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BSiaais. exikon
oder
Encentiopäbie
der
Staatswifſenſchaften
in Verbindung mit dielen der angeſehenſten
Publiciſten Deutſchlande |
herausgegeben
von
Carl von Rotteck und Carl Welcker.
Dritter Band.
Altona,
Berlag von Johann Friedrich Hammerich.
1836.
Staatsl exikon
oder
Encvtiopädie
der
Staatswifſenſchaften
in Verbindung mit dielen der angeſehenſten
Publiciſten Deutſchlands
herausgegeben
von
Carl von Rotteck und Carl Welder,
| Dritter Band.
Altona,
Berlag von Johann Friedrich Hammerich.
1836.
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Inhalt des britten Bandes.
Brelögau. — Bon Bader.
Bremen. — Bon Bülau.
— Bon Weigel, :
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Von Rotted.
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Gaftanee, f. Spanien
Guten, f. Kaften.
Gatilien, f. Spani
‚Gaflereagh. — Bon
Getalanlan 1 Benin. - > 0 >
Gotafter, f. Kafater. .
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Sauteln, Gautelarjuriöprubeng. — Won
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Genfud, Insdefondere Bahlcenfus. —
Rotted 2000.
te, f. deutſde Gerichtéverfaſ⸗
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Gentzalifation. — - Von — elder. oo
Gentral s Unterfuhungs = Gonmiffion, f.
Karlsboder Befdhlüfe. . . - .
Gentral Verwaltung, f. ven Stein. .
Gentrum der Deputixtens Kommen. ind! .
aefondere Ber feanpöfifgen. — Bon
e ce. . [) U}
Geremoniel; Gtikette. — Bon R otted.
Geflion, f. Abtretung. -
Gnatif, Ghalifat. — Don Rotted. u
Chambre introuvable, f. rentriichs
neueſte Geſchichte.. ..
Chargd d'afaires, f. Gefandter. “ .
Charta matgua, f. Onglif e Verfaffung.
Charre, Verfaffungs-Urkunde, Freiheite⸗
Brief; igrdeſontere jramoſiſche Charte.
—⸗ Von Ro teck. . [) ®. .
Chatam. — Bon Beipel. .
Ghatmübriand. — Ven Weipel.
Edatoule-Güter, f. Gwillite. .
Eherusker, f. Altdeutſche Völker.
Chile: — Von Bülau. .
China, f. Sınu. . »
Gholera. — Ben Baumgärtner.
Gyouanıd, ſ. Zranzöftihe Revolution.
Ghriftentbum,, qriftiiche Beligion und
Moral’ in ihrem Verhältniß zur politis
hen Quitur vder yum Recht und zum
taat. — Bon Belder. . . oo
Ghurfürften, f. Auctuften. oo
Gicero, f. römıfhes Acht. .
GSisalpiniſche Republik, f. Stalien.
Gitadele: — Von v. zheobalb.
Givile Grat, f. Butgıt.
G:vıl = Gerihtsordnung, f. Gerichtsord⸗
nung. »
Civilliſte, Privat⸗ oder Shatul : oter
Gabinetsstgur. Arondotution. — Von
Welcker.
Eivilrecht, bürgerliches Acht; 3 Gioile oder
bürgertiches Rechtögefep und Befepdug.
-- Von A fried. . 0.0.
Giafienteuer, ſ. iafſennerer. W
—
Sri, | Dolen
Gtub, f . Affociatıon und franyöfffehe Re
valution. . . ® eo e . ® ®
Goalition, ſ. Aianz. .. ..
Gebieny f. framefıde Revolution. - .
Code civil frangais, franzoſiſches Reit.
Goder, ſ. römiihes Richt. - 2.
Gegnaten, f. Bermantifdaft. © 4
Sälibar, f. Ebelofigteit. . - » a
Vollecten; Gollectiten, Collectanien. —
Von Belder. .
Gollegium ; Gollegials und büreaufcatifches
Bufen der ‚Wermaltung. Von
Belder :
Goliffion‘ der Gefepe und Ned te hore⸗
thetiſche und abſolutgedietende e Selepe.
— Din Belder. . . . .
Golufen: — Von Bopp..-
Golont, Solonat, f. ler. .
Golonten. — Con BWeipel.
Golumdia. — Von Bülau.
Gomitat,ſ. Echenweien. - »
Selte
Gomitd, f. Tueſhuß. .. 653
Gomitien, f. römifde Verfaffung. .. 655
Gommenderie, f. Riitterorden. - o. . 5355
Commiſſion, f. Gabinete:QZuftil. - - . 553
Gommilflond-Handel', ſ. Handel. „ . 553
Gommodatum, f. Leibeonirat. - - . 553
Gommunalgatden, f. Ratienalgarden. . 833
Gompasnie, f. Handelscompagnit. .. 553
Gomrenfation. — Von Dd. . . 636
Gompetenz. — Won Dd. a 0. + Bi
Gomplort, f. Verfhywörung. - » . 564
Gompofitionen-Enftem (älteres Strafrecht
der Vokter, vorzüglich altdeutſches), Nas
turſtand, Seldfrhülſe und Fehderecht,
Frceiſfaͤtte and Löſegeld (oder Buße, Wette,
Gompofitio, Emendatio, Wergelt) und
Fredum(orerBrüge),@efammtdürgfchaft
und Zalion. — Bon BWelder. . . 565
Gompromip, f. Echiedsgeridt. . . . DNB
Gonat, f. Verſuch. 835
Goncefflon, „Folteitiä und polteifä- —
Bon Kottet... eo. . 8585
Sencilien: — Bon Daulus. eo. . 5A
Gonclaoe, ſ. Poriwall. „. - 0 4 « 612
Goncotdate.- — Von Rotted. . . . 612
Goncubinat. — Von Bopp. . . + 923
Goncurrenz, f. Zufammenfluß. . 628
Gonturs oengerot, Gant, daimnth. —
Von B on .. . 0... 6238
Goncuffion, f . Grpreffung 8%. . 613
Gondorcet ( Maria Jehann Anton Yeicos
las rt Rarquis von). — Bon
Bei 613
—— — Bon P a ulu * 646
Gonfirmation, f. Beftätig .. . 635
Gonfidcation des — onscotlon
einzelner beftimmter Sadın; Geldſtra⸗
fen. — Von Rotteck.. 606
Gonföberation, f. Bund und Polen.
Gonfronzatten (Gegenficlung).
. 653
661
X ha
Gonsteh, Gongreffe,, Congreßarte, insb
fondere jene von Wien. Gongrefle der
neueften Bett, Inebefondere jene von
Jachen, von Karlsbad, von Troppau,
Laidach, Verona; Gonferenzen von Wien
und von London; Gongreß von Panama.
— Von Kotted.
Gongrevefhe Raketen oder Brand: Rakcten.
— Bon v: Iheobald. . . . .
Gonfertption. — Bon Rotted. - » ©
Conſens. — Bon BVelder. . - .
Cinsilium abeundi, f. Univerfität. .
Gonfitorium; f. -Qurie NR und Kits
&enverfoffung (proteftantifche) .
Gonftant (Benjaminde).— Bon Welpe L.
Gonftentinopel,, f. Tütkei..
Gonftitutton; Gonftitutionen; Gonftitutios
nelles Prinzip und Syſtem3 confitutios
nel und enticonftitutioncd. — Bon
Rottec.
Gonſul, f. Bipfomatifde Derfonen. .e
Gonfumenten, f. Producenten. .. »
Gonfumtion, Genfumtionsfteuer, f- Ders
schtung, Berzchrungsfieuer. . .
Gontagieufe Krankheiten, ſ. anftedende
Krant hei ten. o 0°
7
71
B reisgau. Mit ber hiſtoriſchen Schilderung dieſer Landſchaft, des
ſuͤdweſtlichſten Theiles im Großherzogthum Baden, iſt ganz vorzüglich
auch verknüpft die Geſchichte von Freiburg, dem Wohnorte ber
beiden Herausgeber des Staats⸗Lexikons, welche Stadt bereits zu Kaiſer
Joſeph I. Zeit der Sig ruͤhmlicher Beſtredungen für Aufklaͤrung und
Dumanität war, und befonders auch in unfern Tagen durch ihren ents
fchieden liberalen Geiſt einen nicht geringen kirchlichen und politiſchen Ruf
erlangte, was ſelbſt von Seiten anerkannt wird, wo kein verdaͤchtiges Lob
zu vermuthen ſteht. Schon dies mag es rechtfertigen, wenn wir eine
ausführlihe Daritellumg der Schidfale der Eleinen Landfchaft den Artikeln
des Staats⸗Lexikons einreihen. Aber auch außerdem zeichnet fich dei Breis⸗
gau mit feiner Hauptfladt in mehrfacher Beziehung vor vielen Gegenden
Deutſchlands fehr bemerkenswert aus. Denn nicht nur iſt er eine ber
wohlgelegenften, f&hönften und fruchtbarften, fondern feine Gefchichte bies
tet mehrere Partien dar, welche theild für den Alterthumsforfcher, theils
"nf für den Staatsmann von beiehrendem Intereſſe find,
Die Ausdehnung des Breisgaus erfiredt fi) von der Hoͤhe bes
Feldbergs füdli bis an den Rhein (bei Sädingen), nördlich bie zum
Schuͤlersberg (in dee Gegend von Homberg) und weſtlich bis wieder an
ben Rhein, fo daß die Landfchaft ein ohngefaͤhr 8 M. langes und halb
fo breites Viereck bildet, defien Inhalt die mannichfaltigfte und angenehm:
ſte Abwechfelung von Hochgebirgen, von minder rauhen Bergreihen, von
Hügeln, Schluchten, Thälern und Ebenen barbietet. So gehören namentlich
(außer dem Feldberge) bie drei höchften Gipfel bes füdlihen Schwarzwalds
zum Breisgau, der Belchen, Blauen und Kandel. Vom ſuͤdweſtlichen
Fuße des Feldberg aber zieht fic das herrliche Thal der Wiefe, welche
Hebel fo ſchoͤn beſungen hat, bis hervor in die Gegend von Bafel;
. am weftlihen Abhange des Blauen ruht der Babeort Badenweiler, mo
anf der alten Schloßruine bie Ausficht über die naͤchſten Rebhuͤgel, Über
die Kornfelber bis zum Rhein, und jenfeits bis in die Thaͤler der Voge⸗
fen, an dem malerifchen Zauber italienifchee Landfchaften erinnert. Alde
dann folgt ber weite Sarten um Freiburg, mit dem Kaiferftuhl, dem
Treiſam⸗, Glotter⸗ und Elzthale, wo ſich dem Wandrer bei jeder Wens
dung, auf jeder Anhoͤhe eine neue Ausſicht uͤberraſchend eroͤffnet. Wer
bewunderte nicht die wildromantiſche Natur des „Hoͤllenthales“, die ſon⸗
nenheitern üppigen Gefilde des „Dimmelreiches”, und zunaͤchſt der Stabt
das reiche, unvergleichlihe Panorama auf St. Loretto! .
1
4 Breisgau.
Das Bergland iſt die groͤßere Haͤlfte des Breisgaues, wo das kraͤf⸗
‚tige, ſchoͤne Volk ſich in der Regel theils von ber Viehzucht und von
Holzhandel, theils von der Uhrmacherei ernaͤhrt; doch baut man oft bis
auf die rauheſten Höhen, auch überall Kartoffeln, Hafer und Sommer⸗
roggen. Ein um fo fruchtbareres Erdreich enthalten dagegen bie Thaͤler
und die Gegenden an den Vorhuͤgeln des Gebirge, wo fich die unzähs
ligen Bergwaifer zu belebenden Bächen und Fluͤſſen fammeln. Hier fin«
det man in den Gemarkungen der meiftentheils befrächtlihen Dörfer und
Flecken die uͤppigſten Wiefen, die ſchoͤnſten Getreidefelder und einen bes
fonders reichen Obfts und Weinwachs; der Markgräfler ift berühmte durch
ganz Schwaben. Außerdem pflanzt man auch Hanf, Rüben, Hülfens
feuchte und Küchengewächfe aller Art, und treibt eine täglich gebeihlichere
Rinder», Schweine» und Schafzudt. Nicht minder gefegnet find bie
weiten Ebenen längs dem Rheine hin, nur daß ſich unter dem Volke
bier leider Häufig die Einwirkungen ber Nahbarfchaft des Eifaffes, der
Schmuggelei und des Branntweind, auf eine beflagenswerche Weiſe
fund thun.
Hiftorifh ift die breisgauifhe Landfchaft einer der beutfchen
Gaue, deren fhon in den Alteften Dentmälern namentlihe Erwähnung
geſchieht. Die roͤmiſche Reichſsnotiz vom Ende des vierten Jahrhunderts
zählt unter den im römifchen Heere dienenden Deutfdyen bie Brisigavi,
weicher Name fogleih an die keltiſch⸗ römifche Niederlaffung zu Brei⸗
ſach (mons Brisiacus, Brisiacum) erinnert *). Weberhaupt ftößt ber
Alterthumsforfcher hier allenthalben auf Spuren ber früheften Anfieblung
und Gultur durch Kelten (Gallier) und Römer. Unb nachdem die Ales
mannen ſich des Rheinthales bemeiftert hatten, erfchien ihnen keine Ges
gend fo einladend zu bleibender Bemohnung, ald die Thäler und Vorhuͤ⸗
gel bes füdmweftlihen Rheinwinkels, an deſſen Spige das alte Basilea
GBaſel) ſich erhob. Dies bezeugen die fehr frühe, zum Theil fchon im
fiebenten Jahrhundert urkundlich vorlommenden Namen der meilten jegt
beftehenden (auch vielee abgegangenen) breisgauifhen Ortſchaften.
Selbit das Licht des Evangeliums verbreitete fih hier früher als irgends
wo in Deutfchland nach den Stürmen ber Völkerwanderung. Bereits
unter Klodwig 1. ftiftete der ſchottiſche Miffionde Fridolin das Kloſter zu
Sädingen, und hundert Jahre fpäter legte fein Kandsmann Zrutbert den
Grund zu der Abtei feines Namens im Münfterthale **).
Diefe gefegnete, uralt bevdlkerte und angebaute Landſchaft ift auch
bie Wiege jenes um beutfches Bürgerthum fo verdienten Fuͤrſtengeſchlechts,
welhem das großherzoglich badifche. Haus feinen Urſprung verbanft.
Noch erhebt ſich, ohnweit Kreiburg, auf der Höhe eines gegen die Ebene
*) &. nofitia dign. imperii rom. ex n. recens. Philippi Labbe,
8. J. Paris. 1651. und vergl. Schöpflin, Alsat, illustr. Tom. I. pag. 191.
**) S. Neugärt, episcopat. constant. Tom. I. Proleg. pag. 39. und
pag. 7, 42.
Breiögau. 5
bervortretenden Hügeld ber Thurm von Bähringen, ein ehrwärbiger
Ueberreft aus ben Zeiten der alten Herzoge. Vermuthlich baute benfelben
Graf Bezelin (mie deffen Vetter Ratbod im Aargau den Thurm Habs
burg) zum Schuge feiner in der Umgegend gelegenen Güter; zum Wohnfige
aber wählte ihn erſt Herzog Berthold II., welcher ſich aus dem für fein
Geſchlecht fo unheilvollen Schwaben ganz auf die breißgauifchen Stamm⸗
güter zuruͤckzog, wie er denn zugleich auch das von „ſeinem Vater bei der
Burg Ted gegründete Kloſter St. Peter in die Nachbarſchaft der Burg
Zähringen verfegte und zur Familiengruft erlas. Don dem an erfreute
ſich der ‚Breisgau fortwährend des Gluͤckes einer fo mwohlchätigen Herr⸗
fhaft, mie man die Zähringifche Überhaupt nennen muß. Die Derzoge
bielten fiteng auf Ordnung und Sicherheit in ihren Landen, gründeten
zur Aufnahme des Handel und der Culture, wie anberwärts andere
Staͤdte, fo im Breisgan bei einem alten Jagdhauſe an der Treiſam
das Gemeinweſen von Kreiburg, und am Rhein bie Stadt Neuen⸗
burg; fie erweiterten Breiſach und thaten Manches auch zur * beffern Auf:
nahme der breisgauifhen Kiöfter *).
Bei dem 1218 erfolgten Einderlofen Tode Herzog Berthold des Rei⸗
chen, mit welchem der herzogliche Stamm von Zaͤhringen erloſch, fielen
die breisgauiſchen Eigenguͤter mit den Staͤdten Freiburg und
Neuenburg an ſeinen Schwager, Graf Egon von Urach, deſſen Nach⸗
kommenſchaft ſich bald in die zwei Linien von Freiburg und von Fuͤrſten⸗
derg unterſchied. Nach ſolcher Veränderung aber ber breisgauiſchen
Verhaͤltniſſe ziehet jetzt beſonders das freiburgiſche Gemeinweſen un⸗
fern Blick auf ſich durch fein freudiges Emporbluͤhen und feinen muthi⸗
gen Kampf gegen den Druck der neuen Herrſchaft. Die Stadt war
1118 von Herzog Berthold UI., welcher während einer Gefangenſchaft
zu Köln das ftädtifche Leben hatte kennen und fchägen lernen, auf feinem
eigenthümlihen Grund unb Boden gegründet und zu einem Marktorte
beftimmt worben, weswegen er anfangs faft nur Kaufleute zur Nieder
laffung dahin einlud, und ihnen befonders feinen Frieden, ſicheres Geleit,
Zollfreiheit und Erftattung des in feinem Gebiete durch Unficherheit erlit⸗
tenen Schadens gewährte. Herzog Konrad aber, fein Bruder und Nach⸗
folger, ertheilte dem Gemeinmwefen 1120 die Urkunde feiner fläbtifchen
Berfaffung, welche in allen Hauptpunkten bee koͤlniſchen nachgebildet war.
Eine Mark freien Eigenthums reichte hin, um das Bürgerrecht der
neuen Stadt zu erwerben, und wer fich barin nieberließ, erhielt zur Er⸗
rihtung feines Wohnhauſes einen Hofraum von 100 Fuß in der Laͤnge
und 50 in der Breite. Alle Buͤrger waren frei, genoſſen eine vollkommene
Gleichheit des Rechts und gaben kein Vogtgeld (jus advocatiae) von ihren
Gütern; fie wählten als ſeibſtſtaͤndige Gemeine ihren geiftlihen und welt⸗
lichen Vorſteher: den Leutprieſter oder Pfarrer, welchem der Herr die
Kiche verlieh, den Vogt, und alljährlich den Schultheiß, welche er be
*) Vergl. Schöpflin, histor. Zaringo-badens., Tom. I. und eeicht—
Lin, die Zaͤhringer. Freib. im Breiſg. 1831. B
’
Staats.ſ exikon
—
oder
— — —
der
Staatswifſenſchaften
in Verbindung mit vielen der angefehenften
Publiciſten Deutfhlandd
herausgegeben
von
| Carl don Rotteck und Carl Welcker.
Dritter Band.
Altona,
Verlag von Johann Friedrich bammeriqh.
18 36.
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Inhalt des dritten Bandes, .
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Gatafter, |. Kafafter.
Gathelicidmie , f, Katbotleismus.
Seuteien, Gautelarlurlprubeng.
‚Genfur alß Sirngeigt ind in iter und neuer
Beit. — Bon
eat ber Drudfäriften. — — Km XRX
Genfub, inedeonbere 8 Tem
Rotted. ..
te, ſ. deutſche Gerichtéverfaſ⸗
Gentralifatlön. — Von welter. *
Gentral⸗Unterſuchungs⸗ Commiſſion, ſ.
Karlsbader Beſchlüſſt.
Gentral Verwaltung, ſ. ven Stein..
Gentrum der DeputixtensKomudsen. ias⸗
befondere Ber franjoͤſiſchen. — Bon
Welcke
Geremoniel; @tikette. — Von Rott ee.
Gefjion, f. Abtretung. . .
Gratif, Ghalifat. — Bon Rest. .
Chaurbre introuvable, Frentreichs
neurſie Geſchichte.
Chargeé d'affalres, ſ. Geſandter. .
Charta magna‘, f. Engliſche Verfoffung.
Ghorre, Verfaffungs⸗Utkunde, Freiheits⸗
Briefz imebelondere frangöff de Gharte.
— Von RXottec. . . .
Chatam. — Bon BVelsel. . -
CEhatenubriand. — Von Weigel.
Ghatoulle⸗:Güuter, f. Cmwillite. .
OHeruster, f. wtbeutige Võolker.
Shile: — Von ® ul au. . oo.
Gina, f. Sınu. . -
Cholera. — Ven Baumgärtner.
Giyouanıd, f. Zranzöfifhe Revolution.
Ehriſtrnthum, riftiihe Weligion und
Moral’in ihrem Verbältnig zur politis
(gen Qultur vder 3m, Acht und zum
tat. — Bon Bıldeır. . . .
Ghurfürften, ſ. Kuctürften. »
Gicero, f. roͤmiſches Acht. .
Gısalsinifhe Aepublit, f. Stellen.
Citadelle — Von v. zheobalb.
Gidile Etut, f. Budgit.
G:vil s Gerihtsordnung, ſ: Gerichtsord⸗
nung...
Giotittite, !rinats oder Shatul s NY
Gadinetöstyur. Krondotution. — Von
Welcer.
Givtircht, dürgerliches Recht; ; Gioile ter
bDürgerlihes Rechtsgeſeß und Veſepduth ·
-- Von A ericed. . o . —
Glaflenfteuer, ſ. Klaffenfeurr.. ...
Gioptefi, f Polen
Glub, f. Affocietıon und franzöfffe Re
volution. . eo.“
Goalition, f. Ylenz. .. .o.
Gobieny f. franzöfiiche Revolution. . »
Code civil fraugais, j. frunzoͤſiſches Kecht.
Goter, f: roͤmiſches Kcht. - 2 0 .
Gegnaten, f. Berwantefhoft. - o °
Gälibar, f. Ehelofigter. . .
Bollecten; Golertixen, Golectanten. —
Bon Belder .
Goliegium; Gollegial⸗ und büreaukratifährs
©yftenr der ‚Wermaltung. Von
Belder .
Goliffion der @efepe und Rechtes hore⸗
thetiſche und abſolutgebietende Gefepe.
— Von Be (der. . . . .
Golufion: — Von Bopr. .
Golont, Solonat, f. Bauer. .
Golonten. — Von Veipel.
Golumbla. — Ven Bülau.
Gomitar, f. Lehenwelen. + -
Gate
Gomite, f. Ausfäuf. . , .. 8558
Gomitien, f. römıfde Verfaffung. .. 6555
Gommenberier 1. Kiitterorden. 833
GCommuffion, ſ. Cahinets-Juſtiz.... 553
Gommiſſions: Handel‘, f. Sankell.e . . 6553
Gemmobdatum, f. Xeihconiract. - - . 553
Gommunalgatden, f. Nationalgarden. . 533
Gompagnie, ſ. Handelscompagnie. .„ + 8533
Gomzenfation. — Von d. . oo. . 55°
Gompeten;. — Won D. . 0 0 0. 0 561
Gomplort, f. Verſchwörung.. . 564
Gompofitionen:Enitem (älteres Strafrfht »
der Völter, vorzugli altteutfbes), Na=
turſtand, Selbſrhülſe und Fehderecht,
⸗Frceiffatte and Loͤſegeld (Coder Buße, Wette,
Compoſitio, Emendatio, Wergelt) und
Fredum(oterBruge),Gefammtdürgfdaft
und Zalion. — Bon Belder. . . 865
Gompromis, ſ. Sciedsgeridt. - . + 55
Gonat, f. Verfud. . 635
Gonceffion, peltieitic und potteif. —
Von KRottetl. . « eo. . 58
KBoncilien: — Von Dautus, ... 5A
Gonclaode, ſ. Parftmall. -. © 0 . . 612
Goncotbate. — Bon Rotted. . 0 0. 612
Goncubinat. — Von Bopp. . . «+ 623
Goncurrenz, f. Zufammenfluf. - - . 626
Vonturs Bankerot, Sant, Zauiment). —
Von Bor . eo 0. . 638
Goncuffion, f . Erpreffung. . 643
Gondercer (Maria Jehann Anton Rieo⸗
‚Saritat, Marquis von). — Von
e
— — Bon 9 a u ti u *
Rat 1]
GConfirmation, f. igung. =
Gonfigcation des Bermögene ; Gonfiscotim
einzelner beftimmter Caden; Geldſtra⸗
fen. — Bon Kottedl...
Sonföderation, f. Bund unb dolem.
Gonfcontation (Gegenſtellung).
Boyvry. .- .
Gongreh, Gongrefie , Gongreharte, insb
fondere jene von Wien. Gongrefle der
neueften 3ett, Inshefonbere jene von
Jachen, von Karlsbad, von Zrorrau,
Laidach, Verona; Gonferenzen von Bien
und von Eondon 5 Gongreß von Panama.
— Von Rotteck.
Gongrevefhhe Raketen ober Brands Kafcten.
— Bon o: Theobald. . . .
Gonferietion. — Bonkotted. - . -»
Gonfend. — Bon Belder. . .
Crinsilium abeundi, f. Univerfi tät. .
Gonfiforium; f. -Surie N und Kirs
&enverfoffung (proteftantifge) .
Gonftant (Benjamin de) .— Von Meipel.
Gonftantinopel, f. Zurfll. . .
Gonttitutton; Gonftitutionen 5 Gonftitutios
nelles Prinzip und Syſtem; confiitutioe
nel und anticonftiitutloned. — Bon
Rotteck. W
Gonſul, t biplomatiſche Derfonen. .o
Gonfumenten, f. Prloducenten. '.. »
Gonfumtion, Genfumtionsfteuer, ſ. Ders
schtung, Verzehrungsfteuer. - -
Gontagieufe Krankheiten, ſ. anftedende
Krankheiten. . eo 0 0. 40
798
7”.
Breis gau. Mit der hiſtoriſchen Schilderung dieſer Landſchaft, des
ſuͤdweſtlichſten Theiles im Großherzogthum Baden, iſt ganz vorzüglich
auch verknüpft die Geſchichte von Kreiburg, dem Wohnorte ber
beiden Herausgeber bes Staats⸗Lexikons, welche Stadt bereits zu Kaiſer
Joſeph I. Zeit der Sig ruͤhmlicher Beſtrebungen für Aaufklaͤrung und
Humanitaͤt war, und befonder® auch in unfern Tagen durch ihren ente
fchieden liberalen Geiſt einen nicht geringen Eirchlichen und politifchen Ruf
erlangte, was felbft von Seiten anerkannt wird, wo fein verbächtiges Lob
zu vermuthen fteht. Schon dies mag es rechtfertigen, wenn wir «ine
ausführliche Darftellung der Schidfale der Beinen Landſchaft den Artikeln
des Staats⸗Lexikons einreihen. Aber auch außerdem zeichnet fich der Breis⸗
gau mit feiner Hauptſtadt in mehrfacher Beziehung vor vielen Gegenben
Deutfchlands fehr bemerkenswert aus. Denn nicht nur ift er eine der
wohlgelegenften, fchönften und fruchtbarften, fondern feine Gefchichte bies
tet mehrere Partien dar, welche theils für den Alterthumsforfcher, theils
"or für den Staatsmann von belehtendem Intereſſe find.
‚Die Ausdehnung bes Breisgau erſtreckt fich von ber Höhe des
Selbbergs füdlih bis an den Mhein (bei Sädingen), nördlich bis zum
Schuͤlersberg (in ber Gegend von Hornberg) und weftlic bis wieder an
den Rhein, fo daß bie Landfchaft ein ohngefähr 8 M. langes und halb '
fo breites Viered bildet, deſſen Inhalt die mannichfaltigfte und angenehm:
ſte Abwechfelung von Hochgebirgen, von minder rauhen Bergreihen, von
Hügeln, Schluchten, Thälern und Ebenen barbietet. So gehören namentlich
(außer dem Zeldberge) die drei höchften Gipfel des ſuͤdlichen Schwarzwalds
zum Breisgau, ber VBelhen, Blauen und Kandel. Vom fübmweftlichen
Fuße des Feldbergs aber zieht ſich das herrliche Thal ber Wiefe, melde
Hebel fo ſchoͤn befungen hat, bis hervor in die Gegend von Baſel;
. am wefllihen Abhange bes Blauen ruht der Badeort Badenweiler, to
auf der alten Schloßruine die Ausficht über die nächften Mebhügel, Über
bie Kornfelder bis zum Rhein, und jenfeits bis in die Thälee der Voge⸗
fen, an den malerifchen Zauber italienifcher Landſchaften erinnert. Als⸗
dann folgt ber weite Garten um Freiburg, mit dem Kaiferfluhl, dem
Treiſam⸗, Glotter⸗ und Eizthale, wo ſich dem Wandrer bei jeder Wen»
dung, auf jeder Anhöhe eine neue Ausficht uͤberraſchend eröffnet. Wer
betounderte nicht die wildromantifche Natur des „Höllenthales”, die fons
nenheitern üppigen Gefilde des „Dimmelreiches”’, und zunaͤchſt der Stabt
das reiche, unvergleichliche Panorama auf St. Loretto! ,
1
4 Breisgau.
Das Bergland iſt bie größere Hälfte bed Breisgaues, mo das kraͤf⸗
tige, ſchoͤne Volk fih in ber Megel theils von der Viehzucht und von
Holzhandel, theils von ber Uhrmacherei ernährt; doch baut man oft bis
auf die rauheften Höhen, aud überall Kartoffeln, Hafer und Sommer:
roggen. Ein um fo fruchtbareres Erdreich enthalten dagegen bie Thaͤler
und die Gegenden an ben Vorhligeln des Gebirges, wo fich die unzaͤh⸗
ligen Bergwaſſer zu belebenden Baͤchen und Fluͤſſen fammeln. Hier fin«
det man in den Gemarkungen der meiftentheils beträchtlichen Dörfer und
Sieden bie üppigften Wieſen, die ſchoͤnſten Getreidefelder und einen bes
fonder® reichen Obſt⸗ und Weinwachs; der Marfgräfler ift berühmt durch
ganz Schwaben. Außerdem pflanzt man auch Hanf, Rüben, Hülfens
früchte und Kuͤchengewaͤchſe aller Art, und treibt eine täglich gebeihlichere
Rinder», Schweine⸗ und Schafzucht. Nicht minder gefegnet find bie
weiten Ebenen längs dem Rheine bin, nur daß fid) unter dem Volke
bier leider häufig die Einwirkungen der Nachbarfchaft des Eifaffes, der
Schmuggelei und bed Branntweind, auf eine beklagenswerthe Weiſe
kund thun.
Hiſtoriſch ift die breisgauifche Landfchaft einer ber beutfchen
Gaue, deren ſchon in ben Älteften Denkmaͤlern namentliche Erwähnung
gefhieht. Die roͤmiſche Reichsnotiz vom Ende bes vierten Jahrhunderts
zählt unter den im römifchen Heere dienenden Deutfdyen die Brisigavi,
welcher Name fogleih an bie keltiſch⸗ roͤmiſche Niederlaffung zu Breis
ſach (mons Brisiacus, Brisiacum) erinnert *). Ueberhaupt ftößt der
Alterthumsforfcher hier allenthalben auf Spuren ber früheften Anfieblung
und Gultur durch Kelten (Gallier) und Römer. Und nachdem die Ales
‚ mannen fi bed Rheinthales bemeiftert hatten, erfchien ihnen feine Ges
gend fo einladend zu bleibender Bewohnung, als die Thäler und Vorhuͤ⸗
gel des ſuͤdweſtlichen Rheinwinkels, an deſſen Spige das alte Basilea
(Bafel) fi) erhob. Dies bezeugen bie fehr frühe, zum Theil fchon im
fiebenten Jahrhundert urkundlich vorlommenden Namen ber meisten jegt
beftehenden (auch vieler abgegangenen) breisgauifhen Ortſchaften.
Selbft das Licht des Evangeliums verbreitete ſich bier früher als irgends
wo in Deutfchland nad den Stürmen der Völkerwanderung. Bereits
unter Klodwig 1. ftiftete der ſchottiſche Miffionde Fridolin das Kloſter zu
Sädingen, und hundert Jahre fpäter legte fein Landsmann Trutbert ben
Grund zu ber Abtei feines Namens im Münfterthale **).
Diefe gefegnete, uralt bevoͤlkerte und angebaute Landſchaft ift auch
bie Wiege jenes um beutfches Buͤrgerthum fo verdienten Fuͤrſtengeſchlechts,
welchem das großherzoglich badifche, Haus feinen Urfprung verbankt.
Noch erhebt ſich, ohnweit Sreiburg, auf der Höhe eines gegen bie Ebene
*) S. notitia dign. imperii rom. ex n. recens. Philippi Labbe,
8. J. Paris. 1651. und vergl. Schöpflin, Alsat. illustr, Tom. I. pag. 191.
**) &. Neugärt, episcopat. constant. Tom. I. Proleg. pag. 89. und
pag. 7, 42.
[4
Breisgau. 5
‚bervortretenden Huͤgels der Thurm von Bähringen, ein ehrwuͤrdiger
Ueberreft aus den Zeiten der alten Herzoge. Wermuthli baute benfelben
Graf Bezelin (tie defien Vetter Ratbod im Aargau den Thurm Babes
burg) zum Schutze feiner in ber Umgegend gelegenen Güter; zum Wohnfige
aber mählte ihn erft Herzog Berthold II., welcher ſich aus dem für fein
Geſchlecht fo unheilvollen Schwaben ganz auf die breisgauifchen Stamms
güter zuruͤckzog, wie ee denn zugleich auch das von, feinem Vater bei der
Burg Teck gegründete Klofter St. Peter in die Nahbarfchaft der Burg
Zaͤhringen verfegte und zur Samiliengruft erlas. Von dem an erfreute
fi) der Breisgau fortwährend bes Gluͤckes einer fo mwohlthätigen Herr⸗
ſchaft, wie man die Zähringifche überhaupt nennen muß. Die Herzoge
hielten fireng auf Ordnung und Sicherheit in ihren Landen, gründeten
zur Aufnahme ded Handel und ber ‚Cultur, wie anberwärts andere
Städte, fo im Breisgau bei einem alten Jagdhauſe an ber Zreifam
das Gemeinwelen von Sreiburg, und am Rhein die Stadt Neuen-
burg; fie erweiterten Breiſach und thaten Manches auch zut beſſern Auf⸗
nahme ber breisgauiſchen Kiöfter *).
Bei dem 1218 erfolgten Einderlofen Tode Herzog Bertholb des Reis
hen, mit welchem ber herzoglihe Stamm von Zähringen erloſch, fielen
die breisgauifchen Eigengüter mit den Städten Freiburg und
Neuenburg an feinen Schwager, Graf Egon von Urach, befien Nach⸗
tommenfchaft fich bald in die zwei Linien von Sreiburg und von Fuͤrſten⸗
berg unterſchied. Nach ſolcher Veränderung aber der breisgauifchen
Vechaͤltniſſe ziehet jegt befonder& das freiburgifche Gemeinweſen uns
fern Blick auf ſich duch fein freudige® Emporbluͤhen und feinen muthis
gen Kampf gegen den Drud! der neuen Herrſchaft. Die Stadt war
1118 von Herzog Berthold III., welcher während einer Gefangenfchaft
zu Köln das ftädtifche Reben hatte ennen und ſchaͤtzen lernen, auf feinem
eigenthümlihen Grund und Boden gegründet und zu einem Marktorte
beftimmt worden, meswegen ee anfangs faft nur Kaufleute zur Nieder
lafjung dahin einlud, und ihnen befonders feinen Frieden, ſicheres Geleit,
Bollfreibeit und Erſtattung des in feinem Gebiete durch Unficherheit erlits
tenen Schadens gewährte. Herzog Konrad aber, fein Bruber und Nachs
folger, ertheilte dem Gemeinweſen 1120 die Urkunde feiner ftädtifchen
Berfaffung, welche in allen Hauptpunkten der koͤlniſchen nachgebildet war.
Eine Mark freien Eigenthbums reichte bin, um das Bürgerrecht ber
neuen Stadt zu erwerben, und wer ſich darin nieberließ, erhielt zur Er⸗
richtung feines MWohnhaufes einen Hofraum von 100 Fuß in der Länge
und 50 in der Breite. Alle Bürger waren frei, genofien eine volllommene
Gleichheit des Rechts und gaben kein Vogtgeld (jus advooatiae) von ihren
Gütern; fie wählten ats feibftitändige Gemeine ihren geiftlihen und welt:
lichen Vorſteher: den Leutpriefter oder Pfarrer, welchem der Herr die
Kirche verlieh, den Vogt, und alljaͤhrlich den Schultheiß, welche er be-
*) Vergl. Schöpflin, histor. Zaringo-badens, Tom. I. und eeiqt
lin, die Zaͤhringer. Freib. im Breisg. 1831.
4
6 Breidgar.
ftätigte. Dei Nach beftanb aus 24 Geſchworenen (conjuratores), unter
deren Beſtimmung und Auffiche die Münze, Maaß und Gewicht gehörs
ten. Ferner übte die Gemeine auch eine Gerichtsbarkeit in Streitigkeiten
bee Bürger nach herkömmlichen und geſetzlichem Mecht, und feiner von
bes Herzogs Leuten durfte in ber Stadt wohnen oder Bürger werben
ohne ihre Zuſtimmung (nisi ex communi consensu omnium urbano-
rum et voluntate), Saß ein Leibeigener, ungefordert von feinem Deren,
Jahre und Tag in der Stadt, fo behielt er die Freiheit. Gegen ben
Fremden (Saft) befaß der Einheimifche große Vorrechte; benn er durfte
denfelben nicht als Zeuge annehmen, brauchte mit ihm feinen Zweikampf
einzugeben und konnte eine erlittene Unbill, wenn er fie dem Richter
angezeigt und ber Fremde fpäter in bie Stadt kam, ungeftraft an ihm
rächen. Auch durfte Bein Bürger vor ein fremdes Gericht gezogen wer⸗
den. Mann und Frau flanden fid) völlig gleich (maren Genoffen) und
erbten einander. Waren Kinder vorhanden, fo durfte der Water nad)
dem Tode ber Mutter ohne dringende Noth nichts von ihrem Vermögen
veräußern, und auch auf bem Todbette ohne Wiſſen und Willen der
vechtmäßigen Erben nichts an Andere vermachen. Starb aber Jemand
ohne Kinder und Verwandte, fo fiel deſſen Hinterlaffenfchaft in drei gleis
hen Theilen an bie Armen, die Stabe und den Herzog. Ein der Uns
treue überführteer Waifenpfleger war mit feinem Leib der Gemeine, mit
feinem Gut dem Deren verfallen, und fein naͤchſter vaͤterlicher Verwand⸗
ter mußte alsdann bie Pflesfchaft übernehmen. Friede und Ordnung
wurden durch firenge Geſetze gehandhabt: wer gewaltfam in das Haus
eines Bürgers eindrang, war ber Mache beffeiben ſchutzlos überlaffen ;
wer einen biutrünftig fchlug, verlor die Hand, und wenn der Verwun⸗
bete ſtarb, das Leben. Gefchah aber eine Verlegung bei Nacht oder in
bee Schenke, fo entichieb nur der Zweikampf (quia tabernam nocti as-
simulamus propter ebrietatem). Ale Raufereien hatten für ben. Schuls
digen außer ber gefeglihen Buße die Ungnade bed Heren zur Folge;
bei Streitigkeiten aber, worüber eine der Parteien nicht felbft Klage ers
bob, konnte weber ber Herzog noch ber Richter etwas fügen; wenn das
gegen einmal geklagt war, fo durfte alsdann auc Feine geheime Aus»
gleichung oder Sühne mehr flattfinden. Dem Herrn war ber Bürger
zu nichts verpflichtet, als zu einer jährlichen Hausfteuer von 1 Schilling,
und zur Kriegsfolge auf einem Tag (ita tamen, quod quilibet sequenti
nocte possit ad propria remeare), Wer fi) aber biefer entzog ohne ges
gründete Urfache, dem murde dad Haus niebergeriffen. Jedem Bürger
‚übrigens ſtand ein freier Abzug offen, und bee Here mußte ihm ficheres
Geleit geben durch fein ganzes Gebiet *).
Im Befige fo koſtbaret Freiheiten und unter dem Träftigen Schutze
des herzoglihen Daufes, war Freiburg ſchnell zum erſten Gemeinweſen
*) ©. Freib. Univerſitäts-Progr. 1833. enthalt. die ältefte Verfaſ⸗
fungs:Urk, der Stade Freiburg, zum erfienmal in ihrer ächten Geftalt
herausgegeb. von Dr. Heinr. Schreiber. |
Brelögau. 7
bed Brelsgaues herangewachſen. Und biefe freubige Entwidelung feiner
Kräfte währete audy unter den nähften Nachkommen Graf Egons noch
forte. Die Vermehrung der Bevbikerung und andere Umftände erforder⸗
ten einige Abänderungen und Erwelterungen der ˖ Verfaſſung. Nament⸗
ich hatte dee alte, allmaͤhllg von ben abeligen Geſchlechtern beſette
Math ber Werundzwanziger, durch ben Mißbrauch feiner Gewalt, bie
Buͤrgerſchaft veranlagt, ihm zur Controle die gleiche Anzahl eines juns
gen (ebenfalls jährlich ganz ober theilweis zu erneuernden) Rarhes aus
den Kaufleuten, Handwerkern ımb Edlen an bie Seite zu flellen, ohne
weichen Erin gemeines Gefchäft dee Stadt verhandelt werben burfte.
Dem alten überließ man jegt die Mechtöpflege, doch fo, daß eine Ap⸗
pellation an ben jungen Math und an die gefammte Bürgerfchaft, rote
von diefer an dem Lölnifchen Magiſtrat geflättet war. In allen wichti⸗
gen Dingen übrigens, weiche die Ehre und Wohlfahrt des gemeinen
Weſens betrafen, ſollte die Mehrheit dee Bürger entfcheiben und eim
Jeder ihrem Beſchluſſe gehorfam und geroästig ſein. Bald nach biefee
Beränderung wurden 1292 nach gemeinfamer Beſtimmung bes G |
bes Mathe und gemeinee Bhrgerfchaft die Zünfte und das Amt des
Bürgermeifters eingeführt. Diefen und bie Zunftvecſteher ſetzte aber der
Her nah Willkür, und die Zünfte waren noch blos eine militairiſche
Einrichtung und etwa eine Gontrole bei Veräußerung ftädtifcher Güter.
Jeder BZunftmeifter hatte die Gewalt und Pflicht, feine Zunft durch bes
cm beſchworene Statuten in Ordnung zu halten, fie in Kriegen bes
Stadt oder Herrſchaft unter bie Waffen zu rufen, und bie zuͤnftiſchen
Satzungen umter Beiziehung des Schultheißen, Buͤrgermeiſters und der
übrigen Zumftvorfteher nad) Nothdurft der Zeiten ımb Umſtaͤnde zu aͤn⸗
den *). So emtwidelte fih die freiburgiſche Verfaſſung und ging,
wie ſchon früher auf die übrigen zaͤhringiſchen Städte, jegt auch auf
mehrere frembe Gemeinweſen über, namentlih auf Kenzingen und Walde
ich im VBreisgau **), und eine noch :weit größere Bahl nahmen zu
Freiburg ihr Recht, d. h. fie wählten baffelbe zu ihrem Oberhof, gleich"
wie es felbft dem feinigen von Alters her in Koͤln erkannte ***). Indeſ⸗
fen aber waren auch verfchiedene Polizel » Einrichtungen getroffen und
mohlthätige Anftalten geftiftet worben; es hatte ſich die Bevölkerung zus
fehend® gehoben, befonders durch den benachbarten Adel, welcher bie Vor⸗
theile des ftädtifchen Aufenthaltes mehr und mehr zu firchen anfing, und
felbft die Markgrafen von Hochberg fanden es ehrend und erſprießlich, Buͤr⸗
ger in Freiburg zu fein. Bel foldem Zuſammenfluſſe ven Einwohnern
mehrten fid) Handel und Gewerbe; die Stadt wurde wohlhabend, machte
°% ©. Schreiber, Urk. Buch der Stadt Freiburg im Breisg. 1828.
I. Band, + Abthig. R. XI., L und BIl.
**) Urk. der Herren von Ufenberg von 1330 und 1860. Mic. Schere i⸗
ber a. a. DR. LIX I
..) Bergl. tas angef. Untoerf. „Prog. ©. 7.
8 Breisgau.
Erwerbungen und vergrößerte fich; bie Zrechat fing an ſic zu fuͤh⸗
len und ihren Feinden furchtbar zu werden
Aber ſchon damals war der Zuͤnder RR folgenden Zerwuͤrfniſſes ges
legt. Es zeigt fi im ber erften beutfchen Bearbeitung bes alten Stadts
rechts und in der neuen Verfaſſungsurkunde, welche die Erbfolge in ber
Herrſchaft, bie Ergänzung des Mathe, die Jahrgehalte des Bürgermeis
fters und der Vierundzwanziger, den Gang des Gerichtöwefens, die Bes
flellung der Zünfte und Anderes beftimmt, manche Spur von Anmafuns
gen duch die herrichaftliche Gewalt, und namentlich bing jegt die Ders
leihung des Schultheifenamtes von dem Grafen ab, ber daffelbe, wenn
es kein Vierundzwanziger annehmen wollte, an den Meiftbietenden ver:
Laufen konnte. Ueberdies hatte fih Graf Egon IH. durch feine Fehde⸗
luft in eine große Schulbentaft geftürzt, zw deren Debung er 'an bie
Stadt allzu ungebührliche Korderungen that, um nicht ihren Widerftand
zu erregen. Und fo kam es benn zum entfchiebenen Bruce. Die ent
fchloffene Tapferkeit der Buͤrgerſchaft indeffen vereitelte den bewaffneten
Angriff des Strafen auf die Stadt, und benugte hernach die Geldnoth
feines Sohnes und Enkels aufs Gluͤcklichſte zur Erweiterung ihrer Frei⸗
beiten und Macht. So edangte der Math bie freie Wahl des Bürgers
meiftere und die Bimfte jene ihrer Vorſteher; ja, Graf Konrad ers
teilte den Freiburgern 1327 um die Summe von 4000 M. ©., nes
ben andern wichtigen Rechtfamen, die volle Gewalt, „fi zu verbinden,
wann und mit wem fie wollen”, unb innerhalb eines Zeitraumes von
kaum 20 Jahren ſtand Freiburg. nicht allein mit den angefehenften
Staͤdten am Rhein, in der Schweiz und in Schwaben, fondern felbft
mit Fürften, Vifchöfen und einer Menge des Adels in Verbindung **).
Nichts Eonnte dena :freiburgifchen Gemeinmwefen in Wahrung und Ents
widelung feiner Berfaffungsrechte, in Ermeiterung und Befeſtigung ſei⸗
nee Macht gebeihticher ſeyn, als biefes Recht ‚freier Einung oder Aſſo⸗
ration. Denn dadurch war ale Willkür von Selten ber Herrſchaft
gehemmt, und der Graf. konnte nur durch Eintracht mit ber Stadt feis
nen Einfluß behaupten, ober er mußte unterliegen.
Als Konrad 1866 ahne männtihe Nachkommenſchaft verſtarb, ſollte
die freiburgiſche Herrſchaft verfaſſungsgemaͤß an deſſen hinterlaſſene Ge⸗
mahlin erben; allein ſein Bruder Egon IV., auf welchen die Reichsle⸗
hen uͤbergingen, verdraͤngte die huͤlfloſe Wittwe aus ihrem Erbe, und
ſuchte die über. ſolche Gewaltthaͤtigkeit entruͤſtete, ihm ohnehin abgeneigte
Buͤrgerſchaft durch Werſprechungen für ſich zu gewinnen. Aber fie bes
wies ihm nur. fo lange einen Schein pon Ergebenheit, bis er ihnen,
wie feine Väter, durch Schulden Iäftig fiel und ihr erwachtes Selbſt⸗
gefühl durch Sewoltergteiſung zu demuůthigen ſuchte. Es kam abermals
1 i
ba on
.% S. das Freiburger Urk. Buch, N. E. Band, 1. und 2, Abthlg.
**) Vergl. Freiburger Urt. Buch und Säreiber, Greiburg mit feinen
Umgebungen. Freiburg bri Herten 4828, .ı:
i⸗
Breiögm 0 9
zum atiege und bie Stadt wuͤrde wohl abermals geſiegt haben, wenn
nicht ihr unfeligeß Zerwuͤrfniß mit den Straßburgern fie um eine tapfere
Bundesgenofiin gebracht und die feindliche Macht durch deren Kriegsvolk
verſtaͤrkt hätte. Aber trog ber 1366 bei Endingen erlittenen Nieberlage
blieb fie gleidy ftandhaft in Vertheidigung ihrer Freiheit, und erneute fo
ernfthaft ihre Rüftungen, daß dee Graf endlich davon abftand, fie wie⸗
der in feine Gewalt. zu bringen. Er ließ fih in Unterhandlungen ein,
deren Erfolg feine völlige Berzichtleiftung auf Freiburg und beffen
Gebiet war, mogegen ihm die Stadt bie hiezu erfaufte Herrſchaft Ba⸗
denmeiler mit einer baaren Summe. von 15,000 Gulden übergab.
| Auf diefe Weife kamen die Freiburger zu ihrer Freiheit, aber auch
zu einer kaum erſchwinglichen Schuldenlaſt, und follten fi innerhalb
einer kurzen Zrift einen neuen Deren erwählen. Von verfciedenen Sei⸗
ten richtete man feine Blicke auf: die mwohlgelegene, wichtige Stadt, wel⸗
he felbft wohl am Lliebften den Gedanken eimer Verbindung mit ihren
Freunden in dee Schweiz hegen mochte. Allein ber Adel arbeitete aus
allen Kräften dagegen und sfterreihifche Unterhändler wußten klug ges
nug die Umflände zu benugen, um das bedraͤngte Gemeinwefen durch
das Derfprechen der Uebernahme eines Theils der Stadefhuld in bie
Gewalt ihred Deren zu „practiciren“ *). Freiburg ſchwur 1368 an
das Haus Oeſterreich und bildete..bald. ben vorzuglichften Ort ber öfterreis
chiſchen Vorlande, namentlih nachdem es 1456 durch Herzog Albrecht III.
eine Hochſchule. erhalten. hatte **). Aber gleichwie es fich bisher uͤber
alle Dinderniffe kraͤftig emporgeſchwungen hatte, fo fing es jest wieder
zu finten an, ba. Deſterreich fein Verſprechen nur ſchlecht erfüllte und
jene Schuldenlaſt der innere Schaden blieb, an welchem das Gemeinwe⸗
fen fortan Eränkelte..
Neben Freiburg zählte das Haus Defterreih damals auch ſchon
mehrere andere. -Befigungen im Breisgau, welche es zufehende ermeir
terte, bis wir. im 15. Sahrhundert außer den badiſchen Herrfchaften
Hochberg, Saufenberg und Roͤteln beinahe Alles, namentlidy aber die
Städte Neuenburg, Breiſach, Endingen, Kenzingen und Waldkirch, nebft
den Herrfhaften Koftelberg und Schwarzenberg, unter ihm vereinigt ſa⸗
ben, wie felbft auch die breisgauifche: Landgrafſchaft mit dem Landgerichte,
deffen Lehen der Kaifer nad) dem Ausgange des Haufes Zaͤhringen an
den Markgrafen zu Hochberg verliehen hatte, welches von bdiefem aber
1318 pfandfchaftemweife an die Grafen von Freiburg und durch Konrad III.,
den Sohn- Graf Egons IV., endlih 1398 an Herzog Leopold den Stol⸗
zen gebieh ***y.: Diefes Landgericht, bie Sortfegung bes. alten Gauge⸗
op m Nach Tſchudys Ausdrud. ©. Ehron. der Eibgenoffen. I. Theil.
9 met Stiftungeseif bei Schr eiber, Urk. Buch, IL Bänd. 2. Abthlg.,
nn.) ah Ausſage eines alten Mannes, welche 1434 urkundiich erho⸗
ben wurde. Freib. Urk. Buch, M. DXCVI.
0 | Breisgau.
gerichts, wurde nech im 14. Jahrhundert za Brombach, Offendingen
ober Theningen, unter freiem Himmel, von zwölf Schöffen, mit dem
Zandgrafen an ihrer Spige, feierlich abgehalten und entfchied über alle
wichtigen Rechts⸗ und Griminalfälle. Es erſchienen babel als Mitrich⸗
ter nicht allein vitterbürtige Keute, fonbern auch Bürger und felbft noch
Bauern *) Doch verloren ſich jene buch bie Eremtionen der Städte
mehr und mehr von dem Gericht, woburd die freien Bauern genoͤthigt
teurben, dem Abel endlich vollends zu weichen, ber ſich bie Schöffenbarkeit
nun als Standes vorrecht anmaßte. Nach dem Webergange ber landgraf⸗
ſchaftlichen Rechte an Oeſterreich verlor ſich das Landgericht allmaͤhlig, fo
daß ſpaͤter nur ſelten noch eine Spur davon zu entdecken iſt.
Durch den Einfluß, zumal des Abels, welcher ſich in ben meiſten
Städten zahlreich niebergelaffen hatte und meift die Rathsſtellen tie
erblich bekleidete, wurde im Breisgau, wie in allen Öfterreichifchen Vor:
landen, bald auch eine überaus eifrige Gefinnung für das Erzhaus ev»
zeugt. Denn man wußte feinem Stolze zu fchmeicheln, und er opferte
verſchwenderiſch Gut und. Blut für feine vermeintlichen Beſchuͤtzer, bie
eitterlichen Zürften von Oeſterreich, während fie ihn, fo lange er etwas
vermochte, felbftfüchtig gebrauchten, und nachdem er werarmt war, ſich
wohlfeilen Kaufs in den Befig feiner Güter ſetzten. Doch raͤchte ſich
diefes Syſtem wieder auf andrer Seite. Der oͤſterreichiſche Hof glaubte
ben natürlichen Haß bed vorländifchen Adele gegen bie ſchweizeriſchen
„Bauern“ auf’s Beſte zu benugen, indem er denfelben auf einen Grab
fteigerte, wo die flolz mit der Pfauenfeber geſchmuͤckten Herren für nichts
Anberes mehr einen Bli hatten und die Sache ihre Standes zu vers
theidigen wähnten, da fie body (zu ihrem eignen endlichen Untergange)
nur ein Werkzeug der oͤſterreichiſchen Politit waren.. Aber gerabe diefer
gelotifh blinde Schweizerhaß vermehrte bie Fehden und Streitigkeiten
nicht nur in's Unzählige, wodurch Kraft und Mittel zerfplittert wurden,
fordern war auch hiedurch und neben ber feubaliftifchen Kriegsmanier
meift die Urfache jener blutigen Niederlagen, welche auf Seiten Defterreich®
die Schweizerkriege fo traurig bezeichnen.
Denfeiben Undank dendteten auch die breisgauifhen Städte für
ihee treue Gefinnung und ihre vielen Opfer. Als Herzog Friedrich 1414
in die Reichsacht fiel, bewiefen mehrere eine wahrhaft ruͤhrende Anhäng-
tichkeit an ihre Fuͤrſtenhaus, indem fie, wie befonders Freiburg, bie
Huldigung unter das Meich möglichft verzogen und bereit waren, ben
geächteten Herzog mit Gut und Blut in Behauptung feiner Lande zu
unterftügen **). Auch ihre beforgte Thaͤtigleit und bereitroillige Leiſtun⸗
*) Vergl. oben Artikel Adel, Bd. I. &. 329.
**) 5. Ernft, Friedrichs Bruder, fagte felbft In einem Schreiben an
Freiburg: „Und da euer Vordern fich und ihr in lautrer und gerechter Sieb’
und Treu mit bereitem Willen euch gehorfamlid und dienftlich gegen unfre
VWordern und und alkeit mit Leib und Gut manigfaltiglich erzeigt habt, und
dei ihnen und uns männlich beftanden und verbiichen feld, fo bisten mad mah⸗
Breisgau. 11
gen an Geld, Munition und Mannſchaft während ber nachfolgenden
Kriege thaten diefe Anhänglichkeit genugfam kund. Und denmoch fcheute
ſich Erzherzog Siegmund nicht, diefe treueftbermährten Lande aus Geldnoth
und Politit als ein Pfandſtuͤck zuerft oͤffentlich an Burgund und alsdann '
heimlich an Balern hinzugeben. Jenes hatte freilid der vorländifche
Adel felbft am meiften betrieben in der füßen Hoffnung, Karl des Kuͤh⸗
nen gewaltige Fauſt werde endlich das. fchweizerifche Bauern » Bünbnif
niederfhmettern. Im Sommer 1469 wurden bie Grafſchaft Pfirdt, der
Schwarzwald mit ben 4 Waldſtaͤdten, bie Herrfchaften im Sundgau,
Elſaß und Breisgau an ben Herzog von Burgund unter der Beding⸗
nig verfegt, baß er für ben’ Erzherzog die den Eidgenofien feit dem
Waldshuter Frieden fhuldigen Entſchaͤdigungsgelder übernehme, ihm feir
nen Schutz gewähre und eine Summe von 80,000 Bulben vorftrede.
Hierauf huldigte das verpfändete Land ber neuen Herrſchaft und erhielt
zu feinem Verwalter den Landvogt Peter von Hagenbach, welcher von
bem Adel mit ungemeiner Freude empfangen wurde und nun zu Brelfach
feinen Sit auffchlug. 5.
Aber wie bald verwandelte ſich dieſe Freude in Beſorgniſſe, in Un⸗
muth und Haß! Der beleidigende Stolz ber. burgundiſchen Großen,
die übermüthige Härte des Landvogts und bie habfüchtige Inſolenz feis
ner Diener empörten nicht allein das Landvoik und die Bürger der
Städte, fondern felbft den Adel, wenn auch nicht durch ihre Verhoͤh⸗
nung alle beffern Rechts, aller Freiheit und Ehrbarkeit, doch endlich
durch ihre Eingriffe in feine Jagden! Pagenbach nammtlid war
ein Mann, der es gerne fühlen! ließ, daß er in diefen Landen der erfte
Beamte des mächtigen Herzond von Burgund ſei; der hei gereizter Leis
denfhaft oder im Verfolg feiner Intereſſen nicht ſchonte von Allem,
mas dem Menfchen fonft heilig ft, und jeden Tag mit einer Gewalt»
thätigkeit bezeichnete, oder buch Spott und Drohungen nod) bitterer
reiste *). '
Solche Mißhandlungen durch bie frembe Obwaltung vereinigte
endlich die früher vielfach getheilten Gemüther, und man lag jetzt dem
Erzherzoge von verfchiedenen Seiten aufs Dringendfte an, bie verpfändes
ten Lande wieder einzulöfen. Die daruͤber begonnenen Verhandlungen
wurden befchleumigt durch die perfönlihe Erfcheinung des Herzogs in den
Vorlanden und endlich, zur Reife gebracht durch die franzöfifche Politik,
welche ſchon laͤngſt, eiferfüchtig auf die wachſende Macht von Burgund,
dieſelbe jetzt zu ſtuͤrzen trachtete. Es war in den letzten Tagen des Jah⸗
res 1474, als Herzog Karl bie Pfandſchaft bereiſte. Die breisgauis
nen wir auch begierlich, daß ihr noch alſo bei dem Haus Defterreich, als bei
euern rechten und natürlichen Erbherren und Fürften, mit folcher Zreue wollet
feftiglich verbleiben.” Freib. Urt. Buch II. Band, 1. Abthig., N. DXXI.
ua O2 D58, Seſchihte von Bafel, IV. Band, © 241. ſeht fen gan-
12 Breisgau.
fchen und andere Städte erwarteten ihn mit ſolchen Beſorgniſſen, daß
ſie ihre Mauern vorſichtig verwahrten. Und dieſe Beſorgniſſe waren
keineswegs ungegruͤndet. Denn fein Kriegsvolk veruͤbte ſchon im Elſaß
empoͤrenden Unfug an den Menſchen wie am Vieh, und als er nach
Weihnachten von Breiſach wieder abzog, uͤberließ ſich auch die dortige
Beſatzung ungehemmt den wildeſten Ausſchweifungen *). Umſonſt wen⸗
deten ſich die Breiſacher durch eine Botſchaft an den Herzog; anſtatt
einer Abhuͤlfe erſchienen zur Verſtaͤrkung der Beſatzung weitere 400 Mann,
„um das ungehorſame Volk im Zaume gu halten‘. Hagenbach ſchal⸗
tete nun vollends nach ſeiner Willkuͤr, und die Staͤdte am Rhein
mußten Tag und Nacht auf ihrer Hut ſein, damit ſie nicht von ſei⸗
nen Schaaren uͤberrumpelt wuͤrden.
Unm ſo dringender betrieben fie daher jetzt auch das Geſchaͤft ber
Einloͤſung. Es geſchahen nach einander mehrere Verſammlungen und
im Sommer 1474 endlich eine allgemeine Tagſatzung zu Conſtanz. Hier
kam denn durch die Unterhändler des Königs von Frankreich zwiſchen
Deſterreich und der Eidgenoſſenſchaft (mas kurze Zeit zuvor noch unglaub⸗
lich gefchienen hätte) ein volllommener Friebe oder die fogenannte ew i⸗
ge Richtung zu Stande und ihre Vereinigung wider Burgund; fers
ner ein zehnjähriges Huͤlfsbuͤndniß (im Gegenfage des fchmeizertichen Eibs
genoffen » Bundes ber niedere Verein genannt) zwiſchen dem Erz⸗
berzoge und Straßburg, Baſel, Colmar und Schlettſtadt, und bie Herz
beifchaffung des Pfandfchillinge durch diefe Städte. |
Sofort erging die Auftündigung der Pfandfchaft an ben Herzog,
während der niedere Bund fi auf den Kriegsfuß flellte und Niemand
mehr der burgundifchen Obrigkeit gehorchen wollte. Karl, hierlber wie
außer ſich, drohte fuͤrchterlich und Hagenbach fuchte fich den Gehorfam
zu erzwingen. Er veränderte zu Breifah den Rath nah feinem
Intereſſe und ließ die Stadt befeftigen. Aber ſchon mar durch eine
Verfhmwörung der VBürgerfchaft fein Untergang befchloffen. Als’ er am
heiligen Dftertage das Volk nöthigen wollte, an dem Stadtgraben zu
arbeiten, ergriff und verhaftete man ihn. Hierauf Fam der Erzherzog
nah Baſel, ließ fih im Lande wieder huldigen und ordnete mit den
Erädten das Geriht an, welches zu Breiſach Uber das Schickſal bes
Landvogts entfcheidert follte. Es beftand daſſelbe unter dem Vorſitze bes
Schultheißen von Enfisheim aus je zwei Bürgern von Straßburg, Ba⸗
fel, Solothurn, Bern, Schiettftabt, Colmar, Krenzingen, Freiburg
und Neuenburg und achten von Breiſach, welche nad) einer langen Der:
handlung den Landvogt zum Tode verurtheilten, worauf er unverweilt
auch hingerichtet wurde **).
.*) Es waren meift Picarder, welche „vorgenommen, den armen Leuten
ihre Thüren und Thore der Häufer aufzubauen und aufzutreten, auch in die
Häufer geftiegen, ihnen das Shrige genommen, ihre Ehefrauen und Töchter
gef Awäct und viel Uebels begangen.” Gin Beitgenoffe, bei Ochs a. a. O
”) Vergl. Ochs a. a. O. S. 197—%7.
Breisgau. 13
Diefe Verurtheilung war alfo mehr eine Volksrache, als ein or
bentlicyee Prozeß, und Herzog Karl gerieth darüber, wie über die vers
tragswidrige Auffündigung und Einnahme ber Pfandfchafl, in die
äußerfte Entrüftung, wurde aber gluͤcklicherweiſe verhindert, bie dem
Lande gebrohte Rache ſogleich zu verfolgen. Und inzmwifchen betrieben der
Erzherzog und die Eidgenoffen ihre Rüftungen, dei niedere Verein ſtaͤrkte
ſich durch neue Mitglieder und im November eröffnete man mit der Bes
lagerung von Herkcourt den Krieg wider Burgund, deſſen trogige Macht
ducch die franzöfifhe Lift und die eidgenöffifche Zapferkeit bei Murten,
Sranfon und Nancy ein fo traurige® Ende nahm! |
Sogleih nah Entfernung dee burgundifhen Herrſchaft hatten bie
vier breisgauifhen Städte Freiburg, Neuenburg, Breifah und En⸗
dingen ein früher unter ihnen fchon beftandenes Buͤndniß wieder erneuert,
bamit fie „deſto friedliher, ruhiger und beffer bei ihrer Herrs
(haft von Oeſterreich beflehen umd verbleiben möchten”, und fi in 14
Artikeln zu gemeinfhaftlicher Berathung und Führung al’ ihrer äußern
Sachen in Krieg und Frieden verpflichtet *). Die Landfchaft Breisgau
aber überhaupt trat in der nämlichen Abſicht einer mehrern Befeftigung
der Sicherheit und Ordnung, mie aud) des ruhigen Verbleibens bet Ihe
rem angeflammten Fürftenhaufe, mit den vier Waldftädten, der Ortenau,
dem Eifaß und Sundgau in eine ähnliche Verbindung, welche den vors
deröfterreihifhen Kandftänden ihren Urfprung gab. Die Praͤ⸗
laten ber Kiöfter, der Adel, die Städte und Landſchaften naͤmlich vertis
nigten ſich zu einer feſten, georbneten landftändifhen Verfaſſung, und
veranlaßten den Erzherzog, die Landesverwaltung hiemit in Einklang zu
bringen. Siegmund errichtete fofort zur beffern Suftizpflege und Beſor⸗
gung der Eandesangelegenheiten in Enfisheim eine eigene, befländige Lane
desftelle, welche aus dem Landvogte oder deffen Statthalter und 6 Raͤ⸗
then beftand, wovon 3 aus dem Abel und 3 von der gelehrten Bank
waren. Im Breisgau fand diefe Verfaffüng auch eine fo gute Aufs
nahme, daß felbft unmittelbare Reichsglieder ihrer Unmittelbarkeit freie .
willig entfagten, und als oͤſterreichiſche Standesglieber den Ständen beis
traten. Da der dritte Stand, melden bie Städte und Landfchaften oder
Aemter bildeten, bei weiten der zahlreichfte mar, fo theilte er ihn in ver⸗
ſchiedene Bezirke oder fogenannte Landfahnen ab, und zum Breisgau
wurden jest die acht Bezirke Sreiburg, Villingen, Neuenburg, Burge
heim, Staufen, Waldkirch, Hauenftein und Frickthal gezählt, wodurch der
Begriff der breisgauifchen Landfchaft eine ziemliche Ausdehnung eve
biet. Freiburg murde die Leitung führende Hauptfladt des dritten
Standes und gewann feitbem wieder einigermaßen an Mohlftand und
Anfehen**).
*) Bundbrief, im Freiburger Urkundenbuch, IL Buh, . Abtheilg.,
N. DCCXXXIII.
*) Kreutter, Gefch. der vorderdftr. Staaten. J. Theil. Einleitung
©. XXVII. II, Zhl, 6.170, und Schreiber, Freiburg mit feinen Umges
bungen. ©. 25.
14 Breiögau.
Wenn wir nım auf bie Wirkſamkeit biefer Lanbftände einen Blick
werfen, fo können wir lange Zeit (wegen bes Einfluſſes einer dienft-
willigen Ariflokratie auf die Städte, welche wieder die Landfchaften bes
flimmten) leider kaum etwas Anbered wahrnehmen, als wiederholte Bes
willigungen von Hülfsgeldern, und nur durch bie herbiten Erfahrungen
fehen wir fie zu einigem Widerftande gegen die fürftiihe Willkuͤr und
zur Rettung bes Landes ſich erheben. Es tft in ber That bemunderungs-
würdig, welche Opfer fie dem Haufe Defterreich gebracht haben, ohne viel
Anzeres dafür einzuärnbten, als das Lob ihrer Treue, und hin und wies
der die gnädige Gegenwart bes Fürften! Nach jenen harten Leiftungen
im alten Schweizerfrieg, und nad) Verwilligung bed fogenannten Umgel:
bed auf mehrere Jahre, verlangte Erzherzog Siegmund baffelbe 1483
neuerdings, unter dem Verſprechen der Aufrechthaltung ber ftänbifchen
Rechte und Freiheiten. As aber einige Städte und namentlih Frei⸗
burg, Beforgniffe hegten über die fteten Geldforderungen, wie über die
Art und Weife derfeiben, als fie mit ihren Bunbesgenofien beriethen und
dem öfterreichifchen Landvogte Vorftelungen machten, nahm ber Erzher⸗
309 ſolches ſehr ungnaͤdig auf, ließ ihnen ihre Berathungen unterfagen
und brohte zur Eintreibung bes böfen Pfennings mit einer Erecution.
‚Der freiburgifhe Rath warb hierüber Außerft betroffen, wollte aber doc)
die fürftliche Ungnade nicht auf ſich laden, und uͤberſchickte dem Erzher⸗
zoge zur Abwendung berfelben eine getreue Schilderung von bem Zuftande
des ihm anvertrauten Gemeinweſens. „Als Euer fürftlihe Gnad', hieß
es darin, Hilfgeld von uns begehrt, haben wir in guter Meinung aus
nothdürftigen Urfachen um Bebenkzeit gebeten, bie Anmuthung aber nicht
abgefchlagen, fondern allein verzogen, weil unfere Zufage bei den andern
Städten manchmal Unmwillen erregte, und wie mit Zins, Guͤlten, Zöllen,
Meifen und täglihen Auslagen merklich befchwert find, bag Niemand
mehr zu uns ziehen will und wir Leut' und Gut verlieren. Uns mit
andern Städten zu unterreden, iſt von unfern’ gnädtgften Herren zu
Defterreich, feliger Gedaͤchtniß, nie abgefchlagen, fondern allweg vergönnt
und alfo gehalten worden, daß, wenn fie etwas begehret, was bie gemeine
Landfchaft berührte, fie diefelbe verfammelten und es vortrugen, wie Fuer
fürftlihe Gnad' ſolches früher auch ſelbſt beobachtet hat*). Nun find
wir in Erhebung des böfen Pfennings gleichwohl fleißig, und zudem in
Eur Gnab’ Gefhäften und Kriegen mit Leib und Gut willig gemefen;
finden auch, baß unfere Vordern großes Gut der gnaͤdigen Herrſchaft von
Defterreih zu Dienft wider deren alten Feind getreulich vorgefegt und
fi) und ihre Nachkommen in ſchwere Schulden vertieft haben. Wies
wohl wir nun unfere Binfen nicht bezahlen können, wiewohl wir den Abs
*%) 6) ſchrieb fpäter feloft unter Marimillan (1497) auch Graf Kon:
rad von Tübingen (ale Herr zu Lich te neck breisgauifcher Lanpftand) an den
freiburgifchen Rath zur fleißigen Unterretung mit den Übrigen Etänden. „Denn
mich will faft bedüinfen, fhricb er, daß man uns den Efel aufden Hals
wölle legen. Freib. Urkuntenduh N. DCCLXXXIL
Breisgau. 15
gung ber Stadt und Zerſtoͤrumg bürgerlicher Einigkeit beſorgen, fo wollen
wir bermody über unfer Vermögen mit unſern Bürgern, Kiöftern und
Bugehörigen auch thun, wie die Sehorfamen, in der Zuverfidht, Euer
Durchlaucht werde uns beffen in anderm Wege wieder 'ergögen‘‘ *).
Der Erzherzog aber, ſchon ziemlich bejahrt und überaus bequem,
dachte fich der drüdenden Laft, weiche ihm biefe Argerlichen Verhaͤltniſſe
bei feiner großen Schuldenmaſſe nerurfachten, durch eine abermalige Ver⸗
pfändung der Worlande, unb zwar biesmal an Baiern, auf einmal zu
entledigen. Schon waren bie Verträge darüber aufgefegt und die erzher⸗
zoglichen und baierifchen Unterhänbler ausgegangen, um das Gefchäft ins⸗
geheim vollends abzufchließen, als die Regierung zu Enfisheim von ber
Gefahr unterrichtet wurde unb fie dem Kaifer, als Aelteften bes Haufes
Deſterreich, verrieth, welcher fofort bie geeigneten Vorkehrungen traf,
bie Verpfänbung zu verhindern. Er ermahnte die Städte, Zumal Freie
burg, „als die Dauptflabt im Breisgau”, ſich vom Haufe Defterreich
nicht temmen zu laſſen, ſondern „dem Vornehmen ber baieriſchen Her⸗
ten” zu widerſtehen und zur Berathung über dieſe Angelegenheit mit dem
übrigen Städten einen Tag zu halten. &o wurde denn aud) das Land
aus der nächften Gefahr gerettet, und als Siegmund 1487 durch einen
allgemeinen Landtag ber vorderoͤſterreichiſchen Stände im Eintommen und
in der Verwaltung ſich für feine genußfüchtige Bequemlichkeit zu laͤſtig
beſchraͤnkt fah, bewog ihn ein zweiter Landtag um fo leichter zur Abtre⸗
tung des Regiments an den Erzherzog Darimilian, welcher bald ſernach
den deutſchen Kaiſerthron beftieg**).
Durch die aufgeklaͤrte gkeit dieſes für Vergrößerung und Be⸗
feſtigung ſeiner Hausmacht ſo unermuͤdlich beſorgten Fuͤrſten begann im
Breisgau, und namentlich zu Freiburg, eine Zeit neuen Emporbluͤhens.
Maximilian unterſtuͤtzte die Stadt in einer Anſtalt, welche fie zur alle
maͤligen Abloͤſung ihrer druͤckenden Schulden errichtet hatte, beſtellte aus
dem Rath und der Bürgerfchaft einen beſondern Ausſchuß zur Verwal⸗
tung des flädtifchen Vermögens, verlieh ihr einen dritten Jahrmarkt und
das Privilegium, goldene Münzen zu prägen, hob für Streitigkeiten über
Dinge unter dem Werthe von 20 Gulden bie Appellation vom Gtadis
rath an bie Regierung auf unb verorbnete, daß kein Bürger durch ein
Wappen ober einen Eaiferlichen Dienftbrief berechtigt. werde, ftädtifche
Aemter abzulehnen. Auch die Freiburgifhe Hochſchule gebieh durch
Maximilians wohlmollende Pflege zu einem bisher nie geweſenen Flor.
Steudig mehrte fi) die Buhl der Lehrer und Schüler, und aus jenen
wählte ſich der Kaifer felbft den Konrad Stürzel zum Kanzler, den Georg
Reiſch, Verfaffer der erſten Encyklopaͤdie aller Wiffenfchaften (deswegen
auch oraculum Germaniae genannt), zum Gemiffensrathe, und zum Ges
ſchichtſchreiber feines Haufes den Jakob Männel; neben diefen Männern
Freiburger Urkundenbuch, U. Band, 2. Abthlg. N. DCCKLIV.
°) Ereiburger Urkundenbuch, N. DCCXLVI bis DCCLIV.
16 j Breisgau.
aber glänzten noch ein Zofius, welcher 1520 das in bamaligem Geifte
nad) roͤmiſchen Rechtsgrundſaͤtzen umgearbeitete freiburger Stadtrecht neu ˖
berausgab, ein Wimpheling, Erasmus, Glarean, Mynſinger, Locher
(Philomosus suevus) und Dartung *). |
Allzu kurz jedoch mwährte diefe hoffnungsreiche Zeit. Die Nachwe⸗
ben der Opfer im neuen Schweizerkrieg, die Verwirrung des Bauern⸗
aufruhrs 1525, die Leiftungen im ſchmalkaldiſchen, franzöfifchen und Tuͤr⸗
kenktiege ftürzten das Land in die alte Noth zurüd. Denn nur von
1528 an bis 1568 bemilligten die Stände, obne die Mannfchaft und
das gewöhnliche Umgeld, als außerordentliche Steuer, gegen 800,000
Gulden, fo daß es wirklich ſcheint, das Vermögen des Landes fei, wie
ber ſanktblaſiſche Gefchichtfchreiber von MWorderöfterreih naiv ſich ause
brüdt, unerfhöpflih, und bee Dienfleifee grenzenlos getvefen.
Aber es herrſchte allenthalben Armuth, und namentlid, ſchmachtete das
Zandvoll unter dem Drude oft des tiefften Elendes. Und gleichwohl’
wurden die Breis ga uer nicht wankend in ihrer „eifrigen Treu‘ und
in ihrem „unterthänigen Gehorſam“ gegen das „gnaͤdige Erzhaus“, wie
fie denn folches nicht allein durch die fortgefeßgten Leiftungen, fondern
auch durch die ſtandhafte Bewahrung bee roͤmiſch⸗katholiſchen Glaubens⸗
form bewiefen. In keine breisgauifche Stadt, außer Kenzingen, konnte
bie Reformation Eingang finden. Zu Freiburg hatte der Stabdtrath
zur Vorſicht alle verdächtigen Bücher, welche ſich unter die Bürgerfchaft
eingefchlichen, requiricen und auf dem Münfterplage oͤffentlich verbrennen
laſſen; und ber einzige Dann, welcher 1568 noch einige proteftantifche
Gefinnungen verrieth, der redliche Syndicus Schnepf, mußte die Stadt
verlaffen, worauf der Erzherzog Ferdinand ausdruͤcklich befahl, deffen hin⸗
terlaffene Bücher und Schriften forgfältig auf die Seite zu räumen**),
Und um endlich den fo gluͤcklich bewahrten Glauben auch für bie
Zukunft zu befeftigen, ſchickte Erzherzog Leopoid 1620 die Sefuiten.
Umſonſt hatten die Väter der Hochfchule lange gegen beren Aufnahme
getämpft; ein Machtſpruch nöthigte fie dazu. „Der Eintritt dieſes Or⸗
dens verfcheuchte ben fhügenden Genius der hoben Schule; ihr Ruhm
. fant, das Intereſſe ihrer Glieder warb getheilt, und ihre Erhaltung ims
mer mehr gefährdet. Die alten Univerfitätsglieber waren zwar noch von
Liebe für ihre alma mater befeelt ; fie betrachteten menſchliche Kenntniffe
als ein Gemeingut der Menfchheit, wurden, aber verkegert und buch
Gabalen unterdrüdt. Die Sefuiten trieben mit ihren [parfamen Kennts
niffen ein Monopol, ſorgten nur für fid) und ihr werdendes Collegium,
und fuchten das, was fie nicht offen mit Gewalt durchzufegen vermoch⸗
ten, durch Lift zu erfchleihen. Mur einzelne Männer konnten fi) noch
auszeichnen, im Ganzen war bie Univerfität im Verfall. Fruchtlos hats
t
*) Schreiber, Kalfer Marfmilian auf ben Reichsſstage zu Freiburg, 1498.
unter den Feſtreden zur Säcularfeler der Geburt des Großh. Kari Sries
drich von Baden. Freiburg, bei Groos. 1828.
. **) Vergl. Sefchichte von Worderöfterreih. IL Thl. ©. 222.
Breiögau 17
ten bie Jefuiten einen ihrer getehrteften Männer, ben Entdecker ber Son⸗
nenfleden, Scheiner, hieher geſchickt, fruchtlos wohnte ber (Erzherzog im
Jahre 1625 felbſt mehrern Vorleſungen bei; bie innere Ruhe war dahin,
der Ruhm, der Wohlſtand der Akademie verfielen, und dieſer Verfall
wurde durch aͤußere Drangſale noch mehr befchleunigt.”*) .
Mas der Breisgau, was namentli Sreiburg. und Breiſach
durch harte Belagerungen im SOjährigen Kriege litten, welche Wunden
der folgende feanzöfifche, und nad Lurzer Erholungspit ber : fpanifche
wie der öfterreichifche Erbfolgelrieg in den Rheingegenden zuruͤckließen,
da biefelben vorzuglih der Schauplatz des Waffengetuͤmmeis und der
Verheerung waren, uͤber dieſe trqurigen Ereigniſſe wollen wir hinwegeilen
und uns an dem freudigen Bilde weiden, wie nach dem aachener Frie⸗
den durch den- Reichthum des. breisgauiſchen ‚Bodens, durch die Kuͤhrig⸗
keit feiner Bewohner, und zumal durch bie alle guten Talente und Kräfte
hervorrufende und hebende Regierung Kaifer Joſephs II. ein neuer Hlüs
hender Wohlftand, ein neues, auch geiftig reiches Leben ſich entfaltete.
Noch mit fehnfüchtiger Erinnerung Spricht das Volk von .jener „guten
alten Zeit”, wo durch alle Glaffen eine gewiffe Woblhabenheit und ats
Kolge derfelben eine muntere Lebensluft ſich verbreitet. hatte... Fuͤr Frei⸗
burg aber ganz beſonders iſt bie. Joſephiniſche Beit sine Glanzperiode;
feine Hochſchule gruͤndete damals den Ruhm, welchen ſie ſeither behaup⸗
tet hat, als eine der erſten unter den katholiſchen Univerſitaͤten zu ſtehen,
von wo aus fuͤr die heilige Sache der Wahrheit, des Rechts und der Auf⸗
Aaͤrung mit ebenſo gluͤcklichem Erfolge als redlichem Eifer gearbeitet
wurde. Anerkannt ſind die Verdienſte eines Riegger, Sauter, Kıhıpfel,
Manker, Hug, Schwarzel und eines Ruef, der duch feinen Freimuͤ⸗
Uhigen, im Genuffe der von Joſeph ertheilten Preffreiheit, in den
Angelegenheiten ber Kirche und ber Lehranſtalten eine gluͤcliche Reform
begann **). ..
Die Folgen der franzöfifchen Revolution hemmten aber bald dieſe
wohlthaͤtigen friedlichen Entwidelungen, und der Breisgau mit feiner
Hauptftadt erfuhr neuerdings alle Unbilden einer verwircenden und er:
fchöpfenden Kriegszeit. Neuerdings erwies. das breisgauifhe Volt
auch aufs Glaͤnzendſte wieder feine alteverbte Anhänglichkeit an das Haus
Deſterreich; hatte aber das Schidfal, auf mehrere Jahre an ben Herzog
von Modena und enblid 1805 bleibend an Kari Friedrich überzu:
gehen, den wuͤrdigſten Enkel ber Gründer Freiburgs.
Mie fhmerzlih den Breisgauern, und befonders unter ihnen
den Bewohnern von Freiburg, dee Verluft ihrer alten Herrſchaft auch
fallen mochte, fo mußten fie body bald nad) ihrem Webergange an Bas
den eingeftehen, wie fehr fie in gar mancher Beziehung gewonnen haben.
2) Schreiber, Freiburg mit feinen Umgebungen. S. 246. '
”") Vergl. Ammann, von den Beſtrebungen an der Hochfch. Freiburg
im Kirchenrecht. II. Beitrag. Zur Srinnerung an Profeſſor Caspar Ruef.
Zreiburg, Heidelberg und Karlsruhe, bei Groos. 1836.
Staats = Eerikon. II. 2
18 | Breisgau. : Bremen.
Namentlich; erfreute ſich urg einer ſchnellen Wiederaufnahme, indem
Alle oben Behörbert des Treiſamkreiſes bahin verlegt, die Hochſchule neu
bekräftigt und nucch: detn Taut ausgeſprochenen Wunſche der Stände reiche
lich dotirt, auch eine proteltantifche Gemeinde gegründet, und endlich felbft
der_bifchöflihe Sitz von Conſtanz bahin Übertragen wurde. Die Stadt
hergrößerte ſich und gewann ungemein an Leben und Betriebſamkeit und
ein reger, "Aufgekiäitör -Geift entwickelte ſich unter der Einwohnerſchaft,
der fi in neuefler Zeit unzweideutig geoffenbaret hat. Freilich erfuhe
ſolches eine ſehr verſchiedene Schaͤtzung und hatte Folgen, welche den bes
gonnenen Flor keineswegs begunftigen. Doch wird eine fpätere Zeit ben
Mebel zerſtreuen und das Vergangene im wahren Lichte erfhehen (offen.
de '
ader.
Bremen. Fäuͤr Deutſchlands politiſche Groͤße iſt das Sinken
der Hanſe verderblicher geweſen, als der Verfall ſeines roͤmiſchen Kaiſer⸗
thums. Wie ganz anders wuͤrde ſeine Stellung in unſern Tagen ſein,
wo Geld, Schifffahrt und Handel die feſteſten Stügen politiſcher Macht
find, wenn die Bluͤthe der Danfe ſich bis im die. Zeit der Entdeckungen,
der Dampffchifffahrt und der Boͤrſenhertſchaft erſtreckt -hätte.. Ebenſo if
vieleicht durch nichts fo viel. innetes Gluͤck zu Grunde gegangen, als
durch die Untetiochung dee Reichsſtaͤdte. Sie waren fo unſchaͤdlich, fie
hatten durch nichts ihre Freiheit vermirkt, fie hätten fo gut zur Grund⸗
lage einer beffern Ordnung dee Dinge dienen können, mo jedes einzelne
Element der Staatenwelt, das nur frgend eines felöftftändigen Lebens
fähig waͤre, ſich Beffen erfreute, und der Staat auf feine urfprüngliche
Beitimmung, einet großen Schug« und Mecursbehörbe, zurlidfäme. Im
ber That wird man manchmal an unfern Staateibeen irre, wenn
man ſich feagt, was eigentlich gewiſſe größere Städte und die meiften
Landgemeinden von ihrer innigen Verbindung mit dem: Staate haben,
das die großen Opfer, die fie ihr bringen muͤſſen, nur im Entfernteften
aufmwiegen koͤnnte. Und doch ift für Städte und Staaten mit dem
Verluſte dei Unabhängigkeit, die nur etwas Ideales fcheint, fo viel Reelles
verloren. Doc, feit Militaire und Finanzkraft ein Monopol ber Fuͤrſten
geworden waren, beruhte die Sicherheit der Meichsftädte nur noch auf
dem alten Rechtsſtande und wo dieſer gebrochen war, wurden fie wider⸗
ſtandslos zu Landſtaͤdten. Nur einige fpärliche Reſte leben noch davon;
vielleicht nur erhalten, well fie eines dem Andern gönnte; aber auch jegt
noch durch ihre innere Bebeutung den Werth der Selbſtſtaͤndigkeit bes
weifend. Darunter Bremen, die Beherrſcherin des Weſerhandels.
Bremen war ſchon frühzeitig ein bedeutender Plag im Tächfifchen
Gaue Wigmode und bereit® 780 Teste Karl dee Große daſelbſt einen
Driefter ein, dem er bald darauf bifchöflihe Würde verlich. Die Sach⸗
fen um Bremen widerſtrebten dem Kaiſer am harmädigften, nur der
Krummftab zügelte fie allmaͤlig. Im Jahre 858 ward das hamburgifche
Erzbiſsthum mit dem Bisthum Bremen vereinigt und da Erzbiſchof
Anfchar feinen Sig an legtern Drt verlegte, fo hört man von ba an nur
von einem Erzbischum Bremen, deffen Wirkungstreis ſich anfangs über
Bremen. 19
den ganzen Norden erſtreckte und das zur Verbreitung des Chriftenthums
in bem nördlichen Deutfchland und in Scandingvien bad Meifte beige
tragen bat, das aber ſpaͤter durch feine eigenen Erfolge, perkürzt ward.
Mit dem toeiter verbreiteten und tiefer befeftigten Chriſtenthume entſtan⸗
den neue Bisthümer und Erzbischlimer, die den Sprengel ihrer Mutter⸗
fiche verengten. Se ferner diefe geiftlihen Sitze dom Mittelpuntte des
Reichst lagen und je ſchwieriger ihre Aufyabe unter, den heibnifchen oder-
neubekehrten Wölkerfchaften und unter den ungezuͤgelten Nachbarn mar,
deſto eifriger und erfolgreicher mußten fie nad) Vereinigung mweltlicher
Macht mit ber geiftlihen trachten. Es ift bekannt, wie zu ben Zeiten
Kaifer Heintichs IV. der geiftvolle Erzbifchof Adalbert von Bremen bie
Schwaͤchung des Herzogthums Sachſen zur Aufgabe feines Lebens machte;
ein Streben, das in der Zukunft gelang, aber nicht. feinem Bisthum zung
Beten gereichte. Ex erlebte nur das Gegentheil von dem, was er wollte
As er die Gunft des Kaifers verloren, erneuerten die ſaͤchſiſchen Derzöge
ihre Angriffe auf das Erzbisthum und verringerten fein Landgebiet um
zwei Drittheile, die Adalbert feinen Feinden zu Lehn geben ‚mußte. Noch
zu feiner Zeit lebte Adam von Bremen, ber uns in einer Kirchenges
fhichte von Bremen und Hamburg eine wichtige Quelle ber deutſchen
Geſchichtskunde hinterlaffen hat. An den fächfifhen Herzoͤgen raͤchte ſich
das Biethum Bremen, indem es an ber allgemeinen Beraubung Deins
richs des Löwen gleichfalls feinen Antheil nahm. Später trat jeboch dee
Erzbifhof auf die Seite des Gegners, durch deſſen Hülfe er die
Dithmarſen zu bezwingen hoffte. Auf diefe erwarb das. Erzbischum noch
befondere Anfprüche, als es von feinem Erzbifhof Hartwig (1143) die
Graffhaft Stade gefchenkt befam. Die freien Völkerfchaften der Um⸗
gegend zu bezwingen, warb bald ein Hauptſtrehen diefer geiftlichen Herr⸗
ſcher. So fprady der Erzbifhof von Bremen den Bann gegen die
Stedinger aus und ließ 1230 zu Bremen dad Kreuz gegen fie predigen.
Die Diehmarfen, die eine Zeit lang in daͤniſchen Dänden gewefen, ers
tannten, nah Herſtellung ihrer Volksfreiheit, den Erzbifhof von Bre⸗
men als geifttihe, nicht aber als weltliche Obrigkeit an. ie zahlten
jedem neuen Erzbiſchof 500 Marl. 1232 ward der Streit zwiſchen
Bremen und Hamburg über den eigentlichen Sig des Erzbisthums, der
factifh fchon Längft zu Bremens Gunſten entfhiedben war, durch Ver⸗
gleich geſchlichtet. Mit der Stadt Bremen, bie fchon von Kaifer Heins
rich V. 1111 die Reichsfreiheit erhalten zu haben behauptete, hatten die
Erzbiſchoͤfe fortwährende Händel, die 1289 durch Verttag mit dem Erz⸗
bifhof Giſelbert dahin verglihen wurden, daß in allen ‚weltlichen Anges
Iegenheiten der Rath allein Macht haben, das geiftlihe Regiment aber
dem Erzbiſchof verbleiben ſolle. Die Bedeutung der Stadt wuchs, als
fie, mit Hamburg und Luͤbeck den Handel ber untergegangenen oder in
Verfall gefommenen Stavenftädte Zulin und Bardewyk an fich ziehend,
eines der erſten Mitglieder der Hanfe geworden war. In diefer Eigens
(haft nahm fie an dem Krieg gegen König Waldemar von Dänemark
Theil. Doch haben die Bremer immer etwas Abgefchloffenee behauptet und
2*
20 Bremen.
nicht, wie Luͤbeck, im Vorkampf Für allgemeine Intereſſen geſtanden.
Nur ſelten, aber doch zuweilen, ſind in Bremen Tagſatzungen der Hanſe
gehalten worden. Der Biſchoͤfe ward Bremen durch die Reformation
entledigt und in der Belagerung, die ihm die Vertreibung des Erzbi⸗
ſchofs nach der Schlacht von Muͤhlberg zuzog, ward es durch Graf
Mannsfeld und die Hamburger entſetzt. Das Herzogthum Bremen, auf
welches namentlicy die landesherrlichen Rechte und Anſpruͤche der Erzbi⸗
ſchoͤfe übergegangen waren, das aber menigftens über die Stadt eine
factifche Autorität behaupten. konnte, hatte keine eigenthümlicdye Dpnaftie,
fondern fiel in dee Regel dem in der Umgegend mädhtigften Landesherrn
zu. Doch mar eine zweimalige Belagerung ber Stadt durch bie Schwes
ben, in den Jahren 1654 und 1656, die Folge dieſes Verhaͤltniſſes.
Ebenſo, daß der Dom bis zum Frieden von Amiens unter berzoglicyer,
fpäser kurhannoͤveriſcher Botmaͤßigkeit fland; ſowie auch bis dahin Kurs
bannover einen Stadtvogt feste. Sonſt hatte Kurhannover 1731 aus
druͤcklich die Meichöfreibeit der Stadt anerkannt. 1810 wurbe Bremen
durd) das Reunionsdecret franzöfifhe Provinztalftadt und. Hauptort des
Departements der Wefermündungen. 1813 erhielt es feine Selbſtſtaͤn⸗
digkeit, ſoweit eine folche bei der Werfaffung des beutfchen Bundes bes
ſteht, zuruͤck.
Bremen beherrſcht ein Gebiet von etwas über 5 Quadratmeilen,
mit etwa 60,000 Einwohnern, wovon: drei Viertheile in der Stadt woh⸗
nen. Es enthaͤlt, außer der Stadt Bremen, zwei Marktflecken: Vegeſack
(2000 Einwohner) mit einem Werferhafen, und: Bremerhaven, am Aus⸗
fluß ber Geeſte in die Mefer, ſowie 58 Dörfer In 12 Kirchfpielen. Es
grenzt auf dem rechten Weferufer an Hannover, auf dem linken an
Hannover und Oldenburg. Die Wefer, die 15 Meilen von Bremen in
die See mündet, theilt das Gebiet in bie beiden Landherrfchaften. Auf
ihrem vechten Ufer fließen die Werpe und die Wumme, nad ihrer Vers
einigung mit dee Damme Lefum genannt; auf dem linken die Dchum.
Die Erträgniffe des übrigens fruchtbaren und gutbebaueten Bodens
kommen gegen die bes Handels nicht in Betracht. Bremen ift ein wich⸗
tiger Spebditionsplag für den ausmärtigen Handel aller Weferprovinzen,
namentlich für den Vertrieb der Leinewand und Garne nah Amerika
und die Einfuhr von Tabak, Zuder und Kaffee von dort. Es hat weit
über 100 Seefchiffe. In Bremen befteht viel gediegener Wohlftand, der
in der Stille manch einträgliches, wenngleich nicht eben gemagte® Ge:
fchäft macht. Es iſt fchon etwas Holländifches in biefemm Weſen. Den
freien Weltbürgerfinn des Hamburgers darf man in Bremen nicht ſu⸗
chen; vielmehr ift dort wohl noch manche altreichsſtaͤdtiſche Beſchraͤnktheit
und vieler Geldflolz, wie er aus dem Slauben an unerfchlitterlichen Wohl⸗
ftand entfpringt. — Die Religtonsbelenntniffe ftehen, was die bürgerli-
chen Rechte anlangt, in völliner Gleichheit. In ber Stadt bilden bie
Zutheraner, im Gebiete die Reformirten die Mehrzahl. Außerdem hat
Bremen etwa 1500 Katholiten und einige anfäffige Judenfamilien. —
Die Regierung wird. duch Senat und Bürgerconvent gehandhabt. .Der
Bremen. 21
Senat befteht aus 4 Buͤrgermeiſtern, die im Vorſitz halbjährlich wechfeln,
2 Syndicen und 24 Eenatoren, worunter 16 Gelehrte und 8 Nichts
geiehrte. Gewählt wirb er, nach dem Wahlgefet von 1816, duch ſich
fetbft nach dem Vorſchlage der durch's Loos beftimmten 8 Wahlherren,
von denen wieder 4 Senatoren find und die dem Genate drei Candi⸗
daten bezeichnen. Die Stellen find lebenslaͤnglich. Die Wertheilung ber
einzelnen Stellen im Senate an die Senatoren liegt ganz in den Haͤn⸗
den des Senats. Der Bürgerconvent umfaßt die Steuerpflichtigen der
wichtigften Abgabenzweige. Die Geſetzgebung iſt zwilchen beiden Ge⸗
walten getheilt; der Rath bat die Initiative, aber ohne beiderfeitige
Uebereinflimmung wird nichts zum Gefege. Zur Erhaltung bes ver
foffungemäßigen Ganges ber Verwaltung trägt es mefentlic bei, daß
auch an ben einzelnen Verwaltungsgefchäften bürgerliche Deputiste Ans
'theil nehmen. Daß dies namentlich bei dem Handels⸗ und Schifffahrts⸗
weſen der Fall ift, kann diefen Zweigen nur vortheilhaft, daß es bei
Fuftiz und Polizei weniger vorlommt, dieſen nur nachtheilig fein. —
Zür die Juſtiz beſteht das beliebte Dreiinſtanzenweſen, das jeboch nicht
vollkommen durch firenggefonderte Behörden realifirt if. Im erfier
Inſtanz handeln ein Obergericht, ein Untergeriht — beren beiderfeitige
Competenz fi) nad dem Objectöwerthe regelt — und ein Griminalgericht,
in den beiden Flecken die Amtmänner ; in Zunftflreitigleiten die zu Mor⸗
genfprachsherren ernannten Senatoren. Breite Inſtanz if das Ober
gericht; dritte theils baffelbe, theils das Oberappellationsgericht zu Luͤbeck —
Die Staatseinnahme, die mit der Ausgabe im Gleichgewicht fieht, bes
Läuft fih im Durchſchnitt auf 500,000 Thlr. und fließt durch drei Er⸗
bebungsbehörben in die Generalcaffe. Die Staatsſchuld beträgt 34 Mit.
Thlr. — Den Vorſtand des Handelsftandes bilden die Aelterleute.. —
Bremen ftellt 485 Mann Militaie zur zweiten Diviſion des zehnten Ar:
meecorp& bed deutfchen Bundes. Dafür befteht eine Militairdeputation.
Außerdem Hat es eine Bürgermehr von ungefähr 2800 Mann, deren
Züchtigleit dadurch gefördert wird, daß die Dienftpflicht fi vom 20.
nur bis zum 35. Jahre erfiredt. Auch unter biefen Altersdaffen find
die Männer vom 20. — 25. Sabre ausgefchieden und bilden ein befon-
detes Corps leichter Infanterie, das. auf Koften des Staats uniformirt
wird. Staatsbeamte, Geifttiche, Lehrer, Aerzte find dienſtfrei. Die Leis
tung ber Bürgermehrangelegenheiten beforgt bie Bewaffnungsdeputation. —
Das Wappen von Bremen ift ein filberner, ſchraͤg rechtsliegender Schlüffel
mit aufwärts und links geehrter Schließplatte in Roth. Die Flagge
ift weiß und roth. Bremen theilt ſich mit den andern. brei freien Staͤd⸗
ten bes Bundes in die 17. Stelle des engem Raths des Bundestags
und hat im Pienum feine eigene Stimme. Zur Bunbescaffe beträgt
fein regelmäßiger Beitrag 500 Fl. — Zu den Merkwuͤrdigkeiten Bre⸗
mens gehört der Dom und fein Bleikeller mit den Alteften unvermweften
Leihen, fowie der Rathskeller mit ben aͤlteſten ſtets veredeiten Weinen
Deutſchlands. Buͤlau.
Breve, ſ. Curie.
22 Breviẽer.
Brevier, Bioviariam.' So nennt man das Andachtsbuch,
aus welchem' fuͤr jeden katholiſchen Geiſtlichen, der ein Beneficium oder
doch eine der hoͤhern Weihen hat (alſo wenigſtens die Weihe zum Sub⸗
diaconus) In ber Regel auch für jeden Moͤnch, jede Nonne und Stifts⸗
dame auf ſieben beſtimmte Zeiten jedes Tages (horae canonicae) ein
beſtimmter Abſchnitt geſetzliche Aufgabe iſt. Weiſe Kirchenbehoͤrden er⸗
kannten, daß der Inhalt und die Art des Gebrauchs eines ſolchen Wer⸗
kes ihre ganze Sorge — weiſe Staartsbehoͤrden, daß dieſer Gegenſtand
ihre Aufſicht in Anſpruch nehme.
Nach der aͤchten Verfaſſung der katholiſchen Kirche ſteht die Be⸗
fugniß, Alles, was menſchlichem Ermeſſen beim Gottesdienſt anheimge⸗
ſtellt erſcheint, zu ordnen, für jede Dioͤceſe gemeinſchaftlich dem Biſchof
und feiner Synode zu. Zwar ließen wohl die meiſten Dioͤceſen ſich be⸗
wegen, Roms Brevier anzunehmen, aber mehrere haben hierin ſtand⸗
baft ihre Selpftftändigkeit behauptet und ihr eigenes Brevier beibehalten,
namentlih jene von Paris (1581) und jene von Angers (1603),
worüber van Efpen ausführlich berichtet *). Den erften Entwurf des
jesigen römifchen Breviers fegt man unter Innocentius III. Unter
mehreren Päpften, zulege unter Urban VIII. (1631), hatten angebliche
DVerbefferungen flatt. Die Rebaction wird Franziskanermoͤnchen zuge⸗
fchrieben. Das Wert bildet eine Sammlung von Gebetformeln, geift
lihen Gefängen und Auszügen aus ber Bibel, den Kirchenvaͤtern und
aus Legenden; einen flarten Band für jede der vier Jahreszeiten. Eis’
ner ber gelehrteften Sorfcher**) vermuthet, der nicht fehr paſſende Titel
Brevier, db. 1. kurzer Auszug, möchte, wie dies auch fonft vorkam, urs
ſpruͤnglich einem etwa vorausgefchichten bloßen AInhaltsverzeichniffe der fuͤr
jeben Tag vorgefchriebenen Stuͤcke angehört haben, und irrthuͤmlich fpäs
auf das ganze Merk bezogen fein. Andere VBermuthungen find we⸗
niger begründet.
Mer einen Begriff von ber in Deutfchlanb verbreiteten Bildung
bat und weiß, mie dadurch befonbers ein großer Theil unferer chriftlis
hen Geifttichkett fi) auszeichnet, vorzüglich in religiöfer und kirchlicher
Hinfiht, der wird den Inhalt des Andachtébuchs fehr auffallend finden,
welches mar in einer der chriftlichen: Kirchen diefem Stande nody in
unfern Tagen aufsmingen will. So weiß man: ein Unbelannter im
8. oder 9. Jahrhundert ftrebte, für die angemaßte Herrfchaft des Pas
triachen von Rom über alle übrigen Patriarchen und Biſchoͤfe und für
die Unabhängigkeit der Geifttichen vom Staate die fehlenden Beweiſe das
durch zu ſchaffen, daß er von jedem der ſechs und dreißig erften Biſchoͤfe
zu Rom, feit Clemens I. — welchen er als unmittelbaren Nachfolger
des Apoftele Petrus betrachtet — bi in's Jahr 383, eine Decretale
(d. i. ein Scjreiben, welches Verordnungen in Kirchenſachen enthält) ober
*) Jus eccles. universum, P. I. T. XVI. c. 12. $. 27. et in Append.
iu. F. G.
**) Quesnellus ap. Du Fresne, Glossar. I. 719.
Brevier. 23
mehrere erdichtete. Mach dem Inhalte dieſer erdichteten Urkunden waͤ⸗
een von ben Apoſteln herab während der erſten vier Jahrhunderte jene
—— Roms und der Geiſtlichkeit wirklich Beſtandtheile der Ver⸗
faſſung der Kirche geweſen, die doch damals in der That noch nicht
vorkamen. Derſelbe Unbekannte ober ein anderer verfaͤlſchte im 9. Jahr⸗
hundert buch Einſchaltung jener Erdichtungen, auch andere Verfaͤlſchun⸗
gen in gleichem Geiſte, eine damals in vielen Gegenden gebrauchte und
in großem Anſehen ſtehende Sammlung der Kirchengeſetze, die den Nas
men des heiligen Iſid orus trägt, obgleich wir nicht mehr wiſſen, wel⸗
chen Antheil diefer Letztere an ihr hatte. Der Betrliger wird daher jegt
der falſche Iſidorus (Pfeudo:Ifidorus) genannt. Alle ſpaͤtern Samm⸗
lungen der Kirchengeſetze, auch die neueſte, das Corpus juris canonici,
entiehuten das Weſentliche diefer Maffe von Verfaͤlſchungen, ohne ben
Betrug zu entdeden. „Aber heutzutage — fagt Eichhorn *) — bedarf die
„Unächtheit der Pfeudo:Iftdorifchen Decretaten keines Beweiſes mehr, da
„fit aligemein, auch von den. abfoluten Gurialiften, eingeftanden ift.
„So 3. B. von Walter, Kirchene. 4. Ausg, ©. 135 u. f., wies
woohl er. nach feiner Art den Vetrug als etwas hoͤchſt Unſchuldiges, als
„Bemuͤhung, „„aus den zerſtreuten Huͤlfsmitteln die verloren gegangenen
„„Materialien ber kirchlichen Geſchichte und Geſetzgebung moͤglichſt her⸗
„„Zuſtellen, und dadurch die herrſchende Disciplin zu belegen, WE darſtellt.“
So weit Eichhorn. Walter**) geſteht: „Schon im 14. und 15.
„Jahrhundert wurde bie Unaͤchtheit ſehr beſtimmt behauptet. — Aus⸗
„fuͤhrlichen Beweis führten von Seiten der Proteſtanten bie magde⸗
„burger Genturiatoren (1564), waͤhrend katholiſcher Seite faſt gleichzeitig
„Le Conte (Contius) in ſeiner Ausgabe des Corpus juris canonici
„und Ant. Auguftinus Beiträge bazu lieferten. — Gelbſt die Car
„dinaͤle Baronius und Bellarmin erklärten fih dagegen” Nun
find aber die meiften ***) jener ſechs und breißig aͤlteſten römifchen Bis
fhöfe als Heilige an beflimmten Tagen nad) Anleitung des Breviers
mittelft eigener Andachtsübungen zu verehrten, zu melden unter Andern
das Lefen kurzer Lebensbeſchreibungen gehört, deren Inhalt — wer follte
es glauben? — großentheild noch immer kurze Aufzählung jener erdichte⸗
ten Verordnungen ift.
Noch andere längft em ae ähnliche Erbihtungen weiſt van Es—⸗
pen +) als in's Brevier aufgenommen nad. Wie wenig auch im Uebel
gen die darin als Lefeftüde befindlichen Lebensbefchreibungen ber Tages⸗
heiligen den Forderungen des deuiſchen Gelehrten am geſchichtliche Kritik
entſprechen, mag man ſchon nach folgenden Stellen ermeſſen. 21. Maͤrz.
2) Gruntfäge des girchenrechts (Goͤttingen 1831) Bb. 1 S. 167.
”) A. a. O. 6. 14 f.
***) Zünf derfelden fehlen wenigftend im Snhaltöverzeichniffe.
+) Diss, de horis canonicis, P. 1. C.4 4. _
24 Brevier.
Als dem heil. Benebiet Mönche, deren freie Leben er tadelte, Gift
in einem Becher reiten, machte er mit ber Hand das Kreuz über
diefen, ber ſogleich zerbradh. Ihm war die Gabe der Prophezeiung
verliehen und er fagte auch feinen Todestag um einige Monate voraus,
Zwei Mönche fahen, wie feine Seele, in einen koſtbaren Mantel gehüllt,
von glänzenden Lampen umgeben, gen Himmel fuhr, während ihnen
eine firahlende würbige Mannsgeftalt bei der Leiche erfchien und austief:
- Bier ift dee Weg, auf welchem Benedictus, ber Geliebte des Her,
zum Himmel flieg. — 8. Mär. Als der heil. Johannes be Deo,
ein Portugiefe, geboren wurde, erblidte man auf feinem Haufe unges
woͤhnlichen Glan, und die Soden tönten von ſelbſt. — 9. Maͤrz.
Die heil. Sranzisca wurde mehrmals beregnet, ohne naß zu roerden.
Wenige Städe Brod, welche kaum für drei Nonnen bingereicht hätten,
fegnete der Herr auf ihr Gebet, daß ihrer funfzehn gefättige wurden
und ein großer Korb voll übrigblieb. — 2. April. Unter den Wun⸗
dern bes heil. Franz de Paula tft vorzliglich berühmt, dag auf feis
nem Mantel, wie auf einem Schiffe, er und ein Freund Über die Meer⸗
enge von Gicilien fegten. — 7. Mai. Als der heil. Stanislaus,
Bifhof von Krakau, ein Dorf, welches er für bie Kirche gekauft hatte,
herausgeben folte, weil er die Kaufsurkunde nicht vorlegen konnte, faftete
und betete er drei Tage und hieß am dritten Tage, nachdem er eine
Meſſe gelefen, den vorigen Eigenthümer aus dem Grabe auferftehen.
Der Auferftandene legte vor dem Könige und deffen Umgebung fein
Zeugniß ab und entfchlief dann zum zmeiten Dial im Herrn. — 26. Mai.
Das Herz des heil. Philippus Nerius entbrannte fo von Liebe zu
Sott, dag Gott feine Bruft dur) den Bruch von zwei Rippen wunder
bar erweiterte. Bisweilen wurde er beim Gottesdienft in die Luft gehos
ben und allenthalben von Übernatürlihem Glanz umgeben. Ein Engel
begehrte bei ihm Almofen. Als er bei Nacht den Armen Brod bradıte
und in einen Abgrund fiel, bob Ihn ein Engel unbeſchaͤdigt empor.
Mehrmals erfchien er Abweſenden und brachte ihnen Hülfe; auch erweckte
er einen Zobten. Defters erfchien ihm Maria. Mehrere Seelen fah er mit
Glanz umftrapit gen Himmel fahren; fagte auch bie Stunde feines Todes
und andere zukünftige Dinge voraus. — 27. Mai. Dem heit. Papft
Johannes TI. auf feiner Reife nach Conftantinopel wurde: ein Pferd ges
lieben, deffen fich bisher die Gattin des Eigenthuͤmers, weil es aͤußerſt
fanft und folgfam war, bedient hatte. Es ließ nachher feine Gebieterin
nie mehr auffigen, wie wenn es unter feinee Würde gehalten hätte, ein
Meib zu tragm, nachdem ber Statthalter Chrifti auf ihm gefeflen.
Ein größeres Wunder war, fo fährt das Brevier fort, daß der Papft
zu Conftantinopel in Gegenwart des Kaifers und alles Volks einen
Blinden fehend machte. Diefen Papft ließ nachher der kegerifche König
Theoborich im Kerker verſchmachten. Aber bald darauf ftarb ber Koͤ⸗
nig. Da fah ein Einfiedler, wie deffen Seele durch jenen verftorbenen
Dapft und den Patrijir Symmachus, den der König getödtet hatte,
in bas euer eines liparifhen Vulkans hinabgemworfen wurde. —
Brevier. 95
6. Juli. Simon der Master gab fi für Chriftus aus und behaupe
tete, er koͤnne fliegend ſich zu feinem Water erheben, erhob fih auch
wirklich mittelſt magifcher Künfte in die Luft. Da ‚betete der Apoftel
Petrus auf den Knien liegend au dem Deren und fein heilige® Gebet
hberwand den magifchen Trug. Denn durch daffelbe warf Petrus den
Magier, wie gebunden, aus boher Luft herab und zerbrach ihm bie
Beine an einem Felfen. — 1. Auguſt. Eudoxia brachte dem Papfte
Die Kette, welche der Apoftel Petrus auf Befehl des Herodes zu
Jeruſalem getzagen und ihre Laiferlihe Mutter bort auf einer Wallfahrt
zum Geſchenk erhalten hatte. Dayegen zeigte ihre der Papſt eine andere
Kette, welhe Petrus zu Rom unter Nero getragen. Da vereinige
ten ſich plöglich ducd, ein Wunder die beiden Ketten, fo daß es fchien,
als wären fie flet® nur Eine gemefen. Zur Erinnerung an das Wuns
der ift auf den 1. Auguft ein eigenes Zeit geftiftet (Petri Kettenfeier). —
19. Sept. Der heil. Januarius wurde in einen brennenden Ofen gewor⸗
fen, aber das euer verlegte nicht einmal feine Kleider, ja ſelbſt nicht
ein einziges Haar. Als er den wilden Thieren vorgeworfen wurde, lege
ten fih ihm diefe zu Süßen. Der Gouverneur befahl hierauf, ihn bins
zurichten,, erblindete im naͤmlichen Augenblide, wurde aber auf das
Gebet ded Heiligen fogleidy wieder fehend. Sein Leichnam, jest in Nea⸗
pel, wirkte viele Wunder. Vorzuͤglich denkwuͤrdig iſt, daß er einft bie
Slammen des Veſuvs Löfchte und dag fein Blut, welches geronnen in
einer glaͤſernen Flaſche verwahrt wird bis auf den heutigen Tag, fobald
es zu dem Daupte des Heiligen gebracht wird, durch ein Wunder fluͤſ⸗
fig zu werden und aufzuwallen anfängt. — 20. Eept. Der heil.
Euftahius erblidte auf der Jagd zmifchen dem Geweih eines Hirfches
von außerordentliher Größe Chriftus am Kreuze mit Glanz umgeben und
ihm rufend. — 26. Sept. Kür den heil. Cyprianus, vorher Magier,
wurde Anlaß zur Belehrung, daß ein böfer Geiſt ihm auf Befragen ant:
wostete, feine magifchen Künfte würden nichts gegen wahre Chriften ausrich⸗
ten. — 8. Octob. Die heil. Brigitta erblickte in ihrem zehnten Jahre
Jeſus am Kreuze friſch biutend und mit ihr über fein Leiden fprechend. —
22. Novbr. Die heil. Caͤcilia hatte gelobt, nicht zu heirathen. Dennod)
gezwungen, bie Gattin des Valerianus zu werden, benachrichtigte fie
diefen in der Hochzeitsnacht, dag ihre Sungfräulichkeit unter dem Schuß
eints Engels ſtehe. Da diefen der Gemahl zu fehen wuͤnſchte und fie
verficherte, dazu fei noͤthig, Chriſt zu werden, fo ließ er fi von Papft
Urban taufen. Bon da zurückehrend traf er feine Gattin betend und
bei ihr einen Engel in himmliſchem Glanze. Auch fein Bruder, nachdem
diefer ebenfalls Chrift geworden, durfte den Engel fehen. Der Präfeet
befahl, fie in ihrem Bade zu verbrennen. Einen Tag und eine Nacht
war fie in dem brennenden Gebäude, ohne von den Flammen berührt
zu werden. Der Scharfrichter, welcher fie nun enthaupten follte, brachte
es nicht dahin, den Kopf vom Rumpfe zu trennen, obgleich fie nad)
drei Hieben halbtodt war. Sie lebte noch drei Tage. — 23. Novbr.
Der heil. Papft Clemens I., als die am Orte feiner Verweiſung in
26 Brevier,
Marmorbruͤchen arbeitenden Chriſten durch Waſſermangel litten, betete;
worauf ihm: durch ein Wunder auf einem Hügel ein Lamm erſchien,
welches mit dem rechten Fuß eine Quelle fügen Waſſers zeigte, das
bann ihren Durft ſtillte. Auf Befehl Trajans wurde der Heilige in's
Meer geworfen, nachdem man zuvor einen Anker an feinem Halſe bes
feftigt hatte. Hierauf beteten die Chriften an der Küfte, da wich plößs
lich) das Meer drei Meilen von berfeiben zurüd ‚und man erblidte auf
dem Meeresgrund einen Heinen Rempel von Marmor, in demfelben -in
einem gleihen Sarge die Leiche des Märtyrers, daneben jenen Anker. —
Mer bezweifelt, daß das Brevier auch von den Heiligen ber übrigen
Tage Achnliches berichte, kann fich leicht belehren.
Daß in den Auszügen aus den Decretalen des Pſeudo⸗Iſidorus
und auch fonft im Buche völlig ulteamontane Anfichten berrfchen, wirb
Niemand anders erwarten. Dennoch dürfte es auffallen, dag am Feſte
bes heil. Gregors VII. (25. Mai), fogar folgende Stelle im Leſeſtuͤcke
vorkommt: „Segen die gottlofen Angriffe bes Kaiſers Heinrich fland
ner als Eräftiger und unerſchrockener Kaͤmpfer und fuͤrchtete nicht, ſich
„vor das Haus Sfrael, als eine Mauer hinzuſtellen. Denſelben Heinrich,
„der in den Abgrund bes Böfen verfunten war, ftieß er aus ber Gemein,
„ſchaft der Gläubigen, entfegte ihn der Regierung und zählte
„beifen Unterthanen von dem geleifteten Eide der Treue
„los *).“ In Defterreih wurde am 7. Mai 1774 und wiederholt
am 15. Juni 1782 verordnet, diefe Stelle zu verfleben, bei funfzig
Bulden Strafe für jedes Esemplar *cj. Aber mit Recht finder Prof.
K. Ruef ***) auch das darauf folgende Gebet bedenklich, das fo lautet:
„Bott, der du ben heil. Gregor mit Standhaftigkeit zum Echuge der
„Freiheit der Kirche befeelteft, gieb, dag wie nach feinem Beifptel
„und durch feine Fürbitte alle Hinderniffe Eräftig befiegen +).
Es iſt über das Bud wohl hier genug gefagt, um den Verſtaͤndi⸗
gen aud von feinem übrigen Inhalt Alles eher erwarten zu laffen,. als
Anbetung der Gottheit im Geift und in der Wahrheit, auch abgefehen
von dem, was felbft erleuchtete Katholiten ſchon längft gegen jede uns
mittelbare Anrufung ber Heiligen, die barin einen großen Theil ber Ras
—3 Contra Henrici Imperatoris impios oonatus fortis per omnia athleta
impavidus permansit, seque pro ınuro domui Israel ponere non timuit, ac
eundem Henricum, in profundum malorum prolapsum, fidelilum communione
regnoque privavit, atque subditos fide ei data liberavit.
