßlichen ober 
wahrfcheinlichen und undeflimmten Ausgaben oder Einnahmen müffen 
ſich menigftens aus Ducchfchnittsrechnungen ergeben ober auf bisherige 
Erfahrungen mehrerer Fahre oder auf andere Thatfachen fügen, welche 
zur Begründung ber angenommenen Anfäge dienen können. Aus der 
Beſtimmung, daß bas Staatsbudget und beziehungsmeife jeder in dafs 
felbe aufgenommene Etat diejenigen Einnahmen, die mit Gewißheit ober 
begründeter Wahrfcheinlichkeit in einem gegebenen Zeitabfchnitte zu ev» 
warten find, und ebenfo den präfumtiven Aufiwand, welchen der Staates 
haushalt in dem naͤmlichen Zeitabſchnitte erfordert, fo voliftändig und 
überfichtlich darftellen fol, daß baffelbe zugleich als Anhalt ober als Mit 
tel für die Controlirung der gefammten Staatsverwaltung in jenem Zeit⸗ 
abſchnitte, ſowie zur Grundlage des Gaffen s und Rechnungsweſens unb 
deren Gontrole dienen koͤnne, ergeben fi nah Malchus mehrere ale 
weſentlich zu betrachtende Grundſaͤtze für beffen Bearbeitung, duch deren 
mehr ober minder firenge Beobachtung die Erreihung der angebeuteten 
Zwecke bedingt iſt. Dahin gehört, daß in bem Budget, fowie in ben 
in demfelben vortommenden Etats, bie gefammte Einnahme und 


bie gefammte Ausgahe, mithin nicht bloß bie Mettorinnahme ber . 


— 





Budget. | 51 


Staats hauptcaſſe, ſondern das Bruttoeinkommen bes Staats, und 
nicht blos die Ausgabe, welche die Hauptſtaatscaſſe ſaldirt, ſondern aller 
Aufwand, welchen die Staatsverwaltung uͤberhaupt erfordert oder verur⸗ 
ſJacht, voliſtaͤndig ſich dargeſtellt findet, daß mithin keine Einnahme 
wegen einer Dispoſition, bie ihren Ertrag vorwegnimmt und keine Aus⸗ 
gabe, weil fie durch eine ſolche Vorwegnahme oder Dispofition gedeckt iſt, 
im Budget unberuͤckſichtigt gelaffen werde. Diefes war 3.8. in Franke 
teich vor der Revolution der all, wo zur Zeit von Neder’s Verwal 
tung, wie aus beffen oompte rendu zu erfehen, noch 1234 Millionen 
Livres von der Einnahme vortweggenommen, und weil fie nicht in dem 
koͤnigl. Schatz gefloffen waren, eben fo wenig als ber Aufwand, der mit 
denfelben gededtt worden war, in dem Budget nachgewieſen geweſen wa⸗ 
rn. Das nämliche Verhaͤltniß hat auch bis in die neueflen Zeiten in 
Frankceich in Anfehung der Einnahmen aus ben Colonien und bes Aufs 
wandes für diefelben, forwie auch anderer Einnahmen und Ausgaben, 
z. B. bei ber Staatsbuchbruderei, flattgefunden. In andern Staaten 
fieht man dieß 3. B. bei dem Aufwande für das Juftiswefen, wenn ein 
Theil deffeiben durch Sporteln gedeckt wird, ohne daß deren Ertrag ſich 
im Budget bemerkt findet. Ferner ift zu den bei ber Eintwerfung des 
Budgets zu befolgenden Grundfägen zu rechnen, baß für fämmtliche 
Etats ein mit dem des Budgets Übereinftimmenber oder gleicher Anfangs» 
amd Schlußtermin gewählt und beobachtet werde. Die Feftfegung biefes 
Termine des Finanzjahrs (Zxereice) iſt in den Staaten verfchieben 
beftimmt. In Hinſicht auf den Zinanzetat felbft erfcheint freilich dieſe 
Feſtſetzung infofern gleichgültig, als jedes Finanziahr einen Cyklus von 
12 Monaten umfchließt; gleichwohl innen‘ Verwaltungsrüdfichten und 
locale Verhaͤltniſſe der Wahl eines Anfangs» und Endpunktes einen Vor⸗ 
gug vor einem andern verleihen. &o möchte in Staaten mit einem bes 
deutenden Einkommen von Domainen, und in welchen die Grundſteuer 
nicht monatlich entrichtet wird, ein in ber Mitte bes Jahres ermählter 
Termin der angemeffenfte fein. In Branıreih und Preußen Läuft: das 
Sinanzjahe mit dem Kalenderjahr; in England fängt daſſelbe mit dem 
5. Sanuar, in Spanien, Hannover, MWürtemberg geht das Finansjahe 
vom 1. Juli des einen Jahres bis zum 1. Juli des folgenden Jahres; 
in Baiern nimmt es feinen Anfang mit dem 1. October. 

Der Staatsfinanzhaushalt, den das Staatsbudget darftellt, muß 
Gberalt auf möglihft rihrigen Voranfchlägen ruhen, bie alle 
Einnahmen und Ausgaben im Voraus beflimmen, und für alle Staats« 
einmahme und Ausgabe für die Dauer der Periode, für melde fie aufs 
geftelle find, gültig find. Mur dadurch laͤßt ſich dem Finanzhaushalte 
die nöthige Regelmaͤßigkeit verleihen und erhalten und zugleid bie erfors 
derfiche Ueberficht von deffen Gange erlangen. Ueber die Art und Weiſe 
der Anfertigung ſolcher Voranſchlaͤge hat Feder in feinem Handbuch 
über das Staates, Nehnungs» und Caffenwefen (Gtuttg. 
und Tübingen 1820) ſich ausführlich ausgelaffen; nur bag er bei vielen 
font guten Anfihten und Worfchriften manche Sormulare ai, die theils 


82 Brudget. 


durch große Umſtaͤndlichkeit zu complicirt erſcheinen, um für zweckmaͤßtg 
gehalten werben zu koͤnnen, theils praktiſch nicht ausfuͤhrbar ſein duͤrften. 
Das Charakteriſtiſche ſolcher Anſchlaͤge iſt uͤbrigens das, daß ſie bei aller 
Genauigkeit, mit welcher man bei ihrer Anfertigung verfaͤhrt, doch im⸗ 
mer nur ungefähre Voranſchlaͤge des zu erwartenden Einkom— 
mens und Bedarfs ſind. Meiſt iſt der Bedarf allezeit gewiſſer, als das 
vermuthete Einkommen, und darum mag es als Hauptregel anzuſehen 
ſein, in den muthmaßlichen Einnahmen immer im Zweifel lieber das 
Minimum anzunehmen, als das Marimum, dagegen bei ben Aus» 
gaben umgekehrt lieber ba8 Marimum ale das Minimum. 

Alte im allgemeinen Staatsbudget aufgeführten Etats bilden Ein 
Spyftem ober ein Ganzes; alle einzelnen Etats find Theile des durch 
das Budget dargeftellten Stantsetate. Die Eintheilung in generelle, 
fpecielle und Elementaretats bient nur, die Ueberſicht des Gans 
zen zu erleichtern, baffelbe durch allgemeine Begriffe aufzufaffen und an 
deren Leitung bis zu jebem einzelnen herabzuſteigen. So enthaͤlt der 
General⸗Hauptgrundetat die Rubriken, unter welchen bie Rubriken aller 
übrigen Etats ftehen, und_clle Summen, welche die übrigen Etats ents 
halten; aber zur Erleichterung der Ueberfiht des Ganzen werben bier 
blos die allgemeinften Begriffe und die Zotalfummen im Großen anges 
geben. Wer das Nähere kennen lernen will, muß die unter jedem Be⸗ 
geiffe ober unter jeder Rubrik enthaltenen Etats verfolgen, unb wenn ee 
dieſes bis zu ben Elementaretats fortfeht, dann kann er erft einen deut⸗ 
lichen Begriff von allen Theilen des ganzen Staatögrunbetats erhalten. 
Sowie biefer in ben Ausgabe » und EinnahmesEtat zerfällt, fo ſtellt der 
AusgabesEtat die Summe ber Ausgaben des ganzen Staats in dem 
aligemeinen Rubriken bar, deren untergeorbnete Begriffe nur fo weit ver» 
folgt werben, als es bie deutliche Meberficht ber Hauptartikel erfordert, 
welche unter diefen Begriffen enthalten find. Denn es ift die allgemeine 
Megel jeder Eintheilung, alfo auch der ins Ausgabebubget aufgeführten 
Etats, die Unterabtheilungen in einer und berfelben Weberficht nicht zu 
überhäufen, damit die Klarheit der Ueberficht nicht leide und Alles mit 
Einem Blicke überfchauet werben könne. Es muß daher das unter bens 
Allgemeinen Enthaltene nur nach und nach bargeftellt und verfolgt werben, 
Ein folder Hauptausgabe⸗Etat, wie er etwa in einer abfoluten Mon⸗ 
archte dem Monarchen, oder in einer repräfentativen ber Nationalrepräs 
fentation durch den Sinanzminifter vorgelegt wird, muß darum die Staato⸗ 
ausgabe in wenig Mubrilen zufanımenfaflen; jede von biefen aber bat 
spieder ihre befondern Etats, welche bie für fie angegebenen Ausgaben 
näher betaillicen. Wo die Ausgaben für die Hofhaltung des monardhis 
fchen Regenten durch eine einmal für allemat fellgefegte Sivilifte beſtrit⸗ 
ten werben, ba bebarf es keiner großen Detaillirtung ber Ausgaben für 
ben Hofſtaat, es fei denn, daß biefer eine beflimmte aus ber Civilliſte 
zu beftceitende Organifation hat, bie einfeitig von dem Regenten nicht 
abgeändert oder modificirt werben ann. Sehr betaillirt find dagegen 
bergleichen Hofetats bisweilen in autokatifhen Monarchien, wenn fie 


Budget. 53 


dem Autofraten vorgelegt werben. So füllte der In ber Staatsdruckerei 
zu St. Petersburg im Jahre 1801 in ruffifher Sprache erfchienene Hofe 
etat des ruffifchen Reichs nicht weniger als 84 Foliofeiten. Storck hat 
denfelben in der von ihm herausgegebenen Zeitfchrift: Rußland unter 
Alerander I. (Bd. I. ©. 63) in einer beutfchen Ueberfegung mitger 
theilt. Beiſpiele von fehr detaillierten Etats des Ausgabebubgets fl: Frank⸗ 
eich findet man im franzäfifchen Moniteur von ben Fahren 1792—1795, 
die aber zum Theil fehe verworren find. 

Außer den Koften für den Hof und zum Unterhalt des regierenden 
Hauſes wirb das Ausgabebudget in den meiften europäifchen Staaten an 
Hauptrubriken in fi ſchließen: Staatsminifterium — Rechts⸗ 
pflege — innere Landesverwaltung (zugleich in ſich begreifend 
die Polizei, die Kirhenbehärden, die Medicinalbehörben, 
das Baumefen, bie Lehranftalten, die Hofpitäler, Arme n- 
un) Krantenanftalten, die Straf und Befferungsanftalten, 
die Kunftalademien, gelehrte Sefelifhaften, Landesbh 
biiotheten, das Staatsarchiv x.) — Finanzverwaltung (wo⸗ 
bin die VBerwaltung-ber directen und indirecten Steuern, Dos 
mainen, Sorften, Jagden, Sifhereien, Berg: und Salz⸗ 
werte, das Schuldenwefen ıc gehören) — das Kriegsweſen — 
da8 Departement bes Auswärtigen. Das Einnahmebuds 
get wird als Hauptrubrilen Haben: direete Steuern (Grunbftener, 
Gewerbsſteuer x), indirecte Steuern (Zölle, Stempel, Cons 
fumtionsfleuern x.) — Weges und Brüdengelder — 
Domantsaleintänfte — Forſten, Iagden, Fiſchereien — 
Berg⸗, Salze und Hättenwerte — Poſten. Jedes ber ver 
ſchiedenen Minifterien — das ber Zuftiz, des Innern, bee Finans 
zen, des Kriegs und ber auswärtigen Angelegenheiten — 
hat fein eigenes Budget. Zur Erleichterung bee Ueberficht des Staats⸗ 
budgets iſt erforderlich, daß ein gleihförmiges Rubritenwelen 
und eine gleihförmige Ordnung in allen In bemfelben aufgeführ« 
ten, unter einer Art begriffenen Etats herrſche. In allen gleichartigen 
Etats muͤſſen diefelben Rubriken, biefelben Ausdruͤcke, biefelbe Folge der 
Rubriken, diefeiben Abtheilungen, biefelde Art der Nachwelfungen x. vors 
£oramen, kurz es muß Eine Regel, Ein Schema für alle Etats gelten, 
die zu einerlei Gattung gehören. Erheiſcht eine befondere Art von Etats 
eigene Rubriken und eigene Abtheilungen, dann muß bach biefe wieder 
die Regel für alle Etats, die mit ihm gleicher Art find, werden. Auch 
die Materialien müffen allenthalben nach Einem Schema georbnet fein. 
Nimmt z. B. einmal in einem Etat der Weizen bie oberfte Stelle in 
den Einnahmen ein, dann muß diefe Ordnung in allen übrigen Etats, 
worin Einnahmen von Getreide enthalten find, beobachtet werden. Hier⸗ 
durch wird die Zufammenftellung der Etats, ihre Meduction auf allge 
meine Etats und das Nachſuchen ber Beweiſe für bie Nichtigkeit der 
allgemeinen Etatöfäge ungemein erleichtert. Zweitens iſt zur befiern 
Ueberſicht des Ganzen nöthig, daB jedem Specialetat die Elemente, auf 
welche dezſelbe gegründet üft, einem jeden Hauptetat aber bie Specials 


54 Bubget. 


etats und eine fummarifche Zufammenftellung bes Reſultate dieſer Ele⸗ 
mente beigelegt werden. Endlich darf drittens ber für eine geriffe Zeit 
beftimmte ganze Etat nicht mit Etatsfummen aus andern Zeiten ver» 
mifcht werden. Jede Sinanzperiobe bildet ein für ſich abgefchloffenes 
Ganze, deſſen Einnahmen und Ausgaben mit andern $inanzperioden 
nicht vermengt werben duͤrfen. Es zeigt an, was in biefer und feiner 
andern Periode ausgegeben werben kann und was In ber naͤmlichen Pes 
riode eingenommen werden fol. (Vergl. &. H. v. Jakob's Finanz» 
wiſſenſch, Bd. Il, Halle 1821. ©. 1229 u. f.). 

Lotz (Handb. der Staatswirchfhaftsiehre, Bd. II, 
Erlangen 1822, ©. 456 u. f.) tadelt es, daß man bie Etatifirung 
im Öffentlichen Rechnungsweſen oft zu fehr in's Kleinlihe treibt, indem 
“man für jeden Zweig der Einnahme und Ausgabe, für jedes oft noch fo 
unbebeutende Etabliffement, das auf Öffentlihe Rechnung errichtet und 
betrieben wird, alljährlich neue Etats gefertigt und in jedem Staatsbud⸗ 
get aufgeführt voiffen will, während bei manchen Einnahmes und Ause 
gabeftellen fich nicht die mindefte Veränderung vorherfehen laͤßt. Bei 
folhen Einnahme s und Ausgabeftellen, wo die Einnahme oder Ause 
gabe fi) nad) dem Gange des Verkehrs richtet oder fonft von zufälli» 
gen Ereigniffen abhängt, find, bemerkt er, foldhe Etats im Ganzen body 
nur fehr unzuverläffige Dinge, fo daß alfo darauf, bag nicht mehr unb 
nicht weniger, ald ber Voranſchlag befagt, eingenommen ober ausgegeben 
wird, fi) ganz und gar nicht rechnen läßt. Er ift ber Meinung, daß, 
ftelte man ftatt foldyer Regeln nur im Voraus die Ausgabefummen 
feft, welche bergleichen Behörden auf einzelne in ihrem Bedarf fleigenbe 
und fallende Brveige ihrer Verwaltung verwenden koͤnnen, und bände man 
die Mehrausgabe. an die Genehmigung ber obern Behörden, der ganze 
Zweck ſich leicht ‚erreichen laffen würde, den man bei vielen mühfelig 
angefertigten Etats erftrebt. Die Etats, wenn fie auch brauchbar find, 
um in dem ganzen Einnahme» und Ausgabemefen des Staatsfinanze 
haushaltes die nöthige Megelmäßigkeit zu erhalten,. find doch nicht dazu 
geeignet, diefes in jeder unteren Einnahme» und Ausgabeftelle zu leiften. 
Mag es aud fein, daß eine untere Stelle eine Mehr = oder Minder⸗ 
. ausgabe hat, als fie nad) ihrem eigenen Etat haben follte, barum wird 
doch bei ihr weder bie nöthige Ausgabe befchränkt, noch die unzulängs 
liche Einnahme erhöhet werben Eönnen, fondern die Ausgleihung ift nur 
in den obern Caſſen möglih. Auch kann blos von der obern Behoͤrde 
überfehen werben, ob einer untern eine Mehrausgabe zugeftanben werben 
kann, ober was wegen der Mindereinnahme bderfelben gefchehen muß, um 
das Fehlende zu bedien. 

Die Redaction des Gtaatsbubgets wird um fo einfacher, je mehr 
ber Staat ſich bios und allein auf die eigentlihen Staatsgeſchaͤfte bes 
ſchraͤnkt und fi von aller Privatbewicthfchaft. ig der Quellen feiner 
Einnahme und von aller Privatvermaltung feiner Ausgaben losmacht. 
Verwaltet ber Staat feine Einnahmequellen, 3. B. Domainen, Berg: und 
Hüttenwerke, Zorften, Fiſchereien, Poſten 2c, felbft, dann muͤſſen 
freilich für jeden diefer Werwaltungszweige bis in's tieffte Detail herun⸗ 


Budget. 55 


ter befondere Etats zum Behuf der Aufftellung bes Budgets entworfen 
werden, fo daß ſich das Staaitsetatsweſen überaus vervielfältigt. Bulk 
aber die Verwaltung ber fogenannten Regalen weg, und iſt das ganze 
Wirthſchafts⸗ und Fabrikenweſen zur Privamgisthicpaft gemacht, dann 
gehen die für das Budget zu entwerfenden Etats blos mit den Einnah⸗ 
men von biefen Sinanzquellen an, und der Staat. hat durchaus nichts 
mit ihrer Verwaltung zu ſchaffen. Ebenſo erfolgen feine Ausgaben im 
Vollen, und er braucht fi) nicht weiter um deren Verwendung zu bes 
&ümmern, fobalb er nichts mit ber Privatwirthfchaft zu thun. hat. Das 
ber - find die Staatsbudgets in England und Nordamerika fo einfach. 
Selbſt da, wo die Regierungen ſich mit Dingen befaflen, die beffer und 
vortheilhafter Privaten überlaffen werden wuͤrden, wird es fehr zur Ders 
einfahung der Rechnungen der Staatöhaushaltung gereichen, wenn bie 
Derwaltung der Quelen, aus welchen die Staatseinnahmen fließen, 
gänzlich von der eigentlichen Finanzverwaltung getrennt werden, und für 
erftere eigenthlmliche, blos der oberften Staatsbehoͤrde verantwortliche Ges 
neralverwaltungen beflimmt werden. Alsdann brauchen bie Etats biefer, 
die Bruttoeinnahmen und Vermaltungsausgaben enthaltend, in dem Staats⸗ 
bubget gar nicht vorzulommten, fondern nur die reinen Revenuͤen, welche 
fie liefern, nach Abzug aller Koften darin zu erſcheinen. In diefem 
Zalle werden bie im Budget aufgeführten Etats blos in den reinen Eins 
nahmen und Ausgaben, fo wie fie jede Quelle liefert oder. fordert, bes 
ftehen und ſich ſaͤmmtlich lediglich und allein auf bie eigentlichen unmit⸗ 
telbaren Staatsbeduͤrfniſſe beziehen, En 

Malchus unterfcheibet in feinem Handb. der Finanzwiſſen⸗ 
ſchaft und-Zinanzverwaltung (Theil II. Stuttgart und Tübingen 
1850, ©. 93 u. f.) fomohl, als in feiner Politik der innern 
Staatsverwaltung (Theil II. Heidelberg 1823, S. 153) tmefent 
lid zwifhen der Bildung und Entwerfung eines Staatshudgets 
und ber eines Sinanzplanes. Erſteres, bemerkt er, befteht in einenz 
comparativen Nachweiſe des numeriſchen Betrags aller Arten von Aufe 
wand, ben die Staateverwaltung vorauefichtli in einem beftimmten 
Beitabfchnitte zu decken hat, und in einem gleichzeitigen Nachweiſe der 
Mittel, über welche biefelbe zum Behuf biefer Deddung zu bisponiren hat, 
eine Darfielung des numerifchen Betrags der Staatseinnahmen und 
Ausgaben, gewiffermaßen als einer Thatſache, bezweckend, während legs 
tere mehr und vorzüglich ſich mit einer Darfiellung ber Quellen vom 
Einkommen, bes zuläffigen Maaßes ihrer Benutzung und ber Wirkungen 
und Folgen, welche die Verſchiedenheit im Einkommen, in Betreff beren 
Nachhaltigkeit haben kann; in Anfehung der Bebürfniffe und Ausgaben 
bingegen mit deren Würdigung und Claffirung in Abſicht auf ihre ab⸗ 
folute ober relative Notwendigkeit und mit einer Wergleihung ber 
Summe von Mitteln, über weldye unter gegebenen ober vorausgefegten 
Umftänden für eine beftinmte Summe von Bebürfniffen verfügt, werben 
kann, befaßt. ine andere. Verſchiedenheit zwiſchen beiben findet über 
dies noch im dee Beziehung ſtatt, daß ein Finanzylan fih nicht blos 


56 Budget. 


auf einen kurzen Zeltabſchnitt, eine beſtimmte Finanzperiode, beſchraͤnken 
kann, ſondern zugleich die moͤglichen Verhaͤltniſſe in der Zukunft beruͤck⸗ 
ſichtigen muß, das Budget dagegen nur bie in demſelben bewirkte Coor⸗ 
dinirung der Einnahmen mit den Ausgaben, jederzeit nur für einen: ges 
wiſſen Zeitabfchnitt berechnet, iſt; der erftere mehr die Grundlage für bie 
Gtaatsverwaltung, das legtere mehr nur eine folche für ben Gelb ober 
Gaffenhaushalt bildet. In Staaten, in weichen, wie 3. B. in den Nies 
berlanden, da6 Staatsbubget für einen langen Zeitraum aufgeftellt wird, 
verwifcht fich indeffen dieſer Unterfchiedb in dem Maaße der längern 
Dauer bes Budgets. Auch wird die Entwerfung eines Staatsbubgers 
immer das Vorhandenſein eines gewiſſen Finanzplanes unterftellen und 
bedingen, nibem ohne einen ſolchen das Budget nicht mit derjenigen Si⸗ 
cherheit und Zuverläffigfeit bearbeitet werben kann, die für deſſen Bes 
fimmung als Grundlage für den Kinanzhaushalt, wenigſtens für eme 
beftimmte Periode, erforderlich iſt. u — 
Die Feſtſtelunge des Staatsbudgets gehoͤrt ohne allen Zweifel zw 
den wichtigſten und im ihren praktiſchen Erfolgen bedeutendſten Rechten 
deutſcher ſtaͤndiſcher Verſammlungen; ja man kann mit vollem Grunde 
behaupten,‘ daß ſie unter allen, dieſen zuſtehenden Rechten bie oberſte 
Stelle einnehnie; ſehe man nun dabei auf: die Entſtehung und Begruͤn⸗ 
Bung jenes Rechts, ſehe man auf deſſen Umfang, auf die Art feiner 
Ausübung oder auf. fein Verhaͤltniß zu den übrigen Gegenftänden ber 
landſtaͤndiſchen Wirkſamkeit. Begruͤndet iſt das Mecht der Feftfegung 
bes. Budgets in feinem weſentlichen Beflandtheile, dem’ echte bee 
Steuerverwilligung und deffer nothwendigem Cortelate, dem Rechte 
der Steuerverweigerung. Ganz unleugbar begründet ift uͤberdies 
dieſes Recht dur; den althiitorifchen Mechtözuftand der deutfchen Nation, 
fowohl in ihrer Geſammtheit, als in ihrer Wereinzelung nad) ben vers 
fhiebenen Volksſtaͤmmen, und ebenfo gewiß und erweislich faſt in jedem 
einzelnen beutfchen Lande buch deſſen frühern Rechtszuſtand, welcher 
durch die neueren Verfaſſungsurkunden meiſt nur eine erneuerte grunbges 
fegliche Anerfermung und weitere Entwidelung für die Anwendung im 
eonftitutionellen Leben erhalten bat. ' 
In Staaten mit einer repräfentativen Verfaſſung ift das ber Ver⸗ 
fammlung der Volks⸗ ober Landeövertreter von ber Staatsregierung vors 
gelegte Staatsbudget, welches zu einer gefeglichen Beftimmung der öffent» 
tichen Einnahmen und - Ausgaben für eine beſtimmte Periode dienen ſoll, 
in feinem Entwurfe bie Hauptgtundlage, und in feiner ‚Annahme ober 
endlichen Seftftelung das Dauptergebniß ber Berathung jener Vertreter 
über bie zw vertoiligenden Steuern. Denn eine folche Bewilligung fest 
vernömftigerweife eine Kenntniß bes Betrags ber Staatseinnahmen, bei 
beten Unzulaͤnglichkeit erſt bie Stände durch Bewilligung von Steuern 
und von ben Staatsbürgern zu erhebenden Abgaben in’s Mittel treten 
und eine Voranfchlagung und Feſtſetzung dee Staatsausgaben, zu deren 
Dedung allein bie Einnahmen beftimmt find, fowie eine forgfältige Er⸗ 
wägung ber Nothwendigkeit ober Nuͤtzichkelt bee proponirten Ausgaben 





Budget. 57 


voraus. Mit Mecht Einen ımb dürfen Staͤnbeverſammlungen, mit bes 
nen verfaffungsmäßig das Sinanzgefeg vereinbart werden muß, die Vor⸗ 
lage eines betailliten, auf fpectelle Rechnungen gegründeten Uebers 
ſchlags der Staatseinnahmen und Ausgaben für die Sinanzperiode, um 
die es fih handelt, von den Miniftern verlangen, indem fonft gar feine 
Prüfung des von biefen entworfenen und mitgethellten Etats möglich if 
und auf bloße fummarifche Ueberfchläge fich kein wahres Budget grüns 
den läßt. (Verl. Aretin’s Staatsreht ber conftitutionels 
un mnacdler fortgefegt von Rotted, Bd. U, Abth. 1, ©. 
uf. 

Die allgemeinen Granbfäge, welche, wie bei jeder Wirthſchaft, fo 
audy bei der des Staats gelten, bei ber Beurtheilung eine® vorgelegten 
Ausgabe» und Einnahmebudgets zur Richtſchnur dienen müflen und hier 
um fo forgfältiger' zu beobachten find, je größer der Gegenftand iſt und 
je härter fi die Verwirrung oder Unordnung ftraft, laſſen fich nad) 
Spittler (Borlefungen Über Politik, herausgegeben von K. 
Wächter, Stuttgart und Tübingen 1828, $. 64.) unter drei Regeln 
sufammenfäffen. Die erfte ift, lehrt derfelbe, daß nicht zu viel oder 
nicht mehr als für ben Zweck, der erteicht werden fol, burchaus noth» 
wendig ift, ausgegeben werbe. Erſt feit der legten Hälfte des 18. Jahr» 
hunderts hat ſich bie Idee recht firirt und lebhaft aufgebrüngen, daß das 
Geld, welches in die Staatecaffe fließt, eben-fo fparfam zu behandeln 
fet, wie alle Privatgeldber. Denn es gab Zeiten, wo man Sparen bei 
einem Zürften fuͤr Schande hielt; man fah den monarchiſchen Regenten 
blos ale den reihften Dann an im Gtaate, ber wohl Gelb ausflieken 
laſſen koͤnne, ohne felbft Mangel zu leiden, und betrachtete ihn nicht ale 
Depoſitair und Ausfpender von Gemeingeldern. Es entfprang diefe Ans 
fiht zum Theil aus einer Vermengung des Privats oder Familienver⸗ 
mögens bes Fürften mic dem Staatsvermoͤgen. Endlich aber drang bie 
Noth in allen unfern Staaten dazu, diefe Ideen zu läutern und zu ben 
richtigen Anficyten zuruͤckzukehren. Mit diefer erſten Regel muß aber 
die zweite verbunden werden: daß hinreichend für bie als noths 
mendig erkannten Zwecke geforgt werde. Es darf alfo nicht gefpart wer⸗ 
den, wo ber Staatszweck das Ausgeben fordert; eine Knauſerei hierbei 
ift nicht nur unmürdig, fonbern auch für die Sache ſelbſt ſchaͤdlich. Die 
dritte Megel tft: es muß planmäßig ausgegeben werden, ober bie 
Repartition der Generalfumme nach den einzelnen Rubriken iſt darnach 
einzurichten, wie biefe oder jene Rubrik den individuellen Verhältniffen 
bes Staats gemäß größeren-oder geringeren Aufwand nothmendig macht. 
PDianroidrig erfcheint es z. B. nach diefer Nüdfiht, wie Schmettau 
gezeigt hat, daß Dänemark fo viel auf feine Landarmee verwendet, wäh: 
rend es eher auf die Unterhaltung einer. tüchtigen Flotte halten follte; 
ebenfo verwendet gewiß aud) England verhältnifmäfig zu große Summen 
auf feine Landmacht. 

Das In conftitutionelen Staaten den Stänbeverfammlungen von 
Seiten der Staatsregierung verfaffungsmäßig zur Prüfung und Bera⸗ 


58 Budget. 


thung übergebene Staatöbubget muß ſowohl einen detaillirten Voranſchlag 
ber Staatseinnahmen, als einen ſolchen der Staatsausgaben enthalten, 
zerfälse fomit in zwei Hauptabſchnitte, deren Ergebniffe in's möglichfte 
Gleichgewicht zu bringen man befltebt fein muß, um ein Deficit im 
Stantshaushalte zu verhüten. Was den die Staatseinnahme betreffen» 
den Abfchnitt des Voranſchlags betrifft, fo ift deſſen fpecielle Prüfung 
ruͤckſichtlich der Beibehaltung oder Apänberung, beziehungsweiſe gänzlichen 
Befeitigung ber einzelnen Einnahmepoften durch die vorgMtgige Feſtſtel⸗ 
lung eines den Staatsbedarf deckenden Gefammtbetrags hedingt und flehe 
berfelbe in einer unverfennbaren Abhängigkeit zu dem Abſchluſſe und zu 
den, endlichen Ergebniffen des andern Abfchnittes von den Ausgaben. 
Dem landftändifhen Rechte der Seftfegung des Budgets fleht bie. 
in ben Berfaffungsurlunden gemeiniglid) ausgefprochene Verbindlichkeit 
ber Lanbftände, „für Aufbringung bes Staatsbebnrfs durdy Verwilligung 
von Abgaben zu forgen”, gegenüber. Doc hängt bamit bie den Lande 
fländen zuftehende Einwirkung auf die bedingende Vorfrage: „worin ber 
wirkliche Staatsbebarf nach den Forderungen einer dem wahren Landes» 
intereffe und dem beftehenden öffentlichen Rechte entfprechenben Regierung 
beftehe” — fo unzertrennlih zufammen, daß felbft in den Beſchluͤſſen 
bes beutfchen Bundestages vom 28. Juni 1832 jene Verbindlichkeit nur 
in Beziehung auf die „zur Führung einer den Bundespflichten und ber 
Landesverfaffung .entfprehenben Megierung” erforderlichen 
Mittel anertannt wird. Die diefen Beſchluͤſſen vorausgefchicten Mo⸗ 
tive — wenn man fle als Auslegungsmittel benugen will — redei 
insbefondere von ben „zur Fuͤhrung einer wohlgeorbneten Weg 
sung erforderlichen Steuern”. Hieraus ergibt fi) zugleich ber fehr aus⸗ 
gebehnte, alle Zweige bed gefammten Staatöhnushaltes umfaffende Um⸗ 
fang bes Iandfländifhen Rechts ber Feflfegung des Staatsbudgets, wel⸗ 
her in den deutſchen Verfaffungsurkunden mit mehr oder weniger Be⸗ 
ſtimmtheit bezeichnet wird. 
In der Arteder Ausübung zeichnet ſich das Recht der Feſt⸗ 
fegung des Staatsbudgets vor allen übrigen ſtaͤndiſchen Befugniſſen ruͤck⸗ 
ſichtlich der Theilnahme an ben Ausflüffen der Staatsgewalt ganz dor⸗ 
zuͤglich dadurch aus, daß bei den hierher gehörigen Gegenftänden die end» 
liche Entſcheidung ber Ständeverfammlung allein zulommt. Haͤngt es 
nämlich bei allen andern Gegenftänden bes öffentlichen Lebens und feiner 
formellen Geftaltung lediglih von dem eigenen Ermeſſen der Staatsre⸗ 
gierung — infofern fie nicht eine gefegliche Verpflichtung beſonders übers 
nommen bat, und abgefehen von den allgemeinen Pflichten und der Ver⸗ 
antwortlichkeit dee Mintfterien für die Erhaltung und Beförderung bed 
Gemeinwohls — ab, ob fie desfallſige Vorfchläge an bie Landftände ges 
langen laffen, die ſchon mitgetheilten wieder zurüdinehmen, auf ftänbifche 
Anträge eingehen ober dieſe ablehnen will, da im verneinenden Falle Als 
les unverändert in dem bisherigen Zuftande verbleibt: fo verhält ſich das 
gegen die Sache durchaus anders in Anfehung bes Staatsbudgets. 
Ohne Beſchaffung des nothwendigen Staatobedarfs kann bie Regierung 





Budget. 59 


nicht beftehen; wit bem Ablaufe der jedesmaligen Finanzperiode erlifcht 
die landſtaͤndiſche Verwilligung ber Auflagen für den Staatebedarf. Die 
Staatsregierung iſt daher unvermeidlich genöthigt, zeitig vor dem Ablauf 
ber Berwilligungsftift einen neuen Boranfchlag der Staatseinnahmen unb 
Ausgaben ber ftändifchen Verſammlung vorzulegen, und diefer kann nicht 
anders als mittelft der landſtaͤndiſchen Zuftimmung zur Vollziehung Eommen. 
Solchergeſtalt hängt jeder in dem von der Staatsregierung vorgelegten 
Voranſchlage enthaltne Poften, fofern er ſich nicht ſchon auf eine vors 
ausgegangne gefegliche Beſtimmung gründet, im endlichen Refultate von 
der ftändifchen Beſchlußnahme ab. Dies iſt nun von ganz ausgezeich⸗ 
neter Wichtigkeit ſchon in der befondern Nebenrüdficht, daß gerade auf 
diefem Punkte die Verantwortlichkeit der Minifter auch in minder bes 
beutenden Fällen recht wirkſam geltend gemacht werden fann. Wenn 
nämlich fonft hiezu — den Fall einer förmlichen Anklage vor dem Staates 
gerichtöbofe ausgenommen — kaum ein anderes Mittel, einen Minifter 
zu nöthigen, fid) wegen einer Handlung zu rechtfertigen, vorhanden iſt; 
fo ſtellt füh das Verhaͤltniß viel günftiger in allen denjenigen Fällen, wo 
die nicht zu vechtfertigende Danblung bed Miniſters zugleich mit einer 
Ausgabe aus der Stantscaffe verbunden gewefen tft und in ihrer fort 
bauernden Wirkfamkeit noch zufammenhängt. Hier braucht nämlich bie 
Ständeverfammlung nur ganz einfach die in der vorgelegten Rechnung 
vorkommende Ausgabe zu flreihen, um nicht allein ber Staatecaffe den 
Meg, ba8 Verausgabte wieder zu erhalten, zu eröffnen, fondern meh» 
rentheils bie Handlung felbft unwirkſam zu machen. SPraktifche Belege 
biezu liefern die fländifhen Werhandiungen conftitutioneller deutſcher 
Staaten. Ein Fall der Art trug ſich namentlich am erften kurheſſiſchen 
Landtage zu. Es erhielt ba ein Punkt, deſſen Entſcheidung zwar ſchon 
aus allgemeinen Principien ſich ergibt, in einem befondern Kalle noch 
eine pofitive Betätigung. Daß nämlich die bloße Ernennung zu 
einem Staatsamte, fo lange daffelbe nicht mwirklih angetreten worden, 
einen Anfpruh auf bie Beziehung des bamit verbundenen Gehalts 
nicht begrlinde und eine Anweifung bes betreffenden Minifters zur Aus⸗ 
zahlung diefes Gehalts keineswegs rechtfertige ; daß vielmehr, wenn eine 
ſolche Zahlung wirklich gefchehen ift, deren Betrag wieder zu erftatten 
fei, wurde von dee kurheſſiſchen Ständeverfammlung, bei Gelegenheit 
der Prüfung bes vorgelegten Budgets, ald Grundfag ausgefprochen in 
ber Anwendung auf einen für ben kaiſerl. öfterreichifhen Hof ernannten 
Eucheflifhen Gefandten, der während feche Monate, von dem Datum 
feines Ernennungsreſcripts gerechnet, biefe ihm zugedachte Sunction nicht 
angetreten hatte. (Berg. Eurheffifhe Landtags: Berhbandluns 
gen 185). Nro. 7, 15 u. 46.) Die vorftehende Betrachtung zeigt zus 
gleich die Wichtigkeit des landſtaͤndiſchen Rechts der Feſtſetzung des Bud⸗ 
gets in Beziehung auf das Verhaͤltniß deffelben zu andern Segenftänben 
der landſtaͤndiſchen Wirkſamkeit. Mehrere diefer Gegenftänbe, namentlich 
das Mecht der Verwendung, der Befchwerbeführung, der Anklage, wierden 
zwar nur felten und mehr zufällig den Punkt der Staate:Einnahme und 


‚60 . Budget. 


Ausgabe berühren; dagegen laͤßt ſich von dem auf alle Thelle ber Staats- 
regierung einwirkenden ftdndifchen Rechte zur wefentlihen Theilnahme an 
bee Gefeggebung wohl mit Grund behaupten, daß nicht leicht eine hier⸗ 
unter begriffene Anordnung ober neue Einrichtung zur Ausführung gelans 
gen koͤnne, ohne die gleichzeitige Beſchaffung von Gelbmitteln, welche 
in Folge einer Ianbftändifchen Verwilligung oder zum Zwerk der Auswir⸗ 
tung - einer folchen in dem Staatsbudget mit aufgenonmmen: werben, fo 
daß diefes in allee Hinſicht als bee wahre nerrus rerum gerendarum 
in Beziehung auf die gefammte Staatsmaſchine und beren regelmäßige 
Bewegung erfcheint. 
In Betreff bes DVoranfchlags der Stantsausgaben hat man bem 
hierauf bezüglichen Beſtimmungen ber Werfaffungsurkunden oͤfter von 
Seiten der Staatsregierungen die Deutung verleihen wollen, als fet im 
denfelben eigentlich) nur von ber Bewilligung bes ordentlichen: Staats 
bebarfs nad) Maßgabe eines Voranſchlags die Mede, und hieraus dann 
weiter zu folgen gefucht, daß ber den Ständen von oben herab mitzuthels 
ende Grundetat nur infofern eine unmwanbelbare Richtſchnur für bie 
Staatshaushaltung abgeben könne, als nicht unvorhergefehene: Umftände 
eine Abänderung nothwendig machen. Denkt man fi hietbet nichts 
weiter als die Worausfegung, daß dee außerordentliche. Staatsbe⸗ 
darf überall ein Gegenſtand des Voranſchlage zum Staalsfinanz⸗ 
etat ausmache, dann :ift dies im Allgemeinen richtig, wiewohl nicht ein- 
mal völlig in bee Anwendung auf eine der bedeutenden: „unvoshergefehes 
nen Ausgaben”, für welche in den Anfägen für manche einzelne Theile 
bes ordentlichen Ausgabebudgets beflimmte Summen ausgemworfen zu 
merben pflegen. Wollte man aber hieraus fchließen, baß wirkliche X be 
änderungen in ben Staatögriumbetats wegen unvorbergefeherter Um⸗ 
ftände einfeitig von ber Staatsregierung vorgenommen werden koͤnnten: 
dann würde das Tin gar großer Irrthum fein und in der That eine 
den Grundfägen dee conftitutionellen Staatsorbnung wiberftreitende Vor⸗ 
ausſetzung enthalten, einestheilß, weil von demjenigen, was einmal ges 
fegtich beftimmt ift, wie mit bem Staatsgrumbetat durch das Finanz⸗ 
geſetz gefchieht, felbit nicht im weſentlichſten und dringendften Staatsins 
tereffe in außerordentlichen Faͤllen eine befinitive Abmeichung ohne Zuzie⸗ 
bung der fländifchen Verſammlung ober menigftens, wo ein lanbftänbifcher 
permanenter Ausfhuß befteht, diefes von ber Staatsregierung verfügt 
werden kann, anderntheils, weil auch für Aufbringung des außerors 
dentlichen Staatsbebarfs, neben dem durch ben Grundetat feftgeflellten 
ordentlichen, die Landflände duch Verwilligung von Abgaben zu forgen 
habun und in manchen Verfaffungen, wie namentlich in der kurheſſiſchen, 
ohne Tandftändifche Bewilligung fo wenig in Kriege» als in Friedenszei⸗ 
ten irgend eine Abgabe ausgefchrieben ober erhoben werben darf. Dem⸗ 
nach wird nur mittelft einer pofitiven Beflimmung bes Finanzgeſetzes ber 
Stautsregierung ein geroiffer Spielraum, etwa vorbehaltlich ber fländifchen 
Buflimmung, eingeräumt werben können. 





Budget. 61 


Die Stänbeverfanmlungen werden ſich bei ber Prüfung ber von 
den Staatsregierungen denfelben mitgetheilten Staatsbudgets uͤberall feft 
an die Vorausfegung zu halten haben, daß bier lediglich von Voran⸗ 
fhlägen bie Rede ift und die Rede fein könne, mithin die zu deren 
Begründung von Seiten der Staatsregierungen beigefügten Nachweiſun⸗ 
gen keinen andern Zweck haben, als bie ftändifchen Verſammlungen zu 
überzeugen, daß die Grundlagen, auf melden bie in ben Voranſchlaͤ⸗ 
gen aufgenommenen Summen beruhen, den beftehenden gefeglihhen Vor⸗ 
ſchriften, fo wie den landftändifchen Befchlüffen entfprehen, und baß 
die Art ihrer Ausführung im Allgemeinen durch das Princip der 
Zweckmaͤßigkeit im öffentlichen Intereffe unter moͤglichſter Beruͤckſichtigung 
finanziellee Erſparung geleitet voerde. Auf diefem Wege wird naͤmlich 
eine Ständeverfammlung in den Stand gefegt, die ihr obliegende Prüs 
fung dee Nochwendigkeit und Nuͤtzlichkeit ber in dem Voran⸗ 
fehlage aufgenommenen Ausgaben ſchon im Voraus voliftänbig zu bes 
wirken, ohne daß es hiezu nötbig wäre oder auch nur im Erfolge wirks 
ſam geſchehen Eönnte, daß bie landſtaͤndiſche Werwilligung unmittelbar 
auf alle einzelne Ausgabepoften, durch deren fpecielle Angabe bie 
Staatsregierung jener Nachweiſung Genüge leiftet, in folcher Art gerich⸗ 
tet werbe, daß biefe num als unabänderlic) fixirt betrachtet werden müßten 
und folchergefialt eine jede auf dem Staatsgrundetat geſchehene miniftes 
riele Zahlungsanweiſung nur in ber mechanifhen Bollziehung dee 
landſtaͤndiſchen Genehmigung dee einzelnen genau beflimmten Eummen 
beftände. Selbſt die Unausführbarkeic eines ſolchen Verfahrens ergibt ſich 
fhon aus dem ftetö fortwährenden und in dem zu einer regelmäßigen 
Finanzperiode gehörenden Zeittaume von mehreren Jahren gewiß nicht 
unbettaͤchtlichen Wechfel in den Perfonal s Verhälniffen durch Ab» und 
Zugang, Verfegung, Penfionirung ꝛc. ber einzelnen Staatsdiener, fo wie 
durch vermehrtes oder vermindertes Bedürfnig des Staatsdienſtes und ber 
damit verbundenen Koften. Man wird fih leicht überzeugen innen, daß, 
wenn der ben Ständen vorgelegte Voranfchlag aldbald von benfelben mit 
fpeciellee Bezugnahme auf die ihm beigefügten Belege genehmigt und 
hiernach das Staatsbudget für die ganze Finanzperiode feftgeftellt würde, 
mehrfache Abweichungen davon in ben einzelnen Zahlungspoften ganz une 
vermeiblich werden dürften. Die ftändifhe Genehmigung ber in dem 
BVoranfchlage aufgeführten Ausgaben kann baher bios als die Bewilligung 
eines Credits für die verfchiedenen Minijterien in Anfehung derjenigen 
Summen, worauf fie Zahlungsanweiſungen zu ertheilen haben, ans 
gefehen werden. Daneben bleibt zwar bie denfelben obliegende Verbind⸗ 
lichkeit einer genügenden Nachweifung ber Verwendung zu ben be 
ffimmten Zweden in ihrem vollen Umfange beflehen, jedoch in ber 
vereinzelten Anwendung nur als Aufgabe für die künftige Rechnungs 
ablage, hingegen nicht ſchon als Negel für bie Seftftielumg bes Voran⸗ 
ſchlags. 

Es find über dieſen Gegenſtand in ben deutſchen Staͤnde⸗Verſamm⸗ 
lungen mitunter ſehr verſchiedenartige Anſichten zum Vorſchein gekommen, 


62 Budget. 


und auch von Selten ber landſtaͤndiſchen Budgetausſchuͤſſe iſt nicht im⸗ 
mer gleichfoͤrmig hierin verfahren worden. Ein Beiſpiel zur beſſern Er⸗ 
laͤuterung der Sache wird daher nicht undienlich erſcheinen. In Kurheſ⸗ 
fen waren im Voranſchlage für das Jahr 1831 für Beſoldungen bei 
dem Oberappellationsgerichte zu Gaffel 31,520 Thlr. angefegt. Hierbei 
war angenommen worden, daß 15 Oberappellationsräthe als das geſetz⸗ 
liche Marimum berfelben angefteht wuͤrden. Es waren aber zur Zeit 
der Vorlegung bes Budgets, zufolge ber beigefügten Nachweiſungen, nur 
deren 9 wirklich angeftelit und bie Geſammtſumme der Beſoldungen bes 
teug 19,113 Thle. Noh im Laufe bes Jahres 1851 wurbe indeſſen 
jene Anzahl bis auf 14 erhoͤhet. Im März beffelben Jahres ging einer 
derfelben ab, die Stelle blieb während 14 Monate offen und es wurden 
alsdann noch 2 Oberappellationsräche angeftellt, fo daß nun erft das 
gefeglihe Marimum wirklich vorhanden war. Es ift aber feinem Zwei⸗ 
fel unterworfen, daß, wenn bee Etat alsbald nach dee Worlegung für 
die ganze Finanzperiode feftgefteit worden wäre, darin bie ganze für Be⸗ 
foldungen angefegte Summe — foweit fie nicht burch bie Feſtſetzung bes 
Normalbefoldunge = Etats eine Abänderung in ihren wefentlihen Grund» 
lagen erlitte — beibehalten werden müßte, um dem Suftizminifterium 
hierdurch einen Grebit zur Zahlungsanweifung auf den ganzen, zu der 
nach Beduͤrfniß erfolgenden Anftellung des Marimums ber Zahl der 
Oberappellationsräthe erforderlichen Betrag im Voraus zu getwähren, ob⸗ 
gleich erſt bei der Elinftigen Rechnungsablage die Nachweiſung ber Vers 
wenbung zu dem beftimmten Zweck ergeben haben würde. Aehnliche Bei⸗ 
ſpiele wuͤrden fih in Beziehung auf andere Dienflzmeige, wenn gleich 
- dabei kein Marimum oder Minimum dee Anzahl der Mitglieder feſtge⸗ 
fegt iſt, leicht aufftellen laffen. Ä . 
Demnach find es eigentlich nur die Grundfäge, worauf bie ver 
fhiedenen Ausgabepoften und beren- Aufnahme in dem Voranfchlag ſowohl 
. an und für fih als in dem angefegten Betrage beruhen, was ben Ges 
genftand der ftändifchen Prüfung des bie Ausgaben enthaltenen Voran⸗ 
ſchlags ausmacht. Hieraus folgt nun unmittelbar, daß die Rubrik: Be⸗ 
foldungen, bei allen Staatsdienftzweigen, wenn bereits dafür in einem 
befondern Normal Befoldung& Etat fefte Beftimmungen enthalten find, kel⸗ 
nee weitern Prüfung unterliege, ald nur der: ob ber Anſatz im Ganzen 
ber durch den Beſoldungs⸗Etat im Allgemeinen gegebenen Norm entfptes 
hend fei. Ebenſo wird eine Staͤndeverſammlung in Beziehung auf die 
Denfionen, zum Zweck ber Seftflelung des Voranſchlags, mur zu 
unterfuchen haben, ob nicht einzelne ber verzeichneten Penfionsbeträge 
einen ſichtbaren Mangel der Zuläffigkeit dem Principe nach an ſich tra» 
gen. Ber der Vermwilligung von Summen für künftig zuzugeftehende 
Denfionen, welchen ein muthmaßlicher Anfchlag zum Grunde liegt, wird 
die fländifhe Verſammlung wiederum von dem Grundſatze auszugehen 
haben, daß ihre Verwilligung nur als ein Grebit anzufehen fei, woruͤber 
das Mintfterium keineswegs nach Gutbünfen, fonbern nad Maßgabe bes 
durch gefegliche Worfchriften bedingten Exforberniffes verfügen koͤmne. 





- 


Budget. 63 


Welche Summen unter die Rubrik: Unnorhergeſehene Aus— 
gaben zur Dispofition ber einzelnen Miniſterien zu ſtellen ſeien, das 
daͤngt wohl wefentlich von dem Grade bes Vertrauens ab, mit welchem bie 
Staͤndeverſammlung den Bosftänden ber Minifterien und vorzugsweiſe 
ben des Sinanzminifteriums entgegenzulommen ſich veranlaßt findet — 
eines Verttauens, welches freilich eben fo nothwendig zu einem gedeihlis 
en Zuſammenwirken von Landftänden und Staateregieräng iſt, ald es 
gerade in ber in Rebe ftehenden Beziehung leicht zu erwerben fein wird 
Durch den thatfächlich begründeten Glauben an eine aufrichtige Beftrebung 
von Seiten bes Minifteriums, ben ganzen Staatshaushalt auf nicht cons 
flitusionelle Grundfäge zurüdzuführen und den mit Iandftändifcher Zuftims 
mung feftgeftellten Grundetat nach allen feinen Beftandtheilen in gleichem 
Sinne zu vollziehen, was ſich zunaͤchſt durch eine gewifienhafte Rech⸗ 
nungsablage über bie bereits verfloffene Zeit der frühern Zinanzperiode 
am zuverläffigften erproben kann. 

In den mehreften deutfchen Verfaffungsurkunden findet ſich ausdruͤcklich 
vorgefhrieben, daß bei Worlegung des Voranfchlags für die einzelnen Ges 
genftände des Staatsbudgets, zum Behuf von deffen Regulirung für eine 
Finanzperiode, zugleich die Nothwendigketit oder Nuͤtzlichkeit der 
zu macdyenden Ausgaben von der Staatsregierung: den Ständen nachge⸗ 
voiefen werden muß. Zwiſchen nothwendigen und nüglichen Aus⸗ 
gaben iſt indeſſen fehr wohl zu unterfcheiden. Kann der betreffende Mir 
nifter blos die Nüglichkeit einer von ihm vorgefchlagenen Ausgabe beweis 
fen, dann wird es ohne Zweifel von dem Ermeffen der Ständeverfamm» 
lung abhängen, ob fie für gut findet, biefelbe zu bemilligen oder abzus 
Ichnen. ebenfalls ift, wenn die Ständeverfammlung das Legtere ges 
than, der Minifter, den die Sache angeht, auf Feine Weife alsdann 
befugt, die Ausgabe dennoch zu machen. Er kann von ber Nuͤtzlichkeit 
ber von ihm in Anregung gebrachten Ausgabe eine von ber der Stände 
verfammlung verfchiedene Anficht und Meinung haben; aber der Außs 
ſpruch jener ift bier entfcheidend, und es bleibt dem Minifter in ſolchem 
Kalle nichts übrig, als entweder fi) bei der Entfcheibung der Ständever- 
fammlung zu beruhigen oder zu verfuchen, feinen Antrag beffer zu bes 
gründen und dadurch vielleicht bie Ständeverfammlung zur Ertheilung 
ihrer Zuflimmung geneigt zu machen. Handelt et auf entgegengefegte 
Weiſe, dann koͤnnte eine Anklage defjelben die Folge fein und er gend» 
thigt werben, das verwendete Geld zurüdzugeben, wofuͤr er felbft mit 
feinem Privatvermögen zu haften haben würde. Anders verhält ſich das 
gegen bie Sache, wenn bie verlangte Ausgabe nothwendig war, d. h. 
wenn bie Eriftenz des Staats und feine weſentlichen Einrichtungen durch 
ihre Unterlaffung in Gefahr Lünen. Nothwendige Ausgaben des 
Staats zu tragen, find die Staatsbürger allerdings verpflichtet und ihre 
Vertreter, dieſelben zu bewilligen rechtlich verbunden. Der Staatsgerichts⸗ 
hof würde im Tale einer Anklage nicht umbin innen, den Minifter, 
weicher eine ſolche Ausgabe gegen ben Willen ber Staͤndeverſammlung 
gemacht hätte, frei zu fprechen, wenn er von dee beinglichen Nothwen⸗ 


64 | Budget. 


digkeit ber Ausgabe. bie Ueberzeugung hätte. Allein fo leicht es iſt, hier 
im Allgemeinen Grundfäge aufzuftellen, die zur Richtſchnur dienen follen, 
ebenfo fchwierig wird es in einzelnen Fällen fein, zu entfcheiden, ob eine 
Ausgabe durchaus nothwendig oder ob fie nur nügli war. Denn wie 
Vieles pflegt nicht, zumal in. monachifhen Staaten, von oben herab 
für nothwendig im Staatshaushalte ausgegeben zu werben, was nichts 
weniger als nothwendig erfcheint. Auch kann die Ausgabe an und für 
fi) als nothwendig erfannt werben, nicht aber die Art und Weiſe oder 
„die Größe der für fie gefchehenen Verwendung. Und auch baflır kann 
ein Minifter verantwortlich erfcheinen. 

Eine landſtaͤndiſche Verfaffung würde fürwahr kaum einen Werth 
haben, wenn ber Verſammlung ber Landesvertreter nicht die Befugniß 
zuftände, diejenigen Ausgaben verweigern zu dürfen, bern Nothwene , 
digkeit oder wahrhaft nügliche Verwendung ihe nicht nachgewieſen 
werden kann. Es find fogar Fälle denkbar, wo das ganze Budget, wenn 
es nämlich auf einem verderblihen Finanzſyſtem aufgebaut ift, von ben 
Ständen verworfen werben muß, wie in den Niederlanden mehr ale ein« 
mal gefhehen, und verworfen werden kann, wie ebenfall® das Beiſpiel 
der Niederlande darthut, ohne daß dadurch die verfaffungsmäßige Führung 
der Regierung unmöglich gemacht wird. Nur die Vorlegung eines an⸗ 
bern Budgets wird dadurch herbeigeführt. Dem Megenten werben freilich, 
durch die Landftände die zur Führung einer der Landesverfaffung 
entfprehenden Regierung erforderlihen Mittel nicht verweigert 
werden dürfen; aber die Frage: was denn zur Führung einer ber Lan 
besverfaffung entfprechenden Regierung wirklich erforderlich fei ober nicht 3 
wird allezeit von der Mehrheit der Ständeverfammlung abhängen. Staates 
regierung und Landftände Finnen in ihren Anfichten über die Nothwen⸗ 
digkeit und Nüglichkeit einer Ausgabe, die im Woranfchlage des Budgets 
ſich vorfindet, bivergiven; aber den legteren gebührt allezeit die entſchei⸗ 
dende Stimme und fie würden befugt fein, den Minifter in Anklagezu⸗ 
fland zu verfegen, ber fi) herausnehmen wollte, auch gegen- den Willen 
dee Ständeverfammlung eine finanzielle Maßregel bucchzufegen. Auf 
eine Weiſe aber würde etwa die deutſche Bundesverſammlung bier in's 
Mittel treten dürfen, um fi) die Entfcheidung anzumaßen; benn offen« 
bar würde dies eine Beeinträchtigung der den einzelnen Bundesftaaten zus 
geficherten Unabhängigkeit und Selbjtfiändigkeit und ein Eingriff in deren 
Souverainetät fein. 

Wird bei Vorlegung des Staatsbubgets bie Nachweiſung ber Nothe 
wendigkeit oder Nüglichkeit der für einzelne Gegenftände angefesten Aus⸗ 
gaben von ber Staatsregierung nicht geliefert, dann bleibt ftänbifcher 
Seits nichts übrig, als bie vorzunehmende Prüfung ber Nothwendigkeit 
ober Nüglichkeit lediglich auf bie allgemeinen Gründe zu fügen, welche 
für oder wider die Nothiwendigkeit des Zwecks fprechen, zu welchem bie 
Ausgabe gemacht werben fol. Dies führt natürlich zu Erörterungen und 
Unterfuhungen über die Zweckmaͤßigkeit der beſtehenden Verwaltungsein⸗ 
richtungen, baher bie Stänbeverfammlung bei der Prüfung des ihr vor 





a" 


. 


Budget. | 65 


gelegten Budgets Weranlaffung finden kann, auch mit einer Prüfung ber 
bisherigen Einrichtungen ber Staatsverwaltung fih zu befafin. Die 
Unterfuichung bes Staatsbudgets Überhaupt und bes bie Ausgaben betrefs 
fenden Abſchnitts deffeiben insbefondere, fo einfach und fall nur techni⸗ 
fher Natur biefelbe, aus dem bios finanziellen Geſichtspunkte berrachtet, 
zu fein fcheint, gewinnt ſolchergeſtalt ein fehr hohes praktiſches Intereffe 
in Beziehung auf den ganzen Organismus dee Staatsverwaltung, zumal 
wenn biefer noch nicht durch Geſetze feſt geordnet tft und es alfo bei der 
den Ständen verfaflungsmäßig obliegenben Ermittelung ber Nothwendig⸗ 
keit oder Nüglichleit der zu machenden Ausgaben, fo wie bes Beduͤrf⸗ 
niffe® ber zu ihrer Dedung vorgefchlagenen Agaben vor Allem darauf 
ankommt, ob denn auch diejenigen Behörden und Stellen, welche im 
Ausgabeetat als beſtehend vorausgefegt werden, in ber That nothivens 
dig und nüglich, und alſo bie deshalbigen Ausgaben als zum wirklichen 
Staatsbebürfniffe eher anzufehen find. So kann die Gtänbevers 
ſammlung auf dem Wege ber verfaffungsmäßigen Feftftelung des im 
Budget dargebotenen Woranfchlags zu den gefammten Staatseinnahmen 
und Ausgaben, ihre Wirkſamkeit zugleib auf die genaue Unterfuchung 
ber Zweckmaͤßigkeit aller Staatsbehörden, von ber hoͤchſten biß zur nies 
drigften Stufe, in ihrem zeitigen Beſtande ausdehnen unb auf biefe 
Weiſe zu bee Ermächtigung gelangen, ber Staatsregierung felbft Vor⸗ 
— zu einer veraͤnderten Organiſation der verſchiedenen Staatsbehoͤr⸗ 

den, gewiſſermaßen bedingungsweiſe ruͤckſichtlich ber Verwilligung ber für 
dieſ⸗ Behörden erforderlichen Ausgaben, zu thun. 

Die verfaffungsmäßige Dauer der Sinanzperioden, für welche das 
Staatsbudget entworfen werben muß, ift verfchieben in den eutopaͤiſchen 
Staatn. In der Mehrzahl derfelben wird das Budget jährlich neu 
aufgeftellt; in Württemberg, Baden unb ben beiben. einen 
berijdbeigen, in Baiern und Schweden für einen fechsjährigen Zeitraum. 
Langjährige Finanzperioden erfcheinen in unferen Zeiten, wo wir nicht 
in denen ber Antonine leben, nicht rathfam. In vielen Staaten beflcht 
die Einrichtung, baß bie Feftftellung bes Budgets fi ſtets auf ben . 
Zeitraum von einer Landtagsperiode bis zur andern befchräntt, fo daß 
die Dauer ber Finanzperiode mit ber ber Kanbtagsperiode in eins zuſam⸗ 
menfällt; es iſt dies ohne Zweifel ein zweckmaͤßiges Mittel ber Sicherſtel⸗ 
lung der wirklichen Vollziehung bed Finanzgeſetzes. 

Mur zu oft iſt es von ben Werfammiungen der Volks⸗ unb Lan⸗ 
desvertreter verkannt worden, daß es zu ihrem vorzuͤglichen Beruf ges 
hoͤrt, den Daumen auf den Geldbeutel des Staates zu halten, und daß 
die Regullrung des Budgets für jede Finanzperiode vornehmlich bezweckt, 
bie Öffentlichen.. Ausgaben ‚mit. den Huͤlfsquellen des Landes in ein rich 
tiges Verhättniß zu fegen. Start auf Erfparungen in ber Führung ‚dep 
Staatshaushaltes zu fehen,; find fie viel zu geneigt, zur Dedung des 
Ausgabe Budget neue: Giteyemm zu fanctioniven. Alle koͤnnen in biefer 
eg bei den Rorbamerktanern in die, Schule geben. Faſt überall 

die Staataautgaben feit Einführung von Bepehfentationerfaf 
— Lexikon. III. 


(66 Budget. 


ſungen vermehrt, ſtatt vermindert. Doch iſt es irrig, den Grund biefer 
Erfcheinung in dem Mepsäfentatiofnfteme an fidh zu fuchen; die Urfachen 
derfelben liegen in anderen DVerhältniffen. Wie wenig jene Erfcheinung 
eine nothwendige Folge der Einführung ber repräfentativen Staatsorbnung 
in die Monarchie ſei, beweift uns Norwegen. Diefes Königreich er⸗ 
freuet ſich unftreitig der freifinnigften Verfaſſung unter allen conflitutio« 
nellen monardhifchen Staaten Europa's und nirgends zeigt fich der Staats⸗ 
haushalt beffer geordnet als in jenem Lande, welches To wenig reichlich 
von der Natur ausgeſtattet iſt, daB es fogar ber Mittel der Selsfiftän- 
digkeit beraubt fehlen, aber unter dem Schutz feiner Werfaffung bald 
‘einen folden Auffhwung gewann, daß ſich fein bluͤhender Zuſtand von 
Jahr zu Jahr mehr hervorthut. In Norwegen ift man bei ber Fehl 
ſtellung des Budgets nicht in Werlegenheit, die Ausgaben zu decken; 
dort hatte bee Storthing noch im Jahre 1838 nichts angelegentlicher im 
Erwaͤgung zu ziehen, als wie der fich barbietende Ueberſchuß ber Ein- 
"nahmen am zmedmäßigften zu verwenden. Es bürfte daher wohl Inter 
effant fein, das norwegen'ſche Staatöbudget, welches fo erfreuliche Re⸗ 
fultate mit fi führe, näher kennen zu lernen. Die Stantseinnahme 
betrug im Sahre 1833 nad) demfelben 825,000 Speciesthaler in Silber 
und 1,739,1386 Specieöthaler in Zetteln; die Staatsausgabe in Silber 
364,153 Spthlr., wovon die Civillifte des Könige 64,000 und diejenige 
des Kronprinzen 32,000 Spthle. wegnimmt, das Uebrige aber zur. Abtra⸗ 
gung det in früheren Zeiten contrahirten Staatsſchuld angewendet wird, 
wornach nody 461,141 Spthlr. übrig bleiben. Unter den Ausgaben im 
Zettein finden ſich aufgeführt: für den Storthing 39,292 Spthle., für 
die Regierung und den Staatsrath 117,698, für das hoͤchſte Gericht 
20,590, für bie nicht unbegüterte Untverfität 30,500, worunter 3000 
Für die Bibliothet und 2500 für ihre übrigen wiffenfchaftlichen Samm⸗ 
lungen, 700 zu gelehrten Reifen im Auslande, 3000 für die Kunſt⸗ 
und Zeichnungofſchule in Chriftiania, 130,086 für die Leuchtthirme, 
"80,000 zur Beendigung bes Schioßbaues, 82,330 an Penfionen, 55,500 
für die ausroärtigen Angelegmbeiten, 595,000 für den Landkrlegsetat, 
"166,000 Gpthir. für den Seeetat. Dabei hatte die allgemeine Stadt» 
Und Sandfleuer eine fehr bedeutende Ermäßigung erfahren, indem jene auf 
185,000 , diefe auf 35,000 Spthir., mithin etwa um das Dreifache 
herabgefegt worden war. In Betreff der zwedimäßigften Anwendung des 
Ueberfchuffes fiel der Beſchluß des Storchings dahin aus, daß davon 
baldmöglichft menigftehs 300,000 Gpthir. zur -Abtragung ber 1822 abge 
ſchloſſenen fechsprocenitigen Staatsanleihe angerombdet, 100,000 Sptihlr. in 
Der Bank niedergelegt und dadurch die Zettelmaffe vermehrt und 150,000 
Gpehte;, welche bie Want an bie Staatscaſſe :zu fordern, zurädgezahlt 
werden follten. U 

Das Staatsbudget iſt immer nie ein von ber Staatéereglerung 
Yir Ständeverfammtlung zur Prüfung, Begutachtung und dernaͤchſtigen 
Weihtußnahme vorgelegtee Geſetzesentwucf, ‘der erſt durch gegemfeitige 
Vereinbarung Geſetzeskraft dekommen kannund aledann als Finanzge⸗ 


Budget. 67 


ſetz fuͤr die laufende ober kommende Finanzperiobe promulgirt wird. Die 
Anordnung und Leitung der Maßregeln zus Vollſtreckung und Vollzie⸗ 
bung des nach gefchehener Vereinbarung zwifchen Staatsregierung und 
Staͤndeverſammlung in das Finanzgeſetz aufgenommenen Einnahmebudgets 
gehört zu der ausſchließlichen Gompetenz des Finanzminiſters, der zu⸗ 
gleich in Anfehung des im Finanzgeſetze feſtgeſegten Ausgabebubgets im 
Algemeinen eine Gontrole dafür ausübt, daß die übrigen Minifterien ben 
ihnen gewährten Credit nicht überfchreiten. Im franz. Moniteur 
(1822. Nr. 98.) wurde ſehr richtig bemerkt: La consequence fonde- 
ınentale du systeme des budgets est une oonnexite de devoirs et .de 
surveillance pour la regularite des payemens entre les minisizes 
ordunnateurs et le ministre des finances, II y a entre Ini et cha- 
cun des autres ministres, sous ce point de vwue, association de 
responsabilite. Lorsqu’ une ordonneance arrive au tr&sor, le minisfre 
. des finanoes doit, avant de I’admetire, s’assurer, quelle s’applique 
eu oredit qui Äui est propre, qu’elle ne sort pas des ses limites. 
Le zministre des finances n’est pas juge du mode de service, mais 
3 doit juger le mode de payement auquel il conoourt. Les mi- 
wistres ordonnateurs lui designent leurs oreanciers; il ne disoute 
.pas keurs droits, mais il n’a pas gelui de oreer des charges pour 
ie Ardsor au .dela des preances dant la loi a posg les: bornes, | 
Die Zweckmaͤßigkeit und Nuͤtzlichkeit der Aufitellung von Eianahmes 
und Ausgabeetats für bie vwerfchiebenen Zweige des Staatshanähaltes, 
‚um eine ‚befriedigende Mechenfchaft von ber Finanzverwaltung ablegen zu 
koͤnnen, erkannte bereitd ber edle Suͤlly. LYidee de drasser pour 
abarpıs partie des finauces des Etats gegeraux, qui en prescrivent 
zettement et uniformeinent la forme m'a toujours paru si heureuse 
et si propre a oonduire à la plus grande exsetitude, que j’etendis 
sette methode sur tout ce qui en Etait capable — fagt berfelbe in 
‚feinen Memoires (Bb. III. ©. 3 u. f.). Im Jahre 1601 legte er 
dem Könige Heinrich IV. fünf folher Generaletats vor, von denen Ber 
erſte den Hauptfinanzetat in ſich ſchloß; ber zweite bezog ſich als, Caſſen⸗ 
etat auf die Verwaltung des koͤnigl. Schages ‚und die fibrigen Etats ent⸗ 
‚hielten theils den Mititaichaushalt, theild die Wermaltung der. öffendichen 
Straßen und Brücken. Dans je premier da.;sex.:etats, bemerkt: er, 
qui 6teit le plus important, parceque j’y anireis dans le detail 
‚de tout ce. qui me zegardait .opmme surintendamt: des finanoes, oteit 
renferme d’ane ‚part, tout ce que se -Isye d’argmıt en France par 
de xoi, :de quekme nature ‚qu’ik puisse ‚Sira;; d’un auine, todt. se 
qui doit Etre deduit en fmis:.de perceplion, et adnsegeieınment ve 
que revient dans les. voſfres de 5, M. Jo nr maurais nroire,: ſegt 
‚ee hinzu, que l'ides de.ces :sortes de formules:me.,soit pas: venme 
à quelqu’un depuis que les: finances ont été assijetties..a. queiquas 
seglsmens, l’interet sel :doit em anoir eımpönhe J’exeonticır.  Quol- 
qu'il en scit, je souliemdsais. .teujeurs, (Que sans’me.: guide: on: "ie 
peut sravailler. qu’en. auemgie u quien frimen.:: Bu dh: Sleſer 


68 Bubgel. 


Minifter fort, zu Anfange eines jeden eintretenden Jahres dem Könige 
bergleihen Finanzetats als eine Art Staatsbudget vorzulegen. Necker 
hat daher Unrecht, wenn er fi in f. compte rendu (©. 22.) das 
Verbienft beilegt, zuerft die Etatifirung des geſammten Finanzhaushaltes 
und ber einzelnen Zweige beffeiben eingeführt zu haben. Cine größere 
Vervollkommnung und Ausbildung bes Etatsweſens zum Behuf der res 
geimäßigen Aufftellung von fürmlichen Staatsbudgets datirt ſich erft aus 
den neuen Zeiten. Beſonderse hatte die Einführung geregelter Conſtitu⸗ 
tionen in fo vielen Staaten, mit Anerkennung eines ſtaͤndiſchen Steuer⸗ 
verwilligungsrechts, die periodifche Vorlegung von Einnahmen» und Aus» 
gabenbubgets zur nothmwendigen Folge, indem jenes den rtepräfentativen 

erſammlungen grundgefeglich zuftehende Recht nur unter biefer Voraus⸗ 
fegung verwirklicht twerben konnte. Doch war in mandyen Staaten bie 
Einrichtung der Feftftellung eines Budgets der Ertheilung von Verfaſſun⸗ 
gen ſchon längere oder kürzere Zeit vorausgegangen. So fand fih 3. B. 
in Churheſſen die erfte gefeglihe Aufnahme eines „allgemeinen jährlichen 
Staatsgrundetats” in dem Finanzhaushalt bereits in dem ein Decennium 
vor ber Promulgation ber jegigen chucheffifchen Verfaſſungsurkumde ers 
ſchienenen churfürſtl. DOrganifationsedicte vom Jahre 1821 
($. 14 u. 25). Darnach follte bei jedem einzelnen Minifterialdepartes 
ment bee Grundetat für baffelbe entworfen, die ganze Vorarbeit wegen 
bee jährlichen, Im Staatsminiſterium zu berathſchlagenden Feftftellung des 
Staatsbebarfs von dem Finanzminifteriums beforgt werben, biefe Feſtſtel⸗ 
lung felbft aber, fo wie die Verwilligung bee im Grundetat enthaltenen 
Summen, von dem LRandesfürften erfolgen. Dieſe landesherrliche Bes 
fugniß wurde ſodann blos nach individueller Anficht ausgeuͤbt. Ueberdies 
war das ganze betraͤchtliche Staatscapitalvermoͤgen, welches Churheffen bes 
faß, von der Aufnahme in den Staatsgrundetat völlig ausgefchieben und 
mit dem eigentlichen fürftlichen Gabinetsvermögen untermifcht, einer eigenen, 
aller Einwirkung der Staatsbehoͤrden entzogenen Verwaltung ımtergeben. 
Alles dieſes hat fpäterhin duch die Verfaſſungsutkunde vom 5. Jan. 
1881, infonderheit durch die Beltimmungen des den Staatshauthalt 
überhaupt betreffenden Xl. Abfchnitts berfeiben eime burchgreifend weſent⸗ 
liche Abänderung halten. Hiernach muß den Lanbftänden zeitig von 
der Staatöregierung ein Voranſchlag aller Staatseinnahmen und Aus⸗ 
gaben vorgelegt werben und formell gefchieht die Seftftellung des Staates 
grundetats verfaſſungsmaͤßig binführo mittelft eines Finanzgeſetzes, 
welches ber Stänbenerfammlung zur Prüfung und Berathung übergeben 
werden muß. Auch in abfolut monarchiſchen Staaten, wie in Preußen 
und Rußland, ahmte man bie Bubgeteindichtung nah. Man hat ſolcher⸗ 
geſtalt freilich häufig Gelegenheit gehabt, über die Methoden für die Bes 
arbeitung ber Finanzetats und Aufftelung ber Budgets nachzudenken, 
gleichwohl Laffen biefelben, forsie fie in manchen Staaten in Anmwenbung 
find, in Abficht auf Vollſtaͤndigkeit und Gewährung einer leichten Ueber⸗ 
-fiht, ſowie überhaupt auf Zweckmaͤßigkeit noch Vieles zu wuͤnſchen 
übrig. Auch in unſerer finanzwiffenfchaftlichen Literatur fehle es nicht 





Buenod Ayres. 69 


an Schriften, bern Verfaſſer fich mehr ober weniger umſtaͤndlich mit 
dieſem Gegenſtande befchäftigt haben; aber theils Haben fie biefen bei 
weiten: nicht erfchöpft; theils find fie, zumal im praßtifcher Hinſicht, uns 
d. Außer den bereits oben gelegentlich citirten Schriftftellern 
verdienen noch Juſti unter ben Älteren, fowie Peterfon, Efchen- 
maper und Riesſchke unter den neueren, hier beſonders noch erwähnt 
zu werden. Am grändlihften und auf's Umfichtigfte, wiewohl weniger 
in der eigenen Beziehung auf conftitutionelle Staaten mit einer Repräs 
fentativverfaffung, dürfte wohl Malchus in feinen beiden oben anges 
führten Werten die Sache behandelt haben. M—. 
Buenod Ayres. (Argentinifhe Republik. La Plataſtaa⸗ 
ten.) Hat audy der Staat, mit befien Verhaͤltniſſen ſich diefer Artikel 
befdyäftigen muß, einen andern Namen angenommen und dadurch fchon 
angedeutet, daß er das Foͤderativſyſtem an bie Stelle der Abhängigkeit 
von einem Gentralpunfte fegen will, ſo ift doch diefer Punkt feibft, wie 
er die Wiege der Freiheit jenes Staats war, noch immer der Kern feis 


nes politifchen Lebens, und lange Zeit noch werden Statiftit und Ge 


ſchichte, bei Betrachtung der Silberrepublik, e8 vorzugemeife mit Buenos 
Apres zu thun haben. So ward fchom zur Zeit der fpanifchen Herr⸗ 
ſchaft das Vicekönigreich Rio de la Plata, aus deffen Beitandtheilen bie 
argentinifche Republik fich gebildet bat, gewöhnlich Buenos Ayres ges 
nannt, nach der Dauptfladt, dem Sige der Regierung. — Gelbft ber 
fpanifchen Regierung ward es fühlbar, daß die unermeßlichen Landſtrecken, 
weiche die fübameritanifchen Reiche bildeten, einer beflern Unterabtheilung 
bedurften, ale in ber fie die Gefchichte überliefert hatte. Darum tarb 
ſchon 1739 das Vicekoͤnigreich Neu⸗Granada mit Quito errichtet, im 
Wefentlihen das heutige Colombien. Das Meglement von 1777 aber 
vervoliftändigte dies, indem es das Gouvernement von New Spanien 
(Merito) ausfchied und das WVicekönigreih von Buenos Apres ſchuf, 
den Punkt, von welchem die Unabhängigkeit des fpanifhen Südamerika 
ausgehen follte. Es erhielt feinen Namen von dem gewaltigen Strome, 
der, aus der Vereinigung des Paraguan und des Parana entitanden, 
nah Aufnahme des Uruguay, als Rio de la Plata in einer Breite von 
OD Meilen den 500 Meilen langen Lauf im atlantifchen Meer beendet. 
Das neue Vicckoͤnigreich bekam ein Gebiet von 52,000 Quadratmeilen, 
mit einer Bevölkerung von 1 Million Einwohnern. Es befland aus 
den alten Provinzen Paraguay, Zucuman und Chile Zramontano. Nicht 
alle feine Beftandtheile find auf die neue Republik mit übergegangen, 
vielmehr hat fi Oberperu in bie Republik Bolivia vermandelt; ber 
größte Theil von Paraguay, zu beffen Gebiet Die Hauptfladt Buenos 
Ayres felbft gerechnet wurde, vegetirt unter Francia's Dictatur. Mon⸗ 
teoideo endlich ift der Mittelpuntt der Banda oriental, bes Freiſtaates von 
Uruguay gewerdm. Go erſtreckte das Unabhängigkeitsprincip feine Wir: 
kungen immer weiter. j 
Die Gegenden des La Piataftromes wurben 1515 buch Juan 
Diaz de Solis entvedt. Won da annahm die Givilifation derſelben bemfelben 


- 170° Buenos Ayres. 


Gang, tie die ber Übrigen fpanifhen Beſitzungen in jenem Erdtheile. 
Die Städte La Plata, Buenos Ayres, Montevideo u. a. erblühten m 
Stanz und Reichthum. Petoſi erbielt mit feinen Stibergruben ſpruͤch⸗ 
woͤrtliche Bedeutung. Unter Kämpfen mit den Indianern und auf Kos _ 
ften des Schweißes ber Negerſklaven, breitete ſich allmälig jene aus . 
Meißen und Karbigen grmifchte Bevoͤlkerung uͤppiger Genußmenſchen aus, 
deren Geſchichte Jahrhunderte lang feine Thaten aufzaͤhlt. Europa 
mufte umgemälzt werden, ehe ber Gährungsftoff in jene trägen Elemente 
geworfen werden konnte. Die Engländer benugten die Kriegserfiärung, 
die Spanien auf Befehl Napoleond gegen fie eriaflen mußte, um vom 
Gap aus eine Erpedition gegen Buenos Ayres zu fenden, ber au am 
2. Juli 1806 deſſen Befignahme gluͤckte. Allein fhen am 12. Auguft 
mußten bie Engländer, die bei den Einwohnern nicht die erwartete Theile 
nahme fanden und deren Führer mancher Mißgriffe beſchuldigt werben, 
die Eroberung wieder räumen, umd ein zweiter im Juli 1807 gemachter 
Verſuch mißgluͤckte voͤllig. Umfonft Hatten die Engländer den Bewoh⸗ 
nern ihren Beiſtand zur Ertingung der Unabhängigkeit angeboten. Re⸗ 
ligionshag mochte ihn unerwuͤnſcht machen; aber auch außerdem bervie® 
das Volt, bei manchen unverkennbaren Regungen ber Unzufriedenheit 
mit einzeinen Maßregeln und Perfonen, gleichwohl eine feſte Ergebenheit 
und Treue gegm Spanien. Es war fogar treuer als feine Kührer. Die 
fpanifhen Vicekoͤnige und Generalcapitaine waren, ſich mehr als Beamte 
denn als Bürger fuͤblend, größtentheits nicht abgeneigt, jeder neuen Mes 
gierung, bie fie in ihren Stellen ließ, fih anzufchließen. Das Volk 
aber hielt unerfchütterlih an der alten Königsfamilte. In der That, 
wenn es diefer nicht mehr dienen wollte, warum hätte es einer andern 
warum dem Erften Beften dienen follen, dem es einfiel, ſich al6 feinen 
Beherrfcher anzufündigen? Im Jull 1808 fand fi ein franzöfifcher 
Abgeordneter zu Buenos Apres ein, der dem Volle den im Mlutterlande 
vorgefallenen Thronwechſel kund thun und es zur Huldigung an König 
Joſeph auffordern foute. Der Vicekoͤnig Liniers, ein geborener Franzofe, 
begnügte fi, das Volk zuc Neutralität zu ermahnen, worauf ber Gou⸗ 
verneur von Montevideo, General Etio, ſich fir unabhängig von dem’ 
Vicekoͤnig erflärte und eine Junta ertichtete. Der mit Aufträgen ber 
Junta von Sevilla erfchlenene General Goyeneche billigte dieſes Verfah⸗ 
ren. Aber bald bewies er felbft jene verderbliche Politik, welche die 
Grumdquelle der Losreißung der Colonten vom Mutterlanbe geweſen ift. 
Diefe Amertlaner wollten ſich Peinesroeged vom Mutterlande trennen; 
fie madıten nur, wie bie Provinzen bes legtern felbft, von jenem eigens 
thinmlichen fpanifchen Wertheidigungsmittel. Gebrauch: der Errichtung der 
unten, durch weiche das Volk feibft feine Kräfte zum Schutze der bes 
ftehenden Ordnung vereinigt. Es iſt diefe Idee ein Reſt der alten 
Serbftchätigkeit des Volke, der fich bei den Spanien erhalten hat und 
vielleicht von, dort aus bereinft auch zu andern Völkern zurückkehren wird. _ 
Die Thélle kaͤnpfen für das Ganze, ftatt willenlos mit ihm zu fallen. 
Afo gerade zur beffern Erhaltung ber Rechte des Mutterlandes, zür 





5 Buenos Ayres. 71 


Vertheldigung feiner rechtmaͤßfigen Regierung gegen Uſurpation und Er⸗ 
oberung entſtanden biefe Junten. Aber es mar wohl natürlich, dag mit 
dem Selbſtwirken des Volkes auch die alten Wünfche und Beſchwerden 
rege wurden und daB das Volk den Augenblick, wo es bereit war, große 

Anftrengungen für das Mutterlanb zu machen, für geeignet hielt, für 
fih ſelbſt Gerechtigkeit von ihm zu verlangen. Als ihm biefe nicht 
wurde, fo -erwachte Born gegen Spanien und biefer fand allerdings in 
dem unten geeignete Organe. Dazu Fam, daß Frankreich, nachdem es 
die Unmöglichkeit, bie Colonien der Joſephiniſchen Megierung zu erhalten, 
erkannt hatte, wenigftens ihren Beiftand dem Mutterlande entziehen wollte ' 
und deshalb durch zahlreihe Emiffaire zum Abfall auffordern ließ, des 
nen England umfonft entgegengefegte Ermahnungen gegenüberfiellte. Dar⸗ 
um wurden bie Agenten der ſpaniſchen Mevolutionsregierung frühzeitig 
gegen die amerifanifhen Junten mißtrauifh. Gegen die im Bezirk von 
La Paz gebildete Junta intuitiva, deren Truppen von ben Generalen 
Lanza, Caſtro und Yranburu befehligt wurden, zog General Gopenedye 
feibft zu Seide, bemaͤchtigte ſich der Stadt und verhängte fchimpfliche 
Todesſtrafen über die Häupter. — In Bumos Apres war der Vice 
tönig Liniers als Joſephino abgefept worden. Sein Nachfolger, Cisne⸗ 
ros, eröffnete ſaͤmmtliche Häfen: ben Schiffen ber Briten und Portus 
giefen und berief am 22. Mai 1810 einen Gongreß, der am 25. Mai - 
eine Junta errichtete. Weder er noch feine Rathgeber hatten bedacht, 
daß damit feine Abfegung ausgeſprochen war. Man errichtete eine Re⸗ 
gierungscommiffion, an deren Spige Don Cornelio Saavedra ald Präfis 
dent trat, während das Daupt dee liberalen Partei, ber Dr. Don Mas 
tiano Moreno, ald Staatsfecretaie fungirte. Ihr entgegen traten in den 
einzelnen Provinzialplägen die Anführer der fpanifchen Zruppen, in ber 
Hauptſtadt ſelbſt Cisneros und die Mitglieder der Audienzia, um Cors 
dova der vormalige Vicekoͤnig Kinierd, in Oberperu Obriſt Cordova. 
Altein Gisneros und feine Anhänger wurden verhaftet und nach den cas 
narifhen Inſeln gefchafft; Linierd ward von feinen Xruppen verlaffen, 
durch Obriſt Dcampo gefangen und mit vier Gefährten erfchoffen. Das 
gleiche Schickſal traf —** und den General Nieto durch Ocampos 
Nachfolger, den Don Antonio de Balcarce. In Jahresfriſt dehnte die 
Junta ihre Wirkſamkeit bis an die Grenze von Peru aus, an welcher 
ein Waffenſtillſtand mit dem General Goyeneche, der bie Armee des 
Vicekoͤnigs von Peru befebligte, abgefchloffen ward. Weniger gihdlich 
war man gegen Paraguay, das ſich keinesweges der Junta unterwerfen 
wollte. Man fendete Belgrano mit 800 Mann bahin ab, dem aber 
fo geſchickt geleitete Vertheidigungsanftalten entgegentraten, daß er froh 
fein mußte, freien Rüdzug zu erhalten. Im folgenden Jahre beftand 
eine eigene Junta in Paraguay, bie mit ber zu Buenos Apres ein 
Buͤndniß abſchloß. In Montevideo hielt fi) General Etio, den die Dies 
gentfchaft von Cadix zum Generalcapitain der La Plataprovinzen ernannt 
batte, ber aber feine Gewalt nur über die Banda oriental erſtreckte, zu 
deren Gelbfiftändigkeit damals die Keime gelegt wurden. Die neue Be 


| 72 Buenos Apres. Ä 


gierung fühlte aber wohl, baß ihre eigene Sicherheit fortwährend bedroht 
blieb, fo lange auf diefem Punkte noch eine von feindlichen Principien 
ausgehende Gewalt blieb. Die Vertreibung Elio's und wo möglich bie 
Befisnahme der Wanda oriental war daher lange Jahre der Zielpunkt 
von Buenos Ayres, das .vielfache Kämpfe mit ben Beherrſchern jenes 
Landes und fpäter mit Braſilien einen Krieg um den Beſitz beflelben zu 
beftehen hatte. Innere Spaltungen verzögerten die weiteren Erfolge. 


Fruͤhzeitig zeigten fi) entgegengefegte Parteien in Buenos Apres, und 


zuerft traten Saavedra und Moreno gegeneinander auf. Der Retlere, 
im Gongreß uͤberſtimmt, dankte ab, ging in einer diplomatifchen Miffton 
nad) England und flarb auf der Reiſe. Der Zwift hatte fi) aber auch 


‘ 


auf die Armee erflredt. General Goyeneche benuste dies, griff eine Dis . 


vifion an, die von dem andern ohne Unterftügung gelaffen und dethalb 
geſchlagen wurde, worauf fi) Alle zerftreuten und Oberperu wieder im 
fpanifche Hände fiel, um erſt von einer ganz andern Seite aus befreit 
zu werden. Saavedra ſtellte ſich ſelbſt an die Spige der Truppen, warb 
aber während feiner Abweſenheit geſtuͤrzt. ine Bürgerverfammiung 
feste im September 1811 eine aus drei Mitgliebern beftehende Regle⸗ 
ung ein, an deren Spige Sarraten trat. Auch damals noch hatte man 
fi) nicht von Spanien losgefage und in einem am 21. October zivie 
[hen Buenos Ayres und dem General Elio abgefchloffenen Frieden er⸗ 
Tannten beide Theile Ferdinand VII. als ihren Oberheren, die fpanifche 
Monarchie als eins und untheilbar an und bie Junta verfprach, dem 
Mutterlande nach mie vor Subfidien zu fenden. Der Friebe dauerte 
Übrigens nicht lange, ſchon weil die portugiefifchen Hülfstruppen ſich 
nicht, wie Elio verfprochen hatte, nach Brafilien zuruͤckzogen. Erſt enge 
lifhe Vermittlung bewirkte am 13. Juli 1813 einen Vertrag, in Folge 
defien die Portugiefen das fpanifhe Gebiet räumten. Damals verbanfte 
Buenos Apres dem zur Abfchliefung des Vertrags abgefendeten poriu⸗ 
giefifchen Obriften Rademaker die Entdedung einer von Spanien anges 
zettelten Verſchwoͤrung. Das Haupt derfelben, der Kaufmann Martin 
Alzaga, wurde mit 24 Genoffen hingerichtet. Im April 1812 warb 
eine Verfammlung ber Deputicten, bie ſchon die Erklaͤrung erließ, daß 
die Souverainetät ber La Plataftaaten auf ihnen felbft beruhe, von der 


Regierung aufgelöft, eine zweite, bie im October gehalten ward, von - 


Volt und Truppen auseinandergefprengt. Am 24. September beendigte 
das fiegreiche Gefecht von Campo dei Honor die Unfälle, welche die La 
Diataftaaten bisher in ihrem Kriege mit Peru erfahren hatten. So 
fonnte die zum 30. Januar 1813 eröffnete fouveraine conſtituirende 
Verfammlung unter günftigen Aufpicien beginnen. Indeß auch fie volle 
zog nicht viel Wichtiges, mit Ausnahme der Abfhaffung der fpanifchen 
Arkende, die menigftens als Zeichen von Bedeutung war. Die von drei 
Männern, Pena, Perez und Sonte, geführte Regierung befam ben Titel 
der hoͤchſten vollziehenden Gewalt. Man vereinigte, ſich über die Grund⸗ 
züge zur Emancipation ber Sklaven, und glüdlich, wenn man in biefem 
Geiſte fortgewirkt Hätte. Im Auguft 1812 trat Don Pozadas an 





Buenos Ayred. 73 


Joutes Stelle, defien Regierungszeit abgelaufen war. Kriegeriſche Uns 
fäue führten zur Dictatur. Belgrano, der am 20. Febr. 1813 die 
ganze Tpanifche Armee des General Triſtan gefangen genommen, aber 
gegen den Eid, nicht wieder gegen Buenos Ayres kaͤmpfen zu wollen, 
entlaffen hatte, warb nun feinerfeit8 von ben eidbrüchigen Spanien uns 
tee General Pezuela zweimal gefchlagen, wodurch die Provinzen Tarija 
unb GSalta in die Hände der Spanier fielen. Jetzt übertrug man am 
31. Dechr. 1813 die gefanmmte vollziehende Gewalt bem oberften Dicta> 
tor Don Pozadas, dem man einen Rath von 7 Perfonen beigab. Bel⸗ 
grano ward vor ein Kriegögericht geftellt und San Martin fein Nach⸗ 
feiger, der durch einen gluͤcklichen Guerillaskrieg den Spaniern bie 
Srüchte ihrer Siege wieder entriß. Gleichzeitig war durch ben patriotis 
fhen Eifer des Finanzminiſters Juan Larrea eine Beine Seemacht er» 
richtet worden, bie unter einem englifhen Kaufmanne Bromn am 25. 
Mai dem fpanifchen Geſchwader bei Montevideo eine völlige Niederlage 
beibrachte, worauf biefe Stadt auch von der Seeſeite eingefchloffen wurde, 
während fie vom Lande aus der Dbrift Alvear belagerte. Mangel an 


Lebensmitteln nöthigte Elio's Nachfolger, den General Vigodes, im Junf - 


1814 zur Uebergabe des Platzes. Leber den Befig erhoben ſich Streis 
tigkeiten zwiſchen Buenos Ayres und dem General Artigas, der die 
Stadt für die Banda oriental reclamirte, und während innerer Unruhen 
in Buenos Ayres zu Anfang des folgenden Jahres in ber That in Bes 
fig nahm; denn Alvear, buch feine Erfolge zu höherem Ehrgeiz ges 
trieben, ließ fih von der Regierung zum Oberbefehlshaber der Armee 
gegen Pern ernennen, während der früher ernannte General Rondeau ihm 
zuvorfam und von der Armee anerkannt wurde. Hierauf lieg ſich Alvear 
an Pozadas Stelle zum Dictator erheben. Aber die Armee und meh» 
zere Provinzen erkannten ihn nicht, an; der Obrift Alvarez, ben er ges 
gem Artigas abſchickte, erklärte fich wider ihn und er verließ am 15. April 
1815 Stelle und Land. Es ward eine Beobadhtungsjunta eingefegt, 
die Mondeau zum Oberbictator und Alvarez zu beffen Gtellvertreter ers 
nannte. Allein die Zruppen der Regierung wurden ſowohl von Artigas, 
dem man Santa Se wieder abnehmen wollte, als von dem fpanifchen Ges 
neral Pezuela gefhlagm. In Folge bdiefer Unfälle ward erft Alvarez, 
dann fein Nachfolger Bafcarce entfest. Im März 1816 verfammelte 
fi) die conftituirende Sunta zu Zucuman, und erwählte ben Don Puyr⸗ 
rebon zum oberfien Dictator. General Belgrano bekam mieder ben 
Dberbefehl der Armee von Peru und zwang die Spanier zum Ruͤckzug. 
General San Martin commanbirte gegen Chile und befreite es von dem 
Epaniern. Bon da an ward die Äußere Lage bes jegigen Staates güns 
fliger, weil die Inſurrection immer allgemeiner wurde, die verfchiebenen 
Nachbarländer, von denen aus Buenos Ayres beunruhigt werden konnte, 
fetbft für fih zu forgen anfingen und allmälig bie vom Mutterlande 
verlaffenen Royaliften aufrieben. Nur um bie Banda oriental bauerte 
ber Kampf mit den Portugiefen und mit der Unabhängigkeitspartei fort 
und ward wider die erftere, aber auch nicht für Buenos Apres, fondern 


A 


L 


74 Buenos Ayred. 


für bie letztere entfchleben. Doc, Eehrte Santa GE wicber zu ben La . 
Plataſtaaten zuckd. Der Congreß erließ am 9. Jull 1816 bie Un» 
abhiängigkeitterfiärung ‚ber vereinigten Staaten bed La Plataftromes und 
brach fo für immer das ſchwache Band, das noch an - Epanien Eettete. 
Die Colonien hatten erfannt, daß Ferdinand VII. am menigften ihnen 
die Gerechtigkeit wuͤrde widerfahren laffen, .die felbft die Cortes ihnen 
verfagten. Auch war bie Sache ſchon zu weit gediehen unb alle Häups 
tee der neuen Regierung fühlten, daß fie bei einer Meftauration nicht 
nur dem füßen Traum ber Gewalt entfagen, fondern noch froh fein. 
müßten, audy nur Verzeihung zu erhalten. Die neue Republik nahm 
1817 den Namen der vereinigten Staaten von Südamerika an und ers 
theilte fih am 22. April 1819 eine auf das Unionsprincip gebaute Ver⸗ 
faffung. Aber mit der hergeftellten dußern Ruhe begann die Reaction 
der Provinzen und führte am 21. Septbr. 1823 zur Abſchließung eines 
Bertrags zwifchen den Provinzen Buenos Ayres und Cordova, dem alls 
mälig bie übrigen Provinzen beitraten und der im Weſentlichen eine Foͤ⸗ 
derativverfaffung begründete. Von da an herrfchten fortwährende Streitigkeiten 
und Regierungsmechfel, deren Grund in den Kämpfen zwifchen ber Unlons⸗ 
und der Föderativpartei zu fuchen iſt. Die Exfteren, die Befiegten, wer: 
den als die liberalere und aufgeflärtere, die Leuteren als bie bigotte, vobe 
und unwiſſende Seite gefhildert. Das Land habe unter ber Herrſchaft 
ber Unionspartei, und namentlich unter ber fechsjährigen Verwaltung Ri⸗ 
vadavia's gebiüht, aber zu ſinken angefangen, feit dieſer geftürzt warb. 
Die Unionspartei hatte bie in ben Befreiungskriegen gebildete Armee auf 
ihrer Seite und erregte mit deren Hülfe fortwährende Unruhen, bi end⸗ 
lich Ihe Oberhaupt, General Paz, von dem General Lopez gänzlich ges 
fhlagen wurde und die Armee fi aufloͤſte. An die Spige dee mit 
ſchwachen Rechten verfehenen und ihre factifche Gewalt nur in ber naͤch⸗ 
flen Umgebung aͤußernden Gentralcegierung trat General Quiroga. Dier 
fer ward auf einer Reife, die er zur Beilegung von Differenzen zwiſchen 
den Staaten Salta und Zucuman angetreten hatte, am 16. Februar 1835 
in der Gegmd von Gordova, wie es heißt, unter Mitwirkung des Er« 
gouverneurs der Provinz Corbova, Reynato, ermordet. Damit warb 
nichts in den Grundverhaͤltniſſen geändert; ein Beweis, daß dieſe nicht 
auf Perſoͤnlichkeiten beruhen. Die Mörder wurden verfolgt und zum 
Theil verhaftet, roährend Andere entflohen. Die Obergewalt warb dem 
Freunde und Verbündeten Quirogas, dem General Roſas, Übertragen. 
Bei diefer Gelegenheit ward nochmals die Alleinherrfchaft der katholiſchen 
Kiche ausgefprohen. Man behauptet, dag die Föderaliftenpartei haupt⸗ 
faͤchlich durch die Priefter herrſche, und bag fie überhaupt alle fpanifchen 
Mißbraͤuche und Vorurtheile fortfege. Es ift aber moͤglich, daß 
Ales, was man von der Ignoranz und Unduldſamkeit ber Foͤderallſten 
und von der größern Bildung ihrer Gegner fagt, wahr ift, und daß 
dennod die Erſtern das Gebot ber Iocalen Verhaͤltniſſe und der natio⸗ 
nellen Intereſſen beffer gewuͤrdigt haben, oder doch ihm beffer entfpras 
den als biefe. Ihre dauernde Herrſchaft felbft beweiſt das; fie verdan⸗ 





Buenos Ayres. Bulle. 75 


ken fie nicht fich, ſonbern ber Norhmenbigkeit ihres Syſtemes. In jenen 
unermeftichen, ſchwach bevoͤlkerten Landſtrichen ift jede Gentraltfation ein 
Uebel; es iſi viehmehe nöchig, daß jeder Theil fein eigenes Leben ent: - 
fatte, ſelbſt fuͤr ſich ſorge und in immer befferer Ausbildung feines Wir: 
tungskreife®» allmäfig jene Eroberungen im Sinnen mache, melche die 
wohlthaͤtigſten find. , Diefe Länder koͤnnen nicht von einem Mittelpuntte 
aus entwidelt werden, fondern die Theile müffen ſich felbft entwideln, 
bis fie in einem Mittelpunkte zuſammentreffen. Das mag bie halte 
Aufklärung der Unionepartei, mit franzoͤſiſch⸗ republikaniſchen Ideen ges 
ſchwaͤngert, überfehen haben. 

Das Gebiet der jetzigen argentinifchen Republik erſtreckt ſich vom 
20—419 ©, Br. und vom 55—56° W. 2. Gie gränzt gegm Nor⸗ 
den an Bolivien, einſt als Bochperu mit ihr vereinigt, und an Braſilien: 
gegen Weſten an Chile, dem ihe General: San Martin ale Befreier 
dient; gegen Dflen an Uruguay und das atlantifhe Weltmeer; gegen 
Süden an Patagonim, wo ihr jegiger Weherrfcher, General Mofas, zwei⸗ 
felhafte Eorbeeren erfocht. Sie umfaßt auf einigen 40,000 Quadrat⸗ 
meilen ema 650,000 Einwohner. Das Land wird nur an ben Gren⸗ 
zen von Gebirgen berhhet, ſtellt aber uͤbrigens jene ungeheuern, baumlo⸗ 
fen Ebenen dar, auf denen die zahliofen Viehheerden ber Bewohner ihre 
Beiden finden. Dort fireifen auch die berittenen Indianerſtaͤmme ums 
ber, in deren Reihen und ımter den Viehhirten (Gauchos) die unruhigen 
Mititairhefs ihre Truppen ergänzen. Diefe Meiter haben bie Spanier 
vertrieben mit den Nachkommen jener Roffe, durch welche einft die fried⸗ 
lichen Ureinwohner Amerikas gefchredt und befiegt wurden. Denn bie’ 
unzähligen, hertenlos umherſchweifenden Pferde diefer Ebenen flammen 
alle von dem wenigen ab, welche bie Spanier des 16. Jahrhunderts in 
das Land brachten. Pferde⸗ Maulthier⸗ Rindvieh⸗, Schaafs und Zie⸗ 
genzucht find bie wefentlihfte Quelle des dortigen Nationalreichthums 
und liefern reiche Ausfuhrartitel. Die Furcht, die Weiden zu fchmälern, 
verhindert den meitern Anbau des Landes. Die Übrigen Probucte, Er⸗ 
zeugniffe der freiwirkenden Wegetation, hat Buenos Ayres mit den Nach» 
barftaaten gemein. Die Lagerftätten des Mineralreichthums find aber 
größtentheild mit Dberperu abgetrennt worden. Man rühmt die Geſund⸗ 
beit des Klimas. Die Einwohner befichen aus Indianern, Weißen und 
alen möglichen Farbeclaſſen. Die Republlk iſt jegt in die Provinzen: 
Buenos Ayres, Banta Se, Entre Rios, Corrientes, San Luis, Mens 
doza, San Juan, Rioja, Catamarca, Cordova, Santjago, Tucuman und 
Salta getheilt, von denen nur das erſtere 160,000, Cordova und Salta 
gegen 80,000, die Übrigen zwiſchen 15 und 50,000 Einwohner haben. 

Die Stadt Buenos Ayres ift 1535 gegründet und 1580 reſtau⸗ 
riet werben, bat gegen 100,000 Einwohner und ift einer ber bedeutend» 
ſten Handelsplaͤtze Suͤdamerikas. Erwaͤhnung verdienen noch bie Städte 
Santa Ge de la Vera Cruz, St. Juan de Frontera am Fuße der Cordil⸗ 
leras, Cordova dei Tucuman und Salta. Buͤlau. 

Bulle, ſ. Curie. 


76 - Bund. 


Bund, Bundesverfaffung, Staaten⸗ ober Völker 
vereine, oder Foͤderativſpyſteme, insbefondere: Staaten» 
bündniß, Staatenbund, Bundes» (oder Staaten⸗) Staat. 
Grenzen ber Gewalt, Politik und DVerfaffung der Buns 
dbesvereine im Allgemeinen. (Weber den beutfhen f. Deutſch⸗ 
land.) 1. Einleitung und Begriff ber Bunbesvereine. 
Außerorbentlich verſchleden find bie politifhen Werbindungen und ers 
faffungen, deren richtige Beurtheilung und Behandlung den Begenftand 
dee politifchen Erkenntniffe und Beftrebungen bilden. Sowohl bei ben 
heutigen Völkern, wie bei denen des Alterthums, fowohl in den Anfän- 
gen, wie fuͤr die hoͤchſten Stufen der politifchen Entwicklung(ſ. Thl. J. 
S. 40 u. 85) zeigen ſich uͤberall neben ſehr verſchiedenen, einfachen 
Staatsverbindungen noch verſchiedenartigre Bundesverhält⸗ 
niſſe. Der einfache Staat vereinigt naͤmlich mehrere, nicht ſou⸗ 
veraine, einzelne oder moraliſche Perſonen unter ſeiner fouverainen 
Geſellſchaftsgewalt. Ein Bund im politiſchen Sinne dagegen 
ift ein Werein, defien Glieder ſich entweder keiner gemeinfdaftlichen ſou⸗ 
verainen Geſellſchaftsgewalt unterorbunen, ober die felbft wiederum Staa⸗ 
ten ober Gefellfhaften mit einer, wenn auch befchränkten, fouverainen 
Geſellſchaftsgewalt bilden. Die legteren heißen Staatenvereine. 
Edhe ſich überhaupt wahre, fouveraine Staaten und vollends, che ſich 
große Staaten bilden, treten Einzelne, oder Familien, Geſchlechter oder 
Stimme, und zwar entweder noch wandernde Horden, ober fchon feſte 
Anſiedler in bloße Bündniffe, wie wir fie 3. B. auch die hebräifchen 
Patriarchen, und fo oft im Mittelaiter Einzelne und Gorporationen, 
unter dem Namen: Srieden, Bund, Conjurationen, Einis 
gung u. f. mw. fliegen fehen. Und ebenfo treten, wenn bereitö ver⸗ 
fhiedene Staaten beftehen, von biefen viele in Bundesverhältniffe. Selbſt 
in Griechenland und bei den Germanen haben überhaupt bie ers 
ſten Vereine, fofern man nicht jede einzelne Hausgenoſſenſchaft ſchon 
einen Staat nennen wollte, und jedenfalls bie erften Vereine verſchie⸗ 
dener Hausgenofienfchaften, unter einander faſt überall nur die Geſtalt 
von Bundesvereinen. Erſt fpäter bilden fich diefe zu fouverainen Staa» 
ten ; zuerft gewöhntidy zu kleinen Stamm » oder Stadt» oder Gauſtaa⸗ 
ten. Iſt aber dieſes gefchehen, alsdann treten biefe wieder unter fich 
zuerft noch in bloße Bundesvereine, fo wie früher die verfchiebenen 
hebräifhen Stämme, wie die phönicifhen Städte in der Hei⸗ 
math und in Nord afrika, wie bie griehifhen, bie alten ita⸗ 
lifhen Städte, wie die altgermanifhen Gaue, dern Bundesver⸗ 
ein untere gemeinſchaftlichem Derzog fogar früher, 5. B. im Cherus- 
ters, im Martmannens, im Alamannenbund, ja noch im 
Sahfenbund zu Carl des Großen Zeiten, nur vorübergehend 
während eines Kriegs in Wirkfamkeit traten. Auch diefe Bundesver⸗ 
eine aber, und namentlih die allmäligen Werbindungen der einzelnen 
Stämme, ganzer Nationen werden dann fpäter oft felbft wieder zu ein⸗ 

ahen Staaten, fo wie ganz Italien zulegt unter Rom, und 





Bund. 177 


wie bie verfchiebenen Feudalvereine des germaniſchen Mittelalters in 
den meiften heutigen europdifhen Nationen, bald auch zu 
großen nationalen Bundesvereinen, wie Deutfhland und Nord⸗ 
amerika, wie die Schweiz und früher Holland. jest freilich ift 
Holland, obwohl bie einzelnen Provinzen, fo wie auch die von Dans 
nover, befondere Provinzialftände. haben, dennoch ein einfacher Staat, 
weit feine Provinz, kein befonderes Glied ber Staatsverbindung Souve⸗ 
eainetät beſitzt. Auch die MWundesvereine find theils einfache, und 
diefes, wenn fo, wie jest in Deutfhland und In Norbamerita, 
und zum Theil in Sübamerita, ihre unmittelbaren Glieder nur 
einfahe Staaten (oder einzelne Samilienväter) find, theild zu ſa m⸗ 
mengefeste oder auch Oberbundeöverfaffungen, infofern ihre Glieder 
feibft wieder Bunbesvereine bilden. So vereinte der allgemeine 
Nationalbund, die allgemeinen Ampphiltyonen. der Griechen, zunaͤchſt 
wieder die befondern Bundesvereine der einzelnen Etämme, die ber 
Dorier, Ionier, Aeolier, bee Ahder, Theffalier u. f. w. 
So umfaßt auch noch jetzt eines der 22 Glieder des heutigen Schwei⸗ 
zerbundes, nämlih Graubuͤndten, als felbft wiederum ein Bundes⸗ 
verein, 26 befondere Vereinsſtaaten. Ja eine folche fiufenmweife Uns 
terordbnung und Zufammenfegung kann eine drei⸗ unb vierfache fein. 
So waren 5. B. in Theffalien die einzenen Städte, Gaue und 
Demen felbftftändig, vereinigten fidy aber wieder in einem Bundesver⸗ 
ein dee Stämme, bdiefe wiederum in dem der vier theffalifhen 
Hauptvälkerfhaften, diefe in dem allgemeinen theffalis 
{hen Bunde, der dann wieder ein, Glied des hoͤchſten griechiſchen 
Nationalvereins bildete. Noch zahllofe andere Verfchiedenheiten der Bun⸗ 
besvereine laſſen ſich denken. Es kann in den Bundesvereinen die mons 
archiſche, ariftotratifhe, demokratiſche Form, und zwar ent⸗ 
weder eine unmittelbar demokratiſche, wie in Griechenland (f. 
Achaͤer), oder die vepräfentative, wie in Amerika, vorberrfchen. 
Es können ferner bie Sthatenvereine eine ganze Nation umfaflen, wie 
die allgemeine griechiſche Amphiktyonie, oder nur einzelne Theile, 
wie der ahäifhe Bund. Es kann an der Spitze der Bundesverei⸗ 
nigung entweder bios ein gemeinfchaftlicher.. Monarch fliehen, wie in 
Defterreih und Ungarn, tie in Schweden und Norwegen, 
oder eine, durch verfchiebene Vertreter der vereinigten Staaten gebildete 
Bundesgewalt, wie in Deutfhland und dr Schweiz. Es koͤn⸗ 
nen bie Bundesflanten bald bloße Stadtſtaaten und nur Republiken 
fein, fo :wie in ben Bundesvereinen ber Alten, in den italienifhen 
und beutfhen Städtebündniffen im. Mittelalter,’ bald fo, wie in 
Norbamerikta, bloße Landesſtaaten, oder auch fo, wie in Deutfch« 
land, theils ſtaͤdtiſche Mepubliten, theils monartchiſche Staaten aller Art, 
Sie können theils felbft wieder beſondere Unterthanenländer haben, die 
entweder fo, wie jegt in Beziehung .auf Deutfchland bie außerdeutfchen 
Länder von Dänemark, von ben Niederlanden, von Defters 
reich, Preußen und England, an der Verfaſſung bes Bundeslan⸗ 


.78 Bund. 


bes und bes Bunbes felbft gar keinen, ober bo fo, wie früher“ bie Un 
terthanenländer. mehrerer Schweizercantone, nur einen fehr be 
ſchraͤnkten und mittelbaren Antheil haben. Offenbar aber noch wichti⸗ 
ger, als alle diefe Unterfchiede, find die, ob die Bundesvereine nur ein 
Buͤndniß begruͤnden, wie bie verſchiedenen Goalitionen gegen Frank⸗ 
veich, ober einen Staatenbund, wie nad) ber herrſchenden Anſicht 
jest Deutfchland, oder einen Bundesftaat, wie Nordamerika. 

Wird nun wohl, mit dem Bid auf die Natur der Sache felbft 
‚und auf die Gefchichte, Jemand leugnen wollen, baß bie Bundesver⸗ 
dhaͤltniſſe, ihre Aufgaben und ihre Verfchiedenheiten hoͤchſt wichtig find, 
wie denn auch ſchon oben (Thl. I. ©. 40 u. 85) ein vollkommenes 
Foöderativſyſtem als die hoͤchſte und reichſte politiihe Organiſation 
dargeſtellt wurde? Wird man verkennen, daß das Schickſal, die Freiheit, 
die Exiſtenz und Cultur der Voͤlker oft eben fo fehr,. und noch mehr 
von der richtigen Auffaffung und Geftaltung ihrer Bundesverhaͤltniſſe, 
als von ihren Staatsverfaffungen abhängen? Wird man leugnen, daf 
diefe richtige Auffaffung und Behandlung zufammengefester Verhaͤltniffe 
ſchwieriger, und baß zugleich die Theorie derſelben ungleich vernachlaͤſſig⸗ 
ter iſt, als die des einzelnen Staates und feiner Verfaſſung? 

. . JE Eintheilung der Bundesvereine. Für jedes gruͤndliche 
Wiſſen ift es Srundbedingung, daß man die Gegenftänbe deſſelben, ihre 
gemeinſchaftliche Natur, ihre weſentlichen Unterſchiede und ihre 2* 
denen Gättungen kenne, und daß man für biefen Zweck in einer en 
ſchoͤpfenden wichtigen Eintheilung das ganze Gebiet derſelben umfaſſe und 
überfeye. Hiermit muß baher nicht blos in der Naturlehte und Ihren 
Zrorigen, in Mineralogie, Botanik, Zoologie, fondern auch in der Polltik 
alte gründliche, wiffenfchaftliche Erkenntniß beginnen. Doch ift in ber 
Politik ſolche gründliche Eintheilung und Entwidlung ber politifchen Wer 
‚eine und ihrer verfcdyiedenen Natür, wean auch einzelne ber eilt Der 
‚Utiter, wie Ariftoteles, wie Montesquieu, eine ſolche zur Grund⸗ 
lage ihrer Soſteme zu machen ſuchten, noch gar ſehr vernachaͤſſigt, 
indem bie neueren Rechts⸗ und Gtantslehrer ſich oft zu einf uf 
die logifche Entwicklung aus rein ‚philofopbifchen Peincipien befehränfen. 
Aber feibft Ariftoteles und Montesquien beſchaͤftigen fich ‚vorzüglich 
nur mit der Natur. und der Verfchiedenheit bee Staaten, amd vVere 
nachlaͤſſigen ebenfalls die Bundesnereine, fo hoch fie auf, vorzüg« 
lich der Letztere, preift. 

' Jede gruͤndliche Sintheilung in jedem Gebiete des Willens muf 
von den Srundprindipien der Wiſſenſchaft in iheer Beziehung auf die ver⸗ 
ſchiedene Natur der. Gegenſtaͤnde ausgehen. Sie wird ſonſt zufälig und 
willkuͤrlich. So wäre z. B. in juriſtiſcher Dinficht eine Eintheilung ber 
Sachen in lebendige und todte, ober in organifche und Unorganifche ver⸗ 
kehrt, obgleich fie in Beziehung. auf ‚die Naturwiſſenſchaft hoͤchſt wichtig 
iſt. In recht licher Hinficyt muͤſſen alfo bie hoͤchſten und wefent- 
ichften Verſchiedenheiten der Bundes vereine — denn nur von die⸗ 
fen iſt hier die Rede — ausgehen von ber weſentlichen Verſchiedenheit 


x 


Bund. 79 


ber Geimbgefege ober ber Zwecke und Brumbbebingungm ber. Vereine. 
Aueh Becht und feine Verſchiedenheit entficht burch die Vereine der Men⸗ 
fen (f. Thl. I. &. 13), und der Bund ſelbſt ift feinem legten we⸗ 
ſentlichen Merkmal nad) ein Verein, ein Vertrag. 

Die erfie Dauptverfciedenheit ber Bundesvereine muß alfo eben 
fo, wie die der Staaten, von dem hoͤchſten Grundprindp oder Grund⸗ 
geſetz ausgehen, welches die an Thatkraft überwiegende Mehrheit ber 

Bereinöglieder beſtimmt. Wie für die Staaten feihft, fo werden alfo 
auch für die Bunbesvereine die Verfaſſungen, je nach der Vorherrſchaft 
"bes finnlichen egoiftifchen,, des blinden Glaubens⸗ oder des Wernunftges 
ſetes, entweder deſpotiſch ober theokratiſch, oder freiheitlich 
ſem“). Die weitere Begruͤndung und die Entwickelung dieſer Eintheilung 
muſſen wir der Lehre von ber Staatsverfaſſung uͤberlaſſen. Nur das iſt 
hier noch zu bemerken, daß es ein Hauptgrundſatz der Politik ſein muß, 
:wenigftens fo viel, als moͤglich, die bleibenden Bundesvereine zwiſchen 
Staaten von verſchiedener Geundverfafung, soife zwiſchen deſpotiſchen, theokta⸗ 
tiſchen und freien gu vermeiden, Denn entroeber wird fonft der Bund 


MRegierun 
ie es ſtets als die Grunbbebingung ihrer Eriftenz anfehen, vor 
Atem ide Grundprincip kraͤftig zu behaupten und ihm Eingang zu ver⸗ 
ſchaffen, oder fie find verloren. Bon niedern Stufen fans man, ohne 
ſich ſelbſt und feine Sriftenz aufzugeben, zu dem höheren foriſchreiten, 
nicht umgekehrt! 
Nach der Verſchiedenheit der hoͤchſten Grundprincipien if keine ans 
:bere fo weſentlich, als die nach der rechtlichen Natur, nach dem rechtli⸗ 
hen Zweck und’ nad) dem rechtlichen Grundbebingungen der Vereine. 
Nach diefer allgemeinen wefentlichen ‚Hauptabtheilung und rechtlichen und 
polfäen Verfchiedenheit (f. oben Thl. I, &. 30) find alle geſellſchaft⸗ 
chen Vereine der Einzelnen und ber Staaten unter ber Hexxſchaft des 
Rechtsgeſetzes — denn die bloßen Uebergangszuftlände ober Ausartun- 
gen bes Defpotismus und der Theokratie laffen wir" hiee zur 
Seite — entweder: 
ſtaats rechtlich md begründen gemeinſchaftliche, ober 
ſtaatsrecht liche Rechtsverhaͤltniſſe, wobei die Theilnehmer zu einem 
fouverainen Gemeinmwefen ober einer gemeinfchaftlichen moralifchen Per⸗ 
ſoͤnlichkeit vereinigt, und als Glieder derfeiben ihrem Geſammt⸗ 
willen unterworfen find. Ein folder Verein von Staaten, welche 
zu einem großen Theil ihre beſondere Sonverainerät ber Souverainctaͤt 


) Vergl. Über tie Natur und Werſchiedenheit der Stuate und ihnr 
Berfaffungen, 8. Th. Welcker's Syſtem LI, 5. 9. ©. 322 ff. 


00 Bund. 


bes Gemeinweſens geopfert haben, heißt en Bundes⸗ ober auch ein 
Voͤlker⸗, oder ein Staaten⸗Staat, ein Reich im ältern Sinne. 
Oder es find bie Wereine: 

nur privatrechtlich — und biefeß heißt in ber Anwendung auf 
abgefondert nebeneinander ſtehende Volker: rein voͤlkerrechtlich — 
und begruͤnden bloße Sonder⸗ ober Privatrechtsverhaͤltniſſe, 
wobei die Theilnehmer nur als abgeſonderte, ſelbſtſtaͤndige 
Rechtsſubjecte ober Perſonen gegenüberftchen. Solchergeſtalt vers 
bündete Staaten, welche ihre Souverainetaͤt in allem Weſentlichen be⸗ 
haupten, bilden die blos völkerrehtlihen Bundesvereine. Dieſe 
ſelbſt aber begruͤnden wiederum entweder: 

einen Staatenbund, in welchem mehrere ſouveraine Gtoaten 
einen Inbegriff ihrer äußeren Souverainetätstechte gemeinſchaft⸗ 
lich oder zum Miteigenehum maden. Ober fie bilden: 

ein bloßes Staatenbändniß, oder eine Alliance, works 
mehrere fouveraine Staaten buch obligationenrehtlihen So⸗ 
cietätsvertrag zu beflimmten Vertragsleiltungen fich verpflichten. 

Schon aus diefer Bezeichnung ergibt fich, daß die verfchiedenen Rechts⸗ 
verhältniffe diefer drei Gattungen der Staatenvereine, oder daß ſich 1) bee 
Bundesflaat, 2) dee Staatenbund, und 3) das Staaten» 
bundniß auf zwiefache Weiſe wefentlich unterfcheiben. - 

Zunaͤchſt — und dieſes iſt für Nichtjuriften bie Hanptfache — uns 
terfcheiden fie fi nach den Hauptfeiten oder Hauptkreiſen aller ges 
feufchaftlichen Verhaͤltniſſe, indem. nämlid der .Bundesfttaat bem 
. Staatsreht, dagegen dee Staatenbund und das Staaten» 
bündnig dem Völkerrecht angehören. 

- Alle drei Vereine unterfcheiden fich zugleich nach ber ˖ verfchiebenen 
rechtlichen Natur ber dreifachen Hauptverhättniffe ober Haupttheile 
alles Rechts in jedem Rechtskreiſe, tie fie die tiefe roͤmiſche * 
prudenz ebenſo fuͤr den Rechtskreis des Staats⸗ und Voͤlkerrechts, wie 
für den des Privatrechts aufflellte. Alle Rechte find nämlich entweder: 

1) privats und oͤffentliche Perſoͤnlichkeits⸗ (ober Sta⸗ 
tus⸗) oder Verfaſſungsrechte; oder: 

2) Sachen⸗ oder reale Herrſchaftſrechte; oder: 

8) Perkehr⸗s⸗ (oder Obligationen⸗) oder Bermaltungss 
rechte“ 

Der Bundesſtaat hat nur, wie ſich ergeben wird, ſtaatsrecht⸗ 
lichen und perſonente chtlichen, der dee Stastenbund völfer. 


9 Vergl. oben SH. J. S. 80, und C. Th. Weider's Syſtem 1,. 
47— 51. Hier find auch die drei hochſten Rechtsprincipien für \ 
drei helle ach emisfen, nei 1) dad eines ſteten, würdigen und freien 
Lebens für die perſonenrechtlichen Berhältniffe, 2) vas der Bevakrun, dee der 
Gleichheit und gleichen Unverleglichkeit für die realen Rechtsverhältniffe, und 
—8 der treuen Erfullung der einzelnen Berpflichtungen für tie Verkehrs⸗ 
rechte. 





’ 
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. 
⸗ 


Bund. 81 


rechtlichen und zunaͤchſt realen, und das Staatenbuͤndniß voͤl⸗ 
kerrechtlichen und blos obligationenrechtlichen Charakter. 


Es ſollen nur dieſe drei Hauptgattungen ber Staatenver⸗ 
eine nach ihren verſchiedenen weſentlichen Merkmalen und Rechtsverhaͤlt⸗ 
— welche zugleich die Hauptgeſetze ihrer Politik und die Grenzen ih⸗ 

Gewalt beſtimmen, genauer betrachtet werden. Hieran knuͤpft ſich 
2 leicht das Noͤthige zur Prüfung ber von Andern bisher aufges 
ſtellten, zum Theil abweichenden, Eintheilungen und Syſteme der Bun⸗ 


III. Fortfegung und zugleih Däarftellung ber wefent- 

lichſten Aufgaben für die verfhiedenen Staatenvereine. 
A. Der Bundesftaat. Als bie weſentlichſte Aufgabe auch eines je⸗ 
den Bundesvereins darf es unftreitig betrachtet werben, daß er feinem 
Grundcharakter, daß er ſich felbft trew und confequent bleibe und ſich 
harmoniſch auszubilden fuhe. Er darf nicht irre und wirre hin und 
ber ſchwanken, Widerſtreitendes in ſich aufnehmen, und fo entweder 
Kraftiofigkeit und Auflöfung, oder Unterdridung und Revolution herbeis 
führen. Daher eben find die folgeridytigen Charaktere ber Vereine nach 
der Natur derfelben zugleich die richtigen Anforberungen für ihre Bes 
handlung ober für ihre Politik. 


Zur beſſern Veranfchaulihung der Natur des Bundesſtaats bes 
ziehen wir uns auf die obige Darftelung ber merkwürdigen griechi⸗ 
Then Bundesverfaffungen (f. Thl. I. ©. 185). Freilich erhielten bie 
meiften griehifchen Bundesſtaaten nie ihre gentigende Ausbildung, 
eben fo wenig, als die Schweiz, obgleich auch diefe dem Wefen nad 
ein Bundesftaat ift*). Ebenſo verweifen wir auf die Einrichtungen ber 
beutfhen Reihsverfaffung, die zu ihrem Unglüd freilich leider 
auch einigen ber wichtigften Gefege des Bundesſtaats nicht treu blieb. 
Vorzugsweiſe aber werden die Bundeseinrihtungen von Nordamerika 
das Weſen des Bunbesftaats veranfhaulihen. In Beziehung auf 
fie dürfen wir nämlich, der vielfeitigften Zuftimmung gewiß, unfere fruͤ⸗ 
here Meinungsäußerung wiederholen: „Bon alm Bundesftaatsvers 
faffungen der Welt war wohl nie eine vollfommener und naturges 
mäßer, beffer abgewogen und genauer den hoͤchſten Grundfägen und 
wichtigften Bebürfniffen entfprehend, als die nordamerilanifche es 
jegt ift, ſeitdem nämlich die ungiüdtichften Folgen die Mangelhaftigkeit 
des bloßen Staatenbundes von 1776 enthüllten, fo daß derſelbe 
buch die Conftitution der vereinigten Staaten vom 17. 


2) 6. Th. Welder, über Bundebverfaſſung und Bundes⸗ 
veform, über Bildung und Grenzen der Bundesgewalt, Gtutts 
1834, ©. 25. Aus diefer Schrift entlehne Ich bier Einzelnes. Eine Bers 
gieihung des Ganzen aber wird Jedem zeigen, daß fortgefegtes Studium über 
den ſchwierigen Segenfiand mich zu weſentlichen Verbeſſerungen der 
hern Darſtellung führt 
Staats⸗kexikon. * —6 


872 Bund. 


Septbr. 1787 in einen wirkfidien Bundesftaat umgewandelt wurbe *). 
Ein halbes Jahrhundert hat diefe Bunbesverfaffung nun unausgefegt in 
der Erfahrung diefe feltene Vortrefflichkeit bewährt, die höchfte und ſchwie⸗ 
rigfte Aufgabe des Bundesftaates gelöft. Mit der größten Freiheit unb 
freien befondern Entwidelung und Bewegung ber einzelnen Bürger und 
der einzelnen Bereinsftaaten hat fie die ftärkfte und Eräftigfte allgemeine 
nationale Vereinigung und Staatseinheit und Staatsmacht perbunden, 
und hierdurch ohne blutige Eroberungen einen von Jahr zu Jahr immer 
groͤßern Fortfchritt an Wohlſtand und Eultur begründet, fo wie es bis⸗ 
ber nur in den Idealen der Philofophen möglich ſchien. Und gewiß, 
man muß bei fo vielen Keimen und Beranlaffungen zu Störungen und 
Hemmungen, bei fo vielen Gefahren und Schwierigkeiten, wie fie wahrs 
lich auch dort fi finden, das Hauptverdienft dieſes bewundernswuͤrdigen 
Refultats in der Vortrefflichkeit der Verfaſſung fuchen, nicht in bloßen 
äußern Zufälligkeiten. Das Letzte thun freilich ſolche fophiftifche Knecht⸗ 
fhaftsapoftel, welche den Freiheitöfreunden bei der Hinmweifung auf Engs 
land entgegnen: ja dort Bönne die Freiheit nur beitehen wegen ber 
Inſellage, bei Berufung auf die mitten zwifchen vielen großen und klei⸗ 
nen Staaten gelegene Schweiz aber, bier biefelbe für ein Probuct ber 
Berge erklären, und wenn man an die Ditmarfen und Hollänber 
erinnert, ihren Grund aledann in bee Ebene und in den Niederungen 
fuhen. Nur ein großes Gebrechen muß allerdings der Freund ber 
Greiheit und ber fortfchreitenden Menfchheit bei aller Bewunderung ber 
nordamerilanifhen Bundesverfaffung, wenn auchmit Schmerz, 
doch offen anerkennen. Es befteht darin, daß durch die deſpotiſche 
Negerſklaverei in einem großen Xheile der einzelnen Freiſtaaten jener oben 
aufgeftellte Hauptgrundſatz verlegt, und neben das Princip vernunftrechts 
licher Freiheit und feine freien gefellfchaftlihen MWerhäitniffe bie des 
Defpotismus und Egoismus geftellt find. Wenn freilich in diefem bes 
reits auf fo gefahrdrohende Meife fühlbar gewordenen unvereinbaren Wis 
derfprudy nicht das fittliche Princip der vernunftrechtlihen Freiheit das 
entgegengefegte befiegte und ausftieße, alsdann müßte unvermeidlich fo, 
wie einft bei dem römifchen Reich, welches nad) taufendjähriger ſcheußli⸗ 
her Sklaverei auch der Bürger endlich völlig zerftört wurde, das boͤſe 
Princip täglih mehr fein Gift und feine Herrfchaft verbreiten, unb 
zwar um fo mehr, dba, wenn auch Vielen vielleicht dadurch die Sklaverei 
in Amerifa als weniger ſcheußlich erfcheinen follte, daß fie nicht die Glie⸗ 
ber ſchon gebildeter Voͤlker, fondern ungluͤckliche Neger trifft, biefelbe den⸗ 
noch der Hauptfache nach ohne allen Vergleich verbrecherifcher, alfo auch 
für die Freien moraliſch vergiftender ift, als die Sklaverei im Alterthum. 


*) Hamilton fagt im Foderaliſt von der früheren Zelt des bloßen 
Gtaatenbundes: „Man fann mit Recht behaupten, daf die vereinigten 
Staaten den tiefiten Grad der politifchen Srniedrigung erreicht haben. Alles, 
was den Stolz eines Volkes beleidigen oder feinen Charakter herabwürdigen 
tann, haben wir erfahren.‘ 


Bund. 83 


Dide Tann ſogar unfhuldig genannt werden, im Vergleich mit der nord» 
amerilanifhen. Die Alten hatten fo, wie ihre Sklaven felbft, feine Er: 
Benntniß des Unrechts der Sklaverei, des gänzlichen Widerſpruchs derſel⸗ 
ben mit ihrer Religion und mit ihren befhmwormen hoͤchſten Rechts: 
und Verfaffungsgrundfägen, eben fo wenig als von ber Möglichkeit eines 
Beſtehens freier cultivirter Staaten ohne Sklaverei. Sie ſuchten daher 
auch nicht planmäßig die Sklayen duch eine mehr als barbariſche Vers 
binderung aller religiöfen, moralifhen und intellectuellen Mittheitung und 
Cultur unter das Vieh herabzumürdigen. Daß dieſes Alles in Bezie⸗ 
bung auf die nordamerikanifche Sklaverei gerabezu entgegengefest ift, bat 
ein großer Theil der norbamerifanifhen Staaten bei ihrem Verbot der 
Sklaverei oder ihren Vorbereitungen zu gänzlicher Aufhebung, biefes has 
ben fo viele Staatsmaͤnner Nordamerikas, welhe mit Sefferfon die 
Sklaverei, die Schmady und die Peft ihrer Nation nannten, offen an⸗ 
erfannt. Mittelbar enthält auch felbft die Bundesgefeggebung ähnliche 
ehrenvolle Zugeftändniffe in ihren Maßregeln zur Verminderung und ges 
gen eine weitere Ausdehnung der Negerftlaverei in Staaten, mo fie noch 
nicht ift (3. B. Sefes vom 6. Mat 1820), und insbefondere auch in 
ihrem Verbot neuer Einführung von Negerſklaven (Geſetz vom 1. Ian. 
1808), in ihrem Anfchluß endlic an die Bekämpfung des Negerhanbebs 
von Gelten aller gefiteten chriftlihen Nationen (Genter Vertrag, 
Art. 10). Und nur diefelbe, Neligion und Recht verleugnende unwuͤt⸗ 
dige Sophiſtik einiger bdeutfchen und namentlich auch einiger hegeli⸗ 
{den Schriftſteller, die zwar meiſt die amerifanifche Freiheit und ihren 
Ruhm Haffen, aber zur Vertheidigung. jeder defpotifhen Beſtrebung Im 
Vaterlande fih und die Wiffenfchaft herabwuͤrdigen, madyen, zur Schande 
des beutfchen Namens, die Anwälte des fchmälichen Eigennuges ameri⸗ 
kaniſcher Plantagendeſiber. Aber man muͤßte allen Glauben an die Kraft 
der chriſtlichen Religion und der von der gebildeten Welt anerkannten 
Rechtsgrundſaͤtze und an eine ſo tuͤchtige Verfaſſungseinrichtung und Na⸗ 
tionalkraft, wie die nordamerikaniſche, aufgeben, wenn man nicht hoffen 
wollte, die bereits fo bedeutende Minorität des amerikaniſchen Congreffes, 
welche fchon in biefem Jahre für die Aufhebung aller Negerſklaverei 
flimmte, werde noch ungleich ſchneller, als einft dee unfterblihe Wilbers 
force mit feiner zuerft viel geringern Minorität im englifhen Parlas . 
mente, zur fiegreichen Majorität werden. Dann werden jene zahlreichen 
Feinde der Freiheit und WVerächter der Nc:damerikaner verftummen müf: 
fen, welche neulich nicht müde wurden, laut ihren Jubel auszufprechen, 
als jene bedauernerohrdigen Erfcheinungen im Streit über die Sklaven» 
emancipation den Glanz der norbamerifanifhen Ehre und Freiheit trüb: 
ten. Der Sieg wird errungen toerden, durch bie Vaterlandes und Chr: 
liebe, durch bie Energie und die Freiheitsmittel der norbamerikanifchen 
Buͤrger. Man wird alsdann nicht durdy eine für die Neger felbft ver 
berbliche, rohe Gewalt, fondern auf gefeglihem Wege diefe legte —* 
verei in civiliſirten Staaten aufheben, welche, fo lange fie beſteht, ein 

Brandmal der Nation, ein Grund der Schaam und eine Senkung für 


84 Bund. 


jeden ehrliebenden und gebildeten Amerikaner, ber Trlumph fr 
die‘ —5* von ihnen und von ihrer Freiheit, ein täglich tiefer freſſender 

(haben für ihr Waterland und feine fonft fo großartige Verfaſ⸗ 

ung ift*). Mehr als alles Andere wich bie — der Stiavenftage 

bie Dauer ber amerikaniſchen Freiheit, uͤber den Werth, bes ame⸗ 
2 Volkes entſcheiden. 

Der rechtliche Grundcharakter bes Bundesſtaates aber, 
ober bes ſtaats⸗ und perſonen⸗ ober verfaſſungsrechtlichen 
Staatenvereins befteht nach dem Obigen (II.) darin, daß in ibm mehe 
rere unvollkommene fouveraine Staaten und Regierungen, zu einer wah⸗ 
ven moralifchen Perfönlicleit ober Univerfitas, und zwar zu eis 
ner ſtaatsrechtlhichen oder zw einer gemeinfchaftlichen hoͤhern Staates 
verfaffung vereinigt unb ihe untergeordnet find. Im biefer fels 
ner rechtlichen Natur find nun folgende befondere Mertmale und For 
derungen begruͤndet, beren vollfommenere ober mangelhaftere Werwicke 
lichung man leicht als die Grundlage bee Kraft ober bes Verfalls ber 
Bunbesftaaten audy in bee Gefchichte erkennen wird: 

1) Der Zweck, buch welchen und für weichen ſich mehrere beſon⸗ 
dere Staaten einem böhern Sefammteftaate unterorbnen, ohne body zu⸗ 
. gleidy ihre befondere Eriftenz und Souverainetät gänzlich aufzugeben, kann 
vernünftigerweife gar Bein anderer fein, als einestheils der Graatk 
zweck oder der Nationalzwed ſelbſt. Es ift der umfaſſende, biels 
bende Menſchheitszweck der Nation, oder bie dem gefellfchaftlichen Ver⸗ 
foffungsgefeg entſprechende rechtliche Schügung und Förderung ihres Ge⸗ 
ſammtzwecks (f. oben Th. I, S. 11). Dieſer Zweck ift jebodh ande» 
rerſeits nur infoweit Bundeszweck, als befien Körberung und 
nicht genügend ſchon von ben befondern Staaten bewirkt werden kann. Mur 
inſoweit dieſes nicht ber Fall ift, fol ber Bunbdesftaat für die einjelnen, 
in befondere Staaten getheilten Stämme Einer Nation baffelbe fein, was 
dee Staat für bie einzelnen Familien if. Eine Beſchraͤnkung ber ein⸗ 
zelnen Staaten durch die Bundesgewalt wirb nur infoweit anerkannt, iſt 
nur inſoweit vernünftig. Infoweit aber bezieht fi) dee Bundeszweck, außer 
ber inneren und Auferen Sicherung bes Vereins unb als 
lee Vereinsſtaaten, aud auf das Geſammtwohl ber Nation. 
Diefes erfannten die griehifchen Bundesvereine an (oben I. S. 195). 
Es erkennt es au die nordameritanifche Bundesverfaſſung an, 
indem fie ſchon an dee Spige ber Unionsurfunde außer der innern und 


*) Jefferson, notes sur la Virginie p. 214. fagt fehr fchön über bie 
faſt höhnifche Wernichtung jener ame nifhen Verfaflungsprincipien von ans 
geborenen Drenfchentechten durch die Sklaverei: „Wie kann die geghen eine 
„Stätte „frden in diefem Sande, wenn die einzige fefte Grundlage 
„fie begründet werden muß, zerftört wird, nämlich die —— feſte 
„Meberzeugung, daß die Freiheit ein Gefchent von Gott ft w Hiemand 
DE Kann, ohne fi feinem Zorn auszufegen. Ich aiftere Air * ac Bas 





Ä Bund. 85 
äußern Sicherheit auch. ben Zweck aufſtellt: „Die Gerechtigkeit zu befe⸗ 
„Risen, bie allgemeine Wohlfahrt zu förden und uns, gr, wie 
wunfen Nachkommen, den Segen der Freiheit zu erhalten”, indem em fe 
es : B. ebenfalls. ausdruͤcklich als Aufgabe ber N Bunbesgewalt erfiätt 

das Aufdiühen der Wiſſenſchaft zu befördern,” indem fie ferner durch 
ibee wichtigſten Beſtimmungen über eine ganze Beibe Innerer Verhaͤlt⸗ 
niffe, z. B. über die Rechte ber Schriftficher, über Handel, Muͤnz⸗ und 

Doftwefen, Maaß und Gewicht, Notariat, Criminalgerichte, Preffreibett, 
Beligiondfreiheit u. f. w., biefem Endzweck entſpricht (Confl. Art. J. IV. 
und ber Anhang). 

2) Der Bundesſtaat begrimbet zur Verwirklichung des bier als 
Vereinsgeſetz anerkannten nicht blos dußerlihen, ondern moralifchen 
und innerlichen (oder nationalen) hoͤchſten Zwecks und Lebensgeſetzes 
und als eine moraliſch⸗perſoͤnliche Einheit der verſchiedenen Staa⸗ 
ten eine innerliche und aͤußerliche Vereinigung aller Bun: 
Desglieder zu.einem wahren und zugleih zu einem fon: 
verainen Gemeinweſen. Diefes felbft aber begruͤndet als folches 


A) eine allgemeine und abfolute Gültigkeit dee Stimmen: 
* om t in allen gemeinfchaftlichen Angelegenheiten, auch ſelbſt den 


Einen nicht blos nad) Außen, fondern auch als oberherriiche 
ober es Regierungsgewalt nah Innen, gegen bie Bundesre⸗ 
gierungen gültigen fouverainen Gefammtwillen zur Verwirku⸗ 
hung jenes Zwecks. Solche Einheit, folder Geſammtwille und ſolche 
Gewalt verwirklichen ſich aber ihrer Natur nach a) durch eine wahre 
gefeggebende und b) eine richterliche Gewalt und o) durch eine 
vollziehende, alfo nicht blos eine Kriegs⸗, fondern eine organifirte 
gefeptide Zwangsgewalt des Bundes für feinen umfaflenden Zweck. 
| Eine ſolche Gewalt aber begründet eine wahre Gehorſams⸗ 

oder —— — icht aller Bundesregierungen und mithin: 

D) eine wefentliche nicht bloß reale, fondern perfönliche Bes 
fdränktung ihrer Souverainetät. 

In Nordamerika ift alles biefed anerkannt, ebenfo, wie früher 
in den griehifchen Bundesverfaffungen, im deu tſchen Reid und 
in ber Schweiz. 

Sn Amerito namentlich ift, als ſich von 1a verfichend, fer 
alle Bundesbeſchluͤſſe, felbft für die über Abänderung ber Werfaffung, die 
Stimmenmehrheit der Bundesglieber und ihrer "Organe anerkannt). 

Durch fie und den hoͤchſten grundgefeslichen Zweck entſtehen bier 
wahre anerfannte fouveraine Geſe be, nicht blos voͤlkerrechtliche Bun⸗ 
Desverträge. Dieſes iſt's, was bie amerikaniſchen Publiciſten, neuer⸗ 
lich namentlich auch Story, als einen weſentlichen Grundcharakter des 
amerikaniſchen Bundesſtaats hervorhoben. 


*) Rordameritan. Conſtit. I. u. IV. V. VI. 


86 Bund. 


Auch haben in Amerika viele in allen Bundesſtaaten geſetzlich und 


bleibend errichtete Bundesgerihtshäfe und in höchfter Inſtanz ein 
eben ſolches höchftes Bundesgericht wegen jeder Verlegung irgend eines 
Bundesgefeges von Seiten Einzelner oder ber Behörben. eines einzelnen, 
Staates, ferner in allen Sachen, wo der Bund als Kläger oder Beklag⸗ 
ter auftritt, in allen Gtreitigleiten dee Bundesſtaaten untereinander ober. 
mit fremden Staaten und in beftimmten Streitigkeiten der Bürger u. ſ. w. 


eine ausfchließliche, in allen Straffachen ohne Ausnahme aber eine - 


mit den Bereinsftaaten concurrirende gefesliheRichtergemwalt"). 

Auf gleihe Weife hat die nordamerilanifche Bundesregierung eine 
völlig felbftftändige fouveraine Vollziehungs: und Zwangsgemwalt. 
Sie hebt unmittelbar die nöthigen Truppen ſelbſt aus, rüftet und bildet 
fie zu einer ihr allein unterworfenen Land» und Seemacht und befebligt. 
fie allein, ohne daß ſelbſt die einzelnen Staaten eine ſtehende Kriegs⸗ 
macht oder auch nur ein Kriegsſchiff befigen dürften. Sie hat das 
Recht, bie Bürgerfoldaten in jedem Staate, welde allein gegen 
Bürger gebraucht werben bürfen, zur Vollziehung aufzubieten. Sie 
ſchreibt aus, erhebt und verwaltet ebenſo alle für die Bundeszwecke noͤ⸗ 
thigen Steuern und ernennt und befehligt alle ihr noͤthigen Vollziehungs⸗ 
beamten **). 

So begründet denn ber norbamerilanifhe Bundesſtaat für feinen: 
umfaffenden Zwed und ben dadurch beftimmten Inbegriff ins 


nerer und aͤußerer Regierungsrechte eine, wenn auch beſchraͤnkte, 


dach wirkliche ſouveraine Oberregierungsgemalt über das 
ganze Bunbesgebiet, allgemeine Gehorfams= und Unterthbanens 
pflicht für die Negierungen und Bürger und eine große Beſchraͤnkung 
felbft der perfönlihen Souverainetät ber erftern, fo daß diefel- 
ben nie unbefchränft „fouverain” genannt oder gar die Bewahrung „ihr 
rec Souverainetät‘ als Bundeszwed erklärt werden könnte. Diefes 
fiel auch den Grundgefegen der griechifchen, fehmeizerifchen uhb nordame⸗ 
tifanifhen Bundesſtaaten niemals ein; eben fo wenig denen des frühes. 
ven beutfchen Reiches. Doc, wurden bie deutſchen Reichsgeſetze zu gro⸗ 
ßem Ungluͤck Deutſchlands in diefer Beziehung fpäter immer fehlerhafter. 


3) Der Bundesftaat begründet nad) Zweck und Grundgefeg gleich 


jebem Gtaatöverein und jedem perfonenrechtlihen oder Statusvers ' 


haͤltniß nicht blos einzelne beflimmte vorlbergehende Obligations⸗ oder 
Bertragsverbindlichkeiten, er begründet vielmehr ähnlich, wie 3. B. auch 
das elterlihe, kindliche oder eheliche WVerhältniß, einen zum Voraus 
nie im Einzelnen erfhöpfend zu beftimmenden Inbegriff 
mahrer Statusrehte und Pflihten, welhe, wie aud bie im 
Privatrecht, z. DB. die ber Perfönlichkeit, der, Ehre, der Familie, ſtets 
auch das Innere ber Geſellſchaftsglieder, alfo hier weſent lich auch 


*) Conſtitut, ber vereinigten Stauten, IH. 
»2) Gonftitut. 1, 8. 


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Bund. | 87 


die Inneren , flaatsrechtlichen Verhaͤltniſſe mitbefaffen, und wobei bie 
Rechte zu naͤchſt aus den Pflichten fich ableiten, nicht umgekehrt. 


Hierburdy aber iſt nun noch keineswegs eine grenzenlofe, un« 
beſchraͤnkte Bundesgewalt über die Innern Verhaͤltniſſe der Vereins: 
ſtaaten begründet. Diefe würde ja Defpotismus und Vernichtung alles 
Rechts und jeder Seibftftändigkeit der Vereinsſtaaten, alfo zugleich Vers 
nidhtung aller Mechtlichkeit, wie ber ganzen Natur des Bundesſtaats 
fetbft begründen. So, wie vielmehr im Recht eine jede Gewalt, fo ift 
vollends auch alle rechtliche Oberregierungsgemwalt im Bundesſtaate bes 
grenzt. Sie ift es theils duch die allgemeine Natur des 
Rechtsgeſetzes, theils durch die befondere Begründung unb bie 
befonbere rechtliche Natur des Bundesſtaates. Sie iſt begrenzt, eines⸗ 
theils durch die Natur des gefellfchaftlichen Rechtsgrundgeſetzes, mithin 
buch bie allgemeine rechtliche Freiheit aller Geſellſchaftsglieder. 
Nah ihre erkannte z. DB. im beutfhen Reihe ber Kaifer Leopold I. 
feierlich an, er dürfe nimmermehr zu einem Gefeg eintoilligen, welches 
den deutfhen Bürgern das grundverfaffungsmäßige Recht der Steuerber 
willigung verlegte. Anderntheits aber ift fie auch noch, abgefehen von 
individuellen Gonftitutionsbeftimmungen, beſchraͤnkt durch die rechtliche 
Natur des aus freien Einzelftasten zufammengefegten 
Bunbesftaats und duch feinen Zweck, die nationale Gefammtauf: 
gabe nur in ſoweit zu fördern, als dazu bie iſolirte Wirkſamkeit ber 
einzelnen Regierungen grundvertragemäßig als unzureichend anerkannt 
wird. Darf ja doch aud der freie oder rechtliche einfahe Staat 
die rechtliche Freiheit feiner Glieder nicht verlegen, und biefelbe auch 
durchaus nicht meiter befchränten, als fie diefelde Im freien Grundver- 
trage nach dem allgemeinen Mechtsgefeg ober durch befondere Vertrags: 
beftimmungen beſchraͤnkt haben, oder noch außerdem durch neue Einmil 
ligungen, 3. B. Steuerbemilligungen, in einzelnen Beziehungen felbft bes 
ſchraͤnken. Es darf alfo dieſes noch weniger ein Bundesſtaat thun. 
Ja die Regel wird fo, mie es im freien nordamerilanifhen Bundes» 
ftaat ebenfalls anerkannt ift, die rechtliche Freiheit, die der 
Einzelnen und die Seipftftändigkeit der einzelnen Bun—⸗ 
besftaaten bilden. Die rehtlihe Vermuthung wird alfo im 
Allgemeinen für fie, ſie wird für die Freiheit flreiten. Diefes ift in 
Beziehung auf die Eeibfiftändigkeit der Bundesftaaten um fo natürlicher, 
da ja auch ſchon nach dem Endzwed des Bundesftaates die Bundesges 
walt, keineswegs wie Drefch*) behauptet, ſich über Alles erſtreckt, 
fo daß der befondern Regierungsgewalt des einzelnen Vereinsſtaats nur 
das und fo viel zuftehe, als ihe jene übrig zu laffen für gut finde. 
Vielmehr fol ja umgekehrt die Bundesgewalt nur alsdann und In ben 
Beziehungen eintreten, in welchen nad) Anerkennung bes Bundespertrags 


*) Deffentlihes Recht des deutfhen Bundes, S. 2. 


68 Bund. 


die einzelnen Regierungen nicht völlig ausreichen, In welchen alfo fie im 
diefem Sinne Etwas übrig laffen. Aber in Beziehung auf diefe Ver⸗ 
hältniffe und den unendlichen Geſammtzweck, ber in ihnen verwirklicht 
werden foll, begründet freilich der Bundesflaat nicht blos einige einzelne 
genau zum Voraus beftimmte Befugniffe, fondern ganze Claſſen und 
ganze Snbegriffe von Rechten für die Bundesgewalt. So 5. B. In Bes 
ziehung auf die auswärtigen Verhältniffe oder die fogenannten aͤußeren 
Hoheitörechte, wobei es dem Bundesſtaat fogar natuͤrlich iſt, bag bie 
Bundesgemwalt fo, wie die norbamerifanifche, biefelben ganz übernimmt. 
So ferner in Beziehung auf eine, in böherer Inftanz aussuübenbe, 
Sörderung aller nad) der Natur der Sache oder nach der Beſtimmung 
des Bundesvertrags der gemeinſchaftlichen höhern Leitung bebürftis 
gen inneren Staatszwecke, wie 3. B. in Amerika, der Wiffenfchaften, 
ber Suftiz oder des dem Bund fogar allein überlaffenen Pol» und 
Muͤnzweſens. So vollends endlich in Beziehung auf die Bewirtung 
freiwilliger Vereinbarungen für manche nicht der Freiheit der einzelnen 
lieder entzogenen, aber in befondern Faͤllen der Wirkſamkeit des Bun⸗ 
des oder des gemeinfchaftlichen Zuſammenwirkens bebinftigen Angelegens 
beiten. Solche Inbegriffe von Bundesrechten erkennt ausdruͤcklich und 
in ber Ausübung überall auch das nordamerikanifhe Bundesrecht am, 
trog jener erwähnten Rechtsvermuthung, die in dem eben entwidelten 
Sinne, aus der Achtung der Freiheit der Bürger und der Einzelſtaaten 
fließt, aus Achtung der Natur, wie ber gefchriebenen Gonftitution bes 
Bundesftaates, aus Achtung insbeſondere auch ber in Amerika anerfanne 
ten unbefchränften demokratiſchen Souverainetät des Volks, deffen bloße 
belegirte und ſtets verantwortliche Diener und Mandatare alle Regie⸗ 
sungsbehörden des Bundes wie der einzelnen Staaten find. Go in dies. 
fem Einne erktärt denn der 12. Artikel des Anhangs der Conſti⸗ 
tution: ‚Die Rechte, welche bie Gonftitution den vereinigten Staaten 
„nicht überträgt, oder die fie den befondern Staaten nicht unterfagt, 
„find diefen refpectiven Staaten oder dem Wolke vorbehalten.” Noch 
die diesjährige Botſchaft des Präfidenten erklaͤtt diefe Beſtimmung zus 
nächft durch die Achtung der Freiheit und der Wolksfouverainetät. Sie 
erkiärt ferner den darin enthaltenen Grundſatz als eben fo gut für die 
Regierungen der einzelnen Staaten, wie für die des Bundes gültig *). 
Man darf alfo daraus nicht mit Manchen gegen den ftaatsrechtlis 
hen Charakter der nordamerifanifhen Union Folgerungen ableiten wollen. 

4) Die Bunbesftaaten find ihrer Natur nad Nationalvereine 
und begründen Ein gemeinfhaftlihes Vaterland, welchens 
Megierungen und Bürger angehören und untergeorbnet find. Sie gingen 
entweder fo, wie das beutfche Reich, ſchon urfprünglich hervor aus ber 
nationalen Uebereinflimmung der ganzen Nation in dem Grundgeſetz und 
in der Grundform des menfchlihen Seins, und aus dem Nationalbes 


*) Vergl. auch Mohl, Bundesflaatsr.:v. Nordamerifa. ©. 
134, 133. 


Bund. 89 


dürfniß einer Ihnen entfprechenben gemeinſchaftllchen Entwickelung und 
Vervolſkommnung. Oder fie fireben doch nothiwendig nad) dieſer natio⸗ 
malen Vereinigung. Sie ftreben theils nämlich, wenn fie früher nur ei⸗ 
en Theil der Nation umfaflen, nad) Vereinigung aller ihrer Theile, wie 
wie es in Phönizien, Griechenland, Italien, unter der Herr 
ſchaft Roms, und früher in Deutfchland fahen. Theile, wenn fie 
fo, wie die Schweiz und felbft das beutfhe Reich und Nord» 
amerika verfchiedene nationele Beſtandtheile in fich einigen, fo fireben 
fie nach immer volltommenerer gemeinfchaftlicher nationeller Entwidelung. 
Es iſt dieſes Streben ſchon nothwendig, um die Widerfprüche zwiſchen 
ben umfaffenden, in das ganze innere und dufere Leben eingreifenden 
beiderſeits fouverainen Geſetzen ſowohl des Bundes, als des National⸗ 
lebens auszugleichen. Es iſt auch nothwendig, um dem Bund für feine 
umfaffende Aufgabe, die nothwendige innere Einheit, Kraft und Dauer 
zu begründen. | 

5) Der Bundesftaat iſt fo, wie die griehifchen und dee nord» 
amerikaniſche und fowie, freilich leider unvoliftändiger, das ehemalige 
Deutfhe Reich und die Schweiz, ein unmittelbarer Verein 
aud aller Bürger und mit benfelben. Er begründet alfo für 
fie ein wahres nationales oder Bundesbärgerreht neben 
dem Landesbürgerreht. Der Bundesſtaat ift nicht, fowie in neuerer 
Zeit immer volftändiger der deutfhe Bund, blos ein Verein ber Regie⸗ 
ungen. Die Bürger find durch das gemeinfchaftliche nationale Lebens⸗ 
gefeg und für baffelbe verbunden. Ihre unmittelbare Theilnahme an ber 
Nationalvereinigung ift fogar der Regel nach Älter als die jegigen beſon⸗ 
deren Staaten und Regierung. Die Bundeszwede und Bundespflich⸗ 
ten und Rechte betreffen fie nach dem ſchon Entwidelten unmittelbar, 
fo daB aud in Nordamerika wie im bdeutfhen Reich die Bundesges 
feße ohne befondere Aufnahme und Publication im Lande 
von felbft und als Bunbdesgefege die Bürger verpflihten, unb alle 
entgegenftehenden Randesgefege von felbft (ipso jure) uns 
gültig find. Und da, fofern die Bürger Überhaupt rechtliche Freiheit 
haben, ihre freie Mitwirkung und ihr Stimmredt auf alle 
wichtigen inneren Gefellfchaftsverhättniffe begründet ift, fo muͤſſen dieſel⸗ 
ben audy unmittelbar in Beziehung auf die fo unendlich wichtigen, 
überall eingreifenden Verhaͤltniſſe des Bundesſtaates und der Bunbesres 
gierung anerkannt fein; fonft würbe zugleich mit der rechtlichen Frei⸗ 
beit dem Bunde auch alle wahre innere Lebenseinheit und Kraft ents 
ſchwinden. So ift alfo für Gründung und Aenderung des Vereins und 
feinee Grundgefege, überhaupt für die Beftimmungen über ihren verfaſ⸗ 
fungsmäßigen Rechtszuſtand, der Bürger oder der Mation unmittelbare 
Mitfprahe und Mitwirkung, duch die Deffentlichkeit der Bundesverhaͤlt⸗ 
niffe und Verhandlungen und durch Preffreiheit über. fie, durch Peti⸗ 
tionen an den Bund, durch Recht der activen und pafliven Wahl bei 
Bundesbehörden u. ſ. w. durchaus nothwendig. 


90 Bund. 


6) Insbeſondere aber folgt es hieraus, fowie aus ber umter 8, ° 
ausgeführten Beſchraͤnkung einer rechtlichen Bundesgewalt (durch bie 
ſchon nach dem Rechtsgrund geſetz den Bürgern zuſtehenden rechtli⸗ 
chen Freiheits⸗ und Bewilligungsrechte), daß ebenſo nothwendig, wie dem 
Bundesſtaat eine Regierungsrepräfentation duch Abgeſandte 
der einzelnen Bundesregierungen ift, neben derfelben aud eine 
Nationalverfammlung oder Nationaltepräfentation ber 
Bürger ftehen muß. Es foll ja im Bundesſtaat von der Bundesge⸗ 
walt nicht bios in die der Regierung allein überlaffenen 
VBermaltungsmaßregeln, wie 3. B. in die Ausuͤbung der Hoheits⸗ 
techte, Uber die ausmärtigen Angelegenheiten eingegriffen werden. 
werden ſtets von ihr auch Befchränkungen oder DBeränderungen ber vers 
faffungsmäßigen Freiheits- und Vermögens», wie ber politifchen echte 
der Bürger ausgehen. Wenn nun das allgemeine, in den Verfaſſungs⸗ 
verträgen zwifchen den Regierungen und Völkern anerkannte Rechtsgrund⸗ 
gefeg, oder auch die befonderen Berfaffungen irgend eine Bellimmung - 
nicht allein dem Belieben des Regenten anheimftellen, wenn fie 3. B. 
verbieten, daß die Bürger, ohne ihre oder ihrer erwählten Stellvertreter 
freie Einwilligung, mit Steuern ober Dienften neu belaftet ober fonft in 
ihrer perfönlichen Freiheit befchränft werden dürfen (weil berjenige img 
fireng rehtlihen Sinne gar fein Eigenthum, gar keine perfönliche Frei 
heit mehr bat, und rechtlich fein nennen barf, dem irgend eine Bes 
hörbe, fo oft und fo viel, als es ihr beliebt, ohne feine oder feiner Me: 
präfentanten Zuftimmung davon nehmen darf (f. oben Thl. l. ©. 34.), 
fo kann natürlich au im Bunde ohne diefe Zuftimmung ſolche Belas 
ftung oder Beſchraͤnkung rechtlich durchaus nicht flattfinden. Wie könn» 
ten die Megierungen mit fremden Regierungen über die Rechte ihrer 
Bürger oder Stände, alfo über die Rechte Dritter, rechtsguͤltig pacisci⸗ 
ven, ober gar gegen bie ihren Bürgern befchmworenen Treiheitsrechte mit 
Fremden ſich verfchmören 2 Eine ſolche befpotifhe Gewalt, von Sremden 
ausgeübt, wäre ja doppelt unerträglich und ungleicdy gefährlicher, als 
fortgefegte Verlegung blos von ber eigenen Regierung *). Troͤſte man fich 
auch ja nicht damit, es würde doch nur in menigen Fällen in das innere 
Nechtsverhältniß eingeyriffen. Eins zieht hier unvermeidlich das Andere 
nad). Und zumal da, wo nationale Verbindung unentbehrlih iſt, ba 
kann die Einwirkung auf den inneren Staatsorganiemus gerade in ben. 
wichtigſten VBerhältniffen gar nicht Ausbleiben. Wird nun hier ber 
Bund nit vollfommen organifirt, fo wird er entweder lahm 
oder defpotifch, geringgeachtet oder verhaßt, verliert feine Wirkſamkeit 
oder feine Exiſtenz. 

Wenn nun freilich benkbarer Weife folhe Zuftimmungen auch abge: 
fonbert in den einzelnen Bundesftaaten gegeben werden könnten, fo 
dieſes doc) natürlich Feine, oder minbeftens feine gute Organifation ober 
Verfaſſungseinrichtung des Bundesſtaates. Denn was iſt wohl die we⸗ 


— — — — — 


*) Vergl. Welcker a. a. O. S. 51. 


Bund, 9 


fentlichhte Aufgabe einer jeden Organiſation ober Conſtitution? Offenbar 
doch eine andere, als dieſe: fie fol. für die mefentlichften grundgefeglis 
hen Kräfte und Thätigkeiten bes politifchen Körpers Organe, und zwar 
die der Natur und Aufgabe jener Grundfräfte am meilten entfprechens 
den Organe’ verfhaffen und biefelben dann zu einer harmonifdhen und . 
fräftigen gemeinfchaftlihen Thätigkeit für den Geſammtzweck des Lebens 
vereinigen. Gute Drganifation oder Berfaffungseinrihtung iſt gute 
Formgebung für die wefentlichen Lebenskraͤfte und Lebensrichtungen. | 

ft nun aber die wefentlihe Natur und Aufgabe eines Buns 
desftaates, bie Grundidee feinee Gründung ? Offenbar fol er A. 
nicht ein blos völkerrechtlicher Staatenbund, fondern ein zur innigeren 
Einheit des Staats organifirter Verein fein. Solchergeftalt foll er die 
Kräfte aller Bürger und aller Negierungen der Dereinsftanten für ben 
Geſammtzweck aͤußerlich wie innerlich vereinigen und fie vers 
mittelft der Bundesgewalt als Bundeseinheit innerlich und aͤußerlich 
tepräfentiren. In dem fo organifitten Bundesverein aber foll nun 
B. das allgemeine nationale Lebendelemenf des Volks in ber alls 
gemeinen, freien Wechfelmirtung und Verbindung erhalten und- geflärkt 
werden. Ohne dieſe doppelte Abficht hätten ja die verfchiebenen Vereines 
fiaaten getrennt eine befondere Squverainetaͤt behaupten müfjen. 
Sie wollten aber biefes nicht und ſchloſſen als Bundesftaat felbft 
eine blos Aufßerlihe Verbindung eines Staatenbundes aus. Der, 
Bundesſtaat foll aber audy C. das befondere Leben und Beſtehen, 
die befonderen Eigenthlimlichkeiten ber einzelnen beſonderen 
Staaten und ihrer Negierungen erhalten und befriedigen. Es 
ſoll alfo auch das particuläre (nad) ſchweizeriſchem Ausdrud das oͤrt⸗ 
Liche ober das cantonale) Lebenselement erhalten werden. Dieſes pars 
ticuläre Intereſſe und die allgemeine Nationaleinheit und Nationalfreiheit 
follen ſtets harmonifch vermittelt werden. Hätte man biefes nicht ge⸗ 
wollt, fo hätten ja die einzelnen Bundesflaaten ihre befonbere Eris 
ftenz aufgegeben und fi zu einem einfahen Staat vereinigt. Der 
Bundesftaat fchließt aber diefes oder den einfahen Staat ebenfo 
entfchieden aus, als die Trennung und als felbft der bloße Staaten 
bund das nationale freie Keben, bad particuläre Staaten 
verhaͤltniß in Eräftigee Bundeseinheit. Diefes find die drei 
Hauptbeftandtheite, Aufgaben und Kebensrichtungen bes Bundesſtaats. 
Alle drei müflen in ihm vertreten werden, foll er nicht untergehen ents 
weder in einem Staatenbund, mo das. erfte, oder in einem einfachen 
Staate, wo das zweite, oder in Anarchie, wo das britte feine kräftige 
Repraͤſentation findet. 

Es war mithin mwahrlicd nicht ein fonderbarer Zufall, fondern die 
tiefe Natur der Sache und die Bernunft, welde bie verfchies 
deniten gebildeten Nationen beflimmte, in ihren Bundesverfaffungen auf 
eine fo merkwürdig gleiche Weile gerade nach folhen drei Hauptorganen 
zu ſtreben, die vorzugsweife ſich eigneten, jene aͤußere Nationaleinheit, 
die allgemeine Nationalfreiheit und bie Befonberheit aller einzelnen Bun⸗ 
desſtaaten in allfeitiger Vermittlung zu erhalten. 


92 | . Bund. 


A) Zur Erhaltung bee Staatseinheit und bee Drdnung, 
alfo zur Vollziehung, zur epräfentation ber Einheit, insbeſondere 
aud nah Außen, und an ber Spige der Streitmacht koͤnnte nämlich 
wohl ein beffered Organ gedacht werben, als eine mehr oder minder 
monarchiſche Behörde. Sie oder ein ſolches Bunbeshaupt fand 
fi) in allen verfchiebenn griehifhen Bundesſtaaten unter bem 
Namen Strategos (oben Thl. I. ©. 192). In den germani- 
[hen Reichen, die meift fchon frühe und das ganze Mittelalter hindurch 
zufammengefegte oder Staaten Staaten waren, bie dad Bunbeshaupt 
Dberkönig oder Kaifer. In Nordamerika heißt e8 Präfident 
und hat zur Erhaltimg und Mepräfentation jener Einheit größere Gewalt, 
als die fpäteren deutfhen Kaiſer. Er bat gerade die dee angegebenen 
befonderen Beſtimmung entfprechenden Rechte der Repraͤſentation bes 
Staats und feiner Einheit nad) Außen fowie der Erecution im Inneren. 
(Conftit. II., 2.) 

B) Das allgemeine Nationalleben, die allgemeine 
Nationalfreiheit aber, wie koͤnnten fie ein befferes, ein treueres 
und Eräftigeres Drgan finden, als in einer demokratiſchen Behörde, 
als in allen Bürgern felbft, oder in einer Bürgerverfammlung ? Im als 
len griechiſchen Bundesſtaaten und in den altgermanifchen war 
es eine unmittelbar dbemofratifhe Verſammlung aller 
Bürger bes ganzen Nationalbundes ohne Rüdfiht auf die Groͤße ber 
einzelnen Vereinsflaatn. Im Mittelalter, namentlidy im beutfchen Reich, 
nachdem auch in ben einzelnen Staaten das Volkselement neben ben 
Feudalſtaͤnden nur noch kuͤmmerlich durch die Städte vertreten wurbe, 
war e8 — abgefehen von demjenigen, was etwa andere Meicheftände 
noch von der Eigenſchaft deutfcher Unterthanen und ihrer Vertreter am 
ſich tragen mochten — zunaͤchſt das Stäbtecolleg. In Nordame⸗ 
rika aber ift e6 eine Repräfentantenverfammlung. Und biefe 
wird, um wirklich die allgemeinen Nationalintereffen zu vertreten, und 
die oft, 3.8. in dee Schweiz und in Deutfhland, ungeheure 
Größenverfchiedenheit ber Staaten im Bunde auszugleichen, eben⸗ 
falls ohne Rüdfiht auf: die Größe ber einzelnen Staaten, nad der 
Volkszahl aus der ganzen Nation erwaͤhlt. Auch entfprechen ihre 
Rechte der angegebenen Beflimmung, bie allgemeine Nationalfreiheit zu 
wahren. &o hat fie außer dem Antheil an der Geſetzgebung, das Recht 
der Anklage gegen die Bunbesbeamten und ben Präfidenten, und ihr 
zuerſt müffen alle Steuerbills vorgelegt werden *). 

C) Um endlih bie Befonderheit, das Intereffe und 
Recht der befonderen Vereinsſtaaten zu vertreten und zugleich 
fie mit der Nationaleinheit und Sreiheit, ſowie beide unter ſich ſtets mög» 
lichſt harmoniſch zu vermittien: welches beffere Organ ließe fich hierzu 
denken, als das mehr ariftofratifhe eines Senats, wie in als 
ten griehifhen Bundesvereinen und wie in dem nordamerikani—⸗ 





+) Nordamerikan. Verf. Art. 11.27. 


Bund 93 | 


(dem? Dort und hier wurde und wird ber Senat auf gleiche Weiſe, 
eben weil er zunaͤchſt bie theilmeife Selbſtſtaͤndigkeit der einzels 
nen Bundesſtaaten und ihrer Regierungen repräfenticen follte, 
von diefen Regierungen, und zwar ganz ohne Rüdficht auf die 
Größe ‚und Volkszahl der einzeinen Bundesftaaten, in gleiher Ans 
zahl und mie gleihem Stimmreht — in Norbamerila zwei 
GSenateren für jeden Staat — auf eine befonderes Vertrauen bezwedenbe 
Weiſe erwaͤhlt. Sowie in Sriehenland (f. oben Thl. I. ©. 192.), 
fo bat auch In Nordamerika ber Senat eine mehr ariftokratifhe Natur. 
Er erhält fie audy dadurch, daß die Mitglieder ſtets nur theilweife 
austreten, er alfo gewiſſermaßen ein ſtaͤndiger Körper if. So fehr 
“aber erkannte man bie Idee der Regierungsrepräfentation auch 
bier an, daß zu den wenigen Punkten, die Leine folgende Legislation guͤl⸗ 
tig ändern kann, gerade dieſe Wahl und biefe gleiche Zahl der Sena⸗ 
toren und diefes gleihe Stimmrecht bderfeiben nah ber Zahl ber 
Staaten und nicht nad) dee Bevoͤlkerung gehören. Auch entfpres 
hen bie befonderen Rechte des Senats in Griechenland, wie in Amerika 
feiner befonderen Aufgabe. (S. oben Thl. I. ©. 192.) So hat er in 
Amerika, neben dem allen drei Hauptbehoͤrden zuſtehenden Antheil an als 
lee Geſetgebung, das befonbere Recht, im Verein mit dem Präfidenten, 
zu Bündniffen, zue Ernennung von Sefandten und von Beamten einzus 
willigen unb über die vom Mepräfentantenhaufe erhobenen Anklagen gegen 
untrene Gtaatsbeamte und gegen ben Präfidenten zu richten *). 

In den germanifchen Reichen bildeten diefen Senat unb diefe ums 
mittelbare Mepräfentation der einzelnen Vereinsſtaaten früher bie erwähls 
ten Vorſteher, fpäter die geifllichen und weltlichen Fürften und ihre Abs 
georbneten,, in Deutfchland am frühften das Churfürftencolleg. 

Ein nationaler oder Volks bund in der That und kein Antheil 
ber Nation, des Volks an der Bundesverfaffung, Hein Organ für fie 
und ihre Freiheit in bderfelben, wäre ein greller Widerſpruch und bie vers 
derblichfte Lüde in bderfelben. Ein Berein befonders regierter 
Staaten, und Sein befonderer Antheil ihrer. Regierungen an biefem 
Verein, kein beſonderes bedeutendes und ehrenvolles Drgan für fie in 
der Bunbesverfaffung wäre baffelbe. Kaffe man überhaupt eins von bies- 
fen drei Organen fehlen, oder unvolltommen bleiben, fo wird unvers 
meidlich Kraft und Thätigkeit des andern einfeitig uͤberwiegen und vers 
derblicy wirken. Hier wird das Übermächtige Megierungsorgan das na⸗ 
tionale Element und bie Volksfreiheit unterdrüden und die Zrennung ' bes 
Bundes herbeiflhren. Dort wird das uͤbermaͤchtige Volksorgan Anarchie 
begründen, die befondern Regierungen zerftören und mithin ben Bundes⸗ 
flaat im beften Fall in einen einfahen Staat ummandeln. Für bie . 
zwei legten Hauptorgane aber und damit beide und ihre Glieder ihr Recht 
umd ihre befondere Beftimmung behaupten, zugleich aber auch in patrio⸗ 


*) &. oben Thl. J., 193. Nordamerikan. Eonftitution Art. L, 
1. 9 3. 7. II., 2. V. 


94 Bund. 


tiſcher, harmoniſcher Wechſelwirkung fuͤr den Geſammtzweck, in wechſel⸗ 
ſeitiger Berathung ſich wahrhaft vereinigen, und damit auf ſolche Weiſe 
ihre Beſchluͤſſe, ſtatt eines Widerſtandes, allgemeine Achtung und bereit⸗ 
willige Vollziehung finden, damit ſie endlich mit der Nation und unter 
ſich ein wirkliches harmoniſches Leben bilden, ſind vor allen nur noch 
zwei Hauptpunkte weſentlich, welche ebenfalls die nordamerikaniſche 
Conſtitution heiligt. Einestheils müffen beide Organe, in ihrer 
Wahl und Wirkſamkeit uͤberhaupt unter dem Schutz voͤlliger Oeffentlich⸗ 
keit und der Freiheit der oͤffentlichen Meinung ſtehend, gleichzeitig 
und oͤffentlich verhandeln, bergthen und beſchließen. 
Anderntheils dürfen bie einzelnen Glieder (am wenigſten bie Volksre⸗ 
präfentanten) nicht dur fpecielle Inftructionen gebunden fein, 
weil biefes’nur ein diplomatifches Unterhandeln möglich macht, aber 
die wahrhaft politifche, gemeinfchaftliche, lebendige Wechſelwirkung, 
Berathung und Vereinigung ausfchließt und die Güte und Kraft ber 
Beſchluͤſſe ſchwaͤcht. 

Bedenke man nun zu ſolchen Einrichtungen noch die Lebendigkeit 
und Vollſtaͤndigkeit, mit welcher in Amerika das Volk durch abſolut 
unbeſchraͤnkte Freiheit der Volksverſammlungen, der Preſſe und ber Pe⸗ 
titionen, und durch freie Wahirechte an der Berathung der Nationalbe⸗ 
ſchluͤſe Theil nimmt! Gewiß in keiner andern Verfaſſung der alten 
und der neuen Zeit konnten die geſellſchaftlichen Beſchluͤſſe fo ſehr als 
das Reſultat aller, moͤglichſt reif und vielſeitig abgewogenen und ver⸗ 
einigten, Intereſſen und Wuͤnſche des Volks erſcheinen, zugleich ſo voll⸗ 
ſtaͤndig den allgemeinen und den beſonderen Verhaͤltniſſen und 
Beduͤrfniſſen entſprechen, als in dem nordamerikaniſchen Bundesſtaate. 
Nie koͤnnten die beſonderen Rechte und Beduͤrfniſſe der einzelnen Staaten 
und der einzelnen Buͤrger mit der Einheit und Kraft des nationalen 
Bundes innerlicher und allſeitiger oder mehr wahrhaft organiſch vermittelt 
und vereinigt werden, als hier. 

7) Nach der Natur des Bundesſtaats und feiner innigen Vereinl⸗ 
gung aller Vereinsſtaaten zu einem nationalen Ganzen, welches beſonders 
nach Außen als Einheit nur durch die centrale Bundesgewalt repraͤſen⸗ 
tirt, und im Inneren abſolut gegen jeden Krieg der ihm untergebenen 
Bundesregierungen geſchuͤtzt werden muß, müffen dieſe auf alles 
Verhandlungs- und Bündnifreht mit fremden Staaten, 
auf eigne ftehende Kriegsmacht und auf bas Beſteue⸗ 
rungsrecht für bie Bundesbedürfniffe zu Bunften der Bm- 
desmacht, ſowie ebenfalls in Nordamerifa, verzihten. Daß dieſes 
urfprüngliche Bundesgefeg auch der griechifchen Bundesftaaten in ihnen 
überall verlegt und daß es im beutfchen Reich fogar völlig aufgehoben 
wurde, biefe6 hat vorzugsmeife ihr größtes Ungluͤck und ihren Untergamg 
herbeigeführt. . 

8) Schon hiernady und nach der obigen Ausführung von ber innis 
gen nationalen Bereinigung aller Bunbdesregierungen und aller Bes 
wohner bes Bundesgebietes, forie von ihrem unmittelbaren Recht 


Bund. 95 


om Bunde widerfpriht a8 dem Bundesſtaat, baß einzelne 
Bundesregierungen, welche felbft nationale Bürger des Bundes: 
flaatd fein follen, unterthbane Känder oder gar dem Bunde 
vsllig fremde Nationen regieren. Die traurigen Folgen der 
Vernachlaͤſſigung dieſes Grundfages im beutfhen Reich und in der 
Schweiz find bekannt. Das Grundgefeg der letzteren ſchließt jegt, 
fo wie dad nordamerikaniſche, ſolche gefährliche Monftrofität aus. 

9) Ebenfo folgt aus der Natur des Bundesftaates, aus feinem ges 
meinſchaftlichen Srundgefeg, Endzweck und Organismus, es folgt auß 
dem nothwendigen Beduͤrfniß alles gefunden Lebens, nad) Harmonie, 
Gonfequenz und Affimilation feiner Theile, daß bie einzelnen Vereins— 
flaaten in den weſentlichſten Grundlagen ihrer Verfaffuns 
gen. übereinflimmen, und daß das Beſtehen diefer im 
Wefentlihen gemeinfhaftlihen Verfaffungen vom Bun 
de garantirt wird. Diefes iſt in Nordamerika ebenfalls der Fall. 
Insbeſondere find die republifanifche Regierungsform, bie völlig unbes 
ſchraͤnkten Rechte der Preßfreiheit, der Volksverſammlungen und Petitios 
nen, die Ausfchliegung alles Adels, alle Ungleichheit wegen der Religion, 
die Nothwendigkeit des Schwurgerichts in peinlichen Sachen und in Ci⸗ 
vilfachen Über mehr ald 20 Dollars Werth, ferner das Recht, Waffen 
zu haben und zu tragen, bie Sicherung gegen Einquartierung und Haus⸗ 
und Papiers Duchfuhung bundesgefeglic für alle Staaten *). Auch 
flimmen bekanntlich alle Vereinsſtaaten mit der allgemeinen Bundesver⸗ 
faffung (f. vorhin 6.) überein in der Form einer repräfentativen Demos 
ratie, mit jener mehr ariftofratifhen und monarchiſchen Behörde, in der 
Trennung von Kirche und Staat, wie in ber Trennung der gefeßgebens 
ben, vollziehenden und richtenden Gewalt; fo, daß namentlich auch 
biefe Trennung ber Gewalten nur diejenigen für abfolut unausführ 
bar ausgeben können, welche die nun funfjigjährige, nordamerikaniſche 
Einrichtung und Erfahrung nicht kennen, namentlidy auch nicht die dors 
tige fouveraine richterliche Entſcheidung der Gerichte auch über alle fo- 
genannten Adminiſtrativſtreitſachen und Über bie verfaffungs: 
mäßige Gültigkeit der Gefige und Megierungsacte, ober welche, 
flatt an eine organifche Zrennung mit organifcher Verbindung, aͤhn⸗ 
lich wie 3. 3. zwifchen dem Nerven⸗, Blut: und Gefäß- Suftem, an 
ein mech aniſch getrenntes Auseinanberliegen denken. Die drei legten 
Merkmale, obwohl fie aus der Natur bes Bundesſtaats fließen, 
find indeß nicht abfolut weſentlich für feinen Begriff, ſowie die 
ſechs erften und mie das folgende zehnte. 

10) Endlich ift der Verein des Bundesftaats, well er als wahres 
Statusverhältnig auf anerkannte höhere Pflichten, nicht blos der Regierun⸗ 
gen, fondern auch der Bürger ſich gründet, auch in Beziehung auf feine 
Bortdauer der: obligationenrechtlichen Willkuͤr der Theile entzogen. Er ift 


ı 2 Nordamerikan. Conſtit. I, 9 und IV, 4. Anhang. Art. 


06 _ Bund. 


alſo abſolut unaufloslich, er tft, im wahren Sinn_bes 
Wortes, auf Leben und Tod gefchloffen. Einzelne Vereins. 
glieder, wenn fie, auch nur ihre Gerwiffensfreiheit zu retten, für ihre ins 
dividuelle Perfönlichkeit auswandern dürfen, haben body nie das 
Mecht, über die höhere moralifche Perfönlichkeit des Vaterlandes und feis 
ner Unterflaaten zu verfügen, und fowie ber patriotifche Bürger lieber 
Habe und Leben als das Vaterland aufzuopfern verpflichtet ift, fo hat 
auch die einzelne Regierung in der Gefahr für ihre befondere 
Eriftenz keinen Rechtsgrund, das Vaterland preiszugeben und ſich 
von ihm loszufagen. 

IV. Sortfegung. B) Der Staatenbund. Der reiht 
lihe Grundcharakter des Staatenbundes oder des blos völs 
kerrechtlichen, dauernden Staatenvereins befteht nach dem Obigen (IL) dar⸗ 
in, daß in ihm mehrere perfönlich vollfommene fouveraine 
Regierungen einen Inbegriff ihrer aͤußeren Souverainetaͤts⸗ ober Regle⸗ 
rungsgewaltsrechte dauernd gemeinfhaftiich (zu einem juriſtiſchen 
Condominium) gemacht und ſich alfo in Beziehung auf fie real bes 
ſchraͤnkt haben. 

Der deutfhe Bund von 1815 wurde fpäter nach feiner Gründung 
officiel ein bloßer „Staatenbunb” genannt *) und noch fpäter, im 
eriten Artikel der Schlußacte von 1820, ausdruͤcklich bezeichnet „als 
ein völkterrechtlicher Verein der deutſchen fouverainen Kürften und 
freien Städte”. Auch ift es unbeftritten, daß diefer Bund, welcher bei 
Eröffnung des erften Freiheitskrieges officiell als eine Wiederherftellung 
des früheren bdeutfhen Bunbdesftaats oder bed Reihe angekündigt 
und verfprochen und in dieſem Sinne größtentheil® auf dem wiener 
Congreß unterhandelt wurde **), doch wenigftens feheinbar fhon in ber an⸗ 
erfannt eiligen und unvollendeten Redaction feiner Rechteverhältniffe vor 
bem neuen Kriege 1815, noch mehr aber in den fpäteren Bundesgefegen 
immer mehr ben ‚Charakter eines bloßen Staatenbunbdes erhielt, 
fo daß alſo die Entwidelung ber beutfchen Bundesverfaffung die entges 
gengefegte Richtung der nordamerifanifchen nahm, welche vielmehr aus 
einem Staatenbund zum Bundesſtaat ausgebildet wurde. Zur Verans 
(hautihung der Charaktere des Bundesſtaates können wir alfo bier 
blos beifpielsweife bie ihnen entfprechenden Beſtimmungen bes 
deutſchen Bundesrechts hiftorifch erwähnen, dagegen müffen mie 
es lediglich dem Artikel Deutfher Bund überlaffen, zu unters 
fuhen, ob und inwieweit Öffentlich bereits mehrfeitig ausgefprochene 
Anfihten, etwa andere Beflimmungen und Berhältniffe, inwieweit ins⸗ 
befondere bie Abficyt der Gründer des Bundes ihre und ber deutfchen 
Volksſtaͤmme Rechte, Pflichten und Bedürfniffe mit jenen Beſtimmun⸗ 
gen und mit der Natur eines bloßen Staatenbundes im Widerfpruch 
wären, und ob und welche Nachtheile oder Gefahren und Aufgaben fich 


%) Präfidialvortrag In der Bundesverfammlung 2. Nov. 1816. Nr. 1. 
) MWeldera. a. D. ©. 42 und oben Artikel Blücher. 


! 





’ 


Bub: 097 


akıfen mic etwa theilweiſe ſich widerſprechenden und ſchwankenden BZuſtand 
en möchten. 

In der angegebenen rechtlichen Matur- des. Staatenbun 
des iſt es nur enthalten, daß er auch nicht ein .eimziges der zehn 
Merkmale des Bundesſtaats, ſondern weſentlich davon verſchiedene bes 
gründet : 


1) Der Staatenbund hat nicht ben Staatsıwed. De 
Zwed einer unter mehrern : ganz - fouverainen Regierungen beftehenden, 
zwar dauernden, aber bios välkerzechtlichen Vereinigung eines Inbegriffs 
äußerer Hoheitsrechte kann kein anderer fein, als der diefer Hoheitsrechte 
felbft; nämlich: "die allgemeine. dauernde, voͤlkerrechtliche 
Sicherung. Diefe Sicyerung iſt natürlich hier eine mehrfache: zus 
erft die jedes einzelnen Bundesftaates, und zwar hier wiederum bie 
gegen Auswaͤrtige, gegen andere Bundesſtaaten und gegen ben Bund’ 


felbft; fürs zweite aber auch bie Sicherung des Bundes, feines Ber 


ſtandes und ganzen Umfangs und; Gebiets, und zwar hier wien 
derum theils die Sicherung gegen die Bundesregierungen, theils 
die gegen Auswärtige. Man kann biefen ganzen Zweck in. diefem Sinne 
echt gut fo bezeichnen, wie ihn de Schlußacte -in- bemfelben, obigen. 
erften Artikel unmittelbar nad der Bezeichnung bed deutfchen Bundes 
als eines rein völkerrehtlihen Kürftenvereins beftimmt. Er 
iſt nämlich hiernach begründet: „zur Bewahrung ber Unabhängig 
„Leit und Unverlegbarkeit ihrer im Bunde begriffenen Staaten und zur 
„Erhaltung der inneren und aͤußeren Siaerbeit Deutſchlands.“ 
Die fruͤhere Zweckbeſtimmung in den Entwürfen: „Sicherung der ver⸗ 
„faffungsmaͤßigen Rechte allee Claffen der Nation” hatte auf Baierus 
und Wuͤrtembergs Widerſpruch ſchon in der Bundes aete vorläufig 
weichen muͤſſen. Jeßt in dee Schlußacte wurde ſelbſt die Bewah- 
rung der Souverainetaͤt der einzelnen Staaten, die in der 
Bundesacte Art. 2. dee Sicherheit Deutſchlande nachſtand, 
vorangeftellt. Wie wären auch wohl: innere ftaatsrechtliche 
Zwecke vereinbar mit einem rein voͤlkerrechtlichen äußeren Verein, einenz 
Verein blos der Fürften ober der Regierungen, dieſer Regierungen 
vollends, welche volltommen fouverain bleiben, deren Unabhängigs 
Leit erſter Bundeszweck iſt )? Kurz der Gtaätenbund iſt nur 
ein allgemeiner bleibender völterregtligen Saus- und“ 


Seug- Berein, 0 | 


an 


-') 


2 e. Bundesagte 1. 27 Sählußarte {—4. 9. 10. 13. 15, 17} 
25. 55: 56. 60. 6466. 75. und bie Shmpetenportnung v. 1817; 


4. *. Diefe letztere ſagt: „Da ber Begriff volter: © ouvesälnetät 


„ber einzelnen Bundesflzaten vr Bunbedacte —— BEER fo liegt um. 


„bezweifelt jebe Einmiſchung die inneren Adminia 


„ſtrati i b d *6 i m etenz. Ve über 
* ——* fe Fan * 6 ak Genpeian ziege ſſ 
baß der drutce Bund ir ob⸗ errliche Gewalt audf a und hur 


©taats » Lexikon. ii, 


98 | Bunð 


2) Die Staatenbund iſt kein ſouveraines Gemeinweſen. 
Er iſt vielmehr, wie die Schlußacte in jenem zweiten Artikel in 
Beziehung -auf den drutſchen, Bund weiter fortfähnt: „in feinem 
„Inneren dns Gemeinſchaft felbftfiindiger, unter fih un abhaͤn⸗ 
„giger Staaten: mie wedfetfeltigen ‚gleihen Vertragsrehten 
„and Bertragsobliegenheiten.” Der Staatenbund wird zwar 
in der Regel nicht fo unorganiſirt bleiben, wie der Rheiniſche Bunb 
und der heilig: Bund. : Er wird vielmehr, forte ja auch viele Pri- 
vatſocietaͤten, eine:-gefelifhaftithr. DOrganifation, und felbft 
einen Centralverein von Mandataren der Megierungen haben. 
Diefe aber bilden "Eelne wahre Regierung, fondern nur eine 
diplomatifche Vereinigung von: Gefandten, forvie die deutfche Bun⸗ 
desverfammlung. (nach dem Bundesbefhluß vom 1. Juli 1824) 
„einen Minifter:-Congreß",-inen Verein von Diplomaten, 
welche gänzlich von fpeciellen Infteuctionen ihrer Höfe ab⸗ 
bangen, mithin nur diphomatiſch oder voͤlkerrechtlich unter- 
handeln, aber nicht eigentlih politiſch berathen und beſchlie—⸗ 
Ben. Aud kann in Beziehung auf die dauernd gemeinfchaftlidh ge⸗ 
machten und gemeinfchaftlich verwalteten, auswärtigen Hoheitsrechto 
von Seiten fremder Staaten der Staatenbund fo, wie der beutfche, 
„als eine in politifcher Einheit verbundene Geſammtmacht“ voͤlkerrecht⸗ 
lich anerkannt werden. Aber felbft- bei diefer angeblichen Einheit find 
befonbere völferrechtliche. Unterhandlungen, Bündniffe, felbft Kriegfüh-. 
tungen der einzelnen ‚Staaten nicht ausgefhloffen. Bunbdbesacte 7. 
Schlußacte 46. in bios voͤlkerrechtlicher Kürftenverein iſt eben 
niemals ein wahres Innerlihes moralifd perſoͤnliches und 
ſtaatsrechtliches unter gemeinfchaftlichem höheren Pflichtenge⸗ 
fe flehendes Gemeinweſen. 6 fehlen ihm daher auch alle Fol⸗ 
Herungen deſſelben. | Ä 
SGs iſt A) m dem Gttatenbund, und namentlich) auch in dem 
bentfchen, die Stimmenmehrhets keineswegs allgemein und 
son felbft und abfolut gültig. Freilich laffen gewöhnlich bloße 
Miteigenthämer und ‚Befellfchaftsgenoffen- in ihren gemeinfchaftlichen Ans 
gelegenheiten die Stimmenmehrheit ale ein natürliches Auskunfts⸗ 
mittel für die Vereinbarung in ihrer Verwaltung gemeinfchaftlicher 
Angelegenheiten theitweife fo lange bedingt. gelten, mie fie ihnen nicht 
verlegend oder dem Vertrage mit feinem Zweck widerſprechend fcheint. 
Sobald aber Legtered der Fall ift oder auch in den wichtigften Fällen 
gilt ftets der Widerfprud, und es kann nur durch Belaffung 
beim Alten oder durch neden Vergleich, oder wenn fo, wie Im Privats 
fand, ‚ein. fouversines Stantsgericht für die Parteien exiſtirt, durch 
Rechtshuͤlfe, fonft durch Krieg, endlich durch Trennung ber Streit bes. 
feltigt werben. Der deutſche Bund "hat fogar noch ausbrädfich für 
Alle wichtigeren Punkte nuch felbft"jene ‚Bedingte Stimmenmehrheit aus⸗ 
gefrhloffen und nur die Stimmeneinhelligkeit, d. h. alfo unbes 
dingt jeden beliebigen Widerſpruch, jedes Einzelnen, als 


Sun. | 99 


hoͤchſtes Geſetz erklärt, fo namentlich in Beziehung auf alle Ausles 
gungen, Veraͤnderungen und neue Beſtimmungen von Grundgeſetzen, 
auf alle organiſchen Bundeseinrichtungen und Beſcluͤſ—⸗ 
fe, ferner bei Aufnahme neuer Mitglieder und Religlontangelegenhei⸗ 
ten, ſowie in Beziehung auf alle fogenannten Jura Singule⸗ 
zum. Dahin aber gehört namentlich Alles, was die befonderen inne 
ven Berhältniffe der einzelnen fonverainen Bunbesflanten angeht,. wie 
% B. bie gemeinnügigen Anordnungen u. f. w. °). 

.B) Die fouverainen Regierungen find ins Staatenbunde durchs 
aus Feiner oberherriihen Regierungsgewalt unter 
eban. Es gibt In ihm mithin a) keine wahre fouveraine Gefek 
gebung über fi. Miteigenthümer und Socetätögenoffen nennen 
zwar buch jene bedingte Stimmenmehrheit und durch Stimmenmehrs 
beit angenommene Regeln, wenn fie bauern follen, faft ſtets Ge 
ge , in Wahrheit ſind es doch nur bloße Societaͤtsvertraͤge und 

chlüſſe. 

b) Ebenſowenig ſind die ſouverainen Fuͤrſten wahren Gerichten 
unterthan. Sie erkennen nur Vergleichſs⸗ oder Schieds⸗, ſogenannte 
Austraͤgal⸗ Gerichte, wie der deutſche Bund in Streitigkeiten der Bun⸗ 
desglieder untereinander. Zu ihnen gehört gewiſſermaßen auch ber Fall, 
wenn Bürger blos desiwegen eine Forderung nicht befriedigt erhalte, 
weit über die Berpflihtung zu dieſer Befriedigung die Regierungen im 
Streit find *) Es war alfo ganz confequent, dag Baiern und 
MWürtemberg, als fie durch ihren Widerſpruch auf dem wiener 
Congreß bewirkten, daß eine definitive Organiſation des Bundes als 
Bundesftaat, melche die übrigen Bundesglieder beabfichtigten, wer 
nigftens vorläufig aufgefchoben wurde, auch dem früher beabſichtigten 
Bundesgericht mwiderfpradhen und vorldufig nur eine Anorbnung eines 
Scicbögerihtd bewirkten ). Es gibt jest nur eine Vermitt⸗ 
lung durch den Bund, bie man im dußerften Fall durch wechſelnde 
Schiedsgerichte bewirkt. Und damit ja kein Schein einer Verlegung 
der Souverainetät da fei, fo vermittelt audy nur in jedem Boll ein 
befonderes Schiedsgericht, das als Drgan der fireitenden Theile gebiß 
det wird. 

e) Auch einer wahren fouverainen Vollziehungs⸗ und einer ges 
feglihen .Zmangsgemalt find im Staatenbund bie ſouverainen 
Megierungen nicht unterthban. Es gibt hier nur eine mehr oder min 
bee zum Voraus regulirte Kriegsgemalt. Zwar auch Miteigenthümer 
koͤnnen, fo lange fie wollen und fich nicht verlegt halten, fich ſchieds⸗ 
richterlichen Vermittlungsausſpruͤchen und felbft Geſellſchaftsſtrafen unter: 
werfen. Und fie werben, auf billigen Sinn und Vereinbarung rech⸗ 


*) Bundesacte 7. Schlußacte 13. 15. 35. 53 und die letzte Note. 
*) Bundesacte 7.9. Schlußacte 21-30. J 
se) Kluͤbers ueberſicht I-, ©. 178. Bundesſchluß v. 6. Sul 1817. 


100 Bund. 


nend, oft wohl thun, ſich geſellſchaftliche Vermittlungsbehoͤrden Con⸗ 
ventionalftrafgefege und ſelbſt Erecutionsordnungen zu errichten. Aber 
ſobald ein Societätßgenoffe widerfpricht und fih verlest glaubt, 
iſt wieder nichts übrig, als jene Belaffung beim Alten, Unterhandlung 
und Vergleich, im Privatſtande Rechtshülfe, fonft Krieg, endlich Tren⸗ 
nung. Auch infofern hängt im Staatenbunde fo, wie in Deutfhland, 
die Vollziehung jedesmal von dem Willen ber einzelnen Bundesregie⸗ 
rungen ab, als nur fie im Beſitz der flehenden Deere und ber Bes 
ſteuerungsgewalt find und durch ihre jedesmalige Stellung unb Leiftung 
ihrer Contingente und Beiträge für jeden Fall dem Bunde alle Mittel 
erft darreichen und alfo hierdurch und durch Bündniffe zu kriegeriſchem 
MWiderftande fähig find. 0 - 

C und D) Somit erkennen denn wirklich im Staatenbunde bie 
fouverainen Regierungen keine wahre Gehorſams- oder Unters 
tbanenpflicht und feine Aufhebung ober wefentlide Be 
ſchraͤnkung der Souverainetät, am menigften der perfönlihen 
oder ihrer fouverainen Würde an. 

Zwar widerfpriht man dieſen Folgerungen, und zum Xheil -gewiß 
aus Löbliher Abficht, weil man biefelben nicht für heilfam hält. Aber 
vor Allem ift es heilfam, daß man die Sachen fehe, wie fie in Wahr; 
heit find. Wuͤrden fie alddann als nicht gut befunden, nun dann 
ſuche man auf rechtlichen Wegen zu wirken, daß fie beffee gemacht 
werden. Dazu ift dann bie richtige Einficht der erfle Schritt. In⸗ 
dem mir zum Zweck diefer richtigen Einfiht in die allgemeine 
Natur eines Staatenbundes und mittelbar auch de$ Bundes 
ſtaates eingehen, dürfen wir uns bier felbft nicht einmal, wie früher 
blos beifpielsweife, auf die befonderen deutfchen Bundesver⸗ 
hältniffe berufen ; wir müffen vielmehr ihre Erörterung und 
Betrahtung, weil fie in diefer Beziehung beftritten find, nad) ber 
obigen Bemerkung (f. IV. im Anfang) lediglich dem Artikel deut⸗ 
ſcher Bund vorbehalten. ü 
+ Warum aber — fo fragen bie Gegner in Beziehung auf den 
Staatenbund im Allgemeinen — warum follte ein folder Bund keine 
wahre, Eeine fouveraine Gefesgebungs =, Richter: und Zwangs⸗ 
und BVollziehungsgewalt haben koͤnnen?“ Nun meil es Beinen viereck⸗ 
ten Kreis und Eein rundes Viereck geben kann; weil ferner auch alle 
noch fo mohlgemeinten verhüllenden Worte nicht die logifhe und na⸗ 
türliche Gewalt und die wahren Namen ber Dinge umändern. Das 
vermag, nach des defpotifhen Juſtinians Zugeftändnig, felbft keine 
gefeggeberifhe Auctorität eines Senats oder Imperators °). Geſetzge⸗ 
bungs=, Nichter- und Vollziehungs- oder geſetzliche Zwangsgewalt 
eines geſellſchaftlichen Vereins, gerade die wefentlihften Folgen 
und Merkmale ber flaatsrechtlihen Wereinigung gibt es nicht ohne 





—— — 


*) De usufr. L.2. de usufr. ear. rer, Nec enim naturalis ratio 
auctoritate senatus oommntari potuit. 


Bund. | 101 


fie. Beh gleichen und felbftftändigen Societaͤtsgenoſſen oder Theilneh⸗ 
men an einem Miteigenthumsverhältnig, nach welchem Recht in ber 
Belt hat man hier jemals der Mehrheit der Nichteinwilligenden gegen 
diejenigen, welche fih zu unterwerfen ober etwas zu thun für nicht 
fhuldig erklärten, welche die Mehrheit im Unrecht gegen fich glaubten, 
irgend eine fouveraine Geſetzgebungs⸗, Richter: und Zmangs = Gemalt, 
den Weigernden dagegen eine Gehorſams- und Unterthanen = Pflicht 
zugefprochen ? Könnte man aber frenger fein und Anderes beftims 
men ber einer rein voͤlkerrechtlichen Wereinbarung völlig unabhäns 
giger, fouverainer Gefellfchaftsgenoffen oder von Regenten mit mwechfelfei- 
tig gleichen Vertragsrechten und Verpflichtungen? Völlig fouverai- 
ne Regenten im vollem Beſitz der Regierungsfouverainetät über ihre 
Staaten, und doch unterthaͤnig und gehorfamspflidhtig, 
feibft da, wo fie Etwas ihrem und ihres Landes Recht und Wohl ganz 
roiberfprechend finden, wo fie es als von anderen Genoſſen ober ihrer 
Mehrheit mit Unrecht und gegen ben Vertrag gefordert glauben! Uns 
terthaͤnig, obgleich fie in ihrer rein völkerrechtlihen Vereinigung durch 
die Natur derfelben oder durch ausdrüdliche Erklärung ale erſtes Grund: 
gefeg, als Srundbedingung und erſter Zweck ihrer Vereinbarung bie 
Bewahrung der Unabhängigkeit und Unverteglichkeit diefer Souveraines 
tät an die Spitze flellten! Vereinige Solches, wer kann und mag! 
Und antworte man, ob man ‚glaubt, ein mächtiger Societätsgenofle 
würde etwa das, was ihm die Mehrheit gegen den Societaͤtsvertrag 
unb .fein Recht Verlegendes ober ihm weſentlich nachtheilig Scheinendes 
zumuthet, eine unterthänige Gehorfamspfliht anerkennen ? Sollen 
es alfo nur die Mindermächtigen ? „Aber“, fo fagen Andere, „wie 
„fol denn der Bund beftehen, wenn ihm und feiner Stimmenmehr⸗ 
„beit nicht bei Gollifion der Anfichten die höchfte Entſcheidung zufteht ?“ 
Aber, — fo antworten wir — wie foll denn die unverletzliche 
Souverainetät der Bunbesregierungen und ihrer Staaten, dieſe 
Grundlage und diefer erſte Zwed ihres Bundes und feine ganze 
voͤlkerrechtliche Natur, ja mie fol ferner die in den Landesver⸗ 
faffungen der fouverainen Staaten anerkannte Pfliht der Erhaltung 
der Souverainetät und der Verfaſſung beftehen, bei jener abfoluten 
Unterordnung unter die fie verlegenden Mehrheitsbefhlüffe anderer Re⸗ 
gierungen? Gibt's nicht eine gewiffe Bürgfehaft in dem dauernden 
gemeinfchaftlihen Intereſſe, gibt's nicht Unterhandlung und Vergleich, 
Belaſſung beim Alten, als Mittel des Beſtandes? Und kann man 
mit einer bloßen Beforgniß gewiſſer Gefahren, die dody nie und nit: 
gende ganz verſchwinden, die rechtlich anerkannte Natur der Dinge dn- 
dern? Auch im einfachen Staat ift ja Gefuhr der Unordnung durch 
Colliſion der Anficht zwiſchen Fürft und Ständen. Gibt deshalb et: 
wa das engliſche Staatsrecht dem Parlament die Pflicht des unbeding⸗ 
ten Gehorfams, da, wo ihm eine Korderung der Megierung rechtes 
teidrig oder eine Einwilligung ſchaͤdlich erfcheint? Und doch ift bie 
Einheit im Staat anerkannt noch firenger, noch unentbehrlicher, ale 


102 Bund, 


im jedem Bunde. Nichts iſt verkehrter, als die Annahme einer folder 
Abſolutheit menfhliher Organe in den unvolllommenen, relativen, 
menfchlichen Verhältniffen. (S. den Artikel Sabinetsjuftiz.) Hielte 
man aber wirklich fouveraine Gefehgebunge =, Vollziehungs⸗ und Rich⸗ 
tergewalt für unentbehrlich in einem Bunde, nun fo bliebe nichts übrig, . 
als den Staatenbund in den Bundesflaat zu verwandeln. 
Wer den Zweck und bie Vortheile will, bee muß auch die Mittel und 
die Opfer wollen. Im blos voͤlkerrecht lichen Verein dagegen, da 
bleiben ftets die Regierungen völlig fouverain und find alfo weber wie 
in einem flatuss und ſtaatsrechtlichen Verhaͤltniſſe einer ſouverainen 
Gewalt, noch einem höheren gemeinfchaftlichen Pflichtgefeh des Verei⸗ 
nes und eines durch ihn begründeten Vaterlandes umterthban. Hier ers 
Eennen fie nur ihre eigene fouvernine Regierungsübers 
zeugung, fowie das Recht und das Wohl ihres befondes 
sen Staats ale ihr Höchftes, als ihre fouveraines Geſetz 
an. Und forte bioße Miteigenthiimer und Gefellfchaftsgenofien im 
Privatftande nimmermehr die Rechtöpflicht anerkennen, fid Allem, was 
Ihnen etwa unrecht, vertragswidrig ober verberblich fdyeint in- ben 
Beichtüffen ihrer Genoſſen, zu unterwerfen, fo werden noch mehr bier 
Die Bundesregierungen das Mecht, ja in Beziehung auf ihren eigenen 
Staat Häufig die Pflicht behaupten müflen, fi) dagegen zu ſchuͤtzen 
und zu wiberfegen. Dazu aber find bier nicht fo, wie im Private 
Rande, höhere Serichte, fondern die voͤlkerrechtlichen Mittel gegeben. 
8) Der völkerrechtlihe Staaten⸗ ober Regentenbund geht. nicht 
wefentlih auf die inneren Verhältniffe der einzelnen Bun⸗ 
besfinaten und begründet Aberhaupt Eeinen unerfhöpflihden Ins 
begriff ſtatusrechtlicher Rechte und Pflihten. Er begründet 
nur die zur völferrechtlichen Sicherung nöthige, dauernde Vereinis 
gung und gemeinfhaftlihe Verwendung dußerer Hos 
heitsrechte, wobei bie Pflichten aus den Rechten fi 
ableiten, und nicht umgekehrt. Die inneren flaatsrechtlichen 
Verhältniffe jedes einzelnen Bundesſtaats erfcheinen hier, auch wenn 
fie für gemeinnügige Zwecke in Anfpruh genommen werden (fowie 
ebenfalls im deutfchen Bund), ad Jura Singulorum’) Wenn 
etwa durch den befonderen, einftimmigen, völferrechtlichen Bundes⸗ 
vertrag einzelne Befchränkungen ber inneren flaatsrechtlichen Verhaͤlt⸗ 
niffe flattfinden, fo find biefes einzelne ſtaatsrechtüche Ser vitus 
ten. Aus dem Bundeszweck einer rein voͤlkerrechtlichen Sicherung an 
ſich fliegen fie nicht. Ja fie widerfprechen eigentlid der Grundbedin⸗ 
gung und dem Zweck des Bundes, ber vollen Souverainetät und ih⸗ 
zer Bewahrung. Die Rechtsvermuthung flreitet alfo gegen fie und fie 
find als Ausnahmen zu behandeln und flreng auszulegen. Auch 
bürfen ſolche Vereinbarungen, wenn fie den Staatenbund nicht mit 
feinem eignen Wefen in gefährlichen Widerſtreit bringen follen, nur 


*) Welder a. a. D. ©. 46. 48. 51 und vorhin Ar. 2. A. . 





Bund. | 103 


möglichft wenig in das Innere eingreifende Beſtimmungen betreffen, 
und nur folche, die wegen befonberer Ausnahmeverhältniffe für den 
Zweck der voͤlkerrechtlichen Sicherung, ald wahrhaft unentbehrlich 
erſcheinen. Auch dürfen fie natuͤrlich, wenn fie .nicht bios die der 
Regierung allein überlaflenen: Hoheitsrechte betzeffen, bie. allgemeinen, 
naturrechtlichen und verfaffungemäßigen Freiheit - und. Einwilligungs⸗ 
echte ber Bürger und der Stänbe in. den Vereinsſtaaten nicht ver=, 
legen, ober nur mit deren Zuflimmung ‚begründet werden: Denn für 
ihre Verfaſſungsrechte find ja bie Verträge mit fremden Regierungen 
Verträge unter - Dritten. Ihre verfaffungsmäßigen Rechte koͤnnen nur 
auf dem verfaffungsmäßigen Wege geändert werden '). Ihr ganzer 
Rechtszuſtand aber wäre jedenfalls aufgehoben, wenn durch ſolche Ver: 
träge mit fremden Regierungen ihr wahres innered Rechtsverhaͤltniß 
beliebig verändert werden koͤnnte. | W | 

4) Der Staatenbund ift feiner Natur nah Fein wahrer Na⸗ 
tionalverein. Zwar werden. in der Regel nur aneinander 
grenzende Staaten, melde buch gewiffe bleibende ge 
meinfhaftlihe Verhältniffe und Bedürfniffe dauernd 
ihrer gemeinfhaftlihen. Hälfe, für ihre. Sicherung zu 
bedürfen glauben, einen. Staatenbund eingehen. Und ihr gemeins 
ſchaftlicher Länderumfang wird in Beziehung auf die. völferrechtliche Ver⸗ 
theidigung das Bundesgebiet bilden. Ale ein blos von ben Regen: 
ten, vielleicht mit Fürften fremder Nationen, abgefdyloffener blos aͤuße⸗ 
ver, voͤlkerrechtlicher Vertrag aber ‚vereinigt er natürlich nicht alle Re⸗ 
gierungen und Bürger auf eine innerliche Weife unter dem höheren all 
umfaflenden Pflichtyefeg eines gemeinfchaftlichen  Waterlandes und eines 
nationalen Menſchheitszwecks. Diefes wird doppelt Elar, denn: 

6) Der Staatenbund begründet, fofern er nur Staatenbund 
fein will, auch für die Bürger Eeine Theilnahme am Bund, 
Eeine wirkliche Mitgliedfhaft, kein Bürgerrecht, mithin 
auch Feine Bürgerpflicht und keine Unterthänigkeit gegen den Bund ale 
ſolcher. Bundesgefege verbinden hier die Bürger nur, fofern fie 
als Landesgefege aufgenommen und publicirt wurden. 
Diefes gilt auch im deutfhen Bunde “). Es fcheint überhaupt fpäter 
Diefe Seite des Bundes gegen manches Entgegenflehende mehr 
und mehr ausgebildet worden zu fein. Es wurde der Verein erft fpd- 
ter ein völferrechtlicher Sürftenverein genannt, indeß gehört wohl hier⸗ 
her auch die Aufhebung aller Deffentlichkeit feiner Verhandlungen, fogar 
eines Theils feiner Befchlüffe und die Aufhebung der hierdurch und 
durch preßfreien Ausdruck der öffentlichen Meinung und freies Petitions- 
recht zu bemirfenden activen Theilnahme der Nation an den Bundesver⸗ 
haͤltniſſen. Hierhin würde ferner der ausſchließliche Vorbehalt ded Aus: 


) Schlußacte 56. Weldera. a. D. ©, 46 flg- 
+) Schlußacte, Art. 93. 56. 82. 


104 . Bund. 


legungsrechts ber Bunbesgefehe für die Bunbesverfanmnlung 9) gehöcen, 
wenn berfelbe fo, wie nach der Meinung Mancher, fi wirkllch nicht 
blos auf die authentifche Auslegung (da heißt eigentlich ‚neue 
grundverfaffungsmäßige Beſtimmungen) bezöge, fondern felbft auf bie 
doctrinelle Auslegung. Die letztere muß aber anerkannt demjenis 
gen, welcher irgend eine Thellnahme an einem Rechtsverhaͤltniß, und 
fetbft auch nur eine mittelbare rechtliche Verpflichtung durch daffelbe er⸗ 
halten foll, ftets zuftchen. Rechtliche Verhättniffe und Grund: 
verträge find durchaus gegenfeitig. Jeder Theil hat das gleiche 
Recht, fie (doctrinell) auszulegen,: und zu beurtheilm, was er für 
echte und Pflichten duch den Verein erhalten hat. Nur Verſtaͤndi⸗ 
oung, Vergleich oder ein unparteiifcher Richterſpruch kann den dar⸗ 
über etwa entflehenden Streit abfolut beendigen. 

6) Der Staatenbund, insbefondere aud) der deutſche, begruͤndet, 
inſofern er wirklich nur reiner Staatenbund bleiben will, auch keine 
Volksrepraͤſentation neben der Regierungsrepraͤſentatien am 
Bundestage. 

T) Er entzieht aud den Bundesreglerungen nit 
die äußeren Doheitstehte, dad ſtehende Kriegsheer 
und einen Theil der Beſteuerungsgewalt. 

8) Er ſchließt auch eine Herrſchaft der Bundesregierungen 
über Unterthanenländer und fremde Staaten nicht aus. 

9) Er fordert und garantirt auch nicht ein gemeinfchaftli« 
he, inneres Staatsreht. Es wäre biefes jedenfalls alsdann 
eine Zäufchung, wenn im Bundesvertrag gewiſſe Grundlagen, 3. B. 
Stände, Preffreiheit u. f. w., beftimmt würden, und .nun dennoch 
eine Einmifhung und Fein Zwang in Beziehung auf dieſe inneren 
Verhältniffe ſtattfaͤnden, fo daß die einzelnen Bundesregierungen ents 
weder gar nichts ober beliebig unter jmem Namen: Stände u. ſ. w. 
gerade das Entgegengefeste geben, oder endlid das Gegebene wiederum 
zerftören Eönnten. Auch hier huldigt der deutfhe Bund, wenigſtens 
infofern der Natur des Staatenbunds, als er fpäter ausdruͤcklich ers 
Plärte, die Beſtimmungen ber ftändifhen Verfaffungsverhältniffe feien 
ben befonderen Regierungen, Ständen und Landesverfaffungen zu über: 
Laffen, die Bundesgewalt mifche ſich in Streitigkeiten daruͤber nicht ein, 
und diefe Verfaffungen fländen auch nicht unter der Garantie bes Bun⸗ 
des, fofeen er nidht, was audy jede andere politifche Macht gegen 
andere Staaten thun darf, eine befondere Garantie einer einzelnen Ders 
feffung gu übernehmen für gut fände ”). Auch hat ed wohl bis jegt - 
menigftens nicht den Anfchein, ald werde die Bunbesgewalt felbft nur 
die Einführung mahrhafter, Iandftändifcher Verfaffungen mit den we 
fentlichften, fhon in dem hiftorifhen und allgemeinredtli- 
Gen Begriff derfelben mit abfoluter Nothwendigkeit gegebenen 


*) Schluß acte Art. 8. 17. und Bundesſchluß vom 11. Dec. 1823. 
*) Schlußacte, Art. 60 und 61. 


Bund. 105 


Rechten, mit Rechten, wie fie alle Verhandlungen über ben Bundes⸗ 
vertrag als weſentlich bereits anerfannten, überali da ins Leben 
rufen und erhalten, wo fie, nun ſechs und dreißig Jahre nad) der Grün: 
dung ber Bunbdesacte und des 13. Artikels in bderfelben, in folcher Ge: 
flolt noch nicht erifticen. 

10) Es iſt endlih der Staatenbund auch nit abfolut und 
ſelbſt auf. die Gefahr für die Eriflenz der VBereinsftaas 
ten unaufloͤsſslich. Zwar ift er allerdings, fowie ja jedes Miteigens 
thumsverbälniß, feiner Ratur nad dauernd. Man wird fchon 
darum nicht mit Dielen den Staatenbund für ganz ebenfo temporait und 
unbebingt jederzeit auflöglich erklaͤren können, wie das Buͤndniß. Auch 
wird ee in dem Gedanken der Fortdauer feines Bebürfniffes und Zwecks 
(fo, wie indeffen der Erklärung nad) freilid) audy viele Societätever- 
träge und bloße völkerrechtlihe Buͤndniſſe) für immer gefchloffen. 
Vielleicht koͤnnen auch viele Vereinsſtaaten ſchon bei Eingehung des 
Staatenbunde von ber Anfiht ausgehen, fie würden ihrer Sicherheit 
wegen eine Trennung einzelner Bundesländer vom Bunde felbft durch 
Kriegegewalt hindern, wie ja fogar das bloße Staatenbündnig gegen 
Napoleon, Dänemark und die Schweiz zur Theilnahme zwang. 
Aber wenn fmirklid) dem Staatenbunde die Unterordnung unter ein fous 
veraines Vaterland und allumfaflendes höheres Pflichtgefes fehlt, wenn 
wirklich jede ganz fouveraine Regierung ihre eigene fouveraine Regie⸗ 
eungsüberzeugung von dem Recht und Wohl ihres befons 
beren Staates als ihre hoͤch ſtes Geſetz anerkennt, wird man alsdann 
über die Kolgen ber Natur der Dinge fi und Andere täufchen ? 
Wird man durch ihnen miberftreitende, wohlgemeinte Worte Wunder 
wirken? Wird man durch fie eine fouveraine Regierung, wenn fie das 
Halten für fid) und ihren Staat verberbli oder gar ihre Eriftenz ges 
fährdend hält, diefelbe zur Aufopferung diefer Eriftenz oder ihrer Macht 
und Blüthe beftimmen zu innen, glauben? Wo bliebe auch die 
&Souverainetät bei abfolutem Zwang zur Xheilnahme an einem Staas 
tenbunde ? Da, mo das Ganze weder durch gemeinfchaftliches höheres 
Pflichtgeſetz regiert, noch durch biefes und eine lebendige, wirkſame 
Nationalkraft zufammengehalten wird, ba kann leicht das fouveraine, 
politifche Intereſſe einzelner Staaten bie andern und den Bund für 
ſich zum Mittel machen. Wenn nun ber Erdftige Schug des mahren 
Gemeingeifts und bee nationalen Nepräfentation des Ganzen fehlt, 
werden da nicht die Verletzten in ihrem fouverainen Staatsprincip 
Hülfe fuhen? Freilich, bei dem Gericht Eönnen fie nie fo, mie im 
Privatſtande bei Miteigenthums = und Societäts-Verhältniffen, ein Rechte: 
urtheil auf Zheilung und Trennung der Gemeinfchaft erhalten. Wer 
aber ben Gefahren einer Trennung anderer Art vorbeugen will, ber 
denke nicht auf Worte, fondern auf bie Sachen und ihre entfprechenbe 
Geſtaltung. Nur bie unſterbliche, gemeinfhaftliche Nationalität, die 
ewige Pflicht für fie und die zur Sprache gebrachte wirkfame Natio⸗ 
nalgefinnung machen einen Bund wahrhaft unauflöslid und ewig. 


106 | Bund. 


V. Hortfegung C) Das Staatenbündnig, - bie: Als 
Lance. Der rechtliche Grundcharakter diefe® blos obligationens 
eehtlihen, voͤlkerrechtlichen Gefellfhaftsvertrags be= 
fteht nach feinem Begriff (f. II.) darin, daß er lediglich eime obliga⸗ 
fionenrechtlihe Societät unter nicht einmal real befchränkten, fondern 
gänzlich fouverainen Regierungen bildet. In feiner rechtlichen "Natur 
ft es nun enthalten, daß er ebenfalls nicht ein einziged:der sehn 
Mertmale des Bundesſtaats, und felbft nicht einmal. die des 
Staatenbundes begründet. 1) Sen Zweck ift weder, fowie im 
Bundesflaat, dee Staatszweck, noch auch ſo, wie im. Stans 
tenbund, die allgemeine bauernde, völkerredhtlihe Si⸗ 
herung, fondern nur die fpeciell verfprohene, beflimmte, 
gegenfeitige Leiftung. 2) Er begründet weber fo, wie der 
Bundesflaat, ein fouveraines Gemeinweſen, nod aud fo, 
wie der Staatenbund, eine reale Gemeinfhaft eines Inbe⸗ 
griffe von Außeren Souverainetätsrechten und nicht emmal, wie bie 
fer, eine geſellſchaftliche DOrganifation und Gentralbehörde und eine bes 
bingte und ‚befhränkte Stimmenmehrheitsentfcheidung, fondern nur 
ganz freies, biplomatifhes Unterhbandeln im Namen ber 
einzelnen verfhiedenen Berbünbdeten. $) Er bat feiner 
Natur nad) weder, forie dee Bundesflaat, zugleich die inneren. 
und die aͤußeren Berhältniffe, noch fo, wie der Staatenbund, 
die Außeren, fondern beftimmte, bald auf einzelne innere, bald 
auf einzelne Außere Verhaͤltniſſe fich beziehende Leiflungspflichten zum 
Gegenftand. 4) Er ift weder Nationalverein, wie der Bun⸗ 
desſſtaat, noch begründet er, wie der Staatenbund, ein Buns 
desgebiet, noch fegt er, wie ber letztere, aneinander grenzende, durch 
bleibende, gemeinfchaftlihe Verhaͤltniſſe und Beduͤrfniſſe auf gegenfeiti» 
ge Hülfe angewiefener Staaten voraus, fondern nur ein beftimms 
tes, im völferrechtlichen Verkehr entftandenes, voruͤbergehendes Be⸗ 
duͤrfniß. — Ihm find natürlich auch die Merkmale 5) 6) 7) 8) und 
9) des Bundesfinates fremd. Und er ift endlich iO) auch weder, wie 
der Bundesftaat, abfolut unaufloͤslich, noch auch, wenigſtens 
ſeine Natur nach, im Allgemeinen dauernd, fo, wie ber 
Staatenbund. Somie vielmehr bei jebem Societätßvertrag , ſelbſt 
wenn ſeine Worte auf immerwaͤhrende Dauer lauten, ſo koͤnnen auch 
in der Alliance die völlig getrennt nebeneinanderſtehenden und pro rata . 
berechtigten Geſellſchaftsgenoſſen völlig rechtlich ſtets die Societät für 
die Zukunft auffagen. (S. oben Alliance.) 

VI. Ein prüäfender Blid auf die-bisherigen Theorien 
über Bunbdesverhältniffe. War das Bisherige eine folgerichtige 
Entwidtung der richtig aufgefaßten verfchiebenen Natur der Bundes: 
verhättniffe, fo bedarf es keiner ausführlidhen Prüfung und Widerle⸗ 
gung der früheren Zheorien über das Bundesſyſtem'). Und vollends 


*) Zur Literatur dieſer wichtigen Materie gehören, naͤchſt unbe Buerieh 
tungen beſonderer Bundesrochte, vorzüglich: 8. Pufendorf de systamatibus drit.; 


Bund. 107 


müflen mir auch bier wieder jede Erörterung ber beflrittenen be- 
fonderen deutſchen Bundesverhältniffe auf den Artilel: deutfcher 
Bund, verfparn. Der allgemeinfte Fehler jener früheren Theorien 
ift es, daß fie die Staatenvereine nur nach unweſentlichen und zufällis 
gm Verſchiedenheiten, nicht aber nach der mwefentlich verfchiedenen Nas 
tur ber Rechtsverhaͤltniſſe abtheilen. Die Folge davon ift, daß fie mits 
bin auch gerabe die wefentlich verfchiedenen Merkmale der verfchiedenen 
Staatenvereine Äberfehen und vermifhen. So ift es 3. B. wohl ges 
wiß unddtig, wenn man — um von frühern Irrthuͤmern und wes 
niger bedeutenden Schriftſtellern abzufehen — mit manchen hodhvers 
dienten Publiciſten, namentlich mit Klüber und Behr, das charak⸗ 
teriflifche Merkmal des Bundesſtaats in ein monardifches Ober: 
haupt, oder auch in eine befondere organifirte Regierung fegt. Denn 
wie fhon Pufendorf bemerkt, die bloße anerfannte Stimmenmehts 
beitsentfcheidung begründet ſchon eine Staatögewalt, ja m einfachen 
Demokratieen, welche doch wirklidhe Staaten find, die einzige. Auch 
iſt Gleichheit der einzelnen Vereinsſtaaten nicht das genügend unter- 
fheibende Merkmal des Stantenbundes im Gegenfag dee Bun⸗ 
besftaats. Die wahre verhältnißmäßige Gleichheit und, was das 
Befte ift, die Sarantie derfelben gibt im Bunbdesftaat die verfafs 
ſungsmaͤßig abfolut gleiche Mepräfentation aller Regierungen im 
fret berathenden Senat, und die bee Seelenzahl entſprechende 
in der Nationals-Repräfentation, und vor Allem die Nationalkraft. Im 
Staatenbundb dagegen, waren da wohl die Heinen Staaten mit Nas 
poleon, ober früher die Bundesſtaaten Roms mit Rom wirklich 
gleih? Im Bundesflaat gelten hier die Sachen, im Gtaatenbunb 
die Worte. — Richtig ift e8 ferner, wenn Tittmann ©. 6 und 


N 


in den Dissert. aoad. Upsal. 1677. pag. 1%0 und Lond. Scanor. 1765 ©. 218. 
J. C. Wieland de system. civit. Lips. 1777 (aud) in Opusc. Fascic. I. 1790). 
St. Croix des anciens gouvernements federatifs, Paris 1780. Meermann 
 eomparaison de la ligue des Achdens, des Buisses et des Provinces unies, 
a ia Haye 1784. Zinserling le systöme f&derat. des Anciens mis en pa- 
rallöle avec celui des Modernes, Heidelberg 1809. Zittmann, Dars 
ſtellung ber Verfaffung bes beutfhen Bunbes, Leipzig 1818, 
S. 6 fig. Pfizer, über dic Entwidelung des öffentl. Rechts in 
Deutfhland. Stuttgart 1835. Beſonders wichtig find natürlich bie 
Werke über die norbameritanifche Bundesverfaſſung, und unter biefen 
vorzüglich das bekannte claffiihe Werk: der Foͤdera liſt von Hamilton, 
und das neueftle Werk: J. Story Commentaries on the constitution of the 
United States, Boston and Cambridge 1833. III. vol. und R. Mohl, das 
Bunbesftaatsreht ber vereinigten Staaten von Norbames 
rika. Stuttgart 1824. Sodann gehören hieher Baharid, über ben 
gegenwärtigen polit. Zuftand der Schweiz, Deibelberg 1833, 
und Zrorler, Löfung der nationalen Lebensfrage: worauf 
muß die Bunbesverfaffung ber Eidgenoffenfhaft begründet 
werden? Rapperswyl 1833. Beide legtgenannte en veranlaßten 
die oben citirte Schrift des Verf. diefes Artikels. S. auch oben den Artikel 
ahäifhe Bundesverfaffung. 


108 Bund. 


14, gegen Anſichten Anderer (felbft gegen bie von. Pfizer, ©: 
187) bem bloßen Staatenbund eine wahre, höhere Zwangsgewalt 
ganz abfpricht (f. vorhin LE, 2 u. IV, 2), Mit Unrecht aber fpricht 
er auch felbft dem Bundesftaat jede Einmilhung In innere Ange⸗ 
legenheiten :und jede Gompetenz des Bundesgerihts in Streitigkeiten 
zwiſchen Regierung und Bolt ab (IV, 2). Ebenfo unrichtig gibt. er 
auch allen Staatenvereinen blos den Zweck der äußeren Sicherung. 
Diefes thut auch eine der neueften geiftreichften Abhandlungen über 
die Bundesverhältniffe, die von Zaharid. Aber der Bundesflaat 
hat den Staatszwed, alfo mehr als bloße Sicherheit, und das bloße 
Buͤndniß hat fo, wie 3.3. ein Handelsbündniß, oft einen andern 
Zwed als den der Sicherung (MI, 1. IV, 1). Unrichtig und zugleich 
im Widerfpruch mit feiner eigenen Behauptung: daß der Staaten: 
bunb „die innere Souverainetät der Vereinsſtaaten fchlechthin unge⸗ 
„ſchmaͤlert laſſe“, ſtellt auch Zaharid als „unerlaßliche Forderung aus 
„ber Natur des Staatenbundes“ die folgenden auf: „Webereinflimmung 
„der Verfaſſungen der einzelnen Bereinsftaaten, wenigſtens in ihren 
„Srundlagen (IV, 9); ferner freie Waarendurchfuhr durch alle Ber: 
„einsftaaten, und dann Aufftellung einer Bundesmacht, eines Bun- 
„besgerichts und einer wahren Richtergewalt und Entſcheidung aller 
„Steeitigkeiten auf dem Wege Rechtens, endlich eine Beſchraͤnkung der 
„Berträge der Vereinsftaaten unter einander und mit fremden. Staas 


„ten, fogar bis zur allgemeinen Nothwendigkeit der Natification buch 


„den Bund“ (IV, 2 u. 7). Ebenfalls unrichtig und im Widerfpruch 
mit jenem beſchraͤnkten Zweck der Sicherung gibt Zaharid dem 
Bundesftaat eine mit binlängliher Macht bekleidete, unbe⸗ 
ſchraͤnkte Stimmenmehrheitsentfcheidung, und zwar fogar über bie 
inneren Verhältniffe der Vereinsftaaten (IV, 2); dadurch, ja fchon, wenn 
man die Beftimmung des Bundes über bie inneren Berhältniffe als 
Megel aufftellt und für fie präfumirt, hebt man ja die Selbſtſtaͤndig⸗ 
keit der einzelnen DVereinsftaaten auf, verwandelt fie in bloße Staats: 
provinzen. Man 1öft mithin den Bundesflaat in ben einfa⸗ 
hen Staat auf, fo wie ihn umgekehrt Tittmann dadurd in ei- 
nen bloßen Staatenbund auflöft, daß er auch ihm abfolut gar 
keine Gewalt über die inneren Staatöverhältniffe einrdumt. So 
laſſen alfo Zaharid und Fittmann auf verfchiedene Weife neben 
dem einfachen Staat nur nody zwei Staatenvereine übrig, den Staa: 
tenbunbd und das Buͤndniß. Der Bundesſtaat aber, welcher 
zugleich den einfachen Staat und den Staatenbund auf höhere Meife 
in fich vereinigt, wird von beiden ganz zerflört. Und doch ift diefer 
gerade die höchfte und reichfte politifche Drganifation, die hoͤchſte Idee 
der politifchen Verbindung großer Nationen (f. oben Th. I, ©. 49), 
eine Verbindung, von welcher früher dee achaͤiſche Bund, eine 
längere Zeit das deutfhe Reich, jest Amerika, fo volllommene 
hiftorifhe Vorbilder geben. Freilich aus feiner Bundestheorie erklärt 
es fich, daß Zacharia biefen hoͤchſten Verein als einen verkehrten, ver: 


Bund. 109 


derblichen Zuftand eigentlich ganz verwirft. Er erklärt ihn, „weil er den 
„Vereinsſtaaten die Verwaltung ihrer inneren Angelegenheiten laſſe und 
„doch befchränte, und in befien Weſen (?) es liege, daß nicht blos die 
„Sefammthelt, ſondern auch jeder Wereinsftant eine bewaffnete Macht 
„bilde, geradezu für eine „theoretifche und praftifche Inconfequenz, ale 
„an infoctabile Regnum“, und erwähnt als Belege für diefe fons 
derbare Behauptung, fonderbarer Weife, das deutſche Reich und den 
deutfhen Bund. Den lesteren, welcher ſich ſelbſt einen blos voͤl⸗ 
kerrechtlichen Kürftenverein undeinen Staatenbund nennt, 
erklärt naͤmlich Zacharid für einen Mationalverein und Bundess 
ftaat, und fügt no) — man weiß nicht, ob ernfihaft — binzu, daß 
er dieſes erft nach feiner urfprünglihen Gründung und vorzüglich erft 
feit den karlsbader Befhlüffen und dee Schlußacte gewor« 
den fei, während er umgekehrt die Schweiz, welche fich felbft für einen 
Bundesftaat erfldrt und welche ein folcher ift, nach feinen uns 
ficheren Eintheilungsgrinden und Merkmalen Eeinen Nationalverein und 
feinen Bundesſtaat, fondern einen bloßen Staatenbund nennt. 
Jene obigen Vorwürfe der Inconfequenz und Unvereinbarkeit gegen 
den Bundesftaat aber könnte man umgekehrt aud) dem Staaten 
bunbe machen, der ja ebenfalld den einzelnen Vereinsſtaaten Sou⸗ 
verainetät zugefteht und demnach fie befchränkt, und zwar ganz befons 
ders nach jener obigen Theorie von Zachariaͤ ſelbſt. Ja fie träfen 
am meiften jeden einfachen Rechtsſtaat, beffen rechtliches Weſen 
es ja ebenfalls ift, feinen Gliedern rechtliche Freiheit zuzugeftehen und 
dennoch fie zu befchränten. Bei diefem Vorwurfe gegen den Bundes⸗ 
flaat möchte übrigens die Urfache bed Fehlers wohl in einem andern 
Sehler zu ſuchen fein, naͤmlich ebenfalld in der Annahme einer uns 
befhräntten, abfoluten Bundes- und Staatsgemwalt, wegen wel⸗ 
cher derfelbe berühmte Verfaſſer aud in feinem Werke über den Staat 
alle rechtliche Begründung des Staats durch Vertrag darum für un⸗ 
moͤglich erklaͤrte: „weil jeder Vertrag, worin man gänzlich (!) feine 
„Setbftfländigkeit aufgebe, wefentlidy nichtig fei.” Allein folche Unbes 
fhränttheit einer rechtlichen Gewalt von Menfchen ift in diefem bedings 
ten und befchränkten menfchlihen Leben ſchon für die unvollkommene 
menfchliche Staatsgewalt durchaus nicht begründet, um wie viel wenis 
ger alfo für die Bundesgemwalt im freien Staatenverein. Man muß 
nicht die abfolute höchfte Idee mit den befhräntten menfdhs 
lichen Organen für fie nerwechfeln. Mögliche Collifionen und Schwies 
rigkeiten, die aus ber allfeitigen vechtlichen Sreiheit der Regierten ent: 
ftehen können, im einfahen Staat, 3. B. zwiſchen dem MRegenten und 
den Bürgern und Ständen, und felbft die Schwierigkeiten der Ent: 
fheidung dieſer Collifionen (3. B. über einen abfoluten :- Widerftreit 
zwifhen Parlament und König, über Revolutionen, über etwaige, vom 
Parlament felbft nicht abänderliche Urverfaffungsrechte) heben den menſch⸗ 
lichen vernünftigen Staat nicht auf, alfo auch nicht den Bundesftaat. 
Diefer bietet ſogar noch reichere Auskunfts⸗ und Berföhnungsmittel 


110 Bmb. 


dar, als ber einfache Staat. Einen neuen Wiberſpruch begründet 
übrigene Zachariaͤ für den Bundesſtaat, für feine angebliche Unbe- 
ſchraͤnktheit und deſſen wirkliche, abfolute Unaufloͤslichkeit dadurch, daß 
er mit Unrecht auch bier den Widerſpruch der einzelnen Bundesſtaaten 
(die ratio prohibentis) in Bunbdesangelegenheiten für entfcheidend er- 
Plärt (f. dagegen oben III, 2). ' 

Auch der erwähnten genialen Schrift von Pfizer müflen wi 
vormwerfen, daß fie alle wefentlidhen oder generifchen Unterichlede 
zwifhen Staatenbund und Bundesflaat, bie der rechtlichen Nas 
tur, dee Zwecke ber Grundbedingungen und der Gewalt von beiben, 
verwifcht und aufgibt. Zwar fol nah &. 42 der Staatenbunb 
nur rein voͤlkerrechtliche Sicherung begründen, und fogar ein voͤl⸗ 
lig freie Belieben für die einzelnen Bundesglieder, jeden Augenblid ben 
Bund aufzugeben. Damit im Widerſpruch aber, foll (nad &. 95 u. 
166 ff.) der Staatenbund mit dem Bunbesftaat und mit dem 
Staate felbft „ganz benfelben gemeinfhaftlihen Haupts 
„zweck der inneren und aͤußeren (alfo auch ftantsrechtlihen) Sicher⸗ 
y beit, und eben deshalb auch gleiche rechtlihe Gewalt und Mittel zur 
„Erreichung bes gemeinfchaftlihen Zwecks“ haben. Es fol alfo auch 
im Staatenbund, der eine „ftantenartige Bereinigung fei”, eine wahre 
fouveraine Regierungs⸗, Gefesgebungs :, Vollziehungs⸗ und Richter⸗, 
ja Strafgewalt über den einzelnen Bundesregierungen ſtehen; es Toll 
abfolute Stimmenmehrheitögewalt in allen gemeinfchaftlichen Angelegens 
heiten und für den Bundeszweck gelten, und die einzelne fouveraine 
Megierung ihre rechtliche Meberzeugung von entgegenftehendem Recht und 
von dem Wohl ihres Staats mit Gehorfams » und Aufopferungspflicht 
gegen das Ganze, der Stimmenmehrheit unterordnen müflen. Nur 
bie relativ größere Ausdehnung der Gewalt des Bundesſtaats 
auf mehrere Begenftände foll diefen von dem Staatenbund uns 
terſcheiden. Weil aber diefer Unterfchied durchaus relativ, ſchwankend 
und gar Fein Sattungsunterfchied ift, fo müßte man hiernach folgerichs 
tig eine ſolche Unterfcheidung von Bundesflaat und Staatens 
bund fallen laffen, und nur die flaaterechtlichen Bundesvereine und 
das bloße völkerrechtliche Buͤndniß gegenüberftellen. Die bisherige Aus⸗ 
führung III und IV und V aber hat e8 wohl Ear gemacht, daß ſo⸗ 
wohl nach der Natur der Mechtsverhättnifie, als nad) ihrer Geſchichte 
aud) der Stantenbund von dem Bunbesftaat fi. wahrhaft 
weſentlich unterfcheide. Und wie — wir müffen es wiederholen — 
wie, mit welchem Recht, mit welcher Logik und mit welcher Gewalt will 
man denn fouveraine Regierungen zum Grgentheile von allem dem bes 
flimmen, was fie wollten und erflärten, zum abfoluten logifchen Wi: 
derfpruche mit ſich ſelbſt, — ſolche namentlih, melde zwar für ein 
blos völkerrechtliches Schuß = und Trugbündnig eine Summe duferer 
Hoheitsrechte gemeinfchaftlih ausüben wollten, babei aber bie uns 
verlegte Bewahrung ihrer Souverainetät als Grundgefeg, als Grund⸗ 
Bedingung, als erſten Vereinszweck erklaͤrten? Gouverain wollen fie 





Band. 111 


ſein und bleiben, und zu gehorfamspfliätigen Abhaͤngigen 
wil man fie machen, Einem höheren fouverainen ſtaatsrecht⸗ 
liden Gemeinweſen, bas fie nicht anerkennen, ‚fie und ihre ſou⸗ 
verainen Staaten, bern Recht und Wohl, unterthänig unterorbnen, 
vielleicht aufopfeen! Einen voͤlke rrechtlichen Berein gleicher Ge⸗ 
ſellſchaftsgenoſſen wollten fie bilden: und nun follm fie kKaatsredts 
lich undunter einer fouverainen Staatsg e walt oder Stimmen: 
mehrheitsentfheibung über die umfaffendften, gefellfchaftlichen 
Angelegenheiten zu einem Staat vereinigt fein, umb zwar zu einer 
Republik, wie Pfizer mit ungerechtem Zabel über den Ausfchluß 
ber Stimmenmehrheit jedem Staatenbund nennt: Was ift benn 
anders das Wefen eined Staats, als fouveraine Gewalt für 
den Geſellſchaftszweck, ale wahre höchite Gefepgebungs s, Vollziehungs⸗ 
und Nichtergewalt, gleicdyviel für den Begriff, ob fie etwas mehr oder 
weniger ausgedehnt ift, ob fie durch eine unbedingt .demefratifche 
Stimmenmehrheit, oder wie fonft, gehandhabt wird? Worauf will man 
denn nun biefe nicht gewollte, fouveraine Staatsgewalt und die Abs 
bängigkeit von Souverainen begründen? Etwa darauf, daß der Zweck 
fo beffer erreicht werde? Aber auf dieſe Weife koͤnnte man auch aus 
bloßen Bölkerbündniffen eine ſouveraine Staatsgewalt über den Allür- 
ten deduciren. Oder foll etwa jener beliebige freie Austritt aus dem 
Staatenbund die Souverainetdt der Bundesglieder retten? Aber das 
waͤre hoͤchſtens ein Mittel, fie wieder zu erlangen; während ber 
Dauer des Bundes wäre fie jedenfalld verloren. . - 

Weit verkehrter ift ed aber, wenn andere Theoretiker fich tiber 
innere Widerfprüche geradezu damit tröften, dag man Mifhungen zwi⸗ 
ſchen Staatenbund und Bundesftaat, zwifchen fnatsrechtlicher und voͤl⸗ 
Ferrechtlicher Natur rechtfertigen könne. Nichts aber zeigt mehr den 
Mangel tiefere und gründlicher Einfiht in die Natur diefer völfer- und 
flaatsrechtlichen Verhältniffe und in ihre Wiffenfchaft, ald dieſes. Was 
würde mohl einer der claffifchen römifchen Juriſten und Staatsmaͤn⸗ 
ner von ber Pfufcherei deſſen geurtheilt haben, der von einem beſtimm⸗ 
ten Rechtsverhaͤltniß zwifchen zwei Leuten ausgefagt bätte: es fei ein 
Statusrecht, und auch kein Statusrecht ; ein Dingliches oder perſoͤnliches 
Recht, und auch nicht dinglich, nicht perfönlihz; oder es fei halb 
Statusrecht, Halb Eigenthum, halb Obligation ? Laͤßt fich denn audy 
generifch Verſchiedenes, juriflifh und logiſch MWiderfprechendes in 
demfelben Einen Redjtöverhältniß vereinigen? Alſo etwa eine 
wirkliche, völkerrechtliche Societät freier, ja fouverainer Socien und ihre 
wirkliche Staatsverbindung ; ihre volle perfönlicdye Souverainetät und 
ihre Unterthanfchaft unter fouverainer Gefesgebung und Zwangs⸗ und 
Strafgewalt; eine nationale und ſtaatsrechtliche Staatsverbindung einer 
freien Nation, und doch -Ausfchluß der Nation und der Bürger von 
aller Theilnahme und allem wahren Bürgerrecht, vielleicht felbft von 
dee Meinungsäußerung in dieſem Vereine, der ihre Rechte und Pflich⸗ 
ten, ihre Schickſale und ihre Orunbverträge befimmen und verändern 


112 Bunb. 

mit Wie mag man boch folhe wirklich verberblihe Theorien vers 
breiten wollen? Gibt es denn Feine Vernunft, keinen Zrieb nady Con⸗ 
feguenz und Harmonie in den Völkern und in den Dingen, wodurch 
wahrhaft fich felbft widerfprechende, die gefunden Rechtsbegriffe um» 
fehrende und beleidigende Einrichtungen, Mißachtung, Kraftlofigkeit 
und Auflöfung entfteht, oder wenigſtens innerer, tevolutionairer Streit 
und Kampf bie: zur Zilgung des Widerſtreits, durch Ausflogung bee 
einen widerfprechenden Hauptfeite? Könnten wohl vollends nach fol 
her Theorie geformte Bundeseinrichtungen ihr widernatürlicd zufammens 
geſetztes Dafein dauernd behaupten? Könnten fie ihren ſchweren Zweck 
der Erhaltung und Sicherung aller Heinen und großen Bundrsglieder, 
ihree Befonderheit und ihrer feiten Vereinigung zur Vertheidigung in 
der Gefahr erfüllen? Kür die ruhigen gefahrlofen Verhaͤltniſſe und 
Zeiten bebarf’s Feines Bundes. Schlägt aber durch diefe oder jene, 
innere ober aͤußere Bewegung die Stunde ber Gefahr, nun dann wehe 
denen, die fih auf Innerlid Franke Inſtitute verließen, von ihnen, 
welche vielleicht die erfte bedeutende Grife, der erfte Kanonendonner lähmt 
oder aufiöft, ihr Heil erwarteten, und fo andere Hülfe, namentlich ins 
nere Kräftigung, vernadhläffigten ! 

Es ift nicht die Abfiht dDiefer ganz allgemeinen Bes 
trahtung, weder die Schwierigkeiten eines bloßen Staatenbuns 
des, noch bie des Bundes ſtaats abzuleugnen, und einen oder den 
andern abfolut und allgemein zu vermwerfen, oder auch für dieſe ober 
jene Nation rechtlich und politifhy zu begründen. Nur ergreife man 
— wo es aud) fii — den einen .oder ben andern jedesmal 
ganz und rein und confequent! 

Bedenklihe Seiten allerdings hat zwar der reine Staatenbund. 
Statt eines gemeinfchaftlichen, lebendigen Nationalgeiſtes und höheren 
Pflichtengefeges , ftatt des Gemeingeifted eines wirklichen, lebendigen Ges 
meinwefens wird bier leicht, felbft über den wefentlichften Bundeszwed, 
dad fouveraine politifche Sonder s und Eingelintereffe fiegen.. Statt 
daß jene erfteren die Schwerkraft und das Gefes der Vereinigung bil⸗ 
den, kann es nun leicht die überwiegende Macht ber größeren Bun⸗ 
desſtaaten thun. Statt daß im nationalen Bundesflant bie Kleinen 
und die großen Staaten ſich gegenfeitig ausgleihen in der Mationals 
veprdfentation und durch die nationale Kraft des nationalen zur Sprache 
getommenen Gemeingeifts, und in patriotifcher Theilnahme an der Ehre, 
der Freiheit und dem Wohl des gemeinfamen Vaterlandes, für ihre 
Opfer von Souverainetätsrechten reichliche Entfchädigung finden, koͤn⸗ 
nen im Staatenbunde oft der Zweck und das Recht und ber Beſtand 
des Ganzen durch die unvolltommene Verbindung gefährbet werben. 
Leicht können befonders die Zleineren Staaten, fo wie Roms. oder 
Napoleons Bundesgenoſſen, trog ungleich größerer Opfer ihrer: 
Souverainetät und ihrer Ehre, als ein nationaler Bundesſtaat je ger 
fordert hätte, huͤlflos und von der Nationalkraft verlaffen, der befons 
dern Politik ober Laune der größern anbeimfallen, vollends, wo biefe 


Bund, . 113 


dem Bund völlig fremde Intereſſen und Kräfte haben. Und faft noch 
im beften Falle kann der Mangel wahrer Unterordnung wenigſtens von 
Einzelnen unter die Stimmenmehrheit, die Bunbesthätigkeit lähmen, 
und die Kraft und bie Einheit und bie Dauer des Bundes gefährden. 
Befonders mißlich könnte eine Schwächung der eigentlichen innern Le⸗ 
benskraft ber patriotifchen Liebe der Bürger und ihrer glücklichen feſten 
Bereinigung mit ber eigenen Regierung werben. Ohne beſonders guͤn⸗ 
flige Verhästniffe könnten vielleicht ihre Sreiheitöinterefien in einem 
bloßen Regierungs⸗ und Diplomatencongreß öfter Gegner oder body 
parteliſche Richter in eigener Sache und in ber Verbindung mit frems 
Den Regierungen verboppelte Gefahr finden, während im Bundes: 
ſtaat die NRationallraft und ber Nationalgeift fchon von felbit bie 
Schutzwehr ber Bürger bildet und auch die hoͤchſte Bundesregierung, 
. fo wie einft dee deutſche Kaiſer, dabei weſentlich intereſſirt ift, 
fie gegen die Willlür ber Einzelregierungen zu befchügen, und ſich die 
Nationalkraft zu verbinden. Denn im Bunbesflaat iſt legtere eine 
Legitime Macht, Im Staatenbund nicht, vielmehr oft ignorirt ober 
unbequem, vielleicht angefeindet. Fuͤr den Kal der Noth denkt man 
eft bie entichlafene jederzeit beliebig wieder ermeden zu können. 

Aber bei dieſem Allen ift es keine leihte Sache, einen 
Bunbdesflaat zu gründen, auch felbft dann noch nicht, wenn man den» 
ſelben fo, mie die nordamerikaniſchen Publiciſten, nad, den guten Er⸗ 
fahrungen von bemfelben und nad) der früheren fhlechten von dem 
Staatenbund, nod fo fehr für die „Bedingung aller Freiheit und 
„HOrednung, alles dauernden Wohls und Rechtszuſtandes einer großen 
„Mation” halten möchte. Es bleibt ſchwer, felbft wenn audy die ganze 
öffentliche Meinung ſchon darüber entſchieden wäre, daß er am beiten 
bie erfte und legte Aufgabe aller Staatsvereinigung einer. Nation Löfe, 
naͤmlich bie möglichfte Freiheit mit der Einheit dauernd zu verbinden, 
dieſes Grundgefeg der Staaten, welches eigentlich mit dem der Schoͤ⸗ 
pfung oder dem „der Harmonie in der Mannigfaltigkeit" 
zufammenfällt. Freilich alsdann, in ſolchen gluͤcklichen Momenten, wird 
es leichter fein, einen tüchtigen, nationalen Bundesflaat zu gründen, 
wenn dad Bedürfnig beffelben, wenn die Gefahren feines Mangels und 
die des Staatenbundes fo allgemein und lebendig gefühlt werden, wie 
1787 in Nordamerika, wie vor einiger Zeit vielleicht in dee Schweiz, 
fo endlich, wie vielleicht in Deutfchland, unmittelbar nach ben fucdhts 
. baren Unfällen für’ die etliche dreißig große und Beine Staaten, die von 
mehr als breihundert fich allein glücklich gerettet fahen, nach Unfällen, 
die für die Regierungen, wie für die Bürger gerabe nur durch die 
Lähmung und Unterdrüdung ber Nationalverfaffung und bes National 
geiftes entflanden, und nach ber glorreihen Rettung und Befreiung 
gerade durch die wiebererwachte Nationalgefinnung, und durch den blos 
Ben Glauben an die verheißene Wiederherftellung einer freien Nationals 
verfaffung. (S. Bluͤcher.) Unter folchen oder ähnlichen Umftänden 
allerdings kann vielleicht einer Nation diefe ſchwierigſte aller poli⸗ 

Staats⸗ Lexiton. IIl. 8 


114 Bund. 


tifhen Schöpfungen gelingen, fofern nicht etwa zuvor noch Brößere® 
Unglüd möthig ft, um alle befondern Staaten praktiſch genügend zu 
überzeugen, daß ohne fortdauerndes möglichft kraͤftiges Wirken ber Nds 
tionalkraft die Bleinern gegen die Uebermacht ſowohl ber größeren wie 
der Fremden, bie größeren aber gegen die Fremden und deren freie oder 
erzwungene Verbindung mit den kleineren — fie alle aber gegen die " 
Folgen der Verlegung ber tieffien und ſtaͤrkſten Nationafgefühle und 
Bebuͤrfniſſe nicht genuͤgend gefichert feien. Gluͤcklich alsdann, wenn 
dieſe Weberzeugung nicht zu ſpaͤt kommt, fo mie einft vor dem un⸗ 
elädlihen Untergange Griechenlands! (Th. J, S. 196.) Ueber 
haupt endlih mag jene Schöpfung gelingen, wenn durch irgend gluͤck⸗ 
liche Umftände zugleich die Bürger und die Reglerungen mehr, als 
man im Durchſchnitt menfchlicherweife zu erwarten berechtigt if, vom 
Gefühle nationaler Einheit und von ber heiligen Pflicht gegen bad ge 
meinfchaftliche Vaterland ergriffen und höherer Weisheit zugänglich find. 

Sucht nun aber eine Nation in ſolchen Lagen nicht in dee locke⸗ 
ren Verbindung eines völkerrechtlihen Staatenbundes, fonbern im Buns 
besftaat und in der mwirkfamen und einigen Nationalkraft und in ber 
Erfüllung der Nationalpflihten gegen bad gemeinfame Vaterland - bie 
Verbuͤrgung von Ehre und Wohl, nun alsdann muß man au treu 
und folgerichtig bie wefentlihen Forderungen de8 Bundes 
ftaats erfüllen. 

Sind dagegen die Bedingungen eines Bundesſtaats entweder 
überhaupt nicht, ober doch jest noch nicht vorhanden, oder auch als⸗ 
dann vielleicht, wenn man etwa in befpotifchen und fflavifchen Zeitals 
tern und Nationen aud bei einer Zerfplitterung bes Volks in viele 
Staaten Liebe und Achtung der Bürger für ihren vaterländifchen Zus 
fand entbehren, Freiheit und Recht und Ehre der Nation gefahrlos 
hintanſetzen koͤnnte, alddann wirb die Rede nicht fein vom Bundes 
ſtaat. Gtaatenbändniffe oder ein Staatenbund werben 
feine Stelle einnehmen. Erwaͤhlt man nun aber ben letzteren, ſo muß 
man alsdann ebenfalld wenigftene feiner Natur getreu bleiben. Durch 
Einmifchung bee Verhäitniffe des Bundesftaats in benfelben ers 
reicht man ber Regel nad) keinen einzigen Vortheil bes letzteren, uns 
tergräbt aber zugleich nach dem Bisherigen bucch die Unnatur folcher 
Vermiſchung und ben Widerſtreit der Kräfte und Intereſſen bei der 
felben bie voͤlkerrechtliche Sicherung und den Beſtand auch de8 Staa: 
tenbundes; vielfeicht um fo mehr, je weniger wirklich die Nation 
fhon tief gefunten iſt. Namentlich bürfen weder die mächtigern, noch 
die fchwächern Bunbesglieber glauben, da, wo einmal die Mationals 
kraft und Mationalgefinnung einer wirklichen Träftigen Bundes: 
ſta at s⸗Verfaſſung und die Organe für biefelbe, die Kräftigung und 
Sicherung durch biefelbe fühlen, etwa ihre eigene &icherheit und den 
Bund verflärden zu können, durch Eingriffe in bie Souveralnetät der 
Vereinsftaaten. ine nächte Folge davon koͤnnte fein, daß dadurch 
die kleineren, bald nur noch ſcheindar fouverainen Regierungen, fammt 


Bund. 115 


ihren Bürgern ben maͤchtigern und ihren Intereſſen huͤlflos preisgeges 
ben würden. &o erlag alle Freiheit ber übrigen griehifhen Stans 
ten zuerſt unter atheniſcher, dann unter ſpartaniſcher, zuletzt 
anter macedoniſcher Oberherrfchaft, fo bie phoͤniziſchen Städte 
in Aſien der Herifhaft von Tyrus, die ber afrikaniſchen der Herr⸗ 
(haft von Carthago, die der lateiniſchen und fo vieler andern 
zömifhen Bundesftaaten ber Herrfhhaft von Rom. Aber mit ber 
Vernichtung dee Nationalfreiheit und Kraft, und durch den uns 
natürlichen Zuftand der Unterdruͤckung, häufig auch durch die Verbin⸗ 
dung ber Fremden mit den Heinern Bundesſtaaten, wurden in alten 
und neuen Zeiten auch die mächtigern und herrſchenden Bunbesglieder 
gefährdet. Schon Athen und Sparta, Macedonien, Tyrus, 
Carthago und Rom erlagen ja balb nah fo großen fcheinbaren 
Machterweiterungen ben Schlägen ber Fremden und dem Verderb im . 
innen. Was insbefondere Kraft und Stimmung, Freihelt und Wohl 
ber in viele Staaten getheilten Nationen betrifft, fo iſt auch in Bes 
ziehung auf fie, bei dem Mangel einer wahren Eräftigen Bundesſtaats⸗ 
verfaffung und Nationalreprdfentation, der Regel nad) ficher das ein» 
zige Heil nur in firenger Wahrung der Natur, der Folgen und Gren⸗ 
zen des Staatenbundes, vor Allem alfo auch der innern Souverainetät 
und Freiheit der Vereinsſtaaten. Diefe Freiheit und freie befondere 
Entwicklung nad) befondern Bebürfniffen und Neigungen, fodann ihr 
allgemeiner freier Wetteifer, fowie Liebe unb patriotifcher Stolz 
wenigſtens für die befondeen Landesverfaffungen und Regierungen, wer⸗ 
den alsdann doch einigermaßen die Vortheile des Bundesſtaats, feiner 
Einheit und vereinigten Kraftentwidlung erſehen. Vollends aber find 
alle die Gefahren und Nachtheile ausgefchloffen, bie für einzelne Mes 
gierungen, wie für den Bundesverein entſtehen koͤnnten, auch nur durch 
den fo leicht ſich erzeugenden Gedanken, kleinere Staaten müßten nicht. 
etwa ber Nationalehre und Sicherheit, fondern der Uebermacht und bem 
befonbeen Vortheil einzelner Mitflaaten, fih und ihre theuerften Rechte 
aufgeopfert fehen. Kurz es find alsdann überhaupt jene ſchon berührs 
ten größten Gefahren befeitigt, welche entftehen würden durch alle jene 
obigen Miderfprühe und Unmahrheiten jener Mifchungstheorie, die 
Widerfprüche naͤmlich von einem nationalen Gemeinwefen und Bürgers 
recht mit Ausſchluß der Nation und ber Bürger, von fouverainen 
Staaten und Bürgern, bie es nicht find, von Rechtsgleichheit bei hoͤch⸗ 
ſter Ungleichheit, von Rechts⸗ und Freiheitsſchutz, der nur Rechte und 
Freiheiten vernichtet, von Sicherung, bie nicht fichert, von Unaufidsbars 
keit ohne Zufammenhaltbarkeit, von legitimen, durch die öffentliche Treue 
verbärgten Forderungen, denen ihre Befriedigung entſteht. Nichts iſt 
anf bie Dauer ſchwaͤcher und verderblicher, als Unnatur und Unmahrs 
heit. Und was nicht ganz und folgerichtig, das Hi, was es fen foll 
und fein will, das kann weder Liebe, Vertrauen unb Frieden im In⸗ 
nern, noch Kraft und Achtung nady Außen dauernd begründen, 


116 Bund. Bund Gottes. 


VI Schluß. Doch genug wohl der Beweiſe ſelbſt aus ben 
Theorien ber erften Publiciſten, Daß in der Lehre von den Staatenver⸗ 
einen noch viele falfche und verworrene Begriffe herrſchen! Diefes mag 
nun allerdings das Urtheil über etwaige Verſtoͤße im Leben ſehr mil: 
dern. Gleichguͤltig jedoch wird alle diefe Irrthuͤmer Niemand halten, 
ber die unermeßliche Wichtigkeit dee Bundesverhättniffe richtig wuͤrdigt 
unb ber es weiß, daß falfche und verworrene Begriffe im Wiffen auch 
eine falfhe und vermorrene Anmwenbung erzeugen, der ed emblich in 
ber Gefchichte beobachtete, daß einerfeitd innere Widerſpruͤche zur Kraft: 
tofigkeit oder zur Anarchie und Auflöfung führen, und baß anderer: 
feit8 in demjenigen, mas einmal im Leben Wurzel faßte, aud wenn 
es an ſich falſch und verkehrt, ein wahres Unkraut ift, eine Kraft der 
natürlichen Affimilation und Confequenz Jiegt, die leicht zulegt auch. 
das Beſſere ſich nachzieht und übermältig.. Weichen aber felbft im 
einfahen Staate fhon der Zwang und die Furcht und eine Außerliche 
Unterdrüdung mißbeliebiger Richtungen nimmermehr aus, um wie viel 
mehr muß biefes von dem viel fchwierigern und zufammengefegtern 
Bunbesverein einer Nation gelten! um wie viel mehr muß man bier 
duch die innere Kolgerichtigkeit und Güte der Einrichtungen, und 
durdy die freie Achtung und Liebe aller Glieder dem Ganzen Harmonie 
und Kraft im Frieden, den Sieg in ber Gefahr zu verbürgen fixeben! 

C. Th. Welder. 

Bund, deutſcher, rheiniſcher, Bundestag, Bun— 
desfeſtungen u. ſ. w. — ſ. deutſcher Bund und Rhein- 
bund, auch Deutſchland. 

Bund Gottes — mit Abraham und unter Moſe 
mit dem ganzen althebraͤiſchen Volk, um ſich von ihm 
zum Nationalkoͤnig waͤhlen zu laſſen. Wir betrachten dieſe 
uralte Ueberlieferung aus der Moſaiſchen Religionsgeſchichte aus dem 
ſtaatswiſſenſchaftlichen Geſichtspunkt, welchem das althebraͤiſch-Geſchicht⸗ 
liche eben ſo wenig fremd bleiben darf, als das griechiſch⸗ oder roͤmiſch⸗ 
Claſſiſche. Nicht ſelten iſt gegen die Behauptung, daß jeder Staats⸗ 
verein auf einem ſtillſchweigend und factiſch anerkannten Vertrag, auf 
Bedingungen beruhe, welche Menſchen gegen Menſchen nothwendig vorz. 
ausſetzen muͤßten, die Einwendung gemacht worden, wie wenn 
nad der Geſchichte nie ein Staat auf dieſem Wege ent: 
ftanden wäre Vergeſſen denn aber die, welche fo feſt nur auf 
hiftorifchem Boden zu ſtehen ſich rühmen,, gerade die ditefte, in vielen 
Ruͤckſichten heilige Gefchichtüberlieferung? Jenes biblifche Alterthum 
fegte unftreitig voraus, daß felne heilige Gottheit gerade das wolle und 
thue, was die Menfchen, wenn fie das Rechte wollen, thun follten. 
An diefem Sinn allein konnte das Alterthum gewiß fein, baß der von 
Abraham und feinen Nachkommen geglaubte „gerechte, höchfte Gott” mit 
den zu feinem Bilde gefchaffenen, freiwollenden Menſchen nicht nach ſei⸗ 
ner Uebermacht und Gewalt, fondern fo, mie es eines Freiwollenden ges 
gen Freiwollende wuͤrdig ifl, durch Vertrag oder Buͤndniß, ſich in Ver⸗ 


Bund Gottes. 117 


bindung ſetze. Iſt auch gleich der Pentateuch (mie neuerlichft ber treff- 
liche Beleuchter des indiſchen Alterthums, Prof. von Bohlen zu Koͤ⸗ 
nigeberg, in der Einleitung zu feinem Werk über bie Genefis — 
Königsb. 1835, in 8. — mit neum Gründen durchgeführt hat) hoͤchſt⸗ 
wahrſcheinlich fpät unter (den Königen Joſaphat und) Joſia von Prieftern 
gefammelt und oͤffentlich promulgirt werden, fo ift doch keine Wahrfchein: 
lichkeit, daß erft fpätere Priefter, nachdem das Volk lange ſchon unter erb⸗ 
lichen Königen und zum Theil Defpoten gelebt hatte, eine Erzählung, wie 
Jehovah ſich den zwoͤlf Volksftämmen durch Mofe zum Wahlkönig habe 
anbieten laffen, aus ihrer Zeit in die aͤlteſten Nationalepochen zurüdgetras 
gen haben könnten. Hoͤchſtwahrſcheinlich muß es vielmehr vordavidi⸗ 
ſche, gefchichtliche Ueberlieferung geweſen fein, daß der Volksretter und Ge⸗ 
feggeber Mofe nur diefe Weife, die 12 Nomadenhorben ale Eine Nation 
unter ihrem lange zuvor, als hoͤchſter Weltgott anerlannten, Jehovah 
willig, vertragsmäßtg und dur förmlihe Wahl zu verei— 
nigen, für gotteswürdig und menfchlidyverbindlich angefehen und baher 
für feine an dußere Freiheit gewöhnteren Beduinen und ihre Stammemirs 
wirklich zu Bildung des althebräifhen Staatsvereins angewendet habe. 
Bon diefer Seite her verdient alfo ohne Zweifel jener theofratifche 
Bund zwifhen einem an ſich übermächtigen, aber body gerechten Regen- 
ten und dem als freimählend anerkannten Volke ſtaatswiſſenſchaftlich in's 
Auge gefaßt zu werden. Was das fromme Alterthbum als getteswürdig 
geachtet hat, zeigt fi hierduch auf Hiflorifhem Boden. Auch 
kann wohl der mädhtigfte Menſch unter uns nicht leicht behaupten, daß 
eben das unter feiner Würde fei, mad wir in unſerer Bibel als gettes- 
wuͤrdig überliefert finden. | 
Bei allen Uebereinkünften ber Menſchen, mögen fie mehr erzwungen 
oder mehr freigemwollt fein, ift als Präliminarartitel die ſtillſchweigend 
geltende Bedingung unerläßlich vorauszufegen, daß fie nihts, was 
den Menfhen an der Anwendung feiner Kräfte zum 
Moͤglichguten bindere, enthalten bürfen, vielmehr jene Kraft: 
anwendung, den Umftänden gemäß, fördern folen. Was in der Men: 
ſchennatur der Paciscirenden zum Boraus als Pflicht gegründet ift, 
das gilt bet allen Verbindungen ale ſchon beftehende Verhältniß- 
befiimmung, d. i. als nothwenbdiger Vertrag. Tritt dere 
Menſch zum Menfchen in ein Verhäftnif, fo hat Jeder vom Andern vors 
auszufegen, daß derfelbe als Menfc die einfache Einficht (werin auch nicht 
ben Willen) habe: Ich foll den Mitmenfchen im Bewirken des Mögliche 
guten nicht hindern, vielmehr foͤrbern! Und ebendied habe ich ihm zuzu⸗ 
muthen. Wenn er mit Gewalt oder Kift das Gegentheil bei mir hervor: 
rl verſucht, habe ic) die Pflicht und das Recht, ihm zu wider 
ehen! — u 
Dies ift fo fehr in der Menfchennatur gegründet, daß ſelbſt bie alt- 
hebräifhen Nomaden, fobald fie ihren Gott als einen rechtwoͤllenden (Ge: 
nef. 18, 15. 14, 22.) dachten, offenbar annahmen, daß er, wenn er gleich 
als der Uebermächtige ſich mit ihnen nicht über bie Schubbedingungen in 


+18 ' Bund Gotted. 


ein Untechanbeln einlaffe, bennody mit ihnen in einen „Bunb”, bas 
beißt, in einen Staatsvertrag diefer Art trete. Diefer war zwar, 
wenn wir es nach unferer Weife ausbrüäden, ein octroyirter. Gott 
war in Abrahams zum Hoͤchſtguten ſich erhebendem Gemüth (im Denken 
und Wollen bes Gottandaͤchtigen, das ift, im heiligen Geifte) wie ein Uns 
abhängiger, da® echte Wiſſender, welcher nicht nach Verabredungen, 
fondern einfeitig angebe oder offenbar mache, wie Er fei und wie fie fein 
follten, wenn fie auf ihn als Leiter und Schußgott rechnen wollten. 
Aber weil dieſe unverborbenen Naturmenſchen ſich in Gott gerade das, 
was richtig und recht fei, als wirklich dachten, fo verftand es ſich für fie 
von felbft, dag er mit ihnen nicht zwangsweiſe, fondern buch Bund 
obere Vertrag in das Schutzverhaͤltniß trete, und daß biefem Paote 
social bie — ſtillſchweigend fo gut, wie lautbar — gültige Bebingung zum 
Grund liege: Euer Zuftand foll, dag Ihr das Möglichgute thun koͤnnet, 
zum Zweck haben! Denn mas hatten die Worte: „Wandle vor mir unb 
fei tamim = ein vollftändig gut Gewordener!“ (Gen. 17, 1), im ſchllch⸗ 
ten, edeln Raturfins, in jenem AbrahamesCharakter Anderes zu bedeuten 7 

Achten wir nody genauer auf das, was, nach dem Erfolg zu urtheis 
(en, bort im menfchlichen Bermußtfein vorausgegangen fein muß, auch ehe 
es in beſtimmte Worte und Kormeln gefaßt werben konnte. ’ Jeder 
Menſch weiß ſich in feinem Innerſten, als wollend, freithätig. Das, 
was er nach Erfahrungen oder durch Schlüffe ald recht und gut, oder als 
böfe denkend ſich vorſtellt, kann ihn aufregen, bewegen, fogar nöthigen, 
aber nicht zwingen. Er kann gegen bas Sültigfte und Anerkauntefte 
gegen die VBernunfteinficht, was um ber Vervollkommnung willen fein 
oder werden follte, und gegen die Berftandeseinficht Über die Mittel 
und Wege, dennoch fein dictatorifches Wollen fegen: „Ich will aber nicht, 
daß es mir gelte!” Erſt durch das entgegengefeste: Sch will, daß das 
Richtiggedachte auch mir als bleibende Vorſchrift gelte, wird die Einficht 
für den Wollenden innerlich beftimmend. 

Mod, vielmehr ift er frei und ungehemmt-willensthätig, wenn er ſich 
sum Einesfein in ſich ſelbſt erhoben und zur Norm gemacht hat: Ach 
mil zum Voraus und ohne alle andere Motive, dag, mas ich denkend 
als das Rechte, welches gelten Tollte, anerfenne, jedesmal fogleich 
auch Mir, dem Wollenden, für meine ganze weiterfolgende Willensthäs 
tigkeit wirklich geltel — Dies möchte da6 Apriorifche des Wollen 
gu nennen fein. Es iſt das im Geiſte vollendete Rehtwollen, 
der Grundſatz ber „Ueberzeugungstreue”. 

An einem fo Präftig vechtfinnigen und uneigennügigen Gemüth nun, 
wie es in Abraham mehr als in irgend einer andern altteflamentlichen 
Perſon gefchilbert tft, und daher ſchwerlich etwas Ins Fruͤhere blos Zuruͤck⸗ 
getragenes und gleihfam nur Romantifches fein kann, vielmehr als origis 
nell erſcheint, mar dieſes Bewußtſein bes Freiwollenkoͤnnens unb das 
Würbegefüht des Rechtwollens unfehlbar ſehr lebhaft, ohne dag ex es in 
kuͤnſtliche Worte zu faffen vermochte, Man benkt, will und empfindet, 
ehe man pafleade Wortztichen dafür. hat, Des unter Wielgöttern gehorxn⸗ 





Bund Gottes, 119 


Abraham konnte (nad) Joſua 24, 2. 3.) vermöge feines erhabenern Cha⸗ 
ralters, andere, als ſinnlich wollend geſchilderte Goͤtter nicht länger, er 
will nur Einen über Alles vechtwollenden, als feinen Elohlm ,Hoch⸗ 
verebrlichen”, hochachten. Eben deswegen ift es ihm auch, ohne baß er 
fich einer förmlichen, kuͤnſtlichen Schlußfolgerung wörtlich bewußt iſt, nicht 
anders denkbar, als daß fein rehtwollenber Gott auch Ihn als 
freimwollend für das Rechte wolle, und daß alfo berfelbe fein 
fchügendes Wohlwollen nicht an Bedingungen eines beliebigen Machtge⸗ 
bots binde, fondern ald Bund oder Vertrag, und zwar unter einer 
Bedingung anbiete, die jeder Menſch von dem andern zu forbern und je⸗ 
der dem andern zu gewähren ſtillſchweigend in ſich felbft verpflichtet ſei. 
Abrahams treubefefligte Ueberzeugung (Aemunah) iſt: „Mein Bott will 
nur meine freie, aber unbedingte Dingebung in das, mas Er, der Recht⸗ 
wollende, für das Rechtwollen entiweder durchaus (abfolut) nöthig, ober 
nach Umftänden (relativ) förderlich wollen kann.” 

. So [hin und edelmüthig zeigt ſich in jener patrlardyalifchen Mer 
Ugiofität das in jenen freier waltenden Nomaden lebendige Bewußt⸗ 
fein, daß der Menfch freimollend für alles Gute, Rechte, Vollkommene 
fein folle, daß jeder andere Menſch eben biefes Bewußtſein in ſich 
Habe, daß, wenn zwei ober mehrere in eine Unterordnung gegen einans 
der kaͤmen, beide Theile jenes Bewußtſem nicht aufgeben, nicht igno⸗ 
ziren, nicht dawider handeln dürfen, daß folglich (die Unterordnung 
möchte übrigens noch fo beſchwerlich fein) auf beiden Seiten body bie 
Achtung jenes menſchlichen Bewußtſeins unverleglihe, wenigſtens nie 
verlierbare Bedingung fuͤr das Beſtehen der Unterordnung ſei. Dieſe 
gondilio sine qua non des Regierens und des Sich⸗regleren⸗laſſens If 
ihnen bie unabänberliche Vorausſetzung, bie, weil beide Xheile als zum 
Wollen des Rechten verbundene Geiftweifen nicht ohne baffelbe Bewußt⸗ 
fein fein Eönnten, auch unausgeſprochen gelte, nicht verjährt 
werde, vielmehr, wenn es je unterbrüdt war, immer aufs neue geltend 
gemacht werben dürfe und fogar folle, fobalb es nad) ber willkuͤrlichen 
Unterdrüdung wieder erfennbar geworben. if. 

Was der nachdenkende Menfch in ſich felbft als wahrhaft gut, alfo 
als das, was er wollen foll, anerkennt, eben das denkt er ſich, ſobalb 
ee nicht blos Uebermacht, ſondern auch Rechtwollen und Richtigwiſſen 
als das Aechtgoͤttliche erkennt, in feinem Gott als wirklich. Das 
ber zeigt es fich .in Abrahams Gemüth als entfhiedene Vorausſetzung: 
„Ih, nach meinem innigften Bewußtfein, fol frei wollen koͤnnem für 

bie Rechtſchaffenheit. 3 V— 

Alſo kann auch mein rechtwollender Bott mi In dieſer Bezie⸗ 

hung nur als einen, der das Freiwollenkoͤnnen nicht verlieren 
„kann und nicht aufgeben darf, behandeln. — | 
„Er kann alfo mich nicht un geweiſe, ſondern mit meiner 
Einwilligung burg Bund, obes vertragsweife ſich unterordnen 
wollen — 


120 Bund Gottes. 


„und biefer fen Vertrag, wenn ee auch allerlei Leiflungen mie 
zu Bedingungen feines Wohlwollens und Schuges (für die Hoff⸗ 
nung, ein eigener Zandesbefiger zu werden u. dgl. m.) vorzeichnet, 
kann und darf nicht die (einfeitig willkuͤrliche) Bedingung enthals 
ten, daß ich je etwas leiſten ſollte, was meiner Pflichteinſicht, das 
als das Rechte Erkennbare frei zu wollen, zuwider wäre.” 
Sogar wenn die ganze Ueberlieferung von Abrahams unelgennäßls 

ger, Eräftiger, tapferer und doch milder Großartigkeit nicht etwa bios 
in einzelnen Ausmalungen, fondern felbft in den Grundzügen bes Chas 
rakters und der Begebenheiten ein Mythos (eine zuruͤckgetragene na⸗ 
tionale Wundererzählung) vodre, fo würde doch Har, daß der alte Erfins 
ber diefer für ben Gott Abrahams und für Abraham felbft ruhmvollen 
Geſchichten in ſich die Einfiht gehabt habe: Nur ein folhes Betras 
gen fei Gottes und Abrahame würdig geweſen! — Uebrigens bin ich 
hiftorifch-pragmatifch überzeugt, das Mythiſche im hebraͤiſchen Alterthum 
niemals fo mweit ausbehnen zu dürfen, weil, wenn irgend ein ſpaͤterer 
Denker zum Ruhm der Nation an die Spibe derfelben einen ſolchen 
auch im Irrthum (bei der eine Zeit lang für göttlidy gefordert angefehes 
nen SohnssAufopferung) erhabenen Charakter zu flellen für das Wuͤrde⸗ 
vohfte gehalten hätte, ebendiefer Mythosdichter alsdann nicht in If anf 
einen fo ſchwachen, in Jakob einen zmifchen Gottesfurcht unb eigens 
nüsiger Lift fchwantenden, in ben meiften der zwölf Stammbäupter 
oder ſogenannten Patriarchen aber vollends roh-felbftfüchtige Söhne von 
bier duch Eiferfucht verkehrten Muͤttern gefchildert und erfchaffen has 
en würde, 

Ein biftorifh unleugbares Beiſpiel Haben wir demnach 
vor uns, daß dem Emir einer althebr. Beduinenhorde, nad, ſeinem 
ununterjochten, aber nicht Fünftlich ausgebildeten menfchlihen Naturvers 
fland, dies einleuchtete: 

„Ich darf, ja ich fol verftändigerweife, von dem Maͤchtigeren ober 
Maͤchtigſten Hülfe fuchen und annehmen für Erhaltung und Meh⸗ 
rung meines ſinn lichen dußerlihen Wohlbefindens, 

„aber immer nur unter der in feiner und meiner geiftigen Na⸗ 

tur gegruͤndeten Vorausſetzung, daß er mich ſchon 

‚An der Art der Unterordnung ſelbſt (die nicht Sklaverei⸗ 

und Willkuͤrzwang, fondeen ein verabredeter, oder wenigſtens uns 

ee angebotener“ Bund und Vertrag. fein fol) — und 
be - | 


„in der einzelnen Ausübung als Einen, welcher Menſch 
blabt, welcher alſo das Rechte und Gute verwirklichen zu wollen 
nicht aufgeben darf — 

behandle, wenn er meiner: Folgſamkeit als einer von mir aner⸗ 
- Bennbaren Pflicht ſicher fein mil. "0. ° 
Der Turze Zweck diefer- — wenn vielleicht ſchen zu weitkäuftig 
ausgefponnenen — Ausführung ift nur biefer, durch em hiſtoriſches 
Datum darzuthun, daß ſogar der ungebildete Menſchenverſtand entwe⸗ 





Bund Gottes, 121 


der Abrahams ober ſeines alten Geſchichtſchreibers, laͤngſt auf die Ein- 
fiht kommen konnte: auch von dem mädhtigften Geift foll der ſchwa⸗ 
che Menſch, doc, weil er Menfch ift, vertragsmäßig, d. b. mit 
Reſpect gegen das Ihm unverlierbar eigene Freimollenlönnen, und fo 
behandelt werben, daß für die ihm im Sinnlichen gewährten Vor⸗ 
theile nichts, was feinem geiftigen Sreimollen des Rechten zumider wäre, 
vielmehr alfo das, was dazu förderlich fein kann, zur Bedingung ges 
madt werde. 

Und ebenbiefe menſchenwuͤrdige Vorausſetzung wird uns in ber 
althebräifchen Weberlieferung nicht etwa blos in Beziehung auf das Vers 
haͤltniß des rechtwollenden Gottes gegen Einen als gegen einen einzeln 
ausgezeichneten Menſchen, wie Abraham, fondern als das gottans 
ftändige, alfo für Menfhen mufterhafte Benehmen: des 
Höcften, der Elohim gegen ein ganzes Volk vorgehalten. In 
der Wirklichkeit, oder — wenn man ja aufs Aeuferfte zweifeln will — 
mwenigftens in den Gedanken Mofe’s und feiner zwölf noch an freie 
Stammes und Samilimregierung gewohnten Nomabdenhorben erfchien dies 
als die gott⸗ und menſchenwuͤrdigſte, in ſich haltbarfte Entſtehungsart eis 
ner nicht fehr leicht zu verwaltenden Volksregierung, daß, nad) der für alle 
eonftitutionelle Staatsverfaffung hoͤchſt metkwuͤrdigen Urkunde 
(2. Bud, Mofe 19.), 

fogar der von dieſen Abrahamiden anerkannte „Bott über Alles” 

zum dußerlihen Staatsgefeggeber und rechtlichen Megenten ihnen 

nur als Freimollenden und Wählenden angeboten wurde, 

und. daß alsdann erft, nachdem Vs. 8 „al das Volk vereint geant: 

wortet hatte: Alles, was Jehova geſprochen hat, wollen wir thun!“ 

das feierliche Promulgiren der Gebote als Staatsgefege begann unb 

fo mit Recht und durch eigenwillige Verbindlichkeit beginnen zu 

Eönnen anerkannt wurde. 

Ich enthalte mich hier weiter auszuführen : 

a) Daß bei einem fo freiwillig acceptirten (guttheoßratifchen) Gottes: 
regiment von felbft- der Maßſtab gegeben war: wird etwas, das 
Gott gewiß nicht mollen kann, von feinen Interpreten, den 
Drieftern (Vs. 5.), verordnet, fo darf es nicht anerkannt und be: 
folgt werden! ° — . 

b) Daß der zum Volksregenten ermählte Weltgott oder ber mir be⸗ 

- wundernsmwürbige, ſtrenge und doch frei⸗ rechtſinnige Geſetzverkuͤndi⸗ 
ger Moſe nach einem gewiß nicht von dem Prieſterſtamm erfundenen 
religiöfen Sprechfreiheitsgeſetz, Deuteron. 18, 14— 22. 
(welches aber gewöhnlich nicht ganz richtig uͤberſetzt wird). jedem 

Hebraͤer erlaubte, in heiliger Begeiſterung ale Nabi, d. I. als 
Eraltitter, gegen Alles, was er als nicht von Gott gewollt anfah, 
frei vedend aufzutreten, wobei er, . fo lange er feinen andern 
(einen nicht rechtwollenden, fondern heidniſch willkuͤrlichen) alß 
Gott verkuͤndige, geſchuͤtzt fein und von ber Nation zum Ueberle⸗ 
gen (nicht zum blinden Befolgen) „gehoͤrt“, ſelbſt alsdann aber, 


122 Bund Goftes, : 


wenn ee anmaßlich geist habe, nur (DE. 22.) „Bott übten‘ 
werben follte. 

o) Daß der Mofalfdhe Prieſter⸗ und Levite n ſt am m bei 
ben Althebraͤern nicht nis. bloße Zunft fauler Opferer eingeſetzt, 
ſondern als Rechts⸗ und Geſundheits⸗Beamte im gan⸗ 
in Lande vertheilt, alfo auch zu populären Kenntniffen genöthigt 


und 

8 bet den Mofatfchen Hebräern überhaupt dem Gott Jehova 
niemals für eigentliche Suͤnden und Geſetzuͤbertretungen °), auch 
nie um ſeine Gunſt zu gewinnen, ſondern nach den ausdruͤck⸗ 
lichſten Opferungs⸗Vetordnungen, Levit, 4, 2. 13. 14. 27. 5, 

1—4. 15., nur wegen einer im Irrthum begangenen und nachher. 
erſt erfannten Verfehlung ein Schul s und Strafopfer geopfert 
werden burfte, bee theokratiſche Prieſterſtand alfo viel eine ambere 
Stellung als der heibnifche hatte (ungeachtet eben biefe im Alten 
Teſt. deutlich ausgefprochene, einer göttlichen Volksregierung wuͤr⸗ 
bigere Stellung ſchon von den an das Deibnifche gewohnten Kir- 
chenvaͤtern und ſeitdem faft von allen Kanoniſten und —— 
nicht nad) dem woraliſch⸗ politiſchen, d. i. guttheokratiſchen, Ge⸗ 
ſichtspunkt gefaßt und gedeutet worden iſt). 

Faſſen wir aus dieſem Speciellen der beiden bibliſch⸗ hiſtortſchen 
Data das unſern Hauptzweck betreffende Reſultat zuſammen, fo iſt 
es dieſes: 

Die Entftehung einer gotteswürbigen Staatöverfaffung durch einen 
feeiwillig eingegangenen Bund, durch ein paote social, ift fo gar 
nicht verwerflid, undenkbar ober unpaffend, daß fie 
vielmehr wohl als ein biblifc, » religioͤſes Worbilb aller nah Moſe 
und Jeſus Chriſtus gottglaͤubiger Staatsvereine, beſonders als Vor⸗ 
bild fuͤr jede heilige Allianz betrachtet werden darf. Sie wurde 
populaͤr (nach der Faſſungskraft unverkuͤnſtelter, ſich frei fuͤhlender, 
religioͤſer Menſchen) duch ſehr ausgezeichnete Vormaͤnner, wie 
Abraham und Moſe, gedacht und eingeleitet. Auch haͤngt die Ver⸗ 
wirklichung dieſes paoto spoial mit ſehr gut wirkenden Grundbe⸗ 

griffen zuſammen, daß naͤmlich dadurch 

a) eine ideale Norm gegeben war: „was Gott nicht wollen 
kann, d. h. was unſtreitig dem freien Wollen des Rechten und 
—— zuwider wäre, kann nicht als Geſetz angenommen odar bei⸗ 

behalten werben I” 

-b) Sottandächtige Redefrelheit ober begeifferte Veröffenttichung des . 
Prwaturthens zum Lob oder Zabel beiten, was s Sry woden ober 





4) veigſevc nen⸗ fuͤr * —— «ou 


veiben® an bie raͤer 
artigſten 


fe gef We 
alle. für mehrere —— — inelnanber, . u 





Bund Gottes, Buonaparte. 423 


bleiben foll, iſt dabei nicht zu hindern, aber auch nicht ale prophes 
tiſch bindende Auctorität ohne eigene Beurtheilung zu befolgen ! 

0) Die Diener eines ſolchen gotteswuͤrdigen pacte social müffen durch 
bie abminiflrativen Einrichtungen felbft genöthigt fein, für die Bes 
bürfniffe- der Regierten ſich tüchtig vorbereitet zu haben, oͤrtlich 
thätig zu wirken, auch | 

d) nicht von Sünden und Sünbenftrafen zu leben, nicht durch Vor⸗ 
urtheile von einer durch fie erreichbaren Verfühnung Gottes ſich 

in einiger Gültigkeit zu erhalten u, f. w. 

Gegen die ſtaatswiſſenſchaftliche, rechtliche Worausfegung, daß 
jeder Verein zwifchen Regierungen und Megierten nur als ein moraliſch 
vertragemäßiger zu denken fei, wird demnad nicht mehr einzuwenden 
fein, daß die Ideologie eine hiſtoriſche Wirklichkeit für fi) habe. Wer 
„von Gottes Gnaden“ regiert, wird und muß vornehmlich die biblifche 
Religionsgeſchichte als hiſtoriſchen Boden und höher ſanctionirtes Vorbild 
anerdennen. Dr. Paulus. 

Buͤndniß, f. Allianz. | | 

Buonaparte, Napoleon, und fein Haus. Es Fann 
bier nicht unfere Abficht fein, eine Lebensbefchreibung oder vollſtaͤndige 
Charakterſchilderung des großen Mannes zu geben, der mit bem Ruhm 
feiner Thaten, mit den Denkmalen feiner Geiftes s und Heldenkraft, 
feines beifpiellofen Gluͤckes und feines erfchütternden Sturzes die Welt 
erfüllt hat. Der Strom diefed verhängnißreihen Lebens ift an uns 
felbft vosübergeraufcht und die hervorragendflen Erfcheinungen und Wuns 
der, bie er mit ſich führte, flehen tief eingeprägt in unferer noch fris 
fhen Erinnerung. Auch würde ſchon eine bloße Skizze, wenn fie nicht 
allzu dürftig wäre, den Umfang eined Buches erreichen und von hiftos 
riſchen Büchern, welche Napoleons Perfon, Schiefal und Wirken zum 
Gegenſtand haben, befigen wir fchon eine große Zahl und werden ihrer 
noch manche andere erfcheinen fehen. Wir befchränken uns baher auf 
einige wenige, bee Staatsmwiffenfhaft näher angehörige, Betrady- 
tungen, zu melden der allgemeine Ueberblick ſolcher Gefchichte den na⸗ 
türlihen Anlaß gibt. 

Das Allererſte, was hier dem Gedanken ſich darſtellt, iſt der ganz 
einzige — in der gefammten Weltgefhhichte noch nie in gleichenz 
Maße vorgelommene — Ruf zum mächtigen, weithin nad) Zeit 
und Raum entfheidenden und zwar wohlthätigen und menfdyenbeglüdens 
den Wirken, melhen das Schidfal unferem Helden verlieh; woran 
dann natürlich die Frage fi anreiht: ob ober inwiefern er folchen Ruf 
begriffen und treulich erfüllt oder aber verkannt, vernachläffigt, miß⸗ 
braucht oder felbftifchen Intereſſen nachgeſetzt habe. Schon zur Wür- 
bigung ber Kraft ift der erſte Standpunkt nothwendig, zur mora⸗ 
liſchen Würdigung führt dann am ficherflen ber zweite. 

Wohl gab es noch weiter gebietendbe Herefcher als Napoleon, auch 
Eroberer, bie noch mehr Land als  .mit ihren Kriegsſchaaren über: 
ſchwemmt, ſiegreich durchzogen und. ihrem Scepter unterworfen haben ; 


124 | Buonaparte. 


Auguft’s und Trajan's Reich war größer, jenes von Karl M. 
wenigſtens nicht Kleiner al& Napoleon’s, und von dem macedoni- 
{hen Helden herab auf Gengis-Chan und QTamerlan haben 
viele Kriegsmeifter in der Schwäche oder Entartung der Völker umher 
den Reiz und den gebahnten Weg zu Errichtung von Weltreichen ge: 
funden. Dody den Eroberern, wenn nicht eine große Idee und eine 
dafür empfüngliche Welt ihren Waffen ſich befreundet, iſt Zerſtoͤren 
leichter al Aufbauen, und alle Kraft des Genies und des Charakters 
fetbft eines Weitgebietenden vermag nichts oder wenig gegen einen wi⸗ 
derftrebenden Geift der Nationen oder die Ungunft der Weitlage. Selbſt 
ber große Caͤſar — in vielen Dingen fonft vorzugsweife Napoleon 
zu vergleichen — fcheiterte fhon In dem Verſuche, fich bie Krone aufs 
Haupt zu fegen, an dem noch lebenkkraͤftigen republilanifchen Geiſte 
Roms (auch Napoleon wäre gefcheitert, hätte er nur wenige Jahre 
früher die Republik umzuſtuͤrzen verfucht), und Auguftus vermochte 
zwar das der VBürgerfriege müde Voll duch „Brod und Spiele” 
zu firren, doc erlaubten ihm bie getflige und moralifche Erſchlaffung 
im Innern und die Barbarei von Außen mehr nicht als die Befeftigung 
der eigenen Herrſchaft. Weltbeglüdung, Weltveredlung, Boranführen 
der Menfchheit durch Verwirklichung großer Ideen märe ihm, auch 
wenn er felbft dergleichen geheget und folche® Ziel fich vorgeſteckt hätte, 
nimmer moͤglich gewefen. Aehnliche Unempfänglichkeit der Zeit für hoͤ⸗ 
here Geiftesfchöpfungen — nicht eben durch Erfchlaffung, wohl aber 
durch Rohheit oder Verwilderung — hinderte Karin MM. an tieferem 
und bleibenderem Einwirken oder befchränfte daffelbe auf bloßes Zufam- 
menwerfen von Maffen, deren lofe Verbindung unfähig mar, den kom: 
menden Stürmen zu trogen und auf nothdürftiges Legen von rohen 
Grundfteinen, auf welhen das eigentliche Gebäude — ſchoͤn oder miß- 
geftaltig, dauerhaft oder unhaltbar — aufzuführen,‘ den Nachkommen 
oder den Zufälten überlaffen blieb. 

Nicht alfo Napoleon. Ihm war vom Schickſal die Bahn ge: 
ebnet zum glänzendften ‘Ziel und es flanden ihm alle Mittel zu Gebot, 
das Größte und Herrlichfte zu vollbringen. Als ee — der ſchon frühe 
die Bewunderung ber Welt gemwefen durch Kraft, Gtüd und Tha⸗ 
tenalanz das Scyreden Defterreichs, Im Kriege der erſten Coalition, 
der Eroberer Italiens, Gründer neuer Republiken dafelbſt und glors 
reicher Friedensftifter zu Campo Formio, fodbann Eroberer Mal 
ta's und Egyptens — auf die Kunde von Frankreichs Unfällen im 
zweiten Goalitiondfrieg dahin unverhofft zurüdkehrte, erfchien ber allein 
Unzüberwundene, der wundergleich vom Gluͤck Beguͤnſtigte, durch alle 
Fehler, Mißgeſchicke und Sünden ber übrigen Häupter vergleichungsmeife 
noch mehr Emporgehobene, der durch die Niederlagen ihrer Deere ges 
beugten, durch unfeligen Parteientampf' zerrüttetn, von theils tyrannis 
ſchen, theils unfähigen, überhaupt felbftfüchtigen und unter fich felbit 
entzweiten Gewalthabern regierten Nation, als von der Vorſehung ei⸗ 
gend gefandter Netter. Allgemeines :Wertrauen, allgemeine Hulbigung 


Buonaparte. 125 


unter allen Glaffen bed Volks famen ihm entgegen, bie verſchiedenſten 
Parteien richteten auf ihn ihre Hoffnung / und als er durch einen kuͤh⸗ 
nen Gemaltftreih (am 18. und 19. Brumalre) bie Directorialregierung 
umftürgte, verzieh man ihm benfelben nicht nur, fondern dankte ihm 
dafür. Die Dictatur, bie er jego als „erfier Conful“. an ſich 
riß, erfchien ale einzig uͤbriges Heilmittel für das innerlich kranke und 
von Außen fchwer bedrohte Reich. Muͤde der langwierigen Unruben, 
Drangfale und Aergerniffe, vor den Schreden einer abermaligen Revo 
Intionsregierung bange und mehr als die ftürmifche republifanifche Frei⸗ 
heit die endliche Wiederkehr der Drbnung und Ruhe begehrend, Tieß die 
ngeoße Nation” fi eine neu gefchaffene Verfaffung gefallen, wel⸗ 
che, mit Beibehaltung blos einiger republifanifcher Namen und Schat- 
tenbilder, der That nad die unsmfchränktefte Gewalt in die Hand 
des Einen legte, und alles, durch die Großthaten und Leiden ber Re: 
volution fo theuer erkaufte, politifche Recht des Volkes wie feiner 
angeblihen Vertreter in leere Formen und Taͤuſchungen ummanbelte. 
Die neuen Triumphe des genialen Kriegsmeifterd über Defterreih und 
die Coalition, fodann die gewinnreichften Friedensfhlüffe und, nad 
abermals eräffnetem Kampf, wmieberholte zerfchmetternde Schläge auf alle 
Feinde befeftigten, vollendeten den flolzen Bau. Das Frankenvolk, von 
Bewunderung und Siegesfreude trunken, betete an vor feinem „Erb⸗ 
Eaifer” Napoleon, und Europa, theild gebemüthigt, theils in 
Freundſchaft ihm verbunden, vernahm mit Achtung, mit Unterwürfig- 
keit oder mit Schreden fein weitgebietendes Wort. 

Jetzo, oder vielmehr fhon früher, noch als erfier Conful und gleich 
nach ben Sriedensfhlüffen von Zuneville und von Amiens, hätte 
er alles Gute für Frankreich und für die Welt zu bewirken vers 
modt. Er, der Erbe der Revolution, melde eine Unermeßlichkeit 
geiftiger und moralifcher nicht minder als materieller Kräfte im Schooße 
der großen Nation ermwedt, entfaltet, in glorreiche Thaͤtigkeit gefegt hatte, 
Er, jest über alle diefe Kräfte mit Vollgewalt verfügend, der Wieder⸗ 
berfteller der lang entbehrten Ordnung, Ruhe und Gefebesherefchaft im 
Innern, zugleich der Wiederherftellee des Weltfriedene und, wenn er 
wollte, der zuverläffigfte Beſchirmer deffelben, teil mächtig genug, jede 
ungerechte Störung abzuhalten oder zu rähen — Er durfte jest blos 
noch den edlern Richtungen bes Beitgeiftes mit Treue ſich bingeben , fidy 
an die Spige der Ideen ftellen, deren Verwirklichung das Ziel ber Revo⸗ 
lution in ihrem erften, fchönern Stadium gewefen, ben Grundfägen ber 
ächten Freiheit, ber Gerechtigkeit, ber Mäßigung, daher neben ben For: 
derungen bes natürlihen innern Staatsrechts aud jenen des 
dußern, d. h. allgemeinen Völker: und Menſchenrechts, that 
ſaͤchliche, uneigennügige Huldigungen darbringen, um neben ber liebens 
den Verehrung Frankreichs aud) der dankbaren Anhänglichkeit aller frem⸗ 
den Völker, d. b. des denkenden und wohlgefinnten Theile berfelben , ges. 
wiß, und mittelft derſelben Herr ber Beſtimmungen bes Welttheild zu 
fen. Wäre er, nachdem bie Nothwendigkeit ber Dictatur vorübergegans 


126 VBuonaparte 


gen, alt bloßer Praͤſident ber freien Republik ober auch, falls bie 
monarchiſchen Formen fuͤr Frankreich zutraͤglicher oder gar unentbehrlich 
erſchienen, als conſtitutioneller Erbkoͤnig (oder Erbkaiſer) an 
ber Spitze bes Staates geblleben, ec wäre immerdar maͤchtig genug für 
alles Gute — meil Dabei mit dem vernünftigen Nationalwillen im Eins 
Hang — geweſen, und er hätte, bei treuer Beobachtung einer auf ächte 
Volksrepräfentation gebauten Werfoffung, Franktreich zum Muſter⸗ 
ſtaat für die cvilifirte Welt, zum glänzendften Vorbilb wohlderwahrter 
geſetzlicher Freiheit und aller duch fie befchirmten Öffentlichen und Pri⸗ 
vat s Wohlfahrt erheben mögen. Die durch ihre politifche Stellung an 
die franzöfifche Allianz oder an ben franzäfifchen Schug näher angewieſe⸗ 
nen Staaten hätten ſodann, Im eigenen Intereſſe und durch die Gewalt 
ber Verhältniffe dazu angetrieben, baffelbe Syſtem ber Werfaffung und 
Verwaltung (in den Dauptprincipien, mithin unbefchabet ber National⸗ 
Eigenthümtlichkeiten) gleichfalls angenommen, unb es wäre dieſes Syſtem 
und mit demſelben ein dee mündigen Voͤlker würbiger, vom Zeitgeift 
dringend geforderteer Rechts zuſtand dadurch auf einer unerfchütters 
lihen Grundlage befeftiget worden. Auch die — fel e8 wegen minder 
vorangefährittener Givilifation oder wegen allzu feſt gewurzelten hiſtori⸗ 
fhen Rechts, fer ed wegen dynaſtiſcher oder abfolutiftifcher Interefien — 
dem Spfteme abgeneigten Mächte hätten — ſchon ber politifchen 
Mivalität und der Intereffen des Ruhms willen oder aber dem täglich 
gewaltigen Steome ber Öffentlichen Meinung und dem burch das Be 
fpiel des nachbarlichen Gluͤcks geftachelten Verlangen ber eigenen Völker 
nahgebend — wenigſtens Einiges gewähren, und dadurch den 
Grund legen müffen, morauf In allmäligen Kortfchritten das Gebaͤude 
conftitutionellee Freiheit fi) hätte erheben innen. Wären fie jedoch, 
um folder Mothwenbigkeit zu begegnen und die anſteckende Kraft des 
Beifpiel abzuwenden, mit entichiedenee Keindfeligkeit gegen das 
tiberale Spftem und defien natürlihen Beſchuͤzer, Frankreich, aufe 
getreten ; fo wuͤrden bie jego gerechten unb von ber öffentlichen Mei⸗ 
nung unterflügten Waffen deſſelben wohl leichten Triumph errungen 
haben; und es hätten fobann neue, dem Bebuͤrfniß ber Nationen 
entiprechende Schöpfungen unter dem Fußtritt eines großmüthigen 
Siegers hervorgehen mögen. Dergeflalt wäre bie „politifche Res 
form” — heut! zu Zage vom Zeitgeift fo gebieterifä, gefordert als 
vor drei Jahrhunderten bie Firhlidhe — friedlich ober kriegeriſch, 
jebenfalls unter den Aufpicien ber großen Nation ımb Ihres genialen 
Hauptes vollbracht und diefes mit der Krone des ſchoͤnſten Muhms, 
den jemals ein Sterblicher errang, gefhmüädt worden. Die Neptaͤ⸗ 
fontativs VBerfaffung in reiner Geflaltung umb treuer Beobachtung, 
die Preßfreiheit, berfelben wie jedes Rechtszuſtandes Bedingung 
und Buͤrgſchaft, die Verbreitung bes Lichts unter allen Volks⸗ 
claſſen mittelſt mohleingerichteter Schulen und vernünftiger Lehre, 
Denk⸗ und Spredhs Freiheit, bie Wiedereinfegung des natuüͤrli⸗ 
chen Rechts in die ihm gebührende, doch feit laͤngſter Beit verkuͤm⸗ 


Buonapart⸗. 127 


merte, fa verfpottete Herrſchaft über das hiſtoriſche, die Abfchaffunk 
aller mit jenem ewigen Recht unvereimbarlichen Einfegungen und abſolu⸗ 
tiſtiſchen ober ariftofratifchen (als grundherrlichen, leibherrlichen, zehent⸗ 
hertlichen, u. a. dgl.) Anſpruͤche, bie radicale Reform der gefammten 
Befeggebung, fo wie ber bürgerlichen und peinlihen Gerichte, 
die Herftellung möglichft allgemeiner Handelsfreiheit, endlich Die 
Reinigung auch der Kirche wie bed Staates von allen Mißbräuchen 
und verkehrten Einrichtungen, die Abſchaffung des Cölibats, bie 
Befreiung von jedem Gemiffensgwang, bie Sriedensftiftung 
zwiſchen den ſich anfeindenden Confeffionen, überhaupt alle Wohlthaten 
und Segnungen ber zur Herrfchaft erhobenen Vernunft und Humas 
nitaͤt hätten Europa zu Theil werden mögen, wenn Buonaparte das 
bin feine Richtung genommen ober ſolches Ziel ded Strebens ſich gefegt 
hätte. Auch verlangten, erwarteten es Scankreih und Europa von 
ihm. Hat er der Erwartung entſprochen? — 

Freilich mag es Schmärmeret fcheinen , von einem Kriegsmeiſter und 
welcher durch Siegedruhm zur Dictatur gelangte, eine ganz reine, 
felbftverläugnende Tugend zu erwarten (Wafhington’s Charafter ſteht 
faft einfam in der Gefchichte): doc, mag fchon die edlere Ruhmbe⸗ 
gierde die Unvolllommenheit der Tugendkraft erfegen, und zur Erfires 
bung de8 Guten an ber Stelle bed Glaͤnzenden fpornen; und auch 
die blos theilweife oder an naͤhernde Erfüllung eines hohen Berufes 
Hat auf dankbare Anerkennung Anfpruh. Hat Buonaparte denfelben ers 
eungen? — Was war das Ziel feines Strebens? Ein gluͤckliches, freies, 
lichterfuͤlltes, von ben Voͤlkern geachtete® und geliebtes, ihnen als Vorbild 
des Buten bienendes Frankreich und, unter deſſen Aegide, die mög» 
lichſt allgemeine Herrfchaft des Rechts und die der Menſchheit 
sum freien und freudigen Voranſchreiten in allem Guten zu öffnende 
Bahn 1 7 — Nein! leider nein! Er verlangte nichts, als ein weitge» 
bietendes, mo möglid weltbeherrfhendes Frankreich, und 


für fich felbft und fein Haus den Befig des mit unbeſchraͤnk⸗ 


ter Vollgewalt auszurüftenden Weltthrons. Dem Glanze 
des Kriegsruhms und dem in dee Geſchichte fo gemeinen Durfte nach 
Herrſchaft und nad Stiftung eines regierenden Haufes opferte 
er dergeftalt auf den unermeßlich edlen, den vom Schidfal ganz eigens 
ihm dargebotenen Ruhm des Freiheitbegründers im Baters 
Land und des MWohlthäters der Menfhheit. Darum follte 
Frankreich zmar mit dem Raub der Nationen und auch durch eigene Ems 
ſigkeit und Kunftfertigkeit ſich bereichern, ber Ordnung und Ruhe und 
einer wohlgeregelten Verwaltung fich erfreuen, alle dem Krieg und ber 
Staatswirthſchaft dienende Künfte und Wiffenfchaften treiben und durch 
großartige — übrigens alles Lobes werthe — Anftalten und Gründungen 
zu folchen Zwecken (als Heerfixaßen, Kandle und anbere koftbare Lands 
und Waffer: Bauten u. dergl.) ſich verherrlicht ſehen: aber ber gefam- 
melte Reichthum follte blos die Schatzkammer für den Dictator, bie ſtets 
bereite Huͤlfsquelle für feine Herrſcherplaͤne, zumal ber Kriegsluſt forte 


a} 


\ 


128 . Buonaparte. 


während geöffnet, fein; Ordnung und Ruhe follten aus blinder Unter 
merfung hervorgehen, folbatifcher Gehorfam der Hebel der Verwaltung, 
foldatifcher Geift die hoͤchſte Tugend der Franzoſen, foldatifcher Ruhm 
ber Erſatz für die Freiheit fein. Alle Wiffenfchaften und Tugenden, wels 
che den Geiſt erheben, die edlere Gemuͤthskraft ftärken, menſchliches und 
vuͤrgerliches Selbftgefühl und Freiheitsmuth einflößen, überhaupt bie hoͤ⸗ 
heren Ideen und ihre, mit dem Namen ber „Ideologen“ weg 
werfend bezeicgneten Pfleger follten keine Heimath haben in dem Deſpo⸗ 
tenreich, fie follten der Verachtung und Anfeindung, nöthigenfalls ber 
gewwaltfamen Unterdrüdung beimgefallen fein. Keine geiſtige Dittheilung, 
als welche dem Gemwaltsherrfcher mohlgefällig wäre, Eein mehreres Licht, als 
ihm nüslich däuchte, follte den Bürgern des großen Reiches zukommen; 
die Pracht des Kaiferthrones, die ſtolzen Siegesfefte, bie Demüthigung 
der Großmächte und vor Allem die Gnade des glanzumffcahlten Herrn 
ſollten an die- Stelle der Verwirklihung der 1789 und 1791 verfündeten 
und fanctionirten dcht liberalen Ideen treten oder die Abfindung ihrer 
begeifterten Freunde und Vertheidiger oder deren ausgenrteten Erben fein. 
An Bezug auf die auswärtigen Völker aber ſollte, deſſelben egoiftis 
ſchen Zweckes willen, immer nur der einfeitige Vortheil Frankreichs, 
d. h. feines Herrſchers, das Princip aller Verhandlungen in Krieg und 
Frieden fein. Eroberung, Unterwerfung, Tributpflicht, Dienftbarkeit 
unter dem Namen der Allianz, und endlich eine Verfaffung, welche ans 
ſicherſten die Lieferung von Geld und Menfchen zum Dienfte des Welt 
herrſchers verbürge: dies waren bie alleinigen Gaben, welche ber Sieger 
ober der angebliche Freund den von feinem ftarfen Arm erreichbaren Voͤl⸗ 
tern brachte. Bon Ausführung großartiger Ideen, von Einrichtungen 
zum Zwed des Nationalglüde war nirgends eine Rebe, am wenigſten 
von Freiheit und Recht. Provinzen des großen Reiche, im 
Sinne der alteömifhen Weltherrſchaft follten die alliirten wie die ans 
geblich befhügten und die Vafallen-Staaten fein; und ale Proconfuln 
follten die — ehemals durch Grundgefege, 3. B. durch landſtaͤndiſche 
Berfaffungen, befchräntten, jegt aber durch des Siegers Machtgebot zu 
abfoluten Derrfchern erklärten — eingeborenen Landesfürften oder die new 
eingefegten Gebieter dienen. Eine Verhoͤhnung des Voͤlker⸗ 
rechts, die zuglih an Charafter und Ausdehnung der von 
Buonaparte (oder Napoleon) begangenen zu vergleichen wäre, zeigt 
(wenn wir von ber Theilung Polens wegbliden) feit der Gründung 
der römifhen Weltherrfchaft, die Gefchichte nicht, und Teutſch⸗ 
land zumal ift das Land, das folder Verhoͤhnung leidbensvoller Schaus 
plag warb. 

Ein kurzer Ueberhlid der von Napoleon Buonaparte ausgegangenen 
politifhen Richtungen, Einfegungen und Schöpfungen im Inland und 
Ausland wird hinreichen zur Rechtfertigung des bartklingenden Urtheils. 

Schon die Art des Umflurzes der Directorialverfaffung (am 18. 
und 19. Brumaire J. VIII, 9. und 10. Novbr. 1799), zumal bie 
gegen ben. Rath bee Künfhundert verübte, mehr als Cromwell'ſche 


Buonaparie. a20 













weit ſei, fobald das Jntereſſ 
die faſt verzweifelte La 
hen Augenblids hier 
die Gonfularverfaffung, -weihe 
enttoorfen und dem überrafchten Volle 
hob bis auf. wenige Namen, und. Fornien alle 
ofen auf,. und. legte ihre Geſchice faft.unbe 
gehn Jahre ernannten ufd dann wieder erwat 
Buongpaite. Nicht eine norüberge 
Gefahr beſchtraͤnkte Dictatur..imard alfo cr 
men möchte; fondern das, fo, mühfam auf; 
Blut und Thränen erkaufte Gebaͤude 
"Shen, fondern überhaipt.der poLisifc 
fländig und für immer, nämlich durch ei 
jchaft beflimmtes Grundgefeg, über, ben Haufen, g 
Zerſtoͤrung de6 Wengen, mas ‚man Au 
— 


ft, Herefch 
epublik un! 
Huldigung. geit 























nat Dip POnher de 
2b). ii illigung verdies 
— men. 


And ihee·¶ Reit 
— grant · 
Haben mir bloß, die 
näher bes 






Ubi iitreichs und 
iden...und  verföhnenden 
der Schteckens zeit her⸗ 






reht/ enthüllte Buonaparı JE fche: en erften Tagen feiner Ges 
welt die Uniauterkeit ‚und; iftifche Richtung feines Strebens, fo wie 
die Unzuhe des eigenen Gewifjens, „d, b..ba6,Mewußtjein, daß er ilntecht · 
chue. Mod hieß Srankreich Mepubtit, md, er entriß, ihm buch 
Mathtgebote die Preffreiheit, unterbrüdte die „Freifinnigen Sa 
male. und verfolgte deren, „Herausgeber, , benahm .alfo ‚em Gefamm! 
willen ‚ober. der Öffentlichen Dieimung,. welche, hie eigentliche, Sipele der 
Republif, überhaupt dag Rechtefigates..äf,, ben ‚ringig „unverfäjhhatsn 
Auttrud,; DE dab .er im Anton Pi. dem —* 
willen· zu regieren mich, gedenfe, daß..ep, elche die 
— —* nl ‚A ne. Same Ewatt, 
nicht aber. echt -die Fortdauer ſeintz. Macht Yet 
Staaks iEziten. UL 0 9. 4 ei denn 










130 BBuonaparie. 


ZZugleich wurde die Verwaltung auf militairifhem Fuße 
eingerichtet. Nicht mehr duch collegialiſch organiſirte Autoritäten, 
ſondern durch rinzelne Befehlshaber, genunnt Praͤfecte, Unterpraͤfecke 
und Maires, koche faͤnimtlich (mit Ausnahme der Maires in Peine: 
ren Gemeinden) ber erſte Confuf ernannte‘, ſollte bie Regierung gefühtt 
werden, die mititairiſche Suborbination alfo zum Hebel auch 
der bürgerlichen Verwaltung bienen. ” 0 
Einige Verſchwoͤtungen, bie gegen. den Gemwaltherrfcher von ein⸗ 
zelnen Feinden geſchmlebet, züum Theit arglifiig durch provocirend® Mes 
gierungs » Agenten in's Dafen gerufen wurden‘, gaben den; Vorwand 
zu noch weiterer Unterdruͤckung der Nationalfreiheſten und zu Gefähr: 
dung ber perſoͤnlichen Sicherheit Aller; zumal: dee Sreigefinntten. Ohne 
Urtheil und Recht wurde einmal über 130 derfelben durch ein Se⸗ 
natusconfult bie‘ Deportation verhängt. Sodann wurden Spe⸗ 
cialgerichtshäfe verfaffungsmidrig durch das ganze Meich errichtet, 
beftehenb and vom Conſul ernannten Richtern, b. h. Dienern der Will: 
Chr, bewaffnet mit dem entweihten Schwerte der Gerechtigkeit. Seibſt 
die Heiligkeit der! Boltsrepräfeiitation fehlemte bie freiſinnigen 
. Männer der Naätion nicht. Als ſich zegen ben vom Conful vorgelegten 
"Entwurf eines neuer bürgerlichen — in vielen Beflimmungen den Intet⸗ 
efien des Defpotismüs buldigenden — Geſetzbuches ein muthiger Wider: 
ſpruch Im Tribunat und im gefeggebendben Körper erhob, fo 
wurden durch ein vom Gonful dietirtes, fogenanntes® „organifdhes 
Seyatusconfult” 20 Tribunen und 60 Gefeggeber aus der Lifte 
der beiden hohen Staatskorper „eliminirt”, und burch das Schrecken 
ſolcher Maßregel die Unterwärfigkeit beiber für die Folgezeit gefichert: 
Aber es ſchien nicht hinreichend, ben Freimuth durch € hreden 
niederzufchlagen ; bie Servilitaͤt mußte hinwieder buch Belohnungen 
gepflegt, die Ideen von: republitanifcher Gleichheit vertilgt und der erfte 
Conſul — im Geift der monarchiſchen Verfaſſung — als Quelle aller 
Ehren und Würden dargeftellt werden. ° Daher die Schöpfung ‘der " 
„Ehrenlegion”, eines neuen Adels, ber eben darum, meil’’er 
nicht erblich, fondern blos bee Perfon ‘und zwar vom: Gebieter 
verliehene Auszeichnung — d. h. eine bloße Gunſtbezeugung bes 
Herrn — mar, aller Selbftftändigkeit wie aller Würde entbehrte, 
Beitimmt und geeignet, allerdings ein Gefchleht von bienftbeftiffe: 
nen Knechten heranzuziehen, nicht aber zur wahren Bürger 
tugend zu ermuntern. | 0 nn 
Mod) einige Trümmer und einige (amade Bollwerke der Freiheit 
hatte die Confularverfaffung übrig gelaffen. Buonaparte, wie alle 
Gewaltherrſcher, Hielt'-fih nicht fiher, fo Tange nicht alle vertilgt 
wären. : Zudem war ihm fchon die Möglichkeit, nah Verfluß der 
zehn Jahre nicht wieder ermählt zu werden, ein unerträglicher Gedanke. 
Alſo ließ er, auf bie im Tribunat von einem feiner Knechte außgegän- 
gene Anregung; ſich zum Lebenslänglihen Conful ernennen, 
und gleich darauf duch ben zur „Erhaltung ber Verfaffung“ 





Buonaparte, 131 


eingefegten Senat biefelbe umſtuͤrzen, d. h. in weſentlichen Punkten 
veraͤndern und jeder weitern Veraͤnderung preisgeben. Ein ſogenann⸗ 
tes „organifhes Senatusconſult“ verlieh (1802) ausdruͤcklich 
dem Erhaltungsſenat das Recht ſolcher Veraͤnderung, auch das Recht,; 
das Tribunat und den geſetzgebenden Körper aufzuloͤſen, Departemente 
außer der Conſtitution zu erklaͤren, das Geſchwornengericht zu ſuspen⸗ 
diren, ja die von den Gerichten bereits gefaͤllten Urtheile umzuſtoßen! 
— Zugleich wurde — weil periodiſche Urwahlen dem oͤffentuchen Geiſt 
ſtets einige. Nahrung geben — das Wahlmaͤnneramt für lebenslaͤnglich 
erflärt und. das (allein mit dem WMecht der Discuffion bekleidete). Iris 
bunat von hundert ‚Mitgliedern, die es zählen ſollte, auf funfzig 
herabgeſetzt. "Die Ereihtung einer. Anzahl von einträgichen Ser 
natorerien, b. h. von reichen, durch den erſten Conful an wohl⸗ 
verdiente Senatoren zu verleibenden Pfrünben, mar ber Lohn für folche 
Dienftleiftung und zugleich die Buͤrgſchaft der fortdauernden: Wilfährige 
keit des Senates. nn \ RR 
: Eine glänzende Probe..derfelhen warb im zweiten Jahre nach, fols 
her Verfaſſungsumkehr gegeben durch ein abermaliged.„arganifches 
Benatusconfult”, welches, aus Anlaß einiger entdeckter Were 
ſchwoͤrungen — welche auch zur :zmiefach rechtsvechöhnenden. Bfutthat 
wider den Prinzen von Enghien den Vorwand gaben — bie lebens⸗ 
laͤngliche Gewalt Buonaparte’s in eins erbliche und :die Republik in 
ein Kaiferthum verwandelte (1804). Es geſchah ˖ ſolches ohne Pie 
fragen des gefeßgebenden Körpers unb ber. Nation: durch bloße. Machtr 
gehot des Senates, und die Bekanntmachung ward. orlafien im 
Namen „Napoleons von Gottes Snaden und durch dir 
Sonftitutionen der Republik Kaifers ber. Franzoſen“, 
Nur darüber,:ob das eigenmächtig gefchaffene Kaiſerthum in bez 
Familie Napoleons erblidy ‚fen follte, wurden Stimmregiſter im 
ganzen Weiche eröffnet. Daffelbe war auch bei der Frage .über dag 
Lebenslängliche Conſulat geſchehen, und dadurch wenigſtens ans 
erkannt worden, daß darüber, wer. fein, Herr fein fole, nur dag 
Volk felbff von Rechts wegen zu entfcheiden. habe. (Die Stifter der 
Fulius s Revolution. zwar. haben diefes vergeſſen; aber darum 
mangelt aud Ludwig Philipps Thron eine durch nichts Anderes 
zu erfegende Stüge, nämlich ein ber Anfechtung entrüdter Rechts: 
titel.) Doc war freilich folche Anerkennung wie ſolche Buflimmung 
(morauf Napoleon ſich fo gerne berief) nur [heinbar, weil die For— 
men der Abflimmung, namentlich der imponirende Einfluß der Behdrr 
den, die Kreiheit aufhoben, und weil man babei die Nichts 
flimmenben als bejahenb zählte. Ä 2 u 
- Immerhin jedoch hätte Napoleon die Emennung zum Erblalfer 
verlangen oder annehmen koͤnnen, ohne fhon hierdurch den, Frei 
heiten feiner Nation oder ben Mechten der übrigen Völker zu nahe 
zu treten. Auch mit dem Erblaifertbum war eine Volksrepraͤſentation 
ober der Grundſatz einer dem. Geſammtwillen bulbigenden, conſtitutio⸗ 
9 @ 


132 Buonaparte. 
nellen Regierimg gar wohl vereinkarlich, und bie Achtung bed Völker 
rechts wäre das trefflichfte Befeffigungsmittel des nenen Thrones ges 
wein. Napoleon aber verfännähte Beides. Ohne Rüdficht. auf 
irgend ein natürliches ober geſchriebenes Recht fchritt er, Tonder Raſt 
und gleich argliſtig als gewaltfam, feinem Ziele, dei’ Weltherrſchaft, 
entgegen, und je . mächtiger nad) Außen, deſto defpotifcher warb er im 
Innern. Freilich gaben die offenem. and ‚geheimen Feindfeligkeiten dee 
Mächte und faſt det gefammten kuropdifchen Ariftokratie gehen den illegi⸗ 
timen Emporkoͤmmling biefem nicht feiten gerechten -Attlaß -zum Kriege ; 
boch noch meit öfter forberte er ducch Gewaltthaten, role ſeit der Mös 
mer Zeit Beine mehr vorgekommen, durch Unerfättfichleie und Ueber⸗ 
muth die GSoalitiener ‚heraus, --unb es kam ſo weit, -baf- 1809 der 
Kaifer von Defterveich im ſeiner Kriegserklaͤrung wider Napoleon mit 
inhaltſchwerer Wahrheit fagen Eonnte, „die Freiheit Europas habe ſich 
unter bie oͤſterreſchiſchen Fahnen geflüchtet”. . In Frifcher Erinnerung uns 
ferer Leſer ſtehen — neben vielen vereinzelten Gemaltthaten, - worunter 
zumal die Hincihtung Palm 8 gegen den Himmel fchreit — bie beiſpiel⸗ 
108 harten Friedensgeſetze, die der ſtets fiegreiche Kriegsmeiſter nach 
einander feinen gedemüthigten: Gegnern vorſchrieb, fo wie der unerhört 
freche, auch im Frieden durch rechtsverhoͤhnendes Machtwort veruͤbee 
Laͤnderraub und Thronenſturz, die nimmer fatte Eroberung, Unkert⸗ 
werfung, Brandſchatzung, Einverleibung, Verſchenkung, Vertauſchung, 
Zerſtuͤckelung, Zuſammenfuͤgung, überhaupt vielfach wechſelnde; willkuͤr⸗ 
lich dictirte Geſtaltung aller von feinem Arme erreichbaren Länder und 
Völker, und dabei .nirgende aud nur eine hochherzige, d. b. von 
Selbſtſucht freie, humane ober politifhe Idee vorwaltend, fordern 
überall nur ſein, bes Herrſchers, Intereſſe und Frankreichs, 
als ſeines Reiches, Macht und Glanz. Ganz Italien mit 
Illyrien, fa ganz Deutſchland, Holland, die Schweiz, 
ein großer Theil Polens, endlih auch Portugalund Spanien 
erfuhren ſolche Unterdrüdung, als ſaͤmmtlich Beſtandtheile entweder bes 
„directen“ oder „indireeten“ Meiches, worüber der Gewaltherr⸗ 
ſcher hier als Kaifer oder König, bort als Schutzherr oder als 
Vermittler oder als Verbündeter, oder ald Familtenhaupt 
feinen Scepter ſtreckte. 
Wohl hat einigen dieſer Laͤnder die Unterwerfung auch Gutes ge⸗ 
bracht, oder haͤtte, wenn ſie laͤnger gewaͤhrt haͤtte, deſſelben brin⸗ 
gen moͤgen, als in Deutſchland Schwaͤchung der Geburts⸗Ariſtokra⸗ 
tie, Loͤfung einiger der druͤckendſten Feſſeln des hiſtoriſchen Rechts, 
Wiedererweckung der ſoldatiſchen Kraft und Verbeſſerung der Regle⸗ 
rungskunſt; in Spanien und Italien bie Abſchaffung der Inquis 
fition, die Milderung ber Pfaffen = und Mönche :Derrfchaft und bes 
finftern Aberglaubeng ; in der Schweiz einen zeitlich erträglichen Vers 
gleich zwifchen Alt und Neu; in Polen menigftens den erften Grund» 
flein zu einer etwa in Zukunſt möglichen Wiederherftellung der Natio⸗ 
nalität ; faſt überall endlich mancherlei ſchoͤne und koſtbare Gründungen 


. 
. 
t 


Buonaparte. 133 


für Beförderung materieller, namentlich ſtaatswirthſchaftlicher Intereſ⸗ 
ſen: aber Alles, was von ſolchen Gütern Napoleon den unterjochten 
Voͤlkern verlieh oder zudachte, war lediglich berechnet auf und bedingt 
durch das feibfleigene Intereſſfe des Deren. Alſo die Schwaͤchung 
des Geburtsadels und eben ſo des Pfaffenthums als der 
wider ihn — jedenfalls den Sohn, wenn auch abtrünnigen Sohn 
der Revolution — in unverföhnlidher Fehde flehenden Kaften, die 
Erhebung der folbatifhen Kraft, ale dee ihm bienfibaren 
und kuͤnſtlichſt an feinen Dienft gefeffelten, eben fo die Verbeſſe⸗ 
rung der Regierungstunft (im ber Hauptrichtung ohnehin nur 
Vervollkommnung ber defpotifhen Verwaltungstunft), als 
Hebels der Dervorrufung der abermal in feinen Dienfl zu verwen⸗ 
benden materiellen Mittel und Kräfte u. ſ. w. Nirgends aber follte bie 
Entfaltung irgend einer felbfifländigen Kraft oder freien Natios 
nalität flattfinden; fondern Regierungen und Voͤlker, bie er zw 
-feinem Reiche zählte, nur ein lediglich von feinem Willen oder 
feiner Gnade abbängiges Dafein haben. Daher die Zerſtuͤcke⸗ 
lung Italiens, woraus fein Schöpferwort fo leicht ein Reich hätte 
bilden mögen ; in Deutfhland die Mifgefialt des Rheinbunds, 
und die Herabwürdigung einerfeitd von deſſen Kürften zu Satrapen 
des Kaiferd und anderfeits von. deſſen Völkern zu Knecht ſchaaren 
der ihnen gegenüber mit un umſchraͤnkter Macht bekleideten Fürs 
fen , die bis ins Herz Deutſchlands frevelhaft ausgedehnte unmittelbare 
Herrſchaft Frankreichs und die Belegung deutſcher Fürftenftühle mit 
franzöfiihen Herren; in Holland der dem Haffe gegen England ges 
opferte Handel und der Raub ber koͤſtlichſten Provinzen, zuletzt die 
völlige Einverleibung; in Polen ber kümmerlihe Bau eined, dem 
unterthänigen Sach ſen verliehenen, Herzogthums Warſchau 
an der Stelle eines unabhaͤngigen, nationalen Reiches; uͤberall endlich 
das Auflegen der ſchwerſten Tributpflicht an Geld und Menſchen, und, 
ſo weit immer thunlich, das Aufdringen franzoͤſiſcher Geſetze 
(zumal der Conſcriptionsgeſeze und auch des buͤrgerlichen Geſetzbuchs), 
franzoͤſiſcher, dem Intereſſe des Deſpotismus dienender Einrichtungen 
und Verwaltungsformen, und des, aus Haß wider England bis zum 
grauſamen Unſinn geſteigerten, ſogenannten „Eontinentalfyflem#”. 
Von dieſer ſelbſtſuͤchtigen, den Rechten und Intereſſen der Voͤlker 
feindſeligen Politik Napoleons zeugt am eindringlichſten die Apologie, 
welche fein geiſtvoller Bruder Eucian (aus Anlaß der im einigen Stel⸗ 
len ihn kraͤnkenden Memoiren bes Generals Lamarque) für bie 
felbe gefchrieben (erichienen zuerft in London, und fodann mit Erwei⸗ 
terungen in Paris bei Ladvocat unter bem Xitel: „La verite sur les 
cent jours par Lucien Bonaparte, suivie des decumens histor! 
sur 1815. S. Minerva, Novbr. 1835: Das Faiferliche gas 
milienftatut (vom 30. März 1806), mwoburd Napoleon alle Glie⸗ 
der feiner Familie zur unbedingteften Abhängigkeit von ihm, als Frank: 
reichs Daupt, verurtheilte, ift bekannt, eben fo wie bie denjenigen, weiche 


3% Buonaparte , 


er zu Megenten erhoben, auksdruͤcklich und Öffentlich. gemachte Ein⸗ 
fhärfung: ihre erſte Pflicht binde fie an den Kaiſer, die zweite 
an Frankreich, und erſt nach biefen beiden folge jene gegen ihre 
oͤlker. Dit Beziehung auf ſolche, das befiere Gefühl empörende 
Verpflihtung (welche auch fpäter Lubwig Buonaparte, ben König 
von Holland, zur Miederlegung feiner für's Wohl feines Volles uns 
mächtigen Krone bewog), erzählt nun Lucian eine hoͤchſt merkwuͤr⸗ 
dige — aus Anlaß eines auch ihm, Lucian, angebotenen Fuͤrſtenſtuh⸗ 
les gethane — ein faft naives Selbſtbekenntniß enthaltende Aeußerung 
Mapoleond. „In der Conferenz von Mantua — alfo lauten bie 
Morte diefer Erzählung — fragte ich, ob ich, der Staat, ben man 
mir anvertrauen wolle, möge ſein welcher er wolle, bafelbft im Innern 
ganz nad) meiner Ueberzeugung handeln inne, alle auswärtigen 
Angelegenheiten feiner oberften Leitung überlaffend. Ich verſtehe Sie, 
jagte,er zu mir, und will Ihnen eben fo freimüthig antworten als Sie 
mid) fragen. Sowohl in Hinficht der Innern als ber auswärtigen Anges 
fegenheiten müffen alle bie Meinigen meinen Befehlen Folge leiſten. Sie 
möchten wohl in Florenz (defien Fürftenftuhl Lucian angetragen war) 
den Medicis ſpielen? — Nein! das behagt mir niht. Auf Frank⸗ 
reichs Intereſſe muß Altes hinzielen, Gonfeription, Geſetzbuͤcher, Abs 
gaben, Alles, Alles muß in Ihrem Staate zum Nugen 
meiner Krone geſchehen. Würde ich fonfl nicht offenbar gegen 
‚meine Pflicht und gegen mein eigenes Sntereffe handeln? Können 
Sie leugnen, daß, wenn Ih Sie frei [halten ließe, das 
ruhige und gluͤckliche Toskana den Neid ber Franzofen, 
bie dorthin reifen, erregen würde??? — Wohl begriff ih 
Napoleons Gründe. Sein Benehmen gegen feine Brüder war biefen 
nicht günftigz; aber nur fie allein und ihre Völker haben das 
Recht, fih darüber zu befhmeren, und Kranfreih kann in - 
‚diefem Benehmen nur bie Seele bes großen Gonfuls, des unter dem 
‚glänzenden. Mantel der kaiſerlichen Dictatur noch immer treu ergebenen 
‚Bürgers ſehen.“ — Es ift hier übrigens Bar, baf, was Krank: 
reich betrifft, das brüderliche Gefühl Lucians bier fein Urtheil beſtach. 
‚Denn wahrlich! nicht nur die fremden Voͤlker hatten Urfache, ſich 
‚zu beſchweren, wenn man ben kaiſerlichen Statthaltern verbot, fie gut, 
-d. h. mild und gerecht zu regieren, damit nicht Frankreich neidifch 
‚übee ihr Gluͤck würde, fondern auch Frankreich ſelbſt erfcheint als 
‚Opfer des Eaiferlichen Ehrgeizes, wenn das Napoleon'ſche Regierungs⸗ 
foftem es in die Lage feßte, die von den Statthaltern etwa fchonend 
behandelten Bafallen = Staaten beneiden zu müflen. 
Auf diefes einheimifche Regierungsſyſtem Napoleons mollen 
wir jeso den Blick werfen. Die fremden Voͤlker, wenn man fie 
mißhanbelte, hatten darüber nur die eigene Schwäche ober das den 
Ueberwundenen harte Kriegs und Siegsrecht anzullagen. Aber 
Frankreich, welches ſich vertrauend in feines eignen Bürgers Arme 
geworfen, Frankreich, nach fo. vielen der Sache ber Freiheit gebrachten 





Buronaparte. 185 


Opfern und nad) fo gloreelhen Triumphen über bie Feinde ber Re 
volution, hatte von Napoleon etwas Beſſeres zu fordern. Mas bat 
er ihm gegeben ? Br 

Er hat ihm MWilflücherrfchaft - gegeben und Niedertretung aller 
Volksrechte. Er hat ihm den glühenden Daß des Auslandes zugezogen 
und den Spott der Freiheitsfreunde; er bat..e# um bie koſtbarſten 
Grundfäge der Revolution betrogen und ein für alle Fünftige Defpoten 
verführerifched Beiſpiel aufgeſtellt von kunſtreicher Errichtung, Ausdeh⸗ 
nung und Sicherſtellung der abſoluten Gewalt ſelbſt uͤber ein von 
Freiheitstraͤumen berauſchtes Volk. 

Schon als Conſul hatte Buonaparte die Hauptmauern zu bem 
von ihm beabſichtigten Gebaͤude bes Abſolutismus errichtet; als Kai⸗ 
fer aber vollendete er den Bau und umgab ihn mit.den feſteſten Boll⸗ 
werfen. Die neue Verfaſſung zernichtete bie noch übriggebliebene ge⸗ 
ringe Bedeutſamkeit der Woffsrepräfentation durch die dem Genat ers 
theilte Befugniß, die Verhandlungen bee Wahlcollegien für ungüls 
tig zu erklären und durch die Aufhebung ber bis dahin dem Tribus. 
nat noch zugeflandenen Deffentlichleit der Berathung. Eine- 
den tepublifanifchen Grundfägen, die Napoleon noch immer mit. dem 
Munde bekannte, Hohn fprechende, überreiche Civillifte (von 25 Mils 
lionen Franken), dazu eine glänzende Hierarchie von „Groß wuͤrde—⸗ 
trägern” und „Großoffizieren“ des Reiches und von vielfach 
geglieberten Horbeamtungen verkündete die Majeftät des von orientalis 
ſchem Gepränge umgebenen neuen Monarchen. Auch ber Papft, 
mit welhem Napoleon, noch als Conful, ein, bie nach vernünftigen 
und felbft nad) hiſtoriſchem Rechte attzuſprechenden Freiheiten ber gallis 
canifhen Kirche vielfach — theils zu Gunſten Roms, theils zu Guns 
fien des erflen Conſuls — kraͤnkendes Concordat gefchloffen (1801), 
ließ fi) bewegen, durch eigenhändige Krönung und Salbung bem Thro⸗ 
ne des maͤchtigen Schugherrn eine das Volk blendende Birchliche Weihe 
zu ertheilen. Die Idee eines republikaniſchen, oder durch den 
Volkswillen erhobenen Hauptes wich alfo jener der „von Gottes 
Gnaden“ überlommenen Gewalt. 

Auch die Idee der republilanifhen Gleichheit wurde nun voll 
ends zernichtet. Denn außer dem perfönlihen (angeblih) Ver⸗ 
dbienftabel der Ehrenlegion, melden der erfle Conful errichtet 
hatte, warb jego auch wieder ein erblicher eingeführt. ine große 
Anzahl von Kriegshäuptern und andern Günfllingen wurde mit ber 
vererblihen Herzogsmürde (mozu theild eroberte Provinzen, theils 
Schauplaͤtze gelungener Kriegsthaten den Zitel herliehen) begabt und nes 
ben ihnen eine Menge von Grafen, Baronen und Rittern ers 
nannt, deren Adel auf die Nachfolger in ihren zu Majoraten er- 
klaͤrten Beſitzthuͤmern vererben ſollte. So fehr wurden bie Grundfäge 
der Revolution verhöhnt, als deren Schirmherrn gegenüber der Mächte 
Napoleon ſich darſtellte! — Auch diefe Einfegungen rechnet zwar 
Lucian feinem Bruder zum Verdienſte an, nämlich ald den Ausflug 


136 Yuonaparte: 


des „großen Gebankens, ein neües Patriziat zu erſchaf— 
fen, welches unter Napoleons Mahfolgern im Stande ſei, als 
Gegengewicht einerfeits gegen die koͤnigliche Macht und ander- 
ſeits gegen bie m RUE IR dienen”: aber gegen des Kaiſers ei- 
gene, dictatoriſche Macht diente diefer neue Adel als Gegengewicht 
nicht, vielmehr verſtaͤrkte er durch die Lockkungen der Eitelkeit und follte 
verftärten die Knechtegeffnnäng oder den Enechtifhen Dienfteifer gegen 
den Bertefher jener Würden ; und jedenfalls ftand ihm, deffen Derr: 
Ifchkeit aus dem demokra tiſchen Princip hervorgegangen, fchleht an, 
daſſelbe durch ein ariſtok ratiſches .zu erfegen und, im Widerſpruch 
mit dem fonnenklar vorliegenden Nationalmwillen (d. h. evidenten Gefins 
nung der großen Mehrheit und Hauptrichtung der Revolution), an bie 
Stelle der von ihm foviel ald getödteren Wolksrepräfentation 
eine, naturgemäß dem Hof gegen bie Nation anhängende und den 
Sören der. Gemeinen Freiheit feindfelige Adelskafte zu 
fegen. Gegen die Wahlmacht wahrlich, ſowie Napoleon fie verftäm- 
melt und gelähmt hatte, war fein Gegengewicht mehr ndöthig. 
Bürste doc fhon das Wahlgefeg für eine dem Herrſcher wohlgefaͤl⸗ 
Ige-Infammenfeguing, und ward durch die Heimlichkeit ber Ver⸗ 
handlungen die lebte Bedeutſamkeit der geringen Atteibutionen, die man 
ben Geſetzgebern und Tribunen noch gelaffen, aufgehoben, ja! murbe 
zülege nu) das verftämmelte Tribunat, da defien Name noch 
an einige Freiheitsideer erinmern mochte, völlig abgefhafft! 

Aber alles dies :— fo meint oder fagt man — alles dies hätte 
nach Napoleons Tode fi von felbft wieder zum Beſſern gewendet, und 
feine dictatorifhe Gewalt war, nach feinen trefflihen Herrſchergaben 
und nad) den damaligen Innern und aͤußern Verhaͤltniſſen Frankreichs, 
eine. Wohlthat für daffelbe. Doch eine "bare Verbiendung liegt ſolchem 
Meinen und Sagen zu Grunde Napoleons Anftalten zielten auf 
Verewigung der Knechtfhaft, ndmlih auf Entfernthaltung 
altes Lichtes der Wahrheit und völlige Ertödbtung aller 
Fteiheitsgedanken im dem Lebenden Geſchlecht und auf eine 
Erziehung des nachwachſenden zur Geiftesbefchränktheit, zumal 
zu bleibender polififher Unmündigkeit und zum willenlfofen Gehor⸗ 
fam des Kriegsknechts. In diefen Anftalten liegt das entfchiedenfte 
Selbſtbekenntniß des Defpoten und fein durch alle Zeiten toͤnendes Ver: 
dammungsurtheil. Napoleon, in einer Fülle der Macht thronend, mie 
fie noch nie ein Sterblicher. befeffen, vom blendendften Glanze bes 
Ruhms und der Mafeftät umfloffen, das Schidfal der Nationen in 
feiner ſtarken Hand haltend und Frankreich ale ſieggekroͤnter Feldherr, 
als rettender Genius im gefahrvollften Sturm, als Bändiger der Factio⸗ 
nen und als Erbauer bes großen Neiches theuer — Napoleon zit- 
terte vor feinem eigenen Volke, deffen Abneigung zu verdie: 
nen er bergeftalt eingeftand und das er daher nur durch die Schref: 
Een der Gewalt und durd die Späherlift einer allgegenwärtigen, ge- 
wiffenlofen und ehelofen geheimen Polizei im Gehorfam erhalten 


Buonaparte. 137 


zu Eönnen hoffte. Er zitterte zumal vor jeder Buͤcherpreſſe, vor 
jedem ohne fein Gutheißen bedrudten Blatt!!! Er fühlte dem» 
nad, daß entweder der Titel feiner Herrfchaft oder die Art ihrer Fuͤh⸗ 
rung eine freie Prüfung auszuhalten: unfähig, daß die freie Discuſſion 
der Thatſachen wie der Grundfäge oder überhaupt die Wahrheit dem 
Fortbeſtand feiner Macht gefährlich, d. h. alfo, daß er im Unrecht 
befindlih, und, ohne Mittel der Nechtfertigung, nur durch Nacht oder 
Taͤuſchung vom Untergang zu retten fei. Daher erfann er ein fo 
kuͤnſtliches und fo ſtrenges Syſtem von Maßregeln zur Unterdruͤckung 
des freien Wortes, wie bis auf ihn noch niemals erſchienen, und ge⸗ 
ſellte dadurch ſeinen Namen jenem der erbittertſten und gefaͤhrlichſten 
Verfolger des Lichts und der Wahrheit bei. Die Gewerbe der Buchs 
bruder und Buhhändler, auf eine beflimmte Zahl eigens dazu 
licenzirter Perfonen befchräntt unb beim Betrieb ber ftrengften Beauf⸗ 
fihtigung und Controle — fo aͤngſtlich als fie nicht emmal in Anfes 
hung der Giftbereitung oder bes Giftverkaufs flattfindet — 
unterworfen, hörten völlig auf, bie mohlthätigen Erleuchterinnen der 
öffentlichen Meinung, die Verfünderinnen der Volksgeſinnung und der 
Wahrheit, die Organe der dem Staatsbürger zuftehenden freien Beſpre⸗ 
hung Öffentlicher Angelegenheiten, die Mittel der Rechtsbehauptung oder 
der vor das Zribunal der Mitwelt zu bringenden Beſchwerdefuͤhrung 
uͤber erlittenes Unrecht zu ſein, und wurden — in Allem, was naͤher 
oder entfernter mit Politik in Verbindung ſteht — herabgewuͤrdigt zu 
bloßen Werkzeugen der abſoluten Gewalt, zu Organen der Volkstaͤu⸗ 
ſchung und der Luͤge. Alle, nach Gegenſtand oder Titel auf Staatsſa⸗ 
chen ſich beziehende, oder wie inimer ſonſt die Anufmerkſamkeit der Auf⸗ 
ſichtsbehoͤrde anregende Schriften mußten auf ihr Verlangen vor dem 
Drud oder Verkauf einer ftrengen Genfur unterworfen werben; alle aus 
dem Ausland fommenbde Druckſchriften aber — damit auch von jen⸗ 
ſeits der Grenze fo wenig als moͤgüch em Licht der Wahrheit nach Frank: 
reich hinüberleuchte — mußten außerdem noch einen Eingangszoll von 
50 Procent des Kaufwerths entrichten. Verfaffern von uncenfurirten 
Schriften aber drohten, wenn man etwas Mißfälliges darin auffand, 
ſchwere Griminalftrafen, in Gemäßheit harter, und durch Unbeflimmts 
heit gefährdender Gefege und bes willkuͤrlichen Ausſpruchs corrumpir⸗ 
ter Gerichte. 

Das Licht war dergeſtalt hintangehalten. Noch mangelte bie ſyſte⸗ 
matiſche Einfuͤhrung der Finſterniß, die poſitive Erziehung der 
nachwachſenden Bürger zu Knechten. In dieſem Sinne ward ein 
neuer, Eniferlicher Katehismus — das Hauptunterrichtebuch für die 
Maffe der Bevoͤlkerung — befehlsweife bei allen (fatholifhen) Gemein: 
den des Reiches eingeführt, darin über allen Tugenden jene des blinden 
Gehorſams, ja fafteder Anbetung gegen den Kaifer, als das Ebenbild 
Gottes auf Erden, und fein Haus eingefchärft, und ben kaiſerlichen 
Verordnungen, zumal dem barbariſchen Conſcriptionsgeſetz, eine himm⸗ 
liſche Sanction verliehen. Endlich‘ ward auch jeder andere Unterricht 


138 | Bbuonaparte. 


und für alle Claſſen des Volkes dem Machtgebot des Dictators unter⸗ 
worfen, mittelſt der Schöpfung der „kaiſerlichen Univerſitaͤt“, 
an deren. Spitze ein mit ber ausgedehnteſten Vollgewalt bekleideter 
„Sroßmeifter” fland und welcher alle Unterrichtsanflalten im gan- 
zen Reiche als integrivende, demnadh vom Mittelpunkt aus zu leitende 
oder zu. beherrfchende Beſtandtheile einverleibt fein follten. 

Wahrlich! für Maßregeln biefer Art, welche nämlich eine blei⸗ 
bende Berfinfterung, eine fortdauernde Knechtung des Geiftes und 
Gemüthes augenſcheinlich bezwedten, gibt die Dictatur, fo nöthig 
und heilfam man glaube, daß fie für Frankreich in Napoleons Zeiten 
gemwefen, die Rechtfertigung nicht. Die Dictatur ſchließt den Begriff 
vorübergehender Gefahren in fih; ihrem Machtgebot ift bas 
lebende Geſchlecht für die Zeit folder Gefahr anheimgefkellt. 
Aber fie hat weder Auftrag, noch irgend eine gedenkbare Befugniß, auch 
die nachkommenden Geſchlechter zu knechten. Napoleon, da er bad 
Legte zu bezwecken ſich vermaß, iſt dadurch der Verdammung folcher 
Geſchlechter verfallen. Er iſt es aber auch, wenn man blos auf die 
gerechten Forderungen ſeiner Zeitgenoſſen blickt. Wie konnte Er, 
der Erbe ber Revolution, deren koſtbarſtes Geſchenk, die Prepfreis 
beit, das Recht der freien. Beiftesthätigkeit, ber ihm gutmü- 
thig vertrauenden Nation rauben? ie Eonnte er ein Princip aufſtel⸗ 
fen, weldyes, je nach der Richtung oder Sinnesweiſe eines Machthabers, 
zur Aufhebung nit nur ber republikaniſchen Freiheit, fondern 
alles Rechtszuftandes führen mag? — Somie Seneca: mit 
Recht alle Lobreden auf ben großen Alerander niederfchlug mit 
dem einzigen Wort: „sed Callistıenem occidit“ | — fo fhwindet al⸗ 
les Große und Gute, was Napoleon in irgend einer Sphäre vollbracht 
bat, dahin vor dem Worte: „Er, ber Sohn ber Revolution, hat Die 
Preſſe gefeffelt und den Gedanken unterjocht!“ — 

Aber Napoleon, welcher zur Stüße feiner Herrſchaft fi das 
Heer erbor, deffen Treue und Anhänglichfeit man befehlen und 
bezahlen Bann, anftatt bes Volkes, deſſen Liebe verdient werden 
mill, Napoleon beflegte wohl die Mächte, doch bie Ideen nicht. — 
„Die liberalen den haben mich zu Grunde gerichtet” — alfo rief er 
nad) feinem Falle Eagend aus, durch dieſes Wort allen kuͤnftigen Zei⸗ 
ten die impofantefle und troftreichfte Lehre gebend. Der Herr bes Welt: 
reichs war nicht flarf genug gegen ben Zeitgeift, gegen die Ideen 
des ewigen Rechts und ber den Völkern gebührenden bürgerlichen und 
politifhen Freiheit im Innern und Selbftfländigkgit nad) Augen. 
Zeitlich unterdrüden wohl konnte er fie, doch nicht vdllends ertödten; 
fie nahmen vielmehr, tie eine gewaltfam zufammengepreßte Luft, im 
erften Moment der Entfeflelung einen befto gemaltigern Aufſchwung, 
je größer der Drud gemefen. Sm Kampfe wider den Geiſt ift — 
für die Dauer — Nichts gethan, fo lange nicht Alles. 

Mit dem gerechten Born wider Mapoleon, ale den Veraͤchter bes 
Rechts und den Feind ber Freiheit, iſt jedoch gar wohl vereinbar die ihm 


Buonaparte 439 


als „großer- Mann” gebührende .unb auch von uns willig gezollte, 
beroundernde Anerkennung. Die Galerie derjenigen, welche die Geſchichte 
„groß“ nennt, würde bis auf aͤußerſt wenige Bilder müffen zufammens 
gejogen werben, wenn man als Bebingung der Aufftellung in folchens 
Zempel bie Tugend forderte. Größe wird eben genommen für maͤch⸗ 
tig und thatenreich — im Zerftören oder Bauen — wirkende, im Kampf 
mit feindlichen Gewalten bewährte, durch glänzende Erfolge gekroͤnte oder 
auch noch im Unglüd duch kuͤhnen Widerftand und würdigen Fall auss 
gezeichnete Kraft. In diefem Sinn ift Napoleons Größe unübers 
teoffen, ja unerreiht von was irgend für einer andern in ber 
Gefchichte vorfommenden, die man mit der feinigen vergleichen möchte. 
Seine Sünden aber find nur diejenigen, die uns im Buche der Zeiten 
feider! faſt auf jedem Blatte begegnen, nur daß er, wie feine größere 
Kraft es mit fi brachte, auch in entfprechend größerem Umfang und 
mit verberblicherer Wirkung fie beging. Endlich giebt es einige Momente 
in feiner Gefchichte, die uns mit ihm zu verföhnen ober wenigftens 
den Unwillen über feine fchweren Sünden zu mildern geeignet find.: 
feine Ruͤckkehr von Elb a nämlich, fodann bee Kampf von ganz Eus 
topa gegen einen Mann, zulegt die erſchuͤtternde Kataftcophe und das 
fhaudervolle Felfengradb. Napoleon, ber Verbannte auf Elba, mit 
Bliden der Geringfhäsung von feinen triumphirenden Seinden betrach⸗ 
tet, erfcheint ungeahnet wieder auf Frankreichs Boden mit faum 1200 
Bemaffneten, erfreut fich fofort der liebenden Begrüßung, bes huldigen⸗ 
den Zurufs von Heer und Boll, unb zieht — bie. ihm feindlich ent⸗ 
gegengefendeten Schaaren mit feinen Getreuen vereinigend — mit täglich 
fhwellender Macht durch die Provinzen und in die jubelnde Hauptſtadt. 
Nicht eine Eriegerifche Eroberung, fondern eine friedliche Befignahme giebt 
‚ihm ben Thron zurüd, deſſen das verbündete Europa ihn beraubet. 
Frankreich, diesmal freiwillig und freudig, nimmt ihn als Derrfcher auf 
und verzichtet dadurch auf jedes etwa früher gebabte Recht der Anklage. 
Freilich erfchien Napoleon, obſchon Unterdrüder ber. Republik und befpos 
tifher Dictator, dennoch, im Gegenfag ber verhaften, durch fremde 
Bajonstte bemirkten, Reftauration, ald Repräfentant bee Revolu⸗ 
tion, alfo wenigftend des Princips ber Freiheit, wenn auch nicht 
ihrer Verwirklichung: doch ift jedenfalls fein Triumphzug von Can⸗ 
nes nad Paris zehnfach ruhmvoller für ihn, als feine frühern Sie 
gesmärfhe nah Wien und Berlin, Madrid und Moskau. Kür 
feine gerfönliche Größe aber zeugend iſt Nichts mehr, als die von 
den Gewaltigen Europa’s wider ihn, den einen Mann, gefchloffene 
oder erneuerte Allian.. Man hatte ihn, als Friedensflörer und Feind 
ber Welt, durch foͤrmliche, von den acht Mächten, welche ben patifer 
Frieden unterzeichnet hatten, erlaffene Sentenz alles Rechts verluftig 
erklärt, und fandte nun nahe an anderthalb Millionen Gewaffneter gegen 
ihn, die Sentenz zu vollziehen. Meichergeftalt bei Waterloo das 
Verhaͤngniß erfülit und bald darauf der vom Welttheil Gefücchtete durch 
die britifche Regierung, deren Schiffen er ſich, das Gaſtrecht fuchend, 


440 Buonaparte: 


anvertrant, nach St. Helena zut ewigen Einkerkerung gefendet wei 
den, dieſe im neuern Europa unerhoͤrte Behandlung eines gektoͤnten 
Hauptes durch andere Gekroͤnte, ſodann die ſechsjaͤhrige Marter des an 
den einſamen Felſen geſchmiedeten neuen Prometheus und ſein alle 
Welt mit ihm verſoͤhnender Tod (5. Mai 1821) — dies Alles ſteht 
uns in noch friſchet und in unzerſtoͤrbarer Erinnerung. 

Wir ſtehen an- des gefallenen Kaiſers Grab, und fragen: was iſt 
uͤbriggeblieben von ſeinem Wirken, welches iſt fein, der Nachwelt hin- 
terlaffenes Vermächtnis? — Das Miefengebäude, das er wumnderaͤhnlich 
aufgeführet,, der Weltthron, den er errichtet, die Frucht fo vieler Siege, 
Scoßthaten und Nechtönerlegungen, iſt umgeſtuͤrzt, verweht das ganze 
politiſche Spftem,' das er begründet, erloſchen der meteorartig emporge⸗ 
fliegene Glanz feines Haufe, die Revolution um den Gewinn aller 
ihrer Triumphe betrogen und wehrlos überantwortet der Gegenrevolution, 
in die Beſtimmungen des Menfchengefchlehts ein trauriger Ruͤckſchritt 
anftatt der erfehnten und gehofften $ortfchritte gebracht, endlich für Eu⸗ 
ropa die Ausſicht eröffnet, entweder auf troftiofen Geiftesfchlummer oder 
auf erneuten, verhängrißvollen, nad) Umfang und Dauer fchredlichen 
Kampf für und wider die Adern, d. h. auf eine wieder von vorm ans 
fangende, furchtbare Revolution. Bon diefem Standpunkt gewürdigt, 
erfcheint freilich Napoleons Wirken als bem Endergebniß nach theils nichtig, 
theils heillos und hoͤchſtens etwas als impofante Lehre von der Unhaltbarkeit 
der nicht auf Weisheit und Recht, fondern blos auf Gewalt und Anmaßung 
gegründeten — ob auch genialifh kuͤhnen — menſchlichen Schöpfungen, 
von Werth für die Wer. Doc gibt es aucd andere Standpunfte, 
von welchen aus wir, ungeachtet ſolches Einſturzes des Napoleonifchen 
Hauptgebäubes , gleichwohl eine Fortdauer mancher von ihm ausgegan⸗ 
gener Schoͤpfungen, oder ein Fortwirken feines Geiſtes, theils in Gutem, 
theils in Boͤſem erſchauen. 

Schon die vielen meiſt großartigen materiellen Gruͤndungen, dis 
Canaͤle, Bruͤcken, Heerſtraßen u. ſ. w. in den meiſten Laͤndern ſeines 
diretten und indirecten Reiches, gehoͤren hieher; ja es ſind dieſes die 
unzweideutigſten, d. h. des reinſten Lobes werthen Monumente, die er 
ſich geſezet. Von feinen geiftigen Schoͤpfungen behauptet namentlich ſein 
bürgerlihes Geſetbuch nicht nur in Frankreich ſelbſt, ſondern auch 
in mehreren andern; dem Kaiſerreich theils einverleibt, theils als Vaſal⸗ 
lenſtaaten unterworfen geweſenen Ländern die Herrſchaft fort (ob oder 
inwiefern zum Frommen“ ober zum Nachtheil des wahren Rechts und 
des Gemeinwohls wird m einem eigenen Artikel, „Code Napoleon“, 
unterfucht werden); und auch von feinen politifchen Gefegen find bie 
meiften noch jetzo im Mutterlande, ja mehrere, felbft die alldort abgefchafft 
find (3. B. das Eon feriptionsgefes), wenigftens in ben Haupt⸗ 
beftimmungen nody weithin im Auslande geltend. Freilich, daß bie Mes 
- ffauration fie nicht aufhob, zeugt nicht eben für ihre Guͤte, fondern 
mehr für ihre Brauchbarkeit zu abfolutiftifchen Zwecken. Daffelbe ift zu 
fogen von den Regierungsprincipien und Berwaltungsfer: 


Buonaparte. 141 


men, bie man aroßentheild in Srankreich beibehielt und zum Theil auch 
ins Auslande nachahmte; ein unheilvolles Vermaͤchtniß, welches jedoch 
aufgetwogen wird darch die Napoleon allerdings zu. verbantende Erwei⸗ 
terung bes geiftigen Geſichtskreifesder: Voͤlker, weiche 
nämlich) die unausbleibliche Kolge war ’allernächft: von ſeinen Eroberungszuͤ⸗ 
gen burch fo viele Länder des Welttheils und von der, wenn and) ınue 
vorübergehenden, franzöfifchen Herrſchaft, "dam zaber auch von der Ind» 
tee Über Frankreich ergoffenen Flut ber’ zuropäifchen ‘Deere. - : 

- Wir fügen noch eine Bemerkung: bei: Napofenas Welttheon: if 
zwar eingeflürgt; doch die Idee der Weltherrfchaft oder, des Gy 
ſteus der Präponberanz, welched das ehevorige des Gleichge⸗ 
wicht s verdraͤngte/ iſt darum wicht. untergegangen: Metargemäß wird 
bee Sieger der Erbe des Befigten,: db; 5. mas! dieſenn enttriffen wud, 
geht an jenen über. Die Großmächte, weise die amopdifche Dictqtur 
Napoleons Über den Haufen warfen, wurben alfo bie Erben feiner Gewalt, 
und üben fie, tie ehemals Mapoleon ‚für ſich allein an der Spige der 
Heerſchaaren ober ans: feinem Cabinette that, fo :jegt .auf Congreſſen 
oder in Miniſterial⸗ Conferengen durch gemeinfame Beſchluͤſſe oder Pro» 
toßelle aus. Die Gefchichte wirb einftens daruͤber entſcheiden, ob und. 
weich ein Unterfchieb zwiſchen der Weltherrfchaft eines Einzigen und 
jener von vier oder fünf Mächten fei. Es verfieht fih, bag hier 
von bee Perſoͤnlichkeit der Machthabenden. abgefehen und nur bas 
Wefen, nämlih die Weicherrfhaft,. im Auge behalten wird 
Das Factum ift blos, daß feit Mapoleons Weltherrfchaft. das Gefeg für 
die europäifchen Angelegenheiten von einem Gentralpuntt ber Macht. aus⸗ 

gebt, dab bie Selbftftändigkeit der Staaten des zweitem oder. gar 
bes dritten Ranges fid) verminderte, und jetzo das Ueberein» 
koͤmmniß der Großmaͤchte, fo wie früher der Wille Napo« 
Leone, dad Schidfal aller beftimmt. — 

Auch von Napoleons Familie find bie meiften Häupter durch 
Charakter oder Schickſale unfer Intereſſe anſprechend unb felbft geſchicht⸗ 
tih merkwürdig; das Staats⸗Lexikon jedoch kann ihnen nur einen 
flöcytigen Ueberblick zuwenden. Von den Königsthronen und Fuͤrſtenſtuͤh⸗ 
len, worauf des Kaiſers Machtwort fie erhoben, ftürzten fie mit :fels 
nem Faß wieder herunter; :mehrere creilte feitdem ein tragifher — ge⸗ 
waltfanter ober natürlicher — Tod. Die Ueberlebenden find verbannt 
von dem frangöfifchen Boden, welchen Napoleon fo glänzend verherrlicht, 
ausgefchloffen von dem Vaterlande, welches ihm fo oft feinen Dank und 
feine Bewunderung huldigend dargebracht hatte. Aber fie tragen das 
über fie gefommene Verhängnig mit Würbe, und bie Welt wendet ihnen 
den geruͤhrten Blick hochachtungsvoller Theunahme zu. 

Napoleons Vater, Carlo Buonaparte, Spröfting, eines alts 
adeligen italifchen, nach Gorfica verpflanzten Geſchlechtes, heirathete 
1767 bie fchöne Maria Lititia Ramolino (geb. 1750 zu Ajac⸗ 
co), weiche ihm fünf Söhne, Iofeph, Napoleon, Lucian, Lud> 
wig und Hieronymus, und drei Toͤchter, Elife, Pauline und 


142 Buonaparte. 


Caroline, gebar: . Der Vater. ſtarb ſchon "1785, die Mutter nach der 
Eroberung Corſica's durch die Englänher, 1793, zog nad) Marfeille, 
nach ihres großen Sohnes: Erhebung aber nad) Paris, warb zur 
„Kaiſerin Mutter“ erklaͤrt und zur Beſchuͤterin aller milden. Ans 
flatten des Reiches, begab fid mach des Raifers Fall nach Rom: zu ih» 
rem "Stiefbruder.,, dem. Carbinat Feſch, erlebte den: Ted... des großen 
Sohnes , mehrere Töchter, Enkel umd Geitenverwandten amb’Iebt noch, 
geteugt durch bie Laſt der Jahre: wie des gebäuften Schmerzes, in ſtil⸗ 

Km Dulden, für. ledes fuͤhlende pp: ‚ein Gegenſtand inniger Zeil 


whme” 9. 
Der Ältefte Ihrer: Söhne, Sof ep. (oe. 1768), is no Me 
Gate von fest: Bruders. Erhöhung; mon: yon: lebe: zu Mücke, zeichnete 
ie durch Kunſtrider Unterhandtungen mehr: als iene bes Krieges ame, 
ſchloß den Srieben von -Luneville:.uud jenen von Amients. werd, 
nach der Vertreibung be& bourboniſchen; Koͤnigshauſes auß Neap⸗el zum 
König von Meapol und. Sickiieu ernannt (1806: 39,.Mdra, 
Bäiſd nadiher aber (1808 6. Jimi) zum: Moͤnig von Spanien und 
Jubien, verlor, ‚wie befannt, noch. vor Napoleons Fall, auch ben let⸗ 
ten Thron, und ſchiffte fich nach der Kataſtrophe von W.oterioe a 
Amerika ein; wofelbft er unter dem Namen: eines Grafen Survil⸗ 
ers: eine Prieberlaffung an dem Fluſſe Mabile gründete und ſeitdem 
16 Privatmann lebt, dech auch aus ſeiner laͤndlichen Zuruͤckgezogenheit 
von Zeit zu Zei: durch oͤffentliche Erklaͤrungen die franzoͤſiſche Nation 
ari bie Anſpruͤche feines Hauſes auf. Frankreichs Thron zu crinnecen 
fügt. Stine Gemahlin (Julie Clary, Schwägerin Bernabotte'g, 
des jehigen Könige von Schweden,) lebt als Graͤfin Suroittiers, -guit 
Ihm Beiden Töchtern in Brüffe.= © 2... unse) ; 
Luctan Buonaparte (geb. 177%, der einzige: von. 
Brüdern, dem feine Krone zu Theil ward, d. h. der eine ſolche wer⸗ 
Tdjmähte, da fie nut Vaſallenkrone fein Tollte ‚ ein durch · Geiſtesgaben 
and Charakterfeſtigkeit ſehr ausgezeichneter Wann, hatte, als damaliger 
Praͤfident des Rathes der Fuͤnfhunderte, die Revolution -yom-18. Brig 
wmälre ganz vorzüglich. — freilich auf wenig-lobenswerthe Weiſe: — zum 
GSelingen gebracht, leiftete auch nachher, ais Befandter und - als -Minifter 
des Innern, feinem Bruder fehr wichtige Dienfte, mißbilligte aber deſſen 
defpotiſche Maßregeln und lud dadurch, ſo wie durch die Behauntung ſei⸗ 
ner perſoͤnlichen Freihelt, den Zorn des Imperators auf ſich. Seit; 1804 
war eine Billa bei Rom, ſpaͤter London (wohin ihn- die Engländer 
1810 als Gefangenen führten), fobann abermals Rom ſein Aufenthalt, 
Kunft und Wiffenfhaft und der gefchmadvolle Genuß ſeiner: großen 
Schaͤtze, feine Dee igung. Während der hundert Tage erneuerte er mit 
Napoleon, der jetzt minder Defpot au ſem fchlen, bie brůderuche 


*, Im Augenblick, ba dieſe Zeilen geföheieben | find, Iefen wir tn N ffenttichen 
Blättern (f. allgem. Zeitung vom 11. Febr. 1836) die Nachricht don dem ah 
2. Zebr. endlich erfolgten Hinſcheiden der ehrwuͤrdigen Frau. Br 


Buonaparte. 143 


Freundſcaft und kehrte nach deſſen endiichem Fall du bei 
aurüd, ald „Shen von Canino“, welchen Titel d 


© Ludwig Buonaparte (geb. 1778), gleld) Teinem'Bhüher Ig⸗ 
:fepd_von Napoleon, ſchon als ‚erftem Conful umb bantı fs 4 
‘von Würde zu Wide erhoben, warb endlich (1806).zum Koͤntg won 
Holtanp erfiätt, 'maltete als ſolchet wit Weisheit und GAte, voch ver- 
„gebens bemüht, den immer häctern Forberungen beb’Käffers ein’ Bidt’ziı 
"fee. ° Butegt am der Möglichkeit verzweifelnd, Die Pfichten fuͤr Yih 










'alınd ihres ar 


Mutter barlıber verwanbelte 1 u! 





und fein unter dem Namen eines Grafen von Montfort in Oeſter⸗ 
weich gewähltes Eril wit ihm theifte. Er iſt übrigens — wenn may 
den vielftimmiig wider Ihn erklungenen Anklagen trauen — 
mindeſt achumgewerthe unter Napoleons Brüdern, Von ſeiner erſten 
Gattin leben noch mehrere Täter. Auch die zwelte —"erft kurzuch 
verſtorbene — gebar ihm mehrere Kirider, von melden, Bei dem zurüd- 
gezogenen Leben der Familie, bis jegt noch wenige Nachrichten vorliegen. 
Bon Napoleons Schweſtern ward Marie Anna Elife (geb. 
*1777) vermäßlt an Selir Caspar Bacciochi, einen Adeligen aus 
"Corfica, welchem folhe Verſchwaͤgerung mit dem Seife, das Flutſten ⸗ 
chum Lucea mit Piombine eintrug . Doch feine Ögjeinregierung 





144 Buonaparte. 


hoͤrte auf mit Napoleons Fall. Eliſe ſtarb 1820. Die zweite Schwe⸗ 
fir, Marie Pauline (geb. 1780), ward die Gemahlin zuerſt des 
GSenerald Lecherc und nad beffen Tode des Fürften Camillo Bor 
ghefe..11803). ‚Napoleon verlieh ihr, das Fuͤrſtenthum Guaſtalla. 
Nach feinem Sturze lebte fie, von ihrem Gemahl getrennt, in Nom 
und ſtarb dafelbft 1825, Annunciade Caroline endlich, bie dritte 
Schiwefter (geb. 1782), erhielt zum ‚Gatten Soahim Murat, mel 
hen des Schwagers Gunſt. Anfangs zum Großherzog von Berg und 
" fpgter zum König von. Neapel ‚machte. Als beifelben charakterloſes 
Benehmen, ihm den Verluſt der Krone und feine Toukaͤhnheit endlich 
eine, ſchmaͤhliche Hinrichtung zugezogen, flüchtete die gleich kluge als mus 
thige Frau mit ihren Kindern nah Defterreich, woſeibſt fie Gaſt⸗ 
recht fand. 0 nn 
Napoleons erſte Gemahlin, Joſephine, geborne Taf cher de 
fa Pagerie undb-Wittwe bes (1794 von den „Schreckens aͤn⸗ 
nern‘ Bingeridhteten) Generals Alex. Beauharnois,.hatte ihm zwei 
mit dem erſten Gatten erzeugte Kinder, Eugen und Därtenfia, zus 
gebracht ,. welche, fo wie ihre. (von Napoleon 1806 an Linbesftatt ange⸗ 
‚nommene unb mit bem Erbprinzen, nachmals Großherzog .nou Baden, 
Cart, vermählte) Nichte, Stephanie Louife Adrienne, zu den 
wuͤrdigſten Gliedern feines Haufes gehoͤren. Joſephine (1804 zur 
Kaiferin gekroͤnt), deren Ehe mit Napoleon kinderlos blieb, iwiligte 1809 
großmürhig in bie. Scheibung von ihrem Gemahl, als dieſer, um einen Leis 
beserben zu erhalten, eine neue Ehe. einzugehen wuͤnſchie, behielt jedoch dem 
kaiſerlichen Rang und flarb, bald. nad, dem Falle Napoleons (30.. Mai 
1814), in. Malmaifon, geachtet von der Welt „und felbft von den 
verbündeten. Monacchen mit Auszeihnung behandelt. Eugen Beau⸗ 
barnois, ihr Sohn, von. Napoleon, zum feanzöfifhen Prinzen und 
Viceköntg von Italien erhoben: und.mit der bairiſchen Prinzefs 
An Augufte vermaͤhlt, zeigte ſich folder Erhebung würdig nicht nur 
duch, Geiſt und Much und glänzende Kriegschaten, fondern auch durch 
die fchöne Tugend der Treue und einem in allen Lagen bewährten edien, 
bie Hochachtung , felbft feiner Feinde erzwingenden Sinn. Nach bem 
Eturze des, Kaiſers, deffen Sache er bis zum legten Augenblid heldens 
müthig vertheibige hatte, erhielt er durch die Achtung der Mächte und 
des Königs don Baiern viterlihe Gunft das unter bairifcher ‚Hoheit zu 
verwaltende Fuͤrſtenthum Eihftäbt und die Standesherrſchaft Leuch⸗ 
tenberg, den Titel Herzog von Leuchtenberg und fuͤr ſeine 
Nachkommen das eventuelle Erbrecht in Baiern. Der frühe Tod die⸗ 
ſes liebenswürbigen Helden (1824), die nachherige Vermaͤhlung breier 
feiner Zöchter, der einen an den Kaifer Don Pedro von Braſi⸗ 
lien, dee zweiten an den Erbprinzen Oscar von Schwehen und 
ber dritten an den Erbprinzen Gonftantin von Hobenzollern- He: 
hingen, endlich die feines Altern Sohns, Auguft, mit der jungen 
Königin Dana Maria von Portugal und die traurige" Vereitelung 
der hieraus fuͤr das Leuchtenbergiſche Haus und für Cutopa hervorge⸗ 


Buonaparte. 145 


gangenen ſchoͤnen Hoffnungen durch ben fchnellen Tod bes Prinzen, find 
aligemein befannte und mit lebendiger Theilnahme aufgenommene Er⸗ 
eiguiffe. Von Eugens Schweſter, Hortenfia, ift oben gefprochen. 
Fore gleichmäßig durch Geiſt und Anmuth und duch jede weibliche Tu⸗ 
gend außgezeichnete Verwandte, Stephanie, feit 1813 verwitt— 
wete Großherzogin von Baden, verlor zwar ihre Prinzen noch vor 
bes Vaters Hinſcheiden durch frühen Tod: Aber durch ihre drei Prinzefs 
finnen, vom welchen bereits zwei, eine an den Prinzen Guſtav Wafa, 
Die andere an den Exrbprinzen von Dohenzolleens Sigmaringen, ver 
maͤhlt find, mag das Blut der Aboptivtochter Napoleons fpäter 
noch auf manchen Fürftenftuhl gelangen. 