**) Der Sreimüthige, von einer Geſellſchaft zu Freiburg. Ulm, Wohle
1782. 8. Bd. II. ©. 8 ff.
7 Ebend. UI. 44 ff.
) Deus, qui b. Gregoriam confessorem taum atque pontificem pro
tuenda 2 eelesine libertate virtute constantiae roborasti, da nobis ejus ezemplo
et intercessione omnia adversantia fortiter superare.
Brevier. 27
gesaufgaben biidet, erinnert haben *). Doch mag noch bie Lehre an⸗
geführt werden, welche katholiſche Mönche über den Gebrauch dieſes Ans
dachtsbuchs zu bilden fich veranlaft fahen. Der Jeſuit Taberna, nad
befien Buche **) viele Sabre in Defterreich vorgelefen wurde, fagt
wörtlich: „Gewiß ift, das Brevierbeten erfordert wenigſtens äußere
„Aufmerkfamkeit. (Aeußere Aufmerkſamkeit, erklärt ein anderer Sefuit,
„ga Croir ***), iſt Unterlaffung äußerer Danblungen, bei welchen innere
„Aufmerkſamkeit gar nicht möglidy wäre.) Wer daher, während er
„malt, fpielt, Briefe ſchreibt, im Schaufpiel ift, das Brevier auswen⸗
„dig berfagte, würde dem Gefege nicht Genuͤge leiften. Aber es fragt
„fi, ob überdies audy innere Aufmerkfamteit erforderlich fei. (Innere
„iſt, ſagt La Croix a. a. D,, die Richtung bed Geiſtes auf die Wor⸗
te, ihren Sinn und die Gottheit.) Hierüber find bie DReinungen ges
„theilt. Nach der einen iſt innere noͤthig. Die andere Meinung tft,
„aͤußere Aufmerkfamkeit fei hinreichend, Mer folglich das Brevier auch
„mit freiwilliger Zerſtreuung bete, ber genüge dem Geſetze.“ (Folgt
eine Reihe Gewaͤhrsmaͤnner.) „Unfere Antwort ift, fo fließt Taberna:
„1) Um dem SKirchengefege zu genügen, ift wenigſtens Aufmerkfamteit
„auf die Worte nöthig. 2) Innere Aufmerkfamkeit auf den Sinn
„der Worte ift nicht nöthig. Denn Miele find verpflichtet, das Brevier
„zu beten, welche den Sinn der Worte gar nicht verftehen, 3. B. bie
„Kiofterfrauen +). La Eroir fagt geradezu: „Dan kann annehmen, bag
„innere Aufmerkſamkeit nicht nöthig ift, um die Pfliht bed Brevier⸗
„betens zu erfüllen.” Sogar fagt biefer, was ſich hier nicht Überfegen
läßt: etiam cum venter exoneratur, horae recitari possunt ++).
Auf Befehl und nach dem Plane des Erzbiſchofs von Chln, Marie
milian Sranz, eines Erzherzogs von Defterreich, verfaßte um
1790 Prof. Derefer, wenigftens für Stiftedamen und Klofterfrauen,
unter dem Titel: Deutfches Brevier, ein befferes Erbauungsbuh, im
weiches namentlich ftatt ber Legenden nur Auszüge und Erklärungen ber
Bibel aufgenommen find. Es wurde in mehreren Diöcefen gebraucht,
namentlich in jenen von Chln, Münfter, Osnabrüd, Speier und felbft
von dem Fürftbifchof von Würzburg, Franz Ludwig, der aud Stiftes
*) Bon Beftrebungen an ber Hochfchule Freiburg im Kirchenrecht, II. Bels
trag. (3ur Erinnerung an D. K. Ruef. Dit Auszügen aus feinen Schrife
ten.) Don Prof.D. 9. Ammann. (Freib., Heidelb. u. Karlsr. Groos, 1836.
8. ©. 119 — 1%.
**) Synopsis theologiae practicae , P. III. tr. 3. c. 1.
***) Theologia moralis. (Col. 1729.) In ind. voc. attentio et horae.
+) Das Brevier iſt nämlich Tateinifch zw beten; denn auch hierbei hielt
und häft man fogar noch für confequent, diefe Sprache dort beizubehalten, wo
fie nicht Mutterſprache, ja wo fie nicht einmal verftanden fl.
+) Den lateinifhen Zert der beiden Sefuiten giebt K. Ruef (Freim.
II. 102 ff. Freib. Beiträge V. 460. I
28 Brevier. Broglie.
herren, bie ſich uͤber das lateiniſche Brevier als ein für Geiſt und Herz
unbrauchbares Buch beklagten, erlaubte, ſich dieſes deutſchen, ſtatt des
lateiniſchen, zu bedienen. Durch die neue Ordensregel, welche den im
GSroßherzogthum Baden, als Lehr⸗ und Erziehungsinſtitute für Maͤd⸗
chen, noch gebliebenen Frauenkloͤſtern gegeben wurde, iſt, einverſtaͤndlich
mit dem biſchoͤflichen Ordinariate, „den Lehrerinnen und Candidatinnen
„ausdruͤcklich unterſagt, das lateiniſche Brevier fortzubeten” *). Beſſere
Buͤcher ſind theils eingefuͤhrt, theils der eigenen Wahl der Frauen uͤber⸗
laſſen. Hofft ihr, daß auch die roͤmiſche Curie einſehen werde, es beſtehe
die wahre Conſequenz des Chriſtenthums in ſtetem Fortſchreiten zum
Beſſern? Noch in der Note des Cardinals Confalvi vom 2. Sept.
-1817 left man unter ben Vorwürfen, welche unferm verehrten Freih.
von Weſſenberg gemacht wurden, Folgendes: „Zur Beftitigung der
„Berroerfllichleit Idres Benehmens bei Regierung ber Didcefe von Cons
„Stanz dienen die Dispenfen von der Pflicht, das Brevier zu reciticen,
„welche Sie in der Eigenfhaft als General s Bilar mehreren Geiftlichen
„bewilligten” **). .
Briefadel, f. Adel.
Briefgeheimniß, f. Befhlagnahme:
Britannien, f. England.
Broglie (Victor, Herzog von), eigentlih Broglio, geboren
1785, flammt von einer piemontefifhen Familie. Sein Großvater mar
der Marfchall von Broglio, der fih in dem fiebenjährigen Kriege auch
in Deutfchland einen Namen gemacht hat. Der Vater, Karl Ludwig
Victor, kämpfte in dem amerikaniſchen Unabhängigkeitskriege für die Sache
‚ber Sreiheit, der er fih aud in feinem fpätern Leben ergeben zeigte.
Bei dem Ausbruche der Revolution erklärte er fih für die Grundfäge
derfelben und ward in die conftituirende Verfammlung ernannt. In ben
erften Feldzuͤgen biente er mit Auszeichnung, flieg bis zu dem Grade
eines Generals und gab dann feine Entlaffung. In der furchtbaren
Zeit, wo Telbft das Werbienft und die Tugend einer wahnfinnigen Ges
walt Verdacht einflößten, ward er, mit fo vielen Opfern der Herrſchaft
des Schreckens, eingezogen, und endete fein Leben auf dem Biutgerüfte,
Diefes Vaters zeigte der edle Eohn, Victor, ſich würdig. Alle Glieder
der angefehenen Familie hingen der alten Monarchie an, die fie nad
Kräften unterftügten. Nur Victor und fein Vater waren für Frankreich,
da Frankreichs Sache aufgehoͤrt hatte, die ſeines Regentengeſchlechtes zu
*) Bad. Reg. BI. 1811. ©. 118. $. 80.
“) Servono a somprovare la condota riprovabile da Lei tenuta nel
:Governo della Diocesi di Costanza le dispense dall’ obbligo di recitare le
ore Canoniche accordate a piü Ecclesiastici nella qualita di Vicario Gene-
rale di Costanza. Deut t de das Verfahren des römifchen Hofe bei
der Ernennung "des Freih. v. Weſſenberg zum Nachfolger im Bisthum
Sonftanz. Kurler. Ser. 1818. Fol. ©. 22 ff.
Broglie. 29
fein. In feiner Jugend zeigte er große Neigung für Wiſſenſchaft und
Kunft, und alle Mittel der Bildung wurden zur Entwidelung feiner
gluͤcklichen Anlagen angewendet. Neigung und Umgebung vereinten ſich,
ihm in Erweiterung feiner Kenntniffe zu dienen, und felbit feine gefells
fchaftlichen Verhaͤltniſſe, die er fich nach feinem Geſchmack wählte, trus
gen dazu bei. Im die geiftceihe Geſellſchaft der berühmten Frau vom
StaëSl gezogen, theilte er die Belehrung und Unterhaltung derfelben,
und ſchloß ſich ihr durch die Bande der Verwanbtfchaft an, indem er ſich
mit einer Enkelin Neders vermihlte. Unter dee Kaiferregierung bekleis
dete er mehrere Stellen mit Auszeichnung und ward befonderd im diplos
matifchen Sache gebraucht. So ſah man ihn abmechfelnd in Jllyrien
und Spanien, zu Wien, Prag und Warfhau. Da er 1814 in bie
Kammer der Paird getreten, war ihm das Mittel geboten, in diefer has
hen und felbfifländigen Stellung den ganzen Werth und Reichthum feis
nes Geiſtes und Gemuͤths zu entfalten. Vielſeitiges Wiffen, eine gründs
lihe Kenntniß der Staaten und ihrer Verhättniffe, der Bedürfniffe und
Anſpruͤche der Zeit, eine männliche Freimüthigkeit und ſtrenge Redlicykeit
zeichneten ihn bier, wie in feiner ganzen Laufbahn, aus. Mit folhen
Gaben und Sefinnungen mußte er ben. Parteien des Tags oft gegenübers
fliehen. Was aber aud) die Ausfchweifungen und Verirrungen der Zeit,
die er nie theilte, an ihm zu tadeln fanden, die allgemeine Achtung konn⸗
ten fie ihm nicht entziehen. Sein Öffentliches wie fein Privatleben blieb
vorwurfsfrei. In dem Prozeffe gegen den Marſchall Ney gehörte er
zu der Eleinen Zahl der Edelen, die das Nicht ſchuldig ausfprachen.
Gegen die Proferiptionen und Erceptionsgefege trat er mit Nachdrud
auf, erklärte fi) gegen die um fich greifende Macht der Polizei, welche
die einzige bewahrende und erhaltende Gewalt des Staates zu werden
droht, gegen die ungebührliche Beſchraͤnkung der Preffe und alle die Ges
fege, Anordnungen und Belhlüffe, in denen Regierungen, bie ben Zus
ftand der Gefelifchaft, wie fie fich gefaltet hat und fortentwideln muß,
durchaus verdennen, zu ihrem Verderben Heil und Rettung fuchen.
Nach den Ereigniffen des Juli von 1830, die ein Bürgerfönigthum bes
gründen follten, ftand Broglie in der Reihe der Wohlwollenden und
Aufgeliärten, die den Staat der Theorie mit dem Staate, wie er in
der Wirklichkeit, nach Lage, innern und dußern Verhaͤltniſſen zu geftals
ten ift, den Staat, wie er fein foll, mit dem Etaate, wie er fein ann,
in Einklang zu bringen ſuchten. In das Minifterium berufen, zeigte er
fih feines Berufes würdig, fo entmuthigend auch die Lage, in der er
ſich befand, oft auf ihn wirken mochte. Freiwillig gab er feine Stelle
auf, und er war vielleicht der Einzige, deſſen Entlaffung mit auftichtis
gem Bedauern aufgenommen ward, und bem ber unbefledte, ja unans
getaftete Ruf bei feinem Austritte aus der Verwaltung folgte, ben er
in fie gebradht. Broglie's Laufbahn iſt nicht zu Ende. Wir haben
diefe Hoffnung, dieſen Wunſch, im Intereffe Frankreichs, im Intereſſe
unſeres Welttheils, im „Intereffe der Menfchheit, weil alle diefe Intereffen,
audy nach dem Glauben Broglie’s, ineinander fließen, ſich gegenfeitig
14
30 _ Broglie. Bröugham.
eördern und, wohl verſtanden, nur ein Geſammtintereſſe bilben. Beös
glie's Anftelung‘, wenn er ſich dazu verſteht, wird ‚für eine Buͤrg⸗
ſchaft der Achtung und Dauer der Regierung gelten, in deren Dienft
er teitt. a
Das war bie heenvole Meinung, die Broglie fuͤr ſich hatte und
durch den Inhalt feines öffentlichen Lekens auch verdiente. Od fie bie
Meinung bee Aufgeffärten und MWohlgefinnten, welche die Gewalt achten
nicht 'nach dem, mas fie in ihrer Kraft vermag, fonbern nach dem Ges
brauche, den fie von ihrem Vermögen gentacht, auch jetzt noch Aft, mag
bier unerörtert- und unbeantwortet bleiben. . Das Ungeheuer bed -Aprils
prozeffes Yon 1825, das noch größere Ungeheuer einer Gefesgebung, dee
ein fchändlicher Mordverfuc gegen ben König und feine Familie zum
Vorwand biente, ein Ungeheuer, welches das Verbrechen eines Boͤſewichts
mit der Schwaͤche und dem Leichtfinne einer charakterlofen Kammer ches
brecherifch erzeugte, wird die Geſchichte wuͤrdigen. Die Geſchichte wird
diefe Geſetze und die, welche fie ins Leben gerufen, mwürbigen, wenn fie,
aufgeklaͤrt durch den Erfolg, zugleich Berichten kann, mie ſolche Mittel,
ſchon verwerflich durch fich felbft, noch vermerflicher gemorben find, weil
fie dem Zwetke entgegenwirften, den fte fördern follten; wehn fe zeigen
kann, daß ſie dem Koͤnigthum, das ſie erhalten und befeſtigen ſollten,
verderblich waren. Man wuͤrde die Weisheit und den Muth, womit
die Regierung, im dringender Gefahr, bie Frechheit zu zuͤgeln verftand,
beroundert haben, hätte fie den allgemeinen Unwillen, der dieſer Frechheit
galt, nicht verrätherifch benusgt, um bie Waffen, die ihr gegen: biefe fo
bereitwillig gegeben wurden, gegen die Freiheit feibft zu brauchen. Dars
über wird die Geſchichte richten, über das Benehmen ber franzöfifchen,
tie über das der fpanifchen Negierung, welche beide die Wehen der krei⸗
fenden Zeit mit grauſamer Kunft verlängerten, um bie Mutter zu ei⸗
(höpfen und von einer Mißgeburt zu entbinden. Sollte auch ber Her⸗
zog von Broglie dieſen Vorwurf theilen muͤſſen, dann wuͤrde fein Bei⸗
ſpiel die traurige Erfahrung beſtaͤtigen, daß ſelbſt der beſſere Menſch ſich
ſeiner Unſchuld oft nur ruͤhmen darf, weil ihm die Stunde der ſchweren
Verſuchung und harten Pruͤfung nicht geſchlagen hat. Weitzel.
Brot, Brot-Taxe, Schau u. ſ. w., f. Lebensmittel,
Brou gham (Heineih), 1779 zu Edinburg geboren, ſtammt
von einer alten, aber wenig begüterten Familie. Er machte feine Stus
dien in den Untereichtsanftalten feinee Geburtsftabt, wo fie in weit beſ⸗
ferem Zuftande als in England find, das Mühe hat, fih von den alten
Sormen und den hergebradhten Inſtitutionen lodzumwinden. Ihm marb
der unfchäsbare Vortheill, daß fein Oheim von mütterlicher Seite, der
berühmte Gefchichtfchreibee Robertfon, feine wiſſenſchaftliche Bildung
leitete. Diefe nahm indeffen eine Richtung, die feine fpätere Beſtim⸗
mung nicht ahnen fie. Mit Vorliebe und befonderem Fifer ergab er
fi) den mathematifhen Wiffenfchaften, in denen er fo rafche Kortfchritte
machte, daß er, noch im jugendlichen Alter, in diefem Face fih auf '
eine ausgezeichnete Weiſe verfuchte. In feinem fiebenzehnten Jahre gab
Broughamı 31
er eine: Schrift über das Licht heraus, bie mit Beifall aufgenommen
word. Einem anben mathematiſchen Werke verbankte er feine Aufs
nahme tm die Lönigliche Geſellſchaft, zu deren Mitglied ee 1803 ernannt
ward. Später trat er feine Meile nach dem Gontinente an, wie die
Englänber es zu thun pflegen, und machte zu Paris die Bekanntſchaft
bes großen Bürgers Carsot. Das Gebiet der. Gperulation genügte
indeſſen feinem wiſſenſchaftlichen Streben noch weniger als feinem Chrs
. geize, und er betrat Die Laufbahn des Mechtögeledrten, bie, in conftitus
tionellen Staaten, dem Xalente bie weitefte Ausficht eröffnet. Er ers
warb ſich als. Anwalt einen großen Ruf, und bahnte fid, durch ihn: ber
Weg zum Parlamente. Mit den Angelegenheiten bes Staates fuchte
er fi) auf eine gründliche Weiſe bekannt zu madyen, und 1803 gab er
ein umfaffendes Werk Über bie Colonialpolitik heraus, das eine Ueberſicht
der Geſetze enthaͤlt, weiche bie Griechen, Carthager und Römer bei, ihrer
Coloniſirung zu befolgen pflegten, und dann auf bie neueren Zeiten uͤber⸗
seht und das bei demfelben Begenftande beobachtete Verfahren prüft.
Brougham zeigt in bemfelben ben Urfprung und die Verbreitung bes
Negerhandels und erfiärt fi) mit Untoillen über biefe graufame Derabs
würbigung des Menfchen und bie Verhöhnung feiner .beiligften Rechte.
Zugleich fpricht er die Hoffnung aus, daß die afrifanifchen Schwarzen
eined Tages zu dem friedlichen und vechtmäßigen Befige .des Bodens von
Weſtindien gelangen wärben, ben fie und ihre Väter mit Schweiß und
Blut geduͤngt. | |
Beinahe in berfelden Zeit verband er fich mit mehreen jungen Mäns
nem von Geiſt und Kenntniffen zur Gründung einer Zeitſchrift din-
burgh review, die nicht ohne bedeutenden Einfluß auf ben öffentlichen
Geift und die politifchen Sefinnungen des Landes geblieben if. Da ein
Drozeß der Herzoge von Roxburgh zur Entfcheibung vor das Oberhaus
gebracht worben war, begab ſich Brougham nah London, um bie
Sache in Perfon zu führen. Der große Beifall, den er ſich hier vor
ben Schranken des hoͤchſten Gerichtshofs des Reichs erwarb, beftimmte
ihn, feinen Aufenthalt in der Hauptftadt zu nehmen. Seine vielfültis
gen Berufögefchäfte entfremdeten ihn indeffen den Angelegenheiten bes
Staates und ber Menfchheit nicht, denen er beftändig ein warmes Herz
voll Theilnahme bewahrte. Er behandelte die große und wichtige Frage
der Danbelsfreiheit mit Scharffinn und Beredſamkeit. Faſt alle großen
Männer, und gewoͤhnlich die größten, haben das Schickſal, daß fie ihrer
Zeit voraus find, und den Samen ausſtreuen zur fruchtbaren Ernte,
die erſt fpäter reift. Sie beftehen den Kampf; der Ruhm und ber Lohn
des Sieges fälle Andern, am Tage der Entfcheibung, zu. Doc gehört .
Brougham zu den feltenen Beguͤnſtigten, die noch vermirklicht, wenig⸗
ſtens anerfannt fahen, mas fie gewollt und als bas Beſſere dargeftellt.
Aud) die Sache der Hanbelsfreiheit hat Fortfchritte gemacht und wird,
wie alle große Fragen ber Menfchheit, ihre befriedigende Löfung finden.
Ein Mißbrauch führte Brougham 1810 in das Haus ber Gemeinen
ein, ber Mißbrauch des Wahltechts ber verfaulten Flecken. Es ift bes
82 | Brouyham. '
merkenswerth, daß die meiſten ausgezeichneten Mebner und Staatsmaͤn⸗
ner auf biefem Wege zu einem Gige im Unterhaufe gelangten. Der
Mißbrauch hatte die Folgen eines weiſen Gebrauchs. Der Herzog von
Gteveland, ein Pair, der zur Oppofition gehörte und über die Wahl von
Winchelſea zu verfügen hatte, ernannte ihn zum Etellvertreter dieſes
Drts im Parlamente. Brougham glaubte, nad fo manden gläns
genden Erfolgen, fi) ben Wählern der. Stadt Liverpool vorftellen zu
bürfen,. um ihr. Mepräfentant zu werben, hatte aber zum Mitbewerber
Canning, der ihm vorgesogen ward. - Einem Canning nachzuſte⸗
ben, darin lag felbft für Brougham Leine Demüthigung; biefer
ſchien indeffen die Zuruͤckſetzung fehmerzlih zu empfinden und wollte
fit) mit dem redlichſten und entfchloffenften Staatemanne, ben England
in den neueften Zeiten hatte, nie recht befreunden. Brougham zeigte
fih unermüdlich in feinen Beſtrebungen füs die Sache der wahren Frei⸗
heit, die Intereſſen feines Landes, die. Rechte des Volkes. Mit der
ganzen Macht feiner Einſicht und Beredſamkeit trat er der Reaction
entgegen, bie fich, beſonders feit 1815, in den Maßregeln und Abſich⸗
ten der Megierungen -offenbarte. Für den Primair⸗ oder Elementars .
unterricht, das erſte und weſentlichſte Beduͤrfniß der untern Staͤnde, ver⸗
wendete er ſich mit Eifer und Beharrlichkeit, und da dieſer wichtige Ges
genſtand, 1818, im Parlamente zur Sprache kam, zeigte er eine Viel⸗
feitigkeit der Kenntuiffe und einen Ernſt de& Willens, bie felbit feine
Gegner in Erſtaunen fegten und bei jedem Unbefangenen Anerlennung
fanden. Sein Entwurf einer Nationalerziehung ift ein bleiberides Dents
mal, das er fich gefest. Aber ale Vorſchlaͤge biefer Art hatten ihre
Zeit noch nicht gefunden. Die Vernunft, das Recht, felbft das wohls
verftandene Intereſſe, das mit Vernunft und Recht nie im Wider
fpruche ftehen Eann, ‚waren für ihn, gegen ihn aber, was mächtiger ift,
die Vorurtheile, die Ueberlieferung, die Vorrechte und Begünftigungen
dee Etände und Körperfchaften. Auf. geradem Wege war bem Eräftigen
Kämpfer nicht beizukommen; man wählte den verfchlungenen der Arglift,
der Lüge und des Betrug. Brougham marb als ein Feind der
Kirhe und der VBerfaffung des Landes, wie fie als ein heiliges Ders
mächtniß von den Vätern gekommen waren, bargeftellt, ald ein Veraͤch⸗
tee der Gefege und Sitten feines Landes, ber feine antinationale Vorliebe
für Nordamerika und Frankreich nicht verleugnen koͤnne.
Die Art, wie er die Sache der Königin führte, bie Georg IV.
bes Ehebruchs anflagte,. war nicht weniger ehrenvoll. Dieſer ſchmaͤhliche
Prozeß, den der König vor dem verfammelten Parlamente führen ließ,
erniebrigte die Krone und befledtte bie Perfönlichkeit bes Mannes, der fie
trug. Brougham hatte für jene bie zarte Schonung, bie ihm fin
diefe oft unmöglidy war. Diefes Verdienft muß man bei Brougbam,
ber die Deffentlichkeit mit allen ihren Folgen fonft nicht zu ſcheuen pflegt,
in Anfchlag bringen. Bei den Verhandlungen über bie fogenannte
Emancipation der Katholiten — 1828 und 1829 — zeigte er ſich in
der eriten Meihe und “wirkte. Eräftig zu dem Erfolge einer Maßregel,
Brougham. Buchdruderkunſt. 33
bie, wenn fie andy kaum eine halbe war, doch dem Rechte und ber
Menſchlichkeit etwas näher kam. Seinen ſchoͤnſten Sieg feierte er in
feinem merkwürdigen Antrage, die Werbefferung bes bürgerlichen und peins
lichen Verfahrens und bie Strafgefeßgebung in England betreffend, für
ben er im Unterhaufe fieben volle Stunden fprah. Bier berührte er
eine ber wundeſten Stellen, bie ſich leichter bezeichnen als heilen läßt.
Brougham war auf feinem Boden, und wenn Großbritannien In diefer
Beziehung eine Wohlthat — eine der größten, die man ihm ermeifen
Bann — erwarten burfte, dann konnte fie, vor Allen, von diefem Manne
Sommen , bee dazu die rechte Einficht und den rechten Muth befigt.
Da, im Sommer. des Jahres 1830, ein Wehen ber Freiheit durch
unfen Welttheil ging, und in ben Regionen harter, verhaßter Knecht⸗
fhaft das Wehen zum Sturme ward, der Throne brach, fiel aud) das
Minifterium Wellington und in ihm eine große Hoffnung bes rüdgäns
gigen Theils von Europa. Der edle Herzog, als ftche er vor einem
Deere, dem er eine Schlacht anzubieten die Gelegenheit günftig fand, er⸗
klaͤrte im Parlamente, er halte eine Reform deſſelben für unnüg und
ſchaͤdlich Brougham trug fogleich auf diefe Maßregel an, die beifäts
lig aufgenommen ward. Der Herzog von Wellington trat ab und
Graf. Grey an feine Stelle. Diefer bot Brougham die höchfte
Würde des Reiche, bie eines Kanzlers, an. Diefer nahm keinen Anftand,
das neue Cabinet zu unterftügen, ward, im November, unter dem Titel
Brougham and Daur zum Baron ernannt und ließ fi, als Präs
fident des Haufes der Lords, auf dem Mollfad nieder. Mit welchem
ausdauernden Fleiße, mit welchen Muthe ex an diefer Stelle feinen ernften
und ſchweren Beruf erfüllt, das wiſſen wir, und wie er alle Maßregeln zum
Beiten des Landes ohne Menfchenfurcht unterftügt und den Haß der Zaus
fende, die von Mißbraͤuchen leben, immer ſchwerer auf fich geladen hat. Er
zeigte Tih in Wort und That feinem Glauben aufrichtig zugethan, und
mit Vergnügen fah ihn ber Freund ber Wahrheit und bes Rechts über
die frömmelnde Scheinheiligkeit der fetten Pfruͤndner der Hochkirche und
die politifhe Gleisnerei ber ſtarren Ariſtokratie die Geißel ſchwingen.
Noch ift das Drama, das eine Schickſalstragoͤdie zu werben fcheint, In
welchem auch Brougham eine Rolle zugefallen, nicht ausgeſpielt; noch
find wir im Acte der Wermidelungen, die fich furchtbar zu entwirren
Brougham wird fo wenig als wir den Ausgang fehen.
Möge er, ſich feibft und dee Sache treu, die er zu ber feinigen gemacht,
bie Rolle bis zun Ende des Spielers — ba wir das Spiel felbft nicht
enden ſehen — durchfuͤhren. | dWeitzel.
SBrutto⸗Einnahme, Brutto⸗Ertrag, f. Einnahme
und Ertrag.
Buchdruckerkunſt. Die Sprache iſt das von der Gottheit
dem Menſchen geſchenkte Hauptmittel, menſchlich zu werben, d. h.
Verſtand und Vernunft, Gefuͤhl und Sittlichkeit, zu welchem Allem er
bios die Anlage oder Faͤhigkeit hat, zu wirklichen und thaͤtigen Kräften
im ſich ſelbſt und mechfelweis Einer im Andern zu entwideln, zu nähe
Staats «Exrsiton, ILL - 5
34 | Buchdruckerkunſt.
ven ‚und fortzublden. „Nur mit der Organiſation zur Rede“, ſagt
Herder, „empfing ber Menſch den Achem ber Gottheit, den Samen
zue Vernunft und ewigen Vervolllommnung. „Won ber Mede hängt
Alles ab, was Menfhen je auf der Erde Menfchliches dachten, wollten,
thaten und thun werden: benn Alle liefen wir noch in Wäldern‘ umber,
wenn nicht diefer göttliche Odem uns angehaucht hätte und wie ein Zaus
berton auf unfern Lippen ſchwebte. Die ganze Geſchichte der Menfche
beit, mit allen Schaͤtzen der Zrabition und Cultur, ift nichts als eine
Folge ber Rede.“ „Durch fie ift meine denfende Seele an die Seele
des erften und vielleicht des legten denkenden Menſchen gefnüpft. Kurz!
Sprache ift der Charakter unferer Vernunft, durch welchen fie allein Ges
Kalt gewinnt und fich fortpflanzt.“ — 0
Aber das unmittelbare Geſchenk ober die unmittelbare Anflalt ber
Natur oder Gottes ift bios die Sprahfähigkeit; die Entwidlung-
und Ausäbung berfelben, alfo die Bildung wirklicher Sprachen
unb ihre fortfchreitende Vervolllommmung an Klarheit, Reichthum,
Kraft, und zumal die Ausbreitung ihrer wohlthätigen Wirkſamkeit
duch Erweiterung des Kreifes und der Dauer ihrer Vers
nehmbarkeit und Verſtaͤndlichkeit blieb dem Menſchen felbft
überlaffen. Aber ber menſchliche Geift, indem er feine fchaffenden
Kräfte diefee Aufgabe zumendet und dem Ziel ihrer moͤglichſt voll
ſtaͤndigen Loͤſung unermüdet mit immer neuen Erfindungen ober Vers
befferungen entgegenfchreitet, hanbelt wahrhaft im Sinne ber Gottheit,
und jeder Erfinder eines weitern Mittels zu dem heiligen Zweck, jeber
Berbefferer der bereit erfundenen erſcheint ald Werkzeug bes göttlichen
Willens. Wer alfo fih vermäße, dem auf ſolchem Wege wandeinden
Geiſte Einhalt zu thun oder der Wirkfamkeit feiner, den hoͤchſten Nature
zwecken, naͤmlich bee Beförderung der Humanität, dienenden Schoͤ⸗
pfungen ein gebieterifches: „bis hieher und nicht weiter!" emtges
genzufegen, oder buch liſtige Gegenanſtalten jene koſtbare Wirkſamkeit
auch nur zu verfümmern — ber erklärte hierdurch entweder eine fündhafte
Auflehnung gegen ben Willen Gottes oder ein aus trauriger Verblens
dung oder Befangenheit ſtammendes Nichterkennen deffelben.
‚ Von ber Erfindung und Fortbildung der Sprachen ſelbſt, und
von dem ihnen allen wunderbar eingeprägten Stempel bes allgemeinen
Menfhengeiftes wie bes befondern Nationalgeiftes und Chas
rakters haben wir hier nicht zu reden. Nur auf die zwei großen Er⸗
findungen bliden wir, wodurch allererft möglich warb, daß bie Sprache
ihre höhere Beftimmung erfülle, daß fie nämlich werbe ein Organ
der Geiftes» und Gemuͤthsmittheilung, nicht nur zwifchen wenigen,
fondern zroifhen allen zugleich Lebenden, und nit nur zwifchen
diefen, fondern auch, zwifchen allen früheren und fpätern Ge⸗
ſchlechtern der Menfchen, folgfidy ein die gefammte Menfchheit
umſchlingendes Band, ein ber ganzen Menfchheit beiliges und koſtba⸗
us Geſammtgut. Schrift und Buchdruckerkunſt find biefe
Buchdruckerkunſt. 35
| Erfinbungen ‚ bie legte bee unmittelbare Gegenfland unſerer gegenwaͤr⸗
Buchſtabenſchrift und Drud haben zwar auch als Hauptmittel
ber eigentlichen Sprachbildung gewirkt, d. h. zu mehrerer Beftimmung,
Reinigung, Bereicherung, überhaupt zur fortfchreitenden Vervollkomm⸗
nung der Sprachen märhtig beigetragen, ja es tft ohne fie eine höhere
Ausbildung derfelben kaum gedenkbar; aber wie blicken für. jegt von
Diefer Eimwirfung weg und vorerft nur auf die Unentbehrlichkeit der
beiden Erfindungen für die Verbreitung und gefiherte Dauer
der durch die Sprache (nehmen wir an, fie fei ſchon ohne Schrift zw
hoͤchſter Ausbildung gelangt) mittheilbaren Erkenntniſſe, Ideen, Gefühle,
überhaupt ber einem größern Kreife gewibmeten Weberlieferung. Die‘
mündliche Rede ift jedenfalls bloß einem kleinen Kreife unmit-
telbar vernehbmlich, und jebe weitere Miittheilung durch das Organ
der urfprlinglichen Hörer an Andere der vielfachften Verfaͤlſchung, durch
Vergeßlichkeit, Mißverſtaͤndniß ober boͤſe Abficht, unausweichlich preisge⸗
geben. Auch ſind ihre Eindruͤcke nur voruͤbergehend oder augenblicklich,
db. h. in Bezug auf Fortdauer ober Erneuerung von der Treue
des Gedaͤchtnifſes abhängig, folglich unzuverläffig und meiſt in kur⸗
zer Friſt völlig verfchreindend. Die Schrift, welche an die Stelle der
ſchnell verhallenden Sprachlaute fihtbare, beharrliche Zeichen ſetzt,
hilft dieſen Mängeln ab, doch in unendlich verfchtedenem Grabe, je na
der Beſchaffenheit folcher Zeichen und der Mittel zu ihrer Hervorbrin⸗
gung. Schon die Schriftmalerei oder Bilderſchrift, fo mühe
fans und fo befchränkt auf nur wenige, ſolcher Darftelung empfängliche,
Gegenftände und auch fo ausgefegt dem Mißverftändnig oder dem Ders
geffen ihrer urſpruͤnglichen Bedeutung (menigftens der, die blos im Alt
gemeinen bargeftellte Thatſache oder Idee näher charakterificenden,
befonderen. Orts⸗ und Zeits Beflimmungen, überhaupt umſtaͤndli⸗
ern Ausführungen) fie tft, giebt dee Weberlieferung eine koftbare und
die Fortpflanzung durch bloß geſprochene Worte weſentlich amterftügende
Hülfe. Ihre Ummandlung in Hierogiyphenfhrift,.d. h. in ſym⸗
bolifche Bezeichnung, vermehrt und erleichtert ihre Anwendbarkeit, wenn
audy auf Unkoften bee Deutlichkeit. In noch größerem Maße gefchieht
dieſes, wenn man neben oder ftatt der ſymboliſchen Zeichen wills
Türliche fest, deren Bedeutung fobann als rein kuͤnſtlich, nur durch
bas Gedaͤcht niß kann feftgehalten, aber auf alle gedenkbaren Sachen
mag ausgedehnt werben. Doc erft durch die Vertauſchung der die Sa⸗
hen ſelbſt — natuͤrlich oder ſymboliſch — bdarftellenden Zeichen
mit folchen, welche die Namen ber Sachen, überhaupt bie Sprache
laute, womit Gedanken ober Empfindungen ausgedrüdt werden, ans
deuten, geſchieht der Uebergang zur wahren Schrift, und erft durch
die (dee unbehüfflichen, wiewohl noch heute in Sina uͤblichen Woͤr⸗
ter» und au der Sylbens Schrift unendlich voranftehenden) Wu ch»
ſtaben⸗Schrift, d. h. durch die Auflöfung der articnlirten Töne in
ihre einfachften und baher wenig zahlreichen Elemente Buchſtaben
8
36 Buchdruckerkunſt.
genannt) und deren Bezeichnung durch willkuͤrlich dazu ausgemählre
Charaktere wird der große Schritt gethan zur leichten und zuverläffie
gen UWeberlieferung nicht nur der Worte. jedes Redenden (mfofern
fie der Aufzeichnung werth erfcheinen) als bes Erzaͤhlers, Dichters, Leh⸗
vers, Gefengebers u. f. w., fondern aud ber ftillen Betrachtungen und
Empfindungen des einfamen Denkers, beren Gebädhtniß er ſich
ferdft oder Andern aufbewahren will, an Mitwelt und Nachwelt.
Durch diefe große, faft mwunderähnlihe Erfindung (deren unbelannten
Urheber auch wirklich die Sage mit der Glorie eines Wunberthäters
oder Halbgotte® umgibt) wird bie getreue Mittheilung jedes von irgend
einem Menfhen Gedachten, Empfundenen, Erzählten ober Innegewor⸗
denen an alle andern, von ihm nady Raum und Zeit wie weit immer
entfernten Menfchen möglich; doch freilich noch nicht fofort in vollem
Maße ober dem VBebürfniß der Menfhenbildung entfprechenb, fondern,
je nad) bee Befchaffenheit der Schreibe s Art und ber Schreib » Mates
riolien und namentlih dee Wervielfältigungsmittel ber Schrif⸗
ten, bald mehr, bald weniger leicht ober ſchwer, fehnell oder langſam
verwirklicht.
Herrliche Schäge des Geiftes und Gemuͤthes ber vor Jahrtauſen⸗
ben, begrabenen Sefchlechter, Eoftbare, vielfach Iehrreiche Gefchichten, Glau⸗
bensbücher, Gefege und echte, Meiſterwerke des Genies in fchöner
und ernfter Wiſſenſchaft, find mittelſt dieſer unfchägharen Erfindung
durch die lange Nacht des Mittelalters theils unverfehrt, theils wenig⸗
fiens in koͤſtlichen Bruchſtuͤcken zu uns gelangt; die uralte und bie clafs
fifhe Welt find dadurch mit der neuen und neueften in unmittelbare
geiftige Verbindung gebracht, der Givilifation der letztern eine eble Grunds
lage und vielfach beftimmende Richtung ertheilt und, was bie Weiſen
der grauften Vorzeit dachten, lehrten unb geiftig fchufen, zu einem ganz
unverlierbaren, auf die fpäteflen kommenden Gefcylechter ſich verecbenden
Beſitzihum gemacht worden. |
Uber die Fuͤlle ſolcher Wohlthaten, zumal bie Sicherftellung
ihrer Sortbauer, die Allgemeinheit ihrer Verbreitung und ihre leichte
Zugänglichkeit für Jeden find erft aus einer mweitern- großen Er
findung hesvorgegangen, melde, ohne am innem Wefen der Buchs
ftabenfcheift (Bezeichnung der Elemente ber Eprachlaute, d. h. der Buch⸗
ftaben, durch willkuͤrlich dafuͤr beflimmte Charaktere oder fichtbare Mars
ten) etwas zu ändern, bios die Art des Schreibens ummanbelte, näms
ih an die Stelle der Hand» Schrift eine Mafchinen » Schrift fegte
und dadurch die Vervielfältigung der Schriftwerke, bie urfpränge
ich Tangfame, mühfelige, Eoftfpielige und ben Gefahren ber Unrichtig⸗
Leit ober VBerfälfhung fortan unterworfene, zu einer mwunberbar ſchnel⸗
Ien, leichten, wohlfeilen und moͤglichſt zuverläffigen, d. b. correcten und
gleihförmigen machte. Die Buchdruckerk unſt ift diefe Erfindun
eine duch ihre Wirkungen fo unermeßlich gewaltige und fegenreiche, für
das Schickſal ber ganzen Menfchheit fo entſcheidend beftimmende, daß
man fie, ob auch allernächft hervorgegangen aus dem Geifte eines
Buchdruckerkunſt. 37
Mannes oder einiger genialer Männer, democh fuͤglich als Frucht
einer goͤttlichen Erleuchtung derſelben, als ganz eigentliches, wenn
auch nicht unmittelbares, doch durch auserwaͤhlte Organe verliehe⸗
nes Geſchenk des Himmels betrachten kann.
Die Erwaͤgung ber Zeit und der Weltlage, mworein die große Erfin⸗
bung fällt, dient ſolcher Anficht zur eindringlichen Bekraͤftigung. Wäre
fie früher gemacht worden, in ben finftern Jahrhunderten des milden
Fauſtrechts und des weltbeherrfchenden Hildebrandismus, fo hätten bie
Völker ihren Werth gar nicht erkannt, oder, wofern davon eine Anwens '
bung im Dienfte des Lichts und des Rechts waͤre verfucht worden, fo
hätte bie vereinte Macht des Schwertes und bed Krummſtabes die jugend-
liche Prefie ohne Mühe unterdruͤckt oder gefeffelt, und der Gewalt,
zumal der geiftlihen, ausfchließend bienftbar gemacht. Der Bann⸗
ſtrahl wire gegen bie profanen Buchdruder und auch gegen bie Leſer pros
faner Bücher gefchleubert und, wie von den aͤgyptiſchen Prieftern die
Hieroglyphe und von den indifchen Braminen bie Schrift, fo jest von
der chriftlichen Hierarchie die Preffe als Eigentum der Kirche in Anſpruch
genommen und zum Werkzeug des Aberglaubens oder der bleibenden Gets
ftesunterjochung mißbraucht worden. Sie aber erfchien gerade in ber
verhängnißreichen Epoche des im Abendland wieder angebrochenen Kichte®
und des bereits hoffnungevoll begonnenen Kampfes des Geiftesfreiheit ges
gen Geiſtestyrannei, fo mie auch der bürgerlichen Freiheit gegen Zwing⸗
berefchaft, wo jener, um ihe den Sieg über diefe zu fichern, eine fchnelle
und maͤchtige Huͤlfe vonnöthen war. Bereits war bem Defpotismus durch
die fchon geraume Zeit früher ind Leben getretene Erfindung des Schießs
_ pulvders eine furchtbare Waffe verliehen worden und durch das begin«
nende Emporkommen ſtehender Heere hatte die Gefahr für die Voͤl⸗
er ſich drohend genähert, bereits rar aud, der Hildebrandismus durch
das Verlangen nad Reform, mwelhed in Conſtanz und n Bafel
erfiungen, aufgefchredit worden, und ein mit vermehrter Lebhaftigkeit und
mit Waffen der Lift mie der Gewalt geführter Krieg mider das aufs
bämmernde verhaßte Licht war bie Folge davon. Haͤtte in dem Zeitpunkt,
da Luther das Panier der Gemwiffensfreiheit erhob, bie taufendftimmige
Preſſe noch nicht geiebt, ja hätte fie nicht fhon zwei Menfchenalter fruͤ⸗
ber begonnen, ihe wohlthaͤtiges Licht auszuftreuen und die Nationen‘ ems
pfänglich für die Lehren der Reformatoren zu machen, fo hätte das welt⸗
umkehrende Werk der legten, das auch unter den begänftigendften Um⸗
‚fländen immer noch unendlih muͤhevolle und gefährliche, wohl nimmer
vollbracht werden koͤnnen. Alsdann aber hätte Europe in bleibende Nacht,
in den traurigften Geiftesfchlummer verſinken mögen. Der geifttiche und
mit ihm (fei es dienend, fei es herrſchend) verbunden auch der weltliche
Defpotismus hätte die Nationen allgewaltig unter bie Füße getreten und -
die etwa jegt erft erfundene Buchdruderkunft hätte fie nimmer erloͤſet,
fo wenig als in den Ländern, worin das Pfaffenthum über die Reforma⸗
tion entfcheidend fiegte, veie 3. B. in Spanien oder im Kirchens
ſtaat, bie alldort in ſchmaͤhliche Feſſeln gelegte Preffe währen des Lau—
38 | Buchdruckerkunſt.
fes von drei Jahrhunderten (die neueſten Ereigniſſe finb meiſt bie Wir⸗
kung auswaͤrtigen CEinfluſſes) vermochte, die Nebel bes Aberglaubens
zerſtreuen und mit den erwaͤrmenden Strahlen des Lichts und der
—2 die verfinſterten Maſſen zu durchdringen.
Was aber die Preſſe unter guͤnſtigen Verhaͤltniſſen oder auch nur
unter ſolchen, die nicht allzu feindlich ihrem Wirken ſich entgegenſtellen,
fuͤr herrliche Fruͤchte zu bringen faͤhig, ja natuͤrlich berufen iſt, und wie
unermeßlich die Wohlthaten ſind, die auch wirklich von ihr aus, trotz
mancher gewaltſam und kuͤnſtlich ihr entgegengethuͤrmten Hinderniſſe, uͤber
die Nationen und mittelbar uͤber die geſammte Menſchheit gefloſſen ſind,
lehrt ſchon ein fluͤchtiger Blick auf ihre Natur und Geſchichte, verglichen
mit jenen der einfachen Schreibekunſt.
Vor Erfindung der Buchdruckerkunſt war es auch dem Talentvollſten,
Wißbegierigſten, durch buͤrgerliche Stellung Beguͤnſtigtſten und mit pecu⸗
niairen Huͤlfsmitteln Beſtverſehenen aͤußerſt ſchwer, ſich eine umfaſſende
wiſſenſchaftliche Bildung anzueignen. Die Buͤcher waren ſelten, der
Ankauf eines einzelnen Manuſcripts von Bedeutung und Umfang
war — zumal vor der Erfindung bes Linnens Papiers — leicht fo
Eoftfpielig als heut zu Tage der Ankauf einer mäßigen Bibliothek,
und nebft dem Gelde war erft noch die Gunft des Zufall nothwendig,
um zur Kenntniß ober zum Befig folcher Manuſcripte zu gelangen. Der
Geiſt des nach Wiſſenſchaft Dürftenden, der leicht zugänglichen, beich
venden Mittheilung früherer oder auch gleichzeitiger, jedoch entfernterer
Denker und Forſcher beraubt, oder auf wenige, vereinzelte Beruͤhrungs⸗
punkte mit denfelben beſchraͤnkt, ſah fich faft ausfchließend an die eigene
Kraft und Mühe gewiefen und mußte daher — anftatt da fortfahren zw
Eönnen, wo die Vorgänger flehen geblieben — unkundig der frühern
Entdeckungen, jebesmal faft von vorn anfangen, und konnte alfo, wenn
er auch für fich feibft den Ruhm ber Genialität oder des raſtloſen Stre⸗
bens errang, die Wiſſenſchaft an ſich nur wenig fördern. Selbſt koͤnig⸗
liche Schäge — verwendet zu Anſchaffung der theuerften Werke ober
etwa zu Reifen Behufs perfönlicher Anfchauung und Beſprechung — konn⸗
ten ſolchen Mangel nicht heilen, und um fo weniger vermochte ber in
befchränkteren Vermoͤgensumſtaͤnden Befindliche denfelben durch irgend eine
Anfteengung zu erfegen. Viele und gerade die wohlthätigften
Hälfsmittel, deren jego der Freund der Wiffenfchaft ſich erfreut
beftanden vor ber Buchdeuckerkunſt nicht und konnten gar nicht beflehen.
Mie Hätte man, befchränkt auf blos handſchriftliche Mittheilung,
daran denken innen, jene größeren, umfaffenderen, die Geiftesfrüchte
von Sahrhunderten ober von ber Geſammtheit ber Zeitgenoffen in fich
fließenden, ober die Tag für Tag new angeftellten Unterfuchungen, Be⸗
urtheilungen und Beleuchtungen von Lehrmeinungen und Xhatfachen und
deren Ergebniffe mittheilenden Werke hervorzubringen, welche heut zu
Tage den Studien fo vielfache Erleichterung und bem Geiftesblid eine
fo audnehmend erweiterte Ausficht gewähren? Ohne Preffe befüßen wie
Seine, oder nur wenige und kuͤmmerlich ausgeftattete, Wörterbücher
Buchdruckerkunſt. 39
aller Art, keine reichhaltigen Sammlungen ober fortlaufenden
Niederlagen von Berichten, Entdedungen, Anſichten und Streitver⸗
bandlungen über gelehrte Gegenftände oder Hiftorifche Merkwürdigkeiten,
feine Eritifchen und periodiſchen literarifchen Blaͤtter, keine großen,
die vereinte Geifteschätigkeit Wieler in Anfprudy nehmenden Werke, wie
allgemeine ober befondere Encytlopäbien u. dgl., und es wäre fonadh,
obfhon freilich das Genie jeberzeit, wenigftens in einer ober ber andern
Sphäre, ſich Bahn zu brechen im Stande bleibt, dennoch bie univers
ſal iſtiſche Bildung felbft dem Talentvollften ganz unmöglich, und
aud in jeber einzelnen Sphäre die Tuͤchtigkeit oder Vollkommenheit uns
vergleichbar ſchwerer zu erreichen gewefen; bie von Natur minder reich
Begabten aber hätten, bei allem Eifer des Studiums, doch dem Tems .
pel bes höhern Wiffens ftets ferne bleiben müffen.
Die Schwierigkeiten und Hinderniffe, womit folchergeftalt jeder Ein»
zeine bei feinem Streben nach Erkenntniß zu ringen hatte, ſehten natuͤr⸗
lich und noch wirkfamer auch dem Kortfchreiten dee Wiffenfhaft im
Ganzen fi) entgegen. Noch andere nachtheilige Umflände kamen aber
bier dazu. Vor Erfindung der Buchdruckerkunſt mochten leicht die ſchoͤn⸗
ſten Entdedungen des Einen allen Andern verborgen bleiben ober — bei
dem jedenfalls höchft befchränkten Kreife der Mittheilung — wieder vergefs
fen werden. Dagegen mochten bie größten Irrthuͤmer, welche in Schriften
niedergelegt waren, aber etwa nicht zur Kenntniß Derjenigen Samen, bie
fie nach ihrem beffern Wiffen hätten berichtigen ober widerlegen koͤnnen,
unbetämpft im Buche fortfhlummern und, wenn dieſes fpäter an's
Tageslicht kam ober auch wenn eine frühere Wiberlegung wieber vergefs
fen war, die verderblichſten Zäufhungen bervorbringen, und aud bie
verftändigften Forſcher auf noch meitere Abwege führen. Weberall gab
es feinen gemeinfamen Schag ber Erkenntniß, womit jeder
Einzelne zum Frommen der Sefammtheit hätte mwuchern und der ſich durch
Die fortgefegte Arbeit ber Gefchlechter immerwährend und bis in’s Unend⸗
tiche hätte vermehren können. Allem dem ift aufs Vollftändigfte abge
boifen duch die herrlihe Buhdrudertunf. Durch fie ift, wie
Herder fo fhön fagt, „die Geſellſchaft aller Dentenden in allen Welt
theilen eine gefammelte und fichtbare Kirche geworden”. — Unzählige
Arbeiter mochten von nun an mit unermeßlichen Hülfsmitteln
und gemeinfam ben Prachtbau ber Wiffenfchaft weiter führen und
jedes Gefchleht dem nachfolgenden den geficherten Fortbefig des Er:
sungenen fowohl als aller Mittel zu weiterer Erwerbung binterlaffen.
Vor Erfindung der Buchdruderkunft blieb folcher Fortbeiig immer nur
ſchwankend. Früher mochte die jedenfalls nur befchränkte Zahl von Abs
(dyeiften dee — etwa den Inhabern der Gewalt verhaßten — Bücher
und die geringe Anzahl ber vorhandenen Bücher überhaupt einem liſtigen
Defpoten oder einem Verein von Gemwaltsherrfhern ben Gedanken und
den Muth einflößen, das ihnen Gefahr drohende Licht der Wahrheit durch
Vertilgung ber ihnen mißfälligen oder gar aller Bücher überhaupt zu
erftiden. Dat doch ſchon vorlängft in Sina der Thronraͤuber Tſchi⸗
—
40 Buchdruckerkunſt.
Hoang⸗Ti einen ſolchen Buͤcherbrand verordnet und ausgeführt. Heut
zu Tage aber iſt zwar noch moͤglich, das Erſcheinen oder die Verbreitung
einzelner erſt werdender oder kaum gedruckter Buͤcher zu verhindern
oder niederzuſchlagen: doch ein Vertilgungskrieg gegen alle bereits vor⸗
handenen, in umbeſchraͤnkter Vervielfaͤltigung und in unzaͤhligen Privat⸗
bibliotheken zerſtreuten Buͤcher wuͤrde ſelbſt einem weltbeherrſchenden
Napoleon — ſo große Luſt er auch dazu fuͤhlen moͤchte — zu ſchwer
und, ohne allen beabſichtigten Erfolg, nur zu ſeiner ewigen Schande aus⸗
ſchlagend ſein.
Nicht nur bie Gelehrten⸗Republik, und nicht nur bie Wifs
fenThaft an ſich haben dergeſtalt durch die Buchdruckerkunſt uners
meßlihen Gewinn errungen; fondern, was noch wichtiger iſt, das Licht.
iſt duch fie auch in die Maffen der Bevoͤlkerung geführt, die Er⸗
tenntniß, wenigſtens in ben dem Menfhen und Bürger. wichtigften
‚Dingen, auch ben niedrigſten Claffen - zugänglid) geworben. Ohne bie-
Preſſe würden wir keine hinreichend verbreiteten Volksbuücher, eine
bem ElementarsUnterriht in den gemeinm Schulen, Beine der
jedem einzelnen Stand oder Beruf eigens nöthigen Bildung ges
wibmeten Schriften, menigftens weitaus nicht in genügender Eremplariens
zahl, befigen; die Grundmaſſe der Nationen würde fortwälrend ber .
Theilnahme an ben Kortfchritten der Erkenntniß beraubt und die Scheides
wand zwifchen ber gelehrten und ber ungelehrten Claffe nimmer nieder
geriffen worben fein. Die Preffe erft hat möglidy und leicht gemacht,
den Unterricht über alle Stände zu verbreiten, die ganze Nation
zur Erkenntniß der Menfchen» und Bürgers Rechte und Pflihten heran⸗
zubilden und fo bie Idee eines wahren Recht sſtaates, d. h. eines.
auf allgemeines, nämlich allen natuͤrlich Wollbürtigen gemeinfames,
Sefeltfhaftsreht und auf bie Herifchaft eines vernünftigen
Geſammtwillens begründeten, zu verwirklichen. Welches auch die
pofitiv beftimmten Formen einer DVerfaffung feien: fie ift vechtlih und
das Gemeinwohl verbürgend, nur infofern neben ber Thaͤtigkeit der po⸗
fitto aufgeſtellten Gewalten eine Iebenskräftige Sffentlihe Meis
nung befteht, welche biefelben controlicte oder leite. Mur durch bie -
Prefſe kann in einem ausgedehnten Staat eine folche Sffentikhe Meis
nung erzeugt werden oder in zuverläffige Erfcheinung treten. Ihr alfo
ift gegeben, die Regierungen zum Guten, zu jeder zeitgemäßen Reform,
zu jeder heilfamen Maßregel zu lenken; ihr ift in legter Snftanz die -
Garantie alles Iffentlihen und felbft alles Privatrecht
anvertraut. Sie emdlih hat eine Rednerbühne errichtet, von wel⸗
her man gleihzeitig zu Millionen fprehen, berfelben Verſtand
und Gefühl für bie Beduͤrfniſſe des Augenbtids in Anfprud nehmen
und dadurch eine zur Abwenbung des Unheil® oder. zur Bereitung de6
Öffentlihen Wohles entfcheidende Gemeinſchaftlichkeit der Rich
tung erzeugen kann. Sie erhält die Staatsbürger in fortlaufen-
der Kenntniß ber das Gefammtwohl berührenden Angelegenheiten, und
den Weltbürger in jener der für bie allgemeinen politifchen und hu⸗
[4
Buchdruckerkunſt. 41
manen Intereſſen wichtigen Ereigniſſe und Umſtaͤnde, und belehrt auch
jeden Einzelnen Zug für Tag über die auf feinen beſondern Lebens⸗
beruf oder auf jenen feines Standes Einfluß dußernden, ihm alfo zu
wiflen nothwendigen oder nüglichen Verhaͤltniſſe, Begebenheiten, Erfin⸗
dungen, überhaupt günftigen oder ungünftigen Erfcheinungen, ebenfo
über die dee aligemeinen ober bee befondern Freiheit drohenden
Gefahren und die dagegen vorhandenen oder fid) vorbereitenden Vers
theidigungsmittel und Anftalten, und fest durch folche Beleh⸗
wung ihn in den Stand, ein würdiger Staates und Weltbürger, ein
feine Stellung mit Klarheit erfennender BZeitgenoffe und ein das eigene
Sntereffe und das der ihm näher Angehörigen nidyt minder als jenes
ber größern Gefammtheit mit Einfihe und Erfolg wahrender und för
dernder. Mann zu fein.
So mannidjfaltige und wahrhaft unermeßliche Wohlthaten fpenbee
die Preffe oder iſt geeignet, fie zu fpenden. Wem verdanken wir das
unſchaͤtzbare Geſchenk? — Etwa dem Staat ober ben Stantenlen«
Fern? Wahrli nein! Manche ſchoͤne Entbedungen fonft und manche
Beförderungsmittel der Humanität zwar gingen. von Staaten oder Mes
gierungen aus oder gediehen wenigſtens nur durch derfelben wirkfame
Unterftügung. So viele der großen geographifhen Entdedungen —
wie jene des Vasco be Gama und felbft de8 Columbus — fo
auch mandye veichbegabte Gründungen für Kunft und Wiffenfhaft,
Religion und Handel, fo die Schusanftalten gegen bie Peft und
gegen die Poden, viele fegenreihe MWohithätigkeitsanftalten
u. a. m. Dod die allergrößten und entfcheidendften Forts
fohritte dee Humanität find nicht das Werk der Staaten, fondern dee
freien Menfchengeiftes gemwefen, der ba freilih ald Bedingung
feinee nad) Außen gehenden und gefiherten Wirkſamkeit das Leben
im Staate vorausfegt, doh unabhängig von ihm, blos auß eiges
ner inwohnender Kraft feine Wunder hervorbringt. Ganz vors
züglich ift diefes von der Buhdruderkunft wahr. Diefelbe ift nichts
Anderes, ale ein Theil — und zwar ber vollendende Theil — ber
aus der innerfien Natur des Menfhen, d. h. aus feinem mächtigen
Zriebe, fih mitzutheilen und Mittheilung zu empfangen,
bervorgegangenen großen Kunft der Sprache, die da in fich faffet
nicht‘ blos die mündliche Rede, fondern aud) die der Augen, Mies
nen und Geberden, fodann jene der Schrift und enbdlid der
gleichzeitig taufend und taufendmal redenden und fchreibenden Preffe.
Diefe göttlihe Kunft der Mittheilung von Gedanken und Gefühs
ien, diefe® heilige, die Menfchheit umfhlingende Band iſt das
ber auch das mefentlich freie und unantaftbare ECigenthum ber Mens
fhen, nicht minder als die mitzutheilenden Gedanken und Gefühle
ſelbſt; keine willkürliche Schranke kann ihrer Ausuͤbung geſetzt
werben, fondern bloß jene de Rechts geſetzes, welchen nämlich alle
Sphaͤren der äußern Wechſelwirkung der Menfchen unterfichen und beffen
Pe Princip die Nichtverlegung ber gleihen Freiheit Al⸗
er ik. |
A Bruuchdruckerkunſt.
Da wir nach unſerem Standpunkt allernaͤchſt nur die allgemeine
politifhe und humane Bedeutſamkeit ber Preſſe in's Auge
zu faſſen haben, fo duͤrfen wir bei der Geſchichte ihrer Erfins
dung nur wenig verweilen. Denn für jene allgemeine Bedeutſamkeit
find Vaterland und Ort der Erfindung und Name der Erfinder ziemlich)
gleichguͤltig. Auch ift wohl Eeiner unferer deutfchen Lefer, der nicht mit
gerechtem Dankgefuͤhl und patriotiſchem Stolze die Namen der Haupt:
erfinder in Liebender Erinnerung trüge, zumal den Namen bes trefflichen
(aus einem alten mainzifhen Rittergeſchlecht flammenden) Johann
Gutenberg von Sorgenlod) (von väterliher Seite eigentlich) Genß⸗
fleifch zu nennen), weldyer der Exite den großen Gedanken nicht nur
im Innern erzeugte, fondern auch, nad vieljährigee Geiftegmühe und
Bekämpfung ſchwerer Hinderniffe, endlich in glänzende Ausführung ſetzte,
allerdings nicht ohne wirkſame materielle und geiftige Hüffeleiftung Jo⸗
bann Fuſt's, eines reihen aber geizigen Bürgers in Mainz, und bes
geſchickten Peter Schäffer aus Gernsheim, body die Ehre des eigents
lichen Urhebers mit keinem Anbern theilend. Ob er (mie zumal
Schöpflin darzuthun ſich bemüht in Vind. typogr. Argent. 1760)
bereits in Strasburg, wofelbft er von 1424 bis gegen 1445 gelebt, -
die Daupterfindung (nämlich das Drucken mit beweglichen metallenen
Lettern) gemacht, oder erft nad) feiner Zuruͤckkunft in Mainz (allwo,
zumal feit 1450 unb deutlicher feit 1454, bie ungmweibeutigen Spuren
der Vollendung, theils in Zeugniffen, theils in wirklichen Druckwerken ers
fhienen) ift von geringer Wichtigkeit. Selbſt die (zumal von Gerard
Meermann in feinen Origines typographicae 1764 vertheidigten) Ans
fprüche, welche die Stadt Harlem in Holland an die Ehre der Erfins '
dung macht, indem fie diefelbe ihrem Mitbürger, Laurenz Sanffoen,
Küfter an ihrer Parochialticche (geb. 1370, geft. um 1440), zuſchreibt,
zu fo intereffanten gelehrten Erörterungen auch dee daruͤder geführte Streit
die Veranlaffung gab, mögen wir dahingeftellt fein laſſen. Es ift mög»
lich, daß gleichzeitig oder faft gleichzeitig mehrere erfinderifhe Köpfe,
ohne etwas von einander zu wiffen, ben im Grunde einfachen Gedanken
gefaßt haben, anftatt der fchon lange vorher erfundenen gefchnittenen
Holztafein, womit man nicht nur Bilder, fondern auch kurze Säte
druckte, beweglihe Buchſtaben — anfangs gleichfalls aus Holz und
fpäter aus Metal — zu fehneiden, und noch fpäter ben wieder nicht
eben ſtaunenswuͤrdigen Gedanken, die metallenen Ketten zu gießen,
wornach dann jede weitere Wervolllommnung bem Nachdenken talentvols
- lee Männer kaum mehr entgehen Eonnte. Es ift alfo möglich, fagen
wir, dag in Mainz und in Harlem ungefähr gleichzeitig dieſe faſt na⸗
tuͤrlich aufeinander folgenden Schritte gefchehen find; doch fcheinen bie
Gruͤnde derjenigen überwiegend, welche dem harlemer Küfter zwar
etwa den Ruhm der Vervollkommnung dee Holzſchneidekunſt ober
der xylographiſchen Druderfunft neben Gutenberg überlaffen,
biefem legten aber ausfchließend jene der eigentlichen, nämlich ty pogra⸗
phifchen Kunft, zufprechen. Schon bes alten Abtes Erithem Beugaiß
Buchdruckerkunſt. | ‘ "43
(loannis Trithemil icon Hirsaugiense ad ann. 1450) iſt von
großer Beweiskraft, umb viele andere find gefammelt in mehrern außs
führlichern Schriften aber bie Erfindungsgefchichte, am .reichhaltigften in
bem neueften Werk von C. A. Schaab: „Die Gefchichte der Erfindung
bee Buchdruckerkunſt durdy Johann Gengfleifh, genannt Gutenberg, zu
Mainz, ptagmatiſch aus ben Quellen bearbeitet u. f. w.”, Mainz 1830.
1851. 3 Bände.
Auch die ferneren Schickſale der Buchbruderkunft, ihre fchnelle Ver⸗
breitung — großentheil6 buch deutfche Unternehmer — über die civis
lifirten Länder der Welt, und das Verzeichniß der merfwürbigern dltern
D rke überlaffen wir den Bibliographen zur umftändlihen Darftellung.
€ die gerechte Lobpreifung der durch Vervollkommnung und eble
Anmenbung ihrer Kunft feit der Zeit ber Erfindung bis auf den heutis
gen Tag vorzüglich ausgezeichneten Buchdrucker. Nur zweier in ber
neueften Zeit gemachten, bie Zwecke ber Preffe ganz ausnehmend förs
dernden Verbeſſerungen haben wir noch zu gedenken. Die eine ift bie
Erfindung bes flereotypifhen Drudes und die andere jene der
Schnelipreffe. Die erfte — von Firmin Dibot in Paris,
wenn auch nicht erfunden, doch weſentlich verbeffert — bedient fich, ſtatt
einzelner Lettern, ganzer Platten, mozu die Matrizen auf finnreid)
erdachte Weiſe verfertigt werben, zum Abdrud und gemährt dadurch ein
treffliches Mittel, ohne Wiederholung des Drudfapes, eine unermeßs>
Lich große Anzabl von durchaus gleichförmigen und moͤglichſt corres
cten Eremplarien eines Werkes, und zwar um wohlfeilen Preis, zu
liefern. Sie iſt alfo zur Verbreitung 'von Merken, von denen man
wuͤnſchen muß, daß fie in Jedermanns Hände oder doch in möglichft
viele Hände gelangen, ald von anerkannt claffifhen Schriften, oder
auch von Volksbuͤchern, Schulbühern u. f. w. beftimmt und ges
eignet. Die zweite, naͤmlich bie Schnellpreffe, beruht auf einer
Lünftlichen Vervollkommnung des Mechanismus, wodurch man, nach mehs
ern in Niederlanb, England, Ameritaund Deutfhland durch
erfinderifche Köpfe gemachten Fortfchritten, endlich in ber neueften Zeit da>
hin gelangte, in einer Stunde an 2500 Eremplare einer Form, ſonach
zehnmal foviel, als mit dem gewöhnlichen Preßapparat zu fertigen
möglich ift, abzudruden. Der deutſche Kuͤnſtler, König in Würze
burg, bat ſich dur WVerfertigung folcher Preffen ganz vorzuͤglich ausges
zeichnet. eine verfeinertften, wahrhaft bewunderungswuͤrdigen, Maſchi⸗
nen bruden beibe Seiten bed Bogens gleichzeitig ab und bie, wenn
man will, aud buch Dampf zu bewirkende Thaͤtigkeit derſelben, alfo
zumal bie durch eine Dampfmafchine hervorzubringende gleichzeitige Ars
beit mehrerer folcher Preflen eröffnet der ſchnellen Vervielfältigung
der Eremplare eine unendliche Ausficht, erleichtert die tagtägliche Beleh⸗
rung ber Nation, die tagtägliche Verhandlung der Öffentlichen Angelegens
beiten auf eine früher ganz ungeahnete Weife und macht es möglich, in
Augenbliden, wo es Noth thut, gleichzeitig zu Millionen zu fprechen.
44 Buchdruckerkunſt.
Die Frage, ob es rechtlich zulaͤſſig und ch raͤthlich ſei, die
Druckerpreſſe duch polizeiliche Vorſchriften zu beſchraͤnken, ins⸗
beſondere ob — außer der ſich von ſelbſt verſtehenden Befugniß und
Pflicht des Staates, den durch die Preſſe etwa zu begehenden Verbre⸗
hen, d. h. Rechtsverletzungen, duch geſetzliche Strafandrohung
zu begegnen und die wirklich begangenen nach dem Ausſpruch der Ge⸗
richte zu beftrafen — auch Praͤventiv⸗Maßregeln, namentlich die
Anordnung einer vorläufigen Cenſur, oder auch polizeiliche Befchlag-
nahme von Schriften, polizeiliche Bücherverbote, und andere viel
namige polizeilihe Befhräntungen bee Schriftftellerei, des
Bücherdruds und bs Buchhandels u. f. w. ftattfinden follen
oder im Rechtsſtaat flattfinden dürfen, werden wir umſtaͤndlich den
eigens der Preßfreiheit, ber Genfur und dem Preßgeſetz zu
widmenden Artikeln unterfuhen. Doch liegt die Anteutung zur Loͤſung
biefee tagen ſchon in ben voranftehenden allgemeinen Betrachtungen.
Bei ihrer Aufftellung wurde natuͤrlich abgefehen von der etma unter
außerorbentlihen Umftänben, alfo nur ausnahmsmeife und bloß zeits
lich, eintretenden oder gedenkbaren Nothwendigkeit oder Zuläffigkeit einis
ger Beſchraͤnkungen. Man ann foldhe Zuläffigfeit anerkennen oder bas
bingeftellt fein laffen und gleihwohl die Beſchraͤnkungen, wenn als
Regel geltend gemacht, für verwerflich erklären, fowie auch 3. B. die
Dabeascorpus:Acte in England durch Parlamentsbeſchluß zeitlich mag ſus⸗
pendirt und überall eine Stadt oder ein Bezirk in Belagerungsftiand
mag erklärt werden, ohne Schmäterung des ordentlichen Rechtsanſpruchs.
As Regel nun oder als bleibendes Princip für die Polizei der
Dreffe gedacht, iſt, wie dem Unbefangenen einleuchten muß, nur jenes ber
Repreffion (duch Strafgefeg und Strafvollzug) heilfam und zugleich
ungefährlich, weil naͤmlich blos gegen dag Rechts widrige gerichtet und
(roofern die Strafgefege vernünftig und die Gerichte gut befegt und gut
geregelt find) dem Mißbrauch wenig außgefegt, jene der Prävention
dagegen, zumal alfo dee Genfur, nad) feinem Begriff ober nad) feiner
Weſenheit unausbleiblih zur Willkür führend, in der Anwenbung das
Mipfällige mit dem Rechtswidrigen verwechſeind, auch praktiſch gar
feiner Beſchraͤnkung durd irgend ein anderes Princip empfänglich
und — weil Verheimlihung fein Werfen it — überall die Möge
lichkeit der Rechtfertigung ausfchließend, daher tödtend für das
Recht, d. h. der Gnade oder dem guten Willen der Machthaber baffelbe
überantwortend. Nichts ift nach Aufftellung diefes Princips natürlicher,
als daß es nach Drt und Zeit und nad den vielfach wechſelnden In⸗
tereffen, Befücchtungen, Aengitfichkeiten, überhaupt fubjectiven Richtungen
der Häupter auch mit fich felbft in Widerſpruch gerathe, db. h. heute
oder hier verwerfe und unterbrüde, was es geftern oder dort gepriefen und
begänftige hat, nichts auch natliclicher, als daß es im Ganzen feine
Strenge fortwährend fteigere, und endlich nicht bios die Bücher
der edelſten Weifen, Gefchichtfähreiber, Phitofophen, Rechts⸗ und
Religionslehre, fondern fogar das heilige Evangelium felbft den
+.
a
Buchdruckerkunſt. Buchhandel. 45
Augen des — wiewohl ber Chriftuskicche angehörigen — Volkes zu ent⸗
sieben fich verfucht fühle. Sa, in feinee Conſequenz iſt gelegen, fo
weit die Ausführbarkeie nicht mangelt, neben dem Druck auch die
Schrift und endlih au die mündlihe Mittheilung, ja die Geo
banten ſelbſt der nämlichen Beſchraͤnkung ober Gontrole zu untermwere
fen. Denn nothiwendig muß, wer eine Wahrheit für gefährlich achtet,
bald auch alle andern ſcheuen. Das Weich dee Wahrheit it ein
Tempel; in keinem Xheil, in Eeinem Winkel deſſelben kann ein Licht
aufgeftedt werden, ohne daß davon mwenigftens ein bämmernder Schein
auch auf die benachbarten Raͤume, ja nad) Umftänden audy auf tie ents
fernteften falle. Das natürliche, ja faft nothwendige Ziel der zum Prin⸗
cip erhobenen Wahrheits⸗ oder Lichtbefchränfung ift — die völlige
Sinfterniß. Motted.
Buchhandel. Schreibekunſt und Buchdruckerkunſt würden bie
Hälfte, ja neun Zehntheile ihres Werths verlieren, werm nicht der Bud)
handel ihnen hülfceich zur Seite ſtaͤnde. Denn nicht daß die Bücher
gefchrieben ober gebrudt, fondern daß fie gelefen werden, b. h.
alfo, daß fie zu demjenigen, welche bes Leſens begierig oder bebürftig
find, gelangen, ift die Hauptſache. Unter allen Gattungen bes Hans
dels erfcheint hiernach der Buchhandel als die edeiftd und fegenreichite,
oder muß als folche wenigſtens von allen denjenigen anerkannt werben,
welche bie geifligen und moralifchen Intereſſen höher achten, ‘denn
die materiellen. Auch finden wir in der Regel die Buchhändler an
Geiſtesbildung und Charakter allen andern Glaffen der Kaufleute vore
anftehend. ihre Beſchaͤftigung bringt ed mit fih. Eie find die nd«
her: berufenen Diener des Zeitgeiftes ; fie haben der Befriedigung der hoͤ⸗
heren, idealen, auf Veredlung ber Menfchheit gerichteten, Bebürfniffe
fi) gewidmet, nicht bloß jener der finnlichen oder gemeinern. Von
diefer edlen Bedeutung ihres Gewerbes werden auch unwillkuͤrlich alle,
von ber Natur nicht völlig verwahrlofte, Genoffen beffelben angefprochen,
und in feiner andern Sphäre bes Handels finden ſich fo viele und
fhöne Beifpiele von uneigennügiger, ja felbft aufopfernder, Verfolgung
idealer Zwecke, als in dieſer. (Meben demſelben freilich auch Beifpiele
von niedertraͤchtiger Schmuggelei und Verfälfhung, worin naͤmlich das
faubere Gewerbe der Nahdruder befteht.)
Der große Xhätigkeits: und Wickungsékreis bes Buchhandels er⸗
öffnete fi) ihm zwar erft durch die Erfindung der Buchdruderfunft, doch
beftand folder Handel, freilih in nur geringem Umfang, ſchon in ber
alten Welt. In Rom finden wir ihn gewöhnlih duch Freige⸗
laffene betrieben. Diefelben leiten fich ihre Abfchreiber, welche,
je nach Bebürfnif, die Eremplare vervielfältigten, und zwar nach einem
ihnen angegebenen — größern oder Heinen — Format. Auch Spuren
von verfchiedenen folhen Ausgaben (b. h. Abfchriftformen) eines
und beffelben Werkes, auh Honorarzahlungen an Gchriftfteller
baben die Alterthumeforfcher entdeckt. Auch in den größern Proving
Städten wurde diefer Handel getrieben. In Alerandrien zumal, alle
46 Buchhandel
wo er Übrigens ſchon wor bee römifhen Herrſchaft befanden, zeigte er
eine bedeutende Lebhaftigkeit. Im Mittelalter zog fich die Schreibe
kunſt, forsie die Lefeluft, meift in die Kloͤſter zuruͤck. Alldort ſammel⸗
ten ſich durch den Fleiß der Mönche — freilich meift mit ſchlechter Aus⸗
wahl — Pie Buͤcherabſchriften, kamen aber gar nicht oder nur wenig in
Verkehr. Erſt, nach dem Entftehen ber Univerfitäten, namentlicd)
jenen von Bologna und von Paris, begann wieder, zum Theil uns
ter der Aufficht jener Hochſchulen, einiger mweltlihe Buchhandel. Die fi
damit abgaben, hießen Stationari. Doc, blieb er meift auf das Bas
bürfniß der Studirenden befchränkt und, obfchon durch die. Erfindung
bes Baummollen= und fpäter des ZLinnenpapiers bie Theuerung
ber Bücher ſich vermindert hatte, dennoch durch bie mefentlihen Mängel
ber blos handſchriftlichen Wervielfältigung und durch andere Ungunft der
Zeit, ſowohl nad) Gegenftand als nach Ausbreitung aͤußerſt dürftig.
Aber die Buchdruckerkunſt heilte jeme Mängel, und fofort nahm der
Buchhandel einen heilfamen Aufſchwung. Die erften Buchbruder waren
zugleih auch Händler, wie namentlih Fuft und Schäffer bie von
ihnen gedrudten Bücher felbft nad) Frankreich zum Verkauf brachten. -
Solcher Selbftverlag der Buchdruder dauerte noch geraume Zeit. Spaͤ⸗
ter trennten fidy die zmei Gewerbe. Die Buchdruderei liefert jegt
in ber Regel auf Beftellung eines Verlegers oder auch des Schriftftellers
die Bücher in der verlangten Zahl der Exemplare, und ber Buchhan⸗
dei, nah feinen zwei Hauptrihtungen in Verlagshandel und
Sortimentshandel getheilt, verbreitet diefelben in allen Sphären
ber Leſewelt. Diele Werlagshändler jedoch, ja die größern in der Megel,
befigen zugleich aucd, Drudereien, und viele Sortimentshändler find zu«
gleich auch Verleger. Die am meiften vervolllommnete Geftalt hat ber
Buchhandel in Deutfhland erhalten, mwofelbft nämlid die Geſammt⸗
heit der Buchhaͤndler deutſcher Zunge (und auch einiger Nachbarländer),
zumal mittelft der leipziger Buͤchermeſſe und ber in Leipzig anges
ftelten Commiffionaire allee bedeutenden Buchhandlungen, fich wie
zu einem großen Vereine’ gebildet hat, woraus dann eine Centras
lifation und ſchoͤne Regelmaͤßigkeit biefes Handels, und dadurch eine
außerordentliche Erleichterung ;des Verkehrs entftanden if. Diefe Ein»
eichtungen und theild ausdrüdtichen, theils ſtillſchweigenden Verabredun⸗
gen beziehen fich meift nur auf den Handel mit neuen Büchern, deren
erftes Erſcheinen ober wiederholte Ausgabe ber jeweilige Meßkatalog
anzeigt; jener mit Altern oder feltenern Büchern, welcher ehebeffen
von den eigentlihen Buchhändlern mit betrieben warb unb außerhalb
Deutſchland meift noch jego betrieben wird, iſt jest bei uns meiſt einer
eigenen Claffe von Buchfuͤhrern, ben fogenannten Antiquaren, über
Icffen und durch ſolche Beſchraͤnkung auf Wenige, foweit thunlich, gleich⸗
falls (für Käufer und Verkäufer) erleichtert worden. '
Der alfo geregelte und durch täglich fih anknuͤpfende neue Verbin-
bungen allmälig über alle -civilifirte Länder fi) ausbreitende Buchhandel
iſt, wie einleuchtet, ein für die Sortfchritte der Wiſſenſchaft, überhaupt
Buchhandel. 47
der Humanltaͤt, unermeßlich wohlchätiges Hülfsmittel. Nur durch ihn
wird e6 jedem einzelnen Wißbegierigen, wo immer er wohne, möglich,
. amd, wofern er nicht ganz vermögenelos ift, felbft Leicht, ſich die ihm
nah Maßgabe feines Standes, Berufes oder feiner freigemwählten Stu⸗
dien nothwendigen ober nüglihen Bücher zu verfchaffen, feinen Geift
durch ſtets bereite Berührung mit andern Geiftern zu nähren und zu er»
auiden, die Weifen der Vorzeit, wie jene ber Gegenwart, bie erleuchtete
ften und tugendhafteften Lehrer, bie begeiftertfien und erhabenften
Sänger und Seher, nad) eigener Auswahl und jeden Augenblick zu bes
fragen, fid) mit ihnen vertraut, wie der Freund mit bem Freunde, zu
unterhalten und die Mittheitung ihrer tiefften Gedanken und aller Schäge
ihres Herzens, wie ihres Geiftes, zu empfangen. Jedem, dem es nicht
an Talent und Eifer gebricht, ift nun möglich, nicht nur mit dem alls
gemeinen Gange der Wiffenfchaften gleichen Schritt zu halten, d. h. jede
neue Bereicherung berfelben und jebe neue Entdedung fofort fi) anzu«
eignen, fondern auch ſelbſt erfolgreich mitzuarbeiten und den gemeinfamen
Schatz durch felbfteigene Beiträge zu vermehren. Die wirkfamfte Vers
anlaffung oder Ermunterung zu folcher Mitarbeit aber geht großentheils '
von der weiſen Induſtrie würdiger Verlagshändler aus, von ihe
auch der allernähft in dem erhebenden Bemwußtfein, durch eigene Geis
flesfrüchte viele Lefer, fern wie nahe, belehrt, zum Guten gelenkt oder
darin beftärkt, erfreut ober fich befreundet zu haben, liegende, dann aber
and) der, je nach ben perfönlichen oder Familienverhaͤltniſſen des Schrift
ſtellers ihm oft unentbehrliche, d. h. die unerlaßlihe Bedingung feiner
literarifchen Tätigkeit ausmachende, jedenfalls wohlverdiente, pecuniaire.
Lohn. Den Verlagshändiern, die man hiernach nit nur die Ges
burtshelfer, fondern auch gar oft die Erzeuger von Büchern nen:
nen kann, verdanken wir die Anregung oder den Entwurf zu man«
hen hochwichtigen Literaturwerken, nicht minder al® die Bildung der da⸗
zu nöthigen Gelehrtenvereine und die behartlihe Fortführung
des Unternehmens trotz ſchwerer Hinderniffe und gehäufter Ungunft ber
Zeit. Ein Verlagshänbler, der die Bedeutſamkeit feiner Stellung Eennt,
und bie zu berem mwürbiger Erfüllung nöthigen Geiftess und Gemuͤths⸗
kraͤfte und auch materiellen Huͤlfsmittel befigt, ift in Wahrheit eine
Macht, eine naturgemäß dem guten Princip befreundete und viel
fach hülfreiche, vom böfen Princip aber mit Recht gefuͤrchtete Macht.
Ein edeldenkender Verleger reicht dem aufkeimenden, doch noch fchüchter
nen und ber materiellen Hülfsmittel emtbehrenden Talent feine unters
ſtuͤzende Hand, führt es beſchirmt und empfohlen durch feinen geachtes
tem Namen in bie gelehrte Welt ein und verleiht ihm dadurch Muth
und Kraft zu größern Anftrengungen und früchtereichen Werken. Er
bringt die Erzeugniffe des Genies, bie wiffenfhaftlichen Entdeckungen des
einfamen Forſchers, die an die Landes⸗ und Zeitgenoffen gerichteten Mah⸗
nungen bes Patrioten und Menfchenfreumbes, die lebenskraͤftigen Protes
flationen wiber das Unrecht und den Unverfland möglichft ſchnell unter
alle Claſſen der Geſellſchaft, in den Bereich aller Theilnehmenden, Ver⸗
48 | Buchhandel.
ftändigen, dem Zeitgeift aufmerkſam horchend und liebend Zugemandten.
Er erzieht oder belebt ganze Vereine von wiſſenſchaftlichen Korfchern, von
Kaͤmpfern für Wahrheit, Licht und Recht, und gibt dem Strome ber
öffentlihen Meinung in mehr oder weniger weiten Kreifen Rich—⸗
tung und Kraft. Diele Beiſpiele fo vortrefflihen Strebens und Wirs
tens waͤren zu nennen aus Älterer, neuer und neuefter Zeit. Wir ent
halten uns der namentlihen Aufzählung, weil die Grenze der Nennens⸗
wuͤrdigkeit ſchwer zu ziehen iſt und Nichtgenanntwerden für Nichtgeache
tetwverden gelten Bönnte. Webrigens ift freilich bier, wie in andern Stäns
den, das Ideale nicht überall zugleich das Verwirklichte, und viele Ver⸗
leger find, die, von ſchnoͤden materiellen Intereſſen ausfchließend beherrſcht,
ihren hoͤhern Beruf theild gar nicht erkennen, theils engherzig hintane
fegen.
Mas wir von dem natürlihen Rechtsanfprud auf Freiheit der
Preſſe gefagt haben, gilt auch von jenem auf Freiheit bes Buch⸗
handels. Ohne die legte würde bie erfte zum bloßen Spott. Sprache,
Schrift, Bücherdrud und Buchhandel machen miteinander ein Ganzes
aus, dad Princip der Freiheit oder jenes der Beſchraͤnkung gilt gleiche
mäßig ober ift ertödtend gleichmäßig für Alle. Dee Macchiavellis—⸗
mus jebodh und noch mehr der Napoleonismus haben folhe Frei⸗
heit gleich argliftig als gemwaltthätig angefeindet, und es find aus dee —
bei dem Defpoten Napoleon freilich begreiflihen, bei wohlwollenden
Megierungen aber blos der Gefpenfterfurcht zu vergleichenden — Scheu
vor bedrucken Blättern bie und ba die tiefft betrübenden Erfcheinungen
hervorgegangen. Man hat den Verkauf eines — nicht etwa verbreche⸗
rifhen, fondern blos dem Genfor oder dem Minifter mißfälligen —
Buches mit Criminalftrafen und mit Entziehung des Ges
werbrechts bedroht; man hat bie Befammtheit ber bereits vorhan«
denen und ber künftigen Verlagsartitel eines in Ungnade gefalles
nen Buchhaͤndlers mit Verbot belegt; man hat auf auswärtige
Drudfachen einen fo enorm hoben Zoll gelegt, daß er wie ein unbe
dingtes Verbot (welches auszufptehen man ſich etwa ſcheute) wirken
‚mußte; man bat feibft die Anfündigung von erft im Druck be⸗
findlihen Büchern verboten, wenn deren Titel ober Verfaſſer miß⸗
fällig waren, und noch weitere mannichfaltige polizeiliche Beſchraͤnkung
und Controle zur Hintanhaltung verhaßter oder gefürchteter Blätter er⸗
dacht. Wohin ein folhes Syſtem endlich führen müßte, wenn es
fortbauerte, iſt Leicht zu erfehen. Aber es ann nicht fortbauern. -
Es widerſtrebt allzufehr dem Selbftbewußtfein der civilifirten Voͤlker und
dem feinen Gang unaufhaltfam verfolgenden Zeitgeift. Die Sreiheit des
Buchhandels wie jene der Preffe — mit alleiniger Ausnahme der durch
die Gerichte für verbrecheriſch erklärten oder als folche vor ben»
felben angetlagten Schriften — wird wiederkehren, und vielleicht tft
der Tag nicht fern, wo man liber die gegenwärtig in einigen Staaten
-obmaltende maßlofe Strenge fi) eben fo freimüchig wird aͤußern duͤrfen,
als man jego über die Inquifition und die Auto⸗da⸗Fés thun
Bücher » Senfur, - Budget. . 49
darf. Es IR für bie Moglesungen nicht minder ag fuͤr Die. Völker zu
wänfcen, baß biefer Tag recht —E F Rotteck.
Buͤcher⸗Cenſur, f. Cenſur. . Ä
Buͤcher⸗Rachdruck, f. Nahdrud.
Buͤcher⸗Verbot, f. Cenfur . ER
Budget. Urſpruͤnglich ein Wort in dee englifchen Sprache, wel⸗
ches eigentlich eine Meittafche, eine Bebarfstafche, im uneigentlichen Sinne
einen eingefammelten Worrath, ein ausgedachtes Project bedeutet; daher
fand es in der parlamentarifchen Sprache in der Bebeutung eines Ent⸗
wurfs der zu den. Staatsausgaben erforderlichen Auflagen oder Zaren,
weichen der Kanzler der Schaglammer (chanoellor of ihe Exchequer)
jährlich dem Unterhaufe zur Bewilligung vorlegt, Eingang, Durch bie
Mebensart to open the Budget bezeichnete man ben Termin für bie
Bekanntmachung dee fuͤr das bevorftchende Jahr nöthig erachteten öffent
chen Ausgaben. Aus der englifhen Sprache iſt das Wort Budget im
der Bedeutung von Staatsbudget in andere europälfche Sprachen übers
gegangen und hat beſonders in ber Sprache bes conftitutionellen Staates
rechts überall das Bürgerrecht bekommen.
Die Erhaltung einer bauernden Ordnung in bem Sinanzhaushalte
eines Staates und in beflen Fuͤhrung erheifcht eine moͤglichſt vollſtaͤndige
und möglichft begründete Weberficht ſowohl bee Beduͤrfniſſe der Staatsverwal⸗
tung, als der Mittel, Über welche biefelbe zu deren Dedung und Befries
Digung verfügen kann. Dies begmed Die Aufftellung von Finanzetate,
Die im Allgemeinen in einer hinlänglic belegten Nachweifung und Dara
ftelung derjenigen Sffentlichen Einnahmen, bie theils nad) Maßgabe der .
auf die Refultate der vorhergegangenen Jahre gegründeten Erfahrungen,
theils unter Vorausfegung gegebener Umflände und Verhäitniffe in einem
beſtimmten Zeitraume (Sinanzperiode) aus einer beflimmten Verwaltung
mit Gewißheit oder doch mit. Wahrfcheinsichkeit zu erwarten, fo wie der⸗
jenigen öffentlichen Ausgaben, bie in dem nämlichen Zeitraume von eis
ner folhen Verwaltung zu beftreiten find, beftehen. Das Staatsbudget
(der Staatsgrundetat, Hauptfinanzetat) iſt die Darftellung und ber Vor⸗
anfchlag ber Staatsausgaben und Staatseinnahmen für den ganzen
Staat in einer beflimmten Periode, und bei befien Entwerfung muß
ebenfowohl die Vergangenheit, als bie Gegenwart und Zukunft in Be⸗
tracht gezogen werben. Chaque budget — fo heißt e& fehr richtig in
dem in ber franzöfifhen Kammer über bie loi des comptes im Jahre
1822 erftatteten Commiffionsberichte — doit pour le service, qui lul
est propre, embrasser les trois divisions du tems: dans les ante-
cedens, oü il puise des exemples; dans le pr&sent, qui Iui
offre des regles; dans l’avenir, dont il doit prevoir les besoins,
Jedes Staatsbudget zerfäßt fonach im zwei Abtheilungen: das Eine
nahme» und das Ausgabebudget, wenn baffelbe ben ganzen Staatshaus⸗
halt in ſich begreift, und jede biefer beiden Abtheilungen bes Haupt⸗
finanzetats ſchließt wieder in Beziehung auf einzelne Hauptzweige ber
Verwaltung (Domainen, Bergwerke, Forſte x.), oder auf Verwaltungs⸗
Staats s Lerikon. I. 4
ı '
>
\
50 Budget.
bezirke (Provinzen, Departemenks; Kreiſe x.) verſchledene Hauptetats in
ſich, die bamm wieder fo viele Spedaletats enthalten, als es Elementar⸗
verwaltungen gibt. Der im Staatsobudget bargelegte Häupte ober Ges
neralgrundetat enthält bie Refultate aller Special» und Individual⸗ oder
Elementaretats. Er gibt die Totalſummen der Staatsausgaben unb
Staatseimmahmen nad den Hauptrubriken an, bie jeboch alle fpeciellen
Rubriken unter fi) befhffen muͤſſen. Alle darin vorkommende Angaben
iverben gerechtfertigt durch bie Specialetats ber einzelnen in ihnen ent»
haltenen Rubriken; biefe werben wieberum gerechtfertigt durch die Etats
der. Rubriken, welche fie im fich begreifen, und legtere bekommen ihre
Rechtfertigung durch bie Thatſachen, welche bie Individual⸗ oder Ele⸗
mentaretats enthalten. Dieſe find daher die Baſis, auf welcher am
Ende das ganze Etatsweſen beruht; von der Richtigkeit aller auf That⸗
ſachen ſich ſtuͤtzenden einzelnen Eiementaretats hängt alſo die Richtigkeit
aller im Budget aufgeführten Etats ab, fo daß man bei allen allgemei⸗
nen und fpecielen Etats nur bie Nichtigkeit ber Thatſachen zu prüfen hat.
Die im Staatsbußger aufgeftellten Etats enthalten theils beftimmte
und gemwiffe, theils unbeftimmte oder ungemiffe Einnahmen
ober Ausgaben. Erſtere find folche, welche ſowohl ihrer Größe als ber
Zeit und andern Umſtaͤnden nad) beſtimmt und gewiß find; letztere
folche, die, wenn es gudy beftimmt und gewiß ift, daß fie erfolgen, doch
ihrer Quantität ober andern Umſtaͤnden nach unbeflimmt und ungewiß
find, ober auch wohl ſolche, wovon es noch gänzlich ungewiß und unbe»
ftimmt tft, 0b fie Überall erfolgen, die aber doch möglich oder mahrfcheins
lich find. Alte Etatsfäge müffen aber von dem, der den Etat anfertigt,
begelinbet werben. Daß bie Ausgaben und Einnahmen richtig angeges
ben felen, tft aus ben Gefegen ober andern Documenten und Zeugniffen,
aus Rechnungen ıc. erwweislih zu machen. Die blos muthmaßlichen ober
wahrfcheinlichen und undeflimmten Ausgaben oder Einnahmen müffen
ſich menigftens aus Ducchfchnittsrechnungen ergeben ober auf bisherige
Erfahrungen mehrerer Fahre oder auf andere Thatfachen fügen, welche
zur Begründung ber angenommenen Anfäge dienen können. Aus der
Beſtimmung, daß bas Staatsbudget und beziehungsmeife jeder in dafs
felbe aufgenommene Etat diejenigen Einnahmen, die mit Gewißheit ober
begründeter Wahrfcheinlichkeit in einem gegebenen Zeitabfchnitte zu ev»
warten find, und ebenfo den präfumtiven Aufiwand, welchen der Staates
haushalt in dem naͤmlichen Zeitabſchnitte erfordert, fo voliftändig und
überfichtlich darftellen fol, daß baffelbe zugleich als Anhalt ober als Mit
tel für die Controlirung der gefammten Staatsverwaltung in jenem Zeit⸗
abſchnitte, ſowie zur Grundlage des Gaffen s und Rechnungsweſens unb
deren Gontrole dienen koͤnne, ergeben fi nah Malchus mehrere ale
weſentlich zu betrachtende Grundſaͤtze für beffen Bearbeitung, duch deren
mehr ober minder firenge Beobachtung die Erreihung der angebeuteten
Zwecke bedingt iſt. Dahin gehört, daß in bem Budget, fowie in ben
in demfelben vortommenden Etats, bie gefammte Einnahme und
bie gefammte Ausgahe, mithin nicht bloß bie Mettorinnahme ber .
—
Budget. | 51
Staats hauptcaſſe, ſondern das Bruttoeinkommen bes Staats, und
nicht blos die Ausgabe, welche die Hauptſtaatscaſſe ſaldirt, ſondern aller
Aufwand, welchen die Staatsverwaltung uͤberhaupt erfordert oder verur⸗
ſJacht, voliſtaͤndig ſich dargeſtellt findet, daß mithin keine Einnahme
wegen einer Dispoſition, bie ihren Ertrag vorwegnimmt und keine Aus⸗
gabe, weil fie durch eine ſolche Vorwegnahme oder Dispofition gedeckt iſt,
im Budget unberuͤckſichtigt gelaffen werde. Diefes war 3.8. in Franke
teich vor der Revolution der all, wo zur Zeit von Neder’s Verwal
tung, wie aus beffen oompte rendu zu erfehen, noch 1234 Millionen
Livres von der Einnahme vortweggenommen, und weil fie nicht in dem
koͤnigl. Schatz gefloffen waren, eben fo wenig als ber Aufwand, der mit
denfelben gededtt worden war, in dem Budget nachgewieſen geweſen wa⸗
rn. Das nämliche Verhaͤltniß hat auch bis in die neueflen Zeiten in
Frankceich in Anfehung der Einnahmen aus ben Colonien und bes Aufs
wandes für diefelben, forwie auch anderer Einnahmen und Ausgaben,
z. B. bei ber Staatsbuchbruderei, flattgefunden. In andern Staaten
fieht man dieß 3. B. bei dem Aufwande für das Juftiswefen, wenn ein
Theil deffeiben durch Sporteln gedeckt wird, ohne daß deren Ertrag ſich
im Budget bemerkt findet. Ferner ift zu den bei ber Eintwerfung des
Budgets zu befolgenden Grundfägen zu rechnen, baß für fämmtliche
Etats ein mit dem des Budgets Übereinftimmenber oder gleicher Anfangs»
amd Schlußtermin gewählt und beobachtet werde. Die Feftfegung biefes
Termine des Finanzjahrs (Zxereice) iſt in den Staaten verfchieben
beftimmt. In Hinſicht auf den Zinanzetat felbft erfcheint freilich dieſe
Feſtſetzung infofern gleichgültig, als jedes Finanziahr einen Cyklus von
12 Monaten umfchließt; gleichwohl innen‘ Verwaltungsrüdfichten und
locale Verhaͤltniſſe der Wahl eines Anfangs» und Endpunktes einen Vor⸗
gug vor einem andern verleihen. &o möchte in Staaten mit einem bes
deutenden Einkommen von Domainen, und in welchen die Grundſteuer
nicht monatlich entrichtet wird, ein in ber Mitte bes Jahres ermählter
Termin der angemeffenfte fein. In Branıreih und Preußen Läuft: das
Sinanzjahe mit dem Kalenderjahr; in England fängt daſſelbe mit dem
5. Sanuar, in Spanien, Hannover, MWürtemberg geht das Finansjahe
vom 1. Juli des einen Jahres bis zum 1. Juli des folgenden Jahres;
in Baiern nimmt es feinen Anfang mit dem 1. October.
Der Staatsfinanzhaushalt, den das Staatsbudget darftellt, muß
Gberalt auf möglihft rihrigen Voranfchlägen ruhen, bie alle
Einnahmen und Ausgaben im Voraus beflimmen, und für alle Staats«
einmahme und Ausgabe für die Dauer der Periode, für melde fie aufs
geftelle find, gültig find. Mur dadurch laͤßt ſich dem Finanzhaushalte
die nöthige Regelmaͤßigkeit verleihen und erhalten und zugleid bie erfors
derfiche Ueberficht von deffen Gange erlangen. Ueber die Art und Weiſe
der Anfertigung ſolcher Voranſchlaͤge hat Feder in feinem Handbuch
über das Staates, Nehnungs» und Caffenwefen (Gtuttg.
und Tübingen 1820) ſich ausführlich ausgelaffen; nur bag er bei vielen
font guten Anfihten und Worfchriften manche Sormulare ai, die theils
82 Brudget.
durch große Umſtaͤndlichkeit zu complicirt erſcheinen, um für zweckmaͤßtg
gehalten werben zu koͤnnen, theils praktiſch nicht ausfuͤhrbar ſein duͤrften.
Das Charakteriſtiſche ſolcher Anſchlaͤge iſt uͤbrigens das, daß ſie bei aller
Genauigkeit, mit welcher man bei ihrer Anfertigung verfaͤhrt, doch im⸗
mer nur ungefähre Voranſchlaͤge des zu erwartenden Einkom—
mens und Bedarfs ſind. Meiſt iſt der Bedarf allezeit gewiſſer, als das
vermuthete Einkommen, und darum mag es als Hauptregel anzuſehen
ſein, in den muthmaßlichen Einnahmen immer im Zweifel lieber das
Minimum anzunehmen, als das Marimum, dagegen bei ben Aus»
gaben umgekehrt lieber ba8 Marimum ale das Minimum.
Alte im allgemeinen Staatsbudget aufgeführten Etats bilden Ein
Spyftem ober ein Ganzes; alle einzelnen Etats find Theile des durch
das Budget dargeftellten Stantsetate. Die Eintheilung in generelle,
fpecielle und Elementaretats bient nur, die Ueberſicht des Gans
zen zu erleichtern, baffelbe durch allgemeine Begriffe aufzufaffen und an
deren Leitung bis zu jebem einzelnen herabzuſteigen. So enthaͤlt der
General⸗Hauptgrundetat die Rubriken, unter welchen bie Rubriken aller
übrigen Etats ftehen, und_clle Summen, welche die übrigen Etats ents
halten; aber zur Erleichterung der Ueberfiht des Ganzen werben bier
blos die allgemeinften Begriffe und die Zotalfummen im Großen anges
geben. Wer das Nähere kennen lernen will, muß die unter jedem Be⸗
geiffe ober unter jeder Rubrik enthaltenen Etats verfolgen, unb wenn ee
dieſes bis zu ben Elementaretats fortfeht, dann kann er erft einen deut⸗
lichen Begriff von allen Theilen des ganzen Staatögrunbetats erhalten.
Sowie biefer in ben Ausgabe » und EinnahmesEtat zerfällt, fo ſtellt der
AusgabesEtat die Summe ber Ausgaben des ganzen Staats in dem
aligemeinen Rubriken bar, deren untergeorbnete Begriffe nur fo weit ver»
folgt werben, als es bie deutliche Meberficht ber Hauptartikel erfordert,
welche unter diefen Begriffen enthalten find. Denn es ift die allgemeine
Megel jeder Eintheilung, alfo auch der ins Ausgabebubget aufgeführten
Etats, die Unterabtheilungen in einer und berfelben Weberficht nicht zu
überhäufen, damit die Klarheit der Ueberficht nicht leide und Alles mit
Einem Blicke überfchauet werben könne. Es muß daher das unter bens
Allgemeinen Enthaltene nur nach und nach bargeftellt und verfolgt werben,
Ein folder Hauptausgabe⸗Etat, wie er etwa in einer abfoluten Mon⸗
archte dem Monarchen, oder in einer repräfentativen ber Nationalrepräs
fentation durch den Sinanzminifter vorgelegt wird, muß darum die Staato⸗
ausgabe in wenig Mubrilen zufanımenfaflen; jede von biefen aber bat
spieder ihre befondern Etats, welche bie für fie angegebenen Ausgaben
näher betaillicen. Wo die Ausgaben für die Hofhaltung des monardhis
fchen Regenten durch eine einmal für allemat fellgefegte Sivilifte beſtrit⸗
ten werben, ba bebarf es keiner großen Detaillirtung ber Ausgaben für
ben Hofſtaat, es fei denn, daß biefer eine beflimmte aus ber Civilliſte
zu beftceitende Organifation hat, bie einfeitig von dem Regenten nicht
abgeändert oder modificirt werben ann. Sehr betaillirt find dagegen
bergleichen Hofetats bisweilen in autokatifhen Monarchien, wenn fie
Budget. 53
dem Autofraten vorgelegt werben. So füllte der In ber Staatsdruckerei
zu St. Petersburg im Jahre 1801 in ruffifher Sprache erfchienene Hofe
etat des ruffifchen Reichs nicht weniger als 84 Foliofeiten. Storck hat
denfelben in der von ihm herausgegebenen Zeitfchrift: Rußland unter
Alerander I. (Bd. I. ©. 63) in einer beutfchen Ueberfegung mitger
theilt. Beiſpiele von fehr detaillierten Etats des Ausgabebubgets fl: Frank⸗
eich findet man im franzäfifchen Moniteur von ben Fahren 1792—1795,
die aber zum Theil fehe verworren find.
Außer den Koften für den Hof und zum Unterhalt des regierenden
Hauſes wirb das Ausgabebudget in den meiften europäifchen Staaten an
Hauptrubriken in fi ſchließen: Staatsminifterium — Rechts⸗
pflege — innere Landesverwaltung (zugleich in ſich begreifend
die Polizei, die Kirhenbehärden, die Medicinalbehörben,
das Baumefen, bie Lehranftalten, die Hofpitäler, Arme n-
un) Krantenanftalten, die Straf und Befferungsanftalten,
die Kunftalademien, gelehrte Sefelifhaften, Landesbh
biiotheten, das Staatsarchiv x.) — Finanzverwaltung (wo⸗
bin die VBerwaltung-ber directen und indirecten Steuern, Dos
mainen, Sorften, Jagden, Sifhereien, Berg: und Salz⸗
werte, das Schuldenwefen ıc gehören) — das Kriegsweſen —
da8 Departement bes Auswärtigen. Das Einnahmebuds
get wird als Hauptrubrilen Haben: direete Steuern (Grunbftener,
Gewerbsſteuer x), indirecte Steuern (Zölle, Stempel, Cons
fumtionsfleuern x.) — Weges und Brüdengelder —
Domantsaleintänfte — Forſten, Iagden, Fiſchereien —
Berg⸗, Salze und Hättenwerte — Poſten. Jedes ber ver
ſchiedenen Minifterien — das ber Zuftiz, des Innern, bee Finans
zen, des Kriegs und ber auswärtigen Angelegenheiten —
hat fein eigenes Budget. Zur Erleichterung bee Ueberficht des Staats⸗
budgets iſt erforderlich, daß ein gleihförmiges Rubritenwelen
und eine gleihförmige Ordnung in allen In bemfelben aufgeführ«
ten, unter einer Art begriffenen Etats herrſche. In allen gleichartigen
Etats muͤſſen diefelben Rubriken, biefelben Ausdruͤcke, biefelbe Folge der
Rubriken, diefeiben Abtheilungen, biefelde Art der Nachwelfungen x. vors
£oramen, kurz es muß Eine Regel, Ein Schema für alle Etats gelten,
die zu einerlei Gattung gehören. Erheiſcht eine befondere Art von Etats
eigene Rubriken und eigene Abtheilungen, dann muß bach biefe wieder
die Regel für alle Etats, die mit ihm gleicher Art find, werden. Auch
die Materialien müffen allenthalben nach Einem Schema georbnet fein.
Nimmt z. B. einmal in einem Etat der Weizen bie oberfte Stelle in
den Einnahmen ein, dann muß diefe Ordnung in allen übrigen Etats,
worin Einnahmen von Getreide enthalten find, beobachtet werden. Hier⸗
durch wird die Zufammenftellung der Etats, ihre Meduction auf allge
meine Etats und das Nachſuchen ber Beweiſe für bie Nichtigkeit der
allgemeinen Etatöfäge ungemein erleichtert. Zweitens iſt zur befiern
Ueberſicht des Ganzen nöthig, daB jedem Specialetat die Elemente, auf
welche dezſelbe gegründet üft, einem jeden Hauptetat aber bie Specials
54 Bubget.
etats und eine fummarifche Zufammenftellung bes Reſultate dieſer Ele⸗
mente beigelegt werden. Endlich darf drittens ber für eine geriffe Zeit
beftimmte ganze Etat nicht mit Etatsfummen aus andern Zeiten ver»
mifcht werden. Jede Sinanzperiobe bildet ein für ſich abgefchloffenes
Ganze, deſſen Einnahmen und Ausgaben mit andern $inanzperioden
nicht vermengt werben duͤrfen. Es zeigt an, was in biefer und feiner
andern Periode ausgegeben werben kann und was In ber naͤmlichen Pes
riode eingenommen werden fol. (Vergl. &. H. v. Jakob's Finanz»
wiſſenſch, Bd. Il, Halle 1821. ©. 1229 u. f.).
Lotz (Handb. der Staatswirchfhaftsiehre, Bd. II,
Erlangen 1822, ©. 456 u. f.) tadelt es, daß man bie Etatifirung
im Öffentlichen Rechnungsweſen oft zu fehr in's Kleinlihe treibt, indem
“man für jeden Zweig der Einnahme und Ausgabe, für jedes oft noch fo
unbebeutende Etabliffement, das auf Öffentlihe Rechnung errichtet und
betrieben wird, alljährlich neue Etats gefertigt und in jedem Staatsbud⸗
get aufgeführt voiffen will, während bei manchen Einnahmes und Ause
gabeftellen fich nicht die mindefte Veränderung vorherfehen laͤßt. Bei
folhen Einnahme s und Ausgabeftellen, wo die Einnahme oder Ause
gabe fi) nad) dem Gange des Verkehrs richtet oder fonft von zufälli»
gen Ereigniffen abhängt, find, bemerkt er, foldhe Etats im Ganzen body
nur fehr unzuverläffige Dinge, fo daß alfo darauf, bag nicht mehr unb
nicht weniger, ald ber Voranſchlag befagt, eingenommen ober ausgegeben
wird, fi) ganz und gar nicht rechnen läßt. Er ift ber Meinung, daß,
ftelte man ftatt foldyer Regeln nur im Voraus die Ausgabefummen
feft, welche bergleichen Behörden auf einzelne in ihrem Bedarf fleigenbe
und fallende Brveige ihrer Verwaltung verwenden koͤnnen, und bände man
die Mehrausgabe. an die Genehmigung ber obern Behörden, der ganze
Zweck ſich leicht ‚erreichen laffen würde, den man bei vielen mühfelig
angefertigten Etats erftrebt. Die Etats, wenn fie auch brauchbar find,
um in dem ganzen Einnahme» und Ausgabemefen des Staatsfinanze
haushaltes die nöthige Megelmäßigkeit zu erhalten,. find doch nicht dazu
geeignet, diefes in jeder unteren Einnahme» und Ausgabeftelle zu leiften.
Mag es aud fein, daß eine untere Stelle eine Mehr = oder Minder⸗
. ausgabe hat, als fie nad) ihrem eigenen Etat haben follte, barum wird
doch bei ihr weder bie nöthige Ausgabe befchränkt, noch die unzulängs
liche Einnahme erhöhet werben Eönnen, fondern die Ausgleihung ift nur
in den obern Caſſen möglih. Auch kann blos von der obern Behoͤrde
überfehen werben, ob einer untern eine Mehrausgabe zugeftanben werben
kann, ober was wegen der Mindereinnahme bderfelben gefchehen muß, um
das Fehlende zu bedien.
Die Redaction des Gtaatsbubgets wird um fo einfacher, je mehr
ber Staat ſich bios und allein auf die eigentlihen Staatsgeſchaͤfte bes
ſchraͤnkt und fi von aller Privatbewicthfchaft. ig der Quellen feiner
Einnahme und von aller Privatvermaltung feiner Ausgaben losmacht.
Verwaltet ber Staat feine Einnahmequellen, 3. B. Domainen, Berg: und
Hüttenwerke, Zorften, Fiſchereien, Poſten 2c, felbft, dann muͤſſen
freilich für jeden diefer Werwaltungszweige bis in's tieffte Detail herun⸗
Budget. 55
ter befondere Etats zum Behuf der Aufftellung bes Budgets entworfen
werden, fo daß ſich das Staaitsetatsweſen überaus vervielfältigt. Bulk
aber die Verwaltung ber fogenannten Regalen weg, und iſt das ganze
Wirthſchafts⸗ und Fabrikenweſen zur Privamgisthicpaft gemacht, dann
gehen die für das Budget zu entwerfenden Etats blos mit den Einnah⸗
men von biefen Sinanzquellen an, und der Staat. hat durchaus nichts
mit ihrer Verwaltung zu ſchaffen. Ebenſo erfolgen feine Ausgaben im
Vollen, und er braucht fi) nicht weiter um deren Verwendung zu bes
&ümmern, fobalb er nichts mit ber Privatwirthfchaft zu thun. hat. Das
ber - find die Staatsbudgets in England und Nordamerika fo einfach.
Selbſt da, wo die Regierungen ſich mit Dingen befaflen, die beffer und
vortheilhafter Privaten überlaffen werden wuͤrden, wird es fehr zur Ders
einfahung der Rechnungen der Staatöhaushaltung gereichen, wenn bie
Derwaltung der Quelen, aus welchen die Staatseinnahmen fließen,
gänzlich von der eigentlichen Finanzverwaltung getrennt werden, und für
erftere eigenthlmliche, blos der oberften Staatsbehoͤrde verantwortliche Ges
neralverwaltungen beflimmt werden. Alsdann brauchen bie Etats biefer,
die Bruttoeinnahmen und Vermaltungsausgaben enthaltend, in dem Staats⸗
bubget gar nicht vorzulommten, fondern nur die reinen Revenuͤen, welche
fie liefern, nach Abzug aller Koften darin zu erſcheinen. In diefem
Zalle werden bie im Budget aufgeführten Etats blos in den reinen Eins
nahmen und Ausgaben, fo wie fie jede Quelle liefert oder. fordert, bes
ftehen und ſich ſaͤmmtlich lediglich und allein auf bie eigentlichen unmit⸗
telbaren Staatsbeduͤrfniſſe beziehen, En
Malchus unterfcheibet in feinem Handb. der Finanzwiſſen⸗
ſchaft und-Zinanzverwaltung (Theil II. Stuttgart und Tübingen
1850, ©. 93 u. f.) fomohl, als in feiner Politik der innern
Staatsverwaltung (Theil II. Heidelberg 1823, S. 153) tmefent
lid zwifhen der Bildung und Entwerfung eines Staatshudgets
und ber eines Sinanzplanes. Erſteres, bemerkt er, befteht in einenz
comparativen Nachweiſe des numeriſchen Betrags aller Arten von Aufe
wand, ben die Staateverwaltung vorauefichtli in einem beftimmten
Beitabfchnitte zu decken hat, und in einem gleichzeitigen Nachweiſe der
Mittel, über welche biefelbe zum Behuf biefer Deddung zu bisponiren hat,
eine Darfielung des numerifchen Betrags der Staatseinnahmen und
Ausgaben, gewiffermaßen als einer Thatſache, bezweckend, während legs
tere mehr und vorzüglich ſich mit einer Darfiellung ber Quellen vom
Einkommen, bes zuläffigen Maaßes ihrer Benutzung und ber Wirkungen
und Folgen, welche die Verſchiedenheit im Einkommen, in Betreff beren
Nachhaltigkeit haben kann; in Anfehung der Bebürfniffe und Ausgaben
bingegen mit deren Würdigung und Claffirung in Abſicht auf ihre ab⸗
folute ober relative Notwendigkeit und mit einer Wergleihung ber
Summe von Mitteln, über weldye unter gegebenen ober vorausgefegten
Umftänden für eine beftinmte Summe von Bebürfniffen verfügt, werben
kann, befaßt. ine andere. Verſchiedenheit zwiſchen beiben findet über
dies noch im dee Beziehung ſtatt, daß ein Finanzylan fih nicht blos
56 Budget.
auf einen kurzen Zeltabſchnitt, eine beſtimmte Finanzperiode, beſchraͤnken
kann, ſondern zugleich die moͤglichen Verhaͤltniſſe in der Zukunft beruͤck⸗
ſichtigen muß, das Budget dagegen nur bie in demſelben bewirkte Coor⸗
dinirung der Einnahmen mit den Ausgaben, jederzeit nur für einen: ges
wiſſen Zeitabfchnitt berechnet, iſt; der erftere mehr die Grundlage für bie
Gtaatsverwaltung, das legtere mehr nur eine folche für ben Gelb ober
Gaffenhaushalt bildet. In Staaten, in weichen, wie 3. B. in den Nies
berlanden, da6 Staatsbubget für einen langen Zeitraum aufgeftellt wird,
verwifcht fich indeffen dieſer Unterfchiedb in dem Maaße der längern
Dauer bes Budgets. Auch wird die Entwerfung eines Staatsbubgers
immer das Vorhandenſein eines gewiſſen Finanzplanes unterftellen und
bedingen, nibem ohne einen ſolchen das Budget nicht mit derjenigen Si⸗
cherheit und Zuverläffigfeit bearbeitet werben kann, die für deſſen Bes
fimmung als Grundlage für den Kinanzhaushalt, wenigſtens für eme
beftimmte Periode, erforderlich iſt. u —
Die Feſtſtelunge des Staatsbudgets gehoͤrt ohne allen Zweifel zw
den wichtigſten und im ihren praktiſchen Erfolgen bedeutendſten Rechten
deutſcher ſtaͤndiſcher Verſammlungen; ja man kann mit vollem Grunde
behaupten,‘ daß ſie unter allen, dieſen zuſtehenden Rechten bie oberſte
Stelle einnehnie; ſehe man nun dabei auf: die Entſtehung und Begruͤn⸗
Bung jenes Rechts, ſehe man auf deſſen Umfang, auf die Art feiner
Ausübung oder auf. fein Verhaͤltniß zu den übrigen Gegenftänden ber
landſtaͤndiſchen Wirkſamkeit. Begruͤndet iſt das Mecht der Feftfegung
bes. Budgets in feinem weſentlichen Beflandtheile, dem’ echte bee
Steuerverwilligung und deffer nothwendigem Cortelate, dem Rechte
der Steuerverweigerung. Ganz unleugbar begründet ift uͤberdies
dieſes Recht dur; den althiitorifchen Mechtözuftand der deutfchen Nation,
fowohl in ihrer Geſammtheit, als in ihrer Wereinzelung nad) ben vers
fhiebenen Volksſtaͤmmen, und ebenfo gewiß und erweislich faſt in jedem
einzelnen beutfchen Lande buch deſſen frühern Rechtszuſtand, welcher
durch die neueren Verfaſſungsurkunden meiſt nur eine erneuerte grunbges
fegliche Anerfermung und weitere Entwidelung für die Anwendung im
eonftitutionellen Leben erhalten bat. '
In Staaten mit einer repräfentativen Verfaſſung ift das ber Ver⸗
fammlung der Volks⸗ ober Landeövertreter von ber Staatsregierung vors
gelegte Staatsbudget, welches zu einer gefeglichen Beftimmung der öffent»
tichen Einnahmen und - Ausgaben für eine beſtimmte Periode dienen ſoll,
in feinem Entwurfe bie Hauptgtundlage, und in feiner ‚Annahme ober
endlichen Seftftelung das Dauptergebniß ber Berathung jener Vertreter
über bie zw vertoiligenden Steuern. Denn eine folche Bewilligung fest
vernömftigerweife eine Kenntniß bes Betrags ber Staatseinnahmen, bei
beten Unzulaͤnglichkeit erſt bie Stände durch Bewilligung von Steuern
und von ben Staatsbürgern zu erhebenden Abgaben in’s Mittel treten
und eine Voranfchlagung und Feſtſetzung dee Staatsausgaben, zu deren
Dedung allein bie Einnahmen beftimmt find, fowie eine forgfältige Er⸗
wägung ber Nothwendigkeit ober Nuͤtzichkelt bee proponirten Ausgaben
Budget. 57
voraus. Mit Mecht Einen ımb dürfen Staͤnbeverſammlungen, mit bes
nen verfaffungsmäßig das Sinanzgefeg vereinbart werden muß, die Vor⸗
lage eines betailliten, auf fpectelle Rechnungen gegründeten Uebers
ſchlags der Staatseinnahmen und Ausgaben für die Sinanzperiode, um
die es fih handelt, von den Miniftern verlangen, indem fonft gar feine
Prüfung des von biefen entworfenen und mitgethellten Etats möglich if
und auf bloße fummarifche Ueberfchläge fich kein wahres Budget grüns
den läßt. (Verl. Aretin’s Staatsreht ber conftitutionels
un mnacdler fortgefegt von Rotted, Bd. U, Abth. 1, ©.
uf.
Die allgemeinen Granbfäge, welche, wie bei jeder Wirthſchaft, fo
audy bei der des Staats gelten, bei ber Beurtheilung eine® vorgelegten
Ausgabe» und Einnahmebudgets zur Richtſchnur dienen müflen und hier
um fo forgfältiger' zu beobachten find, je größer der Gegenftand iſt und
je härter fi die Verwirrung oder Unordnung ftraft, laſſen fich nad)
Spittler (Borlefungen Über Politik, herausgegeben von K.
Wächter, Stuttgart und Tübingen 1828, $. 64.) unter drei Regeln
sufammenfäffen. Die erfte ift, lehrt derfelbe, daß nicht zu viel oder
nicht mehr als für ben Zweck, der erteicht werden fol, burchaus noth»
wendig ift, ausgegeben werbe. Erſt feit der legten Hälfte des 18. Jahr»
hunderts hat ſich bie Idee recht firirt und lebhaft aufgebrüngen, daß das
Geld, welches in die Staatecaffe fließt, eben-fo fparfam zu behandeln
fet, wie alle Privatgeldber. Denn es gab Zeiten, wo man Sparen bei
einem Zürften fuͤr Schande hielt; man fah den monarchiſchen Regenten
blos ale den reihften Dann an im Gtaate, ber wohl Gelb ausflieken
laſſen koͤnne, ohne felbft Mangel zu leiden, und betrachtete ihn nicht ale
Depoſitair und Ausfpender von Gemeingeldern. Es entfprang diefe Ans
fiht zum Theil aus einer Vermengung des Privats oder Familienver⸗
mögens bes Fürften mic dem Staatsvermoͤgen. Endlich aber drang bie
Noth in allen unfern Staaten dazu, diefe Ideen zu läutern und zu ben
richtigen Anficyten zuruͤckzukehren. Mit diefer erſten Regel muß aber
die zweite verbunden werden: daß hinreichend für bie als noths
mendig erkannten Zwecke geforgt werde. Es darf alfo nicht gefpart wer⸗
den, wo ber Staatszweck das Ausgeben fordert; eine Knauſerei hierbei
ift nicht nur unmürdig, fonbern auch für die Sache ſelbſt ſchaͤdlich. Die
dritte Megel tft: es muß planmäßig ausgegeben werden, ober bie
Repartition der Generalfumme nach den einzelnen Rubriken iſt darnach
einzurichten, wie biefe oder jene Rubrik den individuellen Verhältniffen
bes Staats gemäß größeren-oder geringeren Aufwand nothmendig macht.
PDianroidrig erfcheint es z. B. nach diefer Nüdfiht, wie Schmettau
gezeigt hat, daß Dänemark fo viel auf feine Landarmee verwendet, wäh:
rend es eher auf die Unterhaltung einer. tüchtigen Flotte halten follte;
ebenfo verwendet gewiß aud) England verhältnifmäfig zu große Summen
auf feine Landmacht.
Das In conftitutionelen Staaten den Stänbeverfammlungen von
Seiten der Staatsregierung verfaffungsmäßig zur Prüfung und Bera⸗
58 Budget.
thung übergebene Staatöbubget muß ſowohl einen detaillirten Voranſchlag
ber Staatseinnahmen, als einen ſolchen der Staatsausgaben enthalten,
zerfälse fomit in zwei Hauptabſchnitte, deren Ergebniffe in's möglichfte
Gleichgewicht zu bringen man befltebt fein muß, um ein Deficit im
Stantshaushalte zu verhüten. Was den die Staatseinnahme betreffen»
den Abfchnitt des Voranſchlags betrifft, fo ift deſſen fpecielle Prüfung
ruͤckſichtlich der Beibehaltung oder Apänberung, beziehungsweiſe gänzlichen
Befeitigung ber einzelnen Einnahmepoften durch die vorgMtgige Feſtſtel⸗
lung eines den Staatsbedarf deckenden Gefammtbetrags hedingt und flehe
berfelbe in einer unverfennbaren Abhängigkeit zu dem Abſchluſſe und zu
den, endlichen Ergebniffen des andern Abfchnittes von den Ausgaben.
Dem landftändifhen Rechte der Seftfegung des Budgets fleht bie.
in ben Berfaffungsurlunden gemeiniglid) ausgefprochene Verbindlichkeit
ber Lanbftände, „für Aufbringung bes Staatsbebnrfs durdy Verwilligung
von Abgaben zu forgen”, gegenüber. Doc hängt bamit bie den Lande
fländen zuftehende Einwirkung auf die bedingende Vorfrage: „worin ber
wirkliche Staatsbebarf nach den Forderungen einer dem wahren Landes»
intereffe und dem beftehenden öffentlichen Rechte entfprechenben Regierung
beftehe” — fo unzertrennlih zufammen, daß felbft in den Beſchluͤſſen
bes beutfchen Bundestages vom 28. Juni 1832 jene Verbindlichkeit nur
in Beziehung auf die „zur Führung einer den Bundespflichten und ber
Landesverfaffung .entfprehenben Megierung” erforderlichen
Mittel anertannt wird. Die diefen Beſchluͤſſen vorausgefchicten Mo⸗
tive — wenn man fle als Auslegungsmittel benugen will — redei
insbefondere von ben „zur Fuͤhrung einer wohlgeorbneten Weg
sung erforderlichen Steuern”. Hieraus ergibt fi) zugleich ber fehr aus⸗
gebehnte, alle Zweige bed gefammten Staatöhnushaltes umfaffende Um⸗
fang bes Iandfländifhen Rechts ber Feflfegung des Staatsbudgets, wel⸗
her in den deutſchen Verfaffungsurkunden mit mehr oder weniger Be⸗
ſtimmtheit bezeichnet wird.
In der Arteder Ausübung zeichnet ſich das Recht der Feſt⸗
fegung des Staatsbudgets vor allen übrigen ſtaͤndiſchen Befugniſſen ruͤck⸗
ſichtlich der Theilnahme an ben Ausflüffen der Staatsgewalt ganz dor⸗
zuͤglich dadurch aus, daß bei den hierher gehörigen Gegenftänden die end»
liche Entſcheidung ber Ständeverfammlung allein zulommt. Haͤngt es
nämlich bei allen andern Gegenftänden bes öffentlichen Lebens und feiner
formellen Geftaltung lediglih von dem eigenen Ermeſſen der Staatsre⸗
gierung — infofern fie nicht eine gefegliche Verpflichtung beſonders übers
nommen bat, und abgefehen von den allgemeinen Pflichten und der Ver⸗
antwortlichkeit dee Mintfterien für die Erhaltung und Beförderung bed
Gemeinwohls — ab, ob fie desfallſige Vorfchläge an bie Landftände ges
langen laffen, die ſchon mitgetheilten wieder zurüdinehmen, auf ftänbifche
Anträge eingehen ober dieſe ablehnen will, da im verneinenden Falle Als
les unverändert in dem bisherigen Zuftande verbleibt: fo verhält ſich das
gegen die Sache durchaus anders in Anfehung bes Staatsbudgets.
Ohne Beſchaffung des nothwendigen Staatobedarfs kann bie Regierung
Budget. 59
nicht beftehen; wit bem Ablaufe der jedesmaligen Finanzperiode erlifcht
die landſtaͤndiſche Verwilligung ber Auflagen für den Staatebedarf. Die
Staatsregierung iſt daher unvermeidlich genöthigt, zeitig vor dem Ablauf
ber Berwilligungsftift einen neuen Boranfchlag der Staatseinnahmen unb
Ausgaben ber ftändifchen Verſammlung vorzulegen, und diefer kann nicht
anders als mittelft der landſtaͤndiſchen Zuftimmung zur Vollziehung Eommen.
Solchergeſtalt hängt jeder in dem von der Staatsregierung vorgelegten
Voranſchlage enthaltne Poften, fofern er ſich nicht ſchon auf eine vors
ausgegangne gefegliche Beſtimmung gründet, im endlichen Refultate von
der ftändifchen Beſchlußnahme ab. Dies iſt nun von ganz ausgezeich⸗
neter Wichtigkeit ſchon in der befondern Nebenrüdficht, daß gerade auf
diefem Punkte die Verantwortlichkeit der Minifter auch in minder bes
beutenden Fällen recht wirkſam geltend gemacht werden fann. Wenn
nämlich fonft hiezu — den Fall einer förmlichen Anklage vor dem Staates
gerichtöbofe ausgenommen — kaum ein anderes Mittel, einen Minifter
zu nöthigen, fid) wegen einer Handlung zu rechtfertigen, vorhanden iſt;
fo ſtellt füh das Verhaͤltniß viel günftiger in allen denjenigen Fällen, wo
die nicht zu vechtfertigende Danblung bed Miniſters zugleich mit einer
Ausgabe aus der Stantscaffe verbunden gewefen tft und in ihrer fort
bauernden Wirkfamkeit noch zufammenhängt. Hier braucht nämlich bie
Ständeverfammlung nur ganz einfach die in der vorgelegten Rechnung
vorkommende Ausgabe zu flreihen, um nicht allein ber Staatecaffe den
Meg, ba8 Verausgabte wieder zu erhalten, zu eröffnen, fondern meh»
rentheils bie Handlung felbft unwirkſam zu machen. SPraktifche Belege
biezu liefern die fländifhen Werhandiungen conftitutioneller deutſcher
Staaten. Ein Fall der Art trug ſich namentlich am erften kurheſſiſchen
Landtage zu. Es erhielt ba ein Punkt, deſſen Entſcheidung zwar ſchon
aus allgemeinen Principien ſich ergibt, in einem befondern Kalle noch
eine pofitive Betätigung. Daß nämlich die bloße Ernennung zu
einem Staatsamte, fo lange daffelbe nicht mwirklih angetreten worden,
einen Anfpruh auf bie Beziehung des bamit verbundenen Gehalts
nicht begrlinde und eine Anweifung bes betreffenden Minifters zur Aus⸗
zahlung diefes Gehalts keineswegs rechtfertige ; daß vielmehr, wenn eine
ſolche Zahlung wirklich gefchehen ift, deren Betrag wieder zu erftatten
fei, wurde von dee kurheſſiſchen Ständeverfammlung, bei Gelegenheit
der Prüfung bes vorgelegten Budgets, ald Grundfag ausgefprochen in
ber Anwendung auf einen für ben kaiſerl. öfterreichifhen Hof ernannten
Eucheflifhen Gefandten, der während feche Monate, von dem Datum
feines Ernennungsreſcripts gerechnet, biefe ihm zugedachte Sunction nicht
angetreten hatte. (Berg. Eurheffifhe Landtags: Berhbandluns
gen 185). Nro. 7, 15 u. 46.) Die vorftehende Betrachtung zeigt zus
gleich die Wichtigkeit des landſtaͤndiſchen Rechts der Feſtſetzung des Bud⸗
gets in Beziehung auf das Verhaͤltniß deffelben zu andern Segenftänben
der landſtaͤndiſchen Wirkſamkeit. Mehrere diefer Gegenftänbe, namentlich
das Mecht der Verwendung, der Befchwerbeführung, der Anklage, wierden
zwar nur felten und mehr zufällig den Punkt der Staate:Einnahme und
‚60 . Budget.
Ausgabe berühren; dagegen laͤßt ſich von dem auf alle Thelle ber Staats-
regierung einwirkenden ftdndifchen Rechte zur wefentlihen Theilnahme an
bee Gefeggebung wohl mit Grund behaupten, daß nicht leicht eine hier⸗
unter begriffene Anordnung ober neue Einrichtung zur Ausführung gelans
gen koͤnne, ohne die gleichzeitige Beſchaffung von Gelbmitteln, welche
in Folge einer Ianbftändifchen Verwilligung oder zum Zwerk der Auswir⸗
tung - einer folchen in dem Staatsbudget mit aufgenonmmen: werben, fo
daß diefes in allee Hinſicht als bee wahre nerrus rerum gerendarum
in Beziehung auf die gefammte Staatsmaſchine und beren regelmäßige
Bewegung erfcheint.
In Betreff bes DVoranfchlags der Stantsausgaben hat man bem
hierauf bezüglichen Beſtimmungen ber Werfaffungsurkunden oͤfter von
Seiten der Staatsregierungen die Deutung verleihen wollen, als fet im
denfelben eigentlich) nur von ber Bewilligung bes ordentlichen: Staats
bebarfs nad) Maßgabe eines Voranſchlags die Mede, und hieraus dann
weiter zu folgen gefucht, daß ber den Ständen von oben herab mitzuthels
ende Grundetat nur infofern eine unmwanbelbare Richtſchnur für bie
Staatshaushaltung abgeben könne, als nicht unvorhergefehene: Umftände
eine Abänderung nothwendig machen. Denkt man fi hietbet nichts
weiter als die Worausfegung, daß dee außerordentliche. Staatsbe⸗
darf überall ein Gegenſtand des Voranſchlage zum Staalsfinanz⸗
etat ausmache, dann :ift dies im Allgemeinen richtig, wiewohl nicht ein-
mal völlig in bee Anwendung auf eine der bedeutenden: „unvoshergefehes
nen Ausgaben”, für welche in den Anfägen für manche einzelne Theile
bes ordentlichen Ausgabebudgets beflimmte Summen ausgemworfen zu
merben pflegen. Wollte man aber hieraus fchließen, baß wirkliche X be
änderungen in ben Staatögriumbetats wegen unvorbergefeherter Um⸗
ftände einfeitig von ber Staatsregierung vorgenommen werden koͤnnten:
dann würde das Tin gar großer Irrthum fein und in der That eine
den Grundfägen dee conftitutionellen Staatsorbnung wiberftreitende Vor⸗
ausſetzung enthalten, einestheilß, weil von demjenigen, was einmal ges
fegtich beftimmt ift, wie mit bem Staatsgrumbetat durch das Finanz⸗
geſetz gefchieht, felbit nicht im weſentlichſten und dringendften Staatsins
tereffe in außerordentlichen Faͤllen eine befinitive Abmeichung ohne Zuzie⸗
bung der fländifchen Verſammlung ober menigftens, wo ein lanbftänbifcher
permanenter Ausfhuß befteht, diefes von ber Staatsregierung verfügt
werden kann, anderntheils, weil auch für Aufbringung des außerors
dentlichen Staatsbebarfs, neben dem durch ben Grundetat feftgeflellten
ordentlichen, die Landflände duch Verwilligung von Abgaben zu forgen
habun und in manchen Verfaffungen, wie namentlich in der kurheſſiſchen,
ohne Tandftändifche Bewilligung fo wenig in Kriege» als in Friedenszei⸗
ten irgend eine Abgabe ausgefchrieben ober erhoben werben darf. Dem⸗
nach wird nur mittelft einer pofitiven Beflimmung bes Finanzgeſetzes ber
Stautsregierung ein geroiffer Spielraum, etwa vorbehaltlich ber fländifchen
Buflimmung, eingeräumt werben können.
Budget. 61
Die Stänbeverfanmlungen werden ſich bei ber Prüfung ber von
den Staatsregierungen denfelben mitgetheilten Staatsbudgets uͤberall feft
an die Vorausfegung zu halten haben, daß bier lediglich von Voran⸗
fhlägen bie Rede ift und die Rede fein könne, mithin die zu deren
Begründung von Seiten der Staatsregierungen beigefügten Nachweiſun⸗
gen keinen andern Zweck haben, als bie ftändifchen Verſammlungen zu
überzeugen, daß die Grundlagen, auf melden bie in ben Voranſchlaͤ⸗
gen aufgenommenen Summen beruhen, den beftehenden gefeglihhen Vor⸗
ſchriften, fo wie den landftändifchen Befchlüffen entfprehen, und baß
die Art ihrer Ausführung im Allgemeinen durch das Princip der
Zweckmaͤßigkeit im öffentlichen Intereffe unter moͤglichſter Beruͤckſichtigung
finanziellee Erſparung geleitet voerde. Auf diefem Wege wird naͤmlich
eine Ständeverfammlung in den Stand gefegt, die ihr obliegende Prüs
fung dee Nochwendigkeit und Nuͤtzlichkeit ber in dem Voran⸗
fehlage aufgenommenen Ausgaben ſchon im Voraus voliftänbig zu bes
wirken, ohne daß es hiezu nötbig wäre oder auch nur im Erfolge wirks
ſam geſchehen Eönnte, daß bie landſtaͤndiſche Werwilligung unmittelbar
auf alle einzelne Ausgabepoften, durch deren fpecielle Angabe bie
Staatsregierung jener Nachweiſung Genüge leiftet, in folcher Art gerich⸗
tet werbe, daß biefe num als unabänderlic) fixirt betrachtet werden müßten
und folchergefialt eine jede auf dem Staatsgrundetat geſchehene miniftes
riele Zahlungsanweiſung nur in ber mechanifhen Bollziehung dee
landſtaͤndiſchen Genehmigung dee einzelnen genau beflimmten Eummen
beftände. Selbſt die Unausführbarkeic eines ſolchen Verfahrens ergibt ſich
fhon aus dem ftetö fortwährenden und in dem zu einer regelmäßigen
Finanzperiode gehörenden Zeittaume von mehreren Jahren gewiß nicht
unbettaͤchtlichen Wechfel in den Perfonal s Verhälniffen durch Ab» und
Zugang, Verfegung, Penfionirung ꝛc. ber einzelnen Staatsdiener, fo wie
durch vermehrtes oder vermindertes Bedürfnig des Staatsdienſtes und ber
damit verbundenen Koften. Man wird fih leicht überzeugen innen, daß,
wenn der ben Ständen vorgelegte Voranfchlag aldbald von benfelben mit
fpeciellee Bezugnahme auf die ihm beigefügten Belege genehmigt und
hiernach das Staatsbudget für die ganze Finanzperiode feftgeftellt würde,
mehrfache Abweichungen davon in ben einzelnen Zahlungspoften ganz une
vermeiblich werden dürften. Die ftändifhe Genehmigung ber in dem
BVoranfchlage aufgeführten Ausgaben kann baher bios als die Bewilligung
eines Credits für die verfchiedenen Minijterien in Anfehung derjenigen
Summen, worauf fie Zahlungsanweiſungen zu ertheilen haben, ans
gefehen werden. Daneben bleibt zwar bie denfelben obliegende Verbind⸗
lichkeit einer genügenden Nachweifung ber Verwendung zu ben be
ffimmten Zweden in ihrem vollen Umfange beflehen, jedoch in ber
vereinzelten Anwendung nur als Aufgabe für die künftige Rechnungs
ablage, hingegen nicht ſchon als Negel für bie Seftftielumg bes Voran⸗
ſchlags.
Es find über dieſen Gegenſtand in ben deutſchen Staͤnde⸗Verſamm⸗
lungen mitunter ſehr verſchiedenartige Anſichten zum Vorſchein gekommen,
62 Budget.
und auch von Selten ber landſtaͤndiſchen Budgetausſchuͤſſe iſt nicht im⸗
mer gleichfoͤrmig hierin verfahren worden. Ein Beiſpiel zur beſſern Er⸗
laͤuterung der Sache wird daher nicht undienlich erſcheinen. In Kurheſ⸗
fen waren im Voranſchlage für das Jahr 1831 für Beſoldungen bei
dem Oberappellationsgerichte zu Gaffel 31,520 Thlr. angefegt. Hierbei
war angenommen worden, daß 15 Oberappellationsräthe als das geſetz⸗
liche Marimum berfelben angefteht wuͤrden. Es waren aber zur Zeit
der Vorlegung bes Budgets, zufolge ber beigefügten Nachweiſungen, nur
deren 9 wirklich angeftelit und bie Geſammtſumme der Beſoldungen bes
teug 19,113 Thle. Noh im Laufe bes Jahres 1851 wurbe indeſſen
jene Anzahl bis auf 14 erhoͤhet. Im März beffelben Jahres ging einer
derfelben ab, die Stelle blieb während 14 Monate offen und es wurden
alsdann noch 2 Oberappellationsräche angeftellt, fo daß nun erft das
gefeglihe Marimum wirklich vorhanden war. Es ift aber feinem Zwei⸗
fel unterworfen, daß, wenn bee Etat alsbald nach dee Worlegung für
die ganze Finanzperiode feftgefteit worden wäre, darin bie ganze für Be⸗
foldungen angefegte Summe — foweit fie nicht burch bie Feſtſetzung bes
Normalbefoldunge = Etats eine Abänderung in ihren wefentlihen Grund»
lagen erlitte — beibehalten werden müßte, um dem Suftizminifterium
hierdurch einen Grebit zur Zahlungsanweifung auf den ganzen, zu der
nach Beduͤrfniß erfolgenden Anftellung des Marimums ber Zahl der
Oberappellationsräthe erforderlichen Betrag im Voraus zu getwähren, ob⸗
gleich erſt bei der Elinftigen Rechnungsablage die Nachweiſung ber Vers
wenbung zu dem beftimmten Zweck ergeben haben würde. Aehnliche Bei⸗
ſpiele wuͤrden fih in Beziehung auf andere Dienflzmeige, wenn gleich
- dabei kein Marimum oder Minimum dee Anzahl der Mitglieder feſtge⸗
fegt iſt, leicht aufftellen laffen. Ä .
Demnach find es eigentlich nur die Grundfäge, worauf bie ver
fhiedenen Ausgabepoften und beren- Aufnahme in dem Voranfchlag ſowohl
. an und für fih als in dem angefegten Betrage beruhen, was ben Ges
genftand der ftändifchen Prüfung des bie Ausgaben enthaltenen Voran⸗
ſchlags ausmacht. Hieraus folgt nun unmittelbar, daß die Rubrik: Be⸗
foldungen, bei allen Staatsdienftzweigen, wenn bereits dafür in einem
befondern Normal Befoldung& Etat fefte Beftimmungen enthalten find, kel⸗
nee weitern Prüfung unterliege, ald nur der: ob ber Anſatz im Ganzen
ber durch den Beſoldungs⸗Etat im Allgemeinen gegebenen Norm entfptes
hend fei. Ebenſo wird eine Staͤndeverſammlung in Beziehung auf die
Denfionen, zum Zweck ber Seftflelung des Voranſchlags, mur zu
unterfuchen haben, ob nicht einzelne ber verzeichneten Penfionsbeträge
einen ſichtbaren Mangel der Zuläffigkeit dem Principe nach an ſich tra»
gen. Ber der Vermwilligung von Summen für künftig zuzugeftehende
Denfionen, welchen ein muthmaßlicher Anfchlag zum Grunde liegt, wird
die fländifhe Verſammlung wiederum von dem Grundſatze auszugehen
haben, daß ihre Verwilligung nur als ein Grebit anzufehen fei, woruͤber
das Mintfterium keineswegs nach Gutbünfen, fonbern nad Maßgabe bes
durch gefegliche Worfchriften bedingten Exforberniffes verfügen koͤmne.
-
Budget. 63
Welche Summen unter die Rubrik: Unnorhergeſehene Aus—
gaben zur Dispofition ber einzelnen Miniſterien zu ſtellen ſeien, das
daͤngt wohl wefentlich von dem Grade bes Vertrauens ab, mit welchem bie
Staͤndeverſammlung den Bosftänden ber Minifterien und vorzugsweiſe
ben des Sinanzminifteriums entgegenzulommen ſich veranlaßt findet —
eines Verttauens, welches freilich eben fo nothwendig zu einem gedeihlis
en Zuſammenwirken von Landftänden und Staateregieräng iſt, ald es
gerade in ber in Rebe ftehenden Beziehung leicht zu erwerben fein wird
Durch den thatfächlich begründeten Glauben an eine aufrichtige Beftrebung
von Seiten bes Minifteriums, ben ganzen Staatshaushalt auf nicht cons
flitusionelle Grundfäge zurüdzuführen und den mit Iandftändifcher Zuftims
mung feftgeftellten Grundetat nach allen feinen Beftandtheilen in gleichem
Sinne zu vollziehen, was ſich zunaͤchſt durch eine gewifienhafte Rech⸗
nungsablage über bie bereits verfloffene Zeit der frühern Zinanzperiode
am zuverläffigften erproben kann.
In den mehreften deutfchen Verfaffungsurkunden findet ſich ausdruͤcklich
vorgefhrieben, daß bei Worlegung des Voranfchlags für die einzelnen Ges
genftände des Staatsbudgets, zum Behuf von deffen Regulirung für eine
Finanzperiode, zugleich die Nothwendigketit oder Nuͤtzlichkeit der
zu macdyenden Ausgaben von der Staatsregierung: den Ständen nachge⸗
voiefen werden muß. Zwiſchen nothwendigen und nüglichen Aus⸗
gaben iſt indeſſen fehr wohl zu unterfcheiden. Kann der betreffende Mir
nifter blos die Nüglichkeit einer von ihm vorgefchlagenen Ausgabe beweis
fen, dann wird es ohne Zweifel von dem Ermeffen der Ständeverfamm»
lung abhängen, ob fie für gut findet, biefelbe zu bemilligen oder abzus
Ichnen. ebenfalls ift, wenn die Ständeverfammlung das Legtere ges
than, der Minifter, den die Sache angeht, auf Feine Weife alsdann
befugt, die Ausgabe dennoch zu machen. Er kann von ber Nuͤtzlichkeit
ber von ihm in Anregung gebrachten Ausgabe eine von ber der Stände
verfammlung verfchiedene Anficht und Meinung haben; aber der Außs
ſpruch jener ift bier entfcheidend, und es bleibt dem Minifter in ſolchem
Kalle nichts übrig, als entweder fi) bei der Entfcheibung der Ständever-
fammlung zu beruhigen oder zu verfuchen, feinen Antrag beffer zu bes
gründen und dadurch vielleicht bie Ständeverfammlung zur Ertheilung
ihrer Zuflimmung geneigt zu machen. Handelt et auf entgegengefegte
Weiſe, dann koͤnnte eine Anklage defjelben die Folge fein und er gend»
thigt werben, das verwendete Geld zurüdzugeben, wofuͤr er felbft mit
feinem Privatvermögen zu haften haben würde. Anders verhält ſich das
gegen bie Sache, wenn bie verlangte Ausgabe nothwendig war, d. h.
wenn bie Eriftenz des Staats und feine weſentlichen Einrichtungen durch
ihre Unterlaffung in Gefahr Lünen. Nothwendige Ausgaben des
Staats zu tragen, find die Staatsbürger allerdings verpflichtet und ihre
Vertreter, dieſelben zu bewilligen rechtlich verbunden. Der Staatsgerichts⸗
hof würde im Tale einer Anklage nicht umbin innen, den Minifter,
weicher eine ſolche Ausgabe gegen ben Willen ber Staͤndeverſammlung
gemacht hätte, frei zu fprechen, wenn er von dee beinglichen Nothwen⸗
64 | Budget.
digkeit ber Ausgabe. bie Ueberzeugung hätte. Allein fo leicht es iſt, hier
im Allgemeinen Grundfäge aufzuftellen, die zur Richtſchnur dienen follen,
ebenfo fchwierig wird es in einzelnen Fällen fein, zu entfcheiden, ob eine
Ausgabe durchaus nothwendig oder ob fie nur nügli war. Denn wie
Vieles pflegt nicht, zumal in. monachifhen Staaten, von oben herab
für nothwendig im Staatshaushalte ausgegeben zu werben, was nichts
weniger als nothwendig erfcheint. Auch kann die Ausgabe an und für
fi) als nothwendig erfannt werben, nicht aber die Art und Weiſe oder
„die Größe der für fie gefchehenen Verwendung. Und auch baflır kann
ein Minifter verantwortlich erfcheinen.
Eine landſtaͤndiſche Verfaffung würde fürwahr kaum einen Werth
haben, wenn ber Verſammlung ber Landesvertreter nicht die Befugniß
zuftände, diejenigen Ausgaben verweigern zu dürfen, bern Nothwene ,
digkeit oder wahrhaft nügliche Verwendung ihe nicht nachgewieſen
werden kann. Es find fogar Fälle denkbar, wo das ganze Budget, wenn
es nämlich auf einem verderblihen Finanzſyſtem aufgebaut ift, von ben
Ständen verworfen werben muß, wie in den Niederlanden mehr ale ein«
mal gefhehen, und verworfen werden kann, wie ebenfall® das Beiſpiel
der Niederlande darthut, ohne daß dadurch die verfaffungsmäßige Führung
der Regierung unmöglich gemacht wird. Nur die Vorlegung eines an⸗
bern Budgets wird dadurch herbeigeführt. Dem Megenten werben freilich,
durch die Landftände die zur Führung einer der Landesverfaffung
entfprehenden Regierung erforderlihen Mittel nicht verweigert
werden dürfen; aber die Frage: was denn zur Führung einer ber Lan
besverfaffung entfprechenden Regierung wirklich erforderlich fei ober nicht 3
wird allezeit von der Mehrheit der Ständeverfammlung abhängen. Staates
regierung und Landftände Finnen in ihren Anfichten über die Nothwen⸗
digkeit und Nüglichkeit einer Ausgabe, die im Woranfchlage des Budgets
ſich vorfindet, bivergiven; aber den legteren gebührt allezeit die entſchei⸗
dende Stimme und fie würden befugt fein, den Minifter in Anklagezu⸗
fland zu verfegen, ber fi) herausnehmen wollte, auch gegen- den Willen
dee Ständeverfammlung eine finanzielle Maßregel bucchzufegen. Auf
eine Weiſe aber würde etwa die deutſche Bundesverſammlung bier in's
Mittel treten dürfen, um fi) die Entfcheidung anzumaßen; benn offen«
bar würde dies eine Beeinträchtigung der den einzelnen Bundesftaaten zus
geficherten Unabhängigkeit und Selbjtfiändigkeit und ein Eingriff in deren
Souverainetät fein.
Wird bei Vorlegung des Staatsbubgets bie Nachweiſung ber Nothe
wendigkeit oder Nüglichkeit der für einzelne Gegenftände angefesten Aus⸗
gaben von ber Staatsregierung nicht geliefert, dann bleibt ftänbifcher
Seits nichts übrig, als bie vorzunehmende Prüfung ber Nothwendigkeit
ober Nüglichkeit lediglich auf bie allgemeinen Gründe zu fügen, welche
für oder wider die Nothiwendigkeit des Zwecks fprechen, zu welchem bie
Ausgabe gemacht werben fol. Dies führt natürlich zu Erörterungen und
Unterfuhungen über die Zweckmaͤßigkeit der beſtehenden Verwaltungsein⸗
richtungen, baher bie Stänbeverfammlung bei der Prüfung des ihr vor
a"
.
Budget. | 65
gelegten Budgets Weranlaffung finden kann, auch mit einer Prüfung ber
bisherigen Einrichtungen ber Staatsverwaltung fih zu befafin. Die
Unterfuichung bes Staatsbudgets Überhaupt und bes bie Ausgaben betrefs
fenden Abſchnitts deffeiben insbefondere, fo einfach und fall nur techni⸗
fher Natur biefelbe, aus dem bios finanziellen Geſichtspunkte berrachtet,
zu fein fcheint, gewinnt ſolchergeſtalt ein fehr hohes praktiſches Intereffe
in Beziehung auf den ganzen Organismus dee Staatsverwaltung, zumal
wenn biefer noch nicht durch Geſetze feſt geordnet tft und es alfo bei der
den Ständen verfaflungsmäßig obliegenben Ermittelung ber Nothwendig⸗
keit oder Nüglichleit der zu machenden Ausgaben, fo wie bes Beduͤrf⸗
niffe® ber zu ihrer Dedung vorgefchlagenen Agaben vor Allem darauf
ankommt, ob denn auch diejenigen Behörden und Stellen, welche im
Ausgabeetat als beſtehend vorausgefegt werden, in ber That nothivens
dig und nüglich, und alſo bie deshalbigen Ausgaben als zum wirklichen
Staatsbebürfniffe eher anzufehen find. So kann die Gtänbevers
ſammlung auf dem Wege ber verfaffungsmäßigen Feftftelung des im
Budget dargebotenen Woranfchlags zu den gefammten Staatseinnahmen
und Ausgaben, ihre Wirkſamkeit zugleib auf die genaue Unterfuchung
ber Zweckmaͤßigkeit aller Staatsbehörden, von ber hoͤchſten biß zur nies
drigften Stufe, in ihrem zeitigen Beſtande ausdehnen unb auf biefe
Weiſe zu bee Ermächtigung gelangen, ber Staatsregierung felbft Vor⸗
— zu einer veraͤnderten Organiſation der verſchiedenen Staatsbehoͤr⸗
den, gewiſſermaßen bedingungsweiſe ruͤckſichtlich ber Verwilligung ber für
dieſ⸗ Behörden erforderlichen Ausgaben, zu thun.
Die verfaffungsmäßige Dauer der Sinanzperioden, für welche das
Staatsbudget entworfen werben muß, ift verfchieben in den eutopaͤiſchen
Staatn. In der Mehrzahl derfelben wird das Budget jährlich neu
aufgeftellt; in Württemberg, Baden unb ben beiben. einen
berijdbeigen, in Baiern und Schweden für einen fechsjährigen Zeitraum.
Langjährige Finanzperioden erfcheinen in unferen Zeiten, wo wir nicht
in denen ber Antonine leben, nicht rathfam. In vielen Staaten beflcht
die Einrichtung, baß bie Feftftellung bes Budgets fi ſtets auf ben .
Zeitraum von einer Landtagsperiode bis zur andern befchräntt, fo daß
die Dauer ber Finanzperiode mit ber ber Kanbtagsperiode in eins zuſam⸗
menfällt; es iſt dies ohne Zweifel ein zweckmaͤßiges Mittel ber Sicherſtel⸗
lung der wirklichen Vollziehung bed Finanzgeſetzes.
Mur zu oft iſt es von ben Werfammiungen der Volks⸗ unb Lan⸗
desvertreter verkannt worden, daß es zu ihrem vorzuͤglichen Beruf ges
hoͤrt, den Daumen auf den Geldbeutel des Staates zu halten, und daß
die Regullrung des Budgets für jede Finanzperiode vornehmlich bezweckt,
bie Öffentlichen.. Ausgaben ‚mit. den Huͤlfsquellen des Landes in ein rich
tiges Verhättniß zu fegen. Start auf Erfparungen in ber Führung ‚dep
Staatshaushaltes zu fehen,; find fie viel zu geneigt, zur Dedung des
Ausgabe Budget neue: Giteyemm zu fanctioniven. Alle koͤnnen in biefer
eg bei den Rorbamerktanern in die, Schule geben. Faſt überall
die Staataautgaben feit Einführung von Bepehfentationerfaf
— Lexikon. III.
(66 Budget.
ſungen vermehrt, ſtatt vermindert. Doch iſt es irrig, den Grund biefer
Erfcheinung in dem Mepsäfentatiofnfteme an fidh zu fuchen; die Urfachen
derfelben liegen in anderen DVerhältniffen. Wie wenig jene Erfcheinung
eine nothwendige Folge der Einführung ber repräfentativen Staatsorbnung
in die Monarchie ſei, beweift uns Norwegen. Diefes Königreich er⸗
freuet ſich unftreitig der freifinnigften Verfaſſung unter allen conflitutio«
nellen monardhifchen Staaten Europa's und nirgends zeigt fich der Staats⸗
haushalt beffer geordnet als in jenem Lande, welches To wenig reichlich
von der Natur ausgeſtattet iſt, daB es fogar ber Mittel der Selsfiftän-
digkeit beraubt fehlen, aber unter dem Schutz feiner Werfaffung bald
‘einen folden Auffhwung gewann, daß ſich fein bluͤhender Zuſtand von
Jahr zu Jahr mehr hervorthut. In Norwegen ift man bei ber Fehl
ſtellung des Budgets nicht in Werlegenheit, die Ausgaben zu decken;
dort hatte bee Storthing noch im Jahre 1838 nichts angelegentlicher im
Erwaͤgung zu ziehen, als wie der fich barbietende Ueberſchuß ber Ein-
"nahmen am zmedmäßigften zu verwenden. Es bürfte daher wohl Inter
effant fein, das norwegen'ſche Staatöbudget, welches fo erfreuliche Re⸗
fultate mit fi führe, näher kennen zu lernen. Die Stantseinnahme
betrug im Sahre 1833 nad) demfelben 825,000 Speciesthaler in Silber
und 1,739,1386 Specieöthaler in Zetteln; die Staatsausgabe in Silber
364,153 Spthlr., wovon die Civillifte des Könige 64,000 und diejenige
des Kronprinzen 32,000 Spthle. wegnimmt, das Uebrige aber zur. Abtra⸗
gung det in früheren Zeiten contrahirten Staatsſchuld angewendet wird,
wornach nody 461,141 Spthlr. übrig bleiben. Unter den Ausgaben im
Zettein finden ſich aufgeführt: für den Storthing 39,292 Spthle., für
die Regierung und den Staatsrath 117,698, für das hoͤchſte Gericht
20,590, für bie nicht unbegüterte Untverfität 30,500, worunter 3000
Für die Bibliothet und 2500 für ihre übrigen wiffenfchaftlichen Samm⸗
lungen, 700 zu gelehrten Reifen im Auslande, 3000 für die Kunſt⸗
und Zeichnungofſchule in Chriftiania, 130,086 für die Leuchtthirme,
"80,000 zur Beendigung bes Schioßbaues, 82,330 an Penfionen, 55,500
für die ausroärtigen Angelegmbeiten, 595,000 für den Landkrlegsetat,
"166,000 Gpthir. für den Seeetat. Dabei hatte die allgemeine Stadt»
Und Sandfleuer eine fehr bedeutende Ermäßigung erfahren, indem jene auf
185,000 , diefe auf 35,000 Spthir., mithin etwa um das Dreifache
herabgefegt worden war. In Betreff der zwedimäßigften Anwendung des
Ueberfchuffes fiel der Beſchluß des Storchings dahin aus, daß davon
baldmöglichft menigftehs 300,000 Gpthir. zur -Abtragung ber 1822 abge
ſchloſſenen fechsprocenitigen Staatsanleihe angerombdet, 100,000 Sptihlr. in
Der Bank niedergelegt und dadurch die Zettelmaffe vermehrt und 150,000
Gpehte;, welche bie Want an bie Staatscaſſe :zu fordern, zurädgezahlt
werden follten. U
Das Staatsbudget iſt immer nie ein von ber Staatéereglerung
Yir Ständeverfammtlung zur Prüfung, Begutachtung und dernaͤchſtigen
Weihtußnahme vorgelegtee Geſetzesentwucf, ‘der erſt durch gegemfeitige
Vereinbarung Geſetzeskraft dekommen kannund aledann als Finanzge⸗
Budget. 67
ſetz fuͤr die laufende ober kommende Finanzperiobe promulgirt wird. Die
Anordnung und Leitung der Maßregeln zus Vollſtreckung und Vollzie⸗
bung des nach gefchehener Vereinbarung zwifchen Staatsregierung und
Staͤndeverſammlung in das Finanzgeſetz aufgenommenen Einnahmebudgets
gehört zu der ausſchließlichen Gompetenz des Finanzminiſters, der zu⸗
gleich in Anfehung des im Finanzgeſetze feſtgeſegten Ausgabebubgets im
Algemeinen eine Gontrole dafür ausübt, daß die übrigen Minifterien ben
ihnen gewährten Credit nicht überfchreiten. Im franz. Moniteur
(1822. Nr. 98.) wurde ſehr richtig bemerkt: La consequence fonde-
ınentale du systeme des budgets est une oonnexite de devoirs et .de
surveillance pour la regularite des payemens entre les minisizes
ordunnateurs et le ministre des finances, II y a entre Ini et cha-
cun des autres ministres, sous ce point de vwue, association de
responsabilite. Lorsqu’ une ordonneance arrive au tr&sor, le minisfre
. des finanoes doit, avant de I’admetire, s’assurer, quelle s’applique
eu oredit qui Äui est propre, qu’elle ne sort pas des ses limites.
Le zministre des finances n’est pas juge du mode de service, mais
3 doit juger le mode de payement auquel il conoourt. Les mi-
wistres ordonnateurs lui designent leurs oreanciers; il ne disoute
.pas keurs droits, mais il n’a pas gelui de oreer des charges pour
ie Ardsor au .dela des preances dant la loi a posg les: bornes, |
Die Zweckmaͤßigkeit und Nuͤtzlichkeit der Aufitellung von Eianahmes
und Ausgabeetats für bie vwerfchiebenen Zweige des Staatshanähaltes,
‚um eine ‚befriedigende Mechenfchaft von ber Finanzverwaltung ablegen zu
koͤnnen, erkannte bereitd ber edle Suͤlly. LYidee de drasser pour
abarpıs partie des finauces des Etats gegeraux, qui en prescrivent
zettement et uniformeinent la forme m'a toujours paru si heureuse
et si propre a oonduire à la plus grande exsetitude, que j’etendis
sette methode sur tout ce qui en Etait capable — fagt berfelbe in
‚feinen Memoires (Bb. III. ©. 3 u. f.). Im Jahre 1601 legte er
dem Könige Heinrich IV. fünf folher Generaletats vor, von denen Ber
erſte den Hauptfinanzetat in ſich ſchloß; ber zweite bezog ſich als, Caſſen⸗
etat auf die Verwaltung des koͤnigl. Schages ‚und die fibrigen Etats ent⸗
‚hielten theils den Mititaichaushalt, theild die Wermaltung der. öffendichen
Straßen und Brücken. Dans je premier da.;sex.:etats, bemerkt: er,
qui 6teit le plus important, parceque j’y anireis dans le detail
‚de tout ce. qui me zegardait .opmme surintendamt: des finanoes, oteit
renferme d’ane ‚part, tout ce que se -Isye d’argmıt en France par
de xoi, :de quekme nature ‚qu’ik puisse ‚Sira;; d’un auine, todt. se
qui doit Etre deduit en fmis:.de perceplion, et adnsegeieınment ve
que revient dans les. voſfres de 5, M. Jo nr maurais nroire,: ſegt
‚ee hinzu, que l'ides de.ces :sortes de formules:me.,soit pas: venme
à quelqu’un depuis que les: finances ont été assijetties..a. queiquas
seglsmens, l’interet sel :doit em anoir eımpönhe J’exeonticır. Quol-
qu'il en scit, je souliemdsais. .teujeurs, (Que sans’me.: guide: on: "ie
peut sravailler. qu’en. auemgie u quien frimen.:: Bu dh: Sleſer
68 Bubgel.
Minifter fort, zu Anfange eines jeden eintretenden Jahres dem Könige
bergleihen Finanzetats als eine Art Staatsbudget vorzulegen. Necker
hat daher Unrecht, wenn er fi in f. compte rendu (©. 22.) das
Verbienft beilegt, zuerft die Etatifirung des geſammten Finanzhaushaltes
und ber einzelnen Zweige beffeiben eingeführt zu haben. Cine größere
Vervollkommnung und Ausbildung bes Etatsweſens zum Behuf der res
geimäßigen Aufftellung von fürmlichen Staatsbudgets datirt ſich erft aus
den neuen Zeiten. Beſonderse hatte die Einführung geregelter Conſtitu⸗
tionen in fo vielen Staaten, mit Anerkennung eines ſtaͤndiſchen Steuer⸗
verwilligungsrechts, die periodifche Vorlegung von Einnahmen» und Aus»
gabenbubgets zur nothmwendigen Folge, indem jenes den rtepräfentativen
erſammlungen grundgefeglich zuftehende Recht nur unter biefer Voraus⸗
fegung verwirklicht twerben konnte. Doch war in mandyen Staaten bie
Einrichtung der Feftftellung eines Budgets der Ertheilung von Verfaſſun⸗
gen ſchon längere oder kürzere Zeit vorausgegangen. So fand fih 3. B.
in Churheſſen die erfte gefeglihe Aufnahme eines „allgemeinen jährlichen
Staatsgrundetats” in dem Finanzhaushalt bereits in dem ein Decennium
vor ber Promulgation ber jegigen chucheffifchen Verfaſſungsurkumde ers
ſchienenen churfürſtl. DOrganifationsedicte vom Jahre 1821
($. 14 u. 25). Darnach follte bei jedem einzelnen Minifterialdepartes
ment bee Grundetat für baffelbe entworfen, die ganze Vorarbeit wegen
bee jährlichen, Im Staatsminiſterium zu berathſchlagenden Feftftellung des
Staatsbebarfs von dem Finanzminifteriums beforgt werben, biefe Feſtſtel⸗
lung felbft aber, fo wie die Verwilligung bee im Grundetat enthaltenen
Summen, von dem LRandesfürften erfolgen. Dieſe landesherrliche Bes
fugniß wurde ſodann blos nach individueller Anficht ausgeuͤbt. Ueberdies
war das ganze betraͤchtliche Staatscapitalvermoͤgen, welches Churheffen bes
faß, von der Aufnahme in den Staatsgrundetat völlig ausgefchieben und
mit dem eigentlichen fürftlichen Gabinetsvermögen untermifcht, einer eigenen,
aller Einwirkung der Staatsbehoͤrden entzogenen Verwaltung ımtergeben.
Alles dieſes hat fpäterhin duch die Verfaſſungsutkunde vom 5. Jan.
1881, infonderheit durch die Beltimmungen des den Staatshauthalt
überhaupt betreffenden Xl. Abfchnitts berfeiben eime burchgreifend weſent⸗
liche Abänderung halten. Hiernach muß den Lanbftänden zeitig von
der Staatöregierung ein Voranſchlag aller Staatseinnahmen und Aus⸗
gaben vorgelegt werben und formell gefchieht die Seftftellung des Staates
grundetats verfaſſungsmaͤßig binführo mittelft eines Finanzgeſetzes,
welches ber Stänbenerfammlung zur Prüfung und Berathung übergeben
werden muß. Auch in abfolut monarchiſchen Staaten, wie in Preußen
und Rußland, ahmte man bie Bubgeteindichtung nah. Man hat ſolcher⸗
geſtalt freilich häufig Gelegenheit gehabt, über die Methoden für die Bes
arbeitung ber Finanzetats und Aufftelung ber Budgets nachzudenken,
gleichwohl Laffen biefelben, forsie fie in manchen Staaten in Anmwenbung
find, in Abficht auf Vollſtaͤndigkeit und Gewährung einer leichten Ueber⸗
-fiht, ſowie überhaupt auf Zweckmaͤßigkeit noch Vieles zu wuͤnſchen
übrig. Auch in unſerer finanzwiffenfchaftlichen Literatur fehle es nicht
Buenod Ayres. 69
an Schriften, bern Verfaſſer fich mehr ober weniger umſtaͤndlich mit
dieſem Gegenſtande befchäftigt haben; aber theils Haben fie biefen bei
weiten: nicht erfchöpft; theils find fie, zumal im praßtifcher Hinſicht, uns
d. Außer den bereits oben gelegentlich citirten Schriftftellern
verdienen noch Juſti unter ben Älteren, fowie Peterfon, Efchen-
maper und Riesſchke unter den neueren, hier beſonders noch erwähnt
zu werden. Am grändlihften und auf's Umfichtigfte, wiewohl weniger
in der eigenen Beziehung auf conftitutionelle Staaten mit einer Repräs
fentativverfaffung, dürfte wohl Malchus in feinen beiden oben anges
führten Werten die Sache behandelt haben. M—.
Buenod Ayres. (Argentinifhe Republik. La Plataſtaa⸗
ten.) Hat audy der Staat, mit befien Verhaͤltniſſen ſich diefer Artikel
befdyäftigen muß, einen andern Namen angenommen und dadurch fchon
angedeutet, daß er das Foͤderativſyſtem an bie Stelle der Abhängigkeit
von einem Gentralpunfte fegen will, ſo ift doch diefer Punkt feibft, wie
er die Wiege der Freiheit jenes Staats war, noch immer der Kern feis
nes politifchen Lebens, und lange Zeit noch werden Statiftit und Ge
ſchichte, bei Betrachtung der Silberrepublik, e8 vorzugemeife mit Buenos
Apres zu thun haben. So ward fchom zur Zeit der fpanifchen Herr⸗
ſchaft das Vicekönigreich Rio de la Plata, aus deffen Beitandtheilen bie
argentinifche Republik fich gebildet bat, gewöhnlich Buenos Ayres ges
nannt, nach der Dauptfladt, dem Sige der Regierung. — Gelbft ber
fpanifchen Regierung ward es fühlbar, daß die unermeßlichen Landſtrecken,
weiche die fübameritanifchen Reiche bildeten, einer beflern Unterabtheilung
bedurften, ale in ber fie die Gefchichte überliefert hatte. Darum tarb
ſchon 1739 das Vicekoͤnigreich Neu⸗Granada mit Quito errichtet, im
Wefentlihen das heutige Colombien. Das Meglement von 1777 aber
vervoliftändigte dies, indem es das Gouvernement von New Spanien
(Merito) ausfchied und das WVicekönigreih von Buenos Apres ſchuf,
den Punkt, von welchem die Unabhängigkeit des fpanifhen Südamerika
ausgehen follte. Es erhielt feinen Namen von dem gewaltigen Strome,
der, aus der Vereinigung des Paraguan und des Parana entitanden,
nah Aufnahme des Uruguay, als Rio de la Plata in einer Breite von
OD Meilen den 500 Meilen langen Lauf im atlantifchen Meer beendet.
Das neue Vicckoͤnigreich bekam ein Gebiet von 52,000 Quadratmeilen,
mit einer Bevölkerung von 1 Million Einwohnern. Es befland aus
den alten Provinzen Paraguay, Zucuman und Chile Zramontano. Nicht
alle feine Beftandtheile find auf die neue Republik mit übergegangen,
vielmehr hat fi Oberperu in bie Republik Bolivia vermandelt; ber
größte Theil von Paraguay, zu beffen Gebiet Die Hauptfladt Buenos
Ayres felbft gerechnet wurde, vegetirt unter Francia's Dictatur. Mon⸗
teoideo endlich ift der Mittelpuntt der Banda oriental, bes Freiſtaates von
Uruguay gewerdm. Go erſtreckte das Unabhängigkeitsprincip feine Wir:
kungen immer weiter. j
Die Gegenden des La Piataftromes wurben 1515 buch Juan
Diaz de Solis entvedt. Won da annahm die Givilifation derſelben bemfelben
- 170° Buenos Ayres.
Gang, tie die ber Übrigen fpanifhen Beſitzungen in jenem Erdtheile.
Die Städte La Plata, Buenos Ayres, Montevideo u. a. erblühten m
Stanz und Reichthum. Petoſi erbielt mit feinen Stibergruben ſpruͤch⸗
woͤrtliche Bedeutung. Unter Kämpfen mit den Indianern und auf Kos _
ften des Schweißes ber Negerſklaven, breitete ſich allmälig jene aus .
Meißen und Karbigen grmifchte Bevoͤlkerung uͤppiger Genußmenſchen aus,
deren Geſchichte Jahrhunderte lang feine Thaten aufzaͤhlt. Europa
mufte umgemälzt werden, ehe ber Gährungsftoff in jene trägen Elemente
geworfen werden konnte. Die Engländer benugten die Kriegserfiärung,
die Spanien auf Befehl Napoleond gegen fie eriaflen mußte, um vom
Gap aus eine Erpedition gegen Buenos Ayres zu fenden, ber au am
2. Juli 1806 deſſen Befignahme gluͤckte. Allein fhen am 12. Auguft
mußten bie Engländer, die bei den Einwohnern nicht die erwartete Theile
nahme fanden und deren Führer mancher Mißgriffe beſchuldigt werben,
die Eroberung wieder räumen, umd ein zweiter im Juli 1807 gemachter
Verſuch mißgluͤckte voͤllig. Umfonft Hatten die Engländer den Bewoh⸗
nern ihren Beiſtand zur Ertingung der Unabhängigkeit angeboten. Re⸗
ligionshag mochte ihn unerwuͤnſcht machen; aber auch außerdem bervie®
das Volt, bei manchen unverkennbaren Regungen ber Unzufriedenheit
mit einzeinen Maßregeln und Perfonen, gleichwohl eine feſte Ergebenheit
und Treue gegm Spanien. Es war fogar treuer als feine Kührer. Die
fpanifhen Vicekoͤnige und Generalcapitaine waren, ſich mehr als Beamte
denn als Bürger fuͤblend, größtentheits nicht abgeneigt, jeder neuen Mes
gierung, bie fie in ihren Stellen ließ, fih anzufchließen. Das Volk
aber hielt unerfchütterlih an der alten Königsfamilte. In der That,
wenn es diefer nicht mehr dienen wollte, warum hätte es einer andern
warum dem Erften Beften dienen follen, dem es einfiel, ſich al6 feinen
Beherrfcher anzufündigen? Im Jull 1808 fand fi ein franzöfifcher
Abgeordneter zu Buenos Apres ein, der dem Volle den im Mlutterlande
vorgefallenen Thronwechſel kund thun und es zur Huldigung an König
Joſeph auffordern foute. Der Vicekoͤnig Liniers, ein geborener Franzofe,
begnügte fi, das Volk zuc Neutralität zu ermahnen, worauf ber Gou⸗
verneur von Montevideo, General Etio, ſich fir unabhängig von dem’
Vicekoͤnig erflärte und eine Junta ertichtete. Der mit Aufträgen ber
Junta von Sevilla erfchlenene General Goyeneche billigte dieſes Verfah⸗
ren. Aber bald bewies er felbft jene verderbliche Politik, welche die
Grumdquelle der Losreißung der Colonten vom Mutterlanbe geweſen ift.
Diefe Amertlaner wollten ſich Peinesroeged vom Mutterlande trennen;
fie madıten nur, wie bie Provinzen bes legtern felbft, von jenem eigens
thinmlichen fpanifchen Wertheidigungsmittel. Gebrauch: der Errichtung der
unten, durch weiche das Volk feibft feine Kräfte zum Schutze der bes
ftehenden Ordnung vereinigt. Es iſt diefe Idee ein Reſt der alten
Serbftchätigkeit des Volke, der fich bei den Spanien erhalten hat und
vielleicht von, dort aus bereinft auch zu andern Völkern zurückkehren wird. _
Die Thélle kaͤnpfen für das Ganze, ftatt willenlos mit ihm zu fallen.
Afo gerade zur beffern Erhaltung ber Rechte des Mutterlandes, zür
5 Buenos Ayres. 71
Vertheldigung feiner rechtmaͤßfigen Regierung gegen Uſurpation und Er⸗
oberung entſtanden biefe Junten. Aber es mar wohl natürlich, dag mit
dem Selbſtwirken des Volkes auch die alten Wünfche und Beſchwerden
rege wurden und daB das Volk den Augenblick, wo es bereit war, große
Anftrengungen für das Mutterlanb zu machen, für geeignet hielt, für
fih ſelbſt Gerechtigkeit von ihm zu verlangen. Als ihm biefe nicht
wurde, fo -erwachte Born gegen Spanien und biefer fand allerdings in
dem unten geeignete Organe. Dazu Fam, daß Frankreich, nachdem es
die Unmöglichkeit, bie Colonien der Joſephiniſchen Megierung zu erhalten,
erkannt hatte, wenigftens ihren Beiftand dem Mutterlande entziehen wollte '
und deshalb durch zahlreihe Emiffaire zum Abfall auffordern ließ, des
nen England umfonft entgegengefegte Ermahnungen gegenüberfiellte. Dar⸗
um wurden bie Agenten der ſpaniſchen Mevolutionsregierung frühzeitig
gegen die amerifanifhen Junten mißtrauifh. Gegen die im Bezirk von
La Paz gebildete Junta intuitiva, deren Truppen von ben Generalen
Lanza, Caſtro und Yranburu befehligt wurden, zog General Gopenedye
feibft zu Seide, bemaͤchtigte ſich der Stadt und verhängte fchimpfliche
Todesſtrafen über die Häupter. — In Bumos Apres war der Vice
tönig Liniers als Joſephino abgefept worden. Sein Nachfolger, Cisne⸗
ros, eröffnete ſaͤmmtliche Häfen: ben Schiffen ber Briten und Portus
giefen und berief am 22. Mai 1810 einen Gongreß, der am 25. Mai -
eine Junta errichtete. Weder er noch feine Rathgeber hatten bedacht,
daß damit feine Abfegung ausgeſprochen war. Man errichtete eine Re⸗
gierungscommiffion, an deren Spige Don Cornelio Saavedra ald Präfis
dent trat, während das Daupt dee liberalen Partei, ber Dr. Don Mas
tiano Moreno, ald Staatsfecretaie fungirte. Ihr entgegen traten in den
einzelnen Provinzialplägen die Anführer der fpanifchen Zruppen, in ber
Hauptſtadt ſelbſt Cisneros und die Mitglieder der Audienzia, um Cors
dova der vormalige Vicekoͤnig Kinierd, in Oberperu Obriſt Cordova.
Altein Gisneros und feine Anhänger wurden verhaftet und nach den cas
narifhen Inſeln gefchafft; Linierd ward von feinen Xruppen verlaffen,
durch Obriſt Dcampo gefangen und mit vier Gefährten erfchoffen. Das
gleiche Schickſal traf —** und den General Nieto durch Ocampos
Nachfolger, den Don Antonio de Balcarce. In Jahresfriſt dehnte die
Junta ihre Wirkſamkeit bis an die Grenze von Peru aus, an welcher
ein Waffenſtillſtand mit dem General Goyeneche, der bie Armee des
Vicekoͤnigs von Peru befebligte, abgefchloffen ward. Weniger gihdlich
war man gegen Paraguay, das ſich keinesweges der Junta unterwerfen
wollte. Man fendete Belgrano mit 800 Mann bahin ab, dem aber
fo geſchickt geleitete Vertheidigungsanftalten entgegentraten, daß er froh
fein mußte, freien Rüdzug zu erhalten. Im folgenden Jahre beftand
eine eigene Junta in Paraguay, bie mit ber zu Buenos Apres ein
Buͤndniß abſchloß. In Montevideo hielt fi) General Etio, den die Dies
gentfchaft von Cadix zum Generalcapitain der La Plataprovinzen ernannt
batte, ber aber feine Gewalt nur über die Banda oriental erſtreckte, zu
deren Gelbfiftändigkeit damals die Keime gelegt wurden. Die neue Be
| 72 Buenos Apres. Ä
gierung fühlte aber wohl, baß ihre eigene Sicherheit fortwährend bedroht
blieb, fo lange auf diefem Punkte noch eine von feindlichen Principien
ausgehende Gewalt blieb. Die Vertreibung Elio's und wo möglich bie
Befisnahme der Wanda oriental war daher lange Jahre der Zielpunkt
von Buenos Ayres, das .vielfache Kämpfe mit ben Beherrſchern jenes
Landes und fpäter mit Braſilien einen Krieg um den Beſitz beflelben zu
beftehen hatte. Innere Spaltungen verzögerten die weiteren Erfolge.
Fruͤhzeitig zeigten fi) entgegengefegte Parteien in Buenos Apres, und
zuerft traten Saavedra und Moreno gegeneinander auf. Der Retlere,
im Gongreß uͤberſtimmt, dankte ab, ging in einer diplomatifchen Miffton
nad) England und flarb auf der Reiſe. Der Zwift hatte fi) aber auch
‘
auf die Armee erflredt. General Goyeneche benuste dies, griff eine Dis .
vifion an, die von dem andern ohne Unterftügung gelaffen und dethalb
geſchlagen wurde, worauf fi) Alle zerftreuten und Oberperu wieder im
fpanifche Hände fiel, um erſt von einer ganz andern Seite aus befreit
zu werden. Saavedra ſtellte ſich ſelbſt an die Spige der Truppen, warb
aber während feiner Abweſenheit geſtuͤrzt. ine Bürgerverfammiung
feste im September 1811 eine aus drei Mitgliebern beftehende Regle⸗
ung ein, an deren Spige Sarraten trat. Auch damals noch hatte man
fi) nicht von Spanien losgefage und in einem am 21. October zivie
[hen Buenos Ayres und dem General Elio abgefchloffenen Frieden er⸗
Tannten beide Theile Ferdinand VII. als ihren Oberheren, die fpanifche
Monarchie als eins und untheilbar an und bie Junta verfprach, dem
Mutterlande nach mie vor Subfidien zu fenden. Der Friebe dauerte
Übrigens nicht lange, ſchon weil die portugiefifchen Hülfstruppen ſich
nicht, wie Elio verfprochen hatte, nach Brafilien zuruͤckzogen. Erſt enge
lifhe Vermittlung bewirkte am 13. Juli 1813 einen Vertrag, in Folge
defien die Portugiefen das fpanifhe Gebiet räumten. Damals verbanfte
Buenos Apres dem zur Abfchliefung des Vertrags abgefendeten poriu⸗
giefifchen Obriften Rademaker die Entdedung einer von Spanien anges
zettelten Verſchwoͤrung. Das Haupt derfelben, der Kaufmann Martin
Alzaga, wurde mit 24 Genoffen hingerichtet. Im April 1812 warb
eine Verfammlung ber Deputicten, bie ſchon die Erklaͤrung erließ, daß
die Souverainetät ber La Plataftaaten auf ihnen felbft beruhe, von der
Regierung aufgelöft, eine zweite, bie im October gehalten ward, von -
Volt und Truppen auseinandergefprengt. Am 24. September beendigte
das fiegreiche Gefecht von Campo dei Honor die Unfälle, welche die La
Diataftaaten bisher in ihrem Kriege mit Peru erfahren hatten. So
fonnte die zum 30. Januar 1813 eröffnete fouveraine conſtituirende
Verfammlung unter günftigen Aufpicien beginnen. Indeß auch fie volle
zog nicht viel Wichtiges, mit Ausnahme der Abfhaffung der fpanifchen
Arkende, die menigftens als Zeichen von Bedeutung war. Die von drei
Männern, Pena, Perez und Sonte, geführte Regierung befam ben Titel
der hoͤchſten vollziehenden Gewalt. Man vereinigte, ſich über die Grund⸗
züge zur Emancipation ber Sklaven, und glüdlich, wenn man in biefem
Geiſte fortgewirkt Hätte. Im Auguft 1812 trat Don Pozadas an
Buenos Ayred. 73
Joutes Stelle, defien Regierungszeit abgelaufen war. Kriegeriſche Uns
fäue führten zur Dictatur. Belgrano, der am 20. Febr. 1813 die
ganze Tpanifche Armee des General Triſtan gefangen genommen, aber
gegen den Eid, nicht wieder gegen Buenos Ayres kaͤmpfen zu wollen,
entlaffen hatte, warb nun feinerfeit8 von ben eidbrüchigen Spanien uns
tee General Pezuela zweimal gefchlagen, wodurch die Provinzen Tarija
unb GSalta in die Hände der Spanier fielen. Jetzt übertrug man am
31. Dechr. 1813 die gefanmmte vollziehende Gewalt bem oberften Dicta>
tor Don Pozadas, dem man einen Rath von 7 Perfonen beigab. Bel⸗
grano ward vor ein Kriegögericht geftellt und San Martin fein Nach⸗
feiger, der durch einen gluͤcklichen Guerillaskrieg den Spaniern bie
Srüchte ihrer Siege wieder entriß. Gleichzeitig war durch ben patriotis
fhen Eifer des Finanzminiſters Juan Larrea eine Beine Seemacht er»
richtet worden, bie unter einem englifhen Kaufmanne Bromn am 25.
Mai dem fpanifchen Geſchwader bei Montevideo eine völlige Niederlage
beibrachte, worauf biefe Stadt auch von der Seeſeite eingefchloffen wurde,
während fie vom Lande aus der Dbrift Alvear belagerte. Mangel an
Lebensmitteln nöthigte Elio's Nachfolger, den General Vigodes, im Junf -
1814 zur Uebergabe des Platzes. Leber den Befig erhoben ſich Streis
tigkeiten zwiſchen Buenos Ayres und dem General Artigas, der die
Stadt für die Banda oriental reclamirte, und während innerer Unruhen
in Buenos Ayres zu Anfang des folgenden Jahres in ber That in Bes
fig nahm; denn Alvear, buch feine Erfolge zu höherem Ehrgeiz ges
trieben, ließ fih von der Regierung zum Oberbefehlshaber der Armee
gegen Pern ernennen, während der früher ernannte General Rondeau ihm
zuvorfam und von der Armee anerkannt wurde. Hierauf lieg ſich Alvear
an Pozadas Stelle zum Dictator erheben. Aber die Armee und meh»
zere Provinzen erkannten ihn nicht, an; der Obrift Alvarez, ben er ges
gem Artigas abſchickte, erklärte fich wider ihn und er verließ am 15. April
1815 Stelle und Land. Es ward eine Beobadhtungsjunta eingefegt,
die Mondeau zum Oberbictator und Alvarez zu beffen Gtellvertreter ers
nannte. Allein die Zruppen der Regierung wurden ſowohl von Artigas,
dem man Santa Se wieder abnehmen wollte, als von dem fpanifchen Ges
neral Pezuela gefhlagm. In Folge bdiefer Unfälle ward erft Alvarez,
dann fein Nachfolger Bafcarce entfest. Im März 1816 verfammelte
fi) die conftituirende Sunta zu Zucuman, und erwählte ben Don Puyr⸗
rebon zum oberfien Dictator. General Belgrano bekam mieder ben
Dberbefehl der Armee von Peru und zwang die Spanier zum Ruͤckzug.
General San Martin commanbirte gegen Chile und befreite es von dem
Epaniern. Bon da an ward die Äußere Lage bes jegigen Staates güns
fliger, weil die Inſurrection immer allgemeiner wurde, die verfchiebenen
Nachbarländer, von denen aus Buenos Ayres beunruhigt werden konnte,
fetbft für fih zu forgen anfingen und allmälig bie vom Mutterlande
verlaffenen Royaliften aufrieben. Nur um bie Banda oriental bauerte
ber Kampf mit den Portugiefen und mit der Unabhängigkeitspartei fort
und ward wider die erftere, aber auch nicht für Buenos Apres, fondern
A
L
74 Buenos Ayred.
für bie letztere entfchleben. Doc, Eehrte Santa GE wicber zu ben La .
Plataſtaaten zuckd. Der Congreß erließ am 9. Jull 1816 bie Un»
abhiängigkeitterfiärung ‚ber vereinigten Staaten bed La Plataftromes und
brach fo für immer das ſchwache Band, das noch an - Epanien Eettete.
Die Colonien hatten erfannt, daß Ferdinand VII. am menigften ihnen
die Gerechtigkeit wuͤrde widerfahren laffen, .die felbft die Cortes ihnen
verfagten. Auch war bie Sache ſchon zu weit gediehen unb alle Häups
tee der neuen Regierung fühlten, daß fie bei einer Meftauration nicht
nur dem füßen Traum ber Gewalt entfagen, fondern noch froh fein.
müßten, audy nur Verzeihung zu erhalten. Die neue Republik nahm
1817 den Namen der vereinigten Staaten von Südamerika an und ers
theilte fih am 22. April 1819 eine auf das Unionsprincip gebaute Ver⸗
faffung. Aber mit der hergeftellten dußern Ruhe begann die Reaction
der Provinzen und führte am 21. Septbr. 1823 zur Abſchließung eines
Bertrags zwifchen den Provinzen Buenos Ayres und Cordova, dem alls
mälig bie übrigen Provinzen beitraten und der im Weſentlichen eine Foͤ⸗
derativverfaffung begründete. Von da an herrfchten fortwährende Streitigkeiten
und Regierungsmechfel, deren Grund in den Kämpfen zwifchen ber Unlons⸗
und der Föderativpartei zu fuchen iſt. Die Exfteren, die Befiegten, wer:
den als die liberalere und aufgeflärtere, die Leuteren als bie bigotte, vobe
und unwiſſende Seite gefhildert. Das Land habe unter ber Herrſchaft
ber Unionspartei, und namentlich unter ber fechsjährigen Verwaltung Ri⸗
vadavia's gebiüht, aber zu ſinken angefangen, feit dieſer geftürzt warb.
Die Unionspartei hatte bie in ben Befreiungskriegen gebildete Armee auf
ihrer Seite und erregte mit deren Hülfe fortwährende Unruhen, bi end⸗
lich Ihe Oberhaupt, General Paz, von dem General Lopez gänzlich ges
fhlagen wurde und die Armee fi aufloͤſte. An die Spige dee mit
ſchwachen Rechten verfehenen und ihre factifche Gewalt nur in ber naͤch⸗
flen Umgebung aͤußernden Gentralcegierung trat General Quiroga. Dier
fer ward auf einer Reife, die er zur Beilegung von Differenzen zwiſchen
den Staaten Salta und Zucuman angetreten hatte, am 16. Februar 1835
in der Gegmd von Gordova, wie es heißt, unter Mitwirkung des Er«
gouverneurs der Provinz Corbova, Reynato, ermordet. Damit warb
nichts in den Grundverhaͤltniſſen geändert; ein Beweis, daß dieſe nicht
auf Perſoͤnlichkeiten beruhen. Die Mörder wurden verfolgt und zum
Theil verhaftet, roährend Andere entflohen. Die Obergewalt warb dem
Freunde und Verbündeten Quirogas, dem General Roſas, Übertragen.
Bei diefer Gelegenheit ward nochmals die Alleinherrfchaft der katholiſchen
Kiche ausgefprohen. Man behauptet, dag die Föderaliftenpartei haupt⸗
faͤchlich durch die Priefter herrſche, und bag fie überhaupt alle fpanifchen
Mißbraͤuche und Vorurtheile fortfege. Es ift aber moͤglich, daß
Ales, was man von der Ignoranz und Unduldſamkeit ber Foͤderallſten
und von der größern Bildung ihrer Gegner fagt, wahr ift, und daß
dennod die Erſtern das Gebot ber Iocalen Verhaͤltniſſe und der natio⸗
nellen Intereſſen beffer gewuͤrdigt haben, oder doch ihm beffer entfpras
den als biefe. Ihre dauernde Herrſchaft felbft beweiſt das; fie verdan⸗
Buenos Ayres. Bulle. 75
ken fie nicht fich, ſonbern ber Norhmenbigkeit ihres Syſtemes. In jenen
unermeftichen, ſchwach bevoͤlkerten Landſtrichen ift jede Gentraltfation ein
Uebel; es iſi viehmehe nöchig, daß jeder Theil fein eigenes Leben ent: -
fatte, ſelbſt fuͤr ſich ſorge und in immer befferer Ausbildung feines Wir:
tungskreife®» allmäfig jene Eroberungen im Sinnen mache, melche die
wohlthaͤtigſten find. , Diefe Länder koͤnnen nicht von einem Mittelpuntte
aus entwidelt werden, fondern die Theile müffen ſich felbft entwideln,
bis fie in einem Mittelpunkte zuſammentreffen. Das mag bie halte
Aufklärung der Unionepartei, mit franzoͤſiſch⸗ republikaniſchen Ideen ges
ſchwaͤngert, überfehen haben.
Das Gebiet der jetzigen argentinifchen Republik erſtreckt ſich vom
20—419 ©, Br. und vom 55—56° W. 2. Gie gränzt gegm Nor⸗
den an Bolivien, einſt als Bochperu mit ihr vereinigt, und an Braſilien:
gegen Weſten an Chile, dem ihe General: San Martin ale Befreier
dient; gegen Dflen an Uruguay und das atlantifhe Weltmeer; gegen
Süden an Patagonim, wo ihr jegiger Weherrfcher, General Mofas, zwei⸗
felhafte Eorbeeren erfocht. Sie umfaßt auf einigen 40,000 Quadrat⸗
meilen ema 650,000 Einwohner. Das Land wird nur an ben Gren⸗
zen von Gebirgen berhhet, ſtellt aber uͤbrigens jene ungeheuern, baumlo⸗
fen Ebenen dar, auf denen die zahliofen Viehheerden ber Bewohner ihre
Beiden finden. Dort fireifen auch die berittenen Indianerſtaͤmme ums
ber, in deren Reihen und ımter den Viehhirten (Gauchos) die unruhigen
Mititairhefs ihre Truppen ergänzen. Diefe Meiter haben bie Spanier
vertrieben mit den Nachkommen jener Roffe, durch welche einft die fried⸗
lichen Ureinwohner Amerikas gefchredt und befiegt wurden. Denn bie’
unzähligen, hertenlos umherſchweifenden Pferde diefer Ebenen flammen
alle von dem wenigen ab, welche bie Spanier des 16. Jahrhunderts in
das Land brachten. Pferde⸗ Maulthier⸗ Rindvieh⸗, Schaafs und Zie⸗
genzucht find bie wefentlihfte Quelle des dortigen Nationalreichthums
und liefern reiche Ausfuhrartitel. Die Furcht, die Weiden zu fchmälern,
verhindert den meitern Anbau des Landes. Die Übrigen Probucte, Er⸗
zeugniffe der freiwirkenden Wegetation, hat Buenos Ayres mit den Nach»
barftaaten gemein. Die Lagerftätten des Mineralreichthums find aber
größtentheild mit Dberperu abgetrennt worden. Man rühmt die Geſund⸗
beit des Klimas. Die Einwohner befichen aus Indianern, Weißen und
alen möglichen Farbeclaſſen. Die Republlk iſt jegt in die Provinzen:
Buenos Ayres, Banta Se, Entre Rios, Corrientes, San Luis, Mens
doza, San Juan, Rioja, Catamarca, Cordova, Santjago, Tucuman und
Salta getheilt, von denen nur das erſtere 160,000, Cordova und Salta
gegen 80,000, die Übrigen zwiſchen 15 und 50,000 Einwohner haben.
Die Stadt Buenos Ayres ift 1535 gegründet und 1580 reſtau⸗
riet werben, bat gegen 100,000 Einwohner und ift einer ber bedeutend»
ſten Handelsplaͤtze Suͤdamerikas. Erwaͤhnung verdienen noch bie Städte
Santa Ge de la Vera Cruz, St. Juan de Frontera am Fuße der Cordil⸗
leras, Cordova dei Tucuman und Salta. Buͤlau.
Bulle, ſ. Curie.
76 - Bund.
Bund, Bundesverfaffung, Staaten⸗ ober Völker
vereine, oder Foͤderativſpyſteme, insbefondere: Staaten»
bündniß, Staatenbund, Bundes» (oder Staaten⸗) Staat.
Grenzen ber Gewalt, Politik und DVerfaffung der Buns
dbesvereine im Allgemeinen. (Weber den beutfhen f. Deutſch⸗
land.) 1. Einleitung und Begriff ber Bunbesvereine.
Außerorbentlich verſchleden find bie politifhen Werbindungen und ers
faffungen, deren richtige Beurtheilung und Behandlung den Begenftand
dee politifchen Erkenntniffe und Beftrebungen bilden. Sowohl bei ben
heutigen Völkern, wie bei denen des Alterthums, fowohl in den Anfän-
gen, wie fuͤr die hoͤchſten Stufen der politifchen Entwicklung(ſ. Thl. J.
S. 40 u. 85) zeigen ſich uͤberall neben ſehr verſchiedenen, einfachen
Staatsverbindungen noch verſchiedenartigre Bundesverhält⸗
niſſe. Der einfache Staat vereinigt naͤmlich mehrere, nicht ſou⸗
veraine, einzelne oder moraliſche Perſonen unter ſeiner fouverainen
Geſellſchaftsgewalt. Ein Bund im politiſchen Sinne dagegen
ift ein Werein, defien Glieder ſich entweder keiner gemeinfdaftlichen ſou⸗
verainen Geſellſchaftsgewalt unterorbunen, ober die felbft wiederum Staa⸗
ten ober Gefellfhaften mit einer, wenn auch befchränkten, fouverainen
Geſellſchaftsgewalt bilden. Die legteren heißen Staatenvereine.
Edhe ſich überhaupt wahre, fouveraine Staaten und vollends, che ſich
große Staaten bilden, treten Einzelne, oder Familien, Geſchlechter oder
Stimme, und zwar entweder noch wandernde Horden, ober fchon feſte
Anſiedler in bloße Bündniffe, wie wir fie 3. B. auch die hebräifchen
Patriarchen, und fo oft im Mittelaiter Einzelne und Gorporationen,
unter dem Namen: Srieden, Bund, Conjurationen, Einis
gung u. f. mw. fliegen fehen. Und ebenfo treten, wenn bereitö ver⸗
fhiedene Staaten beftehen, von biefen viele in Bundesverhältniffe. Selbſt
in Griechenland und bei den Germanen haben überhaupt bie ers
ſten Vereine, fofern man nicht jede einzelne Hausgenoſſenſchaft ſchon
einen Staat nennen wollte, und jedenfalls bie erften Vereine verſchie⸗
dener Hausgenofienfchaften, unter einander faſt überall nur die Geſtalt
von Bundesvereinen. Erſt fpäter bilden fich diefe zu fouverainen Staa»
ten ; zuerft gewöhntidy zu kleinen Stamm » oder Stadt» oder Gauſtaa⸗
ten. Iſt aber dieſes gefchehen, alsdann treten biefe wieder unter fich
zuerft noch in bloße Bundesvereine, fo wie früher die verfchiebenen
hebräifhen Stämme, wie die phönicifhen Städte in der Hei⸗
math und in Nord afrika, wie bie griehifhen, bie alten ita⸗
lifhen Städte, wie die altgermanifhen Gaue, dern Bundesver⸗
ein untere gemeinſchaftlichem Derzog fogar früher, 5. B. im Cherus-
ters, im Martmannens, im Alamannenbund, ja noch im
Sahfenbund zu Carl des Großen Zeiten, nur vorübergehend
während eines Kriegs in Wirkfamkeit traten. Auch diefe Bundesver⸗
eine aber, und namentlih die allmäligen Werbindungen der einzelnen
Stämme, ganzer Nationen werden dann fpäter oft felbft wieder zu ein⸗
ahen Staaten, fo wie ganz Italien zulegt unter Rom, und
Bund. 177
wie bie verfchiebenen Feudalvereine des germaniſchen Mittelalters in
den meiften heutigen europdifhen Nationen, bald auch zu
großen nationalen Bundesvereinen, wie Deutfhland und Nord⸗
amerika, wie die Schweiz und früher Holland. jest freilich ift
Holland, obwohl bie einzelnen Provinzen, fo wie auch die von Dans
nover, befondere Provinzialftände. haben, dennoch ein einfacher Staat,
weit feine Provinz, kein befonderes Glied ber Staatsverbindung Souve⸗
eainetät beſitzt. Auch die MWundesvereine find theils einfache, und
diefes, wenn fo, wie jest in Deutfhland und In Norbamerita,
und zum Theil in Sübamerita, ihre unmittelbaren Glieder nur
einfahe Staaten (oder einzelne Samilienväter) find, theild zu ſa m⸗
mengefeste oder auch Oberbundeöverfaffungen, infofern ihre Glieder
feibft wieder Bunbesvereine bilden. So vereinte der allgemeine
Nationalbund, die allgemeinen Ampphiltyonen. der Griechen, zunaͤchſt
wieder die befondern Bundesvereine der einzelnen Etämme, die ber
Dorier, Ionier, Aeolier, bee Ahder, Theffalier u. f. w.
So umfaßt auch noch jetzt eines der 22 Glieder des heutigen Schwei⸗
zerbundes, nämlih Graubuͤndten, als felbft wiederum ein Bundes⸗
verein, 26 befondere Vereinsſtaaten. Ja eine folche fiufenmweife Uns
terordbnung und Zufammenfegung kann eine drei⸗ unb vierfache fein.
So waren 5. B. in Theffalien die einzenen Städte, Gaue und
Demen felbftftändig, vereinigten fidy aber wieder in einem Bundesver⸗
ein dee Stämme, bdiefe wiederum in dem der vier theffalifhen
Hauptvälkerfhaften, diefe in dem allgemeinen theffalis
{hen Bunde, der dann wieder ein, Glied des hoͤchſten griechiſchen
Nationalvereins bildete. Noch zahllofe andere Verfchiedenheiten der Bun⸗
besvereine laſſen ſich denken. Es kann in den Bundesvereinen die mons
archiſche, ariftotratifhe, demokratiſche Form, und zwar ent⸗
weder eine unmittelbar demokratiſche, wie in Griechenland (f.
Achaͤer), oder die vepräfentative, wie in Amerika, vorberrfchen.
Es können ferner bie Sthatenvereine eine ganze Nation umfaflen, wie
die allgemeine griechiſche Amphiktyonie, oder nur einzelne Theile,
wie der ahäifhe Bund. Es kann an der Spitze der Bundesverei⸗
nigung entweder bios ein gemeinfchaftlicher.. Monarch fliehen, wie in
Defterreih und Ungarn, tie in Schweden und Norwegen,
oder eine, durch verfchiebene Vertreter der vereinigten Staaten gebildete
Bundesgewalt, wie in Deutfhland und dr Schweiz. Es koͤn⸗
nen bie Bundesflanten bald bloße Stadtſtaaten und nur Republiken
fein, fo :wie in ben Bundesvereinen ber Alten, in den italienifhen
und beutfhen Städtebündniffen im. Mittelalter,’ bald fo, wie in
Norbamerikta, bloße Landesſtaaten, oder auch fo, wie in Deutfch«
land, theils ſtaͤdtiſche Mepubliten, theils monartchiſche Staaten aller Art,
Sie können theils felbft wieder beſondere Unterthanenländer haben, die
entweder fo, wie jegt in Beziehung .auf Deutfchland bie außerdeutfchen
Länder von Dänemark, von ben Niederlanden, von Defters
reich, Preußen und England, an der Verfaſſung bes Bundeslan⸗
.78 Bund.
bes und bes Bunbes felbft gar keinen, ober bo fo, wie früher“ bie Un
terthanenländer. mehrerer Schweizercantone, nur einen fehr be
ſchraͤnkten und mittelbaren Antheil haben. Offenbar aber noch wichti⸗
ger, als alle diefe Unterfchiede, find die, ob die Bundesvereine nur ein
Buͤndniß begruͤnden, wie bie verſchiedenen Goalitionen gegen Frank⸗
veich, ober einen Staatenbund, wie nad) ber herrſchenden Anſicht
jest Deutfchland, oder einen Bundesftaat, wie Nordamerika.
Wird nun wohl, mit dem Bid auf die Natur der Sache felbft
‚und auf die Gefchichte, Jemand leugnen wollen, baß bie Bundesver⸗
dhaͤltniſſe, ihre Aufgaben und ihre Verfchiedenheiten hoͤchſt wichtig find,
wie denn auch ſchon oben (Thl. I. ©. 40 u. 85) ein vollkommenes
Foöderativſyſtem als die hoͤchſte und reichſte politiihe Organiſation
dargeſtellt wurde? Wird man verkennen, daß das Schickſal, die Freiheit,
die Exiſtenz und Cultur der Voͤlker oft eben fo fehr,. und noch mehr
von der richtigen Auffaffung und Geftaltung ihrer Bundesverhaͤltniſſe,
als von ihren Staatsverfaffungen abhängen? Wird man leugnen, daf
diefe richtige Auffaffung und Behandlung zufammengefester Verhaͤltniffe
ſchwieriger, und baß zugleich die Theorie derſelben ungleich vernachlaͤſſig⸗
ter iſt, als die des einzelnen Staates und feiner Verfaſſung?
. . JE Eintheilung der Bundesvereine. Für jedes gruͤndliche
Wiſſen ift es Srundbedingung, daß man die Gegenftänbe deſſelben, ihre
gemeinſchaftliche Natur, ihre weſentlichen Unterſchiede und ihre 2*
denen Gättungen kenne, und daß man für biefen Zweck in einer en
ſchoͤpfenden wichtigen Eintheilung das ganze Gebiet derſelben umfaſſe und
überfeye. Hiermit muß baher nicht blos in der Naturlehte und Ihren
Zrorigen, in Mineralogie, Botanik, Zoologie, fondern auch in der Polltik
alte gründliche, wiffenfchaftliche Erkenntniß beginnen. Doch ift in ber
Politik ſolche gründliche Eintheilung und Entwidlung ber politifchen Wer
‚eine und ihrer verfcdyiedenen Natür, wean auch einzelne ber eilt Der
‚Utiter, wie Ariftoteles, wie Montesquieu, eine ſolche zur Grund⸗
lage ihrer Soſteme zu machen ſuchten, noch gar ſehr vernachaͤſſigt,
indem bie neueren Rechts⸗ und Gtantslehrer ſich oft zu einf uf
die logifche Entwicklung aus rein ‚philofopbifchen Peincipien befehränfen.
Aber feibft Ariftoteles und Montesquien beſchaͤftigen fich ‚vorzüglich
nur mit der Natur. und der Verfchiedenheit bee Staaten, amd vVere
nachlaͤſſigen ebenfalls die Bundesnereine, fo hoch fie auf, vorzüg«
lich der Letztere, preift.
' Jede gruͤndliche Sintheilung in jedem Gebiete des Willens muf
von den Srundprindipien der Wiſſenſchaft in iheer Beziehung auf die ver⸗
ſchiedene Natur der. Gegenſtaͤnde ausgehen. Sie wird ſonſt zufälig und
willkuͤrlich. So wäre z. B. in juriſtiſcher Dinficht eine Eintheilung ber
Sachen in lebendige und todte, ober in organifche und Unorganifche ver⸗
kehrt, obgleich fie in Beziehung. auf ‚die Naturwiſſenſchaft hoͤchſt wichtig
iſt. In recht licher Hinficyt muͤſſen alfo bie hoͤchſten und wefent-
ichften Verſchiedenheiten der Bundes vereine — denn nur von die⸗
fen iſt hier die Rede — ausgehen von ber weſentlichen Verſchiedenheit
x
Bund. 79
ber Geimbgefege ober ber Zwecke und Brumbbebingungm ber. Vereine.
Aueh Becht und feine Verſchiedenheit entficht burch die Vereine der Men⸗
fen (f. Thl. I. &. 13), und der Bund ſelbſt ift feinem legten we⸗
ſentlichen Merkmal nad) ein Verein, ein Vertrag.
Die erfie Dauptverfciedenheit ber Bundesvereine muß alfo eben
fo, wie die der Staaten, von dem hoͤchſten Grundprindp oder Grund⸗
geſetz ausgehen, welches die an Thatkraft überwiegende Mehrheit ber
Bereinöglieder beſtimmt. Wie für die Staaten feihft, fo werden alfo
auch für die Bunbesvereine die Verfaſſungen, je nach der Vorherrſchaft
"bes finnlichen egoiftifchen,, des blinden Glaubens⸗ oder des Wernunftges
ſetes, entweder deſpotiſch ober theokratiſch, oder freiheitlich
ſem“). Die weitere Begruͤndung und die Entwickelung dieſer Eintheilung
muſſen wir der Lehre von ber Staatsverfaſſung uͤberlaſſen. Nur das iſt
hier noch zu bemerken, daß es ein Hauptgrundſatz der Politik ſein muß,
:wenigftens fo viel, als moͤglich, die bleibenden Bundesvereine zwiſchen
Staaten von verſchiedener Geundverfafung, soife zwiſchen deſpotiſchen, theokta⸗
tiſchen und freien gu vermeiden, Denn entroeber wird fonft der Bund
MRegierun
ie es ſtets als die Grunbbebingung ihrer Eriftenz anfehen, vor
Atem ide Grundprincip kraͤftig zu behaupten und ihm Eingang zu ver⸗
ſchaffen, oder fie find verloren. Bon niedern Stufen fans man, ohne
ſich ſelbſt und feine Sriftenz aufzugeben, zu dem höheren foriſchreiten,
nicht umgekehrt!
Nach der Verſchiedenheit der hoͤchſten Grundprincipien if keine ans
:bere fo weſentlich, als die nach der rechtlichen Natur, nach dem rechtli⸗
hen Zweck und’ nad) dem rechtlichen Grundbebingungen der Vereine.
Nach diefer allgemeinen wefentlichen ‚Hauptabtheilung und rechtlichen und
polfäen Verfchiedenheit (f. oben Thl. I, &. 30) find alle geſellſchaft⸗
chen Vereine der Einzelnen und ber Staaten unter ber Hexxſchaft des
Rechtsgeſetzes — denn die bloßen Uebergangszuftlände ober Ausartun-
gen bes Defpotismus und der Theokratie laffen wir" hiee zur
Seite — entweder:
ſtaats rechtlich md begründen gemeinſchaftliche, ober
ſtaatsrecht liche Rechtsverhaͤltniſſe, wobei die Theilnehmer zu einem
fouverainen Gemeinmwefen ober einer gemeinfchaftlichen moralifchen Per⸗
ſoͤnlichkeit vereinigt, und als Glieder derfeiben ihrem Geſammt⸗
willen unterworfen find. Ein folder Verein von Staaten, welche
zu einem großen Theil ihre beſondere Sonverainerät ber Souverainctaͤt
) Vergl. Über tie Natur und Werſchiedenheit der Stuate und ihnr
Berfaffungen, 8. Th. Welcker's Syſtem LI, 5. 9. ©. 322 ff.
00 Bund.
bes Gemeinweſens geopfert haben, heißt en Bundes⸗ ober auch ein
Voͤlker⸗, oder ein Staaten⸗Staat, ein Reich im ältern Sinne.
Oder es find bie Wereine:
nur privatrechtlich — und biefeß heißt in ber Anwendung auf
abgefondert nebeneinander ſtehende Volker: rein voͤlkerrechtlich —
und begruͤnden bloße Sonder⸗ ober Privatrechtsverhaͤltniſſe,
wobei die Theilnehmer nur als abgeſonderte, ſelbſtſtaͤndige
Rechtsſubjecte ober Perſonen gegenüberftchen. Solchergeſtalt vers
bündete Staaten, welche ihre Souverainetaͤt in allem Weſentlichen be⸗
haupten, bilden die blos völkerrehtlihen Bundesvereine. Dieſe
ſelbſt aber begruͤnden wiederum entweder:
einen Staatenbund, in welchem mehrere ſouveraine Gtoaten
einen Inbegriff ihrer äußeren Souverainetätstechte gemeinſchaft⸗
lich oder zum Miteigenehum maden. Ober fie bilden:
ein bloßes Staatenbändniß, oder eine Alliance, works
mehrere fouveraine Staaten buch obligationenrehtlihen So⸗
cietätsvertrag zu beflimmten Vertragsleiltungen fich verpflichten.
Schon aus diefer Bezeichnung ergibt fich, daß die verfchiedenen Rechts⸗
verhältniffe diefer drei Gattungen der Staatenvereine, oder daß ſich 1) bee
Bundesflaat, 2) dee Staatenbund, und 3) das Staaten»
bundniß auf zwiefache Weiſe wefentlich unterfcheiben. -
Zunaͤchſt — und dieſes iſt für Nichtjuriften bie Hanptfache — uns
terfcheiden fie fi nach den Hauptfeiten oder Hauptkreiſen aller ges
feufchaftlichen Verhaͤltniſſe, indem. nämlid der .Bundesfttaat bem
. Staatsreht, dagegen dee Staatenbund und das Staaten»
bündnig dem Völkerrecht angehören.
- Alle drei Vereine unterfcheiden fich zugleich nach ber ˖ verfchiebenen
rechtlichen Natur ber dreifachen Hauptverhättniffe ober Haupttheile
alles Rechts in jedem Rechtskreiſe, tie fie die tiefe roͤmiſche *
prudenz ebenſo fuͤr den Rechtskreis des Staats⸗ und Voͤlkerrechts, wie
für den des Privatrechts aufflellte. Alle Rechte find nämlich entweder:
1) privats und oͤffentliche Perſoͤnlichkeits⸗ (ober Sta⸗
tus⸗) oder Verfaſſungsrechte; oder:
2) Sachen⸗ oder reale Herrſchaftſrechte; oder:
8) Perkehr⸗s⸗ (oder Obligationen⸗) oder Bermaltungss
rechte“
Der Bundesſtaat hat nur, wie ſich ergeben wird, ſtaatsrecht⸗
lichen und perſonente chtlichen, der dee Stastenbund völfer.
9 Vergl. oben SH. J. S. 80, und C. Th. Weider's Syſtem 1,.
47— 51. Hier find auch die drei hochſten Rechtsprincipien für \
drei helle ach emisfen, nei 1) dad eines ſteten, würdigen und freien
Lebens für die perſonenrechtlichen Berhältniffe, 2) vas der Bevakrun, dee der
Gleichheit und gleichen Unverleglichkeit für die realen Rechtsverhältniffe, und
—8 der treuen Erfullung der einzelnen Berpflichtungen für tie Verkehrs⸗
rechte.
’
t
.
⸗
Bund. 81
rechtlichen und zunaͤchſt realen, und das Staatenbuͤndniß voͤl⸗
kerrechtlichen und blos obligationenrechtlichen Charakter.
Es ſollen nur dieſe drei Hauptgattungen ber Staatenver⸗
eine nach ihren verſchiedenen weſentlichen Merkmalen und Rechtsverhaͤlt⸗
— welche zugleich die Hauptgeſetze ihrer Politik und die Grenzen ih⸗
Gewalt beſtimmen, genauer betrachtet werden. Hieran knuͤpft ſich
2 leicht das Noͤthige zur Prüfung ber von Andern bisher aufges
ſtellten, zum Theil abweichenden, Eintheilungen und Syſteme der Bun⸗
III. Fortfegung und zugleih Däarftellung ber wefent-
lichſten Aufgaben für die verfhiedenen Staatenvereine.
A. Der Bundesftaat. Als bie weſentlichſte Aufgabe auch eines je⸗
den Bundesvereins darf es unftreitig betrachtet werben, daß er feinem
Grundcharakter, daß er ſich felbft trew und confequent bleibe und ſich
harmoniſch auszubilden fuhe. Er darf nicht irre und wirre hin und
ber ſchwanken, Widerſtreitendes in ſich aufnehmen, und fo entweder
Kraftiofigkeit und Auflöfung, oder Unterdridung und Revolution herbeis
führen. Daher eben find die folgeridytigen Charaktere ber Vereine nach
der Natur derfelben zugleich die richtigen Anforberungen für ihre Bes
handlung ober für ihre Politik.
Zur beſſern Veranfchaulihung der Natur des Bundesſtaats bes
ziehen wir uns auf die obige Darftelung ber merkwürdigen griechi⸗
Then Bundesverfaffungen (f. Thl. I. ©. 185). Freilich erhielten bie
meiften griehifchen Bundesſtaaten nie ihre gentigende Ausbildung,
eben fo wenig, als die Schweiz, obgleich auch diefe dem Wefen nad
ein Bundesftaat ift*). Ebenſo verweifen wir auf die Einrichtungen ber
beutfhen Reihsverfaffung, die zu ihrem Unglüd freilich leider
auch einigen ber wichtigften Gefege des Bundesſtaats nicht treu blieb.
Vorzugsweiſe aber werden die Bundeseinrihtungen von Nordamerika
das Weſen des Bunbesftaats veranfhaulihen. In Beziehung auf
fie dürfen wir nämlich, der vielfeitigften Zuftimmung gewiß, unfere fruͤ⸗
here Meinungsäußerung wiederholen: „Bon alm Bundesftaatsvers
faffungen der Welt war wohl nie eine vollfommener und naturges
mäßer, beffer abgewogen und genauer den hoͤchſten Grundfägen und
wichtigften Bebürfniffen entfprehend, als die nordamerilanifche es
jegt ift, ſeitdem nämlich die ungiüdtichften Folgen die Mangelhaftigkeit
des bloßen Staatenbundes von 1776 enthüllten, fo daß derſelbe
buch die Conftitution der vereinigten Staaten vom 17.
2) 6. Th. Welder, über Bundebverfaſſung und Bundes⸗
veform, über Bildung und Grenzen der Bundesgewalt, Gtutts
1834, ©. 25. Aus diefer Schrift entlehne Ich bier Einzelnes. Eine Bers
gieihung des Ganzen aber wird Jedem zeigen, daß fortgefegtes Studium über
den ſchwierigen Segenfiand mich zu weſentlichen Verbeſſerungen der
hern Darſtellung führt
Staats⸗kexikon. * —6
872 Bund.
Septbr. 1787 in einen wirkfidien Bundesftaat umgewandelt wurbe *).
Ein halbes Jahrhundert hat diefe Bunbesverfaffung nun unausgefegt in
der Erfahrung diefe feltene Vortrefflichkeit bewährt, die höchfte und ſchwie⸗
rigfte Aufgabe des Bundesftaates gelöft. Mit der größten Freiheit unb
freien befondern Entwidelung und Bewegung ber einzelnen Bürger und
der einzelnen Bereinsftaaten hat fie die ftärkfte und Eräftigfte allgemeine
nationale Vereinigung und Staatseinheit und Staatsmacht perbunden,
und hierdurch ohne blutige Eroberungen einen von Jahr zu Jahr immer
groͤßern Fortfchritt an Wohlſtand und Eultur begründet, fo wie es bis⸗
ber nur in den Idealen der Philofophen möglich ſchien. Und gewiß,
man muß bei fo vielen Keimen und Beranlaffungen zu Störungen und
Hemmungen, bei fo vielen Gefahren und Schwierigkeiten, wie fie wahrs
lich auch dort fi finden, das Hauptverdienft dieſes bewundernswuͤrdigen
Refultats in der Vortrefflichkeit der Verfaſſung fuchen, nicht in bloßen
äußern Zufälligkeiten. Das Letzte thun freilich ſolche fophiftifche Knecht⸗
fhaftsapoftel, welche den Freiheitöfreunden bei der Hinmweifung auf Engs
land entgegnen: ja dort Bönne die Freiheit nur beitehen wegen ber
Inſellage, bei Berufung auf die mitten zwifchen vielen großen und klei⸗
nen Staaten gelegene Schweiz aber, bier biefelbe für ein Probuct ber
Berge erklären, und wenn man an die Ditmarfen und Hollänber
erinnert, ihren Grund aledann in bee Ebene und in den Niederungen
fuhen. Nur ein großes Gebrechen muß allerdings der Freund ber
Greiheit und ber fortfchreitenden Menfchheit bei aller Bewunderung ber
nordamerilanifhen Bundesverfaffung, wenn auchmit Schmerz,
doch offen anerkennen. Es befteht darin, daß durch die deſpotiſche
Negerſklaverei in einem großen Xheile der einzelnen Freiſtaaten jener oben
aufgeftellte Hauptgrundſatz verlegt, und neben das Princip vernunftrechts
licher Freiheit und feine freien gefellfchaftlihen MWerhäitniffe bie des
Defpotismus und Egoismus geftellt find. Wenn freilich in diefem bes
reits auf fo gefahrdrohende Meife fühlbar gewordenen unvereinbaren Wis
derfprudy nicht das fittliche Princip der vernunftrechtlihen Freiheit das
entgegengefegte befiegte und ausftieße, alsdann müßte unvermeidlich fo,
wie einft bei dem römifchen Reich, welches nad) taufendjähriger ſcheußli⸗
her Sklaverei auch der Bürger endlich völlig zerftört wurde, das boͤſe
Princip täglih mehr fein Gift und feine Herrfchaft verbreiten, unb
zwar um fo mehr, dba, wenn auch Vielen vielleicht dadurch die Sklaverei
in Amerifa als weniger ſcheußlich erfcheinen follte, daß fie nicht die Glie⸗
ber ſchon gebildeter Voͤlker, fondern ungluͤckliche Neger trifft, biefelbe den⸗
noch der Hauptfache nach ohne allen Vergleich verbrecherifcher, alfo auch
für die Freien moraliſch vergiftender ift, als die Sklaverei im Alterthum.
*) Hamilton fagt im Foderaliſt von der früheren Zelt des bloßen
Gtaatenbundes: „Man fann mit Recht behaupten, daf die vereinigten
Staaten den tiefiten Grad der politifchen Srniedrigung erreicht haben. Alles,
was den Stolz eines Volkes beleidigen oder feinen Charakter herabwürdigen
tann, haben wir erfahren.‘
Bund. 83
Dide Tann ſogar unfhuldig genannt werden, im Vergleich mit der nord»
amerilanifhen. Die Alten hatten fo, wie ihre Sklaven felbft, feine Er:
Benntniß des Unrechts der Sklaverei, des gänzlichen Widerſpruchs derſel⸗
ben mit ihrer Religion und mit ihren befhmwormen hoͤchſten Rechts:
und Verfaffungsgrundfägen, eben fo wenig als von ber Möglichkeit eines
Beſtehens freier cultivirter Staaten ohne Sklaverei. Sie ſuchten daher
auch nicht planmäßig die Sklayen duch eine mehr als barbariſche Vers
binderung aller religiöfen, moralifhen und intellectuellen Mittheitung und
Cultur unter das Vieh herabzumürdigen. Daß dieſes Alles in Bezie⸗
bung auf die nordamerikanifche Sklaverei gerabezu entgegengefest ift, bat
ein großer Theil der norbamerifanifhen Staaten bei ihrem Verbot der
Sklaverei oder ihren Vorbereitungen zu gänzlicher Aufhebung, biefes has
ben fo viele Staatsmaͤnner Nordamerikas, welhe mit Sefferfon die
Sklaverei, die Schmady und die Peft ihrer Nation nannten, offen an⸗
erfannt. Mittelbar enthält auch felbft die Bundesgefeggebung ähnliche
ehrenvolle Zugeftändniffe in ihren Maßregeln zur Verminderung und ges
gen eine weitere Ausdehnung der Negerftlaverei in Staaten, mo fie noch
nicht ift (3. B. Sefes vom 6. Mat 1820), und insbefondere auch in
ihrem Verbot neuer Einführung von Negerſklaven (Geſetz vom 1. Ian.
1808), in ihrem Anfchluß endlic an die Bekämpfung des Negerhanbebs
von Gelten aller gefiteten chriftlihen Nationen (Genter Vertrag,
Art. 10). Und nur diefelbe, Neligion und Recht verleugnende unwuͤt⸗
dige Sophiſtik einiger bdeutfchen und namentlich auch einiger hegeli⸗
{den Schriftſteller, die zwar meiſt die amerifanifche Freiheit und ihren
Ruhm Haffen, aber zur Vertheidigung. jeder defpotifhen Beſtrebung Im
Vaterlande fih und die Wiffenfchaft herabwuͤrdigen, madyen, zur Schande
des beutfchen Namens, die Anwälte des fchmälichen Eigennuges ameri⸗
kaniſcher Plantagendeſiber. Aber man muͤßte allen Glauben an die Kraft
der chriſtlichen Religion und der von der gebildeten Welt anerkannten
Rechtsgrundſaͤtze und an eine ſo tuͤchtige Verfaſſungseinrichtung und Na⸗
tionalkraft, wie die nordamerikaniſche, aufgeben, wenn man nicht hoffen
wollte, die bereits fo bedeutende Minorität des amerikaniſchen Congreffes,
welche fchon in biefem Jahre für die Aufhebung aller Negerſklaverei
flimmte, werde noch ungleich ſchneller, als einft dee unfterblihe Wilbers
force mit feiner zuerft viel geringern Minorität im englifhen Parlas .
mente, zur fiegreichen Majorität werden. Dann werden jene zahlreichen
Feinde der Freiheit und WVerächter der Nc:damerikaner verftummen müf:
fen, welche neulich nicht müde wurden, laut ihren Jubel auszufprechen,
als jene bedauernerohrdigen Erfcheinungen im Streit über die Sklaven»
emancipation den Glanz der norbamerifanifhen Ehre und Freiheit trüb:
ten. Der Sieg wird errungen toerden, durch bie Vaterlandes und Chr:
liebe, durch bie Energie und die Freiheitsmittel der norbamerikanifchen
Buͤrger. Man wird alsdann nicht durdy eine für die Neger felbft ver
berbliche, rohe Gewalt, fondern auf gefeglihem Wege diefe legte —*
verei in civiliſirten Staaten aufheben, welche, fo lange fie beſteht, ein
Brandmal der Nation, ein Grund der Schaam und eine Senkung für
84 Bund.
jeden ehrliebenden und gebildeten Amerikaner, ber Trlumph fr
die‘ —5* von ihnen und von ihrer Freiheit, ein täglich tiefer freſſender
(haben für ihr Waterland und feine fonft fo großartige Verfaſ⸗
ung ift*). Mehr als alles Andere wich bie — der Stiavenftage
bie Dauer ber amerikaniſchen Freiheit, uͤber den Werth, bes ame⸗
2 Volkes entſcheiden.
Der rechtliche Grundcharakter bes Bundesſtaates aber,
ober bes ſtaats⸗ und perſonen⸗ ober verfaſſungsrechtlichen
Staatenvereins befteht nach dem Obigen (II.) darin, daß in ibm mehe
rere unvollkommene fouveraine Staaten und Regierungen, zu einer wah⸗
ven moralifchen Perfönlicleit ober Univerfitas, und zwar zu eis
ner ſtaatsrechtlhichen oder zw einer gemeinfchaftlichen hoͤhern Staates
verfaffung vereinigt unb ihe untergeordnet find. Im biefer fels
ner rechtlichen Natur find nun folgende befondere Mertmale und For
derungen begruͤndet, beren vollfommenere ober mangelhaftere Werwicke
lichung man leicht als die Grundlage bee Kraft ober bes Verfalls ber
Bunbesftaaten audy in bee Gefchichte erkennen wird:
1) Der Zweck, buch welchen und für weichen ſich mehrere beſon⸗
dere Staaten einem böhern Sefammteftaate unterorbnen, ohne body zu⸗
. gleidy ihre befondere Eriftenz und Souverainetät gänzlich aufzugeben, kann
vernünftigerweife gar Bein anderer fein, als einestheils der Graatk
zweck oder der Nationalzwed ſelbſt. Es ift der umfaſſende, biels
bende Menſchheitszweck der Nation, oder bie dem gefellfchaftlichen Ver⸗
foffungsgefeg entſprechende rechtliche Schügung und Förderung ihres Ge⸗
ſammtzwecks (f. oben Th. I, S. 11). Dieſer Zweck ift jebodh ande»
rerſeits nur infoweit Bundeszweck, als befien Körberung und
nicht genügend ſchon von ben befondern Staaten bewirkt werden kann. Mur
inſoweit dieſes nicht ber Fall ift, fol ber Bunbdesftaat für die einjelnen,
in befondere Staaten getheilten Stämme Einer Nation baffelbe fein, was
dee Staat für bie einzelnen Familien if. Eine Beſchraͤnkung ber ein⸗
zelnen Staaten durch die Bundesgewalt wirb nur infoweit anerkannt, iſt
nur inſoweit vernünftig. Infoweit aber bezieht fi) dee Bundeszweck, außer
ber inneren und Auferen Sicherung bes Vereins unb als
lee Vereinsſtaaten, aud auf das Geſammtwohl ber Nation.
Diefes erfannten die griehifchen Bundesvereine an (oben I. S. 195).
Es erkennt es au die nordameritanifche Bundesverfaſſung an,
indem fie ſchon an dee Spige ber Unionsurfunde außer der innern und
*) Jefferson, notes sur la Virginie p. 214. fagt fehr fchön über bie
faſt höhnifche Wernichtung jener ame nifhen Verfaflungsprincipien von ans
geborenen Drenfchentechten durch die Sklaverei: „Wie kann die geghen eine
„Stätte „frden in diefem Sande, wenn die einzige fefte Grundlage
„fie begründet werden muß, zerftört wird, nämlich die —— feſte
„Meberzeugung, daß die Freiheit ein Gefchent von Gott ft w Hiemand
DE Kann, ohne fi feinem Zorn auszufegen. Ich aiftere Air * ac Bas
Ä Bund. 85
äußern Sicherheit auch. ben Zweck aufſtellt: „Die Gerechtigkeit zu befe⸗
„Risen, bie allgemeine Wohlfahrt zu förden und uns, gr, wie
wunfen Nachkommen, den Segen der Freiheit zu erhalten”, indem em fe
es : B. ebenfalls. ausdruͤcklich als Aufgabe ber N Bunbesgewalt erfiätt
das Aufdiühen der Wiſſenſchaft zu befördern,” indem fie ferner durch
ibee wichtigſten Beſtimmungen über eine ganze Beibe Innerer Verhaͤlt⸗
niffe, z. B. über die Rechte ber Schriftficher, über Handel, Muͤnz⸗ und
Doftwefen, Maaß und Gewicht, Notariat, Criminalgerichte, Preffreibett,
Beligiondfreiheit u. f. w., biefem Endzweck entſpricht (Confl. Art. J. IV.
und ber Anhang).
2) Der Bundesſtaat begrimbet zur Verwirklichung des bier als
Vereinsgeſetz anerkannten nicht blos dußerlihen, ondern moralifchen
und innerlichen (oder nationalen) hoͤchſten Zwecks und Lebensgeſetzes
und als eine moraliſch⸗perſoͤnliche Einheit der verſchiedenen Staa⸗
ten eine innerliche und aͤußerliche Vereinigung aller Bun:
Desglieder zu.einem wahren und zugleih zu einem fon:
verainen Gemeinweſen. Diefes felbft aber begruͤndet als folches
A) eine allgemeine und abfolute Gültigkeit dee Stimmen:
* om t in allen gemeinfchaftlichen Angelegenheiten, auch ſelbſt den
Einen nicht blos nad) Außen, fondern auch als oberherriiche
ober es Regierungsgewalt nah Innen, gegen bie Bundesre⸗
gierungen gültigen fouverainen Gefammtwillen zur Verwirku⸗
hung jenes Zwecks. Solche Einheit, folder Geſammtwille und ſolche
Gewalt verwirklichen ſich aber ihrer Natur nach a) durch eine wahre
gefeggebende und b) eine richterliche Gewalt und o) durch eine
vollziehende, alfo nicht blos eine Kriegs⸗, fondern eine organifirte
gefeptide Zwangsgewalt des Bundes für feinen umfaflenden Zweck.
| Eine ſolche Gewalt aber begründet eine wahre Gehorſams⸗
oder —— — icht aller Bundesregierungen und mithin:
D) eine wefentliche nicht bloß reale, fondern perfönliche Bes
fdränktung ihrer Souverainetät.
In Nordamerika ift alles biefed anerkannt, ebenfo, wie früher
in den griehifchen Bundesverfaffungen, im deu tſchen Reid und
in ber Schweiz.
Sn Amerito namentlich ift, als ſich von 1a verfichend, fer
alle Bundesbeſchluͤſſe, felbft für die über Abänderung ber Werfaffung, die
Stimmenmehrheit der Bundesglieber und ihrer "Organe anerkannt).
Durch fie und den hoͤchſten grundgefeslichen Zweck entſtehen bier
wahre anerfannte fouveraine Geſe be, nicht blos voͤlkerrechtliche Bun⸗
Desverträge. Dieſes iſt's, was bie amerikaniſchen Publiciſten, neuer⸗
lich namentlich auch Story, als einen weſentlichen Grundcharakter des
amerikaniſchen Bundesſtaats hervorhoben.
*) Rordameritan. Conſtit. I. u. IV. V. VI.
86 Bund.
Auch haben in Amerika viele in allen Bundesſtaaten geſetzlich und
bleibend errichtete Bundesgerihtshäfe und in höchfter Inſtanz ein
eben ſolches höchftes Bundesgericht wegen jeder Verlegung irgend eines
Bundesgefeges von Seiten Einzelner oder ber Behörben. eines einzelnen,
Staates, ferner in allen Sachen, wo der Bund als Kläger oder Beklag⸗
ter auftritt, in allen Gtreitigleiten dee Bundesſtaaten untereinander ober.
mit fremden Staaten und in beftimmten Streitigkeiten der Bürger u. ſ. w.
eine ausfchließliche, in allen Straffachen ohne Ausnahme aber eine -
mit den Bereinsftaaten concurrirende gefesliheRichtergemwalt").
Auf gleihe Weife hat die nordamerilanifche Bundesregierung eine
völlig felbftftändige fouveraine Vollziehungs: und Zwangsgemwalt.
Sie hebt unmittelbar die nöthigen Truppen ſelbſt aus, rüftet und bildet
fie zu einer ihr allein unterworfenen Land» und Seemacht und befebligt.
fie allein, ohne daß ſelbſt die einzelnen Staaten eine ſtehende Kriegs⸗
macht oder auch nur ein Kriegsſchiff befigen dürften. Sie hat das
Recht, bie Bürgerfoldaten in jedem Staate, welde allein gegen
Bürger gebraucht werben bürfen, zur Vollziehung aufzubieten. Sie
ſchreibt aus, erhebt und verwaltet ebenſo alle für die Bundeszwecke noͤ⸗
thigen Steuern und ernennt und befehligt alle ihr noͤthigen Vollziehungs⸗
beamten **).
So begründet denn ber norbamerilanifhe Bundesſtaat für feinen:
umfaffenden Zwed und ben dadurch beftimmten Inbegriff ins
nerer und aͤußerer Regierungsrechte eine, wenn auch beſchraͤnkte,
dach wirkliche ſouveraine Oberregierungsgemalt über das
ganze Bunbesgebiet, allgemeine Gehorfams= und Unterthbanens
pflicht für die Negierungen und Bürger und eine große Beſchraͤnkung
felbft der perfönlihen Souverainetät ber erftern, fo daß diefel-
ben nie unbefchränft „fouverain” genannt oder gar die Bewahrung „ihr
rec Souverainetät‘ als Bundeszwed erklärt werden könnte. Diefes
fiel auch den Grundgefegen der griechifchen, fehmeizerifchen uhb nordame⸗
tifanifhen Bundesſtaaten niemals ein; eben fo wenig denen des frühes.
ven beutfchen Reiches. Doc, wurden bie deutſchen Reichsgeſetze zu gro⸗
ßem Ungluͤck Deutſchlands in diefer Beziehung fpäter immer fehlerhafter.
3) Der Bundesftaat begründet nad) Zweck und Grundgefeg gleich
jebem Gtaatöverein und jedem perfonenrechtlihen oder Statusvers '
haͤltniß nicht blos einzelne beflimmte vorlbergehende Obligations⸗ oder
Bertragsverbindlichkeiten, er begründet vielmehr ähnlich, wie 3. B. auch
das elterlihe, kindliche oder eheliche WVerhältniß, einen zum Voraus
nie im Einzelnen erfhöpfend zu beftimmenden Inbegriff
mahrer Statusrehte und Pflihten, welhe, wie aud bie im
Privatrecht, z. DB. die ber Perfönlichkeit, der, Ehre, der Familie, ſtets
auch das Innere ber Geſellſchaftsglieder, alfo hier weſent lich auch
*) Conſtitut, ber vereinigten Stauten, IH.
»2) Gonftitut. 1, 8.
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Bund. | 87
die Inneren , flaatsrechtlichen Verhaͤltniſſe mitbefaffen, und wobei bie
Rechte zu naͤchſt aus den Pflichten fich ableiten, nicht umgekehrt.
Hierburdy aber iſt nun noch keineswegs eine grenzenlofe, un«
beſchraͤnkte Bundesgewalt über die Innern Verhaͤltniſſe der Vereins:
ſtaaten begründet. Diefe würde ja Defpotismus und Vernichtung alles
Rechts und jeder Seibftftändigkeit der Vereinsſtaaten, alfo zugleich Vers
nidhtung aller Mechtlichkeit, wie ber ganzen Natur des Bundesſtaats
fetbft begründen. So, wie vielmehr im Recht eine jede Gewalt, fo ift
vollends auch alle rechtliche Oberregierungsgemwalt im Bundesſtaate bes
grenzt. Sie ift es theils duch die allgemeine Natur des
Rechtsgeſetzes, theils durch die befondere Begründung unb bie
befonbere rechtliche Natur des Bundesſtaates. Sie iſt begrenzt, eines⸗
theils durch die Natur des gefellfchaftlichen Rechtsgrundgeſetzes, mithin
buch bie allgemeine rechtliche Freiheit aller Geſellſchaftsglieder.
Nah ihre erkannte z. DB. im beutfhen Reihe ber Kaifer Leopold I.
feierlich an, er dürfe nimmermehr zu einem Gefeg eintoilligen, welches
den deutfhen Bürgern das grundverfaffungsmäßige Recht der Steuerber
willigung verlegte. Anderntheits aber ift fie auch noch, abgefehen von
individuellen Gonftitutionsbeftimmungen, beſchraͤnkt durch die rechtliche
Natur des aus freien Einzelftasten zufammengefegten
Bunbesftaats und duch feinen Zweck, die nationale Gefammtauf:
gabe nur in ſoweit zu fördern, als dazu bie iſolirte Wirkſamkeit ber
einzelnen Regierungen grundvertragemäßig als unzureichend anerkannt
wird. Darf ja doch aud der freie oder rechtliche einfahe Staat
die rechtliche Freiheit feiner Glieder nicht verlegen, und biefelbe auch
durchaus nicht meiter befchränten, als fie diefelde Im freien Grundver-
trage nach dem allgemeinen Mechtsgefeg ober durch befondere Vertrags:
beftimmungen beſchraͤnkt haben, oder noch außerdem durch neue Einmil
ligungen, 3. B. Steuerbemilligungen, in einzelnen Beziehungen felbft bes
ſchraͤnken. Es darf alfo dieſes noch weniger ein Bundesſtaat thun.
Ja die Regel wird fo, mie es im freien nordamerilanifhen Bundes»
ftaat ebenfalls anerkannt ift, die rechtliche Freiheit, die der
Einzelnen und die Seipftftändigkeit der einzelnen Bun—⸗
besftaaten bilden. Die rehtlihe Vermuthung wird alfo im
Allgemeinen für fie, ſie wird für die Freiheit flreiten. Diefes ift in
Beziehung auf die Eeibfiftändigkeit der Bundesftaaten um fo natürlicher,
da ja auch ſchon nach dem Endzwed des Bundesftaates die Bundesges
walt, keineswegs wie Drefch*) behauptet, ſich über Alles erſtreckt,
fo daß der befondern Regierungsgewalt des einzelnen Vereinsſtaats nur
das und fo viel zuftehe, als ihe jene übrig zu laffen für gut finde.
Vielmehr fol ja umgekehrt die Bundesgewalt nur alsdann und In ben
Beziehungen eintreten, in welchen nad) Anerkennung bes Bundespertrags
*) Deffentlihes Recht des deutfhen Bundes, S. 2.