Zu Napoteons Haus gehört noch ber Cardinal Joſeph Feſch, 
Stiefbruder Laͤtitiens Buonaparte, in der zweiten Ehe von der⸗ 
ſelben Mutter, verwittweten Ramolini, mit Franz Feſch erzeugt 
(1763). Zur Zeit bes von, dem erſten Conful mit dem. Papſte abges 
fchioffenen Concordats wurde er Erzbifhof von Lyon und darauf Gar- 
dinal. Der Churfürft Erzkanzler, hachmals Zürft Primas des Rhein: 
bundes, von Dalberg, ernannte ihn zum Coadjutor und Nachfol⸗ 
ger, was jedoch Napoleon, gegen welchen Feſch ſich nicht folgfam genug 
Deine: nicht genehm bielt. Seit ber Kataſtrophe von 1814 lebt er 
in Rom. 

Dos Blut von Napoleons Eltern, auch jenes feiner erften 
Gemahlin, Joſephine, tinnt hiernach wohl noch in mehreren, zum 
Theil noch lebensvollen, zum Theil freilid) dem Verdorren nahen Zrei 

Sein eigenes Blut jedoch (von natuͤrlichen Kindern gehen nur 
unbeglaubigte Sagen herum) ift verfiegt. Im hoͤchſten Glanze ſtrahlte 
Napoleons Stern, als ihm, dem Sohne der Revolution, die Band der 
Sferreihifchen Kaifertochter, Marie Louiſe, und daducch die Aufs 
nahme: in den Kreis ber erhabenen und legitimen Herrfcherhäufer ges 
währt ward (1810). Und fein Gluͤck hatte den Höhepunkt erreicht, 
als im folgenden Jahre (1811 20. März) ein Sohn, Napoleon 
Franz Carl Fofeph, ihm geboren ward. Der Titel „König von 
Mom’ marb dem Kinde verliehen und mit orientalifchem Gepränge die 
der „Majeſtaͤt“ gebührende Huldigung ihm in der Wiege dargebradht, 
Aber die Herrlichkeit ſchwand mit Napoleons Fall. Vergebens hatte dee 
Kaifer in feine Abdankungsurkunde die Worte: „zu Gunften meines 
Sohnes, Napoleons 1." aufgenommen. Die Mächte achteten fols - 
cher Verfügung nicht. Doch erfuhren Mutter und Kind, ba Öfterreicht« 
ſches Blut in ihren Adern floß, natürlich eine folher Herkunft ent⸗ 
fprechende wohlwollende Behandlung. Marie Louife wurde für ihre 
Lebenszeit zur Beherefherin von Parma und Pincenza ernannt und 
dee junge Napoleon feinem Laiferlichen Großvater übergeben, welcher ihn 
liebend heranzog, mit dem Zitel „Herzog von Reichſtadt“ begabte 
und ihm den Rang unnlittelbar nach den Prinzen bes Hauſes anwies. 
Die Ahgen der Welt ruhten auf dem, durch Anlagen bed Geiftes und 


Herzens ausgezeichneten und, wie es fchien, zu großen Begimmungen 
Staats ⸗Lexikon. III. 


146 Buonaparke. 


beranreifenden Sünglinge. Nach ber Iuliis-Revolwtion in: Franb 
reich (1830) waren Viele, die auf ihn ihre Blicke warfen, als' auf ben 


Napoleon, ohne (Hiftorifch denkwuͤrdige) Vorfahren und min auch 
ohne Nachkommen, fteht alfo für fih ganz allein in ber Geſchichte, 
ein einfames Bilb, gleich einer Geiſtererſcheinung. Das Bild zeigt uns 
in einem impofanten Beiſpiel die erftaunliche Kraft des Menſchen tm 
Suten wie im Boͤſen, aber auch die durch ein Naturgeſet derſelben ger 
fiedte Grenze. Es verkündet eindringlichſt die Lehren der Mäfigung 
und Weisheit und warnt in bie fernfle Zeit alle für Warnung Ems 
pfänglichen vor Mißbrauch ber Macht, vor Uebermuth im Gluͤck, vor 
allzufrecher Verhoͤhnung bes Rechts und vor Unterdruͤckungsverſuchen 
wider den Geiſt. Freilich erweckt es auch die niederſchlagende Vorſtel⸗ 
tung von bee Abhaͤngigkeit des Schikſales der Nationen, 
ja ganzer MWelttheile, von ber Geiſtes⸗ und Willensrichtung und von 
dem Berhängniß eines Mannes. Hunbderttaufende, ja Millionen ha⸗ 
ben Jahr für Fahre ein halbes Menſchenalter hindurch gebiuter, gelitten, 
Die ſchmerzlichſten Opfer gebracht zur Saͤttigung des Ehrgeizes eines 
Starken. Auf bie unnatuͤrlichſte Weife wurden Nationen zerriffen und 
dufanımengefügt, Staaten, Verfaſſungen, Regierungsſyſteme errichtet 
und über den Haufen geworfen, bie koſtbarſten Ledensverhaͤltnifſe der Voͤl⸗ 
ker beſtimmt, umgemobelt, in Verwirrung gefegt — Alles nad, dem 
Saunen oder Intereſſen, überall nah dem Machtwort des Einem 
Und am Ende ging, was er fo Eoftfpielig erbauet, das Weltreich, 
pisns in Truͤmmer durch feinen Fall und blieb von hundert und hans 

fegen nicht eine Trophaͤe zuräd. Andere Häupter bemaͤchtigten 
fi der Bügel, und das Schickſal Europa’s, ia ber Welt, nimmit ſeitden 
einen neuen, jest zwar nicht mehr von Einem, doch von einigen 
Wenigen abhängigen Gang. 

Doch au diefer Gang unterliegt dem ewigen Naturgefeg. Er 
wird nicht immer derſelbe fein. Jedem menfchlichen Beſtreben if 
ein Biel geſezt; auf Ebbe koͤmmt Fluth, auf Wirkung Gegenwirkung. 
Die Aufgabe de8 Einzelnen — ob body ober niedrig, groß ober 
Fein — ift immer, ſich forgfältig Elar zu machen, was nad der all» 
gemeinen Weltlage oder nad den jeweils berrfhenden 
Sternen, bier oder bort noch Gutes zu bewirken ober Boͤſes zu ver 

Üten, ihm, nach Maßgabe feiner Stellung und feiner Kräfte, möge - 
ich fel, und auf ſolches Erreihbare oder Erfolg Verheißende 
fen treues Streben zu richten. Die Aufgabe dee Staatenlenker 
aber ift, den Geiſt ber Zeit und der Nationen zu beachten, und 
ſolchem Geift ihre Richtung anzupafien. Nur die Befreundbung mit 
Km gibt Sicherheit und dauernde Kraft. Die Bekaͤmpfung deffels 
ben kann wohl zeitlich von Erfolg fein, aber fie bringe große Befahe 
and früher oder fpätee Elmmt ber Auzenbi des ädfhlaoe. 


Bureaukratie. Bürger. 147 


Büreaufratie, f. Verwaltungéſyſtem. | 

Bürger, ein Ausdrud, ber im im Laufe bee Zeit ſehr verſchieden⸗ 
Webentungen erhielt, und bee ihais mit der Entwictelung ber Gtäbte; 
cheils mit ber’ Ausbildung der Gtaassverhäitniffe zufammenhing. Urs 
fprüngtich wurden die im den ſchon früh gegründeten Burgen ihren 
Wohnſitz habenden Eimmohner burgenses genannt *), felbft zu einer 
Bet, wo die Städte noch wicht mic den Privilegien vorfamen, die fie 
foäter anszeidmeten. Als almählig die Städte burch die Macht Ihrer 
Bewohner, durch gluͤckliche Kämpfe, wichtig für die Megenten, denen 
ie Gtadtberohner durch ihren Reichthum und ihre Tapferkeit im Kampfe 
gegen den Adel dienten, buch Muge Herrſcher daher begünftigt, eine be⸗ 
fondere Bemeindeverfaffung erhielten, wurde bee Titel eines Gtädtebes 
wohners, der an allen ſtaͤdtiſchen Privilegien Theil nahm, bedeutend, und 
ber Ausbrud Bürger bezeichnete einen ſolchen Bewohner **). — Nady 
Yen bekannten Revolutionen, welche die Städte durchmachen mußten, 
bis fie in den Beſitz ihrer vollſtaͤndigen Munichpalverfaſſung kamen, und 
nach dee Verſchiedenheit der Perfonen, welche in einer Stadt fih aufs 
hielten, wurde aber auch der Ausdruck: Bürger, verfchieden gebraucht. 
Da die Stadt audy aus vielen hörigen Leuten beftand, fo bediente man 
ſich ſchon des Worte: Bürger, zur Bezeichnung aller Staͤdtebewohner, 
weiche bie ftäbtifchen echte in .) N aber nicht zu den Unftelen 
oder Hoͤrigen gehoͤrten. Manche Urkunden ſprechen in dieſem weite 
Sinne von Bürgern; allein viel häufiger bezeichnete der Ausdruck: Würd 
ger, eine engere, gefchloffene, bevortechtete Claſſe ***) umd zwar wahrſchein⸗ 
* —5* — ui auch als milites vorfamen, oder zu den 
| felpem 1) Da ber hochangefehenen reichen Gefchlechtern gehoͤr⸗ 
ten ven HH), auf hnliche Weiſe, mie in den niederlaͤndiſchen Städten bie 
poorters die bevorrechtete Claffe bee Staͤdtebewohner waren +44). Di 
der Reichthum der Städte vorzüglich auf ber fleigenden Bluͤthe des Hans. 
dels und der Gewerbe berubte, fo war es begreiflih, daß diejenigen 
Staͤdtebewohner, welche zwar Gewerbe trieben und oft nur verächeitdh‘ 
ats Handwerker +4FF) von ben andern Bürgern getrennt wurden, 
ihre Macht fühlten und gegen ben Hochmuth der Webrigen, bie — 
weiſe ſich Buͤrger nannten, ſich empoͤrten. Die Handels» und Fabrik⸗ 


% Dreyer Einl. In bie luͤbiſchen Verorbn. ©. 84. 


*) Smeiner vom Urfprung ber Gtabt Regensburg, ©. 57. 85: ts 
Hard, Entſtehung von —** ©. 74. 103. s ® 


Montag, & N bingerl. t, IL Zt. ©. 386. 
08. Sefdhichte don ie ce Aaatibärgerl, Beeibeit, N 5 


20%) Stellen in meinen Scunbfähen *  deutfäen Yrivatrechts $. 67. 
+) Hülimann, Geſch. des Urfprungs ber Stänke,, 2te Ausgabe, &.479. 
+} Stellen in meinen Grundf. des d. Pribatr. 5. 56- 
++) Barntönig, flandriſche Staats — I. Sl &. 201. 
+tt4) url. inSenkenberg corp. jur. tom. I. P.II * 0 


[4 


148 a 17177 or 


herren, bie mächtigen Guͤldebruͤder, erlangtm es bald, daß auch fie Buͤr⸗ 
ger genannt wurden; bie Gold» und Silherarbeiter — [den als Kuͤnſt⸗ 
fer angefehben — blieben hinter ihnen ˖ nicht zurüd; Die Waffenſchmiede 
waren in den bamaligen Zeiten viel zu wichtige Perfonen, als daß ihr 
Handwerk fie nicht geehrt hätte, und in manden Städten, wo 3. B. 
die Tuchmacherei ober Weberkunft ein Sauptnahrungszmeig der Stadt wurde, 
oder wo bie Bierbrauerei ind Große getrieben gabe, war es begreiflih, daß 
die Sitte ſolchen Perfonen, welche dergleichen: für die Stadt wichtige und 
darum geachtete Getverbe trieben, den Titel: Bürger, nicht verfagte, fo 
daß zulegt der Ausdruck: Buͤrger, die Mitglieder alter Geſchlechter, bie 
Handelöherren und diejenigen umfaßte, welche _zu ben höhern Zünften ges. 
hörten, im Gegenfag ber Handwerker *), ober — wie fie auch in ben. 
nieberländifchen Städten genannt werden — ber minores **), 
der Verſchiedenheit ber Verhältniffe der Städte — jenachdem für bie 
Stadt eines oder das andere Gewerbe wichtiger war — wurde null 
bee Ausbrud: Bürger, verſchieden angewendet. Dabei hatte er felbft 
wieder eine befonbere Bebeutung durch den Zufammenhang bed Bürgers 
thums mit der Rathsfaͤhigkeit. Da nämlich nur diefe vorzugsweiſe Buͤr⸗ 
ger Genannten rathefähig waren, und in dieſer Eigenſchaft einen vor⸗ 
zuͤglichen Einfluß auf die Stabtangelegenheiten hatten, fo bezeichnete man 
häufig in den Urkunden bie rathöfähigen Städtebemohner mit dem Worte: 
Bürger.” Als nun allmaͤlig bie alten Zeichen der Hoͤrigkeit, z. B. Hei⸗ 
rathsz3wang und Sterbefall, immer mehr in ben Städten aufgehoben 
und dadurch auch die Hörigen von biefen Laſten ber Unfteiheit befzeit 
wurden, als die Handwerker in ihrem Gewerbfleiße immer mehr ihren 
Merth fühlten und ihren Reichthum vermehrten, als der Hochmuth und 
der Egoismus, der bevorrechteten Geſchlechter ihre Befugniß, ausfchließlich 
bie Rathöftellen zu befegen, zur Derabmwürbigung und Bedruͤckung ihrer 
Mitbürger mißbrauchten, empörte ſich das Freibeitögefühl gegen biefe 
Anmaßungen. — Bekannt ***) find die Mevolutionen, welche im Mits 
telalter von den Handwerkern ausgingen, um die Rathsfaͤhigkeit fich zu 
erwerben. Der Sieg Erönte bie Beſtrebungen und von nun an war ber 
Ausbrud: Bürger, die Bezeichnung aller berechtigten Mitglieder ber Stabts 
gemeinde. Die Zahl diefer Perfonen wurde vermehrt durch diejenigen, welche, 
ztvar nicht in dee Stadt wohnend, die Erlangung bes Bürgerrechts einer 
Stadt nachſuchten, worauß die fogenannten Ausbürger+), in den Nieder⸗ 
landen buyten poorters ++) entftanden, von benen manche märhtige 
Adelige, felbft Fuͤrſten, für Die das Bürgerrecht der Stadt deswegen 
wichtig wurde, weil zur Ausübeng gewiſſer Rechte, 3. B. um Häufer 
in ber Stadt zu befigen, ober uns getwiffe Gewerbe, z. B. Bierbrauerei 


*) Hüllmann, l.c. &. 480. 

*) Warnktönig, l. c. ©. 352. 
”*) Hüllmann, Gtäbtewefen, II. &. 463. III. &. 333. 

+) Bobmann In Siebenkees juriſt. Magazin, I. Thl. Nro- 1. 
+) Warnkoͤnig, ©. 354. - 


Bürger. Buͤrgerrecht. 149 


betreiben zu duͤrfen, das Bürgerrecht weihwendig war. Waͤhrend auf 
dieſe Art dee Ausdrud:' Bürger, ſich erweiterte und eine zahlreiche Claſſe 
umfafßte,. entftand in ben "Städten dine Verantaffung, den Begriff zu 
Verengern und von Buͤrgern im’ engeren Sinne zu fprechen. Es gab 
nämlich ‘viele Perfonen, welche ben Aufenthalt in ber Stadt fuchten, 
weil daran ſich große Privilegien Enüpften, während doch diefe Perſo⸗ 
nen bie 'Erforberniiffe' zur Erlangung des Buͤrgerrechts nicht hatten, 
3. B. nicht das nöchige Vermögen befaßen, oder feit der Reformation 
nicht der Meligion zugethan waren, welche in bee Stadt gefordert wurde. 
Solche Perfonen *), die in bie Scodt aufgenommen wurden und ein 
unvoßtonimenes Bürgerrecht genoſſen hießen Schutzverwandte, Beiſaſ⸗ 
fen **), und die vollberechtigten "Mitglieder der Stadtgemeinde wurden 
Bürger im engern Sinne ‘genannt. : Seit dem 16ten Jahrhundert bes 
Bam der Ausdrud: Bürger, eine neue Bedeutung. Durch die Vereinis 
gung dee Stände unter einem Geſetze, durch die Ausbildung der Lan⸗ 
deshoheit entftänd die Anficht;--die Landesgemeinbe wie eine gefchloffene 
Vereinigung zu betrachten; und". das, wad von einer andern freien Ges 
meinde galt, auch ähnlich: auf bie aröße Landesgenieinde zu Übertragen. 
Hier wurbe es Sitte, die Collbrrechtigten Mitglieder der Lunbesgemeinde 
(Untertbanen) gleichfalld Babger Yu nenien, fo baß nun eine zwei⸗ 
fache Bedeutung des Wortgintitiimd:" 1) diejenige, nach welcher Bürger 
ſoviel als Staatsbürger Hebeutet; 2) die, nach welcher Bürger fos 
viel als Drtsbürger bejeldikier. In der letzten Bedeutung koͤmmt es 
wieder darauf an, ob die alte —— — ehalten iſt, nach 
weicher man die Munichpal#Werfaffung "der Städte und Marktflecken 
von der Verfaſſung ber Doͤrfet trennt **%), ober ob nad) dem Streben 
der neueren Zeit Fine alle: Gemeinden- (Alfo auch die Dorfgemeinden) 
umfaſſende Gemeindeveifaſſung gefehlich eingeführt Ift: F). Iſt das Erſte 
der al, fo bezeichnet Bireyer nur das berechtigte Mitglieb einer 
Stadt» oder Marktfledengemeinde,: im Gegenſatze von Bauern; mo das 
gegen eine vollſtaͤndige umfüffende Gemeindeordnung befteht, wird auch 
jedes Mitglied einer Gemeinde mit dem Auevinde: ‚Bürger (Semeinbes 
bürger), bezeichnet. °- " Mittermaler. 

Bürgerkrieg, f. Krieg. Ze 

Bürgermilitair, f. Rriegsverfaffung 

Bürgerrecht mird wieder in verfchledenem Sinne genommen, je 
nachdem manvom Staatsbhrgerrechhte oder von dem Gemeinde» 
bürgerrechte (Bürgerrecht im engern Sinne) fpricht. Nach der erften 
Bedeutung ift das Staatsbuͤrgerrecht der Inbegriff der echte, welche 
einem Unterthanen des Staats zuftehen, wobei wieder nad) Verfchiedenheit 


”) Eifenhart, Verſuch einer Anleitung zum deutſchen Stadtrecht, &.234. 
*#) eber Urſprung des Unterfchlebs und Gründe fe bie Beibehaltung def: 
felben. Weishaar, Würtembergifcges Privatrecht, I. Thl. 8.33 
»20) z. B. in Danover, Preußen, Sachſen. 
+) 3. B. in Buͤrtemberg, Baden. 


459 -. Bürgerrecht, - 


der Landesgeſetze, Eraotöhsgeioßt im engem @inne von ben Unter 
thanenrecht überhaupt (Indigenat) unterſchieben wird. Weller wird von 
biefen Verhaͤltniſſen bei dem Worte: —A gefpeochen 
werden koͤnnen. Faßt man nun das Vuͤrgerrech ja dem Giinne auf, 
wo es das Gemeindebuͤrgerrecht bebeutet, ſo ift 6 der -Snbegriff”) ges 
pille Mechte, welche einem Mitgllede einer Gemeinde a ſolchem zuſtehen. 
an unterſcheidet eis vollkommenes und ein unyolllommenes Bü cherrecht; 
das letzte ſteht in den Staͤdten, wo ein Unterſchiep bon Bürgern und 
Schutz verwandten vorkoͤmmt, ben —* zu. Das Bürgerrecht begreift**) 
in ſich 1) politifche Decke, 2) pylvatrechtliche Wefugniffe. Bu den im 
Bürgerrechte überhaup en Rechten gehört: 1) in ber Gemeinde, 
welcher ber Bürger —e— , feine Haimath und Unterhalt zu ſuchen, 
und alle Gewerbe zu betzeiben, infofern jemand die Erforderniſſe nach⸗ 
weifen kann, welche auch den Geſetzen zur Ausübung eines befimmteg 
—— verlangt werben; 2) bad Mecht, durch Heirath eine Familie zu 
runden; 3) das Met ber Theilnahme an den Bürgernugungen ; > 
I) Mecht auf die ftäheifche Gerichtsbarkeit, in ſofern ein beſonderes Forum 
vor ber Stadtobrigkeit für Dünger —— if; 5) Recht der Theilnahme 
an ben Privilegien, weiche den Bürgermesiger Stadt verliehen find, z. B. in 
manchen Orten —— Telamun nqch ben —5 Statuten zu 
machen oder nicht wegen en vaͤrhaftet zu werden; 6) Recht der Thell⸗ 
nahme an den ſtaͤdtiſchen Stiftungen; 7) baß Recht, in — der 
Stadt liegende Guͤter zu erwerben; 8) dag Recht der Markloſung, d. h. 
in einen Kauf einzufreten, wenn ein im ber Gemarkung ber Stadt ler 
genbes Sur an einen — * veräußert wird; 9) Recht, im Falle der Ary 
much aus‘ Gemeindemittein Wnterflägung. zu erhalten. Bu den. politis 
{chen Rechten: gehören insbeſondere: das Recht ber artiven unb paſſiyen 
Wahlfaͤhigkeit zu Gemeindeämtern, und das Recht der Mitwirkung an 
ben Wahlen zur landſtaͤndiſchen Vertretung. Nicht unpaffend iſt e&, hier 
bas wirkliche Bürgerrecht von dem angebornen zu unterfcheiben. Jedes 
ehrliche Kind eines Bürgers hat ein angebornes Bürgercecht***), d. h. den 
Anſpruch, das Buͤrgerrecht in der Gemeinde, melcher ber Vater —** 
(das uneheliche Kind folgt dem Bürgerrechte der Mutter), zu erwerben; for 
bald nun eine foihe Perfon die im Gaſetze vorgefchriebenen Erforderniſſe 
nachweiſt, die zur Erlangung des Bürgerrechte ehören, erwirbt fie das Buͤr⸗ 
erecht ; fie muß daher voßjährig fein, den Befig eines. den Unteshalt einer 
amilie ſichernden Vermögens ober Nahrungszweigs ausweifen, und wenn 
der Nahrungszweig, weichen bes Bürger ergreifen will, gefeslich an beſtimmte 
Erforderniſſe gebunden it, auch ben Befit diefer Eeforberniffe darthun, z. B. 


— ne” 


Schillings eehehud bes Stadt und Buͤrgerrechts in ben beutfen 
Bunbdesflanten. Leipzig 1 
°*) Stellen in —* Brunb f. bes beutfäen Privatrechts 5. 68.; v. Bir. 
tembetg Weishaar 1. ©. 324. adiſches ha Be x. 31. — 1831. Aus⸗ 
fuͤhrliche neue Gelege uͤber die —S des B arzer ans kommen in der 
Schweiz vor, z. B. zuͤricher Geſet v. W. Herbſtuio 
er») Badiſches Geſet v. 31. Dec. 1831 9. 6. 





Buͤrgerrecht. Buͤrgerſtand. 151 


bei einem Gewerbe nachweiſen, daß man bie noͤthige Lehrzeit, Wanderjahre 
u. A. bu t babe. — So lange nun eine ſolche Perfon, bie has 
angeborne echt beſitzt, z. B. dee Sohn eines Bürgers, dieſe Er⸗ 

forderniſſe nicht erfüllt, iſt —* no nicht wirklicher Bürger, hat daher 
nicht die beim Bürger obliegenden Pflichten, aber auch nicht die zuvor 
bezeichneten Rechte; vermöge Ihres angebornen Bürgerrechte hat fie aber 
das Mecht. des ftändigen Aufenthalts in ber ‚Bemeinde, bie Befugniß, 
Lirgenfchaften zu erwerben, unb im Falle ber‘ Düsrfeigkeie Anſpruch auf 
Unterffügung. — Ueber den Umfang des unvolltommenen Bürgerrechte 
—5 — 8) ifE in ben einzelnen Gemeinden große Verſchiedenheit, 

Altes wieder von ben befondern Statuten und den Bedingungen 
— unter welchen die Gemeinde dem Schutzbuͤrger die Aufnahme 
in der Gemeinde geben wollte. Im Zmeifel*), wenn nichts Anderes 
beflimmt it, wird der Schugbürger nur von allen politifchen Bürgers 
sechten, ferner von dem Anſpruche auf den Genuß der Gemeindeguͤter, 
—* an Gemeindewaldungen, ausgeſchloſſen; dagegen genießt er alle 

rigen echte; ins beſondere des freien Gewerbsbetriebs, ſowie auch alle 
ftaͤdtiſchen Privilegien auf ihn anwendbar ſind. Die neueſten Gemeinde⸗ 
ordnungen haben mit Recht dieſen Unterſchied von vollkommenem und 
unvollommenem Bürgerrecht aufgehoben**). Mehr darüber ift in dem 
Actikel: Gemeinderecht, anzuführen. Mittermaier. 

Buͤrgerſchulen, ſ. Schulen. 

Buͤrgerſtand. Diefer Begriff hänge mit ber Geſchichte ber 
Sutmwidelung der Stände, unb mit ber Ausbildung ber Gemeinden zu⸗ 
fammen. Die Gefchichte der germanifhen Staaten erinnert an eine 
Zeit, in welcher ber Staat nur eine Vereinigung verfchiebener Genoflen- 
[haften war, von weichen jede nad ihrem eigenen Rechte lebte, unb 
jeber, ber in eine ſolche Genoffenfchaft aufgenommen war, auf ben 
Schutz feiner Genoſſen rechnen konnte, gewiſſe Rechte in der Corporas 
sion genoß, und nur von feinen Genoſſen gerichtet wurde. Jede 
ſolche Genoſſenſchaft bildete einen Stand, und in dieſem Sinne ***) bemerkt 
man im Mittelalter 1) einen Stand der Dynaſten (Herrenſtand, aus 
welchem ſpaͤter der hohe Adel hervorging); 2) einen Stand der Ritter, 
nad) Ritterrechte lebend; 3) Stand der Lehnsleute; 4) Stand ber Dienft- 
leute; 5) Stand ber Geiftlihen; 6). Stand der Gemeinfreien, bie nad 
dem Volksrechte lebten, in den Volksgerichten als Schöffen faßen, unb 
bort gerichtet wurben**’**). Diefer Stand der Gemeinfreien, welche bas 
eigentliche Volk ausmachten, umfaßte ebenfowohl die freien Lanbeigen- 
thumer, a als ‚anfangs auch bie Bewohner bee Städte. Als allmählig die 


*) Meine Grundſ. bes deu 
8 3.8. in Balken ee 1851 Iber Werfoffung ber Gemein 


den * 
"+, Meine Grundſ. des deutſchen Privatrechts $. 44 
—* Ueber bie Geſchichte des Staͤnde, de Gourcy, Abb. über t und 
ee Abel rn beiten zakand, "überfegt von Defterlet. Bött. 1788. 
in Deutſchland. Goͤtt. 1795. Hälimann 
bes —5 ve — in Deutſqhl. Icauij. isb 8 Thle. Ste 
Ausg. Berlin 1 





152 Bürgerftand. 


| I. 
Staͤdte eine volftändige Municipalverfaffung erhielten, durch Privilegien 
ausgezeichnet wurden, als die Bewohner der Städte nicht mehr auf den 
allgemeinen Volksgerichten zu erfcheinen nötbig hatten und ihr eigenes 
Schöffengericht echielten, als in den Städten ein eigenes Recht, anges 
meffen den ftädtifchen Verhaͤltniſſen, durch Gewohnheitsrecht im Gegens 
fage des gemeinen Landtechts, als Weichbild» ober Stadtrecht ſich aus⸗ 
bildete, als der Ausdrud: Bürger, ein Ehrenname wurde, welcher bas 
voliberechtigte Mitglied der Stadtgemeinde bezeichnete, erhielt ber Bes 
griff von Bürgerftand eine Bedeutung , infofern er die Perfonen ums 
faßte, welche vollberechtigte Mitglieder von Städten waren, und ale 
foihe nad) dem Stadtrechte lebten, die Privilegien genoſſen, welche ben 
Städten verliehen waren, und von den übrigen Gemeinfreien ımterfchies 
den wurden. Se tiefer der einft ehrmürdige Bauernftand ſank, je mehr 
dee Drud der Zeit die Gemeinftrien nöthigte, in Abhängigkeit von Ans 
deren zu treten, deſto mehr wurde die Bezeichnung Buͤrgerſtand wichtig. 
— Die Regenten erliefen Verfuͤgungen an ihre Untertbanen‘, und 
nannten fpeciell in ihren Ausfchreiben Adel, Bürger und Bauern, ine 
befondere in Ländern, wo noch der Stand der Landeigenthuͤmer in Ans 
fehen fich erhielt. Auf den Landtagen erfchlenen bie "drei Stände — 
Adel, Geiftlihe und Bürger. Den Bürgern eines ganzen Landes, d. h. 
allen Städtebemohnern, wurden Steiheiten bewilligt. Der Bürgerftand 
galt ale ein freier Stand. In dem durch die Gefchichte bezeugten Stre⸗ 
ben der Herrſcher, allmählig die verfchiedenen Genoſſenſchaften ihres Lan: 
des in eine Staatögenoffenfchaft zu vereinigen, und unter ein Landesgeſetz 
zu ftellen, waren e8 die Bürger der landfäffigen Städte, welche am er: 
ften fi) der Landeshoheit unterwarfen, und als Unterthanen, vorbehalts 
lich der befonderen den Städten verliehenen Privilegien, behandelt wurden. 
Der Ausdrud: Bürgerftand, verlor dadurch fhon etwas von feiner frühes 
ren genoffenfchaftlichen Bedeutung ; allein er blieb, infofeen er die vollberechs 
tigten Mitglieder der Städte (und der ihnen gewöhnlich gleichgeftellten 
Marktflecken) umfafte, noch wichtig, da die Städte auf ben Landtagen den 
Bürgerftand repräfentirten, da die Bürger als Staͤdtebewohner vor ben 
übrigen Unterthanen mannichfaltige Vorrechte genoffen, da insbefondere in 
den Städten allein eine vollftindige Zunft» und Gewerbeverfaffung ftatts 
finden konnte, manche Gewerbe auf dem Lande gar nicht betrieben merden 
durften, und da die Statuten der Städte viele den Städtebewohnern allein 
verlichene Freiheiten enthielten, und felbft das ftädtifche Privatrecht viel 
fach von dem Übrigen Randesrechte abwich, indem 3. B. in den Städten 
oft eheliche Ghtergemeinfchaft galt, die auf dem Lande nicht ſtattfand. 
So umfaßte der Bürgerftand diejenigen, welche in Stäbten ober Markt: 
fleden das Bürgerrecht genoffen, im Gegenfage berjenigen, welche auf 
dem Lande wohnten, ſowie der Uebrigen, welche zwar in der Stadt wohns 
ten, aber entweder dem Adel oder der Geiftlichkeit, dem Beamten = oder 
Mititairftande angehörten, und in der Stadt nur als Einwohner galten, 
bei welchen bie Mechte und Pflichten der Gemeindebürger keine Anwen: 
bung fanden. In den gefellfchaftlichen und politiſchen Verhaͤltniſſen hatte 


Buͤrgerſtand. Burgunder. 153 


ſich ne ſcharfe Scheldewund zwiſchen benz Adela,. dent: Beamten :, dem 
Militaie s und dem- Bürgerftande gebildet. Manche Worrechte wurden 
wur dem: den höheren: Ständen. in Anſpruch? genericnen/ bis der Druck 
Dee Wevoreichteten den wohlhabenden, gewerhnfläiigen und feine MWürde und 
Kraft fühlenden Bürger. erbitterte. Eme neue’ Anſicht, in welcher ber 
Bärgerftasid: den fogenannten dritten Stand bedeutete, eniftand..: Die 
franzöfifche Revolution hatte mande: unklare: Begriffe-yon völliger Gleiche 
beit begünflige, und der Ausdruck: Bürger‘, wurde nun die Bezeichnung 
der vor dem Geſetze gleich berechtigten Staatäbhrgir.. Je mehe die: 0%» 
fhledenen Stände in einander floffet, und eine / wahre ſtaatsbuͤrgerliche 
Gleichheit vor dem Geſetze ſich ausbildete, beflochmehe verlot der Aus⸗ 
druck: Buͤrgerſtand, feine Bedeutung. Nur tw Bezug auf die Art bes 
Belhäftigung oder Beſtimmung hat. bie Unterfdyeidüng der Stände einen 
Werth, und infofern ſpricht man von: einen Buͤrgerſtand, der. "dies 
jemigen Staatsbürger umfaßt”), welche nach ihrre Geburt tweber zum 
Adel, noch zu dem: Banernfbande ‘gerechnet werden koͤnnen; allein in die 
fem Sinne. umfaßt der. Bürgerftand fo verfiiedene Arten von Staaté⸗ 
beroohnern, daß von einer befonderen Genoftenfchafe (ihre aligemeine 
Genoſſenſchaft befteht in der Gleichheit bes Unterthaneiverhältniffes) derfels 
ben nicht die Rede fein ann. In einem engern Sinne wird dee Buͤr⸗ 
gerftand **) aber noch gebraucht zur Bezeichnung —*8 welche durch 
* Verhuͤltniß als Buͤrger von Staͤdten befondere Rechte genießen, die 
anderen Staatsunterthanen nicht zuſtehen. Die: tm: Bezug auf bie 
Städtebewohner in manchen Yanbesgefegen aufgeftellten und non einigen 
Schriftſtellern ***) behauptete Unterfcheidung eines höheren und niedeven 
Buͤrgerſtandes, infofen man gewiffen Bürgenetaffin (Honoratioren) 
Vorrechte vor den Übrigen: Bürgern zufchreibt, bextht auf Mißverſtaͤnb⸗ 
niffen, und ift bedeutungelos, da bie Bechte aler.. e Bingen vor dem 
Selen gleich find +). en Mittermaier. 
Buͤrgſchaft, fe Verbärgung .. * 
Burgunder, m den aͤlteſten G· ſchicheequellen auch Bun 
gundionen, und mit mehreren Ähnlihen Namen, foyar Bugurdi und 
Urugundi genannt, und ben Vandaliſchen: Völkern beigezählt:: Sie 
hatten ihre früheften befannten. Wohnfige zwifchen Oder und Weich: 
fl. Um die Mitte des bdeitten. ‚Jahrhunderts unferer Zeitrechnung, 
von dem gothifhyen Stamme: ber Gepiden .unter Faſtida angegriffen, 
gefchlagen, und‘ aus ihren Wohnſitzen vertrieben,zerſtreuten fie ſich 
nach verſchiedenen Richtungen; ein Theil ſoll ſich auf der Inſel Born⸗ 
holm, deren Name daher abgeleitet wird, en anderer in den Kar: 


„ 3. B. im Preuß. Landr. II. Thl. zit. 8.5.1. 


25) Meine Grundſ. des beutfühen Fa 8. 678. Mauren breqer 
Lehrbuch des deutſchen Privatr. II. 


») 3. B. Sihhorn euer Privatrecht S. 196. Gruͤndler Polemik 
des german. R. I. ©. 137. Maurenbrecher J. c. &. 802. 


+) eine rund. 8.672. Weishaar MWürtiniderg Privatr. 1. ©. 897. 


1) 


164 „sute:. Burgunber. 


paten niedergelaſſen haben; biefer wurbe von ben Gothen Bis an bie 
Donau fortgeſchoben, und .verfchwinbet aus ber Geſchichte. Der 
größte Theil des Volkes sog fi über. bie Dider und Eihe nach dem 
‚ Sichtelgebirge zuruͤck, und fand an ‚beffen: Fädlichem Abhange, . hinter 
den Alemannen, Zufludt: und feſte Sitze. Schon 253 fielen ſie mit 
anbern. fübbeutfchen Voͤlkern in's vamifche Geblet, dafuͤr bebrohte un⸗ 
gefähr 2O Jahre fpäter. Kalſer Probus ihr eigenes; fie gingen ihm entge⸗ 
gen, heftiger Kampf, dann Vergleich: Ihe Führer Ilico trat mit feinen 
("treuen in des Kaiſers Dienſt, umb biefer zog ab, ohne burgsumbis 
ſches Land betreten -guuchbaben. Nach wie vor nahmen ‚Burgunder 
Theil an ben Einbrüche: benachbarter Völker in's roͤmiſche Gebiet, cheil⸗ 
ten “aber auch oft da umglädliche Ende folder Abenteir. 
» :,Yu8 Ddiefer Zeit erfähren wir, daß ſie von einem Könige ange 
führt wurden, ber den Jitel Hendines- führte, und abgefetzt wurde, 
„wenn dad Kriegsgluͤck wankte, oder die Erndte mißlang. Solche 
Unfälle ſchrieben fie. ihren Koͤnigen zu, denn fie hatten einen Oberprie⸗ 
ſter, Siniſtus genannt, der auf Lebenszeit beſtellt, und keinem Wech⸗ 
ſel unterworfen war, wie bie Könige.” Dies deutet auf eine Art 
Theofratie. Im Uebrigen glich ihr Weſen und reiben dem :aller 
übrigen deutſchen Voͤlker jener Zeit. — “ 
Die heigen Kaͤmpfe, welche gegen das Enbe bes 3. Jahrhun⸗ 
derts das oͤſtliche Deutſchland erfchütterten, fcheinen auch Lie Burgunder 
naͤher auf die Alemannen geſchoben zu haben, waͤhrend dieſe zugleich vom 
Rhein heruͤber durch bie Roͤmer gedrängt wurden. Daher ein Jahr⸗ 
hundert lang Hader und Krieg zwiſchen Alemannen und Burgundern. 
theild uber die Grenzen, theils über bie zwiſchen beiden gelegenen 
Salzquellen (bei Schwaͤbiſch⸗ Hall?). — Diefe Spannung zwiſchen 
beiden Böllern benupte Kaiſer Valentinian, um beide zu verderben; 
er verhieß den Burgundern Hülfe gegen bie Alemannen. Im Ver—⸗ 
trauen darauf fielen jene mit großer Macht (80,000 Mann nad) ro: 
miſchen Berichten) über diefe ber, durchbrachen ihre Land, und erfchies 
men, bem Laufe des Medars folgend, am Rhein, den römifchen Ber: 
ſchanzungen gegenüber. . Der Kaifer hielt fie mit Unterhandlungen bin, 
bis ihnen im Ruͤcken die Alemannen ſich wieder zu fammeln anfingen; 
da. erfannten fie feine Argliſt, machten nieder, was ihnen diesſeits des 
Rheins von Römern in bie Hoaͤmde fiel, und zogen in ihre Heimath zu⸗ 
id. Dies trug ſich zu im Jahr 371. Etwas über 30 Jahre nach⸗ 
ber werden die Burgunder unter ben Völkern genannt, welche nad 
Radegais Miederlage in. Gallien eindrangen. Was in ben alten Wohns 
figen zuruͤckblieb, mag ber Hunnenkrieg verfchlungen haben. Gun: 
titar, der König der ausgewanderten Burgunbionen, wird unter den 
Anhängern des Gegenkaiſers Jovinus genannt, und wußte auch nad 
deffen Untergang fich zu behaupten; ber Kaifer Conſtantius erkannte 
ihn als Deren einge Landſtrichs am linken Nheinufer, vielleicht bis hin: 
auf in die Schweiz. .Alm disfelbe Zeit nahmen die Burgundionen das 
Ehrißenthum an, madurch mathslih die Gewalt ihres Dberpsieflers zu 





Burgunder, 1655 


Ende ging, und bie des Könias ſich hob. Guntikars Reich, gegmn 
die roͤmiſchen Statthalter in Gallien ruhmvoll behnuptet, wurde von 
Attila zerſtoͤrt, ex ſelbſt fiel: im Kampfe (4617); fein Ruhm ging 
von Lied zu Lied, his in- das der Nibelungen. Sem Wolk warf ſich 
den Weſtgothen in die Arme; 456. nahmen an bem Zuge birfelben 
gegen Spanien zwei burgundiſche „reges“‘ Theil, Gundioch (Gunduich 
pber Gundeuch) und Hilperich. Die Freundſchaft ber Weſtgothen und 
bie Zerrüstung des xömifchen Meich® wachte es Gunbioch möglich, zwi⸗ 
Shen Rhone und Saone. ein ‚neues burgundiſches zu fliften .:: welches 
das lugdunenſiſche Germanien genannt: wurde, und-fidr AR über 
Savopen und Piemont, die fühliche Schweig und. Mais aushreitete. 
Nach ſeinem -Zohe &heilten ſich viet Soͤhne in’ fein Make, :.zmei- ſtar⸗ 
ben frühe, ein beitter, Chilperich, wohnte zu Genf, der vierte, 
Bundobald zu Lyon. Friede and Buͤndniß mit allen Nachbary, 
Duldung in kirchlichen Angelegenheiten, verſprach dem Reiche eine gluͤc⸗ 
lihe Dauer; häuslicher Zwiſt dee. Kürften flürzte es nach 44 Jahren 
In unermeßliches Unglüd. Denn Chilperih, im Bunde mit Chlodowig 
dem Franken, welcher feines verſtarbenen Bruders Tochter, Clotildig 
sur Gemahlin Hatte, verabredeten Bundobalbds4 Untergang, dieſer 
erlag Chiodowige, Gluͤck, aber im Zalle noch ‚gewaltig, entriß er dew 
freulofen Bruder Steg und Leben, btieb fo, obgleich dem Franken zind 
bar, doch ‚Herr. von ganz Burgundien und behauptete, upbſen. nom 
feänfifgen Schriftſtelern verleunder; bei. Ruhm :einesitveifen swah- is 
kirchlchen Dingen-buldfamen Färften. Die aͤlteſte Sammlung burgun⸗ 
diſcher Geſetze x hrt non ihm her und wird nach ihm: Bpi.Gombalie 
genannt. Sie fimmt faſt in allen Bezichungen mit demienigen abe 
ein, was damals: bei allen Deutſchen Hecht und Sitte war, mit: ber 
Ausnahme ,;. da die Ermordung eines freien Mannes nicht mit Geld 
gefühnt, fordern mitı.dem Xode beftzaft. wurde; ebenſo erſchen wir 
daraus, daß bie Burgunder keinen Abel hatten, und daß bes vom ihr 
nen in Beſit genommene: Land :und :Wrffen unfreie Bevoͤlberung ‚nit 
den freien Urbewohnern getheilt wurde;“ auch ſcheint fich des burgu 
diſche Ankoͤmmling bei biefen einquaztiert zu haben.  .. 
Nach Gundobalds Tode 516 folgte ihm fein Sohn Sigiemzums, 
der jenes Geſetzbuch auf einer Volksverſammlung beſtaͤtigen und. ver 
kündigen ließ. Durch Verleumdung gltaͤnſcht, ließ er feinen eigeneh 
Sohn hinrichten; als bald nachher deſſen Unſchuld entdedt. wurde, 
ſluͤchtete er, vor feinem Gewiſſen und dam Haß ſeines Volkes, in das 
von ihm geſtiftete Kloſter St. Mauritius in Wallis; fen Land wurde 
von Franken und Gothen angefallen, jene zogen ihn and feinem:.. Aſpyl 
unb fchleppten ihn gefangen nach Orleans. Nun ergriff fein Bruder 
Godomar die Zügel der Megierung. und trieb bie Kranken aus dem 
Rande, dafür buͤßte der gefangene Sigismund mit dem Leben, mit ibm 
ſtarb feine Gemahlin und zwei Söhne. : Sein Tod verföhnte fein Volk 
mehr, als feine Kaſteiungen, eis neue Angriff ber Kranken wurde ab: 
gewehrt, ihr König. erſchlagen, Sigiemund unter : die Heillgen verfeht. 


156 Burgunder. Burke. 


Aber ſchon zehn Fahre nachher (534) brach neuer Krieg gegen bie 
Franken aus, Godomar unterlag und farb in Gefangenſchaft; fein 
Land wurde unter bie drei Frankenkoͤnige getheilt und zinsbar, doch 
behielt es ſeinen Namen und feine Verfaſſung bei. - .K. H. 
Burke (Edmund), geboren zu Dublin den 1. Januar 1730, 
Sohn eines berühmten Sachwalters, fam 1753 nad London, fFudirte 
dafelbft die Rechte und folgte dem Stunde feines Vaters. Als Redner 
im Parlamente und als Schriftfkellee erwarb er ſich einen großen Na⸗ 
men, ben er mehr feines ausgezeichneten: Zalente, als dem Gebrauche, 
den er bavon gemacht, verdankte. Ungleich in feinem Benehmen wie 
in ſeinen Grundſaͤtzen, diente er den entgegengeſetzten Parteien. In 
feinem erſten Werke: Reclamation zu Gunſten ber natuͤrli⸗ 
hen Geſellſchaft, oder Blick auf bie Uebel, welche bie 
Stvififation hervorgebracht, ſprach er Geſinnungen und Anfichten 
aus, die einen volllommnen Radicalen bezeichneten. Bein zweites 
Wert: Verſuch über. das Erhabene und- Schöne, welches 
1757 erſchienen iſt, gilt in feinem Fache für claffifch, und hat in dem 
ganzen gebildeten Europa eine günftige Aufnahme gefunden. Das fols 
gende Jahr geündete er eine ‚Zeitfchrift, Annual register, bie et 
mehrere Jahre mit einem glänzenden Erfolge fortfegte. Seine politifche 
Laufbahn begann er als Privatfecretaie des erften Lords der Schabkam⸗ 
me ‚Marquis von Rockingham. Bald nachher trat er als Abge⸗ 
ordriefer des Flechens Wendowe in bas Parlament und vrregte durch 
feinen: "Antrag gegen die Stempelabgabe, die den amerikaniſchen Colo⸗ 
nien auferleg6 werden, allgemeine Aufmerkſamkeit. ‘Die Rede, welche 
er bei diefer Gelegenheit im Unterhaufe hielt, gehört. zu ben ausgezeich⸗ 
netften und gewann ihm bie Liebe und Achtung aller: Freunde freifins 
niger Grundſaͤtze. Als das Miniſterium Rodingham durch bus bes 
Lords North erſetzt warb, erwies er ſich feinem: gefallenen Wohlthäter 
dankbar und vertheidigte ihn Im Parlamente und durch eine eigene 
Schrift, die. er herausgab. In dem ganzen Laufe bed amerikanifchen 
Krieges führte er, in der Reihe der Oppofition, die Sache der Unters 
drüdten mit großem Talente und einer rühmlichen Entſchloſſenheit. 
Im Sabre 1782 Löfte das Minifterium Rodingham wieder das des 
Lords North: ab und bie neuen Machthaber erinnerten ſich des alten 
Steundes, der ihnen auch im Unglüd treu geblieben war. Burke ward 
zum Generalzahlmeifter des Kriegsweſens ernannt unb erhielt Sig im 
geheimen Rathe. Nach dem Tode Rockingham's, der die Auflöfung 
feines Miniſteriums zur Folge hatte,. zog fi‘ Burke. zuruͤck. Er 
nahm in der Reihe ber Oppofition, an der Seite feines Freundes or, 
eine ausgezeichnete, man kann wohl fagen, bie erfte Stelle ein, und 
erwies fidy als einen warmen Vertheidiger der Freiheiten feines Landes 
und der echte des Volkes. Er ‚brachte wiederholt feine Bill für die 
Meform ein, welche aber nicht Durchgefegt werden konnte. In dem Pro⸗ 
zeffe gegen Korb Haftings "ale Gouverneur von Dftindien, der fo 
großes Auffehen gemacht, zeigte er ‚eine Deftigfeit und Exbitterung, die 


Burke. Gabinet. 157 


ſich fpäter als bie hervorftcchenben Züge feines Charakters bemerkbar 
machten. Die Oppofition bot vergebens ihre ganze Kraft auf, ihre 
Anftrengungen, von. Männern wie Burke, Kor und Sheridan 
unterftügt, blieben ohne Erfolg und Haſtings ward von dem Ober⸗ 
baufe, vor das er geftellt werden, war, frei geſprochen. Der Prozeß 
Eoftete der Regierung über eine Million, und dem Beklagten an 70,000 
Gulden. Bet der Verhandlung der Frage, ob dem alten Könige, 
Georg I., der an Geiftesabmwefenheit litt, eine Regentſchaft zu feben 
fei, zeigte Burke diefelbe gehäflige Leidenſchaftlichkeit, und vergaß nicht 
nur, was er als Bürger der Krone, ‚fondern auch, mas er als Menſch 
einem großen Ungluͤck fchuldig war. Zwei Sahre fpäter gab er feine 
Schrift: Betrachtungen über bie franzöfifhe Revolution, 
heraus, die in ganz Europa ein ungemeines Auffehen erregte und 
von einer gewiffen Seite mit lautem, ungetheiltem Beifall aufgenom⸗ 
men ward. Ein berühmter Staatsmann hat fie auch ind Deutfche 
überfegt und mit Anmerkungen begleitet, die an gründlihem Wiſſen 
ben Text weit übertreffen. Die Betrachtungen, mie ber Geift, der fie 
geboren, haben ſich in vergeblihem Streben abgemuͤht; die Revolution 
und mas in ihr die Völker und die Menfchheit auf bem Wege ihrer 
Beſtimmung weiter gebracht, wirkt fort und wird bie Anſtrengungen 
der Selbſtſucht und Eitelkeit überleben. Burke hat allen Parteien 
gedient und allen politifchen Anfichten gehuldigt und feinen Beiftend 
geliehen; nur in Einem blieb er fich glei, in feinem Daffe gegen 
Frankreich und die Revolution, die ihm die Buͤchſe der Pandora mar. 
Beſtreiten laͤßt fi nicht eine große Kraft des Geiftes, mit der ihn bie 
Natur begabt, ein glänzendes Zalent, eine oft erfchütternde Beredtſam⸗ 
keit, die aber gemöhnlid) von abenteuerlichen Bildern und hpperbolis 
fhen Gleichniſſen ftrogt, und ihr Lebensprincip in feindfeliger Aufre⸗ 
gung findet. Sie ift dem Gemitter zu vergleichen mit feinen leuch⸗ 
tenden Blisen und feinem raffelnden Donner, das aber weder die 
Erde befruchtet, noch die Luft erfriſcht. Won der Leidenfchnft getries 
ben war er gewaltig; aber diefe Leidenfchaft war von bößartiger Na⸗ 
tur, nuc im Angreifen und Zerflören wirkſam, nur ſtark, wenn «6 
galt, verhaßt oder verächtlih zu machen. Es fehlt ihre das Wohl⸗ 
thuende, Begeiſternde, das verföhnt, erhebt, den Menfchen veredelt, 
dem Menfchen befreundet, die Achtung vor feinem beffern Selbft ver: 
mehrt und die Jugend und das Gluͤck zu begründen ftrebt. Burke 
ftarb am 8. Juli 1797. Weigel. 
Burfhenfhaft, f. Studentenverbindbungen. 


C. 


Cabinet, Cabinetsbefehl, Cabinets⸗Miniſter, ger 
heimes Cabinet, Cabinetsregierung, Cabinetsſchrei— 


158 .: ». Cabinet. 


den. Es iſt Hier narleliä) nicht von der allgemeinen Bebeütung 
des Wortes „Cabinet“ (kleineres oder geheimeres Wohn: oder Aw 
beits: Zimmer oder auch Aufbewahrungsort für Kunfts oder 
Raturalien Sammlungen u. f. w. oder auch eine ſolche Sammlung ſelbſt) 
die Rede, fondern nur vom Cabinet, d. h. Arbeitszimmer des Fuͤrſten 
als folchen oder überhaupt bes Regierungs⸗Chefs, von wo aus beri 
felbe feine perföntichen Entfcheibungen in Staats⸗Sachen (denn was 
feine Privats Angelegenheiten beteifft, fo geben fie uns bier nichts am; 
mögen fie auch in bemfelben Cabinete verhandelt werden) erlaͤßt, oder 
wo er ſich mit feinen verfrauteren Mäthen (über Regierung s: Ges 
ſchaͤfte d. h. über die ihm als Staatshaupt zukommenden Geſchaͤfte) be⸗ 
rathet oder ihrer Arbeitshälfe ſich bedient; dam auch die Summe 
oder die Verſammlung der in foldhen engern Rath berufenen Per⸗ 
fonen ſelbſt. Wenn es fih nun um Dinge handelt, welche zu bee 
(hießen, zu befehlen ober anzuordnen, dem König perfönlich und auss 
ſchließlich zukommt, oder Infofern nur foldhe freie Selbſtthaͤtigkeit 
deffelbden in Sprache Ift, fo erfcheine das Cabinet — in vielem Staaten 
auch daB geheime Cabinet (zur Erhöhung feines Glanzes) genannt — 
als eine Perfon mit ihm felbf. Was vom Cabinete ausgeht, 
iſt eben vom Könige ausgegangen; und es iſt dann meber rechtlich, 
noch politiſch irgend ein Unterſchied dazwiſchen, ob er wirklich gan? 
allein oder aber mit Zuziehung eine oder mehrerer Gehülfen, bie 
man etwa Cabinets⸗Secretaire oder Cabinets:Mäthe oder 
auh Cabinets⸗Miniſter heißen mag, die Geſchaͤfte allbort erlebigt. 
Die Staatd-Drganifations: Politik oder die Lehre von dem 
Syſtem und der Hierarchie der Staates Bebörben, nimmt alsdann 
davon gar Feine Notiz; fie beſchraͤnkt fit) naͤmlich darauf, für die vers 
ſchiedenen Verwaltungszweige die überall zwedmäßigen Articulatio« 
nen (Ober s und Unterbehörben), namentlid auf hoͤchſter Stelle bie 
Minifterien, und Über benfelben das allgemeine oder Staats⸗ 
Minifterium (etwa auch noch einen Staatsrath: und eine weis 
tere oder engere Minifterial»Conferenz) zu fordern ober anzuord« 
nen, braucht alfo zur Vollendung der Hierarchie nichts Weiteres mehr 
als den Fürften, und das Cabinet iſt alsdann eben der Kürft. 
Aber die große, freilich nach Verſchiedenheit der Merfaffungen auch ver⸗ 
fhieden zu beantwortende Frage ift: welches find jene dem Fürften 
perfönlich oder ausſchließend zutommenden Sefchäfte, Entfchliegungen und 
Entfcheidungen ? Welches ift dee — nach ftantsrechtlichen ober politiſchen 
Gründen — zu ziebende Kreis, jenfeit welchen jenes autokratiſche 
Handeln aufhören und bie, wenigftene theilnehmende, wenn 
auch nicht allein entfcheidende, Thaͤtigkeit eigentliher Staats⸗Behoͤr⸗ 
den eintreten fol? Einen ſolchen — ob weiter oder enger gezogenen — 
Kreis und das Ueberſchreiten beffelben denkt man fi jedenfalls, 
ſobald man von einee Cabinets⸗,Regierung im mißbilligenden Zone 
ſpricht, namentlich daburch den Gegenfag zu eine in vegelmäßis 
gen, entweder geſetzlich beftimmten ober Aberhaupt den geläuterten Orga⸗ 


Cabinet. 159 


nifationeprincipien entfprecdenden Kormen fid) bewegenden bezeiääntet 
Eine Cabinetö-Regierung in diefem inne iſt diejenige, Die zum vorherr 
(chenden Charakter  ba6 Walten des alleinigen Cige nwiſſens des 
Eirften hat und — bemfelben als Werkzeug dienend ober auch Uftig ihn 
felbft zum Werkzeug mißbrauchend — die höhere Gewalt des perfönlich 
Bertrauteren, neben obes über den eigentlichen Staatsbehoͤrden eingeſet⸗ 
tm engeren, d. h. Cabinets⸗Kathes. Das Cabinet, unter ſolchen 
Umftänden, nähert fi leicht — wenn auch nicht in feinem Begriff, 
doch im Geiſt feines Waltens — jenem de „Camarilla” (f. 
d. Art.), obſchon zwifchen beiden immer der Unterfchleb bleibt, dag das 
Gabinet aus eigens zu Regierungs⸗Gehuüͤlfen des Kürften er 
nannten und in dieſer Eigenfhaft offen auftretenden Männern 
befteht, alfo eine befannte und anerfannte Macht ausübt, 
wogegen die Camarilla bloße Hofs Diener, überhaupt jene zur näs 
beim Umgebung des Zürften gehörige Sünftlinge und Vertraute 
— auch VBeichtväter und Weiber nicht ausgefchloffen — in ſich begreift, 
welche auf die Entfchließungen beffeiben durch was immer für Mittel bes 
ſtimmend, leitend oder ableitend, einwirken. Solche Einwirkung ift ſodann 
— in ber Regel — unendlich mehr als beim Cabinet, ja ganz natur 
gemäß, eine bösartige. Die Camarilla, wo immer eine beſteht, 
feden wir faſt ohne Ausnahme den Fürften mie Mißtrauen und Abnei⸗ 
gung gegen bie reblihen Staatss Diener, gegen die Im Intereſſe des 
Rechts und bes Geſammtwohls waltenden Behörden, gegen bie mit 
der Autorität des Zürften ober mit feinem Vertrauen erfcheinend beklei⸗ 
beten, aber ber Berantwortlichfeit für ihre Handlungen umd Rathe 
ſchlaͤge eingeder..en Mintfter und Staatsrathe, im conflitutionellen 
Staaten aber zumal gegen bie pflichtgetreum Landftände, erfllien, 
an die Stelle Achter Regierungs:Intereffen jene des Egoismus und ber 
Parteiung fegen, zum Frommen berfelben argliftig jede fuͤrſtliche Leiden 
ſchaft oder Laune aufrelzend und nährend, ſolchergeſtalt alfo der wahren, 
offentundigen Regierung eine verborgene und unlautere entgegenfegen 
und zum heillofen — nicht felten wirklich erreichten — Ziele haben, ent« 
meter die gefeglihen Autoritäten ſaͤmmtlich zu Werkzeugen jener ſeldſt⸗ 
füchtigen oder Factions⸗Intereſſen herabzuwuͤrdigen oder das Iopale Wal⸗ 
ten und die edeiften Beſtrebungen berfelben durch dunkle Gegenmachina⸗ 
tionen zu vereiteln. 

De Sinn, worin wir bis jegt von Cabinet und Cabinetsregierung ala 
von etwas theild Gleichguͤltigem, theild Wermerflichen fprachen, 
ift jedoch nicht der einzige, der mit jenen Worten verbunden wird oder ver⸗ 
bunden werden kann. Das Wort Cabinet bat aud eine ſtaats⸗ und 
voͤlkerrechtlich gar twohl anzuerkennende, tabellofe und wichtige Bedeutung, und 
dann mag es gleichfalls tadello® (d. h. obauh minder paffend, doch 
an der Sache nichts dndernd) gebraucht werben zur Bezeichnung üben 
haupt der hoͤchſten Staatsftelle, welche man fonft etwa Staates 
minifterium, DWinifterconferenz, Gebeimrathscolle 
gium m. f. w. nennt, aber ohne Nacıtheil nennen kann wie man will. 


160 Cabinet. 


Uebrigens treffen wir nicht nur ruͤckſichtlich des Namens, fonbern auch 
der Einrichtung, bes Geſchaͤftskreiſes und: dee Geſchaͤftsform bei dieſer 
hoͤchſten Stelle ‚eine vielfache Verſchiebenheit in den einzelnen 
Staaten an, je näc deren befonderen Verhältniffen und Ver⸗ 
Wwaltungsfpyftemen, zumal abed nah den bei Ihnen: beſtehenden 
Conftitutions- Örundfäsen. Auf diefe legten verzäglich richt 
wir bei den nachſtehenden Bemerkungen: unfern Blick. ' 
In conftitutionellen nicht minder als Im abfoluten Staaten fpricht 
‚ man, wenn von-ausmwärtigen Angelegenheiten, überhaupt von ber 
Wechſelwirkung eine® Staates mit . andern bie Rede ift, durchgängig 
vom Cabinet al& einem mit Regierung gleichbedeutenden Begriff, 
und man benennt es in der Regel nicht nah dem Staate felbft, 
fondern nach dem Gig der Regierung, alfo nad der Hauptftabt 
oder der gewöhnlichen Nefidenz.des Megenten. So fagt man haus 
figer als: das ruſſiſche, preußifche, oͤſterreichiſche u. f. w. 
Gabinet, das Cabinet von St. Petersburg, Berlin, Wien u. ſ. w., 
ebenfo jenes von Paris, London, Madrid oder auch das Cabinet 
bee Zuilerien, oder von St. James u. f. w. auch das von 
MWafbington oder des nordameritanifhen Präfidenten. 
In den Verhandlungen der Staaten unter. einander ftellt die Regie 
rung die Perfönlichkeit des zum Staate vereinigten Volkes vollftändig 
dar, und uͤbt auch der conftitutionmelle Monarch (menige Auss 
nahmen :abgeredmet) das Recht des Kriegs, der Friedensſchluͤſſe und an- 
derer Berteäge in der Eigenfchaft als Inhaber der vollziehbenden 
Gewalt, ohne directe Theilnahme der Volksrepräfentation aus. Da⸗ 
ber ernennt auch er die Gefandten und erfcheinen je der fremden 
Staaten nur ald an ihn gefendet; und daher ift in dem diplomatifchen 
Schriftenmechfel niemals vom Staat die Mebe, fondern nur vom 
König (oder wie fonft benannten Monarchen) oder von des Könige 
Hof, Cabinet oder Minifter. Diefes Gabinet nun ift nicht 
zu verwechfeln mit jenem, wovon wir oben ſprachen, nämlich mit dem 
blos aus Gehülfen der perfönlichen Gefchäfte und Arbeiten des Fürs 
ften beftehenden. In dem legten naͤmlich, wiewohl e8 der MWefenheit 
nach nichts Anderes fein foll, ald eine Canzlei zur Ausfertigung der 
Refolutionen des Fürften, mag derfelbe zwar die Meinungen oder 
Rathſchlaͤge feiner Diener einholen und darnach fich richten; aber es 
erfcheint davon nichts, fondern e8 gilt Alles für rein perföntie 
her Entfhluß Dort aber find die Raͤthe oder Cabinetsmitglies 
der zugleich verantwortlihe Staatsbeamte und wirkliche Theilnch 
mer (juriflifhe Miturheber) des — obgleich nur im Namen des Fürs 
ften kund zu machenden — Belchluffes, für beffen Untadelhaftigkeit 
einzuftehen, fodann allernaͤchſt die Obliegenheit des ihn mitunterzeichnens 
den Minifters if. In diefem Sinne können alfo auh in conftis 
tutionellen Monarchien Cabinets-Ord res“ oder „Cabinets⸗ 
Befehle“ erlaſſen werden, denn es bedeuten dann dieſe Worte nichts 
Anderes, als daß es Regierungs-Beſchluͤſſe feien, gefaßt ohne 


Cabinet. 161 


Mitwirkung der Kammern, ſowie es bie Conſtitution erlaubt 
ober vorſchreibt. Es Legt alsdann auch nichts daran, ob fie gefaßt 
oder erlafien werben unter Beirach ſaͤmmtlicher Dinifter, oder nur 
eines Theiles derfelben, audy nicht, ob die Mitglieder biefes Cabinets 
fortwährend die ſelben, oder aber nach dem Belieben des Königs oder 
nach dem Gegenſtand der Berathung wechfelnd find. So befteht in 
England das Cabinet council aus einem für jede Sigung befonders 
einberufenen engeren Ausfhuß des Minifteriums und Geheimenrathe. 
An Frankreich dagegen ift das conseil du Cabinet (unterfchles 
ben von dem blos aus Secretarien und Ganzliften beftehenden coabi- 
met du roi) ftändig zufammengefegt aus fämmtlihen Departes 
ments-Miniftern (Ministres seoretaires d’etat), und anferdem 
aus einigen Staatsminiftern ohne Portefeuille und zwei Staatöräthen. 
Auch im Koͤnigreich Sachſen war bis 1831 das Cabinet zugleich das 
Staatsfecretariat, worin der König über die ihm durch die Mis 
nifter vorzutragenden Angelegenheiten . feine Entfcheidung gab. Auf 
das Recht oder die Amtsobliegenheit, im Cabinete Vortrag an 
den Regenten zu erflarten, bezieht fich der Titel „Gabinets- Mis 
nifter”. Die Minifter, welche zu folhen Vortraͤgen nicht berufen 
find, fondern blos den Minifterial= Berathungen anmwohnen, heißen 
mitunter, im Gegenfas von jenen, Conferenz⸗Miniſter ober au 
Staatsminifter oder Mintfter ſchlechtweg. 
Cabinets-Ordres oder Sabinetes Befehle, wenn fie in 
der durch die Conſtitution dem koͤniglichen Willen überlaffenen Sphäre 
und unter der Verantwortlichkeit der dafür einftehenden Minifter ers 
gehen, haben hiernach weder rechtliches, nody politifches Bedenken gegen 
fih. Nur ift es Aufgabe dee Conftitutionss Politik, jene Sphäre 
genau zu zeichnen und der Ueberfchreitung derfelben einen mohlbefeftigs 
ten Damm entgegenzufegen. Die donnernden englifhen Cabis 
nets-Befehle vom 7. Januar und 11. November 1807, welche den 
anmaßenden Faiferlihen Decreten Napoleons von Berlin 
und Mailand entgegengefegt wurden, waren in Bezug auf das eins 
. beimifche großbritannifche Staatsrecht untabelig und nur dem Vors 
wurf bes verlegten Voͤlkerrechts ausgeſetzt; die verhängnißreichen 
SuliussDOrdonnanzen König Karies X. in Frankreich dagegen 
verhöhnten bie heiligften conftitutionellen Rechte ber franzöfifchen Nation 
- felbft und wurden dadurch den eigenen Urhebern verderblich. 
In abfoluten Monarchien ift die Autorität des Cabinets natuͤr⸗ 
lich weit ausgebehnter und umfaßt neben der vollen Regierung 
oder Erecutivgemwalt auh noch die gefeggebende. ' Infofern 
es alsdann nicht aus dem Geſammt⸗Miniſterium befleht oder in⸗ 
ſofern nicht wenigſtens die betreffenden Minifter darin den Vortrag 
haben, fo bildet fi daraus fehr leicht eine Cabinets⸗Regierung 
in der oben bemerkten, verwerflihen Geſtalt. Das eigentliche Miniſte⸗ 
tium und der Staatsrath ſinken alsdann zu bios begutachtenden 
Stellen, ihre von einer weiſen Organiſationspolitik geforderte: Autorität 
Gtaats sEeziton. IL 11 


Ir” Cabinet. 


zur Schein⸗Autoritaͤt herab, und ber über Ihnen ſtehende ˖ Cabinettrath 
oder der etwa zum geheimen Vortrag im Cabinet ausſchließend berufene 
‚einzelne Miniſter beherrſcht von dort aus, und ohne alle Verantwortlich⸗ 
keit, den ganzen Staat. Ueberhaupt iſt es für ein Volk bemüthi- 
gend und den Abfolutiemus in grellem Lichte zeigendb, wenn Verord⸗ 
nungen, welche für das Wohl oder Wehe ganzer Provinzen. oder des 
‚ganzen Staates entfcheidend fein koͤnnen, und zumal wenn politifche 
und Rechtsgeſetze, welche doc nad ihrem vernünftigen Begriff 
nichts Anderes fein follen, als Ausfprüche bes Sefammtmillens oder 
des allgemeinen Anertenntniffes, unter dem Xitel von Ca⸗ 
binet8= Befehlen erlaffen werden, als Ausdrud des ‚perfönlichen 
Willens ober auch des, Unfehlbarkeit und Alleingeltung anfprechen- 
‚den, Dafürhaltens eines Mannes — finnverwandt mit dem faſt 
naiven, doc centnerſchweren Worte: „l’etat c’est moi‘, 
| Doch auch unter der abfoluteften Regierung bleibt, nad) heutzu- 
‚tage, allgemein anerkannten Srundfägen, ein Gegenftand den Gabinets- 
Befehlen entrüdt, d. h. ſoll ihnen unerreihbar fein, nämlich ber 
Rechtsgang. Eine Cabinets-Regierung kann, wie wir hörten, 
unter gewiflen Umſtaͤnden und in gemwiffem Sinne oder Kreife gerecht: 
fertigt ober als zuläffig erfannt werben; aber eine Cabinets⸗Juſtiz 
durchaus nie. Eine folche nämlich ift, felbft wenn die Conſtitution fie 
erlaubte und fin ihrer mildeften Form, — ndmlidy als Zuftiz - Ge: 
walt ber Regierungs : Behörde — eine dem Rechtsbegriff wi- 
derfireitende Ernennung ber Partei zum Richter. Denn bie 
Regierung ift in den allerwichtigften Prozeffen, nämlich den pein- 
‚lien, und zumal in den über politifche Anklagen erhobenen, aber 
dann auch in den civilrehtlihen Prozeflen des Fiscus wirklich 
Partei und foll alfo, d. h. kann wegen natärliher Befangen⸗ 
beit niht Recht fprehen. Außerdem aber tft fie als Gewalts⸗ 
Inhaberin feibft da, wo dee Gegenſtand des Streited fie nicht 
anmittelbar berührt, in nahe liegender Verfuhung, ihre Stellung 
als Macht aus Befangenheit für die Perfonen zu mißbrauchen 
zu willkuͤrlicher Erweiſung vor Gunft oder Ungunft. Hat aber gar 
die Verfaſſung ihr (oder dem Fürften) die Gewalt bes Rechtfprechens 
nicht verliehen, und werden gleichwohl die vermöge conflitutionelier 
Grundſaͤtze unabhängigen Serichtsflellen durch das Cabinet mittel- 
bar ober unmittelbar influenzirt (durch Befehl oder Einſchuͤchterung 
oder Verheißung), oder werden die von den competenten Behörden ge⸗ 
fällten. Urtheile vom Gabinete mißachtet ober. umgeftoßen: ale 
dann ift eben die Gewalt an die Stelle des Rechtes getreten, d. h. 
bas Recht hat aufgehört. Die Wichtigkeit diefes Satzes jedoch 
erheifcht eine gefonberte, ausführliche und allfeitige Beleuchtung (f. Gas 
binets⸗Juſtiz). 

Noch haben wir hier der Cabinets⸗Schreiben zu erwähnen, 
als einer ber in der Diplomatie üblihen Kormen der zmifs,en den 
Fuͤrſten untereinander zu gefchebenden Mittheilungen. Die 


Gabinet::- Cagets⸗Luſtiz. 163 
feierlichſte Form naͤmlich iſt die des G..16; 8; In- dem⸗ 
felben erſcheint ber * des mittheilender —— 5 


| | ins, und bie Sormel: 
„Wirt, Auch wird das Schreiben von deigirkter eantrafignirt. Die 


Gabinets: Schreiben nähern ſich mehr den son.pon Privatſchrei⸗ 
ben, und der Fuͤrſt, der fie allein.unterzeichn«, redet von fid, nur mit 
„Ich“. Eine noch vertraulichere Korm endlic Haben die eigenhäns 
digen Schreiben, welche jedoch nicht Häufig vorkommen. Sur uns 
ſted alle diefe Unterfcheibungen. unwichtig. N 
„Wer da. bedenkt, daß Uber das Wohl odi Wehe der -Wöiken, 
ja Über iones der Menſchheit, d. h. über. ih moterielles, geiſiges 
und moraliang Boranfchreiten, Stil leſteien oder Ruͤckſchrel⸗ 
ten ober Die chtung ihres Ganges, innerhab her. Wände eint- 
ger geheimer Eshinete die Entfcheidung getoffen, daß das Loot 
eines ganzen Welttheils „uf ein Geſchlechtsalter oder nody weiter hinaus 
beftimmt werden kann durc eine Gabinets: Veränderung, d. b- 
durch ben Eintritt eines neuen Minifters oder ben. Austritt ‚eines an⸗ 
dern, der wird durhdrungen von dem wehmüthign und niederſchla⸗ 
genden Gefühle der Unbedeutfamkers der Menſchenhaufen, genannt 
Nationen, und von der praftifhen Nichtigkeit ber fhme: 
cheinden Theorien über die rechtliche Kraft des Hefammtwillend, 
Doch fei dem, wie das Verhängniß es will oder ‚die Natur ber perſoͤn⸗ 
lichen Macht es mit ſich bringt! immerhin wird doch jenes Cabinet das 
ehrwürdigere, dad von Mitwelt und Nachwelt geachtetere, aus) — we⸗ 
nigftens in der Regel — das in: feinen Beſtrebungen glüdlichere fein, 
welches vor andern feine Richtung freiwillig und redlich in Webereinftim- 
mung fegt mit jener der in die Erſcheinung getretenen vernünftigen — 
d. h. auf Recht und Gemeinwohl gehenden — Nationalwuͤnſche und bes 
edleren Zeitgeiftes. | Motte. . 
Cabinets-Juſtiz, CabinetsInſtanz; Trennung und 
Unabhängigkeit der richterlihen Gewalt von der re 
gierenden und der gefeggebenden. I. Cabinet, Cabinetsver⸗ 
fügung bezeichnet zwar ftantsmwiffenfhaftlid in einem .engern: 
Einne nur die Berathung und Verwaltung von Geſchaͤften durch den 
Regenten allein oder doch nur unter Mitwirkung yon verteauteren Mi⸗ 
niftern oder NRäthen. Es entfpricht diefe Bezeichnung alfo der allges 
meinen Wortbedeutung, nad welcher man das Eleinere Gemadı 
hinter dem größeren ein Cabinet zu nennen pflegt. Im weiteren‘ 
Sinne aber verfteht man unter Gabinet, 3. :B. unter Gabinet von. 
London, überhaupt die Regierung, unter Cabinetsverfügung alfo auch 
die vom Regenten ausdrüdlich oder ſtillſchweigend genehmigte Verfügung. 
feiner Miniſter oder feiner hoͤchſten WVoltziehungsorgane im Gegenfaß- 
gegen die übrigen öffentlichen Gewalten oder Befchlüffe, insbefondere 
gegen die bes Parlaments und der Gerichte. So kam es, daß 
man unter Cabinets⸗Juſtiz überhaupt eine von der Regierung oder 
von ihren abhängigen Dienern ausgehende Einwirkung in die richters 
liche Verhandlung und Entfheidung einzelner Givil - oder Eminalprye 


164 SabjrdIuflig: 


zeffe verſteht. Gabfmer.,rftanz aber iſt bie als Regel vorgefchries 
bene Verhandlung un söheibung von gewiſſen Rechtsſtreitigkeiten 
durch die Regierung. 

Vieleicht in wenige Punkten war das Staatsrecht und die oͤf⸗ 
fentliche Meinung, warr insbeſondere bie juriſtiſchen Schriftſteller aller 
civiliſirten Staaten ſeit ingerer Zeit fo einſtimmig, als in bee Ver⸗ 
werfung ber Cabinets⸗Iſtiz und dee Cabinets⸗Inſtanzen. Ein fo allge 
meiner Abfcheu ſprach fih dagegen aus, daß felbft ein Ferdinand Vil. 
von Spanien fich zasthigt fah, mit Berufung auf alte lesitime, 
fparifche Staatsgrundfte fich Öffentlich davon Toszufagen. Fine Ruͤck⸗ 
fidt auf die materielle Büte der Regierungsverfügung über «se beftimmte 
Mozeßſache, fah marfchon blos in dem formellen Feegriff des Cabinets 
in die Juſtiz einen Suftigmotd. Das ſtarke Wort follte die gänz« 
liche Verwerflichkeit er Sache und ben Ahfar davor bezeichnen. Alle 
freie Verfaſſungen gemaniſcher Völker ſchinen alle Cabinets « Jufliz ent⸗ 
fhleden aus, und jeiligten die Unarsangigkeit der Gerichte. Beſon⸗ 
ders auch in Deuschland, deffer Reiches und landftändifhe Verfaſ⸗ 


fungen andere Mängel wemaltens durch bie Achtung unabhängiger 
Rechtspflege und tichterlicher Huͤlfe felbft gegen bie Fuͤtſten zu vergüs 
ten fuchten, gal: Cabinets-Juſtiz ald ber größte Vorwurf gegen eine 
Regierung, als Beweis eines rechtloſen, befpotifhen Zuftandes, als 
eine von ben Keichegerichten befonder® eifrig verfolgte Verfaffungsvers 
legung. Es ift einer ber vielen Beweife, daß das Werk von Meyer 
(Esprit orig. et progr. des instit. jud. IV, &. 314) oft wenig grünblidy 
tft, wenn es die Cabinets⸗Juſtiz als überall in Deutfchland geſetzlich 
gebilligt därftellen mil. Doc, hatte bie durch die Parteileidenfchaften 
unferer Zeit hie und da bewirkte Verwirrung aller ftaatörechtlihen Be⸗ 
griffe die Anhänger der Hallerifhen Xheorie dahin geführt, auch 
dieſes heiligfte und legte Bollwerk der Freiheit und eines rechtlichen Zus 
ſtandes anzugreifen. Und auch manche neuere Beftimmungen fcheinen 
mwenigftens die Gründe, den Umfang und die Bedingungen dieſes wes 
fentlihhen Rechts nicht ganz richtig zu mürdigen. 

I. Strände ber Berwerflichkeit der Cabinets-Juſtiz: 
Theilung der Arbeit. Es fragt ſich alfo vor Allem, worauf ruht 
die Verwerflichkeit ber Cabinets-Juſtiz? Hier kann man nun als einen 
Grund gern den zugeben, welchen Gönner in feinem Handbuch 
des Prozeffes (Bd. I. Abhandl. 1.) als den alleinigen hervorhebt. 
Die Kegierenden haben bei ihren andermeitigen täglichen großen Aufs 
gaben nicht die zur ruhigen, partellofen Prüfung und zur gründs 
lichen, jwriftifchen Entſcheidung ber Rechtsſtreitigkeiten nöthige Ruhe 
und Rechtskenntniß. Mit andern Worten alfo, eine mwohlthätige Theis 
lung der Arbeit ift auch für eine gute politifche Gefchäftsverwaltung, 
wie für jede andere und insbeſondere in Beziehung auf die Verwaltungss 
und die Juſtizſachen weſentlich. Aber es widerſtreitet ebenfo fehr ber 
Wahrſcheinlichkeit, wie der wirklichen biftorifhen Wahrheit, wenn mit 
Gönner Manche vermeinen, blos durch eine folche relative, ohn⸗ 


Gabinets · Juſtiz 165 


gefähr et feit dee Aneblidung unſerer neueren; ſchnierigeren, wiſſen⸗ 
ſchaftlichen Jurisprudenz entſtandene politiſche Erwaͤgung haͤtte ſich die 
angeblich fruͤher allgemein als zulaͤſſg erkannte Cabinets⸗Juſtiz allen ge⸗ 
ſitteten freien Voͤlkern als ſo obfolut verwerflich und rechtswidrig bars 
gefteltt, 

JIE. Fortfegung Vertheilung oder doch ſelb ſtſtaͤn⸗ 
dige Organiſation der Hauptzweige der politiſchen Ge 
walt. Es liegt vielmehr ein zweiter, wichtigerer Gegengrund gegen 
die Cabinets⸗Juſtiz in der nothwendigen Abſonderung ſelbſtſtaͤndiger Haupt⸗ 
zweige oder der Hauptfunctionen der politiſchen Gewalt. Selbſt auch da, 
wo dieſe Trennung, und namentlich die der richterlichen Gewalt 
von der geſetzgebenden und von der vollziehenden oder der regies 
senden, nicht fo wie von Montesquieu (11,6) und von Kant 
(NMaturreht, S.164) und feit ihren Ausführungen ſaſt von allen 
Publiciſten zum Gegenſtand klarer Reflexion und bewußter Theorie er⸗ 
hoben wurde, da mußte ſie ſich doch gerade, weil ſie der Natur einer 
freien Verfaſſung weſentlich war, auch ohne dieſes mehr oder minder 
wirkſam erweiſen. So wie nun auf den unteren Stufen des thieri⸗ 
ſchen Lebens, bei den Würmern, den Schaalthieren u..f. w., die vers 
fhiedenen Functionen und organifchen Spitense mit einander vermifcht 
find, bei den höheren Lebensgattungen aber immer mehr fid) abgefon= 
dert und felbftftändig ausbilden, fo ift es auch im Staateieben ber 
Voͤlker. Nur auf den roberen Gulturfiufen find Regierung oder 
Vollziehung, Geſetzgebung und Richten, fo wie ja felbft Privats 
und öffentliches Recht und Insbefondere kirchliche und Stantögewalt, 
ungetrennt und vermifcht, aͤhnlich, wie bei noch rohen Voͤlkern ja auch 
die Lebensbefhäftigungen, bie Stände und Gewerbe ungefchieden find 
und ein Jeder fein eignee Schneider. und Schufter und Schmieb ift. 
Dei höherer Ausbildung der Staaten aber werden die Privatrechte und 
Privatvereine, und namentlid die Kirche und die politifche Organiſa⸗ 
tion und in letzterer wieder fo, wie in den freien WBerfaffungen von 
England, von Frankreich, von Nordamerika, Die geſetzge⸗ 
berifche, vollzicehende und gerichtliche. Drganifation felbfiftändig ausgebildet. 

Freilich ift in unferer neuchten Zeit gerade auch gegen diefe früher 
fo allgemein als nothwendig anerkannte Abtheilung , diefe weſent⸗ 
lihfte Grundlage für die Unabhängigkeit der Juſtiz Widerſpruch 
entſtanden. Zuerſt griff ſie vorzuͤglich Hugo’s allgemeine geiſt⸗ 
reiche Zweifelfucht an, fodann, wie fih von felbft verſteht, auch 
die Hallerifhe Reftauration der Fauſtrechtsverhaͤltniſſe. Auch 
eine mißverftandene pofitive Beftimmung, und enblid). andere achtbare 
Gründe, welche jedoch ebenfalls auf Mißverſtaͤndniſſen und insbeſon⸗ 
bere auf fehlerhaften Darſtellungen jener Abtheilung beruhen, 
beſtimmten insbeſondere manche deutſche Staatsmaͤnner, zum Theil ſehr 
liberale, zum allgemeinen Widerſpruch gegen dieſe Theorie. | 

Es fou fürs Erſte diefe Abtheilung und felbftftändige Drganifation 
ber Dauptzweige ber politifchen Gewalt und Function gar nicht durch⸗ 


166 WGabinets⸗Juſtiz. 


fuͤhrbar ‚fein‘, :alſo nuch nirgends deſtchen. Allein man denkt dabei fo, 
wie freilich ausch::viele Vertheidiger dev Gewaltstheilung, an ein me⸗ 
cha niſche s und gaͤnzliches Trennen und Auseinanderreißen der Or⸗ 
gane. Diefes aber iſt fuͤr einen lebendigen Staatskoͤrper eben fo wenig 
zulaͤſſig als im phyſiſchen Leben. In dem letztern ſind ja auch das Ge⸗ 
hirns Lund Nerven-) Syſtem, das Zell: (oder Haut⸗) Syſtem, das 
Gefaͤß⸗(oder Blut⸗und Muskel⸗) "Spftem unzertrennlich mit einan⸗ 
ber verbunden, unterftügen und ergaͤnzen ſich, ja ſie gehen zum Theil in 
einander über." &te: werben von“ einer gemeinſchaftlichen Lebenskraft 
und hoͤchſten Lebensgeſetzgebung' zu dem einen harmonifchen Leben und 
Lebenszweck innerlich vereinigt, und jebe Disharmonie bewirkt Krankheit, 
zuletzt, wenn fie nicht geheilt wirb, ‘den Zod. : Aber find fie und Ihre bes 
fonderem Functionen der Beferlung ‚der Ernährung ‚der Bewegung dar⸗ 
um nicht dennoch. mefentlich verfchieden ? Sind nicht für fie von einander 
abgefonderte, ſelbſtſtaͤndig' neben einnnder ftehende Organe mit befonderen 
Hanptfigen im Kopf, im Bauche, in der Bruft vorhanden? Steige diefe 
Unterfcheidung und beſondere Ausbildung. nicht gerade mit der Höhe des 
thierifhen Lebens? In Amerika war es ſowohl bei der Begründung des 
Bundes wie der Landesverfaſſungen -fogär der vollkommen bemußte lei: 
tende Grundgebante,.23 war und Ift fortdauernd der von der ganzen Na⸗ 
tion und allen Ihren zuu Theil hoͤchſt ausgezeichneten Staatsmiännern 
allgemein anerdannte Staatsgrundfag, bie Vollziehungs =, die Ges 
ſetzgebungs⸗ und. die Richterthaͤtigkeit gu trennen und felbftftändig zu 
organifiren. Ein. halbes Sahrhundert hindurch bejtcht auch wirk⸗ 
lich diefe Organtfation ungeſtoͤrt und begruͤndet — wie verfchieden auch 
die Neigungen: und Urtheile der Menfdyen ;' wie groß die menfchlihen Uns 
vollfommenheiten: fonft fein mögen :— doch unbefteeitbar eine vorher in 
ber Weltgefchichte beifpiellofe Freiheit und zunehmende Btüthe und Macht 
des Staates. Dennoch aber follte man, und felbft hier, diefe Theilung 
für eine abfolute Täufchung erklaͤren? Darum vielleicht, weil die gefeßge- 
bende Gewalt fo organifitt Ift, daß ihrem Hauptorgan, dem Parlament, 
bei der Vollzichung und hinwiederum dem Organ ber Volfziehung, dem 
Praͤſidenten, bei der Gefeßgebung eine gewiffe Mitwirkung zufteht, aͤhn⸗ 
lich wie ja auch dem Blut bei der Gehirn» und Nerventhätigkeit und um: 
gekehrt? Oder beftcht etwa In Amerikn keine abgefonderte felbftftändige 
gerichtliche Organiſation, obgleich in allen Sachen die ganz unabhängigen 
aus den Volk hervorgehenden Geſchworenen den einen Hauptbeftandtheil 
der Sesichtähöfe bilden und der andere, die Stantsrichter, ebenfalls von 
der vollziehenden und gefeggebenden Behörde nicht entfegt, verfest und 
zur Ruhe gefegt, und auch in ihrer verfaffungsmäßigen felbftftändi- 
gen’ Thätigkeit ſo wenig beberefcht werben dürfen, baß fie nicht bios 
über jede ſogenannte Adminiſtrative Streitfache, fondern mit Rechte: 
kraft auch darüber entſcheiden, ob eine öffentliche Verfügung Gefes iſt 
und ob daffetbe oder ein Regierungsbeſchluß der Verfaffung entfpricht 
oder nicht? Kann. man: fie etwa darum’ ableugnen, meil, ſoweit es 
die Verfaſſung erlaubt: die.Befesgebung die Drganifation und 


Cabinets⸗ Zuftig: 167 


Verfahrungsweiſe wie die Rechtenormen allgemein gefegiic beſtimmt 
ober weil die vollziehende Gewalt bie Richter ernennt und auch 
das Begnadigungsrecht ‚befist? Gerade darin befteht die Güte einer 
Drganifation, daß fie mit dee möglichflen Sonderung und eigenthüms 
Uchen feibftftändigen Ausbildung :der verſchiedenen Hauptorgane auch 
ihre moͤglichſte harmoniſche Vereinigung und Zuſammenſtimmung, und 
ihr gegenſeitiges Unterſtuͤtzen in ber. Wirkſamkeit für ben Geſammt⸗ 
zweck begruͤndet, daß ſie alſo im Staate ebenſowohl ein deſpotiſches Un⸗ 
terdruͤcken und Verſchlingen des einen politiſchen Gewaltzweigs durch den: 
andern, als einen anarchiſchen Widerſtreit derſelben ausſchlleßt. 

. Hiermit faͤllt denn auch dee fernere Widerſpruch gegen dieſe 
Theilung, daß ſie verderblich ſei, daß ſie der Einheit des Staats, der 
nothwendigen Vereinigung ſeiner politiſchen Thaͤtigkeit in einem ge⸗ 
meinſchaftlichen Mittelpunkt entgegenwirke. Waͤre — ſo ſagt man — 
von den geſonderten Gewalten eine die ſtaͤrkere, ſo muͤßte dieſe die 
eigentliche und ſicherlich bald auch bie alleinige Regierung fein. Waͤ⸗ 
ven - fie dagegen gleih, fo müßte ein Kampf um den Sieg und in 
ihm Hemmung und Anarchie entftehen. Doch dieſes beweiſt fchon 
darum nichts, weil es zuviel beweift, weil es naͤmlich fchon gegen jede 
nothwendige conflitutionelle Schranke zur Verhinderung befpotifcher 
Gewaltsausübung, alfo gegen jebe vechtlihe Werfaffung eben fo gut, 
wie gegen die Vertheilung ber Gewalt gelten müßte. Einheit und Har⸗ 
monie des Staats und feiner politifhen Thätigkeit ‚oder Gewaltsaus⸗ 
uͤbung iſt freilich noͤthig. Uber fie ift etwas Anderes, als Einerlei- 
heit und abfolute Einfachheit der Organe. Es iſt mwenigftens im All⸗ 
gemeinen, und abgefehen vom befonderen pofitiven 
Recht Individueller Staaten, nicht wefentlih, daß nur ein 
einzige® abfolut unzufammengefestes, geſetzlich felbftftän: 
diges Organ für alle Staatsthätigkeit deftehe. Diefes ift allerdings 
3. B. in der Zürkei, in Perfien ber Fall. Hier find wirklich 
alle geſetzlich felbſtſtaͤndige, privatrechtlihe und ale Öffentliche, hier 
ift auch alle kirchliche wie alle weltliche, alle Geſetzgebungs⸗, Vollzie⸗ 
hungs⸗ und Richter Gewalt in dem Einen Sultan vereint. Den 
noch aber bieten uns dort ftete Innere Empsrungen oder Bürgerkriege, 
Anarchie, Kraftlofigkeit, Auflöfung, Defpotie und Roheit ein wider⸗ 
waͤrtiges Schaufpiel dar. Die Hauptvertheidigerin all jener erwähnten 
Gewalts: Einheit ift die Theorie von Hugo's Naturreht $. 142, 
189 ff. Aber man muß ihr audy die Confequenz nahrühmen, daß 
fie fo gänzlich jegliches Recht der Bürger gegenüber biefee Gewalt 
aufhebt, dag fie derfelben das Recht zugefteht, fie beliebig ihres Eigen: 
thums, ihrer Samilienrechte, und durch völlige Verſtoßung in gänz- 
liche Sklaverei jeder perfönlichen Freiheit zu berauben. Es können da⸗ 
gegen recht gut verfchiedene, in ihrem Kreife felbftftändige Organe, ver: 
fchiedene phyſiſche Perfonen und Corporationen fi) zu der einen 
moralifhen Perfon der Staatsregierung einigen. Sie 
koͤnnen jedenfalls unter Hersfchaft des höheren Lebensprincips bes 


168 Cabinets⸗ Zufliz, 


Grundgeſetzes, ber Vaterlandeliche und des oͤffentlichen Nationalgeiftes 
zugleich wetteifernd und ſich mechfelfeitig begrenzend, zugleich aber doch 
auch ohne verberbliche Anfeindung und Hemmung, vielmehr ſich gegenfeitig 
unterftügend, harm o niſch zuſammenwirken. So nun fehen wir es 
z. B. in England und Nordamerika, wo, ſtatt einer tuͤrkiſchen 
Barbarei und Aufloͤſung, friſche Lebenskraft, freie Darmonte und ſtets 
ſteigende Macht und Cultur uns erfreulich entgegentreten. Und doch hat 
bier auch nicht einmal, was Hugo (Nat u rrecht 5. 384) abſolut for⸗ 
dert, fuͤr den Fall des Streits der Gewalten eine die unumſchraͤnkte Ent⸗ 
ſcheidung, eben ſo wenig, als im lebendigen Koͤrper etwa das eine der drei 
Syſteme. Sogar den Buͤrgern — um von dem Parlamente, von den 
einzelnen Bundesregierungen und von den Geſchwornengerichten gar nicht 
einmal zu reden — ſogar den Unterthanen legen dieſe Verfaſſungen nie 
ſtlaviſche Unterwerfungspflicht auf, ſondern geben ihnen gegen den Bruch 
wefentlihen Verfaſſungsrechts ausdr uͤcklich ein Widerſtandsrecht, und 
bleiben frei von tuͤrkiſchen Empoͤrungen. So ſpottet das wahre Leben 
all dieſer theoretiſchen Abſolutheiten und mechaniſchen Berechnungen. 

Und in der That, moͤchten doch Alle, welche von einer nothwen⸗ 
digen abſoluten und unwiderſtehlichen Gewalt und Entſchei⸗ 
dung eines einzelnen Inhabers der Staatsgewalt oder auch des volks⸗ 
ſouverainen Stimmenmehrheitsbeſchluſſes theoretiſiren, es ſich klar ma⸗ 
chen, daß ſie ſich mit der Geſchichte aller wirklich freien und conſtitu⸗ 
tionellen Staaten, und ſofern auch ſie eine wahre rechtliche Freiheit 
wuͤnſchen und tiber die Willkuͤr ſetzen, mit ſich ſelbſt im offenbaren 
Widerſpruch befinden. Sie begründen und organifiren ja eine abfos 
lute, eine defpotifhe Gewalt. Entweder man begründet abs 
folute hoͤchſte Entfcheidung und Gewalt eines einzelnen Organs, und 
alsdann auch unvermeidliche Empdrungen gegen fies oder man muß 
eine niht abfolute, eine wirkſam begrenzte, alfo nicht unwider⸗ 
fiehlihe und mehr oder minder getheilte Gewalt begründen. 

Entweder man räumt einer einzelnen hoͤchſten unwiderſtehlichen 
Gewalt, fobald fie will, auch die defpotifhhe Ausübung derfelben ein, 
und läßt, fofern man nicht völlig blinden fElavifchen Gehorfam gegen 
fie, gegen ben tyrannifhen Umfturz aller vechtlihen Verfaſſung zu 
Recht erheben kann oder will, als einzige Schußwehr gegen fie nur 
die rohe Revolution. Alsdann aber ift doch wiederum das Abfolute, 
Unmiderftehlihe aufgehoben, ja gemwiffermaßen die roheſte aller Volkes 
fouverainetäten unvermeidlich hervorgerufen. Und freilih mußten bie 
Liberalen Anhänger diefer falfchen mechaniſchen Staatstheorie eines 
phyſiſchen und mechaniſchen Abfolutismus — und gegen. fie müffen wir 
bier faft noch mehr, als gegen bie fervilen kaͤmpfen — in einer miß⸗ 
verftandenen Bolksfouverainetät, in einer faft regelmäßigen Revolu⸗ 
tionirung den Erfab einer weiſen, allen Abfolutismus wirkſam aus⸗ 
fchließenden Staatsorganifation fuchen. Schon aber die neuefte Geſchichte 
von Frankreich und von Suͤdamerika koͤnnte über die Wirkung einer 
folchen Volksſouverainetaͤt für die wahre Freiheit belehren. 


Gabinetd : Zuftiz. 169 


Dder man will feinem einzelnen Organ eine Gewalt zum: Um⸗ 
ſturz der Sceiheit und Verfaffung, zum Defpotismus einrdumen. Als⸗ 
dann muß min die Gewalt weder blos durch leere Worte und fromme 
Wuͤnſche, noch durdy die rohe Revolutionirung, ſondern durch wirk⸗ 
fame Begrenzung, durch eine organifirte geſetzliche Gegenwirkung 
gegen Grenzäberfchreitung befchräntn. Dan muß eine gewiſſe Vers 
theilung, ein gewiſſes Gleichgewicht ber. Drgane und Spfteme und ihrer 
Wirkſamkeit im politifchen Körper begründen, wie ein ſolches im phyſi⸗ 
ſchen Organismus befteht, alfo freilich nimmermehr ein: bios meſch a⸗ 
naiſches, fondern ebenfalls ein auf organifche Weiſe wirkendes. Und 
dieſes und nichts Anderes If eben der iegte Örundges 
Danke aller freien, aller.:conflitutionellen -Berfaffun- 
gen. Denn wahre, wirtfame Beſchraͤnkung, Theilung oder 
Miſchung der politifhen Gewalten find wefentlih eins und dafs 
felbe. Eins ohne das Andere ift gar nicht denkbar. Nie aber — fos 
weit die Menfchengefdichte geht — beftanden :oder. dauerten weder 
Zreiheit und Recht, nody Kraft und Cultur bei den Voͤlkern, da, mo 
alle Gewalt grenzenlos und höchftens nur durch leere Wuͤnſche und 
Worte befchränkt in einer einzigen Hand lagen, wo Alles von jeder 
augenblidiihen wechſelnden Laune und Leidenfchaft oder irrigen Richtung 
eined einzigen Willens, ja auch felbfi von einer einzigen Demos 
kratiſchen oder ariftetratifhen VBerfammlung abhing. Die 
Aufgabe, ftetd dem Rechte zu huldigen, auch ba, wo es nicht wirkfam 
vertheidigt werden kann, die Verfuhung, durch eigene JIrrthuͤmer und 
Neigungen, vollends aber durch verderbliche geheime Einwirkung Ande⸗ 
rer (f. Camarilla) über die Verfaſſung hinausgeführt zu werden, 
da, wo bderfeiben Eeine felbftftändige, organiſirte Vertheidigungsfraft zur 
Seite ftcht; fie find zu groß für ſchwache Menfhen. Bon wahrhaft 
conftitutionellen Einrihtungen, von einer wirkfamen Verantwort⸗ 
lichkeit dee Minifter 3. B., und von der nur dadurch möglichen Hei⸗ 
tigkeit oder völligen Unverlegbarkeit des Kürften, kann vollends ohne 
Abfonderung und Selbftftindigkeit jener drei Functionen gar nicht die 
Mede fein. Daher auh das Halleriſche Spftem fie nicht Eennt. 
(S. unten VI.) 

Setzt man diefer Theilung aber die Gefahren der Collifion und 
bes Widerftreits bei dem Mangel einer fteten hoͤchſten Entfcheidung 
entgegen, fo kann man erwidern: auch im phyfifhen Organismus hat 
kein Spitem diefe abfolute hödyfte Entfcheidung Über die andern. Iſt 
aber ein Staatskörper weife organifirt, und die Lebenskraft 
eines tüchtigen Nationalgeiftes einer wahren Rechts⸗ und Bers 
faffungsahhtung, die über allen politifhen Gewalten fies 
ben muß, einer wahren Vaterlandss und Freiheitsliebe noch kräftig, 
fo wird auch dad Staatsleben fi gefund erhalten und ebenfalls eins 
zelne Störungen ohne Aufloͤſung heilend vermitteln ober ausfcheiden. 
Dann werden, wie Montesquien richtig bemerkt, die drei. Gewal⸗ 


170 Gabinetö: Juſtij 


ten, weil (fe eben gehen müffen und allein nicht sun tönnen, vereis 
nigt gehen‘; fo wie fie es in England, Frankreich, Anneifa, Echweden 
wirklich thun. Fehlt aber bie weife Drganifation Rund die ges 
funde Lebenstraft, nun dann Hilft auch jene Einheit . abfoluter 
Gewalt nichts: Sie gerftört vielmehr, fo wie ein in Rom, fo wie 
in der Tuͤrkel, alles höhere und freiere Leben, und. vermehrt nur 
die Krankheit durch Deſpotismus, Empoͤrungen und Abfall. 

Nur alſo bei: weifer * und ſelbſtſtaͤndiger 
und Begrenzung’ ber politifchen Gewalten iſt Freiheit u 
höheres kraͤftiges Leben der Wätker- zu hoffen. :.E6 gehört in ber She 
jenes deutſche unprakthche, ja oft phantaſtiſche und ſchwaͤrmeriſche Theo⸗ 
retiſtren dazu, fuͤt ‚das geſellſchaftliche Leben fchwacher irdiſcher Menſchen 
ſolche Geſche, vie jene: aunwiberſtehliche abſolute hoͤchſte Gewalt und Ent⸗ 
ſcheibung eines einzelnen Organs, als vernünftig hinzuſtellen, Geſetze, 
die fo wenig: den icdiſchen Grundbedingungen entſprechen, * ſie gera⸗ 
besu das Gegentheill von demjenigen wirklich hervorbringen muͤſſen, was 
man bezweckte, Geſetze, bie nur vernünftig waͤren, wenn Menſchen und 
wenigftene bie Regierenden Engel ober göttliche Philofophen waͤren. 
Man begeht dabei den Fehler, die Abfolutheit einer fogenannten vei> 
nen Rechtsidee mit den ſtets relativen und unvolllommenen 
menfhlihen Drganen ihrer Verwirklichung zu verwehfeln. Ban 
überfah hier ebenfall® wieder die wahren Lebensgefege des Staatskörpers 
(f. oben Bd. I. ©. 11 ff.). Und fo forderte man theils eine träus 
merifche, theild eine mechaniſche hoͤchſte Gewalt und Einigung, 
flatt der Lebenbigen und moralifchen, ftatt jener böheren Lebens⸗ 
kraft und wahrhaften weiſen Organiſation des Staats. 

Dieſe letztere nun wird allerdings auch einem der Drei Hauptors 
gane, und zwar ihrer Natur nad dem regierenden oder aus 
übenden, vorzugsweiſe eine gewiſſe äußere Directorials, Gentrals oder Ver⸗ 
einigungs » Kraft und die Mepräfentation. ber Einheit des Ganzen zuges 
ſtehen muͤſſen. Die ausübende Gewalt ift nämlicy weit entfernt, bie 
untergeordnete Stellung eines bloßen Dieners ber gefeggebenden Gewalt 
einzunehmen, welche derſelben felbft Kant, fo wie Rouffeau, bei ib: 
ver [hranfenlofen abfoluten Volksfouverainetät ber gefeggebenben Vers 
ſammlung beifegen; vielmehr ſteht, und biefes erkennen auch felbil die 
ameritanifhen Republikaner entfchieden an, über allen Gewalten 
das hoͤchſte Rechts: und Verfaffungsgefeg. Und diefes 
oder den verfaffungsmäßigen Staats zweck hat die höchfte ausͤbende 
vollziehende, oder beffee die regierende Gewalt zu verwirklichen und 
zwar allerdings mit Heilighaltung bee Gefege, die aber nicht ohne 
ihre Zuftimmung und ebenfalls mit Unterordnung unter die Ver⸗ 
faffung gegeben wurben, fo mie mit Achtung ber ebenfalls verfaffunge- 
maͤßigen richterlichen Entfcheibungen der einzelnen entftandenen Rechts: 
ſtreitigkeiten. So wie alfo dieſes regierende Organ, innerhalb jener Gren⸗ 
gen, im Inneren, wie im dußeren VBerhältniffe des Staatslebens 
fletö den jedesmaligen befonderen individuellen Umfländen und Be: 


Cabinets⸗Juſtiz. 171 


duͤrfniſſen wie den Geſetzen gemaͤß die beſonderen Thaͤtigkeiten und Ein⸗ 
richtungen zur Vollziehung der verfaffungsmäfigen Staats⸗ 
zwede waͤhlen, anordnen und leiten muß, fo mag es auch bie nicht 
bleibend verſammelten geſetzgebenden Kammern und die Waͤhler zu ihrer 
Bildung zuſammenberufen, die beſchloſſenen Geſetze, mit ſeiner Sanction 
verſehen, oͤffentlich verkünden, und auch durch Organiſation ber Gerichte 
nach dem Geſetz, durch Ernennung ber Richter, ja auch durch Vollzie⸗ 
kung ihrer Erkenntniſſe, verbunden mit dem Recht der Begnabdigung, 
das Zuſammenwirken der gefeßgeberifähen und richterlichen Thaͤtigkeit mit 
der regierenden fuͤr den Staatszweck veranlaſſen und aͤußerlich dirigiren 
und ſelbſt mit ſeinem Namen ins Leben treten laſſen. Es mag endlich 
auch hierdurch und durch gerichtliche Anklage und Verfolgung ber wich⸗ 
tigeren Verfaſſungs⸗ und Geſetz⸗ und Gerichts» Werlegungen im In⸗ 
nern fo wie durch Wollziehung aler Rechte und Zwecke bes Etaate 
nah Außen, überall die Staatseinheit, ja ;gewiffermaßen bie 
Staatsthätigkeit vepräfentiren und erhalten. Es mag 
fo in ihm vorzugemweife die moraliſche Würde und Majeftät des 
Ganzen widerſtrahlen. Ja will man in diefem Sinne der Perföns 
lichkeit -diefe6 Organs allein diefe Ehre der fouverainen Majeftät und 
Majeſtaͤtsgewalt beilegen, und ihm zur Verſtaͤrkung dieſer moralifchen 
Kraft wie der moralifhen Staatseinheit ununterbrochene oder erbliche 
Dauer verleihen, und will man deshalb in dem angebeuteten Sinne 
die mechfelnden Organe der beiden andern Hauptfunctionen, der Geſetzge⸗ 
bung und des Richtens, von bdiefer perfönlichen Majeftätss und Sou⸗ 
verainetätss Ehre ausfchließen, fo ift gerade dann, wenn die verfaffungss 
mäfige Selbſtſtaͤndigkeit und Unabhängigfeit jener Sunctionen und ber 
Gorporatioren für fie verbürgt ift, dafür ſicherlich ſehr Vieles zu fagen. 

Nur aber muß ftets, fo wie in allen wahrhaft conftitutionellen 
Staaten, alle Einigungsgewalt des Megierungsorgans blos in ben fo 
eben bezeichneten Rechten und in einem moralifhen Einfluß, nicht in 
einer allgemeinen höchſten und unwiderftehliden Ent« 
ſcheidungs⸗Gewalt beftehen, und es darf dieſes Organ niemals 
rechtögüiltig und wirkſam die andern Hauptzweige ihrer Sunction und 
ihrer Selbſtſtaͤndigkeit, ihres felbftftändigen inappellabelen, ebenfalls 
in hoͤchſter Inftanz auszuübenden Rechts berauben und barlber 
beliebig verfügen, ober ihre Kunctionen etwa felbft ausüben. Dies 
fes IfE nun 3. B. anerkannt in England. Und fo fprechen auch bie 
deutfchen Bundess und Landesgefege ber Regierung das Recht ab, durch 
Cabinets s Juftiz über die Rechtsſprechung, durch Machtfpruch über bie 
ftändifchen, verfaffungsmäßigen Rechte zu verfligen. Sie begründen fo- 
gar bei Hemmung der richterlihen Huͤlfe durch bie unabhängigen Ge: 
richte den Unterthanen einen Recurs an den Bundestag, und haben für- 
ben Kalt einer Collifion zroifchen dem Regierungs⸗ und dem fländifchen 
Recht ebenfalls, ftatt einer hoͤchſten Regierungs⸗Entſcheidung, den Stän- 
den das Recht der Anklage der Minifter oder der erflen Organe ber 
Regierung vor felbftflündigem Gericht, und das Recht einer organificten, 


172 Gabinetö = Zufliz. 


gegenfeitig gleichen ſchiedsrichterlichen Entſcheidung, aͤhnlich wie fie zwi⸗ 
ſchen den fouverainen Regierungen felbft flattfindet, angeordnet.‘ Kurz 
fie 'ertennen die verfaffungemäßige Unabhängigkeit der Stände ober bes 
Parlaments und der Gerichte an. Bei einem Wolke, wo ˖ biefes nicht 
der Gall waͤre, wo vielmehe bie Regierung jene oben erwähnten abfoluten 
echte hätte, wo man etwa das Weſen einer monarchiſchen Regierungsform 
fo gaͤnzlich falſch auffaßte, da waͤre Abſolutiomus oder Defpotismus, nicht 
aber wahre verfaffungemäßige ober comftitutienelle Freibelt, nicht geſicher⸗ 
tes Recht der Bürger grundgefeglih. Wo dagegen Recht unb Freiheit 
auf die angegebene Weife grundgeſetzlich anerkannt und gefichert find, 
ob man da von Theilung und von Trennung ber Gewalten sder bios 
von verfaffungsmäßiger Korm oder von Beſchraͤnkung und von Mitwir⸗ 
tung in der Ausübung, ober von gefonderten pelitifchen Functionen 
rede, das ift alsdann — wie verfdyieden auch die befonderen Modifica⸗ 
tionen und Garantien feien — in ber That unweſentlich. Es iſt ent- 
weder nur ein Streit der Worte, ober die MWerneinung ber Gewalts⸗ 
trennung bezieht ſich nur auf jenes moralifhe Gewicht der samen Sou⸗ 
verainerätss und Majeftäts: Ehre fir den Erbmonachen unb auf jene 
obige erbmonarchiſche Direction, Vereinigung und ÜMepräfentation ber 
Staatsgewalten. 

Durch das Bisherige und den Blick auf die Geſchichte beſeitigt ſich 
denn auch vollſtaͤndig die weitere dritte Einwendung oder die Furcht, die 
bisherige Theorie widerſpreche ſchon ihrem allgemeinen Weſen nach der 
monarchiſchen Regierungsform. Sie widerſpraͤche ihr nur alsdann, wenn 
man entweder die letztere faͤlſchlich zu einer deſpotiſchen Verfaſſung her⸗ 
abſetzen, oder wenn man in jene Theorie etwas, was ihr fremd iſt, 
hineinlegen wollte. 

Uebrigens bilden jene allgemeinen Directorial⸗ und Einigungsrechte 
des regierenden oder vollziehenden Organs und jene daran geknuͤpfie, vor⸗ 
zugsweiſe Würde, welche die Engländer zum Theil als Praͤrogative ber 
Krone bezeichnen, keine von ber fouverainen Vollziehung oder Regierung 
in dem oben aufgeftellten richtigen Sinne wefentlid) verichiedene und 
vierte politifche Gewalt. Sie bilden kein befondere® pouvoir royal oder 
regulateur oder modersteur, nad den Ausdrüden von Benjamin 
Gonftant und Lanjuinais. Eben fo ift die fogenannte abminis 
firative und erecutive Gewalt für die Minifter und die Vollzie⸗ 
bungsbeamten nur Beftandtheil der allgemeinen vollziehenden Gewalt. 

Souten nun wohl, zumal gegenüber der Wirklichkeit und der wohl: 
thätigen Wirkungen unferer Abtheilung, in England, Nordamerika, Krank: 
teih, und im Allgemeinen noch ſolche Einwendungen etwas bebeuten, 
wie die, fie fei fetbft Logifch unmöglich, nicht beftimmt, nicht umfaflend 
genug, dad Richten fei z. B. Unterabtheilung der Vollziehung und ſelbſt 
keine Gewalt? Mer weiß, ob zulegt die (trichotomifche) Eintheilung bes 
phyſiſchen Organismus in feine drei Hauptfnfteme logifch iſt, ob feine 
derfelben zum Unterglied einer zuerft zweitheiligen Hauptabtheilung 
gemacht werben koͤnntel So aber wie fie, fo find auch bie drei Daupts 


Gabinetd : Zuftiz. 173 


fimctionen bee Staatsgewalt wirklich vorhanden in ihrer erfennbaren 
Verſchiedenheit und Michtigkeit. Sicher kann man auch mit demfelben 
Recht, mit welchem man für das vernünftige, für da8 lo giſche Schließen 
fetbft drei Haupttheile des Syllogismus nebeneinanderftellt, für das ver 
nünftige politifche Wirken, deffen drei formelle Dauptbeftandtheile nebens 
einanderftellen: das Regieren nämlich, als das Ergreifen aller befonderen 
Mittel, um den verfaffungsmäßigen Staatszweck nach den jedesmaligen 
Bedhrfniffen des Lebens zu verwirkiihen; das Geſetzgeben als das 
verfaffungemäßige Feflfegen der allgemeinen Rechtsregeln für alle 
Verwirkiihung der Staatszwecke ſowohl durch die Regierung, wie durch 
die Bürger; und endlich das Richten, als die bei entflandenem Streit 
über das Verhältniß folder Thätigkeiten zu den Rechtsregeln burdy uns 
partelifche Dritte bewirkte rechtliche Vermittlung. Diefes Richten unters 
ſcheidet fi) hinlängli von bem Megieren und Geſetzgeben, obgleich es 
ebenfo wie jene beiden feibft zulegt nur zur Verwirklichung 
des Staatszwecks gefhicht. Cine Gewalt könnte es in Verbindung mit 
richterlicher Vollziehung ebenfo gut genannt werden, ale die Geſetzge⸗ 
bung. Aber wir verftehen bier untere Gewalt überhaupt nur die verfafs 
fungsmäßige moralifch »politifche Gewalt der öffentlichen Befugnig zu dee 
feipftfländigen Ausübung ber befonderen politifhen Function und 
zur Rechtöforderung , daß die Bürger fie anerkennen und ihr ſich unters 
ordnen. Selbſt die Regierungsgewalt verftehen wie zunaͤchſt nur in dies 
fem Sinne. Auch ihre, welcher die Bürger immer aufs Neue durch 
ihre Vertreter bie Steuern und Xruppen vermilligen, und fie dann lei⸗ 
ſten, entftehe ja die phyſiſche Gewalt ebenfalls erfi aus jener Ach⸗ 
tung und Unterordnung der Buͤrger. 

Auch erfhöpfend ift die Eintheilung, nur muß man fie einestheile 
befchränfen auf die allgemeine hoͤchſte polit iſche Gewalt, fo daß alſo 
die Verwaltung der Rechtskreiſe bet Bürger und ihrer Vereine für ihre 
befonderen ober die allgemeinen Zwede, alfo 3. B. die kirchlichen 
Geſellſchaftsrechte, bie Wahlrechte und die Municipalrechte 
der Bürger von feltft ausgefchloffen bleiben. Anderntheils ift es übers 
baupt nur eine formelle Eintheilung oder bezieht fihb nur auf die 
allgemeine Art und Weife aller politifden Thaͤtigkeit der hoͤch⸗ 
ften Gewalt für alle befonderen materiellen Staatézwecke, Mohls 
ftand, Bildung u. f. w. Auch von diefen materiellen Doheitsrechten 
wollen wir hier-bie Abtheilungen nicht geben und fie nicht mit ber Abtheis 
lung der formellen Hoheitsrechte verwechfeln. Ä 

Zulegt wirft man dieſer Vertheilung ber politifhen Gewalt noch 
vor, fie fet unwirkſam; auch trog derſelben beftehe nod die Mögliche 
Zeit befporifcher Freiheitsvernichtung durch bdefpotifche® Regieren, Geſetz⸗ 
geben und Vollziehen. Nun, diefe Möglichkeit iſt freilich in diefer unvoll⸗ 
Lommenen Welt keineswegs zu leugnen. Aber zieht man denn etwa 
nicht mit Recht der Organifation einer Schnecke, einer Aufter die menſch⸗ 
liche Organiſation vor, obgleich, doch auch in biefer legten ein Verſinken 
in Xhiecheit und fruͤhzeitiger Tod möglich find? Gewiß aber iſt es doch, 


174 Cabinets⸗Juſtiz. 


daß einzelne Verblendungen oder Leidenſchaften leichter verfaſſungswidrige 
Geſetze, Regierungshandlungen und Richterſpruͤche bewirken werden, wenn 
dieſelbe Perſon die Geſetze geben, regieren und auch richten kann, als 
wenn dieſe Functionen unter verſchiedene moraliſche Perſonen vertheilt 
ſind, die nicht denſelben Einſeitigkeiten und Leidenſchaften und wenigſtens 
nicht in demſelben Momente und nicht in Beziehung auf denſelben Ge⸗ 
genſtand unterthan und welche im Gegentheil dafuͤr interefjict find, ſich ges 
genſeitig zu bewachen und verfaſſungswidrige Uebergriffe wirkungslos zu 
machen. Gewiß iſt es doch, daß es uͤberhaupt der Freiheit, der freien viel⸗ 
ſeitigen hoͤheren Entwickelung, dem Reichthum und der Kraft des Lebens 
hoͤchſt foͤrderlich, ja nothwendig iſt, fuͤr verſchiedene Hauptaufgaben moͤglichſt 
entſprechend ausgebildete ſelbſtſtaͤndige Organe zu beſitzen. Wie ſehr gerade 
fuͤr die Regierung, die Geſetzgebung und Richtergewalt, ſo verſchiedenartige, 
wie fie z. B. England befigt, entſprechend find, dieſes bat ſchon Mon⸗ 
tesquieu vortrefflich ausgefuͤhrt, und die Erfahrung beſtaͤtigt ihn hier 
befonders jeden Tag. Und wahrlich, fo natürlich ift dieſe Abtheilung und 
Einrichtung, dag, wenn wir heute ein großes wichtiges Geſellſchaftsver⸗ 
haͤltniß eingingen, wir fiher ein Directortum im Sinne jener Re⸗ 
gierung gründen, bie Geſetzgebung aber ben Verſammlungen der 
Geſellſchaftsglieder oder ihrer Stellvertreter Uberlaffen, und für entſte⸗ 
hende Streitigkeiten, insbeſondere auch für die zwifchen Jenen Vertretern 
und den Directoren möglichft unparteiifhe Vermittler oder Richter auf: 
fuchen würden. Sowohl für eine verftändige Theilung ber Arbeit, wie 
für eine wohlthaͤtige Sicherung gegen felbftfüchtigen eigenwilligen Gewalt⸗ 
mißbrauch laͤßt ſich gar Beine mwefentlichere , Ducchgreifendere Dauptabtheis 
lung ber hoͤchſten politifhen Gewalt denken, als die der Regierung, 
bee Geſetzgebung und des Richters. 

Insbeſondere aber — und darauf kommt es uns bier zunaͤchſt 
an — iſt diefe Abfonderung und ſelbſtſtaͤndige befondere Drganifation 
ganz wefentlicd für die Aufgabe des Richters für die moͤglichſt 
ruhige, unpartelifche und gründliche Prüfung des rechtlihen Verhaͤltniſſes 
alter befonderen Wirkfamkeit der Megierung und ber Bürger für die 
Staatszwecke zu den allgemeinen Rechtsgeſetzen. Eine folhe Prüfung 
und Entfcheidung ift weber von ber regierenden, noch von der ge⸗ 
feggebenden Behörde, melde beide in dem entflandenen Streite, 
duch ihre befonderen Aufgaben und Thaͤtigkeiten und die für fie noth⸗ 
wendigen Geſichtspunkte und Gewohnheiten des Verfahrens ſtets mehr 
oder minder betheiligt oder befangen find, unb wenigftens von jener par: 
teilofen gründlichen Prüfung . abgezogen werden, nimmermehr fo ficher zu’ 
erwarten, als. von befonderen unpartelifhen und von jenen beiden andern, 
Staatsgewalten unabhängigen Dritten.. Auf bie möglihft unpartelifche 
und richtige, oder auf die möglichft gerechte Entſcheidung ihrer Rechtsſtrei⸗ 
tigleiten aber haben alle Bürger gerade ben heiligften, den unabs 
weisbarften Rechtsanſpruch. 

IV. Sefhidhtlihe und poſitivrechtliche Beſtaͤtigung. 
Eben diefe tief in ber Natur dee Sache liegenden, bald dunkler, bald Elarer 


Cabinets⸗Juſtiz. 175 


erkannten Beduͤrfniſſe haben denn nicht blos die freieſten und bie am mei⸗ 
ſten politiſch fortgeſchrittenen heutigen Staaten, namentlich alle conſtitutio⸗ 
nellen, zu einer mehr oder minder vollſtaͤndigeren Theilung jener drei poli⸗ 
tiſchen Hauptfunctionen und insbeſondere zur Bildung unabhaͤngiger Ge⸗ 
richte und zur Ausſchließung aller Regierungs⸗ oder Cabinets⸗Juſtiz be⸗ 
ſtimmt. Nein, die Anfaͤnge dieſer politiſchen Weisheit zeigen ſich ſchon 
ſehr fruͤhe. Sie zeigen ſich in dem Maße, als die Freiheit und hoͤhere po⸗ 
litiſche Eultur ihre Herrſchaft behaupteten, als ſelbſtſtaͤndige, feſte oͤffentliche 
und Privatrechte auch der Gewalt gegenuͤber anerkannt wurden. Denn 
freilich, wo dieſes nicht der Fall iſt, alſo fuͤr die deſpotiſche Furcht: 
herrſchaft, oder fuͤr die auf blindem Glauben beruhende theokra⸗ 
tiſche Prieſtermacht, welche letztere nur zu oft ben mangelnden oder 
den wankenden blinden Glauben durch deſpotiſche Furchtmittel ergaͤnzen 
muß, gilt dieſes nicht. Ihnen iſt es vielmehr voͤllig entſprechend, daß 
der Deſpot und ſeine Satrapen und die erleuchteten prieſterlichen Stell⸗ 
vertreter Gottes, wo es ihnen gut duͤnkt, ſelbſt und ohne lange unpar⸗ 
telifche Prüfung ſchnell richten. Vorzuͤglich muͤſſen fie durch ſchnelle 
und blutige Rache des durch jede Befehlsverletzung ſelbſt beleidigten 
Deſpoten die Beleidigung austilgen, die Furcht und den blinden Glau⸗ 
ben lebendig erhalten. Anders aber, ſobald wahres ſelbſtſtaͤndiges Recht, 
wahre rechtliche Freiheit und Gleichheit der Buͤrger als hoͤchſtes Geſetz 
des Staates anerkannt werden und wo einige hoͤhere Cultur erwacht! 
Zwar iſt nichts gewoͤhnlicher, aber auch nichts irriger, als die Behaup⸗ 
tung, bei den Griechen, Roͤmern und alten Germanen ſeien die Koͤnige 
—5 die Geſetzgeber, Vollzieher und Richter geweſen. Wenn die 
Koͤnige als Vorſitzer auch im Gericht erſchienen, ſo war doch ſo, wie 
die Geſetzgebung, ſo auch das eigentliche Richten, Sache der Volksge⸗ 
meinde, oder eines in ihrer Mitte und unter ihrer hoͤchſten Inſtanz 
richtenden Ausſchuſſes. So war es bei den Griechen ſchon zu Ho⸗ 
mers-Zeiten *), und die ſorgfaͤltige Bildung aller verſchiedenartigen 
Gerichtshoͤfe in Athen und die Aufgabe bed ehrmürbigften, des Areo⸗ 
pages, auf ihre unabhängige Rechtspflege zu wachen, zeugen wenigfiens 
deutlih genug für den Grundfag und die Abſicht. Aehnlich war es 
bei den Römern. Mon biefen erzählt uns Livius (1, 26) ſchon 
aus ber diteften Zeit von einem ſolchen Eöniglichen Gericht "über den 
Schweſtermord des Horatius. Zuerſt aber fprechen bier zwei Mine 
ner aus bem Volk das eigentliche Urtheil. Diefes geht auf Tod. Dos 
ratius aber appellict foglei an die Volksgemeinde, und diefe fpricht 
ihn frei. Als vorzüglichen Beweis des Defpotismus des legten 
Könige Tarquinius, deffen tyranniſche Herrſchaft aber bie Römer 
durch Revolution abwarfen, erzählt dagegen Livius (1, 49), baß 
er, um Furcht zu erweden, felbft und allein gerichtet habe. Bekanntlich 


*) Ilias 16, 337. 18,497. Oboſſee 1, 372. 2, 50. 69. 16, 376. 
387. 24, 419. Hefiod Theogonie 86. 89. Werke und Zage 28. 
185. 231. 246. ©. Zittmann, Griechiſche Staatsverf. S. 65 ff. 


176 . Cabinets⸗Juſtiz. 


wurde auch nachher in Rom, als ber Vorſitz ber Gerichte auf bie Con⸗ 
fuln und dann auf befondere Prätoren überging, das eigentliche Urthell 
von den Richtern (judices) nad der Wahl der Parteien gefprochen, 
und insbefondere auch In den Griminalgerichten (quaestiones) wurden 
bie Richter entweder gerabezu ober doch vermittelft bee ausgebehnies 
ſten Verwerfungsbefugniß der zuerft durch das Loos Bezeichneten mits 
telbar durch die Partelen beſtimmt, fo daß Cicero mit Stolz aus⸗ 
ruft: „Niemand ſollte, fo wollten es unſere Vorfahren, über die Ehre, 
„ja nicht einmal über die geringfte Geldfache richten , über deffen Wahl : 
„ſich nicht die Parteien vereinigt hatten *)." Die Ausfchüffe der Buͤr⸗ 
ger, die unter dem Vorſitz eines Staatsbeamten in Griechenland und 
Rom in den befonderen Gerichten Aber Griminalfachen richten, find im 
vieler Beziehung den englifchen Gefchwornengerichten ähnlich. Freilich 
war es eine Folge der vorzüglich fpäter immer ſchrankenloſeren und deſpo⸗ 
tiſcheren Volbsherrfchaft, welche aber auch Griechenlands und Roms Kreis 
heit vernichtete, daß zum Theil die abfolut gewordenen Volksverſammlun⸗ 
gen felbft über die Vergehen gegen das Wolf richteten. Und die römifchen 
Kaifer, welche alle Gewalten und Aemter in ihrer Perfon vereinigten, 
übten fo, wie aſiatiſche Deſpoten, auch Gerichtsbarkeit aus. Aber fah 
wohl auc jemals die Welt einen zerflörenderen, einen abfchreddenberen 
Defpotiemus ? 

In Beziehung auf die Germanen ruft fhon Montesquien bes 
wundernd aus, die englifche Verfaſſung mit ihren felofifländigen Ges 
walten fei im den deutfchen Wäldern gefunden worben. Aber es follte 
doch wenigſtens jegt nach ben Korfchungen ven Savigny, Eiche 
born, Grimm und Rogge **) Niemand mehr reben von einem 
Mecht ber teurfchen Fuͤrſten, richterliche Urtheile zu fprehen. Die Gent 
grafen, Gaugrafen, bie Fürften oder Kaifer präfidirten wohl bie Volks⸗ 
verfammlungen und die Vo ksgerichte, welche übrigens früher faſt nur 


Sciedsgerihte warn (f. Compofitionenfyftem); aber "das Urs "- 


theit über das Recht, wie über die Thatſache, ſprachen Überall die Ver⸗ 
fammiungen des Volks oder der Genofien, oder aus ihrer Mitte und 
mit ihrer Einwilligung ***) bald für kuͤrzere, bald fuͤr längere Zeit erwaͤhlte 
Michter und insbefondere bald fieben, bald zwölf folher Schöffen, 
welche bei Fremden fogar wo möglih aus ihren Landéleuten gemählt 
wurden. Darauf gründet ſich noch das heutige engliſche Geſchwornen⸗ 
gericht de medietate linguae, fo wie auch das englifhe Geſchwornen⸗ 
gericht überhaupt von biefen Schöffen ſtammt, die fogar ſchon früher 


°) Pro Ciuentio 43. In Verr. 1, 6. Pro Muraena 23. Pro Planc. 15. 
17. Asc. Paedian. in Verr. II, p. 1817. Bigonius de Judie. II, 27. ©. auch 
L. 1.D. de judicils, | 

*9) Savigny, Geld. des R. R. J. S. 155 ff. 197. Eihhorn, St. 
und Redhtsg. $. 14. 27. 74. 75. 164. 165. 303, 381. Grimm, Rechts⸗ 
alterthüämer ©. 745 ff. ©. 768. 782. Roger, Gericht sweſen S. 1 ff. 
Vergl. auch Mittermaier, das deutſche Strafverfahren J.S 14. 

*) Ellgant tetins populi conseneu, Capitul. 829, bei Beorgifch p. 901. 


⸗ 
l 


Cabinets⸗Juſtiz. 177 


Häufig Gefhmorne genannt wurden ). Auch bei .folchen beſonde⸗ 
ren Richtern oder Schöffen aber behielt ſelbſt durch das ganze Mittetals 
ter hindurch und bie zur allmäligen Zerftörung ber volks⸗ oder genoffene 
ſchaftlichen Gerichte durch die fremden Rechte und bie fländigen wiſſen⸗ 
fhaftlihen Beamten » Gerichte, doch anerkannt bie Werfammlung bes 
Volks oder der Benofien, ber fogenannte Ring ober Umftand noch 
Immer bad Recht richterliher Zuftimmung oder Verwerfung. Wenn 
alfo von einem Gericht ber Fürften oder Könige gefprochen wird; fo if 
babel — abgefehen von fauftrechtlichen und befpotifchen Werlegungen des 
algemeinen Rechte — ſtets nur an biefe Äußere Präfibialgewalt zu den⸗ 
Em, während bie Urtheile von ben Genoſſen oder von fieben Schoͤffen 
aus ihrer Mitte, namentlich bei den Gerichten Aber Kürften oder Gras 
fen, von den um den König verfammelten Großen gefprochen wurden, 
So beweiſen es 3. 8. auch von Carl dem Grofen ausdruͤcklich 
die gerichtlichen Urkunden felbft °). 

Auch auf die in der feubalen Privatabhängigkeit ſtehenden Perſo⸗ 
nen dehnte ſich der wohlthätige allgemeine germaniſche Grundſatz des 
Gerichts durch Genoſſen, durch Gleiche (judicium parium) aus. Auch 
die altfranzoͤſiſchen wie die engliſchen Geſetze forderten für das Feudal⸗ 
gericht, daß es fei: suffisament garnie des pairs ***). Audy über alle 
feubaten Schüglinge richteten bei den Germanen, bei welchen felbit in 
der Familie, unter Vorſitz des Familienvaters, nur das Familiengericht 
der Verwandten richtete +), regelmäßig und von fauſtrechtlichen Ver⸗ 
legungen abgefehen, unter Vorſitz des Schugheren ober feines‘ · Beamten 
die Senoffengerichte, uͤber die Lehenleute die Mannengerichte, über 
die Minifterialen die Hofgerichte, über bie hinterfäffigen Bauern 
und Leibeignen die Meier» und Hubener⸗ und Bauerns Gerichte ++). 

So, und nur duch bie in dieſem uralten Nationalrecht anerkann⸗ 
ten hoͤchſten Grundfäge war es dann erklärlich, daß feit der Gruͤn⸗ 
dung ber fländigen Gerichtshoͤfe von wiffenfchaftlihen Beamten und 
zuerft des Reichskammergerichts, bie Reichs» und Landes » Verfaffunges 
gefege und die Reihsgerichte, mit Nachdruck für bie Unabhängigkeit der 
Rechtspflege aud) bei diefen Gerichten wachen. Es wird erklaͤrlich, daß 
fie außer der hoͤchſten Begünftigung und unbefchränkten Freiheit der 
Actenverfendung an abfolut unabhängige auswärtige Schöppen» 


) Srimm ©. 785. Savigny I. & 216. 
“*) Marculf1,25. Schöpflin Alsatia illustr. I, p. 51. 
”) ©. Meyera.a O. B. 1. ©. 395 ff. 
+) Tacitus Germ. 19. 20. 

14) &. Eihhorn $. 303. und Urkunden bei Grimm ©. 750. 774. 778. 
3u den ſchon oben (8b. 1, ©. 325. 327. 481. u. 1, 249.) hierüber ongefüßt: 
ten urkundlichen Belegen füge ich hier noch hinzu den Landtagsfhluß von 
1531 über die Bauerns, Rechts⸗ und Gerichts Ordnung ber al: 
ten Mark Brandenburg in den Jahrb. für Preuß. Gef. Heft 89. 
Vergl. auch Sachſenſp. I, 2. U, 55: IN, 91. und Bladfkone Il, 18. 

Staats s Eerilon. III. 12 


178 Cabinets⸗Juſtlz. 


ſtuͤhle oder Juriſten⸗Facultaͤten (ſ. Actenverfendbung) nachdruͤck⸗ 
lichſt und ſelbſt untet Strafandrohung für die Regierungen auf Errich⸗ 
tung ſelbſtſtaͤndiger Ober» und Untergerichte mit genägens 
der Mefegung durch gehörig qualificirte inamovibele uns 
parteiı,„e Richter dringen, und alles fernere Zugerichtfiken der Fuͤrſten 
und vollends jede eigentliche. Cabinets⸗Juſtiz der Regierungen als Verfafr 
fungsverlegung verfolgen )). — Aud der Deutſche Bund, obgleich 
er fonft die Einmifhung in die inneren Verhaͤltniſſe zum Scug ber 
BVerfaffungsrechte beutfyer Bürger, feiner Natur nad), fo fehr fheute, 
glaubte doch das Recht auf unabhängige Juſtiz und auf Ausfchließung 
“aller Cabinets⸗Juſtiz unter: feinen ausbrüdlichen befondern Schug nehmen 
zu müffen. Er that es durch die Anerkennung ber Nothwendigkeit der 
Begründung von drei völlig unabhängigen Juſtiz⸗Inſtanzen, fo daß er 
fogar- die Staaten unter 300,000 Seelen zwingt, mit andern Staaten . 
zur Bildung eines höchften. Gerichts ſich zu vereinigen, damit dieſes völs 
lig unabhängig fein koͤnne. Er that es ferner durch die Geſtattung eines 
Meverfes, voelcher den Unterthanen gegen ihre Megierungen, wegen einer 
namentlih auch durch Gabinetseinwirtungen verzögerten ober verweiger⸗ 
ten ordentlichen Juſtiz, Unter der Zufage der Bewirtung unparteüfcher 
Rachtshuͤlfe, bei dem Bundestage eröffnet ift **). Und man erinnert 
fich der wiederholten einftimmigen ſtarken Erklärungen aller Bundesre⸗ 
glerungen gegen bie chucheffifhe Negierung bei Gelecenheit einer folchen 
Beſchwerde und insbefondere ber Erkiärung des Bundes s Präfiviums: 
die Bundesverfammlung werde nie vergeffen, felbft bedrängter Unters 
tbanen fi) anzunchmen und gud ihnen die Ueberzeugung zu verfchafs 
„fen, daß Deutfhland nur darum mit dem Blute der Völker vom 
„fremden Joch befreit und ‚die Länder ihrem rechtmäßigen Souverain 
„zurüdgegeben :worden, damit überall ein rechtlicher Zuftand an 
„de Stelle dee Willkür treten möge ***)." Auch haben natür: 
lich alle neuen Verfaffungen die Unabhängigkeit der Gerichte und bie 
Ausſchließung aller Cabinets-Juſtiz zu mwefentlichen Verfaffungstechten er: -- 
hoben. (Kluͤb er öffent. R. $. 373.) \ 

V. Weitere Ausführung ber anerfannten Rechts 
grundfäge über unabhängige Rechtspflege und über Ca⸗ 
binets:Suftiz.. Die Grundfäge, die Abfichten und Gefinnungen was 
ren alfo in Beziehung auf diefe mwefentlihe Grundinge rechtlicher Frei⸗ 


) Reichs⸗-K. G. O. v. 1551. $ 1. R. D. A. v. 1600. $. 15. J. R. X. 
108. 109. Nach der Wahlcapitul. XV, 1. XVI, 1. 8. mußten die Kai: 
er befhmwören, ber ordentlichen Juſtiz ihren ungebemmten Lauf zu Laffen 
und benfelben allen Reichsunterthanen zu-fhüsen. & auh Klüber oͤffentl. 
Rt. $. 366. und 373. 

») Bundesacte Art. 12. Schlußacte Art. 29. und 0. Mohl 
Rechtspflege des beutfhen Bundes ©. 161 ff. Klüber dffent: 
lihes Reht $. 217. und 169, 

”) Protokolle ber B. 8. 17. März 1817. $. 105. 


Cabinets⸗Juſtiz. 179 


heit allerſeits loͤblich und gut. Doch zeigte ſich beſonders auch hier bie 
Neuheit in politiſcher Erfahrung und ‚Bildung zur Zeit der Entwerfung 
und ber häufig vertraggmäßigen Unterhandiungen ber neuen Verfaſ⸗ 
fungm. Sonſt hätte man nimmermehr glauben können, bag man in 
einem conflitutionellen Zuftande etwas nachlaſſen bürfe von der früheren 
Rechtsſicherung zu Zeiten bed Reichs, während deren bie ganz unabhäns 
gigen hoͤchſten Meichsgerichte und jenes Palladium unabhängiger Juſtiz, 
die freie Actenverfendung, beftanden, zugleich aber Überhaupt Fein Richter 
gegen feinen Willen und ohne gerichtliches Urtheil von ber Regierung 
entfegt, verfegt oder penfionirt werden durfte, ſowie auch ohne Mitwirs 
kung der Stände die Gerichtsverfaffung nicht geändert und ganze Ges 
richte nicht verfegt, ja häufig die Richterftellen gar nicht einmal befegt 
werden Eonnten. Ganz natürlich aber ift es, daß die unvermeiblichen, 
an ſich unſchaͤdlichen Gegenfäge mancher Regierungs⸗ und ftänbifchen 
Beftrebungen die Regierungen ober bie Miniſter in Verfuchungen fiihren 
Zönnen, auf die Gerichte einzumicken, in Verfuchungen, die ohne con» 
flitutionelles Leben gar nicht entflehen und die, wenn ihnen nachgegeben 
wirb, zuiegt eben fo gefährlid für die Megierungen und für bie Ach⸗ 
tung und Unabhängigkeit der Rechtspflege, wie verderblich für die Buͤr⸗ 
ger und Die Freiheit werden mäffen. Hätte man doch wenigftens das 
große Vorbild conftitutionellen Lebens in England und felbft die unter 
bee Reftauration anerkannten franzöfifhen Verfaffungsbeftimmungen in’s 
Auge gefaßt! In beiden Rändern betrachtet man es, nie Feuerbach in 
der vorteefflihen Schrift: Gerihtsverfaffung eines conftitut. 
Staates, kann fie durch bloße Verordnungen rechts güͤl⸗ 
tig geändert werden? Nürnberg 1830. *) ausführt, als zu dem 
A. B. C. des conflitutionellen Staatsrechts gehörig, daß bie Richter ins 
amovibel, alfo aud nicht nach Megierungsbelieben verfegbar und pen» 
fionichar find, daß keine Veränderung in der Gerichts⸗ und gerichtlichen 
Perfahrungseinrichtung gemacht, vollends alfo nicht ganze Gerichte ver: 
fegt werden Eönnen, anders als durch Gefege, welche mit Zuftimmung 
der Stände erlaffen murben **). In beiden Ländern begründen endlich 
die aus der Mitte der Bürger für jeden Proceß durch das Vertrauen ber 
Angeklagten und der Regierung ausgewählten Geſchwornen neben 
den Staatsrihtern, die höchfte Buͤrgſchaft wahrhaft unabhängiger 
Rechtspflege. Und beide Nationen find nady allen ihren langen Erfah⸗ 
rungen zu der einftimmigen Weberzeugung gefommen, daß Geſchwornen⸗ 
gerihte und Preffreiheit weitaus die weſentlichſten Grundlagen alter 
Freiheit fein. In England wahrte man, vorzüglich nachdem man bie 





”, ©. auch Klüber oͤffentl. Recht $. 366. und Mittermaler 
Das deutſche Strafverfahren I. $. 251. | 

**) cher die Nothwendigkeit, daß bie Richter nie ohne ihren Willen von 
der Regierung verfest werden vürfen, ſelbſt nicht. auf beſſere Stellen, f. auch 
Tiritot science Ju publiciste, X, &. 262. Ein Penftoniren felbft wegen angeb⸗ 
Licher Untüchtigteit ohne gerichtliches Urtheit verbietet richtig auch bie Würtem: 
bergiſche Berfaffung $. 46. u. 49. Mohl a. a. 2,8 207... 


180 | Cabinets⸗Juſtiz. 
furchtbaren Einfluͤſſe nicht ganz unabhaͤngiger und ohne Geſchworne 
urtheilender Gerichtshoͤfe, namentlich der hohen Sternkammer, ken⸗ 
nen gelernt hatte, bie gerichtliche Unabhängigkeit fo eiferſuͤchtig, daß, 
als einft Jakob IT. unter den Zufchauern bei einem Gericht erfchien, 
ber Präfident ihn bat: „Ge. Majeftät möge doch forgfältig den Ausdruck 
„Ihres Gefichts bewachen, damit derfelbe den Richtern nicht die Meinung 
‚des Königs Über die Sache fund gebe.” In England würde man alfo 
auch nicht fo, wie Gönner, der Regierung erlauben, bem Gericht ihre 
Anfichten über einen Proceß zu eröffnen, um ‚Unrecht zu verhindem. 
Doch haben dieſes auch die befferen deutſchen Proceffualiften (3. B. 
Srolman $. 35.) verroorfen. Die Müllers Arnoldifhe Sache 
aber ift Beweis genug, baß auch ber befte Wille auch die größten Fürften 
- nicht vor den unglüdlichften Mißgriffen ſchuͤtzt, ſobald fie in die Juſtiz 
eingreifen wollen, 
. VL $ortfegung. Die nothwendige Unabhängigkeit der Rechts⸗ 
flege ſchließt Übrigens felbft in England nicht aus, daß eben fo wie bie 
Befebgebung, fo auch bie Ausübung der Nechtspflege im Namen bes 
Königs gefchehe, und daß ihm das Begnadigungsrecht im weiteren Sinne 
des Worts zuftehe, alfo auch das Abolitionsrecht, das ihm mehrere ber 
achtbarſten deutfchen Griminaliften, Zittmann, Mittermaler und 
Andere, abfprehen (f. Beanadigung). Ebenfo fteht der Regierung 
das Ernennungsrecht der Staatsrichter und die Oberaufſicht über bie 
Gerichte zu. Sie darf auf dem Wege der Landesgefepgebung die noͤthi⸗ 
gen Veränderungen der Gerichtsorganifation umd des Verfahrens fhr die 
zukünftig entſtehenden SProceffe bewirken. Sie darf den Wichter zur 
Thätigkeit anhalten, im Allgemeinen und felbft auch, bei Gelegenheit von 
Beſchwerden Über Verzögerung und Verweigerung der Juſtiz, durch eins 
fache Sörderungsbefehle (Promotoriales) und maudata de admi- 
nistranda justitia). Sie darf überhaupt ihre Amtsführung controliten, 
wozu jedoch geheime Berichte durchaus nicht zu empfehlen find, indem 
fie täufhen und die Unabhängigkeit gefährden. Jede Pflichtverlegung 
darf fie gerichtlich verfolgen. 
Aber fie darf nie in Beziehung auf individuelle Proceffe weder uns 
mittelbar auf ihre Entſcheidung, noch mittelbar durch Beflimmung 
der Schritte und ber Formen ihrer Verhandlung einwirken. Sie barf 
diefes insbefondere auch nicht durch Beſtimmung eines andern, ale bes 
gefeglich zuftändigen Gerichts oder durch Veränderung deſſelben, nament: 
lich nicht dur) Evocationen ober Abforderungen ber Rechtsſachen an 
andere Gerichte und durch Commiffionen. Für die Fälle, in wel 
hen etwa biefelben unentbehrlich find, z. B. wenn das ordentlihe Ges 
richt als betheiligt oder befangen in ber Sache erfcheinen kann, ober 
wenn einzelne Handlungen entfernt vom Gerichtsorte vorzunehmen find 
u. f. w., muß bie Proceßgefeggebung bdiefelben zum voraus ober das 
hoͤchſte Gericht fie beftimmen. Jede ſolche Einmifhung der Regierung, 
namentlich auch bes Suftizminifter (der durchaus nur Verwaltungs⸗ ober 
Vollziehungs > Beamter, nicht aber Richter iſt) iſt, wie gut fie auch ges 


Cabinets⸗Juſtiz. 181 


meint fein möchte, Cabinets-Juſtiz und verwerflih. Was folte 
auch wohl die durch eine ſolche Einmiſchung bewirkte Veränderung bes 
deuten? Warum wuͤrde man fie, troß ihrer Gehäffigkeit, vornehmen, wenn 
man fie nicht auf irgend eine Weiſe für einflußreih auf ben Ausgang 
bes Proceſſes hielte, wenn man mithin nicht diefen, twenigftens mittelbar, 
durch Regierungseinfluß beflimmen und verändern wollte? Und wo bleibt 
irgend eine Grenze und irgend eine Sicherheit, daß man, fobald einmal 
die heilige Schranke völiger Unabhängigkeit der Mechtöpflege ducchbrochen 
ift, niche zum Aeußerſten komme? Wenn jene Schranke einmal gefallen 
ift, fo muß bald kefangene Stimmung, bald felbft der Glaube an 
pflichtmäßige politifhe Worforge die Regierung gerade in Beziehung auf 
die gefährlichften Zälle weiter und weiter und bie. zum Abgrund führen. 

Nur das ordentlihe, das gefeglich zuftändige Gericht aber iſt mein 
wirklicher, mein legitimer Richter. Jedes nicht zuftändige, namentlich bie 
‚beliebig erwaͤhlte oder ernannte Commiſſion, übt, falls icy nicht etwa ein: 
wilige, niht Gerichtsrecht, ſondern Gewaltthat gegen mid) 
aus. Nur dem gefeglihen Verfahren bin ich gefeglih unterworfen. 
Nur die in ihm vom natürlichen Richter zu Stande gebrachte Entſchel⸗ 
dung iſt ein rechtsguͤltiges richterliches Urtheil. Und mit dem Beginn 
eines Rechtsſtreits habe ich ein wohlerworbenes Recht auf alle 
fhügenden Procefeintichtungen und gerichtlihen Handlungen nadı den 
damals beftehenden Geſetzen, forweit irgend dieſe Formen und 
Handlungen nur noch möglicdy find. Alles aber, was nicht in gefegli- 
her Weife und Form zu Stande ‚gebracht wurde, alfo jede Cabinets⸗ 
Juſtiz und das Verfahren und die Entſcheidung, wofuͤr fie wirkte, iſt 
nichtig *), und wenn es gegen mich ohne meine Einwilligung geltend 
gemacht werden foll, gar feine Juſtiz, fondern Zuftizs Mord, 
Gewaltthat. Sehr mit Recht fagte daher Marcouffi zu Franz I, 
als diefer bei dem Grabe des Miniſters Montaigu bebauerte, daß ders 
felbe durch die Juſtiz ungerecht zum Tode verurtheilt worden: „Gnaͤdig⸗ 
„ſter Fuͤrſt! es geſchah nice durch die Juſtiz; es gefhah durch eine 
„Commiſſion.“ Mohl (Staatsrecht von Wuͤrtemberg J. 
S. 201. und 203.) ſagt ſelbſt in Beziehung auf Urtheile des Koͤnigs: 
„Von einem Unbefugten ausgeſprochen, iſt ein Urtheil voͤllig nichtig. 
„Der dabei Betheiligte braucht gar keine Ruͤckſicht darauf zu nehmen 
„und kann die gemaltfame Aufnöthigung auf jede Weiſe abwenden. 
„Der Urtheilende felbft aber hat die Verfaffung verlegt. Die Gerichte ha⸗ 
„ben ohnedem ſich um ein folches ungefegliche® Urtheil gar nicht zu be⸗ 
„temmern und den Fall, aid waͤre gar noch nichts im der Sache ges 
„heben, nad ihre Anficht zu entfcheiden. Ein rechtlicher Nachtheil 
„tann im keiner. Beziehung aus jenem Befrhl entſtehen. — — Wären 
„die Gerichte alle Inſtanzen hindurch feig und pflichtvergeffen genug, 


*) G. C. 5. C.de legib. c. 22. X. de rescriptis c. 64. de reg. jur. in 
6to., Mittermaier, das. beutfhe Strafverfahren, $. 25. und 
Linde, Lehrbuchdes Civ.Proc. $. 44. 


182 Gabinetd + Zuftiz. 


„um fidy ein Urtheil bictiren zu laffen, fo bat ber Beſchaͤbigte fih an 
„die Landftände, und wenn auch diefe nicht helfen molltin oder Eönnten, 
„an die deutſche Bundesverfammlung zu menden, welche legtere — im 
„Mothfale durch Erecutionsmaßregen — die Regierung zur Eröffnung * 
„des freien Rechtsweges anzuhalten hat.” — Ganz vortrefflid und übereins 
flimmend mit jenen berühmten römifchen Gefegen, welche alle die Rechtes 
rundſaͤtze verlegenden Eaiferlichen Decrete und Ebicte gerabesu als unbes 
Dinge nichtig zu behandeln befehlen und allen Behörden ihre Anwendung 
verbieten *), verordnete au) in der Königl. Preuß. Allgem. Ord⸗ 
nung, die Berbefferung bes Juſtizweſens betreffend, vom 
21. Sun. 1713, $.1. (f. Mylius Corp. Const. March. I., 2. p. 519.) 
Friedrich 1: „Daß Unfere Judicıa und Commissiones lebiglich die 
„Juſtiz, als worauf fie geſchworen und beeidigt fein, zum Augenmerk 
„baden follen, ohne an barmwiterlaufende Verordnungen‘, ald welche alles 
„zeit vor erfchlichen und mit diefer Unferer Willensmeinung ftreitend zu 
„halten, im mindeften ſich zu kehren — maßen ihnen ſolche Verord⸗ 
„nungen fo wenig, als Unſer etwa vorgeſchuͤtztes Intereſſe zu keiner Ent⸗ 
„ſchuldigung in dieſem und jenem Leben dienen mag, und werden Wir, 
n dergleichen ungegruͤndeter Entfchuldigung ungeachtet, foldye urgerechte 
7, Richter mit aller Strenge beftrafen, wenn fie nämlidy überzeugt wer 
den innen, daß fie mehe auf Unfer, alsdann nichtiges und mit 
„dem Nugen, ber aus rehtfhaffener Adminiftrircung der 
„Juſtlz entfpringet, nicht zu vergleihendes Intereſſe, als 
„auf die Juſtiz und die Unſchuld, gotts, pflichtvergeffener und gewiffen« 
„loſer Weife ihr Abſehen gerichtet. Ja, Wir rufen felbft den einzigen 
„Herzenskuͤndiger an, daß er die Thraͤnen ber Unſchuldigen, welche ſolche 
abſcheuliche Proceduren auspreſſen mögen, allein auf deren Urheber 
Kopf kommen läffe!" Bon Commiſſſonen aber ſagt das Project des 
Codicis Fridericiani IV, 6. $. 1.: „Die bisherigen Cominissiones find 
„nicht eine von den geringften Landplagen Unferer hurmäckifchen Lande 
„geweſen.“ Das ſchwediſche Nationalgrundgefeg von 1772, Art. XVI. 
beftimmt darüber: „Alle Commiffionen, Deputationen und außerordents 
„he Richterſtuͤhle, fie feien vom Könige ober Ständen geſetzt, follen 
„eünftig abgefhafft fein, da fie nur zur Befoͤrderung der Gewalt und 
„ Zyrannei dienen.’ | u 
Derbeffert wird natürlich die Cabinets-Juſtiz nit, wenn mit Zus 
ziehung rechtskundiger Perfonen, etwa des Suftizwinifters in das Cabinet, 
oder wenn buch Ueberweiſung von wahren Juſtiz⸗Sachen an Ver: 
‚waltungsftellen , Domainen » Kammern; Regierungen ü. ſ. w. völlige Ca⸗ 
binete»Inftanzen gebildet werden (f. Suftizs Sehen). Wenn diefes 
vollends gerade in folhen Nechtsſachen geſchieht, bei welchen die Regie⸗ 
rung beſonders inteveffiet ift, fo wird ſchon aͤußerlid an die Stelle uns 
parteiifhen Gerichts Über beftrittenes Recht partelifche Uebermacht, eigens 


*) C. 4. O. de leptb. C. 6. C. sfeontra Jus. C. 16..d& transact, C. 7. 
de jur. et facti ignorant, z . BE RR 


Gabinctö : Zuftiz. 183 


mächtige Selbſthuͤlfe oder Selbſtrache geſetzt. Daffelbe iſt ber Kal, wenn 
man Ausnahme», Specials und Prevotals Gerichte bildet, um die ors 
dentliche unabhängige Fuftiz zu umgehen. Mögen legitime Regierungen 
alles dieſes tevolutionairen Schreckensmaͤnnern, Ufurpatoren und Zyrans 
nen überlaffen ! 

Eine blos verfhleierte, aber nicht die am wenigſten verwerfe 
liche und ebenfalls nichtige Cabtuets« Zuftk ift es Übrigens, wenn die 
Megierung durch neue Geſetze, insbeſonderiauch durch authentifche In⸗ 
terpretationen (welche als neue Acte der geleggebenden Gewalt, und ba 
fie ohne Rüdfihe auf ihre wirkliche Webereinfliimmung mit bem früs 
beren Geſetz gefesglich gelten, ftets felbft neue Geſetze find) und durch 
den Befehl ihrer Ruͤckwirkung beflinmte erworbene. Rechtsanſpruͤche zu 
zerflören und die Proceffe darlber zu ihren Gunften zu entfcheiden fucht. 
Dabei wird noch die gefeßgebende Gewalt zum Fallſtrick gebraucht und 
herabgemürbigt. Es wird das erfle Recht auf Treu und Glauben, daß 
ich nämlich auf die Gültigkeit der zur Zeit ber Wornahme meiner Hands 
lungen beſtehenden Gefege für die. Beurtheitung diefer Handlungen muß 
rechnen dürfen, unwuͤrdig verlegt. Kine unzuläffige Befchräntung ber 
unabhängigen Richtergewalt und häufig geradezu eine Cabinets⸗-Juſtiz, 
jedenfalls das bequeme Mittel, fie nad) Belieben auszuüben, ift «6. auch, 
wenn die Regierung den Gerichten das Necht entzieht, frei richterlich zu 
prüfen und zu entfcheiden, ob eine Sache Juſtiz⸗Sache, ob eine Ver: 
fügung ihrer Form und ihrem Inhalt nach verfaffungsmäßig ein wirklis 
yes Geſetz und nad) der Staatsverfaffung rechtsguͤltig iſt, ober ‚auch 
daruͤber zu entfcheiden, mas der wahre Inhalt allee der zur Eutſchei⸗ 
dung des Rechtsſtreits gehörigen Beſtimmungen, ‚namentlich auch ber 
Staatsvertraͤge *), fei. Zwar iſt allerdings ‚die richterliche Gewalt bes 
ſchraͤnkt, fie ift vor Allem an die Verfaffung und bie verfaffungsmäßigen 
Geſetze gebunden, auch der oben bezeichneten Megierungscontrole unters 
worfen. Und fie foll eine fernere doppelte verfaffungsmäfige Schranke 
ihrer MWirkfamkeit heilig halten. Sie foU nie: die Initiative ergreifen 
oder fie fol, wie man fagt, wefentlich paſſiv fein; fie fol mit andern 
Morten lediglich nur auf eine beftimmte vor ihr erhobene Klage wirkſam 
werden. Iſt fie aber wirkfam geworden, alsdann ift ihre Entſcheidung 
ftete nur concret, d. h. es hat jede ihrer Verfügungen eine wirkliche 
unmittelbare Rechtskraft nur fuͤr den entfchiebenen Sal. Sie giebt Feine 
Geſetze und hebt keine Gefrge auf. Uber über die rechtliche Natur und 
den Inhalt aller Normen, die fie als die zehtsgältigen Entfcheis 
dungsgründe ihres richterlihen Wrtheils in dem von .ihe zu 
entfcheidenden Rechtsſtreite foll geltend machen, muß fie eine unabhäns 
gige richterlihe Prüfung und Entſcheidung haben, oder fie ift nicht 
Gericht und nicht unabhängig. Und fie müßte insbefondere ber 
Verfaſſung feine Achtung und keinen Gehorſam fchuldig, diefe müßte 
überhaupt fogar von Rechts wegen irgend einer Willkür regelmaͤßig 








»RVergl. Klüber öffentl. Rt. $. 379. 


184 Cabinets 2 Juſtiz. 


dpreisgegeben fein, wenn irgend eine Behoͤrde das Gericht zwingen koͤnnte, 
verfaſſungsbruͤchige Verfügungen mit richterlicher Auctorität, als verfaſ⸗ 
ſungsmaͤßig und rechtsguͤltig zu verwirklichen. Eine funfzigjaͤhrige Erfahrung 
in Nordamerika, die ‚noch viel Ältere in England hat es bewiefen, daß 
diefe vollkommenſte richtecliche Unabhängigkeit felbft in ihrer größten Aus⸗ 
dehnung feine Nachtheite, ſondern nur Vortheile begruͤndet und die 
Würde der Reglerung und ber Geſfetzgebung nicht verletzt. 

Noch gefährlicher und verberblicher aber als jede andere Cabinets⸗ 
Juſtiz ift die, wenn eine Regierung, um für gewiſſe Proceffe die ihr 
wohlgefaͤlligen Entfcheibungen zu bewirken, die wiufaͤhrigen Richter be= , 
lohnt und befördert, die nicht willfaͤhrigen zuruͤck⸗ oder zur Ruhe ſetzt, 
oder ſie und vollends ganze Gerichte zur Strafe verſetzt und zu dieſem 
Zweck bie Gerichts» und Verfahrens⸗Einrichtungen ändert. Verderbli⸗ 
cher und grauſamer gegen die ungluͤcklichen Verfolgten iſt dieſes; denn 
eine offenbare Cabinets⸗Juſtiz gibt ſich ſchon durch ihre aͤußere Form 
als offene Gewaltthat. Sie gefaͤhrdet alſo dem Verurtheilten nicht zu 
den uͤbrigen Guͤtern auch noch das theuerſte, die Ehre, die Liebe und 
Achtung ſeiner Mitbuͤrger, ſo wie es jene hinterliſtige Verfaͤlſchung thut, 
weiche die parteiiſchen Machtſpruͤche als unparteiiſche richterliche Urtheile 
darzuſtellen ſucht. Fuͤr den Staat und die Freiheit und die Regierung 
ſelbſt iſt aber dieſe hinterliſtige verfaͤlſchende Cabinets⸗Juſtiz in 
jeder Weiſe verderblich. Sie macht die ganze Juſtiz ſchlecht und wird 
gefaͤhrlich auch fuͤr den rechtlichſten Mann, der irgend eine maͤchtige Un⸗ 
gunſt auf ſich zieht, ja, vielleicht als treuer, offener Freund von Wahr⸗ 
beit und Recht und vom wahren Wohl feiner Regierung, nur erworben 
zu haben fcheint. Wo dergleichen ber Regierung möglich ift, kann fie 
wenigftens, fobald fie will, in zweimal vierundzwanzig Stunden ungleich 
gefährlichere und furchtbarere Werkzeuge der Tyrannei ſich fchaffen, ale 
alle hohe Sternkammern, Prevotals und Napoleonifhe Specials Gerichte, 
ja al& die lettres de oachet (f. diefen Art.) e8 jemals waren. Solche 
Einrichtung aber entzieht den zu binterliftigem verfälfchten Werkzeug dee 
Mächtigen und mächtiger Leidenfchaften herabgewuͤrdigten, ihrer würbigeren 
Mitglieder und ihrer Unabhängigkeit beraubten, vielleicht mit unwuͤrdigen, 
beftochenen, verachteten Grenturen befegten Gerichten das Vertrauen und 
bie öffentliche Achtung. &ie gibt den beffern Bürgern mehr, wie irgend 
etwas Anderes, das Gefuͤhl eines gebrüdten, gefährlichen, befpotifchen 
Buftandes, und ſchwaͤcht alfo ihre Anhänglichkeit an die Verfaffung und 
bie Regierung. Diefe letztere, die durch die nun natürlid von allen 
Seiten allem noch lautwerbenden Schmeichelreben getäufht wird, und 
weiche vielleicht für ben Augenblid Befreiung von manchen Unbequems 
lichkeiten gewonnen bat, wird nur zu fpät entweder im Mangel patrio⸗ 
tifcher Kraft und Begeifterung in der entfcheidenden Stunde der Noch, 
oder in der Öffentlichen Demoralifation und Erſchlaffung, die unheilvolle 
Wirkung erkennen. Ale die Verhüllungen, wodurch gewiſſenloſe Raͤthe 
oder Guͤnſtlinge die wirkliche Cabinets-Juſtiz dem Kürften und dem 


* I 


Gabinetd = Zuftiz. | | 185 


Volke zu verbergen fuchen, durchſchauen die heutigen Völker ſchnell genug. 
Die verfchleierte wie die unverfchleierte Cabinets⸗Juſtiz find gleich ver 
haft und ‘die Völker wiſſen es, daß alle tyrannifche Regierungen mit 
Verfaͤlſchung dee Juſtiz begannen. Einzelne Beiſpiele ungerechter rich 
terlicher Maßregeln, welche vielleicht bei unterdruͤckter Öffentlicher Ringe 
darüber der Regent felbft gar nicht in ihrer wahren Geſtalt kennen lernt, 
machen auf alle würdigeren nachdentenden Männer einen größeren Eins 

druck, als man glaubt, und bewirken vielleicht, wenn fie, bei endlich 
frei geworbener öffentlicher Stimme und bei verftummter Schmeichelrede, 
allgemein bekannt werden, jedenfalls aber in ber treuen Geſchichte einen 
Eindrud, weichen erfahrungstofe, oberflächliche Menfchen nicht einmal fuͤr 
möglich halten. Und ganz beſonders gilt diefes ficher in Deutfchland, wo 
bei vieler pedantifcher Unbehuͤlflichkeit doch der tiefe Sinn fuͤr Gerechtigs 
Leit und öffentliche Moral, der Abfcheu gegen Ungerechtigkeit und öffentliche 
Unmoral, Gott Lob! noch nicht zerftört find und, zur rechten Stunde anges 
ſprochen, kraͤftig hervorbrehen. So mögen denn alfo die Bürger in 
Beziehung auf die verfaffungsmäßige Begründung und Verbürgung voͤl⸗ 
lig unabhängiger Rechtspflege das Wort des ehrlichen Blackſtone (4, 33) 
bedenken: „Wahrlich, die Sreiheit der Unterthanen befteht nicht in der Gnade 
„des Souverains, fondern vielmehr in der nothwendigen Beſchraͤnkung 
„feinee Gewalt.” Bon den Regierungen aber denkt wohl kaum eine 
einzige, auch wenn fie fonft die Wohlthat verfaffungsmäßiger Befchräns 
tung ihrer Macht zur Ausfchliefung verberblicher Höflings » und Be: 
amten » Herrfchaft, zur Sicherung ihres Fürftenhaufes und zur Vermeh⸗ 
rung der Kraft ihres Meiches nicht einfehen follte, fo unedel und fo 
unmeife, daß fie die Gewalt zur Verfaͤlſchung der richterlihen Gerech⸗ 
tigkeit wuͤnſchte. Auch ift e8 zu augenfällig, daß, wie Boffuet be: 
merkte, vor Allem duch Mißbrauch und Verfälfhung der Rechtspflege 
eine Regierung die moralifhe, legitime Grundlage ihrer Achtung zer: 
flört und zu Lift und Gewalt, mwodurd fie felbft die Unterthanen bes 
herrſcht, auch diefe gegen ſich herausfordert. Unabhängige Juſtiz ift 
der Bürger legte Verſchanzung ihrer Sicherheit, die fie nur verzweis 
felnd verlaffen. Die Achtung diefes Heiligthums hielt man bisher faſt 
als identifh mit der Ehre und Würde legitimer Regierungen. So 
möge denn auch eine jede für fich und ihre Diener: die ſtets höchft ges 
fährlihen Verfuchungen zu folchen verberblichiten aller Gemwaltmißbräus 
he zum Voraus gänzlich entfernen. Sie möge es thun durch Eräftigere 
BVerfuffungseinrichtungen, als jene allerdings fehe fchönen Worte eines 
preußifhen Monarchen, die in der Stunde ber Verfuhung und bei 
verberblihem Einfluß einer Hofpartei der Natur der. Sache nach zus 
meilen nur fchöne Worte bleiben koͤnnten. 

VII. Die Bertheidiger der Cabinets-Juſtiz. Nach dem 
Bisherigen ift mohl eine befondere Widerlegung derſelben unnöthig, 
vorzüglich fo, um aud) bei diefem wichtigen Gegenftande, ſowie fchon 
in der £ehre vom Adel (Bd. I. S. 265) bie ganze Verkehrtheit und 
Seichtigkeit, die bodenlofe Sophiſtik, die Rechts⸗ und Geſchichtsver⸗ 


186 Cabinets⸗Juſtiz. 


drehung bee ariſtokratiſch⸗ ſervilen und deſpotiſchen Halleriſchen 
Schule zu veranſchaulichen, moͤge zum Schluſſe noch auf ihre Ver⸗ 
theidigung der Cabinets⸗Juſtiz hingewieſen werden! 

Auch die Gerichtsbarkeit, namentlich auch die Criminaljurisdiction, 
find dem Herten von Haller (Reftaurat. Il. ©. 222 ff.) ebenfo, 
wie dee Staat, bie Regierung, bee Adel, durchaus Feine menſchlichen 
Snftitute, nicht mit freier Abficht, viel weniger durch irgend ein buͤr⸗ 
gerliches Ueberemkommen und Unterwerfen begründet. Auch fie ent⸗ 
ftehen nad ihm ebenfo, mie Staat und Verfafjung , wie Regierung 
and Adel und ihre Rechte, ganz von felbft aus der natürlidhen 
Drdnung Gottes. „Die Gerichtsbarkeit geht ganz natürlichermeife aus 
der bloßen Hülfsanrufung des Schwäceren bei dem Mächtigeren 
hervor, und ift nichts weiter, als die unparteiifche Hülfsleiftung 
des. Mächtigeren. Beſtrafung ift nichts Anderes, als Vertheidigung 
oder Rache, für Andere, oder für ſich felbft ausgeübt. She Recht ift 
unbegrenzt bis zur vollendeten Sicherheit, nur durch Gebote ber 
Menfchlichkeit und Klugheit temperirt. Civil s und Griminaljurisdie 
ction find aber keineswegs ausſchließliche Majeſtaͤtsrechte. 
Vielmehr hat fie und übt fie, und namentli auch das Strafrecht, 
noch heutzutage jeder Menfc aus, felbft das unmündige Kind, übers 
haupt aber jeder Stärfere gegen den Schwaͤchern, ber Vater gegen 
die Kinder, der Obere gegen den Untergebenen, ber Lehrer gegen die 
Schüler‘, die Hausherren gegen die Diener, die Handeldleute, Fabri⸗ 
fanten und Handwerker gegen ihre Arbeiter, die Gutsherren gegen 
ihre Gutsuntergebenen. Sie befigen diefe Gerichtsbarkeit und Straf⸗ 
gemalt und üben bdiefelbe aus, foweit ihre Macht reicht, ſoweit fie 
es ohne fremde Hülfe mit Sicherheit thun Eönnen und wollen. 
Auch können nicht blos die Beleidigten ſich rächen, fondern es können 
überhaupt die Streitenden, wenn fie es wollen, noch heute, ftatt 
höhere Hülfe anzurufen, ihre Streitigkeiten durch Kampf aus: 
machen, da ja die Mächtigeren, bie Herren, nicht dabei intereffirt 
find, daß ihre Hüffe angerufen wird. Als Mächtigere haben denn auch 
ganz von felbft von jeher alle Fürften diefe Civil s und Criminaljuris⸗ 
dietion und zwar, wie fid) ebenfalld von felbft verficht, auch in eigner 
Sache, in Perfon und durd ihre Beamten, deren Urtheile fie cor= 
tigiren und umändern, bie fie beliebig entfegen konnen, fowie 
fie auch die Suftiz, als freie Wohlthat, oft ganz verweigern duͤr—⸗ 
fen. Sie handeln nicht einmal Hug, wenn fie das Nichterrecht ganz 
abgeben und fich die Hände binden. Cabinets⸗Juſtiz iſt fo gut als ans 
dere Juſtiz, wenn fie nur Sufliz iſt. Jeder Menſch richtet in eig⸗ 
ner Sache foweit er Bann. Bon dem Fürften unabhängige Ge: 
richte find verwerflich, weil fie die Idee von einer Unterwuͤrfigkeit des 
Fürften urid von einer Souverainetät der Gerichte erwecken. Und 
wenn ber Fürft es als Regel anerkennt, felbft aud) nur in Civilfachen 
den Ausfprücen ber Gerichte ſich zu unterwerfen, fo iſt er .nicht mehr. 
Fürft, oder Inconfequent. Vollends aber bei Staatsuerbrechen. von ben 


⁊ 


Gabinets = Juftiz. 187 


Gerichten bie Entfcheidung abhängig zu machen, hieße den Zürften ber 
Selbftvertheidigung berauben, ihn zum Sklaven und Spielwerk feiner 
vielleicht mitverfchworenen Gerichte machen. — Wenn bagegen die Fürs 
ften felbft Verbrechen oder Miffethaten gegen ihre Unterthanen ausüben, 
fo kann es diefen legteren Niemand übel nehmen, wenn audy fie jene 
ihre natürlichen Rechte der Selbftvertheitigung und Selbftvollziehung 
- gegen ihre Zürften gebrauhen. Eine förmliche Gerichtsbarkeit kann e6 
nur infofern nicht genannt werden, ald es ihnen an Macht fehlt” 
(infofern alfo, als es ihnen noch nicht geglüdt ift, nah der Halleris 
{hen nathrlichen Ordnung Gottes ſelbſt fürftlihe Würde oder das 
natürlihe Gluͤcksgut der Unabhängigkeit gegen ihre Fürften, 
weilhen Hr. v. Haller auch weder allgemeines Heerfolge = noch Bes 
ſteuerungs⸗Recht zugefteht, für fi) zu gewinnen). „So war es in ber 
ganzen Sefchichte zu allen Zeiten und bei allen Völkern. Nur erft bie 
heillofen Sophiften unferer neueren Zeit haben nach ihrer Chimdre von 
dem tünftlid = bürgerlihen Zuftand alle diefe natuͤrlichen 
Mechtsarundfäge geleugnet, und (3. B. jene unentbehrlichen Rechte 
fürftliher Cabinets-Juſtiz oder die Patrimonial-Juſtiz) 
beſtritten.“ | 
Auch bier alfo vernichtet diefe ungluͤcklichſte aller Wertheidigungen 
ber Adelds und Fürften Rechte, diefe die Feudal: Anardyie und Defpos 
tie nod) uͤberbietende Neftauration, nit der Staatswiffens 
ſchaft, fondern des Fauſtrechts, ebenfo wie in Beziehung auf 
den Staat, den Adel u. f. w., die mefentlihen Begriffe der juriſti— 
fhen und politifhen Inſtitute, mie fie bei allen civilifirten 
Nationen in ihren wirklichen Staatsvereinen begründet wurden. Gie 
vermifcht diefelben gänzlich mit generifch verfhiedenen, ſcheinbar 
ähnlichen Verhältniffen oder mit den äußerlihen Veranlaſſungs⸗ 
gründen oder Motiven derfelben. Auch hier wird die ganze Ge 
ſchichte freiee und civilifictee Voͤlker und Staaten todtgefhlagen. Nur 
die Beften der fauftrehtliihen Anarchie vor und außer und 
neben den mirklihen Staaten und ihre Trümmer gelten ben Schwaͤr⸗ 
mern für das Zunferthum der. Feudalzeit — wenn nicht Madjiavelliften 
für etwas noch Schlimmered — und höchftens etwa nod) die defpotis 
chen Zuftände afiatifcher Horden oder Priefter- Fürften. Nur aus ih⸗ 
nen werden die Begriffe und Mufter für unfere Inflitute entlehnt. 
Mer Eönnte nun da ernftlich beweifen wollen, daß Civil⸗ und Criminal» 
Surisdietion im Kreife wahrer Rechts s und Staats »Verhältniffe etwas 
ganz Anderes ift, als jede andere Hüffeleiftung, oder als eine Selbſt⸗ 
rache eines Stärkeren, als väterlihes Schuß = und Erziehungsredit. 
‚Mer möchte alle die unrichtigen, dunklen, halben Begriffe nachweiſen 
wollen, und alle die MWiberfprüche, bie auch .hiee, wie bei fait allen 
Anhängern diefer Theorie auf der folgenden Seite wieder, umfloßen, 
was die vorhergehende als Grundſteine bezeichnete?. Aus dem Huͤlfs⸗ 
anruf der Schwächeren entftandene unparteiifche. Hülfsleiftung des 
Maͤchtigeren fol die Gerichtsbarkeit fein und ein wahres Recht und \ 


188 Cabinets⸗Juſtiz⸗ 


Rechtsverhaͤltnig, und doc hat fie dee Fuͤrſt, mie der Gutsherr zur 
Selbftrahe in eigener Sache und unbegrenzt, und dody hat 

fie jedee Mächtigere, alfo auch gegen den Kürften, die durch Lift odey 
Gewalek mächtigere Faction, „foweit fie Eönnen und wollen”. 
In folher Weiſe befigen fie die mächtigen Parteihäupter, welche durch 
‚natürliche Uebermadht ganz von felbft und nad; der natürlichen, Ord⸗ 
nung Gottes — freilich nicht nad) den Geſetzen bes fo ſehr vermorfes 
nen Fünftlich = bürgerlichen Zuſtandes — legitime Richter. wer⸗ 
den, und das Gluͤcksgut fouverainer Herefchaft und Regierung erwer⸗ 
ben. Und folche Theorien ftellen diejenigen auf, folhe rohe, de⸗ 
fpotifhe Horden= und Fauſtrechts⸗Zuſtaͤnde empfehlen 
uns diejenigen, welche die wahre, mit Freiheit, und zum. erhaben⸗ 
fen Runftwert der Menfhheit ausgebildete Staatsverfaffung 
den Fuͤrſten und den Bürgern vorzüglich deswegen als widerwaͤrtig 
darftellen möchten, weil fie für deren erworbene Privatbefigthünger, für 
ihren ruhigen Genuß und ihre Sicherheit befchränkend und gefährkend 
feien! Und folche Theorie mag im Weſentlichen, auch in Beziehung auf 
bie Cabinets⸗Juſtiz, das bekannte Wochenblatt eines Staats zu der 
feinigen mahen und laut anpreifen, deſſen Fürften fo energifch ihre 
Erfahrungen von der Gefährlichkeit, von der abfoluten Verwerflichkeit 
und Rechtswidrigkeit aller Cabinets⸗Juſtiz und neuerlicd auch die non 
der Schädlichkeit und Staatswidrigkeit der Patrimonial = Jufliz aus⸗ 
fprachen, deſſen Regierung und Bürger fo oft den vorzüglichften Rechts⸗ 
titel zum patriotifchen Stolz darin ſuchten, „daß fie in ganz. vorzügitr 
chem Maße jened Palladium aller gefitteten Voͤlker, eine völlig unabs 
bängige Rechtspflege, heilig hielten und bewahrten”. Diefes Palladium, 
mit feltener Einmüthigkeit bisher vertheidigt von allen germanifchen 
Rechtslehrern, mag nun diefe angeblich legitime Theorie in den Staub 
ziehen und vernichten mollen:! 

Doch Verzeihung für dieſe Ausführung von allen denen, welchen 
der verworrene Parteikampf unferer Zage die gefunden, die wahrhaft 
natürlichen Begriffe über die Staatsverhältniffe noch nicht verwirrt 
hat! Sie müffen ſich freilich unbehaglich fühlen, wenn man auch nur 
auf Augenblide fie in diefes Meer von VBegriffslofigkeit und von Wi⸗ 
derfprüchen, in diefe Fauftrechtss Anarchie einführt. Zu bedeutend, um 
unberüdfichtigt : zu bleiben, ift aber leider die Zahl derer, welche vors 
-züglich aud) an ein angebliches fih von ſelbſt Machen von Recht 
und Staat verwirrte Vorftellungen knuͤpfen, veranlagt bald durch 
Einfeitigkeiten der liberalen Theorien felbft, bald durch gefchichtliche und 
naturphilofophifchhe Schulen, durch fervile und ariftofratifhe Parteien, 
bald durch undeutfhe Scheu gegen ein tiefered, gruͤndlicheres Eingehen. 
Und unter denen, ‚die folchergeftatt Verderbliches, namentlih auch in 
‚Beziehung auf die Juſtiz⸗Verfaſſung, lehren und ihren Fürften: anras 
then, find wenigſtens Viele, die es ehrlich meinen, von: denen man 
fügen muß: vergieb ihnen, denn fie wiflen nicht was fie thun; Die 


Cabinets⸗Juſtiz. Cachet, lettres de. 189 


man aber vor Aflem, ehe fie unheilbares Unheil fliften, von ihren 
verderblichen Irrthuͤmern zu befreien fuchen muß. Weider. 

Cachet, lettres de. Der Ausdrud Lettres de cachet, 
oder auch Letires closes bezeichnete In Frankreich im Allgemeinen, 
im Gegenſatze gegen die Lettres patentes, biejenigen Ausfertigun: 
gen -Eöniglicher Befehle, welche nicht fo, wie bie leßteren, als offene, - 
feierlichere Urkunden mit dem großen Etaatsfiegel unterfiegelt und 
von einem Minifter contrafignirt, aus der koͤniglichen Staatskanzlei 
ausgingen, welche vielmehr in unfeierlicherer Form ausgefertigt, mit 
dem Eleineren Eöniglichen Siegel verfhloffen und blos vom König 
unterzeichnet waren. Es waren alfo Cabinets-Ordres im Gegen 
ſatz gegen die förmlicheren Staatsregierungsbeſchluͤſſe. Insbeſondere 
aber waren es die Befehle jener Geheimregierung, melche nach dem 
Obigen (Theil II, S. 453) die franzöfifhen Könige unter dem Einfluß 
von der Gamarilla, den Guͤnſtlingen, Beichtvätern, Maitreffen und 
Höflingen, außer und über allen Zweigen der öffentlichen Regierung, 
Insbefondere auch ber Öffentlichen Polizei: und Suftiz: Gewalt, förmlich 
organifirt hatten. Vorzugsweiſe verfteht man bie geheimen Verhaftsbefchte 
darunter, wodurch Staatsangehörige aller Stände, ohne irgend eine 
Unterfuhung und Form Nechtens - und ohne Angabe eines Grundes, 
auf längere oder kürzere, gewoͤhnlich auf unbeftimmte Zeit in bie 
Baſtille zu Paris oder in Gefängniffe der Provinz und zwar zus 
weilen felbft in fcheußliche unterirbifche Löcher eingekerkert murben. 
Man fchreibt ihre Erfindung dem unter dem Cardinal Richelieu fo bes 
ruͤchtigte Pater Sofeph zu. Sie wurden den Miniftern, den Mat: 
treffen und Guͤnſtlingen häufig ale cartes blanches oder nur mit der koͤnig⸗ 
lichen Unterfchrift verfehen, übergeben, fo daß fie beliebige Namen und 
Beſtimmungen hineinfegen konnten. Ja fie wurden fogar zum Gegen 
fland des Verkaufs gemacht. Sie bildeten alfo in jeder Beziehung bie 
fheuglichfte Art der Cabinets-Juſtiz. Mir können uns daher 
auf diefen Artikel fo wie auf ben Artikel Baftilte und Beſchlag⸗ 
nahme beziehen. Freilich mögen auch anderwaͤrts an ben Hoͤfen 
ganz abfoluter Regierungen manche einzelne und aud, geheime Ver- 
legungen der Freiheit dem Syſtem ber Sucht und ber paffiven Unter- 
werfung oder auch der Rachſucht ber Mächtigen dienen. Aber zu ei- 
ner folhen förmlihen Ausbildung und feheußlichen Organifation kamen 
fie doch im neueren Europa nur in dem Staate, der endlich durch 
eine furchtbare Revolution ſich davon befreite. In ihrem ganzen Lichte 
find diefe Einrichtungen dargeftellt in Linguet Memoires sur la Bastille, 
Lond. 1783, und Mirabeau des lettres de cachet et des prisons 
d’ctat, 1782. 

So wie alles Schaͤndliche in der Welt, ſo hat man auch die 
Lettres de cachet zu vertheidigen geſucht, insbeſondere auch als 
ein Mittel, wodurch Vaͤter gegen ihre Soͤhne, und der Regent 
gegen Beamten und Mitglieder vornehmer Staͤnde, ohne Zerſtoͤ⸗ 
rung ihrer Ehre und ohne verderbliches Aergerniß und Scandal, 


190 Cachet, lettres de. Calvin. 


wohlthaͤtige Strafen und Beſſerungsmittel hätten zur Anwendung 
bringen Binnen. Aber es bedarf . wohl kaum einer ernſtlichen 
Miderlegung ſolcher Gründe. Wohl verbient eine -Verfidrtung der 
väterlihen Auctorität und Gewalt alle Beruͤckſichtigung; aber nichts 
wird die allgemeine Gefahr und die rechtlofe Willkuͤr geheimer Ber: 
haftungen einem Volke, das “au nur eine dee von Achtung des 
Rechts und der Freiheit hat, annehmbar machen. Xergerniß und 
Scandal aber werden durch die Unwuͤrdigkeiten felbft, die man indeß 
in den verborbenen Zeiten der früheren franzöfifchen Könige wenig 
fcheute, begründet, nicht aber durch gerechte Disciplinar s und andere 
Strafen, welche fie vielmehr fo weit möglid wieder austilgen. Dar⸗ 
in haben freilich diejenigen, welche die Jettres de oachet vertheidigen 
oder doch entfchuldigen, Recht, daß ed auf den Namen nidt an 
tommt, welcher nun einmal bei biefer Art der Cabinets⸗Juſtiz im 
Boraus allgemeinen Abfcheu erwedt, und daß es ohne biefen Namen 
oft gleich große DVerlegungen aller Freiheit und Sicherheit der Bürger 
durch Regierungseinfluß auf die Suftiz gibt. Solches wäre 3. B. aller. 
dings der Fall, wenn man die Gerichte abhängig machen und dann . 
unter der. Form eines Criminalproceſſes verhaßte -oder verbächtige Per: 
fonen Jahre lang in geheimem Verhaft laffen, und zulegt vielleicht, 
um’ das Verfahren zu 'entfhuldigen, wenigſtens einigermaßen fchuldig 
oder verdächtig erklären, oder nur von der Inſtanz losfprehen und 
dann unter dem Namen von Sicherheitsmaßregeln vielleicht aufs Neue 
feithalten laſſen wollte. Diefed wäre fogar noch viel ſchlimmer und ver= 
derblicher, als die lettres de cachet, melde doc wenigſtens bie 
Juſtiz nicht hinterliftig verfälfchten, bie Gerichte nicht beſtachen und ent: 
würdigten, und die Ehre der Mißhandelten nicht angdffen. Aber 
kann dadurch wohl der ganz verdiente Abfcheu gegen die lettres de 
cachet mit Grund bekämpft werden? Jeder Freund ber Gerechtigkeit 
und feines Volks mie feiner Negierung, muß vielmehr Beides befümpfen, 
wenn ed im Großen oder auch nur im Kleinen irgendwo fid) zeigen 
ſollte. Melder. 

Gadiz, f. Cortes-Verfaſſung. 

Galender, f. Zeitrehnung. 

Salmarifhe Union, ſ. Schweden. 

Calomarde, f. Spanien. 

Calonne, f. franzöfifhe Revolution. 

Calvin (Sohann), nad feinem franzöfifhen Familiennamen 
Chauvin, geb. den 10. Juli 1509 zu Noyon in der Picarbie, ift in 
ſtaatsrechtlichem Gefichtspuntt weit weniger merkwürdig burdy feine dogma⸗ 
tifhe Theorie, als duch feine Beftrebungen, ber Kirche und ihren 
von der Geiſtlichkeit geleiteten Presbyterien eine auch durch aͤußere 
Mittel maͤchtige Sittenherrſchaft rigoriſtiſch zuzueignen. Theoretiſch und 
praktiſch verband er damit ſeine in Thathandlungen uͤbergehende Grund⸗ 
ſaͤtze, eine der freien Wahrheitsforſchung toͤdtliche, obrigkeitliche Ketzerver⸗ 
folgung auch in Die evangeliſch-proteſtantiſche zu verpflanzen. Und 


N 


Gavin. 191 


allerdings hängen in ihm, als einem confequenten, aber aus unrichtis 
gen Prämiffen fchliegenden Denker, auch dieſe Solgerungen mit dem 
Eigenthümlichen feiner Dogmatif, mit der Prädeftinationsiehre, fo zu⸗ 
fammen, daß eben diefe neben jenen für uns nicht ganz unbeadhtet blei⸗ 
ben darf. Die praftifhen Folgerungen, die er dorther zog und, im 
Gegenſatz gegen den freifinnigeren Verbeſſerer Zwingli, faſt Dictatorifch 
nur allzu lange geltend machte, werben nur duch Eindringen in fein 
Lehrſyſtem begreiflih. Sie ſtehen und fallen mit diefem. Diefes Ineinan⸗ 
dergreifen des ZTheologifch = Wiffenfchaftlichen, Kirchlic) = Disciplinarifchen 
und Hierarchiſch⸗Politiſchen des Galvinismus ins Licht zu ftellen, ift um: 
fo mehr zeitgemäß, weil gegenwärtig auch diejenigen Parteiführer, welche 
als ftreng Lutherifche und ausfchliegend evangelifche gelten wollen, bie 
Calviniſchen Schriften weit thätiger, als die Lutherifchen zu vers 
breiten fuchen, fih an Galvin viel näher als an Zwingli und Mes 
lanchthon anfchließen und felbft von Luther meiſt nur das vorziehen, 
mas Calvin als abfolutiftifhe Hauptpunkte eines nach unbegreiflichem 
Gutduͤnken feftgeftellten göttlihen Weltregiments behandelt und gefteis 
gert hat, worin aber die verftändig gelehrtere und milder gebildete Denk: 
art Zwingli’s und Melanchthon's, und felbft die augsburgifche 
Confeſſion mit dem in Luthers Individualität oft prädominirenden Au: 
guſtinismus übereinzuftimmen fid) hütete. \ 
Calvins Eltern hatten für ihn, als einen jüngeren Sohn, früh: 
zeitig ein Paar Eleine Kirchenpraͤbenden zu Noyon gewonnen. 
Verwandte zu Paris machten es moͤglich, daß er dort in Studien ber 
Iateinifhen Philologie und der Philofophie ſich auszeichnen konnte. Bald 
nachher aber ftudirte er Juris prudenz unter Petrus Stella 
(P. L’Etoite) zu Drleand und noch meiter unter dem berühmteren 
Andr. Alciatus zu Bourges. Unftreitig hatte dieſe frühe Einge⸗ 
woͤhnung in das Fanonifhe Recht und in die gegen Kegereien und für. 
zantinifch = imperatorifhe Entfcheidungen über Orthodorie ſehr anmaß⸗ 
liche Geſetzgebung Juſtinians darauf vielen Einfluß, daß Calvin fpäter- 
bin, um die Kfeche als einen theofratifch vorherrfchenden Staat Got: 
tes, unter der Ariftofratie feiner”) nur fcheinbarsrepublifanifchen Presby⸗ 
ferien, zu geftalten, Neigung und Kenntniffe in fid) vereinigte und 
diefe Eünftlich berechneten Veranftaltungen nad) feinem ſchwarzbluͤtigen 
Zemperament niit juridifcher Strenge und Gewandtheit vermwirklichte. 
Frankreich hatte auf einer Eirchlihen Nationalverfammlung zu 
Bourges feit 1438 die meiften Beſchluͤſſe des bafeler General: 
conciliums (früher und flandhafter als Deutfchland) benugt, um durch), 





*) Der Einführung einer freien Presbyterials, Didcefan « und Synobalvers. 
faffung in Baiern wurde es vor einigen Sahren ſehr binderlich, daB Feuers 
bad u. 2. fie blos nad) dem allerdings hierodefpotifhen Typus der Cal vi⸗ 
nif hen Kirchenzucht betrachteten. In Baden bilft jenes Repraͤſentativſyſtem 
dazu, Geiſtliche und Weltliche im Intereffe für Kirchen: und Schulanftalten zu 
pereinigen , ohne daß fie den Binde und Löfefchlüffel dictatoriſch mißbrauchen 


192 | Calvin. 


eine: Sanctio pragmatica (vgl. Koch Sanctio pragmatica Germano- 
rum illastrata. Argentorati 1789. 4.) den uͤbermaͤchtigen Einfluß 
päpftlicher Kirchengemalt im monardiftifhen Sinn zu bämmen. Indi⸗ 
rect wurde dadurch, daB jeder ber franzöfifhen Bifchöfe in feinem 
Sprengel Einzeln gegen Andersdenkende Nachgiebigkeit bemeifen Eonnte 
- und daß auch Beſchwerden gegen Mißbrauch bifchöflicher Gewalt, nebft 
ben rechtlihen Einwirkungen der Parlamente möglich waren, eine 
freiere Bewegung der Geiſter auch über kirchliche Ges 
genſtaͤnde vorbereitet. Da duch Franz I. Begünftigung ber libera⸗ 
Ion (d. i. freiserfindenden) Künfte und fchönen Wiffenfchaften nody 
mehr ‚Seiftesthätigkeit erregt wurde und auf die Studien Michtgeiftlicher 
eine gefcehmadvollere (elegant genannte) Denkfreiheit überging, fo konnte 
die Anmendung des Selbſtdenkens und des verbefferten Sefhmads auch 
gegen das Unglaubliche und Geſchmackloſe mandyer dem Religiöfen beis 
gemnifehten Dogmatifchen und hiftorifchen Zraditionen nicht lange aus⸗ 
leiben. 

Calvins Stubdienjahre, mo er feine Vorbereitung für ein 
‚feinen Talenten entfprechendes Emportommen In Kirchenwuͤrden auf 
ausgezeichnete Kenntniffe in der Iateinifchen und griechifhen Spradye _ 
und in ber geboppelten Rechtswiſſenſchaft zu gründen fuchte, fielen ges 
rade in bie Zeit, wo Überall eine Kirhenreformation in 
Haupt und Gliedern als unentbehrlich gefühlt, von Rom 
aus aber und von roͤmiſch gubernirten Concilien (mie das zu Conftanz 
ſchon bewies) nicht zu erwarten war. Defto lichter wurde fie durch 
die philologifchen und philofophifhen Studien der Humanität aus Gries 
hen und Roͤmern beleuchtet und duch Dichter in ben Landesſprachen 
volksthuͤmlich gemacht, bis bie Hoffnung, fie verwirklichen zu Eönnen, 
auch in Frankreich, fobald Die Morgenröthe von Deutfhland 
her fichtbar wurde, ein faft allgemeines Erwachen der Kräfte und der 
Gegenträfte erregte. Auch des jungen Calvins Gemüth wurde 
von der Nothwendigkeit vieler Berichtigungen ergriffen und bald durch⸗ 
drungen. Indem er ſich zu Bourges bei Melchior Volmar, 
einem Deutſchen aus Rotweil, im Griechiſchen uͤbte, wurde er immer 
naͤher mit den Einwuͤrfen bekannt, welche Luther erſt nur gegen die 
bezahlbare Suͤndenerlaſſung und die Zurechnung aus dem Schatze uͤber⸗ 
verdienſtlicher Werke der Heiligen auszuſprechen gewagt hatte. 

Dazu hatte den auf der neuen Univerſitaͤt Wittenberg als Lehrer 
und Prediger ſeit Kurzem angeſtellten jungen Auguſtinereremiten, welcher 
ebenfalls zuerſt die Rechtskunde ſtudirte, zunaͤchſt die gewiſſenhafte Be⸗ 
obachtung der verderblichen Folgen des Ablaſſes in den Volksſitten, die 
er als eifriger Beichtvater mit Schrecken kennen lernte, bewogen. Zu⸗ 
gleich trieb ihn der Haß, welchen ihm ſein natuͤrlichguter Verſtand ge⸗ 
gen den die Theologie und alle Wiſſenſchaft verwirrenden Scholaſticis⸗ 
mus, das iſt, gegen die den gewalthabenden, beſonders kirchlichen Vor⸗ 
urtheilen dienſtbare und ſie dialektiſch verfechtende Speculation, einge⸗ 
floͤßt hatte. Er beabſichtigte, an ber dialektiſchen Vertheidigung, mit 





Galvin. 193 


welcher die Lirchlich dienſtbaren Scholaſtiker die Indulgenzen und ben 
durch die paͤpſtliche Curie disponiblen Theſaurus guter Werke zu umge⸗ 
ben gewußt hatten, durch ſeine evidenten und echt ſatyriſchen 95 Dispu⸗ 
tirſaͤtze vom 31. Oct. 1517 in dee akademiſchen Welt ein Exempel zu 
flatuiren und dem Lehren und Glauben ber [holaftifhen 
Dhilofophie auf der neuen Univerfitdt ben Herzftoß zu geben. An 
ein Reformiren in der Kirchenlehre war noch nicht gedacht. 

Erſt als die roͤmiſche Curie die: Eigennugigkeit und bie bortige 
Hoftheologie die ſtolze Unklugheit gehabt hatte, bei biefem fichtburlich 
untettbaren Artikel von den durch zugerechnete Heiligen » Verdienfte ges 
gen bie Gebühr auszugieichenden Sündenfchulden bie irrefragable Aus 
etorität des kirchlichen Lehroberhauptes; zum Schutz der Scholas 
ſtik, aufzubieten und mas bisher nur als gelehrte Meinung über den 
Ablaß gegolten hatte, durch eine päpftliche Bulle . (quinto Idus No- 
vembris a. 1518) für eine vom päpftlihen Stuhl legitimirte Kirchen» 
lehre zu erklaͤren, hatte fid) ber bis dahin gegen.ben Papſt fehr demüs 
thige und von dem verfeinerten. Mediceer, Leo X., das Feinere hoffende 
Luther genöthigt gefehen, dird,. was er beim Gebrauch des Namens 
Eleutberius *) empfand, mollftändiger zu werden und bie päpits 
liche Auslegung unbiblifcher Dogmen nicht laͤnger als authentiſch zu 
reſpectiren. 

Eben dadurch war er zum Aufſuchen anderer dogmafifcher Sige 
für die fo unentbehrlich fcheinende Mechtfertigung vor Bott durch 
ſtellvertretende Genugthuung gedrungen. Und da Luther, ſich dabei, 
vermöge feiner Erziehung in einem Auguſtiner⸗ Orden, vornehmlich an 
des großen antipelagianifchen Kirchenvaters, Auguftinus, nicht mora⸗ 
liſch, ſondern juridifh .modificiete.Shearien von Zureds 
nung der Erbfünde. ſowohl, als der. abfoluten Gnade 
Gottes hielt, fo veranlaßte dies auch ben Calvin, in Allem, mas 
mit bee Prädeflinationsicehre zufammenhängt, mit dem individuellen 
Auguflinismus Luthers rigoroſer zufammenzuftimmen, als es in ber 
Folge bei den Lutheranern. Deufſchlands ſymboliſch und kirchlich ortho⸗ 
Dog geworden iſt. 

In Frankreich wird nur allzu oft das Religiöfe, wenn auch nur 
um Schein, in bie pofitifchen Aufregungen biefe& leicht beweglichen 

olks gemiſcht. Geſchieht dies, ſo wird, weil die an aͤußern von 


*) Wie Luther Thon 1517, 1518 fi gern und carakteriſtiſch als Frater 
Martinus Kleutherius unterzeichnete, f. in meiner aaben. „Gedaͤchtnißredt 
uͤber den Urſprung der Retormation aus Wiſſenſchaft und Gemuͤth, nebſt 
Sammlung der auf Luthers Anmefenbeit a Heidelberg ſich beziehenden Urkuns 
den”. (Heibelb. 1817. 4.) ©. 9. biefer Darftellung ft 3 vage 
ezeigt, wie vieles von dem Wefeatlicen Kine — on aus 
* hen vorher gluͤcktich begonnenen Kampf gegen den Scholaf eidmus 
hervorging und wie er beöwegen auch in ber Geſchichte der ae 
als negativer, praktiſcher Reformator wnvergeffen 
Staats⸗Lexikon. ILL. 


194 Ga'vin 


des Cultus. als an eine Mobefache fi gewoͤhnende Mehrzahl der Nas 
tion eine glänzend figuritende Hierarchie gern anflaunt, jeber Verſuch 
einer prunkloſeren Reltgtonsform nur: von den fentimentalen Freunden 
einer einfacheren Gottandaͤchtigkeit mit flillered Begeiſterung geliebt, von 
der unbefrwdigten Menge aber nicht blos mißgeadhtet, fondern auch alls 
zu oft mit. rohem Widermillen zurüdaeftogen. Margaretha von 
Valois, die 'Anzige Schweſter Könige Franz I., bie 1525 an den 
Herzog von Alencon, 1527 aber an den König von Navarca vermählt, 
war durch ihre Geiſteskraͤfte eine fähige Freundin neuer Forfchungen 
und unbeſchraͤnkteret Einfihten.. Sie, die Verfafferin bes Heptaeme⸗ 
ton, wurde doch auch eine mißbegierige Leferim ber Bibel, ließ fich 
geen wegen ‚ber: Räthfel über Gott und Seelenunſterblichkeit in Reli⸗ 
gionsgefpräche ein und beförberte bie. für Philofophie und Geſchmack 
förberlichen Studien. Auch ber ‚Lehrer des ‚Calvin (und Ben), Wol⸗ 
mar”), melcher insgeheim Eutheraner ;gerorfen fein foll, war durch fie 
als: Profefior dee griechiſchen Sprache nach Bourges gelommen. Und 
durch diefen wurde der zur Kirchenreformation geneigte Calvin auch ihr 
bekannt, während bereits. bie Sorbonne, ale pebantifcye Vertheidigerin 
hergebrachtee Lehrmeinungen, und nody mehr bie mächtige Hofmagnaten⸗ 
partei’ der Guiſen, nach dee Macht, den Regenten zu regieren, tradhe 
tend, in dem Vorſatz, den der Reformation in Staat und Kirche erge 
denen Theil des Adels und ber Gelehrten im Namen Gottes zu vers 
folgen überinfimmie =: ou... | 
Schon von · Bourges aus. hatte Ealvin Im benachbarten Linerie 
akatholiſch geßredigt⸗·Nach des Vaters Tode ‚ging er nad) Paris 
und machte fuͤr ſſich! efere. theologiſche Studien auch durch. das He 
Bräifhe und die: aͤlteten Kirchenvaͤter. (Kenntniß des Syriſchen fcheis 
nen feine Lobredner ihm, wie man aus. dem Schluß feines Commentars 
oe er Pu Bu :. 3 .. se) 
- + . . 
9 Crusius’ in Annallom Suericorum Dodscs IM. (Francof. 1596. fol‘) 
bemertt L. IX. p. 508. zum Jahre 1497: „Natus est Rotrilde Melchlor 
Volmarisd, Stadiis etlani Pasiis üperam dedit. lauter. centem ma- 
gistros desigmatos primum loosm obtinuit, _ Doctor juris evasit. Graece 
et latine Tubingao docuit. Tandem Isnam .profectus ibi 1561 obiit. 
3um Sahre 1556 bemerlf L. XII. p. 697.: „Melchior Yolmartüs Rufus, 
qui graecas et latinas literas pro decentis florenis per annum docuerat utili- 
ter senis ınorbisque confectus, missionem petens a Benatu Academico, conm- 
aecutus est .decretis liberaliter ei, ut optime de schola merito, in 
religuum vitde tempus quotsnnis centum florenis.“ Galvin bebicirt Ihm Gene- 
vae, Cal. Augusti 1546, feinen Commentar zum 2. Brief an bie Corinthier, 
als einem, von dem radimentis (greecae Hnguae) fıri imbutus, quae mihi ma- 
jori posten adjumento forent, mit bem Beiſat, daß 8. ibn wohl weiter ges 
führt haben wuͤrde, wenn nit der Tod von Calvins Vater das Stubium un: 
terbrochen Härte. Davon, daß Calvin, wie Moreri behauptet, durch Volmar zu 
akatholiſchen Weberzgeugungen veranlaßt worden fel, ift in bem ganzen Son 
Viefer 2 ion keine Epur. Sollte dies mır aus Vorfiht, um Bolmar kei⸗ 


ner Wefahe Yubgäfegen , fo ganz umgangen worden Tein ? 





Saloin. 196 


über ben erfien Brief an die Corinthier”) folgern muß, zu freigebig zuzus 
ſchreiben ) Da der nur durch Tradition und patriflifhe Auctoritaͤten 
gegebene Xheil der Kirchenlehren durch bie Früchte, welche fie. trugen 
(durch Her:fchfucht des hohen und Genußſucht des niedern. Clerug, 
duch) Verwandlung der Religiofität in Ceremonienweſen, durch leichte, 
bezahlbare Sündenvergebung u. bgl.), ſich allgemein verdaͤchtig machte, 
0 begriffen die Selbſtdenkenden wohl, daß fie, um zu dem urfprüngs 
ichen Zweck und Inhalt des Chriſtenthums ben Weg zurud zu, finden, 
fi unmittelbar an das Bibellefen halten müßten. Noch allzu wes 
nig aber konnten auch die Aufgeregteften bemerken, mie viel, ber anges 
wohnten, laͤngſt geheiligten, Vorurtheite fie zu ihrem Bibelleſen mite 
braten. Daß Ablaß, Vertrauen auf Heiligennerbienft, Werkheiligkeit 
ohne Heilgung der Befinnung, daß eine Oberherrfchaft der roͤmiſchen 
Mutterkicche mit all ihrer weltlichen Geftaltung nicht in bem Bibel 
wort zu finden fei, war leicht klar. Was aber follte an. die Stelle ber 


zu muͤſſen meinte, a 
harffinn., Beredtſamkeit und Eifer machten ihn, den Juͤngling, 
auch zu Paris, bald fo ausgezeichnet „ daß die. Verfolger. ſchon jegt, jhy 
gefährdeten. Gegen biefe Eonnte es wenig wirken, daß er, vierund⸗ 
swanzigjährig, 1533 ‚feines Leblingsqutors, Seneca,. Schrift de 
Clementia gefhmadvol commentirte. Zwiſchen diefem Jahre und 1536 
iſt er unſtaͤtt, bald zu Paris, bald auf der Flucht nach Baſel, bald 
als Tamilienlehrer auf dem Lande, FE 
oa Straßburg aus spendete er ſich burd) den xrſten (leider! 
in fei. :e erſten Geflalt night; mehr befannten) Entwurf. feiner 
institutio ehristianae religionis, als Apologet an den feiner gebilbeteg, 
aber entnervten und endlich doch bi zum Kegerperhrennen pfaͤfftſch 
bethoͤrten Franz I., um die damals gebrauchte diplomatifghe Ansfluht, 
wie wenn man nur Wiedertaͤufer und, Schwärmer als, Hugenotten 
nn VER are Be ’ 2 Fr 
u tn BE 
®) Mer nicht wußte, was Matän atha bedeute, iiuß nö Eyktfähen niähel, 
und ER ſich Fa ‚daß — ſoviel er Fran fei, 
vom Hebraͤiſchen wenig verſtanden haben, Calvin deutet uud alles orlentatiſch 
Gedachte nach occidentaliſcher Vuchſtaͤblichkeit. wa 


196 ‚ Calyvin. 


verfolgte, dadurch abzuſchneiden, daß er In feiner die mitelalterlichen 
Dogmen kurz und trefflich widerfegenden Präfation, und-dann durch j 
eine berebte und logicalifch confequente Darftellung feine im ſtrengſten 
Sinn antipelagianifchen Religionfüberzeugungen den Berfolgern vor 
Augen ftellte. 

' Mir bemerken biefe Bebenserfahrungen, welche Calvin fo frühzeitig 
machen mußte, weil ed um fo auffalfender und faft unbegriflich wird, 
idie ein ſelbſt fo vielfach verfolgter Heterodore bald nachher felbft zum 
winerbittlichen Verfolger bdeffen, was ihm ketzeriſch fehlen, werten konnte. 
Dahin führte die unglüdlih anmaßlihe, bucdy Temperament und Dias 
lektik hervorgebrachte Selbſtuͤberredung von alleinfeligmachendem Rechtt 
haben über die, fubtilften Lehrgeheimniffe. Beza, Talvins Geiſtesver⸗ 
trauter, meint in deſſen Lebendbefchreibung (f. Melch. Adami  vitae 
theologor. exterorum. 1653. 8. p. 67.): „König Franz I., viel beſſer 
als feine Nachfolger, ein Gelehrtenfreund- und fcharffi nniger Beurthei 
ter, hätte durch Calvins Zufchrift Überzeuge werden müffen, wenn 
des Königs und ber franzöfifhen Nation Sünden, bei 
nen fhon der Zorn Gottes nahe ‚gewefen, es zugelaf 
{en hätten, daß er, der König, jene Vorftellungen hörte 
oder las.“ " Mur, wer bergleichen abfolutiffifche Prädeftinationdbegriffe 


ins Leben überträgt, kann voraudfegen, daß, was feine Verfolger thal 


ten, fie zu ihrem Verderben thun mußten, baß aber, was er, det 
durch die abfolute Gnadenwahl Gottes einmal Auserwählte, alfo Alleins 
rechthabende, thue, ebenfo ein nothwendiges Werk ſeiner Vorherbeſtim⸗ 
mung zur Seligkeit fein müffe. 

Der verfolgte Calvin flüchtete ſich endlich nach Oberitalien zu 
der dem freiforfchenden Geifte des Proteſtantismus geneigten Herzogin 


von Ferrara, der Tochter Ludwigs XIL., fühlte ſich aber auch dort nicht 


ange behaglich und in Sicherheit. Er wollte über Genf nah Bas 
fel und Straßburg zu dem mild wirkfamen Bucer zurüdtehen. Zu 
Senf lehrten Wild. Farel und Peter Viret feit Kurzem im 
Sinn bed Proteflirens gegen unbiblifche Kircheneinrichtungen. Farels 
Scharfblick entdeckte in dem blos durchreiſenden Calvin einen Mann, 
der ein tuͤchtiger Mitarbeiter fuͤr dieſen Zweck werden koͤnnte. Da die⸗ 
ſer dennoch weder zur Annahme einer theologiſchen Lehrſtelle noch zum 
Predigtamt ſich bereden laſſen wollte, ſo erſchuͤtterte ihn endlich, nach 
ber herriſchen Art der Gläubigen jener Zeit, Farel duch ben Zuruf: 
„Se nun, wenn bu alfo nur dich und beine freien Stubien vorziehft 
und nicht "Mit uns für das Werk des Herrn arbeiten willft, 'fo ver 
tündigeih dir im Namen bes allmädhtigen Gottes, daß 
er den, welcher mehr fi felbft, als den Herrn Chriftus 
ſucht, verfiunhen wird!" Durch diefe Donnermworte ergriffen, 
wurde Calvin von nun an (feit dem Auguft 1536) nicht nur der 
eigentliche vorherefchende Meformator in der freien Stadt Genf, fondern 
auch ber Geiſtiggewaltige, durch welchen in die zwingliſch freiere refors 
mirte Kiechengefellfchaft nicht allein ein Altes vorberbeftimmender, berr- 


Galvin 197 


fcherifcher Abfolutismus Gottes, als Dogma, fondern auch eine res 
publikaniſch fcheinende, aber in der That aͤußerſt oligarchifche Kirchen> 
zucht mit einer von furchtbaren, weltlihen Folgen nicht trennbaren 
Ercommunicationsgewalt der Kirchenobern eindrang. Mit ‚mehrereri Gans 
tonen wurden darüber von Genf aus Unterhandlungen eingeleitet und 
diefe Dinneigung zu einem Paftorale Dominat wurde je nach der 
Empfängichkeit verfcjiebener Gegenden mehr oder minder dominirend. 

Calvin entwarf eine Formula christianae doctrioae und einen 
kurzen Katechismus und brachte es damit als Lehrer an der Hochſchule 
und ale eifriger Prediger fo roeit, daß gegen Ende feines erften jahres, 
den 20. Juli 1537, in einer feierlichen allgemeinen Berfammlung Ses 
nat und DBürgerfchaft nicht blos der Papſtmacht abſchwor, fondern 
auch dagegen einen kurzen Entwurf dee chriftlichen Lehre und — Kirs 
chenzucht eidlih ale ein Grundgefeg annahm. Kaum hat 
der Menſch Feſſeln zerbrochen, fo erkünftelt er abermals welche für 
Andere und verwidelt fid) zugleich felbft wieder in diefelben I 

In folhen Zeiten, wo das Alte nicht mehr um ber Herkoͤmmlich⸗ 
beit willen verehrt wird, vielmehr des Irrthums in wichtigen Punkten 
verdaͤchtig und übermwiefen tft, entfteht fehr natürlidy viel Mißtrauen 
gegen alles Hergebrachte. Jede auch unbedeutendere Weberlieferung 
und Angemöhnung wird mit übertriebenem Eifer bezweifelt, bis fie 
entweder neubegründet fi, geltend machen kann, oder ber Streit das 
gegen bald um feiner Unmichtigkeit willen, bald wegen ftillfchweigend 
zugelaſſener Berichtigungen einfchlummert. So nahmen viele an ber 
Kindbertaufe, welche von ben Reformatoren beibehalten wurbe, faft 
ebenfo großen Anftoß, als an der päpftlihen Dermeigerung bes Kelchs 
im Abendmahl. Man nannte fie mit Unreht Wiedertäufer; denn 
fie tauften nur einmal, meil fie das Taufen derer, die noch nicht 
glauben könnten, nicht für eine facramentlihe Taufe anerkannten und 
daher erft in Jahren, mo ein durch Gründe befefligter Religionsglaube- 
möglich ift, taufen wollten. Unrecht hatten fie wohl nicht, fo lange beide 
Theile nicht von der Vorausſetzung ausgingen, daß die Taufe auch als 
eine feierliche Aufnahme und Einweihung fuͤr die Chriſtengemeinde 
zweckmaͤßig ſein koͤnne, ſondern dabei ſchon ein wirkliches religioͤſes 
Glauben in dem Taͤufling noͤthig ſein ſollte. Daß ein ſolches Glauben 
bei dem Taufen der Neugebornen ſtattfinde, konnten Manche ſich ice 
denen und daher den Pädobaptismus nicht für eine facramentlidye 
Taufe halten, weil fie die myſterioͤſe mittelalterliche Meinung, als ob 
durdy das Sacrament ſchon dem Kinde ein ſeligmachender Giaube und 
heiliger Geiſt eingegeben wuͤrde, als einen der Natur der Sache ent⸗ 
gegenſtrebenden Ueberglauben erkannten. 

Gegen ſolche Anabaptiſten nun, welche uͤberhaupt auch manche 
andere myſterioͤſe Fiction der Patriſtik zu bezweifein ſich bie. Freiheit 
nahmen und dafuͤr den Hang der Menge zum Geheimnißglauben gegen 
ſich hatten, war es für Calvin nicht ſchwer, die Volksmejinung zu 
Genf und anderswo für fi zu haben. Auch gegen Moderantiften, 


198 Calvin. 


Milobemiter genannt, welche im Herzen andersglaͤubig fen und 
doch den Cultus der alten Kirche, gegen welchen Calvin als gegen 
Idololattie ſchrieb, mitmachen zu dürfen behaupteten, mujte er um 
dieſe Zeit Teiche obfiegen. Aber anders war der Kampf gegen bie 
natuͤrlichen Feinde feiner rigoroſen und Alles der kirchlichen 
Presbyterialgewalt unterwerfenden Kirchendisciplin und geiſtlich 
(nicht blos geiſtig) ſtrafenden Sittentenſur. 
Sehr Necht hatte unſtreitig Calvin, wenn er darauf beſtand, daß 
die Stadt nicht nur gegen antichriſtiſche Lehre, ſondern euch auf 
chriſtliches Leben und Sittenzücht geſchworen habe. Immer 
aber verwirrte er ſich hier durch das Vermiſchen des Moraliſhen und 
des Juridiſchen. Dieſes, das Juridiſche, als Pflicht und Recht, Unrecht 
durch Strafen zu verdrängen, geht die aͤußere Geſetzgebung an und 
betrifft die Stantsobrigkeit, welche Ausbruͤche der Unfittlichkeit, mie fie 
Außerlich beobachtet und abgeurtheilt werden innen, durch äußere 
Mittel theils verhüten, eheils durch Strafzwang bei ben Thätern und Ans 
den zurüddrängen fol. Die Moral und Religion dagegen will Geis 
ſtesrechtſchaffenheit. Ste hat die Thaten nicht durch irgend eine Art 
von Zwang, fondernburcd überzeugende Erregung der Willig- 
keit für das Nechte und Gute, alfo durch innere Motive eins 
bringlicher Belehrung und erziehender Ermahnung in der Wurzel 
in beffern. Der Gott des Chriftenthums will nicht Handlungen 
—*8& ohne Ueberzeugung und ohne die der Ueberzeugung getreue 
Geſinnung. Im wollenden und denkenden Geiſte will er verehrt fein. 
Caſlvin vermengte Beides und unternahm es, auch ein aͤußeres 
Strafamt zur Sache der Religioſitaͤt und zur Aufgabe 
der Kirhenobern zu machen. Diefes drohte auf’s Neue ben 
menfchlihen Hang zum Herrſchen in ben: Gemüthern derer, welche 
allen Lehrer fein follen, zu erwecken, feheinbar zu legitimiren und fos 
ae unvermerft eine Art von Inquiſition in den proteftantifchen Lehr⸗ 
—*— einzufchieben, kurz: neben der Macht über die Gewiſſen auch 
eine Zwangsgewalt, und zwar eine unermeßliche, im bie Hände ber 
Meesbyterialen zu legen. 
Calvin regulirte wohl in ganz guter Abficht die ſpeciellſte Sitten⸗ 
benbachtung durch die Presbpterien, daher Vorforderungen nicht blos 
Ermahnungen, fondern auch zu richterlichen Verweiſen und Bedro⸗ 
ungen und ſodann ein von diefen Kirchencenforen decretirtes Abweiſen 
vom Sacrament des Leibes und Blutes Chrifti, ja fogar ein Ausfchlies 
Ben aus der ganzen Kirchengemeinſchaft. Diefe Abfchrediungsmittel gegen 
Gittenverderbniß anzuwenden, hielt Calvin für Pflicht der Kirche und 
ihrer Vorftände, fo daß er fie in den Kirchenftatuten fanctionirt ſtreng 
zur Ausuͤbung bringen ließ, «ber eben dadurch Viele zur Gegengemwalt 
reizte und feine ganze Wirkſamkeit auf’s Spiel fegte. Sein Charakter 
war: aut sim, ut sum; aut non sim. 
Allerdings hatte ee für fih, daß bie erften Chriſtengeſellſchaften 
anerkannt Laſterhafte von ihrer- Gemeinſchaft weg s- und in die übrige 


Salvin. 199 


weltliche Geſellſchaft hinauswieſen, ja daß man dieſes Ercommunis 
ciren ſogar als ein „Hingeben an den Satan” (1 Cor. 5, 2—5.) 
ausſprach, meil jede der neuen Gemeinden fih ale einen heil des 
Sottesreiches Jeſu, des Meſſias, anfah, den offenbar Laſterhaften aber 
als einen Sklaven bed Satans, des eigentlichen „Antimeſſias“, betrach⸗ 
tete. Man konnte demnad) diefen als einen Unterthan des ſataniſchen 
Reichs dem Zuſtand, den er ſich durch feine Thaten gewaͤhlt habe, 
hinzugeben folgerichtig denken. Damals aber war dies Alles doch nur 
ein Mittel der Chriſtengeſellſchaft, von Jedem, der ſich notoriſch als 
Unchriſt betrug, ſich um ihres eigenen guten Rufs willen zuruͤckzuzie⸗ 
hen und wohl auch durch die aͤußern ſchlimmen Folgen (1 Cor. 5, 5.) 
auf fein Gemuͤth einen erfhütternden Eindrud zu machen. Das Vers 
haͤltniß der Cheiftianer zum übrigen Staat aber war noch nicht fo, 
daß der von Ihnen Ausgefchloffene dadurch in feinen flaatsbürgerlichen . 
DVerhältnifien Schaden leiden mußte. ‚Schr viel anders ift dies, mo 
Staat und Kirche zugleih aus einerlei Mitgliedern beftehen und alfo 
der Ausgewieſene in aͤußere Machtheile verfegt würde, dußere Nach⸗ 
theile aber nur duch richter liche Unterfuhungen juridifch aufers 
legt werden dürfen. Das von Calvin eingeführte Zuruͤckweiſen 
von der Abendmahlsgemeinfhaft hat ohnehin auch das Urs 
riftenthum nicht vom Urtheil der Gemeinde ‚oder ihrer Vorſteher ab» 
bängig gemacht, vielmehr ausdruͤcklich, nah) 1 Cor. 11, 28., der eiges 
nen Prüfung, alfo dem Gewiſſen, ‚überlaffen. Gerade darauf aber 
bielt Calvin mit feinen Rigoriften, daß er als Lehrer und Sitten: 
beobachter das Abendmahl des Heren denen von ber Kirchenzucht fi ch 
entfernenden Mitbuͤrgern durchaus nicht gewähren koͤnne. 
Genf war damals gerade noch in auffallend großer Sittenzerrüts 
tung aus der Zeit der viele Familienzwietracht ftiftenden Kriege mit 
Savoyen und ber pfäffifhen Uebermacht. Calvins Strenge erfhien ale 
den Umftänden noch allzu wenig angemefjen. Die Gegenparthei, den 
Syndicus (die jährlich wählbare hoͤchſte Magiitratsperfon) an ihrer 
Spitze, bewirkte 1538 durch eine Bürgerverfammlung ben Beſchluß, 
dag Calvin, Farel und Corald innerhalb zwei Lagen die Stadt zu 
verlafien hätten, weil fie das Abendmahl zu halten vermweigerten. 
Dennoch fiegte Calvins Standhaftigkeit. Nicht nur fand er fos 
gleich bei dem Senat zu Straßburg an der Seite von Bucer, Gapito, 
Hedion, Niger, eine alademifche Anftellung und die Gelegenheit, eine 
franzöfifche Kirchengemeinde nach feinen Disciplinar » Grundfägen dort 
zu fliften, durch Widerlegung des Cardinals Sadoletus, eines berebten 
Vertheidigers der Mittelalterskirche, zunaͤchſt den Genfern und durch 
andere Ausarbeitungen allgemeinhin zu nuͤtzen, auch 1541 auf den Re 
Ügionsconventen zu Worms und Megensburg perfönlich zu wirken und 
auf Melanchthon, deſſen Milde er zu benugen verſtand, einen allzu 
impofanten Eindruck zu machen. Sogar ben Genfern felbft ſchien der 
beharrliche Mann fo unentbehrlich, daß fie Alled anwenbeten, bis er ben 
43. Sept. 1541. wieder zu ihnen Jin. feine. frühen Aemter zurückkehrte, 


200 Calvin. 


nunmehr aber natuͤrlich mit noch weit groͤßerem und uͤbermaͤchtigem 
Anſehen einwirkte. 

Er ſelbſt hatte indeß durch Auslegung bes Briefs an bie Römer 
und durd) weitere Bearbeitung feiner Inftitutio ober Glaubensichre fich 
noch tiefer in feine eiſerne Prädeftinationglehre hineinverſetzt 
und ihr zugleich eine gewaltige Wirkfamfelt auf ben Staat‘ und das 
Leben vorausbeftimmt. Denn Calvin war der Mann, in welchem feine 
Theorie unaufhaltſam in Praxis überging. Sein Gott, zu dem ſich 
ber Geift Calvins gerade nad dem, was er nad feinem Maßſtab 
für Vollkommenheit hielt, erhob, hat von Ewigkeit nicht blos bie frei⸗ 
willige Set fibeflimmung und Thaͤtigkeit aller wollenddenkenden Weſen 
und das Dafeln aller für fie nöthigen Mittel gewollt und vorhers 
gefehen. Der von Calvin feinem eigenen Charakter gleich gebadhte 
Gott follte abfolut aus ſich felbft und nur um feiner felbft willen einen 
Weltplan, eine alles Große und Kleine umfafiende Vorherbeſtim⸗ 
mung feflgefegt haben. Er ließ fodann jenen Abfoluten alle bie 
Kräfte und Weſen, welche biefes unermeßliche Drama vollbringen ober 
ins Unendliche fort durchfpielen follten, nicht nur erfchaffen und im 
Thaͤtigkeit verfegen,, fondern auch fo ftellen, daß alles Gute, was fie 
wollen und vollbririgen, einzig das Merk feiner Gnade fei und von 
ihm komme, alles Böfe aber und das Uebel entflehe, ſobald die Wol⸗ 
lenden nicht unbedingt feinem Willen und Gebot gehorchten. Dffenbar 
ift nie ein mehr durchgreifender Abfolutismus als theologifchee Ideal 
aufgeftellt worden, 

Das Specielle davon zu prüfen, waͤre hier nicht an der Stelle, 
Hier fol nur im Allgemeinen eine Andeutung gemacht werben, ‚daß, 
wenn ein folches vorherbeflimmtes Schoͤpfungsdrama zu denken wäre, 
‚alödann bas deal eines Gottes darin beftehen müßte, daß ebenderfelbe 
allumfaftende Geift vorerft all da6 unendliche Schaufpiel ewig nicht nur 
vorherwüßte, fondern auch felbft nach feinen Heinften Zheilen zum Vor⸗ 
aus unabaͤnderlich beflimmte, alsdann bie‘ fpielenden Werkzeuge alle 
verwirklichte, unaufhoͤrlich in Kraft erhielte und zur Aufführung des 
Vorherbeftimmten in unabänderlihe Ordnung und Thaͤtigkeit verfegte, 
alfo eigentlich ſelbſt alle Rollen bewegte, zugleich aber von Ewigkeit zu 
Ewigkeit der allgegenwärtige Zufchauer des vorhergemußten und gemolls 
ten, immerfort felbft zu machenden und nie zu beendigenden Meiſter⸗ 
ftüds fein : müßte. - Unftreitig iſt es den Theologen darum zu thak, 
der Gottheit alles denkbare Vollkommene zujufchreiben. ‚Aber dergiels . 
chen undenkbare Phantafiefpiele entftehen, wenn der nur allmdlig den⸗ 
kende Menſch das, was für ihn in feiner Unvolllommenheit eine relative 
Vollkommenheit ift, naͤmlich die DVerflandestraft, Pläne zu machen, 
die Entwidiungen vorzubereiten, mitzuwirken und dem Gelungenen zu 
applaubiren, mit einem Wort, das Teleologifiren, auf den wahr⸗ 
baft vollkommenen Geift überträgt, beffen Einwirtungsart nach keinem 
menfhlihen Maßſtab zu meſſen fein kann uud gewiß, wie es auch bie 
allgemeine Erfahrung nicht anders bemerken läßt, allam Seienden die 





. Galvın, 201 


Jedem gene Kraftthätiakeit eher fichert, als fie befchränkt und In bie 
Uniformität eines auch für alle Geifter präftabilirten Typus einzwingt. 

Uns iſt, fire den finatsrechtlichen Gefichtspunft, Calvins unbedingte 
Praͤdeſtinationslehre ober theologifcher Abſolutismus zunaͤchſt deswegen 
denkwuͤrdig, weil er natürlich, da er ſich für ein Werkzeug biefes zur 
Gnade oder zur ewigen Verwerfung abfolut becretirenden Gottes hielt, 
auch [eine Kirhengefesgebung dieſem Mapftab gemäß vorhers 
beftimmte und durchzufegen fuchte. Darauf aber mußte dann audy 
noch fine Theorie über den Menfhen und deffen totale 
Verderbniß großen Einfluß haben. 

Dem von Gott gefchaffenen erſten Menfchenpaar ſchrieb zwar 
Galoin, wie er meinte, zur Ehre Gottes ein fo herrliches Ebenbild ber 
Gottheit zu, daß es nur unbegreiflich würde, wie eben daſſelbe dennoch 
ein fo leichtes Verbot ihres fo freundlich anfchaubaren Schöpfere und 
Wohlthaͤters fo einfältig hätte Üübertreten koͤnnen. Aber all jene Vor⸗ 
trefflichkeit der der Menfchheit zuerft anerfchaffenen Kräfte wirb in dies 
ſem Lehrſyſtem nur deswegen fo hoch vorausgefegt, um deſto entfegfi= 
her darzuftellen, daß durch eine einfältige Eiferfuche auf ihres Gottes 
Weisheit und durch den Einen, freilich ganz kindiſch egoiftifchen Appes 
tit, fo verftändig mie Gott vermittelft bes Effens einer Frucht werden 
zu koͤnnen, alle Kräfte nicht nur der zwei Effenden, fonbern ihrer 
ganzen Nachkommenſchaft in lauter Verkehrtheit zum Böfen und Gott« 
widrigen verwandelt worden fein, weil nämlich noch die gefammte 
Menfchennatur in dem Einen fo herrlich ausgeftatteten, aber der uns 
glaublichen ‚Verführung fo unverftändig ſich hingebenden Menſchenpaar 
zufammengefaßt und enthalten geweſen fi. Da Calvin nun einmal 
die Verdorbenheit vieler Zeitgenoffen und die an ſich unleugbare Erfahs 
rung, daß der Menfh fih zum Böfen leichter als zum Guten ents 
fhließe, von einer uranfänglihen Zerrättung der ganzen, kaum vorher 
von Gott vortrefflid erfchaffenen Natur der Menfchheit ableitete und 
dann diefe Erbfündhaftigkeit mit der abfoluten Prädeftinationstheorie 
fpisfindig genug in Verbindung brachte, fo find uns diefe Blicke in 
feinen dialektiſch ſpeculativen Verftand deswegen bier unentbehrlih, um 
nad) dem pfochologifchen Zufammenhang Bar einzufehen, wie er, da 
jene Xheorie nun in ihm mit einem fo ernften, durchgreifenden Chas . 
rafter und ſtarkem Selbftgefühl verbunden war, zu Genf zu all jenen 
Mafregein ausgerüftet erfchien, mittelft der Kirche eder im Namen feis 
nes abfoluten Gottes alle die, welche ſich überhaupt ber Presbpterials 
und Synodalgewalt hingegeben hatten, wie Unmündige durch die puͤnkt⸗ 
lichſte, in das Privatleben eindringende vormundſchaftliche Sittenzucht 
gleihfam zu bändigen und zu dieſem Kirchenzweck audy die Staates 
obrigkeit nur als folgfames Mittel für Strafvollziehung gebrauchen zu 
wollen. Waren einmal alle Menfchen nicht etwa deswegen, weil 
Leichtfinn und Schlechtes zu treiben viel leichter und näher iſt als 
Vorbereitung, Anftrengung und Gewoͤhnung aller Kräfte fir das 
ſchwererzu erreichende Bleibendgute, zum Boͤſen gemeigter, war, in 


2302 Calvin. 


Calvins theologiſcher Metaphyſik die an ſich unlaͤugbare Vorneigung: zu je⸗ 
vem Leichteren und die Luft Befriedigenden eine geerbteMaturterdor: 
benheit, welche anders nicht ale durch Gottes unmittelbare Gnadmmacht 
bei denen, die er abfolut zur Befferung und zum: Seligwerden außrmählt 
bat, geiftig wiederhergeftellt und gefund gemacht werden kann, fo iſt 
es dann wohl Pflicht für die Vorſteher dee Kirche Gottes, daß fie. als 
firenge Pädagogen dahin mit all ihren dufern und innern Witteln 
wirken, damit jenen Einflüffen der fonft oft ſich ſchnell zurüdziegenden 
Gnade weniger mwiderflanden werde und auch die von Gott abfolut Mes 
probirten oder der Schlechtigkeit und Verdammniß Ueberlafjenen doch ben 
Begnadigten weniger Aergerniß geben koͤnnen. 

Zweckmaͤßig aufs Aeußerſte gefteigert wurden in ber Eicchlihas Be⸗ 
redtfamkeit die Schilderungen dee &runbverdorbenheit bes menſchlichen 
Herzens. Schauerlich wurden befonders auch die furchtbarften Darſtel⸗ 
lungen, wie piöglich der Zorn Gottes alle Gnade unerbittlich abwen⸗ 
den Eönne und, ſowie die oben angeführte Stelle über Kranz 1, ein 
Beifpiel gibt, den Reprobirten fogar gegen die nahen Bekehrungsmits 
tel unzugdnglih made. Alles dies follte die Untermürfigfeit unter 
Galviniftifche Kirchendiseiplin um fo unvermeidlidher aufnöthigen. Haft 
unerträglihh aber mußten die dußern Beſchraͤnkungen werden, welche 
Calvin aus feinem Spftem zum Herifchen des Kirchlichen über . das 
Häusiihe und Bürgerliche ableitete. | 

- &chon ‚den 20. November 1541 murde zwar feine Kirchenpo⸗ 
Iizeiordnung von Senat und Buͤrgerſchaft als „das Joch des 
Herrn“ zum Stadt» und Staatsgeſetz gemacht. Aber bie, welche er 
als Mitvolizieher am meiften gewuͤnſcht hatte, die Prediger Farel 
und Viret, blieben bei andern Gemeinden, jeger zu Neuburg, diefer zu 
Laufanne, zwar noch als Calvins Freunde, aber doch mohl feiner nahen 
Webermacht Äberdrüffig. Kein anderer Ausgezeichneter blieb neben ihm. 
Wer gegen ihn war, bekam entweder als Anabaptijt ober als Li⸗ 
bertiner das Anathema. Die gewöhnlichen Ehrentitel, die er in ſei⸗ 
nen, übrigens gut gefchriebenen lateinifchen Polemiken austheilte, waren 
„wiberbeilenbe Dunbe, eber Nebulones“. Mußte body, wer gegen itn 
und Gott war, unfehlbar zur ewigen Reprobatien präbeflinirt fein. Die 
Aufteisung war fo beftig, daß 1545 die Meinung ſich verbreiten konnte, 
sie wenn eine entftandene Seuche dadurch bewirkt wäre, daß ber Bas 
tan dem Poͤbel eine Verſchwoͤrung eingehaucht habe, die Däufer mit 
vergiftetem Schmuz zu beſtreichen. Man entbedte biefen Gatansipul 
durch Foltern und ſchickte dann die Gemarterten durch ben Denker auf 
ewig in bie Hölle. Keine Reinigungsweiſe bleibt im abfoluten Praͤde⸗ 
flinationismus confequenter. So fehr dreht ſich das Staatsrecht nach der⸗ 
gleichen theoretifchen Phantafien. Nebenbei aber wurde im theologifchen 
Federkampf nie Stillſtand gemacht. Wie um ber Serien Heil willen 
mmete wegen eines Woͤrtchens vom Abendmahl, bas Jefus nicht beſtimmi 
hat, oder wie man dor dem Mechtfchaffenmwerben vor Gott gerechtfertigt 
fein müffe, ober Aber. die, boch ohnehin verlorne, Wulensfeeiheit, aber 


Galvin. 203 


barüber, > benn bie Adiaphora wirklich gleichguͤltig (adiaphorifch) felen x.; 
disputirt ‚gefchrieben, Conferenz gehalten werden, und wenn dann zu 
Genf od Bern eine Slaubensformel im heiligen Geiſt und aus dem 
allmälig einer felbft bewußtwerdenden chiftlihen Bewußtſein decretirt 
war, fo and man dies als fehr evangelifch = chriftlich, ſchalt aber zu glei⸗ 
her Zei darauf als auf eine antichriftifche Anmaglichleit, wenn zu Pas 
eis dbieBorbonne auch ihre Glaubensartikel ald Vorfchrift promulgirte. 

Vn all dieſer Vielchätigkeit und Ercommuntcations » Gewalt mar 
nichts Rderes die Folge, als daß der genfer Buͤrgerſtaat immerfort in 
ſtiller nd heftiger Unzuftiedene getheilt war, baß ein Hauptgegner der 
Calvini hen Kirchenzucht, Perrin, bald durch die Volksſtimme (1546) 
zum Oneralcapitain gewaͤhlt, bald aber (1547) aus dem Senat geftos 
Sen wude, in welchem ſchon bie Parteien bie Schwerter gegen einander 
zogen, unb bie bazmifcheneilenden geiftlihen Deren, mit Calvin an ber 
Spitze kaum ein Blutbad unter den Vätern des Vaterlands verhindern 
fonntn. Dennoch wurde im naͤchſten Jahre (1548) Perrin wieder in 
feine Bürden eingefegt, aber auch mit einer befchworenen Amneſtie — 
wie gewöhnlich, zu ſpaͤt — ein Verſuch gemacht. Als 1553 einer von 
Yearriıs Partei, Bertelier, welchen bas von Calvin praͤſidirte Press 
Dyterium vom Abendmahl ausgefchloffen hatte, durch den regierenden 
Senat losgeſprochen wurde, brach Calvin mit aufgehobeneer Dand auf 
der Kanzel in die Worte aus: „Ich werbe mich, nad) bes h. Chryfos 
ftomus Erempel, eher umbringen laffen, als daß diefe meine Hand einem 
der (vom Presbyterium) abgeurtheiften Gottesverächter das Sacrament 
Gottes reihen follte.” Natuͤrlich wurden bei ſolcher MWiderfegiichkeit ges 
gen bie Staatsregierung die Worte Petri zur Grundiage genommen, ba 
nsan Gott mehr gehorchen folle als ben Menſchen. 

Das Arrogantefte war, daß auch, wer Calvins Glaubenmei⸗ 
nungen nicht fo ganz infalibel finden Eonnte, in Gefahr kam, mes 
nigſtens bie Stadt räumen zu müffen. Der Senat ließ fi) 1550 eins 
bilden, ein dibergetretener Sarmelltermöndy aus Paris, Dieron. Bol⸗ 
fec, müßte bei Strafe des Staupenfchlags ihre gute Stadt meiden, 
weil ihm mehr Pelagianismus als Prädeftinatianismus anhing. Der legs 
tere wurde dagegen 1551 auf's Neue als alleinſeligmachendes Symbol 
von dem Paflorenconvent zu Genf decretirt, ohne Zweifel, weil fie num 
eben dazu präbeftinirt waren. 

Sebaftian Caſtellio hatte eine für jene Zelt treffliche franzoͤ⸗ 
fifhe und lateinifche Bibeluͤberſetzung mit vieler Kenntniß verfaßt. Aber 
befonders in feinem guten Latein *) Hang Manches nicht myſterioͤs und 
ortentalifch » bildiich genug. Er fragte fogar, wie das Hohelied in den 





*) Die latein. Ueberfegung erſchien 1551 zu Baſel, mit einer ſehr moberaten, 

bie Religionsverfolgungen rügenden Präfation an König Eduard in’ England. 

Einen Wunſch von Goͤthe, daß bie in ber Bibel enthaltene Menſchenge⸗ 

ſchichte durch naher aus Joſephus in den biblifch nicht berührten Zeiträumen 

u t WA te, hat Gaftellio bis zum Anfang des Reuen Teſtaments 
fon t oo 


.204 | Calvin. 


Kanon gekommen fein Eönnte, weil man voraußfegte, daß ht blos 
alterthümliche, fondern lauter heilige Ueberrefte dort gefammelt fr müßs 
ten. Daß aber Saftellio die Calvinifche Prädeftinationscheorte dech eine 
mildere Erklärung der Pauliniſchen Stelle, Roͤm. 9., (menngih obne 
alle Hindeutung auf Galvin) wegzuraͤumen verfuchte, war nach er Ans 
bänger Gefchrei eine unerträglich freche Stoͤrrigkeit. Der von Calvin 
ſehr bominirte kleinere Rath von Genf meinte oder wurde zuneinen 
bewogen, daß das Staatsregiment bergleihen Geiftesgegenfläne rich 
terlich zu behandein habe, und widerlegte den feingebilbeten iorfcher 
— durch Landesvermweifung. 

Bis zum Abſcheulichen aber ſtieg dieſes anmaßlichſte Einwirka Cal⸗ 
vins in ſeiner Verfolgung des Michagel Servetus. Kür die btaats⸗ 
rechtsfreunde iſt es der Mühe werth, daß wir dieſe den Calvin he alle 
Zeiten charakteriſirende Handlungsweiſe nad) den Hauptzuͤgen ſcildern, 
weil die Flammen, durch welche Servet von ſogenannten Proteſanten 
einem Huß gleich behandelt wurde, endlich durch wahrhaft proteſtatiſche 
Vertheidiger der freien Wahrheitsforfhung über alle cultiviste Saaten 
leuchtend gemacht wurden und auch wirklich allgemeinhin fo bei mahten, 
dag mwenigftens in proteftantifchen Staaten zu biefer Methode, die Ehre 
Gottes zu fchügen, felbft von den fchleichendften zelotifchen Delstoren 
nicht mehr leicht eine Anreizung gewagt werden kann. Gervetus 
ift in diefem Sinne allerdings gleihfam „das Opfer für 
Viele‘ geworden! Um darüber ganz Elar zu werden, muͤſſen wie 
uns mit Wenigem die bamalige Rage theologifcher, mit ber Religion und 
Politik nur allzuſehr vermiſchter Unterfuchungen vergegenmwärtigen. Die 
Meformatoren zu Wittenberg und Zürich hatten nichts fe ſehr 
zu fürchten, als daß man die Menge gegen fie und ihre den Mißbräus 
chen entgegengefeste Proteflation durch den Schein aufreisen koͤnnte, wie 
wenn fie aus Neuerungsfucht völlige Undyriften geworden wären, weil 
man damals das Chriſtenthum meift nur als Tradition bee kirchlichen 
Auctoritäten kannte. Schon viel war es daher gewagt, bie Entfcheibung 
aller Concilien bis hinauf zu den vier erſten oͤkumeniſchen 
als unverbindlich zu verneinen. 

Haͤtte freilich das Licht der Geſchichte mit einem Mal von den 
Reformatoren ſelbſt voll genug erfaßt und verbreitet werben koͤnnen, fo 
mürde fonnenklar geworden fein, daß ſchon auf dem erften, dem ganzen 
Imperium als der Dekumene imperatorifch geltend gemachten Zuſammen⸗ 
kunft zu Nikaͤa ber heilige Geiſt im vielen der verfammelten Biſchoͤfe 
nicht ſehr vepräfentirt war, da nad) Gelafius Geſchichte K. 8. der Ka⸗ 
tehumene, Kaifer Conftantin, die Menge ihrer gegeneinander eingereich- 
sen Kiagfchriften nicht beffer, als durch öffentliches Verbrennen des gan - 
zen Dayfens, zu entfcheiden wußte. Auch bie von ihnen fellgefehte, 
oder eigentlich von Athanafius als Presbyter eindoetrinirte Dogmenformel 
von drei in einem Weſen fubfiftirenden gleich göttlichen und doch in ber 
Wirkungsart verfchiedenen Perfonen würde eher als ein Bau ohne fefte 
Grundlage erkannt worden fein, wenn ſchon die Meformatoren Vorkennt⸗ 


Galoin. 205 


nig und Muße genug gehabt hätten, das einzufehen, was Fuchs in 
feiner Bibliothek der Kirhenverfammlungen Th. I. ©. 433. und 583 
zwar ſchuͤchtern, aber aufrichtig ausfpriht, daß naͤmlich von ‘allen den 
Beweisgrimden, worauf man jene (Arhanafianifde) Formel ſtuͤtzte, jetzt 
faft keiner in dieſer Geftalt zu brauchen fei. Was mar aber das Des 
eretiren eines fchweren Dogma, wenn man baflr nur Gründe wußte, 


die nicht zu jeder Zeit überzeugend bleiben? Ä 

Mit einem Wort. Was die mit der Reformation im Großen 
und befonder® in prattifcher und politifcher Beziehung befchäftigtn und 
belafteten Hauptperfonen durchzuarbeiten nicht vermochten, eben das ſetzte, 
fobatd nur das Prineip des Proteſtirens gegen Auctorität in Glaubens» 
fahen auf den Leuchter geftellt war, andere forfhende Geifter 
in lebhafte Beroegung , um fofort zum Weitergehen Werfuche zu machen. 
Doch, weil diefe fi) auf das Keinere erfttedten, konnten fie theils nur 
fchroieriger in den Berichtigungen, thelld nicht populär werden. Mes 
lancht hon allein war fcharffichtig genug *), mit: Aengftlichkeit zu ab: 
nen, was für Gährungen noch aus manchen Dosmenformeln eniſtehen 
wuͤrden, die ebenfalls nur auf venerirten Auctoritäten beruheten und von 
der Einfachheit der Schrift, der einzigen‘ echten Quelle unferer Kennts 


*) Acuferft merkwuͤrdig ift’s, wie Melanchthon, ber noch gelehrter. als 
3wingli, und viel affectlofer als Luther. Zorfchende, dieſe Vorfchritte zum 
Nichtigeren, doch nur” mit Beforgnis — weil au) Er batbmöglichft wieder 
etwas Stabiles gern gehabt hätte — vorausfah. Er fchreibt: an feinen Ver⸗ 
trauten, Camerarius, und gerabein Beziehung auf Serpet, ſchon 
im Februar des für diefen tragifhen Jahre 1533, und wagt kaum halb grie⸗ 
if feine Ahnung, was wohi um Ausbruch oder Durchbruch kommen müfle, 
merken zu laffen: Ilsel eng Toladog (de Trinitate), scis me semper ve- 
ritum esse, fore ut haec aliquando erumperent! Bone Deut 
quales iragoedias excitabit haec questio ad ponteros, &l.Eoriv "Uruoranıg 
© Auyog?! ei fariv vnöcraoıg zö Ilveva«ct („Suter Bott! weich traurige Schau⸗ 
fpiele wird bei den Nachkommen noch bie Frage erwedten: ob ber Logos, ob 
der Gift ald Perſonen fubfiftiren?”) Kgo me refero ad illas seri- 
pturae voces, quae jubent invocare Christunm (??), hoc est ei honorem 
divinitatis(?) tribuere et plenum consolationis est. — Illud me pessime 
habet, cum eaedem res (ndmlid bie Anfichten bed Servet, daß die 
Worte, Vater, Sohn, Geiſt nur verihi.dene Werbältniffe der Gottheit, n 
aber gefonderre Perfonen bedeuten) agitatae sunt a Paulo Samosateno, nihil 
extare, praeter levia quaedam apud Epiphanium, unde intelligi pos- 
sit, guid jvudicarint, quidve secuti sint hi, qui eum da- 
mnarunt... Sm cngften Vertrauen geftanb alfo wohl Melanchthon, mau 
Zönne fih mit der Auctorität, daß endlich der Logos nicht blos als ewi 
Bernunft in Gott, fondern als eine befondere Subſiſtenz ober Perfon im 
nen und untheilbaren Gotteswefen von den Bifchöfen angenommen wurde, nicht 
beruhigen; man müßte vielmehr, echt proteftantifhh, ihre Brände prüfen. 
Diefe aber wiffe man nicht u. f. w. — Daß Servet bies auch wünfchte, nahm 
ihm dann wohl Melanchthon im Herzen nicht übel, nur baß der ſpaniſche 
„Arzt fo heftig „erumpirte’ und durchbrechen wollte! Können, Tollen 

denn aber Alle fo leife quftretende Melanchthone feint Iſt es criminell, 
fen zu Tönnen, was Luther felbft an Relanchthon oft nur 
e e x 


206 | ‚Saivin. 


niffe über den Sinn bes Urchriſtenthums, abweichend, doch das zu Offen» 
barende in paflendern Ausdruͤcken, als jene Offenbarung felbft, offen 
bar zu machen die Miene haben. Hätte man doch nur ſogleich bie 
gu bee Gemuͤthsruhe im Betrachten kommen koͤnnen, daß alle bergleis 
hen Verſchiedenheiten gewoͤhnlich mohlgemeinte Verſuche maren, den 
Vater, den Sohn und das Heiliggeiftige. hoch genug zu verehrten und 
dennoch die Einheit Gottes gegen alle an unvoßlommene Götter ſich 
anſchließende Wielgötteret, als das Unentbehrlichfte, feftzuhalten. - 
Servers Geſchichte iſt an fi) und. wegen Ihrer Kolgen fo merk⸗ 
wuͤrdig, daß ber ingenidfefte Kirchengeſchichtsforſcher, der einſt goͤttingi⸗ 
fe Ganzer von Mosheim, fie unter dem Titel: Anbermweitiger Ver 
ſuch einer vollftänbigen und unparteiifchen Kegergefchichte (Helmſtaͤdt 1748), 
auf 500. Seiten in Quart fo vollſtaͤndig und ‚(den philofoghifchen Theil 
abgerechnet) fo muftermäßig durchgepruͤft und bargeftellt hat, mie noch 
Eeine andere ähnlich. verwickelte Particulargeſchichte. on 
Michael Serveto, geb. 1509 zu Villa Nueva in Aragonien, 
war ein Spanier an Genie, aber auch im Xemperament. Gr. wurde 
bem Calvin, fo lange diefer, felbft verfolgt, noch zu. Paris. war, Thon 
1533 als ein.gegen die Athanafianifche Art, diefes Myſterjum denkbar 
zu machen, heftig proteflirender Neuerer bekannt. Heftig erklärte man 
fi in jener Zeit wider Alles, was man ale theologifhe Taͤuſchung zu 
enthuͤllen meinte, weil die Vorandfekung, daß für bad Seligwerden 
bee..theoretifch. irrthumsfreie Glaube‘. und nicht blos das redfihe und 
thätige Glaubenwollen von Gott zus arbitraͤren Bedingung gemacht ſei, 
heden MWahrheitöfreund wegen ber. Mobificaienm: bes. Inhalts : feines 
Staubens allzu aͤngſtlich machen muße. 7 
Servets Geiſt insbeſondere war von ber Claſſe bdie ſich gerne 
mit vielerlei. Wißbarem beſchaͤftigt, manche Berichtigung, insbe ahnei, 
als zur Klarheit bringt, um ſo lebhafter aber durch die das Dunkel 
burchblitzenden Lichtſtrahlen ſich irritirt fühle. Auch er hatte Jurispru⸗ 
denz ſtudirt. Zur Medicin und Theologie aber zugleich ſich abwendend, 
kam er auf ſonderbare, gewiſſermaßen pantheiſtiſche Ahnungen von ejner 
Einheit geiſtiger, ſich doch materiell. offenbarender Kraͤfte. Die Geſchiche⸗ 
der Medicin hat (f. Sprengel:im: Th. III. Ater Aufl. S. 40. and 
544. nad) eigenen Unterfuchungen) zw feinem Ruhm anerlannt, baß er 
zuerft (1552) ben fogenannten „ Eleineren Blutumlauf“ ober den burdy "bie 
Lungen aus ber rechten in bie linfe Kammer des Herzens — (Baryey 
aber den allgemeinen) entdedt habe. Er fuchte (f. feine Restitutio 
Christianismi L. V. p. 169. der Nuͤrnbetg. Ausgabe. von- Murr 
1790) denſelben ſich durch eine materlell wiekende Spiratiön oder Fort⸗ 
bauchung zu erklaͤren. War es ihm übel zu nehmen, daß ek‘, "ber 
die Bibel mit fupernaturaliftif sconfequentem Erwarten geoffenbarter Ges 
beimniffe las, da, wo biblifh von einem Geiſt Gottes die Rede ift, fich 
auch den Geiſt Gottes überhaupt als eine feine, Alles ducchbringende 
und bervegende, Spirationskraft Gottes beutete und dadurch den nad 
Geneſis 1, 3. auf dem Urgemiſch (Chaos) ſchwebenden Schöpfungsgeiß 





Goloin; 207 


zu erklaͤren verfuchte ? Das Gehäffige und ihm Verderblichſte war, daß 
ee gegen bie Formeln, welche die Spiritualität und die ewige Urver⸗ 
nunft (den Logos) wie perfäntih neben Gott, bem Vater, 
ſubſiſtirend beſchrieben, oft mit, verhähmenbem Ungeſtuͤm proteflirte; 
Dies aber war noch die rabuliftifche Dieputiraet des geiteiters, von wel 
cher Cal vin eben fo wenig: frei blieb... 
BSGervet wagte fid-in feinen intellectuellen Muthma gongen ſo Belt; 
daß er ber Vorläufer eines Pantheismus murbe,. welcher (mie der 
Schleiermacheriſche in den Neben über bie Meligion) Altes, auch 
die Materie, von der Spiritualität ableitet. Servet dachte fich feine 
materiell wirkſame Spirktualität als die einzige Subftanz, und 
als ſchon criminell angeklagter Gotteslaͤſterer enthielt er gegen Calvin 
fi) eines übermüthigen Lachens nicht, da biefer ihn in ber Behauptung: 
Alles, was ift, gehöre nur zu der Einen Subflanz, der göttlichen! *) 
ed absurdum durdy .die Frage bringen wollte: ob .deun alſo audy bee 
Satan zu derſelben gehoͤre? Mon sinem ſolchen Geift und Materie - I 
Eines faflenden Pantheismus konnte Calvin nicht eiumal begreifen, wie 
ihn ein Anderer zu denken verfuche... Ee meinte, baf men gar keinen 
Sort haben könne, wenn man ihn nicht als:eine Athanaſiauiſche Lei 
nität von drei in einer Subſtanz fubfiflirenden .Perfonen. Habe: . Und 
dadurch, daß Server in leidiger. Eiferswuth uͤber dad. aus :brei Perſo⸗ 
nen nach Athanaſius beſtehende Eine Weſen hie und da fdjrieb: pro 
uno Deo liabetis tricipitem Cerberum!. („ſtatt des rinen: Gottes habt 
ihr — Athanaſianer! — einen drrikoͤpfigen, wie Cerberus! ), fo war 
er für Calvin natuͤrlich nicht blos in. blasphemer Verletzer ſeiner menſch⸗ 
tichen Concilienformel, ſondern der göttikhen als wur, Achanaſtaniſch 
denktaten, Majeftaͤt ſelbſt. 

Sp Wahrheit mar Servet nod nicht aid Galoe Supernaturatifk 
Er mollte es fein bie zur Schwärmerei ‚und meinte: nur, bis zur Apoe 
kalypſe hinaus, bie Bibel, die er orientalifdy fludirte, tichtiger: und 
fogar den erften Kirdyenvätern (Tertullian, Itendus) gemäßer: zu ver 
ftehen. Erſt von der Meinung eingenommen, daß dirk) das Herr⸗ 
ſchendwerden ber Kirche unter Kaifer Eonftantin J. und dem roͤmiſchen 
Biſchof Sylveſter die Hierodeſpotie als der apokalyptiſche Drache 
das reinere urchriſtenthum zu verfolgen angefangen: Habe," bie "dort 

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208 Galvin. 


beſtimmten 1260 Jahre der Flucht der wahren Kitche aber, von dort 
an gerechnet, nunmehr bald ein Ende nehmen wuͤrden, glaubte Servet 
zuverlaͤſſig ſich verpflichtet, ſelbſt auch als ein Kaͤmpfer aus dem Heere 
Michaels hervorzudringen, welches den Drachen mit allen In bie 
Kirche durch ihn eingeführten Irrthuͤmern befiegen werde. In vielem. 
MWichtigen fah er eben fo fcharf, . als bitter er es ausdrüdte. Beides 
bewies er, zunaͤchſt zu feinem. Ungluͤck, in: 30 Briefen, in denen er 
Galvin :von mehreren noch irrig behandelten Lehren mit Heftigkeit 
überführen wollte. Um biefe Zeit lebte er als Arzt zu Vienne ohne 
allen Verdacht von Deterodorie unter dem Namen Villanovanus, 'sieß 
aber 1553 fein Syftem unter dem Zitel: Restitutio Christianisımi, 
in der Stilfe fo :druden, daß er fi darin Servetus nannte, war fo 
unvorfichtig, feine Briefe, die er als Serdetus an Calvin gefchiieben 
hatte, anzuhängen und’.einen Theil ber abgedrudten Eremplare des 
Werks an Robert Stephanus, ben Buchhändler und Freund Calvins, 
ber ſeit 1552 zu Genf war, verkaufen zu laſſen, ſo daß Calvin 
dadon leicht Kenntniß erhalten mußte. 

Zu Vienne wußte man nicht, daß der bellebte Arzt Vilanovanus 
einerlei Perſon mit Servet ſei. Dieſer : wollte. deswegen auch ſoine 
Driginalbriefe von Calvin zuruͤck haben. Aber vergeblich. Faetiſch 
iſt vielmehr, daß ein Lyoner, Trie, welcher ſich zu Genf aufhielt, 
erſt zu Vienne anzeigte, daß der Erzketzer Servet dort als Villanova⸗ 
nus lebe "und. vor das Ketzergericht gebracht werden muͤſſe, ja, daß 
vierzehn. Tage darauf dieſer Trie von Servets gelehrten Prwatbriefen 
an: Calvin zmwanzig.im April 1831, im Original au das Gericht zu 
Vienne ſchickte, damit Servet als Verfaſſer der fehr ketzeriſchen Wie⸗ 
derherſtellung des Chriſtenthums deſto ſchneller uͤberwieſen werden konnte. 
Dieſe Originalien, woher konnte fie Trie haben, als von Calvin 
ſelbſt? Das Urtheil zu Vienne fagt ausdruͤcklich, daß es mesmes les 
Epitres et Escretures de la main du dit de Villeneufre, adres- 
sees A,Mr. Jehan Calvin, prescheur de Geneve et: par 
le ..dit de Villenaufve recogauns vor ſich gehabt "habe. Hatte fie Trie 
hingeſchickt, ohne daß Calvin von diefem delatorifchen Mißbrauch . der. 
felben wußte? Calvin in ber Defensio orthod. fidei verneint dies 
nicht direct, ſondern nur durch die Wendung, . wie unwahrſcheinlich vor 
ibm wäre, daß er cum Papae satellitio in folcher Samiliarität und 
Sunft ſtehe. Wil er hierdurch mehr fagen, als dies, daß er nicht 

agmisterbar mit den tat h o liſchen Richtern in Correſpon⸗ 
z war? 

Zu Vienne hatte Servet als Arzt dankbare Freunde. Dennoch 
mußte man ihn endlich auf jene Angabe verhaften. Man verhoͤrte ihn 
zweimal, aber mit vieler Schonung. Der Vicepraͤſident des Gerichts 
befahl dem Gefaͤngnißwaͤrter, ihm, was er an Geldwerth bei ſich haͤtte, 
und Jedermann zu ihm zu laſſen. Am dritten Morgen war der Ver⸗ 
haftete entflohen. — — Erſt den 17. Juni faͤllte auf Antrag bes 
Procureur du Roi, als demandeur en crime d'heresie scandaleuse 


PT eo CE — * 


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Calvin. 209 


a. ſ. mw. gegen den Entflohenen, ber ſich als Servet bekannt hatte, 
das Urtheil, daß er nebſt mehreren Ballen ſeiner auf ſeine Koſten bei 
Balthaſar Arnollet, Buchdrucker zu Lyon, fo eben gedruckten Haupt 
ſchrift: Restitutio Christianisıni, tout vif & petit feu verbrannt wer⸗ 
den. folite. Daß alsdann fünf ſolcher Bücherbatten nebft einer Effigies, 
Die ihn vorftellen follte, à une potence expressement erigee wirds 
lich dem Feuer geopfert wurden, Eonnte dem Geflüchteten nicht wehe 
thun, wenn nur indeß nicht — — 

Er ſelbſt, wie Beza in feinem Leben Calvins, ganz praͤdeſtina⸗ 
tianifch « fromm, es ausbrüdt, fato quodam*) auf ber Flucht larige 
umpberirrend nad) ‚Genf gelommen wäre. Er wollte zwar blos 
durchreiſen ”) und hatte fi fihon auf dem See ein Fahrzeug: in 
der Richtung nad, Zürich beſtellt. Davon, baß der Kremdling ‚zu 
Genf Ketzerei ober Staatsunruhe hätte verbreiten wollen, kam .nicht 
einmal ein Verdacht in die Protokolle. Dennoch, wie Beza ſchreibt, 
Dei providentia factum est, daß er bald "*) erkannt wurde, 
Calvin felbft drängte einen Spndicus, den Fremden verhaften zu laffen: : 

Nach ben dortigen Gefegen Tonnte Niemand verhaftet werden, ohne 


daß der Anklaͤger ſich ebenfalls verhaften ließ und ſich, wenn erdie 


nn 


Anklage nicht beweiſen koͤnnte, eben der Strafe ausfehte, die er. dein 


trũ en Regenerationem ex aqua coelestem non aguoscitis sed 
fabulan habetis... Vae vabis,. yael vao! (ab Alwoerdeg Berveil, .. 


48.) 

In eben biefem Brief hat Servet die Ahnung: Mibiobeamrem'j ip 
ziendum esse, certo scio, sed non propterea animo deficior, ut-fam 
discipelus similis praeeeptori. Die Ahnung berubete wohl auf ber 
Wahrfeintichkeit, daß Calvin, ta er bie Briefe nicht zurüdgab, fie gegen ihn 
benugen werde. 

'»°) Dies’ wußte Calvin ſelbſt: In Ep. 186. an Jare! ſchreibt er: Fluc 
transire forte cogitabat, Necdum enim scitur, quo canaiin vanerit.. Bed, 
cum agnitus fuisset, retinendum putavi. 2 

099) Beza fagt ausbrädtih: Mox agnitus. Mosyeim füßet (©. 5 
aus Spons Hist. de Genere II. p.:63. m: IM arriva M Geneve, ll: 
Unt cach6 pendant un ınois, en attendant und‘ 'eommödliä pour" Fe 
uud ſegt voraus, Spon habe 46! un meis aus' dem Gerichtsaeten. 

Spon ſagt auch unrichtig: U vint- A Genevo, o& Il commenga & une 
matiser, und la Ro e, ber in der Biblioih, Angl. It, 109. aus den 
referirt, gibt an: Je n’at pu' decouvrir, quel jour äh 'entra dans, Gendrs, 
mais il y legen &: l’finseigne de la Rose et il avolt' dessein de lougt'uh- 
batsuu lo le —A— poar traverser Te Yo et 'baur de 784 
Zurich.: Bermuthlich — aus Werfeben un inois flatf ome wit. - 

Me en Geroer Im ——ã— — — — 

* als: 
in ben Xcten vorkommen rn ymB 


Staats s Leriton. IIL. 14 


210 Galvin. 


Angeklagten zugezogen hatte: (Ein merkwuͤrdiges Schutzgeſeß gegen 
willkuͤrliche Verhaftungen!!) Calvins heiliger Eifer war fo ſtark, daß 
er feinen etwas unterrichteten Samulus, Nicol. de la Fontaine, 
zur Anklage auf Griminalftrafe gegen den Ketzer fubflituiete, und 
alsdann, nachdem ber Famulus feine Anklage zum Theil erwiefen 
batte, ducch feinen eigenen Bruder, Anton, für diefen Caution ftellen 
ließ. Calvin felbjt nimmt alles. dies in mehreren Briefen’) wie eine 
rehtlihe That auf fih. Paftoren  alfo zu Genf, welche Zeter 
‚gefchrieen: haben ‚würden, wenn bie Sorbonne fie auf einer unfchuldigen 
Ducchreife durch Parid aufgegriffen und als Ketzer criminell behandelt 
hätte, machten in dieſem Grade gegen einen in Frankreich Verſchon⸗ 
ten. die Keßerrichter und trieben (da Calvin.immer mit der Ercommus 
nication brohen Eonnte) auch ihre. Staatsobrigkeit zu dieſer unchriſt⸗ 
dichen und vernunftwidrigen Glaubensinquifition. Aber auch ein ans 
berer Arzt, Hieron. Bolfec, in vinculis tenebatur propter causam 
praedestinationis (megen bes Lieblingsdogma des zum Abfoluthandeln 
fa geneigten Galvins) und ein Kalefius (Jacob von Bourgogne, 
Herr von Falais und Bredam — f. Mosheim ©. 258), fonft Cal⸗ 
vins Freund, in publica congregatione (= im ftrafberechtigten Pres⸗ 
‘hpterium). a, Calvino judicatus. est baereticus, weil er ſich bes Bolſec 
annahm. So war, mer nicht Calviniſch war, haͤretiſch, durfte nicht 
zu Genf, durfte mo möglich nicht am Leben bleiben. 

: " Der abominable Proceß begann vor dem nichttheologifhen Forum 
d.:14. Aug. 1553. Des Nicolaus meus Criminalklage war geftellt 
pour les gränds soaudales et troubles, que lè dit Servet a déjà fait 
par l’espace de vingtquatre ans ou environ (?) en la Chreliente 
pour les blasphemes, qu’il a prononce et ecrit contre Dieu (?) 
pour les’ heresies, dont il a infecte le monde (ungeachtet Servet 
nicht, ben millionften Xheil foviel Anhänger oder Gegner hatte als Cals 
sin). Dazu aber fam dann noch, wie unpaffend und unverftändig! 
die Anklage pour les mechantes caloınnies et fausses diffamations, 


5 Beſonbers fchreibt er in Epist. ad Sulzeram (f. Calvini Epistolae, 
Geneviae 1597. 8. &.2%.): „Tandem huc malis auspiciis (!) appul- 
sum unus e Syndicis, me auctore, in carcerem duci jussit. Neque ewim 
dissimulo, quin officii mei duxerim, hominem plus quam obstina- 
tum etindomitum, quoad in me erat, compescere. Was alſo 
etwa zu Mabzib bie Inquiſition für ihr-sanctum officium gegen Galvin 
iten hätte, bas glaubt biefer, ben man unferer Beit ala ein kirchl 
‚Slaubenemufter vorzuhalten nicht mübe wirb, ala evangelifch" protefantifänge 
Geiftlicher als fein officium vollbracht zu haben. At Freund Karel erf 
‚ee fih Ep. CLYVI. noch deutlicher: Jam novum negotium habemus cum Ser- 
veto. * transire — cogitabat. Necdum in scitur, quo consilio 
‚venerit. gen -gen ege hatte alfo ber. Ungl due nichts en!) 
‚ cam agnitus False, —A Datavi. —— (01) 
ad capitale judicium, poenae talionis se offerens, ipsum vocavit, 
Yer Nicolaus meus wurde, quum die tertio fratrem meum sponsorem de- 
‚ quarto absolutus. ©, Ealvins Ep. CLII. p. 290. 


⸗ 





Calvin. 211 


qu'il a publi€ contre les grands serviteurs de Dieu et 
notamment contre Mr. Calvin, duquel se dit Proposant (der 
Nicolaus meus) est tenu de maintenir I’honneur, comme.de son 
Pasteur. — — — Diefe Diffamationen betrafen nichts als gelehrte 
Discuffionen, ob Calvin oder Servet richtiger theologiſire. Dennoch 
verhanbelte das weltliche Senatsforum barüber und war nady wenigen 
Zagen fo inconfequent, den angeblich verleumdeten Calvin, welcher die 
Anklagepunkte“) verfaßt hatte, felbft nebft ber übrigen von biefem 
Gemaltigen geleiteten Stadtgeiftlichleit gegen ben armen Verhafteten 
zur Ueberweiſung, dag nicht Calvin, fondern Er der ketzeriſch Irrende 
fei, zum Disputiren. und Ketzermachen . vor ſich aufteetm zu laflen, 
wo ‘Calvin die wohlanftändigen Ehrentitel: impudens, impius, nebulo, 
‚canis, nicht außer Uebung kommen ließ. i ” 

Klaͤglich iſt's, bei Mosheim S. 155 — 230, mit der größten Bes - 
hutſamkeit in Rüdfiht auf den Parteiführer Calvin, entwidelt zu le⸗ 
fen, wie feit dem 14. Aug. 1553, der ohne Recht Verbaftete 
in jenen meift nur contiovertirenden Verhoͤren durchgequaͤlt wurde, 
Daß er das, was er fi) ganz anders auslegte, dem triumphirenden 
Dogmatiften gegenüber für Kegerei erklären ſollte. Aus griechifchen 
und lateinifhen SKicchenvdtern ließen die juridifhen Richter vor ſich 
bebattiren,, ob Chriſtus in. den erften Jahrhunderten als ein ewiger 
Sohn Gottes, oder nur feit feiner wundervollen Menfhwerbung als 
dee Sohn des .ewigen Gottes, in welchem Gott felbit in 
ber Dispofition oder Qualität als Logos erſchlenen fei, geglaubt würde. 
Und diefe ſtets feflgehaltene Differenz nebft: der doch zur Widerlegung 
dargebotenen. Meinung, daß man erſt Erwachſene ald glaubenskundig 
taufen follte, ward das. Hauptverbrechen, um lebendig:. verbrannt zu 
werben. . Mit Schauder lieft man, daß dem Fremdling ein Rechtsbei⸗ 
ftand abgeſchlagen, daß feine Vorftellung, wie nicht dee Staat, ſon⸗ 
‚dern nur jede SKieche. als Lehrgeſellſchaft den Andersiehrenden von fidy 
ausweifen dürfe, nicht überlegt, daß fein Berufen auf den größern 
Megierungsrath der :200, welcher die blutigen Geſetzze Kaifer Zuflinians 
und Friedrichs II. gegen Ketzer abzumweifen befugt geweſen wäre, nicht 
gehört wurde. Sehr natürlich flellte er dar, daß er eben fo gut dem 
Galvin und feine befondern Lehrmeinungen des Kegereiverbrechend ans 


*) Nec infidor, meo consilio dietatam esse Formulam (ac- 
eusationis), qua patefieret aliquis in cansam ingressus. Cal- 
ini Refutatio p. 695. und in Ep..152. ſchreibt Calvin ſchon: Spero, 
capitale salteın judleinm . fore. Poenae vero —— remitti i cap 8* 

arel proteſtirte ſelbſt gegen dieſe Nachgiebigkeit: enae atrocita- 
3 leniri cupis, facis amici oflictum in —æe ibf homi m. Sed 
te, quaeso, ita geras, he temere guivis audeat, nova Inferre 
in publicun dogmeta- et tamdiu omnis turbare impune, ut 
iste feeit. Karel vergaß die Frage: wodurch benn ex ein. Recht haͤtte, nova 
dogwats nach Genfigu bringen? — ben biefen Farel gab man bem Ser⸗ 
vet zum Begleiter zum Feuertod. . 14° 


212 Calvin. 


Magen koͤnnte. Das Einzige war, daß man die welt⸗ und geiſtlichen 
Obern von Zürich, Schaffhaufen, Bafel. und Bern um Ihe Butbüns 
ten defragte,, während der arme Mann, ber an Leibſchaͤden litt, bis 
in die Detoberlälte hinein im Criminalverhaft über die fchlechtefle 
Behandlung .lamentirte. Ungeachtet nun felbft die Geiftlichleiten der 
verwandten Santone nur auf weife Coercition, nit auf Todes⸗ 
ſtrafe Binbeuteten, fo entfchied fi dennoch in mehrtägigen Delibera 
tionen zwifhen dem 18. und 26. October die Majoritdt des kleinen 
Rath, ayans en bonne participation de conseil areo nos olloyens 
st ayans inroqué le nom de Dieu gerade zur graufamfien Straft, 
mit ſeinem Buche lebendig verbrannt zu werden. 

Das Unglaubliche ſtuͤrzte Anfangs den heftigen Spanler in laute 
Jammerklagen, welche Calvin für belluina stupiditas und tinen 
Beweis anſah, daß es ihm nie mit der Religion Ernſt geweſen 
ſei. Er bat um Enthauptung. Er befolgte ben Rath, Calpin (def 
fen Macht ee nun mohl allzu groß dachte) ins Gefängnig kommen. zu 
laſſen und um Verzeihung zu bitten. Diefer ſelbſt hätte zwar eime 
gelindere Zodesart gewuͤnſchtz aber zur Aenderung bes Urtheild mar 
es jebt zu fpät und Calvin vertheibigte nachher alles Geſchehene durd) 
das, was er das Ihamlofe Beharren in ber Ketzerei nannte. 
Nicht durch Calvins Uebergeugungen fich bekehten zu laſſen, war hab 
beleidigendfte Crimen. “. 

Ä Server überfland (dem 27. Dt. 1653, erſt 44 Jahre alt) eine 
Hafbftündige Marter auf eine ſchreckliche Weite, immer nur den Sohn 
bes ewigen Gottes anrufend. Vielen galt er alſo als Blutzeuge für 
feine Lehre. Und das Wichtigfte in der Kolge war, daß das Unrecht, 
kirchliche Ketzereien ſtaatsrechtlich zu beſtrafen, von nun an viel flärker 
als je, und befonders in bem Gegenfag ber aufgellärteren Arminianer 
ober Remonſtranten gegen bie dorbracenifchen Galviniften bis zu einer 
faft allgemeinen Ueberzeugung ins Licht geſtellt wurde. Man kann 
nichts dagegen fagen, ats daß Calvin nad ven er Vebergeugung 
gehandelt habe. Aber eben deswegen ift es unferer Zeit unmärbig, 
wenn Verſuche gemacht werben, einen Dann, der ſich aus bergleichen 
Berirrungen der Ueberzeugung in ben eigenthümlicheren Theilen feines 
Syſtems ind Licht empor zu heben nicht vermochte, auf's. Neue 
zum Muſter) für evangelifche .Proteflanten aufzuftellen. Wegen bes 


*) en nicht bie, weldye ben ehbeftinationstehrer Ideal für unfese 
Pa aufzuftellen ige — derſt ſeine Defensio a fie uf 
Tidei de sacra 'Trinitate cuntra prodigiosos errores Michaelis Serveti Hi- 
span, ubi ostenditur, haereticos jure gladii coercendos osse et homina- 

de Iromine hot tem Impie juste et merito sumtum Genevae supplicum. 
Per nen en Ye Oliva "Roberti der pbani (1554. 8. 268 ©.) ihr 

eu auflegen I ollen leid damit aber ſollte bie noch feltenere gl 
yeltige Begenfährift FE ers Senensis Ir —es* n sint Derse- 
rt et ommino —* cum eis agendum, maltorum ı tum veteraum, team 
recentiorum sententiao“, wieder ercheinen. J 


Calvin. 213 


dem Sokrates gereichten Giftbechers fühlten ſich die Athenienſer bald 
nachher ſo beſchaͤmt, daß von da an Niemand mehr eine Anklage 
wegen der Religion gegen die Philoſophen vorzubringen wagte. Der 
an Server verübte fanatiſche') Juſtizmord war zwar ſelbſt in ber 
Schweiz noch nicht das letzte Beiſpiel dieſer Art; aber doch traf bei 
demſelben ſoviel Auffallendes zuſammen, daß er immer von den Ver⸗ 
theidigern der Toleranz und Prüfungsfreiheit als das warnendſte Signal 
vorangeflellt werden konnte, welches audy jetzt noch gegen die bei den 
Freunden eines absolutum deoretum der Gnadenwahl fo leicht entſte⸗ 
benbe Verfolgungsfucht wie ein verfteinerndes Medufenhaupt wire 
muß. 
Calvin war nach dieſer Tragödie, wie man denken kann, noch 
weit gefücchteter und für feinen Ereommunicationsswang und Kirchen» 
bann heftiger. Seine Kirchendiscipin (Schade, daß darüber feine 
vollftändige Beſchreibung bekannt ift!) wurde 1555 auf's Neue durch 
Stimmenmehrheit der Bürger beftätigt, auch von ben vier verwandten 
Gantonen wenigſtens nicht mehr beftritten. | 
.  Defto gefährlicher wurde der genfer Kreiftlaat von ber im 
Frankreich vorherrfchenden Klerotratie deswegen bedroht, weil bie 
bort und in England Verfolgten bier fo leicht Zufludht fanden. Genf 
follte wieder unter favopifche Obermacht kommen. Nur der plöglicye, 
Tod des Könige Heinrichs III. zerftörte diefed Buͤndniß, 15999. . 
. Calvin febft kraͤnkelte feit 1556 immer häufiger. Nur bie- 
enthaltſamſte Diät erhielt ihn bei ununterbrochenen Arbeiten, wodurch 
ee bald gegen die aus Stalien über Zurich nach Polen ıc. fi verbreis- 
tenden Antitrinitarier, bald gegen bie mehr im Volkstone wider die Kir 
chenauctoritaͤt (Klerokratie) ſich auflehnenden Wiebertäufer, bald für feine ' 
myſterioͤſere Abendmahlsiehre felbft gegen Zwinglianer zu fampfen nicht, 
müde wurde. Durch eine legte Bearbeitung feiner lateinifchen und franzoͤ⸗ 
ſiſchen Institutio christiana, welche in den an ſich lichten Artikeln und 
in der antipapiftifchen Polemik fidy durch Klarheit auszeichnet, in ben 
ihm eigenen Verwidelungen des abfolutiftifhen Verhältniffes Gottes gegen, 
bie Menfchen aber um fo verwirrender ift, vollendete er fein meift augu⸗ 
ſtiniſch⸗ſcholaſtiſches Syſtem, welches audy auf feine Gommentare über 
mehrere biblifhe Bücher, befonders bei dem Sohannesevangeliuns 
(1553) und dem Nömerbrief Einfluß haben mußte. 1564 den 26. April 


Iſt es nicht fanatifch und wugleid hochſt unwahr, daß Beza, Galvins 
Anhänger, noch in feinem Leben Calvins ſchreibt: Sumtum opti- 
mo Jure Generae de Serveto supplicium, non ut de sectario quodam, sed 
7 de monstro ex mera impietate herrendisquehblaspbe- 
miis confiato, quibus totos annos triginte tim voce tum soripto doelum 
sc terram infecerat. Man hatte fi in dem Verhoͤren umfonft bemüht, auf 
Gervet wenigftend einen Borwurf von Ausfänwelfungen gu bringen. Er war 
wegen Leibeögebrechen nicht einmal dazu fähig. Weber feine — * aber 
wendete er nicht an bie Menge, ſondern an Gelehrte, mm durch die Dis⸗ 
cuſſion ſeine Anſichten deſto mehr autzubilden. 


214 Calvin. Camarilla. 


verſammelte ſich noch der ganze Senat um ſein Sterbebett. Er be⸗ 
kannte beſonders, daß er ihnen wegen der Geduld gegen feine vehe- 
mentia interdum immoderata zu danken habe. Selbſt Beza gefteht 
fen galligtes *) Temperament. Er entfchlief ganz an Körperkräften ers 
{höpft, aber immer noch geiftthätig den 27. Mai, faft Höjährig. 
u Dr. Paulus, 

Camarilla. Mit dieſem Namen bezeichnete man neuerlich in 
Spanien bie Höflinge- und Guͤnſtlings⸗Partei, welche unter Ferdi⸗ 
nand VI. jene zum Theil wenigſtens geheime Megierung außer unb 
über ben verfaffungemäßigen Organen der Staatsgewalt bildete und 
wovon im Allgemeinen ſchon oben in den Artikeln, Befhlagnahme 
und Lettres de cachet die Rede war. Der Diam⸗ Camarilla oder 
Kaͤmmerchen ſtammt wahrſcheinlich von dem Cabinet neben den koͤnig⸗ 
lichen Saͤlen ber, mo die Regierungsſachen mit dem vertrauten Hof⸗ 
gefinde geheim verhandelt wurden. Die Sache ſelbſt oder eine geheime 
Hof⸗, Gabinets = und Günftlings Regierung ift leider durchaus’ weder 
Spanien nod) ber Zeit Ferdinands VII ausſchließlich eigen, fondern 
fo alt, als abfolute Regierungen, und bei unträftigen oder ariſtokrati⸗ 
ſchen, ftändifchen Berfaffungen auch in biefen zumellen zu finden. Schon 
Friedrich der Grofe bemerkte es“), daß nur fehr wenige unum⸗ 
ſchraͤnkte Fuͤrſten ſich freihalten können von dem Einfluß, ja von der 
Herrfchaft ihrer Umgebungen, ihrer Schmeichlee und Guͤnſtlinge, ihrer 
Derwandten, Frauen und Höflinge, und von ber Verſuchung, nad) 
den in ihnen kuͤnſtlich erregten und unterhaltenen Anfihten und Meis 
nungen und Leidenſchaften, auch auf unregelmäßige Welfe und nicht 
durch die Öffentlichen Staatsbehörden die Regierungs= Gefchäfte zu bes 
handeln. Es iſt diefes offenbar die allergefährlichfte Seite einer abfolus 
ten Regierung, ohne volllommene Freiheit der öffentlichen Meinung 
ober ohne Freiheit der Preſſe. Es iſt zunaͤchſt gefährlich für die Freiheit 
des Fuͤrſten ſelbſt und für die Verwirklichung feiner guten Abfichten, fein 
Volt gut und gerecht zu regieren. Blicke man in die Erfahrung und 
in die Gefchichte, vorzüglich auch in die geheimen Gefchichten ber Höfe, 
in die Denkſchriften der Hofleute! Welche feine, oft teuflifche Künfte 
werben nicht, häufig vereint von vielem Perfonen, bie den Fürften 
umgeben, angemenbet, um denſelben über fich felbft, über die Staates 
verhältniffe und die Menfchen zu täufhen, und um bie Wahrheit aus 
feiner Nähe zu verbannen, fie gehäffig oder gefährlich zu machen, und 


*) „Fait omnino naturae ipsius temperamento d&yyolog, quod 
vitium etiam auxerat laboriosissimum illud vitae genus. 
. Doch fei er nicht zu weit gegangen, nisi tum commoveretur, cum de religionis 

causa sgebatur, aut adversus praefractos homines ipsi negotium 

erat.“ (Adami Vitae 'Theologor. 1653. 8. p.109.) Wer ſolchen DMeinungss 

defpoten nicht nachgibt, ift dann ein praefractus homo, _ 
*)'Oeuvres Posth. T. II, p. 47 fig. 


Gamarila. 215 


fo ihn mit dem Scheine der Selbftregierung zu täufchen, durch ihn 
aber weſentlich felbjt zu regieren und bie eignen Intereſſen und Leiden- 
ſchaften zu befriedigen. Geht doch Stubium und Bemühung bes gans- 
zen Lebens, alles täglihe und nächtlihe Sinnen dieſer Umgebenden 
häufig nur auf die Meifterfchaft in diefem einzigen Punkt, unb wenigs 
ſtens, wenn fie nicht felbft dirigiren Finnen, doch dahin, fich leicht und 
ſchnell mit denen zu verftehen, und für einen Antheil ber. Vortheile 
diejenigen zu unterftügen, Die jenes vermögen. Ein guter, wohlwol⸗ 
Inder Fuͤrſt, und ber auch ben Willen hatte, felbft zu regieren, wurde 
bekanntlich von feinem allmaͤchtigen Sünftling vorzuͤglich dadurch regiert, 
daß derfelbe ihm: zuerft das Gegentheil von bemjenigen mehr ‘oder min: 
ber eifrig anrieth, mas er eigentlich felbft wollte, und dann dem Fürs 
fin , wenn dieſer aus Freude am Selbftregieren und am Widerſpruch, 
oder durd) eine Greatur bed Guͤnſtlings auf den rechten Weg geleitet, 
basjenige vorfchlug, was der Günftling beabfichtigte, mit fcheinbarer 
Huldigung gegen die hohe Megierungsmeisheit, und mit bem Schein 
völliger Unbefangenheit zuſtimmte. Dabei wurden alle Perfonen, bie 
dem Fürften nahten, durch den Günftling oder feine Greaturen vorbes 
reitet zu demjenigen, was fie dem Kürften fagen durften, und wehe 
ihnen, ober menigftens ihren: Wänfchen und Gefuchen, wenn fie etwa 
ben armen Fürften durch unbequeme Auffchlüffe enttäufchten , wenn 
fie nicht, ihn zu beträügen und zu untgarnen, mithalfen! Einem verz. 
führerifhen Schmeichler und Geiftesüberlegnen, weltklugen Vertrauten 
tft fchmwer zu widerftehen. Aber wenn von allen Seiten,.von den 
verfchiedenften Menfchen, aufden einen Zweck einer Taͤuſchung und 
Mipleitung zufammengewirtt und wegen der Unterbrüfs 
ung der öffentlihen Wahrheit das Nesg nicht zerriffen 
wird, aledann bedarf e8 faft eines Halbgottes, um nicht beherrfcht zu 
werben. Im Scherz brachte man es durch ähnliches Zufammenmirken 
fhon dahin, dag Menfchen mit gefunden Augen blau für grün hielten. 
Und mie oft merden dieſe Zäufchungen durch Agenten unb erfaufte 
Merkzeuge, oder wenigſtens durch Mitwirkung fremder Höfe und ihrer 
Geſandten, und durch die Berichte der eigenen Gefandten in ber Fremde 
und der von ihnen veranlaßten Briefe unterftügt, fo dag eine halbe 
Welt für eine einzige XZäufhung zufammenzuflimmen fcheint. 
Wahrlich alfo fehr viele unumfchräntte Monarchen herrfchten un 
gleidy weniger felbft, als conftitutionelle, denen das Licht einer freien 
Preſſe den ganzen Hof und Staat erleuchtet, benen die freie Stimme 
der Wahrheit aller ehrlichen Bürger vernehmbar ift, und welche nies 
mals zum bloßen Werkzeug fremder Pläne fchändlicher und verräthes 
riſcher Höflinge, oder auch auswaͤrtiger Megierungen herabgemwürbigt 
werden können. 

Die Gefahren aber, welche für bie Staaten, für die Sürftenhäus 
fer und nicht blos für Freiheit, Macht und Wohtftand, fondeen auch 
für die Moralität der Völker aus ſolcher Camarilfa «Regierung hervor⸗ 


216 Camarilla. Gambacered. 


gehen, biefe mögen bie Geſchichten und Revolutionen von Frankreich, 
Spanien, Portugal und von noch manchem andern Staate bezeugen! 
(S. audı oben Barri.) Es gibt kaum einen tieferen Pfahl von menſch⸗ 
licher Becborbenheit, von Hinterlift, Selbftfucht und Lüge, von fres 
her Sittentofigkeit, von Meuchelmord und Raub gegen Kürften unb 
Völker, als die Geſchichten der Höflingsregierungen. Diefe Gefahren 
und Berwerflichkeiten aber find durch die außerorbentliche Gefchichte 
feit der franzöfifhen Revolution auch den Völkern fo nahe gelegt, fo 
offenbar und verhaft geworben, und es könnten irgendwo neue Unfälle, 
neue Bermegungen und Aufregungen, nicht etwa von einzelnen freien 
Meinungsdußerungen , fondern durch mögliche, größere Ereigniffe fo 
ſchnell herbeigeführt werden, daß gerade’ diefe Erwägungen "wahren 
und treuen Freunden und Dienern der Fuͤrſten und ber Voͤlker bie 
fiyerften Mittel gegen diefe Gefahren, bie Freiheit der Wahrheit und 
ferie kraͤftige Berfaffung am allerftärkflen empfehlen müffen. ’ 
' elder. 
Cambaceres (Johann Sacob), geboren zu Montpellier ben 
48. Ottober 1753, flammt von einer Familie, die ausgezeichnete Rechts⸗ 
gelehtte unter ihren Gliedern zählte, und hat ben Ruf, der fih an 
dieſen Namen Enüpft, nicht nur behauptet, fonbern ihm auch durch bie 
großen Dienfte, die er In diefem Sache geleiftet, neuen Glanz verlie⸗ 
ben. Dhme die Ereigniffe, welche die Revolution herbeigeführt, hätte 
os ſech wahrfchernlich in dem befchräntten Kreife bewegt, der feinem Les 
ben, durch ‚Geburt und Glüdsumftände, vorgezeihnet war. Die tiefe 
Erſchuͤtterung, unter ber die alte Ordnung der Dinge in Frankreich 
zuſammenbrach und ſich eine neue geftaltete, ſchuf auch ein neued Ges 
filecht und neue Menfchen, melche bie alten Namen und. VBerhältniffe 
verdrängten. Bei dem Ausbruche ber Revolution war er über bie ju⸗ 
gendlichen Jahre ber Begeiſterung, für welche die Natur ihn übrigens 
auch nicht empfänglich geſchaffen hatte, hinaus. Er folgte mehr dem 
Strome, von befien Wogen er fi) tragen und leiten ließ, al& daß er 
auf ihre Richtung Einfluß zu gewinnen gefucht hätte. Seine Öffentliche 
Laufbahn, die ihn zu den hoͤchſten Würden führte, begann mit dem 
Jahre 1792, wo er in.den Convent trat. Früher hatte er nur unters 
georbnete Stellen bekteibet, von denen bie eines Präfidenten bes peinlis 
den Gerichts feines Departements bie bedeutendfte war. Ihn zeichnete 
Keine von ben Eigenfhaften aus, die fi in Zeiten großer Bewegung, 
m Tagen der Gefahr und Noth geltend machen. Auch im Convente 
blieb er ohne fichtbaren Einfluß, ber fih nur in feiner Wirkfamteit 
zur Verbeſſerung ber bürgerlichen Gefege und der Rechtspflege aͤußerte. 
Es tag wohl .eben fo fehe in feinem Charakter, als in den Talenten, 
die er ausgebildet hatte, bag er jedes entfchiedene Auftreten, ale Volks⸗ 
führer, Mebner unb Staatsmann, vermied, und ſich ats Mechtögelehrs 
ter auf das Fach beſchraͤnkte, dem er ſich gewachſen fühlte. Bei den 
ſtuͤrmiſchen Verhandlungen, zu denen ber Proceß des Könige führte, 
in welchen feine Stimme Gewicht haben konnte, benahm er ſich mit 





Cambacıre. 217 


Nuger Vorfiht. Die Schuld des Könige gab er zu, beſtritt aber dem 
Convente das Recht, ihn zu richten, flimmte dafür, den Monarchen 
im Gefängniffe zu bewahren, und bie Todesſtrafe nur zu erkennen, 
‚wenn die feindlichen Mächte zu beffen Befreiung den Krieg gegen Frank 
reich führten. In Beziehung auf die unglüdlihe Familie Luds 
wigs XVI. zeigte er Gefinnungen der Milde und Mäfigung, bie eine 
ehrenvolle Anerkennung verdienen. Er bot feinen ganzen Einfluß auf, 
um dem Monarchen die Erlaubniß ‚gu ermirken, fich mit feinen Räthen 
und den Gliedern feiner Kamilie frei zu unterhalten, und fih einen 
Beichtvater nad) feiner Neigung und feinem Glauben zu wählen. We⸗ 
niger treu blieb er fidy in feinem Benehmen gegen Dumouriez, befs 
fen Vertheidigung er übernommen hatte, um einige Tage fpäter als 
fein Anklaͤger aufzutreten. Indeſſen konnte eine beffere Einficht feine 
Ueberzeugung geändert haben. Das Dauptverdienft, das fih Cams 
baceres um fein Vaterland erwarb, befteht in dem Antheil, welchen 
er an der Verbeſſerung der bürgerlichen Gefeggebung und ber Rechtes 
pflege gehabt, ein Verdienft von hohem Werthe, das gewonnene Schlach⸗ 
ten aufmiegt, und ihm unter den erften Männern feiner Zeit eine wohls 
verdiente Stelle ſichert. Das mar auch die Aufgabe feines Lebens, mit 
beren Loͤſung er ſich unermuͤdlich befchäftigte, die aber unter Nap o⸗ 
Leon erft zu Stande kam. Schon im Sahre 1793 hatte der Eonvent 
nem Ausichuffe, defien Mitglied Cambaceres geweſen, bie Abfaf- 
fung eines Entwurfs zu einem bürgerlichen Geſetzbuche aufgetragen. 
Auch ward ihm und bem berühmten Mechtögelehrten Merlin von 
Douai die Revifion aller in Frankreich beftehenden Gefege zugewiefen. 
Die politifhen Stürme, die das Land erfchütterten, die Kämpfe der . 
Parteien, welche den Sisungsfaal der gefeßgebenden Berfammlung zum 
Schlachtfelde machten und die dringende Wichtigkeit der dußern Anges 
legenheiten ließen indeflen das große Werk zu keinem gebeihlihen Er⸗ 
folge kommen. Zu den Ereigniffen bed 9. Zhermidor, an welchem 
Mobespierre mit feinen Freunden fiel, hat er nicht mitgewirkt, wie 
ee allen ftürmifchen gefahrvollen Auftritten fremd geblieben ifl. Sein 
Einfluß flieg mit der wiederkehrenden Ruhe und Maͤßigung, die auf 
die heftige Bewegung und Uebertreibung folgten. Als Präfident bes 
Convents ſprach er deffen Wünfche und Hoffnungen zur Wiederherftels 
fung und Befeftigung des innern und dußern Friedens aus. In ders 
felben Eigenfchaft fiel ihm ber Auftrag zu, eine Lobrede auf Roufs 
feau zu halten, als deifen Afche im Pantheon beigefegt wurde. Er 
that, was feines Amtes war, obgleich ſich zwifhen ihm und dem Buͤr⸗ 
ger von Genf keine nahe Verwandtſchaft finden mochte. Weberhaupt 
befaß er das Vertrauen der Republitaner nicht in hohem Stade. Sein 
unentichiebenes Benehmen bei dem Procefie des Königs, feine Worliebe 
für die friedlichen Genüffe des Lebens, feine Abneigung gegen gewalts 
fame Maßregeln und ertteme Mittel hatten Ihn den Parteien verdaͤch⸗ 
tig gemacht, welche bie Gefeggebung und bie Regierung theilten und 
abmechfelnd beherrſchten. Die Parteien hatten ihn nicht verkannt. 


218 Sambaceres. 


Charter, Lebensweiſe, Beſchaͤftigung und Neigung befreumbeten ihn 
der Monarchie, wenn er es audy nicht geftehen durfte. Unter ber 
Herrfchuft des Directoriums, deſſen Schwäche den Leidenfchaften der 
Partelen freien Spielraum gab, trat’er In den gewoͤhnten Kreis feiner 
Wirkſamkeit zuruͤck und befchäftigte ſich, auch ald Mitglied des Rathes 
der Fünfhundert, mit Gegenfländen ber bürgerlichen Geſetzgebung. Als 
Sieyes in das Directorium kam, beftimmte er ihn zur Annahme 
der Stelle eines Juſtizminiſters. Mer 18. Brumaire machte aller Uns 
“ entfchiedenheit und bem Streite der Parteien ein Ende. Der Wille 
eines Mannes, ber audy die Kraft befaß, zu Eönrien, was er wollte, 
trat, einigend und ordnend, in bem Gewuͤhle der feindſeligen Intereſ⸗ 
ſen und Leidenſchaften auf, und, wie bei jenem roͤmiſchen Dichter auf 
die Drohung des Goͤttes der Gewaͤſer, legten ſich die brauſenden Wo⸗ 
gen des empoͤrten Meeres auf fein Machtgebot. Bonaparte, ber ſei⸗ 
ne Leute kannte und fie zu wählen und zu behandeln wußte, gab ihm 
bie Stelle des zweiten Conſuls der Republil, est waren bie guten 
Tage für Sambaceres aufgegangen; es folgte ein Zuftand der Dinge, 
der feiner Natur entfprah. Er Lonntei feine ausgezeichneten Talente, 
feine Gefchäftstenntnig und feine gründliche Gelehrſamkeit im Fache 
der Rechtswiſſenſchaft geltend machen, feiner Neigung zum Genuffe bes 
Lebens nachgeben und fich zwiſchen die ſchweren Arbeiten feines Berufs 
und bie gefelligen Freuben, zu benen befonders bie ber Tafel gehört 
haben follen, theilen. An allen Verbeſſerungen in der bürgerlichen 
Gefeggebung und der Gerechtigkeitspflege, die allein bie Regierung N as 
poleon’s unfterblih machen würden, hatte Cambaceres einen 
großen Antheil. Sowie ber Beherrfcher Frankreichs fih in feiner Macht 
erhob und befeftigte, 309 ex den Freund, Gehülfen und Diener nad. 
Er warb zur Würde eines Herzogs von Parma und Erzkanzlers des 
Reiche befördert und fand auch Mittel, die Seinigen, Brüder und Nef⸗ 
fen, anftindig zu verforgen. Napoleon hat immer ein großes Vers 
trauen aufihn gefegt, und man muß geftehen, er hat es nie getäufcht. 
Bei der Rückkehr der Bourbons konnte er den Wirkungen ber Res 
action nicht entgehen, und warb als Koͤnigsmoͤrder geächtet, er, den 
die Königsmörder verbächtig und gefährlich fanden, weil er nicht uns 
bedingt für den Tod Ludwigs XVI. geftimmt. Die Zeit feiner Vers 
bannung brachte er zu Amfterdam und Brüffel zu. Die Lönigliche 
Regierung nahm Indefien, eines Befjern belehrt, am 13. Mai 1818 
ihr Urtheit zuruͤck und fegte ihn in den Genuß feiner bürgerlichen und 
pofitifchen Rechte wieder ein. Cambaceres begab fih nad Paris, 
wo er in aller Stille lebte und am 8. März 1824 verfchied. Er hat 
feine Denkwuͤrdigkeiten gefchrieben , beren ſich bie Eöniglicye Regierung 
bemächtigt haben fol, um ihre Bekanntmachung zu verhindern. Die 
Stellung diefes Mannes, in einer fo hoͤchſt wichtigen, inhaltſchweren 
Zeit, feine ruhige Beobachtungsgabe und leidenfchaftlofe Stimmung 
berechtigten zu der günftigften Meinung von bem Inhalte und 
MWerthe eined Werks, das, wenn es unverfälfht und unverflümmelt 


Cambaceres. Ganada. 219 


mitgetheilt werden follte, unter den intereſſanteſten Denkwuͤrdigkeiten 

unferer Zeit eine ausgezeichnete Stelle einnehmen wird. 
' — Weitzel. 

Cameralwiſſenſchaft, Cammerguͤter u. ſ. w., ſ. un⸗ 


Cammer, ſ. Kammer. 

Campo Formio, ſ. Friedensfhlüffe und franzoͤſi⸗ 
ſche Revolution. 
: Canada. Im Norden ber Vereinigten Staaten von Nordame⸗ 
rika erftredt fi) vom 42’—520 N. Br. und vom 2839031209. 2. 
das britifche Beſitzthum der beiden Canadas, das auf 12,000 D Mei⸗ 
len ungefähr 900,000 Einwohner enthält, von denen über zwei Dritt: 
theile auf Untercanada kommen. Untercanada, vorzüglid von 
Stanzofen bevölkert, bildet in feinen bewohnten Theilen das Tiefthal 
bes St. Lorenzftromes, der, eine Strede lang den Namen Niagara, 
eine andere den Namen Gataraqui führend, aus den großen Seen Ober⸗ 
canadas entfpringt, nad einem Laufe von 400 Meilen bei Cap Ro: 
ſiers in einer Breite von 20 — 30 Meilen in das Meer ſtuͤrzt. Es 
grenzt nordmeftlih an Meumales, nordöftiih an Labrador und Neu⸗ 
braunfchmweig, Öftlih und füblicdy an bie vereinigten Staaten, ſuͤdweſtlich 
an Obercanada und umfaßt 7009 Mein. An Strömen, Seen 
und Gebirgen reich, unter welchen letzteren die Lanbeshöhe das bedeu⸗ 
tendfte Gebirg von ganz Canada ift, aber auch von Wäldern und 
Moräften erfüllt, ift e8 nur an den Seiten des St. Lorenzſtromes im 
Gultur genommen, im Webrigen aber Wald und Wuͤſte. Trotz ber 
Rauheit des Klimas, das in ftrengfter Winterkätte und heißen Soms 
mern abmechfelt, erfreut es fich doch einer Eräftigen Vegetation, die es 
mefentlih zur Aderbaucolonie werden lief. Es verforgt Weſtindien 
mit Korn und Vieh, die britifche Flotte mit ihrem Bedarf an Bau> 
holz, baut trefflihen Tabak, ift der Sitz des Pelzhandels und michtiger 
Zifchereien und enthält einen Reichthum von nusbaren Mineralien, 
samentlih Eifen, Kupfer, Blei, Schwefel und Steintohlen. Seine 
wichtigften Pläge find: Quebek mit 30,000 und Montreal mit 28,000 
Einwohnern. — Dbercanada, das mit feinen 5000 Meilen vors 
züglic) die Umgebungen der vier großen canadifchen Seen begreift, ift 
größtentheild von Briten bevölkert, hat ein mildes, treffliches Klima und 
einen Auferft ergiebigen Boden. 1783 hatte es, mit Ausfchluß dee 
Sndianer, kaum 5000, jegt über 250,000 Einwohner. Es grenzt an 
Untercanada und an die vereinigten Staaten, gegen welche ed einen 
bedeutenden Schmuggelhandel treibt. Die Hauptſtadt York am Ons 
tariofee hat erft 4000, die wichtige Handelsſtadt Kingston, ber Stas 
pelplag zwifchen Untercanada und dem nordweſtlichen Amerika, 5000 
Einwohner. Doc, entftehen fortwährend neue Städte. — Die größten 
Naturmerkmwürdigkeiten Canadas erzeugt fein gewaltiger Rieſenſtrom, 
der an ber Grenze zwifchen Canada und Newport bei bem Hort Nia- 
gara in einer Breite von 4730 Fuß 150 Fuß herabflürzt, jede SL 


220 Canada. | 


nute 670,000 Tonnen Waſſer herunterwälzend; ee iſt durchgehends 
ſchiffbar, und 80. Meilen weit felbft für große Kauffahrteifhhiffe. Dann , 
die Seen, von benen der Öberfee 1100, der Huronenfee 872, ber Exie« 
fee 370 und ber Ontariofee 248 DMeilen umfoßt, und beren Ver⸗ 
bindung theil® durch Fluͤſſe, theild durch Gandie vermittelt wird. — 
Don Indianern leben noch etwa 30,000 auf herrlichen Jagdgruͤnden 
in friedlihem Verkehr mit den civilifirten Bewohnern, bie Mefte der 
ſechs Nationen, welche das Völkerbündnig der Irokeſen bildeten. Die 
großen Huronen find ausgeftorben. Die Algonliner In Untercanaba 
haben die Sitten der Weißen angenommen. Dagegen leben bie Abis 
rondaks an den Seeufern im urſpruͤnglichen Zuftande. 

Der größere Theil von Canada ift von Sranzofen und unter 
feanzöfifchee Herrfchaft colonifirt worden. Doch haben die Engländer 
das Verdienſt der erften, 1497 unter Xabotto erfolgten Entdedung 
dieſer Küften. Als die Spanier etwas fpäter biefeibe Entdedung mach⸗ 
ten, nannten fie das Land Cabo de Nada (dde6 Land). Daher der. 
Name. Die Rauheit des Klimas fchredite lange die Einwanderer ab 
und nur einzelne Abenteurer wagten fi zum Behufe des Pelzhandels 
in das von gemaltigen Indianerſtaͤmmen durthftreifte. Land, während 
an den Küften von Zeit zu Zeit Fifchereifchiffe, namentlich Mobbenjdger,; 
ſich einfanden. Doch machte 1534 der Franzoſe Cartier auf die Wich⸗ 
tigkeit des Landes aufmerffam.‘ Ein kleines Dorf, zehn Lieues von 
Quebek, trägt noch feinen Namen. Seit 1608 ward die Colonifirung 
des Landes von Frankreich betrichen; zuerft durch den Gouverneur 
Champlain, - deffen Andenken nod in dem Namen eines jest zum 
Gebiete der vereinigten Staaten gehörigen Sees erhalten wird. Unter» 
canada erhielt damals den Namen Neu⸗Frankreich, und getrennt von 
beiden Canadas mar der Öftlihe Kuͤſtenſtrich, Akadien, jetzt Neufchotts 
land und Neubraunſchweig, damals auch zum Schuge ber Fiſchereien 
mit fennzöfifchen Forts befegt. Canada wird zur Zeit feiner erften 
Niederlaſſungen als ein unermeßliher Wald befchrieben, der nur uns 
eheuren Heerden wilder Thiere und wenig zahmeren Menfchen zur 

ohmung diente. Man hat häufig den damaligen Zuſtand Canadas, 
wie uͤberhaupt deſſen Klimas und Bodenverhältnifje mit denen des alten 
Germanien, bevor die Givilifation deſſen Rauheit milderte, verglichen; 
nur war das Schickſal feinee Urbewohner weniger günfttg und bie 
Neueuropaͤer hatten beffere Mittel, die Kraft der rohen Naturföhne gu 
brechen, als die Römer. Die Indianer verfchuldeten ihre ſpaͤteres Elend 
zuerſt an ihren thierifchen Landsleuten. Denn kaum hatten fie die ver» 
derblihen Genüffe, die europäifche Handelſsleute mitbrachten, kennen ges 
lernt und bemerkt, daß fie mit ben Erzeugniffen ihrer Jagd diefelben 
eintaufchen könnten, als fie einen unausloͤſchlichen Keleg mit ben fried⸗ 
lichen Geſchlechtern des Malbes zu führen begannen. Tanaba war ba= 
mals ungemein reich an pelztragenbden Thieren, und zwar an foldyen, bie 
ben Europaͤern ſchon aus ben noͤrdlichen Ländern Europas und Afiens 
befunnt, in Canada aber im vorzuͤglicher Menge amd Guͤte vorhanden 


Canada. | 221 


warm. Das Haar des canadifhen Iltis iſt dunkler, glaͤnzender und 
feidenartiger , als da6 des europäifchen.” Dermeline fanden fi), wie bei 
uns die Eichhoͤrnchen; Bobel, Marder, Luchfe, Fuͤchſe und Bären in 
ziemlicher Menge. Vor Allem aber eine unermeßliche Zahl jenes friedli⸗ 
chen und klugen Gefchlechtes der Biber, das umgeftört neben den Sin 
bianen, die es in Vielem beſchaͤmte, gelebt harte, bis bie Europaͤer 
ihre farbigen Brüder darauf festen. Canada ift wefentli durch den 
Pelzhandel bevöitert worden und biefer hatte auch auf feine politifchen 
Verflechtungen vielfachen Einfluß. Nah und nad) verminderten fid) 
Indianer und Thiere und Canada iſt jest wohl nach ein Hauptfig der 
in dem Pelzhandel befchäftigten Capitalkraft, findet aber die Öbjecte dies 
ſes Handelszweiges nicht mehr wefentlih in feinem eignen Gebiete. 
Wäre daher fein Boden und Klima nicht ber Verbefferung durch Cultur 
fo fähig geweſen, fo würbe es vielleicht wieder verlaffen worden fein. 
So ater ging der Aderbau der Jagd und dem Handel nad, machte 
fi allmaͤlig am Rande der Seen und Zlüffe ſeßhaft und bildete eine 
folidere Grundlage ber Civilifation, als jene gemwagten Unternehmungen. — 
Ueber Pelzbandel und Fifcherei kamen die Franzoſen frühzeitig mis Eng⸗ 
land, das alimdlig die maͤchtigſte Gewalt im noͤrdlichen Amerika ges 
worden war, in Streitigkeiten. Namentlid) machten beide Staaten auf 
Aladien Anſpruch, bis dies im Frieden von Breda (31. Juli 1667) 
Frankreich zugeſprochen ward. Länger dauerten die Feindfeligkeiten über 
tie Fiſchereien von Neufoundland. Die Grundſaͤtze ber Handels» und Co⸗ 
lonialpolitik waren damals noch weniger aufgeflärt als jetzt und fo konn⸗ 
ten ſich auf dem nördlichen Gontinente von Amerika unmoͤglich mehren 
große Nationen nebeneinander vertragen. Die Dolländer waren ſchon 
vertrieben, nun fragte es ſich, ob England ober Frankreich dert herr⸗ 
fhen follte. Die Gegenden um die großen canadiſchen Seen find lange 
ber Schauplag Bleiner Kriege geroefen, weldye die englifhen und frans 
söfifhen Truppen mit einander führten, oft während die Hauptflaaten 
in Frieden maren;--ebenfo oft ber Tummelplatz vielfacher Mänte, durch 
welche vorzuͤglich franzöfifhe Schlauhelt die Indianer zu gewinnen und 
auf bie feindlichen Niederiaffungen zu beten fuchte. Die Verhinderung 
des Schleichhandels war in jenen Gegenden unmoͤglich, und um fo thoͤ⸗ 
richter war es, daß man dort einem Prohibitivſyſtem huldigte, mas voͤl⸗ 
ig unausführbae war und einen raſtloſen Eleinen Schmugglerkrieg ans 
ſchuͤrte. — Damals ward über die amerilanifhen Befisungen meift in 
Europa entfhieben. Den utrechter Frieden Eonnte England bictiren und 
bedimg fich darin bie Abtretung von Neufchottiand und der Juſel Neu⸗ 
foundland, fo wichtig Damals befonder6 für den Stockfiſchfang. Da aber 
Erankreic der Antheil an diefem Erwerbszweig vorbehalten blieb, fo erwuch⸗ 
fen auch hieraus mandherlei neue Reibungen. Bedenk.icher mar noch der Arge 
wohn, der durch die Bemühungen der Franzoſen erweckt wurde, ihre 
canadifhen Befisungen duch eine Reihe von Forts und feflen Block 
werten mit Louifiana in Verbindung. zu fegen. Als nun in Europe 
dere Kampf zwifhen England und Frankreich, durch die Schuld des letz⸗ 


‚222 Canada. 


teren, abermals ausbrach, fo unternahm auch In Ameilka eine britifche 
Armee die Eroberung der franzöfifchen WBefigungen. Im Jull 1758 
ward Cap Breton, 1759 durch den am 13. September unter Gerieral 
Wolff erfochtenen Sieg bei Quebek Canada erobert. Der Feldherr ers 
kaufte den Sieg mit feinem Leben. Seinem Andenken ift noch 1835 
ein Dentitein gefegt worden... Im parifer Frieden vom 10. Februar 
1763 trat Frankreich ganz Canada nebſt Cap Breton an England ab, 
entfagte allen Anfprüchen auf Neufchottland und zu Bunften Spaniens 
auch dem Befige von Louiſiana, wofür Spanien beide Florida -an Eng» 
and abtrat. Go biieb damals Frankreich von allen feinen Befigungen 
auf dem Feſtlande Amerikas nur Guiana. 3 

Obwohl bie damalige Bevoͤlkerung Canadas durchgaͤngig franzoͤſi⸗ 
ſcher Abkunft war, ſo hat ſie doch den Uebergang unter engliſche Herr⸗ 
ſchaft nicht ungern geſehen, oder wenigſtens ſich nach wenigen Jahren 
willig hineingefuͤgtt. Nur im eignen Lande mag ber Franzoſe fremde 
Herrſchaft nicht dulden. Einmal außerhatb Frankreichs angefiedelt, weiß 
er den Vortheil befferer Megterung mohl zu wuͤrdigen. In der That 
aber waren bie Canadier von dem franzöfifchen Gouvernement fehr bes 
drüdt, fie waren fo behandelt worden, wie diefes damals den Kleinen 
Bürger und Bauer im eignen Lande behandelte. Wohl mußte das harte 
Wort einen furhtbaren Nachhall finden, das General Montcalm zu eb 
'nem duch bie Militairfrohnen erfchöpften Coloniſten ſprach, der ihm 
fußfaͤllig vorſtellte, wie er und ſeine Nachbarn bereits Alles hergegeben 
haͤtten, und ihm ſeine beiden letzten Pferde den Abend vorher vor Muͤ⸗ 
digkeit gefallen wären. „Nun,“ ſagte der General mit finſtrem Blicke 
und indem er mit feinem Ludwigskreuz ſpielte,, Ihr habt ja noch ihre 
Häute behalten und damit könnt Ihr wahrhaftig zufrieden fein.” In 
diefer Behandlung lag der wahre Grund der Belchwerden, die man das 
. mals in Frankreich anftellte, daß nämlich, mit Ausnahme der Pelzhaͤnd⸗ 
fer, Bein Stanzofe in Canada reich werbe. Die immertwährenden Kriege, 
die defpotifche Regierung und bie Habfucht der Geiſtlichkeit erfchöpften 
das Land und erſtickten bei den Einwohnern den Trieb zum Fleiße. Der 
Ganadier mußte fih gluͤcklich ſchaͤtzen, wenn er nad) Bezahlung ber Zehn⸗ 
tm und Abgaben noch einen Beinen Vorrath für den Winter zuruͤckle⸗ 
gen konnte. — Mit der englifchen Verwaltung veränderte ſich dies Als 
led. Die: Engländer, die diefe Goloniften ohnehin williger fanden; als 
ihre eignen Landsleute, übten Gefeklichkeit; fie waren fiug genug, ‚die na⸗ 
tionellen Vorurtheile, die Ehrenrechte der Seigneurs, die Sprahe und 
Sitte zu achten, und hüteten ſich namentlich, bie religisfen Anfichten 
eines ftreng Fatholifchen Volkes zu verlegen. Schon 1774 warb die Teſt⸗ 
acte in Canada abgeſchafft und dies vorsüglicd trug dazu bei, daß Dife 
fenter8 und katholiſche Briten, daß namentlich Schotten und Irlaͤnder 
fidy in Obercanada anfiedelten, wo ihnen die Rechte offen ftanden, welche 
Intoleranz im Mutterlande verweigerte. So bildete ſich dort ein ſchoͤ⸗ 
nes Verdaͤltniß gegenfeitigee Duldung, wie e6 zur damaligen Zeit in 
Europa fo feltm war. Die Kathedrallicche von Quebek wurbe von bei- 


Canada. 223 


ben Gonfeffionen in freumnblicher Eintracht benutzt. Dermed würden bie 
Ganabdier ſich vielleicht. den Vereinigten Staaten zur Zelt der amerikani⸗ 
ſchen Revolution angeſchloſſen haben, wenn fie die Kraft gehabt hätten, 
‚felbft einen Streich dafür zu thun, ſtatt abzuwarten, daß ihre Nachbarn 
fie eroberten. Letzteres warb auch von den infurgieten Provinzialen vers 
ſucht, die gar wohl fühlten, daß ein fo mächtiger Stuützpunkt, wie die 
Canadas den militairifhen Operatienen der Engländer darboten, ihnen 
bei dem begonnenen Kriege ſehr gefährlich werden muͤſſe. Bereits ins 
DOctober 1775 fielen die Generale Arnold und Montgomery in Canada 
ein und, belagerten Quebek. Aber der General Garleton vereitelte die 
Unternehmung durch feine heibenmütbige.. Vertheidigung diefer Feſtung. 
Am Mai 1776 mußten die Amerifaner wieder abziehen, nachdem. ber 
tapfte und Eriegstundige General Montgomery felbft bei einem &turme 
gefallen war. Die natürliche Befchaffenheit jener Länder erleichtert jeden 
Vertheidigungskrieg und erfchwert jeden Angriffskrieg. Darum tennten 
weder bit Engländer von Canada aus die infurgirten Provinzen, noch 
biefe Canada erobern. In beiden Faͤllen ſtritt das Land für den Ver⸗ 
theidiger. Canada ward nun der Waffenplag, von welchem aus die Eng⸗ 
länder in die Vereinigten Staaten einzubringen verfuchten. : Dort fans 
melte fi) namentlich die Erpebition des General Burgoyne, welche mit 
der Abfchneidung und Gefangennehmung dieſes ganzen ausgezeichneten 
-Corps endigte. Doch biieb Canada unbefteitten den Engländern. — 
Durch Erfahrung gewigigt, fuchten dann auch die Engländer. biefe Pros 
vinzen durch freifinnige Anordnung der Verfaffung und Verwaltung in 
ihrer Zreue zu befeftigen. Schon 1788 gab das britifde Parlament 
das Belleuerungsrecht, mit - Ausnahme der Handelsreglements, für die 
Ganadas auf. Im Fahre 1791 warb durch eine Parlamentsacte bie 
BVerfaffung von Unter: und Obercanada beflimmt. In Untercanada ift 
die erecutive Gewalt in ben Händen eines Generals Gouverneurs, dem 
die Unter sGouverneure von Obercanada, Neufchottland, Neubraunſchweig 
und Prinz Eduard :Sinfel nur in militairifcher Beziehung untergeben find. 
Jedem Gouverneur in beiden Canadas fteht ein Parlament zur Seite, 
das in zwei Kammern zerfällt. Die erfte, das Council, befteht in Ober⸗ 
canada aus fieben, in Untercanada aus funfzehn Mitgliedern und wird 
vom Gouverneur auf Lebenszeit ernannt. Die zweite, die Affembiy, 
in Obercanaba aus ſechzehn, in Untercanada aus funfzig Mitgliedern 
beftehend, wird alle vier Jahre von den Grundeigenthuͤmern erwählt *) ; 
es müßte denn der Gouverneur bie Affembiy auflöfen, wo fogleich eine 
Neuwahl. erfolgt. Bills, die von beiden Häufern und vom Gouverneur 
genehmigt worden, werden zum Gefege und bleiben es, wenn nicht der 
König in zwei Jahren fein Mißfallen bezeigt. Die richterlihe Gemalt 
iſt unabhängig und nach englifcher Art gebildet, jedoch in Untercanada 
mit treuer Bewahrung der alten franzöfifhen Gewohnheitsrechte. Unter 





2) Eine Eigenheit biefer Berfaffung ift es, daß auch bie Frauen 
Stimmredht haben. 


224 Canada. 


dem General⸗Gouverneur von Canada ſtehen auch bie Handelsfactorrien 
in Neuwales und in den weſtlichen Binnenlaͤndern ber freien Indianer. 
.. Sn Untercanada befennt fih die Mehrzahl der Einwohner zur katholl⸗ 
(hen Religion, bie ihre Bifhöfe zu Quebek und zu Montreal hat. 
In Quebek iſt für. die Befagung, die Gouvernements s Beamten und bie 
englifchen Einwohner ein Bisthum der englifhen Hochkirche. Das Land 
ift in vier Diſtricte getheilt, die in 21 Graffdjaften zerfallen. Pa 
Dbercanadba iſt die Epifcopalliche die herrſchende; doch genießen bie 
Diffenters, vorzuͤglich aus Methodiften und Presbyterianern beftehend, 
des gefeglichen Schuges. Obercanada zerfällt in 10 Diſtricte und biefe 
theilen fi in 19 Graffchaften. In Untercanaba iſt franzöfifhe Sprache 
und Sitte vorherefhend. Die Franzoſen find überall liebenswürdig, fü 
batd fie fich des. Gedankens an Herrſchaft entfchlagen haben, und fo haben 
ſich in Canada gerade die für das gefellige Leben angenehmften Seiten 
des franzöfifhen Charakters, Gaftfreiheit, ‚herzliche Froͤhlichkeit, Gefaͤllig⸗ 
Zeit, lebendige Theilnahme und jene Bonhommie erhalten, für welche 
die deutſche Sprache kein völlig entfprechendes Wort hat. In Obertds 
nada dagegen wohnen im Wefentlihen nur Engländer. "Die neue Ber 
faſſung, bie fo viel mehr gab, als die franzöfifchen Canadier unter ihrer 


nationellen Megierung genoffen hatten, und die Vorſicht, 'mit weiber . 


die unter eime ganz franzöfifche Bevoͤlkerung verfegten früheren Gouvet⸗ 
neurs fie. handhabten, befriedigten alle Anfprüche, und die Anhaͤnglichkeit 
der Tanadier befeftigte ſich dergeftalt, daß fie auch die Probe bes Krieges 
zwiſchen England und den Vereinigten Staaten von 1814 beftehen 
konnte, ber wefentlih an den Grenzen und auf den Seen von Canada 
geführt wurde. Der Friede von Gent (24. December 1814) .behisit eine 
Grenzberichtigung nad der Seite von Canada vor. . An dem Kriege 
nahmen auch die canadiſchen Indianer, die von den Engländern ſtets mit 
größerer Billigkeit behandelt worden find, als von den Amerikanern, leb⸗ 
haften Antheil. Webrigens follen die Indianer, hefonders die. Aigenkiner 
in 'Untercaneba, die Erinnerung an die franzöfifche Zeit noch treu und 
mit Vorliebe bewahren, da bie Sranzofen dem wilden Leben günftiger 
getwefen fein und fie.damals guten Abfag für ihre Pelzwaaren fanden. 
In der That mögen die Sranzofen bie Wilden richtiger behandeln, nis 
die civilifirten VBefiegten. Jene betrachten fie ald Kinder, als Natur 
merkwuͤrdigkeiten und laſſen fie ihren feltfamen Bang gehen. — Nah 
dem ‚Kriege vermehrte ſich auch die eugliſche Bevoͤlkerung von Unterca⸗ 
nada und darin lag eine Haupturſache mancher Mißhelligkeiten, die zwi⸗ 
ſchen den Vertretern des Volks und dem Gouuernement ausbrachen. 
Fuͤr den engliſchen Tiers Parti gehört Die Herrſchaft der Hochkirche zum 
Begriffe von Freiheit. und Unabhängigkeit, und Engländer von der Art, 
wie fie die Verfaſſung Altenglands bedroht glauben; wenn bie iriſchen 
Katholiten emankipirt mwärden, mochten. nuc mit Widerwillen fehen, baf 
in Canada franzöfifches Volksthum und katholiſche Neligion ihr Recht 
erhielten. Nur mochten auch bie Gouverneurs zuweilen etwas unvorſich⸗ 
tiger handeln, weil fie In der englifchen Bevölkerung. eine Stge fanden. 


Canada. 2 225 


Haben doch auch in Itland die 800,000 Giſcopalen fo manchen torpiftis 
(en Vicekoͤnig ermuthigt, den 6 Millionen: Rrog zu bieten. Das 
her entflanden Meibungen, veranlagt duch ſchwache Verſuche der engli⸗ 
fehen Eanadier gegen die Mechte ihrer franzoͤſifchen Landsieuie und mehe 
noch durch die Beforgniffe der Letzteren vor ſolchen Verſuchen, zu denen 
fie wenigftens den Willen vorauszufegen Grund hatten. Die Oppofition 
der franzöfifhen Partei, an deren Spige namentlidy in neuerer Zeit eig 
weicher Golonift, Namens Pepineau, getreten ift, war um ſo natürlicher, 
aber auch um fo-gefährlicher, je näher ſich Schug und Huͤlfe in ber 
Nachbarſchaft der Vereinigten Staaten darbot. Im Parlamente zu 
London fanden ihre Gegner, ſelbſt bei, gewiſſen Reformers, zuweilen wil⸗ 
ligeres Gehör als fie ſelbſt, da engliſche Voruttheile ſich in das Spiel 
wiſchten. Indeß bie Verwaltung der Whigs war uͤber dieſe Vorurtheile 
erhaben und fo ward 1835 der Graf von Gosforb ale außerordentlicher 
Bevollmächtigter der Krone mit zwei Mitcommiffarien nah Canada abr 
gefendet, deſſen eben fo fefte als verföhnende Schritte zwar ein großes 
Geſchrei der englifhen Partei, aber auch einen. fehe günftigen Eindrud 
bei: der franzöfifhen Bevölkerung erregt haben. In Obercanada ift nies 
mals Unzufriedenheit geweſen. Einkünfte zieht der englifche Staat von der 
Canadas nicht ; vielmehr überfieigen hie Kronausgaben die Einnahmen. 

So bat England eigentlich kein bringendes Intereſſe an dem Bes 
fige diefer Länder, wenigſtens feines, das von ‚ewiger Dauer fein müßte. 
Daß ed‘ ſich mit wichtigen Beblrfniffen aus Canada verforgt, das ift 
nue zum Vortheil des legteren, und wuͤrde ihm auch auf dem lege 
des freien Handelsverkehrs möglich ‚fein. Daß es von dort aus einen 
einträglichen Schmuggelhanbel nad) ben Vereinigten Staaten treibt, das 
iſt nur die Schuld des Tarifs dieſer legteren und wird mit deſſen Aen⸗ 
derung fich Ändern. Allerdings hängt von dem Beſitze Caradas zum 
Theil die Sicherheit der Übrigen britifhen Beſitzungen in diefen Gegen» 
den ab. Aber der ganze Colonialbeſitz hört auf, werthvoll zu fein, ſo⸗ 
bald die civilifirten Staaten jener freifinnigen Handelspolitik hulbigem, 
die, auf dem Grundſatz der Gegenfeitigkeit beruhend, dem Monopol ent 
fagt. Yuf der andern Seite müßten ſehr große Mißgriffe von Selten 
des englifhen Gouvernements gefcheben, wenn hiefe Provinzen ernſtlich 
dem Beifpiele der Bereinigten Staaten folgen und ſich von einem Staate 
losreißen follten, dee wenigftens nicht auf ihre Koften Vortheile ſucht, 
der ihren Einwohnern die Vortheile eröffnet, Mitbuͤrger eines Weltvolks 


"gu fein, dee fie mit der ganzen Macht Großbritanniens beſchuͤtzt und 


bei ſicherer Erhaltung ber Freiheit doch auch dem Staatsleben den. Cha> 
rakter dee Feſtigkeit und Ordnung verleibt. Diefe Canadier regieren ſich 
im Wefentlichen felbft, fo gut wie ihre Nachbarn. . Der Gouverneur. iſt 
beingend veranlaßt, fie mit Vorſicht zu behandeln, ba er eine ſchwete 
Berantwortlichkeit in England zu fürchten hat, wenn anbedachte Schritte 
zu Unheil führen folltm. Im Nothfall können Recourſe nor Englands 
Krone und Parlament gebracht werden. Auf ber anderw Geite wird 
dem Gouverneur das gebührenbe Anſehen nicht leicht entzogen, ba Fr 
Otaats sEeriton. LII. 15 


226 Canada. -Banning. 


durch die britifche Macht: geftiigt iſt und als ber Delegat ber Tönigfichen 
Gewalt erfcheint, die auf die Voͤlker nie ohne Einfluß bleibt. Der hoͤchſte 
Beherrfcher endlich iſt entfernt, allen kleinlichen Imtereffen entrüdt, 
hat Leine Gelegenheit, dem Einzelnen wehe ju thım und tritt nur hei 
großen und wichtigen Veranlaffungen, nach teifer, forglicher Erwägung hans 
deind, in der Megel alfo fhügend und fördernd ein. Das Verhaͤltniß 
erinnert einigermaßen am jene Politik gewiſſer italtenifcher Republiken des 
Mittelalters, die fich ihren Pobefta allemal vom Auslande kommen lies 
Ben, dadurch allen Mahlumtrieben ein Ende zu mahen. Dafür hatten 
fie dann zu- beforgen,. daß der fiembe Pobefta ſich mit Gewalt auf 
feinem Poften- zu behaupten ſuchte. Auch von bdiefer Gefahr find Laͤn⸗ 
der befreit, die fi) von dem Stellvertreter eines Königs regieren lafien. — 
Die engfifhe Regierung ſchenkt auch den Canadas Vertrauen und ber 
befte Beweis davon iſt die dem Verfahren mancher anderer Staaten ganz 
entgegengefeste Mafregel, daß zu den Belegungstruppen in dem katho⸗ 
liſchen Untercanada geößtentheild katholiſche Irlaͤnder gemählt werben, da⸗ 
mit ja kein Gegenſatz zwifhen Soldaten und Bürgern entſtehe. Die 
Engländer find über die Politik hinaus, die nur darauf denkt, ein recht flars 
tes Schugmittel gegen eine Gefahr zu rüften, ohne zu erwägen, daß 
biefes Drittel vielteicht die Gefahr erft recht vermehrt und hervorruft. 

Das wichtigfte Werk für bie neuere Statiftit von Canada, mit 
trefflichen Karten begleitet, iſt: A topographical description of the pro- 
vince of Lower Canada with remarks on Upper Canada, by Jos. 
Bouchette; Lond. 1815. 4. F. Buͤlau. 

Ganäte, f. Eifenbahnen und Candle. 

Ganning (Georg) ward den 11. April 1770 zu London gebo- 
ten, und hatte ſich weder einer vornehmen Abkunft, noch vorzüglicher 
Gluͤcksguͤter zu erfreuen, da feine Eltern von gemeiner Geburt und 
ohne Vermögen waren. Sein Vater hatte fogar das Unglüd, enterbt 
zu werden, weil er ein fehöne® aber armes Mäddyen heirathete, und 
ftarb bald nach der Niederkunft feiner liebenswuͤrdigen Gattin mit uns 
ſerm Canning. Diefe fah ſich genäthigt, die Bühne ald Schau: 
fpielerin zu betreten, um ſich felbft und ihr Kind zu ernähren. Diefer 
Umftand warb fpäter, da Canning eine hohe Stellung im Staate 
gewonnen hatte, von ber flarren und eingebildeten Ariſtokratie vielfältig 
benugt, um ben Dann zu kraͤnken und zu demüthigen, der Alles fich 
ſelbſt verdankte. Ein großmüthiger Oheim nahm fich des Zungen, der 
gluͤckliche Anlagen zeigte, mit aufopfeender Freundfchaft an und forgte 
für feine frühere Bädung. Er machte rafche Zortfchritte, und verfuchte 
ſich auf der Schule ſchon als Schriftfteller, indem er mit einigen 
Freunden ein periodifhes Blatt, unter dem Titel Mikrokoſmus, 
herausgab. Mit dem 18. Jahre bezog er bie Univerfität Orford, wo 
er feine Stubien mit gleichem Eifer fortfegte und mit dem nachherigen 
Minifter Lord Liverpool ein freundfchaftliches Verhaͤltniß fchloß, das 
nicht ohne Einfluß auf fein Öffentliches Leben geblieben if. Won Or: 
ford begab fi) Canning nad) London, um als Anwalt fin Gluͤck 


Canning. 227 


zu verſuchen, eine Laufbahn, bie in England, wie in allen conſtitutio⸗ 
nellen Staaten, einen Mann ohne Geburt und Vermögen, aber von 
Talent und Thätigkeit am ficherften zu Anfehen, Einfluß und Wohl⸗ 
babenheit führt. Das Schickſal, eine Verkettung von Umftänden und 
Verhaͤltniſſen, die wir fo nennen, weil fie außer bem Bereiche unferer 
Berechnung liegen, aber in dem Leben ber bedeutenden und unbes 
deutenden Menfchen eine fo große Rolle ſpielen, fügte es andere. 
Es war gerade in ber Zeit, wo .die frangöfifche Revolution der Welt 
eine neue Zukunft verfünbete, die Bruſt des Freundes der Menfchheit 
mit jugendlihen Hoffnungen erfüllte und bie VBeforgniffe der Miß⸗ 
bräuche dee Gewalt und ber angeerbten Vorzüge weckte. Es begann 
dee Kampf, zu dem bie gebildete Welt ſich in zwei feindliche Deere 
fpaltete, und in welchem fie ſich faft ein halbes Jahrhundert ermuͤdet 
und verbfutet hat, und dem noch ein halbes -Iahrhundert: vol Ermüs 
dung und Verblutung ohne Entfcheidung folgen kann, der Kampf der 
Herrfchaft der Ueberlieferung und der Selbfibeflimmung, bes Beſtehen⸗ 
den, wie e8 die Vergangenheit geftaltet hat, und: des Werdenden, mie 
e8 bie Gegenwart fordert. Die verfchiedeniten Gefinnungen,, Gefühle 
und Intereſſen wurden in ihrer ganzen Ziefe aufgeregt, die Grunbs 
lagen der gefellfchaftlihen Ordnung erfchättert und "bedroht. Die abs 
fotute Fürftenmacht, die Ariftofratie mit ihren Vorrechten und Bes 
günftigungen erkannten die Gefahr, und boten alle Mittel auf, 
fie abzumenden. Bernunft und Vorurtheil, Glaube und Aberglaube, 
Mahrheit und Lüge, Redlichkeit und Taͤuſchung wurden nicht vers 
fhmäht, und dienten als Waffen, um fidy des Sieges zu verfichern. 
Und da die Revolution, im tollen Uebermaaße, das Ziel weit übers 
fprang, und in der Verzweiflung ſich zum Aeußerften entſchloß, was 
fie für ein Recht der Nothwehr hielt, da wendete ſich die Menfchlichs 
Leit entfegt von dem gräßlihen Schaufpiele, und. die Geängftigten vers 
zweifelten. Die englifhe Ariftokratie, die wohl erkannte, was auf dem 
Spiele ftand, benuste diefe Stimmung, mweldye die Uebertreibungen in 
Frankreich, denen fie nicht fremd geblieben mar, in Europa erzeugt 
hatten und führte e8: zum Kampfe gegen bie Neuerung. Die alten 
Nationalvorurtheile, Eiferfucht, Eitelkeit und Lünftlich gefchaffene Ins 
tereffen, durch die man die Völker zu trennen gewußt hatte, ung fid) 
durch das Xheilen das Herrfchen zu erleichtern, begünftigten bie Ents 
wuͤrfe der bevorrechteten Claſſen und ber privilegirten Gefchlechter. We⸗ 
nige Männer waren dur Einfiht, Charakterftärke, freie Anficht ber 
leidenfchaftlic, gereizten Zeit hoc) genug geftellt, um das Vorübergehenbde 
von dem Nothwendigen und Bleibenden in den Ereigniſſen zu unters 
fheiden. Zu den Seltenen. gehörte For; fo groß an Geift als an 
Gemüth, fo ausgezeichnet duch die Tiefe feiner Einfiht als durch 
das MWohlmollen feines Gefühle, mas verbunden allein den wahrhaft 
großen Mann madht. Die auserlefene Schaar, bie ſich ihm anſchloß, 
war nicht bedeutend an Zahl, wenn audh an Kraft. An der Spitze 
der Gegenpartei fland als Fuͤhrer Pitt, ein Broßer ‚Staatsmann, 
1 


228 Canning. 
wenn man nänlid ein ſolcher fen kann, ohne Achtung vor ber’ 
Menfhheit und ohne Liebe zum Volle, weil man nur feinen Staat 
Eennt, und diefen nicht in dee Gefammtheit, ſondern In Einzelnen 
oder in abgeſchloſſenen Körperfchaften fieht. Neben Pitt, der ein 
mächtiger Geiſt mit engherzigen Gefinnungen war, fland Burke, der 
ein großer Menſch germefen wäre, wenn man «8 mit großen Mitteln 
fein Eönnte, die gemeinen Zwecken dienen. Diefen Männern und ih⸗ 
ver Sache ſchloß fih Canning an, ob aus Ueberzeugung, ober durch 
feine Lage beftimmt, in welcher er bie geeignetften Mittel wählen zu 
möffen glaubte, um fein Gluͤck zu machen, barüber hätte nur er felbft 
uns aufflären koͤnnen. Pitt ließ ihn durch den verfaulten Flecken 
Newport zum Mitgliede bes Unterhaufes ernennen, in welches er 1793 
getreten iſt. Faſt ein ganzes Bahr beobachtete er das tieffte Still 
felgen, und trat zum erftenmal bei der Erörterung eines Antrages 
auf, der den Zweck hatte, dem Könige von Sardinien Hülfsgelder ge 
sen Frankreich zu zahlen. Er ſprach fih für die Nothwendigkeit 
aus, die neue Ordnung ber Dinge, bie Kortfchritte ber Revolution, 
die Entwürfe ber Republik aus. allen Kräften zu befämpfen, und bie 
fen Kampf auf Leben und Tod zu führen. Es war das ewige wi- 
derliche Thema, das Pitt, und befonders Burke und ihre Sreunde 
auf taufendfache Weife variirt hatten, und in wechfelnden Variationen 
beftändig mieberholten. Allerdings war, mas in Frankreich gefchah, 
tm hoͤchſten Grade tadelnswerth und abfcheulich ; aber man verabfcheute 
diefed Abfcheuliche weniger, ald man zu nicht lobenswertherem Zwecke 
Vortheil aus ihm zu ziehen ſuchte. Canning's Talente blieben nicht 
unbemerkt und feine: Verdienfte nicht unbelohnt; er warb zum Uns 
terftaatsfecretär im Departement ber auswärtigen Angelegenheiten ers 
nannt, und blieb an biefer Stelle bis zum Austritte Pitt's aus ber 
Verwaltung im Jahre 1801. In biefer ganzen Zeit, wo er nur 
unter der Leitung feines großen Gönners zu handeln fchien, befchräntte 
fid) feine ganze parlamentarifche Thätigkeit auf die Unterflügung ber 
minifteriellen Anträge und die Rechtfertigung der Maßregeln ber Ver⸗ 
maltung Nur einmal richtete er fich in feiner eigenthuͤmlichen Kraft 
auf, bie den ſpaͤter Canning in feiner ganzen Größe ahnen lief, 
einmal, da ber Gegenſtand fein tieffühlendes Gemüth ergriff und feine 
gerwandte Rede mit unmiderftehlicher Macht befeelte. Es galt‘ bie Abs 
ſchaffung der Sklaverei der Neger. 

Ganning fand bei feinen mannichfaltigen Arbeiten im Staats⸗ 
dienſte noch Zeit zu literariſchen Beſchaͤftigungen, die groͤßtentheils in 
dichteriſchen Ergießungen beſtanden, zu denen ihn ſeine Neigung zur 
Poeſie hinzog. Wenn man in denſelben auch nicht immer den Zweck 
billigen kann, dann muß man doch die Leichtigkeit ber Behandlung und 
die Schärfe des Witzes anerkennen, ber oft nicht ohne Bosheit iſt. 
Er legte die Erzeugniffe feinee Muße in einer Zeitfchrift nieder, deren 
Lite — Anti-gallican — ihre Beflimmung bezeichnete. Ale Ans 
‚griffe waren auf Frankreich: gerichtet, unb bie Entwürfe, bie in dieſem 


Ganning. 229 


Staate, ber Im ſchmerzlichen Kampfe um feine Wiedergeburt begriffen 
war, durch einander gohren, ſich verbrängten und in abenteuerlichen 
Vorftelungen und Anſchlaͤgen fi nur zu oft überboten, gaben Gans 
ning reihen Stoff. Er benugte denfelben nicht feltent auf eine uns 
großmüthige Weiſe. Der Glaube an eine Ummandlung unfere® Ges 
ſchlechtes, an ein Kortfchreiten im Beſſern, an die Erreihung bes 
Ideals der Menfchheit, Vernunft, Recht und Kreiheit, war ihm albern, 
lächerlich, wenigftens in der Art, wie die franzöfifche Philänthropie ber 
Zeit es darſtellte und zu verwirklichen gedachte. In dieſelbe Zeit fälle 
auch die Vermählung Canning's mit einer Tochter des Generals 
Scott, die ihm ein Vermögen von mehr als einer Million Gulden 
zubrachte. Der alte Scott, der feine englifhen Eigenthümtlichkeiten 
und Launen in hohem Grabe hatte, wollte nicht, daß eine feiner bei 
den Töchter einen Peer heirathete, und feste auf bie Uebertretung ſei⸗ 
nes Verbotes Enterbung. Indeſſen pflüdte die Schweſter der Gemahlin 
Canning's die verbotene Frucht, und, dem legten Willen des Va⸗ 
ters zufolge, fiel das ganze Vermögen, das heißt, das Doppelte ber 
angeführten Summe, der gehorfamen Tochter zu. Geltfames Spiel 
menfchlichee Einfälle Canning's Vater war enterbt worden, weil 
ee feine Gattin unter feinem Stande und Vermögen wählte ; bie Toch⸗ 
tee Scott's traf ein gleiches Loos, weil fie über ihren Stand bins 
ausging. Canning indeſſen und feine Gemahlin wollten daraus kei⸗ 
nen Vortheil ziehen und wieſen ihn entfchieden zuruͤck. Habſucht und 
Eigennutz gehörten nicht zu feinen Sehlern. Bei allen Aemtern und 
Würden, bie er bekleidet hatte, hinterließ er fein Vermögen geringer 
als ed ihm zugelommen mar. | 
Am Sabre 1801 verließ Pitt, wie wir bemerft, das Miniftes 
rum und warb durch Addington erſetzt. Canning folgte dem Bei⸗ 
fpiele feines Freundes, ohne fich jedoch, wie er, der ſchwachen Ver⸗ 
maltung feines Nachfolgers anzufchließen, bie er im Gegentheil mit 
allen Waffen der Logik und des Witzes befämpfte. Ihn befeelte ein 
vorherrfchender Gedanke, und biefer Gedanke war bie Entkräftung und 
Demüthigung Frankreichs, dem er, wie der große Punier Rom, einen 
unverföhnlihen Haß gefchmoren zu haben ſchien Was Canning 
wollte, wollte er ganz, mit ber ganzen Kraft feines Willens, und 
um das Ganze zu erreichen, bot er auch alle Mittel auf, durch bie 
e8 zu erreihen war. In biefer Entfchiebenheit lag beſonders feine 
Stärke. Pitt löftle im Mai 1804 Adbington ab, und mit 
ibm nahm auh Canning wieder Antheil an der Verwaltung. 
Aber fhon im nädften Sanuar flarb Pitt. Der Einfluß dieſes 
Mannes auf Canning, ber ihm mit ber ganzen Energie feines Chas 
rakters ergeben mar, hörte nun auf, obgleich er feine innigfien Ges 
fühle der Achtung und Dankbarkeit nie verleugnete. Dit Pitt war 
die Herefchaft der Tories zu Grabe gegangen; mit Kor flarb bie der 
Whigs, und ihre Gegner gelangten wieder zur Regierung. Im Jahre 
1807 traten Lord Liverpool, Lord Caſtlereagh und Ganning 


230 " Ganning. 


in das Minifterlum und bildeten bie Seele ber Verwaltung. Da 
biefer die atısmärtigen Angelegenheiten zu leiten hatte, fo kam einer 
der fchreiendften Gewaltſtreiche, bie je bie Politit auf ihr ſtarkes Ges 
wiſſen nahm, befonders auf feine Rechnung. Wir meinen die Aufs 
Hebung der bänifchen Flotte und bie Beſchießung von Kopenhagen, weil 
Dänemark mit treuer Ergebung zu Frankreich hielt. Mit gleichem 
Nachdrucke gedachte er in Spanien aufzutreten, überzeugt, daß bie 


Halbinſel die Ferſe bes Achilles für Frankreich ſei. Hier, war feine 


Meinung, müffe England feine ganze Kraft vereinen, um Napo⸗ 
Teon mit Erfolg zu befämpfen. Caftlereagh, der Kriegsminifter 
mar, zeigte Ihm weder die Thätigkeit, noch das Geſchick, die er für 
nöthig hielt, -mollte man anders feinen Zweck erreihen. Diefer Wis 
derftreit der Anfichten und bes Benehmens der beiden Staatsmänner 
brach bald in offene Feindfchaft aus, und es kam zwiſchen ihnen 
zu einem Zweikampfe, in melhem Canning einen Schuß in den 
Schenkel erhielt. Sie traten darauf aus der Verwaltung, an deren 
Spige Perceval berufen ward. Diefe Veränderung, die Canning 
von ber Leitung der Angelegenheiten feines Vaterlandes ausfchloß, hatte 
menigftens bie ihm angenehme Folge, daß ber Marquis von Wels 
lesley, den er an Caſtlereagh's Stelle zum Kriegsminifter beförs 
dert mwünfchte, feine eigene erhielt, unb den Krieg in Spanien mit ber 
Thätigkeit und dem Nachdruck führte, die Canning fo ernftlich em⸗ 
pfoblen hatte. Kür die Sache, bie er als die feinige betrachten konnte, 
war alfo gewonnen, mwenn er auch perfönlich babei verlor. Nach ber 
Ermordung Perceval’8 erhielten Lord Wellesley und Canning den 
Auftrag, eine neue Verwaltung zu bilden, mas ihnen aber nicht Yes 
Ling, weil die Tories wie die Whigs eine gleiche Abneigung fühlten, 
in ‚ein gemifchtes, aus fo heterogenen Elementen beftehendes Minifterum 
zu treten. Dieſer an fidy geringfügige Umfland mar Urſache, daß 
‚Canning in den für Europa fo folgereihen Sahren 1813, 1314 
1815 auf die wichtigen Ereigniffe derfelben ohne Einfluß war. Seine 
Muße verwendete er auf die Prüfung und Erörterung großer politifcher 
Tragen, die für die Zeit befonders wichtig geworden waren. Sein ges 
funder Sinn und fein richtiges Urtheil brachten ihn, bei ruhiger For⸗ 
fhung und befonnener Abgefchtedenheit, den Anfichten immer näher, 
die feine öffentliche Wirkſamkeit fpäter fo bedeutend machten. Den ers 
ſten Schritt auf ber Bahn zu den Freiheiten, die er, gegen das Ende 
derfelben, für fein Land und, man darf wohl fagen, für Europa er⸗ 
ringen wollte, that er für die Sreiheit des Handels und erklärte fich 
gegen bie Moneopolienwirtbfchaft. Die Anerkennung einer Freiheit führt 
aber folgerecht zur Anerkennung ber Freiheiten überhaupt, welche dies 
felbe Grundlage haben und aus einer Quelle fließen. Canning ging 


biefen Weg, nur für den Ruhm feines Namens, der in der Gefchichte 


in doppelter Geſtalt erfcheint, etwas langfam. Die erſte Frucht, die 
ihm feine freie Anficht des Handels brachte, war feine Wahl zum Ab» 
geordneten in das Unterhaus durch bie Stadt Liverpool (1812), da er 


Ganning. 291 


feüher nur der Mepräfentant eines faulen Fleckens geweſen war. Das 
folgende Jahr nahm er den reich befoldeten Gefandtfchaftspoften zu 
Liſſabon an, mo ſich kein Hof befand, und ordnete ſich dadurch Lord 
Caſtlereagh unter, gegen ben er feine feindfeligen Sefinnungen fo 
offen erklärt hatte. Im Jahre 1816 kehrte er nach London zuruͤck, 
und ließ fi in der Verwaltung, bei ber er die oflindifchen Angelegen- 
beiten beforgte, wieder anftellen. 

In diefer Zeit fchien Europa, in politifcher Beziehung, raſche, ents 
ſcheidende Rüdfchritte zu thun, und England blieb in diefer befchleunigs 
ten Bewegung nicht zurüd. Die Habeas s Corpusacte wurbe aufgehos 
ben und jede Aeußerung der Unzufriedenheit bes Volks mit graufamer 
Gemaltthätigkeit zurüdgemiefen. Die blutigen Auftritte zu Manchefter 
(1819), wo bie verfammelten Bürger, die von ihrem Petitionsredhte 
Gebrauch machen wollteh und von ber Bürgermiliz zu Pferde, 
Deomanıy genannt, mit dem Degen in ber Fauſt niedergeworfen. oder 
auseinandergefprengt wurden, find no in. fhmählihem Anbenten. 
Die heftigften Maßregeln gegen bie Preffe und die Affoclationen, welche 
die Regierung vorfhlug, gingen in dem Parlamente mit großer Stims 
menmehrheit durch. Mit welcher beifpiellofen Strenge man verfuhr, 
bemweifet die Knechtſchaft, in der die in England fonft freie Schrift und 
Mebe verfiummen mußte. Wer überwiefen ward, ein Libell, das zum 
Aufruhr reiste — mas ließ ſich nieht in ben meiten Rahmen biefes Ges 
ſetzes bringen? — bekannt gemadjt zu haben, ward im MWieberbetres 
tungsfalle mit Verbannung beſtraft. Und zu allen diefen gewaltfamen ° 
Maßregeln wirkte Canning kräftig mit. Sie hatten keinen waͤrmern 
Bertheidiger, die Willkür Leinen entfchiedenern Freund, keinen größern 
Lobredner. Er war nicht nur ber. beredte Anwalt bes Siegerd; er 
ſchmaͤhete, er verhöhnte den Befiegten. Die Ariſtokratie feierte ihre 
Saturnalien. Aber der Menſch vergißt zu leicht, daß jedes Uebermaß 
zu feinem Gegentheil zu führen pflegt, der Mißbrauch ber Gewalt zur 
Sreiheit, wie ber Mißbrauch der Freiheit zur Tyrannei. Die Art, wie 
die Tories, im Siegesrauſche Ubermüthig, die wiedererlangte Herrfchaft 
übten, befchleunigte ihren Untergang. Goͤthe fagt: „Bor dem Gewit⸗ 
ter erhebt ſich zu letztenmal der Staub gemwaltfam, der nun halt für 
lange getilge fein ſoll“ Der Sturm war nidt mehr fern. 

Canning war nidht dee Mann, der halbe Arbeit machte und 
auf dem Wege, den er betreten, umkehrte, ehe er ihn zurüdgelegt. 
Aber was der Menſch nicht thut, thut das Schickſal oft für ihn. 
Georg LI. farb, und fen Sohn beftieg den Thron von England. 
Die Königin Caroline Eehrte dahin zurüd, und es warb der berüchtigte 
Proceß gegen fie eingeleitet. Ganning, von früherer Zeit in freunds 
fchaftlihen Verhältniffen mit derſelben, Eonnte feine Gefinnungen nicht 
verleugnen, noch weniger aber zu den Feinden ber mißhanbelten Fürs 
flin übergehen. Er nahm feine Entlafjung und trat eine Reife nach 
Frankreich und Stalien an, auf welcher er ben Stand der Dinge auf 
dem feften Lande und bie Stimmung ber Gemüther auf eine Weiſe 


232 | Ganning. 


Tonnen lernte, die ihm zu denken gab: Am Jahre 1825 wieder m . 


ſebrem Baterlande angetommen, nahm er feinen Sie im Unterhaufe, 
erklärte fi, mit Wärme für die Emandpation der Katholiten und ges 
gen’ eine Parlamentereform. Diefe legte Maßregel war der allgemeine 
Wunſch der wahren Freunde bes Vaterlandes geworden, well fie ers 
Tannten, daß ohme fie die Allmacht der Ariftofratie keine Schranken 
finde. Gerade darum trat Canning als ihre entfchiebener Gegner 
auf. Die Ariftoßratie war dankbar und Canning nicht unempfind» 
tich gegen diefe Dankbarkeit. Im Gabinete gab es, neben Lord Eaftles 
teagh, für ihn keine angemefjene Stelle, und er hatte wohl ber 
Hoffnung entfagt, in England einen angemefimen Wirkungskreis zu 
finden. Darum nahm er die Stelle eines Gouverneurs von Oftindien 
an und das Schiff, bas ihn nach Galeutta bringen follte, lag ſchon 
fegelfertig und er war im Begriffe, es zu befteigen. Da machte Eaftles 
reagh feinem Leben felbft ein Ende. Der Schnitt eines Federmeſ⸗ 
ferd änderte die Lage Canning's, Englands, der Welt. Won foldyer 
Art find die Ereigniffe, welche fo oft das Schidfal der Staaten und 
Voͤlker beflimmen. Das gefchah im Auguft 1822. An die Spige ber 
Verwaltung kam Lord Liverpool, den frühere Verhältniffe mit Gans 
ning befreundet hatten, und es gelang ihm, bie Abneigung ber uͤbri⸗ 
gen Mitglieder der Verwaltung und felbft den Widerwillen des Königs 
zu befiegen und feinem Freunde eine Stelle im Gabinete gu verfchaffen. 
Canning ward Mmiſter der auswärtigen Angelegenheiten und feine 
Emennung fiel in eine hoͤchſt wichtige Zeit. Die Congreffe von Trop⸗ 
pau und Laibach hatten das Schidfal von Europa im Geifte der heis 
ligen Alltanz zu ordnen verfucht, Die conflitutionellen Regierungen 
verfäymanden oder erhielten fih nur dem Namen nah. Ein neuer 
Gongreß ward zu Verona eingeleitet, um das glüdlich begonnene Werk 
zu vollenden oder doch fortzufegen. Lord Caſtlereagh folite bei dem⸗ 
felben England vertreten, und die Grundfäge und Anfichten diefes Staates 
mannes ließen über die Art feiner Mitwirkung keinen Zweifel. Es galt 
vorzüglich, die Cortes in Spanien aufzuheben und die pprendifche Halbinfel 
der abfoluten Herrfchaft des Koͤnigthums wieder zu unterwerfen. Frank⸗ 
reich übernahm willig den Auftrag, den es auch ohne befonbere Anftrengung 
. vollzog. Sanning fühlte die Würde Englands verlegt und feinen früs 
bern Einfluß auf einen Staat bedroht, deffen Schickſal ohne feine Theil⸗ 
nahme zu beflimmen, ihm ein Eingeiff in feine Rechte ſchien. Gans 
ning mar zu fehr Brite, als daß er diefe Art Zuruͤckſetzung nicht 
ſchmerzlich Hätte fühlen follen, und es lag in feiner. Art, den Schmerz 
nicht geduldig in feiner Bruft zu verfchliegen. Die Oppofition beftürmte 
ihn mit wiederholten Angriffen wegen der Mißachtung Englands bei 
‚der Entfheibung dee Angelegenheiten des Continents. Die Oppofition 
hatte das Nationalgefühl für fi, das Graf Grey beſonders zu ſei⸗ 
nem Beifland geltend machte. Er überhäufte ben Miniſter mit Vor⸗ 
wöürfen, daß er unter ſolchen Umftänden Frankreich nicht ben Krieg 
erklaͤtt. Da trat Canning, am 12. December 1826, mit jener 





» 
n 


Ganning. 233 


merkwürdigen Rede auf, die einen fo tiefen und allgemeinen Eindrud 
machte. Er dachte ſich als Aeolus, ber den Schlauch mit Winden in 
Händen habe: - Sei e8 an ber Zeit, ihn zu öffnen, dann, meinte er, 
ftehe es bei ihm, ben Continent duch Stürme zu erfchättern und / um⸗ 
zukehren. Die leicht gefprochenen Worte haben ſchwer verwundet; ein 
Beweis, baf fie vermundbare Stellen fanden. Tauſend Stimmen ha⸗ 
ben fi tadelnd gegen fie laut erhoben, taufend und taufend andere 
dagegen ſich im Stillen beifällig für fie erflärt. Es wurde Alles aufs 
geboten, um ben .Eindrud, ben fie machen konnten oder wirklich gemacht, 
zu zerftören; aber felbft dies Bemühen zeigte bie Verlegenheit, in ber 
man ſich befand, und bie Gefahr, die ſich leichter leugnen, als entfers 
nen läßt. „Ich kann den Krieg nicht fürchten, fagte er, wenn ich an 
bie unermeßliche Macht diefes. Landes und daran benke, daß die Unzus 
friedenen aller Nationen von Europa bereit find, fih an England ans 
zufchließen... Statt einen Krieg mit Frankreich wegen Spanien zu 
führen, war ich darauf bedacht, den Beſitz dieſes Landes nebenbuhlerts 
fhen Händen unnüg, ja noch mehr als unnuͤtz, bem Beſitzer ſelbſt 
nachtheilig zu machen. Ich babe das letztere Mittel ergriffen; glauben 
Sie nicht, daß England darin eine Ausgleihung für das fand, was 
es zu empfinden hatte, ald es bie franzöfifche Armee in Spanien einzies 
ben und Cadix bloficen fehen mußte? Ic babe Spanien unter einem 
andern Geſichtspunkte betrachtet; ich ſah auf Spanien und Suͤdame⸗ 
rika zugleich; ich habe in legtern Ländern eine neue Welt ins Dafein 
gerufen und fo das Gleichgewicht geordnet. Ich habe Frankreich allen 
Holgen feines Einfalls überlaffen. Ich habe eine Ausgleihung für den 
Einfall in Spanien gefunden, während ich Frankreich feine Laſt übers 
kaffe, eine Luft, der es fidy gern entledigen möchte, und bie es nicht, 
ohne ſich zu befchmeren, tragen. kann ; damit antworte ich auf das, 
was man über die Befegung Spaniens fagt. Ich weiß, fage ich, daß 
unfer Land unter feinem Panier alfe Unzufriedenen. und alle unruhigen 
Beifter des Zahrhunderts fdhlagfertig fehen wird, alle Menſchen, bie 
aus gerechten oder ungerechten Gründen die gegenwärtige Lage ihres 
Vaterlandes mit Mißmuth betrachten. Der Gedanke an eine folche 
Lage regt alle Beforgniffe auf, denn er zeigt das Dafein einer Macht 
in den Händen von Großbritannien, die vielleicht furchtbarer ift, als ir⸗ 
gend eine, von ber bie Geſchichte bes Menſchengeſchlechts bis jetzt Rune 
de gegeben. 

* Sanning kannte bie Lage der Welt. Was der Friede gegeben 
hatte, man muß es mit Wehmuth fagen, madıte Zaufenden den Krieg 
wuͤnſchenswerth. Mir fahen die neue Welt, beren Colonien noch durch 
manche Bande mit dem europäifhen Mutterlande zufammenhingen, von 
biefem abgelsfet, den Kampf Griechenlands mit feinen barbarifhen Uns 
terdruͤckern ohne Theilnahme fortgefegt, exrft ben Aufflanb bes gepeinig- 
ten Volkes als ein Verbrechen gegen bie Legitimität gemißbilligt, dann 
das biutige Dinmwürgen deſſelben als eine verfchulbete Zuͤchtigung darge⸗ 
ſtellt. Wir fahen den Gedanken in Feſſeln gelegt; das freie Wort als 


234 Canning. 


Verſuch zum Aufruhr unterſagt, Gewerbfleiß und Handel gelaͤhmt und 
eine faſt allgemeine furthtbare Verarmung herbeigefuͤhrt. Wir ſahen 
Spanien einer unmenſchlichen Selbſtzerfleiſchung hingegeben, das Ra⸗ 
chegefuͤhl einer grauſamen Faction genaͤhrt, ihm freies Spiel gegoͤnnt, 
die Schaffotte mit Blut gefaͤrbt, die Gefaͤngniſſe gefuͤllt. Das Ziel 
dieſer Faction iſt kein Geheimniß; es heißt blinde Unterwuͤrfigkeit des 
Volks durch Dummheit und Mangel. So wurde ein Zuſtand der 
Dinge herbeigefuͤhrt, der ſich mit jedem Tage furchtbarer entwickelt und 
zu einem Reſultate fuͤhren kann, das ſelbſt die Faction, die es will, mit 
den zahlloſen Ungluͤcklichen, die ſie gemacht, in gewiſſes Ungluͤck ſtuͤrzt! 

Man muß die Dinge nehmen, wie ſie find, will man Taͤuſchun⸗ 
gen nicht zu bereuen haben. Es find zwei Geifter, die jest die Welt 
bewegen, ſich um ihre Herrfchaft ſtreiten, offen oder heimlich fich bes 
feinden ; fie heißen hier Gegenrevolution und Revolution, dort Servili⸗ 
tät und Liberalism, Unbemweglichkeit und Kortfchreitung, ober wie man 
fie fonft nennen will. Die Sache ift da, welchen Namen man ihr 
auch geben mag. 

Canning fprad) von den Mißvergnügten in allen Ländern und 
bat die Hand unfanft auf die Wunde gelegt, und ein lauter Schrei 
des Kranken bezeugte feinen Schmerz. Er hat das Haupt der Medufa 
enthüllt, da8 auf dem Schilde Minerva’s und in ihrer Hand furcht⸗ 
bar wirken kann. 

Durch die Sprache, die Canning in dem Parlamente fuͤhrte, 
durch die Art, wie er die auswaͤrtigen Angelegenheiten im Widerſpruche 
mit den Anſichten und Geſinnungen der fremden Cabinete leitete, und 
befonder® durch die Anerkennung der Unabhängigkeit der ſpaniſchen 
Colonien in Amerika erregte er erft den Verdacht, dann den Unwillen 
der Zories, bie ihn nicht mehr auf ihrem Wege fanden. Die Ents 
fchiedenften von ihnen trugen Fein Bedenken, ſich förmlidh von ihm 
loszufagen, und er verftärkte ſich durch den Beiftand Gleichgefinnter, 
die mit ihm benfelben Zmed verfolgten. An die wichtige Stelle eines 
Minifters des Handels kam fein Freund Huskiſſon, der große, freie 
Anfichten in diefem Zweige der Verwaltung entwidelte unb durch allmäs 
lige Reformen ins Leben zu führen fuchte. In diefer Beziehung find bie 
Jahre 1824, 1825 und 1826 für England höchft bedeutend. Gegen das 
Ende des legten Jahres erfuchte die portugiefifche Regierung Großbris 
tannien um Schus und Beiftand gegen die Einmifhung Spaniens in 
ihre Angelegenheiten, die eine Folge der allgemeinen Reaction auf dem 
Feſtlande von Europa war. Canning fendete fogleich englifche Trup⸗ 
pen nah Portugal. Im Anfange des Jahres 1827 mußte Livers 
pool, der duch einen Schlaganfall dienftunfähtg geworben war, aus 
der Verwaltung treten. Der König ertheilte Canning den Auftrag, 
einen erften Minifter zu wählen, bei dem er nur die Bedingung machte, 
daß er der Emancipation der Katholiten entgegen fi. Canning vers 
weigerte es und bot, im Kalle der Monarch darauf beftehe, feine Ents 
laffung an. Georg IV. zauderte gab aber endlih nad) und übers 
trug ihm felbft die Leitung des Gabinets. Seine Collegen, die den 


“ Ganning. | 235 


Abtrünnigen in ihm erkannten, legten ihre Stellen nieder. Unter ihnen 
waren Wellington, Peel und Lord Eldon, Männer von Anfes 
ben und Gewicht. Die Ausgetretenen murden buch Lord Lans⸗ 
down, Lord Holland, Brougham und Burbet, die einen 
großen Namen unter den Whigs hatten, erfest. Es hatte fid, vor 
Ganning und England eine große Zukunft aufgethan. Selten ftand 
an der Spige ber Verwaltung ein Mann von gleicher Geifteskraft 
und Entfchloffenheit, und in einer fo entſcheidenden, folgenreichen - Zeit. 
Er fcheiterte mit feinen Entwürfen an bem unverföhnlichen Haffe ber 
Tories und an feiner geſchwaͤchten Geſundheit. Es gab Fein Mittel 
ber perfönlihen Erbitterung, das die flile Wuth ber getäufchten Par⸗ 
tei nicht verfucht und angewendet hätte, um fein kraͤnkelndes Leben 
zu vergiften. Alle Vorfchläge, die von ihm ausgingen, wurden ents 
ſtellt, bekaͤmpft, getadelt, verworfen, felbft diejenigen, denen fie früher 
felbft ihre Zuftimmung gegeben hatten. Im Oberhaufe faß auch nicht 
ein Mann, der den Willen, die Kraft und den Muth gehabt, zu 
feiner Vertheidigung aufzutreten. Selbft Grey fland unter feinen 
Gegnern in der erften Reihe. Drei Monate, nadydem er die Stelle 
eines erften Minifters übernommen batte, fühlte er fid) durch Anſtren⸗ 
gungen, Feindfeligkeiten aller Art und Eörperliche Leiden fo geſchwaͤcht, 
daß er fih von den Gefchäften zurüdziehen mußte, das Landhaus dee 
Herzogs von Devonfhire, Chiswid, bei London bezog und am 8. 
Auguft in demſelben Gemache ftarb, in welchem or feine große Seele 
ausgehaucht hatte. 