68 Bund.
die einzelnen Regierungen nicht völlig ausreichen, In welchen alfo fie im
diefem Sinne Etwas übrig laffen. Aber in Beziehung auf diefe Ver⸗
hältniffe und den unendlichen Geſammtzweck, ber in ihnen verwirklicht
werden foll, begründet freilich der Bundesflaat nicht blos einige einzelne
genau zum Voraus beftimmte Befugniffe, fondern ganze Claſſen und
ganze Snbegriffe von Rechten für die Bundesgewalt. So 5. B. In Bes
ziehung auf die auswärtigen Verhältniffe oder die fogenannten aͤußeren
Hoheitörechte, wobei es dem Bundesſtaat fogar natuͤrlich iſt, bag bie
Bundesgemwalt fo, wie die norbamerifanifche, biefelben ganz übernimmt.
So ferner in Beziehung auf eine, in böherer Inftanz aussuübenbe,
Sörderung aller nad) der Natur der Sache oder nach der Beſtimmung
des Bundesvertrags der gemeinſchaftlichen höhern Leitung bebürftis
gen inneren Staatszwecke, wie 3. B. in Amerika, der Wiffenfchaften,
ber Suftiz oder des dem Bund fogar allein überlaffenen Pol» und
Muͤnzweſens. So vollends endlich in Beziehung auf die Bewirtung
freiwilliger Vereinbarungen für manche nicht der Freiheit der einzelnen
lieder entzogenen, aber in befondern Faͤllen der Wirkſamkeit des Bun⸗
des oder des gemeinfchaftlichen Zuſammenwirkens bebinftigen Angelegens
beiten. Solche Inbegriffe von Bundesrechten erkennt ausdruͤcklich und
in ber Ausübung überall auch das nordamerikanifhe Bundesrecht am,
trog jener erwähnten Rechtsvermuthung, die in dem eben entwidelten
Sinne, aus der Achtung der Freiheit der Bürger und der Einzelſtaaten
fließt, aus Achtung der Natur, wie ber gefchriebenen Gonftitution bes
Bundesftaates, aus Achtung insbeſondere auch ber in Amerika anerfanne
ten unbefchränften demokratiſchen Souverainetät des Volks, deffen bloße
belegirte und ſtets verantwortliche Diener und Mandatare alle Regie⸗
sungsbehörden des Bundes wie der einzelnen Staaten find. Go in dies.
fem Einne erktärt denn der 12. Artikel des Anhangs der Conſti⸗
tution: ‚Die Rechte, welche bie Gonftitution den vereinigten Staaten
„nicht überträgt, oder die fie den befondern Staaten nicht unterfagt,
„find diefen refpectiven Staaten oder dem Wolke vorbehalten.” Noch
die diesjährige Botſchaft des Präfidenten erklaͤtt diefe Beſtimmung zus
nächft durch die Achtung der Freiheit und der Wolksfouverainetät. Sie
erkiärt ferner den darin enthaltenen Grundſatz als eben fo gut für die
Regierungen der einzelnen Staaten, wie für die des Bundes gültig *).
Man darf alfo daraus nicht mit Manchen gegen den ftaatsrechtlis
hen Charakter der nordamerifanifhen Union Folgerungen ableiten wollen.
4) Die Bunbesftaaten find ihrer Natur nad Nationalvereine
und begründen Ein gemeinfhaftlihes Vaterland, welchens
Megierungen und Bürger angehören und untergeorbnet find. Sie gingen
entweder fo, wie das beutfche Reich, ſchon urfprünglich hervor aus ber
nationalen Uebereinflimmung der ganzen Nation in dem Grundgeſetz und
in der Grundform des menfchlihen Seins, und aus dem Nationalbes
*) Vergl. auch Mohl, Bundesflaatsr.:v. Nordamerifa. ©.
134, 133.
Bund. 89
dürfniß einer Ihnen entfprechenben gemeinſchaftllchen Entwickelung und
Vervolſkommnung. Oder fie fireben doch nothiwendig nad) dieſer natio⸗
malen Vereinigung. Sie ftreben theils nämlich, wenn fie früher nur ei⸗
en Theil der Nation umfaflen, nad) Vereinigung aller ihrer Theile, wie
wie es in Phönizien, Griechenland, Italien, unter der Herr
ſchaft Roms, und früher in Deutfchland fahen. Theile, wenn fie
fo, wie die Schweiz und felbft das beutfhe Reich und Nord»
amerika verfchiedene nationele Beſtandtheile in fich einigen, fo fireben
fie nach immer volltommenerer gemeinfchaftlicher nationeller Entwidelung.
Es iſt dieſes Streben ſchon nothwendig, um die Widerfprüche zwiſchen
ben umfaffenden, in das ganze innere und dufere Leben eingreifenden
beiderſeits fouverainen Geſetzen ſowohl des Bundes, als des National⸗
lebens auszugleichen. Es iſt auch nothwendig, um dem Bund für feine
umfaffende Aufgabe, die nothwendige innere Einheit, Kraft und Dauer
zu begründen. |
5) Der Bundesftaat iſt fo, wie die griehifchen und dee nord»
amerikaniſche und fowie, freilich leider unvoliftändiger, das ehemalige
Deutfhe Reich und die Schweiz, ein unmittelbarer Verein
aud aller Bürger und mit benfelben. Er begründet alfo für
fie ein wahres nationales oder Bundesbärgerreht neben
dem Landesbürgerreht. Der Bundesſtaat ift nicht, fowie in neuerer
Zeit immer volftändiger der deutfhe Bund, blos ein Verein ber Regie⸗
ungen. Die Bürger find durch das gemeinfchaftliche nationale Lebens⸗
gefeg und für baffelbe verbunden. Ihre unmittelbare Theilnahme an ber
Nationalvereinigung ift fogar der Regel nach Älter als die jegigen beſon⸗
deren Staaten und Regierung. Die Bundeszwede und Bundespflich⸗
ten und Rechte betreffen fie nach dem ſchon Entwidelten unmittelbar,
fo daB aud in Nordamerika wie im bdeutfhen Reich die Bundesges
feße ohne befondere Aufnahme und Publication im Lande
von felbft und als Bunbdesgefege die Bürger verpflihten, unb alle
entgegenftehenden Randesgefege von felbft (ipso jure) uns
gültig find. Und da, fofern die Bürger Überhaupt rechtliche Freiheit
haben, ihre freie Mitwirkung und ihr Stimmredt auf alle
wichtigen inneren Gefellfchaftsverhättniffe begründet ift, fo muͤſſen dieſel⸗
ben audy unmittelbar in Beziehung auf die fo unendlich wichtigen,
überall eingreifenden Verhaͤltniſſe des Bundesſtaates und der Bunbesres
gierung anerkannt fein; fonft würbe zugleich mit der rechtlichen Frei⸗
beit dem Bunde auch alle wahre innere Lebenseinheit und Kraft ents
ſchwinden. So ift alfo für Gründung und Aenderung des Vereins und
feinee Grundgefege, überhaupt für die Beftimmungen über ihren verfaſ⸗
fungsmäßigen Rechtszuſtand, der Bürger oder der Mation unmittelbare
Mitfprahe und Mitwirkung, duch die Deffentlichkeit der Bundesverhaͤlt⸗
niffe und Verhandlungen und durch Preffreiheit über. fie, durch Peti⸗
tionen an den Bund, durch Recht der activen und pafliven Wahl bei
Bundesbehörden u. ſ. w. durchaus nothwendig.
90 Bund.
6) Insbeſondere aber folgt es hieraus, fowie aus ber umter 8, °
ausgeführten Beſchraͤnkung einer rechtlichen Bundesgewalt (durch bie
ſchon nach dem Rechtsgrund geſetz den Bürgern zuſtehenden rechtli⸗
chen Freiheits⸗ und Bewilligungsrechte), daß ebenſo nothwendig, wie dem
Bundesſtaat eine Regierungsrepräfentation duch Abgeſandte
der einzelnen Bundesregierungen ift, neben derfelben aud eine
Nationalverfammlung oder Nationaltepräfentation ber
Bürger ftehen muß. Es foll ja im Bundesſtaat von der Bundesge⸗
walt nicht bios in die der Regierung allein überlaffenen
VBermaltungsmaßregeln, wie 3. B. in die Ausuͤbung der Hoheits⸗
techte, Uber die ausmärtigen Angelegenheiten eingegriffen werden.
werden ſtets von ihr auch Befchränkungen oder DBeränderungen ber vers
faffungsmäßigen Freiheits- und Vermögens», wie ber politifchen echte
der Bürger ausgehen. Wenn nun das allgemeine, in den Verfaſſungs⸗
verträgen zwifchen den Regierungen und Völkern anerkannte Rechtsgrund⸗
gefeg, oder auch die befonderen Berfaffungen irgend eine Bellimmung -
nicht allein dem Belieben des Regenten anheimftellen, wenn fie 3. B.
verbieten, daß die Bürger, ohne ihre oder ihrer erwählten Stellvertreter
freie Einwilligung, mit Steuern ober Dienften neu belaftet ober fonft in
ihrer perfönlichen Freiheit befchränft werden dürfen (weil berjenige img
fireng rehtlihen Sinne gar fein Eigenthum, gar keine perfönliche Frei
heit mehr bat, und rechtlich fein nennen barf, dem irgend eine Bes
hörbe, fo oft und fo viel, als es ihr beliebt, ohne feine oder feiner Me:
präfentanten Zuftimmung davon nehmen darf (f. oben Thl. l. ©. 34.),
fo kann natürlich au im Bunde ohne diefe Zuftimmung ſolche Belas
ftung oder Beſchraͤnkung rechtlich durchaus nicht flattfinden. Wie könn»
ten die Megierungen mit fremden Regierungen über die Rechte ihrer
Bürger oder Stände, alfo über die Rechte Dritter, rechtsguͤltig pacisci⸗
ven, ober gar gegen bie ihren Bürgern befchmworenen Treiheitsrechte mit
Fremden ſich verfchmören 2 Eine ſolche befpotifhe Gewalt, von Sremden
ausgeübt, wäre ja doppelt unerträglich und ungleicdy gefährlicher, als
fortgefegte Verlegung blos von ber eigenen Regierung *). Troͤſte man fich
auch ja nicht damit, es würde doch nur in menigen Fällen in das innere
Nechtsverhältniß eingeyriffen. Eins zieht hier unvermeidlich das Andere
nad). Und zumal da, wo nationale Verbindung unentbehrlih iſt, ba
kann die Einwirkung auf den inneren Staatsorganiemus gerade in ben.
wichtigſten VBerhältniffen gar nicht Ausbleiben. Wird nun hier ber
Bund nit vollfommen organifirt, fo wird er entweder lahm
oder defpotifch, geringgeachtet oder verhaßt, verliert feine Wirkſamkeit
oder feine Exiſtenz.
Wenn nun freilich benkbarer Weife folhe Zuftimmungen auch abge:
fonbert in den einzelnen Bundesftaaten gegeben werden könnten, fo
dieſes doc) natürlich Feine, oder minbeftens feine gute Organifation ober
Verfaſſungseinrichtung des Bundesſtaates. Denn was iſt wohl die we⸗
— — — — —
*) Vergl. Welcker a. a. O. S. 51.
Bund, 9
fentlichhte Aufgabe einer jeden Organiſation ober Conſtitution? Offenbar
doch eine andere, als dieſe: fie fol. für die mefentlichften grundgefeglis
hen Kräfte und Thätigkeiten bes politifchen Körpers Organe, und zwar
die der Natur und Aufgabe jener Grundfräfte am meilten entfprechens
den Organe’ verfhaffen und biefelben dann zu einer harmonifdhen und .
fräftigen gemeinfchaftlihen Thätigkeit für den Geſammtzweck des Lebens
vereinigen. Gute Drganifation oder Berfaffungseinrihtung iſt gute
Formgebung für die wefentlichen Lebenskraͤfte und Lebensrichtungen. |
ft nun aber die wefentlihe Natur und Aufgabe eines Buns
desftaates, bie Grundidee feinee Gründung ? Offenbar fol er A.
nicht ein blos völkerrechtlicher Staatenbund, fondern ein zur innigeren
Einheit des Staats organifirter Verein fein. Solchergeftalt foll er die
Kräfte aller Bürger und aller Negierungen der Dereinsftanten für ben
Geſammtzweck aͤußerlich wie innerlich vereinigen und fie vers
mittelft der Bundesgewalt als Bundeseinheit innerlich und aͤußerlich
tepräfentiren. In dem fo organifitten Bundesverein aber foll nun
B. das allgemeine nationale Lebendelemenf des Volks in ber alls
gemeinen, freien Wechfelmirtung und Verbindung erhalten und- geflärkt
werden. Ohne dieſe doppelte Abficht hätten ja die verfchiebenen Vereines
fiaaten getrennt eine befondere Squverainetaͤt behaupten müfjen.
Sie wollten aber biefes nicht und ſchloſſen als Bundesftaat felbft
eine blos Aufßerlihe Verbindung eines Staatenbundes aus. Der,
Bundesſtaat foll aber audy C. das befondere Leben und Beſtehen,
die befonderen Eigenthlimlichkeiten ber einzelnen beſonderen
Staaten und ihrer Negierungen erhalten und befriedigen. Es
ſoll alfo auch das particuläre (nad) ſchweizeriſchem Ausdrud das oͤrt⸗
Liche ober das cantonale) Lebenselement erhalten werden. Dieſes pars
ticuläre Intereſſe und die allgemeine Nationaleinheit und Nationalfreiheit
follen ſtets harmonifch vermittelt werden. Hätte man biefes nicht ge⸗
wollt, fo hätten ja die einzelnen Bundesflaaten ihre befonbere Eris
ftenz aufgegeben und fi zu einem einfahen Staat vereinigt. Der
Bundesftaat fchließt aber diefes oder den einfahen Staat ebenfo
entfchieden aus, als die Trennung und als felbft der bloße Staaten
bund das nationale freie Keben, bad particuläre Staaten
verhaͤltniß in Eräftigee Bundeseinheit. Diefes find die drei
Hauptbeftandtheite, Aufgaben und Kebensrichtungen bes Bundesſtaats.
Alle drei müflen in ihm vertreten werden, foll er nicht untergehen ents
weder in einem Staatenbund, mo das. erfte, oder in einem einfachen
Staate, wo das zweite, oder in Anarchie, wo das britte feine kräftige
Repraͤſentation findet.
Es war mithin mwahrlicd nicht ein fonderbarer Zufall, fondern die
tiefe Natur der Sache und die Bernunft, welde bie verfchies
deniten gebildeten Nationen beflimmte, in ihren Bundesverfaffungen auf
eine fo merkwürdig gleiche Weile gerade nach folhen drei Hauptorganen
zu ſtreben, die vorzugsweife ſich eigneten, jene aͤußere Nationaleinheit,
die allgemeine Nationalfreiheit und bie Befonberheit aller einzelnen Bun⸗
desſtaaten in allfeitiger Vermittlung zu erhalten.
92 | . Bund.
A) Zur Erhaltung bee Staatseinheit und bee Drdnung,
alfo zur Vollziehung, zur epräfentation ber Einheit, insbeſondere
aud nah Außen, und an ber Spige der Streitmacht koͤnnte nämlich
wohl ein beffered Organ gedacht werben, als eine mehr oder minder
monarchiſche Behörde. Sie oder ein ſolches Bunbeshaupt fand
fi) in allen verfchiebenn griehifhen Bundesſtaaten unter bem
Namen Strategos (oben Thl. I. ©. 192). In den germani-
[hen Reichen, die meift fchon frühe und das ganze Mittelalter hindurch
zufammengefegte oder Staaten Staaten waren, bie dad Bunbeshaupt
Dberkönig oder Kaifer. In Nordamerika heißt e8 Präfident
und hat zur Erhaltimg und Mepräfentation jener Einheit größere Gewalt,
als die fpäteren deutfhen Kaiſer. Er bat gerade die dee angegebenen
befonderen Beſtimmung entfprechenden Rechte der Repraͤſentation bes
Staats und feiner Einheit nad) Außen fowie der Erecution im Inneren.
(Conftit. II., 2.)
B) Das allgemeine Nationalleben, die allgemeine
Nationalfreiheit aber, wie koͤnnten fie ein befferes, ein treueres
und Eräftigeres Drgan finden, als in einer demokratiſchen Behörde,
als in allen Bürgern felbft, oder in einer Bürgerverfammlung ? Im als
len griechiſchen Bundesſtaaten und in den altgermanifchen war
es eine unmittelbar dbemofratifhe Verſammlung aller
Bürger bes ganzen Nationalbundes ohne Rüdfiht auf die Groͤße ber
einzelnen Vereinsflaatn. Im Mittelalter, namentlidy im beutfchen Reich,
nachdem auch in ben einzelnen Staaten das Volkselement neben ben
Feudalſtaͤnden nur noch kuͤmmerlich durch die Städte vertreten wurbe,
war e8 — abgefehen von demjenigen, was etwa andere Meicheftände
noch von der Eigenſchaft deutfcher Unterthanen und ihrer Vertreter am
ſich tragen mochten — zunaͤchſt das Stäbtecolleg. In Nordame⸗
rika aber ift e6 eine Repräfentantenverfammlung. Und biefe
wird, um wirklich die allgemeinen Nationalintereffen zu vertreten, und
die oft, 3.8. in dee Schweiz und in Deutfhland, ungeheure
Größenverfchiedenheit ber Staaten im Bunde auszugleichen, eben⸗
falls ohne Rüdfiht auf: die Größe ber einzelnen Staaten, nad der
Volkszahl aus der ganzen Nation erwaͤhlt. Auch entfprechen ihre
Rechte der angegebenen Beflimmung, bie allgemeine Nationalfreiheit zu
wahren. &o hat fie außer dem Antheil an der Geſetzgebung, das Recht
der Anklage gegen die Bunbesbeamten und ben Präfidenten, und ihr
zuerſt müffen alle Steuerbills vorgelegt werden *).
C) Um endlih bie Befonderheit, das Intereffe und
Recht der befonderen Vereinsſtaaten zu vertreten und zugleich
fie mit der Nationaleinheit und Sreiheit, ſowie beide unter ſich ſtets mög»
lichſt harmoniſch zu vermittien: welches beffere Organ ließe fich hierzu
denken, als das mehr ariftofratifhe eines Senats, wie in als
ten griehifhen Bundesvereinen und wie in dem nordamerikani—⸗
+) Nordamerikan. Verf. Art. 11.27.
Bund 93 |
(dem? Dort und hier wurde und wird ber Senat auf gleiche Weiſe,
eben weil er zunaͤchſt bie theilmeife Selbſtſtaͤndigkeit der einzels
nen Bundesſtaaten und ihrer Regierungen repräfenticen follte,
von diefen Regierungen, und zwar ganz ohne Rüdficht auf die
Größe ‚und Volkszahl der einzeinen Bundesftaaten, in gleiher Ans
zahl und mie gleihem Stimmreht — in Norbamerila zwei
GSenateren für jeden Staat — auf eine befonderes Vertrauen bezwedenbe
Weiſe erwaͤhlt. Sowie in Sriehenland (f. oben Thl. I. ©. 192.),
fo bat auch In Nordamerika ber Senat eine mehr ariftokratifhe Natur.
Er erhält fie audy dadurch, daß die Mitglieder ſtets nur theilweife
austreten, er alfo gewiſſermaßen ein ſtaͤndiger Körper if. So fehr
“aber erkannte man bie Idee der Regierungsrepräfentation auch
bier an, daß zu den wenigen Punkten, die Leine folgende Legislation guͤl⸗
tig ändern kann, gerade dieſe Wahl und biefe gleiche Zahl der Sena⸗
toren und diefes gleihe Stimmrecht bderfeiben nah ber Zahl ber
Staaten und nicht nad) dee Bevoͤlkerung gehören. Auch entfpres
hen bie befonderen Rechte des Senats in Griechenland, wie in Amerika
feiner befonderen Aufgabe. (S. oben Thl. I. ©. 192.) So hat er in
Amerika, neben dem allen drei Hauptbehoͤrden zuſtehenden Antheil an als
lee Geſetgebung, das befonbere Recht, im Verein mit dem Präfidenten,
zu Bündniffen, zue Ernennung von Sefandten und von Beamten einzus
willigen unb über die vom Mepräfentantenhaufe erhobenen Anklagen gegen
untrene Gtaatsbeamte und gegen ben Präfidenten zu richten *).
In den germanifchen Reichen bildeten diefen Senat unb diefe ums
mittelbare Mepräfentation der einzelnen Vereinsſtaaten früher bie erwähls
ten Vorſteher, fpäter die geifllichen und weltlichen Fürften und ihre Abs
georbneten,, in Deutfchland am frühften das Churfürftencolleg.
Ein nationaler oder Volks bund in der That und kein Antheil
ber Nation, des Volks an der Bundesverfaffung, Hein Organ für fie
und ihre Freiheit in bderfelben, wäre ein greller Widerſpruch und bie vers
derblichfte Lüde in bderfelben. Ein Berein befonders regierter
Staaten, und Sein befonderer Antheil ihrer. Regierungen an biefem
Verein, kein beſonderes bedeutendes und ehrenvolles Drgan für fie in
der Bunbesverfaffung wäre baffelbe. Kaffe man überhaupt eins von bies-
fen drei Organen fehlen, oder unvolltommen bleiben, fo wird unvers
meidlich Kraft und Thätigkeit des andern einfeitig uͤberwiegen und vers
derblicy wirken. Hier wird das Übermächtige Megierungsorgan das na⸗
tionale Element und bie Volksfreiheit unterdrüden und die Zrennung ' bes
Bundes herbeiflhren. Dort wird das uͤbermaͤchtige Volksorgan Anarchie
begründen, die befondern Regierungen zerftören und mithin ben Bundes⸗
flaat im beften Fall in einen einfahen Staat ummandeln. Für bie .
zwei legten Hauptorgane aber und damit beide und ihre Glieder ihr Recht
umd ihre befondere Beftimmung behaupten, zugleich aber auch in patrio⸗
*) &. oben Thl. J., 193. Nordamerikan. Eonftitution Art. L,
1. 9 3. 7. II., 2. V.
94 Bund.
tiſcher, harmoniſcher Wechſelwirkung fuͤr den Geſammtzweck, in wechſel⸗
ſeitiger Berathung ſich wahrhaft vereinigen, und damit auf ſolche Weiſe
ihre Beſchluͤſſe, ſtatt eines Widerſtandes, allgemeine Achtung und bereit⸗
willige Vollziehung finden, damit ſie endlich mit der Nation und unter
ſich ein wirkliches harmoniſches Leben bilden, ſind vor allen nur noch
zwei Hauptpunkte weſentlich, welche ebenfalls die nordamerikaniſche
Conſtitution heiligt. Einestheils müffen beide Organe, in ihrer
Wahl und Wirkſamkeit uͤberhaupt unter dem Schutz voͤlliger Oeffentlich⸗
keit und der Freiheit der oͤffentlichen Meinung ſtehend, gleichzeitig
und oͤffentlich verhandeln, bergthen und beſchließen.
Anderntheils dürfen bie einzelnen Glieder (am wenigſten bie Volksre⸗
präfentanten) nicht dur fpecielle Inftructionen gebunden fein,
weil biefes’nur ein diplomatifches Unterhandeln möglich macht, aber
die wahrhaft politifche, gemeinfchaftliche, lebendige Wechſelwirkung,
Berathung und Vereinigung ausfchließt und die Güte und Kraft ber
Beſchluͤſſe ſchwaͤcht.
Bedenke man nun zu ſolchen Einrichtungen noch die Lebendigkeit
und Vollſtaͤndigkeit, mit welcher in Amerika das Volk durch abſolut
unbeſchraͤnkte Freiheit der Volksverſammlungen, der Preſſe und ber Pe⸗
titionen, und durch freie Wahirechte an der Berathung der Nationalbe⸗
ſchluͤſe Theil nimmt! Gewiß in keiner andern Verfaſſung der alten
und der neuen Zeit konnten die geſellſchaftlichen Beſchluͤſſe fo ſehr als
das Reſultat aller, moͤglichſt reif und vielſeitig abgewogenen und ver⸗
einigten, Intereſſen und Wuͤnſche des Volks erſcheinen, zugleich ſo voll⸗
ſtaͤndig den allgemeinen und den beſonderen Verhaͤltniſſen und
Beduͤrfniſſen entſprechen, als in dem nordamerikaniſchen Bundesſtaate.
Nie koͤnnten die beſonderen Rechte und Beduͤrfniſſe der einzelnen Staaten
und der einzelnen Buͤrger mit der Einheit und Kraft des nationalen
Bundes innerlicher und allſeitiger oder mehr wahrhaft organiſch vermittelt
und vereinigt werden, als hier.
7) Nach der Natur des Bundesſtaats und feiner innigen Vereinl⸗
gung aller Vereinsſtaaten zu einem nationalen Ganzen, welches beſonders
nach Außen als Einheit nur durch die centrale Bundesgewalt repraͤſen⸗
tirt, und im Inneren abſolut gegen jeden Krieg der ihm untergebenen
Bundesregierungen geſchuͤtzt werden muß, müffen dieſe auf alles
Verhandlungs- und Bündnifreht mit fremden Staaten,
auf eigne ftehende Kriegsmacht und auf bas Beſteue⸗
rungsrecht für bie Bundesbedürfniffe zu Bunften der Bm-
desmacht, ſowie ebenfalls in Nordamerifa, verzihten. Daß dieſes
urfprüngliche Bundesgefeg auch der griechifchen Bundesftaaten in ihnen
überall verlegt und daß es im beutfchen Reich fogar völlig aufgehoben
wurde, biefe6 hat vorzugsmeife ihr größtes Ungluͤck und ihren Untergamg
herbeigeführt. .
8) Schon hiernady und nach der obigen Ausführung von ber innis
gen nationalen Bereinigung aller Bunbdesregierungen und aller Bes
wohner bes Bundesgebietes, forie von ihrem unmittelbaren Recht
Bund. 95
om Bunde widerfpriht a8 dem Bundesſtaat, baß einzelne
Bundesregierungen, welche felbft nationale Bürger des Bundes:
flaatd fein follen, unterthbane Känder oder gar dem Bunde
vsllig fremde Nationen regieren. Die traurigen Folgen der
Vernachlaͤſſigung dieſes Grundfages im beutfhen Reich und in der
Schweiz find bekannt. Das Grundgefeg der letzteren ſchließt jegt,
fo wie dad nordamerikaniſche, ſolche gefährliche Monftrofität aus.
9) Ebenfo folgt aus der Natur des Bundesftaates, aus feinem ges
meinſchaftlichen Srundgefeg, Endzweck und Organismus, es folgt auß
dem nothwendigen Beduͤrfniß alles gefunden Lebens, nad) Harmonie,
Gonfequenz und Affimilation feiner Theile, daß bie einzelnen Vereins—
flaaten in den weſentlichſten Grundlagen ihrer Verfaffuns
gen. übereinflimmen, und daß das Beſtehen diefer im
Wefentlihen gemeinfhaftlihen Verfaffungen vom Bun
de garantirt wird. Diefes iſt in Nordamerika ebenfalls der Fall.
Insbeſondere find die republifanifche Regierungsform, bie völlig unbes
ſchraͤnkten Rechte der Preßfreiheit, der Volksverſammlungen und Petitios
nen, die Ausfchliegung alles Adels, alle Ungleichheit wegen der Religion,
die Nothwendigkeit des Schwurgerichts in peinlichen Sachen und in Ci⸗
vilfachen Über mehr ald 20 Dollars Werth, ferner das Recht, Waffen
zu haben und zu tragen, bie Sicherung gegen Einquartierung und Haus⸗
und Papiers Duchfuhung bundesgefeglic für alle Staaten *). Auch
flimmen bekanntlich alle Vereinsſtaaten mit der allgemeinen Bundesver⸗
faffung (f. vorhin 6.) überein in der Form einer repräfentativen Demos
ratie, mit jener mehr ariftofratifhen und monarchiſchen Behörde, in der
Trennung von Kirche und Staat, wie in ber Trennung der gefeßgebens
ben, vollziehenden und richtenden Gewalt; fo, daß namentlich auch
biefe Trennung ber Gewalten nur diejenigen für abfolut unausführ
bar ausgeben können, welche die nun funfjigjährige, nordamerikaniſche
Einrichtung und Erfahrung nicht kennen, namentlidy auch nicht die dors
tige fouveraine richterliche Entſcheidung der Gerichte auch über alle fo-
genannten Adminiſtrativſtreitſachen und Über bie verfaffungs:
mäßige Gültigkeit der Gefige und Megierungsacte, ober welche,
flatt an eine organifche Zrennung mit organifcher Verbindung, aͤhn⸗
lich wie 3. 3. zwifchen dem Nerven⸗, Blut: und Gefäß- Suftem, an
ein mech aniſch getrenntes Auseinanberliegen denken. Die drei legten
Merkmale, obwohl fie aus der Natur bes Bundesſtaats fließen,
find indeß nicht abfolut weſentlich für feinen Begriff, ſowie die
ſechs erften und mie das folgende zehnte.
10) Endlich ift der Verein des Bundesftaats, well er als wahres
Statusverhältnig auf anerkannte höhere Pflichten, nicht blos der Regierun⸗
gen, fondern auch der Bürger ſich gründet, auch in Beziehung auf feine
Bortdauer der: obligationenrechtlichen Willkuͤr der Theile entzogen. Er ift
ı 2 Nordamerikan. Conſtit. I, 9 und IV, 4. Anhang. Art.
06 _ Bund.
alſo abſolut unaufloslich, er tft, im wahren Sinn_bes
Wortes, auf Leben und Tod gefchloffen. Einzelne Vereins.
glieder, wenn fie, auch nur ihre Gerwiffensfreiheit zu retten, für ihre ins
dividuelle Perfönlichkeit auswandern dürfen, haben body nie das
Mecht, über die höhere moralifche Perfönlichkeit des Vaterlandes und feis
ner Unterflaaten zu verfügen, und fowie ber patriotifche Bürger lieber
Habe und Leben als das Vaterland aufzuopfern verpflichtet ift, fo hat
auch die einzelne Regierung in der Gefahr für ihre befondere
Eriftenz keinen Rechtsgrund, das Vaterland preiszugeben und ſich
von ihm loszufagen.
IV. Sortfegung. B) Der Staatenbund. Der reiht
lihe Grundcharakter des Staatenbundes oder des blos völs
kerrechtlichen, dauernden Staatenvereins befteht nach dem Obigen (IL) dar⸗
in, daß in ihm mehrere perfönlich vollfommene fouveraine
Regierungen einen Inbegriff ihrer aͤußeren Souverainetaͤts⸗ ober Regle⸗
rungsgewaltsrechte dauernd gemeinfhaftiich (zu einem juriſtiſchen
Condominium) gemacht und ſich alfo in Beziehung auf fie real bes
ſchraͤnkt haben.
Der deutfhe Bund von 1815 wurde fpäter nach feiner Gründung
officiel ein bloßer „Staatenbunb” genannt *) und noch fpäter, im
eriten Artikel der Schlußacte von 1820, ausdruͤcklich bezeichnet „als
ein völkterrechtlicher Verein der deutſchen fouverainen Kürften und
freien Städte”. Auch ift es unbeftritten, daß diefer Bund, welcher bei
Eröffnung des erften Freiheitskrieges officiell als eine Wiederherftellung
des früheren bdeutfhen Bunbdesftaats oder bed Reihe angekündigt
und verfprochen und in dieſem Sinne größtentheil® auf dem wiener
Congreß unterhandelt wurde **), doch wenigftens feheinbar fhon in ber an⸗
erfannt eiligen und unvollendeten Redaction feiner Rechteverhältniffe vor
bem neuen Kriege 1815, noch mehr aber in den fpäteren Bundesgefegen
immer mehr ben ‚Charakter eines bloßen Staatenbunbdes erhielt,
fo daß alſo die Entwidelung ber beutfchen Bundesverfaffung die entges
gengefegte Richtung der nordamerifanifchen nahm, welche vielmehr aus
einem Staatenbund zum Bundesſtaat ausgebildet wurde. Zur Verans
(hautihung der Charaktere des Bundesſtaates können wir alfo bier
blos beifpielsweife bie ihnen entfprechenden Beſtimmungen bes
deutſchen Bundesrechts hiftorifch erwähnen, dagegen müffen mie
es lediglich dem Artikel Deutfher Bund überlaffen, zu unters
fuhen, ob und inwieweit Öffentlich bereits mehrfeitig ausgefprochene
Anfihten, etwa andere Beflimmungen und Berhältniffe, inwieweit ins⸗
befondere bie Abficyt der Gründer des Bundes ihre und ber deutfchen
Volksſtaͤmme Rechte, Pflichten und Bedürfniffe mit jenen Beſtimmun⸗
gen und mit der Natur eines bloßen Staatenbundes im Widerfpruch
wären, und ob und welche Nachtheile oder Gefahren und Aufgaben fich
%) Präfidialvortrag In der Bundesverfammlung 2. Nov. 1816. Nr. 1.
) MWeldera. a. D. ©. 42 und oben Artikel Blücher.
!
’
Bub: 097
akıfen mic etwa theilweiſe ſich widerſprechenden und ſchwankenden BZuſtand
en möchten.
In der angegebenen rechtlichen Matur- des. Staatenbun
des iſt es nur enthalten, daß er auch nicht ein .eimziges der zehn
Merkmale des Bundesſtaats, ſondern weſentlich davon verſchiedene bes
gründet :
1) Der Staatenbund hat nicht ben Staatsıwed. De
Zwed einer unter mehrern : ganz - fouverainen Regierungen beftehenden,
zwar dauernden, aber bios välkerzechtlichen Vereinigung eines Inbegriffs
äußerer Hoheitsrechte kann kein anderer fein, als der diefer Hoheitsrechte
felbft; nämlich: "die allgemeine. dauernde, voͤlkerrechtliche
Sicherung. Diefe Sicyerung iſt natürlich hier eine mehrfache: zus
erft die jedes einzelnen Bundesftaates, und zwar hier wiederum bie
gegen Auswaͤrtige, gegen andere Bundesſtaaten und gegen ben Bund’
felbft; fürs zweite aber auch bie Sicherung des Bundes, feines Ber
ſtandes und ganzen Umfangs und; Gebiets, und zwar hier wien
derum theils die Sicherung gegen die Bundesregierungen, theils
die gegen Auswärtige. Man kann biefen ganzen Zweck in. diefem Sinne
echt gut fo bezeichnen, wie ihn de Schlußacte -in- bemfelben, obigen.
erften Artikel unmittelbar nad der Bezeichnung bed deutfchen Bundes
als eines rein völkerrehtlihen Kürftenvereins beftimmt. Er
iſt nämlich hiernach begründet: „zur Bewahrung ber Unabhängig
„Leit und Unverlegbarkeit ihrer im Bunde begriffenen Staaten und zur
„Erhaltung der inneren und aͤußeren Siaerbeit Deutſchlands.“
Die fruͤhere Zweckbeſtimmung in den Entwürfen: „Sicherung der ver⸗
„faffungsmaͤßigen Rechte allee Claffen der Nation” hatte auf Baierus
und Wuͤrtembergs Widerſpruch ſchon in der Bundes aete vorläufig
weichen muͤſſen. Jeßt in dee Schlußacte wurde ſelbſt die Bewah-
rung der Souverainetaͤt der einzelnen Staaten, die in der
Bundesacte Art. 2. dee Sicherheit Deutſchlande nachſtand,
vorangeftellt. Wie wären auch wohl: innere ftaatsrechtliche
Zwecke vereinbar mit einem rein voͤlkerrechtlichen äußeren Verein, einenz
Verein blos der Fürften ober der Regierungen, dieſer Regierungen
vollends, welche volltommen fouverain bleiben, deren Unabhängigs
Leit erſter Bundeszweck iſt )? Kurz der Gtaätenbund iſt nur
ein allgemeiner bleibender völterregtligen Saus- und“
Seug- Berein, 0 |
an
-')
2 e. Bundesagte 1. 27 Sählußarte {—4. 9. 10. 13. 15, 17}
25. 55: 56. 60. 6466. 75. und bie Shmpetenportnung v. 1817;
4. *. Diefe letztere ſagt: „Da ber Begriff volter: © ouvesälnetät
„ber einzelnen Bundesflzaten vr Bunbedacte —— BEER fo liegt um.
„bezweifelt jebe Einmiſchung die inneren Adminia
„ſtrati i b d *6 i m etenz. Ve über
* ——* fe Fan * 6 ak Genpeian ziege ſſ
baß der drutce Bund ir ob⸗ errliche Gewalt audf a und hur
©taats » Lexikon. ii,
98 | Bunð
2) Die Staatenbund iſt kein ſouveraines Gemeinweſen.
Er iſt vielmehr, wie die Schlußacte in jenem zweiten Artikel in
Beziehung -auf den drutſchen, Bund weiter fortfähnt: „in feinem
„Inneren dns Gemeinſchaft felbftfiindiger, unter fih un abhaͤn⸗
„giger Staaten: mie wedfetfeltigen ‚gleihen Vertragsrehten
„and Bertragsobliegenheiten.” Der Staatenbund wird zwar
in der Regel nicht fo unorganiſirt bleiben, wie der Rheiniſche Bunb
und der heilig: Bund. : Er wird vielmehr, forte ja auch viele Pri-
vatſocietaͤten, eine:-gefelifhaftithr. DOrganifation, und felbft
einen Centralverein von Mandataren der Megierungen haben.
Diefe aber bilden "Eelne wahre Regierung, fondern nur eine
diplomatifche Vereinigung von: Gefandten, forvie die deutfche Bun⸗
desverfammlung. (nach dem Bundesbefhluß vom 1. Juli 1824)
„einen Minifter:-Congreß",-inen Verein von Diplomaten,
welche gänzlich von fpeciellen Infteuctionen ihrer Höfe ab⸗
bangen, mithin nur diphomatiſch oder voͤlkerrechtlich unter-
handeln, aber nicht eigentlih politiſch berathen und beſchlie—⸗
Ben. Aud kann in Beziehung auf die dauernd gemeinfchaftlidh ge⸗
machten und gemeinfchaftlich verwalteten, auswärtigen Hoheitsrechto
von Seiten fremder Staaten der Staatenbund fo, wie der beutfche,
„als eine in politifcher Einheit verbundene Geſammtmacht“ voͤlkerrecht⸗
lich anerkannt werden. Aber felbft- bei diefer angeblichen Einheit find
befonbere völferrechtliche. Unterhandlungen, Bündniffe, felbft Kriegfüh-.
tungen der einzelnen ‚Staaten nicht ausgefhloffen. Bunbdbesacte 7.
Schlußacte 46. in bios voͤlkerrechtlicher Kürftenverein iſt eben
niemals ein wahres Innerlihes moralifd perſoͤnliches und
ſtaatsrechtliches unter gemeinfchaftlichem höheren Pflichtenge⸗
fe flehendes Gemeinweſen. 6 fehlen ihm daher auch alle Fol⸗
Herungen deſſelben. | Ä
SGs iſt A) m dem Gttatenbund, und namentlich) auch in dem
bentfchen, die Stimmenmehrhets keineswegs allgemein und
son felbft und abfolut gültig. Freilich laffen gewöhnlich bloße
Miteigenthämer und ‚Befellfchaftsgenoffen- in ihren gemeinfchaftlichen Ans
gelegenheiten die Stimmenmehrheit ale ein natürliches Auskunfts⸗
mittel für die Vereinbarung in ihrer Verwaltung gemeinfchaftlicher
Angelegenheiten theitweife fo lange bedingt. gelten, mie fie ihnen nicht
verlegend oder dem Vertrage mit feinem Zweck widerſprechend fcheint.
Sobald aber Legtered der Fall ift oder auch in den wichtigften Fällen
gilt ftets der Widerfprud, und es kann nur durch Belaffung
beim Alten oder durch neden Vergleich, oder wenn fo, wie Im Privats
fand, ‚ein. fouversines Stantsgericht für die Parteien exiſtirt, durch
Rechtshuͤlfe, fonft durch Krieg, endlich durch Trennung ber Streit bes.
feltigt werben. Der deutſche Bund "hat fogar noch ausbrädfich für
Alle wichtigeren Punkte nuch felbft"jene ‚Bedingte Stimmenmehrheit aus⸗
gefrhloffen und nur die Stimmeneinhelligkeit, d. h. alfo unbes
dingt jeden beliebigen Widerſpruch, jedes Einzelnen, als
Sun. | 99
hoͤchſtes Geſetz erklärt, fo namentlich in Beziehung auf alle Ausles
gungen, Veraͤnderungen und neue Beſtimmungen von Grundgeſetzen,
auf alle organiſchen Bundeseinrichtungen und Beſcluͤſ—⸗
fe, ferner bei Aufnahme neuer Mitglieder und Religlontangelegenhei⸗
ten, ſowie in Beziehung auf alle fogenannten Jura Singule⸗
zum. Dahin aber gehört namentlich Alles, was die befonderen inne
ven Berhältniffe der einzelnen fonverainen Bunbesflanten angeht,. wie
% B. bie gemeinnügigen Anordnungen u. f. w. °).
.B) Die fouverainen Regierungen find ins Staatenbunde durchs
aus Feiner oberherriihen Regierungsgewalt unter
eban. Es gibt In ihm mithin a) keine wahre fouveraine Gefek
gebung über fi. Miteigenthümer und Socetätögenoffen nennen
zwar buch jene bedingte Stimmenmehrheit und durch Stimmenmehrs
beit angenommene Regeln, wenn fie bauern follen, faft ſtets Ge
ge , in Wahrheit ſind es doch nur bloße Societaͤtsvertraͤge und
chlüſſe.
b) Ebenſowenig ſind die ſouverainen Fuͤrſten wahren Gerichten
unterthan. Sie erkennen nur Vergleichſs⸗ oder Schieds⸗, ſogenannte
Austraͤgal⸗ Gerichte, wie der deutſche Bund in Streitigkeiten der Bun⸗
desglieder untereinander. Zu ihnen gehört gewiſſermaßen auch ber Fall,
wenn Bürger blos desiwegen eine Forderung nicht befriedigt erhalte,
weit über die Berpflihtung zu dieſer Befriedigung die Regierungen im
Streit find *) Es war alfo ganz confequent, dag Baiern und
MWürtemberg, als fie durch ihren Widerſpruch auf dem wiener
Congreß bewirkten, daß eine definitive Organiſation des Bundes als
Bundesftaat, melche die übrigen Bundesglieder beabfichtigten, wer
nigftens vorläufig aufgefchoben wurde, auch dem früher beabſichtigten
Bundesgericht mwiderfpradhen und vorldufig nur eine Anorbnung eines
Scicbögerihtd bewirkten ). Es gibt jest nur eine Vermitt⸗
lung durch den Bund, bie man im dußerften Fall durch wechſelnde
Schiedsgerichte bewirkt. Und damit ja kein Schein einer Verlegung
der Souverainetät da fei, fo vermittelt audy nur in jedem Boll ein
befonderes Schiedsgericht, das als Drgan der fireitenden Theile gebiß
det wird.
e) Auch einer wahren fouverainen Vollziehungs⸗ und einer ges
feglihen .Zmangsgemalt find im Staatenbund bie ſouverainen
Megierungen nicht unterthban. Es gibt hier nur eine mehr oder min
bee zum Voraus regulirte Kriegsgemalt. Zwar auch Miteigenthümer
koͤnnen, fo lange fie wollen und fich nicht verlegt halten, fich ſchieds⸗
richterlichen Vermittlungsausſpruͤchen und felbft Geſellſchaftsſtrafen unter:
werfen. Und fie werben, auf billigen Sinn und Vereinbarung rech⸗
*) Bundesacte 7. Schlußacte 13. 15. 35. 53 und die letzte Note.
*) Bundesacte 7.9. Schlußacte 21-30. J
se) Kluͤbers ueberſicht I-, ©. 178. Bundesſchluß v. 6. Sul 1817.
100 Bund.
nend, oft wohl thun, ſich geſellſchaftliche Vermittlungsbehoͤrden Con⸗
ventionalftrafgefege und ſelbſt Erecutionsordnungen zu errichten. Aber
ſobald ein Societätßgenoffe widerfpricht und fih verlest glaubt,
iſt wieder nichts übrig, als jene Belaffung beim Alten, Unterhandlung
und Vergleich, im Privatſtande Rechtshülfe, fonft Krieg, endlich Tren⸗
nung. Auch infofern hängt im Staatenbunde fo, wie in Deutfhland,
die Vollziehung jedesmal von dem Willen ber einzelnen Bundesregie⸗
rungen ab, als nur fie im Beſitz der flehenden Deere und ber Bes
ſteuerungsgewalt find und durch ihre jedesmalige Stellung unb Leiftung
ihrer Contingente und Beiträge für jeden Fall dem Bunde alle Mittel
erft darreichen und alfo hierdurch und durch Bündniffe zu kriegeriſchem
MWiderftande fähig find. 0 -
C und D) Somit erkennen denn wirklich im Staatenbunde bie
fouverainen Regierungen keine wahre Gehorſams- oder Unters
tbanenpflicht und feine Aufhebung ober wefentlide Be
ſchraͤnkung der Souverainetät, am menigften der perfönlihen
oder ihrer fouverainen Würde an.
Zwar widerfpriht man dieſen Folgerungen, und zum Xheil -gewiß
aus Löbliher Abficht, weil man biefelben nicht für heilfam hält. Aber
vor Allem ift es heilfam, daß man die Sachen fehe, wie fie in Wahr;
heit find. Wuͤrden fie alddann als nicht gut befunden, nun dann
ſuche man auf rechtlichen Wegen zu wirken, daß fie beffee gemacht
werden. Dazu ift dann bie richtige Einficht der erfle Schritt. In⸗
dem mir zum Zweck diefer richtigen Einfiht in die allgemeine
Natur eines Staatenbundes und mittelbar auch de$ Bundes
ſtaates eingehen, dürfen wir uns bier felbft nicht einmal, wie früher
blos beifpielsweife, auf die befonderen deutfchen Bundesver⸗
hältniffe berufen ; wir müffen vielmehr ihre Erörterung und
Betrahtung, weil fie in diefer Beziehung beftritten find, nad) ber
obigen Bemerkung (f. IV. im Anfang) lediglich dem Artikel deut⸗
ſcher Bund vorbehalten. ü
+ Warum aber — fo fragen bie Gegner in Beziehung auf den
Staatenbund im Allgemeinen — warum follte ein folder Bund keine
wahre, Eeine fouveraine Gefesgebungs =, Richter: und Zwangs⸗
und BVollziehungsgewalt haben koͤnnen?“ Nun meil es Beinen viereck⸗
ten Kreis und Eein rundes Viereck geben kann; weil ferner auch alle
noch fo mohlgemeinten verhüllenden Worte nicht die logifhe und na⸗
türliche Gewalt und die wahren Namen ber Dinge umändern. Das
vermag, nach des defpotifhen Juſtinians Zugeftändnig, felbft keine
gefeggeberifhe Auctorität eines Senats oder Imperators °). Geſetzge⸗
bungs=, Nichter- und Vollziehungs- oder geſetzliche Zwangsgewalt
eines geſellſchaftlichen Vereins, gerade die wefentlihften Folgen
und Merkmale ber flaatsrechtlihen Wereinigung gibt es nicht ohne
—— —
*) De usufr. L.2. de usufr. ear. rer, Nec enim naturalis ratio
auctoritate senatus oommntari potuit.
Bund. | 101
fie. Beh gleichen und felbftftändigen Societaͤtsgenoſſen oder Theilneh⸗
men an einem Miteigenthumsverhältnig, nach welchem Recht in ber
Belt hat man hier jemals der Mehrheit der Nichteinwilligenden gegen
diejenigen, welche fih zu unterwerfen ober etwas zu thun für nicht
fhuldig erklärten, welche die Mehrheit im Unrecht gegen fich glaubten,
irgend eine fouveraine Geſetzgebungs⸗, Richter: und Zmangs = Gemalt,
den Weigernden dagegen eine Gehorſams- und Unterthanen = Pflicht
zugefprochen ? Könnte man aber frenger fein und Anderes beftims
men ber einer rein voͤlkerrechtlichen Wereinbarung völlig unabhäns
giger, fouverainer Gefellfchaftsgenoffen oder von Regenten mit mwechfelfei-
tig gleichen Vertragsrechten und Verpflichtungen? Völlig fouverai-
ne Regenten im vollem Beſitz der Regierungsfouverainetät über ihre
Staaten, und doch unterthaͤnig und gehorfamspflidhtig,
feibft da, wo fie Etwas ihrem und ihres Landes Recht und Wohl ganz
roiberfprechend finden, wo fie es als von anderen Genoſſen ober ihrer
Mehrheit mit Unrecht und gegen ben Vertrag gefordert glauben! Uns
terthaͤnig, obgleich fie in ihrer rein völkerrechtlihen Vereinigung durch
die Natur derfelben oder durch ausdrüdliche Erklärung ale erſtes Grund:
gefeg, als Srundbedingung und erſter Zweck ihrer Vereinbarung bie
Bewahrung der Unabhängigkeit und Unverteglichkeit diefer Souveraines
tät an die Spitze flellten! Vereinige Solches, wer kann und mag!
Und antworte man, ob man ‚glaubt, ein mächtiger Societätsgenofle
würde etwa das, was ihm die Mehrheit gegen den Societaͤtsvertrag
unb .fein Recht Verlegendes ober ihm weſentlich nachtheilig Scheinendes
zumuthet, eine unterthänige Gehorfamspfliht anerkennen ? Sollen
es alfo nur die Mindermächtigen ? „Aber“, fo fagen Andere, „wie
„fol denn der Bund beftehen, wenn ihm und feiner Stimmenmehr⸗
„beit nicht bei Gollifion der Anfichten die höchfte Entſcheidung zufteht ?“
Aber, — fo antworten wir — wie foll denn die unverletzliche
Souverainetät der Bunbesregierungen und ihrer Staaten, dieſe
Grundlage und diefer erſte Zwed ihres Bundes und feine ganze
voͤlkerrechtliche Natur, ja mie fol ferner die in den Landesver⸗
faffungen der fouverainen Staaten anerkannte Pfliht der Erhaltung
der Souverainetät und der Verfaſſung beftehen, bei jener abfoluten
Unterordnung unter die fie verlegenden Mehrheitsbefhlüffe anderer Re⸗
gierungen? Gibt's nicht eine gewiffe Bürgfehaft in dem dauernden
gemeinfchaftlihen Intereſſe, gibt's nicht Unterhandlung und Vergleich,
Belaſſung beim Alten, als Mittel des Beſtandes? Und kann man
mit einer bloßen Beforgniß gewiſſer Gefahren, die dody nie und nit:
gende ganz verſchwinden, die rechtlich anerkannte Natur der Dinge dn-
dern? Auch im einfachen Staat ift ja Gefuhr der Unordnung durch
Colliſion der Anficht zwiſchen Fürft und Ständen. Gibt deshalb et:
wa das engliſche Staatsrecht dem Parlament die Pflicht des unbeding⸗
ten Gehorfams, da, wo ihm eine Korderung der Megierung rechtes
teidrig oder eine Einwilligung ſchaͤdlich erfcheint? Und doch ift bie
Einheit im Staat anerkannt noch firenger, noch unentbehrlicher, ale
102 Bund,
im jedem Bunde. Nichts iſt verkehrter, als die Annahme einer folder
Abſolutheit menfhliher Organe in den unvolllommenen, relativen,
menfchlichen Verhältniffen. (S. den Artikel Sabinetsjuftiz.) Hielte
man aber wirklich fouveraine Gefehgebunge =, Vollziehungs⸗ und Rich⸗
tergewalt für unentbehrlich in einem Bunde, nun fo bliebe nichts übrig, .
als den Staatenbund in den Bundesflaat zu verwandeln.
Wer den Zweck und bie Vortheile will, bee muß auch die Mittel und
die Opfer wollen. Im blos voͤlkerrecht lichen Verein dagegen, da
bleiben ftets die Regierungen völlig fouverain und find alfo weber wie
in einem flatuss und ſtaatsrechtlichen Verhaͤltniſſe einer ſouverainen
Gewalt, noch einem höheren gemeinfchaftlichen Pflichtgefeh des Verei⸗
nes und eines durch ihn begründeten Vaterlandes umterthban. Hier ers
Eennen fie nur ihre eigene fouvernine Regierungsübers
zeugung, fowie das Recht und das Wohl ihres befondes
sen Staats ale ihr Höchftes, als ihre fouveraines Geſetz
an. Und forte bioße Miteigenthiimer und Gefellfchaftsgenofien im
Privatftande nimmermehr die Rechtöpflicht anerkennen, fid Allem, was
Ihnen etwa unrecht, vertragswidrig ober verberblich fdyeint in- ben
Beichtüffen ihrer Genoſſen, zu unterwerfen, fo werden noch mehr bier
Die Bundesregierungen das Mecht, ja in Beziehung auf ihren eigenen
Staat Häufig die Pflicht behaupten müflen, fi) dagegen zu ſchuͤtzen
und zu wiberfegen. Dazu aber find bier nicht fo, wie im Private
Rande, höhere Serichte, fondern die voͤlkerrechtlichen Mittel gegeben.
8) Der völkerrechtlihe Staaten⸗ ober Regentenbund geht. nicht
wefentlih auf die inneren Verhältniffe der einzelnen Bun⸗
besfinaten und begründet Aberhaupt Eeinen unerfhöpflihden Ins
begriff ſtatusrechtlicher Rechte und Pflihten. Er begründet
nur die zur völferrechtlichen Sicherung nöthige, dauernde Vereinis
gung und gemeinfhaftlihe Verwendung dußerer Hos
heitsrechte, wobei bie Pflichten aus den Rechten fi
ableiten, und nicht umgekehrt. Die inneren flaatsrechtlichen
Verhältniffe jedes einzelnen Bundesſtaats erfcheinen hier, auch wenn
fie für gemeinnügige Zwecke in Anfpruh genommen werden (fowie
ebenfalls im deutfchen Bund), ad Jura Singulorum’) Wenn
etwa durch den befonderen, einftimmigen, völferrechtlichen Bundes⸗
vertrag einzelne Befchränkungen ber inneren flaatsrechtlichen Verhaͤlt⸗
niffe flattfinden, fo find biefes einzelne ſtaatsrechtüche Ser vitus
ten. Aus dem Bundeszweck einer rein voͤlkerrechtlichen Sicherung an
ſich fliegen fie nicht. Ja fie widerfprechen eigentlid der Grundbedin⸗
gung und dem Zweck des Bundes, ber vollen Souverainetät und ih⸗
zer Bewahrung. Die Rechtsvermuthung flreitet alfo gegen fie und fie
find als Ausnahmen zu behandeln und flreng auszulegen. Auch
bürfen ſolche Vereinbarungen, wenn fie den Staatenbund nicht mit
feinem eignen Wefen in gefährlichen Widerſtreit bringen follen, nur
*) Welder a. a. D. ©. 46. 48. 51 und vorhin Ar. 2. A. .
Bund. | 103
möglichft wenig in das Innere eingreifende Beſtimmungen betreffen,
und nur folche, die wegen befonberer Ausnahmeverhältniffe für den
Zweck der voͤlkerrechtlichen Sicherung, ald wahrhaft unentbehrlich
erſcheinen. Auch dürfen fie natuͤrlich, wenn fie .nicht bios die der
Regierung allein überlaflenen: Hoheitsrechte betzeffen, bie. allgemeinen,
naturrechtlichen und verfaffungemäßigen Freiheit - und. Einwilligungs⸗
echte ber Bürger und der Stänbe in. den Vereinsſtaaten nicht ver=,
legen, ober nur mit deren Zuflimmung ‚begründet werden: Denn für
ihre Verfaſſungsrechte find ja bie Verträge mit fremden Regierungen
Verträge unter - Dritten. Ihre verfaffungsmäßigen Rechte koͤnnen nur
auf dem verfaffungsmäßigen Wege geändert werden '). Ihr ganzer
Rechtszuſtand aber wäre jedenfalls aufgehoben, wenn durch ſolche Ver:
träge mit fremden Regierungen ihr wahres innered Rechtsverhaͤltniß
beliebig verändert werden koͤnnte. | W |
4) Der Staatenbund ift feiner Natur nah Fein wahrer Na⸗
tionalverein. Zwar werden. in der Regel nur aneinander
grenzende Staaten, melde buch gewiffe bleibende ge
meinfhaftlihe Verhältniffe und Bedürfniffe dauernd
ihrer gemeinfhaftlihen. Hälfe, für ihre. Sicherung zu
bedürfen glauben, einen. Staatenbund eingehen. Und ihr gemeins
ſchaftlicher Länderumfang wird in Beziehung auf die. völferrechtliche Ver⸗
theidigung das Bundesgebiet bilden. Ale ein blos von ben Regen:
ten, vielleicht mit Fürften fremder Nationen, abgefdyloffener blos aͤuße⸗
ver, voͤlkerrechtlicher Vertrag aber ‚vereinigt er natürlich nicht alle Re⸗
gierungen und Bürger auf eine innerliche Weife unter dem höheren all
umfaflenden Pflichtyefeg eines gemeinfchaftlichen Waterlandes und eines
nationalen Menſchheitszwecks. Diefes wird doppelt Elar, denn:
6) Der Staatenbund begründet, fofern er nur Staatenbund
fein will, auch für die Bürger Eeine Theilnahme am Bund,
Eeine wirkliche Mitgliedfhaft, kein Bürgerrecht, mithin
auch Feine Bürgerpflicht und keine Unterthänigkeit gegen den Bund ale
ſolcher. Bundesgefege verbinden hier die Bürger nur, fofern fie
als Landesgefege aufgenommen und publicirt wurden.
Diefes gilt auch im deutfhen Bunde “). Es fcheint überhaupt fpäter
Diefe Seite des Bundes gegen manches Entgegenflehende mehr
und mehr ausgebildet worden zu fein. Es wurde der Verein erft fpd-
ter ein völferrechtlicher Sürftenverein genannt, indeß gehört wohl hier⸗
her auch die Aufhebung aller Deffentlichkeit feiner Verhandlungen, fogar
eines Theils feiner Befchlüffe und die Aufhebung der hierdurch und
durch preßfreien Ausdruck der öffentlichen Meinung und freies Petitions-
recht zu bemirfenden activen Theilnahme der Nation an den Bundesver⸗
haͤltniſſen. Hierhin würde ferner der ausſchließliche Vorbehalt ded Aus:
) Schlußacte 56. Weldera. a. D. ©, 46 flg-
+) Schlußacte, Art. 93. 56. 82.
104 . Bund.
legungsrechts ber Bunbesgefehe für die Bunbesverfanmnlung 9) gehöcen,
wenn berfelbe fo, wie nach der Meinung Mancher, fi wirkllch nicht
blos auf die authentifche Auslegung (da heißt eigentlich ‚neue
grundverfaffungsmäßige Beſtimmungen) bezöge, fondern felbft auf bie
doctrinelle Auslegung. Die letztere muß aber anerkannt demjenis
gen, welcher irgend eine Thellnahme an einem Rechtsverhaͤltniß, und
fetbft auch nur eine mittelbare rechtliche Verpflichtung durch daffelbe er⸗
halten foll, ftets zuftchen. Rechtliche Verhättniffe und Grund:
verträge find durchaus gegenfeitig. Jeder Theil hat das gleiche
Recht, fie (doctrinell) auszulegen,: und zu beurtheilm, was er für
echte und Pflichten duch den Verein erhalten hat. Nur Verſtaͤndi⸗
oung, Vergleich oder ein unparteiifcher Richterſpruch kann den dar⸗
über etwa entflehenden Streit abfolut beendigen.
6) Der Staatenbund, insbefondere aud) der deutſche, begruͤndet,
inſofern er wirklich nur reiner Staatenbund bleiben will, auch keine
Volksrepraͤſentation neben der Regierungsrepraͤſentatien am
Bundestage.
T) Er entzieht aud den Bundesreglerungen nit
die äußeren Doheitstehte, dad ſtehende Kriegsheer
und einen Theil der Beſteuerungsgewalt.
8) Er ſchließt auch eine Herrſchaft der Bundesregierungen
über Unterthanenländer und fremde Staaten nicht aus.
9) Er fordert und garantirt auch nicht ein gemeinfchaftli«
he, inneres Staatsreht. Es wäre biefes jedenfalls alsdann
eine Zäufchung, wenn im Bundesvertrag gewiſſe Grundlagen, 3. B.
Stände, Preffreiheit u. f. w., beftimmt würden, und .nun dennoch
eine Einmifhung und Fein Zwang in Beziehung auf dieſe inneren
Verhältniffe ſtattfaͤnden, fo daß die einzelnen Bundesregierungen ents
weder gar nichts ober beliebig unter jmem Namen: Stände u. ſ. w.
gerade das Entgegengefeste geben, oder endlid das Gegebene wiederum
zerftören Eönnten. Auch hier huldigt der deutfhe Bund, wenigſtens
infofern der Natur des Staatenbunds, als er fpäter ausdruͤcklich ers
Plärte, die Beſtimmungen ber ftändifhen Verfaffungsverhältniffe feien
ben befonderen Regierungen, Ständen und Landesverfaffungen zu über:
Laffen, die Bundesgewalt mifche ſich in Streitigkeiten daruͤber nicht ein,
und diefe Verfaffungen fländen auch nicht unter der Garantie bes Bun⸗
des, fofeen er nidht, was audy jede andere politifche Macht gegen
andere Staaten thun darf, eine befondere Garantie einer einzelnen Ders
feffung gu übernehmen für gut fände ”). Auch hat ed wohl bis jegt -
menigftens nicht den Anfchein, ald werde die Bunbesgewalt felbft nur
die Einführung mahrhafter, Iandftändifcher Verfaffungen mit den we
fentlichften, fhon in dem hiftorifhen und allgemeinredtli-
Gen Begriff derfelben mit abfoluter Nothwendigkeit gegebenen
*) Schluß acte Art. 8. 17. und Bundesſchluß vom 11. Dec. 1823.
*) Schlußacte, Art. 60 und 61.
Bund. 105
Rechten, mit Rechten, wie fie alle Verhandlungen über ben Bundes⸗
vertrag als weſentlich bereits anerfannten, überali da ins Leben
rufen und erhalten, wo fie, nun ſechs und dreißig Jahre nad) der Grün:
dung ber Bunbdesacte und des 13. Artikels in bderfelben, in folcher Ge:
flolt noch nicht erifticen.
10) Es iſt endlih der Staatenbund auch nit abfolut und
ſelbſt auf. die Gefahr für die Eriflenz der VBereinsftaas
ten unaufloͤsſslich. Zwar ift er allerdings, fowie ja jedes Miteigens
thumsverbälniß, feiner Ratur nad dauernd. Man wird fchon
darum nicht mit Dielen den Staatenbund für ganz ebenfo temporait und
unbebingt jederzeit auflöglich erklaͤren können, wie das Buͤndniß. Auch
wird ee in dem Gedanken der Fortdauer feines Bebürfniffes und Zwecks
(fo, wie indeffen der Erklärung nad) freilid) audy viele Societätever-
träge und bloße völkerrechtlihe Buͤndniſſe) für immer gefchloffen.
Vielleicht koͤnnen auch viele Vereinsſtaaten ſchon bei Eingehung des
Staatenbunde von ber Anfiht ausgehen, fie würden ihrer Sicherheit
wegen eine Trennung einzelner Bundesländer vom Bunde felbft durch
Kriegegewalt hindern, wie ja fogar das bloße Staatenbündnig gegen
Napoleon, Dänemark und die Schweiz zur Theilnahme zwang.
Aber wenn fmirklid) dem Staatenbunde die Unterordnung unter ein fous
veraines Vaterland und allumfaflendes höheres Pflichtgefes fehlt, wenn
wirklich jede ganz fouveraine Regierung ihre eigene fouveraine Regie⸗
eungsüberzeugung von dem Recht und Wohl ihres befons
beren Staates als ihre hoͤch ſtes Geſetz anerkennt, wird man alsdann
über die Kolgen ber Natur der Dinge fi und Andere täufchen ?
Wird man durch ihnen miberftreitende, wohlgemeinte Worte Wunder
wirken? Wird man durch fie eine fouveraine Regierung, wenn fie das
Halten für fid) und ihren Staat verberbli oder gar ihre Eriftenz ges
fährdend hält, diefelbe zur Aufopferung diefer Eriftenz oder ihrer Macht
und Blüthe beftimmen zu innen, glauben? Wo bliebe auch die
&Souverainetät bei abfolutem Zwang zur Xheilnahme an einem Staas
tenbunde ? Da, mo das Ganze weder durch gemeinfchaftliches höheres
Pflichtgeſetz regiert, noch durch biefes und eine lebendige, wirkſame
Nationalkraft zufammengehalten wird, ba kann leicht das fouveraine,
politifche Intereſſe einzelner Staaten bie andern und den Bund für
ſich zum Mittel machen. Wenn nun ber Erdftige Schug des mahren
Gemeingeifts und bee nationalen Nepräfentation des Ganzen fehlt,
werden da nicht die Verletzten in ihrem fouverainen Staatsprincip
Hülfe fuhen? Freilich, bei dem Gericht Eönnen fie nie fo, mie im
Privatſtande bei Miteigenthums = und Societäts-Verhältniffen, ein Rechte:
urtheil auf Zheilung und Trennung der Gemeinfchaft erhalten. Wer
aber ben Gefahren einer Trennung anderer Art vorbeugen will, ber
denke nicht auf Worte, fondern auf bie Sachen und ihre entfprechenbe
Geſtaltung. Nur bie unſterbliche, gemeinfhaftliche Nationalität, die
ewige Pflicht für fie und die zur Sprache gebrachte wirkfame Natio⸗
nalgefinnung machen einen Bund wahrhaft unauflöslid und ewig.
106 | Bund.
V. Hortfegung C) Das Staatenbündnig, - bie: Als
Lance. Der rechtliche Grundcharakter diefe® blos obligationens
eehtlihen, voͤlkerrechtlichen Gefellfhaftsvertrags be=
fteht nach feinem Begriff (f. II.) darin, daß er lediglich eime obliga⸗
fionenrechtlihe Societät unter nicht einmal real befchränkten, fondern
gänzlich fouverainen Regierungen bildet. In feiner rechtlichen "Natur
ft es nun enthalten, daß er ebenfalls nicht ein einziged:der sehn
Mertmale des Bundesſtaats, und felbft nicht einmal. die des
Staatenbundes begründet. 1) Sen Zweck ift weder, fowie im
Bundesflaat, dee Staatszweck, noch auch ſo, wie im. Stans
tenbund, die allgemeine bauernde, völkerredhtlihe Si⸗
herung, fondern nur die fpeciell verfprohene, beflimmte,
gegenfeitige Leiftung. 2) Er begründet weber fo, wie der
Bundesflaat, ein fouveraines Gemeinweſen, nod aud fo,
wie der Staatenbund, eine reale Gemeinfhaft eines Inbe⸗
griffe von Außeren Souverainetätsrechten und nicht emmal, wie bie
fer, eine geſellſchaftliche DOrganifation und Gentralbehörde und eine bes
bingte und ‚befhränkte Stimmenmehrheitsentfcheidung, fondern nur
ganz freies, biplomatifhes Unterhbandeln im Namen ber
einzelnen verfhiedenen Berbünbdeten. $) Er bat feiner
Natur nad) weder, forie dee Bundesflaat, zugleich die inneren.
und die aͤußeren Berhältniffe, noch fo, wie der Staatenbund,
die Außeren, fondern beftimmte, bald auf einzelne innere, bald
auf einzelne Außere Verhaͤltniſſe fich beziehende Leiflungspflichten zum
Gegenftand. 4) Er ift weder Nationalverein, wie der Bun⸗
desſſtaat, noch begründet er, wie der Staatenbund, ein Buns
desgebiet, noch fegt er, wie ber letztere, aneinander grenzende, durch
bleibende, gemeinfchaftlihe Verhaͤltniſſe und Beduͤrfniſſe auf gegenfeiti»
ge Hülfe angewiefener Staaten voraus, fondern nur ein beftimms
tes, im völferrechtlichen Verkehr entftandenes, voruͤbergehendes Be⸗
duͤrfniß. — Ihm find natürlich auch die Merkmale 5) 6) 7) 8) und
9) des Bundesfinates fremd. Und er ift endlich iO) auch weder, wie
der Bundesftaat, abfolut unaufloͤslich, noch auch, wenigſtens
ſeine Natur nach, im Allgemeinen dauernd, fo, wie ber
Staatenbund. Somie vielmehr bei jebem Societätßvertrag , ſelbſt
wenn ſeine Worte auf immerwaͤhrende Dauer lauten, ſo koͤnnen auch
in der Alliance die völlig getrennt nebeneinanderſtehenden und pro rata .
berechtigten Geſellſchaftsgenoſſen völlig rechtlich ſtets die Societät für
die Zukunft auffagen. (S. oben Alliance.)
VI. Ein prüäfender Blid auf die-bisherigen Theorien
über Bunbdesverhältniffe. War das Bisherige eine folgerichtige
Entwidtung der richtig aufgefaßten verfchiebenen Natur der Bundes:
verhättniffe, fo bedarf es keiner ausführlidhen Prüfung und Widerle⸗
gung der früheren Zheorien über das Bundesſyſtem'). Und vollends
*) Zur Literatur dieſer wichtigen Materie gehören, naͤchſt unbe Buerieh
tungen beſonderer Bundesrochte, vorzüglich: 8. Pufendorf de systamatibus drit.;
Bund. 107
müflen mir auch bier wieder jede Erörterung ber beflrittenen be-
fonderen deutſchen Bundesverhältniffe auf den Artilel: deutfcher
Bund, verfparn. Der allgemeinfte Fehler jener früheren Theorien
ift es, daß fie die Staatenvereine nur nach unweſentlichen und zufällis
gm Verſchiedenheiten, nicht aber nach der mwefentlich verfchiedenen Nas
tur ber Rechtsverhaͤltniſſe abtheilen. Die Folge davon ift, daß fie mits
bin auch gerabe die wefentlich verfchiedenen Merkmale der verfchiedenen
Staatenvereine Äberfehen und vermifhen. So ift es 3. B. wohl ges
wiß unddtig, wenn man — um von frühern Irrthuͤmern und wes
niger bedeutenden Schriftſtellern abzufehen — mit manchen hodhvers
dienten Publiciſten, namentlich mit Klüber und Behr, das charak⸗
teriflifche Merkmal des Bundesſtaats in ein monardifches Ober:
haupt, oder auch in eine befondere organifirte Regierung fegt. Denn
wie fhon Pufendorf bemerkt, die bloße anerfannte Stimmenmehts
beitsentfcheidung begründet ſchon eine Staatögewalt, ja m einfachen
Demokratieen, welche doch wirklidhe Staaten find, die einzige. Auch
iſt Gleichheit der einzelnen Vereinsſtaaten nicht das genügend unter-
fheibende Merkmal des Stantenbundes im Gegenfag dee Bun⸗
besftaats. Die wahre verhältnißmäßige Gleichheit und, was das
Befte ift, die Sarantie derfelben gibt im Bunbdesftaat die verfafs
ſungsmaͤßig abfolut gleiche Mepräfentation aller Regierungen im
fret berathenden Senat, und die bee Seelenzahl entſprechende
in der Nationals-Repräfentation, und vor Allem die Nationalkraft. Im
Staatenbundb dagegen, waren da wohl die Heinen Staaten mit Nas
poleon, ober früher die Bundesſtaaten Roms mit Rom wirklich
gleih? Im Bundesflaat gelten hier die Sachen, im Gtaatenbunb
die Worte. — Richtig ift e8 ferner, wenn Tittmann ©. 6 und
N
in den Dissert. aoad. Upsal. 1677. pag. 1%0 und Lond. Scanor. 1765 ©. 218.
J. C. Wieland de system. civit. Lips. 1777 (aud) in Opusc. Fascic. I. 1790).
St. Croix des anciens gouvernements federatifs, Paris 1780. Meermann
eomparaison de la ligue des Achdens, des Buisses et des Provinces unies,
a ia Haye 1784. Zinserling le systöme f&derat. des Anciens mis en pa-
rallöle avec celui des Modernes, Heidelberg 1809. Zittmann, Dars
ſtellung ber Verfaffung bes beutfhen Bunbes, Leipzig 1818,
S. 6 fig. Pfizer, über dic Entwidelung des öffentl. Rechts in
Deutfhland. Stuttgart 1835. Beſonders wichtig find natürlich bie
Werke über die norbameritanifche Bundesverfaſſung, und unter biefen
vorzüglich das bekannte claffiihe Werk: der Foͤdera liſt von Hamilton,
und das neueftle Werk: J. Story Commentaries on the constitution of the
United States, Boston and Cambridge 1833. III. vol. und R. Mohl, das
Bunbesftaatsreht ber vereinigten Staaten von Norbames
rika. Stuttgart 1824. Sodann gehören hieher Baharid, über ben
gegenwärtigen polit. Zuftand der Schweiz, Deibelberg 1833,
und Zrorler, Löfung der nationalen Lebensfrage: worauf
muß die Bunbesverfaffung ber Eidgenoffenfhaft begründet
werden? Rapperswyl 1833. Beide legtgenannte en veranlaßten
die oben citirte Schrift des Verf. diefes Artikels. S. auch oben den Artikel
ahäifhe Bundesverfaffung.
108 Bund.
14, gegen Anſichten Anderer (felbft gegen bie von. Pfizer, ©:
187) bem bloßen Staatenbund eine wahre, höhere Zwangsgewalt
ganz abfpricht (f. vorhin LE, 2 u. IV, 2), Mit Unrecht aber fpricht
er auch felbft dem Bundesftaat jede Einmilhung In innere Ange⸗
legenheiten :und jede Gompetenz des Bundesgerihts in Streitigkeiten
zwiſchen Regierung und Bolt ab (IV, 2). Ebenfo unrichtig gibt. er
auch allen Staatenvereinen blos den Zweck der äußeren Sicherung.
Diefes thut auch eine der neueften geiftreichften Abhandlungen über
die Bundesverhältniffe, die von Zaharid. Aber der Bundesflaat
hat den Staatszwed, alfo mehr als bloße Sicherheit, und das bloße
Buͤndniß hat fo, wie 3.3. ein Handelsbündniß, oft einen andern
Zwed als den der Sicherung (MI, 1. IV, 1). Unrichtig und zugleich
im Widerfpruch mit feiner eigenen Behauptung: daß der Staaten:
bunb „die innere Souverainetät der Vereinsſtaaten fchlechthin unge⸗
„ſchmaͤlert laſſe“, ſtellt auch Zaharid als „unerlaßliche Forderung aus
„ber Natur des Staatenbundes“ die folgenden auf: „Webereinflimmung
„der Verfaſſungen der einzelnen Bereinsftaaten, wenigſtens in ihren
„Srundlagen (IV, 9); ferner freie Waarendurchfuhr durch alle Ber:
„einsftaaten, und dann Aufftellung einer Bundesmacht, eines Bun-
„besgerichts und einer wahren Richtergewalt und Entſcheidung aller
„Steeitigkeiten auf dem Wege Rechtens, endlich eine Beſchraͤnkung der
„Berträge der Vereinsftaaten unter einander und mit fremden. Staas
„ten, fogar bis zur allgemeinen Nothwendigkeit der Natification buch
„den Bund“ (IV, 2 u. 7). Ebenfalls unrichtig und im Widerfpruch
mit jenem beſchraͤnkten Zweck der Sicherung gibt Zaharid dem
Bundesftaat eine mit binlängliher Macht bekleidete, unbe⸗
ſchraͤnkte Stimmenmehrheitsentfcheidung, und zwar fogar über bie
inneren Verhältniffe der Vereinsftaaten (IV, 2); dadurch, ja fchon, wenn
man die Beftimmung des Bundes über bie inneren Berhältniffe als
Megel aufftellt und für fie präfumirt, hebt man ja die Selbſtſtaͤndig⸗
keit der einzelnen DVereinsftaaten auf, verwandelt fie in bloße Staats:
provinzen. Man 1öft mithin den Bundesflaat in ben einfa⸗
hen Staat auf, fo wie ihn umgekehrt Tittmann dadurd in ei-
nen bloßen Staatenbund auflöft, daß er auch ihm abfolut gar
keine Gewalt über die inneren Staatöverhältniffe einrdumt. So
laſſen alfo Zaharid und Fittmann auf verfchiedene Weife neben
dem einfachen Staat nur nody zwei Staatenvereine übrig, den Staa:
tenbunbd und das Buͤndniß. Der Bundesſtaat aber, welcher
zugleich den einfachen Staat und den Staatenbund auf höhere Meife
in fich vereinigt, wird von beiden ganz zerflört. Und doch ift diefer
gerade die höchfte und reichfte politifche Drganifation, die hoͤchſte Idee
der politifchen Verbindung großer Nationen (f. oben Th. I, ©. 49),
eine Verbindung, von welcher früher dee achaͤiſche Bund, eine
längere Zeit das deutfhe Reich, jest Amerika, fo volllommene
hiftorifhe Vorbilder geben. Freilich aus feiner Bundestheorie erklärt
es fich, daß Zacharia biefen hoͤchſten Verein als einen verkehrten, ver:
Bund. 109
derblichen Zuftand eigentlich ganz verwirft. Er erklärt ihn, „weil er den
„Vereinsſtaaten die Verwaltung ihrer inneren Angelegenheiten laſſe und
„doch befchränte, und in befien Weſen (?) es liege, daß nicht blos die
„Sefammthelt, ſondern auch jeder Wereinsftant eine bewaffnete Macht
„bilde, geradezu für eine „theoretifche und praftifche Inconfequenz, ale
„an infoctabile Regnum“, und erwähnt als Belege für diefe fons
derbare Behauptung, fonderbarer Weife, das deutſche Reich und den
deutfhen Bund. Den lesteren, welcher ſich ſelbſt einen blos voͤl⸗
kerrechtlichen Kürftenverein undeinen Staatenbund nennt,
erklärt naͤmlich Zacharid für einen Mationalverein und Bundess
ftaat, und fügt no) — man weiß nicht, ob ernfihaft — binzu, daß
er dieſes erft nach feiner urfprünglihen Gründung und vorzüglich erft
feit den karlsbader Befhlüffen und dee Schlußacte gewor«
den fei, während er umgekehrt die Schweiz, welche fich felbft für einen
Bundesftaat erfldrt und welche ein folcher ift, nach feinen uns
ficheren Eintheilungsgrinden und Merkmalen Eeinen Nationalverein und
feinen Bundesſtaat, fondern einen bloßen Staatenbund nennt.
Jene obigen Vorwürfe der Inconfequenz und Unvereinbarkeit gegen
den Bundesftaat aber könnte man umgekehrt aud) dem Staaten
bunbe machen, der ja ebenfalld den einzelnen Vereinsſtaaten Sou⸗
verainetät zugefteht und demnach fie befchränkt, und zwar ganz befons
ders nach jener obigen Theorie von Zachariaͤ ſelbſt. Ja fie träfen
am meiften jeden einfachen Rechtsſtaat, beffen rechtliches Weſen
es ja ebenfalls ift, feinen Gliedern rechtliche Freiheit zuzugeftehen und
dennoch fie zu befchränten. Bei diefem Vorwurfe gegen den Bundes⸗
flaat möchte übrigens die Urfache bed Fehlers wohl in einem andern
Sehler zu ſuchen fein, naͤmlich ebenfalld in der Annahme einer uns
befhräntten, abfoluten Bundes- und Staatsgemwalt, wegen wel⸗
cher derfelbe berühmte Verfaſſer aud in feinem Werke über den Staat
alle rechtliche Begründung des Staats durch Vertrag darum für un⸗
moͤglich erklaͤrte: „weil jeder Vertrag, worin man gänzlich (!) feine
„Setbftfländigkeit aufgebe, wefentlidy nichtig fei.” Allein folche Unbes
fhränttheit einer rechtlichen Gewalt von Menfchen ift in diefem bedings
ten und befchränkten menfchlihen Leben ſchon für die unvollkommene
menfchliche Staatsgewalt durchaus nicht begründet, um wie viel wenis
ger alfo für die Bundesgemwalt im freien Staatenverein. Man muß
nicht die abfolute höchfte Idee mit den befhräntten menfdhs
lichen Organen für fie nerwechfeln. Mögliche Collifionen und Schwies
rigkeiten, die aus ber allfeitigen vechtlichen Sreiheit der Regierten ent:
ftehen können, im einfahen Staat, 3. B. zwiſchen dem MRegenten und
den Bürgern und Ständen, und felbft die Schwierigkeiten der Ent:
fheidung dieſer Collifionen (3. B. über einen abfoluten :- Widerftreit
zwifhen Parlament und König, über Revolutionen, über etwaige, vom
Parlament felbft nicht abänderliche Urverfaffungsrechte) heben den menſch⸗
lichen vernünftigen Staat nicht auf, alfo auch nicht den Bundesftaat.
Diefer bietet ſogar noch reichere Auskunfts⸗ und Berföhnungsmittel
110 Bmb.
dar, als ber einfache Staat. Einen neuen Wiberſpruch begründet
übrigene Zachariaͤ für den Bundesſtaat, für feine angebliche Unbe-
ſchraͤnktheit und deſſen wirkliche, abfolute Unaufloͤslichkeit dadurch, daß
er mit Unrecht auch bier den Widerſpruch der einzelnen Bundesſtaaten
(die ratio prohibentis) in Bunbdesangelegenheiten für entfcheidend er-
Plärt (f. dagegen oben III, 2). '
Auch der erwähnten genialen Schrift von Pfizer müflen wi
vormwerfen, daß fie alle wefentlidhen oder generifchen Unterichlede
zwifhen Staatenbund und Bundesflaat, bie der rechtlichen Nas
tur, dee Zwecke ber Grundbedingungen und der Gewalt von beiben,
verwifcht und aufgibt. Zwar fol nah &. 42 der Staatenbunb
nur rein voͤlkerrechtliche Sicherung begründen, und fogar ein voͤl⸗
lig freie Belieben für die einzelnen Bundesglieder, jeden Augenblid ben
Bund aufzugeben. Damit im Widerſpruch aber, foll (nad &. 95 u.
166 ff.) der Staatenbund mit dem Bunbesftaat und mit dem
Staate felbft „ganz benfelben gemeinfhaftlihen Haupts
„zweck der inneren und aͤußeren (alfo auch ftantsrechtlihen) Sicher⸗
y beit, und eben deshalb auch gleiche rechtlihe Gewalt und Mittel zur
„Erreichung bes gemeinfchaftlihen Zwecks“ haben. Es fol alfo auch
im Staatenbund, der eine „ftantenartige Bereinigung fei”, eine wahre
fouveraine Regierungs⸗, Gefesgebungs :, Vollziehungs⸗ und Richter⸗,
ja Strafgewalt über den einzelnen Bundesregierungen ſtehen; es Toll
abfolute Stimmenmehrheitögewalt in allen gemeinfchaftlichen Angelegens
heiten und für den Bundeszweck gelten, und die einzelne fouveraine
Megierung ihre rechtliche Meberzeugung von entgegenftehendem Recht und
von dem Wohl ihres Staats mit Gehorfams » und Aufopferungspflicht
gegen das Ganze, der Stimmenmehrheit unterordnen müflen. Nur
bie relativ größere Ausdehnung der Gewalt des Bundesſtaats
auf mehrere Begenftände foll diefen von dem Staatenbund uns
terſcheiden. Weil aber diefer Unterfchied durchaus relativ, ſchwankend
und gar Fein Sattungsunterfchied ift, fo müßte man hiernach folgerichs
tig eine ſolche Unterfcheidung von Bundesflaat und Staatens
bund fallen laffen, und nur die flaaterechtlichen Bundesvereine und
das bloße völkerrechtliche Buͤndniß gegenüberftellen. Die bisherige Aus⸗
führung III und IV und V aber hat e8 wohl Ear gemacht, daß ſo⸗
wohl nach der Natur der Mechtsverhättnifie, als nad) ihrer Geſchichte
aud) der Stantenbund von dem Bunbesftaat fi. wahrhaft
weſentlich unterfcheide. Und wie — wir müffen es wiederholen —
wie, mit welchem Recht, mit welcher Logik und mit welcher Gewalt will
man denn fouveraine Regierungen zum Grgentheile von allem dem bes
flimmen, was fie wollten und erflärten, zum abfoluten logifchen Wi:
derfpruche mit ſich ſelbſt, — ſolche namentlih, melde zwar für ein
blos völkerrechtliches Schuß = und Trugbündnig eine Summe duferer
Hoheitsrechte gemeinfchaftlih ausüben wollten, babei aber bie uns
verlegte Bewahrung ihrer Souverainetät als Grundgefeg, als Grund⸗
Bedingung, als erſten Vereinszweck erklaͤrten? Gouverain wollen fie
Band. 111
ſein und bleiben, und zu gehorfamspfliätigen Abhaͤngigen
wil man fie machen, Einem höheren fouverainen ſtaatsrecht⸗
liden Gemeinweſen, bas fie nicht anerkennen, ‚fie und ihre ſou⸗
verainen Staaten, bern Recht und Wohl, unterthänig unterorbnen,
vielleicht aufopfeen! Einen voͤlke rrechtlichen Berein gleicher Ge⸗
ſellſchaftsgenoſſen wollten fie bilden: und nun follm fie kKaatsredts
lich undunter einer fouverainen Staatsg e walt oder Stimmen:
mehrheitsentfheibung über die umfaffendften, gefellfchaftlichen
Angelegenheiten zu einem Staat vereinigt fein, umb zwar zu einer
Republik, wie Pfizer mit ungerechtem Zabel über den Ausfchluß
ber Stimmenmehrheit jedem Staatenbund nennt: Was ift benn
anders das Wefen eined Staats, als fouveraine Gewalt für
den Geſellſchaftszweck, ale wahre höchite Gefepgebungs s, Vollziehungs⸗
und Nichtergewalt, gleicdyviel für den Begriff, ob fie etwas mehr oder
weniger ausgedehnt ift, ob fie durch eine unbedingt .demefratifche
Stimmenmehrheit, oder wie fonft, gehandhabt wird? Worauf will man
denn nun biefe nicht gewollte, fouveraine Staatsgewalt und die Abs
bängigkeit von Souverainen begründen? Etwa darauf, daß der Zweck
fo beffer erreicht werde? Aber auf dieſe Weife koͤnnte man auch aus
bloßen Bölkerbündniffen eine ſouveraine Staatsgewalt über den Allür-
ten deduciren. Oder foll etwa jener beliebige freie Austritt aus dem
Staatenbund die Souverainetdt der Bundesglieder retten? Aber das
waͤre hoͤchſtens ein Mittel, fie wieder zu erlangen; während ber
Dauer des Bundes wäre fie jedenfalld verloren. . -
Weit verkehrter ift ed aber, wenn andere Theoretiker fich tiber
innere Widerfprüche geradezu damit tröften, dag man Mifhungen zwi⸗
ſchen Staatenbund und Bundesftaat, zwifchen fnatsrechtlicher und voͤl⸗
Ferrechtlicher Natur rechtfertigen könne. Nichts aber zeigt mehr den
Mangel tiefere und gründlicher Einfiht in die Natur diefer völfer- und
flaatsrechtlichen Verhältniffe und in ihre Wiffenfchaft, ald dieſes. Was
würde mohl einer der claffifchen römifchen Juriſten und Staatsmaͤn⸗
ner von ber Pfufcherei deſſen geurtheilt haben, der von einem beſtimm⸗
ten Rechtsverhaͤltniß zwifchen zwei Leuten ausgefagt bätte: es fei ein
Statusrecht, und auch kein Statusrecht ; ein Dingliches oder perſoͤnliches
Recht, und auch nicht dinglich, nicht perfönlihz; oder es fei halb
Statusrecht, Halb Eigenthum, halb Obligation ? Laͤßt fich denn audy
generifch Verſchiedenes, juriflifh und logiſch MWiderfprechendes in
demfelben Einen Redjtöverhältniß vereinigen? Alſo etwa eine
wirkliche, völkerrechtliche Societät freier, ja fouverainer Socien und ihre
wirkliche Staatsverbindung ; ihre volle perfönlicdye Souverainetät und
ihre Unterthanfchaft unter fouverainer Gefesgebung und Zwangs⸗ und
Strafgewalt; eine nationale und ſtaatsrechtliche Staatsverbindung einer
freien Nation, und doch -Ausfchluß der Nation und der Bürger von
aller Theilnahme und allem wahren Bürgerrecht, vielleicht felbft von
dee Meinungsäußerung in dieſem Vereine, der ihre Rechte und Pflich⸗
ten, ihre Schickſale und ihre Orunbverträge befimmen und verändern
112 Bunb.
mit Wie mag man boch folhe wirklich verberblihe Theorien vers
breiten wollen? Gibt es denn Feine Vernunft, keinen Zrieb nady Con⸗
feguenz und Harmonie in den Völkern und in den Dingen, wodurch
wahrhaft fich felbft widerfprechende, die gefunden Rechtsbegriffe um»
fehrende und beleidigende Einrichtungen, Mißachtung, Kraftlofigkeit
und Auflöfung entfteht, oder wenigſtens innerer, tevolutionairer Streit
und Kampf bie: zur Zilgung des Widerſtreits, durch Ausflogung bee
einen widerfprechenden Hauptfeite? Könnten wohl vollends nach fol
her Theorie geformte Bundeseinrichtungen ihr widernatürlicd zufammens
geſetztes Dafein dauernd behaupten? Könnten fie ihren ſchweren Zweck
der Erhaltung und Sicherung aller Heinen und großen Bundrsglieder,
ihree Befonderheit und ihrer feiten Vereinigung zur Vertheidigung in
der Gefahr erfüllen? Kür die ruhigen gefahrlofen Verhaͤltniſſe und
Zeiten bebarf’s Feines Bundes. Schlägt aber durch diefe oder jene,
innere ober aͤußere Bewegung die Stunde ber Gefahr, nun dann wehe
denen, die fih auf Innerlid Franke Inſtitute verließen, von ihnen,
welche vielleicht die erfte bedeutende Grife, der erfte Kanonendonner lähmt
oder aufiöft, ihr Heil erwarteten, und fo andere Hülfe, namentlich ins
nere Kräftigung, vernadhläffigten !
Es ift nicht die Abfiht dDiefer ganz allgemeinen Bes
trahtung, weder die Schwierigkeiten eines bloßen Staatenbuns
des, noch bie des Bundes ſtaats abzuleugnen, und einen oder den
andern abfolut und allgemein zu vermwerfen, oder auch für dieſe ober
jene Nation rechtlich und politifhy zu begründen. Nur ergreife man
— wo es aud) fii — den einen .oder ben andern jedesmal
ganz und rein und confequent!
Bedenklihe Seiten allerdings hat zwar der reine Staatenbund.
Statt eines gemeinfchaftlichen, lebendigen Nationalgeiſtes und höheren
Pflichtengefeges , ftatt des Gemeingeifted eines wirklichen, lebendigen Ges
meinwefens wird bier leicht, felbft über den wefentlichften Bundeszwed,
dad fouveraine politifche Sonder s und Eingelintereffe fiegen.. Statt
daß jene erfteren die Schwerkraft und das Gefes der Vereinigung bil⸗
den, kann es nun leicht die überwiegende Macht ber größeren Bun⸗
desſtaaten thun. Statt daß im nationalen Bundesflant bie Kleinen
und die großen Staaten ſich gegenfeitig ausgleihen in der Mationals
veprdfentation und durch die nationale Kraft des nationalen zur Sprache
getommenen Gemeingeifts, und in patriotifcher Theilnahme an der Ehre,
der Freiheit und dem Wohl des gemeinfamen Vaterlandes, für ihre
Opfer von Souverainetätsrechten reichliche Entfchädigung finden, koͤn⸗
nen im Staatenbunde oft der Zweck und das Recht und ber Beſtand
des Ganzen durch die unvolltommene Verbindung gefährbet werben.
Leicht können befonders die Zleineren Staaten, fo wie Roms. oder
Napoleons Bundesgenoſſen, trog ungleich größerer Opfer ihrer:
Souverainetät und ihrer Ehre, als ein nationaler Bundesſtaat je ger
fordert hätte, huͤlflos und von der Nationalkraft verlaffen, der befons
dern Politik ober Laune der größern anbeimfallen, vollends, wo biefe
Bund, . 113
dem Bund völlig fremde Intereſſen und Kräfte haben. Und faft noch
im beften Falle kann der Mangel wahrer Unterordnung wenigſtens von
Einzelnen unter die Stimmenmehrheit, die Bunbesthätigkeit lähmen,
und die Kraft und bie Einheit und bie Dauer des Bundes gefährden.
Befonders mißlich könnte eine Schwächung der eigentlichen innern Le⸗
benskraft ber patriotifchen Liebe der Bürger und ihrer glücklichen feſten
Bereinigung mit ber eigenen Regierung werben. Ohne beſonders guͤn⸗
flige Verhästniffe könnten vielleicht ihre Sreiheitöinterefien in einem
bloßen Regierungs⸗ und Diplomatencongreß öfter Gegner oder body
parteliſche Richter in eigener Sache und in ber Verbindung mit frems
Den Regierungen verboppelte Gefahr finden, während im Bundes:
ſtaat die NRationallraft und ber Nationalgeift fchon von felbit bie
Schutzwehr ber Bürger bildet und auch die hoͤchſte Bundesregierung,
. fo wie einft dee deutſche Kaiſer, dabei weſentlich intereſſirt ift,
fie gegen die Willlür ber Einzelregierungen zu befchügen, und ſich die
Nationalkraft zu verbinden. Denn im Bunbesflaat iſt legtere eine
Legitime Macht, Im Staatenbund nicht, vielmehr oft ignorirt ober
unbequem, vielleicht angefeindet. Fuͤr den Kal der Noth denkt man
eft bie entichlafene jederzeit beliebig wieder ermeden zu können.
Aber bei dieſem Allen ift es keine leihte Sache, einen
Bunbdesflaat zu gründen, auch felbft dann noch nicht, wenn man den»
ſelben fo, mie die nordamerikaniſchen Publiciſten, nad, den guten Er⸗
fahrungen von bemfelben und nad) der früheren fhlechten von dem
Staatenbund, nod fo fehr für die „Bedingung aller Freiheit und
„HOrednung, alles dauernden Wohls und Rechtszuſtandes einer großen
„Mation” halten möchte. Es bleibt ſchwer, felbft wenn audy die ganze
öffentliche Meinung ſchon darüber entſchieden wäre, daß er am beiten
bie erfte und legte Aufgabe aller Staatsvereinigung einer. Nation Löfe,
naͤmlich bie möglichfte Freiheit mit der Einheit dauernd zu verbinden,
dieſes Grundgefeg der Staaten, welches eigentlich mit dem der Schoͤ⸗
pfung oder dem „der Harmonie in der Mannigfaltigkeit"
zufammenfällt. Freilich alsdann, in ſolchen gluͤcklichen Momenten, wird
es leichter fein, einen tüchtigen, nationalen Bundesflaat zu gründen,
wenn dad Bedürfnig beffelben, wenn die Gefahren feines Mangels und
die des Staatenbundes fo allgemein und lebendig gefühlt werden, wie
1787 in Nordamerika, wie vor einiger Zeit vielleicht in dee Schweiz,
fo endlich, wie vielleicht in Deutfchland, unmittelbar nach ben fucdhts
. baren Unfällen für’ die etliche dreißig große und Beine Staaten, die von
mehr als breihundert fich allein glücklich gerettet fahen, nach Unfällen,
die für die Regierungen, wie für die Bürger gerabe nur durch die
Lähmung und Unterdrüdung ber Nationalverfaffung und bes National
geiftes entflanden, und nach ber glorreihen Rettung und Befreiung
gerade durch die wiebererwachte Nationalgefinnung, und durch den blos
Ben Glauben an die verheißene Wiederherftellung einer freien Nationals
verfaffung. (S. Bluͤcher.) Unter folchen oder ähnlichen Umftänden
allerdings kann vielleicht einer Nation diefe ſchwierigſte aller poli⸗
Staats⸗ Lexiton. IIl. 8
114 Bund.
tifhen Schöpfungen gelingen, fofern nicht etwa zuvor noch Brößere®
Unglüd möthig ft, um alle befondern Staaten praktiſch genügend zu
überzeugen, daß ohne fortdauerndes möglichft kraͤftiges Wirken ber Nds
tionalkraft die Bleinern gegen die Uebermacht ſowohl ber größeren wie
der Fremden, bie größeren aber gegen die Fremden und deren freie oder
erzwungene Verbindung mit den kleineren — fie alle aber gegen die "
Folgen der Verlegung ber tieffien und ſtaͤrkſten Nationafgefühle und
Bebuͤrfniſſe nicht genuͤgend gefichert feien. Gluͤcklich alsdann, wenn
dieſe Weberzeugung nicht zu ſpaͤt kommt, fo mie einft vor dem un⸗
elädlihen Untergange Griechenlands! (Th. J, S. 196.) Ueber
haupt endlih mag jene Schöpfung gelingen, wenn durch irgend gluͤck⸗
liche Umftände zugleich die Bürger und die Reglerungen mehr, als
man im Durchſchnitt menfchlicherweife zu erwarten berechtigt if, vom
Gefühle nationaler Einheit und von ber heiligen Pflicht gegen bad ge
meinfchaftliche Vaterland ergriffen und höherer Weisheit zugänglich find.
Sucht nun aber eine Nation in ſolchen Lagen nicht in dee locke⸗
ren Verbindung eines völkerrechtlihen Staatenbundes, fonbern im Buns
besftaat und in der mwirkfamen und einigen Nationalkraft und in ber
Erfüllung der Nationalpflihten gegen bad gemeinfame Vaterland - bie
Verbuͤrgung von Ehre und Wohl, nun alsdann muß man au treu
und folgerichtig bie wefentlihen Forderungen de8 Bundes
ftaats erfüllen.
Sind dagegen die Bedingungen eines Bundesſtaats entweder
überhaupt nicht, ober doch jest noch nicht vorhanden, oder auch als⸗
dann vielleicht, wenn man etwa in befpotifchen und fflavifchen Zeitals
tern und Nationen aud bei einer Zerfplitterung bes Volks in viele
Staaten Liebe und Achtung der Bürger für ihren vaterländifchen Zus
fand entbehren, Freiheit und Recht und Ehre der Nation gefahrlos
hintanſetzen koͤnnte, alddann wirb die Rede nicht fein vom Bundes
ſtaat. Gtaatenbändniffe oder ein Staatenbund werben
feine Stelle einnehmen. Erwaͤhlt man nun aber ben letzteren, ſo muß
man alsdann ebenfalld wenigftene feiner Natur getreu bleiben. Durch
Einmifchung bee Verhäitniffe des Bundesftaats in benfelben ers
reicht man ber Regel nad) keinen einzigen Vortheil bes letzteren, uns
tergräbt aber zugleich nach dem Bisherigen bucch die Unnatur folcher
Vermiſchung und ben Widerſtreit der Kräfte und Intereſſen bei der
felben bie voͤlkerrechtliche Sicherung und den Beſtand auch de8 Staa:
tenbundes; vielfeicht um fo mehr, je weniger wirklich die Nation
fhon tief gefunten iſt. Namentlich bürfen weder die mächtigern, noch
die fchwächern Bunbesglieber glauben, da, wo einmal die Mationals
kraft und Mationalgefinnung einer wirklichen Träftigen Bundes:
ſta at s⸗Verfaſſung und die Organe für biefelbe, die Kräftigung und
Sicherung durch biefelbe fühlen, etwa ihre eigene &icherheit und den
Bund verflärden zu können, durch Eingriffe in bie Souveralnetät der
Vereinsftaaten. ine nächte Folge davon koͤnnte fein, daß dadurch
die kleineren, bald nur noch ſcheindar fouverainen Regierungen, fammt
Bund. 115
ihren Bürgern ben maͤchtigern und ihren Intereſſen huͤlflos preisgeges
ben würden. &o erlag alle Freiheit ber übrigen griehifhen Stans
ten zuerſt unter atheniſcher, dann unter ſpartaniſcher, zuletzt
anter macedoniſcher Oberherrfchaft, fo bie phoͤniziſchen Städte
in Aſien der Herifhaft von Tyrus, die ber afrikaniſchen der Herr⸗
(haft von Carthago, die der lateiniſchen und fo vieler andern
zömifhen Bundesftaaten ber Herrfhhaft von Rom. Aber mit ber
Vernichtung dee Nationalfreiheit und Kraft, und durch den uns
natürlichen Zuftand der Unterdruͤckung, häufig auch durch die Verbin⸗
dung ber Fremden mit den Heinern Bundesſtaaten, wurden in alten
und neuen Zeiten auch die mächtigern und herrſchenden Bunbesglieder
gefährdet. Schon Athen und Sparta, Macedonien, Tyrus,
Carthago und Rom erlagen ja balb nah fo großen fcheinbaren
Machterweiterungen ben Schlägen ber Fremden und dem Verderb im .
innen. Was insbefondere Kraft und Stimmung, Freihelt und Wohl
ber in viele Staaten getheilten Nationen betrifft, fo iſt auch in Bes
ziehung auf fie, bei dem Mangel einer wahren Eräftigen Bundesſtaats⸗
verfaffung und Nationalreprdfentation, der Regel nad) ficher das ein»
zige Heil nur in firenger Wahrung der Natur, der Folgen und Gren⸗
zen des Staatenbundes, vor Allem alfo auch der innern Souverainetät
und Freiheit der Vereinsſtaaten. Diefe Freiheit und freie befondere
Entwicklung nad) befondern Bebürfniffen und Neigungen, fodann ihr
allgemeiner freier Wetteifer, fowie Liebe unb patriotifcher Stolz
wenigſtens für die befondeen Landesverfaffungen und Regierungen, wer⸗
den alsdann doch einigermaßen die Vortheile des Bundesſtaats, feiner
Einheit und vereinigten Kraftentwidlung erſehen. Vollends aber find
alle die Gefahren und Nachtheile ausgefchloffen, bie für einzelne Mes
gierungen, wie für den Bundesverein entſtehen koͤnnten, auch nur durch
den fo leicht ſich erzeugenden Gedanken, kleinere Staaten müßten nicht.
etwa ber Nationalehre und Sicherheit, fondern der Uebermacht und bem
befonbeen Vortheil einzelner Mitflaaten, fih und ihre theuerften Rechte
aufgeopfert fehen. Kurz es find alsdann überhaupt jene ſchon berührs
ten größten Gefahren befeitigt, welche entftehen würden durch alle jene
obigen Miderfprühe und Unmahrheiten jener Mifchungstheorie, die
Widerfprüche naͤmlich von einem nationalen Gemeinwefen und Bürgers
recht mit Ausſchluß der Nation und ber Bürger, von fouverainen
Staaten und Bürgern, bie es nicht find, von Rechtsgleichheit bei hoͤch⸗
ſter Ungleichheit, von Rechts⸗ und Freiheitsſchutz, der nur Rechte und
Freiheiten vernichtet, von Sicherung, bie nicht fichert, von Unaufidsbars
keit ohne Zufammenhaltbarkeit, von legitimen, durch die öffentliche Treue
verbärgten Forderungen, denen ihre Befriedigung entſteht. Nichts iſt
anf bie Dauer ſchwaͤcher und verderblicher, als Unnatur und Unmahrs
heit. Und was nicht ganz und folgerichtig, das Hi, was es fen foll
und fein will, das kann weder Liebe, Vertrauen unb Frieden im In⸗
nern, noch Kraft und Achtung nady Außen dauernd begründen,
116 Bund. Bund Gottes.
VI Schluß. Doch genug wohl der Beweiſe ſelbſt aus ben
Theorien ber erften Publiciſten, Daß in der Lehre von den Staatenver⸗
einen noch viele falfche und verworrene Begriffe herrſchen! Diefes mag
nun allerdings das Urtheil über etwaige Verſtoͤße im Leben ſehr mil:
dern. Gleichguͤltig jedoch wird alle diefe Irrthuͤmer Niemand halten,
ber die unermeßliche Wichtigkeit dee Bundesverhättniffe richtig wuͤrdigt
unb ber es weiß, daß falfche und verworrene Begriffe im Wiffen auch
eine falfhe und vermorrene Anmwenbung erzeugen, der ed emblich in
ber Gefchichte beobachtete, daß einerfeitd innere Widerſpruͤche zur Kraft:
tofigkeit oder zur Anarchie und Auflöfung führen, und baß anderer:
feit8 in demjenigen, mas einmal im Leben Wurzel faßte, aud wenn
es an ſich falſch und verkehrt, ein wahres Unkraut ift, eine Kraft der
natürlichen Affimilation und Confequenz Jiegt, die leicht zulegt auch.
das Beſſere ſich nachzieht und übermältig.. Weichen aber felbft im
einfahen Staate fhon der Zwang und die Furcht und eine Außerliche
Unterdrüdung mißbeliebiger Richtungen nimmermehr aus, um wie viel
mehr muß biefes von dem viel fchwierigern und zufammengefegtern
Bunbesverein einer Nation gelten! um wie viel mehr muß man bier
duch die innere Kolgerichtigkeit und Güte der Einrichtungen, und
durdy die freie Achtung und Liebe aller Glieder dem Ganzen Harmonie
und Kraft im Frieden, den Sieg in ber Gefahr zu verbürgen fixeben!
C. Th. Welder.
Bund, deutſcher, rheiniſcher, Bundestag, Bun—
desfeſtungen u. ſ. w. — ſ. deutſcher Bund und Rhein-
bund, auch Deutſchland.
Bund Gottes — mit Abraham und unter Moſe
mit dem ganzen althebraͤiſchen Volk, um ſich von ihm
zum Nationalkoͤnig waͤhlen zu laſſen. Wir betrachten dieſe
uralte Ueberlieferung aus der Moſaiſchen Religionsgeſchichte aus dem
ſtaatswiſſenſchaftlichen Geſichtspunkt, welchem das althebraͤiſch-Geſchicht⸗
liche eben ſo wenig fremd bleiben darf, als das griechiſch⸗ oder roͤmiſch⸗
Claſſiſche. Nicht ſelten iſt gegen die Behauptung, daß jeder Staats⸗
verein auf einem ſtillſchweigend und factiſch anerkannten Vertrag, auf
Bedingungen beruhe, welche Menſchen gegen Menſchen nothwendig vorz.
ausſetzen muͤßten, die Einwendung gemacht worden, wie wenn
nad der Geſchichte nie ein Staat auf dieſem Wege ent:
ftanden wäre Vergeſſen denn aber die, welche fo feſt nur auf
hiftorifchem Boden zu ſtehen ſich rühmen,, gerade die ditefte, in vielen
Ruͤckſichten heilige Gefchichtüberlieferung? Jenes biblifche Alterthum
fegte unftreitig voraus, daß felne heilige Gottheit gerade das wolle und
thue, was die Menfchen, wenn fie das Rechte wollen, thun follten.
An diefem Sinn allein konnte das Alterthum gewiß fein, baß der von
Abraham und feinen Nachkommen geglaubte „gerechte, höchfte Gott” mit
den zu feinem Bilde gefchaffenen, freiwollenden Menſchen nicht nach ſei⸗
ner Uebermacht und Gewalt, fondern fo, mie es eines Freiwollenden ges
gen Freiwollende wuͤrdig ifl, durch Vertrag oder Buͤndniß, ſich in Ver⸗
Bund Gottes. 117
bindung ſetze. Iſt auch gleich der Pentateuch (mie neuerlichft ber treff-
liche Beleuchter des indiſchen Alterthums, Prof. von Bohlen zu Koͤ⸗
nigeberg, in der Einleitung zu feinem Werk über bie Genefis —
Königsb. 1835, in 8. — mit neum Gründen durchgeführt hat) hoͤchſt⸗
wahrſcheinlich fpät unter (den Königen Joſaphat und) Joſia von Prieftern
gefammelt und oͤffentlich promulgirt werden, fo ift doch keine Wahrfchein:
lichkeit, daß erft fpätere Priefter, nachdem das Volk lange ſchon unter erb⸗
lichen Königen und zum Theil Defpoten gelebt hatte, eine Erzählung, wie
Jehovah ſich den zwoͤlf Volksftämmen durch Mofe zum Wahlkönig habe
anbieten laffen, aus ihrer Zeit in die aͤlteſten Nationalepochen zurüdgetras
gen haben könnten. Hoͤchſtwahrſcheinlich muß es vielmehr vordavidi⸗
ſche, gefchichtliche Ueberlieferung geweſen fein, daß der Volksretter und Ge⸗
feggeber Mofe nur diefe Weife, die 12 Nomadenhorben ale Eine Nation
unter ihrem lange zuvor, als hoͤchſter Weltgott anerlannten, Jehovah
willig, vertragsmäßtg und dur förmlihe Wahl zu verei—
nigen, für gotteswürdig und menfchlidyverbindlich angefehen und baher
für feine an dußere Freiheit gewöhnteren Beduinen und ihre Stammemirs
wirklich zu Bildung des althebräifhen Staatsvereins angewendet habe.
Bon diefer Seite her verdient alfo ohne Zweifel jener theofratifche
Bund zwifhen einem an ſich übermächtigen, aber body gerechten Regen-
ten und dem als freimählend anerkannten Volke ſtaatswiſſenſchaftlich in's
Auge gefaßt zu werden. Was das fromme Alterthbum als getteswürdig
geachtet hat, zeigt fi hierduch auf Hiflorifhem Boden. Auch
kann wohl der mädhtigfte Menſch unter uns nicht leicht behaupten, daß
eben das unter feiner Würde fei, mad wir in unſerer Bibel als gettes-
wuͤrdig überliefert finden. |
Bei allen Uebereinkünften ber Menſchen, mögen fie mehr erzwungen
oder mehr freigemwollt fein, ift als Präliminarartitel die ſtillſchweigend
geltende Bedingung unerläßlich vorauszufegen, daß fie nihts, was
den Menfhen an der Anwendung feiner Kräfte zum
Moͤglichguten bindere, enthalten bürfen, vielmehr jene Kraft:
anwendung, den Umftänden gemäß, fördern folen. Was in der Men:
ſchennatur der Paciscirenden zum Boraus als Pflicht gegründet ift,
das gilt bet allen Verbindungen ale ſchon beftehende Verhältniß-
befiimmung, d. i. als nothwenbdiger Vertrag. Tritt dere
Menſch zum Menfchen in ein Verhäftnif, fo hat Jeder vom Andern vors
auszufegen, daß derfelbe als Menfc die einfache Einficht (werin auch nicht
ben Willen) habe: Ich foll den Mitmenfchen im Bewirken des Mögliche
guten nicht hindern, vielmehr foͤrbern! Und ebendied habe ich ihm zuzu⸗
muthen. Wenn er mit Gewalt oder Kift das Gegentheil bei mir hervor:
rl verſucht, habe ic) die Pflicht und das Recht, ihm zu wider
ehen! — u
Dies ift fo fehr in der Menfchennatur gegründet, daß ſelbſt bie alt-
hebräifhen Nomaden, fobald fie ihren Gott als einen rechtwoͤllenden (Ge:
nef. 18, 15. 14, 22.) dachten, offenbar annahmen, daß er, wenn er gleich
als der Uebermächtige ſich mit ihnen nicht über bie Schubbedingungen in
+18 ' Bund Gotted.
ein Untechanbeln einlaffe, bennody mit ihnen in einen „Bunb”, bas
beißt, in einen Staatsvertrag diefer Art trete. Diefer war zwar,
wenn wir es nach unferer Weife ausbrüäden, ein octroyirter. Gott
war in Abrahams zum Hoͤchſtguten ſich erhebendem Gemüth (im Denken
und Wollen bes Gottandaͤchtigen, das ift, im heiligen Geifte) wie ein Uns
abhängiger, da® echte Wiſſender, welcher nicht nach Verabredungen,
fondern einfeitig angebe oder offenbar mache, wie Er fei und wie fie fein
follten, wenn fie auf ihn als Leiter und Schußgott rechnen wollten.
Aber weil dieſe unverborbenen Naturmenſchen ſich in Gott gerade das,
was richtig und recht fei, als wirklich dachten, fo verftand es ſich für fie
von felbft, dag er mit ihnen nicht zwangsweiſe, fondern buch Bund
obere Vertrag in das Schutzverhaͤltniß trete, und daß biefem Paote
social bie — ſtillſchweigend fo gut, wie lautbar — gültige Bebingung zum
Grund liege: Euer Zuftand foll, dag Ihr das Möglichgute thun koͤnnet,
zum Zweck haben! Denn mas hatten die Worte: „Wandle vor mir unb
fei tamim = ein vollftändig gut Gewordener!“ (Gen. 17, 1), im ſchllch⸗
ten, edeln Raturfins, in jenem AbrahamesCharakter Anderes zu bedeuten 7
Achten wir nody genauer auf das, was, nach dem Erfolg zu urtheis
(en, bort im menfchlichen Bermußtfein vorausgegangen fein muß, auch ehe
es in beſtimmte Worte und Kormeln gefaßt werben konnte. ’ Jeder
Menſch weiß ſich in feinem Innerſten, als wollend, freithätig. Das,
was er nach Erfahrungen oder durch Schlüffe ald recht und gut, oder als
böfe denkend ſich vorſtellt, kann ihn aufregen, bewegen, fogar nöthigen,
aber nicht zwingen. Er kann gegen bas Sültigfte und Anerkauntefte
gegen die VBernunfteinficht, was um ber Vervollkommnung willen fein
oder werden follte, und gegen die Berftandeseinficht Über die Mittel
und Wege, dennoch fein dictatorifches Wollen fegen: „Ich will aber nicht,
daß es mir gelte!” Erſt durch das entgegengefeste: Sch will, daß das
Richtiggedachte auch mir als bleibende Vorſchrift gelte, wird die Einficht
für den Wollenden innerlich beftimmend.
Mod, vielmehr ift er frei und ungehemmt-willensthätig, wenn er ſich
sum Einesfein in ſich ſelbſt erhoben und zur Norm gemacht hat: Ach
mil zum Voraus und ohne alle andere Motive, dag, mas ich denkend
als das Rechte, welches gelten Tollte, anerfenne, jedesmal fogleich
auch Mir, dem Wollenden, für meine ganze weiterfolgende Willensthäs
tigkeit wirklich geltel — Dies möchte da6 Apriorifche des Wollen
gu nennen fein. Es iſt das im Geiſte vollendete Rehtwollen,
der Grundſatz ber „Ueberzeugungstreue”.
An einem fo Präftig vechtfinnigen und uneigennügigen Gemüth nun,
wie es in Abraham mehr als in irgend einer andern altteflamentlichen
Perſon gefchilbert tft, und daher ſchwerlich etwas Ins Fruͤhere blos Zuruͤck⸗
getragenes und gleihfam nur Romantifches fein kann, vielmehr als origis
nell erſcheint, mar dieſes Bewußtſein bes Freiwollenkoͤnnens unb das
Würbegefüht des Rechtwollens unfehlbar ſehr lebhaft, ohne dag ex es in
kuͤnſtliche Worte zu faffen vermochte, Man benkt, will und empfindet,
ehe man pafleade Wortztichen dafür. hat, Des unter Wielgöttern gehorxn⸗
Bund Gottes, 119
Abraham konnte (nad) Joſua 24, 2. 3.) vermöge feines erhabenern Cha⸗
ralters, andere, als ſinnlich wollend geſchilderte Goͤtter nicht länger, er
will nur Einen über Alles vechtwollenden, als feinen Elohlm ,Hoch⸗
verebrlichen”, hochachten. Eben deswegen ift es ihm auch, ohne baß er
fich einer förmlichen, kuͤnſtlichen Schlußfolgerung wörtlich bewußt iſt, nicht
anders denkbar, als daß fein rehtwollenber Gott auch Ihn als
freimwollend für das Rechte wolle, und daß alfo berfelbe fein
fchügendes Wohlwollen nicht an Bedingungen eines beliebigen Machtge⸗
bots binde, fondern ald Bund oder Vertrag, und zwar unter einer
Bedingung anbiete, die jeder Menſch von dem andern zu forbern und je⸗
der dem andern zu gewähren ſtillſchweigend in ſich felbft verpflichtet ſei.
Abrahams treubefefligte Ueberzeugung (Aemunah) iſt: „Mein Bott will
nur meine freie, aber unbedingte Dingebung in das, mas Er, der Recht⸗
wollende, für das Rechtwollen entiweder durchaus (abfolut) nöthig, ober
nach Umftänden (relativ) förderlich wollen kann.”
. So [hin und edelmüthig zeigt ſich in jener patrlardyalifchen Mer
Ugiofität das in jenen freier waltenden Nomaden lebendige Bewußt⸗
fein, daß der Menfch freimollend für alles Gute, Rechte, Vollkommene
fein folle, daß jeder andere Menſch eben biefes Bewußtſein in ſich
Habe, daß, wenn zwei ober mehrere in eine Unterordnung gegen einans
der kaͤmen, beide Theile jenes Bewußtſem nicht aufgeben, nicht igno⸗
ziren, nicht dawider handeln dürfen, daß folglich (die Unterordnung
möchte übrigens noch fo beſchwerlich fein) auf beiden Seiten body bie
Achtung jenes menſchlichen Bewußtſeins unverleglihe, wenigſtens nie
verlierbare Bedingung fuͤr das Beſtehen der Unterordnung ſei. Dieſe
gondilio sine qua non des Regierens und des Sich⸗regleren⸗laſſens If
ihnen bie unabänberliche Vorausſetzung, bie, weil beide Xheile als zum
Wollen des Rechten verbundene Geiftweifen nicht ohne baffelbe Bewußt⸗
fein fein Eönnten, auch unausgeſprochen gelte, nicht verjährt
werde, vielmehr, wenn es je unterbrüdt war, immer aufs neue geltend
gemacht werben dürfe und fogar folle, fobalb es nad) ber willkuͤrlichen
Unterdrüdung wieder erfennbar geworben. if.