Man könnte fagen, Canning fe in feinem äffentlihen Wir⸗ 
Pen, in Beziehung auf den Zweck, den Beide verfolgt, der umgekehrte 
Burke gewefen. Wie diefer angefangen, hat jener geendet, und ges 
endet, mie jener angefangen. Canning hat burdy fein fpätered Les 
ben mit den Verirrungen und dem Beſtreben bes fruͤhern verföhnt, 

- Burke, ducd, feine fpätere Wirkfamkeit, fein großes Talent und den 
Gebrauch, den er davon gemacht, verbunkelt und ſelbſtmoͤrderiſch Hand 
an ſich gelegt. Canning war, wenn aud kein großer Mann, doch 
fähig, Großes zu wollen, zu unternehmen und auszuführen. Sein 
Tod gehört, wegen der Zeit, in die er fiel, zu den bedeutendften Er⸗ 
eigniffen dieſer Epoche, und kann Einfluß auf das Schidfal von zwei 
Welten gehabt haben. Außer For hatte England Beinen Minifter, 
der, mie Canning, fo ausgezeichnete Zalente mit wahrer Menſchen⸗ 
liebe verband. Großbritannien ging ihm, mie jedem echten Briten, 
über Alles; aber er hatte auch ein Herz für bas Wohl und Wehe der 
übrigen Welt, die fein Nationalſtolz nicht ale eine bloße Zugabe bee 
Schöpfung zu Großbritannien betrachtete. Den politifhen Berechnun⸗ 
gen feines Geiſtes gab die Poefie feine Gemuͤths einen höhern Schwung 
und einen ebleen Zwed. Sin feinen Anfihten lag nicht nur etwas 
Groffinniges, fondern auch etwas Großmuͤthiges und er wäre fähig 
gewefen, ein kleines Intereſſe feines Waterlandes einem größern ber 
Menfchheit aufzuopfern. Das will bei einem Minifter viel, und bei 
einem englifchen fehr viel fagen. Weigel, 


236 Ganon. Gapital. 
4 Candn, Canonicus, canonifded Recht, ſ. Kirchen⸗ 
re 


t. 

Canton, f. Reichsritterſchaft und Eidgenoſſenſchaft. 
Canzleiſaͤſſigkeit, ſ. Gerichtsſtaͤnde, privilegirte. 
Capet, ſ. Frankreich. 
Capigi, ſ. Tuͤrkiſche Verfaſſung. 

Capital. Die National⸗Oekonomie anerkennt brei Quellen bes 
Reichthums oder dee werthhabenden Production: Natur, Arbeit und 
Capital. In dieſe Nebeneinanderfiellung, alfo auh Entge⸗ 
genſetzung mit den zwei zuerſt genannten Quellen liegt zugleich, ziem⸗ 
lich deutlich außgefprochen, Inhalt und Umfang des firengen Bes 
griffs von Capital im national:dtonomiftifhen Sinne, Hier 
nach ift nämlich nur derjenige erworbene ober hervorgebrachte unb vom 
Befiger zuruͤckgelegte oder erfparte Worrathb von Werthen, welder 
oder infofeen er beſtimmt oder geeignet ift, duch feine Verwendung 
neue Werthe hervorzubringen oder zu gewinnen, Capis 
tal. Daſſelbe unterfcheidet fi) hiernah vom bloßen Verbrauchs⸗ 
gut, oder Genußmittel, welches nämlich allein zu Befriedigung von 
Bebürfniffen oder Gelüften deſſen, ber es verzehrt oder verwendet, bes 
ſtimmt ift oder dient. Man befchränkt ferner den Begriff des Capita⸗ 
les auf diejenigen Güter oder Werthe, welche nicht ſchon unmittels 
bare Geſchenke der Natur find, : fondern erft aus der wirthſchaft⸗ 
lichen Thaͤtigkeit der Menſchen hervorgehen, mithin auf bie geſam⸗ 
melten oder zuruͤckgelegten Erzeugniffe der früheren Arbeit. 
Man fchließt hiernach davon aus alle Naturkraͤfte an und für fich, 
als Sonnenwärme, Wafferkraft, Wind u. f. w. (inſofern naͤmlich niche 
bier oder dort eine befondere Vorrichtung zu einer beftimmten pros 
ductiven Verwendung berfelben befteht, 3. B. eine Maſchine, ein Wafs 
ferbau, eine Windmühle u. f. w.) und auh Grund und Boden 
ſelbſt, fo lange nicht bee menfhlihe Fleiß ihn buch Beurbarung 
oder Anbau bereicherte, d. h. feine urſpruͤngliche Productivitaͤt erhöhte, 
(Bergl. Smith, wealth of nations, book II. ch. I, und meift na ihm 
auh Say, traite d’economie politique, P. J. ch. 10 sqq., eben fo 
Rau, Grundfäge ber Volkswirthſchaftslehre, Buch I, Abfchnitt 2. 
4.5. u. a.) 

Das dergeftalt beftimmte Capital nun wird nah Smith's Vor 
gang von faſt allen Schriftftellern gleichförmig eingetheilt in das fie» 
hende oder fire und das umlaufende. Erſteres fol in denje⸗ 
nigen Gütern ober Werthen beftehen, deren nusbringende Verwendung 
dadurch ftattfindet, daß ihe Eigenthuͤmer oder Beſitzer fie im Beſitze be» 
bält, legteres in folhen, die nur baburc dem Eigenthuͤmer Vor⸗ 
theil ober Gewinn bringen, wenn er fie veräußert oder zerſtoͤrt. 
Es ift jedoch, wie wir fpdter zeigen werben, dieſe Eintheilung oder Be⸗ 
srifföbeftimmung mehr fpigfindig als wefentlid oder folgen⸗ 
veih. Auch führe fie mehrere Dunkelheiten oder Bweibentigkeiten mic 


Gapital. | 237 


fi, weswegen auch bie Schriftſteller bei ihrer Anwendung auf bie ver 
fhiedenen Gegenftände oder Gütergattungen mehrfach von einander abs 
weichen. 

Eine weit größere Abweichung aber finden wir bei ber’ Beantwors 
tung ber Frage: ob nur fahlihe Güter oder auch perfönliche, 
namentlih Arbeitskräfte und Fertigkeiten, unter den Begriff des 
Gapitales gehören? Smith rechnet biefelben allerdings darunter, und 
zwar zum firen Capital; Say unterfcheibet fie zwar von Gapitalen in 
engerer Bedeutung (bie ba blos in Producten einer früheren Im 
duſtrie beſtehen follen); doch zählt er fie zu bem Stammgut oder 
Productivfond in weiter Bedeutung, und zwar in größerer Aus⸗ 
dehnung ald Smith; indem biefer bloß die Talente und Kräfte ber von 
ihm als materiell:prodbuctiv anerkannten Arbeiter, Say dagegen 
auch jeme der geiftigen Arbeiter, d. b. der Gelehrten, nämlich ber 
Beſitzer nüglicher Kenntniffe, darunter begreift. (S. das 8. Gapitel des 
eriten Theils, worin Say den allgemeinen Productivfond in jenen ber 
Anduftries Fähigkeiten und den der Inbuftries Werkzeuge eintheilt.) 
Rau dagegen (ſ. $. 129. des oben gerrannten Werkes) anerkennt gar 
£ein perfönlihes Capital, „weil die Eigenfchaften der Menſchen, 
wie wichtig fie immer als Urfachen der Güterentftehung fein mögen, blos 
perfönlihe Guͤter feien, und nicht in das Vermögen, alfo au 
nicht in das Capital gehören”. Auch Zaharid (Vierzig Bücher vom 
Staate, V. Band I. Abth. S. 96 ff.) führt die Arbeitskraft nicht uns 
ter den Gapitalien auf. (Diefelben find ihm: „Brauchlichkeiten, welche 
entweder nicht durch den Gebrauch confumirt werden, oder welche, 
obfhen in verbrauhfamen Sachen beftehenb, dennody von ihrem Eigen⸗ 
thuͤmer für jego noch nicht verbraucht worden find.” Die erften nennt 
er natürliche, die zweiten Fünftliche Capitalien, und führt dann von 
beiden noch mehrere Unterarten auf.) — Wir rechnen jene perſoͤnlichen 
Arbeitskräfte und Fertigkeiten allerdinge mit zum Gapital, und zwar 
niht nur zu jenem ber bamit begabten einzelnen Arbeiter felbft, 
fondern auch zu dem ber Nation. Wir thun biefed nicht eben darum, 
oder wenigſtens nicht nur darum, meil, wie Smith — übrigens mit 
Recht — bemerkt, die Erwerbung ber in Frage flehenden Kraft oder 
Geſchicklichkeit (menigftens in ber Regel) ein auf Erziehung und Unter 
richt des Arbeiters verwendetes Capital voraus ſetzt und fonad) auch ges 
wiſſermaßen vorfteltt, fondern vielmehr beswegen, weil Arbeitskraft 
und Sertigkeit wahre und ſelbſt unmittelbar wirkfame Mittel der Er» 
zeugung oder der Ermwerbung find, alfo die Grundlage ober bie 
Quelle eines Einkommens, die wahrhaft fhaffende Kraft, 
welche werthhabende Dinge (d. 5. Beftiedigungsmittel von Beduͤrfniſſen 
oder Geluͤſten) hervorbringt, theils fuͤr die Einzelnen, theils für die Ges 
fammtbeit, theils für beide zugleih. In diefe Eigenfchaft, nämlich in 
bie productive Kraft, fegen wie das Wefen bes Capitals, und 
wir fchägen e3 demnach keineswegs nad ber Größe der Summe oder 
ber Werthe, welche aufgewendbet wurden, um es gu erzeugen, 


238 Gapital. 


ſondern vielmehr nach ber Größe der Werthe, welche es ſelbſt zu er⸗ 
zeugen natuͤrlich befaͤhiget oder geeignet iſt. 

Von mehreren der voranſtehenden, in den Lehrbuͤchern der national⸗ 
oͤkonomiſtiſchen Schriftſteller zu findenden Begriffsbeſtimmungen ober Lehr⸗ 
ſaͤzen uͤber das „Capital“ weicht der gemeine Sprachgebrauch, 
fo wie die natuͤrlich einfache Auffaffung dee hier beſprochenen Dinge 
und Verhältniffe, bedeutend ab; und es iſt billig, auch zumal gegen lees 
ven Wortftreit fichernd, vor Aufftellung der Lehrfäge über die Bes 
geiffe und die Wortbedeutungen ſich thunlichſt zu verſtaͤndi⸗ 
gen, zumal aber diefelben nicht ohne wahres, wiſſenſchaftliches ober 
praktiſches Intereſſe anders, als der gemeine Sprachgebrauch mit fich 
bringt, zu beflimmen. 

Mas verfteht man nun, bem gemeinen Sprachgebraudy nach, uns 
ter Capital, d. b. ſchon nad) dem Wortlaut unter Hauptgut ober 
Stammgut? Man fest daffelbe dem Einkommen entgegen, naͤm⸗ 
Uh ats Grundlage oder Quelle bes legten, und zugleich auch Übers 
haupt demjenigen Theile des Mermögens, welcher dem Inhaber blos 
feibfteigenen, zumal blos vorübergehenden, Genuß zu gewähren ge 
eignet oder beflimmt if. Das Eintommen alfo befteht aus dem 
Früchten des Capitals, das Capital aber erzeugt Früchte, d. h. 
veranlaßt, bewirkt, beförbert folche Erzeugung, und aus ben alfo ges 
wonnenen Früchten, d. b. Gütern oder Werthen, nämlich aus den nicht 
zum felbfteigenen unproductiven Genuß beftimmten,. kann dann wieber 
ein neues Capital gebildet oder die Wirkfamkeit bes bereits vorhandenen 
unterhalten und fortgeführt werden. Das Vermögen endlich befteht 
aus allen im Beſitz einer Perfon befindlichen Gütern oder Werthen, 
ohne Unterfchiedb, ob Eintommendquelle ober bezogenes Einkom⸗ 
men und ob zum felbfleigenen Verbrauch ober zu weiterer 
Erwerbung beftimmt. 

So klar diefe Begriffsbeſtimmung auf den erften Anblick erfcheint, 
fo erfordert fie doch bei näherer Erwägung einige Erweiterung und 
Beſchraͤnkung auf einer und der andern Seite. Fürs Erſte naͤm⸗ 
lich kann nicht unbedingt jeber Gebrauchs⸗ oder Verbrauhsvors 
rath von dem Begriffe des Capitals ausgefchloffen werben; und dann 
macht auch entgegen nicht eben jede Widmung eines Gutes ober Wer⸗ 
thes zur Hervorbringung oder Anfchaffung eines andern das erſte fofort 
zum Capital, Unter Capital, bei feiner Unterfcheidung ſowohl vom 
Verbrauchsgut ale vom Einkommen, verfteht man immer etwas mehr 
oder weniger Beharrliches oder Dauerndes, und unter Ver⸗ 
brauchs gut ein mehr oder weniger Worübergehendes, unter Ein» 
tommen endlich die Summe ber uns periodifh (und zwar in kurzen 
Perioden, vorzugsweiſe aber oder in der Regel jährlich) zufließenden oder 
— ohne Capitalsverminderung — zu Gebote ftehenden Mittel ber Be 
dürfnißbefriebigung. Gegen diefe Begriffe nun ſtoͤßt die Ausfchlier 
fung bes ſaͤmmtlichen Verbrauchsguts von der Eigenfchaft bes Capitales 
an. Ein Wohnhaus z. B. (weiches Smith nad der Strenge feiner 


— 
— 


Capital. 239 


Begriffe wirklich davon ausfchließt) wirb (außerhalb ber ſolchem Syſtem um 

bedingt anhängenden Schule) von Jedermann ald wahres Capital 
betrachtet, aud) wenn es durchaus nicht zum Vermiechen, fondern bloß 
zur Selbſtbewohnung beftimmt if. Es wird fo betrachtet nicht nur 
weil zu ‚feiner Aufführung ein Gapital verwendet werben mußte, tels 
ches daher gewiffermaßen in ihm ſteckt, fonbern vielmehr darum, weil feine 
durch eine lange Reihe von Jahren (ja, bei gehöriger Unterhaltung Jahr⸗ 
hunderte hindurch) fortdauernde, alfo gewiſſermaßen jährlich zuruͤck⸗ 
Eehrende Nuͤtzlichke it für den es bemohnenden Eigenthuͤmer, wie ein 
wahres Einkommen anzufdlagen und der Wefenheit nach von dem 
zum Lebensunterhalt des Eigenthünnrs verwendeten jaͤhrlichen Fruͤcht e⸗ 
erwachs eines Aders durchaus nicht verfchieden iſt. Beſaͤße dort 
der Eigenthümer das Haus und hier den Ader nicht, fo würde er bort 
für eine Mietbwohnung und bier für Brodfruͤchte einen Theil 
feines übrigen Einkommens verwenden müffen. Den Betrag beffelben 
bat er jegt nicht auszugeben; er erfpart ihn alfo und kann ihn ents. 
weder zuruͤcklegen ober ſich dafüe andere Genuͤſſe verfhaffen. Er bezieht 
daher in der That ald Hauseigenthümer einen Capitalzins, 
ht er ihn fich ſelbſt, und er verzehrt ihn zugleich als Ben 
wodner. 

Iſt dieſes einleuchtend bei einem Wohnhauſe (mas auch wirklich 
Say — ungeachtet feiner fonftigen Anhänglicpkeit an Smith's Lehre — 
ausdruͤcklich anerkennt, f. Cap. XI.), fo ift es gleichfalls wahr, ob aud) 
in etwaß geringerem Maße, von andern Gegenftländen von länger 
dauerndber Nuͤtzlichkeit (oder auch Annehmlichkeit) und zumal auch 
von Verbrauchs⸗Vortaͤthen, welche zu einer laͤnger dauernden 
Bebürfnißbefriedigung hinreihen. Wer fih z. B. einen ſolchen Vorrath 
von Kleibern ober Linnen oder Hausgeräthfhaften u. f. w. - 
angefchafft hat, daß er dadurch für eine Reihe von Jahren für fein Be⸗ 
bürfniß gedeckt ift oder daß er mit einer verhältnißmäßig Fleinen Jah⸗ 
resausgabe den Vorrath (mittelft allmaͤliger Wiederanſchaffung der nad) 
und nad abgenugten Stüde) in feinem vollen urfprünglidhen Geſammt⸗ 
werth erhalten kann, ber erfpart dadurch den jährlihen Mehrauf⸗ 
wand, ben er ohne jenen Vorrath hätte machen müffen, fei e6 z. B. 
zue Miethe von Möbeln, oder zue jährlichen Anfhaffung von 
nur wenigen ober aus minder dauerhaften Stoffen gemachten — eben 
darum aber [hneller abgenügten — Kleidern ober £innen u. f. w. 
Diefe Erfparnig iſt abermal einem wirklichen Zinfenbezug in ber 
Wirkung. gleich, und ihre Grundlage, d. h. alfo das fo beſchaffene 
But, obfhon Verbrauchsgut, allerdings auch für ein Capital zu 
achten. Etwas Achnliches behaupten wir 3. B. von einem angefchafften 
(oder auch aus eigenem Mebgelände eingekellerten) und zum eigenen Ge⸗ 
brauche beflimmten Weinvorrath, welcher zur Bedeckung des Be⸗ 
barf6 einer ganzen Reihe von Jahren hinreicht. Auch biefer iſt ein — 
wiewohl alljährlich, fi) verminderndes — Capital, deſſen Zinſe (ähnlich 
etwa den von einer auf Ankauf einer Beitrente verwendeten Summe 


\ \ 


240 Gapital 


abfließenden) zwar nicht ewig, aber doch eine anſehnliche Zeit hindurch, 
mittelft Bededung ber Weinconfumtion von bem Eigenthümer, 
welcher jest eben fo lange keine Ausgabe mehe dafür zu machen bat, ir 
der That bezogen, aber freilich. audy gleichzeitig verzehrt werben. 
Wie haben bei foldhen Gonfumtionsgegenftänden und Vorraͤthen 
noch überalt davon weggeblidt, daß dieſelben jedenfalls (oder wenigftens 
in der Regel) aud vertäuflic find, alſo — ob bie Veraͤu 
mit ober ohne Gewinn (nach dem objectiven Werthanſchlag) geſchehe — 
durch den Willen: bed Beſitzers zu eigentlih werbenden Capitalen im 
Sinne der Schule gemacht werden finnen. Go kann ih, wenn 
irgend ein ſtaͤrkeres Beduͤrfniß oder Geluͤſte mich dazu aufferbert,: einige 
(mir etwa minder umentbeheliche) Dauemabilien oder Kleibungsftäde zu 
Geld machen, um andere Segenftände damit zu erfaufen, und eben 
fo einen Xheil meines Fruͤchtevorraths durch Wertaufhung. ober Ber» 
kauf in Wein, oder einen Theil meines Weines in Kleider u. f. w. 
verwandeln, demnach duch Weggeben beffelben einen Wortheil (we 
nigftens nach meiner Schägung) ereingen, b. h. ben Eonfumtionsgegenftand 
als Erwerbsmittel, folglich nach Smiths Begriffäbekimmung als 
Capital, und zwar als umlaufenbes6 benuͤtzen. Eine ſolche Benuͤtzung 
tritt auch wirklich ſehr haͤufig ein, und ſchon aus der bloßen Moͤ r 
lichkeit oder Leichtigkeit berfeiben gebt (felbft abgefehen von ber früs 
heren Bemerkung) hervor, daß den Verbrauchs⸗Vorraͤ then die 
- Eigenfhaft des Capitales nicht unbedingt abzufprechen iſt. ? 
Auf dee andern Seite anerkennt aber ber gemeine Epradigebrauch 
nicht jeden Verkaufsgegenſtand, überhaupt nit jeden reproductiv, 
d. 5. zu Erwerbung eines andern Gutes, vertvenbeten ober verwendbaren 
Werth fofort als Capital, fondern er fordert bazu noch weiter ben Cha⸗ 
rakter menigftens einiger Beharrlichkeit oder dauernder Wiederkehr. 
Wenn die Anwendung irgend einer Kraft oder bie Veräußerung irgend 
einee Sache blos bazu geeignet erfcheint , dem Beſitzer ein für alles 
mal einen Vortheil oder Gewinn zu verfchaffen, dieſer Vortheil oder. 
Gewinn alfo ein blos vorhbergehender und (in Bezug auf wirthſchaft⸗ 
liche Intereffen) bald und fpurlos wieder verſchwindender Ift, ſo wird 
man folcher Kraft ober Sache den Namen bes Capitals nicht beilegen. 
Eine gelegenheitlich einem Andern ermwielene (probuctive ober unpro⸗ 
bductive) Dienſtleiſtung 3. B. trägt mir eine Belohnung ein, beren 
Merth ich zu meinem Vergnügen oder Beduͤrfniß verwende; oder eine 
einzelne, von mir erzeugte. oder gefaufte Sache vertauſche ober veraufe 
ih mit Bortheil gegen eine andere, ober gebe fie bin gegen eine mir 
nügliche,, doch nur voruͤbergehend wirkende Dienftielftung ; fo kann bort 
wie hier noch nicht von Capital gefprochen werden. Erſt wenn: meine 
Arbeitskraft als zu fortlaufenden Dienflieiflungen ober zu ans 
dauernbder Production oder Erwerbung geeignet erfcheint ober gedacht 
wird, ſchreibt man ihre die Natur des Capitals zu, und eben fo auch 
ben verfäuflihen ober fonft probuctio zu vermendenden Sachen nur alte 
dann, wenn Ihe Preis oder Probuct eine weitere Iucrative Berwendung 





[4 


Gapital, 241 


zulaͤßt ober — zumal nach ben Wirthſchaftsverhaͤltniſſen bes Beſitzers — 
dazu natürlich beſtimmt iſt. So z. B. bie vom Fabrikanten oder 
Kaufmann feilgebotene Waare, mit deren Preis wieder neue Stoffe 
oder neue Waaren erfauft werden, ober vielmehr die Warren: Bor; 
täthe, welche ducch fortwährend ſich wiederholenden gemwinnbtins 
genden Kauf und Verkauf neben dem daraus zu bejiehenden Lebensun⸗ 
terhalt des Eigenthuͤmers in ſtets gleichem oder ſich noch vermehrenbems 
Geſammtwerth mögen erhalten werben. | 
Nach diefen Betrachtungen möchte man (da ohnehin der naͤch 
Zwed der ganzen Unterſuchung barin befteht, bei Einzelnen und b 
der Nation das Grunds oder harrende Vermögen vom Eins 
kommen, oder bie Summe bee Erwerbsmittel von jener der jährs 
lihen Erwerbung zu unterfcheiden und bie. Größe beider, fo ‚weit 
thunlich, zu berechnen, wenigftens im Begriff zu verdeutlihen) 
geneigt fein, dem Capital auch benjenigen Theil des Verbraucher 
Vo rraths beisuzählen, welcher noch über ber zur Dedung eines Jahr 
resbedarfs noͤthigen Maffe vorhanden ift, dagegen von ben gewinn» 
bringend oder probuctiv zu. verwendenden Gütern und Kräf 
ten, überhaupt Werthen, nur diejenigen als Capital im engery 
Sinne zu betrachten, melde zu einee fortdauernden, wenig 
flens einige Zeit fortbauernden ober ſich wiederholenden Pers 
wenbung folder Art geeignet, und auch natürlich (zumal nad den 
Wirthſchaftsverhaͤltniſſen bes Befigers) dazu beftimme find. Mann 
man zumal dieſe legte Unterfheidbung nicht macht, fanden ſchlechthin 
jedes ald Mittel der Production pder ber Frmerbung oder Ins 
ſchaffung verwendete Gut mit dem Namen Capital belegen will, 
fo muß die Gonfequenz endlich dahin gelangen, auch den täglichen 
Arbeitstohn, womit der Arbeiter, oder. den Groſchen, womit ber 
Bettler fein tägliches Brodb kauft, und die einfahe Handanle⸗ 
gung, womit Einer z. B. einen Apfel vom Bauwe bricht ober, eine, 
Fiſch aus dem Waſſer holt, ober die Lockſpeiſe, womit er einen Vogeh, 
den er verzehren will, einfängt, Capital zu nennen, ur 
Wir gehen zur Eintheilung des Gapitales in das ſtehen de 
(oder fire) und das umlaufende über. Der wefentliche Unterſchied 
zwifchen beiden fol nah Smith (mie wir [how oben bemerlten) darhn 
befiehen, daß das erfle (morunter er bie von Menfchenhanb herruͤhren⸗ 
den Berbefferungenbes Bodens, ſodann hie lanbmirthfbafte 
lihen.und Fabrit: Gebäude und Einrichtungen, Viehſtand, ⸗ 
zeuge, Maſchinen u. dgl. und endlich die. erworbenen perſoͤnlich⸗ 
Arbeitskraͤfte und Sectigfeiten rechnet) Yowpell bringt ur raggn 
es im Defige des Deren verbleibt, daß zweite dagegen my 
wenn es nicht barin bleibt, d, h. alfo, wenn 8 in andere Hände 
‚gegeben ober (was offenbar baffelhe iſt) wenn e8 zerſtoͤre wir. 
Smith jedod hat in. Bezug auf den ‚zweiten Sankt hie, ang, 
wie und ſcheint, nicht mit ſtrenger Gonfequenz emacht. Denn während 
ee 3. B. die den Arbeitsgehülfen geteichte Nahrung und die ts 
Staats « Lexikon. III. 16 


242 Gapital. 


terung ber Heerben, dann auch den vom Handwerker und Fabrikanten 
zu verarbeitenden Stoff zum umlaufenden Gapitale redinet, zähle 
er die Saatfrucht bem firen bei, obſchon doch offenbar die Saatfrucht 
nicht minder zerfiört ober umgeftaltet wird in ber Erbe als das Futter 
im Leibe des Thieres, und weit vollftändiger als 3. B. das Leber, wor: 
aus ber Schuſter die Schuhe, ober die Wolle, woraus der Fabrikant das 
Tuch macht. Zu dieſer Bemerkung, in welche auch Say einflimmt, 
koͤmmt jedoch noch weiter das Uneigentliche des Ausdrucks „ums 
laufendes“ Capital, da derſelbe einerſeits nur auf die Geſammt⸗ 
wirthſchaft eines Volkes bezogen werden kann, waͤhrend doch auch 
ein einſam Wohnender (z. B. ein Robinſon) theils ſtehendes, theils 
nicht ſtehendes Capital befigen kann, und ba andrerſeits auch unter Vor⸗ 
ausſetzung einer Volkswirthſchaft gar manche Theile dieſes angeb⸗ 
lich umlaufenden Capitales durchaus nicht circuliren, ſondern 
lediglich zerftört werden, ober wenigſtens nur ein oder zweimal ben 
Beſitzer wechſeln, bevor fie zerftört oder verzehrt werden. 

3J. Craig (elements of political science, Edinb, 1814) fegt zwar 
(f. Vol. II. B. II. ch. 4.) mit Smith das umlaufende Capital in daß: 
jenige Gut, weldyes nur buch Vertaufhung ober Zerſtoͤrung 
feinem Befiger Vortheil bringt; aber er findet zwifchen dem umlaufenden 
und feften Capital einen weit wichtigeren Unterfchieb, als Smith auf: 
ftelte, darin, daß das feſte Sapital in Dingen angelegt fei, welche 
nicht an fih ſelbſt Gegenſtaͤnde des Verlangens find, welche nicht 
unmittelbar dem Beduͤrfniß oder dem Vergnuͤgen der Menſchen dienen, 
alſo nicht um ihretwillen ſelbſt geſchaͤtzt werden, ſondern nur als Mit⸗ 

tel der Erzeugung der eigentlich verlangten Dinge, wogegen das 
umlaufende Capital eben in dieſen legten, d. h. in unmittelba⸗ 
ven Befriedigungsmitteln von VBebürfniffen, alſo auch unmit⸗ 
telbaten Gegenſtaͤnden des Verlangens beſtehe. Dieſe Unterſcheidung, 
aus welcher Cralg eine Reihe von Folgerungen zieht, iſt jedoch nicht 
durchgreifend. Im Allgemeinen zwar oder in der Mehrzahl beue bier 
befragten Gegenftände mag fie zutreffen; aber es gibt auch bedeutende 
Ausnahmen. Schon gleich das Geld, welches einen fo wichtigen 
Theil des umlaufenden Capitales (beftehend nämlih nah Smith aus 
Geld, aus den [verkäuflihen]) Vorräthen von Lebensmitteln, dann 
aus jenen von Arbeitsftoffen und von fertigen [noch in der Hand 
des Fabrikanten oder Kaufmanns befindlichen) Waaren) ausmacht, 
wird nicht an fich oder als unmittelbares Befriedigungsmittel verlangt, 
fondern nur als Mittel der Anfhaffung. Sodann find ia oftmals 
die nämlichen Gegenftände,, welche in einer Dand als ſtehendes 
Capital erfcheinen, in einer andern ald umlaufende wirffam. Ma» 
ſchinen und Werkzeuge z. 8. find bei'm Landwirth und Bande 
werksmann zum ſtehenden Capital gehörig, bei'm Kaufmann aber, 
welcher mit ſolchen Werkzeugen Handel treibt, und auch bei'm Fabrikan⸗ 
ten, welcher fie verfertige, find fie Theile des umlaufenden, ben fo 


Sapital. , | 243 


das Zugs ober Nutzvieh, je nachdem es ſich bei’'m Landmann ober bei'm 
Viehhaͤndler oder auch bei'm Fleiſcher befindet u. f. w. 

Wir fegen dem ſtehenden oder feflen (Capital lediglich ein nicht 
flebende6 oder nicht feſtes entgegen. Dan kann es, wenn man 
wid, ein laufenbes oder durchlaufendes, nicht aber ein Umlau⸗ 
fendes nennm. Der wefentliche Unterfchieb zwifchen beiben beflcht 
aber unſerer Anfiche nach nicht, in dem — wiewohl freilich in ber 
Regel zutreffenden — Umſtand, daß das eine in der Hand bes 
Befigers ſelbſt feine Wirkſamkeit äußert, da6 andere aber nur durch 
Veräußerung oder Zerfiörung, ſondern darin, daß das fichende 
Capital eine andauernde, das nicht fiehende dagegen blos eine vor⸗ 
übergebende unmittelbare Wirkſamkeit äußert, fo daß alfo das 
Vegte, wenn es gleihfals andauernd wirken foll (mie wie vom Gas 
pie in firenger Bedeutung verlangen), zuvoͤrderſt reproducirt, 

. 5. durch einen andern entfprechenden Werth erfegt werden muß. 
Diefer Begriff wird fo ziemlich übereintommen mit bem bes jaͤhrli⸗ 
hen Betriebs⸗Capitals, oder es wird wenigftens bucch bie Ans 
nahme der legten Beflimmung eine deutlich erfennbare Unterfheibungs» 
linie zwiſchen beiden Arten des Capitals gezogen und ſonach ber Bes 
rechnung oder Schägung des Gapitalvermögens nach feinen beiden 
Hauptfactoren eine fefte Grundlage gegeben. Das ftehende Capital 
würde fonady in Allen jenen landwirthfchaftlichen, gewerblichen und Dans 
delseinrichtungen ober Hülfsmitteln, als Mafchinen, Werkzeugen, Ge⸗ 
bäuden u, f. w., auch lebendigen Kräften und Fertigkeiten beſtehen, 
‚welche oder infofern fie geeignet find, Ihre probuctive Wirkſamkeit mehr 
als eine wirthſchaftliche Periode hindurch (alfo in ber Mes 
gel mehrere Jahre hindurch) zu Außen; das nicht ſtehe nde dage⸗ 
gen in dem Geſammtaufwand, welcher zum Betrieb irgend einer Unter⸗ 
nehmung oder productiven Thaͤtigkeit periodifch (alſo in ber Regel 
jährlich) gemacht werden, alſo um fortdauern zu Binnen, reprodu⸗ 
eier werden muß. Nach diefer Begriffsbeftimmung gehören zum nicht 
ſtehenden oder zum durchlaufenden Gapital nicht bloß die Saat⸗ 
frucht, der Dünger, bie Nahrung und ber Kohn ber Arbeiter und das 
Viehfutter, dann auch die zur Production oder Gewinnserwerbung perio: 
diſch nothwendige Maſſe von Stoffen (theils Verwandlungs⸗, theils 
Huͤlfsſtoffen) oder Waaren, ſondern auch die alljaͤhrlich (d. h. waͤh⸗ 
rend der gewoͤhnlichen Wirthſchaftsperiode) auf Unterhaltung 
oder Wiederherſtellung des ſtehen den Capitales zu machende Ver⸗ 
wendung, folglich auch die zur Anſchaffung oder Verfertigung der 
nur ganz kurze Zeit zum Gebrauch dienenden (d. h. ſchon im Laufe 
einer Wirthſchaftsperiode ſich abnuͤtzenden) Werkzeuge und Geraͤthſchaf⸗ 
ten oder zur Ergänzung des fortwährend noͤthigen Vorraths ſolcher 
Dinge nöthige Summe von Werthen. Gieraus geht dann auch hervor, 
daß wir entgegen biejenign Vorraͤthe von Stoffen oder: Waaren, 
weiche ober infofern fie für länger. als eine Wirthſchaftspe⸗ 
-stobe (wir nehmen im Durchſchnitt ein Jahr an) gefanmeit oder bes 

6 ® 


244 Capital. 


ſtimmt ſind, welche alſo während bes Laufes dieſer Periode nicht vew ' 
arbeitet oder verkauft werben koͤnnen ober ſollen, zum ſtehenden Ga 
pitale rechnen muͤſſen, wornach alfo blos bie, zur Erhaltung des Vor 
raths im feiner dem fortiwährenden Beduͤrfniß entfprechenden ober immer⸗ 
fort gleichen Größe nöchige, jährliche Anfchaffung dem laufenden ober 
nicht ſtehe nden Capitale beizuſchlagen wäre. 

Wir haben bis jetzt das Capital ganz im Allgemeinen betrach⸗ 
tet, ſonach ohne Unterſcheidung der Perſoͤnlichkeiten, denen 
angehören kann. Es iſt aber vom politifhen Standpunkt, welcher 
allein uns bie Richtung vorfchreibt, nothwendig, vorzugsweiſe das Na 
tionals oder Volks: Kapital ins Auge zu faffen, was aber mit Klar⸗ 
heit nur gefchehen kann durch forgfältige Unterfcheibung von dem Gapis 
tal der Privaten, Überhaupt ber im Schooße ber Nation vorhandenen 
einzelnen Perfönlichkeiten. 

Füuͤr den Einzelnen iſt Alles Gapital, was ibm als Grunb⸗ 

lage einer — mehr oder weniger lange — fortdauernden oder ſich wie⸗ 
derholenden Erwerbung (ſei es durch ſelbſteigene Production oder durch 
Verkehrsgewinn) oder Vermoͤgens vermehrung dient; ſonach auch, 
was ihm als fortdauerndes Mittel der Erſparung dient. Alle ſachlichen 
Beſitz thuüͤmer alſo, weiche einen Ertrag abwerfen, Grundeigen» 
thum oder bie demſelben kuͤnſtlich ober poſitiv⸗rechtlich gleichgemachten 
Grundrechte, alles feſte und alles nicht feſte Capital nach ber 
oben aufgeſtellten Wortbedeutung, aller den Jahresbedarf uͤberſteigende 
Verbrauch svorrath (fo wie wir oben feine Capitalseigenſchaft days 
ſtellten) gehören hieher. Aber es kommen noch dazu alle Titel eines 
von Andern zu empfangenden fortlaufenden Einkommens (als der Be⸗ 
ſoldungen, Penſionen, Miethzinſe, Leibrenten u. ſ. w) und unter ihnen 
zumal die in Schuldforderungen aus Darlehen beſtehenden, d. h. 
die Active Gelbcapitalien im engeren Sinne. Sodann auch alle 
natürlidyen nder erworbenen, zur fortdauernden Anwendung geeigneten 
Arbeitsträfte oder Fertigkeiten; endlih auch (was jedoch Feige 
eigentliche Berechnung zuläßt und nicht als pofitiver Factor aufzuführen 
iſt, wohl aber im Sefammtergebniß der Wirthfhaftsführung ſich 
fuͤhlbar macht, und zwar zumal ald negative, d. b. die Ausgabe 
mindesnde, Größe) bie moralifhen Kigenfhaften, zumal die Tugen⸗ 
den ber Senägfamtelt umd Sparſamkeit. Mit Ausnahme dies 
ſes legtbemerkten Factors laſſen alle diefe Capitale oder Gapitalsgattuns 
gen eine ziemlich genaue, felbft in Geld auszubrudende Schäsung 
und Berehnung zu, weil jebem Inhaber möglich ift, fie wirklich gu 
Gelde zu maden und, nad folher Verwandlung, fie wenigflens an: 
näheend gleich nutzbar wie früher anzulegen oder zu verwenden. Aber 
etwas ganz Anderes findet ſtatt in Anfehung ber Nation, db. h. der 
as Geſammtheit betrachteten bürgerligen Geſellſchaft. 

Das Sapital der Nation befteht zuvoͤrderſt aus Grund und 
Boden, nah. dem demſelben, abgeſchen von menfhlicher Thätigkels, 
d. h. von dem durch Arbeit und Vorautlagen aller Art hexingelegteꝛ 


Capital 245 


höheren Werth, fhon von Natur aus, fonach bleibend, einwoh⸗ 
nendben — nach ber urfprünglichen Beſchaffenheit des Bodens, fobann 
nad, Klima, Lage, Bewaͤſſerung, Schiffbarkeit der Fluͤſſe, Küftenlinie 
u. ſ. w. ſich ricgtenden Werthe. (In der Schule zwar unterfcheidet 
man gewöhnlich diefn Grundwerth vom eigentlichen Capitale, 
welches legte man nämlich blos in die von den Naturs und Arbeits⸗ 
erzeugniffen erfparten Werthe feht. Doc Iäuft dieſes am 
Ende auf einen bloßen Wortftreit hinaus. Der allgemeinfte 
Begriff vom Gapital faßt auch Grund und Boden in fid.) Weiter aus 
dem gefammten ſtehenden und nicht ſtehenden Capitale aller 
Einzeinen, infofern daffelbe nicht auf Forderungen an andere 
Staatsangehörige beruht (doch mit Einfluß der gegen Auswärs 
tige beftehenden, die Summe der Schulden an’s Ausland übers 
ſteigenden Forderungen); und aus dem durch menſchliche Thaͤtigkeit 
fortwährend erhöhten Grundwerth nicht nur bes eigentlichen Ges. 
fammtgutes ober der Domaine (was durch gleiche Mittel wie bei Pris 
vaten gefchieht) fondern überhaupt alles zum Gebiete gehörigen 
Grundes, bier namentlich durdy Canaͤle, Heerſtraßen, Brüden und ans 
dere auf denfelben Zwed berechnete Gründungen. Zum Gefamnitcapital 
gehört ferner bie eigentliche Eirculationsmaffe, das heißt die Maffe 
des umlaufenden Geldes, defien Wirkſamkeit jedoch, je nad) der 
Schnelligkeit des Umlaufs und andern Umfländen, vielfach verſchie⸗ 
ben, demnach der genauen Berechnung ganz unempfaͤnglich iſt. 
Auch die in der Nation vorhandenen Eörperlihen und geiftigen Ars 
beitssKräfte und Fertigkeiten find Theile bes Nationalcapitals, 
doch ebenfalls einer pecuniairen Schäsung nur wenig empfänglid unb 
mehr nur aus dee Maffe der periodifhen (affo zumal jährlichen) 
Sefammtproduction im Allgemeinen erfennbar hervorgehend. Die 
wechfelfeitigen Forderungen der Bürger unter einander aber, 
da jede bderfelben für die Nation oder die Gefammtheit zugleich und —, 
und daber ſich gegenfeitig aufhebend ift, find Bein Theil des Nationalcapis 
tale; wohl aber derjenige Theil der Verbrauchs⸗Vorraͤthe, melcher 
(ei e8 nad) der DBefchaffenheit des Gegenſtandes, [wie z. B. bei 
MWohnhäufern] oder nad) der Größe des Vorraths) den Bedarf 
einer MWirthfchaftsperiode (nach der gewöhnlichen Annahme eines Jahres) 
überfteigt, weil nämlich der Beſitz einer zue Dedung bes mehrjaͤh⸗ 
sigen ober vieljährigen Beduͤrfniſſes genügenden Gütermaffe in 
ber Wirkung gleich ift, der ebenfo lange fi wiederholenden jaͤhr⸗ 
lihen Erzeugung, fonad auch einem Capitale von Sachen und 
Kräften, welches, falls der Vorrath nicht ſchon vorhanden wäre, au 
foldyer Erzeugung müßte aufgewendet werden. Doch ift natuͤrlich ber 
Werthanſchlag diefer Dinge für die Nation ein anderer als für bie 
Ginzelnen, und zumal die Gegenftände blos luxurie uſer Verzehrung 
ihr weniger werth ale jene des wahren Bebürfniffes. Weberhaupt 
aber ift vom Mationalcapital, ſchon nad) obigen Bemerkungen, nur ber 
_ Beinfte Theil einer pecuniaisen Schaͤtzung empfänglich, und jebe 


, 


246 Capital. 


Berechnungsart, welche die polltiſchen Rechenmelſter uͤber das "Ges 
ſammtcapital der Nation theils vorgeſchlagen, theils durchzufuͤhren 
verſucht haben, durchaus truͤgeriſch, eitel, und, ſelbſt wenn bie 
Zahlen richt ig waͤren (was jedoch niemals ſein kann) nimmer zu ei⸗ 
ner klaren Anſicht oder zu praktiſchen Reſultaten fuͤhrend. Auch Say 
geſteht dieſes ein, und ſcherzt darum uͤber alle ſolche phantaſtiſche Be⸗ 
rechnungen, bei denen man (wie z. B. bei jener Ganilh's, welcher 
das Nationalcapital Frankreichs im Jahre 1789 zu 47 Milliarden, 
105,729 Franken beflimmte, oder bei ber von Beeke angeftellten, 
mwornad das engliſche Nationalcapital 300 Millionen Pfund Ster⸗ 
Ing betragen fol) „nie dafür ftehen kann, daß nicht die in Frage 
fiehenden Capitale das Doppelte ober auch vielleicht nur bie Hälfte 
der berechneten Summe betragen”. Ueber diefen Gegenſtand werben 
wir jedoch das Umftändlichere unter ben Artikeln Nationalreich⸗ 
ehbum und Nationaleinlommen vortragen. ' 

Noch bleibt uns hier die Frage zu beantworten übrig: wie bie 
Entflebung und Vermehrung der Sapitale könne veranlaft 
und befördert werden? Inwiefern, mie feit Smith die in ber 
Schule vorherrfchende Lehre lautet, diefes — und zwar für bie Ges 
fammtheit nit minder als für die Einzelnen — nur durch 
Erfparung an den mittelft früherer Arbeit gewonnenen Werthen, 
dv. h. duch Befhränktung ber unprobuctiven Confumtion 
von Gütern und Kräften und entfprechende Erweiterung der probuctis 
ven oder veproductiven Verwendung jener ficy folchergeftalt 
anhäufenden,, einen fruchtbringenden Gebrauch zulaffenden Güter und 
Kräfte gefchehe, werden mir unter den Artikeln Gonfumtion, 
Lurus auch Nationalreihthum u. a. unterfuhen. Hier 
fragen wir blos: was kann ober foll der Staat thun, um die Ans 
bäufung von Gapitalien zu befördern ? 

Es lebt ein natürlicher Trieb im Menfchen, fein Loos fortwährend 
zu verbeffern, alfo auch nad Vermehrung bes Vermögens und Einkom⸗ 
mens — als bes Hauptmittels zu erhöhten materiellen Lebensgenuß und 
auch der Bedingung manches geiftigen und moralifchen Gütererwerbs — 
zu fireben. Die Bildung von Gapitalen aus den mitteljt Arbeitsfleißes 
und Erfparung angehäuften Werthen ift ber fait einzige Weg zu diefem 
Ziel. Doch ſtehen folhem Motive auch entgegen die allerdings häufig 
vorkommenden Verfuchungen ober Anlagen zu Traͤgheit, Eitelkeit, Luͤſtern⸗ 
heit und Leichtfinniger Verfchwendung Die Pflege der zu reicherem Guͤ⸗ 
tererwerb und Capitalbefig führenden Kenntniffe, Kräfte, Fertig 
Eeiten und Tugenden, unter legten zumal der Arbeitſamkeit 
(großentheils einer Tochter der Redlichkeit, die da verfchmäht, auf ande⸗ 
vom al& auf vechtlichem Wege den Lebensunterhalt fi zu verichaffen), 
fodann der Sparfamtkeit, alfo Maßigung und Genugſamkeit, 
weiter dee Ordnungsliebe, Familienliebe u. f. w., tft Sade 
ber Unterrihtss mb Erziehungspolizei (f. Bildung), 
und fie belohne ſich nicht nur duch Reihehums- Vermehrung, 


LCapital. Capitallen-Stener. 2247 


überhaupt materleles Gh, ſondern auch 
FR — — — Volles. Aber 
von Ihe erwarten, 


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sum widerſtandloſen 
und wilenlofen Ertcagen alles deffen, was ber cherrfchaft zu ben 


fen rer —EE ein Huger Lande 
nur der n en — auch ei luger Lau 
—A Gral Tin Heerden forgt, —— 


hoffenden zeichlicheren Ertrage an Wolle ober Nich und Bleifdh, 


CapitaliensSteuer. Der natfrichfle und ber Forderung 
eines gerechten Steuers entfprechendfle Gegenftand ber Bez 
fleuerung iſt uͤberall das Capital, d. h. dee Befis. Auch bie Er 
werbung ober das Einkommen kaun unter blefen Begriff gebracht 
werben, weil demſelben überall entweder ein fächliches, sinen Ertrag 


248 "> Gapitalien ⸗Steuer. 


abwerfendes Beffschum, ober eine zum Erwerb geeignete Kraft 
(atebeii eig oder Fertigkeit) ober irgend ein (gleichfalls als Ver⸗ 
Ögenstheil zu betrachtender) Zitel des Empfange zum Grunbe 
biegt. Selbſt die indirecten Steuern verfolgen wenigſtens in bee 
&ntention das Capital oder das Einkommen, meil fie ja blos aus 
einem ober dein andern bezahlt werden können, und alfo — follte auch 
dee eigentlihe Titel ber Steuer⸗Schuldigkeit ein anderer fen 
(namentlich die Theilnahme an ben Wohlthaten des Staatsverbands) 
— dennod die Steuer: Fähigkeit, db. h. die Einbringlichkelt 
ber SteuersKorderung duch Beſitz ober Erwerb: bedingt ifl. Was nun 
dom Sapital überhaupt gift, wird es auch von jeder einzelnen 
Sattung des Capitals gelten? Wer, zumal nach dem Princip des 
nachhaältigen Ertrags, nicht eigentlich das Capital als fols 
—F— ſondern blos das davon abfließende Einkommen zu beſteuern 
r zutaͤſſig oder raͤthlich Hält (mas jedoch ſelbſt nach jenem Princip 
nit unbedingt nothwendig iſt, indem die von einer Sache verlangte 
Steuer nicht eben auch aus derſelben bezahlt werben muß), ber wird 
vorerſt das nicht fruchtbringende oder das ſogenannte todte 
Capital von der Beſteuerung ausnehmen, z. B. Mobilien, Gebrauchs⸗ 
vorraͤthe aller Art, Bibliotheken, Kunſt- und Naturalien⸗Sammlungen, 
Gotd und Stiber u. ſ. w., oder doch in geringerem Maß, als 
deffen Gelbwerth entfpräche, beftenern, z. B. Luftfchlöffer, Parks u. f. w. 
Aber das fruhtbringende Gapital, ohme Unterſchied ob in Sachen, 
Keäften oder Eintommens-Titeln beftehend, muß, mer confequent 
vorbehattlich blos der Beſchraͤnkung burdy die Nachhaltigkeit — 
das Princip von ber Steuerpflichtigkeit ded Vermögens ober des Ein⸗ 
kommens verfolgt, auch ausnahmslos ber Beſteuerung unterer: 
en. Er muß alfo niht nur Grund und Boden und Gebäude, 
ſodann das in Gewerb oder Handel ſteckende Betriebs» (ob fire 
ober umlaufende) Capital, fondern auch das in der Arbeitstraft 
oder Kunſtfertigkeit befiehende perfönliche Erwerbs: oder Vers 
dienſt⸗ Capital, ſowie das dur einen Beſoldungs- oder Penftionks 
oder ſonſtigen Rentenbezugs⸗Titel vorgeſtellte verhaͤltnißmaͤßig in 
die Steuer ziehen. Auch geſchieht dieſes wirklich nad) den meiſten 
beſtehenden Steuer⸗Syſtemen ober wird wenigſtens nach der in 
der Schule vorherrſchenden Lehre als zulaͤſſig, ja rechtlich noth⸗ 
wendig anerkannt (dgl. den Artikel Beſoldungsſteuer), 
blos mit einer einzigen, aber freilich hochwichtigen Ausnahme, 
naͤmlich des Geldcapitals. Was ift der Grund diefer Ausnahme? 
Watum erfährt die Capitatiens Steuer im engern Sinn, b. h. 
bie Befteuerung der Active Forderungen ober der eigentlichen Gelbs - 
capitalien und auc ber folche Capitale vorflellenden Renten, fo 
vieiſtimmigen Widerfprudy von Seiten der Schule nicht minder als 
von jener der praktifchen Sinanzmänner ? . 
Unbeftreitbar und ſonnenklar vorliegend if, daß, weichen Rechtes 
eitel-min Immer des Befteuerung zu Grunde lege, derfelbe die Geld⸗ 


Sapitalien: Steuer. 249 


Capitalien nicht minder als jedes andere Beſitzthum trifft. 
Der Capitaltft wie jeder Andere nimmt annähernd nad) dem Maß feis 
ned feuchtbringenden Beſitzthums Theil an ben Wohltbaten des 
Staatsvereins, db. h. ift im folhem Maße im Stande, ſich die aus 
den geſellſchaftlichen Einrichtungen bervorgehenden oder diefelben vors 

ausſetzenden Vortheile und Genuͤſſe anzueignen; er nimmt wie jeder 
Andere den Staatsfhus für fein Beſitzthum in Anfprud, ja er 
erfreut fih, was iInsbefondere die hypothecirten Gapitale betrifft, 
eines noch forgfältigern, ‚auch koſtſpieligern (polizeilichen und gericht- 
lichen) Schuges, als mehreren anderen Beſitzthuͤmern zu Theil wird, 
und ee empfängt in ben Zinfen feiner Gapitale ohne Mühe und 
Arbeit jene Mittel der Steuerzahlung, welche dee Gewerbes und Ackers⸗ 
mann und der Bedienſtete nur im Schweiß ihres Angefichts ober 
buch Aufwendung koſtbarer Zeit, Kraft und Talente fi verfchaffen 
Binnen. Capitalien, zumal, auf Grund und Boden verfidherte Capis 
talien, find ein fo koſtbares und bauerndes Befisthum als biefer ſelbſt; 
der Gläubiger It wahrer Miteigenthbämer, oft vollftändiger Eis 
genthümer des Feldes, beffen Fruͤchte (oder den Verkaufspreis der⸗ 
felben) der Bauer ihm als Zinszahlung abliefern muß, und das in 
folchen Zinfen oder in Renten beftehende Einkommen iſt, als ohne 
Borauslage gewonnen, ein buchaus reines, mithin von dem Grund⸗ 
ne Befteuerung des reinen Einkommens allernaͤchſt bes 
troffenes. 

Das Gewicht dieſer einleuchtenden Verhaͤltniſſe erhoͤht ſich durch 
die Betrachtung der faſt in jedem Staate vorhandenen ungeheuren 
Maffe von Geld>Gapitalin. Zwar tft es ſchwer, ihre Summe 
auch nur annähernd zu berechnen, weil zumal bie unverficherten, 
ale gemeinen Chirographars und die Wechfel: Schulden u. f. m. 
der Unterfuhung faft unzugänglid, auch In unaufhörliher Schwankung 
oder Wandelbarkeit begriffen find, und meil die gleichfalls wandelbaren 
wechfelfeitigen Forderungen des Inlanbs und Auslands, fomohl 
was Privat: als mas Staats⸗Schulden betrifft, ſich jeder genauern Bes 
rechnung entziehen. Doc, mag man wohl annehmen, daß, je nad) 
dußern und innern Umftinden und Verhältniffen, welche von Einfluß 
auf Vermehrung oder Derminderung jener beiden Glaffen von Schul⸗ 
den find, und zumal nad) den Einwirkungen, welche die Ungleichheit 
der VBermögensvertheilung, die Höhe der Abgaben, ein ges 
druͤckter Zuftand der Induſtrie unb des Handels, fowie bes Ackerbaues, 
fodann langwierige Kriege u. a. m. bier aͤußern können, die Summe 
der Actio-Gapitalien leicht bis zu jener bes vierten, mitunter des brits 
ten Theiles des gefammten fruchtbringenden Nationalvermögens anfleigen 
koͤnne. Die Befreiung einer ſo großen Wermögensmaffe von jeder bis 
recten Beſteuerung (von Seiten des Staates nicht nur, fondern auch 
von jener der Gemeinden), ſonach die gleihmäßige Verringerung 
der Quelle, woraus allein die pecuniairen Huͤlfomittel für ben öffent» 
lichen Dienft zu fchöpfen find, muß eine von beiden Folgen ober beide 


[4 


250 Gapitalien » Steuer. 


zugleich nach ſich ziehen — einerfelts nämlich eine ſchwerere Einbringlichkeit 
oder gar völlige Uneinbringlichleit der großen Gteue Summen, 
deren nach den heutigen Itniffen jeder civllifirte Staat zu Zwecken 
ber Nothwendigkeit oder Gemeinnuͤtzlichkeit bedarf, und anbrerfeits eine 
unveranttwortlic große Ueberbuͤrd ung derjenigen Buͤrgerclaſſen, weiche 
nicht Sapitaliften, wohl aber unmittelbare Producenten, ſonach 
gerade die nüslichften und der fchonenden Behandlung am würbigften 
figd, zu Gunften von foldhen, beten Vermögen als Glaͤubiger ein 
gleich großes Paffivum, alfo Minus auf Geite der Schuldner 
vorausfegt, mithin das Gefammits Vermögen keineswegs vermehrt, 
und die zwar durch Darleihen ihrer Capitale ben productiven Glaffen 
die Bedingungen oder wohlthätig wirkenden Hülfsmittel der Production 
gewähren, doch für fich felbft in dee Megel mehr nur geeignet und 
geneigt zur Verzehrung der Früchte, als zu deren Erzeugung find. 

Warum alfo, fo fragen mir wiederholt, warum will man denn, 
trotz aller diefer fchlagenden, politiſch wie rechtlich gewichtvollſten Argus 
mente, welche für die Beſteuerung dee Capitalien fprecyen, biefelben 
gleichwohl davon befreit wiffen? — Weil, alfo fagen die Gegner ber 
Gapitalienfteuer, die Gegengrände noch gewichtiger al& die Gründe 
dafür find, weil namentlid ber etwa theoretifch anzuerlennenden For⸗ 
derung ganz unüberfteigliche oder body nur Außerft ſchwer zu überfleigende 
praktiſche Hinderniffe und ganz unvermeibliche, hoͤchſt große Na dye 
theile entgegenfichen. Wir wollen jedoch biefe Gegengründe etwas 
umſtaͤndlicher aufzählen und auch näher in's Auge faffen. 

1) Schon vom Standpunkt der Theorie, meinen Diele, läßt 
fih Einiges gegen die Gapitalien- Steuer einwenden, namentlich, daß fie 
nothwendig wie eine wiederholte Befteuerung ber bereits ohne 
fie befteuerten Sachen wirke, und mithin theil6 ungerecht, theil6 dem 
Principien der Nationaldtonomie zumwiderlaufend fei. Grund und 
Boden, ohne Unterfchied, ob mir Schulden belaftet oder nicht, wirb 
Immer mit feinem vollen Werth in die Steuer gezogen und ebenfo das 
in einem Gewerbe oder Danbel ftediende Gapital, obne Unterſchied, ob 
e6 des Gerwerbtreibenden eigenes ober ein von einem Andern erborgs 
tes fe. Eine Befteuerung deffeiben Gapitales, einmal in ber Dand 
des Schuldners und alddann wieder in jener des Glaͤubigers, 
ift alfo eine Doppelte und darum eine ungerechte Beſteuerung. 

Gegen biefes Raifonnement aber ftreitet ſchon die naͤchſt liegende Bes 
teachtung, daß bei weitem nicht alle bargelehnten Gapitalien auf fleuerbas 
ren Öbjecten ruhen (mie auf runden, Däufern oder Gemerbseintichtungen), 
fondern daß gar viele blos zur Befriedigung perfönlihen Bebärfnife 
ſes oder Selüftes aufgenommen werden, und auch unvderfichert, d. b. 
mit keiner Hypothek verfehen find, und bag zumal, was die Staates 
Anlehen betrifft, Diefelben keineswegs auf fleuerbaren Objecten 
ruhen, fondern in ber Regel nur vorübergehenden, jedenfalls keine 
Steuerobjecte erzeugenden , oͤffentlichen Beduͤrfniſſen gewidmet worden 
find. Doc abgefehen von biefer blos limitirenden, befonbern Be⸗ 


GapitaliensSteuer. 251 


trachtung, bie da nämlich nur einen Theil der gegneriſchen Be⸗ 
hauptung entkraͤftet, bietet fih eine allgemeine, gegen das ganze 
Princip dee vorliegenden Einwendung gerichtete dar. Sie beſteht 
darin, daß nicht eben die doppelte oder mehrfache Beſteuerung derfeiben 
Sache ſchlechthin verwerflich ift, fondern nur jene dee Perfon wegen 
der nämlihen Sache. Wenn eine Sache nad) einander in mehrere 
Hände kommt und eim jeder nachfolgende Befiger davon Steuer zu zah⸗ 
Im fähig ift und irgend ein Titel vorliegt, ihm ſolche Steuer aufzules 
gen, fo iſt gar nichts gegen die wiederholte Beſteuerung zu erinnern. 
Die Sahen ſelbſt fühlen von der. Befleuerung nichts, fondern 
nur die befteuerten Perſonen, und diefe zahlen bie Steuer zwar von 
oder wegen ber Sache, doch nicht eben nothwendig qus berfelben. 
So wird 3. B. nah den ‚gewöhnlihen Accifes Gefegen berfelbe 
Wein, wenn er nady einander viermal verkauft wird, auch viermal vers 
feuert, und man nimmt baran Eeinen Anſtoß. (Wir zwar nehmen 
wirklich Anftoß daran, doch aus einem andern Grunde) Ja, felbft in 
bee nämlihen Hand — was aber freilih verwerfliih iſt — 
wird oftmals eine Sache mehrmal befteuert, und die Gegner ber Ca» 
pitaliensSteuer billigen es. So zahlt 3. B. dee Bauer von feinem 
Grund ober von deſſen Früchten zuerft die Grund ſteuer, fobann den 
Zehent, fodann vielnamige fogenannte alte, oder Patrimonials 
oder Heudals Abgaben, fodann beim Verkauf, 3. B. des Weines, bie 
Acciſe (welche nämlich in der Megel auf den Verkäufer durch Herab⸗ 
drüdung des Preifes zuruͤckfaͤllt) oder bei der Ausfuhr den Zoll, oft 
mals auch vor den zum Selbſtverbrauch beftimmten Erzeugniffen 
eine Accife ober Oktroi⸗Gebuüͤhr oder wie fonft benannte Vers 
zehrungsſteuer u. f. w. Die Gapitaliens Steuer ald doppelte 
Beſteuerung verwerfen, ift alfo auf Seite dee Anhänger ber beftehenben 
Steuerfofteme zum menigften eine große Snconfequenz. Zudem märe 
ja gar wohl thunlich, die Steuer, die man dem Gapitaliften auflegt, 
dem Grundbefiger oder Gewerbemann im Mage feiner Verfhuldung abs 
zunehmen, wornach alfo die Sache wirklid nur einmal verfteuert 
würde. Auch ift offenbar mehr der Glaͤubiger ald bee Schuldner 
als wahrer Eigenthümer des dem erften zue Hypothek eingefegten 
Grundes zu achten; und wenn von beiden nur einer zahlen fol, je 
nun! fo richte man die Forderung allein an ben Glaͤubiger. 

2) Aber, fagt man vwoeiter, ber Gapitalift wird audy ohne bie uns 
mittelbare Gapitaliens&teuer auf mittelbare Weiſe gebührend in's 
Mitleiden gezogen; jene unmittelbare Beſteuerung erfcheint mithin als 
unnöthig, d. b. ale Über den Zwed hinausgehend, und daher auch 
als ungerecht. Denn der Gapitalift zahlt die indirecten, nament⸗ 
ih die Verzehrungsſteuern ‚gerade im Maße feines Vermögens 
oder Einkommens (wornach ſich nämlich feine Verzehrung richtet); und 
felbft die dem Aderbauer und bem Gewerbsmann aufgelegten birecten 
Eteuern fallen größtentheils auf den Gapitaliften (wie auf. ben Beſoldeten) 
juche, weil ber Bauer und dee Gewerbtreibende den Preis ihrer 


252 Gapitalien: Steuer. 


Erzeugniſſe nach Maßgabe ber ihnen aufgeleggen Steuer erhöhen: wer 
degen ben Gapitaliften (und Beſoldeten) Bein Mittel des Wiederein⸗ 
bringen® der bezahlten Steuern zu Gebote flieht. ine eigene Capitas 
fien-Steuer wäre hiernach eine doppelte Beftenerung dee Perſon, mithin 
eine wahre Beraubung. j 

Hierauf dient zur Antwort, daß 1) die Probucenten im ber 
Eigenſchaft als Confumenten die Werzehrungsfteuermn sicht minber 
als die Capitaliften bezahlen, fodann 2) baf bie Lehre von ber Leber 
‚ wälzung auch der birecten Steuern auf die Verzehrer eine durchaus 
irrige ift, indem noch weit öfter die indirecten Steuern auf bie 
Mroducenten und zwar als ſolche, zurkdfallen, ale bie birecten 
auf die Conſumenten überwälst werden. Jeder Probucent zwar, 
überhaupt jeder Steuerpflichtige, beftrebt fich, den Wiedererſat feiner 
bezahlten Steuer wo irgend ber zu erhalten, oder vielmehr jeder ſucht 
den geößemäglihen Ertrag feiner Arbeit ober feines Beſitzthums 
zu erlangen; aber es hängt der Erfolg keineswegs von feinem Wilten, 
fondern von ben allgemeinen Geſethen des Zuſammenfluſſes 
and bee darnach fich richtenden Preisbeſtimmung ab; und in ber Regel 
wird der Steuerpflichtige nicht in der Preiserhöhung, fondern nur 
entweder in ber durch gefleigertn Fleiß vermehrten Production, 
oder im der fparfamern Verzehrung das Mittel der Steuerzah⸗ 
lung finden. Endlich 3) können wenigftens diejenigen, welche bie 
Gapitaliens Steuer aus dem runde verwerfen, weil dieſelbe in ber That 
nicht vom Gapitaliften ſelbſt bezahle, fondern durh Zinsechöhung 
auf die Schuldner übermälzt werde, nicht zugleich die Unmoͤg lich⸗ 
Leit einer folhen Weberwälzung auf Andere behaupten. Mir 
find freilich biefer, wiewohl vielftimmig aufgeftellten Anficht nicht zuges 
than; doch dient ihre Anführung menigftens dazu, den Widerſpruch 
in den, gegen bie Capitallen⸗Steuer erhobenen Einwendungen oder die In⸗ 
confequenz ihrer Gegner barzuthun. 

9) Ad Hauptargument aber ftellte man dieſer Steuer ihre 
angebliche praftifhe Unausführbarkeit ober body größte Schwies 
tigkeit und Gehäffigkeit der Ausführung entgegen. Und dazu 
komme noch, für den Fall, daß man fie gleihwohl ins Leben treten 
lafje, einerfeits ihre Wirkungsloſigkeit und andrerfeits ihre viels 
fahe Schaͤdlichkeit. Die Capitalien, fo fagt man, liegen nicht fe 
zu Tage wie Grund und Boden oder anderes Beſitzthum. Um zu ib: 
ree Kenntniß ober zu ihrer auch nur annähernd genauen Eintragung 
in die Steuerrolle zu gelangen, find inquifitorifhe Maßre- 
geln von der gehäffigften Art, zum Theil gleich kraͤnkend für die 
Schuldner, als belaͤſtigend für die Gläubiger, vonnöthen, und Des 
fraudationen ohne Zahl dennoch, überall unvermeidlich. Wie fol man 
zumal bie ſtets bewegliche Maffe der bloßen Chirographar: Schul: 
ben, wie bie im Ausland anliegenden und bie ben Fremden gegen 
einbeintifche Schuldner zuftehenden Gapttalien inne werden, und wie. bie 
Behjandiung der nach Zinsfuß,- Sicherheit, Dauer und andern Weu 


Sapitalicn= Steuer. 253 


hätfniffen fo vielfach verſchiedenen Activ » Forderungen auf eine dem 
Princip der wahren Gleichheit entfprechende Weife ‚einrichten? Eos 
dann: fol -oder darf der Staat auch feine eigenen Gläubiger 
als folche und insbefondere auch bie fremden befteuern, und wenn er 
es nicht darf, wirb nicht dadurch allein ſchon die Hälfte des Capital 
Vermögens befreit, demnach die GapitaliensSteuer um bie Hälfte ihrer 
Bedeutfamleit gebracht? Beſteuert man aber blos bie Privat: Gapis 
talien, wird nicht ber Gläubiger dafür durch Erhöhung der Zinsfor⸗ 
derung ‚oder andere gegen ben Schuldner bedungene Vortheile ſich 
ſchadlos halten und dergeſtalt diefem, in defjen angeblihem Intereſſe 
man vorzugsweife bie fragliche Steuer begehrt, bie vermeinte Erleichte⸗ 
rung vielmehr zur neuen Burde machen? Oder, wenn ihm foldhes 
nicht gelingt, wird er nicht feine Gapitalien im Auslande anlegeu 
und dadurch dem einheimifchen Aderbau und ber einheimifchen Induſtrie 
bie ihnen nothwendigen oder mwohlthätigen Betriebsfonds entziehen ? 
Und ebenfo, wenn man die fremben Gapitaliften befteuert, werben 
fie nicht gleichfalls ihre Gelder zurüdncehmen und jene Fonds dadurch 
abermal ſchwaͤchen? Wohin man alfo blide, überall erfcheint nur 
Schwierigkeit und Nachtheil, verbunden mit einem jedenfalls nur ges 
xzingen unmittelbaren Ertrag; ja, wenn man — mie aller: 
dinge billig ift — um. die ben Gapitaliften aufgelegte Laſt jene ber 
Schuldner vermindert, d. 5. biefen bie Schulbfumme von ihrem Steuers 
capital abzieht, ohne allen Ertrag. 

Auf diejenigen ber hier zufammengeftellten Argumente, welche blos 
gegen die Befteuerung einzelner Claffen oder Gattungen von 
Capitalien gerichtet find, werden wir unten zurüdtommen, bei der zu 
erörteenden Stage ndmlih: welche apitalien nad) Recht und Kiug- 
heit mit der Steuer zu belegen find? Fuͤr jegt bloß eine kurze Erwie⸗ 
derung auf bie allgemeinern Vorwürfe. Die Ausführbarkeit 
ber Gapitalien-Steuer zupsrberft geht am Harften daraus hervor, daß fie 
ja in mehreren Staaten, 3. B. in Würtemberg, wirklich befteh:t 
und in andern, 3. B. in Baden, mwenigftens eine Reihe von Jahren 
binduch beftanden bat. Denn was wirklich iſt oder geſchah, 
muß auch möglich fein. Einige Schwierigkeiten und Incon⸗ 
venienzen übrigens geben wir zu. Doch ift niht eine Steuer 
gattung von folchen frei, und viele berfelben, namentlih die Ges 
werbe= Steuer und bie meiften inbirecten Steuern, führen derſel⸗ 
ben noch weit mehrere und fhlimmere als die Gapitalien-Steuer mit ſich. 
Bei diefer, wie eine unbefangene Betrachtung zeigt, find fie nicht einmal 
ſonderlich geoß. Der größere und wichtigere heil der Gapitalien, näms 
lich bie in’d Hyppothekenbuch eingetragenen, liegt ja wirklich zu Zage. 
Die Berichtigung der etwa mangelhaft eingegebenen Faſſionen iſt hiernach 
licht, wenn man auch nicht zu dem fonft vorgefchlagenen Mittel greis 
fen will, daß jeder bei Gericht einzugebenden Klage gegen einen Schuld: 
nee ber Ausweis über den Eintrag der Schuld in die Steuerrolle des 
Klägers beigelegt werden müfle In Anfehung der bloßen Chiros 


254 Eaapitalien » Stener. 


2 
graphar⸗Schulden jedod könnte man wohl flart ber ſpeciellen 
Saflionen ſich mit ganz allgemeinen ober fummarifchen begnuͤ⸗ 
gen; und bei den Staats⸗Glaͤubigern waͤren (wenigſtens im 
Bezug auf die Staats: Steuer; etwas Anderes jedoch fände bei der 
Gemeinde: Steuer flatt) gar Feine vonnöthen, indem bier der Staat 
blos durch entfprechenden Abzug bei jeder Zinszahlung bie Steuer 
zu erheben braucht. inige weitere Mittel ber Erleichterung oder Ders 
einfachung werden wir noch fpdter berühren. Was nun aber die Be 
forgniß betrifft, es möchten die befteuerten Gläubiger auf irgend eine 
Art die Laft auf ihre Schuldner übermälzen; fo halten wir 
fie für geößtentheild, wenn nicht völlig, eitel. Der Preis des Gel⸗ 
bes, ber ſich duch den Zindfuß ausbrädt, wird beftimmt durch bie 
Geſetze des Zufammenfluffes, nit durch den Willen des Beſitzers 
und ber als Regel geltende, fogenannte „landlaͤufige Zins“, 
auf welchen ber Staat niht nur die gerichtlich zuzuerkennenden, 
z. B. Verzugs⸗Zinſe u. f. w., fondern audy bie den öffentlichen, 
d. h. überhaupt unter der höhern Staats = Autorität zu verwaltenden, 
ale Corporations⸗, Stiftungss, Kirhens u.f.w. Fonds 
zuftändigen Capitalzinfe zu befchränken das Recht hat (Privats Gläus 
bigern foll er natürlich nichts vorfchreiben), wirkt mehr oder wenb 
ger noͤthigend zu gleicher Beſchraͤnkung für Alte, melde Capita⸗ 
lien auszuleihen haben, weil eine Steigerung , welche Einzelne ver 
fudyen wollten, fie wohl um den Zulauf bringen, vielleiht auch ein: 
zelme des Geldes Bedürftige der wucherlichen Forderung unterwerfen, 
nicht aber den Zinsfug im Allgemeinen erhöhen koͤnnte. Auch die 
Gefahr des Anlegens unferer Capitalien im Auslande fehlagen wir 
niht ho an. Es müßte — vorausgefest, daß der Juſtizgang im 
eigenen Lande gut, fchnell und ficher fei — eine ganz enorme 
(und daher nach unfern eigenen Grundſaͤtzen verwerfliche) Steuer 
* auf die Gapitalien gelegt fein, wenn fie die Geldbefiger beftimmen 
ſollte, ihr Geld lieber im Auslande, wofelbft jedenfalls die gerichtliche 
Hülfe für fie fchwerer zugänglich und Boftfpieliger ift, anzulegen, als 
in der eigenen Heimath. Was aber das gefürchtete Zuruͤckziehen ber 
fremden Fonds betrifft, fo wird, infofeen Einzelne bderfelben wirt: 
lich benoͤthiget oder namhaften Productionsgewinn dadurch erzies 
lend find, denfelben nicht ſchwer fein, durch Privatentfchädigung des 
Gläubigers jenes Zurädziehen abzuwenden; und infofern dieſes nicht 
bee Fall ift, fo wird aud) der Geſammtheit, in deren Schooß jest 
die früher ins Ausland bezahlten Zinfen zurüdbleiben, dadurch Fein 
fonderlicher Nachtheil zugehen. Uebrigens mag darüber, ob auch bie 
fremden Gläubiger zu befteuern feien, geflritten werden, wenn 
— auch im Allgemeinen die Capitalien⸗Steuer gutheißt oder 
ordert. 
Soviel von der Zulaͤſſigkeit und Raͤthlichkeit, ja rechtli⸗ 
chen und politiſchn Noth wendigkeit ber Capitalien⸗Steuer über: 


Sapitalien = Steuer. 255 


haupt: wir geben jegt über zu einigen befonderen Punkten, die 
bier in Sprache kommen. 

Welche Gapitalien darf oder foll man ber Beſteuerung unter 
- werfen? — Allernaͤchſt und unzweifelhaft die auf gerichtlichen 
Obligationen ruhenden, überhaupt die mit Pfandrecht auf Rea⸗ 
litäten oder andere Steuerobjecte verfehenen oder fonft eigens durch 
geſetzliche ober rechts polizeiliche Fürkehr gefiherten; vers 
ſteht ſich jedoch nur inſofern fie verzinslich find und nach Verhälts 
niß des Zinsfußes, auch nur Infofern dee Termin ber Heimzah⸗ 
tung unbeflimmt oder erft nach Ablauf einiger Zeit (z. B. eines 
Jahres?) vom Tag der Entftehung dee Schuld (3. B. eines gefchloffer 
nen Verkaufes u. f. m.) eintretend iſt. Letztere Biſchraͤnkungen find 
noch unbedingter anwendbar auf die, ohnehin jedenfall® geringer zu⸗ 
befteuernden, bios einfahen Ehirographars Forderungen, welche 
nämlich in den angebeuteten Fällen (von den Wecfelbriefen gilt 
diefes überhaupt) füglicher dem baaren Gelde als den fländigen 
Eapitalien gleich zu achten find und daher, fo lange nicht auch die 
Baarfchaft oder der Caſſavorrath einer Faffion und Beſteuerung unters 
worfen wird, billig die Freilaffung anfpreden. 

Auch Renten, auf privatrechtlicd, befeftigten Titeln ruhend, wie 
Leibrenten, Wittwengehalte, Apanagen u. f. w., infofern fie nicht ſchon 
einer andern, 3. B. Penfionss ober Claffenfteuer unterworfen 
find (Srundrenten unterliegen in der Regel der Grundfteuer), 
eignen ſich zur Einreihung in die GapitaliensSteuer; verſteht ſich mit 
einer geringern Quote, als von ben eigentlihen Capital⸗ 
Binfen, d. h. von den aus einem bleibenden Geldcapital abflies 
enden, zu fordern it. Alten Abftufungen der hier nad) dem Lebens» 
alter und andern Verhältniffen eintretenden Unterſchiede kann freilich 
bee Steuerfuß nicht folgen. Ein mittlerer oder Durchſchnitts⸗Anſchlag 
(3. B. der Hälfte der eigentlichen Capitaliens&teuer gleich) möchte bier 
der billigen Forderung auf beiden Seiten genügen. 

Ein Anderes ift zu fagen von den Renten, welche auf einem 
niht nur perfönlidhen, oder auf die Lebenszeit des Beziehers 
befchränkten, fondern bleibenden, daher auch veraͤußerlichen 
und vererblihen Titel ruhen. Diefe Eigenſchaft haben zumal diejes 
nigen, welche der Staat feinen Gläubigen, nach der gegenwärtig 
befonders beliebten Form der Staats s Schulbbriefe, zu zahlen uͤbernom⸗ 
men bat. Diefelden find jedoch nad) ihrer Wefenheit nichts Anderes 
als Zinfe von (in der Regel unauflündbar) beim Staat anliegen» 
ben Capitalien; und es ift daher die Frage von ihrer Befleuerung 
keine andere als die allgemeine von ber Beſteuerung der beiim 
Staate anliegenden Capitalien. | 

Ob der Staat feine eigenen Gläubiger als ſolche befteuern 
bürfe und folle, mird zwar vielfiimmig bezweifelt ober befttitten ; 
doch iſt die Entfcheidung bier, ſowie bei der Befoldungsfteuer, 
woſelbſt nämlich ganz Ähnliche Verhaͤltniſſe obwalten (f. den Art. Be⸗ 


& 


256 | Sapitalien = Steuer, 


foldungsfteuer), einfach und leicht, fobald man nur bie nahe Hier 
gende Unterfheidung zmwifhen dem Staat als im Vertrages 
verhättniß befindlicher Partei und als Steuerherrn. in’d Auge 


faßt. Der Dienftherr als folder kann dem Bebienfteten als 


ſolchem von dem vertragemäßig beftimmten Lohn, der. Schuldner 
als folder kann dem Gläubiger als folhem von ben vertrags⸗ 
mäßig feltgefegten Zinfen nichts. abziehen ober zurüdhalten; wenn aber 
der Dienftherr oder der Schuldner in einer andern Eigenfhaft 
eine Forderung gegen den Diener oder Gläubiger rechtlich aufzuftellen 
bat, fo hindert y- jenes Verhältnig an Geltendmachung folder For⸗ 
berung nicht. , Für den Staat als Steuerherrn erfcheint der 
Staatsgläubiger Kios als Inhaber eines Capitals oder als Be 
zieher von Renten, und Infofen im Allgemeinen folhe In⸗ 
haber ober Bezieher vermöge eines bier ober dort geltenden Steuerſy⸗ 
ſtems beitragspflichtig find (und dag ein folches Spftem rechtlich und 
politiſch gut ſei, haben wir. oben ausgeführt), fo hat die Korderung 
dee Ausıtahme oder befondern Befreiung durchaus Fein Rechtes 
fundament mehr. Jeder Staatsangehörige fol, nad dem allein 
vernünftigen Steuerprincip, beitragen nad) Verhältniß feinee — aller 
nähft nad dem Maß feines erfcyeinenden Vermögens und Einkom⸗ 
mens zu [häsenden — Theilnahme an den Wohlthaten des 
Staatsverbands; dee Capitaliſt alfo nicht minder als ber 
Srundbefiger oder der Gewerbsmann, denen ohnehin der Ca» 
pitaliſt nach Quelle oder Sundament feines Rentenbezugs fehe ähnlich, 
ja faft glei ift, und der Umfland, daß Einer feine Renten aus ber 
Stantscaffe bezieht oder fein Gapital in ber Staatscaffe anliegen 
bat, bringt in Bezug auf, feuerpflichtigkeit durchaus keinen 
Unterſchied hervor gegenüber. yemjenigen, welcher feine gleignamige 
Forderung nur an eine Privatcaffe ftellt. 

Aber iſt es — zugegeben, daß es rechtlich zuläffig ſei — wohl 
klug, bie Staatsglaͤubiger zu beſteuern? Wird nicht der Staat$ 
Eredit dadurch leiden, oder wird nicht wenigſtens was durch die Bes 
ſteuerung unmittelbar gewonnen werden koͤnnte, wieder verloren gehen 
durch die, eben dieſer Beſteurung willen, ſich ſteigernden Forde⸗ 
rungen der vom Staat um Anlehen angegangenen Capitaliſten? — 
Wir antworten: ja! wenn die Staatsglaͤubiger allein beſteuert wuͤr⸗ 
den, koͤnnte der Staat ald Schuldner oder ald Geldfadyender davon 
die Ruͤckwirkung empfinden. Wenn aber auch die Privatcapi: 
talien befleuert find, fo bleibe das Verhaͤltniß zwiſchen Privafs 
und Staatsanlehen unverändert, und kann dann blos noch von 
der . etwa zu beforgenden Geneigtheit, das Geld im Auslande 
anzulegen, gefprochen werben, welche Beforgnig wir aber ſchon oben 
beſchwichtigt zu haben glauben. .Uebrigens handelt es fish hier nicht 
nur um Staats», fonden nuh um Gemeinder, oder auch 
Provinzials Steuern, und find nit nur die jufänftigem 
Darlisiher, fonbern bie bereits vorhandenen Staatßglaͤu⸗ 


Capitalien : Steuer. . 257 


biger in Sprache, welche der, nad einem Rechts princip ihnen auf: 
zulegenden, Steuer keinen haltbaren Widerſpruch entgegenfegen, auch 
ihre Forderung der Steuer willen nicht erhöhen koͤnnen, fondern — 
mwiewohl fie als Gläubiger die unverringerte Befriedigung anfpres 
hen, damoh — in ihrer Eigenfhaft ald Mitglieder ber Ges 
fammtheit billig zur Theilnahme an der Laft oder Schuldigkeit 
dieſer Sefammtheit angehalten werden. 

Findet alles diefes auch ftatt in Anfehung der fremden Staatögläus 
biger? — Hier, alfo geflehen wir, erfcheint ung ein zmweifelhafs 
tes Recht, und es iſt zur Entfcheibung noch eine vorläufige Verſtaͤn⸗ 
digung nöthig. 

Zuvoͤrderſt muß unterſchieden werben zwifchen Schufbtiteln, die auf 
beflimmte Perfonen lauten, wo alfo die fortdauernde : oder wenige 
ſtens die urfprüngliche Eigenfchaft des Glaͤubigers, ob nämlich fremd oder 
einheimiſch, juriſtiſch erfcheinend ift, und jenen, die etwa undbeftimmt 
au porteur lauten oder wenigſtens nur durch Geffion von Einheimis 
ſchen an Fremde gelangt find. Bei der zweiten Glafje mag angenommen 
werden, daß der fremde Inhaber, fei ed, daß er gleich urſpruͤnglich 
Theil an dem Antehen nahm, oder daß er erft fpäter die Staatsfchulds 
verfehreibung fich cediren ließ, freimillig jene Verbindlichfeiten auf 
fi) genommen babe, welche den einheimifhen Gläubigern obliegen 
oder ohne Unrecht können aufgelegt werden. Diefe Claſſe alfo unterliegt 
den über die Befteuerung ber einheimifchen Staatsgläubiger aufgeſtell⸗ 
tn Grundſaͤtzen. Etwas Anderes mag behauptet werden von ber 
erften Glaffe, von denjenigen Perfonen naͤmlich, mit welchen ber 
Staat eigens als Fremden bie Schuld contrahiet hat. Bei diefen tft 
kein Xitel der Befteuerung gedenkbar, es fei denn, daß fie fpäter Ins 
Land ziehen und dergeftalt Einheimifche werden. Sonſt aber genießen 
fie von unferm Staat als Staat buchaus nichts, nicht einmal dien 
Shus für ihre Sapital= und Zinsforderung. Denn ein folder Schug hat 
nur Bedeutung, wenn Sentand gedacht wird, gegen welchen der Schuß 
gewaͤhtt wird. Hier aber ift der Staat ja felbft der Schuldner und 
erfuͤllt feine Verbindlichkeit gegen fie aug gemeiner, privatrechtlicher 
Schuldigkeit, nit als Staatsgewalt, und auch nicht genöthis 
get durch eine folche, weil er diefe ja felbft if. Der Gläubiger ev 
hält ba keine Wohlthat vom Staat a8 Schutzanſtalt, ſondern 
blos die contractmaͤßige Befriedigung von Seite feines Schulbners.- 

Anders ift dis Verhaͤltniß, wenn der Fremde bei Staatsan⸗ 
gehörigen feine Gapitale anliegen hat. Hier tritt ber Staat wirke 
ih a8 Scusanftalt auf; denn er läßt dem Fremden gegen ben 
etwa zahlungsflüchtigen oder faumfeligen Schuldner Recht anyedeihen 
vor den einheimifhen Gerichten, und auch den polizeilichen, 
namentlih recht spolizeilichen Schuß läßt er ihm angedeihen gleich 
den eigenen Unterthanen. Billig wird der Fremde dafuͤr zu entfpres 
chender Gegenleiftung verbunden. Aber melches tft derfelben billiges 
Map? — Hier kommt es freilich auf das Syſtem an, weldem 

Staats = Lerifon. 111. 17 


258 . „Gapitalien » Steuer. | 


man bei der Beſteuerung im Allgemeinen huldigt ober auf ben für 
die Steuerpflicht überhaupt aufzuftellenden Titel. Nach dem Syſtem 
der fogenannten. birecten Steuer, namentlich ber Grund- Steuer, 
wonach nicht eigentlich die Perfon, fondern die Sache befteuert 
wird, ſollte natürlich der fremde Capitalift diefelbe Steuer bezah: 
‚len wie der einbeimifche, forwie 3. B. auch der fremde Grund: 
befiger in Anfehung der Grunbdfteuer nicht anders behandelt wird 
ale der einheimifhe. Aber ber Staat iſt nicht nur eine Verſiche⸗ 
rungs = Anftalt für die Sachen, fondern auch für die Perfonen; 
ja es erlangen diefe nicht nur Sicherheit, fondern auh Annehm: 
lichkeit des Lebens, überhaupt taufenderlei Vortheile und Ges 
nüffe, duch die Anflalten des Staates, welchem fie angehören, 
ober es wird ihnen mwenigftens die Möglichkeit oder bie Gelegen⸗ 
heit und Leichtigkeit, ſich diefelben zu verfchaffen, von ihm dargebo- 
ten. Huldigt man nun dem Grundfag: „Seder fteure nad) Maßgabe 
feiner Theilnahme an den Wohlthaten des Staatsverbande”, fo darf 
man ben Fremden nicht gleihmäßig befleuern wie den‘ Einheimi- 
ſchen (e8 fei denn etwa, er babe auf längere Zeit feinen Wohnfig 
bei und genommen und fei alfo dadurch wirklich zeitlicher Unter⸗ 
than geworden). ben jenes Grundfages millen haben wir auch in 
unferer allgemeinen Lehre von Steuern (f. den Art. Abgaben) 
bemerkt, daß nur die Befteuerung bes Sefammt-Vermögens und 
Einkommens jebes Einzelnen die Forderung des idealen. Rechte 
wenigftens annähernd befriedige, und zwar nicht allein darum, meil ber 
Reiche mehrfältigen Staatsfhus ale der Arme in Anfprudy nimmt, 
-fondern noch eigentliher des wegen, meil man unter fonft gleichen Um⸗ 
ſtaͤnden allerdings im Verhaͤltniß des Vermögens und Einkommens bie 
Annehmlichkeiten des Lebens genießt, oder wenigſtens Ge⸗ 
nußmittel befist, und alfo — da alle oder faft alle Gmüffe, 
von welchen bier die Rede fein kann, näher oder entfernter buch das 
Vorhandenfein und die Kürforge des Staates bedingt find — In eben 
dieſem Verhaͤltniß der Mohlthaten des Staatsvereins theilhaft wird. 
Eben darum ift auch die auf alle Arten des Befisthums und Er- 
werbs gleichmäßig gelegte Steuer, weil ſie bei Einheimiſchen in 
ihrem Ergebniß wie in ihrem Titel jenem der allgemeinen Vermoͤgens⸗ 
and Einkommensſteuer ziemlich nahe koͤmmt, als wenigſtens annaͤ⸗ 
hernde Verwirklichung der Idee zu billigen: aber auf Fremde paßt 
dieſes nicht, weil dieſe zwar von unſerm Staat den Schutz für 
ihre bei uns befindlihen Güter oder Vermoͤgens ſtuͤcke erhalten, 
aber für die Beduͤrfniß⸗Befriedigungen oder febensgenüffe, wozu 
Ihnen der Ertrag foldyes Vermögens die Mittel darbietet, niht unferm 
Staat, fondern nur dem ihrigen verbindlich find. Für den Schutz 
nun, welcher den Fremden in Anfehung ihrer Gapitalien bei uns zu 
Theil wird, möchten bie für die befondern gerichtlichen oder polizeilichen 
Acte, welche folhen Schutz bezwecken, zu entrihtenden Zaren und 
Sporteln genügen. Eine weitere, wenigſtens eine den Fremden in 


 Capitalien: Steuer. 259 


gleihem Mage wie ben Einheimiſchen aufgelegte Capitaliens&teuer, 
würbe — mie biefes auch in der That bei der Grundſteuer nad) ihe 
rer gemöhnlichen Regulirung der Fall iſt — eher die Natur eines vor- 
behaltenen oder angemaßten Miteigenthums auf die befteuerte- 
Sache, als die einer wahren, nur von den Perfonen zu fordernden 
Steuer haben‘, mithin, da ein ſolcher Vorbehalt wohl etwa (wegen des 
Gebietsrechts) auf Grund und Boden, niht aber auf Fors 
derungen benkbar ift, hier eine bare Ungerechtigkeit fein. Zus 
dem würde die Eintreibung einer foldhen Steuer fehr großen Schwierig⸗ 
keiten unterliegen, und wenn — mie dann ficher gefchehen würde — 
der fremde Staat fie auch gegenfeitig unfern Gapitaliften auflegte, ihr 
Ertrag leicht durch den biefen legten zugehenden Verluſt überwogen wer⸗ 
den. Es ſcheint hiernadh die Kreilaffung — verfteht fid) bie wech⸗ 
felfeitige Freilaſſung — ber fremden Privat-Gldubiger von der Ca⸗ 
pitalien-Steuer eben fo väthlich als gerecht. BE 
Dagegen erlaubt oder fordert unfer Princip die Beſteuerung bderjes 
nigen Gapitalien, welhe bie eigenen Bürger im Auslande anlks 
gen haben, d. h. wenn audy nicht eigentlih der Capitalien felbft, 
weil diefe.dem Schuße bes fremden Staates unterftehen, fo doch der da⸗ 
von abfließenden Renten, die da nämlid ein Einfommensthelt 
find und in dieſer Eigenfchaft (nad) obiger Ausführung) nit nür 
fteuerfähig, fondern auch fLeuerpflihtig mahen. So mehlg 
man beim Kaufmann unterfcheidet, ob der Handelsgewinn, 
den er macht, ihm von einheimifchen oder von fremden Käufern zufließe, ' 
fondern in einem wie in bern andern Fall denfelben befteuert, eben fo we⸗ 
nig liegt (in Bezug auf den wahren Titel der Steuerpflicht) bei'm Ca pis 
taliften rechtlich daran, ob feine Zinfe ihm von fremden oder von ein⸗ 
heimiſchen Schuldnern bezahlt werden; er ift in einem wie in dem andern 
Fall im Beſitz eines Einkommens und daher nach Maßgabe beffelben 
dem Staate beitragspflichtig. Freilich ift es hier ohne die gehäf- 
figften inquifitorifchen Mafregeln kaum moͤglich für den Staat, zur 
Kenntniß der im Auslande anliegenden Capitalien zu gelangen, wel⸗ 
cher Umftand jedoch nur die praktiſche Ausführbarkeit verringert, nicht 
aber die Wahrheit des theoretifchen Satzes aufhebt. Auch kann, 
was nicht vollftändig auszuführen ift, wenigftens zum Theil in Wir- 
fung treten, namentlich mittelft der von den Nentenbefigern zu erhebenden 
Safftonen, nad) deren Inhalt fodann nicht nur die Staats:=, fondern 
aud die Gemeinde: Steuern für die Betreffenden erhöht würden. 
Uebrigens wollten wir durch alles dieſes blos die Uber die Gapita- 
lien» Steuer aufgeftellten allgemeinen Principien vollftändiger ausführen, 
und mas aus ihrer Anwendung auf befondere Verhältniffe hervorgeht, ins 
Licht fegen. Aber wir befchränfen uns hier auf die Behauptung: bie 
Befteuerung auch der aus dem Auslande bezogenen Renten ift rechtlich 
zuldffig; aber, fo feßen wir gerne bei, fie ift nicht eben nothwens 
dig, weil, zumal wegen ber allzugroßen Schwierigkeit, über ſolche Ren⸗ 
ten fich den- gehörigen Ausweis zu verfchaffen, oder ber allyugropen Reichs 


260 Gapitalien » Steuer. 


tigkeit der Defraudation ber vernünftige Gefammtwille ſich wohl audy bes 
wogen finden kann, darauf zu verzichten. Er wird diefes (zumal in 
Bezug auf die Staats: Steuer; etwas Anderes aber bürfte bei der 
Gemeinde-Steuer der Fall fein) um fo eher thun können, da, nad) 
dem heutzutage faft überall beftehenden Syſtem einer ausgebreiteten in⸗ 
directen Beſteuerung, auch der blos allein von auswärtigen Ren⸗ 
ten Lebende jedenfalls eine nicht unbedeutende Abgabe zu entrichten hat. 
Eine Befteuerung, die, wie wir vorübergehend bemerken, aud als ein 
Eingeftändniß der Zuläffigkeit einer auch auf folche Rentenbe⸗ 
zieber zu legenden Steuer gelten mag. 
Der Betrag der Capitalien = Steuer wird billigermaßen nicht nach 
ber Summe des Gapitals felbft, ſondern nad jener der Zinfen . 
oder der Renten zu beflimmen fein; fo zwar, daß 3. B. von 100 Fl. 
Binfen oder Renten gleich viel entrichtet werde, ohne Unterſchied, ob 
fie von einem (wahren oder idealen) Gapitale von 3000, oder von 2500 
oder 2000 Fl., d. h. von einem zu3, 4, oder 5 Procent anliegenden 
ober berechneten abfließen, daß alfo zum Behuf der Eintragung in das 
Steuerkatafter (wenn man naͤmlich die Steuer nad) einem Capi⸗ 
tals: Anfchlag beflimmen will) alle Renten nah einem und dem⸗ 
felben Fuße capitalifirt werden. Bei wohlverficherten einheimifchen 
Renten und welchen ein bleibender, d. h. vererblicher Forderungstitel zu 
Grunde liegt, würde dann billig der Steuerfuß übereinflimmend mit 
‚dem für die Grundſteuſer beflehenden feftzufegen, d. h. von 100 Fl. 
Renten = Capital der gleiche Betrag wie von 100 Fl. Grund: Capital 
(oder auh Grundgefäll- Capital) zu entrichten fein. Bei bloßen 
Chirographar= forderungen, dann bei bloßen Leibrenten, oder 
bei den von Ausländern oder aus dem Auslande bezogenen u. f.w. 
würbe dann, in Gemäßheit der oben entwidelten Grundfäge, die ver: 
hältnigmäßige Verminderung des’ Steuerbetrags (3. B. auf 4 oder 
4 ober 4) ober auch eine völlige Kreilaffung auegefprochen werden. 
Welches immer bie Steuerquote fei, die den Lapitaliften aufgelegt 
würde: fo fragt es fi, ob die Steuerfumme ihrer Schuldner 
um denfelben Betrag folle gemindert werden? In dee Gonfequenz des 
die Einkommensſteuer als alleiniges oder doc vorzugsweife walten⸗ 
bes Princip anerfennenden Syſtems liegt ſolche Minderung allerdings, 
und der Umftand, daß alddann — menigftens in Bezug auf Privat: Gas 
pitalin — der Ertrag der Steuer (meil nämlidy zugleih + und —) 
gleih Nut fein würde, ift von ganz und gar feinem Gewicht. Denn 
unfer Zwed bei Einführung der Capitalien = Steuer ift nicht eben die we⸗ 
fentlihe Vermehrung der Einnahmen, fondern bie Herftellung 
der thunlichften Gleichheit, mithin die Befriedigung der Gerechtig⸗ 
Leit bei dee Bertheilung der Abgaben. Daher müßte, wenn 
man ben Schuldneru die bemerkte Steuer Rate nicht erließe, wenigſtens 
überhaupt ein folder Nachlaß bei allen Steuerpflichtigen, d. b. eine 
entfprechende Herabfegung der allgemeinen Steuer- Forderung, bie 
Solge der Capitalien» Steuer fein. Allein durch eine foldye Herabfegung 


Sapitalien » Steuer. 261 


würden zwar alte Claffen um einiges’ Wenige erleichtert werben, 
die Elaffe de Schuldner aber keineswegs hinreihend. Daher 
muß wirklich ihnen alles jenes zu out kommen, was ihren Stäubigern 
aufgelegt wird; denn fie haben bisher mit Unrecht folches Betreffniß 
ſelbſt zahlen müffen, indem der Titel der Steuerpflicht eigentlich ges 
nen ihre Gläubiger (als nämlich die wahren Inhaber des ber 
Schuldfumme gleihen Vermögenstheils) gings und fobald man ſolches 
erfennt (mas durdy Einführung der Capitalien» Steuer gefchieht), 
muß die ungerechte Forderung aufgegeben (ihnen alfo der Abzug ihrer 
etweislich vorliegenden paffiven von ihrem directen Steuer s Capital ges 
fbuttet) werben. ' Zu " IJ 

Bei der Annahme dieſes Princips koͤnnte die Einhebung der 
Gapitalien Steuer auf eine ſehr einfache und leichte — doch freilich 
von Bedenklichkeiten und Inconvenienzen auch nicht freie — Weiſe 
geſchehen. Man koͤnnte naͤmlich nach wie vor die gan ze Steuer vom 
Schuld ner erheben, demſelben jedoch die Befugniß ertheilen, die den 
Glaͤubiger treffende Rate dieſem bei der Zinszahlung In Abzug zu 
bringen, oder die Steuer: Quittung ihm mit an Zahlungsftatt 
zu geben. Das Gefeb müßte fodann freilich jedem Vertrag, wodurd) 
etwa ein Gläubiger jene Befugniß unwirkfam zu machen verfuchen 
follte, oder jede Verzichtleiftung des Schuldners darauf, für 
nichtig erklären; aber eines Mehreren bebürfte es nicht. Einige 
wenige Schuldner, welche etwa gleichwohl factiſch der ihnen gefeglich 
zugeduchten Wohlthat beraubt würden, könnten nicht in Betracht kom⸗ 
men; im Allgemeinen würde — nad ben ſchon oben aufgeftellten 
Bemerfungen — das Geſetz feine beabfichtigte Wirkung vollkommen 
hervorbringen. 

Adgefehen von folder Erhebung vermittelſt des im Namen des 
Glaͤubigers zahlenden, für ſich ſelbſt aber zu befreimden Schuldners 
und nur vom allgemeinen Standpunkt betrachtet, erfcheint jedoch, mas 
die Erhebungsart der Gapitalien = Steuer betrifft, dem Princip ber 
Eintonimens: Steuer, unter deren Begriff fie vorzugsmeife gehört, 
am angemeffenften, fie (gleih andern perfönlidhen Steuern, wie 
Beſoldungs- oder Slaffen s Steuer) am Wohnort ded Ca—⸗ 
pitaliften nach den über feine ſaͤmmtlichen Gapitalien aufzunehmen- 
den allgemeiriert Verzeichniffen oder Faſſionen in die Steuerrolle einzu- 
tragen und zu erheben. Dem Begriff der auf Sachen gelegten Steuer 
Dagegen todre entfprechender, foldyes am Orte der Schuld verſchrei⸗ 
bung oder der dafür eingefesten Hypothek zu thun, mas aber na⸗ 
türlich mit vielen Schwerigkeiten verknüpft ift, wofern man nicht auf 
oben bemerkte Weife und Bedingung den Schuldner ſelbſt zur Vors 
auslage und Wiedererhebung verpflichten und berechtigen will. 

Noch ein Grund ift, welcher die Behandlung der Capitalien⸗Steuer 
nach der Eigenfchaft einer perfönlichen, mithin nicht auf beftimm: 
ten Sachen ruhenden Abgabe, und daher ihre Gefammterhebung am 
Wohnort des Gapitaliften, in Gemäßheit allgemeiner Taf 


262- Gapitafiens Steuer. Capitel. 


fionen oder Verzeichniſſe, anflatt der vereinzelten, namentlich an 
den Orten, wo daB Gapital verfihert anliegt, zu gefchehenden, em⸗ 
pfiehlt. Er befteht darin, bag nur auf diefe Weife möglich wird, 
dem’ etwa Dürftigen und zu weiterem Erwerb unfähigen Capitaliften 
ben entfprechenden- Steuernachlaß zu gewähren. In folhem Falle 
befinden fich überall Viele, als z. B. Greiſe, die etwa für ihren 
Lebensunterhalt auf bie Zinfe eines kleinen, mühfam erfparten Capitals 
befchräntt find, Witwen und Waifen, deren ganzes Erbtheil oft 
bios aus ſolch' einem geringen Gapitale befteht, und bie zugleich ars 
beitsuyfähig aus Krankheit oder Schwäche, „oder ohne Gelegenheit 
zum Arbeitsverdienft find. Es ift Hart, wenn man folhen Perfonen 
ihren nothdürftigen: Lebensunterhalt durch Beſteuerung noch weiter vers 
kuͤmmert. Freilich dürfen diejenigen, melde mit den gegenwärtig 
beftehenden Steuerfuftemen zufrieden find, gegen folche Härte ſich nicht 
anftehnen; denn fie üben un edenklich eine noch größere aus,. 3. B. 
gegen den arwen,..verfchuldeten Befiger eines kleinen 
Grundes oder..Haufes, deſſen Ertraͤgniß in der Form von Zinfen 
den Glaͤubigern zufließt, und welcher gleichwohl die Grundfteuer davon 
bezahlen muß, u. f.w. Wir aber, die wir das Steuerfnftem überhaupt 
der Idee einer wahren Vermoͤgens- und Einfommens: Steuer 
möglichft nahe zu bringen ſuchen, daher auch namentlidy die Schuld: 
ner um den Betrag der Gapitalien = Steuer erleichtert fehen und 
überali der Mothöhrftigkeit des Lebensunterhaltse Rechnung tragen 
möchten, wir ſchlagen den in Frage ftchenden Vortheil allerdings hoch 
an, und fegen demnady zur Vervollftindigung unferer Theorie von der 
Capitalien-Steuer bie ausdrüdlicye Forderung bei, daß den zu beſteuern⸗ 
den Gapitaliften eine Art von beneficium competentiae gewährt, d. b. 
in den durch's Gefeg thunlichft genau im Allgemeinen zu beftimmen- 
den und von ber Finanzbehörde in concreto mit Billigkeit und Hu⸗ 
manität zu entfcheidenden Fällen ein entfprechender Nachlaß verwils 
figet werde. Wir wuͤnſchen diefe Wohlthat auch, foviel irgend möglich, 
auf alle andern Elaffen der Steuerpflichtigen ausgedehnt zu ſehen; 
aber niemals könnten wir gutheißen, daß, unter dem Vorwand, bie 
Kleinen, dürftigen Gapitaliften zu fchonen, aud die Millionaire befreit 
mwürden.. 

Zum Schluß noch eine allgemeine Bemerkung: Die gewichtigs 
ſten Gegner ber Gapitalien-Steuer find meiftens felbft Capitalis 
ften, deren Urtheil hiernach als befangen und deren Eifer als 
unlauter erfcheint. Ihre Stimme kann demnach für bie rein 
vernunftredhtlihe und ideal politiſche, d. h. vom Vernunfts 
recht bedingte politifche Frage nicht entfcheidend fein. Intereſſen 
widerftreiten fi ewig, Wahrheiten nie. Die Capitalien : Steuer 
wird vom Recht gefordert, von der Politik angerathen; 
ihre Schwierigkeiten oder Inconvenienzen zu überwinden oder zu heilen, ift 
Aufgabe der praftifhen Finanzkunſt. NRotteck. 

Capitel, ſ. Kirchenverfaſſung. 


Gapitularien. Gapitulation. 263 


Gapitularien, f. deutſche Gefege. 

Gapitulation bezeichnet wörtlich die Vereinbarung Über gewiffe 
Hauptpunkte. In flastsrechtlicher Hinficht verfteht man unter Gapitula= 
tionen , - insbefondere unter Wahlcapitulationen, Verfaſſungsver⸗ 
träge zwifchen dem Volk und ben Megenten. Voͤlkerrechtlich werben die⸗ 
jenigen Verträge Capitulationen genannt, durch welche im Kriege Feftuns 
gen, Landſtrecken oder Truppen unter gewiſſen Bedingungen dem Keinde 
übergeben werden. In älteren Zeiten wurden biefe Gapitulationen, nas 
mentlich die der Feſtungen, mit mehrfacher Sörmtlichleiten, unter wechſel⸗ 
‚ feitiger Webergabe von Geifeln und eidlich gefchloffen. Doch wimmelt 

die Gefhihte von Beifpieten, daß Capitulationen unter ben fpisfindig> 
ften, nichtigften Ausreden fchändlicy gebrochen wurden, ähnlich etwa wie 
bie des großen Alerander nad der Einnahme von Maffaca, oder 
wie die des fränkifhen Major-Domus Ebroin nad der Einnahme von 
Laon. Alerander hatte verfprochen, die indifche Befagung folle mit 
Waffen frei abziehen, feste ihe aber nach und hieb fie zufammen, indem 
er fagte, er habe nicht verfprochen, fie nicht zu verfolgen. Ebroin’ 
ließ dem gegnerifhen Heerführer Martin durd zwei Biſchoͤfe auf eis 
nen Reliquienkaften Sicherheit zufchrodren, und ließ ihn dann niederhauen 
unter dem Vorwand, der Neliquienkaften habe Leine Reliquien enthalten. 
Eine größere Achtung det Öffentlihen Meinung und mehr Rüdfidht auf 
die Öffentlihe Ehre, welche in dem neueren europaͤiſchen Voͤlkerrecht 
ausgebildet wurden, bewirkt es, daß jest allermeift die Gapitulas 
tionen ohne Seifen und Eide beffer gehalten werden, als früher mit 
denfelben. Doc, fordert die Kiugheit vorzüglich bie Beſiegten auf, als 
die Schmächeren, mit möglichftee Sorgfalt in den Gapitufstionsbebinguns- 
gen alle Zrweideutigkeiten zu entfernen und alle ihre Rechte beftimmt feſt⸗ 
zufegen. Dazu kann 3. B. oft auch das gehören, dag man ſich aus: 
bedingt, daß die vertragsmäßigen Mechte nicht etwa unter dem Vorwand 
der Repreffalien wegen anderer Berhältniffe in bemfelben Kriege vers’ 
legt werden fönnen. Diefer Vorwand murde wenigſtens früher häufig 
gebraucht. Auch mag #6 räthlih fein, bei dem Verfprechen: die Bes 
fagung da oder dorthin zu bringen, den fürzeften Weg zu bezeichnen. So 
übergab im fpanifchen Suceeffionskriege die englifhe Beſatzung Alcira‘ 
gegen das Verfprechen, alsbald nad) Lerida geführt zu werden, deffen 
ſchwache Befagung Verftärkung bedurfte, Die fpanifchen Generale aber 
ließen die Befagung von Alcira einen Ummeg machen, auf weldem 
fie ein Vierteljahr brauchten, fo daß fie zu ihrem Zwed zu fpät kamen. 
Sie erflärten dabei, bie Spanier feien nicht fchuldig, das zu vollziehen, 
was die Engländer ſich auszubedingen nicht verftanden hätten. Gewoͤhn⸗ 
lich enthalten jegt Gapitulationen auch die würdige Beflimmung, daß alle 
zweifelhaften Punkte zu Gunften der Befiegten ausgelegt werden follen.. 
Wegen der oft höchft verderblihen Folgen, welche vorfchnelle Capitula⸗ 
tionen haben koͤnnen und weil bei Bleineren vereinzelten Heertheilen leich⸗ 
ter der Muth finten kann, find fo durchaus ſtrenge Strafen, wie Nas 
poleon auf zu frühes Capituliren fegte, und bie Vorſorge, daß jeder 


264 Gapitulation. Garavanen, 


tapfere Untergebene für eine weitere Vertheidigung an der Stelle bes zur 
Gapitulation bereitwilligen Anführers treten kann, gewiß hoͤchſt politifch. 
Wollen bei einer Feftung die Belagerten die Gapitulation anbieten, fo 
kuͤndigte man dieſes früher durch ſonderbare Foͤrmlichkeiten an, buch 
Herunterlaſſen der Abgeordneten an Stricken oder durch Begleitung 
mit Waffenherolden u. ſ. w., ſpaͤter aber durch das Chamade⸗Trom⸗ 
meln auf den Waͤllen, jetzt duch: das Aufſtecken einer weißen Fahne. 
Willigen die Belagerer in die Unterhandlung ein, ſo hoͤren natuͤrlich 
alle Feindſeligkeiten und alle Arbeiten zur Vertheidigung wie zum An⸗ 
griffe auf. | 
Es unterfcheiden ſich übrigens die Gapitulationen von andern voͤl⸗ 
Verrechtlichen Verträgen dadurch, daß, wenn fie nicht ausnahmsweiſe bes 
ſonders ausbedungen ift, hier Feine Ratification nöthig iſt, ber 
Bertrag alfo auc nicht unter dem Vorwand der Ratificationsverwei⸗ 
gerung für ungültig erklärt werben kann. Einestheils liegt in der Nas 
tur ber einem militairiſchen Anführer einer befonderen militairiſchen Uns 
ternehmung übertragenen Gewalt: von ſelbſt auch die Gewalt zu den 
ihm militairiſch nothwendig werdenden Bereinbarungen. Anbderntheils 
würde hier der Ratifisationsvorbehalt das Zuftandefommen der Capitus 
Iationen und das Aufhoͤren meiterer Zeindfeligkeiten verhindern. Nur 
bei erwiefener Beſtechung des Wertragfchließenden hält man feine 
egierung nicht verpflichtet, die Gapitulation zu halten (Martens 
ölkerr. $. 286). Gewoͤhnlich haben auch die Gapitulationen eine 
eigne Form. Der Regel nach werden die Bedingungen von dem einen 
heile in befonderen Artikeln vorgefchlagen und dann von dem andern 
heile bei jedem einzelnen Punkt die Zuftimmung oder Nichteinwillis 
gung binzugefchrieben. Welcker. 
Capo d'Iſtrias, ſ. griechiſche Revolution. 
Caravanen. Geſellſchaften von Reiſenden, die ſich zur beſſe⸗ 
ren Bekaͤmpfung der Gefahren und Beſchwerden des Weges mit ein⸗ 
ander verbunden haben. In dieſem Sinne iſt die Sache nicht blos 
dem Drient eigen, vielmehr das Mittelaiter hindurch audy in Europa 
norgefommen. Da die Verhältniffe, welche ſolche Einrichtungen damals 
nothwendig machten, im Oriente noch immer fortdauern, fo erhält ſich 
quch das Garavanenmwefen noch. Es find aber ſolche Verhaͤltniſſe 
überali in der Uncultur der Länder, durch welche die Reifen zu führen 
find, begründet, Diefe veranlaft einen Mangel an nahe gelegenen 
Ruheftationen, hindert die Anlegung guter und bequemer Wege, bie 
ntftehung ordentlicher Gaſthoͤfe, die Austrodnung der Mordfte, die 
barmahung ber Wuͤſten; fie ruft auch einen Zuftand oͤffentlicher 
Unficherheit hervor, in Folge deffen der einzelne Reiſende bald den Ana 
fällen raͤuberiſcher Horden, bald den Erpreſſungen willlürlicher Macht⸗ 
baber ausgefegt ift. Wie nun das Gefühl, daß gemeinfchaftlicyes Anfchliegen 
bie Bekämpfung aller Gefahrenund Beſchwerden bes Lebens erleichtern müffe, 
die Entitehung des Staats vermittelt hat, fo ruft dafjelbe Gefühl, für 
eine beflimmte Zeit und beftimmte Verhaͤltniſſe wirkend, ben temporairen 


Saravanen. Carbonari. 265 


Staat bee Caravqnen ins Leben, der auch feine eigenthämliche Der: 
faffung, feine Gefege und Sitten, feine Anführer und Beamten hat. 
In gewiſſer Hinficht vertritt das Caravanenmefen für den Orient aud) 
die Stelle der Poſt, infofeen nämlich ein charakteriſtiſches Merkmal 
ber letzteren in ber MRegelmäßigkeit ihrer Bewegungen nach Zeit und 
Dre beſteht. Die großen Caravanen halten gleihfall® ihre gefeglichen 
Zeiten und ihre beflimmten Nouten ein und die Genauigkeit diefer 
Beflimmungen macht es möglich, daß die einzelnen Zweigcaravanen fid) : 
im Laufe der Reife an die Hauptcaravane anfchließen koͤnnen. Solche 
regelmäßige Hauptcaravanen werden zunaͤchſt durch bie religiöfe Pflicht 
der Mahomebaner, von denen Seber mwenigftens einmal das Grab 
Mahomeds in Mekka beſucht haben foll, veranlaßt. Doch fliehen 
fi) auch an diefe Pilgercaravanen, die nur die zahlteichften find und 
den befonderen Schuß der öffentlichen Autoritäten genießen, eine Menge 
Meifende an, die Handlungs s oder fonftigen Privatzwmeden nachgehen. 
— Außerdem bilden ſich befondere Handelecaravanen. Die Orientalen 
reifen nicht leicht, um Wißbegierde oder Schauluft zu befriedigen. Res 
Iigionspflicht, öffentliche Gefchäfte, Samilienangelegenheiten oder Handel 
find die Antriebe, die fie zum Reifen beflimmen, und der leßtere wird 
gemöhnlid mit jenen anderen Beranlaffungen gelegentlid) verbunden. 
Wer nun nit reih und nicht vornehm genug ift, um mit zahlreicher 
Dienerfhaft und flarker bemaffneter Bedeckung zu reifen, ber muß 
“warten, bi er Genoffen findet, die fih mit ihm zur Dedung der 
noͤthigen Koften und zur Beftreitung aller Beduͤrfniſſe der Reife vers’ 
einigen. Haben fih ſolche Kleine Gefellfchaften in Bewegung geſetzt, 
fo fchliegen fih im Verlaufe. der Reife in der Regel Viele an, die 
von der Gelegenheit Gebrauch zu machen eilen. — Gibt bad Caravas 
nenleben dem Reifen einen eigenthümlichen Charakter, fo hat es aud) 
auf den ganzen Gang des Handels feinen befonderen Einfluf. Der 
Drient kennt weder Mefien noch Handlungsreifende in unferm Sinne; 
aber Beides erfegen in gewiffer Hinficht die Garavanen. Namentlid) 
ruft die Ankunft der großen, regelmäßig wiederkehrenden Garavanen 
nothwendig an allen ihren Hauptſtationen eine plögliche Belebung bes 
Handels hervor. Der Handeldmann endlich, fchließt fi) einer Garavane 
an, durchzieht mit ihr diefe vielfachen, einander häufig fo fremden Lands 
ſtriche und handelt dabei von Drt zu Ort, oft mit den verſchiedenar⸗ 
tigften Waaren. Er fieht auf der Durchreife einen Gegenftand, han⸗ 
delt ihm gegen feine mitgebradhten Waaren ein, um ihn im nädften 
Drte vielleicht wieder gegen etwas ganz Anderes zu vertaufchen. An⸗ 
ders wieder ift der Gang des Handels in Afrika, wo die Unficherheit 
noch größer ift und es dem Handelsmann unmöglicd macht, felbft durch 
ale die fremden und feindlichen Völkerfhaften zu dringen. Hier mas 
hen die Nationen die Zreifchenhändfer und manche Waare geht durd) 
eine lange Reihe von Mittelgliedern von ber Weſt⸗ nach der Oftküfte 
des breiten Erdtheils. Blau. 


Sarbonari und Ealdberari, f.geheime Gefelifchaften. 


\ 


256 Sarbdinal. Garnaval. 


GCarbinal, Gardinalscollegium, f. Curle (tömifche). 

. Carl, ſ. Karl. 

- Carlos, Don, f. Spanien. : 

Garlöbader Befblüffe, f. Karlsbader Berhläffe 

Carnaval, auh Carneval, Faſtnacht, wird von gruͤndlichen 
Mortforfhern von Carn-a-val — Gute Nacht Fleiſch! caro vele — 
das auch fo viel fagen will, als coro abscedit, seu teınpus carnem 
cömedendi, abgeleitet, und ift in faft gleichem Ausdrude im Sranzöft= 
fhen und .Stalienifchen gebräuhlih. Das Fleiſch thut ſich guͤtlich und 
nährt fih vom Fleiſche, deſſen Genuß durch bie roͤmiſche Kirche an bes: 
flimmten Zagen, bie darauf folgen, verboten if. Ich mollte, .ein Deuts! 
ſcher Hätte diefe Ableitung entbedt, ba wir Deutfche doch faft alles Bes 
deutende und Wichtige ‚entdedt und erfunden haben, das Pulver, die’ 
Buchdruderfunft, die Uhren, die Philofophie Hegel's und den deut⸗ 
{hen Bund, wenn auch nicht die neue Welt und den polnifchen Reichs⸗ 
tag. Carn-a-val, naͤmlich der Wein ift aus; gute Nacht Melt! Fort 
mit dem Fleiſch! Das gibt fo einfach und natürlih Garnaval, daß: 
man ſich wundert, das Ei des Columbus nicht gleich felbft auf bie 
Spitze geftellt zu haben. Chre aber, dem Ehre gebührt! Der große 
du Fresne war der glüdlihe Erfinder. ine Nacht trennt das 
froͤhliche Wohlleben vom ſtrengen Faſten und wird darum auch Faft: 
nacht genannt. Wir wollen die Ableitung des Wortes indeffen nicht 
verbürgen; denn tücdhtige Etumologen, wie Antiquare, find wahre Zaus 
berer, die durch eine gelungene Ableitung und Stellung von Worten 
das Ding, das diefe bedeuten follen, oft geſchickt in ihr Gegentheil vers 
kehren. Wie vortrefflic ift es, unter Anderm, nicht mit dem Chriften: 
thum, der Menfchenliebe, der Gerechtigkeitspflege, den Verbeſſerungsan⸗ 
ftalten und Gorrectionshäufern, der Freiheit und den Freiheiten geluns 
gen! Mean ift in der That nicht wenig überrafht, wenn man den 
Namen mit dem Dinge zufammenhält, und beide in offenbarem Zwifte 
und Widerfpruche mit einander ſieht. Wen, der Latein verfteht, ift 
nicht befannt, daß lucus ganz natürlid von nom lucendo kommt? 
Das Carnaval ift eine Zeit toller Wirthfchaft, in der die Thorheit einen 
Freipaß hat und die menſchlichen Geluͤſte ſich etwas herausnehmen, 
oft über die Gebühr, um ſich für die folgende Abſtinenz zu entſchaͤ⸗ 
digen. Die Enthaltfamkeit wird auf das Uebermaß des Genuffes am 
leichteften, und die Menfchen haben es auch in der Froͤmmigkeit und 
Andacht gern bequem. Wir tadeln diefes Jagen nad) dem bunten 
Schmetterlinge der Freude nicht, wenn wir ihn auch athemlos zu er⸗ 
haſchen fuchen in dem Augenblide, wo er uns nedend entflieht. Wir 
müffen die freundliche Duldung der Kirche loben, die fo viel Nachſicht 
mit der Natur des Menfchen bat, daß fie ihm aud) die Thorheit gönnt, 
wo fie ihn vergnügt. Und ift die Weisheit nicht vielleicht nur eine 
ernſte Thorheit, die muntere Thorheit dagegen weife, wenn fie une 
leicht und flüchtig über die befchmerlichen Unebenheiten auf dem rauhen 
Pfade des Lebens hilft? Wer war der wirkliche und wahre Weife, 


Sarnaval. 267 


ber luſtige Demokrit, ber lachend im die bunte Faſtnacht bes Lebens 
ſah und die Xhorheiten der Narren und gefcheidten Leute zu feiner 
eigenen Ergoͤtzung ergöglich nahm, oder der weinende Heraklit, der 
bie Poffe tragifc deutete und ſich das ganze Leben zu einem Afcher- 
mittwod) machte? Nehmt es, wie ihr wollt! Gewiß hat das Daſein 
feinen hohen Ernſt, der ſich auch ernftlich und ernfthaft vernehmen 
läßt; aber es liegt doch mehr Echerz in ihm, als ernfihafte Keute in 
teüber Stimmung in ihm zu finden wiſſen. Laßt die Faſtnacht gelten: 
mit ihrer -lauten. Scöhlichkeit, mit ihren Marrenftreihen und Feſtge⸗ 
lagen, mit ihrer nedifhen Mummerei und ihren lufligen Sprüngen, 
der Afchermittwoch Iöfet fie nur zu bald ab. Hinter dem Policinell 
der muntern Laune, des Scherzes und der kecken Luft fleht dee finftere 
Zrappift und SKarthäufer, und raunt ihm fein memento mori zu. 
Der Aſchermittwoch folgt der Faſtnacht auf ber Ferfe, und dann gute 
Nacht Fleifh! Menſch! gedenke, daß bu Staub und Afche bift und. 
zurüdkehrft, woher du gefomimen, in Staub und Afchel. So fpridt. 
die Kirche, und Vieles im Leben fpricht e8 vor und nad. Der Ka⸗ 
tholicismus iſt freundlicher als der ſtrenge Proteſtantismus, und fieht 
dem ſchwachen Menſchen ſeine Menſchlichkeiten nach, und hat Verge⸗ 
bung fuͤr die Suͤnden des ſuͤndigen Geſchlechts, wenn es bereuet und 
Beſſerung gelobt. Warum. ſollte ich mich gegen die Beichte und das 
Fegefeuer ereifern, da ſie Nachſicht und Verſoͤhnung zeigen, der wir 
doch ſo ſehr beduͤrfen? Alle Religion, die den Menſchen dem Menſchen 
befreundet und huͤlfreich entgegenfuͤhrt und verſoͤhnt an feine Bruſt. 
legt, wenn er eine Kraͤnkung und Beleidigung von ihm erbuldet hat, 
ift von göttlicher Abkunft, weil Gott‘ feibft die hoͤchſte Milde und Güte, 
iſt. Es würdigt die Kirche darum auch auf keine Weife herab, daß fie 
den Gläubigen die Faſtnacht gönnt. Der Katholicismus hat Kunft, 
Schmuck, Schaufpiel und Gepränge, weil fie die Einbildungskraft erhes 
ben, das Gemüch anfprechen, durch die Sinne auf Geift und Seele 
wirken; und iſt das Geiftige, das Hoͤchſte in uns nicht eine Blume 
von der Pflanze der Einnlichkeit hervorgetrieben, aus der fie die bele⸗ 
bende Nahrung fchöpft, um ſich duftend zu entfalten und zur Frucht 
auszubilden? Darum hat ſich der Katholicigmus wohl auch im lebens 
digen, freundlihen Süden erhalten, wo die Sinnlichkeit der Menfchen 
teizbarer und die Phantafie regfamer und thätiger if; wo der heitere, 
mildere Himmel fie zu gefelligen Genüffen im Freien zufammenführt, 
und, im Austaufc der Gefühle, die Mittheilung der innern Stims 
mung in Freude und Schmerz begünftigt. Darum haben auch bie 
Sübländer vor Andern ihre fröhliche Faſtnacht mit dem Wogen, Trei⸗ 
ben und Drängen der lärmenden, genußfüdhtigen, fehaulufligen Menge, 
mit ihrer nedenden Mummerei, ihren wisigen Anfpielungen und phans 
taftifchen Gebilden. Mer Eennt nicht das venetianifche und roͤmiſche 
Garnaval, deſſen Beluftigungen von fo vielen Reiſenden befchrieben, 
von fo vielen Dichtern befungen worden? Die lebenskraftige Jugend 
mit ihrem leichten Sinne bedarf dieſer Entladung in Scherz und 


268. SBarnaval, 
Spiel. Das Alter, die Ermüdung: durch Anſtrengung und Entbehrung, 
dte Erfhöpfung duch, Noth und Kummer macht bei Einzelnar wie bri 
Mölkeen der Faſtnacht ein Ende und bringt ben Bußtag in Staub 
und Afche, den Afchermittwod). 

Die Alten ſchon hatten ihre. Feſtnacht, jedes Volk nach feiner 
Weiſe, nach Religion, Sitten, Staatsverfaſſung, nach Klima und 
Jahreszeit eigenthuͤmlich geſtaltet, alle aber demſelben Zuge der Men⸗ 
ſchennatur nachgebend, der Veraͤnderung will, Abwechſelung, Mannich⸗ 
faltigkeit, geſellige Beluſtigung und froͤhliches Treiben. Der Menſch⸗ 
der es müde wird, zu fein, mas er iſt und ſcheint, verwanbelt fich 
gern zum Scherze und am liebften in fein Gegentheil und fpielt bie 
angenommene Rolle zu feiner und fremder Belufligung. Die untern 
Stände fleigen zu den höhern hinauf, da diefe ein Vergnügen darin 
finden, zu jenen bmabzufteigen. Die Damen merden Kammermäd, 
chen, bie Zofen Damen, die Vornehmen bürgerlid) gemein, bie Ges 
meinen flandesmäßig vornehm. Jeder gefällt ſich darin, zu fein, was 
er nicht iſt. Selbft der Verſtand wird läflig und der Narr eine ges 
fuchte Rolle. Es find die gutartigften und genießbarften alfee Narren, 
diefe Faftnachtsnarren, und wollte dee Himmel, der Staat, bie Wifr 
fenfchaft und der Glaube hätten keine fchlimmeren aufzumeifen. Die 
Römer hießen ihre Faſtnacht Saturnalien. Es mar ein politifches 
Boll, das römifche, und erlaubte und liebte dieſe Satpre auf fih und 
feine Berfaffung. Das goldene Zeitalter Saturns flieg vom Himmel 
auf bie Erde nieder und bradte den Menfchen den Segen ber Freis 
beit, gleiher Rechte und gleicher Anfprüce auf die Genüffe diefes Le 
bens. Die Sflaven gingen wie ihre Derren gekleidet und nahmen 
‚an der wohlbefesten Tafel Platz. Seltfame, fchrediihe Laune der 
menfchlihen Natur, die fi eine Faſtnacht maht und eine Närrin 
wird, um in ber flüchtigen Narcheit vorübergehend zu Verſtande zu 
Fommen! Die Faſtnacht fhhlägt einen Grundton auf dem vielftimmis 
gen Inſtrumente unferes Weſens an, das in ewigen Variationen zwi⸗ 
fhen Schmerz und Freude, Wahrheit, Dichtung und Lüge, luͤſterner 
Begierde und enthaltfamer Tugend, Scyerz und Ernft, Vernunft und 
Zhorheit fpielt. Unferer Natur gemäß führt uns dag Aeußerſte dem 
Aeußerſten entgegen, da® Uebermaß in einer Sache zum Gegentheil, 
die Anftrengung zur Erfchöpfung, die Ueberladung zum Ekel, und ber 
Faſtnacht folgt der Aſchermittwoch, ihrem leichtfertigen, fündigen Trei⸗ 
ben der Bußtag. Wir wiſſen ja, welche Art Jungfrauen und. Jung⸗ 
geſellen ſich zu alten Betſchweſtern und Betbruͤdern zu bekehren pfle⸗ 
gen. Was koͤnnte uns die myſtiſche Stimmung unſerer Zeit erklaͤren, 
die ihren Bettag und Aſchermittwoch will, thaͤte es die tolle Faſtnacht 
mit dem Uebermaße ihrer Genäffe nicht, bie vorausgegangen iſt? Ich 
ſage euch, daß ohne dieſen Schluͤſſel ſelbſt die Weltgeſchichte euch ein 
verſchloſſenes Buch bleiben wird; ihr verſteht ſie nicht mit aller Phi⸗ 
loſophie und dem pragmatiſchen Geiſte, die ihr hineinzulegen wißt, nehmt 
ihr das Carnaval, die Faſtnacht und den Aſchermittwoch, den nachge⸗ 


Sarnaval. Garolina. | 269 


bornen Zwillingsbruder, nicht zu Huͤlfe. Meiche, Staaten, Völker und 
Stände haben dieſe Entfcheidungstage wie Einzelne und nad) bemfelben 
Gefege, aus bdemfelben Grunde Ich will mich kürzer faſſen bei der 
Behandlung dieſes großen Gegenflandes, und nur erläuternd mid auf 
einige Beifpiele befchränfen. Hatte bie franzöfifhe Monarchie, unter 
dee Megentfchaft und Ludwig XV., nicht ihre ausgelaffene Faſtnacht, 
die den Afchermittwocdh der Revolution herbeiführen mußte? Da feierte 
die Sreiheit und Gleihheit ihr tolles Carnaval und Napoleon fehte 
für fie ben Bußtag des Aſchermittwochs ein. Er felbft aber beraufchte 
fih mit der Macht des Kaiferreiche, die er in vollem Zügen trank, und 
beging fein Carnaval in Spanien und Rußland, auf das ber Aſcher⸗ 
mittwoch bei Leipzig und Waterloo folgen mußte. Die Reflauration 
fing ihre Faſtnachtluſtbarkett fogleich mit einer Galoppabe der obambre 
introuvable an, um fie mit dem Kehraus unter Polignac zu fchlies 
fen. Wie wader feierten die Zoried unter Caftlereagh ihr Carna⸗ 
val, dem ber verrätherifhe Canning den Afchermittwod, unterfchob ! 
Wird es heute — am 1. Sanuar 1835 ſchreib ich diefe Frage nieder 
— mird es heute unter den Spielleuten Wellington und Peel zu 
einem neuen Tanze mit ariftofratifchen Feſtgelagen kommen? Der 
Karthäufer iſt nicht fern, der fein meineuto mori fpriht. Der Tag 
geht zu Ende, die Stunde fchlägt; fie Eindigt den Aſchermittwoch an. 
Menfhen von Staub und Afche, bedenkt, daß ihe zurädkehrt, woher . 
ihr gelommen, zu Staub und Aſche! Seid mäßig, befonnen und 
gerecht! Alles Uebermaß führt zu. feinem Gegentheil. Wollt ihre eine ° 
tolle Faſtnacht, dann bleibt der Bußtag des Afchermittwochs gewiß 
nicht aus. " Weitzel. 
Carolina (Halsgerichtsordnung, Bambergenfis, 
Brandenburgica; und ihr Verhältniß zu früheren, wie 
zu den neueften Strafgefeggebungen). Freiherr Johann 
von Schwarzenberg. Das deutfche Strafgefegbudy, welches 1532 
unter dem Titel: „Kaiſer Karls V. und des heiligen römifchen Reiche 
peinlihe Gerichtsordnung” als Meichögefeg publicirt wurde, nannte 
man häufig auch die Halsgerichtsordnung, gewöhnlich aber die Caros 
Lina (oder constitulio criminalis Carolina). Dem Gegenftande und 
dem Umfange nach ift es eines der wichtigften deutfchen Reichsgeſetze 
und bis jegt noch gültig in der Mehrzahl der deutfhen Staaten. Dafs 
felbe verdient doppelt unfere Betrachtung, da in unferer Zeit ähnliche 
große Veränderungen ber Cultur und des gefellfchaftlihen Zuftandes 
und ein ähnliches großes Mifverhältnig des Strafrechts zu denfelben 
faft ebenfo, wie vor der Entwerfung der Carolina, überall in Deutſch⸗ 
land das anerkannte Bebürfniß neuer ſtrafrechtlicher Gefege und Ein- 
richtungen erzeugten. Alle Vaterlandsfreunde muͤſſen natuͤrlich win. 
ſchen, daß die neuen Schöpfungen im Verhaͤltniß zu unferer heutigen 
. Zeit und mindeftens ebenfo fehr, wie einft die Carolina im Verhälts 
niß zu der Ihrigen, ruhmvoll vorängehen möchten in innerer praftifcher 
Tuͤchtigkeit and Geſundheit der firafrechtlihen Theorie, in Achtung und 


270 Carolina. 


Vertheidigung der ‚Gerechtigkeit, der bürgerlichen Freiheit und Hu: 
manität. Wir müffen vor Allem wuͤnſchen, daß wir heute im 
neunzehnten Sahrhundert nicht zuruͤckſchreiten, felbft hinter die im 
fechszehnten noch im fauftredhtlihen Meittelalter entworfene Halsge- 
rihtsordnung. Und gewiß, diefen Wunſch wenigſtens wird Niemand 
unbefcheiden nennen. Aber dürfen mir feine Erfüllung aud mit 
Sicherheit Hoffen, nad allen uns vorliegenden Proben und Zeichen 
der Zeit ? 

In der Zeit des alten Deutſchlands (ohngefähr bis zu dem 
Ausfterben dee Sarolinger oder bis zum 10. Jahrhundert) waren 
das Strafrecht und das Strafverfahren zwar unvolllommen, aber doch 
durchaus von der Achtung der Gerechtigkeit und ber Freiheit befeelt 
“und beherrſcht. Das richterliche Urtheil fprachen unter Vorfitz des oͤffent⸗ 
lichen oder patrimoniaten Präfidenten dit Genofjen oder aus ihrer 
Mitte ermählte Schöffen oder Gefchworene. Das Verfahren war An 
klageproceß, oͤffentlich und überall dem Schug der Unſchuld günflig.- 
Die Strafen beftanden in milden Genugthuungen oder Löfegeldern zur 
Miederherftellung des verlegten rechtlichen Friedens mit dem Verletzten 
und feiner Familie und mit der ganzen Genoffenfhaft: (S. Ankla⸗ 
ge, Cabinets-Juſtiz IV. und Compofitionenfyftem.). Die 
Geiſtlichkeit fuchte, fofern es nöthig fchien, noch befonbers auch Genug- 
thuung für die beleidigte Gottheit, Austilgung bes Aergerniffes und 
Befferung zu bemirken. 

Sm fauftrehtiihen, feudalen und bierardhifhen 
Mittelalter (bid zur Begründung bes bleibenden Landfriedens, des 
Reichskammergerichts und der fländigen Staatsdiener = Gerichte bis zur 
Meformation und zur Carolina) ’erhielt fich allerdings zum Theil und 
"an vielen Orten das alte Strafrecht. Zum weit größeren Theil aber 
machten ſich jest auch im Strafrecht die fauftrechtlihe und feudal⸗ 
defpotifche Gewalt und prieſterlich hierarchifche Verfolgung und Inquiſi⸗ 
tion geltend, und verdrängten die alten Gefege und Gerichtdeinrichtun- 
gen. Die Aufnahme der fremden Rechte, die Einmifhung ber roͤmi⸗ 
ſchen Tortur der Sklaven, zuerſt fuͤr Vagabunden, dann fuͤr alle 
Buͤrger, ſowie die der canoniſchen und insbeſondere auch der Moſaiſchen 
theokratiſchen Strafrechtsbeſtimmungen und der Inquiſitionsmarimen 
der geiſtlichen Gerichte vermehrten nur die grenzenloſe Verwirrung. Sind 
die lauten Klagen, welche z. B. die ſogenannte Reformation 
Friedrichs III., die Schriften Ulrichs von Hutten, die Bes 
fhwerden der MWürtembergifhen Stände *) bei ihren einflimmi« 
gen, aber vergeblichen Korderungen bes Ausfchluffes der Doctoren der 
fremden Rechte aus Gerichten und Aemtern über diefe damaligen Gloſ—⸗ 
fatoren s oder Bartoliften =» Schüler, Über ihre Unkenntniß des vater« 


*) Müller Reichſstagst eat. Friedrichs II. iſte Borft. p. 59. 
Ulr. Hutten in remin. praefat. im Anfange. . Sattler, Würtem: 
berg. Geſchichte l., 161. 


Garolına. 271 


ländifchen wie des befferen römischen Rechts, über ihre Habgier, ihren 
Sklaven⸗ und Defpoten- Sinn ausfprehen, auch nur zum heil be⸗ 
gründet, fo begreift man ganz ihren zerftörenden Einfluß für die va⸗ 
terländifche Freiheit und Rechtseinrichtung. Derfelbe ift um fo natürlicher, 
da ſchon feit Kaifer Friedrichs I. Zeit gerade die .abfoluten und fie- 
califchen Grundfäge des fchlechteren römifchen Rechts aus der Kaiferzeit 
den Zürften mohlgefielen, und da die Romaniſten oder — um mit 
ber Reformation Friedrichs III. zu reden — „diefe beftochenen 
„Knechte, denen das Recht viel härter verfchloffen iſt, als den Laien”, 
da nad) Huttens Ausdrud „biefe Rabuliften wie Schwaͤmme in den 
„Ohren der Fürften lagen und überall ihren Einfluß geltend zu mas 
„hen mußten”. Zu allem.dem nun nod die fauftrcchtlihen Raͤu⸗ 
bereien von Hohen und Miederen. und ihre Kolgen, ein vermilderteg, 
verarmtes ‚Gefindel, und diefes bei dem Mangel aller feſt ausgebilde- 
ten und burcdhgreifenden Staatse= und Polizei: Anftalten. 

Die immer mehr um fi greifende geiftlihe Gerichtsbarkeit mit 
ihrem inquifitorifchen Verfahren, die Behmgerichte in ihrem jede Leiden⸗ 
[haft und Willkuͤr verdedenden Dunkel, die Städte, melche hinter 
ihren Mauern den erfehnten Frieden gegen das Fauſtrecht mühfam ſchuͤtz⸗ 
ten, fie alle führten jest gegen die Angeklagten einen leidenfchaftlichen 
— die landes⸗ und gutsherrlichen Gerichtshalter, welche die Griminals 
jurisbdiction mit ihren Gonftscationen und Loslaufsgeldern als wichtigen 
Sinanzzweig behandelten ), fogar einen raubfüdhtigen — Krieg. Nahe 
genug allerdings lag damals der für das Strafrecht unglüdfelige Grund⸗ 
gedanke — nicht zwiſchen einem Antläger und dem Rechte eines anges 
klagten Mitbuͤrgers parteilos zu entfcheiden, und nur wine durch feine 
völlig erwiefene befondere Schuld begrümbete rechtliche Genugthuung 
zu ermitteln — fondern vielmehr gegen alle wirklichen und möglichen 
Verbrecher einen möglichft furhtbaren Abſchreckungs- oder 
Siche rungskrieg zu führen und bie eingefangenen als techtlofe Feinde 
zu ihrer Genoffen möglichftee Abfchredung oder zum gemeinen Nug zu 
martern und zu mißbrauhen — dieſer Grundgebanfe führte in folges 
richtiger Ausbildung zu der alle Gefühle empoͤrenden, ſchaudervollen Cri⸗ 
minal:ufliz des fpäteren Mittelalters, welche faft Alles überbot, wodurch 
orientaliſche Tyrannei, Rachſucht und Grauſamkeit der Humanitaͤt je⸗ 
mals Hohn ſprachen. Ein ſchaudervolles Gemaͤlde von den grauſamen 
Strafen und ihrer taͤglichen Anwendung in ſeiner Vaterſtadt Nuͤrn⸗ 
berg ſtellt namentlich Celtes **) auf. Ihre verſchiedenen Richtſtaͤtten 
waren uͤberfuͤllt mit Leichen und in der Luft klapperten die Gebeine. 
Neben allen Arten koͤrperlicher Zuͤchtigungen und einfachen Todesſtrafen 
waren damals das Lebendig-Verbrennen, Begraben, Rädern, Vier⸗ 
theilen, Pfaͤhlen, ja das Zerſaͤgen und langſames Auswinden der Einge⸗ 


*, Seb. Brand, Richterlicher Klagfpieget isis, ©. 122. Ulr. 
Zasii Opera 1580. €. 178. Garolina Art. 2 
**) De poenis sontium c. 14. 


472 | Carolina. 


meide, das Zerreifen mit glühenden Zangen in Uebung. Noch ſcheußli⸗ 
cher iſt die unerfchöpflihe Erfindfamkeit in ber Folter, womit man 
bäufig die Proceffe begann und diefelben meiſt ohne Schutz rechtlicher 
Formen zu Ende führte und von welcher unter Anden Damhou⸗ 
der *) ein ſchaudervolles Bild entwirft. Man feste 3. B. ben Uns 
gluͤcklichen Horniffe, ausgehungerte Mäufe und andere Abfcheu erwek⸗ 
kende und verlegende Thiere unter Glasglocken auf ben bloßen Leib, 
an ben Nabel u. f. w. Oder man band ihnen ſchwere Steine an 
Hände und Füße und zerrte, indem man fie aufhängte oder über Bret⸗ 
ter mit Hoͤckern und fcharfen Kanten fpannte, ihre Glieder auseinander, 
die man dann noch durch untergeftellte Lichter brannte. Ober man lief - 
“fie mit Ölgeträntten Schuhen auf glühenden Platten brennen, ober füllte 
ihnen mit ungelöfhtem Kalt und Waſſer Mund und Naſe. Ja man 
marterte fie ducch noch greuelvollere Qualen folher Art, daß felbft die 
Gefege der Schaam fie auch nur zu nennen verbieten. . 
Gewiß, unbegreiflih Lönnte eine ſolche Criminal⸗Juſtiz in Deutſch⸗ 
land, felbft in den bildungsreichen freien deutfhen Städten, erfcheinen! 
Jene orientalifhe Tyrannei, Rachſucht und Graufamteit find ja doch 
fonft am wenigſten deutfche Charakterzüge. Das Raͤthſel laͤßt ſich allein 
iöfen durdy den Grundgedanken jenes Siherungss oder Abſchrek⸗ 
kungskriegs, welhen bie damaligen Eräftigeren Menfchen mit ruͤck⸗ 
ſichtsloſerer Conſequenz durchfuͤhrten, als unfere heutigen zahmeren, aber 
noch immer ſehr verberblihen Vertheidiger deſſelben. Gewaltiger, als 
die Meiſten es begreifen, kann ein einziger Grundgedanke wirken. 
Sehr begrelflich wurden bie neu errichteten Reichsgerichte und bie 
Meichstage beſtuͤrmt mit Klagen, einerfeits über die Greuel der Crimi⸗ 
nal⸗Juſtiz, „über die vielen unfhuldig zu Tode gemarterten oder hinge⸗ 
„richteten Opfer derſelben,“ andererfeits über den Mangel regelmäßiger 
Ausübung der Strafrechtspfleg. Der Reichstag zu Freiburg von 
1498 befchloß daher eine neue Griminalgefeggebung. Dem langfamen 
Gange der Reichsverhandlungen und der niedergefegten Reichscommiſſion 
arbeitete ein tuͤchtiges Mitglied der legteren wirkſam vor. Es war ber 
Freiherr Johann von Schwarzenberg (geb. 1463, geft. 1528). 
Dem noch heute blühenden, jest fürftlihen Gefhleht angehärig, hatte 
ee unter Marimilian mehrere Feldzuͤge mitgemacht und mar dann 
zuerſt bambergifcher und fodann, nad) feinem Uebertritt zur protes 
ffantifhen Kirche, brandenburgifher Minifter geworden. Er war 
ein Mann von gefunder Gefinnung und Geiftesbilbung. Beide hat er 
zu einer Zeit, wo des Alciat und Zafius Bemühungen fir befferes 
Studium des römifchen Rechts noch zu new waren, bie von Cuja⸗ 
cius und Donellus noch nicht begonnen hatten, gluͤcklicherweiſe nicht, 
wie ſehr viele feiner Zeitgenoffen, duch ben gefhmadiofen Wuft der 
GStoffatoren und VBartoliften ſich verderben laffen; wohl aber hatte er, 
odgleich ſelbſt des Lateins unkundig, vermittelft der Hülfe von Webers 


2) Practica crimin. 87, 18. en 





\ Carolina. | 27 3 


fegungen, bie er fich fertigen ließ, unb zum Theil von ihm in ber 
Sprache verbeffert herausgab, durch das Studium der Alten feinen 


Geiſt genaͤhrt. Er mußte ihre Ideen, namentlid auch Ciceros und 


Quinctilians Mittheilungen über: bie gerichtlichen Verhandlungen, 
über die Berhäre, Anzeigen und Beweife, er mußte bie beiten Grund» 
füge des roͤmiſchen und canonifchen, wie des altdeutfchen Rechts, auf 
eine fruchtbare Weife zu. verbinden. Er bewährte feine edlere GSefinnung 
umd Bildung in feinen Schriften, insbefonbere auch in einem ihm nicht ges 
fabrlofen ernften und fatyrifhen Kampfe gegen bie Roheiten feiner Stan: 
besgenoffen, gegen ihre Unfitte übermäfigen Trinkens und Zutrinkens, 
und gegen ihre fauſtrechtlichen Raͤubereien (worauf auch ſein Geſetzbuch 
im Art. 126 unerbittlich die Todesſtrafe beſtimmte), ſodann auch in 
Schriften fuͤr die Kirchenvecbeſſerung, vor Allem aber in ſeinem Ent⸗ 
wurf zum neuen Strafgeſezbuch. Derſelbe wurde bei der Langſamkeit 
ber. Reichstagsverhandlungen bereits 1507 In Bamberg und 1516 
aud in Brandenburg als Kandesgefek angenommen (Bambergen: 
fi und Brandenburgica). , 

Mit einigen Veränderungen wurde er endlich 1532 auf dem Reiches 
tage zu Regensburg auch als ein Meichegefeg publicirt, welches nad) 
der Vorrede in blos hypothetiſchen Beſtimmungen (f. 3. B. Art. 
104.), wohlhergebrachten „rehtmäßigen und billigen‘ bes 
fonderen Landesgefegen Spielraum läßt, zugleich aber haͤufig auedruͤcklich 
abfolutgebietend und felbft mit Strafandrohungen gegen bie Regie⸗ 
rungen (j. B. Art. 1. 22. 84. 104. 135. 137. 206. 207. 218.) bie 
„Mißbraͤuche und bie böfen unvernänftigen” Landesgefege 
uͤberall ahſchafft. (So 3. DB. Confiscationen, Außer bei Hochverrath 
gegen das Reich, das Steandrecht, obrigkeitlichen Raub der geftohlenen 
Güter und andere ähnliche Erpreffungen und Härten, namentlid) auch 
jede härtere Strafe, als das Reichsrecht enthält, und ebenfo Verur⸗ 
theilungen ohne vollen Zeugenbeweiß oder Bekenntniß oder ohne gehörige: 
Beſetzung des Gerichts.) 

Die Carolina hat der verfchiebenartigfte Tadel getroffen. Fruͤ⸗ 
ber eine grundloſe gänzliche Verachiung und rohe Schmähung von eis 
ten einfeitiger unvaterländifcher Romaniften, felbft noch von einem Ley⸗ 
fer *). War ja doch unter diefen, damals wirklich emtarteten Juriſten 
De Mißachtung der Gerechtigkeit und die Verachtung alles Vaterlaͤndi⸗ 
fen faft unglaublih, die Sarolina war jedenfalls eine unermeßliche 
Verbeſſerung des damaligen Strafrecht und Strafproceſſes. Ihr tüche 
ger Inhalt war in fo trefflicher populaicer gefepgeberifcher Sprache. und. 

Darftellung gegeben, daß in unferer Zeit Savigny fie bemunberte, 
ja bie heutigen Yuriften zu einer gleich guten nicht für fähig haͤlt. Und 
man darf nur einen Blick werfen in die berühmteften kurz vorhergehen« 
den und nachfolgenden italienifchen und beutfchen praktiſchen Rechtsbuͤcher, 
3. B. in bievon Hippolytus be Marfiliis, Durantis, Brand 


*) Vergl. überhaupt Malblant, Geſchichte der Garolina 5. 4. 
Gtaats sEezilon, ILL. 18 


274 | | Carolina. 


und Tengler, um ſich zu Überzeugen, wie unvergleichbar hoch Schwan 
zenberg über ihnen ſteht. Trotz alledem aber, trotz ſeiner allgemeinen 
xeichsgeſetzlichen Auctorität konnte das vaterlaͤndiſche Geſetz body nur erſt 
dann, als es durch lateiniſche Ueberſetzungen von Gobier und Re⸗ 
mus roͤmiſches Gewand angezogen hatte, zu der Ehre gelangen, von 
der romaniſtiſchen Juriſtenzunft in ihren Geörterungen über die roͤmiſchen 
Criminalgeſetze — denn nur erft zu Anfang des 18ten Jahrhunderts 
bewirkte der Reformator Thomafius bie Trennung bes Criminalrechts 
von den Pandecten — dürftig nebenbei beruͤckſichtigt gu werben. 

In der neuern Zeit hörte man dagegen nicht felten ſehr wegwer⸗ 
fenden Tadel gegen die Carolina, vorzüglich wegen zu harter Strafen, 
wegen Beſtrafung ber Zauberei und wegen der Zortur. Gehe mit Recht 
wurden allerdings feit den ruhmmürdigen Kämpfen von Thomafius, 
Montesquieu, Voltaire, Beccaria, GSonnenfels und 
Michaelis diefe Fehler verbeffert. Für Schwarzenbergs Recht⸗ 
fertigung aber koͤnnte fhon das genligen, daß er in Beziehung auf alle 
getadelten Härten ungleich milder war, als die Anfichten, die Beſtim⸗ 
mungen und die Prazis feiner Zeit. Wenn man nun auch zur nadıs 
druͤcklichen Vertheidigung der Milde im Strafrecht allerdings fagen muß, 
daß nad aller Erfahrung die gute Wirkfamleit der Strafen durchaus 
von ihrem moralifhen Eindrud und nicht von ihrer Härte abhängt, fo 
find doch zu plögliche Uebergänge ſchwer durchführbar. Wer lange um 
Goldſtuͤcke fpielte, ber wird Grofchen, bie fonft vielleicht feine Aufmerk⸗ 
ſamkeit beftimmen würden, als ein Nichts verachten. Noch Jahrhun⸗ 
derte nah Schwarzenberg hielt man feine Gonfiscationgverbote und 
manche feinee Strafen, 3. B. ben Erfag des Doppelten bei geringen Dieb⸗ 
ftähten (157), feine geringere Strafe des Wilderns, als des Diebftahls 
(169) und andere für zu gering und verlegte vollends feine fxengen 
Beweis⸗ und feine gefeglihen Milderungs » und Entſchuldigungsgrund⸗ 
füge. Was aber foll. man fagen, wenn die noch im fauftechhtlichen 
Mittelalter aufgeftelten frafrechtlihen Grundfäge und Beſtimmungen 
ber peinlihen Dalsgerichteordnung Karls V. noch nach zwei und brei 
Sahrhunberten, ja zum Theil bis auf den heutigen Tag ben meiſten 
beutfhen Criminaliften als zu mild, zu liberal und human, al& zu ges 
recht erfchienen und beshalb felbft gefegwidrig verlegt wurden? Die 
Rechtfertigung dieſes Lobes der Carolina, foweit es zugleich bie bes 
ſcheidenſten praßtifchen Anforderungen, menn auch nicht an Waterlandes 
und Freiheitsſtolz dod an das Mechtögefühl unferer neuen Juriften ent⸗ 
hält, fol bier in einigen Andeutungen verſucht werben. 

1) Die Carolina verwirft jene unglädfeligen politifhen Grund⸗ 
gebanken eines Abfchredungss und Sicherungskrieges und mit ihm auch 
jene neuere Abſchreckungstheorie, welche ben Verbrechern ebenfalls fo vial 
Strafübel zufügt, als politifch zweckmaͤßig fcheint, um bie durch fie gar 
nicht verſchuldete, zutimftige böfe Kuft aller übrigen Menfchen zu 
tilgen, welche die Verbrecher alfo ebenfalls als rechtlos mißbraucht. Sie 
ſchließt ſich vielmehr wieder dem rechtlichen Grundgedanken des alt⸗ 


Garolina. 275 


deutfihen, role bed römifchen und bes canonifchen Gtrafrechts an, nadı 
welchem der Verbrecher nur geftraft wird zur Austilgung feiner Schuld, 
feines Mangels an rechtlihem Willen unb des öffentlichen Aergerniffes 
oder ber Verlegung der Achtung bes Geſetzes und des Beleidigten *). 
Die Erfahrungen aber liegen vor, einerfeits wie nicht blos vor der 
Carolina, fondern wie ſelbſt, trog aller inconfequenten Milderungen 
und vielfach abändernden Novellen, jener falſche politiſche Grund⸗ 
gedanke auch in der neuen Praris und Geſetzgebung und wie ans 
dererſeits in der Carolina ber rechtliche Grundgedanke des Strafs 
eechts wirkten. | 

. 2) Die dem legteren entfprehende hoͤchſte rechtliche Ach⸗ 
tung und Schüsgung der Rechte der Angeklagten zeigt fich vor Allem 
ta des möglichften Vorſorge für Hinlänglih unabhängige und 
unparteiifch führende Gerihtseinrihtung Die Vorrede 
der Bambergenfis wie der Carolina erklärt, daß: „aus langer 
„gemeiner Uebung die Halsgericht meift nit anders, bann mit gemeinen 
„Derfonen, die die Mecht nit gelernt ober geübt haben, befegt werben 
„mögen. Sie erllärt ferner, daß gerade eine beutliche Belehrung dies 
fee ungelebrten Volksrichter ein Dauptzwed der neuen Geſetzgebung ſei, 
wozu die Bambergenfis auc mit ihrer populairen Darftellung noch 
Golsfdmitte und Heime verband. Hierauf beſtimmt der erfte Artikel 
der Carolina: „Erſtlich fegen, ordnen und wollen wir, baß alle pein⸗ 
„liche Geriht mit Richtern, Urtheilern und Gerichteſchrei⸗ 
„bern verfehen und befegt werben follen, von frommen, erbaren, ver⸗ 
„fändigen und erfarenen Perfonen, fo tugendlichſt und beſt biefelbigen 
„nach Gelegenheit jedes Orts gehabt und zu befommen fenn, barzu auch 
„ Edele- und Gelerten gebraucht werben mögen. In dem allem eyn jede 
„Obrigkeit möglihen Fleiß anwenden fol, damit die peinlichen Gericht 
„zum beften verordnet und niemand unmrecht gefchehe, aldbann zu bieffer 
„gtoſſen Sache, welche des Menfchen Chr, Leib, Leben und Gut be 
„tanget, dapfer und wohlbedachter Fleiß gehörig.” Der Artikel ſchließt 
mit Androhung unnachſichtlicher Strafe für die Landes: und Gerichttk 
berrfchaften bei unvoliftändiger fahriäffiger Befegung ber Gerichte. Im 
Art. 35 folgen nun die Eidesformeln für die Mitglieder des Gerichts. 
Buerft die für den Richter, db. 5. den Iandesherrlihen oder patrimo 
ninien Gerichtspräfidenten, ber übrigens nach Art. 2 ebenfalls nicht noch 
wendig Rechtsgelehrter zu fein braudt. Sodann bie für Die Schoͤ⸗ 
pfen oder Urtheylſprecher“, welche ſchwoͤren „rechte Urtheil zu 
„geben und zu rihten dem Armen als dem Reihen” u.f.w. 
Endlich Drittens die für ben Gerichtöfchreiber, der als ein ſelbſtſtaͤnbl⸗ 
ger wichtiger Berichtsbeamte treue Aufzethnung, Bewahrung 
und Borlefung der Anzeigen, Beweiſe, Auflagen m. f. w. ange 
tet (5. 181—191). Es verbindet die Carolina eine hoͤchſt forgkdi: 


*%) Art. 104. 120, 142. 150. 197. 158. 160. 112. 124. Ausführung - 
ſin € Th. Welder, LegteSrände ©.553. und erden 1, ©. 578 


276 .- Carolina. 


tig beſtimmte ſchriftliche Aufzeichnung des Weſentlichen mit ber Weiber 
haltung der uralten Deffentlichkeit und Muͤndlichkeit bes Verfahrens. 
Fuͤr diefes fegt fie als Regel den Anklageproceß dürch Privatklaͤger vor: 
aus (11. 99. 81.), läßt jedoch auch Anklage und Verfahren von ber Re⸗ 
gierung und von Amts wegen, alfo auch öffentliche Ankläger zu (78 — 
100. Insbeſ. 88. 89. 165. 188. 201.). Zu einem gültigem Strafur⸗ 
theil und zu ber feierlichen öffentlichen Schlußverhandlung über An» 
Tlage, Beweis und Vertheidigung (73—100. ©. vorzüglich 
91. und 92.), wofür die Angefhuldigten einen Vertheidiger unter allen 
Mitbürgern und felbft unter den Schöffen völlig frei zu erwählen haben 
(88.), find mindeftens fieben tauglihe Schöffen oder Urtheller 
nöthig (dee Sachſenſpiegel 2, 12. 3, 20. und dee Schwaben» 
fpiegei 82. 90. 108. fordern zwoͤlf und fügen vom Richter noch 
ausdrüdtic hinzu, „das Urtheil fol er nicht felbft finden und nicht Tchels 
ten”). Fuͤr alle wichtigern Unterfuchungss und Procefhanblungen waren 
mindeftens vier Schöffen (4. 12. 13. 153. 181.) und felbft fuͤr die 
unwichtigern minbeftens zwei, neben dem Gerichtöpräfidenten unb bem 
Gerichtsſchreiber nochmendig. 

Der eben fo hiftorifch gelehrte, als Acht praktifhe Juſtus Moͤ⸗ 
fer bat kein Bedenken, In ber trefflichen Abhandlung, in welcher er feine 
zwoͤlf Bauptgründe für die Nothwendigkeit ungelehrter Genoſſen⸗ oder 
Geſchwornengerichte ausführt (I, 59), auch noch in diefen Beſtimmungen 
dee Carolina altdeutfches und englifches Geſchwornengericht zu finden. 
Und es iſt's; denn das Weſen beffelben befteht in dem unter Vorſitz 
von landes= oder gerihtsherrlihen Beamten ftattfindenden, entfcheibenden 
Mitrihten, wenigftens einer Anzahl unabhängiger parteilofer Mitbürger 
des Angeklagten, deren Gonflituirung oder Bildung und Wirkungskreis 
aber zum Theil verfhieden war und fein mußte. Hätte ung fpäter nur 
nicht der wichtige praktiſche Zact der Engländer gefehlt, von deren Ges 
ſchwornen noch Blackſtone (4. 27. 33.) es beftätigt, daß fie, wenn auch 
vermittelſt verfchiedener Umformungen und zum Theil vielleicht nach dem 
Vorbild der Eidhelfer, doch im MWefentlihen aus den beutfchen‘ Wolke: 
und Schöffengerichten hervorgingen (f. auh Cabinets⸗Juſtiz IV.), 
und daß fie keines weges bloß über bie Thatſache, fondern auch über 
die Rechtsfrage zu richten und „ſobald fie dieſes auf ihren geleifteten 
„Eid wagen mollten, audy ein allgemeines Urtheil zu fällen, bas unbes 
„zweifelte Recht hatten”! Diefer frühe britifhe Tact aber bewirkte eis 
nerfeits die von jenen deutſchen Patrioten vergeblidy geforderte Aus⸗ 
ſchließung der Gültigkeit des fremden Rechts und die Verbannung feiner 
Doctoren aus dem Parlament vermittelft eines förmlichen Parlamentes 
ſchluſſes. Als einen Grund gab man an: Beltimmungen, wie die des 
Suftinianifhen Corpus Juris: „auch das, mas dem Fürften bes 
„liebt, hat Geſetzeskraft“, oder wie die: „der Fürft ift von den Gefegen 
entbunben”, paßten für kein freies Voll. Andererfeits überließen in 
der Regel die englifhen Geſchwornen das Rechtsurtheil freiwillig dem 
juriſtiſchen Staatsrichter, und fie richten alfo mit ihrem „ Schülbig 


8 


Carolina. 277 


oder,Nichtſchuldig“ gewoͤhnlich blos Aber bie durchaus von keiner ju⸗ 
riſtiſchen Kenntniß abhängige Thatfrage. In Deutfchland gefchah leider 
keins von beiden. Und fo vermifchten fich, wie es ſcheint, fchon von der 
Garolina an (3. 4.81. 92. 94.) mehr und mehr die Functionen ber 
präfidivenden vechtögelehrten Staatsrichter und der ungelehrten Schöffen 
oder Urtheiler. Die Rechtsgelehrten bekamen allmälig das Webergewicht 
über die ungelehrten Schöffen, machten biefeiben ſtumm und verbrängten 
fie an den meiften Orten gänzlih. Ja fie mißachteten und vergaßen 
die Geſetze über fie fo fehr, dag man manchen Griminaliften die Beſtim⸗ 
mungen ber Carolina üter fie als Neuigkeit erzählen muß *). 

Meben fo trefflich befegtem Gericht und oͤffentlichem Verfahren gab 
be Carolina no den Angeklagten ben koſtbaren Schug ber 
Actenverfendung, welche fie ibm fo hoͤchſt liberal im Hall 
der Armuth felbft auf des Gerichts Koften für das Enburtheil, fo mie 
bei Haupthandlungen des Proceffes geftattete (47. 219. und oben Acten⸗ 
verfendung). 

Und weiches Verfahren und welche Gerichte haben num unfere neues 
ven Juriſten größtentheild an der Stelle aller biefer gefeslihen 
Garantien eingeführt? Einen nicht feltem gleih der Vehme im 
Dunkel gehüllten,, rein inquifitorifchen Proceß und ein Gericht bloß von 
Staatsbienern, ja von amoviblen Regierungsbeamten, ein Verfahren, in 
welchem häufig ein einzelner Unterrichter, ja oft ein bloßer Mechtöpraktis 
cant ohne allen, oder doch ohne felbftftändigen Gerichtefchreiber zugleich 
den Ankläger und Richter und Actuar macht; in welchem endlich auf 
Die von ihm im Dunkel gefertigten Acten hin, ober vielmehr auf eine Re⸗ 
lation eines Einzelnen aus derfelben, eine Anzahl anderer amovibler Re⸗ 
gierungsbeamten, ohne den Angefchuldigten, die Zeugen und die Vertheidi⸗ 
ger je auch nur zu fehen und zu hören, die Etrafs, die Tobesurtheile fällt! 

8) Neben allen diefen Garantien durch ihre Geſchwornengericht und 
das oͤfſentliche Verfahren und die Actenverfendung febligt die Carolina 
die Angeklagten noch durch die fErengfien Vorſchriften über den 
Beweis. Ihre höchft forofältig ausgebildete Theorie Über die Verhoͤre 
der Angefchuldigten, Über die richterlichen Nachforſchungen und befonders 
über bie Anzeigen oder Indic?en (18 — 67.) ift von Kennern mehr bes 
wundert, als in der Praris hinlänglich befolgt worden. Dennoch erklärt 
fie fo, wie das altdeutfche Recht (capitulare 5,308.) jebe peinliche Vers 
urtheilung ohne Geftändniß oder Beweis durch wenigſtens zwei ober drei 
völlig glaubwuͤrdige, nad) eignem Wiffen ausfagmde Zeugen (62—67.) 
für nichtig (22—67.). Ohne foldyen Beweis aber tritt die völlige und 
gänzliche Losſprechung ein. 

Sreilih durfte Schwarzenberg nicht glauben, damals ſchon bie 


®) ueber die Reſte alter Volles ober Genoſſen⸗ und Schöffen» ober &es 
kümornengerichte bis in die neueften Zeiten, f. Mittermaler, Strafverf. 
. &. 67. 79. Malblant, ©. 21. Zentner, das Geſchwornenge⸗ 
sidt, S. 147. 


278 | Carolina, 


Auftinemung zu bee gänglichen. Abfchaffing ber durch daB. uütntfche Büste 
und bie —R Gerichte eingeführten Tortur erhalten zu 

Man hatte bisher, ſoweit vom Recht die Rede fein follte, * alten Be⸗ 
weiſe dee Schuld durch das WBeflebenen (das Schwoͤren von ſieben Per⸗ 
fonen) ober durch Gottesurtheile, namentlich durch Zweikampf, den ſelbſt 
Karl V. noch für feine Erblande neu regulirte, fuͤr unentbehrlich gehal⸗ 
ven und forderte ſelbſt neben ben Zeugenausfagen von zwei ober beei 
glaubwürbigen Zeugen noch Zortur zur Bewirkung bes Geftändnifie® 
(69.). Die Carolina hob mie Hecht alles dieſes und auch die negathe 
ven, fubjectiven Gegenbeweife durch Eidhelfer und Gottesurtheile auf. 
Man Hielt zugleich jego allgemein den Ausgang ber Tortur für ein neues 
Gottesurtheil, und zwar für das beſte. Man glaubte, daß Bett dadurch 
den Sieg der Unſchuld oder die Rache des Frevels herbeiführen werbe 
(Malblank 78) Schwarzenberg that alfo nur das Möglichfte, 
die Tortur zu vermindern und zu mildern, und vorzüglich ihren Eintritt 
an vehtlihe Bedingungen zu Enüpfen. Eie durfte nicht eins 
teten ohne einem fo flarten Snbictens oder Zeugenbeweis, daß 
berfelbe vielen jegigen Gerichten zur Derurtheilung und 
zu außerordentliben Strafen genuͤgen würde. Vor der⸗ 
feiben aber ift dem Angektagten förmliche Bertheidigung, und nöthigen« 
falls auf des Gerichts Koften Actenverfendung geftattet. Richtern und 
Schöffen ift die hoͤchſte Sorgfalt und ſchonende Voltziehung, und nebſt 
dem Gerichtöfchreiber Anmefenheit bei derſelben nachdruͤcklichſt zur Pfliche 
gemacht, und ebenfo jede Suggeftivfrage und bie Annahme eines Ges 
ſtaͤndniſſes während des Leidens verboten und alles diefes unter der Andro« 
bung der Nichtigkeit und zugleich einer ſtrengen Beftrafung, ſowie der 
vollen Privatgenugthbuung an ben Angefhulbigten fir 

„Schmach, Schmerzen, Koften und Schäden” (6—-61.). 

Auch fo noch find wir freilich wahrlich kein Verehrer der Tortur. 
Auch wollen wie nicht zur Entſchuldigung Schwarzenbergs ausfuͤh⸗ 
sen, daß, nachdem Beccaria mehrere Jahrhunderte ſpaͤter bereits 
den Glauben der Chriſtenheit an die Unentbehrlichkeit der Tortur erſchuͤt⸗ 
terte, immer noch ſehr, ſehr viele Landesgeſetzgebungen ſie beſtehen ließen, 
ja, daß beruͤhmte Criminaliſten, wie Koch, ſie noch zu Ende des 18ten 
Jahrhunderts foͤrmlich vertheidigten. Auch das wollen wir nicht ausfuͤh⸗ 
ven, daß dleſelbe Jahrhunderte lang mit Verlegung jener geſetzlichen Be⸗ 
dingungen und Milderungen von fo vielen Richtern ungleich ungerechter 
und graufamer ausgelbt wurde. Aber. nady reiffter Prüfung würden 
wie ſelbſt als Angeklagte die Folter der Garolina mit ihren Bedin⸗ 
gungen und Wirkungen demjenigen weit vorziehen, was unfere Juriſten 
an ihre Stelle festen. Vorziehen würden wir fie den ſchauderhaf⸗ 
ten, völlig willkürlichen Zorturen buch Prügel, durch jahre 
‚langen Unterſuchungsarreſt oder andere Leiden, wie fie meift unter bem 
Titel von. Luͤgenſtrafen bis in die neuefte Zeit im Dunkel fo vieler 
deutſchen Griminalgerichte ausgeübt wurden, Xorturen, welche obne 
gaͤnzliches Abfchaffen der Luͤgenſtrafen und alter Lörperlichen Zuͤch⸗ 


i 


Carolina. 279 


tigung (fo wie in Baden) und ohne Deffentlichkeit ſtets wieder vorkom⸗ 
men muͤſſen. Wir müßten fie ebenſo vorziehen den außerordentli⸗ 
hen Strafen und Sicherheitsgefängniffen wegen mangeln« 
den Beweiſes ober wegen bloßer Verdaͤchtigung und Beſorgniß, fo wie 
fie jenes politiſche Sicherungsſyſtem in mehreren beutfchen Laͤn⸗ 
dern ebenfalls felbft bis im die neuefte Zeit verſchuldete. Diele Beleldi⸗ 
gungen alled Rechtsgefuͤhls, insbefondere auch die bem Angefchuldigten - 
wachthelligen Eosfprechungen blos von ber Inftanz, ferner jene 
aus freien, politifhen Arußerungen und Beſtrebungen gegen die allges 
meinen Mechtögrumdfäge gebildeten neueren Begriffe ſtaatsgefaͤhrlicher Vers 
gehen, endlich jene fcheußliche Erfindung dee ausgenommenen Vers 
brechen, weldye fpätere Griminaliften, vorzäglih Carpzov, machten, 
am bei ihren Lieblingsverbrechen, Bererei, Hochvertath u. f. w. die ſtren⸗ 
gen Rechte » und Berseisgrundfäge der Carolina zu umgehen — fie 
alle widerfprechen ebenfofeht der Carolina *), "ale bem Strafrecht 
ber freien Briten und anderer freien Völker. 
| 4) Auch noch außerdem enthält die Carolina fehr viele, nid 
jenem politifhen Sicherungskrieg, fondern vielmehr dem rechtlichen 
Schut des Angefhuldigten günftige Beſtimmungen. Sie vers 
Bietet (11— 17. und 218.), den Angeklagten zu verhaften, wenn nicht der 
Anklaͤger (deſſen Stelle im Inquiſitionsproceſſe die anklagende Obrigkeit 
einnimmt, f. oben 2.) demfelben nah Angabe ſchwerer Verdachts⸗ 
gründe peinlichen Verbrechens vollftändig und nöthigenfalls durch eigene 
Mitverhaftung, und fofern ein Kürft der Anklaͤger ift, durch Mitver⸗ 
haftung wenigſtens eines Standesgenofien des Angeflagten genügende 
Buͤrgſchaft leiftee, ihm, wenn nicht in bee beflimmten Zeit die nöthigen: 
Schuldbeweiſe erfolgten, für „Shmah, Schaden und Koften 
nach der Gebühr Ergegung” (d. h. Genugthuung) zu leiſten; 
woruͤber die Carolina zu Gunſten des Angeklagten ein ſummariſches 
Verfahren anordnet. Wiederholt und ſtreng, wie fie jede nicht völlig 
begründete Verhaftung verbietet, fordert fie auch möglichft mildes Ge 
faͤngniß und fchnelle Beendigung des Procefies (11. 77. 218.) Sie 
befiehit in ihrem Anfang und ihrem Ende, und oft wiederholt mit fichts 
harem, großem Anliegen die höchfte Sorgfalt und Beguͤnſtigung für 
die Entſchuldigungsbeweiſe und für die Vertheidigung des Angeklagten _ 
(1. 219. 6. 7. 47. 49. 57. 58. 88. 104. 151—156.). Muß man 
Naran erinmern, wie oft noch heute alle biefe Grundſaͤte verlegt werben? 
Genugthuung für die Ehrenktaͤnkung, die Leiden und Beſchaͤdigung durch 
sichterliche Ungeblihr und flr unverfchuldete Criminalproceſſe 3. B. würs 
den fie nicht vielem heutigen beutfchen Griminaliften als romantifche Phans 
taſien erfcheinen ? 

Selbſt die wenigen Beſtimmungen, welche auf irrige veligiöfe Anz 


— — — — 


9 Mittermaier a. a. O. H, $. 176. 186. Theorie des Bew. ©. 475. 
Neues Archiv III, 501. VII, 581. Grolman Grimin. $. 515. Blads - 
one, IV, 27. 





280 Sareling; | 


ſichten der Zeit hinweiſen, fallen wohl Schwarzenberg nicht zur Laſt, 
da ſelbſt die Beſchraͤnkungen derſelben, namentlich die der geiftlichen Ge⸗ 
richtsbarkeit, welche fein’Entwurf enthielt, zum Theil teichsgeſetzlich ge» 
frihen wurden *), unb ba damals noch kein Midyaelis die Unver⸗ 
bindlidhkeit der Mofaifhen Strafgefege erwiefen hatte. . Nimmermehr 
‚hätte namentlih Schwarzenberg damals das, nah Malblants 
Ausdruck, aus den Sümpfen bes canonifchen Rechts und des Aberglaus 
bens entfprungene Verbrechen der Zauberei gänzlich tilgen können. 
Bekanntlich hatte Papft Junocenz YIIL buch. die Bulle vom 5. Des 
cember 1484 neue Inquifitoren „Legerifher Bosheit“ mit ausgedehnten 
Vollmachten ausgefendet, und die Errihtung von Derengerihten 
angeordnet. Der Kaiſer Marimilian hatte leider am 6. Nov. 1486 
der päpftlihen Bulle feine Billigung ertheilt und die Reichsangehoͤrigen 
zur Unterftüsung dee Hexengerichte aufgefordert, das Werbrennen der 
Derm rar in Uebung, und felbft das römifche Recht enthielt Strafbe⸗ 
flimmungen über Zauberei. Schwarzenberg fuchte alfo wenigſtens 
außer der Vorforge duch feine forgfältigen Beweis⸗ und Torturbeſtim⸗ 
mungen und dem %erbot der Gonfiscationen, bie auch bei ben Deren- 
proceſſen eine Rolle fpielten, auch dadurch weſentlich das Uebel zu mils 
dern, daß er nur fuͤr den Fall, wenn Jemand erwieſenermaßen 
buch Zauberei Andere verbrecheriſch beſchaͤdigt hatte, bie 
barte Strafe geftattete, fonft aber eine mildere Buße nad) richterlichens 
„Ermeffen forderte. Aber wie verlegten die Juriſten ganze Jahrhunderte 
hindurch auch bier alle feine, für fie zu milden, zu gerechten Grunde 
füge! Der ebenfo gefegwibrige als geaufame Juriſt Carpzov, 
er, ben Leyſer eben fo laut pries, ald ee Schwarzenberg ſchmaͤhte, 
und dem man bie hauptfächlihe Mitwirkung zu 20,000 KXobesurtheilen 
nachruͤhmt, entzog im 17ten Sahrhundert die Derenproceffe durch feine 
fheußliche Theorie von denfelben und von ben ausgenommenen Verbre⸗ 
hen fogar ausdrüdiih dem Schutz jener Grundfäge der Carolina. 
Nicht ohne Grauen blidt man in den Abgrund von Frevel und Wahn 
finn, vorzüglich dieſer fpätern Derenprocef[e, wie die aus Acten ges 
ſchoͤpften Darftellungen, z. B. die von dem gründlichen Forſcher H. Schrei⸗ 
ber, vorzuͤglich in Beziehung auf die wurzburgiſchen und vor⸗ 
der⸗oͤſterreichiſchen Lande (im Freiburger Adreßkalender 
1836) und die des Grafen von Lamberg über das Criminal⸗ 
verfahren in Hexenproceſſen im Bischum Bamberg von 
1624— 1630, Nürnberg 1835. fie uns fohildern. In Bam 
berg namentlich wurden innerhalb biefer 6 Jahre in einer Bevölkerung 
von damals ohngefaͤhr 100,000 Seelen 900 Herenproceffe geführt. 
Ale Angellagte, Männer, Weiber, Gteife von 75—90 Sahren und 
junge Mädchen, zum Theil aus böhern Ständen, wurben ohne Weite 
ve8 auf das Scheußlichfte und fehr viele zu Tode oder zu lebenslänglis 
her Verkrüppelung gefoltert; 307 aber, von welchen viele erklärten, daß 


2) Malblant, ©. 207. 


Carolina. | 281 


fie nur zur Beendigung ber Folterqual gegen ſich und Andere faͤlſchlich 
ausgeſagt, wurden lebendig verbrannt. Selbſt ſchwangere Weiber entgins 
gen, trotz kaiferlicher Einſprache, der geiftlichen Wuth nicht. In der⸗ 
felben Schrift lieſt man mit Scaubern gleichzeitige noch größere und 
zablreichere Greuel von Fulda, wo der Abt felbft Augenzeuge von 
fbeußlichen Zorturen und von dem lebendigm Verbrennen fdhmangerer 
Weiber war *). Solche geiftlihe Fürften, wie biefe von Bamberg 
und Fulda, oder wie bie von Trier und Würzburg im Bauern⸗ 
®riege (oben II, ©. 230) oder wis vollends jener fpätere graufame Bi⸗ 
fhof von Salzburg, könnten allein fchon die von Herrn v. Haller 
erneuerten Lobpreifungen des milden Krummſtabs entkräften. Jeden⸗ 
falls aber beweifen dieſe greuelvollen Herenproceffe quf's Neue ganz eben 
fo, wie jener Abfchredungss oder Sicherungskrieg, zu welchen Abgründen 
die Menfchen kommen, fobald einmal bie heilige Achtung der 
wahren Rehtsgrundfäpe aufgegeben if. | 
5) Ebenfalls nur dieſer Achtung entfprechend und hoch über ihrer 
und über der nachfolgenden Zeit, ja zum Theil über dem claffifhen 
roͤmiſchen Recht ftehen die Grundfäge ber Carolina grade in den 
durchgreifendſten und fchmwieriäften criminalrechtlichen Lehren von dem 
(fubiectiven und obdjectiven) Maßſtab der Verbrechen und 
von Milderung und Schärfung-dber Strafe, von Dolus und 
Culpa, von Verfuh und Vollendung, von Hülfeleiftung 
und Urheberſchaft. Weberall erfaßt bier Schwarzenberg nicht 
blos die im römifchen Recht aus der gerechten Strafrechtstheorie abges 
leiteten Grundſaͤtze, welche der Abſchreckungs⸗ wie der Wiedervergeltungs⸗ 
Theorie überall widerfprechen und daher von ihnen angefeindet werben. 
Er ergänzt und verbeffert fie auch haͤufig. So huldigt er 3. B. qus⸗ 
druͤcklich (178.) dem wichtigen römifchen Grundfag, daß ber unrecht⸗ 
liche, rechtsverachtende Wille und nicht der aͤußere Schaden das ei⸗ 
gentliche Weſen, der Thatbeſtand des Verbrechens ſei. Aber er vers 
beſſert die daraus abgeleitete, roͤmſſche Beſtimmung, daß der bloße Vers 
fud), wenn feine Ausführung verhindert wurde, dem vollzogenen Vet⸗ 
brechen glei zu ſtrafen ſi. Der Carolina fchien eine mildere 
Strafe nothwendig, einestheils, weil ein ganz fo böfer Wille wenigftens 
juriſtiſch nicht erwiefen ift, wenn der Berbrecher fein Verbrechen nicht 
ganz zu Ende führte, und weil anberntheils ſchon deshalb und übers 
baupt das Aergernig (das Scandalum oder malum exemplum) hier 
nicht fo groß und ausgedehnt if. _ Go ftraft das roͤmiſche Recht dem 
Vermandtenmord zwar mit Recht härter, als den Mord von Frem⸗ 
den. Die Carolina erkennt im Allgemeinen die fubjectiven und objectis 


*) Yis einft das Hauptwerkzeug biefer Greuel, ein gewiſſer Zenträchter, 
weldyer ſich rühmte, bereits 700 lebendig verbrannt zu haben, und bie Hoffnung _ 
dußerte, daß er das Tauſend noch voll machen werde, anfragte, ob er die Fol⸗ 
ter bei mehreren Opfern noch fortfegen folle, antwortete ber geifttiche Fuͤrſto 
„Wan fahre in Gottes Ramen fort!" 


% 


283 Goroline. . 


ven Gründe bleſce Verſchaͤrfung anz aber mit tiefer Bunmnitdt und 
Gerechtigkeit firaft fie einen Verwandtenmord, nämlid, ben Kinder 
mord, im juriſtiſchen Sinn ſogar geringer ala den Mord ven Frem⸗ 
ben (131.), weil bier ber erwieſene rechtswidrige Wille und das Aer⸗ 
gerniß wegen ber aufgeregten Gemütheftinntung der Verbrecherin und 
wegen ber Wirkſamkeit des an fid) nicht verbrecherifchen Triebe der Ge⸗ 
ſchlechtsehre als geringer erfcheinen. 

6) Boͤllig gerecht, männlich und liberal, ganz fo, tie das roͤmi⸗ 
ſche Recht, erkennt endlich die Carolina (139—145.) auch das Recht 
der Nothwehr an. Sie geftattet mir, bei jedem ungerechten, 
famen Angriff eines Jeden auf Perfönlichkeit, Vermögen und Beſitzſtand 
von mir, wie von meinem Mitbürger, fo viel Gewalt völlig ſtraflos 
anzuwenden, als ich felbft zur Abmendung des Unrechts Im guten 
Glauben für nothwendig bie. Sie verwirft alfo entfchieben alle bie 
von knechtiſcher, unmaͤnnlicher Gefinnung, von einem verkrüppelten 
Rechtsgefuͤhl ober doch von Verwirrung des Mechts mit der Moral und 
Politik ergeugten fubjectiven, moralifhen und willkuͤrlichen Beſchraͤnkun⸗ 
gen einer neueren gefehs und rechtswidrigen Griminaljurisprubdeng. Diefe 
aber hat es dahin gebracht, daß auch die gerechtefte und dem Schutz 
von Recht und Freiheit förderlichite Nothmehr ben ehrenhafteften Mann 
der hoͤchſten Gefahr criminalrechtlicher Mißhandlungen und Beichäbiguns 
gen ausſetzt. | 

Die berühmte berner Preisfhrift nannte Kart V. ober 
Schwarzenberg den Beccarta des fehzehnten Jahrhunderts, 
Bann wird für uns Deutfhe der bes neunzehnten kommen? 
Neue Criminal » Einrichtungen find anerkanntes Beduͤrfniß. Möchten 
fie — ein heiliged Recht hat der treue Vuterlandsfreund, es mieberholt 
auszufprehen — unferer Zeit und ber NMationalehre entſprechen, und 
uns nicht zu meit hinter anderen freien Nationen, und am wenigften 
Dinter dem Werk des ſechzehnten Jahrhunderts zurädiafien! Moͤge 
auf’s Neue das Recht fiegen über die rechtlofe, politifche, deſpotiſche 
Sicherungstheorie! Möge insbeſondere durch tüchtiges Criminalgericht 
der Freiheit und Ehre, dem Leben und Gut der Bürger genhgenbe 
Verbürgung gegeben und die große Luͤcke, melde bie Abfchaffung 
der Tortur gelaffen hat, glüdlicher erfegt werben, als bisher! Wir 
unfererfeits freilich halten (f. Th. I. S. 131 u. 633.) mit bem treffs 
lichen Kuftus Möfer, mit unfern erften Criminaliften, 3. 3. mit 
einem Grolman, mit einem Mittermaier und mit jenen treffs 
lichen Mitgliedern der preußifdyen Immediatjuſtizcommiſſion, fo tie 
mit den durch Erfahrung bewährten Stimmen aller unferer übercheis 
nifhen Landsleute und aller deutſchen Ständefammern, die darüber 
vernommen wurden, Beides nur möglih duch Ruͤckkehr zur alten 
beutfchen Verbindung vom Genoffen = oder Schmwurgeriht mit den 
Staatsrichtern, von Schmwurgerichten jedoh nur für den Beweis. 
Sieber aber möchte uns bei einer Gerichtöbefegung nach ber Carolina 
ſelbſt die grauenvolle Zortur zurüdkehren, als dee Erfap durch Ver: 


! 


Carolina. Caſpiſches Meer. 283 


duch tigkeits⸗ und Sicherheits⸗Strafen und Ausnahmver⸗ 
brechen, als das noch Schlimmere, als ein Schwurgericht oder blos 
motaliſches Ueberzeugungs urtheil von bloßen Regie⸗ 
rungsbeamten (vielleicht gar von amoviblen). „Die gefaͤhrlichſte 
„Wenbung“, man erlaube uns mit den Worten des ehrwuͤrdigen Ju⸗ 
ſtus Moͤſer I, 308 zu ſchließen — „die gefaͤhrlichſte Wendung aber, 
„voelche wie zu befürchten haben, ift nur diefe, daß Ungenoſſen⸗Rich⸗ 
„een eben. die Macht gegeben werde, welche vordbem die Genoffen hats 
„tn. — Wenn biefen erlaubt wird , nad; dem gemöhnlichen Ausdrud 
„mit Dintanfegung unnäthiger Formalitäten zu entfcheiden, wenn diefe 
„son dem bürren Buchftaben der Geſebe aud nur ein 
„Daarbreit abweihen dürfen, fo beruht Freiheit und Eigenthum 
„einzig und allein auf der Gnade bes Landesheren, fo fann er ſolche Leute 
„zu Richtern verfchreiben, die in dem Lande, wo fie nad ihrer Weis⸗ 
„beit und Billigkeit verfahren ſollen, nichts Eigenes haben und keinem 
„Genoß find, die aus der Türkei und Zatarei zu Haufe find und bie 
„es nad) unvermwerflihen Gründen darthun koͤnnen, daß es vernünftis 
„ger fei, die DBeinkleider, al6 den Hut unter den Arm zu nehmen 
.....“ Welcker. 

Cartell, ſ. Deſerteurs und Kriegsgefängene. 

Caſpiſ ches Meer. Ein großer Landfee im weſtlichen Afien, 
140 Meilen lang, 30— 64 Meilen breit und eln Areal von 6000’ 
Quadratmeilen bebedend. Die Alten nannten ihn, nad) den an feinen 
Küften wohnenden Gafpiern und Hyrcaniern, bald das cafpifche, bald 
das hurcanifhe Meer. Die Griechen hatten nur unvolllommene Kennts 
niß von diefem Meere. Ptolemdus fchäste feine Länge von Welt nach 
Oſt auf nicht weniger ald 234 Grad, während fie doch kaum vier Grad 
beträgt. Die roͤmiſchen Erdbefchreiber theilten das cafpifhe Meer in 
drei Haupttheile, den hyrcanifhen, cafpifhen und ſcythiſchen Meerbus 
fen. Die Perfer nennen es Aftrachan, die Ruſſen Gaulenskoi, die 
Georgier Soma, die Armenier Saof. In naturmiffenfchaftliher Be— 
ziehung ift das Merkwuͤrdigſte dieſes Sees, daß er zwar fortwaͤhrend 
den gewaltigen Waſſerzufluß der in denſelben ausmuͤndenden Wolga 
und gegen 200 kleinere Gewaͤſſer, aber durchaus keinen bekannten Ab⸗ 
fluß hat, waͤhrend doch ſeine Waſſermaſſe ſich fortwaͤhrend gleich bleibt. 
Man vermuthet daher eine unterirdiſche Verbindung, vielleicht mit dem 
baltiſchen Meere, vielleicht mit dem perſiſchen Meerbuſen, vielleicht durch 
die geheimnißvollen Schluͤnde des innern Erdkoͤrpers mit ganz entfern⸗ 
ten Meergruͤnden. Das Waſſer iſt zwar ſuͤßer, als Meerwaſſer, hat 
aber doch eine Beimiſchung von Meerſalz. — In den aͤlteren Zeiten 
bildeten ſeine oͤſtlichen Kuͤſten die Nordgrenze des mediſchen Koͤnigreichs; 
ein kaltes, unfruchtbares und moraſtiges Land, von wilden, kriegeriſchen 
Völkern bewohnt. Von vielen ber ſcythiſchen, celtiſchen, ſlaviſchen 
Voͤlker, die von Zeit zu Zeit uͤber Aſiens und Europas Civiliſation 
hereingeſtuͤrzt ſind, fuͤhrt die fruͤhere Geſchichte auf die Umgebungen 
bes caſpiſchen Meeres zuruͤck. Gegenwaͤrtig grenzt das eaſpiſche Meer 


2854 Gafpiices Meer. Caſſationshef. 


gegen Weiten und Morden an Rußland, gegen Süben an Perfien, 
gegen Dften. an Turkeſtan. Von Rußland berührt es namentlicy die 
kaukaſiſchen Provinzen und das Gouvernement Aſtrachan. Aſtrachan 
felbft liegt nur 12 Meilen von dem fiebenzigarmigen Ausfluß der 
Wolga in das cafpifhe Meer. Die Umgebungen bes letztern nad) 
diefen und feinen meiften Seiten bin, beftehen aus ungeheuern, von 
Kofaden und Kirgifen bewohnten Steppen. Gegen Perfien zu ragen 
dagegen bie cafpifchen Gebirge fteil an dem Ufer der See empor. Sie 
heißen auch Alburs. Ihr merkmürdigfter Berg iſt der noch unerfliegene, 
vulfanifhe Demawend. Auch das Zalifchingebirge, mit dem 7950 Fuß 
hohen Abargipfel gehört dazu. Auf diefee Seite des cafpifchen Meeres 
liegen Reicht, die Hauptſtadt der perſiſchen Provinz Ghilan, Aftcabad, 
bie Hauptftabt, und Balfiruſch, die bedeutendfte Handelsſtadt der Pros 
vinz Maſenderan, des alten Hyrcaniens. Gegen Zurkeftan zu iſt das 
Land wieder flach. Im Turkmannenland findet fich der befte Hafen 
des cafpifhen Meeres, ber Hafen Mangiſchlak. — Das cafpifche Meer 
ift der Sig eines lebhaften, befonbers von Lofadifhen Stämmen betrie- 
benen Fiſchfangs, deſſen Beute Seehunde, Stodfifhe, Störe u. dergl. 
find; ein bequemes Berbindungsmittel des Danbels zmifhen Rußland. 
und Perfien; ale Handelsweg ſchon im Mittelalter befonders von den 
Genueſen benust; bereinft vielleicht ein Daupthebel der Givilifation ber 
ummohnenden afiatifhen Voͤlker. Bis jetzt werben noch lange nicht 
die Vortheile davon gezogen, die es gewähren könnte. Buͤlau. 

Caſſationshof. Unter dem Namen einer Cour de Cassation 
beſteht in Frankreich eine oberſte gerichtliche Stelle, welche bei verſchie⸗ 
denen Gelegenheiten (z. B. durch ihre Entſcheidung uͤber die Illegalitaͤt 
des Belagerungszuſtandes von Paris) allgemeine Aufmerkſamkeit auf 
ſich gezogen hat, von deren Weſen man ſich aber im Auslande, wo 
mat keine Ähnliche Inſtitution kennt, bäufig ganz irrige Begriffe 
mahnt. 

Was zur Bildung bed Caffationshofs (oder Caſſations g e⸗ 
richte, wie man es urfprünglidy nannte,) Veranlaffung gab, war im 
Wefentlihen folgende Idee: Die legisiative Gewalt erläßt das Geſetz; 
ber Richter iſt aufgeftellt, es in den geeigneten Fällen zur Anmwenbung 
zu bringen und ſich darnach zu achten. Wenn aber die Gerichte die 
Geſetze verlegen, deren Vollziehung vernachläffigen oder vereiteln koͤnn⸗ 
tn, fo mürden fie dadurch die legislative Gewalt nichtig machen. 
Diefem zu begegnen, hat biefelbe ſich das Recht vorbehalten, die Zus 
fliz » Verwaltung überwachen und die Urtheile vernichten zu laffen, in 
denen fich die Gerichte von den vorgefchriebenen Regeln entfernten, und 
ihnen dieſe Regeln wieder vor Augen zu ftellen. (Vide: Pigeau, la 
procedure civile des tribuiaux de Frauoe, Edition de 1811. 1. tome, 
peg. 662.) 5 " 

Der, Caffationshof ift ſonach Leine dritte Inſtanz, wie denn übers 
haupt das franzöfifhe Recht deren nie. mehr als zwei kennt. Seine 
Sunctionen weichen wefentlih von denen der übrigen Tribunale ab, 


Gafjationshof. 285 


indem er niemal® auf den Grund ber einzelnen Sachen hin entfcheidet. 
(La Cour de Cassation ne connaft aucunement du fond des af- 
faires.) ' 

Das Gaffationsgericht wurde durch das Decret vom 27. Nov. bis 
1. Dec. 1790 und die Conftitution von 1791 eingefegt. Es blieb feis 
nem Wefen nad) bis heute unverändert. Die wichtigften noch gelten= 
ben Beitimmungen darüber find folgende: 

Aus der Gonftitution vom 3. VEIT der Republik: 
Art. 65. Für die ganze Republik befteht ein Caſſationsgericht, wel⸗ 
ches über die Caſſationsgeſuche gegen die von den Zribunalen in letzter 
Inſtanz gefällten Urtheile, über die Gefuche, eines rechtsbegruͤndeten 
Verdachtes oder der oͤffentlichen Sicherheit wegen von einem Gerichte 
an ein anderes verwiefen zu werden, und endlidy über die Recursklagen 
gegen ein ganzes Gericht entfcheidet. — Art. 66. Das Gaffatione- 
gericht erkennt niemals über den Gegenſtand der Proceffe, fondern es 
caffiet nur die Urtheile, in denen die vorgefchriebenen Formen verlegt 
wurden, oder die eine ausdruͤckliche Zuwiderhandlung gegen das Gefeg 
enthalten, und es vermeift den Gegenſtand des Proceffes an das Tri⸗ 
bunal, welches darüber zu erkennen hat (fonad) an ein anderes Ges 
richt). 

Aus dem Gefege vom 27. Bent. VII. Art. 58. De 
(zu Paris beftehende) Gaffationshof wird aus 48 Richtern gebildet. — 
Art. 60. Das Gericht theilt fich in brei Sectionen. — Die erfte urtheilt 
(vorläufig) über Zulaffung ober Verwerfung dee Gefuche um Gaffa- 
tion, oder um einen Richter belangen zu dürfen, und definitiv über 
Sefuhe um Competenzbeflimmung (reglemeut de juges) oder um 
Berreifung der Sache von einem Gerichte zu einem andern. — Die 
zweite entfcheibet definitiv über zugelaffene Geſuche um Gaffation (in 
Civilſachen) oder Richterbelangung. — Die dritte fpricht uͤber Caſſa⸗ 
tiondgefuhe in Griminals, zuchtpolizeilichen‘ und polizeilihen Suchen, 
ohne daß ein vorgängiges Zulaffunge » Erfenntniß erforderlich wäre. — 
Art. 63. Jede Section kann nur in Gegenwart von mindeftens elf 
Richtern entfcheiden. — Art. 64. Im Falle: dee Stimmengleichheit 
werden noch fünf weitere Richter aus einer andern Section des Ges 
richts beigezogen. — Art. 76. Außer ben im Art. 65 der Conſtitu⸗ 
tion vom J. VIII vorgefehenen Källen entfcheibet der Caffationshof 
audy über bie Richtercompetenz, wenn ber Streit zroifchen mehren 
Appelihöfen befteht oder zwifchen mehren Gerichten erfter Inſtanz, die 
niht in einen und den naͤmlichen Appellationsbezirt gehören. — 
Art. 77. Gegen Urtheile der Sriedensrichter in letzter Inſtanz findet 
Caffation nur ftatt wegen Incompetenz ober Weberfchreitung ber Amtes 
befugniffe; ebenfo gegen Entſcheidungen der Militairgerichte, mit ber 
weiteren Befchräntung, daß fie von einem Nihtmilitaie vorgebradht 
werden müffen. — Art. 78. Falls nad erfolgter Caffation. das 
zweite Urtheil über die Sache aus dem nämlichen Grunde wieder ans 
gefochten wird (d. h. wenn das zweite Bericht die naͤmlichen Entichels 


286 Caſſationshof. Gaſſel. 


dungsgruͤnde angenommen hat wie das erſte), ſo wird der Gegenſtand 
vor die drei vereinigten Sectionen bes Caſſationshofs gebracht. 
— Das nun erfolgende Urtheil ift als authentifche interpretation 
Geſetzes zu betradhten. — 

Als die Rhemlande von Frankreich losgeriſſen wurben, mußte 
man, da ſich bier natürlich nicht überall Caſſationshoͤfe von je 48 Rich⸗ 
tern bilden ließen, auf andere Art Vorſorge treffen. In Rheinbaiern 
(und ähnlich in den übrigen Mheinlanden) feste man bie Richterzahl 
des Caffationshofs auf 7 herab, und verwendete dazu je diejenigen Räthe 
des Appellhofs, welche zu dem angefochtenen Urtheile nicht mitgewirkt 
batten; fodann, wo biefe Zahl nicht ausreichte, zur Ergänzung, bie 
Praͤſidenten der Gerichte erfter Inſtanz. Da aber eine. Verweifung 
von einem Appellhof an den andern nicht möglich, Indem nur einer 
vorhanden ift, fo übertrug man nuh — ganz gegen das Werfen bed 
Inſtituts — dem fo componirten Caffationshofe zugleich die Entfcheis 
dung auf den Grund der Sade, indem man ihn nebenher zu 
einem Revifionshofe machte. Bon allen Seiten fpradh ſich der 
Wunſch nad) einer verbeffernden Abänderung aus. Da erfhien uns 
term 29. Juni 1832 eine önigliche Verordnung, melde die Bildung 
eines fechften Senates beim Oberappellationsgerichte zu München. ans 
ordnete, und diefem die Kunctionen eines Caſſations⸗ und Reviſions⸗ 
hofs für Mheinbaiern übertrug. Obgleich ſowohl die Geſetzlichkeit, ale 
aud) die Ausführbarkeit diefer Anordnung, namentlich durch den Kreis: 
Landrath, angegriffen. wurden, fo fanden desfallfige Beſchwerden doch 
bet der bairifchen Ständeverfammiung von 1834 Keinen Anklang. — 
Zuvor ſchon hatten die preußifche und die heffifhe Regierung die Cafe 
fationshöfe ihrer Nheinprovinzen nad) Berlin und Darmftadt verlegt. — 

G. Fr. Kolb. 

Caſſation der Staatsdiener, ſ. Staatédiener. 

Caſſel (Heſſen⸗Caſſel, Churfuͤrſtenthum Heſſen), liegt zwi⸗ 
ſchen 260 11’ His 280 13° oͤſtlicher Länge und 490 56’ bis 620 26’ 
noͤrdlicher Breite, bildet, von einigen Gebietstheilen abgeſehen, ein zu⸗ 
ſammenhaͤngendes Ganzes und grenzt gegen NW. an die preuß. Pro⸗ 
vinz Weſtphalen, gegen RD. an das Königreih Hannover, im D. an 
die preuß. Provinz Sachſen, an Sacfen: Weimar und Baiern, im 
SD. an Baiern, m SW. an das Großh. Heffen und an Frankfurt, 
im W. an das Großh. Heffen nnd an Walded. Die Provinz Schaums 
burg mwied von Dannover, Schaumburgskippe und Weitphalen, und 
der Kreis Schmalkalden vom herzogl. fächfifhen und preußiſch⸗ fächft- 
fhen Gebiete umfchloffen. Das noch nicht genau ausgemefjene Land 
enthält einen Zlächenraum von: ungefähr 207) M., worauf gegen 
600,000 (nad) der Matrikel des deutſchen Bundes 567,868) Seelen 
wohnen, und ift größtentheils bergig unb waldig (gegen 3 des gan= 
sm Gebietes nehmen bie Waldungen ein) und im Ganzen nicht 
fehe fruchtbar, wenn man einzelne Gegenden ausnimmt; das Klima 
vaub und unfeeunblid, im: Hanauiſchen und Henburgifchen: jedoch an» 


Caſſel 287 


genehm. Die vornehmſten Gebirge ſind der Thuͤringer Wald mit dem 
Inſelsberge im Schmalkaldiſchen; bie Werragebirge, deſſen hoͤchſter 
Yunkt, der Meißner, wegen feiner Baſaltklippen und trichterfoͤrmi⸗ 
gen Vertiefungen merkmürbig ift; bie Mhöngebirge, bie Fuldagebirge 
mit ihren Verzweigungen, namentlih dem Habichtswald und beme 
Reinhardswald, die banauifhen Berge, welche mit der Rhoͤn, bem 
Speffart und dem DVogelöberge zufammenhängen, und im Schaum 
burgifhen der Süntel, Deiſter und Büdeberg, Vorkuppen bes 
Harzes. Zu feinen vorzüglichen Fluͤſſen gehören die Fulda, bie 
Werra, die Wefer, der Main, bie Lahn, bie Edder, bie 
Diemel, die Shwalm und die Wetter. Das Thierreich liefert 
Dferde, Rindvieh, Schanfe, Schweine, Ziegen, Wild, Federvieh, Fi⸗ 
fhe und Bienen; das Pflanzenreih Getreide aller Art, ffeln, 
Hülfenfrüchte, Gemüfe, Rüben, Obft, Tabal, Flachs, We Rübs 
faamen und Holz, und das Mineralreich Salz, Alaun, Vitriol, 
Goldſand (aus der Edder), Eifen, Blei, Kupfer, Kobalt, Queckſilber, 
Same, Thon, Walkererde, Marmor, Kalt, Gyp6 und Sandfteine 
Die Landwirthfchaft, obwohl der vorzüglichfte Erwerbszweig, bedarf 
noch fehe der Verbefferung, wofuͤr jedoch viel gefchieht; bas Fabrik⸗ 
und Manufacturwefen vervolllommnet fi) immer mehr, und ebenfe 
dee Handel. Für die früher fehr vernadhläffigte Volkserziehung ift zwar 
Manches, aber noch keineswegs dem Bedürfniffe Genuͤgendes gefchehen, 

Churheſſen gehört zum beutfhen Bunde, in welchem es bie achte 
Stelle einnimmt, und feiner DVerfaffung nad zu ben .conflitutionelten 
Staaten. Die Lage in der Mitte zwifchen Nord s und Guͤddeuntſchland, 
wornach es theilweife jenem und theilweife biefem angehört und gleiche 
fam die Verbindung zwifchen beiden vermittelt und bewirkt, gab Dies 
fem, im Verhättniffe zu den übrigen deutfchen der mittleren Größe ans 
gehörigen Staaten von jeher einen größern Einfluß auf die inneren deut⸗ 
fhen Angelegenheiten, als man von feinem Gebietsumfange und feiner 
Innern Macht erwarten burfte, wenn gleich nicht zu leugnen iſt, daß 
die ausgezeichnete Perfönlichkeit einzelner Fürften, deren ſich Churheſſen 
sühmen kann, fowie die Charafterfeftigkeit, bie Zapferkeit, der Bieder⸗ 
finn und bie unbeſtechliche Treue und Liebe des Volkes zu feinen Kürs 
ſten hierzu nicht wenig beittugen. So trug, um nur die widhtigften 
Zhatfachen hiee namhaft zu machen, Heffen zum Gelingen ber kirche 
lichen Reformation wwefentlich bei, und mar fen Beiſpiel in neuefler 
Beit für den Sieg des conflitutionellen Spftemes in Deutfchland, forsie 
fein Anflug an den preußifhen Mauth⸗ und Bollverband für die alle 
mälig erfolgende gänzlihe Aufhebung ber Zölle und Mauthen im In⸗ 
nern bes beutfchen Bundes völlig entfcheidend, Churheſſens neuefte 
Verfaſſungsurkunde diente überdies ben meiften nad) ihr entflandenen 
Sonftitutionen in wefentlihen Punkten als Vorbild und Mufter. Aus 
diefen Ruͤckſichten verdient die gebrängte Darftelung ber politifchen Ger 
ſtaltung Churheſſens, der Entftehung und bes mwefentlihen Inhalte ſei⸗ 
ner neueften Derfaffung aud in dieſem Leriton eine Stelle. 






.288 Caſſel. 


I. Ueberſicht der geſchichtlichen Hauptmomente. Die 
Heſſen bewohnten urſpruͤnglich unter dem Namen der Chatten 
den nordweſtlichen Landſtrich von Deutſchland, welcher in wenig un⸗ 
terbrochenen waldigen Huͤgeln und Bergen von der Werxa und Weſer 
bis beinahe zum Rheinſtrome, und von den Rhoͤn⸗ und Vogelsbergen 
bis zu den weſtphaͤliſchen Niederungen ſich erſtreckte. Tacitus') ſchil⸗ 
dert ſie alſo: „Haͤrter ſind dieſes Stammes Leiber, gedrungen die Glie⸗ 
der, drohend der Blick und groͤßer die Lebhaftigkeit des Geiſtes. Fuͤr 
Germanen viel Verſtand und Ruͤhrigkeit, daß fie Auserkorene ſich vor⸗ 
ſetzen, den Vorgeſetzten gehorchen, Schlachtordnungen verſtehen, Um⸗ 
ſtaͤnde benutzen, wilden Angriff verſchieben, Tagesordnungen feſtſetzen, 
Nachts ſich verſchanzen, Gluͤck unter Zweifelhaftes, Tapferkeit als Ge⸗ 
wiſſ nen; und was hoͤchſt ſelten und nur roͤmiſcher Kriegszucht 
gegebeNft, daß fie mehr auf den Fuͤhrer als das Heer ſich verlaſſen ꝛc.“ 
In den erſten zwei Jahthunderten "kämpften auch fie in den Reihen 
des großen Suevenbundes gegen die Römer. Seit der Mitte des 3. 
Sahrhunderts bis zum Ende des 5. verlor fih ihr Name in dem Voͤl⸗ 
terbunde der Franken; ihr Wohnfig mar während bdiefer Zeit am Main 
und an der Saale bie Weſtphalen herab, und vom Harze her an ben bei⸗ 
den Ufern des Rheinſtroms. Ihr Land gehörte zu Oſtfranken. Wans 
fried (Bonifacius) führte auch hier (718) das Chriftenthum ein. 
Seit 724 erfcheinen ‚fie zum erſten Male in der Gefchichte wieder uns 
ter dem verwandten Namen dee Heſſen, welche Karl der Große in 
feinem Kampfe gegen die Sachfen über die Gebühr anftrengte. Bis 
zum 10. Jahrhundert fland der Heffengau (Ober: und Niebers 
Loͤhn-Gau) unter rheinfränkifhen Grafen und Herzogen; feit 1025 
aber unter den Landgrafen von Thüringen, indem ein Sproffe bes 
karolingiſchen Geſchlechts, Ludwig der Bärtige, durch Gunft und 
Verdienſt, Heirath und Kauf Graf in Thüringen und Heffen wurde. 
Das Schloß Wartburg mard zum Stammfige biefer Grafen, unter 
denen fich befonders Hermann I. (1190-1216) als Foͤrderer der 
geiftigen Gultur ‚hervorthat. Die heilige Elifabeth, aus Stephan 
des Heiligen Koͤnigsſtamme, ward, als Gemahlin von Hermann’e 
Sohne, Ludwig VI. (feit Errichtung der Landgraffchaft IV.), die Mutter 
. der Ahnfrau des nody jest regierenden heffifhen Regentenhaufes, © os 
phia, Herzogin von Brabant, indem deren Sohn, Heinrich das 
Kind, durch Vergleich (1263) das nun von Thüringen ‘getrennte 
Heffen, fpäter (1292) die Reihsfürftenwürde” mit dem Titel 
eines Landgrafen und Sig und Stimme am Reichstage erhielt. Er 
tbeilte Heffen unter feine Söhne Dtto und Johann. Der Legtere 
ftarb jedodh ohne Erben (1311), wodurch das Land wieder unter Otto 
vereinigt murde, defien Sohn Heinrich II. (1328—1376) Tref⸗ 
furt, Wilhelmsthal, Spangenberg, Heffenftein, ein Bier 
tel der Herrſchaft Itter, die Hälfte der Herrſchaft Schmalkalden 


— 


* Germ. © 30 sq. 





Caſſel. 289 


und andere Güter an Hefien brachte. Ludwig I. erwarb bie Graf: 
fhaften Ziegen hain und Nidda und bie Lehnsherrlichkeit über Wal⸗ 
de, und fein Sohn Heinrich III. (IV.), an den Oberheffen kam, waͤh⸗ 
vend deſſen Bruder Ludwig II. Miederheffen erhielt, durch Heirath 
Catzenell!nbogen, besglihen Ballenberg und Dies. "Schon 
feit dem 14. Jahrhundert hatten die Landgrafen vier Erbhofämter, aͤhn⸗ 
ih den, 4 meltlidhen Erzämtern bes Meiches, das Erbmarſchall⸗ 
amt(v. Riebefel zu Eiſenbach), das Erblämmereramt (v. Berlepſch), 
das Erbſchenkenamt (Schent zu Schweinderg) und das Erb 
tüchenmeifteramt (v. Wildungen, bann dv. Hertingéhauſen, enb⸗ 
lich v. Dörnberg). a u et 
Philipp dee Großmuͤthige (1609, felbftftändig 1518—1667), 
der ausgezeichnetfte Fürft in der ganzen Reihe feiner Vorfahren, ber 
eifrige Foͤrderer der Reformation, ftiftete (1527) .aus den. aufgehobenen 
Kıöftern und. ihren Gütern die Univerfitätt Marburg nebfl einem 
Paͤdagogium dafelbft; errichtete das Kiofter Rotenburg für ausges 
diente Geiftliche; beftimmte für Gebrechliche und Geiſteskranke die Kloͤſter 
Haina, Merrhbaufen, Gronau und Hofheim, und verwans 
delte die Nonnenkloͤſte Kauffungen und Wetter in abdelige Sitif- 
ter. In Folge feines Teftaments von 1562 wurde aber Heſſen unter 
feine vier Söhne geteilt; Wilhelm IV.. (dee Weife) erhielt bie 
Hälfte mit Caffel, Ludwig IV. (der Teſtator) ein Viertheil mit 
Marburg, Philipp IE ein Achttheil mit Rheinfels und Georg J. 
(dee Fromme) ein Adıttheil mit Darmflabt. Gluͤckücherweiſe vers 
farben Ludwig und Philipp ohne Erben und -fo verblieben nur 
die Linien Heffen:Caffel und Heffen: Darmflabt. | 


Sn Heffen:Caffel regierten feit Wilhelm bem Weifen 
(1567— 1592), dem Zreunde der Wiſſenſchaften, befonders der Sterns 
‚ Eunde, und dem Feinde des Lurus: Moris der Gelehrte (1592 bie 
1627), Wilhelm V. der Beftändige (1627—37), deſſen Gemah⸗ 
lin Amalia Elifabeth mit feltenem Geifte und Muthe als. Vor⸗ 
münbderin ihres Sohnes Wilhelms VI. die Zügel der Regierung führte. 
Durch den meitphälifchen Frieden kamen während der Herrſchaft Wil⸗ 
heims VI. (des Gerechten, ft. 1663) die Abtei Hersfeld als Fuͤrſten⸗ 
thum, die Graffhaft Schaumburg mit ber 1621 geflifteten Univers 
fität Rinteln, die 1809 mit Marburg vereinigt wurde, und Die 
Graffhaft Hanau vorläufig. (definitiv erft 1736) an Heſſen⸗Caſ⸗ 
fet. Während diefer Zeit entſtanden auch die apanagirten Linien Hefs 
fens=Rothenburg (1648, ausgeſtorben 1834) für des Landgrafen 
Moritz Sohn, Ernft, und Heſſen⸗Philippéthal (1652) für 
den dritten Sohn Wilhelms VL, Philipp, wovon 1761 nod 
eine Nebenlinie zu Barchfeld entfprang. Wilhelms VII. (geb. 1661 
geft. 1670) kurze Regierung verdient kaum erwähnt zu werben; da⸗ 
gegen _herrfchte deffen Bruder Karl gegen 60 Jahre lang (1670 bis 
1730). Er brachte durch die Aufnahme der vertriebenen franzoͤſiſchen 

Staats sErriton, IL, 19 


200 Galle}. 


. Neformirten, buch herrliche Bau⸗ und Kunſtdenkmale, wie Karls: 
berg (jest Wilhelmshoööhe) mit bem Herkules, Karlshafenx. 
und dur Förderung ber Wiſſenſchaften und Künfte neues Leben und 
feinere Gultur in feine Länder. Friedrich l. (1730— 1751) noch bei 
Lebzeiten feines Vaters als Gemahl der Königin Ulrika Cleonorg, 
Tochter Carls XIl., auf den fchmedifchen Thron berufen, ließ feine bef- 
fifchen Erblande durch feinen Bruder Wilhelm VII. regieren, ber nad) 
deſſen Tode die Herrſchaft als eigentlicher Landgraf bie 1760 fort⸗ 
fegte. Sein Sohn Sriedrid I. (1760— 1785) trat, unbeſchadet 
bes Glaubensfreiheit feiner Unterthanen und ber Religion feiner Nach⸗ 
folger, zur kathol. Kirche über, förderte Wiffenfchaft und Kunft, erließ 
feinen durch den fiebenjährigen Krieg herabgefommenen Unterthanen 
die Hälfte der Contribution, fandte aber dagegen Heffens Juͤnglinge 
als englifhe Hälfstruppen, wofuͤr er den Miethfolb bezog, ma 
Amerifa, um gegen die aufleimende freiheit zu Länipfen. Erſt 
nah 7 Jahren Tehrten fie in ihre Heimath zuräd. Die Regie: 
rung Wilhelms IX. (1785— 1821) fällt m die Zeit der gro⸗ 
gen europäifchen Ereigniffe, in Folge welcher Heſſen⸗Caſſel (1809) 
die. Hoheit über die heffenscheinfelfifhen Befißungen auf 
dem linken Rheinufer verlor, dagegen aber nebft dee Churmürbe 
die mainziſchen Aemter Amoͤneburg, Friglar, Naumburg und - 
Meuftadt, bie Stadt Belnhaufen und das Reichsdorf Holzbau: 
fen erhielt; fpäter (1806) von den Franzoſen occupirt und nad) dem 
tilfiter Sieden (1807) ein Theil des neugefchaffenen Königreichs Werft 
halfen mwurbe, durch deſſen Auflöfung (1813) auch ber Landgraf 
ithelm (als Churfürft Wilhelm 1.) wieder zum Befitze feiner Erb⸗ 
länder gelangte. In Folge dee neuern Zerritorials-Ausgleihungen (1816) 
‚tent Churheſſen ab: Eagenellnbogen, bie Herrfhaft Pleſſe, bie 
Aemter Neuengleihen, Udhte, Auburg, Sreudenberg, 
Srauenfee, Bölkershaufen, Vach, Babenhaufen un Rod 
beim, bie Propfti Goͤllingen, einen Theil der Vogtei Kreuz. 
berg und bes Amted Friedewald, und feinen Antheil an Vilbel, 
Münzenberg, Affenbeim und Burggrafenrobe. Dafür er 
hielt e8 den größten Theil des nachher zum Großherzogthume erhobenen 
Fuͤrſtenthums Fulda, einige Theile: des aufgelöften Großherzogthums 
Frankfurt, die Hälfte des mediatiſirten Fuͤrſtenthumes Sfenburg mit 
ben Gerichten Diebach, Langenfelbold, Meerholz, Lieblos, 
Waͤchters bach, Spielberg und Reichenbach, fowie einige auf 
dem rachten Mainufer gelegene Dörfer des Amtes Steinheim, und 
bie Hälfte von Praunheim. Ihm folgte als Churfürfs fein Sohn 
Wilhelm II. (27. Kebr. 1821), welcher feinen Sohn, den Churprins 
zen Friedrich Wilhelm, (30: Septhr. 1831) zum Mitregenten 
und für die. Zeit feiner Abweſenheit zung alleinigen Herrſcher erhob, 
Es hat den Anfchein, daß ber Churfuͤrſt nicht wieder in die Reſi⸗ 
kennt Caſſel zuruͤckkehren und an der Regierung Antheil nehmen 
me 


Caſſel. 291 


IL Gedrängte Ueberfiht ber Werfaffangsgefhichte ). 


1) Aus denfelben Urſachen und in derſelden Weiſe, tote In ben 
meiften deutfchen Ländern, entftand auch in Heffen eine landſtaͤndtſch⸗ 
Verfaſſung. Schon im 13. Jahrhundert zeigten fid’ die heſſiſchen 
Zandftände bei allen Öffentlichen Angelegenheiten von Wichtigkeit mit 
entſcheidendem Einfluffe thätig, Indem auch in Heſſen, wie andertof 
in Deutſchland, die Zürften ohne die Landftände nichts, mit ihre 
Mitwirkung dagegen Alles vermochten. Anfangs hatten Heffen s Caffa 
und Heffen » Darmftadt, Ihrer Trennung ungeachtet, gemeinfchaftlidhe 
Landtage, die bald im Heffen = Caffelifchen, bald im Heffert - Darmftäbs 
tiſchen gehalten wurden, feit 1628 jedoch außer Gebraud kamen. In 
den heſſen⸗ caſſeliſchen Landen insbefondere, unser denen Schaumr 
burg eine eigene, Hanau dagegen gar Feine — Brtaffung 
hatte, gehörten zu den Landfländen bie Prälaten (der Landcommen⸗ 
hu der Ordensballei Heffen in Marburg, bie Stifter Kauffungek 
und Wetter, die Sammthofpitate Haine, Merrhaufen, Hofr 
beim und Gronau und die Univerfität Marburg), bie Rittets 
Thaft (nach den fogenannten Strombezirken Fulda, Diemel, 
Schwalm, Werra und Lahn) und die Städte nah Denfetbeh 
Strombezirten (Schweinsberg, Karlshafen und Großaime, 
vobe hatten Feine Landſtandſchaft, wohl aber St. Boat, obdwodl 
zu keinem Strombezirke gehörte). Es gab große und engere" Lartde 
tage. Zu jenen erfchlenen ſaͤmmtliche Prälaten (Unter dieſen werfge 
ſtens jwei Deputirte der Univerfität), fämmtlide Sieber der Ülitter{dhaft 
und von jeder landſtandſchaftsberechtigten Stadt ein oder mehrere DE 
putirte; zu dieſen bagegen im der Regel, außer dem Lanbcommenthüt, 
nur ein Ddervorſteher der abeligen Stifter, ein Deputicter der Univers 
firät und ein ritterſchaftlichet und ein landſchaftlicher (ſtaͤdtiſcher) Depus 
tirter von jedem Strom nad) freier Wahl; nur von dem Diemels, 
Sechwaim⸗ und Lahnfteom mußte ſtets der Bürgermeifter (von Sal 
Homberg und Marburg) erfcheinen. Proteſtantiſches Glaubensbekennt 
niß mar feit 1755 Bedingung’ der Tandftandfhaft, nur der Landcom, 
wenthur Eonnte auch katholiſch fen. Die Landftände übten zwar IH 
allen Angelegenheiten wefentlichen Einfluß aus, als unbeftrittenes Mei 
fand ihnen aber nur die Verwilllgung der Steuern zu, durch der 
Verweigerung fie jedoch auch andere Wuͤnſche (Defiderien), nartentyi 
auch hinſichtũch der —ã durchzufegen' mußten, obwohl ihr 
an Diefer Fein eigentlicher Antheil rechtlich zuftand, indem ihre Zuſtigu 
mung bei feinem Gefege zut Güittigktie eines foldhen erfordert; wo 

Die landſtaͤndiſche Verfaſſung der Graffhaft Schaumburg 
ruhte ayf denfelben DBeftandtheilen (aus ben Prälgten [die Stifter 
Möttendbed, Eſchbeck und Odernkichen] echtem vitterfchaftlis 


PR Pfeiffer, Geld. der ee ran 


292 Caſſel. 


chen Deputirten und den Deputirten der Staͤdte Rinteln, Olden⸗ 
dorf, Obernkirchen, Sachſenhagen und Kodenburg) und 
auf denfelben. Rechten, wie die heffen=caffelifhe. Die caffelifchen 
Landſtaͤnde ſowohl als. die fhaumburgifchen hatten einen eigenen Con⸗ 
fulenten,, ber bei biefen Land = Spndicus hieß. Die Berufung, welche 
an keine beflimmte Zeitfrift gebunden war, ſowie die Vertagung, Auf: 
fung oder Verabſchiedung geſchah durch den Landesheren. Die caf- 
ſeliſchen Stände bildeten zwei (die Ritter » und Stäbte-Curie), bezies 
hungsweiſe drei Gurten (die Praͤlaten⸗, Ritter: und Städte-Eurie), des 
ten Präfident der Erbmarſchall war; es wurden jedoch aud) Dienars 
figungen gehalten °). 

2) Diefe Tandftändifche Verfaſſung, deren Wirkfamfeit aber mit 
bein Steigen ber Iandesherrlichen Macht immer mehr abnahm, beftand 
bis 1806, wo Heſſen-Caſſel ein Theil des Königreichs Weſtphalen 
wurde und an der Verfaffung dieſes Staats (vom 15. Nov. 1807) 
Antheit hatft ). Der Churfürft Wilherm 1. ſtellte aber, vermöge 
der bei dem Beitritte W der großen Allianz übernommenen Verpflich⸗ 
tung (Acceſſ. Vertr. 13. Dechr. 1813. Geh. Art. 3.), bald nach 
feiner Ruͤckkehr bie alte Verfaſſung wieder her und räumte zugleich ben 
Bauern das Recht ein, zu dem auf den 1. März 1815 berufenen 
Landtage fünf Deputirte nach den fünf Strömen abzuordnen “). Die: 
fee Landtag wurde auch wirklich am 1. Maͤrz 1815 eröffnet, indem 
zwei Deputirte von ben’ Prälaten, fünf von ber Ritterfhaft, acht von 
ben Städten und fünf von dem Bauernfltande zu demſelben erfchienen 
waren. Allein Mißhelligkeiten von mancherlei Art, namentlich die ver: 
langte vollftändige Wiederherſtellung der alten Standesvorrechte, insbe⸗ 
ſondere der Patrimonialgerichtsbarkeit, welche die weftphälifche Verfaf: 
fung mit ben Feudalrechten aufgehoben hatte und der Churfuͤrſt, trog 

der Nichtanerkennung der weftphälifchen Regierung, aufgehoben‘ ließ, 
bie verlangte Feftftellung des Staatsvermoͤgens, zu welhem man aud) 

die englifhen Subfidiengelder reclamirte, die ohne Mitwirkung der alten 
Stände erfolgte Berufung des Bauernſtandes, die begehrte „Feſtſetzung 
einer der Vernunft und den Erfahrungen der Zeit entfprechenden Lan⸗ 
besconftitution” ꝛc. führten bald bie Vertagung des Landtages (2. Juli 
1815) herbei. Diefer verfammelte ſich zwar wieder (15. Febr. 1816), 
es kam aber auch jegt Fein Reſultat zu Stande, indem diefelben Miß⸗ 
helligkeiten fortbauerten, welche auch die Vereinbarung fiber den im 
Kebruar vorgelegten Entwurf einer Berfaffungsurkunde +) zwiſchen 
ber Regierung und den Ständen verhinderten und endlich die Auflö- 
fung der Staͤndeverſammlung zur Folge hatten (10, Mai 1816) 17). 
6.8. ebberhofe, kleine Ediriften, I. Bb. (Marburg 1787.) 
**) Sie flieht in PdLig europ. Werfaffungen (2te Aufl.) 1. Bd. &. 38 fg. 
0) Berorbn. vom 27. December 181%, in Polis a. a. D. ©. 553 8 
+ In Polit a. a. D. ©. 559. 
++) Dan fehe über diefen Bandtag Pfeiffer a. a. ©. &. 205 fa. 


Caſſel. 293 


Es blieb demnach bei der alten, reſtaurirten Verfaffung; nur einige 
Hauptſaͤtze des beruͤhrten Entwurfes wurden in „das Haus⸗ und 
Staatsgeſetz“ vom 4. März 18177) aufgenommen. Der Regierungs⸗ 
antritt des Churfuͤrſten Wilhelm II. (27. Febr. 1821) erregte zwar 
neue Hoffnung auf Erfüllung des 13. Art. der; deutſchen Bundesacte; 
allein das am 29. Juni 1821 erlaffene Organiſationsedict ), wels- 
ches die Trennunz ber Rechtspflege von ber Verwaltung anorbnete, 
die Unabhängigkeit der. erftern ficher flellte, dagegen die letztere über die 
Gebühr erweiterte, benahm alle Ausſicht auf eine zeitgemäße Verfaſ⸗ 
fung. Altes politifhe Intereſſe fchien nun zu erloͤſchen unter dem 
Drude der vielarmigen Verwaltung. Selbft. die alte: ſtaͤndiſche Ver⸗ 
faffung betrachtete man als aufgehoben, indem. wenigftene die Präfaten: 
Curie in Minifterial s Referipten eine ehemalige , genannt wurde. 
Zwar füßen nod zwei Deputicte ber Stände bei ‚ver Landesſchulden⸗ 
Zilgungscommiflion, um für Die richtige. Verwendung ber Tilgungs⸗ 
fonds zu wachen ; allein ihre Einfprache blieb. ohne Berüdfichtigung und 
Erfolg, indem man über diefe Fonds, jener Einfprache ungeachtet, will⸗ 
kürlich verfügte. Ein om 0. Juni 1823..in, Caffel auf die Poft ges 
gebener Drohbrief, worin der Churfürft und feine Favoritin, die Graͤ⸗ 
fin Reihenbad, von einer in runder Zahl. angegebenen Geſellſchaft 
junger Leute mit: dem Tode bebroht wurden, wenn jener nicht binnen 
Sahresfrift dem Lande eine dem 13. Art. dee d. B. A. entfprechende 
Verfaffung geben, den Einfluß der ꝛc. Reichenbach auf die Regierung 
befeitigen und das Benehmen gegen feine nächfte Umgebung ändern. 
werde, hatte für das Land die traurigſten Folgen. Die einer Spe⸗ 
cialcommiffion übertragene Unterſuchung hierüber verbreitete, gleich einem 
drohenden Gewitter, Zucht und Schreden über den ganzen Staat; 
bie polizeilihen Maßregeln mwurben in einer bis dahin unbelannten 
Weife vermehrt und gefchärft,. der Abfotutiemus griff polypenartig immer 
mehr um fich und laftete ſchwer auf dem Volle, das zwar mit ſtum⸗ 
mer Duldſamkeit das Unabwendbare aͤußerlich zu ertragen fchien, befto 
mehr aber fih im Stillen nach einer Verbeſſerung feiner Lage fehnte. 
Das Jahr 1830, deffen Julius, einem Erdbeben gleich, alle politifchen 
Einrichtungen Europa’s erſchuͤtterte und mit Einfturz bedrohte, brachte 
endlich diefe lange verhaltene Sehnfucht zum Ausbruche und führte 
dadurch zur Umgeflaltung dee politifchen Einrichtungen. 

8) Die durdy den Küfermeifter Herbold am 2. Sept. veran- 
lagte Berfammlung ber Zünfte bezwedite zwar zunaͤchſt nur bie Abhülfe 
bee Beſchwerden der Handwerker, fie wurde aber bald überzeugt, daß 
bie Einberufung der Landflände diefe am ficherften herbeiführen wuͤrde. 
Es ward daher, nachdem bie ausgebrochenen Unruhen der niedern 
Volksclaſſe am 6. Sept. die Bewaffnung der Bürger veranlaßt hatte, 
in den folgenden Berfammlungen eine Adreffe in diefem Sinne be⸗ 


*) Sn Politz a. a. O. ©. 571. 
**) In Pilig a. a. O. ©. 573 fg. 


294 Eaſſel. 


ſchlofſen und vor ders Magiſtrate an dem für Churheſſen denkwuͤrdl⸗ 
gen 15. Sept. dem Churfuͤrſten, ber vor drei Tagen vom Karlsbade 
zuruͤckgekehrt war, überreicht. Die Bitte fanb Gehör. Eine Verord⸗ 
nung vom 19. Sept. °) berief die Landſtaͤnde auf den 18. October 
nady Caffel. Der am biefem Tage eröffneten: Werfammlung ber Abges 
orbneten ber altheffifhen Landſtaͤnde, welche bie Deputirten bee 
ſchaumburgiſchen Stände, ſowie jene von ben Provinzen Hanau 
und Fulda in ihre Mitte aufnahm, wurde ein Entwurf eiwer Berfaſ⸗ 
fingsurtunde vom 7. Detob. *) zur Berathung und Annahme vors 
gelegt und zu dem Ende ein landſtaͤndiſcher Ausſchuß von 7 Mitglie⸗ 
dern gewählt, welchet in wenig Wochen einen völlig umgearbeiteten, 
fehe erweiterten Gntwurf. vor bie Plenarverfammlung brachte ). 
Die gemeinſchaftlich mit den landesherrlichen Randtagscommiffarien ge⸗ 
pflogene Dioeuſſion, die nach keiner beſtimmten Geſchaͤftsordnumg ers 
folgte, führte mehrere weſentliche Veraͤnderungen dieſes Entwurfes her⸗ 
bei, von denen viele dem Geiſte bes Reptaͤſentatwſyſtems wicht entſpre⸗ 
chend waren. Das Verfaſſungswerk war gegen das Ende des Decein- 
ber vollendet. Die am 5b. Januar 1831 unterzeichnete Werfaffungee 
urkunde wurde am 9. defieiben Monats ven ben Miniflern und 
Landftänden feierlich befhworen. Die am 10. Januar erfolgte Zuruͤck⸗ 
kunft der Graͤfin Reichen bach veranlaßte jedoch neue Unruhen, weis 
he als bie Urſache ber nachher angeordneten Mitregentſchaft zu bes 
tsachten find. Die Landftände blieben noch bi6 zum 9. Maͤrz verfams 
melt und bearbeiteten waͤhrend diefer Bussen Zeit noch das Wahlgeſetz, 
die landſtaͤndiſche Geſchaͤftsordnung, bie Geſete über ben Baus» und 
den Staatsſchatz, ſowie über mehrere indirerte Abgaben, das Staats⸗ 
dlenfigefetz und den Landtagsabſchied. Die Geſchichte wird kaum einen 
Lundttig aufweiſen koͤnnen, welcher in einem Zeitraume von 6Mona⸗ 
tm unter fo ſtuͤrmiſchen Verhaͤltniſſen, denen die Staͤndeverſammlung 
geich Anfangs mit einem fogerrannten Martialgefege (22. Detob. 1830). 
zu begegnen fuchte, mehr geleiftet nnd eine ruhigere und umfichtsvol⸗ 
lose Haltung beobachtet hätte, als biefer churheſſiſche. 


nl. Charaktet und Hauptbeſtimmungen ber Verfaf⸗ 
fungsurkunde. 


Die churheffiſcha Verſaffungeuckunde *) beruht größtentheils auf 
gefchichtlichen Grundlagen, indem fie die alten Einrichtungen ben An» 





* In Polit a. a. D. ©. 608 Re. 
”) In Yölis aa. D. ©. 607 fy 
“r) M. ſ. Jorban, Über De Geundfäge, von welchen bei ber Abfaffang 
der churhefſ. Berf. Urk ' audgegamaen. in Poͤlit Jahrb. 
Pr 35.1. ©. Er ‚nme d Beil un 
see) In Politz, bie europ. Gonftit. I. Be. ©, 613 fg, — Pr. Mur: 
hard, die hurheff. Verf. Urt. erläutert unb beleuchtet nad) Maßgabe ihrer eins 
zeinen Paragraphen. IL. Abtheil. Caſſel, 1898 u. 18%. 8. 


Gaffel. 295 


forbernngen bee neuern Zeit, oder, wenn man will, biefe jenen anzu- 
paffen, das Alte und Neue in Ein Ganzes zu verbinden fucht. Diefe, 
meiſt unnadtürliche, Verbindung verändert aber oft blos den Stand⸗ 
punkt, weldyen bie - beiden Eleinente, das Alte und Neue, in ihrem 
Wechſelkampfe gegeneinander einnahmen, ohme eine innere durchgreifende 
Ausföhnung und fo eine wahrhaft organifche Verbindung zwiſchen ihs 
ten zu bewirken. Die Folge hiervon iſt, daß ber alte Kampf auch in 
diefer beränderten Stellung, und zwar oft heftiger, als vorher, fort 
dauert; man hat ja nur die Form, aber nicht auch die Sache ums 
gefaltet; nur Waffen und Ruͤſtung umgewandelt, aber nicht die ſtrei⸗ 
tenden heile ausgeföhnt. Wie die meiften deutſchen Berfaffungen, fo 
leidet auch die hucheffifche an diefem Gebrechen, welches völlig zu vers 
sheiden nad den damaligen DVerhältniffen unmdglih war. Es mag 
Vielleicht noch eine geraume Zeit vergehen, ehe man zu der Weberzeus 
gung gelangt, daß die entgegengefegten Elemente bes politifchen Le⸗ 
bene fi durch keine außere Form harmoniſch verbinden laffen, 
und jede Bemühung diefee Art vergeblich ſei; wiewohl erſt mit biefer 
Ueberzeugung die Möglichkeit einer wahrhaft heilſamen, ale Elemente 
des politifchen Lebens organifch: durchdringenden Verfaffung gegeben if. 
Wenn daher auch die churheſſiſche Verfaffung unleugbar dem Repraͤ⸗ 
ſentativſyſteme huldigt, und fie dieſes in vielen Punkten fchärfer und 
confequenter duchführt, als die meiften übrigen neueren Conſtitutionen, 
fd hat fie fich gleichwohl ebenfowenig, wie diefe, von dem anticonſti⸗ 
tutionellen Elemente loszuwinden vermocht, welches vielmebr die ganze 
Verfaſſung durchdringt und ſich allenthalben Eettenartig an das Con⸗ 
flitutionelle anſchließt, dieſem Die Kraft zur freien und felbftftändigen 
Fortbildung entziehend. Man machte bei der Diecuſſton darauf auf⸗ 
merkſam, allein ohne Erfolg, da bei derſelben eben auch das anticons 
„flitutionelle Element mit großer Gewandtheit thätig war. Go bilde, 
Um nur Einiges zum Belege anzuführen, den Sclußftein ber ganzen 
Derfaffung das Recht der Minifteranklage ; was läßt ſich aber von die⸗ 
fir erwarten, da die Beſetzung des über fie entfcheibenden Oberapel- 
lationsgerichts von der Staatsregierung allein gefchieht und die Glieder 
deſſelben Überdies verſetzt werden Lönnen und in der Refidenz alten Künften 
und Gefahren dee Hofcabale ausgefegt find? Ebenfo ſtehen der Staate- 
regierung Mittel genug zu Gebote, um Intelligenz und Energie aus der 
Kammer zu entfernen oder für fich zu gewinnen, fe wie durchgreifenden 
Refotinen die Standess und Bezirksſtimmen entgegentreten koͤnnen. 
Aber gerabe diefe Halbheit, in welcher das Mepräfentativfoftem in den 
meiften Verfaſſungsurkunden erfcheint, ift es, welche, gepaart mit ber 
Indolenz der Völker im Betriebe der oͤffentlichen Angelegenheiten, das 
Syſtem felbft verdächtigt und es den Gegnern beffelben möglich gemacht 
Bat, die Repräfentativform für rine Taͤuſchung auszugeben, und felbft Coms 
ſtitutionelle mit dieſer Anficht zu betuͤcken, reährend die eigentliche Taͤuſchung 
vlelmehr darin beftcht, daß man in dem Worte die Sache zu befisen wähnt, 
und die Früchte, welche nur diefe gewähren kann, vor jenem erwartet. 


296 Gaflel. 


Das bisher Gefagte fol nur zu dem Beweiſe dienen, daß bie Les 
beserhebungen, welche der chucheffifhen Verfaſſungsurkunde fogleich nach 
iprem Erſcheinen in fo großem Maße zu Theil geworden find, nicht 
durchgängig das Reſultat der befonnenen und umfichtigen Prüfung ber 
felben waren. Sie bat große Vorzüge vor mandyer andern, aber auch 
ihre Mängel, die jenen faft das Glieichgewicht halten, und ift überhaupt 
weit hinter dem zurüd, was man unter einem volltommen durchgefuͤhr⸗ 
ten Repraͤſentativſyſteme zu verſtehen hat, welches aber überhaupt wicht 
in einer Urkunde einem Volle gegeben werden kann, fondern fih aus 
biefem feibft organifch entwideln muß. Gie beruht übrigens, nach 
der auddruͤcklichen Erklärung des Churfürften in der Einleitung, auf einem 
Vertrage, und handelt im 11 Abfchnitten: 1) von dem Staatsgebiete, 
der Megterunasform, Regierungsnachfolge und Regentſchaft ($. 1—9.); 
2) von dem Landesfürften und den: Gliedern des Bürftenhaufes (6. 10 
- —18.); 3) von den allgemeinen Rechten und Pflichten dere Unterthanen 

. 19—41.); 4) von den Gemeinden und Bezirksraͤthen ($. 42—48.); 
) von den Etandesherren x. und ben ritterfchaftlichen Körperfchaften 
$. 49—50.); 6) von den Staatsdienem ($. 51—62.); 7) von ben 
andfländen ($. 68 — 105.); 8) von ben oberften Staatebehörden 
($. 106—111.); 9) von der Rechtöpflege ($. 112—131.); 10) von 
den Kirchen, ben Lnterrichtsanftalten und milden Stiftungen ($. 152 
—138.), und 11) von dem Staatshaushalte ($. 139—152.). Der zwölfed 
und legte Abſchnitt enthaͤlt allgemeine Beſtimmungen, denen noch vorüber 
gehende angefügt find. In biefer Reihenfolge wollen wir nun auch den 
Hauptinhalt derfelben angeben. 

1) Saͤnmiliche churheſſiſche Lande bilden ein unthellbares Ganzes 
umd einen Beſtandtheil des beutfchen Bundes. Die Veränderung des 
Gebietes durch Vertaufchung, Abtretung x. ift an die Zuflimmung bee 
Landftände gebunden. — Die Regierungsform iſt monarchiſch und es 
befteht dabei eine „Iandfländifhe Vrrfaſſung“. Unter bdiefer iſt 
jedoch die Mepräfentativverfaffung zu verfiehen, deren Geiſt 
und Wefen aber felbft von den Behoͤrden nicht immer richtig begriffen 
wird. „Die Regierung ift erblich vermöge leiblicher Abflammung aus 
ebenbürtigee Ehe nach der Linealfolge und dem Rechte der Erſtgeburt, 
mit Ausfchluß der Prinzeſſinnen.“ ($. 3.) Der Landesfürft (2) wird 
mit zuruͤckgelegtem 18ten Lebensjahre volljährig, und hat bei dem es 
gierungsantritte in einem den Lanbfländen auszuftelenden Meverfe zu 
geloben, die Verfaffung aufrecht zu erhalten und in Gemaͤßheit derſelben 
fo wie nad) den Gefegen zu regiecm. Die Regentſchaft während ber 
Minderjährigkeit des Nachfolgers gebührt der leiblihen Mutter beffelben, 
im VBerbinderungsfalle des Regenten aber der Gemahlin deffelben, wenn 
aus der gemeinfchaftlichen Ehe ein fucceffionsfähiger, noch minderjähriger 
Prinz vorhanden If, fonft dem nädften Agnaten. Der Regentfchaft 
fteht ein Rath von vier Mitgliedern zue Seite. Höchft ungenügend find 
die In diefem Abfchnitte noch vorkommenden Beſtimmungen über die Vers 
binderung einer Thronerledigung und über die zu ergreifenden Maßregeln, 


Caſſel. 297 


wenn ber zunaͤchſt zur Erbfolge berufene Primz regierungsunfaͤhig fein 
ſollte. 
2) Der Churfuͤrſt vereinigt alle Rechte der Staatsgewalt in ſich 
und uͤbt fie auf verfaffungemägige Weile aus. Seine Perfon ift heilig 
und unverleglih. Der Sig der Regierung kann nicht außer Landes vers 
legt werden. Ohne feine Einwilligung darf fih fein Glied des Haus 
fes vermählen oder in fremde Dienfte treten. Die künftig nöthigen 
Apanagen und Witthümer merden mit Zuftimmung ber Landflände 
fejigefegt und die Prinzeffinnen mit ben bisher üblichen Beträgen aus 
der Staatscaſſe ausgefteuert. 

3) Der Aufenthalt im Churftaate verpflichtet zur Beobachtung ber 
Geſetze und begründet dagegen ben gefeglihen Schug. Die Staates 
angehoͤrigkeit (Indigenat) wird durch Geburt oder Aufnahme erwor⸗ 
ben und befähigt allein zum Genuffe der Drtsbürgerrechte. Jeder 
Staatsangehörige muß im 18ten Lebensjahre den Huldigungseid (Treue 
dem Luandesfürften und dem Vaterlande, Beobachtung der Verfaſſung 
und Gehorfam den Gefegen) leiften und ift in der Regel auch Staat s⸗ 
bürger, d. h. zu äffentlihen Aemtern und zur Theilnahme an ber 
Volksvertretung befähigt, infofern er die hiezu erforderlichen Eigenfchaften 
befigt. Die Leibeigenfchaft ift und bleibt aufgehoben, bie von ihr her 
sührenden unftändigen Abgaben follen jedoch vertragsweife und ſubſidiair 
durch ein zu erlaffendes Geſetz geordnet werden. Alle Einwohner find 
vor den Gefegen einander gleih und zu gleichen Verbindlichkeiten vers 
pflichtet, infomeit die Verfaſſung oder fonft die Geſetze keine Ausnahme 
begründen (d. i. infoweit fie alfo nicht einander ungleih find !!). Ei⸗ 
nem Seden ftcht die Wahl des Berufes und die Benutzung der öffent 
lichen Lehr⸗ und Bildungsanftalten des Ins und Auslandes, felbft zum 
Zwede der Vorbereitung zum Staatsdienſte (wodurch die ehemalige Des 
ſchraͤnkung der Studirfreiheit aufgehoben worden) völlig frei. Die Ges 
burt fchließt von keinem Staatsamte aus und gewährt keinen Vorzug 
zu einem folhen. Die Verſchiedenheit des chriſtlichen Glaubensbekennt⸗ 
niffes hat auf die Staatsblirgerrechte keinen Einfluß. Das in Bezug. 
auf die Iſraeliten in der Verfaſſungsurkunde verfprochene und am 29. 
Dctober 1833 wirklich erlaffene Sefeg *) ſtellt diefeiben den Ghriften, 
wenn man von Neligionsverbältniffen abſieht, völlig gleich. Jedem Eins 
wohner fleht volllommene Freiheit des Gewiſſens und ber Religions» 
übung zu. (Deffenungeachtet wurde eine hiermit im Widerfpruche fies 
bende, fomit nad) dem $. 155. der Verfaſſungsurkunde aufgehobene 
Sabbarhsordnung neu eingefhärft.) Die Freiheit der Perfon und des 
Eigenthums unterliegt keiner andern Beſchraͤnkung, als welche das Recht 
(Rechtsſpruͤche) und die Geſetzze beftimmen. (Die Wichtigkeit und der 
Umfang diefer Norm wird jedoch nicht gebörig erkannt und angewendet.) 
Für die Ausübung des Staatsobereigenthumsrechtes und des Rechts der 
äußerften Noch **) fol das Mähere durch ein befonberes Geſetz beftimmt 

*) In A. Müllers Arch. Bd. V. S. 76 ff 


»2) S. Jordan, Verſuche über allg. Gt. R. ©. 254. und 424. über bie 
Begriffe dirfer Rechte, wie folche in die Berfaflung aufgenommen find. 


cderden, welches duch ſacdem (80. Deteber. 1834) erſchienen IR *): 
Zur Föcberung bes Aderbaues follen: a) die Jagd⸗, Waldeulturs und 
Keichdienfte nebſt Wudprets⸗ und Fiſchfuhren oder dergleichen Wraggänge 
zur Frohne auf Koſten bes Staates aufgehoben, b) die ungemeflenen 
Ftrohnen in gemeffene umgewandelt werben, und o) alle gemeſſenen Eh 
nen, fo wie alle Grundziaſen, JZehnten und übrigen gutsherrlchen Mas 
taralr und Gelbleiſtungen abloͤsbar fein. : Die zu Ddiefen Zwecken ver» 
fprodyenen Geſetze ») find beimits eeſchlenen. Diefe Beſtimmungen 
allem, beren wohlthaͤtige Folgen beats fültbar werden, fühnen mit vier 
len andern Mängeln der Verfaffungsurtunde aus. — Die abfchlägige 
Antwort auf Welchturrben im abntmiifitatisen Wege foll von ben Beböes 
den begtünder werden, and ber Rechtsweg Federn freiftehen, ber 
in feinen Rechten gekraͤnkt glaubt, voodurch alſo die Allgemeinheit 
der richterfichen Function anerkannt If. Das Petitionsrecht ift ſowohl 
einzelnen Unteethanen di® Geraeinden md Nörperfchaften eingeräumt. 
Handelb⸗ und Gewerbsprivilegien follen ohne landſtaͤndiſche Zuſtimmung 
sticht ettheilt, und die Monopole, fo wie Bann⸗ und Zwangsrechte durch 
ein beſonberes Gefeh, das noch zu etwarten, aufgehoben, auch bie Ger 
werde, für welche eine Coneeſſion etforderlich iſt, gefeglich beftimmt wer⸗ 
Freihetrt des Buchhandels und der Preſſe wird in ihrem 
vollen Umfande ſtattfinden. Es ſoll jedoch zuvor gegen Preßvergchen 
An Geſez alsbdald (dieſer Zeitpunkt ift noch immer —* 
eingetreten) erlaſſen werden. Die Cenſur iſt nur in den durch die Bun⸗ 
desgefege eftinmnten Fällen zuidfiig." (6. 87.) *"*). „Das GBriefge⸗ 
heimniß iſt auch Lünftig unverlege zu halten. Die abfichtliche unmittels 
bare oder mittelbare Verlegung deffelben bei der Poftverwaltung 
(ein fpäterer Zuſatz, der den Schutz dieſes Geheimniſſes gegen die Polis 
ix. aufhebt) fol peinlich beftraft werden.“ (6. 58.) „Riemand kann 
wegen der freien Anbetung bloßer Meinungen zur Verantwortung gezo⸗ 
gen werben, den Fall eines Vergehens (?1 fpäterer Zuſatz) oder einer 
Mechtöverfehung ausgenommen.” (6. 39.) Das Recht ber freien Aus⸗ 
wanderung ſteht Jedem umter Beobachtung ber gefeglichen Beſtimmungen 


* Churheſſ. Geſetzſamml. v. 1834. ©. 163 ff. 

®*) 1) Sefeh dv. 29. Febr. 1832 (Gefegfammi. S. 59.) über bie Entſchaͤdi⸗ 

gung I der aufgedobenen agds ꝛc. Dienftes 2) Gef. v. 23. Iunt 1832 (Gefegf. 
9) über die Ablöfung ber Grundsinfen, Behnten, Dienfte und anderer 
Malſlaſten, und 1 über die Regulleimg der ungemefjenen Dienfte. ‚Dayu : a 

ſchreiben des Juſtiz⸗ und Winarz s Dtinift. vom 3. Mai 183% ( (Beet. 2 
een ungdberfügungen) 5 3) Geſeg v. 23. Juni 1832 (Geſehf. S 175.) Fr 
er Lanbes⸗C Geebitcaffe (woburd die Abloͤſun er 
— — 0. v. 14. 1838 (Gefinf: © ©. 249.) zur Vollpte: 
vn geraden Geſetes u. 9) Ft *. 31. Det. 833 (Geſehf. ©. 183 ff.) 

zum Gefege, die Lanbess Erebitcaffe betr. 

a ne m Urtheil des Obetapp. Geriches v. 19. Dct. 1833 iſt ber rich⸗ 
cine ‚109 nie tan I, m nn auch A WAR ſchon, wo das * 
et noch nicht erla nur eat beflinunten Faͤl⸗ 

vem aach bee Be. nöe zulaͤſſig ſel. 


Caſſel. 299 


zu. Der $. 40. bee Verfafſſungkurkunde giebt bie Grundzüge für ein 
zu erlaſſendes Recrutirungsgeleg an *) und fanctionirt das Inſtitut ber 
Bürgertewaffnung ale eine bleibende Einrichtung. * uͤber 
dieſe erlaſſene Geſetz **) (vom 23. Sunt 1882, Geſetzſ. ©. 121 ff.) 
entfpricht aber der Abficht der Werfaffung nicht, indem in demfelben das 
Prindp der Dertlichlelt gegen eine frühere Verordnung (vom 11. Deto⸗ 
ber 1830, Geſetzſ. ©. 131 ff) feſtgeſetzt und dadurch die Allgemeins 
heit der Bürgerbewaffnung unmöglid gemacht und das Princip der in⸗ 
nern Einheit vernichtet wurde! 

4) In dieſem Abſchnitte werden die Hauptgrundſaͤtze zu einer Ge⸗ 
meindeordnung angedeutet, welche ſeitdem erfchlenen ift, aber wohl 
nicht jenen Grundfägen entfpriht ). Insbefondere darf keine Ges 
meinde mit ſolchen Leiftungen, deren Erfüllung allgemeine Verbindliche 
Zeiten des Landes oder einzelner Theile deffelben erheifchen, belaftet, auch 
Das Vermögen und Eintommen einer foichen nie mit dem Staatsvers 
mögen ober den Staatseinnahmen vereinigt werden. Das im $. 48 
verfprochene und in den Hauptgrundzägen bezeichnete Inſtitut der Bes 
zirksraͤthe ift noch nicht in's Leben getreten. 

5) In dieſem Abfchnitte werben bios befondere, mit ben Bethels- 
Iigten zu verabredbende Ebdicte und Statuten für die Standesherren, 
den ehemaligen reichſsunmittelbaren Adel und bie altheffifche und ſchaum⸗ 
burgifche Ritterfchaft verfprochen, wovon bie jegt nur das flandesherrs 
liche Edict (29. Mai 1833. Geſetzſamml. &. 113 fg.) erlafien wurde, 
weiches jedoch von den Randftänden noch nicht anerkannt, darum nod) 
nicht unter die Gewähr der Verfaffung geftellt, jedenfalls aber wegen 
des darin angeordneten, hoͤchſt auffallenden Patrsgerichts in Strafſachen 
($. 15.) merkwürdig iſt. 

6) Die Stantsdiener, wozu auch die Dffictere gehören, ernennt 
auf Vorſchlag der vorgefeuten Behörde, ober betätigt der Landesherr. 
Es ſoll jedod ein Staatsamt Niemandem, ber nicht gefegmäßtg geprüft 
und für tuͤchtig und mürdig zu bemfelben erkannt worden, übertragen, 
in dee Regel keine Anmartfchaft ertheilt, ohne Urtheil und Recht kein 
Staatsdiener abgeſetzt oder fein rechtmaͤßiges Dienfteinfommen vermin» 
dert oder entzogen, und keinem bie nachgefuchte Entlaffung verweigert 
werben; eine Verfegung nur „aus höhern Ruͤckſichten bes Staates” (21), 
aber ohne Verluft an Rang und Gehalt und gegen angemeffene Vers 
särung ber Umzugskoſten ftattfinden, auch biefelbe den Fähigkeiten und 


zeit, und Statthaftigkeit dee Stellvertretung IF) und Re 

(1834, Geſetzſ. S. 113 ff.) (keine Berbefferung — 

**) In Polit die eur. Conſt. Bb. J. G. 646 fg. | 
#9) Gemeindeordnung dv. 2% October 1834, (Geſetzſ. &. 181 fg.) und Ge⸗ 
fe& vom 10. Febr. 1835. (Sefegt. ©. a: die einſtw ge —— ber Ge⸗ 


meindeämter 2c. betreffend. 5 * Muͤrller's Archie 
gebung zc. Bd. VI. 9. 2. El rchiv für die Geſet⸗ 


*) Recrut. Geſet v. 10. Juli 1832 (Beferf. ©. 183 M}) ) Ghäönies Dies 


300 j Caſſel. 


der bisherigen Dienſtfuͤhrung des Beamten entſprechen; ber wegen Alters 
ſchwaͤche oder ſonſt dienftunfähige Staatsdiener mit angemeffenerPenfion 
in den Ruheſtand verfest und in ben Dienfteid auch die Verpflichtung 
zuc Beobachtung und Aufechthaltung der Verfaſſung aufgenommen 
werden. Jeder -Staatsdiener bleibt binfichtlich feiner Amtsführung. 
verantmwortiih., und kann wegen Verfaſſungsverletzung, VBeruntreuung 
Öffentlicher „Gelder, Erpreſſung, Beſtechung, groͤblicher Verlegung der 
Amtspflichten and Mißbrauchs der Amtsgewalt von den Landiländen 
oder deren Ausſchuß angeklagt werden. Die übrigen Rechtsverhaͤltniſſe 
wurden einem unter dem Schutze ber Verfaffung flehbenden Staates 
dienitgefege vorbehalten, weiches auch (8. März 1831) erfchienen iſt ). 

7) Die hucheffiihe Verfaſſung buldige dem Einkammerſy⸗ 
tem‘), und binfichtlih der Zufammenfegung der Ständeverfammiung 
dem hiſtoriſchen Princp mit Aufnahme der neuen Elemente. Diefe 
wird gebildet durch die Prinzen des Hauſes; die Häupter der Stans 
desherren .(jene und biefe können -— gegen dus Repraͤſentativſyſtem — 
auh Bevolimädhtigte, die In Churheſſen begitert. fein müflen, 
ſchicken); den Senior oder das fonft mit dem Erbmarfchallamte beliehene 
Mitglied der Familie der Freiherren von Riedefel (Präfidenten ber 
alten Landihaft); einen ritterſchaftlichen Obervorſteher der adeligen 
Stifter Kauffungen und Wetter; einen Abgeordneten der Landesuniver⸗ 
ſitaͤtz einen Abgeordneten der altheſſiſchen Ritterfchaft von jedem 
der fuͤnf (Strom⸗: [Diemel, Fulda, Schwalm, Werra und Lahn]) 
Bezirke; einen Abgeordneten aus dem ehemals reichunmittelbaren Adel 
in den Krrifen Fulda und Hünfeld; einen Abgeordneten aus dem 
ehemals reihsunmittelbaren und fonft ſtark begüterten’‘) Adel in der 
Provinz Hanau; 16 Abgeordnete der Städte und eben fo viele der 
Landbezirke. Zu den alten fünf Steombezirten kamen der Oberfulda⸗, 
der Main» und Meferbszic hinzu, während bei den Städten die 
Wahl nad den Flußbezirken ganz aufhörte. 

Beiden. Abgsordneten, melde nad) dem alten Softeme zur erſten 
Gurie gehörten, findet -einfahe Wahl nad der frühern Weife, bei, 
den Abgeordneten des Städte zweifache (Wuhl der Wahlmaͤnner und 
des Abgeordneten) und bei den Abgeordneten der. Luandbezirke, wovon 
jeder in zwei Wahldiſtricte (mit Ausnahme des Weſerbezirks) zerfaͤllt, 
eine dreifahe Wahl (Wahl der Gemeindebevollmädhtigten, der 
Wahlmaͤnner und bed Abgeordneten) ftatt. Die Leitung des Wahlge⸗ 
ſchaͤfts ficht in den Städten dem Magiſtrat und in den Landbezirken 


. —— — — — 


2) Geſetzſ. ©. 69 Als u. in X. Müller’s Ach. Bd. II. ©. 648 fy. 
u. Bd. VI. 9. 2. ©. 288 fg. 
20) Ueber Ye Roralge Pfetben ſ. beſ. Weitzel in Poͤlitz's angef. Jahrb. 
v. 1831. Bd. 
“rn, Nach ven —— vom 9. Maͤrz 1831. $. 16. find es die Guts⸗ 
beöger: v Sarishaufen, v v. Gdeisheim, v. Eersner, Rau v. Holz: 
haufena v. Savigny. | 


Caſſel. 301 


den Juſtizbeamten zu‘). Die Stifter, der Adel und bie Unwerſitaͤt 
müffen aus ihrer Mitte die Abgeordneten wählen, die Staͤdte⸗ und 
Landgemeinden find hinfichtlich der einen Hälfte der von ihnen zu waͤh⸗ 
lenden Abgeordneten mehr als hinſichtlich der andern beſchraͤnkt, und'ce 
findet Hinfichtlidy dieſer mehr oder weniger beſchraͤnkten Wahl ein Wech⸗ 
fel von Landtag zu Landtag ſtatt, fo daß die Städte und Land⸗Wahl⸗ 
diſtricte, welche das erſte Mat: die beſchraͤnkte Wahl ‚Hatten, das nüchfte 
Mat die freie Wahl ausühten und Tofort. Neben dem Abgeordneten 
wird ſtets auch ein Stellvertreter gewaͤhlt. 

—Zur; activen und paſſtven MWahlfähigkeit, fo wie zur 
Ausübung des perſoͤnlichen Landftandfchaftsrechte® hinſichtiich der Prin⸗ 
zen ꝛc. wird buͤrgerliche Unbeſcholtenheit, ein Alter von dreißig Jahren 
und freie Vermoͤgensverwaltung (Abſein der Curatel und eines. gericht⸗ 
lichen Coneursverfahrens) etfordert. Die Annahme der Wahl ſteht 
jedem Gewaͤhlten frei. Etaatöblener:: beduͤrfen zum Eintritte in die 
Kammer ber: Genehmigung. ; ihrer. vorgefegten Behörde ;: hinfichtlich des 
Univerfitätödeputirten ) flimmen die Staatsregierung und. die Stunde 
verfommlung: nicht mit einander überein , :indem jene audy bei ihm die 
Mothiwendigkeit einer Genehmigung behauptet, biefe hingegen in Abrrde 
ſtellt. Die Eigenfchaft des Abgeordneten dauert in ber Regel 3 Jahres 
nur die Ernennung oder Befoͤrderung eines folchen zu einem Staats⸗ 
amte hat ben Verluſt der gedachten Eigenfchaft zur Kolge; er kann je 
doch wieder gewählt werden, wenn dieß wegen ber durch die Ernennung 
ir Rorderung etwa herbeigefuͤhrten Verhaͤltniſſe ſonſt noch moͤg⸗ 
lich i 

Die ordentlichen Landtage werden alle drei Jahre ‚ auf vor⸗ 
gängige Einberufung durch den Minifter des Innern, welche dieſem als 
verfaſſungsmaͤßige Pflicht obliegt, im November gehalten; vom Res 
genten eröffnet und beendigt (weicher die Verſammlung auch auf 3 Mor 
nate vertagen und aufiöfen kann, in welch' legterm Falle diefelbe. ins 
nerhalb der naͤchſten 6 Monate wieder eröffnet werben muß), und fel- 
len im ber Megel nicht über drei Monate dauern. Außerordent- 
liche Verfammiunger koͤnnen fo.oft, als nöthig ift, einberufen werden, 
und im Falle eines Regierungswechſels verfaggmeln fich die. Landſtaͤnde 
ohne Einberufung. 

Nach erfolgter Eröffnung einer Ständeverfammlung hat jedes 
Mitglied derſelben einen Eid zu leiften, der mit der fogenannten Stans 
des = und Bezirksſtimme, dieſem fpatern Einfchlebfel,. nicht wohl in 
Einklang gebradyt werden kann, da nad jenem nur das Landes- 
wohl ohne Mebenrüdfichten beachtet werden ' darf, während dieſe 


— — — — — 


*) ©. Wahlgeſes v. 16. ebr. 1ss1. welches einen Theil ber Staat: 
ferf. dildet, in Poͤlitz a. a. O. 5 fg. 

2) M. f. (Mackelde y) üb. ven. 71. der durch. Verf. Urk. Bonn, 1833. 
Dagegen: Jordan, XActenflüde über den $. 71. der Verf. Urk. ꝛc. Offenbach, 


302 Kaffd, 


nur das Standess oder Proninzialsntereffe im Auge hat; 
jener alfo auf dem Repräfentativfpfieme, diefe aber. auf dem Spfteme 
ber alten fländifchen Verfaſſung beruht und die Repräfentation wieber 
in fo viele Qurien auflöf’t, als in diefee Stände unterfchieden werben 
innen und es von ben Hauptlanden entlegene oder getrennte Be⸗ 
zirke gibt. 

„Die Mitglieder der Staͤndeverſammlung koͤnnen waͤh⸗ 
rend der Dauer des Landtages, fo wie 6 Wochen ver und nach dem⸗ 
felben, außer ber Ergreifung auf frifcher verbrecherifcher That, nicht 
andere als mit Zuflimmung der Ständeverfammlung- ober. ihre® Auss 
ſchuſſes verhaftet, und zu keiner Zeit wegen Aeußerung ihrer Meinung 
zue Rechenſchaft gezogen werben, den Fall der beleidigten. Privatehre 
ausgenommen.“ ($. 87.) Sie find, nicht: an Worfchriften eines Auf 
trags gebunden, fondern flimmen ned ihrer eigenen Ueberzeugung ab, 
wie fie es vor Gott und ihrem Gewiſſen verantworten Linsen: (Re 
praͤſentativſyſtem). .Die gewählten Abgeorbneten erhalten: angemeflene 
Reiſe⸗ und Zagegelber: 

Die Verhandlungen folen ber Regel nad) öffentlich fein, und 
bie Beichlüffe können nur in Sigungen, denen wenigſtens zmei Drittel 
der ordnungsmäßigen Anzahl von Mitgliedern (36) beiwohnen, nach 
abfoluter Stimmenmehrheit gefaßt werben. Bel Stimmengieichhelt muß 
bie Befchiußfaffung auf die nächte Sitzung verfchoben werben, in wmei- 
«her bei abermaliger Stimmengleichheit die Stimme des Borfigenden ent⸗ 
ſcheidet. Kür die weitere Geſchaͤftsbehandlung beſteht eine eigere Ge 
ſchaͤftsordnung v. 16. Febr. 1831 (Geſetzſ. S. 45 fo.). 

Was den Umfang der Wirkfamteit der Landftände; welche 
im Allgemeinen berufen find, die verfaſſungsmaͤßigen Rechte bes Lan⸗ 
bes geltend zu machen und das Wohl des Staates zu fördern, betrifft, 
fo erſtreckt fich dieſelbe insbefondere a) auf die Beberrfhung bin 
ſichtlich eines eintretenden Regierungsmechfeld und der zur Berhinderung 
einer Thronerlebigung nöthigen Maßregeln; b) auf die auswärtigen 
Verhaͤltniſſe, und zwar nicht bios bei Gebietöveränderungem ober 
Belaftungen, fonderm in allen Angelegenheiten, die auf das Landes— 
wohl Einfluß haben; ©) auf bie Geſetzgebung, Indem obne ihre 
Zuftimmung kein Gefeß Yegeben, aufgehoben, abgeändert oder authens 
tifch erläutert werden kann; Diepenfationen nur ftatthaft find, wenn 
fie das Geſetz feibft vorbehdit, und ihnen, wenigftens in materieller 
Hinſicht, auch das Recht der Initiative zuftehtz d) auf den Staates 
haushalt, Indem die Stände für die Aufbringung bes ordentlichen 
und aufßerorbentlichen Staatsbedarfes, ſoweit die übrigen Huͤlfsmittel 
zu deſſen Dedung nicht hinreihen, durch Bewilligung von Abgaben 
zu forgen haben (f. unten); e) auf die übrige Landesvermwal- 
tung durch das Recht, Auffchluß von der Staatsregierung über alle 
das Lanbeswohl betreffende Verhältniffe zu verlangen, und das Recht 
ber Beſchwerde wegen mahrgenommener Mißbraͤuche in der Verwaltung 
oder Rechtspflege ; f) auf den Schug der Unterthanen buch das 


Eaſſel. 303 


Recht der Verwendung, und endlich g) auf bie Lanbesnerfaffung 
feibft, indem die Staͤndeverſammlung «) für das richtige Verſtaͤnd⸗ 
niß ber Verf.⸗Urk. gemeinfchaftlich mit der Staatsregierung duch Aug 
legung, gütlihe Vereinbarung . oder. ſchiedsrichterliche Entſcheidung zu 
wachen; 8) in gleicher Art für die geitgemäße-Foytbildung der 
felben durch Reformen zu wirken und 2) für:die Yufuehthaltung 
derfelben,, fowie für eine verfaffungsmäßigg Regierung, buch) 
Geitendmachung ber Verantwortlichkeit per Miniſter, forpie ber übrigen 
Staatsdiener zu forgen verpflichtet iſt. en 
Die Ständeverfammlung iſt infofern permanent, als fie für 
die Imifchenzeit von einem . Landtage zum andern, fonie im Halle 
einer Bertagung ober Auflöfung, einen bleibenden Ausſchuß zu ernen⸗ 
nen das Recht und bie Pflicht hat. Ihr ſteht außerdem die Befugniß 
zu, einen Landfpndicus als beiländigen Secretair zu ernennen und zu 
verpflichten, aud die Geſchaͤftsordnung, inſoweit fie. ihre Innern Bey 
Hältniffe betrifft, ohne Zuziehung...der. Staatsregierung, abzuaͤndern, 
welche übrigens feinen Antrag ber Stänbeverfammlung -unbsantwortes, 
und, wenn demfelben nicht .entiprochen wird, keine Antwort unbe⸗ 
gründet laffen darf... . eur gl 
8) Als oberfie Staatsbehoͤrden beſtehen nur 1) das Ge⸗ 
ſammt⸗Staatsminiſterium, welches aus den Vorſtaͤnden ſaͤmmt⸗ 
lücher Miniſterien und den ſonſt hierzu vom Landesherrn beſonders ber 
rufenen Staatsdienern zuſammengeſetzt iſt, alle Angelegenheiten des 
Staates, die der landesherrlichen Entſchlioßung bedürfen, zu berar 
then, und, über Competenzeonflicte einzelner Miniſtexien, fomie über 
Beſchwerden gegen Miniſterialbeſchluͤſſe, zu entfheiden, auch die 
nöthige Einleitung zur Regentfchaft zu treffen ($. 8) hat; und 2) bie 
Vorfiände der einzelnen Minifterien (ber Juſtiz, des Ju⸗ 
nern, ber Finanzen, des Kriegsweſens und der auswärtigen Angeles 
genheiten). Diefe Dorftände, wovon einer auch „zwei, jedoch wicht 
mehrere Miniflerien verwalten kann, haben alle Ianbeöberrlihen Ent⸗ 
fhließungen zu contrafigniren, wodurch bie verfaffungsmäßige Ber 
handlung ber betreffenden Angelegenheit bezeugt, die beahalbige Verant⸗ 
wortung übernommen und jebe ſolche Entſchließung arſt glaubwürdig 
und vollzichbar wird. 
9) Hinfihtli der Rechtspflege beftdtigt bie Werfaffungsurr 
kunde 1) die fchon früher angeordnete Trennung der Sufliz von der 
Verwaltung ; fie fpricht 2) die Allgemeinheit der, ridterlichen Function 
aus, indem fie die Betretung und Verfolgung des Rechtswmeges ohne 
Ruͤckſicht auf den Gegenfland einem Jeden und gegen Schumann, ſelbſt 
den Negenten nicht ausgenommen’), zufihert; ben Gerichten das uns 
bedingte Urtheil über ihre Gompetenz einrdumt und jede. Einwirtung- 
irgend einer Stantsbehörde ausfchließt, dagegen jede Behörde und feibft 


*) OR. f.aud) das Geſet über Staatsanwälte v. 11. Fuk 1894 (Gefehf 
©. 213 fg.) | oo 


304 Caſſel. 


die bewaffnete Macht verpflichtet, den gerichtlichen Requiſitionen nach⸗ 
zukommen. Sie erklaͤrt 3) alle Commiſſionen, inſofern fie nicht von 
den Gerichten ſelbſt angeordnet werden, welche nur wieder Gerichte 
committiren duͤrfen, fuͤr voͤllig unſtatthaft, und ſucht 4) ebenſo die 
perfſoͤnliche Freiheit durch Beſtimmungen über die Statthaftigkeit 
der Unterſuchung und Verhaftung, uͤber die Zulaͤſſigkeit der Entlaſſung 
des Verhafteten gegen Caution oder wenigſtens der Erleichterung ſeiner 
Lage, über die Publiritaͤt der Entſcheidungen in politiſchen und Preß⸗ 
vergehungen, uͤber die Hausſuchung, und uͤber das Recht der Be⸗ 
ſchwerdefuͤhrung, der Vertheidigung und der Urtheilsforderung, als das 
Vermöoͤgen deri Staatsgenoſſen ducch Verbannung der Vermoͤgens⸗ 
confiscation und der Moratorien zu ſichern. Sie macht 5) die Ge⸗ 
meinden und Koͤrperſchaften von der adminiſtrativen Bedotmundung hin» 
ſichtlich der Rechts⸗Verfolgung oder Vertheidigung unabhaͤngig; verkuͤndigt 
6) die Gleichſtellung aller Staatsgenoſſen vor dem Rechte durch bie verſpro⸗ 
chene Aufhebung ber privilegirten Serichteftände ; trifft 7) Vorſorge für 
die Unparteilichkeit, Gediegenheit und Schnelligkeit ber Rechtspflege durch 
die Verordnung, daß die Zuhl der Mitglieder der Gerichte geſetzlich 
beftimmt werden‘) und ein jedes von biefen ſtets vollitändig befebt 
fein folle, und durch Vorfchriften über die Beſchaffenheit und das Al⸗ 
ter der Richter; febt 8) ‘die Unabhängigkeit der Gerichte ausdruͤcküch 
feft, und beſchraͤnkt 9%, um die Wirkfamkeit der Rechtspflege zu fichern, 
dad Begnadigungsrecht hinfichtlich der Vergehungen gegen die Verfaſ⸗ 
fung, und das Recht der Wiederanftellung verurtheilter Staatsdiener. 
Viele der aufgeführten Beſtimmungen find zwar fehr mangelhaft; fie 
Tönnen aber, wenn Staatsregierung und Ständeverfammlung von 
sechtem Geifte, und richtiger Einfiht geleitet werben, ebenfo leicht 
vervolllommnet, wie, freilich im entgegengefesten Falle, völlig paralyſirt 
werden. Für wichtigere FSamilienangelegenheiten ſoll ein Geſetz das 
Anftitut der Kamilienräthe anführen. | | | 

10) Alle im Staate anerlannten Kirchen genießen gleichen 
Schuss. Die Sahen des Glaubens und ber Liturgie bleiben ih⸗ 
ren verfaffungemäßtgen Befchlüffen überlaffen. Die Staatsregierung 
übt die unveräußerlichen Hoheitsrechte des Schutzes und der Obers 
aufſicht in ihrem vollen Umfange aus. Die unmittelbare und mit: 
telbare Ausübung der Kirchengewalt über die evangelifhen Glaus 
bensparteien verbleibt dem Landesherrn, bei deſſen Webertritt zu 
einer andern Kirche die Befchränkung jener Gewalt mit den Landſtaͤn⸗ 
ben feftgeftellt werden fol. In liturgiſchen Sachen fol ohne Zu- 
ſtimmung einer Synode, melde die Staatsregierung berufen wird, 
nichts geändert 'werden. Kür das Verhätmiß der Fatholifchen Kirche 
zur Staatögewalt wurden bie bereits früher beftandenen Normen‘) 


*) M. f. das Geſetz dv. 1. Juli 1831. (Geſetſ. ©. 112 a fe.) 

2 ©. die Verkündung der päpftiihen Bullen v. 31. Aug. 1829 (Geſetzſ. 
&. 45); Berorbn. v. 30. Sanuar 1830 (Geſettſ. &. 5), die Ausüb. des landes⸗ 
herrl. Schuss und Aufjüchterechtes über die kath. Kirche, und Ausfchr. des 


Gaffel. 305 


hinſichtlich ber Mechte bes Biſchofs, ber zu erlaffenden Anordnungen, 
bes Verhältniffes zu Rom, des Mißbrauches ber geiftlihen Gewalt, in 
den Grundzügen wiederholt. Die Geiftlichen haben jede zur Erfüllung 
ihrer Berufsgeſchaͤfte erforderliche gefeglihe Unterflügung und Schuß 
in ihree Amtswürde zu erwarten, find aber binfichtlic ihrer buͤrger⸗ 
lichen Handlungen und Berhältniffe ber meltiichen Obrigkeit unterwors. 
fen. „Fuͤr den oͤffentlichen Unterricht, fonach für die Erhal⸗ 
tung und Vervollkommnung ber niederen und höheren Bildungsanftals 
ten,:und namentlich der Landesuniverſitaͤt, ſowie dee Schullehrerfemts 
nare ift zu allen Zeiten nad Kräften zu-forgen.” ($. 137.) ° 
Ale Stiftungen ohne Ausnahme flehen unter dem beſondern 
Schutze des Staates und das Bermögen oder Einkommen derfelben 
darf unter keinem Vorwande zum Staatsvermoͤgen eingezogen ober für 
andere als die fliftungsmäßtgen Zwecke verwendet werben. Nur menn 
der fliftungsmäßige Zweck nicht mehr zu. erreichen -fleht, barf eine Vers 
wendung zu Ähnlichen Zwecken mit Zuſtimmung der Betheiligten, und, 
fofern öffentliche Anftalten in Betracht kommen, mit Bewilligung der 
Zandflände erfolgen. ($. 138.) — en 
14) Hinſichtlich des Staatshaushaltes wurde a) das Staates. 
vermögen von bem Samiltenfideicommiffe des Regentenhaus 
fe8°) durch befondere Vereinbarungen, bie nicht veröffentlicht werben; 
dürfen, forgfältig getrennt; b) was ale Staatsvermoͤgen anzuſehen 
(Gebäude, Domantals Kammer⸗] Güter und Gefälle, Forften, Jagben, 
Fiſchereien, Berg⸗, Hüttens und Salzwerke zc.), näher beflimmt; co) bie‘ 
nach den gedachten Dereinbarungen feflgefegte Hofdotation auf dies 
jenigen Domainen und Gefälle, welche nach benfelben für diefe vorbes 
halten worden, bleibend radicirt; d) für die Erhaltung des Staatsver⸗ 
mögens durch das Verbot bee Werdußerung ohne Iandftändifche Zuftim- 
mung Sorge getroffen, auch e) bie Wiederverleihfung heimgefallener 
Zehen befhräntt, indem der Regent nur bie während feiner Regierung 
heimgefallenen an Glieder des Chuchaufes ober der heffifchen und ehe: 
mals reichBunmittelbaren Nitterfchaft oder zur Belohnung von Zundbar 
ausgezeichneten Verdienſten um den Staat wieder verleihen darf, und 
endlich F) die Aufbringung des Staatsbedarfes, inſoweit diefer nicht durch 
die vorhandenen Hülfsmittel gedeckt wird, näher regulirt. Diefelbe 
liegt hiernach den Ständen ob, ohne deren Bewilligung meder in Kriegs⸗ 
noch Friedenszeiten eine directe ober indirecte Steuer, fo wenig als ir⸗ 
gend eine fonftige Landesabgabe, fie habe Namen, welchen fie. wolle, : 
ausgefchrieben oder erhoben werden kann. Die Werwilligung des or⸗ 
bentlihen Staatsbedarfes erfolgt, nach einem von ber Staatsregierung der 
— — — or 
nift. des I. v. 25. Januar 1834 (Geſetzſ. &. 4), wodurch bas Regulativ u. 
31. Te , bas aan, Genfure N art — bekannt. gemacht 


rb. 
wi 2) M. ſ. hinſichtlich der Capitalien die Geſege v. 27. Febr. 1831 (Geſetzſ. 
©. 53 fg.)‘a) die Bildung und Verwaltung bes Staatsſchatzes und b) ben chur⸗ 
fürftt. Hausſchatz betreffend. 

Staats ⸗Lexiton. III. 20 


306 Caſſel. 


Staͤndeverſammlung vorzulegenden Voranſchlag, worin zugleich die Noth⸗ 
wendigkeit ober Nuͤtzuchkeit der zu machenden Ausgaben nachgewieſen und 
das Beduͤrfniß der vorgeſchlagenen Abgaben gezeigt werden muß, in der Re 
gel auf drei Jahre. Jedoch dürfen die Abgaben noch ſechs Monate nach 
Ablauf der WVerwilligungszeit erhoben werden, wenn etwa bie Zuſam⸗ 
menkunft der Landflände durch außerordentliche Ereigniffe gehindert oder 
die. Ständeverfammlung nufgelöft iR, che ein neues Finanzgeſetz zu 
Stande kommt ober die deshalb nöthige Beſchlußnahme ber. Landftände 
ſich verzögert. Ueber die möglich befte Art der Aufbringung und Ver⸗ 
theilung der Abgabenbeträge hat die Stänbeverfammlung auf die des⸗ 
halbigen Vorſchlaͤge der Staatsregierung die geeigneten Beſchluͤſſe zu 
nehmen. „In den’ Ausfchreiben und Verorbnungen, welche Steuern 
und andere Abgaben betreffen, fol die Landftändifch.e Verwilli⸗ 
gung befonberd - erwähnt fein, ohne welche weber bie Erheber zur 
Einforderung, berebtigt, noch bie Pflichtigen zur Entrihtung 
ſchuldig find.” ($. 146.) Die bisherigen. exemten Güter follen unter 
Zufiherung einer angemeſſenen Entfdyäbigung zu einer gleichmäßigen 
Belteuerung herbeigezogen werden; die Guͤter der Kirchen und Pfar⸗ 
reien, der Öffentlichen Unterrichtsanftalten und ber milden Gtiftun- 
gen aber feuerfrei bleiben, mas jedoch nur in Anfehung bee nicht 
fhon bisher ſteuerpflichtigen oder derjenigen Güter gilt, welche von 
ihnen nad) ber Verkündung ber Verf. ertworben werden. „Die Grund» 
ſtuͤcke, welche von ‚der Landesherrfchaft zu eigenem Gebrauche oder von 
Sitebern des Churhaufes erworben find oder werben, bleiben in ihrer 
bisherigen Steuerverbinbiichkeit.”" „Die gefeglich in Rüdficht ihres der» 
maligen Beſitzers fteuerfreien Grundſtuͤcke verlieren dieſe Eigenfchaft, 
fobald fie in Privateigenthum (?!) übergehen.” ($. 150 u. 151.) 

12) Die. aligemeinen Beftimmungen betreffen a) die Abs 
Anderung ober Erläuterung ber Verf.⸗Urk., wozu entweber Stimmenein⸗ 
helligkeit der auf dem Landtage anmefenden ſtaͤndiſchen Mitglieder, ober 
eine auf zwei nacheinanberfolgenden Landtagen fid) ausſprechende 
Stimmenmehrheit von drei Vierteln derſelben erforderlich, ift; b) bie 
Anordnung emes Gompromißgerichte® zur Entfcheidung der zwifchen ber 
Staatsregierung und den Landfländen entftehenden Zweifel über ben Stun 
einzelner Beſtimmungen ber Verf.⸗Urk. ober der für Beftandtheile berfeiben 
erklaͤrten Geſetze. elbe wird zuſammengeſetzt aus ſechs unbeſcholtenen, 
der Rechte und der ſſung kundigen, wenigſtens 30 Jahre alten In⸗ 
laͤndern, von welchen drei durch die Regierung und drei durch die Stände zu 
wählen find. Die Compromißrichter wählen fodann aus ihrer Mitte durch 
das Loos den Vorfigenden, welcher bei Stimmengleichheit eutſcheidende Stim⸗ 
me hat; c) die Aufhebung aller Anordnungen jeder Art, welche mit ber 
Verf.⸗Urk. ober den für Beſtandtheile derſelben erklärten Gefegen im 
Widerfpruche ſtehen; d) den Anfang ber Verbindungskraft der Verf.⸗ 
Urk., welcher mit ihrer Verkündung eintrat, fowie die Beſchwoͤrung ber 
felben von fämmtlichen. Unterthanen männlihen Gefchlechts, bie bas 
18te Lebensjahr zurüdgelegt haben; e) ben Revers, welchen bie oberften 


Caſſel. 307 


Staatsbeamten (die Vorſtaͤnde der Miniſterlaldepartemente) über bie 
von ihnen geſchehene eidliche Angelobung auszuſtellen haben, und der 
im landſtaͤndiſchen Archiv niederzulegen iſt, und endlich f) die Webers 
reichung einer gleichlautenden Ausfertigung ber Verf.⸗Urk. bei ber 
hohen deutſchen Bundesverfammlung, welche zugleich um bie Weber 
rs ber Garantie erſucht werden ſoll. Diefe ift bisher noch nicht 
olgt. 

.Die letzten 65. (158-160) enthalten vorübergehende Beſtimmun⸗ 
gen, welche bie Fortdauer und Wirkſamkeit der conſtituirenden Stände- 
verfammlung, die Zufammenkunft des erften nach der Verf.⸗Urk. zu⸗ 
fanımengefegten Landtages (11. April 1831) und die einftweilige Forts 
entrichtung der Steuern unb Abgaben betreffen und jegt von Keiner 
Wirkung mehr find. 


— — — — — 


Mon ſieht aus Bisherigem, daß die churh. Verf⸗Urk. viele dem Re⸗ 
praͤſentativſyſteme völlig entſprechende Grundſaͤtze enthält, von denen 
aber manche nur angedeutet find und durch bie Gefetgebung erſt weiter 
ausgeführt und ausgebildet werden follm. Alten biefe ift bisher noch 
nicht erfolgt, oder doc), inſoweit fie wirklich erfolgt. iſt, dem conſtltutio⸗ 
nellen Syſteme nicht völlig entfprechend, wo nicht gang zuwider. Dies 
felben Dinderniffe, welche in den übrigen beutfchen Staaten ber orgas 
nifchen und felbftftändigen. Entwidelung biefes Syſtemes entgegentreten, 
zeigen ſich auch in Chucheffen wirkſam. Sie find zu bekannt, als daß 
fie bier, wo ohnehin nicht der Ort fein würde, befonder& angeführt zu 
werden brauchten. Das conftitutionelle Syſtem kann nur: da ſich kraͤf⸗ 
tig ausbilden, wo Feine dußere Gewalt hemmend einzumirden vermai 
und darum Fein Minifterium fid halten kann, welches die Majorität 
ber Deputittenlammer gegen ſich hat. Wo es hingegen ber Repraͤſen⸗ 
tantendammer wegen mangelhafter Wahlgefege an der erforderlichen Ins 
telligenz, Energie, Gewandtheit und Selbſtſtaͤndigkeit gebricht, und die 
Staatsregierung bee Majorität derſelben nicht bedarf, weit fie fih auf 
fremde Macht fügen kann; wo überhaupt die Staatsregierung und 
Ständeverfammlung anderswoher gegebenen Normen zu huldigen 
pfüchtig find, der Staat fohin felbft in Bezug auf feine innere Ges 
Haltung als unfelbftftändig erfcheint: da kann das conflitutionelle Syſtem 
fi unmoͤglich raſch und felbftftändig emtwideln und die gewünfchten 
Fruͤchte bringen; es wird entweder verfrüppeln und allmdlig ganz uns 
tergehen, oder aber, wenn es bereits die nöthige Kraft errungen hat, 
biefe dußern Hemmniffe nad) langem Kampfe Überwältigen und dann 
feeilih um fo bewährter und vollftändiger aus dieſem hervorgehen. Ob 
bas Eine oder Andere eintreten werde, wird bie Zeit lehren, welche 
übrigens gerade ihre Eräftigfien und dauerhafteften Erzeugniffe nur all 
mälig und unter Stürmen zur Meife bringt. Eine große Idee, welche 
einmal in der äffentlihen Meinung, deren Dafein und Macht die Bes 
ſchichte auf jedem Blatte beurfundet, Wurzel geſchlagen bat, entwidelt 

20° 


308 Caſſel. Caſtlereagh. 


ſich vermoͤge der eigenen, ihr inwohnenden organiſchen Lebenskraft ſtets bis 
zu ihrer gaͤnzlichen Vollendung, und wird ſie auch in ihrem Entwickelungs⸗ 
gange durch aͤußere Hinderniſſe aufgehalten, ſo dient dies nur zur 
Sammlung und Zeitigung ihrer Kraft, welche ſodann, wenn die hierzu 
erforderliche Zeit abgelaufen iſt, die aͤußere Verkruſtung, womit ſie die 
Hinderniſſe umzogen haben, allmaͤlig durchbrechen und deſto herrlicher 
ſich entfalten wird. Ohne Verpuppung wuͤrde ſich die Raupe nicht 
zum Schmetterling entwickeln koͤnnen. S. Jorban. 

Caſtamos, ſ. Spanien. ur 

Caften, ſ. Kaften. 

Gafilien, f. Spanien. 

Gaftlereagb, Robert Stewart Viscount, nad bem Tob⸗ 
ſeines Vaters, des Grafen und feit 1816 Marquis von Londons 
deren (1821), mit dem lestbemerkten Titel bekleidet, geboren 1769 zu 
Mount Stewart m Irland, geftorben 12. Aug. 1822, ber, wenn 
auch nicht größte, doch einflußreichfte,. auf das Schickſal der Welt ent- 
fcheidendft einwirkende Minifter in dee »erhängnißvollften ‚Epoche der 
Neuzeit, nämlich In ben Tagen ber hoͤchſten Herrlichkeit und bes tiefs 
ſten Falles Napoleons und in jenen, welche deffelben weiterfchätterns 
dem Sturze folgten. -Bom 3. 1809 an bis zum Auguf 1822 -Lerikte 
er, als Staatsſectetair für die auswärtigen Angelegenheiten, 
ganz vorzugsweife das britifche Staatsruder, nachdem er ſchon feühee 
(von 1804 bis 1806) unter Pitt's Verwaltung, und bann wieder 
unter jener Portlands und Percevals (von 1807 bis 1809) bas 
Minifterium des Kriegs geführt und in ber legten Zeit mit Can» 
ning und Liverpool an ber Spige der Verwaltung geftanden hatte. 
Auch andere hohen Stellen (namentlih in Irland jene des Staats⸗ 
fecretaird bei dem Vicekoͤnig von Irland) hatte ee ſchon feit 1797 
(unter Pitt und Addington) begleitet, ja fhon in feinem Ziften 
Sabre (1790) im irifhen Parlament als beffelben Mitglied fidy 
bervorgethan. Wir übergeben jedoch feine früheren Thaten und Schick⸗ 
fale, um den Blick denjenigen zuzumenden, melche ihm feine eigentliche, 
welthiſtoriſche Wichtigkeit verliehen haben. Nur muß bemerkt werben, 
daß er ſchon als Mitglied der ir iſchen Adminiftration, ungeachtet ber 
an ihm in Privart-DVerhältniffen gerühmten Milde, Humanität: und 
felbft Großmuth, doch in politifhen Dingen jene Härte und Uns 
beugfamleit bes Charakters fund gab, auch jene Nichtachtung ber Volles 
rechte und der Volksſtimme, welche fpäter für das gefammte Groß⸗ 
britannien und für den ganzen Welttheil verhängnißreich wirkten. Er 
war ed, welcher, obſchon geborner Irlaͤnder, Pitt's Unterdrüdungs- 
ſyſtem gegen feine ungluͤcklichen — freilich katholiſchen, und durch 
die erfahrnen Mißhandlungen zur Empoͤrung gereizten — Lands⸗ 
leute mit unerbittlicher Strenge durchzufuͤhren befliſſen war, und wel⸗ 
cher nachmals deſſelben Miniſters Unionsplan eifrigſt unterſtuͤtzte, wo⸗ 
durch, unter dem Schein einer verhaͤltnißmaͤßigen Theilnahme Irlands 
an der gemeinſchaftlichen Staatsgewalt uͤber das geſammte britiſche Reich, 


Caſtlereagh . 309 


in der That die engliſche Geſetzgebung, d. h. der Wille der im ver⸗ 
einten Parlament entſchieden vorherrſchenden engliſchen Majori⸗ 
taͤt, das iriſche Volk, zumal deſſen aus Katholiken beſtehende große 
Mehrheit, vertheidigungslos hingegeben ward an die tyranniſche Macht 
der britiſchen Hochkirche und der, gleich raubſuͤchtigen als fanatiſchen, 
weltlichen Gutsherren. Dieſe Politik hat ſich, wie ſie mußte, als ver⸗ 
derblich erwieſen. Das Reich der bloßen Gewalt uͤber ein Volk, 
welches zum Erkenntniß ſeines Rechtes erwacht und durch fortwaͤh⸗ 
rende Bedruͤckung zum Widerſtand gereizt iſt, kann nicht von Dauer 
ſein. Zeitlich wohl mochte dee Ausbruch der Flamme gehindert 
oder einige vereinzelt auffchlagende Feuer anfcheinend erflidt werben: 
aber deſto mehr fraß der zurüdgetriebene Brand im Innern um fid, 
und defto drohender ward die Gefahr, daß er endlich allgewaltig hers 
vorbreche und ſelbſt die Srunbpfeiler des Staates zerſtoͤre. Sogar die 
Tory's fahen endlich diefes ein, und Wellington, Caſtlereagh's 
innigfter Freund, erkannte 7 Jahre nad) deſſen Tode bie Nothwen⸗ 
digkeit, vorerſt menigftend durch die „Emancipation ber Ka: 
tholiten“ die allerfchreiendften der zumal das irifche Volk zur Ems 
pörung aufreizenden Unbilden aufzuheben ober zu mildern. Doc erft 
das Reform: Minifterium und das Reform: Parlament ha—⸗ 
ben mit Aufrichtigkeit und ntfchiedenheit den Weg betreten, welcher 
ber. alleinige ift, der zu dauerndem Frieden, zu wahrhaft geficherter 
Ordnung und Ruhe führen kann, den Weg ber Rechtsbefriedi⸗ 
gung. Die Richtung, welche Caſtlere agh eingehalten, führte, wenn 
fie fortgewährt hätte, — nicht nur in Irland, fondern aud in Eng: 
Land felbft — zur Revolution. Er, mit feinem flarren Tory #: 
mus, mit feiner flationairen, ja retrograden oder reactionairen Politik, mit 
feinem rüdfichtlofen Feſthalten aller Ungebuͤhr des Hiftorifchen Rechts 
gegen die Korderungen des vernünftigen, mit feinen Eingriffen in 
die conflitutionellen Rechte der Bürger, mit feiner Bedruͤckung 
und Verfolgung ber Preffe und der freigefinnten Richtungen im Volke, 
Er und feine gleihgefinnten Freunde find bie wahren Agitators ger 
wefen, d. h. fie haben die Agitation hervorgerufen und die Worts 
führer der Mißvergnügten mit der ſchaͤrfſten Waffe, naͤmlich mit jener 
des einleuchtendſten Rechts und ber eindringlihften Wahr: 
‚beit, bewaffnet. Ä 
Verantwortung und Kabel jedodh, was biefe einheimis. 
ſchen Dinge betrifft, mag Caſtlereagh überhaupt auf die ges 
fammte Partei mälzen, in beren Namen, als Mitverbundes 
ner mehr denn als Haupt, er handelte, und in- beren Sinn zu 
handeln er, wenn er Minifter bleiben wollte, gemöthiget war. Kon 
den Sünden feiner auswärtigen Politik aber fällt ein großer, 
wo nicht der größte Theil ihm (und etwa feinen vertrauteften Mi⸗ 
niftercollegen) perfönlich zur Laſt; ſchon darum, weil bie Natus 
ſolcher Politik mit ſich bringt, ihre Richtung mehr nur von einem, 
im Mittelpunkt. dee Gefchäfte waltenden Geiſt oder von einem 


310 Gaftlereagh. 


Eleinen Kreife eng verbunbener unb tagtäglich unter ſich berathens 
ber Männer zu empfangen, als von einem zahlreichen, oͤffentlich ver⸗ 
handelnden und nur periodiſch fi verfammelnden, parlammtartichen 
Körper oder von ben im Schooße der Nation ſich erhebenden, oft uns 
ter ſich im Widerfpruch ftehenden, oft von Unkunde herrührenden Stim⸗ 
men; und fodann audy Barum, weil Caſtlereagh in feinem Gifer 
ſich nit — mie fonft in der Regel der Minifter pflegt — mit ber 
oberften Leitung bed Departements, mit der Zeichnung allgemeis 
ner Plane, mit bee Inftruction der Agenten unb Gefanbten, 
mit den auf berfelben Berichte zu faffenden Befhläffen u. f. w. 
begnägte, fondern auch unmittelbar felbfithädtig, als 

und Zheilnehmer an Congrefien, als perfönlicher Vertrauter unb Freund 
der Continental⸗Monarchen auftrat und mehrere, fonft wohl auch von 
den Tory's im Auge behaltene, Principien aͤcht britifcher Politik ſeb⸗ 
ner perfönlichen Befangenheit ober Leidenfchaft aufopferte. Die Ges 
ſchichte von Caſtlereagh's auswärtiger Politik aber, als mit dem Wich⸗ 
tigften der allgemeinen Geſchichte feiner Zeit innig zuſammenhaͤn⸗ 
gend, kann natürlich bier nicht gegeben werden. Wir muͤſſen nad) 
Zweck und Umfang des St. 2. auf eine kleine Skizze ihres allge 
meinen Charakters uns befchränten. Mehreres Einzelne bleibt 
ohnehin einigen andern Artikeln, als „Eongreffe”, „England“, 
„Europa (neueſte Geſchichte derfelben), „Legitimitaͤt“, Reftaus 
ration” u. f. w. vorbehalten. 

Gaftlereagh’s Nichtung in der auswärtigen Politik war im All 
gemeinen ziemlich gleichlaufend mit jener, welche früher ber große Pitt 
verfolgt hatte, oder gewiſſermaßen eine Kortfegung berfelben. Doch 
nicht eigentlih wegen dee Richtung an ſich, fondern wegen der 
Kraft, Beharrlichkeit und Genialität, womit Pitt fie gegen eine Welt 
von Hinderniffen und Gefahren zu behaupten mußte, haben bie vers 
fländigen und unbefangenen Zeitgenoffen ihn als großen Staatsmann 
bewundert. Die Richtung felbft war keineswegs hohen oder edlen Zwecken 
zugewendet und dem wahren Wohle Englands, dem Helle Europa’s 
und der Welt mit nichten erfprießlih. Wohl mochte, als — verans 
laßt durch den Krieg der Coalition wider Frankreich — bie unter 
den fchönften Hoffnungen begonnene Revolution dieſes Landes eine un. 
felige Wendung nahm, ale die Verzweiflung der von Innen und Außen 
geängftigten Freiheitsfreunde ben alles Menfchenrechts fpottenden Terro⸗ 
rismus hervorrief und die Macht bee durch die angefachte Zornsglut 
fiegreihen Republik, als ein furchtbar ſchwellender Strom, alle Ufer 
und Dämme überflutete, eine Schildechebung zum Zweck ber Wiebers 
berftellung bes Öffentlichen Rechtszuſtandes in Europa von einer weifen 
Politit angerathen oder geboten werben. Aber weifer und ber Stels 
lung Englands angemeffener wäre geweſen, buch frühzeitige Ein» 
ſprache gegen den zu Pillnitz verabredeten Krieg jener unheilvollen 
Wendung der Mevolution zuvorzulommen und — fowie es nad) ber 
Suliusrevolution des Jahres 1880 erfolgreich geſchah — burch 


Gaftlereagh. 311 


eine Allianz mit Frankreich den kriegsluſtigen Gontinentalmächten zu 
imponiren. Auch entfprang ber wider Frankreich - unternommene (mes 
nigſtens durch Herausforderung veranlaßte) Krieg keineswegs aus ber 
Sorgfalt für die Erhaltung eines öffentlichen Rechtszuſtandes, fonbern 
lediglich aus ariftotratifhen, überhaupt bem hiſtoriſchen Recht 
farrfinnig zugewandten Motivn. Pitt's Krieg gegen Frankreich war 
ben Ideen Burke’s entfloffen. Die gemeine, demokratiſche 
Freiheit, welche die Lofung ber franzöfifchen Revolution war, mißbehagte 
den ſtolzen Ariſtokraten Britanniens, welche zwar für fich die Frei: 
beit und das politifche Recht als von den Vorfahren ererbtes Gut in 
Anfpruc nahmen und darum wohl die Beſchraͤnkung der Thron: 
Rechte in Frankreich, als ihren eigenen Principien entfprechend, billig 
ten, aber bie Aufhebung ber ariftofratifhen Vorrechte, bie poli- 
tiſche Emancipation aud der gemeinen Bürger als ein aud für 
Großbritannien verführerifhhes Beifpiel mit Abſcheu betrachteten. 
Darum murbe der Kampf auf Tod und Leben gegen das revolutio- 
naire Frankreich unternommen, mit beifpiellofer Anſtrengung und einer 
Erbitterung ohne Gleichen fortgeſetzt, ſtets neue Coalitionen durch Auf: 
forderungen, Ermunterungen, Subfidien in's Leben gerufen, die Mo: 
mente zu billiger Friedensfchliegung verfäumt und bergeftalt Frankreich 
in die Lage gefegt, entweder von Europa erbrädt zu werben, oder Eu: 
ropa zu überwinden. Das Leste gefchah, aber Pitt vor Allen bat 
es zu verantworten. Die unabläffig angefeindete Republik konnte nur 
durch fortfchreitende Eroberung und Revolutionirung fich erhalten und 
nur durch Erhebung des giüdlichften Kriegsmeifters zum Beherrſcher 
den Sieg an ihre Fahnen fehlen. Der Einfturz bes europälfchen. 
Staatenfoftems, die Errihtung von Napoleons Weltreih, bie Unter: 
drüdung und Schmach der Nationen, der völlige Untergang des öffent: 
lichen Rechtözuftandes find — wenigſtens großentheils — die unfeligen 
Folgen von Pitt's und Caſtlereagh's Syſtem geweſen; und auch 
Englands Untergang haͤtte leicht daraus fließen moͤgen, wenn nicht 
Roſtopſchin's barbariſche Großthat, oder vielmehr der Himmel ſelbſt 
durch den verderbenden Winterfroſt, das „große Heer“ ber Zernich⸗ 
tung hingegeben und Napoleons Macht gebrochen haͤtte. 
Caſtlereagh, weicher nach Pitt's Tode (1806) in den Reihen 
der Oppoſition gegen das friedliebende For» Grenville’fhe Mi⸗ 
niſterlum ſich erhoben, ſetzte nach ſeinem Wiedereintritt in die Verwal⸗ 
tung (1807) das kriegeriſche Syſtem mit beharrlihem Eifer, geſtachelt 
durch den Nationalhaß wider Frankreich und ben perfönfichen wider 
Napoleon, fort, doch — einige See⸗Triumphe abgerechnet — mit we: 
nig Stud. Der von Sanning entworfene Zug gegen Seeland 
zumal erfuhr einen fehmählichen Ausgang (1809), was einen drgerlis 
hen Zweikampf zwifchen beiden Miniftern und den —- für Caſtlereagh 
jedody nur urzdauernden — Austritt beider aus dem Miniſterium zur 
Folge hatte. Tagtaͤglich flieg indeffen die Herrlichkeit Napoleons, zu 
deſſen fortfchreitendem Länderraub ſtets Englands GStarrſinn und Eng⸗ 


312 Gaftlereagh. 


lands „Seetyrannei“ den Grund ober Vorwand abgaben. Tag⸗ 
täglich, ruͤckte auch die Gefahr Britannien näher, zumal durch bie Wir: 
tungen des von dem teitgebietenden Feinde aufgeftellten und — freie 
lich mit Verhöhnung aller Neutralitätsrechte und abenteuerlichen Bes 
waltmißbrauch verbundenen, doch durch Englands Gegenmaßregeln an 
Barbarei faft noch überbotenen — fogenannten „Gontinentalfy= 
ſtems“ (f. d. Art.) und durch das fleigende Mifvergnügen in 
England, welches buch die Verkuͤmmerung der conflitutionellen 
Volksrechte und Freiheiten und durch gewaltfames Niederhalten der nach 
Verbefferung des Syſtems Rufenden keineswegs beſchwichtigt, vielmehr 
dem drohendſten Ausbruch näher gebracht warb. 

Endlich aber erfchienen die Tage des Triumphes über den ſowie 
äußerft gefürchteten, fo auch Außerft gehaßten Feind. Der Brand 
Mostaus war der Wendepunkt feines Gluͤcks geweſen, die an feinen 
Siegesiwagen: gefeffelten Gegner und Verbuͤndeten ermannten fih, nun 
fie durdy den ungeheuren Schlag ihn geſchwaͤcht fahen, zum Abfchütteln 
ihrer Ketten, und die unfäglid mißhandelten Nationen erhoben ſich zur 
Rache. Best waren bie britifhen Unterhändler wieder 
im Zuftandebringen von: Allianzverträgen und jest fund das britifcye 
Gold wieder eine erwünfchte Anwendung. Auch britifhes Blut, zu» 
mal auf ber pyrendifhen Halbinfel, wurde: jegt, minder fparfam als 
früher, für die allgemeine Sache vergoflen; denn jest ober nie 
war endlihe Siegeshoffnung. Gaftlereagh entwidelte in biefer ver- 
hängnißvollen Zeit eine außerorbentlihe Thaͤtigkeit, war perfönlich Theil: 
nehmer am Gongreffe zu Chatillon (1814 4. Febr. bis 19. März), 
Hauptbeförderer des von ihm gleichzeitig verhandelten und mitunterzeichs 
neten Bündniffes von Chaumont (1. März) und Haupttriebfeder 
der Wiedereinfegung dee Bourbonifhen Herrfhaft. Vergebens 
hatte der gebeugte Napoleon bie zu Frankfurt von Seite der vier 
Groß maͤchte mit. feinem Sefandten, dem Baron von St. Aignan, 
verabrebeten Friedensbedingungen augenblidlihh genehmigt (2. Dec. 
1813); Cafllereagh verwarf, was Graf Aberdeen in Eng 
lands Namen unterzeichnet hatte, und eilte nad) dem Feſtlande, um durch 
perfönlihe Verhandlung den zum Untergange bes großen Keindes 
entworfenen Plan der Vollendung entgegen zu führen. Daher blieben 
die Sriedensunterhandlungen zu Chatillon ohne Erfolg. Man madıte 
Napoleon theils nur verftellte, theils ganz unannehmbare Vorfchläge, 
und hob endlich, al® er nad) einigen im Felde errungenen Vortheilen 
die Saiten wieder etwas höher fpannte, den Congreg auf einmal auf. 
Schon damals war ber Plan der Wiedereinfegung dee Bourbone, 
welhen Caſtlereagh frühe gefaßt hatte, der Reife bedeutend näher 
gerüdt und das zu Chaumont geſchloſſene Bündnig, durch welches 
die vier Großmächte fi) aufs Innigſte zur Zerflörung von Frankreichs 
Dräponderanz und „zur Wiederherftellung eines. dauerhaften, auf ben 
Srundfägen des Gleichgewichts und der Unabhängigkeit ber 
Nationen ruhenden MWeltfriedens” und zur eifrigſten Kriegführung, 


Gaftlereagh. 313 


bis ſolches Ziel erreicht fei, verpflichteten, und welches noch zwanzig 
Jahre lang nach gefchloffenem Frieden dauern follte, ſicherte, ſo viel 
menſchenmoͤglich, den Erfolg. 

Bald kam durch neue Siege ber Allürten und durch ben Abfall 
einiger Feldherren Napoleons die Eroberung von Paris (31. Maͤrz), 
duch Talleyrands Hinterliſt aber und des knechtiſchen Senates Ver: 
tath die von England, Rußland und Preußen verlangte und endlich 
auch von Deftreih genehmigte Thronentfegung Napoleons und 
die Reftauration ber koͤniglich Bourbonifchen Regierung zu 
Stande. Doch wurde zu Fontainebleau dem gefallenen Helden 
der Kaifertitel und bie Infel Elba mit einem anfehnlichen Sjahres- 
gehalte bewilligt. Caſtlereagh widerſprach zwar folhen Bewilligun⸗ 
gen, weil blos die völlige Zernichtung des Feindes ihn beruhigen konnte; 
aber erft nachdem der Uebermuth der Reflaurations » und Emigranten- 
Regierung und die auf dem Wiener Congreß entftandenen Zers 
würfniffe einen neuen Hoffnungsftern für den Kaifer hatten aufgehen 
laffen, er aber, nach feinem wundergleihen Triumphzug von Elba nad 
Daris und verheißungsvoll wieder angetretenem Reich, dem Verhaͤngniß 
bei Waterloo erlegen war, gelang es Caftlereagh, feinen Daß 
vollkommen zu befriedigen. Die Geſchichte jedody hat den Bruch des 
Gaſtrechts an dem vertrauend ſich felbft überantwortenden und die dem 
großen Gefallenen zugefügte fechsjährige Kerkerpein nicht unter bie Züs 
ge der britifhen Großmuth verzeichnet. 

Welches war nun die Richtung der Politit Caſtlereaghs nad 
Napoleons Fall und dee Wiedbereinfegung der Bourbone? 
Durch diefe MWiedereinfegung mar ein Princip aufgeftellt worden, wel 
ches die englifhe Revolution von 1688 verbammt und der 
Nechtsbeftändigkeit de von dem wirklich in Großbritannien herrfchens 
den Hauſe befeffenen Thrones den Krieg erklärt oder ihr hoͤchſtens 
noch die auf dem factifch eingetretenen Ausfterben bes Haufes 
Stuart ruhende Stüge übrig läßt. Es war ein Princip aufgeftellt 
worden, welches die Völker irre machen muß an ber Rechtsbeſtaͤndig⸗ 
keit irgend einer, wenn auch ſchon lange beftandenen und von den 
übrigen Staaten feierlich anerkannten, doch urfprünglic etwa in Folge 
einer Ummälzung oder auch eines fremden Machtgebotes an die Stelle 
einer andern getretenen Regierung, und welches nothwendig zu den un: 
auflösiichften Selbftwiderfprüchen oder zu den verderblichſten 
Conſequenzen fuͤhren muß. 

Wenn die Legitimitaͤt die rechtliche Unaufloͤslichkeit 
des Bandes bedeutet, welches einmal zwiſchen einem Fuͤrſtenhauſe und 
einem Volke beſteht, und die rechtliche Moͤglichkeit oder Nothwendigkeit 
von deſſen Wiederherſtellung, wenn es laͤngere oder kuͤrzere Zeit hindurch 
factiſch zerriſſen war: fo werden wohl nicht nur bie Fuͤrſten, denen 
gegen ihren Willen die Voͤlker, fondern aud die Völker, welchen 
gegen ihren Willen die Fürften genommen wurden, darauf ſich berufen 
können, und es möchte felbft der Ausdruck Kürft als allgemeine 


314 Caſtlereagh. | . 


Bezeichnung Überhaupt einer rechtmäßigen Regierung — ohne Uns 
terſchied, ob republikaniſch oder monardifh — gelten. In biefer 
Annahme aber war fiherlih Lord Caſtlereagh mit fih ſelbſt im 
großem Widerſpruch, wenn er einerfeits bie Boucbone — und 
zwar nicht vermöge Kriegs rechts, fondern ganz eigens unter dem 
Zitel der Legitimität — auf den Thron von Frankreich ſetzte, 
andrerfeits aber die Hälfte dee Sachſen an Preußen und drei 
Viertheile dee Polen an Rußland und fchon früher die Norweger 
an Schweden geben ließ, wenn er die Republit Genua (und zwar 
den feierlichen Freiheitös Verfprechungen des britifchen Befehlshabers zu⸗ 
wider) an den König von Sardinien, und das beigifhe Voll au 
jenen von Holland verfchenkte; wenn er bie unter deffelben — als 
Ufurpator geächteten — Napoleons Autorität geſchehene Mediatiſi⸗ 
tung fo vieler deutſcher Fuͤrſtenhaͤuſer gut hieß und bekräftigte (eben 
fo audy bie Unterdrädung der geiftlihen Fuͤrſtenth uͤmer) unb 
überhaupt bei ber theils neu getroffenen, theils fchon vom Rheinbunde 
berrührenden Vertheilung der dbeutfhen Länder und Völker 
bet mannichfaltigft Berreißung alter, legitimer Bande genehm hielt ober 
tigte. 

Aber noch ſchlimmer als die Widerſpruͤche waren die Conſe⸗ 
quenzen des Caſtlereagh'ſchen Syſtems. Das ehevor der britiſchen 
Politik eigenthuͤmlich geweſene Princip, Schuͤtzer der Schwachen gegen 
die Starken, Huͤter des Gleichgewichts, Vertheidiger der Unabhaͤngigkeit 
und Selbſtſtaͤndigkeit auch der kleinern Staaten, ſowie der Freiheiten 
der Voͤlker zu ſein, mußte jetzt aufgegeben werden, da die innige Ver⸗ 
einigung der drei militairiſchen Continental⸗Großmaͤchte und das von. 
denſelben ſeitdem behauptete Recht, auf Congreſſen gemaͤß gemein⸗ 
ſchaftlicher Verabredung die Angelegenheiten des ganzen Welttheils zu 
ordnen, von Selbſtſtaͤndigkeit der kleinern oder ſchwaͤchern Staaten 
nur den Schall noch uͤbrig ließ. Zwar wurde der Beitritt zur „hei⸗ 
ligen Allianz“, melde jener Vereinigung noch eine bekraͤftigende 
Weihe und eine wegen ber Unbeſtimmtheit der Ausdruͤcke hoͤchſt dedenk⸗ 
liche Richtung gab (f. den Art.), von England abgelehnt, doch nur 
darum, weil bie Conftitution nicht erlaubte, daß bee König per» 
föntich, ohne Mituntergeihnung eines verantwortlichen Miniſters, ein 
Buͤndniß fchließe; aber die Grundfäge jener Allianz wurden foͤrm⸗ 
lich von ihm gebilligt, und auf ben Gongreffen, zu welchen es 
(fowie fpäter au Frankreich) mit eingeladen ward, gab ed entweder 
feine Zuſtimmung zu den Befchlüffen der militairiſchen Großmaͤchte, 
oder that dagegen nur Fruchtlofe Einfpradhe. In den großen Anges 
legenheiten des Welttheils fpielte England von nun an bis zu Canning’s 
Erhebung eine blos untergeordnete Rolle. Es war uͤberfluͤfſig zur 
Mithülfe oder Durchführung des von den brei oder vier andern Maͤch⸗ 
ten Befchlofienen und un vermoͤgend zum wirkſamen Widerſtand. 
So befchräntte es fi bei dem Principien⸗Krieg Defterreih6 gegen 
Neapel und Piemont auf eine wage Erklaͤrung über bie Unzuldfs 


Caſtlereagh. 315 


ſigkeit eines uͤberhaupt oder als Regel anzuerkennenden Inter⸗ 
ventionsrechtes, geſtand aber in dem gegebenen beſtimmten 
Falle das Recht Oeſtreichs zu. So widerſprach es zwar — doch 
erſt nach Caſtlereagh's Tode — der auf dem Congreß von Verona 
näher verabredeten (im Grunde aber ſchon früher beſchloſſenen) unheil⸗ 
vollen Intervention n Spanlen; aber — es ließ fie geſchehen oder 
vermochte nicht, ſie zu hindern; ſo endlich war es durch die Conſequenz 
des ſtrengen Legitimitaͤtsprincips genoͤthigt, die Erhebung der ſuͤdame⸗ 
rikaniſchen Colonien wider das druͤckende Joch des ſpaniſchen 
Mutterlandes und jene ber ungluͤcklchen Griechen gegen ihre barbari⸗ 
[hen Zyrannen zu verdbammen. Ef Canning, welcher Caſtle⸗ 
reagh im Minifterium nachfolgte, Hat einige wirkfame Schritte zu 
Gunſten biefer die Theilnahme der Welt fo vielfach anfprechenden Voͤl⸗ 
Ber gethan und ben Weg zur fpdtern Anerkennung ihrer Selbſtſtaͤndig⸗ 
keit gebahnt (f. d. Art.). 

Caftlereagh, welchen neben feiner im Allgemeinen torvſtiſchen 
Sefinnung noch insbefondere die abgoͤttiſche Verehrung für Pitt, ber 
fanatifche Haß gegen Frankreich und Napoleon, ber Stolz über den endlich 
errungenen glorreihen Triumph, bie Dankbarkeit und die Schmeicheleien 
der hohen Häupter Europa’s und die durch den Wiberfland der Frei⸗ 
gefinnten im britifchen Volk gereizte Exrbitterung zum entfchiedenen Ans 
bänger der von der heiligen Allianz aufgeftellten politifchen Grund⸗ 
füge nad, Außen und zum heftigen Reactionsmann im Innern 
gemacht hatten, ſah gleichwohl — mie eine Ihm günfligere Meis 
nung behauptet — endlich ein, daß ber von ihm eingefchlagene 
Meg zum Unheil führe, dag Großbritanniens Ehre, Macht und Wohl⸗ 
fahrt dadurch empfindlichft verlegt und bie traurigften Rüdfchritte auf 
den Bahnen der edlern Clviliſation herbeigeführt würden. Von Selbſt⸗ 
vorwürfen und bittrer Reue gequält, fet er des Lebens überbrüffig ges 
worden und habe, an ber Möglichkeit verzweifelnd, das gethane Uebel 
wieder gut machen zu können, ſich felbft entleibt. So viel ift gewiß: 
eine Gemuͤthskrankheit kam über ihn, ob aber aus allzugroßer 
Geiftes s Anftrengung, ob aus Furcht vor feinen tagtäglich ſich mehren⸗ 
den Seinden, oder ob aus Kuͤmmerniß über die ſich drohend verdun⸗ 
kelnde innere und dußere Lage Englands, oder endlich aus phyſiſchen 
Krankheitsurſachen herruͤhrend, iſt natärlih ungemif. Genug! am 
12. Aug. 1822 fchnitt er fi auf feinem Landfig North>Cray 
naͤchſt London mit einem Federmeſſer die Pulsadern bes Halfes durch 
und fiel todt in die Arme des eben eintretenden Arztes, Es geſchah 
diefes ein Paar Tage vor ber feftgefegten Abreife des Minifters nad) 
Wien, allwo feit einiger Zeit die vorbereitenden Verhandlungen zum 
Gongrefje von Berona gepflogen wurden, und nad Verona felbft, 
wo in der Mitte October der verhängnißvolle Congreß wirklich begann. 
Bon ber nad) Caſtlereaghs Tode durch Canning, feinen Nachfolger, 
fofort geänderten Politit Englands und deren mächtigen Cinwirkun⸗ 


316 Caſtlereagh. Cautelen. 


gen auf den Gang der Ereigniſſe und das Shieſel bee Welt rebet 
umftändlicher der Artikel Canning“. 

Ba einem Staatsmann iſt bee öffentliche Charakter bie 
Hauptfache und bie Verwerflichkeit beffelben kann durch Beine Privats 
Tugenden geheilt werben. Webrigens find auch ſolche Tugenden — als 
Zeutfeligkeit und Mohlwollen im perfönlichen Umgang, Mäfigung, Ders 
ſoͤhnlichkeit, Wohlthätigkeit u. f. w. — allzu oft nur bios dußere Form 
oder Heuchelei. Der Staat, die Welt fordern die ih nen frommens 
ben Tugenden des Staatsmannes; die etwa gegen Kreunde, Ges 
feltfchafter oder Familienglieder geübte berührt fie nicht. 
Caſtlereagh, nad dem Urtheil feiner eigenen Mitbürger, d. b. des 
edlern, freifinnigen Theiles derfelben, als deren Organe wir nur Lord 
Byron und die Herausgeber ber Times anführen wollen, war ein 
Defpot, den feeiheitlichen und tosmopolitiihen Keen entfrembet, 
fein würbdiger Genoffe einer zur Erkenntniß des Vernunftrechts er: 
wachten Zeit und einer zum Schirm ſolches Rechtes duch ihre Stel 
lung ganz eigens berufenen Nation. Bon den etwa dibertriebenen Vor⸗ 
mwürfen des, wie man mitunter wegwerfend fagt, radicalen Mors 
ning Chronicte und von den durch die erfahrene Mißhandlung ſehr 
erklaͤrbaren Schmähungen, welhe Napoleon (f. Lab Cafes Me 
moiren Bd. VII.) über ihn ausgoß, mögen wir alfo mwegbliden. Was 
aller Welt klar vor Augen liegt, reiht hin zur Begründung des oben 
ausgefprochenen (auch durch die feitherige Richtung feines Halbbruders 
und Erben feines Titels, Londonderry, beiräftigten) Urtpeis. 


Gatalonien, f.e Spanien. 

Satafter, f. Katafter. 

Catholicismuß, f. Katholicismus. 

Gautelen, Gautelarjurisprudenz. Unter Gautelen vers 
fleht man wörtlich Klugheits⸗ oder Vorfichtsregein. Vorzugsweiſe aber 
nennt man diejenigen Klugheitsregeln Gautelen, durd) deren Befolgung 
man bei Eingehung und Abfchliegung vechtlicher Gefchäfte und bei der 
Abfaffung von Urkunden über diefeiben, 3. B. bei Teftamenten, Ber: 
trägen, bei Bürgfchaften, Anlehen u. f. w., Schäden und Einreben 
möglichft vorzubeugen und die Gefchäfte fo vortheilhaft und für die Ges 
genpartei fo bindend wie moͤglich abzufchließen hoffen darf. Man hat 
fogar den Inbegriff ſolcher WVorfichtsregeln unter dem Namen Caute: 
larjurisprudenz- zu einem befonderen Theil der Rechtswiſſenſchaft 
erheben wollen. Zum Theil berubte die frühere Wichtigkeit dieſer Cau⸗ 
telen darauf, daß die Gefchäfte feüher mit fehr vielen gefeßlihen und 
durch Gebrauch eingeführten, jegt Gott Lob immer mehr veraltenden For: 
malitäten eingegangen und oft auch wegen Unterlafjung berfelben von ber 
Gegenpartei angegriffen oder dyifanirt wurden. Freilich iſt zu aller Zeit 
geoße Klugheit bei Eingehung rechtlicher Geſchaͤfte nöthig, um nicht in 
Schaden zu fommen. Der befte Unterricht darüber für verftändige Buͤr⸗ 
ger iſt die Deffentlichkeit der Rechtspflege. Sm Einzelnen 


Genfur. 317 


Eönnen dieſe Regeln nur aus der rechtlichen und politifhen und oͤkono⸗ 
mifhen Natur und aus den gefeglichen Normen dee einzugehenden Ges 
ſchaͤfte und aus beren richtiger. Auffaffung abgeleitet werden. Im Als 
gemeinen ift Welt- und Menfchentenntniß, befonnene Ruhe, und, ba 
kein Wort wahrer ift, als das Sprühmort „ehrlih währt am 
Längften”, Offenheit und. Beflimmtheit die befte Cautel. Melder. 

. @enfur als Sittengeriht in alter und neuer Beit. 
I. Die Staaten des Alterthums hielten bekanntlich -Sittengerichte für 
weſentlich nothwendig und zwar nicht etwa bie rein religisfen oder 
moralifchen, welche vorzüglich in früheren noch mehr theokratifchen Zei 
ten ftets die geiftlichen. Behörben bilden, ſondern auch politiſche: 
So war In Sparta jeder reis ein Sittenrichter für die Süngeren: 
Die Ephoren aber übten ein. allgemeines Sittengericht aus vorzüglich 
auch‘ über die Beamten und felbft über bie Könige ”.. An Athen 
batte die: ehrwuͤrdigſte Staatöbehörbe, der Areopag, eine allgemeine 
fittenrichterliche Gewalt. Der Senat aber, die Archonten und.vors 
züglid) die Theömotheten.und: dann die Euthynen und Logis 
ften waren noch insbeſondere fittenrichterliche Behörden fuͤr bie verſchie⸗ 
denen GClaffen der Beamten; melde: vor dem Beginne ihres Amtes 
(durch die Dofimafle) und. während beffelben. und .nady feiner Been⸗ 
digung (durch bie Euthnne) .firemger ;. Öffentlicher. Prüfung und Ne 
chenſchaft auch über ihren fittlichen Wandel unterworfen waren Ya ‚Aug 
Karthago hatte feine Sittengerichte. : 

If. Doch eine volffomnmere Aushilbung. und’ größere Wietſemteñ 
erhielt kein Sittengericht jemals; als während der ganzen ſchoͤnſten Zeit 
der Republik die roͤmiſche Cenſur“!“). Bekanntlich hatte der vor⸗ 
legte roͤmiſche König Servius Tullius das geſammte roͤmiſche Volk 
nach dem Vermoͤgen in ſechs Claſſen und dieſe in Centurien und 
zugleich die fünf erſten Claſſen, alfo mit Ausſchluß der ſechſten, der 
Proletarier, die blos Kopfgeld zahlten, in Tribus abgetheilt. Nach 
jener Abſchaͤtzung des Vermögens (Genfus) und ben auf fie gegruͤn⸗ 
beten Abtheilungen hatte er zugleich die Steuern unb Kriegsdienfle und 
den Antheil eines jeden an dev. Regierung bed Staats beflimmt. Diez: 
mit‘ nun. verband er eine allgemeine öffentlihe Mufterung, und 
diefe wurbe jedesmal mit einem feierlich dargebrachten Sühnopfer 
(Suovetaurilia) zur Entfündigung ober Reinigung (Luſtra⸗ 
tion) des ganzen roͤmiſchen Volks beſchloſſen 7). Nach ber Vertrei⸗ 


S. Tittmann, griehifhe Staatsverf. ©, 108 ff. 
) Tittmann a. a. O. ©. 251. 255. 258. 262. Wachſsmuths Hel: 
len. Alterth. I, 1. ©. 1%. 8 

»ee) Ueber fie handeln außer feüberen Schriftftellern neuerlich vorzüglich 
Niebuhr in feiner römifhen Geſchichte, Hüllmann im StaatEs 
reht des Alterthums und Jarke, Darflellung des cenſoriſchen 
Strafrehts der Römer. Bonn —8 

fy Livius 1, 42. 43. Dionys v. H. 4, 15. Varro 5,2. Festus 
— Detannt ik die jährliche —* gung bes ganzen hebraͤiſ 9 en Volks. 

01. . " 


318 Genfur. 


bung ber Könige: wurde ber Genfus mit jenee Duflerung unb dem 
feierlihen Reinigungsopfer zuerft vor den zwei Eonfuln vorgenommen 
und zwar der Regel nach aller Fünf Jahre, welcher Zeitablauf von jes 
nee Reinigung nun Luftrum gerannt wurde. Seit dem Jahre bes 
Stadt 312 aber wurden aller fünf Jahre zwei befondere höhere Staates 
beamte, die Genforen, zu biefen und einigen andern _Gefchäften ers 
- wählt. Bor ihnen mußten alle römifhen Bürger erſcheinen, ihre und 
ihrer Väter und Großvaͤter Namen, ihr Alter, ihre Weiber und Kins 
der, ihe Vermögen, Grundſtuͤcke, Sklaven, Vieh und deſſen Geldwerth 
angeben. Sie wurben aledann von den Genforen in bie Buͤrgerrollen 
umd zwar in bie angemeffene Glaffe und Genturte und Tribus, unb 
zum Xheil in den ber Megel nach früher aus ben altbärgerlichen ober 
patriciſchen Geſchlechtern gebildeten Senat und in bie früher regelmäßig 
theils aus Patriciern, theils aus bevorzugten plebejiſchen Gefchlechtern 
gebildete Reuterei oder in den Stand ber Ritter eingefchrieben. und nady 
diefer Einfchreibung Sffentlich verlefen *) Diefe Schäsung und Mus 
flerung bes Volks in Verbindung mit jener alten Idee ber Reinigung 
und zwar zuerft einer religioͤſen, dann aber immer mehr auch einer pos 
ltifchen, ober eines Reinigung bes ganzen palitiſch berechtigten Volks⸗ 
koͤrpers und feiner höheren Abtheilungen, feiner Gewalten iind Staͤnde 
von öffentlicher Wefledung:. und von .unmürdigen Gliedern wurde bald 
zu einem voliftändigen allgemeinen politiichen Sittengericht ausgebilbet. 
An Verbindung mit dem Cenfus-übten: die Cenſoren als „Wächter 
„und Regierer dee Sitten, oder ber ‚Sitten der Vorfahren, als. Erhalter 
„der Öffentlichen Ehre und Schaam und bed aͤffentlichen Anſtandes⸗ 
alle Fünf Sabre eine Cenſur ber Sitten über das römifche Volk 
feierlich und oͤffentlich aus *). Sie bildeten zwar im Gangen nach 
dem Vermoͤgen bei dem Senat und den Rittern, in der fruͤheren Zeit 
nach der Abſtammung, jene verſchiedenen Verzeichniſſe und Abtheilun⸗ 
gen der Nation. Aber ſie verſtießen diejenigen, welche ſich ihrer Buͤr⸗ 
gerwuͤrde oder ihres Standes unwuͤrdig betragen hatten, durch Auslaſ⸗ 
ſung in dem beſtimmten Verzeichniß mit der Bemerkung des Grundes 
(cenſoriſche Note) aus ihrem Stande oder durch Verſtoßung aus 
ihrer Tribus ſogar unter bie Claſſe der Aerarier (Proletarier, Gas 
pite Cenſi, Caͤriten), welche von allen politiſchen Buͤrger⸗ oder Stimm⸗ 
rechten wie von allen Würden ausgeſchloſſen waren ). Sie lohnten 
umgekehrt auch beſondere Verdienſte und hoͤhere Wuͤrdigkeit durch Ein⸗ 
zeichnungen in höhere Abtheilungen *). Sie bildeten alſo gewiſſer⸗ 


») Cicero ja Rullum 11. de legib, 3, 8 kivius 4, 8. 9, 87. 48, 14. 

*) Livius 4, 8. A, 18. 40, 46. 42, 9. Cicero de legib. g, 8. ia 
Pison. 4, Plutard im Cato 16. und im P. Aem. 38. 
#0) Livius 27, 11. 34, 44. 38, 28, 40, 51. Jarke a. a. D. ©, 83. 
- Die Ausfchließung ber unter die Aerarier Verfegten (alfo auch aller Aerarter?), 
gleich den Paria’s, feibft von ben oͤffentlichen Opfern, bat Dr, Jarke ebenfo 
wenig bewieſen, ale die Urfprünglichkeit der GSenjur. 

+) Bonaras 7,1% Eiv.8,7. 45,15. Gellius 5, 18. 


Genfur. 319 


maßen, unb wenigſtens für ihre Amtsperiode und für die Ausübung 
alles politifyen Rechts, den ganzen politifchen Volkskoͤrper und alle pos 
Utiſchen Stände und Gewalten bes Staats nad der Würbigkeit. 
Cie nahmen auch Statuen weg, welche ohne Beſchluß des Senats oder 
Volks Jemandem zur Ehre gefegt warm ). Niemand aber konnte fich 
ihrem Gericht entziehen. Denn wer fih dem Cenfus und der Cen⸗ 
fur entzog, wurde angefehen als felbft auf feine Buͤrgerwuͤrde verzich⸗ 
md und ald Sklave fammt feinem Vermögen verlauft "). Daß biefe 
ungeheure Gewalt in Verbindung mit jener religiöfen Reinigung bie 
Würde der Genforen über alle andere Staatswuͤrden erhöhte, fie zur 
beiligften wie zur böchften machte, iſt begreiflich “). Feſtus ſagt: 
„Zn einer religioͤſen Verehrung fteht vor allen bie Majeftät des Gen- 
„ſors.“ Ebenſo natürlich iſt es, daß bie cenforifhe Note außer 
ordentlich gefürchtet wurde. Als Strafe zur Erhaltung ber ‚Öffentlichen 
Ehre und Schaam und ber Achtung ber Sitte war fie ihrem Wefen 
nach eine höchft empfindliche Ehrenftrafe, eine Schande, als Era 
haltung der Würde und Reinheit des politifchen Volkskoͤrpers und ſei⸗ 
ner höheren Abtheilungen war fie politifhe Degradation und 
Ausftogung +). Cicero fügt: „Mit einem von ber cenforifchen 
„Schande Betroffenen mochte Niemand mehr Gemeinſchaft und es 
„Thäftsverbindung. haben. Kein Verwandter mochte ihn zum Vormund 
„erwaͤhlen; Niemand ihn befuchen, mit ihm umgehen oder zu Gaſt 
„figen. Alle vermieden und vergbfcheuten ihn, wie ein verberbliches 
„hier, wie einen Peſtkranken. “ 

Die Macht der Cenſoren war jeboch auch wieder durch mehrere Um⸗ 
ſtaͤnde ſehr weiſe ermaͤßigt. Die Cenſoren wurden nur einmal und 
nur für einen einzigen Act ber Cenſur erwaͤhlt und zwar einerſeits 
aus Männern, die [hen in: den andern hoͤchſten Staatsämtern, na⸗ 
mentlich als Conſuln, ſich als des höchften Zutrauens würdig bewährt 
batten, feit 404 in ber Regel einer berfelben aus den Reihen der Pa⸗ 
tricer, einer aus den. Reihen ber Plebejer. Sie wurden andrerfeits ers 
nannt durch die beiden Volksverſammlungen, fo daß die mehr plebes 
jifche, die der Tribus, fie der mehr ariftofratifchen bee Genturien 
zur Beftätigung vorſchlug. Dabei noch mußten ihre Beſchluͤſſe einftims 
mig fein, fo daß der Widerfprudy des Einen eine. cenforifche Note durch 
‚den Andern unmoͤglich machte +}). Auch dauerten ihre Beſtimmungen 
nicht etwa fo, wie eine gerichtliche Infamieſtrafe, immerwaͤhrend, ſon⸗ 
bern nur bis zur naͤchſten Mufterung, wo denn bie neuen Genforen: 


®) Livius 4, 8. 39, 44. Plin. H. nat. 84, 4, 
**) Cicero pro Caec. 24. Dionysv. 9. 4, 15. 
”., Livius 4, 8. Plutarch a. a. D. 


+) Cicero pro Cluent. 14. de republ. 4, 6 u. Asconius ad Cie, in Verr. 
ed. Lugd. p. 20. 


+t) Cicero in Rullum 11. 


320 Cenſur. 


dieſelbe nach Belieben erneuern oder aufheben konnten, welches Letztere 
fie bei der cenſoriſchen Strafe ſogar gewoͤhnlich thaten). So wie nun 
[hen durch diefed Alles, fo wurden die Genforen vollends durch die voll⸗ 
ommene Freiheit und Deffentlichkeit eines ganz republilanifhen Lebens 
von ſelbſt wahre Organe der Nationalüberzeugung, Ahnlich wie bie 
Praͤt oren bei allem ihrem Recht zu neuen Beſtimmungen bay nur 
die lebendige Stimme des Nationalrechts genannt wurden (f. Billig« 
teit). Und‘ nur dadurch und durch ihre Achtung ber nationalen Ueber⸗ 
zengungen konnten ihre Urtheile det Regel nad) jene große von Eicero 
befchriebene Wirkfamteit erhalten und: behaupten. Ste müßten um fo 
mehr nur treue Organe jener Naffonatüberjeugungen fern, da’ bei offen⸗ 
barem Widerſpruch mit denfelben ‚oder 6 —— — eine eins 
ſtimmige Einſprache (Veto) der Volkstribunen gegen ihre allge⸗ 
meinen Vorausverkuͤndigungen oder Ebiete über bie Grunbſaͤtze Ihres 
Verfahrens bei Antritt ihres Amtes) oder gegen ihre beſonderen Be⸗ 
ſoug ſicher ihre allgemeine verhindernde Kraft ausgeuͤbt hätte ”"), und 
da endlich, auch ohne eigentliches Appellatiönsrecht von ihren Beſchluͤſſen, 
dieſelben doch noch: außerdem infofern unter ber hoͤchſten —— 
der Nation ſtanden, daß dieſe bei ihren Wahlen zu den hoͤchſten States 
würden ſich am eine ihre ungerecht ſcheinende cen ſoriſche Nöte nicht 
band. So -hatten’z: B.'die Genforem. den Mamercus, weil er: als 
Dietator durch Votksgeſetz bemkkt ' Hatte, daß die Genfdren: von: den 
fünf Zahren des Luſtrums nur eins and ein halbes ihre Würde bes 
hielten, fo daß waͤhrend der übrigen Zeit des Luſtrums keine Cenforen 
exiſtirten, im Verdruß aus dem: Smat;jd’aus feiner Tribus imb alſo 
unter die Aerarier verſtoßen. Schon bald nadıher. aber waͤhite ihn das 
Volt aufs Neue zum Dietafor +): 

An Beziehung auf die Grunbfäße, deren Birlekungein die‘ cenſo⸗ 
tiſchen -Strafen nach ſich zogen, fand ebenfalls Beſchraͤnkung und 
eine Abſonderung derſelben von reiner Moral ſtatt; eine Beſchraͤnkung 
fowohl in Beziehung auf die Sorm, wie in Beziehung auf den 
Gegenftanb. Eine Beſchraͤnkung in Beziehung auf bie Form 
begränbeten in gewiſſer Maße fchon jene Borausverfändigungen in den’ 
cenforifhen Edicten. Es follte aber auch die Genfur als Organ 
der wahren Nationalanerlennung Grunbfäge der auch poli⸗ 
tiſch anerkannten. Staatsreligion erhalten, vorzüglich aber alte, väterliche 
oder nationale Sitten (mores, mores majorum, mit weldyen Worten’ 
die römifchen Juriſten einen ſtiliſchweigenden Willen oder 
Gonfens des Volks und das Gemohnheitsrecht bezeichnen, und bie 
jedenfalls eben fo fehr, als die Anftandsregeln etwas objectives, 


*) Cicero pro Cluent. 43. Ascon. a. a. O. 
**) Plin. 8, 72. 77. 82. 13, 5. 1%, 16. Gellius 15, 11. Cornel.N. Cato 2. 
”.*) Eivius 24, 31. 29, 37. Baler. Marimus 7, 2,6. Plinius 
7,4. Gellius 3, 4. 
+) Livius 4, 24. 9, 30. 


> Cenſur der Sitten. 321 


allgemein erfennbares Hiſtoriſches )), nicht fubjective, moralifche 
und philofophifche Ueberzeugungen waren). Die Beſchraͤnkung dem Ge; 
genflande nad lag darin, daß die Genfur nur basjenige beftrafte, was 
nad) dee Staatsreligion und nad) diefen Mores ber Staatsbuͤr⸗ 
gers und Standesehre und Wuͤrde, und ber Wuͤrdigkeit ber einzeinen 
politifhen Perföntichkeiten und dee politifhen Gorporationen widerfprach, 
was in diefem Sinne — wie Niebuhr fi ausdrüdte — „bie Dfliche 
„ten gegen Staat und Stand verletzte“. Es war alfo nah Form 
und Gegenftand eine nicht blos fubjective, fondern objectiv und 
wirklich politifhe, gewiffermaßen jurifliifhe Ehrbarkeit 
(honestas), welche die Genfur erhalten follte. Keineswegs follte fo, wie 
Jarke es darſtellen möchte, die reine und bie ganze Moralie 
tät und Privarttugend, worüber zuletzt ſtets fubjective Geo 
fühle und Gewiffensüberzeugungen entfcheiden, Gegenftand, 
es follte nicht eine fu bjective Sewiffensrichterei Aufgabeder Cen⸗ 
fur fein. Diefe ſchon in ber ganzen Natur bee Sache und des Inſtituts 
liegende Grundanſicht entfpricht ber juriftifchen Richtung des roͤmiſchen 
Volksgeiſtes. Sie beftätigt fi) auch durch die uns aufbewahrten Bei⸗ 
fpiele cenſoriſch beftrafter Unwuͤrdigkeiten (Jarke, S. 22 ff.). Freilich 
konnten einzelne Cenſoren einmal ihre feine Grenzlinie uͤberſchreiten. 
Unb noch leichter könnte man, fo wie Hr. Jarke, audy In mancher po» 
litiſchen Unwuͤrdigkeit zugleicd) eine Verlegung anderer rein moralifcher 
Srundfäge auffinden. Dennoch tragen alle jene Beifpiele, wenn man 
fie im Zuſammenhang und nad) dem Sinne der gefhichtlichen Quellen 
feibft auslegt, ‚gerade jene Charaßtere ber juriftifchen ober politifchen 
Unwuͤrdigkeit an ſich. Es wurden nicht reine. Immioralitäten und 
Berlegungen reiner Privatpflichten, niemals 3. B. unmoralifhe Härten 
und Grauſamkeiten gegen Weib und Kind, gegen bie Sklaven gerügt. 
. Auch traf die Genfur niemals die Srauen, obgleich doch diefe der richters 
lihen Steafe der Infamie unterworfen waren. Eben fo menig traf 
fie die fo fehe zahlreiche unterfte Volksklaſſe der Proletar 
tier, denen ja die cenforifche Note weder Stimmrecht nod höhere 
Stanbdesehre nehmen konnte. Und es entzog auch die cenforifche Note 
nicht, gleich der gerichtlichen SInfamie, auch Privatrechte. So wider⸗ 
legt ſich denn auch zugleich die andere Hauptanſicht, welhe Hugo 
und Jarke in Beziehung auf die Genfur aufftellen, indem dieſe beis 
den Gelehrten überhaupt leider das große Inſtitut zu einem Beleg 
fo wie für ihre grundverderbliche, gänzliche Vermifhung von Moral 
und Recht, fo auch für defpotifche Regierungs⸗ oder Polizeiwillkuͤr her⸗ 
abziehen. Sie fchreiben ihm nicht blos eine Beſtrafung reiner Immo» 
ralitäten zu, fondern fegen auch feine Hauptbeſtimmung in eigentliche 
polizeiliche und criminalcechtliche Wirkſamkeit. Die Cenſur foll vorzügs 
lich -eine Ergänzung ber Lüden ber Polizeis und Criminalgefege und 


*) S. Dionys von H. bei Reicke p. 2358. Ulpiani fragm. L1.L.'35.D. 
de legib. Livius 40, je p p I 


Staats⸗Eexikon. III. 21 


322 Cenſur der Sitten. 


Anftalten bezwedt und dazu in kurzem, formlofem, inquiſitoriſchem Vers 
führen nad) Gutdünfen Strafverfügungen ausgefprochen haben. Kür 
Biefen Zweck Eonnte die Genfur aber fhon deshalb nicht berechnet fein, 
weil fie ja nach dem vorher Angegebenen die in diefer Beziehung widy 
tigften, zahlreichſten Claffen von Perfonen und Verletzungen gar nicht 
treffen konnte, und auch darum nicht, weil fie, ftatt der dazu nöthigen 
täglichen Wirkfamkeit von mehreren Behörden, vielmehr nur alle 
fünf Jahre ein cinzigesmal von Einer Behörde über die roͤmiſche 
Nation ausgeübt wurde. 

Wohl aber Eonnte das große Nationalinftitut der Genfur jenes 
politifhe Honeftum und die öffentlihe Ehre und Schaam, wohl 
tonnte fie einerfeitS jene anerkannten politifchen altwaterländifchen Eh: . 
vengrundfäge und Eitten und andrerfeits die anerfannte nfdralifche 
Würde, die Ehre, und Achtung der vaterlindifchen Behoͤrden und der 
politiſchen Perfönlichkeiten bewahren und in allgemeiner, les 
bendiger Anerkennung (in ihrer Objectivität) erhalten. 
Sie vermochte dieſes, wenn fie auch nur beifpielöweife einzelne befons 
ders auffallend gemordene, Aergerniß erwedende, Eeiner meiteren Unter: 
fuhung bedürftige Verlegungen jener Grundfäge und jener Würde zur 
erneuerten öffentlichen Heiligung derfelben mit oͤffentlicher Schmach 
brandmarkte und fo am allgemeinen politifchen Reinigungs = oder Ber: 
föhnungstag der Nation den politifhen Volkskoͤrper und feine höheren 
Stände von dieſer Schmady und von den unmürbigften Urhebern der 
felben reinigte. Denke man ſich die ganze moralifhe Wirkung für den 
bezeichneten Zweck, wenn in ber politifd und religiös wichtigften ‚und 
feierlichften Verfammlung des ganzen roͤmiſchen Volks, Senatoren, Rit: 
ter und die ſtimmberechtigten und ämterfähigen Staatsbürger wegen je: 
ner Verlegungen unb als Unmürdige, aus ihrem Stande, aus ihrem 
politifhen Staatsbürgerreht und aus beffen Ehre oͤffentlich ausgeſtoßen 
wurden und wenn dabei die ehrmürbdigften Beamten des Staats, wenn 
ein Genfor Cato von dem hohen, curulifhen Throne herab in oͤffent⸗ 
licher Rede die geſtraften Pflihtwidrigkeiten rügten, die Unwuͤrdigkeiten 
brandmarkten, die altehrwürdigen, nationalen Sitten und Ehrengrunds 
füge des römifchen Staatsbürgerthums vertheidigten *). 

Es traf nun aber, entfprechend dem angegebenen doppelten Zweck, bie 
cenforifche Schande, außer Verbrechen, die auch ſchon criminalrechtlich ſtraf⸗ 
bar waren, fürs Erſte die unmittelbaren Verlegungen ber anerlannten 
Grundlagen ber bürgerlihen Bereinigung und ber bürgerlihen Ehre 
duch den Bruch ber Öffentlichen Treue oder bee Heiligkeit der (ide, 
fodann duch ſchimpfliche, Ehre und Vaterland vergeffende Feigheit und 
durch jedes fhimpfliche Gewerbe. Sie traf fürs Zweite öffentliche, 
unanftindige Verlegung der Achtung gegen bie Staatereligion und die 
verfaffungsmäßigen Gefege und Einrichtungen des Staats, namentlich 


*) Cicero de senectute 12, Liv. 89, 42. 


Genfur der Sitten. 323 


Verletzungen der Achtung gegen obrigkeitlihe Amtögewalt und entweis 
henden Mißbrauch derſelben und der politiſchen Rechte uͤberhaupt, vor⸗ 
zuͤglich auch Beſtechlichkei. Es traf fuͤrs Dritte endlich — weil die 
Roͤmer wuͤrdiges eheliches und Familienleben und geordneten Haus 
und Vermoͤgensſtand als Grundlagen und Buͤrgſchaften auch fuͤr die 
politiſche Wuͤrdigkeit und Zuverlaͤſſigkeit anerkannten — die cenſoriſche 
Note auch die Mißachtung ihrer Heiligkeit und Wichtigkeit. Sie traf 
die Verletzung der oͤffentlichen Zucht und muthwillige Eheloſigkeit. Und 
ſie beſtrafte unbuͤrgerliche, verderbliche, ſchlechte Wirthſchaft durch ſchlechte 
Betreibung des altehrwuͤrdigen Ackerbaues, durch Luxus jeder Art und 
durch leichtſinniges uͤbermaͤßiges Schuldenmachen 

All. Auch bei den Germanen finden ſich frühzeitig Sittenge⸗ 
richte. Schon in der erſten Periode der fraͤnkiſchen Monarchie 
bis zum fehlten Jahrhundert beftraften die geiftlihen oder biſchoͤflichen 
Gerichte Vergehungen gegen die chriftlihe Religion und Moral und geo 
gen die Kirchendisciplin mit den kirchengeſetzlich (in den liberi poeni- 
tentiales) beſtimmten Bußen und Strafen und in Außerften: Fällen: 
mit Interdiet und Ausfchließung °). In dee zweiten Meriobe wer⸗ 
den diefe bifchöflidhen Sittengerichte über bie offenkundig gewordenen 
Vergehungen zu den fogerannten Send⸗ oder Synobdbalgerichs 
ten ausgebildet, welche die Bifchöfe jährlih einmal bei dee Kirchenvis 
fitation in jedem Hauptparochialſprengel ihrer Didcefe hielten und in 
welchen einige dazu befonders beeidigte, glaubwürdige Männer bie offene. 
Eundig gewordenen Vergehungen anzeigen mußten. Immer vollftändis 
ger bildete Daneben die hieracchifchstheoßratifche Gewalt zugleich das Beich⸗ 
ten und Abbüßen auch der geheimen Sünben aus ,. nicht minder bie 
Anrufung der Unterflügung des weltlichen Arms zur Verſchaͤrfung der 
geiftlihen Strafen, insbefondere auch durch bürgerlihe Ausſchließung 
der aus der Kirche Ausgefchloffenen ; ferner das Indulgenz⸗ und Ablaß⸗ 
weſen und das iInquifitorifche Verfahren, ja zum Xheil völlige Ketzer⸗ 
und geiſtliche Inquiſitionstribunale °°). 

In ungefaͤhrlicherer und in einer fuͤr froͤmmere Zeiten heilſamen 
Weiſe errichteten auch die Proteſtanten nach der Reformation kirchliche 
Sittengerichte in Gemeinden und Kirchſpielen, Presbpteriatgerichte, Kir⸗ 
chenconvente u. ſ. w. Und wenigſtens in Truͤmmern haben katholiſche 
und proteſtantiſche Sittengerichte und ſelbſt manche nicht geiſtliche theil⸗ 
weiſe Sittengerichte, Ruͤgegerichte u. ſ. w. bis in die neuere Zeit und 
wenigſtens bis zur franzoͤſiſchen Revolution fortgedauert. Ja man hat 
ſelbſt hier und da in neueſter Zeit eine verbeſſerte Wiederherſtellung 
verſucht. 

Bekanntlich hatten hierneben früher die verſchiedenen Stände, na⸗ 


— — — 


) G. oben Bann und Eihhorn Staats: und Rechtsgeſch. 
$. 105. 106. 181. 


) ©. oben 10 und Eichhorn $. 18%. 32. 





21” 


324 Geäfr der Sitten. 


mentlich die Zünfte, alfo mit Ihnen alle Stabtbürger und die Mittew 
orden noch ihre befonderen Sitten» und Ehrengerichte. Und auch biefe 
haben in verfchiebenen Formen ober auch formlos und zumellen in Aus 
artungen bis in neuere Zeiten fortgebauert, bei Officieren und Stuben» 
ten zum Theil durchgeführt durch Duell und Verruf ober durch die 
Erklärung, daß ein Stanbesmitglied unfatiöfectionsfähig fei und man 
mit ihm mit Ehren nicht dienen oder in gefellfchaftlicher Verbindung ſte⸗ 
ben könne. In Frankreich Haben ſich Advokaten und Notare, wenige 
fiens in Beziehung auf eine ehrenhafte Dienftverwaltung, neue Gittene 
oder Disciplinargerichte ausgebildet. Auch fordern bekanntlich gewoͤhn⸗ 
lic der Staat und bie Kirche von den meltlihen und geiftlidhen Be⸗ 
amten ein bee. Würde des Dienftes entfprechendes anfländiges, bie all» 
gemeine Sittlichkeit nicht Öffentlich auf anftößige Weiſe verlegendes Les 
ben und rügen auf: verfchiedene Weife, zumellen auch durch Dienftent 
laſſung, das Gegentheil. Auch in Stänbeverfammlungen verfuchte man 
(dom bie vorzüglich auch dem Recht ber Wähler gefährlichen Aus⸗ 
e 


ließungen. 

IV. Alte dieſe fruͤheren und ſpaͤteren Einrichtungen der Voͤlker ſchei⸗ 
nen wenigſtens die ſo oft von den groͤßten Staatsmaͤnnern ausgeſpro⸗ 
denen Grundſaͤtze anzuerkennen, daß für Erhaltung der Freiheit, Wuͤr⸗ 
de und Kraft der Voͤlker, fuͤr Erhaltung der Ehre und Tuͤchtigkeit ih⸗ 
rer politiſchen Gewalten und Staͤnde und des oͤffentlichen Vertrauens 
auf fie die blos negativen ſtreng juriſtiſchen aͤußeren Freiheitsgeſeze und 
die gewoͤhnlichen Criminalgerichte nicht ausreichen. Und gewiß, fo iſt 
es. Heiligkeit bee Sitte und ber öffentlichen Ehre find die unentbehrs 
Uchen Grundlagen unb Lebenskräfte der Sreiheit und Tuͤchtigkeit ber 
Staaten. Deren Erhaltung und Herrſchaft aber müffen wie Alles, was 
im Staatsieben Kraft und Beſtand haben fol, durch entfprechende Or⸗ 
gane und Einrichtungen geſchuͤtzt und verbürgt werden. Auch felbft bier 
jenigen Politiker, welche Recht und Moral fogar in ihren Grundlagen 
gänzlich zerreißen zu innen glauben, und welche auch bie fittlidhe Aus⸗ 
bildung und Beſtimmung ber Menfchbeit durchaus nicht als Staats⸗ 
zwed anerkennen, finden bennod eine fittenpolizeiliche Vorſorge für 
Erhaltung ber Sittlichleit noͤthig. Die claffifche römifche Jurisprudenz 
erklaͤrte fogar, ohne dabei Recht und Moral zu vermifchen, doch ebens 
fo, wie das altbeutfche Mecht, die Achtung ber fittlihen Würde und 
Beilimmung und die Ehre des Menſchen (honestas und existi- 
matio) als die unentbehrlichen Grundlagen und Grunbbebingungen 
alles Rechts ). Im dem Grade aber vollends, als ein Volk 
die bürgerliche und politifhe Freiheit feiner Buͤrger ausdehnen und bes 
feſtigen, als es vom ihrem Streben und Wollen Einheit, Kraft, Ge . 
fundheit und Ehre des Staats abhängig machen will, in bemfelben 





u oben Bb.I. ©. 11, Weider, Regte Brände ©. 478. Soſtem J. 


Genfur der Sitten. 325 


Stade muß e8 auch bedacht fein, deren Privatintereffen und Privatlei⸗ 
denfchaften durch die Herrſchaſt der öffentlichen Ehre und Schaam, ber 
Heiligkeit und Achtung der religiöfen und bürgerlichen Sitte zu bänbie 
gen, dem Vaterlande unterzuordnen und bienftlbae zw machen. Keine 
andere Gewalt der Erde Hält fonft den natürlichen Eigennus und bie 
unmärdigen, feigen und feilen Gefinnungen ab, die Freiheit der Mite 
bürger und das Vaterland und feine Ehre preiszugeben, fie liflig ober 
gewaltfam zu verlegen. Dieſes lehrt die Gefchichte aller Zeiten und 
aller Völker. Bloßer Zwang iſt nie vollftändig durchfuͤhrbar gegen bie 
Lift und Gewalt der Boͤſen und vollends gerade gegen bie Mächtigeren, 
welche zwingen follen. Die Erkenntnig des Vortheils allgemeiner Rechts⸗ 
befolgung ift ebenfo wenig allgemein und genügend wirkſam gerabe ges 
gen bie gefährlichfte Selbſtſucht, welche zwar die Befolgung von dem 
Andern annimmt, ſich felbft aber auf ihre Koften privilegitt. Die Ges 
fhichte der alten Staaten insbefondere beftätigt ed, was von Rom 
Montesquieu, von Athen Hüällmann ausführt, daß ber Unters 
gang ihrer Freiheit und Ihe fichtbar nahendes Werderben mit dem ers 
fall ihrer GSittengerichte ‚gleichen Schritt gingen. In Rom hatte nach 
Asconius (a. a. D.) früher die Abneigung bed Volks gegen bie 
Strenge ber Genfur ihre Einflellung bewirkt. Balb aber zeigten ſich 
fo fehr die verberblihen Folgen, daß das Volk ſelbſt ihre Herſtellung 
forderte. Später ſank die Cenfur feit ber bürgerlichen Erſchuͤtterung uns 
ter den Gracchen und vollends in ben großen Buͤrgerkriegen. Sie 
erlofch unter den Kaifern, obgleich biefe zuerft mit allen übrigen hohen 
Amtsgervalten auch die Cenfur an ſich riffen, aber natürlich nur für 
die Beförberung ihres Defpotiömus anmendeten,, keineswegs zur Foͤrde⸗ 
eung der Öffentlichen Ehre und Schaam, der Bürgertugend und bes 
Bürgermuths, die ja dem Defpotismus töbtlidh gewefen wären. Ta⸗ 
citus laͤßt daher feinen Thrannen Tiberius (2, 33) die gründliche 
ren ausfprechen, daß für feine Zeiten bie Cenſur nicht mehr 
paſſe. 

V. Aber koͤnnen wir nun jetzt, wo wir aufs: Neue Freiheit umd 
freie Verfaſſungen wollen, in der Straf⸗ und Ausfchließungs⸗Gewalt 
neuer ſtaatsbuͤrgerlicher Genfurgerichte bie rechten Wächter und Pfleger 
der Öffentlihen Sitte und Ehre finden? Können wir durch ‚fie jene 
würdige Bürgergefinnung erhalten, weihe Montesgquieu 
mit Recht als Grundprindp für jedes freie Gemeinweſen forbert und 
soelhe wir bebürfen ‚ weil unfere repräfentativen. Staaten ein freies 
Gemeinweſen bilden ſollen; zugleih aber auch jene von Hofsunfl 
und Hofwillktür und von Höflingsgefinnung unabhäns 
gige Ehre, die er als Grundprinciy jeber wicht defpotiihen Moͤnar⸗ 
hie fordert, die wir aber ebenfalls bedürfen, weil wir ja mit 
ber freien Standfchaft die Erbmonarchie verbinden? Ich glaube Rein, 
Schon darum fürs Erfte würde heutzutage eine Straf» und Ausflo: 
Fungsgetwalt eines Gittengericht® umbucchführbar feht,. weil baffelbe aus 
dee vollkommenen Freiheit und eignen Mebergeugung und Sitte ber 


326 Genfur ber Sitten. 


durch daffelbe zu Michtenden hervorgehen muß, wenn es beilfam und 
nicht deſpotiſch wirken fol. . Es kann alfo nicht vom Hofe oder von 
der monarchifchen Regierung ausgehen. Es wird aber audy nicht ohne 
fie und ohne verderblihe Collifion mit ihr durch ein Volksgericht eine 
fo große, unmittelbar über alle wichtigen Staatsverhältniffe ents 
fcheidende Gewalt ausgeübt werben innen. Jene unmittelbare 
cenforifche Straf s. und Ausfloßungss Gewalt würbe ferner heutzutage 
auch darum nicht heilfam, wohl aber defpotifch wirken, weil wir keine 
allgemeine Staatereligion, überhaupt Beine folhen Grundlagen für bie 
Gemeinſchaftlichkeit der Sitten und der Ueberzeugung von der Gerech⸗ 
tigkeit eines cenforifhen Strafurtheils haben, wie einft die Römer. 
Mit unferem Beduͤrfniß der vollſtaͤndigen geifligen, moralifhen und 
religisfen Weberzeugungsfreiheit und unfern verfchiedenen Lebens = Anficys 
sen und Verhälmiffen würde eine folche in bie Hand einzelner Beamten 
gelegte, ja felbft die-von einer einmaligen unmiderruflihen Stimmen 
mehrheitsentfcheidung des Volks abhängige Straf- und Ausſtoßungs⸗ 
Gewalt ſich nicht vertragen. Sie würde ebenfalld der moralifchen Adys 
tung entbehren und als befpotifch erfcheinen.. Selbft eine kraͤftige 
Durchführung jener, obenermähnten befonberen fittengerichtlichen Eins 
richtungen einzelner. Glaffen und Stände wird megen bdiefer beiden 
Hauptgründe unmöglich fein, obgleich eine weiſe zeitgemäße Einrichtung 
berfelben, ſoweit fie jest noch möglih ift, durchaus nicht verworfen 
werden fol. Ans allerwenigften aber koͤnnen dieſelben ein allgemeines 
nationale® Genfurgericht erfegen. Und dennoch wird deſſen Beduͤrfniß 
für jene großen Aufgaben, zur Eräftigen Erhaltung und Vertheidigung 
der Öffentlichen Ehre und Schaam und zur Einigung einer lebendigen, 
wirkſamen, Öffentlihen Meinung für das Würdige und gegen das Uns 
würdige und Verderbliche bei uns verdoppelt und gerade um ſo groͤßer, 
je mehr jene gegen eine heutige unmittelbare <enforifhe Ausſtoßungs⸗ 
und Strafgewalt fprschenden Verhältniffe uns zu einer hoͤchſt verberbs 
lichen, völlig allgemeinen Auflöfung und Gleichgültigkeit der öffentlis 
den Meinung über das öffentlich Würdige und Heilſame und deren 
Gegentheil führen: koͤnnten. ' ’ 

In dieſer doppelten Noth werben wir bas für uns wohlthätige 
Genfurgericht oder feinen, heilfamen Erfag nur darin finden, ‚worin die 
freien Briten fie fanden, ſeitdem fie nach langer Verwilderung in 
ihren Buͤrgerkriegen immer bemundernswerther allen übrigen Nationen 
ber ‚Erde in der Seeiheit und der Macht, in Volksehre und Qultur 
vorangehen, das heiße, feitdens fie Preßfreiheit errangen., Wir werben 
bie wahrhaft heilſame, jener. roͤmiſchen aͤhnlich wirkende Cenfur jegt 
nur. finden durch ‚Aufhebung derjenigen heutigen Genfur, welche ganz 
entgegengefeßt jener ehrwuͤrdigen römifchen cenforifhen Mufterung die 
möglichfte Freiheit und Kraft der Deffentlichleit und Öffentlichen Mei⸗ 
nung unterdrüdt, ftatt fie bervorzurufen und in Anfprudy zu nehmen, 
welche, wie liberal fie auch fcheinen möchte, boch gerade das für den 
Schutz von Sitte, Freiheit und Recht Wefentiichfke, bie 


Genfur der Sitten. 327 


oͤffentliche Rüge ber gerade gegenwärtigen politifchen Ungebühr und 
Unmürdigkeit der politifchen Gemalten und Perfonen, die Berufung auf 
die Öffentliche Ehre und Schaam gegen ihre wachfende Herrfchaft uns 
terdruͤckt, welche endlih da, mo fie trifft, nicht mit Angabe ihrer 
Gründe vor dem Richterſtuhl der Nation bie begangene offenkundige 
That beftraft, fondern vielmehr im Dunkel, mit Ausſchluß aller Mes 
chenſchaft und Öffentlichen Prüfung, die Ausübung des wichtigften Rechts 
für die Zukunft nimmt und unterdrüdt. Mit andern Worten: das 
wahre und unentbehrlihe politifhe Genfurgericht bes 
ſteht Heutzutage nur In der vollkommenen rechtlichen 
Deffentlihkeit und In der vollkommenen rechtlichen 
Sreiheit ber dffentlihen Meinung des Vaterlandes, in 
der Freiheit der Anklage und der Bertheidigung vor 
thbrem Gerichtshof. Nur fie können heutzutage fo, vote einft die 
eömifche Genfur, die Wächter der Sitte und ber Freiheit, der oͤffentli⸗ 
hen Ehre und Schaam fein. Nur fie Fünnen jest für jede neue 
Bildung der Liften der politifhen Perföntlihfeiten in 
jedem beftimmten Kreife, bei der Wahl der Staats⸗ und Gemeindes 
Beamten, der Wahlmänner und ber Abgeordneten den zu dieſer Wahl 
Berechtigten die zur Prüfung und Entfcheidung ber MWürbigfeit oder 
Unmürbdigfeit nöthigen Gründe vorlegen, wozu nimmermehr dürre ges 
feslihe Beftimmungen geeignet find, wozu kein anderes Sittengericht 
befähigt if. Diefes einzige jegt mögliche Genfurgeriht iſt aber aud) 
zugleich das befte und höchfte aller Sittengerichte. Es befteht in jenem 
göttlichen Gericht, daß die Wahrheit in die Welt kommt. Es befteht in 
jenem Gottesgericht einer ſolchen äffentlihen Meinung, welche fich bile 
bet, indem die erften und wuͤrdigſten Diänner des Baterlandes in 
öffentlicher Nede und in den freien Öffentlichen Blättern mitfprechen 
über die täglichen Erfheinungen ber Gefellfehaftsverhältniffe, und indem 
die Freiheit und Deffentlichkeit von Lob und Tadel alle Betheiligten 
und alle Wiffenden zur genauen Enthüllung ber Wahrheit auffordern, 
indem endlich jebt Alle noch vollftändiger, als bei den Genfurgerichten 
der Alten das Urtheil zuletzt unter die höchfte Entfcheidung der jegt 
mohlunterrichteten, reiflih prüfenden Nation ftellen. So fiegt zulegt 
unvermeidlid) das Mürdige und Rechte in der äffentlihen Meinung 
und findet feine verdiente Ehre wie jedes Unwuͤrdige die verdiente 
Schmach. Diefes Sittengericht aber wird in ber That zerfidrt duch 
bie falfche Genfur, welche gerade bie edelften Beſtrebungen unterdrüdt, 
bie Geſinnungen der Menfhen kleinlich und ſtklaviſch macht, die 
Schmeichelet gegen das Gemeine und Schlechte, deffen Raͤnke, und 
bie im Finſtern fchleihende Schmaͤhſucht gegen die Guten befchüßt. 
Wohl mögen freilich zumeilen herbe Anklagen und Beurtheilungen 
der öffentlichen SPerfönlichkeiten und ihrer Handlungen ale unbequem 
erfcheinen , fo mie einft ben Römern die dennoch alsbald zurüdgerus 
fene Genfur, und auch ungerechte Anlagen mögen -Iaut werden. Auch 
Außern Manche eine Furcht vor verberblichem fittlichen Aergernig gerade 


328 Genjur der Eitten. 


durch die Veröffentlichung ded Unwuͤrdigen. Sind biefes nun ehrliche 
und achtbare Beforgniffe, nicht Vorwaͤnde, gefchöpft in ganz andern 
Quellen, nicht fervile Lobpreifung alle gerade Beſtehenden; überfieht 
man dabei nicht abfichtlih, daß ja ſtets auch alle Firchlihe und welt⸗ 
liche Strafe das Boͤſe befannter machte, daß aber auch bie öffentliche 
Unfittlichleit durch den Ausſchluß öffentlicher Nüge nirgends fih mins 
derte, vielmehr z.B. unter den früheren franzöfifhen Königen bis zum 
Umfturz von Thron und Staat anwuchs; vergißt man endlich nicht, was 
ducch vernünftige Gefesgebung fid) ohne Vernichtung ber Deffentlichkeit 
und SPreßfreiheit befeitigen läßt, alsdann kann man biefe Beſorglichen 
nur an die Erfahrung verweifen. Denn fie find es ja gerade, bie ber 
Megel nad) gegen das klare Recht nur auf angeblich zu beforgende Gefah⸗ 
ven ſich berufen. Mögen fie denn alle Briten nad) ihren anderthalbhuns 
dertjährigen Erfahrungen fragen, ob bei ihnen ein Ehrenmann wahrs 
bafte Beforgniffe für feine Ehre und für bie Hffentlihe Ehre und Schaam 
von Seiten jenes großen Cenſurgerichts der vollen Deffentlichleit und 
Preßfreiheit befürchtet, ob ihnen nicht vielmehr unter der Herrſchaft 
deſſelben der Sieg und die Öffentliche Anerkennung biefes einzigen wuͤr⸗ 
digen Lohns der wahren Ehrenhaftigkeit, ſowie die öffentliche Schmach 
und zulegt die Ausftoßung wahrer Unmwürdigleiten und der unmürbigen 
Glieder noch ungleich verbürgter fcheint, als felbft unter einer roͤmiſchen 
Genfur? Sicher jeder Brite wird die unermeßlich wohlthätige Wirk⸗ 
famkeit jenes Genfurgerichts der neuen Zeit für Erhaltung und Wirk⸗ 
ſamkeit der äffentlihen Moral und Ehre, für Entwidelung bed patrios 
tifchen Gemeingeiftes und edlen Wetteiferd anerkennen und bem großen 
Pitt darin beiftimmen, daß tücdhtige Staatemänner nur im Sonnen 
fein ber Publicität gebeihen.- Won der Sittlichkeit und Ehre ober 
dem Verderben der politifchen Gewalten und Beamten aber hängen 
Sittlichkeit und Ehre ober Verderbniß eben fo fehr, wie die Freiheit 
und Kraft oder die Sklaverei und Schmah der Voͤlker ab.  Entweber 
ift eine Nation unrettbar tief geſunken und geht jedenfalls Ihrem Ver⸗ 
derben in ber erflen großen Gefahr entgegen. Dann freili mag 
nichts helfen. Oder das Gute und Rechte hat noch Lebenskraft in 
derfelben. Dann vertraue man dieſem Guten und dem mächtigen 
Triebe der öffentlichen Ehre und Schaam und fchaffe ihnen freie Bahn. 
So wie alsdann das Ehrenwerthe und die öffentlihe Schande nur 
laut werden, fo fiegen fie über das Schlechte und die Halbheit, auch 
wenn fonft und im Dunkel die große Mehrzahl für fie fein 
würt“ Mögen daher die Wohlmeinenden die Beforgniffe gegen bie 
freie Wahrheit aufgeben! Im Dunkel, da mwuchern die Lüge und 
Selbftfucht, die Feigheit und die Beſtechung, die Lift und bie Jaͤm⸗ 
merlichkeit, und darum eben lieben fie das Dunkel und fcheuen bas 
Licht. Altes Gute aber — fo fpriht ja auch bie tieflte und bie ſitt⸗ 
lichfte aller Lehren e8 aus — Alles Gute und Tuͤchtige erträgt und 
liebt das Licht und gedeiht in dem Licht. 6. Th. Weider. 


Genfur der Druckſchriften. 329 


Genfur ber Drudfhriften. 

L Einleitung Nichts — fo hört man jetzt oft fagn — nichts 
fei fo genügend beſprochen, als Preßfreibeit und Cenſur. Gerade ums 
gekehrt aber fcheint für ung Deutfche eine noch vollftändigere, leidens 
fchaftelofe, aber audy) ungehemmte öffentliche Prüfung und eine endliche 
Verftändigung Uber Leinen andern Punkt fo mefentlid zu fein, ats 
über Preßfreiheit und Cenſur. Giebt es ja doch, wie die Freunde und 
die Seinde von beiden auf gleiche Weiſe anerkennen, nichts Einflußrei⸗ 
heres und Wichtigere® für unfere gefellfchaftlichen Verhaͤltniſſe als ges 
rade fie. Und doch find zugleich auch unfere gegenmärtig beſtehenden 
Einrichtungen fiher In keinem andern Punkte fo abweichend von denen 
ber übrigen freien gefitteten Nationen, und nicht nur von ihren, fon= 
dern auch von unfern beutfchen, fchriftftellerifchen Theorien, ja auch von 
wichtigen Beflimmungen unferer Verfaffungsurtunden. Mit ehrlicher 
Ueberzeugung und nad) langen und wolederholten Erfahrungen und 
Prüfungen erklärten auh in Deutfchland, mit gewiß nur fehr wer 
nigen Ausnahmen alle berühmten und geachteten Yubliciften und faft 
einftimmig die Kammern der Volksvertreter mit allen britifhen und 
franzöfifhen, mit allen bolländbifhen, belgifhen und 
ſchweizeriſchen, mit allen [hwedifhen, norwegifhen und 
dänifhen und jest felbft mit den portugiefifhen und ſpa⸗ 
nifhen Nationalverfammlungen und Staatemännern, die faft allein 
uns Deutfchen noch fehlende Preffreiheit, und vor Allem die wich⸗ 
tigfte, die ber täglichen Mittheilungen über bie Erfcheinungen im Da» 
terlande und in der gebildeten Denfchheit, als bie Foͤrderung des Rechts 
und der Politik, als die unentbehrlichfte Lebenskraft und Verbuͤrgung 
freier Verfaſſung, ale die Schüßerin des Thrones wie der Rechtsord⸗ 
nung, ber Ehre wie ber Kraft bee Nationen und als verfaffungsmäßig 
begründet. Auf ber anderen Seite dagegen fiheinen wenigftens bie 
Minifter oder die Megierungen duch das Fefthalten, ja durch fleis 
gende. VBerfchärfung ber Genfur, bes Gegenfages der freien Preffe, 
ſehr abweichende Anfichten auszuſprechen. Wollen und dürfen nun 
die Anhänger ber Preßfreiheit keineswegs fo, wie einft Hr. v. Geng, 
das theoretifche und praktiſche Vertheidigen ber Genfur geradezu als 
abfichtliche Verhinderung der menfchlihen Kreiheit und Vervollkomm⸗ 
nung erklären (S. oben Thl. II. ©. 623.), fo iſt ficher zur Aus⸗ 
aleihung jener Widerfprühe noch eine beffere Verſtaͤndigung nöthig, 
über diefen praktifh fo unermeßlich wichtigen Punkt, über das Weſen, 
über die guten oder nachtheiligen Kolgen ber Preßfreiheit und der Cen⸗ 
fur, über die Forderungen dee Moral, bes Rechts und ber Politik 
in Beziehung auf beide. 

Bei gutem, in der Liebe zur Gerechtigkeit und Wahrheit und gu 
bemfelben Vaterlande ſich einigendem Willen muß bier Verſtaͤndigung 
möglich fein. Ja ber Mangel diefer Werftändigung wäre jetzo ſchon 
unbegreiflih, ohne die Schwankungen, ohne bie natürliche Befangen⸗ 
beit und bie übertriebene Reizbarkeit und KBeforglichleit in bem gros 


330 _ Genfur der Druckſchriften. 


en Umgeftaltungsfampfe, welcher bis jegt unfere Zeit beherrfchte. Dies 
fer Kampf, dieſe Berfangenheit, biefe übertriebene Reizbarkeit Eonnten 
aber natürlich nirgends mehr hervortreten, als in Beziehung auf bie 
Freiheit oder bie Gebundenheit der öffentlichen Mittheilung und Eroͤr⸗ 
terung der Wahrheiten, Thatfachen und Meinungen auf dem heutigen 
wichtigften Wege dieſer Mittheilung vermittelft der Druderpreffe unb 
vorzüglich vermittelft der Zeitungen, Zeit: und Klugfchriften. Zwar follte 
man denken, es ftehe die Erörterung und Mittheilung der Wahrheiten 
und Meinungen unter irgend freien Menfchen, Aähnlid etwa, wie die 
Religion, oder wie das Recht zum Gebraud des Mundes und ber 
menfchlihen Glieder, Uber dem politifhen Streit. Auch erfannten ja 
fetbft abſolute Monarchien das Recht ber Preffreiheit an. Und in 
allen Staaten, wo die Preffreiheit und ein verfaffungsmäßiger fefter 
Rechtszuſtand zu ihrer Vertheidigung einmal Wurzel faßten und mo 
fie durch die Erfahrung dem Volke bekannt und vertraut wurden, fo 
wie 3. B. in England und Frankreich, n Schweden und 
Mormegen, in Holland und Belgien, da vereinigen fi) auch 
alle Parteien in der Vertheidigung der Preffreiheit. Alle ſuchen durch 
ihren offenen Gebrauch für ihre Weberzgeugungen zu kaͤmpfen. Und 
wenigftens halten alle bie Weberzeugung von ihrer rechtlichen und po» 
litiſchen Nothwendigkeit für fo allgemein und feft in der Nation bes 
gründet, daß dort in dem freieften Kampfe entgegengefegter Meinungen 
auch nicht eine einzige Stimme zu Gunften einer Genfur ſich verneh⸗ 
men läßt, daß vielmehr alle durch ihre Vertheidigung ſchon felbft das 
Bertrauen auf die Güte ihrer Sache aufzugeben fürchten und bie Preß⸗ 
freiheit auch in der That als eben fo fehr über dem pofitifchen Streit 
ftehend, als eben fo fehr einer beliebigen Unterdbrädung zu Gunften 
einer politifchen Partei entzogen betrachten, als bie Religion und bie 
Wahrheit felbft, als den freien Gebraud) von Mund und Arm. Die gan 
zen Nationen find dort durch die Erfahrung von der Weberzeugung durch⸗ 
deungen, daß die volle Freiheit dee Wahrheit und der freien Vertheidigung 
. aller politifchen nnd ſtaatsbuͤrgerlichen Rechte durdy fie ungefährlid, und daß 
fie Heilfamer und wichtiger ift als gemöhnliche materielle Güter, daß fie 
eine Ehrenfache: für die Nation bildet. Mir Deutfchen ftehen leider 
noch nicht ganz auf biefem Standpunkte. . Zu einflußreicd aber iſt die 
Steiheit der Wahrheit, fo wie die Gewalt, zu Gunften der. eigenen 
Anfihten und Beltrebungen, die Mittheilung entgegenftehender That⸗ 
fahen oder Meinungen mehr oder minder unterbrüden und dadurch 
bie Öffentliche Meinung beftimmen zu können, ald daß, mer im Stande 
ift, diefe Gewalt auszuuͤben, fi) zu ihrer Anwendung im politifchen 
Streit gar nicht verſucht fühlen ſollte. Doc) je mehr eine friebliche, lei⸗ 
denſchaftsloſe Stimmung naht, und je mehr daher auch bie verborgene 
Gefahr jener großen Widerfprüche erkannt wird, um fo mehr iſt ehrs 
liche, wohlmeinende Berftändigung zu erſtreben. Sie wird, fo hoffen 
wir, auch möglich fein. Denn wie man aud über Hemmung freier 
Mittdeilung in unferm Vaterlande klagen mag, fo weit ift es noch nicht 


Gerfur der Druckſchriften. 331 


gefommen, daß man nicht mehr mit Anſtand und ehrlihen Gründen 
für fie Eimpfen bürfte, daß die Genfur durch Unterdrüdung der 
Gründe gegen fie felbft fi) zum Voraus verurtheilte. 

Hier jedoch überlaffen wir die eigentliche Entwidelung des Weſens 
und der guten Wirkungen der Preßfreiheit, ihrer Begründung und 
ihrer Grenzen, insbefondere der pofitivsrehtlihen, fo mie bie. 
Darftellung der Aufgabe einer guten Prefigefesgebung dem Artikel: 
Dreßfreiheit. Der gegenwärtige Artikel foll nur vorbereitend bie 
biftorifche Entftehung und Verbreitung der Cenſur und ihre rechtliche 
und politifhe Natur und Wirkung im Allgemeinen betraditen.. 

11. Gefhihte der Genfur. Der freie mechfelfeitige Außs 
taufh von Erfahrungen, Gefühlen, Gedanken auf allen uns von 
Gott gegebenen Wegen, bdiefes freie wechfelfeitige Mittheilen, Reis 
ben und DBereinigen der Geifter, dieſes freie geiftige und moralifche 
Mirken des Menfchen auf feine Mitmenfchen —˖ die Grundbedingung 
aller menfchlihen Entwidlung und Vervolllommnung, wie aller freien 
gefellfchaftlichen Vereinbarung und Einrihtung — ift das aͤlteſte, heis 
ligfte Recht, wie die heiligfte Pflicht freier gefitteter Menfchen und Völker. 

Ein zuvorfommendes. Verbieten und beliebiges Beherrfchen 
und Unterdrüden der freien geiftigen Meittheilung, etwas Aehnliches 
wie die Genfur, melde gegen Anfang des fechzehnten Jahrhunderts 
bie Hierarchie zur Stuͤtze ihrer ſinkenden Weltherrfchaft erfand, zuerft 
befanntlidy der unmürdigfte aller Päpfte, Alerander VI., und darauf 
Leo X., und welche von den weltlichen Regierungen zuerft Phis 
lipp II von Spanien zur Stüge feiner Union bes geiftlichen und 
weltlihen Defpotismus ausbildete, kannten weder die Völker des Als 
terthums noch bis dahin die germanifchen Völker. 

Zwei faft unbegreifliche Begriffsverwechſelungen verwirren öfter die 
Lehre von der Genfur und Prefifreiheit. Die erfte ift die, daß Mane 
che bei einer allgemeinen Feffelung der Preffe und der Mittheilung 
durch fie bis und fo meit eine Genfurbehörde ihren factiſchen Gebraud) 
geftattet, den fo geftatteten Gebrauch mit einer rehtlihen Frei⸗ 
heit der Preffe verwechſeln oder vereinbarlich halten (f. unten III.). 
Die zweite ift die, daß man mit der rechtlichen Preßfreiheit eine Erlaubt⸗ 
heit und eine Straflofigkeit rechts⸗ und geſetzwidrigen Mißbrauchs dies 
fer Sreiheit vermifcht und alfo auch die allgemein rechtlichen Beſchraͤn⸗ 
kungs⸗ und Strafmittel, die allgemeinrechtlichen Vorbeugungs⸗ 
wie Unterdrüdungs Mittel gegen diefe rechtswidrige Werbreitung von 
Drudfcriften mit dee Cenſur auf Eine Linie geftellt. Nur aus bies 
fer in der That ſeichten Begriffsverwirrung konnte auh Hoffmann 
(in feinee Gefhichte der Büchercenfur, Berlin 1819, ©. 6 fg.) 
die römifhen Strafs und Unterdrüdungsbeflimmungen gegen bereite 
mitgetheilte Schmähfchriften und Schmählieder und Majeftätsbeleidiguns 
gen in der Gefchichte der Genfur als eine Art berfelben aufführen. 
Nicht darin liegt bier der große Irrthum, daß früher das roͤmiſche 
Recht, auch fogar-in Beziehung auf die ausgefprohenen Aeuße⸗ 


332 Genfur der Drudichriften. 


rungen, fo mild war, baß Tacitus (1, 72.) fagen konnte, blo zu 
Tiberius fein Worte überhaupt ſtraflos geweſen, bag auch noch 
in der Kaiferdefpotie felbft bei Schmähfchriften der Beweis der Wahrs 
heit der Thatſachen von Strafe befreite *), und daß auch das neuefte 
roͤmiſche Recht die liberalſten Grundfäge über die Freiheit ber Aeuße⸗ 
rungen enthält **). Aber alle dieſe Gefege enthalten nicht bie lelfefte 
Spur einer vorausgehbenden allgemeinen Beſchraͤnkung 
der öffentlihen Keußerungen in Verſammlungen aller Art und 
im Mittheilen duch Inſchriften und Handfcheiften, durch deren Ver⸗ 
mehrung durch Abfchriften und ihre Verbreitung, obgleich folche Ders 
breitung in ben alten Staaten, wie bei den Germanen, je mehr die 
Cultur flieg, um fo mehr in fehr großer Ausdehnung und als wichtiger 
Verkehrszweig, namentlich auch durch Öffentliches Ausrufen und Vor⸗ 
Iefen ftattfand, und obgleich Insbefondere aud) in ber fpdtern Verderb⸗ 
niß die Verbreitung von Schmähfchriften felbft gegen Kalfer fehr Häufig 
wurde ***), Es war mit einem Worte bei ben Völkern bes Alterthums 
wie bei den Germanen bis zum 16ten Jahrhundert ber Gebrauh al⸗ 
ler gemeinen Wege ber gegenfeitigen geiftigen Mittheis 
lung freifür Alle, wenn aud die bereits erfolgte Mittheilung 
vechtlih und zumeilen befpotifcdy gerügt und unterbrüdt wurde. 

Wohl aber gibt 78 für die geiftige Mittheilung überhaupt unb 
vorzüglich für die politifhe Mittheilung ber civilifitten, freien Voͤlker 
zwei verfhiedbene Hauptmwege und zwei große Hauptpes 
rioden. Nur barin flimmten alle freien Völker der Erbe überein, daß 
fie als bie Grundbedingung eines wirklich freien, rechtlichen Gefells 
fhaftsverhättnifjes freie Sprache und freie Stimme aller felbftftäns 
digen Staatsbürger und Bamilienväter über die gemeinſchaftli⸗ 
hen oder oͤffentlichen Angelegenheiten forderten, eben weil es bie 
gemeinfhaftlihen Angelegenheiten freier Männer und Geſell⸗ 
fhaftsgenofien find, von denen Keiner allein die allgemeine oder reine 
Vernunft bat, bei denen die gemeinfchaftliche Vernunft für das ges 
meinfchaftliche Leben, der fittlich freie, vernünftige Geſammtwille ober 
bie wahre, Öffentliche Meinung und die gemeinfhaftliche Freiheit 
fi) nur in freier Sprache entwideln unb offenbaren kann. Ä 

"Aber in der Periode ber alten Zeit, bei ben freien Voͤl⸗ 
ern des Alterthums unb bei den alten Deutfchen, ba fand bie we⸗ 
fentliche wechfelfeitige Mittheilung, Belehrung, Befprehung und Mei⸗ 
nungsäußerung, vorzüglich auch bie politifche über die Geſellſchaftsver⸗ 
hältniffe, mündlich in öffentlichen und unmittelbar bemo> 
Pratifhen VBerfammlungen, Beratbungen und Abflim: 


®) C. unica, de famos. libell., f. auch das canoniſche Stecht Caus. V. 9. c.1. 

”.. MWelder, Neuer Beitrag gur Lehre von dep Injurien 

und der Preßfr. &. 106 fg. und die bafelbft angeführte treffliche Schrift 
von Weber, über Injurien. 

ser, Vergl. z. B. au) Paulus rec.sent.5, 4.15.16. L.4.u.5. C. Theoss- 

dos. 9, % Sueton, Aug. 55. Ziber. 58.69.6L Nero 9. Domit. 

8. Tacit. Annal. 4, 34. i4, 48. 49. 50. 16, 14. 


Genfur der Drudfchriften. 333 


mungen aller Bürger ſtatt in ben ofieken, den Gemeinde 
und Wolks⸗, den Befekgebungs» und Megierungs». und Gerichts «Ber 
ſammlungen, wie in’ den nicht officiellen auf Plaͤtzen, auf 
dem Forum, in den Strafen und öffentlichen ‚Hallen. ., Griechen und 
Römer und alte Germanen forderten für bie Freiheit und gu 
biefee gemeinſchaftlichen, politiſchen Beredung und, Beftimmung 
—— Mer —— * fo unbedingt jenes unmittelbare ve 

—— Mitſprechen Aller, BL bekanntlich ſelbſt 
* 8* 5 iſerthum herab (ſo z3. B. noch bei Tacitue 
in ſeinen Annalen“ 1, 1.) folde Demokratie und ein 


freier, rechtü⸗ 
her Zuſtand in dee Sprache und im Gedanken ebenſo völlig gleichbe⸗ 


deutend waren, wie It Gegenſatz ——— — und Deſpotie, und 
bei ben Germanen der Rechtegrundſat ; daB den freien 
Mann nur binde, wozu er mit geraten. (So pte nicht mite 
eathen, fo wir nicht mit. thaten!) Die ——— der hin⸗ 
laͤngüchen Zeit für dieſe allgemeine, muͤndliche, Öffentliche Mittheilung 
und Beſprechung aber war nach Ariſtoteles ber alleinige Rechtfer⸗ 
tigungsgrund ber SHaverei für die Ueberwundenen und ihre Nachkom⸗ 
men, bie bei Griechen und Römern und Germanen den freien Buͤr⸗ 
gern den größten Theil anderer Gefchäfte abnehmen mußten." Und bie 
‚Kleinheit der bloßen Stabts und Baus Staaten machte auf ber andern 
Seite die Duchführung der Freiheit auf biefem Wege ‚möslih. Da 
aber, too, bevor noch ein befierer Weg. ber geiftigen und gefellfchaftlie 
hen Mittheilung gefunden war, und in dem Grabe, wie diefe muͤnd⸗ 
lichen und unmittelbar bemofratiihen Beſprechungen aller Bürger in 
Öffentlichen Verſammlungen aufhoͤrten, ſowie im 3 om unter den Kal⸗ 
fern, wie bei den Germanen, fetten fie in große Reiche vereint wur⸗ 
ben und feitbem vollends fpäter bie fremden Rechte, bie Geiſtlichkeit 
und die romaniftifchen Juriſten fie aus ihren Volks⸗ und Gerichtsver⸗ 
- fammlungen vertrieben, ihnen die freie Sprache Aber das Gemeinſchaft⸗ 


liche entzogen, ba und in fowelt hörte auch bie — (arıia er | 
0 
Deutfde ' 


bie bürgerliche Freiheit auf, und —— — 
ſchen und ſauſtrechtlichen und ſklaviſchen Zuſtaͤn 

land ſelbſt war indeß auch bei —— — —i— und 
Fauſtrecht die freie Sprache der Vereine und Genoſſenſchaften und ihre 
neue Entwickelung, namentlich die in den vielen Staͤdten, doch wenige 
ſtens nicht durch dußere Eroberungsgewalt und Inquiſttion und no wenige 
ſtens nicht fo fehr wie in Frankreich, Italien, in Portugal und 

nien und zum Theil felbft in Englant unterdruͤckt worden. Gerade 
durch dieſe freiere Sprache um größere geiflige Freiheit war bie deutſche 
Nation im. Stande, bie erſte zu werden in Chillſation und Macht. 


Dadurch war fie im Stande, in ber Erfindung und — u. 


Mittel der Civiliſation vorauszugehen und das wichtigſte aller 
zeuge der Gultur und ber Ge bie feele Preſſe, der Menſchheit zu 
ſchenken, diefes Werkzeug, durch beffen Gebrauch fie alsbald bie Hier⸗ 


ardie Füge und zur De Orangen dus Grube Depatiamnd vo u 


334 Genfur der Druckſchriften. 


ſchuͤtterte, und welches mehr al& irgend etwas Anderes bie neue, Zeit 
und Gultur, die neue Staatdordnung, die repräfentative und durch fie 
die neue, größere und ausgebehntere oder allgemeinere und humanere 
Sceiheit und Bildung begründete. 

In der Periode der neuen Zeit und in ben neueren, 
freien, germanifhen Staaten oder feit der Erfindung der 
Druderpreffe fand immer mehr die wichtigfte wechfelfeitige Mittheis 
lung, Belehrung, Belprehung und Meinungsdußering, vorzüglich) 
auch die politifche über die Gefellfchaftsverhältniffe durch die freie Preſſe 
und vor Allem aud durch Zageblätter und. Zeit» und Flugfchriften 
ftatt. Die freie Preffe, dieſes wichtigfte Organ der Mittheilung der 
Wahrheit und Kreiheit für bie neue Zeit und Welt, das fichere und 
leichte und wirkſame Eprahorgan für unenblid Viele und auch für 
ganz entfernte Zeiten und Räume, für alle Millionen unferer Mit 
bürger und aller gefitteten Menfchen und für eine dauernde Vorlage 
teiferer Prüfung übertrifft unendlich die Mitcheilung durch jene dlteren 
Drgane. Sie trat immer mehr an bie Stelle nicht blos des früher 
ausgedehnten Gebrauchs und gewerbmäßigen Vertriebs von Handſchrif⸗ 
ten und von Inſchriften aller Art, fondern befonders auch an bie 
Stelle jener täglichen, unmittelbar demokratiſchen Volksverſammlungen 
und der münblihen Reden and Belehrungen und Abflimmungen zur 
Begründung der politifhen Cultur, zur Bildung der öffentlihen Mei⸗ 
nung und der nationalen Sittengerichte, zur allgemeinen Berathung 
aller gemeinfchaftlichen Angelegenheiten. Eine freie Preffe made 
te die Freiheit in großen Reihen möglidh und die Theil— 
nahme aller ihrer Millionen von Bewohnern an biefem hetes 
lichften Gute der Menfchheit, die Theilnahme an der freien Beſprechung 
der vaterländifhen Angelegenheiten und an ihrer Mitbeftimmung durch 
Mepräfentanten neben der Uebernahme aller andern Gefchäfte für die 
gemeinfchaftlihe Gultur. So wurde die Preffreiheit, vor Allem bie all- 
gemeine und bie politifche der Zeitungen, Zeit⸗ und Flugfchriften über 
bie täglichen und gemeinfchaftlihen Angelegenheiten — denn die reis 
heit blos für dicke Bücher und über allgemeine, entfernte Gegenftänbe, 
welche Wenige lefen, märe faft mie ein Privileg. für Gelehrte und 
Buchhändler und zum Theil felbft jener Politik nicht ganz unaͤhnlich, 
die dem „gemeinen Volk“ das Lefenlernen unterfagt — nicht blos 
ein mehr als vollftändiger, fondern zugleich, audy der unentbehrliche 
Erfag jener alten Organe der Wahrheit und Freiheit oder ber freien 
wechfelfeitigen Mittheilung. 

Daß die volllommene Preßfreiheit für jene Älteren Organe mehr 
als genügenden Erſatz gebe, das beweifet fhon ein Blick auf 
die preßfreien Länder. Wie erhebend tft z. B. nicht ein folder Blick 
auf das freie und mwürdige politiſche Leben des großen britifchen Reiches. 
Am Verlaufe weniger Stunden fehen bier alle Millionen Bürger 
durch freie Zeitungen in ihrem Haufe jedes Wort, das in den vepräs 
fentätiven Parlaments: und Gerichts⸗Verſammlungen gefprochen wurde, 


Genfur der Druckſchriften. 335 


und Alles, was im Staate vorging, vernehmlicher und zu reiferer Bes 
rathung, als bei den Reden in den demoktatifchen Volksverſammlun⸗ 
gen, vor fih. Und ſchon morgen koͤnnen fie in berfelben Zeitungen 
oder in freien Petitionen, ebenfalls durch Mittheilung ihrer Meinungen, 
Erfahrungen und Bedürfniffe, allgemein vernehmlid darauf antworten. 
&o können Alle, welche wollen, an den nun ruhigeren, veiferen, vers 
ftändlicheren Verhandlungen ihrer wenigen Nepräfentanten, ohne viel 
Zeit: und Koftenaufmwand, ungleidy mehr Antheil nehmen, ale ed bei 
ben großen, lärmenden Volksverſammlungen jemals moͤglich geweſen 
waͤre. 
Unentbehrlich aber ſcheint jener Erſatz, weil wegen der Groͤße 
der Staaten und wegen der Aufhebung der Sklaverei und Leibeigen⸗ 
ſchaft und auch des Helotismus, in welchem die Stadtſtaaten des 
Alterthums alle Provinzbewohner unterdruͤckt hielten, jetzt der ungleich 
groͤßere Theil der freien Geſellſchaftsgenoſſen unmoͤglich mehr in demo⸗ 
kratiſchen Verſammlungen und Berathungen an den gemeinſchaftlichen 
Angelegenheiten des Vaterlandes, an der Kenntniß derſelben und an 
der Bildung der oͤffentlichen Meinung uͤber ſie Antheil nehmen, ſeine 
Wuͤnſche, Beduͤrfniſſe, Erfahrungen mittheilen kann. Ohne Preßfrei⸗ 
heit, ohne vollſtaͤndige, preßfreie Mittheilung, und zwar nicht blos von 
einem einzigen, etwa dem miniſteriellen, Standpunkte aus, und mit Un⸗ 
terdruͤckung entgegenſtehender Thatſachen und Anſichten, oder mit, Ver⸗ 
faͤlſchung der Wahrheit, koͤnnten ſich jetzt die einzelnen Staatsgenoſſen 
nicht einigermaßen gegenſeitig vernehmen, austauſchen, verſtaͤndigen und 
gruͤndlich belehren. Sie koͤnnten ſelbſt auch nicht einmal diejenige po⸗ 
litiſche Kenntniß, Bildung und Tuͤchtigkeit erlangen, die ihnen zu einer 
richtigen Wahl ihrer Vertreter, zur heilſamen Mitwirkung in ihren 
Gemeindeangelegenheiten, zum Schutz gegen Beamtenwillkuͤr und zum 
Schutz gegen Volksverfuͤhrer, endlich zur klugen Einrichtung ihrer in⸗ 
duſtriellen, commerciellen und oͤkonomiſchen Unternehmungen noͤthig ſind. 
So ſcheint alſo nach der Zerſtoͤrung jener aͤlteren phyſiſchen Sklaverei 
und Leibeigenſchaft und Provinz⸗Knechtſchaft, erſt jene allgemeine 
Preßfreiheit alle Bürger auch vollſtaͤndig gegen neue geiſtige und polls 
tifhe Leibeigenfchaft zu ſichern. Sie erft fcheine das unentbehrliche 
Mittel der wirklichen Zutheilung der Würde und der höchften Güter 
der Menfchheit, der Freiheit und des Bürgerthumes, und der ebeiften 
Früchte menſchlicher Cultur zu fein. Sie ift auch das umnentbehrliche 
Mittel für Verbreitung ber beften Früchte der gelehrten Beſtrebungen. 
Sie erft ertheilt. Allen, je nad ihrer Züchtigkeit, bie wahre active 
Theilnahme an ber freien Menfhen> und Staats-Gefellfchaft und an 
ihren Beſtrebungen, das active Staatsbürgerreht. Sie zerftört das 
Kaftenmäßige und Defpotifhe auch in dem Verhältniffe der Studirs 
ten zu den Nichtftudicten. 

Und nicht blos im inneren Staatöverhältnig iſt bie freie Preffe 
das Hauptorgan der Freiheit und Cultur. Statt dag. vielmehr früher 
die verfchiedenen Staaten und Voͤlker getrennt lebten und faft nur 


336 Ä Genfur der Drudichriften. 


im Vernichtungskampfe, oder In unglädfeligen befpotifhen Erobe 
rungsreichen ſich kennen lernten, bietet uns jest bie freie Preſſe das 
Hauptorgan für jene immer größere und herrlichere Vereinigung freier 
und feloftftändiger Völker zu einem friedlichen Neiche freier, brüderlicher 
Wechſelwirkung unb täglichen mwechfelfeitigen, geiftigen Austaufched und 
des lebendigen: Wetteifers, der Gefittung und Vervolltommnung. Freie 
Zeitungen find nicht mehr blos bie tägliche, wechfelfeitige Sprache ber 
Staatsbürger über ihre. eigenen gemeinfchaftlichen Angelegenheiten. Sie 
find auch der wechfelfeitige Unterriht und die wichtigſten Verkehrs⸗ 
und Verbindungsftraßen für alle Völker des menfchlihen Bruderge⸗ 
ſchlechts. Sie find in jeber Beziehung bie wichtigften Drgane ber all⸗ 
gemeinen Cultur und Freiheit. Sie wenden die Blicke der. Menfchen 
von ihren Heinlichen und egoiftifhen Verhaͤltniſſen und Beſtrebungen 
auf die höheren, reicheren, gemeinfchaftlihen Verhältniffe, auf die Kreis 
heit und Gultur bed Vaterlandes und ber Menfchheit. 

So fchien denn durch jene große Erfindung des deutfchen Geiſtes 
ein Fortſchritt der Freiheit und Cultur des menſchlichen Geſchlechtes 
gewonnen, von welchem man fruͤher keine Ahnung hatte. 

Da erſchien — wer haͤtte ſolchen traurigen Ruͤckſchritt fuͤrchten 
ſollen — da erſchien, um einen großen Theil von Europa, namentlich 
Spanien, Portugal und Italien, zum Theil auch Frankreich, Deutſch⸗ 
land, England und die übrigen europäifchen Völker auf Jahrhunderte 
hin in neue, die Zeiten des Fauftrechts weit überbietende geiftige, mo⸗ 
ralifhe und politifhe Barbarei und Verderbniß zu ſtuͤrzen — bie 
Cenſur! 

Die theokratiſche, geiſtliche Gewalt hatte fruͤher und ſo Lange 
als fie in geiftiger Cultur vorangehen und fie fördern, 
ja durch fie, duch ihre Schulen und Univerfitäten, herrfchen konnte, 
weil die jugendlichen germanifchen Völker, ihrer Erziehung bedbürfend, 
in freiem Glauben fid an fie anfchloffen, wohlthätig gewirkt. 
Aber fie wurde in dem Maaße unterbrüdend und deſpotiſch, als dieſe 
Voͤlker ihrer Erziehung und Bevormundung und dem blinden theos 
kratiſchen Glauben entwachſen waren, und fie nun dennoch ihre theos 
kratiſche Glaubensmacht und Herrſchaft, und zwar jetzt durch all⸗ 
gemeine Inquifitionss und Ketzergerichte und durch Bes 
Tämpfung des ihre nun verderblid werdenden geiftigen 
Fortſchreitens behaupten wollte, und als fie, die früher das Bolt 
gegen Fauftrehtsgewalt und Defpotismus gefhüst hatte, ſich jegt umge: 
ehrt, fowie in Spanien unter Philipp II., mit dem Defpotismus 
der Könige, ber Ariſtokratie und mit den fhändlichften Hoͤflingsregie⸗ 
rungen zur Unterdrüdung dee Freiheit verbuͤndete. So mußte ihr 
denn fehr begreiflich die von Papft Alerander VI. in feinem Ebict 
von 1496 eingeführte Genfur zur Unterdrüdung des freien Gebrauchs 
des neuen, wichtigften Organs für Freiheit und Wahrheit dienen. 

Und welhe Entwuͤrdigung, melde Verdummung und Entfitte 
lichung ber Völker, welcher ſchaͤndliche, vernichtende Defpotismus ber 


[4 


Cenfur der Drudichriften. 337 
Meglerungen und der. geiftlichen und weltlichen Ariftokratie, welche gren⸗ 
zenlofe Verderbniß der Höfe und ber höheren Stände entwickelten ſich 
nicht jegt unter der Herrſchaft und mit Hülfe ber Cenfur, durch 
Unterdrüdung des freien Gebrauchs ber Preffe für bie 
Beherrſchten, forie duch ben falfhen Gebraud ber Preffe von 
Seiten der Herrfchenden, duch die Taͤuſchung ber unglüdlichen Voͤl⸗ 
ker! Diefe neue hierarchifche Gedankeninquiſition wirkte vernichtender, 
als bie frühere, und gab auch den blutigen Keßereiverfolgungen erſt 
Beſtand und die fhauderhafte Wirkung. So Eonnte 3. B. das ſtolze 
Volk der Spanier, das in feiner Freiheit meltherrfhend, reich an 
Gultur und Macht jeder Art geworden war, von vierzig Millionen 


. bis auf zehn herablommen, in ſchmachvolle Nichtigkeit und fremde 


- - GtaatssEeriton, ILL 


Abhängigkeit verfinten, in dem Beſitze einer halben Melt an Ber 
mögen und Cultur verarmen. Es konnte unter ber f&heußlichften, 
verderbteften Gamarillaregierung In eine folche geiftige und fittliche Ente 
artung und Berwilderung finten, daß, wie die Proclamation von der 


Inſel Leon fagte, ſchon das Antlig der einft fo herrlichen und ſtolzen 
Bürger die Entwürdigung abfpiegelt, und baß in ben ſchauderhaften 


Bürgerkriegen und Revolutionen, in welchen nach dreihunbdertjähriger 
Schmach das unglüdliche Volk fi von diefer geiftigen und politifchen 
Unterdrädung zu befreien ſtrebt, bald fittliche Verderbniß oder Kraft 
Iofigkeit, bald thierifche Graufamkeit, bald ber rohfte Fanatismus mit 
dem ſchmachvollen Rufe: „es lebe die Inquiſition, es flerbe bie Nas 
tion! bald revolutiondre Umſtuͤrzungswuth die Freunde der Menſch⸗ 
heit erſchrecken und ihnen ben unverwüftlichen edlen Kern des Volks⸗ 
charakters verhüllen. 

Traurig genug, wenn gleich nicht überall auf gleich fchauberhafte 
Meife, entwidelten fi auch in andern europäifhen Staaten bie 
Folgen der U üdung der freien Wahrheit. Durch meift fehr bius 
tige veligtöfe und politifche Revolutionen und Reformationen in Deutfch« 
fand und ben nordiſchen Reichen, in ben Niederlanden und der Schweiz, 
in England und Amerika, endlid in Srankreih, und feit der franzds 
fifchen Revolution aufs Neue in ben meiften europäifchen Staaten, zus 
weiten auch auf frieblihem Wege durch große Fuͤrſten und Staates 
männer, wie Friedrich und Joſeph und Earl Friedrich, mie 
Guſtav IN. und mie bie dänifhen Bernftorffe, wurden enblich 
mehr ober minder bie geiftige und politifche Unterdrädung und ihre 
Folgen befiegt und großentheils auch bie ausdruͤckliche, gefegliche Sanction 
der Mahrheitsfreiheit oder ber Aufhebung der Genfur errungen. 

Uebrigens märe es nicht blos lieblos und unanfländig, es waͤre 
fiherlic völlig unmahr, mwollte man einer jeden Einführung ber Cen⸗ 
fur eine bloße defpotifche Abſicht zufchreiben. Konnten ja doc, felbft 
Männer, wie Rouffeau, wie Voltaire, wie La Mennais, ſich 
buch) Mißbraͤuche felbft der heiligften Güter und Rechte, Rouffeau 
durch die der Cultur, Voltaire buch die des Chriftenthums, 
La Mennais fo, wie Rouſſeau, und fo viele Andere durch die bes 





D 


338 . Genfur der Drucſchriften. 


Koͤnigthums ſich fo verblenden laſſen, daß fie, ſtatt zu moͤgllchſter 

sechtlicher Abfchaffung der Mißbraͤuche, vielmehr alles Ernſtes zur Abe 
fhaffung der Gultur, des Chriſtenthums und des Königthums viethen 
und an ihrem Untergange arbeiteten. Konnte es alfo nicht auch ans 
been ausgezeichneten Menfhen, und vollends ber Mehrzahl ber Klei⸗ 
nen, die fich fletd nur duch das Unterdrüden zu helfen wiffen, bei 
ehrlihem Willen mit dem Rechte dev Wahrheits⸗ oder der Preßfreiheis 
aͤhnlich ergehen? Vollends war bdiefes damals natürlich, als die Er⸗ 
findung bee Preffe nocdy neu war und man noch nicht.die Verdrängung 
ber alten Wege geiftiger und politifher Mittheilung großentheils durch 
fie feibft, die furchtbaren Kolgen ihrer Unterdrüdung, die Möglichkeit 
ihres gefahrlofen Beſtandes und ihrer guten Wirkungen in der Ev 
fahrung fo, wie jego, vor fi ſah. 

So, buch den immer noch großen Einfluß der hierarchiſchen 
Geiſtlichkeit und vorzüglich) durch die Furcht vor den immer ſich er» 
neuernden blutigen Religionskriegen erklärt e8 fich denn auch, daß im 
deurfchen Reiche reichspolizeiliche Geſetze Auffiht auf die Preffe und 
Iandesherrliche Cenfureinrichtungen verlangten. Doch hielten fi, wie 
audy der Bunbdestagsgefandte Hr. von Berg in feinem Vortrag 
‚über Preßfreiheit (1818 in ber Hiften YBundestagsfigung S. 346) 
bemerkte, die Landesregierungen hierdurch keineswegs verhindert, in Ges 
mäßheit ihres Rechts der Landespolizei und Landeögefeggebung, nad 
ihrer eignen Weberzeugung lanbesgefeglihh die Preangelegenheiten fo 
oder fo zu ordnen. Diele Regierungen, namentlich kleinere, viele Reiches 
ſtaͤdte, auch die Regierungen von Medlenburg und von Heffen 
Darmftadt führten niemals Cenfur ein, felbft nicht in den 
Napoleoniſchen Zeiten. Andere, wie Dänemark als Regierung von 
Holftein, hoben duch ausdrüdlihe Sanction der volllommen« 
ften Preßfteiheit alle Cenfur gänzlih auf. (uBernftorff.) 
Andere, wie die Regierungen von Hannover Baden, hos 
ben wenigftens für diejenigen, welche am meiften fchrieben, für die 
Profefforen und höheren Staatsbeamten, alle Cenfur auf”). Und 
Hr. v.Berg (a. a. D. ©. 328) rechnet, daß im Jahre 1818, alfo 
wor den Carlsbader Bundesbefchlüffen, ohngefaͤhr ein Drittheil 
der deutfhen Staaten Peine Cenfur hatte. Hierbei muß 
man noch in Anfchlag bringen bie früheren Verhältniffe; die durch 
einander laufenden Gebiete von bdreihundert beutfchen Reicheftaaten ; 
die wenig ſtreng ausgebildeten Polizeieinrichtungen und den Wetteifer, 
nicht der Verfolgung, fondern der Schügung der in einem biefer 
Staaten politifh Werfolgten (3. B. auch der in Berlin verfolgten, 
in Altona aufgenommenen allgemeinen dbeutfhen Bibliothekt). 
Serner kam noch hinzu ber damals gang freie allgemeine deutſche 





*) Der berühmte Heyne pries in feiner Jubilaͤumsrebe 1787 die Preßfreie 
heit von Göttingen als das Palladium der Univerfität, als fegensreich für 
Deutfhland md Europa. ©. auh Shlögers Gtaatslchre ©. 188. 


Genfür der Drudicriften. 339 


Buchhandel und ber ungehinderte Eingang auslaͤndiſcher, namentlich 
in Holland und in ber Schweiz gebrudter Schriften und Tagblaͤtter, 
fodann die damalige völlig freie Verfaſſung und der ungehemmte Bes 
fuch aller deutſchen Univerfitäten, ferner die Publicität aller Reiches 
tagsverhandlungen, und die Möglichkeit, vor den felbftftändigen Reichs⸗ 
geichten feloft die Landesregierung wegen Pegierungsmißbräuchen zu 
belangen und alle Proceßacten ungehemmt druden zu laffen; endlich 
der eiferfüchtige Gegenſatz zwifchen Eniferliher und fürftliher Macht. 
Durch alles diefe3 war wenigſtens unter fo ruhmvollen Regierungen, 
wie die von Kriedbrich und Joſeph, die Freiheit der geiftigen Mits 
theilung in Deutfchland weit größer als heutzutage, und 
Deutfhland ftand auch in diefer Beziehung den meiften an« 
dern europäifhen Nationen voran. 

Sortdauernd indeß hatte fi) in Deutſchland, ſowie ſchon früher, 
an das wohlthaͤtige Geſtirn der Freiheit und ber freien Sprache alles 
Gute und Große, alled Ungluͤck an ihre Unterdruͤckung geknüpft. So 
wie die Neformation an ben freien Gebrauch der Prefle, fo knuͤpften 
fi) an ihre Unterdrüdung und Verfolgung jene hundertiährigen, Deutfc 
lands Einheit zerreißenden Religionskriege. Es Enüpften fich an jene 
Unterdrücdtung der freien Volksſprache in den Vereinen und Gerich⸗ 
ten vermittelft der fremden Rechte und der romaniftijchen Juriſtenkaſte 
die Knechtfchaft des Volks und die Erflarrung der Lundesverfitffungen 
und insbefondere auch jene in geheimen Kürftencongrefjen entworfenen 
Mahlcapitulationen mit ihren Angriffen gegen die Nationalverfaffung 
und insbefondere gegen bie freien landftändifhen Rechte. Go aber 
entftand nun in vielen ihrer Freiheit beraupten Staaten eine ganze 
Saat von Mißbräuchen; e8 erlahmte der Volks- und National-Geiftz' 
vollends, als nad dem Ausbruch der franzöfifhen Revolution ihre 
furchtbaren Mahnungen, ftatt zu verjüngter Ausbildung der Freiheit, 
vielmehr zu ihrer Unterdbrüdung benugt wurden. So erfolgten in 
fünf und zwanzigjührigem Kriege gegen das von Freiheit und Nas 
tionaltuhm begeifterte neue Frankreich immer biutigere Niederlagen, 
endlich die Auflöfung des Reiches und jener fhmachvolie Rheinbund. 
Deutſchlands Fürften und Völker mußten dem Siegeswagen des frems 
den Eroberers folgen, gegen ihre Brüder oder auch gegen fremde Nas 
tionen als Werkzeuge der Unterdrüdung dienen. Aber wer vermödhte 
wohl in wenigen Worten alled Unheil zu ſchildern, was an die Ders 
nichtung ber freien Sprache und Verfaſſung ſich knuͤpfte! 

Doch als endlich, ſowie e8 oben bereits urfunblich dargeftellt wurde (Bd. 
II. ©. 618—24. 646—48), mehr und mehr und zuerft in Preußen das 
aͤußerſte Unglüd zur rühmlichen Anerkennung fowie der wahren Quellen 
des Unglüds, fo auch der wahren rettenben Kräfte, ber Freiheit und freien 
Wahrheit, geführt hatte, als vor Allem die Napoleonifche Unterdrüdung der 
MWahrheit und die unter ihrem Schug wuchernde dffentlihe Demoraliſa⸗ 
tion in der Tiefe der deutfchen Herzen eine Zornesmacht und eine Freis 
heitsliebe entwickelten, welche bie Blutgerichte gegen em und ans 

& .. 


340 Cenſur der Druckſchriften. 


dere Ehrenmaͤnner nur neu entflammten, und als endlich die Fuͤr⸗ 
en freie Verfaffung und freie Spradhe als Ziel und 
Bes einer allgemeinen Vollserhebung verfünbeten 
und das Wort fogleih frei wurde in Deutfhland, ba 
erfolgte die glorreichfte Rettung! Die deutfche Bundesacte verhieß jetzt 
nach dem erften und vor dem zweiten Freiheitskrieg in bem Arklkel 
18, als das michtigfte der vier allgemeinen beutfchen Bürgerrechte, 
welche „bie verbündeten Fürften und freien Städte al«- 
„ten Unterthbanen ber beutfhen Bundesſtaaten zuzuſi—⸗ 
„Hern übereingelommen waren,” bie „Prepßfreiheit” und 
ihre gefeglihe Verwirklichung buch ein Preßgeſetz „in der erften 
‚Bufammenktunft ber Bundesverfammlung”. Mehrere 
Bundesftaaten, fo namentlih Naffau, Weimar, Würtembersg, 
hoben durch ausdrüdtihe Beſtimmungen der Lanbesverfaffungen und 
andesgefege alle Cenſur auf und die hohe deutſche Bundesverſamm⸗ 
lung ertheilte einftimmig der weimarifhen Derfaffung und ihrer 
vollftändigen Preßfreiheit die ausdruͤckliche Gerodhrleiftung des durch⸗ 
lauchtigſten Bundes *). Alles augenfällige Beftätigungen, daß jene 
fürftliche Verheißung bes Artikels 18 der Bundesacte, fo wie e8 ſchon 
der urkundlihe Sinn und Zufammenhang ber Verhandlungen und ber 
Morte eriviefen, allen Deutfchen die Freiheit ber Prefie, die fie zum 
großen Theil damals ſchon beſaßen, jegt als allgemeines deutfches Nas 
tionalteht zufihere, nimmermehr aber fie mit deren Zerſtoͤ⸗ 
rung dur Genfur bedrohen follte. Die feitbem entftehenden land» 
ftändifhen Verfaſſungen ficherten ebenfalls bald mit, bald ohne Bezie⸗ 
bung auf bie DVerheifung der Bundesacte den Bürgern die Preßfreis 
heit zu **). j 
Doch neue Kämpfe hatte die Freiheit in Deutſchland, in Europa 
zu beftehen. Einzelne ungewohnte und fchon beshafggburc den Mans 
gel der Uebung zum Xheil ungeregelte und verkehrte Erfcheinungen ber 
Freiheit in Deutfchland, Frankreich, den Niederlanden mochten auch 
bei wohlwollenden Regierungen Beforgniffe erregen. Gleichzeitig aber 
trat jene Partei ber verrotteten Sieden in ganz Europa, die da fürdys 
tete, daß die Mißbraͤuche abgefchafft würden, woran fie ihre bisherige 
Gewalt gegen die Rechte ihrer Mitbürger Inüpften, als Reaction auf. 
Auch ihr Hauptmittel konnte Fein anderes fein, als die Unterdrüdung 
ber freien Wahrheit. Der Zufammenhang bdiefer Partei in den ver: 
ſchiedenen Ländern, die heutige Einwirkung des einen Landes auf das 
ahbdere kamen fehr erklaͤrlich bald in den Schidfalen der Preſſe audy 
in den beutfchen Linbern zum Vorſcheine. Vor Aller Augen ſtehen 
noch mit ihren Veranlaffungen, Zwecken und Erfolgen die Kämpfe der 








”) ©. Bunbestagsprotololle v. 1817. Eikung 22. $. 125. 


”r) ©. diefe. Beftimm n und über t die Lit 
Kluͤber dffentt. Rehtt 503 und aaup eratur über bie Genfur in 


% 


Genfur der Druckſchriften. 341 


Dreftauration in Frankreich gegen bie Freiheit der Wahrheit und 
gegen bie Wahrheit ber Verfaſſung, deren rohbdefpotifche Vernich⸗ 
tung in Spanien und die badurc, herbeigeführten neuen Revolu⸗ 
tionen in Sranfreih, Spanien, Portugal, Neapel und 
Diemont, die wenigftens in Spanien und Portugal fo unglüdlich 
ausgefallenen Beruhigungen und zulegt bie Julirevolution und aber 
mals die neuen Pevolutionen in Belgien und in der Schweiz, in 
Spanien und Portugal, ja in mehreren beutfchen Ländern. 
Die befonderen beutfchen Kämpfe für und gegen freie Preffe und freie 
Berfaffung wollen wir hier weder nach ihren Urfahen noch nah ih⸗ 
ten Folgen, weder rechtlich noch politifch würdigen. Wir wollen bier 
nur bie äußerlichen, thatfädjlihen Erfcheinungen noch kurz berühren, 
jene vorzüglic, feit 1817 fteigende Ungeduld wegen verzögerter allge⸗ 
meiner Verwirklichung der verheißenen Freiheiten und megen ber Bes 
forgniß fremden Einfluffes, welche legtere Sands unheilvolles Ben 
brechen veranlaßte, fodann der durch nichts erwiefene allgemeine Ver⸗ 
ſchwoͤrungslaͤrm und unmittelbar hierauf 1819 die Carlsbader Bes 
ſchluͤſſe vorzüglid gegen die Preffe und die Univerfitdten. Obwohl 
nur auf fünf Jahre gegeben, murden fie auch in der ruhigen Zeit 
1824 erneuert. Als nun, ermuthigt durch die Vorgänge in Deutſch⸗ 
land, die Reftauration die Genfurbeflimmungen der Carlsbaber Bes 
fhlüffe 1830 in Frankreich publicitte, die Kranzofen aber, einges 
den? des Elends, welches ihnen bie Preßſklaverei unter frühen Könts 
gen und unter Napoleon gebradyt, die Schmad, rüftig von fi war⸗ 
fen, da entftand bekanntlich gefährliche Aufregung aud in Deutſch⸗ 
land. Es entftanden bie Revolutionen und neuen Berfaffungen m 
Sachſen, Churheffen, Hannover und andern beutfchen Län: 
dern, wihrend in Baiern, Württemberg und Baden, wo, 
neben den freien Verfaſſungen, factifch jest aud) die Preſſe frei wur⸗ 
de, bie gefeglihe Ruhe ungeftört blieb. Bekannt find ebenfo die faft 
allgemeinen, jedoch nur in Baden fiegreichen Kaͤmpfe der Landſtaͤnde 
fuͤr gefeglihe Preßfreiheit. Doc ald mit der fintenden Hoffnung, eine 
Heform in Deutfdland zu gewinnen, wie fie bie Aulirevolution auch 
fir Britannien hervorgerufen hatte, eine fteigende Gährung der Ges 
müther fich zeigte und bei der unerwarteten Seftaltung der franzöfifhen 
Politik die Beforgniffe eines auswärtigen Krieges für den Augenblick 
ſchwanden, da wurden von anderer Seite auf andere Weife die Aeus 
Ferungen jener Unzufriedenheit bekämpft. Es erfchlenen 1832 bie ber _ 
Fannten verfchärfenden Bundesbefchlüffe. Auch die badifche Preßfrels 
heit wurde wieder vernichtet; die Mißſtimmung wuchs, dußerte im 
Einzelnen ſich auch durch verjweifelte, verbrecherifche Unternehmungen 
und füllte deutfche Kerker mit politifch Angeklagten. Won dem neuen 
Congreß in Wien 1834 gingen abermals neue, noch firengere Maß⸗ 
regeln gegen die Prefie aus. 

Auch der in Folge der Bundesgeſetzgebung in Deutfchland. flatts 
finbende Zuftand ber Preſſe und öffentlichen Mittheilung fou hier ohne 


342 Ä Genfur der Drudichriften. 


irgend eine Würdigung nur thatfachlich Eurz angegeben werden. Die 
Dreffreiheit für alle Drudicriften unter 20 Bogen, alfo auch für die 
ganze allgemeine, tägliche Mittheilung über die gefellfchaftlichen Anges 
legenheiten durch Zeitungen, Zeit und Flugſchriften, ward überall 
aufgchoken, auf da, wo nah dem Obigen felbit in Napoleonifchen 
Aeiten Feine Cenſur beftand, oder in neueren Landesverfaffungen Pref- 
freiheit eingeführt worden war. Mac ben Landesgeſetzgebungen der 
beiden größten und mehrerer andern beutfchen Bunbesftaaten findet 
auferdem Genfur für alle Drudfchriften ftatt, und zwar in Defters 
reich auch für die im Ausiand gedrudten. An die Stelle der Genfur auss 
waͤrtiger Druckſchriften traten andermärts bie Öffentlichen oder nur den 
Buchhaͤndlern unter Steafandrohung mitgetheilten polizeilichen Wers 
£auföverhote und die Genfurunterdrüdung der Ankündigungen. Mit 
Berufung auf neuere, nicht Öffentlich publicirte Bundesbefchlüffe find 
nah Zeitungsnachrichten in mehreren Ländern auch bereits alle im 
Ausland deutſch gedruften und auch viele dee wichtigſten engliſchen 
und franzöfifhen Zeitungen ausgeſchloſſen und faft nur die Miniftes 
rial⸗ und ultraariſtokratiſchen englifchen und franzoͤſiſchen Blätter freis 
gesaffen. Auf diefelbe Weife murden auch alle früheren, gegenmwäctis 
gen und zukünftigen Verlagswerke ganzer Buchhandlungen, ſowie fruͤ⸗ 
here und zufünftige Schriften einzelner Echriftfteller verboten, ferner 
aud das Dffenlaffen der durch Genfurunterdrüdungen entftandenen 
Luͤcken unterfagt; ebenfo auch andere Mittheilungen über ftändifche 
Verhandlungen anderer deutfcher Staaten, ald die aus den cenfirten 
Landeszeitungen entnommenen, nit minder auch und zwar unter aus 
drüdlicher Bedrohung ber Aufhebung der ganzen Zeitung, jede — 
nicht amtliche — Nachricht über Verhaftungen und Unterfuchungen 
politiſch Angeklagter im Inland, wie in andern deutſchen Ländern. 
Auch die Mittheilung der Actenſtuͤcke bei Beſchwerden deutfcher Staats⸗ 
buͤrger gegen die Landesreglerung am Bundestag, namentlich wegen 
Juſtizverweigerung, iſt, ſoweit nicht gerade die betheiligte Regierung ſie 
geſtatten wollte, bundesgefeglich verboten. Da’ diefe und andere Bun⸗ 
desmaßregeln meift nicht öffentlich, publichrt wurden, fondern nur durch 
die Berufungen ber einzelnen Randesgefrge auf fie allmilig und un» 
vollftündig .zu Tage kamen, aud alle Publicität der Bundestagsvers 
handlungen ſchon früher aufgehört hat, fo koͤnnen wir nicht entfcheis 
den, ob und miefern wirklich mit dem bunbesgefeglichen Werbote 
ber Actenverfendung in Criminal» und Polizeifahen, auf deffen Ten» 
denz fich berufend bereits eine Bundesregierung ihren Juriſtenfacultaͤ⸗ 
ten alle Annahme, von, Procegacten unterfagte, auch das zufammen- 
hängt, daß die Genfurbehörden von mehreren Bundesregierungen das 
Rechtsgutachten "einer berühmten SJuriftenfacultät für einen "peinlich 
Angeklagten, als deſſen Verwandte es zu feiner Vertheidigung woll⸗ 
ten drucken Iaffen, günzlidy verboten. (Eben fo läßt es fih nur ale 
Mittheilung cenfirter Zeitungen veferiven, daß nad) bundesmäßiger 
Vereinbarung bie Regierungen für Verminderung ber Zeitungen und 


Genfur der Drudichriften. | 343 


Ihre allgemeine Abhängigkeit von blos widerruflichen Conceſſionen bes 
dacht zu fein hätten, moneben aber bekanntlich nad) den Carlsbader 
Beſchluͤſſen auch noch der Bund felbft das Recht ausübt, Schriften 
und Zeitungen zu unterbrüden und bie Redactoren ‘von Zeitfchriften: 
auf fünf Jahre für unfähig zu’ einer neuen Redaction zu erflären. 
Auch wurden wirklich durch Bundesbeſchluͤſſe eine Reihe freimüthiger 
Zeitungen und Zeitfchriften unterdrüdt. Andere find durch die Genfur 
zu Grunde gegangen. Unb mir menigftens ift keine heutige deutfche 
Zeitung bekannt, welche, ich will nicht fagen mit der im beutfcdhen 
Meiche ftets möglichen Freimüthigkeit, ettwa gar ‘mit der Kraft ber 
allgemeinen deutfhen Bibiiothek oder "des bekanntlich ebenfo 
derb gegen „beutfche Hundsdemuth” und „Staatslakeiengefinnung” 
als gegen die Eünden der Höfe kümpfenden Moferifchen patrios 
tifhen Archivs oder bee Schläzerifhen Staatsanzeigen, 
der Poffeltfhen Annalen und dee Gensgifhen Berliner 
Monatsfhrift, nein, welche aud nur in mildem Tone noch bie 
Gebrechen und Mißgriffe in der Verwaltung ber allgemeinen unb 
befonderen beutfchen, vnterländifchen Angelegenheiten aufdedte und 
rügte. Wohl aber vernehmen mir häufig in deutſchen Zeitungen ſolche, 
fonft gewoͤhnlich den gefunfenften Zuftänden eigenthümliche, unwuͤrdig 
ſchmeichleriſche und unmaͤnnlich fi) mwindende, kurz in jedem Wort 
den Polizeiſtempel der Cenſur an ſich tragende Aeußerungen, daß 
wir, auch abgeſehen von den ſonſtigen politiſchen Gefahren der Un⸗ 
terdruͤckung der Preßfreiheit, bei dem Gedanken an bie freien Natios 
nen des Auslandes ebenſowenig die Roͤthe der Schaam, als bei dem 
Gedanken an das Vaterland die Furcht vor allmaͤliger Entwuͤrdigung 
des Nationalcharakters unterdruͤcken koͤnnen. 

Selbſt auch noch die beſtgemeinteſten Wahrheiten umhuͤllen ſich 
meiſt — wie es ſcheint, um den Cenſurpaß zu erhalten — ſo ſehr 
mit ihrem Gegentheil, theilen ihr Licht ſo ſchief und ſo nebelkalt mit, 
daß ſie nichts wirken. Es ſcheint nun einmal ein Cenſurprincip zu 
ſein, daß, kraͤftig und gerade zu reden, wie die freien und tuͤchtigen 
Maͤnner von Athen und Rom und London, und vollends auf Herz 
und Geſinnung zu wirken, in Deutſchtand nicht legitim, daß es 
„leidenfhaftlich” fei. Das Sahrtaufende alte Chineſiſche Lied *) 
„vom mädtigen Kranken”, „den verwöhnt mit Honigtraͤnken jeder 
aſchmeichleriſche Wicht“ und der ſeinen Arzt beordert: „gib mir nichts, 
„was mir nicht ſtehet an:“ zu welchem daher Niemand darf „das 
„Wort, das herbe, ſprechen, welches helfen kann“, oder nicht darf 
„reinen Wein einſchenken“, ſchließt mit dem ſchoͤnen Troſt für ben 
armen Arzt: u j 
„Willſt du, edler ſchmeichelnd, zwifhen ° 
„Honigfeim die Worte mifchen, | 
„Trinkt ex fie mit ein — und fpürt fie nicht!“ 


? Shi: King Shinefithes kiederbuß, "efammert. von 
Sonfucius, Aberfegtvon F. R 


344 | Ceuſur der. Druckſchriften. 


In bdiefer trockenen, hiſtoriſchen Darſtellung möge ſelbſt eine Mit⸗ 
theilung und Prüfung deſſen zur Seite bleiben, was in offen vor⸗ 
liegenden Schriften und Kammerverhandlungen in ben Jahren 1830 
bis 32 wiederholt dieſem Preßzuftand und feiner Berfaffungsmäßigkeit 
entgegengeftellt wurde. Ebenfo übergehen wir hierfelbft die bekannten 
Einwendungen gegen feine Uebereinflimmung mit den Garlsbaber Bes 
ſchluͤſſen, die den fpäteren Beſtimmungen zur Grundlage dienen unb 
welche, laut Sffentlicher, bis jegt unmwiberfprochener Mittheilungen, nad) 
der ausdrüdlichen Erkiärung der Verhandlungsprotokolle wie nad) ih⸗ 
rem Mortinhalt Eeine Regierung gegen ihre Ueberzeugung und ihre 
Verfaffung zur Cenſur nöthigen wollten. 

Pur noch die Angabe von zwei Thatfachen iſt zur richtigen‘ his 
florifhen Auffaffung des europäifhen Preßzuſtandes unerlaͤßlich. 

Hiſtoriſch unbeflreitbar fcheint e8 uns, daß nach den angegebenen 
deutfchen Einrichtungen wirklich die deutſche Nation ebenfoweit, als fie 
einft zu ihrem Ruhme in der fegensvollen Freiheit geiftiger Mittheis 
lung faft allen gebildeten Völkern der Erde voranftand, ihnen und ih» 
vem eignen frühern Zuftand jegt nachfteht. Oder fanden fi je in 
Deutſchland, und wo finden ſich anderwaͤrts ſolche zahlreiche Zwangs⸗ 
und Unterdruͤckungsmittel gegen die preßfreie Mittheilung ? Vielmehr 
erfreuen ſich bereits der Preßfreiheit ohne alle Cenſur die drei 
nordiſchen Reiche Schweden, Norwegen und Daͤnemark, wie 
bie drei britifhen Reiche England, Schottland und Irland, 
erner Holland, Belgien und die Schweiz, Frankreich, 

ortugal und fo gut wie gänzlich jest ſchon Spanien, ja bie 
tonifhen Infeln und Griechenland, alle Staaten von Rorbs 
und Suͤdamerika, ganz breitifh Oſtindien und alle britis 
fhen Colonien in allen Welttheilen. .Sie freuen fih des 
freien Gebrauchs des herrlichften Organs geiftiger Mittheilung, wels 
ches fammt fo vielen andern ihm felbft und der geiftigen Cultur dies 
nenden Mitteln, wie namentlicy das Linnenpapier, bie Holzſchneide⸗ 
und Steindruckerkunſt, deutſcher Geiſt und Fleiß der Welt ſchenkte. 
Sie alle erfreuen mit Stolz ſich ber Preßfreiheit, während durch ein 
ſicher beachtenswerthes hiftorifches Mißverhaͤltniß die bildung⸗ und freis 
heitliebende, treue dDeutfche Nation gerade nach jenen verheißungs> 
vollen Befreiungstämpfen, in welchen fie ihre Megierungen und bie 
europäifche Freiheit rettete, ſich fogar ihrer oben gefchilderten früheren 
Freiheit wenn nicht unfähig und unwuͤrdig, doch jedenfalls verluftig 
erklärt fieht. 

Sügen wir jedoch zugleich hinzu: Der bezeichnete Zuſtand ift nur ale 
ein ausnahmsweiſer, vorübergehender ober proviſoriſcher 
erklaͤrt. So bezeichnen ihn ausdruͤcklich die Carlsbader Befchlüffe von 
1819, welche wegen ber damals für wahr gehaltenen angeblich alls 
gemeinen Verſchwoͤrungsplane zuerft nur auf fünf Jahre gegeben 
waren. Sie wurden dann im Jahr 1824 und auch noch 1832 nur 
für fo lange als fortheftehenb erflärt, bis ber Artikel 18 der Bun⸗ 


Genfur der Druckſchriften. 345 


bedacte, alfo — die durch Bundesvertrag zugeficherte Preßfreiheit — 
burd) ein bald möglich zu erlaffendes befinitives Bundespreßgeſetz vers 
wirklicht wird. Dafür nun fcheint jego nach) 35 Fahren — wenn übers 
haupt jemal® — die hinlänglihe Ruhe der Zeitverhältniffe gegeben. 
Jenes Mißverhältniß zu der übrigen gebildeten Melt aber fcheint zu: 
gleich die urfprünglichen Beweggründe des Rechts und ber Politid für 
die urfprünglidye Anerkennung und Zuficherung auf das Acußerfte vers 
ftärkt zu haben. Selbſt etwaige Beſorgniſſe neuer Etürme würden. 
diefe Beweggründe nur vermehren, wenn es wahr ift, daß in ber 
Gefahr die möglichfte freie VBegeifterung und Befeftigung bes Vers 
trauens auf die volle und fürftliche Verwirklichung fürftliher Zufagen,. 
fowie 1813 und 15, fo ſtets die Eraftigfte Schugmwehr ber Throne 
Bilden. 

II. Begriff und Wefen der Cenſur. Genfur ift befannts 
lich der Gegenfüg der Preßfreiheit. Preßfreiheit im rechtlichen Sinne 
oder als Recht beſteht nämlich darin, daß ich die Druderpreffe zur 
Mittheilung und zur Vernehmung von Wahrheiten, Thatſachen und 
Meinungen eben fo rechtlich) ungehindert nach meiner Weberzeugung 
gebrauden kann, als Mund und Ohr für die mündliche Rede, als 
für meine Zwecke und freien Bewegungen Arm und Fuß und jebed 
beliebige Werkzeug. E3 muß alfo 1) im Allgemeinen das Mittheilen 
und Bernehmen durch den Drud allen freien mündigen Staatsbürgern 
freigelaffen bleiben. Es muß 2) auch hier nur gegen ben juriſtiſch 
erweisbaren (alfo bereits zu Lage gebrachten) rechtswidrigen 
Treiheitsgebrauh Zwang oder Beſchraͤnkung erlaubt fen. Es muß 
$) derjenige, der zwangvoll in dem Gebrauche feiner Freiheit befchränkt 
- wird, über die rechtliche Begründung, wie über die rechtlihen Grenzen. 

der Beſchraͤnkung und über feine Beſchwerden wegen willkürlicher vers, 
legender Ucherfchreitung derfelben..die Prüfung. und Entfcheidung ber 
Gerichte, der Landftände und die üffentlihe Meinung der Nation zu 
feinem Schutze anrufen Finnen. Kurz es muß Alles ganz ebenfo fein, 
wie bei anderen Nechtö= oder Freiheitsbefchränkungen. u 

Die Cenſur dagegen befteht darin, daß ber Staat 1) fhon im 
Allgemeinen und zum Boraus und fortdauernd Allen - 
alles freie Mittheilen und Vernehmen duch Drudfchriften verbies 
tet (Mund und Ohr, Arm und Fuß zum Voraus feflelt) und nur 
diejenigen Schriften und diejenigen Stellen in jeder Schrift mitzus 
theilen und zu vernehmen jedesmal befonders erlaubt, welcht 
eine von ihm niedergefegte Polizeibehörde nicht zu unterdrüden, fons 
dern zu erlauben für gut findet; daß er dabei 2) auch keineswegs blos 
den rechtsverletzen den Freiheitsgebrauch zum Voraus unterdrüdt, 
fondern aud) das nad) des Genford Meinung angeblich Gefährliche, 
Unanftändige, Unfittlihe u. f. w.; daß er 3) auch die gegen Mißbrauch 
und Willkuͤr fchügende Prüfung und Entfcheidung ber Gerichte, ber 
Stände, der öffentlihen Meinung Aber das Unterbrüdte und über bie 
Gründe und Grenzen der Unterbrüdung ausfchließt, indem bie Unter 


346 Genfur der Druckſchriften. 


druͤckung ihrem ganzen Zweck nah im Dunkel vorgenommen wird 
und im Dunkel bleiben foll. Klar ift es nun wohl, daß ſchon 
nad) jedem einzelnen ber drei angegebenen Charaktere der Genfur ber 
allgemeine Sprachgebrauch Recht bat, nad) welchem, ſoweit Genfur flatts 
findet, die Preßfreiheit oder alles Recht freier Mittheilung und Ver⸗ 
nehmung des freien Austaufches der Wahrheiten und Meinungen burdy 
die Preffe aufgehoben if. Diefes waͤre felbft alsdann ber Fall, wenn 
die Genfur im Uebrigen eine noch forgfältigere Einrichtung, eine noch 
mildere Geftalt hätte, als jemals irgendwo in der Well. Kann ja 
body auch felbft einem Sklaven fein Here factifcy die größten Freihei⸗ 
ten geftatten, und dennoch fehlt demfelben alle rechtliche Frei» 
beit gänzlich, er bleibt in vedjtlicher Hinficht volllommener Sklave, 
wenn gegen die Beſchraͤnkung ihm feine Nechtshülfe zufteht. 

Die Genfur aber zerftört zugleich auch das Recht auf Wahrs 
bett, auf freies Denken oder auf Gedankenfreiheit, auf 
freies Bilden und Wiffen, infofern diefes Alles von dem Mits 
theilen und Vernehmen auf dem jett michtigften Wege, duch Druds 
fhriften aller Art, abhängt. Das Recht zu dieſem Mittheilen und 
Vernehmen felbft hat ja die Genfur aufgehoben, ja fie hat Denen, 
welche fie handhaben und handhaben laffen, die durch Feine gerichtliche 
und conftitutionelle Verantwortlichkeit befchräntte, alfo unbegrenzte Mög» 
lichkeit, Bas heißt das abfolute Recht, gegeben, den Menfchen belies 
bige und falfche Gedanken und Anfichten mitzutheilen. Und fofern 
auch der Glaube, die Befinnungen und Handlungen von 
den Gedanken und Anfichten beftimmt werden, hebt die Cenfur auch 
ihre Freiheit auf, und hat die Gewalt, fie nach ihrem Belieben zu 
beſtimmen. Friedrich der Große fagte (Oenvres posthumes 
Thl. II, ©. 82.) in Beziehung auf das Recht der Könige: „Muͤßte 
„man nicht verruͤckt fein, um fich emzubilden, die Menfchen hätten zu 
‚einem ihres Gleichen gefagt: Wir erheben dich über uns, weil wir 
„GSklaverei Lieben, und geben dir Gewalt, unfere Gedanken 
„nah deinem Willen zu leiten? Sie haben vielmehr im Ges 
„gentheile gefagt: Wir haben dich nöthig, um die Gefege aufrecht 
„gu halten, welhen wir gehorhen wollen, um uns weiſe 
„zu regieren, um uns zu vertheidigen. Webrigens aber fordern wit von 
„Dir, daß Du unfere Freiheit achteſt.“ Es war alfo bei die 
fr Anficht des großen Königs fehr confequent von ihm, daß er eine 
für feine Zeit ungewöhnliche Drud: und Kefefreiheit einführt. Eine 
Geſellſchaft von Witzlingen traf einft die Verabredung, daß ein Mann, 

ber fich einen neuen grünen Mantel gekauft hatte, von den verfchies 
benften Leuten, an den verfchiebenften Orten, fo oft wiederholt uͤber 
bie ſchoͤne blaue Farbe deſſelben angerebet wurde, daß er ihn zulegt ganz 
ernſtlich für blau hielt. Sollte wohl nicht wirklich, wenn einem Wolke, wenn 
feiner heranwachfenden Jugend, auch felbft über Dinge, bie fie nicht mit 
eignen Augen vor fi fehen und prüfen können, ſowie jenes grün 
und blau, nur beflimmte, 5. B. alle der Freiheit und ihren Kreunden 


Genfur der Druckſchriften. 847 


ungünftige Ihatfachen und Meinungen, wahre und unwiderlegte false 
fhe in täglichen Zeitungen, wie in allen andern Schriften mitgetheilt, 
die entgegengefegten aber ausgefchloffen würden, die Anfichten, Mei⸗ 
nungen, Gedanken und Gefinnungen und Handlungen ber Mehrzahl 
allmälig falfch und ganz anders beftimmt werden koͤnnen, als fie uns 
ter der freien Prefie beftimmt morden wären? Hätten wohl die Spa⸗ 
nier ohne die Einführung der Genfur durch ihren Philipp IT. die Ans 
fihten und Geſinnungs- und Handlungsmeife erhalten, von welchen 
ein Theil derſelben erſt allmälig unter Einfluß freier Zeitungen und 
Schriften, vorzuͤglich feit der franzöfifchen Invaſion, fich wieder feet 
machte, welche fie aber drei Sahrhunderte hindurch zur Duldung, ja 
zur eignen Unterftügung des EScheußlichften beftimmten? Hätten bie 
Sranzofen ohne Unterdrüdung der Preffreiheit ihre fcheußlihen Mais 
treffenregierungen und fpäter die Napoleonifche erbuldet und unterftügt 
und Millionen ihrer Mitbürger und der Bürger anderer Nationen 
felbft morden helfen? — Möchte ferner wohl Jemand behaupten, daß eine 
juͤdiſche und roͤmiſche Staatscenfur die hriftlichen heiligen Schriften, 
daß eine katholiſche Staatscenfur die Schriften der Meformatoren, vols 
lends die futherifchen, erlaubt haben würde, daß unter damaliger Herr⸗ 
fhaft unferer heutigen Genfurgefege und Verbreitungsſtrafen jemals 
Chriftentyum und Reformation oder die heiligften und wohlthaͤtigſten 
Wahrheiten und Verbefferungen des Glaubens, der Gefinnungen, 
Handlungen und Einrichtungen zur Herrfchaft gekommen wären, bie 
die Vorfehung dem Menfchengefchlechte zu feiner Veredlung und Be⸗ 
gluͤckung geben wollte? 

Geſetzt alſo auch, es konnten nicht wirklich ſo, wie wir glauben, 
alle weſentlichen Gefahren der freien Preſſe durch fie felbſt und eine 
gute Geſetzgebung befeitigt werben; gefest auch, fie würden nicht uns 
gleich durch ihre guten Wirkungen und duch die Nachtheile und Ges 
fahren der Genfur uͤberwogen, fo fcheint doch Zmeierlei die Genfur 
fhon als ihrem Mefen nach verwerflic darzuftellen. Die etwaigen 
Uebel der Preßfreiheit nämlich. werden fürs Erfte nicht verſchuldet 
ducch die Negierung, fondern durch bie natürliche. und die rechtliche 
Sceiheit, welhe Gott felbft und die Rehtsorbnung den 
Menfhen verliehen. Die Regierung iſt nicht für fie, wohl 
aber für die Mifbriuche, welche von der durch fie gegen biefe reis 
heit beliebig gefchaffnen Genfur unzettrennlich find, verantwortlid,. 
Der Regierungsftempel iſt denfelben aufgebrädt: Sobemn‘ aber fteht 
aller Gebrauch und aller Mißbrauch der Preßfreiheit unter der allge⸗ 
meinen öffentlichen rechtlichen Controle und Verantwortlichkeit. Jeder 
hat den allgemeinen rechtlichen Schug gegen den Mißbrauch, und bier 
fer wird nicht zum Recht geftempelt. Anders bei den Ders 
legungen durch die Genfur! 

Nach diefen Gefihtspunften würbige man das zuvor Ausgefuͤhrte, 
daß die Cenſureinrichtung ben Cenſoren (wenn mehrere Genſurbehoͤrden 
einander uͤbergeordnet ſind, wenigſtens der oberſten) jene abſolute, gren⸗ 


g..—_— [| m. 


348 Genfur der Drudicriften. 


zenloſe, tm Dunkel auszuübende Gewalt giebt, bie Wahrheit und ihre 
em̃ſtußreichſte Meittheilung und folgeweife die Sreiheit der Gedanken, 
Gefinnungen und Handlungen und ihren Gebraudy zur Vervolllomms 
nung und zum Schug bed Rechts zu unterdrüden, und, flatt ber 
wahren und guten Gedanken und Gefinnungen, unwahre und böfe zu 
befhügen und zu verbreiten, ein unbegrenztes Recht alfo zur Wahrs 
beitäverfälfhung, zur Lüge, zur Unterdrüdung und zu jedem Boͤſen? 
Die Cenfur giebt insbefondere aud wirklich die Gewalt, Recht 
und freiheit und die weſentlichſten Schugmittel biefer und aller ans 
dern Güter der Mitmenfchen zu zerflören und zwar ebenfo wohl ihre 
Privatrechte wie bie Öffentlichen oder wie die ganze rechtliche Verfaſ⸗ 
fung. Der Staatsminifter Freiherr 8. von Mofer, der fcharf bes 
obachtende, der in die geheime und oͤffentliche Geſchichte der deutſchen 
Höfe und Länder eingemweihte praktifche Staatsmann, nannte die nas 
tuͤrlich uncenſirte Schloͤ zer ſche Zeitfehrift, melde unermüdlich und 
mit der ſtaͤrkſten Sprache bie taͤglich aus allen Therlen Deutſchlañds 
ihm zugeſendeten Beſchwerden über oͤffentliches Unrecht und über Miß⸗ 
griffe der Regierungen und oͤffentlichen Behoͤrden zur Sprache brachte: 


eines ber wichtigſten und fruchtbarſten Inſtitute für 


„nen Schutz bes Rechts, für Beſtrafung und Verhinderung ges 
„beimer und oͤffentlicher Gemwaltthaten” Er verlangte, 
dag das deutſche Reich dem freimiüthigen derben DVerfaffer, „dem in 
„Seiner Urt einzigen Wahrheitsprofeffor, der öffentlih und noch weit 
„mehr im Stillen und VBerborgenen bereits unendlich viel Gus 
„tes geftiftet, von dem eine Note oder ein Nöten oft 
„mehr gewirkt babe, als die Bußpredigten ber Reichs⸗ 
ngerichte, die Vorftellungen der Collegien und bie Sup- 
„pliten ber Landftände und Unterthanen, einen Roͤmer⸗ 
„monat alljührli als Belohnung zuerkenne”*). Die Genfur aber 
machte diefem hoͤchſt mohlthätigen Werke ähnlich, wie hundert andern, 
und wie ja felbft dem fegensreihen Nationalwerd, den Moferfhen 
Dhantafien, ein Ende und ließ mie viele andere, welhe Deutfchs 
Land fo wie England vor dreißigjaͤhrigen Erniedrigungen 
und vor ber. Gefahr bes Untergangs, vor einer Reihe 
won fpäteren Revolutionen und vor wie vielfahem Un 
glüd hätten bewahren fönnen, gar niemals auffommen. 

3a um gar nicht einmal. zu reden von ber Pflichtroidrigkeit der 
Beamten, welche zu entdecken nach ber berühmten koͤnigl. preußifhen Ca⸗ 
binetsordre von 1804 nur allein die YPublicität das wird 
fame Mittel ift, um nit zu reden von all den kleinen und großen, 
verderblihen und bedrüdenden Maßregeln, von Juſtiz⸗ und: Kerker⸗ 
Meorden, von Beſtechungen und Vetrügereien, welche in der freien Preffe 
ihre Eräftigfte Verhinderung finden und ohne fie oftmals auch unter 


*, Mofers patriotiſches x io Bu AL ©. 547. Schloͤzere 
Staatsanz Heft ee . a ar 


Cenſur der Drudfchriften. 3498 


dem beften, um mie viel leichter unter ben fchlimmen Regenten menſch⸗ 
licher Weife vorkommen, fo zerftört die Cenſur auch noch außerdem bie 
weſentlichſten Schugmittel gegen große Gefahren der Bürger. Auf dem 
Tegten babifchen Landtage 1835 erzählte, ohne irgend einen Widerſpruch 
zu erfahren, der DVerfaffer diefer Zeilen folgendes Beiſpiel: „Bekannte 
„lich enthielten vor einiger Zeit unfere Anzeigeblätter eine von dem 
„Geſandten eines großen europäifchen Meiches ergangene Einlabung zur . 
„Auswanderung in eine Provinz dieſes Meiched. Die Beamten hate 
„ten diefe Einladung, welche fehr lodende Bedingungen enthielt, 
„ihren Untergebenen befannt zu machen. Die Landleute aber konnten 
„aber den Sinn diefer Bekanntmachung durch die Beamten der eiges 
„nen Landesregierung leicht in Irrtum kommen. Die Regierung felbft 
„und die Beamten, die fehr erflärlich eben nicht als abrathend auftreten 
„konnten, ſchienen ihnen diefe Auswanderung im Gegenfaß anberes, 
„öffentlich niemals vorgefchlagener Austwanderungen vorzugsmweife anzu⸗ 
„cathen, und außerordentlich Viele entfchloffen fi zu derfelben. Ih 
„aber Hatte zufällig fehr genaue Nachrichten und Kenntniffe von den 
„ganzen oͤrtlichen Verhältniffen, nad melchen ich mit Gewißheit ſa⸗ 
„gen Eonnte, daß dieſe Menfchen ins Unglüd gingen. Die Cenſur 
„aber hinderte mich, meinen am Rande des Abgrundes ftehenden Mit⸗ 
„buͤrgern jene Mittheilungen zu machen, welche gewiß eine große Zahl 
„von diefem Unternehmen abgehalten haben würden. Diefe Unglüd» 
„lichen find jest wieder zuruͤckgekommen, beraubt eines großen Xheils 
ihrer Samiliengenoffen, die der Tod hinraffte, und ganz von Vermoͤ⸗ 
„gen entblößt. Die Genfur hat diefe Leute in Tod und Elend geftürzt 
„und — ich begehre nicht Schuld daran zu fein” *). 

Jenes Verhältniß der Genfur aber für die ganze freie Verfaſſung 
und für ihre fegensreiche Wirkung für den Thron und das Volk, follte 
dieſes wohl noc des Beweiſes bedürfen? Wären etwa alle die Er—⸗ 
fabrungen und Urtheile englifcher, franzöfifcher und deutſcher 
Staatsmänner, welche Prefßfreiheit für ben Lebensodem und bie we⸗ 
fentlihfte Garantie der Verfaſſung erklärten, welche bdiefelbe ohne 
fie eine Zäufchung nannten und in ber Wahl zwifchen dem Parlas 
ment und ber Preffteibeit letztere vorzuziehen erflärten — wäre alles 
dieſes etwa aus der Luft gegriffene Echwärmerei? Wollte man mohl 
an Schloͤzers Ausfpruch: „daß die ftändifche Verfaffung, ohne Publis 
eität und Preßfreiheit, nur allzu leicht zur privilegieten Landesverrätherei 
werde“, nicht blos die Derbheit des Ausdrucks tadeln, fondern ihr alle Wahre 
heit ableugnen? Zwar gute, Eräftige Fuͤrſten können viel Gutes wirken, viel 
Böfes abwenden. Aber könnten, wo die freie Preffe fehlt, nicht allzuleicht 
Megenten getäufcht werden durch eigene oder fremde Hofeingebungen, durch 
untreue Minifter und ihre Creaturen? Könnten fie nie auch felbft leiden 
ſchaftlich verftimmt durch ftändifchen Widerſpruch, nun leicht von Höflingen 





JVrotokolle ber badiſchen H, Kammer v. 1835. Heft VI. 


350 Cenſur der Drudichriften, 


auf Abwege geführt werden? Könnte etwa nie durch die Genfur nur die 
Stimme der Schmähung gegen die felbftftändigen Wähler und Ges 
wählten, nur Lobpreifung für die fervilen Werkzeuge dee mächtigen 
Partei — laut, bald den Erfteren jebe Verfolgung oder Zurüdfegung, 
den Lesteren jede Auszeihnung und oͤffentliche Gewalt zu Theil wers 
ben, und fo, wo nicht Revolution eintritt, wie in England und Frank⸗ 
zeich, die angeblihe Volkswahl und die Verhandlung ber Volksvertreter 
felbft zur Beförderung verfafjungswidriger Beſtrebungen dienen? Es 
fei erlaubt, um auch bier das Allgemeine duch den Blick auf bas 
Leben zu veranſchaulichen, noch eine Stelle aus der ſchon angeführten 
öffentlichen Rede im Jahre 1835 anzuführen. Es traf fie ſowohl 
bei dem öffentlichen Vortrage, als feitdem fie im Druͤck ganz Deutfchs 
land vorliegt, Fein MWiderfpruh oder Zabel, vielmehr. wiederholt bag 
Öffentliche Lob der Mifigung. Und ich. kann bei den nie verchehlten 
Sefinnungen gegen das Land und die Regierung, die ich, bei aller 
pflichtmäßigen Offenheit meiner Meinungsäußerung über einzelne Ver⸗ 
bältniffe, gegen keine andere im beutfchen Waterlande vertaufhe, viel 
fiherer gegen Mißverſtaͤndniſſe, auf diefe vorübergegangenen und vors 
übergehenden Zuftände bes eigenen Landes hinmweifen, als auf frembe. 
Die Stelle lautet ©. 77 der officiellen Protokolle woͤrtlich folgenders 
maßen: 

„Als ich zum erſten Dat hier von der Preffreiheit fprach, fand Ich 
„Ihre laute Zuſtimmung, da id) erflärte, dag die Mohlthaten der Vers 
„faſſung nicht ins Leben getreten feien wegen des Mangels an Preß⸗ 
„freiheit, dag auf den Landtagen von 1825 und 1828 bei beinahe noch 
„unveränderter Steuerlaft aus den Kriegsjahren her felbft aus der Mitte 
„der Stände der Ruf nad) noch mehr Steuern ertönte, dag die allges 
mmeine Mißachtung ber ganzen fländiihen Verfaſſung es bewirkte, 
„Daß in vielen Zheilen unfered Landes unfere Bürger bewogen wers 
„den Eonnten, um Aufhebung diefes, wie es fchien, werthlofen Snftis 
„tuts zu bitten. Als im Jahre 1830 unfer jegiger Fürft bei feiner 
ihronbefteigung erklärte, die Verfaſſung folle eine Wahrheit werben, 
„als von da an zuerft factifh und nachher gefeglich durch das ganze Land 
„die freie Sprache der Prefien ertönte, wie vortheilhaft veränderte fich 
„ba nicht Alles in Eurzer Zeit! Und noch reihen von biefer glüdlichen 
„Periode gute Reſte in unfere Zeit hinüber.” 

„In biefen guten Zeiten ift unfere WVerfaffung dem Volke theuer 
„geworden. Aber feitdem die Preßfreiheit unterdrudt ift, Hat Manches 
„in den öffentlihen Angelegenheiten fichtbar wieder eine Wendung nad) 
„jener traurigen Geftalt der Dinge hin genommen. Sa, wer wird es 
„leugnen, daß bei einer Fortdauer biefes Zuſtandes auch jegt wieber 
„Die Kammern der Stände In Mißachtung kommen, ja achtungsun⸗ 
„werth werden könnten? Erwaͤgen wir ferner, wie bie Unterdrüdung 
„ber Preffe auf die öffentliche Demoralifation, auf jenes Gefindel der 
„Angeber, Zwifchenträger und Speichelleder, wie fie auf die öffentliche 
„Sicherheit und endlich auf das öffentliche Vertrauen einwirkt!“ 


[4 


Genfur der Drudicriften. 351 


Zugleich aber hat e8 wohl nunmehr bie reiffte Erfahrung beftds 
gt, daß es tief im Wefen des Genfurinflituts und des 
menfhlihen Verhaͤltniſſe liegt, daß bie. Genfur, ſelbſt bei dem bes 
ften Willen der Regierungen und ber Cenforen, Miß 
bräuche und bie größten Hemmungen der geiftigen, bürgerlihen und 
politifchen Sreiheit begründet. Nur wegen des Dunkels, das. ihre Aus⸗ 
übung verhültt, und weil das Unterdrüdte und vollends das 
sum Voraus von ihr Verhinderte niht zu Zage kommt, 
kann man biefes überfehen. Wo und fobald aber nur irgend einmal 
etwa in ftändifchen Verhandlungen auch nur zum Eleinften Theile der 
Schleier gelüftet wurde, da wurden alle vechtlihen Männer von Staus 
nen und von den fehmerzlichften Gefühlen ergriffen *). Hier mögen 
nur noch die Erfahrungen von zwei Publiciften Plag finden, welche 
noch Niemand einer ultraliberalen Schwärmerei befhuldigt hat. Zar 
harid **), nachdem er die allgemeine Meinung ber Sachkundigen 
ausgeführt hat, daß die Genfur dag Weſen der repräfentativen Mon» 
archie und ihr Lebenselement, eine freie öffentliche Meinung , aufbebe, 
bag man auf freie monarchiſche Verfaſſungen entweder überhaupt vers 
sichten, oder die Freiheit der Preffe zum Grundgefeg berfeiben machen 
müffe, daß aber gerade Zagblätter, Zeit und Flugfchriften mefentlich 
bie Schwingfebern in den Flügeln der freien Preffe find, und baß, 
wie Mohl ***) ſich ausdruͤckt, „bie ganze fländifche Verfaſſung durch 
„Senfur ganz verborben, und in die härtefle, wenn fchon. formell ger 
„ſetzliche Zwangsanſtalt verkehrt werden kann ;” fügt dann noch hinzu: 
„Eine Genfur entmünbdigt bas Voll. Sie räumt einer befone 
„deren Meinung bie Herrfhaft ein, weldhe nur der gemeinen 
„Meinung gebührt. Man darf lächeln, wenn ein Cenſurgeſetz 
„wegen der Achtung gepriefen wird, bie es für die Freiheit des geiftie 
„gen Verkehrs an den Tag lege — bie Aufgabe, ein Genfurgefrg zu 
„entwerfen, welches die Freiheit der Preffe nur auf ihre rechtlichen 
„Bedingungen befchränkte, ift ihrem MWefen nah unauflöss 
„bar. So gemiß das Urtheil über die Gefährlichkeit einer Schrift 
„eine Wahrſcheinlichkeitsrechnung ift, fo gewiß muß ein je⸗ 
„des Genfurgefeg einer jeden Ausdehnung empfänglid, fein, 
„welche man ihm geben will.” Zu biefem erften Grunde einer 
unvermeidlich verlegenden, verberblihen Ausübung der Genfur 
kommt der zweite, daß fhon die menfhlihe Natur und die menſch⸗ 
lichen Verhältniffe ganz unvermeidlich einen vielfältigen 
großen Mißbrauch diefer fo abfolut grenzenlofen, ohne 
alte vechtlihe Controle und Rechenſchaft insgeheim nach dem fub» 
jectiven Meinen ausgeübten Gewalt begründen. Es ift biefeg 


*) 3.8. auch bie citietm Protokolle S. 73. und Rote 12 
=”) Bierzig Bücher vom Staate II, 349. 
) Syſtem der Praͤventiv⸗Juſtiz ©. 198 


352 Cenſur der Drudichriften. 


bee Mißbrauch durch menſchliche und politifche Leidenſchaften, Einſei⸗ 
tigkeiten, Intereſſen, Verirrungen und Abhaͤngigkeiten der Cenſoren 
und der ſie geheim beliebig inſtruirenden Maͤchtigen. Hierzu kommt 
fuͤrs Dritte, daß die Regierungsorgane, die Miniſter und ihre Agen⸗ 
ten, gegenüber ben Vertheidigern der Volksrechte und Volksfreiheiten, 
den Beſchwerdefuͤhrern gegen sffentlihe Mißbraͤuche, der Natur des 
Sahe nah als parteiifch daftehen. Noch verderblicher wirkt 
en vierter Umftand. Selbft die Regierung bes Pleinften 
Schweizercantons bleibt jego unangefochten bei ber dort fogar 
völlig fchrankenlofen Ausübung der Preßfreiheit in ihrem Gebiete, 
weil die Preßfreiheit nun einmal grundgefeglih und 
weil der fefte Wille der Regierung, fieniht aufzuger 
ben, einmal angenommen iſt. Alle Genfurbehörben und ihre 
‚Regierungen dagegen merden gegen bie Bürger und die Behörden -des 
"eigenen Staates, gegen alle Potentaten und Gefandten ber Chriſten⸗ 
heit verantwortlich. Sie werden aber keineswegs wegen des—⸗ 
jenigen, mas fie ingeheim unterbrüden, fondern nur wegen al 
fee unangenehmen Wahrheiten und Aeußerungen, die fie niht un: 
terdrüden, verantwortlich gemaht und geplagt. Somird. 
denn auch abermals jede Genfurbehärde der Natur ber Sache 
nah partriifh gegen die Freiheit und bie Schriftſtel⸗— 
ser. Sie iſt in jedem zweifelhaften Falle zur Unterdrüdung anges 
wiefen, deshalb muß denn auch die Errichtung einer doppelten ober 
einee Dbercenfurbehörde, wie fhon Mohl ausführt, die Hem⸗ 
mung und Unterdrüdung ber Cenſur nur gleihmäßig verſchaͤr— 
fen, ftatt fie zu mildern. 

Und bei diefem Allen follte niht taufendmal auch gegen 
das Befte und Unfhuldigfte ber ficher vernichtende Streich 
dem Mißbehngen und der Beſorgniß ſolcher Verantwortlichkeit und Pla⸗ 
gen vorgezogen oder durch jene andern Urſachen beſtimmt, es ſollte der 
geiſtige Verkehr, es ſollten Wahrheit und Recht, Vervollkommnung und 
Bildung unſeres Volks nicht ſelbſt von den Fremden, wie von inlaͤndi⸗ 
ſchen maͤchtigen Perſonen und Parteien abhaͤngig, die Cenſur nicht Gehuͤlfin 
von Taͤuſchung und Unrecht werden müffen? Alle dieſe, wie die fruͤ⸗ 
ber erroähnten, unvermeidlichen Gefahren und‘ Uebel werden natürlich 
nicht vermindert, fondern nur vermehrt, wenn ganze Schiffsladungen 
byzantinifchen und alerandeinifhen Buchſtabenkrams, wenn farb- und 
Eraftlofe oder die einfeitige Richtung der Cenſur unterftügende Werke 
verkauft und geleſen werden. Wohl mit Recht konnte daher Mohl 
(a. 0. D.) von dem gegen bie Genfur verbreiteten Haffe fagen: „Er muß 
„von ber Leichtigkeit und Häufigkeit ber Mißbräuche oder von dem un« 
„zertrennlichen Dafein fhäbdlicher Folgen herruͤhren. Dies ift denn 
„auch der Fall. — Der geringere und minder fchädliche Theil der Miß—⸗ 
„braͤuche ift noch der, welcher aus bloßem Unverſtand oder aus übertries 
„bener Aengftlichkeit des einzelnen Cenſors herrührt. Bedeutender und 
„wirkiihh dem Umfange.nadh Faum zu ermeffen find die don 


Genfur der Drudichriften. 853 


„ber hoͤchſten Behörde felbft ausgehenden Migbräuche, wenn nämlich den 
'„Senforen der Befehl ertheilt wird, niht nur Rechtsverleguns 
„zen, fondern aud Wahrheiten, deren Belanntiwerdung der Regierung 
„oder einzelnen mächtigen Perfonen unangenehm wäre, zu unterdrüden. 
„In einem folchen Kalle ift es möglih, das Lautwerden jeder noch fo 
„gerechten Klage Einzelner oder Aller zu unterbrüden. Jede belies 
„bige Behauptung und Darftellung kann dagegen von der Regierung 
„verbreitet werben, ohne daß fie eine Widerlegung bes Unterdruͤckten, 
„eine Rechtfertigung der unfhuldig Angeklagten zu fürchten hätte. — 
„Bei dem engen Zufamntenhang aller menſchlichen Kenntniffe und Ideen 
„iſt fogar möglich, daß dem Anfcheine nad) weit entfernte Seiten des 
„geiftigen Lebens ſchwer leiden unter der zundchft nur politifchen Gene 
„ſur.“ Mohl führt dann ebenfalls die anerkannte Unmoͤglichkeit aus, 
dieſe Mißbraͤuche durch die Cenſurgeſetze und Einrichtungen zu verhin⸗ 
dern, und faͤhrt fort: „Kurz, die Unzureichenheit dieſer Mittel faͤllt in die 
„Augen und die Möglichkeit und Leichtigkeit des Mißbrauchs iſt im 
„Weſen der Genfuranftalt felbft begründet, und die hieraus fich erge⸗ 
„bende Abneigung gegen biefelbe ebenfo gerechtfertigt ale unent- 
„fernbar. Sobald Genfur in einem Lande eingeführt ift, find einzelne 
„Beamte zu untrüglichen Richtern in allen Fragen Uber Staat, Kirche 
„und felbft Wiffenfchaft ernannt und die Verhinderung alles geiftigen 
Vorſchreitens ift in ihre Willkür geſtellt.“ | 

IV. Rechtliche Würdigung ber Cenfur im Allgemeis 
nen. Die Ueberzeugungen der Amerikaner, Engländer, Franzoſen 
und anderer freier Völker, die faft einflimmige Ueberzeugung auch 
unfrer beutfhen Staatsrechtöiehrer von dem Recht ber Einzelnen 
und ber Völker auf freie geiſtige Mittheilung und von dem rechtes 
verlegenden Charakter der Cenfur find bekannt. Blackſtone, ber . 
erfte bettifche Rechtsgelehrte, drückt fich barhıber in feinem Com men⸗ 
tar über das englifche Recht (IV, 11.) mit feinem gefunden praktiſchen 
Urtheile fo aus: „Die Preßfreiheit ift mit dem Wefen eines freien 
„Staates auf das Innigſte verbunden. — Jeder freie Mann hat ein 
„unbezweifeltes Recht, feine Gedanken dem Publicum vorzulegen, biefes 
„verbieten, heißt die Kreiheit der Preſſe zerſtoͤren, alle Freiheit der Ges 
„banken den Vorurtheilen und den MWillkürlichleiten eines einzigen 
„Mannes anheimgeben. — Der einzige fcheinbare Grund für die Gens 
„Sur, daß fie nothwendig ſei, dem täglichen Mißbrauche der Preſſe 
„vorzubeugen, wird feiner ganzen Kraft beraubt, ba es zu Tage liegt, 
„daß, bei gehöriger Handhabung der Gefehe, die Preſſe zu keinem 
„verderblichen Zweck mißbraucht werden kann, ohne daß ber Miß—⸗ 
„btauch einer angemeſſenen Beſtrafung anheim faͤllt, wogegen ſie kei⸗ 
„nem guten Zweck dienen kann, waͤhrend ſie einem Aufſeher unterwor⸗ 
„fen iſt.“ Wir wollen nicht vielleicht irgendwo anſtoßen durch Mitthei⸗ 
lung der kraͤftigeren Stellen engliſcher und franzoͤſiſcher Staatsmaͤnner uͤber 
Preßfreiheit und Cenſur und insbeſondere auch uͤber unfere deutſchen Zus 
ſtaͤnde in dieſer Beziehung. Nur den mildeſten neueren Ausdruck der 

Staats » Lexilon. III.. 23 


354 Genfur der Druckſchriften. 


britifchen Nationalüberzeugung über das Recht "auf völlig’ unbe: 
ſchraͤnkte Preßfreiheit wollen wir mittheilen. In der am 7. Maͤrz 
dieſes Jahres in der Altſtadt London unter Vorſitz des. Lord: 
mayors gehaltenen oͤffentlichen Verſammlung uͤber Abſchaffung des Stem⸗ 
pels, in welcher ſpaͤter auf den Vorſchlag Hum e's und anderer libera⸗ 
ler Parlaments-Mitglieder noch weit kraͤftigere Beſchluͤſſe genehmigt 
wurden, lauteten nach der Allg. Zeitung die beiden erſten vom Parla⸗ 
mentsmitgliede Grote vorgeſchlagenen, einſtimmig angenommenen Be⸗ 
ſchluͤſſe folgendermaßen: „Das Gluͤck, die Groͤße, die Guͤte der 
„Regierung einer Nation haͤngen ab von der geiſtigen und morali⸗ 
„ſchen Tuͤchtigkeit und Einſicht der Nation. Alſo iſt jede Auflage auf 
„die Mittel für die intellectuelle Entwickelung ein Act ber Unge⸗ 
„rechtigkeit, welhem man auf allen gefegmäßigen und 
„onftituttonellen Wegen entgegentreten muß.” — „Die 
„Taxe auf Zournale ift eine bdirecte Auflage auf die geiftige: Ausbil: 
„bung, denn fie verhindert vorzüglich die mittleren und unteren Glaf- 
„sen der Bevölkerung, fi fortlaufend zu unterrichten über das, mas 
„in den zwei Däufern bed Parlaments und in den Gerichtshoͤfen 
„vorgeht. Er beraubt dieſe Claſſen der genaueren Kenntniß über 
„die auswärtigen und inneren Verhaͤltniſſe, welche für ein freies, ge⸗ 
„werbthaͤtiges und handelndes Voll unentbehrlih find. Denn fie 
„machen fie fähig, ihre gefelfchaftlihen Pflichten zu erfüllen, ih⸗ 
„ver Induſtrie einen Auffhmwung und ihren Unternehmungen. die ih⸗ 
‚men felbft und dem Vaterlande heilfame Richtung zu geben.” Be⸗ 
reits am 6. Mai bei der Vorlage bes Budgets fegte der Kanzler der 
Schatzkammer den Zeitungsftempel von 34 auf 1 Penny herab, und 
erklärte: „er hoffe, daß biefe große Herabſetzung den gemünfchten Er⸗ 
„folg haben werde, die Verbreitung der sffentlichen Blätter und ihre- 
„größere, ungehemmtere Circulation zu vermehren.” Für dieſen libe- 
ralen Zweck wurde in dem fortfchreitenden England befanntlid auch 
früher fhon das Poftporto für alle Zeitungen gänzlich 
aufgehoben, auch felbft für die Zeitungen fremder Länder, fofern 
die Regierungen der Iegteren fo, wie bereits Frankreich und Spanien, 
auch die englifchen Zeitungen ohne Porto verbreiten. 

Ein hochachtbarer Schriftfteller hat neulich eine Vereinbarkeit ber 
Genfur mit dem Recht behauptet. Es that diefes Mohl, trog fei- 
ner Bekämpfung berfelben. Wir würden nun biergegen. nicht ſtrei⸗ 
ten, wenn durch Genfur wirklich etwa auch das Recht ber Preßfreis 
heit, fo wie Mohl ausdruͤcklich vorausfegt (S. 189.), nur 
ganz auf dieſelbe Weiſe und unter denfelben rechtlichen 
Bedingungen einer Beſchraͤnkung und Vernichtung unterwerfen würbe, 
wie auch die anderen Rechte, wie Leben und Eigentbum oder bie pers 
föntiche Freiheit der Bürger. Es gefchieht nämlich diefes theild all⸗ 
gemeinrechtlich nad den frengen rechtlihen Bedingungen wah⸗ 
ver Nothwehr, wahren Nothſtandes und der rechtlihen Ges 
nugthuung und Strafe (f. oben Il.) Es finden anderntheils 


Genfur der Drudichriften. 355 


ausnahmemweife (ſ. Mohl ©. 26.) an ſich weniger mefentliche 
Rechtsbeſchraͤnkungen aus dringenden Gründen finatspolizeirecht: 
licher Sicherung ſtatt, jeboh nur auf den verfafjungsmäßigen We⸗ 
gen, alfo bei Aufopferung von Privats und Verfaffungsrechten nach 
ſtaͤndiſch bewilligten Gefegen und unter dem verfaſſungsmaͤßigen 
Schus der Gerichte, der Stände und ber öffentlihen Meinung gegen 
den Mißbrauch und die Ueberfchreitung. DR oh insbeſondere fordert eben: 
falls noch ausdruͤcklich für die rechtliche Möglichkeit folder Beſchraͤn⸗ 
tungen 1) daß der Nachtheil der Beſchraͤnkung in keinem Ver: 
haͤltniß ſtehe zu ihrem Vortheil, 2) daß biefer Vortheil ein allge⸗ 
meiner und unzweifelhafter, und daß 3) das durch bie Be 
ſchraͤnkung aufgehobene Recht ein verhältnißmdßtg unbedeu— 
tendes ſei, daß auch 4) die Beſchraͤnkung ſtets auf den mit Erreie 
hung des Zwecks irgend verträglichen geringften Umfang. zurüdgeführt 
und daß fie 5) fomeit immer möglich nur gegen Entfchädigung zuge 
fügt werde. Auch diefe rechtlichen Bedingungen aber widerlegen fchon 
bie Nechtmäßtgkeit bleibender Genfur. Mit ihnen ift fiher nicht ver: 
einbarlich eine bleibende gänzliche Aufhebung ganzer großer und 
wichtiger Hauptfphären ber rechtlichen Freiheit, 3. B. ber pe 
fönlihen Freiheit oder der Eigenthumsfreiheit, oder ber für alle Güter 
und Rechte der Menſchheit fo unendlich wichtigen Preßfreiheit. Es 
ift vollends unvereinbarlich eine defpotifche Zerftärung und Verfügung 
ohne alle jenen rechtlichen Schuß gegen tyrannifchen Mißbrauch, eine 
foihe Aufhebung, wobei, wie ja Mohl (S. 193 — 196.) ſelbſt 
fagte, der Nachtheil jedenfalls ungleih „größer” und der verderb⸗ 
lichfte Mißbrauch wenigftens „das Siche rere“ ift, ja die nad) ihm ' 
fo hochwichtigen Rechte und das ganze geiftige Kortfchreiten der Ras 
tion und die weientlichfte Garantie der ganzen Verfaffung „der Will: 
tür unterwirft“. Wo aber biefes ift, wo alle rechtliche und vers 
faffungsmäßige Controle und Verantwortlichkeit gegen diefe Willkür | 
fehlt, da ift ja das ganze Recht felbft preisgegeben. Wollen aber Andere 
blos mit den hohlen Phrafen der nothwendigen Verhinderung bes 
Unrechte oder der Nothwendigkeit des Nichtgeftattens des freien Verkehrs 
mit gefährlichen Sachen, die Cenſur ale Schuß gegen Mißbrauch der 
Preßfreiheit, ja wohl gar ald Schu des vernünftigen Gebrauchs derſel⸗ 
ben mit dem Rechte und einer rechtlichen Preßfreiheit vereinbaren, fo 
feien fie wenigftene confequent! Man erkläre es alsdann auch als mit 
dem Recht und mit der rechtlichen perfönlichen und Eigenthumsfreiheit, 
mit bem Recht, zu hören und zu fprechen, zu gehen, euer und Eifen 
zu gebrauchen, vereinbarlich, wenn gegen biefe Rechte ebenfalle zur Ver⸗ 
binderung des Mißbrauchs, zur Werhinderung von Mord, Brand, Diebs 
ſtahl, Majeftätsbeteidigung, Aufruhrſtiftung, eine Polizeibehörbe, die 
gleiche allgemeine, grenzenlofe und unverantwortliche Gewalt 
im Dunkel ausübt und mit ihr Perfon und. Eigenthum, Arm und 
Bein, Ohr und Mund zum Voraus bei allen Bürgern in Beſchlag 
nimmt, feffelt und nur diejenigen Bewegungen zulaßt, die jhr beſon⸗ 
L 


356 Genfur der Drudichriften, 


ders jedesmal zu geftatten beliebt! Oder man wage ed, Angefichts 
des gebildeten Europa's auszufprechen: nur das Recht auf Preßfreiheit, 
welche alle Völker, die fie kennen, als ihr heiligftes Ehrenrecht, ale ben 
Schutz aller übrigen und als das wichtigfte Mittel auch ber mate⸗ 
riellen Vervolllommnung mit Gut und Blut vertheibigen, fel Aber 
haupt oder für uns Deutfche fo unendlich viel fchlechter, als alle jene 
materiellen Güter und anderen Freiheiten, baß man nur fie zum Box 
aus vernichten dürfe, um bie etwaigen Mißbräuche beffer zu verhuͤten! 

Alle folche feichte und gemeine Anfichten lagen Mohl fern. Aber . 
er-fegt offenbar eine Genfur voraus, wie fie nirgends tft und ſein 
Bann, und überfieht feine eigenen Bedingungen rechtlicher poltzeilio 
her Beſchraͤnkungen, fo wie jenes Preisgeben aller rechtlichen Freiheit 
der Preſſe an die rechtlich durchaus nicht controlicbare, nicht verantimorte 
che Willkuͤr. Er täufcht ſich auch offenbar (©. 9. und 189. 190.), 
wenn er fagt, die Genfur befchränfe nicht die rechtliche Freiheit, fonbern 
nur die Rehtsverlegung, zu welcher Niemand ein Recht habe, da 
fie doch) nicht blos ſtets auf nicht rechtsverlegende Mictheilungen 
treffen foll, fondern da fie auch die ganze rechtliche Preßfreiheit 
Aller, welche nie das Recht verlegten, zum Voraus feffelt, d.h. beſchraͤnkt 
und verlegt, fie und „den geiftigen Kortfchritt der Willkuͤr preisgiebt” 
(8. 193.). Mohl feibft aber erklärt, die freie Gedankenaͤußerung als 
beiliged Urrecht.der Menfchen und als wefentlich für die freie Verfaſ⸗ 
fung. Er wirft zugleich nach dem Obigen auch die gewoͤhnlichen Taͤu⸗ 
ſchungen uͤber das praktiſche Weſen der Cenſur von ſich. Sein ge⸗ 
ſunder praktiſcher Verſtand mußte alſo auch, trotz jenes theoretiſchen ju⸗ 
riſtiſchen Irtthums, dringend rathen: „die ungleich gefaͤhrlichere und 
nachtheiligere Cenſur“ der Preßfreiheit weichen zu laſſen. 

Die Cenſur ober die Aufhebung der Preßfreiheit iſt nun aber In & 
befonbere eine Verlegung der privatredhtlihen Freiheit, 
1) meil fie mir das wichtigſte Recht der Mittheilung und Vernehmung 
bee Wahrheit, der freien geiftigen und moralifhen Verbindung mit 
meinen Mitmenfchen und der Foͤrderung meiner Zwecke durch biefelbe 
zerftört und mich durch Unmwahrheit täufcht. Sie zerftört mir 2) das 
wichtigfte WVertheidigungsmittel meiner Ehre und meiner übrigen Rechte, 
felbft oft gegen die in der cenfirten Preſſe vorgebrachten furchtbarften 
Angriffe und Verleumbungen *). Sie nimmt mir $) vorzüglich vers 
mittelft der Unterdrüdung freier Tagblaͤtter, wie jene englifche Adreſſe 
“ ausführte, die wichtigften Mittel zur Beförderung des Wohlftandes auf 
dem Wege der Induftrie und des Handels, und ift vielfach auch unmits 
teilbar oͤkonomiſch verlegend für einen fo wichtigen Verkehrszweig, wie 
der literarifche tft, für feine Theilnehmer, Schriftfteller, Buchhändler, 
Buchdruder. Auch biefes möge eine Stelle aus jener officiellen Rede 


*) Merkwürbige Beifpiele in ber volllommenen und ganzen Preß 
freipeit u. Th. Welder, ©. 37, ©. 102. und bie oben citirten Proto⸗ 
kolle ber babifken Kammer, ©. 75. 77. _ 


Genfur ber Drudichriften. 357 


von 1835 wenigſtens theilweife veranfchaulichen. „Wenn“ (heißt es dort 
©. 76.) „wenn der Herausgeber eines Blattes, wie bereits angeführt 
wurde, ſich genöthigt fieht, oft drei= oder viermal ganze Blätter umbres 
„hen zu laffen, weil auch der unfchulbigfte Artidel von dem Genfor uns 
„barmberzig geftrichen oder verftüämmelt wird, wenn überhaupt ein folcher 
„Redacteur vielleicht 40 Fl. für. einen geſtrichenen Auffag bezahlte, ja we⸗ 
„gen des Umbrechens noch dreifache Koften zu tragen hat, fo verliert er 
„zuletzt felbft die Möglichkeit, das ganze ehrliche Gewerbe fortzufegen. 
„Mitarbeiter, Druder und Verleger müffen auf den erlaubten Vortheil 
„ihres Gewerbes verzichten, und fo kam es dahin, daß wir nicht ein einzis 
ages freies Blatt mehr haben, welches die Klagen über Mifgriffe in der Vers 
„waltung, die Beſchwerden der Unterthanen, die freimüthigen Wünfche 
„und Bebürfnifie der Bürger ihren Mitbürgern ans Herz legen Tann. 
„Denn man bei irgend einem andern Erwerbszweig, 3. B. bei einem 
„Krämer, heute nicht für 40 Fl., fondern für 40 Kr. Stodfilhe, mor⸗ 
„gen für eben fo viel Geld Häringe, und übermorgen für denfelben Bes 
„tag Spielfachen confisciren wollte, und man durch ſolche und ähnliche 
‚Handlungen zulegt den Dann zwingen würde, fein ganzes Gewerbe aufe 
„zugeben, fo weiß ich nicht, ob Sie biefes nicht für eine Beraubung und 
„Tyrannei halten würden? Ich weiß aber auch nicht, ob irgendwo, ob 
„etwa bei den Irokeſen Stodfifhe, Häringe und Spielfahen höher ftehen 
„als Wahrheit und ihre Mittheilung, ob fie und ihre Verbreiter ein 
„beiligeres Recht haben, als Schriftfteller, Druder und Verleger, die die 
„Wahrheit ihren Mitbürgernmittheilen, ſich der Vertheidigung des Rechts 
„und der Vervolllommnung ihrer Anftalten widmen. Doc, ich befinne 
„mich: jene Irokeſen haben von der hochgebildeten amerikaniſchen Nation 
„bie Einrichtung angenommen, als eines ber erften Inſtitute bei Begrüns 
„sung ihrer Dörfer eine Druderpreffe zu errichten. Auch bei ihnen alfo 
„würden bie Schriftfteller und ihr Eigenthum nicht unter dem Geringften 
„und Werthlofeften ftehen, was die Gefellfchaft kennt.“ 

Die Cenſur und die Zerftörung ber Preßfreiheit, insbefondere bie 
ber Zeit: und Slugfchriften über die täglichen Ereigniffe, aber ift nach 
dem Bisherigen zugleich die größte Verlegung der ſtaats buͤr⸗ 
gerlihen oder politifhen Freiheit; dennals freier Bürger eines 
freien Volks und feines politifchen Gemeinweſens habe ich 1) das heis 
lige Recht, durch mechfelfeitige freie Mittheilungen auf allen rechtlichen 
Wegen die vaterländifhen Verhältniffe kennen zu lernen, die 
Wahrheit und die Meinungen meiner Mitbürger darüber anzuhören und 
ihnen und der Regierung meine Erfahrungen, Anfichten und Wünfche 
mitzutheilen, fo eine möglichft wahre, nicht eine verfälfchte öffentliche 
Meinung zu vernehmen und bilden zu helfen. Sie verlegt aber nad) dem 
Obigen audy 2) das Recht der Bürger auf Verwirklichung und Erhals 
tung einer freien Verfaffung , weil diefelbe ohne Freiheit der äffentlichen 
Meinung nicht befteht. Sie zerftört ferner dem Volk 3) das burchgreifendfte 
Controls, Verhinderungss und Genugthuungsmittel gegen Verlegungen 

und ſchlechte Maßregeln der Beamten und der Verwaltung, und buͤrdet 


358 Genfur der Druckſchriften. 


ihm viel groͤßere Laſten auf fuͤr eine nicht gute Verwaltung, als die 
gute koſten wuͤrde. Vor ſechs Jahren fuͤhrte die ſchoͤn citirte Schrift 
(&.72.) als eine Ate Verletzung ber Unterdruͤckung ber Preßfreiheit durch 
die Cenfur noch das aus, daß ſie ehrenkraͤnkend fuͤr die durch ſie ent⸗ 
muͤndigte Nation und die durch ſie ebenfalls entmuͤndigten Schriftſteller 
ſei. Ich will dieſen von ſo vielen Hunderten der edelſten deutſchen 
Maͤnner ausgeführten Gedanken, dieſe ſicher einſtimmige Ueberzeugung 
aller die Preßfreiheit befigenden Nationen hier nicht ausfuͤhren. Gewiß 
aber ift ed, daß der Ausfchluß von berfelben ber beutichen Nation in 
fehr erhöhtem Grade ſchmerzlich werden muß, je mehr allmälig faft alle 
anderen freien und civilifieten Nationen biefer koͤſtlichſten Freiheit fich ers 
freuen. Am fchmerzlichten aber müßte jedem Vaterlandsfreund alsbanın 
diefe Ehrenkraͤnkung fein, wenn er überzeugt wäre, daß die Nation durch 
diefelbe allmälig zugleich minder ehrenmwerth würde. 

V. Politifhe Würdigung der Cenſur. 1) Die erfte 
Stage ift natürlich hier bie, ob die Zerſtoͤrung des wichtigen und wohl⸗ 
thätigen Rechts der Preßfreiheit etwa politiſch nothwendig, ob fie alfo 
unentbehrlich, unerfegbar und in ber That wirkſam iſt 


für die Erhaltung der Religion und ber Sittlichfeit, der Majeſtaͤts⸗ und 
: Bürgerehre, ber gefeglichen Orbnung und der Regierung für die Erhal⸗ 


“tung und Vermehrung der Seibfiftändigkeit, der Macht und Bluͤte ber 


.. 


: Mationen? Wir müffen diefe Fragen mit Nein beantworten. Und 


wir haben die Erfahrung auf unferer Seite. Waren und 
find alle diefe Güter etwa mehr vorhanden und gegen die Gefahren und 
Wechſel, die ftets alle menſchlichen Dinge bedrohen, ficherer verbürgt im 
den Ländern und in den Zeiten, wo bie Genfur herrfchte, fo wie In ben 
italienifchen Staaten oder fo wie früher in Portugal und Spa⸗ 
nien, oder fo wie 1792 und 1806 in Deutfchland und-in Preußen 
oder 1830 in Hannover, Sahfen, Churheſſen, und fo wie 
vor der Begründung wirklicher Preßfreiheit in Frankreich oder in 
England? Oder find fie Eräftiger und verbürgter unter der Herr⸗ 
[haft der Preßfreiheit? Sind fie e8 nach jeder menſchlichen Berech⸗ 
nung und nad der eigenen Erfahrung und Ueberzgeugung 
aller jegt preßfreien Nationen, welche doch früher auch bei ſich 
felbft die Genfur und nun die Preßfreiheit und ihre Wirkungen beobach⸗ 
teten und fie jegt vergleichen können? - Sie find ed unter ber Herrfchaft 
der freien Preſſe, fo erwidern diefe Nationen einftimmig und erfiären 
bie Preßfreiheit für ihr heiligftes, Höchftes Gut, Und die deutfhen Hols 

fleiner und Heffen:- Darmftädter und andere beutfche Volle: - 
ftämme, die vor den carlsbader Beſchluͤſſen Feine Cenſur befaßen, ‚und 
bie deutfhen Volkskammern flimmen ihnen bei. Die Ameri⸗ 
taner und Schweizer, bie Dänen und die Schweben und 
Normeger bezeugen es uns zugleich, daß auch die Bundesverfaffungen, 
daß auch Fleine Staaten, daß auch abfolut monarchifche Staaten vor: 
trefflich bei der Preßfreiheit beſtanden. Welcher Staatsmann möchte 
num wohl biergegen die Aufhebung der Preßfreiheit durch Genfur als 


Genfur der Druckſchriften. 359 


unzmeifelhbaft nothwendig behaupten? Welcher aber möchte 
auch nur, im Zweifel über den guten oder böfen Erfolg, feiner Nation 
. das. wichtigfte, heiligfte Recht freier Mitthellung' auf dem wichtigſten 
Wege entziehen und dur ein fo außerſt gefährlihes Mittel, 
wie die Genfur tft, erfegen ? 

Freilich dad muß man zugeben — aber es iſt gerabe das befte Lob 
für bie Preßfreiheit — Höflings: und Maitrefien » Regierungen und 
Napoleonifher Sultaniemus, Ufurpatoren, eigenſuͤchtige ariftoßratifche 
Factionen, ſchwache oder bem Ausland dienftbare Minifterien, fie müffen 
nothwendig die Preßfreiheit fürchten, welche die Intereſſen ber Nation 
fiegeeicd, zur Sprache bringt. Auch jeder Kaftengeift mag fie, die Ver: 
breiterin der Gultur und Freiheit, haften, felbft auch ein vornehmer Ka- 
ftengeift und Zunfteigennug mancher Beamten und Gelehrten, die mit 
Hochmuth ober Eleinlihem Neid das Bold und auch Volksſchriftſteller 
fi) erheben fehen und die einen täufchenden Nimbus höher halten als 
die freie Schägung, welche vollends in Deutfchland mohlthätiger Beamten 
thätigkeit und wahrer, würdiger und heilfamer Wiffenfchaft ftets bleiben 
wird, auch bei der verbreitetften Aufklärung, ganz fo wie auch den fran⸗ 
zöfifchen Suriften neben ben Geſchwornen und ber politifchen Preßfrei⸗ 
beit. Aber mwohlwollende rechtmäßige Regierungen und tüchtige Minifter 
brauchen nie vor der preßfreien Wahrheit zu zittern. Und nicht durch 
die Preßfreiheit, fondern buch dag im Dunkel ihrer Unter: 
druͤckung ſich durdy hundert geheime Candle einfchleichende Gift und 
die Zäufhung über die wahre Volksftimmung oder dur 
die Empörung über diefe Unterdrüdung entitanden die Revolutionen und 
Thronentfegungen, namentlid, die boppelten und dreifachen gegen die 
Stuarte und Bourbone, und felbft bie in Deutſchland. 

Bielleicht möchten indeB Manche die Angriffe gegen den gegenmär: 
tigen König der Franzoſen ber Preßfreiheit zur Laft legen. Doc) 
Niemand hat fie hier beffer losgefprochen, ale felbft der Eingang des 
Anklageacts gegen den ſchaͤndlichen Meuchelmoͤrder Fieshi. Er führte 
aus, daß nach großen bürgerlihen Erſchuͤtterungen flets einzelne Mit: 
glieder der befiegten Partei zuiegt in verzweifeinder Wuth zum Men: 
chelmorde griffen und daß auf dieſem Wege die franzöfifhen Könige 
Heincih IM. und Heinrid IV. duch Meuchelmoͤrder fielen. 
Aber damals gab es ja Feine Preßfreiheit! Auch mag 
man gerne zugeben, daß in Srankreidy nad) der furchtbaren Erſchuͤtte⸗ 
eung der Julirevolution, bei dem ben Nationalgefühlen fo vielfach wi⸗ 
derfprechenden Spftem der Regierungspolitit und bei den auf Leben und 
Tod gegenübergeftellten Parteien zum Theile eine beifpiellofe Preßfrech⸗ 
heit flattfand. Aber fie tft ohne Genfur befeitigt. Auch in 
Deutfchland veranlaßten allerdings die Erfchütterungen der Julirevolu⸗ 
tion und andere bekannte Urfachen einzelne, wenn auch mit den franzoͤ⸗ 
fifhen nie vergleichbare Mißbraͤuche der Preffe, vor Allem da, wo 
fie keine gefeslihe Eriftenz und Regelung hatte und 
großentheils aud) in Rändern, die unter der Cenfur ftanden. 


360 | Genfur der Druckſchriften. 


. Aber fie alle hätten noch leichter, als in Frankreich) und England, ohne 

Cenſur vermieden und befeitigt werben Binnen. Und wer die Verhaͤlt⸗ 
niffe ganz Eennt, weiß auch, daß fie nicht die wirkliche Gefahr Ichufen, 
fondern nur zeigten, ja felbft ihre Befiegung erleichterten. Mit vollſter 
Ueberzeugung wiederhole ich eine frühere Hffentliche Ausführung *), daß 
bie gefeglichen Liberalen und das freie Wort in biefer furdhtbaren 
Krifis für ganz Europa, weit entfernt, bie Zerftörerin des Friedens im 
Innern und in den dußeren Verhäitnifien zu fein, dbenfelben au 
diesmal, wie fo oft [hon, erhielten. „Sie erhielten,‘ bie® 
find die Worte jener Ausführung, „ben Frieden nicht blos dadurch und 
„alsdbann, als fie duch ihre Gegenwirkung folche unglüdfelige - Regie 
„rungsmaßregeln verhüteten, die zweimal die Stuarts und zweimal 
„bie Bourbons vom Throne und auf das Schaffet brachten, im 
„Portugal und Spanien jenen Defpotismus begründeten, wos 
„von ebenfalls Revolution und Fürftenentthbronung 
„ie legte Kolge war. Mein, die Liberalen und ihr freies Wort 
„erhalten ftet und noch jest den Glauben an gefehlihe Drbnung. 
„Ihr freies Streben ift es, welches der Meaction und Revolution in 
„den Weg tritt. Darum werden die gemäßigten geſetzlichen Liberalen 
„von beiden gehaßt. — Bekanntlich Hatte nicht die Preßfreiheit, fondern 
„bie Anfeindung und Unterdrüdung derfelben die Revolutionen im 
„Frankreich, Spanien, Portugal und Stalien erzeugt. Als 
„nun-dort die Preßfreiheit aufs Neue ausgelöfcht war, als fie durch bie 
„carlsbader Belhläffe au in Deutfhland, in Polen und der 
„Schweiz beſchraͤnkt wurde, da entwidelte fi in bem Dunkel jenes 
„Syſtem, das die europäifche Welt in zwei feindliche Lager theilte, ba 
„entiwidelte fich jene neue Kataftrophe, welche die Bourbonen von dem 
„franzoͤſiſchen Thron entfernte und Europa erfchütterte. " Was hat nun 
„aber damals, als ganz Europa unter den Waffen Eirrte, als von beis 
„den Seiten ſchon bie Hand zum Schwert zudte, was hat, frage ich, 
„damals diefes Schwert in der Scheide gehalten? Man fagt, bie 
„Weisheit der Zürften und der Cabinete. Alte fchuldige Achtung vor 
„dieſen. Aber diefeiben Cabinete und Fürften haben früher, als ihr gan⸗ 
„3 Syſtem, als alle ihre Intereffen, als ihre Samilienverhättniffe kaum 
„gend fo angegriffen und verlegt waren, wie durch bie neueften Ereigs 
„niſſe, zu den Waffen gegriffen, und kein Menſch hat fle darum getas 
„delt. Diefes Mal wurde aber ihre Weisheit befonders durch die Ers 
„wägung beftimmt, daß, bei der überall ausgefprohenen wirklichen 
„Sefinnung der Menfchen für Sceiheit, ein Kampf unter dem Panier 
„des Abfolutismus gegen die Freiheit zw unfäglichem Unheil führen 
„würde. So wiffen wir ja Alle, daß, als in Kolge der Julirevolution 
„auch in Deutſchland nicht unter der Preßfreiheit, fondern bei ihrer Bes 
„Ichränfung Unruhen ausbrachen, die Herftellung oder Begründung freier 
„Berfaffungen und des freien Worts, wozu felbft Regierungen auffore 


u. 





°) Die I. citirte Kammerprotokolle ©. 65. 


Cenſur der Drudigriften. 361 


„derten, bie Bewegungen ftilfte, die bereits bier und dort ausgebrochen 
„waren. Wir Alle erinnern uns noch mit Freude jener gluͤcklichen Zeit, 
„wo in Baden das Wort frei war, wo zuerft eine factifhe, dann eine 
„gefegliche Preßfreiheit im Lande herrſchte. Wir erinnern ung mit Freude, 
„daß in dieſer Zeit und ehe noch das traurige Wort der Aufhebung uns 
„ſeres Preßgeſetzes ansgeſprochen wurde, überall im Lande Gefeglichkeit, 
„Treue gegen den Fürften und Liebe zur Ordnung ſich kund thaten. 
„Blicken wir aber hin auf alle Völker Europa’s! ft es nicht überall 
„gerade das freie Wort, das den Frieden begründete und auf bewuns 
„dernswuͤrdige Weife den Frieden erhält? Sehen wir nad Belgien, 
„auf eine Nation, lebhaft, reizbar und leicht beweglich, wie irgend eine 
„andere. Dort, wo gerade die Bekämpfung des freien Worte und ber 
„feeien Abftimmung von Seiten eines fonft hochachtbaren, ausgezeichne⸗ 
„ten Fuͤrſten Unruhe in die Gemuͤther pflanzte, in dieſem Staate, wel⸗ 
„cher auf dem Vulkan einer Revolution, wo der Thron und die buͤrger⸗ 
„liche Ordnung auf Volksſouverainetaͤt gegruͤndet ſind, herrſcht die unbe⸗ 
aAſchraͤnkteſte Preßfreiheit, ohne daß die Regierung auch nur einen einzi⸗ 
„gen Preßproceß geführt bat. Dort aber herrſcht Geſetzlichkeit und Ans 
„bänglichkeit an den Monachen. Bon Frankreich hat es ber gemiß 
„sehr fachverftändige und mwohlunterrichtete Dann, der feit vielen Jahren 
„die parifer Berichte in die carlsruher Zeitung liefert, wohl ſchon 
„zehnmal gefagt, daß e8 die Preßfreiheit ift, die den neuen Thron erhält, 
„und noch neulich fprady es die allgemeine Zeitung vom 23. Juni aus. 
„Sie fagt: ,„, „sn keinem Lande der Erbe und gegen feinen Fürften ſah 
„„man je tedere und ftärkere Angriffe, al gegen den neuen König von 
„„Frankreich, und dieſer Kampf, weit entfernt, feine Bedeutung und 
„„Kraft zu ſchwaͤchen, ift vielmehr die Folie feines Glanzes. Die paris 
„„ſer Bürger, die Bürger in Frankreich zum größeren Theile, glauben 
„„ihn um fo mehr beroundern zu müffen, je ungerechter und plumper 
„feine Feinde ihn angreifen.”” Es hat fi) auf diefe Weife durch bie 
„Preßfreiheit in Frankreich jene gefunde Organifation des Staatskoͤrpers 
„gebildet, in welcher die Nation in ihrer Gefammtheit fich untereinander 
„beipricht und verftändigt, fo, daß es jegt endlih auch dort, eben 
„[o wie in England, weder einer tyrannifhen Saction, 
„noch einer revolutionairen Partei möglich ift, das Volk 
„indenStrudelder Revolution odberindieKnehtfhaft der 
„Tprannei zurüdzumerfen. Die Preßfreiheit ift das Ei des Go» 
„lumbus für die große Frage der Vereinigung der Freiheit mit dem 
„Frieden und ber bürgerlihen Ordnung. Die Preßfreit ift es, 
„weiche zur Entwidelung der Cultur und Freiheit auf friedlich em und 
„gefeglihem Wege führt, und ihre Unterdrüdung ift es, welche 
‚Die Tyrannei und die Nevolution hervorbringe. Werfen wir ferner 
„nen Bid auf Portugal, auf einen Zuftand, mo die Sactionen eben 
„noch in blutigem Bürgerkrieg einander gegenüberflanden und mo eine 
„totale Aenderung des gefellfchaftlichen Zuftandes ftattfand, wie es Ruhe 
„und Frieden in dem Befig feiner volllommenen Preßfreiheit genießt. 
„Daſſelbe fehen wir auch in England, Norwegen und Schwer. 


362 Genfur ber Drudicriften. 


„ben und In allen andern civilifitten Ländern von Europa, bie frü- 
„ber oder fpäter des Genuſſes der Prepfreiheit theilhaftig waren. So 
„wird alfo auch wohl die große deutſche Nation bie Freiheit der 
„Preſſe verdienen und ertragen. — Es wirb auch bei ihr, ebenfo wie 
„in dem Bundesflaat von Amerila und noch jest in dem unter 
„H“errſchaft ber Preßſklaverei revolutionirten, im Schug 
„Der Preßfreiheit fih berubigenden unb ordnenden 
„Schweizerbunde und ebenfo wie einft in der holländifchen Republik, 
„das Bundesband das nationale Vereinigungsband der 
„verfchiedenen Staaten duch den Austaufh und die 
„Beförderung der Mittbeilung der Ideen, buch bie 
„wechfelfeitige Verftändigung beträftigt und keineswegs 
„ber Triebe des Bundes geftört werden. — Nur die Reactionnire, 
„die Unterdrüder der Freiheit alfo find es, welche mit ber Freiheit 
„zugleich den Frieden und die Sicherheit ber Throne zernichten. Sie 
„haben es überall gethan und würden es, wenn ihnen die Derrfchafe 
„gegönnt würde, auch wieder bei uns thun. Selbft die gewiß recht: 
„lichen, humanen und mwohlmollenden Gefinnungen fo vieler deutfchen 
„Fuͤrſten und ihrer Mäthe, felbft die jegige Richtung auf bie mates 
„riellen Verhältniffe werden alfo die Deutfchen nicht verhindern dürfen, 
„ihre Forderung wahrer Freiheit immer aufs Neue laut werden zu 
„laffen. Ja es würden gerade biefe Beftrebungen, an der materiellen, 
„großen Entwidelung der heutigen Welt Theil zu nehmen, den Gegen- 
„ſatz des Zuftandes von Deutfchland zu dem der andern civilifirten 
„Nationen zulegt unerträglich mahen. Wir würden mit ihnen nicht 
„fortfchreiten können in der freien und Eräftigen allgemeinen Entwide- 
„lung. Es ift bierduch ein eben fo großer Widerſpruch begründet, 
„als es ein an ſich fchon durchaus nicht haltbarer Widerſpruch ift, daß 
„mon bei ung, in ber Mitte einer fchnellen Entmwidelung der induſtriel⸗ 
„sen Gultur und der Gommunicationsmittel die Freiheit der Mittheis 
„ung der Erfahrungen und Gedanken erfchwert. Wie, wir follen 
„uns mit der Schnelligkeit des Vogelflugs in wenig Stunden und 
„Zagen in Dampfihiffen und auf Eifenbahnen von Norden nad 
„Süden bewegen, aber durdy eine geiftige Mauth gehindert fein, un= 
„fere Wahrnehmungen und Gedanken einander zuzubringen und mit: 
„utheilen!“ 

Es iſt insbeſondere auch gewiß, daß, falls man die mannichfa⸗ 
hen und bedeutenden Vorbeugungs- und Unterdrüdungs- 
Mittel gegen Mißbräuche der Preßfreiheit bei den preßfreien Na⸗ 
tionen, darunter natürlih vor Allem die allmäligen, immer 
geößer werdenden guten Wirkungen ber freien Preſſe felbft, noch 
nicht für genägend hielte, man fie noch fehr verſtaͤrken und vermch- 
ven Eönnte, ohne bie jedenfalls vechtöverlegenden und verderblichen 
Mipbräuche der Cenfur einzuführen, fo dag die letztere alfo wirklich 
erfegbar ifl. Es wäre zuiegt feibft bie in Churheffen von der 
Regierung vorgefhlagene Einrichtung, daß gleichzeitig mit dem Aus: 


, Genjur der Drudicdriften. 363 


geben der Drudfchrift die Behörde die Möglichkeit erhält, biefelbe 
einzufehen und nöthigenfalls mit Beſchlag zu belegen, wenn biefe 
Beichlagnahme alsbald gerichtlich duch Nachweifung einer Gefegver: 
legung gerechtfertigt oder nöthigenfals durch öffentliche Entfhädigung 
vergütet würde, der Cenſur unendlich vorzuziehen und in hohem 
Grade jedem wahren Mifbrauhe der Preßfreiheit vorbeugend. 

Bielleiht möchte Jemand fagen, man Sinne auch die Genfur 
menigftens eines Theiles ihres verlegenden Charakters berauben, wenn 
die Genfurbehörden zur Hälfte jevesmal von den Lanbfländen mit er⸗ 
nannt würden. Es würden dann doch nicht mehr die cenfirten Zei: 
tungen für bie gerade gegenwärtigen Minifter und minifteriellen Plane 
und gegen alle liberalen Ständemitgliedber und Bürger und ihre ehr⸗ 
lichften patriotifhen Beſtrebungen parteiifch, gegen bie erften fchmeich- 
lerifch, gegen die andern fchmähend und die Gegenrede und bie öfs 
fentlihe Wahrheit unterdrüdend fic zeigen innen. Beſſer, weniger 
veriegend als die jegigen Genfureinrihtungen ſchon der Form nad) 
find, möchte freilich diefe fein. Aber was buͤrgt bafür, daß bei ent: 
zogener Preffreiheit nicht die angeblichen Volkswahlen und Volks⸗ 
fammern, alfo auch ihre Genforenwahlen von Miniftern ebenfo bes 
herrſcht und verfälfcht würden, wie durch ihre Genfur die Wahrheit 
ſelbſt? Ich aber möchte, wenn ich ander meine individuelle Uebers 
zeugung ausfprechen darf, um keinen Preis der Erbe zu irgend einer 
Einrihtung rathen und mitwirken, die, wenn vielleiht aud aus 
ben beiten Motiven, meinen Mitbürgern das heiligfte aller Mechte, 
das der freien Wahrheit und ihrer Mittheilung, durch irgend eine 
Cenfur raubte. 

Daß aber auch die Genfur bei allem Nachtheil für diejenigen 
Zwecke derfelben, die man ehrlicherweife anführen kann, nicht wirt 
fam ift, das ergiebt fi wohl ſchon aus den großen Gefahren, die 
fie felbft erzeugt, und vollends aus den heutigen Culturverhältniffen 
Deutfchlande und Europas. Mur fchaden, nicht fügen kann fie jetzt. 

2) Die zweite Meihe der politifchen Gründe gegen bie Genfur 
ergiebt fi) aus den erfahrungsmäßigen Vortheilen ber Preffreiheit und 
vorzüglich der Tag⸗ und Flugblaͤtter für die äffentlihe Sitte (ſ. 
Genfur als BSittengericht), für die geiflige, für die mercantis 
liſche und oͤkonomiſche und politifhe Bildung, Entwidelung und Vers 
volllommnung, für den Schug der Verfaſſung und aller Rechte und 
gegen verkehrte Beamtens und Verwaltungsmaßregeln. Mehrere ans 
dere Hauptgründe gegen bie Genfur hat namentlih auch Mohl fehr 
gut hervorgehoben. , 

3) Sie begründet nämlich eine fehr fatale moralifche und politis 
ſche „Berantwortlichkeit der Regierung für das Gedruckte mit vielfa- 
chen Verlegenheiten und Verwickelungen“ vorzüglich gegen das Aus⸗ 
land, während im Inlande auch felbft nur ein falfcher Schein, den 
die Cenſur auf den Muth und das gute Gewiſſen und die Abſich⸗ 


564 Genfur der Drudichriften. | 


ten der Verwaltung gerade bei bem Volke fo leicht wirft, ſehr nach⸗ 
theilig wirken kann. | 

4) „Es wird ferner, wie Mohl ausführt, „ber Regierung fehr 
„ſchwer, ſolchen Bekanntmachungen, welche zu ihrer Rechtfertigung 
„dienen, ihr Verfahren in das richtige, guͤnſtige Licht fegen oder uns 
„gerechte Angriffe von Gegnern widerlegen, irgend einen Glauben bei 
„dem Publicum zu verfchaffen. — Klar ift es, daß fih in einem 
„Lande mit Cenſur aud für die Regierung und gegen 
„ihre inneren und aͤußeren Feinde nur weit ſchweret 
„eine kräftige, äffentlihe Meinung bilden kann, auf 
„weiche fte fih, namentlih im Falle der Noth, fügen 
„Kann. Alles zu ihrem Lobe Gefagte erfcheint als balbofficielle 
„Selbſtſchmeichelei, und nicht leicht wird ein adhtbarer, 
„Feeiwilliger Kämpfer für fie auftreten, da fein Gegner zum 
„Voraus in Feſſeln liegt und alfo fein Auftreten als eine fehr wohls 
„feile Tapferkeit, wo nicht ale bezahlte Kiopffechterei, erfcheint.” „Geis 
fige Stagnation und Mißtrauen und Mangel an politifcher Bil⸗ 
dung” bezeichnet dabei Mohl als „wefentlihe Folgen ber 
Genfur”. 

5) „Bon felbft” (fo fährt Mohl fort) „von felbft leuchtet eim, 
„daß die Genfur dem Staatsoberhaupte und den hoͤchſten Stellen eine - 
„Menge unfhägbarer Machrichten über einzelne Vorfälle, über das 
„Betragen von Beamten, über die Wünfche und die Stimmung bes 
„Volks vorenthält. Man maht entweder gar keinen Verſuch, ſolche 
„Dinge bekannt zu machen, oder der Verſuch mißlingt an bes Cenſors 
„Aengftlichkeit. Erleidet e8 nun fehon feinen Zweifel, dag unter dem 
„von einer freien Preffe vorgetragenen Klagen viel Webertriebenes oder 
„ganz Unmahres fich befindet, fo ift doch ebenfalls wahr, daß eine ſchlim⸗ 
„me Nachricht und die wirkliche Stimmung der Bürger nicht früh 
„genug in Erfahrung gebracht werden Eönnen, daß dies aber durch 
„die Genfur in vielen Faͤllen gehindert wird. Ueberdies ift es gefaͤhr⸗ 
„lich, gerechte Klagen des Wolke nicht laut werden zu laſſen; viels 
„leicht entfleht mit einem Male eine den Staat mehr oder weniger er» 
„[hütternde Erplofion, während die freie Preſſe als Sicherheitsdentil 
„gedient hätte, indem für die meiften Menſchen das Lautwerdenlaffen 
„ihrer Klagen eine beruhigende Wirkung hat.” 

6) „Rechnet man” (fo ſchließt Mohl) „zu allen biefen Nach 
„theilen noch den fittlihen Schaden, welchen menigftens gegenwärtig 
„bei den politifch vorgefchrittenen Völkern der Staat durch bie Vers 
„meigerung der freien Preffe erleidet, indem er fi) dadurch "einem 
„ziemlich allgemeinen und wiederholt mit größter Leidenſchaftlichkeit 
„ausgefprochenen Volkswunſche entgegenfegt und der aufgeregten Menge 
„fomit als eine felbftfüchtige Zmangsanftalt, nicht aber als eine ſaͤmmt⸗ 
Aiche Rechte möglichft verwirkiichende, mwohlthitige Einrichtung erfcheint, 
„fo ſtellt ſich die Aufhebung der Genfur als das kleinere Uebel bar. 
„— — Allerdings darf fi bie Megierung nicht verbeblen, daß 


- Genfur der Drudichriften. 365 


nient überwiegende Intelligenz auch in Führung des öffentlichen Msn 
„tes für fie nöchig iſt. — Allein die Erfahrung bat ges 
„zeigt, daß Kraft und Talent auch ohne die Hülfe der Genfur dag 
„Steuerruder zu führen im Stande find.” 

7) Doch was jeden Zweifel uͤberwindet, bleibt für den gewiſſenhaß 
ten Mann zulegt ftets nicht die rein politifhe Erwägung ber Bow 
theile und Nachtheile, fondern das, daß eine regelmäßige Vernichtung 
ber Freiheit der Preffe ober ber Wahrheit zugleih — irrten wir nicht — | 
die Moral und das Recht verlegen. Gott felbft gab dem Men 
ſchen geſchlecht die Freiheit, wenn ſchon In ihrem Weſen die Mögliche 
keit auch zum Mißbrauche liegt, wenn auch ber gute Same nicht 
ohne Möglichkeit des Unkrauts gedeihen kann. Er gab ihm bas 
freie Streben nad Wahrheit und Vervollkommnung und Allen 
die Pflicht, ihre und ihrer Mitbürger Freiheit als ihr heiligftes Gut, 
als ihre Mecht zu vertheidigen. Und Niemand foll fie feinen Mitbruͤ⸗ 
dern rauben. ' 

Und hier gerade Tiegt auch wieder die größte politifche Gefahr 
noch längerer Verweigerung bes heiligen, durch Vernunft und Natur, 
burdy gutes Recht und fürftliches Wort der deutſchen Nation zuſtehen⸗ 
den Rechts. Noch mehr felbft, wie der Widerſpruch der Prepfreiheit 
der übrigen civilificten Nationen und bes Ausfchluffes der deutfchen, 
unb wie ber Miderfpruc, der Unterdrüdung der Preßfreiheit mit una 
fern heutigen politifhen, induſtriellen und - Verkehrs s Verhältniffen, 
MWiderfpruh mit Moral und Recht kann bei der deutfhen Nation 
niht dauern. ' 

Bei einer Erwähnung von Gefahren aber werden tüchtige und 
wahrhaft monarchifch gefinnte und treue Etaatsmäriner nicht blos an 
die Gefahr in friedlichen Zeiten und für den naͤchſten Tag oder für 
eine Minifterlaufbahn und für die Lebensdauer ihres jetzt regierenden 
Fürften, fondern, mie dieſer felbft, vor Allem auh an die Gefahren 
und die Eicherftellung feines Fürftenhaufes, an die Gefahren für 
Ehre und Kraft feines Volks und feines Throns in jeder Lage denken. 
Sie werden mit Indignation einen neuerlich laut gemworbenen, politis 
fhen Rath: im Bundesverhaͤltniß mehr gegen die Volksfreiheit zu 
wagen, als es bei einer Stantseinheit der Nation möglich fei, „weil 
der Unmille des Volks ſich vertheile”, als nicht blos moraliſch, 
fondern auch politifch verwerflich abweiſen. Sahen wir es doch 1805, 
1806 und 1813 bereits deutlich genug, daß auch für "die mädhtigften 
deutfhen Volksſtaͤmme die Bruderliebe und nationale Begeiſterung 
der Eeineren Lebensbedingung iſt. Was aber in jeder neuen europäls 
ſchen Entwidelung und Ktife, nah allen Seiten hin, die kleinern 
beutfhen Staaten nur allein fhügen Tann, das bedarf wahrlich mei⸗ 
ner Ausführung nit. 

In dem bezeichneten Sinne die Gefahr auffaffend und bie eigen. 
thümlichen Verhältniffe der deutfchen Staaten erwägend, bitte ih um - 
Erkaubnif, zur Unterftügung bes ehrlichſten und treuften patriotifchen 


366 Genfus. 


Wunfches, unfere hohen beutfchen Fuͤrſten möchten alsbald jene außer: 
ordentlichen, vorübergehenden Beſchraͤnkungen der. Preffe mit ber Vers 
wirklichung ihrer im Art. 18 und in den Landesverfaffungen zuge: 
fagten Freiheit vertaufchen, noch die Worte hinzuzufügen, mit welchen 
die mehrerwähnte Öffentlihe Ausführung von 1835 ſchloß: 
„Mit Demjenigen, der diefe Gefahren nicht einfehen und bie 
Möglichkeit nicht zugeben wollte, daß fie eintreten koͤnnen, mag idy 
„mich nicht weiter verfländigen. Halte man mid aber darum nicht 
„für fo ängftlich, daß id) glaubte, die Kreiheit werde zulekt zu Grunde 
gehen, und daß ich in diefer Beziehung übertriebene Beſorgniſſe hegte. 
„Rein, fo gewiß ich zur Zeit bes Mheinbundes überzeugt war, daß 
„dieſer Defpotismus ftürzen werde, fo gewiß ich überzeugt war, baß 
„die durch fremde Bayonette eingeführte Neftauration in Frankreich 
„ſich nicht halten und die unterdrücdte Freiheit in Spanien unb Por⸗ 
„tugal nicht ewig im Staube liegen werde, fo gewiß meiß ih auch, 
„daß die Sreiheit in unferm großen beutfchen Vaterlande fiegen werde. 
„Aber wird fie fo, mie alle Guten wünfchen, fiegen auf dem Wege 
„der ruhigen Entwidelung und mit dem feften Beſtand unferer Fürften- 
„bäufer, oder aber auf dem ftürmifchen Wege der blutigen Revolution, 


„oder auf dem noch ungluͤcklichern der Einmifhung ber Auswärtigen ? ‘ 


„Wird fie fiegen auf dem Wege der Reform, wozu bie Preßs 
„freiheit den Weg bahnt, ober auf dem Wege der Um: 
waͤlzung, wohin die Unterdrädung der Wahrheit führt? 
„das allein ift die große Frage.” G. Th. Welder, 
Cenſus, insbefonderee Wahlcenfus. Von Cenfus in pri⸗ 
vatrechtlicher Bedeutung, ale Zins oder Binspflicht, zumal 
dinglicher Zinspflicht, (theild vorbehalten beim Verkauf 
des Eigenthums oder Nugeigenthums eines Grundes, theild aufs 
gelegt durch ein verſchleiertes — nämlid in der Form eines 
BinfensKaufes gefchehene — Darlehen) oder ald einer we⸗ 
nigftens in der Form oder unter dem Namen einer privatrecdhte 
lihen Schuld obliegenden — ob auch in der That oftmal dem 
öffentlihen Recht oder Unrecht oder auch der Leibherrlichkeit 


ober dee blos factifhen Bedruͤckung entfloffenen — jährlichen - 


Entrihtungspfliht von Naturalien oder Geld reden wir bier 
nicht, fondern haben es theild ſchon gethan in den Artikeln Abgas 
ben und Ablöfung, theild werden wir es noch thun unter ben 


Artikeln Grundzinſe und Gülten, auh Erbzinss und Bine: 


gut und Zinfe überhaupt. Der Eenfus, weldhen wir bier einer 
nähern Betrachtung unterwerfen, iſt die rein dem öffentlichen 
Recht und dee Politik angehösige VWermögensfhägung zum 
Behuf der darnach zu beftimmenden Verleihung oder Abftufung (Er- 
weiterung oder Beſchraͤnkung) der bürgerlichen oder der politi⸗ 
[hen Rechte. 

Dieſer Genfus nun iſt dem Namen nah römifhen Uts 
fprungs, aber die Sache, nämlich bie nad den Vermoͤgensverhaͤlt⸗ 


Cenſus. 367 


niſſen der Bürger bemeffene Vertheitung ſtaatsbuͤrgerlicher Rechte und 
Laften, ift fhon vor Rom hei mehreren. Völkern anzutreffen. So 
hat Insbefondere -Solon die athenifchen Bürger in vier Claſ⸗ 
fen nach ben Abftufungen ded Vermögens eingetheilt, naͤmlich in 
die Pentakofiomedimnot, Hippeis (Ritter), Zeugitai unb 
Thetes. Die drei erjten Claſſen beftanden aus denjenigen, wels 
che 600, 300 oder 200 Maaß Getreide oder Del jährlich aus ihren 
Ländereien bezogen, die vierte aus den drmern und ganz armen 
Bürgern, die ihren Lebensunterhalt meift nur duch Lohndienſte 
erivarben. Mach bdiefer Abftufung richteten. fih dann einerfeits bie 
Steuern und andere Beiträge zum Staatsdienft (fowie nas 
mentli von ben Hippeis jeder ein Pferd: zu flellen hatte, von ben 
Beugitai aber nur je zmei und zwei es thaten) und anderfeitd auch 
die politifhen Rechte, wenigitens infofern, daß nur die drei 
erften Gtaffen zu ben obrigkeitlichen, Aemtern berufen, bie Thetes aber 
davon ausgefchloffen waren. : Ariftides, der große Freund der bürs 
gerlihen Gleichheit, bob jedoch die legtbemerkte (auf Art eines Vers 
gleichs mit ber früher ganz übermächtigen Ariftofratie von So— 
fon getroffene) Einrichtung auf, wornach die Berfaffung eine völlig 
bemuTrasiiäe, endlich felbft eine ochlokratiſche ward. 

Der roͤmiſche Cenſus nun fhreibt ſich — wie allbekannt — 
ber von Servius Zullius, dem vorlesten Könige Roms, einem 
klugen und mohlgefinnten Manne, welcher, um einerfeitd die damals 
übermädhtige Ariftofratie der patrizifchen Gefchlechter zu ſtuͤrzen und 
anderfeits doch auch die Demokratie zu mäßigen oder der Ochlokratie 
einen fchügenden Damm entgegenzufegen, zuvoͤrderſt die Piebejer in 
die Gemeinſchaft der früher von den Patriziern ausfchliegend beſeſſe⸗ 
nen politifhen ‚Rechte aufnahm, dann aber das gefammte — aus 
Datriziern und Piebejern beftehende — Bolt nad) den Abftufungen 
bes Reichthums in ſechs Klaffen, dieſe zufammen aber 
in 193 Genturien abtheilte und durch die- mittelft folcher Eins 
tihtung ben Reichern kuͤnſtlich uͤbertragene groͤßere Stimmenzahl 
denſelben das Uebergewicht über bie minder Reichen und noch ent⸗ 
ſchiedener uͤber die ganz Vermoͤgensloſen verlieh. Es wurden naͤm⸗ 
lich aus der erſten Claſſe ſchon allein 98 Centurien gebildet (worun⸗ 
ter 18 der Ritter), aus den naͤchſtfolgenden vier Claſſen zuſammen 
aber nur 94 und aus der letzten (naͤmlich aus jener der Armen), 
wiewohl der zahlreichſten, gar nur eine Centurie; ſo daß auf den 
Comitien, d. h. in den berathenden Verſammlungen der National⸗ 
gemeinde, worauf naͤmlich von nun an nach Centurien abgeſtimmt 
werden ſollte, die Claſſe der Reichſten allein ſchon — falls ſie unter 
ſich einig war — die Mehrheit ausmachte, die nachfolgenden Claſſen 
aber einen im Verhaͤltniß der Zahl ihrer Glieder ſich fortwaͤhrend ver⸗ 
ringernden Einfluß üben konnten und die ganze Claſſe der Vermoͤ⸗ 
gensloſen (die fogenannten Capite oewsi oder Proletarier) gar 
nur mit einer einzigen Stimme gegenüber von 197 auftrat, Freilich 


368 Cenſus. 


waren dann auch die Staatslaſten (Steuern und atiegedient. 
hier namentlich die Bewaffnung) annaͤhernd nach demſelben Verhaͤlt⸗ 
niß vertheilt, und insbeſondere die lerte Claſſe vom Kriegedienft gaͤnz⸗ 
lich befreit. 

Wie das durch dieſe Einrichtung hervorgebrachte, von ihrem Ur⸗ 
heber wohlberechnete Verhaͤltniß der drei politiſchen Maͤchte, naͤmlich 
der monarchiſchen, ariſtokratiſchen und demokratiſchen 
unter ſich, namentlich das zwiſchen den beiden letzten kuͤnſtlich herge⸗ 
ſtellte Gleichgewicht, durch bie Abſchaffung des Koͤnigthums, 
deſſen Gewalt jetzt faſt ausſchließend die Patrizier erbten, voͤllig zerſtoͤrt 
und in Folge des hiernach über die Plebejer gekommenen Druckes unb 
der dadurch hervorgerufenen demokratiſchen Reaction: die römifche Ver⸗ 
faffung unter vielfahen Stürmen weiteren, wefentlihen Veraͤnderun⸗ 
gen unterworfen morden, ift jedem unferer Leſer befannt und bedarf 
bier teiner eigenen Darftellung. Auch von den Genforen, bie ba 
beauftragt twaren, den immer vo, 5 zu 5 jahren zu erneuembden 
Genfus vorzunehmen, d. h. allernaͤchſt jedem roͤmiſchen Bürger bie 
ihm nad) feinen Wermögensverhältniffen gebührende Stelle in eine: 
oder der andern Claſſe anzumeifen, haben wir bier nicht zu reden 
(f. den Art.” Senfur als Sittengericht). Unfere Aufgabe 
befchränkt fi) auf die Beantwortung ber Frage: darf und foll bie 
Gewährung oder Zutheilung gewiffer bürgerlicher oder politifcher Rechte 
durch die VBermägensverhältniffe der Bürger beftimmt werden, 
db. h. darf und foll als Bedingang folcher Berechtigungen die Nach⸗ 
weifung einer gewiſſen Wermögensfumme feftgefegt oder nach den Ab» 
ftufungen des nachgeriefenen Vermögens eine Erweiterung oder Be⸗ 
ſchraͤnkung der befragten Rechte ftntuirt werden? — ir fagen : 
„Darf und foll“, weil überall bei politifchen Einfegungen im Rechtes 
ſtaat die erfte Frage fein muß: mas befiehlt oder was erlaubt dag Recht? 
und erft die zweite: inwiefern heiſcht bie Klugheit, von der 
rechtlichen Erlaubniß Gebraud zu machen, und welches ift die dem 
Zweck entfprechendfte Art folches Gebrauchs ? 

Mir fragen alfo zuvörderft: Hat und inwiefern bat der 
reihere Bürger einen vernunftrehtlih gültigen Anfprudy 
auf Bevorzugung bei ber Austheilung der bürgerlichen und politie 
[hen Rechte? Hat er zumal einen folhen in Bezug auf bie activen 
und paffiven Wahlrehte? Oder ift wenigftens mit dem Recht 
der minder Reihen vereinbarlich, daß jenen ein folcher Vor⸗ 
zug durch pofitives Gefeg ertheilt werde? — 

Zur Durchführung des fraglichen Rechtsanſpruchs der Meichen 
vergleiht man gern den Staat mit einer auf Actien gegrüns 
deten Privatgefellfchaft, oder überhaupt mit einer folchen, bei wels 
cher die Mitglieder nihf gleihmäßig betheiligt find, db. h. 
bei welcher bie einen mehr, bie andern weniger in bag Gefammtgut 
oder in den gemeinfchaftlichen Unternehmungsfond aus dem Shrigen 
_ eingeworfen haben, oder fortwährend einwerfen, und daher auch nicht 


Cenſus. 369 


nur in demſelben Verhaͤltniß, alſo theils mehr theils weniger, 
an Vortheil und Schaden der Unternehmung patticipiren, ſon⸗ 
dern auch in den geſellſchaftlichen Berathungen mit einem eben die⸗ 
ſem Verhaͤltniß entſprechenden, mithin ungleichen Gewicht der 
Stimme auftreten. Wir haben jedoch ſchon in einem früheren 
Artikel (f. Ariftotratie) bemerkt, daß zwar folder Vergleihung 
einige Wahrheit zu Grunde liegt, aber bei weitem nicht fo viel, 
um damit, zumal nah ben heutigen Verhaͤltniſſen ber civilijirten 
Staaten, einen auf entfhiedene Bevorzugung ber Reihen 
oder gar einen bis zue:Ausfchliegung ber Armen von allem 
politifhen Recht gehenden Anfprucd der erften begkünden zu koͤnnen. 
Wohl! wenn etwa die Summe ber eine Gegend bemohnenden Grunde 
eigenthüämer duch Zufammenmerfen ihres (durch Decupation oder 
Anbau bereits rechtsguͤltig erworbenen) Privatguts dad Staats ge⸗ 
biet gebildet (oder aud, wenn eine Horde in Gefamnitheit einen 
Bezirk occupiet und. benfelben. fodann unter ihre Mitglieder zu Pris 
vateigenthum vertheilt) hätte, fo möchten dieſe Saffen, als Grüns 
ber des neuen Staates und als privatrechtliche Inhaber des fein 
Gebiet ausmachenden Bodens, fi) eine Zeit lang als die alleinigen 
Actionaire der jugendlihen Geſellſchaft betrachten, und gegenüber den 
fpätern (theil® ganz befiglofen, theils nur als Hinterfaffen bes 
figenden) Einwanderem das fragliche Vorzugsrecht behaupten, zumal 
fo lange fie auch allein (ober doch größtentheils). die Staatslaft in 
Krieg und Frieden auf den eigenen Schultern trügen. Oder aum, 
wenn oder infofern ein beftehendes Steuerfyfiem nur gewiſſe 
Arten bes Befigehums (und zwar ähne Berüdfichtigung der 
darauf haftenden Schulden) mit Abgaben belegt (oder doch unvers 
haͤltnißmaͤßig Höher als andere), fo mögen bie Inhaber folcher _ 
Steuercapitalien (3. B. der Gründe, verglichen mit jenen ber unbe 
fleuerten Geldcapitalien) allerdings als die vorzüglicheren Actios 
naire der Staatsgefellfhaft betrachtet und ihnen die entfprechende pos 
litiſche Bevorrechtung ertheilt werben. Won diefem legten Umftand 
jedod tollen wir, um die Frage zu vereinfachen, für jegt wegbliden; 
wir wollen naͤmlich ein gerechtes, d. h. alle Vermoͤgensgattungen 
gleichmaͤßig in Anſpruch nehmendes, Steuerſyſtem vorausſetzen 
und von ſolchem Standpunkt aus die Anſpruͤche der Hochbeſteuer⸗ 
ten in DVergleihung mit jenen der Minderbeftleuerten oder 
. durchaus Unbefteuerten vernunftcechtlich - würdigen. 

An Sefellfhaften, die auf Actien errichtet und deren Mitglieder 
eben nur in der Eigenfchaft als Actionatre ſtimmberechtigt find, 
deren ganze Gefellfhaftspflicht auf das Einwerfen der. Actie (oder eines 
darnach  bemeifenen jährlichen Beitrages) und deren ganzer Vortheil 
auf die. von dem gemeinfchaftlichen Gewinn jeder: Actje zufallende Dis 
vidende ſich befchräntt, da ift es freilih ganz natuͤrlich und billig, 
jä felbft im ſtrengen Recht (nämlid in dem der gefellfhaftlihen 
Gleichheit). gegründet, dad — wofern nicht Dur gemeinfame Ver: 

Staats »&eriton. TIL, 24 


370 Genfuß; 


akredung, alfo mit -Einiilligung der Betheiligten, etwas Anderes feſt⸗ 
gefekt. ward — das Gewicht:.von. jedes "Einzelnen Stimme fi nach 
der Zahl feiner Artien richte, fo daß alſo der Inhaber von zehn 
Uetien auch "mit zehn, jemer von nur einer Actie auch nur mit einer 
Actie auftrete, ja daß .die mehreren Inhaber einer (3. B. in Quoten 
vertheilten) Actie zufammen nur eine: Stimme führen. Hier erfcheis 
nen nämlich nicht eigentlih die Perſo wen ald Einheiten, fondern die 
Actien (oder die durch das Geſellſchaftsſtatut zur Bedingung ber 
Stimmbetechtigung gefegte Zahl von Arctien)y.ber Inhaber von 
zehn Actien zählt alfo natürlich für zen, und zehn Mit: Eigenthüs 
mer einer und berfelben Actie zufammen nur für einen. Hiezu 
tömmt die mit ber Actienzahl natürlich: ſteigende Zuverlaͤfſigkeit 
des Inhabers, weil eben: damit auch fein Intereffe an dem Ge⸗ 
deihen des Unternehmen fteigt, und ihm doch niemals möglich iff, 
feinen eigenen, durch das. Geſellſchaftsgeſes und eine einfache Rechnungs- 
operation beftimmten Gewinn, d. h. den -Betrig- der ihn treffenden 
Dividende, zum Nachtheil ber Mit⸗ Geſellſchafter zu erhöhen; j wogegen 
er, wenn die Mehrzahl ber klelnen Intereffenten. ihn uͤberſtimmen 
koͤnnte, immerbar der Gefahr. ausgefegt wäre, duch ihren-Eigen >» 
finn oder Leihtfinn (da fie ndmli nur ein Weniges dabei 
. wagen) oder duch Ihre Traͤgheit, Lauheit, odet ſelbſt Une 
lauterkeit (d. h. Verfolgung von dem Geſellſchaftszweck Fremden 
Intereſſen) den Unternehmungsgewinn, wovon ihm ber größere Theil 
gebührt, verringert zu fehen. 

Ein ganz anderes Verhältniß aber tritt im Staate ein. Hier 
ift nämlih, wenn man, mas die Bürger in die Gefammtmaffe der 
Kräfte oder Mittel zum Geſellſchaftszweck einmwerfen, mit Actien ver- 
gleichen will, daſſelbe nicht blos aus Geld oder aus dem Steuer⸗ 
capital beftehend,' fondern zugleih auch aus der perfönlidhen 
(phnfifchen, intellectuellen und moralifihen) Kraft, oder aus Leib 
und Leben. Diefe Perſoͤnlichkeit aber, die da hoͤchſt koſtbar 
iſt fuͤr den Staat wie fuͤr jeden Einzelnen ſelbſt, muß jedenfalls (ob⸗ 
ſchon ſie freilich einen beſtimmten Werthanſchlag nicht zulaͤßt) als ein 
fehr bedeutender Factor in ber ideal zu ziehenden Rechnung gelten; 
und obſchon derſelde (weil Verſ chiedenheiten des perſoͤnlichen 
Werthes weder juriſtiſch erkennbar noch einer Taxation empfaͤnglich ſind) 
bei jedem Einzelnen als gleich groß angenommen werden muß (ein 
Jeder ſchaͤtzt ſeinen Kopf fo hoch als der Andere), demnach durch deſſen 
Zuſatz (wie immer man den idealen Anſchlag mache) zum Steuercapi⸗ 
tal das arithmetiſche Verhaͤltniß dee Attiengroͤßen unter einander 
nicht verändert wird, fo wird 26 doch das geometrifche; und auf 
das legte allein mmt es bier an. Weiter wirft jeder Bürger 
in die Gefammtmaffe nod ein feinen idealen Antheil am Ges 
fammtgut, ndmlih an der Domaine und am Gebietsrecht, einen 
Antheil, welcher, im Staat wie in ber Gemeinde, bei jedem Bürger 
von- Rechts wegen. ein gleicher if. Sodann befchräntt fi die 


Cenſus. 371 


Buͤrgerpflicht keineswegs auf's Zahlen, und das Buͤrgerrecht 
keineswegs auf materiellen Empfang; ſondern es geht jene 
noch auf taufenderlei andere — zum Theil unfchägbare — Opfer und 
Leiftungen, und diefes umfaßt neben dem Schutze des Eigenthums und 
Erwerbs noch die Pflege aller höhkren menfdlichen "Güter und Inter⸗ 
eſſen, oder bie theild negative, theils pofittve Beförderung aller: tedhtlts 
chen Lebenszwecke. Freilich trägt, da alle zu ſolchem Behuf zu errich 
tenden Anftalten und überhaupt bie geſammte Einrichtung und Thär 
tigkeit der Staatsmaſchine allernähft pecunidre Mittel erheiſcht, 
ber Reiche mehr zum Geſammtzweck bei als ber’ Arme; aber er em⸗ 
pfängt dafür — auch ohne politifhe Bevorrechtung — die 
mehr ald genügende Vergeltung in bee für Ihn” weitaud groͤßern 
Wohlthaͤtigkeit des‘ Stautsverbande: Denn nicht nur wird ihm 
ein größeres Beſitzthum (nad beffen Maß eher: die Steuer : fich 
richtet) gefchüst, fondern er iſt auch in demſelben Maße geeignet vder 
im Stande, bie niannigfaltigften — gleichfalls den Staatsſchutz oder 
die Staatsfürforge vorausſetzenden — Gendffe, Beduͤrfnißbefriedigungen 
und Annehmlichkeiten des Lebens fich zu verfchaffen:” Es koͤmmt noch 
hinzu, daß oft fein Befisthum ſelbſt, wenigſtens großentheild, 
eine Wohlthat oder ein‘ Gefchent des Staates iſt. Denn, mit Aus⸗ 
nahme feines lebzeitigen perfäönlihen Erwerbs und etwa’ bedr 
jenigen — jedenfalls geringen — Gutes, welches ſchom⸗natur⸗ 
rechtlich (duch Conſolidirung des Miteigenthums in dee Perfon- der 
überlebenden Mit⸗-Eigenthuͤmer) von Eltern auf Kinder ober andere 
MitsErwerber und MitsBefiger übergehen-kann, hat er fen 
Vermögen, nicht nur in MRädfiiht Ber Sicherheit: bes Beſitzes, 
fondern felbft dem Zttel ber Ermerbung nad, bem Staat, 
d. h. deſſen pofitiven Erbes- und Erwerbs» Gefesen zu verdanken; und 
es wäre eine offenbare Anmafung, auf den Empfang folder Wohl⸗ 
that den Anfpruch dee Staatsbeherrfhung (wohin naͤmlich das 
politifche Vorrecht zielt) zu gründen. Diefe Anmaßung erfcheint um fo 
verwerfliher, da im Smat die Zuberläffigfeit der Stimme 
mit nichten fo wie in der Privat Acttergefellfhaft mit der Zahl ber 
Üctien ſich erhöht. Dein’ Im - Staat ME der Antheil, welcher Jedem 
von ben Staatswohlthaten gebührt,’ keineswegs aus einer einfachen 
Dividenden - Rechnung berborgehenb und eben fo wenig durch eine Dem 
Betrug und Streit entruͤckte Zahlungsart zu. emdfangen ; fonbern hiet 
machen allzugern und allzuleicht die egoiſtiſchen Intereſſen ſich 
geltend, und ift für bie” politifch Bevorrechteter,d. h. für die das 
gewwichtigere ober entſcheidende Wort Zührenden Die Verfuchung' mmer 
nahe, folchen Einfluß zur Uebervorthelkung, id zur Unterbrüdktrig der 
dom Stimmrecht ausgefchlöffenen odes: mit nur gering, pählender 
Stimme bekleideten Gefellikhaftsgenoffeh di mißbtauchen. Das poli⸗ 
t iſche Vorrecht führt gar leicht auch zu buͤrgerlichem und menſch⸗ 
lichem Vorrecht; es ſetzt ſeine reichen Inhaber in den Stand, die 
Laſten bes Staats von ſich ab und vorzugsweiſe auf die armen nicht 
24° 


Stimmberechtigten zu waͤlzen, dagegen aber die Wohlthaten des gefell« 
fhaftlihen Vereins mit Zuruͤckdraͤngung ber Mit-Gefellfchafter fich ſelbſt 
im überfliegenden Maße anzueignen. 

Diteeſer letzten Betrachtung — welche übrigens nicht nur ber 
rechtlichen, fondern auch der politifchen Seite ber Frage angehört 
und daher den Uebergang zur Beleuchtung biefer zweiten Seite bil 
den mag — ſteht jedoch eine andere, gleich gewichtige und eindring⸗ 
liche entgegen, diejenige nämlich, welche ſich nuf die von ber Herr⸗ 
[haft der Vermoͤgensloſen abfliegenden Gefahren bezieht. Die 
vermögenslofe Menge, alfo fagt man mit Nachdruck, ift überall mit 
Scheelſucht gegen die Reihen erfüllt und nad) deren Beſitzthum lüftern. 
Sie verkennt oder vergißt, daß ohne die vom Staat ausgehende Bes 
‚ Teäftigung dee Eigenthumss und Einführung ber Erb⸗Rechte 
Alle arm, aͤrmer als jest die Dürftigften, wären, daß gerade in 
dem aufgehäuften Beſitzthum ber vom Gluͤck Begünftigten, d. h. in 
ben Beduͤrfniſſen, Gelüften und Unternehmungen ber Reichen, bie ers 
giebigfte ‚Quelle ber Ernährung für die Vermögenstofen fließt und daß 
eine wann und wie immer zu bictivende gleiche Gütervertheilung oder 
Gemeinfchaftlichleit des Güterbefiged nad, der Fürzeften Friſt eine all 
gemeine Armuth erzeugen oder — wenn der Moth gefeuert werden 
forte — die Wiedereinführung der Eigenthums⸗ und Erbrechte zur 
Folge haben müßte. Die Vermoͤgensloſen aber gedenken diefer Ders 
hältmiffe nicht oder nur wenig, oder der Reiz einer augenblidlichen 
Bereiherung durch den Raub des fremden Beſitzthums überwiegt 
bei ihnen bie Beforgniffe wegen ber Zukunft. Darum find fie ims 
merfort geneigt und bereit zum Umſturz ber beftehenden Ordnung, 
oder zur Hülfeleiflung bei Ummdlzungsverfuchen, bie etwa von eins 
zelnen Ehrgeizigen oder leidenfchaftlichen Sactionshäuptern ausgehen 
möchten. Sa, felbft ohne eigenes Verlangen nach einer Revolution 
find fie, eben weil arm, menigftens als willenlofe Werkzeuge 
bazu zu erkaufen, und, weil in der Regel unwiſſend und roh, 
auch leichter von Aufwieglern oder Verblendeten zu verführen und 
zu jedem böfen Zwecke zu mißbrauhen. Hieraus geht hervor, dag 
ihnen die Herefhaft oder das Uebergewicht in politifchen 
Rechten durchaus nicht ertheilt werden barf, alfo aud) kein gleiches 
Stimmrecht wie den Reihen, weil, da in ber Regel ihre Zahl: 
bie meitaus größere ift, ſchon das gleiche Stimmrecht ihnen bas 
Uebergewicht, ſonach bie Derrfchaft verleiht. . 

Daß Befüchtungen dieſer Art nicht grundlos find, zeigt freilich 
die Geſchichte; aber. es iſt eimfeitig, fich ihnen allein hinzugeben und 
der auch auf der Gegenfeite beohenden Gefahren zu vergefien. Auch 
iſt jedenfalls viele Webertreibung barin, oder kann wenigftens die 
große Gefahr nur, alldort flattfinden, mo bie Megierung die ihr 
obliegende Pflicht, für die Erziehung und Bildung des Volkes (in 
technifcher, intellectueller, fittliher und veligidfee Beziehung) und für 
Eröffnung rechtlicher Erwerböwege zu forgen, verabfäumt oder ungenüs 


Genfus. | 373 


gend erfüllt hat. Fa, felbft wenn man bie Befuͤrchtungen ale bes 
geüundet voraugfest, fo find do die Folgerungen, welche bie 
Ariſtokratie überhaupt oder insbefondere die Geldariftokratie daraus abs 
leiten will, viel zu weit gehend. Denn nur bie völlig Ver⸗ 
mögenslofen — wenn ihnen das Uebergewicht zufaͤllt — koͤnnen 
ber Gegenftand einer vernünftigen, Beforgniß fein, nicht aber auch bie 
Fleinen oder mittleren Beſitzer (die ba in der Regel fchon aus 
Liebe zu ihrem Beinen Beſitzthum den eingeführten Eigenthumsrechten 
und der bürgerlihen Ordnung zugethan find); und, vor ben Gefahren 
ber Ochlokratie ſich zu fichern, giebt es noch ganz andere Mittel als 
die Oligarchie der Reihen. Wir wollen verfuchen, den Weg 
zu zeichnen, welchen hier zum Frommen bes Gemeinwohls zu verfols 
gen, das Hecht erlaubt und bie Klugheit anräth. 

Das den Reihen oder vielmehr ben Beftigern Überhaupt: 
zwar einiges Vorrecht gegenüber den Vermoͤgensloſen gebühre, 
boch nur ein fehr befchränktes, haben wir oben gezeigt. Wir fegen 
hiee noch bei, daß felbft auf biefes befchränkte Vorrecht Verzicht 
zu leiften, ihnen nicht nur erlaubt fein muß, fondern daß, wo⸗ 
fern nur wenigftens die Mehrzahl der Reichen in eine ſolche Vet⸗ 
zichtleiftung einmwilligt (hierdurch alfo ihre eigene Ueberzgeugung von 
ber Gemeinnuͤtzlichkeit bderfelben ausfpricht und bamit auch dem 
Harften Beweis ihres wirklichen Vorhandenſeins herftellt), fie dann 
aud) allen Uebrigen ohne Rechtsverletzung kann aufgelegt werden. Den 
nämlihen Srundfag (von ber Zuläffigkeit ber Verzichtleiftung und von 
ber Unbedenklichkeit, eine folche von Allen zu fordern, fobald die freie 
Einwilligung — folglich die dafür flreitende Selbflübergeugung — we⸗ 
nigftens der Mehrheit ber Betheiligten erkennbar vorliegt) werden 
wie fpäter auch auf die Frage von den Rechtsanfprühen der Aemen 
anwenden. Wir find hiernach jegt völlig auf das Held der Politik, 
namentlid der Conftitutionss Politik, verfegt, worauf naͤmlich 
nicht mehr bloße Rech ts = Ideen die Entſcheidung geben, fondern bie - 
Gründe der Zweckmaͤßigkeit, d. h. der Nothwendigkeit oder 
Raͤthlichkeit in Bezug auf die möglihft volftändige und möglichft : 
geficherte Verwirklichung des Staatszwecks. 

Die Vollkommenheit einer Staats Verfaffung und Einrichtung 
befteht darin, daß fie dem wahren, vernünftigen Gefammtmwillen 
die Herrſchaft fichere, zunaͤchſt alfo demfelben das möglichft zuverläfs 
fige Organ verleihe. Diefes Organ glaubt die Demokratie in ber 
Sefammtheit oder wenigſtens in der Mehrheit der natürlich 
volbürtigen Bürger zu finden. Die Ariftotratte dagegen hält bie 
Befähigung, alfo aud die Berechtigung, zum Ausſpruch des Ges 
fammtroillens für eine blos einer auserlefenen Minderzahl — bes 
flimmt entweder durch Geburt oder durch Stand ober durch Meich: 
thum oder auch duch Wahl — zukommende Eigenſchaft, ſchließt alfe 
bie Maſſe des Volkes von ber Stimmgebung aus, (ja betrachtet 
mitunter bie auserlefene Claſſe oder Kafte als allein das wahre Volk 


374 Genfuß. - 


— im Gegenfas einer blos dienftbaren Menge — ausmachend oder 
die eigentliche Staatögefellfhaft bildend) und ‚macht dergeftalt die Staates 
getvalt zum Sondergut der Wornehmern, die Theilnahme am politis 
fchen Gefellfchaftsreht zum Privilegium. Die abfolute Monars 
hie endlich beruht auf der Idee der Unmündigfeit des ganzen 
Volkes, folglih der Nothwendigkeit, DaB demfelben ein Herr, oder 
wenigſtens ein Vormund gefest werde, welcher vollguͤltig die Perfon 
des Muͤndels vorftelle und in deſſen Namen ben vechtlihen Willen 
ausfpreche. Aus einer Verbindung mehrerer biefer Principien in 
einer Staatsform entftehen die fogenannten gemifhten Berfaffuns 
gen, die da mittelft gegenfeitiger Beſchraͤnkung oder angeorbneter 
Bufammenmwirtung jener drei Organe oder zweier derfelben bas 
ideale Ziel (nämlich die Herrfchaft des vernünftigen Geſammtwillens, 
d. h. die Buͤrgſchaft dafür, baß niemals etwas Anderes gefchehe ober 
verordnet mwerbe, als was dem wirklichen ober mit Grund zu fuppos 
nirenden Willen aller vernünftigen Staatsglieder oder wenigſtens de⸗ 
ven Mehrheit gemäß ift) zu erreichen fireben. Bon der Natur und 
dem Charakter diefer verfchiebenen Staatsformen reden wir theild uns 
ter den von ben Staatsverfafjungen im Allgemeinen, theild unter den 
den einzeinen Hauptformen gemwidmeten befonderen Artikeln. Hier 
baben wir blos zu unterfuhen: ob oder in wie fern der Cen⸗ 
fus und insbefondere der Wahl: GCenfus dem Geift jener Berfafs 
fungen, zumal jenem ber conftitutionellen oder KRepräfentas 
tiv⸗Monarchie, entfprehe? — 

Dem Geiſte der Ariſtokratie allerdings entſpricht der Cenſus, 
denn er iſt eben dieſem Geiſte entfloſſen und ſeiner Weſenheit 
nach nichts Anderes als (geld⸗) ariſtokratiſches Vorrecht. Eben darum 
widerſpricht er dem Geiſte der reinen Demokratie, weil naͤmlich 
jede, nicht ſchon durch die Natur gebotene Ausſchließung von acti⸗ 
ven Geſellſchaftsrechte — mie namentlich im Staat der Weiber, 
Kinder, oder ber aus was immer für einem vernünftigen Rechtstitel 
für mundtobt zu Acdhtenden, und. dann etwa noch der Knechte und 
bee ihren Lebensunterhalt aus oͤffentlichen Wohlthätigkeitsanflalten 
ober aus Öffentlihem Almofen Beziehenden — eine Befhräntung 
ber demofratifchen Gleichheit duch ariſtokratiſches Vorrecht, folg- 
ih eine gemifchte Eigenfchaft der Verſaſſung hervorbringend und 
im Widerfprudy mit der in der Idee dee Demokratie gelegenen Anz 
erkennung der Münbigkeit ſaͤmmtlicher (natürlich Vollbuͤrtiger) Ge: 
ſellſchaftsglieder ſtehend if. Es ift dieſes der Fall ganz vorzüglich 
alsdann, wenn oder infofern duch die Mehrheit der Stimmenden 
die Sahen ſelbſt entfchieden, namentlich Geſetze gegeben, ober 
allgemeine Verordnungen befchloffen ober and; Negierungs: 
Gefhäfte im engern Sinn von der — in einem gemiffen Kreis 
auch mit der Regierungsgewalt befleiveten — Landesgemeinde. 
erlediget. werben follen. Etwas Anderes mag vielleicht gefagt werden, 
wo nicht von folcher unmittelbaren Entfcheidung. der Sachen, [ons 


Genfus. 375 


dern nur von Ernennung ber: Perfonen, . welche. jene Eutſcheidung 
treffen follen, die Mede . ik... In graßen Staaten, felbft wenn 
fie den demokratiſchen Driuchien, eifrigft huldigen, (einige wenige, 
den Uiverfammlungen, ober. ber im ganzen Meiche zu veranflaltenben 
allgemeinen Abſtimmung vorbehaltene Gegenſtaͤnde abgerechnet) bleibt, 
nach der Ratur der Dinge, Jap politifche Recht der Bürger befchränkt 
auf die Wahl bes mit ber. Ausübung beu : ideal der Geſammtheit 
zufiehenden Befugniſſe zu— beauftragenden Ausſchuſſes, ober auch 
der zum Vollzug ber Geſege und ‚überhaupt zur gefegmäfigen Er⸗ 
ledigung der vorkommenden concreten Geſchaͤſte aufzuftellenden Ob rig. 
feiten und Beamsen, A trifft dsbann::diefes Recht fo. zieme 
li überein mit dem auch In. ber sonßitutionellen Monarhie 
dem Volke zuſtehenden Rechtgz, feine Mertreter zu wählen, d. h. Fi 
ganz eigens zum Ausfpreden. ber Molke Wünfche. gegenüber der Res 
gierung und zur Eontrole der, Regierungsgewait beflimmten repräs 
fentativen Körper ganz oder menigfteng bem Fra nach durch 
freie Wahl zu bilden. Auf dieſeß —— häft num (und zwar 
nicht nur in Bezug auf. bad.gczive Wahlrecht, fondern auch: a 
das paffive, alfeauf Wahlberechtigung und. Wahlbarkeit 
richten wir vorzugsweife ben Blick, wem wir von der Zweckmaͤßig 
eines eguhrne Grafus, ſprechen. 


vorzunehmende Wah 8* m kann „abne —ã— dort: ben 
Genfus verwerfen, und bier ion aleichwohl billigen. · In· als 
len Angelegenheiten, woruͤber dem Volk bie unmittelbare Entfcheibung 
oder Miientſcheidung zuſteht (mag dieſes je nach Verhaͤltnifſen und 
Umſtaͤnden, zumal nach der vorherrſchenden Culturſtufe ein engeret 
ober ein weiterer Kreis fein), ſoll —8 —— vollbuͤrtigen) Buͤr⸗ 
ger, ohne Unterſchied des Ve Stimmrecht verliehen ſein. 
Schließt man, wie Servius ine that, die. Droletariex 
davon aus, fo muß man fie — gleichfalls nad dem Beiſpiel jenes 
Könige — auch aller Staastslaften, namentlih aud bes Kriegs⸗ 
dienftes entheben, db. h. man muß fie gewiffermaßen aus der 
Maffe ber Bürger auefhiteßen und zu ofen Schüglins 
gen des Staates erklaͤren. neueren Geſetzgebungen aber thun 
diefes nicht. Vielmehr heſteht lieg ein fehr großer (mitunter ſelbſt 
der größte) Theil des Heeres aus Proletariern, welche häufig au 
ach zu Staates Frohnden und — wenigfiens mittelf der indirecten 

Befteuerung — zu ſchweren Abgaben be "werden. Hiernach 
gebührt ihnen alfo auch das —— dem reichern Claſſen, 
fo lange nicht von Geſchaͤften die Rede iſt, au deren Verſtaͤnbniß er⸗ 
weislich (oder nach allgemeinem ˖ Anertenatan) Me Armen nicht, wobl 
aber die Meicheren -fähig find. -  . E 


376 Genfus. \ 


Wenn Sachen an’d Voll zur Entſcheidung gebracht werben, 
fo find e8 entweder folche, die wegen ihrer nahen Verbindung mit dem 
Intereſſe der Einzelnen von dieſen durch eigenes Nachdenken als gut 
oder übel erkannt werden mögen (gleidy gut wenigſtens von aͤrmern 
wie von reichern, blos etwa minder gut, als von der Keinen Zahl 
ber wiſſenſchaftlich Gebildete z oder durch natürliche Anlage höher Ste⸗ 
henden), oder welche wenigſtens durch Erklärung von Seite ber 
Kındigen der gemeinen Faffungskraft nahe gebracht werden koͤnnen. 
Den an's Volk zur Entſcheidung gelangenden Anfragen (fel es in dee 
aligemeinen Verſammlung, wie in ganz Beinen Staaten, ober durch 
überall eröffnete Stimmregifter, wie in größern) geht nun in ber 
Megel voran, ober kann menigftens leicht vorangefchidt werden eine 
ſolche belehrende Erklärung, ſei es durch das Drgan ber 3. B. das 
Geſetz vorfchlagenden Regierung, fei es durch jenes ber freien Preffe. 
Jeder Bürger alfo, wenn er fein Ja oder Mein ausfpricht, weiß 
oder kann wiſſen, was bie Wirkung folches Ausfpruches, wenn ec 
jener der Mehrheit wird, für ihm felbft und für die Gefammtheit 
ift, und das Erkenntniß ſolcher Bedeutſamkeit feiner Stimme hält 
ihn von leichtfinnigem Wegwerfen berfelben ober von einer Abſtim⸗ 
mung gegen die eigene Anficht ab. edenfalld mag man annehmen, 
dag die unkundigen ober unlautern Stimmen (deren es hier bei den 
Reichen nicht minder als bei ben Armen geben wird) ſich wechſel⸗ 
feitig aufheben und ber Beſchluß der alsdann noch Übrigen Mehrheit 
ein verflänbiger fein werde. Etwas Anderes jedoch iſt der Kalt bei den 
Wahlen, fei es der Häupter, fei es der Vertreter. Abgefehen näms 
li davon, daß hier, wenigſtens in größeren Staaten, keine gemeins 
fhaftlihe Stimmgebung, fondern eine nach Bezirken oder Drtfchafe 
tene zerftüdelte fattfindet, wodurch dem Irrthum oder der Befangen- 
heit auch fchon einer Heinen Anzahl eine bedeutende Wirkfamteit vers 
liehen wird, ift es wohl unbeftreitbar, dag eine gute Auswahl ber 
Perſon weit fchwieriger, als ein guter Beſchluß über eine Sache, 
d. h. daß bie Abftimmung des Einzelnen dort weit weniger zuverläffig 
und dabei weit mehr Folgen nad) fidy ziehend ift, als hier. 

Eine gute Wahl von Häuptern ober von Abgeordneten fegt nicht 
nur die Kenntniß derjenigen Kigenfchaften voraus, melde zur tuͤch⸗ 
tigen Führung bes Regiments ober der Volksvertretung nothwendig 
find, ſondern audy eine genaue Kenntniß derjenigen Perfonen, 
welche man zu fo wichtigen Aemtern berufen will. Um mit völliger 
Veberzeugung hier feine Stimme abzugeben, d. h. um aud nur 
mit einiger Zuverfiht annehmen zu koͤnnen, daß der Gemählte in 
allen Vorkommniſſen nah dem Sinne des Wählenden ober im wah⸗ 
ven Sintereffe des Gemeinmwohles (menigftend nad) eigener treuer Meis 
nung) flimmen wmerbe, wäre neben allgemeiner gründlicher Menſchen⸗ 
kenntniß auch die genauefte perfönliche Geiftess und Gemüths Bes 
rührung mit dem zu Mählenden nothwendig. Die Mehrzahl ber 
Wähler hat folhe Kenntnig nicht, wählt alfo jedenfalls auf „gut 


Genfuß, 377 


Gluͤck“, eine vorgängige Belehrung findet hier weit weniger, als 
bei materiellen Befchlüffen Pas. Wer foll fie eitheilen? Die Ne gie- 
eung, da fie hier nicht vorzufchlagen hat, darf es nicht, und bie 
aus der Mitte des Volkes felbft theils mündlich, theil® durch 
die Preſſe erklingenden Stimmen mögen leicht von Partei⸗Inter⸗ 
effen eingegeben, ober von ehrgetzigen Bewerbern erkauft 
fein. Bei der unermeßlihen Wichtigkeit des MWahlgefchäftes (ba näms 
ih eine mißglüdte Wahl taufend bife Folgen nah fi zieht, 
während ein übler materieller Beſchluß theils nur ein einzelner ift, 
theild durch einen Gegenbefchluß wieder aufgehoben werden kann) 
ift alfo mehr als irgendwo fonft die größte Vorficht räthlih, und alfo 
bie größte Sorgfalt anzumenden, um, fo weit irgend das Recht es 
erlaubt, die minder zuverläffigen Stimmen auszuſchließen. 

Welches foll aber das Princip der Ausfchliegung fein? Eine 
Individuelle Audfchliegung aus ambern Gründen, ald wegen nas 
türliheer Unvollbürtigleit oder wegen Rechts verwirkung 
(alfo blos wegen vermeinter ober vermutheter perfönlicher Unfähig- 
Leit oder Unwuͤrdigkeit, überhaupt Unzuverfäffigkeit oder geringerer Zus 
verläffigkeit) waͤre fhon theoretifch ungerecht und peaktifh theils uns 
ausführbar, theils dee empoͤrendſten Willkür die Herrfchaft einraͤumend. 
Wer kann mit Beftimmtheit den Grab der Verftandesträfte des Ans 
bern erfennen? Mer mit Sicherheit des Andern Herz und Nieren 
duchfchauen? Wem alfo dürfte man darüber dns mit Rechts: Wir: 
tungen verknüpfte Urtheil anvertrauen? — E86 bleibt alfo nur bie 
Ausfhliegung von ganzen Claſſen übrig, von folhen nämlich, 
welche nad) ber bei ihnen, den Verftändigen erkennbar, vorherr⸗ 
fhenden Eigenfhaft in dee Mehrzahl ihrer Glieder ale unfähig‘ 
oder unzuverläffig erfcheinen, oder menigftens gewichtige Zweifel an 
ber Verſtaͤndigkeit oder Lauterkeit der von ihnen abzugebenden Wahls 
flimmen rechtfertigen. Bel der Ausfchliefung folder Claſſen wird 
durchaus Fein Urtheil über irgend einen Einzelnen, der ihnen ans 
gehört, gefaͤllt. Es fpricht dabucd der Gefehgeber blos die allges 
meine (etwa auf pfochologifhhe Gründe oder auf Erfahrung gebaute) 
Anfiht aus, daß, nad) der Natur der Dinge oder nach den Lebens⸗ 
verhältniffen einer ſolchen Glaffe, bie Abflimmung menigftens der 
Mehrzahl ihrer Angehörigen unguverläffig, ober daß in Bes 
zug auf folhe Mehrzahl die offenbare Gefahr entweder der Selbft- 
täufhung (d. 5. des eigenen Irrthums) oder ber Verführung ober 
der Beſtechung ober der Einfchüchterung , Überhaupt der Befangenheit 
oder Unflauterfeit obmalte, und daß denmach, weil von der Mehr: 
heit das Ergebniß der Wahl abhängt, nur durch die Ausſchließung 
ber ganzen Claffe das befürchtete Uebel abzumenden fei. In der Vors 
ausfegung, bie Befürchtung ſei eine wirklich im Allgemeinen vernünfs 
tig begründete, innen dann felbft diejenigen Einzelnen in ber 
Ginffe, bei welchen fie nicht zutrifft,’ d. h. welche durch beffere Ein» 
fihr, waͤrmeren Patriotismus oder feftern Charakter jenen Gefahren 


, 378 Genfuß. 


fi) zu entziehen vermögen (und dergleichen giebt es ficherlich in jeder 
Claſſe, felbft in jener der Knechte), fih über ihre Ausfchliefung 
nicht bellagen. Denn ein Privilegium wegen juriftifh nicht 
ertennbarer, rein perfönlichee Eigenfchaften werben fie nicht ans 
fprehen wollen, und es ift ihnen — fo wahr fie gute Bürger find 
— bei dem Wahlgefchäft nicht um perfönlihe Befriedigung, 
fondern um ein gutes Ergebniß zu thun. Willig verzichten fie 
daher auf eine wiewohl ehrenvolle Function, duch deren Ausübung 
fie, weil alsdann eine größere Zahl von Unlautern oder Unkundigen 
diefelbe gleichfalls ausüben wird, dem Gemeinwefen nihts nüßgen 
tönnen, d. h. fie geben gern ihre Zuftimmung zu dem Geſetze, 
welches fie mit biefen ausfchließt. 

Von Ungerehtigkeit alfo kann nicht die Mebe fein, wenn 

aus wirklich triftigen Gründen eine Claſſe vom Wahlrecht ausges 
fhloffen wird. Der. gefeggebenden Gewalt, d. h. dem Geſammt⸗ 
willen; ſteht unbefteitbar die Befugniß zu, alles politifhe Recht. fo 
zu vertheilen, wie ed das Intereſſe bes Gemeinwohls, zumal alfo das 
Intereſſe der möglichften Sicherftellung feiner eigenen (ndms 
lih des vernünftigen Sefammtwillene) Herrfchaft fordert, und je⸗ 
des dahin gehende Geſetz ift der Billigung von Seite der verfländigen 
und pflichttreuen Bürger gewiß. Die einzige Stage alfo bleibt immer 
nur die: ift die Ausfchließung dieſer oder jener beftimmten Glaffe wirk⸗ 
lich. auf triftigen Gründen ruhend? und bier alfo insbefondere: ift 
die Ausfchliefung wegen geringeren Vermögensbefiges als eine 
folhe anzuerkennen ? 
Die Schwierigkeit der Entfcheidung geht hier ſchon aus dem Um- 
ftande hervor, daß wir den Cenfus von Abfolutiften und von 
Sreiheitsfreunden vertheidige, und entgegen das allgemeine 
Wahlrecht von den feurigften Legitimiften wie von den eral- 
titeften Republilanern gefordert fehen. Die weitaus vorherr⸗ 
[chende Richtung der neuen und neueften europäifhen Geſetzge bun⸗ 
gen geht indefien auf Feſtſetzung eines anfehnlicyen Genfus, und zwar 
nicht nur für's active, fondern auch für's paffive Wahlrecht, oder 
wo man bei'm erften ihn nicht ftatuirt, wenigftend auf Verwandlung 
der unmittelbaren oder Urwahl in eine blos mittelbare, 
nämlich duch gewählte Wahlmänner, 

In England, dem Mutteriande der Repräfentativ: Verfaf: 
fung (deren Idee jedoch erft feit ber norbamerilanifhen und der 
franzöfifhen Revolution in reinerer Auffaffung und . Geftaltung 
erfchien), war bis zur neueflea Meform mit dem Wahlrecht begabt 
in den Grafſchaften neben dem niedern Adel (gentry) auch jeder erb⸗ 
liche DBefiger eines zinsfreien Gutes (freeholder) von wenigftend 40 
Schillingen reinen jährlihen Ertrags; in Städten und Fleden aber 
nur zindfreie Hausbeſitzer, und ˖zwar mit fo vielen weiteren Beſchraͤn⸗ 
tungen und Ausnahmen, daß .in vielen Städten bie Wahl ausfchlie- 
end in den Haͤnden einiger. weniger Familien fih befand. Waͤhl⸗ 





® 
. 


Cenſus. 379 


bar aber war Jeder (vom hohen Adel, inſofern er noch keinen Sitz 
im Oberhauſe hatte, bis zum Kuͤnſtler und Kaufmann, ber keinen ofs 
fenen Laden hielt), welcher als Adeliger 600 (in Schottland 400) 
oder als Buͤrgerlicher 300 Pfund Sterling reinen Einkommens 
von feinem Vermögen bezog. Die Reformbili vom J. 1832 hat, nes 
ben ber Abfchaffung der abgefhmadten Wahlrechte der fogenannten vers 
faulten Flecken und anderer faft unglaublicher Mißbraͤuche, und neben 
der Verleihung folcher Rechte an eine Anzahl bisher davon ausgerchlofs 
fen gemwefener Städte, auch die Forderung der Vermögensnachweifun- 
gen ermäßiget, fo dag nun auch Fleinere Pächter und in Etädten nes 
ben den Bejigern von Häufern, welhe 10 Pfund jährlihen Ertrag 
abmerfen, zum Theil auch bloße Miethberoohner, wenn der Miethzins 
nit allzugering ift, zue Stimmgebung berufen find. 

An Nordamerika befteht in einigen Bundesftaaten ein Cenſus, 
db. h. eine Bedingung des Wahlrechts an einen gewiffen Vermoͤgens⸗ 
befis (3. B. in Maſſachuſetts, mo jeder Wähler 3 Pfund Ster: 
ling reines Einkommen beziehen und in Virginien, wo er 25 Mor: 
gen Landes mit Haus und Hof oder aber ein Haus in einer Stadt 
befigen muß, u.f.mw.), in einigen andern (wie 3. B. in Vermont) 
aber nicht. In Bezug auf die Bundesgewalt, db. h. die beiden 
Häufer des Congreffes und den Präfidenten, gelten, was die Wahlbes 
techtigungen betrifft, in jedem einzelnen Staate deffelben befondere Geſetze. 

An Frankreich ward von der conflituirenden Nationalverfamms 
lung in der Conftitution von 1791 allen franzöfifchen Bürgern, wel: 
he 3 Franken (eigentlih den Werth dreier Arbeitstage) 
directe Steuer zahlten, das Wahlrecht verliehen, jebod nur Be: 
hufs der Ernennung von Wahlmännern, welchen dann bie Wahl der 
Deputirten oblag. Die Gonftitution von 1793 berief alle Bürger 
zue unmittelbaren Wahl in ben Urverfammlungen Die Di: 
rectorialverfaffung von 1795 verordnete wieder die doppelte Wahl 
(d. h. durch gewählte Wahlmänner) und fdrderte fhon von den Ur⸗ 
wählern einen Genfus, d. h. irgend eine directe Grund- ober 
Derfonalfteuer, von den Wählern aber einen je nad) der Größe der 
Gemeinden und andern Verhältniffen verſchiedentlich beftimmten Grund- 
oder Hausbefig. Die Confular-Verfaffung fegte zwar keinen 
Genfus feſt, ließ aber das Verzeichniß der für die Repraͤſentan⸗ 
tenftelen Wählbaren aus einer in drei Stufen getheilten Wahl⸗ 
operation hervorgehen, und übertrug dann bie eigentliche Ernennung 
dem „Erhaltungsfenat” Von bier an bis zur Reftauration war 
die Wolfsrepräfentation ein leeres Wort. Die Charte Ludwigs XVIL. 
befchränfte die Waͤhlbarkeit für die Stellen der Volksdeputirten auf 
diejenigen Bürger, die eine directe Steuer von 1000 Franken, und das 
active Wahlrecht auf jene, welche 8300 Franken zu entrichten hatten. 
Später (durch ein Reactionsgefeb von 1820) wurde den Reichſten 
jedes Departements ein doppeltes Wahlrecht verliehen, eines gemeins 
fhaftlich mit den minder Meichen der einzelnen Bezirke, und dann ein 


380 Genfud. 


anderes ausſchließlich für ſich allein, Die Juliusrevolution von 1830 
hob dieſe ſchamlos geldariſtokratiſche Einſetzung auf und verhieß ein 
den liberalen Principien angemeſſenes Wahlgeſetz. Aber die noch 
unter ber Herrſchaft bes vorigen Geſetzes erwaͤhlten Deputirten, 
welche man — freilich im Widerſpruch mit dem Geiſte der Juliusre⸗ 
volution — als Nationalrepraͤſentation beibehielt, waren wenig geeig⸗ 
net, ein gutes, d. h. den Forderungen eines echt repraͤſentativen 
Syſtems entſprechendes Geſetz zu geben. Daher mußte das Volk ſich 
abfinden laſſen mit. ber kaum nennenswerthen Gewährung, bag — in 
einer Nation von SO Millionen Seelen — buch die Erniedrigung 
des Wahlcenſus von 300 auf. 200 Franken und in Bezug auf das 
paffive Wahlreht von 1000 auf 500 Franken anftatt der bisherigen 
80,000 Wähler etwa 180,000 reiche. Leute (nebft einer Schaar von 
Staatsdienern und Candidaten des Staatsdienftes) berufen und anftatt 
ber bisherigen 8000 Wählbaren etwa das Dreifache dieſer Zahl ale 
fähig zur Deputirtenftelle erklaͤr wurden! Diefes Wahlgefeg erklaͤrt 
freilich zur Genüge, warum die franzöfifche Deputirtentammer fo ganz 
und gar nicht den Geift und Willen der großen Nationalmehrheit ausfpricht 
und marum hinwieder die Nation mit täglich fteigender Geringſchaͤtzung 
und Abneigung auf ihre angeblichen Repräfentanten blickt. Das eigentliche 


Parlament in Frankreich ift daher die Preffe mehr als die Kammer; 


ohne jene möchte dieſe leicht zum Werkzeug ber antipopulärften Rich⸗ 
tungen zu mißbrauchen fein. Eine wefentlich erweiterte Baſis 
ber MWahlberehtigung, d. 5. eine weſentliche Verringerung 
des Cenſus, wird daher von dem echt freifinnigen und daher audy 
gemäßigten Theile der Nation gefordert, waͤhrend die ſich entgegenge» 
fegten Ertreme ber rechten wie der linken Seite, d. h. ber Legiti— 
miften ober Garliften wie der Republikaner, die Abfhafs 
fung alles Genfus, d. b. die Allgemeinheit des Wahlrechts, 
zur Loſung haben; eine Lofung, welche offenbar bie Hoffnung aus» 
drücdt, durch die Stimmen der leichter zu verführenden ober zu erfaus 
fenden Maffen der Proletarier jene der gebildeten und vermöglihern Bürs 
gerclaffe zu überwältigen und dergeftalt, anftatt des wahren, vernünfs 
tigen Geſammtwillens, den fanatifchen und engherzigen einer Pars 
tei zur Herrſchaft zu bringen, Iſt diefe Hoffnung eine wirklich be= 
gründete, fo wird fie entweder zum eindringlihen Beweis von 
der überhaupt anzuerkennenden Raͤthlichkeit oder Nothmendigkeit eis 
nes (mäßigen) Genfus dienen, oder wenigftens eine foldhe für Sranks 
reich — megen der niedrigen Bildungsftufe feiner Maſſen oder wes 
gen der befondern Entzündlichkeit Ihres Charakters — darthun. 

In dem Zundamentalgefeg für das Königreih der Nieder: 
Lande vom 24. Auguft 1815 ift zwar Bein beftimmter Cenſus allges 
mein vorgefchrieben, doch wird fich darin auf die in den verfchiedenen 
Provinzen und Städten beftehenden Wahlreglements bezogen, worin 
neben den übrigen Eigenſchaften auch die Summe der dirécten 
Steuer feſtgeſetzt wird, welche man befigen muß, un bet Ernennung 


1) 


Cenſus. „381 


‚der Wahlcollegien (für die Stadtobrigkeiten und. für bie Provinzial⸗ 
Staaten — weiche lehtern die Mitglieder ber zweiten Kammer der 
Generalſtaaten ernennen —) ſtimmfaͤhlg zu ſeln. 

Auch die polnifche Conftitution, bon 1815 beſtimmte inen 
Henſus (fuͤr einen. zu wählendem-Lanbboten von 100 St. jähel 
Steuer und. für die Mäbler irgend eine Grunbdfteuer oder ein 
bie verſchiede nen Claſſen auch verfchieben beftimmtes Vermögen). - Achne 
liches fet auch die Verfaffung. des freien Staates Cracau fe . 

berhaupt forbern die meiften; der neuern und neueften Ci 
fitutionen ber verſchiedenen ‚ eucopäifchen. und insbefondere, ber dem 
” Deutfhen Bunde angebörigen 5 als Bedingung des Er 
and paffiven. Wahlsechts. die Nachweifung „eines gewiffen Berk 
gens oder Einfommensg, heffen Map war bier uud dort anderg 
beſtimmt iſt, alfo bald-arößer bald Heiner fein kann, überall aber bie 
Seibfiftändigkeit des Lebensunterhalts zur unmittelbaren 
Grundlage hat, oft auch auf. ber Idee der im-Vermögen liegenden . 
Buͤrgſchaft für ben Seift der Stabilität und Drbnung ruht 
J a6 Urtheil des Unbefangenen über den ſus wird jedoch wer 
der durch die vorherefchende ‚Richtung ber Gefebgebun gen (bie da 
mitunter als bloße Dictate der — einheimifchen * auswaͤrtigen — 
Bewalt ‚oder der —““ Selbſt fucht, oder wenig⸗ 
Para ti als ‚gerhtofiene: Berglei wiſchen dem Nationalwunfc 
jenen Mächten erſcheinen) noch, die ‚Autorität, der — * 
be Ahre Lehren; den, Richtungen, ber. jew igen Machthaber. an 
quemenden — Schrüftftekler beftimmt m, mod) endlich durch 
die unlautern Stimmen der F — sh leldenſchaftlich verfol« 
genden Parteien, Auch Eanı Ar feremda, die Rebe 
ÜR,. das hiftorifhe, Recht KARA bie —* ende En führen, 
obfchen die hier ober dort factifh, vorhandenen — 
überall eine kiuge Beruaſichtigung anſprechen 
Wir haben die —— der Ausſchließung be 
vom. Wahlrecht, im Allgemeinen ‚zugeftanden. Aber wo . 
die Grenge derſelben — Wir glauben dort, wo bie Selbftftk 
digkeit des Lebensunterhaltes, d.h. bie. Unabhängigkeit * 
felben von ber Gunſt anderer Perſonen beginnt. Wer nur von folder 
Gun — zumal, beflimmter Perfonen — den Unterhalt Er 
hat in bee Megel keine Freſheit des Willens mehr, und verftäzkt “ 
wenn er zur Stimm umge — das Gewicht der 
me feines DBrodheren. Auch. wer, ohne eines beftimmten Herrn 
Dimmer — — Lea ‚fein, durch feine 
m elohn geleiftete ‚gemeine 13 ein exinges 
— ben —— Unterhalt arg {er 5 
de, oder wer überhaupt nach ber ränktheit ‚feiner Bermögensums - 
Sr dem — x . Be ‚vergleichen. als der nͤhern 
5 der ung. elch en zwar auch ‚beftechen, 
aber fie koſten zu * aio —2* leicht ein. Privatvermögen ihrer ‚bie · 


382 Cenſus. 


noͤthige Zahl erkaufen koͤnnte), oder auch der Verfuͤhrung oder Einſchuͤch⸗ 
terung, oder auch der Luſt nach gewagten Veraͤnderungen unterliegend 
betrachtet werden. Die Feſtſetzung eines fo niedrigen Cenſus, daß nur 
bie eben gedachten Claſſen (welche freilich ‘je nach den. befondern Um: 
fiänden der einzelnen Staaten bald mehr Bald: meniger zahlreich fein 
werben) dadurch dom Wahlrecht 'ausgefchloffen werden, laͤßt ſich nach 
ben obigen Betrachtungen wohl rechtfertigen, nicht aber ein höherer 
oder gar ein fo hoher, daß er die eminente Mehrzahl der Nation 
ausfchlöffe. Es wird zumal bei Völkern, die an Cultur voranges 
fchritten: find und bei welchen der Unterricht auch bie niedern Volks⸗ 
claſſen ber geiftigen Miündigkeit näher gebracht Hat, die Ausfchließung 
vergleihungstveife Wenigere treffen duͤrfen, als bei noch halb ro⸗ 
hen, in Dummheit wie in Armuth verſenkten Voͤlkern, deren Mehr⸗ 
zahl etwa von uͤbermuͤthigen Ariſten niedergetreten oder von fanati⸗ 
ſchen Pfaffen beherrſcht iſt. 

Führt man einen dergeſtalt ermäßigten Cenſus für das active 
Wahlrecht ein, fo iſt man dadurch der Morhivendigkeit enthoben, zur 
Sicherung guter, dem- vernünftigen Geſammtwillen zuverläffige Organe 
gebender Mahlen eines von den beiden andern, vielfach empfohlenen, 
auch Häufig — zum Theil felbft neben dem Cenfus für’s active 
Wahlrecht — wirklich eingeführten Hauptmittel oder gar beibe zugleich 
anzumenbden ; zwei Mittel, welche beibe weit: bedenklicher fürs Recht 
und weit verwerfliher vom politifchen Standpunkt find, als unfer 
vertheidigter Cenſus, naͤmlich das Inſtitut der Wahlmänner 
und die Feftfesung eines hohen Genfus für paffive Wahlrecht, 
d. h. für die Waͤhlbarkeit. 

Das Inſtitut der Wahl maͤnner verwandelt die Theilnahme 
am Wahlgeſchaͤft, ſoviel die Urwaͤhler betrifft, in bloßen Schein. 
Es iſt naͤmlich das Recht, diejenigen zu ernennen, welche ſtatt unſerer 
waͤhlen ſollen, von dem Recht der ſelbſteigenen Wahl unendlich ver⸗ 
ſchieden und allerdings eine zu’ kaͤrgliche Abfindung der auf des Nen⸗ 
nens werthe politifche Berechtigungen Anſptuch machenden Bürger. 
Zudem liegt ein Widerſpruch darin, gewiſſe Claſſen der Bürger oder 
den größeren Theil der Bürgerfchaft für unfähig zu einer guten De: 
putirtenwahl zu erftären und dennoch für fählg zu der — nicht mins 
der fchtwierigen — guten MWahlmännerwahl zu achten. Aber freilich, 
wenn man ganz und gar keinen Genfus will und doch die gemeinen 
Bürger für unzuverläffig hält, fo muß man zu den Wahlmännern, 
die da in ber Megel zu den Notabilitäten gehören werden, feine Zus 
flucht nehmen, obſchon dadurch der angeblichen Volksrepraͤſentation der 
Charakter der Wahrheit benommen oder doch weſentlich verkuͤmmert 
wird. Wir dagegen halten den Genfus (in den von uns angegebe⸗ 
nen Schranken und nur für das active Wahlrecht) für ein unend⸗ 
lich geringered Webel als‘ das Inſtitut der MWahlmänner (f. d. Art.). 

Aber weit ſchlimmer ift bie Beſchraͤnkung der Waͤhlbarkeit 
durch einen Cenſus, welcher natürlich hier ein höherer fein wird, ale 


Genfuß. 383 


man für das active Wahlrecht fordert. Beſteht aber der legte nicht 
und iſt zugleich Jeder Im. Volk: ohne Ausnahme wählbar, fo läft 
ſich nicht beitceiten, daß. nach Umftänden: dad Uebergewicht der ärmern 
Claſſen nidyt nur: die Intereſſen der Wohlhabendern, fondern aud) bie 
ganze Ordnung des Staates bedrohen. ;faun..: Alsdann wird es räths 
(idy oder erfcheint ale Nethwendigkeit, die Waͤhlbarkeit zu befchräns 
ten: und bei ber Schwierigkeit, Schranken aufzufinden, .die der dee 
unmittelbar entſpraͤchen, das. Heil in einer mittelbaren (wenn 
auch hoͤchſt unzuverlaͤfſigen) Garantie zu füchen,' d. h. durch Feftfegung 
eines Waͤhlbarkeits⸗Cenſus bie Gefahr; ganz ſchlechter Wahlen 
zu entfernen, felbft .ducch Verzichtleiftung ‚auf: bie Möglichkeit der beſ⸗ 
fern unb:allerbeften. Nach unferer Theorie dagegen wuͤrde nach 
Einführung. eines niederen MW ah - Genfas “aller Grand zur Statuis 
rung “eines Tenſus für die Waͤhl barkeit aufhören; bie Gefammts 
heit wuͤrde die. Hoffnung: fi. erhalten 'haben; immer die tüchtigften 
‚und tugerrbhafteften der Bürger mit ihren Vollmachten bekleidet zu 
fehen; und; bie uͤrmere Buͤrgerclaſſe wuͤrde als uͤbeereichen Erfag für das 
ihr entzogene active Wahlrecht jenes. der unbeſchraͤnkten Waͤhlbar⸗ 
Bett: befigen.::.:Bek dar "MWihlbarkeit waͤmlich, ba nur Einzelne ges 
wählt werden, ift- bie Ausfſchließung ganzer Elaſſen nicht nur zwecklos, 
fondern ſchaͤdlich, fobalb:: man ein.:zuverläffiges Wahlcollegium bat. 
Die Unmürdigen ober minder Würdigen aus jeber Glaffe:. und ganz 
vorzüglich husmiee. der Armen werben durch das MWahlcollegium felbft 
ausgefchloffen,- d. h. uͤbergangen werben; aber die in den aͤrmern Glafs 
fen gewiß nicht ‘minder als in ben reichern anzutreffenden einzelnen 
Würbigen und Würdigften gehen dann ber Nation nicht verlor. 
ten für den edelſten Wirkungstreis, und. den Wählern ift erlaubt; nad) 
ber. hoͤhern Cinficht und nad) der reinen Tugend zu fragen, ans 
ftatt nach :dem größern Steuercapital. ft aber das Wahlcolle⸗ 
gium nicht zuverlaͤſſig, alsdann wird auch duch den Waͤhlbarkeits⸗ 
Genfus die Gefahr der ſchlechten Wahlen nicht aufgehoben; derfelbe ift 
alfo unter: jeder Vorausfegung dem Princip nah) verwerflich und 
in Bezug auf die davon erwartete Wirkung ungenügend. Ä 

Menn wir nah dieſen Anfichten das wirklich in Frankreich 
— angeblih dem Mufterflaat für die Repraͤſentativ⸗e Monarchie, oder 
überhaupt für das. vom Beitgeift geforderte conftitutisnelle Syſtem — 
beftehende Wahlgefeg prüfen, fo müffen wir freilih von Unmillen oder 
Mitleid oder von beiden Empfindungen: zugleich ergriffen werden... Wie! 
eine Nation, in deren Gefchichtbüchern ‚die Suliustage von 4789 und 
von 1830 verzeichnet ftehen, eine ber politifhen Muͤndigkeit und felbit 
ber errungenen „Volksſouwverainetaͤt“ ſich rühmende Nation gibt, SO 
Millionen Seelen zählend, das Recht, ihre (angeblichen) Stimmführer 
zu wählen, an 180,000 faſt ausfchliegend durch die Höhe des Steuer 
capitals dazu berufene Wähler hin. und beſchraͤnkt ihre, nad) dem ver⸗ 
nünftigen Recht durchaus freie; Xusmwahl .auf die faft lächerlich kleine 
Zahl von etwa 20,000 Höchftbefteuerten 11 Was ift hietnach die angebliche 


384 Genfus. 


National: Repräfentation ?_ Die: Mepräfentation Taum bes 
funfzigſten Theiles der activen Bürger, mithin ein bloße® Trug⸗ 
bild, ja eine Verhoͤhnung der fo laut ausgerufenen Volksſouve⸗ 
rainetät. Welke Stimmen berrfchen vor in’ der franzöfifhen Des 
putirtenlammer (die Pairs gehören gar nicht in dieſe Betrach⸗ 
tung) und welche Intereffen find vorzugsmeife vertreten in ihre? — 
Die des großen Beſitzthums, des nach Aemtern begierigen Ehr⸗ 
. geizes, der vormehmen Volksverachtung, ber, alles ibeale Ziel, 
Freiheit, Ruhm und Gemeinreohl den nächftliegenden materiellen Guͤ⸗ 
tern . opfernden Selbſtſucht. Auchdie Oppoſitron iſt es nur 
dem kleinſten Theile nach im Sinne des Volkes. Mehr ſpricht aus 
ihr der Geiſt der Faction oder der Coterie, des perfönlichen. Haſſes, 
des Strebens nach Miniſterſtellen, überhaupt. — wie bei ber Majori⸗ 
tät — des ſchnoͤden Egoismus. Die Nation ſieht ſich und ihre 
beitigften: Güter, und. Rechte preiögegeben einem angeblichs das Volk 
vepräfentirenden gefeßgebenben Körper, der aber in ber That und Wahr⸗ 
heit daffelbe weder vorftellt noch vertritt, fondern höchftens bie 
vorherrfchenden Gefinnungen feinee Wähler, d. h. der zweimalhun⸗ 
derttaufend. Reichern in dem aus 30 Millionen: Seelen beſtehenden 
Volke, ausſpricht, eine oligarchiſche Perſonification der die Nation be⸗ 
herrſchenden Geld⸗ Axiſtokratie: — So unheilvoll find die Fruͤchte 
des hohen Cenſusl — 

So groß aber iſt die, zumal in den hoͤhern Regionen; hettſchende 
Vorliebe für den Cenſus, daß man ihn nicht blos für die Ausübung 
ber ftaatsbürgerlihen, fondern aud der gemeindebürgerlis 
hen Rechte als. Bedingung zu fegen ftrebt. Die Idee ber bürgerli« 
hen Gleichheit, alfo ber gleihmäßig erlaubten. Berufung aller 
Glaffen zu Stellen des Vertrauens oder der Ehre oder gar der Gewalt, 
ift den Ariſtokraten unerträglich, und ein weit leichtered, zum Alleinbe⸗ 
fig folher Stellen führendes Mittel, als die Erwerbung höherer per= 
föntiher Tuͤchtigkeit, ift allerdings die.gefeglihe Ausſchlie⸗ 
$ung der Aermern. Das „gemeine Bol“, dee Poͤbel“, wie 
man gern fih ausbrüdt, ſoll überall niedergehalten werben ; 

Ehre und Gewalt find natürliche Vorrechte der hoͤhern Stände, 
und bie praktiſch bequemfte und ficherfte Methode der Unterfcheidung 
ift — mo nicht das erbliche Patriziat nod befteht — die Feſt⸗ 
ſtellung eines hohen Cenſus. 

Indeſſen iſt nicht zu leugnen, daß, wenn ein hoher Cenſus den 
Intereſſen dee Geld-Ariſtokratie entſpricht, dieſelben auch alldort, wo 
gar kein Cenſus beſteht, ihre Rechnung finden. Wo naͤmlich auch 
die armen und abhaͤngigen Buͤrger Stimmrecht beſitzen, da iſt es den 
Reichen leicht, wenigſtens eine große Zahl derſelben zu erkaufen oder 
durch das Gewicht des Anſehens fuͤr ſich zu beſtimmen. Ihre eigene 
Stimme gewinnt alſo an Wirkſamkeit durch die gleichlautenden ihrer 
Clienten. Hiernach moͤchte allerdings in der Gemeinde wie im Staat 
ein Cenſus, doch nur ein niedriger zu empfehlen. fein. Alsdann 





Cenſus. 385 


wird die Mittelclaſſe die Oberhand bei Wahlen erhalten (denn nur 
vom Wahlrecht, nicht von ber ſonſtigen Stimmgebung in ber Ge⸗ 
meindeverſammlung, fuͤr welche durchaus kein Cenſus beſtehen 
darf, iſt hier die Rede), was uͤberall das Wuͤnſchenswerthe iſt, weil 
in dieſen Mittelclaſſen der Regel nach Tuͤchtigkeit und. Zuverlaͤſſigkeit 
- am meiften anzutreffen find,. mährenb In den hoͤhern Claſſen uns all: 
zuoft nur gefleigertee Egoismus und Anmaßung, in ben unterften aber 
Moheit und Unmwiffenheit, dort alfo Untauterkeit,. hier Irrthum und 
Schwäche begegnen, Eigenſchaften hier und:dort, welche wenig tauglich) 
machen zu Drganen eines vernünftigen Gefammtwillens. ' 

Alfo auch Sreiheitsfreunde koͤnnen einen Cenſus (verſteht 
ſich einen niedrigen) für Gemeinde-Wahlen verlangen oder wenige 
fiens zugeben, aus. dhntihen Gründen, wie bie oben angebeuteten, 
welche dafür in der ſtaats buͤrgerlichen Gefellichaft .fprehen. Doc 
walten allerdings einige Unterſchiede ob zwifchen bier und dort, und 
auch zwiſchen den Gemeinden „unter einander felbfl. Ein. Genfus 
in kleinern, zumal laͤndlichen Gemeinden erfcheint als durchaus 
überflüffig, mithin auh ungerecht. In großen, namentlich in 
Handels: und Sabril- Städten, überhaupt in folchen, die eine 
Menge von Proletariern in der eigentlichen Bebeutung des Worts 
beherbergen, möchte er raͤthlich fein, ja es möchte fogar, infofern auch 
bie Verwaltung des Gemeinde⸗Vermoͤgens ober bie Bürgfchaftsleiftung 
für die Nichtigkeit der Grund und Pfandbücer u. f. w. zu den At⸗ 
tributionen ber Gemeinde s Varfteher. gehören, auch für die Wähle 
barkeit. ein mit der. zu übernehmenden Berantmortlichkeit im 
Verhaͤltniß ftehender Cenſus zu beflimmen fein. 

Anderfeits gibt es jedoch auch Betrachtungen, welche gegen jeb.en 
Genfus in der Gemeinde fprechen, ober menigftens benfelben hier weit 
entbehrlicher als im Staate darſtellen. Zür’s Erſte nämlich iſt bei..der 
Wahl von Gemeinde-Borftänden meit weniger Gefahr bes Leichtfinne 
oder der Gleichgültigkeit und auch der Unkunde, als bei der Deputirs 
tenwahl für die allgemeine Volksvertretung. Auch der. Armite Gemeinbes 
bürger erkennt und fühlt die Wichtigkeit einer guten Wahl feiner 
unmittelbaren Obrigkeit, deren Verwaltung ihm tagtaͤglich Gutes oder 
Böfes bringen kann. Jeder mag auch ermeſſen, welche Eigenfchaften 
zu folder nur in Meinem Kreife fi, bewegenden Verwaltung erforbers 
lich find, und die Canbidaten, ba fie alle feine näheren Mitbürger find, 
Eönnen ihm nicht leicht perfönlich. unbekannt : fein. . Bei ben Deputin 
ten= Wahlen verhält ſich diefes. Allee ganz anders. . Was bier zu ev 
waͤgen ift, liegt der befchränkten Faſſungskraft des Tageloͤhners meift 
zu fern und das Gewicht der: einzelnen Stimme iſt babei zu unbe 
deutend, als daß er. bei deren „Abgabe mit gehörigem Ernſt aller mögs 
lichen Kolgen gedenken ſollte. Auch mangelt ihm bier gar oft die 
perfönliche Bekanntſchaft mit dem Gandidaten, ben er alfo bios auf 
Empfehlung Anberer, ober nach dem zubringlihen Verlangen 
Anderer wählte. Sodann iſt in der Gemeinde. ein etwa gefchehenee 

Staats sEeriton. IL 25 


386 Cenſus. 


Mißgriff unendlich weniger ſchaͤdlich als im Staat. Denn — auch 
abgeſehen von dem der Regierung meiſt vorbehaltenen (wiewohl freilich 
ſehr bedenklichen) Recht der Beſtaͤtigung oder Verwerfung wenigſtens 
der Buͤrgermeiſter⸗Wahl + hat die Staatsbehoͤrde, als bie 
Oberaufſicht uͤber das Gemeindeweſen und die Gemeinde⸗Verwaltung 
fuͤhrend, uͤberall das Recht und die Pflicht, einer etwa uͤblen Verwal⸗ 
tung durch eigenes Einſchreiten Einhalt zu thun und das Gemeinwohl 
gegen den Unverſtand ober bie Unredlichkeit ber "gewählten Municipal⸗Vor⸗ 
fieher zu fchirmen. Gegen eine mißglüdte Wahl der Volksvertre⸗ 
ter aber gibt es kein Heilmittel, als etwa bie Auflödfung ber Kam⸗ 
mer, weldye jedoch ficherlich nicht auf- Anrufen einzelner Wahlcollegien 
erfolgen wird, ja welche überhaupt höchft fekten im Intereſſe der Com⸗ 
mittenten, ſondern meift nur it jenem: der wirklich im Amte be 
findlihen Minifter flattfindet. 0 
. Aber wird nicht, wenn auch bie Glaffe ber Vermögenslofen mit 
fiimmt, das Regiment ber Gemeinde in bie Hand ber — meiſtens 
ſehr zahlreichen — Proletarier gelegt und eine ochlokratiſche Ver⸗ 
waltung dadurch hervorgebracht werden ? — Möglich allerdings oder 
gedenkbar ift folhe Folge. - Doch in der Wirklichkeit wird fie 
nur höchst felten und unter ganz ungewöhnlichen Umftänden flattfinben, 
und auch alsdann noch durch die. Xutoeitäider Staats = Behörden 
wieber geheilt werden. In ber Regel aber werben bie Proletarier fich 
nicht auf einen Candidaten ihrer eigenen Claſſe vereinigen. Selbſt 
wenn er wirklih würdig wäre, würde bie Eiferfucht feiner Stans 
desgenoffen, "deren jeder gewöhnlich Sich für gleichwiel werth achtet, eine 
Vereinbarung auf ihn verhindern, und noch weit ficherer, wenn er 
niht perfönlich ganz ausgezeichnet, demnad). feine Wahl nicht 
wirklich mwünfchensiwerth. if, Naturgemaͤß gehen (auch ſchon barum, 
mweil die Vermoͤgensloſen oder minder Wohlhabenden die unbezahl⸗ 
ten Stellen ber Gemeinberäthe gar nicht annehmen koͤnnen) auß 
ben Wahl-Urnen ber Gemeinden meift nur die Namen von Notabis 
Litäten berfelben, insbefondere der Reicheren, herdors und: es 
thut meiſt eher Noch, dem oft mißbrauchten Uebergewicht ber Ari⸗ 
ftotratie eine Hemmung entgegenzufegen; als das Einbrechen ber 
Ochlokratie abzumehren. ._ ' 

In der 1834 im Großhersogthum Baden durch Wereinbarung 
der Regierung mit den Kammern zu Stande gekommenen Gemeinde⸗ 
Drdnung iſt jeder — unbefcholtene — Gemeinbebütger ohne allen 
Genfus als wählberechtigt und wählbar erklaͤt. Die Regierung 
zwar hatte in dem von ihr ausgegangenen Entwurf fuͤr bie geößern 
Städte einen Genfus von 3000 fl., für die Bleinern aber von 2000 
und 1000 fl. vorgefchlagen (nur in Landgemeinden follte keiner 
beftehen) ; aber die Volkskammer verwarf denfelben und die Regie⸗ 
tung gab dem Berlangen biefer Kammer nah. Die hierauf im gans 
zen Lande vorgenommenen Wahlen der Gemeinde: Vorfteher lieferten 
faſt durchaus ein exfreulidyes, d. b. den Gemeinden frommendes, Res 


Genfus. 387 


fultat. Nur in zwei Städten fiel biefelbe nicht nach dem Wunfche 
ber (im Allgemeinen parteilo® gebliebenen, hiee jedoch, vielleicht beftimmt 
durch auswärtigen Einfluß, perhorrefeirend aufgetretenen) Regierung 
aus. Da wurde kurze Zeit nach dem Schluffe des Landtags von 
1833 (welchem man keine Vorlage darüber gemacht hatte) unter bem 
Titel eines „proviforifhen Geſetzes“ (bergleihen bie Werfaffung 
bei dringenden Umfländen der Regierung einfeitig zu geben ers 
laubt) das junge Gemeindegefeg Im Punkte der Wahlberechtigung um: 
geftoßen und ein Genfus von 2000 fl. für die 4 größten Städte, einer 
von 1500 für die Städte über 3000 Seelen, fuͤr die übrigen Städte 
und für die Landgemeinden endlich einer von 800 fl: — überall jeboch 
nur für die Bürgermetfter- und Gemeinderaths-⸗, nicht aber 
für die Ausfhug- Wahlen — vorgefhrieben. Man bezmweifelte, ob der 
Megierung unter den obwaltenden Umftänden die Befugniß zu folcher 
Verordnung (für deren: Dringlichkeit auch nit ein Grund Eonnte 
aufgeftelft werden) zugeftanden werben koͤnne; jedenfalls warb alffeltig ans 
erkannt, daß am nächftfolgenden Landtag das proviforifche Gefeg entwes 
der dert Kammern zur Zuftimmung müffe vorgelegt oder aber zurüds 
genommen werden. Erfteres gefhah nun wirklich und die zweite 
Kammer, an welche die Vorlage gefhah, nahm das Princip bes Gens 
ſus jetzt wirklich an, jedoch nur in der Weife, daß in den Gemeinden 
von mehr als 3000 Seelen, die in bem Drtöfteuerkatafter gar 
nicht ober nur mit dem perfönlichen Verdienſt⸗Capital von 500 fl. Eins 
"getragenen von dem Wahlrecht ausgefchloffen, in allen andern Gemein 
ben aber fämmtliche Bürger ohne Ausnahme wahlberechtigt fein follten, 
Was in dem Vorfchlage ber Regierung Mehreres enthalten war, 
wurde mit entfchiedenem Stimmenmehr verworfen. Es .gefchah die 
ſes am Vorabende bed mit unerllärbarer Eile von der Regierung ans 
geordneten Schluffes bes Landtags, fo daß der Gefegentwurf nicht ein- 
mal mehr an die. erfte Kammer:zur Berathung ‚gelangen Eonnte. Da 
jedody zue Verwerfung eines Geſetzes der Beſchluß auch nur einer 
Kammer genügt, fo ift nach dem ‚oonflitutionellen Mechte Badens Elar, 
Daß nunmehr die ptowtforifhe Verordnung” nom December 
1838 ihre Gültigkeit enefchteden verloren bat (fie wuͤrde fie 
auch ſchon in dem Kalle’ verloren haben, - wenn fie bee Kammer gar 
niht wäre vorgelegt worden) und daß jet bie betreffenden Ge 
ſetzesartikel von- 1831 ‘wieder in Kraft getreten find. Der. Regierung 
jedoch liegt ob, dieſes duch eine eigene Bekanntmachung zu erklaͤ⸗ 
ren, wenn fie nicht lieber (mas. ihr in. Kolge dee Schiußfaffung der 
zvoeiten Kammer jetzt gleichfalls zufteht) das Geſez in der Weife, 
wie dDiefe Kammer es annahm; „proviſoriſch“ verkuͤnden will. 
In dem Augenblick, da diefes geſchrieben wird, iſt noch keines won 
beiden geſchehen, was in der Folge. zu-unangenehmen Etoͤrterungen 
führen fann. (Bol. bie Verhandl. der bad. IL ‚Kammer von 1835, 
8. Protokollheft S. 51 ff. und 5. Bellagenheft ©. 298.f.) - - 
Auch. in den GemeindesDrbnungen der meiften asrigen beutfche 
2 * 


588 Genfus. Centraliſation. 


Staaten, namentlih in Preußen, Batern, Großh. Heffen u. a., 
ift ein theild höherer, theild nieberer Cenſus, d. h. ein Vermoͤgens⸗ 
maß entweder blos fuͤr's active oder blos für’s paſſive Wahlrecht ober 
fie beide zugleich feftgefeht.. Das würtembergifche Verwaltungs 
ebict für die Gemeinden (von 1821) jedoch enthält eine ſolche Beſtim⸗ 
mung nit. Das franzoͤſiſche Gemeinbegefes (von 1831) da⸗ 
gegen, während es noch immer bie Ernennung ber Maires und Ab» 
juncten ber Regierung überläßt, beruft dabei erft noch bios bie 
Höchftbefteuerten jeder Gemeinde (und zwar nur ben zehnten 
Theil von 1000 Seelen, fodbann den zwanjigften von 1000 bis 
6000 und den fünfundzwanzigften Theil von 5000 bis 15000, von noch 
größerer Bevoͤlkerung aber nur ben breiundbreißigften Theil) neben 
den fogenannten Capacitäten und ben Mitgliedern der Staates 
und Gemeinde-Behörben zum Wahlrecht. So tief begründet und weit 
- gehend ift ih dem angeblid) der Volksſouverainetaͤt huldigenden 
Frankre ich das Princip dee Geldariſtokratie und der Nies 
derhaltung ber Maffen. 

Mir befchränkten uns hier auf biefe Andeutungen, einige weitere 
Betrachtungen und Beifpiele dem Artikel Gemeinde: Orbnung 
vorbehaltend. Motte. ; 

Gentgerichte, f. deutſche Gerihtsverfaffung. 

Gentralifation. Wörtlich heißt Centralifation in politifcher 
Hinfiht die Einrichtung, daß die - politifchen Thaͤtigkeiten unb ihr 
Geſetz, ihre Leitung mie ihr Ziel möglichft von einem gemeinfchaft- 
hen Centrum ausgehen und darauf zurüdführen. Man hört oft 
im Allgemeinen Zabel und Lob der Gentralifation, bie gleidy einfeis 
tig und ungegründet find, obwohl es leicht einzufehen ift, daß 
Fräünkreich noch immer an einem UWebermaß, die Schweiz an 
einem Mangel der Gentralifation leidet. Das Streben nad Gentras 
liſation und das Streben nach ihrem Gegenfag oder nad) Selbſtſtaͤn⸗ 
digkeit, Selbſtzweck, Selbfigefeg und freie Seibftchätigkeit ber einzel 
nen Geſellſchafts⸗Theile und Glieder, deu Provinzen, der Kirchfpiele 
oder Bezirke, dee Gemeinden, bee Bamilien, ja ber einzelnen Bürger 
einer Nation find beide nothwendig. Beide in ihrer einfeitigen Rich⸗ 
tung aber und im ihrer Uebertreibung find gleich verberblih. Har⸗ 
monie in der Mannichfaltigkeit, Kreiheit und individualität in ber 
Einheit, das ift ein Grundgeſetz bee Schöpfung, des Lebens, bes 
Staats. Es kommt darauf an, beide in möglichfter Vollkommenheit 
and in inniger Verbindung, je nad den verſchiedenen Verhaͤltniſſen 
und Zeiten gefhidt mit einander zu vereinigen. Die. Uebertreibung 
und Einfeltigkeit der Gentralifation, etwa einer Napoleonifhen, führt - 
im Staatsieben zum Abfolutismus und Defpotismus, zuletzt zum 
Verkuͤmmern und Abfterben ber höheren Lebenskraft ber einzelnen 
Glieder, endlich zum Untergang und Tod aud bes Ganzen. Eins 
feitigteit und verkehrte Richtung in der Freiheit und Selbſtſtaͤndigkeit 
ber einzelnen Theile führt zur Iſolirung und Kraftlofigkeit, zum Wis 





Gentralifation. Centrum. 389. 


derſtreit, zur Anarchie und Auflöfung, zum Untergange auch der 
einzelnen Glieder. Kurz beide verlegen das hoͤchſte Lebensgeſez 
des Staats (f. oben Bd. I, ©. 9 ff.). | 
Dem einfeitigen Gentralifiten in Beziehung auf bie Verfaſſung 
und Gefeggebung felbft fegte vorzuͤglich Rouſſeau, ftellte aber auch 
früher und fpäter die Sefchichte das Köderativfpyftem ber Nas 
tionen, welches in Amerita, in der Schweiz, in Deutfchland befteht, 
entgegen (f. Bund). Wo zu ihm die Verhättniffe ſich nicht eignen 
oder wo feine großen Gefahren, feine großen Vortheile überwiegen, 
da muß doc mwenigftens "in größeren Staaten eine moͤglichſt freie, 
kraͤftige provinzialftändifhe ober Landraths⸗ oder Departemental = Vers 
faffung die individuellen Verhältniffe, Beduͤrfniſſe und die befonberen’ 
patriotifchen Beftrebungen und den Wetteifer der Provinzbewohner bes- 
fhügen und erweden unb gegen bie Monotonie und Defpotie einer 
allgemeinen Abhängigkeit vom Hof und von ber Hauptſtadt fichern.: 
Nicht minder muß freje Gemeindeverfaffung, freied Vereinigungsrecht, 
feibftftänbige, kräftige Familien-Verfaſſung und individuelle perfönliche 
Freiheit überall Eräftiges und freies und reiches Individuelles Leben 
fhügen und wecken. Wohl aber nmıß für die wefentlihe Harmonie 
und Kraft des Ganzen, insbefondere für wahre Eolliflons s und Noth⸗ 
Falle und in den Äußeren Gefahren aud ber Gentralbehörbe die hins 
länglihe Kraft bleiben. Ihr Eingreifen wird übrigens um fo weni⸗ 
ger drüdend, je mehr daſſelbe mitbeftimmt wird durch frei gewählten 
Mepräfentanten der einzelnen Theile. Diefe felbft aber werben um fo’ 
mehr wahre und gute Vertreter auch bes gefammten Staats, je tuͤch⸗ 
tiger und wuͤrdiger die befonderen Verhaͤltniſſe find. - 
C. Th. Welder. 
Gentral > Unterfuhungs » Gommiffton, f. Karls: 
baber Befchlüffe | i 
" Eentrals®ßerwaltung, f. von Stein. , 
Centrum der Deputirtens Kammern, insbeſondere 
ber franzoͤſiſchen. Bekanntlich theilen ſich gewoͤhnlich die Mit⸗ 
“ glieder ber vepräfentativen Staͤndeverſammlungen in verfchiedene Pars 
teien, in England die Minifterials und die OppofitionssPars: 
tei genannt. Sie nehmen auch gewöhnlid in der Kammer neben⸗ 
einander Plag. In Frankreich hat ſich diefe Abtheilung etwas abwei⸗ 
hend geftaltet. Unter der Reftauration fegten ſich die fogenannten- 
Ropaliften zur rechten Seite, die Mitglieder ber Oppofition zue 
"linken. Bald aber zeigte es fi, daß bie Royaliſten zum Theil 
toyaliftifcher waren, als ber König felbft, oder auch gegen feinen und 
der Minifter Willen die Außerften Reactionsmaßregeln durchſetzen woll⸗ 
tn. Die Minifter Eonnten alfo nue an den gemäßigteren Theil 
ber Royaliften ſich halten, näherten ſich aber nun von ſelbſt ſchon 
durch ihren Kampf gegen jene übertriebenen Royaliſten den gemäßig> 
teren und mehr ober minder an die Regierung fi anſchlleßenden 
Mitglieder der Linken Seite. So bildete ſich zwiſchen den Mitglie⸗ 


⁊ 


300 Centrum. 


bern ber außerſten rechten Seite und denen der aͤußerſten 
Linken, melde jest faft in flehender Oppofition gegen bie Minifter 
ftanden, eine mittlere, der Regel nah miniſterielle Partei, 
welche nun auch die Site in ber Mitte einnahm und base Centrum 
genannt wurde. Dabei faßen die urfprünglich ber rechten Seite ans 
gehörigen Mitglieder bes. Gentrums oder diejenigen, welche doch mehr 
zu ihnen, als zu ben Grundfägen bee linken Seite fi binneigten, 
auf der rechten Seite des Gentrums und bie urfprünglich der linken 
Seite angehörigen ober doch ſich mehr zu Ihr hinnelgenden- Miniſteriel⸗ 
len auf der linten Seite. Das Gentrum beftand alfo aus einem 
rechten und einem linken Centrum. Und felbft bie Oppoſi⸗ 
tionsglieber der rechten und ber linken Seite theilten fi) zum Theil 
nod in die aͤußerſte rechte ober linke Seite und in die rechte ober 
linke Seite ſchlechtweg. Sept fipen natürlih in der Oppoſition 
bee rechten Seite die Garliftifchen Deputirten. An fi enthält wohl 
. die franzöfifche Abtheilung eine fehr natürliche Schattirung ber unver⸗ 
meidlichen verfchiedenen Anfichtöweifen und Richtungen ſolcher Depus 
tirtenyerfammlungen, welche ſich auch ohne Namen und befonbere Sige 
bilden und finden würden. Auch. weicht die Sache an fih im Wes 
fentlihen von ber englifhen Einrihtung nicht ab. Auch bier find 
Ultratories neben den gemäßigteren Tories und Rabdicale nes 
ben den Whigs, und es ift wohl nur die Unmeisheit ber Tories 
und ber noch fortdauernde Umgeſtaltungskampf Schuld daran, daß noch 
nicht eine Vereinigung ber gemäßigten Toried und Whigs zu einem 
nainifteriellen Centrum die Ultratories und bie Radicalen zu einer 
echten und linken Oppofitionspartei verwandelt bat. Außerdem gab 
es in England auch fehon von langer Zeit her eine Partei, die ein 
echt eigentliche® Gentrum bildet und nur in ber legteren Zeit mehr 
zu verfchwinden fcheint, nämlich die fogenannten Neutralen. Dies 
fes find Diejenigen Parlamentsglieder, welche am wenigſten an bie 
Darteianfichten der. beiden Hauptpgrteien, der Xories und Whigs, 
ſich anfchliegen und vielmehr regelmäßig, foweit die Eriftenz des Mis 
nifteriums auf dem Spiele. fteht, mis .biefem flimmen, und nur, wenn 
fie dadurch ganz ihre Ueberzeugung zu verlegen glauben, es verlaflen, 
aledann aber auch bisher ſtets feinen Sturz herbeiführten. 

Manche nun haben diefe Parteinbtheilungen gänzlich verworfen ; 
dieſes läuft aber gegen die Natur dee Dinge und ift daher. vergeblich. 
Auch hat die Abtheilung fehr gute Seiten. Man hat zugleich einen 
großen Werth darauf gelegt, daß die Deputirten nicht nach ſolchen 
Abtheilungen, ja überhaupt nicht nach ihrer freien Wahl ihre Sitze eins 
nehmen koͤnnen, fonbern fie durch das Loos erhalten. Aber wo bie 
Dinge felbft nicht aufgehoben werben können oder follen, ba iſt es eitel, ja 
unnöthig, flörend und felbft fehon, weil es die Wahrheit weniger beut- 
lich macht, nachtheilig, ihre dußeren Zeichen zu unterdräden. 

Die Natur ber Dinge aber führt es mit fich, daß bie Menfchen 


zum Xheil mehr auf diefe, zum Theil mehr auf bie andere Seite 


5 


II 
x 


Centrum. 391 


ſich neigen, und daß alfo bem gerabe jekt an der Spige ftehenben 
Minifterium gegenüber in der Kammer ber Volksvertreter theild Solche 
fih finden, die nad ihrer Anfichtemweife und nad) ihren Neigungen 
mehr und. mit einer gewifjen Vorneigung dem einen Hauptpol bes 
freien vernünftigen Staats, nämlich der Kreiheit und Bewegung, und 
dem Sortfchritt fi) zuneigen, und alfo vorzugsmeife deren Intereſſen 
vertseten, theild aber Solche, die ebenfo, wenn freilich auch nicht aus⸗ 
ſchließlich, dody mehr dem andern Hauptpole, nämlid ber Ordnung, 
der Ruhe und Feftigfeit und ihren Intereſſen, geneigt find. Je nach⸗ 
bem nun die Richtung bes Minifteriums ift, wird es, abgefehen von 
den Gleihgältigen, Abhängigen, Bunftfuchenden, Erkauften, die ihm 
dienftbar find, die eine Partei zur Minifterialpartei, bie andere zur 
Oppofitionspartei haben. Es ift nun gerade ber Hauptvortheil biefes 
Segenfages und felbft der ganzen parlammtarifhen Verhandlungen, 
alfo auch das Verdienſt der Oppoſition, daß buch file, buch ihre Wir 
berfprüche und Angriffe und durch die Vertheidigung von ber andern 
Seite, alle beiden Hauptrihtungen des Staatslebens und alle verſchie⸗ 
benen Geſichtspunkte der Maßregeln erwogen und vertreten werden, 
daß ihre Mängel zu Tage kommen und zulegt das reif und gut Er» 
wogene fiege. Es koͤnnen ferner die Minifter und die Mitglieder 
der Kammer nur bann mit einiger Feſtigkeit und Sicherheit ihre Bes 
firebungen für gute Hauptmaßregein durchführen und auf ihren Er 
folg in den parlamenfarifhen Verhandlungen und Kämpfen rechnen, 
wenn fie in bdiefen Kämpfen, nad) Veritändigung mit ihren Steunden, 
mit benfelben zufammenmirten und zufammenhalten und auf einander 
rechnen koͤnnen. Cs ift endlich die ficherfte Garantie für das Lund 
und die Mähler, daß die von ihnen gemählten Vertreter auch dem 
Sinne ber Wahl treu bleiben und den Klippen der gefährlichen Be⸗ 
ſtechungen ‚aller Art in ihrem fchweren Berufe entgehen, daß es, 
fo wie in England, eine politifhe Ehrenſache wird, den ausgefpros 
denen Dauptgrundfägen und ber ergriffenen Sauptpartei in allem 
MWefentlihen treu und folgerichtig anzuhängen, und bei einer wirklichen 
Hauptveränderung der Weberzeugung wenigſtens bie Deputirtenftelle oder 
die Dinifterftelle in die Hände der Mandanten zurüdzugeben, bie 
nur in dem Glauben an die Treue in den alten Grundſaͤtzen überges 
ben mwurben. 

Durch alles dieſes ergiebt ſich mit dee Natürlichkeit und Unver⸗ 
meiblichkeit jener Abtheilungen auch ihre Heilſamkeit. Aber freilich 
kann dabei verkehrte Webertreibung und Misbraudy mit unterlaufen. 
Zunädft ift es nothmwendig, daß für Alle das hoͤchſte Centrum und 
auch den ſteten Vereinigungspuntt das Baterland, feine Verfaſſung 
und die verfaffungsmäßige Regierung, die Vaterlands⸗ und Freiheits⸗ 
Liebe, die Ehre und Treue bilde. Sodann müffen, fo wie namentlich) 
auch in England, eine ganze große Reihe von Maßregeln durchaus 
nicht als Entfcheidungsfragen behandelt werden, fo daß bei ihnen 
alle Mitglieder völlig frei ihrer augenblidtichen individuellen Meinung 


392. Centrum. Geremoniel. 


forgen koͤnnen, fo wie neulich in Beziehung auf bie Malzftener In . 
England, Peel und andere Tories mit den Miniftern ſtimmten. Nie 
darf ferner in Sachen des Rechts und insbefondere auch der morall⸗ 
fhen Gerechtigkeit gegen Perfonen unb gegen unmürbige Angriffe. 
Parteiruͤckſicht und Parteileidenſchaft des Mannes Urtheil gegen das 
Recht beftimmen. Es ift erhebend, zu fehen, wie auch in biefer Be» 
ziehung die Briten allen andern Ständeverfammlungen als Muſter 
voranftehen, mit welcher moralifchen Würde fie willig auch dem 
Gegner Gerechtigkeit und Achtung bemeifen. Alles aber kommt übers 
haupt darauf an, daß die höheren Grunbfäge, bie Ehre und das Wohl bes 
Vaterlandes und nicht Selbſtſucht, Kieinlichleit und perſoͤnliche Leidens 
{haft das Ruder führen. Für eine ftändifhe Berathung, die faft nur 
den Charakter einer Familienverhandlung hat, koͤnnen nathrlid jene 
obigen Abtheilungen nicht paffen. Inwiefern fie auf deutfche Ständer 
verfammlungen anwendbar find, muß in ben Artikeln über biefe 
legteren nachgewieſen merben. C. Ih. Welder. 

Ceremoniel; Etikette Es iſt eine natürliche Eigenſchaft 
und auch faft allgemein vorkommende Gewohnheit der Menfchen, daß 
fie Handlungen oder Verhandlungen, welche für fie befondere wichtig 
find, oder welchen fie eine folche Wichtigkeit oder höhere Bedeutſamkeit 
beizulegen wünfchen, mit befonderen, auf ſolchen Zweck berechneten, 
Sormen oder Feierlichkeiten verbinden. Gleichartige Gemüthsrichtung 
oder auch Nahahmungstrieb oder endlich Autorität vertvandeln. die ur⸗ 
fprünglidy freien oder willkürlich angewandten Foͤrmlichkeiten allmaͤlig 
in regelmäßiges Herlommen und bleibende Gewohnheiten oder endlich 
in wirklich verbindliche Worfchriften, zw deren Beobachtung naͤmlich 
auch die perfönlich dazu Ungeneigten theild die berrfchende Sitte nöthigt, 
theils felbft ein foͤrmliches — durch Geſetz oder Verordnung ausge⸗ 
ſprochenes — Gebot der Machthaber, die dabei ein politiſches oder 
kirchliches Intereſſe im Auge haben, zwingt, oder auch ein — aus⸗ 
druͤcklich oder ſtillſchweigend geſchloſſenes — Uebereinkommen vers 
tragsrechtlich verpflichtt. Das Ceremoniel, d. h. der. Inbegriff 
der bei gewiſſen Gelegenheiten (Handlungen oder Verhandlungen) in 
der Regel beobachteten oder zu beobachtenden, entweder durch bloßes 
Herkommen oder Sitte, oder aber durch Geſetz, Verordnung oder 
Vertrag beſtimmten Foͤrmlichkeiten und Gebraͤuche, mag nach den 
Hauptſphaͤren ſeiner Herrſchaft in das privatgeſellſchaftliche, 
das kirchliche und das politiſche unterſchieden werden. Wir 
haben hier blos von dem letzten zu ſprechen, und zwar nur in en⸗ 
gerer Bedeutung, mithin von dem entfernteren Zuſammenhang, worin 
allerdings oft auch die beiden erſten mit politiſchen Verhaͤltniſſen oder 
Intereſſen ſtehen, wegblickend. Das insbeſondere an Hoͤfen vorge⸗ 
ſchriebene oder durch Herkommen feſtgeſetzte Ceremoniel wird auch Eti⸗ 
fette (Etiquette) geheißen, welcher Name jedoch in weiterer Bedeu⸗ 
tung aud zur Bezeihnung der überhaupt in der vornehmern 
Geſellſchaft gebräuchlichen oder als verbindliche Vorſchrift geachtetem 


Geremoniel, 393 


Formen dient. Die Etikette geht uns bier nur Infofen an, ale 
fie in dem politifhen Ceremoniel mit einbegriffen tft. 

Das politifhe Geremoniel iſt entweder ein ſtaatsrecht⸗ 
liches ober ein voͤlkerrechtliches, d. h. es bezieht ſich oder fin⸗ 
det ſeine Anwendung entweder auf einheimiſche oder auf aus⸗ 
waͤrtige Verhaͤltniſſe, Verhandlungen und Geſchaͤfte. Das ſtaats⸗ 
recht liche wird vorzugsweiſe durch Geſetz oder Verordnung 
regullrt, das voͤlkerrechtliche durch theils ausdruͤckliche, theils ſtill⸗ 
ſchweigende Convention, zu deren Vollzug jedoch abermal Verord⸗ 
nungen ‚oder Vorſchriften von Seite der Autorität an bie Untergebes 
nen ergehen mögen. 


Das ſtaatsrechtliche, Überhaupt das Innere Staatsceremo⸗ 


niet iſt meift berechnet entiweber auf Hervorbringung eines geeigneten 
Eindruds gewiffer wichtiger Staates oder Regierungse- Handlungen, 
oder auf Darftellung der Würde und Erhabenheit der Regierung 


feibft, ober der Perfon und dee Familie ber Regierenden ge⸗ 
genüber dem Volle. Es ift natürlich verfchieden, theild nach dem - 


Gegenftand oder Inhalt ſolcher Handlungen, theil® nach ber Größe 
oder Macht des Staates, theils nach deſſen Regierungsform und Ver⸗ 
faffung. Ein repubfilanifches Zeit, oder ein der Erinnerung an ein 
glorreiched ober heilbringendes National» Ereigniß, 3. B. ber Verkuͤn⸗ 
dung einer Gonftitution, geweihtes, wird natürlich mit anderen Geres 
monien begangen werden, als ein höchfter oder allerhoͤchſter Geburts⸗ 
ober Namenstag, eine lanbftändifhe Eröffnungsfeter anders als ein 
gewoͤhnliches Hof⸗Feſt. Ein eingefhränktter und en Wahl⸗ 
König wird mit anderen Formen von dem Throne Belis nehmen 
als ein abfoluter und Erd: Monarch, und anders befchaffen wird 
bei allen Anlaͤſſen das Geremoniel In demokratiſch als in ariftos 
kratiſ, ch verfaßten Staaten ſein. Auch bei Gleichheit der Verfaſſung 
mag, je nach dem Geiſt der Regierung ober dem Charakter eines 
wirklich regierenden Herrn, ein verfchiebenes Geremoniel vorgefchrieben 
werden, und auch der allgemeine Geift einer Zeit, auch Culturs und 
Reichthums-Verhaͤltniſſe der verfchiedenen Völker innen darauf von 
beftimmendem Einfluß fein. 

Dei dee Beurtheilung bed hier oder dort vorkommenden Ceremo⸗ 
niels iſt zwar der naͤchſtliegende Punkt jener der Zweckmaͤßigkeit, 
d. 5. der aut ober übel gemachten Berechnung auf den babei fid) 
vorgefegten Zweck. Aber eine höhere und wichtigere Betrachtung bes 
zieht fi) auf den Zwed felbft, der aus irgend einem Ceremoniel 
erkennbar hervorgeht, und auf bie natürliche ober nothiwendige Wir⸗ 
tung des legten. Mur von diefem Standpunkt aus kann die Lehre 
vom Geremoniel unfer Sintereffe in Anfpruch nehmen; benn Geremos 
nien vorzufchlagen oder Geremonienmeifter oder Hofmarfchälfe zu bilden, 
liegt nicht in der Aufgabe des Staates Lerikons. 

Ein Geremoniel, welches beflimmt und — je nach der Bildungs» 
ftufe des Volles und anderen Umftänden — geeignet iſt, die Gemuͤ⸗ 


394 Eeremoniel. 


ther mit dem Gefühle der Ehrwuͤrdigkeit des Geſetzes, der Regie⸗ 
rung und der regierenden Perſonen zu durchdringen, iſt alles Beifalles 
und Lobes werth. Dasjenige aber, welches die Idee einer herriſchen 
oder gar uͤberirdiſſcchen Gewalt ber Haͤupter dem Volke verſinnlichen, 
und diefes zur ſklaviſchen oder ‘gar abgöttifhen Verehrung ober Anbes 
tung vor dem Gebieter niederwerfen fol, ift die traurige Schauftellung 
ber Defpotie, verfchlechtert den Volkscharakter und beleidigt die Würde 
bes Menſchen und Bürges. Im: Drtent find folche Geremmien 
ſchon feit ben dlteften Zeiten in Uebung .gewefen, verfchieden zwar 
nad Graben ber, Roheit oder Werfeinerung, doch uͤbereinſtimmend in 
ber allgemeinen Rihtung und Wirkung. Vom Drient ging folches 
Defpotens Geremoniel in's römifche Kaiferreic über, und verbrängte 
allda die aus ben. vepublilanifchen Zeiten flammenbe edle Einfachheit 
ber Gebräuhe. Diocletian, Conftantin M. und Zuftinian 
M. zumal waren bie Begründer und ſelbſt gefeglihen Ordner eines 
die faft göttliche Majeftät des Kaifers verkündenden und ben legten 
Freiheitsgedanten in dem Gemüth ‚der fi, dem Throne nähernden Buͤr⸗ 
ger tilgenden Gesemonield. Die geheiligte Perfon des Monarchen, 
welchen — zur eindringlicheren Bezeihnung feiner Echabenheit — eine 
vielgliederige Abftufung von Hoheiten und Würden vom Volke trennte, 
mar diefem hiernach faft unzugänglih. Kine lange Reihenfolge von 
Gemaͤchern und Wachen und höheren oder niederen Hofbeamten lag 
zwifchen dem Kaifer und jedem Gehörfuchenden. Und gelangte der 
Letzte endlich ins Innerſte, fo mußte er durch Niederwerfung auf bie 
Erde die dem Hocerhabenen ſchuldige Anbetung verrichten. Der Glanz 
folder Majeſtaͤt theilte ſich auch den bie geheiligte Perfon umgebenden 
Dienern nad) Maßgabe der Nähe ober Unmuüttelbarkeit der perfönlichen 
Dienftleiftung mit; und der Präfeet der Eaiferlihen Schlafkam⸗ 
mer, ja felbft der zweite Diener berfelben ging an Rang und Glanz 
dem höchften Beamten bes Reiches vor. 

Auch im Mittelalter finden wir an ben Höfen ber mächtigeren 
Sürften ein mehr oder minder glänzendes — durch Lehnweſen und 
Chevalerie in Formen eigenthuͤmlich beflimmtes — Geremoniel. Die 
dbeutfhen Kaifer zumal, und indbefondere von der Zeit an,- ale 
ihre wahre Hoheit fan, Tuchten durch feierliches- Gepränge die Idee 
ber von ihnen lange ausfchließend in Anfprud genommenen Majeftät 
und ihrer alle Königsthrone Überrngenden Herrlichkeit einzufchärfen. 
Selbft Srundgefege — mie Karls IV, goldene Bulle — re 
gelten ſolches Gepraͤnge. Vieles von dem mittelalterlihen Ceremoniel 
bat ſich bis auf die neueften Zeiten erhalten; doch find feit Entftehung 
der großen und nah Uneingefhränttheit ftrebenden Monar: 
hien und dem Emporlommen allgemeiner Verfeinerung, weſent⸗ 
liche Veränderungen und Zufäge in’s Dafein getreten, bezeichnend für 
den Geift und wirkſam zur vollffändigeren Entwidlung dee monar⸗ 
hifhen Principe. Epoche darin machen zumal Kaifer Kart V. 
in Deutfchland und König Ludwig XIV. in Frankreich, nad beren 


Geremoniel, 395 


Höfen fi) mehr oder weniger faft alle anderen bildeten. Karl V. hatte 
das fleife Wefen der fpanifhen Grandezza an dem feinigen eins 
geführt; und es blieb diefer Charakter der vorherrfchende in Oeſterreich 
bis auf Joſeph II. (welcher — fo wie auch ber Philofopb von 
Sansſouci — die Größe mehr in edler Einfachheit als in ſchwerfaͤlli⸗ 
gem Hoheitögepränge fand), und in Spanien bis auf den heutis 
gen Tag; hier jedoch, feit der Thronbefteigung des Bourbone, buch) 
einige Nahahmung der franzöfifhen Sitte in etwas heiterer ges 
macht. Ludwigs XIV. Hofhaltung verkündete durch ihre Formen 
und Gebräuche den Stolz des Monarchen, welcher nicht anftand, zu 
fagen: „letat o’est moi!‘ und murde das mit Eifer ftudirte und 
zu einer Art von Wiffenfchaft ausgebildete Mufter, wornach feither 
faft alle anderen fi richteten. Im Mutterlande felbft jedoch wurde 
die Strenge feines Geremonield durch den franzoͤſiſchen Frohſinn gemils 
bert und bildete ſich neben dem aͤngſtlichen Refibenz ein leichteres 
Campagne=Geremoniel aus. Auch erſteres hinderte jedoch die Frivo⸗ 
litaͤt und Verdorbenheit der Sitte nicht; ſein volles Schaugepraͤnge 
ward mehr und mehr den feierlichen Gelegenheiten, als Audienzen, 
beſonderen Hof⸗ und Staats⸗-Feſten, oder Gala⸗Tagen u. f. w., vor⸗ 
behalten; im engern Hofzirkel machte man ſich's bequemer. 

Die franzoͤſiſche Revolution bedrohte das alt⸗ monarchiſche 
Geremoniel mit dem Verluft feiner Herrfchaft zur Verzweiflung der Höfs 
linge, weiche dafjelbe für dad Wefen der Majeftät hielten und als die 
Bedingung ihrer eigenen Wichtigkeit achteten. Darum riefen fie ihren 
koͤniglichen Gebieter Ludwig XVI., ald der conftitwtionelle Minifter 
Roland zum eriten Male in Bands Schuhen fi der Perfon bes 
Monarchen zu nahen wagte, Eagend zu: „Ad Sirel! Alles ift verlor 
ren!” — Aber das monarchiſche Geremoniel, nachdem es eine kurze 
Zeit den republifanifhen Kormen gewichen war kehrte fiegreih an 
Napoleons Enifedlihen Hof zurüd, ja wurde in mehreren Dingen 
noch prachtvoller als zuvor; und feit ber Reſtauration — die ers 
ften Wochen der Regierung des „Bürgerkönigs“ ausgenons 
men — ift feine ungetrübte Herefchaft, wie es fcheint, für die längfte 
Dauer befeſtigt. Müßige Würbeträger aller Art, Hof: und Oberhof 
Chargen, Kammerherren und Pagen und melde Namen fonft die 
glänzende Hofdienerfchaft führt, haben die heiterfte Ausficht vor fich. 

Anfofern das Geremoniel Bezug auf die Verhältniffe zum Aus 
Lande hat, nennt man e8 das voͤlkerrechtliche. Daffelbe, da es 
nicht von jeweils freier Feſtſetzung oder Regulirung durch die einheis 
mifche Stantsgewalt abhängt, fondern großentheild auf förmlichen Con⸗ 
ventionen oder wenigſtens flillfchweigenden Webereintommnifien ober 
Anerkenntniffen, fonah auf wechfelfeitigen Verbindlidhfeiten 
und Anſpruͤchen ruht, iſt allerdings praktiſch wichtiger als das blos 
einheimifche. Die philofophifche Geringfhägung, welche ein Staat 
dagegen äußern würde, könnte nur als Versichtleiftung auf die eigenen 
Anfprüche, nicht aber als Entbindung von der Verbindlichkeit gegen 


396 Ä Geremoniel. 


Andere wirkſam fein; und allzugroße Nachgiebigkeit gegen hochfahrende 
Anfprüce oder Begegnungen Anderer Bann wirklichen Nachtheil brins 
gen. Dagegen ift das allzu aͤngſtliche oder ſtrenge Feſthalten an For⸗ 
men, die auf Anfprüce des Ranges hindeuten, mit bem Selbftges 
fühle der wahren Macht kaum vereinbarlih, und Nachgiebigkeit in fol 
hen Dingen kann allerdings mit Würde, zumal von Seite eines Stars 
gen, ftattfinden. So vergaben ſich die triumphirende franzöfifche Republik 
und nachmals ihr weltgebietender kaiſerlicher Beherrſcher durchaus nichts, 
als fie in den Friedensfchlüffen mit dem tief gebeugten Oeſterreich in 
die Beibehaltung ber alten Rangordnung zwifhen diefem und Frank⸗ 
reich einwilligten, und fo hätte Kaifer Leopold J., als nach ber Bes 
freiung Wiens durch den Heldenarm Johann Sobdiesty’s bie Frage 
entftand, wie ee — unbefchabet feiner Würde als Kaifer und als 
Erbmonarhd — den Wahıktönig von Polen empfangen Eönne 
oder folle, fehr wohl daran gethan, und die echte Würbe entfaltet, 
wenn er ben hochherzigen Rath bes Herzogs Karl von Lothringen: 
„mit offenem Acm ift er zu empfangen, ba er bas Reich gerettet”, 
befolgt hätte. 

Die meitldufige und in vielen Dingen mehr nur ber Armſeligkeit 
als der wahren Hoheit dienende Lehre vom völkerrechtlichen Geremos 
niel gedenken wir jedoch bier nicht abzuhandeln. Wir verweifen bie 
nad) umftändlicher Kenntniß verlangenden Lefer auf bie vielen eigens 
Darüber gefchriebenen Bücher, als, ſchon aus der Altern Zeit, auf Leti 
ceremoniale historioo- politiou, Amsterd. 1685. J. C. Lunig, thea- 
trum ceremoniale historico -politicam, oder hiftorifch=politifher Schaus 
plag, Leipz. 1719. 1720. Rousset, ceremonial diplomatique des 
cours de I’Kurope, Amsterd, et la Haye 1739., fobann aus ber neues 
ven auf die meiften Hand» und Lehrbücher des Voͤlkerrechts. Einige 
befondere Partien ber hier befprochenen Lehre werben wir übrigens, ih⸗ 
rer näheren Verbindung mit verfchiedenen Haupttheilem oder Materien 
der auswärtigen Politik willen, unter den denfelben eigene zu toibmenben 
Artikeln vortragen. (S. insbefondere bie Artikel: Courtoifie, Dis 
plomatie, Sefandtfhaftsreht, Rang und XZitel, Sees 
recht u.a.) Hier blos noch eine allgemeine, den Principien bes eins 
heimifchen nicht minder als jene des auswärtigen Ceremoniels angehd« 
rige Bemerkung. 

Eine faft in allen civilifieten Staaten beftehende Uebung hat in 
Bezug auf fremde — ein anderes Land etwa bereifenbe oder zum Be⸗ 
ſuch dahin kommende — Souveraine und deren Samtlienglies 
der ein zum Ausdrud ganz befonderer Hochachtung beftimmtes Geremo- 
niel zu einer, wenn auch nicht ſtreng verbindlichen, doch für Anſtands⸗, 
Ehren» ober auch Friedens » und Freundfchaftspfliht geltenden Regel 
erhoben. Das blos natürliche oder reine Vernunftrecht weiß inbeflen 
von einer folhen Pflicht nichts, fondern beſchraͤnkt fich darauf, bie Ans 
verleslichEeit der fremden Fuͤrſten und Prinzen einzufchärfen, zuvoͤr⸗ 
derſt als juriſtiſcher Perfonen überhaupt, und dann, wenn fie in 


Geremontel. 397 


der erfiärten oder erfcheinenden Eigenfchaft ale Souveraine, mithin als 
wirklihe Repräfentanten ihrer Staaten ober Völker, mit andern 
Staaten in Berührung treten, au ald ſolcher. Weiter räth die Pos 
litik, folhe Souveraine oder deren Angehörige, im Intereſſe des Frie⸗ 
dens oder der mwechfelfeitig wuͤnſchenswerthen Befreundbung, mit ale. - 
ler auf diefe Zwecke berechneten Rüdficht zu behandeln. Die beftehende 
Uebung aber geht noch weiter und ruht noch auf einem andern Grunde, 
naͤmlich auf dem Intereſſe des — ſchon vorlängft den Herrfchern ber 
Voͤlker wenigftend in dunkler Ahnung vorgefchwebten, in der neuen und 
neueften -Zeit aber beutlicher begriffenen und kunſtvoller entwidelten 
und eingefchärften — „monarhifhen Principe”. Daffelbe fuchte- 
und fand naͤmlich eine willlommene Stärkung in der allmälig — zumal 
auch durch bie vielfeitigen Familienverbindungen ber Regentenhäufer uns 
ter ſich begünftigten — Idee einer über die ganze europaͤiſche oder civis 
liſirte Welt ſich ausdehnenden Gemeinſchaftlichkeit des Regie— 
rungsrechtes ober der Regierungsfaͤhigkeit unter ben einmal 
beitehenden regierenden Häufern gegenüber ber gleichfalls gemeinfchaft« 
lihen Unterwürfigleits- oder Untertbanen-Pfliht ber 
Voͤlker. Der fremde Souverain alfo, felbft wenn er, zeitlid in Feind⸗ 
fchaft oder gar im Krieg mit einem andern ftand, blieb-gleihwohl, ats 
Souverain, ber Gegenftand der adhtungsvollften ‚Behandlung von 
Seite bes legten, welcher bie Nuͤtzlichkeit ſolches Grumbfages für. ſich 
feldftanerkannte, und wurde ebenfo den Unterthanen als Gegenfland 
pflihtmäßiger Verehrung dargeftellt, weil alle Huldigungen, welche irgend 
einem Angehörigen eines fremder Sürftenhaufes erwieſen wurden, zugleich 
als dem eigenen Herrn dargebracht erſchienen, ober als Anerkenntniſſe 
des auch die Erhabenheit des eignen Hauſes bekraͤftigenden Princips. 
Daher alſo die Sitte ber- nicht nur von Seite der Hoͤfe felbft ges 
gen einander beobachteten Höflichkeit und Achtungebezeugung (wie bie 
Becemplimentirung des in's Land ober auch nur an ber Grenze vorüber 
reifenden fremden en durch ihm entgegengefchicte vornehme Perfes 
nen, das ihm gegeßäne Chrengeleit, ‚die ſplendide Bewirthung, der feiete 
lihe Empfang und bie in glänzenden. Hoffeften ober mititaicifhen Spie 
ten u. dol. ſich aͤußernde Peßſiſſenheit, den hohen Gaſt wuͤrdig zu beham 
deln), ſondern auch der yon Seite des Volkes, d.h. nicht nur der iin 
hoͤrden, fondern auh der Einmwohnerfchaft ber von dem fremden 
Fuͤrſten bereiften Drtfchaften oder. Bez cke, ihm darzubringenden Ehren⸗ 
bezeugungen aller Art. 

Der Geiſt der Neuzeit, man kann es nicht perkennen, iſt biefene 
Geremoniel nicht, hold. Wohl findet man natürlich und tadelfrei, daß 
jeder Hof mit andern den freundfchaftlichen oder Verwandtſchaftsverkehr 
durch Mittheilung von Familienereignifien, als Werehelihungen, Geburs 
ten und Zobesfällen, duch Begluͤckwuͤnſchungen oder Beileidsbezeugun⸗ 
gen und Zraueranlegen u. f. m. unterhalte, und daß er jeweils feine 
Säfte fo fplendid und ehrenvoll, als Neigung ober Rüdfihten es mit 
ſich bringen und die bisponiblen Mittel, es glauben, empfange, bes 


398 Geremoniel. Chalif. 


wirthe und unterhalte. Auch felbft von Staats wegen mögen aus 
politifhen Gruͤnden Feſtlichkeiten aller Art m gemiffen Fällen zu 
veranftalten fein. Aber. das Verlangen felbfteigener, thätiger Theilnahme 
von Seite des Volkes, und zwar ale allgemeine: Regel geltend 
gemacht, ſtreitet wider das Geibftgefüht ber Stolzeren. Immerhin moͤ⸗ 
gen die muͤßige Neugierde, bie bezahlte Dienſtbefliſſenheit oder bie frei⸗ 
willige Serpilität: zur Verherrlichung der Hoffelte Tauſende herbellocken: 
aber eine befohlbene Iheilnahme erregte Unmillen. Die Beflern und 
Kreigefinnten im Volk bringen gern nur den von ihnen perſoͤnlich 
verehrten Häuptern, nicht aber jedem Fürftenfohne ohne Unters 
ſchied, oder gar jeder fuͤrſtlichen Keiche ohne Unterfchieb ihre Huldi⸗ 
gungen dar. Die Eintheilung dee europäifhen Menfchheit in vermöge 
Blutseigenfchaft regierende ober regierungsfähige und zur Unters 
thanfchaft beſtimmte Perfonen oder Häufer ift von der öffentlichen Mei⸗ 
nung nicht als rechtsbeftändig anerkannt. Jedes Volk verehrt wohl 
ꝓflichtgemaͤß fein angeftammtes Regentenhaus; aber gegen die frems 
den Häufer hält es fi) für unverpflichtet. - Rottec. 

Ceſſion, fi Abtretung. | 

Chalif (oder Kalif), Chalifat. Der Name Ehalif bedeutet 
Stellvertreter oder Statthalter, welchen befcheidenen Xitel bie 
Nachfolger Mohameds in der von bemfelben gegründeten geboppelten, 
nämlich geiftiidgen und weltlichen, Herrſchaft führten. -Das Reich dieſer 
„Statthalser das Propheten” heißt man barum das Chalifat. 
Nicht eine Gefhi.chre:biefes Chalifats, wiewohl diefelbe ſowohl übers 
haupt, als auch-in manchen Einzelheiten hoͤchſt merkwürdig ift, kann im 
Staats: Leriton «ine Stelle finden; doch wird eine flüchtige Vergegenwaͤr⸗ 
tigung ihrer Sauptmomente und zumal ihres allgemeinen politifhen 
Charakters feinem Zwecke nicht fremd fein. 
7 Dom Anfangspunkt der Gefchichte bes -Mohamedanifchen Welt⸗ 
relchs, naͤmlich Yon der Flucht des Propheten von Mekka nad; Mebinah 
(16. Juli 622), oder von deſſen 10 Jahre ſpaͤter tem Tode (632) 
bis zum Umſturz des Chalifates durch die Mongsien (1258) verfloffen 
686 oder 626 Jahre, rei) an Großthaten und Unthaten, an Erfolgen 
atid- Unfällen, an erfchütterndem Wechſel von Glanz und Erniebrigung, 
richt und Schwäche, Derrlichkeit umd Elend; und durdy alles dies viels 
füch belehrend für Regierungen und Möller, doch freilich, weil nach 
Maum und Zeit und Charakter unß ſelbſt und unferen gegenwärtigen 
Lebensverhältniffen in dunkler Ferne ftehend, minder eindringlich, als 
was aus deutlich erkennbarer Nähe zu und ſpricht. 

Schon unter den drei erſten Chalifen, Abubekr, Omar und 
Othman (Gon 632 bis 665), war Mohameds, des kriegeriſchen Res 
ligionsſtifters, in Arabien gegrüͤndetes Reich durch ſeine fanatiſchen 
Bekenner weit über die heimathlichen Grenzen hinaus in Aſien und 
Afrita ausgebreitet worben. Einheimiſche Entzweiung hemmte jegt für 
einige Zeit den Fortgang. Ali, Mohameds Neffe und Eidam, und 
dleich im Anfang der Sendung von: Ihm felbft zum Chalifen erklärt, 


Chalif. 390 


ward nach des Propheten Tode verdraͤngt durch die drei oben genannten 
Haͤupter, und empfing erſt nach Othmans Tode bie Huldigung der aras 
biſchen Staͤmme. Jetzt aber warf ſich in Syrien Moawijah 
(Sproͤßling des dem Hauſe Haſchem, woraus Mohamed ſtammte, 
laͤngſt todfeindlichen Hauſes Ommaijah) zum Chalifen auf, und behaup⸗ 
tete nach Ali's Ermordung (660) das Reich, ja errang fuͤr ſein Ge⸗ 
ſchlecht die erbliche Herefchaft. Aus Ali's Verdraͤngung und feiner Soͤhne 
tragiſchem Ende entſtand die bis heute noch fortdauernde Spaltung in 
Mohameds Kirche. Er und ſeine Nachkommen erſcheinen den Einen 
(insbeſondere den Perſern) als bie einzig rechtmäßigen Chalifen; Fati⸗ 
mens Blut, wie der Maͤrtyrer⸗-Tod ihrer Söhne, heiligt das ganze Ge⸗ 
ſchlecht; ihre Verdraͤnger ſind des Abſcheues werth. Den Andern dage⸗ 
gen iſt zwar Ali gleichfalls ehrwuͤrdig, doch minder als die drei erſten 
Chalifen; und auch Ommaijah's Haus wird non ihnen nicht völlig vers 
mworfen. Diefer legte Glaube ift jener der Mehrheitz feine Anhänger 
heißen Sunniten, weil fie neben dem Koran auch noch die Sun» 
nah, d. h. die mündliche Meberlieferung, verehten, während ‚bie Aliten 
— von ihren Gegnern auh Schiiten (foviel ale Keter oder Abtruͤn⸗ 
nige) genannt — dieſelbe verwerfen. 

Nach Befeſtigung der einheimifchen Herrſchaft ſetzten die Om⸗ 
maijahden die aͤußern Eroberungen fort und dehnten das Reich einerſeits 
vom mittellaͤndiſchen Meere bis zum Oxus und Indus, andererſeits 
über ganz Nord: Afrika und uͤber Spanien aus. Ahr Thron fland - 
in Damaskus. Aber die Nachkommen von Al⸗Abbas, Mohameds 
Dheim, zertrümmerten ihn hundert Jahre. nach defien Errichtung (759) 
und verlegten jest den Sig ber Herrfchaft nach dem neu erbauten Bags 
dab. Ein Sprößling von Dmmaijah, Abderramman, aber war 
ber Vertilgung‘, welche fein Haus traf, entlommen und ward in Spas 
nien als Chalif erfannt. Sein und: feiner Nachkommen prachtvoller 
Thron ſtand zu Cordova. 

Zu den beiden Chalifaten, der Ommatiahden: in Spanien 
und der Abaffiden in Bagdad, kam. fpäter noch ein drittes, 
das Katimitifche, in Egypten, mwofelbft ein angeblicher: Nachkomme 
Fatimens ben Sig einer zweihundertjährigen Herrfchaft gründete (um 
970). Der gedoppelte Haber ber weltlichen Derrfchfucht und des kirch⸗ 
lichen Haſſes zerriß dergeſtalt Mohameds Reich, und bald gingen auc 
die einzelnen Chalifate unter wechſelvollen Erſchuͤtterungen durch Auftuhr 
und fremde Eroberung in vielnamige Truͤmmer. — 

Das Hauptreich, indeſſen blieb das Chalifat in Ba. AT d, giauz⸗ 
vol zumal unter Harun al Raſchid (Karls des Großen Zeitge⸗ 
noſſen), dem Gefeiertſten der Abaſfiden. Bald nad ihm jedoch bes 
gann der Verfall, theils durch Empörung der Statthalter, theils durch 
auswaͤrtigen Angriff und zumal durch Uebermuth und Aufruhr der 
tuͤrkiſchen Kriegsknechte und ihrer Haͤupter. Dieſelben, die da als 
auserleſene Leibwache den Thron des Chalifen umgabew,' mißhandelten 
ihren Herrn und ſetzten nach Gunſt und Laune die Chulifen ein und 


400 Chalif. 


ab. Die entfernten Nationen jedoch und ſelbſt die rebelliſchen Statt⸗ 
halter huldigten noch immer in Worten und Gebraͤuchen dem Nach⸗ 
folger des Apoftels, bis, feit der Ernennung bes Türken Mohamed 
Eben Rajek zum Emir al Dmrah (Emir dee Emire) der Chalif, 
aller weltlihen Macht entledigt, blo® noch Iman oder oberfter Pries 
ſter blieb (935). Noch drei Jahrhunderte indeffen dauerte die Scheins - 
Hoheit der Chalifen, bis die Mongolen heranftürmten und Dſchen⸗ 
gis-Chan's Enkel Hulagu bie heilige Stadt Bagbab eroberte. 
Mostafem Billa, der öbſte Nachfolger bes Propheten, wurde von 
offen zertreten.. Das Abaffidifche. Reid ging ımter (1252). Em 
Abaffide zwar, Ahmed Monftanfer, entrann dem ‚Schwert und 
ward in Egypten, mofelbft ſchon früher das Fatimitifche Chalifat 
ducch den Kurden Selahebdin mar. geflürgt worden (1171), von 
dem Mammlukkiſchen Sultan Bibars als Chalif erfannt, doch ohne 
den Schatten. einer Gewalt. Der Name jedoch blieb feinen Nachkom⸗ 
men, bis Selim J., Sultan dee Osmaniſchen Türken, Egppten 
eroberte, den Chalifen Motawakkl gefangen nad) Konftantinopel fchleppte 
und ſich ſelbſt defien Würde zueignete. Seit diefer Zeit gelten bei 
ben Sunniten bie Osmaniſchen Großherren als Chalifen. 


Die Berfaffung bes Chalifates. war unbebingt befpotifd. 
Selbſt der Freiheitsgeift der arabifchen Stämme, unter welchen Mo: 
hamed feine Herrſchaft begründete, beugte ſich vor ber Heiligkeit des 
Religionsſtifters; äber noch unbebingter gehorchten die durch das Schwert 
befehrten afiatifchen Nationen, die fchon vor Alter ber befpotifchen 
Herrſchaft gemohnt waren, unb die Vereinbarung der geiftlichen mit 
der weltlichen. Alleinherrfchaft gab:.ben Chalifen, nachdem ihr Thron 
erblich geworben war, eine Fülle dee Macht und Hoheit, wie kaum 
je noch ein Gemaltsherrfcher. fie beſaß. Alle, die Edelſten wie die Ge⸗ 
ringſten ihres Reiches, waren gleihmäßig ihre SHaven, und ihre hohe 
griefterliche Würde — ihnen allein ohne Theilnahme einer unter ſich 
verbundenen felbftftändigen. Peiefterfchaft angehörig — warf bie Glaͤu⸗ 
digen vor ihnen zur demüthigften Anbetung nieder. Solcher veligiöfe 
Charalter..milderte zwar einigermaßen (verglichen mit einer blos auf 
Schmwertesgewatt ruhenden Autorität) die Aeußerungen . ihrer 
Herrſchermacht, .und ber Koran ſchrieb ihnen heilige Pflichten vor; 
aber da fie.:die oberſten, ia alleinigen Ausleger bed Korand waren, 
fo ging ihre Pflicht audy nicht weiter, als ihre guter Wille. Doc 
alle diefe Macht und Gewalt Eonnte ihr Reich nicht vor Stürmen und 
gehäuften Empsrungen firmen. Die. Unterbrüdung ‚bes Geiftes töbs 
tete auch die möralifche Kraft, und nachdem bie erften Flammen bes 
Fanatismus Der hatten, verfanten die Moslems in Weichlichkeit 
und Schwaͤche. Die Verehrung des Chalifen mar mehr Formenwerk, 
als wirkliches Gefühl, und wich ohne Mühe dem von irgend einem 
Empörer oder Eroberer ausgehenden Schreden. Ein Bolt von Skla⸗ 
ven mag bem Wechfel der Herrſchaft gleichgültig zufehen. Seinem 


Chalif. 401 


2008 droht keine Verſchlimmerung, wie immer die Perſon des Geble⸗ 
ters ſich aͤndere, und die blos auf phyſiſcher Macht ruhende Gewalt 
weicht natürlich jeder augenblicklich ſtaͤrkern Macht. 


Man hat die Chalifen mit ben Paͤpſten verglichen; und in bee 
That mag, zumal in bem Zeitpunkt, als das Hildebrandiſche 
Meltreih, d. h. die Bereinigung ber hoͤchſten bürgerlichen mit ber 
geiftlihen Macht In ber Perfon des Papftes beftand, einige Aehnlich⸗ 
Zeit zwifchen Beiden erfannt werben. Aber der große Unterfchied war, 
daß den Chalifen die durch das Schwert ber fanatifchen Juͤnger Mo⸗ 
hameds gegründete Herrfchaft gleih urfpränglich zuftand, nicht 
erſt im Lauf der Jahrhunderte durch beharrliche Fortfegung eines kunſt⸗ 
zeichen Syſtems mußte errungen werben, und daß fie dann -von ber 
glaͤnzendſten und unbeftrittenften Fuͤlle bee geboppelten Hoheit bios 
durch eigene Schwäche oder Erfchlaffung herabſanken, zuletzt bios noch 
den Schatten der hohen Prieſterwuͤrde kuͤmmerlich fortführend, 
waͤhrend der roͤmiſche Biſchof aus wenig bebeutenber, faft demuͤ⸗ 
thiger Stellung ſich erft im Laufe der Jahrhunderte allmälig, unter 
tauſend Mühen, buch Geift, Beharrlichkeit und Gluͤck und zwar 
Anfangs blos in ber kirchlichen Sphäre, und erft viel fpäter auch in 
dere bürgerlichen emporhob und ben wundervollen Weltthron baute, 
von welchem er in der Folge, zum Theil wohl: durch Uebertreibung 
oder Mißbrauch der Macht, vorzugsieife jedoch. nur durch den allges 
meinen Umfchwung ber Verhältniffe und bes Zeitgeiftes wieder zu einer 
niedrigeren Stufe herabfant. "Einem, erblihen Papftthum, db. h. 
einee Dynaſtie von Päpften, wäre fo großes Werk nimmer gelungen. 
Geiſt und Kraft, Kunft und: Beharrlichkeit im Verfolgen berfelben 
Richtung find nicht zu finden, wo ber Zufall bee Geburt abmechfelnd 
Schwache und Starke, Kluge unb Einfältige, Boͤſe und Gute an’s 
Ruder bringt. Aber auch ein Wahlreich wird jene Erſcheinung 
nicht zeigen, wenn nicht ein fortdauernder ſelbſtſtaͤndiger, mit Geiſt 
und Kraft ausgerüfteter Wahlkoͤrper ober Stamm vorhanden ift, mels 
cher die Srundfäge bewahre, einfchärfe und nöthigenfalls mit Autos 
ritaͤt geltend made. Diefes war bie Stellung und Wirkſamkeit des 
chriſtlichen Prieſterſtandes, besgleihen die Mohamebanifche 
Kirche niemals einen befaß, an deſſen Spige dee Papſt wohl ftand, 
doch mehr nur als Werkzeug oder Diener, denn als Herrſcher. Der 
Dapft war bios das frei gewählte Haupt einer ausgebreiteten und 
mächtigen Ariſtokratie, ber Chalif war erbliher Alleinherrs 
fer, und ſah unter fih nur Sklaven. Darin jeboh beitand 
noch eine Aehnlichkeit zwiſchen Chalif und Papft, bag nach Religions⸗ 
grundfägen nur Einer es rechtmäßig fein konnte, wornach bie Aufs 
lehnung gegen feine Gewalt, oder bie Ufurpation deſſelben Titels zu⸗ 
gleich als Kirchenſpaltung erfhien. Alsdann fchleuberten bie 
Inhaber der Stühle zu Cordova, Cairo und Bagdad gegen 
einander Ähnliche Bannflüche, wie fpäter bie jmer zu Avignon und 

Staats⸗ Lexikon. III. 26 


402 Sparte, 


Rom, und wurde die Welt durch das doppelte Geraͤuſch ber geiftii- 
chen und weltlichen Waffen geirgert, zerriffen und gequält. 
Motte. 

Chambre introuvable, ſ. Frankreichs neueſte Ge⸗ 
ſchichte. 

Charge d’affaires, ſ. Geſandter. 

Charta magna,f. Englifhe Verfaffung. 

Charte, Berfaffungd: Urkunde, Freiheitd- Brief; 
insbefondere fran zoͤſiſche Charte. Wir verftehen hier unter Charte 
die urkundlichen Verleihungen, Zufiherungen, Beftätigungen, über 
haupt‘ Feftfesungen conftitutioneller, d. h. als grundgeſetzlich gel- 
tend zu behauptenber, politifcher, nämlich auf die Staatsform fi 
beziehenber, oder auch gemein. buͤrgerlicher und menſchlicher Rechte ober. 
Freiheiten eines Volkes. Die ‚allgemeinen Fragen, bie fi uns 
bier darbieten, find: Welches iſt die maturgemäße oder ber Theorie 
entfprechendfte Form ihrer Entflehung und daher ihre unmittelbare 
Nechtseigenfhaft, und welches ift die praftifch vorherrfchende 
Erfheinung. berfelben? Welches ift die je nach Verſchiedenheit ihres 
Urſprungs anzuerfennende Rechtswirkung einer Charte und wels 
ches ihre politifhe Bedeutſamkeit oder Koftbarkeit? Welches find 
die Erforderniffe dee Rehtsgültigkeit einer Charte und bie 
Grenzen folder Gültigkeit, und welches die Bedingungen eines rechts 
lich zuläffigen Widerrufes oder Umfturzes einer Chartet — Der 
geeignetfte, oder vielmehr ber allein geeignete Standpunkt zur Beant- 
wortung dieſer Fragen (infofeen fie nicht cein Hiftorifch find) iſt 
ber vernunftrehtlihe. Wir werden benfelben baher auch vor: 
zugsweiſe bei der nachfolgenden Ausführung fefthalten. 

Die gewoͤhnlichſte Form, morunter die Charten in's Leben tre⸗ 
ten, iſt die der — freiwilligen oder abgenoͤthigten — Verleihung. 
So ſchon bie berühmten charta libertatum und die magna oharte in 
England, aber fo auch die Charte Ludwigs XVII. in Frank— 
reich und die meiften der neuen Gonftitutionsurfunden in Deutfch- 
land. Die dazu bewegenden oder nöthigenden Umftände, felbft der 
etwa dabei flattgefundene Zwang, kommen dabei nicht in Betrachtumg, 
infofern fie nicht in der Urkunde ſelbſt als Motive aufzefährt oder 
überhaupt nicht juriftifh erfchemend find. She gelten” gemachter 
Charakter ift nämlich, überall die von dem einfeitigen Gutfinden oder 
Willen des Herrn oder des Herrfchers ausgehende Gewährung 
ober Feftfegung. Häufig jedoch koͤmmt auch die Korm eined Vertra⸗ 
928 zwifchen dem Gemwährenden und ben Empfangenben vor, oder 
wird wenigſtens ein folcher, als durch — ausdrädlidye ober ſtillſchwei⸗ 
gende — Annahme der Verleihung gefchloffen, zur Befeftigung ber 
Rechtsguͤltigkeit vorausgeſetzt oder gedichtet. Am ſeltenſten er⸗ 
ſcheint die Form einer geſetzgebenden Statuirung, d. h. 
einer dem rechtlich verbindlichen Geſammtwillen ber Staatsgeſell⸗ 
ſchaft entfloſſenen Feſtſetzung. 


Charte. | 403 


Allerdings, wenn etwa ein großer Grunds und Xeib- Herr, aus 
Gründen der Humnnität oder der Klugheit, das zmwifchen ihm und feis 
nen Colonen und Kuechten factiſch ftattfindende Verhältniß in ein wahr⸗ 
haft rechtliche, zumal finatsrechtliches Verhältniß zu umftalten ſich ents 
ſchließt, fo ift dazu fein einfeitiger Wille in fo weit hinreichend, ale 
er blos Verzicht leiftee auf früher ausgeuͤbte Mechte, oder früher 
nicht beftanbene oder niht anerkannte Freiheiten und Rechte 
gewährt. Die Erftärung feines perfönlihen: Anerkenntniſſes oder 
Willens oder Entfchluffes reicht hin zur Hervorbringung der beabjich- 
tigten Wirkung. Der Knecht wird der berrifhen Gewalt .entlaffen, 
der dienpflichtige Colone wird freier Beſitzer oder Eigenthuͤmer lediglich 
durch die Verzichtleiftung des bisherigen Leib = oder Grundheren auf 
das früher behauptete Recht oder durch die Erfldrung, daß-er dafs 
feibe als unftatthaft anerkenne. Nicht einmal eine ausdrüdlihe An⸗ 
nahme ift erforderlich zur Rechtsguͤltigkeit folcher Erflärung. Sie 
macht für fich allein fehon den Beweis ber perfönlichen oder dinglis 
chen Freiheitsanſpruͤche der früher Unterjochten aus, und fest dieſe, 
auch ohne eigentlichen Vertrag, in den Beſitz ihres aus höherem 
oder früherem Zitel rührenden Mechtes ein. Und auch wenn man bie 
Annahme — wie bei dem Schenfungs=-Bertrag — ale zur 
Gültigkeit des Geſchaͤftes erforderlich betrachten mollte, würde dazu jes 
der Einzelne für fich berechtigt fein, demnach von einem folche Ans 
nahme ausfprechenden Gefammtmillen ber durch den fraglichen Act 
Befreiten ober wie immer Begünftigten gar nicht geredet werden Einnen. 

Auch in der eigentlihen Staatsgefellfchaft mag eine Charte 
von dem einfeitigen Willen bes Verleihers ausgehen, wofern dieſer ſich 
(rechtlich oder auch blos factifh) in dem ausſchließenden Beſitze ber 
Staatsgewalt, namentlih der gefeggebenden Gewalt, befindet. 
Sm Staate nämlich genügt zur Statuirung von Rechten und Freiheis 
ten, wie von Schuldigkeiten der ausgefprochene (verfteht fi) auf den 
Staatszwed gerichtete, demſelben wenigſtens nicht offenbar toiderfpres 
ende) Wille des Geſetzgebers als foldhes. Wenn alfo ber 
bisher unbefchränkte Autofrat verordnet, daß in Zufunft z. B. eine 
gefeggebende Verfügung oder eine nene Auflage u. f. w. nicht anders 
fole zu Stande Eommen können, ald nad) zuvor eingeholter Gutmeis 
nung oder Zuftimmung einee — fo oder fo gebildeten — Berfamms 
nung m. f. w., oder daß in Zukunft keine Verhaftnahme anders ale 
aus gefeglich beftimmten Gründen und unter Beobachtung  gemiffer 
Formen flattfinden, daß Neligionsfreiheit, Preßfreiheit, Unabhängigkeit 
ber Gerichte u. f. w. gewährt fein, daß der Kiscus vor den orbentlis 
chen Gerichten Recht nehmen folle u. ſ. w., fo Mt folche Verordnung 
gültig aud ohne förmlihe Annahme von. Seite bed Volkes, d. 5. 
ohne allen Bertrag. Wer follte ober koͤnnte auch die Annahme 
erklären oder als Vertragſchließender aufterten? — Sn. der. Autokratie 
oder abfoluten Monarchie gibt es ja kein flimmberechtigted. gber ſtimm⸗ 
fähiges Volk, d. h. es giebt feine andere juriſſiſch re Perſoni⸗ 


404 Gharte. 


fication deſſelben als eben den Monarchen, und um nur bie Moͤg⸗ 
lichkeit eines Vertragſchließens hervorzubringen, müßte zuvor eine 
foldy Perfonffication gefchaffen, wenigſtens proviforifch ins Les 
ben gerufen werden, 3. B. ein Parlament ober eine Ständeverfamms 
lung, mas aber nur dutch den einfeltigen Willen des Herrſchers, alfo 
durch eine von ihm allein ausgegangene Charte — und wäre es 
nur eine proviſoriſche Eharte — gefchehen kann. 

Wird aber eine folche dem einfeitigen Willen bed Herrſchers ents 
floffene Charte nicht auch In ihrer Dauer von folhem Willen abs 
bängig, d. 5. bem Widerruf oder ber willkuͤrlichen Abänderung durch 
denfelben fo wie jedes andere Gefeh unterworfen fein? — Wir fagen 
nein! und Finnen es fagen, auch ohne zur Idee oder Dichtung eines 
Vertrages unfere Zuflucht zu nehmen. Selbſt der abfolute Monat 
ober der Autokrat nämlich iſt rechtlich verpflichtet, nur nach ben Ge⸗ 
fegen zu regieren, wenn er nicht als blos factifhen Gewalts⸗ 
herrſcher fi darftellen, folglich feiner Macht den Rechtsboden bes 
nehmen will. Er kann zwar das feiner Iegislatorifchen Gewalt entflofs 
fene Gefes nad) Belieben wicher aufheben ober abändern; aber fo 
lange er biefes nicht gethan hat, iſt er in Bezug auf die einzelnen 
Acte der Regierungsgewalt gebunden auch an fein eigenes Geſetz. Er 
gab nämlich dieſes Geſetz in der Eigenſchaft als rechtlich beftehendes 
Drgan des Gefammtwillens und ſprach dadurch aus, daß nad) 
feiner eigenen Ueberzgeugung das darin Verordnete von dem Gefammts 
willen verlangt werde. Wenn er alfo — ohne baß das Geſetz ihm 
folhe Befugniß ausbrädtih für gewiſſe Fälle vorbehalten hätte — 
eine dem Gefege zumiderlaufende befondere Verfügung trifft, während 
das noch fortdauernde Gefes ben wahren Gefammtwillen ale allgemein- 
gültige Regel verkündet, fo handelt er nicht mehr als Organ des Ges 
fammtwillens (welcher naͤmlich, wofern er vernünftig iſt, mit fi) 
ſelbſt nicht im Widerſpruch fein kann), fonbern als unbefugter Eins 
zelwille, welchem baher nur factifhe Gewalt, nicht aber das vers 
vernünftige Recht eine Geltung verfchaffen kann. Abfchaffen alfo 
kann der Autokrat das Geſetz, nicht aber verlegenz fonft fegte «x 
ſich felbft außer dem Gefet. Nun bringt es aber bie Natur ber 
VBerfaffungsgefege, alfo namentlid ber von einem Autokraten 
erlaffenen Charte, mit fi, daß fie nicht abgefchafft werben koͤn⸗ 
nen, ohne zugleich verlegt zu werden. Sobald naͤmlich einmal der 
Autokcat, als Drgan des Geſammtwillens, ausgefprochen hat, daß in 
Zukunft nicht mehr Er allein, fondern nur Er unter Zuſtimmung 
3. B. der Landftände, ein Geſetz folle geben koͤnnen, fo iſt er gar nicht 
mehr alleintges Drgan bes Gefammtwillens, und Tann 
alfo auch das fragliche Berfaffungegefes nicht mehr aufheben ohne 
Weberfchreitung des ihm wirklich noch zuftehenden Mechtes. Eine Ver 
fügung, die er im Widerſpruch mit feiner eigenen Charte erlafien würde, 
erſchiene blos als Aeußerung eines — bier unbefugt auftretenden — 
Privatwillens und wäre fonah ungültig 


harte. 405 


Wenn bdiefes einleuchtend und unbeſtreitbar HE in Bezug auf ben 
Theil der Charte, welcher die Perfonificasion ber Staatögewalt und 
die Formen ihrer Ausübung feſtſetzt, fo iſt es nicht minder wahr in 
Bezug auf ihren materiellen Inhalt. Auch bier bat der Autos 
krat, fobald ee grundgefeglich etwas verorbnete, ſich dadurch der 
rechtlichen Möglichkeit beraubt, daffelbe zu widerrufen oder abzuändern. 
Der wefentliche Unterfchieb nämlich zwiſchen einem Grund⸗ (ober 
Verfaſſungs⸗) Gefeg und einem gemeinen Geſetz beſteht darin, bap 
jenes ganz eigentlih ber Regierung, d. h. ber conflituirten 
Staatsgemalt oder dem kuͤnſtlichen Drgan bed Geſammtwil⸗ 
lens, Verpflihtungen auflegt, d. h. deſſen rechtlicher Thaͤtigkeit 
Schranken ſetzt oder beſtimmte Richtungen vorſchreibt. Moͤgen dieſe 
Schranken in Formen beſtehen, oder in Grundſaͤtzen, immer ſind 
fie ein „noli me tangere“ für die conſtituirte Staatsgewalt. Sie 
find alfo in der Idee einem Willen entfloffen, ber feinem Begriffe 
nad) höher ift als diefe Gewalt und als ihrer Errichtung voranges 
hend gedacht wird, naͤmlich jenem bee conflituirendben Autorität, 
welche keine andere iſt, als die dev Gefellfhaft ſelbſt. So lange 
nun diefe Gefellfehaft unmündig oder mundtodt ift (db. h. kein natuͤr⸗ 
liches Drgan ihres Gefammtwillens befigt), fo ift eben ber Autofrat 
(oder überhaupt bie abfolute Regierung) nicht nur conflituirtes 
Oberhaupt, fondern zugleih auch conftituirende Gewalt. Erlaͤßt 
er alfo eine Charte, d. h. fegt er geundgefeglic, (nicht blos durch 
gemeines Sefeg) gewiſſe Formen oder Grunbfäge für die Regierung 
feft, fo bat er dabei als conflituirende Gewalt, d. h. als derſelben 
Stelle vertretend, gehandelt und kann jet, als conftituirtes 
Haupt, nicht mehr zuruͤcknehmen, was er als conflituirendes Organ 
verfügte. Mas er in letzter Eigenfchaft feftfegte, iſt jest für ihn als 
Regent verbindlih, und er kann in der Sphäre foldher gemach⸗ 
ten Feſtſetzung nicht mehr zurädgehen auf feine früher ausgeubte coy= 
flituirende Autoritätz denn biefe hat er erſchoͤpft ober vers 
braucht duch die einmalige Verordnung; er ft in der bemerk⸗ 
ten Sphäre jest blos noch conftituirtes Haupt, mithin gebunden 
an die Bedingungen oder Schranken der ihm von ber conftituis 
renden Autorität aufgettagenen Gewalt. Dat er alfo grundge⸗ 
ſetzlich (nicht blos gemeingeſetzlich) 3. B. Preßfreiheit, Gewiſ⸗ 
fensfreiheit, perfönliche Freiheit, Unantaftbarkeit des Eigenthums u. ſ. w. 
verkündet, fo ſteht ihm Feine ſolcher Verkündung widerſtreitende Ges 
walt mehr zu. Er mag dann für fi allein (ober mit Zuſtim⸗ 
mung ber etwa eingefesten Theilnehmer feiner Gewalt) wohl nod) 
die Macht haben, bie Rechtögewährungen zu vermehren, nicht aber 
flegu verringern, d. h. die früher gemachten wieder gurüdzuneb- 
men ober zu [hmälern. Er hat fih — wie bei einmal verkuͤnde⸗ 
tee formeller Befchränktung feiner Macht — in bie Unmoͤglich⸗ 
Leit verfegt, das Statuirte wieder aufzuheben. 

So lautet indeſſen bie gewöhnliche Lehre nicht. Diefelbe findet 


406 Charte. 


vielmehr bie Grundlage ober Nechtöhefeftigung einer Charte im Ver⸗ 
tragsreht, und allerdings ift ſolch ein Vertragsrecht, infofern es 
bier angerufen werben kann, ein näher liegende und bequemered, Er: 
Elärungsmittel der Heiligkeit einer Gonftitution ale unfere auf tieferen 
Gründen ruhende Theorie. Wir wollen auch keineswegs das hier in 
Frage ftchende Vertragsrecht unbedingt vermerfen, ſondern nur unter- 
fudyen, inwiefern 8 in Bezug auf'Charten oder Gonftitutionsur- 
£unden eine vernünftige Anmendung leide. Es finden bei der Lehre 
davon mehrere Mißverſtaͤnd niſſe und Begriffsverwirrungen ſtatt, deren 
Beleuchtung Noth thut. 

Zuvoͤrderſt kann hier. keine Rede ſein von demjenigen angeblich 
von Allen mit Allen geſchloſſenen Conſtitutionsvertrag, welchen 
man in der Schule ziemlich haͤufig als den dritten Beſtandtheil 
des urſpruͤnglichen (wenn and) nicht wirklich geſchloſſenen, doch gedich⸗ 
teten oder als rechtliches Poſtulat vorausgeſetzten) Staats⸗Vertrags 
(naͤmlich als nachfolgend dem Vereinigungs- und dem Unters 
werfungs-Vertrag) aufſtellt. Aus dieſer Anſicht würde naͤmlich 
fließen, daß eine Conſtitution (folglich auch eine Charte) nicht anders 
als durdy abermaligen Vertrag Aller mit Alen-— db. h. alfo gar 
nicht — koͤnnte aufgehoben oder abgeändert werden. So meint man 
es jedoch gewoͤhnlich nicht, fondern man ftellt fi. nur vor, daß zur 
Rechtsbeſtaͤndigkeit einer Charte ein zwifhen ber Regierung und den 
Megierten (oder deren Stimmfuͤhrern) zu” fohließender Vertrag 
nöthig fe. Denken wir uns jeboh einen Staat, worin noch feine 
Derfon ein beftimmtes Herrſcherrecht bat, und ſonach die conflituis 
rende Gewalt der Gefammtheit noch ganz frei und ungebunden iſt; 
fo wird fie bie Form ber von ihr einzufegenden Regierung unb Die 
derfelben als Richtſchnur vorzufchreibenden Grundfäge blos im Sntereffe 
der Sache, nath ihrem beiten Wiffen und Gewiſſen, beftimmen, nicht 
aber darüber mit dem (erft noch zu ernennenden ober auch bereite ers 
nannten) Regenten einen Vertrag abſchließen. Sie ‚wird unter 
ſich felbft die Artiket des Auftrages ausmachen, welcher dem ein» 
zufegenden Oberhaupt zu ertheilen fei, und nur darüber, ob ber zu 
Ernennende geneigt fei, folhen Auftrag (etwa auch unter einigen ihn 
perföntich betreffenden Bedingungen) zu übernehmen, wirb fie mit Ihm 
felbft contrahiren. In Wahl⸗Reichen gefchieht ein Solches häufig. 
Der bas Reich und Volk betreffende Inhalt der „Wahl: Capitula: 
tionen” wird feitgefegt von den Wählern, welche dabei eine Art von 
conftituirender Autorität ausüben, und der Gewählte — außer bem, 
was er etiwa bloß für feine Perfon ausbedingt — unterfchreibt die Capi⸗ 
tulation nicht eigentlich al® über den Inhalt ber Kapitulation Ver: 
tragfchließender, fondern blos ald Uebernehmer des beftimm- 
ten Auftrags Etwas Aehnliches findet bei Mebernahme von 
Staatsdienften flatt, wo nämlich gleichfalls die „Dienfts: In: 
ſtruction“, insbefondere der Umfang der Amts: Befugniffe und 
Pflichten, duch Gefes oder Verordnung beſtimmt wird, und höc- 


Eate 407 


ſtens einige perſonliche Interefien durch Vertrag mögen tegulirt wer⸗ 
den, Hieraus erhellt wenigſtens ſo viel, daß der fragliche Vertrag 
nicht nöthig iſt zur Feſtſtelung der Rechte und. Pflichten bes zu ers 
I nennenden Regenten, wietvohl eine weitere Werftärkung oder größere 
Euidenz, der Pflicht. ober eine wirkfamere ‚Einfchärfung berfelben 
baraus hervorgehen mag. Der Brud) einer Wahlcapitulation oder aud) 
einer in Folge gemeinfhaftliher Berathung zwiſchen Negies 
vung und Ständen erlafjeuen, Charte, iſt guch nicht eigentlich als, Vers 
tragsbrud, ober wenigftens nicht. hlo s als Vertragebruch zu achten, 
fondern als überhaupt unbefugte, de h. rechts⸗ oder gefehwis 
drige Ihatz ſo wie . B. detjenige, ber. eine geliehene Sache ſich zus 
eignet oder ein Depoſitum unterfchlägt, nicht eigentlich oder. wenigſtens 
nicht blos den Vertrag bricht, ſondern ein Verbrechen begeht, 
d. 5. eine Uebertretung des, ‚allgemeinen. Nechtsgefenes, 
welches das. Eigenthum Kunde, ec unangetaftet zu laſſen befiehlt. 
Ein Bertragin Verfaſſungsſachen alfo hat nur alldort eine ver ⸗ 
nuͤnftige Bedeutung, und Anwendbarkeit, wo, wegen eines der tegie= - 


senden Perfon ober dem regierenden Haufe bereits zuftehenden , * 


(d.h. einerfeits Begauhtei —— ‚ganz, oder theilweiſe aner⸗ 
kanuten) felbftffändigem Rechte s, zum, Behufe der im Jntereſſe 
der Geſammtheit noͤthigen ober, wünfhensiverthen Beſchtaͤnkung, naͤhe⸗ 
‘sen Beſtimmung oder auch theilweiſen Aufhebung oder Unſtatthaftigkeits-⸗ 
erklaͤrung ſolches Rechtes, eine Unterhandlung mit dem Berechtigten 
gepflogen werben muß, und derſelbe ſodann im Wege des Vergleſches 
von feinem früher behaupteten Mechte ‚Einiges aufgibt, namentlich im 
Folge ber, etwa geänderten, und eoder der vorange⸗ 
S&rittenen politiſchen Erkenntuiß und des dringenderen Voiks- Rufes 
a Verbefferung,, die jenen, Umftinden entfprechenden Befpränkungen 
auf fih ‚nimmt und, die geforbeiten Freiheiten oder Bürgfchaften ganz 
ober theiltveife gewährt, . Än und für, fidy iſt freilich das Gonftitutionds 
werk. fein Gegenſtand ‚einer durch, Vertrag, folglich privatrechtlic 
zu treffenden, Beftimmung, Das Prineip dev Regulirung ift hier blos 
das Öffentliche Wohl und. das Recht der Gefammtheit, Ein 
Aufgeben dieſes Princips oder eine Werzichtleiftung darauf kann 
eecptlich von Feiner, Seite ‚verlangt, oder zugeftanden werden. Doch iſt 
85 und. vielfach vorkommend, daß auf Seite regierender Perſonen 
inſpruͤche des Privattechts mit jenen des oͤſſentlichen in Werbin« 
bung ftehen, auch daß bie Behauptung berfelben zugleich dem, Ger 
meinwohl unnadjtheilig oder felbft förderlich eufcheint, oder daß ber 
das, was dem. allgemeinen Sit mas widerſtreitende Ueberzeu · 
gungen auf beiden Seiten. (nämlich) ber regierenden und. ber regierten) 
obwalten. In folchen Fällen iſt ein wecfeljeitiges Nachgeben zum 
Zweck der Vereinbarung notbwendig, und mag gar wohl das auch 
ber eigenen Ueberzeugung in einzelnen Punkten gebracht werben, um bie 
nach den Umftänden huntihfie Rerleiidung der allgemeinen, Idee zu 
‚erringen; 8 mag hier die Gchwierigkeit der erfolgreichen Mechtöhe- „ 


08 Charte. 


hauptung, dort die Gefahr ded Widerſtandes in Rechnung gezogen, und 
dergeftalt ein beiderfeits mehr oder weniger befriedigendes, jebenfalls bem 
Kriegsftand vorzuziehendes Ergebniß auf bem Wege bes Vertrages 
geroonnen werben. Indeſſen wird auch, bei Uebereintomnmifien diefer 
Art ober dieſes Urfprungs nicht Alles, was darin feftgefekt iſt, wirk⸗ 
lih die Rechtseigenfhaft einer vertragsmäßigen Beſtimmung haben. 
Nur infofern die Uebereinkommenden wirklich ald zwei getrennte ju⸗ 
eiftifhe Perföntichleiten fi) gegenäberftehen ober zwei getrennte 
juriftifhe Perfönlichkeiten repraͤſentiren, unb infofern fie über Mechte 
disponiren, welche einer ober bee andern berfelben frei verfügbar zuftehen, 
ift bei dem Gefchäft ein wahree Wertrag zu erkennen. So z. B. ba, 
wo bereit6 ein regierendes Haus befteht, die foͤrmliche Anerkennung ober 
Feſtſetzung des Erbrechts für alfe gegenwärtigen ober künftigen Glieder 
ſolches Haufes (verfteht ih Überhaupt, nicht aber aud bie Beſtim⸗ 
mung ber Erbfolge-Drdbnung, welche nämlich mehr bie Natur bes 
Geſetzes an fi trägt). Eben fo die Uebereinkunft über die Dos 
maine, wornach etwa ein Theil derfelben als Eigentum bes koͤnigli⸗ 
hen’ Daufes anerkannt, ein anderer aber als Eigentbum des Staa» 
tes erklaͤrt wird. Auch die feftgefegten Formen ber Regierung, fo wie 
die ihr zur Beobachtung vorgefchriebenen Grundſaͤtzee, inſofern beide. 
als Bedingungen des anerlannten Regentenrechtes oder ale für 
folhe Anerkennung verſprochene Gegenleiſtungen erfcheinen, koͤn⸗ 
nen als vertragsmäßig errichtete Beftimmungen gelten, wiewohl fie 
an und für fi mehr zur Keftftelung durch Gefege fich eignen. Sie 
werden auch, obſchon in einen fogenannten Gonflitutione Vertrag 
aufgenommen, überall da als wahre gefegliche Bellimmungen zu ach⸗ 
ten fein, wo ihre Feſtſtellung als nicht fowohl zum Vortheil der einen 
ober ber andern ber bie Uebereinkunft abfchließenden Perfönlicykeiten 
(3. B. König und Landſtaͤnde), fondern zu jenem einer britten, 
durch die beiden andern gleihmäßig vertretenen Perfönlichkeit, 
namentlich des Volkes oder ber Staatsgefammtheit gefchehen ers 
fheint. In folhem Fall bat zwar der König von feinem und haben 
bie Landftände von ihrem Standpunkt ausgefprochen, was ihnen 
nach ihrer fubjectiven Ueberzeugung ale dem Vollsrecht und dem Volks⸗ 
wohl am meiften angemeffen erſchien; fie haben ſich ihre Ideen darüber 
gegenfeitig mitgetheilt und als Ergebniß der Berathung fich über die 
fraglichen Punkte vereinbart; aber fie haben — ba fie in folcher Bes 
iehung beide pflihtgemäß nur für eine und biefelbe Perfon zw 
forgen hatten, db. h. beide zufammen bie vollftändige Repraͤſen⸗ 
tation des Volks ausmachten — eben fo wenig einen eigentlichen Vertrag 
gefchloffen, als es ein Vertrag iſt, wenn über ein gemeines Gefeg 
Megierung und Kammern übereinlommen, ober als 3. B. zwei 
oder mehrere Vormünbder eines und beffelben Muͤndels unter 
fi einen Vertrag über die Angelegenheiten dieſes Muͤndels abfchlies 
en, wiewohl fie allerdings Über die gemeinfchaftliche Leitung bevfelben 


Charte. 409 


ſich verabreden oder gemeinſchaftliche Entſchlleßungen daruͤber 
faſſen koͤnnen. | 

Noch eine Art vertragsmaͤßiger Seflfegung conflitutioneller Rechte 
und Freiheiten tft in ber neueiten Beit vorgekommen, nämlid ein 
zroifchen einee Anzahl Regierungen unter fich gefchloffener 
Vertrag, Ihren Unterthbanen gewiſſe Rechte und Freiheiten zu ges 
währen, ohne jedoch dieſe linterthanen als Mitpaciscenten anzuführen 
oder anzuerkennen. (&. Art. 18 ber deutſchen Bundesacte.) Ein fol 
her Vertrag iſt allerdings ein für die Unterthbanen ber contrahirenden 
Regierungen erfreuliche Ereigniß, woraus ihnen Hoffnung und 
Erwartung Lünftiger Rechtsgewährung zufließt; boch ertheilt er ih⸗ 
nen barauf noch keineswegs einen unmittelbaren Rechtstitel. Auf 
fie paßt das rechtlihe Ariom: res inter alios gesta aliis mon nocet 
neo prodest, und erft wenn eine Regierung, zur Erfüllung ber von 
ihr gegen die andern Regierungen übernommenen Verpflichtung, 
ihrem Volk eine Freiheits:Charte wirklich verleiht (mas fie jedoch 
auch ohne jenen Bertrag hätte thun Einnen), tritt für biefes Volt 
die (tm Vertrag der Fürften unter fih zwar beabfichtigte, doch 
buch, ihn allein noh nicht hervorgebrachte) Rechtswirkung ine 
Leben. An und für ſich alfo verändert der fragliche Vertrag bem bis⸗ 
herigen Rechtszuſtand des Volkes gar nicht, Was es ſchon früher zu 
fordern hatte (eine feiner Bildungsftufe und ben Zeitumfländen ges 
mäße Berfaffung), diefes, nicht weniger und nicht mehr, bat es auch 
jego zu fordern. Sowie jede ber vertragfchließenden Regierungen, 
wenn ein Volk auf ſolches Uebereinkommen eine mißfällige Forberung 
gründen mwollte, mit Recht ihm erwiedern koͤnnte: „Was geht dich 
mein Uebereintommen mit andern Regierungen an? Mir innen 
daſſelbe, ſowie wir es allein unter uns fchloffen, fo auch beliebig wies 
der aufheben oder bie eingegangene Verpflichtung uns gegenfeitig oder 
einfeitig erlaffen”; ebenfo könnten aud, die Völker, wenn etwa bag 
Uebereintommen der Regierungen dahin ginge, den Unterthanen ges 
wife Rechtsanfprühe nicht oder nur unvollftändig zu gewähren, 
ober das bereits früher Gewährte wieder zurädzunehmen, jenen 
Regierungen zu Gemuͤthe führen, daß Werträge de jure tertii rechtes 
ungültig find und daß man zur Rechtsverweigerung ſich 
durchaus nicht verpflichten koͤnne. Hiernach ift Elar, daß, um ber 
deutfhen Bunbesacte bie Mechtseigenfhaft einer wahren Charte 
zu verleihen, man entweder einen zwifhen ber Geſammtheit 
der Regierungen einerfeitö und dee Sefammthelt der Voͤl— 
Eer anderfeits durch jene Acte gefchloffenen Vertrag annehmen 
(menigftend eine von den Regierungen darin ausgefprohene und 
von der Nation nachher angenommene Verheißung anerfens 
nen ober hineinlegen), oder aber bie Bunbesacte nicht ale Ver⸗ 
trag, fontern als Geſetz, nämlich als ein der deutfhen Nation 
buch) eine conftituirende Autorität verliehenes und daher von 
der eonflituirten Staatsgewalt einfeitig nicht mehr abzuänderndes 


410 Charte. 


Grundgeſetz fuͤr verbindlich (d. h. die Regierungen auch gegen ihre 
Voͤlker verpflichtend) erklaͤren muß. 

Sp zeigt fi alfo von faft jeder Seite betrachtet die Eigenſchaft 
des Vertrags zur Herftellung der Rechtsbeſtaͤndigkeit einer Charte 
theile unnöthig, theil8 unpaffend, theild nur ausnahmsmeife und nur 
auf wenige Beftimmungen anwendbar und e8 erfcheint als der natür- 
lichſte, faft allen gedenkbaren Verhaͤltniſſen entfprechendfte und dem 
Rechtsbeduͤrfniß allein genuͤgende Urſprung und Rechtsboden der Charte 
— ihre im Weg der Geſetzgebung geſchehende Verkündung. Die 
Charte ift eine Urkunde, welche die Formen oder die Richtun⸗ 
gen oder die pofitiven Befhränktungen der conflituirten Staats⸗ 
gemalt. beftimmt, alfo das Verhaͤltniß berfelben zum Volke regelt und 
das dieſem vorzubehaltende (ober zu gewaͤhrende) und jener zu über: 
Laffende (oder zu übertragende) Rechtsgebiet feftfteite. Unter allen Mit: 
teln zu Erreihung bes Staatszwecks ift ſolche Feſtſtellung das erite, 
nothwendigfte und michtsgfte,. und wenn bas Wefen der Staats: 
gemwalt oder bie ibeale Nedhtsfphäre des Geſammtwillens in ber 
Beftimmung und Anwendung der Mittel zum Staats» 
zwe.d befteht, fo ift unleugbar auch bie Beſtimmung der Verfafs 
fung, alfo die Zeichnung der Charte, in folder Sphäre begriffen, 
und ed genügt zur Rechtskraft dieſer Charte, daß der gefeggebende 
Sefammtmille, durch das Drygan feiner natürlichen oder Fünftlis 
hen Perfonification, fie verfaffe oder verfünde, oder — wofern fie 
von. einer andern Seite entworfen und vorgefchlagen oder fon 
factifh in Ausübung gefegt. ware — wenigſtens genehmige. 

Der Sefammtwille, welchem. das Recht zufteht, das Grundge: 
feg oder bie Charte zw geben, iſt eigentlich Fein anderer als jener, 
welhem auch bie gemeine Gefeggebung entfließt oder entfließen fol; 
aber das Organ, wodurd er dort fich gefeßgebend dufert, wird ale 
ein anderes gedacht als jenes, welches es hier thut. Es ift dieſes 
mwenigftend eine zur Befeftigung ber Charte nothiwendige Vor: 
ausfegung oder Idee, weil Niemand ſich ſelbſt ein bindendes Geſetz 
geben kann, die. conflituirende Autorität alfo ihr eigenes Werk 
jeden Angenblid wieder abzuaͤndern oder zu zernichten die Befugniß 
hat. , Das. erftgedachte: Organ, wenn es auch bie Staatsge— 
watt verbinden foll, muß daher in der Idee ein höheres und frü- 
beres fein ala das legte; «8 ſoll biefes ja erſt erfhaffen und 
ihm Richtung und Schranke vorfchreiben, während es felbft kei⸗ 
ner andern Beſchraͤnkung unterworfen ift, als jener, welche ſchon das 
allgemeine oder rein vernünftige Staatsrecht dem Gefammtwillen 
überhaupt, alfo auch jedem Organe befjelben gefegt hat. Die conflis 
tuirende Autorität nun bat zum natürliden Drgan bie Ge: 
fammtheit ber volbürtigen Gefellfchuftsgliedee oder deren Stim- 
menmehrheit, und fie kann füglich ſolches Organ fortwährend bei⸗ 
bedalten, während die gemeine Gefeggebung und noch weit mehr 
die Regierungsgemwalt faft-nothwendig einem kuͤnſtlichen Dr: 


Charte. 411 


gan übertragen werden muß. Mur in bes ganz reinen und einfachen 
Demokratie mag bemfelben natürlihen Organ neben ber 
conftituirenben, d. h. die Grundgeſedte gebenden, Autorität 
auch die gemeingefeggebenbe überlaffen bleiben, fei ed, daß es 
von Teiner- conftituirenden Gewalt noch Feinen Gebrauch gemacht 
oder daß es ausdruͤcklich ſich felbft auch die gemeine Geſetzgebung 
und die Regierung vorbehalten, d. h. alſo fi ſelbſt auch zur 
canftituirten Autorität erklärt hätte. Entgegen Tann audy bie 
conftituirte Autorität zugleich mit dee conflituirenden bekleidet 
oder überhaupt zur Ausübung der lestern ein Eünftlihes Drgan ' 
beftelft werden. Beides jede) ift politifch bedenklich oder verwerflich. 
Die natürlich beftehende conftituirende Autorität (perſonificitt aller: 
nacht durdy die Kandesgemeinde oder auch durch die im ganzen 
Lande eröffneten Stimmregifter) ift für.die laufenden Ge 
fhäfte dev Regierung und aud für die gemeine, dem oft fchnell 
wechfelnden Beduͤrfniß anzupafiende, Geſetzgebung zu unbeholfen 
und thut fehr wohl daran, wenn fie auf die Conftituirung fid 
beſchraͤnkt; ja fie thus felbft wohl daran, wenn fie fogar für dieſe, 
ihr allernaͤchſt angehoͤtende, Function (d. h. für. die Feſtſtellung oder 
Abänderung der Berfaffung) ein Fünftlihes Organ (3. B. eine 
außerordentliche, nach einem ihrer Idee huldigenden Wahlgefeg zu er⸗ 
nennende, landftändifche oder NationalsVBerfammlung) verorb:- 
net, ober demfelben wenigſtens den Entwurf und die vorläufige. Feſt⸗ 
fegung der Charte oder. deren Abänderungen überträgt, ſich ſelbſt bios 
die Genehmigung ‚oder Verwerfung desVorſchlages vorbehaltend. 
Beſſer jedoch ift es jedenfalls, fie übertrage. ihre Recht gar nicht, 
als daß fie die conftitnirte ordentliche Autorität, 3. B. Negies 
rung und Kammern, zugleih aud mit der conflituirenden 
Gewalt befleide. Wenn naͤmlich das Leste gefchehen ift, fo Hat bie 
Verfaſſung einerfeits die Stätigkeit verloren, d. h. es ift Gefahr 
vorhanden, bag Abänderungen, welche zum Uebel führen, vorfchnelf 
befchloffen, von unlautern Parteihaͤuptern mit: Lift oder Ungeſtuͤm 
durchgefest ober durch die Autorität eines herrfchfüchtigen Miniſteriums 
von der MWillfährigkeit einer ſchwachen Kammer. errungen werden; und 
anderfeits ift die Duchführung verbeffernder Neuerungen bei 
Machthabern, welche der beftehenden Mißbraͤuche ſich freuen, 3.8. 
bei einer unter der Herrſchaft eines ſchlechten Wahlgefeges gewählten, 
aber in eben biefem Geſetz die Hoffnung ber MWiederermählung ober 
bie Bürgfchaft egoiftifcher Zweckerreichung für ihre eigenen Glieder ober 
für deren Stanbesgenoffen erblidenden Kammer immer fchwierig und 
oft kaum moͤglich. Die nach den DVorfchriften bed estatuto real ge⸗ 
wählte fpanifdye Kammer und die auch nach ber Julius: Revolu« 
tion factifh in Function erhaltene franzoͤſiſche Kammer find da⸗ 
von nahe liegende und einbringliche Beifpiele. Ebenſo das britiſche 
Parlament vor der — erft nach den langmwierigften Kämpfen und 
mehr duch das Volk als durch feine großentheild egoiftifchen ober 


corrumpfrten Sepeäfentemten ereungenen — Refoens, Dieſer zuiegt 
angedeuteten Gefahr hilft nichts Anderes ab als die für Zeiten des anerkann⸗ 
ten Beduͤrfniſſes einer Verfaſſungsabaͤnderung vorzufchreibende Einbes 
sufung einer eigenen conflituirenden Verſammlung (wofür freilich 
ein allen Bedenklichkeiten enträdtee Wahlgeſetz zu geben, eine 
ſchwierige Sache if) 5 dee zuerſt bemerkten aber kann, wenigſtens 
zum heile, dadurch gefteuert werben, daß man bie Formen ber 
Berathung und Schlußfeffimg über Verfaſſungsfragen anders als jene 
für die gemeine Gefeggebung beftimme, und zwar zumal fo, daß eine 
forgfältigere und reifere Berathung dadurch verbürgt und zur Gültig» 
keit des Beichluffes ein ſehr überwiegendes Stimmenmehr ges 
fordert werde. Die conftituirte Autorität wird alfo in ſolchen Faͤl⸗ 
(en zeitlih zur conſtituirenden, nimmt aber nach vollbradhtem 
Geſchaͤft fogleich wieder ihre vorige Eigenfhaft an. 

Von der Entftehungsart der Charte hängt natuͤrlich aud ihre 
Rechtswirkung, Umfang und Dauer ber baraus hervorgehenden 
Verpflichtung, auch die etwa rechtlich zuläffige Art ihrer Zuruͤknah⸗ 
me, Aufbebung oder Veränderung ab. Ihre Eigenfchaft ale 
Vertrag oder ald Gefet entſcheidet allernächft bie hierauf ſich bes 
ziehenden Fragen. Iſt fie nämlich ein Vertrag, fo verbindet fie bie 
Daciscirenden, aber nur biefe, und zwar nur in fo weit biefels 
ben ſich wirklich verbinden wollten und xechtlid verbinden konn⸗ 
ten. Iſt fie aber ein Geſetz, fo kann fie nicht ben Geſetzge⸗ 
ber ſelbſt, fondern bloß die dem Gefeg unterworfenen Perfön> 
lichkeiten zu fortwährender Kefthaltung verbinden, doch auch bier wies 
ber nur fo meit, als ber wahre Sinn oder Wille des Geſetzgebers 
erkennbar ging und rechtlich geben Fonnte. 

Erſcheint hiernach eine Charte ale (freiwillige ober auch durch rechts 
lich zuläffige Mittel abgenöthigte, und ſodann duch Annahme von 
Seite des Volkes bekräftigte) Verleihung des — früher abfoluten — 
Fürſten; fo ift Mar, bag nun Er fein Geſchenk oder fein vertrags⸗ 
mäßig ertheiltes Rechtsanerkenntniß nicht mehr zurädnehmen noch vers 
kuͤmmern, wohl aber durch weitere Geſchenke oder Zugeftändnifie ver- 
vollftändigen darf. Dagegen bat zwar das annehmende Volk ein 
Recht zue Behauptung des ihm einmal Gewaͤhrten erworben, kei⸗ 
neswegs aber die Schulbigkeit auf fid) genommen, fid) mit bem Ge⸗ 
voÄhrten für innmer zu begnügen. Es Tann, wenn «8 feine ges 
rechte Korderung dadurch noch nicht befrtediget fieht oder wenn neu 
eingetretene Umftände, namentlich ein erlangter höherer Bildungsgrab, 
oder die allgemeinen Zeitverhältniffe auch neue, billige Wünfche entfles 
- ben machten, biefelben jederzeit äußern und durch alle ihm rechtlich zu 
Gebote ſtehenden Mittel geltend machen; fo wie auch z. B. ein mit 
einem bleibenden Mechtsanfprudy auf den von einem Andern ihm zu 
reichenden Lebensunterhalt Verſehener durch die zeitlich gefchehene und 
von ihm auch für emmflweilen angenommene Zuſicherung einer gewiſſen 
jährlichen Summe bes Mechts beraubt wird, eine Erhöhung zu fordern, 


Charte. 413 


wenn bie Unzulaͤnglichkelt ber bewllligten Summe entweder ſchon im 
Algemeinen erkennbar vorliegt ober auch erſt fpäter wegen neu einges 
tretener Umftände (als gefteigerter Preife ober vermehrter wahrer Bes 
düefniffe) eine entſprechende Erhöhung als nothwendig erfcheint. Nur 
wenn ausdruͤcklich, als Preis der Verwilligung ober auf Art eines 
Vergleiches, eine Verzihtleiftung auf weiter zu ſteigernde 
Forderungen flattgefunden hätte, würde man ben Vorbehalt folcher 
Steigerung nicht mehr als flillfchweigend im Vertrag enthalten anneh⸗ 
men koͤnnen, fobann aber zu prüfen haben, ob ober inwiefern 
die Verzichtleiftung in ber rechtlichen Macht derjenigen, die fie aus⸗ 
ſprachen, wirklich gelegen gemwefen. Man würde nämlich fragen duͤr⸗ 
fen, ob 3. B. bie auf eine gewiſſe Weife zu Stande gekommene 
erfammlng angebliher Nationalrepräfentanten ober ein fo 
oder fo befchaffenes landſtaͤndiſches Collegium, ober etwa gar 
nur eine vom Kürften willtärlih ernannte Schaar von Notablen, 
mit einer vechtögültigen oder fo ober fo weit gehenden (ausbrüdlichen 
oder ftillfchweigenden) Vollmacht von Seite ber Nation, um beren 
Rechte es ſich handelte, verfehen gewefen, und ob — im Falle ber 
Bejahung biefer Fragen — die Gewalt felbft einer echten National 
Mepräfentation fo weit, als gefchah, gehen konnte, ohne bie Mechte 
dee nahlommenben Geſchlechter zu verlegen? — War ber 
„Kriegsrath“ m England bevollmäditiget, buch bas „Inſtr u⸗ 
ment der Regterung”, wie er feine Charte nannte, bie Formen 
ber neuen Republik unter Cromwell's Protectorat zu bictiren? — 
War ber franzefiihe „Erhaltungsfenat” ermädtigt, bie (freilich 
blos durch Gewaltthat ins Leben geführte) Conſular⸗Vexrfaſ⸗ 
fung zu zertrümmern? — Waren bie angeblihen „Cortes von 
Lamego”, weilhe Don Miguels Ufurpation den Stempel ber 
Gefeglichkeit aufdrüden follten, dazu berechtigt? — Kann eine Dem 
fimmlung von Prälaten und Baronen rechtsguͤltig die Leibeigens 
[haft der Bauern, überhaupt bie Erniedrigung des dritten Etans 
bes verorbnen, fi felbft zur alleinigen National s Repräfentation 
erklaͤrend, ober einen dahin lautenden Vertrag mit dem König rechtes 
gültig abfchliefen? Und koͤnnte wohl irgend eine Verſammlung oder 
wie immer hefchaffene Autorität die Macht haben, die Unumftößliche 
keit oder Unveränderlichkeit einer — wenn auch unmittelbar vom hu⸗ 
manen und rechtlichen Standpunkt verfertigten, noch weniger aber 
eine bie ewigen Menfchentehte verlegenben — Charte für alle 
folgenden Geſchlechter als vertragsmaͤßige Verpflichtung feftzufegen, 
trotz allen etwa in Zukunft eintretenden Veraͤnderungen der Verhaͤlt⸗ 
niſſe und Intereſſen und den mit denſelben fortſchreitenden Beduͤrf⸗ 
niſſen und Erkenntniſſen?? — Dieſe Betrachtungen ſind freilich 
auf die im Wege der Geſetzgebung erlaſſenen Charten nicht min⸗ 
der als auf die vertragsmeife errichteten anwendbar; wir machen 
fie aber einſtweilen blos in Bezug auf bie letztern geltend. 

Was die durch Vertraͤge mehrerer Hegierungen unter ſich 


% 


414 Charte 


zu Stande gebrachten urkundlichen Freiheits⸗Verheißungen für bie 
Völker betrifft, fo haben wir fchon oben bemerkt, daß aus dergleichen 
Verträgen als folhen gar fein Recht, aber auch keine Verpflich⸗ 
tung für bie betreffenden Völker hervorgeht. Sie können hoͤchſtens 
als Anerkenntniffe der denfelben ſchon früher, vermöge ſelbſtſtaͤn⸗ 
diger Titel, gebührenden Mechte dienen, oder auch — infofen fie 
Öffentlich verfündet werden und wirklich Freiheiten, niht aber Be» 
fhränfungen bictiren — als gemeinſchaftliche (d. h. von mehres 
ren Herren gleichzeitig gefchehende) Verleihungen von flaatsbürs 
gerlihen ober politifhen Mechten gelten, wornach fie der fchon oben 
aufgeftellten Beurtheilung folder Verleihungen anheim fallen. Sollten 
jedoch Verträge dieſer Art Abfchaffungen oder Befhränktungen 
fhon früher den Völkern — vermöge natürlichen oder pofitiven Rechts 
— zuſtehender Sreiheiten flatuiren, fo würden fie, wie von feldft 
einleuchtet, rechtlich völlig unwirkſam, obſchon etwa zur Veraͤn⸗ 
derung bes factifchen Zuftandes führend fein. 

Auch die in der Form von Gefegen (Grundgefegen) er 
richteten und verfündeten Charten, obfchon fie allerdings ben Charaks 
ter einer höheren Heiligkeit oder Unantaftbarkeit an ſich zu tragen bes 
flimmt find, ald gemeine Gefege, find gleichwohl mit folcher 
Eigenfhaft nicht unbedingt und nicht ausnahmelos begabt. Auch bei 
ihnen findet die Frage über vechtlihe Gültigkeit — in Bezug auf 
. Urfprung, Form und Inhalt — flatt, und auch wo folhe Frage 
zu bejahen ift, hat ihre Autorität — nad) Perfonen und Zeiten — 
eine ideal leicht zu beftimmende, wiewohl in concreten Källen beftreits 
bare und oft verhängnißvolle Grenze. 

Zuvdrderft alfo kommen Urfprung und Form in Betrach⸗ 
tung. Waren bie Berfertiger und Verkuͤnder folcher Charten oder 
der daran getroffenen Abänderungen mit ber conftituirenden 
Autorität wirklich verfehen? Haben fie bei deren Ausübung _ 
die für Erlaffung von Grund⸗ oder conftitutionellen Gefegen theils 
natürlich, theild nad pofitiven Rechten nothwendigen For—⸗ 
men beobakhtet? Die fon früher angeführten Beifpiele Finnen 
hier wiederholt ald Beleuchtung bienen. Der revolutionaire „Krieges 
rath” nad Cromwell's, der „Erhaltungsfenat” nad Buos 
naparte's Machtgebot ihre angemaßte Gewalt ausübend, die vor 
Don Miguel kriechenden Corte von Lamego waren freilich 
zur Crlaffung von Grundgefegen nicht. ermächtigt; aber mir mögen 
hinzufügen: auh 8. Ferdinand VII., welcher fein Reih an Nas 
poleon abgetreten und baffelbe nur duch bie heidenmüthigen Anſtren⸗ 
gungen des unter den Fahnen ber Cortes⸗Verfaſſung flreiten- 
den Volkes wieder erhalten hatte, war zur einfeitigen Verkuͤndung 
einee neuen Charte (d. h. zur Proclamirung bes Königlichen Abfos 
Iutismus) keineswegs berechtigt; und nicht minder widerredhtlich hans 
deite das Cabinet 8. Karies X. in Trankreich, welches bie beſchworne 
Charte durch „Drdonnanzen” in den weſentlichſten Punkten zu 


Charte. 418 


umſtalten, d. h. zu verhoͤhnen, ſich vermaß; nicht minder widerrecht⸗ 
lich und daher auch rechtsunguͤltig bie ariſtokratiſche Faction in 
Bern, Solothurn, Freiburg und Luzern, welche, die mit 
Napoleons Fall eingetretenen Verwirrungen benugend, an bie Stelle 
der volksthuͤmlichen Berfaffungen ihrer Gantone tumultuariſch ihre 
eigene 2 Herrſchaft einfegte. 

Was ift aber von ben Sällen zu fagen, mo Verfaſſungegeſetze 
durch das Machtwort von Fremden dictirt, dann etwa vermoͤge 
Friedensvertrags von den betreffenden Regierungen ange⸗ 
nommen und ſodann den Voͤlkern geſetzgebend verkuͤndet werden? — 
Auch bier zwar iſt eine Heilung des urſpruͤnglichen Gebrechens 
burc nachfolgende (ausbrüdliche oder ftillfehweigende) Genehmigung 
‚ der wahren conftituirenden Autorität möglih. So lange aber eine 
fotche nicht vorhanden ift, mangelt ber Charte ber vom Innern 
Staatsrecht geforderte Rechtsboden und verbleibt ihr bios diejenige 
Gültigkeit und Dauer, welche nah den Principien bes aͤußern 
Staats d. h. des Staaten: Rechts, ben Friedensartikeln zukom⸗ 
men kann (f. Friedensſchluß). Wir haben. gefehen, . wie bie 
unter Napoleons Aufpicien gefhaffene RheinbundssActe durch 
anderer Gewaltiger, die fpäter feine Sieger wurden, Machtgebot 
(in der Prorlamgtion von Kaliſch) und durch eigenes Losſagen der 
Sürften, welche fie früher aus Napoleons Händen angenommen, 
endlich auch buch die Erhebung der Völker, welche das feufzend 
ertragene Joch abzufhütteln freudig bie Gelegenheit wahrnahmen, 
zerriffen ward; wir haben Aehnliches auch andere Völker, weichen 
Frankreichs Dictat Verfaſſungen aufgedrungen, thun fehen (3. B 
die Schweizer, die man früher gegen ihren Willen zur „heivetis 
[hen Republik“ gemadht und fpäterhin durch die Mediation ss 
Acte nur theilweife befriedigt hatte, au die Holländer und Bel- 
gier, welche von Frankreich, mit dem fie grunbgefeglich vereint wa⸗ 
ren, fi losriffen u. a. m.); und es wird foldhe Erfcheinung ſich 
wiederholen, fo oft aͤhnliche Gewaltmißbrauch und ähnlihe Ge- 
legenheit zur Auflehnung gegen fremdes Machtgebot wieder 
ehren. 

Freilich gelten ſolche durch auswärtige oder durch einheimifche 
Machtgebote dictirte Charten, fo lange die Gewalt fie fefthält, dus 
ßerlich auch als rechtlich gültig, und iſt die Auflehnung gegen fie 
ein fuͤr die Urheber gefaͤhrliches Wageſtuͤck. In den Zeiten des Rhein⸗ 
bundes ward als Verbrecher behandelt, wer auch nur fein Miß⸗ 
vergnügen mit ber dadurch erfchaffenen befpotifchen Gewalt ber 
Fuͤrſten bezeugte und fiel der edle Palm dem Zorne des fremden 
Protectors zum Opfer. Dies iſt natuͤrlich, weil jede Gewalt, bie 
‚einmal befteht, ſich zu erhalten firebt und befto ſtrengere Mittel da⸗ 
für noͤthig hat, je ſchwankender oder hohler der Rechtsboden iſt, 
worauf fie erbaut iſt. Aber die oͤffentliche Meinung und bie 
Gefhichte richten gleichwohl auch über die triumphirende Gewalt, 


416 on Charte. 


und gar oft treten Umſtaͤnde und Ereigniſſe ein, welche bad verwer⸗ 
fende Urtheil vollzugsreif machen. Sich dagegen wahrhaft zu 
ſichern, giebt es nur ein Mittel, nämlich die Heilung bes rechtli⸗ 
hen Gebrechens — was Urfprung und Form betrifft — durch 
nachträgliches Einholen ber Vol ko⸗Zuſtimmung ober jener feines 
ehten Repräfentanten, was aber ben Inhalt betrifft, durch 
einzuleitende Verbeſſerung beffelben mittelft Befragung der legitis 
men conftituirenden Autorität, d. h. eines lautern Organs 
des vernünftigen Gefammtwillens. 

Solches Befragen und dann bad Anhdren und Beachten - 
des Gefammtwillene, wenn er auch ungefragt — auf zuverläffige 
Weiſe — fi) ausfpriche, iſt überall, wo ein meitverbreitetes Mißver⸗ 
gnügen mit einer beftehenden Charte ſich ausſpricht, eine politifche 
wie eine rechtliche Nothwendigkeit. Denn nimmer vergiebt fi) auch a 
durch das feierlihft erlaffene Grundgefeg ber Geſammtwille 
das Recht, wann immer wieder ein neues, namentlich ein verbeffertes, 
ein ben etwa veränderten Zeitverhältniffen oder den erhöhten politifchen 
Einfihten angemeffeneres, zu geben. Das Geſetz, welches ber con« 
ftituirende — ob natuͤrlich oder Lünftlich organifirte — Gefammt- 
wille gab, tft nur verbindlich für die conftituirte Autorität und 
für jedes einzelne Glied der Geſellſchaft, nicht aber für bie große 
— aus Regierung und Regierten beftcehende — Geſammtheit 
Fa, felbft jene conftituirte Autorität und jedes ‚einzelne Mitglied der⸗ 
felben oder des Volkes kann, ohne dadurch ben etwa gefchiwornen - 
Verfaffungseid zu drehen, Vorſchlaͤge zu Verfaffungsänderuns 
gen machen oder Gedanken und Wuͤnſche barüber dußern, fo wie 
es eined eben befondere Stellung mit ſich bringt oder erlaubt. Der . 
Verfaffungseid (im Grunde nichts Anderes als eine. feierliche Eins - 
fhärfung ber auch ohne ihn, fhon aus fchuldiger Folgſamkeit 
gegen das beftehende Gefe& fließenden, Pflicht, oder eine weitere Sanctios 
nirung berfelben durch religiöfe Ideen und pofitio rechtliche, barauf 
gebaute Beſtimmungen) verpflichtet. blos zur Heilighaltung ober Be⸗ 
obadhtung ber Verfaffung, fo lange fie gefeglich befteht, auch 
zur Enthaltung von jedem thatfählihen Verſuche, fie auf unges 
feglihem Wege umzuflürzen oder zu alteriven, nicht aber zum Aufs 
geben jedes Wunſches oder Strebens nad) ihrer Verbeſſerung auf ges 
feglihem Wege. Daher Tann die Regierung (ja fie ſoll fogar, zus 
mal wenn ihre allein das Recht der Snitiative zufteht) 5. DB. ‚den 
Ständen den Vorfhlag zur Modificatton oder Revifion ber Chdete 
machen (verfteht fih frei gewählten Ständen und mit ftrengfter 
Enthaltung von jedem unlautern Einwirken buch Einfchüchtes 
rung oder Corruption), wofern Ihe eine Veraͤnderung für’ Gefammts 
wohl nothmendig oder räthlih daͤucht. Daher kann und darf auch 
jedes Ständeglied frei und frank feine Anficht über etwaige Maͤn⸗ 
gel ober Lüden ber Verfaffung ausfprechen (ja es darf ſelbſt Jeder 
im Volk fih barüber auf geziemende Weife dufern), um bas 


Charte. 417 


durch etwa den Kammern die Anregung zu entſprechenden Bitten 
oder Vorſchlaͤgen zu geben, Überhaupt die conſtituirende Autorität ober 
Diejenigen, welche berufen find, biefelbe unmittelbar in Xhätigkeit 
zu feßen, zur Kenntnißnahme von ben im Wolfe berrfchenden Wuͤn⸗ 
{hen oder Beduͤrfniſſen zu vermögen und bergeftalt die Abhülfe wirk⸗ 
fam vorzubereiten. Ia’e6 haben die Regierten — ohne Unterfehieb 
ob fie zu einer gefeglich verkuͤndeten Charte unmittelbar oder durch 
das Organ von Mepräfentanten ihre eigene Zuſtimmung erflärt haben - 
oder nicht — fortwährend die Befugniß nit nur dir Bitte oder 
des Vorſchlags, ſondern felbft der Forderung einer entfprechenben 
Verbefferung ober Vervollfländigung, wenn bie Charte wirklich ihr 
Recht verlegend oder ihren rechtsbegruͤndeten Anfprühen nicht . 
Genuͤge leiftend iſt. Hätte 3. B. auch wirklich das fpanifche 
Volt durch das Organ felbftgemählter Repräfentanten (nicht blos buch 
jenes ber fanatifchen Pfaffen und bes bethörten Pöbelhaufens) ber 
von Ferdinand VII. proclamirten Unumfchränktheit des Königs beiges 
ſtimmt, fo wuͤrde ihm gleihmohl bee Widerruf ber Zuftimmung, 
fobald es das Unheil des Abfolutismus erkannte, ober bie Korberung 
einer rehtsgemäßen Gonftitution immerbar zugeftanden haben. 
Unb eben fo wuͤrde das — an Werth etwa ber „Lichtenſtein'⸗ 
ſchen“ Conftitution zu vergleichende — estatuto real ded Herrn 
Martinez de la Rofa, aud wenn es von einer wahren Natios 
naltepräfentation waͤre angenommen ober gefeßgebend befräftiget wor: 
ben, ben Forderungen von etwas’ Befferem, ben Anfprücen ber 
Zeit und ber ihr Zugebildeten Genügenderem tein rechtliches Binder: 
niß entgegenfegen. Bedenklich dabei kann jebenfalls nur der etwa 
vorhandene oder Fünftlidy angeregte. Zweifel uͤber die wahre Wolke: 
gefinnung und. das mahre Volksbebürfnig und dann bie Wahl der 
Mittel zur Durchführung bed in dee Idee dem Mecht wie dem 
Gemeinwohl entfprehenden Werkes fein. Das natürliche Organ 
dee conftituirenden Autorität naͤmlich tritt nur in außeror: 
dentlihen Lagen und Umftänden von feibft In Thaͤtigkeit und 
ohne dringende Veranlaffung wird es nicht leicht von Seite ber con 
ftitutirten Gewalt dazu aufgerufen. Daher ift ed gut und meife, 
wenn die Verfaffung felbft auch bie Mittel und Wege ihrer eigenen 
zeitgemäßen Entwidlung oder Fortbildung und Verbeſſerung vorfchreibt, 
zumal alfo ein möglichft zuverläffiges Organ ber conflituirenden 
Macht ind Leben ruft und bie feine fortwährende Webereinfiimmung 
mit dem mahren vernünftigen Gefammtwillen möglichft gemährleiften- 
den Formen für feine Berathungen und Schlußverfaffungen feftfest. 

So lange jedoch die praßtifche Staatskunſt biefen ibealen Forde⸗ 
rungen nicht völliges Genüge zu leiften im Stande ift, bleibt aller 
dings täthlih, der Charte einen abfoluten, felbft gegenüber der con⸗ 
ſtituikenden Autorität zu behauptenden Charakter der Heiligkeit 
pofitiv zw verleihen, bergeftalt, daß 3. B. ihre Unantaftbarkeit 
menigftens für eine beflimmte Reihe von Jahren feftgefegt (in 

Staats s Lerifon. IL. 27 


418 | Charte. 


der Corteg-Merfaffung waren dafür 3 Jahre beflimmt), auch einige 
Hauptgrundfiäge ald der abändernden Verfügung ded Geſammt⸗ 
willens voͤllig entruͤckt erklärt (fo in dee nordamerifanifhen 
Verfaffung jene der Proffreiheit, der Meligiondfreiheit u. a.), und 
dann für bie im Allgemeinen noch zuläffig bleibenden Abänderungen 
die Zuftimmung auch der conflituirten Autorität, insbefondere ber 
Regierung verlangt oder (wie die meiften Berfuffungen thun) 
diefer. Regierung in Verbindung mit der gewähnlihen Volks: 
repräfentation zugleih die Eigenfchaft ber conftituirenden 
Autorität ertheilt, die Ausübung derfelben jeboh an erſchwerende 
Formen gebunden, zumal. auch ein. größeres Stimmenmehr 
dafür gefordert werde, "Denn beffer ift 28, neben dem Befige wefent- 
licher Rechts: Anerkenntniffe und Garantien auch noch mandherlei 
Mängel und Gebrechen fortfchleppen zu müflen, als der fanguinifchen 
Hoffnung auf völlige Rechtsbefriedigung oder auf Erreihung idealer 
Volltommenheit der Verfaffung die Sicherheit des bereitd errungenen 
Guten aufzuopfern, und die Erhaltung oder den Verluſt der koſtbar⸗ 
fen Rechtsgarantien abhängig zu machen von der jeweiligen Stim⸗ 
mung einer Volks- oder Repräfentanten = Berfammlung, alfo von ben 
bei keiner mie immer gebildeten Verſammlung burchaus vermeiblidyen 
Irrthuͤmern oder Verführungen oder Einfchüchterungen des Augen- 
blicks, hervorgebracht etwa durch das Streben ber Regierung nad) 
Uneingefchränttheit ober durch Umtriebe oder Gewaltthätigfeiten hier 
einer herrfchfüchtigen, bort einer zügellofen Partei. " 

Mir haben bisher das Wort „Charte” in der allgemeinen 
Bedeutung, naͤmlich überhaupt als Conftitutions= Gefes ober 
Urkunde, genommen: im engern Sinn ift es ganz befonders bie 
Benennung der franzöfifgen — urfprünglih von 8. Ludwig 
XVII. dem durch die Beſieger Mapoleons wiederhergeftellten König- 
reihe verliehenen, fodann in Folge dee Juliusrevolution in 
einigen Hauptpunkten veränderten — Gonftitution, beren Geift und 
Inhalt eine ‚nähere Betrachtung ſchon darum in Anſpruch nehmen, 
weil Frankreich al Mufterfinat für das neue conftitutionelle Sy⸗ 
ſtem gilt, die Grundzüge ferner Charte auch wirklich vielen ber neue: 
ſten Verfaffungen als Worbild gedient haben und überhaupt die Vor: 
fhritte oder Ruͤckſchritte Frankreichs auf der Bahn bes freiheitlichen 
Staatslebens auf das künftige Schickſal Europa’s jedenfalls verhäng- 
nigreih — ob den Völkern oder den Regierungen, als DBeifpiel ober 
ale bvrecbitd dienend, und ob friedlich oder kriegeriſch — einwirken 
werden. 

Es iſt bekannt, daß, nachdem die Heldenkraft Napoleons durch 
die ungeheure Uebermacht ſeiner Feinde und durch die Abtruͤnnigkeit 
der von ihm groß gemachten Senatoren und Generale gebrochen und 
die Wiederherſtellung der bourbonifchen Herrſchaft unter ber Firma 
ber „Legitimität’ befchloffen war, ber Senat, welcher unter Tal⸗ 
leyrands Aufpizien das Entfegungsurtheil über den Kaifer gefpro: 


Charte. 419 


hen, fid) doch noch ber patriotifchen und Ehren: Pflicht erinnerte, 
bei Ueberantwortung des Meiches an die Bourbone foviel als möglich 
von den Hauptprincipien der Mevolution zu:wahren und unter bie Aegide 
einee VBerfaffungsurkunde zu fielen. Der ſchnell verfertigte und 
vom gefeggebenden Körper eben fo fehnell angenommene (6. Apr. 1814) 
Entwurf einer folchen wurde dem Prinzen von Artois (Bruder Luds 
wigs XVIII.) als Generallieutenant bes Reichs vorgelegt, und von 
demſelben die Zuverſicht ausgeſprochen, daß fein Bruder die Grunds 
lagen bes Entmwurfes genehmigen werde. Aber Ludwig XVIIE., als 
er drei Wochen fpäter aus England auf ben franzöfiihen Boden her: 
überfam, erklärte noh von St. Duen aus die neue Verfaſſung, 
„welche das Gepräge der Eile an ſich trage“, für ungültig, ver 
hieß jedod) eine andere, welche auf dhnlihen Grundſaͤtzen ruhen follte, 
und erfüllte folches Verſprechen auch wirklich (unterm 4. Suni) durch 
Berfündung einer feinem koͤniglichen Willen allein entfloffenen 
Charte. Es war ein Glüd für Frankreich und die Welt, daß bie 
Erinnerung an die oft empfundene Furchtbarkeit der franzöfifhen Wafs 
fen und an die frühere Begeifterung der Meufranten für Freiheit und 
Vaterland noch lebendig in den Gemüthern der jegigen Sieger war. 
Man erlaubte alfo dem Fugen König, daß er dem — augenblicklich 
kaum mehr widerftandsfähigen, dabei durch früher  begangenen Mißs 
braud) des Siegerrechts des Anſpruchs auf Schonung verluftigen und 
dem ftrengen MWicdervergeltungsrecht anheim gefallenen, zumal aud) 
duch feine vielen Revoluttons: Sünden zum Abſcheu der Mächte 
gewordenen, eben darum aber immer noch ſchrekkenden — franzoͤſi⸗ 
[hen Volke eine Berfafjung verleihe, wie von den fiegenden Voͤl⸗ 
tern Feines — felbft das freiheitsftolze beitifche nicht — eine bes 
faß oder, mas insbefondere die Voͤlkerſchaften teutfcher Zunge bes 
teifft, auch nur zu erlangen bie Hoffnung ober zu erbitten den Much 
hatte- Wir haben bier, was England betrifft, natürlich deſſen 
Berfaffung, wie fie vor der Parlamentsreform beftand, im Auge, 
und fehen dabei ab von. allen übrigen — nicht eben in ber Vers 
faffung, fondern in andern Umftänden begründeten — bie Freiheit 
begünftigenden Verhaͤltniſſen des gluͤcklichen Inſelſtaates. Und mas 
die franzoͤſiſche Charte ſelbſt betrifft, fo .fegen mir bei unferem Urtheil 
natürlih eine redlicdye, ihrem MWortlaut.: oder deffen aus vera 
nünftiger Auslegung bervorgehendem Sinn entfpredhende Bes 
obachtung bderfelben voraus; befchränten auch die Lobpreifung auf 
die darin ausgefprochene — theils vollkommene, theild wenigitens an⸗ 
nähernde — Anerkennung der Hauptprineipien der Revolu⸗—⸗ 
tion; d. bh. des vernünftigen Staatsrechts, fo wie die con» 
ftituirende Nationalverfammlung fie. in ber Gonflitutionsurs 
Pfunde von 1791 niedergelegt, das monarchiſche Europa aber auf's 
beftigfte und hartnädigfte bekaͤmpft hatte, und flimmen übrigens aus 
voller Ueberzeugung in ben bie Charte megen einzelner ſchwerer 
Abmweihungen und Mängel billig tveffenden Tadel eim. 
27* 


420 Charte. 


Die Charte Ludwigs XVIII. hat zuerſt dem ſeit 1789 die 
Loſung ber Wohlgeſinnten gewordenen Repraͤſentativ⸗Syſtem 
einen geſicherten Rechtsboden gegeben. Denn die fruͤheren Conſtitu⸗ 
tionen des revolutionairen Frankreich erfreuten ſich theils der unum⸗ 
wundenen Anerkennung von Seite der Großmaͤchte nicht, und ge⸗ 
langten auch wegen fortwaͤhrender einheimiſcher Stuͤrme nicht zum 
feſten Beſtand; theils waren ſie — namentlich die conſulariſche 
und bie kaiſerliche Verfaſſung — dem urſpruͤnglichen Geiſte der 
Revolution völlig widerftreitend, den Abſolutismus des Kriegsmei⸗ 
fterd an die Stelle des Nationalwillens febend, ja biefen letzten durch 
die für feine Aeußerung vorgefchriebenen beengenden und verfälfchenden 
Kormen nit nur zum bloßen Schalle herabwuͤrdigend, fonbern felbft 
verhöhnend. Das über den gedemüthigten Welttheil triumphirende 
Frankreich war durch feinen eigenen Gewaltsherrfher geknechtet; 
und nur bie dem Nationalftolz fchmeichelnde Weltherrſchaft Frankreichs 
gab einigen Troſt für die getöbtete Innere Freiheit. Diefe Iekte 
erftand erſt aus den Niederlagen feiner Heere wieder, unb die Groß⸗ 
mächte achteten für reihen Gewinn, das furchtbare Soldatenvold, über 
welches ein Zufammenfluß außerordentlicher Umftände ihnen ben aus 
genblicklichen Sieg verliehen, durch Gewaͤhrung conftitutionellee Frei⸗ 
heiten im Innern beſchwichtigen, d. h. über den Verluſt der aͤußeren 
Herrſchaft troͤſten und vom verzweifelten Widerſtand, welcher erneute 
Revolutionsgreuel hervorbringen mochte, abhalten zu koͤnnen. 

Alſo durfte Ludwig XVIII. als verfaſſungsmaͤßige Rechte der 
Franzoſen und als Grundprincipien ihres Staatsvereins anerkennen 
und feierlih erflären: 1) die Gleichheit Aller vor dem Geſetz, wel⸗ 
ches immer fonft ihre Zitel und ihe Rang felen; 2) Allgemeinheit 
der Beitragspflicht zu den Staatslaften nad) Verhaͤltniß des Vermoͤ⸗ 
gens; 3) Gleichheit der Anfprüche zu allen Civil: und Militair⸗ 
Stellen; &) perfönliche Sreiheit dermaßen, daß Niemand verfolgt ober 
verhaftet werden koͤnne, es fei denn in ben vom Geſetze vorgefehenen 
Hätten und vorgefchriebenen Formen; 5) allgemeine Religions: und 
Eultus: Freiheit; 6) Preßfreibeit in den Schranken der gegen ben 
Mißbrauch folher Freiheit zu erlaffenden Repreſſſiv⸗Geſetze („en 
se conformant aux lois qui doivent reprimer les abus de cette 
liberte “ ift der Ausbrud ber Charte); 7) Unverletzlichkeit des Eigen 
thums, daher vorläufige volle Entfchädigung, wo megen eines geſetzlich 
erwieſenen Öffentlichen Intereſſes das Opfer eines Eigenthums vom 
Stante verlangt wird; 8) Abſchaffung der Gonfeription; 9) Inamo⸗ 
vibilität der Nichter; 10) alleinige Competenz des natürlichen ichs 
ters, Aufhebung und Verbot aller außerordentlihen Commiſſionen 
und Tribunale (mit alleiniger Ausnahme ber Prevotals Höfe, falls beren 
Miederherftellung für nöthig follte erachtet werden); 11) Deffentlichkeit 
ber Verhandlung in Criminalſachen; 12) Beibehaltung bes Inſtituts 
ber Zum; 13). Abfchaffung der Vermögens: Gonfiscation und Verbot 
ihrer Wiedereinführung; 14) Beſchwoͤrung ber Verfaſſungsurkunde 


Charte. 421 


durch den König und jeben feiner Nachfolger bei der Zeierlichkeit ihrer 
Krönung. — Unermeßlich koſtbare Gemährungen, und weldhe, in 
Verbindung mit dem buch eben biefe Charte ausdruͤcklich in Kraft 
erhaltenen „oode civil“ (der Name Napoleons marb babei 
ausgelaffen), wornach weber Leibherrlichleit, noch Lehensherrlichkeit, 
noch andere mittelalterliche Laften des äffentlihen Rechts ober Une 
rechts mehr anerkannt werden, faft den ganzen Inbegriff der nad 
der reinften Theorie zu fordernden bürgerlichen Sreiheit verwirk⸗ 
lichen; zum Theil Gemährungen, wornach felbft nur zu ftreben, oder 
Wuͤnſche zu aͤußern in mehr als einem der Staaten, welche bem über: 
mwundenen Frankreich das Geſetz bes Friedens dictirten, noch heute 
für Verbrechen oder für flrafbaren und durch bie größte polizeiliche 
Strenge hintanzuhaltenden „Umtrieb” gilt. 

Neben den bürgerlichen Freiheiten aber und insbefondere zu 
deren wirkſamer Beſchirmung gewährte die Charte den Kranzofen auch 
politifche Rechte, und zwar gleidhfalls in einem bie Forderungen 
einer für die conftitutionelle Monarchie aufzuftellenden 
Liberalen Theorie bis auf einige wenige Punkte ſo ziemlich befriebis 
genden Umfang. Der König iſt nach ber Eharte heilig und unverletz⸗ 
tich, feine Minifter aber find verantwortlich; die Kammer ber Deputirten 
hat das Mecht, fie anzuflagen, und jene ber Pairs das, fie zu richten. 
Dem König allein ſteht die vollgiehende Gewalt zu; er tft hoͤchſtes 
Oberhaupt bes Staates, befehligt die Lands und Seemacht, erklärt Krieg, 
fließt Friedens⸗, Allianzs und Handels »Tractate, ernennt‘ zu allen 
Stellen der öffentlichen Verwaltung und erläßt die zur Vollsiehung ber’ 
Geſetze und — wie ein verhängnißvoller Zufag beſagt — bie „zur Si⸗ 
cherheit des Staates noͤthigen“ Werfügungen und Ordonnan⸗ 
zen. Seine Civiltifte wird duch bie erfle Legislatur nad feiner 
Thronbefteigung für feine ganze Megierungsbauer feftgefeht. „Die ges 
feggebendbe Gewalt wird gemeinfhaftlih vom König und 
ben beiden Kammern ausgeübt.” (Hier alfo ein unummundenes 
Anerkenntniß der das. Weſen der conftitutionellen Monarchie ausmas 
henden Theilung ber Gewalt, fern’ von jener fpisfindigen, aus dem 
ohne irgend eine klare Begriffsbefiimmung aufgeftellten und dictatoriſch 
ale Lofungswort verfündeten „monachifhen Princip’ abgeleite: 
ten, fich felbft aber widerfprehenden — oder wenigſtens zum blo⸗ 
gen Wortftreit führenden — Lehre, baß alle Staatsgewalt in der 
Derfon des Monarchen vereint, und nur bie Ausübung einiger 
beftimmter echte derfelben an die Mitwirkung ber Stände gebuns 
ben fein folle.) Das Recht des Könige bei ber Geſetzgebung befteht 
in bee Initiative, br Sanction und bee Promulgation, je 
nes der Kammern in ber freien Berathung, ſodann Zuftimmung 
oder Bermwerfung. Auch dürfen fie ben König um ben Vor: 
fhlag eines Geſetzes über irgend einen Gegenftand bitten, mit 
Angabe des Inhalts, weichen baffelbe, ihrer Meinung nad), haben foll. 
Die National: Repräfentation befteht aus gwei Kammern, einer ‚ber 


422 Charte. 


Pairs und einer der Deputirten. Die erſte, deren Mitglieder — 
in unbeſchraͤnkter Zahl — vom Koͤnig nach Willkuͤr, auf Lebenszeit oder 
erblich, ernannt werden, iſt nicht nur, wie jene der Deputirten, Theilneh⸗ 
merin der geſetzgeben den Gewalt, ſondern auch Staatsgerichts⸗ 
hof in Faͤllen der Anklage gegen Miniſter und uͤberhaupt uͤber Verbre⸗ 
chen des Hochverraths und uͤber Angriffe auf die Sicherheit des Staa⸗ 
tes. Die Prinzen von Gebluͤt ſind geborne Mitglieder diefer Kammer, 
koͤnnen jedoch nur auf ſpeciellen Befehl des Koͤnigs Sitz darin nehmen. 
Die Berathſchlagungen ſind geheim. (Aus dieſen und andern Be⸗ 
ſtimmungen geht freilich hervor, daß man die Pairskammer blos als Ge⸗ 
gengewicht der eigentlichen Volks-, d. h. ber Deputirtenkammer ober 
als noͤthigenfalls zur Entkraͤftung der Beſchluͤſſe der letzten zu gebrau⸗ 
chendes Werkzeug errichtete. Doc, koͤmmt hierauf nicht ſehr viel. an, 
wofern mur bie Deputirtentammer mit den bem natürlichen Or⸗ 
gan bes Geſammtwillens gegenüber der Megierung gebührenden Rechten 
verfehen warb. . Demn die wahre Volksrepraͤſentation befteht allenthals 
ben nur in diefer Wahllammer.) 