Was der nachdenkende Menfch in ſich felbft als wahrhaft gut, alfo
als das, was er wollen foll, anerkennt, eben das denkt er ſich, ſobalb
ee nicht blos Uebermacht, ſondern auch Rechtwollen und Richtigwiſſen
als das Aechtgoͤttliche erkennt, in feinem Gott als wirklich. Das
ber zeigt es fich .in Abrahams Gemüth als entfhiedene Vorausſetzung:
„Ih, nach meinem innigften Bewußtfein, fol frei wollen koͤnnem für
bie Rechtſchaffenheit. 3 V—
Alſo kann auch mein rechtwollender Bott mi In dieſer Bezie⸗
hung nur als einen, der das Freiwollenkoͤnnen nicht verlieren
„kann und nicht aufgeben darf, behandeln. — |
„Er kann alfo mich nicht un geweiſe, ſondern mit meiner
Einwilligung burg Bund, obes vertragsweife ſich unterordnen
wollen —
120 Bund Gottes.
„und biefer fen Vertrag, wenn ee auch allerlei Leiflungen mie
zu Bedingungen feines Wohlwollens und Schuges (für die Hoff⸗
nung, ein eigener Zandesbefiger zu werden u. dgl. m.) vorzeichnet,
kann und darf nicht die (einfeitig willkuͤrliche) Bedingung enthals
ten, daß ich je etwas leiſten ſollte, was meiner Pflichteinſicht, das
als das Rechte Erkennbare frei zu wollen, zuwider wäre.”
Sogar wenn die ganze Ueberlieferung von Abrahams unelgennäßls
ger, Eräftiger, tapferer und doch milder Großartigkeit nicht etwa bios
in einzelnen Ausmalungen, fondern felbft in den Grundzügen bes Chas
rakters und der Begebenheiten ein Mythos (eine zuruͤckgetragene na⸗
tionale Wundererzählung) vodre, fo würde doch Har, daß der alte Erfins
ber diefer für ben Gott Abrahams und für Abraham felbft ruhmvollen
Geſchichten in ſich die Einfiht gehabt habe: Nur ein folhes Betras
gen fei Gottes und Abrahame würdig geweſen! — Uebrigens bin ich
hiftorifch-pragmatifch überzeugt, das Mythiſche im hebraͤiſchen Alterthum
niemals fo mweit ausbehnen zu dürfen, weil, wenn irgend ein ſpaͤterer
Denker zum Ruhm der Nation an die Spibe derfelben einen ſolchen
auch im Irrthum (bei der eine Zeit lang für göttlidy gefordert angefehes
nen SohnssAufopferung) erhabenen Charakter zu flellen für das Wuͤrde⸗
vohfte gehalten hätte, ebendiefer Mythosdichter alsdann nicht in If anf
einen fo ſchwachen, in Jakob einen zmifchen Gottesfurcht unb eigens
nüsiger Lift fchwantenden, in ben meiften der zwölf Stammbäupter
oder ſogenannten Patriarchen aber vollends roh-felbftfüchtige Söhne von
bier duch Eiferfucht verkehrten Muͤttern gefchildert und erfchaffen has
en würde,
Ein biftorifh unleugbares Beiſpiel Haben wir demnach
vor uns, daß dem Emir einer althebr. Beduinenhorde, nad, ſeinem
ununterjochten, aber nicht Fünftlich ausgebildeten menfchlihen Naturvers
fland, dies einleuchtete:
„Ich darf, ja ich fol verftändigerweife, von dem Maͤchtigeren ober
Maͤchtigſten Hülfe fuchen und annehmen für Erhaltung und Meh⸗
rung meines ſinn lichen dußerlihen Wohlbefindens,
„aber immer nur unter der in feiner und meiner geiftigen Na⸗
tur gegruͤndeten Vorausſetzung, daß er mich ſchon
‚An der Art der Unterordnung ſelbſt (die nicht Sklaverei⸗
und Willkuͤrzwang, fondeen ein verabredeter, oder wenigſtens uns
ee angebotener“ Bund und Vertrag. fein fol) — und
be - |
„in der einzelnen Ausübung als Einen, welcher Menſch
blabt, welcher alſo das Rechte und Gute verwirklichen zu wollen
nicht aufgeben darf —
behandle, wenn er meiner: Folgſamkeit als einer von mir aner⸗
- Bennbaren Pflicht ſicher fein mil. "0. °
Der Turze Zweck diefer- — wenn vielleicht ſchen zu weitkäuftig
ausgefponnenen — Ausführung ift nur biefer, durch em hiſtoriſches
Datum darzuthun, daß ſogar der ungebildete Menſchenverſtand entwe⸗
Bund Gottes, 121
der Abrahams ober ſeines alten Geſchichtſchreibers, laͤngſt auf die Ein-
fiht kommen konnte: auch von dem mädhtigften Geift foll der ſchwa⸗
che Menſch, doc, weil er Menfch ift, vertragsmäßig, d. b. mit
Reſpect gegen das Ihm unverlierbar eigene Freimollenlönnen, und fo
behandelt werben, daß für die ihm im Sinnlichen gewährten Vor⸗
theile nichts, was feinem geiftigen Sreimollen des Rechten zumider wäre,
vielmehr alfo das, was dazu förderlich fein kann, zur Bedingung ges
madt werde.
Und ebenbiefe menſchenwuͤrdige Vorausſetzung wird uns in ber
althebräifchen Weberlieferung nicht etwa blos in Beziehung auf das Vers
haͤltniß des rechtwollenden Gottes gegen Einen als gegen einen einzeln
ausgezeichneten Menſchen, wie Abraham, fondern als das gottans
ftändige, alfo für Menfhen mufterhafte Benehmen: des
Höcften, der Elohim gegen ein ganzes Volk vorgehalten. In
der Wirklichkeit, oder — wenn man ja aufs Aeuferfte zweifeln will —
mwenigftens in den Gedanken Mofe’s und feiner zwölf noch an freie
Stammes und Samilimregierung gewohnten Nomabdenhorben erfchien dies
als die gott⸗ und menſchenwuͤrdigſte, in ſich haltbarfte Entſtehungsart eis
ner nicht fehr leicht zu verwaltenden Volksregierung, daß, nad) der für alle
eonftitutionelle Staatsverfaffung hoͤchſt metkwuͤrdigen Urkunde
(2. Bud, Mofe 19.),
fogar der von dieſen Abrahamiden anerkannte „Bott über Alles”
zum dußerlihen Staatsgefeggeber und rechtlichen Megenten ihnen
nur als Freimollenden und Wählenden angeboten wurde,
und. daß alsdann erft, nachdem Vs. 8 „al das Volk vereint geant:
wortet hatte: Alles, was Jehova geſprochen hat, wollen wir thun!“
das feierliche Promulgiren der Gebote als Staatsgefege begann unb
fo mit Recht und durch eigenwillige Verbindlichkeit beginnen zu
Eönnen anerkannt wurde.
Ich enthalte mich hier weiter auszuführen :
a) Daß bei einem fo freiwillig acceptirten (guttheoßratifchen) Gottes:
regiment von felbft- der Maßſtab gegeben war: wird etwas, das
Gott gewiß nicht mollen kann, von feinen Interpreten, den
Drieftern (Vs. 5.), verordnet, fo darf es nicht anerkannt und be:
folgt werden! ° — .
b) Daß der zum Volksregenten ermählte Weltgott oder ber mir be⸗
- wundernsmwürbige, ſtrenge und doch frei⸗ rechtſinnige Geſetzverkuͤndi⸗
ger Moſe nach einem gewiß nicht von dem Prieſterſtamm erfundenen
religiöfen Sprechfreiheitsgeſetz, Deuteron. 18, 14— 22.
(welches aber gewöhnlich nicht ganz richtig uͤberſetzt wird). jedem
Hebraͤer erlaubte, in heiliger Begeiſterung ale Nabi, d. I. als
Eraltitter, gegen Alles, was er als nicht von Gott gewollt anfah,
frei vedend aufzutreten, wobei er, . fo lange er feinen andern
(einen nicht rechtwollenden, fondern heidniſch willkuͤrlichen) alß
Gott verkuͤndige, geſchuͤtzt fein und von ber Nation zum Ueberle⸗
gen (nicht zum blinden Befolgen) „gehoͤrt“, ſelbſt alsdann aber,
122 Bund Goftes, :
wenn ee anmaßlich geist habe, nur (DE. 22.) „Bott übten‘
werben follte.
o) Daß der Mofalfdhe Prieſter⸗ und Levite n ſt am m bei
ben Althebraͤern nicht nis. bloße Zunft fauler Opferer eingeſetzt,
ſondern als Rechts⸗ und Geſundheits⸗Beamte im gan⸗
in Lande vertheilt, alfo auch zu populären Kenntniffen genöthigt
und
8 bet den Mofatfchen Hebräern überhaupt dem Gott Jehova
niemals für eigentliche Suͤnden und Geſetzuͤbertretungen °), auch
nie um ſeine Gunſt zu gewinnen, ſondern nach den ausdruͤck⸗
lichſten Opferungs⸗Vetordnungen, Levit, 4, 2. 13. 14. 27. 5,
1—4. 15., nur wegen einer im Irrthum begangenen und nachher.
erſt erfannten Verfehlung ein Schul s und Strafopfer geopfert
werden burfte, bee theokratiſche Prieſterſtand alfo viel eine ambere
Stellung als der heibnifche hatte (ungeachtet eben biefe im Alten
Teſt. deutlich ausgefprochene, einer göttlichen Volksregierung wuͤr⸗
bigere Stellung ſchon von den an das Deibnifche gewohnten Kir-
chenvaͤtern und ſeitdem faft von allen Kanoniſten und ——
nicht nad) dem woraliſch⸗ politiſchen, d. i. guttheokratiſchen, Ge⸗
ſichtspunkt gefaßt und gedeutet worden iſt).
Faſſen wir aus dieſem Speciellen der beiden bibliſch⸗ hiſtortſchen
Data das unſern Hauptzweck betreffende Reſultat zuſammen, fo iſt
es dieſes:
Die Entftehung einer gotteswürbigen Staatöverfaffung durch einen
feeiwillig eingegangenen Bund, durch ein paote social, ift fo gar
nicht verwerflid, undenkbar ober unpaffend, daß fie
vielmehr wohl als ein biblifc, » religioͤſes Worbilb aller nah Moſe
und Jeſus Chriſtus gottglaͤubiger Staatsvereine, beſonders als Vor⸗
bild fuͤr jede heilige Allianz betrachtet werden darf. Sie wurde
populaͤr (nach der Faſſungskraft unverkuͤnſtelter, ſich frei fuͤhlender,
religioͤſer Menſchen) duch ſehr ausgezeichnete Vormaͤnner, wie
Abraham und Moſe, gedacht und eingeleitet. Auch haͤngt die Ver⸗
wirklichung dieſes paoto spoial mit ſehr gut wirkenden Grundbe⸗
griffen zuſammen, daß naͤmlich dadurch
a) eine ideale Norm gegeben war: „was Gott nicht wollen
kann, d. h. was unſtreitig dem freien Wollen des Rechten und
—— zuwider wäre, kann nicht als Geſetz angenommen odar bei⸗
behalten werben I”
-b) Sottandächtige Redefrelheit ober begeifferte Veröffenttichung des .
Prwaturthens zum Lob oder Zabel beiten, was s Sry woden ober
4) veigſevc nen⸗ fuͤr * —— «ou
veiben® an bie raͤer
artigſten
fe gef We
alle. für mehrere —— — inelnanber, . u
Bund Gottes, Buonaparte. 423
bleiben foll, iſt dabei nicht zu hindern, aber auch nicht ale prophes
tiſch bindende Auctorität ohne eigene Beurtheilung zu befolgen !
0) Die Diener eines ſolchen gotteswuͤrdigen pacte social müffen durch
bie abminiflrativen Einrichtungen felbft genöthigt fein, für die Bes
bürfniffe- der Regierten ſich tüchtig vorbereitet zu haben, oͤrtlich
thätig zu wirken, auch |
d) nicht von Sünden und Sünbenftrafen zu leben, nicht durch Vor⸗
urtheile von einer durch fie erreichbaren Verfühnung Gottes ſich
in einiger Gültigkeit zu erhalten u, f. w.
Gegen die ſtaatswiſſenſchaftliche, rechtliche Worausfegung, daß
jeder Verein zwifchen Regierungen und Megierten nur als ein moraliſch
vertragemäßiger zu denken fei, wird demnad nicht mehr einzuwenden
fein, daß die Ideologie eine hiſtoriſche Wirklichkeit für fi) habe. Wer
„von Gottes Gnaden“ regiert, wird und muß vornehmlich die biblifche
Religionsgeſchichte als hiſtoriſchen Boden und höher ſanctionirtes Vorbild
anerdennen. Dr. Paulus.
Buͤndniß, f. Allianz. | |
Buonaparte, Napoleon, und fein Haus. Es Fann
bier nicht unfere Abficht fein, eine Lebensbefchreibung oder vollſtaͤndige
Charakterſchilderung des großen Mannes zu geben, der mit bem Ruhm
feiner Thaten, mit den Denkmalen feiner Geiftes s und Heldenkraft,
feines beifpiellofen Gluͤckes und feines erfchütternden Sturzes die Welt
erfüllt hat. Der Strom diefed verhängnißreihen Lebens ift an uns
felbft vosübergeraufcht und die hervorragendflen Erfcheinungen und Wuns
der, bie er mit ſich führte, flehen tief eingeprägt in unferer noch fris
fhen Erinnerung. Auch würde ſchon eine bloße Skizze, wenn fie nicht
allzu dürftig wäre, den Umfang eined Buches erreichen und von hiftos
riſchen Büchern, welche Napoleons Perfon, Schiefal und Wirken zum
Gegenſtand haben, befigen wir fchon eine große Zahl und werden ihrer
noch manche andere erfcheinen fehen. Wir befchränken uns baher auf
einige wenige, bee Staatsmwiffenfhaft näher angehörige, Betrady-
tungen, zu melden der allgemeine Ueberblick ſolcher Gefchichte den na⸗
türlihen Anlaß gibt.
Das Allererſte, was hier dem Gedanken ſich darſtellt, iſt der ganz
einzige — in der gefammten Weltgefhhichte noch nie in gleichenz
Maße vorgelommene — Ruf zum mächtigen, weithin nad) Zeit
und Raum entfheidenden und zwar wohlthätigen und menfdyenbeglüdens
den Wirken, melhen das Schidfal unferem Helden verlieh; woran
dann natürlich die Frage fi anreiht: ob ober inwiefern er folchen Ruf
begriffen und treulich erfüllt oder aber verkannt, vernachläffigt, miß⸗
braucht oder felbftifchen Intereſſen nachgeſetzt habe. Schon zur Wür-
bigung ber Kraft ift der erſte Standpunkt nothwendig, zur mora⸗
liſchen Würdigung führt dann am ficherflen ber zweite.
Wohl gab es noch weiter gebietendbe Herefcher als Napoleon, auch
Eroberer, bie noch mehr Land als .mit ihren Kriegsſchaaren über:
ſchwemmt, ſiegreich durchzogen und. ihrem Scepter unterworfen haben ;
124 | Buonaparte.
Auguft’s und Trajan's Reich war größer, jenes von Karl M.
wenigſtens nicht Kleiner al& Napoleon’s, und von dem macedoni-
{hen Helden herab auf Gengis-Chan und QTamerlan haben
viele Kriegsmeifter in der Schwäche oder Entartung der Völker umher
den Reiz und den gebahnten Weg zu Errichtung von Weltreichen ge:
funden. Dody den Eroberern, wenn nicht eine große Idee und eine
dafür empfüngliche Welt ihren Waffen ſich befreundet, iſt Zerſtoͤren
leichter al Aufbauen, und alle Kraft des Genies und des Charakters
fetbft eines Weitgebietenden vermag nichts oder wenig gegen einen wi⸗
derftrebenden Geift der Nationen oder die Ungunft der Weitlage. Selbſt
ber große Caͤſar — in vielen Dingen fonft vorzugsweife Napoleon
zu vergleichen — fcheiterte fhon In dem Verſuche, fich bie Krone aufs
Haupt zu fegen, an dem noch lebenkkraͤftigen republilanifchen Geiſte
Roms (auch Napoleon wäre gefcheitert, hätte er nur wenige Jahre
früher die Republik umzuſtuͤrzen verfucht), und Auguftus vermochte
zwar das der VBürgerfriege müde Voll duch „Brod und Spiele”
zu firren, doc erlaubten ihm bie getflige und moralifche Erſchlaffung
im Innern und die Barbarei von Außen mehr nicht als die Befeftigung
der eigenen Herrſchaft. Weltbeglüdung, Weltveredlung, Boranführen
der Menfchheit durch Verwirklichung großer Ideen märe ihm, auch
wenn er felbft dergleichen geheget und folche® Ziel fich vorgeſteckt hätte,
nimmer moͤglich gewefen. Aehnliche Unempfänglichkeit der Zeit für hoͤ⸗
here Geiftesfchöpfungen — nicht eben durch Erfchlaffung, wohl aber
durch Rohheit oder Verwilderung — hinderte Karin MM. an tieferem
und bleibenderem Einwirken oder befchränfte daffelbe auf bloßes Zufam-
menwerfen von Maffen, deren lofe Verbindung unfähig mar, den kom:
menden Stürmen zu trogen und auf nothdürftiges Legen von rohen
Grundfteinen, auf welhen das eigentliche Gebäude — ſchoͤn oder miß-
geftaltig, dauerhaft oder unhaltbar — aufzuführen,‘ den Nachkommen
oder den Zufälten überlaffen blieb.
Nicht alfo Napoleon. Ihm war vom Schickſal die Bahn ge:
ebnet zum glänzendften ‘Ziel und es flanden ihm alle Mittel zu Gebot,
das Größte und Herrlichfte zu vollbringen. Als ee — der ſchon frühe
die Bewunderung ber Welt gemwefen durch Kraft, Gtüd und Tha⸗
tenalanz das Scyreden Defterreichs, Im Kriege der erſten Coalition,
der Eroberer Italiens, Gründer neuer Republiken dafelbſt und glors
reicher Friedensftifter zu Campo Formio, fodbann Eroberer Mal
ta's und Egyptens — auf die Kunde von Frankreichs Unfällen im
zweiten Goalitiondfrieg dahin unverhofft zurüdkehrte, erfchien ber allein
Unzüberwundene, der wundergleich vom Gluͤck Beguͤnſtigte, durch alle
Fehler, Mißgeſchicke und Sünden ber übrigen Häupter vergleichungsmeife
noch mehr Emporgehobene, der durch die Niederlagen ihrer Deere ges
beugten, durch unfeligen Parteientampf' zerrüttetn, von theils tyrannis
ſchen, theils unfähigen, überhaupt felbftfüchtigen und unter fich felbit
entzweiten Gewalthabern regierten Nation, als von der Vorſehung ei⸗
gend gefandter Netter. Allgemeines :Wertrauen, allgemeine Hulbigung
Buonaparte. 125
unter allen Glaffen bed Volks famen ihm entgegen, bie verſchiedenſten
Parteien richteten auf ihn ihre Hoffnung / und als er durch einen kuͤh⸗
nen Gemaltftreih (am 18. und 19. Brumalre) bie Directorialregierung
umftürgte, verzieh man ihm benfelben nicht nur, fondern dankte ihm
dafür. Die Dictatur, bie er jego als „erfier Conful“. an ſich
riß, erfchien ale einzig uͤbriges Heilmittel für das innerlich kranke und
von Außen fchwer bedrohte Reich. Muͤde der langwierigen Unruben,
Drangfale und Aergerniffe, vor den Schreden einer abermaligen Revo
Intionsregierung bange und mehr als die ftürmifche republifanifche Frei⸗
heit die endliche Wiederkehr der Drbnung und Ruhe begehrend, Tieß die
ngeoße Nation” fi eine neu gefchaffene Verfaffung gefallen, wel⸗
che, mit Beibehaltung blos einiger republifanifcher Namen und Schat-
tenbilder, der That nad die unsmfchränktefte Gewalt in die Hand
des Einen legte, und alles, durch die Großthaten und Leiden ber Re:
volution fo theuer erkaufte, politifche Recht des Volkes wie feiner
angeblihen Vertreter in leere Formen und Taͤuſchungen ummanbelte.
Die neuen Triumphe des genialen Kriegsmeifterd über Defterreih und
die Coalition, fodann die gewinnreichften Friedensfhlüffe und, nad
abermals eräffnetem Kampf, wmieberholte zerfchmetternde Schläge auf alle
Feinde befeftigten, vollendeten den flolzen Bau. Das Frankenvolk, von
Bewunderung und Siegesfreude trunken, betete an vor feinem „Erb⸗
Eaifer” Napoleon, und Europa, theild gebemüthigt, theils in
Freundſchaft ihm verbunden, vernahm mit Achtung, mit Unterwürfig-
keit oder mit Schreden fein weitgebietendes Wort.
Jetzo, oder vielmehr fhon früher, noch als erfier Conful und gleich
nach ben Sriedensfhlüffen von Zuneville und von Amiens, hätte
er alles Gute für Frankreich und für die Welt zu bewirken vers
modt. Er, der Erbe der Revolution, melde eine Unermeßlichkeit
geiftiger und moralifcher nicht minder als materieller Kräfte im Schooße
der großen Nation ermwedt, entfaltet, in glorreiche Thaͤtigkeit gefegt hatte,
Er, jest über alle diefe Kräfte mit Vollgewalt verfügend, der Wieder⸗
berfteller der lang entbehrten Ordnung, Ruhe und Gefebesherefchaft im
Innern, zugleich der Wiederherftellee des Weltfriedene und, wenn er
wollte, der zuverläffigfte Beſchirmer deffelben, teil mächtig genug, jede
ungerechte Störung abzuhalten oder zu rähen — Er durfte jest blos
noch den edlern Richtungen bes Beitgeiftes mit Treue ſich bingeben , fidy
an die Spige der Ideen ftellen, deren Verwirklichung das Ziel ber Revo⸗
lution in ihrem erften, fchönern Stadium gewefen, ben Grundfägen ber
ächten Freiheit, ber Gerechtigkeit, ber Mäßigung, daher neben ben For:
derungen bes natürlihen innern Staatsrechts aud jenen des
dußern, d. h. allgemeinen Völker: und Menſchenrechts, that
ſaͤchliche, uneigennügige Huldigungen darbringen, um neben ber liebens
den Verehrung Frankreichs aud) der dankbaren Anhänglichkeit aller frem⸗
den Völker, d. b. des denkenden und wohlgefinnten Theile berfelben , ges.
wiß, und mittelft derſelben Herr ber Beſtimmungen bes Welttheild zu
fen. Wäre er, nachdem bie Nothwendigkeit ber Dictatur vorübergegans
126 VBuonaparte
gen, alt bloßer Praͤſident ber freien Republik ober auch, falls bie
monarchiſchen Formen fuͤr Frankreich zutraͤglicher oder gar unentbehrlich
erſchienen, als conſtitutioneller Erbkoͤnig (oder Erbkaiſer) an
ber Spitze bes Staates geblleben, ec wäre immerdar maͤchtig genug für
alles Gute — meil Dabei mit dem vernünftigen Nationalwillen im Eins
Hang — geweſen, und er hätte, bei treuer Beobachtung einer auf ächte
Volksrepräfentation gebauten Werfoffung, Franktreich zum Muſter⸗
ſtaat für die cvilifirte Welt, zum glänzendften Vorbilb wohlderwahrter
geſetzlicher Freiheit und aller duch fie befchirmten Öffentlichen und Pri⸗
vat s Wohlfahrt erheben mögen. Die durch ihre politifche Stellung an
die franzöfifche Allianz oder an ben franzäfifchen Schug näher angewieſe⸗
nen Staaten hätten ſodann, Im eigenen Intereſſe und durch die Gewalt
ber Verhältniffe dazu angetrieben, baffelbe Syſtem ber Werfaffung und
Verwaltung (in den Dauptprincipien, mithin unbefchabet ber National⸗
Eigenthümtlichkeiten) gleichfalls angenommen, unb es wäre dieſes Syſtem
und mit demſelben ein dee mündigen Voͤlker würbiger, vom Zeitgeift
dringend geforderteer Rechts zuſtand dadurch auf einer unerfchütters
lihen Grundlage befeftiget worden. Auch die — fel e8 wegen minder
vorangefährittener Givilifation oder wegen allzu feſt gewurzelten hiſtori⸗
fhen Rechts, fer ed wegen dynaſtiſcher oder abfolutiftifcher Interefien —
dem Spfteme abgeneigten Mächte hätten — ſchon ber politifchen
Mivalität und der Intereffen des Ruhms willen oder aber dem täglich
gewaltigen Steome ber Öffentlichen Meinung und dem burch das Be
fpiel des nachbarlichen Gluͤcks geftachelten Verlangen ber eigenen Völker
nahgebend — wenigſtens Einiges gewähren, und dadurch den
Grund legen müffen, morauf In allmäligen Kortfchritten das Gebaͤude
conftitutionellee Freiheit fi) hätte erheben innen. Wären fie jedoch,
um folder Mothwenbigkeit zu begegnen und die anſteckende Kraft des
Beifpiel abzuwenden, mit entichiedenee Keindfeligkeit gegen das
tiberale Spftem und defien natürlihen Beſchuͤzer, Frankreich, aufe
getreten ; fo wuͤrden bie jego gerechten unb von ber öffentlichen Mei⸗
nung unterflügten Waffen deſſelben wohl leichten Triumph errungen
haben; und es hätten fobann neue, dem Bebuͤrfniß ber Nationen
entiprechende Schöpfungen unter dem Fußtritt eines großmüthigen
Siegers hervorgehen mögen. Dergeflalt wäre bie „politifche Res
form” — heut! zu Zage vom Zeitgeift fo gebieterifä, gefordert als
vor drei Jahrhunderten bie Firhlidhe — friedlich ober kriegeriſch,
jebenfalls unter den Aufpicien ber großen Nation ımb Ihres genialen
Hauptes vollbracht und diefes mit der Krone des ſchoͤnſten Muhms,
den jemals ein Sterblicher errang, gefhmüädt worden. Die Neptaͤ⸗
fontativs VBerfaffung in reiner Geflaltung umb treuer Beobachtung,
die Preßfreiheit, berfelben wie jedes Rechtszuſtandes Bedingung
und Buͤrgſchaft, die Verbreitung bes Lichts unter allen Volks⸗
claſſen mittelſt mohleingerichteter Schulen und vernünftiger Lehre,
Denk⸗ und Spredhs Freiheit, bie Wiedereinfegung des natuüͤrli⸗
chen Rechts in die ihm gebührende, doch feit laͤngſter Beit verkuͤm⸗
Buonapart⸗. 127
merte, fa verfpottete Herrſchaft über das hiſtoriſche, die Abfchaffunk
aller mit jenem ewigen Recht unvereimbarlichen Einfegungen und abſolu⸗
tiſtiſchen ober ariftofratifchen (als grundherrlichen, leibherrlichen, zehent⸗
hertlichen, u. a. dgl.) Anſpruͤche, bie radicale Reform der gefammten
Befeggebung, fo wie ber bürgerlichen und peinlihen Gerichte,
die Herftellung möglichft allgemeiner Handelsfreiheit, endlich Die
Reinigung auch der Kirche wie bed Staates von allen Mißbräuchen
und verkehrten Einrichtungen, die Abſchaffung des Cölibats, bie
Befreiung von jedem Gemiffensgwang, bie Sriedensftiftung
zwiſchen den ſich anfeindenden Confeffionen, überhaupt alle Wohlthaten
und Segnungen ber zur Herrfchaft erhobenen Vernunft und Humas
nitaͤt hätten Europa zu Theil werden mögen, wenn Buonaparte das
bin feine Richtung genommen ober ſolches Ziel ded Strebens ſich gefegt
hätte. Auch verlangten, erwarteten es Scankreih und Europa von
ihm. Hat er der Erwartung entſprochen? —
Freilich mag es Schmärmeret fcheinen , von einem Kriegsmeiſter und
welcher durch Siegedruhm zur Dictatur gelangte, eine ganz reine,
felbftverläugnende Tugend zu erwarten (Wafhington’s Charafter ſteht
faft einfam in der Gefchichte): doc, mag fchon die edlere Ruhmbe⸗
gierde die Unvolllommenheit der Tugendkraft erfegen, und zur Erfires
bung de8 Guten an ber Stelle bed Glaͤnzenden fpornen; und auch
die blos theilweife oder an naͤhernde Erfüllung eines hohen Berufes
Hat auf dankbare Anerkennung Anfpruh. Hat Buonaparte denfelben ers
eungen? — Was war das Ziel feines Strebens? Ein gluͤckliches, freies,
lichterfuͤlltes, von ben Voͤlkern geachtete® und geliebtes, ihnen als Vorbild
des Buten bienendes Frankreich und, unter deſſen Aegide, die mög»
lichſt allgemeine Herrfchaft des Rechts und die der Menſchheit
sum freien und freudigen Voranſchreiten in allem Guten zu öffnende
Bahn 1 7 — Nein! leider nein! Er verlangte nichts, als ein weitge»
bietendes, mo möglid weltbeherrfhendes Frankreich, und
für fich felbft und fein Haus den Befig des mit unbeſchraͤnk⸗
ter Vollgewalt auszurüftenden Weltthrons. Dem Glanze
des Kriegsruhms und dem in dee Geſchichte fo gemeinen Durfte nach
Herrſchaft und nad Stiftung eines regierenden Haufes opferte
er dergeftalt auf den unermeßlich edlen, den vom Schidfal ganz eigens
ihm dargebotenen Ruhm des Freiheitbegründers im Baters
Land und des MWohlthäters der Menfhheit. Darum follte
Frankreich zmar mit dem Raub der Nationen und auch durch eigene Ems
ſigkeit und Kunftfertigkeit ſich bereichern, ber Ordnung und Ruhe und
einer wohlgeregelten Verwaltung fich erfreuen, alle dem Krieg und ber
Staatswirthſchaft dienende Künfte und Wiffenfchaften treiben und durch
großartige — übrigens alles Lobes werthe — Anftalten und Gründungen
zu folchen Zwecken (als Heerfixaßen, Kandle und anbere koftbare Lands
und Waffer: Bauten u. dergl.) ſich verherrlicht ſehen: aber ber gefam-
melte Reichthum follte blos die Schatzkammer für den Dictator, bie ſtets
bereite Huͤlfsquelle für feine Herrſcherplaͤne, zumal ber Kriegsluſt forte
a}
\
128 . Buonaparte.
während geöffnet, fein; Ordnung und Ruhe follten aus blinder Unter
merfung hervorgehen, folbatifcher Gehorfam der Hebel der Verwaltung,
foldatifcher Geift die hoͤchſte Tugend der Franzoſen, foldatifcher Ruhm
ber Erſatz für die Freiheit fein. Alle Wiffenfchaften und Tugenden, wels
che den Geiſt erheben, die edlere Gemuͤthskraft ftärken, menſchliches und
vuͤrgerliches Selbftgefühl und Freiheitsmuth einflößen, überhaupt bie hoͤ⸗
heren Ideen und ihre, mit dem Namen ber „Ideologen“ weg
werfend bezeicgneten Pfleger follten keine Heimath haben in dem Deſpo⸗
tenreich, fie follten der Verachtung und Anfeindung, nöthigenfalls ber
gewwaltfamen Unterdrüdung beimgefallen fein. Keine geiſtige Dittheilung,
als welche dem Gemwaltsherrfcher mohlgefällig wäre, Eein mehreres Licht, als
ihm nüslich däuchte, follte den Bürgern des großen Reiches zukommen;
die Pracht des Kaiferthrones, die ſtolzen Siegesfefte, bie Demüthigung
der Großmächte und vor Allem die Gnade des glanzumffcahlten Herrn
ſollten an die- Stelle der Verwirklihung der 1789 und 1791 verfündeten
und fanctionirten dcht liberalen Ideen treten oder die Abfindung ihrer
begeifterten Freunde und Vertheidiger oder deren ausgenrteten Erben fein.
An Bezug auf die auswärtigen Völker aber ſollte, deſſelben egoiftis
ſchen Zweckes willen, immer nur der einfeitige Vortheil Frankreichs,
d. h. feines Herrſchers, das Princip aller Verhandlungen in Krieg und
Frieden fein. Eroberung, Unterwerfung, Tributpflicht, Dienftbarkeit
unter dem Namen der Allianz, und endlich eine Verfaffung, welche ans
ſicherſten die Lieferung von Geld und Menfchen zum Dienfte des Welt
herrſchers verbürge: dies waren bie alleinigen Gaben, welche ber Sieger
ober der angebliche Freund den von feinem ftarfen Arm erreichbaren Voͤl⸗
tern brachte. Bon Ausführung großartiger Ideen, von Einrichtungen
zum Zwed des Nationalglüde war nirgends eine Rebe, am wenigſten
von Freiheit und Recht. Provinzen des großen Reiche, im
Sinne der alteömifhen Weltherrſchaft follten die alliirten wie die ans
geblich befhügten und die Vafallen-Staaten fein; und ale Proconfuln
follten die — ehemals durch Grundgefege, 3. B. durch landſtaͤndiſche
Berfaffungen, befchräntten, jegt aber durch des Siegers Machtgebot zu
abfoluten Derrfchern erklärten — eingeborenen Landesfürften oder die new
eingefegten Gebieter dienen. Eine Verhoͤhnung des Voͤlker⸗
rechts, die zuglih an Charafter und Ausdehnung der von
Buonaparte (oder Napoleon) begangenen zu vergleichen wäre, zeigt
(wenn wir von ber Theilung Polens wegbliden) feit der Gründung
der römifhen Weltherrfchaft, die Gefchichte nicht, und Teutſch⸗
land zumal ift das Land, das folder Verhoͤhnung leidbensvoller Schaus
plag warb.
Ein kurzer Ueberhlid der von Napoleon Buonaparte ausgegangenen
politifhen Richtungen, Einfegungen und Schöpfungen im Inland und
Ausland wird hinreichen zur Rechtfertigung des bartklingenden Urtheils.
Schon die Art des Umflurzes der Directorialverfaffung (am 18.
und 19. Brumaire J. VIII, 9. und 10. Novbr. 1799), zumal bie
gegen ben. Rath bee Künfhundert verübte, mehr als Cromwell'ſche
Buonaparie. a20
weit ſei, fobald das Jntereſſ
die faſt verzweifelte La
hen Augenblids hier
die Gonfularverfaffung, -weihe
enttoorfen und dem überrafchten Volle
hob bis auf. wenige Namen, und. Fornien alle
ofen auf,. und. legte ihre Geſchice faft.unbe
gehn Jahre ernannten ufd dann wieder erwat
Buongpaite. Nicht eine norüberge
Gefahr beſchtraͤnkte Dictatur..imard alfo cr
men möchte; fondern das, fo, mühfam auf;
Blut und Thränen erkaufte Gebaͤude
"Shen, fondern überhaipt.der poLisifc
fländig und für immer, nämlich durch ei
jchaft beflimmtes Grundgefeg, über, ben Haufen, g
Zerſtoͤrung de6 Wengen, mas ‚man Au
—
ft, Herefch
epublik un!
Huldigung. geit
nat Dip POnher de
2b). ii illigung verdies
— men.
And ihee·¶ Reit
— grant ·
Haben mir bloß, die
näher bes
Ubi iitreichs und
iden...und verföhnenden
der Schteckens zeit her⸗
reht/ enthüllte Buonaparı JE fche: en erften Tagen feiner Ges
welt die Uniauterkeit ‚und; iftifche Richtung feines Strebens, fo wie
die Unzuhe des eigenen Gewifjens, „d, b..ba6,Mewußtjein, daß er ilntecht ·
chue. Mod hieß Srankreich Mepubtit, md, er entriß, ihm buch
Mathtgebote die Preffreiheit, unterbrüdte die „Freifinnigen Sa
male. und verfolgte deren, „Herausgeber, , benahm .alfo ‚em Gefamm!
willen ‚ober. der Öffentlichen Dieimung,. welche, hie eigentliche, Sipele der
Republif, überhaupt dag Rechtefigates..äf,, ben ‚ringig „unverfäjhhatsn
Auttrud,; DE dab .er im Anton Pi. dem —*
willen· zu regieren mich, gedenfe, daß..ep, elche die
— —* nl ‚A ne. Same Ewatt,
nicht aber. echt -die Fortdauer ſeintz. Macht Yet
Staaks iEziten. UL 0 9. 4 ei denn
130 BBuonaparie.
ZZugleich wurde die Verwaltung auf militairifhem Fuße
eingerichtet. Nicht mehr duch collegialiſch organiſirte Autoritäten,
ſondern durch rinzelne Befehlshaber, genunnt Praͤfecte, Unterpraͤfecke
und Maires, koche faͤnimtlich (mit Ausnahme der Maires in Peine:
ren Gemeinden) ber erſte Confuf ernannte‘, ſollte bie Regierung gefühtt
werden, die mititairiſche Suborbination alfo zum Hebel auch
der bürgerlichen Verwaltung bienen. ” 0
Einige Verſchwoͤtungen, bie gegen. den Gemwaltherrfcher von ein⸗
zelnen Feinden geſchmlebet, züum Theit arglifiig durch provocirend® Mes
gierungs » Agenten in's Dafen gerufen wurden‘, gaben den; Vorwand
zu noch weiterer Unterdruͤckung der Nationalfreiheſten und zu Gefähr:
dung ber perſoͤnlichen Sicherheit Aller; zumal: dee Sreigefinntten. Ohne
Urtheil und Recht wurde einmal über 130 derfelben durch ein Se⸗
natusconfult bie‘ Deportation verhängt. Sodann wurden Spe⸗
cialgerichtshäfe verfaffungsmidrig durch das ganze Meich errichtet,
beftehenb and vom Conſul ernannten Richtern, b. h. Dienern der Will:
Chr, bewaffnet mit dem entweihten Schwerte der Gerechtigkeit. Seibſt
die Heiligkeit der! Boltsrepräfeiitation fehlemte bie freiſinnigen
. Männer der Naätion nicht. Als ſich zegen ben vom Conful vorgelegten
"Entwurf eines neuer bürgerlichen — in vielen Beflimmungen den Intet⸗
efien des Defpotismüs buldigenden — Geſetzbuches ein muthiger Wider:
ſpruch Im Tribunat und im gefeggebendben Körper erhob, fo
wurden durch ein vom Gonful dietirtes, fogenanntes® „organifdhes
Seyatusconfult” 20 Tribunen und 60 Gefeggeber aus der Lifte
der beiden hohen Staatskorper „eliminirt”, und burch das Schrecken
ſolcher Maßregel die Unterwärfigkeit beiber für die Folgezeit gefichert:
Aber es ſchien nicht hinreichend, ben Freimuth durch € hreden
niederzufchlagen ; bie Servilitaͤt mußte hinwieder buch Belohnungen
gepflegt, die Ideen von: republitanifcher Gleichheit vertilgt und der erfte
Conſul — im Geift der monarchiſchen Verfaſſung — als Quelle aller
Ehren und Würden dargeftellt werden. ° Daher die Schöpfung ‘der "
„Ehrenlegion”, eines neuen Adels, ber eben darum, meil’’er
nicht erblich, fondern blos bee Perfon ‘und zwar vom: Gebieter
verliehene Auszeichnung — d. h. eine bloße Gunſtbezeugung bes
Herrn — mar, aller Selbftftändigkeit wie aller Würde entbehrte,
Beitimmt und geeignet, allerdings ein Gefchleht von bienftbeftiffe:
nen Knechten heranzuziehen, nicht aber zur wahren Bürger
tugend zu ermuntern. | 0 nn
Mod) einige Trümmer und einige (amade Bollwerke der Freiheit
hatte die Confularverfaffung übrig gelaffen. Buonaparte, wie alle
Gewaltherrſcher, Hielt'-fih nicht fiher, fo Tange nicht alle vertilgt
wären. : Zudem war ihm fchon die Möglichkeit, nah Verfluß der
zehn Jahre nicht wieder ermählt zu werden, ein unerträglicher Gedanke.
Alſo ließ er, auf bie im Tribunat von einem feiner Knechte außgegän-
gene Anregung; ſich zum Lebenslänglihen Conful ernennen,
und gleich darauf duch ben zur „Erhaltung ber Verfaffung“
Buonaparte, 131
eingefegten Senat biefelbe umſtuͤrzen, d. h. in weſentlichen Punkten
veraͤndern und jeder weitern Veraͤnderung preisgeben. Ein ſogenann⸗
tes „organifhes Senatusconſult“ verlieh (1802) ausdruͤcklich
dem Erhaltungsſenat das Recht ſolcher Veraͤnderung, auch das Recht,;
das Tribunat und den geſetzgebenden Körper aufzuloͤſen, Departemente
außer der Conſtitution zu erklaͤren, das Geſchwornengericht zu ſuspen⸗
diren, ja die von den Gerichten bereits gefaͤllten Urtheile umzuſtoßen!
— Zugleich wurde — weil periodiſche Urwahlen dem oͤffentuchen Geiſt
ſtets einige. Nahrung geben — das Wahlmaͤnneramt für lebenslaͤnglich
erflärt und. das (allein mit dem WMecht der Discuffion bekleidete). Iris
bunat von hundert ‚Mitgliedern, die es zählen ſollte, auf funfzig
herabgeſetzt. "Die Ereihtung einer. Anzahl von einträgichen Ser
natorerien, b. h. von reichen, durch den erſten Conful an wohl⸗
verdiente Senatoren zu verleibenden Pfrünben, mar ber Lohn für folche
Dienftleiftung und zugleich die Buͤrgſchaft der fortdauernden: Wilfährige
keit des Senates. nn \ RR
: Eine glänzende Probe..derfelhen warb im zweiten Jahre nach, fols
her Verfaſſungsumkehr gegeben durch ein abermaliged.„arganifches
Benatusconfult”, welches, aus Anlaß einiger entdeckter Were
ſchwoͤrungen — welche auch zur :zmiefach rechtsvechöhnenden. Bfutthat
wider den Prinzen von Enghien den Vorwand gaben — bie lebens⸗
laͤngliche Gewalt Buonaparte’s in eins erbliche und :die Republik in
ein Kaiferthum verwandelte (1804). Es geſchah ˖ ſolches ohne Pie
fragen des gefeßgebenden Körpers unb ber. Nation: durch bloße. Machtr
gehot des Senates, und die Bekanntmachung ward. orlafien im
Namen „Napoleons von Gottes Snaden und durch dir
Sonftitutionen der Republik Kaifers ber. Franzoſen“,
Nur darüber,:ob das eigenmächtig gefchaffene Kaiſerthum in bez
Familie Napoleons erblidy ‚fen follte, wurden Stimmregiſter im
ganzen Weiche eröffnet. Daffelbe war auch bei der Frage .über dag
Lebenslängliche Conſulat geſchehen, und dadurch wenigſtens ans
erkannt worden, daß darüber, wer. fein, Herr fein fole, nur dag
Volk felbff von Rechts wegen zu entfcheiden. habe. (Die Stifter der
Fulius s Revolution. zwar. haben diefes vergeſſen; aber darum
mangelt aud Ludwig Philipps Thron eine durch nichts Anderes
zu erfegende Stüge, nämlich ein ber Anfechtung entrüdter Rechts:
titel.) Doc war freilich folche Anerkennung wie ſolche Buflimmung
(morauf Napoleon ſich fo gerne berief) nur [heinbar, weil die For—
men der Abflimmung, namentlich der imponirende Einfluß der Behdrr
den, die Kreiheit aufhoben, und weil man babei die Nichts
flimmenben als bejahenb zählte. Ä 2 u
- Immerhin jedoch hätte Napoleon die Emennung zum Erblalfer
verlangen oder annehmen koͤnnen, ohne fhon hierdurch den, Frei
heiten feiner Nation oder ben Mechten der übrigen Völker zu nahe
zu treten. Auch mit dem Erblaifertbum war eine Volksrepraͤſentation
ober der Grundſatz einer dem. Geſammtwillen bulbigenden, conſtitutio⸗
9 @
132 Buonaparte.
nellen Regierimg gar wohl vereinkarlich, und bie Achtung bed Völker
rechts wäre das trefflichfte Befeffigungsmittel des nenen Thrones ges
wein. Napoleon aber verfännähte Beides. Ohne Rüdficht. auf
irgend ein natürliches ober geſchriebenes Recht fchritt er, Tonder Raſt
und gleich argliſtig als gewaltfam, feinem Ziele, dei’ Weltherrſchaft,
entgegen, und je . mächtiger nad) Außen, deſto defpotifcher warb er im
Innern. Freilich gaben die offenem. and ‚geheimen Feindfeligkeiten dee
Mächte und faſt det gefammten kuropdifchen Ariftokratie gehen den illegi⸗
timen Emporkoͤmmling biefem nicht feiten gerechten -Attlaß -zum Kriege ;
boch noch meit öfter forberte er ducch Gewaltthaten, role ſeit der Mös
mer Zeit Beine mehr vorgekommen, durch Unerfättfichleie und Ueber⸗
muth die GSoalitiener ‚heraus, --unb es kam ſo weit, -baf- 1809 der
Kaifer von Defterveich im ſeiner Kriegserklaͤrung wider Napoleon mit
inhaltſchwerer Wahrheit fagen Eonnte, „die Freiheit Europas habe ſich
unter bie oͤſterreſchiſchen Fahnen geflüchtet”. . In Frifcher Erinnerung uns
ferer Leſer ſtehen — neben vielen vereinzelten Gemaltthaten, - worunter
zumal die Hincihtung Palm 8 gegen den Himmel fchreit — bie beiſpiel⸗
108 harten Friedensgeſetze, die der ſtets fiegreiche Kriegsmeiſter nach
einander feinen gedemüthigten: Gegnern vorſchrieb, fo wie der unerhört
freche, auch im Frieden durch rechtsverhoͤhnendes Machtwort veruͤbee
Laͤnderraub und Thronenſturz, die nimmer fatte Eroberung, Unkert⸗
werfung, Brandſchatzung, Einverleibung, Verſchenkung, Vertauſchung,
Zerſtuͤckelung, Zuſammenfuͤgung, überhaupt vielfach wechſelnde; willkuͤr⸗
lich dictirte Geſtaltung aller von feinem Arme erreichbaren Länder und
Völker, und dabei .nirgende aud nur eine hochherzige, d. b. von
Selbſtſucht freie, humane ober politifhe Idee vorwaltend, fordern
überall nur ſein, bes Herrſchers, Intereſſe und Frankreichs,
als ſeines Reiches, Macht und Glanz. Ganz Italien mit
Illyrien, fa ganz Deutſchland, Holland, die Schweiz,
ein großer Theil Polens, endlih auch Portugalund Spanien
erfuhren ſolche Unterdrüdung, als ſaͤmmtlich Beſtandtheile entweder bes
„directen“ oder „indireeten“ Meiches, worüber der Gewaltherr⸗
ſcher hier als Kaifer oder König, bort als Schutzherr oder als
Vermittler oder als Verbündeter, oder ald Familtenhaupt
feinen Scepter ſtreckte.
Wohl hat einigen dieſer Laͤnder die Unterwerfung auch Gutes ge⸗
bracht, oder haͤtte, wenn ſie laͤnger gewaͤhrt haͤtte, deſſelben brin⸗
gen moͤgen, als in Deutſchland Schwaͤchung der Geburts⸗Ariſtokra⸗
tie, Loͤfung einiger der druͤckendſten Feſſeln des hiſtoriſchen Rechts,
Wiedererweckung der ſoldatiſchen Kraft und Verbeſſerung der Regle⸗
rungskunſt; in Spanien und Italien bie Abſchaffung der Inquis
fition, die Milderung ber Pfaffen = und Mönche :Derrfchaft und bes
finftern Aberglaubeng ; in der Schweiz einen zeitlich erträglichen Vers
gleich zwifchen Alt und Neu; in Polen menigftens den erften Grund»
flein zu einer etwa in Zukunſt möglichen Wiederherftellung der Natio⸗
nalität ; faſt überall endlich mancherlei ſchoͤne und koſtbare Gründungen
.
.
t
Buonaparte. 133
für Beförderung materieller, namentlich ſtaatswirthſchaftlicher Intereſ⸗
ſen: aber Alles, was von ſolchen Gütern Napoleon den unterjochten
Voͤlkern verlieh oder zudachte, war lediglich berechnet auf und bedingt
durch das feibfleigene Intereſſfe des Deren. Alſo die Schwaͤchung
des Geburtsadels und eben ſo des Pfaffenthums als der
wider ihn — jedenfalls den Sohn, wenn auch abtrünnigen Sohn
der Revolution — in unverföhnlidher Fehde flehenden Kaften, die
Erhebung der folbatifhen Kraft, ale dee ihm bienfibaren
und kuͤnſtlichſt an feinen Dienft gefeffelten, eben fo die Verbeſſe⸗
rung der Regierungstunft (im ber Hauptrichtung ohnehin nur
Vervollkommnung ber defpotifhen Verwaltungstunft), als
Hebels der Dervorrufung der abermal in feinen Dienfl zu verwen⸗
benden materiellen Mittel und Kräfte u. ſ. w. Nirgends aber follte bie
Entfaltung irgend einer felbfifländigen Kraft oder freien Natios
nalität flattfinden; fondern Regierungen und Voͤlker, bie er zw
-feinem Reiche zählte, nur ein lediglich von feinem Willen oder
feiner Gnade abbängiges Dafein haben. Daher die Zerſtuͤcke⸗
lung Italiens, woraus fein Schöpferwort fo leicht ein Reich hätte
bilden mögen ; in Deutfhland die Mifgefialt des Rheinbunds,
und die Herabwürdigung einerfeitd von deſſen Kürften zu Satrapen
des Kaiferd und anderfeits von. deſſen Völkern zu Knecht ſchaaren
der ihnen gegenüber mit un umſchraͤnkter Macht bekleideten Fürs
fen , die bis ins Herz Deutſchlands frevelhaft ausgedehnte unmittelbare
Herrſchaft Frankreichs und die Belegung deutſcher Fürftenftühle mit
franzöfiihen Herren; in Holland der dem Haffe gegen England ges
opferte Handel und der Raub ber koͤſtlichſten Provinzen, zuletzt die
völlige Einverleibung; in Polen ber kümmerlihe Bau eined, dem
unterthänigen Sach ſen verliehenen, Herzogthums Warſchau
an der Stelle eines unabhaͤngigen, nationalen Reiches; uͤberall endlich
das Auflegen der ſchwerſten Tributpflicht an Geld und Menſchen, und,
ſo weit immer thunlich, das Aufdringen franzoͤſiſcher Geſetze
(zumal der Conſcriptionsgeſeze und auch des buͤrgerlichen Geſetzbuchs),
franzoͤſiſcher, dem Intereſſe des Deſpotismus dienender Einrichtungen
und Verwaltungsformen, und des, aus Haß wider England bis zum
grauſamen Unſinn geſteigerten, ſogenannten „Eontinentalfyflem#”.
Von dieſer ſelbſtſuͤchtigen, den Rechten und Intereſſen der Voͤlker
feindſeligen Politik Napoleons zeugt am eindringlichſten die Apologie,
welche fein geiſtvoller Bruder Eucian (aus Anlaß der im einigen Stel⸗
len ihn kraͤnkenden Memoiren bes Generals Lamarque) für bie
felbe gefchrieben (erichienen zuerft in London, und fodann mit Erwei⸗
terungen in Paris bei Ladvocat unter bem Xitel: „La verite sur les
cent jours par Lucien Bonaparte, suivie des decumens histor!
sur 1815. S. Minerva, Novbr. 1835: Das Faiferliche gas
milienftatut (vom 30. März 1806), mwoburd Napoleon alle Glie⸗
der feiner Familie zur unbedingteften Abhängigkeit von ihm, als Frank:
reichs Daupt, verurtheilte, ift bekannt, eben fo wie bie denjenigen, weiche
3% Buonaparte ,
er zu Megenten erhoben, auksdruͤcklich und Öffentlich. gemachte Ein⸗
fhärfung: ihre erſte Pflicht binde fie an den Kaiſer, die zweite
an Frankreich, und erſt nach biefen beiden folge jene gegen ihre
oͤlker. Dit Beziehung auf ſolche, das befiere Gefühl empörende
Verpflihtung (welche auch fpäter Lubwig Buonaparte, ben König
von Holland, zur Miederlegung feiner für's Wohl feines Volles uns
mächtigen Krone bewog), erzählt nun Lucian eine hoͤchſt merkwuͤr⸗
dige — aus Anlaß eines auch ihm, Lucian, angebotenen Fuͤrſtenſtuh⸗
les gethane — ein faft naives Selbſtbekenntniß enthaltende Aeußerung
Mapoleond. „In der Conferenz von Mantua — alfo lauten bie
Morte diefer Erzählung — fragte ich, ob ich, der Staat, ben man
mir anvertrauen wolle, möge ſein welcher er wolle, bafelbft im Innern
ganz nad) meiner Ueberzeugung handeln inne, alle auswärtigen
Angelegenheiten feiner oberften Leitung überlaffend. Ich verſtehe Sie,
jagte,er zu mir, und will Ihnen eben fo freimüthig antworten als Sie
mid) fragen. Sowohl in Hinficht der Innern als ber auswärtigen Anges
fegenheiten müffen alle bie Meinigen meinen Befehlen Folge leiſten. Sie
möchten wohl in Florenz (defien Fürftenftuhl Lucian angetragen war)
den Medicis ſpielen? — Nein! das behagt mir niht. Auf Frank⸗
reichs Intereſſe muß Altes hinzielen, Gonfeription, Geſetzbuͤcher, Abs
gaben, Alles, Alles muß in Ihrem Staate zum Nugen
meiner Krone geſchehen. Würde ich fonfl nicht offenbar gegen
‚meine Pflicht und gegen mein eigenes Sntereffe handeln? Können
Sie leugnen, daß, wenn Ih Sie frei [halten ließe, das
ruhige und gluͤckliche Toskana den Neid ber Franzofen,
bie dorthin reifen, erregen würde??? — Wohl begriff ih
Napoleons Gründe. Sein Benehmen gegen feine Brüder war biefen
nicht günftigz; aber nur fie allein und ihre Völker haben das
Recht, fih darüber zu befhmeren, und Kranfreih kann in -
‚diefem Benehmen nur bie Seele bes großen Gonfuls, des unter dem
‚glänzenden. Mantel der kaiſerlichen Dictatur noch immer treu ergebenen
‚Bürgers ſehen.“ — Es ift hier übrigens Bar, baf, was Krank:
reich betrifft, das brüderliche Gefühl Lucians bier fein Urtheil beſtach.
‚Denn wahrlich! nicht nur die fremden Voͤlker hatten Urfache, ſich
‚zu beſchweren, wenn man ben kaiſerlichen Statthaltern verbot, fie gut,
-d. h. mild und gerecht zu regieren, damit nicht Frankreich neidifch
‚übee ihr Gluͤck würde, fondern auch Frankreich ſelbſt erfcheint als
‚Opfer des Eaiferlichen Ehrgeizes, wenn das Napoleon'ſche Regierungs⸗
foftem es in die Lage feßte, die von den Statthaltern etwa fchonend
behandelten Bafallen = Staaten beneiden zu müflen.
Auf diefes einheimifche Regierungsſyſtem Napoleons mollen
wir jeso den Blick werfen. Die fremden Voͤlker, wenn man fie
mißhanbelte, hatten darüber nur die eigene Schwäche ober das den
Ueberwundenen harte Kriegs und Siegsrecht anzullagen. Aber
Frankreich, welches ſich vertrauend in feines eignen Bürgers Arme
geworfen, Frankreich, nach fo. vielen der Sache ber Freiheit gebrachten
Buronaparte. 185
Opfern und nad) fo gloreelhen Triumphen über bie Feinde ber Re
volution, hatte von Napoleon etwas Beſſeres zu fordern. Mas bat
er ihm gegeben ? Br
Er hat ihm MWilflücherrfchaft - gegeben und Niedertretung aller
Volksrechte. Er hat ihm den glühenden Daß des Auslandes zugezogen
und den Spott der Freiheitsfreunde; er bat..e# um bie koſtbarſten
Grundfäge der Revolution betrogen und ein für alle Fünftige Defpoten
verführerifched Beiſpiel aufgeſtellt von kunſtreicher Errichtung, Ausdeh⸗
nung und Sicherſtellung der abſoluten Gewalt ſelbſt uͤber ein von
Freiheitstraͤumen berauſchtes Volk.
Schon als Conſul hatte Buonaparte die Hauptmauern zu bem
von ihm beabſichtigten Gebaͤude bes Abſolutismus errichtet; als Kai⸗
fer aber vollendete er den Bau und umgab ihn mit.den feſteſten Boll⸗
werfen. Die neue Verfaſſung zernichtete bie noch übriggebliebene ge⸗
ringe Bedeutſamkeit der Woffsrepräfentation durch die dem Genat ers
theilte Befugniß, die Verhandlungen bee Wahlcollegien für ungüls
tig zu erklären und durch die Aufhebung ber bis dahin dem Tribus.
nat noch zugeflandenen Deffentlichleit der Berathung. Eine-
den tepublifanifchen Grundfägen, die Napoleon noch immer mit. dem
Munde bekannte, Hohn fprechende, überreiche Civillifte (von 25 Mils
lionen Franken), dazu eine glänzende Hierarchie von „Groß wuͤrde—⸗
trägern” und „Großoffizieren“ des Reiches und von vielfach
geglieberten Horbeamtungen verkündete die Majeftät des von orientalis
ſchem Gepränge umgebenen neuen Monarchen. Auch ber Papft,
mit welhem Napoleon, noch als Conful, ein, bie nach vernünftigen
und felbft nad) hiſtoriſchem Rechte attzuſprechenden Freiheiten ber gallis
canifhen Kirche vielfach — theils zu Gunſten Roms, theils zu Guns
fien des erflen Conſuls — kraͤnkendes Concordat gefchloffen (1801),
ließ fi) bewegen, durch eigenhändige Krönung und Salbung bem Thro⸗
ne des maͤchtigen Schugherrn eine das Volk blendende Birchliche Weihe
zu ertheilen. Die Idee eines republikaniſchen, oder durch den
Volkswillen erhobenen Hauptes wich alfo jener der „von Gottes
Gnaden“ überlommenen Gewalt.
Auch die Idee der republilanifhen Gleichheit wurde nun voll
ends zernichtet. Denn außer dem perfönlihen (angeblih) Ver⸗
dbienftabel der Ehrenlegion, melden der erfle Conful errichtet
hatte, warb jego auch wieder ein erblicher eingeführt. ine große
Anzahl von Kriegshäuptern und andern Günfllingen wurde mit ber
vererblihen Herzogsmürde (mozu theild eroberte Provinzen, theils
Schauplaͤtze gelungener Kriegsthaten den Zitel herliehen) begabt und nes
ben ihnen eine Menge von Grafen, Baronen und Rittern ers
nannt, deren Adel auf die Nachfolger in ihren zu Majoraten er-
klaͤrten Beſitzthuͤmern vererben ſollte. So fehr wurden bie Grundfäge
der Revolution verhöhnt, als deren Schirmherrn gegenüber der Mächte
Napoleon ſich darſtellte! — Auch diefe Einfegungen rechnet zwar
Lucian feinem Bruder zum Verdienſte an, nämlich ald den Ausflug
136 Yuonaparte:
des „großen Gebankens, ein neües Patriziat zu erſchaf—
fen, welches unter Napoleons Mahfolgern im Stande ſei, als
Gegengewicht einerfeits gegen die koͤnigliche Macht und ander-
ſeits gegen bie m RUE IR dienen”: aber gegen des Kaiſers ei-
gene, dictatoriſche Macht diente diefer neue Adel als Gegengewicht
nicht, vielmehr verſtaͤrkte er durch die Lockkungen der Eitelkeit und follte
verftärten die Knechtegeffnnäng oder den Enechtifhen Dienfteifer gegen
den Bertefher jener Würden ; und jedenfalls ftand ihm, deffen Derr:
Ifchkeit aus dem demokra tiſchen Princip hervorgegangen, fchleht an,
daſſelbe durch ein ariſtok ratiſches .zu erfegen und, im Widerſpruch
mit dem fonnenklar vorliegenden Nationalmwillen (d. h. evidenten Gefins
nung der großen Mehrheit und Hauptrichtung der Revolution), an bie
Stelle der von ihm foviel ald getödteren Wolksrepräfentation
eine, naturgemäß dem Hof gegen bie Nation anhängende und den
Sören der. Gemeinen Freiheit feindfelige Adelskafte zu
fegen. Gegen die Wahlmacht wahrlich, ſowie Napoleon fie verftäm-
melt und gelähmt hatte, war fein Gegengewicht mehr ndöthig.
Bürste doc fhon das Wahlgefeg für eine dem Herrſcher wohlgefaͤl⸗
Ige-Infammenfeguing, und ward durch die Heimlichkeit ber Ver⸗
handlungen die lebte Bedeutſamkeit der geringen Atteibutionen, die man
ben Geſetzgebern und Tribunen noch gelaffen, aufgehoben, ja! murbe
zülege nu) das verftämmelte Tribunat, da defien Name noch
an einige Freiheitsideer erinmern mochte, völlig abgefhafft!
Aber alles dies :— fo meint oder fagt man — alles dies hätte
nach Napoleons Tode fi von felbft wieder zum Beſſern gewendet, und
feine dictatorifhe Gewalt war, nach feinen trefflihen Herrſchergaben
und nad) den damaligen Innern und aͤußern Verhaͤltniſſen Frankreichs,
eine. Wohlthat für daffelbe. Doch eine "bare Verbiendung liegt ſolchem
Meinen und Sagen zu Grunde Napoleons Anftalten zielten auf
Verewigung der Knechtfhaft, ndmlih auf Entfernthaltung
altes Lichtes der Wahrheit und völlige Ertödbtung aller
Fteiheitsgedanken im dem Lebenden Geſchlecht und auf eine
Erziehung des nachwachſenden zur Geiftesbefchränktheit, zumal
zu bleibender polififher Unmündigkeit und zum willenlfofen Gehor⸗
fam des Kriegsknechts. In diefen Anftalten liegt das entfchiedenfte
Selbſtbekenntniß des Defpoten und fein durch alle Zeiten toͤnendes Ver:
dammungsurtheil. Napoleon, in einer Fülle der Macht thronend, mie
fie noch nie ein Sterblicher. befeffen, vom blendendften Glanze bes
Ruhms und der Mafeftät umfloffen, das Schidfal der Nationen in
feiner ſtarken Hand haltend und Frankreich ale ſieggekroͤnter Feldherr,
als rettender Genius im gefahrvollften Sturm, als Bändiger der Factio⸗
nen und als Erbauer bes großen Neiches theuer — Napoleon zit-
terte vor feinem eigenen Volke, deffen Abneigung zu verdie:
nen er bergeftalt eingeftand und das er daher nur durch die Schref:
Een der Gewalt und durd die Späherlift einer allgegenwärtigen, ge-
wiffenlofen und ehelofen geheimen Polizei im Gehorfam erhalten
Buonaparte. 137
zu Eönnen hoffte. Er zitterte zumal vor jeder Buͤcherpreſſe, vor
jedem ohne fein Gutheißen bedrudten Blatt!!! Er fühlte dem»
nad, daß entweder der Titel feiner Herrfchaft oder die Art ihrer Fuͤh⸗
rung eine freie Prüfung auszuhalten: unfähig, daß die freie Discuſſion
der Thatſachen wie der Grundfäge oder überhaupt die Wahrheit dem
Fortbeſtand feiner Macht gefährlich, d. h. alfo, daß er im Unrecht
befindlih, und, ohne Mittel der Nechtfertigung, nur durch Nacht oder
Taͤuſchung vom Untergang zu retten fei. Daher erfann er ein fo
kuͤnſtliches und fo ſtrenges Syſtem von Maßregeln zur Unterdruͤckung
des freien Wortes, wie bis auf ihn noch niemals erſchienen, und ge⸗
ſellte dadurch ſeinen Namen jenem der erbittertſten und gefaͤhrlichſten
Verfolger des Lichts und der Wahrheit bei. Die Gewerbe der Buchs
bruder und Buhhändler, auf eine beflimmte Zahl eigens dazu
licenzirter Perfonen befchräntt unb beim Betrieb ber ftrengften Beauf⸗
fihtigung und Controle — fo aͤngſtlich als fie nicht emmal in Anfes
hung der Giftbereitung oder bes Giftverkaufs flattfindet —
unterworfen, hörten völlig auf, bie mohlthätigen Erleuchterinnen der
öffentlichen Meinung, die Verfünderinnen der Volksgeſinnung und der
Wahrheit, die Organe der dem Staatsbürger zuftehenden freien Beſpre⸗
hung Öffentlicher Angelegenheiten, die Mittel der Rechtsbehauptung oder
der vor das Zribunal der Mitwelt zu bringenden Beſchwerdefuͤhrung
uͤber erlittenes Unrecht zu ſein, und wurden — in Allem, was naͤher
oder entfernter mit Politik in Verbindung ſteht — herabgewuͤrdigt zu
bloßen Werkzeugen der abſoluten Gewalt, zu Organen der Volkstaͤu⸗
ſchung und der Luͤge. Alle, nach Gegenſtand oder Titel auf Staatsſa⸗
chen ſich beziehende, oder wie inimer ſonſt die Anufmerkſamkeit der Auf⸗
ſichtsbehoͤrde anregende Schriften mußten auf ihr Verlangen vor dem
Drud oder Verkauf einer ftrengen Genfur unterworfen werben; alle aus
dem Ausland fommenbde Druckſchriften aber — damit auch von jen⸗
ſeits der Grenze fo wenig als moͤgüch em Licht der Wahrheit nach Frank:
reich hinüberleuchte — mußten außerdem noch einen Eingangszoll von
50 Procent des Kaufwerths entrichten. Verfaffern von uncenfurirten
Schriften aber drohten, wenn man etwas Mißfälliges darin auffand,
ſchwere Griminalftrafen, in Gemäßheit harter, und durch Unbeflimmts
heit gefährdender Gefege und bes willkuͤrlichen Ausſpruchs corrumpir⸗
ter Gerichte.
Das Licht war dergeſtalt hintangehalten. Noch mangelte bie ſyſte⸗
matiſche Einfuͤhrung der Finſterniß, die poſitive Erziehung der
nachwachſenden Bürger zu Knechten. In dieſem Sinne ward ein
neuer, Eniferlicher Katehismus — das Hauptunterrichtebuch für die
Maffe der Bevoͤlkerung — befehlsweife bei allen (fatholifhen) Gemein:
den des Reiches eingeführt, darin über allen Tugenden jene des blinden
Gehorſams, ja fafteder Anbetung gegen den Kaifer, als das Ebenbild
Gottes auf Erden, und fein Haus eingefchärft, und ben kaiſerlichen
Verordnungen, zumal dem barbariſchen Conſcriptionsgeſetz, eine himm⸗
liſche Sanction verliehen. Endlich‘ ward auch jeder andere Unterricht
138 | Bbuonaparte.
und für alle Claſſen des Volkes dem Machtgebot des Dictators unter⸗
worfen, mittelſt der Schöpfung der „kaiſerlichen Univerſitaͤt“,
an deren. Spitze ein mit ber ausgedehnteſten Vollgewalt bekleideter
„Sroßmeifter” fland und welcher alle Unterrichtsanflalten im gan-
zen Reiche als integrivende, demnadh vom Mittelpunkt aus zu leitende
oder zu. beherrfchende Beſtandtheile einverleibt fein follten.
Wahrlich! für Maßregeln biefer Art, welche nämlich eine blei⸗
bende Berfinfterung, eine fortdauernde Knechtung des Geiftes und
Gemüthes augenſcheinlich bezwedten, gibt die Dictatur, fo nöthig
und heilfam man glaube, daß fie für Frankreich in Napoleons Zeiten
gemwefen, die Rechtfertigung nicht. Die Dictatur ſchließt den Begriff
vorübergehender Gefahren in fih; ihrem Machtgebot ift bas
lebende Geſchlecht für die Zeit folder Gefahr anheimgefkellt.
Aber fie hat weder Auftrag, noch irgend eine gedenkbare Befugniß, auch
die nachkommenden Geſchlechter zu knechten. Napoleon, da er bad
Legte zu bezwecken ſich vermaß, iſt dadurch der Verdammung folcher
Geſchlechter verfallen. Er iſt es aber auch, wenn man blos auf die
gerechten Forderungen ſeiner Zeitgenoſſen blickt. Wie konnte Er,
der Erbe ber Revolution, deren koſtbarſtes Geſchenk, die Prepfreis
beit, das Recht der freien. Beiftesthätigkeit, ber ihm gutmü-
thig vertrauenden Nation rauben? ie Eonnte er ein Princip aufſtel⸗
fen, weldyes, je nach der Richtung oder Sinnesweiſe eines Machthabers,
zur Aufhebung nit nur ber republikaniſchen Freiheit, fondern
alles Rechtszuftandes führen mag? — Somie Seneca: mit
Recht alle Lobreden auf ben großen Alerander niederfchlug mit
dem einzigen Wort: „sed Callistıenem occidit“ | — fo fhwindet al⸗
les Große und Gute, was Napoleon in irgend einer Sphäre vollbracht
bat, dahin vor dem Worte: „Er, ber Sohn ber Revolution, hat Die
Preſſe gefeffelt und den Gedanken unterjocht!“ —
Aber Napoleon, welcher zur Stüße feiner Herrſchaft fi das
Heer erbor, deffen Treue und Anhänglichfeit man befehlen und
bezahlen Bann, anftatt bes Volkes, deſſen Liebe verdient werden
mill, Napoleon beflegte wohl die Mächte, doch bie Ideen nicht. —
„Die liberalen den haben mich zu Grunde gerichtet” — alfo rief er
nad) feinem Falle Eagend aus, durch dieſes Wort allen kuͤnftigen Zei⸗
ten die impofantefle und troftreichfte Lehre gebend. Der Herr bes Welt:
reichs war nicht flarf genug gegen ben Zeitgeift, gegen die Ideen
des ewigen Rechts und ber den Völkern gebührenden bürgerlichen und
politifhen Freiheit im Innern und Selbftfländigkgit nad) Augen.
Zeitlich unterdrüden wohl konnte er fie, doch nicht vdllends ertödten;
fie nahmen vielmehr, tie eine gewaltfam zufammengepreßte Luft, im
erften Moment der Entfeflelung einen befto gemaltigern Aufſchwung,
je größer der Drud gemefen. Sm Kampfe wider den Geiſt ift —
für die Dauer — Nichts gethan, fo lange nicht Alles.
Mit dem gerechten Born wider Mapoleon, ale den Veraͤchter bes
Rechts und den Feind ber Freiheit, iſt jedoch gar wohl vereinbar die ihm
Buonaparte 439
als „großer- Mann” gebührende .unb auch von uns willig gezollte,
beroundernde Anerkennung. Die Galerie derjenigen, welche die Geſchichte
„groß“ nennt, würde bis auf aͤußerſt wenige Bilder müffen zufammens
gejogen werben, wenn man als Bebingung der Aufftellung in folchens
Zempel bie Tugend forderte. Größe wird eben genommen für maͤch⸗
tig und thatenreich — im Zerftören oder Bauen — wirkende, im Kampf
mit feindlichen Gewalten bewährte, durch glänzende Erfolge gekroͤnte oder
auch noch im Unglüd duch kuͤhnen Widerftand und würdigen Fall auss
gezeichnete Kraft. In diefem Sinn ift Napoleons Größe unübers
teoffen, ja unerreiht von was irgend für einer andern in ber
Gefchichte vorfommenden, die man mit der feinigen vergleichen möchte.
Seine Sünden aber find nur diejenigen, die uns im Buche der Zeiten
feider! faſt auf jedem Blatte begegnen, nur daß er, wie feine größere
Kraft es mit fi brachte, auch in entfprechend größerem Umfang und
mit verberblicherer Wirkung fie beging. Endlich giebt es einige Momente
in feiner Gefchichte, die uns mit ihm zu verföhnen ober wenigftens
den Unwillen über feine fchweren Sünden zu mildern geeignet find.:
feine Ruͤckkehr von Elb a nämlich, fodann bee Kampf von ganz Eus
topa gegen einen Mann, zulegt die erſchuͤtternde Kataftcophe und das
fhaudervolle Felfengradb. Napoleon, ber Verbannte auf Elba, mit
Bliden der Geringfhäsung von feinen triumphirenden Seinden betrach⸗
tet, erfcheint ungeahnet wieder auf Frankreichs Boden mit faum 1200
Bemaffneten, erfreut fich fofort der liebenden Begrüßung, bes huldigen⸗
den Zurufs von Heer und Boll, unb zieht — bie. ihm feindlich ent⸗
gegengefendeten Schaaren mit feinen Getreuen vereinigend — mit täglich
fhwellender Macht durch die Provinzen und in die jubelnde Hauptſtadt.
Nicht eine Eriegerifche Eroberung, fondern eine friedliche Befignahme giebt
‚ihm ben Thron zurüd, deſſen das verbündete Europa ihn beraubet.
Frankreich, diesmal freiwillig und freudig, nimmt ihn als Derrfcher auf
und verzichtet dadurch auf jedes etwa früher gebabte Recht der Anklage.
Freilich erfchien Napoleon, obſchon Unterdrüder ber. Republik und befpos
tifher Dictator, dennoch, im Gegenfag ber verhaften, durch fremde
Bajonstte bemirkten, Reftauration, ald Repräfentant bee Revolu⸗
tion, alfo wenigftend des Princips ber Freiheit, wenn auch nicht
ihrer Verwirklichung: doch ift jedenfalls fein Triumphzug von Can⸗
nes nad Paris zehnfach ruhmvoller für ihn, als feine frühern Sie
gesmärfhe nah Wien und Berlin, Madrid und Moskau. Kür
feine gerfönliche Größe aber zeugend iſt Nichts mehr, als die von
den Gewaltigen Europa’s wider ihn, den einen Mann, gefchloffene
oder erneuerte Allian.. Man hatte ihn, als Friedensflörer und Feind
ber Welt, durch foͤrmliche, von den acht Mächten, welche ben patifer
Frieden unterzeichnet hatten, erlaffene Sentenz alles Rechts verluftig
erklärt, und fandte nun nahe an anderthalb Millionen Gewaffneter gegen
ihn, die Sentenz zu vollziehen. Meichergeftalt bei Waterloo das
Verhaͤngniß erfülit und bald darauf der vom Welttheil Gefücchtete durch
die britifche Regierung, deren Schiffen er ſich, das Gaſtrecht fuchend,
440 Buonaparte:
anvertrant, nach St. Helena zut ewigen Einkerkerung gefendet wei
den, dieſe im neuern Europa unerhoͤrte Behandlung eines gektoͤnten
Hauptes durch andere Gekroͤnte, ſodann die ſechsjaͤhrige Marter des an
den einſamen Felſen geſchmiedeten neuen Prometheus und ſein alle
Welt mit ihm verſoͤhnender Tod (5. Mai 1821) — dies Alles ſteht
uns in noch friſchet und in unzerſtoͤrbarer Erinnerung.
Wir ſtehen an- des gefallenen Kaiſers Grab, und fragen: was iſt
uͤbriggeblieben von ſeinem Wirken, welches iſt fein, der Nachwelt hin-
terlaffenes Vermächtnis? — Das Miefengebäude, das er wumnderaͤhnlich
aufgeführet,, der Weltthron, den er errichtet, die Frucht fo vieler Siege,
Scoßthaten und Nechtönerlegungen, iſt umgeſtuͤrzt, verweht das ganze
politiſche Spftem,' das er begründet, erloſchen der meteorartig emporge⸗
fliegene Glanz feines Haufe, die Revolution um den Gewinn aller
ihrer Triumphe betrogen und wehrlos überantwortet der Gegenrevolution,
in die Beſtimmungen des Menfchengefchlehts ein trauriger Ruͤckſchritt
anftatt der erfehnten und gehofften $ortfchritte gebracht, endlich für Eu⸗
ropa die Ausſicht eröffnet, entweder auf troftiofen Geiftesfchlummer oder
auf erneuten, verhängrißvollen, nad) Umfang und Dauer fchredlichen
Kampf für und wider die Adern, d. h. auf eine wieder von vorm ans
fangende, furchtbare Revolution. Bon diefem Standpunkt gewürdigt,
erfcheint freilich Napoleons Wirken als bem Endergebniß nach theils nichtig,
theils heillos und hoͤchſtens etwas als impofante Lehre von der Unhaltbarkeit
der nicht auf Weisheit und Recht, fondern blos auf Gewalt und Anmaßung
gegründeten — ob auch genialifh kuͤhnen — menſchlichen Schöpfungen,
von Werth für die Wer. Doc gibt es aucd andere Standpunfte,
von welchen aus wir, ungeachtet ſolches Einſturzes des Napoleonifchen
Hauptgebäubes , gleichwohl eine Fortdauer mancher von ihm ausgegan⸗
gener Schoͤpfungen, oder ein Fortwirken feines Geiſtes, theils in Gutem,
theils in Boͤſem erſchauen.
Schon die vielen meiſt großartigen materiellen Gruͤndungen, dis
Canaͤle, Bruͤcken, Heerſtraßen u. ſ. w. in den meiſten Laͤndern ſeines
diretten und indirecten Reiches, gehoͤren hieher; ja es ſind dieſes die
unzweideutigſten, d. h. des reinſten Lobes werthen Monumente, die er
ſich geſezet. Von feinen geiftigen Schoͤpfungen behauptet namentlich ſein
bürgerlihes Geſetbuch nicht nur in Frankreich ſelbſt, ſondern auch
in mehreren andern; dem Kaiſerreich theils einverleibt, theils als Vaſal⸗
lenſtaaten unterworfen geweſenen Ländern die Herrſchaft fort (ob oder
inwiefern zum Frommen“ ober zum Nachtheil des wahren Rechts und
des Gemeinwohls wird m einem eigenen Artikel, „Code Napoleon“,
unterfucht werden); und auch von feinen politifchen Gefegen find bie
meiften noch jetzo im Mutterlande, ja mehrere, felbft die alldort abgefchafft
find (3. B. das Eon feriptionsgefes), wenigftens in ben Haupt⸗
beftimmungen nody weithin im Auslande geltend. Freilich, daß bie Mes
- ffauration fie nicht aufhob, zeugt nicht eben für ihre Guͤte, fondern
mehr für ihre Brauchbarkeit zu abfolutiftifchen Zwecken. Daffelbe ift zu
fogen von den Regierungsprincipien und Berwaltungsfer:
Buonaparte. 141
men, bie man aroßentheild in Srankreich beibehielt und zum Theil auch
ins Auslande nachahmte; ein unheilvolles Vermaͤchtniß, welches jedoch
aufgetwogen wird darch die Napoleon allerdings zu. verbantende Erwei⸗
terung bes geiftigen Geſichtskreifesder: Voͤlker, weiche
nämlich) die unausbleibliche Kolge war ’allernächft: von ſeinen Eroberungszuͤ⸗
gen burch fo viele Länder des Welttheils und von der, wenn and) ınue
vorübergehenden, franzöfifchen Herrſchaft, "dam zaber auch von der Ind»
tee Über Frankreich ergoffenen Flut ber’ zuropäifchen ‘Deere. - :
- Wir fügen noch eine Bemerkung: bei: Napofenas Welttheon: if
zwar eingeflürgt; doch die Idee der Weltherrfchaft oder, des Gy
ſteus der Präponberanz, welched das ehevorige des Gleichge⸗
wicht s verdraͤngte/ iſt darum wicht. untergegangen: Metargemäß wird
bee Sieger der Erbe des Befigten,: db; 5. mas! dieſenn enttriffen wud,
geht an jenen über. Die Großmächte, weise die amopdifche Dictqtur
Napoleons Über den Haufen warfen, wurben alfo bie Erben feiner Gewalt,
und üben fie, tie ehemals Mapoleon ‚für ſich allein an der Spige der
Heerſchaaren ober ans: feinem Cabinette that, fo :jegt .auf Congreſſen
oder in Miniſterial⸗ Conferengen durch gemeinfame Beſchluͤſſe oder Pro»
toßelle aus. Die Gefchichte wirb einftens daruͤber entſcheiden, ob und.
weich ein Unterfchieb zwiſchen der Weltherrfchaft eines Einzigen und
jener von vier oder fünf Mächten fei. Es verfieht fih, bag hier
von bee Perſoͤnlichkeit der Machthabenden. abgefehen und nur bas
Wefen, nämlih die Weicherrfhaft,. im Auge behalten wird
Das Factum ift blos, daß feit Mapoleons Weltherrfchaft. das Gefeg für
die europäifchen Angelegenheiten von einem Gentralpuntt ber Macht. aus⸗
gebt, dab bie Selbftftändigkeit der Staaten des zweitem oder. gar
bes dritten Ranges fid) verminderte, und jetzo das Ueberein»
koͤmmniß der Großmaͤchte, fo wie früher der Wille Napo«
Leone, dad Schidfal aller beftimmt. —
Auch von Napoleons Familie find bie meiften Häupter durch
Charakter oder Schickſale unfer Intereſſe anſprechend unb felbft geſchicht⸗
tih merkwürdig; das Staats⸗Lexikon jedoch kann ihnen nur einen
flöcytigen Ueberblick zuwenden. Von den Königsthronen und Fuͤrſtenſtuͤh⸗
len, worauf des Kaiſers Machtwort fie erhoben, ftürzten fie mit :fels
nem Faß wieder herunter; :mehrere creilte feitdem ein tragifher — ge⸗
waltfanter ober natürlicher — Tod. Die Ueberlebenden find verbannt
von dem frangöfifchen Boden, welchen Napoleon fo glänzend verherrlicht,
ausgefchloffen von dem Vaterlande, welches ihm fo oft feinen Dank und
feine Bewunderung huldigend dargebracht hatte. Aber fie tragen das
über fie gefommene Verhängnig mit Würbe, und bie Welt wendet ihnen
den geruͤhrten Blick hochachtungsvoller Theunahme zu.
Napoleons Vater, Carlo Buonaparte, Spröfting, eines alts
adeligen italifchen, nach Gorfica verpflanzten Geſchlechtes, heirathete
1767 bie fchöne Maria Lititia Ramolino (geb. 1750 zu Ajac⸗
co), weiche ihm fünf Söhne, Iofeph, Napoleon, Lucian, Lud>
wig und Hieronymus, und drei Toͤchter, Elife, Pauline und
142 Buonaparte.
Caroline, gebar: . Der Vater. ſtarb ſchon "1785, die Mutter nach der
Eroberung Corſica's durch die Englänher, 1793, zog nad) Marfeille,
nach ihres großen Sohnes: Erhebung aber nad) Paris, warb zur
„Kaiſerin Mutter“ erklaͤrt und zur Beſchuͤterin aller milden. Ans
flatten des Reiches, begab fid mach des Raifers Fall nach Rom: zu ih»
rem "Stiefbruder.,, dem. Carbinat Feſch, erlebte den: Ted... des großen
Sohnes , mehrere Töchter, Enkel umd Geitenverwandten amb’Iebt noch,
geteugt durch bie Laſt der Jahre: wie des gebäuften Schmerzes, in ſtil⸗
Km Dulden, für. ledes fuͤhlende pp: ‚ein Gegenſtand inniger Zeil
whme” 9.
Der Ältefte Ihrer: Söhne, Sof ep. (oe. 1768), is no Me
Gate von fest: Bruders. Erhöhung; mon: yon: lebe: zu Mücke, zeichnete
ie durch Kunſtrider Unterhandtungen mehr: als iene bes Krieges ame,
ſchloß den Srieben von -Luneville:.uud jenen von Amients. werd,
nach der Vertreibung be& bourboniſchen; Koͤnigshauſes auß Neap⸗el zum
König von Meapol und. Sickiieu ernannt (1806: 39,.Mdra,
Bäiſd nadiher aber (1808 6. Jimi) zum: Moͤnig von Spanien und
Jubien, verlor, ‚wie befannt, noch. vor Napoleons Fall, auch ben let⸗
ten Thron, und ſchiffte fich nach der Kataſtrophe von W.oterioe a
Amerika ein; wofelbft er unter dem Namen: eines Grafen Survil⸗
ers: eine Prieberlaffung an dem Fluſſe Mabile gründete und ſeitdem
16 Privatmann lebt, dech auch aus ſeiner laͤndlichen Zuruͤckgezogenheit
von Zeit zu Zei: durch oͤffentliche Erklaͤrungen die franzoͤſiſche Nation
ari bie Anſpruͤche feines Hauſes auf. Frankreichs Thron zu crinnecen
fügt. Stine Gemahlin (Julie Clary, Schwägerin Bernabotte'g,
des jehigen Könige von Schweden,) lebt als Graͤfin Suroittiers, -guit
Ihm Beiden Töchtern in Brüffe.= © 2... unse) ;
Luctan Buonaparte (geb. 177%, der einzige: von.
Brüdern, dem feine Krone zu Theil ward, d. h. der eine ſolche wer⸗
Tdjmähte, da fie nut Vaſallenkrone fein Tollte ‚ ein durch · Geiſtesgaben
and Charakterfeſtigkeit ſehr ausgezeichneter Wann, hatte, als damaliger
Praͤfident des Rathes der Fuͤnfhunderte, die Revolution -yom-18. Brig
wmälre ganz vorzüglich. — freilich auf wenig-lobenswerthe Weiſe: — zum
GSelingen gebracht, leiftete auch nachher, ais Befandter und - als -Minifter
des Innern, feinem Bruder fehr wichtige Dienfte, mißbilligte aber deſſen
defpotiſche Maßregeln und lud dadurch, ſo wie durch die Behauntung ſei⸗
ner perſoͤnlichen Freihelt, den Zorn des Imperators auf ſich. Seit; 1804
war eine Billa bei Rom, ſpaͤter London (wohin ihn- die Engländer
1810 als Gefangenen führten), fobann abermals Rom ſein Aufenthalt,
Kunft und Wiffenfhaft und der gefchmadvolle Genuß ſeiner: großen
Schaͤtze, feine Dee igung. Während der hundert Tage erneuerte er mit
Napoleon, der jetzt minder Defpot au ſem fchlen, bie brůderuche
*, Im Augenblick, ba dieſe Zeilen geföheieben | find, Iefen wir tn N ffenttichen
Blättern (f. allgem. Zeitung vom 11. Febr. 1836) die Nachricht don dem ah
2. Zebr. endlich erfolgten Hinſcheiden der ehrwuͤrdigen Frau. Br
Buonaparte. 143
Freundſcaft und kehrte nach deſſen endiichem Fall du bei
aurüd, ald „Shen von Canino“, welchen Titel d
© Ludwig Buonaparte (geb. 1778), gleld) Teinem'Bhüher Ig⸗
:fepd_von Napoleon, ſchon als ‚erftem Conful umb bantı fs 4
‘von Würde zu Wide erhoben, warb endlich (1806).zum Koͤntg won
Holtanp erfiätt, 'maltete als ſolchet wit Weisheit und GAte, voch ver-
„gebens bemüht, den immer häctern Forberungen beb’Käffers ein’ Bidt’ziı
"fee. ° Butegt am der Möglichkeit verzweifelnd, Die Pfichten fuͤr Yih
'alınd ihres ar
Mutter barlıber verwanbelte 1 u!
und fein unter dem Namen eines Grafen von Montfort in Oeſter⸗
weich gewähltes Eril wit ihm theifte. Er iſt übrigens — wenn may
den vielftimmiig wider Ihn erklungenen Anklagen trauen —
mindeſt achumgewerthe unter Napoleons Brüdern, Von ſeiner erſten
Gattin leben noch mehrere Täter. Auch die zwelte —"erft kurzuch
verſtorbene — gebar ihm mehrere Kirider, von melden, Bei dem zurüd-
gezogenen Leben der Familie, bis jegt noch wenige Nachrichten vorliegen.
Bon Napoleons Schweſtern ward Marie Anna Elife (geb.
*1777) vermäßlt an Selir Caspar Bacciochi, einen Adeligen aus
"Corfica, welchem folhe Verſchwaͤgerung mit dem Seife, das Flutſten ⸗
chum Lucea mit Piombine eintrug . Doch feine Ögjeinregierung
144 Buonaparte.
hoͤrte auf mit Napoleons Fall. Eliſe ſtarb 1820. Die zweite Schwe⸗
fir, Marie Pauline (geb. 1780), ward die Gemahlin zuerſt des
GSenerald Lecherc und nad beffen Tode des Fürften Camillo Bor
ghefe..11803). ‚Napoleon verlieh ihr, das Fuͤrſtenthum Guaſtalla.
Nach feinem Sturze lebte fie, von ihrem Gemahl getrennt, in Nom
und ſtarb dafelbft 1825, Annunciade Caroline endlich, bie dritte
Schiwefter (geb. 1782), erhielt zum ‚Gatten Soahim Murat, mel
hen des Schwagers Gunſt. Anfangs zum Großherzog von Berg und
" fpgter zum König von. Neapel ‚machte. Als beifelben charakterloſes
Benehmen, ihm den Verluſt der Krone und feine Toukaͤhnheit endlich
eine, ſchmaͤhliche Hinrichtung zugezogen, flüchtete die gleich kluge als mus
thige Frau mit ihren Kindern nah Defterreich, woſeibſt fie Gaſt⸗
recht fand. 0 nn
Napoleons erſte Gemahlin, Joſephine, geborne Taf cher de
fa Pagerie undb-Wittwe bes (1794 von den „Schreckens aͤn⸗
nern‘ Bingeridhteten) Generals Alex. Beauharnois,.hatte ihm zwei
mit dem erſten Gatten erzeugte Kinder, Eugen und Därtenfia, zus
gebracht ,. welche, fo wie ihre. (von Napoleon 1806 an Linbesftatt ange⸗
‚nommene unb mit bem Erbprinzen, nachmals Großherzog .nou Baden,
Cart, vermählte) Nichte, Stephanie Louife Adrienne, zu den
wuͤrdigſten Gliedern feines Haufes gehoͤren. Joſephine (1804 zur
Kaiferin gekroͤnt), deren Ehe mit Napoleon kinderlos blieb, iwiligte 1809
großmürhig in bie. Scheibung von ihrem Gemahl, als dieſer, um einen Leis
beserben zu erhalten, eine neue Ehe. einzugehen wuͤnſchie, behielt jedoch dem
kaiſerlichen Rang und flarb, bald. nad, dem Falle Napoleons (30.. Mai
1814), in. Malmaifon, geachtet von der Welt „und felbft von den
verbündeten. Monacchen mit Auszeihnung behandelt. Eugen Beau⸗
barnois, ihr Sohn, von. Napoleon, zum feanzöfifhen Prinzen und
Viceköntg von Italien erhoben: und.mit der bairiſchen Prinzefs
An Augufte vermaͤhlt, zeigte ſich folder Erhebung würdig nicht nur
duch, Geiſt und Much und glänzende Kriegschaten, fondern auch durch
die fchöne Tugend der Treue und einem in allen Lagen bewährten edien,
bie Hochachtung , felbft feiner Feinde erzwingenden Sinn. Nach bem
Eturze des, Kaiſers, deffen Sache er bis zum legten Augenblid heldens
müthig vertheibige hatte, erhielt er durch die Achtung der Mächte und
des Königs don Baiern viterlihe Gunft das unter bairifcher ‚Hoheit zu
verwaltende Fuͤrſtenthum Eihftäbt und die Standesherrſchaft Leuch⸗
tenberg, den Titel Herzog von Leuchtenberg und fuͤr ſeine
Nachkommen das eventuelle Erbrecht in Baiern. Der frühe Tod die⸗
ſes liebenswürbigen Helden (1824), die nachherige Vermaͤhlung breier
feiner Zöchter, der einen an den Kaifer Don Pedro von Braſi⸗
lien, dee zweiten an den Erbprinzen Oscar von Schwehen und
ber dritten an den Erbprinzen Gonftantin von Hobenzollern- He:
hingen, endlich die feines Altern Sohns, Auguft, mit der jungen
Königin Dana Maria von Portugal und die traurige" Vereitelung
der hieraus fuͤr das Leuchtenbergiſche Haus und für Cutopa hervorge⸗
Buonaparte. 145
gangenen ſchoͤnen Hoffnungen durch ben fchnellen Tod bes Prinzen, find
aligemein befannte und mit lebendiger Theilnahme aufgenommene Er⸗
eiguiffe. Von Eugens Schweſter, Hortenfia, ift oben gefprochen.
Fore gleichmäßig durch Geiſt und Anmuth und duch jede weibliche Tu⸗
gend außgezeichnete Verwandte, Stephanie, feit 1813 verwitt—
wete Großherzogin von Baden, verlor zwar ihre Prinzen noch vor
bes Vaters Hinſcheiden durch frühen Tod: Aber durch ihre drei Prinzefs
finnen, vom welchen bereits zwei, eine an den Prinzen Guſtav Wafa,
Die andere an den Exrbprinzen von Dohenzolleens Sigmaringen, ver
maͤhlt find, mag das Blut der Aboptivtochter Napoleons fpäter
noch auf manchen Fürftenftuhl gelangen.
Zu Napoteons Haus gehört noch ber Cardinal Joſeph Feſch,
Stiefbruder Laͤtitiens Buonaparte, in der zweiten Ehe von der⸗
ſelben Mutter, verwittweten Ramolini, mit Franz Feſch erzeugt
(1763). Zur Zeit bes von, dem erſten Conful mit dem. Papſte abges
fchioffenen Concordats wurde er Erzbifhof von Lyon und darauf Gar-
dinal. Der Churfürft Erzkanzler, hachmals Zürft Primas des Rhein:
bundes, von Dalberg, ernannte ihn zum Coadjutor und Nachfol⸗
ger, was jedoch Napoleon, gegen welchen Feſch ſich nicht folgfam genug
Deine: nicht genehm bielt. Seit ber Kataſtrophe von 1814 lebt er
in Rom.
Dos Blut von Napoleons Eltern, auch jenes feiner erften
Gemahlin, Joſephine, tinnt hiernach wohl noch in mehreren, zum
Theil noch lebensvollen, zum Theil freilid) dem Verdorren nahen Zrei
Sein eigenes Blut jedoch (von natuͤrlichen Kindern gehen nur
unbeglaubigte Sagen herum) ift verfiegt. Im hoͤchſten Glanze ſtrahlte
Napoleons Stern, als ihm, dem Sohne der Revolution, die Band der
Sferreihifchen Kaifertochter, Marie Louiſe, und daducch die Aufs
nahme: in den Kreis ber erhabenen und legitimen Herrfcherhäufer ges
währt ward (1810). Und fein Gluͤck hatte den Höhepunkt erreicht,
als im folgenden Jahre (1811 20. März) ein Sohn, Napoleon
Franz Carl Fofeph, ihm geboren ward. Der Titel „König von
Mom’ marb dem Kinde verliehen und mit orientalifchem Gepränge die
der „Majeſtaͤt“ gebührende Huldigung ihm in der Wiege dargebradht,
Aber die Herrlichkeit ſchwand mit Napoleons Fall. Vergebens hatte dee
Kaifer in feine Abdankungsurkunde die Worte: „zu Gunften meines
Sohnes, Napoleons 1." aufgenommen. Die Mächte achteten fols -
cher Verfügung nicht. Doch erfuhren Mutter und Kind, ba Öfterreicht«
ſches Blut in ihren Adern floß, natürlich eine folher Herkunft ent⸗
fprechende wohlwollende Behandlung. Marie Louife wurde für ihre
Lebenszeit zur Beherefherin von Parma und Pincenza ernannt und
dee junge Napoleon feinem Laiferlichen Großvater übergeben, welcher ihn
liebend heranzog, mit dem Zitel „Herzog von Reichſtadt“ begabte
und ihm den Rang unnlittelbar nach den Prinzen bes Hauſes anwies.
Die Ahgen der Welt ruhten auf dem, durch Anlagen bed Geiftes und
Herzens ausgezeichneten und, wie es fchien, zu großen Begimmungen
Staats ⸗Lexikon. III.
146 Buonaparke.
beranreifenden Sünglinge. Nach ber Iuliis-Revolwtion in: Franb
reich (1830) waren Viele, die auf ihn ihre Blicke warfen, als' auf ben
Napoleon, ohne (Hiftorifch denkwuͤrdige) Vorfahren und min auch
ohne Nachkommen, fteht alfo für fih ganz allein in ber Geſchichte,
ein einfames Bilb, gleich einer Geiſtererſcheinung. Das Bild zeigt uns
in einem impofanten Beiſpiel die erftaunliche Kraft des Menſchen tm
Suten wie im Boͤſen, aber auch die durch ein Naturgeſet derſelben ger
fiedte Grenze. Es verkündet eindringlichſt die Lehren der Mäfigung
und Weisheit und warnt in bie fernfle Zeit alle für Warnung Ems
pfänglichen vor Mißbrauch ber Macht, vor Uebermuth im Gluͤck, vor
allzufrecher Verhoͤhnung bes Rechts und vor Unterdruͤckungsverſuchen
wider den Geiſt. Freilich erweckt es auch die niederſchlagende Vorſtel⸗
tung von bee Abhaͤngigkeit des Schikſales der Nationen,
ja ganzer MWelttheile, von ber Geiſtes⸗ und Willensrichtung und von
dem Berhängniß eines Mannes. Hunbderttaufende, ja Millionen ha⸗
ben Jahr für Fahre ein halbes Menſchenalter hindurch gebiuter, gelitten,
Die ſchmerzlichſten Opfer gebracht zur Saͤttigung des Ehrgeizes eines
Starken. Auf bie unnatuͤrlichſte Weife wurden Nationen zerriffen und
dufanımengefügt, Staaten, Verfaſſungen, Regierungsſyſteme errichtet
und über den Haufen geworfen, bie koſtbarſten Ledensverhaͤltnifſe der Voͤl⸗
ker beſtimmt, umgemobelt, in Verwirrung gefegt — Alles nad, dem
Saunen oder Intereſſen, überall nah dem Machtwort des Einem
Und am Ende ging, was er fo Eoftfpielig erbauet, das Weltreich,
pisns in Truͤmmer durch feinen Fall und blieb von hundert und hans
fegen nicht eine Trophaͤe zuräd. Andere Häupter bemaͤchtigten
fi der Bügel, und das Schickſal Europa’s, ia ber Welt, nimmit ſeitden
einen neuen, jest zwar nicht mehr von Einem, doch von einigen
Wenigen abhängigen Gang.
Doch au diefer Gang unterliegt dem ewigen Naturgefeg. Er
wird nicht immer derſelbe fein. Jedem menfchlichen Beſtreben if
ein Biel geſezt; auf Ebbe koͤmmt Fluth, auf Wirkung Gegenwirkung.
Die Aufgabe de8 Einzelnen — ob body ober niedrig, groß ober
Fein — ift immer, ſich forgfältig Elar zu machen, was nad der all»
gemeinen Weltlage oder nad den jeweils berrfhenden
Sternen, bier oder bort noch Gutes zu bewirken ober Boͤſes zu ver
Üten, ihm, nach Maßgabe feiner Stellung und feiner Kräfte, möge -
ich fel, und auf ſolches Erreihbare oder Erfolg Verheißende
fen treues Streben zu richten. Die Aufgabe dee Staatenlenker
aber ift, den Geiſt ber Zeit und der Nationen zu beachten, und
ſolchem Geift ihre Richtung anzupafien. Nur die Befreundbung mit
Km gibt Sicherheit und dauernde Kraft. Die Bekaͤmpfung deffels
ben kann wohl zeitlich von Erfolg fein, aber fie bringe große Befahe
and früher oder fpätee Elmmt ber Auzenbi des ädfhlaoe.
Bureaukratie. Bürger. 147
Büreaufratie, f. Verwaltungéſyſtem. |
Bürger, ein Ausdrud, ber im im Laufe bee Zeit ſehr verſchieden⸗
Webentungen erhielt, und bee ihais mit der Entwictelung ber Gtäbte;
cheils mit ber’ Ausbildung der Gtaassverhäitniffe zufammenhing. Urs
fprüngtich wurden die im den ſchon früh gegründeten Burgen ihren
Wohnſitz habenden Eimmohner burgenses genannt *), felbft zu einer
Bet, wo die Städte noch wicht mic den Privilegien vorfamen, die fie
foäter anszeidmeten. Als almählig die Städte burch die Macht Ihrer
Bewohner, durch gluͤckliche Kämpfe, wichtig für die Megenten, denen
ie Gtadtberohner durch ihren Reichthum und ihre Tapferkeit im Kampfe
gegen den Adel dienten, buch Muge Herrſcher daher begünftigt, eine be⸗
fondere Bemeindeverfaffung erhielten, wurde bee Titel eines Gtädtebes
wohners, der an allen ſtaͤdtiſchen Privilegien Theil nahm, bedeutend, und
ber Ausbrud Bürger bezeichnete einen ſolchen Bewohner **). — Nady
Yen bekannten Revolutionen, welche die Städte durchmachen mußten,
bis fie in den Beſitz ihrer vollſtaͤndigen Munichpalverfaſſung kamen, und
nach dee Verſchiedenheit der Perfonen, welche in einer Stadt fih aufs
hielten, wurde aber auch der Ausdruck: Bürger, verfchieden gebraucht.
Da die Stadt audy aus vielen hörigen Leuten beftand, fo bediente man
ſich ſchon des Worte: Bürger, zur Bezeichnung aller Staͤdtebewohner,
weiche bie ftäbtifchen echte in .) N aber nicht zu den Unftelen
oder Hoͤrigen gehoͤrten. Manche Urkunden ſprechen in dieſem weite
Sinne von Bürgern; allein viel häufiger bezeichnete der Ausdruck: Würd
ger, eine engere, gefchloffene, bevortechtete Claſſe ***) umd zwar wahrſchein⸗
* —5* — ui auch als milites vorfamen, oder zu den
| felpem 1) Da ber hochangefehenen reichen Gefchlechtern gehoͤr⸗
ten ven HH), auf hnliche Weiſe, mie in den niederlaͤndiſchen Städten bie
poorters die bevorrechtete Claffe bee Staͤdtebewohner waren +44). Di
der Reichthum der Städte vorzüglich auf ber fleigenden Bluͤthe des Hans.
dels und der Gewerbe berubte, fo war es begreiflih, daß diejenigen
Staͤdtebewohner, welche zwar Gewerbe trieben und oft nur verächeitdh‘
ats Handwerker +4FF) von ben andern Bürgern getrennt wurden,
ihre Macht fühlten und gegen ben Hochmuth der Webrigen, bie —
weiſe ſich Buͤrger nannten, ſich empoͤrten. Die Handels» und Fabrik⸗
% Dreyer Einl. In bie luͤbiſchen Verorbn. ©. 84.
*) Smeiner vom Urfprung ber Gtabt Regensburg, ©. 57. 85: ts
Hard, Entſtehung von —** ©. 74. 103. s ®
Montag, & N bingerl. t, IL Zt. ©. 386.
08. Sefdhichte don ie ce Aaatibärgerl, Beeibeit, N 5
20%) Stellen in meinen Scunbfähen * deutfäen Yrivatrechts $. 67.
+) Hülimann, Geſch. des Urfprungs ber Stänke,, 2te Ausgabe, &.479.
+} Stellen in meinen Grundf. des d. Pribatr. 5. 56-
++) Barntönig, flandriſche Staats — I. Sl &. 201.
+tt4) url. inSenkenberg corp. jur. tom. I. P.II * 0
[4
148 a 17177 or
herren, bie mächtigen Guͤldebruͤder, erlangtm es bald, daß auch fie Buͤr⸗
ger genannt wurden; bie Gold» und Silherarbeiter — [den als Kuͤnſt⸗
fer angefehben — blieben hinter ihnen ˖ nicht zurüd; Die Waffenſchmiede
waren in den bamaligen Zeiten viel zu wichtige Perfonen, als daß ihr
Handwerk fie nicht geehrt hätte, und in manden Städten, wo 3. B.
die Tuchmacherei ober Weberkunft ein Sauptnahrungszmeig der Stadt wurde,
oder wo bie Bierbrauerei ind Große getrieben gabe, war es begreiflih, daß
die Sitte ſolchen Perfonen, welche dergleichen: für die Stadt wichtige und
darum geachtete Getverbe trieben, den Titel: Bürger, nicht verfagte, fo
daß zulegt der Ausdruck: Buͤrger, die Mitglieder alter Geſchlechter, bie
Handelöherren und diejenigen umfaßte, welche _zu ben höhern Zünften ges.
hörten, im Gegenfag ber Handwerker *), ober — wie fie auch in ben.
nieberländifchen Städten genannt werden — ber minores **),
der Verſchiedenheit ber Verhältniffe der Städte — jenachdem für bie
Stadt eines oder das andere Gewerbe wichtiger war — wurde null
bee Ausbrud: Bürger, verſchieden angewendet. Dabei hatte er felbft
wieder eine befonbere Bebeutung durch den Zufammenhang bed Bürgers
thums mit der Rathsfaͤhigkeit. Da nämlich nur diefe vorzugsweiſe Buͤr⸗
ger Genannten rathefähig waren, und in dieſer Eigenſchaft einen vor⸗
zuͤglichen Einfluß auf die Stabtangelegenheiten hatten, fo bezeichnete man
häufig in den Urkunden bie rathöfähigen Städtebemohner mit dem Worte:
Bürger.” Als nun allmaͤlig bie alten Zeichen der Hoͤrigkeit, z. B. Hei⸗
rathsz3wang und Sterbefall, immer mehr in ben Städten aufgehoben
und dadurch auch die Hörigen von biefen Laſten ber Unfteiheit befzeit
wurden, als die Handwerker in ihrem Gewerbfleiße immer mehr ihren
Merth fühlten und ihren Reichthum vermehrten, als der Hochmuth und
der Egoismus, der bevorrechteten Geſchlechter ihre Befugniß, ausfchließlich
bie Rathöftellen zu befegen, zur Derabmwürbigung und Bedruͤckung ihrer
Mitbürger mißbrauchten, empörte ſich das Freibeitögefühl gegen biefe
Anmaßungen. — Bekannt ***) find die Mevolutionen, welche im Mits
telalter von den Handwerkern ausgingen, um die Rathsfaͤhigkeit fich zu
erwerben. Der Sieg Erönte bie Beſtrebungen und von nun an war ber
Ausbrud: Bürger, die Bezeichnung aller berechtigten Mitglieder ber Stabts
gemeinde. Die Zahl diefer Perfonen wurde vermehrt durch diejenigen, welche,
ztvar nicht in dee Stadt wohnend, die Erlangung bes Bürgerrechts einer
Stadt nachſuchten, worauß die fogenannten Ausbürger+), in den Nieder⸗
landen buyten poorters ++) entftanden, von benen manche märhtige
Adelige, felbft Fuͤrſten, für Die das Bürgerrecht der Stadt deswegen
wichtig wurde, weil zur Ausübeng gewiſſer Rechte, 3. B. um Häufer
in ber Stadt zu befigen, ober uns getwiffe Gewerbe, z. B. Bierbrauerei
*) Hüllmann, l.c. &. 480.
*) Warnktönig, l. c. ©. 352.
”*) Hüllmann, Gtäbtewefen, II. &. 463. III. &. 333.
+) Bobmann In Siebenkees juriſt. Magazin, I. Thl. Nro- 1.
+) Warnkoͤnig, ©. 354. -
Bürger. Buͤrgerrecht. 149
betreiben zu duͤrfen, das Bürgerrecht weihwendig war. Waͤhrend auf
dieſe Art dee Ausdrud:' Bürger, ſich erweiterte und eine zahlreiche Claſſe
umfafßte,. entftand in ben "Städten dine Verantaffung, den Begriff zu
Verengern und von Buͤrgern im’ engeren Sinne zu fprechen. Es gab
nämlich ‘viele Perfonen, welche ben Aufenthalt in ber Stadt fuchten,
weil daran ſich große Privilegien Enüpften, während doch diefe Perſo⸗
nen bie 'Erforberniiffe' zur Erlangung des Buͤrgerrechts nicht hatten,
3. B. nicht das nöchige Vermögen befaßen, oder feit der Reformation
nicht der Meligion zugethan waren, welche in bee Stadt gefordert wurde.
Solche Perfonen *), die in bie Scodt aufgenommen wurden und ein
unvoßtonimenes Bürgerrecht genoſſen hießen Schutzverwandte, Beiſaſ⸗
fen **), und die vollberechtigten "Mitglieder der Stadtgemeinde wurden
Bürger im engern Sinne ‘genannt. : Seit dem 16ten Jahrhundert bes
Bam der Ausdrud: Bürger, eine neue Bedeutung. Durch die Vereinis
gung dee Stände unter einem Geſetze, durch die Ausbildung der Lan⸗
deshoheit entftänd die Anficht;--die Landesgemeinbe wie eine gefchloffene
Vereinigung zu betrachten; und". das, wad von einer andern freien Ges
meinde galt, auch ähnlich: auf bie aröße Landesgenieinde zu Übertragen.
Hier wurbe es Sitte, die Collbrrechtigten Mitglieder der Lunbesgemeinde
(Untertbanen) gleichfalld Babger Yu nenien, fo baß nun eine zwei⸗
fache Bedeutung des Wortgintitiimd:" 1) diejenige, nach welcher Bürger
ſoviel als Staatsbürger Hebeutet; 2) die, nach welcher Bürger fos
viel als Drtsbürger bejeldikier. In der letzten Bedeutung koͤmmt es
wieder darauf an, ob die alte —— — ehalten iſt, nach
weicher man die Munichpal#Werfaffung "der Städte und Marktflecken
von der Verfaſſung ber Doͤrfet trennt **%), ober ob nad) dem Streben
der neueren Zeit Fine alle: Gemeinden- (Alfo auch die Dorfgemeinden)
umfaſſende Gemeindeveifaſſung gefehlich eingeführt Ift: F). Iſt das Erſte
der al, fo bezeichnet Bireyer nur das berechtigte Mitglieb einer
Stadt» oder Marktfledengemeinde,: im Gegenſatze von Bauern; mo das
gegen eine vollſtaͤndige umfüffende Gemeindeordnung befteht, wird auch
jedes Mitglied einer Gemeinde mit dem Auevinde: ‚Bürger (Semeinbes
bürger), bezeichnet. °- " Mittermaler.
Bürgerkrieg, f. Krieg. Ze
Bürgermilitair, f. Rriegsverfaffung
Bürgerrecht mird wieder in verfchledenem Sinne genommen, je
nachdem manvom Staatsbhrgerrechhte oder von dem Gemeinde»
bürgerrechte (Bürgerrecht im engern Sinne) fpricht. Nach der erften
Bedeutung ift das Staatsbuͤrgerrecht der Inbegriff der echte, welche
einem Unterthanen des Staats zuftehen, wobei wieder nad) Verfchiedenheit
”) Eifenhart, Verſuch einer Anleitung zum deutſchen Stadtrecht, &.234.
*#) eber Urſprung des Unterfchlebs und Gründe fe bie Beibehaltung def:
felben. Weishaar, Würtembergifcges Privatrecht, I. Thl. 8.33
»20) z. B. in Danover, Preußen, Sachſen.
+) 3. B. in Buͤrtemberg, Baden.
459 -. Bürgerrecht, -
der Landesgeſetze, Eraotöhsgeioßt im engem @inne von ben Unter
thanenrecht überhaupt (Indigenat) unterſchieben wird. Weller wird von
biefen Verhaͤltniſſen bei dem Worte: —A gefpeochen
werden koͤnnen. Faßt man nun das Vuͤrgerrech ja dem Giinne auf,
wo es das Gemeindebuͤrgerrecht bebeutet, ſo ift 6 der -Snbegriff”) ges
pille Mechte, welche einem Mitgllede einer Gemeinde a ſolchem zuſtehen.
an unterſcheidet eis vollkommenes und ein unyolllommenes Bü cherrecht;
das letzte ſteht in den Staͤdten, wo ein Unterſchiep bon Bürgern und
Schutz verwandten vorkoͤmmt, ben —* zu. Das Bürgerrecht begreift**)
in ſich 1) politifche Decke, 2) pylvatrechtliche Wefugniffe. Bu den im
Bürgerrechte überhaup en Rechten gehört: 1) in ber Gemeinde,
welcher ber Bürger —e— , feine Haimath und Unterhalt zu ſuchen,
und alle Gewerbe zu betzeiben, infofern jemand die Erforderniſſe nach⸗
weifen kann, welche auch den Geſetzen zur Ausübung eines befimmteg
—— verlangt werben; 2) bad Mecht, durch Heirath eine Familie zu
runden; 3) das Met ber Theilnahme an den Bürgernugungen ; >
I) Mecht auf die ftäheifche Gerichtsbarkeit, in ſofern ein beſonderes Forum
vor ber Stadtobrigkeit für Dünger —— if; 5) Recht der Theilnahme
an ben Privilegien, weiche den Bürgermesiger Stadt verliehen find, z. B. in
manchen Orten —— Telamun nqch ben —5 Statuten zu
machen oder nicht wegen en vaͤrhaftet zu werden; 6) Recht der Thell⸗
nahme an den ſtaͤdtiſchen Stiftungen; 7) baß Recht, in — der
Stadt liegende Guͤter zu erwerben; 8) dag Recht der Markloſung, d. h.
in einen Kauf einzufreten, wenn ein im ber Gemarkung ber Stadt ler
genbes Sur an einen — * veräußert wird; 9) Recht, im Falle der Ary
much aus‘ Gemeindemittein Wnterflägung. zu erhalten. Bu den. politis
{chen Rechten: gehören insbeſondere: das Recht ber artiven unb paſſiyen
Wahlfaͤhigkeit zu Gemeindeämtern, und das Recht der Mitwirkung an
ben Wahlen zur landſtaͤndiſchen Vertretung. Nicht unpaffend iſt e&, hier
bas wirkliche Bürgerrecht von dem angebornen zu unterfcheiben. Jedes
ehrliche Kind eines Bürgers hat ein angebornes Bürgercecht***), d. h. den
Anſpruch, das Buͤrgerrecht in der Gemeinde, melcher ber Vater —**
(das uneheliche Kind folgt dem Bürgerrechte der Mutter), zu erwerben; for
bald nun eine foihe Perfon die im Gaſetze vorgefchriebenen Erforderniſſe
nachweiſt, die zur Erlangung des Bürgerrechte ehören, erwirbt fie das Buͤr⸗
erecht ; fie muß daher voßjährig fein, den Befig eines. den Unteshalt einer
amilie ſichernden Vermögens ober Nahrungszweigs ausweifen, und wenn
der Nahrungszweig, weichen bes Bürger ergreifen will, gefeslich an beſtimmte
Erforderniſſe gebunden it, auch ben Befit diefer Eeforberniffe darthun, z. B.
— ne”
Schillings eehehud bes Stadt und Buͤrgerrechts in ben beutfen
Bunbdesflanten. Leipzig 1
°*) Stellen in —* Brunb f. bes beutfäen Privatrechts 5. 68.; v. Bir.
tembetg Weishaar 1. ©. 324. adiſches ha Be x. 31. — 1831. Aus⸗
fuͤhrliche neue Gelege uͤber die —S des B arzer ans kommen in der
Schweiz vor, z. B. zuͤricher Geſet v. W. Herbſtuio
er») Badiſches Geſet v. 31. Dec. 1831 9. 6.
Buͤrgerrecht. Buͤrgerſtand. 151
bei einem Gewerbe nachweiſen, daß man bie noͤthige Lehrzeit, Wanderjahre
u. A. bu t babe. — So lange nun eine ſolche Perfon, bie has
angeborne echt beſitzt, z. B. dee Sohn eines Bürgers, dieſe Er⸗
forderniſſe nicht erfüllt, iſt —* no nicht wirklicher Bürger, hat daher
nicht die beim Bürger obliegenden Pflichten, aber auch nicht die zuvor
bezeichneten Rechte; vermöge Ihres angebornen Bürgerrechte hat fie aber
das Mecht. des ftändigen Aufenthalts in ber ‚Bemeinde, bie Befugniß,
Lirgenfchaften zu erwerben, unb im Falle ber‘ Düsrfeigkeie Anſpruch auf
Unterffügung. — Ueber den Umfang des unvolltommenen Bürgerrechte
—5 — 8) ifE in ben einzelnen Gemeinden große Verſchiedenheit,
Altes wieder von ben befondern Statuten und den Bedingungen
— unter welchen die Gemeinde dem Schutzbuͤrger die Aufnahme
in der Gemeinde geben wollte. Im Zmeifel*), wenn nichts Anderes
beflimmt it, wird der Schugbürger nur von allen politifchen Bürgers
sechten, ferner von dem Anſpruche auf den Genuß der Gemeindeguͤter,
—* an Gemeindewaldungen, ausgeſchloſſen; dagegen genießt er alle
rigen echte; ins beſondere des freien Gewerbsbetriebs, ſowie auch alle
ftaͤdtiſchen Privilegien auf ihn anwendbar ſind. Die neueſten Gemeinde⸗
ordnungen haben mit Recht dieſen Unterſchied von vollkommenem und
unvollommenem Bürgerrecht aufgehoben**). Mehr darüber ift in dem
Actikel: Gemeinderecht, anzuführen. Mittermaier.
Buͤrgerſchulen, ſ. Schulen.