Hier muß: nun freilich anerfannt werden, daß mehr ale ber. 
Umfang ber einer. folhen Sammer verliehenen Rechte, die Art 
ihrer Bildung entſcheidend fuͤr ihren politifhen Werth ober Unwerth 
if. Und die in ber-Charte Ludwigs XVIII. vorgefchriebene Bildungs⸗ 
weife ift allerdings eine vom Geift ber Ariftofratie (namentlich. der 
Geld⸗Ariſtokratie, hinter welcher fi jedoch jene der Geburt nur 
liſtig ober "nothgedrungen — meil die Franzoſen das Geburtsvorrecht 
Idngft entfchieden verworfeir hatten — verbarg) eingegebene, daher der 
Idee einer wahren Volksrepraͤſentation durhaud.nicht entfprechende.; 
Doch eine Heilung ber urfprünglich fehlerhaften Bildungsart durch 
ein nachfolgendes Geſetz blieb immer zu erwarten, und in foldjer Bor: 
ausfeguing mochten die der Deputirtenfammer durch die Charte: verliches 
nen Rechte als wenigſtens anndhernde Befriedigung ber Korberungen. der 
Theorie erfcheinen. Denn fie erhielt das Recht der entfcheidenden Theil⸗ 
nahme an ber Geſetzgebung, welche nach ihrem Weſen die hoͤch ſte 
Gewalt und, wenn im volksthuͤmlichen Sinne ausgeuͤbt, die Gewaͤhr⸗ 
leiſterin aller Intereſſen und Rechte des Volles iſt. Keinem andern 
Geſetze gehorchen zu muͤſſen, als wozu man (unmittelbar ober durch daB. 
Organ echter, insbeſondere frei gewählter Nepraͤſentanten oder deren 
Mehrheit) eingeſtimmt hat., Macht eben das Wieſen der Freiheit aus; 
und ein Volk, weichem ſolche Zuſicherung verliehen iſt, bat wenigſtens 
keine Gefahr der Verſch limmerung feines- eben. beſtehenben Zuſtan⸗ 
bes mehr, wofern es nicht ſelbſt — durch. thoͤrichtes Zuſtimmen 
oder durch ſchlechte Wahl — dieſelbe herbeifichrt. Aber: auch das 
Mittel jeder moͤglichen Werveſſerung des: Zuſtandes befitzt es, wenn 
ihm (d. h. feinen Wortfuͤhreen), wie durch die franzoͤſiſche Charte wirk⸗ 
lich gewaͤhrt iſt, wenigſtens das Recht der Bitde um jedes erwuͤnſchte 
Gefeg und auch das Recht der Steuerverwillig ung zuſteht; Rechte 
naͤmlich, durch deren weiſen Gebrauch die Regierung — wenn nicht of⸗ 


Charte. 425 


tect, fo doch indireet — gen oͤthigt werden kann, im Sinne ber auf: 
geklärten Öffentlihen Meinung, d. h. des wahren und-vernünfti- 
gen Geſammtwillens, zu‘ malten. Gegen Verlesungen der 
Charte durch ein boͤswilliges oder corrumpirtes Minifterium iſt der De- 
putirtenfammer das Anklagerecht gegen bie Minifter ertheilt. Als 
koſtbare Bürgfchaften für treue und muthige Ausübung der 
Deputirtenpflicht aber find namentlidy die Oeffentlichkeit der 
Verhandlungen und die Unantaftbarkeit der perfönlihen Freiheit 
der Deputicten, felbft in Griminalfachen’ (während der Dauer der &ef- 
fionen und nur den Fall der Betretung: auf frifcher That ausgenommen), 
toofern nicht beide Kımmern in die Verhaftnahme einwilligen, durch bie 
Charte verliehen, auch durch die Verordnung der alljaͤhrlichen Ein- 
berufung der Kammern und durch jene der binnen drei Monaten nad 
einer etwaigen Huflöfung der Drputirtenfammer zu gefchehenden Zufam: 
menberufung einer neuen alle längeren Unterbrechungen der ber. 
Bolksrepräfentation zugeſchiedenen Wirkfanitelt verhuͤtet. 

So' viel von ben Vorzuͤgen ober von der Lichtſeite der franzsfi- 
fhen Charte. Freilich aber hat fie auch ihre Schattenfeite, hefte- 
hend theils in einigen offenbar ſchlechten, Ihrem eigenen Hauptprin⸗ 
cip wiberftreitenden Beftimmungen, theils In einigen Luͤcken und Z wei—⸗ 
deutigkeiten, welche den Feinden ber Volksfreiheit — feien fie im 
Minifterium ober im Gabinet oder im Schooß einer anmaßenden Faction 
— Erleihterungsmittel oder Beſchoͤnigungsgruͤnde faſt jeder argliſtigen 
oder gewaltthätigen Unterdruͤckung, ja die brauchbarſte Waffe zur Ver: 
nichtung der Churte felbft — nicht nur nad) ihrem Sinn, fondern auch 
nach ihrem Wortlaute — bdarbieten und‘ dargeboten haben. Wir aber 
haben bei unferem Lobe eine aufrichtige und ehrliche DBeabachtung 
voransgefegt, nicht eine infidlöfe Tendenz und gewiſſenloſe Verdrehung. 
Das allernaͤchſt Auffaltende in diefer Charte ijt der Eingang, 
wortn Ludwig XVII, im Widerfprudy mit der ihm vom Senat vorge: 
legten Urkunde, welche ihn als „Duck freie Volkswahl“ — und 
zwar unter der Bedingung der eidlichen Eonſtitutions- Annahme — zum 
Throne Berufenen erklärt, als unmittelbir „von Gottes Gnaden“ 
König der Franzofen und daher als bereit8 im neunzehnten Jahre 
die Regierung führend auftritt, und als vermoͤge feibftftändigen Rechtes 
Inhaber aller Staatsgewalt, welcher, blos aus felbfleigener Ueberzeu- 
gung und Gnade, feinen Unterthanen — nad bem Beifplel mehre⸗ 
ver Vorfahren, welche gleichfalls verſchiedene Freiheitsbriefe den Ihrigen vers 
liehen — bie den Ideen und Bedürfniffen der neueften Zeit angemef- 
fene Gonftitutionsutekunde, den Wünfchen des Volks nachgebend, „zu: 
gefteht, übergibt und verwilligt“. — Es ift dies eine Formel, 
toodurch die ganze Mevolutionsperiode (von 1789 big 1814), als wäre 
fie gar nicht vorhandert gemwefen, ober als wäre fie unmwürdig, in den 
Blättern der Gefchichte zu flehen, der Vergeſſenheit überliefert und 
die Refiaurations:Reglerung ald unmittelbare Kortfegung 
Dir von Ludwig XVI. vor 1789 geführten‘ dargeſtellt erden will. 


424 Charte. 


Zugleich macht fie den Kortbeftand dieſer Conſtitution abhängig von 
dem guten Willen oder ber Gnade eines jeweiligen Königs von Frankreich. 
Denn wohl enthält fie die weitere Sormel: „ſo wohl für uns ale 
für unfere Nachfolger auf ewige Zeiten” ſei die Eonftitus 
tion gegeben; unb nad der am Anfange biefes Artikels aufgeftellten 
Theorie ift allerdings ein abfoluter Fuͤrſt, wenn er in der Eigenfchaft 
als Conftitutionsucheber, d. h. als die conflituirende Autorität 
des Volkes augenblidlid ausübend, auftritt, und in ſolcher Eigen« 
[haft feine eigene Macht ale conftituicte Staatsgewalt befchränkt, 
nachher an feine eigene Charte gebunden und jeder feiner Thronfolger 
gleichfalls. Aber ſolche Theorie war nicht die bes Stifters der franzöfis 
fhen Charte. Nicht im Namen oder ale Repräfentant ber conftituts 
renden Volksgewalt gab.er diefelbe feinen „Unterthanen”, fons 
bern als felbfiftändiger Inhaber aller Staatsgewalt, und war er biefeg, 
fo Eonnte er wohl ein Vorhaben ober einen Entfchluß verkünden, 
nur nad, gewiffen Formen und mit berathender oder mitentfcheibenber 
Theilnahme einer wie Immer gebildeten Verſammlung gewiſſe Acte ber 
oberften Gewalt in Zukunft auszuüben ; aber verbinden dazu konnte 
er ſich nicht (es ſei denn durdy einen Vertrag, welchen er jedoch kei⸗ 
neswegs einzugehen vermeinte, indem er bie Charte als Geſetz und als 
ganz freie einfeitige Gewährung verkündete) und noch weniger feinen 
Nahfolgern (die ja niht von ihm oder durch feine Verleihung, 
fondern durch ein ber Charte Längft vorausgegangenes [wahres oder ge⸗ 
bichtetes] Geſetz [dev Thronfolge und der abfoluten Gewalt] die Herr⸗ 
{haft erhalten) eine folche Verbindlichkeit auflegen. Es blieb, nach tem 
von ihm felbft aufgeflellten Princip feiner Gewalt, ihm und allen feinen 
Nachfolgern immerdar nicht nur freiftehend, fondern felbft pflichtges 
mäß obliegend, das nad) Zeiten und Umftänden jedesmal Zweckdien⸗ 
liche in Bezug auf bie Ordnung oder Form der Staatsverwaltung, fo 
wie über das Materielle berfelben zu befehlen ober feftzufegen. Kein 
Begründetes geht Über feinen Grund hinaus, und diefelbe Autorität ober 
derfeibe Wille, welcher ein NRechtsverhältnig in's Leben rief, kann es auch 
wieder aufheben oder abändern. Ein Gefey kann bergeftalt aufgehos 
ben werden durch den einfeitigen Willen bes Inhabers der gefeggebenden 
Gewalt, ein !3ertrag durch den übereinftimmenden Willen beider Pa⸗ 
ciscenten. Die Charte alfo, da der Urheber ober Geſetzgeber blos ber 
König war, hatte gegenuber ihm felbft keinen bleibenden Rechtsbeſtand, 
und ber Vertrag, ben er etwa mit dem bamaligen Körper ber angebs 
lichen Volksrepraͤſentanten ober auch mit ben von ihm felbft errichteten 
oder nach einem von ihm bictieten Wahlgeſetz gebildeten Kammern dar⸗ 
über ſchloß oder zu fließen gemeint war, litt an dem wefentlichen. Ges 
drehen der Nihtbevollmädtigung ber Annehmenden, und mochte 
baher, fo lange nicht das Volk auf zuverläffig erfennbare Weife durch 
nachträgliche Zuftimmung das Gebrechen geheilt hatte, mit Grund anges 
fochten und zumal vom Nachfolger bes Urhebers widerrufen werben. 

Das in der Art ober Form der Verkündung beftehende Ge- 


Charte. 425 


brechen der Charte jedoch mag als wirklich geheilt erſcheinen durch, bie 
fpäter erfolgte Annahme nit nur von Seite der Kammern, fon> 
bern auch von jener des Volkes. Die letztere gefchah nämlich wenig⸗ 
ftens in dem Sinn, daß bie Nation das Gute, was ihr gewährt ward, 
nüglih annahm, jedoch ohne darum auf das Beffere, d. h. auf die 
vollftändigere Rechtsbefriedigung, zu verzichten und fodann 
in der DVorausfegung einer gegenfeitig vedlihen Erfüllung — 
Weit fchlimmer aber find die materiellen Mängel der Charte und 
ganz insbefondere das durchaus unpopulaire Bildungsgefet für bie 
Wahlkammer. Wählbar nämlich für die Deputictenftelle ſollen 
nad) der Verfügung biefer Charte nur jene Bürger fein, welche 1000 
Franken directe Steuer zahlen und bereitd 40 Jahre alt find, wahlbes 
rechtigt aber nur bie jährlich 300 Franken zahlen und ein Alter von 
30 Jahren Haben. Die Präfidenten der Wahlcollegien follen vom Kös 
nig ernannt werden und dadurch gefeglihe Mitglieder berfelben fein. 
Aud ber Präfident der Kammer fol vom König ernannt werden aus 
einer Liſte von fünf durch biefelbe dazu vorgefchlagenen Mitgliedern. — 
Daß durch den fo enormen Wahlcenfus die Deputirtenlammer aus 
einem Drgan des Nationalwillens in einen Sig der ausfchließend> 
fien Seldariftofratie verwandelt, die dem erften gebührende Ges 
walt alfo dem engen Kreife der Reich iten (großentheils zufammentrefs 
fend mit jenem der Vornehmſten) übertragen und bie Nation felbft 
geroiffermaßen mundtobdt gemacht ward (infofern nicht bie freie Preſſe 
ihe noch einige Stimme bewahrte), ift fhon in dem Art. Cenſus 
ausgeführt mworben. Aber biefes genügte dem Stifter der Charte nicht. 
Auch die Reichen find Theilnehmer ber wichtigſten National» Interefs 
fen; auch die Reichen mögen biefelben gegen ettwaige Eingriffe ber Res 
gierung in Schuß zu nehmen geneigt fein. Dan mußte alfo aus ihnen: 
nur Diejenigen zur Wahl zu bringen fuchen, bie dem Minifterium 
angenehm, d. h. zuverläffige Diener des minifteriellen Willens durch 
Spmpathie der Gefinnung oder durch. was immer für felbftfüchtige, vom 
der Gunft der Regierung abhängige Interefien wären. Daher bie koͤ⸗ 
niglihe Ernennung der Präfidenten der Wahlcollegien und — was weit 
ſchlimmer ift — ber geheime Vorbehalt noch manch' anderer Einwirs 
tung auf die Wähler. Die Charte zwar erlaubt eine ſolche nicht, vers. 
bietet fie aber auch nicht ausdrüdlih, und was blos duch das Vers 
nunftgefeg verboten oder nach rein vernünftiger Anſicht vers 
werflich ift, daran Lehren, weil ſich immer noch Darüber ftreiten läßt, die 
Inhaber der Gewalt fi nur wenig, und es fehlt ihnen dabei an dia⸗ 
lektiſchen Rechtfertigungen nie. Alſo erging es den Deputirtenwahlen. 
Sie, die ihrem Begriffe nad nur freie fein Binnen, geriethen durch 
Beftehung, Einfhüchterung, ja mitunter förmliche Gewalt unter bie 
vorwaltende Herrſchaft theild bes Miniftertums, theil6 der Camarilla, 
theil8 der Emigranten » $action. Die ährten National» Repräfentanten 
blieben ftets in der Minorität. Aber auch ſolche Minorität, wegen bes morali- 
fchen Eindruds ihrer Oppofition, wurbe gefürchtet. Daher verfchlechterte man 


426 -Charte. 


das ohnehin fchon fchlechte Wahlgeſetz noch weiter, und die Kammer ſelbſt gab 
ihre Zuflimmung zu dem bahin gehenden Regierungsvorſchlag (1820). Die 
bisherige Zahl von 258 Deputirten wurde dadurch bis auf 430 ver: 
mehrt. Bon biefen follten 258 mie bisher von den Bezirks: Mahl: 
collegien gewählt werden, die übrigen 172 abet aus den zu diefem Be: 
bufe errichteten Departements: Wahlcollegien hervorgehen, beftehend 
aus dem hoͤchſtbeſteuerten Viertheil fammtliher Wahlmaͤnner 
eines Departements. Diefes Viertheil erhielt demnach ein doppeltes 
Stimmrecht, weil es eines auch in den Bezitfscollegien ausübte. Da 
nun (nad) der von dem fachlundigen Deputirten Ternaur aufgeftell: 
ten Berechnung) ſchon durch das urfprüngliche Wahlgeſetz die Wahlbe⸗ 
techtigung auf eine zufamnten blos den vierzigften Theil der öffentli- 
chen Abgaben entrichtende Zahl-von Bürgern beſchraͤnkt war, fo erfchien 
allerdings biefe noch meitere Bevorzugung der Allerreichften vor den 
etwas minder Reichen, und zumal (meil nur die directe Steuer den 
Maßſtab gab) der großen Grundbeſitzer vor den übrigen Claſſen der 
Reichen, als die auffallendfte Probe der Unerfättlichkeit der Ariſtokra⸗— 
tie, bie ba, nicht zufrieden mit dem in der Pairskammer ihr aus 
fchlteßend zuftehenden Sige und mit bem ihr in der Drputirtenfammer 
(hof buch das alte Wahlgefeg geficherten entfchiedenften Ueberges 
wicht, daffelbe noch meiter zu erhöhen und, durch Concentrirung 
auf die mögtichft Fleinfte Zahl, für die vorzuͤglich Beguͤnſtigten um fo 
bedeutfamer zu machen fich vermaß. Hatte dod) die Kammer fchön vor 
diefem uftea = arijtoßratifchen Wahlgefeg mehr als hinreichende Geneigt: 
heit gezetat, die VBolfafreiheiten zu untergraben oder umzujtürzen. Cie 
hatte namentlich erft Eurz zuvor gegen die auüsdruͤcklichen Beſtimmungen 
der Chart!’ den Miniftern das Recht der willkuͤrlichen Berhaftnahme 
der des Hochverrath3 Verdächtigen, mit der einzigen Befchränkfung, 
dag ber Angefchuldigte binnen 3 Monaten vor Gericht müffe geftelft wer: 
den, ertheilt; fie hatte, gleichfalls im Miderfpruch mit der Churte, bie 
(ichon früher einmal eingeführte, dann aber wieder abgefchaffte) Cen⸗ 
fur der politiſchen Journale und anderer periodifhen Schriften abermal 
in's verhaßte Leben gerufen und duch andere „Jusnahmsgeſetze“ 
mehr ihte Nichtachtung dee Conſtitution beweiſen. Das neue Wahlgefeg 
alfo, welches noch entfchiedeneres Voranſchreiten auf bem Wege der Re- 
action borbereitete, konnte nut als eine Kriegserklaͤrung anf Tod und Le: 
ben gegen das conftitutionelle Syſtem erfcheinen, und die nachfolgenden 
Greigniffe machten ben nahenden ˖ Untergang der Eharte auch dem biöbe: 
ften Auge fihtbar. Als aber Die, durch die Üebertreibungen Bill dke's 
und Peyronnershervorgerufene Oppoſition des noch einigermaßen ver: 
ſtaͤndig denkenden und gemaͤßlgt 'gefinnten Theiles der Ariftofratie den 
Widerſtand der Liberalen‘ bekräftigt und bas wenigftens vergleichungs: 
weife gute Minifterium Martignac hervorgerufen hatte; fo rüfteten 
ſich die Ultra-Royaliſten und Ariſtokraten zu dem gegen die Volksfreiheit 
zu führenden Todesſtreich, und führten ihn auch wirklich — jedoch nur 
su ihrem eigenen Verderben — durch bie unter den Aufpicien des neuen 


Sharte. 427 


Minifterd Polignac und feiner würdigen Collegen erlafjenen Orden: 
nanzen des 25. Sulius 1830 aus. Een Ze 
: . Hiezu gab ihnen ein befonders inſidioͤs abgefaßter Artikel ber 
Charte dem milllommnen Vorwand und Belchönigungstitel. Der Ar- 
titel 14 nämlich befaget: „le roi est le supreme chef de l’etat.... 
il fait les r&öglemens’ et ordonnances necessaires pour l’exechtion 
des lois et la nüredte de l'état.“ Alte, was zur „Sicherheit 
des Staates” zu verordnen nöthig ober raͤthlich iſt, ſteht alfo in 
des Könige Macht, und. da über ſolche Nothwendigkeit und Näthlichkeit 
ee felbft die ‚alleinige Entfheidung hat, fo tft auch, in fo meit er fol- 
ches für gut oder nöthig erkennt, jede Beſchraͤnkung oder Aufhebung 
oder Abänderung von Berfaffungsbefiimmungen feiner Macht an⸗ 
beimgeftellt. (Auf eine aͤhnliche Weiſe find freilich auch in andern 
Staaten die Zwecke der „Sicherheit, Ordnung und Ruhe” als 
Rechtfertigungsgründe der außerorbentlichften, früher ganz unerhoͤrten 
Mafregein aufgeſtellt worden.) Aus biefem Raifonnement nun gins 
gen die verhängnißreichen Drdonnangen hervor,‘ welche bie beiden — 
durch frühere Schläge: ſchon heftig erfchütterten — Hauptſaͤulen' des 
Rechtözuftandes, Preßfreiheitund Wahlfreiheit, vollends über den 
Haufen warfen und'an die Stelle einer wenigſtens ſcheinbar conſti⸗ 
tutionellen Megierung ben faft nackten Abſolutismus Tfegen: follten. 
Auf melde Art aber das franzöfifche Volk. diefe freiheitmörderifchen 
Drdonnanzen aufnahm und beantiöortete und mie aus dent Verſuche, 
die Charte umzuftürzen, für die Urheber dee Untergang und für bie 
Nation eine verbeſſorte und neubefräftigte Charte hervorging, iſt noch 
in Jedermanns friſchem Gedaͤchtniß. Wir Übergehen. bier die — un: 
tee dem Artikel Frankreich ohnehin noch eigends zur Sprache Tom: 
mende — unfterblihe &efchichte, unfer Augenmerk blos anf die in 
Folge der Umwaͤlzung zu Stande gebrachten Werbefferungen der 
Charte richtend. | 

Die erfte Hauptverbeſſerung beſtand in der Weglaſſung des Ein⸗ 
gangs zur alten Charte, wodurch: biefelbe als eine oetroyirte, 
dv. h. von gnädiger Verleihung des Könige ausgehende erklärt wird. 
Die neue Charte Fündet ſich als Geſetz und zwar ald vom Volks⸗ 
willen ausgegangenes : und vom "König als Thron⸗ ober Wahl⸗ 
Candidat blos angenommenes, d. bh. duch: das Verfprechen, 
das Reich unter :den darin feſtgeſtellten Bebingungen zu uͤbernehmen 
und der Charte gemaͤß zu regieren, ibeträftigtes, ſodann von ihn 
als wirklich er König im gewoͤhntichet Form verkuͤndetes Ge⸗ 
ſetz. Dieſe Formel lautet demnach alſo: „Ludwig Philipp, König der 
Franzoſen (ohne den: Beiſatz „von Gottes Gnaden“, weil naͤm⸗ 
lich anerkanntermaßen „durch freie Voſkswahl“ König. Und 
auch nicht „König -won Frankreich und Navarra“, wie bie 
alte Charte lautete, weil dieſer Ausdruck ein Eigenthumsrecht 
auf das Land: bezeichnet, ſondern „Koͤnig der Franzoſen“, alſo bios 
Haupt des Volkes) Allen, die dieſes leſen und leſen werden, um: 


428 Charte. 


ſern Gruß: Wir haben befohlen und befehlen, daß die conſtitutionelle 
Charte von 1814, ſowie ſie durch die beiden Kammern am 7. Auguſt 
abgeaͤndert und von uns am 9. Auguſt angenommen worden, neuer⸗ 
dings und zwar in nachſtehendem Wortlaut verkuͤndet werde.“ 

Um den Sinn dieſer Vertündungsformel vollkommen zu verſte⸗ 
hen, iſt nothwendig, die darin angefuͤhrte, folglich zur Charte mit 
gehoͤrige, am 7. Auguſt von der Deputirtenkammer beſchloſſene, dann 
alſogleich auch von der Pairskammer durch feierlichen Beitritt bekraͤf⸗ 
tigte und am 9. Auguſt vom Herzog von Orleans angenommene und 
befchworene Erflärung vor Augen zu behalten. Diefelbe lautet: 

„Die Deputictenlammer, in Betracht der gebieterifchen Nothwen⸗ 
digkeit, welche der 26— 29. Julius letzthin und bie folgenden Tage 
erzeugt haben, und der Lage im Allgemeinen, in welche die Verlegung 
ber Verfaffungsurkunde Frankreich verfegt hat u. f. m.... erklärt, daß 
factifh und rechtlich der Thron erledigt und daß es unumgänglich 
nöthig iſt, zur Beſetzung deſſelben zu fohreiten. Die Deputirtenkam⸗ 
mer erklaͤrt zweitens, daß nah dem Wunſche und zum Vortheile 
des franzöfiihen Volles die Einleitung zur Verfaſſungsurkunde abges 
ſchafft iſt, als der Würde ber Nation entgegen, indem fie den Frans 
zofen aus Gnade Rechte zu bewilligen fcheint, die ihnen von felbft 
zukommen, und baß nachftehende Artikel eben ber Charte geftrichen 
oder modificirt werden follen, nad Angabe befien, mas nachfolgt.“ 
(Hier find dann alle betreffenden Artikel wörtlich, wie fie lauten fols 
len, beigefegt und fobann weiter befchloffen, daß alle neuen Ernen⸗ 
nungen und Creationen von Pair, die unter ber Regierung Karls X. 
gemacht worden find, null und nichtig feien und daß der 23. Art. 
der harte [in der alten Charte der 27.], welcher die Emennung der 
Pairs und die Art derfeiben, ob nämlich auf Lebenszeit oder erblich 
dem Könige überläßt, in der naͤchſten Sigung der Kammern einer 
Nevifion unterworfen werden folle.) „Die Deputirtentammer erklärt. 
drittens, daß es nothwendig ift, der Reihe nach und in einer moͤglichſt 
kurzen Friſt mittelft gefeglicher Verfügungen folgende. Gegenftände zu 
regulicen: 1) Die Anwendung ber, Gefchwornengerichte auf Preß⸗ und 
politifche Vergehen ; 2) die Werantwortlichkeit. der Minifter und an. 
derer NRegierungsbeamtenz. 3) bie Erneuerung ber Wahlen für diejes. 
nigen Deputirten, welche zu einem befolbeten, öffentlichen Amte ers‘ 
nannt worden find; 4) das jährliche Abftimmen der Kammern über 
dns jebesmalige Zruppencontingentz; 5) die Organifetion der Nationals 
garde mit Zuziehung der Nationalgardiften zur Wahl ihrer Officiere; 
6) die gefegliche Keftftelung der Lage ber Officiere ber Lands und; 
Seemacht; 7) bie Departements s und Municipalgeſetzgebung auf ein 
Wahlſyſtem gegründet; 8) der Öffentliche Unterriht und die Lehrfrei⸗ 
beit; 9) die Abfhaffung des zwiefahen Stimmredhts 
und die Aufftellung der Bedingungen, unter welhen 
man wählen und gewählt werden kann; 10) die Erklaͤ⸗ 

vung, daß alle Geſetze und Ordonnanzen, infofern fie ben Verfuͤgun⸗ 


Charte. 429 


gen zumiberlaufen, welche zur Verbeſſerung des Charte getroffen wor⸗ 
ben find, von jegt an vernichtet find umd bleiben.” — „Endlich er= 
Märt noch die Deputirtentammer, daß, mittelft der Annahme dieſer 
Verfügungen und Vorſchlaͤge, Se. koͤnigl. Hoheit, der Reichsverweſer 
Ludwig Philipp von Orleans, Herzog von Orleans, durch das allge: 
meine und bringende Intereſſe des franzöfifchen Volkes zum Throne 
gerufen wird, er und feine Nachlommenfhaft auf ewige Zeiten im 
Manneftamm nad dem Rechte der Erftgeburt und mit ewiger Aus: 
ſchließung der rauen nebft ihrer Nachkommenſchaft.“ — „Demzu⸗ 
folge wird Se. koͤnigl. Hoheit, der Reichsberweſer Ludwig Philipp, 
Herzog von Drleans, erfucht werden, obige Bedingungen und Verpflich⸗ 
tungen anzunehmen und zu beſchwoͤren, fowie die Beobachtung ber 
Verfaſſungsurkunde und der feftgefegten Mobdificationen, und wenn er 
diefen Eid vor den verfammelten Kammern abgelegt haben wird, ben 
Titel König der Kranzofen anzunehmen.” — 

Aus diefer Erkidrung geht wohl die Rechtseigenfchaft der 
neuen Charte und der Zitel von Ludwig Philipps Gewalt auf’s Uns 
wibderfprechlichfte hervor. Die neue Charte ift von der Deputirtenkam- 
mer im Namen ber Nation als bee wahren conftituirenden 
Autorität errichtet, und Ludwig Philipp, nachdem er durch 
Wort und Eid zur Beobachtung ihrer Vorfchtiften, d. h. zur Ers 
fülung der Bedingungen, untes welchen die Nation ihm die Krone 
angetragen, fih verpflichtet hatte, ift durch den Willen bes „[ous 
verainen Volkes” auf den Thron gefegt worden. Ob die Depus 
tirtenfammer wirklich die Befugniß hatte, ſich als Bevollmaͤchtigte der 
Nation bdarzuftellen und ob nicht menigftens zur volllommenen Bes 
träftigung des von Ihe — in der Eigenfchaft als ſtellvertre⸗ 
tende conftitnirende Autorität — Beſchloſſenen die auss 
druͤckliche Zuſtimmung ihrer GSommittenten, d. h. der Nation 
felbft, oder einer eigens zu dieſem Geſchaͤft zu erwählenden Nas 
tionalrepräfentation nöthig gemwefen wäre, haben wir bier nicht zu 
unterfuhen. Würde eine Einfprache dagegen erhoben, fo waͤre frei⸗ 
li) dadurch alles Gefchehene wieder in Frage geftelft und der revos 
Iutionaire Zuftand kehrte zurüd. Ludwig Philipp alfo wird es 
fiherlich niemals thun, und follte ihn oder fein Gabinet jemals die Luft 
anmwanbeln, dag „monarhifhe Princip“ im Sinne ber abfolus 
ten und der unmittelbar vom Himmel flammenden Herrſchaft an die 
Stelle besjenigen, welches ihn zum Throne rief, zu fegen; fo wärbe 
er dadurch nur um fo Harer darthun, wie volllommen er, als er die 
Charte befhmwor, davon überzeugt geweſen, daß das franzöfifche Volk 
mit Entfhiedenheit deren Seftfegungen fordere und dag um ges ' 
tingeren Preis, als ihre Gewaͤhrungen befagen, bie franzoͤſiſche Krone 
nicht zu erlangen war. 

Unter den materiellen Bellimmungen ber neuen Charte, wo⸗ 
durch fie vor der alten-fich auszeichnet, verdient wohl ben erften Platz 
der Artikel, welcher verfügt, „Daß.bie Cenfur nie wieder her= 


430 | Charte. 


geſtellt werden koͤnne“. Zwar auch bie alte Eharte hatte Die 
Preßfreiheit verheißen und blos Repreſſiv-Geſetze gegen deren 
Mißbrauch vorbehalten. Aber die Gewalt ſubſumirte dictatoriſch auch 
die Cenſur (weil ſie nicht ausdruͤcklich ausgeſchloſſen worden) unter 
dieſen Begriff. Es wird eine Zeit kommen, wo man die Nothwen⸗ 
digkeit eines in die Charte aufzunehmenden Verbotes der Cen⸗ 
fur, um gegen ihre Einführung geſichert zu ſeiin, kaum mehr wird 
begreifen Lönnen; fo wenig ald wir begreifen würden, daß erft 
eine Charte feilfegen müffe, man bedürfe zum Gebrauch der Zunge, 
db. 5. zue muͤndlichen Rede, Feiner vorläufigen polizeilihen Erlaubs 
niß. Uebrigens ift der fragliche Artikel der neuen Charte — ungead)s 
tet der berühmten Verheißung: „von nun. an werde die Charte eine 
Wahrheit fein“, — duch die bekannten (in Oft und Nord aller 
dings wohlgefälligen) September: Gefege,. weile die fran zoͤ⸗ 
fifhe Deputirtentammer (I) wilführig annahm, um den größs 
ten Theil feiner Bedeutfamkeit gebracht worden. | 

Auch die Abänderung des berüchtigten Artikels 14, worin nämlich 
die Worte: „ber König erläßt die zur Bicherheit des 
Staates nöthigen Verordnungen“, jego geflrihen wur—⸗ 
den, hat die September: Gefege nicht verhindern können. Denn Or⸗ 
donnanzen find unnöthig, wo eine unvolksthuͤmliche Kammer jedem 
befpotifhen Begehren ber Minifter durch bereitwillige Zuftimmung den 
Stempel bes Gefeges aufbrüdt. Doc, abgefehen von dieſem frei- 
lich traurigen, doch nur factifhen Umftand,  erfcheint die Weglaffung 
. jener Worte als ein ganz unfchägbarer Gewinn und als ſchon allein 
einer Julius⸗-Revolution werth. Eine conftitutionelle Verfügung, wel: 
che der Regierung unbedingt bad Recht zufpridht, die ‚zur Sicher⸗ 
heit des Staates nöthigen” Verordnungen zu erlaffen, ift zehns 
mal demüthigender für das Volk, ald eine ganz unummunbene 
Aufftellung des abfolutiftifhen Principe. Denn fie ift in ihren 
Wirkungen ber legten gleich; aber fie würdigt zugleih das 
Volk herab duch die Zumuthung, auch feinen Berftand fomwie 
feinen Willen unterjohen zu laffen, duch die Zumuthung naͤmlich, 
die gewährte Zheilnahme an der gefeßgebenden Gewalt für etwas Wirk: 
liches, für mehr als bloßen Schall zu achten und doch auf folche Theil⸗ 
‚ nahme zu verzichten, fobald ein Minifterium in ben Eingang einer 
Drdonnanz bie Formel fest: „In Gemäßheit unferer Pflicht, für die 
Sicherheit des Staates zu forgen.” — Wahrlich, alle Sicherheit aller 
Einzelnen und daher audy der Gefammtheit hat aufgehört, fobald 
man dem Worte „Sicherheit des Staates" ſolche Bauberdraft 
einräumt. 

Noch verſchiedene andere und zum Theil fehr wichtige Verbefferun: 
gen wurden durch bloße Auslaffung der verwerflichen Stellen oder 
bedenklichen Worte bewirkt. Namentlich wurde der Vorbehalt der 
„Prevotalgerichte” geſtrichen und die Errichtung außerordentlicher 
Ztibunale unter was immer für einer Benennung ausdräds 





Charte. | 431 


lich verboten. Die Beftimmung, dag die Minifter „nur wegen Ber: 
rätherei oder Concuſſion“ follten angeklagt werden Finnen, wurde 
gleichfalls gefirichen und die Bezeichnung ber Verantwortlichkeitsfälle 
einem fünftigen Gefege vorbehalten. Die Erkldeung ber Eutholifchen 
Keligion zur „Staatsreligion” wurde geftrichen, jedoch die Be: 
merkung, daß die Mehrzahl der Franzoſen ſich zur Patholifchen 
Religion befenne, in die Charte — übrigens ohne alle Rechtswirkung 
— aufgenommen. — Auch auf die Colonien erftredt ſich die Fürs 
forge der neuen Charte. Bei der Seftfegung der alten, „baß bie Co⸗ 
lonien nach befonderen Gefegen und Reglements follten regiert ers 
den”, wurden bie Worte „und Reglemente” geftrichen. 

Unter ben Artikeln, welche am bringenbften eine Abänderung in 
Anfprudy nahmen, waren ficherlich die von der Wahlberehtigung 
zu Deputictenwahlen handelnden. Denn unendlich wichtiger, als ber 
Umfang der Rechte, welche einer Kammer verliehen werden möchten, 
it die Art ihrer Bildung. Die Vermwerflichleit der in der alten 
Charte feftgefesten Bildungsweiſe ift oben bemerkt worden. Die neue 
ſetzt das für die Waͤhlbarkeit nöthige Alter von 40 Sahren auf 30, und 
jenes für das active Wahlreht von 30 auf 25 Jahre herab, ertheilt auch 
den Wahlcolfegien das Recht, ihre Präfidenten felbft zu ernennen (eben 
fo auch der Deputirtentammer jenes der Ernennung ihres Präfidenten) ; 
aber in Bezug auf den Dauptpunft, nämlidy den Cenſus, behielt man 
die neu zu treffende Beſtimmung einem erft in der nächft bevorfishenden 
ordentlihen Sigung der Kammern zu gebenden Geſetze vor. Diefee 
Fam dann auch wirklich zu Stande, aber befriedigte die Zorderungen ber 
Sreigefinnten nicht. Denn es wurde zwar bas doppelte Votum 
der Reichſten (naͤmlich die ultra = ariftoßratifche Einfegung der Departe: 
ments= MWahlcollegien) wieder aufgehoben; aber ber Cenſus erfuhr blos 
die Verringerung von 1000 Franken auf 500 für das paffive und von 
300 Fr. auf 200 für das active Wahlrecht (f. Genfus). Uebrigens 
- wurde die Dauer der Bevollmächtigung der Deputirten auf 5 Jahre feft- 
gefegt, und eine jedesmalige Integral: Erneuerung der Kammer vor⸗ 
gefhrieben. Die alte Charte hatte gleichfalls 5 Jahre für die Dauer 
der Bevollmähtigung, aber eine jährliche Partial:Emeuerung vers 
oronet. Im Jahre 1824 jedoch ſetzte die ropaliftifche Partei die Inte: 
gral:Emeuerung und die fiebenjährige Dauer der Kammer durch. 

Sn Ruͤckſicht der Pairskammer fand durch die neue Charte bie 
Verbeſſerung ftatt, dag für ihre Sisungen gleich jenen ber Deputirten 
die DeffentlichFeit vorgefchrieben warb, und daß die Prinzen von 
Gebtüt der in der alten Charte ihnen aufgelegten unbebingten Abhängig» 
keit vom König enthoben murben ; die Frage über bie Erblichkeit aber 
blieb einem fpätern Gefege vorbehalten und wurde in biefem fodann durch 
Aufhebung derfelben entfchieden. Ob zum Frommen der guten Sache? 
wird die Zukunft lehren und laͤßt ſich bezweifeln. Freilich erfcheint es 
den Freunden der naturtechtlichen Gleichheit faſt abgefchmadkt, bag man 
erbliche Befeggeber und Richter. habe: allein vielleicht wäre beffer, diefe 


432 Charte. 


mit den Principien ber Revolution allerdings ſchwer vereinbarliche Ano⸗ 
malie zu dulden, als einen Factor der Geſetzgebung und einen ho— 
ben Gerichtshof zu haben, ber, eben meil jedes feiner Mitglieder 
nur durch die Ernennung, alfo die Gnade oder Gunft des Königs, 
darin fist, jene Unabhängigkeit der Stellung gegenüber ber 
Regierung entbehrt, welche ihm nach der unendlichen Wichtigkeit jener 
beiden Functionen fo nothwendig wäre. Weberhaupt jedoch ift die Vils 
dung einer erfien Kammer, welche den Volksfreiheiten nicht gefahr: 
bringen fei, eines der ſchwierigſten politifchen Probleme; die dabei fich 
darbietenden hochwichtigen Betrachtungen aber eignen fidy zu einer gefon- 
derten Darftellung (f.Conftitution und Zweilammernfyftem). 
Die Initiative zu Gefegen, welche die alte Charte ausfchließlich 
dem Könige vorbebielt, iſt durch die neue auch jeder der beiden Kammern 
verliehen worden; abermak eine Seftfegung, melde — obſchon mit bem 
britiſchen Verfaſſungsrecht übereinftimmend — bie ftrengen Anhän- 
ger des „monarhifhen Principe“ nicht anders als mißfällig auf 
nehmen können. 
Mit Uebergehung verfchiebener minder wichtiger Veränderungen 
und Zufäge wollen wir blos noch anführen, daß bie neue Charte dem 
König ihre Beſchwoͤrung gleich bei der Thronbefteigung auflegt, 
während die alte fie erft bei der Krönung forderte; und baß vermöge 
eines neu binzugefegten Artikels (67) „Frankreich feine Farben 
wieder annimmt, und in Zuflunft feine andere als die 
dreifarbige Cocarde mehr darf getragen. werben”. Beide 
Punkte möchten zwar als ziemlich unerheblich betrachtet werben, da aller⸗ 
‚ dings die Verpflichtung des Königs, das Grundgefeg zu beobachten, nicht 
erft durch den Eid ſchwur begründet wird, fondern fhon an und 
für fih, als unmittelbare Rechtswirkung jenes Geſetzes befteht, und 
da die. Freiheit nicht duch, Sarben, fondern buch Grundfäge 
und buch Garantien gefchiemt wird. Alten bie Verſtaͤr⸗ 
tung der Rechtspflicht durch feierlich, übernommene Gewiffens:, Reli: 
gions⸗ und Ehrenpfliht wird immer in dee Äffentlihen Meinung 
von großem Gewicht, die Uebertretung alfo entfprechend bedenklicher fein, 
und die Beſchwoͤrung gleich‘ bei der Thronbeſteigung anſtatt erft bei der 
Krönung hebt die Möglichkeit des Werfchiebene oder gar völligen Unter: 
daffen® auf, und iſt zugleich, eine Einfchärfung bes Titels und der Bes 
lingung, unter welchen der Thron beftiegen und befeffen wird. Was 
aber die breifarbige Fahne und Cocarde betrifft, fo ift fie natürlich, 
als glorreihes Erinnerungs=Zeihen und nunmehr auch als endliche® 
Triumph⸗Zeichen der Revolutioh, als allgegenmwärtige und unauf: 
hörlihe Verkuͤndung der Freiheitsprincipien, der Nation mit 
hoͤchſtem Rechte theuer; waͤhrend die weiße Farbe, als die Karbe ber 
Emigration und dee Öegenrevolution, und zugleich als demuͤ⸗ 
thigendes Denkmal der durch bie Goalition erlittenen Niederlagen, 
nothiwendig verhaßt war. Sie hatte der Reftauration den Stem⸗ 
pel der NationalsUnterjohung einerfeits durch eine einheimifche 


Charte. Chatam. 433 


Ariſtokraten-Faction und andererfeitö durch die fremden Bas 
jonette aufgedrüdt; mit ber Aufpflanzung ber breifarbigen Fahne 
erftand — nad) der Auffaffung und dem Gefühl des Volkes — bie 
Nevolution, d. h. erftanden bie Kreiheits-Principien aus 
ihrem Grabe wieder, und ward die Schmach der erlittemen boppelten Uns 
terjochung getilgt. Durch fie nahm Frankreich — in ben Augen nicht 
nur feines eigenen Volkes, ſondern in jenen der Welt — feine imponi⸗ 
rende Stellung gegenüber ber europäifhen Mächte wieder ein, und rief 
als Lofung für feine innere wie dußere Politik die „conftituttonelle 
Freiheit“ aus. Weit mehrals die Verficherung „von nun an wird 
die Charte eine Wahrheit fein”, macht die dreifarbige 
Sahne die Nüdkehr eines Polignacfhen Minifteriums Un moͤg⸗ 
Lich; fie ift alſo — fo geduldig fie über manche Ungebühr hinwegblickte — 
wirklich ein Palladium, nicht nur ein Symbol der Freiheit. 
MWelchergeftalt einige der durch bie Erklärung der Deputirtenkante 
mer vom 7. Auguft zur Erledigung an die naͤchſtkuͤnftige ordentliche 
Sigung der Kammern gewiefenen Punkte folde Erledigung wirklich 
efunden haben (nammmtlih die Wahlordnung und die Sache ber 
SD alcie) ift bereits oben bemerkt worden. Sie war nicht befriedigend, 
und es ließ fich folches vorausfehen, da man den günftigen Moment zu 
einer wahrhaft volksthuͤmlichen Feſtſetzung — unvorfihtig oder ſchlau — 
hatte voruͤbergehen laſſen. Auch die uͤbrigen Punkte, ſo viele deren be⸗ 
reits erledigt find (insbeſondere aber bie Punkte 1, 5, 7 und 8), wurden 
es keineswegs im reinen Beifte der Juliusrevolution, fondern 
in jenem bes allzubald bacauf gefolgten Suftemilteus Syftems, wel 
„es nach feinen bisherigen thatfächlihen Aeußerungen keineswegs bie 
Mitte hält zwifchen entgegengefegten verwerflihen Wrtres 
men, fondern feinen mähfamen Weg unter ewigem Schaufeln und 
Verſtellen zu finden fucht zwifchen Gerade und Krumm, Wahr: 
heit und Lüge, Kraft und Shwähe, Verheißungs-Erfuͤl⸗ 
lung und Verweigerung (f. Frankreichs neujter Zuftand 
und ZuftesMiliey). Motte. 
Chatam (William Pitt) warb 1708 gu Meftminfter geboren. 
Den Familiennamen Pitt führte er, mie fein zweiter Sohn, ber unter 
demfelben Namen die Angelegenheiten ſeines Vaterlandes, unter ſchwieri⸗ 
gen und entfcheidenden Werhältniffen, geleitet hat, bis zum Jahre 1766, 
mo er, in ben Grafenſtand erhoben, als Lord in bas Oberhaus getreten 
it. Um ihn nicht mit verſchiedenen Benennungen anzuführen und 
einer Verwechſelung mit bem fpäten William Pitt vorzubeugen, 
werden wir ihn auch jegt fhon Chatam nennen, obgleich er erft 98 
Jahre fpäter zu feiner Würde befoͤrdert wurde. Sein Großvater mar 
Thomas Pitt, Gouverneur zu Madras, ber dem Könige von Krank: 
reich, um die Summe ‚von, zwei Millionen „. ben berühmten Diamant 
verkauft hat, dee noch feinen Namen führt. Indeſſen waren bie Ver⸗ 
mögensumftinde des Waters nicht die glänzendfien, und er hinterließ un- 
ſerm William nur ein jährliches Einfommen, van 100 Pfund. Seine 
Gtaatsa⸗Lexikon. TIL | 25 


434 Chatam. 


erſte Bildung erhielt er In ben Collegien zu Eton und Orford und 
kam dann, als Faͤhnrich, zu der Reiterei, welche Stelle ihm ſeine Ver⸗ 
wandten kauften. Seine Neigung eignete ihn wenig fuͤr dieſen Stand, 
dem er indeſſen wahrſcheinlich treu geblieben waͤre, haͤtte er nicht fruͤher 
ſchon an der Gicht gelitten. Dieſer Umſtand entſchied und der Faͤhnrich 
diente ſich zum erſten Staatsmanne ſeiner Zeit herauf. Sein eigentli⸗ 
ches Leben lebte der junge Chatam im claſſiſchen Alterthum, deſſen 
Groͤße ihn mit Bewunderung erfuͤllte und mit ſeinen Thaten und Schrif⸗ 
ten ſeinen Geiſt naͤhrte und ſein Gemuͤth erhob. Alle Zeit, die ihm 
feine koͤrperlichen Leiden und feine Geſchaͤfte als Anwalt, für welchen 
Stand er ſich entſchieden hatte, zur Verfügung ließen, gehörte Griechen⸗ 
land und Rom und ben Heroen, die ihr Vaterland duch That und 
Mort fo wunderbar verherrlicht hatten. Im Jahre 1735 warb er in 
das Unterhaus gewählt, wo er feine Stellung im der Oppofition nahm. 
Sir Robert Walpole, der ſich an der Spige ber Verwaltung befand, 
war keineswegs der Mann, der bie Zuftimmung Chatams verdienen 
Tonnte. Da im Parlamente die Vermählung des Prinzen von Wales 
mit der Primzeffin von Sadıfen: Gotha zur Sprache Fam, Außerte ſich 
Chatam über das erhabene Paar auf eine fo freundliche und anzies 
hende Weife, daß ber banfbare Thronerbe ihn zu feinem Kammerherrn 
ernannte. Das Minifterium, welches die Sefinnungen Chatams 
nicht theilte, war gegen den, der fie ausgefprochen hatte, fehr aufgebracht, 
und mußte in feinem Borne Fein anderes Mittel der Rache zu finden, 
als daß es ihn noͤthigte, bie gekaufte Kähnricheftelle aufzugeben. Die 
Ungnade einer verhaßten Verwaltung erwarb ihm in höherem Grabe bie 
Liebe des Volks, und feine fteigende Popularität entfchädigte ihn reichlich, 
für die Unzufriedenheit derfelben. In dem Kriege mit Spanien, ber in 
diefe Zeit fiel, trug das Miniflerium auf gefchärftere Maßregeln des 
fhändlihen Matrofenpreffene an. Chatam miderfegte fid) denfelben 
mit der ganzen Stärke feiner Berebtfamleit, und Walpole, im hoͤch⸗ 
ſten Grade über die Verwegenheit des jungen Mannes erbittert, ergoß 
die ganze Lauge feines bittern Spottes über ibn. Chatam, emp 
durch dieſe Behandlung, fuhr den Minifter an: „Der Elende, der die 
verberblichen Folgen feiner Verirrungen gefehen hat, und bie alten nur 
mit neuen vermehrt, und zu defien Befchränttheit das Alter nur den 
Starrfinn gefügt, verdient nicht, daß feine grauen Haare ihn gegen 
meine Angriffe [hügen. Der Abfcheu gegen ihn kann nur fleigen, wenn 
man fieht, wie im vorgeruͤckten Alter er die Selbſtſchaͤndung weiter treibt, 
des elenden Geldes wegen, bas ihm keine Genüffe mehr geben Eann, und 
ber den Reſt feiner Tage dazu verwendet, fein Vaterland zu verderben.” 
Zwei Jahre fpäter fiel Walpolez; aber Chatam, ber fi) der Gunft 
des Königs nicht zu erfreuen hatte, blieb von der neuen Verwaltung aus⸗ 
gefchloffen, fo entſchieden fi auch bie öffentliche Meinung für ihn er 
Härte. Chatam mar der Mann nicht, der ſich Leicht fchreden Tieß, und 
erwiderte bie feindfelige Stimmung der Regierung durch ein engeres An⸗ 
ſchließen an das Volk und feine Sache; er legte bie Kammerherrnftelle 


x 


Chatam, 435 


nieder. In feinen Vermögensumftänden tert (1744). eine merkliche 
Verbeſſerung ein, die ihn fehr erleichterte, ba bie verwitwete Herzogin 
von Marlborongh ihm 10,000 Pfund St. In ihrem Teſtamente ver⸗ 
machte. Sie gebe Ihm diefen Beweis von Achtung, fagte fie, feines 
perfönlichen Verdienſtes wegen, und weil er mit fo edler Uneigennügigs 
keit das Anfehen der Geſetze aufrecht erhalten und dem Verderben bes 
Landes entgegengewirkt habe. — In England hat die öffentliche Meinung 
eine ſolche Macht gewonnen, dag ihr Beine andere auf die Dauer wider⸗ 
ſteht. Im Sahre 1766 ward‘, unter dem Herzoge von Mewcaftle, ein 
neues Gabinet gebitbet, und Chatam erhielt eine Stelle in bemfelben. 
Aber feine untergeorbnete Wirkſamkeit, da bie meiften feiner Collegen 
in den wefentlichften Dingen nicht feine Anficht theilten, der König felbft 
ihm auch nicht befonders getwogen war, entſprach feinen Wünfchen nicht. 
Er fah mit Mifvergnügen, daß auf Hannover ein Gewicht gelegt warb, 
das Englands Wohl gefährdete. Das deutſche Kurfürftenthum betrach⸗ 
tete er als ein Eigenthum der Eöniglichen Familie, das mit England nur 
durch diefen Befig zufammenhing, welches darum auch feine Intereſſen 
bemfelben nicht unterorbnen dürfe. Sein Herz fchlug warm und voll 
für fein Vaterland, und fein britifcher Stolz empörte fi, baffelbe aufs 
geopfert und herabgewuͤrdigt zu fehen. Die ganze Nation theilte diefe Ges 
ſinnung und diefes Gefühl. Dieinfälle des englifchen Heeres in Amerika, 
der Berluft von Minorka, die ſchmachvolle Niederlage des Admirals Byng 
hatten den Mißmuth zur Erbitterung gefteigert. Chatam bemühete fi 
vergebens, die Verwaltung mit feinem Geifte zu befeelen. Sie ſchloß fich 
ber Neigung des Könige an, bie er für feine deutfchen Lande nicht vers 
leugnen konnte. Chatam warb 1757 aus dem Cabinete entlafien. 
- In biefer Lage trat der ebelmäthige Kor zum Belftande bes Herzogs 
von Nerocaftie anf, gegen ben ber Nationalunwille vorzüglich. gerichtet 
war. For, ein großer Staatemann, und, was feltner ift, ein großges 
finnter Menſch, allen perfönlihen Rüdfichten fremd, wenn fle nicht das 
öffentliche Wohl berührten,. For, nur das Vaterland und bed Vaters 
lands Wohl bedenkend, gab Chatam der Verwaltung wieder. Es ges 
lang ihm, bie Abneigung des Königs zu befiegen, das Gefühl in ihm zu 
beleben, daß er König fei für das Volk, das fein Wohl, durch freie Wahl, 
ben Händen ber Kürften feines Haufes anvertraut. Der Monarch’ berief 
Ehbatam in feinen Rath. „Sire,“ ſprach biefer zu ihm, „Ichenten Sie 
‚mir Ihr Vertrauen, ich werde es verbienen.” Die Antwort bes Könige 
war: „Verdienen Sie mein Vertrauen, unb Sie werben es erhalten.” 
Chatam verftänd die Worte nicht, wie fle dee vielleicht verſtanden 
wiffen wollte, von dem fie fanten. Aber nie bat ein Diener mehr das 
Berteauen feines Herrn verbient, mern er bee Herr im rechten Sinne 
war. Chatam trat den 29. Zuni 1767. an bie Spige der Verwal⸗ 
tung. Da fah man, was ein Mann vermag, dee Kraft und einen Wils 
len bat, das Ziel erfennt, nad. dem er fireben muß, bie Wege, bie zu 
diefem Ziele führen, und die Beharrlichkeit befigt, die Wege zum Ziele 
zu verfolgen. Die Erfcheinung war nicht neu; fie fe gutielich in der 
Rx 


436 Chatam. 


Geſchichte, und fpricht ſich duch die Faͤhigkeit, wie durch die Unfähigkeit 
der Männer aus, die Wahl. oder Zufall, Gluͤck, Gewalt oder Geburt an 
die Spige der Völker ftellt; aber die fo alte Exfcheinung wich für Men⸗ 
ſchen, bie leicht vergeffen, immer wieder neu. Friſche Lebenskraft vers 
jüngte bie gealterte Verwaltung, und bie-Nation bot alle Kräfte auf, 
um eine Regierung zu unterflügen, der fie vertraute. Der in Deutfdy 
land begonnene Krieg wurde mit Nachdrud fortgefegt und dem Könige 
von Preußen eine jährliche Summe ald Subfidte bewilligt. Die britifche 
Seemacht erhob ſich zu ihrem früheren Ruhme. Die Franzöfifchen Geſchwa⸗ 
der wurden aufgefangen oder "in den Häfen eingefehloffen. Die Englän- 
der festen ſich in den. Beſitz von Conada, und in den Gemäffern ber 
beiden Indien fiegte ihre Flapge. Hylland fah fih, feiner Neutralis 
tät ungeachtet, genoͤthigt, feine Schiffe einer Unterfuchung von. engli- 
fcher Seite zu unterwerfen, und, wenn fie franzöfifhe Waaren führe 
ten, wurden fie hinweggenommen. Sin alten Maßregeln, die fih auf 
das Ausland bezogen, herrfchte ein Ernſt, eine Energie, man fönnte 
fagen, oft eine Härte und MWillfür, die man verdbammen müßte, 
wenn fie die Politik nicht durch eine lange Obfervanz geheiligt bitte. 
Der Erfolg entfchied für Chatam und England, und fo war auch 
das Recht auf ihrer Seite, und der Ueberlegenheit. wacd eine Achtung 
gezollt, die der beften Sache, der «8 an gehöriger Kraft gebrach, nim⸗ 
mermehr zu Theil geworden wäre. Frankreich  fchloß ſich in der Ge⸗ 
fahre Spanien näher an, und es warb ber Kamilienvertrag erneuert, 
den Ludwig XIV. in’s Leben gerufen hatte. Chatam kam bas 
Ereigniß .nicht unerwünfchtz er ſchlug vor, fich der fpanifchen Flotte, 
die noch nicht eingelaufen war, mit den Schägen, bie fie führte, zu 
bemächtigen, und auf biefe Weiſe die Seemacht diefes Staats mit eis 
nem Echtage zu lähmen. Der. Vorfchlag. hatte die Mehrheit im Cas 
binete gegen fih, und. Chatam ſchied aus demſelben. Der König 
Georg. IH., dec unterdeffen feinem verftorbenen. Vater in der Regie⸗ 
rung gefolgt war, zeigte fich feinem alter Kammerhetrn gewogen, und 
obgleich er nicht deſſen Deinung:-theilte, ‘wollte er ſich ihm doch ers 
kenntlich erweiſen. Seine Entiaffung warb: angenommen, ihm aber 
eine Penfion von 3000 -Pfunb: bewilligt, bit, im Falle feines. Todes, 
auch auf feine Gattin und feinen dlteften Sohn übergehen follte. 
Der Erfolg techtfertigte Chatam’s ‚Vorkusfiht; denn kaum fah 
Epanien Er Ballionen in Sicherheit, als es England ben Krieg 
erklärte. Indeſſen behauptete biefes feine Ueberlegenheit, und ſchon im 
folgenden Jahre (den 3. November 1762) wurden die Prälinsinarien 
eines Friedens abgefchloffen, der Frankreich ebenfo nachtheilig als Eng⸗ 
land günftig war. Doc geigte fi Chatam bemfelben entgegen, 
und da er im Parlament erörtert ward, befämpfte er ihn mit aller 
Kraft. Er litt an heftigen Gichtfchmerzen :und mußte fi nad). bem 
Haufe bringen laſſen, da bie Bedingungen des Friedens zur Sprache 
kamen. Nichts konnte ihn abhalten, der Sisung beizuwohnen. Uns 
fähig, ſich aufrecht zu erhalten, machte er Gebrauch von der Erlaubniß, 


Chatam. 437 


figend zu fprechen, eine Beguͤnſtigung, welche die Achtung bewies, bie 
man für ihn hatte. Er fprach drei Stunden mit großer Anftren- 
gung, der endlich feine Kraft erlag, und fühlte ſich fo erfchöpft, daß er 
den Schluß feiner Rede nicht mehr verftänblich vorzutragen im Stande 
war. Die Oppofition unterlag unb ber Friede warb abgeſchloſſen. 
Lord Bute, ber an ber: Spige des Cabinets fland, feierte einen 
Triumph, der, obgleich bet biefer Gelegenheit wohl verdient, nicht von 
Dauer war. Die Miniſter trugen auf firengere Maßregeln gegen bie 
Dreffe und die Schriftftellee an, und bie ber Gewalt fo verhafte Frei⸗ 
beit der oͤffentlichen Mittdeilung ward von ernfter Gefahr bedroht. 
Chatam erhob fih zur Vertheidigung biefer erften aller Sreiheiten, 
unter deren Schuge nur die übrigen: ficher find. „Bei folhen Maß⸗ 
regeln,” vief er, „wie Ihr fie vorgefchlagen, muß aud der Unfchul: 
digfte für fein Leben fürchten, und unfere Verfaffung will, daß die Woh⸗ 
nung eines jeden Engländers für ihn eine Zeftung fei, eine Feftung 
auch ohne Wälle und Gräben. Sei es eine Strohhütte, um welche 
die Stürme des Himmels toben, in welche die Elemente der Natur 
dringen. Was die Elemente thun, der König kann es nicht, der Kös 
nig darf es nicht wagen.” So fprady und handelte William Pitt, 
der Vater; William Pitt, dee Sohn, gebachte ber väterlihen Leh⸗ 
ven nicht. In welhem Grade Chatam die Achtung und das Ber: 
trauen der Nation befaß, wie ſehr ihn die Freunde des Vaterlandes 
ehrten und Tiebten, ihn, ben entfchloffenen Freund des Vaterlandes, 
feiner Größe, feines Wohlftandes und feiner Freiheit, ohne die alle 
Größe und aller Wohlftand nur vorübergehend oder eine Taͤuſchung 
ift, davon hat man auf dem Kefllande von Europa aud kaum jegt 
noh eine Borftellung. Ein reicher Engländer enterbte durch einen 
legten Willen feine Samilie, und ftellte fen Vermögen Chatam zur 
Berfügung, ein Entfhluß, deffen nur ein Brite fähig fein Eann. 
Daß die Regierung einen großen Werth darauf legen mußte, einen 
folhen Mann für fih zu gewinnen, liegt in der Natur der Sadıe; 
daß dieſer Mann aber allen Mitteln, welche gewöhnliche Menſchen 
nicht vergebens verfuchen, unzugaͤnglich biieb, dieſe Erſcheinung iſt fel- 
tener. Der Herzog von Sumberland bot ihm, auf Befehl des Königs, 
wiederholt das Minifterium an. Er aber machte Bebingungen, nicht 
in feinem Intereſſe, fondern in dem des Landes, die der Krone [o 
laͤſtig duͤnkten, daß die Unterhandlung keinen Erfolg hatte. Endlich, 
1766, als die Verwaltung feinen andern Ausweg fand, übertrug ber 
König Chatam die Bildung eines neuen Cabinets. Zugleich warb 
er zur Würde eines Grafen und eines Pairs erhoben und nahm fei: 
nen Sig im Oberhaufe. Diefe Standeserhöhung fchien der Nation 
ein Abfall von ihree Sache, mwenigitens brachte fie ihn um einen gro: 
Ben Theil feiner Popularität, die freilich oft fo leicht und unverbient 
gewonnen als verloren wird. Die Macht, die er einbäfte, ging zur 
Orpofition über, die er verlaffen hatte. Der Mann, der fo unerſchuͤt⸗ 
ter:ich feft an feiner Einficht, feiner Ueberzeugung hielt, die Beharr⸗ 


4 


438 Chatam. 


lichkeit feines Willens and, bis zum Starrſinne treiben konnte, allen 
Lodungen der Gewalt ohne Anftrengung widerſtand, dieſer Mann 
fühlte es ſchmerzlich, daß die Öffentliche Meinung ihm argwöhnifch zu . 
mißtrauen Ihien. Diefer Umftand und feine leidende Geſundheit bes 
flimmten ihn, fi aus dem Cabinete zurkdjuziehen. Im Oberhaufe 
erfchien er jedoch, ſo oft die Wichtigkeit des Gegenftandes, ber verhan⸗ 
deit wurde, feine Anmefenheit erforderte. Dazu gehörte die ernſte 
Frage, ob es gerecht und meife fei, bie Golonien durch das Parlament 

befteuern zu laffen. Die Regierung beftand auf diefem Vorrechte, deſ⸗ 
fen Ausübung in Nordamerika zu bedenklihen Auftritten geführt hatte. 
Chatam fprach für Maßregeln dee Milde und Berföhnung, und bes 
ftand darauf, die Zruppen, die nad, Boſton waren gefchidtt worden, 
wieder zuruͤckzuziehen. Seine Rede ſchloß er mit ben Worten, berem 
Wahrheit nur zu bald der Erfolg bewährte: „Beſtehen Sie auf Ihren 
verberblihen Maßregeln, bann hängt der Krieg an einem leichten unb 
gebrechlihen Faden über Ihrem Haupte. Frankreichs und Spaniens 
Blicke find auf Ihr Benehmen gerichtet, und erwarten, um zu hans 
dein, nur ben Aüugenblid, wo bie Ausfaat Ihrer Fehlgriffe zur Reife 
gelangt fein wird.” Es kam, wie er vorausgefagt. Frankreich ers 
kannte die Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten an. Set ents 
ſchloß ſich das britifhe Cabinet zu demfelben Opfer, wenn fidy bie 
Vereinigten Staaten mit England gegen Frankreich verbinden wollten. 
Einiges hatte man nicht zugeftehen wollen, wo noch Vieles, faft Alles 
zu erhalten war. Jetzt gab man faft Alles auf, um Einiges zu ret⸗ 
ten. Diefe Schwäche empörte Chatam. Odbgleich er leidenb mar, 
begab er fid in das Oberhaus, in dem er erfchien, auf feinen zweiten 
Sohn, Willtam Pitt, geflüst. Bet feinem Eintritte erhoben ſich 
bie Lords ehrfurchtsvoll von ihren Sitzen. Der Antrag, in die Unabs 
hängigkeit der amerikaniſchen Colonien zu willigen, ward geftellt, weil, 
wie man fagt, e8 Fein anderes Mittel gebe, ben Krieg zu endigen. 
„Sch babe,” erhob fih Chatam, mit dem Ausbrude des bitterften 
Schmerzes, „ich habe mich heute über die Kräfte, die mir mein Zus 
ftand läßt, angeftrengt, um unter Ihnen zu erfcheinen, vielleicht das 
legte Dal. Der Antrag, die Selbftftändigkeit ber amerikaniſchen Golos 
nien anzuerdennen, hat meinen tiefften Unmillen aufgeregt. Ich freue 
mic), Mylords, daß fi das Grab noch nicht Über mir gefchloffen hat, 
daß es mir vergönnt iſt, meine Stimme zu erheben gegen die Zer⸗ 
ftüdelung diefer alten und edlen Monarchie. Jeder andere Zuftand 
iſt beffer als Verzweiflung ; bieten wir noch einmal unfere ganze Kraft 
auf, und müffen wir fallen, dann fallen wir wenigſtens mit Ehre!“ 
Er entwidelte feine Gründe, und befchwor dad Haus, die Groͤße und 
MWürde Englands zu wahren. Die Minifter erklärten, fie müßten kein 
anderes Mittel, dem Kriege ein Ende zu machen und dem Lande den 
Segen des Friedens wiederzugeben. Lord Chatam mollte ſich noch 
einmal erheben, ſank aber, erfhöpft und von. Schmerz gefoltert, auf feis : 
nen Sig zuruͤck. Auch nicht ein Wort konnte er über bie Lippen brin- 


Chatam. Chateaubriand. 439 


gen. Die naͤchſten Lords hielten ihn in ihren Armen. Das Haus 
wagte nicht, die Berathung fortzufegen, und fie warb geſchloſſen. Das 
geſchah am 7. April 1778. Als Lord Chatam wieder zu ſich ges 
kommen war, brachte man ihn nad, feinem Landhaufe, wo er einen 
Monat fpäter in feinem 70Often Jahre ſtarb. Das Haus der Gemel⸗ 
nen befchloß eine Adreffe an ben König, um ihn zu bitten, ben großem 
Berftorbenen auf Koften bes Staates zu beerdigen und ihm ein Denk⸗ 
mal in ber Abtei von, Weftminfter errichten zu laſſen. Da es fi 
bherausitellte, daß ber Verewigte, weit entfernt, ſich Vermögen erworben 
zu baben, bei guter Wirthfhaft, Schulden hinterlaſſen, votirte das 
Haus am folgenden Tage eine zweite Adreffe, in welcher es darauf 
anteug, ben Erben Chatam’s eine jährliche Denfion von 4000 Pfv. 
und zur Tilgung der Schulden noch 20,000 Pfund zu bewilligen. 
Die Anträge des Haufes wurden genehmigt. Wenn große Männer 
„dazu gehören, um eine Nation frei, geachtet und glüdlich zu machen, 
dann gehört aber auch ein großes Volk bazu, um folhe Männer zu 
verdienen. Ä Meigel. 
 Chatsaubriand (Franz Auguft von) warb 1769 zu Saint 
Malo in ber Bretagne geboren. Das Haus, in dem er zur Welt 
kam, Tiegt neben dem, wo La Mennats fpäter das Dafein erhielt. 
"Die erften Jahre verlebte er bei feinen Zanten, zwei Damen, bie 
fromm waren und von denen bie eine Verfe machte. Won diefen kam 
ee in feinem achten Sahre nach Saints Malo zurüd. Zufällig vahm 
ihn fein Älterer Bruder dafelbft einmal mit in das Schaufpiel, und es 
begegnete ihm, wie er felbft erzählt, daß er das Theater für einen 
Theil der wirklichen Welt und die Dichtung für Wahrheit nahm, was 
ihm auch fpäter nody im Leben begegnet fein mag. Einen Theil ſei⸗ 
ner frühen Jugend brachte er in dem väterlichen Schloffe Combourg 
zu, das fi über dem Städtchen erhebt, welches denfelben Namen 
führt. Diefes alterthuͤmliche Gebäude, der Schauplag feines ſich ent» 
widelnden Knabenalters, liegt mitten in einem weitfchichtigen Gehölze, 
das wilde Haiden umgeben, an beren oͤdem Rande fich bie Wogen bes 
Meeres brechen. Man hätte für einen gemüthlichen, frommen Dich» 
ter, deſſen Einbildbungstraft ſich in flillee Schwermuth und unbefrie⸗ 
digter Sehnſucht zum Unendlichen erhebt, keinen paflendern Aufenthalt 
‚wählen Eönnen. Auch flimmte die Gemuͤthsart des ungen, der uns 
gefellig, finfler und dabei von ſchwaͤchlichem Körper war, ganz zu ber 
einförmigen,, büftern Gegend, die ihn umgab. Den erften Unterricht 
empfing er im elterlichen Haufe, und da er ber jüngere Sohn und ohne 
" Vermögen war, beitimmte man ihn zum geifllihen Stande, in bem 
er eine angemeffene Laufbahn finden ſollte. Die fromme Mutter 
freuete fi) der Zukunft des Gott geweiheten Kindes, der fie voll Hoffe 
nung entgegenfah. Die Gegenwart hatte ihe nicht viel zu bieten und 
fie ſuchte Entfhädigung für das, was nicht war, in dem, mas kom⸗ 
men follte. - Der Vater war ein hagerer, blafler, finfteree Dann, ber 
mehr in ber Erinnerung ber guten alten Zeit des vitterlichen Adels, 


440 Chateaubriand. 


als im haͤuslichen Kreiſe feiner Familie lebte und lieber bie verroſtete 
Ruͤſtung feiner Ahnen, die Werkzeuge bes Krieges und der Jagd, als 
die milde Stau und. die fpielenden Kinder um fi ſah. Alles war 
in feiner Nähe ftumm, wenn er im abgefchloffenen Gange den hal 
Venden Saal ſchweigend auf und nieder ſchritt. Aengſtlich drängten 
fid) die Kinder um die Mutter aneinander, bie Augen auf den Water 
gerichtet, der, gleich einem Geſpenſte der Vorzeit, wie der wandelnde 
Geiſt des Feudalweſens in dem Schloffe umzugehen ſchien. So brachte 
die Familie gewöhnlich jeden Abend und befonders die langen büftern 
Stunden befielben im Winter zu, bis der Water mit dem Schlage 
Behn in fein Zimmer ſich verlor. Da trat die Natur in ihre Mechtez 
die Kinder plauderten und fpielten und die Mutter nahm an dem 
tindifhen Treiben mütterlich Theil. Ehe ſich die Jugend zu Bette legte, 
war es bie Sache unfers Helden, fid in allen Winkeln des Zimmers 
behutfam umzufehen, ob fi nicht Gefpenfter, die in ber Wohnung 
zahlreich waren, irgendwo verborgen hielten. Wer weiß, wie folgenreich 
bie frühefte Umgebung und die erften Eindrüde auf das künftige Ler 
ben und die Entwidelung des Menfchen wirken, ber wird die anges 
führten Züge, fcheinbar fo unbedeutend, nicht für überflüflig halten. 
Chateaubriand felbft faat, feine erſten Lehrer feien die Winde und 
Mogen gewefen. Die Natur ift die Schule bes Dichters und er war 
zum Dichter ‚geboren, wie ihm denn aud alles Praktifche und Poffs 
tive im Leben ziemlich fremd geblieben iſt. Den üblichen Schulunter⸗ 
richt erhielt er in dem Collegium von Dol und dann in dem von 
Rennes. Die erften Schriften, welche ihm in die Hände fielen und 
einen befondern Einbrud auf ihn machten, waren die Belenntniffe des 
heiligen Auguftin und eine Ausgabe bes weltlihen Horaz. Das 
ascetiſche Chriſtenthum und das finnliche Heidenthum bemädhtigten fich 
mit gleicher Gewalt bes funfzehnjährigen Juͤnglings und zogen ihn 
befreundet an. Auch dieſer Umſtand ift in’ feinem Leben nicht zu 
überfehen und kommt oͤfter in ihm vor, wo Widerfprechenbes, faft 
Entgegengefegtes fi) verträglich zufammenfindet. 

Da Chateaubriand Leinen befondern Beruf zum geiftlichen 
Stande zeigte, fo fuchte man um bie Stelle eines Unterlieutenante 
für ihn nach, die ee auch erhielt. Sein Gefhäft war nun, ſich felbft 
und die Recruten einzuüben, dem er fi aud eifrig unterzog. In 
derfelben Zeit folgte ein anderer Unterlieutenant demfelben Berufe und 
übte feine Kameraden zu Brienne, wie Chateaubriand die feinigen zu 
Dieppe ein. Die Zukunft, die in diefen Menfchen fhlummerte, bie 
Beide groß, von folgenreihem Einfluffe, ungleidy in Anlagen, ungleidy 
im Streben auf ganz verfchiedenen Wegen ihrem Ziele fich felbft un⸗ 
bewußt entgegengingen, ließ fi nicht ahnen. Wer hätte in jenem 
den Sieger bei Arcole, Marengo und Aufterlig, den Gründer eines 
Kaiferthrond, in diefem den Berfaffer von Rene, Atala und den 
beredten Dichter des Chriftenthums vorausgefagt? Darauf ging er nad) 
Paris, wo er dur die Verwandten feines Altern Bruders, der mit 


Chateaubriand. 441 


einer Enkelin des berühmten Malesherbes vermählt war, eine gute 
‚ Aufnahme fand. Er ward Ludwig XVI. vorgeſtellt. Ein großer 
Rag! Der König ſpricht mit Jedermann, bleibt auch vor Chateau: 
briand fliehen, betrachtet ihn und geht, ohne ein Wort an ihn zu 
richten, weiter. Der Aberglaube hätte eine böfe Vorbedeutung darin 
finden koͤnnen, welche die Bourbons indeffen fpäter nicht Lügen ftrafs 
ten. Dagegen ift es ihm vergönnt, in den Prachtfälen von Verſailles 
ſich flandesgemdg umherzutreiben, felbft den Eöniglihen Wagen zu bes 
fleigen und in dem Gehölze von Saint» Germain einer Hofiagd bei⸗ 
zumohnen. Seine Neigung führte ihn ben ausgezeichnetiten Männern. 
entgegen, bie auch einen Hof bildeten, der feine Großwuͤrdentraͤger 
und Günftlinge hatte und im Weiche der Literatur eine Macht bils 
bete, die fich geltend zu machen wußte. Er näherte fi) denfelben 
mit einer Ehrfurcht und dem Streben zw gefallen, die er felbft in 
Berfailles nicht meiter treiben Eonnte. Da glänzten Delille, Pars 
ny, Chamfort und Laharpe, damals Sterne der erften Größe, 
deren Licht fpäter vor dem flrahlenden Lichte feines Ruhms erbleichte. 
Es war ein wichtigere Gegenftand feines Ehrgeizes, neben diefen ges 
feierten Namen feinen eigenen noch unbelannten gedrudt zu fehen, 
und es gelang ihm. Er fchrieb eine gefühlvolle Idylle, welche einen 
eben nicht ganz neuen Stoff, die Liebe zum Lanbleben, behanbelte. 
Laharpe, der ſich darauf verftand, erflärte die Verſe für gut ges 
brechfelt und? Chamfort meinte, das Ding fei für einen jungen 
Edelmann fo übel nicht. Seine eigenthuͤmliche beffere Natur kündigte 
indeffen ſich durch feine Liebe für Rouffeau und Bernardin de 
Saint-Pierre an, in denen Geift und Gemüth eine reichere Nah: - 
rung fanden. Was aber fein inneres aufregte und mit Sehnfudt 
erfüllte, mar ein unbeftimmter Ehrzeiz ohne Ziel, das Verlangen, ſich 
einen Namen zu machen und unter feinen Zeitgenoffen mit Bedeutung 
aufzutreten. Diefer Ehrgeiz, mie ihn die Jugend zu haben pflegt, der 
ben Zweck will, ohne die Mittel zu prüfen oder zu Eennen, die zu ihm 
führen, trieb Chatenubriand. That es bie Gnade des Königs 
nicht, dann. Eonnte es die Gunft des Publicums thun, und gelang es 
nicht durch eine Idylle zum Lobe des Landlebens, bann konnte es 
durch eine Ode zur Verherrlihung des Kriegs gelingen. Amerika war 
damals der große Gegenftand der politifhen Verehrung und der ges 
felligen Unterhaltung. Eine neue Welt ging in den Vereinigten Staa- 
ten der alten auf und Wafhington und Lafayette wurden mit 
Begeifterung genannt. Aber auf diefem Felde fand ber Ehrgeiz keine 
Lorbeeren mehr zu ernten; bie Unabhängigkeit Nordamerikas war ges 
fihert, feine Freiheit befeftigt. Dagegen hatte man bie jegt vergebene 
ducch die Hudfonsbai einen Weg nah Oſtindien geſucht. Noch un⸗ 
laͤngſt war Madenzie von feiner gefährlichen Fahrt auf dem Polar: 
meere zurüdgefehrt, ohne den Zweck der Entbedungsrelfe erreicht zu 
haben. Das fchien eine würdige Aufgabe für Chateaubriand zu 
fein. In Frankreich gab es ohnedies für fein Beſtreben weder Auf: 


444 Ehateaubriand. 


die Verirrungen bes Sohnes Hätten bie letzten Tage der Abgeſchiede⸗ 
nen mit Bitterkeit erfuͤllt. Bald folgte der Mutter die geliebte Schwe⸗ 
ſter nach und Beide waren an den Folgen ihrer Gefangenſchaft ge⸗ 
ſtorben. Fuͤr dieſe harten Schlaͤge des Geſchicks war das Gemuͤth 
Chateaubriand's zu weich und wir glauben ihm, wenn er ſagt: „Dieſe 
zwei Stimmen, die aus dem Grabe zu mir ſprachen, dieſer Tod, der 
mir die Bedeutung des Tobes fagte, erfchätterten mein Innerſtes und 
ih ward ein Chriſt.“ 

Chateaubriand kehrte 1801 nah Frankreich zurid und gab 
bald darauf Atala und fein größeres Werk über das Chriftenthum 
(Genie du Christianisıne) heraus, die feinen literarifchen Ruf begruͤn⸗ 
deten. Beide machten ein großes Auffehen und gaben dem Verfaſſer 
eine Stelle unter den erſten Schriftftellern feiner Zeit. Die beredte 
und bichterifhe Apologie des Chriftenthume war Bonaparte gewids 
met und ‚bie Zueignungsfchrift enthält bie Stelle: „Ich übergebe das 
Wert dem Scuge beffen, welchen die Vorfehung von lange her be= 
zeichnet hatte zur Erfüllung ihrer wundervollen Abfichten.” Der Vers 
faffee hatte es nicht mit Undanfbaren zu thun. Früher ſchon war 
ihm und feinem Freunde Fontanes das Eigenthum des franzöfifchen 
Merkurs ertheilt worden ; jest, 18083, erhielt er die Stelle eines erften 
Secretairs bei ber Gefandtfchaft zu Rom. Da fich aber mit feinem 
Vorgeſetzten, dem Cardinal Feſch, kein freundliches Verhaͤltniß geftals 
ten wollte, kehrte ee fo raſch nad Paris zurüd, ale wäre ihm die 
Flucht des Könige, mit großer Schrift gedrudt, zum zweiten Mal vers 
fündet worden. Napoleon gefiel dieje Handlungsmeife nicht, ſah 
aber dem Manne, für ben fo Vieles ſprach, Manches nach und er: 
nannte ihn zum Gefandten in Wall. Er gab felbit dem Nationals 
inftitut den Wink, ihn, nah Chenier's Tode, an beffen Stelle, zum 
Mitgliede zu wählen und empfahl das Wert über das Chriftenchum 
zu einem der zehnjährigen Preife, die er gegründet hatte. Die Hin 
richtung des Herzogs von Enghien aber trat wie ein finfteres Gefpenft 
zwiſchen die beiden Männer, die das blutige Ereigniß auf immer fchied. 
Mit Vergnügen erinnern wir an bie Rede, die Chateaubriand bei 
feiner Aufnahme in die Akademie nah altem Brauche halten wollte. 
Die männliche Unabhängigkeit feines Charakters und feined Glaubens, 
bie er bei diefer Gelegenheit zeigte, verdient um fo mehr eine gerechte 
Anerkennung, als Beifpiele dieſer Art in feinem Leben felten find. 
Das Inſtitut, das, wie alle Körperfchaften, wie ganz Frankreich ſich fElas 
vifch dem Willen des Gebieters fügte, fuhr erfchroden vor einer Rede zuruͤck, 
die Wahrheiten ausfprach, weldye zu denken ſchon gefährlich ſchien, 
wenn fie die Gewalt hätte errathen können. Das Inſtitut weigerte 
fih, die Mede anzuhören, Chateaubriand dagegen, etwas an ihr 
zu ändern. Unter folhen Umftinden war in der Nähe bes Hoflagers 
des Loͤwen nicht gut wohnen und die Zeit zum Reifen günftig. Cha⸗ 
teaubriand benuste fie, ging nah Italien, fchiffte fi zu Venedig 
nach Griechenland ein, befuchte Gorinth, ließ ſich auf den Trümmern von 


Chateaubriand. 445 


Sparta nieder, verweilte an allen Stellen des claffifhen Bodens, wel⸗ 
che die Erinnerung einer großen Vergangenheit geheiligt hat. Won 
Jaffa zog er burdy.die Wuͤſte nad, der heiligen Stadt, vor der er in 
ſtillem Gebete auf die Knie ſank, dann mit Andacht die Ruinen des 
Zempels und die Grotte von Bethlehem betrat. Von Paldftina begab 
er fih nad) Aegypten und kehrte von..ba. wieder nach Europa zurüd. 
Sechs Fahre verflofien nad) dieſer Pilgerfahek, in denen Chateau: 
briand feine Märtyuer (les ınartyres) und die treffliche Befchreis 
bung feiner Reife (itindreire) vollendete. Burüdgezogen in feiner Ein: 
ſamkeit, mit feinen ſchriftſtelleriſcher Umternehmungen befchäftigt, nur 
wenige Freunde fehend, ‚die von der Ungnabe bes Kaifers wenig zu fürchs 
ten batten, überenfchten ihn die Ereigniffe von 1814, die eine Welt: 
in Zrümmern legten. Einer der größten: Männer, die je einen Thron 
verherrlicht, eines der größten Reiche, die je ein. Eroberer gegründet, 
ee von der Hand des:Schicfals berührt, das ihnen bier ihr Ziel 
geftedt. en F 

Die Bourbons wurden durch den Sieg des verbuͤndeten Europa 
wieder auf den Thron Frankreichs erhoben. Der Glaube, die Nei⸗ 
gungen und Wuͤnſche Chateaubriand's waren in alle ihre Rechte 
und Anſpruͤche eingeſetzt. Er feierte den Fall des Helden durch ſeine 
Schrift: Bonaparteund die Bourbonsg, ein vae viotot mit dem 
er nicht das Schwert des Brennus, fondern den Hohn des Wils 
den, der fein Schlacdhtopfer wehrlos an. den Pfahl gebunden .fieht, 
in die Magfchale warf... Dan muß allen Thatfachen und Ereigniffen 
eine fchnöde Gewalt anthun, um sine ſolche Bufammenftellung her. 
auszukuͤnſteln. Wäre auch wahr, was Ludwig XVIII. gefagt haben 
fol ,. daß diefe- Schrift für die Bouchoms ein Heer von hunderttau⸗ 
fend Mann werth: gervegen ſei, war 28 eines Chateaubriand wuͤr⸗ 
big, daſſelbe um foldhen Preis: zw reerben?::. Die Reftauration b& 
Iohnte ihn mit der Geſandtſchaft in Schweden, die auf. keine Weife 
nad, feinem Gefchmare war. Der. fixenge Legitimift ſollte ſich dem 
Throne eines Eingedeungenen, eines Emporkoͤmmlings, eines Ge 
ſchoͤpfes der Revolution; eines Waffengefährten Bonaparte’s mitt 
Achtung nahen! MR apsleon rettete ihn geoßmüthig aus biefer Ver 
legenheit, indem er fich zu einer Reife - von. Elba nad) Parts. entfchioß, 
die einen König in der’ Mitte von’ dreißig Millionen Unterthanen 
entthronte. Das mwar-ein bünbiger Commentar zu der Schrift: Bo⸗ 
naparte und bier. Bourbons!l: ‚Ludwig XVII. omg nad 
Gent, und Chatedubriand folgte ihm. Hier fchrieb. er. als Staates 
miniftee den merkwuͤrdigen Beriht.an:den König -über bie 
Lage Frankreichs, ein Ding, über das fich leichter fihreiben, als 
es ſich machen läßt. Europa führte bie Bourbons urn zweiten Mal zus 
ruͤck. Die Ariftofratie, die nichts gelernt und . nichts vergeſſen hat, 
in dem wieder gewonnenen Frankreich nur das treulos abgefallene von 
dem Glauben und den hergebrahhten Rechten ihrer 'Wäter fah, und 
um jeden Preis das fechszehnte Jahrhundert an bie Stelle bes acht: 


446 | "Chateaubriand. 


zehnten fegen mollte, um bie Reſtauration gruͤndlich zu vollenden, 
vereitelte jeden Verſuch einer Verſoͤhnung. Sie ſah fich als fiegen» 
des Frankenvolk in das untertworfene neue Gallien. wieder eingeführt. 
Chateaubriand focht rvitterlih in ben erſten Reihen mit, und 
Cämpfte für einen Sieg‘, in dem er felbft einen Uebergang zur Nies 
beringe ſah. Man "fleht: erſtaunt und betroffen vor biefem Manne, 
der fo groß und doch ſo Kein eifcheint, im ewigen Miderfpruche mit 
ſich ſelbſt, wenn er vom Pulte in das Leben tritt, den Gedanken zur 
That geftalten fol, ſich dus der Unenblichleit des Reichs der Gefins 
nungen unb Gefühle, in benen fit Ordnung und Einheit findet, in 
die enge Wirklichkeit verliert, two er, felbft verwirrt, nur Verwirrung 
fhafftz dem Geiſte nad) ein Bürger feiner Zeit, der fi) fogar über 
feine Zeit .erhebt, dagegen mit Gemüth und Neigung eine alterthuͤm⸗ 
liche Weberlieferung, ein Nachzügler bee Bergangenheit, ein Gefpenft 
ber Nacht, das keine Morgenluft gemwittert und fi bis in den Tag 
verfpätet hat, Republikaner und Abfolutift. Im Dienfte einer Partei, 
die er leiten wollte, fuchte er Gewalt, die er Andern gab, und bie 
diefe benugten, um ihn bavon entfernt zu halten. So warb er für 
feine Dienfte mit eimer glänzenden Verbannung abgefunden, ging ald 
-Gefandter nad) Berlin: und bald darauf nad) London. Zu Verona 
wohnte er dem Gongreffe bei, mo man mit feinen Anfichten fo zufties 
den war, bag er das Minifterium der austoärtigen Angelegenheiten ev 
hielt. An dieſer hohen: Stelle, dem Gegenftande feines Ehrgeizes, 
fühlte er fich zu großen Dingen berufen, von benen durch feine Dit 
wirkung das Gegentheil gefhah. Cine bewaffnete Einmiſchung in 
bie Angelegenheiten Spaniens fhien ihm bedenklich, und buch ihn 
ward fie ausgeführt. Seinen Einfluß wollte er benugen, um in bes 
fpanifchen Colonien eonflitutionelle Monardyien zu gründen, ‚bie er. in 
Europa zertruͤmmern half und in Amerifa nicht gründen konnte. 
Fuͤr die Griechen und ihre: Sache zeigte ev Mitgefühl, das aufrichtig 
war, und er fand ihren Feinden bei, die ſie wie Aufruͤhrer behan⸗ 
delten. Er war das Werkzeug jener ſogenannten praktiſchen Menſchen, 
die ihr Ziel um ſo gewiſſer erreichen, da ihnen alle Mittel, die zu 
ihm fuͤhren, die rechten ſind. Man darf ſich darum kaum wundern, 
daß er ſich an ſeiner hohen Stelle nicht behauptete, und ſie gerade 
durch diejenigen verlor, denen er ſich durch geleiſtete Dienſte aufge⸗ 
opfert hatte. Auf die unzarteſte Weiſe ward er 1824 aus dem Mi⸗ 
niſterium entfernt. „Sie haben mich, rief er. in feinem gerechten 
Unwillen aus, tie einen Bedienten fortgejagt, der bie Uhr bes Koͤ⸗ 
nigs von dem Kamin:.geftohlen.” Er rächte fi an ber fchnöben Ges 
walt, die. er erhoben hatte, um fi von ihe erniedrigt zu ſehen, bucch 
alle Mittel der Prefie,: für die er die Mehrheit von Frankreich. nur 
iu empfängli fand. Aber auch hier half er wieder zerftören, was 
er gebaut, und fegte fih, im Widerfpruche mit der Macht, für die 
er früher fo vielfältig gewirkt, mit ſich felbft in Widerſpruch. Diefe 
Art: Selbſtmord iſt aber in Zeiten der Parteiung felten gefährlich, 


Chateaubriand. Chile. 447 


Der Tod für die eine Mt eine Auferftehung für die andere, und gibt 
man feine Freunde für ihre Feinde auf, dann wird man biefen ein 
um fo wertherer Freund. Billele, der Gegner Chateaubriand’s, 
fiel; aber auch durch dieſen Fall erhob fih Chateaubriand nid. 
Alles, was er gewinnen tonnte, mar eine ehrenvolle Sendung nad) 
Rom, Die QJulitage festen einen andern Zweig ber Bourbons auf 
ben Thron, und Chateaubriand entfagte ber Würbe eines Paits 
und gab feine Stelle auf. Mit rührender Anhänglichleit bem alten 
Königsftamme ergeben, ‚pflegt ihn, der verwittert in der Erde Sranl: 
veich® keine Lebensnahrung findet, feine treue Hand. Am Grabe ber 
alten Monarchie fteht er ein Leichenftein, der eine Vergangenheit 
ehrt, die keine Zukunft hat. Mit welcher feommen Begeifterung er 
die Herzogin von Berry als eine Heilige begrüßt, und wie weltlich 
gefinnt der andädhtige Gruß erwiedert warb, das haben wir gefchen. 
Und diefer Mann, ber handelnd die Wirklichkeit wie einen Traum 
behandelt, wie ficher geftaltet fie fi unter ber Feder, wenn er fie 
mit fchöpferifhem Geiſte darſtellt! Sind feine geſchichtlichen Studien 
(Etudes historiques) nicht ſibylliniſche Blaͤtter, deren Wahrfagungen 
die Vergangenheit erklären und bie Zukunft verfünden? Chateau⸗ 
briandb hat die Denkwürbigkeiten feines Lebens gefchrieben, bie erft 
nad) feinem Tode erfcheinen follen.. Sie wurden indefjen in vertraus 
tem Kreiſe vorgelefen, auch bewährten Freunden mitgetheilt, die es 
verantworten zu koͤnnen glaubten, wenn’ fie dus Publicum zu ihrem 
Pertrauten machten. Die Geheimniffe bee Denkwuͤrdigkeiten wurden 
auf” diefe Weife offenkundig, und wir keugnen nicht, ba. wir uns 
ein Meiſterwerk in feiner Art verſprechen. Sie merden unter dem 
BVorzüglichften, was der Verfaſſer je geleiftet, eine Stelle. finden, und 
durch die Macht des Geiftes, der fie‘ befeelt, mit den ſchwachen Stel: 
len des Lebens verföhnen, das oft fo unficher und ohne "a ift. 
- Weigel, 


Chatoulles Güter, f. Eiviltifte - 

Cherusker, f. Altdeutfhe Völker. 

Chile. An ber Weſtkuͤſte bes fäüblichen Feſtlandes von Amerika 
dehnt ſich vom 240 20 bis zum 440 ©. Br., und vom 3030 
20’ bis zum 308% 50 D. 2. das glüdlidhe Chile aus. Don Bes 
livia trennt es die Müfte Atacama. Weſtlich hat es den ftillen. Ocean. 
Deſtlich die Gorbilleren, durch welche fehwierige Päffe, und namentlich 
ber 12,000 Fuß hohe Ufpalatapaf, nad den La PlatasStaaten fühs 
een. Südlich fchneidet dee Golf von Guayateca in das Land ein, bee 
die Inſel Chiloe umſpuͤlt. Es umfaßt gegen 6600 Reiten, wo⸗ 
von 5200 auf das eigentliche Chile, 1200 auf das im Suͤden ges 
legene Gebiet dee unabhängigen Araucanen, 200 auf bie. Inſel 
Chilo& kommen. In den Gorbilleren enthält es mehrere. furdhtbare 
Vulkane, namentlich den Peteroa und ben 15,000 Fuß heben . Desca- 
bezado. Meftlih von benfelhen erſtrecken fi drei parallel laufende 
niedere Bergreihen; darauf allmälige Abbachung bis zur ebenen Küfte. 


448 Chile. 


Das Land durchſtroͤmen 63 Fluͤſſe, alte ihren kurzen Lauf von Oſten 
nad, Welten nehmend. Unter den Seen verdient ber reizende Ser 
Aculeo Erwähnung. Das Klima tft Außerft angenehm und gemaͤ⸗ 
Bigt, die Hibe durch) die von den Gorbilleren kommenden Bergwinde 
und duch, die Seeluft gemaͤßigt. Der Boden ift für alle europaͤiſche 
Getreide s und Gemuͤſearten empfänglich; der Weizen gibt den 2bfa- 
hen, an. mandhen Punkten den 100fachen Ertrag. Dabei erzeugt 
das Land ale Suͤdfruͤchte, Faͤrbehoͤlzer, zum Theil auch Sciffbaus 
hoͤlzer. An Nutzvieh enthält es Pferde und ungemein viel Rindvieh. 
Groß ift der metallifche Reichthum. Gold findet fi) in Gebirgen 
und Flüffen. Auch liefert der Bergbau Silber, Kupfer, Eifen, 
Blei, Queckſilber. Man findet Edelfteine, Deineralquellen, Salz. 
Die künftig aufblühende Induſtrie erwarten Steinfohlen:, die pla⸗ 
ſtiſchen Künftle Marmorlager. Die Einwohnerzahl wird auf 900,000 
Individuen gefhägt, bie weniger gemifcht find, ala In ben Nach—⸗ 
barländern: Namentlich enthält das Land nur gegen 40,000 Neger. 
Die Araucanen bewohnen ihre getrenntes Gebiet und find jebers 
zeit frei geblieben. Die Natur hat Chile zum Gluͤck berufen, das 
wenigftend nicht durch bleibende Beſchwerden gefchmälert, aber mohl 
von häufigen und furchtbaren Erdbeben bedroht wird, gegen beren 
Schreien man ſich durch leichte Bauart der Haͤuſer zu fchügen ſucht. 
Gewitter kommen nie vor. Die Einwohner, groͤßtentheils Kreolen, 
find ein efinnlihes, gutmäthiges, gaſtfreies Volk, die glüdlichen 
Phaͤaken der Suͤdwelt. 

Chile iſt 1660 durch Pedro de Valdivia fuͤr Spanien erobert 
worden. Es erhielt frühzeitig feinen eignen unabhängigen General 
capitain. Sein Gebiet war in 2 Audiencias, die von. St. Jago und 
bie von Goncepcion, getbeilt. Das Volk blieb in ruhigem Wohlftand, 
um dußere. ober innere Politik unbelümmert. Aber eben die forglofe 
Lage der chilefifchen Kreolen gab ihnen bie Kraft, fobald einmal bie 
dee der Unabhängigkeit erwacht war, die Sache ſchnell durchzufuͤh⸗ 
ten. Der legte fpanifche Generalcapitain. Caxraſco hatte ſich durch 
willkuͤrliche· Maßregeln verhaßt gemacht. Auf. die Nachticht von ber 
zu Bogota erfolgten Einſetzung einer Junta verfammelte fi) auch 
zu St. Jago das Volk: und zwang den Generalcapitain am 20. Juli 
1810, feine Stelle niederzulegen. Im Anfang begnügte man ſich 
zivar, denfelben Poften einem Eingebornen, dem Grafen de la Gons 
quifta, zu -übergeben. Aber biefer felbft betrieb die Unabhaͤngigkeits⸗ 
erklaͤrung, da er wohl fühlte, daß auch für ihn bee Nubicon Aber 
fhritten war. Ueberdem kam von Buenos Apres Alvarez de Jonte 
und wirkte für die Fortführung des Werke, fo daß bereits am 18. 
Sept. bie aus 7 Mitgliedern beftehende Regierungsjunta eingefeht 
ward. An die Spige berfelben. trat ber Graf de la Concepcion. 
Sie berief aus allen Provinzen Abgeordnete zu einem Gongrefie. Der 
Altfpadier waren wenige und ber Obriſt Figueroa, der mit Huͤlfe 
‚einiger Truppencorps und unter Gonnivenz ber Audiencia zu St. Jago 


Chile. 449 


eine Reaction In biefem Sinne (1. April 1811) buchführen wollte, 
büßte den Verſuch mit dem Leben. Sm Juni 1811 trat der Cons 
greß zufammen. Indeß wurden mißvergnügte Stimmen über manche 
bei den Wahlen vorgefallene Unregelmaͤßigkeiten und bie zu große 
Baht der Abgeorbneten von St. Sago laut, die man jedoch durch 
Verminderung ber legteren und durch Anordnung einer Neuwahl zu 
Concepcion befhmichtigte, fo daß ber Congreß am 4. Sept. 1811 
förmlich zu Stande fam. Er eröffnete feine Sigungen- mit vielen 
freifinnigen, auf &mancipation der SHaven, Freiheit des Handels, 
Abſchaffung der Verkäuflicykeit der Staatsämter, forie überflüffiger 
Stellen, Anlegung von Waffenfabrilen und Kriegefchulen u. f. w. 
bezüglichen Befchlüffen. Die Preßfreiheit warb von der erften, am 21. 
Nov. 1811 in Chile (zu St. ago) angelangten Drudpreffe zur 
Herausgabe der mit dem 1. San. 1812 begonnenen Aurora be Chile 
benust. Aber ſchon mar ber politifche Himmel Chile’s nicht mehr 
wolkenlos. Die brei Brüder Carrera, Söhne eines reichen Gutsbe⸗ 
figere in St. ago, wo fie unter Zruppen und Eimmohnern vielen 
Anhang hatten, benugten ihre Partei für ehrgeizige Zwecke. Ste bes 
wogen die Junta (Dec. 1811) zur Auflöfung des Congreffes, wor⸗ 
auf fie unter manden Berwirrungen den neum Congreß und durch 
diefen das Land befpotifch beherrfchten. — Noch hatte man übrigens 
fi) nicht förmlich „von Spanten Iosgefagt. Das Bildniß des Könige 
ward auf den Münzen beibehalten; mit dem Bicelönig von Peru 
blieb man in fcheinbar gutem Vernehmen. Faetiſch hielt man ſich 
aber getrennt und meigerte ſich, trotz der dringenden Cinlabungen 
bes am 27. Juli 1811 zu Valparaiſo geländeten General, Fleming, 
entfchiedben, die Cortes durch Abgeordnete zw beſchicken. Umfonft 
fuchte Fleming von Lima aus durch ein Schreiben vom 3. Oct. feine 
Abſicht durch das Vorgeben bucchzufegen, daB die englifhe Regie⸗ 
rung das Vorgefallene hoͤchlich mißbillige. Auch proteſtirte ſpaͤter (13. 
Sept. 1813) der engliſche Geſandte zu Rio Janeiro, Lord Strang⸗ 
ford, feierlich gegen dieſes Anfuͤhren. — Beffere Dienſte leiſteten ben 
Spaniern die inneren Zwiſte. Die Carrera's bewogen den Congreß, 
die Junta abzuſetzen (15. Nov. 1811) und an deren Stelle eine nur 
aus drei Mitgliedern beftehende, worunter einer von ihnen war, zu 
ernennen. Die neue Junta loͤſte nun ihrerfeits den Congreß auf, 
Suchte das Volk. durch Einführung ber breifarbigen Slagge, ftatt ber 
anifhen, zu gewinnen und regierte nun unter dem Einfluß der 
Sarrerad. Bier Verſchwoͤrungen .gegen fie wurden vereitelt; ein inne⸗ 
rer Zwift, in Folge deſſen der dltefte Carrera, Joſe Miguel, aus⸗ 
trat, wieder (27. Dct. 1812) ausgeglichen, Teinesweges aber ber Uns 
wille des Volks geſtillt. | 
Dieſer ermuthigte den Wicelönig von Pers, ben. Verſuch der Wie⸗ 
bereroberung zu wagen. Er fenbete den General Pareia, der 1818 
mit. 4000 Mann zu. St. Vincente landete und ſich bes Hafens von 
Zalcahuano, fowie der Stadt Concepcion, bemächtigte. Weberhaupt 
Staats s Eeriton. III. | 29 . 


450 Chile. 


zeigte ſich in Chile, wie im ganzen ſuͤblichen Amerika, die Reaction 
der Provinzen gegen die Centraliſation. Die Carrera's regierten be⸗ 
fonders duch und für St. Jago. Der Hauptfig der Oppofition gegen 
fie war daher in Goncepcion. Das Land würde getheilt worben fein, 
wenn bie Natur eine Trennung begünftigt hätte. Pareja rüdte nun, 
durch die dort gefundenen, Truppen verflärkt, gegen St. Jago vor. 
Der ältere Carrera ging ihm mit 6000 Mann entgegen und obwohl 
‚der am 12. April 1813 verfuchte Ueberfall feines Lagers mißlang, fo 
mußte fi doch Pareja in bie fefte Stellung von Chillen zuruͤck⸗ 
ziehen, wo er bis zu feinem Tode (1819) ſich ruhig hielt. Talca⸗ 
huano und Concepcion wurden wieder genommen. Indeß hatten bie 
Gegner, bie die Garrera’s felbft in der ihrer Herrſchaft überdrüffigen 
Sunta hatten, eine Intrigue gegen fie gefponnen. Man bewog auch 
die übrigen beiden, zur Armee abzugehen, und ſogleich befegte die Junta 
die bisher erledigt gebliebene Stelle des diteren Garrera und befchloß, 
ihre Sigungen nad) Zalca in der Nähe bes Kriegsfchauplages zu vers 
legen. Hierauf ernannte fie (24. Nov.) die Obriften D’Higgins und 
M'Kenna zu Anführern der Armee und diefe zwang felbft die Gars 
reras zur Abreife. Sofe Miguel und ber jüngfte Carrera, Luis, 
wurden auf ber Rüdkehr von den Spaniern gefangen und nad) Chil⸗ 
lan gebracht. Die Spanier befehligte jegt General Gainza, deſſen 
Angriff auf M’Kenna (19. und 20. März 1814) zwar durch das Ders 
zueilen D’Higgins vereitelt. wurde, der aber doch die Stabt Xalca 
einnahm. Einen Zug nad) St. Jago vereitelte D’Higgins. Inzwi⸗ 
[hen war die Zunta, mit dee man. unzufrieden mar, aufgelöft und 
de Ia Laftra zum Dictator ernannt worden. Diefer ſchloß, unter Vers 
mittelung des englifchen Gapitains Hillyan, am 5. Mat 1819 mit dem. 
General Gainza eine Convention, in Folge beren Gainza binnen 2 
Monaten nad) Peru zurüdkehren, ber Vicelönig bie. Regierung von 
Chile und die von ihr getroffenen Einrichtungen. anerfennen, bagegen 
aber Chile bie fpanifchen Gortes beſchicken follte. — Indeß der Ber: 
trag ward nicht ausgeführt. Gainza zögerte. Die Carrera waren 
entflohen, nah St. Zago gekommen und ermwirkten am 23. Aug. bie 
Abfegung des Dictators und die Wiedereinführung des Triumvirats, 
an deſſen Spige Joſe Miguel Carrera ftand. Die Unzufriedenen riefen 
D’Diggins herbei und der VBürgerkrieg war im Gange, als die Nach⸗ 
richt einlief, daB Gainza durch General Oſorio abgelöft fei und ber 
Vicekönig die Genehmigung des Vertrages verweigere. Dforio hatte 
Verftärfungen mitgebradht. Hierauf unterwarf fi ber edle O'Hig⸗ 
gins der Junta. Carrera übertrug ihm den Oberbefehl ber Armee, 
entließ aber vorher deren beite Officiere, als feine perfönlichen Gegner, 
worauf durch zahlreiche Defertionen die Truppen bis auf 4000 Ma 

berabfchmolzen. Mit diefen ſchloß fih D’Higgins in Rancagna eilt, 
wo ihn die Spanier angriffen. Carrera rüdte zum Entſatze heran 
und ſchon mollten die Spanier ſich zurädziehen, als Gartera, ohne 
etwas gethan zu haben, umkehrte. Die Belagerung begann von 


‘ 






Ghile. 451 


Neuem; O'Higgins verlor zwei Dritttheile feiner Mannfchaft und 
Thlug ſich endlich mit 200 Dragonern durch. Die Carreras benugs 
ten ihre Zruppen nur zu Erpreſſungen; das Volk, deren müde, lud 
endlich die Spanier felbft ‚ein; die Carreras und andere am meiften 
compromittirte Perfonen entflohen und im October 1814 mar ganz 
Chile wieder den Spaniern unterworfen, welche die Häupter der Pas 
triotenpartei nad) der Inſel Suan Fernandez verwiefen. 

Die Geflohenen hatten fih nad Mendoza, an bee Grenze zwi⸗ 
fhen Chile und den La Platas Staaten, gewendet. Dorthin fendete 
die Megierung der letzteren einige Zruppen, die mit den Chilefen 
vereinigt unter das Commando des General San Martin geftellt wur: 
den. Als fie auf 4000 Mann gebracht waren, z0g San Martin 
im Sanuar 1817‘über die Anden und fiel in das über die Reactio⸗ 
nen der Spanier erbitterte Chile ein. Dort hatten bisher Guerrillas, 
befonders unter Don Manuel Rodriguez, das Andenken ber Freiheit 
erhalten. (Das abgeworfene und wieder aufgelegte Joch iſt ſchwerer 
zu tragen, als das ewig laſtende) San Martin befegte mehrere 
Punkte und erfocht endlich (12. Febr.) einen entfcheidenden Sieg bei 
Chacabuco, bei dem ſich auch O'Higgins wieder auszeichnete. Bald 
darauf ward der Generalcapitain Marco, ber jest an der Spiße ber 
Spanier fland, bei Valparaiſo gefangen und die fpanifche : Armee 
zerftreute fih. Ein zu St. Jago zufammengetretener Congreß bot 
dem General San Martin die Würde eines Oberdirectors von Chile 
an, der fie aber ausſchlug, morauf fie durch den tapfern. und patrio- 
tiihen Don Bernardo O'Higgins mürbig befegt wurde. Nun marb 
für immer mit Spanien gebrochen und am 1. San. 1818. die Uns . 
abhängigkeit Chiled proclamirt. Aber nochmals drangen die Spanter 
unter dem General Dforio vor, bis die Schlaht am Mappe, die 
San Martin den 5. April 1818 gewann, ihrer Herrfhaft gänzlich 
ein Ende machte. Nur wenig Pläse und die Inſel Chiloe ‚blieben 
in ihren Händen. Die neue Republit, im Beſitze reicherer Gelbmits 
tel, als ihre Schweftern, ſchwang fi) bald von Sicherheit zu Anſe⸗ 
hen auf. Bereits 1818 beſchloß man bie Errichtung einer kraͤftigen 
Seemacht, zu deren Oberbefehl man den berühmten Korb Cochrane 
berief. Diefer eroberte am 3. Febr. 1820 den letzten, noch von den 
Epantern befegten Poften, die Feſtung Valdivia, blofirte Lima und 
ward dem fpanifhen Handel furchtbar. Doch trat er 1822, über 
manche Cabalen feiner zahlreichen Neider erbittert, in die Dienfte Don 
Pedro's. An die Stelle des Director O'Higgins kam am 9. Mat 
1823 der General Ramon Freire, der bie Einfälle der Araucaner 
zurücties und im Januar 1826 auch Chilos den Spaniern. entrif. 
Sein Nachfolger Encalada dankte bald wieder ab; er felbit kam wies 
der an deſſen Stelle, ward aber durch Parteiraͤnke gleichfalls, zur 
Abdankung bewogen, worauf am 29: Mat 1826 Don Pinto. erwählt 
wurde, der auch bei einer neuerlihen Wahl 1828 bie Würde beibe⸗ 
hielt. Damals warb die Verfaffung vom 6. Anguft 1028 „begründet, 

. 2 v*. 


452 Chile. 


welche die gefeßgebende Gewalt einem Congreß, die ausübende einem 

Oberdirector vertraute. Sein Nachfolger ward O'Higgins, ber fich 

feitbem erhalten und deſſen Verwaltung erfprießliche Refultate geliefert 
bat. Sm Ganzen leidet das Land mehr an Schlaffheit und die In⸗ 
Differenz feiner Bewohner laͤßt den Intriguanten Spielraum. Zu, 
größeren Stürmen iſt wenig Anlaß, weil ſich keine Unverträglichkeiten 
finden. Daß weder Attfpanier, noch Meger zahleeih, die Indianer 
auf ihr eignes Gebiet ‚verwiefen, überhaupt bie Karbeclaffen wenig 

gemifcht find, ift, wie Pöppig ſehr einſichtsvoll gezeigt hat, der güns 
ftigfte Umftand für das fo viel begünftigte Land. | 

Don Induſtrie zeigen fih noch wenig Spuren; dagegen wird 

der Handel fehr lebhaft betrieben. Den Hauptreihthum des Landes 
begründen aber Viehzucht und Bergbau. Lesterer hat fi neuerdinge 
wieber bedeutend gehoben. Der Ertrag ber Silbergruben, der auf 
23,500 Mark gefunten war, belief ſich 1834 auf 164,968 Mark; 

der des Goldbergbaues war feit 1830 von 410 auf 3840 geftiegen. 

Auch der Handel ift im Steigen. 1832 waren in Valparaiſo 275, 
1834 ſchon 394 Kauffahrteifchiffe eingelaufen. Ebenfo war bie Zahl 
dee in freien Maarenhäufern gelagerten Collis von ausländifhen Guͤ⸗ 

tern von 18—20,000 auf 70— 80,000 gemadhfen. Damit hoben 
ſich auch die Staatseinkuͤnfte. So trugen die Zölle, die 1825 — 29 

‚nur durchſchnittlich 888,670 Dollars gebracht hatten, 1834 1,241,080 
Dollars. Ueberhaupt maren die Staatseinkünfte feit 1831 tn fleter 
Zunahme begriffen. Sie beliefen fit 1831 auf 1,517,537; 1832 
auf 1,662,713; 1833 auf 1,770,340; 1834 auf 1,921,966; 1835 

auf 2,175,000 Dollars. Die Ausgaben waren 1835 auf 1,840,209 
Dollars veranfchlagt. . 

Chile war zeither in acht Provinzen abgetheift: 1) Coguimbo, 
der nördlichfte Theil, der fi bi8 zum Fluß Chuapa erftredt. Darin 

die Städte Copiapo und Coquimbo (Ciudad de Serena); viele Kupfers 

minen. 2) Acongagua bis zur Bergkette von Chacabuco. Hauptſtadt: 

Ciudad de Felipe. Auch hier viele Kupfergruben. 3) Sant ago bis 

zum Fluß Cachapoal, der Centralpunkt des Reichs, mit der Stadt 

Sant Jago von 48,000 Einwohnern, dem 18 Meilen davon gelegenen, 

. non lebhaften Handel bewegten Hafen Valparaifo und den zwei Juan 

Sernandezinfeln, deren eine dee claffifche Ausgangspunkt der Robinfos 

naden ift. 4) Colchagua bis zum Flug Maule. 5) Maule bis zum 

Fluß Ruble. 6) Concepeion, dee fruchtbarfte Theil des Landes, aber 
1835 durdy ein furchtbares Erdbeben vermwüftet. Die Hauptftadt glei⸗ 

ches Namens ift einer der aͤlteſten Plaͤtze Suͤdamerika's und bereite 

41550. gegründet worden. 7) Baldivia, bie das Gebiet ber Arauca⸗ 

nen begrenzt. 8) Die Infel Chiloe. 

Die Araucanen (3—400,000 Individuen) theilen ſich in vier 

Fuͤrſtenthuͤmer (Uthal = mapu’6): Das Laugun-, Lelbun-, Mapir⸗ 

und PirtesMapu; jedes von einem Toqui regiert. Sie bilden unter 

fih eine Conföderation, welche das gemeinfame Bunbesintereffe mit der 


Chile. Cholera, 453 


Selbſtſtaͤndigkeit der einzelnen Bundesglieder fehr gut zu verföhnen 
weiß, und flehen jegt auch mit ber Republik Chile-in Buͤndniß. 
Ueber die Geſchichte Chile's findet man gute Nachrichten in: Maria 
Graham's: Journal of a Residence in Chili, during the year 
1822; London, 1824. 8. Ueber die Natur in Poͤppig's bekann⸗ 
ter Reife, wo auch die bürgerlichen Verhältniffe mit Scharffinn bes 
leuchtet find. 5. Bülau, 

China, f. Sina 

Cholera, die große toanderndbe Epibemie unferer Zeit, iſt 
In doppelter Hinfiht von Wichtigkeit für die mediciniſche Polizek, 
erftens indem es die Aufgabe der Staatsbehoͤrden ift, mo möglich die 
‚füchhterlihe Seuche von dem Volke abzuhalten, und zweitens, weil bek 
ber fchnellen Erkrankung fo vielee Individuen der Einzelne fi nicht 
immer die nöthige Hülfe zu verfchaffen vermag und daher Maßregeln 
von Seite der Gefammtheit zur Rettung der Einzelnen nothwendig 
werben. 

Die Schugmaßregeln gegen die Cholera, bie bisher in Anwen» 
dung gebracht morben find, beftehen theils in Vorkehrungen gegen 
Anftedung, theils in Maßregeln gegen verfchiedene andere vermeids 
liche Urfachen der Krankheit. — Ueber bie Anftedungsfähigkeit ber 
Cholera find bis jegt noch bie Meinungen ber Aerzte fo fehr getheilt, 
daß Feine derfelben entfchieben die überwiegende gemorben ift und fich 
daher die Staatsbehörden bei Annäherung der Epidemie immer in 
ber peinlichen Lage befinden, bei biefem Streite der Meinungen ſich 
für oder gegen die Maßregel der Sperre erklaͤren zu müflen, deren 
Unterlaffung im Falle der Anftedungsfähigkeit ber Krankheit die Schuld 
ber Zernichtung von taufend und taufend Leben trägt, und deren 
Vollfuͤhrung im entgegengefegten Falle unmöglid) nusbringend ift und 
der Nation unb der einzelnen Gemeinde durd) die Hemmung des Vers 
kehrs und die großen Ausgaben tiefe Wunden fchlägt. 

Verfuhen wir e6, bei uns felbft ein Urtheil über bie Urfachen 
ber Epidemie feftzuftellen, fo müffen wir vorerft, wenn audy nur in - 
ben Hauptzügen, bie Gefchichte der Verbreitung und das Bild ber 
Seuche kennen lernen. 

Aehnliche Krankheitszuftände, wie die gegenwärtig herrfchenbe Chos 
Vera, kamen einzeln zu jeder Zeit vor, 3. DB. bei geroiffen Vergiftuns 
gen, und es gab felbft fhon mehrere Epidemien derartiger Krankhel: 
ten, die aber auf eine Beine Fläche Landes befchränft waren, tie 
3. B. die Epidemie in England von 1669 und bie zu Madras in 
den Jahren 1782 und 1783; im Jahre 1817 aber brach zu Jeſ⸗ 
fore in Dftindien eine Choleraepidemie aus, die, aͤhnlich mehrern 
früheren großen wandernden Epidemien, namentlich der großen Peſtilenz 
im fechften Jahrhundert, dem ſchwarzen Tod im 14ten Jahrhundert 
und mehreren SInfluenzen, beinahe immer von Oſten nad Welten ge: 
hend, ſich über den ganzen Erdboden hinzog. Nach dem erſten Er: 
fcheinen der Krankheit in Jeſſore brach biefelbe zuerit in Calcutts un 


454 | Eholera. 


fodann nad) und nach In ganz Oſtindien und ben meiften Inſeln bes 
Deeans, 1820 auch in China und 1821 in Perfien aus unb durch⸗ 
wanderte in den folgenden Jahren Arabien und Syrien; 1823 erfchien 
fie an den Grenzen von Rußland und fhritt in den folgenden Jahren 
in biefem Reiche langfam vorwärts bis 1830 und 1831, wo fie in 
Moskau und in St. Petersburg herrfchte;s 1831 drang die Seuche in 
Polen, Salizien und Ungarn ein, fie verbreitete fich in bemfelben Jahre 
über das ‚öftliche und nördliche Deutfchland, wo fie namentlich Wien, 
Berlin heimfuchte, fodann brach fie in England aus und erſchien im 
Fruͤhjahre 1832 plöglih in der Mitte von Paris. In demfelben und 
den folgenden Fahren befuchte bie Krankheit viele Städte von Frankreich 
und gelangte nad den Niederlanden, nad) Spanien, Portugat unb 
Amerila. Im Jahre 1835, nachdem die Seuche in Europa überall 
 erlofhen mar, zeigte fie fid) von Neuem in dem füdlichen Frankreich 
und trat nun auch in bem bisher verfhonten Italien unb im noͤrdli⸗ 
hen Afrika auf. Gegenwärtig, im Mai 1836, herrfcht die Cholera _ 
noch in einigen Städten von Oberitalten und es zeigen ſich wiederum 
Spuren berfelben in Wien. 

Mas das Bild diefer epidemifchen Krankheit betrifft, fo erkennen 
wir in den Drten, in melden die Cholera ausgebrochen ift, einen 
ziemlich allgemeinen gaftrifhen Charakter der Krankheiten, und es tft 
oft dee größere Theil ber Bevoͤlkerung, abgefehen von denen Individuen, 
bei welchen die volllommene Cholera ſich eingeftellt hat, mit der einen 
oder andern gaftrifhen Affection behaftet, wie 3. B. mit Durchfall, 
Aufblähung des Leibes, Kolit, Magenweh, Aufſtoßen ıc. Viele Ders 
fonen leiden an Zuftänden, bie nichts Anderes find, als gefteigerte 
Krankheitszufälle der Art mit Hinzutritt.von Krampf in den Gliedern, 
und die demnach unferer fporadifchen Cholera oder fogenannten Cholerine 
gleich find ; auch zeigen ſich mehr Nervenfieber als gewöhnlich, die bekanntlich 
eine große Beziehung zu dem gaftrifchen Syftem haben. Die fogenannte 
Cholerine tritt in den verfchiedenen Graben der Heftigkeit auf und geht 
durch die höhern Grade in die volllommene Cholera über. Wie in 
dem Drte felbft, mo die Cholera ausgebrochen iſt, vor, während und 
nad) diefer Krankheit verfchiedene gaftrifche Affectionen bemerkt werben, 
fo zeige fi) oft in benachbarten Drten und Landfkrihen, in welchen 
bie volllommene Cholera nicht erfchienen tft, der gleiche gaftrifche Cha⸗ 
rakter der Krankheiten und es kommen viele Fälle von Cholerine, fos 
wie auch nicht felten von Mervenfiebern vor. Die volllommene Cho⸗ 
lera faͤrgt mit den angegebenen gaftrifchen Beſchwerden an, insbes 
fondere mit heftigem Magenfchmerz, Kolit, Erbrechen und Durchfaͤllen, 
mwodurd eine dem Reißwaſſer ähnliche Materie ausgeleert wird, und 
es gefellen ſich, wie bei der Cholerine, fehmerzhafte Krämpfe in den 
Gliedmaßen hinzu. Dabei wird die Zemperatur bed Körpers vermins 
dert, der Athem kalt und bei einer völligen Marmorkälte ber Haut 
erhält dieſe eine in's Violette gehende Farbe, in&befondere bilden ſich 
. breite dunkle Ringe um bie Augen, bie Haut der Hände und Fuͤße 


Cholera. 455 


wird zumeilen runzlich, wie bei einer Waͤſcherin, einzelne Hautſtellen 
werden felbft zumeilen branbig, der Körper wird pulslos und es fließt 
aus ber geöffneten Arterie kein Blut mehr aus; die Kranken koͤnnen 
in biefem Zuftande nur noch die Hände und Füße regen, ihr Rumpf 
iſt unbeweglich wie ein Stud Holz, fie finten nun in einen bes 
mußtlofen Zuftand, ihre Augen find, wie bet den Gichtern ber Kin 
der, nad) oben gedreht, die Athemzüge gefhehen in einem langen 
Zwiſchenraum, und fo erlifcht das Leben. Zum ode führt die Krank⸗ 
beit oft ſchon nah 2—3 Stunden, meiftens im Verlauf von 1— 
4 Zagen, nad einigen Erzählungen zumeilen faft augenblidlidy, rote 
wenn der Kranke vom Blig getroffen wäre, oft aber erſt nach Wo⸗ 
hen duch den Webergang in dad Mervenfieber (das Choleratyphoid). 
Der Uebergang in Gefundheit gefchieht oft eben fo fehnell in einem 
oder wenigen Zagen, oft aber erft durch ein länger bauerndes Mes 
actionsftadium. 

Unterfuhen wir nunmehr, ob wir in ber Geſchichte der Verbrei⸗ 
tung der Krankheit und in dem Bilde ber einzelnen Epidemie bes 
fimmte für oder gegen bie Anftedungsfähigkeit der Cholera ſprechende 
Thatſachen finden, fo bringt fich bei der Betrachtung der Wanderung 
der Epidemie von einem Lande zum andern ber Gedanke auf, bie 
Krankyeit fei anftedend, und mir werden in dieſer Anficht beftärkt, 
wenn wir berichten hören, die Krankheit fei in Oftindien vorzüglich 
dem Marſche der Zruppen gefolgt, nad den Inſeln fei fie duch 
Schiffe gebracht worden und durch Arabien habe fie den Weg auf den 
Garavanenftraßen genommen. Doch gibt es auch, was die Verbrei⸗ 
tung ber Krankheit betrifft, einige Umftände, die uns in ' biefem 
Glauben wankend machen, das ift die Unzulänglichkeit felbft ber bes 
ſten Quarantainen, 3. B. dee von Preußen und Defterreich, der häufig 
vordommende Fall unverlegter Gefundheit bevölkerter Städte und gans 
zer Landflrihe, die in ununterbrochenem Verkehr mit den von ber 
Epidemie ergriffenen Orten flanden, die verhältnißmäßig geringe Zahl 
von Krankheitsfällen unter ben Aerzten und den Krankenwaͤrtern, ber 
zumeilen vorgeflommene plöglihe Ausbruch bee Krankheit in entfernten 
Drten, mehrere Fälle, in welchen die Krankheit auf Schiffen ausges 
brohen fein foll, die mit dem Lande, in welchem die Krankheit 
berifchte, noch in keine Beruͤhrung kamen, und endlich die Beguͤnſti⸗ 
gung der Entftehung der Krankheit durch Erceffe in der Diät, durch 
Verkaͤltungen, große Gemüthsbewegungen ꝛc., welche bie Krankheit oft 
unmittelbar zum Ausbruch bringenden Veranlaſſungen keineswegs bei 
der Entftehung der Blattern, bes Scharlachfiebers und anderer contas 
gioͤſer Krankheiten mitwirken. Unter den Erfcheinungen, die das Bild 
ber Epidemie barbietet, fcheint zur Beurtheilung der Frage über Die 
Fortpflanzung ber Cholera die michtigfte zu fein, daß beim Ausbrud) 
der Cholera fi ein allgemein verbreitetee gaftrifcher Charakter der 
Krankheiten zeigt. Von diefer epidemifchen Krankheitsconftitution, bie 
ſich oft gleichzeitig mit dem Erfcheinen der Cholera felbft in Gegenden 


456 : u . Cholera. 


zeigt, in welchen bie gaſtriſchen Zufaͤlle ſich nicht bis zur vollkomme⸗ 
nen Cholera gefteigert haben, Tann unmöglih eine Anftedung bie 
. Schuld tragen; fie liefert daher den Beweis, daß jedenfalls außer dem 
. Contagium eine andere allgemeiner wirkende Urſache zur Entftehung 
der epidemifchen Cholera beitrage. Ebenfo wie das Bild ber Epibemie 
fpricht das des einzelnen Krankheitsfalles nicht fehr für bie Anſteckungs⸗ 
fühigkeit ber Cholera. Es fehlen nämlich die ben eigentlich contagids 
. fen Krankheiten zulommenden Eigenthümlichleiten, nämlidy die Ente 
wicklung und. die Beendigung der Krankheit in beflimmten Zeiträumen 
und nad einer beflimmten Dauer, und insbefonbere die eigenartigen 
Ausfchläge und Ausfcheidungen auf der Oberfläche des Körpers, wo⸗ 
buch die Anftedung gewoͤhnlich gefchieht, indem vorzüglih in den 
höhern Graden ber Cholera Bein Lebensproceß mehr in den peripheris 
fhen Theilen vor ſich geht und Telbft der Athem Palt iſt. Die duch 
Erbrechen und die Durchfaͤlle ausgeleerten Stoffe Eönnen aber body 
wohl nicht als die Urfache einer fo weit verbreiteten. und alle Qua⸗ 
tantainen ducchbrechenden Epidemie angefehen werden, ba fie in der 
Pegel doch nur vorübergehende Erfcheinungen find, fchnell entfernt zu 
werden pflegen und meiftens doch nur auf bie mit der Wartung bes 
Kranken befchäftigten Individuen eine Wirkung dußern koͤnnen. 
' Nach diefen Betrachtungen innen wir kaum mehr annehmen, 
dag die Cholera zur Krankheitsfamilie der eigentlich contagisfen Kranks 
heiten, wie 3. B. die Blattern und die Peft find, gehöre, melde eis . 
genthümliche Stoffe erzeugen, bie, in der kleinſten Quantität in einem 
- fremden Körper gebracht, fich reprobuciren und überall haften und 
fetbft noch bei bem Meconvalescenten in der Ausbünftung wirken; 
jedenfalls Eönnen wir aber die Haupturfache der großen Cholera s Epis 
demie nicht in einem Contagium fuer, wenn auch. ein foldyes eris 
ſtiren ſollte, fondern müfjen eine allgemein verbreitete Urfache ans 
nchmen. Zu derfelben Annahme einer allgemeinere wirkenden Urfache 
find wir auch bei den großen Influenzen (katarrhaliſchen Epidemien), 
die von Aſien aus ſchon mehrere Mat über ben Erdboden hinzogen, 
genöthigt, indem wir, wenn wir gleich eine gewiſſe Anftedungsfähig» 
keit dem Schnupfen und Katarche zufchreiben, doch jene großen wans 
dernden Seuchen unmöglih auf Rechnung einer von Sibirien aus ges 
fhehenden Fortpflanzung jener Eatarchalifhen Affection von Mund zu 
Mund fesen können, indem es in jedem Beinen Dertchen ſtets einzelne 
Fälle von Schnupfen und Katarıh gibt, ohne daß Hieraus folche Epi⸗ 
demien ſich entwidelten. Wir müflen es geſtehen, die Urſachen jener 
großen mandernden Epidemie find und noch gänzlich unbelannt; body 
liegt die Vorſtellung nit fo fehr fern, daß folhen Epidemien eine 
fehlerhafte Befchaffenheit in der Luft, welche von Schichte zu Schichte 
weiter gehe, zu Grunde liege, ſowie die, daß Veränderungen in ber 
Erde ſelbſt, die ſich in gewiſſen Richtungen fortpflanzen, Volkskrank⸗ 
heiten hervorbringeg koͤnnen. Muͤſſen nicht manche Veränderungen 
auf der Erdoberfläche, z. B. der heute auffteigende Nebel und der 


Cholera. Chriftenthum, 457 


morgen flattfindendbe Sonnenſchein und bie oft fehnell mwechfelnde Kälte 
und Wärme, wenigftens in vielen Källen von Vorgängen in der Erbe 
ſelbſt abhängen, und Eönnen wir nicht annehmen, da wir felbft Theile 
der Erde find, daß unfere Lebenskräfte wenigftens theilweife in. Abhän- 
gigkeit von den in dem Erdförper wirkenden Kräften ftehen ? | 
Da nun die Anftedungsfihigteit der Cholera fehr zweifelhaft ift 
und jedenfalls noch eine andere Urſache außer der Anftedung zur gros 
Ben Choleraepidemie, bie in den lebten Jahren um die Erde 309, 
Veranlaſſung gab, und da auch bie frengften Sperrmaßregeln, felbit 
bie von Defterreich, das andauernd Europa vor der Peſt bewahrt, bis⸗ 
her nutzlos fich zeigten, fo möchte wohl Feiner Regierung ein Vorwurf 
‚gemacht werden koͤnnen, welche bie Quarantaine nicht mehr gegen bie 
Cholera in Anwendung bringt. Um die Choleraepidemie von einem 
Lande abzuhalten, befigen wir in der That Fein einziges Mittel, doch 
vermögen fich viele Einzelne durd) Vermeidung derjenigen Schäblichkei- 
ten, die zum Ausbruch der Krankheit oft die naͤchſte Veranlaſſung 
geben, zu fchüßen, und die Gefammtheit, oder die Behörden Eönnen 
daher allerdings zur Beſchraͤnkung der Epidemie beitragen, indem fie 
die Einzelnen, infofern fie ſich nicht felbft den gehörigen Schug gegen 
jene Schaͤdlichkeiten zu geben vermögen, unterftügen. Zu biefem Zwecke 
ift beim Ausbruch der Cholera eine befonderd genaue Aufficht über 
den Verkauf ber Nahrungsmittel nothwendig, namentlich der Frucht, 
die kein Mutterkorn und eine fremdartigen Saamen enthalten foll, 
und der Erdaͤpfel, welche weder unreif, noch verborben fein dürfen; 
ferner die Herbeifhaffung von den nothwendigen Nahrungsmitteln, fo 
‚wie von Brennholz und Kleidungsftüden für bie Armen, Sorge für 
die Reinigung folcher Kocalitäten, die ſchaͤdliche Dünfte verbreiten ꝛc. 
Die Maßregeln, welche die Gefammtheit zur Rettung hülflofer 
.Einzelner beim Ausbruch der Cholera zu ergreifen verpflichtet ift, beſte⸗ 
hen vorzüglih in Kolgendem: in Errichtung von Cholerahofpitdiern 
in geößern Orten und in Beſtimmung von Heinern Localitäten in ben 
£leinern Orten, in welchen einzelne verlafjene Kranke: Zuflucht finden 
tönnen, in Sorge für Verpflegung armer Kranken in ihren Wohnuns 
gen, wozu Bereine fehr zweckmaͤßig find, in Aufftelung einer anges 
mefjenen Anzahl Krankenwaͤrter, in Berufung der nöthigen Zahl Aerzte, 
von denen immer einer oder mehrere an einem beftimmten Orte Wache 
halten müffen, damit der Kranke ſchnell genug Ärztliche Hülfe finde, 
in Unterrihtung des Volks von dem, was bis zur Ankunft eines 
Arztes gegen die Krankheit unternommen werben kann, und in Vertheis 
fung der nothwendigen Arzneimittel in bie einzelnen Drtfchaften und 
überhaupt in fürforglicher Herbeifhaffung alles defien, was zur Hei⸗ 
lung ber Krankheit nothwendig iſt. Baumgärtner, 
Chouantöd, f. franzöfifhe Revolution. 
Chriftenthum, chriftlihde Religion und Moral in 
ihrem VBerhältnig zur politifhen Eultur oder zum 
Recht und zum Staat. 1 Nothwendigkeit biefer Un- 


458 Chriſtenthum. | 


terfuhung und ein Blid auf das bisherige Verhältnißg 
zwifhen Religion und Politik, Diefer Artikel beabfichtigt na⸗ 
türlih nicht, durch eine biftorifche oder theologifhe Darftelung der . 
chriſtlichen Religion, oder durch eine Würdigung berfelben, über das 
Gebiet de8 Staats⸗Lexikons hinauszufchreiten. "Vielmehr müßten 
gerabe hier bie Größe, der Umfang und bie Exrhabenheit des Gegen» 
ftandes, die Unmöglichkeit, ihm durch eine kurze, unvolllommene Dars 
flelung würdig entfprechen zu Binnen, doppelt von jeder Grenzübers 
fhreitung abmahnen. Noch weniger find wir geneigt, bie felbftflän« 
dige Geſtaltung und Begrenzung unferes weltlichen Rechts und unferer 
Staatswiffenfhaft, biefe wefentlihe Grundbedingung der 
Freiheit und des Kriedens (f. oben Th. I. ©. IX. und 13 ff.) 
dieſe Schugmwehr zugleich für die Würde und fegensriche. Wirkfamkeit 
ber Religion und Theologie, in einer fehlerhaften Vermiſchung beider 
Gebiete aufzugeben. Vielmehr wird es einer der Hauptgeſichtspunkte 
ber folgenden Darftellung fein, diefe "Selbftftändigkeit und feſte Grenz» 
beftimmung. der Hauptgebiete der höheren menſchlichen Verhältniffe und 
ber Wiffenfchaften vor denfelben deutlich hervorzuheben und feftzuhalten. 

Diefes aber verhindert uns nicht, den unermeßlichen Einfluß, wels 
hen auf unfere politifchen Theorien und Gefege das Chriftenthum,. fos 
wie auf bie kirchlichen DVerhältniffe hinwiederum die politifhen Einridys 
tungen, wenn aud zum Theil nicht auf bie rechte Weife, dody wirk⸗ 
lich hiftorifcd) gewonnen haben, noch auch die für die Zukunft unver 
meidliche und heilfame wechfelfeitige Einwirkung beider auf einander 
anzuerkennen. Diefer doppelte biftorifche und praftifche große 
Einfluß aber macht eine richtige Auffaffung des wahren Verhaͤltniſſes 
bes Chriſtenthums zum weltlichen Necht unentbehrlid). 

1) In gefchichtliher Hinficht ift es befannt, daß ein großer, wich⸗ 
tiger Haupttheil des gemeinen Rechts von Europa und Deutfdyland, 
das Kirchenrecht, feine Quellen faft ganz in chrifllihen und kirch⸗ 
lichen Beſtimmungen hat, ja, daß fogar die eine der drei großen Haupt: 
quellen, bed ganzen gemeinen, Öffentlihen und Privats 
rechts, in dem von ben geiftlichen Behörden ausgegangenen Can os 
nifhen Rechtsbuch befteht. Und doch ift Beides faft mehr nur 
ein augenfälliges Zeichen für die Wirklichkeit jener Jahrtauſende alten - 
großen Wechſelwirkung zwiſchen dem Chriftenthume und dem weltlichen 
Recht, als daß es diefen hiftorifehen Einflug audy nur dem größten 
Theile nad) bezeichnete. Mittelbar müflen ſtets die Grundfäge ber 
Religion und der religiöfen Moral, als die ihrer Natur nad) höchften 
Sefege und Zielpuntte der Beſtrebungen der Menfhen, auch auf ihre 
politifhen Zhätigleiten und Einrichtungen den wefentlihften Einfluß 
gewinnen. Dazu aber kommt noch, daß man länger als ein ganzes 
Sahrtaufend hindurch in allen europäifchen Staaten chriflliche und Firch- 
liche Grundfäge und Vorſchriften auch ald unmittelbar gültige 
Geſetze für das weltliche Rechtsverhaͤltniß betrachtete. Nicht bios die 
Päpfte und Biſchoͤfe, foweit fie unmittelbare Gewalt, Gefeggebung und 


Chriſtenthum. | 459 


Michteramt auch In meltlihen Dingen ausübten, fondern aud die 
Megierungen und Völker fahen fie al8 Hauptquelle in privats und 
ſtaats⸗ und völterrechtlichen Angelegenheiten an. In zweifacher Hins 
fiht alfo bilden cheiftliche und kirchliche Ideen und Grundfäge einen 
Mittelpunkt für das ganze hiftorifchsbeftehende Staats: und 
Rechtsverhaͤltniß und für unfere Rechtsanfihten. Einzelne wichtige 
Mechtsinftitute aber wurden faft allein nach chriftlihen Beftimmungen 
geftaltet. Die chriftlichen Grundfäge 3.3. über die hohe Wuͤrde und 
das brüderlihe Verhaͤltniß aller Dienfchen, über die gleiche Würde ins⸗ 
befondere auch ber Frauen und des ehelihen Verhaͤltniſſes zerftärten 
die Sklaverei und Leibeigenfchaft, die Mefte ber Polygamie und des 
erlaubten Concubinate, alfo die meitgreifendften Grundlagen des gans 
zen völkerrechtlichen und bes politifchen Geſellſchaftsverhaͤltniſſes der 
heidnifchen Staaten und begründeten unfere chriftlihen Standes», 
Ehe⸗, Eltern», Vormundſchafts⸗ und Erbrechte. Anerkannt. aber Iafs 
fen fi) nun bie hiftorifchen oder pofitiven Rechtsverhaͤltniſſe 
gar nicht richtig verftehen, auslegen und anmenden, ohne ihre uts 
fprünglihen Grundideen und Zwecke richtig zu ergründen (f. oben 
Auslegung). Und wie viele unferer naturrechtlihen Meinungen 
fogar find auch oft felbft unbewußt — vermittelft unferer Erziehung 
in einer chriftlihen Welt — nur aus chriftlihen Grundideen entfprofs 
fen. Bollends die Wolksanfihten, das aus bem Volke hervorgehende 
Gewohnheitsrecht, fein Antheil an der äffentlihen Meinung, ſtammt 
größtentheild aus den chriftlihen und chriftlich = ficchlichen Anfichten. 
Auch bei den Mechtsanfichten aber müffen wir auf die wahren Quels 
len zurüdgehen, wenn mir fie richtig auffallen und behandeln wollen. 

2) Noch wichtiger aber wird eine richtige Auffaffung des Chris 
ſtenthums in feinem Verhaͤltniß zu dem Staat in unmittelbar 
prattifcher Beziehung, ober für die Gefeßgebung und die allgemeine 
politifche Bildung und zur Beantwortung der Tragen: welche Guͤltig⸗ 
keit follen in Zukunft chriftlihe Grundfäge im Staate haben und in 
welchem Verhaͤltniß follen überhaupt die Staaten und die Beftrebungen 
chriftlicher Völker und Bürger zum richtig verftandenen Chriftenthum, 
zar chriftlihen Moral und Kirche ftehen ? 

Jene richtige Auffaffung ift hier unentbehrlih fuͤr's Erfte fchon 
um die hoͤchſt gefährlichen unrichtigen politifchen Grundfäge und Sys 
fteme, welche man zu allen Zeiten aus unrichtigen Auffaffungen biefes 
Verhaͤltniſſes ableitete, und welche ber Welt fchon fo viel Blut und fo 
viele Thränen koſteten, vermeiden und gründlich befämpfen zu können. 
Megen des Mangels diefer richtigen Auffaffung haben bisher allzuhäus 
fig die zu Tage kommenden unglüdlihen Folgen ber einen Verirrung 
nur den entgegengefegten Irrthum hervorgerufen. &o namentlich die 
Geringfhägung und Unterdrüdung des Staats von Selten ber Kirche 
eine Geringfchägung und Unterdruͤckung ber Kirche von Seiten des 
Staats. | 

Sahrhunderte hindurch haben alle chriftliche Nationen ſich durch 


460 Chriſtenthum. 


jene falſche Theorie beherrſchen laſſen, daß die chriſtlichen Gebote auch 
ihre unmittetbar gültigen weltlichen Geſetze ſeien. Daran knuͤpften 
alsdann einerſeits Schwaͤrmer, ſchwaͤrmeriſche Secten und einſeitige 
Theologen in fruͤheren und ſpaͤteren Zeiten den Gedanken, den eigent⸗ 
lichen Staat und feine wuͤrdige Geftaltung — als etwas Weltliches — 
ganz gering ſchaͤtzen, ober gar in einſiedleriſchem Leben ihn ganz ents 
behren zu dürfen. Diefe Verirrungen widerſprechen indeß zu offenbar 
dem prattifhen Sinne und Bebürfnig der Menfchen, um ſich in gros 
Ger Allgemeinheit behaupten zu koͤnnen. Auf gefährlihere Weife 
knuͤpfte man an die falfche Grundanficht bie andere irrige Behauptung 
" an, daß der geiftlihen Gewalt eine unfehlbare oder hoͤchſte Ausles 
gung und oberfte Handhabung aller Gefege, eine Strafs und Abfegunges 
Gewalt felbft über die Könige zuftehe. Und die Hierarchie, die Geifts 
lichkeit und das Moͤnchthum beherrfchten die Welt, vernichteten großens 
theils die Freiheit, die Aufklärung und die höhere Cultur. Was bie 
Meformationen und blutige Mevolutionen bei vielen Völkern zerftör- 
ten, das wußten ber Sefuitismus und mit ihm verbündtte ariftofratis 
fhe und Höflinge = Regierungen in den verfchiebenften Formen bald 
vorübergehend, wie unter ben Stuarts, bald dauernd wiederherzus 
ftelen. Selbſt Proteftanten, die Puritaner und Cromwell, ja zum 
Theil fhon Calvin verfielen in denſelben Irrthum. Nach immer 
tieferem Verfall fehen wir fogar noch jegt in langen blutigen Bürgers 
kriegen Spanier und Portugiefen gegen biefen zum Xheil noch vom 
Volke feftgehaltenen verderblihen Wahn kämpfen. Sa, in bem großen 
Meinungslampfe unferer Tage haben — um von bem neueften un 
glüdiihen berliner Antistamennais gar nicht einmal zu vedem _ 
— eine Reihe von Schriftftelleen, Maiftre und Bonald und. Hals 
ler, Fr. Schlegel, Adam Müller und Goͤrres und ihre uls 
traropaliftifchen, legitimiftifhen und jefuitifchen Parteien, Klofterfreunde, 
Myſtiker und Muder aller Art auch in Frankreich und Deutfchlandb 
diefe, die Throne und die bürgerliche Freiheit wie die wahre Religiofis 
tät zugleich untergrabende, falfche Grundanſicht verbreitet und vielfas 
ches Unheil begründet. 

Auf eine nicht minder verberbliche Weife ergriffen, veranlaßt burca 
die traurigen Folgen ber erfien Verirrung, ſehr Viele die entgegenges 
festen falfhen Richtungen und Theorien, die des Machiavellie⸗ 
mus und Materialismug, bed Mehanismus und des 
weltlihen Defpotismus, die Theorien von Voltaire und den 
Encyklopädiften, der Slluminaten und Sacobiner und 
mancher deutſchen Polititer und Naturrechtslehrer. Auch die höheren 
Stände, die Regierungen, zum Theil felbft fo große, wie bie von 
Friedrich IL, und die Völker wurben auf biefen Abweg geführt. 
Die chriftiihe Religion und Kirche wurden mit Haß und Spott ver 
folgt und untergraben. Sie wurden für die durdy Zwang, Gelb und 
Lift zu vegierende Staatsordnung als überflüffig oder verderblich ers 
Bärt, ja in Frankreich im revolutionaiten Schwindel förmlich abges 


Chriſtenthum. 461 


ſchafft. Sogar ſo ausgezeichnete deutſche Rechtslehrer, wie Herr von 
Almendingen, mochten laut ausrufen: „Moͤgen die Buͤrger Staat, 
„Regierung und Geſetze haſſen, wenn ſie ſie nur fuͤrchten!“ Selbſt 
von der philoſophiſchen Moral ſtrebte man das Recht ſo gaͤnzlich loszu⸗ 
reißen, daß zuletzt Feuerbach in der vollendeten Folgerichtigkeit ſol⸗ 
chen Beſtrebens zwei Vernunften, oder noch eine juriſtiſche neben 
der moraliſchen, erfinden zu muͤſſen glaubte. Fuͤr dieſelben, in dem⸗ 
ſelben Raum unter einander lebenden Menſchen, für ihre überall in 
einander greifenden freien Xhätigkeiten follten Staat und Kirche, Res 
ligton, Moral und Recht gänzlicdy getrennte Welten bilden, die man 
nicht meit genug auseinanberreißen zu koͤnnen glaubte. Und fo wie in 
Srankreic dem Materialismus und der trennenden, ja ſentgegenſetzenden 
Abftraction Philofophie und Atheismus gleihbebeutende Begriffe gemors - 
den waren, fo erfchienen auch bei une nur foldhe Theorien als die wahre 
Furisprudenz und Politik, die von Gott und Chriftenthum und Moral 
gar nichts mußten. Doc, praftifchere Einfihten und Bebürfniffe, wel⸗ 
he die wirkliche Eriftenz und große Einwirkung der Kirche und bie 
Nothwendigkeit, auch für den Staat auf die Gefinnungen ber Menfchen 
einzumirden, nicht verfannten, fuchten, ftatt jener bloßen Geringfhägung 
und Trennung, die Kirche weltlichen Geſichtspunkten und Intereſſen 
bienftbar zu mahen. Sie erklärten fie fo, mie felbft der berühmte 
Hugo, geradezu als bloße Staatsanftalt.. Nur zw bald aber 
wurde es Mar, daß auf folhen Wegen weber die Throne noch die Freis 
heit Kraft und Seftigkeit gewinnen konnten, dag die bürgerliche Ordnung 
zuoleidy mit ber moralifchen immer mehr aufgelöft wurde. Wie viel 
wuͤrdiger und tüchtiger, mie viel freier und zugleich geordneter und Träf« 
tiger behaupten und erfämpfen doch noch jetzt, trotz großer Hinderniſſe, 
die britifchen Freiheitäfreunde für fid) und die Welt die Freiheit, ale 
— fo meit fie von jener Verirrung noch beherrfcht erfcheinen — in uns 
gleich günftigerer Lage bie Franzoſen. Ä 

Zahlreicher noch, ale in Beziehung auf das allgemeine Verhältniß 
ber religiöfen und weltlichen Gefege und Gemwalten, find die verderblidyen 
Miderfprüche und Irrthuͤmer in Beziehung .auf den Inhalt und die 
Wirkung der chriftlihen Moralgrundſaͤtze ruͤckſichtlich der gefellfhaftlichen 
Berhältniffe und der Freiheit. Ä 

Hier jene deſpotiſchen, ultraropaliftifchen oder ariftokratifchen, von 
StLmer, Wandal und Maagius, von Maiſtre und Haller, 
Sriedrih Schlegel, Adam Müller und Bonald, welche uns 
mittelbar aus chriftlichen Worfchriften den dußerften Abfolutismus und 
Sewilismus ableiten und zum Theil die von den europäifhen Fürften 
in der heiligen Alliance feierlich anerkannte (wie es fcheint uns 
mittelbare) politifhe Gültigkeit chriſtlicher Grundfäge in dieſem 
Sinne zu deuten wagen. Meben ihnen, wenigftens hiſtoriſch fie unters 
flügend, Helvetius, Voltaire und Rouffeau, Gibbon und 
Shaftesbury, welche dem Irrthum huldigen, das Chriſtenthum bes 
günftige Gleichguͤltigkelt gegen die Sreiheit, die Enechtifche Unterwerfung 


Anterſuchungen entſprechend. 


462 | Chriſtenthum. 


und Duldung und Theorien, wie bie von Hugo, welche Chriſtus ſogar 
als den Vertheidiger dee Sklaverei darftellen. 
Dort dagegen jene ganz entgegengefegten Theorien vieler ber ers 
flen Chriftengemeinden, ber neueren Brübdergemeinden,, ber Puritaner, 
der. Bauen und insbefondere der Wiedertaͤufer in dem beutfchen 
Banernkriege, die Theorien des berühmten britifchen Milton, ferner 
die des fpanifhen Sefuiten Mariana und bie des feurigen, berebten, 


franzoͤſiſchen AbbE De La Mennais, welche ebenfalls unmittelbar 


aus chriftlichen Vorſchriften die Nothwendigkeit demokratifcher Gteichheit 
und Freiheit, zum Theil felbft dee Gütergemeinfhaft und des Mevolus 
tionsrehts, ja, wie Mariana und andere Sefuiten, fogar ein Recht 
zum Meuchelmorb gegen wirklih ober vermeintlich tyrannifche Fürften 
ableiten. Neben ihnen fo viele gemäßigtere Männer, melde, wie 
Fenélon, Maffillon, Maupertuis, Montesquieu, wie 
Tyge Rothe, Sergufon, Robertfon und Llorente, wie Joh. 
v. Müller und Dahlmann, und mie unfer ehrwuͤrdiger Rein; 
hard *) die Dermerflichkeit alles Defpotismus und mahre gefegliche 
Freiheit aus bem Chriftenthum entwideln und auch die Zerftörung von 
Sklaverei und Leibeigenfchaft und. die Kortfchritte in ber Freiheit hiſto⸗ 
riſch als die Wirkung des Chriftenthums barftellen. - 

Bon fo manchen Abweichungen in einzelnen Punkten, 3. B. von 
denen jener Secten, ‚welche das Ablegen eines Eides oder die Theil⸗ 
nahme am Kriegsdienſt als unmittelbar chriftlich verboten erflären, 
tönnen wie fchweigen. Schon das Angedeutete genügt zur Begruͤn⸗ 
dung bee Ueberzeugung von der unermeßlichen : Wirkfamkeit falfcher 
Anfihten Über unfern Gegenftand. Es wird alfo auch genügen, um 
jeden denkenden Freund des Vaterlandes, jeden Feind von Knechtfchaft 
und Anarchie zu überzeugen, daß ee zur möglichften Verbreitung und 
Befeftigung des Guten, zur wirkfamen Bekämpfung bes Verberblichen 
zum Xheile feine Waffen aus einer richtigen Anficht von den wahren 
chriſtlichen Grundfägen in Beziehung auf die Staatsverhältniffe ent⸗ 
nehmen muß. Hätte er fetbft auch zum Voraus. die chriftliche Religion 
ober doc, wenigftens jede Anwendung berfelben auf das flaatsgefellfchafts 


*) Boffuet bekanntlich vorzüglich in feiner Schrift: Die Politik ges» 
ſchöͤpft aus den Worten ber heiligen Schrift; Ioh. vo. Müller 
im Kürftenbund Gap. 7.5 Dahlmann, ihm beiftimmend, in den Kies 
ler Beiträgen Bb. 1. ©. 873,35 Llorente mit Beweisfuͤhrung, vorzüglich 
auch aus den Kirchenvätern in feinem Discours sur une constitution religieuse, 
Paris 1809; Reinhard in feinem Hanbbud der Moral Bd. IV. unter bie 
berühmten Theologen, welche, die gleiche Grundanficht vertheibigen, gehört vor 
Allen aud) der ehrwuͤrdige Paulus. Gr erklärte auch bie in biefem Artikel 
vorgetragenen Grundanfichten, welche ich vor Jahren in meinen Abhandl. 
fürs dffentl. Recht, Stuttgart 1823. ©. 319 u. 391 kurz bargeftellt 
batte, in feiner Recenfion der genannten Schrift in feinen Rechtserfor⸗ 
fyungen Heft I. zu meiner. Breube als ben Refultaten feiner vieljährigen 


Chriftenthum. - | 463 


liche Leben verworfen, fo kann er fich doch darüber nicht täufchen, daß 
für eine große Zahl der Regierenden und ber Reglerten bie chriſtlichen 
Religionsgrunbfäge eine höhere Autorität und größere Wirkſamkelt bes 
haupten, als philofophifche Naturrechtss ober politifhe Theorien. Man 
wird alfo nur durch Berichtigung jener religiöfen Meinungen ihre für 
das Stantsleben verderblichen irrigen Anfichten wirkſam bekämpfen und 
deren Verbreitung verhindern können. Auch. die Frommen aber mögen 
Doch ja nicht vermeinen, ohne gruͤndliches parteilofes Eingehen in bie 
ganzen hierher gehörigen Grunbfäge, buch ein fchnelles Verwerfen 
und Verdammen ihre etwaigen guten Zwede, 3. B. bie der Verthei⸗ 
bigung der gefeglihen Ordnung und ber fürftlichen Regierung gegen 
bie Angriffe eines De. La Mennais zu erreihen. Sie muͤſſen ja 
doch nicht blos ben Tängft auf ihrer Seite flehenden, bereits Ueberzeug⸗ 
ten gefallen wollen, fondern vor Allem auf. die Zweifelnden und Ges 
genüberftehenden zu wirken fuchen. Nun ift es freilid) wahr, La Mens 
nais gibt, fehe mit Unrecht, für die Freiheit und ihre Vertheidigung 
gegen befpotifche und ariftokratifche Anmaßung eine folhe Darftellung 
bes Chriftenthums, daß man in ihe von dem chriftlichen Pflichten ber 
liebevollen Duldung und Entfagung der Nachgiebigkeit, ber Liebe bes 
Friedens und der gefeglichen Ordnung, die doch ebenfalls in den heilis 
gen Schriften zu finden find, wenig merkt. Aber wie oft hörte ich 
und las ich fromme Predigten, die — fo wie vollends die polttifche 
Meligion bes Hrn. v. Haller — in ihrer Vertheidigung der Obrigs 
keit und der gefeglihen Ordnung biefelbe und noch größere Einfeitigkeit 
fich erlaubten, die Alles, was auch nur fcheinbar oder durch Mißdeutung ges 
gen Freiheitsbeftrebungen gu fprechen fchien, zufammenftellten und dage⸗ 
gen Alles, was für die Freiheit in der Schrift enthalten iſt, unterfchlugen, 
welche bei ihren heftigen Angriffen gegen Sreiheitsbeflrebungen, die von 
Luther fo dringend empfohlene Cenſur der Mipbräude 
der Gewalt fehr weltklug gänzlich unterliegen, welche aber aud) durch 
ihre Parteireden von den einfeitigen Freiheitöfreunden keinen einzigen 
je auf beffere Wege ‚brachten, fondern deren empörtes Freiheit und 
Gerechtigkeitsgefühl nur nody mehr aufreizten, ja fie oft zu berfelben 
Beratung der Religion und Geiſtlichkeit flimmten, die Voltaire, 
durch ähnliche Verkehrtheit mißleitet, leider nur allzu erfolgreich in ber 
Welt zu verbreiten ſuchte! Wie oft: hörte ich fogar eine vornehme 
Verachtung gegen. angebliche Einmiſchung des Chriftenthums in bie 
Politik oder der Politit in das Chriftenthum gerade in benfelben 
Meden, welche fich nicht entblöbeten, unmittelbar auf eine einzige aus 
dem Zuſammenhang geriffene Stelle, wie .bie bekannte bes Römerbries 
fes, ein ganzes Syſtem des Abfolutismus und Servilismus zu erbauen | 
Bei folhen DVertheidigungen der Megierungen koͤnnten felbft diefe das 
befannte: „bewahre uns dor unfern Freunden !” ausrufen. Glaubt 
man wirklich, auf ſolche Weife und mit Gesingfchägung einfeitige, viel 
leicht verderblihe Wirkungen einer. Schrift, wie jene Worte eines 
Glaͤubigen, befeitigen zu innen? Einer Schrift, bie neben ihren 


464 Chriſtenthum. 


Fehlern das, was das Chriſtenthum fuͤr die Freiheit und das Streben 
nach ihr enthaͤlt, ſo wunderbar ergreifend darſtellt, daß ſie in kurzer 
Zeit in mehr als einer Million von Exemplaren, neuen Auflagen, Nach⸗ 
druͤcken ynb Weberfegungen ſich in den Händen aller Nationen befand? 
Mer dus Beſtreitbare in diefer Schrift wirkſam bekämpfen wollte, ber‘ 
hätte vorzuͤglich auch die ihren Verfaſſer mit Begeifterung ergreifende 
SHauptidee beachten und prüfen müflen. Er wollte — benn er ifl 
überall vorzugsweiſe begeiftert für die Religion — nad feinen eigs 
nen Worten ben gerade durch bie Mißbraͤuche der Geiftlichkeit, durch 
die Genoſſenſchaft derſelben mit dem meltlihen Defpotismus entftandes 
nen, unter der Reftauration erneuerten wahren Widerwillen fo vieler 
Freunde ber Freiheit, der Aufklärung und Wiſſenſchaft gegen bie chrijts 
liche Neligion und die Kirche wieder austilgen. Er wollte das Chris 
ſtenthum durch, ‚den Beweis feines ber Freiheit güinftigen Inhaltes mit 
diefer, jest unwiderruflich die Menſchen beherrfchenden Idee verföhnen, 
um auf diefem Mege feinem veredeinden Einfluß das zum Xheil entars, 
ıete Geſchlecht wiederzuguführen. So hoffte er bie. früheren Vers 
Eehrtheiten zu befeitigen und bag zerriffene heilige Band zwifchen Ord⸗ 
nung und Fortfchritt, Religion und Sreiheit, Glauben und Wiſſen 
wieder herzuftellen *). . 

Doch eine Elare Einfiht der chriftlichen Grundfäge in ihrem Ders 
haͤltniß zum Staate ift für’& Zweite den hriftlihen Nationen und 
Bürgern praktiſch nothwendig ald wichtige Grundlage für ihre eige- 
nen politifhen Theorien, für die Harmonie Ihrer Anfichten und Bes 
ſtrebungen zur Löfung jedes verderblichen und quälenden Zwieſpalts zwi⸗ 
ſchen ihren religiöfen und bürgerlichen Pflichten. Höheres und. Heili⸗ 
geres als ihre religisfen Moratpflichten kann es für die Menſchen nichts 
geben. Nach ihnen follen fie alle ihre Beſtrebungen einrichten, ihr 
nen alles Andere unterordnen. So müffen fie denn von ihnen und 
von ihrer Klaren Erkenntniß aud in ihren politifchen Beſtrebungen ges 
leitet werden, in ihnen ihre hoͤchſte Harmonie fuchen. Nur nach dies 
fer Erkenntniß laͤßt fih ferner Drittens auch beftimmen, as Kirche 
und Staat fich gegenfeitig zu leiften haben. Gerade aber das, daß 
gluͤcklicherweiſe die hriftliche Religion nicht fo, wie bie Religionen bes 
Alterthums und der Muhamedaniemus, unmittelbare Staatsreligien 
und Staatsgeſetzgebung fein: wolfte und daß unfere politifchen und 
Gultur-Verhältniffe fo reich und verfchiebenartig find, das macht es für 


*).&. Troisiämes Melanges, Paris, Preface p. 54. 68. 70. 80. 87. chris 
gene fordern bie Paroles d’un Croyant noch keineswegs die Republik, fondern 
laffen auch noch eine von freie conftitutionelle Erbmonardhie zu. Erft in der 
neueren citirten Schrift ©. 89 nimmt De La Mennais diefes als ben einzigen 
Punkt feiner früheren religiöfen und yolitifchen Anſichten, den er für irrig ers 
Tenne, zurüd und vertheidigt mit Rouffeau bie demofratifhe Volksſouverai⸗ 
netät ale abfolut notpmwenbig, was ficher ebenſo wenig chriftlich als polls 
tiſch begruͤndbar iſt. &. unten IV, | 


Ehriftenthum. 465 


uns boppelt nothwendig, auch in biefem Punkt erſt burd, gründliche 
Forſchung das Richtige und die wahre Harmonie zu fuchen, während 
fich beide für die Bürger der alten Staaten. faft von felbft ergaben. ' 
Mollten wir fie vernachläffigen, fo würde außer der Fortdauer des 

DVerkehrten und ber Verwirrung in dem Leben auch eine andere Schwaͤ⸗ 
che ſich vermehren, die leider fchon unfer politifches Leben im Vergleich 
, mit dem der Alten fo nachtheilig auszeichnet. Es iſt dieſes eben jener 
Mangel an Harmonie, an unerfchätterli feften Grundfägen und 
Charakteren, an einer feiten Höheren und fletigen Richs 
£urg unferer politifchen Beſtrebungen. Vorzüglich auch bie nicht wifs 
fenfchaftlich gebildeten Buͤrgerclaſſen können nur vom Standpunkte der 
richtigen religioͤſen Grundideen aus Einheit ihrer Anfihten und Beſtre⸗ 
dungen, Sicherung gegen die Serführungen zu jenen obigen Verirruns 
gen und gegen das Verſinken in den rohen Materialismus und die 
Eräftigften Antriebe für wahrhaft heilfame pafriotifche Tätigkeit erhalten. 

I. Sefahren und Abmwege ſowie der rechte Weg bei 
ber Erforfhung des ChriftenthHums in feinem Verhälts 
niß zum Staat. 1) Die größte Gefahr für die Wahrheit iſt bes 
ſonders auch hier die allgemeine Gefahr bei hiftorifhen Unterfuhungen, 
die naͤmlich, daß man eigentlich nur auf Beftätigung vorgefaßter Anſich⸗ 
ten und Parteimeinungen ausgeht. Wer zu biefem Zwecke vollends 
die heifigften Urkunden und Wahrheiten bes Menſchengeſchlechts zu miß- 
brauchen, nicht verabfcheut, ber hielte viel beffer feine Hand fern von 
dieſer Unterfuhung. Werkehrt, wie dad Unternehmen, müffen feine 
Erfolge und Wirkungen fein. Mie oft aber haben leidanfchaftliche reli⸗ 
giöfe "und politifche Parteilämpfer, feile Diener und Schmeichler ber 
mächtigen Hierarchie oder der weltlichen Regierungsgewalt und auch res 
volutionaire Fanatiker diefen Hauptabweg betreten und dann fehr bes 
greiflich auch noch fernere verkehrte Wege in der Unterfuchung eins 
gefc-lagen ! 

2) Hierhin gehört es zunaͤchſt, wenn man bei einem fo großen 
und reichen Ganzen, bei einem Ganzen, welches, fo wie das römifche 
Corpus Juris und mie die heiligen Schriften, aus verfciedes 
nen, oft gelegentlichen, oft bildlichen und beifpielsweifen, münblichen 
und fhriftlihen Aenßerungen verfchiedener Perſonen zufammengrfegt 
Mt, gunze Syſteme blos auf einzelne, aus dem Zuſammenhange gerifs 
fene vieldeutige Stellen zu gründen fucht, wie 3. B. bas des Abfolu- 
tiemus und Servilismus auf jene Stelle aus dem Roͤmerbriefe oder 
auf jene orientalifche bildliche Hyperbel: „Schlägt dich Einer auf bie 
rechte Wange, fo halte ihm auch die linke dar!" Auf folche leichtfer= 
tige Weife läßt fich freilich Alles und ebenfo leicht auch jedesmal das 
Gegentheil bemweifen und den ehrmürdigften Autoritäten fälfchlih auf 
buͤrden. Und was hat man’auf biefe Weife nicht fchon-aus dem Chris 
ftenthum gemacht ! Zu u 

- 3) Gleich verkehrt aber möchte es fein, die Elaren und feften 
prakerſchen Grundfäge für alles Thun und Laffen der Menichen 
Gtaatös Lexikon IU, 80 


466 Chriftenthum. 


in ihren ſtaatsgeſellſchaftlichen Verhaͤltniſſen aus einzelnen metaphyfi- 
fhen oder myſtiſchen, unfichern oder dunklen Theoremen, Speculatios 
nen, Vorſtellungen und Bildern und aus einer willkuͤrlichen und fpies 
fenden Deutung und Anwendung berfelben ableiten zu wollen. &o les 
ten z. B. Adam Müller und Hr. v. Bonald dieſe praktiſchen 
Vosfchriften aus dem Mopfterium ber Dreieinidfeit ab und aus 
willkuͤrlichen phantaflifhen Spielereien mit derfelben. Dabei Fommt 
denn Hr. v. Bonald in feiner Urgefeggebung zu jener fchönen 
Theorie, den König ald Gott Vater und den Adel ald den Heiland 
für das abfelut beherefchte, paffiv gehorfame, blindgläubige Volk dars 
zuſtellen. Adam Müller aber trägt kein Bedenken, in 5. Schler 
aels Concordia jenes. Myfterium fogar zum Mittelpunft feiner 
nationalöfonomifhen Theorie zu machen und in berfelben den Boden 
als Gott Water, die Arbeit ald Gott Sohn und den Dünger als 
den heiligen Geift auftreten zu laffen F 

Mögen folhe und aͤhnliche metaphpfifche und myſtiſche Theoreme, 
mie die Dreieinigkeit, gerne gelten, was fie das glaͤubige Gemüth und 
die Eünftlih ausgebildeten metaphpfifchen und dogmatifhen Lehrge⸗ 
bäude gelten Taffen! Und die gelehrte Theologie mag folhe zur Bes 
kaͤmpfung falfher Theorien oder auch zur Darftellung der 
Harmonie zwifhen der theologifhen und der andern 
menfhlihen Wiffenfhaft nah beſten Kräften fo. wie bisher, 
immer neu entwiseln und, „dba unfer Wiffen hier Städwert 
bleibt”, immer neu und anders deuten! Aber man kann es geradezu 
eine offenbare Verlegung der Abficht des Stifter der chriftlichen Reli⸗ 
gion nennen, wenn man aus ihnen feine Gefese für bas.praf: 
tifhe Handeln ber Menfchen ableiten will. Hundertmal wiederholt 
und fonnenklar, mie das Licht des Tags, und fo, daß wirklich od 
alle achtbare Chriſten und chriftlichen Gonfeffionen in ihrer Anerken: 
nung fich vereinigen mußten, ſprach er, fprachen feine Sünger die gros 
fen einfachen praftifhen Hauptgrundfäge für alles menſchliche 
Streben und Handeln aus, die dankbare kindliche Liebe gegen Gott, 
die Bruderliebe gegen die Mitmenfchen, die gänzliche Befreiung von der 
Herrſchaft der Sinnlichkeit und Selbſtſucht, die Wahrhaftigkeit und flete Vers 
vollfommnung in Wahrheit und praktifcher Liebe. Ihr freies, aus reiner 
Liebe ſtammendes Befolgen erklärt er für dag Wahrzeichen feiner treuen 
Zünger. Mit gleicher Einfachheit und Beflimmtheit verknüpft er das 
mit ebenfalls flets die wenigen theoretifhen Wahrheiten von der vaͤ⸗ 
terlichen göttlichen Weltregierung, von der freien. unfterblichen Würbe 
und Beſtimmung der Menfchen und von feiner eignen liebevollen Aufs 
opferung, um fie aus der Herrſchaft dee Sünde zu erretten und zu 
erlöfen. Ueber alle entfernteren metaphyſiſchen Lehren und Mpfterien, 
über Meltentfteyung und Weltuntergang, Entftehung des Böfen,. über 
Aufenthalt und hefondere Verhältnilfe des göttlichen Lebens u. ſ. w. 
erklaͤrte er fich fo unvolftändig, blos gelegentlich und bildlich, daß be: 
kanntlich Mandye der gelehrteften Theologen ſelbſt in Beziehung, auf 


—X 


Chriſtenthuum. 467 


die Dtebinigkeit die Stellen, bie von Ihe reben follen, von ganz etwas 
Anderem verfichen und biefelbe entweder als unbegruͤndet umd logiſch 
widerſprechend anfehen aber doch auf bis verfchiebemartigfie Wetſe deus 
ten. Chriſtus, der uͤberal feine Lehre an das Wolf vichtet und 
ben Hohmuth und die Spikfindigkeit der Vornehmen und Gelehrten 
befämpft, wollte durchaus ſelbſt für die Unterften im Volt 
verftändlich lehren und alle fie hochmuͤthig zuruͤckſetenden oder aus 
fliegenden Geheimiehven, phlloſophiſche Sperulationen, alles aufblähende" 
Wiffen der fih kiug Dänkenden und nollends eine pharkläifche und 
fhriftgelehrte Verdunkelung feiner wefentlichen praktiſchen Hauptlehren 
mdgiichſt ausſchlleßen *). Wer alſo den göttlichen Lehrer und feinen 
Willen achtet, bee. wird anerkennen, daß ee in Beziehung auf die 
praktiſchen Lebensgsfege jene won allen Religionspars 
telen anerfannten, klaren, praftifhen Hauptgebote ber.. 
folge, nicht aber fie bush dunkle, veildeutige Myſterien unb Cpeculgs 
tionen verdunkelt und verwiert wifſen wollte. “ 
Vollſtaͤndiger beftätigt, ſchaͤtfer beſtimmt und für ihre Anwendung 
verbeutlicht werden uns. biefe großen Hauptgrundfäge alsdaun 
werden, wenn wie, von ben einzelnen. praktiſchen Weflimmungen, 
den einzelnen Anwendungen jener Haupt» Örundfäge in ber 
heiligen Schrift ruͤkwaͤrte ſchlie ßend, twieber auf fie zurädgeführt 
werden und wenn wir fie in ihrer allfeitigen Harmonie erkannt 
haben. &o wird denn alfo unſere Aufgabe. von gemeinfhaftlic 
anerkannten feflen Grundlagen aus fi Iäfen läffen, ohne - 
baß wir in die Streitigkeiten der Theologen ber vefigiäfen Parteien 
* einzulaffen aber vom. ihren befondeten aagsyugehen 


x U, Die einzig moͤgliche Art der Anwendung prakti⸗ 


98 58. Retth. 6,3. 10,26. 97. 11,2. Go. Io 18, 9. 
1 Sorintg. 8,1. — Gotoff. 1, sn. Hebre. 8, 10, 11. 
1 Pete. 2,9. 4,.10. „Nil obgowrask in.seripters ex his, quae salu- 
Gs di jio ignorari nor possunt, Aperta posita sunt, quae conti- 
ment fidem moresgue vivendi.“ Augustinus de doctrina Christia- 
ne II, 9. „Das. Wefentliche ber eigentlichen Meligion he — fo fagt ber 
berdfente Plane in feiner Gefcichte des Cheiftent, I: © 14. — läßt fidy in 
iwegige einfache orte zufammienfaffen, bie dem einfältigen, reinen Gemüthe 
‚note der Bernunft mit unwiberftehlicher Gewalt aufprängen.”” Auch der eſte 
‚ber neueren katholiſchen Theologen, Duß, fagt in bee Zeitfhrift für die 
- Geiliäkeit des Erzbiäthums Freiburg, ‚gr Yı, ©. 227, in ber 
vortri Abdandlung: Ift das Entftehen bes priffentsums auf, - 
watärlige Welfe ertlärbartt „Im bee Aöfiche, eine Weltreligion zu - 
rönden, war nicht der Gelehrte, fonbern der Menfch in Allgemeinbeit der 
yenftand ber Unteriweifung, wobet die mittleren und die geringſten Faͤhigkel- 
„ten in Anfdlag famen, Cs mußte das Höcfte zum Niebrigften herabgezogen 
„und bem Bindlichen Kaffungsvermögen begreiflid) werden. Das it ein eigenes 
des Gpeiftenthums im Plane, mach welchen es angelegt iſt, und in 
ber Rehrart feines Gtiftee" —.... . * 


468 Ghriſtenthum. 


ſcher chriſtlicher Gebote auf bie ſtaatsgeſellſchaſtlichen 

Verhaͤltniſſe. 1) Das erſte Hauptergebniß bei unbefangener Auf⸗ 
faſſung der chriſtlichen Gebote iſt Folgendes: Dieſelbin ſol⸗ 
len durchaus nicht unmittelbar juriſtiſch und pelitiſch 
guͤltig, ſie ſollen als ſolche durchaus keine Rechts- und 
Staats-Geſetze, ſondern nur religidfe Moralgebote 
fein. Chriſtus iſt der erſte, der einzige Religionsſtif⸗ 
ter ber Erde, ber kein weltlicher Geſetzgeber fein wollte, der die Mes 
ligion und die veligisfe Moral ganz rein und ganz unabhängig vom 
Staatsverhaͤltniß hinftellte. Chriftus erklärt auf die verfchiebenfte Weiſe 
immer aufs Neue, daß fein Reich, welches feine Sünger ausbreiten 
ſollen, nicht von biefer Welt, kein aͤußerliches, meltliches fel, baß er 
und feine Sünger nicht auf weltliche Weife gebieten, kein weltliches 
Gefeg geben wollen. Und er gibt wirklich nicht ein einziges. 
Ja er vermeidet felbft forgfältig jeden Schein einer politifchen Gefeßges 
bung und Entfheidung. Sogar als ihn ein Schüler nur um feine 
Meinung über eine Exbfchaftstheilung mit feinem Bruber bittet, vers 
weigert er ihm biefelbe mit den Worten: „Wer hat mich zum Rich⸗ 
„tee oder zum Erbfchaftstheilee Über Euch gefegt? )“ Schon der erfte 
Bid auf die ganze chriftliche Lehre beftätigt auch dieſes. Hätte Chris 
ftus, hätten feine Juͤnger politifche Gefeggeber fein wollen, ihr Wert 
wäre ebenfo das armfeligfte, mie es als Lehre ber Moral das herrs 
tichfle und großartigfte if. Die wichtigften politifhen Verhältniffe und 
Stagen, 3. B. die über eine monarchifche, demokratiſche oder ariftos 
Pratifche Verfaſſung, über ihre Entftehung und Fortdauer u. f. w. find 
gar nicht einmal berührt. Seine praktifchen moralifhen Ermahnuns 
gen über gefellige Verhältniffe, 3. B. auch die: „Nimmt bir einer 
„den Mantel, fo gib ihm auch den Rod!” haben einen vortrefflis 
hen Sinn, fobald man fie betrachtet als bildliche und beiſpiels⸗ 
weife BVeranfhaulihungen und Anwendungen der einfachen Haupt⸗ 
gebote für die moralifhe Gefinnungsmweife, worauf in ber 
Moral Alles ankommt, fo daß deshalb und damit von ihr, und nicht 
von einer mechanifchen dußeren. Beftimmung, das moralifhe Handeln 
ausgehe, Chriftus felbft niemals eine irgend vollftändige Sammlung 
und genaue Beſtimmung aller einzelnen moralifhen Pflichtgebote, 
gar: teine eigentlichen Gefege, geben wollte **). Als unmittelbare 
politifhe oder juriftifhe Gefege betrachtet aber fehlt jenen 
chriſtlichen Ermahnungen alle nöthige Beftimmtheit und Anwenbbars 
feit. Sie würden als abfurd und überall als fich felbft widerfpres 
chend erfcheinen und alle Rechts⸗- und Staatsordnung aufheben. 
Wollte man fie unmittelbar politifh anwenden, dann freilich Eönnte 


8.3.8. Matth. 20, 35. Lucas 12, 13. 17,%. 2,3. Ev. 
$ob. 1, 17, 8, 10, rg ' ’ ' 


”) Evang. Joh. 1, 17. Matth. 5, 17—48, 


Chriftenthum. 469 


“man bie, In dee Ermahnung zu feommer Gebuld an die Sklaven, 
eine götliche Einfegung der Sklaverei, in der Lehre der völligen bruͤ⸗ 
derlichen Gleichheit allee Menfchen dagegen unmittelbare Aufhebung 
aller Slaverei, aller Obrigkeit und aller Vermögensungleichheit finden 
wollen. Dan koͤnnte :ebenfo mit jener Ermahnung, zum geraubten 
Mantel audy noch ben Rod hinzugeben, die Aufhebung alles Eigen« 
thumscechts und die Begründung einer Räubergefellfchaft, mit der Er⸗ 
mahnung an den mit Unrecht Verletzten aber, bei der Gemeinde ſchieds⸗ 
gichterlihe Hülfe zu fuchen, und mit dem Lob bes mohlthätigen, ges 
rechten Schupes der Obrigkeit *) auch wiederum das Gegentheil bes 
weifen. 

Auch durch die Stellen, welche man fehr häufig als pofitifche Entſchei⸗ 
dung und Gebote anführt, jene Worte: „Gebt dem Kaifer, mas 
bes Kaifers iſt!“ ober: „Jedermann fei unterthan der Obrigkeit ! 
gab Chriftus keineswegs jenes großartige Grundprincip und 
alle Confequenz auf. Auch diefe Stellen leiden, als unmits 
telbare politifhe Vorfhriften betrachtet, ganz an derfelben 
Unbeftimmtheit und Untauglichkeit. Sie haben ebenfalld nur ganz 
denfelben rein moralifhen Charakter, entweder ber Abmeifung ber 
weltlihen Entfheidbung, ſowie jene Stelle von der Erbtheilung und 
die Antwort über bie juriftifhe Beſtrafung ber Ehebrecherin, ober den 
der Veranfchaulihung der rechten moralifchen Gefinnungsmeife. Dies 
fes konnten nur ſolche Xheologen verkennen, welche fehr ſchlechte Ju⸗ 
tiften waren. | 

Sener erfte Ausſpruch Chriſti wurde bekanntlich nad ber aus⸗ 
drüdlichen evangelifhen Erzählung **) dadurch veranlaßt, daß ihm bie 
pharifäifche Hinterlift durch die Stage, ob e8 erlaubt für die Juden 
fei, dem roͤmiſchen Kaifer die von ihm ben Juden gemachte Auflage 
des Genfus zu zahlen, eine, wie fie vermeinte, ganz unausweich⸗ 
liche Schlinge legen wollte. Wie Chriftus auch antworten möge, fo 
dadıten die boshaften Gegner fhon triumphirend, fo muͤſſe ihm bie 
Antwort zum Verderben gereihen. Hätte er mit Nein geantwortet, 
fo hätte er natuͤrlich Noms defpotifhe Macht gegen ſich, als gegen 
einen Aufroiegler, gereizt. Hätte er aber mit Ja geantwortet, wie 
eine gewöhnliche theologifche Auslegung annimmt, um in diefer Stelle 
eine Aufforderung zu unmeigerlicher Befriedigung jeder Negierungsan- 
forderung, ber Anforderung, auch felbft einer offenbar ufurpatorifchen 
Gewalt, zu finden, dann hätte er das ganze jüdifche Volk in boppels 
ter Hinfiht gegen fih empört. Die Moͤmer hatten ganz offenbar ges 
gen alles Recht, felbft ohne ein Recht der Eroberung durch Krieg, 
rein ufurpatorifch die Erben des früheren jübifhen Könige Herodes 
bes größten Theild ber Regierungsgewalt über die Juden beraubt und 


*) Rom. 13,4. Apoſtelgeſch. 35, 11. Matth. 18, 14— 18. 
*) Matth. 22, 15—22. Marc. 12. Luc. 20, 20— 26, 


470 Chriftenthum. 


eine oberherrlihe Gewalt ufurpirt, jedoch einige Reſte des nalen Mas 
tionaltechts übrig gelaffen, wie fie 3. B. bei Jeſu Tod fichtine wers 
den oder auch bei der Zahlung der XZempelfteuer an den Tenpel zu 
Serufalem, welche die Juden, die nad, ihrem Nationalrecht nır felbft 
bewilligte Abgaben zahlten, freiwillig entrichteten *). In keine Bes 
ziehung alfo, weder nach dem allgemeinen Voͤlkerrecht und jütifchem 
Nationalrecht, noch nad) den jüdifchen WVorftelungen von dem Meflias 
und feiner weltlichen Herrſchaft konnte das jüdifche Volk eine heidnis 
fhe, roͤmiſche Herrfhaft über Judaͤa irgend als rechtlich anfeken. 
Hätte nun Jeſus, der unmittelbar vorher dad Heranlommen 
feines Meſſiasreichs verlündigt und dadurch gerade die Phas 
riſaͤer zu ihrer gehäffigen Hinterlift gereizt hatte, eine Rechtmäßigkeit 
der roͤmiſchen, ufurpirten Herrfhaft und ber allgemeinen rechtlichen 
Anerkennung derfelben durch Steuerzahlung oder gar eine rechtliche 
Verpflichtung zur Zahlung jeder unbewilligten Abgabe an die ‚römifche 
Mesierung pofitiv und ale durch's wahre weltliche Recht begründet 
ausfprechen mollen, fo mußte biefes als ein feiges Preisgeben des we⸗ 
fentlichften Nationalrechts an fremde Ufurpatoren erfcheinen. Es ſchien 
alle Parteien des jübifchen Volks, die von den Pharifäern abſicht⸗ 
lih mitgebrachten Anhänger der legitimen, von den Römern 
verdrängten Erben des jüdifhen Nationalönigthume, die Herodias 
ner, und alle Anhänger des felbftftändigen Nationalrechts und noch 
insbefondere die eigenen Anhänger Chrifti, die ja fo, mie felbft bie 
Upoftel, immer aufs Neue eine Herftellung eines weltlichen National 
reichs von ihm erwarteten (Joh. 4, 48.), aufs Aeußerfte gegen 
ihn empoͤren zu müffen. Ein ſolches empoͤrendes pofitives Ja 
nun erwarteten die Pharifder. Deshalb, da fie glaubten, er werde ber 
fremden Uebermacht huldigen müffen. verfpotteten fie zum Voraus 
diefe Antwort, jede feinere ober gröbere huldigende Beſchoͤnigung ber 
defpotifchen Ufurpation, tie fie von jedem gemeinen ſchwachen Mens 
{hen erwartet werben durfte, nimmermehr aber bes göttlichen Meffias 
würdig war, mit den Worten: „denn du achteſt nicht das Ans 
fehben ber Menſchen“. Selbſt jede das pofitive Ja Hug vers 
hüllende Floskel, oder eine blos liftige, den Schein ber Seigheit an ſich 
tragende völlige Verweigerung aller Antwort hätte beide Theile gereizt, 
jedenfalls die Pharifäer nicht befiegt und befchämt, fie nicht mit „Bes 
munderung” der Meisheit Chrifti erfüllt, fo daß fie ihn „nicht ta- 
dein konnten vor dem Bolt”, wie es ausdrüudiich beißt. Mas 
aber that er? Durch das verlangte Vorzeigen des weltlichften - aller 
Dinge, einer Geldmänze, eines Denars, mit welhem man ben roͤ⸗ 
mifhen Genfus, nicht aber die Tempelabgabe (Matth. 17, 
24.) zu bezahlen pflegte, und duch die Srage über das diefem De: 





*) Matth. 17, 24. 27. und 2 Chronil, 24, 8-11. 1 Kdn. 5,1. 
A 10. Rehem. 10, 8. 3. Michaelis Mof. Recht $. 173 


Chriftenthum. 471 


nar einyeprägte Bildniß des Kaifers, fammt ber Umfchrift und nun 
durch bi: Worte: „fo gebet Gott, was Gottes ift, dem Kaifer, was 
des Kaiers ift!“ veranfchaulichte er auf das Geiſtreichſte, erklaͤrte er 
auf das Wuͤrdigſte, daß dieſe ganze Geldfrage eine nur dem welt— 
lichen Recht und Reich angehoͤrige Frage ſei, bie von 
ihm, deſſen Reich ja nach allen ſeinen Erklaͤrungen nicht von 
dieſer Welt, ſondern eben das Reich Gottes ſei, ebenſo wenig un⸗ 
mittelbar entſchieden werden duͤrfe, als andere, fruͤher von ihm zu⸗ 
ruͤkgewieſene Fragen, als Fragen ſelbſt der Phariſaͤer uͤber das welt⸗ 
liche Recht, ſowie z. B. die uͤber die Beſtrafung der Ehebrecherin 
(Joh. 8.). Nur fo ausgelegt, konnte wirklich dieſe Antwort fo, wie 
fie 8 that, als offenbar würdig und folgerichtig entſprechend 
der ganzen Lehre und Stellung Chrifti, und zugleich weder 
den Raifer noch das Volt im Minbeften verlegend, dem fchlauen Feind 
jede Waffe entwinden, ihn befiegen und befhämen. jedenfalls beant: 
worte:e fie gar nicht die Frage von einer Nechtspfliht zur Zah⸗ 
lung, da die Pharifäer ihn ja nur blos fragten, ob es ihnen er- 
Iaubt fei (EEeorı), Steuern zu zahlen. 

Auch jene Ermahnungen, gegen bie Obrigkeiten, „welche Gewalt 
haben” und „welche nicht den guten Werken, ſondern den boͤ⸗ 
fen zu fürchten feien”, welche im „Dienfte Gottes” diejenigen beftras 
fen, mwelhe „Boͤſes thun“ und die „Guten belohnen”, ge 
borfam und „zu allem guten Werk bereit” zu fein, und zwar dieſes 
nicht „aus Furcht, fondern aus Liebe”, fo wie der Zufag: daß — was 
die zum Theil fih aus dem heidnifhen Staat zurüdziehenden erften 
Chriften zumeilen verfannten — die obrigkeitlihe Einrichtung auch für 
die Chriften wohlthaͤtig unb gottgefällig, eine göttliche Anordnung fei, 
oder von Gott komme *), — auch diefe Ermahnung hat lediglich jenen 
oben bezeichneten rein moralifchen Charakter. 

Kein Theologe kann fie namentlich als eine allgemeine, unbedingte 
und unbegrenzte Gehorfamspflicht erflären. Sie ift ja Theil einer Lehre, 
welche fo energifch lehrt, daß man Gott mehr gehorchen müffe, als 
den Menfchen, dag man in Erfüllung dieſer Pflicht, fo, mie die Apo⸗ 
ftel, bei ihrem wiederholten Ungehorfam gegen die ausbrüdlichften 
obrigkeitlichen Verbote (Apoſtelgeſch. 4 u. 5, 28.), und nad ihnen 
zahliofe Märtyrer, Leine Gewalt und Strafe der Obrigkeit fürchten 
ſolle **). Und feibft die am meiſten legitimiftifche Theorie verfteht fie ' 
ebenfalls nicht unbedingt und nicht allgemein in Beziehung auf jede 
Obrigkeit und billigt, fo wie alle Monarchen, den Widerſtand der Ty⸗ 
roler, ber Heffen, MWeftphalen, Hamburger, Bremenfer 


* Rom 13, 1-8. Tit. 3,1. 1 Petr 2, 13—19. Sol. 1, 16. 


*2) Gregorius ber Große warnte: ne sabditi plas, quam ey 
pedit, fiant subjecti, ne cum student, plus, quam necesse ost, homivous 
subjici, compellantur vitia eorum venerari ! 


472 Chriſtenthum. 


gegen ihre Obrigkeiten Napoleon und Jerome, oder wie die Mes 
volution der Griechen gegen den tuͤrkiſchen Kaiſer. 

Offenbar aber ift nun doch jene allgemeine hriftlihe Ermahnung 
ohne jede nähere Beflimmung : wann denn eine höhere Gewalt 
eine rehtmäßige ober eine räuberifche fei, und wann dır ers 
laubte, ia pflihtmäßige Ungehorſam felbft geger bie 
rehtmäßige Obrigkeit flattfinde, zur unmittelbaren dußeren 
Verwirklichung in jedem beftimmten alle nody näherer Beſtimmungen 
bedürftig.. Sie ift zu jeder unmittelbar politifchen Lehre eben 
fo untaugli, ald jene Ermahnung, zu dem Mantel auch noch Ien 
Rock hinzugeben, welches ebenfalls vom beſten Chriſten zuweilen auch 
zu unterlaſſen iſt, oder als jene Ermahnungen an den Sklaven, ſeinem 
Herrn nicht mehr aus Furcht, ſondern aus Liebe zu gehorchen. Wenn 
man alſo aus jenen Stellen, zum Schaden der Voͤlker und der Koͤnige, 
das Syſtem des Abſolutismus und Servilismus mit feinen poitiſch 
und moraliſch verderblichen Folgen begruͤndet und dadurch das Chri⸗ 
ſtenthum verhaßt macht, ſo iſt dieſes nicht minder eine Entweihung 
deſſelben, als wenn man aus den andern eine chriſtliche Beguͤnſtigung 
der Raͤuber oder eine Rechtfertigung der Sklaverei, oder aus der bruͤ⸗ 
derlichen Gleichheit der Menſchen die Abſchaffung des Koͤnigthums und 
des Eigenthums begruͤnden wollte. 

Alles dieſes gilt insbeſondere auch von denjenigen Theorien, welche 
die moraliſche Ermahnung von ber Gott mohlgefälligen oder 
görtlihen Begründung der obrigkeitlihen oder Staats - Einrichtung zu 
verkehrten myſtiſch legitimiftifhen und defpotifchen politifchen Grund 
lagen und Rechten der Regierungsgemwalt, und zwar meift vorzugsmeife 
der monarchiſchen, umgeftalteten. So begründeten befanntlicy zu ih⸗ 
rem eigenen Verderben und zu ihrer Völker vielfahem Ungluͤck die 
Stuarts und bie Bourbone hierauf und auf das „von Gottes 
Gnaden“, welches urfprünglic, geiftliche und weltliche Beamten und 
Megenten nur ale Beihen der Demuth gebraudten, fpäter auch 
manche auf paͤpſtliche Belehnungen bezogen, jene Theorien, melde 
alle freien vertrags= oder verfaffungsmäßigen rechtlichen Bedingungen 
und Schranken ihrer Gewalt aufheben follten. Ludwig XIV. vers 
foht, hierauf geftügt, im fpanifhen Succeffionskriege fogar den Sag, 
dag ein monarchiſcher Prinz auf das ihm von Gott unmittelbar übers 
tragene Thronrecht ſelbſt nicht einmal verzichten dürfe (heritier de 
toute necessite fei), mas er jedoh im utrehter Frieden endlich 
sbenfo, wie die englifchen und franzöfifhen Könige fpäter die myſtiſche 
oefpotifche Ableitung ihrer Gewalt, förmlich aufgeben mußte. Sa, man 
!egte deshalb den Königen priefterlihe Würde und MWunderfräfte bei, 
fo daß z. B. die blofe Berührung eines franzöfifchen Königs die Kröpfe 
heilte. Ein König von Dänemark bannte fogar Geifter damit. Als 
ein koͤnigliches Schloß durd; Gefpenfter fo beunruhigt wurde, daß Mies 
mand es zu betreten tongte, betrat er ed mit den Worten: „Ich, von 


Chriſtenthum. 473 


Gottes Onaben ‚ König”, und fie verſchwanden. (S. auch oben Thl. 
I. ©. 434). 

Das Chriftenthum aber verfchuldet nicht all das Blut und die 
defpotifchen und flavifchen Lafter und den Unfinn, welche falfche Aus: 
legung an biefe Stellen Enüpfte. Diefelben reden nicht blos von ber 
hoͤchſten Negierungsbehörde, am wenigſten blos von der monardifchen, 
fondern enthalten in Beziehung auf: die ganze Staats- oder obrig- 
feitliche Einrichtung und die Obrigkeiten überhaupt die moralifche Er⸗ 
mahnung, daß fie als höchft wohlthaͤtig, als Gott fehr wohlgefaͤllig 
oder nah feinem Willen begründet zu achten fein. Sie enthalten 
nichts Moftifhes und auch nicht die Bebingungen ber gültigen recht⸗ 
Tihen Entftehung und Dauer der Obrigkeiten und bie nöthige Be⸗ 
. flimmung ihrer Gewalt, fondern fie überlaffen dieſes Alles der menſch⸗ 
Lihen Freiheit nah dem weltlihen Recht. Diefes fagt ſo⸗ 
gar ausdrüdlih der Apoftel Petrus in der angeführten Parallel: 
Stelle, indem er alle Anordnung von Obrigkeiten, auch die des Kai: 
fers, mwörtlih eine menfhlihe Ordnung nennt. Am allerme- 
nigften alfo wollten diefe Stellen weltliche freie Verträge zur Begrüns 
bung der Obrigfeiten und ihrer Rechte ausfchliegen, fo wie ja felbft 
bei der Ehe, ob e8 hier gleich, ebenfalls als rein moralifche 
Lehre, beißt, fie würde im Himmel und von Gott und unaufloͤslich 
gefchloffen, ber freie Heirathevertrag der Ehegatten und das meltliche 
Eherecht ebenfalls zuläffig und nöthig find. So fahen es auch ſtets 
alle freien Völker an und festen zum Theil fchon fo, wie die Fran⸗ 
ten, fogar in ben Eöniglichen Titel neben das von Gottes Gna—⸗ 
den den Volksvertrag (consensus populi). Stets gingen aud) 
die Kirche und das canonifche Recht von biefer Vertragsmäßigkeit der 
Megierungsgewalt aus. Sie beriefen ſich dabei befonders auch auf 
die förmlihen und feierlich abgefchloffenen Verträge des hebräifchen 
Volkes mit Gott, als mit feinem göttlichen Könige, und auf die im 
alten wie im neuen Bunde mit Gott burchherrfchende Vertragsidee 
und der Vertragsmüßigkeit wahrer Gehorſamspflicht für freie Men- 
fhen*). Selbſt das Erbrecht ändert hieran nichts. Denn es muß 
doch erſt felbft buch einen gültigen weltlihen Berfaffungsact 
begrünbet fein. Denn fonft hätten es ja aud die Söhne von Nas 
poleon und Serome haben müffen. 

Das vollftändige Ausfhließen aller unmittelbar poli— 
tifhen und juriftifchen Gebote entfpriht nun offenbar aud) der 
- Vteinheit und Ziefe, der Freiheit und Allgemeingültigkeit der chriftlichen 


*) ©. oben den Artikel Bund mit Bott und eine aroße Reihe katholiſch 
firchlicher und canonifcher, fowie ſtaat sgeſchichtlicher Beweisſtellen in &. Ih. Wels 
der Spyftem I, ©. 115 —166 und unten S. 188Note und S LEINote*). Diele päpfts 
lichen und canonifchen und fonftigen kirchlichen Stellen druͤcken ſich ebenfo ober aͤhn⸗ 
Uh aus, wie Maffillon in feiner Lobrede auf den heiligen Ludwig, 
intem er die Könige auffordert, fich ftets zu erinnern: que ce sont les peu- 
pl:s, qui, par l’ordre de Dieu, les ont fait ce, qu’ils sont, 


474 Chriftenthum. 


Moral, durch melde Chriftus das ganze Menfchengefchlecht verebeln 
und auf die hoͤchſte Stufe reiner Menfchlichkeit erheben wollte. 

Auf das Allernachdruͤcklichſte und Wiederholtefte erklaͤrt er, daß, 
wenn auch früher die Nohheit der Menfhen das Mofaifhe Zwangs⸗ 
gefeg erheifht habe und, ſoweit fie noch jest fortdauert, noch immer 
befondere Rechts- und Staatögefege nothwendig mache, dennoch das 
wahre fittlihe Leben, wofür er die Ermahnungen und Lehren 
gab, durchaus nicht durch Furcht und Zwang, Äußere Gewalt, mes 
hanifche Angewöhnung und irgend dußerlihe und finnlide 
Motive, fondern lediglich aus ber vollen inneren Freiheit und freien 
Liebe hervorgehen Eönne, aus einer Gefinnung, welche gänzlich ber 
natürlichen finnlichen Lebensrichtung entfagt und die göttliche ergriffen 
hat (geiflig mwiedergeboren ift): aus folder völlig freien, 
liebevollen, inneren Gefinnung, melde, foweit fie reicht, das Aufere 
Geſetz ganz aufhebt, oder vielmehr in innere fittliche, freie, gute Ges 
finnung verwandelt, müffen dann, als ihre natürlihen Früchte, 
nothwendig auch die wahrhaft fittlihen äußeren Handlungen und 
Lebenseinrihtungen, alfo auch die im Staate hervorgehen. 
Aber fittlich find fie für die Handelnden felbit durhaus nur ins 
ſoweit, als fie wirkli ganz frei aus der inneren liebevollen Gejin: 
nung hervorgingen *). Das geiftige chriftliche Moralgeſetz will alfo als 
"folhes unmittelbar nur blog von Innen nad Außen durch 
die innere Sefinnung und Wiedergeburt wirken, während umgekehrt 
das Äußere weltliche Zwangsgefeg, foweit es noch nothwenbig ift und 
ale folhes, mit feinen genau beftimmten Außeren Befehlen und dus 
feren Motiven, von Außen nach Innen wirkt, und bei den noch 
im Sinnlichen verlorenen unerzogenen Menſchen für das freie, fittliche 
menfchlicye Leben die humane Wohnjtätte und Entwidlungsbahn und 
die Möglichkeit einer immer vollfommeneren allgemeinen, dußeren Ges 
ftaltung und Offenbarung ſchafft. Diefer feiner Natur und Beftim- 
mung gemäß, fann und muß das Außere Staatögefes nach der Ver: 
fehiedenheit der Entwicklungsſtufen und der jedesmaligen befonderen 
äußeren Verhaͤltniſſe der Völker verfchieden fein, während die reine 
goͤttliche Sittenlehre allgemein und bleibend für bas menſchliche Ge: 
fhieht fein follte, und auch fchon deshalb nicht mit unmittelbar poli= 
tifhen Gefegen vermifcht werden burfte, von welchen auch nur ein 
einziges fchon bie andern nad) ſich gezogen hätte. 

2) Dagegen follen auch alle Staatsgefege auf mittel: 
bare Weife oder durch die freie Beftrebung und Beftim- 
mung Derer, weldhe fie als Regenten, Beamten, Lanb- 
ftände und als Rathgeber vermittelft der sffentlihen 
Meinung oder der wiffenfhaftlihen Lehre geben oder 
bewirfen, hriftlih moralifh oder den Grundfägen der 
Hriftlihen Moral entfprehend gemaht werden. Diefes 


8,8. Ev Joh. 1,17. Galat. 5,6. Roͤm. 3, 3. 


Chriftenthum. 475 


fordert der allumfaſſende und ber durchaus praktiſche Chc- 
rakter der chriſtlichen Moral. Einestheils fordert bie  chriftliche 
Meligion ebenfalls. vollftändiger, als eine Religion der 


Erde, daß ihre Anhänger alle ihre Gefinnungen, alle. 


 thre freien Handlungen und Beftrebungen nur nad den 
wahren Moralgrundfägen und für ihre unendliche Aufgabe der 
möglichften eignen Vervollkommnung und immer größeren Gottaͤhnlich⸗ 
keit und der möglichften Wervolllommnung und Beglüdung ihrer 
Brüder verwenden follen. Nicht blos an den Sonntagen, fondern 
in allem ihrem freien Thun und Laffen foHen fie chriſtlich handeln. 
Anderntheils ift die chriftiiche Moral durchaus praktifcher Natur. So 
wie für den Handelnden einerfeits alle Außeren Werke ohne die fitt- 
lihe Geſinnung tode und unfittli find, fo fordert und erkennt doch 
das Chriſtenthum anbererfeits nur eine folche Tiebevolle und glaubens⸗ 
oder überzeugungstreue Gefinnung als wirklich und ale lebendig 
an, welche aud alle guten Fruͤchte bringt, welche die Liebe gegen 
Gott und die eigene innere Vervolllommnung in der Xiebe gegen bie 
Mitmenfchen und biefe in der Thaͤtigkeit für ihre möglichfte Vervollkomm⸗ 
nung, Unterftügung und Beglüdung auch aͤußerlich ermeifet. In 
dem wirklichen „Speifen, Traͤnken und Kleiden ber Brüder”, dars 
an, daß man „fröhlich fei mit den Froͤhlichen und meine mit den 
Meinenden” und dieſes tiefe Mitgefühl duch praktiſche Unters 
flügung beweife, daran, daß man das Leben für fie läßt, daran will 
CHriftus feine wahren Zünger erkennen. Beſſer, als alle Bußen und 
Dpfer, ift diefe thätige praßtifche Liebe. Nur fie, „nicht Mars 
tern und Brennen ber Glieder” hat Werth. Glaube und Kiebe, bie 
nicht Früchte bringen, nicht in guten Werken ſich zeigen, „haben 
sar keinen Werth”. Keine Religion der Erde hat weniger auf 
dußere Formeln, Worte, Gebete, Ceremonien, Opfer, Bußen, Reini: 


gungen und auf unfruchtbares Glauben und Wiffen, keine mehr auf 


jene praftifche Liebe, Vervolllommnung und Beglüdung 
ben eigentlichen Werth gelegt. Dabei werden alle Chriften aufs 
gefordert, dieſes Lebendigfte Mitgefühl, diefes thätigfte gegenfeitige Hel⸗ 
fen, Unterftügen, Beglüden, in fo inniger Verbindung, in fo 
feftem Zufammenhalten für das allgemeine Wohl zu verwirklichen, 
„wie die Glieder eines einzigen Leibes, wo jedes nad) 
feinen befonderen Kräften und Aufgaben für Alle und 
für base Ganze wirkt”. Sie follen ſchon hier ein chriſtliches, bruͤ⸗ 
berliches Reich nad dem Vorbild des himmlifhen gründen. Vor 
Allem follen fie auc ihre Mitmenfhen nicht blos gegen Außered Un 
gluͤck und gegen aͤußere Verlegung, fondern vorzüglih, als vor dem 
Alterfhlimmften, vor Aergerniß, oder vor moralifcher Verſchlech⸗ 
terung durch verderbliche Beiſpiele und Einrichtungen bewahren. Mehr 
alfo, als irgend eine politifche, patriotifche Lehre und Mahnung, mehr 
als Solons Anforderung an den beften Staat: daß jeder Bürger 
die Verlegung gegen den Mitbürger als ihm felbft widerfahren em: 


476 Chriſtenthum. 


pfinde und behandle, foͤrdern dieſe chriſtlichen Lehren das innigſte, kraͤf⸗ 
tigſte Gemeinweſen und eine treue Liebe und Wirkſamkeit fuͤr daſſelbe; 
ſo daß auch die fruͤheren Chriſtengemeinden unter den Augen der 
Apoſtel ſogar bis zur Guͤtergemeinſchaft dadurch ſich vereinigt fuͤhlten. 
Ueberall aber leuchtete den Chriſten ihr goͤttliches Vorbild in Erfuͤl⸗ 
lung all jener Lehren auf das Herrlichſte voran. Nicht blos fuͤr die 
ſittliche Vervollkommnung ſeiner Mitmenſchen, ſondern auch, wo er 
kann, fuͤr ihre leibliche Unterſtuͤtzung, Heilung und Rettung iſt er 
unablaͤfſig bemüht. Wo fie ihm wegen ihrer Sünden unmoͤglich iſt, 
da vergießt er Thraͤnen über das Unglüd feines Vaterlandes und ben 
Untergang feiner Hauptftadt. Selbſt mit edlem Zorm und mit bem 
tiefiten Gefühl dee Entrüftung ſtraft er in niederfchmetternden Worten 
die Bedruͤckung und Verderbniß des unglüdlihen Volks durch feine 
vornehmen, fhriftgelehrten und pharifäifchen Führer *). 

Mer dürfte alfo nun noch einen Augenblid zweifeln, daß Chris 
ften, von folder praftifhen Geſinnung und Liebe burdys 
derungen, daß wirklich hriftliche Megenten und Bürger aud ihre 
gemeinfchaftlihen, flaatsgefellfchaftlihen Gefege und Einrichtungen, 
welche ja ebenfalls faſt alles menfchliche freie Thun umfaffen, und 
welhe auf Erziehung, Vervollkommnung und Beglüdung der Mens 
fhen, fo wie auf ihre WVerfchlechterung, ihr Elend und ihren Tod den 
ausgedehnteften Einfluß haben, welche Chriftus ausdrüdlich als Gott 
wohlgefällig, wihtig und heilfam erklärt (f.S.471,Note*), 
fo weit fie Eönnen, fomweit die wefentlihe tehnifhe Natur 
des Rechts- und Staatsvereind es geftattet, mit Freiheit 
mittelbar dhriftlih, oder nad) jenen Geboten und Zmweden der 
chriſtlichen Moral einrichten müffen! Alle chriftlihen Nationen was 
ren und find aud im Wefentlihen in dieſer Anerkennung einftimmig, 
forweit fie nicht entweder, fo wie im Mittelalter, noch weiter gingen 
und ireig die chriftlichen Moral: Grundfäge fhon unmittelbar als 
westliche Gefege betrachteten, oder foweit fie nicht, fo wie bie Kranz 
zoſen, vorübergehend buch die traurigen Folgen dieſes Mißgriffs und 
des Mißbrauchs und der Verdrehung der chrifllihen Grunbfage zu 


*) Beifpiele und Belege für alles bieten: Matth. 7, 21. 
8, 2. 10,42. 12, 7.15, 4— 2%. 18, 1—4. 15. 17, 22, 37 —40. 23, 2— 
39. 25, 31 —45. Marc. 2, 23—2 27. 3, 5. 12, Na £uc. 6, 27—31. 
3, 10, 25 — 37. 11, 8740. 17, 18, ‚ 8. 41. Ev. 30". 


— 1, 22. 2 —8 Röm. * Fa — ron ug a. 0. D (Note 
3) ©. 327 bezeichnet es ale Endzw ed des Chriſtenthums, „bie Sitten⸗ 
„Lehre als Religion zu verfünden, den Opfer: und Geremonien:z 

Dienft der vordriftlichen Religionen buch eine Bildungs: 
unb Erziehbungsanftalt der Völker zu erfegen und in eine Tugend⸗ 
„Thule zu verwandeln, melde dem gefammten Menfchengefchiecht die Weihe 
„mo raliſcher Vortrefflichkeit ertheilte.“ 


Chriſtenthum. 47 7 


Gunſten ber Unterdrüdung von der Religion ſelbſt zuruͤkkge⸗ 
fhredt wurden. a 
IV. In ihrer richtigen freien, mittelbaren Anwendung 
enthält nun die hriftliche Kehre mehr, als irgend eine Reli: 
sion oder ein Moralfyftem in der Welt, fomohl das Grund: 
princip und die Grundlagen, wie die Örundfäge zugleich 
für die möglihft große bürgerlihe und politifhe Frei- 
heit der Staatsgefellfhaft und zugleih für die moͤg— 
lichſte Ausfchliegung aller feibfifühtigen und gemalt: 
famen anachifhen und revolntionairen Friedens- und 
Drdnungsftörungen. — Bei dem Staatöleben der Völker muß 
man nicht, wie bie Meiften zu glauben fcheinen, blos bie praftifchen 
Grundfäge und Befege ins Auge faffen, melde fi zunädft 
auf das flantsgefellfchaftlihe Handeln derfelben beziehen. Ihre Befo!- 
gung ift nur verbürgt, wenn ihnen aud als Lebenskraft die mefents 
tihfte Willensrihtung, und ald Grundlagen bie widhtigften 
Srundverhältniffe des Lebens der Gefellfchaftsglieder entfprechen. 
1) Das Chriſtenthum begründet mehr, als irgend eine Religion 
der Erde, die rechte Willensrihtung, das rihtige Grund» 
princip oder die Lebenskraft, nicht der defpotifhen und 
der theokratiſchen Verfaffung, fondern bie des freien Rechts⸗ 
ftaates, nämlich die Vorherrfchaft der freien prüfenden fittlichen Ver⸗ 
nunft, der geprüften freien Gemwiffensüberzeugung oder ber freien 
Mahrheit und Sittlichkeit. Ks ift das in der menfchlidhen 
Natur und der Menfchengefchichte klar begründete Gefek ; daß die Les 
benstraft dDefpotifher Herrfhaft und ferviler Unterwerfüng in 
der Vorherrſchaft der Sinnlichkeit befteht, in Materintiss 
mus, in Selbſtſucht, Genußſucht und Furcht, in dem Brutifiren 
oder, wie Napoleon wollte, in dem Aviliren der Menſchen. Sonft, 
und wenn fittlihe Bildung und Aufklärung, wenn freie fittlidye Beſtre⸗ 
bungen, wenn tugendhafte Ehrs und Freiheitsfiebe vorherrfchen, find die 
Beſtechungs- und Beflrafungsmittel der. Defpoten ja nicht mehr wirk⸗ 
fam, um das Volt in einem unnatürlihen, dergleichen Sreiheit und 
Vervollkommnung aller Bürger fo gänzlich widerſprechenden Enechtifchen 
Gehorfam zu erhalten )). Keine Religion der Erde aber 
firebe nun mehr, als die chriftlihe, Sinnlichkeit und Selbſt⸗ 
fuht, Materialigmus und namentlidy materialiftifhes genuffüchtiges 
Streben nah Reichthum und anzüchtige Geſchlechtsliebe ebenfo, wie 
alle Furcht und Enechtifche Unterwürfigkeit auszusreiben. , Kelne begei⸗ 
ftert mehr zu hohen, idealen, zu freien, muthigen, aufopfernden Beſtre⸗ 
bungen für alle höchften Zwede, für -Wervolllommnung und: Begluͤckung 
der Menfchen, zu bereitwilliger Hingabe felbft bed Lebens für Vollzie⸗ 
.. 


*) Meitere Beweisführungen über bie verfchebenen Srunbprincipien, 
Grundlagen und Brundbgefege ber Werfaflungen f. in Welder Sy: 
tem l. ©, 377 fg. i 2 


478 Chriſtenthum. 


hung der goͤttlichen Geſetze, denen man mehr gehorchen ſoll, wie den 
menſchlichen, ſo wie auch fuͤr die Befolgung auch dieſer letzteren nicht aus 
Furcht und Belohnungshoffnung, ſondern nur aus Gewiſſenhaftigkeit 
und aus Achtung der eigenen gottaͤhnlichen, unſterblichen Wuͤrde und 


Beſtimmung *). Und zwar alles dieſes in Gemaͤßheit des völlig freien 


Anſchließens an Gott und feine göttliche Lehre, nad) freier Prüfung 
und Gewiffensüberzeugung und mit dem Streben nach fletem Wachs» 
thum in ber Erkenntniß, fo wie mit ber Anerkennung: bag Wahrheit 
und Licht identifh mit dem Göttlichen und Guten, die Liebe zur 
MWahrheit und Deffentlichkeit ber Prüfftein deffelben, Lüge 
aber identifch mit dem Böfen und Scheu vor Wahrheit und Deffent 
lichkeit das Wahrzeichen beffelben fein. Alle Chriften werden aus: 
drüdlic für priejterlich erklärt, und follen vollftändig an der goͤttli⸗ 
hen Erkenntniß Theil nehmen; wie fie denn felbft die Apoftel an 
der Beflimmung der firhlihen Gefellfhafts-Verfaffung, 
ander Wahlihrer Vorfteher und felbft des zwölften Apoftels, ja 
ſelbſt an der Entfheibung bes Streits ber Apoftel über 
die chriftllihen Grundfäge Xheil nehmen laffen. Und waͤh⸗ 
rend ſchon das Mofaifhe Recht auf fo merkwürdige Weife durch fein 
Prophetengefeg für die freie Wahrheit und für jeden, der vom Geifte 
fid) dazu getrieben fühlt, fie den Fürften und dem Volk öffentlich und 
ohne Genfur vorzutragen und ihre Fehler zu rügen, gefeglihen 
Schutz verleiht.(f. oben S. 121), fo giebt das Chriftenthum jedem 
Chriften die Pfliht und das Recht, wo er es für heilſam hält, mit 
freier Wahrheit, mit Rüge der Fehler alle feine Mitchriften, alfo auch 
die Regenten, brüberlich an ihre Pflicht zu mahnen. Sein heilige Ge⸗ 
bot ift: „redet Wahrheit untereinander!” Aus Sorgfalt gegen 
jebe Unterdruͤckung der freien Wahrheit und Entwidiung gebietet Chriftus 
felbft das Unkraut zu dulden, um nur ja gar Feine gute Saat mit 
zu vernichten. Er verbietet, ben Geift zu bämpfen, droht Got⸗ 
ted Zorn allen denen, welche die Wahrheit und ihren Fortſchritt un: 
terdrüden, ober welche die Wahrheit In Ungerechtigkeit 
aufhalten. Seine wiederholte Verheißung zum Troſt und Schug 
der Buten, zur Warnung und zum Schreden der Boͤſen iſt, daß Als 
les an das Licht kommen folle **). 


oben Ill,-1. - 

*) ©. für alles biefeß 3. 8. Matth. 5, 13— 16. 10, 26. 13, 29. 30, 
18, 15 — 17. &uc. 11, 52. 12%, 2.8. 305. 1,7. 8, 18 — 21. 7, 16. 
47. 8, 31. hr Apoftelgefh. 1,15 —2%6. 3, 8 —6. 15, 2-5. Roͤm. 
1, 18,..128,,.2 1 GCorinth, 7, 8. 13, 16, Spber 4, 25. 5, 10. 17. 
1. Sheffal. 5, 11.15.90. 21, 1 Petr. 2,9. 8, 2. 8. 1 Johann. 4 


Chriftenthum 479 


Durch) alles diefes und durch die Lehre, dag Bott ein reiner Geift 
ift, und eine rein geiftige Anbetung fordert (Joh. 4, 24.), 
verwirft das Chriſtenthum natürlih auch das Princip einer theo« 
Eratifhen Prieſterherrſchaft. Es verwirft die Vorherrfchaft 
eines noch auf Sinnlichkeit und ſinnlicher Einbildungskraft beruhenden 
prüfungslofen, blind untermürfigen Glaubens an eine 
die Einnlichkeit und Phantafie und dunkle Gefühle für fi in Anſpruch 
nehmende irdifche Slaubensgemwalt. Damit flimmen nimmermehr über: 
ein die Gewiffensfreiheit und jene Forderungen freier Prüfung bes jteten 
Sortfchreitens in ber Erkenntniß ber allgemeinen gleihen Bruͤderlichkeit, 
wie dee Priefterlichkeit und jenes Mitftimmen aller Chriften, fo wie 
die Korderung bes größeren Gehorfams gegen das erkannte göttliche Ges - 
feg, als gegen alle Menfchen; mit ihm. nicht jene Verbote Chrifti an 
feine Apoftel, irgendwie nah menfähliher Weife zu herr: 
fhen; und ebenfo wenig ale jene einfachen‘ Haren Vorftellungen von 
dem Wefen Gottes und des göttlichen Lebensgeſetzes, auch jene vernuͤnf⸗ 
tige praktiſche Liebe, ftatt finnlichen Ceremonien= und SOpferdienftes. 
Wie * mußte daher auch in allen dieſen Hauptbeziehungen die theo- 
Eratifche Priefterherrfchaft und ihre Sreiheitsunterdrüdung die hrift- 
lihe Lehre und Tugend verfälfcen! 

2) Auch die wichtigften Grundlagen freier Staatsver— 
faffungen, und nammtliih fürs Erſte fittlihe und freie 
Gefhlehrts:, Ehe: und Familienverhältniffe begründet das 
Chriſtenthum mehr als irgend eine Religion ober irgend 
eine frühere Geſetzgebung. Da, wo in dem engiten, in bem 
für .die ganze menſchliche Erziehung wichtigſten Kreife des Menſchenle⸗ 
bens, Sinnlichkeit und felbftfüchtige, befpotifche Herrfchaft des Stärkeren, 
alfo des Mannes, des Vaters und nad ihm des Erftgeborenen, fpäter 
des Älteren Stammes, vorherrfchen, da werden Sinnlichkeit, Selbſtſucht 
und defpotifche Herrſchaft und Knechtſchaft auch für den Staat groß ges 
zogen, Die politifdye Freiheit ftand ftets im Verhaͤltniß zur Reinheit 
und Freiheit der Gefchlechtös und Familienverhaͤltniſſe. Im Vergleich 
mit der finnlichen polpgamifchen defpotifchen Geftalt, welche diefelben bei 


1—3. „Allenthalben“, fo fagt Herber (Werte zur Relig. und 
Theol. Thl. II. ©. 395.), „rüget Chriſtus ben geheimen und offenen Haß 
„gegen die Wahrheit als das ficherfte Grebitiv,. daß man zum Reiche des Zeus 
„fels gehöre, denn der fei ein Luͤgnet von jeher und haffe wefentlich bie Wahrs 
beit.” Luther fagte: „Die Wahrheit hat allezeit rumort, und bie falfchen 
Echren haben allegeit Frieden! Frieden! gerufen." Reinhard nannte in ſei⸗ 
nee Moral 111. ©. 40. Wahrheitsliebe und ſtete Bervolllommmmg „das 
Weferittichfte chriftlicyer Sittlichkeit“, umb ftellt, Moral Bd. IV. $. 345., ind» 
befonderg: auch die Geſtattung der Prebfreiheit als Pflicht für chriftiiche Obrig⸗ 
keiten dar. Dug- a. a. D. (f. ©, 467. Note.) ©. 225. fagt: „Sein Streben 
„war ganz anderer Art und größeren Styles. Sein Bli ging in's Allges 
„meine und umfaßte bie Voͤlker des Erbbobens, nicht fie unter den Moſals⸗ 
„mus zu beugen, f.onbern in geiftiger Freiheit aus eigenem 
„Pflichterkenntniſſe auf die hoͤchſte errcihbare Stufe zu füps 
„een, welche fittliche Weſen zu erfleigen befähigt find.‘ 


480 | Ghriftenthum. 


den meiften Völkern des Drients hatten, erſcheinen fie allerdings flufens 
weiſe fehon reiner und freier bei den Hebräcen, bei ben Griehen und 
Römern in ihren befferen Zeiten und vorzüglich bei den Germanen. 
Doc) ungleich reiner und wuͤrdiger fordert und geftaltet fie bad Chriſten⸗ 
thum. Es tilgte auch felbft die gefeglichen Nefte dee Polygamie, des 
Goncubinats und den noch nad) hebräifhem, griedifhem, roͤmiſchem 
und deutfhem Recht ftraflofen Ehebruch des Mannes mit ber ledigen 
Frau, die alfo Bein Recht auf eheliche Treue hatte. Es tilgte die wills 
kuͤrlichen Eheſcheidungen, die ehelichen und befpotifchen Herrenrechte zum 
Vortheil des Chemanns und Vaters und mittelbar auch frühere, damit 
und mit der Zurüdfegung der Frauen zufammenhängende Vormund⸗ 
ſchafts- und Erbrechte. Es begründet bisher unbekannte Pflichten ber 
Keuſchheit und fordert allgemein die Höchfte fittlihe Reinheit, fest die 
Mürde ber Frau der Würde des Mannes gleich und heiligt die Ehe als 
ein unter befonderem göttlichen Schutz ftehendes, von Gott, oder im 
Himmel gefchloffenes, willtürlicher Auflöfung entzogenes Verhaͤltnif, 
und ausdrüdtich als ein Verhältniß fo innig, gegenfeitig liebevoll, fo 
ehrwuͤrdig, rein und frei, wie das des Erlöfers zu der Chriftengemeinde *). 
Auch bie zweite Hauptgrundlage freier, vernunftrechtlid;e 
Staatsverhältniffe, nämlich freie, unkaſtenmaͤßige Stanbess 
verhält niffe, begründet ebenfalls das Chriftenthum mehr 
als irgend eine Religion, als irgendeine frühere Ges 
feggebung. Alle feine Hauptlehren ſchneiden alle Wurzeln und 
Quellen und alle ſcheinbaren früheren Nechtfertigungen aller Sklaverei 
und Leibeigenfchaft, aller Stammes: und Kaftenherrfhaft, aller die Freis 
heit und Gleichheit der Menfchen wahrhaft verlegenden, dem Hochmuthe 
dienftbaren Bevorzugungen und Bevorrechtungen wegen angeblicher beſ⸗ 
ferer begünftigterer Abflammung der Nationen oder der Geſchlechter voͤllig 
ab. Es bedarf aber wohl Beiner Ausführung, wie fehr diefelben nicht 
blos an fich der Freiheit der großen Mehrzahl der Unterdrüdten und 
Ausgefchloffenen miderfprehen, fondern auch die Freiheit feibft für bie 
Bevorzugten, kurz wahre und bauerhde freie Verfaffungen untergraßen. 
Die chriftlihen Grundfäge laſſen nur ſolche Standesunterfchiede zu, 
welche die allgemeine. gleiche Menfchen » und Bürgerwürde und bie freie 
Wahl des Rebensberufes nach eigner, freier Ueberzeugung nicht verlegen, 
und nur infomweit fie felbft. Dem allgemeinen gefellfchaftlihen Wohl ents 
fprechen. Hierhin führen nun jene reinen, freien Familienverhaͤltniſſe; 
hierhin, die Lehre, daB. alle" Mienfchen von Einem gemeinfchaftlichen irdi⸗ 
fhen Stammvater abftammen, und vor Gott, vor welchem fein Ans 
fehen, der Perfon gilt, voͤllig gleiche, gleich geliebte, gleich 
theuer erloͤſete Kinder und Brüder, alle überhaupt, fo mie von 
gleich. edler trdifcher Abkunft, fo auch alle „göttlihen Geſchlechts“ 
den Stempel goͤttlicher Ebenbildſchaft an ſich tragend, alle von 
gleicher freier unſterblicher Wuͤrde und Beſtimmung ‚ale tugend⸗ und 





*) Matth. 19, 3m Sphef. 5,21 ff. 1 Eorinth. 6, 1 f. 


Shriftenthum. | 481 


vervollkommnungsfaͤhig ſeien. Hierhin führen die Hauptpflichten aller 
Chriſten: alle Menſchen, ohne Unterſchieb der Abſtammung 
und des Glaubens, als ihre Bruͤder oder ihre Naͤchſten zu lie⸗ 
ben und zu achten und fuͤr ſie das Leben zu laſſen, ihnen de muͤthig 
zu dienen und jede hochmuͤthige und eigennuͤtzige Bevorzugung, 

Ausſchließung und Herrſchaftsgewalt, „als von Gott verabſcheut“, 
gaͤnzlich zu meiden und aufzugeben, gegen ſie Alles zu thun und zu un⸗ 
terlaſſen, was man ſelbſt von ihnen gethan und unterlaſſen wuͤnſcht *). 
Nach dieſen Grundſaͤtzen mußten ſehr begreiflich ſchon die erſten 
chriſtlichen Kaiſer die Aufhebung der Sklaverei beginnen **) und von 
fruͤhe an wuͤrdige chriftliche Geiftliche ebenfo, wie mit Energie auch die 
allgemeinen Rechtsbuͤcher des Mittelalters ***), fo wie fpäter, bei Ab⸗ 
fhaffung des Negerhandels der edle Wilberforce und neuerlich wies 
ber, bei der Sölavenemancipation, das britifhe Parlament, und 
endlich auf dem wiener Congreß bie eueopälfhen Megierungen alle 
Sklaverei und Leibeigenfhaft für völlig unchriſtlich erklaͤren und für 
ihre Aufhebung wirken. &8 hätte fetbft hierzu nicht einmal anderer wies 
derholter moralifher Mißbilligungen der Sklaverei in der heiligen 
Schrift beburft, fo z. B. nicht der Aufforderung an die Herren, daß fie 
nunmehr, als Chriften‘, nicht länger ihre Sklaven als Knechte, fondern 
als Brüder behandeln, alles Drohen laffen und ihnen gleiches Necht (2oo- 
znta) zugeftehen follen, ober der Aufforderung an die Sklaven, wenn 
fie es auf rechtlihem Wege könnten, fih, mo möglich, die Frei⸗ 
heit zu erwerben, oder der Aufforderung an alle Chriften, als 
theuer Erlöfete nun niht der Menfhen Knechte zu wers 
ben +). Wenn aber bei all diefem Hugo ſelbſt eine chriftliche 
Sanction der von ihm leider verthelbigten Sklaverei daraus ableiten 
will, daß Chriftus nicht ſelbſt alle Sklaverei ausbrüdlich verbot und aufs 
hob, und daf einzelne Stellen den chriftlihen Sklaven ermahnen, fein 
hartes 2008 mit liebevoller Ergebung zu tragen, fo uͤberfieht dieſe ungluͤck⸗ 
liche Lehre gänzlich, dag Chriftus Fein einziges weltliches Rechte: 
inftitut unmittelbar politifch aufheben oder gemaltfam zu zerſtoͤren 
befehlen wollte, was in diefem Falle fogar aller Civiltfation, wie den für 
die Sreiheit noch unvorbereiteten Sklaven felbft höchft verberblich gewe⸗ 


*) S. 3. B. Matth. 7, 12, 10, 49, 18, 1. 11. 20, 2%. 23, 6— 13. 
Marc. 10, 42— 45. pe 6, 38. 9, 48. 10, 29. 16, 15. Apoſtelgeſch. 
10, 34. 35. 17, 18. 26, 9. Epber, 6,9. Röm. 2, 11. 1 Petr. 1,17. 
Xacob. 2, 9. ©. auch unten S. 487 Rote. Die Schrift weiß ebenio, wie gegen 
das materialiftiihe Streben nad Reichthum, fo auch gegen jebe hochmuͤ⸗ 
thige, berrfchfüchtige, bie brüberlidye Gleichheit und Freihcit verlegende Zuruͤck⸗ 
fegung und Herrfchaft kaum flarfe Worte genug er finden, z. B. „denn was 
„hoch iſt, iſt dem Herrn ein Greuel“, Lucas 16, 15. | 

»+) C. 56. de episcopis. Nov, 5, 2. 
et) Sachſenſpiegel 3, 42. Schmabenfpiegel 52. 
HP Eoloff.d, 1. 1 Gorinther , 21-3. Philem.16. Ephe⸗ 


. fer 6,9. 


Stauts : Eerilon. IIL 51 


482 Ghriftenthum. 


fen wäre. Hugo hätte zugleicy aud) den Raub als von Chriflus fanctio: 
nirt darftellen müflen, denn Chriſtus gab Feine ausdruͤcklichen Gefege 
gegen denfelben und fordert ebenfalls in der Stelle: „nimmt dir einer 
den Mantel, fo gib ihm auch den Rod” zu liebevoller Ergebung auf. 
Ganz befonders aber veranfchaulicht das Beifpiel der Sklaverei gerabe 
jene große Marime des Chriftenthums, auch felbft die feinem ganzen 
GBeifte am meiften widerſprechenden weltlichen Rechtsverhältniffe nicht 
unmittelbar politifh und von außen zu zerftören, wohl aber durch 
die rechte chriftliche Sefinnung ihre freie, auch politifche -Abfchaffung ober 
chriftliche Umgeftaltung mittelbar zu bewirken. Mit Berufung auf 
die chriftlichen Srundfäge. eiferte die Geiftlichbeit und bie Kirche auch 
ftets gegen adelige Worzugsrechte *). Endlich find denn auch in ben 
allermeiften chriftlihen Staaten alle wirklich verlegenden und kaſtenmaͤ⸗ 
ßigen adeligen Standesrechte verſchwunden. 

Auch die dritte Hauptgrundlage der Freiheit, die Selbſtſtaͤn⸗ 
digkeit und die Trennung von Staat und Kirche gibt 
das Chriſtenthum vollſtaͤndiger, als irgend eine Relis 
gion, ja allein unter allen. So weit vor und neben ihm bie Weltges 
ſchichte reicht, beherrfchen und mißbrauchen entweder die Priefler, mit 
öffentlihem Betrug und mit Entweihung der Religion, wie mit Zerſtoͤ⸗ 
eung der Kreiheit, die weltliche Obrigkeit und das meltliche Recht für 
ihre Herrſchſucht und Habfuchtz oder die weltliche Gemalt mißbraucht bie 
Religion, die Auguren, die Orakel, die Priefterfchaft, für ihren meltlis 
hen Defpotismus. Die Reinheit und Würde der Religion, wie bie 
Freiheit des Staates, beftehen nur bei der Eeibftitändigkeit beider, nur 
bei einer gegen dußeren, weltlichen Zwang gefchüsten völligen Glaubens⸗ 
freiheit und bei einem gegen fubjective Glaubensmeinung gefchügten fes 
ſten weltlichen Recht. Alle Freiheit wird vernichtet, zulest fogar in 
den Gedanken der Menfhen, wenn bie geiftlihe Behörde zugleich 
mit weltlicher Macht ihre Glaubensfagungen, als auch weltliches Geſetz, 
aufzwingt, oder wenn die weltliche Gewalt jede Wilfür auch zum 
Glaubensartifel ftempelt und ebenfalls mit dem Schwerte durchführt, 
wenn fo wirklich jede Appellation von der geiftlihen Anmaßung an ein 
fhügendes weltliches Recht und von der, weltlichen Tyrannei an ein befs 
feres religiöfes Geſetz gänzlich und felbft für den Gedanken zerftört 
wird. Chriftus nun gründete diefe volle Selbftitändigkeit der zwei 
Vereine von Staat und Kirche mit der wechfelfeitigen Pflicht, das ſelbſt⸗ 
ftändige Recht des Andern nicht zu verlegen und nur in freier brübderlicher 
Unterftügung für das Gute und Rechte gemeinfchaftlic den menfchlichen 
Geſammtzweck zu fördern. Daß Chriftus durch Beſchraͤnkung der relis 
giöfen Gebote und Behörden auf das religioͤſe Gebiet die Selbſtſtaͤndig⸗ 
keit des Staats anerkannte, wurde ſchon oben (III, 1.) nachgewieſen. 








. ) S. 3.83. C. 37. et ult. X. de praebend. C. 37. de praeb. in VI, 
bie Soncilien von®@onftanz ‚Ausg. d. Hardt I, p. 637., von Bafel Seas. 
31. und von Trident 6,1. 32,2.4 24,1. 12. 


Chriftenthum. 483 


Aber er, der die weltlihen Gefchäfte. aus dem Tempel verjagte, der aus 
feinem Reiche jeden äußeren phey; weltlichen Zwang ausſchloß und dabei 
lehrte, daß man Gott mehr gehar an müffe, ale den Denken, der in 
muthiger Todesverachtung ſeinen Juͤngern zus Nichtachtung weitlicher 
Befehle gegen goͤttliche Pflichtgebote das Beiſpiel gab und mit dieſen 
ſeinen Juͤngern die Anklagen und, Verurtheilungen wegen Volks⸗ und 
Jugendverfuͤhrung, wegen Gefaͤhrbung des Friedens und des Anſehens 
von Staat und Kirche ſich nicht: irren lieg — er wollte wahrlich auch ein 
freies religioͤſes und kirchliches Reich gründen. 

Freilich wurden fpäter auch. diefe chriftlichen Grundfäge der Selbſt⸗ 
ftändigkeit von Staat und Kirche oft und lange verlest. Ste wurden 
es fhon unter ben deſpotiſchen griechiſch⸗ römifchen Kaifern, dann auf 
entgegengefegte Weife in dee fränfifchen Monarchie, in welcher 3. DB. 
Chilperich alle weltlichen Gerichte der. höchiten Entfcheidung ber Bi: 
fchöfe unterftellte, und im hierarchiſchen Mittelalter. Sie rourden es in 
jeder Weife feit Philipp I. in Spanien, Portugal, Italien, und wie⸗ 
derum auf bie römifd) = defpotifche Weife unter Heinrich VI. in Engs 
land und fpäter in ber Sjacobinifchen und Napoleoniſchen Defpotie. 
Sie wurden endlich auch verlegt in einigen falfchen deutfchen Theorien, 
welche, fo wie die Hugoifche, die Kirche zur Staatsanſtalt erniedrigen, 
oder eine falſche Einheit von Staat und Kicdhe ‚vertheidigen. Aber bei 
jeder Verlegung zeigte fich auch das Verderben für die wahre reine Re 
ligiofität fo. wie für die Sreiheit, und ſtets fanden die richtigen chriftlis 
chen Grundfige wieder ihre Anerkennung und Sanction, fo wie durch 
Kart den Großen, fo unter Kaifer Eudwig dem Baiern und 
vollends in der Reformation. Auch in der ſchlimmſten Zeit blieben 
doch Papſtthum und Königthum gefchieden. Es wurden in chriftlichen 
Reichen die weltlichen Serrfcher nicht, fo wie Roms Imperatoren, aud) 
Oberprieſter und Päpfte, noch die legteren, fo wie die Nachfolger des 
Propheten im Chalifat und im türkifhen Kaiſerthum, auch die mweltlis 
hen Herrſcher. Nie wurden jene großen chriftlihen Hauptgrundſaͤtze 
gänzlich zerftört: Seit der Reformation, die, ebenfo wie das Chriftens 
thum felbft, nur durch den Grundfag, man muß Gott mehr gehorchen, 
Pr den Menfchen, fid) ausbreiten Eonnte, fi egen- fie allmälig immer voll 

ndiger. 

3) Aud bie Hauptgrundfäke oder die Grundgeſetze 
der Sreiheit werden mittelbar durch die hriftlihen Moralgebote 
geheiligt. 

Das Chriftenthum heiliget freilich allerdings nur ein durch fitts 
lihe Zwecke und Geſetze beftimmtes, mit Achtung einer gefeglichen, 
friedlichen Ordnung vereinigtes Streben nad Freiheit, wobei eine lies 
bevolle, verföhnliche Gefinnung gar manche Verlegungen der eigenen 
Freiheiten und Nechte verzeiht und verfchmerzt. Obwohl eine Lehre, 
die jene höchfte praktiſche Liebe lehrt und welche von Tich felbft 
fagt, daB fie nicht zum Frieden, fondem zum Krieg in die Welt kam, 
oder die, mit Vorausſicht bed gewaltſamen iderfteite gegen fie, ur 

3 % 


484 Chriftenthum. 


muthigen Todesverahtung in Ausuͤbung Mar erfannter Pflichten aufs 
fordert *), allerdings fehr weit entfernt ift von jener Berechnung ber 
Pflicht blos nach Auferen Erfolgen, von jener feigen und materlalis 
ſtiſchen Vergoͤtterung der aͤußeren Sicherheit und Ruhe als des hoͤch⸗ 
ften Gutes, von liebloſer Gleichguͤltigkeit und Parteilofigkeit in Bezie⸗ 
hung auf die politifhen ober die-gemeinfchaftlihen, Wohl und 
Wehe, Berbefferung und Verſchlechterung unferes Volks beftimmenden 
Angelegenheiten, fo heiliget fie doch keineswegs eine für felbftfüchtige 
Zwede mit eigenmilliger Gewalt ertrotzte anarchifhe Freiheit. Und 
Diejenigen, welche mit folhen Gefinnungen gegen jebe fcheinbare ober 
wirkliche Unvolltommenheit, vielleicht fhon gegen jede, nicht die indi⸗ 
viduelle Form der Republik an fich tragende Einrichtung, nach ihren 
individuellen Meinungen, ohne Achtung des Willens ihree Mitbürger 
und der Geſetze, jeden Augenblid zu ungebuldigen Empdrungen, zu 
scheimen Verſchwoͤrungen oder gar zu Meuchelmorden und andern 
die Bande des Vertrauens aufldfenden Mitteln geneigt find, finden 
in der chriftlichen Lehre keine Unterftägung, fondern dad Gegentheil. 
Diefes bedarf wohl überhaupt und auch nad dem, mas fchon oben 
berührt wurde, keiner meitern Beweiſe. Sollte man aber vielleicht 
erft bemweifen müffen, daß diefe Säge fi) in keinem Widerſpruch bes 
finden mit einem wahrhaft freiheitlihen Charakter des Chriftenthums? 
Doch, übereinftimmend mit dem Chriftenthum, fagt e8 die Weltge⸗ 
fhichte, fagt es jedem Unverdorbenen bie innere Stimme, baß nur 
dns Gute und Rechte Segen und Beltand hat, daß felbftfüchtige, 
alfo zulest ſtets für einen höheren Preis erkäufliche, für Entfagung 
und Aufopferung unfähige, daß die gemeinfhaftlichen Weberzeu: 
gungen ihrer Mitbürger und die Gefege ihres Vaterlandes nicht ach⸗ 
tende, gewaltfame und meuchlerifche Menfchen die fchlechteften Stuͤtzen 
der Freiheit find. In einem von Selbſtſucht beherrfchten, unfittlichen, 
geſetzloſen Volke, aus welchem Treue und Glauben und ba8 äffentliche 
Bertrauen verſchwunden find, iſt bie Freiheit nur ein hohles, auf 
Sand gebaute® Gerüft. Sie wird nur dauernd und fruchtbar und 
immer vollfommener unter der Herrſchaft höherer Gefege, bei der Ber: 
bindung der muthvollen und aufopfernden Wahrheits⸗ und Freiheits⸗ 
Liebe mit einer alteömifhen und britiſchen Beharrlichkeit, Ge: 
duld und möglichften Achtung der gefeglichen, ehrlichen und friedlichen 
Wege, für ftufenmeife Entwidelung der Freiheit, ſowie der zur Feſtigkeit 
der Staatsordnung unentbehrlihen Befchränfungen. Durch ein fie 
nicht beachtendes, eigenmaͤchtiges, leichtfertiges Mevolutioniren, wie es 
Jedem gerade einfällt, duch fo gemachte Mevolutionen laffen ſich 
vielleicht Iyrannen flürzen — oft auch ſchaffen — aber keine Frei⸗ 


N) S. z3. B. Matth. 10, 16, 8-39. Joh. 7, 7.12. Cucas 12, If. 
Vergl. auch oben Seite 476 Note und die nicderfmetternden Strafreben gegen 
bie Heuchelei und den Hochmuth der Schriftgelehrten und Phariſaͤer Matth. 23 
und Zuc. 11, 37—5%. Marc. 8,5. * | 


Ehriftenthum. 485 


heit gründen. Freiheitskaͤmpfe muß nicht ber eigne Wortheil, das 
eigne Recht, fondern die Pflicht, die unbezweifelbare, anerkannte Pflicht 
leiten, wenn fie zum Beil führen follen. Trotziger Eigenwille und 
Selbſtduͤnkel, ohne die Tugend der Selbſtbeherrſchung und bie nach⸗ 
haltige Kraft hoher fittlicher Gedanken, find nicht bie für eine ges: 
meinfhaftlihe und dauernde Freiheit günftigen Gefinnungen. 
Der gefegliche, bee burch ‚die Religion und :Gefchichte unferes Volkes - 
und durch feine Zuſtimmung geheiligte ehrliche Weg, das ift für die 
Innern Frelheitskaͤmpfe der Völker daſſelbe, was für die dußeren und 
für feine Kriegsheere die. Disciplin und die gemeinfchaftlihe Fahne 
find., Wenn Alte auf eigne Fauſt, wann und wo «8 ihnen gefällt, 
losſchlagen wollen, fo fmd aller Muth und alle Streitmacht verſchwen⸗ 
bet. Und Freibeitöfreunde, bie, flatt in der Meligion und Gefinnung, 
in der Gefchichte und Gefeggebung ihres Volkes bie guten Keime 
und Wege, für feine Verbeſſerungen aufjufuchen, verleitet durch den 
Mißbrauch -und die WVerunftaltung berfelben, ihnen mit Daß und 
Verachtung und Zerſtoͤrungsluſt gegenübertreten,. bie werden nicht mit 
ihrem Volk und für daffelbe fiegen. Freilich muß, mer im Kampfe 
gegen ſolche durchaus verkehrte Sreiheitäbeftrebungen gerecht bleiben 
und nur bierbuch heilſam wirken will, zugeflehben, daß biefel- 
ben faft immer hervorgerufen und unterffügt werben gerade durch 
ſolche unwuͤrdige, niedriggefinnte . Anhänger und Diener bes Defpotie- 
muß, welche. die Ehrlichkeit und. Gefeglichleit bes politifchen Strebens 
in. Knechtsgefinnung, die nothwendigen Schranken ber Freiheit in Abs 
folutismus verwandeln, welche aus ber Beruͤckſichtigung der befonderen 
Verhältniffe der Nation die Erklaͤrung Ihrer fpeciellen Unfähigkeit und 
Unwuͤrdigkeit für die Freiheit ableiten, welche fie ihe heute wegen ber 
ruhigen und morgen wegen ber bewegten Stimmung verweigern und 
die traurige Furcht begründen, auf freiwillige Rechtsgeſtattung fei nie: 
mals Hoffnung, welche endlid unter dem Namen der allmäligen Eut- 
twidelung ber neuen Freiheit bei fleigender Wahrheits-Unterdruͤckung 
die Reſte des früheren Rechts zerftören und Gefinnungen und Staats: 
einrichtungen nur immer ſerviler machen möchten, welche aber burd) 
die Gefühle und Beforgniffe der- Taͤuſchung in feinen gerechteften Er: 
wartungen und durch den Math zu unwürbdigem Gebraudy ber Me: 
gierungsrechte und vor Allem der Juſtiz zulegt eine gefährliche Erbits 
terung des Volks veranlaflen. Alles dieſes aber kann bie entgegenge: 
festen Verkehrtheiten höchftens entfchuldigen, aber niemals rechtfertigen 
ober heilfam machen. 

So zeigen ſich denn alfo auch diejenigen chriſtlichen Grundſaͤtze, 
welhe man ber Sreiheit ungünftig bielt, nicht blos ber gefeglichen, 
friedlihen Ordnung, fondern auch der Freiheit felbft hoͤchſt günftig. 
Sie unterftügen den glüdlichen Erfolg der guten Beſtrebungen für 
fie, fordern auf zu biefen und verbieten die verderblichen. 

Die Freiheit aber müffen nun allerdings alle wahren Chriſten 
erftreben und begründen, da fie der Würde der Menfchen und Bol: 


486 Shriftenthum. 


fer, ihrer höheren Vervollkommnung und erlaubten Gluͤckſeligkeit ent⸗ 
ſpricht und die Mittel fuͤr ſie darbietet, da ſie uͤberhaupt das hoͤchſte 
und edelſte irdiſche Gut der Menſchen und Voͤlker iſt. Inſofern darf 
und ſoll ſie fuͤr's Erſte jeder Menſch auch fuͤr ſich ſelbſt und die 
Seinigen und fuͤr ſeine Nachkommen erſtreben und beſchuͤtzen, ſowie 
ſchon nach jener ausdruͤcklichen chriſtlichen Lehre ihre unterſteStufe, 
die Freiheit von Sklaverei. Er darf und foll fie aber fur's Zweite 
feinen Mitmenfcen, foviel an ihm ift, und foweit er, zumal als Maͤch⸗ 
tigerer, namentlich als Regent, vechtmäßige Gewalt und Mittel dazu 
hat, einrdumen und vor Allem unverlegt laffen. Diefes fordern fchon 
die heiligen Pflichten der juriftifhen und moraliſchen Gerechtigkeit, 
deren Achtung uͤberall das Chriſtenthum einſchaͤrft )). Ex bat für’s 
Dritte fuͤr ſie zu wirken und vollends jede Beeintraͤchtigung derſel⸗ 
ben zu meiden, nach jener thaͤtigen Bruderliebe gegen alle feine Mit⸗ 
menfhen und nad der durch fie beftimmten Aufgabe füͤr ihre Be⸗ 
glüdung und Vervollkommnung das Moͤglichſte zu wirken, insbeſon⸗ 
dere auch, um fie gegen Gewaltthat und Verlegung, Beraubung und 
Unterdrüdung und gegen die Verberbniffe der Knechtfchaft zu ſchuͤhen. 
Solcher Schutz wird oftmals Pflicht der Liebe da, wo wir ben 
uns ſelbſt zugefuͤgten Schaden durch rechtswidrige Verletzung und Be⸗ 
druͤckung aus liebeyoller eigener Aufopferung verſchmetzen, ober doch 
nur zum Schutz des gemeinſchaftlichen Rechts der Mits 
menſchen oder aiıs andern Pflichten abmehren follen **). Em Sees 
ben nad mwürdiger, gefeglicher Freiheit ift viertens nothwendig zur 
möglichften Verwirklichung einer gemeinfchaftlichen moralifchen Geſell⸗ 
fihaftsordnung nach dem Worbilde des freien chriftlihen Reiche, wo⸗ 
durch insbeſondere auch die heranwachfenden Geſchlechter würdig erzo⸗ 
gen und vor Elend und Verderbniß geſchuͤtzt werden. Aus allen bie 
fen Gründen werden wahre Chriften mit aller Anfteengung und Aufs 
opferung auf jedem würdigen Wege für ihr Waterlanb und die Menfchs 
heit gefegliche Sreiheit zu erwerben, zu befeftigen und zu vertheidigen ſtre⸗ 
ben. As völlig feicht und krankhaft muß e6 ihnen erfcheinen, wenn 
Manche diefed Streben geringfchägen wollen, weil es politifch fe, 
und weil allerdings für bie eigne Tugend des Handelnden feine ſitt⸗ 
liche Gefinnung Grundbedingung und die fittlihe Gejinnung wenig⸗ 
ſtens eines’ großen Theils der Bürger fir die Freiheit felbft nöchig 
und die befte Stuͤtze und auch ohne Freiheit von Werth und gutem 


*) MattH, 7,12, 24,12. Luc.6,38. 1 Corinth. 13,6, Epheſ. 5,9. 


*) Luther (Werke Ausgabe von Wald Bd. X. ©. 441.) fagt: „Aber 
„für Andere mag und foll er Rache, Recht, Baus und Hülfe ſuchen und dazu 
„thun, wie er Tann und mag.‘ Ferner Bd. X. ©. 539.: „Meiner Perfon 
„und meines Lebens halber will ich mich demuͤthigen * Jedermann. Aber weis 
„mes Amts und meiner Eehre halber und infofern mein Leben eunfeiben gleich iſt, 
„warte nur Niemand meiner Geduld und meiner Demuth.” S. auch Luthers 
Skhriften von Lemmler 1816, 1. &. 328. 


Ehrifienthum, 487 


Einfluß iſt. Hat ja doch die fittliche Gefindimg: nur Wahrheit und 
Merth, wenn fie die Mitmenfchen zu verbeffern und zu beglüden ftrebt. 
Da nun die Menfchen überall in politifchen Gefellfchaften leben und 
bie guten oder fchlechten Geſchhe und Eintihtungen-'derfelben im hoͤch⸗ 
ften Grade für die Vervollkommnung und MWerfchlechterung, Gluͤck 
und Ungluͤck unferer Mitmenſchin, vorzüglich‘ dee noch unerzogenen, 
einflußteih find? — namentlich. auch für die Schulen und bie Kicche 
und die Kicchenlehre —, fo muß:jend fistlihe Geſinnung, fo weit fie Fann, 
auch in hohem Grade auf fie, alfa, polittfc oder für eine heilfame 
Seitaltung der Gott wohlgefälligen obrigkeitlichen oder 
Staatsorbnung und dabdurch mittelbar- für Tugend und Gluͤck 
unferer Mitmenfhen zu wirder streben. So lange wir in biefer 
Melt leben, befteht ja eine gegemfeitige Beſchraͤnkung und Wechſelwir⸗ 
tung des Inneren und Aeußeren, des Freien und Mothwendigen. 

Bon folhem Standpunkte aus empfiehlt nun dlie chriſtliche Lehre 
ber Beftrebung der Regierungen und der Bürger ebenfalls mehr 
als irgend eine andere Religion: auch die Hauptgrund⸗ 
fäge der Freiheit. -- - Fr 

Sie fpriht nach dem vorhin ‚(unter IV, 2.) Ansgeführten für’s . 
Erfte für die moͤglichſte brüderlihe Rechtsg leichheit, zwar nicht 
für eine materielle, wohl aber fuͤr die formelle oder für dk 
Gleichheit vor dem Geſetz, das heift-für bie gleiche Heiligkeit des Rechts 
und für den gleichen Rechtsſchut, ſowie für die verhaͤltnißmaͤßige 
Gleichheit. Dieſes ift eine je nach DVerdienft, Bebürfnig und Kraft 
verhaͤltnißmaͤßig gleiche Zutheilung: der Vorthelle und Laſten oder der 
Pflichten und Rechte des gemeinſchaftlichen, bruͤderlichen, geſellſchaft⸗ 
lichen Lebens. Alte, alſo auch die MMegierenden, ſollen als freie 
Mitglieder eines und deſſelben brüderlihen Vereins wechſelsweiſe 
für. Aller Wohl ſorgen, wechſelsweiſe einander dienen, unter⸗ 
than fein und 'nüsen, Alle ſich als Brüder von gleicher höherer 
Würde und. Beftimmung achten und „Ehrerbietung” bemeifen *). 

Sie fpriht fuͤr's Zweite -ebenfo für die möglichfle gleiche 
Private und politifche Fretheit oder für die freie Beſtim⸗ 
mung über die eignen und bie freie gefegliche Mitbeftimmung über 
die gemeinſchaftlichen Angelegenheiten. Schon die Gleichheit enthält 
mittelbat bie Freiheit, ſowie dieſe ‘die Gleichheit. Nach Gottes Bild 
oder gottaͤhnlich und frei erfhaffen; mit ber Erkenntniß und der freien ° 
Wahl von Gut und Boͤſe, mit unſterblicher Würde und Beſtimmung 
find ale Menfchen gleich freie Mitglieder des menfchlihen Bruderge⸗ 
fhlehts und feiner gemeinfchaftlichen freien Vereine für ihre Lebens⸗ 
beftimmuna. Aus freier Liebe und nad) ihrer frei geprüften, gewiſſen⸗ 
haften Ueberzeugung fotlen fie fi immer: mehr zu vervolllommnen, 


») S. z. B. Ev. Joh. 13, 14 Röm. 12, 10, Epheſ. 4,235 5, 21. 
1 Petr. 1, 22 und oben S 473 Rote **) und S. 481 Rote *). 


488 Ehriitenthum. 


in Wahrheit und Gottähntichkeit zu wachſen fuchen, mit Gewiſſensfrel⸗ 
heit auch für die möglichfte Vervollkommnung und Begluͤckung der 
Ihrigen und aller ihrer Mitbürger.thätig wirken und gerade im. dies 
fer Wirkſamkeit ihr hoͤchſtes Gluͤck ſuchen. Selbſt ihr ;brüberlicher 
Erloͤſer verlangt nur freien Gehorſam dieſer freien Weſen durch Lehre, 
Wahrheit, Ueberzeugung und Liebe--beflimmt. Selbſt für bie Geſetze 
des goͤttlichen wie des kirchlichen Reiches fordert das Chriſtenthum nur 
freie, liebevolle, überzeugungstreue Befolgung. Durch einen feierlichen 
Bund, eine Erfüllung und eine Erneuerung jenes alten Bunbes, 
welhen Gott mit dem aus ber Suͤndfluth erretteten Menfchenges 
fchlechte, mit Abraham und dann mit feinen Nachkommen am Si⸗ 
nat und im Moabiterlande fo feierlich abfchloß, wird auch jege 
das neue Bürgerreht in dem göttlichen Reiche und die Verpflichtung 
zu feinen Gefegen begründet. Durdy Taufe und Glaubensbelenntnig 
erneuert fich dieſer Bund zwiſchen jedem Einzelnen und zwiſchen Chris 
ftus, der auch ‚feinerfeits. durch. dje Laufe in diefen Bund feierlich 
eintrat. Der Gehorſam ſelbſt . gegen die göttlichen Gefege, denen 
Alte doch mehr gehorchen folten, als allen menfchlichen, iſt alfo nad) 
diefen erhabenften Vorftelungen von ber menſchlichen Wuͤrde und Frei⸗ 
heit fuͤr die freien Menſchen nur ein freier auf eigner Prüfung und 
Ueberzeugung beruhender, vertragsmaͤßiger *). 

Wie koͤnnte nun nah allen dieſen Grundſaͤtzen und nach 
dem Vorbild des goͤttlichen Reichs und Regenten der menſchliche Ver⸗ 
ein unter freien und gleichen Bruͤdern anders, als frei und vertrags⸗ 
mäßig eingegangen und beftimmt werden? Wie Eönnten die freien, 
unter dem hoͤchſten göttlihen Gefeg nach ihrer freien Prüfung und 
Ueberzeugung ſtehenden Chriften eine andere, als eine folche frei aners 
Konnte, gefeßlihe fouvernine Gewalt chriſtlich finden und erficeben ? 
Wie Lönnten die chriftlihen Megenten in dieſen freien brüberlichen 
Vereinen. von ihren freien Mitbrüdern einen andern, als ebenfalls 
einen freien, durch beren freie Prüfung und Anerkennung begrünbdes 
ten, ald einen vertrags⸗ und verfaffungsmäßigen Gehorfam fordern 
wollen? Wie Eönnten fie hiernach und nad, jener Pflicht, die Wahrs 
heit frei zu laffen [S. 478 Note **)], wohl ihrer freien Mitmenſchen Ges 
danken beherrſchen, denfelben ihren eignen Willen als Gefeg und ihre 
Gedanken als Regel aufjwingen wollen? Wie möchten fie Diejenis 
gen, die fie als vollig gleiche Brüder achten, mit ber hoͤchſten Ges 
rechtigkeit und Liebe behandeln follen, ihrer Sreiheit und des moͤglichſt 
gleichen Antheild an berfelben und an dem gemeinfchaftlihen Vereine 


26 3 8. Mattp. 8, 13. 236, 38. Marc 14, 24. Lucas 1,: 68 
bie 73. 22, 20. Ev. Ich. 4, 1.19, 8,31. 15, 14,19. Apofelgefd 
2, 39. 3, 21-26, 6, 1—6. 7, 37. Rom. 15, 8. Hebr. 9 und 10. 
1 Betr. 1, 2. ©. au ©. 473 Rote e), ©. 478 Rote "), ©. 481 Rote *) 
und S. 487 Note *). Luther fagt: Bine verbo promittentis et sine fide 
suscipientis nihil potest nobis exsu cum Deo negotii. 


Chriſtenthum. 489 


berauben wollen? Wie duͤrften ſie ihnen das ihrer gleichen Wuͤrde 
und Beſtimmung entſprechende hoͤchſte menſchliche Gut, das kraͤftigſte 
Mittel fuͤr eigne und fremde Vervollkommnung und Begluͤckung ent⸗ 
ziehen und ſie als Herren deſpotiſch beherrſchen, ſie allen Entwuͤrdi⸗ 
gungen und Verderbniſſen der Knechtſchaft preisgeben? Am menigs 
ften dürften etwaige Beforgniffe für ihre Herrſchaftsrechte fie von 
Einraͤumung ‚der: Freiheit abhalten. Auch an- fie ergingen ja jene Ges 
bote der Achtung der Gleichheit und- Gerechtigkeit und der muthigen 
Liebe, welche zu jedem Opfer, felbft dem bes Lebens, bereit fein muß, 
für Begründung eined würdigen Zuſtandes ber Menfehen, und fie 
fordern ja auch Muth und Aufopferung von Seiten der Bürger für 
ihren Schug. An fie erging ausdruͤcklich das Wort: daß fie, eben 
wegen jenes bruͤderlichen Verhältniffes und weil .fie einem gemeine 
fhaftlihen Höheren Herrn und Gefeg unterfiehen, nun 
nicht mehr herrfchen follen nad der Weife heidnifcher Gewalthaber *). 
Freilich fchließt das Chriftentyum aus einem wirklich chriftlichen Verein 
nicht blos jede niederträchtige, Enechtifche, feige und. gegen bie gemein 
fhaftlihe Freiheit und Gefellfchaftseinrichtung gleichgältige, fondern 
auch jene eben bezeichnete -eigenfjichtige und revolutionaire und eine 
mißtrauifhe und lieblofe Gemuͤthsſtimmung der Megierten gegen ben 
Megenten ebenfo entfchieden aus, . als eine hochmüthige, eigenwillige 
Herrens oder befpotifhe Gefinnung von feiner Seite. Und vollends 
ift e8 ein feltfamer Sprung, wenn De La Mennais von dem 
Cat, daß der Eigenwille eines Regenten nicht fouverein fein bürfe, 
nun dahin gelangt, jeden einzelnen Bürger zum Gouverain zu ma= 
hen und die Erbmonarchie mit dem Chriſtenthum wie mit ber Frei⸗ 
heit für unvereinbar und, fowie Nouſſeau, nur sine unbedingte (alfo 
abfolute) demokratiſche Volksſouverainetaͤt und Stimmenmehr⸗ 
heitsgewalt für moͤglich zu erklaͤren **). Es iſt aber klar, daß aus 
dem erſten Satz vielmehr das folgt, daß bei allen Regierungs— 
formen das: Berfaffungs-Gefesg und die in ihm frei und 
allgemein und eidlich anerkannten hoͤchſten Grundfäge und Pflichten 
für das gemeinfchaftliche, geſellſchaftliche Leben fouverain fein oder 
herrſchen ſollen; fie, die eben wegen biefer freien. Anerkennung aud) 


*) Lucas 22, 25. 16, 15 und bazu Tertull. Apol. 21 unb Augustin. 
de civit. Dei 2, 21. 4, 4. 17, 14. 19, 23. 24. Auguftin fordert hier zus 
gleich einen Staat als eine societas aequalis nach bem consensus populi für die 
salus populi, In einer andern Stelle (Ap. 37.) fagt Zertullian vom Kai: 
fer: liber sum illi, Dominus meus unus est Deus omnipotens , idem qui et 
ipsins. Luther X, 539 und aͤhnlich XIX, 839 fagt: „Wer ein chriftlicher 
„Fuͤrſt fein will, ber muß wahrlich die Meinung ablegen, baß er herrſchen und 
„mit Gewalt fahren will. Verflucht ift alles Leben, das ihm felbft zu gut ges 
„ſucht wird! Verflucht alles Werk, das nicht in Liebe geht 1 

**) ©. dagegen oben Bd. I, &. 33 und Bd. II, G. 168, vorzüglich aber 
mein Syflem I, ©. 186. 


490 Chriſtenthum. 


mit dem goͤttlichen Geſetz Alter uͤberelnſtimmen werden. So tft ges 
trade durch dus Chriſtenthum die Monardyie, nämlich eine rechtliche 
und freie, mit gegenfeitiger freier Rechtsachtung und einem wahren 
verfaffungsmäßigen Friedens = und Vertrauensverhaͤltniß zwiſchen ber 
Megierung und den Regierten nur erft möglih geworben; vor 
ausgefegt nur, daß die Feinde der Fürften und der Völker nicht durch 
jene falſchen abſolutiſtiſchen und legitimiftifchen Principien den heid⸗ 
nifhen Krieges oder SHerren=- und Stlaven-Zuftand 
oder die Furcht davor zurüdführen, daß die Regenten nicht in dieſe 
Schlinge eingehen! - 

Es enthält ferner freilich auch felbft die Forderung: „bie moͤg⸗ 
„lich ſte Gleichheit und Freiheit in dem Staate zu erfireben“, außer 
dem, was über die würdige Begründung gefagt wurde, auch nody bie 
Beſchraͤnkung, 'daß beide mit der Natur einer feften gefeglichen Staates 
ordnung vereinbar bleiben müffen. Und diefe Beſchtaͤnkung kann 
nach ben befonderen Bildungszuftänden und Verhaͤltniſſen verfchiedener 
Völker allerdings verfchieden fein. Aber auch hier beguͤnſtigt das Chris 
ſtenthum im böchften Grabe wiederum die Freiheit. 

Keine ‚andere Meligion der Erde fordert nämlih fuͤr's Dritte 
fo unbedingt, wie die chriftlihe überall und ſchon duch die Pflicht, 
dem unenblihen deal der görtlihen Vollkommonheit und ber 
Verwirklichung eines- göftlihen Reiches nachzuſtreben, ein ſtetes, 
unermuͤdliches Fortſchreiten und Wachſen in aller Bolk 
tommenheit und thätiger Liebe, alfo auch in jener 
Vorwirklichung der freien hriftlihen Grunbfäße ber 
geſellſchaftlichen Ordnung”). 

Diefes große Geſet einer ſiets fleigenden, freieren, höheren und 
reicheren Entwidelung des Menſchengeſchlechts und des nothwendigen 
Untergangs berjenigen Staaten, Stände und Fürftnhäufer, welche, 
bei dieſem nothivendigen Lebensgefeg bes allgemeinen Fortſchreitens, 
fhon durch ˖ das bloſe Stilfftehen fich dem Zurüdgehen weihen, fpricht 
das Ehriſtenthum auch fhon In, feiner ganzen Außeren Krfcheinung, 
in feinee Worbereitung, . wie in feiner fortfchreitenden Entwickelung 
und Verwirklichung aus. Es wird dieſes Geſetz ausgeſprochen ober 
beſtaͤtigt durch die ganze weltgeſchichtliche Entwickelung der menſchlichen 
Cultur. Ihr Centrum iſt dag Chriſtenthum, die alte Welt ihre Vor⸗ 
bereitung, die neue ihre fortſchreitende Verwirklichung. Der Blick auf 
die Weitgeſchichte, auf den Orient, ſodann auf Griechen, Römer und 
Germanen, ehe fie Chriften wurden, zeigt ein unverkennbares, alls 
mäliges Vorrüden in der Ausdehnung ber Humanität und Freiheit, 
in jenem Grun bprincip ber Freiheit, der Vorherrſchaft der freien, 
prüfenden Vernunft, in jenen großen Grundlagen bderfelben, deu 
ſittlichen und freien Geſchlechts- und Familien— Verhaͤltnif— 


2) S. z. B. Epheſ. 4,15. I Zohank. 3,2 2 Theſſal. 3, 13. 
Matih 5,4 48. ad . . - 


Chriſtenthum. 491 


fen, ben freien Standesverhaͤltniffen, und bee Selbſtſtaͤndigkeit geiſt⸗ 
licher und weltlicher Gewalt, ſowie endlich in jenen Grundfägen 
ber Gleichheit, der Freiheit und des Fortſchritts. Doch hatten die 
gebildeten orientalifhen Voͤlker und die bes claffifchen Alterthums ges 
trennt ihre befonderen Aufgaben, einzelne Hauptfeiten der höheren 
menfchlichen Cuitur und Bervolllommnung, entwidelt.e Die orientas 
lifchen naͤmlich: vorzugsmeife die überirdifche Seite, die tiefere 
und erhabenere Auffaffung des. Goͤttlichen und des menſchlichen Ders 
hältniffes zu. demfelben, ba8..tiefere, geiſtigere: Weſen und die Idee 
der Einheit Gottes, die tiefere Liebe und die Schnfucht, die Demuth, 
Setbftentfagang und Aufopferung des Irdiſchen fuͤr das Ueberirdiſche, 
die höhere, unfterblihe Beftinmung des Menfchen. Und in bdiefen 
Beziehungen hatten bekanntlich auch die Juden feit ihrer babylonis 
fhen Gefungenfchaft ihre Bildung ‚etwas erweitert. Die Griechen 
und Römer dagegen bildeten: vorzugsweiſe die irdiſſche Seite, bie 
angemeffenen, irdiſchen Sormen:und Träger.:bes. höheren Lebens 
aus, nämlich. bie freie ſelbſtſtaͤndige Perföntichleit, ben Maren, praktis 
fhen Lebensverſtand und ‚die rege Thatkraft für das irdiſche Leben 
und feine praktiſchen Gefege und Bormen, für die Formen ber 
politifhen und rechtlichen Freiheit ober des Staats und des Mechte, 
fowie der Kunft und der MWiffenfhaft. Die höchften Geifter und die, 
größeften Unternehmungen bes Alterthums, Platon und feine Phie 
Tofophie, ‚Alerander und fein Zug. nad) Indien, unternommen 
in ber. ausgefprochenen Beftrebung ber. Vereinigung -indifcher und gries 
chiſcher Gultur, feine Eroberungen und orientalifhen Reiche, befonders 
auh fen Aleramdrien, ſodann fpäter das roͤmiſche Weltreich bes 
gruͤndeten eine Äußere Annäherung ‚und Vereinigung orientalifcher 
und clafſſiſch⸗alterthuͤmlicher Cultur. Da erſchien das Chriſtenthum, 
deſſen heilige Schriften ſchon der Sprache nach halb orientaliſch, halb 
griechiſch find, verdinigte in feiner goͤttlichen Weisheit die guten Fruͤchte 
diefer doppelten Gultur innerlidy unter fih ‚und mit feiner göttlichen 
Lebenskraft. Alle Lichtftrahten Höherer religiöfer, fittlicher und allge 
meiner praßtifcher MBeisheit,, welche irgendwo in eine Neligion oder 
Philoſophie dre Welt vereinzelt ‚hineingefallen waren, vereinigte bie 
Sonne bes neuen: Lebens. Aber fie veredelte fie, und, allein fledens 
108, reinigte fie diefelben von ben menfhlihen Schwaͤchen und Ber 
fehrtheiten, welche felbft die beften aller bisherigen religisflin und phis 
loſophiſchen Syſteme hinter hie :chen fo tiefe und erhabne, als allges 
meinverftändlihe, eben fo reiche, als einfache, Harmonifche chriftliche 
Lehre fo weit zurüditellen. Es gehören dahin z. B. felbfl-in dem Mo⸗ 
faismus jene Befchräntung des einigen Gottes auf einen eiferfüchs 
tigen, raͤchenden Nationalgott, der Volkshochmuth und Fremdenhaß, 
die Vermiſchung von Kirche und Staat, die Prieſterkaſte, der Ceremo⸗ 
nien= und Opferdienſt, die Leibeigenſchaft, das unvollkommenere Ehe: 
recht u. ſ. w. Es gehören dahin eben fo ſelbſt in der Platoniſchen 
Lehre ſo viele verkehrte, heidniſche Religionsvorſtellungen und eben⸗ 


492 Chriſienthum. 


falls die Vermiſchung von goͤttlichem und weltlichem Geſetz, die Zer⸗ 
ſtoͤrung des ehelichen und Familienlebens durch Welibergemeinſchaft, 
die Sklaverei und kaſtenmaͤßige Standeseinrichtung, die Knabenliebe 
u. ſ. w. Und waͤhrend ſelbſt ein Sokrates, gebildet und wirkend 
im Reichthum atheniſcher Culturmittel und mehr als dreißig Jahre 
lehrend, mit Schuͤlern, wie Platon und Ariſtoteles, doch nur 
eine wenig fruchtbare Schulgelehrfamleit begründete, gelang Chriſtus 
das größefte, das von allen übrigen ‚allein unerfiärt gebliebene Wun⸗ 
ber. Er, im armen Dandiwerkerftande geboren und erzogen, vermochte 
es in dem bilbungsarmen Salilda, tin etwas mehr als zweijaͤhri⸗ 
gem Unterricht völlig. unvorbereiteter Schüler, bie er vom Fiſcherkahn 
und Zinmnerplage.nahm, eine ſolche Lehre zu gründen... Es war 
diefe Lehre, welche, nicht unterflügt bucch Schwertesgewalt ober bie 
Mächtigen, fondem von ihnen auf das Aeuferfte verfolgt, an ihren 
Urheber mit ſchmachvollem Tode befkraft und bald im ganzen römifchen 
Meltreihe mit fehimpfliher Todesſtrafe bedroht und verfolgt wurde, 
die aber dennoch, troß der unerhörteften Verleumdung, Schmähung 
und marterpöllen und blutigen Bekaͤmpfung durch bie römifche Welt 
tnrannei, fortdauernd ihre tobverachtenden Anhänger wehrte, -und bins 
durch ihre geiftige Kraft nach dreihundertiährigem Kampfe alle Millio⸗ 
nen Bermohner fammt den Herrſchern des Weltreichs unter ihre bes 
fiegten, gläubig unterworfenen Verehrer zählte, die endlich jetzt, nachdem 
laͤngſt alle Trümmer des Nömerreiches zufammenfanten, mit ftet6 ftis 
fcher Lebenskraft von Tag zu Tag fiegreicher die ganze Dienfchheit, 
ihe Wiſſen und Leben umgeftaltet und beherrſcht. 

Die orientalifhen Völker aber und die Griechen unb Römer hats 
ten in Polngamie und Sklaverel zu tief verderbliche Grundlagen. Sie 
hatten bereits das fittliche Streben nah Kortfchritt in ihrer höheren 
Beftimmung, Griechen und Römer namentlih die Ausdehnung und 
Ausbildung ber politifchen Freiheit, .melches den beſſern Theil threr 
Gefchichte bezeichnet, aufgegeben, und waren durch die großen Erobe⸗ 
rungsreiche und durch die furchtbare Vermehrung des Ginnengenuffes 
und der Sklaverei in bdenfelben in eine folche tiefe,. ſtets wachſende 
Verderbnig und Fäulnig gefunten, daß fie unfaͤhig waren, das Mens 
fherngefchlecht feiner neuen großen Entwidelung, der immer vollkom⸗ 
meneren, reinen Menfchlicykeit, und immer mehr verebelten und auss 
gedehnten Freiheit und freien Vereinigung, ober, mit andern Worten, 
der immer vollkommeneren chriftlichen Geftaltung entgegen zu führen *). 


*) Keine Worte bezeichnen volftänbig und deutlicy genug dieſes im roͤmiſchen 
Weltreich ausgebildete Verberbniß, bie ſchaͤdliche Wirkung ber verfehrten heid⸗ 
nifhen Retigionsvorftellungen von ihren ehebrecherifchen,, räuberifhen, vaters 
mörberifchen Gottheiten, und von dem Zerfall aller religiöfen Bande und je: 
der Art von Volksbildung, als man mit Epikur biefe Vorftellungen immer 
allgemeiner als „nihtswürbigen Wahn” erlannte, und als zugleich im- 
mer mehr jede würbige öffentliche politifche Verhandlung verftummte; ferner 
jene ſchamloſeſte Gittenlofigkeit und Schwelgerci bee Großen und Reichen, unb 


Ghriftenthum. 493 


Darum rief, faft gleichzeitig mit der Erſcheinung des Chriftenthums, 
die Vorfehung das früher unbekannte, unverborbene, jugendlich kraͤf⸗ 
tige, bildungseifrige und freiheitsliebende Gefchlecht der Germanen, 
weiches ſchon urfprünglich eine Anlage zur Verbindung jener beffern 
orientalifhen und jener beſſern claffifh=alterthumlichen Lebensrichtung 
in ſich zeigte, aus dem Dunkel feiner Wälder auf die Bühne ber 
MWeltgefhichte und in den Kampf mit der rämifhen Welttyrannei, bie 
es fiegreich zerfchmetterte. - Ihm vertraute die Vorſehung jegt zugleich 
mit dem Chriftenthbum das Erbe ber ganzen menfchlihen Culturbeſtri⸗ 
bungen, welche es von ben befiegten bisherigen Weltherrfcyern freudig 
annahm. Ihm wurde die. Aufgabe ber Gründung ber neuen, chriſt⸗ 
lihen Welt und ihres ſtets größeren Kortfhreitens der 
Menfhheit in Freiheit und Cultur. Und es übernahm die⸗ 
feibe, wurde für fie und durch fie ungleich mehr, als je ein anderes 
Bolt der Erde aber auch auf eine der Freiheit eben fo viel guͤnſti⸗ 
gere Weiſe weltherrfchend, und theilte immer volllommener in allen 
feinen Reichen die Güter der Freiheit und Eultur, die früher bei ben 
Gründungen ber Staaten auf Polygamie, Sklaverei und Provinz- 
Helotismus nur meitaus ber geringfte Theil befaß, allen Millioncu 
ihrer menfhlihen Bewohner zu *). 

Alle hriftlih germanifhen Völker und Staaten und ihre Fürftens 
haͤuſer zeigen fich feitdem bluͤhender und fräftiger in dem Maße, als 
fie, ihrer großen Beſtimmung treu, unter Leitung chriftlicher Grund: 
ideen fortfchreiten in Veredlung, Ausdehnung und Befeſtigung ber 


bas Elend ber bebrüdten, beranbten Voͤlker; endlich bie entſetzliche Vermehrung 
. und die immer fcheußlichere @eftatt der roͤmiſchen Sklaverei, feitbem immer mehr 
die ſchwelgeriſchen Mächtigen ganze Provinzen zu ihren Landgütern machten, 
deren Bewohner ihrer Freiheit oder ihres ECigenthums beraubten,, fie von Skla⸗ 
venheeren bebauen ließen unb dieſe graufamer behandelten, als je die Veftien 
von den Menſchen behandelt wurben. ine Schilderung biefes Verberbens gibt 
ausführlih Gibbon, kurz und geiftreich auch die angeführte Hug’fche Ab⸗ 
handlung. Jene Sklavereiverhaͤltniſſe veranfchaulicht fehen die Vergleichung 
einiger Stellen aus den Quellen: Appian, 1, 7. Flor. 2, 19. Senec, ep. 
89 u. 114, de benef. 7, 10. de ira 8, 40. Juven. 6, 222, Cicero in Verr. 10, 
48. Plin. h. n. 7, 3, 5. Strab. p. 663. ed. Casaub. In ſo ſchauder⸗ 
vollem Zuftande konnte das Chriftenthum ville Binzelne erheben und fittlidy 
machen. Es Eonnte burdy feine fittliche Lehre und Zucht für bas Volk und die 
Sklaven, ed konnte burdy feine Grhebung, Troͤſtung und Beſchuͤgung der Skla⸗ 
ven, der Frauen, ber Unterbrüdten aller Art, durch feine allgemeinen , reich⸗ 
lichen Armenfpenden für das vorhandene Verderben eine unendliche Milde: 
rung, für das Fortfchreiten beffelben einen Damm begründen. Aber das römifche 
Bolt, als foldhes, Konnte die Welt nicht neu und frei gefallen. Das 
zeigt ſchon der Blick auf die taufendjährige Geſchichte bes hriktich gewordenen 
griechiſch⸗ römifchen Kaiſerthums, welche, trog feinee von freier Lebens: 
eraft verlaffenen alerandrinifhen und byzantinifhen Ge» 
lehrſamkeit, Voltaire eine Schande für das menfchlicye Geſchlecht nannte. 

*) Eo wurde alfo buchftäblich nach Matth. 21, 43. die Gründung „de 8 
Reiches Gottes einem andern Wolle übergeben, weldes bef: 
fere Fruͤchte brachte.“ 


Ct 


494 Chriſtenthum. 


Freiheit, und in ſtets innigerer, harmoniſcherer Verſchmelzung und 
höherer Entwickelung aller jener beſſeren Culturelemente, oder der wahr⸗ 
haft guten Seiten und Früchte des orientalifchen, bes alterthuͤmlichen 
und des fie national vermittelnden germanifchen Lebens. Sie erfcheis 
nen dagegen ſtets elender oder dem Rande des Abgeundes näher in 
dem Maße, als fie, fo wie die Spanier und die Portugiefen felt Phis 
lipp IL, oder fo wie die Stuarts, die Bourbone und wie Na 
poleon, jene hohe Beſtimmung verlegen, auf Freiheit und Fortſchritt 
verzichten und duch Stiliftand oder pofitive Unterbrüdung fie anfeins 
den, gleicyviel dann, ob fie dieſes thun durch die rohe Kriegsgemwalt, 
oder durch die hierardhifhe oder bie Polizei: Inquifition und deren 
Umftridung und Bergiftung bes öffentlihen und Privatleben, ber 
Miffenfhaft und der vertraulihen Mittheilung, der Univerfitäts s wie 
der Kirchenlehre. 

So kann denn alfo wahrlid Beine meife, feine chriſtliche 
und Feine deutfche Regierung, gleich jenen geflürzten engliſchen und 
franzöfifhen Königefamilien, das unglüdliche, frevelhafte Wort bes 
Stilljtandes oder des MWiderflandes gegen den Fortſchritt der Freiheit 
und freien Entwidelung und Vervolltommnung, jenes ſchickſalsvoll ges 
mwordene bourbonifhe Wort: „bis hierher und niht weiter” 
ausfprechen wollen | 

Ja allerdings, das Chriftenthum heiligt- fo wie die gefegliche Orb⸗ 
nung und die Harmonie, fo auch die Regelmaͤßigkeit und Stetigkeit 
‚In der Entwidelung. Aber es till fie body nur in dee innigen Ber 
bindung mit ber möglichften Freiheit und mit dem freien Kortfchritt, 
eben fo wie diefe nur in ber Verbindung mit ber Achtung für jene. 
Die einen ſchwachen menfhlihen Spfteme und Parteien firebten und 
wirkten für die höchfte Freiheit; aber fie untergruben fie felbft, weil 
ſie die Einheit, die Harmonie oder die Ordnung vergaßen. Die ans 
dern dachten nur an die Ordnung und bie Sicherung ber Regierungss 
gewalt; aber fie zerftörten fie durch die Anfeindung ber Freiheit und 
des freien Fortſchreitens. Beide wußten fie nur dußerlich, nicht tief im 
Innern des Menfchenlebens zu gründen und zu einigen. In dem 
Hoͤchſten und Ziefiten, — in dem wahren, in dem lebendigen Chriftens 
thume, in diefer göttlichen und doch fo menfchlichen Lehre — da loͤſen 
ſich alle Räthfel, da verſoͤhnen ſich alle einfeitigen Gegenfäge und Pars 
teiftrebungen auf das Volllommenfte. Hier findet alles Gute und Moths 
wendige feine freie und frieblihe Einigung und feine unfterbliche Les 
benskraft. 

Die reinſte, tiefſte Moral mußte zunaͤchſt die innere, ſittliche Ge⸗ 
ſinnung, nicht aͤußere Werkheiligkeit und unmittelbare politiſche Geſetze 
vorſchreiben. Aber dieſe tiefe und reine, lebendige praktiſche Kraft der 
ſittlichen Geſinnung erzeugt eine lebenskraͤftigere Verwirklichung jeglichen 
guten Werks und eine wuͤrdigere weltliche Ordnung, als es ein un⸗ 
mittelbares aͤußeres Geſetz fuͤr ſie je vermochte. Jene hoͤchſte, ſittliche 
Geſinnung verſagt das eigenſuͤchtige Streben nach dem Erwerb und 


Chriftenthum. Eisalpiniſche Republik, 495 


Genug eigner Gluͤcksguͤter und Rechte und jeden die Achtung und Liche 
gegen Gott und die Mitinenfhen vergefienden Stolz und Hochmuth. 
Aber auch hier bietet das Chriſtenthum dem fittlichen Menfcyen überreichen 
Erſatz nicht blos durdy die höheren Güter bes Gefühle einer frei mit 
dem göttliden Willen vereinigten Gefinnung und fittlihen Mürde, 
fondern auch durch die Pflichten aller Mitmenfchen gegen ihn, fo wie 
durch fein eignes Behaupten feiner Güter, feiner Mechte und feiner 
Wuͤrde, fomweit es zugleich höhere Pflichten gebieten, ſoweit er mit 
biefer höheren Weihe und Kraft für fie fireben und 
£ämpfen fol! und darf. Ganz eben fo nun, mie folchergeftalt 
biefe erhabene Lehre, die reinfte und tiefſte Sittlichkeit ber Gefinnung 
mit allem ‚guten Außern Werd und dem mürdigften meltlichen Recht‘ 
vereinigt und mit ber liebevollen, fittlihen Entfagung und Demuth die 
glüdlichite Befriedigung und Behauptung der eigenen Würde, fo ver 
einigt fie auch wijrklich in allen Beziehungen und nad) jeder Seite 
bin mit der möglichften Harmonie und. Ordnung ber Entwidelung 
den Eräftigften Kortfchritt wie die moͤglichſt größefte Freiheit. Mit ſei⸗ 
nen hohem Ideen und dem Auffhwung zu ihnen,- weichen e8 den Men 
fchen ertheilt, fobald ein Strahl beffelben ihr Gemüth wahrhaft erleuch: 
tet und erwärmt, befimpft das Chriftenthum, ale den Todfeind aller 
"wahren, aller chriftlihen Zugend, allen Materialismus, den der 
fpotifhen und ariftofratifchen, wie den fervilen und ben jacobinifchen 
Materialismus, weiche fimmtlid) wir neuerlich befonders auffallend 
in Frankreich mechfeleweife um den feldfifüchtigen Beſitz und Genuß 
ftreiten und bie Freiheit, wie die Ordnung gefährden fahen, und welche 
jest in dem überall in der Welt begonnenen oder vorbereiteten Kampfe 
zrifchen der erwachten felbftftänbigen Vernunft und der Liebe für Frei⸗ 
beit und Fortſchritt, und zwiſchen dem Widerſtand bie beklagenswerthe⸗ 
ſten Erſcheinungen herbeifuͤhren koͤnnten. 

Auf dem wahren Chriſtenthum vor Allem oder auf einem immer 
vollſtaͤndigeren Siege ſeiner erhabenen Grundſaͤtze und Geſinnungen 
ruhen in dieſem Kampfe unſere Hoffnungen fuͤr die Erhaltung und die 
fortſchreitende Entwickelung der Freiheit und Cultur in Deutſchland und 
Europa, in dem unter Einfluß chriſtlicher Cultur ſich immer mehr ei⸗ 
nigenden menſchlichen Geſchlecht. Seine Grundſaͤtze fordern dieſe Frei⸗ 
heit und Cultur und ihren Fortſchritt. Wohl mit Recht alſo durfte 
der groͤßte Geſchichtſchreiber unſeres Zeitalters, der edle Johannes 
Müller, feine Betrachtungen über die Anforderungen bes. Chriſten⸗ 
thums an unfere politiſchen Beſtrebungen mit den Worten fchliefen: . 
„Wenn wir die Sorge für die Freiheit verfäumen, fo will ich nicht 
„einmal fagen, daß wir unwuͤrdig find, Bürger dieſes Welttheils, und 
„unmürdig, deutfche Männer zu heißen: wir Eönnen Leine Chriften fein.” 


Ä C. Th. Welder. 
Churfuͤrſten, ſ. Kurfuͤrſten. 

Cicero, ſ. roͤmiſches Recht. 

Cisalpiniſche Republik, ſ. Italien. 


496 Gitabelle. Civilliſte. 


Gitadelle &o nennt ıman eine Heine Feſtung, die in eine 
größere eingefchachtelt oder einer folhen angehängt if. Eine Feſtung 
ohne Gitadelle ift wie ein Baſtion ohne innere Verfchanzung, wie eine 
Armee ohne Referve. Sie kann nicht auf das Aeußerjte vertheibigt wer⸗ 
den und. ift gegen bie Folgen eines erften Unfalls nicht gehörig gefichert. 
Napoleon fagt: die Befagung einer Feſtung iſt eigentlich, die Beſatzung 
ihrer Citadelle, und wenn diefe fehlt, fo iſt die Feſtung felbft kaum eis 
ner Beſatzung mwerth. | 5 

Diefe Anficht von ben Gitabellen iſt aber nicht die urfprüngliche: 
die Gitadellen hatten von jeher die Bedeutung von Zwingburgen, 
das heißt, fie waren von jeher dazu beftimmt, die zur Empdrung geneigte 
oder feindlich gefinnte Bevölkerung der großen Städte im Baum zu hafs 
ten. Die beiden Citadellen, welche in ber allerneueften Zeit von ben Rufs 
fen bei Warfchau hergeftellt worden find, haben Beine andere Beflimmung. 

Heinrich IV., der voltsthümlichfte und bärgerfreundlichfte aller frans 
zöfifchen Könige, wollte nichts von folhen Zwingburgen wiſſen; er fagte: 
„Meine Citadellen find die Herzen meiner Unterthanen.” Dagegen bat 
Ludwig XIV, in den von ihm eroberten Provinzen fofort ine Menge 

von Gitadellen aufführen laffen. 
| Ein Volk, das auf feine Freiheit eiferfüchtig iſt, duldet Feine Cita⸗ 
dellen; die franzöfifche Megierung hat ihr wohlerroogene® und fehr zweck⸗ 
mäßiges Project, die Stadt Paris durch ein Spftem von felbftftändigen 
Forts befeftigen zu laffen, mieder aufgeben müffen, weil die Nation in 
diefen Forts eben fo viele Gitabellen, Zwingburgen oder Baſtillen zu 
fehen glaubte. | v. Theobald. 

Civil⸗Etat, ſ. Budget. 

Civil⸗Gerichtsordnung, ſ. Gerichtsordnung. 

Civilliſte, Privat- oder Schatull- oder Cabinets⸗ 
Gut. Krondotation. Zu den weſentlichen Staatsausgaben ge⸗ 
hoͤrt natuͤrlich in jedem Staate auch die Beſtreitung des angemeſſenen 
ſtandesgemaͤßen Unterhalts des Regenten, in einem erblichen Fuͤrſten⸗ 
thum namentlich auch der erbberechtigten fuͤrſtlichen Familie, ſoweit nicht 
bereits zu dem Zweck dieſes Unterhalts beſtimmte fuͤrſtliche Familienfidei⸗ 
commiſſe geſorgt haben. In den germaniſchen Staaten wurde der Un⸗ 
terhalt der Fuͤrſten und der fuͤrſtlichen Familie, wie uͤberhaupt der regel⸗ 
maͤßige Aufwand fuͤr die Regierung der Regel nach beſtritten aus den 
Domainen, den Kron⸗, Staats⸗ oder Kammerguͤtern, das heißt, dem 
lehnbaren oder allodialen Grundeigenthum und den damit verbundenen 
grundherrlichen nutzbaren Gerechtſamen, deren Ertrag zu dem Staats⸗ 
aufwande beſtimmt war. Von ihnen unterſchieden ſich die Privat⸗ 
oder Schatull⸗ oder Cabinets-Guͤter, worunter man das reine 
Privateigenthbum ber Regenten oder auc) der fürftlichen Familie verftand. 
Dody wurden in der Zeit der Feudal- Anarchie und Defpotie häufig, bie 
Domninen mit Privatgütern ber Fürften verwechſelt, und fo, wie ja die 
Staatsgewalt zum Theil felbft, als ein fibeicommiffarifches Haus: und 
Samilicneigenthum behundelt. Namentlich aber wurden auch oftmals 


Civilliſte. 497 


Theile ber Staatseinkuͤnfte und der Staatsdomainen zu fuͤrſtlichen Fa⸗ 
milienfideicommiſſen gemacht und gerade für den Unterhalt der fürftlichen 
Samilie beſtimmt. Wo und fobald ſich indeß ein wahrer geordneter 
ftaatsrechtlicher Zuftand und insbefondere eine freie ftändifche DVerfaffung 
ausbifdeten, da mußten dieſe Verhältniffe geregelt und die Einkünfte der 
Domainen dem Staate gefichert, werden. Zugleich aber zeigte ſich das 
Bebürfniß, die jährlihe Summe, welche zur ftandesmäfigen Erhaltung 
bes Fürften und feiner. Familie, namentlih zur Beſtreitung feines Hofe 
ſtaates, nöthig ift, und worüber der Staat und die Stände keine befons 
dere Nechnungsablage zu fordern haben, geſetzlich feftzuftellen und von 
dem andern Staatenufmand und Staatsgeld abzufondern. Die gefeglih 
beftimmte Summe, welche der Fuͤrſt jährlich als foldyer aus den Staates 
einkünften für feinen und feiner Samilie flandesgemäßen Unterhalt bes 
zieht, ift die Givitlifte. Mit derfelben ift denn gewöhnlich verbunden 
eine Krondotation von Schlöffern, Gärten und Mobilten, namente 
lic) auch Kronfleinodien, welche der Regent nad) den Grundfägen von 
ber Nutznießung oder befondern Beflimmungen verwaltet und benutzt; 
oft auch noch eine Befreiung von Öffentlihen Abgaben. Zuerft warde 
1688 in England eine Civilliſte für das königliche Haus feltgefegt, das 
mals 120,000 Pfund Sterling und einige Nebeneinkünfte, von denen ber 
König aber noch viele Staatslaften, namentlidy Befoldungen. wahrer 
Staatebeamten, zu beftreiten hatte. Im Jahr 1815 betrug die englifche 
Civilliſte, obgleich ein Theil der früheren öffentlichen Laften von ihr ges 
nommen war, mit Inbegriff der Summen für alle Prinzen, ungefähr 
zwei Millionen Pfund oder „A, des reinen Staatseinkommens. Fried⸗ 
rih der Große, das Beifpiel Englands, als vortreffliher Ordner des 
Staatshaushalts, befolgend, beftimmte fich felbft eine Giviltifte von nur 
220,000 Reichsthalern für feinen ganzen Privataufmand mit Einſchluß 
der Geſchenke. Auch in Frankreich wurde in der franzöfifchen Revolution 
eine Givillifte beftimmt. Die des Kaifers betrug fpäter mit der Krondo⸗ 
tation und mit der. Summe für die Prinzen 3? Millionen Franken oder 
A der Staatdeinnahme. Die Civillifte des jegigen Königs beträgt nur 
18 Millionen Franken, ungefähr gU, der jegt erhöhten Staatseinnahmen. 
In den conftitutionellen Staaten Deutfchlands wurden die Civilliften 
auf die verfchiedenfte Weife feitgefeht. 
Rechtlich läßt fih im Allgemeinen nur fo viel fagen, baß bie 
Verwendung der Givillifte, foweit fie nicht bei der gefeglichen Feſt⸗ 
ftellung und Bewilligung mit beftimmten Laften und Bedingungen bes 
legt ift, 3. B. mit der Verpflichtung zu beftimmten Apanage - Summen 
(f. Apanage), ganz dem Ermefien des Regenten anheimgeftellt iſt, 
und daß darüber Leine Rechnungsablage gefordert werden kann. So⸗ 
dann aber müffen aus der Civillifte und bem etwaigen Privatvermögen 
des Fürften alle Koften für das Leben ber fürftlihen Samilie, für bie 
ganze Hofhaltung und Hofdienerfhaft und alle perfönlihen Schulden 
des Fürften beftritten werden, foweit fie nicht ausnahmeweife befonders 
auf die Staatscaffe übernommen werden. Sofern biefes nicht gefchab, 
Staats »Leriton. III. 32 


498 Civilliſte. 


hat eben das Geſetz uͤber die Civilliſte den Staat von weiteren Anſpruͤ⸗ 
hen an denſelben freigeſprochen. Endlich laͤßt ſich nach dem fruͤheren 
deutſchen Staatsrecht *) ſagen, daß, ſoweit die Domainen nicht ausrei⸗ 
chen fuͤr die Staatsbeduͤrfniſſe, der Regel nach eine Bewilligung der 
Staͤnde oder des Volks zu den Steuern, alſo auch zur Begruͤndung ei⸗ 
ner Civilliſte nöthig war, welches vollends in ben Repraͤſentativ⸗Verfaſ⸗ 
fungen anerkannt ift. 

In politifher Hinficht entfteht Fürs Erfte die Frage: Iſt es 
vortheilhaft, daß überhaupt eine Givillifte abgefondert werde von ben 
übrigen Staats-Einnahmen und Ausgaben? Hier möchten etwa nur bie 
Anhänger des Hrn. v. Haller, welche aud) in biefem Punkte bie rohen 
anarchiſchen Anfichten des Mittelalters reftauriren, ja weit überbieten wols 
len und hiernach alle Negierungsrechte, alfo auch die Stantseinkünfte, ein 
Drivatglüdsgut des Megenten nennen, wiberfpredhen. Das Staatsrecht 
bes Rechtsſtaates aber trennt das Öffentliche, lediglich für das Staatsin⸗ 
tereffe beftimmte Recht von dem Privatrecht und bie Privatverhältniffe 
des Fürften von der Verwaltung der Sffentlihen Angelegenheiten. Aber 
auch bei einer defpotifchen Anficht ift doch Ordnung in dem Finanzhauss 
halte vortheilhaft für den Fürften ſelbſt. Auch ift es hoͤchſt raͤthlich, daß 
die Mittel für fürftlidye Gnadenbezeugungen und Lurusausgaben irgend 
eine beftimmte Grenze haben. Der Fürft wird dadurch ſelbſt gegen laͤ⸗ 
flige und zulest ihm und dem Lande verderbliche allzugroße Anforde: 
rungen feiner Familie und feiner Umgebung gefhügt und weiß, mas 
nach dem wohl überdachten gefeslihen Mapftab billig und, ohne bem 
Staatswohl zu nahe zu treten, für feine beliebigen Privatausgaben ver 
wenbet werben kann. Er hat auch nicht das unangenehme Gefühl, dab 
bei feinen Ausgaben etwa das Volk immer aufs Neue denke, das und 
jenes, was ihnen auf ihrem Standpunkt vicleicht eine unnoͤthige Aus⸗ 
gabe duͤnkt, werde fie, werde arme Bürger auf's Neue bedrüden.. 

Es entfteht die zweite politifhe Frage: Soll die Givillifte groß ober 
klein fein? Hier müffen die befonderen Kräfte des Landes, die Beduͤrf⸗ 
niffe des fürftlichen Haufes, auch die etiwa bei Ueberlaffung von Einnah⸗ 
men und Gütern von mehr oder minder privatrechtlicher Natur an die 
Staatscaffe zuweilen ausbedungenen Rechte berüdfichtigt werden. Auch 
läßt fi) ebenfo im Allgemeinen fagen, daß es für den Fürften feibft 
nicht gut ifl, wenn die Givillifte zu groß ift, etwa, flatt, wie in England, 
bei immer nody großen Laften derfelben, „A, “oder fo, wie in Krank 
reich, 345 der reinen Staatseinnahmen zu betragen, J oder „A, bers 
ſelben verſchlingt. Es wird diefes leicht Mißſtimmnung erregen, umb bie 
erfte Aufgabe für die Politik eines Erbfürften ift es, nicht einen Augens 
blid zu vergeffen, daß das höchfte Intereffe und Wohl feines Haufes, 
feiner Nachkommen ganz zufammenfällt mit dem Wohle bes Landes, 
mit feinem Gluͤck, mit feiner Zufriedenheit. Uebrigens aber möchte eine 


— — — — 


) ©. oben Beeten und Haͤberlin, Handbuch des beutfhen Staats: 
rechte IH. II. ©. 267. 


Civilliſte. 499 


Knauſerel von Seiten bed Volks und ber Stände bei Bewilligung ber 
Giviltifte befonders übel angebrmht und wahrhaft unpolitifch fein. Frei⸗ 
lich haben fich die Sitten der fürftlichen Höfe in der Beziehung gegen 
früher fehr gebeflert, daß man jego nicht mehr in großem Lurus bie 
fürftlihe Würde findet. Indeß kann doch natürlih in Heinen Erbfuͤr⸗ 
ftenthämern fhon ber Natur der Sache nach eine Givitfifte nicht in dem 
Verhaͤltniß, wie die Einnahme des Heinen Staates zu dem großen, fi 
vermindern. Ein Theil der Ausgaben auch des Leinen Erbfuͤrſten im 
Verhältniß zu dem des größeren Staates mindert.fid) durchaus nicht 
in gleichem Verhaͤltniß. Auch für das Volk und feine Stände muß es 
eine Hauptaufgabe der Politik fein, den Kürften und das fürftliche Haus 
volltommen zufrieden und gluͤcklich bei der Verfaffung zu wiſſen. Stets 
lich hat man, namentlidy in Frankreich, gefagt, als die Civilliſte des jegis 
gen Königs faft um die Häffte geringer beftimmt wurde, wie die von 
(hartes X., daß es geführlich fet, wenn ber Koͤnig über fehr große 
Summen bisponiren koͤnne, indem dadurch leicht" gewiffe Beftechungen 
moͤglich würden. Mill man aber einmal ſolchen Gedanken ein: Gewicht 
einrdumen, alsdann koͤnnte man Tagen, daß es noch viel geführlicher fet, 
wenn der Regent ſich etwa veranlagt fühlte, fi) aus den Staatsmitteln 
vielleiht ungleich größere Summen heimlich zu verfchaffen und bie 
Staatsämter und andere öffentliche Intereſſen, Rechte und Nachtheile 
zur Beftehung zu verwenden. Ein Erbfürft muß außer den Mitten 
zu einem ftandesgemäßen, heiteren färftlichen Leben Insbefondere auch bie 
Mittel haben, ein Wohlthäter und Troͤſter ber Ungluͤcklichen in feinem 
Lande, ein Förderer und Echüger ber Künfte und Wiſſenſchaften zu fein, 
Dabei gewinnt das Land ja ſelbſt. Was iſt doch — fobald fie nicht auf 
unwuͤrdige MWeife erftrebt wird — die gluͤckliche Vereinigung des Fürften 
mit dem Volk und feiner Freiheit, was die Abfchaffung einer einzigen 
verderblichen Unordnung oder hemmenden Mafregel im Lande, was -ein 
Zuwachs an Kraft und Leben erwedender Freiheit. nicht merth für ein 
Bolt, im Vergleich mit der Erfparung einiger Zaufende von Gulden, 
bie zuletzt body wieder dem Lande zu Gute gelommen wären! 

Eine dritte politifche Frage ift die: Soll die Givitlifte für jede Fl⸗ 
nanzperiode neu, ober foll fie lebenslänglich oder für die Dauer der Re⸗ 
sierung eines Fürften oder gar erblich für alle Zeiten beftimmt werden? 
Mir ftehen keinen Augenblid an, auch hier wieder das in dem conflitus 
tionellen Mufterftaate für Europa, das in England und nad) Englands 
Beifpiel auch in den meiften beutfchen conftitutionellen Staaten einges 
führte mittlere Syſtem oder die Beftimmung für die'ganze Regierungs- 
dauer vorzuziehen. Kine jährlidy oder für jede Finangperiode neue Be⸗ 
willigung macht den Zürften zu abhängig von bem guten Willen ber 
Stände in einer feine ganzen perfönlichen Verhältniffe betreffenden wich⸗ 
tigen Beziehung, abhängiger felbft, wie die meiften Beamten, deren 
ftandesmäßige Einnahme lebenslänglich gefichert ift. Eine ſolche unnas 
türliche ‚Abhängigkeit, weit entfernt, der Freiheit vorteilhaft zu fein, 
führt zu verderblichen Mitteln, die fürftlichen Snteesffen zu fichern, 


500 Gioiltifte, Cbilrecht. 


und zu nachtheiligen Golliffionen mit ben Ständen. Das haben bie 
Stände in Baiern..eufahren, ehe fie auf dem legten Randtage bie fruͤ⸗ 
ber für jede;-Zinanzperiode neue Bewilligung der Civillifte durch die 
Staͤnde aufhoben, Aber binlängliche Gründe, von der englifhen Ein: 
richtung -abzugehen und: die lebenslaͤngliche Bewilligung erblich zu mas 
chen,. koͤnnen wir im Allgemeinen nicht finden. Die Verhältniffe, der 
Werth des Geldes. und. der Dinge, die Einnahmen des Staats und 
die Bebürfniffe. der. fuͤrſtlichen Familie verändern fih. Veraͤnderungen 
in ber Beſtimmung der Civilliſte, Mevifion ber Einrichtungen auch in 
diefer Beziehung werden: fletd von Zeit zu Zeit noͤthig. Ein paſſen⸗ 
derer, im jeder Hinſicht günfligerer Zeitpunkt für eine beiderfeits be: 
friebigende neue. Beſtimmung laͤßt ſich aber wohl nicht finden, al& ber 
Megierungsantritt des neuen Zürften. In der Zmwifchenzeit aber foll, 
fo wie in England, und nad diefem Mufter in mehreren beutfchen 
conftitutionellen Staaten, 3. B. in Baden, keine Erhöhung ohne 
Bewilligung der Stände ſtattfinden und keine Minderung ohne Eins 
willigung des Regenten. Mohl in feinem Staatsrecht des Könige 
reiche Wuͤrtemberg (©. 250.) legt die besfallfigen ähnlichen Beſtim⸗ 
mungen ber würtembergifchen Verfaſſung fogar fo fireng aus, baß je 
der Antrag auf Erhöhung und Erniebrigung der Givillifte, jebes 
Kütteln an berfeiben während der Dauer einer Regierungsperiode gaͤnz⸗ 
lich ausgefchloffen.. bleiben muͤſſe. Nun ift zwar nicht zu leugnm, daß 
ed gut ift, wenn im: Allgemeinen dieſes als Princip anerkannt wird, 
weil fonft immer jene fatalen Gollifionen, Ausübung eines moralifchen 
Zwangs und fchädlihe Verhandlungen ftattfinden koͤnnen. Doch wird 
ſich bei fehr bedeutenden Veränderungen der WVerhältniffe nicht wohl 
zum Voraus jede möglihe Veraͤnderung der Civillifte abfolut aus: 
fhliegen laſſen. — Die Litteratur über Cabinets- und? Schatulle 
güter und Civilliſte enthält Klüber öffentl. Recht $. 251. 
332 — 35. Ueber die Geſchichte und den Nugen der Givilliften ent: 
hält eine Abhandlung in Klübers Staatsarhiv Heft IV. 
©. 453. gute Bemerfungen und Motizen. .C. Th. Welder. 

Civilrecht, buͤrgerliches Recht; Civil-oder buͤrger⸗ 
liches Rechtsgeſetz und Geſetzbuch. Civilrecht oder buͤrgerli⸗ 
ches Recht ſind vieldeutige Worte; es thut alſo, um eine Lehre uͤber 
Natur oder Charakter, Urſprung oder Fundament, Inhalt und Um⸗ 
fang dieſes Rechtes aufzuſtellen, zuvoͤrderſt noth, ſich über den damit 
zu verbindenden Begriff zu verſtaͤndigen, oder, inſofern verſchie⸗ 
dene — mehr ober meniger zu rechtfertigende — Begriffe davon 
gäng und gäbe find, denjenigen, welchen man jedesmal im Auge hat 
oder auf. weldyen eine Lehre ſich beziehen fol, mit möglichfter Beſtimmt⸗ 
heit anzugeben. 

Das roͤmiſche Recht ftellt für das bürgerliche Necht den bios 
auf den Grund und die Sphäre ber Gültigkeit fich begiehenden 
Begriff auf, daß es dasjenige Recht fei, welches cin Staat ober 
ein Volk als das für fih und feine Angehdrigen gültige anerkannt 


Civilrecht. | 501 


oder ftatuirt hat, und zwar bios Infoferm e8 von dem allgemeinen Na⸗ 
tur= und Voͤlkerrecht (duch Dinzufügung obet Wegnahme, überhaupt 
nähere Beſtimmung oder Mobificitung) abweicht. (Quod’ quisqus po- 
pulus ipse sibi jus oonstituit, id ipsius proprium jus aivitatis est, vo- 
caturque jus civile. Inst. L. I. T. II. $. 1.° Naturalia jura semper 
firma alque immutabilia permanent; ea vero, quae ipsa sibi quae- 
que civitas oonstituit, saepe mutari solent, vel tacito oonsensu po- 
puli, vel alia postea lege lata. Ibid. 6. 11. Jus civile est, quod ne- 
«ue in totum a haturali vel geutimn regedit, neo per omnia ei servit. 
Digg. 1.1.6.) Das römifche bürgerliche Recht war hiernach der 
Inbegriff der vom roͤmiſchen Volk oder ben römifhen Rechtsgeſetz⸗ 
geben als für die Angehörigen des cömifhen Staates (ober 
im engern Sinn blos für die des römifhen Buͤrgerrechts fi 
Erfreuenden) gültig anerkannten oder ſtatuirten, alfo jedenfalls: pofitiv 
feftgeftellten Rechte. Es ward hiernady entgegengefegt dem jus natu- 
rale et gentium, welches nämlid) — als entweder fhon auf der 
thierifchen Natur ruhend ober auf der allgemeinen Menſchenvernunft 
begründet — ber Anerfennung aller Völker, nicht blos eines einzel: 
nen theilhaft iſt, alfo auch unabhängig von pofitiver Sanction eines 
beftimmten Staates die Geltung anfpridht. 

Nach diefer Begriffebeftimmung umfaßt das bärgeiihe Recht das 
Öffentliche nicht minder ald das Privatrecht leichwohl finden 
wir in ber Juſtinia neiſchen Geſetzſammlung des römifhen Civil 
rechts, zumal in derfelben SHaupttheit, nämlid den Pandelten, 
vom sffentlihen Recht nur einige wenige Gegenftände, und zwar 
meift nur folche, die mit Privatrechten in Verbindung fliehen, behans 
beit. Sie ift nad) ihrer vorherrſchenden Eigenfhaft Privatrechtd⸗ 
Sammlung. Freilich haben die römifchen Juriſten feine ſtrenge, auf 
adäquaten Begriffen ruhende, logifch richtige Unterfcheidung zwiſchen 
beiden Rechtsſphaͤren aufgeftellt (publioum jus est, quod ad statum rei 
romanae spectat, privatum, quod ad singuloruım utilitatem .. ..publicum 
jus in sacris, in sacerdotibus, in magistratibus consistit. Digg. L. I.1.2.), 
und noch weniger ift Tribontan in Bezug auf Auswahl oder Aus: 
fheidung der Rechtögegenftände einem ducchgreifenden Grundſatze ge: 
folgt: doch waltet bei ihm offenbar die Richtung vor, nur die auf 
Rechte oder Schuldigkeiten ber Einzelnen ſich beziehenden Beſtim⸗ 
mungen und zumal diejenigen, worüber, wenn bie hat oder das 
Recht freitig würde, die ‚Gerichte zu entfchelden hätten, in bie 
Sammlung aufzunehmen. Hiernach ward insbefondere auch das 
Strafreht dahin aufgenommen, obfhon ed — meniaftens feiner 
wichtigeren Sphäre nah — dem dffentlihen RFechte angehört. 
Auch finden wir darin (doc vorzugsweife nur im Coder, welcher 
naͤmlich die aus Eaiferliher Machtvollkommen heit gefloſſenen 
und als Dictate des geſetzgebenden Willens verkuͤndeten Rechtsbe⸗ 
ſtimmungen enthaͤlt) manche valizeiliche oder überhaupt politi: 
ſche Verordnungen, mancherlei "auf die Schuldigkeiten ober (zumal 


502 Givilrecht. 


Ehren=) Rechte der Sffentiihen Beamten und Ealferlihen Die 
ner und auf die von ben Bürgern für-Öffentlihe Zwecke zu 
fordernden Leiftungen aud auf Religion und Kirche und Kirchen» 
Diener, und noch auf verfchiedene andere, nach richtigen Begriffen bem 
öffentlichen Recht angehörige Gegenftände fich beziehende Beſtim⸗ 
mungen. Dod alles diefes weder nach einem felten Syſtem im Gans 
zen, noch mit Vollftändigfeit in ben Feſtſetzungen über einzelne Materien. 

Der Charakter des roͤmiſchen Civilrechts, als feinem Hauptinhalt 
nad) bloßes Privatrecht, geht auch ſchon aus feiner felbft geſetz⸗ 
Lich aufgeftellten (Inst. I. IL 12.) Emtheilung in Perfonenredt, 
Sakhenreht und Actionen: ober Obligationenrecht hervor. 
Deswegen fliegt auh Falk (Ssuriftifche Encpklopädie) nicht nur das 
öffentliche Recht vom bürgerlihen aus, fondern erflärt das letzte gar 
nur für einen Theil des Privatrechts (welchem er naͤmlich — auf 
eine jedoch ſchwer zu rechtfertigende Weiſe — noch als weitere Bes . 
ftand heile das Kichenredht *), das Polizeirecht und bas 
Strafreht zumeift). 

Die voranftehenden Begriffsbeftimmungen ſollten das bürgerliche Recht 
im Verhältniß ober Gegenfag zum natürlihen und zum oͤffent⸗ 
lichen barftellen. Es hat aber das Eivilrecht noch andere Gegens 
fäse, welden dann auch wieder andere Begriffe entfprechen ober zu 
Grunde liegen. Namentlich fegt bie neuere Lehre das bürgerliche Mecht 
vielfach dem aufßerbürgerlichen entgegen, welches letztere nämlich 
diejenigen Rechte in fich begreifen foll, welche ale vorhanden und gel 
tend gedacht werden Eönnen ſchon vor Errichtung einer bürgerlichen 
Gefelffhaft oder abgefehen von allem ftnatsbürgerlihen Verhältniß, 
während erfteres die eine folche Errichtung und ein ſolches Verhaͤltniß 
vorausfegenden Rechte umfaffe.. In diefem Sinne würbe das 
natürliche und aud das duch Convention zu gründende aus 
Bergefellfhaftlihe und gefellfhaftlihe Privatrecht zum 
suferbürgerlihen gehören, und für bas bürgerliche nur die 
duch den Staatsverband baran hervorgebrachten oder hervorzus 
bringenden Veränderungen (Erweiterungen, Beſchraͤnkungen ober 
näheren Beftimmungen) und dann auch die den Staats: Angehörigen 
eigens als ſolchen zuftehenden übrigbleiben. Da jedoh die aus 
ferbürgerlihen Rechte niht aufhoͤren durch den Eintritt im 
den Staat, fondern diefer vielmehr ganz vorzüglich zu ihrer Gewaͤhr⸗ 
leiftung und etwa thunlichen Vervollftindigung errichtet worden, fo ift 
Mar, daß das bürgerliche, nämlich das ben Staats: Angehörigen 
zuftehende Recht auch das außerbürgerlihe in ſich faßt, und daß 
demnach zwiſchen beiden eine Scheidung ober Entgegenfegung — zus 


*) Freilich gibt es auch einen Standpunkt, von welchem aus das (zumal 
innere) Kirchenrecht als dem Privatrecht angehörend erfcheint. Die pos 
fitive Jurisprudenz aber bat in ber ‚Regel biefen Standpunkt nit. (S. uͤbri⸗ 
gens ben Art. Kirchenrecht). "in .. 


Civilrecht. 503 


mal beim pofitiven Recht — nur wie zwifhen Engerem und 
Meiterem ober einem Theil und dem Ganzen ftattfinden kann. 
Sedenfalls wird durch folche Entgegenfegung das Verhältnif des 
bürgerlichen Rechts zum Öffentlichen keineswegs beftimmt, 
twiewohl man in der Regel daß erfle vom legten unterſcheidet, 
b. h. diefem legten eine.eigene — freilidy bald enger, bald weiter ges 
zogene — Sphäre anmeift, worauf wir. fpäter einen Blick werfen 
toerden. 

Auch dem Criminal⸗Recht, auch dem Kirchen⸗Recht wird 
das buͤrgerliche zur Seite oder entgegengeſetzt. Zweck und Gegenſtand 
des buͤrgerlichen Rechtes naͤmlich iſt die Aufhebung des Wider⸗ 
ſtreits zwiſchen den Anſpruͤchen der Staats-Angehoͤrigen, d. h. der 
im Staate befindlichen juriſtiſchen Perfönlichkeiten unter einander. Es 
fol der Streitigfeit oder Zweifelhaftigkeit bed Rechts zuvor. 
kommen durdy möglichft beftimmte Zeichnung der jedem Einzelnen zus 
kommenden Rechtsfphäre, und, wenn gleichwohl Faͤlle des Streites ober 
bes Zweifels eintreten, dem Richter die Norm der Entfheidung 
geben. Die Streitenden als foldye werben hier als beiderfeitd in bona 
tide befindlicy geachtet, oder die dabei zur Sprache gebradhten Rechtswi⸗ 
drigkeiten oder Mechtöverlegungen nur als etwa bie Nichtigkeit eines 
Geſchaͤfts oder die Schuldigkeit ber Schadloshaltung oder Erfaglel: 
ſtung mit ſich führend betrachtet. Das Criminalrecht dagegen 
bat es mit verbotenen, daher jedenfall rechts verletzenden 
Handlungen oder Unterlaffungen, d. h. mit Gefebübertres- 
tungen als folchen zu thun und bie bem Grabe der. Schuldhaftigkeit 
— nad) Befchaffenheit der Umſtaͤnde — jedesmal angemeffene Strafe zu 
beftimmen. Der Grund ber hier befragten Entgegenfegung liegt alfo in 
dem Standpunkt ber Auffaffung der vom Gefege zu beflimmen- 
den und durch das Gericht zu entfcheidenden Dinge, ob man fie nämlich 
blos in Bezug auf Regulirung ber wech felfeitigen Rechtsan⸗ 
ſpruͤche oder aber in Bezug auf Strafwuͤrdigkeit oder Rechts 
verwirkung betrachte. 

Das Kirchenrecht überhaupt, als Recht einer im Staate be: 
findlihen Geſellſchaft, mag allerdings dem bürgerlichen Recht 
und zwar fchon dem zum Privatrecht gehörigen Theile beffelben beis 
gezählt werden. Gleichwohl kann man es — felbft abgefehen von feiner‘ 
Eigenſchaft ale großentheils dem Öffentlichen Recht angehörig — dem 
bürgerlihen auch entgegenfegen, und zwar von einem doppelten Stand- 
punft; einmal naͤmlich infofern man die kirchlichen — zumal geift: 
lichen — Angelegenheiten als eine für ſich beftehende, eigenthümliche 
Sphäre von Pflihten, Rechten, Verhältniffen und Intereſſen, von ben 
bürgerlihen im engern Sinn — ober den auch fogenannten 
weltlichen — unterfcheidet; und dann, was insbeſondere unfer fo: 
genanntes canoniſches Recht in Vergleihung mit dem roͤmiſchen 
Civilrecht betrifft, auch in Bezug’ auf die Autorität, welcher die 
beiderlei Gefeggebungen entflefien find. 


504 Civilrecht. 


Nah Vorausſchickung dieſer das Schwankende der in dee Schule 
vorfommenden Begriffsbeflimmungen vom Giviltecht andeutenden Bes 
trachtungen liegt uns ob, den Sinn feftzufesen, morin wir das Wort 
nehmen und zwar namentlich behufs einer über die Natur biefes Rech⸗ 
tes und fein Verhaͤltniß zur Politik aufzuftellenden Lehre. 

Das bürgerlihe Net im weiten Sinne umfaßt alle ben Ans 
gehärigen eines Staates, nicht nur in diefer Eigenfchaft, fondern 
auch überhaupt ats im Staat befindlihen Menſchen oder jus 
riftifchen Perfonen, in ihrer Wechfelmirtung unter einans 
der zuftehenden (fei es blos anerkannten, gewährleifteten oder 
beſchirmten oder aud eigens durch die Staatsgewalt verltiehenen) 
Mechte. Durch diefen Begriff werden fonach blog diejenigen Mechte 
ausgefchloffen, welche fic eigens auf die Wechfelmirfung bee Staates 
Geſammtheit als folher mit ihren Gliedern als foldhen 
beziehen und das Öffentliche Redt in firengfter Bedeutung 
ousmahen. Dagegen find manche dem öffentlihen Recht in weiter 
Bedeutung angehörige, d. h. blos dag Dafein einer folhen Ge 
fammtheit und berfelben Wechſelwirkung mit ihren Gliedern voraus» 
fegende Rechte darin allerdings enthalten. Ja, man kann fogar — 
zumal wenn mun bei ber Eintheilung ber Rechte nur auf das Rechtes 
Subject,d.h.aufden Berehtigten, blidt— den Begriffen och weis 
ter ausdehnen, nämlich durchaus alle, den Bürgern (d. h. Staates 
Angehörigen) zuftehenden Rechte, mithin auch die ihnen gegenüber ber 
Gefammtheit oder der Staatsgewalt zuftehenden Rechte barin 
aufnehmen, wornach dann bloß bie diefer Staatsgemwalt ſelbſt 
eigenen das Staates ober Öffentlihe Necht im firengften 
Sinne ausmahen würden. Nah biefer Begriffspefimmung würde 
daher auch die den Bürgern zulommende Theilnahme an ber 
Staatsgemalt — gewöhnlich ihr politifhes Recht geheißen — 
dem bürgerlichen beizuzählen fen. Wir wollen jedoch über den 
biefem bürgerlichen Necht im weiten Sinn zu ertheilenden Umfang 
bier nicht ſtreiten, weil fich jedenfalls über daffelbe, wegen per Mehrheit 
der bet deffen Bildung zufammenlaufenden Principien, keine allgemets 
nen, b. 5. für die Gefammtheit der darin enthaltenen Rechte gültigen, 
Grundfäge aufftellen laffen, fondern den Blick nur auf das bürgerliche 
Recht in einem engeren Sinne richten, und dafür einen Begriff 
aufſuchen, welcher nicht blos auf die Nechts-Gegenftände, fondern 
auf die innere Natur der Rechte ſich besicht. 

Unter bürgerlihem Recht im engern Sinne verfichen wir 
blos das vom Staat anerkannte (oder anzuerkennende) oder auch durch 
eigenes Gefeg näher beftimmte, modificirte oder erweiterte (oder zu be 
flimmende u. f. w.) Privatrecht feiner Angehörigen. Man kann es 
eintheilen in das natürliche und pofitive und in das allge: 
meine und befondere. Das natuͤrliche befteht in jenem, wel: 
ches nah dem Vernunftgefes des Rechtes in jedem Staate 
Anerkennung fordert, und in der (nach eben diefem Gefes) dem Ge⸗ 


Civilrecht. | 505 


fammtwillen oder der Staatögewalt in Bezug auf nähere Beftimmung 
oder Modificirung deflelben gefesten vechtlihen Grenze; das po- 
fitive ift das in einem beftimmten Staat gefeglih anerlannte 
oder ftatuirte. Das natürliche erfcheint hiernach als allgemeines 
und jedes pofitive als ein befonberes Recht. Aber man kann aud) 
das pofitive wieder in ein allgemeines und ein befonderes abtheilen, 
nad) dem Umfang feiner Gültigkeit ober feines Gegenſtandes. 
Das allgemeine ift dann jenes, welches über den ganzen Staat feine 
Autorität behauptet, im Gegenfas des befonderen oder Particular: 
rechts einzelner Provinzen oder Bezirke oder felbft Gemeinden, oder 
auch jened, welches die Staatsangehörigen Überhaupt oder ge 
meinſchaftlich betrifft ober welches das Rechtsſyſtem im Ganzen 
barftellt, im Gegenfaß bes entweder nur einzelne Glaffen von Per— 
fonen — als Bauern, Gewerbsleute, Adeligeu. f.m. — ange: 
henden oder nur befondere Rechtsmaterien regulitenden — wie 
das Handels:, Wechſel⸗, Lehnreht u.f. m. Bon allen dieſen 
Eintheilungen und Ausfcheidungen koͤnnen wir jedoch hier füglid, weg⸗ 
bliden, da uns nur daran liegt, bie Natur des bürgerlichen Nechts im 
Ganzen zu beleuchten. | 

Das bürgerliche Recht erhält in der Megel feine Feftftellung und 
Außere Gültigkeit buch Staatsgefesg. Billig fragt man: inwiefern 
hat die Staatsgewalt die Befugniß oder Vollmacht zu folder Feſt⸗ 
ftelung? Welches ift der Charakter der von ihr ausgehenden Rechte = 
gefege und wie verhalten fich diefelben zu den politifchen? 

Ein Geſetz im engern und eigentlihen Sinne ift die dem Ge⸗ 
fammtmillen (oder der Autorität von deffen natürlicher ober kuͤnſtli⸗ 
her Perfonification) entfloffene, für die Staatsangehdrigen verbin d⸗ 
liche Feſtſetzung deſſen, was behufs der Erftrebung des 
Staatszwecks gefhehen folle oder nit geſchehen dürfe. 
Es ftellt alfo Regeln des Handelns oder Unterlaſſens auf, d. h. 
es befiehlt oder verbietet oder ertheilt auch Erlaubniffe (Los⸗ 
zählungen von Gebot und Verbot) und beftimmt die auf Verwirkli⸗ 
hung des Staatszwecks berechneten, doch nur Eraft eben bes geſetzgeben⸗ 
den Willens eintretenden Folgen gewiſſer Handlungen ober Unter: 
laffungen (oder auch anderer Ereigniffe und factifcher Verhältniffe), eben 
ſo auch die nach Befchaffenheit der Fälle zu fordernden Bedinguns 
gen der Theilnahme an den Wohlthaten des Staatsvereins oder an be: 
fonderen Begünftigungen, Erlaubniffen oder Befreiungen. So verfchie: 
den hiernach aber die Gegenftände und fo mannigfaltig ber Inhalt ber 
Geſetze fei, fo tragen doch alle den Charakter eine dem Geſammt⸗ 
willen entfloffenen Feflfegung von Mitteln zum Stants> 
zweck an ſich; und es kann alfo, mo folcher Charakter nicht flattfindet, 
auc von einem eigentlichen Gefege die Rede nicht fein. 

Bei dem Civilrecht nun, auch wo es in ber Form eines Ge: 
ſetzbuchs eingeführt ober unter der Autorität bee gefehgebenben 
Gewalt Serkünber ift, erkermen wie jenen Charakter wicht, ober doch 


506 Civilrecht. 


nur in ſehr geringem, von einem ganz andern Charakter weit 
uͤberwogenem Maaße. Das Civilrecht, wie das Recht überhaupt, iſt 
nie Mittel zum Staatszweck, fondern feine Beſchirmung oder Ges 
wihrleiftung ift Staatszwed felbfl. Das GCivilceht befiehlt 
und verbieter nicht, wenigſtens in feinen Hauptbeflimmungen nicht, 
fondern e8 anerkennt blos oder fintuirt, was Recht ift oder als 
Recht gelten foll, und fein Princip oder die Autorität, welcher ed urs 
fprünglich entfließt oder entfließen ſoll, ift Eeinedwege der Ges 
ſammtwille oder überhaupt irgend ein gebietender Wille, fondern 
entweder die allgemeine Menfchenvernunft ober bie freie Convens 
tion. Unabhängig von aller Staatsgewalt, ja der Vorausfegung auch 
nur bes Daſeins eines Staates gar nicht bedürfend, wird das Rechtsge⸗ 
feg dictirt duch die Vernunft und verfehen mit diefem auf alle 
Sphaͤren der menfhlihen Wechſelwirkung anmwendbaren Recht tritt der 
Menich in den Staat ein und fordert von biefem allernichft den Schug 
ſolches Rechtes, nit die Erfhaffung eines neuen. Freilich iſt das 
108 natürliche oder rein vernünftige Mechtsgefeg mangelhaft, d. h. 
in Einzelheiten dem Streit oder Zweifel unterworfen, ober einer ges 
naueren Beſtimmung, hier und dort auch einiger Vervollftändigung bes 
dürftig ; aber bie Heilung oder Ergänzung folder Mängel kann gefchehen 
— auch ohne Staat oder Staatsgewalt — durch Convention, d. h. 
durch freies Uebereintommniß der in MWechfelmirfung Stehenden über die 
einer beftimmten oder ergänzenden Regulirung bedürfenden Punkte, 
Diefe Convention ann ausdruͤcklich gefchloffen werben (was jedoch 
felten vorfommt) oder auch ſtillſchweigend, Insbefondere durch Uns 
terlaffung des Widerfpruch® gegen die von der Gefammtheit oder auch 
nur von der Mehrzahl der in näherer Wechfelwirtung Stehenden prafs 
tifch aufgeftellten oder anerkannten Negeln des Rechts oder Entfcheis 
dungsnormen von Nechtöftreitigkeiten. Freilich kann eine ſolche Con⸗ 
vention, wenn fie als Akt des Willens, d. h. ald wirklicher Vertrag, 
fell angefehen werden, eine Gültigkeit oder verbindende Kraft nur für 
die wirklich Einmwilligenden oder Paciscirenden anfprechen. Sie 
ijt aber nach ihrem vorherrfchenden Charakter in der Megel mehr bloße 
Anerkennung als wirkliche Statuirung und dient daher überall, 
mo nicht eigens eine willfürlihe Feftfegung (etwa zur Ergäns 
zung einer Luͤcke oder zur Hebung einer Unbeftimmtheit des Mas 
turrechts) nothwendig ift, eher nur zum Beweis der Ueberein—⸗ 
ftimmung einer beobachteten Rechtsregel mit dem vernünftigen 
Rechtsgeſetz, als zur Begründung einer verteragsmäßigen Vers 
bindlichkeit zu ihrer Anerkennung oder Beobachtung. Solcher Bes 
weis nun wird ſchon durd) die Mehrheit der anerkennenden Stim⸗ 
men hergeftellt, wogegen der eigentliche Vertrag bie Zuflimmung Als 
Ler, die durch ihn verpflichtet werden follen, echeifcht. 
Mit foldyem bios natürlichen, durch Convention (Anerkenntniß, 
Herkommen oder, wenn man mill, auch ausdrüdlidy oder ſtillſchweigend 
gefchloffenen Vertrag) genauer beſtimmten und vervollſtaͤndigten Pri⸗ 


Civilrecht. 507 


vatrecht kann ein Volk Jahrhunderte hindurch ſich begnuͤgen, ohne an 
den Staat die Forderung zu ſtellen oder demſelben auch nur das Recht 
einzuraͤumen, geſetzgebend dabei einzuſchreiten, d. h. anſtatt das dem 
Volke ſelbſtſtaͤndig angehörige, wiewohl dem Staatsſchutz 
empfohlene Recht (welches jetzt, nachdem das Volk ſich zur Staats⸗ 
geſellſchaft gebildet hat, bereits Civilrecht iſt) blos zu beſchuͤtzen und zu 
handhaben, ein neues oder nach ſeinen, des Staates oder der 
Staatsgewalt, Intereſſen gemodeltes mit Autoritaͤt, als Civilrechts⸗ 
Geſetz, zu verkuͤnden. Nicht nur eines, ſondern mehrere verſchie⸗ 
bene, auf freier Convention (oder audy auf früherer Gefeggebung eines 
fremden oder untergegangenen Staates) ruhende Rechtsſy⸗ 
ftense können gar wohl geduldet werben oder die Duldung fordern in 
einem und bdemfelben Staate. Unbefchadet der Allgemeingültig- 
keit dee vernunftrehtlichen Principien und ohne MWiderftreit mit 
denfelben, vielmehr gerade bei ihrer eihtigen Anwendung auf die 
mwandelbaren factifchen Umſtaͤnde, mögen in mancherlei Einzelheiten fehr 
verfchiedene Beſtimmungen durch Herkommen oder Convention einges 
führt werben, je nad) den verfchiebenen Lebensverhältniffen, Sitten und 
Bedürfniffen der einzelnen Völker oder Volkstheile. in nomadiſch 
herumziehendes Volk hat andere NRechtögegenftände und Bedürfniffe, ale 
ein anfäffiges, Aderbau treibenbes, und die complicirteren Vechaͤltniſſe 
des höhern Induftriebetriebe und Handels erheifhen auch entfprechende 
Rechtsregeln. Ein des Lefens und Schreibens kundiges Volk hat ans 
dere Beweismittel und andere Formen der Rechtsgeſchaͤfte, als ein folcher 
Kunde ermangelndes, und Anmohner von Stroms oder Meeresufern find 
von Bewohnern des Binnenlandes, eben fo bie in milder MWaldgegend 
Haufenden von Großſtaͤdtern u.f. w. in Sitten und Gewohnheiten, dem 
nah auch in Rechtebedürfniffen verfchieden. Wenn alfo unter einer 
Herrfhaft oder in einen Staat vereint Völker von dergeſtalt ver- 
fchiedenen Nedtsbedürfniffen ober Gewohnheiten leben; warum follten 
fie nicht jedes fein befonderes hergebrachtes Recht forterhalten und ge: 
genüber der gemeinfamen Stantsgewalt folhen autonomifhen Anſpruch 
behaupten? Im Alterthum und in der mittlern Zeit zweifelte man 
daran nicht; die defpotifchen Anmaßungen Rom’s (wie namentlich die 
duch Varus Niederlage gerächte des Kaifers Auguftus gegenüber 
den Deutfhen) gehören zu ben Ausnahmen. Unter dem mebos 
perfifhen Scepter lebten funfzig und mehr Voͤlker jedes unter feinem 
befondern Privatrecht; und die barbarifchen Zertrümmerer des römis 
hen Rechts erlaubten den unterjodhten Provinzialen, nad) eigenem, 
nämlich roͤmiſchem, Necht zu leben, obſchon fie für fich felbft ein anderes 
mitbrachten.. Erſt die neue und neuefte Zeit hat die Idee geboren, 
dag dem Staat alle Vollgewalt in Rechts: wie in politifhen 
Dingen zuftehe, und daß alfo von Ibm auch das Civilrecht, fo wie 
bie politifhe Geſetzgebung ausgehen und dort wie bier durch 
Einheit das Herrfchen erleichtert werden muͤſſe. 

Indem. wir biefer Anficht, zumal wo eine herrſchaftliche Gewalt, 


508 Ä Civilrecht. 


nicht jene bes wahren Geſammtwillens als Schoͤpferin des Rechts⸗ 
gefeßes fi) aufwirft, uns entfchiedenft entgegenftellen, find wir jedoch 
weit davon entfernt, bad Civilrecht allem beflimmenden oder mitbes 
flimmenden Einfluß der Staatsgemwalt entziehen zu wollen. Im Ge: 
gentheit nehmen wir für diefelbe allernaͤchſt in Anſpruch das Recht und 
die Schufdigkeit, für die Bildung eines der allgemeinen Anerkennung 
würdigen Civilrechts [ubfidiarifch Sorge zu tragen. Wenn nämlich 
ein zur Staatögefellfchaft vereintes Volt ein folches felbftftändig aus 
freien Anerkenntniſſen erwachſenes Recht noch nicht befist, fo liegt 
der Stantögewalt, die da jedenfalls den Rechts zuſt and zu fchirmen 
oder zu gewaͤhrleiſten hat, bie Herftellung der zu foldyer Gewährleiftung 
nothwendigen Beftimmtheit des Rechtes durch von ihr felbft aus: 
gehendes Anerkenntniß bes natürlichen Rechts und durd, Seftftellung des 
nad) folhem Recht noch Unbeflimmten oder Zweifelhaften oder Schwan 
tenden ob. Letzteres ift zumal Darum nothivendig, weil bas Natur: 
recht, obfhon, unter Vorausfegung verfländiger und reblicher 
Darteien und Richter, zur Enticheidung aller oder doch der alfermeiften 
Streitigkeiten für fih allein hinreichend, foldyes gleichwohl ohne biefe 
(leider ganz unftatthafte) Vorausfegung allerdings nicht ift, fonbern 
zur Entfernthaltung befangenen oder infibisfen MWiderfpruch oder Zwei⸗ 
fel8 und zu einer bem Vorwurf der Willkür entrüdten Entfcheidung 
der aus folder Quelle fließenden Streitigkeiten eines förmlicyen nicht weis 
ter beftreitbaren Anertenntniffes, fobann aud einer pofitiven 
— daher, wo keine Convention vorliegt, mit Autorität zu gefche: 
benden — Erfüllung feiner Lüden ober Unbeftimmtheiten bedarf. 
Aber nicht nur ſolche unbedingt nothmendigen Bervoltftän- 
digungen oder näheren Beflimmungen des Naturrechts kann 
und foll bie Staatsgewalt (fubfidiarifh) aus eigener Autorität feftfesen, 
fondern e8 wird ihr auch biefelbe Befugnig und Schuldigkeit zuftehen in 
Bezug auf die im Intereſſe der vollkommnern Harmonie ber 
Wechſelwirkung und bes leihtern oder volllommnern Rechts: 
ſchutzes räthlihen oder mwohlthätigen Erweiterungen oder Be⸗ 
ſchraͤnkungen oder zmedmäßigen Modificationen des Matur: 
rechts. Das Naturrecht 3. B. unterfcheidet wohl die Unmuͤndigkeit von 
Großjaͤhrigkeit, oder überhaupt rechtliche Unvollbürtigkeit von Vollbürtig- 
keit; aber eine allgemein gültige Beſtimmung über das zur legten noͤ⸗ 
thige Lebensalter ober fonftige Eigenfchaft gibt es nicht; eben fo über die 
zur Rechts-erwerbenden oder tilgenden Verjährung nöthige Zeit u. f. w. 
Die Convention oder in deren Ermangelung das Staatsgefeg hat ſolchen 
Mangel durch pofitive Feſtſetzung zu ergänzen. Aber auf gleiche 
Weiſe koͤnnen auh neue Rechte eingeführt, d. h. folche, die das bloße 
Vernunftrecht nicht ober nur in befchränktem Maaße kennt, gefhaffen 
ober erweitert, nicht minder gewiffe,, im außerbürgerlichen Zuftande 
wirklid, vorhandene Rechte gefhmälert oder aufgehoben werden. 
Beifpiele von Erſterem find das Erbrecht, die Verjährung, die Hypothek 
und verfchiedene andere Grundrechte u. ſ. w., von Legterem bie Befchrän: 


n 


Civilrecht. 509 


kung des Rechtes der Selbſthuͤlfe, das Verbot ober die Nichtigkeitserklaͤ⸗ 
rung gewiſſer — etwa den Charakter der Wucherlichkeit an ſich tragen⸗ 
ben oder eine nähere Gefahr der Uebervortheilung mit ſich fuͤhrenden — 
Contracte u. f. w. 

Bei Erlaſſung ſolcher poſitiven Rechtsgeſetze iſt es jedoch nicht ei⸗ 
gentlich der Wille der Staatsgewalt, welcher den Stab fuͤhrt oder 
fuͤhren ſoll, ſondern abermal nur der rechtliche, d. h. die thunlichſt 
vollſtaͤndige Rechtsbefriedigung ſuchende Verſtand. Jene Ge- 
ſetze nämlich ſollen blos an die Stelle ber Convention treten, dem⸗ 
nad) den Charakter der letzten theilen, d. h. fo befchaffen fein, daß 
man ben Beifall oder die Zuftimmung fämmtlicher Perfonen, deren 
Wechſelwirkung zu regeln fie beftimmt find, dafuͤr mit Zuverficht an⸗ 
nehmen oder vorausfegen kann und zwar. noh ohne Ruͤckſicht auf 
poltitifche Intereſſen oder auf die Eigenfchaft der Einmilligenden 
als Staatsbürger, fondern rein in ihrer Eigenfchaft als — unter 
fih in näherer Wechſelwirkung ftehender und baher der Re⸗ 
gulirung ſolches Verhältniffes bebürfender, in einem Staat be> 
findliher — Rechtsſubjecte. Die Staatögemalt alfo hat dabei 
nicht eigentli befohlen, fondern fie hat entweder blos erklärt, 
was ihr, die da dad Recht zu fhügen und zu handhaben hat, als 
Recht erſcheine und daher von ihr werde gefchügt werden; ober 
fie bat, ale dazu durch ihre Stellung vorzugsweife geeignet, blos bie 
Artikel der zur Befriedigung des Rechtsbeduͤrfniſſes zu fchließenden 
Convention entworfen und zwar bdergeftalt oder in dem Sinne, 
daß fie dabei der Zuftimmung aller ‚Betheiligten möglihft gewiß mar 
oder, ohne Gefahr zu irren, biefelbe, al® bereits ſtilſſchweigend ertheilt, 
vorausſetzen konnte. 

Hierin nun liegt, der Theorie oder der reinern Rechts- und 
Freiheits-Idee nach, der mwefentliche Unterfchied der Rechtsgeſetze, 
namentlidy des Civilrechts, von den politifhen. Die letzten 
enthalten oder verordbnen Mittel zum Staatszweck, die erften find 
bloße Verdeutlihung des Zweckes felbft und zwar eined dem 
Staate gegebenen, nicht aber von der Staatsgewalt willfürlih auf: 
geftellten Zweds. Auf Ähnliche Weife entfließen die von einer Kirs 
hengemalt etwa pofitiv gegebenen moralifhen Vorſchriften 
keineswegs dem Willen jener Gewalt oder einer auf gewifle Zweck⸗ 
erreihung gehenden Richtung, fondern fie find (oder follen fein) 
bloße Verbeutlihungen ber unabhängig von ber Kirchengewalt beftehen- 
den, durch eine höhere Autorität, nämlih die moralifhe Ver⸗ 
nunft, gegebenen Gefege; wogegen die als bloße Tugend » Mittel 
oder überhaupt als Mittel zu Kirchen: Zmeden dienenden, 3. B. 
auf Erhöhung der Andacht oder ber gottesdienftlichen Feier und Würde 
u. f. w. berechneten, mehr den eigentlichen ober polttifhen Staats: 
gefegen zu vergleichen find. 

Es ift von größter Wichtigkeit, daß die Rechtsgeſetzgebung 
diefen Standpunkt niemals verlaffe, d. h. daß fie.niemals Zwed und 


er 


510 Civbilrecht. 


Mittel miteinander verwechſele und gerade den hoͤchſten Staatszweck, 
naͤmlich das Recht, zum Mittel herabwuͤrdige fuͤr Erreichung irgend 
eines andern — mehr oder minder lautern — politiſchen Zweckes. 
Wo ſie ein ſolches ſich für erlaubt haͤlt, da hat das Recht gas keinen 
ſelbſtſtaͤndigen Boden mehr, ſondern mag aufgeopfert werden den 
wandelbaren, oft rein ſubjectiven und befangenen Anſichten oder den 
ſelbſtſuͤchtigen und jenen der Geſammtheit entgegengeſetzten Intereſſen 
der Machthaber. Da wird die ſchoͤne natuͤrliche Familien⸗Ord⸗ 
nung unerrettbar weichen. müffen bier den phantaſtiſchen Ideen eines 
Lykurgus, Dort den befpotifchen Zwecken eines Kriegsmeifterd und Aus 
tofraten ; das heilige Recht der perfönlihen Freiheit kann als⸗ 
dann mit Süßen getreten werden zu Gunften einer anmaßenden Leibs 
herrlichkeit; und die Unerfättlichkeit der Ariftofratie mag durch abens 
teuerliche Rechtedichtungen und wucherlich erfonnene Gerechtfame bie 
nachfolgenden Gefchlechter zur härteften Zributpfliht und Frohndpflicht 
gegen eine auserlefene Kafte verdbammen. Das Recht des Erwerbs 
durch rebliche Arbeit und Kunſtfleiß geht unter in engherzigen Zunft: 
monopolen, unb privilegirte Erb= und Befig:-DOrbnungen häufen 
ben Reichtum ganzer Provinzen in einzelnen Häufern oder auch im 
todten Händen an, mährend republikaniſch gefinnte Machthaber perios 
dbifhe Vertheilungen des Eigenthums anorbnen, ober buch 
Einführung der Gemeinfhaftlichfeit alles Beſitzes und Genuffes 
der Traͤgheit ‘oder Unfähigkeit eine Prämie und dem tätigen Arbeits 
fleiß eine Strafe zuerfennen. . ° 

Dergleihen Gefahren hören auf, mo im oben erklärten Sinne 
bie Nechtsbücher verfaßt werden. Diefelben find alsdann frei von jeder 
wiffentlicd oder abfichtlidy dictirten Rechts-Verkuͤmmerung und nur ben 
etwa aus Irrthum fliefenden Mängeln noc ausgefegt. Ihre Vers 
befferung aber hält fortwährend gleichen Schritt mit der Vervollkomm⸗ 
nung ber Rechtswiſſenſchaft; das Geſetzbuch ift der reine Auss 
druck der Lehrfige einer vernünftigen Surisprudenz, nidt 
aber eines, was immer für Zwecke verfolgenden, Willens. Den 
Voͤlkern wird nimmer — neben bem materiellen Uebel der Rechte: 
Unterdrädung — auch noch ber Hohn und die Shmad zu 
Theil, diefelbe unter dem Zitel eins Rechts-Geſetzes erbulden 
zu müffen; und fie behalten, was aud) etwa fonft — in ber politifchen 
oder Öffentlich rechtlichen Sphäre — ihre Laſten und Duldungen feien, 
immer noch den Zroft eines ihren unmittelbaren Bedürfniffen und ih⸗ 
ten heiligflen Empfindungen zufagenden, diefelben mwenigitens nicht mit 
Füßen tretenden Privatrechts. Anfichten oder wenigſtens dunkle 
Gefühle diefeer Art waren es, welche die Deutfchen zur Schilberhes 
bung gegen die römifchen Leglonen unter Varus aufregten, und uns 
ter den Gründen ber Völker - Entrüftung mwider Napoleon Mar bie 
Unleidlichkeit eines aufgedrungenen fremden Rechts einer ber 
mächtigft wirkenden. | 

Ungeachtet unferes bier freimäthig ausgefprochenen Eifers wider 


Ä Civilrecht. 511 


die Herabwuͤrdigung des Civilrechts zur Dienſtmagd politiſcher Intereſ⸗ 
ſen, ſchließen wir gleichwohl dieſe Intereſſen nicht aus von aller Theil⸗ 
nahme an oder von allem Einfluß auf deſſelben Feſtſetzung. Es iſt 
naͤmlich einerfeits ein vom Dernunftrecht für willkuͤrliche Beſtimmun⸗ 
gen Freigegebener, fehr anfehnlicher Raum vorhanden, beſonders 
in Bezug auf folhe Regeln, die nur im Falle, daß die Betheiligten 
ſelbſt nicht etwas Anderes feftfegen, gelten follen, demnach den legten _ 
durchaus feinen Zwang auflegen, und es gibt anderfelts für bie Staats⸗ 
buͤrger als ſolche mancherlei Gruͤnde der Verzichtleiſtung auf 
an und für ſich ihnen zuſtehende, namentlich außerbuͤrgerliche Rechte, 
deren Werth nämlich überwogen werden mag durch die aus ihrer Auf: 
hebung oder Beſchraͤnkung fließenden WBortheile für die Gefammtbeit, 
Diefe Verzichtleiftung auszuſprechen oder auch jene der Willkür freifte 
henden Beftimmungen mit Ruͤckſicht auf politiſche Sntereffen fo 
oder anders zu machen, überhaupt das Nuturrecht, fo weit der Staate- 
zweck es wirklich erheifcht oder raͤthlich macht, zu modificren, fteht 
dem Gefammtivillen oder dee Staatsgewalt allerdingd zu, und bie 
Grenze folcher Befugniß oder das Kriterium der Zuläffigkeit beſtimmter 
Seftfegungen ift, bier mie überall bei Acten der Staatsgewalt, ihre 
Uebereinftiimmung oder Vereinbarlichkeit mit dem vernünftig ‘anzunch 
menden oder vorauszufegenden wahren Gefammtmwillen ber zur 
Stantsgefellfchaft Vereinigten und zwar hier in ihrer Doppelten Eigen⸗ 
fchaft, naͤmlich als Privatrechts⸗ Subjecte und als Staatsbuͤr⸗ 
ger, zumal aber ihre, einem echten und lautern Organ dieſes 
Willens entfloſſene, ausdruͤckliche Billigung. Je freier und 
republikaniſcher alſo die Verfaſſung iſt, deſto weiter reicht bie Sphäre 
jener Zutäffigfeit; eine autokratiſch verkuͤndete Abaͤnderung des na⸗ 
tuͤrlichen Rechts dagegen iſt immer verdaͤchtig und gehaͤſſig. 

Beiſpiele von ſolchen auch aus politiſchen Gründen unbedenk⸗ 
lich zu treffenden Abaͤnderungen, Erweiterungen oder Beſchraͤnkungen 
des natuͤrlichen Rechts kommen in allen Civilgeſetzgebungen vor. Oft 
iſt auch ihre Natur eine doppelte oder vermiſchte, d. h. ihre 
Feſtſetzung iſt zum Theil dem eigentlichen Recht 8⸗Geſetz (oder auch 
jenem der Billigkeit und Humanitaͤt), zum Theil einem poli⸗ 
tifhen Motive entfloffen ; eine durchgreifende -Unterfcheidung oder 
Abfonderung der beiden Claſſen - pofitiver Rechtsbeſtimmungen alfo 
nicht möglih. Auch gelten die politifchen, fobald fie ins Rechtsge⸗ 
ſetzbuch aufgenommen ſind, gleichmaͤßig wie die dem natuͤrlichen 
und dem conventionellen Rechte entfloſſenen, als wahre Pri⸗ 
vatrechte, genießen alfo gleich allen übrigen den allgemeinen Staaksſchutz 
und ingbefondere jenen der Zribunale. Gleichwohl iſt ihre Unterfchei« 
dung im Begriff und nad) den idealen Principien ihrer Gültigkeit 
oder Zuldffigkeit von mwiffenfhaftlihem und menigftens ins 
fofern oder alsdann aud von praftifhem Intereſſe, wenn 
es fih um ein erft zu erinffendes Grfes, alfo um Werfertigung 
eines neuen Civilcoder oder um Reviſion eines alten oder auch um 


‘ 


512 Cipilrecht. 


vereinzelte neu einzufuͤhrende Beſtimmungen oder um die Beurthefung 
der bereit getroffenen hanbelt. 

Bon unferm Standpunkte alfo erfcheint nach ‚obigen Betrach⸗ 
tungen als zulaͤſſig, daß aus politiſchen Gruͤnden z. B. das Erbrecht 
ſtatuirt und in Gemaͤßheit echter politiſcher, d. h. auf den Staatszweck 
Bezug habender Intereſſen regulirt werde. Die In teſtat⸗-Erbfolge 
zwar, inſofern fie ſich auf die Idee des Mittigenthums ber Familien⸗ 
glieder auf das gemeinſchaftlich erworbene Beſitthum zuruͤckfuͤhren läßt, 
hat ſchon einen vernunftrechtlichen Boden; inſofern ſie aber auf 
der Idee eines uͤberha upt zu ſtatuirenden Geſammteigenthums oder 
Geſammtrechts der Familie auf das Beſitzthum jedes einzelnen Gliedes 
ruht, iſt fie rein poſitiv und daher auch in ihrer Regulirung von 
denſelben Gruͤnden der Billigkeit oder Humanitaͤt oder Politik abhaͤn⸗ 
gig, denen ſie ihre Einfuͤhrung uͤberhaupt verdankt. Dem Recht 
an und für fi iſt alsdann ziemlich gleichgültig, welche Ordnung 
der Erbfolge — menigftens unter ben entferntern Verwandten — 
beftimmt werde: nur daß überall eine deutlihe Beftimmung vorlie 
ge, ift zur Entfernthaltung oder Entfcheibung von Streitigkeiten noth⸗ 
wendig. Auch das Recht zu teftiren, ift eine politifhe — zu 
Erwerb und Sparfamkeit fpornende — Einfegung, und ihre Befchräns 
tung duch das Recht gewiffer Notherben gleichfalls billig und pos 
litiſch weiſe. Ginge jedoch die legte foweit, auch die Freiheit ber Lebs 
zeitigen Verfügungen zu verfümmern und zwar zu Gunften felbft 
der undankbaren, der natürlichen Pflicht vergeffenen Kinder ober Ges 
fhwifter: fo wuͤrde fie ein Eingriff in's naturrechtlich gültige 
Eigenthumsrecht, ſonach rechtsverlegend und ber Zuflimmung der 
vernünftigen Bürger unmürdig fein. 

Die Einführung des Hypotheken-Rechts, als ben Crebit 
erhöhend und die Eigenthumsbenugung vervielfältigenb, ift politiſch 
raͤthlich und gut; die zahlreichen gefeglichen oder ftillfchmeigenden 
Hypotheken dagegen nicht nur dem politifchen Hauptzweck des Inſti⸗ 
tuts, nämlich der Crediterhoͤhung weſentlichen Eintrag thuend, fondern 
auch den vernunftrechtlihen Anſpruͤchen der Gemeingläubiger wiberftreis 
tend und daher zwiefach verwerflich. Zum Frommen der Landwirth⸗ 
ſchaft oder ber In duſtrie, überhaupt aus nationaloͤkonomiſti— 
ſchen Gruͤnden, moͤgen verſchiedene Beguͤnſtigungen oder Rechtswohl⸗ 
thaten, z. B. die Befreiung der zum Betrieb einer laͤndlichen oder 
ſtaͤdtiſchen Induſtrie unbedingt noͤthigen Geraͤthſchaften von dem Ge⸗ 
richtszugriff u. ſ. w., ſtatuirt, zur Entfernthaltung des verderblichen 
Wuchers der Verkauf der Srüchte auf dem Halm verboten, der 
commiffarifche Vertrag, auch jener des Vichverftellens u. a. für nichtig 
erklaͤrt, das Mehmen der Zinfe von Zinfen unterfagt werden. Wenn 
jebocdy neben ſolchen gegen den Wucher gerichteten Rechtsbeſtimmun⸗ 
gen die Gefeggebung die über alles Maaß hinaus wucherlichen Gons 
tracte, wornach für das etwa überlaffene Nugeigenthum eined Grundes 
ungemeffene Frohnden, vielnamige, den reinen Ertrag nod 


Civilrecht. 613 


überfteigenbe Abgaben, bie himmelfchreiende „Drittelspflicht” nebſt 
dem abenteuerlihen Zehnten möchten vorbehalten ober ausbedungen 
worden fein, nicht nur.gutheißt und aufrecht erhält, fondern fogar 
erdichtet, db. b. auch. alfbort für wirklich gefchloffen annimmt, mo 
nach den lauteſt fprechenden Zeugniffen ber Gefhichte nur Gewalt 
und Anmaßung -der Starken foldhe enorme Zeibutpflicht über bie 
Schwachen verhängte; fo.fteht fie freitich mit fich felbft im fchreienditen 
Miderfpruh und hebt in der That das Eigenthumsrecht der ‚armen 
Golonen auf, anſtatt es zu ſchuͤtzen. Dagegen wird die Abfchaffung 
ſolcher Laſten und. Has Verbot ihrer Wiedereinführung durch irgend 
einen Vertrag ber Politik wie dem Rechte gemäß fein. Die Bevor⸗ 
vechtung gewiſſer Forderungen beim Concurs: Verfahren mag 
aus politifhen oder aus Yumänitäts : Gründen, zu billigen fein; wo⸗ 
gegen die übermäßigen Privilegien des Fis cus mit einer wahren Bes 
raubung zu vergleichen find. Für die Verhältniffe der Ehegatten 
eine gefeglihe Regel aufzuftellen, ift allerdings politiſch gut; dech 
nur durch die den ſich Verehelichenden gewährte Befugniß, auch etwas 
Anderes, ihren befonderen Intereſſen Entiprechenderes buch freien 
Ehevertrag feftzufegen, wird ſolche Beftimmung rechtlich unbedenklich. 
Die Vorſchriften über — ftädtifhe oder laͤndliche — Dienftbar« 
teiten find großentheild mehr polizeilicher, als rechtliher Natur, 
im römifhen Recht übrigens mit ben vernunfteechtlihen Grunds 
fügen nicht im Widerſpruch, im germaniſchen dagegen vielfach vers 
unftaltet duch graufame Abgefhmadtheiten, namentlih buch Ver⸗ 
wandlung perfönlicher Dienftbarkeiten in Grundlaften und durch 
Erhebung von Gründen zur Derefhaft über Menſchen. 

Aud allgemeine politifche Intereffen mögen in gewiffen Maße 
fid) geltend machen bei Feftfesung des Civilrechts. So die Ueberein« 
flimmung deſſelben mit den SPrincipien einer einmal beftehenden und 
als gut anerkannten Verfaffung (eine wahrhaft gute Verfaffung 
indefien bedarf des Opfers von weſentlichen Rechten nie); fo auch die, 
alle Arten der Wechfelwirtung erleichternde und taufenderlei Rechtöftreis 
tigkeiten verhütende, aud für Richter und Rechtsfreunde hoͤchſt vors 
theithafte Gleihförmigkeit bes Rechts über den ganzen Staat. 
Diefen ntereffen jedoch ftehen auch mehrere (oben fchon bemerkte) 
Nachtheile entgegen; und fo wuͤnſchenswerth überall die Gleichfärs 
migkeit erfcheine, fo wird fie kaum auf andere Weife rehtsunbes 
denklich zu flatuiren fein, als mit freier Zuſtimmung nicht nur ber 
Mehrheit der Angehörigen de Geſammtſtaates, fondern auch jener 
der Genoffen des bisherigen Particularrechtee, deſſen Abfchaffung 
jeweils in Sprache iſt. | | 

Diefe Beifpiele mögen genügen zue Verbeutlihung unferer Ans 
fiht von der dem Civilrecht als Hauptcharakter einwohnenden fireng 
rehtlihen Natur, neben welcher bie politifche nur in außerwe—⸗ 
fentlihen Bufägen oder Modificationen als untergeordnete Beimifhung 
erfcheint. Alles aber, was einmal ins Civilgefeg aufgenommen ift, 

Staats » Lexikon. III. 8 


514 Givilredht. 


gift als Recht, nur mit bem Unterfchleb, bag bie eigentlichen BRechti 
geſetze etwas feflfegen, eben weil e8 — ſchon unabhängig von der 
Staatsgewalt — recht iſt, wogegen was bie politifhhen Geſche 
feftfegen (db. h. wa® man aus politifhen Gründen in's bürgerliche Ge 
ſetzbuch aufnahm), nur recht iſt, weil es verorbnet warb. 

Beide biefe Arten von Rechten haben übrigens bas miteinander 
gemein, baß fit — nad) einmal erfolgter Anerkennung oder Statri⸗ 
rung als Rechte — zwar dem Schutze der Stautögewalt untere 
ben, aud daß biefe Gewalt, eben zum Zweck ihrer Veſchirmung ober 
zur Hintanhaltung ber ihnen etwa brohenden Angriffe, verfcdhiebene 
polizeitiche (insbefendere bie eigentlich fogenannten recht s poli⸗ 
zeilichen) Anftalten ind Leben rufen, nicht minder duch Strafge⸗ 
ſetze ihrer Verlegung entgegentreten darf und foll; daß aber in ſtrei⸗ 
tigen Faͤllen nur auf Anrufen ber Parteien und nur burd 
die — von ber Staatögemwalt in Bezug auf das Urtheilfprechen unab 
bängign — Gerichte zu entfcheiden ift, ja daß der Staat ſelbſt vor 
biefen Gerichten Recht nehmen muß, wenn er über civilrechtlide 
Dinge gegen einen feiner Angehörigen auftritt. In eigentlih politi⸗ 
ſchen, b. h. dem Civilrecht (und auch dem Strafredht) nicht an 
gehörigen Dingen (mit Ausnahme nur einiger befonderer, von 
ausbrüdiih an bie Gerichte gewieſener Gegenflände) enticheiben bie 
betheiligten Staatsgewalten (d. h. die abminiftrativen, z. B. Pe 
lizei- oder Finanz⸗ Behörden) ſelbſt und auch ohne Anrufen ber 
Privaten von Amtöwegen. | 

SHeilighaltung bes natürlichen Privatrehts und ber aus 
verftändiger, freier und wahrer (nicht blos gedichteter) Convention 
hervorgegangenen (oder auh im Geiſt einer ſolchen zu flatuirens 
den) Bervoliftändigung und genauern Beſtimmung befjelben fei das 
oberfte Princip der pofitiven Civilrechts-Geſezgebung. Die 
vorherrfchende und in hoͤchſter Inſtanz entfcheidende Stimme führe dabei 
nur bie rehtlihe Vernunft, und den politifhen Intereffen 
werde ein beftimmender Einflug nur eimgeräumt, inſofern entweder 
der dadurch zu erfirebende Zweck eben ber volffommmere ober erleichterte 
Rechtsſchutz iſt, oder imfofern was fonft für andere gute Zwecke 
fid) dadurch erreichen laffen ohne Verfümmerung ber ſolchen 
Schus anfprehendben Rechte ſelbſt. Ein bergeftalt verfaßtes 
Rechtsbuch iſt — weil in der Hauptfahe auf ewigen Wahrheiten 
ruhend — zur längften Dauer geeignet, während bie politifchen 
Geſetze größtentheils auf das wandelbare Beduͤrfniß oder bie wechſeln⸗ 
den Umftände ber Zeit berechnet und daher wie biefe ber Staͤtigkeit 
entbehrend find. Das roͤmiſche Civilrecht — nad) feinen eigentlichen 
Rechts» VBellimmungen, mithin abgefehen von den mit politifchen 
und religidfen Verhältniffen und Interefien in Verbindung flehen- 
den Eagungen, und etwa auch abgefehen von den aus dem Kindesal⸗ 
ter Roms flammenden rohen Ueberlieferungen — hat eine lange Reihe 
von Jahrhunderten hindurch feine Herrfchaft behauptet und biemt noch 


Clvilrecht. Collecten. 515 


heute dem Chilrecht vieler Voͤlker theils als Grundlage, theils ale 
Hauptnorm, theils als ſubſidiaͤre Beſtimmung. Dieſes Civilrecht Roms, 
nach denjenigen Feſtſezungen zumal, welche es ber rechtlichen Vernunft 
oder der freien wiſſenſchaftlichen Ueberzeugung ſeiner Juriſten, nicht 
aber dem willkuͤrlichen Machtgebot ſeiner Kaifer verdankt, blieb das 
koſtbarſte Beſitzthum, ja der faſt einzig Übrige Troſt für die Angehörk 
gen ded buch die font ſchrankenloſe Defpotenmacht der Kaifer unter- 
druͤckten Reiches; unb es allein unterhielt bei feinen Pflegen unb 
Freunden, Inmitten ber allgemeinen Verſunkenheit ihrer Zeitgenofien in 
Sklavenſinn und Apathie, noch die Idee und bie Liebe eines felbft- 
fländigen, von herriſchem Gebot unabhängigen ehiee. 
Rotteck. 
Claſſenſteuer, ſ. Klaſſenſteuer. , 
Clopicki (Clopicki), ſ. Polen. | 
Elub, f. Affociatton und franzoͤſiſche Revolution. 
Coalition, f. Allianz. 5 
Coblenz, f. franzsfifhe Revolution. | 
Code civil frangais, f. frangöfifhes Recht. 
Codex, ſ. roͤmiſches Recht. 
Cognaten, ſ. Verwandtſchaft. 
Eölibat, ſ. Eheloſigkeit. . 
Collecten, Collectiren, Collettanten. Sofern unter 
dem Namen Collecten früher haͤufig die Steuern verſtanden wer⸗ 
den, find darüber bie Artitel Beeten und Steuern nachzufehen. 
Man verfteht aber auch unter Collectiren das Einfammeln von ftel- 
willigen Beiträgen für gewiſſe Zwecke, insbefondere auch für. wohls 
thätige Zwecke. Nicht felten verbieten befondere Landesgeſetze das Col: 
lectiven ohne befondere Staatserlaubnig, um Mißbraͤuche zu verhüten. 
Sofern nun befondbere Gründe zu foldhen Verboten vorhanden find, 
wie für das Verbot des Collectirens für verberbliche Lotterien, ins⸗ 
befondere für auswärtige, fo wollen wie dagegen nichts einwenden. 
Außerdem aber möchte ein allgemeines Verbot für folches Gollectiren 
Durch Öffentliche Blätter ober perfönlih nur dem Syſtem ber Bevor⸗ 
munbung der Bürger als unmünbdiger Kinder angehören unb ber de⸗ 
fpotifchen Ausſchließung jeber freien Beſtrebung ber Buͤrger für ihre 
befonderen erlaubten Zwecke, für ben Ausdruck und die Bethaͤtigung 
ihrer freien Ueberzeugungen und namentlich auch ihrer mohlthätigen 
oder auch der politifchen Freiheit günftigen Geſinnungen. Es möchte 
eine ſchwer zu rechtfertigende Beſchraͤnkung zugleich der Eigenthums⸗ 
und der perſoͤnlichen, der moraliſchen und politiſchen Freiheit ſein. 
Sind nun dieſe Guͤter und ihre freie Benutzung nicht auch 
etwas werth? Was wuͤrde wohl ein freier Brite zu einem ſol⸗ 
chen Verbote ſagen? Das verfteht ſich freilich von ſelbſt, daß ber 
Staat Feine Berrügereien, 3. B. kein betruͤgliches Collectiren für Ab- 
gebrannte, die nicht abgebrannt find, zu dulden braucht. Aber. etwas 
Anderes iſt Beſtrafung wirklicher Betruͤgereien ober Unterfagung einer 
, —X 


516 Gollecten. Collegium: 


Begünftigung offenbarer Gefegwibrigkeiten und wachſame Aufficht da⸗ 
gegen, etwas Anderes ein zum Voraus bie Zreiheit aller Bürger ſelbſt 
oft in ihren ebelften Beftrebungen lähmendes gefehliches Verbot. Daß, 
wer Sinn und Achtung für die natürlichen und politiſchen Mechte 
freiee Buͤrger und freiee Männer hat, und wer es weiß, wie hun⸗ 
bertmal fie es verfchmähen, fi erſt befondere Staatserlaubniffe für 
natürliche, freie Beſtrebungen zu erbitten, und weichen Bedenklichkel⸗ 
ten und Schwierigkeiten ſolche Ertaubniffe felbft unterliegen, uns mit 
ber Ausfiht auf fie teöften werde, das beforgen mir nicht. | 
' C. Th. Welder. 

Collegium; Collegial- und buͤreaukratiſches Sys 
ſtem ber Verwaltung. Unter Collegien verſtanden die Römer 
gewiſſe Innungen und Corporationen, beſonders auch religioͤſe, in 
welcher Bedeutung auch in der chriſtlichen Kirche ſich der Ausdruck 
erhielt. Auch bildete ſich der Ausdruck Collegialſyſtem für bie 
jenige Theorie über das Verhaͤltniß ber Kirche zum Staat, welde 
beide Vereine als felbftftindig nebeneinander ftellt, im Gegenfag gegen 
das falfche hie rarch i ſche Syſtem, welches den Staat der Kirchens 
gewalt unmittelbar unterordnet, und gegen das Territorialſyſtem, 
welches die Kirche gaͤnzlich dem Staate unterwirft. Hiervon muß in 
den Artikeln über Hierarchie und Kirchenſtaatsrecht gehandelt werden. 
Hier reden wir nur von Collegien und Collegialſyſtem in ber 
heutigen gewoͤhnlichen, auf die innere Verwaltung ber Staatsangeles 
genheiten bezüglichen Bedeutung. In diefem Sinne nennt man Col 
fegien folche Öffentliche Verwaltungsſtellen, welche aus einer morali 
(hen Perfon beftehen, fo daß mehrere Theilnehmer an dem Verwal⸗ 
tungsgefchäft dafjelbe ald eine moralifche Perfon verwalten, alfo durch 
gemeinfdhaftlihe Berathung und durch Befchlüffe, die nach Stimmen» 
mehrheit, zumeilen und ausnahmsweiſe auch durch Stimmeneinhellig⸗ 
keit gefaßt werden. Eine Organiſation der Verwaltung, bei welcher 
der Regel nad) die Behörden aus Collegien beftehen, nennt man das 
Collegialſyſtem. Den Gegenfag hiervon bildet das büreaufras 
tifhe Spftem der Verwaltung. Buͤre au hieß urfprünglich ber wol⸗ 
lene Zeppih, womit man die Schreibtifche bedeckte, und bezeichnet 
dann den Schreibtifch felbft und endlich auch die Schreib ober Ges 
fhäfte-Stube. Unter dem büreaufratifhen oder Öüreaus 
Syſtem verfteht man eine folche Verwaltung der öffentlihen Ge 
[häfte, dag auf jeder befondern Stufe des Verwaltungsorganismus 
nur ein einzelner Mann die Gefchäfte leitet und die Beſchluͤſſe faßt, 
und daß ein folcher Chef wohl Arbeiter, Werkzeuge oder Gehülfen, 
namentlich in feiner Gefhäfts-Stube, in feinem Büreau hat, melde 
auch mohl ihm Auskunft und Math ertheilen können, aber nicht feine 
Semwaltsgenoffen find, Feine entfcheidente, fondern hoͤchſtens nur eine 
berathende Stimme in ber Gewaltsausuͤbung haben. 

Man kann die beiden genannten Verwaltungsſyſteme blos auf 
die eigentlichen Staatsbeamten » Einrichtung im engeren Sinne bes 


Gollegium. 517 


ſchraͤnkt denken. Doch kann man fie aud ala mit bes ganzen ver⸗ 
faffungsmägigen Berwaltung ber gefellfchaftlihen Angelegenhei« 
ten in Verbindung flehend betrachten. . Denn in der Kegel ift mit 
der Herrſchaft des. Collegialfpftems in einem Staate auch das verbuns 
den, daß die Gefchäfte nicht blos von eigentlichen Stäatsbeamten ober 
Dienern ber Regierung berathen und befchloffen werden, fondern daß 
auch die Bürger in dem betreffenden Verwaltungskreis wenigſtens 
durch Ausfchüffe oder Repräfentanten Theil nehmen, direct oder indirect 
mitberathen und mitſtimmen, ſo wie z. B. in Beziehung auf einen 
großen Theil der Staatsverwaltung die Reichs⸗ oder Landſtaͤnde, in 
Beziehung auf die Angelegenheiten der Provinzen bie Provinzial⸗ 
oder Landräthe, in Beziehung auf. bie Berichte, die Geſchwornen; baf 
jebenfalld von folchen Vertretern des regerten Volks alle Verwaltungs⸗ 
thätigfeiten mit;.conteolirt. und alle Verwaltenden auch von ben Buͤr⸗ 
gern .und ihren. Vertretarm wegen Verletzungen ‚verantwortlich gemacht 
werben Tönnenz- Laß dagegen alle Mitglieder. ber Collegien auch gegen 
die Willkuͤr der Regierung gefichert. und, nur auf einem rechtlichen 
Wege derfelben verantwortlich find. Alsdann Tann man ein folches 
Berwaltungsſyſtem «in repräfentativ = collegialifches nennen. 
Eben fo ift mit dem buͤreaukratiſchen Syſteme umgekehrt gewoͤhnlich 
ein autokratiſches Princip verbunden, welches die Theilnahme der 
Regierten ausſchließt und bie Verwaltungsbeamten allein ihren vor⸗ 
geſetzten Beamten und zuletzt dem autokratiſchen Chef bee Regierung 
verantwortlich, fie dagegen auch, ohne alle geſicherte Stellung, gaͤnz⸗ 
lich non der höheren Willkuͤr abhängig macht. Dan kann dann die⸗ 
ſes Syſtem das. aut⸗kratiſch⸗büreaukratiſche nennen. 

..Bei freien Nationen und namentlich bei den germaniſchen herrſchte 
in der Megel das rvepräfentativ=collegialifhe Spftem vor. Won ber 
Gemeinde ober der" Decanie, von dee ‚Gent, fpäter dem Kirchfpiel 
‚oder Amt, dem. Gau und dem Herzogthum oder ber Provinz bis bins 
auf zu. Kaifer und Meich’ wurden. bie Rechtspflege und die übrige Vers 
maltung. regelmäßig‘ fo gehandhabt, daß zwar der Kaifer oder ein dfs 
fentlicher. Beamter eine Praͤſidlal⸗ und Direstorials Gewalt ausübten, 
daß aber unter derer Leitung einem. Collegium, großentheils aus ben 
Vorwalteten oder.ihren Wustretern beſtehend, Berathung und Schluß⸗ 
faſſung zuftand.: Und .matürlich konnten hierbei auch die Verwalteten 
„Hälfe. gegen verlttzende Beſchluͤſſe ſuchen und. die. Verwaltungsbeamten 
verantwortlich machen. Dazu fand :theils ein regelmäßiger Inſtanzen⸗ 
zug.;ober ein Beſchwerdetecht über. die Entfcheibungen der. unteren 
Stiellen bei ben oberen ftatt, theils hatte:namentliih Karl der Große 
noch beſonders, um bie Geltendmachung dieſer Verantwortlichkelt und 
die Beſtrafung der Verletzungen durch die Beamten zu erleichtern, das 
Inſtitut der koͤniglichen Sendgrafen erfunden, welche die Provinzen 
bereiſten und in den ‚öffentlichen Verſammlungen die Klagen gegen bie 
Beamten vernahmen, unterfüuchten amd. ihre Willkuͤrlichkeiten und Ber: 
geben durch das Volksgericht oder die Anzeige beim Kalſer zur Strafe 


Hi Gollegium. 


braten. Gegen Willkuͤr des Kaifers dagegen waten bie lebenslaͤng⸗ 
lich ernannten Beamten gefhügt. Bekannt iſt es, daß die chräfktiche 
Kirche, wie es befonders auh Walafrid Strabo Kervorhebt, nach⸗ 
dem fie früher als Staatliche im befpotifchen roͤmiſchen Reiche zum 
Theil die bdefpotifchen römifchen Wertwaltungseinrichtungen angenommen 
hatte, in ben freien germanifchen Völkern ihren Berwaltungsorganid« 
mus ‘ganz jenem freien germanifchen nachbildete, welches auch den 
riftlihen Grunblehren und der erften chriftlichen Kirche entfpradh. 
Durch die Hierarchie aber erhielt fie freilich wiederum befpotifchere 
Formen. 
Den reiten Gegenſah dleſes vepräfentativen, colleglalifhen Sy⸗ 
ſtems bes Germanen bilden die orientalifchen Verwaltungseinrichtun⸗ 
gen, Hier wurden und werden noch von dem Sultan und Vezier 
und Paſcha herab bis zum unterſten Beamten die Beſchluͤſſe regelmaͤ⸗ 
Big von Einem einzige Beamten gefaßt und nach feinem Befehl ver 
waltet. Auch findet eine elgmtliche Derantwortlichkeit der Beamten 
nur gegen die Vorgeſetzten odeb nur inſoweit ftatt, als dieſe ſich durch 
Nichtbefolgung ihrer Befehle verletzt fuͤhlen. Es findet mithin auch 
kein Inſtanzenzug ſtatt. An eine feſte, geſetzlich geſicherte Stellung 
dieſer Beamten denkt man dort natuͤrlich ebenfalls nicht. Soweit es 
mit noch einiger Schonung ber Reſte der Formen der Freiheit verein⸗ 
barlich war, und mit Ausnahme der collegialiſchen Organifation . aller 
Gerichtshoͤfe und des Geſchwornengerichts, hatte bekanntlich Mapo⸗ 
levn in Frankreich dieſes orientaliſche autokratifch» buͤreaukratiſche Sy⸗ 
ſtem durchgefuͤhrt und ſelbſt das Princip der Verantwortlichkeit ber 
Beamten gegen die Buͤrger aufgehoben, indem kein Beamter ohne 
Megierungserlaubnig von den Buͤrgern wegen Verletzungen durch feine 
Amtshandlungen belangt werden durfte, während: umgekehrt alle Ver⸗ 
twaltungsbeämten gegen Willkür des Kaifers durchaus keine geſicherts 
Stellung hatten. Selbft noch jegt befteht dieſes Syſtem großenthefle 
in Frankreich, obmohl gemildert durch bie Preßfreiheit, bie ſelbſtſtaͤn⸗ 
digeren Reichskoͤrper, bie Verantwortlichkeit der Miniſter und bie et 
was freieren Departementals, Arrondiſſements⸗ und Municipal Räthe. 
Die Beurtheilung dieſer verfchiedenen : Spfteme hängt natuͤrlich 
vor Allem von den hoͤchſten Grundfägen oder ben Grundgeſetzen und 
Brundprineipien des Staates und den ‚dadurch beilimmten ſten 
Aufgaben aller Staatsverwaltung ab. Im deſpotiſchen Staat: iſt de 
Grundgefeg nicht die ſouveraine Herrſchaft eines objectiven, « i 
anerkannten Rechtsgeſetzes, ſondern ber Wille und Genuß des: Deſpr⸗ 
ten und ihre moͤglichſt ſchnelle Befriedigung, und ſoweit biefa:08 "ge- 
ftatten, Wille und Genuß der Mächtigen ober ber-Weziere und Satta⸗ 
pen und fo ftufenweife herunter. Das Grundpiineip der Vollziehung 
der höheren Befehle für. bie Untergebenen aber if} Sinnlichkeit . und 
Furcht und durch fie beflimmter, blinder Gehorfam. Eben fs .menig, 
als ein- auf dem gemeinfchaftlichen Geſellſchaftswillen beruhendes objertives 
allgemeines feftes Gefeg, Haben hier die Wegierung und die Beamten 


Gollegium. 519 


objective heilige NRechtsanfprühe der Megierten zu achten. Es gibt 
alfo bier auch keine Nothwendigkeit einer möglichft forgfältigen und 
geeigneten Berathung jeden Befchluffes der Wermältung, daß fie mög: 
lichſt jenen allgemeinen objectiven Gefegen und Rechten entfprechen. 
Es befteht hier auch nicht, fo wie im Rechtsſtaat, das Grundprincip 
der Befolgung alter oͤffentlichen Maßregeln in der freien Achtung ber 
Grundgeſetze, bed allgemeinen freien Volkswillens und ber ihm ent: 
fprehenden Maßregeln. Hiernach ſchon iſt es wohl Mar, dag im All 
gemeinen das reprafentativ =.collegialifhe Spflem dem Rechtsſtaate, das 
autofratifche und büreaukratifche Syſtem dagegen ber Defpotie ent 
ſpricht. Insbeſondere wird auch, ganz abgefehen von den unmittel: 
baren Vorfchriften der Verfaſſung, die möglichfte Zuziehung von Re: 
präfentanten des Volks bei der Verwaltung dem Grundgefeg und dem 
Grundprincip der freien rechtlichen Regierung entfprehen. Das erfann- 
ten denn auch die Megierungen, als in unferer Zeit ber Rechtsſtaat 
wiederum lebendigere Anerkennung und Achtung erhielt. Sie umga: 
ben, bemwußter oder unbewußter beflimmt durch das Weſen, das Grund- 
gefes und Grundprincip bes Nechteftaates, fi) ober die Minifter, die 
Beamten in den Provinzen und Gemeinden toieder mit Volle: und 
Land» und Gemeinde-Räthen und ftellten auch fonft, 3. B. in den 
unterften Inftanzen der Juſtiz, wieder collegialifche Einrichtungen ber. 
Dadurch kam die Hffentlihe Achtung des Mechts wieder zu größerer 
Kraft. Die öffentlichen Belchlüffe entfprachen mehr derfelben und bem 
Wunfd und Bedürfnig der Megierten, wurden leichter und williger 
vollzogen. Ganz befonders aber find in England in diefer Beziehung, 
neben den freien Städtes und Kirchſpiels⸗Verfaſſungen und Affocia- 
tionen, neben ber Freiheit ber Petitionen und ber Preffe, bie viertel 
jährigen Vereinigungen der Friedensrichter einer Graffhaft mit Zu: 
iehung von Gefchwornen und ihre Entfheidungen über die allgemei- 
nen Graffchafts- Angelegenheiten und über die Beſchwerden gegen die 
Verfügungen der einzelnen Sriedensrichter von großer Wichtigkeit. 

Je mehr nun auf folche repräfentative Weife die Mitberathung 
und Controle freier, felbftftändiger Bürger und die Verantwortlichkeit 
aller Regierungshandlungen auch gegen fie verbürgt find, um fo eher 
kann dann bei den Staatsbeamten im engeren Sinne eine collegialifche 
Drganifation da nachgelafien werden, wo etwa bie Vortheile einer 
nicht colleginlifhen Einrichtung überwiegen follten. Es müffen daher 
auch noch zunädıft in Beziehung auf die Drganifation blos der Staate- 
beamten im engeren Sinne die Vortheile und Nachtheile ber collegia- 
len Einrichtung geprüft werden. 

Die collegiale Gefhäftsbehandlung hat den Hauptvortheil, daß fie 
individuelle, fubjective Einfeitigkeit, Uebereilung, WEL: 
tür und Gewalt mehr ausfhliegt und eine vielfeitigere, veifere 
Erwägung, eine befonnenere, beſſer controlirte, Eurz eine mehr dem 
objectiven Nationalgefeg und Recht entfprechende Schlußfaffung ver: 
ſpricht. Mehrere Mitglieder eines Collegiums haben verfchiedene, zum 


520 Goll:gium. 


Theil entgegengefegte individuelle Standpunkte und Anfihten. Eile 
haben nicht fo leicht Alle diefelbe vorgefaßte Leidenfchaftliche Anſicht, 
decken alfo die Bloͤßen und Geſetzwidrigkeiten ber Anfichten eines eins 
zelnen Meferenten auf, verhindern ihn durch ihre Gontrofe, daß er 
ſich dieſen Cinfeitigfeiten überläßt, find auch ſchwerer beſtechlich und 
haben zuletzt nur das allgemeine objective Geſetz und Recht zum ge⸗ 
meinſchaftlichen Vereinigungspunkt. Und wenn zumal nicht gaͤnzlich 
und fuͤr immer ihre Verhandlungen der Kenntniß ihres Volks ent⸗ 
zogen bleiben, ſo liegt es in der Natur der Sache, daß, wenn auch 
geheime Neigungen die Mehrzahl der Collegiumsmitglieder fuͤr ſich 
allein auf den unrechten Weg hinziehen wuͤrde, ſie dennoch den Grund⸗ 
ſaͤtzen der Ehre und Pflicht, welche auch nur von einem Mitglied 
offen Uund ktaͤftig geltend gemacht werden, nicht leicht widerſtehen. 
Auch behalten ſie alsdann keine Entſchuldigung fuͤr das Verkehrte 
uͤbrig. Es bilden ſich zugleich in den Collegien dem objectiven, 
allgemein erkennbaren, feſten Rechtszuſtand entſprechende feſte Maris 
men. Und durch alles dieſes genießen die Collegien groͤßeres Zutrauen, 
hoͤhere Achtung, und freie Buͤrger fuͤgen ſich leichter und williger ih⸗ 
ren Beſchluͤſſen, ſelbſt da, wo ſie ihnen unangenehm ſind. 

Gegen dieſen weſentlichen Hauptvortheil der collegialen Einrich⸗ 
tung, der im Allgemeinen ſicher die beſſere, dem Rechtsſtaat entſpre⸗ 
chendere Geſchaͤftsbehandlung verbuͤrgt, fuͤhrt man denn als Nachtheile 
und mithin zu Gunſten des Buͤreauſyſtems fuͤr's Erſte das an, daß 
durch die Verwaltung von Einzelbeamten die Regierungsgeſchaͤfte für 
die Gentralgemwalt erleichtert, daß Geld und Zeit und Kraft erfpart 
würden. Doch wird hei irgend michtigen Gefchäften in einem tüd- 
tigen Staat ſtets die Hauptruͤckſicht die ſein, daß ſie gut, nicht daß 
ſie bequem, muͤhelos und wohlfeil verwaltet werden. Die Fehler bei 
ber fchlechtern Verwaltung koͤnnen leicht in jeder Hinſicht ungleich 
theurer zu ſtehen kemmen. Auch ein zweiter dem Gollegiafinftern 
vorgeworfener Nuchtheit, dag in Gollegien Schlendrian, zu viele Schreis 
berei und geifttödtende Formen, oft auch ein einfeitiger Einfluß des Refe⸗ 
tenten fiegten, entjcheidet nichts, weil alle diefe Nachtheile durch gute Eins 
richtung, Auffiht und, foweit fie hier möglich ift, auch durd die Con⸗ 
trole ber öffentlichen Meinung befiegt werden konnen. Ein dritter 
Nachtheil fol in der bei Gollegien fchmwerer zu handhabenden Berants 
wortlichkeit beftchen, weshalb man namentlih oft vom Standpunfte 
ber Verantiortlichkeit der Minifter aus die Nothwendigkeit uncolles 
gialer und vorzüglih auch willkuͤrlich entlaßbarer Unterbeamten bes 
bauptet. Aber es fcheint bei der Vorſchuͤtzung diefer Verantwortlich⸗ 
£eie entweder viel Mißverſtaͤndniß oder viel kluge Taͤuſchung mit unter 
zu laufen. Abgefehen davon, daß dieſe WVerantwortlichteit in den 
meiften Staaten wohl noch nicht vielen Miniftern unruhige Nächte 
verurſachte, fo ift ja ihe Sinn gar nicht der, die Minifter für etwas 
Anderes verantwortlich zu machen, als fir das, was fie den bes 
fiehenden Verhaͤltniſſen nach felbit durch eigene Nach— 


Collegium. 521 


käfftgleit ober böfe Abſicht verſchulbeten. So wenig man 
ben Sinanzminiftee für jeden Receß dee Caſſenverwalter des Landes 
verantwortlich macht, fo wenig wirb Jemand daran denken, einen 
Minifter für die etwaigen nachtheiligen Folgen verantwortlich zu mar 
den, bie blos aus ber Unentlaßbnrkeit ober ber geficherten Stellung 
und aus der collegialen Einrichtung ſeiner Unterbehörden- entſtehen. 
Ueberwiegen alfo nur die Vortheile biefer Einrichtungen. an. fi, fo 
ann die Verantwortlichkeit der Miniſter gar nichts daran Ändern. 
‚Anders wäre es, wenn: die collegialen Beamten felbft auf bedenkliche 
Meife aller Verantwortlichkeit entgingen. "Das ift aber keineswegs der 
Sal. Beſtechung und treulofer, böfer Wille kommen umgekehrt ges 
trade bei einzelnen Beamten viel ſchwerer zu. Tage, als bei heibivege 
gut befegten und gut controlirten Golegien, und eine gute Aufficht 
fann es bemirken, daß auch bei Nachläffigkeit und Ungeſchicklichkeit 
von collegialifhen Beamten der Schuldige fi) nicht hinter die Colle⸗ 
gen veriteden und ba er von den Motiven der Ehre und. Scham, 
des Wetteiferd u. f. w. ebenfo gut erreicht werben kann, als ber oft 
feen von aller höheren: oder gleichen controlicenden Auctorität flehende 
Einzelbeamte. Für die Miniſterverantwortlichkeit ift nur fobiel nös 
thig, daB für das, was jeder Minifter, in feinem Departement vers 
fügt und vollzieht, jedesmal er durch feine :Unterfchrift. verantwort⸗ 
lich) wird, und daß bei allgemeinen, im: Minifterrath (Geheimenrath, 
Staatsminifterium u. ſ. .w.) befchloffenen Maßregeln immer Keftimmte 
Minifter, einer, mehrere, ober alle,; umtergeichuen: und durch dieſe 
Unterzeichnung verantwortlich werden. Ein .nierter.unb ein wirklicher 
Vorzug der Eimzelbsamten vor ben. Collegien iſt allerdings. der, daß 
die Geſchaͤftsbehandlung und Vollziehung höherer Befehle durch Ein⸗ 
zelbeamten ſchneller, energifcher, gleihmißiger.undr:buchh leichtere Beweg⸗ 
uchkeit der ganzen Behörde und ihr Setbftfehen und Selbfthören an Drt 
und Stelle den augenblidlihen und individuellen Umftänden entfprechender _ 
fein kann. Und diefer Vorzug kann für gewiſſe VBerhältniffe, & 
B. für den Dienſt des activen Kriegsheeres, ober für gewiſſe Polizeiges 
ſchaͤſte die Vortheile dee collegialen Einrichtung allerdings überwiegen. 
Doch muß diefe legtere die. allgemeine Regel bleiben für. den Rechts⸗ 
ftaat, vollends für alle Arten der Ausübung. der Gerichtsbarkeit. Und 
nie dürfen die oben erwaͤhnten .befpotifchen Seiten eines -autokratk 
(hen Buͤreauſyſtems, 3. B. Unnerantwortlichkeit gegen: bie. Bürger 
und ihre Nepräfentariten und Schuglofigkeit der Beamten ‚gegen: höhcke 
Willkuͤr, eintreten. — rt Fer. By RE 

Uebrigens haben Beamtencoflegien und, ihre Mitglieder die Rechte 
und Pflichten nit der Sorietätsgenofien, fondern ber. moralifchen 
Derfonen und Ihper Mitglieder. Nur find‘ fuͤr fie die werfaflumgamd: 
Bigen Staatsgefege für ihre Amtspflichten als: unabiänberliche Statuten 
anzufehen. Die Rechte der Mitglieder. ſind an ich geich, und. auch ‚bie 
Präftdials oder Directorial⸗Gewalt · begruͤndet · nur einen. Wazzug- ums 
ter Gleihen, keine Obergewalt. Dad. Medıt,::fich idurch Ausführung 


522 Colliſion. 


ihrer beſonderen Gegengruͤnde (Sephratvota) gegen bie wenigſtens mos 
raliſche Verantwortlichkeit eines Mehrheitsbeſchluſſes zu ſchuͤtzen, ſteht 
jedem Mitglied zu. — Die Literatur ſ. m Klüber's öffentl. 
Recht $. 348. .. G. Th. Welder. 
Eollifion des Gefege und Rechte; hypothetiſche 
und abfolutgebietende Geſetze. Unter Gollifion verfieht man 
ein foldyes Zufammenftoßen oder Zufammentreffen. verfchiedener Kräfte, 
daß beide nicht zugleich wirkfam fein können, : ſondern eine der anbern 
weihen muß; wie 3. B. wenn ein Geſetz eine beftimmte Handlung 
verbietet und ein anberes biefelbe Handlung erlaubt. Bei ber großen 
Menge und Verfchiedenartigkeit unſerer Gefege, unferer diteren unb 
neueren roͤmiſchen, beutfchen und canonifchen, unferer Reichs⸗ ober 
Bundes⸗ und Landeds, Provinzs und Ortsgeſetze, find ſolche Colli⸗ 
fionen ber Geſethze und ber durch fie begründeten Mechte leider 
etwas fehr Häufiged. Man pflegt nun nach einzelnen gelegentlichen 
gefeglichen Entſcheidungen folcher Collifionen, vorzüglid im roͤmiſchen 
und canonifchen Recht, eine große Reihe zum Theil einfeitiger und 
ſich ſelbſt widerfprechender Regeln für diefelben aufzuftellen. Die Haupt⸗ 
fahe iſt auch bier, wie in allen Lehren über das Gefeg, daß man 
vor Allem von dem wahren gefehgeberifchen Willen als dem We⸗ 
fen bes Gefeges und von ber Ausdehnung ber geſetzlichen Kraft des 
gefepgeberifhen Willens ausgehe und barnady bie Regeln zu bilden 
ſuche. In dieſer Beziehung muß man nım vor allen Dingen die 
abfolutgebietenden und die hypothetiſchgebieten den Ge 
fege unterfcheiben. Abfolutgebletende Gefege find ſolche Beſtimmun⸗ 
gen, welche die böchfte gefellfchaftliche Gewalt eines beftimmten gefells 
fhaftlichen Lebenskreifes aus Gründen bes allgemeinen öffentlichen 
Wohles allen Bürgern und Wehörben als abfolut nothwendig erklärte 
und Ihnen als unbedingte Pflicht vorfchrieb, wie 5. B. das Ver⸗ 
bot der Vielweiberei. Hypothetiſchgebietende Geſetze find ſolche, welche 
nur in ber Vorausfegung, Hypothefe, gelten follen, daß die Buͤr⸗ 
ger ſich nicht ſelbſt ihren Verhaͤltniſſen angemefiene Beſtimmungen zur 
Regulirung beftimmter Verhaͤltniſſe begründen, welche alfo nur bei 
dem Mangel. ſolcher Beſtimmungen die Rechtsungewißheit aufzuheben 
und eine gleichfoͤrmige und im Allgemeinen paßliche Eutfcheidung ber 
Behörden und insbefondere auch ber Gerichte zu bewirken beflimmt 
find. Sp ift z. B. bie Beſtimmung, daß es bei ftillfchmeigender 
Hortfegung einer abgelaufenen Miethe fo angefehen werben foll, als 
hätten bie Parteien bie Miethe noch einmal auf bie ganze frü:> 
her beftimmte Bett: erneuert, fofeen durch Vertrag ober Ortsge⸗ 
wohnheit nichts Anderes beſtimmt ift, ein hypothetiſches Geſetz. Bei 
weitern.beu größere Theil der Privatrechtsbeflimmungen und felbft ein, 
wenn auch: verhaͤltnißmaͤßig nur Meiner, Theil der Beſtimmungen in 
ben aͤffentlichen Rechtsverhaͤltniſſen iſt hypothetiſcher Natur in jeder 
wönhrhaft bie Freiheit achtenden Geſetzgebung. Jede politifhe Gewalt 
muß, ſoweit nicht das Geſammtintereſſe gebietgrifch das Gegentheil 


’ 
. -_— 





Colliſion. 523 


heiſcht, den einzelnen Buͤrgern, Gemeinden, Staͤbten, Provinzen und 
Bundeslaͤndern bie Freiheit laſſen, nach ihren beſonderen Ueberzeu⸗ 
gungen, Beduͤrfniſſen, Verhaͤltniſſen in ihren Kreiſen die geſellſchaft⸗ 
lichen Angelegenheiten zu ordnen. So überließ: es 3. B. das allge: 
meine Reichsgeſetz der Carolina (f. oben ©. 273), bei einer gros 
fen Reihe von Beflimmungen, die fie biernach für blos hypothetiſch 
erflärte, den einzelnen Lanbesgefeggebungen, anbere ihnen zweckmaͤßi⸗ 
ger fiheinende Beſtimmungen zu befolgen ober zu begründen, während 
fie bei ande, alfo abfolutgebietenden, Beftimmungen jede frühere ober 
fpetsne entgegenftehende Ianbesgefegliche Beſtimmung für ungültig ers 
klaͤrte. 


Dieſes vorausgeſetzt, laſſen fich nun ‚zur: Schlichtung der Colli⸗ 
ſionen widerſtreitender Geſetze und ber durch fie begründeten. Rechte 
und Verbindlichkeiten folgende Dauptregeln..aufftellen. | 

I. Alte abfolutgebietende Gefege gehen ftets den blos hypothetiſch⸗ 
gebietenden vor. Dieſes folgt unmittelbar aus dem gefeglihen Sinn 
und Willen dieſer Geſetze ſelbſt. 0 

II. Von deu abſolutgebietenden Gefetzen geht ſtets das 
allgemeinere oder von der allgemeineten und höheren 
gefeltfchaftlichen Gewalt ausgehende bem fp.ectelleren oder unterge: 
orbneten abfoluten ober hypothetiſchen Geſetz Yor. Go ging alfo fruͤ⸗ 
her das abfolute Reichsgeſetz dem Lanbesgefeg wor. Das abfolute Lan⸗ 
desgefeg geht dem Provinzlalgefek,, das Provinzialgeſetz dem Ortsgeſetz, 
diefe® der autonomifcher und Privamertrags: Beflimmung vor. Es 
folgt diefes unmittelbar aus der Unterordnung: ber-Heineren Gefrllfchafte: 
reife unter bie hoͤhere Gewalt ber. größeren :unb- aus der Abficht. der 
von der höheren erlaffenen abfolutgebietenben Gefege, baß fie um bes 
größeren allgemeinen Wohle willen unweigerlich Im ganzen Umfang 
ihres Gebiets befolgt. werden. Ob und inwieweit dieſes nun auch 
von ben Bunbdesgefegen in Beziehung auf:die Bandesgefege gilt, bie 
fe8 hängt von der Frage ab, ob der beutfche Bunb ein wirklicher Bun ⸗-⸗· 
desſtaat mit fouverainer, wahrhaft ‚gefeßgebender: Gewalt ift und alſo 
die volle perfönliche Souverainetät ber beutfchen. Regierungen: „aufhebt, 
oder ob er nur ein rein völßerrechtlicher Bundervertrag ſouveraimer Staa⸗ 
um iſt ( S. oben Bund 'S, 97 ff. und unten beutfher Bund). 
Im :lepteren Falle tft es Bas völlig Angemefiene, daß bie Bundeggeſetze, 
ſowelt ‘fie auf landesverfaffungsmaͤßigem Wege. gültige Landesgeſetze gy⸗ 
worden find, lediglich als ſolche gelten;:' ſonſt aber nur nach der Glas: 
ſel in den einzelnen Ländern zur Anwendung kommen, weiche z. B. 
Baiern bei der Publication der Garisbader Beſchluͤſſe ausdruͤcklich hin⸗ 
zufuͤgte, „ſoweite ſie naͤmlich nicht mit dem Landesverfaſſungsrecht (ben 
ie abfolutgebietenden Lanbeögefegen): im Widerfprudge 

ehen.“ Pr — —— Fa Bere Be Pe EP EEE Ze 

III. Bei der Colfifion von blos Yyporhetifh grbietenden 
Geſetzen unter ſich gilt eine gerade. umgekehete Kangerbuung:. „Ber 
beſondere Verting geht 'hler'. dem Drtsgefetz, bieſes dem Peebinzial -, 


524 Colliſion. 


dieſes dem Lanbesgefeh und dieſes wiederum dem Reichs⸗ und, Bun⸗ 
descecht vor. Dieſes bezeichnet das deutſche Rechteſpruͤchwort: „Stadt⸗ 
recht bricht Landrecht, Landrecht bricht gemein Recht.“ Daſſelbe koͤnnte 
in Deutſchland um ſo mehr allgemein, freilich nach II. immer noch 
zu allgemein, ausgedruͤckt werben, weil, bei der. großen Achtung ber 
Deutſchen fire die autonomifche Freiheit ber‘ Bürger, bie allermeiften 
Gefege nur hypothetiſche Gefege waren. 

IV. Wenn gleidy: allgemeine abfolutgebietendbe Gefege unter ſich 
collidiren, und eben :fo:.bei’ber Collifion gleich allgemeiner ober . gleich 
ſtarker hypothetifcher Gefege unter fich, geben: bie einheimifhen 
Gefege den nur zur Aushülfe (oder ia subsidium) aufgenams 
menen fremden’, namentlich zömifchen ober canonifchen, Gefehfn vor. 
Aud) biefes folgt wiederum aus: ber gefeslichen Abficht, daß letztere nur 
für den Fall gelten. folten; wenn es an einheimiſchen Rechtöbeftines 
mungen fehlte. u r 
V. Nah dem hiſtoriſchen Sinn der Aufnahme des canoniſchen 
und roͤmiſchen Rechts geht in ber Regel, oder bis beſondere Ausnah⸗ 
men machgewieſen werben, das canoniſche Recht dem roͤmiſchen vor. 
VI. Wenn gleich: allgemeine abfolutgebietende und nad) IV. and 
V, dem Hiftorifchen Urſprunge: nach gleich ſtarke Gefege mit einander 
in Collifion kommen, :und :edenfalks bei einer Colliſion gleich allgemeis 
ner abfolutgebietender: and dem Hiftorifchen.. Urfprunge nadj gleicher Ges 
fege, gehen die jüngeren, b.. h. bie fpäter publicirten Geſetze oder 
Geſetzſammlungen, ben früher publichten :ober älteren vor. Diefe 
Regel folgt von felbfi:baraus, daß durch das neuere Geſetz, welches 
einem älteren widerſpricht, ſich der mwahre:lebendige Wille der: Geſetz⸗ 
sebung ausdrudt, daß nicht mehr das Ältere, fomeit es oiderfpricht, 
fondern das neuere gelten. folle..: Aber bies@efeggebung muß bie rechts 
liche Gewalt haben ‚:biefeä rechtögültig wollen: zu. fönnen und es auch 
wirklich wollen. Daher: kann diefe Regel: vom Vorzug bes neueren 
Rechts nur erſt nach: jenen früheren Regeln und nur erft mit der 
angeführten Befchraählung gelten, ‘was man gewoͤhnlich überficht. - . 
"VIE Be fonfliger..Gteihheit der Geſetze geht im Gollifinnefalle 
die Ausnahme von der allgemeineren: Regel dieſer Regel vor, weit. 26 
eben die Abſicht des Geſetzgebers war, it. biefem Kalte die Goͤttigkeit 
‚der allgemeineren Regel zu beſchraͤnken. So geht:glfo ein ſogenanntes 
ſingulares Recht, 3. B. eine: allgemeine. Abweichung von dem ge 
meinen Recht ruͤckſichtlich ‚bes; Buͤrgſchaften, zu Ganflen.aller rauen, 
dem gemeinen Kecht vor,. mb wiederum eine für nur individuell 
beftimmte Perfonen :uwab‘ Sachen gemachte Ausuahee,. oder ein:-Pei: 
»vileginm, dem finguläten. Recht. Und ganz nach dewſelden Grund⸗ 
ap muß dann auch wieder ein mehr ſingulaͤres Recht und ein: fprcief- 
leres Privilegium dem weniger ſingulaͤren und weniger ſpeciellen vor⸗ 
gehen, 3. B. ein Privilegium des einzelnen Buͤrgers dem whderſtrel 
tenden Privileg ſeiner ganzen Stadt. 

VL Eben fo gehen bei- fonft gleichen : Geſetzen diejenigen kefons 


Colliſion. Colluſion. 525 


deren Beſtimmungen, bie, nad ber verfchiebenen Natur ber Rechts⸗ 
verhäftniffe, zunaͤchſt für einen befondern Kreis biefer Mechteven 
hältmiffe gegeben find, denen vor, welche zunddft für einen andern 
Kreis berechnet waren. Es gehen alfo 1) die in Beziehung. auf bie 
bleibenden perfönlihen Verhältniffe und rechtlichen Eigenſchaf⸗ 
ten oder Perfonenrechte der Bürger, 3. B. die zur Feflfegung: der Beit 
ber Großjährigkeit, gegebenen Beſtimmungen (statuta personalin) bes 
Orts, welchem ber Menſch zunaͤchſt perfönlich angehört, überall 
andern perfönlihen Statuten vor. Er wird, wo er auch voruͤberge⸗ 
hend ſich befinde, überall nach den perſonenrechtlichen Statuten feiner 
Heimath beurtheilt. 2) Es gelten ebenfo bie für bie unbeweglichen 
Sachen eines beftimmten Diftricts gegebenen ſach enrecht⸗ 
lichen. Beltimmungen (statuta realia) ſtets für. diefe Sachen, ihre 
Beſitzer mögen ſich befinden, mo fie wollen. 8) Auf gleiche Weife 
endlich gelten die Gefege, welche fir bie In einem beftimmten Diftrict 
ftattfindenden Gefchäfte und Handlungen bie obligationenrechtlichen 
Formen und rechtlichen Folgen beftimmen . (statuta mixta), für alle 
Handlungen und Befcäfte in dieſem Diftricte, 3. B. für Proceßge⸗ 
{häfte, Contracte. Auch auswärts wird alſo bie Stage über die Guͤl⸗ 
tigkeit und die rechtlichen Folgen diefer Gefchäfte nach ben Geftgen 
des Drts, wo fie vorgenommen 'mwerden, beurtheilt. - 

Es märe nicht ſchwer, dieſe Negeln, welche aus bem wirklichen 
und rechtsguͤltigen oder dem Umfang der geſetzgeberiſchen Macht ent⸗ 
ſprechenden Willen abgeleitet ſind, auch durch unſere poſitiven Geſetze 
gegen bie zum Theil abweichenden und verwickelteren Regein, wie fie 
mit der betreffenden Kiteratur fi 3. B. in Thibaut's Pandelten 
6. 37, 38 u. 86 finden, zu vertheidigen und fie nach ihren Folge 
fägen weiter auszuführen. Sin ftaatsrechtlicher Begiehung jedoch ſcheint 
das Bisherige zu genügen. C. Th. Welder. 

Colluſion. Im Allgemeinen verſteht das Geſet unter Celluſion 
das auf rechtswidrige Taͤuſchung Dritter gerichtete. Verabreden ). &o 
nennt 3. DB. das Gefes ein Verabreden zmwifchen dem Bevollmächtigten 
des Verkäufers und dem Käufer zu bem Zwede, um einen zum Nach⸗ 
theil des Verkäufers gereichenden Kauf durdy Herabdrüden des Kaufpreis 
fes zu Stande zu bringen, Gollufion. **). Das Gefeg beſtimmt, daß 
eine folche Handlung feine Nechtögültigkeit haben fol. Außerdem bes 
droht das Gefeg jede Gollufion, welche ben Charakter eines beftimmten 
Vergehen annimmt, mit der Strafe, welche diefem Vergehen entipricht. 
So trifft den Sachwalter, welcher mit dem Gegner feines Glienten cols 
ludirt und fic) fo des Verbrechens ber Prävarication [huldig madıt, 
die Strafe dieſes Verbrechens. 


*) Brissonius, De verb. signif. s. v. Colludere, Collusio etc. Tit. 
Dig. „De collusione detegenda“ (40. 16.) Tit, Cod. „De collusione dete- 
genda“ (7. 20.). 

*) L. 7.8.6. Dig. Pro emtore. L. 13. & 27. Dig. de act. emt. veud. 


526 Colluſion. 


Vorzugsweiſe verſteht man unter Colluſhon ein Verabreben be 
flimmter Art, ein ſolches, welches zum Zweck bat, eine wahrheitswis 
drige Uebereinflimmung der Auslagen mehrerer Perfonen, welche babel 
intereffirt find, daß die wahre Wefchaffenheit eines Griminalfalls nicht er⸗ 
kannt werde, vor Gericht zu bewirken und dieſen Ausſagen einen größern 
Schein von Wahrheit zu geben ). Das Motiv einer folhen Hand 
Iung tan verfchieden fein, Selbſtliebe, der Wunſch des Handelnden, daß 
um feiner ſelbſt willen bie Wahrheit nicht an ben Tag komme, Furcht 
vor dem Angeſchuldigten, deſſen Charakter von der Art iſt, daß zu ver⸗ 
muthen iſt, eine wahre Ausfage werde Ihn zur Rache reizen, Theilnahme 
für den Angefchuldigten u. f. w. 

Sowie das Strafverfahren uͤberhaupt barauf gerichtet fein muß, bie 
Wahrheit zu erforfchen, fo ift es auch eine Aufgabe deſſelben, das ent» 
fernt zu halten, was diefem Zweck entgegenfirebt **). 

Da Colluſionen bie Erreihung beffelben hindern, fo iſt es im 
Deutſchland berrfchender Grundfag, daß der Unterſuchungsrichter Mittel 
zur Verhinderung derſelben anwenden, daß er namentlich wegen Ver⸗ 
dachts von Colluſionen zur Haft ſchreiten duͤrfe. 

In dem Grad, in welchem ſich in Deutſchland der ſogenannte In⸗ 
quiſitionsproceß ausbilbete ***) und die Marime geltend machte, baf der 
Unterfuchungsrichter in der Anwendung ber Mittel für ben Zweck freie 
Hand haben müfje, in demfelben Grade bildete ſich, bei ber immer mehr 
fintenden Achtung vor der bürgerlichen Freiheit +), der Gerichtögebraud; 
aus, daß es dem Unterfuchungsrichter geflattet fei, zur Vermeidung von 
Colluſion die Verhaftung eintreten zu laffen. Bis zu bem Zeitalter ber 
peinlichen Gerichtsorbnung Karls V. war eine ſolche Maßregel für einen 
ſolchen Iwed ganz unbelannt. Auch diefes Geſetzbuch des fechjehnten 
Jahrhunderts fchweigt davon, indem es im Art. 11 ganz deutlich blos 
davon rebet, daß man Gollufionen durch Trennung der „Gefangenen“ 
verhindern folle ++). Diefe Gefegesftelle fpricht blo8 von dem Fall, 
wenn mehrere befielben Verbrechens Angefchulbdigte wegen Gefahr ber 


Martin, Lehtbuch des teutſchen gemeinen Grimin Dritte 

Ausgche Geideiderg 1831. $. 60. d. ©. 189. 140. alprozeſſes 

*) Darum M * — daß der —— nicht nicht in Gegenwart 
ber Mitſchuldigen vernommen werden foll, darum ift die 
dung bes Mittels vr Son Tontation (f. Gonftontation) auch in birfer Beier Bezies 
bung bedenklich. 

e) S. biefes Lexikon Banb I unter dem Wort: Anklage ıc. G. 575. 

+) Mittermaler: Das beutfche Gtraforzfahren 8. 67. „Bon der Ber 
haftung.“ Derfelbe: „Die öffentliche muͤndliche St pflege und das Gier 
—— in Vergleichung mit dem deutſchen "Strafocrfaheen. Landehut 


+r) Es Heißt In dem legten Sag dieſes Art. „Und warn auch ber Gefan⸗ 
enen mehr denn einer iſt, joll man fie, fo viel gefänglicher ei halb 
ein mag, von einander theilen, damit fie fich umwahrhaftiger Gage mit einans 
ig vereinigen, ober, wie fie ihre hat beſchoͤnigen wollen, unterreben 


Colluſion. 527 


Flucht verhaftet worben find *). Indeſſen wurde biefe Stelle des Ges 
ſetzes gemwaltfam zur Ausbildung einer Theorie über Verhaftung zur 
Vermeidung von Collufionen mißbraucht, und diefe Lehre, die befondere 
erſt feit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts ſich in der Literatur bes 
Strafrechts bemerkbar gemacht hat, indem bei ben ditern Griminaliften 
kaum eine Spur davon zu finden ift, behauptet noch bis auf den heuti⸗ 
gen Tag ganz ungeftdrt ihre Herrfchaft ſowohl in ben Lehr⸗ und Hand⸗ 
büchern bes beutfchen Strafproceffes, als auch in ber Mechtöpflege, fo 
bag man fagen kann, daß in keiner Beziehung Theorie und Praxis einen 
fo engen Freundſchaftsbund gefchloffen haben, als in biefer. Mögen 
auch auf bem Pergamente ber Staatögrundgefehe Worte von Schuß der 
perfönlichen Freiheit glänzen, fo find fie doch fo unbeſtimmt und lako⸗ 
niſch, daß fie kaum mehr, als ein bloßer Schall find. „Wenn man,” fo 
beginnt Mittermaiers Beltrag zum vierten Bande von A. Müls 
lers Archiv für die neuefte Gefeßgebung aller deutfchen Staaten: Neues 
ſtes Geſetz des Kantons Zürich von 1831 über die Bedingungen ber 
Verhaftung und der Entlafjung aus dem Verhaft **), „bie Beſtimmun⸗ 
- gen ber neueften Verfaffungsurkunden über die Verhaftung lief’t, fo fühlt 
man recht lebhaft die Wahrheit der Klage, daß die im Lapidarſtyl gefchries 
benen Säge der Verfaffungsurtunden gewöhnlich fo unbeflimmt und nur 
in allgemeinen Umtiffen bingeftellt find, daß man oft verfucht wirb, zu 
glauben, daß bie Goneipienten biefer Verfaſſungen abfichtlich diefe 
Sprache wählten, damit man die Unbeflimmtheit des Ausbrudes deſto 
leichter für fi) benugen und den Sag fo auslegen koͤnne, wie es nöthig 
fheint, um am wenigſten dem Volk zugeben zu müflen, und doch durch 
ben ſchoͤn klingenden Satz ber Verfaffungsurkunden ben Schein der Libes 
ralität zu retten. Es klingt wahrlich vecht erbaulih, wenn ed 3. DB. 
heißt: Niemand darf anders als in ben durch das Geſetz beflimmten 
Faͤllen und in ben gefeslichen Kormen verhaftet werden. Fragt man 
aber um die Anwendung bes Satzes in ber Erfahrung, insbefondere in 
Ländern, in welchen kein vollftändiges Criminalgeſetzbuch gilt, wo daher 
das fogenannte gemeine Recht entfcheidet, fo fieht man bald, daß man 
durch die Berufung ber Verfaffungsurkunde auf die Gefege nicht viel ges 
wonnen hat. Der Unterfuhungsrichter Läßt in jedem Griminalproceffe, 
wenn er eine Handlung für ein Verbrechen hält, verhaften, wo nur ein 
Verdacht gegen ben Angefchuldigten vorhanden iſt; ex hat auch kein Be⸗ 


*) Archiv bes Griminalrechte. Rewe Folge 1834, Stüd 2. „Kurze prakti⸗ 
ſche Bemerkungen aus ben Gebiete bes A roceſſet, don Wittermaler-— 
F In ‚„uiefern ift die Verhaftung wegen Gefahr der Gollufion zu recht⸗ 

gen “ 

**) Mit Recht bezeichnet Mitter mai er dieſes Geſet, weiches u. X. 
—— beſtimmt: „Auch alsdann kann * Pie —— wenn 
zu beſorgen ſtaͤnde, ber Verdaͤchtige wuͤrde bie Freiheit zur Verdunkelung ber 
Wahrheit und Erſchwerung der Unterſuchung mißbrauchen,“ als ein ſolches, „bas 
aa oen, weiche man an eine Regislation zu ſtellen berechtigt iſt, nicht 


528 Gollufion. 


denken, ed in Faͤllen zu thun, wo nicht entfernt eine Gefahr exiſtirt, baß 
ber Angefchuldigte entfliehen werde, wo aber eine Beforanig vorhanben 
tft, daß der Angeſchuldigte mit andern Theilnehmern bes Verbrechens fid) 
verabreden oder feine Kreiheit bazu mißbrauchen werde, um Zeugen zu 
falfhen Ausfagen zu bewegen. Da alle diefe Müdfichten nur von bem 
fubjectiven Ermeffen des Inquirenten abhängen, fo wird auf die willkuͤr⸗ 
lichfte Welfe die Verhaftung angewendet und beliebig... verlärigert, weil 
der Inquirent erflärt, daß noch immer Beforgniffe der Eollufion vorhans 
den feien” *) u. ſ. w. Micht mit der Lehre zufrieden, daß ber Anges 
ſchuldigte wegen Gefahr der Gollufion verhaftet werben koͤnne, haben 
ſich ſogar Stimmen zu dem Vorſchlag erhoben, daB man Beugen zur 
Entfernung diefee Gefahr In Haft halten koͤnne. So ſchlug 3. DB. der 
koͤnigl. bairifhe Appellationsgerichts » Präfident Graf von Lamberg 
in feiner Schrift: Entwurf zum Sffentlihen Gerichtsverfahren in peinlis 
hen Sachen (Sulzbach 1821), vor, einen Sicherheitsverwalter zu beftels 
ten, dem zur Vermeidung von Abredungen' der Zeugen ober Indicirten alle 
mögliche Mittel, ja ſelbſt nöthigenfalls proviforifche Haft der 
Zeugen zu Gebote ftehen follten **). Ja ſelbſt ber Nechtspflege find 
ſolche Theorien nicht fremd. So iſt 3. B. im 1Sten Band von 
Hitzigs Annalen der deutfchen und auslänbifhen Criminalrechtspflege 
&. 363 — 364. ein Griminalcechtsfalt ***) mitgetheilt, deſſen Darſtel⸗ 
tung einen Unterfuchungsrichter zeigt, welcher ſich nicht bebachte und fich 
durch den Art. 23. der Verfaffungsurkunde des Großherzogthums Heſ⸗ 
fen: „Die Freiheit der Perfon — tft — Feiner Beſchraͤnkung unterwors 
fen, al weiche Recht und Geſetz beitimmen,” ſowie durch den Art. 33 dies 
ſes Staatsgrundgefeges: „Kein Heffe darf anders, al& in den durch das 
Recht und das Geſetz beftimmten Källen und Formen verhaftet — wers 
ben,” nicht abhalten ließ, einen Zeugen zur Verhinderung einer möglichen 
Collufion 17 Tage lang in Haft.zu halten +). 

Die neueren Strafgefeggebungen deutſcher Staaten haben mehr 
ober weniger bie Grundfäge aboptirt, welche Lehrs und Rechtspflege 
ihnen vorhält. Die preußifche Criminalordnumg beſtimmt im 6. 209, 


9, Weiter unten hebt ber Verfaſſer auch noch ben Umſtand hervor, daß 
bie verwaltende Behörde, die Polizei, ſich neben den Gerichten bis 
Befugniß zugelteht, ganz nach Belieben Verhaftungen vorzunehmen. 

*) ©. Mittermaiers Beurtheilung diefer Schrift im 6ten Banbe bes 
Neuen Archivs des Criminalrechts ©. 828 ff. 


*) „Verſuchter Betrug gegen eine öffentliche Anftalt. Haft eines Zeugen 
sur Verhinderung von Gollufionen.“ . 

+) S. noch Bopp, Mittheilungen aus ben Materialien b. Gefegg. unb 
Rechtspflege des Großherz. Heſſen. Bd, 5. Darmfl. 183 L „Darf ein 
Unterfuchungsrichter für den Zweck der Unterſuchung, 3. B. zur Bermeibun 
von Colluſionen, einen Staatsbürger, welcher ald Zeuge ericheint, detiniren ?” 
und H. 8. Hofmann, Beiträge zur Erörterung vaterländifcher Angelegen- 
heiten, Band 1. Darmit. 1831. V. „Die perfönliche Zreiheit des Staa 
gers im Großherzogth. Heflen in ber Theorie und in ber Praxis.“ &.52—56, 


Gollufion. 529 
bag ber. Richter immer bie Verhaftung koͤnne eintreten laſſen, wenn er 
gegruͤndete Beſorgniß habe, daß der Angeſchuldigte ſeine Freiheit zur 
Verdunkelung der Wahrheit und Erſchwerung ber Unterſuchung mißs 
brauchen werde *). Nach dem oͤſterreichiſchen Strafgeſetzbuch vom 
Jahr 1803 Th. 2. $. 306. ſoll der Beſchuldigte nur dann mit der 
Verhaftung verfchont werben, wenn bie Beſchuldigung ein Verbrechen 
betrifft, welches nach dem Geſetze hoͤchſtens eine einjaͤhrige Strafe 
nad) ſich ziehen koͤnnte, zugleich der Beſchuldigte eine befannte, der 
Entfliehung halber. umverbächtige Perſon von unbefcholtenem Rufe ift - 
und aus feiner Freiheit nicht zu. beforgen fteht, daß die Unterfuhung . 
erſchwert werde **). Das Strafgeſetzbuch des Koͤnigreichs Baiern hebt 
Th. 2. Art. 121, indem es im Art. 113. Jeden, welcher einer Ueber: 
tretung angefchuldigt ift, worauf das Geſetz bie Todes⸗, Ketten= oder 
Zuchthausſtrafe gefegt hat, der perfönlichen Haft bis zum Ausgang. ber 
Unterfuhung unterwirft, befondere Fälle hervor, in welchen eine Haft 
wegen Collufion eintreten foll: „Bei Unterfuchung über Räubers oder 
Diebesbanden und andere dergleichen verbrecherifche Complotts ober 
Banden dürfen Aue, die mit den Verbrechern in Verbindung geftanden 
haben und melde eine Collufion mit ben Uebelthätern befürchten laſ⸗ 
fen, proviforifcdy verhaftet werden ***). 

Unter den Entwürfen zu Strafproceßs Orbnungen macht fi 
der Entwurf für das Königreich Hannover au dadurch bemerk⸗ 
bar, daß er vorfchlägt, auch dann eine Verhaftung eintreten zu Jaffen, 
wenn mit Grund zu beforgen fei, daß bie Freiheit zur Verdunkelung 
ber Wahrheit oder Erſchwerung ber Unterfuchung mißbraucht werde. 
©. Neues Archiv des Criminaltehts Bd. 10. Nr. I. „Der neue Ent: 
twurf einer Strafprozeß⸗Ordnung für das Königreich Hannover 2.” S. 7. 

Man mug mit Mittermater (Archiv bes Criminalrechts a. a. O.), 
indem er die verfchiebenen Zwecke, zu denen die Collufionshaft dienen 
fol, aufzählt (1. Verbannung der Nachtheile duch Befprechung unter 
den verfchiedenen Mitfchulbigen, 2. Verhinderung ber Verleitung der 
Zeugen zu falfchen Ausfagen durch den Angefchuldigten, 8. Abhaltung 
von der Vertilgung ber Spuren der That dur ben Angefchuldigten), 
unterfucht, welcher Zweck eine folhe Haft rechtfertigen koͤnne, und 
nachweiſt, daß fie aus ben beiden legten Nüdfichten nicht eintreten 
dürfe +), fich darin eimverftanden erklären, daß die Gründe für bie 
Haft zum Zweck der Vermeidung der Collufionen. unter ben Mit: 


*) Archiv des —e— hat a. a. Ds —* Le des gemeinen Crimi⸗ 
nr mi „elonderer. Berüctfich s 3 des Freuen *38 Könige: . 
erg 1 — 
”) Bor ? uch des d über Verbrechen. 
Gran 13 — 3, Yanbtud Geſetzes 
““) v. Wendt, Grund abgdge ben des teutfihen u und beſonders baveriſchen Erimi: 
nalprogefles. Erlangen, 18 
+) Noch Heffter Ichet $. PR Pro —8 des gemeinen Bauen 
Gtants s Leriton. III. a 


530 Colluſion. 


ſchuldigen ſo gewichtig ſind, „daß auch der gemeinrechtliche Richter 
und der Geſetzgeber dieſen Arreſt anwenden darf”. Allein ebenfo if 
diefem ausgezeichneten Griminaliften beizuflimmen, wenn er insbefon- 
dere fordert: 1) daß dieſer Arreft nur dann angewendet werben bürfe, 
wenn in den Umftänden des einzelnen Falls Gründe vorhanden feien, 
melde die Beforgnig der Verabredung ber Mitfchutdigen redytfertigten, 
‚was namentlic, dann ber Gall fei, wenn nad) der Befchaffenheit des ange: 
fhuldigten Verbrechens eine ftrafbare Verbindung, und zwar ein eigent 
liches Complott, fi) anzeige und fo das Dafein mehrerer Mitſchuldi⸗ 
gen nicht zweifelhaft fei, oder wenn fonft Mehrere an einem Verbre⸗ 
hen Theil genommen hätten und zugleich ſchon wahrfcheinliche Wer: 
fuche einer Verabredung zur Zäufhung des Unterſuchungsrichters ges 
macht worden wären; 2) daß ein Verbrechen indicirt fein muͤſſe, 
welches fchon eine größere Strafe zur Kolge habe, weil fonft das Uebel 
und dee Nachtheil außer Verhältniß ftehe mit bem Intereſſe, welches 
der Staat an ber Entdedung des Verbrechens habe; 3) daß die Haft 
aufhören müffe, wenn der Zweck berfelben erreicht fel, und überhaupt 
diefeibe als nutzlos exfcheine *). 


Griminalrechte. Halle 1833 (mit Martin Lehrbuch 5.109. &.285. Note .), 
der Beſchuldigte dürfte verhaftet werden, „wenn Gollufionen zwifchen ibm und 
feinen Mitfyulbigen oder den Zeugen zu befürdten feien “ 

*) In befonderer Beziehung auf Geſetzgebung ſchlaͤgt der Verfaſſer no 
vor, eine Zeit zu beftimmen, über welche hinaus ber Arreft wegen Collufica 
nicht fortbauern dürfe, indem fonft bie Gefahr zu groß fei, daß der Lnterfa 
chungsrichter die inbivibuelle Kreiheit zu lange befchränke, und bie Erfa 
zeige, daß, wenn ein geſchickter und fleißiger Inquirent bei vorhandener Abfons 
derung der Mitſchuldigen nicht in der erften Zeit die Wahrheit ermitteln koͤnne, 
er durch eine längere Haft nichts mehr gewinnen werbe. 

ats im Jahre 1831 ber Stänbeverfammlung des Königreichs Balern ber 
neuefte revidirte Entwurf einer Strafprocch s Ordnung vorgelegt wurde, warb 
in den Motiven ausbrüdlid ausgefprochen, daß eine Haft zur Vermeidung von 
Sollufionen nicht mehr ftattfinden folle. 

„„ Die franzöfifhe Strafproceß⸗Geſetzgebung Pennt, hierin im Weſentlichen 
mit der deutfchen Gefeggebung des 16ten Jahrhunderts übereinftimmend, keine 
Daft zur Vermeidung don Gollufionen, fie räumt nur dem Unterfuchungsricter 
bie Befugniß ein, dem Gefangenen die Gommunication mit Andern abzuſchuci⸗ 
den, wenn der Zweck der Unterfuchung biefe Beſchraͤnkung forbert. 


Glaubrech, Ueber die gefeglichen Garantieen ber perfönlichen Freiheit 
in Rheinheffen. Ein Beitrag zur Kenntniß der franzoͤſiſchen Gefeggebung 
nd en, — —* ©. 83 ff. en 86. theilt der Ber: 
affer diefer intereſſanten ift folgendes Umlauffchreiben bes fran 
Zuftizminiftere vom 10. Februar 1819 mit: „Das Verbot —— — 
cation der Gefangenen mit Andern kann unter gewiſſen Umſtaͤnden nügtid 
fein, zumal, wenn es ſich von Verbrechen handelt, bie mit Verabredung 
und durch ein Complott verübt worden find; aber bie Anwendung biefer 
Mafregel ohne Unterfchieb, oder ihre Verlängerung würde fo fehr einer 
guten Verwaltung ber Juſtiz und den Gefegen der Bumanität wiberftreiten, 
daß bie Unterfuchungsrichter nicht vorfichtig und zurückhaltend enug babei 
fein können. Sie bürfen biefelbe niemals anwenden, als wenn Be unerläße 


Colluſion. Colonien. 531. 


Außer der Haft Eennt der beutfche Gerichtsgebrauch noch andere 
Mittel zur Verhinderung der Collufionen, namentlich bie Entziehung 
der Mittel zu fchriftlichen Mittheilungen, bie Vorenthaltung der Schreibs 
materialien u. f. w. *). Daß die Anwendung ſolcher Mittel oft zur 
geiftigen Tortur wurde und wird, ift bekannt. 

Wie viele Aufgaben hat ber beutfche Geſetzgeber auch In Bezug 
auf Achtung dee individuellen Freiheit und ber Geſete ber Humanitaͤt 
zu loͤſen! Bopp. 

Eolone, Eolonat, f. Bauer. 

Colonien finden wir In ben diteflen Zeiten, faft fo weit bie 
Geſchichte zu ihnen hinaufſteigt. Sie find wohl aller Geſchichte vors 
ausgegangen, ohne daß fie ihrer erwähnt, wie gar manche Erfindung, 
gefellichaftlihe Anordnung und politifche Einrichtung, die ein Beduͤrf⸗ 
niß ber Zeit waren, in der fie entflanden, wenn bie Beit das Beduͤrf⸗ 
niß begeiff und ihm abzuhelfen wußte. Die Natur ſelbſt führte dazu, 
und bie Mittel, ein Beduͤrfniß zu befriedigen, gingen nicht weiter, als 
biefes ſelbſt. Von einem Spfteme der Golonifirung konnte im Anfange . 
noch nicht die Rede fein, wie benn alle Syſteme unb Theorien erſt 
den Thatfachen folgen, die man zu orbnen und unter allgemeine Grund» 
füge zu bringen ſucht. Im Drange, einer Verlegenheit zu begegnen 
oder vorzubeugen, nahm man den naͤchſten Weg zum Ziele und übers 
ließ das Gelingen den Umftänden, bie ben Erfolg fürberten oder ſtoͤr⸗ 
ten. Beigte ſich in einem Gebiete Uebervoͤlkerung, wärb ben Bewoh⸗ 
nern ber Raum zu beengt und ein Theil derfelben fand auf bemfelben 
feinen Lebensunterhalt nicht mehr, entflanden Parteiungen in einem 
Staate ober einer Gemeinde, warb ihre Stabt oder ihr Gemeindewe⸗ 
fen von dem fiegreihen Feinde zerftört ober aufgehoben, dann fuchten 
die Bebrängten in ber Gerne, was bie Heimath ihnen verfagte, bie 
Dürftigen Lebensunterhalt, die Bedruͤckten Freiheit, bie Beſiegten ein 
neues Vaterland. Hatte fi) die Staatsgefellichaft bis zu einem ges 


lich zur Erforſchung der Wahrheit ift, und auch felbft dann nur fo lange, 
als fie durchaus nothwendig ifl.” 

Auch die britifche Befepgebung über Verhaftung kennt einen Arreſt us 
Vermeidung von Collufionen und Beine geheime, von aller Verbindung mit 
Außenwelt abfchneidende Haft (daher namentlich Verwandte ben chuldigten 
in ſeinem Gefaͤngniſſe beſuchen duͤrfen). Zuvoͤrderſt muß eine ſolche Freiheitsbe⸗ 
ſchraͤnkung ſchon darum dem britiſchen Strafverfahren fremb fein, weil dieſes 
nicht auf die Erlangung eines Bekenntniſſes des An Zlegten berechnet iſt (ſ. 
Wendeborn, Ueber Großbritanien IH.2. Berlin 1785. ©. 21 — 28. Mit⸗ 
termaier, Das deutſche Strafſverfahren $. 18. „Ausbildung bes engli⸗ 
ſchen Strafprozeſſes“, und dieſes Lexikon Band 1. unter dem Wort: Ableug⸗ 
nung ©. .). Dann hätte der Rationalgeift der Briten, dem es überhaupt 
gelang, den InquifitionssProceß mit feinen Gonfequenzen fern zu halten (Bie⸗ 
ner, Beiträge zur Gefchichte des Inquiſitions⸗Prozeſſes. Lelpzig 1827. &.216.), 
weil er mit Mißtrauen die Freiheit bewachte (Mittermater, „Der englifee 
Strafprozeß“ im 9. Band bes Neuen Archivs bes Griminalvechts Nr. IK. 
©. 52 D) feine ſolche Beſchraͤnkung der perfönlichen Freiheit geftattet. 

*) Stübel, das Griminalverfahren in ben deu Gerichten Band 4. 
Eeipsig 1811. $. 1931. ©. 188. ann 


532 Colonien. 


wiſſen Grade ausgebildet, dann traf ſie ſelbſt Vorkehrungen, um der 
Verarmung, dem Mißvergnuͤgen, ben Parteiungen, einem innern Krie⸗ 
ge vorzubeugen, und feste ben Krankheitsſtoff in der Entfernung ab, 
um ihn fich felbft unfchädlich zu machen. Die Urfahen, welche Colo 
nien ins Leben riefen, waren demnach fehr mannichfaltig, und bie Mit: 
tel der Colonifirung fo verfchieden, als die Urfachen ſelbſt, als bie 
Bildung des Volks, von dem die Colonien ausgingen, und fein poll: 
tifcher und geſellſchaftlicher Zuftand überhaupt. Ein Eriegerifcher Staat, 
der feine Macht befeitigen oder erweitern wollte, legte auf wichtigen 
Punkten Colonien an, um durch fie ein bedrohte Gebiet zu ſchuͤtzen 
oder zu erweitern, oder eine unzufriedene und unruhige Bevölkerung 
im Baum zu halten. Ein Handelsſtaat fendete Colonien aus zur 
Sicherheit und Erleichterung des Verkehrs; die Habfucht, um fid zu 
bereichern ; die Herrſchſucht, um Land und Leute fid, zu unterwerfen; 
ber Aberglaube oder auch ein wohlwollender Bekehrungseifer, zur Werbrei: 
tung des rechten Glaubens. Selbſt die Gerechtigkeitepflege Hat zur 
Gründung von Colonien beigetragen, indem fie das eigene Land von 
dem Unrathe der Verbrecher, nach ihrer Anſicht, reinigte und benfel- 
ben in ferne Gegenden brachte. So hatten bie Colonien in ihrem 
Entftchen einen gar verfchledenen Zweck, und die Auswanderer, bie fie 
bildeten, erfüllten biefen Zweck freimillig oder gezwungen. Immer 
hatten die Golonien indeſſen die Wirkung, daß fie die Sprache, bie 
Sitten, Bildung und Bedürfniffe des Meutterlandes verbreiteten und, 
waren fie freundlih aus ihm geſchieden, auch eine freundliche‘ Gefin: 
nung für daffelbe bewahrten. So verfchteden die Gründe waren, bie ben 
Gotonien ihr Entftehen gaben, fo verfcieden zeigten fie fi auch ge: 
wöhnlich in ihren Wirkungen. Die Griedyen hatten für fie die allge 
meine Benennung, bie ein Verlaſſen des väterlihen Haufes, der 
Heimath bezeichnet (ar-oıxla), was auch die Anfiebelung in ber Frem 
be herbeigeführt haben mochte. Nach dem Charakter der Megierungen 
geftalteten fich auch die Colonien, welche von denfelben angelegt wur: 
den. Eroberer verpflanzten die Bevoͤlkerung eines eroberten Landes, auf 
deren Unterwürfigkeit fie fein Vertrauen festen, und vertheilten dieſes 
unter die Sieger. In diefem Geifte haben aſſyriſche Könige ſchon 
Golonien angelegt, und in demfelben fahen mir auch in fpäterer Zeit 
noch Regierungen verfahren, deren Princip afintifhe Eigenmacht ift. 
Länder wurden entoälkert, deren Treue verdächtig war, ihre Bewohner 
unter das erobernde Volk vertheilt und diefem das Gebiet der Vertrie⸗ 
benen angemwiefen. Handelnde Staaten fuchten ſich gelegene Orte an 
dem Meere zu fihern, um für ihren Handel Zufluchtsoͤrter, Häfen, 
Mittel der Verbindung zu Kauf und Tauſch und Niederlagen für ihre 
Waaren zu haben. Solche Colonien waren ihnen in der Ferne um 
fo unentbehrlicher, da die Schiffer in dem Compaffe noch keinen ‚Leiter 
in der hohen See Tannten und ſich in ber Nähe der Küften hatten 
mußten, was die Schifffahrt Iangfam und gefährlich machte. Zu dies 
fem Zwecke legten bie Tyrer und Garthager ihre Colonien an, und biefe, 


Solonien. 933 
die felbft urſpruͤnglich tyriſche Coloniſten geweſen, "hatten ſolche Anfies 
delungen auf den Kuͤſten von Spanien, Madeira und wahrſcheinlich 
noch entfernter. Es iſt zu hedauern, daß uns uͤber den Handel, die 
Schifffahrt und die Entdeckungen dieſer Briten der alten Welt bes 
fiimmte Nachrichten fehlen. -- Wie unglückliche Kriege zur Gründung 
von Golonien beitrugen, bavon haben wir viele Beifpiele, unter denen 
wir bier nur der Anfiedelungen dev Trojaner erwähnen mollen. Gries 
chenlands Golonien bilden einen wichtigen Abfchnitt in feiner Gefchichte. 
Das zührigfte, geiftreichfte und freieſte Volk der. Erbe verbreitete auf 
diefem Wege feine Bildung mit feiner. Sprache. und Religion, feinen 
Sinftitutionen, Sitten und Gewohnheiten, und führte, wenn der Auss 
druck geftattet ift, in. feinen -Anpflanzungen und Anfiedelungen einen 
mächtigen Damm auf, an dem die Wogen bes Meeres. von afiatifchen 
Heereszügen ſich brachen. Dieſe Colonien haben wefentlicd dazu beiges 
tragen, das Abendland vor dem orientalifhen Defpotism, feiner faus 
len Weichlichkeit umd flavifhen Gedantenlofigkeit zu bewahren. Wels 
he Dienfte die Colonien dem Mutterlande und ber Menfchheit in den 
perfiihen Kriegen geleiftet haben, bezeugt die Geſchichte. Die eigen 
Parteikaͤmpfe, weldye die griechifchen Freiſtagten quälten, ber bewegliche, 
zu gemagten Unternehmungen aufgelegte Geift des Volks, die Schwie⸗ 
tigkeit, auf beſchraͤnktem Naume eine zahlreiche Bevoͤlkerung zu ernaͤh⸗ 
ven, begünftigten bie Verfendung von Golonien, und wie Griechenland 
den Eamen von Kunft und Wiffen, religiöfen und politifchen Anord- 
nungen durch Eingevanderte aus fremden Ländern, aus Aegypten und 
Phönizien, erhalten hatte, fo trug:-e8 die zu edlerer Bluͤthe und edles 
ver Frucht gereifte Saat wieder in bie Fremde. Die Griechen hatten 
Colonten in Kleinafien, auf.-den benachbarten Inſeln, an der Kuͤſte 
bed fchwarzen Meeres, in Thrazien und Unteritalien, in Sicilien und 
Sardinien, im ſuͤdlichen Gallien und Spanien und felbft In Afrika, 
Byzanz und Chalcedon an: dem Propontis, Neapolis, Brunkujium, 
Cumaͤ, Spbaris und Paͤſtum in Stalien, Agrigent, Meſſma und 
Syrakus auf Sicilien, in Galim Maflitte; in Spanien Sagunt, is 
Afrika Chrene find bekannte Namen. ° ne. caben 
Diie Roͤmer hatten zahleeihe Anpflanzungen biefer: Art: und. ber 
folgten bei denfelben einen beſtimmten Plan, der mit hem Geiſte ber 
Berfaffung wechfelte und das Gepräge berfeiben trug. Unter ben Koͤ⸗ 
aigen, wo der Brund zur kuͤnftigen Größe bed Staates gelegt ward, 
bezweckte man vorzüglid; Erweiterung bes. eigenen :;Gebietet, Einheit 
der Gefinnungen: und Interefien feiner Bewohner und Wergrößerung 
ber Macht. Das Königthum, dem Wolle gemeigter ale bie Ariftokratie, 
bie ſich fpäter an deſſen Stelle ſetzte, ſuchte, durch : Werpflanzung 
ber Bürger, den Dürftigen Land zu geben und in bdemfelben mis fels 
nen neuen Bewohnern römifhen Geift und roͤmiſche Sitte einheimiſch 
zu mahen. In ben erften Zeiten ber Republik, wo bie Macht und 
dee Einfluß der Patrizier noc überwiegend war, hatte man auch bei 
Anlegung von Golonien beſonders patriziſche Interefien im Auge. 


534 “ Golonien. 


Die Relchen und Angefehenen brauchten fie zur Vergroͤßerung ihres 
Vermögens und Anfehens, und das menterifche Vol, das ben Drud 
und bie Härte der Vornehmen unmillig ertrug, ward aus ber Daupts 
fladt entfernt. Später, ale bie Stände ſich mehr ins Gleichgewicht 
gefest und bie Plebejer groͤßern Einfluß auf die Geſetgebung und 
die Verwaltung des Staates gewonnen hatten, flinnmte auch die Ans 
ordnung der Golonien mit bem Sinterefie dee Gefammtheit mehr zus 
fammen. Man wollte vor Allem Erweiterung und Befeſtigung ber 
römifhen Herrſchaft, bedachte aber auch das Wohl der Einzelnen, 
die diefem Zwecke dienten. Das Volk hatte in ber Sache eine Stim⸗ 
me, und es wurde förmlich, berathen, ob eine Colonte an einem bes 
flimmten Orte anzulegen und auf welche Welfe dabei zu verfahren 
fe. Jeder, der Luft hatte, fich dem Unternehmen anzufchließen, Tieß 
feinen Namen in das Verzeichniß ber XTheilnehmer eintragen. War 
bie Zahl derfelben zu groß, dann entſchied das Loos. Darauf fchritt 
man zur Ernennung ber Führer und Peiter dee Colonie, (curatores 
ooloniae deducendae) und, nad roͤmiſcher Sitte, ward das ganze 
Verfahren durdy die Anwendung religiöfer Gebräuche geheiligt, bie den 
römifhen Snftitutionen ein fo großes Anfehen und fo viel Feftigkeit 
gaben. Es mwurben Aufpizien gehalten, Reinigungen angeftellt, um 
fi) de8 Schuges der Götter zu verfihern. In dem neuen Water 
Iande angelommen, erhielten bie Goloniften, nad) Vorſchrift, das 
Jedem zuftehende Land. Mit den Eingewanderten warb Roms Hauss 
halt, Verfaſſung und Sitte in die Colonie verpflanzt. Diefe erhielt 
von dee Hauptftabt ihre Geſetze, die fich indeſſen gewöhnlich von den 
eigenen gar nicht oder wenig unterfchleben, fomwie fie auch biefelben 
Beamten, Angeftellte, mit Ausnahme ber Confuln und bes Senats, 
ihre Priefter und Wahrfager nad) dem Mufter des Mutterlanbes 
hatte. So war bie Golonie biefem nachgebildet, inwieweit es örtliche 
Verhaͤltniſſe, Lage und Umftände erlaubten, unb fie wiederholte, in 
verjüngtem Maaßſtabe, die Anftalten und Einrichtungen Roms, felbit 
bie öffentlichen Gebäude, gefellfchaftlihen Beziehungen und öffentlichen 
Beluftigungen und Spiele. Man fand in ben Colonien Amphithea⸗ 
ter, Capitol und Circus, und Bergen und Fluͤſſen warb nicht felten 
em Name ertheilt, der an das aufgegebene Vaterland erinnerte. Als 
bie. bürgerliche Gewalt ſpaͤter in ber Soldatenherrſchaft unterging, 
wurben Militatecolonien angelegt, um bie Soldaten zu belohnen ober 
fid) verpflichtet zu erhalten. Mit Marius und Sylla wurden 
diefe Colonien Häufig und fie vermehrten fi) mit dem Untergange 
ber Freiheit und mit ber Allgewalt der Feldherren, aus ber das Kals 
ferreich entftand. Die Bürgercolonien (ooloniae oiviles, togatae) hats 
ten als Abzeichen einen Pflug, die Militaircolonien ein kriegeriſches 
Bild des Standes, dem die Coloniften angehörten, gemifchte Colonien 
aber, welche beide Stände vereinigten, führten beide Zeichen verbunden, 
wie man auf mandhen Münzen fieht. Die Militaiecolonien wurden 
fehr vervielfältigt, ale das ungeheure Reich an feinen entfernten ren 


Colonien. 535 


zen fich bedroht fah, und bie Barbaren, durch ihre wieberholten Ein- 
fälle, eine bewaffnete Macht nöthig machten, die, an Drt und Stelle 
ſtets gerüftet, zum Schutze bes Landes bereit war. Die römifchen 
Golonien anzuführen, welche das Reich umgürteten, bie unterworfenen 
Provinzen bewachten, die römifhe Herrſchaft fiherten und roͤmiſche 
Sitte, Eultur und Sprade bis in die entfernteften Gegenden ber 
befannten Welt verbreiteten, wäre zu umftändlih und dem Zwecke 
unferee Werkes kaum entiprehend. Nur die Bemerkung mag bier 
noch an ihrer Stelle fein, daß die Römer bei ihrer Colonifirtung mehr 
als irgend ein Staat ein Syſtem befolgten, das die Mittel zum Zwecke 
verftändig gewählt und Eräftig durchgeführt zeigte. 

- Durch bie Völkerwanderung ward die roͤmiſche Welt zerftört. Die 
ungebeuere, in ſich verfallene Macht ging ihrer Auflöfung durch innere 
Faͤulniß entgegen, und bie Barbaren, burdy Noth und Rache getries 
den, ben Todeskampf ber Sieger und Quaͤler ber Erde in ber allge: 
meinen Erfchlaffung und Verwirrung ahnend, befchleunigten das Ende 
einer Herrfchaft, die ſich ſchon überlebt hatte. Aus ber Verweſung 
ber alten Welt lebte eine neue auf, die fi faft in Allem sum Ges. 
genſatze von jener geftaltete. Daffelbe blieb nur,. was biefelbe menſch⸗ 
liche Natur bei veränderten VBerhältniffen und Lagen ſich felbft getren 
erzeugen muß. Die Völkerwanderung hat bie.ungeheure Kiuft gegra: 
ben, welche die Vergangenheit von der Gegenwart trennt. Was jene 
Großes, Herrliches, Verwerfliches und Beengendes hervorgehradht, iſt 
im Leben untergegangen und nur im Buchſtaben wieder auferflanden. 
Was diefe geworden, mit allen WVorzügen und Gebrechen, bazu ward. 
ducch die Völkerwanderung die Bahn gebrochen, der Boden: vorbereis 
tet und felbft der Same zum heil ausgeftreut. Sie bat die Mark 
geftedt; :die den Anfang eines neuen Lebensalters der Dienfchheit bes 
zeichnet. Wenn nicht Alles trügt, dann beginnt mit ber letzten Häffte 
des legten Jahrhunderts der britte Abſchnitt der Weltgefchichte, ber 
keine Völkerwanderung, mohl aber eine Voͤlkerwandlung zu berichten 
haben: wird... Nur langfam konnte ſich aus dem allgemeinen Chaos 
eme Drdnung entwiden und geftalten. Die. Völker wurden auf 
dem Boden, mo fie ſich niedergelaffen, heimiſch, und es bildete fich 
ein gefelffchaftlicher und politifher Zuftand, der den dringendſten Be⸗ 
dürfniffen des Menfhen Befriedigung gewährte, dem Eigenthume 
Schusg, der Perfon Sicherheit verhieg und an Gewerbe, Künfte, 
Wiſſenſchaft zu denken geftattete. Es regte ſich ein Streben nach feis 
nern Genüffen, Luft, zu befißen, zu gewinnen, fi auszuzeichnen, und 
ber Unternehbmungsgeift bei Einzelnen erwachte. Auch Schifffahrt 
und Handel lebten auf. Diefer Zuftand trat indeſſen mit Umfang 
und Bedeutung erft im funfzehnten Jahrhundert ein. Allerdings was 
en vielfältige Unternehmungen vorausgegangen, bie in. einer Gefchichte 
der Colonifirung nicht uͤbergangen werben bürften, um fie vollfländig 
durchzufuͤhren. Wir übergehen fie, weil dee Gegenfiand, ben wit 
behandeln, wenig Auftiärung durch fie gewinnen würde. Wir über: 


536 | Golonien. 


gehen darum bie Seezüge ber Sachſen und Normänner und der nor: 
difhen Piraten überhaupt, die auf Beute auegingen, plünderten, aud 
ſich auf erobertem Gebiete freundliche Wohnfige wählten, wie .in Eng» 
land, Frankreich und Sicilien. Diefe Ereigniffe Finnen noch als im 
Gefolge der Voͤlkerwanderungen betrachtet werden. Auch koͤnnte man 
der Kreuzzüge gedenken und einiger Anfiedelungen, welche bie Bene 
tianer und Genueſer verfuchten, die aber Leine bleibenden Erfolge hats 
ten. Dee Gebraud) des Compafjes, mit dem man, gegen bas Ende 
des vierzehnten Jahrhunderts, die erften Verſuche machte, gejtattete 
die Fahrt auf hoher See, weil man zwifhen bem Himmel unb ben 
Gemäffern eine beſtimmte Richtung hatte und fich nicht mehr in ber 
‚Nähe der Küften zu halten genöthige war. Eine ferne Welt, bisher 
verfchloffen, that fi) nun den muthigen Sciffern auf. Die Waſſer⸗ 
wüfte, welche die Länder gefchieden, ward zum Verbindungsmittel, und 
leichter und fchneller gelangte man zu ben entfernteften Gegenben,. als 
auf feftem Grunde bei allem Aufwande von Kräften, bie den Ber 
kehr erleichtern, dahin zu kommen möglidy wäre. Die Portugiefen 
betraten vor Anderen die geöifnete Bahn. Sie fanden (1498) den 
Weg um das Vorgebirge der guten Hoffnung nad Oſtindien, beffen 
Schaͤtze bie Lüfternen Europäer Immer angezogen hatten. Der gefeg 
nete Orient bot einen. Reichtum von Bequemlichkeiten und Genuͤſſen 
dar, bie das Abendland fich zu verfchaffen ſuchte. Dee Handel, ber 
bisher feinen Weg mit: großen Koften und Gefahren mübfelig durch 
weite und unfichere Laͤnderſtrecken hatte nehmen müffen, fand eine 
gebahntere, bequemere Straße. über den Ocean. Die Portugiefen 
festen ſich erfi auf Malabar feit, wo fie Niederlaffungen gründeten, 
gelangten dann nad, Dflindien, wo fie, wie auf den Küften Afrika's, 
haltbare Stellungen nahmen. Hier hatten fie Mozambique und Me 
Iinda, Ormuz und Mascate im perfifhen Meerbufen, Goa auf Mas 
labar, Negapatnam und Meliapur auf Coromandel, Malacca auf 
Malacca und mehrere fefte Stellungen auf Java, Ceylan, Sumatra 
und Borneo, und waren im Beſitze bes Aleinhandels mit Dftindien. 
Diefe glänzende Periode ber portugiefiihen Seemacht war indeſſen von 
Peiner Dauer. Der aͤußern Größe fehlte die innere Selbftfländigkeit, 
der Iebenskräftige Unternehmungsgeift und die Ausdauer des Volkes 
und feiner Regierung. Sie war mehr ein Geſchenk ded Zufalls, der 
Dertlichkeit und vorübergehender Verhaͤltniſſe, als das wohlverdiente 
Mefultat der Anfttengung, des Muthes, des Fleißes und einer Eugen 
Berehnung. Mit der Perfönlichkeit ber Regenten wechfelte ber Geift 
der Megierung, die ihren Werth und ihre Bedeutung von jener er—⸗ 
hielt. Die Einzelnen fuchten eine fchnelle Bereicherung und ben Ges 
winn ber flüchtigen Gegenwart erwarb man nur zu oft mit bem 
Verluſte einer langen Zukunft. Die Willkuͤrherrſchaft lähmte die freie, 
unternehmende Xhätigkeit, und unter ber weltlichen Thrannei und dem 
Einfluffe der Geiftlichkeit, bie allenthalben nur das Wohl der Kirche, 
nämlich das eigene, ſah, ſank die Nation zur frömmelnden Indolen; 


Colonien. 537. 


und Unduldſamkeit herab, die immer im Gefolge des Defpotismus 
und des Aberglaubens find. Portugal verlor feine Selbftftändigkeit 
an Spanien und mit ihr, am Ende bes fechzehnten Jahrhunderte, 
faſt alle feine Befigungen, Brafilien ausgenommen, beffen Werth es 
nicht kannte. Die reihe Erbfchaft fiel zum:. größten. Theile den 
Niederländern zu, bie ihre Kreiheit heidenmüthig im Kampfe gegen 
die Spanier errangen und behaupteten. Der muthige und unternehs 
mende Columbus führte (1492) der alten Welt eine junge Schwes 
ftee zu, die, reich an einer großen Zukunft, auf das Schickſal der 
Samilie der Menfchheit einen nicht geahnten,. vielleicht jegt noch nicht 
ganz verftandenen Einflug haben foltte.. Spanien fand einen Erdtheil, 
wie man eine unverdiente Erbſchaft oder im Spiele einen hoben 
Gewinn mit geringem Einfas findet, und machte auch, tie ein: uns, 
verftändiger, lachender Erbe und leichtfertiger Spieler, Gebraudy da⸗ 
von. Spanien erwarb Cuba, SJamat:a,. Portorico, auf Domingo 
ein reiches Gebiet, fo viel ihm davon getüftete, fpäter bie herrlichen 
Reiche Merico, Peru, Chile, Neugranada. und? Quito. Die Aben⸗ 
teucer zogen in Schaaren nad) der neuen Welt und fie, wie bie 
Regierung, trieb nur Durit nad Gold, die Habſucht, die ſchmutzigſte 
alter Leidenfchaften, mit bee graufamften, bem finftern Fanatism des 
Aberglaubens, im Bunde. Die Spanier verflanden es, eine Welt. zu 
verwüften, aber. nicht einmal zu ihrem Vortheil zu benußen, viel 
weniger ihren Vortheil mit dem. der, Eingebornen mit Eluger Habſucht 
in Einklang zu bringen. Don einem Spftene der Golonifirung iſt 
hier nicht die Rede. Eine Heerde Tiger ſtuͤrzt ſich mit blutgierigem 
Heißhunger auf mehrlofe Schafe, und iſt biefer geftillt, dann. fegt 
fie das Würgen aus Mordluſt fort. . Das Thier ift menſchlich gegen 
den Dienfchen, ber zur blinden thierifihen Luft ben uͤberlegenen menſch⸗ 
lichen Geift gefehlt. Es gibt Leinen Abfchnitt in der Weltgefchichte, 
in . welchem die Tyrannei und der. Aberglaube mehr Greuel: gehäuft 
hätten, als der mit Blut gefcheiebene der fpanifchen Herrſchaft iu 
Amerika. Raͤchten ſich die Sünden der Vaͤter an ihren Kindern, 
wie lange müßte Spanien noch eine Hölle für feine unglüdlichen 
Bewohner fein. Aber 28 ift graufam, wenn Kinder büßen, mas ihre 
Vaͤter verfchuldet haben z es ift graufam, obgleich unfere Gerechtigkeit, 
feibft das Schickſal, oft ſich diefe Grauſamkeit vorzumerfen haben. 
‚ Aber die Wege bes Schickſals ſind uns dunkel, ba die Grauſamkeit 
unferer Gefege anerkannt verwerfliches: Menſchenwerk if, das wir zu 
veantworten haben. Nachdem die fpanifche Herrſchaft der ihe untere 
worfenen neuen Welt ben Frieden des Kirchhofs gegeben hatte, ord⸗ 
nete fie die Angelegenheiten berfelben .nady ihrer Weile. Vier Vice⸗ 
Eönige und acht Generalmpitaine wurden eimgefegt, bie das Land res 
gierten. Die obere Leitang war einem hohen Rathe von Indien vors 
behalten, der in Spanien feinen Wohnfig hatte. Nur Spanier durf⸗ 
ten ben Handel treiben, der einzig auf ben Vortheil bes Mutterlandes 
und befonders der Regierung berechnet war. Die Eingebornen, bie 


538 Golonien. 


das Schwert, das Feuergewehr, ber Scheiterhaufen, bie abgerichteten 
Hunde und das Elend und ber Hunger verfhmäht hatten, maren 
die Laftthiere und Sklaven ihrer  fpanifchen Herren. Die Europder 
fuchten: vor Allem fchnellen Reichthum, Gold, Silber und Edelfteine, 
und ba bie neue Welt dieſe Schäge im LWeberfluffe darbot, ging das 
ganze Streben auf den Gewinn berfelben. Gruben und Hütten mwurs 
den alfenthalben angelegt, wo ſich edle Metalle zeigten, und bie ars 
beitsfähige Bevölkerung in die Nacht der Schachte verfenkt, um ben 
verborgenen Reichthum zu Tage zu fördern. In den Gruben unb 
Hütten lebten bie Unglädlichen ein elenbes Leben, wenn man es ans - 
ders ein Leben nennen Bann, von bem fie nur ein früher Tod bes 
freite. Ganze Völkerftimme find auf diefe Weife umgelommen unb 
ausgeftorden. Wo fih, zum Verdruſſe der Habſucht, weder Gold 
noch Silber fand, begnügte fie fi mit dem Anbau bes Landes. 
Man legte Pflanzungen an, um die Golonialerzeugnifle für den Dans 
del zu gewinnen. Da es fi) num zeigte, daß bie Eingebornen für 
die harte Arbeit zu ſchwach oder nicht zahlreich genug waren, 

der hoͤlliſche Scharflinn ber Habfucht auf den Sklavenhanbel, das 
Brandmal europälfcher, kunſtreicher Verworfenheit. Die Schwarzen 
wurden ihrem Vaterlande mit Gewalt und Lift entführt, ohne Rüds 
fiht auf Alter und Gefchleht, wenn fie nur geſund ‚und Erdftig wa⸗ 
ren, in Schiffsladungen aufgefchlchtet, wie Waaren zum Verlaufe aus 
geftellt, wie Vieh erhanbelt und an ihren Beflimmungsort getrieben, 
wo fie wie Vieh zur Arbeit angehalten wurden. Dagegen hatten 
Politik, Religion und Menſchlichkeit nichts einzumenden. Nur felten 
ließ fich ein Schrei des Entſezens und des Abfcheues aus ber Bruft Eins 
zeiner vernehmen. Es maren die Ideologen ihrer Zeit. Selbſt die 
gelehrte Miederträchtigkelt hatte Gründe der Rechtfertigung für ben 
Menſchenhandel und wußte anatomiſch darzuthun, daß die Neger Leine 
Menſchen ſelen, keine Menfchen wie wir; und doch können nur Mens 
fhen wie wir wahrhaft Menfchen fein. Und wir haben die Stirne, 
von Menfchlichkeit und Menfchenrechten, von Chriftenthbum und Clvi⸗ 
lifation zu reden und mit vornehmem Stolze auf den Helotism ber 
Alten und ihre Sklaven berabjufehen! Das war dus Syſtem ber 
Golonifirung ber Europder, das die Spanier mit aller Grauſamkeit 
durchführten. Der einzige oberfte Grundfag, ber ſich geltend machte, 
hieß Habſucht, Habfucht, der auch Morb und Raub erlaubte Mittel 
find. Nur fpanifhe Waaren durften in bie Colonien eingeben, und 
zwar mit unmäfigen Zöllen. Kein Eingeborner, felbft wenn er von ſpau⸗ 
fhen Eltern flammte, tonnte ein Amt bekleiden, eine öffentliche 
Stelle verfehen. Es war als Grundfag aufgeftellt und als Regierungs⸗ 
maßregel durchgeführt, dag man ben Eingebornen jeben Unterricht, 
jebes Mittel des Wohlſtandes erfchwerte oder unmöglich machte. Wer 
von ihnen leſen und fehreiben konnte, warb vorzugsweife mit dem 
Tode beitraft, wenn ber MWürgengel, um, wie man fagte, Srieben 
und Ordnung zu erhalten, das Land durchzog. Nach ſolchen Vorgäns 


Golonien. 539 


gen laͤßt ſich begreifen, ba bie Golonten, die kein bankbares Gefuͤhl, 
ein Vortheil an das Mutterland Enüpfte, das bleierne Joch brachen 
und abmwarfen, das fie erbrüdte, ſobald fich die Möglichkeit dazu zeigte. 
Nur Gemaltthätigkeit konnte ihre Werk erhalten, das fie erfchaffen 
hatte, und mit dem Verlufte der Gewalt ging auch ihre Schöpfung 
unter. Die Golonien erklärten ihre Unabhängigkeit und gaben fich 
freie DVerfaffungen. Aber ‘die Sreiheit, fo leicht erklärt, wird ſchwer 
errungen und noch ſchwerer behauptet. Die greuelhafte Willkuͤr der 
fpanifhen Herefchaft und der finftere, menfchenfchene Aberglaube hatten 
auf dem fruchtbaren Boden keinen Samen ausgeflreut, aus dem bie 
Freiheit ſich fo leicht entwideln und aufblühen konnte. Lange innere 
Kämpfe mußten das Unkraut entwurzeln und bie Erde mit Blut 
düngen, um diefelbe für eine beffere Ernte zu befruchten. Die Frei⸗ 
beit befeelt, die Willkuͤr kann nur entfeelen, und wenn man bie 
Ruhe der Leichen liebt, dann gibt fie ber Defpotism am ficherften. 
Iſt aber auch der Tod durch Sklaverei nur ein Scheintod, meil der 
Lebensfunke der Freiheit nie ganz in der menfchlichen Bruſt erliſcht, 
dann gehört doch viel dazu, um den Scheintodten zum Eräftigen Leben 
zu erweden. Das nun iſt das Werk, mit dem das amerikanifche 
Seftland, welches fi von Spanien im Jahre 1810 Ioszureifen bes 
gann, feit diefer Zeit befchäftigt ift. 

In den oftindifhen Gewaͤſſern entriffen bie betriebfamen Holläns 
der den Spaniern und Portugiefen eine Beſitzung nach der andern. 
Sie gründeten Batavia, bemädhtigten ſich aller portugiefifchen Nieder⸗ 
laffungen, Goa ausgenommen, festen ſich in den: Beſitz bes Handels 
mit China und Sapan und legten auf bem Worgebirge ber guten 
Hoffnung (1653) eine Colonte an, welche die Verbindung mit Oſt⸗ 
indien erleichterte und ficherte. Zum Betriebe des Handels mit dieſer 
Meltgegend hatten ſich verfchiedene Gefelffchaften im Holland gebildet, 
die von der Regierung (1602) zu einer einzigen verbunden wurden, 
um in ihre Unternehmungen mehr Einheit und Nachbrud zu brin« 
gen. Diefer Gefellfchaft ertheilte fie Hoheltsrechte über bie eroberten 
Länder und ließ fo den Speculationsgeift des Handels walten. Auf 
gleiche Weiſe bemüheten ſich die Holländer, auch an bem weſtindiſchen 
Handel Theil zu nehmen, und errichteten (1621) eine meftindifche Ge⸗ 
feufchaft. Ihre Bemühungen auf dem Feſtlande hatten feinen güns 
ſtigen Erfolg und fie begnügten ſich mit einem einträglihen Schleich 
handel, den fie von verfchiedenen Punkten trieben, und mit den be 
deutenden Anfiedelungen zu Surinam, Berbice, Eſſequebo und Pas 
eamaribo, die fie fo gluͤcklich waren zu behaupten. Als der gefähr 
lichfte Mitbewerber im Meiche der Gewaͤſſer trat England auf, das 
Alles begünftigte, mas Unternehmungen biefer Art fördern kann, Lage 
des Landes, Charakter bed Volkes, und vorzüglich eine freie Verfaſ⸗ 
fung, bie der Einfiht und dem Unternehmungsgeifte einen angemeſſe⸗ 
nen Spielraum und dem Beſitze Sicherheit gewährt. Schon 1600 
hatte fi) eine oſtindiſche Geſellſchaft gebildet, und die Briten waren 


540 | Golonien. 


im Befige von St. Helena und mehreren Punkten auf bem oflindifchen 
Gontinente. Der Erfolg zeigte ſich ihnen aünftig, wurde aber bald 
ducch innere Unruhen unterbrochen, bie alle Aufmerkſamkeit und Thaͤ⸗ 
tigkeit im eigenen Lande auf ſich lenkten. England war unter Karl 
I. und deſſen erfien Nachfolgern zu fehr mit fich felbit befchäftigt, 
ale daß es ſich entfernten Gegenden mit Beharrlichkeit hätte zuwen⸗ 
den Eönnen. Da ſich aber feine Verfaſſung begründet hatte und die 
Verwaltung geregelt war, ſchenkte es der Schifffahrt und dem Dans 
del, der Quelle feiner Macht und feines Reichthums, alle Aufmerk⸗ 
famteit. Anfangs befchränkten ſich feine Beſitzungen auf Madras, 
Galcutta und Bencoolen, dann gewann es Pondicherp und endlich 
Bengalen und gründete durch neue Eroberungen, bie ed mit Gewalt 
und Lift zu machen wußte, das ungeheure Reich, gegen welches das 
Mutterland felbft nur eine Provinz zu nennen if. Noch immer 
fchreitet die britifhe Derrfchaft in Dftindien weiter und fügt zu dem 
unermeplihen Lande neues Land und zu den zahllofen Unterthanen 
neue Untertbanen. Die Regierung, verftändig in ihrer Einfiht und 
ug in ihren Mitteln, fieht die Gefahr, die ihrer Macht und ihrem 
Rejichthume in Dftindien droht, und fucht der Kataftrophe, die vielleicht 
näher ift, ald man glaubt, durch zwedimäßige Verbeſſerungen in ber 
innern Verwaltung vorzubeugen und ber gefährlichen Einwirkung bes 
euffifchen - Koloffes, der immer vorwaͤrts fchreitet, nad Kräften zu be 
gegnen. Auch in Amerika hatten die Engländer frühe feften Fuß 
gefaßt und ſchon unter Jakob I, Jamestown bafelbft gegrünbet. 
Die innern Unruhen, die das Mutterland zerrütteten, waren diefer 
Colonie befonders guͤnſtig. Die politifchen und religiöfen Streitigkei⸗ 
ten, welche die Briten in, feindliche Parteien fpalteten, bie ſich bes 
kaͤmpften, verfolgten und unterbrüdten, beflimmten Biele, ihre Heimath 
zu verlaffen und in der Fremde zu fuchen, mas fie dort nidht fane 
den: Sicyerheit und Kreiheit des Glaubens und der Meinung. Diele 
Menſchen waren es befonders, bie den Kern bildeten, aus dem ber 
breitäftige, flimmige Baum der Bereinigten Staaten erwachſen iſt, 
in deſſen Schatten fo viele Völker verfchiedener Welttheile ruhen. Was 
ihnen in dem Vaterlande verfügt war, fanden fie in dem menig bes 
achteten Amerika, und geftanden Andern zu, was ihnen felbit war 
verweigert worden, Freiheit, oder doch wenigſtens Duldung. Es was 
ven Menfchen, größtentheils nicht ohne Bildung und Geſittung, bie 
aus edlern Gründen, als weil fie ſich bereichern wollten, in ber. neuen 
Welt fich niederließen. ‚Die Colonie vermehrte fih rafhy und gewann 
bald an Umfang. So beſaßen die Engländer bald ein bedeutendes 
Gebiet in Nordamerika, das fih auch durch friedliche Ermwerbungen 
erweiterte. Dann gelangten fie zum Befige von Barbados (1641), 
von Jamaica (1655), fpäter von New⸗Foundland, Afadien, Zerresneuve 
und Cap Breton und (1762) von Canada. Sie verloren die Ber 
figungen von Nordamerika, aus denen fih bie Vereinigten Staa⸗ 
ten bildeten, beren Unabhängigkeit fie fi), nach einem fruchtlofen 


Colonien. 541 


mehr als zehnjaͤhrigen Kampfe, (1783) anzuerkennen genoͤthigt ſahen. 
Sie fuͤhlten dieſen Verluſt ſchmerzlich, den ſelbſt große Staatsmaͤnner, 
wie Lord Chatam, fuͤr bedenklich hielten. Die Erfahrung zeigte 
indeſſen, daß England die gefuͤrchteten Nachtheile nicht empfand und 
aus dem freien Handel mit feinen ehemaligen Colonien größere Bor: 
theile 309, als die gezwungene Abhängigkeit, bei einer Loftfpieligen 
Berwaltung, gebracht hatte. Während der franzoͤſiſchen Revolution 
bemäcdhtigte es fich der meiften Golonien Frankreichs und Hollands, 
behielt aber von benfelben nur wenige, von denen das Worgebirge 
dee guten Hoffnung und Isle de France bie bedeutendften find. Schon 
früher (1788) hatte es in Auftralien die Colonie von Botanybai ge: 
gründet und fpäter auf Dtaheiti und den Sandwidinfeln Ermer- 
bungen gemacht. ngland, bis jegt noch die erfte Seemacht der Welt, 
die auch, wenigftens in Europa, fobald keine Nebenbuhlerin zu fuͤrch⸗ 
ten haben wird, befolgt ein Syſtem, das den Forderungen der Menſch⸗ 
lichkeit, Gerechtigkeit und Klugheit mehr entfpricht, als das irgend 
eines andern Staates. Auf allen Meeren hat es feite Punkte, die 
feinen Handel fhügen und feinen Flotten dienen. Es begünftigt die 
Entwidelung der Innern Kräfte ber Gebiete, die ihm unterworfen find, 
fördert Fleiß und Thaͤtigkeit, Culture und Freiheit durch bürgerliche 
Geſetze und felbft durch politifche Inftitutionen, die den eigenen nach: 
gebildet find. So verführt ed in Canada, auf den fieben Inſeln und 
Malta und an andern Orten, und es erreicht dadurch den Zweck, 
daß es die Bewohner feiner entfernten Beſitzungen, durch ihr eigenes 
Intereſſe, dem Mutterlande ergeben erhält. In allen englifhen Co⸗ 
lonien findet man Altenglanb wieder, in mie meit der Zujtand ber 
Bevölkerung diefe Annaherung und aflmählige Gleichſtellung erträgt, 
und wenn e8 auch, wie es ſich von felbft verfteht, bei allen biefen 
Anordnungen feinen eigenen Vortheil nicht vergißt, dann fucht e8 doch 
den Vortheil der ihm Untergebenen mit dem feinigen in Einklang 
zu bringen. Es ift, mehr als ein anderer Staat, ein Mutterland, 
das die feiner Pflege Bugefallenen, als Glieder der großen Kamilie, 
herauf zu bilden fucht. Frankreich wird denfelben Weg verfolgen und 
ſich einer Ordnung der Dinge günftig zeigen, die mit den Grundfägen, 
auf welchen feine Verfaffung ruht, und mit den Snftitutionen, die es 
ſich felbft erfämpft, nicht im Widerſpruche ſtehet. Noch hat bdiefer 
Staat in Afien Garical, Mahé und Pondichern, in Afrika, außer eini- 
gen nicht fehr bedeutenden Niederlaffungen, die Infel Bourbon und auf 
Madagaskar einige Factoreien. Das junge Algier kann fehr wichtig 
werden, wenn die Regierung, wie es ſich erwarten läßt, bie nöthigen 
Mafregeln nimmt, um alle Vortheile zu benngen, die dieſe Colonie 
darbietet. Noch tft der Innere Zuftand des Mutterlandes zu unbe: 
flimmt, die Stellung der hoͤchſten Stantsgewalt zu ungewiß, als dag 
man auf die Zukunft mit Sicherheit zählen könnte. Auch hängt viel 
von den Verhaͤltniſſen ab, die fich zwifchen Frankreich und England 
noch geftalten. In jedem Falle bietet die Nordkuͤſte von Afrika ein 


542 Colonien. 


ſchoͤnes Gebiet, das für den Samen einer reihen Ernte empfaͤnglich 
iſt. Endlich befigen bie Franzoſen in Weſtindien Guadeloupe, Das 
riegalante und Martinique, und Ganenne auf bem feften Lande. Mod 
andere Staaten, wie Dänemark, Schweden und Rußland, haben aus⸗ 
wärtige Befisungen, die den Namen Colonien führen, und biefe- uns 
terfcheiden fi menig In der Art der Anlegung und Behandlung vog 
den meiften übrigen, bie wir angeführt: Es werden ben Golonien vers 
ſchiedene Benennungen gegeben, bie fie von dem Zwede haben, ben . 
man bei ihrer Anlegung gehabt. So unterfcheidet man 1) Bergwerkt⸗ 
colonien, 2) Pflanzungscolonien, 3) Danbelscolonien, 4) Strafeolonien, 
welche mit Berbrechern bevölfert werben, und 5) Milltaircolonien. 
Keine diefer Colonien, in deren Eintheilung übrigens Unbeftimmtheit 
und Willkür liegt, bat fich rein erhalten, und die Coloniften dienen 
oft einem und dem andern Zwecke. Zeit und Verhältniffe können ihre 
Beſtimmung aud) verändern, und wir haben eine neue Art Golonien 
 entftehen gefehen, die man Befreiungscolonten nennen koͤnnte. Wie 
man ſich früher zur Entführung der Schwarzen verftanden hatte, um 
fie zum Anbau der Colonien ale SHaven zu verwenden, fo fendet man 
die Schwarzen aus den Golonien wieder nach Afrika zurüd, gibt ih⸗ 
nen die Freiheit, Werkzeuge zu Aderbau und Gewerben, bürgerliche 
Einrichtungen mit den nöthigen Gefegen und läßt fie fich felbft regie⸗ 
ren und verwalten. Zu diefem edlen Zwecke haben fi) in den reis 
finaten von Nordamerika, wie früher auch ſchon in England, Gefell: 
haften gebildet, weiche die Unternehmung leiten und bie nöthigen 
Mittel zur Ausführung berfelden zufammentragen. Eine ſolche Colos 
nie gedeiht unter dem Namen Liberia, fübli von Sierra Leone, 
die das merkwürdige Beifpiel eines Meinen Staates von Negern dars 
bietet, bie ihre Nichter, ihre Verwaltung und ihr Kriegsweſen nad 
dem Mufter der Freiſtaaten haben und alle Stellen mit Leuten aus 
ihrer Mitte befegen. Die große Anzahl der Schwarzen in ihrem 
Sklavenſtande, ben fie ungern ertragen, ſchien den freien Weißen bes 
dentiih, und St. Domingo hatte ein Beiſpiel gegeben, das gefährlich 
wirken konnte. Diefer Umftand rieth die Vorfiht an, die SHaven 
zu vermindern und ihr Schidfal, wo fie beibehalten worden, fo zu 
mildern, daß die Verzweiflung fie nicht zue Empörung treibt. So 
führt auch hier, wie wir ed an andern Orten ſchon gefehen, bie Furcht 
vor der- Revolution am gewiffeiten zur Reform. Die Revolution iſt 
alfo der Weg zur Reform gemorden, und zu dieſer muß man fich vers 
flehen, wenn man jene vermeiden will. Verſtaͤndige Confervative geben 
bie Hälfte auf, um dad Ganze nicht zu verlieren. In der Behand» 
lung ber Colonien werden fid) bedeutende Veränderungen ergeben, wenn 
man anders Colonien haben will. Die. bürgerliche Geſellſchaft hat ein 
Geift durchdrungen, ber ihre Umgeftaltung dringend madt. Er wird 
ein böfer Geift, wo die Gewalt ihm herrifch entgegentritt und feinen 
gerechten Forderungen mit ſchnoͤdem Uebermuthe Gehör verfagt. Er 
ift em guter Geift, menn man ihn erkennt, fein Verlangen zu ver 


: Kolonien. 543 


ftehen und zu würdigen fi die Mühe geben will. Er iſt ein Geiſt 
des Fortfchreiteng, der Gerechtigkeit und Menſchlichkeit. Man darf 
fi) nicht wundern, wenn man die Colonien nad) Grundfägen angelegt 
und geleitet fieht, die nur Willkuͤr, Eigennug und Selbfifucht athmen. 
Die Colonien waren dem Mutterlande ein Mittel zum Erwerbe, zur 
Bereiherung. Der Vortheil, den es aus ihnen ziehen Eonnte, fchien 
ihm erlaubt. Die Colonien waren nicht Glieder ber großen Familie 
des Staates, fondern in ihrem Dienſte. Was ließ ſich für das Wohl 
der Golonien Beſſeres fordern und hoffen, ba im eigenen Lanbe, nad) 
der Verfchiebenheit der Stände, diefelbe Anficht, derfelbe Grundſatz galt? 
Was konnte ein Staatsrecht, eine. Verfaffung Goloniften geben... die 
bem eigenen Bürger, dem Unterthan fo wenig gab? Welche Anfprü- 
che konnten Golonien an eine Staatswirthſchaft machen, bie im elge- 
nen Staate nichts von Wirtbfchaft wußte, als wie die Einnahmen zu 
vermehren und bie Ausfälle zu deden fein? Das bat ſich ſehr geäns 
dert und zum Beſſern gewendet, das zum Beſſern weiter führen wird, 
und die Berbefferungen , deren ſich die europdifchen Staaten erfreuen, 
bleiben nicht ohne mohlthätige Wirkung für die übrige Welt und bes 
fonders für die Colonien. Das Mutterland, meldyes foldhe auf die 
Dauer erhalten will, muß der Tochter Colonie eine wahre Mutter 
werden, der man ſich aus Neigung und Achtung und zu feinem eig- 
nen Belten verbunden fühlt und ergeben iſt. Gefchieht das nicht, 
dann trennt man ſich von dem Lande, bem man mit Vortheil und 
Ehre nicht angehören kann. Und doc) werden fi endlih, den Ge⸗ 
fegen der Natur gemäß, auch biefe Samilienbande Iöfen, und das er⸗ 
wachfene Kind des Haufes ben väterlichen Heerd verlaffen, um fidy den 
eigenen zu bauen. Es kommt eine Zeit, wo die Natur in den Ges 
nuß aller ihrer Nechte tritt, die ihr der Unverfland, die Leidenfchaft 
bes Menfchen, Herrſchſucht, Eitelleit und Geiz entzogen hat. Die Men- 
fchen werden freilich Beine Engel, aber Menfchen werden, und die befte 
Welt wird der Traum eines Philanthropen, das Spftem eines Weifen, 
die Lehre eines Gottgefandten nie erfchaffen; aber die Welt, die ein- 
mal ift, wird eine beffere werben, wenn die Menfchen gebildeter, das 
beißt menſchlicher geworden find. Die Fortfchritte des gefellfchaftlichen 
Lebens in Cultur, Kunft, Wiffenfhaft, Gewerbe und Handel, bie Be⸗ 
bürfniffe, die daraus entflehen, und die Noth, die fie herbeiführen, 
wenn wir in der neuen Lage bei der alten Anordnung bebarren molls 
ten, machen unfern Zuftand beffer, wenn wir felbft auch nicht beffer 
würden. Wir find gezwungen, vorwärts zu geben. Wir werben zu 
Verbefferungen genoͤthigt; bie Boͤswilligſten muͤſſen zu ihnen ſtimmen, 
fie begünftigen, weil nur das Beſſere vor dem Schlimmern bewahren 
kann. Es ift die Macht der Dinge, bie uns unwiderſtehlich führt. 
Die Revolutionen machen die Reformen, und nur durch diefe entgeht 
man jenen, in dem Sinne naͤmlich, wie wir fie nehmen, im politis 
fhen. Die Revolutionen aber, deren Werk die Staatsrevolutionen 
find, wenn wir ihnen durch Reformen nicht zu begegnen wiſſen, macht 


54% Golonien. 


bie Raur. Jeder Zug iſt ein neuer Satz in ihrer Reovolutiondge 
ſchichte. Wir müilen dem Ziele näher, wir kommen ihm näher, wie 
und auf welchem Wege, das ift uns umbelamnt. Wir üuberfehen ben 
Weg erft, wenn er zurücdgelegt, unb fchliefen hoͤchſtens mit einiger 
Wihrfheinlichkeit von dem, mas da geweſen, auf dad, was fommen 
wird. Das Schickſal führt und, wir mögen wollen oder nicht. Was 
aber auch kommen mag, in Beziehung auf Colonien wird es ſich be 
mähren, daß der Menſch nicht fcheiden oder verbinden ſoll und ann, 
was die Natur verbunden ober geihieden bat. Jeder wirb Herr in 
feinem Haufe fein und, um fremde Einſprache unbeforgt, fein Haus⸗ 
echt üben. Dahin wird, dahin muß es kommen; aber ba find wir 
noch nicht, und es wirb noch manches Jahrhundert vergehen, bis wir 
dahin gelangen, bis die Bevoͤlkerung, die Bildung, ber geſellſchaftliche 
und politifhe Zuftand der Völker und ihre Bedärfniffe in ben verfchie 
denen Welttheilen fi in eine Art von Gleichheit gefeht. Bis dahin 
werden Anfiedelungen in fremden Ländern möglich, felbft nüglidy und 
vielleicht geboten fein. Der Erfolg derfelben hängt von ben Grund⸗ 
fägen ab, die man dabei in Anmendung bringt. Die GColonien Ein: 
nen ein Segen, eme Wohlthat für die Gegenden fein, in benen fie 
angelegt werden, wie für die Goloniften, die man bahin verpflangt. 
Unfere Zeit befonders fordert in vielen Theilen Europa's dazu auf. 
Es wird für die Weisheit, Gerechtigkeit und Menfchlichleit der Regie 
rungen zeugen, wenn fie manden ſchweren Leiden, welche jegt bie Ge 
feufchaft quälen, auf dieſem Wege zu begegnen wiſſen. Uebervoͤlke⸗ 
rung, Dürftigkeit, die aus ihr und ber greifen Ungleichheit bes Ber: 
mögen® entfieht, Parteiungen, welche durch politiſche und religidfe Ge⸗ 
finnung bie Geſellſchaft entzweien und beunruhigen, flimmen viele Men⸗ 
[hen zur Auswanderung, die der Staat, aus eigenem Intereſſe, be: 
fördern ſollte. Warum fuht er den innern Frieden nicht zu erhal 
ten, indem er bie feindfeligen Elemente ausfcheibet, die nach biefer 
Scheidung ftreben? Warum verbinden fi) nicht Staaten, bie, in 
dieſer Hinfiht, einen gemeinfdyaftlihen Vortheil haben, um den Aus 
wanderungsluſtigen, unter den beften Bedingungen, Land zu Anftedes 
lungen anzuweifen? Eine heilige Allianz, die dieſen Zweck verfolgte, 
würde eine heilige in jedem Sinne fein, teil fie ſich in jeder Dinficht 
wohlthärig erwiefe. Warum ift man nicht darauf bedacht, Strafcols: 
nien anzulegen, in benen die Sünder für bie Gefellfchaft, gegen bie fie 
gefündigt haben, geftorben wären, für ihr eigenes Wohl, das Wohl der 
Ihrigen, in mander Beziehung für bas Wohl der Gefammitheit 
aber fortiebten? Gerade ber Zwieſpalt, der ben Innern Frieden ber 
Staaten ftört, vermehrt die politifchen Verbrechen, wie Armuth und 
Mangel an Unterricht und Bildung die bürgerlichen. Ziehen wir es vor, 
bie Strafen unmenſchlich zu häufen, die Bucht» und Gorrectionshäufer 
zu bevoͤlkern, die Ausgaben bes Staates für ſolche Anſtalten zu vermeh⸗ 
ven, in ihnen die Steiflinge, beren Verberbtheit noch-nicht vollendet iſt, 
gänzlich zu verderben, ba wir ein leichtere, edleres und wohlfeileres 


Columbia. ‚845 


Mittel, den Zwei ber Streafgefergebung zu erreihen, in Colonien 
haben ? | Weigel. 
Columbra. Die Foͤderativrepublik Columbia tft aus dem ſpa⸗ 
nifhen Vicekoͤnigreich Neugranada und dem Generalcaptanate Caraccas, 
fo tie aus ben Provinzen Veragua und Panama erwachſen. Schon Cos 
lumbus feldft hatte einzelne Theile diefes Gebietes bereifet. Das Gebiet 
von Garaccas erfaufte 1523 die augsburgifche Familie Welfer zu erblis 
her Lehnsherrſchaft, aus: deren Händen es jedoch 1550 an den Staat 
zuruͤckkam. Bon dort aus wurden die Eroberungen gegen Welten und 
. Süden fortgefest und gediehen bald zu einem ſolchen ange, daß fchon 
1719 ein eignes Vicekönigreih NeusGranada mit Quito Brrichtet wurde. 
Auch diefe Provinzen fchlummerten Jahrhunderte lang in forglofer Uns 
terwerfung. Der erfte Verfuch, fie zum ‚Aufbigten ihrer eigenen Kraft 
anzuregen, geſchah Im dynaſtiſchen Intereſſe des fpanifhen Königs. 
Aber in Garaccas felbft ward der Mann geboren, der zuerft den kühnen 
Gedanken faßte, das fpanifhe Amerika von dem Gefchidle des Mutters 
landes loszureigen. Bereits 1804 ging ber fpanifche General Miranda, 
aus Caraccas gebürtig, nach London, um bie englifhe Regierung zur 
Unterftügung feines Unternehmens, einer Revolutionieung dieſer reichen 
Provinzen, zu bewegen. England mochte fich nicht offen für einen Vers 
ſuch fo gefährlichen Beifpiels erflären. Auch die Vereinigten Staaten, 
an bie er ſich 1805 menbete, wollten, mit Stankreich gerade in manchen 
Unterhandlungen begriffen, ſich feines Planes nicht annehmen. Ends 
lich brachte er auf eigne Hand etwa 8300 Mann zufammen, mit denen 
er auf drei Schiffen am 27. März 1806 unter Segel ging. Die fpas 
nifhe Macht in Südamerila mit geringeren Mitteln anzugreifen, als 
mit denen einft fie felbft gegen. das wehrlofe Reich der Indianer errichtet 
worden war, würde allzu verwegen erfchienen fein, wenn nicht Miranda 


auf die Stimmung feiner Landsleute gerechnet hätte; wie es fich zeigte, 


irrig. In Caraccas war man auf feine Ankunft vorbereitet, und als er 
fi) der Küfte näherte, ward er fo kräftig empfangen (28. April), daß er 
feoh fein mußte, mit Verluſt zweier Schiffe, deren Mannſchaft ermorbet 
wurde, nach Trinidad zurüdkehren zu können. Jetzt nahm fich aber 
Lord Cochrane, der die englifhe Seemacht in jenen Gewaͤſſern befehligte, 
feiner‘ an, und bereit8 am 24. Juli fegelte er mit 600 Freiwilligen und 
einigen englifchen Kanonenböten wieder von Trinidad ab, landete und 
befegte am 3. Auguft Vela de Coro. Er erließ Aufrufe an die Eingebor« 
nen zu Gunften der Freiheit und Unabhängigkeit; aber Niemand wagte, 
ſich mit ihm zu vereinigen. Er verließ Coro und näherte fi) dem Ufer, 
die Engländer um Hülfe befhidend. Won ben Spaniern am 11. und 
12. Auguft angegriffen, zog er fi) am 13. auf die Infel Aruba zurüd, 
Dorthin fendete zwar Cochrane ein Linienfchiff und zwei Sregatten ; aber 
das Gerücht von dem Abfchluß eines Präliminarfriedens zwiſchen England 
und Frankreich verhinderte derer thätige Mithuͤlfe. Miranda ging nad) 
Trinidad und 1807 nad) England zuruͤck. So war diefes Unternehmen, 
wie das ber Engländer auf Buenos Ayres (ſ. d. Art.), gefcheitert. Die 
Gtaats sEeriton, IL | N 


546 Columbia. 


Idee aber blieb und wucherte fort. Allerdings beftand noch bie große 
Anhänglichkeit der Creolen an die ſpaniſche Herrſchaft; aber auf je bis 
here Proben biefelbe allmälig geftellt wurde, defto ſchwaͤrzer trat die Un⸗ 
Dankbarkeit hervor, mit der fie belohnt ward. Und während gerade die Creo⸗ 
len felbft dem König Ferdinand VII. treu blieben, die Emiſſaire ber Zunten 
mit Jubel empfingen und die Unternehmungen ber fpanifchen Patrioten eis 
frigft unterftügten, waren es bie altfpanifhen Statthalter, die Guͤnſt⸗ 
linge des Hofes, welche ſchwankten, ob fie nicht nach Beamtenart ber beites 
henden Joſephiniſchen Regierung ſich anfchliegen follten. Das Volk das 
gegen verbrannte die Manifefte Napoleons, verjagte feine Emiffaire und 
Schritt (15. Juli 1808) zu Caraccas fogar thätlih gegen die Stanzofen 
ein. Trotz der Weigerung des Generalcapitains, rief das Volk Ferdi: 
nand VII. zum König aus. Die Errichtung einer Junta ward im An 
fang noch verhindert. Aber bereitd am 10. Auguft 1809 entfland eine 
ſolche zu Quito, unter Leitung des Marquis von Selva Alegre. Hier⸗ 
auf berief der Vicefönig Amar zum 7. September eine Verfammlung 
von Notablen nady Bogota, die einmüthig diefen Vorgang billigte und 
Nachfolge forderte. Aber nicht fo etwas lag in Amar's Plane. Biel: 
mehr fprengte er die Junta von Quito mit Waffengewalt auseinander. 
Trotz der verfprochenen Amneftie, wurden viele Patrioten verhaftet und 
(2. Aug. 1810) gegen 300 ermordet. Die Unzufriedenheit wuchs mit ber 
fleigenden Verwirrung der Angelegenheiten des Mutterlandes. Der General 
capitain Empanan wollte auf feine Maßregel eingehen, durch welche die Co⸗ 
lonien felbft für das Intereſſe der fpanifchen Dynaftie geforgt hätten. Da 
erhoben fich die Bewohner von Caraccas; die Zruppen vereinigten fich mit 
ihnen; bie fpanifchen Befehlshaber feute man ab und errichtete am 19. 
April 1810 eine Junta fuprema zu Caraccas. Als in einer zufälligen 
Rauferei zmwifchen Spaniern und Creolen zu Bogota die Creolen gefiegt 
hatten, ward auch dort im Zuni 1810 eine Junta eröffnet. Die Res 
gentfchaft von Cadix aber erflärte (31. Aug.) Caraccas in Blokadeſtand 
und feine Einwohner für Nebellen. Bald brach der Bürgerkrieg aus, 
den die Spanier durch Grauſamkeit, die Franzoſen durch Emiffnire und 
Verſprechungen aller Art nährten. Denn Frankreich erkannte jegt ben 
Bortheil, den eine Entziehung der aus den Colonien ber fpanifhen Nas 
tionalregierung zuftrömenden Hülfe ihnen bringen mußte. — Die In⸗ 
furgenten von Caraccas mwendeten fich jedoch lieber an die englifche Res 
gierung. Letztere ermahnte zur Ausföhnung; man möge die Regent: 
haft von Cadix anerkennen. Würde Epanien in Europa dem franzoͤ⸗ 
fifhen Joche erliegen, dann werde England die Kolonien mit aller 
Kraft unterftügen, damit fie diefe Refte der Monarchie dem rechtmaͤßi⸗ 
gen König erhalten koͤnnten. Der in gleicher Abfiht nad) Caraccas ges 
fendete Obriſt Robertfon fand jedoch, daß die Stimmung entfchieden 
feindlich gegen die Negentfchaft von Cadix fei. Allerdings verharrte diefe 
in ihrer Verblendung. Zwar nahmen die Gortes (6. Juni 1811) bie 
englifhe Wermittelung an; allein unter Bedingungen, die ganz ben 
Stolz und die Härte ber Spanier athmeten. Dan forderte augenblids 


Columbia. 547 


liche Unterwerfung und verfprach nur bereinftige gehörige Beachtung der 
Befchwerden. Würden die Colonien nicht eintoilligen, fo follte England 
fie zur Unterwerfung zwingen helfen. Die englifhen Bevollmächtigten 
fchlugen neue Bedingungen vor, worunter: volllommne Amneftie, billiz 
ger Antheil an der Repräfentation, Gleichheit bei Befegung der Staats⸗ 
ämter und freier Handel. Aber die Cortes, befonderd von dem Gabirer 
Handelsftand, der feine Monopole nicht aufgeben mollte, angereist, vers 
marfen die Vorfchläge (13. Auguft). 

Das Verfahren der Colonien hatte noch nicht zu folchee Strenge 
veranlaßt. Zwar waren in fünf Provinzen von Venezuela, in Caraccas, 
Gumana, Margarita, Varinas und Guyana, Sunten gebildet worden. 
(Die fechfte Provinz, Maracaibo, ſchloß fih aus, und ihre Gouverneur, 
Don Fernando Migares, ſchickte fogar die Emiffaire von Caraccas gefan⸗ 
gen nach Portorico. Die Zunten von Varinas und Cumana dagegen ers 
kannten die Junta fuprema von Garaccas nicht ale ſolche an, fondern 
verlangten Berufung eines allgemeinen Congreſſes.) Indeß benachrich- 
tigte man body die Regentfchaft von Cadix von dem Vorgefallenen und 
ftellte es ald im Intereſſe Spaniens und ber befferen Vertheidigung feis 
ner Befigungen gegen Frankreich gefchehen dar. Die Regentfchaft Hatte 
indeß den Gouverneur von Maracaibo zum Generalcapitain ernannt, 
der fih mit dem Commandanten des Bezirks Coro, der allein in ber 
Drovinz Caraccas treu geblieben war, vereinigte, dafür aber erleben 
mußte, baß zwei Bezirke feiner eigenen Provinz, Merida und Truxillo, 
abfielen.. Der Bürgerkrieg ward duch den fruchtlofen Verſuch des 
Marquis del Toro, fi) Coro's zu bemädhtigen (Nov. 1810), eröffnet. 
Bald darauf traf General Miranda von England in Caraccas ein. 
Schon vorher war die Berufung eines allgemeinen Congreffes beſchloſ⸗ 
fen, der auch am 2. März 1811 zufammentrat. Die Verfaffung ward 
von der Mehrzahl, die auf Nordamerika bliden mochte, füderaliftifch ges 
wuͤnſcht. Miranda, voll von franzöfifchen Ideen, drang auf Centralife: 
tion. Der Congreß deputirte drei Mitglieder zur „vollziehenden Gewalt”. 
Miranda und Espejo ftifteten eine „patriotiſche Gefellfchaft”. Weitere 
Schritte veranlafte die Meactionspartei. Auf Entdeckung einer Wer: 
ſchwoͤrung im fpanifhen Sinn ward (5. Juli 1811) die Unabhängigs 
keit Venezuela’s erklärt. Als darauf (11. Juli) in Caraccas felbft ein 
Aufftand zu Gunften Spaniens ausbrach, erhob ſich das Voll und ent 
waffnete die fpanifche Partei. Damals wurden zehn Verſchworne hins 
gerichtet! Valencia, das fid) von dem Congreſſe unabhängig machen 
wollte, ward von Miranda erftürmt. Die dem Congreß am 23. Dee 
cember vorgelegte Verfaffung mar von Ufturiz nach nordamerikaniſchem 
Mufter entworfen. Eine verföhnende Maßregel war ed, dag man Bas 
lencia zum Sig bes Congreffes beftimmte. In ber That war die Einig- 
keit hergeftellt, und manche freifinnige Maßregeln fchienen das befte Stud 
zu verfprechen. Aber noch waren bie Tage dafür nicht gelommien, und 
als weder ‚innere, noch aͤußere Feinde die Ruhe ftörten, brach am 26. 
März 1812 eines der furchtbarften Erdbeben ein, beh ver gegen 20,000 


518 Columbia. 


Menfhen um’s Leben Samen, mehrere Städte ganz, Caracas und Was 
lencia zum großen Theil vernichtet wurden. Das allgemeine Elend ent- 
muthigte das Volk und laͤhmte die Regierung. Die Geiftlichkeit ſtellte 
das Ereignig als eine Strafe Gottes für den Abfall dar. Der Congreß 
Löfte fi auf und übertrug ben drei Mitgliedern der Vollzichungsbehörbe 
bictatorifche Gewalt. Miranda zog mit 2000 Mann den von Coro aus 
unter General Monteverde einfallenden Royaliften entgegen. Er Eonnte 
fie nicht aufhalten. Das Volt entfagte jedes Widerſtand; zahlreiche 
Defertionen ſchwaͤchten die Reihen der Republilaner. Valencia warb ges 
raͤumt; Caraccas felbft erklärte ſich für die Spanier; Puerto Cabello, wo 
Dbrift Simon Bolivar befehligte, ward durch Verrath den Spaniern 
ausgeliefert; die Erderfchütterungen dauerten fort, und Miranda fah ſich 
zur Capitulation gendthigt. Man verfprady (28. Zuli) Amneftie, Aus: 
wanderungsfreiheit und Einführung der fpanifhen Conſtitution. Mis 
randa wollte ſich zu la Guayra einſchiffen, aber der dortige Beſehlsha⸗ 
ber Caſas verhaftete ihn und lieferte ihn den Spaniern aus. Die Amne⸗ 
fie ward nicht gehalten. Gegen 1000 Patrioten wurden in Kerker 
geworfen; die Bedeutendften nach Cadir gefandt, wo Miranda im Det. 
1816 im Kerker geftorben ift. Nachdem auch der republilanifche Gene⸗ 
ral Paredes im Thal von Cucuta von den Moyaliften befiegt worden 
war, kehrte ganz Venezuela unter die fpanifche Derrfchaft zurüd. 

Noch war Neus Granada frei. In diefem großen, 22 Provinzen 
mit 24 Millionen Einwohnern umfajfenden Vicekoͤnigreiche war ſchon 
im Juli 1810 der Vicekoͤnig Amar und die meiſten Mitglieder der Au⸗ 
diencia verhaftet und nach Spanien geſchickt worden, worauf man die 
Provinzen zur Beſchickung eines allgemeinen Congreſſes zu Bogota ein⸗ 
lud. Neun Provinzen folgten der Einladung. Der Gouverneur von 
Popayan, der gegen die Sunta rüftete, ward 1811 am Fluſſe Palace 
durch Baraya gefchlagen. In Quito beredete der von ber Gadirer Res 
gentſchaft dorthin gefendete Bevollmädhtigte, Montufar, der Sohn des 
von den Spaniern ermordeten Marquis von Selva Alegre, die ſpaniſchen 
Behörden felbft zur Errichtung einer Zunta, der einzigen, die von ber 
Megentfchaft beftätigt worden iſt. Der Congreß trat mehrmals zufams 
men; aber feine Maßregeln wurden vielfach duch Nichttheilnahme eins 
zeiner Provinzen, durch Uneinigkeit unter den andern und burdy das 
Berlangen vieler Bezirke, als eigne Provinzen anerkannt zu werben, ges 
hemmt. Doc, fhloß man ein Bündnig mit Caraccae. Eundinamarca, 
die Provinz von Bogota, gab ſich eine eigne Verfaffung (17. April 1812), 
bie jedoch immer noch Ferdinand VII. als König anerkannte. Der 
Präfident dieſer Provinz, Narino, betrieb eifrigft bas Centraliſations⸗ 
peincip, worüber zwifchen feiner Partei und den Anhängern des Congrefs 
ſes ein förnalicher Bürgerkrieg ausbrach, im Laufe deffen Narino’s Trup⸗ 
pen zweimal gefchlagen wurden und der Congreß, der erft zu Ibague, 
dann zu Zunja und endlich zu Neyva faß, Bogota foͤrmlich belagern 
ließ. Man forderte Ergebung auf Gnade und Ungnade; der Sturm 
lief aber zur größten Schmach der Belagerer ab. — Quito var von der. 


Columbia. » 549 


- Armee des Todes, an deren Epige der Biſchof fland, forfe von ben 
Truppen von Lima, die Montes anführte, befegt und ber fünfte Mann 
unter den Vertheidigem hingerichtet worden. — Der Spanier XZacon, 
Gouverneur von Popayan, ber nad) 106 Paftos geflohen war, gab das 
gefährliche Veifpiel, daß er, um feine Truppen zu verftärken, bie Freiheit 
der Sklaven ausrief. — Gartagena ging feinen eigenen Gang. Dort 
hatte ſich 1810 eine Junta gebildet, welche die Annahme des neuen’ 
fpanifhen Gouverneurs verweigerte und frühzeitig den Gedanken ber 
Unabhängigkeit faßte, während fie formelt die Megentfchaft noch aner⸗ 
kannte. Eine Verſchwoͤrung im fpanifhen Sinne fcheiterte. Dagegen 
erregte das harte Verfahren der Junta gegen die Stadt Mompor Uns 
willen, und das Volk befchufdigte die Junta der Herrſchſucht. Die Junta 
gab dem altgemeinen Wunfch nad) und berief zum Januar 1812 einen 
Gonvent, der am 14. Juni eine befondere, nady norbameritanifhem Bor: 
bild gemobelte Verfaffung der Provinz befannt machte. Minder gluͤck⸗ 
lic war man bei Ordnung der Sinanzen, und bie Einführung eines Pa⸗ 
piergetbes erregte fo viel Mißmuth, daß die Royaliſten, die im October 
ans der Provinz Santa Marta hereinbrachen, wenig Wiberftand fanden. — 

So mar aud) hier überall Verwirrung. Indeß der Anhaltepunkte 
waren in diefem ausgedehnten Rande zu viele, als daß bie Sache der Freis 
heit mit einem Schlage zu vernichten gewefen wäre. Als der Spanier 
Samano von Quito aus gegen Bogota aufbrach, vereinigten fih Na: 
eino und der Congreß, fammelten 8000 Mann und ſchlugen den Spas 
nier wiederholt, ohne ihr jedoch aus Paftos vertreiben zu Binnen. Nach 
manchen Gefechten gluͤckte es dem Nachfolger Samano's, Aymeric, Nas 
rino durch eine Kriegstift zu Üübermältigen, ihn felbt gefangen zu nehmen 
und feine Truppen zum Rüdzug zu nöthigen. ‚Der Congreß erließ am 
. 1. September 1814 einen mahnenden Aufruf an das Voll. Aber felbft 
in der drohenden Gefahr waͤhrte die Uneinigkeit fort, indem Narino's 
Nachfolger, Don Alvarez, die Unabhängigkeit Cundinamarea's behauptete 
und mit dem Congreß nur wie Macht gegen Macht unterhanbeln wollte, 
(Scheinbar im Sinne des Köderativ-, in Wahrheit aber in dem dee 
Gentralifationg » Syftemd. Denn Bogota follte eben der Mittelpunkt 
fein, dem man allmälig bie übrigen Provinzen unterwerfen tmollte.) 
Abermals kam es zu einer Belagerung Bogota’s, mad zum Theil ſchon 
erftürmt mar, ale Alvarez endlich nachgab. Der Congreß verfammelte 
fid) darauf wieder In Bogota. Man richtete bie Verfaffung nach nord⸗ 
ameritanifhem Muſter ein, wiewohl man die vollziehende Gewalt einem 
Triumvirat übertrug; traf manche freifinnige Maßregeln und befchloß die 
Eroberung der Provinz Santa Marta. Zum Befehlshaber diefer Erpes 
bition ward Bolivar ernannt, der bereits bie Korbeeren von Venezuela trug. 

Denn in Venezuela hatten bie furdhtbaren Bedruͤckungen ber 
Patrioten, die dem fpanifchen Kriegsminifter immer noch zu ſchwach 
fhienen, einen neuen Aufitgnd erregt, der In der Provinz Cumana 
ausbrady und an deffen Spise Don Marino trat. Zweimal belagerten 
die Spanier Maturin vergeblich. Dies mochte Bolivar (f. d. Art.) Muth 


550 Columbia. 


zu feinem tühnen Zuge über die Andes machen, ben er im April 1881 
mit 600 Mann vollführte. Bahlreihe Anhänger firömten ihm zu. 
Ueberall wurden die Spanier geſchlagen und bereitd am 4. Auguft 
1813 hielt der Befreier feinen jubelvollen Einzug in Caraccas. Mon⸗ 
teverde z0g fih nad; Puerto Gabello zurüd, dem einzigen Plag, ber 
in fpanifhen Händen blieb und der nun von Elugar belagert warb. 
Bald ward aud die Stadt genommen und die Spanier blieben auf 
das Fort beſchraͤnkt. Ebenſo ſchlug Bolivar die unter Ceballos von 
Coro aus im Anfang ſiegreich anruͤckenden Royaliſten. Das dankbare 
Volt gab ihm den Namen bes Befreiers von Venezuela. Aber wes 
niger Beifall fand es, daß er, fatt den Congreß zu berufen, das 
Land militairifch verwaltete. Indeß fand doch die Verſammlung von 
Notabeln, die er Anfangs 1814 berief, und in deren Hände er feine 
Gewalt zuruͤckgab, für gut, ihm den Oberbefehl in bisheriger Ausdehs 
nung bis zu gänzlicher Vertreibung der Spanier Zu übertragen. Die 
Letzteren ergriffen das verzweifelte Mittel, die Sklaven aufzumiegeln. 
Aber ihre Emiffaire wurden zum Theil aufgefangen, fo daß das Uns 
ternehmen fih auf oliete, freilich von graͤßlichen Scenen begleitete 
Ausbruͤche beſchraͤnkte. Dabei fuͤhrte ein Augenblick der hoͤchſten Ge⸗ 
fahr Bolivar zu dem furchtbaren Befehl der Hinrichtung der 800 
ſpaniſchen Gefangenen, der ſogleich Repreſſalien von Seiten der Spas 
nier folgten. Die Sklavenhaufen, ſowie die Royaliſten, wurden von 
Bolivar und Marino in einzelnen Gefechten beſiegt. Eine Haupt⸗ 
fchlaht gewannen die Republikaner am 25. Mai 1814 bei Carabobo 
gegen den neuen Generalcapitain Gazigal. Dagegen ward er von dem 
Buandenführer Boves, in Folge feines Mungels an NReiterei, zu la 
Puerta geſchlagen. Ebenſo draͤngten die Royaliſten den Marino nach 
Cumana zuruͤck, wohin auch Bolivar, unter Aufhebung der Belage⸗ 
rung von Puerto Cabello, zurüdging. Boves zog im Juli in Ca⸗ 
- raccas ein. Valencia ward auf Gapitulation ergeben, die jedoch von 
den Epaniern gebrochen ward. Boves holte die Patrioten ein unb 
fhiug fie nochmals bei Araguita. Der Befehlshaber der Küftenflotille 
verweigerte Bolivar den Gehorfam, und endlich fhiffte ſich diefer nad) 
Gartagena, wo er ſchon einmal in gleich verzweifelter Lage Zuflucht 
gefunden, ein. Maturin ward eine Zeit lang noch von Rivas und Ber: 
mubez behauptet. Endlich (5. Dec.) wurden auch diefe bei Urica ges 
ſchlagen; Maturin ward von den Spaniern befegt ; Rivas ward ges 
fangen und erfchoffen. 

Bolivar war indeg an die Epige ber Armee von Neu: Granada 
getreten. Allein die Regierung von Cartagena, befonders der Gous 
verneur Gaftillo, proteflirte gegen feine Ernennung, und diefer Wider⸗ 
fprud) reizte ihn dergeflalt, daß er ſich (1815) in eine fürmliche Bes 
lagerung Cartagena's einließ, die ihn ohnehin zu nichts fuͤhrte, 
da er endlich in Folge Vergleichs die Provinz verließ, in welcher 
waͤhrend dieſer Haͤndel die Royaliſten bedeutende Fortſchritte gemacht 
hatten. Der Sitz der Letzteren war vorzuͤglich bie Provin Santa 


Columbia. 551 


Marta. Ste befamen geordnete Kraft, als der General Morillo mit 
10,000 Mann aus Spanien an der Küfle von Venezuela anlangte 
und im Suni 1815 zur Belagerung von Gartagena aufbrach, was cr 
auch am 6. Dec. einnahbm. Im Juni 1816 zog er felbft in Bogota 
ein. Allein er erkannte, daß nur durch phyfifchen Zwang die Gemalt 
der Spanier aufrecht zu erhalten und nur durch fortwährend: Verſtaͤr⸗ 
ung feiner Truppen die Dauer feiner Erfolge zu verbürgen fe. Das» 
zu aber war von Spanien aus keine Ausfiht, und im Innern des 
Landes regten die Spanier, ftatt ſich Anhänger zu gewinnen, durch 
Stolz und Grauſamkeit immer neue Gegner auf. So trennten fid) 
viele Ropaliften, die ihnen bei der Bezwingung Venezuelas beigeftan: 
den, von ihnen und begannen einen glüädlichen Guerrillaskrieg. End» 
lich bemichtigte fich Ariemendi eines großen Theiles der Inſel Mar: 
garita, und dort ward der neue Sig der Sinfurrection. Bolivar, ber 
frudhtlos auf den mweftindifchen Inſeln Hülfe gefucht hatte, vereinigte jegt 
bie Ausgervanderten von Venezuela und einen Theil der Befagung von 
Gartagena, der fich vor der Webergabe gerettet, und ging im März 
1816 mit einer von Brion geführten Klotte und etwa 1000 Mann 
von aur Cayes unter Segel, nöthigte die Spanier, Margarita zu ver: 
Laffen, und landete am 6. Juli zu Dcuman. Aber der General Mo⸗ 
reales zwang ihn zur Wiedereinſchiffung. Dagegen gelang es einer 
andern Zruppenabtheilung der Patrioten, die unter M’Gregor zu Cho: 
roni gelandet war, Morales zweimal zu fehlagen und fi Barcelona’s 
zu bemädtigen. Bolivar hatte neue Verftärkungen geholt und feßte 
in Barcelona eine vorläufige Regierung ein. So kämpfte man mit 
abwechſelndem Gluͤck, bald die Angriffe der Spanier zuruͤckweiſend, 
bald ihnen fomweit erliegend, dag im Mai 1817 fowohl Barcelona 
als auch Margarita wieder in die Hände der Spanier kamen. Allein 
Bolivar hatte gefchickte Officiere, M’Gregor, Paez, Par, Santander, 
Sucre, die in vielfachen Abtheilungen die Spanier umfchwärmten und 
das auf ber einen Seite erfahrene Unglüd duch befferes Gluͤck auf 
der andern wieder gut machten. Sie hatten ferner Landestunde und 
die ftete Verforgung mit Hülfsmitten und Verſtaͤrkungen voraus, 
während Morillo nur fpärlihe Zufhüffe befam. So murden die 
Spanier allmälig erfchöpft und bes endlofen Krieges müde. Daher 
der Waffenſtillſtand zwiſchen Bolivar und Morillo, der am 25. Nov. 
1820 gefchloffen ward. Nach feinem Ablauf begannen die Feindſelig⸗ 
keiten von Neuem, bie endlih Bolivar am 21. Juni 1821 gegen 
Morillo's Nachfolger La Zorre am 21. Juni 1821 den entfcheidenden 
Sieg bei Carabobo erfocht. La Torre zog ſich nach Puerto Cabello 
zurüd, das er zwei Jahre vertheidigte, bie er ed den 10. Nov. 1823 
dem General Paez übergab, der ihn am 11. Aug. 1822 auf ben 
Höhen von Birgirama gefchlagen hatte. Damit hatte der Kampf ein 
Ende. Mit Venezuela's Befreiung war auch Neuss Granada’s Unab- 
hängigleit gefichert, die ſchon durch den fiegreichen Feldzug vom Jahre 
1819, in Folge deffen Bolivar am 10. Aug. in Bogota einzog, ber 


552 Columbia. 


gründet, aber erft dann gededt war, wenn Venezuela nicht länger in 
ben Händen ber Spanier blieb. 

An Bolivars Seele lag das Centealifationsprincp begründet. 
Es bleibe dahingeftellt, ob er fich die Rolle bes Herrichers zugedacht 
hatte; aber Herrfchaft wollte er; Hertſchaft giänzte ihm mehr als Frei⸗ 
beit. Deshalb arbeitete er mitten unter biefen Kämpfen an ber Ben 
einigung Neu⸗Granada's und DBenezuela’s, die er auch am 17. Der. 
1819 bei dem Congreß von Angoſtura durchſetzte, bergeftalt, daß er 
felbft dictatoriſcher Präfidents Befreiee ber untheilbaren Republik Co⸗ 
lumbia fein follte. Nach Vertreibung der Spanier warb die Ber 
faffung vervollftändigt, am SO. Aug. 1821 promulgirt, Bogota zum 
Sitz des Congreſſes, Bolivar zum Präfidenten, ber gemäfigte, geiſt⸗ 
volle Santander zum Vicepräfidenten emannt. Diefer führte num, 
während Bolivar mit auswärtigen Erpeditionen beſchaͤftigt war, bie 
Raq]7ierung mit Gluͤck und getreu den conftitutionellen Grundfägen. 
Auh Quito trat 1822 dem Gefammtfiaate bei, nahdem General 
Sucte es duch die Schlacht am Pichincha den 24. Mai 1822 ben 
Epaniern entriffen hatte. Das Verhaͤltniß änderte fi), als Bolivar 
gegen Ende 1826 wieder in Bogota eintraf. Zwar ftellte er fich, bei 
feinee 1827 erfolgten Miedererwählung, als wolle er die Würde abs 
lehnen, ließ ſich aber doch bewegen, laͤhmte Santanders freifinnige 
Maßregeln und trachtete, ungewarnt von den Vorgängen in Peru 
und Bolivia (f. d. Art.) vielmehr, ermuthigt durch die Ruͤckkehr ſei⸗ 
ner Truppen, nad) dictatorifcher Gewalt. Der Convent, Santander 
an der Spige, widerftand mit Zeftigkeit; aber Bolivar Iöfte am 27. 
Aug. 1828 den Gonvent auf und ftand als Dictator da. Eine Vers 
ſchwoͤrung gegen fein Leben ward vereitelt, worauf er Mehrere hins 
sichten, Santander aber mit 70 andern Republilanern verbannen ließ. 
Bolivars Ziel ſchien erreicht. Aber in demfelben Lande, wo er feine 
eriten Lorbeeren erfochten, traf ihn der Widerfland, und feine ruhm⸗ 
vollften Kampfgefährten wurden deſſen Werkzeuge. Sie mollten nicht 
für den Glanz eines KEinzigen gekämpft und geblutet haben. Unter 
Mitwirkung der Generale Arismendi und Paez befchloffen bie Einmohs 
ner von Caraccas am 26. Nov. 1829, daß DBenezuela fi von Co⸗ 
lumbia trennen folle. Paez hielt am 12. December feinen Einzug in 
Garaccad. Zu Valencia trat am 6. Mai ein conftituirender Congreß 
zuſammen, ber ſpaͤter nach Caraccas verlegt ward und jede Einladung 
zur Wiedervereinigung, fo lange Bolivar malte, zurüdwies. — Diefe 
Vorgänge öffneten aud in Bogota die Augen, und die Mifftimmung 
gegen Bolivar trat an den Zag. Ein Aufſtand, der zu deſſen Guns 
- fen verfucht ward, fchlug fehl. Darauf dankte er ab. In den Wir 
ten, bie auf feinen Tod folgten, trennte ſich auch Quito, das Foͤde⸗ 
rativſyſtem hatte gefiegt und aus ber untheilbaren Republik. Columbia 
erwuchſen drei, fhon in ihren ehemaligen Beitandtheilen vorgezeichnete 
Staaten: das alte Venezuela, aus Cumana, Barcelona, Varinas, 
Caracas, Merida, Truxillo und der Inſel Margarita beftehend. 


Columbia. 553 


Neu⸗Granada mit: Cundinamarca, Neyva, Pamplona, Tunja, 
Gartagena, Antioquia, Santa Marta und Popayan. .Die füdlihen 
“ Provinzen Guajaquil, Quito und Pafto bildeten die Republik Ac⸗ 
quator. Garaccas tft der Hauptfig der erften, Bogota der der zwei⸗ 
ten, Quito ber der dritten. Im Mai 1832 haben fich biefe drei 
Staaten über eine Köderation vereinigt, die. inmere Zroiftigkeiten aus⸗ 
gleicht und gemeinſchaftliche Unterflügung gegen auswärtige Angriffe 
verbürgt, aber jede Gentraltegierung ausfchließt. 

Seitdem ift in NeusGranada ber edle Santander, ber während 
feines Exils in Europa gereift war, 1832 zum Präfidenten gewählt 
worden. Bon dem innern Zuftande hört man ünter feiner Verwal⸗ 
tung nur günftige Nachrichten. Er thut viel für den Öffentlichen 
Unterricht, befhägt die Preßfreiheit, fucht die Finanzen herzuftellen 
und ermuntert den Handel. Am 31. Mai 1835 wurden Portobello 
und. Panama für ben Fall, daß ein Ganal ober eine Eifenbahn zwi⸗ 
fhen ihnen zu Stande gelommen, auf 20 Jahre zu Freihaͤfen ers 
klaͤrt. Manche Maßregeln wurden ergriffen, um die Anhänglichleit 
ber füblichen Provinzen I befeftigen, die fich außerdem mehr nad) 
Quito neigen follen.”— Auch in Venezuela mar unter der Präfis 
bentfchaft des biebern Paez Ruhe und Ordnung. Paez behielt dieſe 
Mürde vier Jahre lang und übergab fie dann (6. Febr. 1835) dem 
zu fenem Nacyfolger gewählten Arzte Sofe Vargas. Allein unruhige 
Koͤpfe bedienten ſich der Gelegenheit, die ein Beil des Präfidenten 
mit dem Senate darbot, und des hohen Anfehens, in das fih Gene 
ral Paez gefegt hatte, um am 8. Juni 1835 einen Aufitand zus 
wege zu bringen, in beffen Verlauf man Vargas vertrieb, Paez zum 
Präfidenten und den General Marino zum Bicepräfidenten ausrief. 
Die Unternehmung mard vorzüglich durch einen Schwager Bolivar’s, 
Pedro Briceno Mendes, durch einige Anhänger Bolivar’s, namentlid 
General Ibarra und Obriſt Carujo und duch auf Halbfolb geſetzte 
Dfficiere ausgeführt. Das Volt nahm. wenig Antheil. Paez aber be: 
wies ſich ald Ehrenmann und rechtfertigte das Wertrauen, mas ber 
vertriebene Präfident, der ihm eine Vollmacht zufendete, in ihn feßte. 
Statt in die Pläne der Aufrührer einzugehen, brah er mit 800 
Reiten gegen fie auf. Alle Städte öffneten ihm die Thore und am 
27. Zuli rüdte er in das von den Empoͤrern verlaffene Garaccas ein. 
Eine Deputation warb nad St. Thomas gefendet, um Vargas zur 
Ruͤckkehr einzuladen, die auch erfolge if. Paez hielt, nach den neue- 
fien Nachrichten, die Gegner in Puerto Cabello eingefchloffen. — Am 
ungünftigften ift der Zuftand des jüngften und Meinften diefer Stans 
ten, der Republik Aeguator. Dort hat faft fortwährend Anarchie ges 
waltet, und namentlich ift die vom General Barragan vertheidigte Re⸗ 
gierungspartei neuerdings von dem General Flores in mehrfachen, mit als 
tem Haffe des Bürgerkrieges geführten Kämpfen befiegt und Roca Fuerte 
sum Oberhaupt des Staats erfiärt worden. Für den 1. Mai 1835 
ward eine Nationalverfammlung zur Entwerfung einer Conftitution 


554 Golunbie.  * 


berufen. Die Nachbarſtaaten fürdhteten den Ehrgeiz des General Flo⸗ 
res, — Sin den inneren Begrenzungen biefer Staaten kann ſich noch 
Manches ändern. Namentlich fol Maracaibo, das jest, wie: früher, 
zu Venezuela gehört, eine Bereinigung mit NeusGranada feinn Ins 
terefien für angemeffener halten. Es kam darüber 1835 zu Unruben, 
weshalb General Urduneta einruͤcken und die Ruhe herſtellen mußte. 
In dem Frieden vom 22. Sept. 1829, der einen zweifelhaften Krieg 
zwiſchen Columbia und Peru beenbigte, blieben die Grenzen beider 
Staaten unverändert. 

Das Gefammtgebiet von Columbia grenzt gegen Norden an das 
caraibiſche Meer, gegen Oſten an das atlantifhe Meer, Guyana und 
Brafilien, gegen Süden an Brafilien und Peru, gegen Weiten any 
das flille Meer und Guatimala. Es erſtreckt fih vom 5° 30‘ ©. 

Br. bis zum 129 40° N.Br. und vom 296° bis zum 3219 D2.2. 
und umfaßt 59,000 Quadratmeilen. Seine größte Ränge beträgt 300, 
feine größte Breite 225 Meilen. Diele Fluͤſſe ducchfirömen es. Der 
Drinoco, bee Magbdalenenfluß, ber Atrato. Der größte Fluß der Erde, 
der Amazonenfluß (Maranjon), tritt von Peru ber in Columbia ein 
und verläßt es, um Braſilien zu durchſtroͤmen. Unter den Seen ifl 
ber Maracaibo ber bebeutendfte, der 30 Meilen lang und 18 breit 
ift und mit dem Meerbufen von Venezuela in Verbindung fteht. Der 
Boden ift fehr verfchieden. Er bietet ſowohl die rieſenhafteſten Gebirge, 
als die ungeheuerften Ebenen (Llanos) dar. Die Andes bilden einen 
furchtbaren Gebirgswall, dee 11— 12 Meilen breit in Golumbia eins 
tritt, fi dort in zwei Reihen theilt, dann wieder vereinigt und um 
Duito feine größte Höhe erreiht. Denn dieſe bevälferte, fruchtbare 
und gefunde Hochebene auf einer Höhe von 83000 — 9000 Fuß iſt 
rings von höheren, größtentheils vulkanifhen Bergen umgeben. Dort 
ift der Vulkan Cotopari (17,712 Fuß hoc), der Zunguragua (156,180 . 
Fuß hoch), der hoͤchſte Berg Amerikas, der Chimborazo (20,148 
Fuß hoch), der Cayambe-Urcu (18,30 Fuß hoch). Später theilen 
fi) die Andes wieder in brei Zweige, die fich allmälig ſenken, bie 
der eine nad) Guatimala übergeht, mo er wieder aufiteigt. — Das 
Klima ift tropiſch, wechfelnd, von Lage und Jahreszeit abhängig. 
Die Hige ift drüdend, die Kuft zur Regenzeit und an der Kuüjte ungefund. 
Die jährlichen Ueberfhivemmungen der Ebenen erzeugen Krankheiten 
und Läftiged Gethier. Erdbeben und Orkane find nur zw. häufig. 
Uebrigens nährt das Land alle europüifhen Hausthiere, und in ben 
Llanos find zubllofe Rinder- und Pferdeheerden der Wildheit ans 
heimgefüllen. Schildkröten find namentlih am Orinoco fo zahlreich, 
dag aus ihren Eiern Del bereitet wird. Der Boden trägt reihe Erns 
ten von Getreide und Suͤdfruͤchten; Baumwolle, Kaffee, Indigo, 
Cacao, Vanille, China; manche andere Arznei» und Farbeſtoffe wer⸗ 
den zur Ausfuhr erbaut; die Wälder liefern Farbe» und Bauhoͤlzer, 
die Berge Metalle und Koffilien aller Art. Namentlich ift der Bezirk 
von Choco einer der gelbreichfien Theile der Erde, und jedes Waͤſſer⸗ 


Columbia. ompenfation (im Eivilr.). 555 


hen darin führt Goldfand mit fa. — - Die Einwohnerzahl ſoll fid) auf 
3,600,000 belaufen. Man 3 
154 Villas, 1340 Kirchfpiele und 846 Filiale. Die Induſtrie iſt 
wenig bedeutend; lebhafter der Handel der Kuͤſtenſtaͤdte. Den inneren 
Handel lähmt ber Mangel an Strafen. — Unter den Städten vers 
dienen befondere Erwähnung: Caraccas, die Hauptftadt Venezuelas, 
fhon 1567 erbaut, in dem ſchaͤnen Zhale Arragua gelegen, mit ets 
was über 30,000 Einwohnern ; der Geburtsoet Bolivar's. Maras 
caibo am See gleihes Namens mit 25,000 Einwohnern. Santa 
TE de Bogota, die Hauptſtadt Neu: Granadas, 8694 Fuß hoch 
gelegen, mit 40,000 Einwohnern. St. Srantieco de Quito, 8051 
Fuß hoch, mit 70,000 Einwohnern, die Hauptſtadt von Zeune 
. Buͤlau. 

Comitat, ſ. Lehenweſen. 

Comite, T. Ausſchuß. 

Comitien, ſ. roͤmiſche Berfaffung 

Commenderie, f. Ritterorbden. 

Commiffion, f. Cabinets⸗-Juſtiz. 

Commiſſions-Handel, f. Hanbel. 

Commodatum, f. Beibconten ct. 

Communalgarden, f. Nationalgarbden. 

Compagnie, f. Handelscompagnie. 

Compenfation (im Civilrechte). Nah allgemeinen. Grund» 
fäßen befichen Forderung und Gegenforderung unter denfelben Pers 
fonen unabhängig neben einander fort; feine übt Einfluß auf bie 


bite zur fpanifchen Zeit 95 Ciudades, 


! 


Eriftenz. der andern. und jeder Schuldner muß das leiften, was ihm 


vermöge feiner Verbindlichkeit obliegt. Weil aber, bied zu einem ganz 
nuglofen Hin- und Herzahlen führen und ber Verkehr felbit dadurch 
weſentlich beengt werden würde, hat das gemeine deutfche Recht den 
Grundfag aufgeftellt,. daß Korderungen auf der einen durch Gegenfor⸗ 
derungen auf der andern Eeite, unter beftimmten Borausfegungen, 
“aufgehoben werden, und diefe Wirkung der Eriftenz zweier Sorderuns 


gen unter denfelben Perfonen nennt man vorzugsweiſe compen- - 


satio, die von den Römern dahin befinirt wird: compensatio ent 
debiti et crediti inter se contributio 4). Die Gruribfäge über bie 


Gompenfation find vorzugsweife aus dem tömifchen Rechte zu entleh: 


nen, das Anfangs die Compenfation nur in bonae fidei judioiis, ſpaͤ⸗ 
terhin auch in strieti juris judiciis zuließ 2). Die Grundfäge nun, 
die nach dem gemeinen Rechte bei ber Compenfation gelten, find im 
Mefentlihen folgende: J. Zur Compenfation ift jede Forderung taug⸗ 
lich, die von den Gefegen nicht geradezu vernichtet ift, wie 3. B 
Spielſchulden. Selbſt mit obligationes naturales, d. h. folhen Obli⸗ 
gationen, die alle Wirkungen einer Forderung, nur nicht bie Klage 


1) Fr. 1. D. de comp. (XVII. 2.). 
2) $. 30. J. de act. (IV. 6.). 


556 Gompenfation (im Givilr.). 


baden, Tann man der richtigen Anficht nach compenfirn?). Beſon⸗ 
ders wichtig wird dies bei verjährten Forderungen (inſofern man bier 
nad) Ablauf der Verjährung die Fortdauer einer obligatio naturalis 
_ anerkennt), bei folchen, gegen die man fi auf das Senatusconsul- 
tum Macedonianum berufen Tann, u. m. a. Dit bebingten, betag> 
ten ober künftigen Forderungen kann man dagegen micht compenfiten *), 
wenn man auch fonft ihree wegen Sicheritellung für die künftige 
Zahlung folte verlangen Binnen. Mit ben betagten Korberungen fies 
ben aber die unter einem von bem’ Regenten ober fonft rechtsbefländig 
ertheilten Moratorium befindlichen nicht auf gleicher Linie, weil durch 
bie Ertheilung eines folhen Anftandsbriefes die an fich fälltge Forbes 
rung nicht in eine betagte verwandelt wird 5); mit einer ſolchen kann 
daher der Gläubiger unbedenklich compenfiren. II. Auch gegen jede 
Korderung fann man fid) im Allgemeinen auf Compenfation berufen, 
einerlei auf welchem Rechtögrunde fi fie beruht, ob auf einem eigentlichen 
Vertrage oder auf einem Derbrechen [deliotum 6). Namentlich ift 
es auch für die Trage der Zuläffigkeit der Compenfation gleichgültig, 
ob die Forderung, worauf compenfirt werben foll, aus demſelben 
Geſchaͤfte entfprungen ift, wie biejenige, womit man cempenficen 
will 7). Selbſt gegen dingliche Klagen ift die Gompenfation zu: 
Läffig 9), Infofeen nur ber Fall an fich geeignet Hi, Compenfation zu: 
zulafien. Sind mehrere Forderungen auf Seite des Gläubiger vor⸗ 
handen, dann kann der Schuldner bei dem Berufen auf Compenfation 
erklären, auf welche berfelben er feine Gegenforberung abgerechnet has 
ben till, wiewohl Andere dem Gläubiger das Wahlrecht geben wol⸗ 
len 9). Zufolge befonberer gefeglihen Beftimmungen kann man fi 
gegen folgende Forderungen nicht auf Compenfation berufen. 1) Ges 
gen bie Klage aus einem Depofitum, felbft dann nicht, wenn man 
nothwendige Verwendungen auf die deponirte Sache gemacht hat!°). 
2) Der ınalae fidei possessor, d. h. derjenige, der eine Sache gewalt⸗ 
ſam oder widerrechtlicher Weiſe, mit dem Bewußtſein davon, in Befis 
genommen hat, kann fih, auf die Herausgabe derfelben belangt, auf 
teinerlet Art von Gegenforberungen berufen !). Enbdlih fo man 


® ) Etian quod natura debetur, venit in compensationem, Fr. 6. D. 

comp. 

4) Fr. 7. pr. D. J I. 

5) Fr. 16.5. 1. D. lI. l. — Reufedtel und Zimmern römifch= recht: 
liche Unterſuchungen. Bd. 1. Rro. 1 


vn 2.8. fr. Det De M7T.D dent rer amd. 


7) Paull. rec. sent. Lib. I. Ti. V. 8. 2. 

8) C. Vlt. C. de comp. (IV. 31). 

9) 4. 8. Pufenderf Obs. jur. univers, T. H. Obs, 175. 
10) c. 11. C. depositi (1V. 34). 


11) c. ult. & 2. C. de comp. vergl. mit fr. 31. $. 1. D. de hered. 
per. (V. 8). 


Gompenfation (im Givilr.). 557 


3) nad) der Praris, geftüist auf c. 8. C. de oomp., nit auf Alimen« 
tenforderungen compenfiren koͤnnen. III. Der Gegenftand der Korbes 
rung und Gegenforderung muß generifch gleicher Art fein, weil Niemand 
verpflichtet ift, an der Stelle beffen, was er zu fordern hat, etwas Ans 
deres anzunehmen. Zwiſchen Forderungen, die auf beftimmte Gegen« 
ftände (species, wie 3. B. wenn die eine auf ein genau bezeichnetee 
Pferb gerichtet ift) oder auf Gegenſtaͤnde verfchlebener genera gehen, 
findet geſetzlich keine Conıpenfation flat. Am gemöhnlichften findet die 
Gompenfation unter Forderungen auf fungible Dinge, befonders auf 


Seid, ftatt, weil diefe regelmäßig nur ihren Gattungsmerkfmalen nadı in. 


Berracht kommen. IV. Die Forberungen, zwifchen denen‘ Compenſa⸗ 
tion ftattfinden foll, muͤſſen gegenfeitige fein, d. h. nur ber 
Schuldner kann fidy gegen feinen Gläubiger auf eine ihm gegen "diefen 
zuftchende Forderung berufen. Was ein- Anderer als der Schuldner 
zu fordern hat, Bann diefer ebenfo wenig zur Compenfation bringen, 
als dasjenige, was er an einen Anderen als gegen feinen Öläubiger 
zu fordern hat 12). Daher kann auch der Stellvertreter nicht mit eis 
ner eigenen Forderung auf eine Schuld bes Principals und umgekehrt 
mit einer Forderung ded Lepteren auf feine eigene Schuld compeniis 
ten 3?). So feft audy der Grunbfag fteht, daß nur ber Schuldner mit 
einer ihm zuftehenden Forderung gegen feine Gläubiger compenfiren 
fann, fo leidet er doch mehrfache Modificationen und Ausnahmen. 
As ſolche kann man aber nicht anfehen, wann ber Erbe fich auf eine 
Forderung des Erblafferd oder der Geffionar ſich auf die ihm cedirte 
Forderung berufen kann; denn in beiden Faͤllen iſt es keine fremde 
Forderung, auf die man fich beruft. Vermoͤge ber römifchen Anſicht 
über die zrwifchen Vater und dem in feinee Gewalt befindlichen Hauss 
fohne ftattfindendem Perfoneneinheit muß fich der Vater, wenn er eine 
zu einem peoulium profectitiumm gehörige Forderung einklagt, bie Auf⸗ 
rechnung der mit Ruͤckſicht auf dieſes Peculium von feinem Sohne ein- 
gegangenen Echulden gefallen lafien, und ann der Sohn, wenn er 
wegen einer mit Nüdfiht auf das genannte Peculium contrahirten 
Echuld belangt wird, mit Forderungen feines Vaters compenfisen 1%). 
Außer dem Schuldner ſelbſt Eönnen ſich dritte Perfonen nur dann auf 
die Jenem zufiehenden Gegenfordberungen berufen, wenn der Schuldner 
daran, daß fie diefes können, ein rechtliches Intereſſe hat, indem auch 
ihm fonft die Gegenforderung unnüg werben würde 1). Daher kann 
ſich der Bürge auf die Gegenfordberung bed Hauptſchuldners gegen: den 
klagenden Gläubiger ?6) und ebenfo der eine Correalfchulbner ſich auf 
die Gegenforderung bes andern Correalſchuldners berufen, wenn beide 


12) Fr. 18. $. 1. D. de comp. c. 9. C. eod. 

13) Fr. 23, D. de comp. 

14) Das Genauere darüber im Fr. 9. D. de comp. 
15) Fr. 21. 8. 6. Fr. 23. D. de pactis (II. 14). 
16) Fr. 4. D. de comp. 


556 -Gompenfation (im Gioilr.). 


socii find 1). Denn wäre dies nicht, fo müßte der Schuldner, dem 
die Gegenfordberung zufteht, den zahlenden Bürgen oder Correalfchufds 
ner entfchädigen, und es würde ihm mithin die Gegenforberung felbft 
unnüg werden.” Wie jeder Echuldner ſich auf Gompenfation berufen 
kann, fo muß fi, folhe auch jeder Gläubiger gefallen laffen, ſowohl 
der urfprüngliche, als deſſen Rechtönachfolger, wie der Erbe und Cefs 
fionar. Gegen Lesteren kann man nicht blos mit einer eigenen Schuld, 
fondern auch mit einer folhen bes Gedenten compenfiren, vorausgefekt, 
daß fie fhon vor der Benadrichtigung von der Gefflon an den debitor 
cessus fällig geworden ift, denn in diefem Falle mußte ſich der Cedent 
felbft die Abrechnung gefallen laſſen, weßhalb fi auch fein Ceſſionar, 
dem er nicht mehr Recht übertragen kann, als er felbft hatte, deſſen 
nicht weigern kann 16). Manche Perfonen find ausnahmsmeife dahin 
privilenirt, daß gegen fie eine Berufung auf Compenfation nicht ftatt: 
haft tft: dahin gehört der Fiscus megen feiner Forderungen von 
Steuern und Abgaben 1%), wegen der Korberung des Kaufpreifes einer 
von ihm veräußerten Sache 20), megen eines von ihm gegebenen ver 
zinslihen Darlehns 21) und in mehreren ‚andern Fällen, welche Privi: 
legien anderen Perfonen nicht zugeftanden werden können. V. Geil 
die Eriftenz einer Gegenforderung berüdfichtiget werden, fo muß fid 
ber Schuldner allerdings darauf berufen; ex oflicio (Amtöwegen) wird 
barauf bei Gericht Leine Rüdfiht genommen, wiewohl dies von dlte 
ren Suriften, aber aus einem offenbaren Mifverftändniffe einzelner 
Aeußerungen der Gefege, behauptet worden iſt. Allein nicht erft von 
dem Momente der Berufung auf bie Gegenforberung berechnen ſich 
die Wirkungen, die der compensatio beigelegt find, fondern ſchon von 
da an, mo die beiderfeitigen Forderungen, als compenfable, einander 
gegenüberftanden 2°). Won da an wird die Korderung in ber Att 
durch Gegenforberung, bis zu dem gleichen Betrage, ald aufgehoben 
betrachtet, daß feine Zinfen mehr laufen, und der Schuldner, wenn er 
irrthuͤmlich zahlte, das Gezahlte mit der conmdictio indebiti zurüdfor: 
dern kann 22). Die bloße Eriftenz einer Gegenforberung hebt dagegen 
die Forderung Feineswegs mit gleihen Wirkungen, wie fie der Zahlung 
beitommen, auf; die Wirkungen der Zahlung kann man nur 
der bereits wirklich durchgeſetzten Gompenfation beilegen **). 
VI. Die Einrede der Compenfation muß in dem Proceffe, damit fie 


17) Fr. 10. D. de duob. reis (XLYV. 1.). 

18) Vergl. Muͤhlen bruch, Gefiton ber Forderungsrechte. (Pte Kufl.) ©. 
568 ff. u. befonders Grande im Archiv für bie efoitif. Prax. Bd. XVI. Mr. 

19) Fr. 46. 6. 5. D. de jure fisci (XLIX. 14). 

20) c. 7. C. de conp. 

21) c. 3. C. eod. 

22) c. 4. C. de comp. 

23) Fr. 10. 8.1. D. h.t. — Fr. 30. D. de cond. indeb. (XII. 6). 

24) Fr. 4. D. qui potior. in pign. (XX. 4). 





Gompenfation (im Civilr.). 559 


als folhe berudfichtige werden kann, zur rechten Zeit, alfo mit ber 
Litis- Gonteftation, vorgefhügt und factiſch genau begründet erben. 
In dem eigenthuͤmlichen Wefen der Compenfation liegt es jebody, daß 
man fi) auf Gegenforderungen, aud) post rem judicatam, wenn fie 
liquid find, berufen kann, um damit die rechtskraͤftig zuerkannte Forde⸗ 
- rung zu zahlen 25); nur tritt in diefem Kalle wegen bes in der Mitte 
liegenden Urtheils die ruͤckwirkende Kraft der Compenfation nicht ein. 
Befonders wichtig ift die Stage: ob bie Einrede der Compenfation for 
gleich Liquid (bewieſen) fein muß, bamit fie in dem Proceffe berüdfichtigt 
werben koͤnne 26) 3: Läßt die von dem Kläger gewählte Proceßart, wie 
der Executivproceß, Überhaupt nur liquide Einreden zu, fo tft auch bie 
Einrede der Compenfation fogleich liquid zu flellen. Sieht man in allen 
andern Fällen (im ordentlichen Proceß) auf die Natur der Sache und 
auf dad, was die aequitas an die Hand gibt, fo muß man unterfcheiden 
1) Gegenforberungen, die aus bemfelben Geſchaͤfte (eadem causa) oder 
aus einem ſolchen Verhältniffe entfpringen, das von Anfang an auf Ab⸗ 
rechnung gerichtet mar, wie dies namentlich) bei Kaufleuten, bie in laus 
fender Rechnung mit einander ftehen, vorkommt, werben auch, ohne liquid 
zu fein, berüdfidtigt. 2) Liegt aber ein ſolches Verhaͤltniß nicht vor, 
dann muß die Einrede ber Compenfation, wenn bie geklagte Korberung, 
fei es durd) Urkunden oder das Geſtaͤndniß des Beklagten, liquid ift, auf 
der Stelle liquid fein oder wenigftens leicht Liquid gemacht werben koͤn⸗ 
nen; denn es wäre hoͤchſt unbillig, wenn bie Realifirung bes Haren Ans . 
fpruches des Kiägers von dem Beweiſe einer vielleicht. fehr weit ausſehen⸗ 
den, ganz fremdartigen, mit ber eingeflagten Forderung in Feiner Vers 
bindung ftehenden Gegenforderung abhängen follte. Diefe Anficht wirb 
aud) beſtaͤtigt durch c. ult.C. decomp.; denn, wenn hier Ju ftinign am 
Ende des Gefeges auch auf den Fall befonders eingeht, wo bie Einrede der 
Compenfation befonders ſpaͤt vorgefchüßt worden war, fo fchreibt er doch 
im Anfange feines Gefeges die Nothmwendigkeit der Liquidität allgemein 
und unbedingt vor 27). VIL Wichtig ift auch noch die Stage: welche 
Mirkungen ein über die Einrebe der Compenfation ergangenes Urtheil 
hat? Einfach ift die Sache dann, wenn der Kläger in Folge der vorges 
(hüsten Einrede abgetviefen wurde; weder Forderung noch Gegenforberung 
koͤnnen in dieſem Falle noch weiter geltend gemacht werben. Iſt dages 
gen der Beklagte mit feiner Gegenforderung abgemiefen unb zur Zah⸗ 
lung verurtheilt worden, fo unterſcheide man: 1) die Gegenforberung 
wurde nur wie angebracht ober als illiquid abgewiefn. Bier kann bie 
Begenforderung nicht nur auf jede andere Weiſe (durch Klage, Eintete) 


£5) c.2. C. de comp. 

26) ©. über dieſe neuerbinge Ieobaft verfonete Brag: Saf fe, im Ars 
dio für civil. Prar. Bd. III. Nr. 9. 145 — Betbmann«Bolls 
weg im Rheinifchen —* fuͤr Jurißprubeng B. J S. 2357 — 285. 

27) Einen Hanptbeweiß gegen bie hier vorgetragene Anficht entnimmt man 
aus Fr. 46. $. 4. D. de jure Asci durch ein argumentum a contrario. 


560 Gompenfation (im Griminalr.). 


geltend gemacht 28), fondern e8 kann auch das, was man zahlen mußte, 
mit einer Conbdictio von dem Kläger zurüdgefocdert werden. Das 
rechtskraͤftige Urtheil ſteht in dieſem Falle der Ruͤckforderungsklage nicht 
entgegen, weil es ſich gar nicht über den Rechtsbeſtand ber geklagten For 
derung, fondern nur das ausfpricht, daß vorläufig, abgefehen von ber 
aus formellen Gründen nicht zu berüdfichtigenden Gegenforderung , ges 
zahlt werden muͤſſe. 2) Die Gegenforderung wird abgewiefen, weil der 
dem Beklagten obliegende Beweis nicht erbracht wurde; jeder. Werfuch, 
die Gegenforberung durch eine Klage von Neuem geltend zu machen, 
würde durch die Einrede der rechtskräftig entfchiedenen Sache zuruͤckzu⸗ 
weifen fein 2%). — Die neucfte Schrift über bie ganze Lehre von ber 
Compenſation ift: Die Lehre von der Compenfation. Von Dr. Auguft 
Otto Krug, Nechtsconfulenten und Privatdocenten in Leipzig. Leipzig . 
1833. 8. 276. Seiten. \ 
| Gompenfation (im Criminalrecht). Begehen zwei Perfonen 
daffelbe Verbrechen gegen einander, fo wird an ſich Feines berfelben weni: 
ger ftrafbar, und bie auf die Verbrechen gefegten Öffentlichen Strafen 
koͤnnen nicht unvollzogen bleiben, wenn auch die aus der verbrecherifchen 
Handlung entfpringenden Privat: Entfhädigungsanfprüde ſich aufheben. 
Die öffentiiche Strafe iſt nicht dem verlegten Privaten verfallen, ſondern 
ift ein Recht des Staates, das diefer im Intereſſe der öffentlichen Sicher: 
- heit ausübt, und dies Intereſſe wird im Falle der von mehreten Perfos 
nen gegen einander begangenen Verbrechen ebenfo verlegt, wie in jedem ans 
beren. Daher kann auch bie auf die Injurie gefeßte öffentliche Strafe 
durch die Einrede der Gompenfation nidyt aufgehoben unb nur infofern 
gemildert werden, als in ber zugefügten Injurie eine beſondere Anrei⸗ 
‚zung zur Ehrenkraͤnkung gefunden werden kann (Grolman, Grund 
fäße der Criminalrechtswiſſenſchaft F. 229). Dagegen kann ber Ans 
ſpruch auf eine Privatftrafe wegen Injurien duch die Compenfation, 
d. h. durch die Behauptung, daß man von dem Kläger gleichfalls injus 
riirt worden fei, aufgehoben werden ; Einige, wie Zittmann, Dands 
buch (2te Aufl.) $. 362. des zweiten Bandes, Krug, Compenfation 
©. 148. wollen dies bei jeder Art von Privatgenugthuung (Ehrenerklaͤ⸗ 
rung, Abbitte 2c.) gelten laffen, vorausgefegt, daß ſowohl die Injurie 
felbft, al8 die Privatgenugthuung von gleicher Art feien, während Ans 
dere, wie Seuerbad, Ausg. von Mittermaier, 6. 296.a, die Coms 
penfation nur bei pecuniären Strafen wirken laffen, wovon dad Ges 
nauere aber pafjender unter dem Artikel Injurie abgehandelt wird. 
Im Uebrigen läßt fi nur fo viel zugeben: da, wo Erfag eines erlittes 
nen Schadens ald Milderungsgrund einer Strafe von den Gefegen ans 
erkannt wird, kann auch der Umftand in Betracht kommen, daß der bes 
ſchaͤdigte Theil durch Compenfation gededt ift (Quiftorp, Grundfäge 


28) Fr. 7. $. 1. D. de comp. — Fr. 8. D. de negot. gest. III. 5. 
29) S. big in ber vorhergehenden Note angeführten Stellen. 


Competen, 561 


des peinl. Rechtes, $. 105. — Kleinſchrod, ſyſtemat. Entwickelung 
des Criminalrechts Thl. II. $. 92.) D. 
Competenz, vom lateiniſchen competentia, vompetere, hat 
mehrfache juriſtiſche Bedeutungen, welchen ſaͤmmtlich die gemeinſchaft⸗ 
liche Idee zum Grunde liegt, daß einer Perſon ober einer ſtaatsrechtli⸗ 
chen Anſtalt die Ausuͤbung gewiſſer beſonderer Rechte oder Functionen 
als ſolcher zuſtehe. Häufig koͤnnen bie Ausdruͤcke Alompetenz und 
Geſchaͤftsbereich, wenn von Behoͤrden die Rede iſt, fuͤr identiſch gelten. 
Einer beſondern Erwaͤhnung bedarf hierbei die Bedeutung von: 

I. Competenz im Criminalproceß. By einer gültigen Bes 
handlung ber einzelnen Criminalrechtöfälle gehört naͤmlich nicht nur, daß 
das Gericht, welches ſich mit einem beitimmten Zalle befcyäftigt, Crimis 
nalgerichtsbarkeit überhaupt habe, fondern auch, daß es insbefonbere für 
den ihm vorliegenden beftimmten Fall bas zuftändige Gericht, com» 
petent fe. Nur wenn ber beflimmte Angefchuldigte in dem beſtimm⸗ 
ten vorliegenden Falle rechtlih verbunden iſt, vor biefem beflimmten 
Gericht Recht zu nehmen, hat das Gericht in biefem Falle und über 
diefe Perfon Competenz; während das Verfahren nidyt competenter 
Gerichte im Criminalproceß unheilbar nichtig if. — Es gibt nun im 
Criminalproceß manderlei Gründe der Competenz eines Gerichts; und 
hierauf beruht die Lehre vom Gerichtsftande überhaupt. Im gemeis 
nen deutſchen Criminalrecht gibt es fogenannte ordentliche (regelmaͤ⸗ 
fige) und außerordentliche Gerichtsſtaͤnde. Den regelmäßigen Gerichtes 
ftand theilt man wieder in den gemeinen und in ben privilegirs 
ten ein. Gemeine Gerichtöftände find: 

a) Der des begangenen Verbrechens. Ein Criminalgericht, in befs 
fen Bezirk ein Verbrehen beendigt (ober, wenn ein bloßer Verfuch 
vorliegt, nur verſucht worden) ift, iſt Hierdurch (menn nicht fpecielle Aus⸗ 
nahmen gefeglicy vorliegen) gemeinrechtlid, ald Griminalgericht erfter In⸗ 
ſtanz für den einzelnen Fall competent. 

b) Der Gerichtöftand bes Wohnorts des Verbrechers. 

co) Der Gerichtsſtand des Ergreifend. Außer dem gemeinen Ges 
richtsſtande gibt es nad) gemeinem beutfchen Criminalrecht einen privis 
legirten, welcher bald für beflimmte Gattungen von Verbres . 
den (caussae privilegiatae), 3. B. geiftlihe und Militair: Verbrechen, 
bald für beftimmte Glaffen von Perfonen (personae privilegiatae) 
beſtoht. Zu den legtern gehörten zur Zeit des deutfchen Reichsverbandes 
die Reichsftände, ſodann gemeinrechtlich noch Geiſtliche (bis nach erfolg: 
ter Amtsentſetzung) u. ſ. w. 

Deutſche Particulargeſetzgebungen haben dieſe privilegieten Gerichts⸗ 
ſtaͤnde großentheils aufgehoben. 

Ein außerordentlicher Gerichtsſtand kann in beſondern Faͤllen, 
z. B. bei der Ungewißheit oder Vacanz des Criminalgerichts erſter In⸗ 
ſtanz, gemeinrechtlich in der Art eintreten, daß das naͤchſte Obergericht 
competent wird. — 

Sind mehrere Criminalgeridhte competent, fo entfcheibet die foges 

Staats » Leriton,. III. 86 


562 ‚ Kompetenz. 


nannte Prävention für Unterfuhung und Behandlung bes Falled durch 
dasjenige Gericht, welches die erfte gültige Verfügung erläßt. 

Eine nähere Erörterung biefer Lehren des gemeinen Rechts gehört 
nicht hierher. — In vielen neuern Particulargefeggebungen iſt die Frage, 
weiches Gericht competent fei, genau entfchieden, und zwar häufig nad 
der größern ober geringen Bedeutung oder Strafbarkeit des Vergehens. 

H. Sm Eivilproceß verfteht man unter Competenz eines 
Gerichts ebenfalls deſſen Eigenfchaft, daß es in einem beflimmten con. 
creten Ball ohne Grenzüberfchreitung feine Gerichtsbarkeit ausüben dürfe. 
Weil aber im Civilproceß gemeinrechtlich felbft die wefentlichiten Rechte der 
Dispofitionsbefugniß der Parteien unterliegen, begründet die Handlung 
eines incompetenten Gerichts ganz andere Folgen, als im Criminalprocef. 
Mer vor einem incompetenten Gericht beklagt wird, kann zwar die Klage 
mit der Einrede des unrichtig gewählten Gerichteftandes zuruͤckweiſen, 
allein wenn ſich beide Parteien die Verhandlung des incompetenten wenn 
nur ordentlihen Gerichts als gültig gefallen laffen — fo tritt hier: 
durd) ein willkuͤrlich gewählter Gerichteftand ein, welcher durch fogenannte 
Prorogation competent wird. 

Auch im Civilproceß theilt man übrigens die Gerichtsftände in rer 
gelmäßige oder ordentliche und in außerordentlihe Jene 
find auch hier wieder entweder gemeine oder privilegirte. Zu den 
gemeinen Gerichtäftinden gehört gemeinrechtlich: 

a) derjenige des Wohnorts (bed Beklagten) ; 

b) berjenige der belegenen Sache bei dinglidien oder gegen 
den Beſitzer als folchen gerichteten perfönlichen Klagen und bei Rechts⸗ 
mitteln auf Erlangung des Befiges ; 

ec) der Gerichtöftand wegen perfönlicher Verbinblichkeiten, wie bes 
Contracts und der geführten Verwaltung und des begangenen Der 
brechen®. 

d) Endlid) gehört Hierher noch der fogenannte befondere, durch eine 
Procefbandlung erft begründete Gerichtäftand der materiellen Conneris 
tät, der formellen Gonnerität durch Anftellung einer nicht materiell cons 
neren Wiederklage, und oft durch Arreftanlegung. 

Die privilegirten Gerichtöftände find auch tm Givilproceg theils 
durch die Perfon des Beklagten oder der Intereſſenten, theild durch die 
befondere Befchaffenbeit der Sachen bedingt. Befreite Perfonen find 
gemeinrechtlic die Mitglieder der ehemals reichsſtaͤndiſchen Samilien, 
Stantsdiener, Hofdiener, Adel, Militair, Geifkliche, atademifche Bürger. — 

In neueren deutfhen Particular-Geſetzgebungen ift der privilegirte 
Gerichtsftand der fogenannten fchriftfäffigen Perfonen das Mittel 
gericht bes Mohnortes; der privilegirte Gerichtöftand der Mitglieder ber 
Samilie des Regenten, der fogenannten Standesherren (in perfönlichen 
Sachen) und der hoͤchſten Staatsbeamten dagegen ift meift das oberfte 
Gericht des Landes felbft. 

Diejenigen Sachen, welche gemeinrechtlich an befondere Gerichte: 
höfe gewleſen find, find geiftlihe und Lehen Sachen. Der privis 


Competenz. 563 


legirte Gerichtsſtand der geiſtlichen Sachen ME durch die Particular⸗ 
Geſebaebungen haͤufig verſchwunden. 

Dagegen find oft für gewiſſe Zweige, insbeſondere auch der freitwillis 
gen Gerichtsbarkeit, beſondere Behoͤrden angeordnet. 

Den bisher erwaͤhnten ordentlichen oder regelmaͤßigen Gerichtsſtaͤn⸗ 
ben fest die Doctrin die ſogenannten außerordentlichen entgegen. 
Die Faͤlle, in welchen eine ſolche Außerordentliche Competenz, und 
zwar des naͤchſten Mittelgerichts oder des naͤchſten gemeinſchaftlichen 
Obergerichts, begruͤndet iſt, ſind gemeinrechtlich theils aus der Abſicht, die 
Rechtẽpflege zu erleichtern, theils aus einer Unanwendbarkeit der vorhan⸗ 
denen erſten Inſtanz hervorgegangen. Unter den erſten Geſichtspunkt fal⸗ 
len die Vorzugsrechte fogenannter mitleidwuͤrdiger Perſonen, ferner die An⸗ 
ordnung, daß der Klaͤger mehrere wahre Streitgenoſſen, welche keinen ge⸗ 
meinſchaftlichen Richter erſter Inſtanz haben, bei dem naͤchſten Oberge⸗ 
richte ihrer Aller belangen darf. Ein außerordentlicher Gerichtsſtand we⸗ 
gen Unanwendbarkeit der vorhandenen erſten Inſtanz tritt z. B. ein, 
wenn das Gericht erſter Inſtanz vacant oder ungewiß iſt oder mit Recht 
perhorreſcirt wird. 

Eine weitere Eroͤrterung dieſer Gegenſtaͤnde wůͤrde hier nicht an 
ihrem Orte ſein. 

III. Competenz der Adminiſtrativb ebd rden des Staats iſt 
deren Befugniß, ihre Geſchaͤftsthaͤigkeit in einem einzelnen Sal aue⸗ 
zuüben. 

Ein Competenzconflict tritt biernach ein, wenn von mehreren 
. Behörden jede behauptet, ein concreter Fall gehöre ausſchließlich für fie. 


Diefer Streit iſt befonderd alsdann intereffant, wenn er zmifchen 
einer Adminiſtrativbehoͤrde und einem Gerichte uͤber die Frage, ob der 
concrete Fall eine Juſtiz- oder Adminiſtrativſache ſei, erhoben wird. 

Fuͤr Auseinanderfegung gewiſſer vorher in Gemeinſchaft benutzt ge⸗ 
weſener Objecte, Allmendtheilungen Markberechtigungen u. dgl. iſt in 
einzelnen deutſchen Staaten bie Competenz beſonderer Behoͤrden geſchaf—⸗ 
fen, welche weder als Gerichte, noch als Adminiſtrativbehoͤrden betrathtet 
werden, deren Functionen aber folgerecht nur dem Richter zuſtehen koͤnnen. 


IV. Sm Civilrecht verſteht man unter beneficium competen- 
tiae oder der Rechtswohlthat der Gompetenz ober bed nöthigen Abzugs 
die Befugniß mancher Schuldner, ihren Gläubigern gegenüber foviel 
vom Shrigen surüdbehalten zu dürfen, ale fie zum flandesmägigen Le: 
bensunterhalt für fih und ihre Familie noͤthig haben. Die roͤmiſchen 
Juriſten pflegten alsbann zu ſagen, ein ſolcher Schuldner koͤnne nur in 
id condemnari, quod facere possit. Dieſe Rechtswohlthat kann man 
- In wet Arten abtheilen, in, Competenz aus eignem Recht (ex jure 
proprio) und in folhe wegen fremder Befugniß (ex jure tertil). 
Aus eigenem Recht genießt der Schuldner. diefe Verguͤnſtigung meiftens 
einer befondern perfsglichen Stellung zu feinem Gläubiger wegen. „Aus 
diefem Gefichtepunfte laſſen fich biejenigen Bere des gemeinen 


564 Competenzʒ. Comploft. 


en Rechts betrachten, wodurch das Recht bed nöthigen Abzugs 
ertbeilt i 

a) den Eltern, wenn file Schuldner Ihrer Kinder find 5 

b) dem Schwiegervater gegen den Schwiegerfohn, während ber 
Dauer der Ehe bes Letztern; 

c) dem Schenker, der aus ber Schenkung belangt wird; 

d) dem Ehemanne (feinem Vater und feinen Kindern), wenn auf 
Ruͤckgabe der dos geffagt wird; j 

e) Gefhmiftern, Ehegatten, Gefellfehaftern in Betreff aus ber Ges 
ſellſchaft herruͤhrender Schulden gegenfeitig. 

Unter allgemeinere Grundfäge fällt es, wenn das römifche Recht 
das Beneficium coınpetentiae noch weiter ertheilt 

a) Jedem, ber es ſich vertragsmweife ausbedungen hatz 

b) dem In der väterlihen Gewalt befindlichen Hausfohn, wenn er 
wegen bes militairifhen Sonderguts belangt wird; 

0) Jedem, der früher feinen Gläubigern fein gefammtes Vermögen 
(unter beftimmten Vorausfegungen) freiwillig abtrat; 

d) den Soldaten. 

Die den legten zuftehende Rechtswohlthat ber Competenz gehört in⸗ 
deß bereits in die Gattung der Compeientia ex jure tertii. Es kann 
naͤmlich ber Fall eintreten, dag ein Dritter zur Sicherung eigner Be: 
fugniffe rechtliches Sntereffe daran habe, daß einem Schuldner ein flan- 
desmäßiger Unterhalt bleibe. So ift es in vielen Faͤllen dem Staate 
feloft von großer Bedeutung, daß diejenigen, durch deren gehörige und 
genügende Dienftleiftungen er befteht, nicht an biefen Dienftverrichtuns 
gen duch bie Strenge von Glaͤubigern gehindert werden. Aus diefem 
Grunde hat man ſchon gemeinredhtlicd den Staatsdienern ex jure terlü 
(naͤmlich wegen der Anſpruͤche des Staats felbft) den nöthigen Unterhalt 
vor den Eingriffen ihrer Gläubiger gefichert. Neuere Particular = Gefeks 
gebungen haben eine Rata (3. B. ein Fünftel) des Gehalts der Staats: 
diener als denjenigen Theil bezeichnet, welcher allein durch Arreſt⸗ und 
Smmiffionsgefuche der Gläubiger angreiflich fet. 

Analog werden diefe Grundfäge auf Hofdiener und beren Gehalt 
angewendet. 

Auch fürftlihen Perfonen und Mitgliedern ftandesherrlicher Fami⸗ 
lien wird, wenn fie in Schuldenmwefen gerathen, ein gewiſſer, oft der größte 
heil ihres Einkommens, namentlich ihres Deputats ober ihrer Apa⸗ 
nage, unter dem Titel einer Competenz vor den Anſpruͤchen ihrer Glaͤu⸗ 
biger bewahrt. 

Diefe aus ben Wirren reichsſtaͤndiſcher Debitangelegenheiten in bie 
neueren Zeiten verpflanzte Einrichtung füllt natürlich unter ſehr verfchies 
benartige Gefihtspunkte, und beruht ohne Zweifel auf der Idee, daß ber 
Ruhm eines erlauchten Haufes mehr durch den äußern Glanz eines übers 
fhuldeten Mitgliedes, als durch Aufopferungen zu Gunſten der Glaͤubi⸗ 
ger befoͤrdert werde. D. 

Complott, ſ. Verſchwoͤrung. 


Compofitionen » Snflem. 365 


Compofitionen » Syftem (älteres Strafrecht ber 
Voͤlker, vorzüglich: altdbeutfhes), Naturftand, Seibft: 
huͤlfe und Fehderecht, Freiftätte und Löfegeld (oder 
Buße, Wette, Compofitio, Emendatio, Wergelt) und 
Fredum (oder Brüche), Sefammtbärgfhaft und Zalion. 

Einleitung. Die bier genannten Verhältniffe, welche in ges 
nauer Verbindung unter ſich flehen, verdienen bie Betrachtung des 
Staatsmannes. Freilih knuͤpfen ſich zunaͤchſt nur an einige derfels 
ben unmittelbar praktiſche Fragen. Jene Verhaͤltniſſe in ihrem Zu⸗ 
fammenhange aber veranſchaulichen beſonders lebhaft fuͤr's Erſte bie 
Verſchiedenheit der rechtlichen und politiſchen Beduͤrf⸗ 
niſſe in den verſchiedenen Bildungszuſtaͤnden der Voͤl⸗ 
ker. Das, was uns jetzt, nachdem es durch die Einrichtungen un⸗ 
ſerer heutigen Cultur erſetzt iſt, vielleicht ſogar als abſolut verwerflich 
erſcheint, war doch natuͤrlich, wirkte doch wohlthaͤtig ganze Jahrhun⸗ 
derte hindurch. Sodann zeigt uns die Betrachtung jener Erſchei⸗ 
nungen eine bewundernswerthe Uebereinſtimmung fo, 
vieler geſellſchaftlicher Einrichtungen der verſchieden⸗ 
ſten Voͤlker der Erde, eine Uebereinſtimmung, die ſich großentheils 
ſchon durch die Gemeinſchaftlichkeit de Menſchennatur und der 
Bildungsſtufe der Voͤlker und nur zum Theil durch hiſtoriſche Mit⸗ 
theilung unter denſelben erklaͤrt. Es ſtellen ferner jene Verhaͤltniſſe 
in ihrer Verbindung ein ganzes Syſtem von Rechtseinrich— 
tungen dar, welches nicht von der bewußten Thaͤtigkeit, von 
der freien Reflexion und Pruͤfung einer hoͤheren Staatsgewalt, von 
ihrer Geſetzgebung und Vollziehung begründet und erhalten. wurde. 
Vielmehr erbaute ſich dieſes Syſtem in einem wenigſtens theilmweifen 
Naturſtande auf den natuͤrlichen menſchlichen Beduͤrf⸗ 
niſſen und Inſtineten, Gefühlen und Sitten, und durch ben 
ſtarken menſchlichen Trieb nach Folgerichtigkeit. Es zeigt endlich die 
- tiefere Erfaffung jener Einrihtungen, wie aus ihren noch rohen 

Anfängen und Geftaltungen immer reiner bie vernünf; 
tigen, die natärlihen Rechtsideen hervortreten, welche 
durch die gefunden Grundtriebe der Menfhennatur aud 
ihnen ſchon eingepflanzt find. Bilder ja doch auch im Leben 
des Einzelnen eine und biefelbe See höherer Menfchlichkeit, wel⸗ 
che freilich noch ſchwaͤcher und verhüflter fchon in dem noch finnliches 
ten Kindesalter lebt, auch in ber Meife bes männlichen Alters bad 
Grundweſen. Alles biefes aber ift wohl wichtig genug ſchon als heil 
ber Philofopbie der Gefchichte der Menfchheit, ſowie auch zum Vers 
ftändnig ber alten Volkspoeſie und Wolkögefchichte, worin jene Ders 
bältniffe, fo 3. B. die Blutrache, eine.große Rolle fpielen. Es ift 
insbefondere aber hoͤchſt wichtig für die Gefeggebung und für die rich⸗ 
tige Behandlung folcher natärlihen Einrichtungen und ihrer Ueber 
bleibfel. Es ift wichtig für eine richtige Auffaffung des Zufammen- 
hangs ber Entwidtung des ganzen Gtrafrechts und zur Befeltigung 


566 Gompofitionen » Syflem. 


der vielen untichtigen und ſchiefen Uttheile, welche aud) darüber eben 
fo, wie über jedes einzelne der hier erwähnten Verhaͤltniſſe überall 
fid) vernehmen laſſen. 

Was aber könnte nun wohl in ber That unfere heutigen Bes 
griffe von Sittlichleit, Wernünftigkeit und Givilifation in dem geſell⸗ 
ſchaftlichen Verhaͤltniß mehr verlegen, ald Selbſthuͤlfe und Rache 
der Einzelnen, ja als die durch die Sitte der Blutrache und ber 
Privatfehde begründete Nöthigung der Samilienglieder, der Stammes; 
oder Volks = Genoffen zur hoͤchſt gefahrvollen Ausübung derfelben ? 
Nur etwa die Austilgung von Verbrehen und Strafen durch das 
zufällige Erreichen eines Aſyls, oder ihr Abkaufen buch Loͤſegeld, 
nur die ‚Annahme einer Geldfumme für die Ermordung meiner Ele 
tern und Kinder, für die Verlegung meines Leibed und meiner Ehre, 
und eine Sefammtverbürgung endli für jene Nahe und für 
diefes Köfegeld — nur fie vielleicht möchten unfer heutiged Gefühl 
nod) tiefer verlegen. Und dennoch ift der Beweis nicht: ſchwer, baf 
alle diefe Einrihtungen — gleichſam von Gott"und der. Natur felbif 
erfchaffen — wirklich nicht blos einfimals eben fo heilfam, als natürs 
lid) waren, fondern daß fie auch, obgleich freilich nod in ſehr unvoll⸗ 
fommener Korm, das Rechte enthielten und ihm bienten. | 

1. Der Naturftand und feine natürlihen Strafvers 
hältniffe an fih betrachtet. Diele beflteitn mit Recht mans 
che einfeitige Theorie vom Naturſtande; aber fie merden ihrerſeits 
ungefchichtlih, wenn fie allen Naturzufland leugnen und überall den 
Etaat für den Menfhen als uranfaͤnglich darftelien wollen. Man 
darf den Staat nicht mit jeder andern menſchlichen Verbindung vers 
wecfeln. Und man darf, wenn man den Staat, eben um ihn uͤberall 
zu finden, ungründlid) ſchon mit der einzelnen Familie verwechfeln 
wollte, nicht vergeffen, daß alfermeift verſchiedene einzelne Familien 
nebeneinander und im wechfelfeitigen DBerfchre gefunden wurden, und 
daß, wenn nun biefe verfhiedenen Familien nody nicht eine gemein: 
ſchaftliche hoͤchſte Gewalt anerkennen, zwifhen ihnen aud) noch kein 
Staat, fondern ein Naturftand beiteht. Abſolut wefentlid für den 
Begriff des Staats iſt es ſtets, daß fich verfchiedene zufammeniebende 
Familien in Beziehung auf ihr inneres und- Außeres Gefellfchaftsver- 
hältniß einer-gemeinfchaftlichen hoͤchſten (oder fonverainen gefeggebenden, 
vollziehenden und richtenden) Gemalt unterwerfen; | 

1) Selbſthuͤlfe und Nothwehr, Fehde und Kriegsrecht. 
Wenn und ſoweit nun eine ſolche Staatsverbindung oder der genuͤ⸗ 
gende, durchgreifende Rechtsſchutz durch ihre wahre ſouveraine Zwange⸗ 
und Strafgewalt noch fehlen,'wenn und ſoweit fie mithin. den Na: 
turſtand wenigſtens noch nicht ganz befeitigen, alddann und infofern 
bildet fehon die rohe Selbſthuͤlfe und. Rache. der Bedrohten und 
Verlegten und der flarke natürliche Trieb für biefeiben, welchen Gott 
in aller Menſchen Bruſt gelegt hat, den erften, unentbehrlihen. Schus 
für der Menſchen Reben und Gefundheit, für ihre perfönliche Freiheit 


Sompofitionen : Syftem. 567 


und ihr Beſitzthum. Ste find zugleich bie wefentliche Grundbedingung 
für böhere Entwidelung der gefelligen Verhaͤltniſſe. In Allen auf 
gleiche Weiſe regt fich der Zorn gegen den feindlichen Angreifer, und 
diefes hält ihnen ſaͤmmtlich das alsbald durch die Erfahrung unterftügte 
Vorgefuͤhl lebendig, daß auch ihre eigenen Angriffe gegen Andere dens 
felben Zorn und feine fehügende und raͤchende Gegenwehr auf ſich ſelbſt 
ziehen würden. So wird aud bie nachfolgende Rache des einzel- 
nen Verletzten mittelbar zu einem für die Zukunft und für Alle 
vorbeugenden Schug, zu einem Schug gegen Nachahmung des verderds 
lichen Beifpiels. Sie wird zu einem gleihfam gefeglichen Schuß ges 
gen die böfe Leidenfhaft erhoben. „Jedes Leben, auch das bunfelfte 
— fo ſagt 5. H. Jacobi — fordert feine Erhaltung mit einem 
„Nachdruck, der fein Recht ift.” In ber bezeichneten Lage aber und 
bis fie geändert ift, find Selbfthülfe, insbefondere auch Selbſtrache 
- oder mit andern Worten das Fehderecht im Verhaͤltniß der Einzel 
nen, und das Kriegsredht im Verhaͤltniß der Wälder bag allgemeine, nas 
türlihe und auch von ber Vernunft genehmigte Recht der Menſchen 
und ihrer Gefellfhaft. Sie find ihe Rechtsſchutz gegen rechtswidrige 
Bernihtung. Der Rachetrleb ift Selbfterhaltungstrieb ; er treibt bei 
blos finnlichem Leben zundähft zur Austilgung bes Schmerzes durch) 
den finnlihen Rachegenuß, bei höherem Leben zur Herflellung der Per- 
fönlichkeit und Ehre, des Gefuͤhls ihrer unverleglichen Heiligkeit und 
Achtung. Diefes erkennt fogar unfere heutige Gefgsgebung nocd an. 
Im Bölkerverhältniß flets und im Verhaͤltniß der Einzelnen. uͤberall da, 
wo entfchieden eine höhere Staattgewalt entweder gar nicht, oder doch 
anerkannt nicht fo vollfiändig fhügen kann, da erkennen unfere Gefege 
die dem Bedrohten oder Verletzten zum Schug ſeines Rechts nothwen⸗ 
dig fcheinende Selbſthülfe im weiteren Sinne als rechtlich 
erlaubt an. Sie laſſen bier zugleid das Necht bes eignen Ge; 
richts mit der eignen Hülfe fo wie im gänzlichen Naturſtande 
zu. Sie erlauben alfo ftet und unbedingt die mir nöthig ſchei—⸗ 
nende Abwehr oder Nothwehr zur Vertheidigung gegen 
jeden Angriff auf meine und meines Nebenmenſchen Perfönlichteit, 
perfönlihe Freiheit und Befisverhältniffe. Sie geftntten auch die 
Selbſthühfe im engern Sinne ober bie Selbfihülfe zur Her- 
ftellung bereits verlegten Rechts aladann, wenn alle grichtliche- Rechts⸗ 
huͤlfe unmöglich ift. Und fie überlaffen hierbei mit hoher Achtung der 
Wuͤrde der perfönlichen Freiheit, der juriftifchen. Folgerichtigkeit und det 
bezeichneten allgemeinen Rechtsgrenze alle etwaigen Milderungen und 
Beſchraͤnkungen in Ausübung diefer Rechte durch die moralifchen Ruͤck⸗ 
fihten aufopfernder Nachgiebigkeit, Duldung und: Verzeihung ediglich 
dem Gewiffen ber Bedrohten und Verletzten *). .. Pelbitradig, eine - 





1) S. Thibaut, Panbelten $. 60 und 61, und Grolman, Cri— 
minalrecht $. 139. 140. 844, und Feuer bach, peinliches Recht 5. 37 


— 


\ 


568 Gompofitionen = Syftem. 


ähnliche 3. B. wie ber neuliche Rachekrieg Frankreichd gegen Abdel⸗ 
Kader und Maskara, ift von ber erlaubten Selbfthülfe, wo fie, 
fowie ftets im Voͤlkerverhaͤltniß, flattfindet, auch noch jegt nicht 
ausgefchloffen, infomweit fie nur dem vernünftigen Zweck rechtlicher Ges 
nugthuung und Schügung entfpricht. Denn unter der bewußten 
Vernunftherrfhaft gilt fpäter das zuerfi durch dunkle 
Zriebe oder Gefühle Erzeugte nur infomweit, als es fid 
duch klar nahmeisbare, vernünftige Rehtsgrünbe bes 
gründen läßt. In dem Maaße aber, wie die, wenn audy vielleicht 
dem Namen nad) vorhandene, flaatsrechtlihe Schug- und Straf: Ges 
walt in der That wirkungslos ober unvollkommen ift, fowie früher in 
Corſica und Sardinien, oder ſowie in Beziehung auf manche jegt 
geroöhnlich durch Duelle getilgte Ehrverlegungen, in demſelben Maafe 
wird auch aller Kampf gegen die natürlichen Antriebe zur Selbſthuͤlfe 
und Blutrache vergeblidy werden, und es werben biefelben fehr begreifs 
lich auch oft wieder mehr durch dunkle Gefühle, als durch die Hare Wer 
nunft geleitet werden. 

2) Die Blutrache. Der Einzelne aber iſt in dem Naturflandes 
verhältnig zu ſchwach, um fi allein durch Selbfthülfe ſchuͤtzen zu Ein 
nen. Er kann vollends bie hoͤchſte Mißachtung feines Rechts, feine 
Ermordung, nicht felbft rächen. Bebürfniffe gemeinfchaftlicher Verthei⸗ 
digung und die Gefühle der Pierät und Anhaͤnglichkeit, welche die 
Verlegung eines Angehörigen als eine eigene Verlegung empfinden lafs 
fen, machen die Fehde wegen derfelben zu einer gemeinſchaftlichen 
ftufenweife für die Samilien, fir die Stammes und die Volksgenoſſen⸗ 
ſchaft. Diejenige Rache aber, welche bei einer Zödtung die Angehörigen 
des Getoͤdteten, und zwar gewöhnlich zunächft die näheren Verwandten 
und Erben, je nad) dem Grade ber Nähe oder je nach der größeren 
oder geringeren Einheit und Gemeinfchaft des Blutes ausüben, ift bie 
Blutrahe. Sn der Negel wird fie an dem Verbrecher felbft ausge 
übt, in bee Fehde jedoch fehr natürlih oft auch an ben Eeinigen. 
Und es gibt Völker, wo bie einzelnen Stimme ſich fhon im Allge⸗ 
meinen fo fehr als ein gemeinfhaftliches Ganze betrachten, daß, fo wie 
bei den Beduinen, fait gewoͤhnlich nicht gegen ben Verleger, fonbern 
gegen einen der Ausgezeichnetften feines Stammes bie Blutrache von 
dem andern Stamme ausgeübt wird. 

Mehr oder minder ausgebildet, edler oder unebler aufgefüßt und 
buchhgeführt finden wir bie Sitte der Privatfehde und Blutrache 
bei alfen uncivilifirtten Völkern. Wir finden fie bei den kaukaſiſchen, 
malapifhen, mongolifchen, ameritanifhen und dthiopifhen Voͤlkern, 
bei den Arabern, Perfern und Hebrdern, bei den Griechen, Mömern 
und Germanen, bei ben Celten und Slaven ?). 

—. 
und vie daſelbſt citirten Geſetze; oben Artikel Garolina 6 unb unten 
Nothwehr. 

2) ©. Belege in Meiners Geſchichte der Menſchheit. ©. 188 fg. 

und In der Allgem. Encyklop. unter Blutrache; südfühtlich der Se: 





Gompofitionen » Syftem. 569 


Von den edelſten Stämmen ber nordamerlkaniſchen Indianer be⸗ 
richtet nach vieljaͤhrigem Aufenthalt unter ihnen Hunter nicht blos 
die Sitte der Blutrache, ſondern daß auch uͤberhaupt die Streitigkeiten 
ber Einzelnen ohne Gericht abgemacht wurden. „Nur Weiber” — fo 
fagen fie — „vermwideln ſich in Streitigkeiten mit Worten, ohne fi) 
„wieder aus denfelben herausfinden zu koͤnnen.“ Von unferen deutſchen 
Vorfahren wird uns bekanntlich ebenfalls berichtet, daß fie es haften, 
fo, wie die Römer, ihre Streitigkeiten durch eine richterlihe Gewalt 
entfcheiben zu laffen, vielmehr ſich rühmten, daß fie duch Waffen bie 
feiben abmadıten ?). Zwar erkannten die alten Germanen mehr und 
mehr für das Grundeigenthum, welches urfprünglic völlig gemein 
[haftlich, dann ald Grundlage mwechfelfeitiger Gefammtverbürgung an 
bie Genofjen vertheilt war, und für die damit zufammenhängenden 
Vermögensrechte die ausgleichenden Entfcheidungen und die durch bie 
gemeinfchaftlic, gebliebenen Rechte begründeten Beſtimmungen ber Voll» 
gemeinde als gültig an. Aber ihre Perfonen betradteten fie ſelbſt 
in der fränkifchen Monarchie noch nicht als einer fouverainen Gewalt 
unterroorfen. Sie kannten alfo fein höheres Strafrecht einer ſolchen 
und behaupteten nicht blos, wie man gewoͤhnlich ſich ausdrüdkt, bei als 
len größeren Verbrechen, fondern bei allen perfäönlihen Der 
legungen und den VBerlegungen ber Sachen, foweit fie, fo wie 3. B. 
Raub und Brand, perſoͤnlich verlegend wurden, das Recht der Selbſt⸗ 
hülfe und Privatfehde, welche Kehde alsdann der ganzen Familie ge: 
meinfchaftlih wurde *). Selbft die Volksverſammlung hatte außer 
ihrem eignen Kriegsrecht wegen unmittelbarer Feindſeligkeiten gegen 
das Volk °) nur eine Friedensvermittlung und auch diefe nur alsdann, 
wenn fie der Verlegte dazu auffordert. Wenn nun in diefem Falle 
aud) der vorgeladene Veleidiger nicht die Privatfehde vorziehen mollte ©), 
fo hatte fie die VBerföhnung zu bewirken. Der Proceß aber zu diefer 
Vermittlung und Verſoͤhnung war nicht fowohl, fo wie ber heutige 
Etrafproceß, ein Verfahren, um dem Wichter die wirkliche Wahrheit 
zu bemeifen und eine gerechte, Öffentlihe Strafe auszufprechen und zu 
vollziehen, als vielmehr ein forgfältig georbneter und befchrändter rechts 


srder, ber Griechen und Rqoͤmer Insbefondere in @. TH. Welder Tepte 
Sründe. ©. 300. 377. 542; ruͤckſichtlich aller germaniſchen Bölker in Srimme 
Rechtsalterthuͤmern S. 625 fg. 647 fg. ruͤckſichtlich der Ruffen bei 
Ewers, aͤlteſtes Recht ber Ruffen ©. 50.3 rüdfihtlich ber amerikani⸗ 
ſchen Völker bei Hunter, Denkwuͤrdigkeiten II, ©.1 fa. 

3) Vellejus Paterc. 2, 118. Florus 4, 2. Cassiodor. 9, 14, Vos ar- 
mis jura defendite, Romanos sinite legum pace defendere. 

4) Tacitus 12, 21. Suscipere tam inimicitins, quam amicitias sen pa- 
tris seu propinqui necesse est. Beweile in Cichhorns Staats» und 
Rechts⸗Geſch. $. 18. 76. S. au L. Rotharis 76. 

6) Tacitus 12. 

6) Lex Saxon. 2, 6. 


570 Gompofittonen » Syſtem. 


licher Privatkrieg und Vergleich, welches zwiſchen den flreitenden Pars 
teien und ihren Genoffen durch Mitſchwoͤren ber letztern als Eid⸗ 
helfer (consacraıneutales, conjuratores), duch Duelle oder Got⸗ 
tesurtheile vor ber vermittelnden Vollsgenoffenfchaft geführt und 
zu Stande gebracht murde 7). 

Wie unentbehrlich aber nun auch In den früheren Zuftänden ber 
Voͤlker Selbfthülfe und Blutrache fein mochten, fo mußte doch ſelbſt 
bei der edelften Auffaffung derſelben fchon ihre Eriegerifhe Aus⸗ 
führung duch die leidenfchaftliche beleidigte Partei, ohne Gericht und 
ohne gefegliche Schranken, taufendfach verderblic werden. Sie mußten 
zu Verlegungen der Unfchuldigen, zu rohen und graufamen Därten, zus 
weilen fo, wie noch heute bei den Gircaffiern und manden ame 
titanifhen Stämmen, ja zum Theil noh in Sardinien und Gors - 
ea, zu ſtets neuen Erwiederungen und zu Berftörungskriegen , zur 

usrottung ganzer Kamitien, Gefchlechter und Stämme führen. In 
ben finnlihen Zuftänden ber Periode der Kindheit aber 
wurde freilich auch bie Mache meift noch keineswegs fehr edel, ſondern 
noch finnlih genug und als finnlihe Genugthuung für das ver 
legte finnliche Gefühl aufgefaßt. Hierhin gehören zum Theil feldft 
noch folhe Auffaffungen, wie die der Alten: „Dem Verletzten ift des 
„Schmerzes Linderung feines Keindes Schmerz ;“ 3) oder: „Süß und 
„angenehm iſt dem verwunbeten Herzen die heilende Rache” 9), ober 
foihe, wie ber Rechtsſat der alten Frieſen: „Mord kuͤhlt man mit 
Mord” 10), Und eine widerwaͤttige Seite dieſer Privatfehden, wenig⸗ 
ſtens bei orientaliſchen Voͤlkern, z. B. bei den Arabern, iſt es, daß 
die Leidenſchaft und der Gedanke bed Kriegs jede Art von Kriegslifl, 
Verrath und Treubruch entfchuldigen, ja zum Gegenftand felbit poe⸗ 
tifher Verherrlihung mahen. Wenn nun aud nit zu orientalifchen 
Grauſamkeiten, fo führte doch auch bei den Deutfchen damals, als fie, 
nad) Zerftörung ihrer altgermanifhen Religion und Cuttur, durch die 
zuerst noch rohe Aufnahme ber chriftlihen und römifchen Eulturelemente 
wiederum mehr als früher in Sinnlichkeit zuruͤckfielen und in bie er 
fie Periode unferes heutigen Culturlebens traten *!), die Ausuͤbung 
bes Privatfehderechts zu rohem, deſpotiſchem Fauſtrecht. 
u II. Die VBeredlung und Milberung ber Strafver: 

bältniffe des Naturftandes durch die theofratifchsrelis 
giöfe Einwirkung und durd die Anfänge vernunftredt: 
liher Ordnung. 1) Die veredelte Auffaffung derfelben. 
Bei den fich’ civilificenden Völkern veredein und mildern ſich bald die 


6 N Bet Rogge, das beutfhe Gerihtsverfahren & 1 fe. 
. 8239. 


8) Laeso Holuris remedium inimici dolor. Publ. Syr. 340. 
9), Simonides und Plutarch Aratus p- 1048. 

10) Afegabud von Wiarba 21. 

11) Welder, Salem S 40. 


Compofitionen = Syflem. 571 


Auffaſſung fowie die Ausübung ber Selbſthülfe. Sie verebeln 
und mildern ſich zuerft in dem Heranteifen zum Jünglingsalter 
durch den theofratifchsreligisfen und priefterlichen Einfluß. 
Sr wird, ftatt dee Herrſchaft des bloßen Naturtriebs, allmälig der 
wohlchätige Pfleger und Schuͤtzer humanerer Verhältniffe, bis bei Ans 
näherung bed Mannesalters die Völker immermehr zu rein geiitis 
ger Auffeffung und bewußter felbftfiändiger vernunftrechtlicher 
Geftaltung ihrer. gefellfchaftlihen Einrichtungen heranreifen. 

Vorzüglich einzelne hervorragende Männer, ein Mofes, ein 
Homer, wiſſen durd ihre Einwirkungen die Anfchauungen, bie Ges 
fühle und. Sitten ihres Volks zu veredein, das Sinnlihe den höheren 
Ideen unterzuordnen. Go erhebt nad) der Mofaifchen Darftellung Gott 
fdon in feinem erften Bunde mit dem Menfhengefhlcht nach ber 
Sündfluch die Blutrache zur ausdrüdlihen Anerkennung und Verbuͤr⸗ 
gung der Heiligkeit und Wuͤrde des Menfhenlebens und 
zur heiligen Pflicht gegen die Gottheit ſelhſt. „Denn ich will“ — fo 
lauten die Worte (1 Mof. 9, 5.) — „ich will eures Leibes Blut rö- 
„Ken an allen Zhieren und an jeglihem Menfchen, feinem Bruber. 
„Wer von ihnen Menfhenbiut vergeußt, deß Blut fol wieder vergof- 
„fen werden; denn Gott bat ben Menfhen nah feinem 
Bilde gefhaffen.” So hatten auch nach griechiſchen Vorſtellun⸗ 
gen die Götter die Blutrache der Angehörigen geheiligt, und das bels 
phifhe Orakel wachte über deren Vollziehung 19). Ueberalf tritt zu: - 
gleich jegt neben die Selbfthälfe und Blutrache, als ihr Vorbild und 
als ihre Ergänzung, die theokratiſche Strafe mit ihren Ideen einer 
Verföhnung des Volks oder der Verbrecher mit der durch das Unrecht 
beleidigten Gottheit. Diefe Verföhnung ober die Austilgung bed Un- 
rechts und der Befledung wird jegt bewirkt entweder durch eine 
Rache, melhe bie im Sinnlichen verlorenen Menfhen erſchuͤttert, 
ihnen die Macht des von ihnen vergeffenen und gefränkten Gottes 
wieder fühlbar macht, feine Ehre, die Achtung gegen ihn und feine 
Gebote wiederherſtellt oder auch flatt der Rache durd Opfer, 
veuige Bußen, Entfündigungen und Reinigungen 1°). 
Auch bei den Römern wurden fogar, nachdem früher Numa dem 
Strafrecht jenen theokratifchen Charakter gegeben und verföhnende 
Opfer, Bußen und Reinigungen eingeführt hatte, felbft noch in den 
zwölf Tafeln größere Verbrecher ber bejtimmten, bucd ihre Ver: 
brechen beleidigten Gottheit als Opfer "geweiht (sacer estod) und Die 
Vollziehung dieſes Opfers ben Verletzten und dem Volk preisgegeben 18), 





12) Euripides Oreſt. 497 fg. oo 
13) S über diefen Tharakter der theotratifchen Strafen bei den Hebraͤ⸗ 
ern, Perfern, Griechen und Römern Welder a. aD. ©. 284. 
Br 371. 536. Diefelben Grundzüge finden fih im in di ſchen Geſetzbuch bes 
enu. 
14) Welder, legte Grünte ©. 573. S. au unten Rote 8. Teces 


572 Compoſitionen⸗Syſtem. 


Solchergeſtalt, ja ſchon als eine mit eigener Gefahr und Aufopferung 
ausgeuͤbte Pietaͤtspflicht und durch die Idee, die dem Ermordeten und 
den Seinlgen widerfahrene Schmach abzuwaſchen, erhielt nun zunaͤchſt 
die Blutrache einen hoͤheren Charakter. Nach griechiſcher Vorſtellung, 
nad) Homer, nad welchem ſchon ebenſo, wie in ber ſpaͤteren Solo⸗ 
niſchen Geſetzgebung, neben der Religion uͤberall die Ehre und die 
Achtung der Wuͤrde des freien Mannes als Hauptbeweggrund edleren 
Handelns hervortritt 4°), ja noch nah Ariſtoteles „erniedrigt bie 
„Erduldung ungerochenen Unrechts zum rechtlofen Sklaven“ 16). „Es 
„läßt fih” — wie Kallilles im Gorgias des Platon fagt — 
„Fein Edler Unrecht thun; Solches duldet nur der Sklave.” Die von 
ben Angehörigen mit eigner Gefahr vollzogene blutige Rache des Er⸗ 
mordeten aber thut e8 zur Herftellung feiner Ehre Allen und, daß die 
erlittene Mißhandlung als Unrecht anerkammt wird. So wie bas 
Opfer die erzürnten Götter, fo verföhnt die Blutrache bie Ermorbeten. 
„Micht zu verachten If” — mie noch Platon zur Rechtfertigung ber 
von ihm felbft beibehaltenen Blutrache ſagt — „nicht zu verachten iſt 
„der alte Mythos, daß ein gewaltfam Ermordeter, welcher als Freier 
„Mann lebte, dem Mörder nady feinem Tode, wenn er ihn ruhig 
„unter ben Seinen fieht (menn alfo die Ermordung nicht ale unrecht 
„anerkannt wird), gewaltig zuͤrne; daß aber, wenn feine Verwandten 
„ihn nicht rächen, fein Zorn und gleihfam die Schuld auf fie fallen“ 7). 
Die Blutrache dagegen tilgt die Schmach des frevelhaft vergoffenen 
Blutes, welches „nad Rache fhreit”, ja welches nad) den Vokksvor⸗ 
fiellungen, namentlih nad) arabifhen und hebräifchen, ben Boden 
entweibt, worauf es floß, fo daß Fein Thau und kein Regen ihn mehr 
tränfen 18). Noch in ber Unterwelt Eagt Agamemnon und mit 
ihm fein großer, nun ausgeföhnter Gegner Achillens über fein traus 
riges Schickſal, dag die Schmach feined Mordes noch ungerochen ift 1°). 
Lebhafter aber, als wir ed uns jest oft vorftellen, find in jenen Zeis 
ten, in den Zeiten Homers ober ber Niebelungen, alle diefe 
Gefühle der Menfchen. Kann doch ber erfte Held der Zlias bitter 
lih weinen über die Ehrenkraͤnkung durch Verlegung feines Rechte 20), 
und eine ganze Zahl edler Zrojaner müfjen zur Ehre des Andenkens 
ſeines Patroklos als Rache- und Sühn= Opfer fallen 21). Sehr 


Eratifhe Gewalt der Priefter bei ben Germanen f. Tacttus 7, 10. 
Sheotratifche Rache : Opfer bei ben Galliern Caͤſar VI, 16. 


15) 3. B. Ilias 1, 374. 16, 53. Welder a. a. ©. ©. 379 u. 483. 
16) Aristoteles Ethic. V, 5. 

17) Platon de legib. IX, p. 866. - 

18) Sefenius Comment. zu Jeſaias 16, 20, 

19) Odyffee 24, 30. 11, 456. 

20) Stias 1, 347. 16, 53. 

21) Ilias 18, 33. 21, 23. 175; 


Gompafitionen: Eyftem. 573 


begreiflih begründet auf Tolche Weife bie Ausübung der Pietaͤts- und 
Ehren Pflicht der Blutrache den hoͤchſten Ruhm. Er bildet den Haupt: 
ftoff begeifterter Gefänge bei den Arabern. Auch ‚bei ben Gricchen 
fpriht zu Zelemahos Athene: 

„— — böreit bu nicht, wie erhabener Ruhm ben edlen Oreftes 

preift {n ber Menfchen Geſchlecht, feitdem cr dem Mörder Aegifthos 
Diefelben Borfelungen finden fich überall auch bei ben Germanen, 
namentlih auch in den Niebelungen. Aud bei den Germanen 
„reinigt die Mache die ermordeten Genoffen” oder „das vergoffene Blut’ 
und „Blut tilge Blut, Mord den Mord,” und die Blutrache fors 
dert von dem Mörder die Ermordeten zurüd, vindicirt 
fie ober ihre Ehre 22%), meshalb fchon bei den Hebräern ber 
Blutraͤcher der Zurücforderer, Vindicant (Goel) genannt murbe 23), 
und auch bei den Griechen und Römern Herftellen des Nechts und 
rächen (Exdıxeiv, vindicare) Ein Wort if. Auch bei den Germas 
nen, wie bei den Griechen, werden Eltern, die keine Söhne haben, 
bedauert, weil ihnen die Blutrache zur Herftellung ihrer Achtung und 
Ehre weniger gefichert iſt 24). Suchen ja doch auch noch Heute hei 
ung, felbft bei geringeren Injurien, bei welchen nicht etwa von Amts 
wegen die aud) dem Verletzten genugthuende Öffentliche Strafe vollzos 
gen wird, die Beleidigten oft mit großer Leidenfchaft ihre Ehrenhers 
ftellung darin, dag für ihre Schmad, dem Beleidiger wieder Schmad) 
zu Xheil merde. 

2) Milberung in ber Ausübung A) Fretftätten. 
"Die zuerft duch theokratifche religloͤſe Anflckten, fobann durch freiheite 
liches Rechts = und Ehrgefuͤhl bewirkte edlere Auffaſſung von Selbſt⸗ 
huͤlfe und Blutrache fuͤhrte nun auch zu großen Milderungen und 
Beſchraͤnkungen in ihrer Ausuͤbung. 

Die erſte wohlthaͤtige Milderung war die, daß der durch Selbſt⸗ 
huͤlfe und Blutrache Verfolgte bei dem Herde und den Hausgoͤttern 
wohlthaͤtiger Gaſtfreunde 25) und im Heiligthum der Volkegottheit 
eine Zuflucht, eine Fretftätte ober ein Aſyl fand. Und faft 
ebenfo allgemein als die Blutrache finden wir bei den Völkern, felbit 
bei den uncivilificten, folhe Sreiftätten 26). Die naͤchſte wohlthaͤ⸗ 


2 Stellen bi Grimm Rechtsalterth. ©. 64. ©. auch unten 


* Michaelis, Moſ. Recht z. 15 und Allgem. Encyklop. unter 
Blutrache. 

24) Odyſſee 3, 196. Jlias 9, 607. 18, 335 und Grimm in Ga» 
vignys Zeitſchr. 1, 327. 

25) S. z. B. Berobot 1, 35 und 41. Ilias 23, 85. 

26) Beweiſe bei Meiners, a. a. DO. ©. 189; rüdfichtlih dee Griechen 
insbefondere bei Potter, Yrdaoı. I, 4803 ruͤckſichtlich ber Römer, von 
welchen fie Meiners irrig leugnet bei Welder a. 0. O. ©, 539; ruͤckſicht⸗ 


Tote 3 


574 Gompofitionen » Syftem. 


tige Wirkung der Aſyle war fhon der Schuß ber vielleicht ganz un- 
fhuldigen oder menigftens nidyt bösmilligen Verfolgten gegen bie erfte 
blinde Leidenfchaft der Verletzten. So war e8 namentlidh ber Fall 
bei den ſechs Freiftätten, weiche Mofes, weil das alte Aſyl bes Na- 
tionaleigentHums nicht für Alle erreihbar war, in ſechs befondern 
Prieiterftädten in den verfchiedenen Gegenden bed Landes gründete. 
Sie hatten zugleich, ähnlich wie die chriftlichen und beutfchen Afple, 
vorzüglich die an beſtimmte Städte verliehenen, bie Aufgabe, nach Ber 
fund der Sache dem Verletzten Genugthuung zu verfhaffen, und zwar 
nad Mofes buch Auslieferung dee abfihtlihen Mörder an bie 
Bluträcher. Der ganz Schuldlofe aber war nun gefhüst, und der 
unabjichtliche, namentlich auch der culpofe Zodtfchhläger mußte, um 
vor ber Blutrache ficher zu werden, bis zum Tode des Hohenprieflerd 
in ber Freiſtadt verweilen und eine Art von Verbannung ertragen, 
melde zugleicd feine Strafe war 27). Aehnlichen Schutz gemährte in 
Griechenland und Rom die Eitte, für die unabſichtlichen Todtſchlaͤger, 
wenn fie im ausländifchen Afpl ein Jahr lang verweilt hatten und von 
der Blutſchuld endfündigt worden waren 2°). Ueberall aber und ine 
bejondere auch bei den Germanen, fuchten die Priefter die fchuldigen 
Verfolgten burdy religiöfe Bußen mit Gott zu verföhnen und dann 
audy mildernd oder verfohnend der Ausübung der menſchlichen Race 
entgegenzutreten 29). Standen ja doch die um Hülfe Sichenden und 
Reuigen überall unter dem Echuge der Gottheit ! 

B. Löfegeld. Compofition. Durch folhe Bemühungen 
und buch das Vorbild der theofratifchen Ausföhnung ber Gottheit 
durch reuige Bußen und Opfer, und durch die Milderung der Natie⸗ 
nalgefühle bildete fid) eine fernere große Milderung aud ber Selbſt—⸗ 
hülfe, nämlicdy die Zahlung von Privatbußen oder von Loͤſegeld 
an die zur Fehde Berechtigten. „Laffen fi) ja doch” — fo fügt ein 
Homeriſcher Held — „felbft die Götter, die doch viel erhabener an 
„Herrlichkeit find, als die Menſchen, durch die reuigen Bitten, die Tuch» 
„ter des allmächtigen Zeus, durch anmuthige Gaben und Opfer bis 
„ſaͤnftigen; wie viel mehr ziemt folche Barmherzigkeit den Menfchen, 


lich der Araber bei Michaelis, Mof. Recht II, ©. 315; ruͤckſichtlich der 
Deutſchen und ber Kriftlihen Völker f. Art. Aſyl. L. Bajur. 1, 7. 

27) 2 Moſ. 21, 13. 4 Mof. 35, 9. 5 Mof. 9, 1Fund 19, 1 Joſ. 
20,1. 1 K&önigel, 50 und 2, und Michaelis, Mof. Recht $. 274. 

28) ©. Note 25. Deinosthen. in Aristoer. p. 736 unb die Erklaͤrer zu 
Yollur 7. 10. 118. Festus s. voc. Februarius. Ovid. Fast. 2, 25. 

29) ©. 2. B. Gregor. Turon, VII, 47; L. Bajuv I, 7. Marculf 
Form, IT, 18. Roſenwinge bän. Rechtsg. $. 4. In Albanien, 
Bosnien, Illyrien wirb noch heutzutage bie Ausübung ber Blutrache durd) 
— ausföpnende Vermittelung der Priefter abgewenbet. Vergl. übrigens obın 

y 


Eompofitionen » Syſtem. 575. 


„wenn Neue und Abbitte heilend ber Schuld folgen” 3%). Selbſt 
der Form nad) erinnerte Anfangs das Löfegeld an Opfer, ba es übers 
alt in Vieh beitand 31), welches häufig den Göttern geopfert wurde, 
und aud) das ältefle Geld mar fo, daß das legtere im Lateiniſchen 
(pecunia) und im Altdeutſchen (Fe) den Namen von dem Worte 
Vieh hatte 22). Diefen Charakter des Loͤſegelds als eines zur genug. 
thuenden Anerkennung des Unrechts und zu feiner Sühne dargebrach⸗ 
ten Opfers felbft in der Form hatte e8 namentlich au), wenn in 
Nom nah Numa’s Gefep der culpofe Todtſchlaͤger in feierlicher 
Verſammlung die Verwandten durch Darbrineung eines Widders ver 
föhnen mußte, während der doloſe Zodtfchläger in ben Eöniglichen - 
und in den XII Zafelgefegen der Blutrache preisgegeben blieb 2°). 
Bei ben Germanen opferte man früher auch wohl ein Kind oder aud) 
ein Thier ganz von edlem Metall zum Xöfegeld, oder man bedte bie 
ganze Leiche, alfo gewiffermaßen das ganze Unrecht, mit edlem Metall, 
bei Befchüdigungen von Zhieren auch das ganze Thier mit edlen Fruͤch⸗ 
- ten völlig zu. Auch fuchte man noch fpät durch die Zahlung bes Loͤſe⸗ 
gelds in edlem Metall zu ehren >). Gabe und Annahme des verſoͤhnen⸗ 
ben Loͤſegelds aber war mit einem feierlichen, gewoͤhnlich eidlihen Fries 
densſchluß begleitet. Dazu (oder um fie ad päcis concordiem zu 
revociren) waren befonbere Formeln vorhanden 3). Und im Abſchwoͤ⸗ 
ven der Ur= oder Aus-Fehde blieb dieſe Sitte bis in fpäte Zeiten.- 
Noch nah der Carolina müffen bie entlaffenen Verbrecher, z. B. 
der beitrafte Dieb, „zur Erhaltung bed gemeinen Frleds ewige Urs 
„fehde thun“ 26). Solche Loͤſegelder, ja Gaben, Geſchenke überhaupt, 
z. B. auch Gaſtgeſchenke, ehrten in-frühen Zeiten, fo wie die Götter, 
fo die Menſchen 27). Kurz, in jeder Weiſe waren ſolche Sühngaben, 
welche unter Zuflimmung der vermittelnden Volksgenoſſen gegeben und 
angenommen wurden, und welche thatfächlich die reuige, die bemüthis 
gende Erklärung bes Verletzers, daß feine Verlegung ein jest auf ihn 





— 


30) Jlias 9, 496. Vergl. auch Ilias ‚15, 203. „Du haft mir ges 
buͤßt, indem du dich ſchuldig bekennſt.“ Herobot 1, 45 | 

31) Luitur etiam homicidium certo armentorum et pecorum numero, re 
cipitque satisfactionem universa domus, Tacitus 21. und 1% 

32) Grimm in Savigny's Beitfhr. I. ©. 325. ü 

33) Servius zu Virgils Eclog. 4, 43. in Weldera. a. O. ©. 
543. Die Beſtimmung von jedem bolofen Todtſchlaͤger paricida esto, 
welche ihn als Mörder eines Gleichen der Talion ober ber Blutrache preisgab, 
hat nicht den abgefhhmadten Einn, ihn für einen Batermörder zu erklären, für 
den ja gar kein Strafgefeg eriftirte. Wie bei ben Römern überall Compoſitio⸗ 
nen und Strafen als Privatgenugthuungen aus der Privatradye hervorgingen, 
darüber f. Gellius 11, 18. und 20, 1. 

34) Grimm, a. a. D. I. 39. Sadhfenfpieg. 3, 45. 

85) L. Rotharis 149. Marculf II, 18. Append. 51. Grimm, RNechts⸗ 
alterthümer ©. 39. und 53. | Br 

86) Sarolina, Art. 108. 147. 157. 164. 

37) Ilias 1, 118. 9, 297. 600. Tacitus 21. 


° 


576 Compoſitionen⸗ Syſtem. 


ſelbſt zuruͤckfallendes Unrecht ſei, bekraͤftigten und ſelbſt enthielten, ſehr 
wohl geeignet, die Schmach dieſer Verletzung genugthuend auszutilgen 
und den geſtoͤrten rechtlichen Friedenszuſtand wiederherzuſtellen, ſicherer 
und beſſer jedenfalls, als der unſichere Ausgang der Fehde. Weit 
entfernt alſo, daß ſo edlen Gefuͤhlen, wie die der Homeriſchen Helden 
und die unſerer tuͤchtigſten deutſchen Vorfahren waren, der gemeine 
Gedanke natuͤrlich geweſen waͤre, ihr und der Ihrigen Leben und Ehre 
ſeien ihnen als gemeine Waare fuͤr einen Marktpreis feil, ſo hatte 
vielmehr die Verſoͤhnung durch Privatbußen die Goͤtter und ihre Ver⸗ 
ehrung zum Vorbild. Freilich auch die Blutrache und ſelbſt ja auch 
unfere heutigen Strafen, namentlich unſere Injurienſtrafen, vollends 
ſolche, welche ſo, wie die ehrbaren Roͤmer, ſo auch bis jetzt ſtets 
die ſtolzen Briten, welche ſelbſt deren großer Felbher Wellington 
in einer Geldſumme einzuklagen, keinen Anſtand nahmen, konnten von 
Einzelnen auf eine gemeine und niedrige Weiſe angeſehen und erſtrebt 
werden. So auch ſicher die Loͤſegelder. Aber das iſt nicht der Sinn 
und das Weſen des Inſtituts. Die moraliſche Strafe und 
Abbuͤßung, welche nach allgemeinem Volksgefuͤhl mit irgend einem 
großen oder geringen ſinnlichen Strafuͤbel ſich verbindet, nicht aber 
dieſes ſinnliche Uebel ſelbſt, iſt das Weſentliche und Wirkende bei der 
Beſtrafung. Mit allem dem ſoll indeß nicht geleugnet werden, daß 
die Menſchen, noch naͤher der Periode der Kindheit und Sinnlichkeit, 
daß die edelſten Menſchen des Homer und der Niebelungen und 
des Snorri Sturluſon und der letztere ſelbſt noch ſinnlicher wa⸗ 
ren, und mehr an ſinnlichen Guͤtern und Gaben ſich erfreuten, als 
die edlen Menſchen in einer geiſtigeren Zeit. | 
Die Sitte des Löfegelds nun finden mir bei unciviliſirten und 
civilifirten Nationen ebenfo allgemein, als Blutrache und Aſyl °®). 
Selbſt die allgemeinften Namen der Strafe (non, anoıvya, zıumela, 
run, tioıg, poena) und der Sprachgebraud in Beziehung auf bie 
Strafe, namentlicy das griechifche und römifche „Strafe fordern, 
zurüdfordern, nehmen” ftatt: firafen, und das „Strafe zahs 
len oder geben” flatt: geftraft werben, bezeichnet eine Verſoͤhnung, 
eine Wiederherflellung des rechtlichen Friedens durch Zah: 
len und Annehmen ber Genugthuung, des Loͤſegelds. Im We 
fentlichen denfelben Grundgedanken und menigftens ſtets nur eine Aufe 
hebung ber bereits vorhandenen Störung des Friedensver⸗ 
hältniffes bezeihnen auch Ausbrüde, wie 5. B. büßen, Buße, 
d. h. mörtlich wieder gut oder beffer machen, und Befferung, ober 
wie firafen, d. 5. woͤrtlich wieber gerade (oder flraff) machen, wähs 
end die noch übrigen, wie 3. B. Zxösxeiv, vindioare, dxöixnorg, vin- 


38) Beweife bei Meiners a. a. DO. ©. 1905 ruͤckſichtlich ber Römer 
bei wtlder a. a. O. ©. 540; ruͤckſichtlich der Ruſſeen bi Ewers a. a. O. 





1 ⸗ 
[4 
. 


Compoſitionen⸗ Syſtem 577 


dicta, eine Wiederherſtellung buch Rache begeihnen 29). Bei 
den Deutfchen hieß das Verbrechen felbft ein Hohn, eine Schmach, 
ein Schaden (wie noxa), Schuld, Unfriede, Frevel 49%). Die 
Strafe, das Loͤſegeld wird bezeichnet duch Buße, Sühne, 
compositio, satisfactio, emendatio, Gialt ober Gelt, d. h. Entgelt, 
Genugthuung, auh Widrigelt, d. h. Wiedergenugthuung, 
als Genugthuung für Todtfchlag aber gewoͤhnlich: Wergelt, oder auch 
Leudgeit, d. h. wörtlih die Genugthuung für den Mann #1) 
Wollte man die erfte Sylbe In Wergelt nicht mit Grimm von Ver, 
vir, der Mann, fondern von Wehre ableiten, fo hieße e8 bie vers 
bürgte, die gewährte Genugthuung, dhnlih wie Wette, was elgents 
lich dee Bund, der Vertrag heißt, ebenfalls aber zumeilen bie Privats 
buße bezeichnet, gewöhnlicher jedoch, ebenfo wie Fredum (db. h. Frie⸗ 
ben), oder auch Brüche und Bann die Benennung ber Öffents 
fihen Genugthuung iſt, melche fpäter noch neben der Privatbuße für 
den Bruch und die Miederherftellung des Friedens an bie Volksge⸗ 
meinde oder ihren Vorftand gezahlt werben mußte 2). 

C. Die Geſammtbuͤrgſchaft und der gerihtlich ges 
orbnete Kampf und Vergleih. Die Familien, die Stammes» 
und Gemeinde: Genoffen waren zugleich ober ftufenmweife mit von ber 
Privatfehde betroffen. Ste waren betheiligt bet dem Frieden. Sie 
und insbefondere die Volksgemeinde hatten alfo auch das Recht, auf 
die oben (I, 2) befchriebene Weife Kampf und Vergleich gerichtlich zu 
ordnen und die Verföhnung zu vermitteln. Und mern biefelbe zu 
Stande kam, fo verbürgten fie ben erneuerten Frieden und die Buße, 
welche bei Verlegung ſolchen Vertrags doppelt gesahlt werben mußte *8). 
Das Vermögen ber Verwandten aber, welche ja auch bas Erbrecht 
gegen ben Verwandten und Theil an feiner Buße hatten, haftete für 
bad von ihm zu zahlende Löfegeld 25). Im dußerften Falle aber und 
wenigſtens alsdann, wenn für bie in dem Gemeindediſtrict begangene 
Verlegung der Thäter nicht entdeckt wurde, haftete als Geſammt⸗ 
buͤrgſchaft ſelbſt die Gemeinde, fo mie fie ja auch einen Theil ber 
Buße erhielt und gewiſſe Anrechte an die Güter der Gemeinbegenofs 
fen hatte 26). So haftete auch bei den Hebräern noch, nachdem 


89) Ausführliche Veweiſe bei Welder 0.0.0. ©. 135, 8. uͤber das 
rächenbe repetero in altdeutſchen Formeln Marculf II. 18. Append. 51. 

40) Grimm, Rechtsalterth. E. 622. 

41) Srimm a. a. D. ©. 622. 

42) Grimm ©. 148, 

43) L. Rotharius 149. Sogge a. a D. ©. 124.. 
6 44) Taeit 12. 21. L. Balic. 59. u. 61. L. Saxon. 2,6. Eich⸗ 

orn . [} . 
Taritus 12. Eichhorn $. 18, Rogge 26. Grimm ©. 6. 
Nach dem Bet der alien Ruffen (eigenttich ber ermanifhen 
Wardäger in Kußland) haftete Die Gemeinde auch bei entbeditem Thaͤter 
einen Theil. Ewers ©. 806. 814. u. 815. 
Gtaats⸗ Lexikon IN. 81 


578 GEompofitionen = Syitem- 


Mofes bei dem Mord das Löfegeld verboten hatte, die Volksgemeinde 
doch menigftens infofern für einen das Land verunreinigenden Todt⸗ 
fchlag eines unbefannten Mörders, daß Alle in feierliher Verſamm⸗ 
ung jede ihnen bekannte Spur zur Entdedung anzeigen, nichts wei⸗ 
tee davon zu wiffen bekennen und ſich reinigen mußten *%). Noch 
bis heute tft für den Schadenerfag in ben englifchen Kicchfpielen bie 
altdeutfhe Gefammtbärgfhaft bis zur Stellung bes Thaͤters 
raktifch geblieben. Es trägt, in Ermangelung unferer gewöhnlichen 
otipeirnittel, dieſes wefentlic zu ber großen Sicherheit im Innern 
von England bei. Und wer mag leugnen, daß durch eine ähnliche 
weiſe beitimmte Gefammtbürgfchaft die Mechtsficherheit und das leben« 
dige Rechtögefühl der Bürger fehr vermehrt und manche drüdende ges 
heime und öffentliche Polizeihülfe entbehrt werden könnte — In Bes 
ziehung auf frühere Strafverhältniffe aber hatte bie Geſammtbuͤrg⸗ 
[haft der Voltsgenoffenfhaft den hoͤchſt mohlthätigen Einfluß, daß bies 
felben jest mehr und mehr vermittelft der Volksgeſetzgebung und der 
Molfsgerichtsbarkeii bewacht, geordnet, gemildert und menigftens bie 
Exceſſe der Selbſthuͤlfe und der Blutrache verhindert wurden. 

D. Wiedervergeltung. Seitdem nun bie finnliche Rache 
und bie Eriegerifche Fehde. burch den mildernden theokratiſchen Einfluß, 
duch das Vorbild göttlicher Strafen und durch Ideen der natürlichen 
wie der göttlichen Gerechtigkeit veredelt und durch bie volksgenoſſen⸗ 
ſchaftliche Einwirkung bewacht und gemildert wurden, gab eines Theilq 
das in dem Verbrecher wie in dem Verletzten und ihren beiderfeitigen 
Genoſſen lebendig gewordene Gefühl, dort einer ungeredhten, bier eis 
ner gerechten Cache, meift der legteren die Kraft des Siege. Sodann 
aber hörte Hierdurch von felbft auch die urfprünglihe Grenzenlos 
—ſigkeit und Maßloſigkeit der Seldfthülfe und Rache auf. So 
verwarf bei den Griechen, Römern und Germanen, ebenfo wie 
bei ben Hebraͤern und felbft bei den Arabern ), fhon fruͤh bie 
Eitte die Erwiderung ber Rache gegen eine gerechte Blutrache. Und 
aud) jede an fich gerechte, rächende Selbfthülfe wegen gugefügter Ver⸗ 
legung mußte doch ebenfalls eine dußerfte Grenze, ein Maß erhalten. 
Sie darf nicht mehr bei jeber Verlegung den Verleger ale rechtlos 
behandeln, fondern nur die Verlegung abmwehren oder aufheben. 
Bei eineenoh dunklen und noch vorwiegend finnlihen Auf: 
feffung des Wefens des DVergehens und der Strafe aber ſchien 
feine fhügende Schranke raͤchender Selbſthuͤlfe natürlicher, als die ſin n⸗ 
lich gleiche materielle Wiebervergeltung oder bie Talion. 


— — — — — 


46) 4 Mof. 35, 33. 5 Moſ. 21, 1. Auch behielt Mofes bie in roh⸗ 
finnliger Zeit natuͤrliche Rache an Thieren (bei ben Griechen ſogar auch an 
lebloſen Sachen) bei und geb ihr zur ſtaͤrkern Heiligung des Menfchenlebens 
einen theoktatifchen Charakter. Gott follte befohlen haben, auch den Ochſen 
zu fleinigen,, der einen Menſchen getöbtet hatte, 2 Mof. 21, 28. 

47) Michaelis, Mof. Recht $. 134. Th. II. ©. 208. 


“ 


Gpmpofitionen : Syſtem. 579 


So anerkannt, wenn auch fpäter als Blutrache und Löfegeib, finder ſich 
daher die Talion ebenfalls faft überall, namentlih bei Hebrdern, 
Griechen, Römern und Germanen *), Das rohe, graufame 
„Auge um Auge, Zahn um Zahn” wich aber keineswegs, wie neuere 
Philoſophen wähnen, als bie von der Gerechtigkeit geforderte, nothwen⸗ 
dige Strafe verordnet. Es wird vielmehr von ben Gefegen niufaks die 
von der Sitte eingeführte Milderung und aͤußerſte Schranke ber 
kriegeriſchen Selbfihülfe und als ein Mittel der Foͤrderung 
der Verföhnung durch Loͤſegeld nur einftweilen geduldet. Aehnlich, wie 
jener geordnete, gerichtliche Kampf und Vergleich vor der Genofienkhaft 
und insbefondere der geordnete Zweikampf, galt fie nicht als das hoͤch⸗ 
fie Recht, fondern nur als einftweilige wohlthätige Beſchraͤnkung der 
Selbfthülfe. So fagen 3. B. die roͤmiſchen Imölftafeln: „Wer bem Ans 
dern ein Glied zerfchlägt, muß fich mit ihm durch Buße vengleichen, mit 
ihm Srieden fchließen, oder er ift bis zur Talion feiner Rache ausges 
ſetzt 29).“ Nie aber murde feitbem, da ed nur um jenen Zweck ber 
Senugthuung und Verföhnung galt, die Zalion in Rom vollzegen. 
Sa, die richterlihe Praris und das prätorifche Edict festen bald an die 
Stelle der Wiedervergeltung eine Schaͤzungsklage, nad) welder bei 
Injurien und Verlegungen der Prätor in jedem einzelnen Kalle die Geld⸗ 
buße ermittelte, welche ihm als eine ber jedesmaligen Größe ber 
Schuld und der Beleidigung angemeffene Genugthuung erfchien. (f. vos 
tige Note). Wohl alfo mochte die Talion fih als Milderung ber 
Rache empfehlen und auch dunklen, philofophifchen , religiöfen und poetis 
fhen Ideen und Gefühlen von Gleichheit und Gerechtigkeit entfprechen, 
und als ein dußeres Spmbol derfelben erfcheinen! Dennoch konnte aud) 
bier unter der bewußten Vernunftherrfchaft von dem zuerft 
durch vorübergehendes Beduͤrfniß oder dunkles Gefühl Erzeugten nur fo 
viel bleiben, als ſich aus den Har und fchnrferfaßten hoͤch ſten Rechts 
grundfägen ableiten läßt: die Zalion mußte alfo als ſolche 
verſchwinden. Es ergab fich bald die ihr gu Grunde liegende doppelte 
Begriffsverwechfelung und Undurchfuͤhrbarkeit. Einestheils iſt das 
Mefen bes Verbrehens geiftig, der boͤſe und böfere innere 
Wille, die Verachtung des Gefeges u. f. w., nicht die zufällige Größe 
des äußeren, materiellen Schadens, ber dem Civilrecht angehört. . 
Und doch behandelt die Talion das Materielle als Grundlage und 
Mapftab von Verbrechen und Strafe. Wie foll nun wohl mwiebervergols 
ten werden? Wie 3. B. bei Majeſtaͤtsbeleidigung, Hochverrath, Ehe⸗ 
bruh? Oder, wenn die. Talion bei gewoͤhnlichem boͤſen Willen, etwa 
bei Affect, Auge um Auge ausſchlaͤgt, was will fie zuſeden für 


48) 2 Mof.21, 3. 8 Mof: 24, 19. Mtchaelis 8. MO. Petit, Leg. 
Attie. V.7, 3.52% Grimm, Redtsalterth. ©. 64. und in Gas 
vigny's Zeitſcht. I. ©. 826. 

49) Si membrum rupsit, ni cnm eo pacit, tallo este, Festus v. 
tallo. Gellius XX, 1. Gajns III, 24. — 7. Gleiches von ben Serma⸗ 
nen ſ. bei Grimm a. a. D., von ben Hebraͤſern bei u d. 0. D. 


580 | Gompofitionen : Syflem. 


die erhöhte Bosheit oder bei andern rechtlichen Schärfungsgründen, 
was abziehen bei ben verfchlebenen Arten bloßer Culpa oder Ver⸗ 
fhuldung und bei andern Dilderungsgründen? Es ift alfo die Zalion 
als Strafe niemals die wirkliche Ausgleihung. Sie ift noch we⸗ 
niger bie rechtliche Ausgleihung. Denn fie widerfpriht ans 
derntBeils dem Haren, hoͤchſten Rechtsgeſet über alles Recht 
zum Zwang, ober zur Verlegung ber fremden Freiheit. Diefes Recht 
ift nur begründet erftens zur Abwehr erweislihen, alfo gegen» 
wärtigen rechtswidrigen Angriffs, und zweiten zur Wiederherftelung 
eines bereits verlegten Rechtsverhaͤltniſſes, foweit fie möglich ift. 
Auch in ber Anmendung auf die juriftifche Freiheit gilt nur.die emige 
Forderung ber Gerechtigkeit: es Lebe (oder es werde erhalten) bas 
Rechtz es ſterbe (oder es werde wieder aufgehoben) das Unrecht! 
Bloße blinde MWiedervergeltung, wovon ja auch das ganze 
Givilreht und übrige Recht nichts weiß, Wiedervergeltung 
eines unwiderruflich gefchehenen Boͤſen mit neuem Böfen, 3. B. 
Belhädigung und Betrug gegen den, der mid) befhädigte und betrog — 
wie kommt fie ins Necht? Wer hat fie noch jemals rechtlich zu begruͤn⸗ 
den vermocht? Materiale Bleichheit der Rechte yab man mit ber 
finnlihen Auffaffung des Rechts überall auf. Die formale aber 
fordert nur die gleiche Duchführung jenes hoͤchſten Rechtsprincips 
über den Imang zum Schuß des Rechts, zur Abwehr und Wieberaufbes 
bung jeder Mechteverlegung von Jedem. Daher verſchwand denn 
ebenfalls im deutſchen echt bei einiger höheren Ausbildung wieder bie 
Miedervergeltung als folhe. In Deutfchland aber konnte man nun 
nicht der ganzen richtenden Volksverſammlung, ähnlich wie einem roͤmi⸗ 
fhen Prätor, in jedem einzelnen Falle folche üftimatorifche Abfhdgung 
und richterliche Ermäßigung zumuthen und überlaffen. Deshalb gaben 
fi) die Geſetze die dußerfte Mühe, ftatt derſelben, durch gefegliche abſo⸗ 
lut beflimmte Borausanfäge der Größe der Vermoͤgensbußen, je nach der 
Größe aller denkbaren Beleidigungen, ein gerechtes Verhaͤltniß zwiſchen Ver⸗ 
gehen und Etrafe zu bewirden. Vom Scheitel bis zur Fußzehe erhielt 
nun jebes Glied und wiedesum jede Art ber Verlegung beffelben, ob fie 
zerftörend, laͤhmend oder blutig, in welcher Abficht, von wem und gegen 
wen fie zugefügt war, ihre befonbere gefeglicye Strafbefiimmung. Das 
Streben an fi) war hoͤchſt achtbar; aber niemals kann ohne große Miß⸗ 
ftände bei Beſtimmung der Strafgröße alle richterliche Ermäßigung 
ausgefchloffen werden. Auch faßten dieſe altgermanifchen Beſtimmun⸗ 
gen über Bußen oder Gompofitionen aller Art (f. oben Bd. J. 
©. 284.) begreiflicyer Weife zum Theil noch zu fehr die finnliche, äußere 
Größe ber Verlegung in das Auge. Jedoch waren fie keineswegs, wie 
man oft ungruͤndlich behaupten hört, ausſchließlich hiernady beftimmt und 
vermifchten noch weniger den materieilen civilcechtlich erfegbaren Scha⸗ 
den mit der firafrechtlihen Beleidigung und Genugthuung. Sie unters 
ſcheiden vielmehr beide überall und berüdfichtigen bet der Gtrafe ihren 
intellectuellen Charakter oder die Größe ber fchuldvollen Beleidigung 


Compoſitionen⸗ Syflem. 581 


und Rechtskraͤnkung, den ‚böfen und böferen Milfen, bie verfchiebenen 
perfönlihen Verhältniffe. Sie beftrafen den im. bloßen Verſuch bewieſe⸗ 
nen böfen Willen ohne alle materielle Verlegung und bloße Worte, 3. B. 
ben Vorwurf der Feigheit enthaltende Schimpfworte, oft härter, als die 
fchwerften Verlegungen und felbft ats Die Toͤdtungen 59). Sie erken⸗ 
nen immer vollfiändiger neben ber genugthuenden Werföhnung bes Belei⸗ 
digten und feiner Angehörigen oder der Miederherflellung des Friedens mit 
ihnen aud) die Wiederherftellung der Achtung und Helligkeit des geftärten 
öffentlichen oder allgemein gefeglichen Friedens durch Aufhebung des gegebes 
nen verführerifchen Beiſpiels und der bewieſenen unfriedtihen Willens⸗ 
ſtimmung des Verletzers ald Grund und Zweck der Strafen an ;°!). 

HI. Die allmälige Duchbilbung zum vernunftrecht⸗ 
lichen Strafreht. So mußten denn Gelbfthülfe und Blut 
rache, Aſyl und Löfegeldb, Geſammtbürgſchaft und ber ge> 
rihtlihe Kampf vor der Genoffenfdraft und die Wieder; 
vergeltung als rohe, finnlihe Hüllen und Spmbole ber alimdlig 
ſich entwidelnden rechtlichen, Sdeen in dem Maße zurüdtreten und ihre 
Außere Geftalt verändern, als die zum Bewußtſein erwuchte rechtliche 
Vernunft der Strafe ald Rechtsinſtitut nur buch klar er: 
fannte, vernünftige RechtsGruͤnde und je nad denfel: 
den Süttigkeit zugeftcehen Tonnte. ' Zu 

Doch war es auch in Beziehung auf das durch die natärlichen 
Gefühle und Sitten entwidelte Syſtem ftrafrechtlidier Genugthuung 


50) Beweiſe bei Welder a. a. ©. S. 585 ff. &. au L. Salic. 20, 
1. 67, 2. L. Bajuv. 13, 8. ' 

51) Welder a. a. D. ©. 585. fig. Neben ber enuatduunG 
(compositio) für ben Verletzten und feine verlegte Genoſſenſchaft, welche 
ber Verbrecher befleckte (gquam polluit), mußte auch für die Beleidigung bes 
Grfeged (quia contra legem fecit) cine öffentliche Genugthuung zus Wiebers 
herſtellung bes öffentlichen geietent (pro fr&edo) an bie Volksgemeinde oder ihren 
Vorfteher, zum Theil au, in Grmangelung eines Familienblutraͤchers, das 
Löfegeld an den Fürften als Schutzherrn geleiftet werben. L. Bajav, 8, 13. 
L. Alam. 3, 4. Und ausbrüdiid wird als Grund und Zweck der Buben ans 
gegeben bie Etdrung und Herabwürbigung ber Privat und öffentlichen Pers 
Tonlichkeit, des Privat: und öffentlichen Friedens und bie Nothwenbigfeit,. ihre 
verlegte Achtung, Ehre und Heiligkeit, ſowſe duch Beſſerun 
des den Frieden verlegenden, rechtsfeindlichen Willens bes Verbrechers, To 
auch bei Andern wieberherzuftellen, das Aergernid und böfe Beifpiel 
auszutilgen (ut alii cognoscant, quid sit timox Dei in Christianis et ho- 
norem ecclesiis impendant. L. Alam. 3. u. 4.), ober auch „bamit. ber. Friede 
wieder feft werde.” L. Bajuv. I., 6, 3. ober:, y honor Dei et reverentia 
Sanctorum et Ecclesise Dei semper invictn sit, L. Bajuv.I., 7, 4; übers’ 
haupt damit der Verbrecher neben der Reftitution bee Sache felbft ober neben 
dem civilrechtlichen Schabenserfag, fein Verbrechen wieber gut (emendat. 
L. Bajuvar. 1, 12.). Diefelben Zwecke werben insbefondere auch angegeben, 
wenn bie rädyende Genugthuung bis zur Toͤdtung ober bei Unfrtien dia zur 
Verftümmlung geht, daß er naͤmlich das Blut ober die Schande abwaſche (ab- 
berant), * damit er eflusione sanguinis componat. I, Burgend. 2, 1. 

2 puar. 3 


589 Gompofitionen = Syftem. 


bie Aufgabe einer, fpäter entſtandenen Staatsgeſetzgebung, zunaͤchſt die 
befferen Grundideen biefea natürlihen Syſtems hervors 
zubilden und zu unterflügen und feine Mängel zu befeitigen, nicht 
aber alles Alte gewaltfam zu vernidhten. Dazu war eines 
theils ihre felbft erſt allmälig veifende Gewalt früher noch 
viel zu ſchwach, bie Anhaͤnglichkeit bes Volle aber an urs 
alte, natfonale und zum Theil religiös geheiligte Sitten 
vielzu groß. Mofes z. B. konnte das alte Blutracheſyſtem micht 
aufheben. . Aber er verelmigte weife bie oͤffentliche Vorſorge für bis 
Heiligkeit bed Menfchenlebens und zugleich menfchlihe Milde mit dem⸗ 
felben, indem er das bei andern Verlegungen und einigen culpofen 
Zödtungen erlaubte Löfegeld (f. 2 Mof. 21, 30.) bei dem Motd ver 
bot und. fogar in Ermangelung eines Blutraͤchers der Obrigkeit die 
Beftrafung anbefehl, Indem er: ferner durch feine weiſe eingerichteten 
Sreiftädte für den nicht. bolofen Zodtfchläger Schug und mäßige Strafe 
begründete (Note 27.). Weniger glüdte folche Vereinigung dem Mas 
homed, weldher im Koran (2, 173 u. 17, 35) ſich begnügte, blos 
wörtlich ganz allgemein bie Annahme des Löfegelde als gottgefätlige 
Barmherzigkeit anzupreifen und graufame Todesarten zu verbieten, 
weiche bloßen Worte aber, 3. B. bei ben Arabern, faft in einer Hin⸗ 
fiht bedeutend wirkten. In Athen hatten bie in die fpätere Zeit bei 
Todtfchlägen nur bie Verwandten und bie Mitglieder der Zunft ' 
nad beffimmten Graden Recht und Pflicht gerichtlicher Verſolgung. 
Der Zobtfchläger durfte, wenn er nicht abjichtlicher Mörder war, ſich 
mit ihnen durch ein Loͤſegeld verföhnen. Wenn er aber zuerft entfloh 
und dann zuruͤckkam, ohne ſich mit ihnen zu verföhnen, fo durften fie 
ihn tödbten. Und fo lieb war ben hochgebildeten Atheneen biefer 
Reſt des alten Blutrahes und Gompofitionen s Syitems, daß dem, 
weicher auf Abſchaffung beffelben antragen würde, duch ein Gefeg 
Ehrloſigkeit für ihn und feine Familie angebuoht war 92). In Deutſch⸗ 
land erhielten fih Blutrache und Löfegeld durch's ganze Mittelalter 
hindurch, in einigen Gegenden, namentlidy friefifhen, bis in das ſech⸗ 
zehnte Jahrhundert. Der Sahfenfpiegel (IU., 45) enthält noch 
die alten MWehrgeldsbeftimmungen. Die fächfifche Regierung proteftirte 
vorzüglich deswegen gegen bie Carolina, weil fie feine Beſtimmun⸗ 
gen über die „Gewehr, Wehrgeld und Bug” enthielte, und in Sach⸗ 
fen blieb neben der oͤffentlichen Strafe das Wehrgeld bis in die neuere 
Zeit 5°). Auch in Rom blichen die Körperverlegungen und auch die 
Todtſchlaͤge aus Culpa und im Affert, bis zu Sylla hoͤchſtwahrſchein⸗ 
lich ſelbſt die gewöhnlichen dolofen, Privatvergehen 9*), alfo ihre Strafe 


52) Welder a. a. O. G. 423. 


53) Kreß, Commentar zur Garol. praef. 5. 21. Vergl. auch 
Mittermaier, Strafverfahren J. ©. 110. 


54) Schweppe, Recht«geſchichte 5. 335. 608. Welcker a 
o. ppe htögelhichte 5 er a. a. 


Gompofitionen« Syſtem 583 


Pridvatgenugthuung. Sa, in Griechenland, Rom und Deutfch: 
land, und zum Theil noch In unſerem deutfchen gemeinen Recht biies 
ben ſtets eine Reihe von Vergehen, nad) römifchem Recht JInjurie, 
Berchäbigung, Raub und. Diebftahl, ferner unerlaubte Selbſthuͤlfe, viele 
Betruͤgereien und Triubruͤche, Privatdelicte, ihre Verfolgung, wie 
auch die des Ehebruchs, Sache des Privatwillkuͤr des Verletzten, ihre 
Strafe Löfegetd oder Privatgeldbuße. Ja unſer deutfches, mie das rd: 
mifche Recht geftatten ſelbſt jegt noch Blutige Drivatrache durch eigen: 
mächtige Zödtung der Verbrecher, nämlich bei dem Ehebruch dem Bas 
ter und: Satten einer Ehebrecherin 9°). Vollends aber erkennen fie 
beide überall auch bei öffentliheh Strafen ebenfo noch die Rechte 
ber Verletzten auf. Genugthuung durch die öffentlihen Strafen 
an, wie durch jene Privatftcafen, ja burch die nachtheiligen civilrecht⸗ 
lichen Folgen mandjen Unrechts, zugleich bie öffentliche Genugthuung 
mit bezweckt mwurbe 9%). - Das nothiwendige Streben der Gefeggebung 
aber, überall auch möglihft das Öffentliche Intereſſe durchzuführen und 
mit der Privatgenugthuung zu verbinden, war indeß auch ſchon in 
dem altgermanifhen Recht mehr und mehr hervorgetreten. Hierzu 
gerabe die fpätere, befondere Buße für den Öffentlichen Frieden neben 
ber Privarbuße (Mote 51). Bei nicht abſichtlichen Werlegungen  dages 
gen wurde fpäter zwar nicht eine Privatbuße, wohl aber die Selbſthuͤlfe 
oder Fehde ganz ausgefchlofien 27). Zuerft die Kirche, gegen Ende der 
carolingifhen Periode auch die Staatsgeſetze begründeten für die ſchaͤnd⸗ 
lichften Verbrechen, namentlich Meuchelmord, Raub und Brand, fchon 
Öffentliche peinlihhe Strafen, die Staatsgefebe eine Genugthuung durch 
Zobeöftrafe (eine compositio :sangumis eflusione) 59), Auch) fuchte 
Karl der Große die wirkliche Ausuͤbung der Blutrache zu vermin- 
dern, indem er befahl, daß diejenigen, welche vor Gericht das Geben 
oder die: Annahme bes Loͤſegelds vermeigerten, vor ihn felbft gebracht 
würden, um fie bei fernerer Weigerung nöthigenfalls dahin zu brin= 
gen, wo fie nicht mehr gefahrbrohend wären 9°). 

Aufder andern Seite brauhte auch barum bad alte 


55) Feuerbach, Criminalrecht. & 883. In Athen war biefe 
Privatrache noch zu bes Demoſthenes Zeit noch ausgebehnter (adv. Aristocr.) 
Das römifhe Recht befchränkte fie fehr allmdlig, f. 3 B. L. 23. u. 
23. ad. leg. Jul. de adulter. So mußte zuledt 3. B. der Vater, um nidt 
blos kalte perſoͤnliche Rache an dem Ehebrecher zu nehmen, feine Tochter mit 
tidten (prope uno ictu), ſo daß es fi ſchon nähert der Entſchuldigung durch 
gerechten Affect. Dennoch iſt's offenbar; nicht b408 biefe Entſchuldigung mit 
ihren befonderen Bedingungen, fondern zum Theil nch das alte Hecht der 
Privalrade. °— " 

56) Weider ©. 581. Vergl. z. B. auch $. 8. de obligat. quae ex 
delicto, 

‚ 57) L. Sax. 12, 5. m ao. 

58) L. Burg. 2, 1. Cap. Casol. Calv. pre. Hisp. 8: 

59) Cap. 779, 22. III, 805, 7. I, 819, 13. 849, 8. 


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584 Gompofitionen · Syſtem. 


natuͤrliche Syſtem ſtrafrechtlicher Genugthuung nicht 
gaͤnzlich umgeſtürzt zu werden, weil ja auch ihm bie 
Grundgedanken des vernunftrehtlidh entwickeiten Straß 
rechts, wenn auch nur im Keime und in verhuͤllter Geſtalt, zu Grund 
lagen. Ueberall nämlich erfcheint nach dem bisherigen bie Strafe 
fo, wie fie der Sprachgebrauch ber Griechen, Römer und Deutſchen 
(f. Rote 39) bezeichnet, wie fie- aud noch das fpätefte griechifche und 
römifhe Recht richtig befinicten 6%), und wie es die Idee ber Gerech⸗ 
tigkeit fordert, als Sühne ober Verföhbnung, Genugthuung 
oder Miederherftellung des verlegten Friedens ober 
Rechts, oderals Wiedberaustilgung bes Unfriedens ober 
Unrechts, ober der bereits vorhandenen, durch ben Vers 
brecher felbft begründeten Schuld (dee intellectnellen, 
eriminalrehtlihen Störung oder Schädigung bes friedlichen Rechts⸗ 
zuftandes noch neben dem blos materiellen oder civilrechtlichen 
Schaden) 9). Diefe Sühne oder Austilgung nun mwurbe gefucht bei 
noh überwiegend finnlihem Zuftand ber Menfchen in Aus⸗ 
tilgung bes finnlihen Schmerzes und Zornes der Verletzten durch den 
Genuß ſinnlicher Rache und finnlicher Ausföhnung der beleidigten Pri⸗ 
vaten, In dem überwiegend theokratiſchen Zuftand durch Wer 
föhnung ber beleidigten Gottheit; unter Herrſchaft vernunftrecht⸗ 
licher Anfichten endlich durch Verföhnung des Rechtsvereins ober durch 
rechtlich Wiederherftellung bes durch ben Verbrecher ges ' 
ftörten rehtlihen Sriedenszuftandes (f. Note 51). 

Diefe gerechte MWiederberftellung aber konnte nun entweber zunaͤchſt 
für den Verlegten und nur mehr mittelbar für bie öffentliche Rechts⸗ 
genoſſenſchaft erftrebt werden, fo wie früher unter Borberrfchaft eines 
halben Naturzuftandegs — oder zunaͤchſt für die allgemeine Rechtsge⸗ 
noffenfchaft und mehr nur mittelbar für den Berlegten, ſowie heuts 
zutage unter Vorherrſchaft ber Staatsidee. Aehnlich "wirkte. natuͤr⸗ 
lih diefe gerechte oder Mieberherftellungsftrafe fo, wie ja felbft die 
civiltechtliche Aufhebung des Unrechts, fhon an fih mittelbar aud 
für die Zußunft fihernd (abfchredend und prävenirend). Ihre ges 
feglihe Vorausverkündigung ſichert fogar aud) unmittelbar. Nur kann 
die Androhung eine Strafe nie gerecht machen wollen, die night an ſich 
ſchon gerecht ift. 

Nach bem angegebenen natürlichen und hiſtoriſchen, aud 
in unferm gemeinen Recht (f.e Carolina) herrſchenden Grundgedanten 
bes Strafrechts befteht alfo auch hiſtoriſch das richtige, hoͤchſte 
Strafrehtsprincip nur in dem allgemtinen Recht oder 
darin, daß man gar kein befonderes, von bem ganz allgemeis 
nen Rechtsgeſet verfchiedenes, Ihm fremdartiges Strafs 


60) Tloıwn dorıw duagrnunrog Exdlunoıg. Heur. Stephan. T. II. 
p. 446. Poena est noxae vindieta. L. 81. de verb. signif. 
61) L. Bajur. 13, 8. 


Sompofitionen » Syſtem. Goncefjion. 585 


primeip zu erfinden: fucht, weder die philofophifchen und rellglöfen ber 
Reaction und Zallon u. f. w., noch auch die politifchen und deſpo⸗ 
tifchen der Sicherung, der Pravention und Abſchreckung, 
meiche letztere vorübergehend in der Furchtherrſchaft und in dem 
allgemeinen defpotifhen Sicherungskrieg unter ben tyrannifchen roͤmi⸗ 
fhen Kaifern und im Sauftrecht des Mittelalters ſchaudervolle, crimis 
nalrechtliche Greuel, erzeugten und auch in der neueſten Zeit verderblich 
wirkten. (S. Carolina.) Sie ſaͤmmtlich entziehen das Strafrecht 
bem Rechtsorganismus, ber Herrſchaft der Rechtsidee und jenes obigen 
hoͤchſten Grundſatzes ber Gerechtigkeit und. alles rechtlichen KLwanges 
(II. 2, D.). Nach biefem ober nach dem Vernunftrecht befleht eben- 
falls die gerechte, ftxafende Vergeltung und Siherung:nur in 
Zufügung und Androhung jener gerechten: MWiederherftelungsftrafe. 
Nach ihnen muß es mohl ebenfalls ftets als rechtswidrig erfcheinen, 
bei Gelegenheit eines begangenen Verbrechens - eines Mitbuͤrgers 
ftatt jener rechtlichen Aufhebung nur feiner erweislihen Rechts 
ftörung, denfelben vielmehr als rechtlofe Sache zu. mißbrauchen, ihn 
entweder zur fombolifhen Andeutung philofophifchee ober religioͤſer, 
dunkler Ideen von Gleichheit und Gerechtigkeit, von „Reaction oder 
Zalion, oder unter diefem Namen zu andern beliebigen Bmeden zu 
verwenden, oder vollends ihn geradezu, ſoweit man es zur allgemeinen 
Furchterweckung dienfam hält, ‚glei dem elenden Stoff, ben man ale 
Vogelſcheuche aufpflanze, auf das Mad zu flehten, um die durch 
ihm nicht verſchuldete böfe Luſt der andern Menſchen genügend 
abzufchreden. 8 Th. Weder. 


Compromiß, f. Schiedsgericht. 
Gonat, f. Berfud. 


Gonceffion, polizeilich und politifch. Die dem Men: 
fchen natürlich zuftehenden Rechte, womit er ausgerhftet iſt ſchon ‚vor 
allem Staatöverband, und zu deren Schug und Gemährleiflung "er 
eigens in den Staat tritt, ebenfo die aus dem bürgerlihen Geſellſchafts⸗ 
Vertrag oder Verhaͤltniß natürlich fließenden Rechte darf nach dem 
Ausſpruch der Vernunft jeder Vollbürtige ausüben nach felbfteigenem 
Gefallen: ohne irgend Jemandes Erlaubniß oder Bewilligung. Nur 
wenn folhe Ausäbung oder überhaupt eine. bem eigenen - Willen ents 
fließende Handlung zugleid in das Rechtsgebiet eines Andern eingreift, 
fo darf fie, wenn diefer wibderfpricht, nicht unternommen werben; und 
es tft, wofern fie ohne Rechtsverletzung gefchehen foll, die Gewährung 
oder Einwilligung bes Betheiligten vonnöthen. So darf — abgefehen 
von ber aus verfchiedenen Titeln hier und dort vorhandenen pers 
fönlihen Abhängigkeit Eines. vom Andern, ale von ber ben 
Willen des Kindes befchränkenden väterlichen ober vormundſchaftlichen 
Gewalt und von ber Autorität des Deren Aber den Knecht — ein Je⸗ 
der zu ihm beliebiger Zeit fchlafen oder wachen, gehen, ruhen oder ats 
beiten, efjen und trinten, alle feine natürlichen ober erworbenen, phy⸗ 


586 Goncejfion. 


fifhen, intellectuellen unb moralifchen Kräfte, fo wie alle ſeine Habe 
gebrauchen zur Selbftvervolllommnung, zum Genuß, zur nüßlichen 
Production und beren Verwerthung, überhaupt zur Erhöhung feines 
Wohlſtandes und feines Gluͤckes. Auch darf er Allen, bie ihn anhören 
wollen, feine Gedanken und Gefühle mittheilen, ihnen Belehrung, 
Erbauung, Troſt, Hülfe, Echeiterung anbieten unb fpenden und ſolche 
hinwieder von ihnen empfangen, Alles ohne irgend, Jemandes Erlaub⸗ 
niß, Vergünftigung oder Conceffion. Wohl aber hat er biefe nöthig, 
wenn er 3. B. auf eines Andern Grund fid, eine Hütte bauen, durch 
eines Andern Feld eine Duelle herleiten ober einen Weg bahnen, in 
einem fremden Walde feinen Holzbedarf fällen, Überhaupt etwas ihm 
nicht Zuſehendes, d. h. dem Recht eines Andern Eintrag Thuendes, 
unternehmen oder von dem Andern ein Recht erſt erwerben will. 
Dieſes Freiheitsrecht iſt nach dem Ausſpruch der Vernunft auch 
gegenüber dev. Staatsgewalt gültig, d. h. es erleidet durch die Eins 
gehung des Staatsvertrags keine andere Beſchraͤnkung, als welche der 
Staatszweck nothwendig oder raͤthlich macht, und jede groͤßere Be⸗ 
ſchraͤnkung, welcher man es unterwerfen wollte, tft beshalb ungerecht 
und verwerflih. Aber anders lautet die abfolutiftifche Theorie von ber 
Staatsgewalt, und es huldiget derſelben auch eine weit verbreitete Pras 
xis. Nach jener Theorie nämlich ift mit nichten Alles von felbit er 
laubt, mithin Eeiner befondern Gonceffion beduͤrftig, was nicht gefeglich 
— und zwar zum Ftommen des Staatszwedd — verboten iſt; fons 
dern ed kann nach Belieben der Machthaber jede Handlung oder Uns 
terlaffung verboten oder bad Recht dazu an willkürlich feſtzuſetzende 
Bedingungen, namentlih an die dafür zu erwirfende ausdrückliche 
Erlaubniß oder Conceffion geknüpft werden. Won folchem wills 
kuͤrlich aufgeftellten Recht wird dann meift aud) ein mwilllürlicher Ges 
brauch gemacht, und zwar in der Regel mehr in blos finanziellem 
Intereſſe, als aus haltbaren polizeilihen ober nationals 
okonomiſtiſchen oder überhaupt politifhen Gründen. (Uns 
baltbare oder unlautere Gründe diefer Art kommen freilich mits 
unter vor; wie wollen aber hier davon mwegbliden.) Die Concefjion 
muß im der Regel nachgefucht werden und wird verliehen ber Taxe 
willen, die dafür zu entrichten ift, nicht aber zum Zweck der Verhuͤ⸗ 
tung eines öffentlihen Rachtheils oder’ der Befoͤrderung bed gemeinen 
Wohles; ja es fleht gar oft die Verleihung der Conceffion nicht: eins 
mal der eigentlihen Staatsgemalt, die babei vermöge oͤffentli⸗ 
hen echtes handle, ſondern auch Grundherren und Corporas 
tionen, und zwar auf Art eines nach feinem pecunidren Ertrag: zu 
Thägenden Privatrehts, zu. Das vernünftige Staatsrcht und 
die gefunde Politik , verwerfen gleichmäßig ſolche Uebungen und Miß—⸗ 
braͤuche, ohne jedoch deshalb den Stab zu brechen über alle Eonceſ⸗ 
fionen überhaupt. Es gibt naͤmlich allerdings Berhättniffe, Gegen 
ftände und Säle, meiche ‚ihre Forderung rechtfertigen ober nöthig mas 
hen, Einige Beifpiele mögen unfere Anficht von ber Zulaͤſſigkeit 


Conceſſion. 587 


oder Unzulaͤſſigkeit der in Bezug auf Coneffiond sEinholung und 
Ertheilung beſtehenden Uebungen verdeutlichen. 0 

Die Bewerbs:Eonceffton- ift bie stnem Staatsangehörigen 
ertheifte Erlaubniß oder verliehene Befuguiß zur Betreibung irgend 
eines Gewerbes oder Induſtriezweiges. Da naturgemäß ein Jeder bes 
vechtiget ift, ducch felbftgemählte ehrliche Arbeit fi und die Seinigen 
zu ernähren, ſo kann an und für fi und in der Regel von’ einer 
Pflicht, dafür erft eine vorläufige Erlaubriß nachzuſuchen, Beine Rede 
fein. Gleichwohl' gibt." es :Berhältniffe und Rixkfihten, welche bier 
oder dort die Kenntnißnahme und Vorſicht won Seite der Staatsge⸗ 
walt in Anſpruch nehmen, ; baher dit Beſchraͤnkung bes im. Allgemeis 
nen 'allerdings anzuerkennenden Rechts hurch gewiffe, für deſſen Aus⸗ 
übung in beftimmten Fällen .oder Sphaͤren geſetzte Bedingungen, alfo 
namentlich) auch durch die Vorſchrift der mach Umſtaͤnden vorerft nach⸗ 
zuſuchenden Stautserlaubniß rechtfertigen mͤgen. Es kann fuͤr's 
Erſte noͤthig oder raͤthlich ſcheinen, zur Sicherung des Publicums ge⸗ 
gen Taͤuſchung oder Beſchaͤdigung durch wnfähtge Arbeiter — Zus 
mal in ſolchen Gegenſtaͤnden, zu deren zuverlaͤſſiger Beurtheilung und 
Schägung die Abnehmer in der Regel nur wenig geeignet find — 
zur Bedingung ber felbftftändigen und freien Ausübung das Zuruͤck⸗ 
legen gewiſſer Lehrjahre und das Erftehen einer Prüfung oder das 
Berfertigen eines fogmannten Meifterftüds zu fegen, folglich nur Je⸗ 
nen, welche dieſe Bedingungen erfüllt haben, die Erlaubniß zum Ges 
werbebetrich zu ertheilen, d. h. alfo Allen, die es nicht gethan haben, 
denfelben zu unterfagen. Ebenfo kann e8 bei gewiſſen Arten von Ges 
werben (3. B. bei Apotheken, Wirthfchaften, vielleicht auch Mühlen, 
Bädereien, Fleiſchbaͤnken u. f. w.) zur Erleichterung ber nöthigen Aufs 
fit und zur Gemwährleiftung ber Güte der Waaren nüplich oder noths 
mendig fein (ober wenigſtens von der Staatsgewalt aufrichtig, ob auch 
irrig, dafür geachtet werden), ihre Zahl nach dem jeweiligen Ortes 
und Zeit: Bedürfnig zu befhränfen, daher ihren Betrieb entiwes 
ber zu einer Perfonals oder zu einer Neals Gerechtigkeit zu erheben, 
oder überhaupt eine Wermehrung ber wirklich‘ beftehenden Zahl ohne 
befondere Conceſſion nicht zuzulaſſen. Daſſelbe mag flatt finden bei 
Gründung von Fabriken oder größeren Handelsunternehmungen, welche 
möglicher Weife auf die allgemeinen oder beſonderen Ernährungs - Duels 
len oder auf andere Lebensverhältniffe der Bezirks⸗ oder Landes = Bes 
wohner von flörendem Einfluß fein koͤnnten, zumal aber bei folchen, 
welche zu ihrem Gedeihen einer befonderen Staats: Unterftägung, als 
Steuerbefreiungen, Monopolien, Propolien u. f. w., bebürfen, u. ſ. w. 
In allen diefen Fällen aber handelt es ſich gleichwohl nicht von einen 
eigentlihen Geftattung, fondern entweder blos von dem auf: bie 
anzuorbnende Unterfuhung zu geündenden Erkennen und Aner⸗ 
kennen bee Unſchaͤdlichkeit und Ungefährlichkeit des von 
irgend Jemandem unternommenen Gewerbsbetriebs für bie Geſammt⸗ 
heit, wovon dann die Beftattung, d. h. ber Ausſpruch: es fiche 


588 Gonceffion: 


folhem Betriebe kein Hinderniß entgegen, bie rechtlich nochiwens 
dige Folge, keineswegs ‚aber ein Act der Willtkr ober ber Gnade 
und ein Zitel zur Erhebung einer willkürlich feftzufegenden Zare oder 
Steuer if; oder es handelt fich von -einer dem Unternehmen ju 
gemährenden befonderen Begünftigung oder über das natärliche 
Recht hinausgehenden pofttiven Berehtigung, welche fonad 
mehr ift als ein bloßes Eriauben, und wofür baun allerdings Bes 
dingungen gefegt werden Einnen , body: gleichfalls nur foldye, bie 
ſich auf die Darftellung der Muͤtzlichkeit ober wenigſtens Unſchaͤd⸗ 
lichleit des Unternehmens an fid für.die Geſammtheit beziehen, 
keineswegs aber, auf Art einer Verlaufss Bedingung, ben befon 
dern, zumal pecunidren Vortheil des Gewaͤhrenden als foldhen 
bezwecken. Es wird menigftens ſolcher Vortheil rechtlich nur alsdang 
noch in Betrachtung kommen oder ohne Unrecht dabei verfolgt wer 
den dürfen, wenn die zu verleihende Berechtigung wirklich dem Sei⸗ 
nen des Verleihers angehört, mithin ihm etwas entzieht, db. h. 
eine VBerzichtleiftung auf ein ihm felbft gebuͤhrendes Recht ins 
volvirt, alfo namentlidy wenn die Staates®&efammtheit (oder be 
vn Repräfentant, d. b. der Inhaber der Staatsgewalt im 
Mamen jener Gefommtheit, alfo auc zur Wahrung ihres Intereſſes 
verpflichtet) die Conceffion ertheilt und dadurch — meil fie naͤmlich 
eine Ausſchließung bewirkt — zugleich die natürlichen Rechte ibs 
rer eigenen Mitglieder fchmälert. Diefes zu thun Einnte fie einen 
Grund haben, wenn ihr oder ihren Mitgliedern nicht ein den Nachtheil 
foiher Echmälerung überwiegender Vortheil aus ber Conceſſion ers 
wuͤchſe oder ein größerer Nachtheil dadurch verhindert,: oder irgend ein 
Erfas für ihre Selbſtbeſchraͤnkung geleiftet würde. Nichte von als 
lem dem aber findet flatt, wo die Conciſſions⸗Ertheilung zu einer 
privatrehtlihen, rein Iucrativen Befugnig bed Verleihers ges 
ftempelt ift, deren Ausübung alfo audy ſtets nur im Privatinters 
effe des — bei der Dauptfahe, naͤmlich bei ben Wirkungen 
der Gonceffion, unbetheiligten — Herren gefchieht und eben barım 
das Recht wie das Intereſſe der Geſammtheit verlegt. 
Etwas Achnliches ift zu fagen von den Heiraths⸗Conceſſionen. 
Wohl mag, wo Leibherriichkeit befteht, der Herr das Recht 
foiher Coneefjionsertheilung gegenüber feinen Leibeigenen anfpredyen. 
Auch mag der gemeine Dienfthere oder der Grundherr, ald Bes 
Dingung bes Verbleibens in feinem Dienft ober im Kortgenuß bes 
Pacht⸗ oder Zind- Gutes u. f. w., das jeweilige Einholen feiner Ex 
Iaubnig zur Verehelichung eines Kamiliengliedes feines Knechtes ober 
Colonen vertragemäßig feftiegen. Aber von Staates megen iſt 
bie Heiraths⸗Erlaubniß nichts Anderes als die Erklaͤrung, daß kein 
mit Necht zu verfolgendes Intereffe der Sefammtheit dem im Wert 
befindlichen Ehebündniß im Weg ftebe; fie ift alfo nicht eigentlih Con: 
ceffion eines erft zu eriverbenden, fondern blos Anerkennung 
eines bereits vorhandenen Rechtes; und ein Mehreres kann fie baher 


Gonceflion. “589 


auch alsdann nicht fen, wenn bie Befugniß Ihrer Verleihung vermoͤge 
biftorifchen echtes etwa einem Grundherrn, melder naͤmlich da« 
bei bloß die ſtaats polizeiliche Gewalt ausübt, zufteht. 

Auch AuswanderungssConceffionen haben folhe Natur an 
fih (f. Auswanderung). Sobald fie etwas Mehreres fein wol: - 
ien, als bloße6 Anerkenntniß oder Erklaͤrung, daß dem Wegzug 
des zur Auswanderung Entfchloffenen weder ein rechtlihes Hinderniß 
(3. B. eine noch unbezahlte und umverficherte Privats oder öffentliche 
Schuld), noch ein pflihtgemäß (3. B. aus Humanitaͤts⸗ ober auch aus 
Bormundfchafts: Pflicht) vom Staat zu ſchirmendes Intereſſe des bie 
Gonceffion Begehrenden ober eine von bemfelben abzumwenbende Gefahr 
entgegenftehe, (wie menn ein Mittellofee und zugleich Arbeitsunfaͤ⸗ 
biger, überhaupt ein durch fein Vorhaben fi als unbefonnen und 
der Bevormundung bedürftig Darftellender mit Frau und Kindern in 
einen Staat, welcher bergleihen Ankoͤmmlinge gar nicht aufnimmt, 
oder beftimmungslos in die weite Welt hinausziehen will), fo find fie 
reine Anmaßungen, jenen ber Leibherrlichkeit ähnlich und verwerfs 
lich wie fie. 

Auh Privilegien aller Art und ebenfo Dispenfationen 
vom Gefes gehören unter den Begriff der Gonceffionen und find ta⸗ 
dellos, mofern der Grund ihrer Verleihung wirklich das Geſammt⸗ 
wohl iſt, oder auh Billigkeit und Humanitdt, namentlid) 
infofern bie Loszählung vom Gefeg nicht eben aus Gunft für eine 
beftimmte Perfon oder um eines dafür gezahlten Preifes willen, 
fondern etwa darum flattfindet, weil die flrenge Anwendung bes 
Wortlautes jenes Gefeges, je nach Beichaffenheit der Umſtaͤnde ober 
ber concreten Perfonalverhältniffe, in beftimmten Fällen allzuhart und 
bem Geift oder der Intention deſſelben widerftreitend waͤre. 

Die Grundſaͤtze jedoch, welche für die Ertheilung von Cons 
ceffionen (im meiteften Sinn des Wortes) vom Standpunkt des Rech⸗ 
te8 fomohl als der Politid maßgebend fein follen, forwie jene, wornach 
bie rechtlihe Wirkung und Dauer bderfelben zu beurtheilen ift, 
werden wir ausführlicher in den von ber „Sleihheit im Staate”, 
auch von den „Privilegien und Dispenfationen” handelnden. 
Artikeln befprehen. Hier haben wir mehr nur bie Stage von ber vors 
gefchriebenen Goncefjions s Einholung oder Nahfuhung vor 
Augen. 

Eine ſolche ift aber nicht blo® — wie oben gezeigt worden — 
in Anfehung bdesjenigen, welchem fie obliegt, eine großentheile unbils 
lige und bedrüdende Forderung, eine Unterwerfung feines natürlichen 
Freiheitsrechts unter die Willkuͤr — Gunft ober Ungunft — ber Go⸗ 
walt, und dann in ihren Folgen, infofern nämlich die von Einem 
oder Mehreren erwirkte Conceffion (namentlich in der Sphäre des Ge 
werbsbetriebs) zugleih die Ausfhliegung allee Andern mit fidy 
führt, auch diefen Andern, fo Diele berfelben das naͤmliche Gewerbe 
zu betreiben geneigt unb geeignet wären, fchweren und wirklich rechts⸗ 


590 . Goncelfion. 


virfegenden Nachtheil bringend: fondern es Tann dadurch, je nach dem 
Gegenftand der von ber erlangten Gonceffion abhängig gemachten 
Unternehmung oder Thaͤtigkeit, auch der ganzen Geſammtheit 
ein durchaus unerfegbarer Schaden, eine wmefentliche Verkuͤmmerung 
ihrer koſtbarſten Güter und Intereſſen erwachſen. Wir wollen hier 
fchweigen von der Cenfur, wiewohl auch biefe nichts Anderes. ifl, 
als das Gebot der vorläufigen Erlaubnißs oder Conceſſions⸗ 
Einbolung für jed.s Wort, welches ber Scheiftfteller zu feinen 
Mitmenfhen und Mitbürgern zu veden begehrt. Aber man denke — 
abgefehen von der unter einer eigenen Rubrik zu behandelnden Gen: 
fur: Stage — nur an das Spftem der Gonceffionen für zu errichtende 
Buchdrudereien und Buchhandlungen, auch für Herausgabe 
von politifhen Sournalen und Zeitungen und anden Tag⸗ 
blättern. Nah den Lehren der Abfolutiften und nad) bem, zumal 
von Napoleon gegebenen, treffliher Beifpiel von beren praßtifcher 
Ausführung kann jenes Spftem, durch fortwährend gefteigerte Strenge 
der für die Erlangung oder für die Fortbauer der Conceffion gefesten 
Bedingungen und durch die fich hier ſchrankenlos bewegende Willkuͤr 
der Gewalt, zur völligen Erdrüdung aller freien Geiftesthätigkeit, d. h. 
aller freien Geiftes -Mittheilung, ohne welche an eblere Civilifation 
und echte Humanitdt gar nicht zu denken ift, gelangen ; das herrlichſte 
Geſchenk Sorte, die Buchdruderkunft, von dem Geber dazu beftimmt, 
das wirkſamſte Mittel der Woranführung der Menfchheit auf der Bahn 
der Erkenntniß und Tugend zu fein, kann alsdann herabgemürbiget 
werben zu einem ausfchliefenden Organ ber vor der Macht anbetenden 
Niederträchtigkeit und Schmeichelei und zu einem bienftbaren Werkzeug 
der Verfinfterung und Unterdrüdung. 

Wir haben noh von Conceffionen in politifher Bebeus 
tung zu ſprechen, betrachtet nämlich als Zugeftänbniffe der Res 
gierungen, Überhaupt der factifch oder rechtlich mit Macht heklei⸗ 
beten Häupter oder Parteien, gemacht entweder dee — burdy bas 
Drgan ber freien Preſſe oder ber Petitionen ober der landſtaͤndiſchen 
Kammern ertönenden — allgemeinen Volksſtimme, oder aud der For: 
derung einer Partei ober Volksclaſſe, und zwar vorzugsweife in Bes 
zug auf politifche, d. h. die Zheilnahme an der Staatsgewalt oder 
beren Formen betreffende, body auch in Bezug auf gemein bürgers 
lihe und menſchliche Rechte und beren natürliche oder Lünftliche 
Garantien. 

Ueber dieſe Conceſſionen haben wir ruͤckſichtlich ihrer rechtli⸗ 
chen Natur und Wirkſamkeit unſere Anſicht bereits in dem 
Artikel „Charte“ niedergelegt; denn Concefſion iſt der gewoͤhn⸗ 
lichſte Titel, unter welchem bie Charten in's Leben treten ober mos 
dificirt werben. Aber es bleibt uns für jegt noch die Frage zu beants 
worten, welches in Bezug auf folche Gonceffionen, db. 5. auf deren 
Gewährung oder Verweigerung, die Vorfchriften ber Klugheit für bie 
Megierungen oder jeweiligen Machthaber fein? — Nah unſerer 


Gonceffion. Concilien. Ä 591 


Meinung follen fie jeweils ohne Widerſtreben umd Zögern gemacht 
werden, fobald die beutlic vernehmbare Stimme eines vorangefchtit- 
tenen Zeitgeiftes ober Volksgeiſtes fie fordert, demnach ohne 
Abwarten einer Nöthigung durch Drohung oder Gewaltthat. Ihr 
Motiv fei bloß die Rechtsuͤberzeugung unb bie freie Achtung ber 
gerechten VBolkswünfche. Dem geſetzwidrig ſich aͤußernden, mit 
xebellifhen Waffen unterftügten Vetlangen fege die Regierung ftanb» 
haft ihr gefegliches Anfehen entgegen, erwaͤge jedoch, nach befchwors 
nem Sturm, bie vorhandenen Urſachen des Mißvergnägens oder ber 
Bolksenteuftung, und helfe den Beſchwerden, mofern fie begründet 
find, durch jest freiwillige, daher würbevolle und dankenswerthe Ge: 
währung ab. . 
Aber nicht alſo verfaͤhrt die gewoͤhnliche Praxis. Gar zu oft lei⸗ 
der ſtraͤuben ſich die Regierungen oder die mit Macht und Vorrecht 
angethanen Claſſen, der Stimme des Zeitgeiſtes zu horchen. Gehaßt, 
ja verfolgt wird, wer als Organ der Volkswuͤnſche und Volksuͤberzeu⸗ 
gungen auftritt, und die Strenge waͤchſt im Verhaͤltniß des lauter er⸗ 
toͤnenden Klagerufes. Wenn dann — die Unwirkſamkeit des geſetzli⸗ 
lichen und friedlichen Verlangens nach Abhuͤlfe erkennend — die Vers 
zweiflung oder der durch Verfuͤhrer geſtachelte Zorn des Volkes endlich 
zu gewaltſamen Mitteln greift, und Gefahr oder Schrecken den Thron 
oder die herrſchende Kaſte umlagert; da gewaͤhrt man gewoͤhnlich den 
Trotzenden und Drohenden, was man den ehrerbietig Bittenden ver- 
ſagt hatte, ob auch mit dem geheimen Vorbehalt, nach uͤberſtandenem 
Drange des Augenblicks die Gewaͤhrungen ober Zugeſtaͤndniſſe wieder 
zuruͤckzunehmen oder durch allmaͤlige Verkuͤmmerung und Untergrabung 
werth⸗ und wirkungslos zu machen. Ja, man ſtellt wohl, ſicher ge⸗ 
macht durch die wieder gewonnene guͤnſtige Stellung oder durch die 
zeitliche Maͤßigung oder Entkraͤftung der Volkspartei, den Grundſatz 
auf: „keine Conceſſionen mehr!“ und macht uͤbermuͤthig den⸗ 
ſelben zum Feldgeſchrei oder zum Loſungswort derjenigen Faction, die 
ſich die Eöniglich gefinnte oder legitime nennt, obſchon fie es 
eigentlich iſt, welche die Carls I. und Jakobs II., die Ludwigs XVI. 
und Carls X. ins Verderben geſtuͤrzt hat. Wann wird man aufhoͤren, 
durch unzeitiges Gewaͤhren zur Gewaltthat zu ermuthigen und 
durch unzeitiges Verſagen dazu aufzureizen? Die Geſchichte redet 
vergebens mit hundert Zungen; die Leidenſchaft macht unempfaͤnglich 
fuͤr ihre eindringlichſten Lehren. Faſt nur die engliſche Regierung 
hat in neueſter Zeit die Conceſſionen, welche die Umſtaͤnde geboten, 
im rechten Moment zu geben verſtanden, und ihre Weisheit iſt durch 
den ſchoͤnſten Erfolg, Erhaltung des innern Friedens und der geſetz⸗ 
lichen Ordnung, hoffnungsvollſtes Gedeihen des Gemeinweſens und 
innige Befreundung der Volkspartei mit der Krone, belohnt een. 
otteck. 
Concilien. Das Apoſtoliſche. Die Provinzialſyn— 


592 Eoncilien. 


oden der gebrüdten Kirche. Die vier oͤkumeniſchen der herr 
fchend oder vielmehr beherrfcht gewordenen chriftlidhen Staatski 
Goncilium bedeutet, nah ber Mortableitung von oonciere, 
irgend etwas, das fih zum Zufammenwirten bewegt. 
Die Vereinigung der Grundkräfte oder Elemente, wodurch alle Dinge 
werden, nennt Lucre z 1,485. 2,563 coneilium. Die zweite Haupt 
bedeutung ift, dag die Vereinigung aller ffimmfähigen Mit⸗ 
bürger concilium populi, bei £iv. 3, 71. 6, 20. genannt wurde. 
Die dritte und gemöhnlichfte ift, dag nur Zufammenktünfte von 
Stellvertretern, Repräfentative Vereine, Goncilien genanıt 
wurden, Gel. 15, 277. So wird ein Concilium von ganz 
Gallien auf einen gewiffen Tag angekündigt. Caͤſar v. gall. Krieg 
1, 0. Nah der zweiten Bedeutung wurde die berathfchla- 
gende Verfammlung der ganzen GChriftengemeinbe zu 
‚ Serufalem, in welcher nicht Apoftel und Presbyters allein, ſondern 
alte Brüder nah Apg. 15, 23. als Audenchriften zum Umgang 
mit den Heidendhriften nicht mehr die Annahme aller juͤdiſchen Leben“ 
regeln erforderten, oft das erfte hriftlide Concilium genannt. 
Das Muftermäßige, wovon man immer mehr abwich, verdient fpeciel 
bemerkt zu werden. 1) Ohne Zweifel waren damals — im 3. 47 
oder im 16. nah Jeſu Tod 1) — mehrere driftlihe Synagogen 
in der volkreichen Mutterftadt Serufalem. Dennoch halten fie als Eine 
Ekkleſia zufammen. 2) Ungeachtet Apoftel theilnahmen (Apg. 15, 6.), 
mar doch „Beratbichlagung und vieles Beſprechen“, alfo keln Voraus—⸗ 
fegen einer infalliblen Entfcheidung von benfelben. 3) Petrus nimmt 
erft, nachdem viel befragt worden war, das Wort, weniger ſich voran 
ftellend als 1, 15. 2, 14 u. f. w. 4) Die Gemeinde ſchweigt noch 
unentfchieden und hört die ſachkundigen fremden Miſſionaire 15, 12. 
über den Zuſtand der aus ben Heiden befehrten Neumeffianer. 5) Aud 
der Gemeindevorfteher, Jacobus, macht 15, 20. nur Vorſchlaͤge, daß 
man auf viererlei Enthaltfamkeiten antragen (niht, dag man 
fie vorfchreiben) folle. 6) Die erfte von ihm vorgefchlagene Bedingung 
war umfaffender ald das, was am Ende 15, 29. die Gemeinde beſchloß. 
Wie unabhängig war alfo das Gefammturtheil. Er trug an auf 
Enthaltfamkeit von allen Berunreinigungen bei den Idolen. Am 
Ende wird nur geforbert, daß, wenn Juͤdiſchgeborne mit den chriſtia⸗ 
nijirten Heiden gemeinfchaftlihe Mahle (Agapen) halten follten, Jene 
gefichert fein müßten, baß a) nihts zum Opfer an die Idole Bes 
ftimmtes, b) nichts Erftidtes und c) kein Blur (wogegen dem Ju⸗ 
ben Ekel angewöhnt war) als Speife gegeben, audy d) nicht, wie bei 
den heibnifchen Opfermahlen, unzuͤchtige Luftbarkeit eingemifcht 
merben bürfte. 7) Die gemeinfhaftlihen Liebesmahle, welche, am 


1) ©. die Chronologie des Apoftellebens Paull in meiner Neberfegung und 
Erklärung des Galater⸗ und Romerbriefs (1831) &. 53 und 335. 


. Goncien . , 593 
Abend jreifchen bee Sabharhöverfummfung uhb dem Sonntag gehalten, 
‘altrööchentlich alte Chriftfänergefeitig zufammenbtachten, und an welden 
doch, ‘wenn bie Mofaifdhen —9 ferner auch‘ für. Chriſten vers 
binblich getvorben täten, die Judenchtiſen nicht zugleich mit den. Hei 
‚bencheiften hätten theitehmen Finnen, türen von unglaublich großer 
Wichtigkeit für Verein und Werbreitung bes ganzen Urchrift enthume Büs 
nächft betrafen daher bie ann gu Jeruftlem star hu äußere Sitten; 
‘aber in · der That lag dabei doc, fliltfchweigend die Entfheibung 
der bogmatifhen Lebönisftage zum Ocimd; Db Nicitjuden an 
dem’ säötfe fich bildenden Megfristeiche Gottes Antheil nehhten dürften, 
’ohme ſich allen mofaifch jübifchen Geftgen mwentgftehs noch nach, ber 
Taufe za unterwerfen? Mhariftifc Gefthnte Beharrten Hierauf, gegen 
den Unloerfalismus in der Chriftustehre des Apoftels Paulus Ang, ° 
45,'5. 21, 20. 8) Die Verfammiunas-Berhlüffe mutden 
gefaßt 15, 22. 23. von den Apofteln und den YUelteren, fammt 
. bex.gangen (Orts?) Beinefnde”, And das Werfammfungss 
fossisen erlaſſen die Apopef’ und bie Aktien und die 2) Brit 
ee, ‘fo-daß demnach die Hänge Gemeinde” Ihr Stimmrecht ausgeüdt 
ab Äreg Hereimige hatte,’ (Ale weit die — 
utde iſt nicht befannt,) 9) Die Fermel 16, 28. war ur 
„Tpräi wiß nicht fo gedacht, wie Täter bie meiften Coneilien fie 
"beilegten :' „Denn es hat gutgebüntt Dem’ heiligen Geiſte 9 
ka ol RER We ie eiliger, Of 
je heitigende Kraft Gottes oder bie gottgeheiligte Gefinni 
- em Oatara Sn, mat m, 09 age Online 
—— 






















dieichfam neben” den heiligen G a Sie fügen ; 
839 durch bie te eiftigkeie auch EL 
dv. }. ebenfo Uns wie Eurem drei Abgeorhmeten, wilde nächfvorher 
im Vers 25. 26. rühmlichft genannt ud, erfcheinen folgende Bedin⸗ 
gungen: zroedmäßig. Auf keinen Fall fehrieb man ſich bamals Heilige 
Seift zu als Quelle unteliglicher Einficht, ſondern als heilige, Wit 
—E und dadutch zut Wahtheit leitende Gefihnung. Joh. 1 
43. 1 &r. 7, 40. 10)'Der Apoftetifche und kirchtſche Gemeindeber . 
ſchluß wurde, was Auferft wichtig bleibt, nach 15, 29. nur für bie 
fließenden verbindlich. Der Murtterkirche der Heidenchtiſten 
gu Antiochla wird dadurch nichts vorgefhriebem :: Das. Cpnsdü 
fgreiben endigt nur -mit Empfehlung bei Aut Mon? bie 1 
teriet: Anftößigkeiten) Exch bewahren werdst She ng Yhtchun un 
. Euhmohlbefinbenl@" .... . ua 
3 Pak 















Barlantı ic Kr mini, x 
Mcht. Man [elite nad) Nie Ban rin, vol ir 
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Fa BR er Een 





994 Concilien. 


Dies erſte Beiſpiel eines vollſtaͤndigen Gemeindeconciliums 
wurde ohne Zweifel in manchen einzelnen, beſonders groͤßeren, Gemein⸗ 
den nachgeahmt, da oͤrtliche Gemeindeverſammlungen uͤber ſtaͤdtiſche 
Angelegenheiten auch unter den Imperatoren noch zugelaſſen waren, 
ſ. das Beiſpiel einer ſolchen „legitim” genannten weltlichen Ekkleſi«a 
zu Epheſus, Apg. 19, 39., wodurch zugleich die generellere Bedeutung 
des Worts Ekkleſia, als Verſammlung der bervorzurus 
fenden Stimmberechtigten, coetus evocatorum, belegt wir. 

Bon Concilien nad ber dritten Wortbebeutung, db. i. von 
ſtellvertretenden, findet ſich die erfte Nachricht bei Tertullian o. 14 
de Jejuniis, aus der Zeit, wo er ſchon eifriger Montanijt war, alfo vom 
Ende des zweiten Jahrhunderts. Er bemerkt dort, daß es römifde 
Staatsbefchlüffe und Megentenmanbate gab gegen „mandyerlei Zufams 
menlaufen” (coitionibus opposita).. „Gehalten aber würden per Gras 
„cas ®) an gewiflen Drten jene Concilia aus allen Ekkleſien, buch 
„welche jede höheren Dinge indgemein behandelt würden und bie Re⸗ 
„präfentation alles deſſen, was ſich hriftlih nenne, mit 
„großer Ehrerbietung gefeiert werde. Mürdig fei es, dag man, unter 
„Anführung der Glaubenstreue, fi (alfo) zu Chriſtus verfammie. 
„Solhe Convente arbeiten unter Gebet und Faſten.“ (Vergl. Apg- 
13, 2. 3.) Auch deutet der Sontert darauf, daß diefe Repräfentativ 
Goncilien von den Epiffopen geordnet wurden. Tertullian felbft habe, 
einft als anwefend, für dergl. kirchliche Convente geredet. „Und. wenn 
nun wir (d. i. die Montaniften) in verfchiedenen Provinzen auch im 
Beifte (= auf unfere geiftigere Weife) dergleichen feiern, fo ift es 
(fagt er) ein Gefeg einer miteinander bdargeftellten heiligen Sache.“ 
Man ficht alfo, dag auch diefe fogenannten Pneumatiler 
dergleichen Zufammenkünfte als der chriſtlichen Gemeinſchaft und Drbs 
nung fehr förderlicy betrachteten und nachahmten. 

Aber auch wider bie Montaniften wurden foldhe gehalten. (©. . 
Eufeb. Kirch. Gefh. 5, 16.) Noch mehrere aber wegen bed Streits: 
ob auch bie Chriften am 14. nad) dem erften Neumond ihr Pas 
(ha, d. i. ihre an bie erſte Stiftung des Abendmahls erinnernde 


3) Der ungewöhnliche Plural per Graecias, welchen Mosheim baburd 
fich erklaͤrt, daß er das eigentliche unb das aftatifche Griechenland, vielleicht auch 
noch magna Graecia in Stalien zufammenfaffe, macht mir bie Lesart zweifel⸗ 
haft. Vermuthlich ſchrieb Tertullian per paroecias. Ohne ein beflimmtes Eanb gu 
nennen, ſagt bie Stelle: Dan ift, unter Veranflaltung der Bifchöfe, gewohnt, 
im Umfreis der Chriftengemeinden foldye Verfammlungen zu halten zc. Den Abs 
fhreibern war das Wort parvecia (Gemeindefprengel) unbelannter. Sie riethen 
auf ein befannterc& Wort. Aber außerbem, daß der Plural ungewohnt wäre, 
tt es auch an ſich unwahrſcheinlich, daß die von Griechen bewohnten 
Länber eher, als andere, Goncilien hatten. Die ditere republikaniſche Nei⸗ 
an ber Griechen, fich felbft zu berathen, war durch Römer Iängft bei ihnen 
8 febr Me are a Kon Fade gerabe Deba —— — 

ontaniſten, welche na eb. K. G. zu apolis ꝛc. ge au 
halb der Griechenlaͤnder. ' 


Concilien. | 595 


Seftmahljele, halten folften ‚tote ‚dies in der. Provinz Aſien als von 
dem Apoſtel Jahaunes ſelbſt Herfämmtlidy.®): fo feftgehalten 
wurde.‘ Der epheſiſche Biſchof, Polykrates, fagt, daß er viele Biſchoͤfe 
deswegen bei ſich zuſammenzurufen aufgeforbert war. Euſeb. Klrch 
Geh. 5, 24. Ze ae 
Dagegen wagte ber rim. Bifchof, Victor, (fo anmaßlich wurbe 
man, nachdem bie Chriften kaum unter. ber ſchlaffen Megierang bes 
Baſtards der Antonine, des Sommadus, einige Ruhe erhalten hatten 1) 
das Beifpiel zu geben, daß er die Afiaten, fo. lange fie in biefem 
tus niche mit dem. Ritual Roms üÜbereinfämen, für. ausgeſchloffen aus 
ber Gemeinfchaft mit den unter ihm vereinigten Refidenzgemeinden er⸗ 
klaͤrte. Eufeb. &. G. 5, 24. 25. — : Diefes Verlangen aber, daß 
bie -Uebereinfiimmung mit Rom notbwendig fet,,mwurbe 
von Irenaͤus zu Lyon, vor Bachyllus zu Korinth, auch von den Pas 
käftinern: und Syrern noch ebenfomenig, als zu Ephefus, einmüthig 
zuruͤckgewieſen. —— 
Vielmehr blieb felbit ing erſten Theil des dritten Jahrhunderts 
noch, de. Eyprian mit mehreren afrikaniſchen Provinzialconcilien dir 
Nichtguͤltigkeit ber. Kegertaufe oder das Alleinfeltgmas 
hende ber orthodoren Kirche unter dem alleinheiligmas 
henden ortbodoten Epiſkopat gegen ben bierin toleranteren 
roͤmiſchen Biſchof Stephanus heftig behauptete, dennoch, auch nad 
CEyprians eigener Erffärumg , der Grundſatz: daß (ungeachtet: der Pro⸗ 
vinzconciliens Befchlüffe) jeder vorgefehte Bifhof in Verwal⸗ 
tung feines Kirhenfprengeis das Recht feiner freien 
Veberzeugung. behalte. und nur:bem Herrn über fein 
Handeln Rehenfhaft zu geben habe. S. Bas Ende bed 
zit 72, ad Stepbanum Papam de’ Concilio, p. 230 der Würzb. 
usgabe. oe 
Die Provingialcondlien waren in der dreihundertjährigen Bett, wo 
vom Staat noch feine Vollſtreckungshuͤlfe, vielmehr oft Werfolgung zu 
erwarten war, für. die Epiffopen das befte Mittel, was fie ordnen 
wollten, bei den Gemeinden geltend zu mahen. Was ber einzelne 
Bischof an feinem Ort nicht ducchgefegt haͤtte, bas galt, wenn: & es 
nun von der Verſammlung ber. meiften Prowinzbifchöfe, bie ihre an⸗ 
haͤnglichſten Presbyters dahin mitnahmen, als gemeinſchaftlichen Beſchluß 
nach Haufe brachte. Sein eigenes Guthuͤnken aber blieb dem: einzelnen 
Biſchof, auch wenn er damit auf dem Concil in der Minoritaͤt blieb, 
doch, nad) dem fo eben angeführten Cyprianiſchen 9) Grundfag, noch 





4) Ebendort, wo Johannes gelebt hatte: war. es: demnach Als Srabition 
erhalten, daß Jeſus fein legtes Paſcha, nach weldem er das Gebdaͤchtniß⸗ 
mahl feiner Hinrichtung veranlaßte, zu gleicher Zeit, wie bie Juden ges 
feiert habe. Ein zur Gr klärung von Joh. 18, 28. merkwuͤrdiges, nad | 
nugtes Datum. .. 

6) „Habeat in ecclesiae (suae) administratione voluntatis suaa arbitrium, 


Dar 


sg6 Concilien 


nah Wunſch geſichert. Daher wurden, fo lange dieſer Grundſatz galt, 
die Diöcefan = und Provinzverfammlungen, ſoweit es bie Verfolgungen 
und andere Außere Umftände geftatteten, fehr.gerne gehalten. Erſt in 
fpäterer Zeit finden wir den Kanon, daß biefe Zufammenkünfte nicht 
verfäumt werden ſollten, öfters tiederholt. in Beweis, daß fie na⸗ 
türlih den Biſchoͤfen nicht mehr fo angenehm waren, feit von ben 
größeren, kaiſerlich beftätigten, Concilien bie ſtaatsrechtliche Anficht, baf 
bie Entfheidung der Mehrheit Alle binde, aud auf bie 
Provinzverfammlungen überging und bie frühere Unabhängigkeit des 
einzelnen Biſchofs, feinen Sprengel nur nad feinem Gewiſſen zu zes 
gieren, immer mehr befchränfte. | | 
Gerade, fo lange bie Staatsmacht von ber Kirche getrennt und 
oft fogar gegen fie verfolgend war, mußte bie Menge, bie plebs ges 
nannt, um fo vertrauensvoller, ja geduldiger an ben für Erhaltung ber 
Gemeinſchaft fürforgenden Bifhof und den fehr lebhaft zufanımenwirs 
Benden Bifhofsverein, bas allgemeine Epiſkopat ©) ge 
nannt, ſich anfchliegen. Die Noth brängte zu Fefthaltung ber Cypria⸗ 
nifchen Regeln: „Du ſollſt wiffen, dag der Bifchof in bee Ekkle⸗ 
fie und bie Ekkleſia, als die dem Hirten anhangenbe 
Heerbe, im Bifhof ift und wer nicht mit dem Bifchof ift, mit 
den Prieftern Gottes nicht Friebe hat, nicht in’ ber Ekkleſia fein Tann 
(Ep. 69. p. 220. vgl. ep 27. p. 67.)5 Keiner aber ein Chriſt 
fein tann, ber nicht in der Ekkleſia ift (ep. 52. p. 129:), 
und Sündenvergebung nur in und buch biefe heilige 
Ekkleſia gegeben werben kann (ep. 70. p. 223. 73. p. 235.), 
wie überhaupt kein Heil außer ber Ekkleſia fein Lönne“ 
(Ep. 73. p. 243.). = 
Diefe die Gemeinden feft zufammenhaltende Einheit bes all» 
gemeinen Epiffopats, welches den römifchen Primat anertennend 
doch daraus (ep. 61. p. 227.) keinen Gehorfam gegen benfelben fols 
gern ließ, wurde nicht nur dur die Unmöglichkeit, ohne foͤrmlichen 
Atteft des Biſchofs als Gemeindeglied Aufnahme zu erhalten, ſondern 
auch noch befonders durch die unmittelbaren Zufendungen von Vertraus 
ten ber Biſchoͤfe, welche die Concilienbefchlüffe mittheilten und muͤnd⸗ 
lich erlaͤutern konnten, ſehr cultivirt. Selbft Kappadocien mar 
von: Karthago nicht zu weit entfernt, daß micht im J. 256 bem 
bertigen Biſchof Sirmilien bie für die biſchoͤfliche Gewalt fo wichtigen 


liberum unusquisque praepositus, rationem actus sui Domino redditurus.“ 
Ebenfo Epist.73.p.246.: „Nemini praescribentes aut praejudicantes, quo minus 
ünusquisque episcoporum, quod putat, faclat, habens arbiträi sui 
plenam potestatem.“ 

6) Cum sit a Christo una ecolesia per totum mundum In maltis 
membris divisa, item Episcopatus unus multorum episcoporem 
concordi numerositate difiusus. Cypr. Ep. 52. p. 130. (cf. ep. 80. p. 73. 
ep. 68. p. 213.) 


Goncilien. 697 


Concilienbtfhläffe bi® von Afrika und Numidlen aus durch einen eiges 
nen Diaconus communicirt wurben, wogegen biefer (ep. 75. p. 257.) 
bie gewiß erwünfchte Verſicherung ertheilte, daß auch dort alljährlich 
bie Zufammentunft der Senioren und Gemeindevorſte⸗ 
her als Nothwendigkeit beobachtet werde und gegen alle bie 
Keser oder Antichriften die alleinige Gültigkeit ber Taufe 
des vereinten Epiſkopats feithalte. 

. Wie lernen aus eben bdiefem Schreiben, daß fogar noch ausges 
behntere Goncilien zu Ikonium in Phrngien im Beifein des Firmilian 7) 
gegen die Gültigkeit der für die reinorthodoxen Epiſkopen präjubiciclie 
hen Kebertaufe gehalten wurben, wohin man aus Galatien und ben 
übrigen ‚benachbarten Ländern (p. 259. 267.) zum kirchlichen Decretis 
ven zufammentam. Dies kann in biefen Gegenden um fo weniger une 
erwartet fein, da Salatien, von ?riegsluftigen freien Gelten befegt, 
längft republitanifh durch jährlihe Repraͤſentativ⸗Ver⸗ 
fammtlungen regiert wurbe 9). | U 

Oertlich nahe Verſammlungen mußten auch fuͤr das 
chriſtliche Kirchenweſen zweckmaͤßig und meiſt wohlthaͤtig ſein, weil bis 
dahin großentheils nur praktiſche Einrichtungen regglirt 
wurden, ſo daß man dogmatiſche Ueberzeugungen nicht leicht der 
(dafür fo wenig paſſenden) Entſcheidung durch Stimmenmehrheit aus⸗ 
ſetzte. Wenn je eine feinere Ketzerei geahnet werden ſollte, wurde noch 
der Weg der Ueberweiſung durch Geuͤbtere, wie bei Beryll (durch 
ben herzugerufenen °) Origenes), gerne verſucht. Ohne Zweifel wirkte 
bier, wenn auch nicht deutlich gedacht und ausgeſprochen, bie Grunde; 
einfiht, daB äußere Anordnungen und Rechte, weil fie für 
das Sichtbare beftinnmt find und auch buch die Rechtsbeſchützung 
Alter oder wenigftens der Mehrheit erhalten‘ werben muͤſſen, 
wohl buch Stimmenmehrheit derer, bie das. Nüglidhe nad) Er⸗ 
fahrung beurtheilen, decretiet oder abolirt werden dürfen, daß hingegen 
Beurtheilung des Wahren, infofen es al& das Unſichtbare von 
ber feltenen, befonderen Stärke und Uebung ber Geiſteskraͤfte abhängt, 
nicht anders ald wider die Natur der Sache und mit Gefahr 
endlofer Zerrüttungen und Willkürlichleiten bem Entfcheiben durch 
Stimmenmehrheit unterwürfig zu machen ifl. 

Die Vernadhläffigung diefer Unterfcheibung iſts, was bie folgenden 
Sahrhunberte, feit das chriftliche Kirchenweſen durch K. Conftantin eine 
legitimirte, dann bevorzugte, bald aber allein herrfchende Staatsreligion 
geworden war, bei einer faft zahllofen Menge von größeren Eoncis 


T) Er ſpricht zweimal bavon in ber erſten n.: oonfirmavimus unb 
tractarimus | wonad Walch in feiner en ihn zu berichtigen. iſt. 
med Strobe 3,12. gl Wernsborf, de Republ, Galatarum,. Norimb. 


‚Dr. a DER in) eiisade 
— Hambardi ang Galefües NBeihnaditäprogramim de Bery ejasq 


598 Concilien. 


lien doch immerfort in das Gegentheil von Coneiljation und 
noch vielmehr in eine Folgenreihe und Kette unerweislicher Lehrgebote 
und Formeln verſtrickt hat. Der Urſprung des Chriſtenthums war 
ein ganz anderer geweſen. Der juͤdiſchprophetiſche nationell bes 
ſchraͤnkte Begriff, wie eine aͤußere Theokratie, ein Gottesreich bes 
juͤdiſchen Volkes Gottes durch ihre Geſetzgebung, Sitten und Cultus 
uͤber alle Welt gebieteriſch vorherrſchen ſollte, wurde durch den Geiſt des 
Meſſias oder Cheiftus Jeſus in das Ideal einer allgemein möglichen, 
dem heiligen Wollen Gottes gemäßen Weltregierung erhoben und vergeiftigt. 
"Damals war fhon bag eigentlihe „Blauben”,— das bis zur Ems 
pfindung und zweifellofeem Vertrauen fleigende Weberzeugtfein, an die 
Vielgötterei vielen Nachdenklicheren nicht mehr fo recht möglich, 
weil die uralte davon nicht wohl zu trennende Mythologie diefen alten 
Göttern gar zu viel Unglaubtiches aneignete. Selbſt die in Aegypten 
verſuchten philafophifch-alfegorifhen Umbeutungen beffen, mas Homer 
und Hefiod geglaubt und dichteriſch veranfchaulicht hatten, konnten jet, 
ftatt zum Glauben, ſchon nur zum Grübeln und eigenwilligen Ausle⸗ 
gen binleiten. Unvermeidlich ifts, daß das Pofitive jeder Religions⸗ 
form in gebildeteren Zeitaltern deſto unglaublicher zu werden beginnt, 
je mehr fie von ihren früheflen, aus einer finnliher gläubigen Zeit 
flammenden Zrabitionen nicht frei und unabhängig gemacht, nicht flatt 
beſchraͤnkter Begriffe das Ideale fubitituiet werden kann. Es kommt 
eine Periode, wo viele „Bedachtfame”, und alfo im eigentlihen Sinn 
‚Meligiofe”, an das unglaublidy Gewordene nicht mehr glauben Eönnen, 
wenn fie gleich fehr gerne etwas Glaubliches glauben wollen. 

&o geflimmten, dem Monotheismus bereits nahen, zur Andaͤch⸗ 
tigkeit geneigten, aber des heiligen Stoffe dafür beraubten und ungerne 
entbehrenden Gemüthern, deren in ber gleichzeitigen Heidenwelt fchon 
viele waren, die deswegen dem MWefentlichen des Judenthums, bem 
GSotteinheitsglauben, ſich näherten (Apg. 13, 43.48. 17,12. 18, 10. 
19, 26.), brachte nun das Urchriſtenthum die immer boch etwas Aeus 
ßeres und Sinnliches mitbringende Spdealität von einem „Gottesreich 
für alle Völker‘ mit populdtem Enthufissmus entgegen. Dazu follte 
fidy jeder Einzelne als ein zu Gott, dem Heiligen und allgemeinen 
Vater, Eindlicy ſich erhebender Geift vorerft felbft bilden. So begann 
das Beflerwerden ganz naturgemäß nur von dem Wollen, welches 
jeder Einzelne in feiner Macht hat. Alsdann folgt erft fichere Wer: 
bindung Mehrerer, wenn fie einzeln ſich vorbereitet hatten. Auch alle 
dadurch brüderlich Vereinte, Arme mit den Reichen, Sklaven mit den 
Herren, bie zurüdgefesten Frauen wie die Minner follten alsdann oͤrt⸗ 
lich in einen Verein der Ausgewählten Gottes (Ekkleſia) fich fo vers 
binden, daß Schritt für Schritt, Ort für Ort ähnliche Vereine des 
Deren” (von Kyrios her Kyriakaͤ — dominicae genannt) ſich uns 
unterbrochen aneinander anfchlöffen, bis dadurch, ohne Gerdäufch und 
faft unbeachtet (Luc, 17, 20.), Diſtrikte, Provinzen, Reiche, ja bie 
ganze bewohnte Melt in das heabfiähtigte Gotteöreich verwandelt wäre. 


\ Gonkcilien. | 509 


Ein aͤußerſt einfacher, untheoretifch volksthuͤmlicher WeltumSnderungd, 


plan, befien altes Künftliche überbietende Verwirklichung feine innere 


Nichtigkeit bewieſen hat. 

Diefe Vereine oder Gemeinden, welche auf ben andaͤchtigen Glau⸗ 
ben und den durch die Geſellſchaftlichkeit geficherten Vortheil aller Eins 
zelnen gegründet waren, erwuchſen Anfangs in foldy brübderlichem 
Gleichheitsſinn, dag fogar der fehlende zwoͤlfte Apoftel nach Vorſchlaͤ⸗ 
gen der eilf übrigen von der ganzen erften Gemeinde. aus zweien für 
gleichgut geachteten, alfo ohne Worausfegung einer dem MWählbaren 
von oben ſchon gegebenen Infallibilitaͤt durch das Loos und dann bie 


Diaconen oder Gehülfen nach perfönliher Kenntniß gewählt wurden ° 


(Apg. 1, 23— 26. 6, 3). Da aber m ben Johannesgemein⸗ 
den nach Apok. 1, 20. 2, 1. 8. 12. u. f. mw. ſchon ein Einzelner 
über das übrige Presbpterium, wie tiber die Gemeinde, als „Schußs 
engel” oder Epiffopus gehoben war, murden bald die vielen nicht mweit 
von einander zerftreuten Gemeindevereine durch die wenigen Epifkopen, 
deren jeder in feinem Kreiſe wie ein Stellvertreter ber Apoftel felbft 
galt und fid) mit allen Seineögleihen zu einem alleinigen Unis 


verfalepiftopat feflverbunden hielt, in einen dußerft wirkſamen 


Organismus vereinigt. 

Diefe ftatt des: Zwangs auf bem Glauben und Wollen ber Mei⸗ 
ſten radicirte irhlihsartftotratifhe DOrgantfation hatte ſich 
wie ein Netz von einer Parochie (Discefe) zur andern über das Roͤ⸗ 
mer⸗ und Perferreih, überhaupt ohne an Landesgrenzen gebunden 
zu fein, durch die Sodalitaͤtskraft 19) ebemfofehr ale durch die Wahrs 
heit der chriftlich meffianifchen Hauptideen ausgedehnt. 

Natürlich weckten Überall die vom Mangel bebrohten Opferpries 
fter, befonbers wenn Uebel, die man dem Zorn ber Götter zufchrieb 19), 
einbrahen, Argmwohn und Verfolgungswuth gegen die „götterlofen” 
ChHriftianer. Noch fchlimmer aber war's, daß gerade die Eräftis 
geren Imperatoren des zweiten unb dritten Jahrhuns 
derts dad unverkennbare Sinken bes Reichs durch eine erziwungene 
Miederherftelung des „alten Römerthums”, alfo durch das Gegentheil 
- des chriftlich =theokratifchen, friedlich rechtwollenden Sinnes und folglich 
durch Unterdrüdung dieſer „Conföderation” verhüten zu müffen meins 


10) Die wirtfamfte Art von Ausbreitung iſt nicht bie geſetge⸗ 
bende, nicht die politifch zwingende, auch nicht bie wiſſenſchaftliche und literaris 
ſche, fondern bie mündlih, im Umgang, in Privatbefprechungen, bei Agapen, 
von Haus zu Haus, von Dorf zu Dorf fich fortpflangentee Neque enim 
civitates tantum, fihreibt der richtig beobachtende Statthalter Plinius, sed 
vicos etiam atque agros ... contagio pervagata est (ep. 97.) 

11) Post Alexandrum Imperatorem .. terrae motus plarimi et freghentes 
extiterunt, ut et per Cappadociam et Pontum multa subruerent.. ut ex hoc 
persecatio quovis gravis adversus nos christiani nominis fioret, Firmiliani 
ep. 97. ad Cyprian. p. 261. Doch war persecutio illa non per totum mun- 


dum , sed localis. 


\ 


.. 


600 Concilien. 


ten. Dennoch widerſtand dieſer Macht der Opferprieſter ſowohl, als 
den ſtrengeren Staatsregenten bie ſchon beſſer organiſirte Epiſkopal⸗ 
hierarchie durch ihre bis zum Maͤrtyrerthum der duldend ſiegenden 
„Kämpfer Chriſti“ begeiſternden Verheißungen ewiger Seligkeit. So 
oft aber unter ſchlafferen Regenten ſie weniger geſtoͤrt und beengt 
wurde, gewann das auf Einwilligung und Volksthuͤmlichkeit gebaute, 
locale und univerſale Epiſkopalregiment deſto groͤßeren Zuwachs. 
Nachdem auch die grauſamſte Verfolgung unter Decius nicht viel da⸗ 
von zu erſticken vermocht hatte, konnte nach einer lange nachgiebigen 
Herrſchaft Diocletians Galerius, einer der drei Mitregenten, uͤber⸗ 
weiſend 12) zeigen: Roͤmiſches Heidenthum und kirchlich-chriſtliche 
Theokratie ſtaͤnden bereits ſo gegen einander, daß, wenn dieſe nicht 
mit unerbittlicher Gewalt ausgerottet wuͤrde, allernaͤchſtens die Kaiſer 
ſelbſt, deren Hof, Heer und Beamtenwelt von erklaͤrten Chriſtianern 
voll war, ihre Staatsreligion zu vertauſchen genoͤthigt waͤten. Da⸗ 
her dann der letzte entſcheidende, ſchlau genug nicht gegen die Menge, 
ſondern beſtimmt gegen alle Vorſtaͤnde und die Beſitzungen der Kir⸗ 
chen gerichtete Verfolgungsſturm. 

Und wer weiß, was, conſequent wider die Hirten der Heerden 
und deren aͤußere Huͤlfsquellen fortgeſetzt, der Zweikampf des Alten 
mit dem Neuen bewirkt haben koͤnnte, wenn nicht der vierte der 
Zugleichregierenden, Conſtantius, feinem perſoͤnlichen Charakter nad 
ein nicht blos theoretiſcher, ſondern praktiſch weiſer Verehrer 
eines Einen für Alle wohlthaͤtigen und gerechten Gots 
tes gemwefen wäre, den ganzen minder verfeinerten aber thatträftigern 
Weſten von den germanifchen und italifhen Grenzen an außer der 
Verfolgung gehalten und feinem Sohn Conftantin eine gemüthliche 
Vorliebe für den fittlic beffernden Monotheismus und eine politifch 
kluge Neigung fuͤr Cultusfreiheit anerzogen haͤtte. 

In dieſe gedraͤngte Entſtehungsgeſchichte der damaligen Weltlage 
muß der Staatskundige tiefer hineinblicken, wenn er als Menſchen⸗ 
und Rechts-Kenner richtig faſſen und beurtheilen will, was nun Con⸗ 
ſtantin und feine zwiſchen dem Orient und Occident ber ungeheuern 
Reichsausdehnung ſich theilende, immer mehr byzantinifche ale roͤmi⸗ 
ſche Nachfolger, wegen des ohne den Staat entſtandenen geſammt⸗ 
epiſkopaliſchen Chriſtenſtaats überhaupt und beſopders auch durch 
die Epiſkopenverſammlungen oder Concilien gethan und 
beabſichtigt haben. 

Conſtantin war, wenn man fr. feinen Edicten und Thaten Pos 
litik und Gefinnung pfochologifch genau feheidet, offenbar aus Weber 


12) Hierüber erhält, wer dergleichen Memoiren zu leſen und zu deuten 
verfteht, bie geheimeren Auffhlüffe in dem Auffag de mortibus persecutorum, 
von Lactantius, welcher, als Rhetor In Diccletians Pataft felbft benugt, bei⸗ 
ee ie und Staatsintriguen, foweit e8 ihm als Gelchrten und als Chris 

fen moͤglich war, beobachtete. 


Concilien. 601 


zeugung Monotheiſt, doc mehr nach Theorie als, wie fein Vater, um 
der praktiſch edlen Folgerungen willen. Seine Rivalen ſtuͤtzten ſich 
auf das heidniſche Roͤmerthum, die Politik mußte ihn die Chriſten 
Buch Vorzüge zu beguͤnſtigen bewegen, denen er als Mono⸗ 
theiſt blos ſich genaͤhert haben wuͤrde. Denn lange ſpricht er zwar 
mit Affect von dem „Gott über Alles, als dem Heiland” (faſt fo, 
wie in ben uns. befannten Urkunden der heiligen Allianz, welche 
dreierlei Kirchen damals als verbündet zu behandeln und baher aller: 
meift unter den einen Heiland, Gott, zu ftellen hatten), aber gar nicht 
oder auffallend wenig fpriht er noch von Chriftus. 

Se meiter dann aber Conftantin auf feiner Eroberungsbahn, mo 
die Chriſten für ſich wie für ihn das Aeußerfte wagen mußten, gluͤcklich 
fortfchritt, deſto eifriger gingen, wie feine Anorbnungen bemeifen, 
feine Wünfche blos auf ein ruhiges Mebeneinanderftellen 
beider Religionsparteien. Kintraht im ganzen Staate und 
Entfernung ber Tyrannei oder Willkuͤrherrſchaft waren, wie er woͤrt⸗ 
lich (Eufeb. Leben C. %, 65) und durch bie Thatfachen erklärte, feine 
Megierungssmede. Gerade daraus aber, weil er unausgefegt in bies 
fen politifchen Hoffnungen gearbeitet hatte, wird es begreiflich, wie der 
nähft vor der Feier feiner Vicennalien 'entfiandene neue Epiſko⸗ 
palftreit in dem ohnehin nie ruhigen Alerandrien ihn fo fehr in Bes 
wegung fegen und zu dem erften Beifpiel einer von ben ftreitenden 
Gegenden auf Eaiferlihen Wagen zufammengeholten, vom Imperator 
präfidirten Epiflopenverfammlung, bie für die von ihm bes 
herrſchte Oekumene oder „cultivirte Welt” allgemein geltend —oͤkum e⸗ 
niſch, werden follte, beſtimmen konnte. 

. Schon die Do natiſtiſchen Kirchenſtreitigkeiten in Afrika, welche 
hauptſaͤchlich auf dem Vorurtheil beſtanden, dag nur ein von aͤußer⸗ 
lich Rechtglaͤubigen eingeſetzter Biſchof ſeligmachende Sacramente ad⸗ 
miniſtriren koͤnne, und welche alſo die Glaͤubigen uͤber die individuelle 
Amtswuͤrdigkeit des Epiſkops immer aͤngſtlich machen mußten, hatte 
Conſtantin 311 — 316 blos als eine Staatsangelegenheit behandelt, 
welche, weil fie Unruhe made, unter feiner Auctorität- beigelegt wer⸗ 
ben müffe. Daher verfuchte er das vorher unechörte Mittel, 
NRegierungscommiffionen aus Weltlihen und Epifkos 
pen zugleich in großer Anzahl und auf Staatskoſten zur Abur⸗ 
theilung darüber anzuordnen. Eufeb. 8. ©. 10, 5. 6. Dffenbar waren 
die beorderten Bifchöfe babei nur als Erperten (Sachkundige), um ben 
Inhalt des Streits ind Klare zu bringen. Die Entſcheidung erfolgte 
im Namen des Staats. Und da das Donatiftifche meift dußere Rechte, 
die Frage nämlich: ob ein der Nachgiebigkeit in Verfolgungen Verdaͤch⸗ 
tiger zum Bifchof wählen ober gemählt werden bürfe? betraf, fo konnte 
auch das Ganze als Rechtsſache abaethan werden, wenn nur, worin 
nad den kirchlichen Grundſaͤtzen das Recht beftand, durch bie kirchlichen 
Mitglieder der Regierungscommiffion erörtert war. 
Sehe verfhieben war bie Streiturfache zu Alexandrien. Hier 


002 Concilien. 


betraf es ganz ein Dogma. Aber auch bier betrachtete es Con⸗ 
ftantin, nur infofern es die Staatsruhe bedrohte. Wenn er ſchon mit 
der Chriftologie genauer bekannt und nicht noch mehr Monotheifl, 
als Chriftianer geweſen wäre, wie hätte er denen, welche über bas 
„Wefentlihe im Verhaͤltniß Chriſti zu Bott” flritten, 
dem Bifchof Alerander und deſſen Presbypter Artus, in gleichem 
Maße fchreiben laflen Eönnen, bag ihrer Streitfuht ein klein⸗ 
liher und leicht zu beenbigendber Vorwand zu Grunde 
liege, und baß „über dergleichen Dinge nicht gefragt und nicht ges 
„antwortet hätte werden follen, weil fie nämlich nicht über ein Haupt⸗ 
„gebot oder neuen Cult (nur über eine Lehreinfiht) uneinig ſeien.“ 
Eufeb. Leben Conft. B. 2. 8. 68 — 70. 

Nahe war demnady der Kaifer vor dem nicänifchen großen Cons 
ct von 325 der Einfiht, dak das Wahre in Lehren nidt 
durch Auctoritäten, Macht und zufällige Stimmenmehrheit entſchieden 
werben könne, fondern, mie in der Philofophie (Eufeb. 2, 71.), ber. 
nur mit der Zeit möglichen Wirkfamkeit der Gruͤnde und Gegengründe 
fret überlaffen und nur aͤußere Ruheſtoͤrung abgehalten werden follte. 

Aber allzu gewaltig war fhon das in ber Volksmei⸗ 
nung radicirte Epiflopalregiment, weil das Seligwerden 
‘allein durch Vereinigung mit dem einzelnen Biſchof, ald bem ben 
Apofteln fuccedirenden Verwalter ber Geheimniffe und faccamentlichen 
Gnaden Gottes, möglich ſei, die Legitimität des Biſchofs aber von 
feinem Anerkanntfein im allgemeinen Episkopat abhänge. Wegen 
diefer feit ein Paar Jahrhunderten fhon mie ein Chriftenftaat im 
Heidenftaate erzeugten Epiſcopalmacht alfo lieg Conſtantin mehr ale 
300 ſolcher Kirchenmagnaten in die Nähe feiner orientalifhen Haupt⸗ 
ftadt, nah Nikaͤa, zufammendringen, nicht um buch fie auf ben 
Grund der Sache einzubringen, fondern, wie er fie auch durch pers 
fönliches Zureden dazu vermochte, ein ber Staatsruhe foͤrderliches 
-Uebereintommen für eine gemeinfchaftliche Lehrformel zu bewirken. 

Anders allerdings wurde die Sache von den Biſchoͤfen genoms 
men. Gie, bie ſchon als heilig und felig Betitelten, erfchienen in 
dem chriſtianiſchen Gottesreih als Chrifti Stellvertrete. Wie viel 
Chriftus perfönlih gelte, war alfo für fie nicht eine Beine Frage. 
Wir müffen auf deren Entftehung zurüdbliden. In feiner perfönlis 
hen Erfheinung muß der Begründer des Urchriſtenthums einen 
außerordentlidy mächtigen Eindrud gemacht haben. Die Dämonizirens 
ben erfhütterte fein Anblick. „Wir fahen,” fo wirb im Namen feined 
Lieblingsjüngers im Johannisevangelium gefchrieben, „feine Majeftät 
wie die eines Einzigartigen von Gott.” Ungeachtet er fo kurze Zeit 
perfönlich gewirkt hatte, war doch der Eindrud, daß er wie ein Ueber 
menſchlicher, wie ein Goͤttlichgeſtalteter (Philipp. 2, 6 — 11.) 
fid) gezeigt und durch den tiefiten Gehorſam gegen Gott gewiß alsdann 
die hoͤchſte Geiſteserhoͤhung erhalten habe, fortdauernd. Die gnoſti⸗ 
ſche (mie fie meinte, das Wahre „tief erfennende) Vorſtel⸗ 


Goncilien. 603 


lung, baß er ein mit heiligen Einfichten begabter Menſchengeiſt gemefen 
fei, auf den ſich eine hohe Gotteskraft oder ein befonderer Mittelgeift, 
Chriſtus, einwirkend herabgelaffen habe, mißftel, als viel zu gering, 
immer mehr. " 

Bald entitanden alfo fpecufative Theorien, wie fich der In ihm 
fihtbar gewordene Meſſiasgeiſt zum Einen Gottesweſen verhalte? In 
NPalaͤſtina war der Begriff: der meſſianiſche Geiſt als folcher habe vor 
ber Weltfhöpfung in Herrlichkeit bei Gott präeriftirt, fo daß, wenn er, 
der Heitftifter (Soter), nicht zum Voraus dageweſen wäre, eine füns 
bige Menfchenmwelt gar nicht gefchaffen fein würde. Won Jeſu felbft 
wird oh. 17, 4. 5. bie damit parallele Bitte an den Vater, ale 
den alleinigen Gott, aufbewahrt, daß, wenn er fein Meſſiaswerk volls 
endet haben werbe, Ihm bei dem Vater die Herrlichkeit wieder 
werden möge, welche "er bei bemfelben, ehe die Welt warb, gehabt 
habe. Eine zweite Theorie ging von altteftamentlihen Stellen aus, 
daß bie ſich offenbarende -Wetsheit (Sophia) als ewige Vollkommenheit 
und fat wie eine befondere Perfon (Spruͤchw. 8, 22 — 31.) in 
Gott fei, alles Werdende durch fie werde und der Meſſiasgeiſt ſelbſt 
in Jeſus fo herrlich erfchienen fei, mweil der alleinige Gott felbft, aber 
befonderd als jene ſich offenbarende Weisheit, in ihm ſich vergegen> 
wärtigt, ihn zu feinem Sohn gemadjt habe. 

Alexandriniſch jüdifche Gelehrte, noch vom Urchriſtenthum unabs 
hängig, hatten fich eine dritte Theorie gebildet, nach der jene Weis, 
beit im Wefentlihen Gott ewig war und blieb, aber daß der Ewig⸗ 
reine, ba er alles Nichtvolllommene werden laffen und doch unmittels 
bar mit dem Miedrigeren ſich nicht befaffen wollte, aus jener Weisheit 
einen mit allen Ideen und Kräften für die Weltſchoͤ⸗ 
pfung erfüllten, goͤttlicherzeugten Geiſt perfönlich hervor⸗ 
gehen ließ, welchen fie daher den Weisheitfprehenden (Logos) 
und einen zweiten Gott nannten, auch alle Offenbarung Gottes 
unter den Menfhen von bdemfelben ableiteten, jüdifcher Hoffnungen 
auf einen Meſſias aber dabei nicht erwähnten. Das Vierte dagegen 
in biefer Beziehung ‚war, baß.diefe außerpaläftinifche Vorſtellung von 
einem Logos, ber „bei dem (eigentlichen) Gott” als ein Gott fei und 
duch ben alles Werdende, die Welt fowohl als das geiftige Licht für 
bie Menfchenmwelt, werde, Im Eingang des Johannesevangeliums auch 
in das Ucchrifllihe aufgenommen und daraus die Erklärung abgeleitet 
wurde, warum in Sefus jene Majeftät eines in feiner Art einzigen 
Gottesſohns zu fehen gervefen fei. Der im Menfchenleib (dem Fleiſch) 
Jeſu nad) der paldftinifchen Theorie erfchienene Meffiasgeift naͤm⸗ 
lic) ſei gerade eben bderfelbe, ben bie alerandrinifche Theorie ben Lo⸗ 
908 Gottes, den vor aller Schöpfung bei bem Gott feienden zweis 
ten Gott, nenne. 

So theologiſch die Darftelung biefer viererlet fpeculativ gedachten 
Möglichkeiten klingt, fo nöthig iſt bie gedrängte Notiz davon bocd) 
auch bem Staatsrehtstundigen, wenn ihm bie Probleme, fiber 


w 


604 Concilien. on " 


welche In fo vielen Concillen geftritten und mehrere Jahrhunderte Kine 
durch die Staatsruhe gefährdet wurde, ja fogar auc zu unferer Zeit 
leicht aufs Neue gefährdet werden Einnte, wie etwas bios Willkuͤrliches 
und gleihfam aus den Wolken Gefullenes und vom bloßen Eigenfinn 
Aufgerafftes erfcheinen follen. 

Alle alerandrinifhen und auch andere etwas philofophirenden Kir⸗ 
dhenväter waren im zweiten und dritten Jahrhundert für die vierte 
Theorie, daß der Meffiasgeift und ber Logos eimerlei, alfo jener auch 
der fecondbäre Gott fei, durch welchen ber Gott über Alles, als 
durch einen von ihm ausgeftatteten und unmittelbar erzeugten Geift, 
alles Webrige gefhaffen und von jeher ſich den Menſchen geoffenbart 
babe. Dügegen wurde die zweite Xheorie, daß Gott felbit, jedoch 
nur als ewige Weisheit und MWundermacht, in dem Meſſias unmittels 
bar gewirkt babe, In Sabellius, Paul von Samofata u. A. verketzert; 
fo wie gewöhnlich das Feinere die Stimmenmehrheit lange nicht für 
fi) gewinnen tann. So lange indeß der Chriftianismus noch der 
Nielgötterei verfolgt gegenüber ftand, mar es immer bei den Apologes 
ten beffelben eine nicht ganz unbeliebige Art von Verähnlichung mit 
berfelben, wenn man zwar den eigentlichen „&ott über Alles“ monos 
theiſtiſch, aber doch auch einen von ihm ausgeſonderten hohen Geiſt 
als einen untergeordneten Gott bekannte. 

Jatzt aber, da die chriſtliche Epiſcopalkirche hauptſaͤchlich wegen 

der Gotteinheitslehre der Vorliebe des Imperators verſichert wurde und 

das alte Lehren von einem „zweiten Gott außer dem Gottesweſen“ 

mit dem nunmehr bevorzugten Monotheismus weniger vereinbar ers 

fhien, fanden die Kicchenobern zu neuen theoretifhen Verſuchen An⸗ 

laß genug ; befonder& dort, wo die Zheorie von bem Logos, als fecons 

daͤrem Gott, gleihfam zu Haufe war. Ein tieffinnig bialektifcher- 
Presbyter, Arius, biele feft an dem aleranbrinifchen zweiten Gott, 

als untergeordnetem Weltfchöpfer und Dffenbarer, dachte aber bennod) die 

hoͤchſte Sotteinheit dadurch mehr zu fchügen und hervorzuheben, daß 

er in den hürteften Ausdruͤcken den zmeiten Gott, Logos, als einen. 
geſchaffenen und einft nody gar nicht gewefenen befchrieb, meldyer, aufs 

waͤrts mit dem Einen Gotteswefen verglichen, unendlich viel tiefer ftehe, 

und nur, abwaͤrts gegen Alles, was ducch ihn geſchaffen ward, für alles 

diefes Nichtvolllommene ein Gott, ein Stellvertreter des eigentlichen 

Gottes fei. 

Berlegend Elangen biefe harten, wenn gleich nicht Inconfequenten, 
Formeln bes Arius gegen den mit Chriftus oder dem Mefjinsgeift 
(nad) dem Prolog des Johannesevangeliums) als einerlei gedachten 
Logos. Werlegend aber aud) zugleich gegen die Würde ber Kirche und 
vornämlid der Statthalter Chriſti, der Epiflopen, mußte bie verfuchte 
Herabfesung der zweiten, als Gott genannten Perfon beſonders 
den Biſchoͤfen erfheinen. Dee Biſchof von Alerandrien war. 
daher, gegen feinen Presbpter, vielmehr dafür, bag zwar Chriftus und 
der Logos als identifch und als Perfon zu behaupten,. aber dar⸗ 


Goncilien. 605 


auf gedacht werden müffe, wie dieſe Perfon nicht außer dem Go» 
teswefen, ſondern zugleich und in gleicher Wuͤrde mit ber Perſon des 
ihn ewig zeugenden-Baters indem Einen Wefen ber Gottheit 
Tetbft fubfiftire. Die einft noch dunkle Ahnung mancher Deciden- 
talen (mie bed Irenaͤus), daß wohl bie ewige Weisheit felbft in ner⸗ 
halb des göttlichen Wefens wie eine Perfon fubfiftire (= als 
Hppoftafis beftehe), begann um fo mehr denkbar zu fcheinen, da ohne 
hin..die neuen Ausleger Platon’s ihn ſo zu deuten pflegten, wie wenn 
der oft dichterifche Phllofoph bie mancherlei göttlichen Vollkommenheiten 
und Shealitäten fi) wirklich wie felbftftändig gebacht hätte. Das Got⸗ 
tesweſen (zo Heiov) ſchien reell aus ſolchen Hypoſtaſen oder Perſonen 
beſtehen zu koͤnnen, wie wir das Menſchenweſen oft aus Vernunft, 
Verſtand, Willen ꝛc. gleichſam als aus Perfonen oder beſonders ſubſi⸗ 
ſtirenden Kraͤften beſtehend beſchreiben. 

Mochten dieſe verſchiedene Theorien uͤber ihren theoktatifchen Chri⸗ 
ſtus und mehr. idealiſchen Logos unter der Menge der „gottgeheiligten 
und ſeligſten“ Epiſkopen, welche Conſtantin zuſammenrief, im Umlauf 
und noch in unvollendeter Gaͤhrung ſein; ihm, der ſich bis gegen 
fein.. Ende als einen erſt noch zur Taufe vorzubereitenden Katech u⸗ 
menos außerhalb des Kirchenthums hielt, war es nicht ſo⸗ 
wohl darum zu thun, ob die chriſtlichen Kirchenobern nach einem Ver⸗ 
fluß von. drei Jahrhunderten über das Verhaͤltniß ihres Chriſtus zu 
dem Einen Gott, ben. ex verehrte, jekt endlich gewiß werben koͤnnten, 
als vielmehr darum, daß fie über eine mit dem Monotheilt« 
mus vereinbare, bie Störung der Ruhe feines Staate 
verhütendbe Dentweife und Formel einverftanben- were 
den und ben Kirhenfrieden nad: Daufe mitnehmen 
follten. Welchen Mefpect Eonnte auch der Auge Herrfcher vor ben 
meiften ber verfammelten. „Liturgen Gottes, des gemeinſchaftlichen 
Beherrfchers und Heilands Aller” (f. Eufeb. Leb. Conft. 8,:&. 12.) - 
in ſich fühlen, da die heiligen Männer gleih Anfangs ihn mit”eiferfüch« 
tigen Klagen gegen einander fo überhäuften, daß er. alle feine griechifche 
Suada (8. 13.) nöthig hatte, damit man nur zu gemaͤßigten Dell» 
berationen kommen Eonnte. Soweit nun das Kicchlidhe nicht in bad 
Aenfere, in die Erfcheinungsmelt des Staats: eingriff oder einwirkte, 
ließ er fie als Epiſkopen der Ekkleſia vituelle (das Paſcha ale Feier 
des. Auferftehungstage ober bes eigentlichen „Dfterne” vegulivende) 
md begmatifche Befchlüffe faffen. 

Mas nun. das Logos Dogma betraf, fo waren fall alle Ware 
fammelte von ben hart bdurchgreifenden Ausdruͤcken bes Presbyters 
Aus, der ihn einen „Michtgewefenen” und Lieber ein Gefchöpf ale. 
einen Göttlicherzeugten nannte, indignirt. Unvermerkt aber. benugten 
die durchfchauendften Gegner der Artanifhen Härten, wie befonders 
ber Presbyter Athanafius, ben allgemeinen Widerwillen gegen. diefe 
foweit, daß ein Beftimmungswort, welches Arius durchaus perhortee 
feiren mußte, einzig um ihn und bie wenigen ihm -treugebliebenen Rigo⸗ 


608 Coneilien. 


riſten zuverlaͤſſig auszuſchließen, als Schiboleth anerkannt wurde. Dies 
war das Wort Homouſios, deſſen Schickſal wohl ſonderbar zu nen⸗ 
nen iſt, weil es fruͤher kirchlich verworfen war. Schon um's Jahr 260 
naͤmlich hatte Sabellius vom Logos des Johanneiſchen Evangeliums 
bie Auslegung verſucht, daß bie ewige Weisheit des Einen Gottes, 
weiche. als eine Vollkommenheit und Wirkungskraft zugleich mit 
andern ſolchen Kräften das Wefen Gottes ausmache, und alfo 
innerhalb dieſes Weſens, aber nicht als perſoͤnlich ſubſiſtirend 
ſei. Das für biefe Vorſtellung pafjende Kunftwort wurde damals 
Eicchlich verworfen, weil die Meiſten noch den fecondbären Bott, Logos, 
als einen aus dem Weſen bed Vaters herausgetretenen dachten. Jetzt 
hingegen behielt man von den dlteren Alerandrinern und den Arianern 
zwar gerne die Behauptung bei, daß die Weisheit Gottes, unter bem 
mafceulinen Namen Logos, eine Perfon, ein Gottesfohn fa, 
verband aber damit die mehr epiffopalifche, «als philoſophiſch denkbare 
Worſtellung, daß eben diefe Perfon aber auch die Perfon, weiche fie 
ewig als Vater zeuge, zugleich (— Homu) in dem Einen Wes 
fen (= ber Ufia) Gottes, und alfo niht außer und unter 
daſſelbe hervorgetreten ſei. Die Disputicenden unterfchieden nicht, 
was wir durch bie Begriffe Subſtanz und Efienz .unterfcheiden. Wie 
Seder weiß, ift ein Wefen, 3. B. bie Menfchheit, an ſich nur ein abs 
firaeter Begriff, der nirgends ale in Gedanken eriftirt. .. Die. Menſch⸗ 
heit ift nur in den einzelnen Perfonen, in welchen das zum Menfch 
fein Unentbehrliche oder Eſſentielle als wirklich befteht. Umgekehrt aber 
glaubten die firengen Antiarianer fich zwei. oder drei Perfonen, bie 
innerhalb Eines, des göttlihen, Weſens eriftixten, zwar wicht 
benten zu Eönnen, aber doch um fo mehr al ein Geheimniß behaups 
ten zu müffen, weil fie das ‚Gotteömwefen ald Eine „Subftanz” 
obnegleichen betrachteten, in welcher das zum Gottfein Unentbehrs 
liche oder. das Effentielle nur einmal fei, aber worin auch noch 
andere, vom einander unterfcheibbare Qunlitäten verwirklicht feien, durch 
beren Verfchiedenheit fi Drei (Vater, Sohn und Geift) ald Pexfos 
nen unterfhieden und doch nur innerhalb Einer und ebenbers 
felben Subſtanz (Ufia) zugleich (Homu) fubfiftirten. 
Einleudhtend konnte dieſe geheimnißvolle Darftelung wohl 
auch dem Imperator gemacht werden, infofern dadurch der in ihm 
vorherrfchende Glaube an Monotheismus, weicher, fo lange die Chris 
ften von einem fecondären Bott (Deuteros Theos) fprachen, gefährdet 
war; reiner und geficherter erfhien. Den Biſchoͤfen aber konnte 
die jetzt beflimmter gefaßte Geheimnißlehre um fo genügenber erfcheis 
nen, weil dadurch Der, welchen fie in der Kirche vepräfentirten, ber 
Chriftuss Logos, auf der höchften Stufe der Dinge, innerhalb ber 
alleinigen göttlichen Subftanz beftehend, zu glauben war. Alle Theile 
bofften durch das Eintreten in biefes mpfterisfe Dunkel allgemeine 
Ruhe zu befördern. Erſt die Erfahrung zeigte das ber Kirche und 
dem Staat fo [hädlich gewordene Gegentheil, Jahrhunderte hindurch 


Concilien. 607 


konnte dennoch der unaufhaltſam fortbildende Verſtand in dem Beſtre⸗ 
ben, durch neue Begriffsverſuche und Wendungen den zum Selig» 
werben unentbehrlihen Dogmenglauben fcharf genug zu beftimmen, 
unmöglich zur Ruhe kommen. Denn während man ein Lehr Geheims 
niß vor ſich zu haben vorausſetzte, wurde bag Angenommene nun doch 
fo behandelt, wie wenn man „hinter das Geheimniß zu kommen” 
bie Aufgabe und bie Fähigkeit hätte. 

Als das erſte von der Staatsmacht gemollte, dirigirte unb buch) 
Beftätigung geltend gemachte Concilium war das Nicdnifche der 
Typus, von dem alle folgende einen Theil behielten und in andern 
Hauptpuntten nur almälig abwichen. Das Charakteriſtiſche davon 
ift deßwegen ſtuͤckweiſe zu markiren. 

1. Es ward nur, weil der Staatsregent es deßwegen wollte, da⸗ 
mit nicht durch Mangel an Uniformitaͤt ſowohl im Ritus (dev Feier 
der Auferflehung und ber wegen ber Paſſion vorhergehenden Faſten) 
ale im Dogma aus ber Kicche Unruhe in den Staat übergehen möchte. 
(Die Uniformitdt im Ritual wurde zu wichtig ‚genommen. Vollends 
aber die Lehreinfihten. zur Uniformität zu zwingen, ift, wie die Er⸗ 
fahrung aller Folgezeit bewies, eine Unmöglichkeit. Dennch wuͤrde 
durch Verſchiedenheit ber Gebräuche und deu Lehreinfichten die öffent» 
liche Nuhe gewiß nicht gefährdet, wenn nur die Staatsmacht ald Rechts⸗ 
befchügerin, flatt einen heil zu beguͤnſtigen, immer Alle vom Unrechts 
thun gegeneinander abhalten und für fi) nur Gapacitäten.zu benugen, 
nicht freitige Meinungen zu protegien, fi) zum Syſtem machen 


würbe). oo. 

2 Verſammelt wurden zu den Sigungen nicht nur Biſchoͤfe, fons 
been auch Presbpters, unter denen. fid) bie Sachverſtaͤndigen (wie 
Athanaſius, Paphnutius) fehr geltend machten. - 

3. Offenbar abſichtlich und wohlbedacht war es, daß, außer Ho⸗ 
fius, der als Spanier lange fhon dem Kaifer vertrauter gewefen fein 
muß, nur orientalifche Bifchöfe zufammengerufen waren. - Die dogmas 
tifhe Unruhe aus der Logosiehre kam erft fpäter in den Dccibent. _ 

4. „Der Bifchof der Kaiferftadbt Rom fehlte wegen feines Als 
tere," fo ſchreibt Eufeb. im Leb. Conſt. 3, 7.; „feine anweſenden Press 
byters aber füllten feine Ordnung.” Nicht fie, fondern der erfte 
Biſchof auf der rechten Seite hielt an ben im Pomp nad) den Miniftern 
eingetretenen Gonftantin eine Anrede (8. 11.). 

5. Der Kaifer eröffnete das Concil mit einer Standrede (8. 12 
— 13.). In feiner Xbwefenheit dirigirten feine Commiſſarien. Dan 
lebte auf feine (des Staats) Koften (8. 9.). 

6. Nach kirchlichen Grundfägen ſich zu Beſchluͤſſen, welche theils 
Dogmenbeſtimmung, theils Anathematismen gegen das Keztzeriſch⸗Ver⸗ 
worfene, theils Kanones (kirchliche Regulative) betrafen, zu vereinigen, 
wurde den Berathſchlagenden uͤberlaſſen, doch ſo, daß der Kaiſer ſehr 
zur Eintracht mahnte (8. 13.). Man ſetzte noch voraus, daß alle 
Wohlgeſinnte wiſſen muͤßten, was kurch lich⸗ wahr fe. Sie ſelbſt 


— 


608 Goncilien. 


aber betrugen fi fo, wie wenn ber heilige Geiſt es erft duch Delle 
berationen in der Mehrheit zur Gewißheit braͤchte. ine fonderbare 
Stellung, mo man das Wahre bald ſchon zu habm, bald erft, und 
zwar per mojora, zu fuchen die Miene machte. 

7. Das Wichtigfte war, daß die zur Einftimmigkeit (oder Stim 
menmehrheit) gebrachten VBelchlüffe ald vom Imperator gültig erklärt 
unter feinem Namen an die Ekkleſien allee Provinzen ausgefchrieben 
wurden, unter dem K. 20. ausgefprochenen Poftulat: „Wenn ermas 
in den heiligen Synedrien der Bifchöfe gemacht werde, fo habe es 
Gleichheit mit dem göttlihen Willen.” In biefen Satz aber war uns 
ftreitig miteingefchloffen , daß es vom Kaifer beftätigt fein mußte. Und 
noch mar feine Unterfheidung gemacht: ob biefe Beftätigung, nur 
negativ, die Erklaͤrung, daß der Staat nichts gegen bie Befchlüffe 
einsumenden habe, oder auch pofitiv das Verbindlichmachen zum Ges 
horchen in fich fchließen follte. Factiſch wurde das Letztere angenoms 
men. Denn auch den bogmatifchen Befchlüffen follte die Minorität 
unterworfen fein. Den Arius und bie ſtreng Widerfgrechenden wollte 
Conftantin durch Landesverweifung für die Staatsruhe unſchaͤdlich ges 
macht haben. oo 

Bald ergab es ſich, daß, ſtatt Einheit durch aufgendthigte Formeln 
zu bewirken, vielmehr den Meiften dadurch jegt erft Earer wurde, wor⸗ 
in und warum fie .nicht einverftanden wären. Als die Auseinanberge 
gangenen erft bei fich uͤber das Votirte gemächlicher zu reflectiren Muße 
belamen, waren einige ffeeng Antiartanifche aͤußerſt über da& gefundene 
Kunftwort Homoufios — confubftantial, erfreut, Andere 
wollten wohl den Begriff, „daß der Sohn mit dem Vater‘ innerhalb 
des göttlichen Weſens fei”, aber vermieden die unbiblifhen Ausbrüde, 
Eine dritte Zahl ftritt gegen das Wort, um auch den Begriff anbers 
zu faffer. Aber auch diefe Maren wieder getheilt. Einige hart in 
ariantfchen Kormeln, Andere gelinder in Worten, aber doch nad) alts 
alerandrinifcher Gnofis den Water ald den eigentlichen, den Logos als 
den erzeugten Gott fegend. Eine dritte Claffe wagte fogar auf bie 
Quelle alt diefes Streiten® zuruͤckzugehen und zuvörberft zu fragen, 
inmiefern der Mefiinsgeift biblifh Sohn Gottes genannt und mit dem 
Logos verbunden fe. So behaupteten Marcellus und Photinus, daß 
der Eine eigentlihe Gott immer als Schöpfer und Vater, gegen bie 
Menfhen aber und in Jeſus befonders als Logos und heiliger Geiſt 
wirfe, waren aber durchaus nicht Sabellianer 19), 

-Statt Einer Partei gab e8 demnäh bald fehferlei Gegen. 
füge. Auch Gonftantin wurde berichtet, wie des Artus Logos, 
als ein hoher Geiſt außer Gott, feinen Monotheismus nicht 
gefährbe. Er ließ daher ben Anatbematifirten fchon 336 toieder in bie 
Kiche aufnehmen. Sein Sohn Conftantius aber war für eben 


13) Meine Abhandlung über des Marcellus Lehre in ten Heibelberger 
Jahrbuͤchern. ss" ©. — * 882. I ? 8 


Concilien. 609 


dieſes Unterſcheiden zwiſchen dem Logos, als dem hoͤchſten aller durch 
Gott ſeienden Geiſter, und dem goͤttlichen Urweſen, ſo ſehr, daß 855 
auf einem großen Concil zu Mailand von dreihundert Biſchoͤfen nur 
drei, nebſt den beiden roͤmiſchen Legaten, gegen Arius und fuͤr Atha⸗ 
naſius zu ſtimmen wagten. Kein Wunder. Sobald nach Decius 
Ruhe für die Kirche eintrat, begannen, ſchreibt Euſeb. K. G. 8, 1. 
ſelbſt ein Biſchof, die, welche Hirten ſchienen, aus Eiferſucht Zaͤnke⸗ 
reien, Drohungen, und maßten ſich gerne Herrſchaften an, wie die 
Tyrannenregierungen. Auch Conſtantin Hatte (ſ. Euſeb. Leben deſſel⸗ 
ben 3, 12. 4, 41. 42.) immer nur gegen bie Streitſucht unter 
den Bifhsfen zu ermahnen. - ' 

Faſt unzählige Synoben und zum Thell fehr vollzaͤhlige Concilien 
beliberirten und dogmatifieten bald wider, bald für. einander; balb 
machten fie die Hoftheologie, bald wurben fie von diefer inſpirirt. Auch 
perfönlicher Widerwille ſteigerte die Verfolgungsluſt, namentlich gegen 
den raftlofeften, dialectiſch conſequenteſten Hom ouſianer Athana⸗ 
ſius, der dadurch den ⸗Erzbiſchofsthron von Aegypten errungen hatte, 
und wenn man fein Dogma klar faßt, eigentlich in dem Vereinigen 
ber Eiffentialität und der Subftanz das Unterfcheibbare concentriren 
wollte. Nach ihm iſt das Effentielle (— das zum Gattfein Uns 
re) in Dreien, diefe Drei aber find doch nur in Einer Sub. 

anz. " 


fih nur für einen Ueberbli der einflußreichften Reſultate derſelben. 
1. Das erfte und fortdauernd wichtigfte ift, wie das Patriarchat 
von Rom allmälig ſich zu einem überwiegenden Einfluß auf bie groͤ⸗ 
Seren Goncilien erhob und bie Zaiferlichen Hofeinwirkungen minberte. 
Athanafius, 336 von Conftantin I. abgefegt, floh zu dem thaͤti⸗ 
gen Oberbifhof Julius I. nad Rom und veranlaßte dadurch erft eine 
größere Theilnahme ber Decidentalen an dem bis dahin nur für bie 
Graͤciſirenden bedeutend und verftändlic, geweſenen Logosftreite. Der 
Erfolg gab überhaupt das erfte auffallende WBeifpiel, daß, wer ber 
Bifhofsmaht zu Rom Gelegenheit, in entferntere Kirchengegenftände 
einzuwirken, verfchaffte, nicht leicht umfonft auf Eräftigen Beiſtand 
hoffte. Julius I. erklärte ſich 341 günftig für Athanafius und Mars 
cellus. 344 verfchaffte der alte Hofius von Corduba durch bie von 
ben Dceidentalen beherrfchte Verfammlung zu Sardica in Jilyrien für 
Mom ben Vorzug, daß, wenn Biſchoͤfe gegen einander Abfegungs - Klas 
gen hätten, wie eben bamals Athanafius in biefem Fall war, ber 
Dberbifchof der alten Hauptitabt, fofern er deßwegen angerufen werde, 
den Hauptpunkt, wer von den Nachbarn die Unterſuchung zu fuͤhren 
habe, beſtimmen ſollte. In bee Folgezeit behauptete man, daß fie 
als Delegirte nicht abzuurtheilen, vielmehr den Erfund nur in Rom 
vorzulegen haͤtten. Man folgerte bald daraus das noch Kuͤrzere, daß 
uͤberallher nach Rom appellirt werben duͤrfe und alsdann von bort 
©taats sLeriton, III. 33 


610 Concilien. 


die Entſcheidung zu erwarten fei. Man: ließ ſich ungerne daran erin⸗ 
nern, daß die Unterſucher doch immer in den henachbarten Gegenden 
(in partibus) gewählt, nicht aber roͤmiſche fein follten. Der ganze 
Dccident war an die „Principalität” der alten Hauptſtadt viel mehr 
gewöhnt, als der Drient an bie neue Reſidenz, Conftantinopel, mit 
deren Erzbifchof die gleichen Würbeträger ber großen Städte, Aleranbria, 
Antiochia, Epheſus zc., zu vivalificen leicht gereizt waren. Das alte 
Rom, mit feinem fuburbicarifhen Umfang, hatte mohlbefegte Kirchen 
genug, um ſchon für ſich allein eine bedeutende Synode verfammeln 
zu koͤnnen. Diefe Gefammtheit war nicht nur reich dotirt, fie glänzte 
audy noch durch Ueberrefte der früheren gelehrten Bildung; ber Ges 
Ihäftsgang, die Archive waren foweit geprbnet, daß Andere geme durch 
Anfragen dort fi) Raths erholten. Was Anfangs blos als zu ruͤck⸗ 
gefhriebene Antwort rescriptum hieß, ging unvermerft in bie mos 
derne Bedeutung des Mefcripts über. VDoch liefen es fi) bie Afri⸗ 
kaner nicht gefallen, daß im Anfang bes fünften Zahrhunderts ihnen 
von P. Zofimus farbicenfifche Kanones **) als nicaͤniſche Auctoritaͤ⸗ 
ten vorgehalten wurden. 