Buͤrgerſtand. Diefer Begriff hänge mit ber Geſchichte ber
Sutmwidelung der Stände, unb mit ber Ausbildung ber Gemeinden zu⸗
fammen. Die Gefchichte der germanifhen Staaten erinnert an eine
Zeit, in welcher ber Staat nur eine Vereinigung verfchiebener Genoflen-
[haften war, von weichen jede nad ihrem eigenen Rechte lebte, unb
jeber, ber in eine ſolche Genoffenfchaft aufgenommen war, auf ben
Schutz feiner Genoſſen rechnen konnte, gewiſſe Rechte in der Corporas
sion genoß, und nur von feinen Genoſſen gerichtet wurde. Jede
ſolche Genoſſenſchaft bildete einen Stand, und in dieſem Sinne ***) bemerkt
man im Mittelalter 1) einen Stand der Dynaſten (Herrenſtand, aus
welchem ſpaͤter der hohe Adel hervorging); 2) einen Stand der Ritter,
nad) Ritterrechte lebend; 3) Stand der Lehnsleute; 4) Stand ber Dienft-
leute; 5) Stand ber Geiftlihen; 6). Stand der Gemeinfreien, bie nad
dem Volksrechte lebten, in den Volksgerichten als Schöffen faßen, unb
bort gerichtet wurben**’**). Diefer Stand der Gemeinfreien, welche bas
eigentliche Volk ausmachten, umfaßte ebenfowohl die freien Lanbeigen-
thumer, a als ‚anfangs auch bie Bewohner bee Städte. Als allmählig die
*) Meine Grundſ. bes deu
8 3.8. in Balken ee 1851 Iber Werfoffung ber Gemein
den *
"+, Meine Grundſ. des deutſchen Privatrechts $. 44
—* Ueber bie Geſchichte des Staͤnde, de Gourcy, Abb. über t und
ee Abel rn beiten zakand, "überfegt von Defterlet. Bött. 1788.
in Deutſchland. Goͤtt. 1795. Hälimann
bes —5 ve — in Deutſqhl. Icauij. isb 8 Thle. Ste
Ausg. Berlin 1
152 Bürgerftand.
| I.
Staͤdte eine volftändige Municipalverfaffung erhielten, durch Privilegien
ausgezeichnet wurden, als die Bewohner der Städte nicht mehr auf den
allgemeinen Volksgerichten zu erfcheinen nötbig hatten und ihr eigenes
Schöffengericht echielten, als in den Städten ein eigenes Recht, anges
meffen den ftädtifchen Verhaͤltniſſen, durch Gewohnheitsrecht im Gegens
fage des gemeinen Landtechts, als Weichbild» ober Stadtrecht ſich aus⸗
bildete, als der Ausdrud: Bürger, ein Ehrenname wurde, welcher bas
voliberechtigte Mitglied der Stadtgemeinde bezeichnete, erhielt ber Bes
griff von Bürgerftand eine Bedeutung , infofern er die Perfonen ums
faßte, welche vollberechtigte Mitglieder von Städten waren, und ale
foihe nad) dem Stadtrechte lebten, die Privilegien genoſſen, welche ben
Städten verliehen waren, und von den übrigen Gemeinfreien ımterfchies
den wurden. Se tiefer der einft ehrmürdige Bauernftand ſank, je mehr
dee Drud der Zeit die Gemeinftrien nöthigte, in Abhängigkeit von Ans
deren zu treten, deſto mehr wurde die Bezeichnung Buͤrgerſtand wichtig.
— Die Regenten erliefen Verfuͤgungen an ihre Untertbanen‘, und
nannten fpeciell in ihren Ausfchreiben Adel, Bürger und Bauern, ine
befondere in Ländern, wo noch der Stand der Landeigenthuͤmer in Ans
fehen fich erhielt. Auf den Landtagen erfchlenen bie "drei Stände —
Adel, Geiftlihe und Bürger. Den Bürgern eines ganzen Landes, d. h.
allen Städtebemohnern, wurden Steiheiten bewilligt. Der Bürgerftand
galt ale ein freier Stand. In dem durch die Gefchichte bezeugten Stre⸗
ben der Herrſcher, allmählig die verfchiedenen Genoſſenſchaften ihres Lan:
des in eine Staatögenoffenfchaft zu vereinigen, und unter ein Landesgeſetz
zu ftellen, waren e8 die Bürger der landfäffigen Städte, welche am er:
ften fi) der Landeshoheit unterwarfen, und als Unterthanen, vorbehalts
lich der befonderen den Städten verliehenen Privilegien, behandelt wurden.
Der Ausdrud: Bürgerftand, verlor dadurch fhon etwas von feiner frühes
ren genoffenfchaftlichen Bedeutung ; allein er blieb, infofeen er die vollberechs
tigten Mitglieder der Städte (und der ihnen gewöhnlich gleichgeftellten
Marktflecken) umfafte, noch wichtig, da die Städte auf ben Landtagen den
Bürgerftand repräfentirten, da die Bürger als Staͤdtebewohner vor ben
übrigen Unterthanen mannichfaltige Vorrechte genoffen, da insbefondere in
den Städten allein eine vollftindige Zunft» und Gewerbeverfaffung ftatts
finden konnte, manche Gewerbe auf dem Lande gar nicht betrieben merden
durften, und da die Statuten der Städte viele den Städtebewohnern allein
verlichene Freiheiten enthielten, und felbft das ftädtifche Privatrecht viel
fach von dem Übrigen Randesrechte abwich, indem 3. B. in den Städten
oft eheliche Ghtergemeinfchaft galt, die auf dem Lande nicht ſtattfand.
So umfaßte der Bürgerftand diejenigen, welche in Stäbten ober Markt:
fleden das Bürgerrecht genoffen, im Gegenfage berjenigen, welche auf
dem Lande wohnten, ſowie der Uebrigen, welche zwar in der Stadt wohns
ten, aber entweder dem Adel oder der Geiftlichkeit, dem Beamten = oder
Mititairftande angehörten, und in der Stadt nur als Einwohner galten,
bei welchen bie Mechte und Pflichten der Gemeindebürger keine Anwen:
bung fanden. In den gefellfchaftlichen und politiſchen Verhaͤltniſſen hatte
Buͤrgerſtand. Burgunder. 153
ſich ne ſcharfe Scheldewund zwiſchen benz Adela,. dent: Beamten :, dem
Militaie s und dem- Bürgerftande gebildet. Manche Worrechte wurden
wur dem: den höheren: Ständen. in Anſpruch? genericnen/ bis der Druck
Dee Wevoreichteten den wohlhabenden, gewerhnfläiigen und feine MWürde und
Kraft fühlenden Bürger. erbitterte. Eme neue’ Anſicht, in welcher ber
Bärgerftasid: den fogenannten dritten Stand bedeutete, eniftand..: Die
franzöfifche Revolution hatte mande: unklare: Begriffe-yon völliger Gleiche
beit begünflige, und der Ausdruck: Bürger‘, wurde nun die Bezeichnung
der vor dem Geſetze gleich berechtigten Staatäbhrgir.. Je mehe die: 0%»
fhledenen Stände in einander floffet, und eine / wahre ſtaatsbuͤrgerliche
Gleichheit vor dem Geſetze ſich ausbildete, beflochmehe verlot der Aus⸗
druck: Buͤrgerſtand, feine Bedeutung. Nur tw Bezug auf die Art bes
Belhäftigung oder Beſtimmung hat. bie Unterfdyeidüng der Stände einen
Werth, und infofern ſpricht man von: einen Buͤrgerſtand, der. "dies
jemigen Staatsbürger umfaßt”), welche nach ihrre Geburt tweber zum
Adel, noch zu dem: Banernfbande ‘gerechnet werden koͤnnen; allein in die
fem Sinne. umfaßt der. Bürgerftand fo verfiiedene Arten von Staaté⸗
beroohnern, daß von einer befonderen Genoftenfchafe (ihre aligemeine
Genoſſenſchaft befteht in der Gleichheit bes Unterthaneiverhältniffes) derfels
ben nicht die Rede fein ann. In einem engern Sinne wird dee Buͤr⸗
gerftand **) aber noch gebraucht zur Bezeichnung —*8 welche durch
* Verhuͤltniß als Buͤrger von Staͤdten befondere Rechte genießen, die
anderen Staatsunterthanen nicht zuſtehen. Die: tm: Bezug auf bie
Städtebewohner in manchen Yanbesgefegen aufgeftellten und non einigen
Schriftſtellern ***) behauptete Unterfcheidung eines höheren und niedeven
Buͤrgerſtandes, infofen man gewiffen Bürgenetaffin (Honoratioren)
Vorrechte vor den Übrigen: Bürgern zufchreibt, bextht auf Mißverſtaͤnb⸗
niffen, und ift bedeutungelos, da bie Bechte aler.. e Bingen vor dem
Selen gleich find +). en Mittermaier.
Buͤrgſchaft, fe Verbärgung .. *
Burgunder, m den aͤlteſten G· ſchicheequellen auch Bun
gundionen, und mit mehreren Ähnlihen Namen, foyar Bugurdi und
Urugundi genannt, und ben Vandaliſchen: Völkern beigezählt:: Sie
hatten ihre früheften befannten. Wohnfige zwifchen Oder und Weich:
fl. Um die Mitte des bdeitten. ‚Jahrhunderts unferer Zeitrechnung,
von dem gothifhyen Stamme: ber Gepiden .unter Faſtida angegriffen,
gefchlagen, und‘ aus ihren Wohnſitzen vertrieben,zerſtreuten fie ſich
nach verſchiedenen Richtungen; ein Theil ſoll ſich auf der Inſel Born⸗
holm, deren Name daher abgeleitet wird, en anderer in den Kar:
„ 3. B. im Preuß. Landr. II. Thl. zit. 8.5.1.
25) Meine Grundſ. des beutfühen Fa 8. 678. Mauren breqer
Lehrbuch des deutſchen Privatr. II.
») 3. B. Sihhorn euer Privatrecht S. 196. Gruͤndler Polemik
des german. R. I. ©. 137. Maurenbrecher J. c. &. 802.
+) eine rund. 8.672. Weishaar MWürtiniderg Privatr. 1. ©. 897.
1)
164 „sute:. Burgunber.
paten niedergelaſſen haben; biefer wurbe von ben Gothen Bis an bie
Donau fortgeſchoben, und .verfchwinbet aus ber Geſchichte. Der
größte Theil des Volkes sog fi über. bie Dider und Eihe nach dem
‚ Sichtelgebirge zuruͤck, und fand an ‚beffen: Fädlichem Abhange, . hinter
den Alemannen, Zufludt: und feſte Sitze. Schon 253 fielen ſie mit
anbern. fübbeutfchen Voͤlkern in's vamifche Geblet, dafuͤr bebrohte un⸗
gefähr 2O Jahre fpäter. Kalſer Probus ihr eigenes; fie gingen ihm entge⸗
gen, heftiger Kampf, dann Vergleich: Ihe Führer Ilico trat mit feinen
("treuen in des Kaiſers Dienſt, umb biefer zog ab, ohne burgsumbis
ſches Land betreten -guuchbaben. Nach wie vor nahmen ‚Burgunder
Theil an ben Einbrüche: benachbarter Völker in's roͤmiſche Gebiet, cheil⸗
ten “aber auch oft da umglädliche Ende folder Abenteir.
» :,Yu8 Ddiefer Zeit erfähren wir, daß ſie von einem Könige ange
führt wurden, ber den Jitel Hendines- führte, und abgefetzt wurde,
„wenn dad Kriegsgluͤck wankte, oder die Erndte mißlang. Solche
Unfälle ſchrieben fie. ihren Koͤnigen zu, denn fie hatten einen Oberprie⸗
ſter, Siniſtus genannt, der auf Lebenszeit beſtellt, und keinem Wech⸗
ſel unterworfen war, wie bie Könige.” Dies deutet auf eine Art
Theofratie. Im Uebrigen glich ihr Weſen und reiben dem :aller
übrigen deutſchen Voͤlker jener Zeit. — “
Die heigen Kaͤmpfe, welche gegen das Enbe bes 3. Jahrhun⸗
derts das oͤſtliche Deutſchland erfchütterten, fcheinen auch Lie Burgunder
naͤher auf die Alemannen geſchoben zu haben, waͤhrend dieſe zugleich vom
Rhein heruͤber durch bie Roͤmer gedrängt wurden. Daher ein Jahr⸗
hundert lang Hader und Krieg zwiſchen Alemannen und Burgundern.
theild uber die Grenzen, theils über bie zwiſchen beiden gelegenen
Salzquellen (bei Schwaͤbiſch⸗ Hall?). — Diefe Spannung zwiſchen
beiden Böllern benupte Kaiſer Valentinian, um beide zu verderben;
er verhieß den Burgundern Hülfe gegen bie Alemannen. Im Ver—⸗
trauen darauf fielen jene mit großer Macht (80,000 Mann nad) ro:
miſchen Berichten) über diefe ber, durchbrachen ihre Land, und erfchies
men, bem Laufe des Medars folgend, am Rhein, den römifchen Ber:
ſchanzungen gegenüber. . Der Kaifer hielt fie mit Unterhandlungen bin,
bis ihnen im Ruͤcken die Alemannen ſich wieder zu fammeln anfingen;
da. erfannten fie feine Argliſt, machten nieder, was ihnen diesſeits des
Rheins von Römern in bie Hoaͤmde fiel, und zogen in ihre Heimath zu⸗
id. Dies trug ſich zu im Jahr 371. Etwas über 30 Jahre nach⸗
ber werden die Burgunder unter ben Völkern genannt, welche nad
Radegais Miederlage in. Gallien eindrangen. Was in ben alten Wohns
figen zuruͤckblieb, mag ber Hunnenkrieg verfchlungen haben. Gun:
titar, der König der ausgewanderten Burgunbionen, wird unter den
Anhängern des Gegenkaiſers Jovinus genannt, und wußte auch nad
deffen Untergang fich zu behaupten; ber Kaifer Conſtantius erkannte
ihn als Deren einge Landſtrichs am linken Nheinufer, vielleicht bis hin:
auf in die Schweiz. .Alm disfelbe Zeit nahmen die Burgundionen das
Ehrißenthum an, madurch mathslih die Gewalt ihres Dberpsieflers zu
Burgunder, 1655
Ende ging, und bie des Könias ſich hob. Guntikars Reich, gegmn
die roͤmiſchen Statthalter in Gallien ruhmvoll behnuptet, wurde von
Attila zerſtoͤrt, ex ſelbſt fiel: im Kampfe (4617); fein Ruhm ging
von Lied zu Lied, his in- das der Nibelungen. Sem Wolk warf ſich
den Weſtgothen in die Arme; 456. nahmen an bem Zuge birfelben
gegen Spanien zwei burgundiſche „reges“‘ Theil, Gundioch (Gunduich
pber Gundeuch) und Hilperich. Die Freundſchaft ber Weſtgothen und
bie Zerrüstung des xömifchen Meich® wachte es Gunbioch möglich, zwi⸗
Shen Rhone und Saone. ein ‚neues burgundiſches zu fliften .:: welches
das lugdunenſiſche Germanien genannt: wurde, und-fidr AR über
Savopen und Piemont, die fühliche Schweig und. Mais aushreitete.
Nach ſeinem -Zohe &heilten ſich viet Soͤhne in’ fein Make, :.zmei- ſtar⸗
ben frühe, ein beitter, Chilperich, wohnte zu Genf, der vierte,
Bundobald zu Lyon. Friede and Buͤndniß mit allen Nachbary,
Duldung in kirchlichen Angelegenheiten, verſprach dem Reiche eine gluͤc⸗
lihe Dauer; häuslicher Zwiſt dee. Kürften flürzte es nach 44 Jahren
In unermeßliches Unglüd. Denn Chilperih, im Bunde mit Chlodowig
dem Franken, welcher feines verſtarbenen Bruders Tochter, Clotildig
sur Gemahlin Hatte, verabredeten Bundobalbds4 Untergang, dieſer
erlag Chiodowige, Gluͤck, aber im Zalle noch ‚gewaltig, entriß er dew
freulofen Bruder Steg und Leben, btieb fo, obgleich dem Franken zind
bar, doch ‚Herr. von ganz Burgundien und behauptete, upbſen. nom
feänfifgen Schriftſtelern verleunder; bei. Ruhm :einesitveifen swah- is
kirchlchen Dingen-buldfamen Färften. Die aͤlteſte Sammlung burgun⸗
diſcher Geſetze x hrt non ihm her und wird nach ihm: Bpi.Gombalie
genannt. Sie fimmt faſt in allen Bezichungen mit demienigen abe
ein, was damals: bei allen Deutſchen Hecht und Sitte war, mit: ber
Ausnahme ,;. da die Ermordung eines freien Mannes nicht mit Geld
gefühnt, fordern mitı.dem Xode beftzaft. wurde; ebenſo erſchen wir
daraus, daß bie Burgunder keinen Abel hatten, und daß bes vom ihr
nen in Beſit genommene: Land :und :Wrffen unfreie Bevoͤlberung ‚nit
den freien Urbewohnern getheilt wurde;“ auch ſcheint fich des burgu
diſche Ankoͤmmling bei biefen einquaztiert zu haben. ..
Nach Gundobalds Tode 516 folgte ihm fein Sohn Sigiemzums,
der jenes Geſetzbuch auf einer Volksverſammlung beſtaͤtigen und. ver
kündigen ließ. Durch Verleumdung gltaͤnſcht, ließ er feinen eigeneh
Sohn hinrichten; als bald nachher deſſen Unſchuld entdedt. wurde,
ſluͤchtete er, vor feinem Gewiſſen und dam Haß ſeines Volkes, in das
von ihm geſtiftete Kloſter St. Mauritius in Wallis; fen Land wurde
von Franken und Gothen angefallen, jene zogen ihn and feinem:.. Aſpyl
unb fchleppten ihn gefangen nach Orleans. Nun ergriff fein Bruder
Godomar die Zügel der Megierung. und trieb bie Kranken aus dem
Rande, dafür buͤßte der gefangene Sigismund mit dem Leben, mit ibm
ſtarb feine Gemahlin und zwei Söhne. : Sein Tod verföhnte fein Volk
mehr, als feine Kaſteiungen, eis neue Angriff ber Kranken wurde ab:
gewehrt, ihr König. erſchlagen, Sigiemund unter : die Heillgen verfeht.
156 Burgunder. Burke.
Aber ſchon zehn Fahre nachher (534) brach neuer Krieg gegen bie
Franken aus, Godomar unterlag und farb in Gefangenſchaft; fein
Land wurde unter bie drei Frankenkoͤnige getheilt und zinsbar, doch
behielt es ſeinen Namen und feine Verfaſſung bei. - .K. H.
Burke (Edmund), geboren zu Dublin den 1. Januar 1730,
Sohn eines berühmten Sachwalters, fam 1753 nad London, fFudirte
dafelbft die Rechte und folgte dem Stunde feines Vaters. Als Redner
im Parlamente und als Schriftfkellee erwarb er ſich einen großen Na⸗
men, ben er mehr feines ausgezeichneten: Zalente, als dem Gebrauche,
den er bavon gemacht, verdankte. Ungleich in feinem Benehmen wie
in ſeinen Grundſaͤtzen, diente er den entgegengeſetzten Parteien. In
feinem erſten Werke: Reclamation zu Gunſten ber natuͤrli⸗
hen Geſellſchaft, oder Blick auf bie Uebel, welche bie
Stvififation hervorgebracht, ſprach er Geſinnungen und Anfichten
aus, die einen volllommnen Radicalen bezeichneten. Bein zweites
Wert: Verſuch über. das Erhabene und- Schöne, welches
1757 erſchienen iſt, gilt in feinem Fache für claffifch, und hat in dem
ganzen gebildeten Europa eine günftige Aufnahme gefunden. Das fols
gende Jahr geündete er eine ‚Zeitfchrift, Annual register, bie et
mehrere Jahre mit einem glänzenden Erfolge fortfegte. Seine politifche
Laufbahn begann er als Privatfecretaie des erften Lords der Schabkam⸗
me ‚Marquis von Rockingham. Bald nachher trat er als Abge⸗
ordriefer des Flechens Wendowe in bas Parlament und vrregte durch
feinen: "Antrag gegen die Stempelabgabe, die den amerikaniſchen Colo⸗
nien auferleg6 werden, allgemeine Aufmerkſamkeit. ‘Die Rede, welche
er bei diefer Gelegenheit im Unterhaufe hielt, gehört. zu ben ausgezeich⸗
netften und gewann ihm bie Liebe und Achtung aller: Freunde freifins
niger Grundſaͤtze. Als das Miniſterium Rodingham durch bus bes
Lords North erſetzt warb, erwies er ſich feinem: gefallenen Wohlthäter
dankbar und vertheidigte ihn Im Parlamente und durch eine eigene
Schrift, die. er herausgab. In dem ganzen Laufe bed amerikanifchen
Krieges führte er, in der Reihe der Oppofition, die Sache der Unters
drüdten mit großem Talente und einer rühmlichen Entſchloſſenheit.
Im Sabre 1782 Löfte das Minifterium Rodingham wieder das des
Lords North: ab und bie neuen Machthaber erinnerten ſich des alten
Steundes, der ihnen auch im Unglüd treu geblieben war. Burke ward
zum Generalzahlmeifter des Kriegsweſens ernannt unb erhielt Sig im
geheimen Rathe. Nach dem Tode Rockingham's, der die Auflöfung
feines Miniſteriums zur Folge hatte,. zog fi‘ Burke. zuruͤck. Er
nahm in der Reihe ber Oppofition, an der Seite feines Freundes or,
eine ausgezeichnete, man kann wohl fagen, bie erfte Stelle ein, und
erwies fidy als einen warmen Vertheidiger der Freiheiten feines Landes
und der echte des Volkes. Er ‚brachte wiederholt feine Bill für die
Meform ein, welche aber nicht Durchgefegt werden konnte. In dem Pro⸗
zeffe gegen Korb Haftings "ale Gouverneur von Dftindien, der fo
großes Auffehen gemacht, zeigte er ‚eine Deftigfeit und Exbitterung, die
Burke. Gabinet. 157
ſich fpäter als bie hervorftcchenben Züge feines Charakters bemerkbar
machten. Die Oppofition bot vergebens ihre ganze Kraft auf, ihre
Anftrengungen, von. Männern wie Burke, Kor und Sheridan
unterftügt, blieben ohne Erfolg und Haſtings ward von dem Ober⸗
baufe, vor das er geftellt werden, war, frei geſprochen. Der Prozeß
Eoftete der Regierung über eine Million, und dem Beklagten an 70,000
Gulden. Bet der Verhandlung der Frage, ob dem alten Könige,
Georg I., der an Geiftesabmwefenheit litt, eine Regentſchaft zu feben
fei, zeigte Burke diefelbe gehäflige Leidenſchaftlichkeit, und vergaß nicht
nur, was er als Bürger der Krone, ‚fondern auch, mas er als Menſch
einem großen Ungluͤck fchuldig war. Zwei Sahre fpäter gab er feine
Schrift: Betrachtungen über bie franzöfifhe Revolution,
heraus, die in ganz Europa ein ungemeines Auffehen erregte und
von einer gewiffen Seite mit lautem, ungetheiltem Beifall aufgenom⸗
men ward. Ein berühmter Staatsmann hat fie auch ind Deutfche
überfegt und mit Anmerkungen begleitet, die an gründlihem Wiſſen
ben Text weit übertreffen. Die Betrachtungen, mie ber Geift, der fie
geboren, haben ſich in vergeblihem Streben abgemuͤht; die Revolution
und mas in ihr die Völker und die Menfchheit auf bem Wege ihrer
Beſtimmung weiter gebracht, wirkt fort und wird bie Anſtrengungen
der Selbſtſucht und Eitelkeit überleben. Burke hat allen Parteien
gedient und allen politifchen Anfichten gehuldigt und feinen Beiftend
geliehen; nur in Einem blieb er fich glei, in feinem Daffe gegen
Frankreich und die Revolution, die ihm die Buͤchſe der Pandora mar.
Beſtreiten laͤßt fi nicht eine große Kraft des Geiftes, mit der ihn bie
Natur begabt, ein glänzendes Zalent, eine oft erfchütternde Beredtſam⸗
keit, die aber gemöhnlid) von abenteuerlichen Bildern und hpperbolis
fhen Gleichniſſen ftrogt, und ihr Lebensprincip in feindfeliger Aufre⸗
gung findet. Sie ift dem Gemitter zu vergleichen mit feinen leuch⸗
tenden Blisen und feinem raffelnden Donner, das aber weder die
Erde befruchtet, noch die Luft erfriſcht. Won der Leidenfchnft getries
ben war er gewaltig; aber diefe Leidenfchaft war von bößartiger Na⸗
tur, nuc im Angreifen und Zerflören wirkſam, nur ſtark, wenn «6
galt, verhaßt oder verächtlih zu machen. Es fehlt ihre das Wohl⸗
thuende, Begeiſternde, das verföhnt, erhebt, den Menfchen veredelt,
dem Menfchen befreundet, die Achtung vor feinem beffern Selbft ver:
mehrt und die Jugend und das Gluͤck zu begründen ftrebt. Burke
ftarb am 8. Juli 1797. Weigel.
Burfhenfhaft, f. Studentenverbindbungen.
C.
Cabinet, Cabinetsbefehl, Cabinets⸗Miniſter, ger
heimes Cabinet, Cabinetsregierung, Cabinetsſchrei—
158 .: ». Cabinet.
den. Es iſt Hier narleliä) nicht von der allgemeinen Bebeütung
des Wortes „Cabinet“ (kleineres oder geheimeres Wohn: oder Aw
beits: Zimmer oder auch Aufbewahrungsort für Kunfts oder
Raturalien Sammlungen u. f. w. oder auch eine ſolche Sammlung ſelbſt)
die Rede, fondern nur vom Cabinet, d. h. Arbeitszimmer des Fuͤrſten
als folchen oder überhaupt bes Regierungs⸗Chefs, von wo aus beri
felbe feine perföntichen Entfcheibungen in Staats⸗Sachen (denn was
feine Privats Angelegenheiten beteifft, fo geben fie uns bier nichts am;
mögen fie auch in bemfelben Cabinete verhandelt werden) erlaͤßt, oder
wo er ſich mit feinen verfrauteren Mäthen (über Regierung s: Ges
ſchaͤfte d. h. über die ihm als Staatshaupt zukommenden Geſchaͤfte) be⸗
rathet oder ihrer Arbeitshälfe ſich bedient; dam auch die Summe
oder die Verſammlung der in foldhen engern Rath berufenen Per⸗
fonen ſelbſt. Wenn es fih nun um Dinge handelt, welche zu bee
(hießen, zu befehlen ober anzuordnen, dem König perfönlich und auss
ſchließlich zukommt, oder Infofern nur foldhe freie Selbſtthaͤtigkeit
deffelbden in Sprache Ift, fo erfcheine das Cabinet — in vielem Staaten
auch daB geheime Cabinet (zur Erhöhung feines Glanzes) genannt —
als eine Perfon mit ihm felbf. Was vom Cabinete ausgeht,
iſt eben vom Könige ausgegangen; und es iſt dann meber rechtlich,
noch politiſch irgend ein Unterſchied dazwiſchen, ob er wirklich gan?
allein oder aber mit Zuziehung eine oder mehrerer Gehülfen, bie
man etwa Cabinets⸗Secretaire oder Cabinets:Mäthe oder
auh Cabinets⸗Miniſter heißen mag, die Geſchaͤfte allbort erlebigt.
Die Staatd-Drganifations: Politik oder die Lehre von dem
Syſtem und der Hierarchie der Staates Bebörben, nimmt alsdann
davon gar Feine Notiz; fie beſchraͤnkt fit) naͤmlich darauf, für die vers
ſchiedenen Verwaltungszweige die überall zwedmäßigen Articulatio«
nen (Ober s und Unterbehörben), namentlid auf hoͤchſter Stelle bie
Minifterien, und Über benfelben das allgemeine oder Staats⸗
Minifterium (etwa auch noch einen Staatsrath: und eine weis
tere oder engere Minifterial»Conferenz) zu fordern ober anzuord«
nen, braucht alfo zur Vollendung der Hierarchie nichts Weiteres mehr
als den Fürften, und das Cabinet iſt alsdann eben der Kürft.
Aber die große, freilich nach Verſchiedenheit der Merfaffungen auch ver⸗
fhieden zu beantwortende Frage ift: welches find jene dem Fürften
perfönlich oder ausſchließend zutommenden Sefchäfte, Entfchliegungen und
Entfcheidungen ? Welches ift dee — nach ftantsrechtlichen ober politiſchen
Gründen — zu ziebende Kreis, jenfeit welchen jenes autokratiſche
Handeln aufhören und bie, wenigftene theilnehmende, wenn
auch nicht allein entfcheidende, Thaͤtigkeit eigentliher Staats⸗Behoͤr⸗
den eintreten fol? Einen ſolchen — ob weiter oder enger gezogenen —
Kreis und das Ueberſchreiten beffelben denkt man fi jedenfalls,
ſobald man von einee Cabinets⸗,Regierung im mißbilligenden Zone
ſpricht, namentlich daburch den Gegenfag zu eine in vegelmäßis
gen, entweder geſetzlich beftimmten ober Aberhaupt den geläuterten Orga⸗
Cabinet. 159
nifationeprincipien entfprecdenden Kormen fid) bewegenden bezeiääntet
Eine Cabinetö-Regierung in diefem inne iſt diejenige, Die zum vorherr
(chenden Charakter ba6 Walten des alleinigen Cige nwiſſens des
Eirften hat und — bemfelben als Werkzeug dienend ober auch Uftig ihn
felbft zum Werkzeug mißbrauchend — die höhere Gewalt des perfönlich
Bertrauteren, neben obes über den eigentlichen Staatsbehoͤrden eingeſet⸗
tm engeren, d. h. Cabinets⸗Kathes. Das Cabinet, unter ſolchen
Umftänden, nähert fi leicht — wenn auch nicht in feinem Begriff,
doch im Geiſt feines Waltens — jenem de „Camarilla” (f.
d. Art.), obſchon zwifchen beiden immer der Unterfchleb bleibt, dag das
Gabinet aus eigens zu Regierungs⸗Gehuüͤlfen des Kürften er
nannten und in dieſer Eigenfhaft offen auftretenden Männern
befteht, alfo eine befannte und anerfannte Macht ausübt,
wogegen die Camarilla bloße Hofs Diener, überhaupt jene zur näs
beim Umgebung des Zürften gehörige Sünftlinge und Vertraute
— auch VBeichtväter und Weiber nicht ausgefchloffen — in ſich begreift,
welche auf die Entfchließungen beffeiben durch was immer für Mittel bes
ſtimmend, leitend oder ableitend, einwirken. Solche Einwirkung ift ſodann
— in ber Regel — unendlich mehr als beim Cabinet, ja ganz natur
gemäß, eine bösartige. Die Camarilla, wo immer eine beſteht,
feden wir faſt ohne Ausnahme den Fürften mie Mißtrauen und Abnei⸗
gung gegen bie reblihen Staatss Diener, gegen die Im Intereſſe des
Rechts und bes Geſammtwohls waltenden Behörden, gegen bie mit
der Autorität des Zürften ober mit feinem Vertrauen erfcheinend beklei⸗
beten, aber ber Berantwortlichfeit für ihre Handlungen umd Rathe
ſchlaͤge eingeder..en Mintfter und Staatsrathe, im conflitutionellen
Staaten aber zumal gegen bie pflichtgetreum Landftände, erfllien,
an die Stelle Achter Regierungs:Intereffen jene des Egoismus und ber
Parteiung fegen, zum Frommen berfelben argliftig jede fuͤrſtliche Leiden
ſchaft oder Laune aufrelzend und nährend, ſolchergeſtalt alfo der wahren,
offentundigen Regierung eine verborgene und unlautere entgegenfegen
und zum heillofen — nicht felten wirklich erreichten — Ziele haben, ent«
meter die gefeglihen Autoritäten ſaͤmmtlich zu Werkzeugen jener ſeldſt⸗
füchtigen oder Factions⸗Intereſſen herabzuwuͤrdigen oder das Iopale Wal⸗
ten und die edeiften Beſtrebungen berfelben durch dunkle Gegenmachina⸗
tionen zu vereiteln.
De Sinn, worin wir bis jegt von Cabinet und Cabinetsregierung ala
von etwas theild Gleichguͤltigem, theild Wermerflichen fprachen,
ift jedoch nicht der einzige, der mit jenen Worten verbunden wird oder ver⸗
bunden werden kann. Das Wort Cabinet bat aud eine ſtaats⸗ und
voͤlkerrechtlich gar twohl anzuerkennende, tabellofe und wichtige Bedeutung, und
dann mag es gleichfalls tadello® (d. h. obauh minder paffend, doch
an der Sache nichts dndernd) gebraucht werben zur Bezeichnung üben
haupt der hoͤchſten Staatsftelle, welche man fonft etwa Staates
minifterium, DWinifterconferenz, Gebeimrathscolle
gium m. f. w. nennt, aber ohne Nacıtheil nennen kann wie man will.
160 Cabinet.
Uebrigens treffen wir nicht nur ruͤckſichtlich des Namens, fonbern auch
der Einrichtung, bes Geſchaͤftskreiſes und: dee Geſchaͤftsform bei dieſer
hoͤchſten Stelle ‚eine vielfache Verſchiebenheit in den einzelnen
Staaten an, je näc deren befonderen Verhältniffen und Ver⸗
Wwaltungsfpyftemen, zumal abed nah den bei Ihnen: beſtehenden
Conftitutions- Örundfäsen. Auf diefe legten verzäglich richt
wir bei den nachſtehenden Bemerkungen: unfern Blick. '
In conftitutionellen nicht minder als Im abfoluten Staaten fpricht
‚ man, wenn von-ausmwärtigen Angelegenheiten, überhaupt von ber
Wechſelwirkung eine® Staates mit . andern bie Rede ift, durchgängig
vom Cabinet al& einem mit Regierung gleichbedeutenden Begriff,
und man benennt es in der Regel nicht nah dem Staate felbft,
fondern nach dem Gig der Regierung, alfo nad der Hauptftabt
oder der gewöhnlichen Nefidenz.des Megenten. So fagt man haus
figer als: das ruſſiſche, preußifche, oͤſterreichiſche u. f. w.
Gabinet, das Cabinet von St. Petersburg, Berlin, Wien u. ſ. w.,
ebenfo jenes von Paris, London, Madrid oder auch das Cabinet
bee Zuilerien, oder von St. James u. f. w. auch das von
MWafbington oder des nordameritanifhen Präfidenten.
In den Verhandlungen der Staaten unter. einander ftellt die Regie
rung die Perfönlichkeit des zum Staate vereinigten Volkes vollftändig
dar, und uͤbt auch der conftitutionmelle Monarch (menige Auss
nahmen :abgeredmet) das Recht des Kriegs, der Friedensſchluͤſſe und an-
derer Berteäge in der Eigenfchaft als Inhaber der vollziehbenden
Gewalt, ohne directe Theilnahme der Volksrepräfentation aus. Da⸗
ber ernennt auch er die Gefandten und erfcheinen je der fremden
Staaten nur ald an ihn gefendet; und daher ift in dem diplomatifchen
Schriftenmechfel niemals vom Staat die Mebe, fondern nur vom
König (oder wie fonft benannten Monarchen) oder von des Könige
Hof, Cabinet oder Minifter. Diefes Gabinet nun ift nicht
zu verwechfeln mit jenem, wovon wir oben ſprachen, nämlich mit dem
blos aus Gehülfen der perfönlichen Gefchäfte und Arbeiten des Fürs
ften beftehenden. In dem legten naͤmlich, wiewohl e8 der MWefenheit
nach nichts Anderes fein foll, ald eine Canzlei zur Ausfertigung der
Refolutionen des Fürften, mag derfelbe zwar die Meinungen oder
Rathſchlaͤge feiner Diener einholen und darnach fich richten; aber es
erfcheint davon nichts, fondern e8 gilt Alles für rein perföntie
her Entfhluß Dort aber find die Raͤthe oder Cabinetsmitglies
der zugleich verantwortlihe Staatsbeamte und wirkliche Theilnch
mer (juriflifhe Miturheber) des — obgleich nur im Namen des Fürs
ften kund zu machenden — Belchluffes, für beffen Untadelhaftigkeit
einzuftehen, fodann allernaͤchſt die Obliegenheit des ihn mitunterzeichnens
den Minifters if. In diefem Sinne können alfo auh in conftis
tutionellen Monarchien Cabinets-Ord res“ oder „Cabinets⸗
Befehle“ erlaſſen werden, denn es bedeuten dann dieſe Worte nichts
Anderes, als daß es Regierungs-Beſchluͤſſe feien, gefaßt ohne
Cabinet. 161
Mitwirkung der Kammern, ſowie es bie Conſtitution erlaubt
ober vorſchreibt. Es Legt alsdann auch nichts daran, ob fie gefaßt
oder erlafien werben unter Beirach ſaͤmmtlicher Dinifter, oder nur
eines Theiles derfelben, audy nicht, ob die Mitglieder biefes Cabinets
fortwährend die ſelben, oder aber nach dem Belieben des Königs oder
nach dem Gegenſtand der Berathung wechfelnd find. So befteht in
England das Cabinet council aus einem für jede Sigung befonders
einberufenen engeren Ausfhuß des Minifteriums und Geheimenrathe.
An Frankreich dagegen ift das conseil du Cabinet (unterfchles
ben von dem blos aus Secretarien und Ganzliften beftehenden coabi-
met du roi) ftändig zufammengefegt aus fämmtlihen Departes
ments-Miniftern (Ministres seoretaires d’etat), und anferdem
aus einigen Staatsminiftern ohne Portefeuille und zwei Staatöräthen.
Auch im Koͤnigreich Sachſen war bis 1831 das Cabinet zugleich das
Staatsfecretariat, worin der König über die ihm durch die Mis
nifter vorzutragenden Angelegenheiten . feine Entfcheidung gab. Auf
das Recht oder die Amtsobliegenheit, im Cabinete Vortrag an
den Regenten zu erflarten, bezieht fich der Titel „Gabinets- Mis
nifter”. Die Minifter, welche zu folhen Vortraͤgen nicht berufen
find, fondern blos den Minifterial= Berathungen anmwohnen, heißen
mitunter, im Gegenfas von jenen, Conferenz⸗Miniſter ober au
Staatsminifter oder Mintfter ſchlechtweg.
Cabinets-Ordres oder Sabinetes Befehle, wenn fie in
der durch die Conſtitution dem koͤniglichen Willen überlaffenen Sphäre
und unter der Verantwortlichkeit der dafür einftehenden Minifter ers
gehen, haben hiernach weder rechtliches, nody politifches Bedenken gegen
fih. Nur ift es Aufgabe dee Conftitutionss Politik, jene Sphäre
genau zu zeichnen und der Ueberfchreitung derfelben einen mohlbefeftigs
ten Damm entgegenzufegen. Die donnernden englifhen Cabis
nets-Befehle vom 7. Januar und 11. November 1807, welche den
anmaßenden Faiferlihen Decreten Napoleons von Berlin
und Mailand entgegengefegt wurden, waren in Bezug auf das eins
. beimifche großbritannifche Staatsrecht untabelig und nur dem Vors
wurf bes verlegten Voͤlkerrechts ausgeſetzt; die verhängnißreichen
SuliussDOrdonnanzen König Karies X. in Frankreich dagegen
verhöhnten bie heiligften conftitutionellen Rechte ber franzöfifchen Nation
- felbft und wurden dadurch den eigenen Urhebern verderblich.
In abfoluten Monarchien ift die Autorität des Cabinets natuͤr⸗
lich weit ausgebehnter und umfaßt neben der vollen Regierung
oder Erecutivgemwalt auh noch die gefeggebende. ' Infofern
es alsdann nicht aus dem Geſammt⸗Miniſterium befleht oder in⸗
ſofern nicht wenigſtens die betreffenden Minifter darin den Vortrag
haben, fo bildet fi daraus fehr leicht eine Cabinets⸗Regierung
in der oben bemerkten, verwerflihen Geſtalt. Das eigentliche Miniſte⸗
tium und der Staatsrath ſinken alsdann zu bios begutachtenden
Stellen, ihre von einer weiſen Organiſationspolitik geforderte: Autorität
Gtaats sEeziton. IL 11
Ir” Cabinet.
zur Schein⸗Autoritaͤt herab, und ber über Ihnen ſtehende ˖ Cabinettrath
oder der etwa zum geheimen Vortrag im Cabinet ausſchließend berufene
‚einzelne Miniſter beherrſcht von dort aus, und ohne alle Verantwortlich⸗
keit, den ganzen Staat. Ueberhaupt iſt es für ein Volk bemüthi-
gend und den Abfolutiemus in grellem Lichte zeigendb, wenn Verord⸗
nungen, welche für das Wohl oder Wehe ganzer Provinzen. oder des
‚ganzen Staates entfcheidend fein koͤnnen, und zumal wenn politifche
und Rechtsgeſetze, welche doc nad ihrem vernünftigen Begriff
nichts Anderes fein follen, als Ausfprüche bes Sefammtmillens oder
des allgemeinen Anertenntniffes, unter dem Xitel von Ca⸗
binet8= Befehlen erlaffen werden, als Ausdrud des ‚perfönlichen
Willens ober auch des, Unfehlbarkeit und Alleingeltung anfprechen-
‚den, Dafürhaltens eines Mannes — finnverwandt mit dem faſt
naiven, doc centnerſchweren Worte: „l’etat c’est moi‘,
| Doch auch unter der abfoluteften Regierung bleibt, nad) heutzu-
‚tage, allgemein anerkannten Srundfägen, ein Gegenftand den Gabinets-
Befehlen entrüdt, d. h. ſoll ihnen unerreihbar fein, nämlich ber
Rechtsgang. Eine Cabinets-Regierung kann, wie wir hörten,
unter gewiflen Umſtaͤnden und in gemwiffem Sinne oder Kreife gerecht:
fertigt ober als zuläffig erfannt werben; aber eine Cabinets⸗Juſtiz
durchaus nie. Eine folche nämlich ift, felbft wenn die Conſtitution fie
erlaubte und fin ihrer mildeften Form, — ndmlidy als Zuftiz - Ge:
walt ber Regierungs : Behörde — eine dem Rechtsbegriff wi-
derfireitende Ernennung ber Partei zum Richter. Denn bie
Regierung ift in den allerwichtigften Prozeffen, nämlich den pein-
‚lien, und zumal in den über politifche Anklagen erhobenen, aber
dann auch in den civilrehtlihen Prozeflen des Fiscus wirklich
Partei und foll alfo, d. h. kann wegen natärliher Befangen⸗
beit niht Recht fprehen. Außerdem aber tft fie als Gewalts⸗
Inhaberin feibft da, wo dee Gegenſtand des Streited fie nicht
anmittelbar berührt, in nahe liegender Verfuhung, ihre Stellung
als Macht aus Befangenheit für die Perfonen zu mißbrauchen
zu willkuͤrlicher Erweiſung vor Gunft oder Ungunft. Hat aber gar
die Verfaſſung ihr (oder dem Fürften) die Gewalt bes Rechtfprechens
nicht verliehen, und werden gleichwohl die vermöge conflitutionelier
Grundſaͤtze unabhängigen Serichtsflellen durch das Cabinet mittel-
bar ober unmittelbar influenzirt (durch Befehl oder Einſchuͤchterung
oder Verheißung), oder werden die von den competenten Behörden ge⸗
fällten. Urtheile vom Gabinete mißachtet ober. umgeftoßen: ale
dann ift eben die Gewalt an die Stelle des Rechtes getreten, d. h.
bas Recht hat aufgehört. Die Wichtigkeit diefes Satzes jedoch
erheifcht eine gefonberte, ausführliche und allfeitige Beleuchtung (f. Gas
binets⸗Juſtiz).
Noch haben wir hier der Cabinets⸗Schreiben zu erwähnen,
als einer ber in der Diplomatie üblihen Kormen der zmifs,en den
Fuͤrſten untereinander zu gefchebenden Mittheilungen. Die
Gabinet::- Cagets⸗Luſtiz. 163
feierlichſte Form naͤmlich iſt die des G..16; 8; In- dem⸗
felben erſcheint ber * des mittheilender —— 5
| | ins, und bie Sormel:
„Wirt, Auch wird das Schreiben von deigirkter eantrafignirt. Die
Gabinets: Schreiben nähern ſich mehr den son.pon Privatſchrei⸗
ben, und der Fuͤrſt, der fie allein.unterzeichn«, redet von fid, nur mit
„Ich“. Eine noch vertraulichere Korm endlic Haben die eigenhäns
digen Schreiben, welche jedoch nicht Häufig vorkommen. Sur uns
ſted alle diefe Unterfcheibungen. unwichtig. N
„Wer da. bedenkt, daß Uber das Wohl odi Wehe der -Wöiken,
ja Über iones der Menſchheit, d. h. über. ih moterielles, geiſiges
und moraliang Boranfchreiten, Stil leſteien oder Ruͤckſchrel⸗
ten ober Die chtung ihres Ganges, innerhab her. Wände eint-
ger geheimer Eshinete die Entfcheidung getoffen, daß das Loot
eines ganzen Welttheils „uf ein Geſchlechtsalter oder nody weiter hinaus
beftimmt werden kann durc eine Gabinets: Veränderung, d. b-
durch ben Eintritt eines neuen Minifters oder ben. Austritt ‚eines an⸗
dern, der wird durhdrungen von dem wehmüthign und niederſchla⸗
genden Gefühle der Unbedeutfamkers der Menſchenhaufen, genannt
Nationen, und von der praftifhen Nichtigkeit ber fhme:
cheinden Theorien über die rechtliche Kraft des Hefammtwillend,
Doch fei dem, wie das Verhängniß es will oder ‚die Natur ber perſoͤn⸗
lichen Macht es mit ſich bringt! immerhin wird doch jenes Cabinet das
ehrwürdigere, dad von Mitwelt und Nachwelt geachtetere, aus) — we⸗
nigftens in der Regel — das in: feinen Beſtrebungen glüdlichere fein,
welches vor andern feine Richtung freiwillig und redlich in Webereinftim-
mung fegt mit jener der in die Erſcheinung getretenen vernünftigen —
d. h. auf Recht und Gemeinwohl gehenden — Nationalwuͤnſche und bes
edleren Zeitgeiftes. | Motte. .
Cabinets-Juſtiz, CabinetsInſtanz; Trennung und
Unabhängigkeit der richterlihen Gewalt von der re
gierenden und der gefeggebenden. I. Cabinet, Cabinetsver⸗
fügung bezeichnet zwar ftantsmwiffenfhaftlid in einem .engern:
Einne nur die Berathung und Verwaltung von Geſchaͤften durch den
Regenten allein oder doch nur unter Mitwirkung yon verteauteren Mi⸗
niftern oder NRäthen. Es entfpricht diefe Bezeichnung alfo der allges
meinen Wortbedeutung, nad welcher man das Eleinere Gemadı
hinter dem größeren ein Cabinet zu nennen pflegt. Im weiteren‘
Sinne aber verfteht man unter Gabinet, 3. :B. unter Gabinet von.
London, überhaupt die Regierung, unter Cabinetsverfügung alfo auch
die vom Regenten ausdrüdlich oder ſtillſchweigend genehmigte Verfügung.
feiner Miniſter oder feiner hoͤchſten WVoltziehungsorgane im Gegenfaß-
gegen die übrigen öffentlichen Gewalten oder Befchlüffe, insbefondere
gegen die bes Parlaments und der Gerichte. So kam es, daß
man unter Cabinets⸗Juſtiz überhaupt eine von der Regierung oder
von ihren abhängigen Dienern ausgehende Einwirkung in die richters
liche Verhandlung und Entfheidung einzelner Givil - oder Eminalprye
164 SabjrdIuflig:
zeffe verſteht. Gabfmer.,rftanz aber iſt bie als Regel vorgefchries
bene Verhandlung un söheibung von gewiſſen Rechtsſtreitigkeiten
durch die Regierung.
Vieleicht in wenige Punkten war das Staatsrecht und die oͤf⸗
fentliche Meinung, warr insbeſondere bie juriſtiſchen Schriftſteller aller
civiliſirten Staaten ſeit ingerer Zeit fo einſtimmig, als in bee Ver⸗
werfung ber Cabinets⸗Iſtiz und dee Cabinets⸗Inſtanzen. Ein fo allge
meiner Abfcheu ſprach fih dagegen aus, daß felbft ein Ferdinand Vil.
von Spanien fich zasthigt fah, mit Berufung auf alte lesitime,
fparifche Staatsgrundfte fich Öffentlich davon Toszufagen. Fine Ruͤck⸗
fidt auf die materielle Büte der Regierungsverfügung über «se beftimmte
Mozeßſache, fah marfchon blos in dem formellen Feegriff des Cabinets
in die Juſtiz einen Suftigmotd. Das ſtarke Wort follte die gänz«
liche Verwerflichkeit er Sache und ben Ahfar davor bezeichnen. Alle
freie Verfaſſungen gemaniſcher Völker ſchinen alle Cabinets « Jufliz ent⸗
fhleden aus, und jeiligten die Unarsangigkeit der Gerichte. Beſon⸗
ders auch in Deuschland, deffer Reiches und landftändifhe Verfaſ⸗
fungen andere Mängel wemaltens durch bie Achtung unabhängiger
Rechtspflege und tichterlicher Huͤlfe felbft gegen bie Fuͤtſten zu vergüs
ten fuchten, gal: Cabinets-Juſtiz ald ber größte Vorwurf gegen eine
Regierung, als Beweis eines rechtloſen, befpotifhen Zuftandes, als
eine von ben Keichegerichten befonder® eifrig verfolgte Verfaffungsvers
legung. Es ift einer ber vielen Beweife, daß das Werk von Meyer
(Esprit orig. et progr. des instit. jud. IV, &. 314) oft wenig grünblidy
tft, wenn es die Cabinets⸗Juſtiz als überall in Deutfchland geſetzlich
gebilligt därftellen mil. Doc, hatte bie durch die Parteileidenfchaften
unferer Zeit hie und da bewirkte Verwirrung aller ftaatörechtlihen Be⸗
griffe die Anhänger der Hallerifhen Xheorie dahin geführt, auch
dieſes heiligfte und legte Bollwerk der Freiheit und eines rechtlichen Zus
ſtandes anzugreifen. Und auch manche neuere Beftimmungen fcheinen
mwenigftens die Gründe, den Umfang und die Bedingungen dieſes wes
fentlihhen Rechts nicht ganz richtig zu mürdigen.
I. Strände ber Berwerflichkeit der Cabinets-Juſtiz:
Theilung der Arbeit. Es fragt ſich alfo vor Allem, worauf ruht
die Verwerflichkeit ber Cabinets-Juſtiz? Hier kann man nun als einen
Grund gern den zugeben, welchen Gönner in feinem Handbuch
des Prozeffes (Bd. I. Abhandl. 1.) als den alleinigen hervorhebt.
Die Kegierenden haben bei ihren andermeitigen täglichen großen Aufs
gaben nicht die zur ruhigen, partellofen Prüfung und zur gründs
lichen, jwriftifchen Entſcheidung ber Rechtsſtreitigkeiten nöthige Ruhe
und Rechtskenntniß. Mit andern Worten alfo, eine mwohlthätige Theis
lung der Arbeit ift auch für eine gute politifche Gefchäftsverwaltung,
wie für jede andere und insbeſondere in Beziehung auf die Verwaltungss
und die Juſtizſachen weſentlich. Aber es widerſtreitet ebenfo fehr ber
Wahrſcheinlichkeit, wie der wirklichen biftorifhen Wahrheit, wenn mit
Gönner Manche vermeinen, blos durch eine folche relative, ohn⸗
Gabinets · Juſtiz 165
gefähr et feit dee Aneblidung unſerer neueren; ſchnierigeren, wiſſen⸗
ſchaftlichen Jurisprudenz entſtandene politiſche Erwaͤgung haͤtte ſich die
angeblich fruͤher allgemein als zulaͤſſg erkannte Cabinets⸗Juſtiz allen ge⸗
ſitteten freien Voͤlkern als ſo obfolut verwerflich und rechtswidrig bars
gefteltt,
JIE. Fortfegung Vertheilung oder doch ſelb ſtſtaͤn⸗
dige Organiſation der Hauptzweige der politiſchen Ge
walt. Es liegt vielmehr ein zweiter, wichtigerer Gegengrund gegen
die Cabinets⸗Juſtiz in der nothwendigen Abſonderung ſelbſtſtaͤndiger Haupt⸗
zweige oder der Hauptfunctionen der politiſchen Gewalt. Selbſt auch da,
wo dieſe Trennung, und namentlich die der richterlichen Gewalt
von der geſetzgebenden und von der vollziehenden oder der regies
senden, nicht fo wie von Montesquieu (11,6) und von Kant
(NMaturreht, S.164) und feit ihren Ausführungen ſaſt von allen
Publiciſten zum Gegenſtand klarer Reflexion und bewußter Theorie er⸗
hoben wurde, da mußte ſie ſich doch gerade, weil ſie der Natur einer
freien Verfaſſung weſentlich war, auch ohne dieſes mehr oder minder
wirkſam erweiſen. So wie nun auf den unteren Stufen des thieri⸗
ſchen Lebens, bei den Würmern, den Schaalthieren u..f. w., die vers
fhiedenen Functionen und organifchen Spitense mit einander vermifcht
find, bei den höheren Lebensgattungen aber immer mehr fid) abgefon=
dert und felbftftändig ausbilden, fo ift es auch im Staateieben ber
Voͤlker. Nur auf den roberen Gulturfiufen find Regierung oder
Vollziehung, Geſetzgebung und Richten, fo wie ja felbft Privats
und öffentliches Recht und Insbefondere kirchliche und Stantögewalt,
ungetrennt und vermifcht, aͤhnlich, wie bei noch rohen Voͤlkern ja auch
die Lebensbefhäftigungen, bie Stände und Gewerbe ungefchieden find
und ein Jeder fein eignee Schneider. und Schufter und Schmieb ift.
Dei höherer Ausbildung der Staaten aber werden die Privatrechte und
Privatvereine, und namentlid die Kirche und die politifche Organiſa⸗
tion und in letzterer wieder fo, wie in den freien WBerfaffungen von
England, von Frankreich, von Nordamerika, Die geſetzge⸗
berifche, vollzicehende und gerichtliche. Drganifation felbfiftändig ausgebildet.
Freilich ift in unferer neuchten Zeit gerade auch gegen diefe früher
fo allgemein als nothwendig anerkannte Abtheilung , diefe weſent⸗
lihfte Grundlage für die Unabhängigkeit der Juſtiz Widerſpruch
entſtanden. Zuerſt griff ſie vorzuͤglich Hugo’s allgemeine geiſt⸗
reiche Zweifelfucht an, fodann, wie fih von felbft verſteht, auch
die Hallerifhe Reftauration der Fauſtrechtsverhaͤltniſſe. Auch
eine mißverftandene pofitive Beftimmung, und enblid). andere achtbare
Gründe, welche jedoch ebenfalls auf Mißverſtaͤndniſſen und insbeſon⸗
bere auf fehlerhaften Darſtellungen jener Abtheilung beruhen,
beſtimmten insbeſondere manche deutſche Staatsmaͤnner, zum Theil ſehr
liberale, zum allgemeinen Widerſpruch gegen dieſe Theorie. |
Es fou fürs Erſte diefe Abtheilung und felbftftändige Drganifation
ber Dauptzweige ber politifchen Gewalt und Function gar nicht durch⸗
166 WGabinets⸗Juſtiz.
fuͤhrbar ‚fein‘, :alſo nuch nirgends deſtchen. Allein man denkt dabei fo,
wie freilich ausch::viele Vertheidiger dev Gewaltstheilung, an ein me⸗
cha niſche s und gaͤnzliches Trennen und Auseinanderreißen der Or⸗
gane. Diefes aber iſt fuͤr einen lebendigen Staatskoͤrper eben fo wenig
zulaͤſſig als im phyſiſchen Leben. In dem letztern ſind ja auch das Ge⸗
hirns Lund Nerven-) Syſtem, das Zell: (oder Haut⸗) Syſtem, das
Gefaͤß⸗(oder Blut⸗und Muskel⸗) "Spftem unzertrennlich mit einan⸗
ber verbunden, unterftügen und ergaͤnzen ſich, ja ſie gehen zum Theil in
einander über." &te: werben von“ einer gemeinſchaftlichen Lebenskraft
und hoͤchſten Lebensgeſetzgebung' zu dem einen harmonifchen Leben und
Lebenszweck innerlich vereinigt, und jebe Disharmonie bewirkt Krankheit,
zuletzt, wenn fie nicht geheilt wirb, ‘den Zod. : Aber find fie und Ihre bes
fonderem Functionen der Beferlung ‚der Ernährung ‚der Bewegung dar⸗
um nicht dennoch. mefentlich verfchieden ? Sind nicht für fie von einander
abgefonderte, ſelbſtſtaͤndig' neben einnnder ftehende Organe mit befonderen
Hanptfigen im Kopf, im Bauche, in der Bruft vorhanden? Steige diefe
Unterfcheidung und beſondere Ausbildung. nicht gerade mit der Höhe des
thierifhen Lebens? In Amerika war es ſowohl bei der Begründung des
Bundes wie der Landesverfaſſungen -fogär der vollkommen bemußte lei:
tende Grundgebante,.23 war und Ift fortdauernd der von der ganzen Na⸗
tion und allen Ihren zuu Theil hoͤchſt ausgezeichneten Staatsmiännern
allgemein anerdannte Staatsgrundfag, bie Vollziehungs =, die Ges
ſetzgebungs⸗ und. die Richterthaͤtigkeit gu trennen und felbftftändig zu
organifiren. Ein. halbes Sahrhundert hindurch bejtcht auch wirk⸗
lich diefe Organtfation ungeſtoͤrt und begruͤndet — wie verfchieden auch
die Neigungen: und Urtheile der Menfdyen ;' wie groß die menfchlihen Uns
vollfommenheiten: fonft fein mögen :— doch unbefteeitbar eine vorher in
ber Weltgefchichte beifpiellofe Freiheit und zunehmende Btüthe und Macht
des Staates. Dennoch aber follte man, und felbft hier, diefe Theilung
für eine abfolute Täufchung erklaͤren? Darum vielleicht, weil die gefeßge-
bende Gewalt fo organifitt Ift, daß ihrem Hauptorgan, dem Parlament,
bei der Vollzichung und hinwiederum dem Organ ber Volfziehung, dem
Praͤſidenten, bei der Gefeßgebung eine gewiffe Mitwirkung zufteht, aͤhn⸗
lich wie ja auch dem Blut bei der Gehirn» und Nerventhätigkeit und um:
gekehrt? Oder beftcht etwa In Amerikn keine abgefonderte felbftftändige
gerichtliche Organiſation, obgleich in allen Sachen die ganz unabhängigen
aus den Volk hervorgehenden Geſchworenen den einen Hauptbeftandtheil
der Sesichtähöfe bilden und der andere, die Stantsrichter, ebenfalls von
der vollziehenden und gefeggebenden Behörde nicht entfegt, verfest und
zur Ruhe gefegt, und auch in ihrer verfaffungsmäßigen felbftftändi-
gen’ Thätigkeit ſo wenig beberefcht werben dürfen, baß fie nicht bios
über jede ſogenannte Adminiſtrative Streitfache, fondern mit Rechte:
kraft auch darüber entſcheiden, ob eine öffentliche Verfügung Gefes iſt
und ob daffetbe oder ein Regierungsbeſchluß der Verfaffung entfpricht
oder nicht? Kann. man: fie etwa darum’ ableugnen, meil, ſoweit es
die Verfaſſung erlaubt: die.Befesgebung die Drganifation und
Cabinets⸗ Zuftig: 167
Verfahrungsweiſe wie die Rechtenormen allgemein gefegiic beſtimmt
ober weil die vollziehende Gewalt bie Richter ernennt und auch
das Begnadigungsrecht ‚befist? Gerade darin befteht die Güte einer
Drganifation, daß fie mit dee möglichflen Sonderung und eigenthüms
Uchen feibftftändigen Ausbildung :der verſchiedenen Hauptorgane auch
ihre moͤglichſte harmoniſche Vereinigung und Zuſammenſtimmung, und
ihr gegenſeitiges Unterſtuͤtzen in ber. Wirkſamkeit für ben Geſammt⸗
zweck begruͤndet, daß ſie alſo im Staate ebenſowohl ein deſpotiſches Un⸗
terdruͤcken und Verſchlingen des einen politiſchen Gewaltzweigs durch den:
andern, als einen anarchiſchen Widerſtreit derſelben ausſchlleßt.
. Hiermit faͤllt denn auch dee fernere Widerſpruch gegen dieſe
Theilung, daß ſie verderblich ſei, daß ſie der Einheit des Staats, der
nothwendigen Vereinigung ſeiner politiſchen Thaͤtigkeit in einem ge⸗
meinſchaftlichen Mittelpunkt entgegenwirke. Waͤre — ſo ſagt man —
von den geſonderten Gewalten eine die ſtaͤrkere, ſo muͤßte dieſe die
eigentliche und ſicherlich bald auch bie alleinige Regierung fein. Waͤ⸗
ven - fie dagegen gleih, fo müßte ein Kampf um den Sieg und in
ihm Hemmung und Anarchie entftehen. Doch dieſes beweiſt fchon
darum nichts, weil es zuviel beweift, weil es naͤmlich fchon gegen jede
nothwendige conflitutionelle Schranke zur Verhinderung befpotifcher
Gewaltsausübung, alfo gegen jebe vechtlihe Werfaffung eben fo gut,
wie gegen die Vertheilung ber Gewalt gelten müßte. Einheit und Har⸗
monie des Staats und feiner politifhen Thätigkeit ‚oder Gewaltsaus⸗
uͤbung iſt freilich noͤthig. Uber fie ift etwas Anderes, als Einerlei-
heit und abfolute Einfachheit der Organe. Es iſt mwenigftens im All⸗
gemeinen, und abgefehen vom befonderen pofitiven
Recht Individueller Staaten, nicht wefentlih, daß nur ein
einzige® abfolut unzufammengefestes, geſetzlich felbftftän:
diges Organ für alle Staatsthätigkeit deftehe. Diefes ift allerdings
3. B. in der Zürkei, in Perfien ber Fall. Hier find wirklich
alle geſetzlich felbſtſtaͤndige, privatrechtlihe und ale Öffentliche, hier
ift auch alle kirchliche wie alle weltliche, alle Geſetzgebungs⸗, Vollzie⸗
hungs⸗ und Richter Gewalt in dem Einen Sultan vereint. Den
noch aber bieten uns dort ftete Innere Empsrungen oder Bürgerkriege,
Anarchie, Kraftlofigkeit, Auflöfung, Defpotie und Roheit ein wider⸗
waͤrtiges Schaufpiel dar. Die Hauptvertheidigerin all jener erwähnten
Gewalts: Einheit ift die Theorie von Hugo's Naturreht $. 142,
189 ff. Aber man muß ihr audy die Confequenz nahrühmen, daß
fie fo gänzlich jegliches Recht der Bürger gegenüber biefee Gewalt
aufhebt, dag fie derfelben das Recht zugefteht, fie beliebig ihres Eigen:
thums, ihrer Samilienrechte, und durch völlige Verſtoßung in gänz-
liche Sklaverei jeder perfönlichen Freiheit zu berauben. Es können da⸗
gegen recht gut verfchiedene, in ihrem Kreife felbftftändige Organe, ver:
fchiedene phyſiſche Perfonen und Corporationen fi) zu der einen
moralifhen Perfon der Staatsregierung einigen. Sie
koͤnnen jedenfalls unter Hersfchaft des höheren Lebensprincips bes
168 Cabinets⸗ Zufliz,
Grundgeſetzes, ber Vaterlandeliche und des oͤffentlichen Nationalgeiftes
zugleich wetteifernd und ſich mechfelfeitig begrenzend, zugleich aber doch
auch ohne verberbliche Anfeindung und Hemmung, vielmehr ſich gegenfeitig
unterftügend, harm o niſch zuſammenwirken. So nun fehen wir es
z. B. in England und Nordamerika, wo, ſtatt einer tuͤrkiſchen
Barbarei und Aufloͤſung, friſche Lebenskraft, freie Darmonte und ſtets
ſteigende Macht und Cultur uns erfreulich entgegentreten. Und doch hat
bier auch nicht einmal, was Hugo (Nat u rrecht 5. 384) abſolut for⸗
dert, fuͤr den Fall des Streits der Gewalten eine die unumſchraͤnkte Ent⸗
ſcheidung, eben ſo wenig, als im lebendigen Koͤrper etwa das eine der drei
Syſteme. Sogar den Buͤrgern — um von dem Parlamente, von den
einzelnen Bundesregierungen und von den Geſchwornengerichten gar nicht
einmal zu reden — ſogar den Unterthanen legen dieſe Verfaſſungen nie
ſtlaviſche Unterwerfungspflicht auf, ſondern geben ihnen gegen den Bruch
wefentlihen Verfaſſungsrechts ausdr uͤcklich ein Widerſtandsrecht, und
bleiben frei von tuͤrkiſchen Empoͤrungen. So ſpottet das wahre Leben
all dieſer theoretiſchen Abſolutheiten und mechaniſchen Berechnungen.
Und in der That, moͤchten doch Alle, welche von einer nothwen⸗
digen abſoluten und unwiderſtehlichen Gewalt und Entſchei⸗
dung eines einzelnen Inhabers der Staatsgewalt oder auch des volks⸗
ſouverainen Stimmenmehrheitsbeſchluſſes theoretiſiren, es ſich klar ma⸗
chen, daß ſie ſich mit der Geſchichte aller wirklich freien und conſtitu⸗
tionellen Staaten, und ſofern auch ſie eine wahre rechtliche Freiheit
wuͤnſchen und tiber die Willkuͤr ſetzen, mit ſich ſelbſt im offenbaren
Widerſpruch befinden. Sie begründen und organifiren ja eine abfos
lute, eine defpotifhe Gewalt. Entweder man begründet abs
folute hoͤchſte Entfcheidung und Gewalt eines einzelnen Organs, und
alsdann auch unvermeidliche Empdrungen gegen fies oder man muß
eine niht abfolute, eine wirkſam begrenzte, alfo nicht unwider⸗
fiehlihe und mehr oder minder getheilte Gewalt begründen.
Entweder man räumt einer einzelnen hoͤchſten unwiderſtehlichen
Gewalt, fobald fie will, auch die defpotifhhe Ausübung derfelben ein,
und läßt, fofern man nicht völlig blinden fElavifchen Gehorfam gegen
fie, gegen ben tyrannifhen Umfturz aller vechtlihen Verfaſſung zu
Recht erheben kann oder will, als einzige Schußwehr gegen fie nur
die rohe Revolution. Alsdann aber ift doch wiederum das Abfolute,
Unmiderftehlihe aufgehoben, ja gemwiffermaßen die roheſte aller Volkes
fouverainetäten unvermeidlich hervorgerufen. Und freilih mußten bie
Liberalen Anhänger diefer falfchen mechaniſchen Staatstheorie eines
phyſiſchen und mechaniſchen Abfolutismus — und gegen. fie müffen wir
bier faft noch mehr, als gegen bie fervilen kaͤmpfen — in einer miß⸗
verftandenen Bolksfouverainetät, in einer faft regelmäßigen Revolu⸗
tionirung den Erfab einer weiſen, allen Abfolutismus wirkſam aus⸗
fchließenden Staatsorganifation fuchen. Schon aber die neuefte Geſchichte
von Frankreich und von Suͤdamerika koͤnnte über die Wirkung einer
folchen Volksſouverainetaͤt für die wahre Freiheit belehren.
Gabinetd : Zuftiz. 169
Dder man will feinem einzelnen Organ eine Gewalt zum: Um⸗
ſturz der Sceiheit und Verfaffung, zum Defpotismus einrdumen. Als⸗
dann muß min die Gewalt weder blos durch leere Worte und fromme
Wuͤnſche, noch durdy die rohe Revolutionirung, ſondern durch wirk⸗
fame Begrenzung, durch eine organifirte geſetzliche Gegenwirkung
gegen Grenzäberfchreitung befchräntn. Dan muß eine gewiſſe Vers
theilung, ein gewiſſes Gleichgewicht ber. Drgane und Spfteme und ihrer
Wirkſamkeit im politifchen Körper begründen, wie ein ſolches im phyſi⸗
ſchen Organismus befteht, alfo freilich nimmermehr ein: bios meſch a⸗
naiſches, fondern ebenfalls ein auf organifche Weiſe wirkendes. Und
dieſes und nichts Anderes If eben der iegte Örundges
Danke aller freien, aller.:conflitutionellen -Berfaffun-
gen. Denn wahre, wirtfame Beſchraͤnkung, Theilung oder
Miſchung der politifhen Gewalten find wefentlih eins und dafs
felbe. Eins ohne das Andere ift gar nicht denkbar. Nie aber — fos
weit die Menfchengefdichte geht — beftanden :oder. dauerten weder
Zreiheit und Recht, nody Kraft und Cultur bei den Voͤlkern, da, mo
alle Gewalt grenzenlos und höchftens nur durch leere Wuͤnſche und
Worte befchränkt in einer einzigen Hand lagen, wo Alles von jeder
augenblidiihen wechſelnden Laune und Leidenfchaft oder irrigen Richtung
eined einzigen Willens, ja auch felbfi von einer einzigen Demos
kratiſchen oder ariftetratifhen VBerfammlung abhing. Die
Aufgabe, ftetd dem Rechte zu huldigen, auch ba, wo es nicht wirkfam
vertheidigt werden kann, die Verfuhung, durch eigene JIrrthuͤmer und
Neigungen, vollends aber durch verderbliche geheime Einwirkung Ande⸗
rer (f. Camarilla) über die Verfaſſung hinausgeführt zu werden,
da, wo bderfeiben Eeine felbftftändige, organiſirte Vertheidigungsfraft zur
Seite ftcht; fie find zu groß für ſchwache Menfhen. Bon wahrhaft
conftitutionellen Einrihtungen, von einer wirkfamen Verantwort⸗
lichkeit dee Minifter 3. B., und von der nur dadurch möglichen Hei⸗
tigkeit oder völligen Unverlegbarkeit des Kürften, kann vollends ohne
Abfonderung und Selbftftindigkeit jener drei Functionen gar nicht die
Mede fein. Daher auh das Halleriſche Spftem fie nicht Eennt.
(S. unten VI.)
Setzt man diefer Theilung aber die Gefahren der Collifion und
bes Widerftreits bei dem Mangel einer fteten hoͤchſten Entfcheidung
entgegen, fo kann man erwidern: auch im phyfifhen Organismus hat
kein Spitem diefe abfolute hödyfte Entfcheidung Über die andern. Iſt
aber ein Staatskörper weife organifirt, und die Lebenskraft
eines tüchtigen Nationalgeiftes einer wahren Rechts⸗ und Bers
faffungsahhtung, die über allen politifhen Gewalten fies
ben muß, einer wahren Vaterlandss und Freiheitsliebe noch kräftig,
fo wird auch dad Staatsleben fi gefund erhalten und ebenfalls eins
zelne Störungen ohne Aufloͤſung heilend vermitteln ober ausfcheiden.
Dann werden, wie Montesquien richtig bemerkt, die drei. Gewal⸗
170 Gabinetö: Juſtij
ten, weil (fe eben gehen müffen und allein nicht sun tönnen, vereis
nigt gehen‘; fo wie fie es in England, Frankreich, Anneifa, Echweden
wirklich thun. Fehlt aber bie weife Drganifation Rund die ges
funde Lebenstraft, nun dann Hilft auch jene Einheit . abfoluter
Gewalt nichts: Sie gerftört vielmehr, fo wie ein in Rom, fo wie
in der Tuͤrkel, alles höhere und freiere Leben, und. vermehrt nur
die Krankheit durch Deſpotismus, Empoͤrungen und Abfall.
Nur alſo bei: weifer * und ſelbſtſtaͤndiger
und Begrenzung’ ber politifchen Gewalten iſt Freiheit u
höheres kraͤftiges Leben der Wätker- zu hoffen. :.E6 gehört in ber She
jenes deutſche unprakthche, ja oft phantaſtiſche und ſchwaͤrmeriſche Theo⸗
retiſtren dazu, fuͤt ‚das geſellſchaftliche Leben fchwacher irdiſcher Menſchen
ſolche Geſche, vie jene: aunwiberſtehliche abſolute hoͤchſte Gewalt und Ent⸗
ſcheibung eines einzelnen Organs, als vernünftig hinzuſtellen, Geſetze,
die fo wenig: den icdiſchen Grundbedingungen entſprechen, * ſie gera⸗
besu das Gegentheill von demjenigen wirklich hervorbringen muͤſſen, was
man bezweckte, Geſetze, bie nur vernünftig waͤren, wenn Menſchen und
wenigftene bie Regierenden Engel ober göttliche Philofophen waͤren.
Man begeht dabei den Fehler, die Abfolutheit einer fogenannten vei>
nen Rechtsidee mit den ſtets relativen und unvolllommenen
menfhlihen Drganen ihrer Verwirklichung zu verwehfeln. Ban
überfah hier ebenfall® wieder die wahren Lebensgefege des Staatskörpers
(f. oben Bd. I. ©. 11 ff.). Und fo forderte man theils eine träus
merifche, theild eine mechaniſche hoͤchſte Gewalt und Einigung,
flatt der Lebenbigen und moralifchen, ftatt jener böheren Lebens⸗
kraft und wahrhaften weiſen Organiſation des Staats.
Dieſe letztere nun wird allerdings auch einem der Drei Hauptors
gane, und zwar ihrer Natur nad dem regierenden oder aus
übenden, vorzugsweiſe eine gewiſſe äußere Directorials, Gentrals oder Ver⸗
einigungs » Kraft und die Mepräfentation. ber Einheit des Ganzen zuges
ſtehen muͤſſen. Die ausübende Gewalt ift nämlicy weit entfernt, bie
untergeordnete Stellung eines bloßen Dieners ber gefeggebenden Gewalt
einzunehmen, welche derſelben felbft Kant, fo wie Rouffeau, bei ib:
ver [hranfenlofen abfoluten Volksfouverainetät ber gefeggebenben Vers
ſammlung beifegen; vielmehr ſteht, und biefes erkennen auch felbil die
ameritanifhen Republikaner entfchieden an, über allen Gewalten
das hoͤchſte Rechts: und Verfaffungsgefeg. Und diefes
oder den verfaffungsmäßigen Staats zweck hat die höchfte ausͤbende
vollziehende, oder beffee die regierende Gewalt zu verwirklichen und
zwar allerdings mit Heilighaltung bee Gefege, die aber nicht ohne
ihre Zuftimmung und ebenfalls mit Unterordnung unter die Ver⸗
faffung gegeben wurben, fo mie mit Achtung ber ebenfalls verfaffunge-
maͤßigen richterlichen Entfcheibungen der einzelnen entftandenen Rechts:
ſtreitigkeiten. So wie alfo dieſes regierende Organ, innerhalb jener Gren⸗
gen, im Inneren, wie im dußeren VBerhältniffe des Staatslebens
fletö den jedesmaligen befonderen individuellen Umfländen und Be:
Cabinets⸗Juſtiz. 171
duͤrfniſſen wie den Geſetzen gemaͤß die beſonderen Thaͤtigkeiten und Ein⸗
richtungen zur Vollziehung der verfaffungsmäfigen Staats⸗
zwede waͤhlen, anordnen und leiten muß, fo mag es auch bie nicht
bleibend verſammelten geſetzgebenden Kammern und die Waͤhler zu ihrer
Bildung zuſammenberufen, die beſchloſſenen Geſetze, mit ſeiner Sanction
verſehen, oͤffentlich verkünden, und auch durch Organiſation ber Gerichte
nach dem Geſetz, durch Ernennung ber Richter, ja auch durch Vollzie⸗
kung ihrer Erkenntniſſe, verbunden mit dem Recht der Begnabdigung,
das Zuſammenwirken der gefeßgeberifähen und richterlichen Thaͤtigkeit mit
der regierenden fuͤr den Staatszweck veranlaſſen und aͤußerlich dirigiren
und ſelbſt mit ſeinem Namen ins Leben treten laſſen. Es mag endlich
auch hierdurch und durch gerichtliche Anklage und Verfolgung ber wich⸗
tigeren Verfaſſungs⸗ und Geſetz⸗ und Gerichts» Werlegungen im In⸗
nern fo wie durch Wollziehung aler Rechte und Zwecke bes Etaate
nah Außen, überall die Staatseinheit, ja ;gewiffermaßen bie
Staatsthätigkeit vepräfentiren und erhalten. Es mag
fo in ihm vorzugemweife die moraliſche Würde und Majeftät des
Ganzen widerſtrahlen. Ja will man in diefem Sinne der Perföns
lichkeit -diefe6 Organs allein diefe Ehre der fouverainen Majeftät und
Majeſtaͤtsgewalt beilegen, und ihm zur Verſtaͤrkung dieſer moralifchen
Kraft wie der moralifhen Staatseinheit ununterbrochene oder erbliche
Dauer verleihen, und will man deshalb in dem angebeuteten Sinne
die mechfelnden Organe der beiden andern Hauptfunctionen, der Geſetzge⸗
bung und des Richtens, von bdiefer perfönlichen Majeftätss und Sou⸗
verainetätss Ehre ausfchließen, fo ift gerade dann, wenn die verfaffungss
mäfige Selbſtſtaͤndigkeit und Unabhängigfeit jener Sunctionen und ber
Gorporatioren für fie verbürgt ift, dafür ſicherlich ſehr Vieles zu fagen.
Nur aber muß ftets, fo wie in allen wahrhaft conftitutionellen
Staaten, alle Einigungsgewalt des Megierungsorgans blos in ben fo
eben bezeichneten Rechten und in einem moralifhen Einfluß, nicht in
einer allgemeinen höchſten und unwiderftehliden Ent«
ſcheidungs⸗Gewalt beftehen, und es darf dieſes Organ niemals
rechtögüiltig und wirkſam die andern Hauptzweige ihrer Sunction und
ihrer Selbſtſtaͤndigkeit, ihres felbftftändigen inappellabelen, ebenfalls
in hoͤchſter Inftanz auszuübenden Rechts berauben und barlber
beliebig verfügen, ober ihre Kunctionen etwa felbft ausüben. Dies
fes IfE nun 3. B. anerkannt in England. Und fo fprechen auch bie
deutfchen Bundess und Landesgefege ber Regierung das Recht ab, durch
Cabinets s Juftiz über die Rechtsſprechung, durch Machtfpruch über bie
ftändifchen, verfaffungsmäßigen Rechte zu verfligen. Sie begründen fo-
gar bei Hemmung der richterlihen Huͤlfe durch bie unabhängigen Ge:
richte den Unterthanen einen Recurs an den Bundestag, und haben für-
ben Kalt einer Collifion zroifchen dem Regierungs⸗ und dem fländifchen
Recht ebenfalls, ftatt einer hoͤchſten Regierungs⸗Entſcheidung, den Stän-
den das Recht der Anklage der Minifter oder der erflen Organe ber
Regierung vor felbftflündigem Gericht, und das Recht einer organificten,
172 Gabinetö = Zufliz.
gegenfeitig gleichen ſchiedsrichterlichen Entſcheidung, aͤhnlich wie fie zwi⸗
ſchen den fouverainen Regierungen felbft flattfindet, angeordnet.‘ Kurz
fie 'ertennen die verfaffungemäßige Unabhängigkeit der Stände ober bes
Parlaments und der Gerichte an. Bei einem Wolke, wo ˖ biefes nicht
der Gall waͤre, wo vielmehe bie Regierung jene oben erwähnten abfoluten
echte hätte, wo man etwa das Weſen einer monarchiſchen Regierungsform
fo gaͤnzlich falſch auffaßte, da waͤre Abſolutiomus oder Defpotismus, nicht
aber wahre verfaffungemäßige ober comftitutienelle Freibelt, nicht geſicher⸗
tes Recht der Bürger grundgefeglih. Wo dagegen Recht unb Freiheit
auf die angegebene Weife grundgeſetzlich anerkannt und gefichert find,
ob man da von Theilung und von Trennung ber Gewalten sder bios
von verfaffungsmäßiger Korm oder von Beſchraͤnkung und von Mitwir⸗
tung in der Ausübung, ober von gefonderten pelitifchen Functionen
rede, das ift alsdann — wie verfdyieden auch die befonderen Modifica⸗
tionen und Garantien feien — in ber That unweſentlich. Es iſt ent-
weder nur ein Streit der Worte, ober die MWerneinung ber Gewalts⸗
trennung bezieht ſich nur auf jenes moralifhe Gewicht der samen Sou⸗
verainerätss und Majeftäts: Ehre fir den Erbmonachen unb auf jene
obige erbmonarchiſche Direction, Vereinigung und ÜMepräfentation ber
Staatsgewalten.
Durch das Bisherige und den Blick auf die Geſchichte beſeitigt ſich
denn auch vollſtaͤndig die weitere dritte Einwendung oder die Furcht, die
bisherige Theorie widerſpreche ſchon ihrem allgemeinen Weſen nach der
monarchiſchen Regierungsform. Sie widerſpraͤche ihr nur alsdann, wenn
man entweder die letztere faͤlſchlich zu einer deſpotiſchen Verfaſſung her⸗
abſetzen, oder wenn man in jene Theorie etwas, was ihr fremd iſt,
hineinlegen wollte.
Uebrigens bilden jene allgemeinen Directorial⸗ und Einigungsrechte
des regierenden oder vollziehenden Organs und jene daran geknuͤpfie, vor⸗
zugsweiſe Würde, welche die Engländer zum Theil als Praͤrogative ber
Krone bezeichnen, keine von ber fouverainen Vollziehung oder Regierung
in dem oben aufgeftellten richtigen Sinne wefentlid) verichiedene und
vierte politifche Gewalt. Sie bilden kein befondere® pouvoir royal oder
regulateur oder modersteur, nad den Ausdrüden von Benjamin
Gonftant und Lanjuinais. Eben fo ift die fogenannte abminis
firative und erecutive Gewalt für die Minifter und die Vollzie⸗
bungsbeamten nur Beftandtheil der allgemeinen vollziehenden Gewalt.
Souten nun wohl, zumal gegenüber der Wirklichkeit und der wohl:
thätigen Wirkungen unferer Abtheilung, in England, Nordamerika, Krank:
teih, und im Allgemeinen noch ſolche Einwendungen etwas bebeuten,
wie die, fie fei fetbft Logifch unmöglich, nicht beftimmt, nicht umfaflend
genug, dad Richten fei z. B. Unterabtheilung der Vollziehung und ſelbſt
keine Gewalt? Mer weiß, ob zulegt die (trichotomifche) Eintheilung bes
phyſiſchen Organismus in feine drei Hauptfnfteme logifch iſt, ob feine
derfelben zum Unterglied einer zuerft zweitheiligen Hauptabtheilung
gemacht werben koͤnntel So aber wie fie, fo find auch bie drei Daupts
Gabinetd : Zuftiz. 173
fimctionen bee Staatsgewalt wirklich vorhanden in ihrer erfennbaren
Verſchiedenheit und Michtigkeit. Sicher kann man auch mit demfelben
Recht, mit welchem man für das vernünftige, für da8 lo giſche Schließen
fetbft drei Haupttheile des Syllogismus nebeneinanderftellt, für das ver
nünftige politifche Wirken, deffen drei formelle Dauptbeftandtheile nebens
einanderftellen: das Regieren nämlich, als das Ergreifen aller befonderen
Mittel, um den verfaffungsmäßigen Staatszweck nach den jedesmaligen
Bedhrfniffen des Lebens zu verwirkiihen; das Geſetzgeben als das
verfaffungemäßige Feflfegen der allgemeinen Rechtsregeln für alle
Verwirkiihung der Staatszwecke ſowohl durch die Regierung, wie durch
die Bürger; und endlich das Richten, als die bei entflandenem Streit
über das Verhältniß folder Thätigkeiten zu den Rechtsregeln burdy uns
partelifche Dritte bewirkte rechtliche Vermittlung. Diefes Richten unters
ſcheidet fi) hinlängli von bem Megieren und Geſetzgeben, obgleich es
ebenfo wie jene beiden feibft zulegt nur zur Verwirklichung
des Staatszwecks gefhicht. Cine Gewalt könnte es in Verbindung mit
richterlicher Vollziehung ebenfo gut genannt werden, ale die Geſetzge⸗
bung. Aber wir verftehen bier untere Gewalt überhaupt nur die verfafs
fungsmäßige moralifch »politifche Gewalt der öffentlichen Befugnig zu dee
feipftfländigen Ausübung ber befonderen politifhen Function und
zur Rechtöforderung , daß die Bürger fie anerkennen und ihr ſich unters
ordnen. Selbſt die Regierungsgewalt verftehen wie zunaͤchſt nur in dies
fem Sinne. Auch ihre, welcher die Bürger immer aufs Neue durch
ihre Vertreter bie Steuern und Xruppen vermilligen, und fie dann lei⸗
ſten, entftehe ja die phyſiſche Gewalt ebenfalls erfi aus jener Ach⸗
tung und Unterordnung der Buͤrger.
Auch erfhöpfend ift die Eintheilung, nur muß man fie einestheile
befchränfen auf die allgemeine hoͤchſte polit iſche Gewalt, fo daß alſo
die Verwaltung der Rechtskreiſe bet Bürger und ihrer Vereine für ihre
befonderen ober die allgemeinen Zwede, alfo 3. B. die kirchlichen
Geſellſchaftsrechte, bie Wahlrechte und die Municipalrechte
der Bürger von feltft ausgefchloffen bleiben. Anderntheils ift es übers
baupt nur eine formelle Eintheilung oder bezieht fihb nur auf die
allgemeine Art und Weife aller politifden Thaͤtigkeit der hoͤch⸗
ften Gewalt für alle befonderen materiellen Staatézwecke, Mohls
ftand, Bildung u. f. w. Auch von diefen materiellen Doheitsrechten
wollen wir hier-bie Abtheilungen nicht geben und fie nicht mit ber Abtheis
lung der formellen Hoheitsrechte verwechfeln. Ä
Zulegt wirft man dieſer Vertheilung ber politifhen Gewalt noch
vor, fie fet unwirkſam; auch trog derſelben beftehe nod die Mögliche
Zeit befporifcher Freiheitsvernichtung durch bdefpotifche® Regieren, Geſetz⸗
geben und Vollziehen. Nun, diefe Möglichkeit iſt freilich in diefer unvoll⸗
Lommenen Welt keineswegs zu leugnen. Aber zieht man denn etwa
nicht mit Recht der Organifation einer Schnecke, einer Aufter die menſch⸗
liche Organiſation vor, obgleich, doch auch in biefer legten ein Verſinken
in Xhiecheit und fruͤhzeitiger Tod möglich find? Gewiß aber iſt es doch,
174 Cabinets⸗Juſtiz.
daß einzelne Verblendungen oder Leidenſchaften leichter verfaſſungswidrige
Geſetze, Regierungshandlungen und Richterſpruͤche bewirken werden, wenn
dieſelbe Perſon die Geſetze geben, regieren und auch richten kann, als
wenn dieſe Functionen unter verſchiedene moraliſche Perſonen vertheilt
ſind, die nicht denſelben Einſeitigkeiten und Leidenſchaften und wenigſtens
nicht in demſelben Momente und nicht in Beziehung auf denſelben Ge⸗
genſtand unterthan und welche im Gegentheil dafuͤr interefjict find, ſich ges
genſeitig zu bewachen und verfaſſungswidrige Uebergriffe wirkungslos zu
machen. Gewiß iſt es doch, daß es uͤberhaupt der Freiheit, der freien viel⸗
ſeitigen hoͤheren Entwickelung, dem Reichthum und der Kraft des Lebens
hoͤchſt foͤrderlich, ja nothwendig iſt, fuͤr verſchiedene Hauptaufgaben moͤglichſt
entſprechend ausgebildete ſelbſtſtaͤndige Organe zu beſitzen. Wie ſehr gerade
fuͤr die Regierung, die Geſetzgebung und Richtergewalt, ſo verſchiedenartige,
wie fie z. B. England befigt, entſprechend find, dieſes bat ſchon Mon⸗
tesquieu vortrefflich ausgefuͤhrt, und die Erfahrung beſtaͤtigt ihn hier
befonders jeden Tag. Und wahrlich, fo natürlich ift dieſe Abtheilung und
Einrichtung, dag, wenn wir heute ein großes wichtiges Geſellſchaftsver⸗
haͤltniß eingingen, wir fiher ein Directortum im Sinne jener Re⸗
gierung gründen, bie Geſetzgebung aber ben Verſammlungen der
Geſellſchaftsglieder oder ihrer Stellvertreter Uberlaffen, und für entſte⸗
hende Streitigkeiten, insbeſondere auch für die zwifchen Jenen Vertretern
und den Directoren möglichft unparteiifhe Vermittler oder Richter auf:
fuchen würden. Sowohl für eine verftändige Theilung ber Arbeit, wie
für eine wohlthaͤtige Sicherung gegen felbftfüchtigen eigenwilligen Gewalt⸗
mißbrauch laͤßt ſich gar Beine mwefentlichere , Ducchgreifendere Dauptabtheis
lung ber hoͤchſten politifhen Gewalt denken, als die der Regierung,
bee Geſetzgebung und des Richters.
Insbeſondere aber — und darauf kommt es uns bier zunaͤchſt
an — iſt diefe Abfonderung und ſelbſtſtaͤndige befondere Drganifation
ganz wefentlicd für die Aufgabe des Richters für die moͤglichſt
ruhige, unpartelifche und gründliche Prüfung des rechtlihen Verhaͤltniſſes
alter befonderen Wirkfamkeit der Megierung und ber Bürger für die
Staatszwecke zu den allgemeinen Rechtsgeſetzen. Eine folhe Prüfung
und Entfcheidung ift weber von ber regierenden, noch von der ge⸗
feggebenden Behörde, melde beide in dem entflandenen Streite,
duch ihre befonderen Aufgaben und Thaͤtigkeiten und die für fie noth⸗
wendigen Geſichtspunkte und Gewohnheiten des Verfahrens ſtets mehr
oder minder betheiligt oder befangen find, unb wenigftens von jener par:
teilofen gründlichen Prüfung . abgezogen werden, nimmermehr fo ficher zu’
erwarten, als. von befonderen unpartelifhen und von jenen beiden andern,
Staatsgewalten unabhängigen Dritten.. Auf bie möglihft unpartelifche
und richtige, oder auf die möglichft gerechte Entſcheidung ihrer Rechtsſtrei⸗
tigleiten aber haben alle Bürger gerade ben heiligften, den unabs
weisbarften Rechtsanſpruch.
IV. Sefhidhtlihe und poſitivrechtliche Beſtaͤtigung.
Eben diefe tief in ber Natur dee Sache liegenden, bald dunkler, bald Elarer
Cabinets⸗Juſtiz. 175
erkannten Beduͤrfniſſe haben denn nicht blos die freieſten und bie am mei⸗
ſten politiſch fortgeſchrittenen heutigen Staaten, namentlich alle conſtitutio⸗
nellen, zu einer mehr oder minder vollſtaͤndigeren Theilung jener drei poli⸗
tiſchen Hauptfunctionen und insbeſondere zur Bildung unabhaͤngiger Ge⸗
richte und zur Ausſchließung aller Regierungs⸗ oder Cabinets⸗Juſtiz be⸗
ſtimmt. Nein, die Anfaͤnge dieſer politiſchen Weisheit zeigen ſich ſchon
ſehr fruͤhe. Sie zeigen ſich in dem Maße, als die Freiheit und hoͤhere po⸗
litiſche Eultur ihre Herrſchaft behaupteten, als ſelbſtſtaͤndige, feſte oͤffentliche
und Privatrechte auch der Gewalt gegenuͤber anerkannt wurden. Denn
freilich, wo dieſes nicht der Fall iſt, alſo fuͤr die deſpotiſche Furcht:
herrſchaft, oder fuͤr die auf blindem Glauben beruhende theokra⸗
tiſche Prieſtermacht, welche letztere nur zu oft ben mangelnden oder
den wankenden blinden Glauben durch deſpotiſche Furchtmittel ergaͤnzen
muß, gilt dieſes nicht. Ihnen iſt es vielmehr voͤllig entſprechend, daß
der Deſpot und ſeine Satrapen und die erleuchteten prieſterlichen Stell⸗
vertreter Gottes, wo es ihnen gut duͤnkt, ſelbſt und ohne lange unpar⸗
telifche Prüfung ſchnell richten. Vorzuͤglich muͤſſen fie durch ſchnelle
und blutige Rache des durch jede Befehlsverletzung ſelbſt beleidigten
Deſpoten die Beleidigung austilgen, die Furcht und den blinden Glau⸗
ben lebendig erhalten. Anders aber, ſobald wahres ſelbſtſtaͤndiges Recht,
wahre rechtliche Freiheit und Gleichheit der Buͤrger als hoͤchſtes Geſetz
des Staates anerkannt werden und wo einige hoͤhere Cultur erwacht!
Zwar iſt nichts gewoͤhnlicher, aber auch nichts irriger, als die Behaup⸗
tung, bei den Griechen, Roͤmern und alten Germanen ſeien die Koͤnige
—5 die Geſetzgeber, Vollzieher und Richter geweſen. Wenn die
Koͤnige als Vorſitzer auch im Gericht erſchienen, ſo war doch ſo, wie
die Geſetzgebung, ſo auch das eigentliche Richten, Sache der Volksge⸗
meinde, oder eines in ihrer Mitte und unter ihrer hoͤchſten Inſtanz
richtenden Ausſchuſſes. So war es bei den Griechen ſchon zu Ho⸗
mers-Zeiten *), und die ſorgfaͤltige Bildung aller verſchiedenartigen
Gerichtshoͤfe in Athen und die Aufgabe bed ehrmürbigften, des Areo⸗
pages, auf ihre unabhängige Rechtspflege zu wachen, zeugen wenigfiens
deutlih genug für den Grundfag und die Abſicht. Aehnlich war es
bei den Römern. Mon biefen erzählt uns Livius (1, 26) ſchon
aus ber diteften Zeit von einem ſolchen Eöniglichen Gericht "über den
Schweſtermord des Horatius. Zuerſt aber fprechen bier zwei Mine
ner aus bem Volk das eigentliche Urtheil. Diefes geht auf Tod. Dos
ratius aber appellict foglei an die Volksgemeinde, und diefe fpricht
ihn frei. Als vorzüglichen Beweis des Defpotismus des legten
Könige Tarquinius, deffen tyranniſche Herrſchaft aber bie Römer
durch Revolution abwarfen, erzählt dagegen Livius (1, 49), baß
er, um Furcht zu erweden, felbft und allein gerichtet habe. Bekanntlich
*) Ilias 16, 337. 18,497. Oboſſee 1, 372. 2, 50. 69. 16, 376.
387. 24, 419. Hefiod Theogonie 86. 89. Werke und Zage 28.
185. 231. 246. ©. Zittmann, Griechiſche Staatsverf. S. 65 ff.
176 . Cabinets⸗Juſtiz.
wurde auch nachher in Rom, als ber Vorſitz ber Gerichte auf bie Con⸗
fuln und dann auf befondere Prätoren überging, das eigentliche Urthell
von den Richtern (judices) nad der Wahl der Parteien gefprochen,
und insbefondere auch In den Griminalgerichten (quaestiones) wurden
bie Richter entweder gerabezu ober doch vermittelft bee ausgebehnies
ſten Verwerfungsbefugniß der zuerft durch das Loos Bezeichneten mits
telbar durch die Partelen beſtimmt, fo daß Cicero mit Stolz aus⸗
ruft: „Niemand ſollte, fo wollten es unſere Vorfahren, über die Ehre,
„ja nicht einmal über die geringfte Geldfache richten , über deffen Wahl :
„ſich nicht die Parteien vereinigt hatten *)." Die Ausfchüffe der Buͤr⸗
ger, die unter dem Vorſitz eines Staatsbeamten in Griechenland und
Rom in den befonderen Gerichten Aber Griminalfachen richten, find im
vieler Beziehung den englifchen Gefchwornengerichten ähnlich. Freilich
war es eine Folge der vorzüglich fpäter immer ſchrankenloſeren und deſpo⸗
tiſcheren Volbsherrfchaft, welche aber auch Griechenlands und Roms Kreis
heit vernichtete, daß zum Theil die abfolut gewordenen Volksverſammlun⸗
gen felbft über die Vergehen gegen das Wolf richteten. Und die römifchen
Kaifer, welche alle Gewalten und Aemter in ihrer Perfon vereinigten,
übten fo, wie aſiatiſche Deſpoten, auch Gerichtsbarkeit aus. Aber fah
wohl auc jemals die Welt einen zerflörenderen, einen abfchreddenberen
Defpotiemus ?
In Beziehung auf die Germanen ruft fhon Montesquien bes
wundernd aus, die englifche Verfaſſung mit ihren felofifländigen Ges
walten fei im den deutfchen Wäldern gefunden worben. Aber es follte
doch wenigſtens jegt nach ben Korfchungen ven Savigny, Eiche
born, Grimm und Rogge **) Niemand mehr reben von einem
Mecht ber teurfchen Fuͤrſten, richterliche Urtheile zu fprehen. Die Gent
grafen, Gaugrafen, bie Fürften oder Kaifer präfidirten wohl bie Volks⸗
verfammlungen und die Vo ksgerichte, welche übrigens früher faſt nur
Sciedsgerihte warn (f. Compofitionenfyftem); aber "das Urs "-
theit über das Recht, wie über die Thatſache, ſprachen Überall die Ver⸗
fammiungen des Volks oder der Genofien, oder aus ihrer Mitte und
mit ihrer Einwilligung ***) bald für kuͤrzere, bald fuͤr längere Zeit erwaͤhlte
Michter und insbefondere bald fieben, bald zwölf folher Schöffen,
welche bei Fremden fogar wo möglih aus ihren Landéleuten gemählt
wurden. Darauf gründet ſich noch das heutige engliſche Geſchwornen⸗
gericht de medietate linguae, fo wie auch das englifhe Geſchwornen⸗
gericht überhaupt von biefen Schöffen ſtammt, die fogar ſchon früher
°) Pro Ciuentio 43. In Verr. 1, 6. Pro Muraena 23. Pro Planc. 15.
17. Asc. Paedian. in Verr. II, p. 1817. Bigonius de Judie. II, 27. ©. auch
L. 1.D. de judicils, |
*9) Savigny, Geld. des R. R. J. S. 155 ff. 197. Eihhorn, St.
und Redhtsg. $. 14. 27. 74. 75. 164. 165. 303, 381. Grimm, Rechts⸗
alterthüämer ©. 745 ff. ©. 768. 782. Roger, Gericht sweſen S. 1 ff.
Vergl. auch Mittermaier, das deutſche Strafverfahren J.S 14.
*) Ellgant tetins populi conseneu, Capitul. 829, bei Beorgifch p. 901.
⸗
l
Cabinets⸗Juſtiz. 177
Häufig Gefhmorne genannt wurden ). Auch bei .folchen beſonde⸗
ren Richtern oder Schöffen aber behielt ſelbſt durch das ganze Mittetals
ter hindurch und bie zur allmäligen Zerftörung ber volks⸗ oder genoffene
ſchaftlichen Gerichte durch die fremden Rechte und bie fländigen wiſſen⸗
fhaftlihen Beamten » Gerichte, doch anerkannt bie Werfammlung bes
Volks oder der Benofien, ber fogenannte Ring ober Umftand noch
Immer bad Recht richterliher Zuftimmung oder Verwerfung. Wenn
alfo von einem Gericht ber Fürften oder Könige gefprochen wird; fo if
babel — abgefehen von fauftrechtlichen und befpotifchen Werlegungen des
algemeinen Rechte — ſtets nur an biefe Äußere Präfibialgewalt zu den⸗
Em, während bie Urtheile von ben Genoſſen oder von fieben Schoͤffen
aus ihrer Mitte, namentlich bei den Gerichten Aber Kürften oder Gras
fen, von den um den König verfammelten Großen gefprochen wurden,
So beweiſen es 3. 8. auch von Carl dem Grofen ausdruͤcklich
die gerichtlichen Urkunden felbft °).
Auch auf die in der feubalen Privatabhängigkeit ſtehenden Perſo⸗
nen dehnte ſich der wohlthätige allgemeine germaniſche Grundſatz des
Gerichts durch Genoſſen, durch Gleiche (judicium parium) aus. Auch
die altfranzoͤſiſchen wie die engliſchen Geſetze forderten für das Feudal⸗
gericht, daß es fei: suffisament garnie des pairs ***). Audy über alle
feubaten Schüglinge richteten bei den Germanen, bei welchen felbit in
der Familie, unter Vorſitz des Familienvaters, nur das Familiengericht
der Verwandten richtete +), regelmäßig und von fauſtrechtlichen Ver⸗
legungen abgefehen, unter Vorſitz des Schugheren ober feines‘ · Beamten
die Senoffengerichte, uͤber die Lehenleute die Mannengerichte, über
die Minifterialen die Hofgerichte, über bie hinterfäffigen Bauern
und Leibeignen die Meier» und Hubener⸗ und Bauerns Gerichte ++).
So, und nur duch bie in dieſem uralten Nationalrecht anerkann⸗
ten hoͤchſten Grundfäge war es dann erklärlich, daß feit der Gruͤn⸗
dung ber fländigen Gerichtshoͤfe von wiffenfchaftlihen Beamten und
zuerft des Reichskammergerichts, bie Reichs» und Landes » Verfaffunges
gefege und die Reihsgerichte, mit Nachdruck für bie Unabhängigkeit der
Rechtspflege aud) bei diefen Gerichten wachen. Es wird erklaͤrlich, daß
fie außer der hoͤchſten Begünftigung und unbefchränkten Freiheit der
Actenverfendung an abfolut unabhängige auswärtige Schöppen»
) Srimm ©. 785. Savigny I. & 216.
“*) Marculf1,25. Schöpflin Alsatia illustr. I, p. 51.
”) ©. Meyera.a O. B. 1. ©. 395 ff.
+) Tacitus Germ. 19. 20.
14) &. Eihhorn $. 303. und Urkunden bei Grimm ©. 750. 774. 778.
3u den ſchon oben (8b. 1, ©. 325. 327. 481. u. 1, 249.) hierüber ongefüßt:
ten urkundlichen Belegen füge ich hier noch hinzu den Landtagsfhluß von
1531 über die Bauerns, Rechts⸗ und Gerichts Ordnung ber al:
ten Mark Brandenburg in den Jahrb. für Preuß. Gef. Heft 89.
Vergl. auch Sachſenſp. I, 2. U, 55: IN, 91. und Bladfkone Il, 18.
Staats s Eerilon. III. 12
178 Cabinets⸗Juſtlz.
ſtuͤhle oder Juriſten⸗Facultaͤten (ſ. Actenverfendbung) nachdruͤck⸗
lichſt und ſelbſt untet Strafandrohung für die Regierungen auf Errich⸗
tung ſelbſtſtaͤndiger Ober» und Untergerichte mit genägens
der Mefegung durch gehörig qualificirte inamovibele uns
parteiı,„e Richter dringen, und alles fernere Zugerichtfiken der Fuͤrſten
und vollends jede eigentliche. Cabinets⸗Juſtiz der Regierungen als Verfafr
fungsverlegung verfolgen )). — Aud der Deutſche Bund, obgleich
er fonft die Einmifhung in die inneren Verhaͤltniſſe zum Scug ber
BVerfaffungsrechte beutfyer Bürger, feiner Natur nad), fo fehr fheute,
glaubte doch das Recht auf unabhängige Juſtiz und auf Ausfchließung
“aller Cabinets⸗Juſtiz unter: feinen ausbrüdlichen befondern Schug nehmen
zu müffen. Er that es durch die Anerkennung ber Nothwendigkeit der
Begründung von drei völlig unabhängigen Juſtiz⸗Inſtanzen, fo daß er
fogar- die Staaten unter 300,000 Seelen zwingt, mit andern Staaten .
zur Bildung eines höchften. Gerichts ſich zu vereinigen, damit dieſes völs
lig unabhängig fein koͤnne. Er that es ferner durch die Geſtattung eines
Meverfes, voelcher den Unterthanen gegen ihre Megierungen, wegen einer
namentlih auch durch Gabinetseinwirtungen verzögerten ober verweiger⸗
ten ordentlichen Juſtiz, Unter der Zufage der Bewirtung unparteüfcher
Rachtshuͤlfe, bei dem Bundestage eröffnet ift **). Und man erinnert
fich der wiederholten einftimmigen ſtarken Erklärungen aller Bundesre⸗
glerungen gegen bie chucheffifhe Negierung bei Gelecenheit einer folchen
Beſchwerde und insbefondere ber Erkiärung des Bundes s Präfiviums:
die Bundesverfammlung werde nie vergeffen, felbft bedrängter Unters
tbanen fi) anzunchmen und gud ihnen die Ueberzeugung zu verfchafs
„fen, daß Deutfhland nur darum mit dem Blute der Völker vom
„fremden Joch befreit und ‚die Länder ihrem rechtmäßigen Souverain
„zurüdgegeben :worden, damit überall ein rechtlicher Zuftand an
„de Stelle dee Willkür treten möge ***)." Auch haben natür:
lich alle neuen Verfaffungen die Unabhängigkeit der Gerichte und bie
Ausſchließung aller Cabinets-Juſtiz zu mwefentlichen Verfaffungstechten er: --
hoben. (Kluͤb er öffent. R. $. 373.) \
V. Weitere Ausführung ber anerfannten Rechts
grundfäge über unabhängige Rechtspflege und über Ca⸗
binets:Suftiz.. Die Grundfäge, die Abfichten und Gefinnungen was
ren alfo in Beziehung auf diefe mwefentlihe Grundinge rechtlicher Frei⸗
) Reichs⸗-K. G. O. v. 1551. $ 1. R. D. A. v. 1600. $. 15. J. R. X.
108. 109. Nach der Wahlcapitul. XV, 1. XVI, 1. 8. mußten die Kai:
er befhmwören, ber ordentlichen Juſtiz ihren ungebemmten Lauf zu Laffen
und benfelben allen Reichsunterthanen zu-fhüsen. & auh Klüber oͤffentl.
Rt. $. 366. und 373.
») Bundesacte Art. 12. Schlußacte Art. 29. und 0. Mohl
Rechtspflege des beutfhen Bundes ©. 161 ff. Klüber dffent:
lihes Reht $. 217. und 169,
”) Protokolle ber B. 8. 17. März 1817. $. 105.
Cabinets⸗Juſtiz. 179
heit allerſeits loͤblich und gut. Doch zeigte ſich beſonders auch hier bie
Neuheit in politiſcher Erfahrung und ‚Bildung zur Zeit der Entwerfung
und ber häufig vertraggmäßigen Unterhandiungen ber neuen Verfaſ⸗
fungm. Sonſt hätte man nimmermehr glauben können, bag man in
einem conflitutionellen Zuftande etwas nachlaſſen bürfe von der früheren
Rechtsſicherung zu Zeiten bed Reichs, während deren bie ganz unabhäns
gigen hoͤchſten Meichsgerichte und jenes Palladium unabhängiger Juſtiz,
die freie Actenverfendung, beftanden, zugleich aber Überhaupt Fein Richter
gegen feinen Willen und ohne gerichtliches Urtheil von ber Regierung
entfegt, verfegt oder penfionirt werden durfte, ſowie auch ohne Mitwirs
kung der Stände die Gerichtsverfaffung nicht geändert und ganze Ges
richte nicht verfegt, ja häufig die Richterftellen gar nicht einmal befegt
werden Eonnten. Ganz natürlich aber ift es, daß die unvermeiblichen,
an ſich unſchaͤdlichen Gegenfäge mancher Regierungs⸗ und ftänbifchen
Beftrebungen die Regierungen ober bie Miniſter in Verfuchungen fiihren
Zönnen, auf die Gerichte einzumicken, in Verfuchungen, die ohne con»
flitutionelles Leben gar nicht entflehen und die, wenn ihnen nachgegeben
wirb, zuiegt eben fo gefährlid für die Megierungen und für bie Ach⸗
tung und Unabhängigkeit der Rechtspflege, wie verderblich für die Buͤr⸗
ger und Die Freiheit werden mäffen. Hätte man doch wenigftens das
große Vorbild conftitutionellen Lebens in England und felbft die unter
bee Reftauration anerkannten franzöfifhen Verfaffungsbeftimmungen in’s
Auge gefaßt! In beiden Rändern betrachtet man es, nie Feuerbach in
der vorteefflihen Schrift: Gerihtsverfaffung eines conftitut.
Staates, kann fie durch bloße Verordnungen rechts güͤl⸗
tig geändert werden? Nürnberg 1830. *) ausführt, als zu dem
A. B. C. des conflitutionellen Staatsrechts gehörig, daß bie Richter ins
amovibel, alfo aud nicht nach Megierungsbelieben verfegbar und pen»
fionichar find, daß keine Veränderung in der Gerichts⸗ und gerichtlichen
Perfahrungseinrichtung gemacht, vollends alfo nicht ganze Gerichte ver:
fegt werden Eönnen, anders als durch Gefege, welche mit Zuftimmung
der Stände erlaffen murben **). In beiden Ländern begründen endlich
die aus der Mitte der Bürger für jeden Proceß durch das Vertrauen ber
Angeklagten und der Regierung ausgewählten Geſchwornen neben
den Staatsrihtern, die höchfte Buͤrgſchaft wahrhaft unabhängiger
Rechtspflege. Und beide Nationen find nady allen ihren langen Erfah⸗
rungen zu der einftimmigen Weberzeugung gefommen, daß Geſchwornen⸗
gerihte und Preffreiheit weitaus die weſentlichſten Grundlagen alter
Freiheit fein. In England wahrte man, vorzüglich nachdem man bie
”, ©. auch Klüber oͤffentl. Recht $. 366. und Mittermaler
Das deutſche Strafverfahren I. $. 251. |
**) cher die Nothwendigkeit, daß bie Richter nie ohne ihren Willen von
der Regierung verfest werden vürfen, ſelbſt nicht. auf beſſere Stellen, f. auch
Tiritot science Ju publiciste, X, &. 262. Ein Penftoniren felbft wegen angeb⸗
Licher Untüchtigteit ohne gerichtliches Urtheit verbietet richtig auch bie Würtem:
bergiſche Berfaffung $. 46. u. 49. Mohl a. a. 2,8 207...
180 | Cabinets⸗Juſtiz.
furchtbaren Einfluͤſſe nicht ganz unabhaͤngiger und ohne Geſchworne
urtheilender Gerichtshoͤfe, namentlich der hohen Sternkammer, ken⸗
nen gelernt hatte, bie gerichtliche Unabhängigkeit fo eiferſuͤchtig, daß,
als einft Jakob IT. unter den Zufchauern bei einem Gericht erfchien,
ber Präfident ihn bat: „Ge. Majeftät möge doch forgfältig den Ausdruck
„Ihres Gefichts bewachen, damit derfelbe den Richtern nicht die Meinung
‚des Königs Über die Sache fund gebe.” In England würde man alfo
auch nicht fo, wie Gönner, der Regierung erlauben, bem Gericht ihre
Anfichten über einen Proceß zu eröffnen, um ‚Unrecht zu verhindem.
Doch haben dieſes auch die befferen deutſchen Proceffualiften (3. B.
Srolman $. 35.) verroorfen. Die Müllers Arnoldifhe Sache
aber ift Beweis genug, baß auch ber befte Wille auch die größten Fürften
- nicht vor den unglüdlichften Mißgriffen ſchuͤtzt, ſobald fie in die Juſtiz
eingreifen wollen,
. VL $ortfegung. Die nothwendige Unabhängigkeit der Rechts⸗
flege ſchließt Übrigens felbft in England nicht aus, daß eben fo wie bie
Befebgebung, fo auch bie Ausübung der Nechtspflege im Namen bes
Königs gefchehe, und daß ihm das Begnadigungsrecht im weiteren Sinne
des Worts zuftehe, alfo auch das Abolitionsrecht, das ihm mehrere ber
achtbarſten deutfchen Griminaliften, Zittmann, Mittermaler und
Andere, abfprehen (f. Beanadigung). Ebenfo fteht der Regierung
das Ernennungsrecht der Staatsrichter und die Oberaufſicht über bie
Gerichte zu. Sie darf auf dem Wege der Landesgefepgebung die noͤthi⸗
gen Veränderungen der Gerichtsorganifation umd des Verfahrens fhr die
zukünftig entſtehenden SProceffe bewirken. Sie darf den Wichter zur
Thätigkeit anhalten, im Allgemeinen und felbft auch, bei Gelegenheit von
Beſchwerden Über Verzögerung und Verweigerung der Juſtiz, durch eins
fache Sörderungsbefehle (Promotoriales) und maudata de admi-
nistranda justitia). Sie darf überhaupt ihre Amtsführung controliten,
wozu jedoch geheime Berichte durchaus nicht zu empfehlen find, indem
fie täufhen und die Unabhängigkeit gefährden. Jede Pflichtverlegung
darf fie gerichtlich verfolgen.
Aber fie darf nie in Beziehung auf individuelle Proceffe weder uns
mittelbar auf ihre Entſcheidung, noch mittelbar durch Beflimmung
der Schritte und ber Formen ihrer Verhandlung einwirken. Sie barf
diefes insbefondere auch nicht durch Beſtimmung eines andern, ale bes
gefeglich zuftändigen Gerichts oder durch Veränderung deſſelben, nament:
lich nicht dur) Evocationen ober Abforderungen ber Rechtsſachen an
andere Gerichte und durch Commiffionen. Für die Fälle, in wel
hen etwa biefelben unentbehrlich find, z. B. wenn das ordentlihe Ges
richt als betheiligt oder befangen in ber Sache erfcheinen kann, ober
wenn einzelne Handlungen entfernt vom Gerichtsorte vorzunehmen find
u. f. w., muß bie Proceßgefeggebung bdiefelben zum voraus ober das
hoͤchſte Gericht fie beftimmen. Jede ſolche Einmifhung der Regierung,
namentlich auch bes Suftizminifter (der durchaus nur Verwaltungs⸗ ober
Vollziehungs > Beamter, nicht aber Richter iſt) iſt, wie gut fie auch ges
Cabinets⸗Juſtiz. 181
meint fein möchte, Cabinets-Juſtiz und verwerflih. Was folte
auch wohl die durch eine ſolche Einmiſchung bewirkte Veränderung bes
deuten? Warum wuͤrde man fie, troß ihrer Gehäffigkeit, vornehmen, wenn
man fie nicht auf irgend eine Weiſe für einflußreih auf ben Ausgang
bes Proceſſes hielte, wenn man mithin nicht diefen, twenigftens mittelbar,
durch Regierungseinfluß beflimmen und verändern wollte? Und wo bleibt
irgend eine Grenze und irgend eine Sicherheit, daß man, fobald einmal
die heilige Schranke völiger Unabhängigkeit der Mechtöpflege ducchbrochen
ift, niche zum Aeußerſten komme? Wenn jene Schranke einmal gefallen
ift, fo muß bald kefangene Stimmung, bald felbft der Glaube an
pflichtmäßige politifhe Worforge die Regierung gerade in Beziehung auf
die gefährlichften Zälle weiter und weiter und bie. zum Abgrund führen.
Nur das ordentlihe, das gefeglich zuftändige Gericht aber iſt mein
wirklicher, mein legitimer Richter. Jedes nicht zuftändige, namentlich bie
‚beliebig erwaͤhlte oder ernannte Commiſſion, übt, falls icy nicht etwa ein:
wilige, niht Gerichtsrecht, ſondern Gewaltthat gegen mid)
aus. Nur dem gefeglihen Verfahren bin ich gefeglih unterworfen.
Nur die in ihm vom natürlichen Richter zu Stande gebrachte Entſchel⸗
dung iſt ein rechtsguͤltiges richterliches Urtheil. Und mit dem Beginn
eines Rechtsſtreits habe ich ein wohlerworbenes Recht auf alle
fhügenden Procefeintichtungen und gerichtlihen Handlungen nadı den
damals beftehenden Geſetzen, forweit irgend dieſe Formen und
Handlungen nur noch möglicdy find. Alles aber, was nicht in gefegli-
her Weife und Form zu Stande ‚gebracht wurde, alfo jede Cabinets⸗
Juſtiz und das Verfahren und die Entſcheidung, wofuͤr fie wirkte, iſt
nichtig *), und wenn es gegen mich ohne meine Einwilligung geltend
gemacht werden foll, gar feine Juſtiz, fondern Zuftizs Mord,
Gewaltthat. Sehr mit Recht fagte daher Marcouffi zu Franz I,
als diefer bei dem Grabe des Miniſters Montaigu bebauerte, daß ders
felbe durch die Juſtiz ungerecht zum Tode verurtheilt worden: „Gnaͤdig⸗
„ſter Fuͤrſt! es geſchah nice durch die Juſtiz; es gefhah durch eine
„Commiſſion.“ Mohl (Staatsrecht von Wuͤrtemberg J.
S. 201. und 203.) ſagt ſelbſt in Beziehung auf Urtheile des Koͤnigs:
„Von einem Unbefugten ausgeſprochen, iſt ein Urtheil voͤllig nichtig.
„Der dabei Betheiligte braucht gar keine Ruͤckſicht darauf zu nehmen
„und kann die gemaltfame Aufnöthigung auf jede Weiſe abwenden.
„Der Urtheilende felbft aber hat die Verfaffung verlegt. Die Gerichte ha⸗
„ben ohnedem ſich um ein folches ungefegliche® Urtheil gar nicht zu be⸗
„temmern und den Fall, aid waͤre gar noch nichts im der Sache ges
„heben, nad ihre Anficht zu entfcheiden. Ein rechtlicher Nachtheil
„tann im keiner. Beziehung aus jenem Befrhl entſtehen. — — Wären
„die Gerichte alle Inſtanzen hindurch feig und pflichtvergeffen genug,
*) G. C. 5. C.de legib. c. 22. X. de rescriptis c. 64. de reg. jur. in
6to., Mittermaier, das. beutfhe Strafverfahren, $. 25. und
Linde, Lehrbuchdes Civ.Proc. $. 44.