2. Da fon das zweite Detumenicum, 381 zu Conflantis 
nopel felbft gehalten, den Erzbifhof von Neurom über die andern weg⸗ 
und nächft an den von Altrom erhob, fo war Gefahr, daß diefer bald 
vollends ganz überfprungen werben koͤnnte. Doch gewann Leo J. ver 
möge feiner perfönlihen Autorität duch Valentinians IH. Gefeh, 
perennis sanctio gerfannt, vom J. 445, nad) welchem jeber vor das 
Bericht des römifchen Antiftes evocirte (occidentalifhe) Biſchof im Wei⸗ 
gerungsfall durch den Provinzftatthalter dahin ſiſtirt werden mußte, 
beträchtlich mehr als der conflantinopolitan. Patriarch dadurch, Daß 
das dritte Detumenicum (Kanon 28.) ihm eine Oberauflicht 
über das thraziſche, afiatifhe und pontifche Erzbisthum zugeſtand. 
Ueberhaupt hob Tih Altrom unleugbar vornehmlich dadurch, daß 
fein Primat viel Öfter duch Perfonen von überwiegens 
ber Kraft befegt war, als der durch die Nähe des Hofe ohnehin 
fehr genirte Bifchofsfig dee neuen Refidenz. 

Ä nd das Dogma betraf, mar es nun ganz confequent, baß ber 
neben dem Vater und Sohn in der Zaufformel genannte heilige Geift, 
wenn man ihn al& eine Perfon ertannte, auch den beiden ſchon al& pers 
ſoͤnlich anerkannten gleich und confubftantial gedacht wurde. Baſilius in 
feiner Scheift vom heiligen Geift 376 erkannte dies für ein ort 
Threiten der Einfiht in bie biblifche Offenbarung. Der militaicifche 
Berubiger bes Gefammtreihe, Theodofius I., berief 381.abermals 
nur Drientalen nad Gonftantinopel, und biefe vollendeten, als 
Sortfeger des nicänifchen Concils, die Lehre von der im Göttliche 
weſentlichen (in dem Efjentialen) einander gleichen Dreiheit 


—N — 





Id S. über dieſe wichtige Verw Soſt 
fhichteforfäper HL ae ic ee a aeafrtun pfttler In Meufels Ger 


\ Concilien. 611 


der Perſonen, welche doch nur Eine Subſtanz ſelen. Den roͤmi⸗ 

ſchen Patriarchen war, daß der dritte Kanon ihnen den von Conſtan⸗ 
tinopel gleichſtellte, ſo unangenehm, ‚daß viele von ihnen dieſes Con⸗ 
cil nicht für oͤkumeniſch erklaͤrten. Dennoch erklärte 'e8 ber Imperator 
und das chalcedonifche Concil für allgemein verbindlich. 

4. Hatte man drei confubftantiale Perfonen als Gott anerkannt, 
fo wurbe jegt die Frage: wie bie zweite mit Jeſus vereinigt fei? zum 
Problem. War Jeſus nur: Leib und Geele, der Logos aber der Geiſt 
in ihm? (mie Apollinaris die Stelle Johannis 1, 18. verftand) oder 
war Jeſus ein vollftändiger Menſch aus Leib, Seele und Geift, aber 
vom erften Augenblick ber Empfängnig an mit bem Logos unzer: 
trennlich vereint? Dies glaubte auch Neſtorius. Behutſam aber 
nannte er die aus Jeſus und dem Logos vereinte Perſon Chriſtus 
und lehrte daher, die Maria als bie Chriftusgebärerin (Chriſto⸗ 
tokos) zu verehrten. Der gegen ihn eiferfüchtige Cyrill, Aterandriens 
Patriarch, ſetzte das noch Wunderbarere entgegen, daß fie Gottesgebäs 
terin (Theotokos) zu nennen: fei, ungeächtet biefe Benennung allzu eins 
feitig war, meil fie den Glauben, baß ſie zugleich, einen Menfchen, 
aber. einen Gottmenfhen, geboren babe, nicht ausdruͤckte. Da bes 
Neſtorius Begriff von Chriſtus biefen als vereinten Gottmens 
ſchen (Theanthropos) bezeichnet, fo wäre fein. Ausbrud der im Jahre 
325 und 381 feftgefegten Rechtglaͤubigkeit entfprechender gemwefen. Den: 
noch fiegte 431 Cyrillus über ihn, weil er die Wefchläffe der Verſammel⸗ 
ten gegen die Proteftation ber kaiferlihen Commiſſaire, ehe das antiochenis 
ſche Patriarchat zu Ephefus eintraf, Üübereilte, ben Beitritt ber roͤmiſchen 
Abgeordneten gewann und Xheobofius II. die Heftigkeit der Aegypter 

- fcheuete. Neftorius wurde von dem Katfer aufgeopfert und bies fo graus 
fam, daß er, gerade in ein ägyptifche® Kloſter erilirt, dort feine Maͤßigung 
und richtigere Einficht büßen mußte. Dennoch, kam biefes auch faft al: 
lein von Orientalen befuchte, gewaltſam behanbelte, Außerft uneinige, in 
der Lehre nichtorthodoxe Concil ald das dritte unter die oͤkumeniſchen, 
und dem Kirchenfrieden wurde durch kaiſerliches Unterhanbeln zwiſchen 

“den Antiocheneen und Aegyptern, auch durch eine etwas gefchmeibigere 

Glaubenserklaͤrung des Cyrillus 432 nachgeholfen. 

5. Genau genommen war biefes epheſiniſche fogenannte 
britte dtumenifche Concil nicht viel beffer, ald das 449 ebenfalls 
nad) Ephefus verfammelte, auf welchem der alerandrinifche Nachfolger 
des Cyrillus, Dioskurus, durch die Knittel Agpptifcher Mönche die meiften 
Berfammelten zwang, einen Möndysabt, Eutycyes, welcher, wie Cyrill, 
die Gottheit in Chriftus allzu einfeitig hervorhob, für rechtglaͤubig zu er- 

klaͤren. Den römifchen Legaten gebührt das Lob, daß fie fi) dem Uns 
fug mwiderfegten und einige Andere ermuthigten. Leo dee Große hat den 
Ruhm, daß er durdy einen faft fpmbolifc, gewordenen Brief an den mit 
ihm einſtimmigen, aber dadurch unglüdtic gewordenen Flavian, den 
Patriarchen von Neucom, bie Theorie, welche mit der nicänifchen Glau⸗ 

bensformel am beften uͤbereinkommt, fcharfjinnig enneigehe und bei 


612 Goncilien. Goncordate. 


- 8. Theoboſius IT. vertheibigte. Zum Gluͤck kam deffen Schwefter, Puls 
cheria, an welche Leo als an die. Pulcherrima :zu fchreiben pflegte, 
durch ihren Gemahl, Marcian, ‚zur vollen Herrſchermacht. Ueber 600 
‚ Bifchöfe wurden 451 zu Chalcebon verfammelt, das Dioskurifche Concil 
für eine Raͤuberſynode erklärt, und nad) Led's Darftellung ber Ver⸗ 
einigung ber zweiten Perfon in ber Gottheit (bed Logos) mit der ganzen 
Derfon Jeſu das Wunder einer „untheilbaren, untrennbaren, aber doch 
ungemifchten und nichts "umändernden” Union zweier Perfonen 
in Eine, ald das Konfequentefte anerkannt. Die fhon einmal feit 325 
und 381 fanctionirten Worausfegungen führten nöthigenb auf biefe 
Falgerungen. Und ber römifhe Stuhl, weicher fonft felten in boctris 
naire Beſtimmungen ſich einläßt, bat bie Ehre, hier ein Beifpiel von 
folgerichtiger Lehrentwidiung gegeben und geltend gemacht zu haben. 
Auch eine Sammlung allgemeingültiger Kanones (ſie fteht in Juſtellus 
Bibliotheca juris canonici Tom. I. von ©. 29 an) wurde zu Chalces 
don ſanctionirt. 

Bis hieher gehen die auch von ben Proteftanten in ber Reformas 
tiongzeit anerkannten vier oͤkumeniſchen Goncilien. Man 
mürde damals geglaubt haben, daß fie Chriften zu fein. aufhörten, wenn 
fie fi nicht für diefelben als ſpmboliſch, d. i. als für gültige Unter 
ſcheidungsdenkmale, erflärt hätten. Da 1) das Eoncil von 325, 381 
und 431 faft ganz nur aus occidentalifhen Biſchoͤfen beflanden hat; 
2).fe nur wie Stantsgefege durch die Beftätigung dee Imperatoren 
oͤkumeniſch, dad ift, ‚für ihr Mömerreich als die Dekumene geltend 
gemacht wurden; 3) Ihre Baſis .aber meift nicht. biblifch « urchriſtlich, 
fondern nur patriftifch war, fo behält unftreitig die prüfende Nachwelt 
das Recht, die Fortdauer ihrer Gültigkeit, wie bei andern, aus einem 
andern Weltzuftand überlieferten, Staats e und Kicchengefegen nur nad) 
ihren Gründen und nicht: nady duferer Begalität zu ſchaͤtzen, ohne daß 
über ihre Nichtverbindlichkeit ausbrüdliche neue Verordnungen nöthig find. 

Dr, Paulus. 

Gonclave,f. Papſtwahl. 

Eoncordate. In den Fragen des öffentlichen Rechtes, fe 
. 08 des Staates ober der Kirche, ift die vorherrfchende und durchaus nicht 
zu verdrängende Autorität die des Wernunftrehts. In der Sphäre 
des Privatrechts iſt folhe Autorität zwar gleichfalls Achtung gebie⸗ 
tenb „doch mehr nur, wo es fir) delege ferenda, alfo von einer ber 
« pofitiven Geſetzgebung zu ertheilenden Vorfchrift oder Richtſchnur für die 
von ihr ald Regel für die Zukunft zu treffenden Beſtimmungen hans 
beit. Sind aber einmal dieſe Beflimmungen getroffen, alddann gelten 
biefelben, aud) wenn fie dem Vernunftrecht widerfprechen oben von ihm 
abweihen, weil nämlich die Autorität der Staats⸗ (oder Kirchen⸗) 
Gewalt fie in Kraft erhält und dns Vernunftrecht felbft jegt ihre Gels 
tung einfchärft, bis zum Zeitpunkt ihrer durch die nämliche pofitive Ges 
feggebung vorzunehmenden Reform. Etwas Anderes aber findet flatt 
in Anfehung ber Fragen bes öffentlichen Rechts. Denn wohl mag 


Concordate. 613 


die Derfontfication der (bürgerlichen ober kirchlichen) Geſellſchaftsge⸗ 
twalt und die Form ihrer Ausuͤbung durch poſitives Geſetz beftimmt, 
auch — innerhalb der ihr rechtlich zuftehenden Sphäre — 
gültig von diefer Gewalt verorbnet werben, was, ber Erftrebung des Ges 
ſammtzwecks willen, gefchehen folle oder nicht gefchehen dürfe. Aber 
ben Umfang und die Begrenzung jener Sphäre zeichnet nur bag 
Bernunftreht, und diefes allein bictirt den Inhalt des Gefells 
fhaftspertrage, ‚welcher die Quelle, ober das Fundament alles oͤf⸗ 
fentlihen Rechtes ift, und ſtellt die Idee von Staat und Kirche auf, 
welcher das in beiden nicht nur für ihre einheimifchen, fondern auch für 
ihre auswärtigen oder wechfelfeitigen Verhaͤltniſſe zu flatuirende „Recht, 
wenn ed, wahres Recht fein fol, entfprehen und. dienen muß. . Diefer 
Anfiht gemäß werden wie auch bei der potliegenden Stage von Con⸗ 
cordaten meift den vernunftrehtlihen Standpunkt fefthal- 
ten und von bier aus theils über fie bie allgemeinften Srundfäge und 
Anfichten aufftellen, theils die pofitiv srechtliche und hifkorifche Seite bes 
Gegenftandes fummarifch beleuchten. . - ‘ en, 
Goncordate — in bem hier -befprochenen engern Sinn — 
nennt man bie Webereinlömmnifie der Fuͤrſten oder Regierimgen mit 
dem römifchen Papft über Angelegenheiten — Intereſſen und Rechte — 
einer Eatholifchen Landes⸗ oder. Nationalkicche,. bezüglich theils auf ders 
feiben einheimifche Verfaffung ; Vermoͤgens⸗ und Ehrenrechte .u. f. w., 
theils auf ihr Verhaͤltniß zur Staatsregierung und. auf jenes beider zum 
tömifhen Stuhl. Die Geſchichte der Concorbate ſtellt die: Beranlafs 
fung und Entfiehungsmeife,. auch Gegenftand. und Inhalt, Geiſt, Wir⸗ 
fung. und Dauer der. in verfchiebenen Zeiten und Orten zu Stanbe:gefoms 
menen' Verträge dieſer Art dar z das proTitiv.e kanoniſche oder Klirs . 
chenxecht lehrt danv, twelche ber in -folchen Goncordaten getroffenen 
Beſtimmungen jeweibs merdtifch guͤltig oder in ‚anerkannter Rechtskraft 
ftehend: ſeien, auch wie man fie auszulegen und anzuwenden habe. Die 
rechtsphiloſophiſche und: die polstäfche Lehre endlich unterſucht 
Die Jen Concordaten nach ihrem allgemeinen: Begriff einmohnende.,; Hetr.. 
nunftrehtliher umd.:politifche Matmr,. würdiget hiernachchbie 
Befugniß zur Abſchließung ſolcher Ueueintömmmniffe auf Seite. des 
Könige wie des Pupftes, beſtimmt bag: Maß amb:bie Bedingungen ihrer 
vernünftig anzugrtennenden Med taiaaftı oben: Wenbindiichkkit,: :alfo 
aud jene der Zulaͤfſigkeit ihres Widnertwfd. oder ihrer Nichtbeobach- 
tung, endlich die non. ihnen in der Regel zu erwartenden polftif.h.en 
Vortheile oder Rachtheile. DMe:turge Beantwortung dieſer hier 
angedeuteten allgemeinen Fragen iſt unſere alleinige Aufgabez denn 
was die hiſtoriſche md, die poſitiv xrechtlach e Seite betrifft, ſo iſt 
ihre Darſtellung theils ders. Zwecke bes Staats⸗Lexikons minder abgehoͤ⸗ 
eig, theils wird fig, inſofern unſer, Zweck ſie erheiſcht, fuͤglicher unter 
andern. Rubriken gegeben, namentlich: unter; den allgemeinen ·Artb⸗ 
keln Kirchen recht und Kirchenverfaſſung, fobann quch unter 


LT DE Er re ! er r . A . » 


614 Concordate. 


den von ben gewöhnlichen Hauptgegenſtaͤnben ber Concordate handelnden 
befondeen Artikeln, als :Annaten, Beneficien u. f. w. 

Die auf den unwiderſprechlichſten Thatſachen und Autoritäten bes 
ruhende, jedem unferer Lefer nach‘ den Hauptmomenten befannte Ges 
fhichte des Papftthums zeigt uns den Bifhof von Rom nad einer 
Sahrhunderte lang angebauerten,, bemüthigen, pon irdiſcher Gewalt und 
Hoheit fernen Stellung allmälig, duch die Gunſt der Umſtaͤnde und 
deren beharslich Fuge Benugung, zu ausgezeihnetr Würde und Macht 
in Eichlihen und bürgerlichen Dingen emporftelgen, dort zwar Anfangs 
nur ale der Erfte unter Gteichen, und felbft biefen Rang mit mehreren 
andern Nebenbuhlern, insbefonbere mit dem Patriarchen von Con ftans 
tinopel theilend, hier aber 'zuerft aus der Empörung der Römer gegen 
die bilderftürmenden byzantiniſchen Kaifer, ſodann aus ber Gnade: ber fräns 
Eifchen Großhofmeifter und nachmals Könige des carolingifhen Ges 
ſchlechts Weranlaffung und Titel einer — immer noch ſchwankenden, 
auch abhängigen — fürfllihen Macht ziehend; dann aber, nad) abwech⸗ 
felndem Vorſchritt und Rüdfchritt, unter dem Schirm ber jetzt eingebros 
chenen völligen Finſterniß und Barbarei, durch Genie und Kühnheit ſich 
nicht nur zum unumſchrtaͤnkten (oder doch nur wenig befchränkten) Haupt 
bee lateinifchen Kirche emporſchwingen, ſondern aud zum mweltiihen 
Herrfcher über die abendländifche Chriftenheit, zum Lehensherrn vieler 
Könige und Fürften und zum Oberrichter aller. In biefer Lage. ber 
Dinge, ba bie meltlihe-Macht den fteigenden Anfprüchen des Papftes 
ober überhaupt der Kicche,. in deren Namen ihe gebietendes Haupt aufs 
trat, weder mit geiftigen Waffen, worin nämlich Papft und Kterus Ihe 
überlegen. waren, erfolgreichen MWiderftand leiſten, noch; auf ihre. mas 
teriellen Kräfte — gegenuͤber der Furchtbarkeit des Bannftrahls und ber, 
theils buch Aberglauben und Fanatismus, theils. durch unlautere: welts 
liche Intereffen, im Dienft oder Buͤndniß des Papftes erhaltenen Maſſen 
und Häupter — ſich verlaffen konnte, miochte oft wirklich rathfanr ober 
jur Abwendung größern Unhells nöthig fein, mit Mom durch förmilichen 
Friedensſchluß ſich auszuſoöͤhnen, und einerfeits Durch genauere Be⸗ 

g der paͤpſtlichen Rechte, deren ungemeffener Ausdehnung ein 
tel zu ſehen, andererſeits die Rechte bes Staates durch die bafür ers 
wirkte feterliche Anerkennung beitimöglich zu. wahren, Entgegen mochte 
auch der Dapft, der wenigſtens mit feinen irdiſchen Waffen gegen jene 
bee entfchloffenern und beharrlichern Könige nicht. fo leicht auflommen 
Eonnte, in folchen Friedensvertraͤgen oder Concorbaten das Mittelber Rettung 
von augenblidlicher Gefahr oder. der Sicherftellung koſtbarer eigener ober 
kirchlicher Intereſſen für de Zukunft finden. Nichts alſo iſt natürlicher, 
ale daß — zumal im ben damaligen finftern, an gefunden Begriffen 
über. Staat ‚und Kirche und das zwiſchen beiden vernunftrechtlich. be⸗ 
ftehende Verhaͤltniß voͤllig verarmten Zeiten — König und Papft nicht 
ungern zu. Concordaten ihre Zufluht nahmen, auch ‚nicht felten da» 
duch fuͤr⸗ſich ſeibſt ober: fuͤr die von ihnen ‚vertretenen. Nationen -ober: 
Kirchen weſentliche Vortheile errangen oder Nachteile abwandten. 


N 


Soncordate. 615 


Doc wurden frellich Im ber Megel die weltlichen Häupter dabel übers 
liftet; dem kluͤgern Priefter blieb meiftens allein der Gewinn. 

Dom Standpunft der Politik (infofern dieſe in kluger Erſtre⸗ 
bung des eigenen Vortheils nad) Maßgabe ber jeweild vorliegenden 
factifhen Verhaͤltniſſe und Umftände befteht) fähelnt hiernach, daß die 
Schließung von Goncordaten auf Seite -desienigen, dem’ fie wirklich 
Vortheil bringen, zu billigen und zu empfehlen ſei. Aber es kann ſolches 
gleichwohl nur unter einer doppelten Vorauoſetzung behauptet 
werben, fürs Erſte nämlich, daß nicht etwa berfelbe Vortbeil auf einem 
andern etwa näher gelegenen, überhaupt paffenderen Wege nöd, leichter 
ober vollftändiger fich hätte erreichen laſſen, und dann zweitens, daß durch 
Schließung des Concorbates und dur feinen Inhalt weder materiels 
les noch formelles Recht irgendwo fei verlegt worden. Won diefem 
für uns überall mwichtigften Standpunkt des Rechtes nun iſt zwar 
nicht dagegen zu erinnern, alfo die rechtliche Kraft des Concordates 
durchaus nicht zu beftteiten, wo immer bie ſolchen Vertrag fchließen- 
den Parteien entweder -blos: über eigene und ihrem freien Verfuͤ⸗ 
gungsrecht unterfichende Gerechtfame oder Intereſſen ſich verglichen, 
oder — menn von Rechten. dritter Perfonen ober Perfönlichkeiten 
‚bie Rede ift — wo eine ihnen natürlich zukommende ober factiſch 
ertheilte Bevollmäcdtigung von Seite biefer dritten vorliegt; aber 
gewoͤhnlich fehreiten die Concordate Über die durch Tolche boppelte Be⸗ 
ſchraͤnkung gezogene Linie weit hinaus, Die bem König als Staates 
oberhaupt vernunftrechtlich zuftehenden jurs circa saora nämlich, 
und ebenfo die dem Papft vermöge der Grundlehren ber Tatholifchen 
Kirche zuftehenden wefentlihen Primatrechte find, weil zugleich 
Dbliegenheiten involvirend oder aus Öbltegenheiten -fließend, kein 
Segenftand bes Vergleiche, d. h. ihre Abtretung ober vertragsmeife 
Beſchraͤnkung iſt unzuldffig und rechtlich unguͤltig. Doch mag 
ihre Anerkennung oder befondere Gewährteiftung oder das 
Aufgeben von dawider erhobenen rechtskraͤnkenden Anſpruͤchen nad) 
Umftänden durch Unterhandlungen erwirkt und unbedenklich in Concors 
baten niedergelegt werden. Auch mag, waß-ber König oder der Papft 
etwa blos privatrechtlich oder blos vermöge. willkuͤrlicher Feſtſetzung 
(durch Verordnung oder Convention), überhaupt vermöge rein hiſtori⸗ 
ſchen Rechts befigt, auf aͤhnliche Weife, wie es entſtand, aud) wieder 
abgefchafft oder geändert werben, und iver, ob’ König oder Päpft, das 
bei zu Gunften ber Kirche unterhandelt, d. h. ihr wahres Recht oder 
ihr wahres Intereffe zut Anerkennung und Befeſtigung zu bringen 
ſucht (gewöhnlich jedoch ift nur von paͤpſtlichen und von koͤnigli⸗ 
hen Äntereffen die Rede), der mag auch als ihre Bevollmächtigter ers- 
feheinen oder wenigftens ihrer‘ nachfolgenden — ausdruͤcklichen oder ftills 
fhweigenden — Genehmigung ficher fein. Ä 

Selbfe unter Vorausfegung ber, in ber bezeichneten Sphäre: ans 
zuerkennenden, rechtlichen Zulaͤſſigkeit und auch Gültigkeit der Goncors 
date bleibs gegen ihre politiſche Raͤthlichkeit, zumal fuͤr den König 


NS 


616 Concordate. 


gar Manches zu erinnern. Der Papſt freilich Hat kaum ein anderes 
Mittel, das, was er im Verhältniffe zum Staat für ſich oder für bie 
Kiche wuͤnſcht, zur Verwirklichung zu bringen, al® Unterhandlungen 
und Verträge. Aber nicht alfo der König ober der Staat. Die 
fer nämlih kann es meiftens fhon für ſich allein thun, durch 
Geſetz oder Verordnung. In der Regel genügt ſchon fein ein> 
feitiger Wille zur Seftfegung ſolcher Verhaͤltniſſez er bebarf bes 
Vertrages mit bem Papfte nicht, wiewohl etwa bie Vorftellungen 
oder Bitten des legten — zumal wenn fie mit ben Wünfchen ber 
katholiſchen Landeskirche und mit dem Sintereffe bes Innern Friedens 
übereinflimmen — Veranlaffung und Beweggrund mit fein mögen 
zu einer feine Wuͤnſche beftiebigenden Feſtſetzung. Nur eine große 
Verwirrung ober Verwechſelung ber Begriffe konnte dahin führen, bag 
man mit dem Papft als ſolchem fi in ſtaats⸗- oder völferredht> 
lihe Verhandlungen und Verträge einließ; und felbft der Name 
Concordat deutet wenigftens auf die Ahnung eines mefentlichen 
Unterfchiebes ber freundlichen Zugefländniffe oder gegenfeitig befriedigens 
. den Erklaͤrungen über kirchliche Dinge von ben. ein firenges Recht er= 
zeugenden ober eigentlich diplomatifchen Verträgen hin. Freilich das 
mals, als ber Papft die Anmaßung auch einer weltlichen Herrſchaft 
über die chriftlihen Staaten und Könige fiegreich behauptete, und in 
den Zeiten ber ganz dunklen Begriffe und verkehrten Anfichten im 
Staates und Kirchenrecht, und als foͤrmliche Kriege mit dem Papfte 
geführt wurden über kirchliche wie über weltliche Dinge, da blieben zur 
Schlichtung der Zerwürfniffe nur Friedensſchluͤſſe übrig, und da 
unterfehieb man nicht oder nur wenig zwiſchen Mapft: ald Oberprieſter 
und Papft als Landesherr. Ebenfo unterfchied man nicht oder nur 
wenig zwiſchen König ald Stantshaupt und König als Chrift ober- 
Katholik; man bewarb ſich, aus wahrer oder verftellter kirchlicher Un⸗ 
terwürfigfeit gegen, ben heiligen Stuhl, um ;gutmwillige, babei meift 
theuer zu erkaufende, Zugeftändniffe von Seite des Papftes, wo man 
einfach "hätte befehlen oder feitfegen können; und man vergaß hinwie⸗ 
ber bei den Bugeftändniffen, bie man dem Papſt machte, über der 
vermeinten religiöfen ober kirchlichen Pflicht der wahren Pflichten des 
Staatshaupts. . Ä 

.. Deut zu Zage find, wenn nit fchon allgemein anerkannt, fo 
doch folcher Anerkennung unter ben Stimmberectigten nahe die nach⸗ 
fiehenden Säge: 

‚ 1) Der Staat als folder, mithin auch bee Regent als: 
folder, bat keine Religion und gehört Feiner Kirche an. 
Es iſt in Bezug auf. feine Rechte und Pflichten gegenüber der unter. 
ben Stantögenoffen, beftehenden Kirchen oder Kirchengefellfchaften durch⸗ 
aus gleichgültig, ob er für feine Perfon. ber einen oder ber andern, 
oder auch gar keiner angehörte. Concordate katholiſcher Kürften 
mit dem Papft unterflehen daher durchaus Leinen andern Principien, 
als die von proteſtantiſchen (oder irgend fonfk einer Kirche ange⸗ 


Concordate. 617 


hoͤrigen) Megierungen mit demfelben gefchloffen werben. Der König 
als König ift weder Katholik noch Proteftant, und ald Katholik 
ift er eben Kirchenglied wie jedes andere, und alfo im Berhältniß 
zum Papft ohne irgend eine befondere Berechtigung oder Schuldig⸗ 
keit. Mag er aber Proteftant oder Katholik fein, fo ift er jedenfalls 
gegenüber den Staatsangehärigen verpflichtet, derfelben religioͤſe 
Ueberzeugungen zu ehren, und ben vorhandenen oder neu zu errichten⸗ 
den Kirchen, infofern fie weder nad) dem Inhalt ihrer Lehren noch 
nach ber Form oder dem Geift ihrer Einrichtung bem Staate nach⸗ 
theilig ober gefährlich find, Anerkennung und Schuß zu gemähren;z ja 
er ift auch verpflichtet und durch felbfteigene® hohes Intereſſe dazu aufs 
gefordert, die Gründung ſolcher Kirchen und kirchlichen Anflalten, ins 
fofern fie nicht ſchon ohne ihn felbfiftändig in's Leben traten, durch 
felbfteigenes thätiges Einwirken zu veranlaffen oder zu beförbern,. und 
überhaupt durch weiſe (alfo, verfteht fich, dee Freiheit der Kirchen und 
ihrer Angehörigen unnachtheilige) Kürforge, Beſchirmung und ‚Pflege 
deren Gedeihen thunlichft zu fihern.und Uebel von ihnen abzuwenden. 
. 2) Der Staat hat ferner — und abermal ohne Unterfchied der pers 
fönlichen Religionseigenfchaft des Regenten — das Recht und die Schul: 
Digkeit, den von Seite der Kirchen oder kirchlichen Satzungen, Anftals 
ten, Einrichtungen oder Perfonen dem Staat oder den Staatsangehoͤ⸗ 
tigen drohenden Gefahren, Nachtheilen oder Rechtsverletzungen mit — 
gefeggebender und vollftredender — Autorität verhinbeend oder hem⸗ 
mend entgegenzutreten; und ed kann, mofern nur bie Gewiſſensfreiheit 
ber Einzelnen ungekraͤnkt bleibt, au) bie vom Staate vertheidigten In⸗ 
tereffen wirklich die Anerkennung der Verſtaͤndigen verdienen und bie 
Nothwendigkeit oder Zmedhmäßigkeit der zu ihrer Wahrung gegenüber 
ber Kirche getroffenen Verfügungen einleuchtet, dieſe Kirche fi) dagegen 
immer auf ein ihr eigenes, etwa aus früheren Verleihungen herruͤhren⸗ 
des oder auch vermeintlich felbftftändiges und unantaftbaree, Recht berus 
fen; denn fie ift in. der der Staatdgewalt zufommenden Sphäre Un: 
terthbanin wie jede andere Gefellfchaft,, und .alle Verleihungen - ber 
Staatsgewalt führen die ſtillſchweigende Beſchraͤnkung mit ſich: „uns 
befhadet dem gemeinen Wohle”. N 
3) Was die Staatögewalt in - diefer ihr rechtlich. angehfrenden 
Sphäre feftfegt, befiehlt oder verbietet, anerkennt oder vewirft,. anords 
net, verändert oder abfchafft, das hat vollkommene Gültigkeit fhon ale 
lein durch ihren erflärten Willen und bedarf alfo- keiner meitern 
Einwilligung ober Genehmigung weder von Seite des Papſtes noch 
von jener der eigenen Landeskirche. Zumal aber fteht die Staate- 
gemalt mit dem auswärtigen Kirchenhaupt oder Oberpriefter als ſolchem 
in gar Eeinem eigentlichen Rechtsverhaͤltniß, fondern bat von ihm 
lediglich nur darum Motiz zu nehmen, weil oder infofern eine katho⸗ 
lifhe Landes: Kirche (deren — dem Staat, ungefährlihe — Mei⸗ 
nungen, Glaubensfige und Statuten zu: ehren die Regierung allerdings 
ſchuldig ift) mit demfelben in Verbindung und kirchengefetzlich geregels 


618 GSoncorbate. 


tee Wechſelwirkung zu ftehen begehrt. Daher tft alfo eine unmit> 
telbare Verhandlung mit bem Papft niht nothwendig, fondern 
es genügt eine — nad) Erwägung der Verhältniffe und nad) gepfloges 
ner Ruͤckſprache mit den MWortführern der Landeskirche — erlaſſene eins 
fahe Erklärung der Staatsgewalt, daß fie es in Anfehung ber zwi⸗ 
fhen der Landeskirche und dem Papft zu regelnden Berhältniffe fo 
oder fo gehalten wiffen molle, d. h. daß fie nur eine ſolche beſtimmte 
Art der Wechſelwirkung erlaube ober fehirme, und baß fie der auf ihs 
tem Gebiet beftehenden Latholifchen Kirche diefe ober jene Rechte, Pris 
vilegien, Einrichtungen u. f. w. zugeſtehe oder verleihe ober auch vers 
weigere. Freilich ift, was zumal das Leste betrifft, dabei Gefahr bes 
Mißbrauchs, Gefahr der ungebührlihen Beſchraͤnkung oder Unterbrüs 
kung der Kirchenfreiheit vorhanden. Aber dhnlihe Gefahr des Miß⸗ 
brauche . gibt es bei allen Rechten ber Staatsgewalt, und das alleinig 
zuverläffige Mittel, ihr vorzubeugen ober fie abzuwenden, befteht in einer 
guten, ben wahren, vernünftigen Geſammtwillen in Herr 
fchaft fegenden und auch bie wefentlihen materiellen Rechte bei 
Volkes durch beſtimmte Gewaͤhrleiſtung fhirmenden VBerfaffung. 
Dhne biefe ift durchaus jedes Recht preisgegeben der factifchen Will⸗ 
tür. Uebrigens mag mitunter ein Concordat zugleich mit ber Eigen⸗ 
[haft eines conftirtutionellen Geſetzes begabt werden und dann 
als folches auch von wahrer Mechtsbeftändigkeit fein. 

4) Wenn, nad) den bisherigen Betrachtungen, felbft zu Reguli⸗ 
rung der ausmärtigen Berhältniffe der Kirche (d. 5. ihrer Verhaͤlt⸗ 
niffe zum Staat) die Schließung von Concordaten ein unpafiendes 
und bedenkliches Mittel ift, fo muß daffelbe in noch weit höherem 
Grade anerkannt werden, wo es fi) um bie einheimifchen ober ins 
nern Verhältniffe einer Landeskirche handelt. Hier fteht nämlidy kei⸗ 
nem der concordirenden heile das Beſtimmungsrecht, ja dem König 
als ſolchem nicht einmal eine zählende Stimme zu. Die Kirchen⸗ 
gewalt allein oder die Kirchengemeinde fegen. bier mit freier, 
felbſteigener Autorität das ihnen Gutbüntende fell. Der Koͤ⸗ 
nig kann dann wohl, wenn das Statut ihm als ſtaats gefaͤhrlich 
erfcheint, daffelbe der äußern Rechtskraft berauben, oder ed kann auch 
fein kundgethaner Wille die Kirche zur Abänderung ihres; Gefeges bewe⸗ 
gen. Er felbft aber kann dabei niht befehlen und braudht nicht 
darüber zu concorbiren. Dev Papft aber mag zwar auf die Ges 
feßgebung der Landeskirche ben ihm durch die allgemeinen canoniſchen 
Gefege oder. die freimillige Obedienz ber Gläubigen gewährten theilnehs 
menden Einfluß ausüben; doc, als vollberechtigter Gefesgeber aufs 
treten und in dieſer Eigenfchaft mit dem König einen Vertrag. eingehen 
über Mag und Weiſe ber Ausübung, das kann er rechtlih nicht. 
Den Bifchöfen der Landeskirche, mit Zuziehung bes übrigen Klerus 
und auch bee Gemeinde, fteht die Geſetzgebung zu; und nirgends we⸗ 
niger als bier kann ber Papſt' eine ſtillſchweigende Bevollmaͤchtigung 
zum Unterhandlen im Namen der Kirche geltend machen, weil gerade 


Concordate. 619 


hier er gewoͤhnlich als Partei gegenuͤber den Landeskirchen auftritt, 
d. h. mit Anſpruͤchen der Herrſchaft und Tributherrlichkeit, welche von 
dieſen Kirchen billig abgelehnt und verworfen werden. 

5) Wenn alſo in ſolchen das Innere Kirchenrecht betreffenden 
Dingen Goncordate zwifhen Papft und König abgeſchloſſen werden, 
aber auch nicht minder, wenn. fih’8 um das Verhältniß zwifhen Kits 
he und Staat handelt, fo tritt gar oft der Fall ein, bag man de 
jure tertii verhandelt und contrahirt, mithin unbefugt und ohne vers 
nunftrechtlih anzuetkennende Rechtswirkung. Wenn der Papft 3. 3. 
dem König das Recht, die Biſchoͤfe und andere Kirhenhäups 
ter zu ernennen, überläßt ober überträgt, und diefer ihm dagegen 
eine Ausdehnung ber nad vernünftigem, d. h. auf echt katholiſch⸗ 
chriſtlicher Baſis ruhendem, Kirchenrecht anzuerkennenden Primats 
Rechte geftattet, oder eine Zributpflicht bee Landeskirche gegen 
ben heiligen Stuhl einführt oder bekräftiget; fo haben beide Theile vers, 
ſchenkt oder abgetreten, mas ihnen felbft nicht angehört; fie haben rein 
über das Recht von dritten Perfonen verfügt. Ebenfo wenn bie 
Froͤmmigkeit des Königs eine dem Intereſſe der guten Rechtsverwal⸗ 
tung nachtheilige Ausdehnung der geiftlihen Gerichtsbarkeit 
nad) Perfonen oder Sachen dem Papfte bewilligt, 3. B. auch die buͤr⸗ 
gerliche Gültigkeit gemiffer Ehen von dem Ausfpruc der Curie abs 
haͤngig macht und nicht nur Geiftliche, fondern auch Laien in gewiſſen 
Sällen der uncontrolirten Strafgewalt der Kirche preisgibt, wenn fie 
ben Bifchöfen die Herifchaft über die Schulen einrdumt, fogar zur 
Miedererrichtung der aus ben meifeften Beweggründen aufgehobenen 
Klöfter und zur Ueberlaffung bes Jugend-Unterrichts an bie 
Moͤnchsorden ſich verpflichtet, die Unterdruͤckung aller der geiftlichen- Aus 
toritaͤt mißfälligen Bücher und bie Beflrafung ber etwa burch freimuͤ⸗ 
thigen Zabel kirchlicher Mißbraͤuche gegen den Stolz bes Klerus ſich 
Verfündigenden verheißt, den WBorfchriften der Nationalötonomie zum: 
Trotz die ungemefiene Vermehrung ber Befisgthümer ber todten 
Hand geftattet, endlich die katholiſche Religion zur Staatsreligion 
erttärt, ihre Anhänger mit politifhen und bürgerlihen Worrechten- 
begabt und alte, auch bie fpäteften Regierungsnachfolger zur- 
unverbrüchlichen Beobachtung und Handhabung aller folder Concor⸗ 
bats = Artikel verpflichten will: fo werden offenbar durch folche Uebereins 
koͤmmniſſe die Rechte und Intereſſen der Staatsbürger, und, ins 
ſofern wenigſtens der Staat ein conftitutioneller ift, auch bie 
Rechte der Volksrepraͤſentation, als Theilnehmerin an ber ges 
feggebenden Gewalt, gekraͤnkt. Daher erflärt und rechtfertigt ſich 
auch der Widerſtand, welchen im J. 1817 die franzoͤſiſche und 
die bairifche Deputirtens Kammer ben in befagtem Jahre von K. 
Ludwig XVIII. in Frantreih und 8. Marimilian Joſeph 
in Batern mit dem Papft eingegangenen Concordaten entgegenfegten, 
und welcher dort bie Kolge hatte, daß das — Übrigens verglichen mit 
dem zweiten noch ziemlich erträglich Iautenden — franzöfifche Cam. 


620 Concorbate. 


cordat gar nicht gefeslich verfündet, fondern blos factifch in eini⸗ 
gen Punkten in Vollzug gefegt wurde, bier aber, dag wenigſtens 
einige den ganz Deutichland in Betruͤbniß und Erflaunen feßenden 
Inhalt des (von dem Domherrn, nachmals Biſchof und Cardinal Höf- 
felin unterhandelten) bairifhen Goncorbate3 milbernde koͤnigliche 
Erklärungen (insbefondere im 3. 1821) ergingen, auch der Vollzug der 
bedenklichſten Punkte verzögert und zum Theil unterlaffen wurde. 

EGs iſt, wie wir bereits oben bemerkten, unfere Abfi cht nicht, in 
den Inhalt der beiden angefuͤhrten oder der vielen uͤbrigen in der auf 
Napoleons Sturz gefolgten Zeit von den verſchiedenen europaͤiſchen Re⸗ 
gierungen mit dem Papſt geſchloſſenen Concordate naͤher einzugehen, und 
woc weniger, die Geſchichte und Kritik aller früheren Concordate 
von dem berühmten Wormfer ober Galirtinifhen (v. 3. 1122) 
an bis auf die Neuzeit zu geben. Wir vermweifen dafür unfere Leſer 
blos auf Ernft Muͤnch's „vollftindige Sammlung aller äftern und 
neuern Goncordate nebft einee Gefchichte ihres Entſtehens und ihrer 
Schickſale“ (2 Bände, Leipzig, Hinrich’fhe Buchhandlung 1830, 1831), 
worin auch alle bedeutenderen Quellen und Hülfsmittel angegeben find. 
Wir thun diefes übrigens, ohne die — wie und dünft oft allzu ſchar⸗ 


fen — Urtheile des Berfaffers 1) über bie in feiner Sammlung bes 


eührten Perfonen und Sachen fämmtlich zu unterfchreiben, ſondern be⸗ 
ziehen uns blos auf feine Überjichtliche Zufammenftellung von Thatſa⸗ 
hen, Actenffüden und literarifchen Hulfem: tteln. 

Nach dem bisher Geſagten haben wir bie Concorbate , meift nur 


ale Geſetze zu betrachten und zu beurtheilenz; denn fie f ind in ber. 
That, nad) Gegenſtand und Inhalt und beabfichtigter Rechtswirkung, 


wahre Gefese, nämlih „vertragsmweife zmifchen Negierung und. 
Papft zu Stande gefommene und in Vertragsform verkuͤndete Ge⸗ 


ſetze, theils über innere Latho.ifche Kirchenſachen, theild über das Ver⸗ 


hättniß der Batholifchen Kirchen zum Staat”. - Auch in andern Sphaͤ⸗ 


ven finden wir mitunter mit der Geſetzes⸗Eigenſchaft jene des 
Vertrqges und auch die Vertragsform: verbunden, ſei es, daß 


eine gefeßgebende. Gewalt vermöge Vertrags fi zu Erlaffung eines 


Geſetzes von beſtimmtem Inhalt verpflichtete, oder daß die Wirk: 


ſamkeit eines bereits erlaffenen, oder vermöge einfeitigen Willens einer 
gefeggebenden Gewalt zu. erlaffenden, Geſetzes duch Vertrag mit. einer 
andern Gewalt ober Perfönlichkeit, die etwa dagegen factifd) oder: recht⸗ 


lich aite Einſprache erheben "mögen, bekraͤftiget.eder erweitert 





1) & ſpricht er 3. B., aus Anlaß des bairkſchen Woncordates und: feiner 
Wirkungen, von „Ihatfachen, welche den fehlagenden Beweis führen, daß Wi⸗ 
berfprudy In den Grundfägen und Mangel an geſundem Sinne, an politiichen 


Zact und ſtaatsrechtlichen Kenntniffen, ferner gebantenlofe Zrömmeici, geiſtſie⸗ 


cher Myſticismus, raffinirte Jeſuitik und roman —7* Beinbaft zuſammengenom⸗ 
men cine ſolche Reihe von Donquixotiaden herbeiführen Eönnen, wie ſi e die P Phan⸗ 
taſie der humoriſtiſchſten Satyriker Saum zu erdichten vermag x 


Concordate. 621 


werde. So werden duch Staatsvertraͤge gehaͤſſige hiſtoriſche 
Rechte gegenſeitig aufgehoben, die Behandlung der gegenſeitigen Ange⸗ 
hoͤrigen in jedes Contrahirenden Land geregelt, Zollſaͤtze beſtimmt oder 
abgeändert, auch humane und kosmopolitiſche Ideen, wie bie Abfchafs 
fung des Sklavenhandels, die Unterdruͤckung der Seeräuberel u. f. w., 
durch feierliche Uebereinkoͤmmniſſe in weiterem Raume verwirklicht u. a. m. 
Es iſt auc gegen die rechtliche Gültigkeit folder Verträge nichts 
zu erinnern, wofern ber Inhalt bes mit ihnen verbundenen Gefeges 
feinem Rechte zumiderlaufend und ber zu defjen Erlaffung ſich -verpflichs 
tende Paciscent wirkfich in der fraglichen Sphäre mit ber vollen - eher 
benden Gewalt bekteidet if. Auch gegen die Vertragsform iſt als⸗ 

dann nichts zu erinnern, wofern biefelbe nach den obmaltenden Um⸗ 
ftänden und Verhältniffen der Zeit, des Orttes, der Perfonen u. ſ. w. 
raͤthlich, d. h. ficherer oder vollftändiger als die eigentliche Geſetzes⸗ 
form zum Ziele fuͤhrend iſt. Wo aber dieſe Bedingungen nicht ein⸗ 
treten, da erſcheinen fie freilich in einem Fall theils materiell, thells 
formell rechtswidrig und alfo, nah dem Standpunkt des Vernunft⸗ 
rechts, auch ungältig und im andern mindeſtens politifch vers 
werflich. Wenn 3.3. eine conftitutionelle Regierung unter dem Ti⸗ 
tel eines mit einer fremden Macht abgefchloffenen Vertrages die Lan⸗ 
besverfaffung nad. dem Begehren der .Ichten verändern oder aufheben, 
oder auch nur ein gemeines Geſetz abfchaffen oder durch eine bloße Vers 
ordnung über Dinge, welche naturgemäß in den Kreis. der Geſetzgebung 
gehören, ſtatuiren wollte, fo würde man mit Grund behaupten, fie 
habe ihre DBefugnig überfchritten und das Volksrecht gekraͤnkt, und 
zwar,; auch abgefehen von dem Inhalt des Verordneten, ſchon durch) 
. die Umgehung der landftändifhen Mitwirkung zum Gefege, und — wel⸗ 
ches legtere auch bei einer abfoluten Regierung ſtatt finde — durch 
Die theilweife Veräußerung ber eigenen unabhängigen Hoheit an 
einen Fremden, überhaupt durch voͤlkerrechtliche Behandlung desje⸗ 
nigen, was nur ſtaatsrechtlich hätte ſollen behandelt werden. Ans 
gewandt auf bie. kirchlich en Concorbate zeigt dieſe Betrahtung uns 
faft überall dabei eine ſolche Nechtsüberfchreitung, und zwar meiſt bes 
gangen von beiden Xheilen, nämlid König und Papftl. Der König 
bat, was die ihm, b. h. der Staatögefebgebung zuftehenden 
jura circa sacra betrifft, nicht nur, wofern er nämlich conftitutioneller 
König ift, das Necht der zur Theilnahme an der Gefesgebung berufenen 
Volksrepräfentation verlegt, fondern er hat, auch wenn er abfoluter Mons 
arch ift, das Volksrecht gekränkt, indem er dem Fremden babei ein 
zählendes Wort verlieh, feiner eigenen gefeggebenden Gemalt Feffeln 
anlegte, durch Verpflichtung gegen den Papft und ſich bergeftalt (vors 
ausgefegt die Gültigkeit bes Goncorbate) in die Unmöglichkeit vers 
Teste, das Ihm nach freier Ueberzeugung jeweils als das Beſte Erxfcheis 
nende zu verorbnen. Aber er hat ſich zugleich, inſofern das Concots 
dat auch Über rein kirchl iche Dinge verfügt, eine Gewalt oder ein 
Mitentfcheidungsrecht herausgenommen, wo er vernunftrechtlich Feines 


622 . Boncorbate. 


befist, und er iſt dem Papfte behülflid, worben zur Unterdruͤckung ber 
innern SKirchenfreiheit durch die angemaßte felbfteigene monardhifche Ges 
malt. Oder aber es hat hinmwider der Papft, wenn er dem König ein 
Recht in der Kirche verlieh, biefe Kirchenfreiheit, bie er pflichtgemaͤß 
hätte fchirmen und vertheidigen follen, theilweis bintangegeben an bie 
weltliche Macht und . zugleich ſich ſelbſt als den Gebieter und -Gemn 
geltend gemacht in der Kirchengemeinde, worin er nur Oberhirt und 
im Berhältnig zu den übrigen Kichenhäuptern nur primus inter pe- 
res 


ift. 

Sind dieſe Säge einleuchtend und unleugbar, fo iſt duch fie auh 
die Entfcheidung "gegeben über die Nehtsgättigkeit der Concordate 
und über deren rechtlihe Dauer. Was rehtsmwibrig oder ohne 
Rechtsboden ift, kann nimmer zu Recht beftehen oder als foldes 
fi) behaupten; und wenn e8 auch aͤußerlich gültig und "geltend ift, 
fo wohnt ihm doc, troß feines factifhen Beſtandes, fortwährend bie 
innere Nichtigkeit bei, melche jeden Augenblid ausgefprocdhen umd 
dadurch auch zur dupern werden kann. Gegen ben rechtswidrigen In⸗ 
halt eines Concorbats wie irgend eines andern Gefeges hat jeder dadurch 
Gekraͤnkte das Recht der Beſchwerde und die Forderung der Abfchaffung; 
und da Bein ‚Contract in der Welt eine Verbindlichkeit zum Unrecht 
oder zur Nichterfüllung einer Pflicht erzeugen kann, fo mögen beibe con 
cordirende Theile, d. h. König oder Papft, fo feierlich die Kormeln des 
Concordats Flängen, und wenn ed auch auf „ewige Zeiten“ gefchlof: 
fen wäre, jeden Artikel deſſelben, defien Rechtswidrigkeit ihnen Har ges 
worden ober ducch defjen verttagsmäßige Zeftfegung fie die ihnen vedhts 
lich) zuftehende Gewalt überfchritten oder ihrer Pflichterfäls 
lung eine Schranke gefegt hätten, widerrufen oder als nichtig erflären. 
So ift die Kirhe, deren Wahlfreiheit der König oder ber Papſt durch 
ein Concordat dem Andern hingegeben, dadurch ihres rechtlichen Ans 
ſpruchs auf freie Wahl ihrer Vorfteher mit nichten beraubt worden, und 
fie darf folchen Anſpruch durch Proteftation, Reclamation ober irgend 
ein anderes techtmäßiged Mittel geltend machen, wann immer bie fas 
ctifchen Umftände es ihre geitatten. So werden auch die verftänbigen, 
die Denkfreiheit liebenden Bürger immer fo Eräftig, als es bie jemeilis 
gen Verhältniffe erlauben, gegen die Errichtung einer geiftlidhen Genfur 
oder eines Inquifitionsgerichtd proteftiren, wenn fie,auch in zehn Con⸗ 
cordaten verheißen wäre. Und nimmer mwicd ein König dutch das von 
ihm erfchlichene oder erpreßte DVerfprechen, die Klöfter wieder aufzuridy 
ten und denfelben den Sugendunterricht zu übergeben, ſich für gebuns 
den erachten, dem Zeit⸗ und Rationalgeift und ben edelften Intereſſen 
des Staates. und der Menfchheit duch ſolche Wiedererweckung ber vers 
berblichen Inflitute entgegen zu treten. Nur fo lange feine eigene Yes 
berzeugung ihm die Klöfter als nüslich oder als dem wahren Geſammt⸗ 
wohl förderlic, darſtellt, wird er feines Verſprechens gedenken; unb in 
diefem - Galle hätte er ja auch ohne Verſprechen ſolche Kloͤſter ſtiften 
tönnen. Ebenſo wird guch bei jeder andern Vergünftigung, 





Concordate. Concubinat. 623 


welche von Seite einer Regierung dem Papſte gemacht ward, bei jeder 
aus Ruͤckſicht fuͤr ihn getroffenen oder mit ihm verabredeten Einrich⸗ 
tung jener Regierung oder uͤberhaupt der Staatsgewalt immerfort frei 
ſtehen, das Bewilligte, vertragsmaͤßig Eingerichtete oder Feſtgeſetzte wie⸗ 
der abzuaͤndern ober aufzuheben, ſobald das Beduͤrfniß oder In⸗ 
tereſſa des Staates ein ſolches, je nach den jedesmaligen Zeitumſtaͤnden, 
erheiſcht, demnach auch eine wahre und unveraͤußerliche Pflicht es, der 
Staatsgewalt gebietet. Ein Conoordat iſt eben ein Geſetz wie fin 
anderes, kann alſo jeden Augenblick frei zuruͤckgenommen werden von 
derſelben Gewalt, welche es ſchuf oder urſpruͤnglich die Vollgewalt hatte, 
es zu ſchaffen; demnach vom Koͤnig oder vom Papſt, je nachdem die 
Feſtſetzung dem Gewaltsgebiet des einen oder des andern angehoͤrte. 
Denn bie vertragsweife Feſtſetzung druͤckt blos den einſtweili⸗ 
gen Nichtwiderſpruch des andern Theiles oder ſeine zeitliche 
Befriedigung aus, hebt aber das natuͤrliche Rechtsverhaͤltniß beider 
Theile unter ſich ſelbſt und zu Staat und Kirche nicht auf. Daher 
koͤnnen auch das Volk (die ſtaatsbuͤrgerliche Geſellſchaft) und die Kirs 
chengemeinde (ober ihr geſetzliches, unmittelbares Haupt, ber Bi: 
ſchof oder die Synode) dadurch ohne ihre eigene Zuflimmung feine 
Verkuͤmmerung der ihnen zuftehenden Rechte erleiden und mögen alfo 
jedes Goncorbat, das ihnen eine folche gleichwohl zufügte, ald rech ts⸗ 
ungültig vermwerfen. Rotteck. 
Concubinat. Schon fruͤh zeigt uns die Geſchichte neben einem 
geweihteren Geſchlechtsverhaͤhtniſſe eine formloſe Geſchlechts ver din⸗ 
dung, melde ber Sprachgebrauch Concubinat nennt!). Die Ges 
fege und Sitten der Aegpptier, ber Juden, ber Griechen u. f. w. geſtat⸗ 
teten dem Dann neben feiner Gattin oder feinen Gattinnen die Yrete 
Verbindung mit „Kebsweiben”, um ſich mit Luther auszubräden. 
Salomo hatte außer 700 Sattinnen 300 Kebsweiber, und den Perfers 
koͤnig Darius begleiteten auf feinen Selbzügen 365 foldher Freun⸗ 
Dinnen. Den Römern war bie Ehe eine Vereinigung, welche bie gaͤnz⸗ 
liche Gemeinſchaft des Lebens beider Gatten zum Zweck und die Wirkung 
hatte, daß die Frau den Stand bes Mannes, dieſer aber die väterliche 
Seroalt über die Kinder erhielt. ine ganz formlofe, biefe Wirkungen 
ausfchliegende Geſchlechtsverbindung hießen fie im Gegenfag zur Ehe 
Concubinat. Gie war weder unerlaubt, noch galt fie als unmmoraliſch. 
Indeſſen wurden in bee Regel nur Freigeborne niederer Ablunft oder - 
Sceigelaffene zu Concubinen erwaͤhlt. Während der Gefepgeber früher 
fchweigend die Sitte duldete, wurde fie fpäter durch ein Geſetz gewiſſer⸗ 
maßen anerkannt, indem es eine folhe Gefchlechtsverbindung mit einem 
Meibe, welches eine fandesmäßige Ehe nicht eingehen konnte, dem Ehe⸗ 
Iofen ausdrüdtich geflattete 2). Nothwendig mußte das Chriftenthum, 


1) Merlin, Repertoire s. v. concubinage. 
2) Stein, Das Roͤmiſche Privatrecht und ber © bis in das 
erfte Jahrhundert der Kaiſerherrſchaft. Leipzig 1836. ©. 174 ff. 


624 Concubinat. 


als es ſich im römifhen Reiche ausbreitete, feinen ſittlichen Einfluß gel⸗ 
tend machen. Schon Kaiſer Conſtantin verbot dem Ehemann, „waͤh⸗ 
rend ber Ehe eine Concubine bei ſich zu haben“. Noch weiter ging Kabs 
ſer Leo, welcher den Concubinat unbedingt verbot. Auch bei den Voͤl⸗ 
Fern germanifhen Stammes war neben der in Form und Wirkung er 
Eennbaren Ehe eine formiofe Geſchlechtsverbindung geftattet 2). Spaͤ⸗ 
ter wurde diefe durch Kirchengefege verboten *), obgleich fie noch lange 
geduldet wurde. Karl der Große verbot, die Gefeßgebung Conftantins 
erneuernd, verheiratheten Männern bie Eingehung eines Concubinatsver⸗ 
haͤltniſſes °), bis endlich die Reichsgeſetzgebung unter dem Kaifer Kar 
dem. Fünften, dem Zeitgenofjen eines beutfchen Fürften, Philipps beö 
Großmuͤthigen, welcher, nach Vernehmung eines gefälltgen Gutachtent 
von Luther und Melanchthon, ſich, bei Lebzeiten feiner Gemahlin, Mar⸗ 
garethen von der Saale in der Form einer Gewiſſensehe zur Concubine 
nahm ©), zum unbedingten Verbot ſchritt. Die Meichepolizsiordnmg 
vom Jahre 1530 beftimmte Zit. 33: „Dieweil auc, viele leichtfertige 
Derfonen außerhalb von Gott aufgefegter Ehe zufammen mohnen -— 
ordnen unb mwollen wir, baß eire-jede geiftliche und weltliche Obrigkeit — 
ein billiges Einfehen haben foll, damit ſolch oͤffentlich Kafter der Gebühr 
nach ernftlich beftraft und nicht gebuldet werde.” Daffelbe beftimmt 


3) Eihhorn, Deutihe Staats⸗ und Rechtegeſchichte Thl. 1, $. 54, wo 
der Verfaffer fagt: „Eine Verbindung ohne jene (Ehe⸗) „Form (in den älteren 
Denkmalen gewoͤhnlich Soncubinat genannt) war nicht unerlaubt und üunterfchieb 
ſich von ber Ehe wahrfcheintich blos dadurch, daß Feine feierliche Verlobung vor 
anging, ber Frau bei Vollziehung ber Ehe Fein Witthum verſprochen wurbe, 
Biete daher ſich mit einer Morgengabe begnügen mußte und bei der Trennung 
ber Verbintung auf bie gefegtichen Wirkungen, welche bie Che hervorbrachte 
feine Anfprücde hatte”, während er in einer Anmerkung binzufügt: „Meiſtens 
fand ber Concubinat wohl wegen ber Ungleichheit des Standes ber Frau ftatt 
und iſt offenbar nichts Anderes, als bie in der Folge fogenannte morganatifce 
Ehe,’ und dabei das Beifpiel Karls des Großen anführt, welder nach dem 
Zode feiner Gattin, Ermentrud, die Stichildis zur Concubine nahm. KWBergL 
auch noch des Verfaflers Einleitung in das beutfche Privatrecht $. 290. und 
Dreyer, Nebentunden Abb. II. „Gebanten, ob Be Legitimation durch bie nach⸗ 
folgende Ehe den unehelich geborenen Kindern bie bärgerliche Wirkung in Be⸗ 
treff der Erbfolge nach allem beutfchen Rechte zuwege gebracht“ &. 257 — 
318. &. 314.315. bemerkt der Verfaſſer, daß der Soncubinat eines ledigen Mans 
nes im Norden Feine fo feltene Erfcheinung geweſen ſei. „Sie gehörte auch n 
eingeführtem Chriſtenthum unter bie erlaubten Dinge und man findet nicht, I 
die Gefege die Freiheit ber Privatperfonen befchränkt haben, fich ſowohl mit ihe 
ren Sklavinnen, als auch mit einem freigebornen Frauenzimmer auf Bewillie 
gung ihrer Acltern und Vormünder in eine foldhe Verbindung zu begeben.“ — 

a8 Tpanifche Acht des Mittelalters erkannte den Goncubinat (Baragana) aus- 
brüdtih an. Mittermaier, Grunbfäge des gemeinen beutfchen Privatrechts 
$. 326. Note 12. 

4) Hartigfh, Handbuch des deutſchen Eherechts $. 21. 

5) Böhmer, über die Chegefege Karls des Großen S. 117 — 1%. 

6) Poffelt, Kieine Schriften S. 262. Dieffenba 
ee Ihb! Sqyrif ff ch, Geſchichte von 


Goncubinat. 625 


wörtlich bie Reichspolizeiordnung vom Jahre 1548 Tit. 25. 5. 1., wähs 
rend e8 $. 2. noch heißt: „Und nachdem zu Zeiten‘ Perfonen ehelichen 
Standes einander verlaffen, und mit anderen leichtfertigen Perfonen in 
öffentlihem Ehebruch figen, welches von den Obrigkeiten geftattet, da⸗ 
durch der Allmächtige, nachdem es wider feine göttliche Gebote ift, Hochs 
beleidigt, ‚auch zu vielen Aergernilfen Urſach gibt, fo. gebieten wir hier 
mit ernftlich, daß ſolch öffentlicher Ehebrudy und andere leichtfertige Bei⸗ 
wohnungen binfüro mit nichten geftattet oder gelitten, fondern von ber 
Obrigkeit ernftli am Leib oder Gut, nad) Geftalt und Gelegenheit der 
Derfonen, und der Verwirkung geftraft werben ſolen.“ Geitbem wird 
in Deutſchland ber Concubinat, den Unzuchtsverbrechen beigezählt, als 
ſtrafbar angefehen 7), wiewohl er, um fih mit Madelbey (Lehrbuch 
bes heutigen Roͤmiſchen Rechts 6. 222.) auszubrüden, „ben höheren 
Ständen nachgeſehen wird” 8). Napoleon war kein Freund bes Cons 
cubinats, daher er 3. B. feinen Minifter Talleyrand nöthigte, feine Ges 
liebte, Madame Grant, zu ehelihen. Demnach iſt diefe Strenge nicht 
auf das bürgerliche Geſetzbuch übergegangen, das feinen Namen ſich aufs 
prägte. Mach dem Code Napoleon, Art. 230, kann bie Ehefrau wegen 
eines von ihrem Gatten begangenen Ehebruchs nur dann auf Ehefchet: 
bung Magen, wenn er die Concubine im eigenen Haufe hielt; eine Bes 
Yeidigung der Gattin, welche fo ſchwer ift, daß ſchon bie Roͤmer darin 
eine Grauſamkeit erblickten. Der Gegenfag ergibt, baß der Gattin Fein 
Klagrecht zufteht, wenn ber Ehemann feine Soncubine anderswo mohnen 
laͤßt, und fo das Gefeg In dieſer Beſchraͤnkung das Concubinat duldet. 
Auch beftraft denfelben das peinlihe Geſetzbuch Frankreichs, Art. 339, 
nur in dem Fall, in welchem der Ehefrau eine Klage auf Ehefcheidung 
geftattet ift, mit einer Geldftrafe von 100 bis 2000 Francs 8). 

Zu den Gründen, welche gegen das Beſtehen ber indg top. 
ſprechen, gehört auch ber Umftand, daß eine ford. ‚Cimuwsund, Indem fie 


| effte: Lehrbu des Criminalrechts 432. 

— ac des nach befien —5— die im Ku gbne 
beſondere Erlaubniß abgefdhloffene Ehe nichtig tit, und eine ſolche Bet ng 
bei der Kenntniß biefes Gefeher ebenfalls als Soncubinat beftraft wi br 
©trafe wenigftens eine viermöchige Gefaͤngnißſtrafe { die beim Rücte Ar zu 
ürbeitshausſtrafe ſteigt. kleid Das MWürtembergifche —— ee IR, 
theilung 2, &. 449. 420. Sleichfalls Gefaͤngnißſtraſe droht das f ff ze Fi 
recht. - In einem befonderen Paragraph alter Kriegsartifel Heißt es: „In Sadıs 
fen fol weder Officer, noch Gemeiner Meaitreffen, Concubinen ober anberes bei 
baͤchtiges ae bei fich haben, mit fich Heimführen oder bei den Compag 
aufhalten laſſen“ zc. . nit aglich 

Ryie Gefchichte bes Hofweſens mit feiner Maitreſſenchronik, vorz 

bie ve ten hunderte, ſowie bie Geſchichte ver Subatz, iſt ein ausführs 

Iiher Commentar. ' Aa BR 3.0.4%: 
I n, Hanbbuch über den Gobe Napoleons Bund 3, ©. e 

Laf H ts j ber —58 A lt und commmentirt, Band 2, 8. “1 

Baharid, Handbuch des franzd -Stoftrahts Banb $: ©. 104 ff. Die 


Gefedgebu freicht tie Sen Euien, fo lastge, fein Öffenslihes Kergrex 
ee a I Se 
Staats⸗ Lexikon III. 


626 Concubinat. Goncurs. 


die Kinderverforgung erleichtert, ben Goncubinat fördert. Mohl, Die 

Polizeiroiffenfchaft nach den Grundfägen des Rechtsſtaats 6. 62. — 

Eine rgie deſſelben enthalten die juͤngſten Befehdungen vn riftlie 

hen Ehe. _ Bopp. 
CLoncurrenz, ſ. Zufammenflüß. 

Concurs (Bankerot, Gant, Falliment). Beſondert 
Rechtsverhaͤltniſſe erzeugen ſich in dem Faile, wenn ein Schuldner (Ge 
meinſchutbner, Gantmann, Cridar) nicht fo viel Vermögen befigt, ald 
erforberlich iſt, um felne Gläubiger zu befriedigen, in welchen Galle er 
fid) in dem Zuftande des Concurfes befindet i). Das Verfahren, 
welches zum Zweck hat, bie Vertheilung dieſes unzureihenden Vermo⸗ 
gens, der Concursmaffe, unter die Gläubiger nach Maaßgabe ber geſet⸗ 
ũchen Beftimmungen herbeizuführen, iſt ber Concursproceß. 

"Den, ber ſich im Zuſtand des Goncurfes befindet, treffen nicht nur 
die Nachtheite, melde fid als unmittelbare Folgen geltend machen, fon» 
dern er ift auch einer Rüdtwirkung auf fein Verhaͤltniß zum Staat und 
dur Gemeinde bloßgeftelit. 

Viele Gefeggebungen entziehen (ober fufpendiren) dem, welcher ſei⸗ 
nen Verbindlichkeiten nicht gehörig genügen kann, beftimmte Rechte, 
In ben conftitutionellen Staaten hat ſich dieſe Gefeggebung in den 
Staatögrundgefegen (ſowie in ben Gemeinbeordnungen) ausgefprochen. 
So beftimmt die Verfaffungsurkunde des Königreichs Wuͤrzemberg 
($. 135), baß ber, gegen den ein Concurs gerichtlich eröffnet iſt, nicht 
fähig fei, Mitglied der Ständeverfammlung zu fein, eine Unfähigkeit, 
welche auch nad) geendigtem Goncursverfahren fortdauere, Wenn "Strafe 
wegen DVermögenszerrüttung hinzugelommen fei. ( Jedoch follen bie erde · 
chen Mitglieder der erften Kammer durch die Erkennung einer Debit 
Common u her Stimmführung sicht ausgefähloffen fein, wenn 
ihnen eine Competen; bon wenigftens 2000 Gulden ausgefegt iſt) 

Ebenſo foll ($. 142.) in einem ſoichen al das Wahlrecht enter 





D) Die tägtke Grfahrung noise, vop za nit füner IB, Bund) Schaltung 
ae be — Sie Saas us feinen FR en, zu entgehen, 
r 27 
1832 Band 5, ©. 213. 214, indem er von brn Guck Dom — 
— ER Babtunaeräh Fa et, „einnen ‚biefed ienient Ibie R 
ja ahrheit, fo 2 Beil 
Sinpflgt: Ein Eondoner Sant’ auf et ol 
nacvem ex feinen übrigen Kindern große Cihenfungen grmiact,hatter gu Id 
aufn. Di Mate u zu m) Sitte 1 ie Bank Las meinen Samen 
fi Bank nur iden ni fi» 
ER AB müßte, "der, berfege ben Grit bes Baufı un rule Ka 
a um 5% Ran —2 Buße fortleben, wie Ic.geleht habe." 
n ’ohn) t nicht Si r 
der zalt Bold angefüult ift ?” — „In Selen Kaltın ae —————— 
N —— 
_ fonft bie Seute geglaubt hätten, ba id) arım.Berbe: 
Der Sopn führte das —— 
Der Sopn Abe a Berhie fot, Gef al-bie Bank an —* oc 





Concurs. 627 


gen fein. Nach der Verfaſſungsurkunde des Großherzogthums Heſſen 
wird die Ausübung des Staatsbürgerrehts gehindert „durch das Entſte⸗ 
hen eines gerichtlichen Concursverfahrens über das Vermögen bis zur 
vollftändigen Befriedigung der Gläubiger 2). Die gleiche Beftimmung 
enthält die Verfaſſungsurkunde des Herzogthums Sachen: Coburgs 
Saalfeld ($. 9.), indem fie zugleih ($. 38 — 44.) feftfegt, daß die active 
und paffive Wahlfähigkeit mit davon abhängig fei, daß man niemale 
wegen Schulden, wenigftens nicht ohne völlige Befriedigung ihrer Glaͤu⸗ 
Biger, in Concurs befangen war. Dem Staatsgrundgeſetz des Herzogs 
thums Sacjfen’ Meiningen’ (F. 145) gemaͤß kann das Staatsbürgerrecht 
vom Gemeinfchuldrier während bes Concurſes nicht ausgeübt werben, und 
Hängt von dem Genuffe diefes Staatsbürgerrechts namentlich die Kähigs 
keit, einen Landtagsabgeordneten zu wählen oder als folcher gewählt zu . 
toerden, ab, und ebenfo beftimmt bie Verfaffung des Herzogthums Sach⸗ 
fen - Altenburg (8; 89.), daß biefed Recht fufpendirt ſei „waͤhrend eines 
ausgebrochenen Gants oder eingetretener außergerichtlicher Liquidationds 
verhandlungen, fo lange der Gemeinfchuldner nicht (entweder nach gefches 
bener voller Auszahlung bder-Gläubiger, ober doch nach vollftändiger 
Nachweiſung eines ganz unverfchuldeten großen Ungluͤcks) Bucch die obere 
Juſtizbehoͤrde foͤrmlich ſchuldlos erklärt (tehabilitirt) wird” 2). Die 
Verfaſſungsurkunde von Kurheſſen beftimmt $. 67, daß zur Wahl eines 
Abgeordneten weder berechtigt, noch wählbar biejenigen feien,- „Über deren 
Vermögen ein gerichtliches Concursverfahren entftanden ift,-bi zur völlts 
'gen Befriedigung der Gtäubiger”, und damit flimmt bad Staatsgrund⸗ 
geſetz bes Königreichs Sachfen (5.74) uͤberein, während die Verfaſſungs⸗ 
urkunde für das Fuͤrſtenthum Hohenzollern: Sigmaringen ($. 95.) vors 
ſchreibt, daß der, welcher als Abgeordneter wählbar und zu dem Erfchef 
nen auf dem Landtag befähigt fein ſolle, „in dem Freien SB-mur jeiner 
Vermoͤgensverwaltung fich befinden, baher weder in einem Goncurfe, 
Schuldverfahren ‘oder Bevogtung- ſtehen“ dürfe. Das neue Staats 
grundgefeg für das Königreich Hannover v. J. 1833 fpricht ſich $. 104. 
dahin aus: „Perſonen, über deven Vermögen unter Ihrer Verwaltung ein, 
Goncurs ausgebrochen iſt, innen vor Befriedigung ihrer Glaͤubiger we⸗ 
der zu Mitgliedern ber Ständeverfammlung gewählt werden, noch, wenn 
fie zur Zeit des Ausbruchs bed Conrurfes Mitglieder- find, in berfelben 
verbleiben. Diejenigen Grunbeigenthümer aber, welche den Concurs 
von ihrem Vorfahren uͤberkommen haben, innen inſofern als-Mitgliebet 
der allgemeinen Ständeverfammlung zugelaſſen werden, als fie übrigen 
Bazu qualificet find." Die Verfaffung der ſreien Stadt Frankfurt bes 





ie-fpäntfehe Gortes + Eonftitutlon vom Jahr 1812 Heftiinte, daß das 
a ent dan verloren gehe, werm man ein Infolventee 
Schuldner (oder Echuldner der Staatscaſſe) fei. 
3) Das, Staatögrundgefeg für das en Sachfen : Weimar ber 
mt für ben Kall, daß bie Befugniß des Erſcheinens auf dem Banbtade auf 
m Mefise eines Ritterguts beruht: „dei den In Goncurs befangenen Kittergoͤ⸗ 
tern ruht Die Stiunlie“. nu 0» 


628 Concurd. 


fiimmt, daß zu Mitgliedern des geſetzgebenden Körpers nicht gewaͤhlt 
werden koͤnnten nammmtlich:. „alle Zalliten, e8 fei nun, daß Jemand fein 
Zahlungsunvermoͤgen gerichtlich angezeigt,. oder mit feinen Glaͤubigern 
insgeheim Nachlaß: oder Anftanbsverträge errichtet hat, bevor er feine 
Gläubiger voltftändig, d.h. ohne Abzug oder Nachlaß, bezahlt hat.” Nach 
6. 52. des Grundgefeßes für das Königreich Norwegen vom 4. Novems 
ber 1814 wird das Recht zur Xheilnahme an ber Wahl eines Mitgliedes 
‚der Reichsverſammlung (Storthing) fufpendirt namentlich wegen Kallits, 
bis die Gläubiger volle Befriedigung erlangt haben, es.fei.denn, daß ‚ber 
Concurs durch Feuersbrunſt oder anderes nicht. zuzuxechnendes und ers 
weisliches Ungluͤck verurſacht wird. Nach ben Geſetzen über bie An⸗ 
ordnung bee Provinzialſtaͤnde in Preußen ruht das Wahlrecht und bie 
Waͤhlbarkeit, wenn über das Vermögen deſſen, dem diefe Befugniſſe zus 
ftehen, ber Concurs eröffnet ift. U 
Das großherzoglich badiſche Gefeg vom 81. December 1881 
„uͤber die Verfaſſung und Verwaltung der Gemeinden” ſchließt von ber 
Faͤhigkeit, Mitglied des Gemeinderaths (durch Mahl) zu werben, nas 
mentlich die „in Gant Berathenen” aus, eine in ihrer Unbefchräntcheit 
etwas ftrenge Beftimmung *). Die gleihe Beftimmung enthält bie 
großherzoglich heffifche Gemeindeordnung ($.34.), indem fie von der Fir 
bigkeit, zuc Wahl dee Gemeindebeamten mitzumirken, ben. ausfchlieft, 
der in ber Ausübung des Staatöbürgerrechts gehindert iſt. Die Stäpdtes 
ordnung fuͤr das Königreich Sachſen vom 2. Zebruar 1832 fchließt 
($. 73.) von ber Ausübung ber Ehrenrechte eines Bürgers nicht nur 
Diejenigen, ‚über deren Vermögen. förmlichee Concurs ausgebrochen iſt, 
fondern fogar auch die, welche den „Weg der außergerichtlichen Erledi⸗ 
biaung deſſelben eingeſchlagen haben”, auf fo lange aus, als die Glaͤubi⸗ 
ger UNDefsicnigt aehlieben find, und die $$. 126. 127. verordnen weiter, 
bag in Bezug auf bie Wahl ber Stadtverorbneten diejenigen von dem 
Stimmrecht und ber Waͤhlbarkeit ausgefchloffen fein, melde ſich nicht 
im ae der use elichen Ehrenrechte befänden. | . 
nr ac dem großherzonlich fachfen »- weimarifchen Geſetz vom 11. 
April 1838 über bie eimatheverhältniffe darf das —— nas 





ee 
| e Verfaffung unb. Verpaltu Gemeinden (in. X. DüL 
ß en atlere 


Goncurs, | 629 


vor Entfcheldung der Sache unzuläffig, wovon (nad) $. 64.) die Folge 
auh in ber Unfähigkeit, zum Stadtve : 
—Aã faͤhigkeit, 3 tverordneten gewaͤhlt zu wer⸗ 

Hat der Gemeinſchuldner ſeinen Vermoͤgensverfall verſchuldet, ſo i 
er auch dem Strafgeſetz verfallen, welches den Banketot, dl die AN 
volle Herbeiführung eines Concurfes, als Mechtsverlegung ahndet. 

Bei den alten Mömern war e8, wie Niebuhr dargethan hat, den 
Glaͤubigern erlaubt, ihren gemeinfchaftlihen Schuldner foͤrmlich in 
Stüden zu bauen, eine Graufamkeit, welche fpäter fich verlor, deren 
Spur aber im älteren germanifchen Recht fich gleichfalls zeigt. (Grimm, 
beutfche Rechtsalterthuͤmer S. 615.) Später verfiel bee Schuldner in 
Leibeigenfchaft®), und noch fpäter wurden Ehrenftrafen, in dem Gepraͤge 
bes Geiſtes bereiten, verhängt. Die Bankerottirer wurden zum Hunde⸗ 
und Steintragen oder dazu verurtheilt, fid) auf den fogenannten Laſter⸗ 
ftein an öffentlichen Plägen am hellen Zage niederzufegen. In einigen 
Zheilen von Norbdeutfchland murden fie mit umgemwandten leeren Taſchen 
ausgeftellt oder durch die Gaſſen geführt, indem vor und hinter ihnen . 
leere Beutel getragen wurden, ober e8 ward die Schandglocke über fie 


 geläutet, während fie am Pranger fanden. Wieder in anderen Gegen- 


den mußten bie Bankerottirer eine beftimmte Kopfbebedung tragen ©). 
&o mußten 3. B. in Frankfurt a. M., wo die Juden —— oe 
graue oder ſchwarze Huͤte zu tragen, die Bankerottirer gelbe Huͤte tragen, 
„indem fie zugleich weder Maͤkler fein, noch in eine Zunft, noch zu 
man I Bechen kommen“ burften 7), 

m Sahr 1601 vereinigte fich die pommeriſche Nitterfchaft dahin, 
ein Mitglied ‚der Ritterſchaft, welches Verbindlichkeiten, {or IM —* 
Brief und Siegel eingegangen hatte, nicht erfuͤllen koͤnne, „in keiner ehr⸗ 
lichen Geſellſchaft zu leiden“ 8). 

Die Reichspoligeiorbnungen v. I. 1548 uno 10.17 geboten, daß 
muthmillige Bankerottiver den Dieben gleich geachtet, zu feinen Aem⸗ 
tern, Ehren und Würden gelaffen werben und feinen Anfprud auf Mo⸗ 
ratorien haben follten. Um der neueren Strafgefeugebungen, zugleich 
mit Ruͤckficht auf den betrüglichen Bankerot (demjenigen, den. jemand 


5) Denkwürbig tft, daß noch Becc arid (f. diefes Staats⸗Kexikon DBb. 8. 
S. 805 ff.) der Meinung war, ber Bankerottirer müffe feinen Gläubigern ver: 
fallen fein, um ihnen zur Entſchaͤdigung Dienfte zu leiten. ©. bg, Gerpin, 
über die peinliche Geſeggebung. Aus den Zranzöfifhen von Grauer, Rüras 
berg 1786. ©. 354. 

6) Quistorp, Beiträge zur Erlaͤuterung verſchiedener Rechtsmaterien, 
Koftet 1787. Beitr. XIII. Won der Strafe ber Banferottirer ober ber böfen 
Schuldner nach älteren und neueren Gefegen. | 

7) Kirchner, Geſchichte der Stadt Frankfurt a M. Thl. 2. Arankfurt 
1810. &. 376. 398. ’ 

8) Eſto r, Teutſche Rechtegelahrtheit Thl. 3. Brankf. 1767, 79. Haupt: 
fü: Vom Banferot, Zaliment ıc. $. 4899. ©. 1318. | 


630 | Concurs. 


abfichtlich herbeifuͤhrte, um dadurch zu gewinnen )), gu gedenken, fo bes 
ſtraft die oͤſterreichiſche Geſetzgebung (wornach dem Richter, bei welchem 
ber Concursproceß anhaͤngig iſt, die Anhaltung und Eroͤffnung der Brief⸗ 
ſchaften bei den Poſtaͤmtern geſtattet iſt) ben, welcher „durch Vers 
ſchwendung ſich in das Unvermoͤgen, zu zahlen, geſtuͤrzt“, als Betruͤger 
und mit Kerkerſtrafe 7%). Das preußiſche Strafrecht U) beſtimmt: Wer 
durch übertriebenen oder liederlihen Aufwand fi) außer Zahlungsftand 
gefegt hat, iſt ein muthwilliger Bankerottirer. Fuͤr übertrieben iſt jeber 
Aufwand zu achten, ber die Nothdurften und gemeinen Bequemlichkeiten 
bes Lebens überfteigt und mit ben. jedesmaligen Einkünften des Schuld⸗ 
ners nicht im Verhältniffe fteht. Infonderheit tft ein Aufwand, welcher 
durch Spiel, Wetten, Schwelgerei und unzüchtige Lebensart verurſacht 
worden, als übertrieben anzufehen. Ein muthmilliger Bankerottirer fol 
aller Ehren und Würden im Staate für unfähig erflärt, zu breis bis 
fechsjähriger Zuchthausftrafe verurtheilt und biefe Beftrafung oͤffentlich 
bekannt gemacht werden. Iſt er ein Kaufmann, fo verliert er Noch aus 
ferdem für immer alle kaufmaͤnniſche Rechte, fo wie ein Zube für fi 
und feine Samilie den Schug des Staats. Entzieht ſich ein folder 
muthmilliger Bankerottirer ber Strafe durch die Flucht, fo foll fein Bild 
niß an einen Schanbpfahl geheftet werden. Wer zu einer Zeit, ba er 
Beine wahrfcheinliche Ausficht hat, feine Gläubiger jemals befriedigen zu 
Eönnen, dennoch zur Unterftügung feiner Verſchwendung Schulden madıt, 
ift als em muthwilliger Bankerottirer anzufehen und mit fünfs bis ſechs⸗ 
jähriger Zuchthausftrafe zu belegen. Werden die unter ſolchen Umftäns 
den gemachten Schulden zur Vergrößerung der Maſſe verwendet, fo foll 
ein ſolcher Bankerottirer mit drei= bis vierjähriger Zuchthausarbeit belegt 
werden. Wer zu einer Zeit, da er weiß, daß fein Vermögen zur Bes 
äuhteng feiner Schulden nicht mehr hinreiche, aber noch Hoffnung hat, 
baß felbiges ſich in Aurzem verbeffeen werde, mit Verheimlichung feiner 
Dermögensumftände neue Schulden macht und dadurch den Veriuſt feis 
ner Gläubiger vergrößert, ſoll als ein fahrläffiger Bankerottirer angefehen 
werben. Eben dafür iſt derjenige zu achten, ber bei der Unzulänglichkeit 
feines Vermögens den Neft deffeiben zu feinen eigenen oder der Seinis 
gen Bedürfniffen „obſchon ohne Verſchwendung, verzehrt, und dadurch 
feinen Gläubigern entzieht. in Kaufmann, welcher entweder gar keine 
ordentlichen Bücher führt oder die Balance feines Vermögens wenigftens 


9) Fe erbad, Lehrbuch bes peinlichen Rechts, zwoͤlfte Au 

gegeben von Mittermaier, Gießen 1836. $. Fr FE flage, heraus. 
10) Borſchitzk y, Handbuch des öfterreichifchen Geſeses üb 

vom Ay ember „1803, Drag 1815. ©. 1a or 180. geb Wer Verbrechen, 

ein, Grundſaͤte des gemeinen deutſchen und preußifchen pei 

Rechts, Halle 1796, $. 479. &.351—853. Er —— —— — 

allgemeinen preußiſchen Civil⸗ und Criminalrechts, Berlin 1827. $. 1109. 

©. 627. 628. Higig, Beitfchrift für die Ciminalrectspflege in ben Preu⸗ 

ßiſchen Staaten, Heft 27. ©. 1 ff. Heft 38. ©. „dur Lehre vom 

Bankerot, insbefonbere vom betrüglichen Banferot.” 


\ 


Concurs. 631 


alljaͤhrlich einmal zu ziehen unterlaͤßt und ſich dadurch in Unwiſſenheit 
über bie Lage feiner Umſtaͤnde erhält, wird bei ausbrechendem Zahlungs⸗ 
unvermögen als ein fahrläffiger Bankerottirer beftraft. Ein folcher fahr 
läffiger Vankerottirer wird, wenn er in einem Öffentlihen Amte fleht, 
biefes Amtes, und wenn er ein Jude ift, feines Schußprivilegs, fowie ein 
anderer Kaufmann aller taufmännifchen Rechte verluftig, alfo, daß er 
ohne befondere Erlaubniß keinen Handel meiter treiben darf. Außerdem 
bat derfelbe, jenachdem ber Verluſt der Gläubiger größer oder geringer 
und das Unvermögeri durch längere oder kürzere Zeit verheimlicht wor⸗ 
den ift, Zuchthaus= oder Seftungsftrafe von einem bis zu drei Jahren 
verwirkt. Die Hoffnung, durch weit ausfehende Hanblungsfpeculationen 
eine fhon vorhandene Vermögensunzulänglichkeit zu deden, kann einen 
fahrläffigen Bankerottirer nicht entfchuldigen. Ebenfo wenig iſt die Er⸗ 
wartung Fünftiger Erbfchaften oder anderer Anfälle, auf welche der 
Schuldner noch Bein unwiderrufliches Recht erlangt hat, dazu hinreichend. 
Mer mit fremden Gelde, ohne Genehmigung bed Gläubigers, verwegene 
und unfichere Unternehmungen wagt, durch deren Fehlfchlagung feine 
Glaͤubiger in Schaden und Verluft gefegt werden, wird als ein unbeſon⸗ 
nener Bankerottirer beftraftl. Ob ein dergleichen Unternehmen für unbes 
fonnen zu achten fei, muß durch Sacverftändige unterfuht und beurs 
theilt werden. Außer dem Verluſte der Handlungsgerechtigkeit oder des 
Schugprivilegs hat ein folder Bankerottirer Gefängnifftrafe auf ſechs 
Monate bis zu zwei Sahren verwirkt. Das Strafgeſetzbuch bes Königs 
reichs Baiern fchreibt vor: 1) Wer in Concurs gerathen und überwiefen 
it, daß er durch argliftige Werheimlichung feiner [don vorhandenen Zah» 
Iungsunfähigkeit oder bei Eingehung neuer Pfandfchulden, durch Ableugs 
nung ober betrügliche Verſchweigung Älterer ober flärkerer ‚Dopotheten 
feine Gläubiger hintergangen hat, foll als betrüglicher Schulbenmacher 
nach den Gefegen wider ben gemeinen Betrug (ein Zuge Ardeitshaus) 
beftraft werden. 2) Wer bei erweistich beftimmten und wahrſcheinlichen 
Ausfichten auf Verbefferung feihes Zuftandes feinen übrigen Credit ohne 
Entdedung feiner Bermögensumftände benutzt, iſt von ber Strafe bes 
betruͤglichen Schuldenmadyens befreit, wenn feine Ausfiht durch nicht 
vorauszufehende Umftände ohne fein Verſchulden vereitelt worden iſt. 
Unbeſtimmte und auf keinem Grunde der Wahrfcheinlichkeit beruhende 
Hoffnungen verdienen keine Erwägung. Muthwillige und fahrläffige 
Schuldenmader find nach Beſchaffenheit der Umftände polizeilich zu be⸗ 
ftrafen. Wer bei bevorftehendem ober ausgebrochenem Concurfe, ohne 
für ſich felbft einen Vortheil zu fuchen, buch) betruͤgliche Handlungen 
einzelne Gläubiger vor den andern beguͤnſtigt, wird als gemeiner Betruͤ⸗ 
ger beſtraft. Wer, um feine Gläubiger zu verkürzen, bei bevorſtehendem 
ober ausgebrochenem Concurfe ſich einer Unterfchlagung oder eines Des 
trugs fchufdig macht, Gelb oder Geldeswerth heimlid) zuruͤckbehaͤlt ober 
auf die Seite fchafft, Activforderungen verſchweigt, oder deren Bezahlung 
heimlich annimmt, ober auch erbichtete Gläubiger aufitellt, ſoll als ause. 
gejeichneten Betrüger (Arbeitshaus von ein bis drei Jahre) beſtraft wer 


632 Concurs. 

den, wofern nicht die Handlung wegen gebrochenen Manifeftattonsetbef 
‘oder verfälfchten Urkunden eine noch härtere Strafe verfchuldet. Wer, 
um fid) rechtswidrig mit feiner Gläubiger Schaden zu bereichern, durch 
"betrüglihe Handlungen fi) als zahlungsunfähig barftellt, ſoll mit vier 
bis achtjährigem Arbeitshaus beftraft, überdies aller Würden, Staats: 
und Ehrenämter und der künftigen Ausuͤbung bes Gefchäfts ober Gewer⸗ 
bes, welches zur Veruͤbung des Betrugs mißbraucht worden, unfähig ers 
klaͤrt werden. Mer bei nahe bevorftehendem Concurſe feine Rechnungs» 
bücher und andere Urkunden, woraus der Vermögenszuftand und das 
Verhaͤltniß deffelben zu den Schulden überfehen werden Eonnte, auf bie . 
Seite gefchafft, vernichtet oder unbrauhbar gemacht hat, Kaufleute, deren 
Hanblungsbücher in folhem Zuftande fidy befunden, daß das Verhaͤltniß 
ber Schulden zu ben Forderungen aus ihnen nicht zu Üüberfehen tft, diefe 
haben die Vermuthung des betruͤglichen Bankerots wider fih. Ein 
großherzoglich heffifches Geſetz vom Jahr 1785 bedroht den, der ſchuld⸗ 
vol feinen Bankerot herbeigeführt hat, mit Sreiheitöftrafe und den, ber 
dabei betrüglich gehandelt hatte, zugleich mit Chrlofigkeit. Beſonders 
ſtreng iſt e8 gegen „die Staatsbiener” und die „Abeligen”. Auch die 
„Sheweiber der Bankerottirers, die zum Verfall ihres Hausweſens bas 
Meifte beitragen oder vielleicht ganz allein daran ſchuld find”, ſollen bes 
ftraft werben. 

Das franzöfifhe Handelsgeſetzbuch beftimmt: A. Ein fallirter Hans 
delsmann foll als einfacher Bankerottirer gerichtlich verfolgt, und kann für 
foihen erklärt werden, wenn er ſich in einem oder in mehreren der fols 
genden Kälte befindet, nämlich: 1) Wenn die Ausgaben feines Häufes, 
die er von Monat zu Monat in fein Tagebuch einzutragen ſchuldig ift, 
für übertrieben erfannt werden; 2) wenn dargethan wird, daß er große 
Summen im Spiele ober zu Operationen verbraucht hat, die blos vom 
Bufalle abhängen; 3) wenn aus feinem legten Inventar hervorgeht, daf, 
unerachtet fein Activvermögen um funfzig Procent geringer, als fein Dafs 
fioftand war, er nichts defto weniger beträchtliche Summen lehnbar aufs 
genommen und wenn er Waaren mit Verluft oder unter dem laufenden 
Preife wieder verkauft hat; 4) wenn er Credits oder Mechfelbriefe für 
eine Summe unterzeichnet hat, die feinem legten Inventar zufolge drei⸗ 
mal fo hoc) ift, als fein Activvermögen. B. Als einfacher Bankerotticer 
kann gerichtlich verfolgt und dafür erklärt werben: der Sallit, welcher 
nit binnen drei Tagen von dem Moment an, ba er feine Zahlungen 
eingeftellt hat, dem Gericht hiervon die Anzeige machte ; ber, welcher, 
nachdem er ſich entfernt hatte, fich nicht fofort perfönlich bei den Agen⸗ 
ten und Syndiken eingefunden hat; der, welcher Bücher auflegt, welche 
unregelmäßig geführt find (ohne daß jedoch daraus Anzeigen von Betrug 
hervorgehen), oder der nicht alle Buͤcher vorzeigt; endlich ber, welcher in 
einer Handlungsgeſellſchaft fteht, die fallirt und nicht binnen jener drei Tage 
feinen Namen und Wohnort angibt. C. Jeder fallirte Handeldmann, 
der ſich in einem oder in mehreren ber folgenden Fälle befindet, foll als 
betrüglicher Bankerottirer erktärt werden, nämlich: 1) wenn er Ausgaben 


Concurs. 633 


oder Verluſte angegeben hat, die in der That nicht ſtatigehabt haben, 
oder nicht gehoͤrig darthut, wozu er ſeinen ganzen Empfang verwendet 
habe; 2) wenn er irgend eine Summe Geldes, irgend eine Activſchuld, 
Waaren, Lebensmittel oder Mobiliengegenſtaͤnde bei Seite geſchafft hat; 
3) wenn er falſche Verkaͤufe, falſche Haͤndel oder falſche Schenkungen 
gemacht hat; 4) wenn er blos zum Scheine etwas Schriftliches von ſich 
gegeben, ober Schuldbekenntniſſe ohne rechtliche Urſache und-shne den 
Merth empfangen zu haben, mittelft öffentlicher Acte unter Privatunters 
ſchrift ausgeftellt und auf ſolche Weife falfche, zwiſchen ihm und erdichtes 
ten Glaͤubigern heimlich verabredete Paffivfchulden gemacht hat; 5) wenn 
er einen befondern Auftrag erhalten und Geld, Hanbelseffecten, Lebens⸗ 
mittel oder Waaren in Verwahr genommen und, ben aus bem Voll: 
machts⸗ oder Hinterlegungsvertrag entfpringenden Pflichten zuwider, die 
Sonde oder ben Werth der Gegenftände, welche in der Vollmacht oder 
in der Hinterlegung begriffen waren, zu feinem Nugen verwendet hat; 
6) wenn er unbemegliches Gut oder Mobilien angelauft und ein Ande⸗ 
rer feinen Namen dazu hergegeben hat; 7) wenn er feine Bücher ver- 
bare. D. Als betrüglicher Bankerottirer kann gerichtlich verfolgt und 
dafür erklärt werden ein Fallit, der keine Bücher geführt, oder aus deſſen 
Büchern nicht zu erfehen ift, wie es mit feinem Activ⸗ und Paffivftande 
wahrhaft befchaffen fei, und derjenige, der ein ficheres Geleit erhalten 
und ſich nicht vor Gericht geftellt hat. " 

Auf Grundlage diefer Vorfchriften des Handelsgeſetzbuchs bedroht 
das franzöfifche Strafgefegbuch den, welcher in den im erfteren beſtimm⸗ 
ten Fallen eines Bankerots ſchuldig erklärt worden, und zwar den bes 
trüglihen Bankerottirer mit Zwangsarbeit von beftimmter Zeit 2), ben 
einfachen Bankerottirer mit Gefängniß.von einem Monat bis zwei Jah: 
ten. (Die Mitfhuldigen an einem betrüglichen Bankerot foll gleiche 
Strafe treffen.) Wechfelagenten und Mäkter, weiche falliren, jollen mit 
Zwangsarbeit auf eine beftimmte Zeit und, menn fie eines betrüglichen 
Bankerots uͤberwieſen worden, mit lebenslänglicher Zwangsarbeit beftraft 
werden. — Das Strafgefegbuch für den Canton Zürich vom 3. Oct. 1835 
verordnet: Als betrügerifchee Bankerot iſt ed anzufehen, wenn ber in 
Goncurs Gerathene feine Rechnungs⸗ oder Handlungsbuͤcher auf bie 
Seite gefchafft hat, oder menn die vorgelegten Bücher falfche ober betrüs 
gerifche Einträge enthalten, wenn er in den legten ſechs Monaten vor 
Einftellung feiner Zahlungen beträchtliche Summen an Geld oder Wan: 
ten eingenommen hat und deren Verwendung naczumeifen nicht im 
Etande iſt; wenn er Geld, geldwerthe Sachen, Papiere oder Forderun⸗ 
gen verheimlicht oder auf die Seite gefchafft hat; wenn er feine Släus 
biger durch falfche ober fingirte Gefchäfte oder Verträge verkürzt hat; 


12) Der Entwurf eines Strafgeſetzbuchs für Braſilien ſchlaͤgt Zwangsar⸗ 
beit von 1 — 8 Jahren und zwar zugleich den Mitfcyuldigen vor. Hudt⸗ 
walter, Entwurf eines Gtrafgefenbuch für das Kaiſerreich Brafilien (Zeit: 
fchrift für Rechtswiſſenſchaft und Geſetzgebung bes Ausl. von Mittermaler und 
Zachariaͤ, Band 1. Heidelb. 1829) ©. 324. 


638 Eoncurs. 


riums. Beſonders geht die preußiſche Legislation ins Einzelne, Indem 
ſie u. A. beſtimmt, daß ein allgemeines Moratorium nur auf ein, 
zwei, hoͤchſtens drei Jahre zu ertheilen ſei, daß es von der Erfuͤllung 
befonderer Verbindlichkeiten, Tragung öffentlicher Laſten, Befriedigung 
der Anſpruͤche oͤffentlicher Caſſen, Entrichtung von Alimenten und 
Mieth⸗ und Pachtgeldern, Zählung des Geſindelohns u. ſ. w. nicht 
befreie 26). | " 

Es verfteht fi, dag auch durch MWebereinkunft zwiſchen dem 
Schuldner und feinen Gläubigern, alfo durch ben freien Willen ber 
legteren 27), eine Stundung zu Stande kommen und fo ber Concurs 
abgewenbet werden Tann, was auch dann gefdieht, wenn es bem 
Schuldner gelingt, einen Nachlaßvertrag mit feinen Glaͤubigern 

abzufshliegen, d. h. fie zu vermögen, einzumilligen, daß fie gegen theils 
weife Befriedigung ſich für gaͤnzlich abgefunden erklaͤren 2°). 

Eine ſolche Uebereinfunft erfordert die Zuftimmung von wenig⸗ 
ſtens det Mehrheit der Gtäubiger, nad der Größe bed Geſammtbe⸗ 
trags ihrer, Korderungen berechnet, ohne daß jedoch ein bevorzugter 
Glaͤuͤbiger daran gebunden ift. 

Einzelne Gefeggebungen laffen für den Fall, bag Fein Nachlaßver⸗ 
trag zu Stande kommt, in beflimmten Fällen eine Nöthigung ber 
Gläubiger zu einem Nachlaß zu, 3. 3. die Civilproceß⸗-Geſetzgebung 
Baiernd. Der Schuldner muß nachweifen, daß er nicht die Schuld 
feines Vermögensverfalld trage, den Gtläubigern den Zuſtand feines 
Vermögens vorlegen und ihn auf deren Begehren durch Ableiftung bed 
Manifeftationseides betheuern. Außerdem darf er nicht dem Verdacht 





zeichniß ſeines Activ⸗ und Yofflovermögens einreichen und feinen Säubige rn feine 
Handels⸗ und Geſchaͤftsbuͤcher, oder doch eine richtige Bilanz zur Prüfung bie 
legen und in Gegenwart bes Prebigerd unter Verwarnung vor dem Meineid eib⸗ 
lich erhärten, daß er von feinem Vermoͤgen wiſſentlich nichts verhehlen, auch, 
mas ibm noch beifalle, richtig anmelden wolle, fowie, daß die Gläubiger nicht 
weniger,. al& fie verlangen ,: zu: fordern hätten. Krüger, ſyſtematiſche Dar 
ftelung des bürgerlichen Proceſſes im Herzogtum Braunſchweig, Braunſchw. 
1829. S. öl, 182. Nach der Gefepgebung im Großherzogthum Heſſen muß 
ber Schuldner namentlich nachzeigen, daß es ihm in feiner dermaligen Rage, ohne 
Keine in dire Eage oerathen Ta und ce Th nad) Ablauf der Geik im Gran 
hulden in Die er on r 

der Zahlungsfähigtelt befinden werde. " sei 

26) Fuͤrſtenthal a. a. O. ©. 19-171. _ Du 

27) Iſt der Wille der Elänbiger getheilt, ſo entſcheidet bie Mehrheit dere 
ſelben, berechnet nicht nach den Köpfen, fendern nad) ber Größe 8 
gen. Auf die Qualitaͤt dex Glaͤubiger kommt nichts an, indem Pfaubglaͤubiger 
ven unbevorzugten Glaͤubigern uͤberſtimmt werden koͤnnen. 

28) Dabelow: Verſuch einer. ausfuͤhrlichen ſyſtematiſchen Erläuterung der 
Lehre vom Concurs der Gläubiger, "Ih: Hi eo — d: Son 
ben —S arehe ‚für. nie eioitiftife a Band 10. ©. 337: 
‚Bon Be g der Gläubiger zur Srlangung eines afvertrages und 
Abrenbung eines Soncurfes. + ir * wertrae * 


Concurs. 639 


der Flucht und der Verſchleppung feines Vermögens ausgeſetzt fein und 
muß bie Hoffnung geben, daß Ihm durch den Nachlaß weſentlich ges 
holfen werde 29). 

Durch Ertheilung ober Bewilligung eines Moratoriums oder ben 
Abſchluß eines Nachlaßvertiags bleibt der Schuldner in der Verwal 
tung feines Vermögens. Sonſt tft die Folge des nun ausgebrochenen 
Concurſes 20) zunächft die, daß er die Verwaltung feines Vermögens 
verliert, darüber nicht mehr werfügen kann (jede Veräußerung feines. 
Vermögens iſt von nun' an Te'nichtig, daß von den ' Gläubigern das 
Deräußerte von bem Erwerber, felbft wenn er in gutem Glauben iſt, 
gurüdgefordert werden ann), daß vielmehr: daſſelbe auf die Geſammt⸗ 
heit “feiner Gläubiger uͤbergeht. Die Glaͤubiger haben daher 'einen 
Güterpfleger zu beftellen,, der nad) vorausgegangenet Beeidigung und 
Beftellung einer Caution In ihrem Namen die nunmehrige Goncure 
maſſe unter Aufficht des Gerichts verwaltet. 

.. Das Gericht beftellt aus der Zah: ber Öffentlichen Anwälte einen 
Contradictor, der, wenn bie einzelnen Gläubiger in dem vom Gericht 
dazu anberaumten Liquidationstermin, mozu fle durch Edictalladung uns 
ter dem Rechtsnachtheil des Ausfchluffes von der Maffe vorgeladen ters 
ben, ihre :Sorberungen gemeldet haben, deren Richtigkeit unterfucht und, 
wenn biefe nicht fofort Har ift, ‚beftreitet. Sind die dadurch entftandes 
nen Rechtöffreite zwiſchen ben einzelnen angeblihen Glaͤubigern und 
dem Anwalt ber Goncursmaffe rechtskräftig ertfchieden und die Verhande 
lungen über bas Vorzugsrecht zwifchen den Gtäubigern, welche fich daſ⸗ 
[ee beftreiten, befchloffen, fo erläßt der Richterden fogenannten Locations 

eſcheid, worin er erkennt, nad) welcher Raͤhenfolge die Gläubiger, 
bie ihre Anfnrliche richtig geſteüt haben, zu befriedigen feien 81). Iſt 
auch diefer Locations⸗ (Prioritäts:) Beſcheid In Rechtskraft uͤbergegan⸗ 
gen, fo erläßt der Richter den Vertheilungs- (Diſtributions-) Beſcheid 
(ober. Decret), nach deffen Anordnung die Maffe unter bie Gläubiger 


— — — 


29) v. Wendt a. a. O. ©. 52. 53. | 
30) Reinhardt: Die Lehre vom Gant, Gtuttzart 1819. Schwepper 
Das Syſtem des Goncurfes ber Gläubiger nad dem gemeinen in Deutſchland 
eltenden Nechte. Zweite Ausgabe. Göttingen 1824. (6. 18. 19. fagt der Vers 
. faffer : „Gegenſtand des Staatöinterefle ift der Coneurs nur infofern, als ber 
Eandesrredit don einer guten Goncursordnung vorzüglich abhaͤngt; hingegen ifk 
der einzelne Concurs eine reine Juſtiz⸗Sache, da es fih darin um Private 
rechte handelt, welche auf privarredptlichem Wege entſtanden find und nach Re 
gein bes. Privatrecht beurtheilt wisben müffen. Folgen davon find: Die Eröffe 
nung-bes Concurfes bedarf keiner Sinwilligung bes Landesherrn. Cabinetsbe⸗ 
fehle find, cbenfo unzuläffig, als in andern Juſtiz⸗ Baden, Politiſche und wohl 
ar, Polizeiruͤckſichten find bei der rihterlihen Beurthellung ganz ausgefchloffen, 
Die Oberaufficht des Staats.über Jauſtizſachen gilt auch in GConcursſachen, das 
ber 8. B. Berichte über die fleifige Förderung der Goncursfachen eingefordert 
werden bürfen.”) - . 
31) Smelin: Die —ã ber Glaͤubiger bei dem über ihres Schuldners 
Vermoͤgen entftandnen Gantproceſſe. 2. Ausg. ulm 1793, 


640 Concurs. 


vertheilt wird 32). Den Glaͤubigern, welche hiernach nicht vollſtaͤndig 
befriedigt werben ober gar leer ausgehen, bleibt bes Gemeinſchuldner 
forthin verhaftet, fo daß fie ihn, wenn er wieder zu Vermögen kommt, 
ihrer Befriedigung halber angehen koͤnnen. 

Diefes beutfche Concırrsverfahren 3°), dem ber Goncuröproceß in 


Nur einzelne gefeglich bevorzuge Gläubiger brauchen an dem Verluſte 
Seinen Antheil zu nehmen 39, | 

Nur in Bezug auf den Kaufmann, ber feine Zahlung einftellt 
(Salliment), tritt ein (u Handelsgeſetzbuch angeordnetes) Verfahren 
ein, welches dem deutſchen Concurs-Proceß ſich annähert. Ein fols 
her Schuldner muß binnen 3 Zagen, von ber Einftellung feiner Zah⸗ 
Jungen an gerechnet, dies dem Gericht (Handelsgericht) anzeigen, wis 
brigenfalld er als einfacher Bankerottirer behandelt werden tann. Uns 
terbleibt bie Selbftanzeige, fo kann das Gericht auf Anregung kines 
Glaͤubigers ober bei der Motorität von Amts wegen einfchreiten. Der 
Sallit wird entweder in dem Sculdthurm verwahrt oder der Aufficht 
einee Wache unterworfen 2°). Das Verfahren (durch Urtheil ausge: 


82) Zeifig, Ueber Wertheilungäbefcheibe im Coneurſe. "Shemnig 1826. 

83) Gensler, Allgemeine theoretifch = praktifche Bemerkungen über das 
Mefen des beutfchen gemeinen Goncurs = Hroceffes (Archiv für die civiliſtiſche 
Praris Band 2. Heidelb. 1821.) ©. 345 ff. 

34) Fuͤrſtenthal a. a. D. ©. 179— 236. Brävelt, Kommentar zu 
ben Grebitgefegen des Preugifchen Staats, Th. 2 Vom Goncurs⸗ und Eiquis 
bationd: Proceh. Berlin 1815. 

« 85) Mittermater: Der gemeine beutfche bürgerliche Proceß in Wergleis 
chung mit dem.preußifchen und franzoͤſiſchen Givilverfahren, 3. Beitrag, 2. Aufl. 
Bonn 1832. 5. 7. „Koncurs = Procep. 

36) Das englifche Recht ftellt ganz altgemein” das Princip ber Gleichheit 
M Bezug auf —— —8 ens unter die Glaͤubiger auf, in⸗ 
bem daſſelbe unter ſie nach der Größe ihrer Forberungen vertheilt wirb. Bes 
nede, Darftellung der. englifchen Parlameitsacte vom 2. Mat 1825, hetref⸗ 
fend die Verbefferung der Bankerottgeſetze. (Zeitſchtift für Rechtswiſſenſch. und 
Dlens: See Julaides v. Mittermaier und Baharid, Bd. 2. Deldelb. 


87) Bölir: Vranibſicht Gefekgebung über die perſonliche Haft und neuer 


a 


fprochen, beginnt daburch, bag das Vermoͤgen des Schuldners unter 
Siegel gelegt und ein Commiſſair aus ber. Mitte bes Gerichts nebſt 
einem (der mehreren) Agenten ernannt wird, der unter Aufficht des 
eriteren den Zuſtand des Vermoͤgens, bie Biden u. ſ. m. unterſucht, 
die Ausſaͤnde beitreibt und eincaſſirt. Der Commiſſair leitet das Ver⸗ 
fahren und ermittelt zuerſt mit Zuziehung des Agenten und bes Schuld⸗ 
ners das -Verhältniß des Vermoͤgens zu ben Schulden, worauf er bie 
Glaͤubiger vorladet. Aus der Zahl derer, welche bie erfchienenen Gläus 
biger vorfchlagen, wird vom Gericht ein Syndik ernannt, der, indem 
ee an die Stelle des Agenten tritt, das Vermögen aufnimmt und, 
dem deutfchen Güterpfleger gleich, die Maſſe feitftellt. Zugleich beforgt 
biefer die Nichtiäftellung (Verification) ber einzelnen Forderungen. Cr 
ladet die Gläubiger vor und verhandelt mit Diefen vor dem Commiſ⸗ 
fair über die Richtigkeit three Anſpruͤche, die fie zugleith eidlich erhaͤr⸗ 
ten müfien. Die Gläubiger, deren Forderungen richtig geftellt find, 
tönnen mit dem Schuldner ein, jedoch ber Genehmigung des Gerichts 
unterliegendes, Abkommen (Concordat) treffen, was zur Folge «hat, 
daß berfelbe fo angefehen wird, als habe er nicht fallirt. Wird ein 
ſolches Abkommen nicht getcoffen, fo werden bie Gläubiger nochmals 
zufammenberufen, um einen Güterpfleger und einen Caſſirer zu er 
nennen, welche fofort zur Verſteigerung der Maffe fchreiten. Aus 
bem Erlös werden die Gläubiger nad) den Ihnen auftehenben Vorzugs⸗ 
rechten befriedigt 3°). 

Mehr oder minder aͤhnlich dem franzöfifchen Verfahren in Kallis 
mentsfachen ift die Gefeggebung in England, Schweden, Dänemarf; 
f. allgemeine beutfche Real s Encpkiopäbie, 7. Auflage, Leipzig 1830, 
Band, 4, Art. Falliment. Bopp. 


eetzenturt Do Diefen ten DE HGetfhr. v. Mittermaier und Za⸗ 
cha riaͤ, Bd 7. Anmerk. — Rad deutſchem 
Wechſelrecht ift der esta er u 8* wenn der Wechſelſchuldner zu 
Concurs verfaͤllt, befugt, den ſtrengen Wechſelproceß gegen deſſen Perſon zu 
richten, ſelbſt dann, wenn er ms fhon bei dem Goncursgerichte eingelaflen hat. 
Mittermaien: Srundfäge bes beutfchen Privatrehts, 4. Ausg. Landshut 
., 259. ©. 584. — Ginzelne deutſche Statutenrechte geltatten (oder 

—— die Berhängung bes Civilarreſtes (bedingt), z. B. das Landrecht des 

emaligen Kurfürftenthums geh wo e8 Tit. 21. beißt: ‚Wenn ein Dans 
delsmann ober Jude Bankerot machte unb nicht erweifen fönnte, baß er durch 
merkwuͤrdige inglüdsfälle bazu gefommmen wäre, fo mag berfelbe auf Begehren 
und Gefahr bed —— rreſt gefegt werben, jeboch daß ihm der Glaͤu⸗ 
biger taͤglich 6 Kreuzer zum Unterhait reiche. Van der Zezger: Handbuch 
des rheiniſchen Particularrechts, Band 2, Frankf. 1831. ©. 7 
8) Intereffante Eritifhe Eroͤrterungen über dieſe franzoͤſi m Geſetzgebung 
wthätt ber Beitrag von Foliz: Krütiſche Darftellung der franzod⸗ 
fiſchen Ballimentönefene im 4 Band ber Zeitſchrift Yon Mittermaier 
und Zachariaͤ, Heidelb. 1832, & 1 185— 234, Von befonderer Wichs 
tigfeit,, namentlich in Berug auf Sefer —— iſt auch jener oben * 
nannte Abſchnitt des ——— werte : Der gemeine deutſche bürs 
gerliche -Dkochh-ic. . - Ä 

Gtaats » Lexikon. TIL. 41 


642 Concuſſion. Gondorcet. 


Concuſſion, ſ. Erpreſſung 

Eondorcet (Maria Johann Anton Nicola Caritat, 
Marquis von), geboren 1743 zu Ribemont in der Picarlie, ver⸗ 
dankte die Mittel feiner früheren Ausbildung bee theilnhmenben 
Sorgfalt eines Oheims von väterlicher Seite, ber, als Bifhof von 
Licieur, im Rufe eines firengen, arbeitfamen und gelehrten Mannes 
ftand. Der Neffe erhielt feinen erflen Unterricht in dem Collegium 
von Navarra, wo er rafche Kortfchritte machte und ſich vor feinen 
Mitſchuͤlern auszeichnet. Schon in feinem fechzehnten Jahre beftand 
er eine öffentlihe Prüfung, in welcher er ungewöhnliche mathematifche 
Kenntniffe zeigte, mit folhem Erfolge, daß er ſich bie Aufmerkfamteit 
und das Lob von b’Alembert erwarb. Diefer ſchmeichelhafte Bel 
fall eines Meiftere im Sache beftimmte ihn, fich bemfelben ausſchließ⸗ 
lic, zu weihen, und er that es mit folder Auszeichnung, daß er, ſelbſt 
unter ben Schriftftellern von Bedeutung, fih bald einen Namen 
machte. Da in Frankreich ein vorzügliches Talent die Mittel, ſich gel 
tend zu machen, nur zu Paris finden ann, fo begab fih Condor⸗ 
cet in die Hauptftadbt, mo ihn der Mangel an Vermögen Anfangs 
in Verlegenheit fegte. Zu feinem Glüde gewann er bie Gunft bes 
Herzogs von la Rochefoucauld, der ihm reichliche Unterſtuͤzung 
verſchaffte und ihn in angeſehene Haͤuſer einfuͤhrte. Seine vielfaͤltigen 
mathematiſchen Arbeiten, die er in der Zeit herausgegeben hat, uͤber⸗ 
gehen wir, weil nur Condorcet, der oͤffentliche Charakter und Staats⸗ 
mann, nach dem Zwecke dieſer Schrift beachtet werden kann. Sein 
Streben war, ſich die Stelle eines Secretairs ber Akademie der Wiſ⸗ 
ſenſchaften zu erwerben, und um dieſe Abſicht zu erreichen, mußte er 
zeigen, daß er noch etwas mehr fei als Mathematiker. Darum beave 
beitete er die Lobreden auf die vor 1699 verftorbenen Akademiker, 
welche er 1773 herausgab. Die Arbeit fand Beifall, und Condor: 
cet erhielt die germünfchte Stelle. Darauf ward ihm der Aufttag ev 
theilt, die Lobrede des Herzogs von VBrielliere, der Ehrenmitglic 
der Akademie gemwefen, zu fhreiben. Die Sache zog fi in die Länge, 
und dee Minifter Maurepas, ber, wie gewoͤhnlich Leute in hoben 
Aemtern, etwas ungeduldig war und feinen Willen gern ſchnell voll⸗ 
zogen (ah, machte ihm Vorwürfe über die Verzögerung. Tonbotrs 
cet erwiederte: „Ich werde mid) nie dazu verſtehen, einen Mann zu 
loben, der unter der Regierung Ludwigs. XV. die fchäudlichen.lettres 
de cachet verfchwenberifch ausgefertigt: bat." Die Sprache war neu 
und das Ohr des gewaltigen Mannes an fie nicht gewoͤhnt. Cons 
borcet fah, fo lange Maurepas lebte, die franzoͤſiſche Akademie 
ſich verfchloffen, welche ihm erft 1782 geöffnet ward... Die Mebe, 
welche. er bei feiner Aufnahme hielt, entwidelte die Wortheiley 
welche die Geſellſchaft aus ber Verbindung der phpfites 
liſchen Wiffenfhafteri mit den moralifchen ziehen kann. 
Unter den Gebächtnißreden, welche er in ber Akademie gehalten, ‚vers 
dienen bie auf b’Alembert, Buffon, Euler, ‚Bexgmanpı 


[1 


- 


Sondorcet. 643 


Franklin ımd Linnd befonderd erwähnt zu werden. Zugleich ſetzte 
er feine mathematifhen Studien fort und gewann 1777 durch feine 


Schrift über die Theorie der Kometen den von ber berliner - 


Akademie ausgeſetzten Preis. Indeſſen zogen ihn Korfhungen, welche 
auf das Wohl der Gefellfhaft einen beftimmten Einfluß haben, im» 
mer mehr an, und er befchäftigte fi) mit dem Staate, unb was fein 
Wohl fördern oder ftören kann, wie es im Gefchmade ber Zeit war. 
Mit Qurgot, feinem Freunde, fuchte er die Grundlagen einer geſun⸗ 
den Saatswirthfchaft auf. D’Alembert, mit bem er in ben ver 
trauteftin Verhaͤltniſſen lebte, unterflügte er mit feinen Beiträgen, 
goelche ie große Encpklopäbie ‚bereicherten. Dieſes Werk, das einen fo 
großen Finflug auf die Zeit hatte, feste alle ausgezeichneten Schrift⸗ 
fteller ir Thaͤtigkeit. Man lebte in ber Erwartung eines neuen Tas 
ges, defen Morgenroͤthe ſchon über der andern Halblugel aufgegangen 
war. Der Krieg der englifhen Colonien in Nordamerika mit bem 
Mutterande war ausgebrohen, und Conborcet erktärte fi mit 
Märme für die Unabhängigkeit derfelben. Eben fo entfchieden trat ee 
für die Freiheit der Neger auf unb zeigte ſich überhaupt bei jeder 
Gelegenheit als ein Feind der Willkuͤrherrſchaft, deren Mißbraͤuche ee 
Darlegte und auseinanderfegte. Mit 1788 gab er fein Werk über 
die Provinzialverfammlungen heraus, in welchem er auf die 
Verbefferungen aufmerkffam machte, die ihm in der Verwaltung nöthig 
fhienen. Bel dem Ausbruche der Revolution übernahm er bie Vers 
theidigung ber Grundfäge, von benen fie ausging, um auf die Refor⸗ 
men binzuleiten, die nach feiner Anficht den Staat retten unb eine 
beffere Ordnung ber Dinge, im Intereffe des Volkes, begründen konn⸗ 
tn. Er eilte den Wünfhen und vielleicht den WBebürfniffen feiner 
Zeit voraus und zeigte republifanifche Geſinnungen und Gefühle, für 
welche fi) in der Meinung einiger Anklang, aber in den Sitten unb 
Gewohnheiten fo wenig, als in dem gefellfchaftlichen Zuſtande übers 
haupt eine Webereinftimmung finden ließ. Mit Cerutti verband er 
ich zur Herausgabe einer Zeitfchrift, um durch fie auf bie oͤffentliche 
. Meinung zu wirken. In dee gefeßgebenden Verſammlung trat er ale 
Abgeordneter ber Stabt Paris auf und nahm feine Stelle unter ben 
mtfchiedenen Freunden der Bewegung, die, wie er meinte, allein zum 
rwünfchten Ziele führen Tonnte. Doch verleugnete er nie die Geſin⸗ 
aungen der Menfchenliebe und Gerechtigkeit, und fo flare und rauf 
jeine Srunbfäge hervortraten, fo fcheu trat er felbft vor ihnen zuruͤck, 
mo es ihre unmittelbare Anwendung auf gegebene Perſonen und Vers 
hättniffe galt. Er war ein Gelehrter,‘ und im Gebiete der Miffen- 
ſchaft ließen ſich die Ideen friedlich und freundlich orbnen und zufams 
menftellen, was freilih mit den Menſchen und Dingen ‚nicht fo gut 
gelingen’ wollte. Bet den Verhandlungen über bie Emigranten ftellte 
er den Grundfag auf, nur biejenigen feien mit dem Tode zu beftrafen, 
die mit ben Waffen in bee Hand gefangen würden. Im Februar 


1792 war er Präfident ber Geſetgebung, und nach bm entfcheidenden 
r " 


N 


644 Condorcet. 


10. Auguſt verfaßte er die bekannte Adreſſe an die Franzoſen und Eu⸗ 
ropa, welche die Gruͤnde auseinanderſetzte, aus denen die Suſpenſion 
bed Königs noͤthig geworden. Als Mitglied bed Nationalonvents 
ſchloß er ſich gewöhnlich den Girondiften an, zu denen die aufseklärtes 
ften und beredteften Männer ber Verſammlung gehörten. Luͤdwig 
XVI. wollte er durch befondere Deputationen der Departemente gerich« 
fet wiffen und dem Gonvente nur dad Recht vorbehalten, die audges 
fprochene Strafe zu mildern. Als der Gonvent aber felbft dad Rich⸗ 
teramt übernahm, flimmte Condorcet für die härtefte Strae nad 
der des Todes, eine Mäßigung, bie fehr übel aufgenommen ward Bald 
hernady trug er auf die gänzliche Abfchaffung der Todesſtrafe ar, aus 
genommen in Fällen von Staatsverbrehen. Es mag hier aı feiner 
Stelle fein, zu bemerken, daß er ungefähr in biefer Zeit, feine politis 
fhen Gefinnung und Wirkfamkeit wegen, aus den Alademen von 
Petersburg und Berlin, deren Mitglied er gemefen, ausgeftoßer warb. 
Die Bluttage des Convents konnten an Condorcet nicht vorüberges 
ben, der in der eriten Reihe der erſten Männer die gehäffigen Leidens 
fhaften dee Gemeinheit herauszufordern fhien. Der 31. Mai hatte 
bie Girondiften geopfert und Condorcet nur aus einer gewiſſen 
Scheu gefhont, da es eine ſchwere Aufgabe war, fein politifches Leben 
zu verbädtigen. Das Verſaͤumte ward indefien nachgeholt, und ber 
ehemalige Kapuziner Chabot übernahm es, ihn als einen Mitfchuls 
digen von Briffot, der für das Daupt ber Gironbiften galt, anzukla⸗ 
gen. Eine Anklage war in biefer Zeit ein Todesurtheil. Condor⸗ 
cet hielt fich. verborgen und ward außer dem Gefege erklaͤrt. Acht 
Monate fand er eine Freiftätte bei einer edlen Freundin, die feine Tage 
nicht nur zu erhalten, fondern auch zu erheitern ſuchte. Da erfchien 
das Decret, welches Alle am Leben ftrafte, die Geächtete aufnehmen 
würden. Condorcet, entfchloffen, feine großmüthige Freundin diefer 
Gefahr nicht auszufegen, erklärte, daß er fie verlaffen muͤſſe. „Blei⸗ 
ben Sie”, fagte diefe. „Sind Sie außer dem Gefege, fo find wir doch 
nicht außer der Menfchlichkeit.” Er entlam gegen bie Mitte bes März 
1794 verkleidet aus Paris und fuchte einen Aufluchtsort in dem 
Landhauſe eines alten Freundes, ber aber nicht anmefend war. Aus 
Bucht, erkannt zu werden, verließ er den Ort und hielt fi mehrere 
Tage in einer Steingrube auf. Der Hunger trieb ihn unter Mens 
fhen, und er ſchlich fih in ein Wirthshaus zu Clamart, wo er fich bei 
ber Wirthin einen Kuchen von feche Eiern beftellte. - Das war eine 
vornehme Mahlzeit für einen folhen Menfchen, in fchlechter ade, 
mit abgetragener Müge und langem Barte, der, wie er feibft fagte, 
ein herrenlofer Bedienter, ein neues Unterfommen ſuchte. Die Wirs 
thin fah ihn bedenklich an, ermägend, ob er ber Zeche auch gewachſen 
ſei. Um ihren Zweifel zu zerſtoͤren, zog er feine Brieftafche hervor, bie, 
reich und zierlih, gegen das Heußere des Inhabers gewaltig abflach. 
Ein wachſames Mitglied des Nevolutionsausfchuffes der Gemeinde, das 
den ſcharfen Blick der Polizei in ſolchen Dingen hatte, ahnete Werrath, 


Gondorcet. | 643 


ließ Gonborcet verhaften und nad Bourg s las Meine abführen, mo 
man Ihn in das Gefängniß warf, Am folgenden Tage — ben 28. 
März 1794 — wollte man ihn aus bdemfelben vor Gericht zum Ver: 
höre bringen und fand ihn tobt. Er hatte Gift genommen, das er 
feit längerer Zeit bei fi trug, um im Nothfalle davon Gebrauch zu 
machen. So endete Condorcet im funfzigften Lebensjahre. In den 
Tagen, bie er, geächtet und von feinen Henkern aufgefucht, in Verbors 
genheit zubrachte, fchrieb er den Verſuch dergefhihtlihen Dars 
ftellung der Fortfhritte des menfhlihen Geiſtes, ein 
Zeugniß der Stärke feiner Seele, die auch in einer troftlofen Zeit, unter 
dem Beile des Henkers, den Glauben an die Menfchheit und ihre hös 
here Beftimmung nicht verlor. Er war ein güter Menfch, der unter 
der rauhen Schale eines herben und oft barfhen Aeußern einen lebenes 
Eräftigen, gefunden Kern verbarg. D’Alembert pflegte von ihm“ zu 
fagen, ee fei ein Vulkan mit Schnee bededt. Nicht frei von Stolz 
zeigte er im Umgange nie feine Ueberlegenheit, fondern erwies fich freund» 
lich und gefällig, und verfagte dem Bedrängten nie feinen Beiftand. 
Obgleich mit der Welt und ihren gefelligen Verhaͤltniſſen bekannt, fah 
man ihn in größern Kreifen ſchuͤchtern und verlegen, und nur unter 
Freunden heiter, ungezwungen und zu angenehmer, geiftreicher Unter: 
haltung aufgelegt. Ein entfchiedener Feind der Parlanıente, des Adele, 
der Geiſtlichkeit und des Königthums, griff er nur die Inſtitutionen an, 
wollte aber den Menfchen wohl, denen er ihre Fehler Leicht nachſah 
und fogar ihr Unrecht gegen, fi felbft vergab. Kam die Rede auf 
feine Frau und feine Tochter, dann vergoß er In ſtummem Schmerze 
heiße Thränen. Unerfchütterlicd, bei feinem Vorhaben, treu feiner Uebers 
jeugung, bis zum Eigenfinne feft in dem, was er für recht und red» 
(ich hielt, unterhandelte er nie mit Salfchheit und Lüge. Da vermoch⸗ 
ten feine Rüdfichten etwas über ihn. Selbſt Voltaire, den er fo 
fehr verehrte, verweigerte er die Aufnahme eines Briefes in ben Mers 
tur, meil der glatte Schmeichler in bemfelben den . angefehenen 
d'Agueſſeau über Montes quieu gefegt. Unter feinen Schriften 
verdienen noch bemerkt zu merden: 1) eine Ausgabe der Gedanken 
Pascal's, zu denen er Arimerkungen fügte, um barzuthun, daß die 
menſchlichen Verbrehen und Lafter mehr die Folge unferer geſellſchaft⸗ 
lichen Anordnungen als unferee Natur ſeien; 2) das Leben VBoltats 
re's; 3) ein Bericht über den äffentlichen Unterricht, der dem Natio⸗ 
nalconvente vorgelegt worden; 4) eine Analyfe der vorzüglichften frans 
zöfifchen und ausländifhen Werke über die Politit im Allgemeinen, 
die Gefeßgebung und die Finanzen u. f. m., die er mit Erläuterungen 
und Berichtigungen begleitet hat. Endlich gab er 5) einen Band Ans 
merkungen zu dem berühmten Werke von Smith, Unterfuhuns 
gen über die Natur und bie Urfahen des Reihthums 
der Nationen heraus. Als Gelehrter gehoͤrt Condortet zu dem 
ausgezeichnetften Männern feiner Zeit. In Vielem bat er viel gelei⸗ 


646 Condorcet. Confeſſion. 


ſtet, obgleich man fagen kann, daß keines ſeiner Werte den Stempel 
der Vollendung an ſich trage. Weigel. 

Gonfeffion = Bekenntniß. Es gibt zweierlei Arten 
von Gonfeffionen, die in Beziehung auf den Staat fliehen. Die eine 
betrifft Gegenftände der Einficht, bes Glaubens, der Ueberzeugung, bee 
Meinung, die andere Gegenflände des Willens. Ueber Thaten ober Vor⸗ 
fäge, bald gute, balb böfe, werben auh Gonfeffionen, ndmiid 
— Beihtbelenntniffen gemadıt, von denen bie Verhälniffe des 
Staatsrechts auf diefelbe kurz anzugeben find. 

I. Bet den Gonfeffionen der erfteren Art, bei den — 
Lehrbekenntniſſe befteht das Wichtigfte für den Staat darin, daf 
fie beftimmt find, dem Staate, deſſen Rechtsſchut die Bekenner genies 
Sen wollen, aufrichtig zu erklären, welche Weberzeugungen nad) ihrer 
Einfiht wahr fein. Dadurch mirb der Stant, b. i. ber Rechte bes 
ſchuͤzende Volksverein und beffen Regierung, nicht aufgefordert, nicht 
berechtigt, zu beurtheilen, ob und warum jene einbefannte Ueberzeuguns 
gen wahr find, fondern nur zu überlegen: ob unb inwiefern fie 
dem Staate, theils wie er ift, theils wie er fein follte 
und koͤnnte, entgegen oder genehm waͤren. 

Mas dem Staate, wie er fein foll, zuwider iſt, das 
kann er verfländiger Weiſe nicht in feinen Redhtsfhus aufnehmen. 
Er ift vielmehr in fich felbft durch feinen Zweck verpflichtet, zu erklaͤ⸗ 
zen, welche von ben Ueberzeugungen der Gonfeffion anders fein müßs 
“ten, ehe fie auf Rechtsſchutz in ihm Anſpruch haben könnten. Er felbft 
aber hat in den Ueberzeugungen der Bekenner nichts zu Ändern, nichts 
vorzufchreiben, noch weniger ein Recht, fie ald unwahr zu beftrafen 
ober zu verfolgen. Er hat bloß die aus feinem vernunftgemäßen Zweck, 
ber gemeinfchaftlichen Zhätigerhaltung ber Rechte aller feiner Mitglies 
ber und des Gefammtvereins, folgende Pflicht, ben Anbersüberzeugten 
beftimme zu verdeutlichen, intiefern dieſes ober jenes davon, mehr 
ober weniger, ſtaatswidrig, alfo der Gewährung bes flaatsrechtlichen 
Schutzes nicht fähig fein würde. In Beziehung auf ſolche Beſtand⸗ 
theile ihrer Confeffion wuͤrden alfo bie Bekenner rechtlos fein und 
zu bedenken haben, ob fie ohne ben Rechtsſchutz der Staatsgefammts 
heit beftehen können. Der Staat auf feiner Seite aber hätte zu beden⸗ 
ten, ob das Abmeichenbe fo ſehr flaatswidrig,, alfo weſentlich ſtaatsge⸗ 
faͤhrlich wäre, daß er die Bekenner von ſich ausfchließen bürfte oder fos 
gar müßte, ober ob er, ſtark genug in fih, ihnen zur Selbftänderung 
Beit und Anlaß geben koͤnne und ihnen blos das, was er von feinem 
Schutz ausſchließen müfle, mit Gründen anzugeben und, fo lange bats 
aus nicht factifhe Störungen gegen ihn entfliehen, ihnen auf ihre Ges 
fahr duldſam zu überlaffen habe. 

Was dem Staate, wie er rechtlich fein foll, nicht zu— 
wider, niht gefährlich ift, das zu meinen und zu bekennen 
und dabei den Rechtsſchutz zu genießen, haben bie Staatsgenofien das 
echt, auch wenn Andere neben ihnen es für unwahr halten. Denn 


Eonfeffion. 647 


gerade heswegen iſt die Geſammtheit denkfaͤhlger Menſchen in ben 
Staatsverein getreten oder darin geblieben, um mit Geſammtkraͤften 
alle diejenigen Thaͤtigkeiten ſaͤmmtlicher Mitglieder, zu deren Ausuͤbung 
ſie im menſchlichen Naturzuſtand befugt waren, deſto ſichrer zu be⸗ 
ſchuͤtzen, ſoweit dadurch nicht eben der Geſammtverein der rechtsbeſchuͤ⸗ 
tzenden Kraͤfte ſelbſt in dem, was er ſein ſoll, gehindert wuͤrde. Zu 
Uebung der Thaͤtigkeit aber, wodurch man ſich Ueberzeugungen zu er⸗ 
werben vermag, iſt im menſchlichen Naturzuſtand, das iſt, im Stand 
der noch kunſtloſen Moralitaͤt oder Selbſtverpflichtung, gewiß jeder be⸗ 
fugt, weil ihn feine geiſtige Natur ſogar dazu verpflichtet. - 

ft ein drittes mögliches Verhältnis da, dag nämlich dergleis 
hen Weberzeugungen zwar niht bem Staate, mie er fein foH, aber 
doh wie er ift und befteht, in Vieles oder Wenigem entgegens 
tritt, fo find dreierlei Fälle zu unterfcheiden. - \ 

Vielleicht folte er, ber beftehende Rechtsſchutzverein, fich felbfl, 
aus Veranlaffung jener Confeffion anderer Weberzeugungen, in Einigem 
ändern und alfo fein Beſtehen verbeffern. Es verfieht fi alsdann, 
bag er dies foll, ſoweit und ſobald er, ohne Gefahe für fein 
Beſtehen, es kann. oo 

Ein anderer öfter vorkommender Fall iſt, daB zwar manche Ueber» 
geugungen einiger Genoffen bed Staats dem, wie er befteht, entgegen 
find, er aber demungeadhtet wohl beftehen kann. Alsdann beflehe oder 
erhalte er fidy ruhig im der Weberlegenheit, die ihm dadurch, daß Alle 
fein Beſtehen nöthig haben, gefichert wird, Die Achtung bes natuͤrli⸗ 
hen großen Rechts der Ueberzeugungsfreiheit fol, dem Hauptzwed bes 
Staats gemäß, fo groß in ihm fein, dag er auch die Verſchiedenheit 
einzelner Weberzeugungen, neben denen er dennodh im Ganzen wohl 
fortbeftehen kann, nicht ausſchließe. Oft wird, je weniger Gewicht ex 
barauf legt, deſto eher der Gegenfag verſchwinden ober fi In Harmo⸗ 
nie aufloͤſen. 

Nur wenn Ueberzeugungen ſich dem beftehenden Staat ent 
gegenftellen, wegen welcher er ſich weder ändern folt noch kann, fo folgt 
es aus feiner Selbfterhaltungspflieht, daß er fie als Weberzeugungen 
nicht befhügen zu innen erkläre, vielmehr ihrem Webergehen in bie 
That fein Veto mit allen ihm zu Gebot ſtehenden recht⸗ 
lihen Mitteln theils verbeſſernd theild verhindernd entgegenftelle. 

Die Confeffion folcher Weberzengungen, auf welche biefe im Alls 
gemeinen feflzuhaltenden Grundfäge anzuwenden find, kann enttveber 
anmittelbar das Politifche betreffen oder.aber, mie dies häufiger 
vorkommt, in emem moralifchen oder religiöfen Lehr⸗ und 
Meinungsbekenntniß beſtehen. 

Auf den Begriff Confeſſion iſt beſonders deswegen zu dringen, 
weil er keine Verbindlichkeit fuͤr irgend eine Folgezeit in ſich ſchließt, 
vielmehr nur wahrheitliebendes Bekenntniß deſſen iſt, wovon jetzt die 
Bekenner ſich nach forgfältiger Prüfung überzeugt wußten. Nicht eins 
mal ſich ſelbſt, noch weniger Andere wollten fie dadurch gebunden haben. 


648 ⸗ Confeſſion. u 


Ein treffiihes Muſter einer ſolchen Meligions » Canfeffion war bie 

augsburgifhe Confeſſion, bas ift, das 1530 an Kalfer und 
Meich feierlich übergebene Glaubensbekenntniß ber gegen Glaubensvor⸗ 
ſchriften proteflivenden Fuͤrſten, wodurch fie barlegten, „was unb wie 
„ihre Pfarcherren und Prediger aus grundgättlicher heiliger Schrift lehr⸗ 
„ten und hielten, worüber aber in Lieb und Gütigkeit gehandelt und 
„die Zwiefpalten zu einer einigen wahren Religion unter Einem Chrifte 
„mach göttliher Wahrheit geführt werden mögen.” Gie gaben aber 
(nad) den Schlußworten) nur die fürnehmften Artikel, bie fie 
für nöthig geachtet. Mehreres blieb vorbehalten. Aus bem Gegebe⸗ 
nen „habe man nur defto baß zu vernehmen, daß bei und nichts we⸗ 
„dee mit Lehre, noch mit Geremonien angenommen ift, welches entwe⸗ 
„der der heiligen Schrift oder gemeiner hriftlihen Kirche ents 
„gegen wäre.” 

Aus biefem Zweck, dag man mit dem, worin alle (größere und 
deswegen ſchon in ben Staatsfchug eingetretene) chriftliche Kirchenpar⸗ 
teien übereinfämen, alfo mit dem bis bahin legal anerkannter Unis 
verſalchriſtenthum einftimmig bleiben wollte, ift es zu erldren, warum 
man auch das doch nicht von den Apofleln ausgegangene, und fogar 
das nicht von Athanafius verfaßte Spmbel, auch bie vier erften im 
Stunde nur duch die Machtgebote der Imperatoren oͤkumeniſch 
(im ganzen Roͤmerteich gültig) gewordenen Concilien nicht ausbrüdtich 
in ihre wahre Stellung, einft: Lehrbekenntniſſe der verfammelten Stims 
menmehrheit gewefen zu fein, zuruͤckwies. Vorbehalten war immer, 
wie Luther fhon zu Worms Eräftigft ausgefprochen hatte, daß audy 
den Goncilien, ſtatt der Lehrunfehlbarkeit, doch wohl zu mißtrauen unb 
jeder über die Chriftusichre nur aus der Schrift ober burdy anbere 
evidente Gründe (rationes) zu übermeifen fei. Auch jene zwei nicht 
ehten Symbole find in der augsburgifhen Confeffion nicht, fons 
dern nur in dem Concordienbuch von 1602 wie oͤkumeniſch voranges 
fteift und nur das nicänifche Symbolum ausdruͤcklich angeführt. 

Bei diefer und jeder ähnlichen Lehrconfeffion ift hauptſaͤchlich zus 
unterfcheiden, was in ihr bezweckt, alfo auch eigenthümlich bedacht war 
und was dann meiter entweder aus dem Herkoͤmmlichen oder aus neuen, 
aber unvollendeten Mahrheitsforfchungen hinzukam. So find in ber 
Confessio Augustana offenbar die Artikel überdie Mißbraͤuche 
(XXIH — XXVIII.) das eigenthuͤmlich Beabfihtigte und 
Charakteriftifhe. Nur weil man bie Unzuläffigkeit der Mißbraͤuche 
erkannte, mußte man auch die Lehrmeinungen, durch welche fie 
vertheidigt zu merden pflegten, zu berichtigen fuchen. Dies gefchah 
theilmeife, wie immer das Einfehen des Unrichtigen und das Ders 
neinen viel leichter ift, als die vollere Entdedung bes Wahren. Auch 
für die fpätern Verehrer folcher Bekenntniffe bleibt deswegen bie Enthüls 
lung der Mißbraͤuche und der Mißbegriffe, woraus biefe floffen, bie 
Hauptſache und für die Folgezeit das Symboliſche, das ift, das 
zur kirchlichen Unterfheidbung Nöthige, wobei man auch 


Gonfefin ion. | 649 


gerne bleiben fann. Das Uebrige, was nicht alles zugleich in's Meine 
gebracht werden Fonnte, darf nicht, wie etwas geſetzlich Permanentes, bie 
weitere Berichtigung hindern. Am allerwenigften darf darauf ſtaats⸗ 
rechtlich gehalten oder von den Gemeinden der Mechtsfchug des Staats 
dafür gefordert werden, dag auch die dort noch unvollendeten 
Lehrberichtigungen wie bindend und nicht blos als ein Bekenntniß, wie 
weit die Einfiht damals in’s Beſſere vorgerüdt war, geachtet wer⸗ 
den müffen. 

Auch die reformirten Kirchen haben meiftene, und wo nicht 
eine übermäßige Klerofratie (Imangsherrfchaft der Geiftlichkeit) ſich mit 
ber Magnatenherrfchaft (ber faͤlſchlich ſogenannten Ariſtokratie) verbüns 
bet hatte, nur die Form von Eonfeffionen als Glaubensbekenntniſſen, 
nicht die von Lehrvorfhriften gewählte. Nur die beigifhe Nationales 
fonode zu Dordreht 1618 und 19, von ber Partei bes Prinzen von Ora⸗ 
nien gegeh die Remonftranten oder Arminianer unterftüst, gab fogar 
Aber ftreitige Lehren fünf Kanones. In der von Dr. Augufti 1827 
herausgegebenen Sammlung finden fich heivetifche, galficanifche, anglicas 
nifche, polnifche, ungarifche c. Gonfeffionen, und ber Titel: Corpus 
librorum symbolicorum !) hätte dem inhalt gemäßer Corpus con- 
fessionum heißen koͤnnen. Der Begriff bes Normativen, wel 
cher fo leicht dem Kımftwort ſymboliſch angehängt wird, entftand erft 
allmälig, ald man mehr herrfhend und polemifch, ale proteftantifch, libe⸗ 
ral und tolerant zu werden durch die aͤußern Umſtaͤnde veranlaßt war. 
Selbſt die Con fess io Marchica von 1614, ungeachtet ſie direct im Nas 
men des brandenburgiſchen Kurfuͤrſten Johann Sigismund ſpricht, er⸗ 
klaͤrt doch (ſ. bei Auguſti S. 385.), daß „Sr. kurfuͤrſtliche Gnaden zu 
dieſer Bekenntniß feinen Unterthanen, oͤffentlich ober heimlich (9) 
zwingen wollen, ſondern den Curs der Wahrheit Gott allein 
befehlen.“ Nur befiehlt der Regent (mit Recht) ernſtlich, „des Laͤ⸗ 
ſterns, Schmaͤhens und Diffamirens gegen die Orthodoxen 
und die Reformatos ſich zu enthalten, die man aus lauterm 
Has und Neid für Calviniſch ausrufen thue“. (Was damals 
Haß fein follte, wird jegt von den neuevangelifchen Weberfchägern bes 
allzu metaphnfifchen Calvin in ein Ehrenmwort verwandelt.) Das befte 
Beifpiel, wie das Anerfennbare und das noch Unbeftimmbare unterfchieben 
und neben einander geftelft werden Eönnte, gab (f. Augufti &.386—410.) 
das aus dem Leipziger Religionsgefpräh von 1631 hervors 
gegangene Refultat, genannt bie Liquidation, wie meit bie anwes 
fenden reformirten und Lutherifchen Theologi einig und nicht einig 
(geworden) fein. Die Differenzen in's Liquide zu bringen, iſt das 
nöthigfte Mittel zu ihrer gemaltlofen gründlichen Loͤſung. 


— — — 


1) Vergl. daruͤber ſeine weitern Erklaͤrungen in der 209. Kirchengeitun 
1830 Nr. 152—54. Aus dem Lateinifchen überfegt, vervollftändigt und burd 
Einleitungen erläutert erfchlen diefe Sammlung der fombolifch genannten Bücher 
der ev. reformirten Kirche in 2 Theilen zu Neuftadt a. a.’ ©. 1830 in 8. 





650 Gonfeflion. 


I Bel den Sonfeffionen der: oben angegebenen zweiten 
Art, bei den Belenntniffen, welche den Willen, bie fon 
ausgefuͤhrten oder die nur gedachten Vorfäge betreffen und bie des⸗ 
wegen gewoͤhnlich Beichtbekenntniſſe genannt werden, bat ber 
‚Staat die doppelte Frage vor ſich: ob fie überhaupt feinem Zweck nicht 
entgegen find? und dann: ob und Inwiefern ‘die damit verbundene 
Derpflihtung auf unverleglihe Berfhmwiegenheit, das 
fogenannte sigillum oonfessionis, dem oberften Staatszweck ges 
mäß zuzugeben ober genauer zu beftimmen fei ? 

Der die Gefammtrechte gemeinfchaftlich befhügenbe Geſellſchaftszu⸗ 
fland oder jeder Staat flügt fi allerdings am Ende auf die Pflicht 
und das Recht, für den Schug der Rechte Gewalt anzuwenden. In 
jedem Mitglied, ja in jedem Mitmenſchen geht dafür die moralifche 
(den Willen antreibende) Ueberzeugung voraus, daß Jeder als Menſch 
durch feine eigene Einficht verpflichtet werde, fi) von Verlegung ber 
Rechte Anderer im dußerften Fall durch Gewalt abhalten zu laffen. 
Der mohlgeordnete Staat aber mwirb nicht eine bloße Zmangsanftalt 
fein wollen, er wird alle für die gemeinfchaftlihe Rechtsbeſchuͤtzung 
wirkfame Mittel anwenden. | 

Der Zwang fteht nur als das Leste, Aeußerſte im Hintergrunbe. 
Aber der Menfchenftaat weiß, dag den Willen durch die Eins 
fiht gewonnen zu haben ein viel mehr ficheres Mittel iſt, ale der 
Zwang. Bedarf doch ber Zwang felbft zuvoͤrderſt des motivirten Wils 
lens berer, ohne beren Kraft er nicht, oder nicht hinreichend auszu⸗ 
üben ift. Iſt nun durch die Religidn ein Mittel vorhanden, wodurch 
Viele bewogen werben, mit Einfichtigen und Unparteiifchen ſich über 
bas, was fie gewollt und gethan haben oder noch wollen, im engften 
Vertrauen und unter gewiffenhaftem Andenken an Gott zu befprechen, 
fo muß dies auch der Staatsklugheit erwünfcht fein. Denn wie vies 
led Schlimme kann mwenigitens in feinen Folgen verbeffert, wie vieles 
Gute ermuntert und durch guten Rath geleitet werden, wenn Diele 
in der Gewohnheit erhalten werden, zunaͤchſt felbft über ihe Thun 
und Wollen, um mit einem Achtungswürdigen bavon im Vertrauen 
fi) berathen zu Binnen, genauer nachzudenken und dann darüber die 
Anfihten, Ermahnungen, Rathfchlige des Gewiſſenstaths zu eigener 
Betrachtung zu erhalten. 

Nur dafür wird baher die Regierung der Rechtsſchutzgeſellſchaft 
zu machen haben, daß von Seiten der Religionsvereine gewiß Einfichs 
tige und Unparteiifhe als bes Vertrauens Wuͤrdige aufgeftellt werden 
und biefe über das Gefchehene oder erſt Gewollte ihre Gewiſſenslei⸗ 
tungen nur nach echt moralifchsreligisfen Grundfägen zu geben vorbes 
reitet feien. Beſonders bat fie vorauszufesen und darauf zu beftehen, 
dag in dem wichtigen Begriff von Abfolution jederzeit beutlich ges 
macht werde, wie vor dem Allwiſſenden feine Losfprehung anders als 
durch fortdauernde Neue über das Verwerfliche und durch aufrichtige 
Entſchloſſenheit für das Gute bebingt zu denken fein koͤnne. 


Gonfeffion. 651 


Dergleichen freiwillige Beichtconfeſſionen nun. find offenbar auch, 
dem Staatszweck fo förberlih, daß er allen Grund hat, aud die 
zum vollen Vertrauen gegen ben würdigen Gewiſſens— 
rath unentbehrlihe Verpflihtung zu einer gleihfam 
verfiegelnden Verſchwiegenheit zuzugeben, d. i. das sigillum 
oonfessionis 2) als nothiwendige Bedingung der Beichtbekenntniſſe 
fanctionirt anzuerdennen. Daß Viele mit Einſichtigen und Unparteiifchen 
über Zhaten und Vorfäge in einem religiöfen, mit bem Andenken an 
Gott verbundenen Vertrauen zu Rath gehen koͤnnen, ift eine zur Ges 
müthöbefferung durch Reue und zur Leitung in gute Vorſaͤtze ſo fehr 
nügliche Anftalt, daß die dabei möglihen Mifbräuhe nur als 
ein minberes Uebel zu beachten und möglichft zu verhüten find. 

Der Mißbrauch wird vornehmlich, dadurch verhütet werden koͤn⸗ 
nen, wenn überhaupt immermehr die Ueberzeugung verbreitet wird, daß 
Staat und Kirche nie als Gegenfäge auftreten follen und zwiſchen beis 
ben weder eine durchgängige (abfolute) Suborbinatton, nody eine durchs 
gängige Koordination oder Unabhängigkeit verftändigerweife ſtattfin⸗ 
bet. Das Vertrauen Vieler zum Gemiffensrath, welches dem Staates 
zwed fo fehr förderlich gemacht werben ann, beruht großentheils auf: 
dem guten Glauben, daß die Kirche als Religionsanflalt, unabhängig 
von der Staatsgewalt, das Gute und Böfe rein nach den Ideen von 
Gott und von dem, was der Vollkommengute wollen koͤnne, nicht 
aber nad) icdifhen Nebenruͤckſichten, ſchaͤtze, lehre und alfo auch in 
ben BeichtconfeflionssVerhältnifien jenem zum Grund lege. Hierin muf 
alfo der confequente Staat die Klrchen in bee moralifchs religiöfen Uns 
abhängigkeit von ſich fo gewähren lafien, daß er nur, wenn offenbar 
das Boͤſe ald gut verbreitet würde, er fein Veto ober bie Eräftige Ers 
Härung, daß er es mit allen feinen Mitteln hindern müffe, entgegens 
ftellt und alfo feinen Rechtsſchutz inſoweit zurädzieht. 

Angewendet auf die Verhättniffe der Beichtconfeſſionen veranlaſſen 
diefe Grundbegriffe einige Unterfheidungen, die niht immer 
gleich fehr berädfihtigt werden. 

So oft dem Gewiffensrath Gefhehenes, das niht unges 
[heben gemacht werden Tann, anvertraut wird, fo iſt feine 

erfchtwiegenheit unverlegliche Bedingung. Er hat das ihm Mitgetheilte 
nur moralifcy religiöse entweber als Gegenftand bes Raths zur forte 
dauernden Neue und MWillensbefferung oder zur Fortfegung des Guten 
zu erwägen. Zum VBerhüten der fchlimmen Folgen bes gethanen Boͤ⸗ 
fen, alfo 3. B. zur Entfhädigung und zu allen Wirkungen wahrer 
Meue hat er allerdings überzeugend zu ermahnen. Aber außer ber 
Beichte auf Erfüllung des religiöfen Raths zu dringen, wäre wider den 
Begriff eines vertraulichen Mathgeberd und würde der Tod bes Ders 
trauens felbft fein. 


2) Bergl. Dies, de sigillo confessionis von Dr. Wehlein. Heidelb. 1828. 8. 


652 Gonfeflion. 


Sogar wenn über ſchon begangene Staatsverbrechen bem Gewiſ⸗ 
fenerath Vertrauliches entdedt wird, fo find bie von dem Meblihen und 
Einfihtigen zu erwartenden Ermahnungen dem Staate felbft fo wuͤn⸗ 
fhenswerth, daß er, um bad dazu unentbehrliche Vertrauen möglich 
zu machen, auf fein fonftiges Necht, daß alle Gutbenkende ihm folche 
ſchwere Verlegungen feiner Rechte entdecken follten, wohlbedaͤchtlich vers 
zihtet. Denn nur die Gewißheit, dadurch nicht verrathen zu werben, 
kann den DBerbrecher zu jenen religiöfen Mittheilungen veranlaffen, bie 
der Gemwiffensrath zur Beſſerung des Schuldigen, alfo auch zum Bes 
ften des Staats, anwenden wird. 

Auch dag das noch nicht Geſchehene bem Gewiſſensrath in 
fiherem Vertrauen mitgetheilt merbe, wird dem Staate weit mehr vors 
theilhaft fein, ald wenn es aus Mißtrauen zurüdgehalten würde. Wie 
mancher aus Vorurtheilen entflandene Borfag würde anders gelenkt 
worden fein, wenn der Selbſtbethoͤrte fi) mit vollem Vertrauen zu 
moralifch »religtöfen Berathungen entdedit hätte. Für bie dadurch wahr: 
fcheinliche Berichtigung falfcher Meinungen und Abmahnung von Nor: 
fügen und Thaten, die vor Gott nicht zu billigen wären, Tann ber 
Staat feine Anfprühe auf gerichtliche Entdedung des ihm Schäblichen 
mit Grund ‚aufgeben. 

Nehmen wir felbft ben fchlimmften Fall ale möglid an, daß ber 
Gewiſſensrath zugleich mit dem Beichtenden Verbrecher würde und das 
Verbrechen beförderte, fo wäre er alsdann nicht wegen des Verſchwei⸗ 
gend, fondern nur wegen des Theilnehmens ſtrafbar ?). 

Nur über Ein mögliches, aber feltenes Verhaͤltniß fcheint die Ents 
fheidung ſchwerer. Geſetzt, ein Vertrauender entdeckt dem Gewiſſens⸗ 
rath Vorſaͤtze zu Thaten, die dieſer ihm als boͤſe ſchildern und 
ihn davon abmahnen muß. Wenn nun der Vertrauende ſich nicht 
uͤberzeugen und abhalten laͤßt, wenn der Gewiſſensrath demnach vor⸗ 
ausſieht, daß Jener das Verwerfliche und Schaͤdliche zur Ausfuͤhrung 
bringen werde, ſollte in dieſem Falle der, dem die Confeſſion gemacht 
wird, nicht verbunden ſein, die drohende Gefahr denen, welche ſie 
verhuͤten koͤnnen, zur Warnung und Abwendung bekannt zu machen? 
Es ſcheint, die Kirche ſollte fuͤr ſolche ungewoͤhnliche Verhaͤltniſſe ihre 
Diener dazu inſtruiren, daß ſie die Verwirklichung des Verwerflichen 
durch die moͤglichſt ſchonende Entdeckung bei denen, bie es zu hindern 
vermögen, zu verhüten fchuldig feien. Der Staat aber hätte dagegen 
zu beftimmen, daß eine ſolche marnende Anzeige nur polizeilich und 
abminiftrativ zum Verhuͤten der fchlimmen Ausführung benust, nicht 
aber richterlich zur Beſtrafung bes beharrlichen Worfages angewens 


3) Zu vergleichen möchten fein Aler. Müllers kirchenrechtliche Eroͤrterun⸗ 
gen. Erfte Sammlung, Nro. 2. Weimar 1823. Mittermaicr, über bie 
Pflicht des Beichtvaters zum Zeugniß. N. Archiv des GSriminalrchts. Thl. 8. 
©. 313. Breiger, über das Beichtgeheimniß und das Recht der Obrigkeit, 
deſſen Revelation zu fordern. Hannover 1827. 


Gonfeffion, Confiscation. 653 


bet. werben duͤrfte. Es iſt Pflicht der Kirche, boͤſen, vor Gott vers 
werflihen Thaten foviel möglich zuvorzukommen. Aber es iſt zus 
gleich- im Intereſſe des Staats, das vertrauliche Mittheilen aller zwei⸗ 
felhaften Worfige an den Gewiſſensrath, meil dadurch viel Unheil abs 
gewendet werden kann, dußerft zu fchonen-und auf alle Faͤlle dadurch 
möglich zumachen, daß dem WBertrauenden nie deswegen eine Strafe 
zugefügt werde. Die Vereitlung bes böfen Vorſatzes genügt dem Staats⸗ 
zweck, ift aber nur durch die möglichfte Schonung bes sigillum con- 
fessionis zu erreihen. - Dr. Paulus. 


Confirmation,'f. Beftätigung. 


Gonfiscation des Vermögens; Confiscation ein: 
zelner beflimmter Sachen; Geldftrafen. Der Hauptgegens 
ftand, welchen wir bier. betrachten, ift die Vermögens: Confiscas 
tion. Durch bie dabei nöthige Aufftellung ihres Unterfchiede von den 
beiden andern in obiger Rubrik aufgeführten Strafarten werben jedoch 
natürlich auch diefe legten beleuchtet, und es mag fonad) füglidy in einem 
Artikel von allen dreien gehandelt werden. 

Vermögens- Confiscation ald Hauptfirafe für fi, oder 
ale VBerfhärfung (oder überhaupt geſetzliche Folge) einer ans 
dern Strafe, ift die zum Vortheil des Fiscus gefchehende Einzies 
bung des Vermögens eines. Staatsangehörigen aus dem Grund eines 
wider ihn ergangenen Straf s Urtheild oder überhaupt ald Folge einer 
gefeglich damit bedrohten widerrecht lichen Handlung oder Unterlafs 
fung. Die Vermögenseonfiscation ift der Weſenheit nach vorhanden, 
menn fie auch unvallſtandig verhängt, d. h. wenn auch nur eine 
Quote des Vermoͤgens (3. B. im Fall der.l. 1. D. ad legem juliam 
de vi privata der britte. Theil) zur Strafe eingezogen, oder wenn 
dem zur Confiscation Verurtheilten irgend ein Theil feines Vers 
mögens (ohne Unterfchied, ob in einer Quote oder in einer fonft bes 
flimmten Größe beftehend) gelaffen wird. Nach der Strenge biefes 
Begriffs würde freilich. die Benennung Confiscation fehon: bei der Eins 
jiehung auch nur eines oder zweier Procente des Vermögens 
flattfinden muͤſſen, wofern nämlich biefelbe wirklich unter dem Titel. bes 
Strafe geſchaͤhe. Doch Yat man, nad) dem gewöhnlichen Sprachges 
brauch, bei der eigentlichen Confiscation meift nur die vollftänbdige 
oder der Voltftändigkeit nahe oder doch nur die eine große uote in 
Anfpeuch nehmende Vermögenseinziehung im Auge und belegt die Eins 
giehung von nur einigen Procenten — und wären ed auch zehn 
ober zwanzig oder noch. mehr — felbft wenn fie. wirklich zue Ab⸗ 
fhredung (ſonach der Wefenheit nach wirklich als Strafe) verords 
net wäre, 3. B. in Fällen der unbefugten Auswanderung oder Ders 
mögenswegziehung lieber mit bem Namen „Abzug“ oder „Abfahrt- 
geld” u. ſ. w. Auch wir — obfchon die Schärfe des Begriffs theo⸗ 
vetifch fefthaltend — mollen uns biefem Sprachgebrauch fügen und das 
ber den Bid nur auf die — ohnehin praktifdhy als Regel erfcels 


5 Gonfidcatlom - 


nende — vollſtaͤndige oder ber Volfländigteit nahe Fommendn 
Vermögenseinziehung richten. 

Aber ſelbſt nach der größern Ausdehnung unfere® im Allgemeinen 
aufgeftellten Begriffs muß die Confiscation unterfchieden werben. 

1) Bon ber gemeinen Geldftrafe, die ba nämlid weder dad 
Vermögen im Ganzen noch eine Quote beffelben, fondern blos eine 
beftimmte (oder nad einer für die Verſchiedenheit der Faͤlle aufge 
fteilten Regel jeweils zu beftimmende) Summe in Anfprud) nimmt, 
Gegen bie rechtliche und politifche Zuläffigkeit dieſer Strafe tft nicht 
Vieles einzuwenden; ohne Unterſchied, ob fie blos polizeilich, auf 
Art einer Zare ober einer Entfhädigungsgebühr für den durch 
gewiſſe Pleinere Webertretungen dem gemeinen Weſen zugefügten und 
einen Anfchlag nach Geld zulaffenden Schaden (Unbequemlichkeit ober 
Gefahr u. f. mw.) aufgelegt, oder eigentlih ſtrafrechtlich, zur 
Buͤßung oder Suͤhne verhängt werde. Dort wie hier nämlich er⸗ 
fcheint als ihr allerding® gerechter Hauptzmed die Abhaltung oder 
Abfhredung, und fie ift in gar manchen Fällen vollkommen geeigs 
net, foldyen Zweck zu erfüllen. Zwar ift fie, je nach den Vermoͤgens⸗ 
umftinden des zu Beſtrafenden, in Anfehung ihrer wirklichen Schwere, 
alfo auch ihrer abhaltenden Kraft, hoͤchſt ungleich, wenn man aber 
diefe Umftände in Erwägung zu ziehen dem Richter erlaubt, ber 
Willkür Raum gebend und fobann auch jedenfalls der Idee der 
der Gefammtheit gebührenden Entfchädigung oder Vergütung nicht 
mehr entfprehend. Doch mag biefen Mängeln abgeholfen werben 
theils durch eine Abftufung nad den wenigſtens annähernd zu em 
Eennenden DBermögensverhältniffen des zu Beftrafenden, thell® durch 
einen mäßigen, dem richterlihen Ermeffen überlaffenen Spielraum, theils 
endlich, durch die ftatuirte Zulaͤſſigkeit der Verwandlung ber Gelbe 
buße in eine andere, namentlich Gefängnifftrafe, fei es nach freier 
Wahl des Schuldigen ober nach richterlihem Erkenntniß. Uebrigens 
iſt auch jede andere — felbft die Xodess — Strafe in Bezug auf 
Schere (nad) dem Gefühle des zu Beftcafenden), demnach auch auf 
abhaltende Kraft immerdar fehr verſchieden; weswegen nur bie durch⸗ 
fchnittliche, oder als Regel das richtige Maß haltegde Schaͤtung 
zur Grundlage ber Beurtheilung genommen werben kann. Ebenſo ift 
bei:den. meiften andern, zumal bei den Freiheits. Strafen: der tich 
terlihen Willkür gleichfalls ein Spielraum offen. Eine gute Beſetzungs⸗ 
weife der Gerichtsſtuͤhle umd eine der Publicität Huldigende Procedur 
können allein diefem Uebel fleuern. Jedenfalls aber tft jene Willkuͤr 
‘minder furchtbar, wo es fi nur um Geld, als wo es fih um hoͤ⸗ 
here: Güter handelt. Was aber die Gehaͤſſigkeit dee Geldſtra⸗ 
fen, zumal wenn ihr Ertrag in die Cafſe ber Regierung fällt, betrifft, 
fo kann derfelben einerfeitd durch die Zuweiſung dee Strafgelder an 
einen 2ocal= oder an einen MWohltbätigkeitd: Fond, anderfeits dadurch 
gejteuert werden, daß man vorzugsiweife nur folche Verbrechen oder 
Mebertretungen mit Geldſtrafe Selege, welche in der Gewinnſucht ihre 


‚Gonfiöcation, | 6553 
Wurzel haben und daher durch Bedrohung mit peaunidreem Schaden 
am ficherftien Hintangehalten werden. Alsdann erfheint als Wunſch 
des Geſetzgebers, dag gar- kein Strafgeld eingebe; und das gleichwohl 
eingehende tilgt durch feine mohlthätige Verwendung bie Erinnerung 
an bie Quelle des Empfangs. Diele, zumal kleinere, Vergehen find 
von der Art, da kaum eine andere als eine Geld Strafe dagegen 
anwendbar if. Andere Strafen laffen immer eine Makel an der 
Ehre zurüd und find alfo, wenn bie Uebertretung keinen bifen Wil⸗ 
len ober Beine unehrenhafte Gefinnung vorausfest, allzu hart und das 
her ungereht. Die Geldſtrafe dagegen mwirb in folhen Fällen entrich⸗ 
tet ohne Beſchaͤmung, und fie läßt eine allen Abftufungen des Vers 
fehuldens oder des bloßen Verſaͤumniſſes entſprechende Erhoͤhung oder 
Erniedrigung zu. 

Inwiefern alfo die Geldſtrafen rechtlich und politiſch zulaͤſſig 
oder zu billigen ſeien, geht aus den voranſtehenden Andeutungen her⸗ 
vor. Eine ausfuͤhrlichere Begruͤndung enthalten die vom Strafe 
recht im Allgemeinen handelnden Artikel. Hier wollen wir blos noch 
bemerken, daß freilich, wenn die Gelditrafen hoc, find, namentlidy 
wenn ihre Größe das, bei der Claffe, worin vorzugsmeife gewiſſe Ver⸗ 
brechen vordommen, in der Megel anzutreffende Vermögen erreicht oder 
gar überfteigt, ihre Natur jener ber Vermögens: Confiscation 
nabe koͤmmt oder mit berfelben identifch if. Ein Solches ift zu fagen 
3 B. von den auf Defertion gefegten Geldſtrafen, welche das Mit⸗ 
telmaß bed den gemeinen Solbaten in ber Regel zuftehenden Vermoͤ⸗ 
gend .überfleigen, oder von den ayf Preßvergehen, etwa auf miß- 
fällige Zeitungsartitel geſetzten, welche buch ihre Höhe Verfaſſer und 
Herausgeber: leiht zu Bettlern machen. Auf ſo hohe Geldfttafen, 
und zwar nicht nur wenn fie im Mißverhaͤltniß zur Schwere deu das 
mit bedrohten Webertretung ſtehen, fondern auch wo das Verbrechen, 
als wirklich ein fchweres, eine harte Strafe allerdings verdient, ift Allee, 
was gegen die eigentliche Gonfiscation ftreitet, gleichfalld anzuwenden, 
ja noch in größerem Maße, weil fie jedenfalls die, Aermern ſchwerer 
als die Reichen druͤcken und dagegen — toofern, fie nicht mit einer 
andern Strafe verbunden werden — für die [ehr Reichen faft 
wie ein Sreibrief zu Verbrechen erfcheinen. 

2) Eine Confiscation iſt nicht vorhanden... wo dem Verurtheil 
ten zwar neben der eigentlichen Strafe noch die Zahlung einer Sum⸗ 
me aufgelegt wird, doch nur unter dem Titel der. Erfagleiftung 
oder, Wiedere cfattung;. ‚Überhaupt einer auch civilcechtlich . zu 
verfofgenben, Schuld. &o. die dem Deferteur zur Laſt fallende Ver⸗ 
ghtung.:der. mitgenommenen Montur und Waffe; fo. aud) ‚die von dem 
Berurtheilten .zu tragende .Laft der Unterfuhungsfoften. Die 
legte übrigend, zumal wenn die Langfamleit. und Kofifpieligkeit ſolcher 
Unterfuchung weniger dem Inquiſiten als dem Michter oder dritten Pers: 
fonen, oder auch dee ſchlechten Proceßordnung zuzufſchteiben iſt, nimmt 
gleichfalls die Natur einer Gelbfirafe und zwar einer verwerflichen an, 


656 Gonfiscation. 


ja koͤmmt gar leicht in ihrer Wirkung ber völligen Vermögens z Con⸗ 
fiscation gleich. 

3) Daß die auch aus Titeln bes dffentlihen Rechts, jedoch aus 
andern als jenem ber Strafe verorbneten, Bermögens-Abzüge (3.3. 
von dem ind Ausland gehenden Gut) nicht unter den Begriff ber Vers 
mögens :» Confiscation gehören, wurde ſchon oben. bemerkt. Nur wenn 
fie die aus folhen Titeln mit Billigkeit zu forbernden Quoten über: 
fleigen, namentlich wenn aus dem Grund eines „böstihen“ Auss 
tritts oder Verbleibens im Ausland eine höhere Quote als in einfas 
hen Ausmanbderungsfällen erhoben wird, werden fi ie zue theilweifen 
Gonfiscation. 

4) Bon der Vermögend-Confiscation muß endlich noch 
unterfchieden werben die Confiscation beftimmter einzelner 
Sachen oder Sammlungen oder Summen Yon Sachen. So werden 
in dee Negel die eingefhmärzten Waaren — oft felbft mit Was 
gen und Gefpann — confiscirt; fo die Werkzeuge oder Gegenitände 
eines begangenen ober intentirten Verbrechens, als 3. B. der Apparat 
zum Falſchmuͤnzen und auch das Haus, worin folhes Münzen gefchab, 
verbotene Bücher, verfälfchte, zu leicht befundene, überhaupt poligeis 
widrig verfertigte Gegenftände des Verbrauchs oder Handels, verdaͤch⸗ 
tige Waffen» oder Pulver Vorräthe, Winkelpreffen u. a. m. In fols 
dien Fällen tritt bie. Wegnahme oft mm zum Zweck der Zerſtoͤrung 
oder der Entfernung der geführlichen ober ‚verhaßten Sachen aus dem 
Verkehr ein, oft aber auch in wirklich Iucrativer Abficht, hier wie dort 
üdrigene auch als Strafe oder Strafzufap. Solche Confiscatio⸗ 
nen find alſo in Bezug auf den DBerheiligten den gemeinen Gelds 
ſtrafen dhnlid, ‚unterliegen fonady auch derfelben Beurtheilung. Nur 
haben fie, weil in zwangsweiſe gefchehender Wegnahme, nicht nur 
in (blos der Zwangsvollſtreckung unterliegender) Korberung 
beftehend, einen Charakter von Gewaltſamkeit, folglich von größerer 
Gehaͤſſigkeit an fih. Auch: koͤnnen ſte, zumal wenn fie aus untrifti⸗ 
gen — mehr der Arfeltigen Furcht ober dem Haſſe oder auch der blos 
finanziellen Speculation, als dem wahren Sefammtintereffe angehoͤri⸗ 
gen — Gründen verbänge werden, jenen der Tyrannei' und ber 
Nihtahtung des Eigenthumsrechts an fid nehmen, leicht 
auch in ihren Wirkungen bis zur Schwere ber eigentlihen Vermoͤ⸗ 
gene = Gonfiscation anfteigen. Die Wegnahme ganzer Magazine von 
Anverzollten oder’ blos unrichtig declarirten Waaren, jene von ganzen 
Auflagen mißfälliger (nur von der Polizei d.:h. von. ber Megies 
rungsgewalt, nicht aber von den Berichten condemnirter) Druck⸗ 
ſchriften und koſtbarer, redlich unternommener Verlagswerke u.a. m. | 
gehören- hierher. Solcher hoͤchſt bedenklichen Confiscation nach Eharakter 
and Wirkung gleich iſt zumal auch die, gleichfalls ‚ohne. gerichtliche 
Sentenz blos dur den Willen der Staatsgewalt ausgefprochene. Uns 
terdrüdung von Journalen "dder wie immer benannten Zeitſchriften po⸗ 

litiſchen oder andern Inhalts, welche in ber redlichſten Abſicht unters 


by 


Gonfiöcation, 657 


nommen und fortgeführt, and je nad; Umftänden dad einzige oden 
faft einzige Erwerbsmittel und Gapitalvermögen des Herausgebers und 
Verlegers fein Finnen, aber unwiſſentlich durch irgend einen Artikel ein 
höheres Mißfallen auf ſich gezogen haben, ober gar das ſchon vorläufig 
für alle Zukunft hin ausgefprochene Verbot, d. 5. Unterbrüdungsure 
. theil gegen alle Schriften, die aus einer beflimmten Feber oder aus 

einem beftimmten Verlage jemals ausgehen möchten. Wir richten bier, 
wo blos von ber Eonfiscatign als folcher die Rede ift, natuͤrlich 
den Blick nur auf das in Anfehung des pecuniären Werthes offenbar 
jedem fahlihen Gut oder Eigentum zu vergleichende Erwerbs⸗ und 
Gewerbsrecht des Schriftftellers und Berlegers, alle andern, babei 
fi) aufdrängenden, hochwichtigen Betrachtungen den von Preffreis 
heit handelnden Artikeln vorbehaltend. 

Mir wenden uns zur Bermögens= Confldcation im en⸗ 
gern Sinn, haben jedoch dabei nur diejenige im Auge, weldhe gegen 
ben wirklich Schuldigen ober als fehuldig Erklärten gemäß gefeglicher 
Androhung "und. rihterlihem Erkenntniß verhängt wird, nicht aber die 
etwa rein willkürlich von einem Sultan als Aeuferung bloßer Ungnabe 
oder auch aus bloßer Habgier zu verhängende, auch nicht die, wiewohl 
mit dem entweihten Stempel bes Geſetzes verfehene, welche die ſcham⸗ 
loſe Tyrannei der römifchen Imperatoren oder der ihren Thron - umges 
benden verworfenen Sklaven, auch wider bie unfhuldigen Kinder 
ber Hochverräther (db. h. der in Ungnade Gefallenen) (und zwar wider 
die Söhne vollftändig und verbunden mit allgemeiner und ewiger 
Erbunfähigkeit, wider die Töchter aber nur mit Ausnahme ber 
falcidbifhen Quarte vom mütterlihen Vermögen) auszufpres 
. hen ſich erfühnte. (S. insbefondere die allzuberühmte lex 5. Cod. ad 
legem Juliam Majestatis, die von dem verſchnittenen Kämmers 
ling Eutropius den gelftesarmen Eaiferlichen Brüdern Arcabius und 
Honorius eingegebene Schauftellung der an Wahnfinn grenzenden fels 
gen Wuth gegen Majeftätsbeleidiger.) Doch find auch diefe Ausſchwei⸗ 
fungen bedeutfam für unfern Gegenftand, als Bezeihnung dee den Gons 
fiscations s Gefegen wenn auch) nicht natuͤrlich einwohnenden, doch unter 
ungünftigen Verfaffungszuftänben leicht zu gebenden Richtung. 

Abſolut, oder fhon nad dem Begriffe, ungerecht ift bie 
Vermögens s Confiscation nicht. ft es rechtlich möglich, d. h. kann 
bie Rechtsverwirkung fo weit gehen, daß man dem Verbrecher die heiligs 
ften und Eoftbarften Güter, Freiheit, Ehre und Leben, nehmen darf: 
warum follte die Entziehung des unenblid) minder koſtbaren, nämlich 
bes Vermögens, nicht gleichfalls gefchehen innen? Nur der Miß⸗ 
brauch alfo, d.h. die auch auf Uebertretungen geringerer Art ans 
gewendete Gonfiscation, mag als abfolutes Unrecht erfcheinen. Iſt aber 
bie Uebertretung eine fo ſchwere geweſen, daß auch eine völlige Rechtlo⸗ 
ſigkeitserklaͤrung nicht als das vechtliche Maß überfchreitende Strafe 
Dafür mag angefehen merden, fo waͤre die Beſchwerde gegen bie Vers 
mögenseinziehung von Seite des zur Hinrichtung ober auch nur zum 

Staats s Eeriton, III. “2 


658 Gonfischtion. 


bürgerlichen Tode Verurtheilten wahrhaft geunblos. Zudem gibt es Vers 
brechen, welche dem gemeinen Wefen fo großen Schaden zufügen ober 
fo fchwere Gefahren drohen, daß auch das allergrößte Vermögen unzu⸗ 
reichend zum Erſatze fein, beffen Einziehung alfo fhon unter bem Ti⸗ 
tel der Entfhädigung niemals als das gerechte Maß Überfchreitend 
erfcheinen kann. ' ' 

Aber ungeachtet folder theoretifch anzuerlennenden abfoluten Ver⸗ 
einbarlichkeit der Confiscation mit bem firengen Rechtsgeſetze ftreiten 
gleichwohl gegen ihre praßtifhe Anwendung bie gewichtigften und mans 
nichfaltigften Gründe. Es erheben ſich gegen fie zuvoͤrderſt, je nad 
Befchaffenheit der befonbern Gefegesbeftimmungen, ſodann auch ber Fälle, 
ſelbſt vechtliche e Bedenken, theild in Anfehung des zu Beftrafenden felbfl, 
theils in Anfehung Dritter. Allgemeiner und entfchiedener aber fprechen 
gegen fie die Billigkeit, die Humanität und bie eblere Politik, 

Sei e8, daß mitunter, 3. B. gegen Einderlofe und zugleich ſchwere 
Verbrecher die Gonfiecation ohne NRechtöverlegung koͤnne ausgefprocdhen 
werden: immerhin wird ihre Aufſtellung als allgemein gülrige 
Regel für beftimmte Arten ber Verbrechen dem Vorwurf der Unges 
rechtigkeit ausgefegt fein; denn die Ungleichheit, die fie nothwendig 
mit fi führt, ift allzugroß, um nicht bie rechtliche Beachtung anzus 
fprehen. Die Vermoͤglichen und Reichen erfahren durch fie eine 
unvergleihbar härtere Behandlung, als die Dürftigen und Armen, 
und es werden alfo, je nad ber Befchaffenheit bes Verbrechens, ent» 
weber jene zu ſchwer oder diefe zu leicht beſtraft. 

Aber noch auffallender erfcheint die Ungerechtigkeit ber Gonftscation, 
wenn man auf die dadurch verfümmerten oder zernichteten Anfprüche 
der theild nach natürlihem, theild nad pofitivem Recht zur Erbs 
ſchaft des DVerurtheilten Berufenen blickt. Gemeinſchaftlich erworbes 
nes und im Beſitz erhaltenes Gut ift im naturrechtlihen Miteigen« 
thum der Erwerber, und daſſelbe confolibirt ſich gleichfalls naturrecht⸗ 
lich bei'm Abfterben oder Ermangeln des Einen in ber Perfon des 
Ueberlebenden ober Zurüdbleibenden. Ein Confiscationss Gefeg, wel⸗ 
ches auf dieſes Verhältnig keine Rüdficht nimmt, und alfo auch die 
Gattin, deren Fleiß und Sparſamkeit vielleicht die Hauptquelle des ges 
meinfchaftlihen Vermögens war, und bie etwa gleichmäßig babei bes 
theiligten Kinder von dee Verkaffenfchaft des Hingerichteten oder bürs 
gerlich Zodten ausfchließt, ift hiernach fchreiend ungerecht,. eine wahre 
Beraubung. Es ift aber nicht nur mit dem natürlichen Recht, fons 
dern auch mit dem pofitiven im Widerſpruch, wenn ed ben, ſelbſt 
dur) das pofitive Gefeg nicht nur zur InteflatsErbfolge Berufes 
nen, fondern felbft zu Notherben Erklaͤrten dasjenige raubt, worauf 
fie, den Fall eines anderslautenden Zeftaments ausgenommen, einen 
gefeglichen Anfprudy haben, ja fogar dasjenige, was der Verurtheilte 
felsft ihnen weder durch lebzeitige, noch durch legtwillige Handlungen 
zu entziehen oder vorzuenthalten befugt war. Mindeſtens alfo ber 
Pflichttheil ber Inteſtaterben müßte benfelben unverfümmert übers 


Gonfiöcation, Ä 659 


laſſen bleiben, und ebenfo bie Confiscation nur unbefchaber ber dem 
Verurtheilten gegen wen immer obliegendben Suftentationspfliäht voll 
. zogen werben, wenn bie Geſetzgebung nicht mit fi felbf in den 
sinheilbarften Widerſpruch gerathen fol. 

Biltigkeit und Humanität jedoch gehen Im Ihren Forderun⸗ 
gen meiter, als das ſtrenge und kalte Recht. Nicht nur ber geſetzlich 
anerkannte Pflihttheil, fondern bie ganze Verlaſſenſchaft des Vers 
urtheilten nehmen fie für deſſen unglädlihe Familie In Anſpruch. Die 
Strafe fol fo viel immer möglih nur den Schuldigen wehe thun, 
nicht aber den Unſchuldigen, fo weit letzteres irgend vermeiblich iſt. 
Die Bermögend: Confiscation aber, wenigftene bei dem zum Tode 
Verurtheilten, trifft den Schuldigen im Grunde gar nicht, ſondern 
blos bie Unfchulbigen, tft alfo auch'von nur geringer abhaltender 
Kraft (zumal für bie Boͤsartigen, d. h. auch des Naturgefühles für 
ihre Angehörigen Beraubten) und daher bloß eine unnuͤtze Grauſam⸗ 
keit, wofern man nicht engherzig ben Vortheil des Fiscus als eimen 
bier wirklich in Anfchlag zu bringenden Nugen betrachten will. 

Eben diefer fiscalifhe Vortheil aber if ein weiterer Grund 
der Verwerflichkeit, nämlich der hohen Gehaͤſſigkeit und aud gro» 
Gen Gefährlichkeit dee Gonfiscationsftrafen. Wenn ber flrafende 
Staat oder Machthaber einen Vortheil aus ber Schuldigerklaͤrung eis 
nes Angeklagten zieht, fo Ift er dem Verdacht ausgefeht, ſolche Er⸗ 
Härung aud zu wuͤnſchen, und wenn er, wovon leiher auch Bei⸗ 
fpiele genug vorliegen, uneblen Motiven zugänglich ift, audy bee Verſu⸗ 
hung, fie in alle Wege zu befördern, namentlich durch Gorruption _ 
der Gerichtshoͤfe, oder durch Errichtung außerordentlicher, bienftbefliffes 
ner Commiffionen, oder, wenn er unumfchränkter Autokrat ift, felbft 
durch bloße Dictate feines Willens. Im roͤmiſchen Kaiſerreich 
und in allen Sultans: Herrfhaften waren und find noch immer 
die Confiscationen eine fehr bedeutende Quelle der öffentlichen, d. 5. im 
den Scha& des Herrfchers fließenden Einkünfte, und je reicher ein Buͤr⸗ 
ger ift, deſto näher liegt ihm die Gefahr, unfhuldig angeflagt und 
unfhuldig verurtheiltt zu werben. Der Klageruf, welchen ber 
ſchuldloſe Aurelius ausftieß, als er auf Sulla's Proferiptionstafeln 
auch feinen eigenen Namen las: „Ad, mein ſchoͤnes Landgut iſt es, 
was mir die Verdammung zuzieht!“ mag dann hundert und hunderts 
mal mit Grund ertönen, und es mag auch bie Habfucht untergeords 
neter Diener der Gewalt oder begünftigter Sklaven bes Sultans bie 
Macht des Herrn zum Werkzeug des Raubes mißbrauchen. 

Die vereinte Wirkung der Parteifucht, bes Haffes und ber Raub⸗ 
gier ift hier um fo mehr zu fürchten, als bie Natur bes Hauptverbrecheng, 
worauf gewöhnlich die Confiscationsftrafe gefegt iſt, allzu leicht eine Ver⸗ 
wecfelung der blos Mißvergnügten mit Empoͤrern, ber, blos 
Befiegten mit Schuldigen mit fi führt. Gocverrath und 
Majeſtaͤtsbeleidigung find es zumal, gegen welche ſchon bie feige 
Grauſamkeit bee römifchen Imperatoren und bie knechtiſche 


% 


660 Gonftscation. 


- ‚Ihrer Sklaven neben bem Tod auch bie Gäterconfidcation und die voͤlligſte 
Beraubung der Kinder verordnete, und deren Begriff zugleich fo weit 
ausgedehnt warb , dag auch der Schuldlofefte ihrer konnte gezeiht werben, 
To daß zu einiger Milderung ber. allzumahnfinnigen Strenge die Aufe . 
nehme ausbrüdlicher Ausſpruͤche großer Rechtögelehrten und einiger mins 
der tyrannifchen Kaifer in’s Geſetzbuch nothwendig wat, um benjenigen 
als der Majeſtaͤtsbeleidigung für nicht ſchuldig zu erflären, welcher mit 
einem geworfenen Steine zufällig bie Statue des Kaifers getroffen, 
ober welcher eine folche durch's Alter verborbene Statue wieder aus⸗ 
gebeffert hatte (f. Pr. 5. Dig. 48. 4.). Auch das Verbrechen ber 
Ketzerei fiel durch ben Eifer der hriftlichen Kaifer derfelben Verdam⸗ 
mung anheim, unb es gingen unter dem Mantel ber Frömmigkeit bie 
weltliche und geiftliche Raubgier triumphirend einher. 

Leider nahm auch das germanifche Recht, wenigſtens zum heil, 
diefelben Grundfäge an, ober vielmehr fie beftanden darin fhon vor bem 
Auflommen des römifchen. Schon die fränfifchen und die erften deut⸗ 
fchen Könige bezogen einen großen Theil ihres Einkommens aus Gons 
fiscationen, und bie mweltlihe Acht wie der ſchwere Kichenbann 
führte den Verluft des Vermögens mit fih. Später freilich trat wenig⸗ 
fine bie Milderung ein, daß die Wermögenseinziehung nicht fhon als 
allgemeine Kolge der zuerlannten Todesſtrafe eintreten follte — 
wie folches die Habſucht mancher Gerichtsherren mißbraͤuchlich verfügt 
Hatte — fondern nur im Falle folder Verbrechen oder Uebertretungen, 
welche das Gefeg ausdruͤcklich mit der Confiscation bedrohte (f. 8. 
Karls V. P. ©. O. Art. 218.). Dergleichen gab es Indeffen eine nicht 
geringe Zahl, ſowohl nad) der Carolina felbft und ben von ihr großen» 
theils beftätigten gemeinen „Eaiferlichen (b. h. römifchen und canonis 
fhen) Rechten”, ald nad) ben verfchiedenen Landesgefegen. Nicht 
nur Hoch verrath und fhwere Majeftätsbeleidigung, fondern 
auch Selbftmord (eines peinlich angeflagten Verhafteten), Des 
fertion, boͤsliches — d. h. zum Zweck, einer Beftrafung oder Unters 
ſuchung zu entweichen, gefchehendes — Verlaffen des Heimathe 
landes, ja ſchon bie bloße Auswanderung ohne Erlaubniß, 
zogen die Gonfiscation nad) fi. Der legte Grund zumat bereicherte den 
Fiscus anſehnlich und flärbte zugleich die defpotifche Gewalt, indem er 
alle Befiger in Feſſeln ſchlug. Fortan war es in Zeiten politifcher oder 
Ticchlicher Parteiung den Befiegten, wenn fie nicht ihre Habe preisgeben 
und ihre Samilie zu Bettlern machen wollten, unmöglich, der Rache der 
fiegenden Gegner zu entrinnen, und die Ungnade des Fürften, deſſen 
Gebiet man nur mit Aufopferung des Vermögens verlaffen konnte, war 
um fo gefährliher. Wir haben gefehen, mit welcher Strenge das revos 
Iutlonaire Frankreich die Confiscation gegen die Schaaren der Emie 
granten, deren Zaufende blos, um ihr ſchuldloſes Haupt vor der Une 
erfättlichen Guillotine zu fchirmen, geflohen waren, in Ausübung gefegt 
bat. Wir fehen ein erfchütterndes Seitenftüd folder Härte in dem, was 
noch heute in dem unglädlichen Polen gefchieht, und preifen daher mit 


Gonfiscation. Gonftontation. 661 


freudigem Gefühl bie Weisheit, Humanität und politifhe. Koſtbarkeit 
ber in den meiften der neuen Conſtitutionsurkunden beſtimmt und felers 
lich ausgefprohenen Abfhaffung aller Vermögens» Cons 
fiscation. J Rotteck. 
Confoͤderation, ſ. Bund und Poſen. 
Confrontation (Gegenſtellung). Unter die Mittel zur 
Erforfhung der Wahrheit, welche dem Unterfuchungsrichtee im Laufe 
bes Strafverfahrens zu Gebote flehen, zählt man die Confrontas 
tion. Das Princip betfelden leitet ein ausgezeichneter diterer Crimi⸗ 
nalift, Damhouder, ans. dem roͤmiſchen Recht her !). Indeſſen fteht 
die Gefegesftele, woraus er dieſes Princtp herleitet, einer folchen Ders 
leitung nicht zur Seite. Es iſt im Gegentheil anerkannt, baß bie 
Lehre von ber Conftontation, ein Kind bes eingedrungenen Inquiſi⸗ 
tionsproceſſes und feiner- WBeweistheorie (f. den erften Band biefes 
Staats⸗Lexikons Art. Abldäugnung ©. 126 zc.), durch den Gerichts⸗ 
gebrauch in das Strafverfahren eingeführt worden ift 2), mdem auch 
bie peinliche Gerichtsordnung Karls V, davon ſchweigt. 
Man verfteht unter Confrontation den gerichtlichen Act, mwoburh 
Merfonen, deren Ausſagen miteinander im Widerſpruch ftehen, :fidy zu 
ben Zweck gegenübergeflellt werben, um ſich über den Widerſpruch 
zu erklaͤren 2). Eine folhe gerichtliche Handlung kann auf verfchiederie 
Art vorgenommen werben, nämlich entweder zwifchen mehrern arigeblich. 
‚Mitfhuldigen, zwiſchen einem Angefchuldigten und einem Zeugen ober: 
gwifchen mehreren Zeugen. 0 ’ ’ 
Die Vornahme einer Konfrontation tft nicht ohne Bedenklichkei⸗ 
ten. Erſtens kann fie das Mittel zu Collufionen zwifchen ben Perſo⸗ 
nen, bie fi) gegenüber geftellt werben, fein (f. Collufion), befons 
dere dann, wenn es Mitfehuldige find. Durch Zeichen, Winde, Mies 


1) Proc. crim. Cap. 47. 


2) Kleinfhrod, Abhandlungen aus bem pelnlichen Rechte und peinlichem 
Proceffe Thl. 1, Erlangen 1797. III. ueber bie Nothwendigkeit, den Gebrauch 
der Sonfrontation im peinlichen Proceffe einzufchränten. S. 119— 164. Mit: 
termater, Handbuch bes peinlichen Procefies Band 2. Heibelberg 1812, ©. 190. 
Derfelbe, das deutſche Strafverfahren Abtheilung I, $. 77. ©. 8 * 

8) Heffter, Lehrbuch des gemeinen Criminalrechts. Halle 1833, $. 596. 

603. Abegg, Lehrbuch des gemeinen Griminalprocefies, mit kefinderen 
Beruͤckſichtigung des preußifchen Rechte. SKönigäberg 1833. fagt $. 117. ©. 197: 
„Zu ben Mitteln, einen Widerfpruch verfciebener Perfonen zu befeitigen, insbe⸗ 
fonbere infofern biefer in wahrheitswidrigen Aeußerungen eines Angefchulbigten 
feinen Grund zu haben fiheint, gehört die Begenftellung (Confrontation), d. B. 
die gerichtliche Handlung, durch welche zwei über ben nämlichen Umſtand fich 
widerfprechenb aͤußernde Perfonen vor befegtem Gericht veranlaßt werben follen, 
ſich mit einander in einer vom Richter geleiteten Weife zu unterreben, bamit auf 
biefem Wege die Wahrheit herausgebracht werde.” Um anders Gchriften nicht 
8 erwaͤhnen, fo handelt ſehr ausführlich uͤber Confrontation das Werk von 

tuͤbel, das Criminalverfahren in ben deutſchen Gerichten Bdo. 4, Leipzig 
1814. ©. 193 — 221. & 40 - 446. 


662 Confrontation. 


nen u. ſ. w. kann ber Eine dem Andern ſich mittheilen. Beſonders bes 

denklich iſt darum die Confrontation bei Unterſuchungen gegen Mitglie⸗ 
der einer Gaunerbande, welche gewoͤhnlich mit allen eingeuͤbten Waffen 
zu kaͤmpfen und jede ſich ihnen darbietende Gelegenheit zu benutzen ver⸗ 
ſtehen, auch ganz beſonders in ber Zeichenſprache wohl unterrichtet find. 
Zweitens Tann auf der andern Seite durch Wornahme einer Confron⸗ 
tation ein Unfchuldiger in Gefahr kommen. „Der Furchtſame (und 
oft ift Dies der Unfchuldige) wird duch das Anfehen des Richters und 
ben Anbli des Gefängniffes fo gefchredit, bag er jeden Schritt des 
Berichts für nachtheilig anfieht, bet jeder Handlung deſſelben ſich bie 
augenfcheinfichfte Leibes⸗ und Lebensgefahr vorftellt. Kommt ein Solcher 
zur Conftontation, hört er die Zeugen, die gegen ihn auftreten, fo ſtellt 
ee fi) nichts Anderes vor, als, der Richter traue biefen Zeugen unb 
glaube gewiß, der Eonfrontat habe das Verbrechen begangen, was ihm bie 
Zeugen vorwarfen. Diefe Vorſtellung macht ihn zittern, er flottert, 
werfärbt fih, weiß nicht, wohin er fi) menden, wie er feine Unſchulb 
beweifen fol. Diefes VBetragen des Gonfenntaten vermehrt den Vers 
dacht gegen ihn und beftärkt der Zeugen Ausfagen. Die Erfahrung 
lehrt, daß es unverfchämte Menfchen gibt, die Jemandem bie größten 
Lügen ins Geſicht fagen koͤnnen, daß dagegen Menfchen von feinem 
Gefühle über falfche Beſchuldigungen in Verlegenheit gerathen, ats 
wenn fie des vorgemorfenen Verbrechens fidy bewußt wären. So kann 
ber Unſchuldigſte das härtefte Gefchid leiden, wenn im Segentheil ber 
verhärtete Boͤſewicht ſich eher durchlügt und alle Vorwürfe ableugs 
net *)Y.“ — 8 gibt einige Verhaͤltniſſe, melche felbft dann beachtet 
werben muͤſſen, wenn es ſich um Erreichung eines Staatszwecks hans 
beit. So ift es Grundſatz, daß ein inniges Verhaͤltniß von ber Vers 
bindlichkeit zum Zeugniß befreit, ein Grundfag, der ſich auch dann gels 
tend macht, wenn von einer Gonftontation die Rede if. Eltern Eins 
nen nicht mit Kindern °) und umgekehrt, Eheleute und Gefchrifter 


4) Worte Kieinfhrodsa. a. D.S. 11. &. 187 — 139. No eine ans 
dere Bedenklichkeit hebt Ludovici, Sinleitung zum peinliden Proceß, Aufl. 6. 
1719, in feiner Kernfpracdhe hervor: „Obwohl die Gonfrontation an ſich ebenſo⸗ 
wenig als bie bloße Inquiſition Jemand unehrlich machen kann, fo ift e8 body bes 
kannt, daß die Leute, wenn Jemand mit einem liederlicken Menfchen confrontirt 
wird, foforg ein Maulgefperr bavon machen unb ben Gonfrontirten nicht andere 
anfehen, als ob er nothwenbig an ber Uchelthat mit Theil haben müfle, daher 
ihm aus ber Gonfrontation ein großes Präjubicium zuwaͤchſt.“ 

. 5)». Berg, juriſtiſche Beobadjtungen und Rechtéfaͤlle Thl. 1, Hannover 
1802, Re. XXÄXL. ‚Bon ber Confrontation zwiſchen Eltern und Kindern.’ 
Der Verfaſſer erwähnt einer Unterſuchungsſache, in welcher ein Sohn mit feiner 
Butter. confrontict worben war, und eines dadurch veranlaßten landesherrlichen 
Griaffes vom 383. Januar 1739 an die Juſtizcanzlei in Hannover, worin, für 
die damalige Zeit human genug, biefes Verfahren als verlegend und verboten 
getadelt wurde. Wenn biefer Schriftfteller meint, daß, wenn Eltern und Kinder 
als Mitſchuldige einer peinlichen Unterfuchung unterworfen feien, es dem Unter: 
ſuchungsrichter geftattet fein mürje, fie miteinander zu confrontiven, fo bat ex 


Gonfrontation. 663 


nicht unter ſich confrontirt werben, es Tel denn, daß blos von einer 
Gonfrontation unter Zeugen bie Rede wäre. — Kine Gonftontation 
erfordert, wenn fie ihren Zweck erreihen foll, einen Inquirenten, 
welcher alle die: Eigenfchaften befigt, bie zu bem wichtigen Bes 
zufe eines Unterfuchungerichter® erfordert werden: Beobachtungsgeiſt, 
Menſchenkenntniß, genaue Kenntniß feiner Stellung, welche ihn aufs 
fordert, nichts als die Wahrheit zu erforfchen und In gleichem Grabe 
die Möglichkeit der Schuld als der Unſchuld im Auge zu baden. Ein 
foicher Inquirent wird nicht ohne triftige Gründe zur Confrontation 
fhreiten, weil diefe leicht ohne Erfolg bleibt oder gar ſchadet. Er iſt 
dem Arzte vergleichbar, welcher nur in bringendften Faͤllen zur Anwen⸗ 
dung der ertremen Mittel fehreitet. Die Konfrontation unter Zeugen 
ift am mwenigften bedenklich: „nur darf fie nicht wegen außerweſentli⸗ 
her Widerfprühe und nicht da zu voreilig veranftaltet werden, wenn 
man einem Zeugen nicht ganz trauen kann und den Einfluß von Sugs 
geftionen fürchten muß” ©). Die Zeugen werden an ben geleifteten Zeu⸗ 
geneid erinnert und aufgefordert, dieſer Eidespflicht ‘gemäß fich zu erklaͤ⸗ 
ven, was auch dann gefkhieht., wenn ber Zeuge mit dem Angefchuldigs 
ten confrontirt wird, ein Act, wozu nur dann eine Aufforderung nahe 
liegt, wenn bie Richtigkeit der Zeugenausfage in wichtigen Bezlehun⸗ 
gen ſehr wahrſcheinlich iſt. Am bedenklichſten iſt eine Confrontation 
der angeblich⸗ Mitſchuldigen, eben weil gerade da vorzugsweiſe Collu⸗ 
ſion ſtattfinden oder Gefahr fuͤr einen Unſchuldigen herbeigefuͤhrt 
werden kann, und andere, aus dem gewoͤhnlichen ungenuͤgenden Reſul⸗ 
tate ſolcher Confrontationen ſich herleitende Betrachtungen ſich aufdraͤn⸗ 
gen muͤſſen. Die meiſten Bedenklichkeiten machen ſich dann geltend, 
wenn der Zweck der Confrontation der iſt, ein Geſtaͤndniß uͤberhaupt 
zu bewirken. Beharrt der Mitbeſchuldigte bei feinem Leugnen, fo 
befindet ſich der Unterſuchungsrichter Namens des Staats in einer 
gewiſſen Verlegenheit, während der Confrontat gleichſam als Sie⸗ 
ger davongeht. „Wenn aber“, um ſich der Worte Kleinſchrods 
a. a. O. S. 149 zu bedienen, „der Verdaͤchtige ſich zu einem Geſtaͤnd⸗ 
niß bequemt, fo entſtehen neue Zweifel. Stimmt bad Bekenntniß mit 
ber Angabe des Confrontanten nicht überein, fo ift er ohnedies Au 
unzuverläffig, und treffen beide Ausfagen jufammen, fo entfteht d 
große Frage, ob der. Inquiſit auch eben fo -würbe geſtanden haben, 
wenn e8 ihm der Confrontant nicht vorgeworfen hätte, ob jener diefem 
nicht blos nachgebetet habe? Man hat auf biefen Fall ein bloßes 
nicht unterftügtes, auf Suggeftionen gegrünbetes Geſtaͤndniß, das un⸗ 
moͤglich eine volle Wirkung haben kann.“ 


r 


fi) fehr von dem Geiſt jenes landesherrlichen Reſcripts entfernt, wildes: zum 
Beweiſe dient, daß glüdkticherweife die Reglerenden Mandpimal humaner Handeln, 
als die Schriftſteller denken. 

6) Mittermaicr, das beutfche Etrafverfehren Lbiheilung 1,8: 78° 


664 Konfrontation. 


Durchgeht man bie Unzahl von Schriften, Abhandlungen u. f. m. 
welche fih mit dem Strafproceß, einzelnen Theilen befielben u. f. mw. 
befchäftigen oder Criminalrechtsfaͤlle barftellen, fo findet man, daß es 
nicht an Anmeifungen zur zwedimäßigen Vornahme bes Acts der Con⸗ 
frontation fehlt. Oft erinnern aber biefe Anmeifungen unwillkuͤrlich 
on ſolche Schriftchen, welche Anleitungen zur Zafchenfpielerei, zu ma⸗ 
gifhen Künften u. dgl. enthalten, indem oft nur gelehrt wird, welcher 
Kunſtgriffe 7) ſich der Inquirent bedienen folle und dürfe, um zu bes 
wirken, daß die Conftontation gebeihliche und reichliche Früchte trage. 
Solche Erſcheinungen, im engen Bunde mit ben Geftaltungen unferer 
Rechtspflege, geftatten dem Beobachter, von wahren „Ueberfruchtungen“ 
unſeres Inquifitions s Proceffes reden zu dürfen. 

Meifter berührt S. 675. 676 feines Werkes: „Ausführliche Abs 
Bandlung bes peinlihen Proceffes in Deutfchland”, die Frage, ob bie 
Auslieferung eines Angefchuldigten, welche nur zur Anftellung der Con⸗ 
frontation oder einer ähnlichen Gerichtshandlung begehrt werde, verwei⸗ 
gert werben könne, wenn ein ausmwärtiger Richter fie im Wege ber 
Mequifition verlange, -und verneint fie, indem er zugleich einen beflimms 
ten Fall namhaft madıt: „da nämlich der eine Miffethäter in der Mark 
und ber andere im Herzogthume Lüneburg gefangen genommen worden 
und unter ihnen eine Confrontation nöthig mar, man aber in keinem 
Territorio zur Auslieferung bes Gefangenen fi) bequemen mollte und 
daher diefe Auskunft getroffen wurde, daß die Conftontation auf ben 
Grenzen gefchehen und ein jeber Miffethäter auf dem Gebiete, worin 
er gefangen worden. war, flehen mußte.” Erfcheinungen neuerer Zeit 
zeigen, daß man in einem folhen Punkt weniger ferupulds if. Die 
Blaͤtter der Annalen ber neueren Strafrechtspflege, welche von Unter 
ſuchungen wegen fogenannter politifher Verbrechen handeln, geben Zeug» 
niß und erinnern an die Fabel von ber Löwenhöhle, welche zwar ein» 
wärts gefehrte, aber Leine Austritts: Spuren zeigte. 

. Die verfchiebenen beutfchen Strafgefeggebungen haben bie Lehre 
von der Confrontation -aboptiet. So verordnet das oͤſterreichiſche 
Strafgefesbud °) namentlih, „bag, wenn Zeugen in wichtigen 
Punkten nicht unter fich übereinflimmen, fie gegen einander abzuhören 
feienz daß, wenn ein Zeuge wefentlihe Umftände wider den Beſchul⸗ 
bigten gusgefagt bat, diefer leugnet und beim Leugnen behartt, ohne 


+ N-Dder „fl wie ſich Tittmann, „Über bie Gründe, warum Verneh⸗ 
mungen und 3eugenverhöre mit nicht mehr ald einer, und Gonfrontationen 
mit nicht mehr als zwei Perfonen auf einmal geſchehen dürfen”, ©. 484 bes 
dritten Bandes des neuen Archivs bes ——— ausbrüdt. 

8) Borſchitzky, Handbuch des öfterreichifchen Geſetzes über Verbrechen. 
rag 1815. ©. 388. 389. 392 — 395. ©. 386. 387 erwähnt dieſer Schriftſteller 
&ines Erlaſſes vom Jahre 1809, wornady nahe Angehörige (ſelbſt der Vater) 
fi) dann es Vornahme einer Confrontation müfle gefallen laffen, wenn fie Mit: 


Gonfronfation. | 665 


gegen den Zeugen und befien Ausfagen etwas Gruͤndliches vorzubringen, 
der Zeuge ihm perſoͤnlich entgegengeſtellt werden ſoll, es ſei denn, daß 
die dem Beſchuldigten vorgehaltenen Ausſagen der ihm namhaft gemach⸗ 
ten Zeugen ſchon fuͤr ſich allein vollen Beweis bilden, in welchem Fall, 
vorausgeſetzt, daß der Beſchuldigte nicht ausdruͤcklich die Confrontation 
verlangt, die Vornahme derſelben von dem Ermeſſen des Richters ab⸗ 
haͤngt. Vor dem Act iſt der Beſchuldigte noch zu vermahnen, daß er 
vom Leugnen abſtehe und es nicht darauf ankommen laſſe, daß ihm 
Zeugen entgegengeſtellt wuͤrden, welche im Stande ſeien, ihm die 
Wahrheit in das Angeſicht zu ſagen. Bei dem Act ſelbſt iſt ber Zeuge, 
wenn er ein Beeideter iſt, an den Zeugeneid zu erinnern, worauf 
uͤber die Hauptumſtaͤnde eine wechſelſeitige Vernehmung eingeleitet 
werden fol. Bei jedem. Punkt fol daa Verhalten des Zeugen und des 
Beſchuldigten beurkfundet werden. Sind es mehrere Zeugen, fo. fol 
jeder einzelne zur Confeontation gelaffen werben. Sol eine Confron⸗ 
tation unter Mitfchuldigen ftattfinden, fo muß ber Gonftontant auf 
ausdruͤckliches Befragen vorher verfichert haben, daß er fein Zeugniß ®) 
dem Beſchuldigten in das Angeficht beftätigen wolle und könne.“ 

Das Strafgefegbudh des Königveih6 Baiern verorbs 
net u. A. 10), daß, wenn der Angefchuldigte harmaͤckig bei feinem Leug⸗ 
nen verharre, ihm „nach vorfichtigem Ermeſſen bes Unterfuchungsrichtere" 
die wider ihn ausfagenden. Zeugen 1!) oder die wider ihn zeugenden, 
aufrichtig befennenden Mitfchuldigen unvermuthet entgegengeflellt werden 
follten, damit ihm von biefen ihr befchuldigenbes Zeugniß in das Ans 
geficht wiederholt und berfelbe dadurch, wo möglich, zum Geftändnig 
gebracht werden folle.. Damit der Angefchuldigte „durch bie unerwar⸗ 
tete Gegenftellung der wider ihn ausfagenden Zeugen oder Mitfchulbis 
gen Überrafcht werde”, fol er weder durch die vorläufige Befragung, 
ob er es auf eine Gegenftellung ankommen laffen wolle, noch fonft 
auf bie bevorftehende Confrontation vorbereitet twerden. Unmittelbar 
vor der Confrontation fol der Angefchuldigte nochmals über alle Punkte, 
worüber er bisher im Leugnen beharrte, vernommen und ihm die Uns 
glaubmwürdigkeit feinee Ausfagen nahdrüdtid vorgehalten werben. Die 
Confrontation felbft fol immer nur zwiſchen zwei Perſonen ftatthaben. 


9) Autfagen von Mitſchuldigen koͤnnen nach Umftänden als „Zeugniſſe zur 
rechtlichen Uebermweifung bes Befhuldigten“ gelten. 

10) Strafgeſetzbuch für das Koͤnigreich Baiern. Muͤnchen 1813. Thl. 2, 
au al zit. 3. Cap. 9. „Bon ber Gegenftellung ober Gonfeontation“ ©. 271 

8 276. 

11) Nach einem Geſetze vom Jahre 1814 iſt bie Gonfrontation dee Zeugen 
verboten. Dagegen Eennt bie preußifche Geſetzgebung eine ſolche Confrontation 
nit nur im Criminal, ſondern auch im Givilwerfahren. gürkentbat, 
Lehrbuch des preußifchen Givil - und Griminalproceffes Thl. 1. Königsberg 1827: 

©. 41. 294, fowie e8 überhaupt alle drei Arten von Gonfrontation Eennt. 
—8B kehrbac 4 117. 61 


666 Gonfrontation. Gongreß. 


Dos Benehmen, die Stanbhaftigkeit oder Werlegenheit berfelben fol 
forgfältig beobachtet werden. 

Dem Charatter des franzöfifhen, auf Deffentlichlelt gegränbdeten, 
Strafverfahrens gemäß Tann die Confrontation als kein befonberer Act 
ber richterlichen Thaͤtigkeit erfcheinen 12). Nur bei der Vorunterfuchung 
tommt fie zur Sprache. Legraverend: Traite de la legistation 

criminelle en France. Vol. I. pag. 216. | Bopp. 

j Congreß, Congreffe, Congreßacte, Insbefondere jene 
von Wien. Congreſſe der neueften Zeit, insbefondere jene von 
Aachen, von Karlsbad, von Zroppau, Laibach, Verona; 
Gonferenzen von Wien und von London; Congreß von Panama. 
Wir verfichen unter Congreß bie Zufammentunft von Bevollmaͤch⸗ 
tigten (oder auch Häuptern) mehrerer Staaten, zum Zweck entweder 
der Schlichtung der unter ihnen obmaltenden Streitigkeiten, oder 
der Regulirung ihrer gegenfeitigen Intereffen, ober auch der Wer 
abrebung über gemeinfam zu treffende Maßregeln in Bezug auf 
eigene oder frembe Angelegenheiten, Überhaupt: alfo zum Zweck poli⸗ 
tifher Verhandlungen oder zu fchliegender politifcher Webertin« 
kuͤnfte. Den Namen Congreß führen zwar auch einige geſetzge⸗ 
bende Verfammlungen, zumal von Föderativs Staaten, insbes 
fondere jene der Vereinigten Staaten von Nordamerika, ebenfo 
jene von Mexiko, von Gentral= Amerika und ben meiften 
aus den ehevor fpanifhen Golonien entftandenen Republiken Sübs 
amerika's; und ebenfo maltete Über dem neuerflandenen gries 
ch iſchen Freiftaat, vor feiner dur die Großmaͤchte verfügten Ans 
nahme des monardifhen Principe, ein fouverainer NationalsCons 
greß (zu Epidauros). Wir fehen hier aber von biefer Bedeutung 
des Namens ab und reden von ben Congreſſen blos in dem zuerft 
bemerkten Sinne. 

Es ift fehe natürlich, daß zur Verhandlung und Erledigung wich⸗ 
tiger, mehrere Regierungen gemeinſchaftlich berührender Angelegenheis 
ten, insbefondere zur MWiederherftellung des Friedens zroifchen Friegfühs 
renden Mächten, aber auch zur Regulirung von fonftigen Intereſſen 
oder zur Beſtimmung noch ſchwankender oder ſchwieriger Verhaͤltniſſe 
zwiſchen bereits befreundeten Staaten, der Weg der gemeinſamen Bes 
rathung oder des unmittelbaren Ideentauſches zwiſchen fämmtlichen 
Hauptbetheiligten oder ihren Bevollmächtigten eingefchlagen warb, ans 
flott des langwierigen und mühfeligen Weges bed Hins und Herſen⸗ 
dens fchriftlicher Anträge und Gegenanträge, Forderungen und Gegen» 
forderungen, Borfhläge, Anfihten und Willensmeinungen und beren 
Ermwieberung. Ja, auf dem legten Wege wäre oft ganz unmöglich 
gewefen, zum Ziele zu gelangen, namentlih in Fallen, welche das 
Einverftändniß einer größern Zahl von Staaten in Anſpruch nehmen, 
und wobei die Intereffen der Betheiligten ſich verſchiedentlich durch⸗ 


‚ 19) Rittermaier, Strafverfahren Abtheitung I, $- 77. 


Gongreß. 667 


kreuzen ober nad) mehreren Selten hin zu vertheibigen find. Es wurs 
ben daher ſchon in alten und mittlern Zeiten bei — damals freilicy 
feltenen — Antäffen ſolcher Art wirkliche Gongrefje gehalten, d. h. ber 
Mefenheit nach, obfhon ber Name und die genauer beftimmte 
Form berfelben erft in ben neuern auflam, und obfhon allerdings 
erft feit der, zumal vom 16ten Jahrhundert an, ſich ausbildenden viels 
feitigeen (endlich felbft allfeitigen) politifchen Verbindung und Mechfels 
wirkung der europäifchen Staaten das Bebürfnig davon — fel es zu 
guten, fei es zu fchlimmen Zmeden — häufiger empfunden unb beuts 
licher erfannt ward. Bon dem Congreß zu Cambrai (1508), wor⸗ 
auf das unheilvolfe Kriegsbändnig bes Papftes mit ben mädhtigften 
Königen jener Zeit und einer Anzahl Fürften miber bie Republit U es 
nebig gefchloffen ward — zum Zweck theild ungerechten Länberers 
werbs, theils ſchnoͤder Haffesbefriedigung — mehr aber von dem mohls 
thätigen weftphälifhen Friedens-Congreß an, welcher ben 
deeißigjährigen Krieg endete (1648) und nicht nur ben beutfchen, 
fondern überhaupt ben europäifchen Dingen ein inhaltreiches, ans 
berthalb Jahrhunderte hindurch ſich in Herrfchaft behnuptendes Grund⸗ 
gefes gab, haben gar viele, nach Gegenftand und Erfolg theils mehr, 
theils minder wichtige und. wirkſame, auch viele ganz erfolglofe und 
viele, die, ftatt "vorhandene Verwicklungen aufsuföfen, deren neue und 
ſchlimmere herbeiführten, flattgefunden. Aber keine Zeit ift daran fo 
fruchtbar gemefen ale die neueſte, und nte find bie Gongreffe fo vers 
haͤngnißreich, nie von fo tiefgehender Einwirkung und fo mächtiger 
Entfcheidung für das Schickſal der Völker und Staaten ‚ ja ber gan» 
zen civilificten Menſchheit gewefen, als eben heute. 

Die Gerichte und Kritik der dlteren Gongreffe, fo hiſtoriſch 
merkwürdig manche derfelben ſeien, liegt jenfeltd des Zwecks unfers 
Stants=Lerilond. Aber die neueften, von melden bie Beftimmung 
des gegenwärtigen Zuftandes Europas und ber Welt gebieterifch aus⸗ 
ging und, allem Anſchein nad), noch eine geraume Zeit hindurch abhaͤn⸗ 
gen wird, fordem und zu einer, wenigſtens ihren Hauptchatakter Anb 
ihre Hauptergebniffe in’d Auge faflenden Betrachtung auf. 

Der Congreß von Pillnig (1791), welcher zum Bund ber 
Monarchen wider das revoluttonaire (Anfangs blos conftitutionelle, nach⸗ 
mals republicanifche) Frankreich ben Grund legte, ift vom ber verhäng» 
nigvollften Bedeutſamkeit für die neuefte Weltgeſchichte. Unter ben 
nachfolgenden, durch die Revolutionskriege und. bann durch Napoleons 
fteigende und fintende Herrfchaft veranlaßten, ziehen — neben mehres 
ren minder wichtiger ober nur vereinzelten Kriebensverhandlungen und 
Gonferenzen — unfern aufmerkſamern Blick auf ſich zumal der Con⸗ 
greß- von Raſtatt (vom Decemb. 1797 bis April 1799), worauf, 
im grellften Gegenfag, die ſiegende Republil ihren Stolz und Webers 
muth, das wehrlofe deutfche Reich dagegen feine mitleidswuͤrdige Uns 
macht der Welt zum Schaufptel gaben, und welchen endlich das wies 
der erflingende Waffengetoͤſe auseinanberjagte , eine in den Annalen. 


068 Gongreß. 


ber Geſchichte unerhörte, mit geheimnißvollem Schleier, was ben Urbes 
ber und die Motive betrifft, bebedite Unthat, aber noch am Schluffe 
fhauerlih mit Blut befledtez fobann ber Congreß zu Erfurt (1808), 
wofelbft Napoleon bie Hulbigungen einee Schaar von Königen und 
Küriten empfing und mit.Kaifee Aleranber ſich frieblich in bie Herr⸗ 
ſchaft des europäifhen Feſtlands theiltes weiter — nad) dem Brand 
von Moskau und dem Untergange des großen Heeres — ber Con⸗ 
greß von Prag (1813), auf welchem Oeſterre ich, früher Napoleons 
Berbündeter, jest ald Vermittler aufteat und bald als Feind 
ſich erklärte; hierauf die Gongreffe von Chatillon und von Chaus 
mont (1814), deren erfter in täufhenden und daher fruchtlofen Uns 
ter-handlungen mit Napoleon bingebradht, ber zweite buch innigere”. 
Schließung und Befeftigung be8 Bundes zwifchen feinen mächtigen 
Gegnern bezeichnet (doch nicht durch die Weisheit dee Diplomaten, 
fondern nur durch die WBegeifterung der für hohe Ideen kaͤmpfenden 
Mationalheere mit feinem glänzenden Erfolg gekrönt) warb, und 
endlich, nachdem die umgeheure- feindliche Uebermacht, mehr noch aber 
Talleyrands Xrglift, der Verrath des Genats und bie Abtrims 
nigkeit dee Generale den großen Kaiſer geftürzt hatten, bie beiden Frie⸗ 
densconärefie in Paris (1814 und 1815), der erſte durch die Wieder⸗ 
berfielung bee mit dem Titel ber „Legitimirdt“ geſchmuͤckten 
Bourbontfchen Herrfchaft, bee zweite (nach dem Siege von Was. 
terloo über den von Elba zuruͤckgekehrten Katfer von den Mächten: 
bictirte) nebflbei durch weitere Demüthigung Frankreichs und durch bie 
Stiftung der heiligen Allianz (f. d. Art.) merkwürdig, zwiſchen 
beiden in der Mitte aber der in Anfehung des Umfangs mie des’ 
Sharafters feine Mactvolllommenheit und feiner Schöpfungen 
mit einem andern im ganzen Laufe der Geſchichte zw vergleichende. 
Congreg von Wien (1814 und 1815). 

Alle diefe Congreffe, mit Ausnahme des letzten, gehören einer ber 
reits voruͤbergegangenen Periode an und haben Feine unmits 
telbare Einwirtung mehr auf unferen gegenwärtigen Zuftand. Es 
genügt daher nach dem Zwecke des StaatssLerilons, ihrer nur durch 
eine fummarifche Aufzählung zu gedenken. Etwas andere ift der Fall 
mit dem Congreß von Wien und mit jenen, welche ihm nacfolgten 
bis zum heutigen Tag. Ihnen haben wir eine nähere Betrachtung 
zuzuwenden. 

Der imponirendſte, nach Gegenſtand und Wirkung welthiſtoriſch 
wichtigſte von allen iſt der von Wien. Alldort verſammelten ſich, 
gemäß der im Frieden von Paris (30. Mai 1814) getroffenen Bes 
flimmung (doc) drei Monate fpäter, als urſpruͤnglich feſtgeſetzt worben), 
bie Repräfentanten faft aller europäifhen Staaten, ımter ihnen zwei 
Kaifer, vier Könige und viele andere Fürften perſoͤnlich, durchgängig 
aber die erften Miniftee und Stantemänner, und von allen Seiten 
noch eine Menge von Gefchäftsträgern theils fürftlicher — zumal mes 
diatiſirter — Haͤuſer, cheild ganzer Stände und Claſſen, auch Corpo⸗ 


Congreß. 669 


rationen und Einzelner, alle dem hohen Congtreß ihre Bittſchriften, Mes 
clamationen, Vorſchlaͤge uͤber allgemeine und beſondere Dinge vorlegend 
und, wie die oͤffentliche Stimme des ganzen Welttheils, die Begruͤn⸗ 
dung eines zeitgemäßen oͤffentlichen Rechtszuſtandes und eine 
im großen Styl zu gefchehende Beförderung und Gemährleiftung ber 
Wohlfahrt Europa’s, ja ber Menſchheit, von ihm eriwartend 
und fordernd. Noch niemals — alfo haben mir bei ber Charaktere 
ſchilderung Napoleons bemerkt (f. d. Art. -Buonaparte) 
— noch niemals, fo weit bie Erinnerungen ber Gefchichte reihen, war 
vom Gefhid einem Sterblichen die Macht verliehen, fo viel ung 
in fo großem Maßſtabe Gutes ober Boͤſes zu wirken, als Napoleon 
Buonaparte. Wir koͤnnen mit gleihem Grunde fagen: noch nie⸗ 
mals, .fo weit die Erinnerungen ber Gefchlechter reichen, hat eine Ders 
fammlung von Machthabern oder von Repräfentanten der Mächte eine 
fo unermeßlihe Gewalt bes Wirkens befefjen, wie der Congreß von 
Wien. In den Händen Napoleons hatte das Schidfal der Melt 
geruht. Er mißbrauchte die ihm durch unerhörtes Gluͤck und uner⸗ 
hoͤrte Thatkraft zugefallene Allgewalt, zog dadurch ſeinen Sturz herbei 
und uͤberließ die Weltherrſchaft, die er erbauet, als Siegesbeute ſeinen 
triumphirenden Feinden. Die in Eintracht unter ſich feſt verbundenen 
Haͤupter der wider den Gewaltigen aufgeſtandenen europaͤiſchen Coa⸗ 
lition mochten jetzt, einig wie ein Mann, aber noch entſcheidender, weil 
uͤber noch groͤßere Kraͤftemaſſen gebietend, die Beſtimmungen des Welt⸗ 
theils, d. h. der civiliſirten Menſchheit regeln. Nicht nur die Macht 
dazu war ihnen gegeben, ſondern bie Welt erwartete auch, ja for⸗ 
derte es von ihnen, und harrte hoffnungsvoll der Entfcheidung. Wo⸗ 
her kam es denn, baß ſolche Entfcheidung, als fie erfchien, bie Voͤlker 
nur wenig beftiebigte, daß vielmehr laute Beſchwerden dagegen von 
hundert Seiten ertöntn? — Die eigenthümlihe Natur der vom 
Congreſſe zu regelnden Dinge und der Charakter des Zeits 
geiftes, welcher babei für feine unabweislichen Anſpruͤche Gehör ver 
langte, aber des Organes, das fie mit zählender Stimme hätte geltend 
machen Eönnen, entbehrte, erfläten das Scidfal und das Ergebnig 
des Congreſſes. 

Sn den früheren Gongreffen allen — vielleicht mit. alleiniger 
Ausnahme desjenigen, welcher den weftphälifhen Frieden ſchloß 
— mar überall entweder nur von Angelegenheiten dee Regierun⸗— 
gen als folcher, worüber daher auch diefen allein das freie Entfcheie 
dungsrecht zuftand, oder auch von Intereſſen ber Staaten, in deren 
Namen eben jene Regierungen als vollberechtigte und zuverläffige Res 
präfentanten auftreten mochten, die Rede. Die Uebereintömmniffe 
alfo, welche von ſolchen Regierungen oder ihren Gewaltstraͤgern gefchloffen 
wurden, Eonnten (mofern nur bie dazu erforderlichen diplomatiſchen For⸗ 
men beobachtet worden) in Anfehung ihrer vehtlihen Gültigkeit 
"keiner Anfechtung unterliegen, und für ihre politifhe Guͤte, d. h. 
für die nad) Umftänden thunlichfte Wahrung dev allfeitigen Intereffen 


670 | Gongreß. 


mochte die felbfteigene Betheiligung ber Paciscenten bie befte, wenig⸗ 
ſtens eine genügende VBürgfchaft geben. War audy nicht felten ber 
Anhalt der Beſchluͤſſe, zumal bei dem fo häufig vorkommenden Abtres 
ten, Bertaufchen, Vertheilen und Zufammenfügen von Ländern und 
Völkern, dem idealen Recht wiberftreitend, und war auch oft in Bezug 
auf politifhe Intereffen die Vorausſicht und Gefchidlichkeit der Diplos 
maten fehr mangelhaft, daher die Wirkung - ber verabredeten Beſtim⸗ 
mungen fhlimm: fo erfannte man, mas das Erfte betrifft, damals 
jenes heilige Recht noch menig, ober ahnete kaum, daß ein folches bes 
ftehe, und was das Imeite, fo mochte ald Unglüd verfchmerzt wer 
ben, was nur die Kolge von unabſichtlich begangenen Fehlern tar, 
Jedenfalls war die Competenz Derer, welche bie Entfcheidungen ges 
faßt hatten, unbeftritten, und bie nachtheiligen Folgen ber legten tea» 
fen wenigften® die Ucheber mit; und es batten alfo biejenigen, welche 
es anging, ſtets ihre natürlichen Vertreter und Wortführer am Con⸗ 
greſſe gehabt. Auch ſelbſt bei'm weftphälifchen Friedenscongreffe 
war Legteres der Fall, obſchon es ſich bei demfelben nicht nur um Länder, . 
oder überhaupt um nah Sachenrecht behandelte Dinge, und nicht 
nur um SIntereffen beftimmter Regierungen ober Staaten hans 
beite, fondern auch um Ideen oder Principien, namlihd um Glaus 
bensfäge und Gemwiffensfreiheit, fonah um Angelegenheiten 
‘zweier, nicht nad) Staaten oder Landesgrenzen, fondern nah Glau⸗ 
bensverfhiebenheit und Kirchengenoſſenſchaft getrennter 
Darteien. Diefe Parteien nun hatten wirklich ihre natürlichen Vers 
treter, die Katholiten nämlich an dem Kaiſer und den katholiſchen 
Ständen, die Proteftanten an der Krone Schweden und ben pros 
teftantifhen Reichsfuͤrſten, von welchen jeder nicht nur für bie 
auf feinem eigenen Gebiete wohnenden Glaubensgenoffen, fonbern 
für die Gefammtheit bderfelber in ganz Deutfchland unterhandelte 
und paciscirte. 

Betrachten wie nun den Wiener Congreß, fo finden wir an 
demſelben (und noch mehr an denjenigen, welche ihm nachfolgten) — 
. zum Unterfchied von faft allen früheren (doch in biefer Beziehung dem 
‚ weftphälifhen Friedenscongreß aͤhnlich) — nicht nur fahlihe Ins 

tereffen, fonden auch ibeelle, naͤmlich Principien des Rechts 
und der Politik, als Gegenftand der Verhandlung, aber — zum Unters 
fhied vom weſtphaͤliſchen Sriedenscongreg — von foldhen im Streit bes 
fangenen Hauptprincipien (mir rollen fie nad) ihrem allgemeinften Chas 
rakter das des hiftorifchen und das des vernünftigen oder ibeas 
Len Rechts heißen) nur eines vertreten, naͤmlich das des hiſt oriſchen 
echte. Es kommt dazu, daß au) in Bezug auf angebliche, d. h. nach 
hergebrachten Begriffen bergeftalt behandelte fachliche Intereſſen, na⸗ 
mentlich auf Länder: und Völker - Abtretung und Erwerb, die gedanken⸗ 
loſe Paffivität dee früheren Zeiten nicht mehr beftand, fondern dag auch 
biefe von ber öffentlichen Meinung in bem Bereich, be Vernunfts 
rechts gezogen wurden ; fobann, daß die jetzt im Streite befangenen Prin⸗ 


‚Gongreß. | 671 


cipien bee bürgerlihen und politifhen Freiheit nicht alfo — 
wie in ber Sphäre der Neligions« Freiheit angeht — mit bloßer 
Duldung ihres Bekenntniffes ſich begnügen koͤnnen, fondern, weil 
den äußern Rechtszuſtand beflimmend, eine anerkannte und ges 
voÄhrleiftete Herrſchaft fordern. | 

Von diefem Standpunkt betrachtet erfcheint die Stellung ober der 
Beruf des Wiener Congrefies als ein ganz einziger, d. h. früher nie- 
mals vorgefommener und vielleicht auch niemals wieberfehrender. Er 
hatte nit nur die ſachlich en ntereffen, namentli die Machtver⸗ 
bältniffe fämmtlicher europdifchen Staaten gegen einander abzumägen 
und zu ordnen, fordern auch den in langwierigem Streit befangenen 
politifhen und Rechts⸗Principien die jedem berfelben gebührende 
Stellung anzumeifen. In beiden Sphären aber hatte ee — wenn er 
feine Aufgabe entfprechend loͤſen mollte — bie Autorität der oͤffentli⸗ 
hen Meinung anzuerkennen und, was die particulären Anord⸗ 
nungen betrifft, die Wünfche und Intereſſen der betheiligten Völker 
zu achten, was aber die Principien betrifft, die Stimmberedtis 
. gung ben Repräfentanten ber einen wie der andern Partei zu verleihen. 
- Beides gefhah nun freilih niht. Die ſachlichen Änterefien, na 
mentlih die TerritorialsAngelegenheiten, wurden — tie bie 
Freunde ber neuen Ideen fofort mit Leidweſen bemerkten — nach ben 
bisher in der Diplomatie in Herrſchaft geftandenen Grundfägen 
behandelt, und, was die ide alen Intereſſen oder die allgemeinen polis 
tifhen Princtpien betrifft, fo führten bei beren Verhandlung nur 
Die Repräfentanten ber einen Partei die berathenbe wia bie. entfchels 
bende Stimme. | 

Der Gongreß, nicht nur als natürlicher Erbe (vermöge Kriegs⸗ 
rechts) der Machtvollkommenheit Napoleons, ſondern auch weil burd) des 
Weltherrſchers Sturz das ganze von ihm aufgeführte politifche Gebaͤude 
in Truͤmmer ging und, follte nicht ein unfeliges Aufhören alles öffentlis 
hen Rechtszuſtandes in Europa eintreten, ein neuer Bau unbedingt 
nothwendig war, fah fich berufen und hatte faft völlig freie Hände zu 
‚Aufführung folches Baues. Die bemfelden zur erſten Grundlage die 
nende Wiederherſtellung ber von Napoleon zertrüämmerten, beraubs 
ten, zerriffenen Staaten — allernaͤchſt derjenigen, deren Häupter und 
Völker den fiegreichen Kampf gelämpfet — in ben ehevorigen Zuftand 
war, wie man völlig anerkannte, nicht nur den natürlichen Neigungen 
und naͤchſtliegenden Intereſſen der Congreßhäupter entfprechend, fondern 
auch nicht anders als billig und recht. Auc einige Vergrößerung, 
ober angemeffene Entſchaͤdigung mochten biefelben ‚für alles Erlit⸗ 
teme anfprechen, boch natürlich nur auf Unkoften des befiegten Frank⸗ 
reich und feiner Freunde. Was aber die übrige große Maſſe der durch 
ben Umfturz bed Kaiferreich® herrenlos getwordenen oder auch ber nad) 
Kriegsrecht den Verbündeten Napoleons entriffenen Länder betrifft, fo 
war zu erwarten, wenigſtens mit vollftem Recht zu verlangen, daß 
bei ber Geftfesung ihres Lünftigen Looſes die Perſoͤnlichkeit ber 


6722 Congreß. 


Voͤtker, mithin fhre eigenen, natuͤrlichen Neigungen und Inteteſſen 
d. h. ihre aus der geographiſchen Lage, aus der Gemeinſchaftlichkeit oder 
Verſchiedenheit des Urſprungs, der Sprache, der Religion, der Sitten, der 
wirthſchaftlichen und Handels⸗Verhaͤltniſſe u. ſ. w., oder ſelbſt aus theu⸗ 
ren hiſtoriſchen Erinnerungen fließenden und zu rechtfertigenden Wuͤnſche 
der Vereinigung oder der Sonderung, thunlichſt beachtet, und wohl 
etwa im klar vorliegenden Geſammtintereſſe Europa's einigen 
Beſchraͤnkungen unterworfen, keineswegs aber bem perfönlichen ober 
Hausintereffe einzelner begünftigter Hähpter oder Familien aufge 
opfert wuͤrden. Es ließ fich bier erwarten, daß ber Congreß, obſchon 
6108 aus Fürften und fürftliden Geſandten beftehend, dennoch 
auch die Stimme ber Völker hören, ja daß jedes Mitglied, wenlgſtens 
infofern fein felbfteigenes Intereffe nicht dagegen fteitt, fie pflichtmaͤßig 
im Geift eines wirklichen Vertreters geltend machen würde. Bei 
der Regulirung der Zerritorial= Angelegenheiten hatten ohnehin nur 
die acht Mächte, welche ben parifer Frieden fchloffen, eine zählende 
Stimme; nad Befriedigung ihrer eigenen Anfprüce hielt alfo nichts 
fie ab, alle übrigen Beftimmungen rein ˖ nach Grundfägen ber Gerechtig⸗ 
keit und Humanität zu treffen, demnach, Infofern irgend das Geſammt⸗ 
intereffe Europa’s es erlaubte, den MWünfchen. der Voͤlker mindeftens 
eben fo viele Beachtung zu ſchenken als den Bewerbungen der Häufer. 
Ob oder in wie weit bdiefe® wirklich gefchehen, zeigt der Inhalt ber 
Congreß⸗Acte. 

Aber der Congreß hatte noch ein hoͤheres Ziel vor Augen, naͤm⸗ 
lich die Feſtſtellung und Wahrung der Principien, worauf in Zu⸗ 
kunft nicht nur das allgemeine Staaten-Syſtem von Europa, 
ſondern ſelbſt auch die Verfaſſung und Verwaltung der einzelnen 
Staaten der Weſenheit nach ruhen ſollte. Dieſe Principien nun wa⸗ 
ven theils die der Humanitaͤt überhaupt oder auch des unbeſtritte⸗ 
nen und unbeſtreitbaren allgemeinen Rechts, theils aber jene des im 
Streite befangenen Rechts und eben fo der widerſtreiten⸗ 
den Intereſſen dienenden Politik. In Anſehung der erſten 
mochte dem Congreß, ſo wie er zuſammengeſetzt war, unbedenklich die 
Competenz zugeſtanden werden. Intelligenz und ſittliche Ge⸗ 
ſinnung genuͤgen hier zur Zuverlaͤſſigkeit des Stimmfuͤhrenden; auch 
ſtimmt hier das Intereſſe der Regierungen (wenigſtens das aller 
Regierungen zuſammengenommen, d. h. alſo ihrer Mehrheit) 
mit jenem der Voͤlker uͤberein, und mag alſo ſchon aus den einſeitigen 
Berathungen der erſten ein fuͤr beide gleichmaͤßig befriedigendes Ergeb⸗ 
niß hervorgehen. Dergeſtalt wurde die Frage des Sklavenhan⸗ 
dels, auch die ber freien Flußſchifffahrt u. m. a. vom Congreß 
wahrhaft im osmopolitifhen Sinne, mithin im Geifte bes ihm geworde⸗ 
nen höhern Auftrags entfchieden (nurdaß dabei noch einige beflagenswerthe 
Unbeftimmtheit zuräcdblieb, welche verfchiedenen Ausflüchten und 
infidiöfer Deutung Raum gab). Aber ein Anderes ift zu fagen von ben 


Congreß. 673 


Principien des zweiten Art, was kein Unbefangener verfennen kann. 
Wir erlauben uns darüber nur eine kurze Betrachtung. 

. Die franzgsfifhe Revolution, nad) ihrem urfprünglichen und, 
ungeachtet der durch's Verhängniß bier und dort herbeigeführten traurigen 
und fchrediichen Abweichungen, in ber WWefenheit fortwährend erfennbas 
ven Charakter, iſt nichts Anderes geweſen, als ein Kampf bed vers 
nünftigen Rechts gegen das ihm wiberftreitende hiftorifche, und das 
Damit natürlich verbundene Beftreben, den ſocialen Einrihtungen 
Diejenigen Kormen zu erringen, welhe zur Gemwährleiftung der 
"nunmehr : mis.-Klarheit erlangten und mit Eifer vindicirten materiellen 
Mechte- des Menfchen und Bürgers nöthig und zureichend waͤken. Mit 
einem Wort: ihr Charakter war bie Forderung bee Reform im (geltens 
ben) Recht und in der Politik. Zreilih ward Frankreich felbft, 
welches bie Sahne diefer Reform erhoben, berfelben wieder untreu, ale es 
unter die Herrfchaft des großen Kriegsmeifters ſich fchmiegte, und freilich 
wurden von diefem die Nechte der Nationen und Einzelnen frecher mit 
Süßen getreten, als kaum von irgend einem Gewaltigen v or ihm. - Die 
Setbftftändigkeit aller Staaten ſchwand vor ber Präpotenz bes fiegreis 
hen und unerfättlichen Kaiſers; und anftatt ben ihm verbündeten oder 
feine Oberherrlichkeit anertennenden Staaten menigftens die innere 
Freiheit, das nächte Ziel der Revolution, zu bringen, töbtete er darin. 
vielmehr alles politifhe Hecht der Voͤlker und unterwarf fie ber 
unbebingten Souverainetät ihrer Herren ober feiner Statthals 
ter. Aber bei alle dem erfchten er gleichwohl noch ale Repräfentant 
ber Revolution, indem er gegen bie Feinde derfelben ben nie raftens 
ben Krieg führte, indem er zumal gegen bie europälfchen Erb» Ar ifto Eras 
tie ben unverföhnlichen Kampf fortfegte, das Prineip bee Gleichheit, nas 
mentfich des gleichen Anſpruchs aller Tüchtigen auf Ehren und Würden fefls 
hielt und, als wenigftens ſcheinbar durch den Volks willen auf ben Thron 
erhoben, den Gegenfag bes Legitimitätss Principe, d. h. der das 
Herrſcherrecht unmittelbar auf ben göttlihen Willen und auf die Abs 
ftammung von wirklichen Herrfchergefchlechtern bauenden Theorie barftellte, - 
Diefelbe Grundlage hatte auch der neue Zuftand aller der Länder, welche der 
Strom der Revolution erreicht und an das Schickſal Frankreichs gefeffelt 
hatte. Die Ideen der „conftituirenden National:Berfamms 
lung” von 1789 Hatten ſelbſt jenfeits dieſes Kreifes in allen civilificten 
Ländern zahlreiche Anhänger gewonnen; und bie Macht Frankreichs, 
beffen freiheitliche Grundfige man durch Napoleons — wie man ſich 
ſchmeichelte — nur vorübergehende Dictatur blos zeitlich nieder⸗ 
gehalten, nicht aber erdrüdt glaubte,. blieb ein Stern ber Hoffnung für 
en Ja, es überliegen Viele fi dee — freilich allzu fanguinis 

hen — Hoffnung, daß Napoleon ſelbſt, ſobald er feine unverſoͤhn⸗ 
N Zeinde voͤllig wuͤrde niedergefchlagen haben, die Verwirklichung der 
zeinern, d.h. dem Vernunftrecht angehörigen Revolutions⸗Ideen 
in ganz Europa durch fein Machtwort-herbeiführen werde ; ober audy fie 
nährten die Hoffnung, daß Ge das Joch des Kriegsmeiſters ab⸗ 
taate⸗ elon Il. 43 


674 Eongreß.. 


ſchuͤtteln, ober daß das mißhandelte Ausland e8 thun, und dann in einem 
oder bem anbern Fall bie Herrfchaft jener theuern Ideen zurückkehren 
werde. Genug! Europa blieb gefpalten in bie zwei großen Parteien, 
tinerfeit8 der Anhänger bes natuͤrlichen und anderfeits jener des 
hiſtoriſchen Rechts; und in den Heerlagern ber im „heiligen 
Krieg” wider Napoleon kaͤmpfenden Maͤchte machten die Freunde des 
erften den größern, menigftens den edlem und moralifch Eräftigern 
Theil aus. Gleich nad) Mapoleons Sturz zerfiel baher mwieber die nur 
durch feinen maßlofen Gewaltsmißbrauch hervorgebrädite 'aurnwtatärliche 
Allianz zmwifchen ben beiden Parteien und trat jede wiider in Wie ihrer 
Richtung angemeffene, gefonderte Stellung ein. Ein doppelter Friebe 
"war demnach zu fchließen, wenn die Melt einer dauernden und wohl⸗ 
thätigen Ruhe ſich erfreuen follte, einmal ber Friede zwiſchen den Maͤſch⸗ 
ten und Frankreich, unb fodann jener zwifhen Alt und Neu, 
db. h. zwiſchen hiftorifhem und vernünftigem Recht. In Be 
zug auf diefen zweiten Friedensgegenftand hatte der Wiener Cons 
greß eine der des weftphälifchen Friedenscongreſſes ähnliche Stels 
lung und Aufgabe; aber feine Zufammenfegung entfprady folcher 
Aufgabenicht. In Osnabruͤck, woſelbſt ebenfalls ein Vergleich zwiſchen 
Alt und Neu, db. h. zwiſchen Katholicismus und Proteflans 
tismus, zwiſchen Gewiſſens zwang und Gemiffensfreiheit, 
auch zwiſchen kaiſerlicher Machtvollkommenheit und reichs ſtaͤndi⸗ 
ſchen Rechten zu ſchließen war, fanden ſich beide Parteien gehörig 
vertreten, und hatte daher der Abſchluß des Vergleiche einen vernünftigen 
und wenigſtens die formellen Forderungen beftiedigenden Sinn. 
Proteſtanten wie Katholiken, oder die zuverläffigften Vertreter 
beider, traten alldort mit gleicher Selbftftänbigkeit und gleich gewichtiger 
Stimme auf; und ebenfo erfreuten fich die Vertheidiger der reichs⸗ 
ftändifchen Hoheit gegenüber den Anwälten der kaiſerlichen 
Macht eines gleichen Stimmrechte ober einer gleich wirkfamen Vertretung. 
Aber beitm Wiener Congreß nicht alfo. Die alldort ſaßen und 
verhandelten, gehörten ausfchliegend der einen Seite an. Sie waren 
— nad) Geburt, politifher Stellung und allen focialen Verhältnifien — 
pſychologiſch nothwendig und ausnahmslos die Vertreter des hiſtori⸗ 
chen Rechts gegenüber dem natürlichen, und eben fo ausnahmslos 
die Vertreter der Regierungen gegenüber den Völkern. Bon 
einem Vergleich alfo zmifchen den im Streite befangenen Principien, 
von einer unbefangenen Vertheilung' der Herrſchaft ober bes Rechts⸗ 
bodens, welcher dem Einen oder dem Andern gebührte, Eonnte nicht bie 
Mebe fern, fondern blog von Dictaten dee einen Partei, welche, weil 
mit Macht angethan, zugleich das Rihteramt ausübte. Wären auf 
dem Congreffe zu Denabrüd blos katholiſche Häupter ober Stimms 
führer gefeffen, nimmer märe allbort ben Proteftanten ein auch 
nur annähernd befriebigender Rechtszuſtand gewaͤhrt worden; es waͤre 
ihnen gerade ſo ergangen, wie fruͤher auf dem Congreß (Eoncil) von 
Trident; und hätten bios die Fteunbe des Kaiſers oder Defters 
reichs unter elnanber ſich berathen, fo würde ben Keichsſtaͤnden anftatt 


Congreß. 675 


bee Landeshoheit bad Verhättniß der Unterthanſchaft zu Theil 
geworben fein. Ueberall gibt eben bie Naturder Dinge ben Ereig⸗ 
niffen Geſetz und Richtungz bem rechtlichen und politifchen Urs 
theil.aber bleibt fobann ihre Würdigung frei. : j 

Was lag in Gemaͤßheit ſolcher Verhaͤltniſſe dem Congreffe ob, um 
dem Mivergnügen ber den neuzeitlichen Principien anhängigen großen 
und achtungswuͤrdigen Partei und allen baraus nothwendig fließenden 
üblen Folgen vorzubeugen? — Eines von zweien: entweder nämlich 
mußte er flimmberechtigte Mitglieder von beiden Parteien in feinem 
Schooße zählen, alfo neben ben Regierungen ober fürftlihen Deints 
flern und den gebomen Vertretern bes hiftorifhen Rechts auch 
Volks⸗ oder Nationalabgeorbnnete unter fih aufnehmen, oder, 
wenn biefes untbunlich ober bedenklich ſchien, über ſolche Principten im 
Allgemeinen gar Leinen Ausſpruch thun, fondern etwa ben eins 
seinen Staaten, überhaupt dem natürlihen Laufe ber Dinge bie 
Ausbildung oder Vefeftigung oder auch Befchränfung und Unterbrädung 
der in Frage flehenden Ideen überlafien. Wäre ber Friede oder das 
Uebereinkoͤmmniß mit einem eht conftitutionellen Frankreich 
und etwa einer Anzahl bemfelben verbünbeter, ben .nämlichen Princi⸗ 
pien huldigender Staaten zu fchliegen geweſen: alsdann hätten wohl bie 
Häupter oder Minifter dieſer Staaten, auch ohne Beiziehung von Volks: 
abgeordneten, die Freiheitsfreunde, ober überhaupt das conftitutios 
nelle Syſtem gegenüber jenem des Abfolutismus auf befriedi⸗ 
gende Weiſe vertreten mögen, fo wie es einft Schweden unb bie pros 
teftantifchen Reichsſtaͤnde in Anfehung der evangelifchen Kicche thaten. 
Aber durch die Reftauration war Frankreich theils um feine zählenbe 
Stimme gebracht und dem Geſetze des Siegers nothwendig geborchend 
worden, theils verfolgte jetzt die alldort das Ruder führende Partei, trotz 
der fcheinbar oder mit Worten dem Volksrecht huldigenden Charte, bie 
entfchiebenfte Richtung ber Gegenrevolution. Nicht ein Stimm⸗ 
führer der polteifhen Reformation, über welche das Loos gewor⸗ 
fen werden follte, faß alfo am Congreß. Denn felbft England, 
unter feiner tocyftifhen Verwaltung, ſympathiſirte mehr mit ber Ga 
genrevolution, als mit ber Mevolution; und Spanien war zum Lohn 
feiner heidenmäthigen Selbftbefrelung von fremder Herrſchaft unter das 
fhmählichere Joch der einheimifhhen Tyrannei gerathen. Was alfo bie 
oft erwähnten Principien betrifft, fo mußten nothiwendig — benn zur 
Einberufung von Volks⸗ oder NationalsVertretern war nad 
den obmaltenden Verhältniffen natürlich ber Congreß fo wenig geeigs 
net, als geneigt — alle darauf Bezug habenden Erklärungen und Feſt⸗ 
fegungen die Natur blos einfeitiger Dietate annehmen, ber Bw 
griff de Uebereinkoͤmmniſſes zwifhen fih gegenüber les 
henden PDerfönlichleiten alfo verfhwinden. meinſchaftliche 
Berathung unter den Congreßmitgliedern fand dabel wohl 
flott, auch kamen fie unter ſich überein über das Feſtzuſetzende ober 
zu Erklaͤrende; ja fie beobachteten dabei ſelbſt einige iftauns und 


676 Congreß. 


Vorſicht (aud Klugheit, Humanität ober was irgend ſonſt fuͤr Gründen); 
aber die Hauptbetheiligten hatten gleichwohl keine Stimme 
dabel, ſondern mußten das Ergebniß der einſeitig gepflogenen Bera⸗ 
thung und Schlußfaſſung als Geſetz oder als inappellabeles Urtheil 
annehmen. Von dieſem Standpunkt aus erheben ſich ſehr ernſte Erwaͤ⸗ 
gungen, welche jedenfalls die Geſchichte freimuͤthig anſtellen wird, 
wenn auch dem Zeitgenoſſen nur eine behutſame Beruͤhrung ober leiſe 
Andeutung derſelben zuſteht. 

Doch Toviel wird im Allgemeinen behauptet werden duͤrfen, ja 
von Niemandem in Abrebe geftellt werben, bag Lebereintömmniffe 
als foldye nur für die Paciscirenden felbft (und in Anfehung ber 
Dinge, worüber biefelben frei zu disponiren bie Befugniß haben) von 
Rechtswirkung find, und daß Gefese nur in ber Sphäre der, der Ges 
fesgebung nad vernünftigem Staatsrecht unterflehenden, Gegenftände 
und nur für die nach eben diefem Recht einer beflimmten gefesgebenden 
Gewalt unterworfenen Perfonen wahrhaft verbindlid fein können, 
wiewohl die Gewalt fie factifh auch jenfeits dieſes Kreifes geltend 
machen kann. Angemandt auf den Wiener und alle nachgefolg⸗ 
ten Gongreffe; lehrt diefer Sag, daß ihre Feftfegungen in der Eigens 
(haft als Lebereintömmniffe lediglich bie Negterungen, welde 
allein fie ſchloſſen, unb nur infofern als diefelben dabei innerhalb ber 
ihnen zuſtehenden Competenz, d. h. rechtlichen Gewaltsſphaͤre, hans 
deiten, verbindlich oder von Rechtswirkung fein koͤnnen, und dag, infofern 
die Congreßartikel als Gefege wollen geltend gemacht werben, zwar ihre 
Außere Gültigkeit, d. h. Geltung, allerdings fo weit reiht, als bie 
Macht ber Gefeggeber, daß aber in Bezug auf ihre innere Rechtsbe⸗ 
fchaffenheit zwei Fragen ftets unabweislich fein werden, erſtens nämlich: 
wie weit reicht bie vernünftig anzuerfennende gefeggebende Gewalt eines 
europäifhen Monarchencongreffes In Anfehung der Perfonen? und 
zweitens: tote weit in Anfehung ber Gegenftände? In erfter Bes 
jiehung , ba nicht ein pofitives (und noch viel-weniger das rein vernünfe 
tige) Staatsrecht die Unterthanen oder Angehörigen einer für ſelbſtſtaͤndig 
und unabhängig erflärten oder anerkannten Regierung irgend einer ans 
bern, namentlich Außern Autorität unmittelbar unterwirft, kann 
bie Verpflichtung erft von dem Moment anfangen, ba die eigene Mes 
gierung und unter ihrer alleinigen Autorität das Gefeg verkuͤndet (und 
zu ſolcher Verkuͤndung nad, Beſchaffenheit der Verfaffung berechtiget ift); 
in zweiter Beziehung aber dringt fich die Bemerfung auf, bag zwar 
was immer für. befiimmte Handlungen oder Unterlaffungen 
gefeglich mögen vorgefchrieben werben, keineswegs aber Principien. 
Keine Autorität in ber Welt hat in Bezug auf biefe eme geſetzg e⸗ 
bende Befugnig, und jeber Verfuch, eine folhe auszuüben, muß nothe 
wendig ſcheitern an der emig freien Ratur des menfchlichen Geiſtes, 
oder er muß zu rein factifher Gewalt führen. Einzelne Staa 
ten wohl mögen eiwa Principien für ihre Verfaffung oder: Verwaltung 
aufſtellen, d. h. ihre Verfaffungsr: oder ‚Werwaltungsgefekgebung mag 


Gongreß. 677. 


folhe Principien vos Augen behalten. (Wem fie nicht behagen, 
der möge zuerft feinen Widerfpruc, in gebührenden Formen vorlegen, 
und, wenn er überflinmt wird, auswandern!) Aber für einen 
ganzen Weltcheil oder gar für bie Sefammtheit der civili⸗ 
ſirten Staaten, fo lange noch kein ſtrenges föderatives Band fie ums 
fhlingt, und fo lange auch nur nod em Schatten von Unabhäns 
gigkeit derſelben fortbeftehen und fo lange überall noch einige Geis 
ſtesfreiheit fein fo, kann ſolches nicht gefchehen. Man denke ſich, 
um bie Parallele zwifhen ber früheren kirchlichen Meformation und 
ber heutigen politifchen fortzuführen, dad Concil von Trident 
fei mit einer Fülle von materieller Gewalt ausgerüftet geweſen, wie 
In unfen Tagen ber Wiener Congreß es war, es hätte bie 
Macht befefien, feinen Beſchluͤſſen Geltung zu verfehaffen über ben. 
ganzen Welttheil, und hätte folhe Beſchluͤſſe gefaßt in Gemaͤßheit des 
Mebereintömmnifles ber Latholifhen Prälaten. Was würde big 
Folge davon gewefen fein? — Entweder die Unterdrüdung aller Kits. 
chenverbefferung oder ein verzweiflungsvoller Krieg der zur Unterdrüs 
Aung verdammten Proteſtanten gegen ihre Latholifchen Unterdrüder. 
Und folhe unfelige Folgen hätten flattgefunden, ohne bag man darum 
bem tridentifchen Congeeffe eine unredliche Gefinnung hätte zur Lafl 
legen können. Die Kicchenfürften und ihre Stellvertreter, welche bort 
rathfchlagten, waren ficherlich fo reinen Sinnes und fo treu ihrer aufrich» 
tigen Weberzeugung folgend, da fie das Princip der Machtvollkommen⸗ 
heit bes roͤmiſchen Stuhls und dee katholifchen Kirche und das Ders 
dammungsurtheil gegen die Ketzer ausſprachen, als bie Mitglieder der 
heutigen Gongrefit es waren und find, wenn fie das in. unbeflimmter 
Allgemeinheit aufgeftellte „monachifche Princip‘ oder jenes bee 
„Legitimität”, oder die Ötrafbarkeit freiheitlicher Bftsebungen, 
‚genannt demagogifche Umtrtebe, ihren: Befchlüffen ausdruͤcklich 
zu Grund legen. Aber Dictate helfen in folher Sphäre nicht. Kür 
Principien, überhaupt für Lehren, muß man, um fie zur geficher«. 
ten Herrfchaft zu bringen, bie freie Ueberzeugung gewinnen. Ge 
mwalrslehren bringen entweber nur heuchlerifche Bekenner hervor 
oder den völligen G.eiftesteb. | 

Nach dieſen allgemeinen — bie Congreſſe ber neueften Zeit übers 
baupt mehr ale nur den Wiener Congreß insbefondere treffens 
den — Vorbemerkungen wenden wir uns zum Inhalt ber auf bem 
legten zu Stande gelommenen te. Diefelbe war das mühfam ges 
borne Ergebniß der vom %. November 1844. bis zum 9. Juni 1815 
gepflogenen Verhandlungen, beren aus der Natur bee Dinge hervorges 
gangene Schwierigkeiten durch vielfeitige, zum Theil mit Leidenſchaft 
bervorgebrochene Aufregung einzelnee Höfe, überhaupt durch den hef⸗ 
tigen — freilich natürlichen und darum kaum vermeiblihen — Kampf 
ber Particwlar » Sntereffen mit den allgemeinen ſich tagtäglicd, vermehrt 
batten, fo daß feibft der Ausbruch eines Krieges zwiſchen ben Haupt⸗ 
theilnehmern bes Congreſſes gu befuͤrchten fand, und nur bie Furcht 


678 | Gongreß. 


vor dem mit Napoleons Rüdkehr aus Elba fich neuerlich Im Meften 
beraufziehenden Gewitter die Eintracht ber Verbuͤndeten wieber her⸗ 
ftellte, worauf dann durch allfeitige Nachgiebigkeit bas große Werl ges 
fördert und zu Hberrafchend fchneller Beendigung gebraht ward, Die 
Geſchichte des mwechfelvollen, durch mancherlei Klippen nur unter 
ſchweren Mühen und Gefahren an’s Ziel gelangten Laufes biefer bis 
in ihre meiften Einzelheiten hoͤchſt merkwuͤrdigen Verhandlungen erfor 
dert, wenn fie belehrend fein foll, eine ausführliche Darftsllung, welche 
aber Zweck und Raum biefer Blätter zu geben nicht ‚geflatten. 
reichſte Material dazu enthält die verdienfivolle Sanımlung ber „Ac⸗ 
ten bes Wiener Congreffes“, weldhe der um Wiffenfchaft und 
Staat fo hoch verdiente 4.2. Klüber ſchon 1815— 1819 in 8 Baͤn⸗ 
ben herausgegeben hat. S. auch deſſelben Schriftſtellers „Ueberſicht 
ber bdiplomatifhen Verhandlungen bes Wiener Congreffes”, 1816, 
$. Abth. — De Pradt's bekanntes Werk „über ben Wiener Cons 
greß” enthält mehr Maifonnement als Geſchichte, und zwar großentheils 
von einfeltigem Standpunkte. ” 
Die Congreß » Verhandlungen theilten ſich nach den beiden Haupt⸗ 
chaffen ihrer Gegenftände in die Über bie europdifhen unb jene 


" Über die deutfchen Angelegenheiten. An ben erflen nahmen nur 


bie acht Mächte, welche ben Parifer Frieden unterzeichnet hatten, und 
zwar vorzugsmweife nur Defterreich, England, Rußland, Preus 
fen und Frankreich als bie fünf Hauptmädte, boch in mehreren 
Dingen au Spanien, Portugal und Schweden Theil; an ben 
zweiten Anfangs nur Defterreih, Preußen, Balern, Hannover 
und Würtemberg, fpäter aber, als bie übrigen deutſchen Staaten 
bie lebhafteften Geſammt⸗Beſchwerden gegen ihre Ausfchließung erhoben ' 
hatten, ohne Unterfchied alle. Wir haben hier meift nur ber Haupts 
beftimmungen über die europdifhen Dinge zu erwähnen, da bie 
auf Deutfhland ſich beziehenden, namentlidy die in der gefonderten 
„deutfhen Bundesacte“ enthaltenen eine umfländlichere Eroͤr⸗ 
terung in einem eigenen Xrtilel anfprechen. ' 

Den größten Theil der 121 Artikel dee Congreßacte erfüllmg bie 
Bellimmungen über die den hauptkriegführenden Mächten — insbefons 
bere Rußland, Preußen und Defterreih — zuzuerlennenden 
Entfhädigungen oder fonftigen Befriedigungen. Frankreich, 
wiewohl zu den Hauptmächten gehörig, hatte nichts anzufprechen ; fein 
2008 war im Parifer Frieden geregelt worden, und es hatte fogar aus⸗ 
druͤcklich verfprohen, fich in die Wertheilung ber ber Dispofition ber 
Sieger unterftehenden Länder gar nicht einzumifchen (mas jeboch gleich“ 
wohl, zumal in Anfehung Sachfens, geſchah). England aber 
hatte, mas es für ſich felbft in Anfpruch nahm, gleichfalls ſchon im 
Parifer Frieden gemährt erhalten und verfchmähte darüber jede weitere 
Entſcheidung des Congreſſes. Defto größere Forderungen bagegen mach⸗ 
ten die drei großen Militair» Mächte bed Feftlandes, Rußland, 
Preußen und Deflerreih. Rußland zwar hatte eigentlich kein 


Kongreß. 6179 


Recht auf Entſchaͤdigung, da es kein Land verloren, ja da es vielmehr fruͤ⸗ 
her durch ſeine zeitliche — fuͤr Europa unheilvolle — Allianz mit Napo⸗ 
leon Finland und anſehnliche Diſtrikte von preußifd = und oͤſterrei⸗ 
chiſch-Polen erworben hatte. Aber es rechnete ſich zum Verdienſte 
an das Verderben, welches der ſchreckliche Winter von 1812 uͤber Na⸗ 
poleons „großes Heer“ gebracht, und ſtand in gewaltiger Waffenruͤſtung 
da. Zum Gegenſtand oder Schauplatz der Erwerbung hatte es ſich 
Polen auserſehen, Preußen dagegen Deutſchland, und Oe⸗ 
ſterreich Italien. Letzteres, welches naͤchſt England am beharrlich⸗ 
ſten gegen den gemeinſamen Feind geſtritten, in ſolchem Kampf ſeine koſt⸗ 
barſten Provinzen eingebuͤßt und im „heiligen Krieg“ entſcheidend zum 
Sturze des Weltherrſchers mitgewirkt hatte, mochte mit Recht von den Ge⸗ 
noſſen ſeines Strebens, Kaͤmpfens und Siegens die Wiederherſtellung 
ſeines ehevorigen Laͤnderumfangs verlangen; und ein gleiches Recht 
ſtand Preußen zur Seite, als welches durch ſeine Großthaten im 
letzten Krieg ſeine fruͤheren Suͤnden gut gemacht und den Anſpruch 
auf vollen Erſatz ſeiner im Tilſiter Frieden — freilich ſelbſtver⸗ 
ſchuldet — erlittenen Verluſte errungen hatte. Nur blieben freilich, 
inſofern nicht die ſchon früher befeffenen und alſo muthmaß⸗ 
lich gern zur alten Herrſchaft zuruͤckkehrenden Laͤnder konnten zuruͤck⸗ 
geſtellt werden, Neigung und Intereſſe, überhaupt das Perſoͤnlichkeits⸗ 
Recht der in dieſes oder jenes Loos zu werfenden Voͤlker billig mit 
in Betrachtung zu ziehen. 

Oeſterreich nun, welches Tyrol und Salzburg und Illy⸗ 
rien und das Lombardiſche und das, fruͤher als Erſatz fuͤr Bel⸗ 
gien uͤberkommene, venetianiſche Land, endlich auch die in Oſt⸗ 
und Weſt⸗Galizien verlornen Bezirke zuruͤckverlangte und auch 
wirklich, — ja was die italiſchen und illyriſchen Provinzen be⸗ 
trifft, noch mit erweiterter Grenze — zugeſchieden erhielt, trat nicht 
uͤber ſein Recht oder uͤber ſeine billigen Anſpruͤche hinaus. Jene des 
ober italiſchen Volkes konnten nicht wohl dagegen geltend ge⸗ 
macht werden, da es ja auch fruͤher nicht ſelbſtſtaͤndig, ſondern Theil 
des franzoͤſiſchen Reiches geweſen, und da uͤberhaupt die thatſaͤch⸗ 
liche Anerkennung ſolcher idealer Anſpruͤche vom Congreſſe, nach ſei⸗ 
ner Zuſammenſetzung und nach der allgemeinen Weltlage, mit Ver⸗ 
ſtand nicht konnte erwartet werden. Zur Gruͤndung eines italiſchen 
Reiches, wohin bie fanguinifhen Wünfhe und Hoffnungen Vieler 
gingen, waren Zeit und Umftände nicht geeignet, und noch weit we⸗ 
niger die Häupter bes Congreſſes geneigt; und die unter die Herrfchaft 
Defterreich6 gefallenen Länder mochten ſich vergleichungsmweife noch 
als gluͤcklich reifen. Auch die Wiederherftellung Toscana's unb 
Modena’s und ihre Rüdgabe an bie Öfterreihifhen Prinzen gehörte 
zur Volftändigkeit ber von dem endlich triumpbirenden Haufe ange: 
fprochenen Befriedigung, und zugleich zu jener des Reftauratione: 
und Legitimitätd: Principe. Das Iegtere forderte auch bie Ue⸗ 
berlaffung des dem boppelzuüngigen Murat entriffenen Königreichs 


. 680 cCoongreß. 


Neapel an ben bourboniſchen König Sieiliend. Dieſelbe, wie 
nicht minder bie Rüdgabe Piemonts und Savoyens an Sar⸗ 
binten, mochte baher fchon dee Conſequenz willen Billigung finben ; 
befto weniger dagegen die Unterwerfung Genua's — für befien Wie 
berherftelung als Republik baffelbe Princip der Meftauration und 
auch jenes der vernünftig gebeuteten Legitimität fprah — unter ben 
fardinifchen Scepter, und die an Napoleons Gattin, Marie Louife, 
gemachte Schentung ber lebtaͤgigen Herrfhaft, db. hd. Nutz nie⸗ 
fung, von Parma und Placenza. Die allzu großmüthige ober 
allzu Angftliche. Beachtung der von Spanien unterftüsten Anfprüde 
ber Infantin Marie Louife (Wittwe bes von Mapoleon einft zum 
König von Hetrurien erkiärten parmefanifhen Prinzen Don 
Louis) brachte ſolche Befchränkung der Napoleons Gattin gemachten 
Verleihung zuwege; ja fhon einftweilen, bis ndmlich die (zwar nicht 
fhon auf dem Wiener Congreß felbft, bei deffen Auflöfung nämlich 
dieſe Unterhanblung noch nicht beendigt war, doch in einem balb dar⸗ 
ouf in Paris gefchloffenen Vertrag) der Infantin zuerlannte Ans 
wartfchaft auf Parma in Wirkſamkeit träte, warb ihre bie ehevorige 
Republik Lukka — melde das ganze Verhältnig gar nicht anging — 
zur Herrſchaft oder Abfindung angemwiefen. Die Wiedereinfegung bes 
Dapftes In feine ehevorige weltliche Herrſchaft mochte verfchiebentlich 
beurtheilt werden. War fie ein Act bee Gerechtigkeit, fo fragten 
Manche, warum benn nicht berfelbe Act auch in Anfehung ber vielen, 
olcher Herrſchaft auf ähnliche Weife beraubten de utſchen Kirchenfürs 
ben ausgeübt warb? Die Rechts⸗Titel ſicherlich waren auf ber 
einen Seite nicht ſchwaͤcher als auf der andern. War es aber ein Act 
der Politik, vielleicht ein Geftändnig der Schwierigkeit, fidy über eine 
ondere Verfügung über den Kirchenftaat zu vereinbaren, vielleicht 
auch ein Act der Ehrfurcht gegen das Haupt der Batholifhen Kirche: 
fo wurde, wenigftens im legten Sal, derſelbe fchlecht belohnt durch 
die Proteflation des heiligen Waters gegen die Schlußacte bed Con⸗ 
greſſes; und im erften Fall mochte die Politik zwar auf den gemünfche 
ten Erfolg wohl berechnet, in Anfehung ihres Zieles aber nicht 
allſeitigen Beifalls verfichert fein. , 
Auf bie allgemeinen italifchen Dinge, worauf wir fon jegt den 
vorläufigen Ueberblid, ihres natuͤrlichen Zuſammenhangs mit der öfterreis 
chiſchen Entfhädigungsfache willen, geworfen, werden wir fpäter zurüd 
Eommen. Aber zuvor iſt noch Rußlands und Preußens Befriedi⸗ 
gung zu betrachten. Rußland, wie wie bereit6 oben bemerkten, hatte 
im Grunde — fofern nämlich nur von Entfhädigung oder Wiederher⸗ 
ſtellung, nicht aber von Vergrößerung die Rede fein ſollte — für fich 
nichts zu verlangen. Da jeboh an feinen Eisfeldern Napoleons 
Macht ſich allererft gebrochen, aud der Krieg in feiner erften Periode 
bem Reich unfägliche Leiden und Verwuͤſtung gebracht und bie zum 
fiegreihen Ende unermeßlihe Anftrengungen gekoftet hatte, da endlich 
das Herzogthum Warſchau, welches Kaifer Alerander ald Siegespreis 


| Congreß. 681 


fuͤr ſich forderte, von ſeinen Heerſchaaren beſeßt und — bei der Ent⸗ 
ſchiedenheit ſeiner Forderung — kaum anders als durch ſchweren Krieg 
ihm zu entreißen war: ſo hielt der Congreß fuͤr noͤthig oder raͤthlich, 
ihm zu willfahren. Der Haupttheil des Herzogthums Warſchau, dem 
Umfang nad) ein ganzes Königreih, darum auch mit dem Namen 
„Koͤnigreich Polen” wirklich belegt, warb alfo dem Czaar übers 
laffen. Solche Nachgiebigkeit, mofür freilich gewichtige Gründe vorlas 
gen, machte fofort dem Gongreß eine befriedigende Löfung feiner hoͤch⸗ 
ften Aufgabe ganz unmoͤglich und zog eine ganze Meihe von betrübens 
den Feftfegungen nach ſich. Fuͤr's Erſte nämlich war durch ſolche Ders 
größerung des ohnehin fchon übermächtigen moskowitiſchen Reiches das 
Gleichgewicht Europa's zerftört, und jenem eine Stellung verliehen, welche 
Defterreich8 und Preußens vermundbarfte Seiten dem gefährlich 
ften Angriffe preisgibt, ja das Herz beider Staaten bedroht. Aber 
weiter mußte man jest, um Preußens gerechte Korberung auf Mies 
derherftelung zu befriedigen, zu den vielfach verlegendften Mitteln feine 
Zuflucht nehmen. Das Herzogthum MWarfhau, als meift aus preus 
gifhen Abteetungen im Tilſiter Frieden erwachſen, mußte, wofern 
man nicht zum großen Gerechtigkeite - Act dee Miederherftellung eines 
ſelbſtſtaͤndigen Polens fid zu erheben den Muth oder die Ges 
finnung hatte, wieder preugifch werden. Nicht nur das Reſtau⸗ 
rationsprincip In Bezug auf Preußen (in Bezug auf Polen 
hätte es freilich etiwas ganz ‚Anderes, nämlih den Widerruf aller 
Theilungen dieſes gemißhanbelten Landes, befohlen), fondern auch die 
allgemeine europäifhe Politik ſprach dafuͤr. Jetzt aber Eonnte 
Dreugen auf keine andere Art entfchädiget werben, als durch die 
DOpferung Sachfens. Ganz Sachſen nämlich forderte Preußen jest 
für fih; und Rußland, dankbar für die Verzichtleiftung Preußens 
auf Warſchau, unterftügte die Forderung. Dagegen nahmen Defter 
reih, England und Frankreich (letzteres zumal liftig auf das 
Legitimitätss Princip ſich berufend) den König von Sachſen in 
Schutz. Die öffentliche Meinung aber erklärte‘ ſich zugleich auch für 
das ſaͤchſiſche Volk; morauf, nad langer und bitterer Verhandlung, 
endlich eine Art von juste milieu zu Stande kam, melches die Be: 
ſchwerden bes Könige nicht aufhob und jene des Volks, ja zweier 
Bölker, vermehrte. Denn Sachſen, beffen Volk den übrigen deut . 
fhen Stämmen an Gefinnung und, fobald beren Aeußerung 

möglih war, auh an Beftrebungen gegen ben gemeinfamen 
Feind gleich, und deſſen König bei feiner Allianz mit Frankreich 
nicht weniger als Balern und die übrigen deutfchen Kürften blos dem 
Gebot der Nothwendigkeit folgfam gemwefen, warb jest in zwei, an 
Umfang annähernd gleiche Theile zerriffen, wovon der eine an Preus 
Ben kam und ber andere dem Haufe Sachſen verblieb. Aber es mard 
Daneben, um Preußen zu befriedigen, auc ba Herzogthum War: 
ſchau (oder Königreich Polen) zerriffen und ein anfehnlicher Theil da= 
von unter dem Namen „Großhergogthum Pofen” an biefe Macht ver⸗ 


682 Bongreß. 


Uehen, während auch bie zu Warſchau gehörigen, früher oͤſterre i⸗ 
Hifhen Bezirke Galiziens zur alten Herrſchaft zurüdkehrten, 
und Krakau mit einem Beinen Gebiet zum Freiſtaat erklärt 
ward. Die Polen alfo, melden bie Vereinigung unter einer — 
gleichviel weicher, alfo auch ruſſiſcher — Herrſchaft ale Wiederherftels 
ung wenigftens ber Nationalität einigen Troſt für die Verwei⸗ 
gerung bee Selbſtſtaͤndigkeit gegeben hätte, mußten bie Verthei⸗ 
Iung unter Drei Herrſchaften dergeftalt erneuert und befeftiget ſehen; 
und zum Erfag für die Nationalität mußte der Name eines „Rs 
nigreihes Polen“, fowie zu jenem für bie Selbſtſtaͤndigkeit des 
ganzen, großen Volkes die Errihtung eines dem Schuß ber brei 
Großmaͤchte anheim geftellten „Sreiftantes Krakau” dienen. 

Mit Dofen und halb Sachſen waren aber bie gerechten Ans 
fprühe Preußens noch nicht befriedigt. Weitere Länder und zwar 
auf beutfhem Boden mußten daher ihm zugefchieben werden. Es 
geſchah diefes theils durch Zuruͤckſtellung feiner ehevorigen, im Tilſiter 
Frieden verloren gegangenen norddeutſchen Beſitzungen, theils durch 
Ueberlaſſung mehrerer anderer, zum Theil bereits herrenlos gewordener 
(wie das Herzogthum Verg und bie früheren oranifhen Beſitzun⸗ 
gen), zum hell von ihren Herren gegen anberweite Entfhädigungen 
abzutretender Länder (wie das Herzogthum Weftphalen u.a.), dann 
zumal audh der am linken Ufer des Niederrheins gelegenen, 
bis zur niederländifchen und franzäfifhen Grenze. In Folge verfchies 
dener Ausgleichungen und Zaufchverträge mit ben benachbarten Staa⸗ 
ten, insbefondere mit Hannover, fiel dann auh noch Schwes 
dbifh- Pommern in's Loos von Preußen. 

Einmal auf dem Wege der Befriedigung der Häufer mittelft 
Butheilung von Voͤlkern oder Seelen = Zahlen begriffen, tonnte der 
Congreß nicht mehr ftille ftehen. Gleichartige Anfprüche forderten 
auch eine gleichartige Befriedigung. Allernähft an Preußen ſtand 
diesfalls Baiern, welches durch den zur glüdlihen Stunde mit Des 
fterreih zu Ried gefchloffenen Vertrag (8. Oct. 1813), neben ber 
Anerkenntniß feiner Souverainetät, den vollen Erfag für alle an das 
Erzhaus zuruͤckzuſtellende Länder auf deutfchem Boden zu fordern bes 
rechtigt war. Bei der Schwierigkeit, folhen Erſatz auf Unfoften der 
benachbarten Fuͤrſten auszumitteln, blieb — außer Würzburg und 
Afhaffenburg, worüber frei zu verfügen war — nur noch die Zus 
weifung des füdlichen Theiles vom übercheinifhen Lande übrig. 
Derfelde ward alfo bairifch; doch wies man auf eben diefes Land 
und Volt noch die Befriedigung einiger anderen, ein Paar taufend 
Seelen weiter fordernden Häufer — wie Heffens Homburg, Sad: 
fen= Coburg und Oldenburg — und bann au die wichtigere 
bes Großherzoge von Heffens Darmftadt an. Zu großartigen 
Gründungen, zumal zu Erfhaffung oder MWiederherftellung einer ech⸗ 
ten beutfchen National: Einheit lag überall keine Möglichkeit mehr 
vor. Schon der Vertrag von Ried hätte diefes bewirkt. Denn volle 


Congreß. 683 


Souverainetaͤt und Integrität (tegtere nämlich dem Umfang 
oder der Seelenzahl, obwohl nit dem wirklich im Befig be: 
findlihen Lande nah), mwelhe man Baiern zugefichert, konnten 
nun mit Billigkeit auch feinem andern Fürften verweigert werden ; 
und hiernach 309 jede gewährte Entfchädigung, Abtretung, Ausgleis 
hung oder Abrundung u. f. w. ftetd noch andere und wieder andere 
nad) fi. Des Zerftüdelns und Bereinbarend, des Abtretens, Ders 
taufhens und daher Berechnens und Abwaͤgens war kein Ende. Auch 
nad gefchloffenem Congreſſe dauerten ſolche Verhandlungen und Ues 
bereinkünfte fort, und felbft der Sranktfurter ZerritorialsRes 
ceß (vom 20. Sult 1819) feste ihnen kein Ziel. Noch jest iſt eine 
Anzahl Häufer unbefriedigt und find die Völker in niederſchlagender 
Erwartung abermal zu veraͤndernder Looſe. 

Hiezu kam die, nach den vorwaltenden Sternen und nach den 
einmal angenommenen Principien, unvermeidliche Wiederherſtellung 
auch Hannovers (und zwar mit ſehr bedeutend ausgedehnten Gren⸗ 
zen), daher die Aufnahme einer dritten europaͤiſchen Macht (naͤmlich 
Englands neben Defterreih und Preußen) in den deutſchen Bund, 
und auch die ber vierten, naͤmlich Dänemarks, wegen Hol⸗ 
fteine und Lauenburgs, endlih gar — und zwar biefes ohne 
Nothwendigkeit, blos in Folge einee ganz freiwilligen Schöpfung — 
einer fünften, ndmlih Niederlande, wegen des Großherzogthums 
Luremburg. Unter ſolchen Verhältniffen und bei folchen, unwider⸗ 
euflich gezogenen, Grundlinien tonnte auch ein Gott nicht mehr eine 
Verfaſſung für Deutſchland entwerfen, welche ben Bedürfniffen und 
Anfprühen der Nation und ber Zeit auch nur von ferne hätte genüs 
gen mögen. Souverainetät und zugleich Unterwerfung, Nationalität 
bei einem politifchen Verein mit fünf europdifhen Mächten, ideale 
Mechtsgleichheit der Bundesglieder und an materieller Kraft maßlofe 
Ueberwucht einiger Weniger über die Mebreren, ja unter dieſen letzte⸗ 
zen großentheild völlige Unmaht — foldye Widerſpruͤche oder wider⸗ 
ftreitende Elemente enthielt ber Stoff, woraus der Bau eines deutfchen 
Söderativ- Staates, wozu fchon der Parifer Friede Deutſchland beftimmt 
hatte, aufzuführen war, deſſen Beſchaffenheit alfo, nach einmal feſtge⸗ 
festen Prämiflen, nicht andere werden fonnte, als fie ward. Dom 
europaͤiſchen Standpunkte genüge indefien, mas wir hier andeute⸗ 
ten. Vom beutfhen Standpunkt (und den fraglihen Bau als das 
Werk eines deutfchen Congreſſes betachtet) behalten wir, wie ſchon 
. oben bemerkt, die Darftelung einem eigenen Artikel vor. 

Wir gehen auf- bie Übrigen Schöpfungen des Congreſſes, als 
eines europäifhen, über. Zwei berfelben. zumal find wirklich 
neue Schöpfungen, nicht bloße Wiederherſtellung alter Verhaͤlt⸗ 
niffe, worin fonft der vorherrfchende Charakter feiner Anordnungen bes 
ſteht: bie Vergrößerung dee fardbinifhen Macht durch Einverlei⸗ 
bung Genuna's und die Errichtung eines vereinigten belgifch=bols 
Ländifhen Königreiches. Beide diefe Einrichtungen floffen melft aus 


684 Gongteß. 


ber fortdbauernden Furcht vos Frankreich. Um neuen zerrüttenden 
Bufammenftoß biefer Macht mit andern Großmächten zu verhüten, folls 
ten bie zwei genannten Staaten mitten inne friebebewahrnd,. alfo 
ſtark genug, um auf beiten Seiten Achtung einzuflögen, fiehen. Ge⸗ 
nua’s altes und noch allerneueft durch feierliche Verheißungen Lorb 
Bentinks, des britifchen Gewaltstraͤgers, bekräftigtes Recht auf Selbſt⸗ 
fländigkeit und vepublitanifche Verfaffung mußte fo kuͤnſtlich berechne 
tem Intereſſe weichen; Sardinien, ohne Verbienft um ben Erfolg 
des heiligen Kriege, empfing als reines Geſchenk das Toflbare genueſi⸗ 
ſche Land. Ebenfo empfing das Haus von Dranten, anflatt ber 
etwa anzufprechenden Wiedereinſezung in die Statthbalterwürbe 
von Holland, den erblihen Konigsthron über die — nad) laͤngſt 
verjährter Trennung — nunmehr duch das Machtwort ber europaͤi⸗ 
ſchen Haͤupter wmwiedervereinigten Provinzen von ganz Niederland. 
Viele waren, welche die Weisheit beider Schöpfungen bemunberten ; 
auch Viele, melde daneben im Snterefie des monachifhen Prins 
cips bie definitive Abfchaffung der alten, einft ruhmvoll beftandenen, 
Republiken mit Freude betrachteten. Andere dagegen beflagten, baf 
dem jedenfalls zweifelhaften Galcul der Politik die fonnenklaren 
Anfprähe und Neigungen ber Völker geopfert wuͤrden; fie meinten, 
ungeachtet ber Einverleibung Genua's fei Sardinien gleichwohl nicht 
ſtark genug, weder gegen Defterreich noch gegen Srankreih und — weil 
unpopulaͤr — am menigften gegen eine etwaige Erhebung der ttalifchen 
Voͤlker ſelbſt. (Der Aufftand von 1820, welchen nur Oeſter reichs 
ſchleunige Hülfe daͤmmte, fcheint allerdings das Letztere zu beweifen.) Was 
aber die Vereinigung Belgiens mit Holland betrifft, fo weifjagte 
man, bet der ſchwer zu heilenden Disharmonie ber Gefinnungen, Sit⸗ 
ten, Religtonsmeinungen und wirthſchaftlichen Intereſſen, nichts Gutes 
aus ber zwangsweiſe gefchehenen Wereinigung. Der fofort entbrannte, 
mit Bitterkeit geführte Krieg der beigifhen Volkspartei gegen bie hol⸗ 
Ländifche Regierung rechtfertigte folche Weiffagung, und die Revolution 
von 1830 flürzte die ſe Schöpfung bes Wiener Congrefles um. 

Auch die ſchweizeriſchen Angelegenheiten fchlihtete der Congreß 
von Wien. Wefentlichen Dienft im heiligen Krieg hatte die Schweiz 
den Alliirten geleiftet durch den den Heeren berfelben gewährten Durchs 
zug nad) Frankreich. Billig erfuhr fie die Gunft der Sieger. Neu f⸗ 
hatel, Wallis und Genf wurden ihrem Bunde zurücdgeftellt, das 
Bisthum Bafel an Bern gegeben und von Seite Savoyens 
einige Abtretung an Genf gemacht. Beltlin, Eleven und Bor⸗ 
mio jedoch verblieben Deſterreich, welches dagegen bie Herrſchaft Räs 
zuns an Graubünbten abtrat. Wichtiger als dieſe Territorial⸗Aus⸗ 
gleidiungen aber war die Anerdennung ber beftändigen Neutras 
lität der jest aus 22 Gantonen beftehenden Schweiz. Gluͤckliches 
und vicheicht unter allen allein bem Wiener Congreß zum Dante 
verpflichtetes Land } 


Die geringfügigeren Beſtimmungen, wie bie ftatuirte Rüdgabe 


Congreß. 6 


Olivenza's von Seite Spanlens an Portugal, und überall 
die wieberholte Feſtſezung oder Anerkennung beffen, was bereits ber 
Marifer Friede verordnet hatte, mögen wir übergehen. Dagegen vers 
dienen eine dankbare Erwähnung die — nach unfäglicher Mühe end⸗ 
Tih zu Stande gelommenen, aber freilich dee wünfchenswerthen Bes 
flimmtheit ermangelnden und durch das Schwankende bes Ausdrucks 
manderlei Streit Raum gebenden — Feftfesungen in “Betreff ber 
Abſchaffung bee Sklavenhandels und ber Derftellung einer freien 
Stusfhifffahrt. | 

| Sf, nah der Geſammtheit feiner Beſchluͤſſe, ber Congreß 
von Wien der Lobpreifung oder des Tadels werth? — Die partei⸗ 
loſe Geſchichte wird darüber das Urtheil fällen; die Stimmen ber 
Gegenwart find unter fih im Steeite und wegen VBefangenheit unzus 
verläffig. Viele Klagen gegen ben ewig denkwuͤrdigen Congreß find ers 
tönt, zumal vom vernunftrechtlihen und fosmopolitifchen, alfo allges 
meinen Standpunkt, dann aber auch vom patriotiſchen ober nationalen 
Standpunkt der verfchiedenen einzelnen Völker. Hinwieder vernahmen 
wir auch Apologien, gleichfalls von beiderlei Standpunkt, d. h. gerich⸗ 
tet gegen beiderlet Anklagen. Wir wollen die — wirklich vorgebrache 
ten oder möglicher Weife vorzubringenden — Gründe der Vertheidiger 
oder Lobredner jenen ber Tadler, infoweit es nicht fhon in den vor⸗ 
anftehenden Blättern geſchah, blos fummarifch gegenüberftellen. 

Ueber den dem Congreſſe zum Vorwurf gemachten Mangel an 
Vertretern der neuzeitlichen idealen Intereſſen, demnach Aber den vor⸗ 
herrſchenden Charakter feiner Beichlüffe (als einfeitiger Keftfeguns 
gen, anftatt beidberfeits beftiedigenber, naͤmlich vergleichs weiſe 
zwiſchen beiden Parteien getroffenee Uebereintömmniffe) 
iſt ſchon oben gefprohen. Man mochte dagegen erinnern, daß vor 
Seite dee Regierungen bie Stimmberehtigung ber Belenner 
jener neuen — vernunftrechtlihen und tosmopolitifhen — Ideen we⸗ 
ber anerkannt war, noch anerkannt werden konnte, ſchon darum, 
weil ſie noch nicht — wie etwa zur Zeit des weſtphaͤliſchen Friedens 
bie proteſtantiſche Kirche — zu einer juriſtiſchen Ge⸗ 
fammtperfönlichleit oder rechtsgultig beſtehenden Geſellſchaft 
geworden waren, und daß der Umſtand, daß von den, den Congreß 
bildenden, Maͤchten keine die Vertreterin der Revolution (d. h. in dem 
oben beſtimmten, mit dem lebenskraͤftigen Princip der Reform gleich 
bedeutenden Sinne) war, fondern vielmehr alle gegen biefelbe, mims 
lich für das Princip dee Stabilität und Reftauration vereinigt 
erfchienen, aus der damaligen Weltlage als nothwenbige oder natüte 
lihe That ſache hervorging, daher den Freunden jener Ideen wohl 
etwa unangenehm fein, Belneswegs aber als eine Rechtskraͤn⸗ 
kung geachtet werden Eonnte. Mit Napoleons Fall hörte der Prin⸗ 
cipiens Krieg auf; das befiegte Frankreich nicht minder als bie fies 
genden Mächte gehörten jenen der Keftauration an; und es han⸗ 
beite fi alfo gar nicht mehr um einen Vergleich zwifchen verſchie⸗ 


686 Gongreß. 


benen pofitifchen Glaubensbekenntniſſen ober Fahnen, ſondern blos um 
Keftftellung bee europäifhen Dinge nad; den Principien der 
Sieger. Nah dem Standpunkt der Maͤchte Eonnte von wechſel⸗ 
feitigen BZugeftänbniffen, überhaupt von Uebereinkoömm⸗ 
niffen zmwifhen Regierungen und Völkern gar keine Mede fein, fons 
‘dern blos von einfeitigen Zugeftändnifien der erften an die letzten 
öder auch von Verabrebungen ober förmlichen Verträgen der Regieruns 
gen unter ſich über einige ben Völkern — theils einzelnen, theils meh» 
reten zufammen — zu gewährende Rechte und Freiheiten. Dergeftalt ſetzte 
gleich, der Art. I. der Gongreßacte zu Gunften bee Polen feſt: „Les Po- 
lonois, sujets respectifs de la Russie, de l’Autriche et de la Prusse, 
obtiendront une representation et des institutions nationales“ ; (freis 
lid mit dem bedenklichen Beifag: „reglees d’apres le mode d’exis- 
tence politique, que chacun des gouvernemens, ’' auxquels ils 
appartiennent, jugera utile et convenable de leur accorder.“) 
Und in Anfehung bed Herzogthums Warfhau (genannt Königs 
reich Polen) behielt der Kalfer von Rußland ſich noch etwas 
Weiteres vor, nämlih: S. M. I. se reserve, de donner à cet 
Etat, jouissaut d’une administration distincte, l’extension in- 
terieure, qu’ Elle jugera convénable.“ — &o verfpradh im Art. 
XX. der König von Preußen in Bezug auf das getheilte Sach⸗ 
fen: „de faire regler tout ce qui peut regarder la propriete 
et les interets des sujets respectifs sur les principes les plus H- 
beraux.““' Und fo enbli enthält die — als Theil ber Gongreßacte 
erklaͤre — deutſche Bundesacte In ihrem Art. 18. die bebeus 
tungsvolle Erklärung: „Die verbünbeten Fürften und freien 
Städte kommen überein, den Unterthbanen ber beuts 
[hen Bundesflaaten folgende Rechte zuzufihern.” (Folgt 
dann das Verzeichniß dieſer Rechte und Verheißungen, morunter nas 
mentlih auc jenes ber Preßfreiheit fi befindet.) Solche Zus 
fiherungen, wenn fie audy ben Völkern felbft, mit welchen der Ver⸗ 
trag nämlich nicht gefchloffen worden, Fein anderes Mecht geben, als 
das der vernünftigen Erwartung, die Vertragfchließenden werben 
einander Wort halten, find gleichwohl eine früher noch, nie oder nur 
höchft felten und vereinzelt vorgefommene Erfcheinung ; fie find koſtbare 
Beweiſe davon, bag auch die Regierungen dem Geift ber Zeit nicht 
fremd geblieben und daß fie die Nothmenbigkeit oder Raͤthlichkeit mes 
nigftens einiger ihm zu machender Gonceffionen (fei es auch nur zu 
augenblicklicher Beſchwichtigung) erfannt haben. 

Iſt nun dieſes wahr — alfo konnte man meiter argumentiren — 
warum hätten fie nicht wirklich auch aldg Vertreter der Völker, 
deren Intereſſen fie ja mwahrten, betrachtet werben follen, und wozu 
alfo noch eine weitere Einberufung eigens dazu bevollmächtigter Volks⸗ 
mwortführer, für deren Ernennungsmeife, Charakter und Stellung 
ohnehin die hergebradyte Diplomatie weber Regeln noch Formen kennt? 
— Wie konnte man überhaupt einem Congreß bee Staatenlenker und 


Congreß. 687 


ihrer Miniſter zumuthen, mißtrauiſch In Ihre eigene erprobte Weisheit 
und gereifte Erfahrung zu fein, fchlichte oder ungeflüme Volksmaͤnner 
ihrem Rathe beizugefellen und den Traͤumerelien ber „Sdeologen”“ 
ein geneigte® Gehör zu ſchenken? Und wo waͤre die Grenze ber 
Willfaheung gemefen, meun man einmal das Recht ber Korberung ſta⸗ 
tuirt hätte? Nicht auf müßigen Abftractionen und Schuls Zheorien, . 
fondern auf Autorität muß das Gebäude des Öffentlichen, wie bes 
PMrivatrechte ruhen, und nur bie. Regterungen find bie Inhaber 
der Autorität. | | | u Ä 

Uebrigens — wie wir felbft zugeben muͤſſen — iſt es nicht ein- 
mal ganz richtig, daß zroifchen Alt und Neu gar kein Vergleich fei ge: 
fhloffen, fondern blos den alten Principien gehuldiget worden. Nicht 
eben in Bezug auf Ideen, wohl aber in Bezug auf Länderbefig 
und Länbervertheilung fand ein Vergleich zwifhen Revolus 
tion und Reftauration wirklich flatt. Die Gebiete s Vergröferuns 
gen, die aus den Mevolutionskriegen ihren Urfprung nahmen ober 
durch das renolutionaire Machtwort bee feanzöfifchen Republik und ſpaͤ⸗ 
ter Napoleons bictirt wurden, die Secularifationen und bie dem 
Srundfag der Legitimitaͤt fo offen wiberftreitenden Mebiatifiruns 
gen u. f. w., Alles blieb unberührt und warb bekraͤſtiget, fofern nur 
die Erwerber Sprößlinge der alt s europäifchen Megenten s Kamilie was 
ren. Die Legitimität, bie dem Erwerbstitel fehlte, fchien erſetzt 
ducch jene der Ebenbürtigteit oder bes Blutes. Sa, auf Schwer 
dens Thron ließ man felbft einen Mann von bürgerlicher Abkunft 
fleigen, und ohne Murats unzeitigen Abfall waͤre ſolches auch in 
Neapel gefhehen. Die Reftauration alfo theilte fi wie im 
Wege des Vergleichs mit dee Revolution in den Beſitz der europäi« 
{hen Erde. Daß nun — und auch biefes müflen wie zugeben — 
bei ſolcher Theilung und gegenfeitiger Ausgleihung auch auf See: 
lenzahl, neben Flaͤchenraum und Einkünften, geſehen ward, ift fehr 
natürlih, und war ja auch in dee Revolution: Periode von 
beiden Seiten geſchehen. Die Voͤlker galten von jeher als Zugabe 
des Landes; dem Herrn ober Erwerber bes legten gehörten oder fielen 
zu auch die Bewohner, und menn einmal von Werth⸗Schaͤtzung 
eines Erwerbs ober Verluſtes, eines abzutretenden oder zu vertaufchen- 
den Gutes, die Rebe ift, fo muͤſſen eben alle Factoren, bie auf 
ben pecunideen ober Zaufh= Werth von Einfluß find, in Rechnung 
gezogen werden. _ | 

Freilich iſt es dem Gefühle des Ideologen widerwaͤrtig, wenn bei 
ſolchen Gefchäften die Völker nur als Summen oder Größen erfcheis 
nen, und Ihrer Perſoͤnlichkeit gar nicht gedacht wird; wenn man bei 
ihrer Zutheilung, Zertheilung, Verbindung, Abtretung u. f. w. immer 
nur das Intereſſe des Heren ober der Regierung in Erwägung zie⸗ 
hen und Wunſch oder Neigung und auch) hiftorifches Recht der Voͤl— 
ler ganz außer Rechnung bleiben fieht. Aber mar biefes. jemals an⸗ 
ders? und Lonnte oder follte der Wiener Congreß den. ungeheuren 


688 Songreß. 


Schwierigkelten ber für alle Häufer auszumittelnben Befrledigung erſt 
noch die weitere, jeden Calcul verwirrende ober aufhebende, ber Befrie⸗ 
digung auch der Völker beifügen ? — Und dann — auch abgefehen 
davon, daß ja auch manche Neigungen und Wünfde der Kürften 
unberüdfichtigt blieben, und daß viele mit Summen von Untertbas 
nen fid) begnügen mußten, gleichviel, wo dieſe Summen wohnten oder 
in welchem natürlichen oder, hijtorifchen. Verhaͤltniß fie zum Haufe 
flanden (mie z. B. die Häufer Didenhurg, Coburg, Heſſen⸗ 
- Homburg, Medlenburg » Strelig und Pappenheim mit 
einander die Summe von 69,000 auf dem linken Rheinufer, im ches 
maligen Saars Departement wohnenden Seelen, zur Ergänzung 
ber Ihnen gebührenden Abfindung annehmen mußten), abgefehen, fagen 
wir, von diefer bie Härte dev Sache jedenfalls mildernden Gemeine 
ſchaftlichkeit der Beſchwerde, modte man nicht ohne Grund bes 
merken, daß — vorausgefest, daß auf die. von der Lage abhängigen, 
eht.politifhen, folglich für Regierung und Volk gleichmäßig wich⸗ 
figen, induftriellen und commerziellen :u.f. w. Verhaͤltniſſe bie gehörige 
Müdfiht genommen. ward — es den’ Völkern, ohne Unterfchieb, - ob 
ihre Regierung conflitutionell oder abſolutiſtiſch ſei, ziemlich gleiche 
gültig (d. 5. für ihren Nehtszuftend, ob auch nicht für ihr 
Gefuͤhl) fein kann, welchem Haufe ihr Herrſcher angehöre. In coms 
ſtitutionellen Staaten, worin die Conſtitution eine Wahrhrit iſt, 
werden immer, unabhängig von der Perſoͤnlichkeit bes Regenten, 
Sefeg, Recht und vernünftiger Geſammtwille fid in Herrſchaft behaups 
ten; und wo fie eine Züge if, da beſteht eben ein verfchleierter Abs 
folutismus. Wo aber, diefer (verfchleiert oder unverfchleiert) befteht, 
da iſt es abermal gleichgültig, wie dee Herrfcher heiße oder von Wels 
hem Geſchlecht er ſtamme. Beitlich- zwar mag .ein fehr fühlbarer 
Unterfchied obmalten,, ‚je nach der Perfönlichkeit des Herm. Aber für 
die Dauer — und nur das Bleibende kann hier in Anfchlag Toms 
men — ift Alles gleich. ‚Auf einen guten Herrn mag ein ‚böfer und 
auf einen böfen ein „guter. folgen. Es find dieſes vergleichungsweiſe 
unbedeutende, factifhe Zufälligkeitenz der Rechtszuſtand, 
d. h. die Abhängigkeit der Öffentlichen Wohlfahrt und des Loofes aller 
Einzelnen von dem. Willen oder ber Gefinnung bes Herrn, iſt ‚bier 
und dort derſelbe.: Die Zutheilung ber Herrfchaft alfo mag unver 
legend, nach allgemeiner oder beſonderer Convenienz geſchehen, und 
dem Wiener Congreg ift — wenn wir diefen Standpunkt nehmen — 
wegen feiner Verfügungen: über Zerritorials Angelegenheiten wenig ober 
gar Fein Vorwurf zu machen. — 0 
Unfere Leſer mögen nach eines Jeden fubjectiver Anficht über bie 
Triftigkeit. ber Anklage oder ber Rechtfertigung urtheilen! Das. freis 
müthige Ausſprechen de Urtheild wird aber erſt dem nachfolgenden 
Geſchlecht erlaubt fein. | 
So Vieles, theils im Allgemeinen, theils bis in's kleinſte Detail 
hin, . die. Wiener Congreßacte mit ben ihr beigefügten und augdrhdiicd 


Congreß. 689 


als integrirende Beſtandthelle derſelben erklaͤrten Nebenurkunden (ſieb⸗ 
zehn an der Zahl) beſtimmt, geregelt, feſtgeſetzt hatte, ſo war doch, bei 
der Unermeßlichkeit der Aufgabe und bei der am Ende eingetretenen 
Eile des Beſchließens, manches Wichtige noch unentſchieden geblieben; 
und es hatten ſich durch den darauf gefolgten voͤlligen Sturz Napo⸗ 
leons und den zweiten Pariſer Frieden mehrere Verhaͤltniſſe bedeutend 
geändert. Die vier durch den Tractat von Chaumont (1. März 
1814) verbundenen Großmaͤchte waren fchon in Gemäßheit dieſes, aus⸗ 
druͤcklich für die Dauer von 20 Jahren nah dem zu Stande zu 
bringenden Frieden gefchloffenen, Allianzvertrags, deffen ausgefprochener 
Zweck dahin ging: „das Gleichgewicht in Europa aufrecht zu erhalten, 
die Ruhe und die Unabhängigkeit der Mächte zu fihern und den will⸗ 
kuͤrlichen Verletzungen fremder Rechte und Gebiete vorzubeugen, von 
welchen bie Welt fo viele Jahre hindurch heimgefucht worden iſt“, na= 
türlicy veranlaßt oder aufgefordert, den Gang der politifchen Dinge in 
ganz Europa fortwährend zu beobachten, und über bie für jenen hohen 
Zweck nach Umftinden etwa raͤthlich fcheinenden Maßregeln ſich unter 
einander jeweils zu verftändigen. In diefem Sinn fand 1818 ber 
Congreß von Aachen flat. Auf demfelben erfchienen bie Herr⸗ 
fher von Defterreih, Rußland und Preußen perfönlich, neben ihnen 
eine Dienge hoher Prinzen und Fürften und ein duch Zahl und gläns 
zende Perſoͤnlichkeit ausgezeichnetes diplomatifches Corps. Vom 30. 
Sept. bis zum 21. Nov. währten die Verhandlungen, von deren Ers 
gebniß der veröffentlichte Vertrag mit Frankreich vom 9. Octbr., fos 
dann das Hauptprotokoll vom 16. Nov. und eine Über deſſen In⸗ 
halt an die europäifchen Höfe erlaffene feieclihe Declaration 
bee Welt kundthaten. Durd den zuerft bemerkten Vertrag wurde 
Frankreich, deſſen innere Ruhe durch die bisherigen Maßregeln ber les 
gitimen Regierung gefichert fchien, der Laft des Occupationsheeres, wel- 
ches gemäß dem Parifer Frieden noch zwei Jahre länger bdafelbft zu 
haufen hatte, fofort entledigt, in Bezug auf die noch ruͤckſtaͤndige 
Contribution ein für den Schuldner fehr günfliged Arrangement ger 
teoffen,.und König Ludwig XVIII. eingeladen, an den Berathungen 
ber Monarchen über Europa’s Wohlfahrt nunmehr gleichfalls Theil zu 
nehmen ; was denn auch alfogteich durch das Organ des Premier⸗Mi⸗ 
niſters, Herzogs von Richelieu, gefhab. Das Protokoll und die 
Declaration aber, im Inhalt und Ton der über die Errichtung der⸗ 
„heiligen Allianz” aufgenommenen Urkunde ähnlich, befchränkten: 
fih) auf den Ausbrud allgemeiner Gefinnungen und Entfhlüffe, und 
fegten im Einzelnen nichts Neues feft, ließen jedoch ahnen, weldye Rich⸗ 
tung folche etwa ſpaͤter zu treffende Seftfegungen nehmen würden. Gie 
mögen daher als bebeutungsvolles Programm aller fpäteren Congreßs - 
Beſchluͤſſe "betrachtet werben, und geben darum reichlihen Stoff des: 
Nachdenkens. 
Das von den Bevollmächtigten ber fünf Großmaͤchte, Defterreich, 
Franbreich, Sroßbritannien, Preußen und Rußland: uns 
Staates Lexikon. IIL 44 


R 


690 Gongreß. 


terzeichnete Protokoll erklärt, daß die befagten Höfe „nadı reifliher Er⸗ 
wägung dee Grundfäge, auf welchen die Erhaltung der in Europa uns 
ter dem Schutze der göttlihen Vorſehung hergeftellten Ordnung ber 
Dinge beruht”, 1) „feft entfchloffen find, ſich weder in ihren wechſel⸗ 
feitigen Verhaͤltniſſen, nocd in jenen, welche fie an andere Staaten 
Enüupfen, von den Grundfägen der engen Verbindung zu entfernen, 
die bisher in allen ihren gemeinfchaftlihen Angelegenheiten obgemaltet 
bat, und die durch das zwiſchen den Souverainen geftiftete Band chriſt⸗ 
licher Bruberliebe noch ftärker und unauflöslicher geworden if.” 2) „Daß 
diefe Verbindung Beinen andern Zwed haben kann, als die Aufrecht⸗ 
haltung des Friedens, gegründet auf geroiffenhafte Vollziehung ber in 
den Zractaten vorgefchriebenen Verpflichtungen und Anerkennung aller 
daraus hervorgehenden Rechte.” 3) „Daß Frankreich, duch die Wie⸗ 
berherftellung der rechtmäßigen und conftitutionellen Eöniglichen Gewalt 
den übrigen Mächten beigefelft, die Verbindlichkeit Abernimmt, forthin 
unausgefest zur Sicherftellung und Befeſtigung eines Syſtems mitzus 
wirken, welches Europa den Frieden gegeben hat und allein die Dauer 
beffefden verbürgen Eannn.” 4) Daß, wenn die Mächte, welche an ger 
genwärtigem Befchluffe Theil nehmen, zur Erreihung des bier auss 
gefprochenen Zwecks für nöthig halten follten, befondere Zufammens 
Eünfte, es fei zwiſchen den hohen Souverains felbft, es fei zwiſchen 
deren Miniftern und Bevollmächtigten, zu veranftalten, um über ihre 
eigenen Angelegenheiten, infofern fie mit dem &egenftande ihrer ge⸗ 
genmwärtigen Verhandlungen in Verbindung ftehen, gemeinfchaftlich 
zu berathfchlagen, ber Zeitpunft und ber Ort folder Zufammenfünfte 
jedesmal durch diplomatifce Ruͤckſprache zuvor beftimmt werden, falls 
abet von Angelegenheiten die Rede wäre, die auf das Intereſſe andes 
ter europäifcher Staaten Bezug hätten, bergleihen Zuſammenkuͤnfte 
nur in Kolge einer foͤrmlichen Einladung von Seiten der dabei intereffic- 
ten Staaten, und mit Vorbehalt des Rechts der letzterr, unmittelbar 
ober durch ihre Bevollmaͤchtigten daran Theil zu nehmen, Statt haben 
ſollen.“ | 
Sn der an bie Höfe (warum nicht auh an die Völker?) 
darüber erlaffenen Declaration heißt es weiter: „Die Uebereintunft vom 
9. October (wodurd Frankreich mit in den Bund aufgenommen ward) 
wird von den Souverainen, welche fie abfchloffen, ald Schlufitein 
an bem Gebäube des Friedens und als die Vollendung des politifchen 
Spftems betrachtet, welches deſſen Dauer fihern fol.’ — „Der Zweck 
diefes Bundes ift ebenfo einfady, als groß und fegenbringend. Er bes 
abfichtigt Feine neuen politifchen Combinationen, keine Veränderungen ber 
durch die beftehenden Verträge geheiligten Verhältniffe. Ruhig und 
unmandelbar in feinen Wirkungen bat er einen andern Zweck, als 
bie Erhaltung bed Friedens und die Verbürgung der Verträge, welche 
ihn begründet und befeftigt haben!’ — „Indem die Souveraine biefen 
erlauchten Verein fchloffen, haben fie als Grundlage beffelben den un⸗ 
wandelbaren Entſchluß genommen, fi ‚nie, weder In ihren Verhaͤlt⸗ 


Kongreß, 691 


niffen unter fi, noch gu anderen Staaten, von ber genaueften Befoß 
gung ber Grundfäge des Wölkerrechts zu entfernen.” — „Treu diefen 
Grundfägen mwerden die Souveraine folche in den Zufammenkünften 
aufrecht erhalten, denen fie In Perfon beimohnen, oder die zwifchen Ihren 
Miniftern ftattfinden, fie mögen nun bie gemeinfame Berathuug ihrer 
eigenen Verhaͤltniſſe zum Gegenftande: haben, :pder fidy auf’ folche bes 
ziehen, bei welchen andere Regierungen ihre Dazwifchenkunft. foͤrmlich 
verlangten.” — Der Schluß diefer denkwuͤrdigen Declaration lautet 
alfo: „Derfelbe Geiſt, der Ihre Berathungen keiten und in ihren dipto⸗ 
matifchen Verbindungen herrfchen wird, fol auch. diefe Zuſammenkuͤufte 
befeelen, und die Ruhe der Welt ihre Veranlaſſung und ihr Zweck 
fein. In foihen Gefinnungen haben die Souvsraine das Merk. voller 
det, zu dem fie berufen waren. Sie trachten nnermüblich, «8: zu. des 
feftigen und zu vervolllommnen. Sie erkennen felerlichſt, „daß: Ihre 
Pflichten gegen Gott und gegen die Völker, die: fie regieren, es ihnen 
sum Geſetz machen, der Welt, foviel an. ihnen iſt, das Beiſplel der 
Gerechtigkeit, der. Eintracht und der Maͤßlgung zu geben, und. pseilen 
ſich glüdlih, in Zukunft alle ihre Kräfte nur auf den Schug der 
Künfte des Friedens, "auf die Vermehrung ber innern Wohlfahrt ihrer 
Staaten und auf bie Wiederbelebung jener religiöfen und moralifchen 
Gefühle verwenden zu innen, deren Einfluß bura) das Uingtüd“ bee 
Seiten’ nur zu fehr geſchwaͤcht worben ft!“ — .. ! . 

Auf diefe drei Actenftüde befchränkt fi, was von den Befeläffen 
des Aachner Congreffes zur öffentlichen Kunde gelommen tft. Manches 
Andere und in’s Einzelne Gehende wurde wohl auch alldort beſprochen, 
verhandelt, verabredet oder fuͤr kuͤnftige Schlußfaſſungen vorbereitet; 
manche Geſuche, Vorſchtaͤge, Reclamationen wurdin wohl empfangen 
ober mündlich vernommen, doch von beſtimmter Erledigung -verlautetd 
nicht® oder nur wenig. Unter ben der hohen Berfammlung uͤberreich⸗ 
ten Vorſtellungen aber ‚erregte ein ganz beſonderes Auffehen diejenige; 
welche (unter dem Xitel: Memoire sur l’etat actuel de l’Allemägne) 
der ruffifhe Staatsrath Stourdza, ein Grieche von Geburt; über 
den rieueften Geiſt des deutfchen Volkes, allerndchit über jenen der 
Schulen und Unive rſitaͤten (Lehrer und Lernende in der Betrtach⸗ 
tung zufammengefaßt), und über die Mittel, deren angeblihem Wer 
derbniß entgegenzumirken, zu fchreiben und.ben Gongreßmitgliedern vom 
zulegen, die befremdliche Anmaßung hatte. Nicht eben der Inhalt diefes 
frechen Schmaͤhſchrift (der nur Verachtung zu erregen geeignet wa 
auch in feiner Erbaͤrmlichkeit fofort von hier wahrhaft ftimmbersditigten 
Männern — an ihrer Spige der in Gefinnungen fehr gemäßigte Krug 
— bargeftellt warb), fondern bie Art und die Umflände ihrer Vorlage 
an den hohen Congreß machte fie zum bebsutungsvellen Ereigniß, und 
viele Denker erblickten in ihr bereits ahnend ben Worboten eines ‚üben 
den deutfchen Hochfchulen fich heraufziehenden Gewitter. 

Indeffen ſchritt in Deutſchland dee ‘öffentliche Selft allerbinge 
voran, nicht nur an den Hochſchulen, ſondern im gefammena Volke; 


692 Congreß. 


doch auf eine erfreuliche, zu den fchönften Hoffnungen beredhtigende 
Weiſe, nicht aber mit revolutiondrer oder jatobinifher Rich⸗ 
tung, wie bie Feinde des Lichts und bes Rechts verleumberifch klagten 
und argliftig den Staatenlentern vorfpiegelten. Einige wenige vereins 
zeite Ausfchweifungen, felbft Verbrechen, von ein Paar Individuen 
Eonnten doch wohl gegen ben viel erprobten rechtlihen Sinn bee Nas 
tion nicht geugenz einige Weberfpannung in jugendlichen, phantafiereichen 


Gemuͤthern, einige fcharfe Tadelworte gegen feile Schriftfteller, gegen 


e ber Kürften, konnten wohl hier und dort Mißvergnuͤgen erregen, 
nicht aber den Vorwurf ummälzendee Tendenzen und Plane, benen 
aur mit den Schreien ber Gewalt zu begegnen waͤre, rechtfertigen. 
Mas die Nation verlangte und zu verlangen das Recht hatte, war 
nichts Anderes als eine: der Stufe ihrer Geiftesbildung angemeffene 
und bie Verheifungen von Kaliſch erfülende National⸗ unb 


engbertige Mertpeibiger des hiftorifchen Unvechts oder gegen boͤſe Rath⸗ 
gr 


Staatenverfaffung, ein zu gefeblihen Fortfchritten auf bem 


Wege des Guten eröffneter Weg mittelft wohlgeordneter Volks⸗Ver⸗ 
tretung, dad Recht der Wahrheit endli und des fie frei aus⸗ 
fprechenden Wortes, modurd, allein jedes andere Recht mag ges 
fhirmt werden. In diefem Sinne traten insbefondere die Staͤn⸗ 


. Deverfammiungen, namentlich die Volkskammern in den allmaͤlig 


zu Erfüllung des 13ten Art. der Bundesacte mit Iandftändifchen Ver⸗ 
faſſungen — zumal in Säd- Deutfchland — begabten Staaten aufs 
und in dieſem Sinne fprah die öffentlihe Meinung in allen 
Bauen und Glaffen, foweit überall politifhe Bildung und Rechtsſinn 
zu finden waren, laut und träftig fih aus. Rechtsgewaͤhrung, 
Erfüllung feierlichſt gemachte Verheißungen, und Sicherftel- 
lung bes Verllehenen oder zu Verleihenden: — ein Mehreres war 
nicht nöthig zur Beruhigung der Gemüther, zur Befriedigung der Mißs 
vergnuͤgten, zur Herftellung des innern Friedens. Aber dem gerechten 
Begehren der ihrer entfcheidenden Verdienſte um die Vaterlands⸗Be⸗ 
freiung und die Wiederherſtellung der Thronen ſich bemußten Voͤlker ſetzte 
fich allernächft die Ariftofratie mit ihren nen erwachten und neu 
aufitrebenden Anmafungen entgegen, fodann -auch die kuͤnſtlich genaͤhrte 
Furcht der hohen Staatshäupter vor dem. Meiterfchreiten des ihnen 
jest zum erftenmal esfchienenen Volksgeiſtes, geftacyelt zumal durdy das 
ihren grauenvollen Erinnerungen entſtiegene und ohne Unterlaß ihrer 
Dhantafie vorfchmebende Gefpenft der Revolution. 
-...Da serfammelten fich, im Auguft 1819, unverfehens die Miniſter 
von: Defterreih, Preußen, Balern, Sachſen, Hannover, 
Wärtemberg, Baben, Medienburg und Naffau in Karlss 
hab in Böhmen, und vereinigten fi nach kurzen (in 23 faſt tags 
täglich. ſich folgenden Gonferenzen gepflogenen) und geheimnißvollen 
Berathungen (vom 6. bis zum 31. Aug.) über eine Reihe hoͤchſt denk⸗ 
würdiger, dem beutfhen Bundestag in Frankfurt zu machender 
Borfchläge, welche der lebte auch ſofort — am Tage ber von Seiten 


Gongreß. 693 


der Präfibialgefandtfchaft vernommenen Propofition, mit einer beifpielloe 
fen, auch der als organifches Bundesgeſetz verkuͤndeten Geſchaͤftsordnung 
(vom 14. Novbr. 1816) direct widerſtreitenden Eile — ohne weitere 
Snftructionseinholung, noch Commiſſions⸗Verhandlung oder Berichterflats 
tung, ja ohne alle Discuſſion in der Bundesverſammlung ſelbſt, — un⸗ 
veraͤndert, ſowie die oͤſterreichiſche Praͤſidialgeſandtſchaft ſie vorgetragen, 
und einftimmig, unter Dankesbezeugungen für Oeſterreich, annahm und 
zu Bundesbefhläffen erhob (20. Sept. 1819). Einige Punkte, 
die theils noch nicht hinlänglich vorbereitet, theils minder deinglich ers 
fhienen, wurden einem meitern, in Wien unverweilt zu baltenden, 
Mintfter- Congreg zur genaueren Feflfegung. vorbehalten. Ders 
ſelbe trat auch wirklich nody vor dem Ende des Jahres in ber Kals 
ferftadt zufammen ; und es ging aus fenen Berathungen (vom 25. 
Nov. 1819 bis 24. Mai 1820) die unter bem 15. Mai 1820 von 
den Gongrefmitgliebern unterzeichnete, fobann unterm 8. Juni 41820 
vom Bundestag gleih willig und einflimmig zum Bundesgrundgefeg 
erhobene „Schlufßacte der über Ausbildung und Befeftigung bes 
beutfhen Bundes zu Wien gehaltenen Miniſterial⸗Conferenzen“ hervor. 

Der Inhalt der auf biefen beiden Minifter-Congreffen gefaßten 
Beſchluͤſſe, zumal jener der Wiener „Schlüußacte”, wirb in dem Art. 
„neutfher Bund” die ihm gebührende umftänblichere Betrachtung 
finden. Doc fprechen die Bundesbefchlüffe, als zu welchen auch 
fünf europäifhe Mächte ihre Stimme, ja zwei derſelben die 
präponderirende Stimme gaben, nicht nur ein beutfches, ſondern 
auch ein allgemein europäifches Intereſſe anz und es bezeichnet 
zugleich der auffallende Gontraft des Tones, zumal der Karlsbader 
Beſchluͤſſe, mit jenem der Aach ner Declarationen eine jetzt eingetres 
tene neue, verhängnißfchmere Epoche in der Gefchichte ber Congreſſe. 
Dieſer Umftand, in Verbindung mit einigen befondern Denkwuͤrdig⸗ 
keiten, welche den angeführten Befchlüffen zum belehrendflen Commen⸗ 
tare dienen, macht uns zur Pflicht, auch ſchon im vorliegenden Ars 
titel einiges Wenige darüber zu fagen. 

Wir haben die von Aachen aus erlaffenen, die Gefühle chriſt⸗ 
licher Bruderliebe athmenden, und aufs Feierlichſte für alle Folgezeit 
bie treuefte Beobachtung ber Pflichten gegen Gott und gegen bie 
Völker, die Heilighaltung des Voͤlkerrechts und überhaupt bie ftete 
Herrſchaft der Gerechtigkeit, der Eintradht und der Mäßigung 
verheißenden, Erklärungen der hoben Monarchen oben im Ausjuge 
mitgetheilt. Ihre Wirkung, ob auch argmöhnifche Gemüther aus der 
einer verfchiedenen Auslegung und Anwendung Raum gebenden Alls 
gemeinheit ber Ausdrüde mancherlei Beſorgniß fchöpften, war für 
die Völker überhaupt beruhigend und wohlthuend. Won Karlsbad 
aus aber ergingen ſchwere Anklagen gegen die Voͤlker oder die ebelften 
Gaſſen der Nation, und ſtrenge Unterbrüädungs:Maßregefn gegen die 
für gefährlich erklärten Aeußerungen bed neuen Öffentlichen Geiſtes. 
Und in Karlebad ward: ber unmittelbare Grund gelegt zu bem feither 


694 | Congreß. 


ohne Unterbrechung fortgefuͤhrten Bau ber — ohne Zweifel won -den. 
Häuptern für nöthig erachteten, aber darum für die Nation nicht 
minder nieberfchlagenden — Dictatur des Bundestans über bie Bun⸗ 
besftanten und der. einzelnen Regierungen über die Völker. Die Ges 
fhichte, nach deren Zeugniß allerdings, je nach Zeiten und Umftäns 
ben, bie Dictatur für eine kurze Periode Hier oder dort nothwendig 
oder mwohlthätig fein kann, wird einftens frei darüber richten, ob in 
ben Tagen des Karisbader Congreffes und in jenen, welche darauf 
— ſolche Dictatur fuͤr Deutſchland oder fuͤr Europa wirkliches 

Beduͤrfniß oder nicht geweſen, und ob dadurch die Stimmung der 
Völker verbeffert, das Gemeinwohl gefördert, ein für guten Samen 
entpfänglicher Boden bereitet, bie edlere Civiliſation vorangeführt, oder 
aber von allem biefim das directe Gegentheil fei bewirkt worden. 
Wir finden ber Zeitlage angemeſſen, des felbfteigenen Urtheilens uns 
hier größtentheils zu enthalten und mehr nur bie nadten Thatſachen 
zufammenzuftellen, welche den Stoff der freien, ſtillen Beurtheilung 
jedem denkenden Zeitgenoſſen darbieten. 

Von den Verhandlungen des Karlsbader Congreſſes iſt, ob⸗ 
gleich dem Vernehmen nach deſſen Mitglieder bereits in der zwei⸗ 
tm Sitzung ſich die Geheimhaltung ſowohl dee Protokolle 
als aller Aeußerungen, welche in den vertraulichen Berathungen 
vorkommen wuͤrden, verfprachen, gleichwohl manches Wichtige bekannt 
geworden, und was zur Zeit noch verſchleiert liegt, wird ſicherlich, als 
eine der Zeitgeſchichte durchaus nicht vorzuenthaltende Thatſache, es in 
Baͤlde werden. Die Protokolle ſind ja nicht ausſchließend in den 
Haͤnden der Congreß⸗Mitglieder geblieben; und wie waͤre es moͤglich, 
alle Abſchriften, welche davon auch nur an die vielen betheiligten 
Höfe ergingen, vor jedem Blicke profaner Augen zu bewahren? 
Uebrigeng tft ja die Hauptſache, nämlich der Inhalt. dee Befhlüffe, 
früh genug ber Welt bekannt geworden, und find dieſe Beſchluͤſſe 
des Beifalld werth, fo kann ja das genauere Wiffen auch ber Art 
und Weife, mie fie entftandeh, für keinen Zheilnehmenden bedenk⸗ 
ih, oder muß jedenfalls minder bedenklich, als die eben des Geheims 
niffes wegen nur um fo kuͤhneren Vermuthungen fein. 

Bekannt .alfo find allernächft die Namen der Männer, welche 
in Karlebald zu Mathe fagen über dag künftige Schidfal der Nation. 
Es find die Minifter: Fuͤrſt Metternich für Defterreich, Straf 
Bernftorf (und neben ihm Sreiherr von Kruſemark) für Preus 
Ben, Graf Rechberg (und neben ihm Sreiherr von Stainlein) 
für Baiern, Graf Schulenburg (und fpäter auh Graf Eins 
ſiedel) für Sahfen, Graf Münfter (und neben ihm Graf Ha ts 
benberg) für Hannover, Graf Winzingerode für Würtems 
berg, fodann die Freiherren von Pleffen für Medienburg, von 
Berftert für Baden und von Marfhall für Naffau In 
einer Conferenz erfchien auch der Freiherr von Fritſch, Staatsmis 
niſter des Großherzogs von Weimar, und in einigen andern ber 


Gongreß. 695 


kurheſſiſche Gefandte Freiherr von Muͤnchhauſen (biefer jedoch 
ohne Inſtruction). Als Protokoll: Führer fungirte Anfangs der K. K. 
Öfterreichifche Hofrath von Genz, fpäter ber Freiherr von Pleſſen; 
jener dagegen leiftete bis zu Enbe feine beften Dienfte durch Ausarbeis 
tung wichtiger, zumal an den Bundestag zu dringender Entwürfe ober 
Erklärungen, und auch eigener, der politifchen Tendenz der Verſammlung 
entfprechender, ratfonnirenber Auffäge. Neun ber höheren Ariſtokratie 
angehörige Minifter, (mit einigen Nebenperfonen derfelben Kategorie) 
als Repräfentanten von neun. — ober mit Aurechnung des Weis 
mar’fchen von zehn — Höfen (aus den einundvierzig Staas 
ten, welche Damals der deutiche Bund zählte) entiwarfen — auf bie 
Einladung von Defterreih und Preußen — binnen drei Wochen 
und einigen Tagen die dem Bundestag lediglich zur Annahme vorzu⸗ 
legenden, den politifchen Zuftand Deutfchlands weſentlich verändernden, 
das innerſte Leben der Nation berührenden Gefege, und verftändigten 
ſich zugleich Über die Hauptgrundfäge, welche den meiter angeordneten 
Minifter- Conferenzen zu Wien als Bafis oder Richtpunkt der alldort 
über die kuͤnftige Werfaffung des deutfchen Bundes zu verabredenden 
definitiven Beſchluͤſſe dienen follten. Ä 

As Beweggrund zur MWeranftaltung der Sonferenz erklärte gleich 


- in der erſten Sisung der Fürft Metternich ſeinen Wunſch: „fi 


ed 


mit den anmwefenden Miniftern und Gefandten der beutfchen Bundess 


. flaaten ungefäumt über die Beforgniffe und Gefahren vertraulich zu 


berathen, in welche fowohl der ganze Bund, als auch die einzelnen 
Bundesflaaten durch die revolutionairen Umtriebe und bemas 
gogifhen Verbindungen, melde man in der legten Zeit ent» 
deckt habe, verfegt würden. Zur Sicherftellung gegen biefe Gefahren 
feien die ernfteften Maßregeln dringendft nöthig, und S. M. der Kais 
fer hielten, nicht nur in Ihrer Eigenfchaft‘ als Bundesglied, Tondern 
auch im Intereffe Ihrer eigenen Staaten, für Ihre Pflicht, die deuts 
ſchen Höfe zu Ergreifung folder durch gemeinfames Einverftändnig 
feftzufegender Mafregeln einzuladen.” Ganz mit diefer erſten Exöffs 
nung unb der berfelben beigefügten „Punctation” für bie der Con⸗ 
ferenz vorzufegenden Berathungsgegenftände übereinflimmend war auch 
die fpäter (20. Sept.) in Frankfurt dem Bundestag gemachte 
Dräfidiai: Propofition, deren Inhalt die Nation in den öffent 
lihen Blättern gelefen hat. Hier wie dort wurde die Thatfache ber 
in Deutfchland gährenden Unruhe und Aufregung ale Gegenftand ber 
dringendſt nöthigen Kürforge bezeichnet, bier wie dort als Urſachen 
folher gefährlihen Stimmung angegeben: zuvoͤrderſt die über dem 
Sinn des Art. 13 der Bundesacte berrfchende Ungewißheit und 
die dadurch veranlagten falfchen Auslegungen bes befagten Artikels, fos 
dann der Mangel einer genauen Beftimmung über die Rechte und 
Dflihten des Bundestags, fowie der zu deren Aushbung noth« 
wendigen Mittel; weiter die Gebrechen det Öffentlichen‘ Erzies 
hung auf ben Schulen und Univerfitäten und endlid der Miß⸗ 


x 


696 Congreß. 


brauch der Preſſe, namentlich bie Ausſchweifungen, welche bie 
Journale, die periodiſchen Schriften und die Flugſchriften ſich erlaubten. 

Meder in Karlsbad, noch in Frankfurt ließ auch nur eine 
Stimme fid vernehmen, welche, außer den angebeuteten Urfachen bes 
Vebels, noch eine andere und allgemeinere bezeichnet hätte. Denn 
wohl anerkennt die Präfidial-Propofition am Bunpdestag, daß bie Quel⸗ 
len deſſelben „zum Theil in Zeitumfländen und Verhaͤltniſſen, auf 
welche keine Regierung unmittelbar und augenblidlih zu wirken vers 
mag”, liegen; aber mas kann wohl unter diefen fo kuͤnſtlich gewähls 
ten, ganz unbeflimmten Ausbrüden verftanden fein? — Etwa bie 
unausbleiblihen Nach wehen ber langen Kriegsnoth, Unterdbrädung 
und des fchweren Befreiungstampfes ? oder die Schroterigkeit der Be⸗ 
friedigung aller ſich durchkreuzenden Intereſſen und Wünfche einer nach 
langer Zerrüttung wieder neu zu geftaltenden Welt? — Wahrlidh ! 
wenn auch nur biefes die Völker drücke, fo wäre unter foldhen Ums 
fländen Rechnung zu tragen und der Stab der Verwerfung nicht fos 
fort zu brechen gemefen über jede Aeußerung des Mißbehagens. Es 
war aber nicht dieſes die Urfache der Gährung ; denn in die Noth⸗ 
wendigkeit fügt man fi; und fo lange noch die Ausficht auf Vers 
befferung des Zuftandes bleibt, erträgt man Entbehrungen und Leiden 
gern. Die wahre Urfache der unruhigen und duͤſtern Stimmung der 
Dentenden im Volke — mie alle Unbefangenen anertennen müffen 
und die edelften Schriftftellee (namentlich auch Zſchokke „vom Geift 
bes deutfchen Volkes im Anfang des 19. Jahrhunderts”) laut ausſpra⸗ 
hen — mar die Nichtbefriedigung der gerehten Forderun⸗ 
gen der Nation und die Nichterfüllung ber ihr feierlichft gethanen 
Verheißungen. Leider überfab man diefes in Karlsbad, und auch 
die Präfibial = Propofition ſchweigt davon. Man hielt fih an bie 
Symptome des Uebels und verkannte deffen wahren Grund; man 
fuchte den Rauch zu erfliden und beruhigte fi) Über den innern 
. Brand. Wahrlih! wenn felbft der Fürft von Metternich, in 
feinem über den Mißbrauch der Preffe vorgelegten Memoire, ausbrüds 
lich beklagte: „man koͤnne ohne Webertreibung behaupten, daß es heute 
niht eine einzige ald Privatunternehmung erfcheinende Zeitfchrift 
in Deutichland gibt, welche die Wohlgefinnten (d. h. foviel als die den 
in Karlsbad aufgeftellten Principien Huldigenden) als ihr Organ betrach⸗ 
ten Eönnten, ein Fall, der felbft in dem Zeitpunkt der biutigften Anar—⸗ 
hie in Frankreich ohne VBeifpiel ift”, fo deutet diefes doch eindringlichft 
auf eine fo allgemein verbreitete und fo tief gemurzelte öffentliche Mei⸗ 
nung in der Nation hin, daß ihre Beahtung räthlidher als ihre ges 
waltfame Unterdrüudung erfcheinen mußte, und daß zu Erklaͤrung 
ihres Urfprungs die in der Präfidial: Propofition aufgeftellten Gründe 
durchaus nicht binreihen. Nie wird eine bloße Partei oder eine 
Anzahl Verſchworener die Meinung einer ganzen Nation in bem 
Stade beherrfchen, und nie koͤnnen die etwa zeitlich eingeriffenen Gebrechen 
bes Erziehungswefens oder ein im gegenwärtigen Zeitpunkt auf 


Gongreß. 697 


den Schulen ſich hervorthuendee unruhiger (vlelmehe nur freiſinni⸗ 
ger) Geift die Meinungen. der der Schule laͤngſt entwachſenen Mäns 
ner beſtimmen. Und auch was die Preffe betrifft, ſo kann doch 
wohl die Einmuͤthigkeit aller freien, nicht im Solde ber Autorität 
ftehenden, ‚öffentlichen Blätter und politifchen Zeitfchriften in Geift und 
Richtung von nichts Anderem herkommen, als von ber gleich einmü- 
thigen ober doch entſchieden vorherrfhenden Gefinnung des les 
fenden, alfo des denkenden, Theiles ber Nation; und dieſe Gefins 
nung wird ſicherlich ducch die Erdrüdung ber Journale, welche fie aus⸗ 
ſprachen, nicht mit erdrucdkt werden. Selbſt die gerichtlihe Verfolgung 
und härtefte Beſtrafung aller Derjenigen, welche etwa, hingeriffen von 
brennender Baterlandss und Freiheits-Liebe, ſich In geheime Verbin: 
dungen eingelaffen ober gegen beftehende polizeiliche Verordnungen ges 
handelt oder andere wirklich tadelnswerthe Schritte follten gethan has 
ben (von eigentlih verbrecherifhen Handlungen reden wir nicht; 
die ſtrengſte Beſtrafung berfelben — wofern fie irgendwo vorfommen — 
nad) Maßgabe der gefeglihen Beftimmungen foll allerdings ftattfins 
den, und fand auch jeweils ftatt), ift ein ungeeignetes Mittel zur Stils ' 
lung des Unmuths, vielmehr, nach pſychologiſchem Geſetz, blos neue 
Aufreizung d weitere Verbreitung dee Im Innern zuruͤckgehaltenen 
Gaͤhrung bewitkend, zumal alsdann, wenn ihre Anordnung verbunden 
iſt mit inquiſitoriſchen Maßregeln, mit willkuͤrlicher oder doch der Will⸗ 
kuͤr weiten Spielraum darbietender Verhaftnahme und Gefangenhaltung, 
mit Conſtituirung außerordentlicher Tribunale, und mit beaͤngſti⸗ 
gender Aufſtellung neuer, durch die Unbeſtimmtheit oder Vieldeutigkeit 
des Ausdrucks leicht auch auf voͤllig ſchuldloſe Handlungen anzu⸗ 
wendenden Kategorien von Uebertretungen oder Vergehen, dergleichen 
jene der „Umtriebe“ und der „Demagogie“ (,„revolutionaire Um⸗ 
triebe und demagogiſche Verbindungen”) offenbar find. 0 

Der Congreß von Karlsbad, wie ber Freiherr von Gagern 
in feinem vortrefflichen Sendſchreiben an feinen Freund, den Freiherrn 
von Pleffen, welcher von medienburgifher Seite bemfelben als 
fehr thätiged Mitglied anwohnte, freimüthig beklagt (man fehe diefes 
Sendfchreiben in „Mein Antheil an der Politit“ IV. Stuttgart und 
Tübingen 1833), fah von allen ſolchen Betrachtungen ab. Seine Ver⸗ 
handlungen und in deren folge dem Bundestag zur Annahme vorge: 
legten Beſchluͤſſe tragen das Gepraͤge nicht einer verföhnenden, bes 
ruhigenden, fondern einer zuürnenben und von einem ganz ein> 
feitigen Standpunkt ausgehenden Politif. „Ihnen — alfo lau: 
ten die inhaltfchweren Worte des würdigen, ſachkundigen und ficherlich 
der Demagogie durchaus nicht verbächtigen Freiherrn von Gagern 
(gefeierten Schriftftellers, Staatemannes, Bundestagsgeſandten und 
deutfchen Patrioten) — „Ihnen“ (nämlid Herren von Pleffen) kuͤndige 
id) über Zhre Karlsbader Ausrihtungen nah) Allem, was Sie mir 
darüber erläiuternd gefagt haben, dennoch Fehde an”...... „Es 
ift zwar Entwidlung des Bundesſyſtems vorherrfhender Wunſch in 


698 Congreß. 


ganz Deutſchland; nichts deſto weniger bedarf auch dieſes unſer Staats⸗ 
foftem noch jener Huͤlfsmittel, wodurch man ſich Eingang, Zuſtimmung 
und Dauer verſpricht, und ertraͤgt nicht jene herbe Begleitung: 
von Prohibitionen, Ponals Mandaten, Beforgniffen und 
Befhuldigungen, und dies in einer Allgemeinheit, die kaum 
noch gefunde Theile vermuthen läßt.” — — „Das Anertenntnig und 
die verftändige Verfehmelzung der drei Elemente find die hoͤchſten Auf 
gaben der Politik. Sie aber affectiren dort gleihfam nur das Eine, 
die Fuͤrſtlichkeit zu fehen, die Spige der Pyramide ohne das Funs 
dament, bereiten ihre alfo um fo mehr Feinde und gebrauchen endlich 
die abgenugte Lift, phantaftifcdye und republilanifche Grillen oder rein 
demokratiſche Grundſaͤtze mit den Anfprühen auf geregelte Mo⸗ 
nardhie, Demagogie mit Demokratie ober mit demokratiſcher 
Angredienz beftändig zu verwechfeln, und dazu haben Sie nicht mehr 
Recht ale die, welche Kürftlichleit oder Monarchie mit Tyrannei und 
Despotism in eine Vaſe werfen, um fie hernady für eine Buͤchſe der 
Dandora zufammen auszugeben” u. f. m. 

Eine flüchtige Vergegenwärtigung dee Karlsbader Beſchluͤſſe, fowie 
fie aus der Praifidial= Propofition am Bundestage hervorgehen, reicht 
bin zum Verflindniß und zur Würdigung des Gagern'ſchen Sendfchreis 
bens. Ihr Inhalt ſteht in jedes Waterlandsfreundes lebendiger Erin⸗ 
nerung, und die Grundfäge, worauf dee Inhalt der „provifori« 
ſchen“ Beſchluͤſſe gebaut ift, hat der einleitende Vortrag zu bens 
ſelben im Allgemeinen und Befondern angezeigt. 

Der erfte Befchluß, unter dem Titel: prosiforifhe Erecutiongs 
ordnung in Bezug auf den zweiten Artikel der deutfchen Bundes 
acte, „ertheilt der Bundesverfammlung die Befugnig und Anmeifung, 
allen ihren Befhlüffen, die fie zur Erhaltung der innern Sicherheit, 
der öffentlichen Ordnung und zum Schus des Befisftandes zu faflen 
fi für hinlänglich veranlaßt und berechtigt hält, die ges 
hörige Folgeleiftung und Vollziehung auf eine — umſtaͤndlich vorges 
ſchriebene — Weife und nöthigenfalld duch militairifhe Erecus 
tion zu fihern. Auch wenn „Rocal: Verordnungen” einzelner 
Bundesftaaten, (bierunter find wohl auch derfelben befondere Verfaſ⸗ 
ſungs⸗Geſetze begriffen) einem Bundesbefchluffe entgegen zu ſtehen 
fcheinen, ſoll deſſenungeachtet jene Vollziehung flattfinden. Der zweite 
Beſchluß, überfchrieben : „proviforifcher Beſchluß über die in Anfehung 
ber Univerfitäten zu ergreifenden Maßregeln“, befiehlt die Anftels 
lung eines auferordentlichen landesherelihen Commiſſairs an jeder 
Univerfität, melcher ganz befonders den Geift der von den alademifchen 
Lehrern aehaltenen Wortrige zu bewachen, und im Fall einer erfcheis 
nenden Pflichtübertretung, namentlich durch Verbreitung verderblicher 
Lehren, die Entfernung bes Lehrers von feinem Amte zu beantragen 
habe. Ein auf folken Antrag oder, auch ohne Antrag body nach vors 
ber eingeholtem Bericht, durch Regierungsbefehl feines Amtes entfegter 
Lehrer foll in keinem andern Bundesftaate bei irgend einem Sifentlichen 


Gongreß. 699 


Lehrinſtitut anftelungsfähig fen. Alle nicht autorifirten Verbindungen 
unter den Studirenden — vor allen die allgemeine Burfchenfchaft — 
folen ftrengft bintangebalten und gegen die Uebertreter neben der 
gefeglihen Strafe auch noch die bleibende Unfähigkeitserfiärung zu 
irgend einem Öffentlichen Amt verhängt, auch der von einer Univerfis 
tät Relegirte auf feiner andern zugelaffen werden. Der dritte Bes 
ſchluß, „das Preßgefeg”, verordnet (einftweilen für 5 Jahre, iſt 
aber noch heute in Wirkſamkeit) für Schriften, die in der Form 
täglicher Blätter oder beftweife erfcheinen, besgleihen für ſolche, die 
nicht über zwanzig Bogen im Drud ſtark find, daß fie in keinem deut⸗ 
fhen Bunbesftaat ohne Vorwiſſen und vorgängige Genehm⸗ 
baltung (Genfur?) der Landesbehörden zum Drud befördert 
werden dürfen, erklärt jeden Bundesſtaat für die unter feiner Ober⸗ 
auffiht erfcheinenden, die Würde oder Sicherheit anderer Bunbesflans 
ten verlegenden oder die DVerfafjung oder Verwaltung berfelben angrei- 
fenden Drudichriften nicht nur dem unmittelbar Beleidigten, fondern 
auch der Gefammtheit des Bundes verantwortlich, ertheilt der Bundes⸗ 
verfammlung das. Recht, jede Drudfchrift, gegen welche von einem 
Bunbesftaat gegründete Klage erhoben wird, und aud) ohne ſolche 
Klage eine jede zu ihrer Kenntniß kommende, in was immer für einem 
beutfhen Staat erfcheinende, (fpäter wurden auh im Ausland 
erfchienene geächtet), „der Würde des Bundes, der Sicherheit einzelner 
Bundesftaaten oder der Erhaltung bes Friedens und der Ruhe Deutſch⸗ 
lands zumiderlaufende” Schrift durch einen inappellablen Ausſpruch zu 
unterdrüden, in welchem Fall der gewefene Redacteur fünf Jahre lung 
in feinem Bundesſtaat bei der Redaction einer ähnlihen Schrift darf „ 
zugelafien werden. Der vierte Beſchluß endlich: „Beſtellung einer 
Centralbehoͤrde zur nähern Unterfuhung ber in mehreren Buns 
desſtaaten entdedten vevolutionairen Umtriebe”, ordnet eine in 
Mainz zu verfammelnde, vom Bund ausgehende, außerordentliche 
Gentral= Unterfuhungscommiffion von 7 Mitgliedern an „zur gemeins 
fhaftlihen, möglichft gründlichen und umfafjenden Unterfuhung und 
Seftflellung des Zhatbeftandes, des Urfprungs und der mannichfachen 
Verzmeigungen ber gegen die beftehende Verfaffung und innere 
Ruhe, fomwohl des ganzen Bundes als einzelner Bundesftaaten, gerichs 
teten revolutionairen Umtriebe und demagogiſchen Vers 
bindungen, von melden nähere oder entferntere Indicien bereits 
vorliegen oder fi in dem Laufe der Unterfuchung ergeben möchten”. — 
Die Strenge und aud die Einmüthigkeit dieſer Befchlüffe erklärt 
fih de Pradt fhon aus der Zufammenfegung des Karlsbader Cons 
greſſes. „Dites moi — alfo lauten feine Worte — de quels ele- 
mens est compose un corps quelconque, et, sans effort de ge- 
nie, je vous dirai ce quil va faire“. — Dann fährt er fort: 
„En Allemagne les princes superieurement nobles, les miuistres 
nobles et tres nobles, les ınediatises einineımment nobles, tous 
jes chefs du gouvermement nobles aussi et faisaut vorps avec les 


700 | Congreß. 

nobles, toute cette chatue d’interesses à Téloignement de l’ordre 
nouveau qui les enveloppe et qui les presse, interesses par la 
meme au maintien ou au rappel des anciennes institutions qui 
avaient été faites par eux et pour eux, tous dans ce pays, sont 
en possession de decider seuls de tout, ils le font pour eux me- 
mes, et cela inevitablement‘“‘. (Congres de Carlsbad, preface 
p. VI) Wir finden eine meitere Erklärung davon. in: der Stellung 
zweier Großmaͤchte gegenüber bem deutſchen Bund, welchem fie 
als Mitglieder angehören. Die von diefen Mächten in Karlsbad aufge⸗ 
fteilten und von der Bundesverſammlung aboptirten allgemeinen Grund⸗ 
füge befagen naͤmlich im Wefentlihen Folgendes: „Der beutfche Bunb 
befteht als eine für die Erhaltung bes Gleichgewichts und der allgemeis 
nen Ruhe mwefentlihe und wahrhaft europdifche Inftitution, und ee 
genießt die allgemeine Garantie, welche die Eyiftenz jedes euros: 
päifchen Staates in Folge der Wiener Congreßacte ſichert. Sobald 
aber der deutfhe Bund als eine europäifche politifhe Inſti⸗ 
tution beftehen muß, dürfen in feinem Innern keine Grunbs 
füge in Anwendung gebracht werden, melde mit fenem Grundbes 
griff und feiner Eriftenz unvereinbar mären. (Ron ber Ans 
wendung dieſes Satzes auf die Auslegung bed Artikel 13 der Bundes; 
acte reden wir unten.) Die Bundesverfammlung, als Repräs 
fentation bes Bundes, tft die oberſte politifhe Behörde In 
Deutfhland. Alle legalen Beſchluͤſſe derſelben muͤſſen als Geſetze 
des Bundes unverbrüuͤchlich ausgeführt und gehandhabt werden. Nun 
macht aber der Augenblid, in welchem das fuftematifche Treiben einer 
revolutionairen Partei die Fortdauer und bie Eriftenz aller Regierungen 
bedroht, ihnen zur Pflicht, fih auf’ Engfte zu vereinigen, 
und daher durch gemeinfchaftlich zu befchließende firenge Maßregeln dem 
Unheil Einhalt zu thun“ u. f. mw. 

Allerdings, wenn ber deutfhe Bund als europdifche Inſtitu⸗ 
tion nicht nur in Bezug auf feine Stellung nad außen, fondern auch 
in Bezug auf feine innere Berfaffung und beren felbfteigene Ent⸗ 
widelung ber allgemeinen europdifhen Garantie unterfteht; fo 
baben die europdifhen Großmaͤchte, melde bemfelben angehören, ein 
zwiefaches Recht, mie ein zwiefaches Intereſſe, der forgfältigen Wahr⸗ 
nehmung Alles deifen, was in feinem Innern vorgeht, und audy ber 
Forderung, daß, mas ihnen als wefentiih an der Bundesverfafs 
fung erfcheint, unverändert in Herrſchaft erhaften werde; unb ber 
beftimmten Forderung folher Großmaͤchte ift nicht rathfam zu wis 
berftehen. Aber alsdann iſt der deutfche Bund nicht frei und felbft- 
ftändig mehr ; er genießt des Rechtes einer von feinem eigenen Belieben 
abhängigen Verbefferung oder Fortbildung feiner Verfaſſung nicht, wel: 
es Recht doch die großen Mächte Rußland, Defterreihh und Preu⸗ 
Ben ſicherlich für ſich feibft anfprechen, und welches Srankreih und Eng⸗ 
land, ungeachtet des Wiener Congrefjeß, bereits ausgeübt haben und 
fortrmährend ausüben. Alsdann ift die europäifhe Garantie, bie ihrem 


Gongreß. 701 


reinen ‚Begriffe nah blos eine Schunmehr gegen ungeredte 
Gematt fein fellte, zur Feſſel geworben .für die deutſchen Voͤlker 
einzeln und in Gefammtheit, und ed wird, dem Princip nad, nicht 
nur Defterreih und Preußen, fondern auch Rußland fein Veto ein- 
legen dürfen gegen zeitgemäßen Fortſchritt unferer Nation. 

Mas fodann den zweiten Grundfag betrifft, daß nämlich alle 
md alle Beſchluͤſſe, „reihe die Bundesverfammlung (zu Erhaltung 
der inneren Sicherheit, der Öffentlichen Ordnung und bes Beſitzſtandes) 
zu faffen, fih für binlänglih veranlaßt und beredhtiget 
hält“, als Bundes⸗Geſetze verbindlih und daher unverbruͤchlich 
zu beobadıten und zu vollfireden find, fo wird dadurch jener hohen 
Verfammlung eine Fülle ber Macht eingeräumt, für die ed — in 
Bezug auf die Völker — keine mögliche Beſchraͤnkung mehr gibt. 
Alsdann nämlich find die conftitutionellen Schranken, welche der Fürs 
fiengewalt in ben einzelnen Staaten mäßigend entgegenftehen, nicht 
länger wirkſam, ja nicht länger vorhanden, als die Gefammts 
heit der Sürften fie nicht aufzuheben beliebt, d. h. fih dazu nicht 
„für veranlaßt hält“; und für die alddann, nach aͤußerem Recht 
gültig, den Völkern aufzulegenden Laften, Opfer und Freiheitsbefchräns 
tungen ift der Wille der Regierungen das alleinige Maß und 
Geſetz. Alsdann ift bie conflitutionelle Stellung eines Staates mit 
Zandftänden gegenüber dem Bunbestag zu vergleichen — nicht etwa 
jener eines Staates mit Provinzial» Ständen gegenüber ber allges 
meinen Staates Regierung (denn auch Provinziale Stände ſtehen 
mit diefer in unmittelbarer Wechſelwirkung und mögen wenigftens vore 
ftellend oder bittend, mitunter auch wirklich verweigernd, einen befchräns 
genden Einfluß auf biefelbe ausüben) — fondern jener eines Vol⸗ 
tes, welches 3. B. zwar gegenüber den Bezirts« ober Provinzs 
Verwaltungen controlivende ober mit dem Rechte der Vorſtellung 
und Bitte verfehene Ausſchuͤſſe zu ernennen hätte, gegenüber der alls 
gemeinen Staats⸗Regierung, d. h. dem Fürften, aber niht. 

Auch die Belchlüffe über die Preffe und über bie Univerſi⸗ 
täten ruhen auf verhängnißreihen Grundfägen,:deren Discuffion, 
als der Doctrin angehörig, Jedem frei ſtehen muß, von uns jedody 
dem eigenen Nachdenken ber Lefer gern überlaffen wird, unter Vorbe⸗ 
halt einiger, in den, der Preßfreiheit und den Univerfitäten zu wid⸗ 
menden, befondern Artikeln aufzuftellender Betrachtungen. Hier alfo 
blos die woͤrtliche Anführung dee Grundfäge, melde theils öffents 
lic in ber Präjidials Propofition, theils — fiherem VBernehmen nah — 
in den Karlöbader Gonferenzen darüber geltend gemacht worden find. 
Der deutfche Bund, alfo lautet ihr gebrängter Inhalt, befteht aus ſou⸗ 
verainen Staaten, die fih zu wehfelfeitigem Schug und Hülfe 
verbündet haben. Die innere Ruhe bed Bundes aber kann theils durch 
materielle Eingriffe, theild duch moralifche Einwirkungen (von 
Seite einzelner Regierungen oder von jener einer Partei) geftört 
werden, Unter folhen Einwirtungen nam iſt feine gefährlicher, als 


702 | -Gongreß. 


jene bee Preffe, und nicht ſchon durch Repreſſiv-, fonbern nur durch 
Praͤventiv⸗Maßregeln, namentlich durch Cenfur, und zwar nur 
durch eine von allen Regierungen nach gleichförmigen Grundſaͤtzen 
ſtreng gehandhabte Cenſur, kann ihrem gefahrdrohenden Mißbrauch 
geſteuert und hiedurch eine wechſelſeitige Garantie der mora⸗ 
liſchen und politiſchen Unverletzlichkeit ſaͤmmtlicher Mitglie⸗ 
der des Bundes hergeſtellt werden. Unter den im Art. 18 ber Bun 
desacte verheißenen „gleihföürmigen Verfügungen über die 
Preßfreiheit“ find alfo nur folche Zu verftehen, wodurd jedem Bun⸗ 
desftante moͤglichſt gleiher Schug gegen die aus dem Miße 
brauch der Preffe in irgend einem andern Bundesftaate ihn bedrohen. 
den Verlegungen feiner Rechte, feiner Wuͤrde ober feines Innern Frie⸗ 
dens gefichert wird; und Fein Bunbesftaat darf fi weigern, einem 
dahin gehenden Beſchluſſe — als bei: welchem nicht blos Gewinn und 
Vertuft, fonden Leben und Tod auf dem Spiele fieht — feine 
Zufttmmung zu geben. Die den Genfurs Behörden hiernach zu ertheis 
lende gleihförmige Snftruction, ſowie die vom Bunbestag 
in hoͤchſter Inftanz auszuübende Auffiht über Druckſchriften 
„ſoll aber nicht auf Beiftesturannei berechnet fein. Ste iſt eine erhals 
tende und ſchuͤtzende Maßregel, die den Charakter der Gerechtigkeit, 
bee Unparteilichleit, der Maͤßigung forgfältig bewahren muf“. 

Wenn e8 wahr ift, was man behauptet, daß dieſe Doctrin über 
die deutfche Preffe der Seder des H. Ritters von Gens entfloß, fo 
erinnert man ſich nothwendig an das vortreffliche Sendfchreiben, wel⸗ 
ches derſelbe Mann 22 Jahre früher an den König von Preußen über 
die Heiligkeft und Koftbarkeit der Freien Prefje und über die gegen 
ihre Beſchraͤnkung ſtreitenden Rechts- und politiſchen Gründe -erlief, 
und beflagt dann die traurige Veränderung der Merifchen wie der Zeis 
ten. Uebrigens verlangt”. v. Gentz (mie zur Beſchwichtigung feines 
Gewiſſens, oder auch zur Einfhläferung der: Freiheitsfreunde) doch 
eine „liberale“ Genfur, und — der Schwierigkeit, mas irgend für 
eine Cenſur zu rechtfertigen, ſich wohl bewußt — ftellt er ald Haupt⸗ 
regel für alle Verhandlungen über diefen Gegenftand auf, dag man 
ſich nie" auf irgend eine Discuffion abfiracter, theoretifcher 
Grundfäse einlaffe, fondern blos den eigenthümlichen Charakter 
bes beutfher Bundes und ber wechſelſeitigen Verhälts 
niffe feiner Mitglieder unverrüdt zum Augenmerk nehme. 
„Auf diefem Zerrain allein läßt fi eine Stellung finden, melche bie 
gahllofen Gegner, auf deren MWiderftand man vorbereitet fein muß, fo 
leicht nicht übermältigen werden. Verlaͤßt man dieſes Zerrain und bes 
gibt fih auf das Feld bes allgemeinen, philofophifhen und 
politifhen Ratfonnements, fo ift, wie die Sachen heute ftehen, 
ein günftiger Ausgang nicht mehr denkbar.” — 

Ueber die Univerfitäten hat die PräfidialsPropofition 
bie Anfichten ber Karlsbader Minifter ausgefprochen, es möge daher 
bie Verweiſung auf B. VIIL ber Bundestags » Protokolle genügen. 


Kongreß. 703 


Aber eine hierauf ſich bezlehende Stelle des oben erwähnten v. Gas 
gern"fchen Sendfchreibene wird uns hier anzuführen erlaubt fein: 
„Ste fprahen in Karlsbad bequem von ber beftehenden Ord⸗ 
nung der Dinge, gegen welche jene Univerfitätös Lehrer Exrbitterung 
einflößen follen; und ich fuche vergeblich den Beftand. Unter welchem 
Regimen leben wir denn in Europa und Deufchland ? Sprechen wir hier 
ganz. offen. Ich fehe drei große Beſtandtheile: 1) die Heilige Als 
Lian, eine abftracte, ſittliche Vorſchrift, deren verftändigen, billigen Com⸗ 
mientar noch Niemand geliefert hat; 2) ein Syſtem der großen Maͤch⸗ 
te, welches zu. entfalten, zu beflimmen, zu befinicen, diefe großen Maͤch⸗ 
te felbft große Scheu tragen; 3) eine Bundesacte, die wir zu entwideln 
and zu Wien erft vomahmen und die Sie eben jegt abermal zu ents 
wideln ſich vornehmen;. einen XIII. Artikel, von dem Sie bald behaups 
ten, daß er Mar fei, unb bald, daß er nicht Har fi. Dazu Sous 
verainetät, die fo Höchft ſchwer zu definiren ift.... Daher können die 
heutigen Lehrer nicht ‚einmal wiffen, was fie lehren follen.... Uebri⸗ 
gend waren die alten. Lehrbücher und Commentare voll offener 
Discuffion, voll grünblicher Beſtimmung ded Standpunkt des 
Kür und Wider, des Strebens dee verfchiedenen Parteien, der Caͤ⸗ 
farianer und Fürftenianer, dann ber Iandfkindifchen Gerechtſame. Sch 
möchte Sie bort ſaͤmmtlich beſchwoͤren, bei Allem, was Ih⸗ 
nen heilig ift, Ihrer großen Verantwortlichkeit und: vielleicht des Flu⸗ 
des und der Verwuͤnſchungen wegen: hintergehen Sie Ihre Herren 
nihti bringen Sie Ihnen nicht den Wahn bei, als ob alles das, was 
jegt vorgeht, Neuerung und Neuerungsfuht, und von ihrer 
Seite nur Langmuth und Gnade fe. Sagen Sie ihnen, daf in 
jenen ſtaatsrechtlichen Lehrbuͤchern alte Dinge ‚gründlich erörtert waren. 
Sagen Sie ihnen, daß jene Mofer, Struben und Pütter das 
landftändifche. Mecht,; die Bewilligung der Steuern in ihrem größten 
Umfang und mit dem größten Nahbrud nachgemwiefen, gewiſſenhaft 
vertheidigt und “gelehrt haben. Sagen. Sie ihnen, daß die Beurs 
theilung der deutfhen Staatenfpem von jeber ganz frei 
war u.f.w. : | Ä 

Auch in Anfehung der in Mainz zu errichtenden Central⸗ 
Unterfuhungscommiffion gegen revolutionnire Umtriebe 
und demagogiſche Verbindungen (der urfprünglihe Entwurf lautete 
gegen „Hohverrätherifhe” Unternehmungen, was aber wegen 
zeitlich noch mangelnden Thatbeſtandes abgeändert ward) enthält ber 
Präfidialvortrag die Gründe, welche den Karlsbader Congreß zu biefem 
Vorfchlag beftimmten. Eine der großen Maͤchte hatte verlangt, daß 
die Gommiffion zugleich zum außerordentlihen Bundes s Gericht er 
Elärt werde, zumal darum, weil fonft leicht gefchehen möchte, daß bie 
in ben Ländern am linken Rheinufer beftehenden Geſchwornen⸗ 
Gerichte in Aburtheilung ber: wegen revolutionaiter Umtriebe Angeflags 
ten anders entfchieden, als bie Gerichte des rechten Ufers. Das an⸗ 
geregte Bedenken gegen bie Zuſtaͤndigkeit eines folden außerordent⸗ 


704 Congreß. 


lichen Gerichts, zumal nach den Beſtimmungen mehrerer Conſtitutions 
urkunden, bewog aber die Conferenz, einſtweilen blos auf die Un» 
terſuchungs-Commiſſion anzuttagen, unter dem Worbehalt für ben 
Bundestag, fpäter, je nach dem Inhalt des von der Commiſſion über 
das Ergebniß der Unterfuchung zu erflattenden Berichts, über die Frage 
wegen bes Gerichtshofs den geeigneten Beſchluß zu fallen. Es iſt be 
kannt, daß bie fo feierlich amgefündete und unter Erwartung großer 
Refultate glei im Spätjahe 1819 in Xhätigkeit geſetzte Gommiffion 
eine Meihe von Jahren hindurch ihre geheimen Arbeiten fortfegte, ohne 
irgend etwas Erhebliches von Ergebniffen ihres Wirkens zur äffentfis 
chen Kunde zu bringen (mas gleichwohl verheißen war), und daß fie 
endlich im J. 1828 -allmälig und ſtill ſich auflöfte. Ob fie hiernach 
nothwendig, nd fie ein auf den Zweck wohlberechnetes Mittel gervefen, 
geht ſchon aus den früher gegebenen Andeutungen hervor. Koftfpielig 
war fie jedenfalls, denn, wie man behauptet, hat fie die Bundescaſſe 
gegen 100,000 fl. und bie fieben Regierungen, von weldyen jede ein 
Mitglied zu ernennen und zu unterhalten hatte, gegen eine halbe Mil⸗ 
lion Gulden gekoftet. | , 
Alle diefe VBefchlüffe wurden, um geringere Aufregung -ober Be⸗ 
forgniß zu veranlaffen, nur als proviforifche oder tranfitorifche 
angekündet. Ein Berathungsgegenftand aber, naͤmlich der über. den 
Sinn des XI. Art. der Bundesacte, follte feiner Natur nad) zu einem 
definitiven führen. Derfelbe jedoh kam noch nidht in Karies 
bad, fondern erft bei den darauf gefolgten Minifterials Conferens 
zen in Wien zu Stande, und macht einen Daupttheil ber alldort 
unter Theilnahme von Abgeordneten aller Bundesftaaten — fotglich 
nah mehrfeitiger und ruhigerer Emägung — errichteten 
„Schluß-⸗Acte“ aus. Diefe Schluße Acte, deren Inhalt allen uns 
fern Lefern bekannt ift, athmet, in Bezug auf den fraglihen Gegens 
ftand, einen Geift der Maͤßigung und Vorſicht, welcher, wenn die 
Karlsbader onferenz darüber entfchieden hätte, daran mohl vers 
mit worden wäre. Denn — tie fhon aus der kurzen Andeutung 
in der Prafidial:Propofition zu erfennen ift, aber aus weitern unzwei⸗ 
felhaften Nachrichten und zumal auch aus dem v. Gagern'ſchen Send: 
fhreiben mit voller DBeflimmtheit hervorgeht — die Karlsbader 
Minifter waren im Begriff, eine Auslegung de6 XD. Artikels zu ges 
ben, welche das ganze conftitutionelle Spitem in Deutſchland würde 
umgeftürst haben. Die Grundlage ber darauf fich beziehenden Ver⸗ 
handlungen bildete eine von Herrn v. Gens verfaßte Denkſchrift 
„uber den Unterfhied zwifhen landfländifhen und 
Mepräfentativ: VBerfaffungen”, deren Hauptmhalt in nachſte⸗ 
henden Sägen befteht: | | 
Landftändifhe Verfaſſungen find die, in welchen Mitglieder 
oder Abgeordnete durch ſich ſelbſt beftchender Körperfhaften ein 
Recht der Theilnahme an ber Staatsgeſetzgebung überhaupt oder an 
einzelnen Zweigen berfelben durch Mitberathung, Zuflimmung, Gegen 


Congreß. 703 


vorftellung ober In frgend einer andern verfaffungsmäßig beftimmten 
Form ausüben. Repraͤſentativ-Verfaſſungen hingegen find ſolche, wo 
die zur unmittelbaren Theilnahme an der Geſetzgebung und zur unmit⸗ 
telbaren Theilnahme an den wichtigſten Geſchaͤſten der Staatsverwal⸗ 
tung beſtimmten Perſonen nicht die Gerechtſame und das Intereſſe 
einzelner Stände oder doch dieſe nicht ausſchließend zu vertreten, 
ſondern die Geſammtmaſſe des Volks vorzuſtellen berufen ſind. 
Landſtaͤndiſche Verfaſſungen ruhen auf der natuͤrlichen Grund⸗ 
lage einer wohlgeordneten buͤrgerlichen Geſellſchaft, in welcher ſtaͤndi⸗ 
ſche Verhaͤltniſſe und ſtaͤndiſche Rechte aus der eigenthuͤmlichen Stel⸗ 
lung der Claſſen und Corporationen, auf denen ſie haften, hervorge⸗ 
gangen und im Laufe der Zeiten geſetzlich modificirt, ohne Verkuͤrzung 
der weſentlichen landesherrlichen Rechte beſtehen. Repraͤſentativ⸗ 
Verfaſſungen ſind ſtets in letzter Inſtanz auf den verkehrten Be⸗ 
griff von einer oberſten Souverainetaͤt des Volkes gegründet und fühs 
ren auch diefen Begriff, mie forgfältig er auch verſteckt werden mag, 
nothwendig mit fih. Daher find Tandftändifche Verfaffungen 
ihree Natur nach der Erhaltung aller mahren pofitiven Rechte und 
aller wahren, im Staate moͤglichen Freiheiten günftig.. Repraͤſen⸗ 
tativ = DVerfaffungen dagegen haben die beftändige Zendenz, das Phans 
tom ber fogenannten Volksfreiheit (d. h. der allgemeinen Willfür) 
an die Stelle der bürgerlihen Drdnung und Suborbination und den 
Wahn allgemeinere Gleichheit der Nechte, oder, was um nichts 
beffer ift, allgemeine Gleichheit vor dem Gefege, an die Stelle 
ber unvertilgbaren, von Gott felbft geftifteten Stan⸗ 
bes= und Rechts unterſchlede zu fegen. Landftändifhe Werfafs 
fungen entfpringen aus ben für ſich beffehenden, niht von Mens 
fhenhänden gefhaffenen Srundelementen bed Staates. Mes 
prafentativ= Verfaffungen find die Frucht dußerer Gewalt, wenn 
fie durch vorhergegangene Mevolutionen nothwendig gemacht, oder aber: 
ber Willkür, wenn fie ohne dußern Zwang aus einem falfchen Mo⸗ 
tiv der Staatsklugheit befchloffen worden”. .... „Kleinere Staaten 
zumal gehen mit dem Repräfentativ-Syftem unausbleibli zu Grunde; 
nur in großen Staaten mag die Regierung Eräftig genug fein, ben 
aus jenem Syſtem hervorgehenden Stürmen zu trogen. Wird die Re⸗ 
präfentativ = Sonftitution durch einen mit den Unterthanen gefchloffenen 
förmlihen Vertrag zu Stande gebracht, fo wird dadurch der uns 
finnige Grundſatz ber oberſte Souverninetät des Volkes 
unmittelbar und ausdrüdlich anerkannt, und bie Gonftitution felhft, ba 
mit diefem Grundfag eine vereinbar ift, koͤmmt daher fhon todts 
geboren zur Welt”,..... „Endlich ift die von dem Nepräfentativs 
Spftem unzertrennlihe Volkswahl allemal, und befonders in klei⸗ 
neren oder zerriffenen Staaten, ber naͤchſte Schritt zur Demagogie. 
und durch diefe zu wiederholten Erfchütterungen, unter welchen früh 
oder fpät bie rechtmäßige Macht erliegen muß”. ...... „In ber Theos 
vie des Repräfentativ:Spftems fleht der angebliche Grundfag der Theis 
Staats⸗ texiton. III. 45 


706 Congreß. 


fung der Gewalten oben anz ein Grundſatz, bee Immer und 
uͤberall zur gaͤnzlichen Vernichtung aller Macht, mithin zur reinen 
Anarchie fuͤhren muß, beſonders wenn die Theorie (wie z. B. in 
der badiſchen Verfaſſung) dahin erweitert wird, „daß jede Kammer 
und jedes Mitglied jeder Kammer, ohne alle Ruͤckſicht auf beſondere 
Verhaͤltniſſe oder Gerechtſame, nur als Vertreter der Geſammt⸗ 
heit betrachtet werden ſolle“...... „Die als nothwendig erklaͤrten 
Attribute des Repraͤſentativ- Syſtems (Verantwortlichkeit der Minl⸗ 
ſter, Oeffentlichkeit der Verhandlungen, Preßfreiheit u. ſ. w.) ſind un⸗ 
verträglih mit den erſten Bedingungen einer monarchiſchen Res 
gierung. Schon bie Defjenttihkeit der. Verhandlungen 
ber Volkskammer iſt ein unmittelbarer Schritt zur Herabwürbdigung als 
ler Autorität und zum Untergang aller Öffentlichen Ordnung” u. ſ. w.... 
„Endlich aber liegt die Unvereinbarkeit bes Repräfentativ-Syftems 
in einzelnen Bunbesftaaten mit ben dem beutfhen Bundestage 
beigelegten Rechten und Pflihten am Zage. Die Anhänger diefes Sys 
ſtems ſelbſt flellen hiefür die fchlagendften Beweiſe auf. Ein Fürft, 
ber durch die Verfaffung feines Landes oder durd) die derfelben gegebene 
Auslegung für einen der Beſtandtheile der gefeggebendben 
Macht erklärt wird, und volsvertretenden Behörden von jeder feiner 
Verwaltungs: Maßregeln Rede und Antwort geben muß, fann aller 
dinge ohne Mitwirkung diefer Behörden an den Beſchluͤſſen eines reis 
nen Sürftenrathes nicht Theil nehmen. Was ein einzelner Regent zu 
Haufe nicht vermag, kann auch allen deutfchen Regenten deutfher Staus 
ten, wenn fie in Perfon oder durch inftruirte Sefandtfchaften irgendwo 
zufammentreten, nicht geftattet fein.” — „Hiernach fliehen wir auf 
einem dußerften Punkte, von dem nur noch ein einziger Pfad 
Rettung verfpriht. Wenn die deutfchen Fuͤrſten ſich nicht jegt noch 
über eine gleihfärmige, mit der Sicherftellung ihrer Rechte und 
ihrer Kronen und mit der Erhaltung des deutfhen Bundes vereinbare 
Auslegung und Vollziehung des XII. Art. vereinigen, unb 
wenn jenen, die bei der Bildung ihrer Verfaffungen den einzig wahren, 
einzig zuläffigen Sinn diefes Artikels verfehlten, nicht zu einer ges 
[hidten und anfländigen Ruͤckkehr die Hand geboten werden 
kann, fo bleibt uns Allen nichts übrig, al8 dem Bunde zu entfagen.” 

Diefen oder ähnlichen Anfichten gemäß lauteten, dem Vernehmen 
nah, die umftändlihen und zum Theil fcharfen Aeußerungen faft aller 
anwefenden Miniſter. Alle erblidten in ben Nepräfentativ s Verfaffuns 
gen ein den Fremden abgeborgtes und ein gefährliches demokrati⸗ 
[ches SInftitut, eine Aufhebung des monarhifhen Principe 
und fonady eine mit dem Weſen, ja mit dem Dafein bes deutſchen 
Bundes durchaus unverträgliche Einfegung. Alle verlangten eine 
von Bundes wegen zu verorbnende Beſchraͤnkung der flänbdifchen 
Rechte in der Sphäre der Gefeggebung, Steuerbewilligung 
und zumal der den Bund näher oder entfernter angehenden Dinge. 
Alle (oder doch die meiften) behaupteten, baß ber Sinn des XII. Art. 


Gongreß. 707 


nach der Abficht des Wiener Congreſſes nicht auf Repräfentative 
Berfaffungen, fondern offenbar nur auf bie altherkoͤmmlichen 
(Feudal⸗) Landſtaͤnde gegangen ſei. Alle beklagten zugleich das 
aus ber Deffentlichkeit der flänbifchen Verhandlungen quellende 
Uebel, welchem entfchiedenft Einhalt zu thun, bie Pflicht der Selbſter⸗ 
haltung gebiete. Ä u 
Auch gegen dbiefe Erklärungen erhebt ſich der Freiherr von Gas 
gern in feinem denkwuͤrdigen Sendfchreiben mit patriotiſchem Freimuth, 
und die Worte diefes, gleichwohl dee AriftoEratie angehörikgen und 
anhängigen, wärbigen Staatsmanns gegen die Webertreibungen feiner 
Standesgenoffen find gewiß von deſto größerm Gewicht. Wir entheben 
dem Schreiben die hierauf allernächft bezügliche bedeutungsvolle Stelle: 
„Harmonie und Verföhnung find die großen Dinge, bie 
uns in Deutfchland.fo noth thun. Der Nation wieder Selbftvertrauen zw 
geben, den Mißmuth zu tilgen, für bie Ariftofratie Ziel und Maaß zu 
finden, ſind der Staatsmänner erfte Aufgaben. Sie aber, In Karlsbad, 
erſchweren die Löfung ungemein, wenn Sie biefelbe nicht unmöglich 
madhen. Denn Sie find dort in beftändigem Hader und Zwiſt, gleiche 
fam ex officio, mit allen Claſſen begriffen, und beleidigen diefelbe ſchon 
damit in massa, indem Sie ihnen die „Neugierde vorwerfen, 
Die doch unftreitig von dem Kronprinzen bis zum Tagelöhner Jedem 
erlaubt und ber dominierende und unausiöfchlihe Zug In Europa ges 
worden if. „Eitle Neugierde”, die Sie zugleich andern Voͤlkern 
vorwerfen ald Quelle zahllofer- Uebel in den Worten: ” 
„„Seitdem bie in verfchiedenen Staaten eingeführte Deffentlich⸗ 
keit der ftändifhen Verhandlungen und die Ausdehnung 
berfelben auf Gegenftänbe, die nie ander& als in regelmäßiger, feier 
licher Form aus dem Heiligtum dee Senate in die Welt dringen, 
nie eitler Neugierde und leichtfinniger Kritik zum Spiel dienen 
ſollten,““ u. f. mw. Ä 
„Ich frage Ste, was verfiehen Ste unter biefen Senaten? 
Wo find fie? Ich will ganz die Weisheit aus bam Spiele laſſen, Nies 
manbden beleidigen; aber mo find diefe Senatet Und was wirb man 
zu diefen Phrafen in London, Paris, Amſterdam und Brüffel, ja in je⸗ 
dem entfernten Winkel biefee Reiche fagen? As ob das Maaß ber fies 
henden Deere, die Abgaben, die Zölle nicht etwa Dinge wären, bie jeder 
Hausvater zu beobachten nothgedrungen ift, um feine häuslichen Einrich⸗ 
tungen darnach zu treffen, und die er ein fo hohes und reges Intereffe 
hat, nicht überdie Gebührausgebehntzu fehen. Fuͤrwahr! manfollte manch⸗ 
mal glauben, fle wären dort Männer aus bem. Mond gemwefen.” 
„Man wagt zu fagen in ſolcher Allgemeinheit: und birecten Bezie⸗ 
hung: „„fremde Einrihtungen paften niht auf und,”" 
nachdem ber größte Theil von Deutfchland, bee Zahl der Glieder nach, 
biefe fremden Sachen ſich fchon angeeignet hat. Wollen Ste biefe Laͤn⸗ 
ber erbittern und verwirrn? — Mein Herr! Die Nefultate aller His 
ſtoriſchen Nachforſchungen zielen dahin, daß eben dieſ uyfremb en“ 


708 Gongreß. 


Dinge urſpruͤnglich deutſch, urfprüngfich bie unfrigen find.'’.... 
„Gewoͤhnen wir diefe Nation nur nicht an eine Verruͤckung ded Stande 
punkts — nicht an Unmahrheiten — an Phrafen, bie man dafür nehe 
men kann. .... Und find denn bie Acten und Klübers Sammlun⸗ 
gen nicht in Jedermanns Händen? Gibt es benn wirklich bei ber 
Frage von Ständen einen foliden Imweifel? Die Bewilligung ber 
Gteuern und die Unterfuhung, bie dahin führt, ift fie nicht 
Alles in Allem, und wo fie nicht ift, ein ganz anderer Maßſtab? Was 
iſt alfo das „nicht zweideutige“ landſtaͤndiſche Princip? Raͤum⸗ 
ten Sie nicht in dieſem ſelbigen exordio foͤrmlich ein, daß es zwei⸗ und 
vieldeutig ſei? — Daß Oeſterreich, nad der Zuſammenſetzung die⸗ 
ſer Monarchie, unmoͤglich allgemeine Reichsſtaͤnde haben koͤnne, iſt ein⸗ 
leuchtend ; das iſt laut zu ſagen. Und warum ſagt man das nicht laut 
und officel und oft? Glauben Sie, daß der Deutfche für Gründe der 
Vernunft taub und unempfaͤnglich geworden fei? Aber man will ber 
Nation den blinden Glauben an die Weisheit ber Se» 
wate emflößen, und wer fteht an der Spige biefer Senatet” .... 
. „Mit Zuverfiht fage ich: ich vermiffe die offene Sprache. Ich wie⸗ 
berhole ar, das Nachdruͤcklichſte — diefe Retizenzen, halbe Vers 
beißungen, halbe Ruͤckſchritte, Halbe Erplicationen, fo 
viel Kunft auch darin fein mag, find niht gut.“ .. „ . „Beſonders 
aber iſt nicht gut das Beginnen der repräfentativen Ber» 
faffung in Deutfchland, ben bisherigen Verlauf anzuflagen, 
und, wie man in Karlabad gethan bat, heftigen Zabel darauf zu 
werfen. Wir, die Edelleute, haben einiges Recht dazu, die Für» 
ſten aber nicht, nicht ohne Undant. In Münden, Karlsruhe, 
Stuttgart ift man ihnen nie nur mit Liebe, fondern mit Enthus 
ſiasmus emtgegengefonmuen.” . . . . „Den Anfpruh, ftändifche 
Deputirte auf den Bundestag zu fenden, habe ich felbft angefochten. 
Aber die Kammern, mein Here! find volllommen geeignet, Buns 
desfachen zu erörtern. Sie hängen eng mit dem Budget, mit bem 
milite perpetuo, mit ber Refponfabilitätder Miniſter, mit der ganzen 
Haltbarkeit des Bundes zufammen, und nur Unmiffenheit ober Ge» 
fährde kann bier eine neue Doctein finden” u. f. w. 

So meit der Freiherr von Gagern. Es fei uns erlaubt, noch 
Einiges vom eigenen Standpunkt beizufegn. Wir möchten mit Deren 
von Gens fagen: „Wir ftehen aufeinem Außerfien Punkt, von 
dem nur noch Eines — das Zefthalten an den landftändifchen Vers 
foffungen im Sinne bes echten Repraͤſentativ⸗Syſtems — Rets 
tung. verfpricht. Die. Frage Über den Sinn bes XIII. Artikels ift bie 
wahre Lebensfrage. 

Die hieher gehörige Stelle des bie Karlsbader Gefinnung anbeus 
tenden Präfidialvortrages lautet alfo: „Nie haben die Stifter bes deut» 
fhen Bundes vorausfegen können, daß dem XIU. Artikel Deutungen, 
die mit den Paren Worten deſſelben in Widerſpruch ftänden, gegeben, 
oder Folgerungen baraus gezogen werben follten, bie nicht nur ben 


Congreß. | 709 


XII. Artikel, ſondern den ganzen Text dee Bundesacte in allen 
feinen Hauptbeflimmungen aufheben und die Fortdauer bes Bun⸗ 
desvereins felbft hoͤchſt problematifh machen würden. Rie haben 
fie vorausfegen koͤnnen, daß man das nicht zweideutige landſtaͤndiſche 
Princip mit vein demokratiſchen Grundfägen und Formen verwechfeln 
und auf. diefes Mißverſtaͤndniß Anfprüche gründen würde, deren Unver⸗ 
einbarkeit mit der Eriflenz monardifher Staaten, bie die einzigen 
Beftandtheile des Bundes fein follen, entweder fofort einleuchten oder 
doc in ganz Eurzer Zeit offenbar werden müßte” m. f.w.....„Es muß 
daher eines der erften und dringendſten Gefchäfte der Bunbesverfamms. 
lung fein, zu einer gründlichen, auf alle Bundesſtaaten anwendbaren, 
nicht von allgemeinen Theorien oder fremden Muftern, fondeen von 
deutfchen Begriffen, deutſchem Rechte und deutfcher Geſchichte abgeleiter _ 
ten, vor Allem aber der Aufrehthaltung bes monarchiſchen 
Mrincips, bem Deutfchland nie ungeftraft untreu werden darf, und 
der Aufrehthaltung des Bundesvereins, 'als ber einzigen 
Stüge feiner Unabhängigkeit und feines Friedens, volllommen angemeffes 
nen Auslegung und Erläuterung des XIII. Art. der Bundesacte zu ſchreiten.“ 

Sollte wirklich diefe — im Sinne der Karlsbeder Mini» 
ſter auszulegende — Stelle das wahre Maag der von den beutfchen 
Voͤlkern anzufprehenden politifchen Rechte ausdruͤcken, fo wäre: 

1) diefen Völkern zum Lohn für ihre den Thronen geleifteten, für 
deren MWiedererrichtung oder Erhaltung entfcheidenden Dierte, für ihre 
zahlloſen Leiden und Opfer und für ihren im Befreiunge ampf bewies 
fenen Heldenmuth an Lohnes Statt vielmehr die empfindlichſte 
Kraͤnkung, die bemüthigendfte Unterdrüdung zu Theil worden. Lies 
ber gar Feine Stände, als blos Feudal⸗Staͤnde! alfo würde es 
durch die deutfhen Gauen tönen, wenn wirklich nur diefe Alternative 
geboten wäre. Lieber. den rein monardhifhen Abfolutismus, 
als die Verbindung beffelben mit Feudal⸗Ariſtokratie, Kaftengeift und 
mittelalterlihem hiſtoriſchen Recht! Dort ft noch Hoffnung bes 
Sortfchreitens; ein dem Zeitgeift befreundeter Megent mag die Lofung 
dazu geben. Hier aber erbtiden wir nur flarres Fefthalten am alten 
Gebrauch, und unverfähnliche Feindſchaft gegen jedes Volkésrecht. 

2) Es wäre fodann der XIII. Art., der eine Gewährung au 
fpredyen foll, in directem. Widerfpruch mit dem Begehren, mwels 
chem man fcheinbar willfahrte. Deutlich und laut hatten die deutfchen 
Völker ihe- Verlangen einer freiheitlihen, d. h. das Volksrecht 
ehrenden Verfaſſung ausgefprohen; dem befiegten Feinde mar 
auch eine folhe duch Ludwigs XVII. Charte zu Theil geworden, 
und die Sieger follten derſelben Wohlthat für unmerth erklärt wer⸗ 
den! Mahrlih! dee — obmohl kurz lautende — XII. Act. muß im 
Sinn bed taufenditimmigen Verlangens erflärt werben, auf wel 
ches er ſich bezieht, oder er wäre reine Taͤuſchung gemefen. Je⸗ 
benfalls ift die im Ausdrud etwa erkennbare Zmeideutigkeit — nad 
einer allbefannten Rechtsregel — nicht zur Ungunft ber Verlangen» 


710 Gongreß, 


den, wiewohl bes zählenden Wortes Ermangelnden, auszulegen, fonbern 
gegen diejenigen, bie da zu gewähren und gu ſprechen hats 
ten, und welche demnach auch deutlich zu fprechen fh uldig waren. 
3) Es müßte die feltfame Behauptung aufgeftellt werden, bie 
vielen Regierungen, welche feitdem Verfaſſungen im vepräfentativen 
Sinne gewährten, und die ganze Bundesverfammlung, weiche ſie zum Theil 
förmlich garanticte, zum Theil wenigſtens ohne Segenbemerfung zur 
Motiz nahm, feien bis zum Karlsbader Gongreß in dem weſentlich⸗ 
ſten Irrthum über den (in Bezug auf Völker und Regierungen) 
alferwichtigften Artikel der doch aus ihrer eigenen gemeinfchaftlichen 
und forgfältigften Berathung bervorgegangenen Bundesacte befangen, 
oder gar mit den Univerfitätslehrern und Zeitungsfchreibern von dem 
Schwindel der'hohlen Theorien und der unruhigen Neuerungsſucht ers 
griffen gewefen. Diefe Behauptung durchzufuͤhren würde ſchwer fein. 
Vielmehr ift das Gegentheil davon Klar wie der Tag. Haben body die 
Fuͤrſten in allen ihren den Völkern gemachten Verheißungen ausdruͤcklich 
von Inſtitutionen gefprohen, mwelhe dem Geäft des Jahrhun⸗ 
berts und den Kortfchritten der Aufklaͤrung gemäß wären; 
fie haben alfo nicht die Wiedererweckung längft veralteter und uıs 
fprünglicy einer halb barbarifchen Zeit entfliegener Inftitutionen, fondern 
bie Einführung von folhen, welche den Bebärfniffen und Ideen der Ges 
en wart entfprächen, verheißen; und follte auch bier oder bort en 
Serthum über die Wirkungen oder Folgen folcher Einfegungen 
obgemwaltet oder die Wahrnehmung berfelben in gewiffen Regionen eis 
nige Beforgniffe hervorgerufen haben, fo wuͤrde daraus wohl ber 
Wunſch, wieder umkehren zu koͤnnen oder zu dürfen, erflärbar, nicht 
aber der urfprünglidhe Sinn des XII. Artikel verändert werden. 
4) Endlich aber, und auf die ſe Betrachtung legen wir das meifte 
"Gewicht, drüdt die von den Miniftern auf die Auslegung des XIII. 
Art. verwendete Mühe die Anfiht aus, daß alles politifche Recht der 
deutfhen Nation lediglich allein auf diefem XIII. Artikel ruhe, und 
daß fie daher gar keines anzufprechen hätte, wenn nicht alldort die 
von den Fürften gewährte Vergünftigung flünde. Uns will aber bes 
duͤnken, daß, fo dankenswerth das ausbrüdliche Anerkenntniß oder Vers 
heißen einer die Regierungsgewalt mäßigenden Berfaffung fet, gleichs 
wohl aud ohne ben XII. Artikel die Nation eine ihrer geiftigen und 
moralifhen Bildung entfprechende Berfaffung hätte fordern koͤnnen, 
und daß man, wenn aud die Bundesacte vollig davon geſchwiegen 
hätte, ihr nicht hätte verfagen dürfen, was man den befiegten Frans 
zofen gewährte. Die Deutfchen für minder fähig oder minder wuͤr⸗ 
dig einer liberalen Verfaffung zu erklären, ald man thatſaͤchlich die Frans 
zofen anerkannt hat, wäre eine Ehrenkraͤnkung nicht minder ale 
materielle Recht skraͤnkung für unfere Nation, und kaum dürfte 
ein Diplomat ben Muth haben, den Satz unummunden auszufpreihen. 
Man fügt alfo die Unvereinbarlichleit einer folhen Verfaſſung 
wit der jegt einmal durch europdifche Verträge in's Dafein gerufeuen 


Gongreß. | 711 


und garantirten deutſchen Bundesverfaſſung, bie da keine Schmaͤ⸗ 
lerung des monarchiſchen Princips zulaſſe, vor, ruͤttelt aber da⸗ 
durch an den Hauptpfeilern des wahren Rechtsbeſtandes des Bundes 
ſelbſt. Denn wahrlich! ganz Europa hatte kein Recht, einen 
deutſchen Bund auf einer Baſis zu errichten, welche mit der Befriedi⸗ 
gung der heiligſten Rechtsforderungen der Nation im Widerſpruch 
ftände; und es wuͤrde, falls ſolcher Widerſpruch wirklich vorhanden 
wäre, die Pflicht Europa’s und der hoͤchſten Bundesgewalt fein, die 
Bundesverfaffung durch geeignete Umftaltung ober Reform moͤg⸗ 
lichft in Uebereinflimmung oder Verträglichkeit mit ben Mechten ber 
Dölker zu fegen. Zum Güde jedoch ift dem wirklich nicht alfo: die 
Bundesverfaffung, fo wie iht Grundgeſetz lautet, erträgt gar wohl 
die liberalſte Erfüllung des XIII. Artikels, und bie Zeit wird hoffente 
lich kommen, in der man ed allfeitig einficht und ausſpricht. — 

Menn wir von den Karlsbader Verhandlungen etwas 
ausführlicher gefprochen haben, fo gefhah es wegen ihrer unermeßlichen 
Wichtigkeit, und weil fie zugleich den Ton angaben oder den Grund 
legten zu den Verhandlungen aller feither meiter gehaltenen Gongreffe. 
Bei diefen mird uns jest erlaubt fein, uns auf eine fummarifche 
Darftellung ihrer Veranlaffung und ihrer Befchlüffe zu befchränken. 
Die Rihtung war einmal entfhieden genommen; maß feit 
Karlsbad weiter folgte, war nur die Anwendung feltftehender Grunde 
fäge auf die jeweild eingetretenen neuen Ereigniſſe. Der ausgezeich⸗ 
netfte unter den Karlöbader Miniftern hatte unter Zuflimmung der 
übrigen feine Weberzeugung dahin ausgefprochen, „daß jeder nur halb 
ausgeführte oder gar rädgängige Schritt in den Grundfägen, 
welche der Gonferenz vom erften Augenblid an mährend ihrer ganzen 
Dauer fo lebendig vorfchmwebten, buch den Umſturz alles Rechts 
geftraft merden mürde, fo wie jebe Gefahr der Zeit durd das 
engfte Fefthalten an bdiefen Grundfägen befeitigt werben koͤnne;“ 
eine Erklärung, die al8 Programm dienen mag nit nur zu den nach⸗ 


folgenden Congreß: Verhandlungen, fondern auch zu jenen bes Bun». 


destags, welche aber, wenn etwa einiger Irrthum dabei unterlaus 
fen wäre, für. die Regierungen wie für die Völker nidyts Gutes weifjagte. 


Die Minifteriaf- Conferenzen In Wien, mildern Tones zwar als 


jene zu Karlsbad, wovon fie die Kortfegung bilden follten, loͤſ'ten 
nad längerer Dauer (vom 25. Nov. 1819 bis 24. Mai 1820) ihre 
fhwere Aufgabe durch Ausarbeitung der „ Schlußacte”, welche bie 
Verfaffung und Drganifation des deutſchen Bundes vervollſtaͤndigen 
und: die bereits in Karlsbad aufgeftelten Ideen fo viel möglich verwirk⸗ 
lichen follte. Unter dem Art. „deutfher Bund” werden mir ihrer 
Beftimmungen umftänbdlicher gedenken. Hier bloß bie Bemerkung, daß 
ihr, wiewohl forgfäftigft berathener Inhalt von fcheimbaren Widerfprüs 
hen und von vieldeutigen Sägen nicht frei, daher durch fie dee Con⸗ 
teoverfe, zumal über den Umfang der Bundesgemalt gegenüber ber 
„felbfiftändigen und unabhängigen” Bundesglieder, fos 


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) 


712 Gongreß. 


dann über jenen der landes herrlichen Mechte gegenüber ber Lands 
ftändifhen keineswegs gefteuert ift. In fester Beziehung wird ins⸗ 
. befondere der Sa 57.: „Da der deutfhe Bund, mit Ausnahme ber 
freien Städte, aus fouverainen Fürften befteht, fo muß, dem 
hiedurch gegebenen Grundbegriffe zufolge, diegefammte 
Staatsgemwalt in dem DOberhaupte des Staates vnereis> 
nigt bleiben, und der Souverain Tann durch eine Tandftändifche Ders 
foffung nur in ber Ausübung beflimmter Rechte an die Mit⸗ 
wirkung der Stände gebunden werden“, den boctrinellen Ausle⸗ 
gern — wofern nicht Alles auf einen Wortftreit binauslaufen foll — 
ſtets eine große Schwierigkeit: darbieten, den erften Xheil mit dem 
gweiten in Harmonie zu bringen. Die doetrinellen Erklärungen 
jedoch follen auf das Bundesftnatsrecht von keinem Einfluß fein. Der 
Bundesverfammlung felbft und allein ift (duch Art. 17. der 
Schlußacte) die — duch fpätere Bunbesbefchlüffe nod, erweiterte — 
Befugniß eingeräumt worden, „zur Auftechthaltung de wahren Sins 
nes der Bundesacte, die darin enthaltenen Bellimmungen, wenn 
über deren Auslegung Zweifel entftehen follten, dem Bundeszweck 
(worunter auch der, der maßtofeften Ausdehnung empfängliche, der dus 
Bern und innern Sicherheit Deutfchlands begriffen ift) gemäß 
zu erklären”. Ebenſo ſteht (nach Art. 4.) ber Gefammtheit der Buns 
desglieder (d.h. alfo der Regierungen der Bunbdesftaaten) „die Bes 
fuygnig der Entwidlung und Ausbildung der Bundesacte zu, 
infofern die Erfüllung ber darin aufgeftellten Zwecke foldyes nothmendig 
macht.“ (Ueber folhe Nothwendigkeit aber entfcheidet abermal ausſchlie⸗ 
gend und inappellabel — die Bıundesverfammlung.) 

Mir gehen zu den Congreffen von Zroppau und Laibacd über, 
welchen dann jener von Verona zu Ähnlichen Zwecken und mit dhns 
lichen Refultaten folgte. Ä 

Es iſt bekannt, tie graufam die fpanifhe Nation um ben ' 
Rohn ihrer für die Befreiung Europa’s von des Weltherrfcherd Gewalt 
fo maͤchtig wirkſamen, vielleicht entfcheidenden Anftrengungen und Hel⸗ 
denthaten betrogen und von dem Monarchen, dem fie die Krone erhals 
ten, unter das unerträgliche Joch des härteften Despotismus gebracht 
ward. Es ift weiter noch in Jedermanns Erinnerung, wie dag Uebers 


maaß der Tyrannei endlich einen Aufitand wider Ferdinand VII. hervors 


rief, in beffen Folge die Cortesverfaffung von 1812, unter 
deren Aufpicien der glorreihe Befreiungstampf zum berrlichften Triumphe 
gebracht worden mar, in erneute Herrſchaft über das Reich gefegt 
ward (1820 Januar bi März). Nicht lange nad ſolcher Erhebung 
ber fpunifchen Nation (im Juli 1820) ward auh in Neapel, wel⸗ 
ches an manchen Wunden der über ihm laftenden Reaction biutete, 
durch einen ähnlichen Aufftand die Verfündung derfelben Cortesverfafs 
fung bewirkt. Nicht nur der Kronprinz für fih und als ernannter 
„alter Ego‘ des Vaters, fondern auch der Vater felbft befhmoren 
biefe Gonflitution, und das ganze Reich huldigte derfelben. Aber die 


Eongreß. Ze 713 


Maͤchte — vor allen Defterreih — biidten mit Unmillen auf bie 
durch militateifchen Aufftand bewirkte Nevolution, und auch der Inhalt 
dev Berfaffung flößte — zumal wegen der Stimmung ber italifhen 
Völker — ſchwere Beforgniffe ein. Daher veranlaßte Fuͤrſt Metters 
nich einen Gongreß zu Zroppau in Schlefien, wohin Kaiſer Alerans 
der ſich perſoͤnlich verfügte, der König von Preußen aber feinen 
Staatskanzler, Fürften von Hardenberg, und den Grafen Bernss 
torf fandte, und wo auch Bevollmächtigte von Frankreich und Eng» 
land erfchienen. Klugheit und Eifer des Fürften Metternich feiers 
ten hier ben vollftändigften Triumph. Kaifer Alerander bot feine Hand 
zu der ihm und Preußen vorgefhlagenen Erneuerung und Bekräftigung 
des Bundes zwifhen den brei großen Militairmädten zu Erreihung 
ber Zwecke ber von ihnen geftifteten heiligen Allianz. Die Ges 
fandten Englands und Frankreichs erfuhren das Geſchehene erſt, 
nahdem die Acte von ben drei Mächten unterzeichnet war; ihre Eins 
fprache, auch ihre WVermittelungsvorfchläge, auf eine dem monardifchen 
Princip entfprehende Modification der neapolitanifchen Verfaſſung 
gehend, Eonnten jego von Feiner Wirkung mehr fein. Das Protokoll 
der zwiſchen den drei Großmächten gejchloffenen Webereinkunft, fammt 
einer von den Bevollmächtigten derfelben unterzeichneten Öffentlichen Ers 
klaͤrung, feste die Welt in deutlichere Kenntnig von Zweck und Mitteln 
der heiligen Allianz. Namentlich wurde darin der fefte Entfchluß auss 
gefprochen, den durch die Verträge von 1815 geordneten Zuftand bee 
europäifhen Dinge in feiner Vollſtaͤndigkeit zu erhalten, und zwar nicht 
nurin Bezug auf bie Territorial: BVerhältniffe, fondern auch rüds 
fihtlih dev Regierungsformen. Hieduch ward das Princip der 
Antervention, zumal für jene Fälle, wo eine Beränderung im 
Mege der Revolution eingeführt werben wollte, mit Beſtimmtheit 
ausgefprochen, auch fofort auf die, allerneueft In Spanien, Portus 
gal und Neapel ausgebrochenen, das gefellfchaftlihe Syftem von Eus 
ropa mit neuer Zerrüttung bedrohenden Mevolutionen angewendet, ins⸗ 
befondere aber auf bie legte, welche wegen ber unmittelbaren Beruͤh⸗ 
rungspunfte mit ganz Italien vorzüglich gefährlich fehien. Darum 
folfe als Hortfegung des zu Troppau gehaltenen — einftweilen die 
Grundlagen des gemeinfchaftlichen Einwirkens feftftellenden — Cons 
greffes ein weiterer in Laibach gehalten werden, zu welchem auch ber 
König von Neapel eingeladen: worden, damit er in der Eigenfhaft 
als Vermittler zwifchen feinem übel berathenen Wolfe und denjenigen 
Staaten auftrete, deren Ruhe durch den gegenmärtigen Zuftand der 
Dinge gefährdet worden und welche den feften Entfchluß gefaßt, Feine 
von den Aufrührern errichtete Gewalt anzuerkennen und einzig und als 
lein mit dem Könige felbft zu unterhandeln. Dabei rechneten bie drei 
Mächte, denen es nicht um Groberungen, fondern bios um Befefligung 
ihres die Ruhe Europa’s bezweckenden Buͤndniſſes zu thun fei, ganz 
auf bie Zuſtimmung der Höfe von Paris und London, 


714 | ı Gongreß, 


Die erwartete Zuftimmung jedoch erfolgte nicht. Frankreich 
zwar, nad der natürlihen Richtung feiner reſtaurirten Megies 
zung, billigte wenigftene ftillfhmweigend das Vorhaben der Mächte. 
England aber — wiewohl e8 Defterreich, wegen ber ganz beſon⸗ 
dern Verhaͤltniſſe Staliens, ein im vorliegenden Kalle anzuerkennendes 
fpecielles Interventionsrecht nicht unbedingt abſprach — erklaͤrte fich 
gleichwohl (durch Umtlauffchreiden vom 19. Januar 1821) energifch ges 
gen bie dem Beſchluß der drei Monarchen zu Grund gelegten’ Princis 
pien, als welche hämlid unter minder wohlgefinnten Monarchen eine 
hoͤchſt gefährliche Ausdehnung: erhalten könnten. Es erklärte, daß 
das nach XTractaten beftehende Bünbniß dee großen eucopäifchen 
Mächte diefe durchaus nicht zu einem allgemeinen Einfdhreis 
ten in bie Angelegenheiten anderer Staaten ermädtige, daß 
auch Beine twoeiteren diplomatifchen Verhandlungen eine foldye Ermädh- 
tigung bewirken Eönnen, und daß England alfo feinen Beitritt zu folch 
einem Bunde nicht nur verfage, fondern auch gegen jede Auslegung 
der Verträge proteſtire, wornach ein folcher Beitritt möchte gefor: 
dert werden. — Diefe. Erkidrung indeffen, fo wenig als die wider bie 
Principien von Xroppau vielflimmig ausgefprochenen Privaturtheile 
(worunter zumal bie von dem liberalen franzöfifchen Diplomaten und 
Volksvertreter Bignon herausgegebene Flugfchrift: „Du congres 
de Troppau, ou examen des.pretentions des monarchies absolues 
à l’egard de la monarchie constitutionnelle de Naples“ die fchlas 
gendften Argumente aufftellte), aͤnderte begreiflicherweife nichts an den 
Entfchlüffen der drei Mächte. 

Der Verabredung gemäß kamen alfo gleih am Anfange bes Jah⸗ 
ves 1821 die Kaifer von Defterreih und Rußland und der koͤ⸗ 
niglih preugifche Staatskanzler mit einer Anzahl anderer Diploma 
ten der drei Hauptmaͤchte, ſodann auh Frankreichs, England® - 
und der italifhen Höfe in Laibach zufammen. Kine Gircularnote 
jener drei Mächte that den Übrigen die Abficht des äfterreichifchen Kai: 
fers, die neapolitanifhe Revolution mit Waffengewalt zu unterdrüden, 
und, nebit dem Entfchluffe des Kaifere von Rußland, nöthigenfall® auch 
mit feinen Truppen das Vorhaben Defterreihs zu unterflüsen. Als 
nun der König beider Sieilien, nady erhaltener Bewilligung feines Par: 
laments und erneuerfer DVerfiherung, die Gonftitution zu behaupten, 
nach Laihach gefommen mar, fo wurde fofort die drohende Forderung 
an die neapolitanifchen Gewalthaber geftellt, der Gonftitution zu entfas 
gen und einzig und allein von der Vollgewalt des Königs jene Einrich⸗ 
tungen zu erwarten, welche berfelbe dem Beten des Reiches für zu⸗ 
träglich erachten würde. in Schreiben des Königs an feinen Sohn, 
den Regenten, fchärfte dieſe Verordnungen der Großmächte dem Par: 
Iament mit befondberem Nachdruck ein. 

Die mweitere Folge ber Ereigniffe, ber raſche Angriff der Defter- 
reicher, die fchlecht geregelte Vertheidigung der Neapolitaner, die fchnelle 
Befisnahme bed ganzen Reiches durch die erflen und die Unterwerfung 


Congreß. 715 


ber letzten unter bie wiederhergeſtellte, jetzt durch ben Geiſt der Reaction 
noch haͤrter gewordene Autokratie des Koͤnigs, ebenſo die im Augen⸗ 
blick des Unterganges der Conſtitution in Neapel (März 1821) geſche⸗ 
bene Ausrufung berfelben in Piemont, gleichfalls In Folge eines mis 
litairiſchen Aufftandes, doch durch einen äfterreichifchen Heerhaufen fofort 
unterdrüdt — Altes dies iſt unfern Lefern in unverwiſchter Erinnerung. 
Der Congreß von Laibach hatte jest feine Beſtimmung erfüllt; aber 
bevor er ſich völlig trennte, erließen die Monarchen von Defterreich 
und Rußland unter Zuftimmung Preußens eine (vom 12. Mai 
datirte) öffentliche Erklärung über ihre Grundfäge und Abfichten, 
und führten diefelbe noch weiter aus in einer an alle Gefandten diefer 
Mächte gerichteten CirceularsDepefhe. Der Hauptinhalt dieſer 
beiden Actenftüde ift nachftehenber: 
In der öffentlihen Erklaͤrung fagen die Souveraine: 

... „Einzig dazu beftimmt, die Nebellion zu bekämpfen und 
niederzuhalten, find die verbündeten Streitkräfte, weit entfernt, irgend 
ein ausfchließliches Intereſſe zu unterftüsen, blos den unterjochten 
Völkern zu Hülfe gekommen, und die Völker ihrer Seits haben deren 
Anwendung als eine Stuͤtze zu’Gunften ihrer Freiheit und nicht ale 
einen Angriff auf ihre Unabhängigkeit betrachtet. . . ... Die Gerechtig⸗ 
keit und Uneigennügigfeit, welche die Berathungen der Monarchen geleis 
tet, werden jeberzeit die Vorſchrift ihrer Politik fein. Sie wird in Zus 
kunft wie in der Vergangenheit ftets die Erhaltung ber Unabhängigkeit 
und der Rechte jedes Staates, wie fie in den beftehenden Verträgen 
anerkannt und feftgeftelle find, zum Ziele haben; und, durchdrungen 
von diefen Sefinnungen, haben die verbündeten Monarchen, indem fie 
ben Conferenzen zu Laibach ein Ziel gefegt, der Welt die Principien vers 
fünden mollen, welche fie geleitet haben. Sig find entfchloffen, niemals 
davon abzumeichen, und alle Freunde des Guten werden in ihrem Ders 
eine ſtets eine fichere Gewähr gegen die Verfuche der Muheftörer erbli⸗ 
den und finden.” — Sn der umftändlicheren, von bem Fürften von 
Metternich unterzeichnefen Girculars Depefhe Defterreihs 
(jene Rußlands ift in der Hauptrichtung damit übereinftimmend) 
wird der Standpunkt und das Ziel der von ber heiligen Alltanz anges 
nommenen Politik näher entwidelt, zumal durch folgende Stelle: „Im 
Laufe diefer großen Verhandlungen zeigten fi) von mehr als einer Seite 
die Wirkungen jener weit verbreiteten Verſchwoͤrung, die feit langer 
Zeit an dem Untergange aller, durch dieſelbe gefellfchaftliche Verfaſſung, 
welcher Europa fo viele Jahrhunderte von Gluͤck und Ruhm verdankte, 
geftifteten Autoritäten und geheiligten Mechte gearbeitet hatte. Das 
Dafein diefer Verſchwoͤrung war den Monachen nicht unbelannt; aber 
unter den Gährungen, welchen Stalien feit den Kataftrophen des Jahr 
red 1820 Preis gegeben war, und in ber unruhigen Bewegung, bie 
fih von dort aus nad allen Seiten fortpflanzte und allesRöpfe ergriff, 
hatte fie fih mit zunehmender Schnelligkeit entwidelt und ihren wahren 
Charakter geoffenbart. Die finftern Plane bes Urheber diefer Contplotte 


716 i Gongreß. 


und bie unſinnigen Wuͤnſche ihrer verblendeten Anhänger fmd nicht, 
wie man früher hätte glauben Binnen, gegen biefe ober jene Regierungs⸗ 
form, bie etwa ihren Declamationen am häufigften zum Stoff bient, 
gerichtet. Diejenigen Staaten, welche Veränderungen in ihrem Regie⸗ 
rungsſyſtem angenommen haben, find ihren Angriffen nicht weniger 
ausgefegt, als die, deren alte Verfaffungen die Stürme der Zeit über 
lebten. Reine Monarchien, befchränkte Monarchien, Föderativ s Vers 
faffungen, Republiken, nichts ift ausgefchloffen, nichts findet Gnade 
dor den Verbannungsbefchlüffen einer Secte, die Alles, mas, ſich über 
den Horizont einer erträumten Gleichheit, im welcher Geftalt es aud) 
fein. mag, erhebt, als Oligarchie behandelt. Die Häupter dieſes 
beillofen Bundes, gleichgültig gegen die Mefultate der allgemeinen 
Zerſtoͤrung, über welche fie brüten, gleichgültig gegen jede feſte und 
bleibende politiſche Form, haben den tiefften Grundlagen der Gefelfchaft 
den Krieg angelünbet. Alles Beftehende über den Haufen merfen — 
mit dem Vorbehalt, irgend etwas, wie es ihrer zügellofen Phantaſie 
oder ihren verderblichen Leidenfchaften ber Zufall darbieten wird, an die 
Stelle zu feßen — das iſt der ganze Inbegriff ihrer Lehre und das 
Geheimniß aller ihrer Kabalen. Die verbündeten Souveraine mußten 
nothwendig zu der Ueberzeugung gelangen, daß biefem verheerenden 
Strome nur Ein Damm entgegengefegt werben Eonnte. Alles 
zehtmäßig Beftehenbe erhalten — das mußte der unmanbels 
bare Grundfag ihrer Politik, dee Anfangspunft und der Endpunkt ih⸗ 
ver fämmtlihen Befchlüffe fein. Ste durften ſich nicht aufhalten lafs 
fen durch das eitle Gefchrei der Unmiffenheit oder ber Bosheit, welches 
fie anklagte, die Menfchheit zu einem Stilfftande, zu einer Erflarrung 
verdammen zu wollen, die ben natürlich fortfchreitenden Gang der. 
Givilifation hemmen, und jede Vervolltommnung des gefellfchaftlichen 
Zuftandes unmoͤglich machen würde. Nie haben diefe Monarchen bie 
mindefte Abneigung gegen wefentliche Verbefferungen, noch gegen Ab⸗ 
ftellung der Mißbraͤuche, denen die beften Regierungen nicht entgehen 
koͤnnen, geäußert. Ganz andere Sefinnungen haben fie jederzeit befeelt, 
und wenn die Ruhe, welche Fürften und Völker fi) von der Wieders 
berftellung ded Friedens in Europa verfprehen zu Binnen glaubten, 
nicht alles das Gute geftiftet hat, welches man erwarten durfte, fo war 
der Grund davon der, daß die Megierungen ohne Unterlaß ihre 
Gedanken auf Vorkehrungen gegen bie Kortfchritte eis 
ner Saction wenden mußten, die rund um ſich ber Jerthum, 
Mißvergnuͤgen und fanatifche Neuerungsfucht verbreitete, und die in 
kurzer Zeit es zweifelhaft gelaffen haben würde, ob überhaupt noch ir⸗ 
gend eine gefellfhaftliche Ordnung beftehen folle. Die heilfamen oder 
nothwendigen Veränderungen in ber Gefeßgebung und Verwaltung ber 
Spacten dürfen nur von der freien MWillensbeflimmung, von dem auf: 
geklaͤrten, überlegten Entfchluffe derer, welhen Gott die Verant⸗ 
wortung für ben Gebrauh der ihnen anvertrauten 
Macht aufgelegt bat, ausgehen. Alles, was fih von biefer Linie 


Congreß. 717 


enffernt, fuͤhrt aothwendig zur Unordnung, zur Zerruͤttung, zu welt 
unertraͤglicherem Verderben, als die Uebel, welche man heilen zu wol⸗ 
len vorgibt. Die Monarchen, von dieſer ewigen Wahrheit durchdrun⸗ 
gen, haben Beinen Anftand genommen, fie mit Offenheit und Nachdruck 
auszufprehen. Sie haben erklaͤrt, daß fie, ohne je den Befugniffen und 
ber Unabhängigkeit irgend einer rechtmäßigen Macht zu nahe zu. treten, 
jede angeblihe Reform, die durch Empörung ynd offene Gewalt bes 
wirkt wird, als geſetzlich ungültig, als unvereinbar mit den Grundfügen, 
auf weichen das europdifhe Staats recht ruht, betrachten. Sie 
haben im Sinn biefer Erflärung die Ereigniffe von Neapel, die von 
Piemont, felbfl jene entfernteren behandelt, die unter Umftänden 
von ſehr verfchiedener Art, doch herbeigeführt durch gleich ftrafbare Vers 
anftaltungen, dem oͤſtlichen Europa unabfehlihe Verwuͤſtungen 
bereiten.” . ... „Diefen Grundfägen werden die verbündeten Dions 
archen treu bleiben, auf welche neue Probe die Vorfehung fie auch 
noch ftellen mag. Mehr als jemals verpflichtet, in Gemeinfchaft mit 
allen andern Souverains und Verwaltern der rechtmäßigen Macht, ben 
europäifchen Frieden nicht blos gegen die Verirrungen und Leidenfchafs 
ten, bie in den höhern DVerhältniffen der Staaten ihn ftören koͤnnten, 
fondern au, und vor Allem, gegen die unfeligen Verſuche, welche 
die cioilifirte Welt den. Greueln einer allgemeinen Anarchie Preis geben 
wuͤrden, zu ſchuͤtzen, werben fie nie einen fo erhabenen Beruf durch 
‚ Eieinlihe Berechnungen einer gemeinen Politik entweihen” u, f. w. 
Allerdings! wenn die DVorausfegungen oder Anſichten, worauf 
dieſe Erklärungen gebaut find, auf factifhe Wahrheit fi grüns 
den, wenn wirklich die einzige Urfache jener Bewegungen, welche den 
Welttheil durchwuͤhlen, das Walten einer frevelhaften und heilloſen 
Faction ift, wenn, zur Erklaͤrung ber Uebereinftimmung vieler 
Millionen Menfhen in einer gemeinfamen Richtung nach Verbeſſe⸗ 
rung des auf veraltertem biftorifchen echte ruhenden Staatenbaues, 
nit noh etwas Anderes, ald nur die Machinationen einer vergleis. 
chungsteife Heinen Zahl von Fanatikern ober Verbrechern, nöthig iſt, 
und wenn es wirklich in Europa. ein mit inappellablem Entſcheidungs⸗ 
und mit Zwangsvollſtreckungsrecht über alle europäifchen (d. h. als fols 
che erklaͤrten, ob auch allernaͤchſt blos nationalen) Dinge verſehenes, 
und zwar in der Perſon der drei großen oͤſtlichen Continentalmaͤchte 
beſtehendes, Tribunal gibt: alsdann koͤnnen die Verkuͤndungen von 
Teoppau und Laibach nur Billigung finden. Wenn aber nicht bios 
ein Haufe Verſchworner, fondern'der Zeitgeift es ift, welcher 
die großen Bewegungen hervorruft, wenn, wenigſtens mitunter, 
(wie namentlih in Spanien .und in Griechenland gefchab) bie 
Tyrannei der Herrſcher und die Unerträglichkeit bes Zuſtandes zur ges 
waltfamen Abfchättelung des Joches treiben, und wenn oder infofern die, 
obgleih dem Außern Recht miderftreitenden, Verſuche der Selbftbes 
freiung ohne Gefährdung anderer Staaten gefchehen, d. h in 
hrer materiellen Wirkung beſchraͤnkt auf ihr Heimathland bleiben, und 


718 Gongreß. 


‘“ wenn endlich die Selbſtſtaͤndigkeit und freie Regſamkeit ber Nationen und 
Staaten unendlich vorzuziehen der entnervenden Ruhe eines Weltreiche, ja 
bie Bedingung ift eines freubdigen allgemeinen Fortfchreitens der Givis 
Iifation und eines wahrhaft geficherten oͤffentlichen Rechtszuſtan⸗ 
des: alsdann müflen die Verkuͤndungen von Xroppau und Laibach 
zu den ernfteften Betrachtungen führen. Sie haben diefes auch gethan 
bei allen Dentenden in Europa; und obſchon die Stimmen der im All 
gemeinen angeklagten Bewegungsmänner — nicht nur von Neapel 
und Piemont, fondern von ganz Europa — nidt laut werben 
durften zur Selbftvertheidigung,, fo ift gleihmohl das flille Privatur⸗ 
theil der Unbefangenen nicht beflimmt worden durch die firengen Aus⸗ 
fprüche der Circular » Depefchen. | 

Die SGrundfäge von Laibach enthielten mit der Merdammung ber 
Mevolutionen von Neapel und Piemont zugleih auch jene von Spas 
nien und Griehenland. Aber erft ein nachfolgender (body fchon. 
in Laibach verabrebdeter, fodann binnen etwas mehr als Jahresfriſt in 
Verona eröffneter) Congreß ſetzte, was vorauszufehen war, in wirkliche 
Erfüllung. 

Um die Mitte October 18322 erfchienen in Verona bie Mons 
arhen von Defterreih, Rußland und Preußen, au jene von 
Meapel’und Sardinien nebft andern italifcyen Fürften, dazu die 
gefeiertiten Diplomaten, nicht nur von ben genannten Staaten, fondern 
auch von Frankreich, England und dem römifhen Hofe. 
(Bom deutfhen Bund, wiewohl er als politifcher Körper aners 
kannt und nah Macht und Stellung wohl zur Führung einer zaͤh⸗ 
lenden Stimme in ben europdifchen Dingen geeignet ift, war ein 
Gefandter weder eingeladen noch erfchienen. Nach beendigtem Congreß 
jedoch ward der Bundesverfammlung deſſelben Ergebniß notificirt.) 
Schon früher (Ende Juni bis Auguft) hatten in Wien die vorbes 
reitenden. Zufammentünfte ftnttgefunden, was jest den Gang ber 
Hauptgefchäfte befchleunigte. Wir übergehen jedoch das Detail ber 
(bis zum 14. December fortgefesten) Verhandlungen, den flüchtigen 
Blick blos auf bie Hauptergebniffe rihtend. Spaniens tevolutionais 
ter Zuftand nahm allernächft die Sorge der Diplomaten in. Anſpruch. 
Die Eorte8sBerfaffung von 1812, wiewohl damald von Ruß⸗ 
Land (in dem XZractat von Welikiluki) und von England außs 
drüdtich, von ben übrigen wider Napoleon verbündeten Mächten we⸗ 
nigitens flilfchweigend anerkannt, wurde, nad) ihrer 1820 durch einen 
Soldatenaufftand gefchehenen Wiederherftellung, von ber heiligen Allianz 
als ein das Princip der Legitimitdt und jenes bee monarchi⸗ 
[hen Gewalt verlegendes, mittelbar alfo audy alle andern Thronen 
bedräuendes Ereignig betrachtet. Die Großmaͤchte verbargen daher von 
Anbeginn ihre Mißfallen dagegen nicht, doch hielt eine Zeitlang die Scheu 
vor den möglichen MWechfelfällen eines wider eine ganze Nation und 
ein durch feine Lage ftarkes Land zu unternehmenden Krieged von einer 
bewaffneten Intervention ab. Aber die leichten Zriumphe über Meapel 


Congreß. 719 


und Piemont erhoben den Muth ber Sieger, und der Kriegszug gegen 
Spanien ward befhloffen, fobald die ablehnende Antwort ber Madrider 
Regierung auf die ihe von Seite der verbündeten Mächte wegen Mor 
bification der verhaßten Verfaſſung im Sinne bes monarchiſchen Prins 
cips gemachten Vorfchläge eingetroffen war. Frankreich ſollte jcgo 
thun, was von Seite Defterreihs in Italien geſchehen; doch ward ihm 
für den Fall eines ſchweren Kampfes die nachdrüdlihfte Dülfe der 
Mächte zugefagt. Diefer Beſchluß indeffen erfuhr abermals den Wider⸗ 
fpruh Englands, deſſen jego von Canning geleitete Regierung 
noch entfchiedener, als früher gefchehen, das Interventionsrecht beftritt 
und für ſich felbft das Peincip der Neutralität feflhielt. Weber diefe 
verhängnißreiche Streitfrage des Öffentlichen Rechts werden wir in dem 
Artikel Intervention das Für und Wider wenigftens fums 
mariſch einander entgegenftellen. Bei den Beihlüffen des Congrefies 
aber koͤmmt noch etwas Anderes in Betrachtung. Die drei großen Con« 
tinentalmäcdhte nämlich) (wir haben hier natürlich nur Defterreidh, 
Rußland und Preußen im Auge, da Frankreich unter ber Re⸗ 
fiaurationsregierung, als bloßer Schugling der erfigenannten, aller.pos 
ütiſchen Selbftftändigkeit ermangelte), die drei großen (dabei abſolut 
monarchiſchen Gontinentalmädte, fagen 'wir, erklärten, zur Rechte 
fertigung ihres Interventionsbefchluffes gegen Spanien, ganz unums 
tunden ben Anfprudy auf Bevormundung aller minder ‚mächtigen 
Staaten, führten dadurch einen voöllig neuen Grundſatz In. das. dfr 
fentlihe Recht Europa’s ein, und flelften dergeflalt eine Machtfuͤlle zur 
Schau, die — wenn gewürdiget nady dem vollen Inhalt des ihr zu 
Grund gelegten Princips — in dem-ganzen Laufe der Weltgefchichte 
ihres Gleichen nicht hat. Unſere Enkel — wenn ihnen vergoͤnnt ift, 
ihre Gefühle und Erfahrungen frei auszufprechen, oder wenn fie überall 
nod die Geifteskraft zum felbftftändigen Urtheil befigen — werben den 
fpätern Nachkommen belehrende Mittheilungen über Charakter und 
Wirkung jenes die Weltherrſchaft in die Hände dreier Mächte 
legenden Princips — verglichen mit jenem bed veralteten Gleich⸗ 
gewichts⸗Syſtems — machen. Unfere, der Zeitgenoffen, traus. 
tige Pflicht (d. h. durch ‚höhere Gewalt uns auferlegte Nothwendigkeit) 
befteht im Schweigen. . nn 
Ein anderer, doch meift nur bie ftalifchen Höfe beruͤhrender Ge 
genftand ber Weronefer Verhandlungen war die Fortdauer der, nach ge⸗ 
daͤmpfter Revolution in Neapel und Piemont, für noͤthig befun 
denen Befegung der inſurgirten Provinzen buch oͤſterrei— 
hifhe Truppen. In beiden Staaten hatten die Masregeln ſowohl 
ber reflaurirten als ber Intervenirenden Regierungen die Kraft der Re⸗ 
volutionsmänner ober der Garbonari’s, wie man fie gerne benannte, 
bereit fo entfcheidend niebergebrüdt, daß Feine weitere Gefahr mehr zu 
erſchauen war, und daher eine Abkürzung des früher beabfichtig- 
ten Zeitraums der Befegung unſchaͤdlich ſchien. Kreilich hatte man vom 
Laibacher Congreß oder überhaupt, von den intervenirenden Maͤchten 


720 Congreß. , . 


erwartet, daß fie ſich nicht auf das Nieberſchlagen bes Aufſtandes 
befchränten, fondern aud bie Urfachen befielben, nämlich den gereche 
ten Unmuth über vorenthaltene Nechtöbeftiebigung, fo viel an ihnen 
lag, heben, d. 5. ihre Schüglinge, bie Regierungen von Neapel und, 
von Piemont, zu mildem Gebrauch der mwiebererlangten Gewalt und 
zu Erfüllung ber wiederholt gemachten Verheißungen auffordern, 
ja nöthigen würden. Aber man begnügte fi) mit bee Wiederherftels 
fung ber abfoluten Gewalt. 5 
Nun kam die Reihe an die hochwichtige und bie Sympathie aller 
Denkenden und Fühlenden in der civilifitten Welt in Anfpruch neh⸗ 
mende griehifhe Frage. Die Erhebung der Griechen gegen das 
fie blos factifch bedrüdende Barbarenjoch, die heroifhe Ausübung 
des heiligften Menfchenrechtes und ber thatenreihe Kampf gegen die 
Uebermacht der türkifhen Dränger hatte, foweit in Europa eine oͤffent⸗ 
liche Meinung befteht, diefelbe mit Begeifterung für die Sache der Gries 
en erfüllt. Weit allgemeiner und weit lebendiger noch, als einft bei der 
nordamerikaniſchen Scilderhebung gegen das herriſche Muttere 
land — meil hier nit nur duch politifche, fondern auch durch 
sein menſchliche Sntereffen beftimmt — zeigte fih die Theilnahme 
aller: Slaffen und Parteien an Griechenlands Schidfal; die Hoffnuns 
gen der MWohlgefinnten wandten fit) dem Gongreffe von Verona 
und unter den Zheilnehmern bdeffelben zumal dem Kaiſer Aleranber, 
dem zwiefach zum Schüger der Griechen berufenen, tugendhaften und 
chriſtlichen, ja griechiſch-chriſtlichen Kaiſer, zu. Aber die firenge 
Confequenz des von der heiligen Allianz einmal zur unabänder 
lihen Norm ihrer politifhen Richtung genommenen Principe fors 
derte die Verdammung ber. gegen ihre legitime, d. h. vermöge 
biftorifhen Rechts beftehende, Staatögewalt aufgeflandenen 
Stiehen. Es war unmöglich, einerfeits die gegen Ferdinands 
VI. Tyrannei das Pannier ber GCortesverfaffung erhebenden Spanier 
gu befämpfen und anderſeits den Rebellen gegen des Sultans factiſche 
Gewalt Unterſtuͤtzung zu!l gewaͤhren. Alſo überließ man die Griechen, 
unter ſtrenger Mipbilligung ihres verwegenen Unternehmens, dem 
Schickſal; ja man verweigerte ben von der griechifchen Nation an 
den Congreß Abgeordneten Zutritt und Gehör, während die Agenten 
der in Spanien wider die wieberhergeftellte Gortesverfaffung in Waffen 
ſtehenden abtrünnigen action eine wohlmollende Aufnahme fanden. 
Die unten angeführten Stellen der am Schluß bes Congreſſes von 
den drei Mächten Defterreih, Rußland und Preußen an ihre bei den 
europdifchen Höfen angeftellten diplomatifchen Agenten erlafjenen Cir⸗ 
cularsDepefche enthalten die unzweideutigfte Bezeichnung der Prins 
eipien, welchen ſolche Befchlüffe entfloffen, und eben dadurch auch ders 
felben Charakteriſtik. Ebenſo mögen unfere Lefer aud in Bezug auf 
die von den brei Großmaͤchten allen andern Megierungen empfoh⸗ 
Lene oder vielmehr befohlene Gemeinfhaftlihkeit der Rich— 
tung ben klarſten Aufſchluß in ber befagten Circulars Depefche (welche 


Congreß. 721 


auch, wie bei den fruͤhern Congreſſen, die Stelle der geheim gebliebe 
nen Protokolle vertreten muß) finden. | 

Nachdem die Depefche der wegen ber früheren Räumung 
Neapels und Piemonts getroffenen Verabredung als bes allere 
naͤchſten Grundes ber Zufammenkunft zu Verona gedacht, erklaͤrt fie 
fi) darüber folgendermaßen: „So verfhwinden "die falfhen Schreck⸗ 
niffe, die feindfeligen Auslegungen, bie finflern Prophezeihungen, welche 
Unmiffenheit und Xreulofigkeit in Europa verbreiteten, um die Meie 
nung der Völker über die reinen und edlen Abfichtem der Monarchen 
irre zu führen”... Der‘ Revolution Wiberftandb zu leiſten, den 
Unordnungen, ben Plagen, den Verbrechen, bie fie Über ganz Stalien 
verbreiten wollte, vorzubeugen, Frieden und Ordnung in biefem Lande 
wieder herzuftellen, ben rechtmäßigen Regierungen den Schutz, auf 
welchen fie Anfpruch hatten, zu gemähren — darauf allein maren bie 
Gedanken und bie Anftrengungen der Monarchen gerichtet.” !... . 
„Aber die vereinigten Souverains und Gabinette konnten nicht umhin, 
ihre Blide auf zwei ſchwere VBerwidelungen zu wenden, deren 
Fortſchritte fie feit der Zufammenkunft in Laibach anhaltend befchäfe 
tigt hatten. Das, was ber Geift der Revolution in der meftlichen 
SHalbinfel begonnen, was er in Italien verfucht hatte, gelang ihm am 
dftlihen Ende von Europa. In eben dem Augenblide, wo bie 
militatrifchen Aufftände zu Neapel und Zurin vor der Annäherung einer’ 
regelmäßigen Macht zurüdwichen, wurde ein Beuerbrand der Ems 
pörung in das ottomanifhe Reich geworfen. Das Zufammentreffen 
der Ereigniffe konnte keinem Zweifel über bie Gleichheit ihres 
Urfprungs Raum Iaffen. Der Ausbruch des naͤmlichen Uebels auf 
‚fo vielen verfchiebenen Punkten und allenthalben, wenngleih unter 
wechſelnden Vorwaͤnden, doch von benfelben Formen und berfelben 
Sprache begleitet, verrieth zw unverkennbar den gemeinfchaftlichen 
Brennpunkt, aus mwelhem es hervorging.” ..... „Die Monarchen, 
entfchloffen, die Maritime der Nebellion, an welhem Orte 
und in welcher Öeftalt fie fih auch zeigen möchte, zurüds 
zumeifen, fprachen fofort ihre einffimmiges Verwerfungsur⸗ 
theil darüber aus.“ — ..... „Andere Ereigniffe, ber ganzen Aufs 
merkſamkeit der Monarchen würdig, haben Ihre Blicke auf ben bes 
jammernswerthen Zufland ber wejtlihen eutopdäifhen Halbin— 
ſel gehefte. Spanien unterliegt heute bem Schickſal, das allen 
Staaten bevorfteht, die ımglüdiih genug find, das Gute auf 
einem Wege zu fuhen, auf welhem es nie gefunden. 
werden kann. Ks durchläuft den verhängnißvolfen Kreis feiner. 
Revolution, einer Revolutton,‘ melde verbiendete oder uͤbelgeſinnite 
Menfhen gem als Wohlthat, ſogar als ben Triumph eines aufges' 
klaͤrten Jahrhunderts dargeſtellt haͤtten.“ ... „Die Wahrheit aber‘ 
hat balb ihre Rechte behanptet, und Spanien hat, duf Koften feines. 
Gluͤcks und feines Ruhms, nur ein neues trauriges Beiſpiel der uns 
ausbleiblichen "Folgen jedes Freveis gegen bie ewigen Gefege der fitt« 

GtaatssEertlon. III. 46 


722 Gongreß. 


lichen Weltorbnung geliefert"... . „Wenn fih jemals, aus 

dem Schoofe der Civilifation, eine von den Örunbdfägen 
ner Erhaltung, von den Grundfägen, auf melden ber 
europäifhe Bund beruht, feindfelig getrennte Macht ers 
bob, fo tft ed Spanien in feiner jegigen Auflöfung. Häts 
ten die Monarchen fo viel auf ein einziges Land gehäufte Uebel, von 
fo vielen Gefahren für die übrigen begleitet, mit Gleichguͤltigkeit be: 
trachten können? Nur von ihrem eigenen Urtheil und von 
ihrem eigenen Gewiffen in biefer ernfien Angelegenheit 
abhängig, haben fie fih fragen müffen, ob es ihnen länger erlaubt 
fei, bei einem Unheil, welches mit jedem Tage fchrediiher und ge: 
fahrveller zu werben droht, ruhige Zufchauer abzugeben"... . „Die 
Entfcheidung der Monarchen konnte nicht zweifelhaft fein. Ihre Ges 
fandefchaften haben ben Befehl erhalten, die Halbinfel zu verlaffen.” ... 
„Se aufrihtiger die Freundſchaft ift, die fie für ©. M. 
den König von Spanien hegen,... befto flärker haben fie bie 
Nothwendigkeit gefühlt, die Maßregel zu ergreifen, für weiche Sie ſich 
entfchieden hatten, und welche Sie zu behaupten miffen werden.” ... 
Es wäre überfläffig , fortan Ihre rechtlichen und wohlwollenden Geſin⸗ 
nungen gegen unmwürbige Verleumdungen zu vertheidigen , welche jeder 
Tag durch offenkundige Thatfachen twiderlegt.” . ... „Die Wünfche der 
Monarchen find einzig auf den Frieden gerichtet; biefer Friede aber kann 
feine Wohlthaten nicht über bie Geſellſchaft verbreiten, folange die Gaͤh⸗ 
tung, die noch in mehr ale einem Lande die Gemüther bewegt, durd) 
die treulofenUeberredungsmittel und die firäflihen Ver 
fuche einer Faction, bie auf nichts als Revolution und Umfturz 
finnt, genährt wird; folange die Haupter und Werkzeuge dies 
fer Faction night aufhören werden, bie Völker mit nie derſchla⸗ 
genden und lügenhaften Vorftellungen der Gegenwart 
und mit erdbichteten Beforgniffen über die Zulunft zu 
quaͤlen. Die weiſeſten Maßregeln der Regierungen können nicht ges 
deihen, bis dieſe Befäsrberer ber gehäffigiten Anfhläge zu 
einer vollftändigen Ohnmacht herabgefunten fein merben, und 
die Monarchen werden. ihr großes Wert nicht vollbradt zu 
“haben glauben, bevor jenen die Waffen nicht entriffen 
find, womit fie die Ruhe ber Welt bedrohen können." 
ro. „Indem Sie dem Gabinet, bei welhem Sie beglaubiger find, 
diefe Erklärungen mittheilen, werden Sie zu gleicher Zeit in Erinnerung 
bringen, was die Monarchen als die unerlaßliche Bedingung der 
Erfüllung ihrer wohlwollenden Wünfche betrachten. Um Europa neben 
dem Frieden auch das Gefühl von innerer Ruhe und dauerhafter Sicher 
heit zu verbürgen, müffen die Monarchen auf die treue und bes 
harrliche Mitwirkung fämmtliher Regierungen rechnen. 
Sie fordern fie im Namen ihres eigenen hoͤchſten Intereſſes, im Nas 
men der gefellfchaftlihen Drbnung, beren Erhaltung es gilt, im Namen 
ber künftigen Geſchlechter zu biefer Mitwirkung auf.” .... „Mögen 


Congreß. 723 


ſie alle von der großen Wahrheit durchdrungen ſein, daß ſie ſich einer 
ernſtlichen Verantwortung ausſetzen, wenn ſie in Irrthuͤmer 
verfallen oder boͤſen Rathſchlaͤgen Gehoͤr geben.“ ... „Die Mons 
archen haben das Vertrauen, daß ſie allenthalben in denen, welche 
mit der oberſten Autoritaͤt, in welchen Formen es auch ſein mag, be⸗ 
kleidet ſind, echte Bundesgenoſſen finden mwerden,... und fie 
ſchmeicheln ſich, daß man die hier ausgeſprochenen Worte als eine neue 
Beſtaͤtigung Ihres feſten und unabänderlihen Vorſatzes, 
alle von der Vorſehung ihnen anvertraute Mittel dem 
Heil Europa’s zu widmen, aufnehmen merde.” — 

Die Folgen des Congreffes von Verona, allernähft für Spanien 
und Griehenland, mittelbar aber für die ganze Wett, ftehen in es 
dermanns lebendiger Erinnerung: dort, nach unheilvollem Krieg, bi2 
Miederherftelung dee abfoluten Gewalt in bes tyrannifhen Ferdi⸗ 
nande VII Hand buch bie Heere des conftitutionellen Könige von 
Frankreich; bier ein verzweiflungsvoller Kampf der hälflos gelaffenen 
Griechen gegen die furchtbarſte barbarifcye Uebermacht, und ſchaudervolle 
Verwuͤſtung des claffifchen und hriftlichen Bodens durch bie odmanifchen 
und dgpptifchen Horden. Aber die Grundfäge, wonach dieſes Alles ges 
ſchah, Haben ſich nicht als haltbar erprobt. Sriehenland warb — 
freilich erft nach erduldetem unendlihen Sammer — zulebt doch ale der 
Freiheit würdig erfannt, und Spanien erhebt fich im Augenblick, wo 
diefe Zeilen gefchrieben werden, von Neuem unter dem Panier jener ges 
ächteten Conſtitution der Corted. Diefe Achtung übrigens warb fchon 
damals, als fie von Verona aus erllang, von [ehr gewichtigen 
Stimmen für unrecht erklärt, namentli von den ausgezeichnetften 
Staatsmännern Englands. Wir wollen uns nicht einmal auf das 
im Unterhaufe bed britifhen Parlaments ausgeſprochene Urtheil bes im 
Rufe der Liberalität geftandenen Miniſters Canning berufen; aber, 
was ber tornftifhe Minifter Liverpool im Oberhauſe ſprach, ift 
wohl von doppelter Bedeutfamkeit. „Welche Vorwürfe — alfo lauten 
feine Worte — man auch der fpanifchen Eonftitution machen Tann, fo 
liegt doch weder in ihr felbft, noch in ber Yrt ihrer Wieberherftellung 
etwas, das zu Einmiſchung der ausmärtigen Mächte aufforberte; und 
was Insbefondere die Drei großen Mächte betrifft, fo haben diefe kein 
Recht, gegen die Conftitution etwas einzumenden. Denn bie Cortes koͤn⸗ 
nen zu bdenfelben fagen: Unfere Gonftitution hat von 1812 bie 1814 
beftanden, und während biefer ganzen Zeit habt Ihr die Freundſchaft, die 
Allianz und die Mitwirkung Spaniens in dem großen Kampfe für bie. 
Freiheit Europa's nachgeſucht; bie fpanifche Regierung hat keiner Regie⸗ 
rung Stoff zu Kingen gegeben; bie Gebrechen der Gonftitution aber find 
ein Gegenfland der innern Politik, und gehen nur uns, nicht Euch 
an!" — Auch die allerneueft, feit dee abermaligen Verkuͤndung ber Cons 
ftitution in Spanien, darüber im britifchen Parlament gefallenen Aeuße⸗ 
rungen von ausgezeichneten Mitgliedern und felbft von dem Minifter des 
Auswärtigen, Lord’ Palmerfton, find gleichen Sinne und Inhaltes. 

% 


1 Co ngreß. 


Noch haben wir, der Vollſtaͤndigkeit willen, bee den Congreſſen Mn 
der Weſenheit ähnlichen, ob au in Formen davon verfhiedenen, 
Minifterinal:Conferenz in London, fobann einer weiten Mis 
nifterial:Conferenz in Wien und mblid der in Münchengräz gea 
baltenen Zuſammenkunft ber drei großen Continental:Monachen zu ers 
wähnen. . Die erſtbemerkte — aus den bei der britifhen Regie⸗ 
rung accreditirten ordentlichen Gefandten ber Großmichte und. einigen 
andern Diplomaten gebildete — Sonferenz zeigte ihre Thaͤtigkeit zumal 
in der griehifchetürkifcyen und in der belgiſch-niederlaͤndi— 
[hen Sache durch eine Keihe von Protofollen, deren Hauptinhalt 
in den Artikeln Griehenland und Niederland fummarifch 
überfhaut werden wird. Die MiniftersEonferenz in Wien von 1834 
hatte. die Anzelegenheiten des beutfhen Bundes zum Gegenfiand. 
Bon ihren geheim gehaltenen Verhandlungen ift nur foviel im Allgemei: 
nen verlautbart und zumal durch mehrere nachgefolgte Verordnungen 
theils der einzelnen Regierungen, theils bes Bundestags beutlic, erkennbar 
worden, daß man über das gegenüber ber liberalen Partei zu beobachtende 
gleihförmige und durchgreifende Benehmen fidh einverftand, 
und zugleich für die etwa zwifchen Regierungen und Ständen fi erges 
benden Zermürfniffe ein fogenanntes Schiedsgericht, deſſen Mitglies 
der von ben Regierungen zu ernennen wären, zu errichten befchloß. 
(S. den Art. deutfher Bund.) Ueber die Zufammenfunft bed 
Kaiferd von Rußland mit dem König von Preußen n Schwedt 
und mit dem Kaifer von Defterreich und dem preußifchen Kronprinzen 
in Mündengräz (Sept. 1833), wiewohl weder eine Öffentliche Ere 
klaͤrung noch eine Gircufar:Depefche uns über deren Ergebnifje belehrt 
bat, herrſcht die allgemeine Meinung, daß alldort blos der, gegen die revo⸗ 
Intionairen Beſtrebungen, d. h. gegen bie gefürchtete europäifhe Bes 
wegungspartet lAngft gefchloffene Bund abermal erneuert und bee 
kraͤftigt, wohl auch für die. vorhin erwähnten Minifter-Conferenzen in 
Mien einige Hauptgrundfäge verabredet worden. 

Ein intereffantes Gegenftüd zu den vielen europäifhen Monarchen» 
ober monarchiſchen MiniftersCongreffen verhieß der für das Jahr 1826 
noch Panama ausgefchriebene ameritanifche Congreß ber Republie 
ten zw werden. Aber die großen Erwartungen, die man von 
dbemfelben hatte, gingen nicht in Erfüllung. Nicht einen vollen Monat 
(nur vom 22. Junius bis zum 15. Julius) mwährten feine Eigungen ; 
und es kam nichts darauf zu Stande, ale ein dem Zweck nad, allerding6 
wichtiger, doc) wegen ber Innern Zerrüttung biefer Staaten factifch wenig 
bedeutfamer Unions⸗ und Bundes:Vertrag zwiſchen den Republiten von 
Columbia, Öuatimala, Peru und Merico, auch einige allges 
meine — doch ohne Erfolg gebliebene — Verabredungen über Eünftig 
zu haltende Zuſammenkuͤnfte. Die übrigen zum Congreß eingelabenen 
Staaten, Chile, Buenos Ayres, Paraguay, Oberperu und 
Braſilien, hatten ihn nicht befchidt. Dagegen waren norbhmeris 
Tanifche und britifche Agenten darauf erſchienen. Aber gerade bie 


Gong. 725 


Einfprache berfelben gegen das Angrifföprofeet auf bie noch Übrigen Tpa« 
nifhen Befigungen, Cuba und Portorico, bewirkte vorzugsweiſe die 
ſchnelle Aufhebung bes Congreſſes. ’ 

Zum Schluffe noch einige allgemeine Bemerkungen Aber Congreſſe, 
zumal was beren hergebradhte Formen und bann einige andere minder 
wichtige, daher nur ſummariſch zu berührende, Punkte betrifft. 

Wenn die Abhaltung eines Congrefies befchloffen, auch Zeit und 
Dirt im Wege der Unterhandlung oder gegenfeitigen Mittheilung beftimmt 
find, fo ergeht dann in der Regel noch eine unmittelbare Einladung 
von Seite des Hofes, in deſſen Lande der Congreßort fidy befindet, an 
die zur Xheilnahme an den Verhandlungen bereits Berufenen oder weiter 
zu Berufenden. Derfelbe Hof errichtet eine eigene Congreß⸗Polizei 
zur Handhabung ber auf Sicherheit, Bebürfnißbefriedigung,. Bequemliche 
keit und Annehmlichkeit berechneten Ordnung und theils allgemeinen, 
theil® befonderen Vorfchriften. Eine, je nad) Zeit und Umftänden bald 
leichtere bald fihmerere Aufgabe, mitunter erſchwert durch die Gegenftände 
‚ der Congrefverhandlung, durch Vielfeitigkeit der Beruͤhrungspunkte ober 
möglichen Collifionen und durch die empfindliche oder gefpannte Stim- 
mung dee Congreßmitgliedee felbft (wie 3. B. beim Congreß von 
Raſtadt, über defien Polizei-Verwaltung der Freiherr von Drais ale 
. Haupt berfelben ein eigenes, lehrreiche Details enthaltendes Buch ges 
ſchrieben), mitunter durch die — begründeten ober unbegründeten — Bes 
forgniffe einzelner oder ſaͤmmtlicher Haͤupter vor Störung des Friedens 
oder der Sicherheit von augen, (in welcher Beziehung wir zumafin der neues 
ften Zeit eine ganz außerordentliche Strenge, insbefonbere gegen Fremde, 
welche den Congreßort befuchen wollten, ausgeübt fahen). Die Sorgfalt, 
Vorſicht und Strenge find natürlich bei Zufammenkünften ber Monarchen 
fetbft größer als bei jenen blos der Minifter. Bei dan erften wird in der 
Megel der Hof, auf defien Gebiet fie flattfinden, fid) aud) zur Pflicht und 
Ehre rechnen, durch mancherlei Anftalten der Pracht und des Vergnügens 
feinen Gäften die gebührende Achtung und Aufmerkſamkeit zu bezeugen. 

Die auf dem Congreß erfcheinenden Perfonen find theils Haupt: 
theild Neben Perfonen. Zu den erften werden nur diejenigen ges 
rechnet, welche mit felbftftändiger und den übrigen gleich zählender Stimme 
bei den über gemeinfame Angelegenheiten zu pflegenden Berathungen 
und zu faffenden Befchlüffen auftreten. Doch befteht oft ein engerer 
und ein meiterer Kreis der Berathenden, nad) Unterfchieb der Gegen⸗ 
ftände und der rechtlichen Theilnahme daran. Mer aber in Abhän> 
gigeitsverhältniffen gegen die Congreß- Häupter ſteht, oder wer 
vom Congreß blos etwas zu erbitten ober zu erwirten, überhaupt 
bloß eine eigene Angelegenheit dafelbft ing Reine zu bringen hat, ift nicht 
eigentliches Congreßs Mitglied. Er dann aledann zwar verhandeln mit 
dem Congreß, infofern diefer dazu willig ift, aber an der gemeinfamen: 
Berathung und Echlußfaffung nimmt er nicht Theil. Seine Anträge ober 
Wuͤnſche legt er dem Congreß entweder durch eins von deſſelben Mitglies 
bern oder auch durch unmittelbar an die Verſammlung gerichtete Adreffen 


. 726 Congreß. 


oder Denkſchriften vor und iſt der Entſcheidung gewaͤrtig. Mitunter 
wird er auch beigezogen zur Verhandlung ſeiner beſondern oder einer ihn 
mitbetreffenden Sache. Uebrigens ſteht es in der Willkuͤr des Con⸗ 
greſſes, die an ihn fi) wendenden Perſonen oder Perfönlichkeiten anzu: 
hören oder abzumeifen. Lebteres widerfuhr, wie wir fchon oben bemerk⸗ 
ten, zu Verona den Abgefandten der griehifhen Nation, die da um 
Hülfe gegen bie türkifchen Unterbrüder flehten. Auf dem Wiener Con» 
greſſe dagegen fanden Perfönlichkeiten und Unterhändler aller Art ein. 
großentheils geneigtes Gehör. 

Die vom Congreß zu erlebigenden Gefchäfte werben in ber Megel 
vor der entfcheidenden Berathung in ber vollen Verſammlung durch ges 
genfeitige, vertrauliche ober officielle, mündliche ober fchriftlihe Erklaͤrun⸗ 

‚gen, Vorfchläge, Anſichten und Entwürfe vorbereitet, fodann zur näheren 
Bearbeitung an befondere Commiffionen oder Ausfhüffe verwiefen und 
endlich über ben von biefen erftatteten Bericht die. Hauptverhandlung, 
welche zum wirklichen Beſchluſſe führt, gepflogen. Einige Aenderung 
(zumal auch Abkürzung, weil fobann bie weitere Inftructions-Einholung 
wegfällt) erleiden ſolche Formen, wenn die Monarchen perfönlich dem 
Eongrefje anwohnen, was ehedeſſen nur felten gefhah, heut zu Tage 
aber, bei der innigen Befreundung der großen Souveraine, oftmals flatt: 
fand, jedoch nicht unbedingt wuͤnſchenswerth ift. 

Ueber die in förmlichen Sigungen gepflogenen CongreßsBerathungen 
werben gewöhnlich von einem dazu eigens erfuchten Mitglied, oder auch von 
einem dafür angeftellten Nichtmitglieb (in welcher Dienfkleiftung bekannt» 
lich der k. oͤſtr. Hofrath v. Gens in unferen Tagen ſich auszeichnete) 
die Protokolle geführt, bie in den einzelnen Protofollen niedergelegten 
Beichlüffe aber in der Regel in einer Hauptcongreßacte (mitunter 
auch in mehreren, namentlih in einer Präliminars und einer 
Schlußacte) zufammengefteilt, jedoch nicht immer zugleich derDeffents 
lichkeit übergeben. Der Welt wird davon nur foviel förmlich verkündet, 
als man für gut findet; ja die Geheimhaltung, mwenigftend der Pr o= 
tokolle (zumal während der Verhandlungszeit, oft aber auch für immer), 
fcheint allerneueft die vorherrfchende Maxime zu werden, wiewohl es einers 
feits Eräntend und beängftigend für die Völker ift, wenn nicht nur ohne 
ihre Theilnahme, fondern auch verborgen vor ihrem Blick über 

the Wohl und Wehe das Loos geworfen, ihr Schidfal vielleicht für die 
Längite Zeit beftimmt wird, und anderfeitd — nad) den jegt beftehenden 
Verhältniffen — das Geheimniß doch felten oder gar nie völlig bewahrt 
werden ann, fondern früher oder fpäter die Wahrheit gleichwohl an's 
Licht tritt. Die Geheimhaltung erfcheint demnach, wenn nicht ganz bes 
fondere Umftände fie für einige Zeit nothwendig oder räthlid machen, 
einerfeits ald ungerecht gegen bie dadurch beängftigten. Völker, deren 
Sache doc) jedenfalls in Frage fteht, und anderfeits als Unklug, meil 
allernaͤchſt Mißtrauen einflögend oder den Verdacht unlauterer Abſicht 
erregend, und dann doch ihren Zweck meift gleichwohl verfehlend. 

Wenn ein Congreß — wie es zumal bei Eriedenss Eongrefien 


‘ 


Gongreß. Congreveſche Raketen. 727 


ſchon häufig geſchah — zu feinem Uebereintömmniß führt, alfo ſich fruchts 
108 zerfchlägt, fo iſt's natürlich, bag dann jeber Theil die Schuld ber 
Auflöfung dem andern beimißt und in äffentlihen Schriften folche Ans 
age, zur Selbftrechtfertigung, ber Welt vorlegt. Bei Congreffen bages 
gen, worauf zmwifchen bereits unter fih befreundeten Mächten über 
allgemeine Angelegenheiten verhandelt, das Ergebniß aber geheim ge: 
halten wird, iſt von einer folhen Rechtfertigung natürlic keine Rede, 
auch wenn nichts zu Stande gelommen. Wird aber das Ergebniß 
ganz oder zum helle verkündet, fo fehlt ed ebenfo natürlich auch an offis 
ciellen, halbofficiellen und Privat: Lobpreifungen nicht; die Stims 
men der Mifvergnügten dagegen werden entweder verunglimpft oder uns 
terdruͤckt. Und doch ift ſchwer vermeidlich, dag nicht faft jeder folche Con⸗ 
greß zum Mißvergnügen in größerem ober Meinerem Kreiſe gerechten 
Anlaß gebe. Allzuleicht wird nämlidy von verſammelten Machthabern 
die Grenze der vernunftrechtlich ihnen wirklich zuſtehenden Gewalt als 
im Verhaͤltniß der durch die Verbindung vergroͤßerten Macht gleichfalls 
weiter hinausgeruͤckt betrachtet, ſowohl in Bezug auf ihre eigenen Voͤl⸗ 
ker als auf frem de. Gleichwohl iſt Mas, daß drei oder fünf oder zehn 
Perſonen durch Vertraͤge oder Verabredungen, die ſie unter einander ab⸗ 
ſchließen, durchaus kein Recht über andere, jenen Verabredungen fremder 
Merfonen erwerben Binnen, daß alfo gegen biefe — mas immer die Ver: 
abredung befage — Fein anderes al® das fhon früher jedem der 


Verbündeten über fie zugeſtandene Recht könne angefprohen 


oder ausgeübt werben. Die dee, daß mit dem Umfang der Macht 
oder Stärke auch jener des Rechts fi) ausdehne — eine freilich in 
der Gefchichte allzu oft praktifch geltend gemachte dee — iſt ber Tod 
alles oͤffentlichen wie alles Privat:Rehts. Darum erheben mit gutem 
Grund, bei jeder Kunde von bevorftehenden Congrefien, die Völker Herz 
und Hände zum Himmel, betend um Lenkung ber Häupter zum Guten 
und um Abmenbung des Unbheils. Motted. 
Gongrevefhe Raketen oder Brand: Raketen. Die 
Brand⸗Raketen, eine Erfindung ber fanften Hindus, find durch ben eng⸗ 


liſchen General William Congreve aus Oftindien nad; Europa aebraht, 


von den Engländern auf feinen Vorfchlag zur Beſchießung von Vließin⸗ 
gen, Boulogne, Kopenhagen mit verfchiedenem Erfolg gebraucht, und 
feitdem in das Artillerie-Syſtem der meiften europäifchen Staaten aufges 
nommen morden. 

Bon der gemöhnlichen , als Luſt⸗Feuerwerk überall bekannten Steig: 
Rakete unterfcheidet fich die Brand-⸗Rakete durdy ihre Hülfe von Sturz: 
blech, auf welcher eine zugefpigte feuerfprühende Brandhaube von 
demfelben Stoff (befjer von Gußeiſen) oder aud) ein Projectil, eine Gra⸗ 
nate, Kartätfhenbüchfe, Leuchtkugel angebracht if. 

Man bezeichnet die Brand-Raketen duch den Äußeren Durchmeſſer 
ihrer Hülfe oder auch durch das Gewicht einer eifernen Kugel von dem⸗ 
felben Ducchmeffer. Diejenigen, deren fi) Congreve am häufigften im 
Krieg bei Bombardements bedient bat, find 42pfündige ober Gäzöllige, 


728 Gongreveihe Raketen. 


und S2pfünbdige ober Gzöllige gewwefen. Die Heineren Raketen waren für 
ben Feldgebrauch beftimmt; die Länge ber Hülfen war Anfangs wie bei 
‚den gemöhnlichen Steig. Raketen von 8 bis 13 Kalibern, fie ward jedoch 
fpäter auf 6 und endlich bi auf 3 herabgefegt; man fonnte nun einen 
Türzeren Stab anwenden, unb erlangte dadurch mehr Genauigkeit des 
Fluges und einen leichteren Transport. | 

Man kann die Raketen auf verfchtedene Arten gegen ben Seind abs 
ſchießen, je nachdem fie ſchwerer oder leichter von Kaliber find und es 
darauf ankommt, daß fie möglichft genauen Flug halten oder nicht. Im 
lesteren Fall darf man fie blos auf die ruͤckwaͤrts abgeböfchte Erde legen, 
und — um fie auf einmal zu zünden — durdy ein Leit⸗Feuer verbinden ; 
die inneren Bölhungen der Feftungswerke geben bequeme Gelegenheit, 
fo dem Zeind eine große Anzahl zugleich entgegen zu ſchicken. Wo mehr 
Genauigkeit erforderlich ift, werden bie Raketen auf einem leichten trag» 
baren Bode gezündet, ber einem Stativ gleichet, oder ber einer Lanze 
aͤhnlich ift, und mit dee Spige in bie Erde geflogen werben Tann. 

Zum Gebrauch im offenen Gelände dient die Gongrevefche Lafette, die 
In ihren zwei Prozkäften 54 Schüffe führt, und auf der man 8 Raketen 
auf einmal abgehen laſſen kann. 

Die Heinen vierlöthigen Raketen werben mittelft einer Art Muskete 
abgefeuert, deren kurzer und ſchwacher Lauf den Stab aufnimmt, um 
der Rakete bie gehörige Richtung zu geben. Diefe Muskete ift nur 4 
Mfund ſchwer, fie macht daher mit 90 vierlöthigen Raketen keine größere 
Kaft, als eine gewöhnliche Solbatenflinte mit 60 Patronen. - 

Um auf Schiffen Raketen abzufcießen, bebarf es keiner kuͤnſtlichen 
Vorrichtung: ein Ständer mit einem beweglichen Arm, den man hoch 
oder niedrig ftellen kann und auf den die Raketen gelegt werden, tft 
hinreichend. 

Es iſt der Theorie, wie der Erfahrung gemaͤß, daß die Raketen, 
die das Princip ihrer Bewegung in ſich ſelbſt tragen und beides zu⸗ 
gleich, Geſchuͤz und Geſchoß, find, mit derſelben Percuſſivnskraft dieſelbe 
und eher eine groͤßere Flugweite erreichen, als die gewoͤhnlichen Ge⸗ 
ſchoſſe, Kugeln, Bomben und dergleichen, aus Kanonen, Moͤrſern und 
Heubizen durch die ſtaͤrkſten Ladungen abgeſchoſſen oder geworfen: die 
Z2pfuͤndige oder Gzoͤllige Rakete treibt eine 9pfuͤndige Granate unter 
einem Elevationswinkel von 450 auf eine Entfernung von 3500 Schritten, 
und die Gpfündige Kartaͤtſchen-Rakete erreicht eine Weite von 2500 
Schritten. Bei einem Verfuche zu Woolwich find die 12pfündigen Ras 
teten auf 1500 Schritte 21 bis 22 Fuß tief in einen Erdwall einges 
drungen, und ihre Granaten in: diefer Tiefe zerfprungen; in dem Boms 
bardement von Kopenhagen hatte eine I2pfündige Rakete das Dad) 
eines Haufes und 3 Fußboͤden durcchfchlagen und war zulegt in einer 
Wand fteden geblieben. 

Ueber die Flugweite der Heineren Raketen von 4 Roth bie 1 
Dfund fehlen zwar noc genauere Beflimmungen; es läßt fich jedoch 
mit einiger Sicherheit annehmen, daß man gegen XZruppen auf 400 


⸗ 


Congreveſche Raketen. 729 


und felbft bis auf ENO Schritte ungleich mehr Wirkung ettiwarten barf, 
als mit der gewöhnlichen Infanterie-$linte, mit ber ſich bei einer 300 
hritte überfteigenden Entfernung faft nichts mehr ausrichten läßt. 


Im Kriege find die Brand: Raketen zuerft nur bei Belagerungen, 
zum Unzünden der Vertheidigungs = Gebäude und Magazine gebraucht 
worden. Hiezu dürften fie fid) aber weniger eignen, als bie großen und 
ſchweren Brand⸗Bomben, die, unter hohen Elevationen geworfen, mit 
einer ungeheuren Percuſſionskraft niederfallen und mehrere Stockwerke 
durchſchlagen, wenn ſie nicht etwa auf ein bombenfeſtes Gewoͤlbe treffen. 

Die bisher uͤblichen 42 und I2pfündigen Raketen dagegen ſchla⸗ 
gen mit einer weit geringeren Fallkraft ein und koͤnnen daher nicht dafs 
felbe Leiften wie die erwähnten Bomben. Wenn freilid) Congreve’s 
Borfchlag : „durch Brech⸗Raketen von 10 Zoll im Durdjmeffer, die in 
einer. 6 Fuß Langen Hülfe von Bußeifen 100 Pfund Zreibefag und 
200 Pfund SKnallpulver enthalten, die Seftungsmälle zu sffnen”, als 
ausführbar erfcheinen follte, fo wuͤrde durch diefe Eolofjalen Raketen, bie 
an den bei der Belagerung der Citabelle von Antwerpen gebrauchten 
Dairhanfchen Mörfer erinnern, alles Belagerungs- Gefhüg entbehrlich 
gemadht. 

Mehr Nugen dürfte die Makete, wie General von Hoyer mit 
aller Vorficht des wahren Wiſſens bemerkt, für jest nody bem Belager⸗ 
ten gewähren; um das die Feſtung umgebende Zerrain zu, beleuchten 
und die Arbeiten des Belagerers zu entdeden, Bann er fich mit Vor: 
theil der Congreveſchen Licht-Raketen bedienen, die nad) der Verſiche⸗ 
rung glaubwürdiger Augenzeugen die nahen Gegenflände wie ein heller 
Mondſchein beleuchten follen. 


Gegen die auf dem Glacis vorrüdenden Sappen erben die 3 
und Gpfündigen Raketen mit gleihem Wortheil zu gebrauchen feln, 
wenn fie aus den Waffenplaͤtzen des bedeckten Weges, faft horizontal 
gefhoffen, die Rollkoͤrbe, Dedfafchinen und Sappenkörbe anzünden, 
und in Verbindung mit ben bedediten Gefchüsen aus den vorfpringenden 
Winkeln der Außenwerke die Spigen der Suppen zerftören und bie 
Arbeiter verjagen. Du fie ohne alle Vorbereitung gezuͤndet merben 
koͤnnen, find fie den feindlichen Granaten = Würfen nur wenig ausge: 
fest. Es bedarf faum einiger Minuten, um 10 und mehr Raketen 
auf einmal gegen die Spise der Suppen abgehen zu laffen, wo fie die 
gewuͤnſchte Wirkung gewiß nicht verfehlen werden. In der neueften 
Zeit ift auch vorgefchlagen worden, auf der ganzen Bruftiwehr der an⸗ 
gegriffenen Feftungs-Sronte von Toiſe zu Zoife Röhren von Gußeifen, 
die fi) durch die ganze Dicke der Bruſtwehr erftreden und zum Ab- 
fchießen der Raketen beftimmt find, anzubringen, um nach Verluſt des 
bebedten Weges die Feftung nod) länger mit Erfolg vertheidigen zu 
koͤnnen 

Urſpruͤnglich fuͤr den Gebrauch im Felde beſtimmt, ſcheint die Ra⸗ 
kete durch ihre leichte Fortſchaffung und durch ihre Wirkung gegen die 


730 - Congreveihe Raketen. ’ 


feindliche Reiterei fich befonders für biefen Iwed zu eignen. General 
Gongreve fagt darüber Kolgendes : _ 

„Die Rakete verbindet außer allem Widerſpruch große Wirkung 
mit Tragbarkeit. Wenn der Infanteriſt 6 bdreipfündige ober 8 feches 
pfünbdige Raketen trägt, fit er nicht mehr belaftet, al& ob er fein Ges 
wehr und 60 fcharfe Patronen trüge. Ein Bataillon von 1000 Mann, 
auf folhe Weife ausgerüftet, würde folglid im Treffen 6000 dreipfüns 
dige oder 3000 fechspfündige Schüffe abgeben können, die hinſichtlich 
der Schußweite, bes Eindringens und ber Wirkung daſſelbe leiften vote 
diefelbe Anzahl Kanonenfchüffe von demfelben Kaliber, ja die auf 800 
bis 900 Schritte fogar mit größerer Kraft eindringen, ale Stud: Kus 
gen. Um aber im Gefecht mit Geſchuͤtz dieſelbe Menge Munition auf. 
die wirkſamſte Weife zu verbrauchen, wuͤrde man, ftatt ein Bataillon 
marfchiren zu laffen, fich mit einem befchmwerlihen Park von nicht wer 
niger als 100 Kanonen und Haubizen fchleppen müffen.” 

„Dehnt man den Gebrauch der Raketen auch auf die Reiterei aus, 
fo erfreuet ſich diefe aller Vortheile der reitenden Artillerie, ohne an der 
ihr eigenthümlichen Kraft und Gefchroindigkeit etwas zu verlieren. Die 
neue Bewaffnung verbindet fich bei dem Reiter fogar noch zweckmaͤßi⸗ 
ger und beffer mit der alten, ald bei dem Infanteriſten, der fih nicht 
beider zugleich bedienen Tann. Zufolge diefer Anordnung führt jeder 
Meiter 6 fechepfündige Raketen in Hulftern, und immer ber dritte Mann 
einen Raketenbock für den Fall, two die Unebenheit des Bodens ben Ger 
brauch eines foldhen nothwendig macht. Der Raketenbock wiegt nicht 
mehr als ein gemöhnliches Infanterie = Gewehr; man kann ihn ohne 
Schwierigkeit überall aufftellen, und die Rakete fliegt von ihm ungehins 
dert über den Boden bie zum Ziel, bdeffen Entfernung ihren Elevas 
tionswintel beftimmt. Diefer, fomwie die ganze Stellung bes Bode, 
bleibt unverändert, weit bei der Rakete kein Ruͤcklauf ftattfindet, wie 
bei dem Geſchuͤtz, das deshalb nach jedem Schuß aufs Neue gerichtet 
werden muß, was im dichten Pulverdampf und in dee Verwirrung des 
Gefehts mit großen Schwierigkeiten verbunden und manchmal ganz 
unausführbar. ift.” 

Man fieht, daß Congreve die unmittelbare Ausräftung ber. Trup⸗ 
pen mit Rafeten für die beffere hält, weil jene dadurch, ohne befondere 
Transportmittel, eine bedeutende Menge von Gefhäg- Munition mit 
fidy führen, im Gefecht verwenden und alles Keldgefhüg entbehren koͤn⸗ 
nen; man kann aber audy den Truppen» Abtheilungen Raketen⸗Wagen 
geben, fo baß fie noch immer die Wirkung einer unmöglich aufzuftels 
enden Geſchuͤtz⸗Zahl hervorzubringen vermögen. 

Nach dieſer Idee ift in England feit 1813 das Raketen : Corps 
nad dem Mufter der reitenden Artillerie organiſirt worden, wodurch es 
moͤglich wird, mit 6 Raketen - Wagen und ebenfo vielen Munitionswa⸗ 
gen, zu denen 97 XArtilleriften und 36 Zrainfoldaten gehören, fo gut 
als 142 Geſchuͤtze aufzuftellen und 4120 Schuß mit ſich zu führen, 
während die engliſche reitende Artillerie mit bdenfelben Fahrzeugen nur 


Gongreveſche Raketen. 731 


1010 Schuß in’s Gefecht bringt, und bie preußifche Artillerie bei der⸗ 
ſelben Geſchuͤtz-⸗Zahl nur 788 Schuß bei fih hat. 

Durch ein zweckmaͤßig eingerichtetes Raketen⸗Syſtem kann alfo bie 
Bernihtungss Waffe der Artillerie auf eine furdtbare Art vermehrt 
werden 5 die Maketen find die rechte Artillerie für die Landwehr und 
die allgemeine Volksbewaffnung; mittelft ber Raketen wird fich eine cis 
vilifiete Nation der Kofaten und Tartaren am beften erwehren koͤnnen; 
ein XZirailleur- Krieg mit Raketen geführt erfcheint uns als die Eräftigfte 
Form, die der Volks: Krieg annehmen ann. 

Ein folder Gebrauch der Raketen fest aber voraus, daß man 
über ihre Flugbahn genugfam Herr fei, um auf ein ficheres Treffen 
des Objects rechnen zu dürfen, was Anfangs Peinesmegs der Fall war. 
Die erften Raketen hatten naͤmlich den großen Fehler, baf der Stab 
und bie Hülfe einander collateral waren; dies gab ihnen eine drehende 
Bewegung, wodurch fie oft fehr weit von‘ ber ſenkrechten Richtungs⸗ 
Ebene abgetrieben wurden. est befindet fidy der Stab in ber verläns 
gerten Achſe ber cplindrifchen Hülfe, und man hat ed nad) vieljährigen 
Bemühungen in England, befonders aber auch in Defterreich, dahin 
gebracht, die Raketen fiher genug richten zu können, fo daß General 
v. Hoyer Bein Bedenken trägt, fie ftatt dere Haubizen zu empfehlen. 

An Defterreih, dem Lande ftiller Wirkſamkeit, merden bie Rake⸗ 
ten ſchon feit langer Zeit nicht blos ale Zündungs: Mittel, nad) bem 
erften Syſtem von Gongreve, fondern auch zum Kortfchleudern von Pros 
jectilen gebraucht; fie find darum in jedem Terrain anmenbbar, können 
mit den Zirailleurs entfendet und auf den Spigen ber höchften Berge, 
fowie des gebrechlichſten Gebaͤudes aufgeftellt werden. .Vermittelſt eines - 
Geftelles, das dem Richtſcheit eines Zimmermannes fehr aͤhnlich und 
ebenfo tragbar ift, laffen fi) Granaten von 4 Pfund im Gewicht ‚auf 
eine Entfernung von 1200 bis 1500 Schritten forttreiben ; man verfichert, 
daß in einer Entfernung von 800 Schritten 3 der Schüffe bie Front 
einer InfanterieeCompagnie treffen. Die geladene Rakete mit dem 
5 Fuß langen Stabe wiegt nur 6 Pfund; erft nad koſtſpieligen und 
feit dem Jahre 1815 unter der Leitung bes Generals Auguftin fortges 
festen Verſuchen bat man dieſes Refultat erreicht. Die öfterreichifche 
Artillerie iſt ſtolz auf die Erfindung und ift der Ueberlegenheit gewiß, 
welche ihr die Anwendung der Raketen im naͤchſten Kriege verfchafs 
fen muß. 

Die Raketen find für den Seedienft wohl ebenfo brauchbar, als 
für den Landdienft; die Segel und das Tauwerk ber feindlichen Schiffe 
Eönnen durch fie In Brand geftedt, und die Schiffe felbft zertrümmert 
werden. 

Das neue Geſchoß (American torpedo genannt), das Joſhua 
Blair aus Neu⸗Orleans im Jahre 1823 erfunden und ber Regierung 
von Nordamerika vorgelegt bat, ſcheint nichts Anderes zu fein, als eine 
koloſſale Rakete, die, unter dem Waſſer angezündet, im Stande ifl, 
durch ihe Zerfpringen den untern Raums jedes Schiffes zu Öffnen. Die 


732 Gongreveiche Raketen. Gonfcription. 


zur Prüfung biefer Erfindung niebergefegte Commiffion begeugte, daß 
ein einziges Schiff mit ſolchen Torpedos (Zitterrochen) ausgerüfter, auf 
offenee See allen Flotten ber Welt die Spige bieten könnte. — 

Eine befondere Anwendung ber Brand Naketen findet bei dem 
Wallfiſchfange ftatt, wo man ſich ihrer gegenwärtig zu bedienen ans 
fängt, nachdem 1821 der Gapitain Scoresby auf bem Schiffe, ber 
Metterhahn, den erften Verſuch diefer Art gemadht bat. Er bekam 
dadurch ohne große Mühe neun Fifche, die nicht über 1 Klafter tief 
unter Waffer gingen und, von ber Rakete getroffen, gemöhnlicdy in 
einer Diertelftunde flarben, fo daß die an ber Rakete befefligte Leine 
nicht einmal’ nachgelaffen werden durfte. Einer diefer ungeheuren Fifche 
war 100 Fuß lang und ward in einer Tiefe von mehr ale 20 Fuß 
unter dem Waſſer getroffen. Es läßt fi, erwarten, daß man den Ge 
braud) der unficheren und gefährlichen Harpune, mit ber man fich dem 
Wallfiſche zu fehr nähern muß, ganz aufgeben wird, um ſich ftatt ih⸗ 
ter der fo leichten und bequemen Rakete zu bedienen, die noch den wer 
fentlihen Vortheil gewährt, durch ihr Feuer das Ungethuͤm oft im er 
ften Augenblide zu tödten. 

Dieſer Gebraud) der Raketen bat den raftlofen General Congreve 
auf den Gedanken gebracht, auch fogenannte Anker-Raketen zu verfer 
tigen, die mit einer Spige und einem anlerförmigen Widerhafen ver: 
fehen find, damit fie, bei ſchwerem Wetter von einem Schiff nad) dem 
nit zu entfernten Strande abgefchoflen, .dafelbft in den Erdboden 
feft einhaken und vermittelt einer an fie befefligten Leine eine Verbin⸗ 
dung bes Schiffes mit dem Ufer bewirken. Die zu Woolwich im Sabre 
1821 angeftellten Verſuche haben die Ausführbarkeit der Suche gezeigt, 
und die Rakete ift in dieſer Hinfiht aus einem zerſtoͤrenden Geſchoß 
ein Rettungss Apparat geworben. 

Soviel von den Raketen, die vielleicht noch einiger Correction bes 
dürfen, die aber ohne Zweifel im naͤchſten Kriege auf allen Schlacht: 
feldern wie die Flügel des Würg-Engeld raufhen werden — nil mor- 
talibus arduum ! v. Theobald. 

Confceription. Die manderlei in ber Gefchichte und in der 
Gegenwart uns begegnenden Arten der Kriegführung oder der Bildung 
der Kriegsmacht laffen ſich, nad) den Principien, die ihnen zum Grunde 
liegen, auf drei Hauptgattungen oder Epfteme ‚zurüdführen, 
naͤmlich: auf jenes der National: Streiter, oder derjenigen, bie 
ihren eigenen Krieg führen, d. h. für ihre eigene Sache — 
fei es aus freiem Entſchluß, fei ed aus allgemeiner Gefell: 
ſchaftspflicht — flreiten; fodann auf jenes dee Solbaten oder 
Kriegs: RKnechte, d. h. ber perſoͤnlich, vermöge eines befons 
deren Zitels, zum Kriegsdienft Verpflichteten, und endlich auf das 
neue Conſcriptions-Syſtem, welches bie beiden andern in ſich 
vereinigt. Zur Würdigung des legten, welches den eigentlichen Gegen⸗ 
ftand des vorliegenden Artikels ausmacht, ift eben wegen des bemerften 
Berhättniffes zu den zwei andern nöthig, den prüfenden Blid auch 


Conſcription. 733 


auf dieſe zu werfen. Dabei werden wir ſedoch auf die Betrachtung 
einiger Hauptzuͤge uns beſchraͤnken, die umſtaͤndlichere Darſtellung bes 
ſonderen Artikeln vorbehaltend. 

Das Syſtem der Nationalſtreiter iſt das natuͤrlichſte und 
darum aͤlteſte und ſehr lange Zeit faſt allgemein in Herrſchaft geſtan⸗ 
dene. Es ift auch heut zu Tage noch vorherrfchend theild bei den noch 
ber Natureinfalt getreuen, theild bei den ber echt republikani— 
[hen Sreiheit fi erfreuenden Völkern. Sein Charakter, Führung 
des eigenen Kriegs, ift vorhanden nicht nur wo ber Kriegs-Be⸗ 
ſchluß ein gemeinfchaftlicher war, fondern auch wo das Intereffe 
oder der Gegenftand des Kriegs die Streitenden in Geſammtheit 
angeht, und bie Pflicht (oder auch die Luft) zu flreiten gleichfalls 
eine gemeinfchaftliche, aus dem Gefelffchaftsverband hervorgehende iſt. 
An feiner reinften Exfcheinung treffen wir es an bei den meilten als 
ten und auch mehreren neuen Republiken, worin nämlid_nicht 
nur alle Waffenfähige vermöge allgemeiner Bürgerpflicht zum 
Kriegsdienft berufen waren oder find (in der Regel mit einer mehr oder 
weniger genauen Beftimmung der Dauer und Reihenfolge, — etwa 
nad) Alters» oder nach Vermögens - Glaffen —), ſondern audy ber 
Kriegsbefchluß entweder von ber Volksverſammlung felbft oder 
doch von einem biefelbe mehr oder minder getreu repräfentirenden 
tünftfihen Organ bes Geſammtwillens ausging oder ausgeht. Aber 
auch in monarchiſchen Staaten, ja felbft in despotifchen, kann 
bie Kriegführung eine nationale fein, wenn entweber das Gefeg bie alls 
gemeine Kriegsdienftpflicht ald Regel aufſtellt, oder menigftens in den 
Fälfen dringender Moth oder höheren Intereſſes ein allgemeines 
Aufgebot angeorbnet wird, auch nah dem Gegenſtand bes Kriegs 
die felbftetgene Theilnahme der aufgebotenen Schaaren, d. h. ihre wi 
lige Kriegführung (alfo nicht blos ein aus fllavifhem Gehore 
fam fließender Dienft) dabet erfennbar if. So ſchickten die perfir 
{hen Großkoͤnige, obſchon fie die unterjochten Völker durch ſtehende 
und großentheils Sold-Truppen im Zaum hielten, gleichwohl mitunter 
die Voͤlkerſchaften ſelbſt durch ihr Machtgebot in den fernſten 
Krieg. So zaͤhlen wir auch die kriegfuͤhrenden oder wandernden Hor⸗ 
den und Staͤmme, wenn ſie auch dem erblichen Stammeshaupte 
oder dem gewaͤhlten Anfuͤhrer unbedingt folgſam ſind, den National⸗ 
ſtreitern bei; fo auch diejenigen Banden ober freien Geleite, welche 
entweder durch gemeinfchaftlichen: Beſchluß zu einem beftimmten Erieges 
tifchen Unternehmen ſich verbanden ober einem Führer zu einem von 
ihnen Allen gewollten Zuge unterwarfn. Durch folchen ges 
meinfchaftlihen Beſchluß oder duch ſolche freie, auf ein beftimmtes 
Biel gerichtete Unterwerfung bildeten fidy naͤmlich die früher Unverbun⸗ 
denen zu einer Kriegsgenoffenfhaft, die dann, wenn fie glüdticy 
war, zu einem Volke anfchmwellen und ein Reich gründen mochte. 
Sie führten alfo ihren eigenen Krieg." Daffelbe thaten und thun 
- und verdienen alfo den Namen: der Nationalftreiter, bie etwa ausſchlie⸗ 


734 Conſcription. 


ßend zur Waffenfuͤhrung berufenen auserleſenen Claſſen oder Kae 
ften eines Volles, wofern fie naͤmlich — mas wohl zu bemerken 
ift — die zugleih politifch bevorrechteten oder hberrfhenden 
Kıften find, nicht aber bloß aus übernommener Dienftpfliht, um 
Sold oder Ländereien u. f. w. für die übrige Nation oder deren Haͤup⸗ 
ter ftreiten. Im legten Falle werden fie den Kriegsknechten aͤhn⸗ 
lid ; und daſſelbe ift zu fagen von den gebundenen Gefolgen 
oder Geleiten, d. h. den ihrem Lehnsherrn als ſolchem kriegsdienſt⸗ 
pflichtigen Schaaren, welche unter den germaniſchen Voͤlkern fruͤhe die 
Heere der Nationalſtreiter, nämlich die Mannie und Heermannie 
verdraͤngten, und eben dadurch ben Untergang der National⸗Freiheit 
bewirkten. In der neuen und neueſten Zeit jedoch finden wir die Idee 
des alten Heerbanns wieder verwirklicht in ben Inſtituten ber 
Landwehr und des Landſturms und in jenem ber Nationals 
garden oder Buͤrgerwachen. 

Dem Spyſteme der Vollsbewaffnung ober der Nationalftreiter has 
ben wir jenes dee Kriegsknechte entgegengefest. Es umfaßt, fowie 
das erite, eine Menge nad) Namen und Eigenfchaften unter fidy vers 
fhiedener Eintihtungen, bie jedoch fämmtlid den Hauptcharakter an 
fi) tragen, daß bei ihm bie Streiter nit ihren eigenen Krieg, 
fondern jenen eines Herrn oder Kriegsmeifters führen, und daf 
der Zitel ber Verpflichtung zu ſolchem Kriegsdienfte nicht der allges 
meine ber Bürgerpflicht oder des gemeinfchaftlicen Intereffe, fonbern 
ein befonderer, die einzelne Perfon bindender il. Ders 
felbe kann nun fein, mie fchon oben bemerkt ward, die Vafallens 
Pflicht, oder aber die — freie oder gegwungene — Anwerbung 
oder überhaupt ein. für den Dienft empfangener Lohn (fi es Sold- 
oder Beute oder Land-Beſitz oder Nutznießung u. f. w.) 
oder auh. Strafe .oder Sklaverei. Es gehören alfo hieher die 
Trabanten und Leibwächter ber alten morgenländifhen unb 
griehifhen, auch zum Theil italifchen, ficilifhen u. f. w. Tyrannen, 
fobann die bei'm Sinken der Freiheit und der Vaterlandsliebe allmds 
lig an. die Stelle der Nationalftreiter getretenen Miethtruppen, 
nicht nur der orientalifhen Despoten, fondern auch mehrerer abends 
ländifher Könige und Mepublifen, fo zumal die Kriegsſchaaren ber 
macedonifhen Könige und der in Aleranders d. Gr. Reid 
ſich theilenden Feldherren, jene verfchiedener griehifher Staaten 
und zumal jene Karthago’s, der mit ihren Bürgerarmen Inbuftrie 
und Handel treibenden und mit Gold ſich fremde Streiter erfaufenden 
Republik. Es gehören ferner hieher bie fpäteren Deere Roms, zum 
Theil noch in den Tagen der ihrem Untergange zueilenden Republik, 
vollſtaͤndiger jedoch unter den auf ſtehende — theild unter Bürs 
gern, theild unter Fremden geworbene — Heere ihre Gewalt im In⸗ 
nern und nad) Außen ftügenden Imperatoren; weiter bie Lehns⸗ 
Miliz im Mittelalter, ſodann die (gegen den Zrog der Kroy-Vaſal⸗ 
ten Anfangs in kleiner Zahl errichteten,. bis auf bie neue Zeit ‘aber . 


Confeiption 735 


fortwährend, zu Zwecken ber einheimifhen und auswärtigen Macht, 
vermehrten) ſtehenden Koͤnigs-Truppenz aud die, nur zu zeit 
licher Dienftleiftung berufenen, Schaaren ber Conbottieri; weiter 
im Orient die türkifhen Sklaven Heere im arabifchen, ſowie 
die Sanitfharen im türkifhen Reihe und bie Mamluken in 
Aegypten u. f. m. Der gemeinfhaftliche Charakter aller dieſer unter 
ſich bunt verfchiedener Zruppen-Sattungen befteht darin, daß fie — ob 
auch mittelft des Kriegs» Dienjtes überhaupt ihren eigenen Vortheil 
nach Thunlichkeit verfolgend — doc) In-der Regel bei'm jedesmaligen Ges 
genftand eines beftimmten Krieges perfinlih unbetheiligt, 
db. h. nicht wegen diefes Gegenſtandes oder wegen einer ihnen ale 
Bürgern obliegenden allgemeinen Pfliht, fondern der, aus be: 
fonderem Titel übernommenen oder überfommenen Dienftpflidht 
willen, alfo im Kriege des Herrn die Maffen führend, oder auch 
den Kriegsdienft mie ein befonderee Gewerbe treibend, und daher 
einen befondern Stand im Staate bildend, ja dem gefamm» 
ten übrigen Volk fih entgegenfegenb find. 

Welchem von diefen beiden Spftemen der Vorzug gebühre, Tann 
für den, welcher auf die Natur der Dinge und auf die Geſchichte auch 
nur einen unbefangenen Blick geworfen, von dem Standpunkt bes 
Rechts nicht minder ald von jenem des Vortheils nicht zweifelhaft _ 
fein. Das Syftem der Nationalftreiter, gegründet auf die Idee 
der allgemeinen und gleihen Pfliht aller waffenfähigen Bürger zum 
Streit fuͤr's Vaterland, entfpricht zuvoͤrderſt dem erften und einfachften 
Sefellfhaftsgefes und dem von der Vernunft dictirten Inhalt 
des Staatsvertrage. Da, wo es fih, mie bei'm Krieg, um bie 
allerhoͤchſten Intereffen des Vagerlandes, ja um feine Erhaltung, 
fomit nicht nur um vorübergehende oder nur Einzelnen im Volt und 
zwar meift nad) Mafgabe ihres Vermögens zufliegende Mohithaten, 
fondern um die ganze Zukunft bes Staates, alfo auch um jene 
jedes einzelnen Mitgliedes und beffen ganzer Samilie, vom Leben unb 
Lebensglüd der jegigen und der nachkommenden Bürger hanbelt, ſonach 
alfo alle — menigftens melche denken und fühlen und nicht in den 
craffeften, felbft der Kinder vergeffenden, Egoismus verfunten find — 
ale gleihmäßig betheiligt erfcheinen, und mo es fi ferner ' 
Dienfte oder Leiſtungen handelt, welche (in ber Regel und mas d 
Hauptſache betrifft) Feine Stellvertretung durch Geld oder buch Erfag 
männer zulaffen, ſondern auf der perfönlihen Kraft und Dingebung 
aller Kampffähigen beruhen: da kann — inſoweit naͤmlich das legt: 
bemerkte Verhaͤltniß obwaltet — von einer Vertheilung der Laft fireng 
nad) dem Maafftabe des Vermögens, ober gar von einer Webers 
waͤlzung berfelben auf die Schultern bios einer Anzahl Einzelner, 
fpeciel dazu zu DVerpflichtender, die Rebe nicht fein. Da ſpricht ber 
Staatsvertrag laut die Verpflihtung aller Züchtigen zur per- 
fönlihen Leiſtung aus, (vorbehaltlich allerdings einer, durch poſi⸗ 
tives Geſetz zu gebenden, näheren Beſtimmung über das Aner⸗ 


756 | Confcription. 


kenntniß ber Tüchtigkeit oder Untüchtigkeit, auch üher bie in beſon⸗ 
dern Fällen ober Berhältniffen, zum Vortheil der Gefammtheit ſelbſt 
zu geftattende Stellvertretung, endli ber die Concurrenz auch 
der Kampfunfähigen zu denjenigen SKrirgsleiftungen oder Laſten, 
welche einen Geldanſchlag zulaffen oder wirklich mit Geld beftrite 
ten werden;) und ba entfpridht alfo bie Vertheilung nah Köpfen 
(deren nähere Regulirung, was etwa die Form bes Aufgebots 
pder ber Aushebung, fodann bie orkentlihe Dauer oder bie Rei⸗ 
henfolge ober Abwechfelung, des Dienftes, je nah dem Maaß 
des Bebürfniffes oder der Gefahr, überhaupt nad) dem Gange bes 
Kriegs u. f. w. betrifft, dem pofitiven Gefeg zu überlaffen ift) der 
wahren Bleihheit und gereicht keinem Einzelnen zur begründeten 
Beſchwerde. Immerhin bleibe es dabei dem Gefammtwillen er 
Yaubt, alle mit dem Hauptprincip irgend verträglihen und durdy das 
Gefammtintereffe empfohlenen Ausnahmen oder . Modificationen 
zu flatuiren, in beren näheren Vorfchlag oder Beurtheilung wir uns 
aber hier nicht einzulaffen haben. Zu einigen Bemerkungen darüber 
werden wir unter bey dem SHeerwefen überhaupt und bann ber 
Landwehr und dem Landfturm gemwibmeten Artikeln ben Anlaß 
nehmen. 
’ Noch unbedingter ald von Seite des Rechts (denn auch das. 
Syſtem der Miethtruppen iſt unter gewiffen Vorausfegungen und Bes 
ſchraͤnkungen nicht unvereinbar mit demfelben) empfiehlt fid) das Sys 
ſtem der Nationalftreiter von jener der Politik, derjenigen Politit ndms 
lich, welche nicht ein dem Volks⸗Intereſſe entgegengefegtes Regierungs⸗ 
oder Herrfchafts: Intereffe verfolgt, fondern das gemeinfchaftlihe In⸗ 
tereffe beider, d. b. das wahre Geſammtwohl. Das Natios . 
nalheer naͤmlich ift unvergleihbar ſtaͤrker, zuverläffiger, 
Recht und Freiheit [hirmender und dabei wohlfeiler, als 
das aus Kriegsknechten beſtehende. j 

Das Syſtem der Nationalbewaffnung bietet — wofern der Staat 
nicht allzu Eein ift — eine unerfhöpflihe Quelle von Streitkräften 
dar, mährend aud ber größte, blos dem ſtehenden Deere ver- 
trauende ſich dem Schidfal weniger Schlachten preißgegeben ſieht. Das 
"gahlreichfte Heer — mir haben e8 an Napoleons ungeheuerer Krieges 
macht geſehen — kann zu Grunde gehen durch einige große Unfälle; 
und dann iſt es Schwer oder unmöglich, in Bälde ein neues zu bilden: 
während eine in Waffen geübte Nation bie Lüden ihrer Schlachtrei⸗ 
hen leicht wieder mit gleich tüchtigen Kämpfern füllt und alljährlich 
ihr eine unüberfehbare friſche Schaar von Streitern, heranwaͤchſt. Nur 
zu Angriffs» oder Eroberung = Kriegen taugt das National: 
heer weniger als das aus Soldaten beftehende, weil die Liebe zur 
Heimath und die Familienbande davon abhalten; doch ift gerade dies, 
weltbürgerlich betrachtet, ein Eojkbarer Vorzug, und ebenſo die Stärke 
des Nationalheeres im Vertheidigungs- Krieg die wirkſamſte Abs 
haltung von ungerechtem Angriff und dergeftalt das trefflichſte Bewah⸗ 


Gonfeription. 137 


rungsmittel des Friedens. Soviel Indeffen mag zugegeben werden, 
dag neben bem Spftem bed geordneten Nationalaufgebotes 
ein, verhältnigmäßig kleiner, ftehendber Heeresftamm von 
Mugen oder Nothwendigkeit fein kann. An biefen volllommener eins 
geübten Stamm würden dann die aufgebotenen Bürgermiligen je nad) 
Erfordernig fich anfchließen. Bet ben MWaffengattungen, die eine laͤn⸗ 
gere Zeit zur Ausbildung erheifcyen, wie bei der Meiterei, ber Artil⸗ 
Ierie, dem Gentewefen, ift die Nothmendigkeit einleuchtend. Solcher 
kleine Heeresftamm aber kann dann fuͤglich gebildet werben, tie ans 
bere Zmeige des Staatsdienftes, durch freiwillig, gemäß Dienftcon» 
tracts, Eintretende. 

Nicht nur phyſiſch flark durch die Zahl der ſtets vorhandenen 
und nachwachſenden Streiter, fondern auch moraliſch ſtark durch patrios 
tiſche Begeiſterung und durch lebendige Theilnahme am Gegenſtand oder 
Zweck des Kriegs, durch Liebe fuͤr Heimath, Familie und eigenen Heerd, 
iſt das Nationalheer, und ſtets in dem Verhaͤltniß mehr, als die ein⸗ 
heimiſche Verfaſſung jenen theuren Guͤtern Schirm und Pflege gewaͤhrt. 
Nur ſehr unvollkommen werden dieſe Motive bei einem Heere von 
Soldknechten erſetzt durch ſtlaviſchen Gehorſfam, Furcht vor barba⸗ 
riſcher Strafe oder auch durch ſoldatiſche Ehre und durch perſoͤnliche 
Ergebenheit fuͤr einen geliebten Fuͤhrer. Nur an der Liebe fuͤr jene 
theuren Guͤter entzuͤndet ſich die wahre Begeiſterung im Kampfe, 
und nur ſie verbuͤrgt die unerſchuͤtterliche Treue. Ein Heer von 
Nationalſtreitern iſt naturgemaͤß taub gegen alle Verfuͤhrungsverſuche, 
felſenfeſt treu dem Vaterlande; aus ſeinem Schooße kommen weder Ue⸗ 
berlaͤufer noch Verraͤther; die Nationalſache allein und dieſe voͤllig 
durchgluͤht ſein Herz. Dagegen iſt die Geſchichte reich an Beiſpielen 
der Abtruͤnnigkeit und der Verraͤtherei von gedungenen oder gezwunge⸗ 
nen Kriegsknechten. Wer um Lohn ſtreitet, der wendet gern ſich dort⸗ 
hin, wo der groͤßere Lohn winket, und eine vom Gluͤck verlaſſene 
Fahne haͤlt ihn nicht laͤnger, als Zwang oder Furcht reichen. 

Nationalſtreiter ſind Bruͤder des Volkes, aus deſſen Schooße ſie 
nur zeitlich ausziehen in's Feldlager und wohin fie zuruͤckkehren nad) 
vollbrachtem Kampf. Keine Scheidung befteht zwifhen ihnen und den 
Bürgern, kein entgegengefestes Intereſſe, Leine Entfremdung nad, Ge⸗ 
fühl, Gefinnung und Streben. Stets kampfbereit und willig gegen 
den aͤußern Feind, auch gegen verbrecherifche einheimifche Friedensftörer 
pflichtgetreu den gefeslichen Zwang vollbringend, find fie gleichwohl uns 
geneigt und unbrauchbar zum böfen Krieg einer etwa tyrannifchen Mes _ 
gierung wider das eigene Voll. Nie werben fie ihren Arm leihen zur 
gemwaltfamen Unterbrüdung des Rechts und ber Freiheit, nie den Seins 
den ber Nationalſache als blindes Merkzeug dienen. Diefes allein 
fhon muß jeden Wohldenkenden beflimmen, das bürgerliche Heer 
dem folbatifhen vorzuziehen, wenn auch — mas jedoch nicht 
tft — in allen andern Beziehungen das legte dem erſten voranginge. 
Denn wie glänzend immer: ein Waffendienft ſei: er ift zu theuer bes 

Staats⸗ Lexikon III, 47 


738 Conſcription. 


zahlt, wenn ihm Freiheit und Recht geopfert oder preisgegeben wird; 
und alle Herrlichkeit der auswärtigen Zriumphe wird zum Fluche, 
wenn dee Bürger dafür hingegeben ift an die Gnade eines Herrn. 
Io fümmtlihe Bürger zum Waffendienft verpflichtet, daher audy mit 
Wafſen vertraut und eingeübt in der Kunft ihrer Führung find, da 
fhroillt auch ihre Bruſt von ftolzem Selbfigefühl und vom Bewußt⸗ 
fein de3 auf ihrer eigenen Kraft ruhenden Rechtszuſtandes. Da kann 
nicht einmal der Gedanke ihrer Unterdrüdung aufkommen, und jeder 
Verſuch, zu welchem etwa bife Rathgeber einen Fürften verleiten 
möchten, würde augenblicklich fcheitern an ber entfchlofjenen Haltung 
des Volkes. 

Audy die vergleihungsweife Wohlfeilheit unferes Epftems 
wirft ein bedeutendes Gewicht in bie Wagſchale. Nationalftreis 
‚ter koſten in Friedenszeit die Nation nur wenig; und bie ders 
geftalt erfparten und gefammelten pecuniären Kräfte werden bann, 
wenn ein Krieg ausbricht, den größten Aufwand erſchwinglich machen, 
während die Laft des jtehenden Heeres die Völker auch im Frie⸗ 
den drüdt und erdrüdt, und fodann im Kriege leicht die. völlige Ge⸗ 
ſchoͤpfung eintritt. 

Bon allen diefen Vorzuͤgen iſt, mie ſchon aus den bisherigen An» 
beutungen hervorgeht, das niederfchlagende Gegentheil bei dem Syſtem 
der gedungenen und ftehenden Deere zu erkennen. Gegen bus 
Recht zwar läuft daffelbe, wie bereitd oben bemerkt worden, uns 
‚mittelbar oder unbedingt nicht. Es kann, ohne Rechtsverletzung, 
eine Regierung oder eine Nation den Waffendienft, wie andere Arten des 
Staatödienftes, durdy bezahlte, freiwillig fi) darum Meldende (und zwar 
nicht nur durch Einheimifche, fondern zum Theil auch durch Fremde) aller: 
dings verrichten laſſen; und gegen das Spftem folcher freien Werbung 
ift infofern nichts zu erinnern. Doch bewirkt fhon die politifche 
Gefährlichkeit oder Wermwerflichkeit eines Syſtems, wenn fie ertannt 
wird, auch zugleich eine rechtliche Unmöglichkeit feiner Behaup⸗ 
tung, welche nämlic in folher Vorausfegung mit dem wahren, ver- 
nünftigeen Gefammtmillen durchaus unvereinbarlih wire. Ein 
ſtrengeres Urtheit jedoch ift zu fällen über jene Bildungsmeifen 
und Einrihtungen bes ftehenden Heeres, welche der bürgerlichen 
Freiheit und Gleichheit oder andern rechtlichen Korderungen dee 
Volks Eintrag thun. Wenn 5. B. eine zwangs weiſe Anwerbung 
ftattfindet, ſei e8 eine ganz regellofe oder rein gewaltfame — mie etwa das 
Matröfenpreffen in England — ober eine nur auf die niede⸗ 
‚ren Stände befchränkte — mie vor der franzöfifchen Revolution faft 
überall der Kall war — überhaupt eine, fei es im Princip, ſei es in 
der Ausübung, Willkür und Rechtsungleichheit mit fi fuͤh⸗ 
rende; ebenfo, wenn dem Soldatenftand ungebührlihe Vorrechte vor 
jenem der Bürger verliehen find oder das Anfehen der bürgerlichen 
Gewalt ‚gegenüber jenem der militairifchen herabgewürdiget wird, u.f. w. 


8 


ı 


Gonfeription. 739 


alsdann iſt auch wahre Rechtsverletzung vorhanden und baher 
unbedingte Verwerflichkeit. 

Dom polttifhen Standpunkt betrachtet iſt zuvoͤrderſt einleuch- 
tend, daß das Syſtem des ftehenden Heeres, alfo der Unterfcheibung bes 
Soldaten: vom Bürgerftand und der ausfchließend dem erften 
übertragenen Waffenführung nur einen verhältnißmäßig kleinen 


Theil des Volkes wahrhaft wehrbar ober tuͤchtig zur Vaterlandsver⸗ 


theidigung werden läßt, und daß hier alfo der etwa anzuerkennende 
Vortbeil einer volllommneren Einübung meit Überwogen wird durch den 
Nachtheil der unendlich befchränkteren Zahl der Streiter, folglich ber 
Schwierigkeit oder Unmöglichkeit bes hinreichend ſchnellen Erfages erlits 
tener großer Verluſte. Und gleihmohl ift die um fo Vieles geringere 
Streitkraft unenblih Loftfpieliger für den Staat ale die National 


bewaffnung. "Die Klagen, die allenthalben darüber laut ertönen, mas 


hen bier jede Ausführung überflüfiig. Seit dem Auffommen ber ftes 


* henden Heere ward faft allenthalben und in fortwährend fteigendem 


‘ 
. 


Maße das Mark der Nationen ausgefogen und furdtbure Laften der 
öffentlichen Schuld aufgehäuft, der Unterhaltung jener Kriegsſchaaren 
willen, deren Zahl nothwendig vermehrt werden mußte im Verhaͤltniß 
der Unwehrhaftigkeit, worein feit eben ber Zeit die Muffe der Nation 
verfan?, und im Verhältniß der ſtets weiter um ſich greifenten Erobes 
rungsluft, Rivalität und Glanzſucht, wenn auch nur einzelner — aber 
dann durch Beifpiel oder Gefahr zur Nachahmung verleitender — 
Staaten oder Regenten. 

Und von fo theuer erlauften Schaaren hatte man oft, In ber 
Stunde der Noth, erft nur geringe Hilfe Das Kriegs Handwerk 
mag wohl gelenkig und kampfgeuͤbt machen; aber es verleiht jene hoͤ⸗ 
bere Begeifterung nicht, welche aus Vaterlands⸗ und Freiheitsliehe 
quillt, daher nur Nationalftreitern eigen if; und es verleiht jene heis 
lige und zuverläffige Treue nicht, welche nur die Frucht der in Buͤr⸗ 
gerherzen natürlich flammenden Anhänglichkeit an bie Nationälfache 
und Nationalehre fein, nicht aber erfauft oder bedungen werden kann. 
Zahlloſe Beifpiele des Abfalls der Miethtruppen find in ben Blättern 
der Gefchichte verzeichnet, ja Beifpiele der frevelhafteften Verraͤtherei. 
Man gedenke nur der karthagiſchen Miethtruppen, ſodann der Praͤ⸗ 


torianer.in Rom und ber,nielen zumal guten Kaifer, gegen 


welche fie das vatermörderifhe Echwerdt erhoben; man gebenke der 
tuͤrkiſchen Kriegsinechte im Chalifat und der Sanitfcharen 
im osmannifchen NReih u. f. w. 

Was aber dem Syſtem der Kriegsknechte noch am meiften entges 
genfteht, das ift ihre gleichmäßige Brauchbarkeit zu jedem böfen 
wie zum guten Zwed. Die Dienftpflicht des gedungenen Soldaten ift 
unbedingte Erfüllung des an ihn ergebenden Gebots. Er iſt duch 
feinen Dienftcontract, überhaupt durch feinen Stand als Soldat, aus 
einer Perfon, aus einem felbftfländigen Mitglied der bürgerlichen Ges 
ſellſchaft, zur bloßen Sache, d. h. zum willen.ofen 3 e vezeug wor⸗ 


740 Gonfeription. 


den, deſſen Kraft ſich ohne Unterfchieb überall dorthin richten muß, wo⸗ 
hin das Commandomwort lautet. Er hat nit Mitbürger und Freund, 
nicht Bruder und nicht Vater mehr; er ift blos Dfener der Ges 
malt. Db diefe für oder wider das Recht, für oder wider das Volk, 
die DVerfaffung, die Freiheit fei: — dies Alles gilt ihm gleidy ober 
muß ihm gleich gelten; er ift eine bloße Waffe, gehorfum dem Herrn, 
dem fie gehört, oder der Hand, bie fie gebraucht. Daher befteht all 
dort, mo eine ftarke ſtehende Heeresmacht gegenüber dem Volke aufgeftelft ift, 
nicht mehr Recht und Freiheit, als eben die Regierung, welcher die Hee⸗ 
resmacht dient, zu gewähren für gut findet, und Liegt allein in der Gnade 
diefer Regierung alle Hoffnung und alles Heil. Zwiſchen einem einhei⸗ 
miſchen und einem fremden Heere ift alsdann nur wenig Unterfchied ; 
beide find dem Buͤrgerthum entfremdet und bliden mit übermüthiger 
Verachtung auf daffelbe nieder; zu beiden blidt ba wehrlofe Volk mit 
gleicher Unmacht und gleihem Echreden auf; gegen beide ift all fein 
Mecht und all fein Mille gleich bedeutungslos und unkraͤftig. Geſetz 
und Verfaffung gelten bier und dort nur fo viel und fo lange, ale 
der Kriegsmeifter es will, und das bemüthige Bemußtfein fo verlorner 
Lage tödtet in den Bürgern allen Stolz, allen Muth, alle Hoffnung 
der Freiheit. Solchen Staaten iſt alfo ber ebelfte Nerv bes Lebens 
geraubt, und die zu Sklaven herabgewürbigten Bürger verdienen, bei 
der daraus fließenden Ermiedrigung auch des Charakters, bald nichts 
Befferes mehr ale die Sklaverei. 

Alte diefe Nachtheile und alle diefe unfeligen Folgen des Syſtems ber 
Miethtruppen hat der Geift der Neuzeit deutlich erfannt, und die aufge⸗ 
klaͤrte Sffentlihe Meinung unter allen civilificten Völkern hat ſich laut 
dagegen ausgefprohen. Früher liegen die Völker, theils gedankenlos, 
theils willenlos, es ruhig geſchehen, oder glaubten gar nody babei zu 
gewinnen, dag an die Stelle der allgemeinen- Wehrpflicht oder der 
Kriegführung in der Heermanie almälig (Anfangs naͤmlich nur 
ausnahmemeife ober zum Theil) der fie erleichternde der Geleite, fp&: 
ter der fih zur Megel erhebende geordnete Dienft der vielgliedrigen 
Lehnfolge oder Vafallenfchaft, noch fpäter jener der mit der Vermie 
thbung gemorbener Schaaren ein eigenes Gewerbe treibenden Condot⸗ 
tieri, und endlich bie ftehende Macht der von den Königen oder Für: 
ften, mehr oder minder frei oder gewaltfam, gemorbenen Truppen 
oder Soldaten trat, und bergeftalt die eigentlichen Bürger — feltene 
Säle einer dringenden Noth abgerechnet — der Mühe und Gefahr. 
des MWaffentragens enthoben, aber dafür mit dee fchweren Laft ber 
Unterhaltung fortwährend ſich mehrender Schaaren von gedungenen 
Kriegsknechten belegt, und zugleich dem Uebermuth dieſer Bewaffneten 
und ber unbefchränkten Gewalt des Herrn berfelben wehrlos Preis ges 
geben wurden. Die Unerträglidykeit der Laft endlich und bie Elare Er: 
kenntniß ber übrigen mit folhem Syſteme verbundenen Uebel führten 
die Idee der Nationalbemwaffnung und das lebhafte Verlangen 
nad berfelben zuruͤck; aber die franzäfifhe Revolution, von 


- Eonfeription. 741 


welcher man zunaͤchſt feine Befriedigung erwartete, veranlaßte zwar bie 
theilmeife Verwirklichung, doch keineswegs in dem reinen Sinn, 
worin die Forderung erklungen, fondern getrübt durch unlautere und- 
inconfequente Beflimmungen, und dazu unter Beibeyaltung, ja Er⸗ 
ſchwerung mehrerer Hauptübel des alten Syſtems. Es geſchah diefeg 
nämlich durch die Einführung der Gonfcription. 

Schon vor der frangöfifhen Revolution zwar beſtand in mehres 
ren Staaten, namentlid) in Defterreich, eine Confeription °), 
db. h. eine Aufzeichnung ber waffenfähigen Mannfchaft zum Behuf der 
Aushebung zum Kriegsdienſt; doch enthielt fie kaum im Keime das 
jenige, was fpäter das Napoleon’fhe Confcriptionsfyftem 
vollendete. Wohl nämlich erkannte man ſchon darin die Idee ber 
Leibherrlichkeit des Staates (oder bes Megenten) über die waffen⸗ 
fähigen Unterthanen, aber’ fie ward vorerft nur geltend gemacht über 
die niedrigeren Volksclaſſen, zumal über bie von’ jeher gedruͤckte 
Glaffe der Bauern, welche man, obſchon fie noch unter den härteften 
Laften der Feudalität und Hörigkeit fhmachtete, dennoch dem Namen 
nad) zu freien Eigenthuͤmern erklärte und unter ſolchem Titel jest auch 
von Staats wegen zu den fchwerften Leiftungen in Anfprudy nahm. Die 
höheren Glaffen alfo blieben mit ber Rekrutirung verfehont, und auch 
die Städte-Bürger meift nur inſofern in's Mitleiden gezogen, daß 
man ihnen bie Stellung einer nad) ber Volksmenge bemefjenen Zahl 
von Rekruten auflegte, doch bie Art des Aufbringens ihnen felbft übers 
ließ. Da übrigens neben biefer Gonfeription die freie Werbung fort 
beftand, auch Viele zur Strafe (3. B. wegen Trunk, Schlägerei ober 
anderer Eprceffe) zum vorhinein unter bie Soldaten geftoßen wurden, 
fo verminderte dadurd) bie Zahl der eigentlich Conferibirten ſich anfehns 
lich. Erſt der Krieg des verbündeten Europa wider die neufraͤnki⸗ 
[he Republik, welcher diefelbe, die da neben den Coalitionswaffen 
auch noch einheimifche Stürme zu beftehen hatte, zur Entfaltung der 
gefammten Nationalkraft aufrief, brachte dag Aufgebot in Maffe 
hervor, ein Anfangs ungelendes Werkzeug, welches aber bald buch 
Carnot's großen Geiſt eine zum entfheidenden Triumph führende 


1) Die im republifanifhen Rom durch die Conſuln alljährlich gehaltene 
Confcription, b. h. Aushebung der zur Bildung ber Legimen nötbigen 
Mannſchaft aus ben waffenfähigen Bürgern, welche fämmetlidh vom 17. bis zum 
- 45. Jahre Eriegäbienftpflidtig waren, hat zwar bem neuen Conſcriptionsſyſtem 
den Namen gegeben, ift aber, was Geiſt und Princip betrifft, von bems 
feiben weſentlich verfchieden. Nur die neufränktifche Gonfcription, fo wie 
Carnot in ben verhängnißvollen Tagen des erften Revolutionskriegs fie * geftars 
tete, war ihr nadpehiibet und gab Volks: oder Bürgerheere wie fie. 
Vom 16. bi8 zum 40. Jahre follte nach ihr die Kriegspfliht ſaͤmmtlicher 
franzöfifcher Bürger dauern, und noch bis zum 60. Jahre gehörte jeder zur Ras 
ttonalgarbde. Welchergeſtalt biefes Syſtem, ungeachtet der Kortbauer feines 
Namens und mandjes Formenwerks, dem Wefen nad, zumal buch Rapo⸗ 
Leon aus einem volksthuͤmlichen in ein ſoldatiſches verwandelt wurbe, ift 
im Texte angebeutet. ' 


m 


743 Gonfcription, 


Seftaltung erhielt. Die Nationalheere Frankreichs zerftäubten bie 
flogen Soldatenheere ber Goalition, und es nahm die legte endlich 
fetbft ihre Zuflucht zum Aufgebot des Volkes, zu Buͤrgermilizen unb 
Landſturm, um den Untergang abzumehren. Freilich gefchab biefes 
mit geringerem Erfolge, als man erwartet hatte; denn der Landſturm, 
wenn er blos aus denjenigen befteht, welche das ftehende Heer zurüds 
gelaffen hat, befist natuͤrlich jene Kraft und jenes Selbftgefühl nicht, 
die einem aus der Bluͤthe der Nation gebildeten bürgerlichen Deere 
einmwohnen. Aber die Idee eines rein bürgerlichen oder Volksheeres 
erfchreddte nicht nur die wider das republilanifche Frankreich verbündes 
ten Monarchen, fondern behagte audy dem kuͤhnen Kriegsmeifter nicht, 
dee ſich durch Lift und Gemalt an die Spige ber von Parteikampf 
durchwuͤhlten Republik und fobann, bdiefelbe fammt ber Freiheit völlig 
nieberteetend, auf den erblihen Kaiferthron gefchwungen hatte. Gleich⸗ 
wohl bedurften ſowohl er als feine Gegner fo ungeheurer Kriegsſchaa⸗ 
ten — er zum Bau bed Weltreihe, fie zur Abmwendung des Unter 
gangs — daß fie durchaus nieht auf den bisher gewöhnlichen, vielfach 
befchränften Wegen ber Rekrutirung, fondern nur buch den Grundfag 
der Kriegstienjtpflicht der gefammten flreitbaren Mannfchaft 
mochten zufammengebradht werden. Daher ward das Carnot'ſche 
Syſtem der Nationalbewaffnung infofern beibehalten, als es jene allges 
meine Kriegedienftpfliht zur Grundlage hat, aber der Herrfchergeift 
Napoleons mußte es dergeftalt zu regeln und umzumodeln, daß es, 
anftatt ein bürgerlihhes ober Volksheer unter die Waffen zu rufen, 
blos ein unermeßliches Soldaten heer fchuf, d. h. dem Herrſcher eine 
unerfchöpfliche Vorrathskammer für fein nimmerfattes Beduͤrfniß von 
Kriegsknechten dbarbot. Diefes Napoleon’fhe Conſcriptions⸗ 
ſyſtem ward dann natürlich auch denjenigen Staaten aufgedbrungen, 
welche entmweber als erklärte Wafallenftaaten Frankreichs oder unter dem 
Titel von DVerbündeten dem Weltreich angehörten, ſodann auch mehr 
ober weniger nachgeahmt von den ihm gegenüberfiehenden, und, nad 
ber Zerteümmerung bes monftröfen Baues, gleihmohl in feinen Haupt⸗ 
zügen beibehalten von den meiften Diefer Staaten, im Mutterfand feibft 
jedoch, in Folge ber conftitutionellen Charte Ludwigs AI, wefent: 
lid) abgeändert und erleichtert 2). 


n 


2) Die Charte Ludwigs XVIIT. yerorbnet im Art. 12.: „Ta conscription 
est abolie. Le mode de recrutement de l’armee de terre et de mer est de- 
termine par une loi“, In Folge diefer Verordnung wurde ber Stand des 
Heeres ‚einige Jahre lang blos dur freiwillig Eintretenbe erhalten. 
Als aber die Erfahrung das Unzureichende dieſes Verfahrens fühlbar machte, 
kehrte man durch die Gefege vom 10. März 1818 und vom 9. Iuni 1824 zum 
Princip der Aushebung zurüd, jedoch fo, daß biefelbe nur ale Aushülfe 
dienen follte, inſofern naͤmlich durch die freimillige Anwerbung das Bedürfniß 
nicht befriediget würde. Als jaͤhrliches Beduͤrfniß waren durch bas erfte 
Geſetz 40,000 Mann, durch das zweite 60,000 Mann angenommen, unb bie 
Dienftzeit dort auf 6 und bier auf 8 Zahre feftgefegt worden. Die Charte von 


Gonfeription. 743 


Dermöge dieſes Conſcriptionsſyſtems befteht eine Art von Leib» 
herriichPeit des Staates — In den meiften Staaten vielmehr des 
Regenten als Kriegsmeiſters — über die gefammte männliche Ber 
völkerung und jeden einzelnen Eprößling berfelben. Wir fagen eine 
Leibherrlichkeit, weil fie nicht eigentlich auf ſtaatsbuͤrgerliche 
Pflicht, fondern auf das Factum des Geborenfeins auf einem 
Staatsgebiet oder des Erzeugtfeins von einem Staatsangehdrigen 
fid) gründet und früher ausgeübt wird, als der Keibpflichtige großjaͤh⸗ 
tig, d. 5. wirklicher Staatsbürger, geworden if. Wir fagen ferner 
„Leibherrlichkeit” darum, weil ber Anſpruch gegen jedes Indivi⸗ 
duum als ſolches, nit aber ald Glied einer Gefammtheit 
geht, d. 5. weil gegen jedes das volle Recht angefprochen oder von 
jedem nad Belichen die volle Leiſtung eingefordert wird, aber von 
einer dem Gefellfhaftsgefeg gemäßen Gemeinſchaftlichkeit 
der Verpflichtung, daher auch von einer thunlihft gleihen Verthei⸗ 
Lung ber Laft keine Rede if. Dem Staat alfo, weil er Leibherr jes 
des Einzelnen ift, fteht die freie Auswahl unter den Pflichtigen oder 
die von feinem Belieben abhängige geſetzliche Beſtimmung ber Ord⸗ 
nung oder Reihenfolge, wornach biefelben unter die Waffen zu 
rufen feien, ebenfp der aus mas immer für Gründen zu gewähren: 
den Befreiung zy. Kein Gerufener Bann ſich beſchwoͤren; benn er 
ſt geborner Waffenknecht: und gegen die Befreiung keines Andern 
lann er ſich auflehnen, weil dadurch nimmer feine eigene Dienftpflicht, 
de ja jedenfall eine voltftändige ift, bem Umfang nach vermehrt, 
{mdern blos factifch die Nothwendigkeit ber Leiftung ihm etwa näher 
geuͤckt, d. h. dem Leibheren die Veranfaffung zu ihrer wirklihen Eins 
fosderung — welche ohne bie Befreiung Anderer vielleicht nicht ge: 
ſchehen wäre — gegehen wich, 


1830 aber verorbnete, daß bie Zahl des jährlichen Sontingents jeweils durch bie 
Kammern votirt werden ſollte. Nunmchr wurben auch hardy ein neues 
Geſetz (vom 21. März 183%) mehrere Beftimmungen ber heiden frühern abges 
äntert und dadurch abermals eine Annäherung an das alte Con⸗ 
feriptionsfyftem bewirkt. Die Aushebung nämlich, und zwar nach dem 
Roofe, wurde ald Hauptgrundlage der Rekrutirung erftärt, und der 
freiwillige — übrigens an gewiffe Bedingungen gebundene — Eintritt 
nur nebenbei noch beibehglten. Die Vertheilung des Gontingents auf 
die einzelnen Departemente und fodann auf die Arrondiffements und Gantone 
fon durch das jährliche Sefeg beftimmt werden. (Ob nah der Volk szahl 
fhlechthin, oder nach der Zahl ber dienfttauglichen Mannſchaft, bicibt uns 
beftimmt. Nach dem Gefeg von 1818 galt das erfte Verhaͤltniß.) Uebrigens 
ift das Recht des Einftellens anerkannt, audy feine Ausübung wohl geregelt 
und erleichtert. Man rechnet, daß alljährlich der fünfte Theil der Ergaͤn⸗ 
gungemannfejaft durch Einfteher gebildet wird. Auch Befreiungen vom 
ooßziehen oder von ber Dienftpflicht hat das Geſetz in anſehnlicher Dienge ftas 
tuirt, und wirklich mehr, als zu billigen it, zumal da an die Etelle der Wefcels 
ten jeweild die Nachmaͤnner eintreten müffen. Das Ganze ift hiernach ein 
bloßer Vergleich zwifchen gut und böfe, und zwar cin nit nur unbefrits 
digenber, fondern auh der Sonfequenz ermangelinder. 


744 Gonfeription. 


In diefen — ben rechtlichen Verſtand freilich wenig befriebigenben — 
Morausfegungen liegt bie einzige Möglichkeit, bem Conſcriptionsſyſtem 
irgend eine Haltbarkeit zu geben, d. h. es wenigftens von ben allers 
f&hreiendften Widerfprücen mit fich felbft und mit den einleuchtends 
ſten allgemeinen flaatsrechtlihen Wahrheiten zu befreien. Sagt man 
fi) aber 108 von foldhen Vorausſetzungen, ober will man nicht einges 
ftehen, daß fie flattfinden, fo ift dem Gonfcriptionsfpftem aud ber 
legte Rechtsboden geraubt. Wie Eönnte man ohne die Ans 
nahme einer jedem Juͤngling perfönlih und unbedingt (mithin nicht 
blos als dem Zheilnehmer an einer gemeinfchaftliden Verpflich⸗ 
tung, fondern ale individuell Verpflichteten) aufliegenden Schuldigkeit, . 
auf ben heliebigen Kuf des SKriegsheren unter die Sahne zu treten, bie 
willkuͤrliche Auswahl oder auch bie zu einer fcheinbaren Milde⸗ 
tung verordnete Aushebung nad) dem Loo ſe flatuiren? Wenn man 
z. DB. eine Schaar Rebellen becimirt, fo geht man dabei von der 
Vorausſetzung aus, ein Jeder habe den. Tod verdient, ben vom Looſe 
Setroffenen alfo widerfahre blos ihe Hecht, den Fadurd Befreiten aber 
ein Gluͤck. Und wenn ein .gemeiner Frohnds oder Leibherr Knechte, 
foviel er braucht, aus feinen Hörigen aufbieten darf, und etwa zur 
Steuer der Ordnung oder aus Billigkeits- oder Humanitätsrüdfidhter 
eine Reihefolge oder eine Beſtimmung duch’s Loos feſtſetzt — fid 
ſelbſt übrigens das Recht der Freigebung der Getroffenen und alfo de 
Aufgebots der Nachmänner vorbehaltend — hat er dadurch nicht fein:n 
gegen jeden Einzelnen gehenden, vollen Herrlichkeitsanſpruch kund 
gegeben? — Nicht anders bei'm Loosziehen der Confcriptionss 
pflihtigen. ALLE, fammt und fonders, find dem Herrn eigen; 
aber Alle zufammen braucht er nicht, und eine rein milltürlide 
Auswahl wäre gehäffig. Man läßt alfo das Loos entfcheiden, ın> 
ter Vorbehalt jedocdy der eben bemerkten beliebigen (ob aud in ber 
Form eines Geſetzzes ausgefprochenen) Befreiung Einzelner oder mans 
zer Claffen, an deren Stelle fodann die Nahmänner treten. Das 
Conſcriptionsgeſetz ift überhaupt nichts Anderes, als die Feſtſetzung der 
Ordnung, in welcher der Kriegsherr (fei e8 der Staat oder der Fuͤrſt) 
von feinem gegen Alle fammt und fonders gehenden Rechte Ges 
brauh machen und in welhem Maaße er ſolches ausüben will. 
Diefes Maag ift zwar ideal und in Bezug auf das Allgemeine 
buch das Beduͤrfniß gegeben; in Bezug auf den Einzelnen aber 
lediglicy durdy den Willen des Herrn. Findet diefer (d. h. abermal 
Staat ober Fürft) es dem Bedürfnig genügend ober fonft räthlich, 
den Dienft der Gonferibirten auf 6 oder 8 Jahre zu befchränfen, fo 
wird er es thun; aber nad) bem Zitel ober Princip feiner gegen ben 
Pflichtigen gehenden Korderung könnte er eben fo wohl auch 10 oder 
20 Jahre oder gar den lebenslänalihen Kriegsdienit fordern. Ebenfo 
genügt ihm in der Negel, jeden Mitizpflichtigen nur einmal (etwa 
im 20ften Lebensjahre) zum Loofen aufzurufen, und aus der Summe 
der gleichzeitig Berufenen irgend eine beftimmte Bahl in das Heer zu 


Confcription. 745 


fteden, alle Uebrigen berfelben Altersclaſſe aber (vorbehaltlich bed Re⸗ 
fervedtenftes) von der Mitizpflicht zu befreien für ihr Leben lang. 
Nah dem Princip der Forderung aber könnte er eben fo wohl auch 
wiederholte Loosziehungen verordnen, ober andere Altersjahre dafür 
feftfegen und aud) den Refervedienft beliebig ausdehnen u. ſ.w. Ebenſo 
mit den Befreiungen: kann ber Staat bie einzigen Söhne, 


ober von jeder Familie einen Sohn, oder die Stubirenden 


überhaupt, oder die ber Theologie Befliffenen insbefondere, ober bie 
an irgend einem kleinen Gebrechen Leidenden, oder die ein beliebig 
beflimmtes Maaß der Körperlänge nicht Erreihenden u. f. m. von der 
Milizpflicht loszählen und die dadurch entſtehenden Lüden durch die 
Nachmaͤnner erfüllen laffen ; fo kann ee auch den Kreis folcher Befreiun⸗ 
gen noch weiter ausdehnen, 53.3. zur Begünfltigung gewiſſer Ges 
werbe, zur Ermunterung des Handels oder der Schifffahrt, oder des 
Bergbaues u. f. wm. Der dadurch für die Nichtbefteiten, insbefondere 
für die Nachmaͤnner der Befteiten, entflehende Zuwachs der Laſt iſt 
für fie mohl ein Unglüd oder ein unangenehmer factifcher Umftanb, 
nicht aber eine ungerechte Bebrüdung; denn was zehn Nachmaͤnnern 
ohne Unrecht gefchehen mag, das kann man auh Hunderten gleidy 
unbedenklich aufbürden. Iſt Jeder perfönlich pflichtig zum Krieges 
bienft, fo kann dieſer Dienft allerdings auch eingefordert werden 
von Jedem, und Keiner hat alsdann darnach zu fragen, ob daffelbe 
auch gefchehe bei allen Uebrigen. Das Confcriptionsfpftem alfo, da es 
nah) beliebiger — theils gefeglicher, theild abminiftrativer — Ver⸗ 
fügung aus einer Summe von (ibeal oder theoretifch) gleich Verpflich⸗ 
teten bie Einen unter die Waffen ruft und die Andern freiläßt, fpricht 
eben dadurch aus, daß es jeden Einzelnen für perſoͤnlich ober 
fpecielt verpflichtet achte; benn wuͤrde die Kriegspflicht als eine ge= 
meinfhaftliche oder Geſellſchafts laſt betrachtet, fo müßte fie aud) 
gemeinfhaftlich getragen, mithin unter alle natürlic, Pflichtigen 
nach einem gleihen Maaßſtab vertheilt werden. Auch der Grundfag 


des jedem Gezogenen erlaubten Einftellens, in Verbindung mit ber 


unentgeldlihen Befreiung Vieler, deren Nachmaͤnner (vielleicht 
Vermögenslofe, während die Befreiten reich fein mögen) ſodann an ihrer 
Stelle eintreten müffen, kann lediglich nur in der Vorausfegung einer 
wahren Leibherrlichkeit(des Staates ober des Fürften) über alle pers 
fönlic) waffenfähigen Männer einige Rechtfertigung finden. Denn in 
folher Vorausſetzung iſt es freilich dem Heren erlaubt, nah Belieben 
entweber die Sreilaffung als Geſchenk zu ertheilen oder aber an eine 
Bedingung (hier alfo an die des Einftellens eines Andern) zu knuͤpfen. 
Ohne ſolche Vorausfegung, d. h. ohne folches für das Eonfcriptionggefeg 
aufzuftellende (oder zu erdichtende) Rechtsfundament, leuchtet der Wis 
berfpruch der den Einen blos unter ber Bedingung des Einftellens 
gewährten mit der unentgeldlicdyen Befreiung Anderer, gleich Züchtiger, 
und mit ber ſodann eintretenden Verbindlichkeit ber Nachmaͤnner ein. 


746 Conſcription. 


Die Vorausſetzung ber Leibherrlichkelt aber, als eine dem 
eroigen Recht widerſtreitende, kann bem Gonferiptionsfuftem wohl 
als Erklaͤrungsgerund oder als eine wenigftens logifche Rechtfertis 
gung bienen ; jedoch als Rechtsfundament nicht. Angeborne Leib: 
unterthänigkeit oder Reibeigenfchaft kann nimmer zu Recht befte- 
ben, alfo auch kein darauf zu erbauendes Syſtem zur Rechtsbeſtaͤndig⸗ 
keit bringen. Verlaſſen wir aber biefen Boden, und begeben wir uns 
auf jenen des allgemeinen oder vernünftigen Staatsrechts, alsdann 
erfcheinen der Selbſtwiderſpruch und bie unbeilbare Rechtswi⸗ 
drigkeit der Gonfeription im auffallendſten Lichte. 

Gleichheit in Tragung der Staatslaften Ift eines ber 
Hauptgefeh? des vernünftigen Staatsrechts. Daffelbe wird aber aufs 
Unverantwortlichfte verlegt durch die Gonfeription troß der fcheinbas 
ren, aber auf bloßer Taͤuſchung beruhenden Gleichfoͤrmigkeit ihrer 
an alle nachwachſende Bürger gerichteten Sorderung. Wohl wird uns 
mittelbar von Allen nur Eins und Daffelbe gefordert, nämlich das 
Loosziehen; doch die Folgen diefes Ziehens find unermeßlich 
ungleich für die Theilnehme. Die Gleichheit aber, welche ber 
Staatsbürger anfpricht, ift eine reelle und verbürgte, nicht eine 
dem Gluͤcksſpiel preisgegebene, Sowie eine Vertheilung der Steuern 
nad) dem Looſe nicht nur abgefchmadt, fondern auch ungerecht wäre, fo 
ht es auch jene der Kriegspflicht. Sie iſt es menigftens in dem 
Salle, daß den durch das Loos Betroffenen niht voller Erfag — 
von Seite der Mit: Loosziehenden oder des Staates — geleiftet merbe 
für das, maß fie mehr als die Übrigen Bürger an Dienften und Ge⸗ 
fahren für den Staat übernehmen. Das GConferiptionggefeg weiß von 
foldyer Erfagleiftung nichts und bemirkt dadurch eine maaflofe Ueber⸗ 
laftung ber vom Looſe Getroffenen und die unbilligfte Entlaftung 
ber dabei vom Gluͤcke Begünftigten. Aber die Ungleichheit bleibt bei die: 
fer allgemeinen Beeinträchtigung nicht ftehen, fie zeigt fih noch, und 
zwar hoͤchſt fchreiend, auf vielen andern Seiten. Der Staat nämlid) 
richtet feine Forderung entweder an bie einzelnen SJünglinge, 
oder an die Familien, denen fie angehören. Im erften Falle wird 
(abgefehen davon, daß die Forderung bes ſchwerſten Staatsdienftes von 
denjenigen, die noch nicht einmal Bürger, d. h. noch nicht volljährig 
find, offenbar Eeine ftaaterechtliche, fondern blos eine leibherr liche fein 
kann) der Arme, verglichen mit dem Reichen, ungebührlih bedrüdt. 
Denn wenn aud) die unmittelbare Vertheidigung des Waterlandes, alfo 
der wirflihe Kriegsdienft, als eine allen Häuptern gleihmäßig oblies 
gende Pflicht betrachtet merden kann, fo ift es doch mit dem Solda⸗ 
tendienft der Conferidirten etwas ganz Anderes. Derfelbe läßt eine 
pecunidre Schägung, alfo auch eine Erfagleiftung, und daher auch eine 
auf Unkoften der Gefammtheit gefchehende, mithin nah dem Vermoͤ⸗ 
gensverhältnig zu vertheilende Entfhädigung (überhaupt Beftrei- 
tung), gar wohl zu, und es ift ungerecht, ihn ohne folhen Erſatz, blog 
nach dem Ausfchlag des Looſes und ohne VBerädfichtigung der Ver moͤ— 


[21 


Gonfcription. 747 


gensverhältniffe, von beftimmten Einzelnen einzufordern. Schon 
das Necht des Einftellens, das man den Conſcribirten gewährt, ift 
ein Eingeftändniß, daß dem Staate nicht eben bie wirkliche, perfänliche 
Dienftleiftung der vom Loofe Getroffenen nöthig ift, fondern dag auch 
eine Geldzahlung (an erfaufte Einfteher der an eine Sffentliche Eins 
ftandescaffe) hinreicht. Diefelbe Zahlung oder den ſolcher Zahlung gleich 
zu achtenden Dienſt ohne Unterſchied dem Reichen wie dem Armen zus 
zumuthen, ift aber eine ſchwere Verlegung ber Gleichheit. Fa, auch 
das Recht des Einftellens felbft, fo mohlthätig und fo dringend von Hu⸗ 
manität und Politik gefordert es ift, bewirkt eine meitere rechtliche Uns 
gleich heit dadurch, daß es, obgleich Allen im Geſetze verliehen, dennoch 
in der That nur den Wohlhabenden, nicht aber den Armen, die in ſeiner 
Intention liegende Erleichterung, naͤmlich die Wahl zwifchen Dienft und 
Zahlung, gewährt. Der Arme muß dienen, weil er einen Einfteher zu 
kaufen außer Stande iſt; der Reiche macht fi) frei duch ein für ihn 
verhältnigmäßig leichtes Opfer. 

Noch größer ift die Ungleichheit, wenn man die F amitien oder 
die Eltern ald die.vom Gefeg in Anfpruch Genommenen betrachtet. 
Der Vater von fehs Söhnen muß ſechsmal — wenn das 2008 es alfo 
will — das Opfer eines Sohnes bringen, oder ſechsmal durch ſchweres 
Geld denſelben loskaufen; waͤhrend an den Vater nur eines Sohnes — 
waͤre er auch hundertmal reicher als der erſte — die Forderung nur eins 
mal (ja, wenn die Befreiung der einzigen Soͤhne ſtatuirt iſt, gar nie) 
ergeht, und der Kinderloſe, oder wer nur Toͤchter hat, fuͤr des Vaterlan⸗ 
des und ſeiner Familie Vertheidigung gar nichts aufzuwenden braucht. 

Die Ungleichheit vervielfaͤltigt ſi ch, je weiter wir blicken. Hier 
z. B, find mehrere Gemeinden in einen Rekrutirungsbezirk 
vereint. Der Ausſchlag bes Loofes raubt der einen vielleicht ärmern Ges 
meinde an Söhnen oder an Geld das Doppelte und Dreifäche von dem, 
was der andern. Schon ber Umftand, bag fie 3. B. mehr groß gewach⸗ 
ſene Juͤnglinge zaͤhlt, bringt ihr, bei der Bereinigung mit einer andern, 
beren Angehörige etwa (wie in Städten , verglichen mit dem gefünderen 
Lande, gar oft der Fall ift) meift kleiner oder ſchwaͤcher find, ſolches Uns 
heil; und daſſelbe Mißverhältnig mag auch entflehen, ja entfleht unvers 
meidlich gar oft zwifchen Provinz und Provinz Die eine, z. B. 
ein bürftiges Gebirgsland, befigt einen Reichthum an ſtarken Plännern, 
ift aber arm an Geld; die andere, durch Natur, auch Induſtrie und güns 
ftige Handelslage überreich, zählt verhaͤltnißmaͤßig weniger Eriegsfähige 
Bürger, Das Natürlichfte allerdings wäre, daß die erfte mehr Männer, 
die zweite mehr Geld dem Kriegsdienft darbrächte. Aber das Con⸗ 
feriptionsfpftem, die Außerliche handgreifliche Gleichheit an die Stelle ber 
wahren und mefentlihen fegend, fordert genau daffelbe, db. h. dies 
felbe Quote der Loosziehenden ober Conſcriptionspflichtigen von biefer 
und jener. Die geldreiche Provinz jedoch, wenn ihre Quote durch bie 
Menge der wegen Unfähigkeit freizulaſſenden Juͤnglinge fich vermindert, 
fenbet eben darum nicht nur eine kleinere Zahl von Männern und dabei 


748 Gonfcription. 


minder Tauglihe zum Heer als bie arme, fondern fie hat auch weniger 
für Einfteher zu bezahlen, während Die legte in beiden Beziehuns 
gen um eben foviel ftärker belaftet wird, 

Von andern Ungleichheiten, deren noch viele zu bemerken wären, 
wollen wir mwegbliden, theils meil fie minder wichtig find, theils weil 
kein Syſtem, auch jenes ber Mationalftreiter oder der reinen Bürger: 
miliz nicht, von allen, zumal auf individuellen Verhätniffen, Eigens 
(haften und Umftänden beruhenden Ungleichheiten frei fein fann. Aber 
herausheben müffen wir noch zwei auffallende Selbftwiderfprüde 
des Gonferiptiondgefeges und welche zu den härteften Ungerechtigkeiten 
führen. Es find diefes bie durch bie beiden Principien der — geſetzlich 
oder abminiftsativ — zu ertheilenden Befreiungen vom Loosziehen 
oder vom Solbatendienft und der Einſtellungs-Befugniß herbeis 
geführten. 

Diefe beiden Principlen find zwar an und für fich gerecht, human 
und politiſch gut; aber fie widerftreiten theils der Grundidee der Con⸗ 
feription, theils einigen three einzelnen SHauptbeflimmungen, und 
geben durch folchen Mibderftreit die rechtliche und politifche Verwerflich⸗ 
Leit des Syſtems nad feiner faft buchgängig anzutreffenden Geftals 
tung fund. | Ä 

Die Erteilung von Befreiungen kann ruhen einmal auf ber 
Erwägung ber reellen Ungleichheit der den ausgehobenen Sünglingen 
‚ober ihren Samilien durch ben gezwungenen Kriegsdienft zugehenden 
Nachtheile und Beſchwerden, und auf dem Anerkenntniß der Billig- 
keit oder Gerechtigkeit dee den dadurch ſchwereſt Bedruͤckten zu 
gewiährenden Befreiung. Dergeftalt ſprechen einige Gefeßgebungen bie 
einzigen Söhne, als die einzige Troͤſtung und oft unentbehrlihe Stuͤtze 
der Eltern oder überhaupt der Kamilie, freiz andere gemähren folche 
Befreiung jeder Bamilie für einen (entweder ben letzten ober gleich 
ben zweiten) Sohn. Nady einigen Gefeggebungen wird babei auf 
das Alter und die DBermögensverhältniffe oder Ernährungsmittel oder 
auch den Stand der Eltern gefehen, nad) andern nicht; und mitunter 
ift zur Hintanhaltung der Willlür die gefeslihe Beſtimmung bie 
alleinige und ſtreng einzuhbaltende Pegel; mitunter ift dem admini⸗ 
ftrativen Ermeffen mehr oder weniger Spielraum ertheiltl. So⸗ 
dann werden Befreiungen auch flatuirt im dffentlihen Intereſſe, 
d. h. aus Gründen des gemeinen Wohles oder Vortheils. So bie 
gewiffen Glaffen von Gewerbsleuten oder Studirenden oder Angeftellten 
verliehene völlige oder theilweife Befreiung, ndmlid vom Loosziehen 
- oder Kriegsdienft überhaupt, oder blo8 vom Dienen in ber erften Reihe, 
oder aud vom Aufgebot zur Landwehr oder zum Landflurm u. f. w. 
Der legtbemerkten Befreiung, auch jener vom’ Refervebienft oder von 
einer frühern Reihe des Aufgebots, "macht ferner ein — verfchiebentlich 
beflimmtes — Alter, oder dee Stand ber Verheirathung u.f. w. theils 
haſt. Wir haben hier jedoch nur die Befreiung vom Loos zie hen oder 
jene von der in Folge bes Loofens ftattfindenden erften Aushebung 


J 


‚ Eonfeription. . 749 


im Auge, weil der Mefervebienft und ber Landſturm mehr dem Euftem 
ber Bürgermiliz als jenem ber Gonfcription angehört. Diefe Befreiuns 
gen nun find, nah ihren Gründen, wenn, nicht fämmtlih, fo doch 
größtentheils zu billigen. Iſt der Zwang zum Soldatenftand eine 
Härte und ein wirkliches Unrecht (ein Anderes iſt von der unmittelbas 
ren Baterlandsvertheidigung im wirklichen Kriege zu fagen), fo iſt jede 
Ausnahme eine Verringerung folhes Unrecht, und jebesmal um 
fo empfehlenswerther, je vernünftiger (dev Humanität oder dem oͤffent⸗ 
lichen Intereſſe entfprechenber) ihre Gründe find. Aber es beruhen 
bäufig jene Befreiungen entweder auf parteiifcher Gunft für gemiffe 
Claſſen, oder auch auf blos im Allgemeinen richtigen, gar oft aber 
nicht zutreffenden Vorausfegungen, weswegen fie bort als uns 
gerechte Privilegien, und hier als auf's Gerathewohl gefpendete Wohl⸗ 
thaten erfcheinen. Die Befreiung der ftandesherrlihen Söhne 
3. B., ale welchen menigftend der Anlauf eines Einftehers nicht 
ſchwer fallen kann, ift eine bloße, dem hochadligen Blut ertwiefene 
Gunſt. Die VBefrelung der einzigen Soͤhne aber oder auch bie 
eines Sohnes aus jeder Kamilie ift in hundert Fällen dort unnds 
thig und hier unzureihend. Mancher einzige Sohn ift feiner 
Samilie eher zur Plage als zur Wohlthat vorhanden; und wenn von 
ſechs Söhnen die Älteren fünf tüchtigen zum Heere gerufen werden, 
und endlich der fechfte, vielleicht ein Krüuppel oder ein Taugenichts oder 
noch in der Wiege liegend, dem Vater gelaffen wird, fo iſt diefem 
gleichfalls nur menig geholfen. Doch fei es darum! wenn man, um 
bie Willkür entfernt zu halten, ftreng bindende allgemeine Regeln 
vorzufchreiben für gut findet, und fei überhaupt der Staatsgewalt (im 
Sinne der Gefammtheit) das unbefchränkte Recht gewährt, Befreiun⸗ 
gen nad) Gutfinden zu ertheilen. Aber zur Vermeidung bes Unrechts 
ift dabei eine Bedingung unerläglic, die nämlich, daß die Befreiung 
auh auf Unkoften der Gefammtheit gefhehe. Das ons 
feriptionggefeg dagegen ertheilt die Befreiungen auf Unkoſten Einzels 
ner, die da an die Stelle der Befreiten eintreten müffen, fei es übers 
haupt wegen ber jest nothwendigen Vergrößerung der Quote, die von 
der Claſſe der Nichtbefreiten auszuheben iſt, fei es durch die insbefons 
bere dem Nachmann im Loofe aufgelegte Verpflichtung, an ber Stelle 
bes Befreiten einzutreten. Das Leste zumal iſt ein ungeheures 
Unrecht; und unzähligemal hat dee Sohn der armen Wittme oder 
der durch phnfifhe und moralifhe Anlagen zu ganz Anderem als 
zum Soldatenftand berufene Süngling den heimathlicdhen Heerb gegen 
die Gaferne vertaufchen, feinen ganzen fchönen Lebensplan aufgeben 
müffen — teil fein Bormann im Loofe etwa ein einziger Sohn 
(vielleicht eines reichen Mannes, welchem das Einftellen Eeine des Nen⸗ 
nens werthe Laft gemefen wäre) oder ein Theolog oder ein Berg» 
mann u. f. w. gemwefen. Es gibt übrigens ein fehr nahe liegendes 
Mittel, fo bimmelfchreiendes Unrecht zu vermeiden, naͤmlich die einfache 
Beflimmung, daß an die Stelle der — fel es durch das Geſetz, fei es 


750 - Eonfeription. - 


duch die Adminiftrativbehärde — Befreiten nicht die Nachmänner im 
Loofe, überhaupt nicht andere gezmungene Einzelne, fondern nur von 
der Gefammtheit erkaufte Einſteher treten follen. Es ift 
ſchwer begreiflid, warum man dieſes einfache, auch vergleihungsweife 
wenig Loftfpielige Mittel nicht ergreift, um bie gerechten Klagen ber 
wegen Befreiung des Vormanns in’s Heer geftedten Nahmänner auf: 
zubeben. Nachdem einmal der Grundfag der Einftellungsbefugniß 
beftedt, folglih den Einzelnen das Anmerben von Andern erlaubt 
it, warum follte nicht audy der Gefammtheit folhe Werbung ers 
laubt fein? Und warum follte man nicht der Gerechtigkeit ein _fo ges 
ringes pecuniäres Opfer bringen? Ohnehin würden, wenn der "Staat 
felbft die Erfagmänner für die Befreiten zu flellen verbunden wäre, 
folhe Befreiungen nicht nur meit unbedenklicher als jego ertheilt 
werden koͤnnen (weil dann kein Einzelner davon den Nachtheil trüge), 
fondern fie würden auch feltener oder mwenigftens nur aus triftis 
gen Gründen flattfinden (weil ndämlid ber Preis dafür von dem 
Staat felbit zu entrichten wäre). 

Das Princip des Einftellens übrigens iſt, bei aller feiner 
Mohithätigkeit, ein anderer Hauptmwiberfprud bes Conſcri⸗ 
ptionsſyſtems mit fich ſelbſt. Daſſelbe hat naͤmlich den Anfpruc dee 
Staates auf den perfönlichen Dienft der nachwachſenden Juͤng⸗ 
linge überhaupt und insbefondere ber Gonferibirten zur Grundlage, 
und ed wird alfo umgeftoßen durch die erlaubte Verwandlung foldyes 
Dienftes in eine Zahlung. Denn einen Mann einftellen heißt 
nichts Anderes, als eine: Summe zahlen, befonders wo etwa 
fetbft von Staats wegen errichtete Einſtands-Buͤreaus oder Caſſen 
beftehen. Und dann hört bei geftattetem Einſtellen aller vernünftige 
Grund ber Freilaſſung, wenigftens für den Full, daß der Freizu: 
laffende vetmoͤglich wäre, auf. Auch der phyſiſch Untaugliche, auch 
der Theologie Studirende, auch der einzige Sohn u. f. w., wenn fie 
Vermoͤgen befigen oder reichen Eltern angehören, alfo zumal auch bie 
Söhne der Standesherren, können Einfteher erfaufen, und fie beduͤr⸗ 
fen daher ber Wohlthat des Gefeges, welches ihnen unbedingte 
Befreiung gewährt, nicht. Und auf ber andern Seite ift die Er⸗ 
laudniß des Einftellens wirkungslos für den, welcher arm iſt. Und 
fo ftoßen wit überall bei unferen Gonfcriptionsgefegen auf Widerſpruͤche 
und Ungeredhtigkeiten, deren Heilung nicht anders als durdy völlige 
Abfhaffung, wenigſtens duch mefentlihe Umgeftaltung 
gefhehen tann. 

Die Härte bes Conferiptionsgefeges (welches Chateaubriand 
in Bezug auf die Strenge des Napoleon’fhen Spftems ben 
„Goder bee Hölle“ nannte) mindert oder vermehrt fich feeilich 
je nad der Beſchaffenheit der einzelnen Beftimmungen deſſelben und 
nah) den duch die Gonftitutlon der Megierungsgewalt gefegten oder 
nicht gefegten Beſchraͤnkungen. Wo bie Zahl ber jeweils auszuheben: 
den Rekruten nicht duch ein Geſetz, mithin unter Zuftimmung ber 


⸗ 


“ Confeription. | 751 


Volksrepräfentation, fondern durch eine Regierungs: Drbonnanz 
beftimmt, oder wo der Inhalt ſolcher Ordonnanz fogar geheim ges 
halten wird, da ift freilich das Uebel völlig maaßlos. Auch gibt es 
wirklich felbft conftitutionelle Staaten, worin — theild wegen 
Abgangs einer befriedigenden Beftimmung über die Feftfegung der Mes 
kruten⸗Zahl, theild wegen der Mängel des Gonferiptiondgefeges — bie 
willkuͤrlichſten Gewaltsmißbraͤuche und die abenteuerlichften Bedrüdungen 
wenigftens flattfinden koͤnnen, mitunter auch wirklich flattfinden. Es 
kann nämlich unter ſolchen Umftänden nit nur geſchehen, baß von 
der oberften Behörde weit mehr Rekruten ausgefchrieben werden, ale 
der Dienft wirklich fordert, oder felbft, al8 man in ber That auszu⸗ 
heben gedentt, und daß die Vertheilung unter die einzelnen Diftrikte 
unrichtig, zur Begünftigung der Einen und zur Bedruͤckung Anderer 
gemacht werde, fondern auch, wo duch die Verfaſſung diefem Lebel 
gefteuert ift — naͤmlich wo die Rekrutenzahl durch ein Gefeg beftimmt 
und die Vertheilung unter die Bezirke der Deffentlichkeit übergeben 
werden muß — innen Ungerechtigkeiten aller Art ſich einfchleichen 
oder unbemerkt wie unbeftraft vor fih gehen. Es können nämlich 
aus der Glaffe der Pflichtigen die, welche niedere Loosnummern gezo⸗ 
gen, entweder aus Gunft oder audy ohne Gunft, zumal in dem Fall 
allzuleiht und ohne triftige Gründe entlaffen werden, wenn unter den 
böhern Nummern etwa ausgezeichnet ſchoͤne oder auch vermöglis 
here, baher zum Einftellen' wahrſcheinlich geneigtere, Sünglinge ſich 
befinden, zu welchen man beshalb die Aushebung gerne hinauffteigen 
läge. Es Bann überhaupt das Spftem des Einftellene auf die unver: 
antwortlichite Weife, namentlih zur Begünftigung der auf das Ein⸗ 
ftehen fpeculicenden Mititairperfonen und zur Erhöhung des Einflande- 
Preifes, mißbraucht werden, indem man z. B. einerfeits die vermoͤg⸗ 
liheren Rekruten duch harte Behandlung auf dem Erercirplas oder 
fonft zum Kaufen von Einftehern, wodurch allein nämlich fie der Pla⸗ 
gerei entrinnen können, gewiſſermaßen nöthiget, und anderfeits die bürs 
gerlihen, d. h. dem Militair noch nicht angehörigen Einftandsluftigen 
durch Androhen ober Zufügen ähnlicher Mißhandlung vom Kinftehen 
abfchredt. Alsdann können die von aller Concurrenz befreiten wirkli⸗ 
hen Mititairs den Preis des Einftehens durch Verabredung unter ſich 
ſelbſt auf's Ungebührlichfle In die Höhe treiben; es können fodann auch 
jene, welche ohnehin fhon eine gute Stellung, die fie zum Verbleiben 
im Militair audy ohne meiteres Einftandegeld beftimmen würde, haben. 
(3. B. Unteroffiziere, Mufitanten, Bediente), eine Art von Brands 
ſchatzung gegen bie geängftigten Rekruten ausüben; ja fie Binnen «6 
in mehrfacher Wiederholung thun, wenn die Militair- Behörde ihnen 
aus Gunſt den Abfchied vor ber Zeit ertheilt und dann alfogleich wies 
der ale Einfteher in die Reihen treten laͤßt u.a.m .- j 
Freilich läßt ſich durch eine umfichtig verfaßte Regulirung bes Ein- 
ftellens und Einftehens biefen großen Mifbräuchen und Gefahren we: 
nigftend zum Theile begegnen; doch gäbe es weit wirkfamere und näher 


7 92 | Gonfcription. 


liegende Mittel, deren Anwendung man aber verfhmäht, weil man. 
theils die Ungerechtigkeit weniger fcheut als bie Geld» Ausgabe, 
theil® aber, in gedantenlofer oder felbftgefälligee Vorliebe für das eins 
mal Hergebradhte und bisher Ausgeuͤbte, auf Vorſchlaͤge der Werbeffes- 
rung, bie nicht von SGenoffen des Standes herrühren, mit vornehmer 
Geringſchaͤtzung herabblif 

Der Willtür in Beſtimmung ber jeweils auszuhebenden Rekruten⸗ 
Zahl kann anders nicht gefteuert werden, als durch die Theilnahme ber 
VBolksrepräfentation an deren gefeglicher SFeftftelung, und 
es ift kaum begreiflih, daB ſolcher Grundfag noch nicht in allen con⸗ 
flituttonellen Staaten anerkannt wird. Kein Kreuzer Steuer darf 
außsgefchrieben werden ohne Bewilligung der Stände, und über bie 
Derfonen der Staatsbürger verfügt einfeitig das Machtwort ber Mes 
sierung ! Ebenfo befteht die Oeffentlichkelt in Steuerfadhen überall, 
wo Landftände find, ja zum Theil auch wo foldhe nicht find; aber im 
Rekrutirungsgefchäft mwaltet Heimlichkeit ob, d. h. die betheiligten 
Bezirke, Gemeinden und Individuen erfahren bie Berechnungen, That⸗ 
fahen und höheren Weifungen- nicht, deren Kenntniß ihnen nöthig 
wäre zur Beurtheilung einer jemeild vorgenommenen Rekrutirung im 
Ganzen und dann insbefondere der Gefeglichkeit der gefchehenen Mes 
artition. 
’ Segen wir jedoch ein von biefen formellen Mängeln freies Rekru⸗ 
tirungsgefeg, fo find gleichwohl die dem Conſcriptions-Syſtem wefentlich 
einwohnenden Gebrechen, ber Ungleichheit nämlih und der Härte, 
dadurch noch nicht geheilt. Diefen kann nur abgeholfen werden durch 
- das Aufgeben des ganzen Spftems, oder wenigſtens eine wefentlihe Mobi- 
fication deffelben. Erfteres würde, wenn im Intereſſe des vernünftigen 
Staatsrechts gefchehend, die Verpflihtung ſaͤmmtlicher MWaffenfähiger 
zur VBaterlandsvertheidigung (überhaupt zum Krieg für's Vater: 
and, nicht aber zum Soldatenſtand) und die freie Anwerbung 
der etwa zur Erhaltung eines tüchtigen Heerſtammes nöthigen ſte⸗ 
henden Truppen mit fid führen. Aber bei dem In der neueften Zeit 
fo ungeheuer geftiegenen Bedarf folher flehenden Truppen, deren Ans 
werbungskoſten mithin für ben Staat leicht unerfhmwinglih wären, 
und bei der vorcherefchenden Scheu vor echten Nationalftreitern iſt we⸗ 
nig Hoffnung vorhanden, diefes allein ber Theorie enifprechende Sy⸗ 
ſtem in Bälde verwirklicht zu fehen. Wir enthalten uns daher feiner 
befondern Anpreifung und fragen nur, ob nicht wenigſtens eine bie 
naͤchſtliegenden Härten aufhebende ober mildernde Mobificas 
tion in jenes ber Conſcription könnte gebracht werden? Uns fcheint 
biefeg nicht allzuſchwer, und es möchten wohl mehrere Wege zu bem 
erwünfchten Ziele führend fein. Ä 

Für's Erfte könnte der Staat (mas auch wirklich bie franzoͤſi⸗ 
ſche, die preußifche und andere Gefeggebungen thun) die frei: 
willige Anmwerbung menigftens infofern zur Bildung feines 
Heeres in Anwendung fegen, als fi tüchtige ‚Leute um mäßigen 


Conſcription. 753 


Preis (beſtehe er in Gelb oder in andern Vortheilen ober Beguͤnſti⸗ 
gungen) dafür auffinden laſſen. Sodann könnte er auch bie Stel: 
lung der Erfagmänner ben bürftigern Conferibirten durch einen 
in gewiſſen Fällen ihnen aus: öffentlihen Mitteln zu bewilligenden 
Beitrag zu dem nöthigen- Kaufgeld erleichtern, überhaupt aber durch 
forgfältige Regulirung des Einftandswefend jede mwucherliche 
oder betrügerifche Speculation, jede Bedrüdung und Uebervortheilung 
- davon entfernt halten. Er koͤnnte aber noch weiter, infofern er bie 
- Raft der freien Anmerbung nicht auf die Schultern ber großen Gefammts 
beit zu übernehmen für thunlich achtete, diefelbe mwenigfiens als, eine 
jeweils von der Gefammtheit der in einem beftimmten Jahre und in 
einem bejtimmten Bezirke conferiptionspflihtigen Juͤnglinge 
oder deren Familien gemeinfchaftlich zu tragende und unter bie 
Betheiligten nah dem Gefellfhaftsgefes zu vertheilende behan⸗ 
bein, mithin das blinde Loos der bisher dabei behaupteten ausfchlies 
Genden Herrfchaft berauben. - E& böten ſich hiezu verfchiedene Wege 
an, je nachdem man die Ausgleihung zwifchen ben Angehörigen ber 
jeweils zum Looſen berufenen-Glaffe vor dem Loosziehen oder erft nach 
demfelben vornehmen ließe. Die dee ſolcher Ausgleihung ruht auf 
dem Grundſatz, baß der Staat zwar den Dienft, ber ihm nöthig ift, 


n 


von den bdazu- geeigneten ober allernächft dafür in Anſpruch zu nehmen ' 


den Bürgern fordern könne, jebocy denjenigen, welche durch Uebernahme 
oder Leiftung ſolches Dienftes ein Mehreres als bie übrigen Gefells 
fchaftsgenoffen für das Geſammtwohl zu tragen ober zu opfern haben, 
eine entfprehende Entſchaͤdigung zu geben oder zu verfchaffen ſchul⸗ 
big fei. Sie empfiehlt ſich dabei nody durch die Betrachtung, daß es 
bem Staat, theils im Intereſſe des Dienftes felbft, theild zur Vermei⸗ 


dung zweckloſer Härte, nur erwuͤnſcht fein kann, wenn, foviel thunlich, 


diejenigen, welche ben größten Widerwillen gegen ben Kriegsdienft bes 
gen, davon befreit und dagegen bie demfelben mit freier Luft zugethas 
nen ober wenigſtens nicht abgeneigten Juͤnglinge vorzugsweife zur Bas 
terlandsvertheidigung berufen merden. Diefen Rechtegrüunden und In⸗ 
tereſſen entfpräche die Anorbnung einer zwiſchen den Genoffen befjelben 
Aufrufs in Gemäßheit ihrer freien Sinnesdußerung zu treffenden Aus⸗ 
gleihung, wornach 3. B. die Befreiung vom Loosziehen (oder 
aud) jene vom — nach ſchon gezogener Dienſtnummer) durch 
eine — etwa nach Vermoͤgens⸗Claſſen oder auch nach dem Steuer: 
Capital zu regulirende — Geldſumme erkauft werden koͤnnte und ſodann 


aus dem Ertrag dieſer Loskaͤufe (ober noͤthigenfalls aus mäßigen, von- 
ſaͤmmtlichen Confcriptionspflichtigen, die nicht freiwillig Dienft neh⸗ 


men, zu erhebenden Beiträgen) den, fei es freiwillig, ſei es nach dem 
Ausſchlag des Loofes, in's Heer Tretenden ein fie befriedigendes Hand» 
geld (oder wenigftens eine anfehnlidhe Beihuͤlfe zum Kauf eines Eins 
ſtehers) zugefchteden würde. , Ze mehr dem Dienft Abgeneigte vorhans 
den wären, um fo größer würden die ben fi dazu Darbietenden zus 
fallenden Handgelber ſain; und leicht möchte Ye Anzahl der ſolchen 
Staats s Lexiton. ILL 48 


754 Coaſcription. 


Dienſt Verlangenden fo groß werben, daß eine Loosziehung 
nur unter ihnen nöthig wäre, und daß alsdann Jener, ber eine 
Dienfinummer zöge, freudig ausriefe: „Ich habe gewonnen!” flatt 
daß er jest fen Mißgeſchick bejammert, wenn ihm folde Nummer 
zufaͤllt. Wir enthalten und hier einer ausführlideren Entwidelung 
diefer dee, zu deren Realiſirung Übrigens der Verfaſſer diefes Artikels 
bereit8 1822 mehrere nähere Vorfchläge gemacht hat. (M. f. die Pros 
tofolle der I. Kammer der badifhen- Landflände von befagtem Jahre; 
Beilage A. zum Protokoll der 22ften Sisung S. XXIX ff.) Die 
Geſetzgebung, da fie einmal aus den vollwichtigften Gründen ber Hus 
manität wie der Politit das Einftellen erlaubt und badurdy bie For⸗ 
derung des perſoͤnlichen Dienftes einer Geld» Korderung menigftene 
ähnlich gemacht, d. h. dem Pflichtigen die Wahl zwifchen Leiften und 
Zahlen gewährt hat, Bann ohne Selbftwiderfprudy dabei nicht ſtehen 
bleiben; fie muß auch bie rechtlihen Kolgerungen aus fol 
chem Princip anertennen und, obſchon freilich bee perfönliche 
Dienft als folder zwiſchen Dienenden und Nichtdienenden Leine 
Ausgleichung zuläßt, wenigſtens diejenige zulaffen oder ftatuiren, welche 
in Anfehung bes den Dienft vertretenden Geld: Surrogates leicht 
ftattfinden fann und von Rechts wegen ftattfinden ſoll. 

Durch Einfesungen biefer Art wuͤrde das Gonferiptiong = Syſtem 
wenigſtens ertraͤglich und mit dem vernuͤnftigen Rechte 
vereinbarlich gemacht; es wuͤrden dadurch wenigſtens die im Na⸗ 
poleon'ſchen Kriegsgefetz herrſchenden ſchreiendſten Härten aufge⸗ 
hoben oder gemildert. Doch bliebe es auch alsdann noch weit entfernt 
von einer alle Forderungen des Zeitgeiſtes und der edlern Politik be⸗ 
friedigenden Wehr⸗-Verfaſſung. Denn noch immer bliebe es feiner 
Weſenheit nach jenem der gemeinen ſtehenden Heere oder ber 
Kriegsknechte verwandt, ja fogar eine Ausſsdehnung deſſelben 
über die Geſammtheit des nahmachfenden Geſchlechts, ein Verſuch, 
die ganze männlidhe Jugend bes Volles — nicht zu Natios 
nalftreitern, fondern — zu Soldaten zu mahen. Dahin zielt 
zuvörderft die Verwandlung bee allgemeinen ober gemeinfhafts 
lichen. Kriegs: Dienftpfliht in eine fpecielle ober indivi— 
duelle, duch den Ausfchlag des Looſes bewirkte Verbindlichkeit. 
Nicht mehr ſchlechthin ats Bürger, fondern als buch’s Loos zum 
Kriegsknecht beftiimmter Dann tritt der Rekrut in's Heer ein; der 
allgemeinen .Bürgerpfliht hat er nad) diefem traurigen Syſtem 
Genuͤge gethban duch das Loosziehen; jetzt fängt die Soldaten» 
pfliht an, welcher ihn der leibherriſche Anſpruch bes Staates (oder 
bes Regenten) in Gemäßheit ber Entſcheidung durch's Loos, alfo vers 
möge eines fpeciellen Titels unterwirft. Sodann wird durch das 
Conſcriptions⸗ Syſtem nicht viel weniger als durch das alte Werb⸗Sy⸗ 
ſtem eine Scheidung des Volkes in zwei Claſſen, gewiſſermaßen in 
18 Völker hervorgebracht, von denen bie eine bewaffnet und mit 

en Donnern bes Kifeges ausgerüftet, bie andere wehr⸗ und vertheis 


onſcription. 755 


digungslos ber erſten preißgegeben iſt, bie eine ein blind gehorchendes, 
willenlofes Werkzeug der Regierungsgewalt, bie andere, fo oft biefe 
Gewalt e8 will, zur Ertragung auch des Aeußerften verdammt, gervifs 
fermaßen des Rechts zuſtandes beraubt und hingegeben an die 
Gnade. 

Vergebene beruft man ſich zur Vertheidigung dee Gonfcription 
(vgl. v. Liebenftein: „über ftehende Heere und Landwehr”, 1817, 
eine aus Anlaß meiner Schrift: „Uber ftehende Heere und Nationals 
miliz” herausgegebene Abhandlung) auf ihre Aehnlichkeit mit dem Sys 
ftiem der Landwehr oder der Nationals Bewaffnung, ober nennt 
fie wohl gar nur ein biefe Bewaffnung regelndes Geſetz. Die Aehn⸗ 
lichkeiten find theils nur aͤußerlich, theils nur von geringerer Bedeut⸗ 
ſamkeit; das Weſen iſt ſoldatiſch. Wohl werden dadurch (wenig⸗ 
ſtens als Regel) fremde Soͤldlinge ausgeſchloſſen, wohl wird da⸗ 
durch der Geiſt der Heere um Vieles veredelt, wohl kehren nach maͤ⸗ 
ßiger Dienſtzeit die Soldaten zuruͤck in den Schooß des Volkes, dem 
ſie enthoben wurden, und wohl legt man dem Syſtem die Idee der 
natuͤrlichen und allgemeinen Buͤrgerpflicht zur Vaterlands⸗Vertheidi⸗ 
gung unter; allein, wie ſchon oben bemerkt worden, man verfaͤlſcht 
dabei dieſe Idee, Indem man die Vaterland s Vertheidigung oder ben 
eigentlichen Kriegss Dienft mit dem Dienft im ſtehenden Heere 
vermechfelt und den Soldaten: Dienft einee Anzahl durch's Loos 
beftimmter Sünglinge der Wehr: und Krieges Pflicht aller wafs 
fenfähigen Bürger fubftituirt, indem man baher Waffen und Waffens 
Uebungen einzig und allein (mit Ausnahme bes Referve-Dienftes) den Au 6s 
gehobenen einer einzigen Altersclaffe und den den Soldatens 
ftand eigens als Lebensberuf wählenden Einzelnen vorbehält, bie 
Maffe der Nation aber bavon ausfhließt, und indem man bem 
durdy die Confcription gebildeten Heere eine rein folbatifhe, bie 
Abfonderung vom Buͤrgerſtand, ja mitunter felbft die Bürgers 
feindlihkeit zum Princip habende Verfaffung gibt. Die durch 
Confeription gebildeten Deere fi nd hiernach der Volksf reiheit kaum 
minder gefaͤhrlich als die gemeinen Sold⸗Truppen, ja durch ihre groͤ⸗ 
ßere Staͤrke koͤnnen ſie ihr noch gefaͤhrlicher werden; und endlich iſt die 
Conſcription, da ſie die groͤßtmoͤgliche Menge von Kriegsknech⸗ 
ten der freien Verfuͤgung des Kriegsherrn anheimſtellt, ein gefaͤhrliches 
Erleichterungsmittel der Angriffo-Kriege und dagegen eine Schwaͤ⸗ 
hung dee Vertheidigungs-Kraftz; indem die etwa noch neben 
dem durch Conſcription gebildeten Soldaten⸗Heere unter dem Namen 
von Landwehr oder Landſturm errichtete oder beibehaltene Natio⸗ 
nalmiliz unter ſolchen Umſtaͤnden ihrer koſtbarſten phyſiſchen und m⸗ 
raliſchen Kraͤfte beraubt iſt. 

Das befriedigende Heilmittel fuͤr ſolche Uebel iſt allerdings bloe 
bie Abſchaffung des ganzen Conſcriptions⸗Syſtems; doch 
zur mefentlihen Milderung, namentlich zue Annäherung ber Natios 
nalftreiter führende Mittel gibt es noch mehrere, ur gepleen dazu bie 


t 


756 Gonfcription.. Conſens. 


ehunfichfte Abkuͤrzung der den Ausgehobenen aufgelegten Dienfls 
pflidht, die Erweiterung des Beurlaubungs- Spftems, die weiſe 
Regulirung des Einſtands-Weſens, die Verminderung ber 
Zahl der ſtehenden Truppen und bie vollsthümliche Organifirung 
der bürgerlihen Landwehr, de8 Landſturms und der Natio— 
nalgarden ober Buͤrgerwachen, endlich ber Liberale Geiſt der 
allgemeinen Staats: Berfaffung, namentlich die dadurch gegen 
bloße Herrfhers Kriege und überall gegen Verlegung ber bücs 
gerlihen Rechte verliehene Gemährleiftung. Rotteck. 
Conſens, Einwilligung. Das roͤmiſche Wort Conſen⸗ 
ſus hat eine doppelte Bedeutung, die man zum richtigen Verſtaͤndniß 
vieler Stellen, womit oft große Theorien begruͤndet werden ſollen, un⸗ 
terſcheiden muß. Zuerſt heißt es die Uebereinſtimmung der Gefuͤhle 
und Meinungen der Menſchen, welche ſich nicht gegenſeitig bedingt. 
Es iſt der rein anthropologifhe Conſens, ſowie z. B. wenn 
Cicero (Nat. deor. 2, 4.) ben Conſenſus der Völker als einen Be⸗ 
weis für das Dafein Gottes anführt. Und viele philofophifhe und 
theologifhe und politifche Schriftfteller, neuerlich wiederum de la 
Mennais, haben dieſe Webereinftimmung als die allgemeine 
Menfhenvernunft zur legten Grundlage aller wahren Erkenntniß 
gemacht. Denn, fo fagen fie, felbft eine wirkliche, Üübernatürlihe Of⸗ 
fenbarung kann doch ſelbſt nur durch die Vernunft erfannt und ihre 
Vernünftigkeit und Wahrheit von den vielen fülfhen Dffenbarungen 
nur durdy Vernunft unterfchieden werden. Will man aber die inbis 
viduelle Vernunft des Einzelnen zur wahren, zur hoͤchſten Er⸗ 
kenntnißquelle der Wahrheit erklären, fo kommt man zu. dem ſchlimmen 
Mefultat, daB es ſich mwiderfprehende Wahrheiten und zwar fo viele, 
als twiderfprechende einzelne Meinungen und Theorieen unter den Men- 
fhen, gibt. Freilich müffen nun diefe Widerfprüche, felbft der größeften 
Dhilofophen, jeden Einzelnen gar fehr zur Befcheidenheit ftimmen ; 
freilich fteht die allgemeine Menfchenvernunft höher, ift vielfeitiger, voll: 
kommener, irethumslofer ale die des Einzelnen auf feinem befchräntten 
Standpunkte. Auch wird jede Gefellfhaft, die mit Innigkeit zugleid) 
und mit erwachtem Freiheit s und Gelbftgefühl der Glieder und mit 
möglichfter Verbreitung und Gleichheit ber Bildungsmittel gemeinſchaft⸗ 
liche Angelegenheiten beſtimmt und verwaltet, ebenfo mie bie freien 
Völker des Alterthums, vorzugsteife auf diefe Quelle zurüdtommen. 
Dennod aber bleibt die Schwierigkeit: wer erkennt denn das Gemein⸗ 
fhaftlihe in den menfchlichen Weberzeugungen, die mahre menfchlidhe 
Sefammtvernunft? Wer fcheidet einzelne widerfprechende Anfichten als 
bloße krankhafte Verirrungen Einzeiner aus? Hier wird wieder die Vers 
fhiedenheit dee Standpunkte und Anfichten Einzelner fi als wirkfam 
erweiſen — und zugleich bei Erkenntniß des Ucherfinnlichen und unferes 
Verhältniffes zu demfelben, alfo im metaphyſiſchen und moralifhen Ges 
biete — das Stuͤckwerk, die menfchlihe Unvolltommenheit alles Wifs 
fend. Die daraus entfichenden Schwierigkeiten und Störungen koͤnnen 


\ 


‘ 


Conſens. Conftant. 757 


denn auch fir gemeinfchaftliche gefellfchaftliche Angelegenheiten freier Men⸗ 


(hen fid nur Iöfen durch den Conſens in der zweiten, in der hi: 
ſtoriſchen und juriftifhen Bedeutung oder durch ein gegens 
feitiges, ſich bedingendes, dußeres Zuſtimmen ober Einmwilfigen über 


denjenigen Theil der Erkenntniſſe oder Meberzeugungen, in welchen man 


der geſellſchaftlichen Berhältniffe und Bedürfniffe wegen, 3.8. für das 


‚friedliche hüffreihe Zufammenwirken im Staateleben, für eine gemeins 


fchaftlihe Gottesverehrung in der Kirche, feiter, gemeinfchaftlich aner⸗ 
Eannter oder objectiver Wahrheiten bedarf. (S. oben ThLI, &. 13.) 
In dieſem Sinne nimmt daher auch Cicero in politifhen und juris 
firfchen Dingen. in diefens Sinne nehmen die römifhen Juriſten im 
Corpus Juris und felbft bei dem juriſtiſchen Naturrecht den Con» 
fenfus. Doch machen fie babei keineswegs einen Gegenſatz zwiſchen 
Dernunft, Wahrheit und hiſtoriſch confentirtee Wahrheit. Sie neh: 
men vielmehr an, alle gefitteten und freien Nationen (qui mori- 
hus et legibus reguntur) hätten im Wefentlihen vernuͤnftige 
Srunbfäge des gefellfhaftlichen Lebens anerfannt. Deswegen fagt ber 


SInftitutionen:Zitel über das Naturrecht gleih im erften Paragraphen: 


das Natureeht ſtamme aus ber Vernunft, und unmittelbar dar⸗ 
auf im zweiten: die freien gefitteten Nationen hätten es fih. con; 
ftituiet, nämlich durch ihre freien Rechts⸗ und Staats Bereiniguns 
gen. (©. oben Thl. I, S. 13.) Ein gültiger Confens, eine gültige 
Einwilligung zur Begruͤndung juriftifhee Verpflihtung. fordert uͤbri⸗ 
gend, daß fie frei, ohne Zwang, ohne Erpreffung duch Betrug, ohne 
Irrthum über den mefentlichen Gegenftand der Einwilligung, ernftlich 
gemeint und daß fie von einem Rechtsmitglied ausgefprochen iſt, wel⸗ 
ches im Allgemeinen als felbftftändig oder als einen ſelbſtſtaͤndigen 
rechtsguͤltigen Willen habend anerkannt ift, und welches über ben Ges 
genftand rechtlich zu verfügen oder einzumiliigen befugt ifl. Kine Cons 
fensertheilung von Dritten, 3. B. von der Obrigkeit, ift dann .in ber 
Megel nicht nothwendig. S. darüber oben Beftätigung und unter 
Ehe | Ä 


. C. Th. Weider. 
Consilium abeundi, f. Univerſitaͤt. TI 
Gonfiftorium, f. Curie, (roͤmiſche) und Kirchenverfaſ⸗ 
fung (proteftantifche). | ER 
Sonftant (Benjamin de Mebeeque), geboren zu Genf ‚1767, 
fammt von einem adeligen Gefhlechte, das früher in der Graffchaft 
Artois angefeffen war, mo es die Herrſchaft Nebecque befaf. Einer 
feiner Vorfahren, Auguftin Conftant, ber zur reformirten Kirche 
überteat, fah ſich durch die Verfolgungen, die feine Glaubensgenoſſen 
zu erbulden hatten, genöthigt, fein Geburtsland zu verlaffen, und fluͤch⸗ 
tete fih nach Genf. Der Vater Benjamins, Samuel, lebte im 
freundfchaftlihen DVerhäftniffen mit Voltaire und hat fidy felbit als 
Schriftftellee, im Fache der Romane, einen Namen gemacht. Durch 
die Ereigniffe der Revolution und die Grundfäge und Gefinnungen, die 
fi) bei ihrem Ausbruche fo lebendig offenbarten, fühlte fih Conſtant 


758 Gonſtant. 


angezogen. Er ging 1791 nach Frankteich und trat mit gelungenen 
Verſuchen im Gebiete ber Politit auf, durch bie er bald bie Aufmerk⸗ 
famkeit auf fid 309. Die erfte Schrift, burch bie er fi Wahn brach 
und fein Talent verkündete, handelte von der Stärke der gegen- 
waͤrtigen Regierung unb ber Nothwendigkeit, ſich ihr 
anzufchliegen. Bor dem Mathe der Fünfhundert trat er als Ders 
theidiger der Nechte der Proteftanten auf, die durch den Widerruf des 
Edicts von Nantes aus Frankreich waren vertrieben worden, und machte 
feine eigenen Anfprüche dadurch geltend. Seine Anfihten und Ges 
finnungen, bie eine warme Liebe zur Sreiheit befeelte, gewannen ihm 
Sreunde, welche Freunde einer gemeinfchaftlihen großen Sache waren. 
Die Stürme ber Revolution hatten ſich verzogen und Conſtant nicht 
berührt, der in ber Zeit nod zu unbedeutend war, ale daß er der 
argwoͤhniſchen Gewalt auffalfen konnte. Auch zeichnete ihn mehr ein 
ruhiger, prüfender Verſtand und eine firenge Logik, als WBegeifterung 
und Tiefe des Gemüths aus. Den Grundſaͤtzen der Zreiheit mit Bes 
barrlichkeit ergeben, fuchte er fie in allen Beziehungen des Bürgers 
zum Staate auszubilden und anzumenden, verleugnete aber nie die 
Maͤßigung und Billigket, welche Parteien im leidenſchaftlichen Kampfe 
nicht nur nicht achten, fondern auch ale Feigheit und Unentfchiedenheit 
zu verachten pflegen. Seine öffentliche Laufbahn begann erft mit ber 
Reit, wo der Mißbrauch der Gewalt des Volks weniger zu drohen 
fhien, als die Macht eines Einzigen, bie auf dem Wege war, alle 
Gewalt des Staates in fid aufzunehmen. Im Sahre 1800 warb er 
zum Mitgliebe des durch die neue Verfaffung eingeführten Tribunats 
enannt, daß einen Theil ber Gefeggebung bildete. Es hatte die von 
der Megierung vorgelegten Gefegentwürfe zu erörtern und zu prüfen, 
über deren Annahme oder Verwerfung ber gefeßgebende Körper ent⸗ 
ſchied. Conſtant trat als eines der thätigften und fähigften Mit: 
glieder der Oppofition auf und befämpfte bie Maßregeln der Megies 
rung mit Gemandtheit und Feſtigkeit, wo er fie mit den Rechten und 
Freiheiten des Landes im Miderfprudy glaubte. Napoleon liebte bie 
Oppoſitionen nicht, als die von ihm felbft ausgingen, und ertrug uns 
gern Miderfpruh. Frankreich, das ift nicht zu leugnen, bedurfte einer 
feften Hand, welche die Verwirrung ordnete, die Kämpfe dee Parteien 
endete, die ben Staat zerrütteten, Einheit in die Verwaltung brachte, 
ben innern Frieden ficherte und den Außern herbeiführte und befeftigte. 
Das Voll, der ewigen Erfchütterungen und des blutigen Haders muͤde, 
ber zu lange das Land zerriffen und bie Herrfhaft zum Preife der 
Gewalt und ber Raͤnke erniedrigt hatte, fehnte ſich nach dem Genuffe 
ber MWohlthaten eines geordneten bürgerlichen Zuftandes, nad) Sicher⸗ 
beit, Ruhe und bequemem Erwerb. War ein Mann in: Franfreid, 
ber das Alles geben konnte, dann war e8 Napoleon. Ob er es 
nicht hätte geben können, ohne das Gegengeſchenk der Allgewalt, ber 
er raſtlos entgegeneilte, das ift eine andere Frage. Der Widerfpruch 
des Tribunats ward ihm laͤſtig, unerträglich, und er fing bamit an, es 


Sonftant. 759 


zu verflümmeln, von ben heftigften MWiderfachern zu reinigen, unb 
loͤſſte es endlih auf. Unter ben Ausgeriefenen befand fih Con» 
flant, bem ber erſte Conful um fo wenigek gewogen war, da er 
mit der berühmten Frau von -Stael in freundfchaftlicher Verbindung 
lebte. Napoleon liebte die gelehrten Weiber nicht, die geiftreiche 
Stasl am wenigften, bie einen europäifchen Namen hatte, ben fie 
fo verwegen mar, gegen den feinigen in die Wangfchale der Öffentlichen 
Meinung zu legen. Gie erhielt bie Weifung, fih von Paris entfernt 
zu halten, und endlih, Frankreich zu verlaffen. Großmuͤthig war das 
Verfahren nicht, aber von der Verwieſenen auch nicht ganz unverſchul⸗ 
- bet; denn mehr, ale es dem Berufe einer Frau geziemt, liebte fie es, 
ſich im politifche Angelegenheiten und Staatsfachen zu mifhen. Cons 
ftant begab fih nah dem Auslande und waͤhlte fi, des unftäten 
MWanderns müde, ‚Göttingen zum Aufenthalte, wo er Befreundete, eine 
reihe Bibliothek, gelehrte Unterhaltung und auch eine Gattin fund. 
Die deutfhe Sprache war ihm bekannt, er -achtete unfer gründlis 
es Wiffen und fleißiges Forſchen und theilte. die Vorurtheile nicht, 
‚welche die Franzoſen gewöhnlich gegen die deutfche Literatur und deutfche 
Art haben. Er bearbeitete fogar Schillers Wallenſtein, den er 
zu einem geregelten Zrauerfpiele in fünf Acten zufchnitt und dem 
franzöfifchen Geſchmacke anzupaffen fuchte, was eben nidt zu Schils 
lers Vortheile ausfiel. Im Jahre 1814, das Den in die Verban⸗ 
nung ftieß, der ihn verbannt hatte, kehrte er nad) Paris zurüd und 
wirkte, feinen Grundfägen und feinem Glauben getreu, in bemfelben 
Geiſte der Oppoſition gegen die Mißbraͤuche und Anmaßungen der Ge⸗ 
walt. Als Napoleon im folgenden Jahre von Elba kam, mochte 
er wohl des bedenklichen Kampfes gedenken, den er gegen die oͤffent⸗ 
liche Meinung gefuͤhrt, und wenn er auch nicht glaubte, daß ihn die 
liberalen Ideen geſtuͤrzt, wie man Ihn ſagen ließ, dann begriff er doch, 
dag ihr Beiftand für ihn nicht ohne Vortheil fei, und er fuchte bie 
Männer zu gewinnen, welche bie Stimme bed wiebergeborenen Frank⸗ 
reichs für fi hatten. Zu diefen gehörte Carnot vor Anbern und 
auch Conſtant. Es fil Napoleon, bei der Art, wie er bie Men 
fhen zu behandeln verftand, nicht ſchwer, diefen zu gewinnen. Er 
felbft hat feine Unterredungen mit dem Kaifer in einer anziehenden 
Schrift gefchildert, die den Titel führt: Dentwürbigleiten über 
bie Hundert Zage in Briefen. Der Kaifer ernannte ihn zum 
Staatsrathe, wodurch er in feine Nähe geftellt und einer offenen Op⸗ 
pofition gegen ihn entzogen ward. Nach ber zweiten Keflauration, 
welche bie unglüdlihe Schlaht von Waterloo herbeiführte, verließ 
Conftant Frankreich und hielt fi) einige Zeit zw Bruͤſſel auf, wo 
bie geächteten Mefte bes Convents, bie für ben Tod Ludwig's XVI. 
. geftimmt hatten, in großer Anzahl fi einfanden und eine Freiſtaͤtte 
ſuchten. Bald darauf Lehrte er indeſſen wieder nach Paris zuräd 
und wirkte, feinem übernommenen Berufe getreu, für die Erhaltung 
freifinniger Inftitutionen, die durch die Reſtauration, deren Streben 
®. 


En) 


760 Conftant. 


bie auswärtige Politik fehr begünftigte, in's Gebränge Famen. Im 
Jahre 1819 warb er vom- Departemente der Sarthe zum Deputirten 
bei der Sefeggebung gewählt. Man befteitt ihm, als gebornem Auss 
länder, das franzöfifhe Bürgerrecht, um ihn von der Kammer; im ber 
er ungern gefehen ward, auszufchließen. --Er- fiegte aber und behaup⸗ 
tete feine Stelle, an welcher er eine unermäbliche Thätigkeit und bie 
ganze Kraft feines Talents entwidelte. Zwoͤlf Jahre vergingen in bie 
ſem redlihen Streben, zwoͤlf Jahre der Anfteengungen, ſchoͤner, oft 
aber getäufchter Hoffnungen und Erfolge, bitterer Erfahrungen und 
herben Kummers, und er hatte die Julirevolution erlebt, zur Gruͤn⸗ 
dung bed Buͤrgerkoͤnigthums beigetragen, das bie Zukunft Frankreiché, 
wie er wünfchte, fichern ſollte. Muͤde, erfchöpft, geriufcht, vielfältig ges 
kraͤnkt verfchied er am 8. December 1830. Noch ſechs Tage vor feis 
nem Tode hatte er in der Kammer gefprochen, kaum fähig, ſich aufs 
recht zu halten, und im Vorgefühle feines nahen Endes. Er warf 
noch einmal einen trüben Blick auf Frankreich und auf fein eigenes 
Schild. Die letzten Worte des Sterbenden waren: „Nah zwölf 
Jahren einer redlich erworbenen Popularität.” Das war aud Alles, 
was er redlih erworben und mas man ihm redlid zugeflanden. 
Das Königthum felbit, das Buͤrgerkoͤnigthum, das zum Theil fein 
Merk gewefen, fie ihn zuruͤk. In der Kammer mußte er mandye 
Demüthigung ertragen, und die Akademie, in welcher er fih um eine 
Stelle bewarb, verwarf ihn, um ihm Viennet vorzuziehen. Das 
Volk allein erzeigte fi Ihm ergeben, wie er dem Volke ſtets ergeben 
war. Ueber hunderttaufend Menfchen folgten feinem Leichenzuge. Es 
wurben Subferiptionen eröffnet, um fein Andenken durch ein Denkmal 
zu ehren. Neid, Eiferfudht, Parteimuth und alle gehäffigen Leidenſchaf⸗ 
ten verftummten an feinem ftummen Grabe. Selbſt die Akademie 
überfchliy ein Schamgefühl; fie hatte ihm Diennet vorgezogen. 
Ein geiftreiher Schrififtellee fagt: „Wollt Ihr, daß einem hervorras 
genden Manne morgen Gerechtigkeit. wiberfahre, dann laßt ihn heute 
ſterben.“ MWahrhaftig! das heißt von den Menfchen und ber Ges 
fhichte eine gute Meinung haben. Dft mögen fie ihr entſprechen, 
aber nicht felten ftrafen fie biefelbe auch Zügen. 

Gonftant bat fih als Mebner, als Freund bes Volkes und 
befonders als politiſcher Schriftftellee einen mohlverdienten Ruf erwor⸗ 
ben. Der Vorwurf, den man ihm gemacht, duß feine Oppofition fy: - 
ftematifh, ohne Ruͤckſicht auf Zeit, Ort und Verhaͤltniſſe gewefen, iſt 
nicht ungerecht. Ein praftifchee Staatsmann, ein Mann des Lebens 
und Handelns war er nicht. Die Wirklichkeit follte ſich nach feinen 
Srundfägen geftalten, die, unbefümmert um bie Noth der Mirklichkeit, 
ihren: eigenen Weg verfolgten. Er hat alle Lebensfragen einer repräs 
fentativen Regierung behandelt, alle Aufgaben zu loͤſen aefudht, bie 
das Gebeihen einer conftitutionellen Monarchie bedingen. Es wäre zu 
umftändlich, alle Schriften, bie über diefen Gegenftand von ihm erfchie: 
nen find, bier anguführen, da man doch nur bie Titel berfelben ges 


Conftant. Gonftitution. 761 


ben Könnte. Sie ſind -gefammelt herausgegeben worden und bilden 
einen eigenen Curs ‚der conflitutionellen Politik. Von ihm iſt aud) eine 
Ueberſetzung 16 Werks von Filangieri: die Wiffenfihaft der 
Gefetzgebung, das er mit einem: Eommentar begleitet Bat. Das 
Vollendetſte, was wir von ihm befißen, iſt vielleicht feine Arbeit: Weber 
die Meligion, betrahtet in ihrem Urfprunge, ihren 
Formen und Entwidelungen. Auch haben wir einen Roman 
unter dem Titel: Adolph, von ihm. Weitzel. 
—A ſ. Türkei. - 
Conſtitution; Conftitutionenz conftitutionelles 
Princip und Syſtem; conflitutionell; anticonftitu- 
ttonell. Im mweltern Einne bedeutet  Conftitution foviel ale 
Staatsverfaffung, d. h. die — durch Gefeg oder. burch factifche 
Gewalt ober - Herlommen ober irgend eine Folge von Kreigniffen bes 
flimmte — Form der Staatsregierung, mithin etwas in jedem 
Staate Vorhandenes, daher auch nach Princip und dußerer Geftaltung 
vielfach Verſchiedenes und, zum Behuf einer umfaffenden Beurthellung, 
einer vielfachen. intheilung und. Unterabtheilung Beduͤrftiges. Im 
biefem meiten — alte hiſtoriſch wann immer vorhanden gewefenen oder 
noch heute vorhandenen, fowie alle theoretifch von Denkern erfonnenen 
-oder- noch weitet zu erfinnenden, Stäatsformen umfaffenden — Sinne 
nehmen wir hier das Wort nicht, fondern vermeifen diesfalls auf die 
Artikel NRegierungsform und Staatsverfaffung.- Im 
engern Sinne aber, welchen wir für jest allein in's Auge faſſen, ift 
Conſtitutiom und conſtitutionelles Syſtem bie Bezeich⸗ 
nung einer eigenen, durch weſentliche Charaktere von den andern 
unterſchiedenen, und — wiewohl ſelbſt auch einer mannichfaltigen 
Geſtaltung empfaͤnglichen — doch uͤberall durch gleihe Weſen⸗ 
heit ſich auszeichnenden Art der Staatsverfaſſung. In dieſem en⸗ 
‚gern Sinne nun iſt Conſtitution wiſſenſchäftlich und praktiſch erſt eine 
Schoͤpfung der Neuzeit. Fruͤher beſchraͤnkten ſich die Lehter der 
Staatsweisheit meiſt auf Betrachtung und Beurtheilung der ihnen 
hiſtoriſch vorgekommenen Verfaſſungen (von platoniſchen 
Schwaͤrmereien ſehen wir hier ab), und hatten dabei nur den poli— 
tifchen Standpunkt, d. h. den, die Güte oder Verwerflichkeit einer 
Verfaſſung blos nach ihrer Tauglichkeit zu mas immer für 
Zwecken, zumal nad ihrem Einfluß auf die Macht des Staates 
oder der Regierung, oder auch nach ihrer Haltbarkeit, überhaupt 
nad ihren materiellen Vortheilen und Nachtheilen wuͤrdi⸗ 
genden, und die zu ihrer Gründung oder Erhaltung nöthigen oder 
räthlihen Mittel, ſowie die ihren Kortbeftand nad Form und Geiſt 
näher oder entfernter bebrohenden Gefahren in’s Auge fafjenden. 
Selbſt Montes quieu hatte meift-nur diefen Standpunkt, wiewohl 
er unter die duch eine Staatsverfaffung zu erreichenden oder zu erſtre⸗ 
benden Zwede auch die Freiheit aufnahm und zu deren Frommen 
namentlich das große — heutzutage fo vielflimmig und fo hart anges 


762 Gonftitution. 


feindete — Dogma von der Theilung ber Gewalten aufſtellte, 
ja die Hauptgewalt, nämlich die geſetzgebende, "ganz eigens einem 
tepräfentativen Körper (beftehend aus zwei Kammern) anven 
traut und dem Könige dabei. nur die Sanction und: das Veto 
eingeräumt wiffen wollte. Das neuere conflitutionelle Spftem aber 
bat zu feinem oberften Princip keineswegs nur die — wenn auch eble 
Zwede durch künftlihe Einfegungen verfolgende — Politik, fondern 
ganz eigens das Recht, namentlich das Volks⸗Recht, als ſolches, 
und, zu deſſen Verwirklihung, eine diefem Wolle ober einer daſſelbe 
in Natur und Wahrheit vorftellenden and lebenskraͤf⸗ 
tigen Repräfentation, gegenüber der Regigrung zu verleihende, 
ſolcher Idee entfprechende, d. h. die Herrſchaft des wahren Ges 
fammtwillens verbürgende, Stellung. Freili haben auch ſchon 
in der alten Welt viele Völker und Voͤlklein, aus natürlicher Frei⸗ 
beitsliebe und wie inflinctartigem Mechtögefüht, ſich volkschuͤmliche, zum 
Theil tünftlich geregelte, Werfafjungen mit mehr oder weniger Bes 
ſchraͤnkung dee monarchiſchen oder ariftofratifchen Haͤupter gegeben, 
wohl ‚auch ganz demokratifhe Formen beliebt. Freilich find auch in 
bee alten Welt ſchon pbilofophifche. Unterfuchungen über Staatsverfafs 
fungen von vereinzelten Ziefdenkern angeftellt, und- politifhde Spiteme 
theoretifch und praktifch erbaut worben. Freilich haben im Mittels 
alter zumal bie germanifhen Stämme (deren uralte Sreiheit und 
Caͤſar und Tacitus befchrieben) noch eine anfehnliche Zeit hindurch 
ihre gefeslichen oder gewohnheitlichen Volksrechte gegenüber ben monar⸗ 
hifhen und ariftofratifhen Däuptern gewahrt, und insbefondere bie 
Gefeggebungs=: Gewalt der Gefammtheit der Freien, -wels 
che dem Gefege zu gehorchen hätten, vorbehalten. Freilich haben, als 
allmälig die altgermanifche ,. vocherrfchend demokratiſche, Freiheit ber 
Feudals Ariflokratie erlag, wenigftens bie ſkandinaviſchen Völker 
von ihrem Foftbaren Erbgut noch manche Ueberbleibfel behauptet; und 
freilich find, während das übrige Europa größtentheils in Anarchie oder 
Oligarchie oder Defpotendeud verfant, in dem vergleihungsweife glüds 
lihen England die Keime einer, Recht und Freiheit gewaͤhrleiſten⸗ 
i g » den, bürgerlihen Ordnung, zumal durch die Weisheit und: Zugend — 


4 
[2 


MR. Alfteds des Großen — und fodann durch die von zwei andern 
Königen (obfhon aus unlautern Beweggründen) verliehenen Freiheits⸗ 
gbriefe (charta libertatum und magua chartef in's Leben getreten, mel 
che allmälig — jedoch nur. nad) ſchwerem Kampf und nad) mannich⸗ 
faltiger Unterbreyung durch wechſelnden Drang der Zeiten — ſich zu 
einer, unferem conjtitutionellen Spftem verwandten, Geitaltung ents 
widelten, und nad) deren grundgefeglichen Befeftigung durch die bill 
of rights (vom 3. 1689) England an bie Spige der Nationen ſtell⸗ 
ten. Freilich find auch in einigen Ländern bes europäifhen Feſtlan⸗ 
bes ſchon vorlängft gluͤckliche Vorſchritte zur Freiheit geſchehen, veran⸗ 
laßt jedesmal allernaͤchſt durch — weltlichen oder geiſtlichen — Ge⸗ 
waltmißbrauchz fo in der Schweiz durch ben Uebermuth der ade⸗ 


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Gonftitution. 7163 


ligen Zwingherren, fo in Niederland durch tyrannifihen Glau⸗ 
bensdrud. Und aud In andern Ländern ‚bat das Ringen zumal 
nad Bewiffenss Freiheit den Grund auch zu einiger bürger> 
lichen gelegt, ja felbft zu überfpannten Lehren und Beftrebuns 
gen geführt, und es find beredte und begeifterte Schriftfteller aufges 
flanden, welche bie ewigen Menſchen⸗ und natürlihen Volks s Rechte 
gegenüber ber eingefegten Staategewalten mit allem Nachdruck der 
Selbfiüderzeugung und der Gefühlsinnigkeit verfohten. Wir werden 
derſelben ſowie der erwaͤhnten Thatſachen in den der Geſchichte der 
Staatslehre und jener der verſchiedenen Voͤlker und Verfaſ⸗ 
fungen eigens zu widmenden Artikeln näher gebenten ; für jegt ges 
nüge bie allgemeine Andeutung. Aber — fo fügen wir in Bezug auf 
den uns gegenmwärtig vorliegenden Gegenftand, nämlid das con fti- 
tutionelle Syſtem, gleichfalls im "Allgemeinen bei — aber alle 
dies kann nicht gegen die Neuheit diefes Syſtems zeugen. Die res 
publifanifche, namentlidy demokratiſche, Sreiheit der alten Voͤlker (und 
diefelbe Bemerkung gilt au von ben mittelalterlichen, nament 
lich italifchen Freiflaaten) war berechnet blos auf ganz kleine Stans 
ten, beren politifch mündige Bevoͤlkerung fi) in einer Landesgemeinbde 
verfammeln konnte; fie war mehr Stadt- ald Staats sBerfafjung, 
erhielt ſich auch felten lange gegen ariſtokratiſche Eingriffe und wid, 
fobald das Gebiet fi) ausdehnte, ber defpotifhen Dbergemalt 
der herrfchenden Stadtgemeinde. Die Idee der Repräfenta- 
tion ber Nation buch frei gewählte Vertreter war noch nicht 
aufgekommen, und überhaupt das vernünftige Rechtsverhältniß zwifhene» 
Menierenden und Regierten nur wenig aufgefaßt. . An die Stelle von 
deifen entfprechender Verwirklichung traten theils die mwibernätürlichen 
Schoͤpfungen einzelner ſchwaͤrmeriſcher Geſetzgeber, wie Lykurgus, theils 
die den ſubjectiven Zwecken der Haͤupter dienenden oder aus wechſelvol⸗ 
lem Parteienkampf ſich allmaͤlig factiſch bildenden Staats⸗Kuͤnſte⸗ 
leien, von welchen nicht eine dem gemeinen und gleichen Recht 
ſaͤmmtlicher Staatsangehoͤrigen einen feſten Boden verlieh, ſondern faſt 
jede nur ſchwankende Entgegenſetzungen demokratiſcher und ariſtokrati⸗ 
ſcher Gewalten ſchuf, und meiſtens blos das Recht oder die Freiheit 
einer oder mehrerer Claſſen auf Unkoſten der andern beſchirmte. Die 
Verfaſſung der altgermaniſchen Voͤlker ſodann war allerdings min⸗ 
der complicirt, aber ſie paßte, eben ihrer Einfachheit willen, nur auf 
einzelne Staͤmme oder kleine Gemeinheiten, und mußte nothwendig, als 
groͤßere National⸗Verbindungen ſich bildeten, gleichfalls durch den Man⸗ 
gel einer wohlgeregelten Repraͤſentation, m ariſtokratiſche 
Uebermacht, und endlich, unter Beguͤnſtigung der factiſch ſich ausbil⸗ 
denden Lehens⸗Verhaͤltniſſe und der uͤberhand nehmenden Barbarei, in 
vielgeftaltige Zwingherrſchaft und eiſerne Anarchie ausarten. 
Geſchah dieſes auch in Skandinavien erſt ſpaͤter und minder, und 
erhob ſich auch England durch wunderbare Gunſt der Umſtaͤnde al⸗ 
len andern Nationen voran zu einem — lange Zeit muͤhſam kaͤmpfen⸗ 


762 Gonftitufion. 


feindete — Dogma von ber Theilung ber Gewalten aufſtellte, 
ja die Hauptgewalt, nämlich die gefeggebende, ganz eigens einem 
tepräfentativen Körper (beftehend aus zwei Kammern) anver 
traut und bem Könige dabei nur die Sanction und: das Veto 
eingeräumt wifjen wollte. Das neuere conflitutionele Spftem aber 
bat zu feinem oberften Princip keineswegs nur die — wenn auch eble 
Zwecke duch kuͤnſtliche Einfegungen verfolgende — Politik, fondern 
ganz eigens das Recht, namentlid das Volks⸗Recht, als ſolches, 
und, zu deſſen Verwirklichung, eine diefem Wolke ober einer bafjelbe 
in Natur und Wahrheit vorftellenden und lebensträfs 
tigen Repräfentation, gegenüber ber Regigrung zu verleihende, 
ſolcher Idee entfprehende, d. h. die Herrſchaft des wahren Ges 
fammtwillens verbürgende, Stellung. Freilich haben auch fhon 
in der alten Welt viele Völker und Voͤlklein, aus natürlicher reis 
beiteliebe und wie inflinctartigem Rechtsgefuͤhl, fich volksthuͤmliche, zum 
Theil Eünftlich geregelte, Verfaſſungen mit mehr oder weniger Bes 
ſchraͤnkung ber monarchiſchen der ariftofratifhen Haͤupter gegeben, 
wohl auch ganz demofratifche Formen beliebt. Freilich find auch in 
ber alten Welt ſchon philofophifche Unterfuhungen über Staatsverfafs 
fungen von vereinzelten Tiefdenkern angeftelit, und politifhe Syſteme 
theoretiſch und praßtifc erbaut worden. Freilich haben im Mittels 
alter zumal die germanifhen Stämme (deren uralte Sreiheit ung 
Caͤſar und Tacitus befchrieben) noch -eine anſehnliche Zeit hindurch 
ihre gefeslichen oder gemohnheizlichen Volksrechte gegenüber den monars 
x. hifhen und ariftofratifhen Haͤuptern gewahrt, und insbefondere bie 
Geſetzgebungs-Gewalt ber Geſammtheit der Freien, wel⸗ 
che dem Gefege zu gehorchen hätten, vorbehalten. Freilich haben, ale 
allmälig die altgermanifche,, vorherrſchend demokratiſche, Freiheit der 
Keudals Ariftofratie erlag, wenigftens die ftandinavifhen Völker 
von ihrem Eoftbaren Erbgut noch manche Ueberbleibfel behauptet; und 
freilich find, während das übrige Europa größtentheild in Anarchie oder 
Dligarchie oder Defpotendeud verfank, in dem vergleichungsweife glüds 
lichen England die Keime einer, Recht und Freiheit gewährleiften- 
» den, bürgerlihen DOrcbnung, zumal durch die Weisheit und. Zugend — 
U: Alfreds des Großen — und fodunn duch die von zwei andern 
Königen (obfhon aus unlautern Beweggruͤnden) verliehenen Freiheits⸗ 
Ey, ‚pgöriefe (charta libertatum und magıa chhartaf in's Leben getreten, wel⸗ 
he allmälig — jedoch nur. nad) fhwerem Kampf und nady mannid> 
faltigee Unterbrechung durch mwechfelnden Drang ber Zeiten — ſich zu 
einer, unferem conjtitutionellen Syſtem verwandten, Geitaltung ents 
widelten, und nach deren grundgefeglihen Befeſtigung durch die bill 
of rights (vom 3. 1689) England an die Spige der Nationen ftells 
ten. Freilich find auch in einigen Ländern bes europäifhen Feſtlan⸗ 
bes fchon vorlängft gluͤckliche Vorſchritte zur Freiheit gefchehen, veran⸗ 
laßt jedesmal allernähft dur — weltlichen oder geiftlihen — Ge⸗ 
waltmißbraud; fo in ber Schweiz durch den Uebermuth der ades 


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—— — ep Ze X NR 1 Fi 


Gonftitution. 7163 


ligen Zwingherren, fo in Niederland duch tyrannifihen Glau⸗ 
bensdrud. Und aud in andern Ländern hat das Ringen zumal 
nah Gemwiffens: Freiheit den Grund auch zu einiger bürgers 
lichen gelegt, ja felbft zu überfpannten Lehren und Beſtrebun⸗ 
gen geführt, und es find beredte und begeifterte Schriftfteller aufges 
ftanden, welche bie ewigen Menſchen⸗ und natürlichen Volks⸗Rechte 
‚gegenüber ber eingefegten Staatsgemwalten mit allem Nachdruck der 
Selbfiüberzgeugung und der Gefühlsinnigkeit verfohten. Wir merden 
berfelten ſowie der erwähnten Thatfahen in den der Geſchichte der 
Staatslehre und jener der verfchiedenen Voͤlker und Verfaſ⸗ 
fungen eigens zu widmenden Artikeln. näher gedenken; für jest ges 
nüge die allgemeine Andeutung. Aber — fo fügen wir in Bezug auf 
den und gegenwärtig vorliegenden Gegenſtand, naͤmlich das conflis 
tutionelle Syſtem, gleichfalls im Allgemeinen bei — aber alles 
dies kann nicht gegen die Neuheit bdiefes Syſtems zeugen. Die res 
publikaniſche, namentlich demofratifche, Freiheit der alten Voͤlker (und 
biefelbe Bemerkung gilt auch von den mittelalterlichen, nament» 
lih italifhen Freiftaaten) war berechnet blos auf ganz kleine Staas 
ten, deren politifch mündige Bevölkerung fi) In einer Lanbesgemeinbe 
verfammeln konnte; fie war mehr Stadt- als Staats: Berfaffung, 
erhielt fi) auch felten fange gegen ariſtokratiſche Eingriffe und mid, 
fobald das Gebiet ſich ausdehnte, der defpotifhen Obergemalt 
der herrfhenden Stadtgemeinde. Die Idee der Repraͤſenta⸗ 
tion der Nation duch frei gewählte Vertreter war noch nicht 
aufgekommen, und überhaupt das vernünftige Rechteverhältniß zwifchenee 
-Megierenden und Regierten nur wenig aufgefaßt. . An die Stelle von 
beifen entfprechender Verwirklichung traten theild die mibernätürlichen 
Echöpfungen einzelner fchwärmerifcher Geſetzgeber, wie Lykurgus, theils 
bie den fubjectiven Zwecken der Häupter dienenden oder aus wechſelvol⸗ 
lem Parteientampf ſich allmaͤlig factifh bildenden Staatss Künftes 
leien, von welchen nicht eine dem gemeinen und gleihen Recht 
ſaͤmmtlicher Staatsangehörigen einen feften Boden verlieh, fondern faft 
jede nur ſchwankende Entgegenfegungen demokratiſcher und ariſtokrati⸗ 
[her Gewalten ſchuf, und meiftens blos das Recht oder bie Freiheit 
einer oder mehrerer Claſſen auf Unkoften ber andern befchirmte. Die 
Berfaffung der altgermanifchen Völker ſodann war allerdings min- 
der complicitt, aber fie paßte, eben ihrer Einfachheit willen, nur auf 
einzelne Stämme oder Feine Gemeinheiten, und mußte nothwendig, als 
größere NationalsVerbindungen fich bildeten, gleihfallis durch den Mans 
gel einer mohlgeregelten Nepräfentation, in ariftofratifche 
Uebermacht, und endlih, unter Begünftigung der factiſch fi) ausbils 
denden Lehens:Verhältniffe und der überhand nehmenden Barbarei, in 
vielgeftaltige Zmwingherrfhaft und eiferne Anarchie ausarten. 
Geſchah diefes auch in Standinavien erfl fpäter und minder, und 
erhob ſich auh England durch wunderbare Gunſt der Umftände als 
len andern Nationen voran zu einem — lange Zeit mühfam kämpfen: 


2 


764 0 Gonflitution . 


den, Boch endlich fiegreihen — Snftem.ber politiſchen und bürgerfichen 
Sreiheit: fo blieb ſolchem Syſteme gleichwohl noch fo manche Mißgeſtalt 
bes hiſtoriſchen Rechts oder blos factifch entftandener Verhältniffe anhiingend, 
daß ed zwar vor der nordamerikaniſchen und franzsfifhen 
Mevosiution ein Gegenftand der Bewunderung und wohl auch bes 
Meibes oder ded Verlangens ber übrigen Nationen fein mochte, nachher 
aber in feiner vergleihungsmeifen Mangelhaftigkeit allen klar fehenden 
Augen erfchien, und erft feit der neueften Parlaments: Reform 
den Charakter einer, der neuzeitlihen Staatslehre annähernd 
würbigen, Geftaltung annahm. Was nun die — ohnehin nur. vereins 
‚zeiten und darum füs das Geſammtſyſtem bes Welttheils wenig bedeus 
tenden — Erfcheinungen der ſchweizeriſchen Eidgenoffenfhaft und 
dee niederländifhen Republik, und ſodann bie in verfchiedenen 
Zeiten und Ländern aus Anlaß theils bürgerlichen, theils kirchlichen Druckes 
entfiandenen Befrelungs-Verſuche und verlündeten Kreiheite 
Lehren betrifft, fo wurden jene Republifen, troß ihres rein. freiheite 
lichen Urfprungs, frühe wieber verderbt, theils durch ariftokratifche Ans 
maßungen ber vornehmern Gefchlechter, theild durch Gewaltshertſchaft 
von Gantons = oder Stadt:Gemeinden über unterworfene Bezirke ; die 
‚übrigen Befteiungs s Verfuche aber führten meift nur zw noch ſchwere⸗ 
tem Drud und blieben alfo für die Staatsverfaffungen ohne Gewinn. 
Dabei waren — mit wenigen Ausnahmen, wie etion die brutale Ja⸗ 
querie in Frankreich, ber fehlecht geleitete Bauern: Aufftand in 
Deutfchland und die wohl hochherzige, aber durch böfes Geſchick bald nies 
Dergefchlagene, Erhebung der Städte in Spanien — die Freiheitsbe⸗ 
firebungen meift nur gegen die Königs» Gewalt, nit aber gegen 
die Ariftofratte gerichtet; ja fie Eonnten in ben Zeiten der völlis 
gen Unterbrädung ded dritten Standes (d.h. der Gemei⸗ 
nen) kaum wo andersher als von eben der — eigennüsig nur für 
ſich fetbft forgenden — Ariftotratie ausgehen, und darum unmoͤg⸗ 
lich ein das vernünftige, d. b. allgemeine, Recht befriedigendes Er—⸗ 
gebnig liefern. Die verfchiedenen Lehrer und Schriftfteller endlich, Die, 
ergriffen von jenen Zeitbemegungen, für die Freiheit fpradhen, liefen 
ſich theiis — wie Languet, Buhanan u. a. — duch Partei 
Eifer über die Linie der Maͤßigung, folglich der Weisheit, hinausreigen, 
theild waren fie — wie der tugendhafte Algernon Sidney und 
der Tiefdenker Locke — ihrem Zeitalter vorangefchritten und ohne bes 
beutenden, wenigſtens ohne unmittelbaren oder ohne dauernden praftis 
fhen Einfluß. Daffelbe gilt von allen übrigen, mie immer wiflens . 
fhaftlich verdienftvollen, Bearbeitern des Staatsrechtd und der Pos 
litik vor der franzöfifchen Nevolution, wiewohl fie zum Theil einen 
herrlichen Samen ausftreuten und die Nationen zur freudigen Auf: 
nahme eines geläuterten Syſtems der Verfaffungs> Politik vorbereiteten. 
Was, nah Montesquieu, allernähft die Encnflopädiften und 
Phyſiokraten, was Voltaire und allermeift Roufferu in 
Frankreich, was Schiözer in Deutfhland, Fil angieri in Italien, 


Gonftifution. - - 769 


Adam Smith In England u. f. w. für die Verbreitung folcher Ems 
pfänglichkeit und für Begründung einer reinen Staatsrechts - Theorie 
gethban haben, ift unfern Lefern befannt. Der Same ging unter güns 
ſtigen Sternen freudig auf und trug feine Früchte. in der nordames 
ritanifhen und in der franzöfifhen Revolution, melde 
Teste fih zue europdifhen, und zwar in gutem Sinn, zu eriweis 
tern verhieß, doch leider! allzüfrühe von dem im Beginnen hoffnungs⸗ 
reich entfalteten Geifte abwih, und zwar ein lebendiges Streben 
nad Herftellung eines echten Rechts: Staates erjeugte, aber durch 
Uebertreibung einerfeits die Guten von ſich abmendig machte und ans 
derfeitd den Boͤſen die willlommenften Vorwaͤnde zur abfolutiftifhen 
und ariftofratifhen Reaction bdarbot. Inmitten aller Ausfchwerfuns 
gen und Unfälle, welche die Gefchichte ber Mevolution bezeichnen, bes 
twahrte jedoch der Kern ihrer tugendhaften Stifter und mürdigen Ans 
hänger ihre reinen Grundprincipien wie ein heiliges Feuer, pflanzte fie 
in treuer Ueberlieferung fort und fammelte dabei noch forgfam bie 
aus den Stürmen hervoigegangenen Erfahrungslehren, welche 
über das Maß und die Bedingungen der praftifhen Ausführs 
barkeit der reinen Theorie — unter den gegebenen hiftorifchen ober 
factifhen VBerhältniffien — die Freiheitsfreunde in's Klare fegen. 
As Endergebniß folder theuer erfauften Erkenntniß erfcheint ber 
von dem (wiewohl fchuldbeladenen) Erhaltungsfenat, nah Napo⸗ 
leons Fall, verfaßte Eonftitutionsentwurf, beffen Hauptprincipien 
die Charte Ludwigs XVII (wiewohl nidt ohne binterliftige 
Gtaufeln) fanctionirte, fodbann die von den Kammern ber hundert 
Tage an die fiegenden Mächte gerichtete Nechtsforderung, und endlich 
die nach den Julius: Tagen von 1830 unter lauter. Zuſtimmung der 
Nation zu Stande gebrachte — body leider (aus Schuld einerfeite 
verfchmigter Parteimänner und anderſeits denfelben gutmüthig vers 
trauender Volksfreunde) noch mehrere Mängel und Lüden zucüdlafs 
fende — Reviſion der Charte. Eine glänzende Reihe‘ von 
Scriftftelleen und Staatsrednern bat — von Franklin, Xp. 
Daine, Sieyes und Mirabeau u. a. den Anfang der Revo⸗ 
lutionszeit bezeichnenden Feuergeiftern, biß auf Deftutt de Tracy, 
Daunou, Benjamin de Conſtant u. a. der Gegenwart noch 
nähere Lehrer — das conftitutionelle Syftem nad, feinen Hauptprincis - 
pien beleuchtet, geößtentheild den Anfichten und Richtungen der uns 
fterblihen conflituirenden Nationalverfammlung von 1789 
folgend und dabei — was die Rechts: ragen, mithin das Wefents 
liche betrifft — in erfreulicher Webereinftimmung mit den Ausgezeiche 
netften dee vernunftrehtlihen Publiciften Deutſchlands. 
Der Freiherr von Aretin, in feinem „Staatsrecht der conftis 
tutionellen Monarchie“ (nad feinem Tode fortgefegt von dem 
Berfaffer bes gegenmwärtigen Artikels) hat die Ausſpruͤche jener Schrift 
fleller, fo wie bie pofitiven Seftfegungen der bereits beftehenden Gons 
ſtitutionsurkunden, als bie für ſolches — das conflitutionelle Syſtem, 


7166 Gonftitution. 


fo wie e8 für bie europdifhen Staaten fich geftaltet bat, darftels 
lende — Staatsrecht entfheidenden Autoritäten zufammengetragen. 
Allerdings ein verbdienftliches Unternehmen und — in-fo fern wenig» 
ftens ſolche Autoritäten unter fih übereinflimmend find — dem 
Syſtem eine erwuͤnſchte Befeftigung darbietend. Nah unferer Ans 
fiht jedoch gelten jene Autoritäten nur als Zeugniffe für die Vers 
nunftmäßigkeit der in Stage ftehenden Säge; und nur foldhe 
VBernunftmäßigkeit ift der wahre Grund ihrer von, ben" echten 
Gonftitutionsfreunden behaupteten Giltigkeit. 

Das conftitutionelle Syſtem alfo, fo mie es ſich feit dem 
Anbeginn der nordameritanifhen und — für Europa ummits 
telbar wirffam — der franzöfifhen Revolution ausgebildet hat, 
iſt — in der Theorie vollftändig, in der Praris wenigftens annähernd - 
— übereinftimmend mit dem Spftem eines rein vernünftigen 
Staatsrehtes, angewandt auf die uͤberall factiſch vorliegenden 
oder hiftorifch gegebenen Verhaͤltniſſe. 

1) Der oberfte Sag in dieſem Spfteme lautet folgendermaßen: 
Die Staatsgewalt ift eine Gefellfhafts-Gemwalt, demnach eine 
von der Gefammtheit ausgehende und dieſer Sefammtheit in der Idee 
fortwährend angehörige Gewalt, d. h. fie ift nichts Anderes, als der 
- in dem durch ben Gefellfchaftsvertrag beftimmten Kreife wirkſame Ges 
fammtwille der Gefellfchaftsgenofien. Es ift bier alfo von Feiner 
herriſchen, von keiner aus dem Eigenthumsrecht abfließenden, 
von feiner unmittelbar vom Himmel flammenden, aud von Feiner 
patriarhalifhen u. f. w., überhaupt von keiner auf einen andern 
Titel, als den Gefellfchaftsvertrag fi) gründenden Gewalt bie Rebe; 
oder es muß wenigſtens jede, wenn auch urfprünglidy aus irgend eis 
nem andern Titel hervorgegangene und jegt hiſtoriſch rechtlich beitehende, 
Gewalt nad) Inhalt und Form dermaßen geregelt und befchränkt wer⸗ 
den, daß durch ihre Thätigkeit und geordnete Wechfelmirtung- mit ben 
zu Regierenden die Herrfchaft des mahren Geſammtwillens moͤglichſt 
getreu und zuverläffig vermwirklichet werde. 

2) Zu diefem Behufe ift das erfte und unerlaglichfte Erforderniß 
eine lebendige Stimmführung der zu regierenden Geſammt⸗ 
heit und zwar, da wir bier, wenigftend vorzugsmeife, wenn nicht 
ausfchließend, folhe Staaten im Auge haben, die wegen ihres bebeus 
tendern Umfanges die Gefammtheit ihrer Bürger nicht mohl in eine 
einzige Landesgemeinde verfammeln innen, eine zu folsher Stimms 
führung berufene, die Gefammtheit in Natur und Wahrheit 
darftellende, mithin frei gemählte, Nepräfentation. 

3) Zwiſchen dieſer Landess oder Volles s Repräfentation 
und der aufgeftellten Landes: Regierung muß eine folhe Vers 
tbeilung der Gewalten oder ein foldes Verhaͤltniß der Thaͤtig⸗ 
keits⸗ und MWiderftandes Kräfte beftehen, dag dadurch, fo viel irgend 
möglich, die Herrfchaft des wahren, befonnenen und beharren> 
ben Geſammtwillens verbürgt, und jene was irgend für eines 


‚ Conſtitution. 767 


Einzelwillenss, fo wie auch die eines blos augenblicklich irte geleiteten, 

oder auch nur ſcheinbaren Geſammtwillens hintangehalten werden. 
u. 4) Hiezu führt auf's zuverlaͤſſigſte die Uebertragung oder Ueber⸗ 
laſſung des überwiegenden Theiles der geſetzg eben den Gewalt mit 
Inbegriff des Steuerverwilligungsrechts an. bie Natior 
nal⸗Repraͤſentation, und dagegen jene ber Verwaltungs⸗ 
Gewalt an bie aufgeftellte Regierung, beides jedoch ohne Ausſchlie⸗ 
fung der controlivenden oder hemmenden oder Rechenſchaft fordern: 
ben Autorität ber wechſelsweiſe gegenhberftehenden oder zur Gemeins 
ſchaftlichkeit des Wirkens berufenen Staatskörper. 

5) Neben der geſetzgebenden und der Verwaltungs » Gewalt, übers 
haupt unabhängig von allen Inhabern der Gewalt, muß eine Aus 
torität beftehen, welche über das in concreten Faͤllen ftreitige oder 
zroeifelhafte Recht entfcheide, d. h. den rein wifjenfchaftlichen oder der 
unbefangenen Urtheilsfraft anheimzuftellenden Befund ausfpreche über 
das, was — den beſtehenden Gefegen gemäß — Recht oder nicht 
echt, und mas demnach von ben conftituirten Gemwalten als ſolches 
zu handhaben und zu vollſtrecken fe. Die Errichtung unabhängis 
ger, moͤglichſt zuverlaͤſſiger Gerichte iſt hiernach ein weiterer Haupt⸗ 
artikel einer conſtitutionellen Verfaſſung. 

6) Zur Erhaltung der Lauterkeit der Volksrepraͤſentation, ſo wie 
der dem Zweck ihrer Aufſtellung gemaͤßen Richtung der Regierung 
muß dem Volk und jedem Einzelnen im Volke die Kenntnißnahme 
von den oͤffentlichen Angelegenheiten und auch die Meinungs: oder 
Urtheild = Aeußerung über den: Gang ihrer Verwaltung unbedingt frei 
ſtehen. Die öffentlihe Meinung, weiche faft gleich bedeutend 
ift mit dem vernünftigen Gefammtwillen, foll überall ungehindert ſich 
entfalten und ausfprechen dürfen, und es follen ihr die ZTchatfachen, 
‚worüber fi auszufprechen fie das Recht und ben Beruf hat, unver 
fhleiert und unverfälfcht zur Kenntniß gebracht werden. -Deffent- 
lichkeit der Negierungs:-Befchlüffe, fowie der landſtaͤn⸗ 
bifhen oder Volfsvertretungs- Verhandlungen und Kreis 
heit des Preſſe find daher mefentlihe Artikel einer conftitutionellen 
Verfaſſung. 

7) Der Begriff eines geſellſchaftlichen Vereins und des 
ihm einwohnenden lebenskraͤftigen Geſammtwillens fuͤhrt jenen 
der Gleichheit und Freiheit der Geſellſchaftegenoſſen mit ſich. 
Das conſtitutionelle Syſtem ſtatuirt demnach die gleiche Theils 
nahmsberechtigung an den Wohlthaten des Staatsverbands, 
die gleiche (geſetzliche und gerichtliche) Gewaͤhrleiſtung der perſoͤnlichen 
Freiheit ſo wie des rechtmaͤßigen Beſitzes und Erwerbes fuͤr Alle, den 
gleichmaͤßigen Anſpruch aller Faͤhigen auf Aemter und Wuͤrden, und 
hinwieder auch die gleiche Verpflichtung durch's Geſetz, bie gleiche Un⸗ 
terwerfung unter die rechtmaͤßig beſtehenden und ausgeuͤbten Gewalten, 
und die gleiche, d. h. dem Maaß des empfangenen Schutzes für Beſit 
und Erwerb entfprehende — Zheilnahme an den Laften des Staates. 


768 u Gonftitution. -; 


8) Zu ben auf bie Forderung der Frelheit und Gleichhelt ſich 
gruͤndenden Rechten jedes conſtitutionellen Staatsbuͤrgers gehoͤren zu⸗ 
mal auch die Freiheit der Gottesverehrung (ſo lange dieſe nicht 
in an und für ſich Rechts- oder Sittlichkeits⸗ oder Ordnungs⸗ und 
Sicherheits⸗widrigen Handlungen beſteht) und jene der AUsSswan⸗ 
derung, d. 5. der Lostrennung vom Staatsverbande, deflen bios. 
freier Genoffe nämlich, nicht aber keibeigene der conſtitutionelle 
Buͤrger iſt. 

9) Das Staatsvermögen. darf nur zu öffentlichen, vom Ges 
ſammtwillen gebilligten Zwecken verwendet werben,. und feine Verwal⸗ 
tung ſteht unter der controlicenden Mitauffiht der Wolßsrepräfentation. 
Die dem fürftlihen Haufe (überhaupt den regierenden Perfonen und 

Familien) privatrehtlich zuſtehenden Guͤter bleiben natuͤrlich von 
ſolcher Controle frei; und es wird außerdem fuͤr den wuͤrdigen Unter⸗ 
halt des Monarchen und ſeines Hauſes durch eine angemeſſene, auf 
das Staatsgut anzuweiſende Civilliſte (auch Apanagen u. ſ. w.) 
geſorgt. 

10) Der conſtitutionelle Mon arch iſt für feine Perſon unner 
antwortlich. Dagegen ſind ſeine ſaͤmmtlichen Gewaltstraͤger (uͤber⸗ 
haupt Regierungs- oder Staatsdiener) für den treuen und verfaffungss 
mäßigen Gebraud der ihnen anvertrauten Gewalt — nicht nur jeder 
feiner nähern oder entfernten Oberbehörde und endlich dem König 
ſelbſt — fondern, und zwar vorzugsweife die Minifter oder oberften 
Staatsdiener, aud der Volksrepraͤſentation verantmwortlih; und 
ed hat über die hier in Sprache ftehenden Verbrechen und Vergehen 
“ein eigend dafür zu errichtender Staatsgerihtshof zu erkennen. 
Die Mitglieder der Volksrepraͤſentation jedoch, da fie in dieſer 
Eigenfhaft bios Meinungen zu dußern, nicht aber thätlich eine 
wirklihe Gewalt zu üben, blo® duch Abftimmung zu Befchlüfs 
fen mitzuwirken, nicht aber bdiefelben zwangsweiſe zu vollftreden 
haben, find in ber Sphäre dieſes ihres Berufs unverantworts , 
Lich, fo wie das Volk felbft, in deffen Namen fie auftreten und deſ⸗ 
fen Gefinnung, Wunſch und Willen fie nad ihrer freien Webers 
zeugung zu Außern berechtigt und verpflichtet find. 

Wir wollen biefen — einftweilen blos fummarifdy gefaßten — 
Hauptfägen des conftitutionellen Syſtems, vorbehaltlich ihrer weitern 
Ausführung im Verlaufe diefer Abhandlung, gleich jetzt die correfpon= 
direnden Säge des abf olueiftif hen Spftems gegenüber ftellen. 

1) Der Staat ift eine Summe von Perfonen, weldhe dis 
ner unb derfelben oberftien Gemalt unterworfen find. 
Diefe oberfte Gewalt ift keineswegs aus einem Vertrag, am allerwes 
nigiten aus einem Gefelfhafts- Vertrag abfliegend, fondern fie ift ents 
weder die gemein herriſche, oder auch die auf dem Eigenthum über 
Grund und Boden, oder auc überhaupt die auf dem factifhen Ber 
ftande ruhende, jedenfalls ald eine vom Himmel verlichene, wohl auch 
unmittelbar daher flammende Gewalt. Zwifchen den Staatögliedern, 


Sonflitution. 969 


d. h. Unterthanen, unter fich befteht Feine andere Verbindung, ala 
welche fich zmwifhen den Genoſſen deffelben Verhaͤltniſſes, 3. B. zwi⸗ 
ſchen den Knechten deffelben Herrn, zwiſchen den Kindern beffelben Va⸗ 
ters, überhaupt zwiſchen den Gehordyenden befjelben Gebieters findet. 

-2) Hier kann alfo von einer millenberechtigten Gefammtheit und 
“einer Repräfentation derfelben gar keine Rede fein. Der Wille des. 
Herren oder des vom Himmel gefegten Staatshauptes ift die alleinige 
Duelle alles Rechtes und die alleinige Regel für Alles, was im Staate 
gefchehen nder nicht gefchehen ſoll. 

3) Zwiſchen ber Summe ber Unterthanen und dem Staatshaupt 
befteht ein anderes Verhaͤltniß, als daß die erften unbedingt zu 
gehorchen und das legte ebenfo zu .befehlen haben. Don einer 
Theilung der Gewalten zwifchen Regierung und Volt kann alfo 
keine Rebe fein, wiewohl es angeht, daB die Regierung felbft eine 
- vielgliedbrige, d. h. aus mehren Theilnehmern beftehende, fei, 
oder auch (denn die abfolutiftifche Theorie hat auch auf die Demo» 
Eratie Anmendung), daß die gefammte Regierungsgemwalt in ber Ran» 
desgemeinde felbft refibire, deren Entfheidungen fodann durchaus feiner 
Controle und keiner Beſchraͤnkung durch irgend ein den einzelnen Bürs 
dern zuftehendes Recht unferljegen. 

4) Die abfolute Gewalt, ohne Unterfchied, ob Einem oder Meh⸗ 
tern oder Allen anvertraut, iſt eine ungetheilte, fowie eine unbes 
ſchraͤnkte. Sie ift ber Staat, und außer ihr giebt es nur ſchlecht⸗ 
hin Gehorchende. Sie giebt Befege, und fie vollfizedt fie ausfchliefend 
und ohne Zheilnahme. , 
| 6) Daher ift auch bie richterliche Gewalt zu ihrer Domaine 
gehörig; und ihr fteht es zu, die jedenfalls nur in. ihrem Namen hans 
beinden Gerichte nad) felbfleigenem Belieben zu errichten unb zu orga⸗ 
nifiren, und nach Befund - and) neben ben ordentlichen: Gerichten aus 
Berordentliche für beſondere Bälle ober Gegenſtaͤnde in Thätigkeit - zu 
fegen. .. = = 

. 6) Dem Bolt und jebem Einzelnen im Volk ſteht gar Fein 
Recht ber Kenntnifnahme von Öffentlilgen Angelegen» 
heiten zu. Diefelben gehen blos die Regierung' an, welche: davon, 
fo viel fie für gut findet, bekannt macht. She; der Regierung allein, 
fteht auch das Recht der Beurtheilung deſſen, was dem Gemeinwohl, 
d. h. was ihr feibft, die da das Gemeinwohl _vorftellt, frommt oder 
nicht frommt, zu. Eine Öffentlihe Meinung, die da ihrem Walten 
Schranken fege oder die Richtung geben koͤnne, anerkennt fie nidjt 
und duldet fie nicht. Sie hält demnach auch die unbefugten Urtheile 
der Einzelnen über Staatsfachen, überhaupt alle Aeußerungen, die ihr 
aus was immer für einem Grunde mißfällig find, durch Genfur und 
Verbot zurüd, und unterdruͤckt jede verfuchte "Mittheilung von hats 
fahen oder Lehren, deren Bekanntwerden fie ihrem Intereſſe für nad» 
theilig erachtet. | 

Gtaats⸗Lexiton. IL 49 


⸗ 


770 Gonftiturion. 


7) Die abfolute Regierung fordert zwar von allen Unterthanen 
einen gleichen Gehorfam, aber fie behauptet auch das Hecht, Privie 
legien und Diepenfationen, fo viel ihr beliebt, an Stände 
oder Claffen oder Individuen zu ertheilen, frei es als bloße Gunſtbe⸗ 
jeugung, oder zu irgend einem ihrem Intereſſe entfprechenden Zweck. 
Was aber die Freiheit betrifft, fo widerſtreitet biefelbe ſchon nad 
. ihrem Begriffe jenem des Abfolutismus. Ste drüdt ein ſelbſtſtaͤn⸗ 
diges Recht aus; und im abfoluten Staat giebt es kein anderes, als 
das auf dem Willen ded Herrn ruhende; und ſelbſtſtaͤndig iſt aübort 
nichts, als die Staatsgewalt ſelbſt. 

8) Daher iſt auch in Anſehung der Gottesverehrung jeder 
Unterthan ſchuldig, der von der abſoluten Gewalt ihm vorgeſchriebenen 
Confeſſion zu huldigen; und die Duldung einer andern Confeſſion, als 
jener, zu welcher der Inhaber der oberſten Gewalt ſich ſelbſt bekennt, 
iſt nur Ausfluß ſeiner Gnade. Ebenſo kann von einem ſelbſtſtaͤndi⸗ 
gen Auswanderungsrecht keine Rede fein. Der auf dem Staates, 
d. h. Regierungs- Gebiet Geborene ober dahin Eingewanderte ift Hoͤ⸗ 
riger ober Leibeigener der Staatsgewalt und kann ohne berfelben — frei 
zu gemährende oder zu verweigernde — Erlaubniß nimmermehr das 
Herrfchaftsgebiet verlaffen. 

9) Es giebt Fein Staatsvermögen im Sinne ber conffie 
:tutionellen Theorie. Alles fogenannte Öffentliche Vermögen iſt Eigen: 
thum ber Regierung oder ihres jeweiligen Hauptes. Beine Ver— 
fügungsgemalt darüber iſt unumfchränkt, ohne Unterfchied, ob zu per⸗ 
fönlichen oder zu Sffentlichen Zwecken. Cr hat alfo rüdfichtlih der er: 
ften ſich keineswegs auf eine ihm auszumerfende Civitlifte zu beſchraͤn⸗ 
ten, und, mäs bie-legten wie die erften betrifft, fo ift dag Ver moͤ⸗ 
gen fämmtliher Unterthbanen zur DBededung bed von dem 
Herrfcher zu beftimmenden Bedarfes der von ihm frei zu verorbniens 
den Befteuerung unterworfen. Ebenfo ſteht ihm auch die Befugnif 
zu, über die perfönlichen Dienfte ber Unterthbanen in Frieden 
und Krieg nad) Belieben zu verfügen, alfo namentlidy auch zum Sol. 
datendienſt auszuheben, fo Viele und auf fo lange als ihm gefällt. 

10) Die Diener des Herrn find nur ihm allein verantworts 
lich, und mer nach feinem, des Herrn, Willen gehandelt hat, darf 
Niemandem in der Welt darüber zur Rede ftehen. Ihm, dem Herrn, 
dagegen find Alle verantwortlich, welche, unter was immer für einem 
Titel, ſich mißfällig über feine Regierungshandlungen geäußert, oder 
gar ein Hemmniß feinen Verordnungen entgegenzufegen ſich erkuͤh⸗ 
net hätten. — 

Wir haben unfern Lefern hiermit Sag und Gegenfag vor 
bie Augen geftellt. Auf weicher Seite die Wahrheit, d. h. das wahre 
Recht, zu erkennen fe, überlaffen wir ihrem verftändigen Ermeffen. 
Auch enthalten wie uns einer weitern Ausführung der Grundfäse bes 
Abfolutismus, Wir haben bereits (f. Abfolutismus) diefem Spftem 
einen eigenen Artikel gewidmet. Dagegen ſchemt: uns noͤthig, die Prin⸗ 


Gonftitution, 771 


cipien bes conflitutionellen Syſtems, welchem mir unfere 
Herzenshulbigungen bdarbringen, durch einige nähere Beſtimmungen 
und Erläuterungen den Mißverftändniffen zu entrüden und dadurch 
der Zheilnahme der Klar: und Wohldenkenden zu empfehlen. 


1. Wenn der Staat ein wirklich zu Hecht beftehender, nicht blos 
auf factifher Gewalt beruhender,; Zuftand fein fol, fo ift die Ans 
nahme eines (urfprünglichen oder fpäter hinzugelommenen, ausdrüdlich 
oder nur ſtillſchweigend gefchloffenen) Sefellfhafte: Vertrages die 
unbedingt nothwendige Vorausſetzung. Die unmittelbar vom 
Himmel flammende Gewalt des Herrfchers iſt eine myſtiſche und vers 
altete, auch trog aller Bemühungen ber Legitimiften nimmermehr dem 
Verftande der mündig gervorbenen Nationen aufzuheftende Idee. Nicht 
haltbarer ift jene des Erbeigenthums über ein ganze Völker 
beherbergendes Land; und die dem patriarchalifchen Zuftande ber 
Stimme unter Stammeshäuptern abgeborgte Idee der väterlichen 
oder Iandesväterlichen Gewalt ift eine bloß der Poefie angehoͤrige 
Vorftelung. Die Gewalt fhlehthin endlich, keinen andern Titel 
als fich felbft aufftellend, ift kein Sundament eines Rechts s Verhättnifs 
ſes. Alſo bleibt nur der — auddruͤckliche oder ſtillſchweigende — 
Vertrag, namentliih Gefellfhafts- Vertrag, übrig, um dem 
Staatsverein eine rechtlihe Grundlage und Bedeutung zu geben, und 
"aus dem natürlichen Gefellfchaftsrecht allein, wenn irgend woher, lafs 
fen :fih für die Nechtöverhältniffe im Staat vernünftige Regeln ableis 
ten. Das conflitutiortele Spftem anerkennt dieſes, und hat darum 
ganz eigens zu feiner Aufgabe die Verwirklichung ber dee eines nach 
dernünftigem Sefellfhaftsreht verfaßten und regierten 
(d. h. zur gemeinfamen Iwederftrebung gelentten) Staates, 


Dem Geſellſchaftsrecht gemäß entfcheidet über alle gefellfchaftlichen 
Angelegenheiten allein .der, mittelbar oder unmittelbar, ſich ausfprechenbe 
Gefammtwille Diefem alfo fteht auch zu, bie Form der Res 
gierung feflzufegen, und die Perfonification berfelben zu beftim« 
men. Was er in folher Beziehung ausgefprochen hat, ift fobann vers 
bindlih für alle Gefellfhaftsglieder. Das Net der regierenden 
Häufer (mofern fie ſich nicht auf die einerfeits ſehr befcheidene und 
anberfeits fehr bedenkliche Eigenfchaft a8 Grundherren beſchraͤnken 
wollen) kann demnad) blos auf einem Act des Geſammtwillens (Ges 
feg oder Grundgeſetz) beruhen, wodurch allen Gefellfhaftsgliedern 
zur Pflicht gemacht ward, ben aufgeftellten Regenten (Und die ihm 
nach einer feftgefegten Regel in folher Würde Nachfolgenden) als das 
Drgan des Sefammtwillens (In einer beftimmten oder zu beftimmenden 
Sphäre) zu achten, und ihm alfo gehorfam zu fein. Der erwählte 
Megent (im eigenen Namen und in bem. feiner gefeglichen Nachfolger) 
macht fi) durch einen Vertrag gegen die Gefellfhaft verbindlich, die 
Regierung, fo mie das Geſetz ihre Formen beftimmt hat, zu führen; 
und fo ift durch jenes Gefes und diefen Vertrag das gaätice Verhaͤlt⸗ 


172 Eonftitution. 


niß zwiſchen Negenten und Untertban, d. 5. zwiſchen bem gefeßlichen 
Drgan des Geſammtwillens und den Gefellfchaftsgliedern beftimmt. 

Die Legitimiften,, d. h. bie theild myſtiſchen, theils gemein fervifen 
Abfolutiften, erklären gern folche conftitutionelle Ideen für bloße 
Schwindeleien oder unhaltbare Theorien, welche der Dann von prakti⸗ 
ſchem Sinne weit weg von fich werfe. Aber die alfo ‚abfprehen, vers 
‚geffen, daß felbft hiſtoriſch jene conftitutionelle Theorie ſchon gar oft im 
praktifcher Verwirklichung erfchienen ift. Ohne der verfchiebenen republis 
tanifchen Regierungsformen zu gedenken, finden. wir aud) in mandıen 
monackhifchen Staaten jenes Gefeg und dieſen Vertrag ganz förmlich 
und feierlich gegeben und gefchloffen. Nur unter folhem Titel ift 
Wilhelm von Dranien und nah ihm dad Haus Hannover auf den 
Thron von England gefliegen; und nur in Kolge derfelben Theorie mag 
Ludwig Philipp als König der Franzofen auftreten. Was bei Diefen 
Fuͤrſten aus.cudlih und förmlich ausgefprochen ward, das muß bei den 
andern als flillfchweigend gefchehen vorausgefegt werden, wenn ihr 
Thron einer rechtlichen Feſtigkeit oder vernünftig. aufgefaßten Legitimität 
fid) erfreuen fol. Ä 

1. Da bie Seele einer jeden Gefellfchaft ber in ihe lebende Ges 
fammtwille und deſſen moͤglichſt lauterer Aubdruck ift, fo geht die we⸗ 
ſentliche Richtung des conftitutionellen Syſtems dahin, dem Gefummt- 
willen der Staatögefelfhaft ein moͤglichſt lauteres Organ zu 
verfchaffen. Die aufgeftellte Megierung iſt dazu berufen, den Gefammte- 
willen, fo weit er bereits ausgefprodyen vorliegt, in's Werk zu richten 
und zu behaupten ;, aber fie ift nicht geeignet, ihn urſpruͤnglich auszu⸗ 
ſprechen, oder völlig an befien Stelle zu treten. Wie ausgedehnt der 
Kreis der Bevollmädtigung fei, welche ihe zu ertheilen die Geſammt⸗ 
heit für gut fand: immer mußte fie für fich felbft den freien Ausdruck 
ihres lebenskraͤftigen und rechtlich wirkſamen Willens vorbehalten. Wie 
aber mag ein Volk feinen Geſammtwillen auf zuverlaͤſſige Weiſe aͤus⸗ 
ſprechen? Welches iſt das natürliche und lautere Organ deſſel— 
ben? In gang kleinen Staaten iſt es bie Landesgemeinzde, d. h. 
die Berfammlung aller (politifh) mündigen Bürger, deren Mehrheit 
volgiltig im Namen des Volkes befchließt, oder Wuͤnſche und Forbes 
rungen ausfpriht. In größern Etaaten kann dieſes blos durch 
einen aus dem Schooße der Nation frei gewählten Ausfhuß 
gefhehen, welcher nämlich, wofern das Mahlgefeg ein vernünftiges ift, 
bie Gefammtheit in Natur und Wahrheit: voritellt, und rechtlich. ale 
tdentifch mit ihr betrachtet werden kann. In dieſer natürlihen 
und treuen National: Repräfentation, melde da gegenüber 
der Regierung die Intereſſen und Rechte des Volkes zu vertretin hat, 
befteht das Wefen der conftitutionellen Verfaffung. (ine 
ſolche Mepräfentation ift alfo unendlich verfchieden von ben arifto= 
Tratifhen Keudal:Ständen, welche die Reaction der Partei fo 
gern an bie Stelle der neuzeitlichen wahren National-, d. h. Repraͤ⸗ 
fentativ s Stände fegen möchte: -Sene Beudal: Stände ſtellten blos bie 


/ 


- 


Gonflitution. Br 


Kaſten ober Corporationen vor, welchen fie angehörten, ober yon denen 
fie gefandt waren, namentlich den Adel und die Geiftlichkeit. Der for 
genannte dritte Stand, d. h. die Grundmaffe der Nation, erfchien 
dabei im der bürftigften Repräfentation durdy Abgeordnete eins 


., zelneer Städte und in ganz untergeorbneter Stellung, während ihm 


(verfteht ſich ohne Ausfchliegung des Adels und der Geiftlichkeit, ins 
fofern dieſe mit zu ben Staatsbürgern gehören) bie alleinige 
Stimmführung in ber politifhen Wechſelwirkung mit der Regierung 
zufteht. - Die Seubals Stände waren wohl ein Hemmniß der Regierung, 
aber nicht minder oder noch weit mehr eine die wahre Volkeftimme- 
unterdrüdende, d. b. fi) an ihre Stelle fegende, unlautete Autorität; 
fie waren eine rein pofitive ober hifforifche Einſetzung, welcher gar Fein 
vernünftiger Rechtsgrund zur Seite fleht, und welche mit ben Erkennt; 
niſſen und den Bedürfniffen unferer, zur politifhen Mündigkeit heran⸗ 
reifenden, edlen Völker den widerwaͤrtigſten Contraft bildet. Sie find 
eine der Barbarei des Mittelalters entftiegene, durch Rechtsvergeſſen⸗ 
heit und Rechtsverachtung genährte, fodann auch bei'm Aufdämmern 
einer befjern Erkenntniß eben factifch forterhaltene Einfegung, deren 
Umſturz unter jene Wohlthaten der franzöfifchen Revolution gehört, 
die uns mit ihren mannichfaltigen böfen Früchten ausſoͤhnen. 

Die Repräfentation des gefammten Volles vermits 
felft einer aus freier Wahl deffelben hervorgehenden 
Berfammlung ift, fo nahe liegend diefe Idee feheint, gleichwohl 
exit eine Erfindung der neueften Zeit. Sie allein aber iſt geeignet, 
die Idee des wahren Geſammtwillens zu verwirklichen, und aus einem 
Gemalts : Staat einen Rechts: Staat zu machen. Nicht mas der pers 
fönliche oder Einzels Wille der Negenten verlangt, ift Recht im Staate, 
fondern nur was der Geſammtwille der politiſch mündigen Staates 
angehörigen feſtſetzt. Die regierenden Perfonen, auch bei der redlichiten 
Gefinnung, Eönnen fih irren aus mancherlei Befangenheit; fie können 
aber auch untreu oder unlauter, d. h. perfönliche Zwecke anftatt 
des gemeinen Wohles verfolgend, fein. Es muß alfo, wenn nicht die 
Nation den Zufäkigkeiten des individuellen Verſtandes und Charakters 
Einzelner preisgegeben fein foll, ihr die Aeußerung ihrer Gefinnung, 
ihres Bedürfniffes, ihres Verlangens, ihres Willens frei ftehen, 
d. h. es muß ihre ein natürliches und baum zuverläffiges 
Drgan folder Aeußerung verliehen fein. 

Ein folhes Organ nun ift auf Feine andere Weiſe zu fchaffen, 
als mittelft freier Wahl durch die Mitglieder der Gefammtheit, die 
da vorgeftellt und nertreten werden follen. Ueber bie für bie Reguli⸗ 
tung folder Wahl maßgebenden Principien haben wir und bereits in 
den Artikeln Abgeordnete und Charte u. a. ausgefprochen, und 
mögen uns baher auf das allbort Gefagte berufen. 

III. Die Staatsgewalt hat das Recht, alles das zu verorbnen 
und auszuführen, mas zu Erseihung bed Staatszwecks nothwendig 
öder dienlih if. Aber wer foll darüber entſcheiden, was nothwendig 


774 i | Gonftitution. 


ober bienlih iſt? Wie kann das Volk der Gefahr enthoben werben, 
bag unter dem Titel jener Nothwendigkeit oder Dienlichkeit ihm Leiftuns 
gen, Opfer und Freiheitsbeſchraͤnkungen aufgelegt werden, welche uns 
nöthig oder unbienlid) und blos Privatzwecken ober unlautern Intereſ⸗ 
fen förderlich find? — Dagegen tft keine andere GSicherheitsleiftung 
möglich, als die, dag nur bie Geſammtheit felbft, alfo diejenigen, 
welche felbft zu leiften, zu opfern ober Beſchraͤnkungen zu übernehmen 
haben, ben darauf gehenden Beſchluß faffen, oder wenigſtens dem 
von der Regierung darüber gefaßten Befchluffe beiftimmen. Der 
felbfleigene Entfchluß oder die Zuftimmung der durch einen Act ber 
Staatsgewalt zu Verpflihtenden ift die zuverläffigfte Bürgfchaft 
dafür, daß nichts Ungerehhtes und nichts Drüdendes werde 
befchloffen werben; und follte ein ſolches gleihmohl aus Irrthum mit⸗ 
unter gefchehen, fo wird durch die Einwilligung der Betheiligten jedenfalls 
das Unrecht aufgehoben. Aus bdiefer Betrachtung mürde freilich 
folgen, daß der Volksverfammlung oder jener feiner freigemählten Res 
präfentauten die volle Staatsgewalt zu überlaffen ober zu übers 
tragen fei, wenn wirklich die jeweils activen Bürger fämmtlich oder 
body in entfchiedener Mehrheit verftändig und mohlgefinnt und zugleich 
auch die bei den zu faffenden Beſchluͤſſen allein Betheiligten wären. 
Aber, wie fehr man den Kreis des activen Buͤrgerrechts ausdehne, 
immer bleiben noch gar Viele im Volk (megen natürlicher Unmuͤndig⸗ 
keit oder Unfähigkeit) ausgeſchloſſen von der zählenden Stimmges 
bung; und es koͤmmt, da der Staatszweck nit blos ein vorübers 
gehender, auf das Intereſſe oder die Neigung der In einem gegebenen 
Moment lebenden Bürger befchränkter, fondern ein aud das Wohl 
ber nahfolgenden Generationen in fih faffender ijt, noch die 
weitere Betrachtung hinzu, daß ein Beſchluß der Volksgeſammtheit 
oder ihrer Repräfentation, wenn er auch den wirklich Lebenden augens 
blicklich WVortheil bringt, doc den Rechten und ntereffen der nach⸗ 
folgenden Geſchlechter voiderftreitenb fein kann. Darum wird 
ein verftändiges Volk, ſowie es in dem Conſtitutionsgeſetz einerfeits der 
Regierung sgemalt mittelft der für fich felbft oder feine Repräfen« 
tanten vorbehaltenen Rechte jene Schranken fest, welche zur Ents 
fräftung eines dem wahren Geſammtwillen wibderftreitenden Einzelmtlleng 
ber Regierenden nöthig find, fo auch anderfeits eine ähnliche Bes 
ſchraͤnkung feiner eigenen Macht dur bie der Regierung übers 
tragenen Rechte flatuiren, zu dem Zwecke nämlich, daß die große 
nie fterbende Geſammtheit (alfo mit Inbegriff der nahlommenden 
Geſchlechter) gegen bie etwa übereilten oder unlautern Beſchluͤſſe 
einer etwa unvollftändigen, ober übel berathenen, oder durch augens 
biidlihe Aufregung oder Verblendung dahin geriffenen Volks⸗ oder 
Mepräfentanten «Verfammlung, jeweils durch die wirkſame Einfpradye 
ber Regierung inne gefichert werben. Außerdem wird man diefer Mes 
gierung gern alles das Überlaffen, was durch fie beffer als durch bie 
(Volks⸗ oder) Nepräfentantenverfammiung und zugleih ungefährlich 


Gonſtitution. 775 


geſchehen kann, letzteres alſo zumal in allen jenen Thätigfeitskreifen, wo 
Richtung und Gegenftand des Wirkens, Anordnens oder Vollſtreckens 
fhon duch das vorhandene Gefes, alfo durch den bereits vor⸗ 
liegenden Ausfpruc des Geſammtwillens hinreichend beſtimmt und ges 
regelt find. 

IV. Die voranflehenden Säge enthalten ſonach das conftitutionelle 
Princip für die Theilung der Gewalten zwifchen Regierung und 
Volksrepraͤſentation. Es handelt ſich hier nicht um bie objective 
Zheilung, welche wir den Theorien ber Schule oder auch den Phantas. 
fien poetifcher Rechts» und Staats» Philofophen überlaffen, fondern 
um die fubjective, d. h. die zwifchen den genannten zwei Pers 
föntichkeiten, um beren Wechſelwirkung e8 ſich handelt, praktiſch 
und zu dem Zweck anzuordnnende Theilung, daß jede der beiden, foviel - 
irgend möglih, im guten, b. b. dem wahren Gefammtmillen 
mit Zuverläffigkeit entfprechenden Walten, frei und felbftftändig, im 

fhlimmen, d. h. aus Irrthum oder Unlauterkeit davon abweichenden, 
aber mechfelfeitig eine durch die andere gehemmt ſei, und bergeftalt 
ein barmonifches Bufammenmirfen beider zu demfelben 
Ziele, ndämlidh zur Verwirklichung bes Staatezwedi, thunlichſt vers 
bürgt werde. | 

Ueber bie Lehre von der Theilung ber Gewalten iſt ſchon 
unfäglih viel Streitens gemwefen, und zwar meift ohne fonderlichen 
Gewinn für die MWiffenfchaft wie für das Leben. Hier bloßer Wort⸗ 
ftreit, dort baares Mißverſtaͤndniß und VBegriffövermechelung, mitunter 
auch leere Spigfindigkeit oder gehaltlofes Phantafiegebild find der vor» 
herrfchende Charakter der darüber gepflogenen Diseuffionen. Wir 
werden unfere Anficht davon in dem Artikel Theilung der Ger 
walten ausführliher entwideln. Hier nur fo viel, als zur Ders 
deutlihung bed conflitutionellen Princips unmittelbar noth» 
mwendia ift. 

Die Einheit der Staatsgewalt, welche von mehreren Seiten 
mit Eifer behauptet wird, von ber einen nämlich im Intereſſe einer 
blos theoretifchen Schuls Doetrin, von der andern in ber praktifchen Ab» 
fiht, günftige Folgerungen für den Abfolutismus aus folcher Lehre zu 
ziehen, können wir unbedenklich anerkennen, infofern darunter nichts 
Anderes verftanden wird, als die Einheit des Begriffes, oder die allen 
gedenkharen Aeußerungen der Staatsgewalt zu Grund liegende all⸗ 
gemeine Idee oder gemeinſchaftliche Wurzel, welche eben in 
der rechtlichen Herrſchaft des Geſammtwillens, oder bee Or⸗ 
gane deſſelben, innerhalb des durch den Geſellſchafts⸗Vertrag beſtimmten 
Kreiſes beſteht. Aber ſolcher Einheit thut die mannichfaltigſte Abthei⸗ 
lung und Unterabtheilung der Gewalt, nach Gegenſtand und Richtung, 
nach Form und Umfang u. ſ. w., durchaus keinen Abbruch; und eben⸗ 
ſowenig thut ſolches die Forderung der Vertheilung der einen Staats⸗ 
gewalt unter mehrere ſich wechſelſeitig beſchraͤnkende Inhaber. So wie 
> DB: das Eigenthumsrecht eine Menge von beſondern Rechten 


16°. Gonftitution. 


ober Ausuͤbungsweiſen In ſich fchließt, und eine Vertheilung unter 
Mehrere, oder auch eine gemeinfchaftlihe Ausübung duch Mehrere zus 
läßt, ohne darum aufzuhören, im Begriff eine Einheit zu fein: fo auch 
die Staatsgewalt. Alle gedenkbaren Ausflüffe, Richtungen, For⸗ 
men und Gegenftände derſelben fchaden dem Begriff ihrer Einheit nicht, 
und abe a thut e8 die DVertheilung ihrer Ausübung unter meh⸗ 
rere — ſei es dabei gefondert auftretende, fei es gemeinfhaftlich hans 
beinde — Xheilnehmer. Der Einheit der Staatsgemalt alſo ſchadet 
ihre Unterfcheidung in gefeggebenbe, gefesverwaltende, oder 
überhaupt adminiftrative, ebenfo in infpective, au richters 
liche u. ſ. w. nicht; ebenfowenig die Eintheilung in polizeiliche, 
finanzielle, Juftiz: und Militair-Gemwalt, mit noch weiten 
beliebigen Unterabtheilungen. (Die Municipal: Gemalt jedod und die 
Mahl: Gewalt und mehrere andere, welche man in neuern Schriften 
unter die Staategewalten gereihet findet, gehören nicht eigentlich unter 
biefen Begriff.) Auch bleibt jene ideelle Einheit unangetaftet durch 
bie Berufung mehrerer Perfönlichkeiten zuc gemeinfamen 
oder auch getrennten XTheilnahme an eben diefer Gewalt. Gerade 
mit dieſer Berufung hat es das conftitutionelle Syſtem zu thun; nur 
bie fubjective Zheilung ift ihm von Wichtigkeit, die objective iſt 
ihm nur infofern wichtig, als fie mit der andern in nothmendiger Ver: 
bindung fteht, oder zur Verdeutlichung ber beiden Perfönlichkeiten (Mes . 
gierung und Volksrepraͤſentation) anzumeifenden Gewaltſphaͤre führt. 
Zu diefem Behufe haben wir blos auf zwei, nad ihrer Natur 
von einander weſentlich unterfchiebene Gemwalten oder Gemoltfphären 
ben Blick zu werfen. Alles, miß durd) die Staatsgewalt, d. h. durch 
ben Gefammtroillen, beftimmbar ift, muß entweder ein im Allgemeis 
nen, d. b. nah) Begriffen, Aufgefaßtes, oder ein Eirzelnes, im 
concreto Vorkommendes, fein. Die Bellimmungen über das Erfte 
flellen die Regel für kuͤnftig eintretende, unter den fraglihen Bes 
griff gehörige, Fälle auf, und mögen Gefege genannt werden. Die 
über das Zweite find entweder bloße Anwendungen fehon vorhandener 
Gefege auf die vorfommenden, darunter paffenden, einzelnen Fälle, oder 
aber fie find unmittelbare Acte des Geſammtwillens über concrete, 
durch's Geſetz noch nicht regulirte Fälle. Unter eine von diefen beiden 
Mubriten läßt jeder Act der Staatsgewalt ſich einreihen, infofern man 
naͤmlich, was ſowohl der ıgemeine, als der gelehrte Sprachgebrauch 
fordert, unter Gewalt blos ein Recht der Willens Aeußerung, oder 
ber Willens» Durhführung verfteht (wonach alfo die richterliche. 
fogenannte Gewalt, welche blos in der logifchen Sunction bed Urthei⸗ 
lens oder Erkennen befteht, aus der Reihe der eigentlihen Ges 
walten auszufchließen ift). Das conftitutionelle Spitem beiteht nun 
mit nichten basin, die gefeggebende Gewalt einer ber beiden 
in Frage flehenden Perfönlichkeiten, namentlich der Volksrep raͤ⸗ 
ſentation, und die verwaltende — d. h. in concreto thätige — 
Gewalt der andern Perſoͤnlichkeit, namentlich der Regierung, zu 


Gonftitutlon. y 777 


übertragen, fondern beide Perfönlichkeiten zur gemeinſchaftlichen 
Theilnahmean beiden Gemwalten oder Gemwaltfphären, nur hier und 
dort in verfchledenem Verhaͤlmiß oder Maß, zu berufen. Diefes Ver- 
hältnig oder Maß nämlich foll ducd die natürlichen Cigenfchaften der 
beiden Perfönlichkeiten beftimmt, d. h. die vorberrfchende Rolle hier und 
„dort der einen und der andern hiernach angewiefen werden. 
Zur Ausübung der gefeggebenden Gewalt ift naturgemäß 
die Volksrepräfentation vorzugsweiſe, nenn auc nicht aus— 
ſchließend, geeignet. Fuͤr die adminiftrative ilt es in der Megel 
mehr die Regierung. Das conftitutionelle Syſtem weiſet demnad) 
:die Hauptrolle bei der Gefeggebung der Wolksrepräfentstion, bei der 
Adminiftration der Regierung an. Aber e6 befchränft die geſetzgebende 
Gewalt der erften duch das der Regierung zuerfannte Rechr des 
Veto und der Sanction (mitunter audy ber Initiative), ind 
bie adminiftrative Gewalt der letzten durch das der Wolfsrepräfentation 
nad) Derfchiedenheit der Fälle gewährte Mecht entweder bios ber 
Kenntnißnahme und ter nadhträglih von den Miniftern zu for 
bernden Rechenſchaft, oder auch der fhon vorläufig zu ertheilenden 
oder zu verfagenden Genehmigung. Unter die legte Rubrik gehört 
namentlich die Abgaben: VBermilligung, die Verwendung der 
Staatsgelder zu beflimmten Zmeden, oder aud) die Contrahirung von 
Schulden u. ſ. w., zur erften gehören alle Acte der Admini- 
firation ohne Unterfchted. Der Grund von allem dem ift einleuchs 
tend. Bei Aufftellung von allgemeinen Regeln für kuͤnftige Källe 
ann, wenigſtens bei der Mehrheit der Volksrepraͤſentanten, nur das 
allgemeine Intereſſe (unter Voraugfegung der Inteligenz der Stim⸗ 
menden) entfcheidend fein. Jedenfalls erfcheint dergiſtalt blos eine 
über ſich ſelbſt ausgeübte Gewalt, mährend bie vn der Regies 
rung bier auszuübende eine mahrhaft herriſche, alp mit nichten 
gefellfchaftliche, wire. Zur Heilung der freilich immer ndglihen Ver⸗ 
irrung oder Verführung der Volksrepräfentation ift das Beto der Re⸗ 
gierung hinreichend. In der Sphäre des durch das Geetz bereits 
Beflimmten dagegen wäre bie Thätigkeit der Volksepraͤſentation 
theild unnoͤthig, theils ungeeignet. Hier kann und foll er Regie— 
rung die Vollgewalt anvertraut werben, vorbehaltlich bos der zur 
Sicherung der Gefeglicheit hinreichenden nachträglichen Kemtnignahme 
der Repräfentation. inzelne wichtigere, durch's Geſetz richt ſchon 
zum Vorhinein geregelte, Fälle unterliegen billig der gemeirchaftlichen 
Beftimmung der Regierung und Volfsrepräfentation, oder senigftene 
ber von Seite der. legten geltend zu machenden DVerantwortihfeit ber. 
erften. Diefe Verantwortlichkeit der Minifter gegeuber der 
BVolksrepräfentation und hinwieder das ber Negierung zufiehemr Medı 
ber Auflöfung ber Deputirten:Berfammlung verullftänd 
gen das im Intereſſe der Derrfchaft des wahren Geſammtwilens hei 
äuftellende Gleichgewicht der beiden Gemwalten, nämlich jene 
der Regierung und jener ber Volksreptaͤſentation. 


7178 Gonftitution. 


Daß neben ben bisher: aufgezählten Rechten ober Gewaltausuͤbun⸗ 
gen das conflitutionelle Syſtem noch meiter der Regierung bie Ernens 
nung deu Staatsdiener, die Ertheilung von Würden, die Vers 
handiungen mit dem Ausland u. f. w. zuertennt — Alles jedoch 
vorbehaltlich der dafür durch die Geſetzgebung aufzuftellenden Grund⸗ 
füge, auch, wes das Letzte betrifft, vorbehaltlidy ber, wenigſtens im 
den wichtigern Bullen, nachtraͤglich einzuhotenden Zuftimmung der Volks⸗ 
repräfentation, jebenfall® der dafür den Miniftern obliegenden Verant⸗ 
wortlichkeit — fließt aus den allgemeinen Principien der Gewalten =. 
Theilung. Ebenfo geht aus dem Berufe der Volksrepräfentation von 
felbft hervor, daß bderfelben und jedem ihrer Mitglieder das Recht 
der Anträge oder Motionen (nämlich der Einzelnen an die Kam⸗ 
mer „nd der Kammern an die Regierung) zuftehen muß, nicht minder 
dar Recht der Annahme von Petitionen aller Art, deren Einreis 
dung an die Volfsrepräfentation daher allen Bürgern einzeln ober in 
beliefigen Mengen, und ebinfo den Gemeinden, GCorporationen, Ges 
ſelichaften u. f. m. erlaubt fein fol, 

Die Grundfäge über die in einem conftitutionellen Staat ben 
Kammern (d. b. der Volksrepräfentation) und der Regierung bei et- 
waigen Befchlüffen über VBerfaffungs: Veränderung oder Auslegung 
gebührende Zheilnahme oder Mitwirkung find bereits in dem Artikel 
Charte aufgeftellt worden. Die hochwichtige Frage aber, ob bie 
Volksrepräfentation aus einer oder aus zwei Kammern gebildet 
fein folle, wird im einem eigenen Artikel: Zweilammern » Sy» 
ftem erörtert werden. Einige andere Einzelheiten, welche zur Ders 
vollftändigung des conftitutionellen Syſtems gehören, werden in dem 
Artikel Landflindifhe Verfaffung ihre Stelle finden. Uebri⸗ 
gene ift diefes Syſtem in Bezug auf Einzelheiten nicht dermaßen bes 
ſtimmt, daß nt mandyerlei Variationen und Abftufungen 
dabei ſtattfindn koͤnnten. Vielmehr erheifhen oder erlauben die vers 
fhiedenen innen und aͤußern Verhältniffe ber einzelnen Staaten, zus 
mal auch die Bildungsftufe und der Charakter der Völker, die mehr 
oder weniger befeitigten hiftorifhen Rechte von Häufern oder Claffen, 
überhaupt di gefchichtlihen Erinnerungen, Gewohnheiten und Sitten 
der Nationa u. f. mw. eine bald mehr bald weniger freigebige ober bes 
ſchraͤnkte Z2.theilung der politifhen Rechte, einerfeits an Volt und 
Volksrepräfntation, und anberfeits an die Regierung. Das Syftem 
- ftellt nur fe allgemeinen Ideen und Grundprincipien auf, und übers 
laͤßt deren nach Umftänden thunliche Verwirklichung der Weiss 
‚bei der ker cder dort zu Conſtitutions⸗- Entwürfen berufenen Autos 

taͤten. 

V. Daß die ſogenannte richterliche Gewalt, nach ihrem Haupt⸗ 
dhäft, naͤmiich Erkennen oder Urtheilen, gar keine Gewalt, 
dern Kos eine logifhe Function fei, wurde bereits oben be= 
erkt. Eben darum kann von ihe bei ber Gewalten⸗Theilung 
:ine Mede feinz ja es iſt überhaupt dee Inhaber ber Gewalt als ſol⸗ 


\ 


Gonftitution. 779 


her zum Urtheilſprechen welt weniger geeignet, nämlich welt weniger 
zuverläffig, al& jeder andere WVerfländige und Rechtliche. Weder dem 
König noch der Voldsrepräfentation ſoll alfo eine richterliche Autoritaͤt 
zutommen. Daß einige Verfaffungen namentlich der I. Kammer. eine 
fotche, zumal bei großen Staatsverbrechen oder bei Anflagen ber 11. 
Kammer, gegen bie Minifter einrdumen, liegt nicht im Syſtem, ſon⸗ 
dern iſt eine aus blos hiſtoriſchem Recht oder aus Vorartheil gefloffene 
unlautere Beimifhung.‘ Ebenfo und noch mehr sit verwerflih die 
einer Kammer zuftehende Befugniß, über die ihr era (3. B. von Bürs 
gern oder Schriftftellern u. f. w. vermeintlich) zugefügten Beleidiguns 
gen felbft zu Geriht zu figen, und ernfe Straferkenntniffe derge⸗ 
ſtalt in eigener Sache — zu fällen. Die polizeiliche Gewalt, 
wohl namentlich über ihre eigenen Mifglieder und im Vetſammlungs⸗ 
Locale, mag fie ausüben; aber wirklich peinliche Vergehen gehören 
vor bie ordentlihen Berichte. 

Wenn die Gemalt nicht felst richten foll, fo ſcheint auch bedenk⸗ 
lich, daß fie die Richter auffterle. Offenbar ift auch diefes verwerf: 
ih, wo es fih um Urtheifprechen in fpeciellen Zällen, alfo um Aufs 
ftellung außerordentliher Gerichte handelt. Die Ernennung der 
ordentlichen Richter, d. h. der für bfeibend und für Nechtsfachen 


überhaupt aufzuftellenden, mag jedoch der Regierung üherlaffen fein, ' 


nicht eben, weil forhe Ernennung ein natürliches Majeftätsrecht ift, 
ſondern, wie ein geiftreicher Schriftftelfer ſich ausdrüdt, weil überhaupt 
Jemand fie ernennen muß, und die Regierung, deren allgemeines 
Intereſſe jedenſalls auch in Handhabung des Rechtes befteht, dazu ges 
eigneter erfchein als faft Jedermann ſonſt. Indeſſen müffen dann die 


Richter, fobald fe ernannt find, eine von der Regierung unabhänz= 


gige Stellung, d. h. von der Gunſt oder Ungunft der Regierung 
möglichft wenig ze hoffen oder zu fürchten haben, und bei Faffung 
der Urtheilsfprüche blos an ihre eigene Ueberzeugung (verfteht fich, ges 
bunden an das Geſetz) angemwiefen fein. Auch foll das Geſetz für bie 
Befähigung zu Richterftellen und für die Art der Ernennung die der 
Willkoͤr möglihft wenig Raum laffenden Beftimmungen geben und 
durch mohlgeregelten Inſtanzenzug dem wahren Recht bie Zuverficht 
des Eieges bereiten. Was dann Insbefondere die Strafrecht» 
Sachen betrifft, fo verlangt das conftitutionelle Spftem, daß, neben 
den gelehrtm und ftändigen Richtern des Rechtes, Geſchworen⸗ 
eAredchte, beftehend aus zeitlich durch's Loos beftimmten gemein ver⸗ 
ſtͤndigen und rechtlichen Maͤnnern, zu Richtern der That beſtellt, 
„und namentlich auch ſchon über die Frage, ob nach Beſchaffenheit der 
Inzichten eine wirklich peinliche Anklage gegen einen Buͤrger ſtatt⸗ 
finde, denſelben die Entſcheidung übertragen werde. Alle Ausnahms—⸗ 
gerichte, ale Cabinetsjuſtiz, alle will kuͤrliche Verhaft⸗ 
nahme und Gefangenhaltung werden verbannt durch das conſtitu⸗ 
tionelle Syſtem. 

Wenn dergeſtalt das Rechtſprechen an und fuͤr ſich dem Einfluß 


780 Eonftitution. 


bee Gewalt durch das conftitutionelle Spftem entgegen wird; fo kann 
ber von Einigen als Ariom 'aufgeftellte, doch vielfacher Mißdeutung 
unterliegende Sag: „Alle Zuftiz geht vom Köntg aus” (toute 
justice emane du roi) nur auf die Handhabung des Rechtes, 
nicht aber auf die Schöpfung ober Auffindung befisiken Ans 
wendung finden. Das von ben unabhängigen Richtern, keineswegs 
im Namen der Gemalt, fondern im Namen bes heiligen Rechtes, 
gefällte Urtheil ifE durch die Staatsgewalt.zu vollftteden, und na⸗ 
turgemöß gehört ſolche Wollftredung zu ber Obliegenheit der Me: 
gierung. 

VI. Das Grundprinch des conftitutionelfen Spftems ift die thuns 
lichſt zu verwirklichende Herrſchaft des wahren Geſammtwillens. Mit 
dieſem Princip ift jede Verheimlichung von Regierungshandlungen 
oder von lanbfländifhen Berathungen, überhaupt von Allem, was oͤf⸗ 
fentlihe Angelegenheiten angeht, im greuften Widerfpruh. Das cons 
flitutionelle Syftem fordert demnach Publicität im meitelten Sinne 
des Wortes. (Die in gewiffen Dingen, namentlih in Verhandlun⸗ 
gen mit dem Ausland, ausnahmsmeife mitunter zäthliche, dod) blos 
zeitliche Geheimhaltung mag unbefchadet der allgemeinen Regel ftatts 
finden.) Wenn man dem Vol oder defjen Nepräfentanten das Recht 
gewährt, die Negierung zu controliven und zu den wichtigern Regie⸗ 
rungshandlungen mitzumwirfen, wenn überhaupt die Staatsangelegen- 
heiten als Volksintereſſen, oder als felbfteigene Sache des Volkes ein- 
mal anerkannt find; fo ift es eine fchreiende Nechtsverlegung, demfels 
ben die Kenntniß jener Thatſachen, Verhaͤltniſſe, und rechtlichen und 
politifchen Gründe zu entziehen, worauf allein feine Richtung, wenn 
fie eine verftändige fein foll, beruhen, oder durch deres Kenntnig als 
lein die Öffentliche Meinung zum Guten, b. h. zum Wahren, gelentt 

‚ werden kann. Jede Berheimlihung erregt den Veiddacht der Taͤu⸗ 
fhung oder der boͤſen Abſicht; und unter den Korderungen bes 
conftitutionellen Spftems iſt Feine entfchiedener und unbedingter, als 
jene der Publicitaͤt. Mit diefer Forderung ift in innigfter Verbins 
dung jene der Preßfreiheit, weldhe wir hier nur von bdiefer, Dem 
conftitutionellen Princip angehörigen, Seite in's Auge faſſen. Die 
Freunde bes Abfolutismus, welche für alle Regierungshandlungen die 
Geheimhaltung — menigftens der Motive oder der vorgegangenen 
vertraulichen Berathungen — empfehlen, und vor der Deffentlich- 
teit der landftändifhen Verhandlungen erzittern und erbeben, find ’z,_ 
tuͤrlich auch gefchworene Feinde der Preßfreiheit; und fie handeln ſeht 
confequent, wenn fie den Krieg gegen fie führen; denn Abſclutismus 
und Preßfreiheit find mit einander unverträglih. Wer diefe will oder 
duldet, muß jenem entfagen; und wer jenen will, muß biefe tödten. 
Vita Conradini mors Caroli; mors Conradini vita Caroli. Abges 
fehen von allen andern unermeßlich Eoftbaren Wirkungen der Preßfrei⸗ 
beit und von allen andern heiligen Ziteln ihres Nechtes, ift vom 
Standpunkt des conflitutionellen Syſtems Mar und augenfallig, daß 


Conſtitution. 781 


eine neuzeitlich landſtaͤndiſche, d. h. repräfentative, Verfaſſung ein lee⸗ 
rer Schall und eine bis zum Hohn anſteigende Taͤuſchung ſei ohne 
Preßfreiheit. 

VN. und VII. Das conftitutionelle Syſtem hat vicht blos 
die Perfonification der Staatsgewalt und die Kormen ihrer Ausübung 
sum Gegenftand, fondern aud die unmittelbare Axertennung 
und Gemährleiftung aller ben Etaatsangehärigen. als folhen und 
als -Perfonen fchlechthin, zuftehenden und Loftbaren Rechte Ders - 
fönliche Freiheit, Sicherheit des EigenthHums und Erwerbs, 
Gleichheit vor dem Gefeg und Richter fird zumal die von dem 
Bürger eines conftitutionelen Staates in dieſer Eigenſchaft anzufpres . 
chenden und unantaftbaren Rechte. Die Treigeit der Gottesver: 
ehrung, infofern fie nad) der Berhaffenheit der legten ben pflicht⸗ 
mäßig zu wahrenden Intereſſen ber Staatögefellfchaft unnachtheilig 
it, und die Freiheit der Auswanderung (nad, erfüllten Verbind⸗ 
Tichkeiten gegen den’&taat und Lie Staatsgenoffen) find Rechte der 
Derfon als folher, melde keiner eigentlihen Verleihung . von Seite 
des · Staates bedürfen, doch der befondern Anerkennung im conflis 
tutionellen Staat fich erfreuen ſollen. Wir merden über die hier an- 
Gedeuteten Rechte (zumal über die vielfach mißverftandene „Gleich: 
heit” fowohl in Theilnahme an dem Wohlthaten als in Tragung 
der Laften des Staatsverbands, und über bie mit ihrem vernünf- 
tigen Sinne denndch vereinbarliche, theils blos factifche, theils auch 
rechtliche und politifche,'mannicdhfaltige Ungleichheit) in befondern 
‚Artikeln bie ausführlichere Lehre aufftellen, und haben es, was bie 
„Ausmwanderung” betrifft, ſchon in einem frühern Artikel: gethan. 
“ IX, Das Staatsvermögen, als Gefellfchafts: Vermögen, ift, 
dem conflitutionellen Syſtem gemäß, das Eigenthbum der Ges 
farimtheit,. joch flehend unter der Verwaltung ber Megierung, 
welche ihrerſeits der MWolksrepräfentation darüber Rechnung abzulegen 

at. Unter dem Staats⸗Vermoͤgen iſt allernaͤchſt die dee Geſellſchaft 
„eidatrehtlich zugehörige Domaine begriffen. Aber es gehört 
> dazu auch jeder dem Öffentlichen Recht entfließende Zitel der 
Sinnahbme Alles Einfommen aus fogenannten Regalien des 
Fincus (von welchen freilich das comftitutionelle Syſtem die meiften 
verwirft), und insbefondere jenes, welches bie vielnamigen Steuern 
„übmerfen, iſt Geſellſchafts⸗Gut, und keineswegs Eigenthum des 
Fuͤcſten. Nur was die Domaine betrifft, muß davon unterſchieden 
werden das dem Fürften und feinem. Haufe privatrehtlid 
zuftehende Gut. In vielen, zumal beutfchen, Staaten ift deffen eine 
große Maffe vorhanden, indem wirklich .die. meiften derſelben aus blo⸗ 
fen Grundherrſchaften, die da durch Erbfchaft, Heirath, Kauf 
u. a. privatrechtliche Erwerbungsarten allmälig in das Loos eines Haus 
ſes fielen, erwachfen find. Doc ift auch bei dieſen Gütern wenig- 
ftens eine Mifchung bes öffentlichen Rechts mit dem Privatrecht 
zu erlennen, indem doch offenbar bie zu Lehen erhaltenen Befols 


782 Gonftitution. 


dungeguͤtter ber ehemaligen Böniglichen Gemwaltsträger die Eigenfchaft 
der Altodialgäter vornehmer Grunbbeſitzer oder Dynaſten fichers 
ih nicht an fi tragen, und indem beibe Arten des Befitzthums 
nah undeſtrittenem, biftorifhem Recht zugleich als naͤchſtes Dek⸗ 
fungsmitter der dffentiihen Beduͤrfniſſe vorlängft betrachtet 
und behande wurden. Dazu kommt aber ‚weiter, daß gar viele Er⸗ 
merbungen rein nah äffentlihem Recht, z. B. duch Kricg, 
Friedensſchluß, Seculariſation u. fe w., oder auch aus den Mitteln 
der Geſammthe«t gemadht, und in ber Regel nicht nad) dem 
Geſetzen der Privat-Erbfolge, fondern nad) den: Beltimmungen 
von Staatd-Grundgelegen vererbt morden find. Das conftis 
tutionelle Syſtem, deſſen SPprincipien auf flrenger Rechtsachtung bes 
ruhen, iſt weit davon entfernt, das wahrhafte Privatgut der regies 
renden Häufer für das Volk in Anfpruc zu nehmen; aber ed nimmt 
auch die Rechte des legten in Schug, und — da, bei der Dunkelheit, 
welche auf den urfprünglichen Exmwerbstiteln, zumal der alten Dos 
mainen, ruht, und bei der fo ange augedauerten heillofen Vermi⸗ 
{hung und Verwechslung des oͤffentlichen mit dem Privatrecht, es 
kaum irgendwo nod möglich ift, eine genaue, auf beflimmtes und 
evidentes Recht geftügte Sonderung ober Abtheilung ber unter dem 
gemeinſchaftlichen Namen der Domaine begriffenen zmeierlei, von eins 
ander weſentlich verfchiedenen Claffen von Gütern zu machen; 
— fo empfiehlt es die mittelft Vergleichs gu bewirkende gücliche 
und billige Ausfcheibung enir:der einer Anzahl beftimmter Ss, 
ter oder einer entfprechenden Quote ber gefammten Domaine für 
die VBefriebigung der Haus: Anfprühe, wonach dann das Webrige 
der Geſellſchaft als reines Geſammtgut zufiele. Wo ein folches 
noch nicht gefchehen, da nimmt unfer Syſtem wenigſtens bei Feſt⸗ 
ſetzung ber Civilliſte auf die gemijchte Medytseigenfhaft der Domaine 
die billigfte Ruͤckſicht, d. h. will ihr Maß um fo plendider beſtimmt 
wiffen, als, nad) den obmwaltenden bijtorifchen Rechtsverhaͤltniſſen, 
das in der Domaine enthaltene wahre, d. h. privatrechtliche, fuͤrſtliche 
Hausgut muthmaßlich oder moahrfcheinlich ein größeres ift. Uebrigens 
ift dem "conftitutionellen Princip auch alldort, wo gar fein oder nur 
ein geringes Hausgut anzunehmen fein follte, ‚die Auswerfung einer 
reihlihen (nur freilich die Volkskraͤfte nicht uͤberſteigenden) Ci⸗ 
villifte angemeffen, aus Gründen, bie.in bem Art. Civillifte ans 
gegeben find. & 
X. Das conftitutionelle Syſtem, in Erwägung, daß einerfeits 
die Stellung eines Volkes gegenüber von Machthabern, welche ganz 
unverantwortlidh, d. h. lediglich Gott oder ihrem Gewiſſen für 
au the Thun und Laffen verantmwortiid find, eine wahrhaft recht⸗ 
lofe, d. b. dem guten oder böfen Willen, dem augenblicklichen 
Ermeffen oder der Laune ihrer Herren preisgegebene, und daß ander 
feits die DVerantroortlichkeit des Regenten unvereinbarlid mit dem mon» 
archiſchen Princip, auch jedenfalls manderlei Gefahren, na 


Ä Eonftitutin ‘78? 


mentlid eine dringende Verſuchung, ſich duch factifche Gewalt ber 
Verantwortiichkeit zu entziehen, mit fich führend ift, ſtellt als Ariom 
ober als Poftulat den Sag auf: „Der König kann nichtE Angerech⸗ 
tes wollen; wena alfo irgend etwas Ungerechtes gefchieht, d. h. von 
Seite ber Regierung gethan ober verordnet wird, fo Fut nicht ber 
König felbit ed gewollt, fondern feine Rathgeker ‘oder Ge⸗ 
mwaltsträger find davon die Urheber geweſen.“ Auf biefe legten 
‚cifo fällt die Werantiwortlichkeit, und es hat bie Vollsrepräfentation 
das Recht, biefelbe vor eigens dafür aufgeftellter Gerichten geltend zu 
machen. Es ift leicht einzufehen, daß ohne Nefed bie ganze Repraͤſen⸗ 
tativ- Verfaffung, d. h. überhaupt ber Rechts⸗Staſat, zum bloßen 
Schaf oder Traumbild wird, und baf, was die beſt verwahrten Ure 
kunden, Betheurungn und Beeibigangen ficherftellen ſollen, abhaͤn⸗ 
gig bleibt von der fluͤchtigſten abſolutiſtiſchen Laune oder auch von 
„den egoiſtiſchen Tendenzen der — zumal etwa das Intereſſe einer 
‚ Kafte verfolgenden — Miniſter. Nach dem conſtitutionellen Syſtem 
aber ſoll kein Willensact des Koͤnigs in Erfuͤllung gehen, wenn nicht ein 
verantwortlicher Miniſter darch ſeine Unterſchrift des Befehles dafuͤr ein⸗ 
ſteht, daß derſelbe ein verfaſſungsmaͤßiger und aufs Gemeinwohl gerichte⸗ 
ter ſei. Befehle, welche ſolche Eigenſchaft nicht haben, werden alſo ohne 
miniſterielle Unterſchrift, mithin ohne Guͤltigkeit oder Vollziehbarkeit bleiben, 
und die Gegenvorſtellungen der wegen der Ausſicht auf Verantwortlich⸗ 
keit auf dem Wege ed Rechtes verharrenden Miniſter werden den Koͤ⸗ 
nig von jedem — irrthuͤmlichen — Beginnen abhalten, oder auch, es 
Sird jene Ausficht Ihnen den Muth zu fchlechten Rathfchlägen benehs 
men. Die Regulirung biefer Miniſter⸗ (oder überhaupt Staatsdieners) 
Verantwortlichleit gegenüber ber Volksrepraͤſentation ift übrigens, im 
Bezug auf ein der dee und dem Endzweck entfprechende Verwirkli⸗ 
hung, einer der fchwierigften Punkte im conflitutionellen Syſtem, fo« 
wohl was bie gergliche Beſtimmung ber Fälle, worin Anklage ftattfin, 
ben foll, als was die Bildung des Gerichtshofes, die Form des Ver⸗ 
fahrens und das Strafmaß betrifft. Wir reden davon ausführlicher im 
einem eigenen Artikel. — | 
Das conftitntionelle Spftem in feinee Allgemeinheit, naͤmlich 
überhaupt als „grundgefegliche Regulirung ber MWechfelmirkung ber Me« 
gierenden und Regierten zum Zweck ber thunlichſt und beharrlichſt zu 
verwitklichenden Derrfchaft des wahren Geſammtwillens“, hat auf aris 
ſtokratiſch und demokratiſch regierte Staaten nicht weniger 
Anwendung als auf monarchiſche, nur daß freilich die verſchiedene Nas 
tur dieſer drei Megierungsformen hier und bort audy eine entfprechenb 
verfchiedene Beſtimmung mehrerer Punkte bes Syſtems nöthig oder 
säthlih madt. So genießen 3. B. die Mitglieder einer ariſt okra⸗ 
tifhen Regierung (ſei e8 Geburtss, fei es Standes⸗ ober Alters—⸗ 
‚oder Wahl: Ariftokratie) das Privilegium der perfönlihen Unvers 
antwortlichkeit, welches ndmlid nur bei dem Monarchen flatt 
findet, nicht. Ebenfo findet auf fie, wiewohl fie Befoldungen ober 


784 Conſtitution. 


andere Einkünfte beziehen mögen, der Begriff bee Chvilliſte keine 
Anwindung- u. f. m. Uebrigens ijt freilich bie ariſtokratiſche Regie⸗ 
rungsfom dem reinen conftitutionellen Syſtem minder befreundet als 
jede andew, weil fie fchon nad ihrem Begriff eine Ungleichheit 
unter den Staatsgenoſſen flatuirt, während jenes Syſtem die Gleich⸗ 
heit fordert. Wenn jedoch die Ungleichheit befchränke hleibt auf po- 
litiſches Red, d.h. auf Regierungsfähigkeit, und das Volk 
in allen bürgeriihen Rechten den Regierungsgliebern gleichgeftekt, 
‚auch gegenüber von Aeren Gefammtheit in lebenskräftiger Repraͤſenta— 
tion auftretend und mit allen jenen echten ausgeftattet ift, die das 
Eyftem für die Volfövertresung überhaupt gegenüber der Regierung in 
Anfprudy nimmt: fo erfhelnt deſſelben Rechtszuftand jenem des zegen⸗ 
über einer monarhifchen Regierung lebengkräftig vertretenen in der 
Weſenheit ziemlich gleich, dee Unterfchied nämlich nur in der. Perſo⸗ 
nification der Regierung, nicht aber in dem Umfang ihrer Gewalt over 
in deren DVerhältnig zur Volks-Gewalt vorhanden. 

Mas nun die demokratiſche, d. h. die Idee ber Volksſouve⸗ 
tainetät auch in der Außern Form oder in ker Perfonification der Re⸗ 
gierungsgeralt verkiindende Verfaſſung betrifft. fo ſtellt diefeibe eben 
hierdurch als ihre allernächften Principien bie Herrſchaft bes Geſa mimt⸗ 
willens und die Rechtsgleichheit Unter den Staatsangehörigen, 
welhe aud) die Grundprincipien des allgemeinen conftitutionellen 
Enftems find, auf, und erfcheint fonady infofeın von ihm nicht ver | 
fchieden. Aber aud in Bezug auf das dritte Princip, Verwirkli⸗ 
hung der dem wahren, d. h. vernünftigen Gefammtrwillen ſorch 
dauernd zu fichernden Herrſchaft durch ein wohlgeregetes Zuſam⸗ 
menwirken ımd Wechſelwirken eined fünfttichen und eines 
natürlihen Organes der Sefammtheit, kann ud foll die De: 
mofratie gleih der Monarchie und Ariftokratie dem conftitutionellen 
Enfteme huldigen. Nur befteht dabei zwifchen diefn und jener der 
Unterfchied, daß dort das kuͤnſtliche, hier abe: das natürliche 
Drgan in der Erſcheinung vorherrfhend und aud mit der Haupts 
gemalt ausgeftattet, und hingegen dort die controlirende oder 
befhräntende Macht dem natürlichen, hier aber dem Fünft 
lichen anvertraut iſt. Sowie nämlidy die monarchiſche odır die aris 
ftofratifche Regierung, wenn fie nicht abſolutiſtiſch fein follen, eine na⸗ 
türlihe und lautere Volksrepräfentation (oder in ganz Kleinen 
Staaten die Kandesgemeinde) fidy gegenüber haben muͤſſen, ausoerujtet 
mit der Macht, die etwaigen Abirrungen des Regierungswillens von 
dem wahren Gefammtwillen durch ihre rechtöfräftige Einfprade oder 
duch das Recht der Theilnahme an der Belchlußfaffung zu heilen 
oder zu verhüten:: -alfo muß auch die demokratiſche Regierung, 
fol fie nicht in den gefährlichften — den Rechtszuſtand aller Einzelnen 
gegenüber der Gefammtheit ober deren jeweiligen Mehrheit aufheben— 
den — Defpotismug oder gar in ochlokratiſches Verderbniß 
übergeben, fich durch Aufftellung von kuͤnſtlichen Drganen, in 


N 





Conſtitution. 785 


der Perſon etwa eines kleinen Rathes, dann eines Praͤſiden⸗ 
ten und anderer, mit Achtung gebietender Autoritaͤt verſehener, Ma⸗ 
giſtrate, in ihrer eigenen Machtfuͤlle beſchraͤnken, überhaupt durch 
weiſe geregelte Formen der Beſchlußfaſſungen oder durch geſetzte Be⸗ 
dingungen von deren Guͤltigkeit verhuͤten, daß nicht durch den un⸗ 
ſtaͤten, oft durch Bethoͤrung oder Leidenſchaft oder Uebereilung unlau⸗ 
tern Willen einer augenblicklichen Mehrheit Geſetz und Recht verletzt, 
dem Gemeinwohl oder dem Intereſſe der nachfolgenden Geſchlechter 
Nachtheil oder Gefahr bereitet, uͤberhaupt der wahre, d. h. vernuͤnftige 
Geſammtwille durch einen blos ſcheinbaren und unlautern unterdruͤckt werde. 

Es laͤßt ſich, wenn wir dieſe Betrachtung fortfuͤhren, vielleicht ein 
Punkt oder eine Linie auffinden, wo die ſich in Namen und aͤußerer 
Erſcheinung entgegengeſetzten Verfaſſungen, naͤmlich Monarchie und 
Demokratie, durch weiſe Anwendung des conſtitutionellen Syſtems be⸗ 
freundet, zuſammentraͤfen, und wirklich nur noch außerweſentliche, 
durchaus aber keine weſentlichen Unterſchiede mehr darboͤten. Wenn 
die monarchiſche Gewalt durch die vom Volk fuͤr ſich ſelbſt vor⸗ 
behaltenen — oder ſage man durch die vom König ihm verlie⸗ 


‚ benen oder bewilligten — Rechte. dermaßen controlirt und 


beſchraͤnkt würde, daß fie nur um Weniges mehr in fi, enthielte, 
als die Klugheit raͤth, einem Präfidenten oder wie Immer benannten 
Haupt einer demokratiſchen Republil zu übertragen, fo würde 
bier und dort ein ganz aͤhnliches Gleichgewicht ber Gewalten 
hergeftellt, demnady hier und dort ber Geift des conftitutionellen Sys 
flems zu erkennen fein. Man fage nicht, daß mir durch ſolche annaͤ⸗ 
hernde Steichitellung eines Monarchen mit einem republifanifchen 
Dräfidenten die Majeſtaͤt des erften herabzichen oder dem monars 
hifhen Princip Eintrag hun! Für den Monarchen bleibt noch ims 
mer durch feine Heiligkeit und Unverantmwortlichkeit, fobann 
in der Regel duch bie Erblichkeit und duch ben weit größern 
Glanz und Reihthum, ber ihn umgibt, Auszeichnendes genug 
übrig. Und dann. wollen wie durch unfere Theorie keineswegs dem 
Monarchen irgend etwas don dem entziehen, mas das conftitutionelle 
Syſtem für ihn fordert oder zuläßt, fondern wir wollen auch die oberfte 
Magiftratsperfon einer demokratiſchen Republik mit einer ber 
Gewalt des conftitutionellen Monarchen ähnlihen Gewalt 
ausgerüftet fehen. Unfere Lehse alfo legt wohl bem legten etwas bei, 
entzieht aber dem eriten nichte. Im einer ariftofratifchen Mes 
publik dagegen geftaltet fi) die Sache anders. Hier darf naͤmlich nad) 
unferem Syſtem die gefammte ariftofratifch gebildete Megierung, 
den Präfidenten mit einbegriffen, nit mehr Gewalt bes 
figen, als wir in der Monarchie dem König oder in der Demos 
kratie dem gewählten Chef (überhaupt dem fünftlichen Organ oder 
Magiftrat) gegenüber dem Volke .eingeräumt oder ertheilt wiſſen wollen. 

Bon bdiefer, die allgemeine Anmendbarkeit des conftitutionellen 
Spflems andeutenden Bemerkung ehren wir zurüd zur conftitutios 

GStaats⸗Lexikon III. 50 


786 Gonftitution; 


nellen Monarchie, welche jedenfalls für uns ber Hauptgegenftanb 
der Betrachtung und überhaupt für Europa zur Zeit nody das Los 
fungsmwort dee — von unpraktiſchen Zräumerelen wie von gefährlichen 
Uebertreibungen ſich fernhaltenden — Freiheitsfreunde ift. Freilich mehrt 
ſich — in Folge der betrübenden Ereigniffe der legten zwanzig Jahre — 
alitägli und auf zwei entgegengefegten Seiten bie Zahl derjenigen, 
welche entweder das monachifche Princip für unverträglih mit 
der lebenskraͤftigen Volksvertretung, oder aber die Volksvertretung ge⸗ 
genuͤber dem monarchiſchen Princip fuͤr bloße Taͤuſchung halten. 
Aber beide dieſe Meinungen fuͤhren nothwendig zu der troſtloſen Alter⸗ 
native, entweder dem Abfolutismus oder der wilden Revolution 
ſich in die Arme zu werfen, d. h. entweder die fchrankeniofe Will 
für des Einen ober bie rohe Gewalt der Maffen an bie Stelle 
des geficherten Rehtszuftandes treten zu laſſen. Moͤchten die 
Staatenlenker ja die Meinung nicht auflommen Laffen, es fei die Mon⸗ 
archie oder das monachifhe Princip unverträgiih mit 
Volksvertretung! Es wäre daſſelbe alsdann ja unvertraͤglich 
mit dem wahren Rechtszuſtande, folglich ſelbſt nicht ruhend auf 
dem Boden des Rechtes. Und möchten die Freiheitsfreunde nicht 
alzufrühe die Hoffnung aufgeben, au unter monarchiſchen %ors 
men ihre hohe dee verwirktihen zu Binnen! Sie würden, wenn fie: 
biefes thäten, dem flurmbewegten Meere der Revolution, dem uns 
gewiffen Erfolge der Parteitämpfe, dem naturgemäß auf anarchis 
he Gährung folgenden foldatifhen Defpotismus ihr Heilig⸗ 
thum überantworten. . Wir fagen mit Inniger Ueberzeugung : das cons 
ftitutionelle Syſtem, in friner Reinheit aufgefaßt und mit Treue bes 
folgt, ift dem Throne wie den Völkern das ficherfte, nad) der heutigen 
Weltlage vielleicht das einzige Mittel des Heiles. Schon Englanb 
zeigt deutlichft, ja bhandgreiflichft, daß ein conftitutioneller König gegen⸗ 
über einer flarfen Wolfsvertretung gleichwohl angethan mit Glanz und 
Majeftät, heilig und unverletzlich und allen Stürmen perfönlich uners 
reihbar, und daß eine gute Volksvertretung auch gegenüber der freiges 
bigft ausgemeſſenen Eöniglichen Prärogative ihre das Volksrecht und 
das Gemeinwohl wahrende Stellung behaupten koͤnne. Und unter 
ben deutſchen conftitutionellen Staaten genügt e&, Baden anzus 
führen, welches gerade in dem Jahr 1831, da feine Eonflitution ale 
Wahrheit erfhien, das ſchoͤnſte Beiſpiel von inniger Anhänglichkeit 
des Volkes an feinen Furften, wie von der durch harmoniſches Zufams 
menwirken der Regierung und der Volksrepraͤſentation herrlich beförs 
derten Öffentlihen Wohlfahrt darbot. Es ift alfo niht wahr, daß 
von zwei nebeneinander fichenden Gemwalten bie eine nothwendig die 
andere überflügeln und daher in der conftitutionellen Monarchie entwe⸗ 
der die Eönigliche oder die parlamentarifhe Macht im Streit unterlies 
gen und zur bloßen Scheinmadt herabſinken müffe. Wahr if’, ber 
conftitutionelle König wird fid) in der Nothwendigkeit fehen, dem be⸗ 
barrlihen Verlangen ber Nation, d. h. der unter den wahlbe, 


Gonflitution. 787 


rechtigten Bürgern vorherrſchenden Sffentlihen Meinung, ſich endlich 
zu fügen, wenn alle conftitutionellen Mittel des Widerſtandes fruchtlos 
erfchöpft wurden. Aber ift denn biefes wirklich ein Unheil? Soll denn 
wirklich bie Willensmeinung eines Mannes, die möglicher Weife durch 
. felbfteigene Befangenheit oder die duch fchlimme Rathſchlaͤge herrfchs 
füchtiger Minifter oder ‘einer volksfeindlichen Samarilla zum Schlimmen 
gelenkte Richtung eines Sterblihen mehr gelten, als der laute Ruf 
einer ganzen Nation, d. h. des zur politifhen Wirkſamkeit berufenen 
und fonady für politifh mündig erklärten Theiles ber Nas 
tion? Iſt es nicht vielmehr eine wahre Wohlthat für den König, 
wenn er duch folhen — megen ber felbfteigenen Betheiligung 
der Rufenden .an dem Öffentlihen Wohl völlig zuverläffigen — 
Ruf. belehrt wird über die Verwerflichkeit der von feinen Miniftern 
eingefchlagenen Richtung ? 

Freilich! wenn etwa durch bie Fehler des Wahlgefeges die Volkes 
repräfentation aus Männern ohne Bürgfhaft und politifche Bildung 
oder aud) aus leidenſchaftlichen Parteimenfhen zufammengefegt wird, 
oder wenn, in Folge einer durch lange erdulbeten Druck hervorgebrachs 
ten Aufreizung, die erbitterte Stimmung des Volles auch feinen Vers 
tretern fich mittheilt, oder wenn die Wahrnehmung einer geheimen oder 
offenen Anfeindung der Conftitution von Seite ber Machthaber oder 
ihrer Vertrauten bie patriotifhen Gemüther aufcegt und auf bem Mege 
der Mäßigung und des Friedens feine Hoffnung mehr erfchaut wird, 
das Volksrecht zu wahren und das Gemeinwohl zu fchirmen, ober end» 
lih wenn der Inhalt der der Volksvertretung durch die Conſtitution 
verliehenen Rechte das wohlthätige Gleichgewicht aufhebt und zum 
Mißbrauch einladet: als dann mögen aus ſolchen Verhältniffen, zumal 
für einen ſchwachen, ſchlechtberathenen Thron, mancherlei Gefahren her⸗ 
vorgehen. Doc iſt es in ſolchen Faͤllen nicht unfer conſtitutio⸗ 
nelles Syſtem und nicht die Volksvertretung an ſich, melde 
ſie erzeugten, ſondern vielmehr nur die begangenen Abweichungen 
von jenem Syſtem oder ber Gegenfas deſſelben (eine Gewalt, wie 
jene des National⸗Convents in Frankreich war, ift der furcht⸗ 
barfte Abfolutismus, nicht aber eine echt conftitutionelle 
Autorität) und größtentheils ſolche Sünden der Regierung felbft, wos 
für auch ohne Gonftitution,. ja in abfoluren Staaten am häufigften, bie. 
natürliche Beſtrafung eintritt. Ja es bietet das conftitutionelle 
Princip fogar noch in ben troftlofeften Fällen manche Heilmits 
tel dar, welche dem abfoluten Staate unzugänglich find; es verhütet 
ober mildert die Ausbrühe der Leidenfhaft und der Gefeblofigs 
keit, welchen fonft ein gedrüdtes, zur Verzweiflung gebrachtes Volk 
fi) bingeben würde. — Aber aud eine andere Verberbniß bes cons 
flitutionellen Zuftandes durch Verfaͤlſchung oder Unterdrüdung der we⸗ 
fentlichfien Principien des Syſtems Tann flattfinden, db. h. von ber 
entgegengefegten Sette kommen. Sollte nämlich die Regie⸗ 
sung eines conftitutionellen Staates, anflatt mit Aufeigtigtet und 

% 


188 ° Gonflitution. 


Liebe ihre Hand der Wollövertretung zu bieten und ein redliche® Zus 
ſammenwirken mit echten NationalsRepräfentanten zum ſchoͤnen 
Zwecke des Volksgluͤcks dem eitten Genuſſe einer abfolutiftiihen Macht⸗ 
fülfe vorzuziehen, dieſe letzte um jeben Preis wieder zu erringen fire 
ben; follte fie daher alernächft auf die Wahl der Volfsrepräfentanten 
einen ungefeglihen und dem Hauptprincip ber Conſtitution — naͤmlich 
der Darftellung einer wahren und lautern Repräfentation mittelft 
freier Wahl — weſentlich twiderftreitenden Einflug — durch Beſte⸗ 


hung, Einfhüchterung oder gar offene Gewalt — ausguüben fuchen 5 


follte fie den freifinnigen Mitgliedern der Kammern nicht nur mit Uns» 
gunft (mas wohl zu verfchmerzen wäre), fonbern mit pefitiver Vers 
folgung und Rehtsverfümmerung broben, und bagegen den 
Abtrünnigen von bee Volksſache verführerifche Belohnungen an Geld, 
Ehre und Gewalt für ihre eigene Perfon oder für ihre Angehörigen 
verheißenz ſollte fie, obwohl der Zuflimmung einer ſervilen Majoritaͤt 
durch folhe Mittel gewiß, dennoch, auch das bloße Wort der freifin» 
nigen Minortität ober irgend eines einzelnen, ber Volksſache noch 
teew gebliebenen Kämpfers fcheuend, bie Publicitaͤt der Verhandlun⸗ 
gen ganz oder theilmeife aufheben und auch jede freie Stimme, die aus 
der Mitte des Volkes ertönen möchte, gewaltfam unterdrüden ; follte 
fie überall zu ihren Gemwaltsträgern und auch zu Richtern vors 
zugeweife nur anerkannte Volksfeinde oder anticonſtitutionell Gefinnte 
ernennen, bie in der Conftitution zugefagte Berantwortlichkeit 
ber Mintfter duch Nichtvorlage ber zu ihrer Verwirklichung nöthis 
gen Gefege ober buch zur Sicherung der Strafloſigkeit kuͤnſtlich er⸗ 
fonnene Formen zum bloßen Schalle mahen und bis in den Schooß 


‚bee Gemeinden und der Familien das Syſtem der Ausfpähung 


und der wider die GConftitutions = Freunde gerichteten Ungunft verfol: 
gen — ohne Unterfhieb ob aus felbfleigener, freigenommener Rich⸗ 
tung oder einem übermädhtigen auswärtigen Einfluß gehorchend: 
— alsdann freilich wuͤrde die Gonftitution zum bloßen Gautelfpiel, 
ja zu graufamer Taͤuſchung werden und meit heillofer ald der nadte 
Abſolutismus — weil den Druck mit der vorgefpiegelten Zuftims 
mung der Volksvertreter bemäntelnd, daher beffen Ucheber der Verant⸗ 
wortung entziehend und zur ſchwerſten Rechtskraͤnkung noch den Hohn 
gefellend — fein. Allein auch ein ſolche Regierungsſyſtem waͤre 
fein conflitutionelles, d. h. es widerſpraͤche den weſentlichſten 
Forderungen des letzten und koͤnnte daher auch nicht als Argument ge⸗ 
gen deſſelben Güte gebraucht werden 9). — 


1) Es ſei und erlaubt, hier eine beherzigenswerthe Stelle aus v. Aretin’s 
„Staatsrecht ber conftitutionellen Monarchie in einer Note mitzutheilen. ie 
bet ih in B. I, ©. 1283. 129 und ift auf. feiner eigenen — ber demagogi⸗ 
dyen oder revolutionairen Tendenz noch von Niemand befcyuldigten — Feder 
oefloffen und lautet allo : 


„Cs konnnt In der That in manchen Ländern noch fo welt, daß man ſich 


J 


Gonftitution. 789 


Die europäifche Welt erfcheine wirklich getheilt nicht nur in 
eonftitutionelle und nicht eonftitutionelle, d. h. abfolus. 
tiffifhe, Staaten (zu bern legten — außer ber Türkei und 
dem factifh um feine Berfaffung gelommenen neugriechiſchen 
Staat — Rußland, Defterreih und Preußen, febann bie: 
ttalifhen und noch ein Heiner Theil der beutfhen Staaten gehoͤ⸗ 
ren, während — abgefehen von der republilanifhen Schweiz; — 
England, Frankreich, das geboppelte Niederland, der weitaus 


groͤßte Theil Deurfhlande (mit Ausfhiuß Defterreihs und Preus 


fens), fodann bie ſkandinaviſchen Staaten und allermeift auch 
Epanien und Portugal dem conftitutionetlen Syſtem hule 
digen), fondern auch in bie conftitutionelle und anttconfiitur 
stonelle Befinnung. Auf beiden Eeiten — bies erkennen wir 
gerne an — befinden ſich Ehrenmänner, auf beiden Seiten aber auch 
mancherlei Verfchtedenheit und Abflufung na Motiven und Innigkeit. 
Es ift von Sintereffe, darauf einen überfhauenden Blick zu werfen. - 

Die conftitutionelle Gefinnung befteht in Staaten, wel 
che ber Gonftitution noch entbehren, in bem Berlangen und Streben 
nad) ihrer Einführung, Im Staaten, welche bereits foldyer Einfühe 
sung fich erfreuen, in der auf Behauptung und Erhaltung bers 
felben in Kraft und Reinheit gerichteten Beſtrebung. Die antis 
conftitutionelle Geſinnung ift dee Gegenfas der conftitutionels 
len; fie will nämlich nicht, daß eine Gonflitution eingeführt werde, wo 
fie aber bereits eingeführt Hi, da ſtrebt fie nach deren Entkraͤftung 
oder Abfhaffung. . 

In beiden Heerlagern jedoch finden fi) Streiter von fehr vers 
fhiedenen Farben. Es verlohnt ſich der Mühe, fie etwas ges 
nauer zu betrachten. 


vertbeidigen muß, wenn man ber beſchworenen vom Mona ſelbſt eingefüpsten 
GSonftitution anhängt. Hieran haben meiſtens die Dinifter bie Schuld... .. . 

„Solche Minifter zeigen durch ihre Berfolgung der Gonftitutfonellen, daß 

& ben Monardhen, der die Eonftitution eingeführt hat, haſſen und verachten. 

ndem fie ihm den Rath geben, diefe von ihm felbft eingeführte Verfaſſung ve 
brechen, laffen fie ihn gleichfam Folgendes zu feinem Volke fagen: „„ich ba 

euch eine Verfaffung gegeben, um ben Schreiern ben Mund zu flopfen und well 


es für den Staatscredit, für bie Finanzen erfprießlich war, auch für bie pfife 


figen Minifter nicht gefährlich ſchien. Run fehe ich aber, daß es euch einfällt, 
Ernft daraus machen zu wollm. Dadurch wirb meinen Umgebungen, ben Mi⸗ 
wiftern und ihren guten Freunden zu viele Gewalt, zu viele kebensannehmlichkeit 


entzogen. Umſtoßen will ich die Verfaſſung nicht fogleih, ſondern lieber nodg ' 


warten, bis die politifchen Verhaͤltniſſe diefes Unternehmen ganz gefahrlos mas 
den. Es bleibt mir alfo für jest nichte Anderes übrig, ats die Verfaffung 
heimlich und allmälig zu untergraben. Diejenigen von euch, bie fo dumm find, 
den Verfaffungserd zu ehren, verdienen als Schwachkoͤpfe verftoßen zu werden, 
nur die find geſcheute Menfchen unb meine wahren Freunde, bie, fern von Fins 
difher Gewi enhaftigerit ‚ meinen Miniftern zur Wiedererlangung ber vorigen 
Willkür verhelfen. Nur für ſolche find die Belohnungen und Auszeichnungen 
bes Staats, bie Uebrigen mögen ſehen, wie weit fie es bringen mit ihrer ein⸗ 
fältigen Shrlichlelt 1" — Go weit bes Freiherr u Aretin. — 


% 


: 182 Gonftitution. 


bungsgüter ber ehemaligen koͤniglichen Gewaltstraͤger die Eigenſchaft 

der Altodialgäter vornehmer Grunbbefiger oder Dpnaften ſicher⸗ 
ih nicht an fih tragen, und indem beide Arten bes Befitzthums 
nad unseftrittenem, biftorifhem Recht zugleich als naͤchſtes Det: 
fungsmittei der sffentiihen Beduͤrfniſſe vorlängft betrachtet 
und behandelt wurden. Dazu kommt aber weiter, daß gar viele Er⸗ 
werbungen rein nah oͤffentlichem Recht, z. DB. buch Krirg, 
Friedensſchluß, Seculariſation u. f. w., oder aud aus den Mitteln 
der Geſammtheit gemacht, und in der Regel nicht nad den 
Sefegen der Privat-Erbfolge, fondern nad) den. Beilimmungen 
von Staatd:-Grundgefegen vererbt worden find. Das conflis 
tutionelle Syſtem, deſſen Principien auf flrenger Rechtsachtung .bes 
ruhen, iſt weit davon entfernt, das mwahrhafte Privargut der regies 
enden Häufer für das Volk in Anfprudy zu nehmen; aber ed nimmt 
aud die Rechte des legten in Schug, und — da, bei der Dunkelheit, 
welche auf den urfprünglihen Ecwerbstiteln, zumal der alten Dos 
mainen, ruht, und bei der fo lange angedauerten heillofen Vermi⸗ 
[hung und Berwechslung des öffentlichen mit dem Privatrecht, es 
kaum irgendwo noch möglih ift, eine genaue, auf beflimmtes und 
evidentes Recht geftüste Sonderung oder Abtheilung der unter dem 
gemeinfchaftlihen Namen dee Domaine begriffenen zweierlei, von ein« 
ander weſentlich verfchiedenen Glaffen von Gütern zu machen; 
— fo empfiehlt e8 die mittelft Vergleich gu bewirkende gütliche 
und billige Ausfcheidung entrzder einer Anzahl beftimmter Gü- 
ter oder einer entfprechenden Quote ber gefammten Domaine für 
die Befriedigung der Haus: Anfprühe, monad dann das Uebrige 
ber Geſellſchaft als reines Gefammtgut zufiele. Wo ein folches 
nody nicht gefchehen, da nimmt unfer Spftem wenigftens bei Heft: 
fesung der Civilliſte auf die gemijchte Rechtseigenſhaft der Domaine 
die billigfte Ruͤckſicht, d. h. will ihr Mag um. fo. fplendider beftimmt 
wiffen, als, nad ben obwaltenden hiſtoriſchen Rechtsverhättniffen, 
Das in der Domaine enthaltene wahre, d. h. privatrechtliche, fürftliche 
Hausgut muthmaßlid oder wahrſcheinlich ein größeres if. Uebrigens 
ift dem "conftitutionellen Princip auch alldort, wo gar fein oder nur 
ein geringes Hausgut anzunehmen fein follte, -die Auswerfung ainer 
reihlihen (nur freilich die Volkskraͤfte nicht überfleigenden)- Gis 
villifte angemeffen, aus Gründen, die in dem Art. Civilliſte ans 
gegeben find. Ä ‘ 

X. Das conftitutionelfe Syſtem, in Erwaͤgung, bag einerfeits 
die Stellung eines Volkes gegenüber von Machthabern, welche ganz 
unverantwortlich, d. h. lediglich Gott. oder ihrem Gewiſſen für 
alt ihr Thun und Laffen verantwortlidh find, eine wahrhaft rechte 
Lofe, d. h. dem guten oder böfen Willen, dem augenblicklichen 
Ermefien oder der Laune ihrer Herren preisgegebene, und daß ander. 
feits die. Verantroortlichkeit des Regenten unvereinbarlicd mit dem mon⸗ 
achifhen Princip, aud jedenfalls mancherlei Gefahren, na 


- 


Ä Eonftitution. | 783 


mentlich eine dringende Verſuchung, ſich duch factifche Gewalt ber 
Verantwortlichkeit zu entziehen, mit fich führend ift, ſtellt als Axiom 
oder als Poftulat den Sag auf: „Der König fann nichts Ungeredh- 
tes wollen; wenn alfo irgend etwas Ungerechtes gefchieht, d. b. von 
Seite der Regierung gethan ober verordnet wird, fo Put nicht der 
König felbit es gewollt, fondern feine Rathgerer. oder Ge- 
waltsträger find davon die Urheber geweſen.“ Auf biefe Testen 


‚eifo fällt die Verantwortlichkeit, und es hat bie Volksrepraͤſentation 


das Mecht, biefelbe vor eigens dafür aufgeftellter Berichten geltend zu 
machen. Es ift leicht einzufehen, daß ohne mefed bie ganze Repraͤſen⸗ 
tativ= Verfaffung, d. h. überhaupt der Rechts⸗Staat, zum bloßen 
Schal oder Traumbild wird, und das, mas die beſt verwahrten Ure 
tunten, Betheurungn und Beeidigangen ficherfiellen follen, abhäne 
gig bleibt von der flüchtigften abfolutiftifhen Laune oder auch von 


‚den egoiftifhen Zendenzen der — zumal etwa das Intereſſe einer 


Kafte verfolgenden — Miniſter. Nach dem conflitutionellen Syſtem 
aber foll fein Wilfensact des Könige im Erfüllung gehen, wenn nicht ein 
verantwortlicher Miniſter darch feine Unterfchrift des Befehles dafür eins 
fteht, daß berfelbe ein vefaffungsmäßiger und aufs Gemeinwohl gerichter 
ter fei. Befehle, welche ſolche Eigenfchaft nicht haben, werben alfo ohne 
minifterielle Unterfcheift, mithin ohne Guͤltigkeit ober Vollziehbarkeit bleiben, 
und die Gegenvorftellungen der megen der Ausſicht auf Verantwortlich, 
keit auf dem Wege 8 Nechtes verharrenden Miniſter werden den Ks 


nig von jedem — irrthuͤmlichen — Beginnen abhalten, ober auch, es 
iird jene Ausficht ihnen ben Muth zu fchlehten Rathfchlägen beneh⸗ 


men. Die Regulirung biefer Minifter» (oder überhaupt Staatsdieners) 


 Verantwortlihleit gegenüber ber Wollsrepräfentation iſt übrigens, in 


Bezug auf ein der dee und dem Endzweck entfprechende Verwirkli⸗ 
hung, einer der fchwierigften Punkte im conflitutionellen Syftem, fo« 
wohl was die gergliche Beſtimmung ber Fälle, worin Anklage ſtattfin⸗ 
ben foll, ale was die Bildung bed Gerichtshofes, die Korm des Ver⸗ 
fahrens und das Strafmap betrifft. Wir reden bavon ausführlicher im 
einem eigenen Artikel. — 

Das conftitutionelle Spftem in feiner Allgemeinheit, naͤmlich 
Aberhaupt als „grundgefegliche Negulirung der Wechfelwirtung ber Mes 
gierenden und Regierten zum Zweck ber thunlichſt und beharrlichft zu 
verrirkichenden Herrſchaft des wahren Geſammtwillens“, bat auf aris 
ftofratifh und demokratiſch regierte Staaten nicht weniger 
Anwendung ald auf monarchiſche, nur baß freilich die verfchiedene Nas 
tur dirfer drei Megierungsformen bier und bort auch eine entfprechend 
verfchiedene Beſtimmung mehrerer Punkte bes Syſtems nöthig oder 
raͤthlich macht. So genießen 3. B. die Mitglieder einer ariſt okra⸗ 
tifhen Regierung (fei es Geburtss, fei es Standes⸗ ober Alters 
oder Wahl: Ariftofratie) das Privileggum ber perfönlihen Unver- 


antwortlichfeit, welches nämlich nur bei dem Monarchen flatt- 


findet, nicht. Ebenfo findet auf fie, wiewohl fie Befoldungen oder 


84 . Conftitution. 


andere Einkünfte bezichen mögen, der Begriff der Civilliſte keine 
Anwendung- u. f. w. Uebrigens iſt freilich die ariftoßratiihe Regie⸗ 
rungsfom dem reinen conſtitutionellen Syſtem mirder befreundet als 
jede andene, weil fie ſchon nach ihrem Begriff eine Ungleichh eit 
unter den Staatsgenoſſen ſtatuirt, waͤhrend jenes Syſtem die Gleich⸗ 
heit fordert. Wenn jedoch bie Ungleichheit beſchraͤnkt Yleibt auf p o⸗ 
litiſches Red, d. 5. auf Regierungsfähigkeit, und das Volk 
in allen bürgeriihen Rechten den Regierungsgliedern gleichgeftekt, 
‚auch gegenüber von Aeren Gefammtheit in lebenskraͤftiger Repräfentn: 
tion auftretend und mit allen jenen Mechten ausgeftattet ift, die das 
Syſtem für die Volksvertreiung überhaupt gegenüber der Regierung in 
Anſpruch nimmt: fo erſcheint deſſelben Rechtszuftand jenem bes gegens 
über einer monarhifchen Regierung lebenskräftig vertretenen in der 
Mefenheit ziemlicy gleich, dee Unterſchied nämlich nur in der: Perfos 
nification der Negierung, nicht aber in dem Umfang ihrer Gewalt orer 
in deren Verhältniß zur Volks-Gewalt vorhanden. 

Mas nun die demokratiſche, d.h. die Idee ber Volksſouve⸗ 
tainetät auch in der aͤußern Korm oder in ker Perfonification der Res 
gierungsgewalt verkuͤndende Verfaffung betrifft, fo ftellt diefeibe eben 
hierdurch als ihre allernaͤchſten Principien die Heriſchaft des Geſa mint⸗ 
willens und die Rechtsgleichheit Unter den Staatsangehörigen, 
welche audy die Grundprincipien des allgemeinen conftitutionellen 
Syſtems find, auf, und erfcheint ſonach infofeın von ihm nicht vers 
fhieden. Aber aud in Bezug auf das dritte Princip, Verwirkli⸗ 
chung ber dem wahren, d. h. vernünftigen Gefammtwillen for@- 
dauernd zu fichernden Herrſchaft duch ein mohlgeregates Zuſam⸗ 
menwirken ınd Wechſelwirken eines künftlihen und eines 
natürlihen Drganes der Öefammtheit, kann ud fol! die De: 
mofratie gleich der Monarchie und Ariſtokratie dem conftitutionellen 
Spfteme huldigen. Nur befteht dabei zwifchen dieen und jener der 
Unterfchied, daß dort das kuͤnſtliche, hier abe: das natürliche 
Organ in der Erfcheinung vorherrfhend und aud mit der Haupts 
gewalt ausgeftattet, und hingegen dort die contro'irende oder 
befhräntende Macht dem natürlichen, hier aber dem kuͤnſt 
lichen anvertraut iſt. Sowie naͤmlich die monarchiſche oder die ari⸗ 
ſtokratiſche Regierung, wenn fie nicht abfolutiftifh fein follen, eine nas 
türlihe und lautere Volksrepräfentation (oder in ganz Fleinen 
Staaten bie Kandesgemeinbe) fidy gegenüber haben muͤſſen, ausgeruͤſtet 
mit der Macht, die etwaigen Abirrungen des Megierungswillend von 
dem wahren Gefammtwillen durch ihre rechtskraͤftige Einfprade oder 
durch das Recht der Theilnahme an der Befchlußfaffung zu heilen 
oder zu verhüten: -alfo muß auch die demofratifhe Regierung, 
fol fie nicht in den gefährlichfien — ben Rechtszuſtand aller Einzelnen 
gegenüber der Geſammtheit oder deren jeweiligen Mehrheit aufheben: 
den — Defpotismus oder gar in ochlokratiſches Verderbniß 
übergeben, ſich durch Aufflelung von kuͤnſtlichen Organen, in 


x 


. 


> 


Gonftitution, 785 


der Perfon etwa eined kleinen Rathes, dann eines Präfiden« 
ten und anderer, mit Achtung gebietender Autorität verfehener, Mas 
giftrate, in ihrer eigenen Machtfuͤlle beſchraͤnken, überhaupt durch 
toeife geregelte Formen ber Befchlußfaffungen oder durch gefehte Be⸗ 
dingungen von beren Gültigkeit verhüten, daß nicht durch den uns 
ftäten, oft durch Bethoͤrung oder Leidenfchaft oder Uebereilung unlau⸗ 
tern Willen einer augenblidlihen Mehrheit Gefeg und Recht verlegt, 
dem Gemeinwohl oder dem Intereſſe ber nachfolgenden Geſchlechter 
Nachtheil oder Gefahr bereitet, überhaupt der wahre, d. h. vernünftige 
Geſammtwille durch einen blos fcheinbaren und unlautern unterdrüdt werde, 

Es ‚läßt fich, wenn mir diefe Betrachtung fortführen, vielleicht ein 


Punkt ober eine Linie auffinden, wo bie fih in Namen und äußerer 


Erſcheinung entgegengefegten Verfaſſungen, naͤmlich Monarchie und 
Demokratie, durch weife Anmendung des conftitutionellen Syſtems bes 
freundet, zufammenträfen, und wirklich nur noch außerweſentliche, 
durchaus aber Feine weſentlichen Unterſchiede mehr darboͤten. Wenn 


bie monarchiſche Gewalt durch die vom Volk für ſich ſelbſt vor⸗ 


behaltenen — oder ſage man durch die vom Koͤnig ihm verlie⸗ 


‚ benen ober bewilligten — Rechte dermaßen controlirt und 


beſchraͤnkt wuͤrde, daß ſie nur um Weniges mehr in ſich enthielte, 
als die Klugheit raͤth, einem Praͤſidenten oder wie immer benannten 
Haupt einer demokratiſchen Republik zu übertragen, fo wuͤrde 
hier und dort ein gang aͤhnliche Gleichgewicht der Gemwalten 
hergeftellt, demnach Hier und bort der Geift bes conftitutionellen Sys 
ſtems zu erkennen fein. Man fage nicht, daß wir durch folhe annds 
hernde Gleichſtellung eines Monarchen mit einem republilanifchen 
Dräfidenten die Majeftät des erften herabziehen ober dem monat» 
hifhen Princip Eintrag thun! Für den Monarchen bleibt noch im⸗ 
mer duch, feine Heiligkeit und Unverantwortlichkeit, fobann 
in der Regel buch die Erblichkeit und duch den weit größern 
Glanz und Reihthum, der ihn umgibt, Auszeichnendes genug 
übrig. Und dann. wollen wir durch unfere Theorie keineswegs dem 
Monarchen irgend etwas von bem entziehen, was das conftitutionelle 
Syſtem für ihn fordert oder zuläßt, fondern wir wollen auch die oberfte 
Magiftratsperfon einer demokratiſchen Republik mit einer ber 
Gewalt des conftitutionellen Monarhen aͤhnlichen Gemalt 
ausgerüftet fehen. Unfere Lehse alfo legt wohl bem legten etwas bei, 
entzieht aber dem eriten nichts. In einer ariftofratifhen Mes 


publik dagegen geftaltet fi) die Sache anders. Hier darf nämlich nad) 


unferem Spitem die gefammte ariftofratifch gebildete Megierung, 
den Präfidenten mit einbegriffen, nicht mehr Gewalt bes 
figen, al8 wir in der Monarchie dem König ober in ber Demos 
kratie dem gewählten Chef (überhaupt dem künftlichen Organ oder 


‚ Magiftrat) gegenüber dem Volke eingeräumt ober ertheilt wiſſen wollen. 


Bon diefer, die allgemeine Anmendbarkeit des conftitutlonellen 
Syſtems andeutenden Bemerkung kehren wir zuräd zur conftitutios 
Staats s Lerilon IH. 50 


794 Gonftitution. 


ger alle Sreiheitsgebanten zw erftiden, und melde bie Reftaurationss 
lehre des H. v. Haller zur Alleinherrfchaft in den Schulen der Staates 
wiſſenſchaft zu. bringen fi bemüht, um einen möglichft reichen Nach⸗ 
wuchs Enechtifcher Staatsdiener und befliffener Schugredner ber hochfah⸗ 
rendſten ariftoßratifchen Anfprüce zu erziehen. 

Ueberhaupt ift der fchlehte Egoismus, mie überall die Quelle 
des DBöfen, fo auch die Hauptwurzel der anticonftitutiohellen Geſin⸗ 
nung. Mancher füllt von der Conftitution fhon darum ab, weil ihm 
etwa nicht gelang, ein Wahlmann oder Deputirter zu werden. Seine 
beleidigte Eitelkeit wit fi rächen buch Anfeindung bes ganzen Sys 
ſtems. Ein Anderer fieht in der Volksrepräfentation nur bie Feindin 
feines, etwa erfchlichenen, Privilegiums, ober bie ſtrenge Rechnerin, 
vor welcher feine, etwa üble, Adminiftration oder feine, etwa aus 
Gunſt und zur Ungebühr erhöhte, Beſoldung oder Penfion, oder ir⸗ 
gend eine andere gefegwidrig erhaltene Gnaden= Bezeugung feine Recht⸗ 
fettigung finden kann. Die Agenten der Gewalt zumal, wenn fie fi 
begangenen Mißbrauchs oder anderer Amts: Sünden bewußt find, hafs 
fen natürlid) die etiwa barüber Klage führende Volkskammer. Noch 
mehr thun es diejenigen Minifter und hohen Staatsdiener, welche, 
als Häupter der verfchiedenen Vermaltungszmeige, ben Kammern uns 
mittelbar Rechenſchaft zu geben haben, wofern fie entweder gerechten 
Vorwurfes gemärtig oder der freien Rede nicht hinreichend mächtig 
find. (Rechtliche und talentvolle Minifter dagegen und gleich Befd- 
bigte, die nad) folder Stufe ftreben, Lieben das Spftem, welches 
die Berufung tühtiger Männer zu den hoben Regierungsſtellen 
nöthig macht und die Untüchtigen zu untergeordneter Rolle verdammt.) 
Endlih Alle, weiche Urſache haben, das Licht zu fcheuen, oder welche 
von Mißbraͤuchen ſchnoͤden Vortheil ziehen, Alle, die vom Lebensfafte 
bes Staates wie Schmarogerpflanzen vom Baum ein Uppiges Dafein 
fi forterhalten möchten, find naturgemäß Feinde der Gonftitution. 

Aus diefen verfchiedenen Glaffen der Anticonftitutionellen möchten 
übrigens — fo verächtlidy und haffenswerth ihre Mehrzahl erfcheinen 
mag — gleihmohl Viele bei einem den menfchlihen Schwächen Ned: 
nung tragenden Gerichte eine etwas nacdhfichtige Beurtheilung finden. 
Pur eine Claffe gibt e8, welche durchaus verwerflich und verworfen 
it. Es ift dieſes die derjenigen, welche früher, in der hoffnungs⸗ 
reichen Blüthezeit der Gonftitution, mit liberalen Gefinnungen prahlten 
und einerfeits durch ſolche Schauftelung Popularität zu erringen, an= 
berfeitö durch Entfaltung von Oppofitiong = Talenten fih der Negierung 
wichtig zu machen ftrebten, fodann, als trübes Wetter eintrat, von 
der Volksſache nicht nur abfielen, d. h. von der Bertheidigung 
derſelben abließen (ein ſolches könnte man nach Umftänden der nicht 
felten vorgefhüsten und in befondern Fällen auch anzuerkennenden 
Setpfterhaltungspflicht oder der natürlihen Sorge für Frau und Kinder 
zu gute halten oder verzeihen), fondern jego mit allem Grimm und 
Eifer der entfchiedenften Reactionsmänner gegen ihre ehemali⸗ 


Gonflitution. 795 


gen Streitgenoffen auftreten und heimliche WVerrätherei und Verleum⸗ 
dung nicht weniger ale offene Verfolgung ſich zur Unterdrüdung eben 
der Sache erlauben, welche zu lieben, mit $euer zu umfafien, auf 
Leben und Tod vertheidigen zu wollen fie früher ſich anftellten, und 
welcher fie nad bem Maaß ihrer Intelligenz und Bildung nothwendig 
noch jest im Innern huldigen, welcher fie aber abtrünnig und deren 
Anhängern fie Beinde geworden find lediglich aus ſchaͤndlicher Selbſtſucht 
und aus hoffärtiger Entrüftung gegen die ihnen, als Abgefallenen, 
von Seite der ehemaligen Freunde bezefgte Verachtung. Wir haben 
jedoh von biefen Doppelzünglern und Chamäleonsgeftalten fchon oben 
gefprochen und beeilen uns, von ihnen hinweg zu kommen. 

Noch gibt e8 eine hoͤchſt gefährliche Claffe von Anticonflis 
tutionellen, deren Richtung zwar die biametralifcdy entgegengefeßte der 
bisher gefchilderten, body in dem Ziel, nämlich dem Umfturz unferes 
conftitutionellen Syſtems, mit ihrem zufammenlaufend if. Wir mei⸗ 
nen bier die Glaffe der eraltirten — wahren oder verftellten — 
Kreiheitöfteunde, welche, unbefriedigt durch die gemäßigten Gewaͤh⸗ 
sungen des conftitutionellen Syſtems, namentlich dee conftitutlos 
netlen Monarchie, ben Blick ihres Verlangen nad) der Repu⸗ 
blik richten oder gar nach der im J. 1793 erfchtenenen Schauderge⸗ 
ſtalt einer jakobiniſch⸗ terroriftifchen Dictatur. Diefe Menfchen, obs 
ſchon Viele unter ihnen eines reinen Willens und heroiſchen 
Charakters, Manche auh, als einem fanatifhen Antrieb unmwills 
kuͤrlich folgend, eine nachſichtige Beurtheilung anfprechend find, has 
ben ber guten Sache unermeßlihen Schaden zugefügt. Sie haben 
burd ihre vermefiene Heraufbeſchwoͤrung ber Schatten Marat’s 
und Robespierre’s die ruhigen Bürger aufgefchredt, die Befons 
nenen und Rechtliebenden mit Mißtrauen und Unmillen erfüllt, den 
Meactionsmännern die fhärfften Angriffewaffen in die Hand gegeben, 
und jedem wider die „Revolution“ zu führenden Staatsſtreich 
einen willkommnen Vorwand verliehen. Sie haben alfo, meit ents 
fernt, der Freiheit, deren Namen fie im Munde führen, einen 
Vorfhub zu thun, nur der abfoluten Gewalt Dienfte geleiftet, 
und dadurd) allein find fie gefährlich und verderblich geworden. Denn, 
was das conftitutionelle Syſtem betrifft, fo waͤren fie für ſich allein 
niemals im Stande gemwefen, ed zu erfhüttern oder mit dem Umfturz 
zu bedrohen. Die Zahl der an Ordnung, Geſetz und Frieden häns 
genden Bürger ift allzugroß, als baß, fo lange die Regierungen nur 
einiges Maag in ihren Forderungen und Schritten halten, die 
Umwälzungs- Männer ſich irgend einen Erfolg verfprechen könnten. 
Erft wenn alle Hoffnung aufgegeben würde, unter der Sahne ber 
conftitutionellien Monarchie zue Freiheit oder zum geficherten Rechtes 
zuftand zu gelangen, d. h. wenn die Ueberzeugung allgemeiner wuͤrde, 
dag felbftftändiges Volksrecht und monarcifches Peincip mit einander 
unverträglic, vepräfentative Verfaffungen alfo, da die Negieruns 
gen gleichwohl abfolut fein wollen, bloße Zäufhungen feien, wenn 


196 | Conſtitution. 


demnach Feine andere Wechſelwahl mehr erſchiene, als entweber 
Abſolutismus oder Revolution (in Europa gleichbedeutend 
mit Republik), koͤnnten die Schreckniſſe der letzten uͤber uns hereinbre⸗ 
chen; denn von den conſtitutionell Geſinnten, welche heutzutage ſicher⸗ 
lich die große Mehrzahl der denkenden Buͤrger ausmachen, wuͤrde 
ſodann zwar ein Theil, um die Graͤuel der Revolution zu verhuͤten, 
ſich verzweiflungsvoll in die Arme des Abſolutismus werfen, ein an⸗ 
derer Theil aber, aus Abſcheu vor dem legten, zur Fahne der Revolu⸗ 
tion übergehen. Welcher von beiden Theilen der ftärkere fein dürfte, 
ft bis jegt noch fchmer zu entfcheiden, aber für den Freigefinnten und 
Mechtliebenden iſt die Alternative entfeglich, entweder afiatifhen Deſpo⸗ 
tismus oder die Graͤuel der Revolution und in deren Gefolge allemädyft 
eine flürmifhe Republik und dann, ihr entfleigend, eine militairifche 
Dictatur getwärtigen zu müflen. Möchten die Staatenlenker eine Rich» 
tung einhalten, bie uns von folher Alternative befreie! Sie koͤnnen 
e8 leicht und zuverläfiig durch aufrichtige Befreundung mit bem conftis 
tutionellen Spftem. In Amerika zwar, als auf einem bes hifkoris 
fhen Rechts größtentheild entledigten Boden, hat das conftitutionelle 
Syſtem Republiken geboren; aber e6 verträgt fich daſſelbe ebenfo 
gut, ja noch beffer, mweil mehr Dauer verheißend, mit befhränften 
ErbsMonarhien; und jedenfalle muß, wenn man nicht den - 
aſiatiſchen Abfolutismus zur Alleinherrſchaft über Europa zu bringen 
fih getraut, und in diefer trofklofen Unterdrüdung der europäifchen 
Menſchheit eine egoiftifhe Befriedigung findet, entweder das cons 
ftitutionelle Syftem aufrichtig und treu eingeführt und beob⸗ 
achtet oder aber der verhaͤngnißvollen Verkuͤndung der Republik 
entgegengefehen merden. 

Welches der beiden Syſteme, das conftitutionelte ober 
das abſolutiſtiſche, wird allernächft bie Herrfchaft erringen in Eus 
zopa? — Wenn man bie entfchiedene — auch unter der ſorgſamſten 
Verfchleierung erkennbare — Richtung der Diplomatie, wenn 
man die in ben meiften Ländern zu Tage liegenden minifteriellen 
Tendenzen, wenn man ben, zumal in dem Kanzlei: Stel und Hof: 
Geremoniel, ſich tagtäglich offerer Eund thuenden orientaliſchen 
Ton und bie bald alles Maß überfchreitende, gewiß felbft ben Macht⸗ 
babern zum Ekel gereichende, Servilität ber Zeitungsfchreiber 
und die wie Anbetung lautenden Phrafen der Berichterftatter über 
bie kleinſten Begegniſſe, Handlungen oder Aeußerungen füritlicher 
Derfonen oder ihrer Angehörigen, zumal die Aeußerungen des Ents 
zudens ganzer Bevoͤlkerungen über die auch nur augenblickliche Ans 
wefenheit einer ſolchen Perſon in einer Stadt ober Landfchaft u. f. w. 
betrachtet ; fo follte man glauben, ber Abfolutismus fei nicht nur auf 
dem Wege zur Herefchaft, fondern bereits darin volllommen befeftis 
get. Wenn man aber von den officiellen und won den wohldieneri⸗ 
fhen Kundmadhungen und Huldigungen megfieht, und die — ber 
Schere des Cenford entrüdten — mündlichen Aeufßerungen des Dens 


Gonftitution. Gontagieufe Krankheiten. 797 


enden im Volke, bie Urtheile und Anfichten aller Claſſen, felbft bee 
ſchlichteſten Bürger und Lanbleute, überhaupt den bem aufmerkfamen 
Beobachter fi unverkennbar fund thuenden — wenn gleih nur im 
Stillen maltenden — Öffentlihen Geift in’d Auge faßt: ale 
dann wird man von der Ueberzeugüung durchdrungen, daß — menigs 
ftens für WeftzEuropa — die dauernde Begründung des Abfoluties 
mus eine Unmöglichkeit fei, und daß, wenn befchränfte oder lei⸗ 
denſchaftliche Staatemänner ihn gleihmwohl einzuführen gebächten, fols 
es kaum zeitlich gefhehen Eönnte, ſodann aber unauebteiblid die 
Revolution zur Kolge haben müßte. Nur die Schlechtigkeit 
der Menſchen ſteht dem Abfolutismus zur Seite; das conftitutionelle 
Syſtem hat für fi ihren Verftandb und Ihre Tugend. Die legten 
hoffentlich, werden ſtaͤrker fein als bie erſte; und bie Megierungen 
ſelbſt werden, nad) gewonnener Einfiht von der Sacjlage, lieber je⸗ 
nen (db. h. dem Verftand und ber Tugend ihrer Völker) fich bes 
freunden, als dem Beifland dieſer (d. h. der Schlechtigkeit der 
Speichelleder) fi) anvertrauen wollen. Sie haben bafür, noch außer 
ben unmittelbaren, auf ihr einheimifhes Verhaͤltniß zum eigenen 
Volke ſich beziehenden, Gründen, ein das Verhaͤltniß zum Ausland 
betreffendes, hohes, ja hoͤchſtes Interefſe. Sollte der Abfolutiss 
mus zur ungetheilten Herrfhaft über Europa kommen, fo wäre eben 
dadurh bie Gewalt an die Stelte des Rechtes gefegt, mithin auch 
das Staaten⸗Recht, d. h. die Selbſtſtaͤndigkeit der kleineren 
oder ſchwaͤcheren Staaten gegenüber ber größeren oder ftdrferen aufges 
hoben. Auch würde alsdann jedem Unterthan (denn "Bürger 
gäbe es dann Feine mehr) volltommen gleichgültig fein Lönnen, welchem 
Heren er zu gehorchen und feine Steuern und Frohndienfte zu leiften 
babe. Sedenfalld wäre alsdann die moralifhe Kraft, melde 
allein das Mißverhaͤltniß zwiſchen Meinen und großen Staaten ausglei⸗ 
chen kann, und welche ohne Freiheitsgefuͤhl gar nicht gedenkbar 
ift, getödtet, demnach jeder Heine Staat der Unterjohung Preis, 
fobald es den ſtaͤrkern Nachbar nad feiner Einverleibung: gelüftete, 
oder fobald mehrere Stärkere fi) unter einander über feine Unterjos 
hung oder Zheilung verftänden. Gegen die doppelte ‚Gefahr alfo, 
nämlidy einerfeitd gegen Revolution und Republik, und anderfeit6 ges 
gen den Verluſt der Selbfiftindigfeit gegenüber dem Ausland, gibt 
es —- in erſter Beziehung für alle, in letzter zumal für. die klei⸗ 
nen Staaten — kein anderes Eicherungsmittel als — bie aufrich⸗ 
tige Annahme des conflitutionellen Syſtems. Reotted. 

Gonful, f. diplomatifche Perfonen. 

GConfumenten, f. Producenten. 

Gonfumtion, Confumtionsfteuer, f. Verzehrung, 
VBerzehrungsfteuer. 

Contagieufe Krankheiten, f. anftedende Krank⸗ 
heiten. 





82888888 


a Eee 


Drudfehler. . 


. ©. 81 3. Sununf. nur. 
vor auf zu Iefen: in Beziehung. 
Unterthanens&änder. 
inter Bund fehlt ein Komma, 

nun fi. nur. 
iß das Komma weg. 
und fl. mit. 

ch Stimmeneinpeit fl. durch Stimmenmehrheit. 
der L gegen die Ricteinwilligenden. 
. erften. 
ey es ft. indeß 

ach Halten L. am Bund. 
reiche dieſel be. 
a, Epennah 


HER, f. ‚füdten 
dbield 

. da 
na 


rarse 
8 ar 


grrees gCerE 


+ 
FRE 


fin 

ri east. Rihtere 
‚ge nach Richters ein Komma. 
„Besurfes fl. Reverfes. 

unten I. Tritot fl. Tiritot. 

. unten fege nach unnöthig einen Punkt. 
ach Verfaſſung fege ein Komma. 
fege nach — einen Punkt. 


atte ft. h 

u umge ‚e einen Punkt. 
rende fl. führende, 

a tige ft. wicht ise. 

nun ft. nur. 

dem ft. deren. 

„werben fl. würden. 

. Alle ft. Andere 

muß das Komma weg. 

muß das erfte Komma weg. . 

L. verhinderten fl. verhinderte. 

3L rubmmwirbdigfte fl. eubmmendigfte 

2 muß bas nicht geſtrichen werben, 


s PERZIEE 


Annennergs 


LTE 


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