182 Gabinetd + Zuftiz.
„um fidy ein Urtheil bictiren zu laffen, fo bat ber Beſchaͤbigte fih an
„die Landftände, und wenn auch diefe nicht helfen molltin oder Eönnten,
„an die deutſche Bundesverfammlung zu menden, welche legtere — im
„Mothfale durch Erecutionsmaßregen — die Regierung zur Eröffnung *
„des freien Rechtsweges anzuhalten hat.” — Ganz vortrefflid und übereins
flimmend mit jenen berühmten römifchen Gefegen, welche alle die Rechtes
rundſaͤtze verlegenden Eaiferlichen Decrete und Ebicte gerabesu als unbes
Dinge nichtig zu behandeln befehlen und allen Behörden ihre Anwendung
verbieten *), verordnete au) in der Königl. Preuß. Allgem. Ord⸗
nung, die Berbefferung bes Juſtizweſens betreffend, vom
21. Sun. 1713, $.1. (f. Mylius Corp. Const. March. I., 2. p. 519.)
Friedrich 1: „Daß Unfere Judicıa und Commissiones lebiglich die
„Juſtiz, als worauf fie geſchworen und beeidigt fein, zum Augenmerk
„baden follen, ohne an barmwiterlaufende Verordnungen‘, ald welche alles
„zeit vor erfchlichen und mit diefer Unferer Willensmeinung ftreitend zu
„halten, im mindeften ſich zu kehren — maßen ihnen ſolche Verord⸗
„nungen fo wenig, als Unſer etwa vorgeſchuͤtztes Intereſſe zu keiner Ent⸗
„ſchuldigung in dieſem und jenem Leben dienen mag, und werden Wir,
n dergleichen ungegruͤndeter Entfchuldigung ungeachtet, foldye urgerechte
7, Richter mit aller Strenge beftrafen, wenn fie nämlidy überzeugt wer
den innen, daß fie mehe auf Unfer, alsdann nichtiges und mit
„dem Nugen, ber aus rehtfhaffener Adminiftrircung der
„Juſtlz entfpringet, nicht zu vergleihendes Intereſſe, als
„auf die Juſtiz und die Unſchuld, gotts, pflichtvergeffener und gewiffen«
„loſer Weife ihr Abſehen gerichtet. Ja, Wir rufen felbft den einzigen
„Herzenskuͤndiger an, daß er die Thraͤnen ber Unſchuldigen, welche ſolche
abſcheuliche Proceduren auspreſſen mögen, allein auf deren Urheber
Kopf kommen läffe!" Bon Commiſſſonen aber ſagt das Project des
Codicis Fridericiani IV, 6. $. 1.: „Die bisherigen Cominissiones find
„nicht eine von den geringften Landplagen Unferer hurmäckifchen Lande
„geweſen.“ Das ſchwediſche Nationalgrundgefeg von 1772, Art. XVI.
beftimmt darüber: „Alle Commiffionen, Deputationen und außerordents
„he Richterſtuͤhle, fie feien vom Könige ober Ständen geſetzt, follen
„eünftig abgefhafft fein, da fie nur zur Befoͤrderung der Gewalt und
„ Zyrannei dienen.’ | u
Derbeffert wird natürlich die Cabinets-Juſtiz nit, wenn mit Zus
ziehung rechtskundiger Perfonen, etwa des Suftizwinifters in das Cabinet,
oder wenn buch Ueberweiſung von wahren Juſtiz⸗Sachen an Ver:
‚waltungsftellen , Domainen » Kammern; Regierungen ü. ſ. w. völlige Ca⸗
binete»Inftanzen gebildet werden (f. Suftizs Sehen). Wenn diefes
vollends gerade in folhen Nechtsſachen geſchieht, bei welchen die Regie⸗
rung beſonders inteveffiet ift, fo wird ſchon aͤußerlid an die Stelle uns
parteiifhen Gerichts Über beftrittenes Recht partelifche Uebermacht, eigens
*) C. 4. O. de leptb. C. 6. C. sfeontra Jus. C. 16..d& transact, C. 7.
de jur. et facti ignorant, z . BE RR
Gabinctö : Zuftiz. 183
mächtige Selbſthuͤlfe oder Selbſtrache geſetzt. Daffelbe iſt ber Kal, wenn
man Ausnahme», Specials und Prevotals Gerichte bildet, um die ors
dentliche unabhängige Fuftiz zu umgehen. Mögen legitime Regierungen
alles dieſes tevolutionairen Schreckensmaͤnnern, Ufurpatoren und Zyrans
nen überlaffen !
Eine blos verfhleierte, aber nicht die am wenigſten verwerfe
liche und ebenfalls nichtige Cabtuets« Zuftk ift es Übrigens, wenn die
Megierung durch neue Geſetze, insbeſonderiauch durch authentifche In⸗
terpretationen (welche als neue Acte der geleggebenden Gewalt, und ba
fie ohne Rüdfihe auf ihre wirkliche Webereinfliimmung mit bem früs
beren Geſetz gefesglich gelten, ftets felbft neue Geſetze find) und durch
den Befehl ihrer Ruͤckwirkung beflinmte erworbene. Rechtsanſpruͤche zu
zerflören und die Proceffe darlber zu ihren Gunften zu entfcheiden fucht.
Dabei wird noch die gefeßgebende Gewalt zum Fallſtrick gebraucht und
herabgemürbigt. Es wird das erfle Recht auf Treu und Glauben, daß
ich nämlich auf die Gültigkeit der zur Zeit ber Wornahme meiner Hands
lungen beſtehenden Gefege für die. Beurtheitung diefer Handlungen muß
rechnen dürfen, unwuͤrdig verlegt. Kine unzuläffige Befchräntung ber
unabhängigen Richtergewalt und häufig geradezu eine Cabinets⸗-Juſtiz,
jedenfalls das bequeme Mittel, fie nad) Belieben auszuüben, ift «6. auch,
wenn die Regierung den Gerichten das Necht entzieht, frei richterlich zu
prüfen und zu entfcheiden, ob eine Sache Juſtiz⸗Sache, ob eine Ver:
fügung ihrer Form und ihrem Inhalt nach verfaffungsmäßig ein wirklis
yes Geſetz und nad) der Staatsverfaffung rechtsguͤltig iſt, ober ‚auch
daruͤber zu entfcheiden, mas der wahre Inhalt allee der zur Eutſchei⸗
dung des Rechtsſtreits gehörigen Beſtimmungen, ‚namentlich auch ber
Staatsvertraͤge *), fei. Zwar iſt allerdings ‚die richterliche Gewalt bes
ſchraͤnkt, fie ift vor Allem an die Verfaffung und bie verfaffungsmäßigen
Geſetze gebunden, auch der oben bezeichneten Megierungscontrole unters
worfen. Und fie foll eine fernere doppelte verfaffungsmäfige Schranke
ihrer MWirkfamkeit heilig halten. Sie foU nie: die Initiative ergreifen
oder fie fol, wie man fagt, wefentlich paſſiv fein; fie fol mit andern
Morten lediglich nur auf eine beftimmte vor ihr erhobene Klage wirkſam
werden. Iſt fie aber wirkfam geworden, alsdann ift ihre Entſcheidung
ftete nur concret, d. h. es hat jede ihrer Verfügungen eine wirkliche
unmittelbare Rechtskraft nur fuͤr den entfchiebenen Sal. Sie giebt Feine
Geſetze und hebt keine Gefrge auf. Uber über die rechtliche Natur und
den Inhalt aller Normen, die fie als die zehtsgältigen Entfcheis
dungsgründe ihres richterlihen Wrtheils in dem von .ihe zu
entfcheidenden Rechtsſtreite foll geltend machen, muß fie eine unabhäns
gige richterlihe Prüfung und Entſcheidung haben, oder fie ift nicht
Gericht und nicht unabhängig. Und fie müßte insbefondere ber
Verfaſſung feine Achtung und keinen Gehorſam fchuldig, diefe müßte
überhaupt fogar von Rechts wegen irgend einer Willkür regelmaͤßig
»RVergl. Klüber öffentl. Rt. $. 379.
184 Cabinets 2 Juſtiz.
dpreisgegeben fein, wenn irgend eine Behoͤrde das Gericht zwingen koͤnnte,
verfaſſungsbruͤchige Verfügungen mit richterlicher Auctorität, als verfaſ⸗
ſungsmaͤßig und rechtsguͤltig zu verwirklichen. Eine funfzigjaͤhrige Erfahrung
in Nordamerika, die ‚noch viel Ältere in England hat es bewiefen, daß
diefe vollkommenſte richtecliche Unabhängigkeit felbft in ihrer größten Aus⸗
dehnung feine Nachtheite, ſondern nur Vortheile begruͤndet und die
Würde der Reglerung und ber Geſfetzgebung nicht verletzt.
Noch gefährlicher und verberblicher aber als jede andere Cabinets⸗
Juſtiz ift die, wenn eine Regierung, um für gewiſſe Proceffe die ihr
wohlgefaͤlligen Entfcheibungen zu bewirken, die wiufaͤhrigen Richter be= ,
lohnt und befördert, die nicht willfaͤhrigen zuruͤck⸗ oder zur Ruhe ſetzt,
oder ſie und vollends ganze Gerichte zur Strafe verſetzt und zu dieſem
Zweck bie Gerichts» und Verfahrens⸗Einrichtungen ändert. Verderbli⸗
cher und grauſamer gegen die ungluͤcklichen Verfolgten iſt dieſes; denn
eine offenbare Cabinets⸗Juſtiz gibt ſich ſchon durch ihre aͤußere Form
als offene Gewaltthat. Sie gefaͤhrdet alſo dem Verurtheilten nicht zu
den uͤbrigen Guͤtern auch noch das theuerſte, die Ehre, die Liebe und
Achtung ſeiner Mitbuͤrger, ſo wie es jene hinterliſtige Verfaͤlſchung thut,
weiche die parteiiſchen Machtſpruͤche als unparteiiſche richterliche Urtheile
darzuſtellen ſucht. Fuͤr den Staat und die Freiheit und die Regierung
ſelbſt iſt aber dieſe hinterliſtige verfaͤlſchende Cabinets⸗Juſtiz in
jeder Weiſe verderblich. Sie macht die ganze Juſtiz ſchlecht und wird
gefaͤhrlich auch fuͤr den rechtlichſten Mann, der irgend eine maͤchtige Un⸗
gunſt auf ſich zieht, ja, vielleicht als treuer, offener Freund von Wahr⸗
beit und Recht und vom wahren Wohl feiner Regierung, nur erworben
zu haben fcheint. Wo dergleichen ber Regierung möglich ift, kann fie
wenigftens, fobald fie will, in zweimal vierundzwanzig Stunden ungleich
gefährlichere und furchtbarere Werkzeuge der Tyrannei ſich fchaffen, ale
alle hohe Sternkammern, Prevotals und Napoleonifhe Specials Gerichte,
ja al& die lettres de oachet (f. diefen Art.) e8 jemals waren. Solche
Einrichtung aber entzieht den zu binterliftigem verfälfchten Werkzeug dee
Mächtigen und mächtiger Leidenfchaften herabgewuͤrdigten, ihrer würbigeren
Mitglieder und ihrer Unabhängigkeit beraubten, vielleicht mit unwuͤrdigen,
beftochenen, verachteten Grenturen befegten Gerichten das Vertrauen und
bie öffentliche Achtung. &ie gibt den beffern Bürgern mehr, wie irgend
etwas Anderes, das Gefuͤhl eines gebrüdten, gefährlichen, befpotifchen
Buftandes, und ſchwaͤcht alfo ihre Anhänglichkeit an die Verfaffung und
bie Regierung. Diefe letztere, die durch die nun natürlid von allen
Seiten allem noch lautwerbenden Schmeichelreben getäufht wird, und
weiche vielleicht für ben Augenblid Befreiung von manchen Unbequems
lichkeiten gewonnen bat, wird nur zu fpät entweder im Mangel patrio⸗
tifcher Kraft und Begeifterung in der entfcheidenden Stunde der Noch,
oder in der Öffentlichen Demoralifation und Erſchlaffung, die unheilvolle
Wirkung erkennen. Ale die Verhüllungen, wodurch gewiſſenloſe Raͤthe
oder Guͤnſtlinge die wirkliche Cabinets-Juſtiz dem Kürften und dem
* I
Gabinetd = Zuftiz. | | 185
Volke zu verbergen fuchen, durchſchauen die heutigen Völker ſchnell genug.
Die verfchleierte wie die unverfchleierte Cabinets⸗Juſtiz find gleich ver
haft und ‘die Völker wiſſen es, daß alle tyrannifche Regierungen mit
Verfaͤlſchung dee Juſtiz begannen. Einzelne Beiſpiele ungerechter rich
terlicher Maßregeln, welche vielleicht bei unterdruͤckter Öffentlicher Ringe
darüber der Regent felbft gar nicht in ihrer wahren Geſtalt kennen lernt,
machen auf alle würdigeren nachdentenden Männer einen größeren Eins
druck, als man glaubt, und bewirken vielleicht, wenn fie, bei endlich
frei geworbener öffentlicher Stimme und bei verftummter Schmeichelrede,
allgemein bekannt werden, jedenfalls aber in ber treuen Geſchichte einen
Eindrud, weichen erfahrungstofe, oberflächliche Menfchen nicht einmal fuͤr
möglich halten. Und ganz beſonders gilt diefes ficher in Deutfchland, wo
bei vieler pedantifcher Unbehuͤlflichkeit doch der tiefe Sinn fuͤr Gerechtigs
Leit und öffentliche Moral, der Abfcheu gegen Ungerechtigkeit und öffentliche
Unmoral, Gott Lob! noch nicht zerftört find und, zur rechten Stunde anges
ſprochen, kraͤftig hervorbrehen. So mögen denn alfo die Bürger in
Beziehung auf die verfaffungsmäßige Begründung und Verbürgung voͤl⸗
lig unabhängiger Rechtspflege das Wort des ehrlichen Blackſtone (4, 33)
bedenken: „Wahrlich, die Sreiheit der Unterthanen befteht nicht in der Gnade
„des Souverains, fondern vielmehr in der nothwendigen Beſchraͤnkung
„feinee Gewalt.” Bon den Regierungen aber denkt wohl kaum eine
einzige, auch wenn fie fonft die Wohlthat verfaffungsmäßiger Befchräns
tung ihrer Macht zur Ausfchliefung verberblicher Höflings » und Be:
amten » Herrfchaft, zur Sicherung ihres Fürftenhaufes und zur Vermeh⸗
rung der Kraft ihres Meiches nicht einfehen follte, fo unedel und fo
unmeife, daß fie die Gewalt zur Verfaͤlſchung der richterlihen Gerech⸗
tigkeit wuͤnſchte. Auch ift e8 zu augenfällig, daß, wie Boffuet be:
merkte, vor Allem duch Mißbrauch und Verfälfhung der Rechtspflege
eine Regierung die moralifhe, legitime Grundlage ihrer Achtung zer:
flört und zu Lift und Gewalt, mwodurd fie felbft die Unterthanen bes
herrſcht, auch diefe gegen ſich herausfordert. Unabhängige Juſtiz ift
der Bürger legte Verſchanzung ihrer Sicherheit, die fie nur verzweis
felnd verlaffen. Die Achtung diefes Heiligthums hielt man bisher faſt
als identifh mit der Ehre und Würde legitimer Regierungen. So
möge denn auch eine jede für fich und ihre Diener: die ſtets höchft ges
fährlihen Verfuchungen zu folchen verberblichiten aller Gemwaltmißbräus
he zum Voraus gänzlich entfernen. Sie möge es thun durch Eräftigere
BVerfuffungseinrichtungen, als jene allerdings fehe fchönen Worte eines
preußifhen Monarchen, die in der Stunde ber Verfuhung und bei
verberblihem Einfluß einer Hofpartei der Natur der. Sache nach zus
meilen nur fchöne Worte bleiben koͤnnten.
VII. Die Bertheidiger der Cabinets-Juſtiz. Nach dem
Bisherigen ift mohl eine befondere Widerlegung derſelben unnöthig,
vorzüglich fo, um aud) bei diefem wichtigen Gegenftande, ſowie fchon
in der £ehre vom Adel (Bd. I. S. 265) bie ganze Verkehrtheit und
Seichtigkeit, die bodenlofe Sophiſtik, die Rechts⸗ und Geſchichtsver⸗
186 Cabinets⸗Juſtiz.
drehung bee ariſtokratiſch⸗ ſervilen und deſpotiſchen Halleriſchen
Schule zu veranſchaulichen, moͤge zum Schluſſe noch auf ihre Ver⸗
theidigung der Cabinets⸗Juſtiz hingewieſen werden!
Auch die Gerichtsbarkeit, namentlich auch die Criminaljurisdiction,
find dem Herten von Haller (Reftaurat. Il. ©. 222 ff.) ebenfo,
wie dee Staat, bie Regierung, bee Adel, durchaus Feine menſchlichen
Snftitute, nicht mit freier Abficht, viel weniger durch irgend ein buͤr⸗
gerliches Ueberemkommen und Unterwerfen begründet. Auch fie ent⸗
ftehen nad ihm ebenfo, mie Staat und Verfafjung , wie Regierung
and Adel und ihre Rechte, ganz von felbft aus der natürlidhen
Drdnung Gottes. „Die Gerichtsbarkeit geht ganz natürlichermeife aus
der bloßen Hülfsanrufung des Schwäceren bei dem Mächtigeren
hervor, und ift nichts weiter, als die unparteiifche Hülfsleiftung
des. Mächtigeren. Beſtrafung ift nichts Anderes, als Vertheidigung
oder Rache, für Andere, oder für ſich felbft ausgeübt. She Recht ift
unbegrenzt bis zur vollendeten Sicherheit, nur durch Gebote ber
Menfchlichkeit und Klugheit temperirt. Civil s und Griminaljurisdie
ction find aber keineswegs ausſchließliche Majeſtaͤtsrechte.
Vielmehr hat fie und übt fie, und namentli auch das Strafrecht,
noch heutzutage jeder Menfc aus, felbft das unmündige Kind, übers
haupt aber jeder Stärfere gegen den Schwaͤchern, ber Vater gegen
die Kinder, der Obere gegen den Untergebenen, ber Lehrer gegen die
Schüler‘, die Hausherren gegen die Diener, die Handeldleute, Fabri⸗
fanten und Handwerker gegen ihre Arbeiter, die Gutsherren gegen
ihre Gutsuntergebenen. Sie befigen diefe Gerichtsbarkeit und Straf⸗
gemalt und üben bdiefelbe aus, foweit ihre Macht reicht, ſoweit fie
es ohne fremde Hülfe mit Sicherheit thun Eönnen und wollen.
Auch können nicht blos die Beleidigten ſich rächen, fondern es können
überhaupt die Streitenden, wenn fie es wollen, noch heute, ftatt
höhere Hülfe anzurufen, ihre Streitigkeiten durch Kampf aus:
machen, da ja die Mächtigeren, bie Herren, nicht dabei intereffirt
find, daß ihre Hüffe angerufen wird. Als Mächtigere haben denn auch
ganz von felbft von jeher alle Fürften diefe Civil s und Criminaljuris⸗
dietion und zwar, wie fid) ebenfalld von felbft verficht, auch in eigner
Sache, in Perfon und durd ihre Beamten, deren Urtheile fie cor=
tigiren und umändern, bie fie beliebig entfegen konnen, fowie
fie auch die Suftiz, als freie Wohlthat, oft ganz verweigern duͤr—⸗
fen. Sie handeln nicht einmal Hug, wenn fie das Nichterrecht ganz
abgeben und fich die Hände binden. Cabinets⸗Juſtiz iſt fo gut als ans
dere Juſtiz, wenn fie nur Sufliz iſt. Jeder Menſch richtet in eig⸗
ner Sache foweit er Bann. Bon dem Fürften unabhängige Ge:
richte find verwerflich, weil fie die Idee von einer Unterwuͤrfigkeit des
Fürften urid von einer Souverainetät der Gerichte erwecken. Und
wenn ber Fürft es als Regel anerkennt, felbft aud) nur in Civilfachen
den Ausfprücen ber Gerichte ſich zu unterwerfen, fo iſt er .nicht mehr.
Fürft, oder Inconfequent. Vollends aber bei Staatsuerbrechen. von ben
⁊
Gabinets = Juftiz. 187
Gerichten bie Entfcheidung abhängig zu machen, hieße den Zürften ber
Selbftvertheidigung berauben, ihn zum Sklaven und Spielwerk feiner
vielleicht mitverfchworenen Gerichte machen. — Wenn bagegen die Fürs
ften felbft Verbrechen oder Miffethaten gegen ihre Unterthanen ausüben,
fo kann es diefen legteren Niemand übel nehmen, wenn audy fie jene
ihre natürlichen Rechte der Selbftvertheitigung und Selbftvollziehung
- gegen ihre Zürften gebrauhen. Eine förmliche Gerichtsbarkeit kann e6
nur infofern nicht genannt werden, ald es ihnen an Macht fehlt”
(infofern alfo, als es ihnen noch nicht geglüdt ift, nah der Halleris
{hen nathrlichen Ordnung Gottes ſelbſt fürftlihe Würde oder das
natürlihe Gluͤcksgut der Unabhängigkeit gegen ihre Fürften,
weilhen Hr. v. Haller auch weder allgemeines Heerfolge = noch Bes
ſteuerungs⸗Recht zugefteht, für fi) zu gewinnen). „So war es in ber
ganzen Sefchichte zu allen Zeiten und bei allen Völkern. Nur erft bie
heillofen Sophiften unferer neueren Zeit haben nach ihrer Chimdre von
dem tünftlid = bürgerlihen Zuftand alle diefe natuͤrlichen
Mechtsarundfäge geleugnet, und (3. B. jene unentbehrlichen Rechte
fürftliher Cabinets-Juſtiz oder die Patrimonial-Juſtiz)
beſtritten.“ |
Auch bier alfo vernichtet diefe ungluͤcklichſte aller Wertheidigungen
ber Adelds und Fürften Rechte, diefe die Feudal: Anardyie und Defpos
tie nod) uͤberbietende Neftauration, nit der Staatswiffens
ſchaft, fondern des Fauſtrechts, ebenfo wie in Beziehung auf
den Staat, den Adel u. f. w., die mefentlihen Begriffe der juriſti—
fhen und politifhen Inſtitute, mie fie bei allen civilifirten
Nationen in ihren wirklichen Staatsvereinen begründet wurden. Gie
vermifcht diefelben gänzlich mit generifch verfhiedenen, ſcheinbar
ähnlichen Verhältniffen oder mit den äußerlihen Veranlaſſungs⸗
gründen oder Motiven derfelben. Auch hier wird die ganze Ge
ſchichte freiee und civilifictee Voͤlker und Staaten todtgefhlagen. Nur
die Beften der fauftrehtliihen Anarchie vor und außer und
neben den mirklihen Staaten und ihre Trümmer gelten ben Schwaͤr⸗
mern für das Zunferthum der. Feudalzeit — wenn nicht Madjiavelliften
für etwas noch Schlimmered — und höchftens etwa nod) die defpotis
chen Zuftände afiatifcher Horden oder Priefter- Fürften. Nur aus ih⸗
nen werden die Begriffe und Mufter für unfere Inflitute entlehnt.
Mer Eönnte nun da ernftlich beweifen wollen, daß Civil⸗ und Criminal»
Surisdietion im Kreife wahrer Rechts s und Staats »Verhältniffe etwas
ganz Anderes ift, als jede andere Hüffeleiftung, oder als eine Selbſt⸗
rache eines Stärkeren, als väterlihes Schuß = und Erziehungsredit.
‚Mer möchte alle die unrichtigen, dunklen, halben Begriffe nachweiſen
wollen, und alle die MWiberfprüche, bie auch .hiee, wie bei fait allen
Anhängern diefer Theorie auf der folgenden Seite wieder, umfloßen,
was die vorhergehende als Grundſteine bezeichnete?. Aus dem Huͤlfs⸗
anruf der Schwächeren entftandene unparteiifche. Hülfsleiftung des
Maͤchtigeren fol die Gerichtsbarkeit fein und ein wahres Recht und \
188 Cabinets⸗Juſtiz⸗
Rechtsverhaͤltnig, und doc hat fie dee Fuͤrſt, mie der Gutsherr zur
Selbftrahe in eigener Sache und unbegrenzt, und dody hat
fie jedee Mächtigere, alfo auch gegen den Kürften, die durch Lift odey
Gewalek mächtigere Faction, „foweit fie Eönnen und wollen”.
In folher Weiſe befigen fie die mächtigen Parteihäupter, welche durch
‚natürliche Uebermadht ganz von felbft und nad; der natürlichen, Ord⸗
nung Gottes — freilich nicht nad) den Geſetzen bes fo ſehr vermorfes
nen Fünftlich = bürgerlichen Zuſtandes — legitime Richter. wer⸗
den, und das Gluͤcksgut fouverainer Herefchaft und Regierung erwer⸗
ben. Und folche Theorien ftellen diejenigen auf, folhe rohe, de⸗
fpotifhe Horden= und Fauſtrechts⸗Zuſtaͤnde empfehlen
uns diejenigen, welche die wahre, mit Freiheit, und zum. erhaben⸗
fen Runftwert der Menfhheit ausgebildete Staatsverfaffung
den Fuͤrſten und den Bürgern vorzüglich deswegen als widerwaͤrtig
darftellen möchten, weil fie für deren erworbene Privatbefigthünger, für
ihren ruhigen Genuß und ihre Sicherheit befchränkend und gefährkend
feien! Und folche Theorie mag im Weſentlichen, auch in Beziehung auf
bie Cabinets⸗Juſtiz, das bekannte Wochenblatt eines Staats zu der
feinigen mahen und laut anpreifen, deſſen Fürften fo energifch ihre
Erfahrungen von der Gefährlichkeit, von der abfoluten Verwerflichkeit
und Rechtswidrigkeit aller Cabinets⸗Juſtiz und neuerlicd auch die non
der Schädlichkeit und Staatswidrigkeit der Patrimonial = Jufliz aus⸗
fprachen, deſſen Regierung und Bürger fo oft den vorzüglichften Rechts⸗
titel zum patriotifchen Stolz darin ſuchten, „daß fie in ganz. vorzügitr
chem Maße jened Palladium aller gefitteten Voͤlker, eine völlig unabs
bängige Rechtspflege, heilig hielten und bewahrten”. Diefes Palladium,
mit feltener Einmüthigkeit bisher vertheidigt von allen germanifchen
Rechtslehrern, mag nun diefe angeblich legitime Theorie in den Staub
ziehen und vernichten mollen:!
Doch Verzeihung für dieſe Ausführung von allen denen, welchen
der verworrene Parteikampf unferer Zage die gefunden, die wahrhaft
natürlichen Begriffe über die Staatsverhältniffe noch nicht verwirrt
hat! Sie müffen ſich freilich unbehaglich fühlen, wenn man auch nur
auf Augenblide fie in diefes Meer von VBegriffslofigkeit und von Wi⸗
derfprüchen, in diefe Fauftrechtss Anarchie einführt. Zu bedeutend, um
unberüdfichtigt : zu bleiben, ift aber leider die Zahl derer, welche vors
-züglich aud) an ein angebliches fih von ſelbſt Machen von Recht
und Staat verwirrte Vorftellungen knuͤpfen, veranlagt bald durch
Einfeitigkeiten der liberalen Theorien felbft, bald durch gefchichtliche und
naturphilofophifchhe Schulen, durch fervile und ariftofratifhe Parteien,
bald durch undeutfhe Scheu gegen ein tiefered, gruͤndlicheres Eingehen.
Und unter denen, ‚die folchergeftatt Verderbliches, namentlih auch in
‚Beziehung auf die Juſtiz⸗Verfaſſung, lehren und ihren Fürften: anras
then, find wenigſtens Viele, die es ehrlich meinen, von: denen man
fügen muß: vergieb ihnen, denn fie wiflen nicht was fie thun; Die
Cabinets⸗Juſtiz. Cachet, lettres de. 189
man aber vor Aflem, ehe fie unheilbares Unheil fliften, von ihren
verderblichen Irrthuͤmern zu befreien fuchen muß. Weider.
Cachet, lettres de. Der Ausdrud Lettres de cachet,
oder auch Letires closes bezeichnete In Frankreich im Allgemeinen,
im Gegenſatze gegen die Lettres patentes, biejenigen Ausfertigun:
gen -Eöniglicher Befehle, welche nicht fo, wie bie leßteren, als offene, -
feierlichere Urkunden mit dem großen Etaatsfiegel unterfiegelt und
von einem Minifter contrafignirt, aus der koͤniglichen Staatskanzlei
ausgingen, welche vielmehr in unfeierlicherer Form ausgefertigt, mit
dem Eleineren Eöniglichen Siegel verfhloffen und blos vom König
unterzeichnet waren. Es waren alfo Cabinets-Ordres im Gegen
ſatz gegen die förmlicheren Staatsregierungsbeſchluͤſſe. Insbeſondere
aber waren es die Befehle jener Geheimregierung, melche nach dem
Obigen (Theil II, S. 453) die franzöfifhen Könige unter dem Einfluß
von der Gamarilla, den Guͤnſtlingen, Beichtvätern, Maitreffen und
Höflingen, außer und über allen Zweigen der öffentlichen Regierung,
Insbefondere auch ber Öffentlichen Polizei: und Suftiz: Gewalt, förmlich
organifirt hatten. Vorzugsweiſe verfteht man bie geheimen Verhaftsbefchte
darunter, wodurch Staatsangehörige aller Stände, ohne irgend eine
Unterfuhung und Form Nechtens - und ohne Angabe eines Grundes,
auf längere oder kürzere, gewoͤhnlich auf unbeftimmte Zeit in bie
Baſtille zu Paris oder in Gefängniffe der Provinz und zwar zus
weilen felbft in fcheußliche unterirbifche Löcher eingekerkert murben.
Man fchreibt ihre Erfindung dem unter dem Cardinal Richelieu fo bes
ruͤchtigte Pater Sofeph zu. Sie wurden den Miniftern, den Mat:
treffen und Guͤnſtlingen häufig ale cartes blanches oder nur mit der koͤnig⸗
lichen Unterfchrift verfehen, übergeben, fo daß fie beliebige Namen und
Beſtimmungen hineinfegen konnten. Ja fie wurden fogar zum Gegen
fland des Verkaufs gemacht. Sie bildeten alfo in jeder Beziehung bie
fheuglichfte Art der Cabinets-Juſtiz. Mir können uns daher
auf diefen Artikel fo wie auf ben Artikel Baftilte und Beſchlag⸗
nahme beziehen. Freilich mögen auch anderwaͤrts an ben Hoͤfen
ganz abfoluter Regierungen manche einzelne und aud, geheime Ver-
legungen der Freiheit dem Syſtem ber Sucht und ber paffiven Unter-
werfung oder auch der Rachſucht ber Mächtigen dienen. Aber zu ei-
ner folhen förmlihen Ausbildung und feheußlichen Organifation kamen
fie doch im neueren Europa nur in dem Staate, der endlich durch
eine furchtbare Revolution ſich davon befreite. In ihrem ganzen Lichte
find diefe Einrichtungen dargeftellt in Linguet Memoires sur la Bastille,
Lond. 1783, und Mirabeau des lettres de cachet et des prisons
d’ctat, 1782.
So wie alles Schaͤndliche in der Welt, ſo hat man auch die
Lettres de cachet zu vertheidigen geſucht, insbeſondere auch als
ein Mittel, wodurch Vaͤter gegen ihre Soͤhne, und der Regent
gegen Beamten und Mitglieder vornehmer Staͤnde, ohne Zerſtoͤ⸗
rung ihrer Ehre und ohne verderbliches Aergerniß und Scandal,
190 Cachet, lettres de. Calvin.
wohlthaͤtige Strafen und Beſſerungsmittel hätten zur Anwendung
bringen Binnen. Aber es bedarf . wohl kaum einer ernſtlichen
Miderlegung ſolcher Gründe. Wohl verbient eine -Verfidrtung der
väterlihen Auctorität und Gewalt alle Beruͤckſichtigung; aber nichts
wird die allgemeine Gefahr und die rechtlofe Willkuͤr geheimer Ber:
haftungen einem Volke, das “au nur eine dee von Achtung des
Rechts und der Freiheit hat, annehmbar machen. Xergerniß und
Scandal aber werden durch die Unwuͤrdigkeiten felbft, die man indeß
in den verborbenen Zeiten der früheren franzöfifchen Könige wenig
fcheute, begründet, nicht aber durch gerechte Disciplinar s und andere
Strafen, welche fie vielmehr fo weit möglid wieder austilgen. Dar⸗
in haben freilich diejenigen, welche die Jettres de oachet vertheidigen
oder doch entfchuldigen, Recht, daß ed auf den Namen nidt an
tommt, welcher nun einmal bei biefer Art der Cabinets⸗Juſtiz im
Boraus allgemeinen Abfcheu erwedt, und daß es ohne biefen Namen
oft gleich große DVerlegungen aller Freiheit und Sicherheit der Bürger
durch Regierungseinfluß auf die Suftiz gibt. Solches wäre 3. B. aller.
dings der Fall, wenn man die Gerichte abhängig machen und dann .
unter der. Form eines Criminalproceſſes verhaßte -oder verbächtige Per:
fonen Jahre lang in geheimem Verhaft laffen, und zulegt vielleicht,
um’ das Verfahren zu 'entfhuldigen, wenigſtens einigermaßen fchuldig
oder verdächtig erklären, oder nur von der Inſtanz losfprehen und
dann unter dem Namen von Sicherheitsmaßregeln vielleicht aufs Neue
feithalten laſſen wollte. Diefed wäre fogar noch viel ſchlimmer und ver=
derblicher, als die lettres de cachet, melde doc wenigſtens bie
Juſtiz nicht hinterliftig verfälfchten, bie Gerichte nicht beſtachen und ent:
würdigten, und die Ehre der Mißhandelten nicht angdffen. Aber
kann dadurch wohl der ganz verdiente Abfcheu gegen die lettres de
cachet mit Grund bekämpft werden? Jeder Freund ber Gerechtigkeit
und feines Volks mie feiner Negierung, muß vielmehr Beides befümpfen,
wenn ed im Großen oder auch nur im Kleinen irgendwo fid) zeigen
ſollte. Melder.
Gadiz, f. Cortes-Verfaſſung.
Galender, f. Zeitrehnung.
Salmarifhe Union, ſ. Schweden.
Calomarde, f. Spanien.
Calonne, f. franzöfifhe Revolution.
Calvin (Sohann), nad feinem franzöfifhen Familiennamen
Chauvin, geb. den 10. Juli 1509 zu Noyon in der Picarbie, ift in
ſtaatsrechtlichem Gefichtspuntt weit weniger merkwürdig burdy feine dogma⸗
tifhe Theorie, als duch feine Beftrebungen, ber Kirche und ihren
von der Geiſtlichkeit geleiteten Presbyterien eine auch durch aͤußere
Mittel maͤchtige Sittenherrſchaft rigoriſtiſch zuzueignen. Theoretiſch und
praktiſch verband er damit ſeine in Thathandlungen uͤbergehende Grund⸗
ſaͤtze, eine der freien Wahrheitsforſchung toͤdtliche, obrigkeitliche Ketzerver⸗
folgung auch in Die evangeliſch-proteſtantiſche zu verpflanzen. Und
N
Gavin. 191
allerdings hängen in ihm, als einem confequenten, aber aus unrichtis
gen Prämiffen fchliegenden Denker, auch dieſe Solgerungen mit dem
Eigenthümlichen feiner Dogmatif, mit der Prädeftinationsiehre, fo zu⸗
fammen, daß eben diefe neben jenen für uns nicht ganz unbeadhtet blei⸗
ben darf. Die praftifhen Folgerungen, die er dorther zog und, im
Gegenſatz gegen den freifinnigeren Verbeſſerer Zwingli, faſt Dictatorifch
nur allzu lange geltend machte, werben nur duch Eindringen in fein
Lehrſyſtem begreiflih. Sie ſtehen und fallen mit diefem. Diefes Ineinan⸗
dergreifen des ZTheologifch = Wiffenfchaftlichen, Kirchlic) = Disciplinarifchen
und Hierarchiſch⸗Politiſchen des Galvinismus ins Licht zu ftellen, ift um:
fo mehr zeitgemäß, weil gegenwärtig auch diejenigen Parteiführer, welche
als ftreng Lutherifche und ausfchliegend evangelifche gelten wollen, bie
Calviniſchen Schriften weit thätiger, als die Lutherifchen zu vers
breiten fuchen, fih an Galvin viel näher als an Zwingli und Mes
lanchthon anfchließen und felbft von Luther meiſt nur das vorziehen,
mas Calvin als abfolutiftifhe Hauptpunkte eines nach unbegreiflichem
Gutduͤnken feftgeftellten göttlihen Weltregiments behandelt und gefteis
gert hat, worin aber die verftändig gelehrtere und milder gebildete Denk:
art Zwingli’s und Melanchthon's, und felbft die augsburgifche
Confeſſion mit dem in Luthers Individualität oft prädominirenden Au:
guſtinismus übereinzuftimmen fid) hütete. \
Calvins Eltern hatten für ihn, als einen jüngeren Sohn, früh:
zeitig ein Paar Eleine Kirchenpraͤbenden zu Noyon gewonnen.
Verwandte zu Paris machten es moͤglich, daß er dort in Studien ber
Iateinifhen Philologie und der Philofophie ſich auszeichnen konnte. Bald
nachher aber ftudirte er Juris prudenz unter Petrus Stella
(P. L’Etoite) zu Drleand und noch meiter unter dem berühmteren
Andr. Alciatus zu Bourges. Unftreitig hatte dieſe frühe Einge⸗
woͤhnung in das Fanonifhe Recht und in die gegen Kegereien und für.
zantinifch = imperatorifhe Entfcheidungen über Orthodorie ſehr anmaß⸗
liche Geſetzgebung Juſtinians darauf vielen Einfluß, daß Calvin fpäter-
bin, um die Kfeche als einen theofratifch vorherrfchenden Staat Got:
tes, unter der Ariftofratie feiner”) nur fcheinbarsrepublifanifchen Presby⸗
ferien, zu geftalten, Neigung und Kenntniffe in fid) vereinigte und
diefe Eünftlich berechneten Veranftaltungen nad) feinem ſchwarzbluͤtigen
Zemperament niit juridifcher Strenge und Gewandtheit vermwirklichte.
Frankreich hatte auf einer Eirchlihen Nationalverfammlung zu
Bourges feit 1438 die meiften Beſchluͤſſe des bafeler General:
conciliums (früher und flandhafter als Deutfchland) benugt, um durch),
*) Der Einführung einer freien Presbyterials, Didcefan « und Synobalvers.
faffung in Baiern wurde es vor einigen Sahren ſehr binderlich, daB Feuers
bad u. 2. fie blos nad) dem allerdings hierodefpotifhen Typus der Cal vi⸗
nif hen Kirchenzucht betrachteten. In Baden bilft jenes Repraͤſentativſyſtem
dazu, Geiſtliche und Weltliche im Intereffe für Kirchen: und Schulanftalten zu
pereinigen , ohne daß fie den Binde und Löfefchlüffel dictatoriſch mißbrauchen
192 | Calvin.
eine: Sanctio pragmatica (vgl. Koch Sanctio pragmatica Germano-
rum illastrata. Argentorati 1789. 4.) den uͤbermaͤchtigen Einfluß
päpftlicher Kirchengemalt im monardiftifhen Sinn zu bämmen. Indi⸗
rect wurde dadurch, daB jeder ber franzöfifhen Bifchöfe in feinem
Sprengel Einzeln gegen Andersdenkende Nachgiebigkeit bemeifen Eonnte
- und daß auch Beſchwerden gegen Mißbrauch bifchöflicher Gewalt, nebft
ben rechtlihen Einwirkungen der Parlamente möglich waren, eine
freiere Bewegung der Geiſter auch über kirchliche Ges
genſtaͤnde vorbereitet. Da duch Franz I. Begünftigung ber libera⸗
Ion (d. i. freiserfindenden) Künfte und fchönen Wiffenfchaften nody
mehr ‚Seiftesthätigkeit erregt wurde und auf die Studien Michtgeiftlicher
eine gefcehmadvollere (elegant genannte) Denkfreiheit überging, fo konnte
die Anmendung des Selbſtdenkens und des verbefferten Sefhmads auch
gegen das Unglaubliche und Geſchmackloſe mandyer dem Religiöfen beis
gemnifehten Dogmatifchen und hiftorifchen Zraditionen nicht lange aus⸗
leiben.
Calvins Stubdienjahre, mo er feine Vorbereitung für ein
‚feinen Talenten entfprechendes Emportommen In Kirchenwuͤrden auf
ausgezeichnete Kenntniffe in der Iateinifchen und griechifhen Spradye _
und in ber geboppelten Rechtswiſſenſchaft zu gründen fuchte, fielen ges
rade in bie Zeit, wo Überall eine Kirhenreformation in
Haupt und Gliedern als unentbehrlich gefühlt, von Rom
aus aber und von roͤmiſch gubernirten Concilien (mie das zu Conftanz
ſchon bewies) nicht zu erwarten war. Defto lichter wurde fie durch
die philologifchen und philofophifhen Studien der Humanität aus Gries
hen und Roͤmern beleuchtet und duch Dichter in ben Landesſprachen
volksthuͤmlich gemacht, bis bie Hoffnung, fie verwirklichen zu Eönnen,
auch in Frankreich, fobald Die Morgenröthe von Deutfhland
her fichtbar wurde, ein faft allgemeines Erwachen der Kräfte und der
Gegenträfte erregte. Auch des jungen Calvins Gemüth wurde
von der Nothwendigkeit vieler Berichtigungen ergriffen und bald durch⸗
drungen. Indem er ſich zu Bourges bei Melchior Volmar,
einem Deutſchen aus Rotweil, im Griechiſchen uͤbte, wurde er immer
naͤher mit den Einwuͤrfen bekannt, welche Luther erſt nur gegen die
bezahlbare Suͤndenerlaſſung und die Zurechnung aus dem Schatze uͤber⸗
verdienſtlicher Werke der Heiligen auszuſprechen gewagt hatte.
Dazu hatte den auf der neuen Univerſitaͤt Wittenberg als Lehrer
und Prediger ſeit Kurzem angeſtellten jungen Auguſtinereremiten, welcher
ebenfalls zuerſt die Rechtskunde ſtudirte, zunaͤchſt die gewiſſenhafte Be⸗
obachtung der verderblichen Folgen des Ablaſſes in den Volksſitten, die
er als eifriger Beichtvater mit Schrecken kennen lernte, bewogen. Zu⸗
gleich trieb ihn der Haß, welchen ihm ſein natuͤrlichguter Verſtand ge⸗
gen den die Theologie und alle Wiſſenſchaft verwirrenden Scholaſticis⸗
mus, das iſt, gegen die den gewalthabenden, beſonders kirchlichen Vor⸗
urtheilen dienſtbare und ſie dialektiſch verfechtende Speculation, einge⸗
floͤßt hatte. Er beabſichtigte, an ber dialektiſchen Vertheidigung, mit
Galvin. 193
welcher die Lirchlich dienſtbaren Scholaſtiker die Indulgenzen und ben
durch die paͤpſtliche Curie disponiblen Theſaurus guter Werke zu umge⸗
ben gewußt hatten, durch ſeine evidenten und echt ſatyriſchen 95 Dispu⸗
tirſaͤtze vom 31. Oct. 1517 in dee akademiſchen Welt ein Exempel zu
flatuiren und dem Lehren und Glauben ber [holaftifhen
Dhilofophie auf der neuen Univerfitdt ben Herzftoß zu geben. An
ein Reformiren in der Kirchenlehre war noch nicht gedacht.
Erſt als die roͤmiſche Curie die: Eigennugigkeit und bie bortige
Hoftheologie die ſtolze Unklugheit gehabt hatte, bei biefem fichtburlich
untettbaren Artikel von den durch zugerechnete Heiligen » Verdienfte ges
gen bie Gebühr auszugieichenden Sündenfchulden bie irrefragable Aus
etorität des kirchlichen Lehroberhauptes; zum Schutz der Scholas
ſtik, aufzubieten und mas bisher nur als gelehrte Meinung über den
Ablaß gegolten hatte, durch eine päpftliche Bulle . (quinto Idus No-
vembris a. 1518) für eine vom päpftlihen Stuhl legitimirte Kirchen»
lehre zu erklaͤren, hatte fid) ber bis dahin gegen.ben Papſt fehr demüs
thige und von dem verfeinerten. Mediceer, Leo X., das Feinere hoffende
Luther genöthigt gefehen, dird,. was er beim Gebrauch des Namens
Eleutberius *) empfand, mollftändiger zu werden und bie päpits
liche Auslegung unbiblifcher Dogmen nicht laͤnger als authentiſch zu
reſpectiren.
Eben dadurch war er zum Aufſuchen anderer dogmafifcher Sige
für die fo unentbehrlich fcheinende Mechtfertigung vor Bott durch
ſtellvertretende Genugthuung gedrungen. Und da Luther, ſich dabei,
vermöge feiner Erziehung in einem Auguſtiner⸗ Orden, vornehmlich an
des großen antipelagianifchen Kirchenvaters, Auguftinus, nicht mora⸗
liſch, ſondern juridifh .modificiete.Shearien von Zureds
nung der Erbfünde. ſowohl, als der. abfoluten Gnade
Gottes hielt, fo veranlaßte dies auch ben Calvin, in Allem, mas
mit bee Prädeflinationsicehre zufammenhängt, mit dem individuellen
Auguflinismus Luthers rigoroſer zufammenzuftimmen, als es in ber
Folge bei den Lutheranern. Deufſchlands ſymboliſch und kirchlich ortho⸗
Dog geworden iſt.
In Frankreich wird nur allzu oft das Religiöfe, wenn auch nur
um Schein, in bie pofitifchen Aufregungen biefe& leicht beweglichen
olks gemiſcht. Geſchieht dies, ſo wird, weil die an aͤußern von
*) Wie Luther Thon 1517, 1518 fi gern und carakteriſtiſch als Frater
Martinus Kleutherius unterzeichnete, f. in meiner aaben. „Gedaͤchtnißredt
uͤber den Urſprung der Retormation aus Wiſſenſchaft und Gemuͤth, nebſt
Sammlung der auf Luthers Anmefenbeit a Heidelberg ſich beziehenden Urkuns
den”. (Heibelb. 1817. 4.) ©. 9. biefer Darftellung ft 3 vage
ezeigt, wie vieles von dem Wefeatlicen Kine — on aus
* hen vorher gluͤcktich begonnenen Kampf gegen den Scholaf eidmus
hervorging und wie er beöwegen auch in ber Geſchichte der ae
als negativer, praktiſcher Reformator wnvergeffen
Staats⸗Lexikon. ILL.
194 Ga'vin
des Cultus. als an eine Mobefache fi gewoͤhnende Mehrzahl der Nas
tion eine glänzend figuritende Hierarchie gern anflaunt, jeber Verſuch
einer prunkloſeren Reltgtonsform nur: von den fentimentalen Freunden
einer einfacheren Gottandaͤchtigkeit mit flillered Begeiſterung geliebt, von
der unbefrwdigten Menge aber nicht blos mißgeadhtet, fondern auch alls
zu oft mit. rohem Widermillen zurüdaeftogen. Margaretha von
Valois, die 'Anzige Schweſter Könige Franz I., bie 1525 an den
Herzog von Alencon, 1527 aber an den König von Navarca vermählt,
war durch ihre Geiſteskraͤfte eine fähige Freundin neuer Forfchungen
und unbeſchraͤnkteret Einfihten.. Sie, die Verfafferin bes Heptaeme⸗
ton, wurde doch auch eine mißbegierige Leferim ber Bibel, ließ fich
geen wegen ‚ber: Räthfel über Gott und Seelenunſterblichkeit in Reli⸗
gionsgefpräche ein und beförberte bie. für Philofophie und Geſchmack
förberlichen Studien. Auch ber ‚Lehrer des ‚Calvin (und Ben), Wol⸗
mar”), melcher insgeheim Eutheraner ;gerorfen fein foll, war durch fie
als: Profefior dee griechiſchen Sprache nach Bourges gelommen. Und
durch diefen wurde der zur Kirchenreformation geneigte Calvin auch ihr
bekannt, während bereits. bie Sorbonne, ale pebantifcye Vertheidigerin
hergebrachtee Lehrmeinungen, und nody mehr bie mächtige Hofmagnaten⸗
partei’ der Guiſen, nach dee Macht, den Regenten zu regieren, tradhe
tend, in dem Vorſatz, den der Reformation in Staat und Kirche erge
denen Theil des Adels und ber Gelehrten im Namen Gottes zu vers
folgen überinfimmie =: ou... |
Schon von · Bourges aus. hatte Ealvin Im benachbarten Linerie
akatholiſch geßredigt⸗·Nach des Vaters Tode ‚ging er nad) Paris
und machte fuͤr ſſich! efere. theologiſche Studien auch durch. das He
Bräifhe und die: aͤlteten Kirchenvaͤter. (Kenntniß des Syriſchen fcheis
nen feine Lobredner ihm, wie man aus. dem Schluß feines Commentars
oe er Pu Bu :. 3 .. se)
- + . .
9 Crusius’ in Annallom Suericorum Dodscs IM. (Francof. 1596. fol‘)
bemertt L. IX. p. 508. zum Jahre 1497: „Natus est Rotrilde Melchlor
Volmarisd, Stadiis etlani Pasiis üperam dedit. lauter. centem ma-
gistros desigmatos primum loosm obtinuit, _ Doctor juris evasit. Graece
et latine Tubingao docuit. Tandem Isnam .profectus ibi 1561 obiit.
3um Sahre 1556 bemerlf L. XII. p. 697.: „Melchior Yolmartüs Rufus,
qui graecas et latinas literas pro decentis florenis per annum docuerat utili-
ter senis ınorbisque confectus, missionem petens a Benatu Academico, conm-
aecutus est .decretis liberaliter ei, ut optime de schola merito, in
religuum vitde tempus quotsnnis centum florenis.“ Galvin bebicirt Ihm Gene-
vae, Cal. Augusti 1546, feinen Commentar zum 2. Brief an bie Corinthier,
als einem, von dem radimentis (greecae Hnguae) fıri imbutus, quae mihi ma-
jori posten adjumento forent, mit bem Beiſat, daß 8. ibn wohl weiter ges
führt haben wuͤrde, wenn nit der Tod von Calvins Vater das Stubium un:
terbrochen Härte. Davon, daß Calvin, wie Moreri behauptet, durch Volmar zu
akatholiſchen Weberzgeugungen veranlaßt worden fel, ift in bem ganzen Son
Viefer 2 ion keine Epur. Sollte dies mır aus Vorfiht, um Bolmar kei⸗
ner Wefahe Yubgäfegen , fo ganz umgangen worden Tein ?
Saloin. 196
über ben erfien Brief an die Corinthier”) folgern muß, zu freigebig zuzus
ſchreiben ) Da der nur durch Tradition und patriflifhe Auctoritaͤten
gegebene Xheil der Kirchenlehren durch bie Früchte, welche fie. trugen
(durch Her:fchfucht des hohen und Genußſucht des niedern. Clerug,
duch) Verwandlung der Religiofität in Ceremonienweſen, durch leichte,
bezahlbare Sündenvergebung u. bgl.), ſich allgemein verdaͤchtig machte,
0 begriffen die Selbſtdenkenden wohl, daß fie, um zu dem urfprüngs
ichen Zweck und Inhalt des Chriſtenthums ben Weg zurud zu, finden,
fi unmittelbar an das Bibellefen halten müßten. Noch allzu wes
nig aber konnten auch die Aufgeregteften bemerken, mie viel, ber anges
wohnten, laͤngſt geheiligten, Vorurtheite fie zu ihrem Bibelleſen mite
braten. Daß Ablaß, Vertrauen auf Heiligennerbienft, Werkheiligkeit
ohne Heilgung der Befinnung, daß eine Oberherrfchaft der roͤmiſchen
Mutterkicche mit all ihrer weltlichen Geftaltung nicht in bem Bibel
wort zu finden fei, war leicht klar. Was aber follte an. die Stelle ber
zu muͤſſen meinte, a
harffinn., Beredtſamkeit und Eifer machten ihn, den Juͤngling,
auch zu Paris, bald fo ausgezeichnet „ daß die. Verfolger. ſchon jegt, jhy
gefährdeten. Gegen biefe Eonnte es wenig wirken, daß er, vierund⸗
swanzigjährig, 1533 ‚feines Leblingsqutors, Seneca,. Schrift de
Clementia gefhmadvol commentirte. Zwiſchen diefem Jahre und 1536
iſt er unſtaͤtt, bald zu Paris, bald auf der Flucht nach Baſel, bald
als Tamilienlehrer auf dem Lande, FE
oa Straßburg aus spendete er ſich burd) den xrſten (leider!
in fei. :e erſten Geflalt night; mehr befannten) Entwurf. feiner
institutio ehristianae religionis, als Apologet an den feiner gebilbeteg,
aber entnervten und endlich doch bi zum Kegerperhrennen pfaͤfftſch
bethoͤrten Franz I., um die damals gebrauchte diplomatifghe Ansfluht,
wie wenn man nur Wiedertaͤufer und, Schwärmer als, Hugenotten
nn VER are Be ’ 2 Fr
u tn BE
®) Mer nicht wußte, was Matän atha bedeute, iiuß nö Eyktfähen niähel,
und ER ſich Fa ‚daß — ſoviel er Fran fei,
vom Hebraͤiſchen wenig verſtanden haben, Calvin deutet uud alles orlentatiſch
Gedachte nach occidentaliſcher Vuchſtaͤblichkeit. wa
196 ‚ Calyvin.
verfolgte, dadurch abzuſchneiden, daß er In feiner die mitelalterlichen
Dogmen kurz und trefflich widerfegenden Präfation, und-dann durch j
eine berebte und logicalifch confequente Darftellung feine im ſtrengſten
Sinn antipelagianifchen Religionfüberzeugungen den Berfolgern vor
Augen ftellte.
' Mir bemerken biefe Bebenserfahrungen, welche Calvin fo frühzeitig
machen mußte, weil ed um fo auffalfender und faft unbegriflich wird,
idie ein ſelbſt fo vielfach verfolgter Heterodore bald nachher felbft zum
winerbittlichen Verfolger bdeffen, was ihm ketzeriſch fehlen, werten konnte.
Dahin führte die unglüdlih anmaßlihe, bucdy Temperament und Dias
lektik hervorgebrachte Selbſtuͤberredung von alleinfeligmachendem Rechtt
haben über die, fubtilften Lehrgeheimniffe. Beza, Talvins Geiſtesver⸗
trauter, meint in deſſen Lebendbefchreibung (f. Melch. Adami vitae
theologor. exterorum. 1653. 8. p. 67.): „König Franz I., viel beſſer
als feine Nachfolger, ein Gelehrtenfreund- und fcharffi nniger Beurthei
ter, hätte durch Calvins Zufchrift Überzeuge werden müffen, wenn
des Königs und ber franzöfifhen Nation Sünden, bei
nen fhon der Zorn Gottes nahe ‚gewefen, es zugelaf
{en hätten, daß er, der König, jene Vorftellungen hörte
oder las.“ " Mur, wer bergleichen abfolutiffifche Prädeftinationdbegriffe
ins Leben überträgt, kann voraudfegen, daß, was feine Verfolger thal
ten, fie zu ihrem Verderben thun mußten, baß aber, was er, det
durch die abfolute Gnadenwahl Gottes einmal Auserwählte, alfo Alleins
rechthabende, thue, ebenfo ein nothwendiges Werk ſeiner Vorherbeſtim⸗
mung zur Seligkeit fein müffe.
Der verfolgte Calvin flüchtete ſich endlich nach Oberitalien zu
der dem freiforfchenden Geifte des Proteſtantismus geneigten Herzogin
von Ferrara, der Tochter Ludwigs XIL., fühlte ſich aber auch dort nicht
ange behaglich und in Sicherheit. Er wollte über Genf nah Bas
fel und Straßburg zu dem mild wirkfamen Bucer zurüdtehen. Zu
Senf lehrten Wild. Farel und Peter Viret feit Kurzem im
Sinn bed Proteflirens gegen unbiblifche Kircheneinrichtungen. Farels
Scharfblick entdeckte in dem blos durchreiſenden Calvin einen Mann,
der ein tuͤchtiger Mitarbeiter fuͤr dieſen Zweck werden koͤnnte. Da die⸗
ſer dennoch weder zur Annahme einer theologiſchen Lehrſtelle noch zum
Predigtamt ſich bereden laſſen wollte, ſo erſchuͤtterte ihn endlich, nach
ber herriſchen Art der Gläubigen jener Zeit, Farel duch ben Zuruf:
„Se nun, wenn bu alfo nur dich und beine freien Stubien vorziehft
und nicht "Mit uns für das Werk des Herrn arbeiten willft, 'fo ver
tündigeih dir im Namen bes allmädhtigen Gottes, daß
er den, welcher mehr fi felbft, als den Herrn Chriftus
ſucht, verfiunhen wird!" Durch diefe Donnermworte ergriffen,
wurde Calvin von nun an (feit dem Auguft 1536) nicht nur der
eigentliche vorherefchende Meformator in der freien Stadt Genf, fondern
auch ber Geiſtiggewaltige, durch welchen in die zwingliſch freiere refors
mirte Kiechengefellfchaft nicht allein ein Altes vorberbeftimmender, berr-
Galvin 197
fcherifcher Abfolutismus Gottes, als Dogma, fondern auch eine res
publikaniſch fcheinende, aber in der That aͤußerſt oligarchifche Kirchen>
zucht mit einer von furchtbaren, weltlihen Folgen nicht trennbaren
Ercommunicationsgewalt der Kirchenobern eindrang. Mit ‚mehrereri Gans
tonen wurden darüber von Genf aus Unterhandlungen eingeleitet und
diefe Dinneigung zu einem Paftorale Dominat wurde je nach der
Empfängichkeit verfcjiebener Gegenden mehr oder minder dominirend.
Calvin entwarf eine Formula christianae doctrioae und einen
kurzen Katechismus und brachte es damit als Lehrer an der Hochſchule
und ale eifriger Prediger fo roeit, daß gegen Ende feines erften jahres,
den 20. Juli 1537, in einer feierlichen allgemeinen Berfammlung Ses
nat und DBürgerfchaft nicht blos der Papſtmacht abſchwor, fondern
auch dagegen einen kurzen Entwurf dee chriftlichen Lehre und — Kirs
chenzucht eidlih ale ein Grundgefeg annahm. Kaum hat
der Menſch Feſſeln zerbrochen, fo erkünftelt er abermals welche für
Andere und verwidelt fid) zugleich felbft wieder in diefelben I
In folhen Zeiten, wo das Alte nicht mehr um ber Herkoͤmmlich⸗
beit willen verehrt wird, vielmehr des Irrthums in wichtigen Punkten
verdaͤchtig und übermwiefen tft, entfteht fehr natürlidy viel Mißtrauen
gegen alles Hergebrachte. Jede auch unbedeutendere Weberlieferung
und Angemöhnung wird mit übertriebenem Eifer bezweifelt, bis fie
entweder neubegründet fi, geltend machen kann, oder ber Streit das
gegen bald um feiner Unmichtigkeit willen, bald wegen ftillfchweigend
zugelaſſener Berichtigungen einfchlummert. So nahmen viele an ber
Kindbertaufe, welche von ben Reformatoren beibehalten wurbe, faft
ebenfo großen Anftoß, als an der päpftlihen Dermeigerung bes Kelchs
im Abendmahl. Man nannte fie mit Unreht Wiedertäufer; denn
fie tauften nur einmal, meil fie das Taufen derer, die noch nicht
glauben könnten, nicht für eine facramentlihe Taufe anerkannten und
daher erft in Jahren, mo ein durch Gründe befefligter Religionsglaube-
möglich ift, taufen wollten. Unrecht hatten fie wohl nicht, fo lange beide
Theile nicht von der Vorausſetzung ausgingen, daß die Taufe auch als
eine feierliche Aufnahme und Einweihung fuͤr die Chriſtengemeinde
zweckmaͤßig ſein koͤnne, ſondern dabei ſchon ein wirkliches religioͤſes
Glauben in dem Taͤufling noͤthig ſein ſollte. Daß ein ſolches Glauben
bei dem Taufen der Neugebornen ſtattfinde, konnten Manche ſich ice
denen und daher den Pädobaptismus nicht für eine facramentlidye
Taufe halten, weil fie die myſterioͤſe mittelalterliche Meinung, als ob
durdy das Sacrament ſchon dem Kinde ein ſeligmachender Giaube und
heiliger Geiſt eingegeben wuͤrde, als einen der Natur der Sache ent⸗
gegenſtrebenden Ueberglauben erkannten.
Gegen ſolche Anabaptiſten nun, welche uͤberhaupt auch manche
andere myſterioͤſe Fiction der Patriſtik zu bezweifein ſich bie. Freiheit
nahmen und dafuͤr den Hang der Menge zum Geheimnißglauben gegen
ſich hatten, war es für Calvin nicht ſchwer, die Volksmejinung zu
Genf und anderswo für fi zu haben. Auch gegen Moderantiften,
198 Calvin.
Milobemiter genannt, welche im Herzen andersglaͤubig fen und
doch den Cultus der alten Kirche, gegen welchen Calvin als gegen
Idololattie ſchrieb, mitmachen zu dürfen behaupteten, mujte er um
dieſe Zeit Teiche obfiegen. Aber anders war der Kampf gegen bie
natuͤrlichen Feinde feiner rigoroſen und Alles der kirchlichen
Presbyterialgewalt unterwerfenden Kirchendisciplin und geiſtlich
(nicht blos geiſtig) ſtrafenden Sittentenſur.
Sehr Necht hatte unſtreitig Calvin, wenn er darauf beſtand, daß
die Stadt nicht nur gegen antichriſtiſche Lehre, ſondern euch auf
chriſtliches Leben und Sittenzücht geſchworen habe. Immer
aber verwirrte er ſich hier durch das Vermiſchen des Moraliſhen und
des Juridiſchen. Dieſes, das Juridiſche, als Pflicht und Recht, Unrecht
durch Strafen zu verdrängen, geht die aͤußere Geſetzgebung an und
betrifft die Stantsobrigkeit, welche Ausbruͤche der Unfittlichkeit, mie fie
Außerlich beobachtet und abgeurtheilt werden innen, durch äußere
Mittel theils verhüten, eheils durch Strafzwang bei ben Thätern und Ans
den zurüddrängen fol. Die Moral und Religion dagegen will Geis
ſtesrechtſchaffenheit. Ste hat die Thaten nicht durch irgend eine Art
von Zwang, fondernburcd überzeugende Erregung der Willig-
keit für das Nechte und Gute, alfo durch innere Motive eins
bringlicher Belehrung und erziehender Ermahnung in der Wurzel
in beffern. Der Gott des Chriftenthums will nicht Handlungen
—*8& ohne Ueberzeugung und ohne die der Ueberzeugung getreue
Geſinnung. Im wollenden und denkenden Geiſte will er verehrt fein.
Caſlvin vermengte Beides und unternahm es, auch ein aͤußeres
Strafamt zur Sache der Religioſitaͤt und zur Aufgabe
der Kirhenobern zu machen. Diefes drohte auf’s Neue ben
menfchlihen Hang zum Herrſchen in ben: Gemüthern derer, welche
allen Lehrer fein follen, zu erwecken, feheinbar zu legitimiren und fos
ae unvermerft eine Art von Inquiſition in den proteftantifchen Lehr⸗
—*— einzufchieben, kurz: neben der Macht über die Gewiſſen auch
eine Zwangsgewalt, und zwar eine unermeßliche, im bie Hände ber
Meesbyterialen zu legen.
Calvin regulirte wohl in ganz guter Abficht die ſpeciellſte Sitten⸗
benbachtung durch die Presbpterien, daher Vorforderungen nicht blos
Ermahnungen, fondern auch zu richterlichen Verweiſen und Bedro⸗
ungen und ſodann ein von diefen Kirchencenforen decretirtes Abweiſen
vom Sacrament des Leibes und Blutes Chrifti, ja fogar ein Ausfchlies
Ben aus der ganzen Kirchengemeinſchaft. Diefe Abfchrediungsmittel gegen
Gittenverderbniß anzuwenden, hielt Calvin für Pflicht der Kirche und
ihrer Vorftände, fo daß er fie in den Kirchenftatuten fanctionirt ſtreng
zur Ausuͤbung bringen ließ, «ber eben dadurch Viele zur Gegengemwalt
reizte und feine ganze Wirkſamkeit auf’s Spiel fegte. Sein Charakter
war: aut sim, ut sum; aut non sim.
Allerdings hatte ee für fih, daß bie erften Chriſtengeſellſchaften
anerkannt Laſterhafte von ihrer- Gemeinſchaft weg s- und in die übrige
Salvin. 199
weltliche Geſellſchaft hinauswieſen, ja daß man dieſes Ercommunis
ciren ſogar als ein „Hingeben an den Satan” (1 Cor. 5, 2—5.)
ausſprach, meil jede der neuen Gemeinden fih ale einen heil des
Sottesreiches Jeſu, des Meſſias, anfah, den offenbar Laſterhaften aber
als einen Sklaven bed Satans, des eigentlichen „Antimeſſias“, betrach⸗
tete. Man konnte demnad) diefen als einen Unterthan des ſataniſchen
Reichs dem Zuſtand, den er ſich durch feine Thaten gewaͤhlt habe,
hinzugeben folgerichtig denken. Damals aber war dies Alles doch nur
ein Mittel der Chriſtengeſellſchaft, von Jedem, der ſich notoriſch als
Unchriſt betrug, ſich um ihres eigenen guten Rufs willen zuruͤckzuzie⸗
hen und wohl auch durch die aͤußern ſchlimmen Folgen (1 Cor. 5, 5.)
auf fein Gemuͤth einen erfhütternden Eindrud zu machen. Das Vers
haͤltniß der Cheiftianer zum übrigen Staat aber war noch nicht fo,
daß der von Ihnen Ausgefchloffene dadurch in feinen flaatsbürgerlichen .
DVerhältnifien Schaden leiden mußte. ‚Schr viel anders ift dies, mo
Staat und Kirche zugleih aus einerlei Mitgliedern beftehen und alfo
der Ausgewieſene in aͤußere Machtheile verfegt würde, dußere Nach⸗
theile aber nur duch richter liche Unterfuhungen juridifch aufers
legt werden dürfen. Das von Calvin eingeführte Zuruͤckweiſen
von der Abendmahlsgemeinfhaft hat ohnehin auch das Urs
riftenthum nicht vom Urtheil der Gemeinde ‚oder ihrer Vorſteher ab»
bängig gemacht, vielmehr ausdruͤcklich, nah) 1 Cor. 11, 28., der eiges
nen Prüfung, alfo dem Gewiſſen, ‚überlaffen. Gerade darauf aber
bielt Calvin mit feinen Rigoriften, daß er als Lehrer und Sitten:
beobachter das Abendmahl des Heren denen von ber Kirchenzucht fi ch
entfernenden Mitbuͤrgern durchaus nicht gewähren koͤnne.
Genf war damals gerade noch in auffallend großer Sittenzerrüts
tung aus der Zeit der viele Familienzwietracht ftiftenden Kriege mit
Savoyen und ber pfäffifhen Uebermacht. Calvins Strenge erfhien ale
den Umftänden noch allzu wenig angemefjen. Die Gegenparthei, den
Syndicus (die jährlich wählbare hoͤchſte Magiitratsperfon) an ihrer
Spitze, bewirkte 1538 durch eine Bürgerverfammlung ben Beſchluß,
dag Calvin, Farel und Corald innerhalb zwei Lagen die Stadt zu
verlafien hätten, weil fie das Abendmahl zu halten vermweigerten.
Dennoch fiegte Calvins Standhaftigkeit. Nicht nur fand er fos
gleich bei dem Senat zu Straßburg an der Seite von Bucer, Gapito,
Hedion, Niger, eine alademifche Anftellung und die Gelegenheit, eine
franzöfifche Kirchengemeinde nach feinen Disciplinar » Grundfägen dort
zu fliften, durch Widerlegung des Cardinals Sadoletus, eines berebten
Vertheidigers der Mittelalterskirche, zunaͤchſt den Genfern und durch
andere Ausarbeitungen allgemeinhin zu nuͤtzen, auch 1541 auf den Re
Ügionsconventen zu Worms und Megensburg perfönlich zu wirken und
auf Melanchthon, deſſen Milde er zu benugen verſtand, einen allzu
impofanten Eindruck zu machen. Sogar ben Genfern felbft ſchien der
beharrliche Mann fo unentbehrlich, daß fie Alled anwenbeten, bis er ben
43. Sept. 1541. wieder zu ihnen Jin. feine. frühen Aemter zurückkehrte,
200 Calvin.
nunmehr aber natuͤrlich mit noch weit groͤßerem und uͤbermaͤchtigem
Anſehen einwirkte.
Er ſelbſt hatte indeß durch Auslegung bes Briefs an bie Römer
und durd) weitere Bearbeitung feiner Inftitutio ober Glaubensichre fich
noch tiefer in feine eiſerne Prädeftinationglehre hineinverſetzt
und ihr zugleich eine gewaltige Wirkfamfelt auf ben Staat‘ und das
Leben vorausbeftimmt. Denn Calvin war der Mann, in welchem feine
Theorie unaufhaltſam in Praxis überging. Sein Gott, zu dem ſich
ber Geift Calvins gerade nad dem, was er nad feinem Maßſtab
für Vollkommenheit hielt, erhob, hat von Ewigkeit nicht blos bie frei⸗
willige Set fibeflimmung und Thaͤtigkeit aller wollenddenkenden Weſen
und das Dafeln aller für fie nöthigen Mittel gewollt und vorhers
gefehen. Der von Calvin feinem eigenen Charakter gleich gebadhte
Gott follte abfolut aus ſich felbft und nur um feiner felbft willen einen
Weltplan, eine alles Große und Kleine umfafiende Vorherbeſtim⸗
mung feflgefegt haben. Er ließ fodann jenen Abfoluten alle bie
Kräfte und Weſen, welche biefes unermeßliche Drama vollbringen ober
ins Unendliche fort durchfpielen follten, nicht nur erfchaffen und im
Thaͤtigkeit verfegen,, fondern auch fo ftellen, daß alles Gute, was fie
wollen und vollbririgen, einzig das Merk feiner Gnade fei und von
ihm komme, alles Böfe aber und das Uebel entflehe, ſobald die Wol⸗
lenden nicht unbedingt feinem Willen und Gebot gehorchten. Dffenbar
ift nie ein mehr durchgreifender Abfolutismus als theologifchee Ideal
aufgeftellt worden,
Das Specielle davon zu prüfen, waͤre hier nicht an der Stelle,
Hier fol nur im Allgemeinen eine Andeutung gemacht werben, ‚daß,
wenn ein folches vorherbeflimmtes Schoͤpfungsdrama zu denken wäre,
‚alödann bas deal eines Gottes darin beftehen müßte, daß ebenderfelbe
allumfaftende Geift vorerft all da6 unendliche Schaufpiel ewig nicht nur
vorherwüßte, fondern auch felbft nach feinen Heinften Zheilen zum Vor⸗
aus unabaͤnderlich beflimmte, alsdann bie‘ fpielenden Werkzeuge alle
verwirklichte, unaufhoͤrlich in Kraft erhielte und zur Aufführung des
Vorherbeftimmten in unabänderlihe Ordnung und Thaͤtigkeit verfegte,
alfo eigentlich ſelbſt alle Rollen bewegte, zugleich aber von Ewigkeit zu
Ewigkeit der allgegenwärtige Zufchauer des vorhergemußten und gemolls
ten, immerfort felbft zu machenden und nie zu beendigenden Meiſter⸗
ftüds fein : müßte. - Unftreitig iſt es den Theologen darum zu thak,
der Gottheit alles denkbare Vollkommene zujufchreiben. ‚Aber dergiels .
chen undenkbare Phantafiefpiele entftehen, wenn der nur allmdlig den⸗
kende Menſch das, was für ihn in feiner Unvolllommenheit eine relative
Vollkommenheit ift, naͤmlich die DVerflandestraft, Pläne zu machen,
die Entwidiungen vorzubereiten, mitzuwirken und dem Gelungenen zu
applaubiren, mit einem Wort, das Teleologifiren, auf den wahr⸗
baft vollkommenen Geift überträgt, beffen Einwirtungsart nach keinem
menfhlihen Maßſtab zu meſſen fein kann uud gewiß, wie es auch bie
allgemeine Erfahrung nicht anders bemerken läßt, allam Seienden die
. Galvın, 201
Jedem gene Kraftthätiakeit eher fichert, als fie befchränkt und In bie
Uniformität eines auch für alle Geifter präftabilirten Typus einzwingt.
Uns iſt, fire den finatsrechtlichen Gefichtspunft, Calvins unbedingte
Praͤdeſtinationslehre ober theologifcher Abſolutismus zunaͤchſt deswegen
denkwuͤrdig, weil er natürlich, da er ſich für ein Werkzeug biefes zur
Gnade oder zur ewigen Verwerfung abfolut becretirenden Gottes hielt,
auch [eine Kirhengefesgebung dieſem Mapftab gemäß vorhers
beftimmte und durchzufegen fuchte. Darauf aber mußte dann audy
noch fine Theorie über den Menfhen und deffen totale
Verderbniß großen Einfluß haben.
Dem von Gott gefchaffenen erſten Menfchenpaar ſchrieb zwar
Galoin, wie er meinte, zur Ehre Gottes ein fo herrliches Ebenbild ber
Gottheit zu, daß es nur unbegreiflich würde, wie eben daſſelbe dennoch
ein fo leichtes Verbot ihres fo freundlich anfchaubaren Schöpfere und
Wohlthaͤters fo einfältig hätte Üübertreten koͤnnen. Aber all jene Vor⸗
trefflichkeit der der Menfchheit zuerft anerfchaffenen Kräfte wirb in dies
ſem Lehrſyſtem nur deswegen fo hoch vorausgefegt, um deſto entfegfi=
her darzuftellen, daß durch eine einfältige Eiferfuche auf ihres Gottes
Weisheit und durch den Einen, freilich ganz kindiſch egoiftifchen Appes
tit, fo verftändig mie Gott vermittelft bes Effens einer Frucht werden
zu koͤnnen, alle Kräfte nicht nur der zwei Effenden, fonbern ihrer
ganzen Nachkommenſchaft in lauter Verkehrtheit zum Böfen und Gott«
widrigen verwandelt worden fein, weil nämlich noch die gefammte
Menfchennatur in dem Einen fo herrlich ausgeftatteten, aber der uns
glaublichen ‚Verführung fo unverftändig ſich hingebenden Menſchenpaar
zufammengefaßt und enthalten geweſen fi. Da Calvin nun einmal
die Verdorbenheit vieler Zeitgenoffen und die an ſich unleugbare Erfahs
rung, daß der Menfh fih zum Böfen leichter als zum Guten ents
fhließe, von einer uranfänglihen Zerrättung der ganzen, kaum vorher
von Gott vortrefflid erfchaffenen Natur der Menfchheit ableitete und
dann diefe Erbfündhaftigkeit mit der abfoluten Prädeftinationstheorie
fpisfindig genug in Verbindung brachte, fo find uns diefe Blicke in
feinen dialektiſch ſpeculativen Verftand deswegen bier unentbehrlih, um
nad) dem pfochologifchen Zufammenhang Bar einzufehen, wie er, da
jene Xheorie nun in ihm mit einem fo ernften, durchgreifenden Chas .
rafter und ſtarkem Selbftgefühl verbunden war, zu Genf zu all jenen
Mafregein ausgerüftet erfchien, mittelft der Kirche eder im Namen feis
nes abfoluten Gottes alle die, welche ſich überhaupt ber Presbpterials
und Synodalgewalt hingegeben hatten, wie Unmündige durch die puͤnkt⸗
lichſte, in das Privatleben eindringende vormundſchaftliche Sittenzucht
gleihfam zu bändigen und zu dieſem Kirchenzweck audy die Staates
obrigkeit nur als folgfames Mittel für Strafvollziehung gebrauchen zu
wollen. Waren einmal alle Menfchen nicht etwa deswegen, weil
Leichtfinn und Schlechtes zu treiben viel leichter und näher iſt als
Vorbereitung, Anftrengung und Gewoͤhnung aller Kräfte fir das
ſchwererzu erreichende Bleibendgute, zum Boͤſen gemeigter, war, in
2302 Calvin.
Calvins theologiſcher Metaphyſik die an ſich unlaͤugbare Vorneigung: zu je⸗
vem Leichteren und die Luft Befriedigenden eine geerbteMaturterdor:
benheit, welche anders nicht ale durch Gottes unmittelbare Gnadmmacht
bei denen, die er abfolut zur Befferung und zum: Seligwerden außrmählt
bat, geiftig wiederhergeftellt und gefund gemacht werden kann, fo iſt
es dann wohl Pflicht für die Vorſteher dee Kirche Gottes, daß fie. als
firenge Pädagogen dahin mit all ihren dufern und innern Witteln
wirken, damit jenen Einflüffen der fonft oft ſich ſchnell zurüdziegenden
Gnade weniger mwiderflanden werde und auch die von Gott abfolut Mes
probirten oder der Schlechtigkeit und Verdammniß Ueberlafjenen doch ben
Begnadigten weniger Aergerniß geben koͤnnen.
Zweckmaͤßig aufs Aeußerſte gefteigert wurden in ber Eicchlihas Be⸗
redtfamkeit die Schilderungen dee &runbverdorbenheit bes menſchlichen
Herzens. Schauerlich wurden befonders auch die furchtbarften Darſtel⸗
lungen, wie piöglich der Zorn Gottes alle Gnade unerbittlich abwen⸗
den Eönne und, ſowie die oben angeführte Stelle über Kranz 1, ein
Beifpiel gibt, den Reprobirten fogar gegen die nahen Bekehrungsmits
tel unzugdnglih made. Alles dies follte die Untermürfigfeit unter
Galviniftifche Kirchendiseiplin um fo unvermeidlidher aufnöthigen. Haft
unerträglihh aber mußten die dußern Beſchraͤnkungen werden, welche
Calvin aus feinem Spftem zum Herifchen des Kirchlichen über . das
Häusiihe und Bürgerliche ableitete. |
- &chon ‚den 20. November 1541 murde zwar feine Kirchenpo⸗
Iizeiordnung von Senat und Buͤrgerſchaft als „das Joch des
Herrn“ zum Stadt» und Staatsgeſetz gemacht. Aber bie, welche er
als Mitvolizieher am meiften gewuͤnſcht hatte, die Prediger Farel
und Viret, blieben bei andern Gemeinden, jeger zu Neuburg, diefer zu
Laufanne, zwar noch als Calvins Freunde, aber doch mohl feiner nahen
Webermacht Äberdrüffig. Kein anderer Ausgezeichneter blieb neben ihm.
Wer gegen ihn war, bekam entweder als Anabaptijt ober als Li⸗
bertiner das Anathema. Die gewöhnlichen Ehrentitel, die er in ſei⸗
nen, übrigens gut gefchriebenen lateinifchen Polemiken austheilte, waren
„wiberbeilenbe Dunbe, eber Nebulones“. Mußte body, wer gegen itn
und Gott war, unfehlbar zur ewigen Reprobatien präbeflinirt fein. Die
Aufteisung war fo beftig, daß 1545 die Meinung ſich verbreiten konnte,
sie wenn eine entftandene Seuche dadurch bewirkt wäre, daß ber Bas
tan dem Poͤbel eine Verſchwoͤrung eingehaucht habe, die Däufer mit
vergiftetem Schmuz zu beſtreichen. Man entbedte biefen Gatansipul
durch Foltern und ſchickte dann die Gemarterten durch ben Denker auf
ewig in bie Hölle. Keine Reinigungsweiſe bleibt im abfoluten Praͤde⸗
flinationismus confequenter. So fehr dreht ſich das Staatsrecht nach der⸗
gleichen theoretifchen Phantafien. Nebenbei aber wurde im theologifchen
Federkampf nie Stillſtand gemacht. Wie um ber Serien Heil willen
mmete wegen eines Woͤrtchens vom Abendmahl, bas Jefus nicht beſtimmi
hat, oder wie man dor dem Mechtfchaffenmwerben vor Gott gerechtfertigt
fein müffe, ober Aber. die, boch ohnehin verlorne, Wulensfeeiheit, aber
Galvin. 203
barüber, > benn bie Adiaphora wirklich gleichguͤltig (adiaphorifch) felen x.;
disputirt ‚gefchrieben, Conferenz gehalten werden, und wenn dann zu
Genf od Bern eine Slaubensformel im heiligen Geiſt und aus dem
allmälig einer felbft bewußtwerdenden chiftlihen Bewußtſein decretirt
war, fo and man dies als fehr evangelifch = chriftlich, ſchalt aber zu glei⸗
her Zei darauf als auf eine antichriftifche Anmaglichleit, wenn zu Pas
eis dbieBorbonne auch ihre Glaubensartikel ald Vorfchrift promulgirte.
Vn all dieſer Vielchätigkeit und Ercommuntcations » Gewalt mar
nichts Rderes die Folge, als daß der genfer Buͤrgerſtaat immerfort in
ſtiller nd heftiger Unzuftiedene getheilt war, baß ein Hauptgegner der
Calvini hen Kirchenzucht, Perrin, bald durch die Volksſtimme (1546)
zum Oneralcapitain gewaͤhlt, bald aber (1547) aus dem Senat geftos
Sen wude, in welchem ſchon bie Parteien bie Schwerter gegen einander
zogen, unb bie bazmifcheneilenden geiftlihen Deren, mit Calvin an ber
Spitze kaum ein Blutbad unter den Vätern des Vaterlands verhindern
fonntn. Dennoch wurde im naͤchſten Jahre (1548) Perrin wieder in
feine Bürden eingefegt, aber auch mit einer befchworenen Amneſtie —
wie gewöhnlich, zu ſpaͤt — ein Verſuch gemacht. Als 1553 einer von
Yearriıs Partei, Bertelier, welchen bas von Calvin praͤſidirte Press
Dyterium vom Abendmahl ausgefchloffen hatte, durch den regierenden
Senat losgeſprochen wurde, brach Calvin mit aufgehobeneer Dand auf
der Kanzel in die Worte aus: „Ich werbe mich, nad) bes h. Chryfos
ftomus Erempel, eher umbringen laffen, als daß diefe meine Hand einem
der (vom Presbyterium) abgeurtheiften Gottesverächter das Sacrament
Gottes reihen follte.” Natuͤrlich wurden bei ſolcher MWiderfegiichkeit ges
gen bie Staatsregierung die Worte Petri zur Grundiage genommen, ba
nsan Gott mehr gehorchen folle als ben Menſchen.
Das Arrogantefte war, daß auch, wer Calvins Glaubenmei⸗
nungen nicht fo ganz infalibel finden Eonnte, in Gefahr kam, mes
nigſtens bie Stadt räumen zu müffen. Der Senat ließ fi) 1550 eins
bilden, ein dibergetretener Sarmelltermöndy aus Paris, Dieron. Bol⸗
fec, müßte bei Strafe des Staupenfchlags ihre gute Stadt meiden,
weil ihm mehr Pelagianismus als Prädeftinatianismus anhing. Der legs
tere wurde dagegen 1551 auf's Neue als alleinſeligmachendes Symbol
von dem Paflorenconvent zu Genf decretirt, ohne Zweifel, weil fie num
eben dazu präbeftinirt waren.
Sebaftian Caſtellio hatte eine für jene Zelt treffliche franzoͤ⸗
fifhe und lateinifche Bibeluͤberſetzung mit vieler Kenntniß verfaßt. Aber
befonders in feinem guten Latein *) Hang Manches nicht myſterioͤs und
ortentalifch » bildiich genug. Er fragte fogar, wie das Hohelied in den
*) Die latein. Ueberfegung erſchien 1551 zu Baſel, mit einer ſehr moberaten,
bie Religionsverfolgungen rügenden Präfation an König Eduard in’ England.
Einen Wunſch von Goͤthe, daß bie in ber Bibel enthaltene Menſchenge⸗
ſchichte durch naher aus Joſephus in den biblifch nicht berührten Zeiträumen
u t WA te, hat Gaftellio bis zum Anfang des Reuen Teſtaments
fon t oo
.204 | Calvin.
Kanon gekommen fein Eönnte, weil man voraußfegte, daß ht blos
alterthümliche, fondern lauter heilige Ueberrefte dort gefammelt fr müßs
ten. Daß aber Saftellio die Calvinifche Prädeftinationscheorte dech eine
mildere Erklärung der Pauliniſchen Stelle, Roͤm. 9., (menngih obne
alle Hindeutung auf Galvin) wegzuraͤumen verfuchte, war nach er Ans
bänger Gefchrei eine unerträglich freche Stoͤrrigkeit. Der von Calvin
ſehr bominirte kleinere Rath von Genf meinte oder wurde zuneinen
bewogen, daß das Staatsregiment bergleihen Geiftesgegenfläne rich
terlich zu behandein habe, und widerlegte den feingebilbeten iorfcher
— durch Landesvermweifung.
Bis zum Abſcheulichen aber ſtieg dieſes anmaßlichſte Einwirka Cal⸗
vins in ſeiner Verfolgung des Michagel Servetus. Kür die btaats⸗
rechtsfreunde iſt es der Mühe werth, daß wir dieſe den Calvin he alle
Zeiten charakteriſirende Handlungsweiſe nad) den Hauptzuͤgen ſcildern,
weil die Flammen, durch welche Servet von ſogenannten Proteſanten
einem Huß gleich behandelt wurde, endlich durch wahrhaft proteſtatiſche
Vertheidiger der freien Wahrheitsforfhung über alle cultiviste Saaten
leuchtend gemacht wurden und auch wirklich allgemeinhin fo bei mahten,
dag mwenigftens in proteftantifchen Staaten zu biefer Methode, die Ehre
Gottes zu fchügen, felbft von den fchleichendften zelotifchen Delstoren
nicht mehr leicht eine Anreizung gewagt werden kann. Gervetus
ift in diefem Sinne allerdings gleihfam „das Opfer für
Viele‘ geworden! Um darüber ganz Elar zu werden, muͤſſen wie
uns mit Wenigem die bamalige Rage theologifcher, mit ber Religion und
Politik nur allzuſehr vermiſchter Unterfuchungen vergegenmwärtigen. Die
Meformatoren zu Wittenberg und Zürich hatten nichts fe ſehr
zu fürchten, als daß man die Menge gegen fie und ihre den Mißbräus
chen entgegengefeste Proteflation durch den Schein aufreisen koͤnnte, wie
wenn fie aus Neuerungsfucht völlige Undyriften geworden wären, weil
man damals das Chriſtenthum meift nur als Tradition bee kirchlichen
Auctoritäten kannte. Schon viel war es daher gewagt, bie Entfcheibung
aller Concilien bis hinauf zu den vier erſten oͤkumeniſchen
als unverbindlich zu verneinen.
Haͤtte freilich das Licht der Geſchichte mit einem Mal von den
Reformatoren ſelbſt voll genug erfaßt und verbreitet werben koͤnnen, fo
mürde fonnenklar geworden fein, daß ſchon auf dem erften, dem ganzen
Imperium als der Dekumene imperatorifch geltend gemachten Zuſammen⸗
kunft zu Nikaͤa ber heilige Geiſt im vielen der verfammelten Biſchoͤfe
nicht ſehr vepräfentirt war, da nad) Gelafius Geſchichte K. 8. der Ka⸗
tehumene, Kaifer Conftantin, die Menge ihrer gegeneinander eingereich-
sen Kiagfchriften nicht beffer, als durch öffentliches Verbrennen des gan -
zen Dayfens, zu entfcheiden wußte. Auch bie von ihnen fellgefehte,
oder eigentlich von Athanafius als Presbyter eindoetrinirte Dogmenformel
von drei in einem Weſen fubfiftirenden gleich göttlichen und doch in ber
Wirkungsart verfchiedenen Perfonen würde eher als ein Bau ohne fefte
Grundlage erkannt worden fein, wenn ſchon die Meformatoren Vorkennt⸗
Galoin. 205
nig und Muße genug gehabt hätten, das einzufehen, was Fuchs in
feiner Bibliothek der Kirhenverfammlungen Th. I. ©. 433. und 583
zwar ſchuͤchtern, aber aufrichtig ausfpriht, daß naͤmlich von ‘allen den
Beweisgrimden, worauf man jene (Arhanafianifde) Formel ſtuͤtzte, jetzt
faft keiner in dieſer Geftalt zu brauchen fei. Was mar aber das Des
eretiren eines fchweren Dogma, wenn man baflr nur Gründe wußte,
die nicht zu jeder Zeit überzeugend bleiben? Ä
Mit einem Wort. Was die mit der Reformation im Großen
und befonder® in prattifcher und politifcher Beziehung befchäftigtn und
belafteten Hauptperfonen durchzuarbeiten nicht vermochten, eben das ſetzte,
fobatd nur das Prineip des Proteſtirens gegen Auctorität in Glaubens»
fahen auf den Leuchter geftellt war, andere forfhende Geifter
in lebhafte Beroegung , um fofort zum Weitergehen Werfuche zu machen.
Doch, weil diefe fi) auf das Keinere erfttedten, konnten fie theils nur
fchroieriger in den Berichtigungen, thelld nicht populär werden. Mes
lancht hon allein war fcharffichtig genug *), mit: Aengftlichkeit zu ab:
nen, was für Gährungen noch aus manchen Dosmenformeln eniſtehen
wuͤrden, die ebenfalls nur auf venerirten Auctoritäten beruheten und von
der Einfachheit der Schrift, der einzigen‘ echten Quelle unferer Kennts
*) Acuferft merkwuͤrdig ift’s, wie Melanchthon, ber noch gelehrter. als
3wingli, und viel affectlofer als Luther. Zorfchende, dieſe Vorfchritte zum
Nichtigeren, doch nur” mit Beforgnis — weil au) Er batbmöglichft wieder
etwas Stabiles gern gehabt hätte — vorausfah. Er fchreibt: an feinen Ver⸗
trauten, Camerarius, und gerabein Beziehung auf Serpet, ſchon
im Februar des für diefen tragifhen Jahre 1533, und wagt kaum halb grie⸗
if feine Ahnung, was wohi um Ausbruch oder Durchbruch kommen müfle,
merken zu laffen: Ilsel eng Toladog (de Trinitate), scis me semper ve-
ritum esse, fore ut haec aliquando erumperent! Bone Deut
quales iragoedias excitabit haec questio ad ponteros, &l.Eoriv "Uruoranıg
© Auyog?! ei fariv vnöcraoıg zö Ilveva«ct („Suter Bott! weich traurige Schau⸗
fpiele wird bei den Nachkommen noch bie Frage erwedten: ob ber Logos, ob
der Gift ald Perſonen fubfiftiren?”) Kgo me refero ad illas seri-
pturae voces, quae jubent invocare Christunm (??), hoc est ei honorem
divinitatis(?) tribuere et plenum consolationis est. — Illud me pessime
habet, cum eaedem res (ndmlid bie Anfichten bed Servet, daß die
Worte, Vater, Sohn, Geiſt nur verihi.dene Werbältniffe der Gottheit, n
aber gefonderre Perfonen bedeuten) agitatae sunt a Paulo Samosateno, nihil
extare, praeter levia quaedam apud Epiphanium, unde intelligi pos-
sit, guid jvudicarint, quidve secuti sint hi, qui eum da-
mnarunt... Sm cngften Vertrauen geftanb alfo wohl Melanchthon, mau
Zönne fih mit der Auctorität, daß endlich der Logos nicht blos als ewi
Bernunft in Gott, fondern als eine befondere Subſiſtenz ober Perfon im
nen und untheilbaren Gotteswefen von den Bifchöfen angenommen wurde, nicht
beruhigen; man müßte vielmehr, echt proteftantifhh, ihre Brände prüfen.
Diefe aber wiffe man nicht u. f. w. — Daß Servet bies auch wünfchte, nahm
ihm dann wohl Melanchthon im Herzen nicht übel, nur baß der ſpaniſche
„Arzt fo heftig „erumpirte’ und durchbrechen wollte! Können, Tollen
denn aber Alle fo leife quftretende Melanchthone feint Iſt es criminell,
fen zu Tönnen, was Luther felbft an Relanchthon oft nur
e e x
206 | ‚Saivin.
niffe über den Sinn bes Urchriſtenthums, abweichend, doch das zu Offen»
barende in paflendern Ausdruͤcken, als jene Offenbarung felbft, offen
bar zu machen die Miene haben. Hätte man doch nur ſogleich bie
gu bee Gemuͤthsruhe im Betrachten kommen koͤnnen, daß alle bergleis
hen Verſchiedenheiten gewoͤhnlich mohlgemeinte Verſuche maren, den
Vater, den Sohn und das Heiliggeiftige. hoch genug zu verehrten und
dennoch die Einheit Gottes gegen alle an unvoßlommene Götter ſich
anſchließende Wielgötteret, als das Unentbehrlichfte, feftzuhalten. -
Servers Geſchichte iſt an fi) und. wegen Ihrer Kolgen fo merk⸗
wuͤrdig, daß ber ingenidfefte Kirchengeſchichtsforſcher, der einſt goͤttingi⸗
fe Ganzer von Mosheim, fie unter dem Titel: Anbermweitiger Ver
ſuch einer vollftänbigen und unparteiifchen Kegergefchichte (Helmſtaͤdt 1748),
auf 500. Seiten in Quart fo vollſtaͤndig und ‚(den philofoghifchen Theil
abgerechnet) fo muftermäßig durchgepruͤft und bargeftellt hat, mie noch
Eeine andere ähnlich. verwickelte Particulargeſchichte. on
Michael Serveto, geb. 1509 zu Villa Nueva in Aragonien,
war ein Spanier an Genie, aber auch im Xemperament. Gr. wurde
bem Calvin, fo lange diefer, felbft verfolgt, noch zu. Paris. war, Thon
1533 als ein.gegen die Athanafianifche Art, diefes Myſterjum denkbar
zu machen, heftig proteflirender Neuerer bekannt. Heftig erklärte man
fi in jener Zeit wider Alles, was man ale theologifhe Taͤuſchung zu
enthuͤllen meinte, weil die Vorandfekung, daß für bad Seligwerden
bee..theoretifch. irrthumsfreie Glaube‘. und nicht blos das redfihe und
thätige Glaubenwollen von Gott zus arbitraͤren Bedingung gemacht ſei,
heden MWahrheitöfreund wegen ber. Mobificaienm: bes. Inhalts : feines
Staubens allzu aͤngſtlich machen muße. 7
Servets Geiſt insbeſondere war von ber Claſſe bdie ſich gerne
mit vielerlei. Wißbarem beſchaͤftigt, manche Berichtigung, insbe ahnei,
als zur Klarheit bringt, um ſo lebhafter aber durch die das Dunkel
burchblitzenden Lichtſtrahlen ſich irritirt fühle. Auch er hatte Jurispru⸗
denz ſtudirt. Zur Medicin und Theologie aber zugleich ſich abwendend,
kam er auf ſonderbare, gewiſſermaßen pantheiſtiſche Ahnungen von ejner
Einheit geiſtiger, ſich doch materiell. offenbarender Kraͤfte. Die Geſchiche⸗
der Medicin hat (f. Sprengel:im: Th. III. Ater Aufl. S. 40. and
544. nad) eigenen Unterfuchungen) zw feinem Ruhm anerlannt, baß er
zuerft (1552) ben fogenannten „ Eleineren Blutumlauf“ ober den burdy "bie
Lungen aus ber rechten in bie linfe Kammer des Herzens — (Baryey
aber den allgemeinen) entdedt habe. Er fuchte (f. feine Restitutio
Christianismi L. V. p. 169. der Nuͤrnbetg. Ausgabe. von- Murr
1790) denſelben ſich durch eine materlell wiekende Spiratiön oder Fort⸗
bauchung zu erklaͤren. War es ihm übel zu nehmen, daß ek‘, "ber
die Bibel mit fupernaturaliftif sconfequentem Erwarten geoffenbarter Ges
beimniffe las, da, wo biblifh von einem Geiſt Gottes die Rede ift, fich
auch den Geiſt Gottes überhaupt als eine feine, Alles ducchbringende
und bervegende, Spirationskraft Gottes beutete und dadurch den nad
Geneſis 1, 3. auf dem Urgemiſch (Chaos) ſchwebenden Schöpfungsgeiß
Goloin; 207
zu erklaͤren verfuchte ? Das Gehäffige und ihm Verderblichſte war, daß
ee gegen bie Formeln, welche die Spiritualität und die ewige Urver⸗
nunft (den Logos) wie perfäntih neben Gott, bem Vater,
ſubſiſtirend beſchrieben, oft mit, verhähmenbem Ungeſtuͤm proteflirte;
Dies aber war noch die rabuliftifche Dieputiraet des geiteiters, von wel
cher Cal vin eben fo wenig: frei blieb...
BSGervet wagte fid-in feinen intellectuellen Muthma gongen ſo Belt;
daß er ber Vorläufer eines Pantheismus murbe,. welcher (mie der
Schleiermacheriſche in den Neben über bie Meligion) Altes, auch
die Materie, von der Spiritualität ableitet. Servet dachte fich feine
materiell wirkſame Spirktualität als die einzige Subftanz, und
als ſchon criminell angeklagter Gotteslaͤſterer enthielt er gegen Calvin
fi) eines übermüthigen Lachens nicht, da biefer ihn in ber Behauptung:
Alles, was ift, gehöre nur zu der Einen Subflanz, der göttlichen! *)
ed absurdum durdy .die Frage bringen wollte: ob .deun alſo audy bee
Satan zu derſelben gehoͤre? Mon sinem ſolchen Geift und Materie - I
Eines faflenden Pantheismus konnte Calvin nicht eiumal begreifen, wie
ihn ein Anderer zu denken verfuche... Ee meinte, baf men gar keinen
Sort haben könne, wenn man ihn nicht als:eine Athanaſiauiſche Lei
nität von drei in einer Subſtanz fubfiflirenden .Perfonen. Habe: . Und
dadurch, daß Server in leidiger. Eiferswuth uͤber dad. aus :brei Perſo⸗
nen nach Athanaſius beſtehende Eine Weſen hie und da fdjrieb: pro
uno Deo liabetis tricipitem Cerberum!. („ſtatt des rinen: Gottes habt
ihr — Athanaſianer! — einen drrikoͤpfigen, wie Cerberus! ), fo war
er für Calvin natuͤrlich nicht blos in. blasphemer Verletzer ſeiner menſch⸗
tichen Concilienformel, ſondern der göttikhen als wur, Achanaſtaniſch
denktaten, Majeftaͤt ſelbſt.
Sp Wahrheit mar Servet nod nicht aid Galoe Supernaturatifk
Er mollte es fein bie zur Schwärmerei ‚und meinte: nur, bis zur Apoe
kalypſe hinaus, bie Bibel, die er orientalifdy fludirte, tichtiger: und
fogar den erften Kirdyenvätern (Tertullian, Itendus) gemäßer: zu ver
ftehen. Erſt von der Meinung eingenommen, daß dirk) das Herr⸗
ſchendwerden ber Kirche unter Kaifer Eonftantin J. und dem roͤmiſchen
Biſchof Sylveſter die Hierodeſpotie als der apokalyptiſche Drache
das reinere urchriſtenthum zu verfolgen angefangen: Habe," bie "dort
]—r ı
—
als —ãâ ùY kc—
Fa
208 Galvin.
beſtimmten 1260 Jahre der Flucht der wahren Kitche aber, von dort
an gerechnet, nunmehr bald ein Ende nehmen wuͤrden, glaubte Servet
zuverlaͤſſig ſich verpflichtet, ſelbſt auch als ein Kaͤmpfer aus dem Heere
Michaels hervorzudringen, welches den Drachen mit allen In bie
Kirche durch ihn eingeführten Irrthuͤmern befiegen werde. In vielem.
MWichtigen fah er eben fo fcharf, . als bitter er es ausdrüdte. Beides
bewies er, zunaͤchſt zu feinem. Ungluͤck, in: 30 Briefen, in denen er
Galvin :von mehreren noch irrig behandelten Lehren mit Heftigkeit
überführen wollte. Um biefe Zeit lebte er als Arzt zu Vienne ohne
allen Verdacht von Deterodorie unter dem Namen Villanovanus, 'sieß
aber 1553 fein Syftem unter dem Zitel: Restitutio Christianisımi,
in der Stilfe fo :druden, daß er fi darin Servetus nannte, war fo
unvorfichtig, feine Briefe, die er als Serdetus an Calvin gefchiieben
hatte, anzuhängen und’.einen Theil ber abgedrudten Eremplare des
Werks an Robert Stephanus, ben Buchhändler und Freund Calvins,
ber ſeit 1552 zu Genf war, verkaufen zu laſſen, ſo daß Calvin
dadon leicht Kenntniß erhalten mußte.
Zu Vienne wußte man nicht, daß der bellebte Arzt Vilanovanus
einerlei Perſon mit Servet ſei. Dieſer : wollte. deswegen auch ſoine
Driginalbriefe von Calvin zuruͤck haben. Aber vergeblich. Faetiſch
iſt vielmehr, daß ein Lyoner, Trie, welcher ſich zu Genf aufhielt,
erſt zu Vienne anzeigte, daß der Erzketzer Servet dort als Villanova⸗
nus lebe "und. vor das Ketzergericht gebracht werden muͤſſe, ja, daß
vierzehn. Tage darauf dieſer Trie von Servets gelehrten Prwatbriefen
an: Calvin zmwanzig.im April 1831, im Original au das Gericht zu
Vienne ſchickte, damit Servet als Verfaſſer der fehr ketzeriſchen Wie⸗
derherſtellung des Chriſtenthums deſto ſchneller uͤberwieſen werden konnte.
Dieſe Originalien, woher konnte fie Trie haben, als von Calvin
ſelbſt? Das Urtheil zu Vienne fagt ausdruͤcklich, daß es mesmes les
Epitres et Escretures de la main du dit de Villeneufre, adres-
sees A,Mr. Jehan Calvin, prescheur de Geneve et: par
le ..dit de Villenaufve recogauns vor ſich gehabt "habe. Hatte fie Trie
hingeſchickt, ohne daß Calvin von diefem delatorifchen Mißbrauch . der.
felben wußte? Calvin in ber Defensio orthod. fidei verneint dies
nicht direct, ſondern nur durch die Wendung, . wie unwahrſcheinlich vor
ibm wäre, daß er cum Papae satellitio in folcher Samiliarität und
Sunft ſtehe. Wil er hierdurch mehr fagen, als dies, daß er nicht
agmisterbar mit den tat h o liſchen Richtern in Correſpon⸗
z war?
Zu Vienne hatte Servet als Arzt dankbare Freunde. Dennoch
mußte man ihn endlich auf jene Angabe verhaften. Man verhoͤrte ihn
zweimal, aber mit vieler Schonung. Der Vicepraͤſident des Gerichts
befahl dem Gefaͤngnißwaͤrter, ihm, was er an Geldwerth bei ſich haͤtte,
und Jedermann zu ihm zu laſſen. Am dritten Morgen war der Ver⸗
haftete entflohen. — — Erſt den 17. Juni faͤllte auf Antrag bes
Procureur du Roi, als demandeur en crime d'heresie scandaleuse
PT eo CE — *
— [u
gun ||
Calvin. 209
a. ſ. mw. gegen den Entflohenen, ber ſich als Servet bekannt hatte,
das Urtheil, daß er nebſt mehreren Ballen ſeiner auf ſeine Koſten bei
Balthaſar Arnollet, Buchdrucker zu Lyon, fo eben gedruckten Haupt
ſchrift: Restitutio Christianisıni, tout vif & petit feu verbrannt wer⸗
den. folite. Daß alsdann fünf ſolcher Bücherbatten nebft einer Effigies,
Die ihn vorftellen follte, à une potence expressement erigee wirds
lich dem Feuer geopfert wurden, Eonnte dem Geflüchteten nicht wehe
thun, wenn nur indeß nicht — —
Er ſelbſt, wie Beza in feinem Leben Calvins, ganz praͤdeſtina⸗
tianifch « fromm, es ausbrüdt, fato quodam*) auf ber Flucht larige
umpberirrend nad) ‚Genf gelommen wäre. Er wollte zwar blos
durchreiſen ”) und hatte fi fihon auf dem See ein Fahrzeug: in
der Richtung nad, Zürich beſtellt. Davon, baß der Kremdling ‚zu
Genf Ketzerei ober Staatsunruhe hätte verbreiten wollen, kam .nicht
einmal ein Verdacht in die Protokolle. Dennoch, wie Beza ſchreibt,
Dei providentia factum est, daß er bald "*) erkannt wurde,
Calvin felbft drängte einen Spndicus, den Fremden verhaften zu laffen: :
Nach ben dortigen Gefegen Tonnte Niemand verhaftet werden, ohne
daß der Anklaͤger ſich ebenfalls verhaften ließ und ſich, wenn erdie
nn
Anklage nicht beweiſen koͤnnte, eben der Strafe ausfehte, die er. dein
trũ en Regenerationem ex aqua coelestem non aguoscitis sed
fabulan habetis... Vae vabis,. yael vao! (ab Alwoerdeg Berveil, ..
48.)
In eben biefem Brief hat Servet die Ahnung: Mibiobeamrem'j ip
ziendum esse, certo scio, sed non propterea animo deficior, ut-fam
discipelus similis praeeeptori. Die Ahnung berubete wohl auf ber
Wahrfeintichkeit, daß Calvin, ta er bie Briefe nicht zurüdgab, fie gegen ihn
benugen werde.
'»°) Dies’ wußte Calvin ſelbſt: In Ep. 186. an Jare! ſchreibt er: Fluc
transire forte cogitabat, Necdum enim scitur, quo canaiin vanerit.. Bed,
cum agnitus fuisset, retinendum putavi. 2
099) Beza fagt ausbrädtih: Mox agnitus. Mosyeim füßet (©. 5
aus Spons Hist. de Genere II. p.:63. m: IM arriva M Geneve, ll:
Unt cach6 pendant un ınois, en attendant und‘ 'eommödliä pour" Fe
uud ſegt voraus, Spon habe 46! un meis aus' dem Gerichtsaeten.
Spon ſagt auch unrichtig: U vint- A Genevo, o& Il commenga & une
matiser, und la Ro e, ber in der Biblioih, Angl. It, 109. aus den
referirt, gibt an: Je n’at pu' decouvrir, quel jour äh 'entra dans, Gendrs,
mais il y legen &: l’finseigne de la Rose et il avolt' dessein de lougt'uh-
batsuu lo le —A— poar traverser Te Yo et 'baur de 784
Zurich.: Bermuthlich — aus Werfeben un inois flatf ome wit. -
Me en Geroer Im ——ã— — — —
* als:
in ben Xcten vorkommen rn ymB
Staats s Leriton. IIL. 14
210 Galvin.
Angeklagten zugezogen hatte: (Ein merkwuͤrdiges Schutzgeſeß gegen
willkuͤrliche Verhaftungen!!) Calvins heiliger Eifer war fo ſtark, daß
er feinen etwas unterrichteten Samulus, Nicol. de la Fontaine,
zur Anklage auf Griminalftrafe gegen den Ketzer fubflituiete, und
alsdann, nachdem ber Famulus feine Anklage zum Theil erwiefen
batte, ducch feinen eigenen Bruder, Anton, für diefen Caution ftellen
ließ. Calvin felbjt nimmt alles. dies in mehreren Briefen’) wie eine
rehtlihe That auf fih. Paftoren alfo zu Genf, welche Zeter
‚gefchrieen: haben ‚würden, wenn bie Sorbonne fie auf einer unfchuldigen
Ducchreife durch Parid aufgegriffen und als Ketzer criminell behandelt
hätte, machten in dieſem Grade gegen einen in Frankreich Verſchon⸗
ten. die Keßerrichter und trieben (da Calvin.immer mit der Ercommus
nication brohen Eonnte) auch ihre. Staatsobrigkeit zu dieſer unchriſt⸗
dichen und vernunftwidrigen Glaubensinquifition. Aber auch ein ans
berer Arzt, Hieron. Bolfec, in vinculis tenebatur propter causam
praedestinationis (megen bes Lieblingsdogma des zum Abfoluthandeln
fa geneigten Galvins) und ein Kalefius (Jacob von Bourgogne,
Herr von Falais und Bredam — f. Mosheim ©. 258), fonft Cal⸗
vins Freund, in publica congregatione (= im ftrafberechtigten Pres⸗
‘hpterium). a, Calvino judicatus. est baereticus, weil er ſich bes Bolſec
annahm. So war, mer nicht Calviniſch war, haͤretiſch, durfte nicht
zu Genf, durfte mo möglich nicht am Leben bleiben.
: " Der abominable Proceß begann vor dem nichttheologifhen Forum
d.:14. Aug. 1553. Des Nicolaus meus Criminalklage war geftellt
pour les gränds soaudales et troubles, que lè dit Servet a déjà fait
par l’espace de vingtquatre ans ou environ (?) en la Chreliente
pour les blasphemes, qu’il a prononce et ecrit contre Dieu (?)
pour les’ heresies, dont il a infecte le monde (ungeachtet Servet
nicht, ben millionften Xheil foviel Anhänger oder Gegner hatte als Cals
sin). Dazu aber fam dann noch, wie unpaffend und unverftändig!
die Anklage pour les mechantes caloınnies et fausses diffamations,
5 Beſonbers fchreibt er in Epist. ad Sulzeram (f. Calvini Epistolae,
Geneviae 1597. 8. &.2%.): „Tandem huc malis auspiciis (!) appul-
sum unus e Syndicis, me auctore, in carcerem duci jussit. Neque ewim
dissimulo, quin officii mei duxerim, hominem plus quam obstina-
tum etindomitum, quoad in me erat, compescere. Was alſo
etwa zu Mabzib bie Inquiſition für ihr-sanctum officium gegen Galvin
iten hätte, bas glaubt biefer, ben man unferer Beit ala ein kirchl
‚Slaubenemufter vorzuhalten nicht mübe wirb, ala evangelifch" protefantifänge
Geiftlicher als fein officium vollbracht zu haben. At Freund Karel erf
‚ee fih Ep. CLYVI. noch deutlicher: Jam novum negotium habemus cum Ser-
veto. * transire — cogitabat. Necdum in scitur, quo consilio
‚venerit. gen -gen ege hatte alfo ber. Ungl due nichts en!)
‚ cam agnitus False, —A Datavi. —— (01)
ad capitale judicium, poenae talionis se offerens, ipsum vocavit,
Yer Nicolaus meus wurde, quum die tertio fratrem meum sponsorem de-
‚ quarto absolutus. ©, Ealvins Ep. CLII. p. 290.
⸗
Calvin. 211
qu'il a publi€ contre les grands serviteurs de Dieu et
notamment contre Mr. Calvin, duquel se dit Proposant (der
Nicolaus meus) est tenu de maintenir I’honneur, comme.de son
Pasteur. — — — Diefe Diffamationen betrafen nichts als gelehrte
Discuffionen, ob Calvin oder Servet richtiger theologiſire. Dennoch
verhanbelte das weltliche Senatsforum barüber und war nady wenigen
Zagen fo inconfequent, den angeblich verleumdeten Calvin, welcher die
Anklagepunkte“) verfaßt hatte, felbft nebft ber übrigen von biefem
Gemaltigen geleiteten Stadtgeiftlichleit gegen ben armen Verhafteten
zur Ueberweiſung, dag nicht Calvin, fondern Er der ketzeriſch Irrende
fei, zum Disputiren. und Ketzermachen . vor ſich aufteetm zu laflen,
wo ‘Calvin die wohlanftändigen Ehrentitel: impudens, impius, nebulo,
‚canis, nicht außer Uebung kommen ließ. i ”
Klaͤglich iſt's, bei Mosheim S. 155 — 230, mit der größten Bes -
hutſamkeit in Rüdfiht auf den Parteiführer Calvin, entwidelt zu le⸗
fen, wie feit dem 14. Aug. 1553, der ohne Recht Verbaftete
in jenen meift nur contiovertirenden Verhoͤren durchgequaͤlt wurde,
Daß er das, was er fi) ganz anders auslegte, dem triumphirenden
Dogmatiften gegenüber für Kegerei erklären ſollte. Aus griechifchen
und lateinifhen SKicchenvdtern ließen die juridifhen Richter vor ſich
bebattiren,, ob Chriſtus in. den erften Jahrhunderten als ein ewiger
Sohn Gottes, oder nur feit feiner wundervollen Menfhwerbung als
dee Sohn des .ewigen Gottes, in welchem Gott felbit in
ber Dispofition oder Qualität als Logos erſchlenen fei, geglaubt würde.
Und diefe ſtets feflgehaltene Differenz nebft: der doch zur Widerlegung
dargebotenen. Meinung, daß man erſt Erwachſene ald glaubenskundig
taufen follte, ward das. Hauptverbrechen, um lebendig:. verbrannt zu
werben. . Mit Schauder lieft man, daß dem Fremdling ein Rechtsbei⸗
ftand abgeſchlagen, daß feine Vorftellung, wie nicht dee Staat, ſon⸗
‚dern nur jede SKieche. als Lehrgeſellſchaft den Andersiehrenden von fidy
ausweifen dürfe, nicht überlegt, daß fein Berufen auf den größern
Megierungsrath der :200, welcher die blutigen Geſetzze Kaifer Zuflinians
und Friedrichs II. gegen Ketzer abzumweifen befugt geweſen wäre, nicht
gehört wurde. Sehr natürlich flellte er dar, daß er eben fo gut dem
Galvin und feine befondern Lehrmeinungen des Kegereiverbrechend ans
*) Nec infidor, meo consilio dietatam esse Formulam (ac-
eusationis), qua patefieret aliquis in cansam ingressus. Cal-
ini Refutatio p. 695. und in Ep..152. ſchreibt Calvin ſchon: Spero,
capitale salteın judleinm . fore. Poenae vero —— remitti i cap 8*
arel proteſtirte ſelbſt gegen dieſe Nachgiebigkeit: enae atrocita-
3 leniri cupis, facis amici oflictum in —æe ibf homi m. Sed
te, quaeso, ita geras, he temere guivis audeat, nova Inferre
in publicun dogmeta- et tamdiu omnis turbare impune, ut
iste feeit. Karel vergaß die Frage: wodurch benn ex ein. Recht haͤtte, nova
dogwats nach Genfigu bringen? — ben biefen Farel gab man bem Ser⸗
vet zum Begleiter zum Feuertod. . 14°
212 Calvin.
Magen koͤnnte. Das Einzige war, daß man die welt⸗ und geiſtlichen
Obern von Zürich, Schaffhaufen, Bafel. und Bern um Ihe Butbüns
ten defragte,, während der arme Mann, ber an Leibſchaͤden litt, bis
in die Detoberlälte hinein im Criminalverhaft über die fchlechtefle
Behandlung .lamentirte. Ungeachtet nun felbft die Geiftlichleiten der
verwandten Santone nur auf weife Coercition, nit auf Todes⸗
ſtrafe Binbeuteten, fo entfchied fi dennoch in mehrtägigen Delibera
tionen zwifhen dem 18. und 26. October die Majoritdt des kleinen
Rath, ayans en bonne participation de conseil areo nos olloyens
st ayans inroqué le nom de Dieu gerade zur graufamfien Straft,
mit ſeinem Buche lebendig verbrannt zu werden.
Das Unglaubliche ſtuͤrzte Anfangs den heftigen Spanler in laute
Jammerklagen, welche Calvin für belluina stupiditas und tinen
Beweis anſah, daß es ihm nie mit der Religion Ernſt geweſen
ſei. Er bat um Enthauptung. Er befolgte ben Rath, Calpin (def
fen Macht ee nun mohl allzu groß dachte) ins Gefängnig kommen. zu
laſſen und um Verzeihung zu bitten. Diefer ſelbſt hätte zwar eime
gelindere Zodesart gewuͤnſchtz aber zur Aenderung bes Urtheild mar
es jebt zu fpät und Calvin vertheibigte nachher alles Geſchehene durd)
das, was er das Ihamlofe Beharren in ber Ketzerei nannte.
Nicht durch Calvins Uebergeugungen fich bekehten zu laſſen, war hab
beleidigendfte Crimen. “.
Ä Server überfland (dem 27. Dt. 1653, erſt 44 Jahre alt) eine
Hafbftündige Marter auf eine ſchreckliche Weite, immer nur den Sohn
bes ewigen Gottes anrufend. Vielen galt er alſo als Blutzeuge für
feine Lehre. Und das Wichtigfte in der Kolge war, daß das Unrecht,
kirchliche Ketzereien ſtaatsrechtlich zu beſtrafen, von nun an viel flärker
als je, und befonders in bem Gegenfag ber aufgellärteren Arminianer
ober Remonſtranten gegen bie dorbracenifchen Galviniften bis zu einer
faft allgemeinen Ueberzeugung ins Licht geſtellt wurde. Man kann
nichts dagegen fagen, ats daß Calvin nad ven er Vebergeugung
gehandelt habe. Aber eben deswegen ift es unferer Zeit unmärbig,
wenn Verſuche gemacht werben, einen Dann, der ſich aus bergleichen
Berirrungen der Ueberzeugung in ben eigenthümlicheren Theilen feines
Syſtems ind Licht empor zu heben nicht vermochte, auf's. Neue
zum Muſter) für evangelifche .Proteflanten aufzuftellen. Wegen bes
*) en nicht bie, weldye ben ehbeftinationstehrer Ideal für unfese
Pa aufzuftellen ige — derſt ſeine Defensio a fie uf
Tidei de sacra 'Trinitate cuntra prodigiosos errores Michaelis Serveti Hi-
span, ubi ostenditur, haereticos jure gladii coercendos osse et homina-
de Iromine hot tem Impie juste et merito sumtum Genevae supplicum.
Per nen en Ye Oliva "Roberti der pbani (1554. 8. 268 ©.) ihr
eu auflegen I ollen leid damit aber ſollte bie noch feltenere gl
yeltige Begenfährift FE ers Senensis Ir —es* n sint Derse-
rt et ommino —* cum eis agendum, maltorum ı tum veteraum, team
recentiorum sententiao“, wieder ercheinen. J
Calvin. 213
dem Sokrates gereichten Giftbechers fühlten ſich die Athenienſer bald
nachher ſo beſchaͤmt, daß von da an Niemand mehr eine Anklage
wegen der Religion gegen die Philoſophen vorzubringen wagte. Der
an Server verübte fanatiſche') Juſtizmord war zwar ſelbſt in ber
Schweiz noch nicht das letzte Beiſpiel dieſer Art; aber doch traf bei
demſelben ſoviel Auffallendes zuſammen, daß er immer von den Ver⸗
theidigern der Toleranz und Prüfungsfreiheit als das warnendſte Signal
vorangeflellt werden konnte, welches audy jetzt noch gegen die bei den
Freunden eines absolutum deoretum der Gnadenwahl fo leicht entſte⸗
benbe Verfolgungsfucht wie ein verfteinerndes Medufenhaupt wire
muß.
Calvin war nach dieſer Tragödie, wie man denken kann, noch
weit gefücchteter und für feinen Ereommunicationsswang und Kirchen»
bann heftiger. Seine Kirchendiscipin (Schade, daß darüber feine
vollftändige Beſchreibung bekannt ift!) wurde 1555 auf's Neue durch
Stimmenmehrheit der Bürger beftätigt, auch von ben vier verwandten
Gantonen wenigſtens nicht mehr beftritten. |
. Defto gefährlicher wurde der genfer Kreiftlaat von ber im
Frankreich vorherrfchenden Klerotratie deswegen bedroht, weil bie
bort und in England Verfolgten bier fo leicht Zufludht fanden. Genf
follte wieder unter favopifche Obermacht kommen. Nur der plöglicye,
Tod des Könige Heinrichs III. zerftörte diefed Buͤndniß, 15999. .
. Calvin febft kraͤnkelte feit 1556 immer häufiger. Nur bie-
enthaltſamſte Diät erhielt ihn bei ununterbrochenen Arbeiten, wodurch
ee bald gegen die aus Stalien über Zurich nach Polen ıc. fi verbreis-
tenden Antitrinitarier, bald gegen bie mehr im Volkstone wider die Kir
chenauctoritaͤt (Klerokratie) ſich auflehnenden Wiebertäufer, bald für feine '
myſterioͤſere Abendmahlsiehre felbft gegen Zwinglianer zu fampfen nicht,
müde wurde. Durch eine legte Bearbeitung feiner lateinifchen und franzoͤ⸗
ſiſchen Institutio christiana, welche in den an ſich lichten Artikeln und
in der antipapiftifchen Polemik fidy durch Klarheit auszeichnet, in ben
ihm eigenen Verwidelungen des abfolutiftifhen Verhältniffes Gottes gegen,
bie Menfchen aber um fo verwirrender ift, vollendete er fein meift augu⸗
ſtiniſch⸗ſcholaſtiſches Syſtem, welches audy auf feine Gommentare über
mehrere biblifhe Bücher, befonders bei dem Sohannesevangeliuns
(1553) und dem Nömerbrief Einfluß haben mußte. 1564 den 26. April
Iſt es nicht fanatifch und wugleid hochſt unwahr, daß Beza, Galvins
Anhänger, noch in feinem Leben Calvins ſchreibt: Sumtum opti-
mo Jure Generae de Serveto supplicium, non ut de sectario quodam, sed
7 de monstro ex mera impietate herrendisquehblaspbe-
miis confiato, quibus totos annos triginte tim voce tum soripto doelum
sc terram infecerat. Man hatte fi in dem Verhoͤren umfonft bemüht, auf
Gervet wenigftend einen Borwurf von Ausfänwelfungen gu bringen. Er war
wegen Leibeögebrechen nicht einmal dazu fähig. Weber feine — * aber
wendete er nicht an bie Menge, ſondern an Gelehrte, mm durch die Dis⸗
cuſſion ſeine Anſichten deſto mehr autzubilden.
214 Calvin. Camarilla.
verſammelte ſich noch der ganze Senat um ſein Sterbebett. Er be⸗
kannte beſonders, daß er ihnen wegen der Geduld gegen feine vehe-
mentia interdum immoderata zu danken habe. Selbſt Beza gefteht
fen galligtes *) Temperament. Er entfchlief ganz an Körperkräften ers
{höpft, aber immer noch geiftthätig den 27. Mai, faft Höjährig.
u Dr. Paulus,
Camarilla. Mit dieſem Namen bezeichnete man neuerlich in
Spanien bie Höflinge- und Guͤnſtlings⸗Partei, welche unter Ferdi⸗
nand VI. jene zum Theil wenigſtens geheime Megierung außer unb
über ben verfaffungemäßigen Organen der Staatsgewalt bildete und
wovon im Allgemeinen ſchon oben in den Artikeln, Befhlagnahme
und Lettres de cachet die Rede war. Der Diam⸗ Camarilla oder
Kaͤmmerchen ſtammt wahrſcheinlich von dem Cabinet neben den koͤnig⸗
lichen Saͤlen ber, mo die Regierungsſachen mit dem vertrauten Hof⸗
gefinde geheim verhandelt wurden. Die Sache ſelbſt oder eine geheime
Hof⸗, Gabinets = und Günftlings Regierung ift leider durchaus’ weder
Spanien nod) ber Zeit Ferdinands VII ausſchließlich eigen, fondern
fo alt, als abfolute Regierungen, und bei unträftigen oder ariſtokrati⸗
ſchen, ftändifchen Berfaffungen auch in biefen zumellen zu finden. Schon
Friedrich der Grofe bemerkte es“), daß nur fehr wenige unum⸗
ſchraͤnkte Fuͤrſten ſich freihalten können von dem Einfluß, ja von der
Herrfchaft ihrer Umgebungen, ihrer Schmeichlee und Guͤnſtlinge, ihrer
Derwandten, Frauen und Höflinge, und von ber Verſuchung, nad)
den in ihnen kuͤnſtlich erregten und unterhaltenen Anfihten und Meis
nungen und Leidenſchaften, auch auf unregelmäßige Welfe und nicht
durch die Öffentlichen Staatsbehörden die Regierungs= Gefchäfte zu bes
handeln. Es iſt diefes offenbar die allergefährlichfte Seite einer abfolus
ten Regierung, ohne volllommene Freiheit der öffentlichen Meinung
ober ohne Freiheit der Preſſe. Es iſt zunaͤchſt gefährlich für die Freiheit
des Fuͤrſten ſelbſt und für die Verwirklichung feiner guten Abfichten, fein
Volt gut und gerecht zu regieren. Blicke man in die Erfahrung und
in die Gefchichte, vorzüglich auch in die geheimen Gefchichten ber Höfe,
in die Denkſchriften der Hofleute! Welche feine, oft teuflifche Künfte
werben nicht, häufig vereint von vielem Perfonen, bie den Fürften
umgeben, angemenbet, um denſelben über fich felbft, über die Staates
verhältniffe und die Menfchen zu täufhen, und um bie Wahrheit aus
feiner Nähe zu verbannen, fie gehäffig oder gefährlich zu machen, und
*) „Fait omnino naturae ipsius temperamento d&yyolog, quod
vitium etiam auxerat laboriosissimum illud vitae genus.
. Doch fei er nicht zu weit gegangen, nisi tum commoveretur, cum de religionis
causa sgebatur, aut adversus praefractos homines ipsi negotium
erat.“ (Adami Vitae 'Theologor. 1653. 8. p.109.) Wer ſolchen DMeinungss
defpoten nicht nachgibt, ift dann ein praefractus homo, _
*)'Oeuvres Posth. T. II, p. 47 fig.
Gamarila. 215
fo ihn mit dem Scheine der Selbftregierung zu täufchen, durch ihn
aber weſentlich felbjt zu regieren und bie eignen Intereſſen und Leiden-
ſchaften zu befriedigen. Geht doch Stubium und Bemühung bes gans-
zen Lebens, alles täglihe und nächtlihe Sinnen dieſer Umgebenden
häufig nur auf die Meifterfchaft in diefem einzigen Punkt, unb wenigs
ſtens, wenn fie nicht felbft dirigiren Finnen, doch dahin, fich leicht und
ſchnell mit denen zu verftehen, und für einen Antheil ber. Vortheile
diejenigen zu unterftügen, Die jenes vermögen. Ein guter, wohlwol⸗
Inder Fuͤrſt, und ber auch ben Willen hatte, felbft zu regieren, wurde
bekanntlich von feinem allmaͤchtigen Sünftling vorzuͤglich dadurch regiert,
daß derfelbe ihm: zuerft das Gegentheil von bemjenigen mehr ‘oder min:
ber eifrig anrieth, mas er eigentlich felbft wollte, und dann dem Fürs
fin , wenn dieſer aus Freude am Selbftregieren und am Widerſpruch,
oder durd) eine Greatur bed Guͤnſtlings auf den rechten Weg geleitet,
basjenige vorfchlug, was der Günftling beabfichtigte, mit fcheinbarer
Huldigung gegen die hohe Megierungsmeisheit, und mit bem Schein
völliger Unbefangenheit zuſtimmte. Dabei wurden alle Perfonen, bie
dem Fürften nahten, durch den Günftling oder feine Greaturen vorbes
reitet zu demjenigen, was fie dem Kürften fagen durften, und wehe
ihnen, ober menigftens ihren: Wänfchen und Gefuchen, wenn fie etwa
ben armen Fürften durch unbequeme Auffchlüffe enttäufchten , wenn
fie nicht, ihn zu beträügen und zu untgarnen, mithalfen! Einem verz.
führerifhen Schmeichler und Geiftesüberlegnen, weltklugen Vertrauten
tft fchmwer zu widerftehen. Aber wenn von allen Seiten,.von den
verfchiedenften Menfchen, aufden einen Zweck einer Taͤuſchung und
Mipleitung zufammengewirtt und wegen der Unterbrüfs
ung der öffentlihen Wahrheit das Nesg nicht zerriffen
wird, aledann bedarf e8 faft eines Halbgottes, um nicht beherrfcht zu
werben. Im Scherz brachte man es durch ähnliches Zufammenmirken
fhon dahin, dag Menfchen mit gefunden Augen blau für grün hielten.
Und mie oft merden dieſe Zäufchungen durch Agenten unb erfaufte
Merkzeuge, oder wenigſtens durch Mitwirkung fremder Höfe und ihrer
Geſandten, und durch die Berichte der eigenen Gefandten in ber Fremde
und der von ihnen veranlaßten Briefe unterftügt, fo dag eine halbe
Welt für eine einzige XZäufhung zufammenzuflimmen fcheint.
Wahrlich alfo fehr viele unumfchräntte Monarchen herrfchten un
gleidy weniger felbft, als conftitutionelle, denen das Licht einer freien
Preſſe den ganzen Hof und Staat erleuchtet, benen die freie Stimme
der Wahrheit aller ehrlichen Bürger vernehmbar ift, und welche nies
mals zum bloßen Werkzeug fremder Pläne fchändlicher und verräthes
riſcher Höflinge, oder auch auswaͤrtiger Megierungen herabgemwürbigt
werden können.
Die Gefahren aber, welche für bie Staaten, für die Sürftenhäus
fer und nicht blos für Freiheit, Macht und Wohtftand, fondeen auch
für die Moralität der Völker aus ſolcher Camarilfa «Regierung hervor⸗
216 Camarilla. Gambacered.
gehen, biefe mögen bie Geſchichten und Revolutionen von Frankreich,
Spanien, Portugal und von noch manchem andern Staate bezeugen!
(S. audı oben Barri.) Es gibt kaum einen tieferen Pfahl von menſch⸗
licher Becborbenheit, von Hinterlift, Selbftfucht und Lüge, von fres
her Sittentofigkeit, von Meuchelmord und Raub gegen Kürften unb
Völker, als die Geſchichten der Höflingsregierungen. Diefe Gefahren
und Berwerflichkeiten aber find durch die außerorbentliche Gefchichte
feit der franzöfifhen Revolution auch den Völkern fo nahe gelegt, fo
offenbar und verhaft geworben, und es könnten irgendwo neue Unfälle,
neue Bermegungen und Aufregungen, nicht etwa von einzelnen freien
Meinungsdußerungen , fondern durch mögliche, größere Ereigniffe fo
ſchnell herbeigeführt werden, daß gerade’ diefe Erwägungen "wahren
und treuen Freunden und Dienern der Fuͤrſten und ber Voͤlker bie
fiyerften Mittel gegen diefe Gefahren, bie Freiheit der Wahrheit und
ferie kraͤftige Berfaffung am allerftärkflen empfehlen müffen. ’
' elder.
Cambaceres (Johann Sacob), geboren zu Montpellier ben
48. Ottober 1753, flammt von einer Familie, die ausgezeichnete Rechts⸗
gelehtte unter ihren Gliedern zählte, und hat ben Ruf, der fih an
dieſen Namen Enüpft, nicht nur behauptet, fonbern ihm auch durch bie
großen Dienfte, die er In diefem Sache geleiftet, neuen Glanz verlie⸗
ben. Dhme die Ereigniffe, welche die Revolution herbeigeführt, hätte
os ſech wahrfchernlich in dem befchräntten Kreife bewegt, der feinem Les
ben, durch ‚Geburt und Glüdsumftände, vorgezeihnet war. Die tiefe
Erſchuͤtterung, unter ber die alte Ordnung der Dinge in Frankreich
zuſammenbrach und ſich eine neue geftaltete, ſchuf auch ein neued Ges
filecht und neue Menfchen, melche bie alten Namen und. VBerhältniffe
verdrängten. Bei dem Ausbruche ber Revolution war er über bie ju⸗
gendlichen Jahre ber Begeiſterung, für welche die Natur ihn übrigens
auch nicht empfänglich geſchaffen hatte, hinaus. Er folgte mehr dem
Strome, von befien Wogen er fi) tragen und leiten ließ, al& daß er
auf ihre Richtung Einfluß zu gewinnen gefucht hätte. Seine Öffentliche
Laufbahn, die ihn zu den hoͤchſten Würden führte, begann mit dem
Jahre 1792, wo er in.den Convent trat. Früher hatte er nur unters
georbnete Stellen bekteibet, von denen bie eines Präfidenten bes peinlis
den Gerichts feines Departements bie bedeutendfte war. Ihn zeichnete
Keine von ben Eigenfhaften aus, die fi in Zeiten großer Bewegung,
m Tagen der Gefahr und Noth geltend machen. Auch im Convente
blieb er ohne fichtbaren Einfluß, ber fih nur in feiner Wirkfamteit
zur Verbeſſerung ber bürgerlichen Gefege und der Rechtspflege aͤußerte.
Es tag wohl .eben fo fehe in feinem Charakter, als in den Talenten,
die er ausgebildet hatte, bag er jedes entfchiedene Auftreten, ale Volks⸗
führer, Mebner unb Staatsmann, vermied, und ſich ats Mechtögelehrs
ter auf das Fach beſchraͤnkte, dem er ſich gewachſen fühlte. Bei den
ſtuͤrmiſchen Verhandlungen, zu denen ber Proceß des Könige führte,
in welchen feine Stimme Gewicht haben konnte, benahm er ſich mit
Cambacıre. 217
Nuger Vorfiht. Die Schuld des Könige gab er zu, beſtritt aber dem
Convente das Recht, ihn zu richten, flimmte dafür, den Monarchen
im Gefängniffe zu bewahren, und bie Todesſtrafe nur zu erkennen,
‚wenn die feindlichen Mächte zu beffen Befreiung den Krieg gegen Frank
reich führten. In Beziehung auf die unglüdlihe Familie Luds
wigs XVI. zeigte er Gefinnungen der Milde und Mäfigung, bie eine
ehrenvolle Anerkennung verdienen. Er bot feinen ganzen Einfluß auf,
um dem Monarchen die Erlaubniß ‚gu ermirken, fich mit feinen Räthen
und den Gliedern feiner Kamilie frei zu unterhalten, und fih einen
Beichtvater nad) feiner Neigung und feinem Glauben zu wählen. We⸗
niger treu blieb er fidy in feinem Benehmen gegen Dumouriez, befs
fen Vertheidigung er übernommen hatte, um einige Tage fpäter als
fein Anklaͤger aufzutreten. Indeſſen konnte eine beffere Einficht feine
Ueberzeugung geändert haben. Das Dauptverdienft, das fih Cams
baceres um fein Vaterland erwarb, befteht in dem Antheil, welchen
er an der Verbeſſerung der bürgerlichen Gefeggebung und ber Rechtes
pflege gehabt, ein Verdienft von hohem Werthe, das gewonnene Schlach⸗
ten aufmiegt, und ihm unter den erften Männern feiner Zeit eine wohls
verdiente Stelle ſichert. Das mar auch die Aufgabe feines Lebens, mit
beren Loͤſung er ſich unermuͤdlich befchäftigte, die aber unter Nap o⸗
Leon erft zu Stande kam. Schon im Sahre 1793 hatte der Eonvent
nem Ausichuffe, defien Mitglied Cambaceres geweſen, bie Abfaf-
fung eines Entwurfs zu einem bürgerlichen Geſetzbuche aufgetragen.
Auch ward ihm und bem berühmten Mechtögelehrten Merlin von
Douai die Revifion aller in Frankreich beftehenden Gefege zugewiefen.
Die politifhen Stürme, die das Land erfchütterten, die Kämpfe der .
Parteien, welche den Sisungsfaal der gefeßgebenden Berfammlung zum
Schlachtfelde machten und die dringende Wichtigkeit der dußern Anges
legenheiten ließen indeflen das große Werk zu keinem gebeihlihen Er⸗
folge kommen. Zu den Ereigniffen bed 9. Zhermidor, an welchem
Mobespierre mit feinen Freunden fiel, hat er nicht mitgewirkt, wie
ee allen ftürmifchen gefahrvollen Auftritten fremd geblieben ifl. Sein
Einfluß flieg mit der wiederkehrenden Ruhe und Maͤßigung, die auf
die heftige Bewegung und Uebertreibung folgten. Als Präfident bes
Convents ſprach er deffen Wünfche und Hoffnungen zur Wiederherftels
fung und Befeftigung des innern und dußern Friedens aus. In ders
felben Eigenfchaft fiel ihm ber Auftrag zu, eine Lobrede auf Roufs
feau zu halten, als deifen Afche im Pantheon beigefegt wurde. Er
that, was feines Amtes war, obgleich ſich zwifhen ihm und dem Buͤr⸗
ger von Genf keine nahe Verwandtſchaft finden mochte. Weberhaupt
befaß er das Vertrauen der Republitaner nicht in hohem Stade. Sein
unentichiebenes Benehmen bei dem Procefie des Königs, feine Worliebe
für die friedlichen Genüffe des Lebens, feine Abneigung gegen gewalts
fame Maßregeln und ertteme Mittel hatten Ihn den Parteien verdaͤch⸗
tig gemacht, welche bie Gefeggebung und bie Regierung theilten und
abmechfelnd beherrſchten. Die Parteien hatten ihn nicht verkannt.
218 Sambaceres.
Charter, Lebensweiſe, Beſchaͤftigung und Neigung befreumbeten ihn
der Monarchie, wenn er es audy nicht geftehen durfte. Unter ber
Herrfchuft des Directoriums, deſſen Schwäche den Leidenfchaften der
Partelen freien Spielraum gab, trat’er In den gewoͤhnten Kreis feiner
Wirkſamkeit zuruͤck und befchäftigte ſich, auch ald Mitglied des Rathes
der Fünfhundert, mit Gegenfländen ber bürgerlichen Geſetzgebung. Als
Sieyes in das Directorium kam, beftimmte er ihn zur Annahme
der Stelle eines Juſtizminiſters. Mer 18. Brumaire machte aller Uns
“ entfchiedenheit und bem Streite der Parteien ein Ende. Der Wille
eines Mannes, ber audy die Kraft befaß, zu Eönrien, was er wollte,
trat, einigend und ordnend, in bem Gewuͤhle der feindſeligen Intereſ⸗
ſen und Leidenſchaften auf, und, wie bei jenem roͤmiſchen Dichter auf
die Drohung des Goͤttes der Gewaͤſer, legten ſich die brauſenden Wo⸗
gen des empoͤrten Meeres auf fein Machtgebot. Bonaparte, ber ſei⸗
ne Leute kannte und fie zu wählen und zu behandeln wußte, gab ihm
bie Stelle des zweiten Conſuls der Republil, est waren bie guten
Tage für Sambaceres aufgegangen; es folgte ein Zuftand der Dinge,
der feiner Natur entfprah. Er Lonntei feine ausgezeichneten Talente,
feine Gefchäftstenntnig und feine gründliche Gelehrſamkeit im Fache
der Rechtswiſſenſchaft geltend machen, feiner Neigung zum Genuffe bes
Lebens nachgeben und fich zwiſchen die ſchweren Arbeiten feines Berufs
und bie gefelligen Freuben, zu benen befonders bie ber Tafel gehört
haben follen, theilen. An allen Verbeſſerungen in der bürgerlichen
Gefeggebung und der Gerechtigkeitspflege, die allein bie Regierung N as
poleon’s unfterblih machen würden, hatte Cambaceres einen
großen Antheil. Sowie ber Beherrfcher Frankreichs fih in feiner Macht
erhob und befeftigte, 309 ex den Freund, Gehülfen und Diener nad.
Er warb zur Würde eines Herzogs von Parma und Erzkanzlers des
Reiche befördert und fand auch Mittel, die Seinigen, Brüder und Nef⸗
fen, anftindig zu verforgen. Napoleon hat immer ein großes Vers
trauen aufihn gefegt, und man muß geftehen, er hat es nie getäufcht.
Bei der Rückkehr der Bourbons konnte er den Wirkungen ber Res
action nicht entgehen, und warb als Koͤnigsmoͤrder geächtet, er, den
die Königsmörder verbächtig und gefährlich fanden, weil er nicht uns
bedingt für den Tod Ludwigs XVI. geftimmt. Die Zeit feiner Vers
bannung brachte er zu Amfterdam und Brüffel zu. Die Lönigliche
Regierung nahm Indefien, eines Befjern belehrt, am 13. Mai 1818
ihr Urtheit zuruͤck und fegte ihn in den Genuß feiner bürgerlichen und
pofitifchen Rechte wieder ein. Cambaceres begab fih nad Paris,
wo er in aller Stille lebte und am 8. März 1824 verfchied. Er hat
feine Denkwuͤrdigkeiten gefchrieben , beren ſich bie Eöniglicye Regierung
bemächtigt haben fol, um ihre Bekanntmachung zu verhindern. Die
Stellung diefes Mannes, in einer fo hoͤchſt wichtigen, inhaltſchweren
Zeit, feine ruhige Beobachtungsgabe und leidenfchaftlofe Stimmung
berechtigten zu der günftigften Meinung von bem Inhalte und
MWerthe eined Werks, das, wenn es unverfälfht und unverflümmelt
Cambaceres. Ganada. 219
mitgetheilt werden follte, unter den intereſſanteſten Denkwuͤrdigkeiten
unferer Zeit eine ausgezeichnete Stelle einnehmen wird.
' — Weitzel.
Cameralwiſſenſchaft, Cammerguͤter u. ſ. w., ſ. un⸗
Cammer, ſ. Kammer.
Campo Formio, ſ. Friedensfhlüffe und franzoͤſi⸗
ſche Revolution.
: Canada. Im Norden ber Vereinigten Staaten von Nordame⸗
rika erftredt fi) vom 42’—520 N. Br. und vom 2839031209. 2.
das britifche Beſitzthum der beiden Canadas, das auf 12,000 D Mei⸗
len ungefähr 900,000 Einwohner enthält, von denen über zwei Dritt:
theile auf Untercanada kommen. Untercanada, vorzüglid von
Stanzofen bevölkert, bildet in feinen bewohnten Theilen das Tiefthal
bes St. Lorenzftromes, der, eine Strede lang den Namen Niagara,
eine andere den Namen Gataraqui führend, aus den großen Seen Ober⸗
canadas entfpringt, nad einem Laufe von 400 Meilen bei Cap Ro:
ſiers in einer Breite von 20 — 30 Meilen in das Meer ſtuͤrzt. Es
grenzt nordmeftlih an Meumales, nordöftiih an Labrador und Neu⸗
braunfchmweig, Öftlih und füblicdy an bie vereinigten Staaten, ſuͤdweſtlich
an Obercanada und umfaßt 7009 Mein. An Strömen, Seen
und Gebirgen reich, unter welchen letzteren die Lanbeshöhe das bedeu⸗
tendfte Gebirg von ganz Canada ift, aber auch von Wäldern und
Moräften erfüllt, ift e8 nur an den Seiten des St. Lorenzſtromes im
Gultur genommen, im Webrigen aber Wald und Wuͤſte. Trotz ber
Rauheit des Klimas, das in ftrengfter Winterkätte und heißen Soms
mern abmechfelt, erfreut es fich doch einer Eräftigen Vegetation, die es
mefentlih zur Aderbaucolonie werden lief. Es verforgt Weſtindien
mit Korn und Vieh, die britifche Flotte mit ihrem Bedarf an Bau>
holz, baut trefflihen Tabak, ift der Sitz des Pelzhandels und michtiger
Zifchereien und enthält einen Reichthum von nusbaren Mineralien,
samentlih Eifen, Kupfer, Blei, Schwefel und Steintohlen. Seine
wichtigften Pläge find: Quebek mit 30,000 und Montreal mit 28,000
Einwohnern. — Dbercanada, das mit feinen 5000 Meilen vors
züglic) die Umgebungen der vier großen canadifchen Seen begreift, ift
größtentheild von Briten bevölkert, hat ein mildes, treffliches Klima und
einen Auferft ergiebigen Boden. 1783 hatte es, mit Ausfchluß dee
Sndianer, kaum 5000, jegt über 250,000 Einwohner. Es grenzt an
Untercanada und an die vereinigten Staaten, gegen welche ed einen
bedeutenden Schmuggelhandel treibt. Die Hauptſtadt York am Ons
tariofee hat erft 4000, die wichtige Handelsſtadt Kingston, ber Stas
pelplag zwifchen Untercanada und dem nordweſtlichen Amerika, 5000
Einwohner. Doc, entftehen fortwährend neue Städte. — Die größten
Naturmerkmwürdigkeiten Canadas erzeugt fein gewaltiger Rieſenſtrom,
der an ber Grenze zwifchen Canada und Newport bei bem Hort Nia-
gara in einer Breite von 4730 Fuß 150 Fuß herabflürzt, jede SL
220 Canada. |
nute 670,000 Tonnen Waſſer herunterwälzend; ee iſt durchgehends
ſchiffbar, und 80. Meilen weit felbft für große Kauffahrteifhhiffe. Dann ,
die Seen, von benen der Öberfee 1100, der Huronenfee 872, ber Exie«
fee 370 und ber Ontariofee 248 DMeilen umfoßt, und beren Ver⸗
bindung theil® durch Fluͤſſe, theild durch Gandie vermittelt wird. —
Don Indianern leben noch etwa 30,000 auf herrlichen Jagdgruͤnden
in friedlihem Verkehr mit den civilifirten Bewohnern, bie Mefte der
ſechs Nationen, welche das Völkerbündnig der Irokeſen bildeten. Die
großen Huronen find ausgeftorben. Die Algonliner In Untercanaba
haben die Sitten der Weißen angenommen. Dagegen leben bie Abis
rondaks an den Seeufern im urſpruͤnglichen Zuftande.
Der größere Theil von Canada ift von Sranzofen und unter
feanzöfifchee Herrfchaft colonifirt worden. Doch haben die Engländer
das Verdienſt der erften, 1497 unter Xabotto erfolgten Entdedung
dieſer Küften. Als die Spanier etwas fpäter biefeibe Entdedung mach⸗
ten, nannten fie das Land Cabo de Nada (dde6 Land). Daher der.
Name. Die Rauheit des Klimas fchredite lange die Einwanderer ab
und nur einzelne Abenteurer wagten fi zum Behufe des Pelzhandels
in das von gemaltigen Indianerſtaͤmmen durthftreifte. Land, während
an den Küften von Zeit zu Zeit Fifchereifchiffe, namentlich Mobbenjdger,;
ſich einfanden. Doch machte 1534 der Franzoſe Cartier auf die Wich⸗
tigkeit des Landes aufmerffam.‘ Ein kleines Dorf, zehn Lieues von
Quebek, trägt noch feinen Namen. Seit 1608 ward die Colonifirung
des Landes von Frankreich betrichen; zuerft durch den Gouverneur
Champlain, - deffen Andenken nod in dem Namen eines jest zum
Gebiete der vereinigten Staaten gehörigen Sees erhalten wird. Unter»
canada erhielt damals den Namen Neu⸗Frankreich, und getrennt von
beiden Canadas mar der Öftlihe Kuͤſtenſtrich, Akadien, jetzt Neufchotts
land und Neubraunſchweig, damals auch zum Schuge ber Fiſchereien
mit fennzöfifchen Forts befegt. Canada wird zur Zeit feiner erften
Niederlaſſungen als ein unermeßliher Wald befchrieben, der nur uns
eheuren Heerden wilder Thiere und wenig zahmeren Menfchen zur
ohmung diente. Man hat häufig den damaligen Zuſtand Canadas,
wie uͤberhaupt deſſen Klimas und Bodenverhältnifje mit denen des alten
Germanien, bevor die Givilifation deſſen Rauheit milderte, verglichen;
nur war das Schickſal feinee Urbewohner weniger günfttg und bie
Neueuropaͤer hatten beffere Mittel, die Kraft der rohen Naturföhne gu
brechen, als die Römer. Die Indianer verfchuldeten ihre ſpaͤteres Elend
zuerſt an ihren thierifchen Landsleuten. Denn kaum hatten fie die ver»
derblihen Genüffe, die europäifche Handelſsleute mitbrachten, kennen ges
lernt und bemerkt, daß fie mit ben Erzeugniffen ihrer Jagd diefelben
eintaufchen könnten, als fie einen unausloͤſchlichen Keleg mit ben fried⸗
lichen Geſchlechtern des Malbes zu führen begannen. Tanaba war ba=
mals ungemein reich an pelztragenbden Thieren, und zwar an foldyen, bie
ben Europaͤern ſchon aus ben noͤrdlichen Ländern Europas und Afiens
befunnt, in Canada aber im vorzuͤglicher Menge amd Guͤte vorhanden
Canada. | 221
warm. Das Haar des canadifhen Iltis iſt dunkler, glaͤnzender und
feidenartiger , als da6 des europäifchen.” Dermeline fanden fi), wie bei
uns die Eichhoͤrnchen; Bobel, Marder, Luchfe, Fuͤchſe und Bären in
ziemlicher Menge. Vor Allem aber eine unermeßliche Zahl jenes friedli⸗
chen und klugen Gefchlechtes der Biber, das umgeftört neben den Sin
bianen, die es in Vielem beſchaͤmte, gelebt harte, bis bie Europaͤer
ihre farbigen Brüder darauf festen. Canada ift wefentli durch den
Pelzhandel bevöitert worden und biefer hatte auch auf feine politifchen
Verflechtungen vielfachen Einfluß. Nah und nad) verminderten fid)
Indianer und Thiere und Canada iſt jest wohl nach ein Hauptfig der
in dem Pelzhandel befchäftigten Capitalkraft, findet aber die Öbjecte dies
ſes Handelszweiges nicht mehr wefentlih in feinem eignen Gebiete.
Wäre daher fein Boden und Klima nicht ber Verbefferung durch Cultur
fo fähig geweſen, fo würbe es vielleicht wieder verlaffen worden fein.
So ater ging der Aderbau der Jagd und dem Handel nad, machte
fi allmaͤlig am Rande der Seen und Zlüffe ſeßhaft und bildete eine
folidere Grundlage ber Civilifation, als jene gemwagten Unternehmungen. —
Ueber Pelzbandel und Fifcherei kamen die Franzoſen frühzeitig mis Eng⸗
land, das alimdlig die maͤchtigſte Gewalt im noͤrdlichen Amerika ges
worden war, in Streitigkeiten. Namentlid) machten beide Staaten auf
Aladien Anſpruch, bis dies im Frieden von Breda (31. Juli 1667)
Frankreich zugeſprochen ward. Länger dauerten die Feindfeligkeiten über
tie Fiſchereien von Neufoundland. Die Grundſaͤtze ber Handels» und Co⸗
lonialpolitik waren damals noch weniger aufgeflärt als jetzt und fo konn⸗
ten ſich auf dem nördlichen Gontinente von Amerika unmoͤglich mehren
große Nationen nebeneinander vertragen. Die Dolländer waren ſchon
vertrieben, nun fragte es ſich, ob England ober Frankreich dert herr⸗
fhen follte. Die Gegenden um die großen canadiſchen Seen find lange
ber Schauplag Bleiner Kriege geroefen, weldye die englifhen und frans
söfifhen Truppen mit einander führten, oft während die Hauptflaaten
in Frieden maren;--ebenfo oft ber Tummelplatz vielfacher Mänte, durch
welche vorzuͤglich franzöfifhe Schlauhelt die Indianer zu gewinnen und
auf bie feindlichen Niederiaffungen zu beten fuchte. Die Verhinderung
des Schleichhandels war in jenen Gegenden unmoͤglich, und um fo thoͤ⸗
richter war es, daß man dort einem Prohibitivſyſtem huldigte, mas voͤl⸗
ig unausführbae war und einen raſtloſen Eleinen Schmugglerkrieg ans
ſchuͤrte. — Damals ward über die amerilanifhen Befisungen meift in
Europa entfhieben. Den utrechter Frieden Eonnte England bictiren und
bedimg fich darin bie Abtretung von Neufchottiand und der Juſel Neu⸗
foundland, fo wichtig Damals befonder6 für den Stockfiſchfang. Da aber
Erankreic der Antheil an diefem Erwerbszweig vorbehalten blieb, fo erwuch⸗
fen auch hieraus mandherlei neue Reibungen. Bedenk.icher mar noch der Arge
wohn, der durch die Bemühungen der Franzoſen erweckt wurde, ihre
canadifhen Befisungen duch eine Reihe von Forts und feflen Block
werten mit Louifiana in Verbindung. zu fegen. Als nun in Europe
dere Kampf zwifhen England und Frankreich, durch die Schuld des letz⸗
‚222 Canada.
teren, abermals ausbrach, fo unternahm auch In Ameilka eine britifche
Armee die Eroberung der franzöfifchen WBefigungen. Im Jull 1758
ward Cap Breton, 1759 durch den am 13. September unter Gerieral
Wolff erfochtenen Sieg bei Quebek Canada erobert. Der Feldherr ers
kaufte den Sieg mit feinem Leben. Seinem Andenken ift noch 1835
ein Dentitein gefegt worden... Im parifer Frieden vom 10. Februar
1763 trat Frankreich ganz Canada nebſt Cap Breton an England ab,
entfagte allen Anfprüchen auf Neufchottland und zu Bunften Spaniens
auch dem Befige von Louiſiana, wofür Spanien beide Florida -an Eng»
and abtrat. Go biieb damals Frankreich von allen feinen Befigungen
auf dem Feſtlande Amerikas nur Guiana. 3
Obwohl bie damalige Bevoͤlkerung Canadas durchgaͤngig franzoͤſi⸗
ſcher Abkunft war, ſo hat ſie doch den Uebergang unter engliſche Herr⸗
ſchaft nicht ungern geſehen, oder wenigſtens ſich nach wenigen Jahren
willig hineingefuͤgtt. Nur im eignen Lande mag ber Franzoſe fremde
Herrſchaft nicht dulden. Einmal außerhatb Frankreichs angefiedelt, weiß
er den Vortheil befferer Megterung mohl zu wuͤrdigen. In der That
aber waren bie Canadier von dem franzöfifchen Gouvernement fehr bes
drüdt, fie waren fo behandelt worden, wie diefes damals den Kleinen
Bürger und Bauer im eignen Lande behandelte. Wohl mußte das harte
Wort einen furhtbaren Nachhall finden, das General Montcalm zu eb
'nem duch bie Militairfrohnen erfchöpften Coloniſten ſprach, der ihm
fußfaͤllig vorſtellte, wie er und ſeine Nachbarn bereits Alles hergegeben
haͤtten, und ihm ſeine beiden letzten Pferde den Abend vorher vor Muͤ⸗
digkeit gefallen wären. „Nun,“ ſagte der General mit finſtrem Blicke
und indem er mit feinem Ludwigskreuz ſpielte,, Ihr habt ja noch ihre
Häute behalten und damit könnt Ihr wahrhaftig zufrieden fein.” In
diefer Behandlung lag der wahre Grund der Belchwerden, die man das
. mals in Frankreich anftellte, daß nämlich, mit Ausnahme der Pelzhaͤnd⸗
fer, Bein Stanzofe in Canada reich werbe. Die immertwährenden Kriege,
die defpotifche Regierung und bie Habfucht der Geiſtlichkeit erfchöpften
das Land und erſtickten bei den Einwohnern den Trieb zum Fleiße. Der
Ganadier mußte fih gluͤcklich ſchaͤtzen, wenn er nad) Bezahlung ber Zehn⸗
tm und Abgaben noch einen Beinen Vorrath für den Winter zuruͤckle⸗
gen konnte. — Mit der englifchen Verwaltung veränderte ſich dies Als
led. Die: Engländer, die diefe Goloniften ohnehin williger fanden; als
ihre eignen Landsleute, übten Gefeklichkeit; fie waren fiug genug, ‚die na⸗
tionellen Vorurtheile, die Ehrenrechte der Seigneurs, die Sprahe und
Sitte zu achten, und hüteten ſich namentlich, bie religisfen Anfichten
eines ftreng Fatholifchen Volkes zu verlegen. Schon 1774 warb die Teſt⸗
acte in Canada abgeſchafft und dies vorsüglicd trug dazu bei, daß Dife
fenter8 und katholiſche Briten, daß namentlich Schotten und Irlaͤnder
fidy in Obercanada anfiedelten, wo ihnen die Rechte offen ftanden, welche
Intoleranz im Mutterlande verweigerte. So bildete ſich dort ein ſchoͤ⸗
nes Verdaͤltniß gegenfeitigee Duldung, wie e6 zur damaligen Zeit in
Europa fo feltm war. Die Kathedrallicche von Quebek wurbe von bei-
Canada. 223
ben Gonfeffionen in freumnblicher Eintracht benutzt. Dermed würden bie
Ganabdier ſich vielleicht. den Vereinigten Staaten zur Zelt der amerikani⸗
ſchen Revolution angeſchloſſen haben, wenn fie die Kraft gehabt hätten,
‚felbft einen Streich dafür zu thun, ſtatt abzuwarten, daß ihre Nachbarn
fie eroberten. Letzteres warb auch von den infurgieten Provinzialen vers
ſucht, die gar wohl fühlten, daß ein fo mächtiger Stuützpunkt, wie die
Canadas den militairifhen Operatienen der Engländer darboten, ihnen
bei dem begonnenen Kriege ſehr gefährlich werden muͤſſe. Bereits ins
DOctober 1775 fielen die Generale Arnold und Montgomery in Canada
ein und, belagerten Quebek. Aber der General Garleton vereitelte die
Unternehmung durch feine heibenmütbige.. Vertheidigung diefer Feſtung.
Am Mai 1776 mußten die Amerifaner wieder abziehen, nachdem. ber
tapfte und Eriegstundige General Montgomery felbft bei einem &turme
gefallen war. Die natürliche Befchaffenheit jener Länder erleichtert jeden
Vertheidigungskrieg und erfchwert jeden Angriffskrieg. Darum tennten
weder bit Engländer von Canada aus die infurgirten Provinzen, noch
biefe Canada erobern. In beiden Faͤllen ſtritt das Land für den Ver⸗
theidiger. Canada ward nun der Waffenplag, von welchem aus die Eng⸗
länder in die Vereinigten Staaten einzubringen verfuchten. : Dort fans
melte fi) namentlich die Erpebition des General Burgoyne, welche mit
der Abfchneidung und Gefangennehmung dieſes ganzen ausgezeichneten
-Corps endigte. Doch biieb Canada unbefteitten den Engländern. —
Durch Erfahrung gewigigt, fuchten dann auch die Engländer. biefe Pros
vinzen durch freifinnige Anordnung der Verfaffung und Verwaltung in
ihrer Zreue zu befeftigen. Schon 1788 gab das britifde Parlament
das Belleuerungsrecht, mit - Ausnahme der Handelsreglements, für die
Ganadas auf. Im Fahre 1791 warb durch eine Parlamentsacte bie
BVerfaffung von Unter: und Obercanada beflimmt. In Untercanada ift
die erecutive Gewalt in ben Händen eines Generals Gouverneurs, dem
die Unter sGouverneure von Obercanada, Neufchottland, Neubraunſchweig
und Prinz Eduard :Sinfel nur in militairifcher Beziehung untergeben find.
Jedem Gouverneur in beiden Canadas fteht ein Parlament zur Seite,
das in zwei Kammern zerfällt. Die erfte, das Council, befteht in Ober⸗
canada aus fieben, in Untercanada aus funfzehn Mitgliedern und wird
vom Gouverneur auf Lebenszeit ernannt. Die zweite, die Affembiy,
in Obercanaba aus ſechzehn, in Untercanada aus funfzig Mitgliedern
beftehend, wird alle vier Jahre von den Grundeigenthuͤmern erwählt *) ;
es müßte denn der Gouverneur bie Affembiy auflöfen, wo fogleich eine
Neuwahl. erfolgt. Bills, die von beiden Häufern und vom Gouverneur
genehmigt worden, werden zum Gefege und bleiben es, wenn nicht der
König in zwei Jahren fein Mißfallen bezeigt. Die richterlihe Gemalt
iſt unabhängig und nach englifcher Art gebildet, jedoch in Untercanada
mit treuer Bewahrung der alten franzöfifhen Gewohnheitsrechte. Unter
2) Eine Eigenheit biefer Berfaffung ift es, daß auch bie Frauen
Stimmredht haben.
224 Canada.
dem General⸗Gouverneur von Canada ſtehen auch bie Handelsfactorrien
in Neuwales und in den weſtlichen Binnenlaͤndern ber freien Indianer.
.. Sn Untercanada befennt fih die Mehrzahl der Einwohner zur katholl⸗
(hen Religion, bie ihre Bifhöfe zu Quebek und zu Montreal hat.
In Quebek iſt für. die Befagung, die Gouvernements s Beamten und bie
englifchen Einwohner ein Bisthum der englifhen Hochkirche. Das Land
ift in vier Diſtricte getheilt, die in 21 Graffdjaften zerfallen. Pa
Dbercanadba iſt die Epifcopalliche die herrſchende; doch genießen bie
Diffenters, vorzuͤglich aus Methodiften und Presbyterianern beftehend,
des gefeglichen Schuges. Obercanada zerfällt in 10 Diſtricte und biefe
theilen fi in 19 Graffchaften. In Untercanaba iſt franzöfifhe Sprache
und Sitte vorherefhend. Die Franzoſen find überall liebenswürdig, fü
batd fie fich des. Gedankens an Herrſchaft entfchlagen haben, und fo haben
ſich in Canada gerade die für das gefellige Leben angenehmften Seiten
des franzöfifhen Charakters, Gaftfreiheit, ‚herzliche Froͤhlichkeit, Gefaͤllig⸗
Zeit, lebendige Theilnahme und jene Bonhommie erhalten, für welche
die deutſche Sprache kein völlig entfprechendes Wort hat. In Obertds
nada dagegen wohnen im Wefentlihen nur Engländer. "Die neue Ber
faſſung, bie fo viel mehr gab, als die franzöfifchen Canadier unter ihrer
nationellen Megierung genoffen hatten, und die Vorſicht, 'mit weiber .
die unter eime ganz franzöfifche Bevoͤlkerung verfegten früheren Gouvet⸗
neurs fie. handhabten, befriedigten alle Anfprüche, und die Anhaͤnglichkeit
der Tanadier befeftigte ſich dergeftalt, daß fie auch die Probe bes Krieges
zwiſchen England und den Vereinigten Staaten von 1814 beftehen
konnte, ber wefentlih an den Grenzen und auf den Seen von Canada
geführt wurde. Der Friede von Gent (24. December 1814) .behisit eine
Grenzberichtigung nad der Seite von Canada vor. . An dem Kriege
nahmen auch die canadiſchen Indianer, die von den Engländern ſtets mit
größerer Billigkeit behandelt worden find, als von den Amerikanern, leb⸗
haften Antheil. Webrigens follen die Indianer, hefonders die. Aigenkiner
in 'Untercaneba, die Erinnerung an die franzöfifche Zeit noch treu und
mit Vorliebe bewahren, da bie Sranzofen dem wilden Leben günftiger
getwefen fein und fie.damals guten Abfag für ihre Pelzwaaren fanden.
In der That mögen die Sranzofen bie Wilden richtiger behandeln, nis
die civilifirten VBefiegten. Jene betrachten fie ald Kinder, als Natur
merkwuͤrdigkeiten und laſſen fie ihren feltfamen Bang gehen. — Nah
dem ‚Kriege vermehrte ſich auch die eugliſche Bevoͤlkerung von Unterca⸗
nada und darin lag eine Haupturſache mancher Mißhelligkeiten, die zwi⸗
ſchen den Vertretern des Volks und dem Gouuernement ausbrachen.
Fuͤr den engliſchen Tiers Parti gehört Die Herrſchaft der Hochkirche zum
Begriffe von Freiheit. und Unabhängigkeit, und Engländer von der Art,
wie fie die Verfaſſung Altenglands bedroht glauben; wenn bie iriſchen
Katholiten emankipirt mwärden, mochten. nuc mit Widerwillen fehen, baf
in Canada franzöfifches Volksthum und katholiſche Neligion ihr Recht
erhielten. Nur mochten auch bie Gouverneurs zuweilen etwas unvorſich⸗
tiger handeln, weil fie In der englifchen Bevölkerung. eine Stge fanden.
Canada. 2 225
Haben doch auch in Itland die 800,000 Giſcopalen fo manchen torpiftis
(en Vicekoͤnig ermuthigt, den 6 Millionen: Rrog zu bieten. Das
her entflanden Meibungen, veranlagt duch ſchwache Verſuche der engli⸗
fehen Eanadier gegen die Mechte ihrer franzoͤſifchen Landsieuie und mehe
noch durch die Beforgniffe der Letzteren vor ſolchen Verſuchen, zu denen
fie wenigftens den Willen vorauszufegen Grund hatten. Die Oppofition
der franzöfifhen Partei, an deren Spige namentlidy in neuerer Zeit eig
weicher Golonift, Namens Pepineau, getreten ift, war um ſo natürlicher,
aber auch um fo-gefährlicher, je näher ſich Schug und Huͤlfe in ber
Nachbarſchaft der Vereinigten Staaten darbot. Im Parlamente zu
London fanden ihre Gegner, ſelbſt bei, gewiſſen Reformers, zuweilen wil⸗
ligeres Gehör als fie ſelbſt, da engliſche Voruttheile ſich in das Spiel
wiſchten. Indeß bie Verwaltung der Whigs war uͤber dieſe Vorurtheile
erhaben und fo ward 1835 der Graf von Gosforb ale außerordentlicher
Bevollmächtigter der Krone mit zwei Mitcommiffarien nah Canada abr
gefendet, deſſen eben fo fefte als verföhnende Schritte zwar ein großes
Geſchrei der englifhen Partei, aber auch einen. fehe günftigen Eindrud
bei: der franzöfifhen Bevölkerung erregt haben. In Obercanada ift nies
mals Unzufriedenheit geweſen. Einkünfte zieht der englifche Staat von der
Canadas nicht ; vielmehr überfieigen hie Kronausgaben die Einnahmen.
So bat England eigentlich kein bringendes Intereſſe an dem Bes
fige diefer Länder, wenigſtens feines, das von ‚ewiger Dauer fein müßte.
Daß ed‘ ſich mit wichtigen Beblrfniffen aus Canada verforgt, das ift
nue zum Vortheil des legteren, und wuͤrde ihm auch auf dem lege
des freien Handelsverkehrs möglich ‚fein. Daß es von dort aus einen
einträglichen Schmuggelhanbel nad) ben Vereinigten Staaten treibt, das
iſt nur die Schuld des Tarifs dieſer legteren und wird mit deſſen Aen⸗
derung fich Ändern. Allerdings hängt von dem Beſitze Caradas zum
Theil die Sicherheit der Übrigen britifhen Beſitzungen in diefen Gegen»
den ab. Aber der ganze Colonialbeſitz hört auf, werthvoll zu fein, ſo⸗
bald die civilifirten Staaten jener freifinnigen Handelspolitik hulbigem,
die, auf dem Grundſatz der Gegenfeitigkeit beruhend, dem Monopol ent
fagt. Yuf der andern Seite müßten ſehr große Mißgriffe von Selten
des englifhen Gouvernements gefcheben, wenn hiefe Provinzen ernſtlich
dem Beifpiele der Bereinigten Staaten folgen und ſich von einem Staate
losreißen follten, dee wenigftens nicht auf ihre Koften Vortheile ſucht,
der ihren Einwohnern die Vortheile eröffnet, Mitbuͤrger eines Weltvolks
"gu fein, dee fie mit der ganzen Macht Großbritanniens beſchuͤtzt und
bei ſicherer Erhaltung ber Freiheit doch auch dem Staatsleben den. Cha>
rakter dee Feſtigkeit und Ordnung verleibt. Diefe Canadier regieren ſich
im Wefentlichen felbft, fo gut wie ihre Nachbarn. . Der Gouverneur. iſt
beingend veranlaßt, fie mit Vorſicht zu behandeln, ba er eine ſchwete
Berantwortlichkeit in England zu fürchten hat, wenn anbedachte Schritte
zu Unheil führen folltm. Im Nothfall können Recourſe nor Englands
Krone und Parlament gebracht werden. Auf ber anderw Geite wird
dem Gouverneur das gebührenbe Anſehen nicht leicht entzogen, ba Fr
Otaats sEeriton. LII. 15
226 Canada. -Banning.
durch die britifche Macht: geftiigt iſt und als ber Delegat ber Tönigfichen
Gewalt erfcheint, die auf die Voͤlker nie ohne Einfluß bleibt. Der hoͤchſte
Beherrfcher endlich iſt entfernt, allen kleinlichen Imtereffen entrüdt,
hat Leine Gelegenheit, dem Einzelnen wehe ju thım und tritt nur hei
großen und wichtigen Veranlaffungen, nach teifer, forglicher Erwägung hans
deind, in der Megel alfo fhügend und fördernd ein. Das Verhaͤltniß
erinnert einigermaßen am jene Politik gewiſſer italtenifcher Republiken des
Mittelalters, die fich ihren Pobefta allemal vom Auslande kommen lies
Ben, dadurch allen Mahlumtrieben ein Ende zu mahen. Dafür hatten
fie dann zu- beforgen,. daß der fiembe Pobefta ſich mit Gewalt auf
feinem Poften- zu behaupten ſuchte. Auch von bdiefer Gefahr find Laͤn⸗
der befreit, die fi) von dem Stellvertreter eines Königs regieren lafien. —
Die engfifhe Regierung ſchenkt auch den Canadas Vertrauen und ber
befte Beweis davon iſt die dem Verfahren mancher anderer Staaten ganz
entgegengefeste Mafregel, daß zu den Belegungstruppen in dem katho⸗
liſchen Untercanada geößtentheild katholiſche Irlaͤnder gemählt werben, da⸗
mit ja kein Gegenſatz zwifhen Soldaten und Bürgern entſtehe. Die
Engländer find über die Politik hinaus, die nur darauf denkt, ein recht flars
tes Schugmittel gegen eine Gefahr zu rüften, ohne zu erwägen, daß
biefes Drittel vielteicht die Gefahr erft recht vermehrt und hervorruft.
Das wichtigfte Werk für bie neuere Statiftit von Canada, mit
trefflichen Karten begleitet, iſt: A topographical description of the pro-
vince of Lower Canada with remarks on Upper Canada, by Jos.
Bouchette; Lond. 1815. 4. F. Buͤlau.
Ganäte, f. Eifenbahnen und Candle.
Ganning (Georg) ward den 11. April 1770 zu London gebo-
ten, und hatte ſich weder einer vornehmen Abkunft, noch vorzüglicher
Gluͤcksguͤter zu erfreuen, da feine Eltern von gemeiner Geburt und
ohne Vermögen waren. Sein Vater hatte fogar das Unglüd, enterbt
zu werden, weil er ein fehöne® aber armes Mäddyen heirathete, und
ftarb bald nach der Niederkunft feiner liebenswuͤrdigen Gattin mit uns
ſerm Canning. Diefe fah ſich genäthigt, die Bühne ald Schau:
fpielerin zu betreten, um ſich felbft und ihr Kind zu ernähren. Diefer
Umftand warb fpäter, da Canning eine hohe Stellung im Staate
gewonnen hatte, von ber flarren und eingebildeten Ariſtokratie vielfältig
benugt, um ben Dann zu kraͤnken und zu demüthigen, der Alles fich
ſelbſt verdankte. Ein großmüthiger Oheim nahm fich des Zungen, der
gluͤckliche Anlagen zeigte, mit aufopfeender Freundfchaft an und forgte
für feine frühere Bädung. Er machte rafche Zortfchritte, und verfuchte
ſich auf der Schule ſchon als Schriftfteller, indem er mit einigen
Freunden ein periodifhes Blatt, unter dem Titel Mikrokoſmus,
herausgab. Mit dem 18. Jahre bezog er bie Univerfität Orford, wo
er feine Stubien mit gleichem Eifer fortfegte und mit dem nachherigen
Minifter Lord Liverpool ein freundfchaftliches Verhaͤltniß fchloß, das
nicht ohne Einfluß auf fein Öffentliches Leben geblieben if. Won Or:
ford begab fi) Canning nad) London, um als Anwalt fin Gluͤck
Canning. 227
zu verſuchen, eine Laufbahn, bie in England, wie in allen conſtitutio⸗
nellen Staaten, einen Mann ohne Geburt und Vermögen, aber von
Talent und Thätigkeit am ficherften zu Anfehen, Einfluß und Wohl⸗
babenheit führt. Das Schickſal, eine Verkettung von Umftänden und
Verhaͤltniſſen, die wir fo nennen, weil fie außer bem Bereiche unferer
Berechnung liegen, aber in dem Leben ber bedeutenden und unbes
deutenden Menfchen eine fo große Rolle ſpielen, fügte es andere.
Es war gerade in ber Zeit, wo .die frangöfifche Revolution der Welt
eine neue Zukunft verfünbete, die Bruſt des Freundes der Menfchheit
mit jugendlihen Hoffnungen erfüllte und bie VBeforgniffe der Miß⸗
bräuche dee Gewalt und ber angeerbten Vorzüge weckte. Es begann
dee Kampf, zu dem bie gebildete Welt ſich in zwei feindliche Deere
fpaltete, und in welchem fie ſich faft ein halbes Jahrhundert ermuͤdet
und verbfutet hat, und dem noch ein halbes -Iahrhundert: vol Ermüs
dung und Verblutung ohne Entfcheidung folgen kann, der Kampf der
Herrfchaft der Ueberlieferung und der Selbfibeflimmung, bes Beſtehen⸗
den, wie e8 die Vergangenheit geftaltet hat, und: des Werdenden, mie
e8 bie Gegenwart fordert. Die verfchiedeniten Gefinnungen,, Gefühle
und Intereſſen wurden in ihrer ganzen Ziefe aufgeregt, die Grunbs
lagen der gefellfchaftlihen Ordnung erfchättert und "bedroht. Die abs
fotute Fürftenmacht, die Ariftofratie mit ihren Vorrechten und Bes
günftigungen erkannten die Gefahr, und boten alle Mittel auf,
fie abzumenden. Bernunft und Vorurtheil, Glaube und Aberglaube,
Mahrheit und Lüge, Redlichkeit und Taͤuſchung wurden nicht vers
fhmäht, und dienten als Waffen, um fidy des Sieges zu verfichern.
Und da die Revolution, im tollen Uebermaaße, das Ziel weit übers
fprang, und in der Verzweiflung ſich zum Aeußerften entſchloß, was
fie für ein Recht der Nothwehr hielt, da wendete ſich die Menfchlichs
Leit entfegt von dem gräßlihen Schaufpiele, und. die Geängftigten vers
zweifelten. Die englifhe Ariftokratie, die wohl erkannte, was auf dem
Spiele ftand, benuste diefe Stimmung, mweldye die Uebertreibungen in
Frankreich, denen fie nicht fremd geblieben mar, in Europa erzeugt
hatten und führte e8: zum Kampfe gegen bie Neuerung. Die alten
Nationalvorurtheile, Eiferfucht, Eitelkeit und Lünftlich gefchaffene Ins
tereffen, durch die man die Völker zu trennen gewußt hatte, ung fid)
durch das Xheilen das Herrfchen zu erleichtern, begünftigten bie Ents
wuͤrfe der bevorrechteten Claſſen und ber privilegirten Gefchlechter. We⸗
nige Männer waren dur Einfiht, Charakterftärke, freie Anficht ber
leidenfchaftlic, gereizten Zeit hoc) genug geftellt, um das Vorübergehenbde
von dem Nothwendigen und Bleibenden in den Ereigniſſen zu unters
fheiden. Zu den Seltenen. gehörte For; fo groß an Geift als an
Gemüth, fo ausgezeichnet duch die Tiefe feiner Einfiht als durch
das MWohlmollen feines Gefühle, mas verbunden allein den wahrhaft
großen Mann madht. Die auserlefene Schaar, bie ſich ihm anſchloß,
war nicht bedeutend an Zahl, wenn audh an Kraft. An der Spitze
der Gegenpartei fland als Fuͤhrer Pitt, ein Broßer ‚Staatsmann,
1
228 Canning.
wenn man nänlid ein ſolcher fen kann, ohne Achtung vor ber’
Menfhheit und ohne Liebe zum Volle, weil man nur feinen Staat
Eennt, und diefen nicht in dee Gefammtheit, ſondern In Einzelnen
oder in abgeſchloſſenen Körperfchaften fieht. Neben Pitt, der ein
mächtiger Geiſt mit engherzigen Gefinnungen war, fland Burke, der
ein großer Menſch germefen wäre, wenn man «8 mit großen Mitteln
fein Eönnte, die gemeinen Zwecken dienen. Diefen Männern und ih⸗
ver Sache ſchloß fih Canning an, ob aus Ueberzeugung, ober durch
feine Lage beftimmt, in welcher er bie geeignetften Mittel wählen zu
möffen glaubte, um fein Gluͤck zu machen, barüber hätte nur er felbft
uns aufflären koͤnnen. Pitt ließ ihn durch den verfaulten Flecken
Newport zum Mitgliede bes Unterhaufes ernennen, in welches er 1793
getreten iſt. Faſt ein ganzes Bahr beobachtete er das tieffte Still
felgen, und trat zum erftenmal bei der Erörterung eines Antrages
auf, der den Zweck hatte, dem Könige von Sardinien Hülfsgelder ge
sen Frankreich zu zahlen. Er ſprach fih für die Nothwendigkeit
aus, die neue Ordnung ber Dinge, bie Kortfchritte ber Revolution,
die Entwürfe ber Republik aus. allen Kräften zu befämpfen, und bie
fen Kampf auf Leben und Tod zu führen. Es war das ewige wi-
derliche Thema, das Pitt, und befonders Burke und ihre Sreunde
auf taufendfache Weife variirt hatten, und in wechfelnden Variationen
beftändig mieberholten. Allerdings war, mas in Frankreich gefchah,
tm hoͤchſten Grade tadelnswerth und abfcheulich ; aber man verabfcheute
diefed Abfcheuliche weniger, ald man zu nicht lobenswertherem Zwecke
Vortheil aus ihm zu ziehen ſuchte. Canning's Talente blieben nicht
unbemerkt und feine: Verdienfte nicht unbelohnt; er warb zum Uns
terftaatsfecretär im Departement ber auswärtigen Angelegenheiten ers
nannt, und blieb an biefer Stelle bis zum Austritte Pitt's aus ber
Verwaltung im Jahre 1801. In biefer ganzen Zeit, wo er nur
unter der Leitung feines großen Gönners zu handeln fchien, befchräntte
fid) feine ganze parlamentarifche Thätigkeit auf die Unterflügung ber
minifteriellen Anträge und die Rechtfertigung der Maßregeln ber Ver⸗
maltung Nur einmal richtete er fich in feiner eigenthuͤmlichen Kraft
auf, bie den ſpaͤter Canning in feiner ganzen Größe ahnen lief,
einmal, da ber Gegenſtand fein tieffühlendes Gemüth ergriff und feine
gerwandte Rede mit unmiderftehlicher Macht befeelte. Es galt‘ bie Abs
ſchaffung der Sklaverei der Neger.
Ganning fand bei feinen mannichfaltigen Arbeiten im Staats⸗
dienſte noch Zeit zu literariſchen Beſchaͤftigungen, die groͤßtentheils in
dichteriſchen Ergießungen beſtanden, zu denen ihn ſeine Neigung zur
Poeſie hinzog. Wenn man in denſelben auch nicht immer den Zweck
billigen kann, dann muß man doch die Leichtigkeit ber Behandlung und
die Schärfe des Witzes anerkennen, ber oft nicht ohne Bosheit iſt.
Er legte die Erzeugniffe feinee Muße in einer Zeitfchrift nieder, deren
Lite — Anti-gallican — ihre Beflimmung bezeichnete. Ale Ans
‚griffe waren auf Frankreich: gerichtet, unb bie Entwürfe, bie in dieſem
Ganning. 229
Staate, ber Im ſchmerzlichen Kampfe um feine Wiedergeburt begriffen
war, durch einander gohren, ſich verbrängten und in abenteuerlichen
Vorftelungen und Anſchlaͤgen fi nur zu oft überboten, gaben Gans
ning reihen Stoff. Er benugte denfelben nicht feltent auf eine uns
großmüthige Weiſe. Der Glaube an eine Ummandlung unfere® Ges
ſchlechtes, an ein Kortfchreiten im Beſſern, an die Erreihung bes
Ideals der Menfchheit, Vernunft, Recht und Kreiheit, war ihm albern,
lächerlich, wenigftens in der Art, wie die franzöfifche Philänthropie ber
Zeit es darſtellte und zu verwirklichen gedachte. In dieſelbe Zeit fälle
auch die Vermählung Canning's mit einer Tochter des Generals
Scott, die ihm ein Vermögen von mehr als einer Million Gulden
zubrachte. Der alte Scott, der feine englifhen Eigenthümtlichkeiten
und Launen in hohem Grabe hatte, wollte nicht, daß eine feiner bei
den Töchter einen Peer heirathete, und feste auf bie Uebertretung ſei⸗
nes Verbotes Enterbung. Indeſſen pflüdte die Schweſter der Gemahlin
Canning's die verbotene Frucht, und, dem legten Willen des Va⸗
ters zufolge, fiel das ganze Vermögen, das heißt, das Doppelte ber
angeführten Summe, der gehorfamen Tochter zu. Geltfames Spiel
menfchlichee Einfälle Canning's Vater war enterbt worden, weil
ee feine Gattin unter feinem Stande und Vermögen wählte ; bie Toch⸗
tee Scott's traf ein gleiches Loos, weil fie über ihren Stand bins
ausging. Canning indeſſen und feine Gemahlin wollten daraus kei⸗
nen Vortheil ziehen und wieſen ihn entfchieden zuruͤck. Habſucht und
Eigennutz gehörten nicht zu feinen Sehlern. Bei allen Aemtern und
Würden, bie er bekleidet hatte, hinterließ er fein Vermögen geringer
als ed ihm zugelommen mar. |
Am Sabre 1801 verließ Pitt, wie wir bemerft, das Miniftes
rum und warb durch Addington erſetzt. Canning folgte dem Bei⸗
fpiele feines Freundes, ohne fich jedoch, wie er, der ſchwachen Ver⸗
maltung feines Nachfolgers anzufchließen, bie er im Gegentheil mit
allen Waffen der Logik und des Witzes befämpfte. Ihn befeelte ein
vorherrfchender Gedanke, und biefer Gedanke war bie Entkräftung und
Demüthigung Frankreichs, dem er, wie der große Punier Rom, einen
unverföhnlihen Haß gefchmoren zu haben ſchien Was Canning
wollte, wollte er ganz, mit ber ganzen Kraft feines Willens, und
um das Ganze zu erreichen, bot er auch alle Mittel auf, durch bie
e8 zu erreihen war. In biefer Entfchiebenheit lag beſonders feine
Stärke. Pitt löftle im Mai 1804 Adbington ab, und mit
ibm nahm auh Canning wieder Antheil an der Verwaltung.
Aber fhon im nädften Sanuar flarb Pitt. Der Einfluß dieſes
Mannes auf Canning, ber ihm mit ber ganzen Energie feines Chas
rakters ergeben mar, hörte nun auf, obgleich er feine innigfien Ges
fühle der Achtung und Dankbarkeit nie verleugnete. Dit Pitt war
die Herefchaft der Tories zu Grabe gegangen; mit Kor flarb bie der
Whigs, und ihre Gegner gelangten wieder zur Regierung. Im Jahre
1807 traten Lord Liverpool, Lord Caſtlereagh und Ganning
230 " Ganning.
in das Minifterlum und bildeten bie Seele ber Verwaltung. Da
biefer die atısmärtigen Angelegenheiten zu leiten hatte, fo kam einer
der fchreiendften Gewaltſtreiche, bie je bie Politit auf ihr ſtarkes Ges
wiſſen nahm, befonders auf feine Rechnung. Wir meinen die Aufs
Hebung der bänifchen Flotte und bie Beſchießung von Kopenhagen, weil
Dänemark mit treuer Ergebung zu Frankreich hielt. Mit gleichem
Nachdrucke gedachte er in Spanien aufzutreten, überzeugt, daß bie
Halbinſel die Ferſe bes Achilles für Frankreich ſei. Hier, war feine
Meinung, müffe England feine ganze Kraft vereinen, um Napo⸗
Teon mit Erfolg zu befämpfen. Caftlereagh, der Kriegsminifter
mar, zeigte Ihm weder die Thätigkeit, noch das Geſchick, die er für
nöthig hielt, -mollte man anders feinen Zweck erreihen. Diefer Wis
derftreit der Anfichten und bes Benehmens der beiden Staatsmänner
brach bald in offene Feindfchaft aus, und es kam zwiſchen ihnen
zu einem Zweikampfe, in melhem Canning einen Schuß in den
Schenkel erhielt. Sie traten darauf aus der Verwaltung, an deren
Spige Perceval berufen ward. Diefe Veränderung, die Canning
von ber Leitung der Angelegenheiten feines Vaterlandes ausfchloß, hatte
menigftens bie ihm angenehme Folge, daß ber Marquis von Wels
lesley, den er an Caſtlereagh's Stelle zum Kriegsminifter beförs
dert mwünfchte, feine eigene erhielt, unb den Krieg in Spanien mit ber
Thätigkeit und dem Nachdruck führte, die Canning fo ernftlich em⸗
pfoblen hatte. Kür die Sache, bie er als die feinige betrachten konnte,
war alfo gewonnen, mwenn er auch perfönlich babei verlor. Nach ber
Ermordung Perceval’8 erhielten Lord Wellesley und Canning den
Auftrag, eine neue Verwaltung zu bilden, mas ihnen aber nicht Yes
Ling, weil die Tories wie die Whigs eine gleiche Abneigung fühlten,
in ‚ein gemifchtes, aus fo heterogenen Elementen beftehendes Minifterum
zu treten. Dieſer an fidy geringfügige Umfland mar Urſache, daß
‚Canning in den für Europa fo folgereihen Sahren 1813, 1314
1815 auf die wichtigen Ereigniffe derfelben ohne Einfluß war. Seine
Muße verwendete er auf die Prüfung und Erörterung großer politifcher
Tragen, die für die Zeit befonders wichtig geworden waren. Sein ges
funder Sinn und fein richtiges Urtheil brachten ihn, bei ruhiger For⸗
fhung und befonnener Abgefchtedenheit, den Anfichten immer näher,
die feine öffentliche Wirkſamkeit fpäter fo bedeutend machten. Den ers
ſten Schritt auf ber Bahn zu den Freiheiten, die er, gegen das Ende
derfelben, für fein Land und, man darf wohl fagen, für Europa er⸗
ringen wollte, that er für die Sreiheit des Handels und erklärte fich
gegen bie Moneopolienwirtbfchaft. Die Anerkennung einer Freiheit führt
aber folgerecht zur Anerkennung ber Freiheiten überhaupt, welche dies
felbe Grundlage haben und aus einer Quelle fließen. Canning ging
biefen Weg, nur für den Ruhm feines Namens, der in der Gefchichte
in doppelter Geſtalt erfcheint, etwas langfam. Die erſte Frucht, die
ihm feine freie Anficht des Handels brachte, war feine Wahl zum Ab»
geordneten in das Unterhaus durch bie Stadt Liverpool (1812), da er
Ganning. 291
feüher nur der Mepräfentant eines faulen Fleckens geweſen war. Das
folgende Jahr nahm er den reich befoldeten Gefandtfchaftspoften zu
Liſſabon an, mo ſich kein Hof befand, und ordnete ſich dadurch Lord
Caſtlereagh unter, gegen ben er feine feindfeligen Sefinnungen fo
offen erklärt hatte. Im Jahre 1816 kehrte er nach London zuruͤck,
und ließ fi in der Verwaltung, bei ber er die oflindifchen Angelegen-
beiten beforgte, wieder anftellen.
In diefer Zeit fchien Europa, in politifcher Beziehung, raſche, ents
ſcheidende Rüdfchritte zu thun, und England blieb in diefer befchleunigs
ten Bewegung nicht zurüd. Die Habeas s Corpusacte wurbe aufgehos
ben und jede Aeußerung der Unzufriedenheit bes Volks mit graufamer
Gemaltthätigkeit zurüdgemiefen. Die blutigen Auftritte zu Manchefter
(1819), wo bie verfammelten Bürger, die von ihrem Petitionsredhte
Gebrauch machen wollteh und von ber Bürgermiliz zu Pferde,
Deomanıy genannt, mit dem Degen in ber Fauſt niedergeworfen. oder
auseinandergefprengt wurden, find no in. fhmählihem Anbenten.
Die heftigften Maßregeln gegen bie Preffe und die Affoclationen, welche
die Regierung vorfhlug, gingen in dem Parlamente mit großer Stims
menmehrheit durch. Mit welcher beifpiellofen Strenge man verfuhr,
bemweifet die Knechtſchaft, in der die in England fonft freie Schrift und
Mebe verfiummen mußte. Wer überwiefen ward, ein Libell, das zum
Aufruhr reiste — mas ließ ſich nieht in ben meiten Rahmen biefes Ges
ſetzes bringen? — bekannt gemadjt zu haben, ward im MWieberbetres
tungsfalle mit Verbannung beſtraft. Und zu allen diefen gewaltfamen °
Maßregeln wirkte Canning kräftig mit. Sie hatten keinen waͤrmern
Bertheidiger, die Willkür Leinen entfchiedenern Freund, keinen größern
Lobredner. Er war nicht nur ber. beredte Anwalt bes Siegerd; er
ſchmaͤhete, er verhöhnte den Befiegten. Die Ariſtokratie feierte ihre
Saturnalien. Aber der Menſch vergißt zu leicht, daß jedes Uebermaß
zu feinem Gegentheil zu führen pflegt, der Mißbrauch ber Gewalt zur
Sreiheit, wie ber Mißbrauch der Freiheit zur Tyrannei. Die Art, wie
die Tories, im Siegesrauſche Ubermüthig, die wiedererlangte Herrfchaft
übten, befchleunigte ihren Untergang. Goͤthe fagt: „Bor dem Gewit⸗
ter erhebt ſich zu letztenmal der Staub gemwaltfam, der nun halt für
lange getilge fein ſoll“ Der Sturm war nidt mehr fern.
Canning war nidht dee Mann, der halbe Arbeit machte und
auf dem Wege, den er betreten, umkehrte, ehe er ihn zurüdgelegt.
Aber was der Menſch nicht thut, thut das Schickſal oft für ihn.
Georg LI. farb, und fen Sohn beftieg den Thron von England.
Die Königin Caroline Eehrte dahin zurüd, und es warb der berüchtigte
Proceß gegen fie eingeleitet. Ganning, von früherer Zeit in freunds
fchaftlihen Verhältniffen mit derſelben, Eonnte feine Gefinnungen nicht
verleugnen, noch weniger aber zu den Feinden ber mißhanbelten Fürs
flin übergehen. Er nahm feine Entlafjung und trat eine Reife nach
Frankreich und Stalien an, auf welcher er ben Stand der Dinge auf
dem feften Lande und bie Stimmung ber Gemüther auf eine Weiſe
232 | Ganning.
Tonnen lernte, die ihm zu denken gab: Am Jahre 1825 wieder m .
ſebrem Baterlande angetommen, nahm er feinen Sie im Unterhaufe,
erklärte fi, mit Wärme für die Emandpation der Katholiten und ges
gen’ eine Parlamentereform. Diefe legte Maßregel war der allgemeine
Wunſch der wahren Freunde bes Vaterlandes geworden, well fie ers
Tannten, daß ohme fie die Allmacht der Ariftofratie keine Schranken
finde. Gerade darum trat Canning als ihre entfchiebener Gegner
auf. Die Ariftoßratie war dankbar und Canning nicht unempfind»
tich gegen diefe Dankbarkeit. Im Gabinete gab es, neben Lord Eaftles
teagh, für ihn keine angemefjene Stelle, und er hatte wohl ber
Hoffnung entfagt, in England einen angemefimen Wirkungskreis zu
finden. Darum nahm er die Stelle eines Gouverneurs von Oftindien
an und das Schiff, bas ihn nach Galeutta bringen follte, lag ſchon
fegelfertig und er war im Begriffe, es zu befteigen. Da machte Eaftles
reagh feinem Leben felbft ein Ende. Der Schnitt eines Federmeſ⸗
ferd änderte die Lage Canning's, Englands, der Welt. Won foldyer
Art find die Ereigniffe, welche fo oft das Schidfal der Staaten und
Voͤlker beflimmen. Das gefchah im Auguft 1822. An die Spige ber
Verwaltung kam Lord Liverpool, den frühere Verhältniffe mit Gans
ning befreundet hatten, und es gelang ihm, bie Abneigung ber uͤbri⸗
gen Mitglieder der Verwaltung und felbft den Widerwillen des Königs
zu befiegen und feinem Freunde eine Stelle im Gabinete gu verfchaffen.
Canning ward Mmiſter der auswärtigen Angelegenheiten und feine
Emennung fiel in eine hoͤchſt wichtige Zeit. Die Congreffe von Trop⸗
pau und Laibach hatten das Schidfal von Europa im Geifte der heis
ligen Alltanz zu ordnen verfucht, Die conflitutionellen Regierungen
verfäymanden oder erhielten fih nur dem Namen nah. Ein neuer
Gongreß ward zu Verona eingeleitet, um das glüdlich begonnene Werk
zu vollenden oder doch fortzufegen. Lord Caſtlereagh folite bei dem⸗
felben England vertreten, und die Grundfäge und Anfichten diefes Staates
mannes ließen über die Art feiner Mitwirkung keinen Zweifel. Es galt
vorzüglich, die Cortes in Spanien aufzuheben und die pprendifche Halbinfel
der abfoluten Herrfchaft des Koͤnigthums wieder zu unterwerfen. Frank⸗
reich übernahm willig den Auftrag, den es auch ohne befonbere Anftrengung
. vollzog. Sanning fühlte die Würde Englands verlegt und feinen früs
bern Einfluß auf einen Staat bedroht, deffen Schickſal ohne feine Theil⸗
nahme zu beflimmen, ihm ein Eingeiff in feine Rechte ſchien. Gans
ning mar zu fehr Brite, als daß er diefe Art Zuruͤckſetzung nicht
ſchmerzlich Hätte fühlen follen, und es lag in feiner. Art, den Schmerz
nicht geduldig in feiner Bruft zu verfchliegen. Die Oppofition beftürmte
ihn mit wiederholten Angriffen wegen der Mißachtung Englands bei
‚der Entfheibung dee Angelegenheiten des Continents. Die Oppofition
hatte das Nationalgefühl für fi, das Graf Grey beſonders zu ſei⸗
nem Beifland geltend machte. Er überhäufte ben Miniſter mit Vor⸗
wöürfen, daß er unter ſolchen Umftänden Frankreich nicht ben Krieg
erklaͤtt. Da trat Canning, am 12. December 1826, mit jener
»
n
Ganning. 233
merkwürdigen Rede auf, die einen fo tiefen und allgemeinen Eindrud
machte. Er dachte ſich als Aeolus, ber den Schlauch mit Winden in
Händen habe: - Sei e8 an ber Zeit, ihn zu öffnen, dann, meinte er,
ftehe es bei ihm, ben Continent duch Stürme zu erfchättern und / um⸗
zukehren. Die leicht gefprochenen Worte haben ſchwer verwundet; ein
Beweis, baf fie vermundbare Stellen fanden. Tauſend Stimmen ha⸗
ben fi tadelnd gegen fie laut erhoben, taufend und taufend andere
dagegen ſich im Stillen beifällig für fie erflärt. Es wurde Alles aufs
geboten, um ben .Eindrud, ben fie machen konnten oder wirklich gemacht,
zu zerftören; aber felbft dies Bemühen zeigte bie Verlegenheit, in ber
man ſich befand, und bie Gefahr, die ſich leichter leugnen, als entfers
nen läßt. „Ich kann den Krieg nicht fürchten, fagte er, wenn ich an
bie unermeßliche Macht diefes. Landes und daran benke, daß die Unzus
friedenen aller Nationen von Europa bereit find, fih an England ans
zufchließen... Statt einen Krieg mit Frankreich wegen Spanien zu
führen, war ich darauf bedacht, den Beſitz dieſes Landes nebenbuhlerts
fhen Händen unnüg, ja noch mehr als unnuͤtz, bem Beſitzer ſelbſt
nachtheilig zu machen. Ich babe das letztere Mittel ergriffen; glauben
Sie nicht, daß England darin eine Ausgleihung für das fand, was
es zu empfinden hatte, ald es bie franzöfifche Armee in Spanien einzies
ben und Cadix bloficen fehen mußte? Ic babe Spanien unter einem
andern Geſichtspunkte betrachtet; ich ſah auf Spanien und Suͤdame⸗
rika zugleich; ich habe in legtern Ländern eine neue Welt ins Dafein
gerufen und fo das Gleichgewicht geordnet. Ich habe Frankreich allen
Holgen feines Einfalls überlaffen. Ich habe eine Ausgleihung für den
Einfall in Spanien gefunden, während ich Frankreich feine Laſt übers
kaffe, eine Luft, der es fidy gern entledigen möchte, und bie es nicht,
ohne ſich zu befchmeren, tragen. kann ; damit antworte ich auf das,
was man über die Befegung Spaniens fagt. Ich weiß, fage ich, daß
unfer Land unter feinem Panier alfe Unzufriedenen. und alle unruhigen
Beifter des Zahrhunderts fdhlagfertig fehen wird, alle Menſchen, bie
aus gerechten oder ungerechten Gründen die gegenwärtige Lage ihres
Vaterlandes mit Mißmuth betrachten. Der Gedanke an eine folche
Lage regt alle Beforgniffe auf, denn er zeigt das Dafein einer Macht
in den Händen von Großbritannien, die vielleicht furchtbarer ift, als ir⸗
gend eine, von ber bie Geſchichte bes Menſchengeſchlechts bis jetzt Rune
de gegeben.
* Sanning kannte bie Lage der Welt. Was der Friede gegeben
hatte, man muß es mit Wehmuth fagen, madıte Zaufenden den Krieg
wuͤnſchenswerth. Mir fahen die neue Welt, beren Colonien noch durch
manche Bande mit dem europäifhen Mutterlande zufammenhingen, von
biefem abgelsfet, den Kampf Griechenlands mit feinen barbarifhen Uns
terdruͤckern ohne Theilnahme fortgefegt, exrft ben Aufflanb bes gepeinig-
ten Volkes als ein Verbrechen gegen bie Legitimität gemißbilligt, dann
das biutige Dinmwürgen deſſelben als eine verfchulbete Zuͤchtigung darge⸗
ſtellt. Wir fahen den Gedanken in Feſſeln gelegt; das freie Wort als
234 Canning.
Verſuch zum Aufruhr unterſagt, Gewerbfleiß und Handel gelaͤhmt und
eine faſt allgemeine furthtbare Verarmung herbeigefuͤhrt. Wir ſahen
Spanien einer unmenſchlichen Selbſtzerfleiſchung hingegeben, das Ra⸗
chegefuͤhl einer grauſamen Faction genaͤhrt, ihm freies Spiel gegoͤnnt,
die Schaffotte mit Blut gefaͤrbt, die Gefaͤngniſſe gefuͤllt. Das Ziel
dieſer Faction iſt kein Geheimniß; es heißt blinde Unterwuͤrfigkeit des
Volks durch Dummheit und Mangel. So wurde ein Zuſtand der
Dinge herbeigefuͤhrt, der ſich mit jedem Tage furchtbarer entwickelt und
zu einem Reſultate fuͤhren kann, das ſelbſt die Faction, die es will, mit
den zahlloſen Ungluͤcklichen, die ſie gemacht, in gewiſſes Ungluͤck ſtuͤrzt!
Man muß die Dinge nehmen, wie ſie find, will man Taͤuſchun⸗
gen nicht zu bereuen haben. Es find zwei Geifter, die jest die Welt
bewegen, ſich um ihre Herrfchaft ſtreiten, offen oder heimlich fich bes
feinden ; fie heißen hier Gegenrevolution und Revolution, dort Servili⸗
tät und Liberalism, Unbemweglichkeit und Kortfchreitung, ober wie man
fie fonft nennen will. Die Sache ift da, welchen Namen man ihr
auch geben mag.
Canning fprad) von den Mißvergnügten in allen Ländern und
bat die Hand unfanft auf die Wunde gelegt, und ein lauter Schrei
des Kranken bezeugte feinen Schmerz. Er hat das Haupt der Medufa
enthüllt, da8 auf dem Schilde Minerva’s und in ihrer Hand furcht⸗
bar wirken kann.
Durch die Sprache, die Canning in dem Parlamente fuͤhrte,
durch die Art, wie er die auswaͤrtigen Angelegenheiten im Widerſpruche
mit den Anſichten und Geſinnungen der fremden Cabinete leitete, und
befonder® durch die Anerkennung der Unabhängigkeit der ſpaniſchen
Colonien in Amerika erregte er erft den Verdacht, dann den Unwillen
der Zories, bie ihn nicht mehr auf ihrem Wege fanden. Die Ents
fchiedenften von ihnen trugen Fein Bedenken, ſich förmlidh von ihm
loszufagen, und er verftärkte ſich durch den Beiftand Gleichgefinnter,
die mit ihm benfelben Zmed verfolgten. An die wichtige Stelle eines
Minifters des Handels kam fein Freund Huskiſſon, der große, freie
Anfichten in diefem Zweige der Verwaltung entwidelte unb durch allmäs
lige Reformen ins Leben zu führen fuchte. In diefer Beziehung find bie
Jahre 1824, 1825 und 1826 für England höchft bedeutend. Gegen das
Ende des legten Jahres erfuchte die portugiefifche Regierung Großbris
tannien um Schus und Beiftand gegen die Einmifhung Spaniens in
ihre Angelegenheiten, die eine Folge der allgemeinen Reaction auf dem
Feſtlande von Europa war. Canning fendete fogleich englifche Trup⸗
pen nah Portugal. Im Anfange des Jahres 1827 mußte Livers
pool, der duch einen Schlaganfall dienftunfähtg geworben war, aus
der Verwaltung treten. Der König ertheilte Canning den Auftrag,
einen erften Minifter zu wählen, bei dem er nur die Bedingung machte,
daß er der Emancipation der Katholiten entgegen fi. Canning vers
weigerte es und bot, im Kalle der Monarch darauf beftehe, feine Ents
laffung an. Georg IV. zauderte gab aber endlih nad) und übers
trug ihm felbft die Leitung des Gabinets. Seine Collegen, die den
“ Ganning. | 235
Abtrünnigen in ihm erkannten, legten ihre Stellen nieder. Unter ihnen
waren Wellington, Peel und Lord Eldon, Männer von Anfes
ben und Gewicht. Die Ausgetretenen murden buch Lord Lans⸗
down, Lord Holland, Brougham und Burbet, die einen
großen Namen unter den Whigs hatten, erfest. Es hatte fid, vor
Ganning und England eine große Zukunft aufgethan. Selten ftand
an der Spige ber Verwaltung ein Mann von gleicher Geifteskraft
und Entfchloffenheit, und in einer fo entſcheidenden, folgenreichen - Zeit.
Er fcheiterte mit feinen Entwürfen an bem unverföhnlichen Haffe ber
Tories und an feiner geſchwaͤchten Geſundheit. Es gab Fein Mittel
ber perfönlihen Erbitterung, das die flile Wuth ber getäufchten Par⸗
tei nicht verfucht und angewendet hätte, um fein kraͤnkelndes Leben
zu vergiften. Alle Vorfchläge, die von ihm ausgingen, wurden ents
ſtellt, bekaͤmpft, getadelt, verworfen, felbft diejenigen, denen fie früher
felbft ihre Zuftimmung gegeben hatten. Im Oberhaufe faß auch nicht
ein Mann, der den Willen, die Kraft und den Muth gehabt, zu
feiner Vertheidigung aufzutreten. Selbft Grey fland unter feinen
Gegnern in der erften Reihe. Drei Monate, nadydem er die Stelle
eines erften Minifters übernommen batte, fühlte er fid) durch Anſtren⸗
gungen, Feindfeligkeiten aller Art und Eörperliche Leiden fo geſchwaͤcht,
daß er fih von den Gefchäften zurüdziehen mußte, das Landhaus dee
Herzogs von Devonfhire, Chiswid, bei London bezog und am 8.
Auguft in demſelben Gemache ftarb, in welchem or feine große Seele
ausgehaucht hatte.
Man könnte fagen, Canning fe in feinem äffentlihen Wir⸗
Pen, in Beziehung auf den Zweck, den Beide verfolgt, der umgekehrte
Burke gewefen. Wie diefer angefangen, hat jener geendet, und ges
endet, mie jener angefangen. Canning hat burdy fein fpätered Les
ben mit den Verirrungen und dem Beſtreben bes fruͤhern verföhnt,
- Burke, ducd, feine fpätere Wirkfamkeit, fein großes Talent und den
Gebrauch, den er davon gemacht, verbunkelt und ſelbſtmoͤrderiſch Hand
an ſich gelegt. Canning war, wenn aud kein großer Mann, doch
fähig, Großes zu wollen, zu unternehmen und auszuführen. Sein
Tod gehört, wegen der Zeit, in die er fiel, zu den bedeutendften Er⸗
eigniffen dieſer Epoche, und kann Einfluß auf das Schidfal von zwei
Welten gehabt haben. Außer For hatte England Beinen Minifter,
der, mie Canning, fo ausgezeichnete Zalente mit wahrer Menſchen⸗
liebe verband. Großbritannien ging ihm, mie jedem echten Briten,
über Alles; aber er hatte auch ein Herz für bas Wohl und Wehe der
übrigen Welt, die fein Nationalſtolz nicht ale eine bloße Zugabe bee
Schöpfung zu Großbritannien betrachtete. Den politifhen Berechnun⸗
gen feines Geiſtes gab die Poefie feine Gemuͤths einen höhern Schwung
und einen ebleen Zwed. Sin feinen Anfihten lag nicht nur etwas
Groffinniges, fondern auch etwas Großmuͤthiges und er wäre fähig
gewefen, ein kleines Intereſſe feines Waterlandes einem größern ber
Menfchheit aufzuopfern. Das will bei einem Minifter viel, und bei
einem englifchen fehr viel fagen. Weigel,
236 Ganon. Gapital.
4 Candn, Canonicus, canonifded Recht, ſ. Kirchen⸗
re
t.
Canton, f. Reichsritterſchaft und Eidgenoſſenſchaft.
Canzleiſaͤſſigkeit, ſ. Gerichtsſtaͤnde, privilegirte.
Capet, ſ. Frankreich.
Capigi, ſ. Tuͤrkiſche Verfaſſung.
Capital. Die National⸗Oekonomie anerkennt brei Quellen bes
Reichthums oder dee werthhabenden Production: Natur, Arbeit und
Capital. In dieſe Nebeneinanderfiellung, alfo auh Entge⸗
genſetzung mit den zwei zuerſt genannten Quellen liegt zugleich, ziem⸗
lich deutlich außgefprochen, Inhalt und Umfang des firengen Bes
griffs von Capital im national:dtonomiftifhen Sinne, Hier
nach ift nämlich nur derjenige erworbene ober hervorgebrachte unb vom
Befiger zuruͤckgelegte oder erfparte Worrathb von Werthen, welder
oder infofeen er beſtimmt oder geeignet ift, duch feine Verwendung
neue Werthe hervorzubringen oder zu gewinnen, Capis
tal. Daſſelbe unterfcheidet fi) hiernah vom bloßen Verbrauchs⸗
gut, oder Genußmittel, welches nämlich allein zu Befriedigung von
Bebürfniffen oder Gelüften deſſen, ber es verzehrt oder verwendet, bes
ſtimmt ift oder dient. Man befchränkt ferner den Begriff des Capita⸗
les auf diejenigen Güter oder Werthe, welche nicht ſchon unmittels
bare Geſchenke der Natur find, : fondern erft aus der wirthſchaft⸗
lichen Thaͤtigkeit der Menſchen hervorgehen, mithin auf bie geſam⸗
melten oder zuruͤckgelegten Erzeugniffe der früheren Arbeit.
Man fchließt hiernach davon aus alle Naturkraͤfte an und für fich,
als Sonnenwärme, Wafferkraft, Wind u. f. w. (inſofern naͤmlich niche
bier oder dort eine befondere Vorrichtung zu einer beftimmten pros
ductiven Verwendung berfelben befteht, 3. B. eine Maſchine, ein Wafs
ferbau, eine Windmühle u. f. w.) und auh Grund und Boden
ſelbſt, fo lange nicht bee menfhlihe Fleiß ihn buch Beurbarung
oder Anbau bereicherte, d. h. feine urſpruͤngliche Productivitaͤt erhöhte,
(Bergl. Smith, wealth of nations, book II. ch. I, und meift na ihm
auh Say, traite d’economie politique, P. J. ch. 10 sqq., eben fo
Rau, Grundfäge ber Volkswirthſchaftslehre, Buch I, Abfchnitt 2.
4.5. u. a.)
Das dergeftalt beftimmte Capital nun wird nah Smith's Vor
gang von faſt allen Schriftftellern gleichförmig eingetheilt in das fie»
hende oder fire und das umlaufende. Erſteres fol in denje⸗
nigen Gütern ober Werthen beftehen, deren nusbringende Verwendung
dadurch ftattfindet, daß ihe Eigenthuͤmer oder Beſitzer fie im Beſitze be»
bält, legteres in folhen, die nur baburc dem Eigenthuͤmer Vor⸗
theil ober Gewinn bringen, wenn er fie veräußert oder zerſtoͤrt.
Es ift jedoch, wie wir fpdter zeigen werben, dieſe Eintheilung oder Be⸗
srifföbeftimmung mehr fpigfindig als wefentlid oder folgen⸗
veih. Auch führe fie mehrere Dunkelheiten oder Bweibentigkeiten mic
Gapital. | 237
fi, weswegen auch bie Schriftſteller bei ihrer Anwendung auf bie ver
fhiedenen Gegenftände oder Gütergattungen mehrfach von einander abs
weichen.
Eine weit größere Abweichung aber finden wir bei ber’ Beantwors
tung ber Frage: ob nur fahlihe Güter oder auch perfönliche,
namentlih Arbeitskräfte und Fertigkeiten, unter den Begriff des
Gapitales gehören? Smith rechnet biefelben allerdings darunter, und
zwar zum firen Capital; Say unterfcheibet fie zwar von Gapitalen in
engerer Bedeutung (bie ba blos in Producten einer früheren Im
duſtrie beſtehen follen); doch zählt er fie zu bem Stammgut oder
Productivfond in weiter Bedeutung, und zwar in größerer Aus⸗
dehnung ald Smith; indem biefer bloß die Talente und Kräfte ber von
ihm als materiell:prodbuctiv anerkannten Arbeiter, Say dagegen
auch jeme der geiftigen Arbeiter, d. b. der Gelehrten, nämlich ber
Beſitzer nüglicher Kenntniffe, darunter begreift. (S. das 8. Gapitel des
eriten Theils, worin Say den allgemeinen Productivfond in jenen ber
Anduftries Fähigkeiten und den der Inbuftries Werkzeuge eintheilt.)
Rau dagegen (ſ. $. 129. des oben gerrannten Werkes) anerkennt gar
£ein perfönlihes Capital, „weil die Eigenfchaften der Menſchen,
wie wichtig fie immer als Urfachen der Güterentftehung fein mögen, blos
perfönlihe Guͤter feien, und nicht in das Vermögen, alfo au
nicht in das Capital gehören”. Auch Zaharid (Vierzig Bücher vom
Staate, V. Band I. Abth. S. 96 ff.) führt die Arbeitskraft nicht uns
ter den Gapitalien auf. (Diefelben find ihm: „Brauchlichkeiten, welche
entweder nicht durch den Gebrauch confumirt werden, oder welche,
obfhen in verbrauhfamen Sachen beftehenb, dennody von ihrem Eigen⸗
thuͤmer für jego noch nicht verbraucht worden find.” Die erften nennt
er natürliche, die zweiten Fünftliche Capitalien, und führt dann von
beiden noch mehrere Unterarten auf.) — Wir rechnen jene perſoͤnlichen
Arbeitskräfte und Fertigkeiten allerdinge mit zum Gapital, und zwar
niht nur zu jenem ber bamit begabten einzelnen Arbeiter felbft,
fondern auch zu dem ber Nation. Wir thun biefed nicht eben darum,
oder wenigſtens nicht nur darum, meil, wie Smith — übrigens mit
Recht — bemerkt, die Erwerbung ber in Frage flehenden Kraft oder
Geſchicklichkeit (menigftens in ber Regel) ein auf Erziehung und Unter
richt des Arbeiters verwendetes Capital voraus ſetzt und fonad) auch ges
wiſſermaßen vorfteltt, fondern vielmehr beswegen, weil Arbeitskraft
und Sertigkeit wahre und ſelbſt unmittelbar wirkfame Mittel der Er»
zeugung oder der Ermwerbung find, alfo die Grundlage ober bie
Quelle eines Einkommens, die wahrhaft fhaffende Kraft,
welche werthhabende Dinge (d. 5. Beftiedigungsmittel von Beduͤrfniſſen
oder Geluͤſten) hervorbringt, theils fuͤr die Einzelnen, theils für die Ges
fammtbeit, theils für beide zugleih. In diefe Eigenfchaft, nämlich in
bie productive Kraft, fegen wie das Wefen bes Capitals, und
wir fchägen e3 demnach keineswegs nad ber Größe der Summe oder
ber Werthe, welche aufgewendbet wurden, um es gu erzeugen,
238 Gapital.
ſondern vielmehr nach ber Größe der Werthe, welche es ſelbſt zu er⸗
zeugen natuͤrlich befaͤhiget oder geeignet iſt.
Von mehreren der voranſtehenden, in den Lehrbuͤchern der national⸗
oͤkonomiſtiſchen Schriftſteller zu findenden Begriffsbeſtimmungen ober Lehr⸗
ſaͤzen uͤber das „Capital“ weicht der gemeine Sprachgebrauch,
fo wie die natuͤrlich einfache Auffaffung dee hier beſprochenen Dinge
und Verhältniffe, bedeutend ab; und es iſt billig, auch zumal gegen lees
ven Wortftreit fichernd, vor Aufftellung der Lehrfäge über die Bes
geiffe und die Wortbedeutungen ſich thunlichſt zu verſtaͤndi⸗
gen, zumal aber diefelben nicht ohne wahres, wiſſenſchaftliches ober
praktiſches Intereſſe anders, als der gemeine Sprachgebrauch mit fich
bringt, zu beflimmen.
Mas verfteht man nun, bem gemeinen Sprachgebraudy nach, uns
ter Capital, d. b. ſchon nad) dem Wortlaut unter Hauptgut ober
Stammgut? Man fest daffelbe dem Einkommen entgegen, naͤm⸗
Uh ats Grundlage oder Quelle bes legten, und zugleich auch Übers
haupt demjenigen Theile des Mermögens, welcher dem Inhaber blos
feibfteigenen, zumal blos vorübergehenden, Genuß zu gewähren ge
eignet oder beflimmt if. Das Eintommen alfo befteht aus dem
Früchten des Capitals, das Capital aber erzeugt Früchte, d. h.
veranlaßt, bewirkt, beförbert folche Erzeugung, und aus ben alfo ges
wonnenen Früchten, d. b. Gütern oder Werthen, nämlich aus den nicht
zum felbfteigenen unproductiven Genuß beftimmten,. kann dann wieber
ein neues Capital gebildet oder die Wirkfamkeit bes bereits vorhandenen
unterhalten und fortgeführt werden. Das Vermögen endlich befteht
aus allen im Beſitz einer Perfon befindlichen Gütern oder Werthen,
ohne Unterfchiedb, ob Eintommendquelle ober bezogenes Einkom⸗
men und ob zum felbfleigenen Verbrauch ober zu weiterer
Erwerbung beftimmt.
So klar diefe Begriffsbeſtimmung auf den erften Anblick erfcheint,
fo erfordert fie doch bei näherer Erwägung einige Erweiterung und
Beſchraͤnkung auf einer und der andern Seite. Fürs Erſte naͤm⸗
lich kann nicht unbedingt jeber Gebrauchs⸗ oder Verbrauhsvors
rath von dem Begriffe des Capitals ausgefchloffen werben; und dann
macht auch entgegen nicht eben jede Widmung eines Gutes ober Wer⸗
thes zur Hervorbringung oder Anfchaffung eines andern das erſte fofort
zum Capital, Unter Capital, bei feiner Unterfcheidung ſowohl vom
Verbrauchsgut ale vom Einkommen, verfteht man immer etwas mehr
oder weniger Beharrliches oder Dauerndes, und unter Ver⸗
brauchs gut ein mehr oder weniger Worübergehendes, unter Ein»
tommen endlich die Summe ber uns periodifh (und zwar in kurzen
Perioden, vorzugsweiſe aber oder in der Regel jährlich) zufließenden oder
— ohne Capitalsverminderung — zu Gebote ftehenden Mittel ber Be
dürfnißbefriebigung. Gegen diefe Begriffe nun ſtoͤßt die Ausfchlier
fung bes ſaͤmmtlichen Verbrauchsguts von der Eigenfchaft bes Capitales
an. Ein Wohnhaus z. B. (weiches Smith nad der Strenge feiner
—
—
Capital. 239
Begriffe wirklich davon ausfchließt) wirb (außerhalb ber ſolchem Syſtem um
bedingt anhängenden Schule) von Jedermann ald wahres Capital
betrachtet, aud) wenn es durchaus nicht zum Vermiechen, fondern bloß
zur Selbſtbewohnung beftimmt if. Es wird fo betrachtet nicht nur
weil zu ‚feiner Aufführung ein Gapital verwendet werben mußte, tels
ches daher gewiffermaßen in ihm ſteckt, fonbern vielmehr darum, weil feine
durch eine lange Reihe von Jahren (ja, bei gehöriger Unterhaltung Jahr⸗
hunderte hindurch) fortdauernde, alfo gewiſſermaßen jährlich zuruͤck⸗
Eehrende Nuͤtzlichke it für den es bemohnenden Eigenthuͤmer, wie ein
wahres Einkommen anzufdlagen und der Wefenheit nach von dem
zum Lebensunterhalt des Eigenthünnrs verwendeten jaͤhrlichen Fruͤcht e⸗
erwachs eines Aders durchaus nicht verfchieden iſt. Beſaͤße dort
der Eigenthümer das Haus und hier den Ader nicht, fo würde er bort
für eine Mietbwohnung und bier für Brodfruͤchte einen Theil
feines übrigen Einkommens verwenden müffen. Den Betrag beffelben
bat er jegt nicht auszugeben; er erfpart ihn alfo und kann ihn ents.
weder zuruͤcklegen ober ſich dafüe andere Genuͤſſe verfhaffen. Er bezieht
daher in der That ald Hauseigenthümer einen Capitalzins,
ht er ihn fich ſelbſt, und er verzehrt ihn zugleich als Ben
wodner.
Iſt dieſes einleuchtend bei einem Wohnhauſe (mas auch wirklich
Say — ungeachtet feiner fonftigen Anhänglicpkeit an Smith's Lehre —
ausdruͤcklich anerkennt, f. Cap. XI.), fo ift es gleichfalls wahr, ob aud)
in etwaß geringerem Maße, von andern Gegenftländen von länger
dauerndber Nuͤtzlichkeit (oder auch Annehmlichkeit) und zumal auch
von Verbrauchs⸗Vortaͤthen, welche zu einer laͤnger dauernden
Bebürfnißbefriedigung hinreihen. Wer fih z. B. einen ſolchen Vorrath
von Kleibern ober Linnen oder Hausgeräthfhaften u. f. w. -
angefchafft hat, daß er dadurch für eine Reihe von Jahren für fein Be⸗
bürfniß gedeckt ift oder daß er mit einer verhältnißmäßig Fleinen Jah⸗
resausgabe den Vorrath (mittelft allmaͤliger Wiederanſchaffung der nad)
und nad abgenugten Stüde) in feinem vollen urfprünglidhen Geſammt⸗
werth erhalten kann, ber erfpart dadurch den jährlihen Mehrauf⸗
wand, ben er ohne jenen Vorrath hätte machen müffen, fei e6 z. B.
zue Miethe von Möbeln, oder zue jährlichen Anfhaffung von
nur wenigen ober aus minder dauerhaften Stoffen gemachten — eben
darum aber [hneller abgenügten — Kleidern ober £innen u. f. w.
Diefe Erfparnig iſt abermal einem wirklichen Zinfenbezug in ber
Wirkung. gleich, und ihre Grundlage, d. h. alfo das fo beſchaffene
But, obfhon Verbrauchsgut, allerdings auch für ein Capital zu
achten. Etwas Achnliches behaupten wir 3. B. von einem angefchafften
(oder auch aus eigenem Mebgelände eingekellerten) und zum eigenen Ge⸗
brauche beflimmten Weinvorrath, welcher zur Bedeckung des Be⸗
barf6 einer ganzen Reihe von Jahren hinreicht. Auch biefer iſt ein —
wiewohl alljährlich, fi) verminderndes — Capital, deſſen Zinſe (ähnlich
etwa den von einer auf Ankauf einer Beitrente verwendeten Summe
\ \
240 Gapital
abfließenden) zwar nicht ewig, aber doch eine anſehnliche Zeit hindurch,
mittelft Bededung ber Weinconfumtion von bem Eigenthümer,
welcher jest eben fo lange keine Ausgabe mehe dafür zu machen bat, ir
der That bezogen, aber freilich. audy gleichzeitig verzehrt werben.
Wie haben bei foldhen Gonfumtionsgegenftänden und Vorraͤthen
noch überalt davon weggeblidt, daß dieſelben jedenfalls (oder wenigftens
in der Regel) aud vertäuflic find, alſo — ob bie Veraͤu
mit ober ohne Gewinn (nach dem objectiven Werthanſchlag) geſchehe —
durch den Willen: bed Beſitzers zu eigentlih werbenden Capitalen im
Sinne der Schule gemacht werden finnen. Go kann ih, wenn
irgend ein ſtaͤrkeres Beduͤrfniß oder Geluͤſte mich dazu aufferbert,: einige
(mir etwa minder umentbeheliche) Dauemabilien oder Kleibungsftäde zu
Geld machen, um andere Segenftände damit zu erfaufen, und eben
fo einen Xheil meines Fruͤchtevorraths durch Wertaufhung. ober Ber»
kauf in Wein, oder einen Theil meines Weines in Kleider u. f. w.
verwandeln, demnach duch Weggeben beffelben einen Wortheil (we
nigftens nach meiner Schägung) ereingen, b. h. ben Eonfumtionsgegenftand
als Erwerbsmittel, folglich nach Smiths Begriffäbekimmung als
Capital, und zwar als umlaufenbes6 benuͤtzen. Eine ſolche Benuͤtzung
tritt auch wirklich ſehr haͤufig ein, und ſchon aus der bloßen Moͤ r
lichkeit oder Leichtigkeit berfeiben gebt (felbft abgefehen von ber früs
heren Bemerkung) hervor, daß den Verbrauchs⸗Vorraͤ then die
- Eigenfhaft des Capitales nicht unbedingt abzufprechen iſt. ?
Auf dee andern Seite anerkennt aber ber gemeine Epradigebrauch
nicht jeden Verkaufsgegenſtand, überhaupt nit jeden reproductiv,
d. 5. zu Erwerbung eines andern Gutes, vertvenbeten ober verwendbaren
Werth fofort als Capital, fondern er fordert bazu noch weiter ben Cha⸗
rakter menigftens einiger Beharrlichkeit oder dauernder Wiederkehr.
Wenn die Anwendung irgend einer Kraft oder bie Veräußerung irgend
einee Sache blos bazu geeignet erfcheint , dem Beſitzer ein für alles
mal einen Vortheil oder Gewinn zu verfchaffen, dieſer Vortheil oder.
Gewinn alfo ein blos vorhbergehender und (in Bezug auf wirthſchaft⸗
liche Intereffen) bald und fpurlos wieder verſchwindender Ift, ſo wird
man folcher Kraft ober Sache den Namen bes Capitals nicht beilegen.
Eine gelegenheitlich einem Andern ermwielene (probuctive ober unpro⸗
bductive) Dienſtleiſtung 3. B. trägt mir eine Belohnung ein, beren
Merth ich zu meinem Vergnügen oder Beduͤrfniß verwende; oder eine
einzelne, von mir erzeugte. oder gefaufte Sache vertauſche ober veraufe
ih mit Bortheil gegen eine andere, ober gebe fie bin gegen eine mir
nügliche,, doch nur voruͤbergehend wirkende Dienftielftung ; fo kann bort
wie hier noch nicht von Capital gefprochen werden. Erſt wenn: meine
Arbeitskraft als zu fortlaufenden Dienflieiflungen ober zu ans
dauernbder Production oder Erwerbung geeignet erfcheint ober gedacht
wird, ſchreibt man ihre die Natur des Capitals zu, und eben fo auch
ben verfäuflihen ober fonft probuctio zu vermendenden Sachen nur alte
dann, wenn Ihe Preis oder Probuct eine weitere Iucrative Berwendung
[4
Gapital, 241
zulaͤßt ober — zumal nach ben Wirthſchaftsverhaͤltniſſen bes Beſitzers —
dazu natürlich beſtimmt iſt. So z. B. bie vom Fabrikanten oder
Kaufmann feilgebotene Waare, mit deren Preis wieder neue Stoffe
oder neue Waaren erfauft werden, ober vielmehr die Warren: Bor;
täthe, welche ducch fortwährend ſich wiederholenden gemwinnbtins
genden Kauf und Verkauf neben dem daraus zu bejiehenden Lebensun⸗
terhalt des Eigenthuͤmers in ſtets gleichem oder ſich noch vermehrenbems
Geſammtwerth mögen erhalten werben. |
Nach diefen Betrachtungen möchte man (da ohnehin der naͤch
Zwed der ganzen Unterſuchung barin befteht, bei Einzelnen und b
der Nation das Grunds oder harrende Vermögen vom Eins
kommen, oder bie Summe bee Erwerbsmittel von jener der jährs
lihen Erwerbung zu unterfcheiden und bie. Größe beider, fo ‚weit
thunlich, zu berechnen, wenigftens im Begriff zu verdeutlihen)
geneigt fein, dem Capital auch benjenigen Theil des Verbraucher
Vo rraths beisuzählen, welcher noch über ber zur Dedung eines Jahr
resbedarfs noͤthigen Maffe vorhanden ift, dagegen von ben gewinn»
bringend oder probuctiv zu. verwendenden Gütern und Kräf
ten, überhaupt Werthen, nur diejenigen als Capital im engery
Sinne zu betrachten, melde zu einee fortdauernden, wenig
flens einige Zeit fortbauernden ober ſich wiederholenden Pers
wenbung folder Art geeignet, und auch natürlich (zumal nad den
Wirthſchaftsverhaͤltniſſen bes Befigers) dazu beftimme find. Mann
man zumal dieſe legte Unterfheidbung nicht macht, fanden ſchlechthin
jedes ald Mittel der Production pder ber Frmerbung oder Ins
ſchaffung verwendete Gut mit dem Namen Capital belegen will,
fo muß die Gonfequenz endlich dahin gelangen, auch den täglichen
Arbeitstohn, womit der Arbeiter, oder. den Groſchen, womit ber
Bettler fein tägliches Brodb kauft, und die einfahe Handanle⸗
gung, womit Einer z. B. einen Apfel vom Bauwe bricht ober, eine,
Fiſch aus dem Waſſer holt, ober die Lockſpeiſe, womit er einen Vogeh,
den er verzehren will, einfängt, Capital zu nennen, ur
Wir gehen zur Eintheilung des Gapitales in das ſtehen de
(oder fire) und das umlaufende über. Der wefentliche Unterſchied
zwifchen beiden fol nah Smith (mie wir [how oben bemerlten) darhn
befiehen, daß das erfle (morunter er bie von Menfchenhanb herruͤhren⸗
den Berbefferungenbes Bodens, ſodann hie lanbmirthfbafte
lihen.und Fabrit: Gebäude und Einrichtungen, Viehſtand, ⸗
zeuge, Maſchinen u. dgl. und endlich die. erworbenen perſoͤnlich⸗
Arbeitskraͤfte und Sectigfeiten rechnet) Yowpell bringt ur raggn
es im Defige des Deren verbleibt, daß zweite dagegen my
wenn es nicht barin bleibt, d, h. alfo, wenn 8 in andere Hände
‚gegeben ober (was offenbar baffelhe iſt) wenn e8 zerſtoͤre wir.
Smith jedod hat in. Bezug auf den ‚zweiten Sankt hie, ang,
wie und ſcheint, nicht mit ſtrenger Gonfequenz emacht. Denn während
ee 3. B. die den Arbeitsgehülfen geteichte Nahrung und die ts
Staats « Lexikon. III. 16
242 Gapital.
terung ber Heerben, dann auch den vom Handwerker und Fabrikanten
zu verarbeitenden Stoff zum umlaufenden Gapitale redinet, zähle
er die Saatfrucht bem firen bei, obſchon doch offenbar die Saatfrucht
nicht minder zerfiört ober umgeftaltet wird in ber Erbe als das Futter
im Leibe des Thieres, und weit vollftändiger als 3. B. das Leber, wor:
aus ber Schuſter die Schuhe, ober die Wolle, woraus der Fabrikant das
Tuch macht. Zu dieſer Bemerkung, in welche auch Say einflimmt,
koͤmmt jedoch noch weiter das Uneigentliche des Ausdrucks „ums
laufendes“ Capital, da derſelbe einerſeits nur auf die Geſammt⸗
wirthſchaft eines Volkes bezogen werden kann, waͤhrend doch auch
ein einſam Wohnender (z. B. ein Robinſon) theils ſtehendes, theils
nicht ſtehendes Capital befigen kann, und ba andrerſeits auch unter Vor⸗
ausſetzung einer Volkswirthſchaft gar manche Theile dieſes angeb⸗
lich umlaufenden Capitales durchaus nicht circuliren, ſondern
lediglich zerftört werden, ober wenigſtens nur ein oder zweimal ben
Beſitzer wechſeln, bevor fie zerftört oder verzehrt werden.
3J. Craig (elements of political science, Edinb, 1814) fegt zwar
(f. Vol. II. B. II. ch. 4.) mit Smith das umlaufende Capital in daß:
jenige Gut, weldyes nur buch Vertaufhung ober Zerſtoͤrung
feinem Befiger Vortheil bringt; aber er findet zwifchen dem umlaufenden
und feften Capital einen weit wichtigeren Unterfchieb, als Smith auf:
ftelte, darin, daß das feſte Sapital in Dingen angelegt fei, welche
nicht an fih ſelbſt Gegenſtaͤnde des Verlangens find, welche nicht
unmittelbar dem Beduͤrfniß oder dem Vergnuͤgen der Menſchen dienen,
alſo nicht um ihretwillen ſelbſt geſchaͤtzt werden, ſondern nur als Mit⸗
tel der Erzeugung der eigentlich verlangten Dinge, wogegen das
umlaufende Capital eben in dieſen legten, d. h. in unmittelba⸗
ven Befriedigungsmitteln von VBebürfniffen, alſo auch unmit⸗
telbaten Gegenſtaͤnden des Verlangens beſtehe. Dieſe Unterſcheidung,
aus welcher Cralg eine Reihe von Folgerungen zieht, iſt jedoch nicht
durchgreifend. Im Allgemeinen zwar oder in der Mehrzahl beue bier
befragten Gegenftände mag fie zutreffen; aber es gibt auch bedeutende
Ausnahmen. Schon gleich das Geld, welches einen fo wichtigen
Theil des umlaufenden Capitales (beftehend nämlih nah Smith aus
Geld, aus den [verkäuflihen]) Vorräthen von Lebensmitteln, dann
aus jenen von Arbeitsftoffen und von fertigen [noch in der Hand
des Fabrikanten oder Kaufmanns befindlichen) Waaren) ausmacht,
wird nicht an fich oder als unmittelbares Befriedigungsmittel verlangt,
fondern nur als Mittel der Anfhaffung. Sodann find ia oftmals
die nämlichen Gegenftände,, welche in einer Dand als ſtehendes
Capital erfcheinen, in einer andern ald umlaufende wirffam. Ma»
ſchinen und Werkzeuge z. 8. find bei'm Landwirth und Bande
werksmann zum ſtehenden Capital gehörig, bei'm Kaufmann aber,
welcher mit ſolchen Werkzeugen Handel treibt, und auch bei'm Fabrikan⸗
ten, welcher fie verfertige, find fie Theile des umlaufenden, ben fo
Sapital. , | 243
das Zugs ober Nutzvieh, je nachdem es ſich bei’'m Landmann ober bei'm
Viehhaͤndler oder auch bei'm Fleiſcher befindet u. f. w.
Wir fegen dem ſtehenden oder feflen (Capital lediglich ein nicht
flebende6 oder nicht feſtes entgegen. Dan kann es, wenn man
wid, ein laufenbes oder durchlaufendes, nicht aber ein Umlau⸗
fendes nennm. Der wefentliche Unterfchieb zwifchen beiben beflcht
aber unſerer Anfiche nach nicht, in dem — wiewohl freilich in ber
Regel zutreffenden — Umſtand, daß das eine in der Hand bes
Befigers ſelbſt feine Wirkſamkeit äußert, da6 andere aber nur durch
Veräußerung oder Zerfiörung, ſondern darin, daß das fichende
Capital eine andauernde, das nicht fiehende dagegen blos eine vor⸗
übergebende unmittelbare Wirkſamkeit äußert, fo daß alfo das
Vegte, wenn es gleihfals andauernd wirken foll (mie wie vom Gas
pie in firenger Bedeutung verlangen), zuvoͤrderſt reproducirt,
. 5. durch einen andern entfprechenden Werth erfegt werden muß.
Diefer Begriff wird fo ziemlich übereintommen mit bem bes jaͤhrli⸗
hen Betriebs⸗Capitals, oder es wird wenigftens bucch bie Ans
nahme der legten Beflimmung eine deutlich erfennbare Unterfheibungs»
linie zwiſchen beiden Arten des Capitals gezogen und ſonach ber Bes
rechnung oder Schägung des Gapitalvermögens nach feinen beiden
Hauptfactoren eine fefte Grundlage gegeben. Das ftehende Capital
würde fonady in Allen jenen landwirthfchaftlichen, gewerblichen und Dans
delseinrichtungen ober Hülfsmitteln, als Mafchinen, Werkzeugen, Ge⸗
bäuden u, f. w., auch lebendigen Kräften und Fertigkeiten beſtehen,
‚welche oder infofern fie geeignet find, Ihre probuctive Wirkſamkeit mehr
als eine wirthſchaftliche Periode hindurch (alfo in ber Mes
gel mehrere Jahre hindurch) zu Außen; das nicht ſtehe nde dage⸗
gen in dem Geſammtaufwand, welcher zum Betrieb irgend einer Unter⸗
nehmung oder productiven Thaͤtigkeit periodifch (alſo in ber Regel
jährlich) gemacht werden, alſo um fortdauern zu Binnen, reprodu⸗
eier werden muß. Nach diefer Begriffsbeftimmung gehören zum nicht
ſtehenden oder zum durchlaufenden Gapital nicht bloß die Saat⸗
frucht, der Dünger, bie Nahrung und ber Kohn ber Arbeiter und das
Viehfutter, dann auch die zur Production oder Gewinnserwerbung perio:
diſch nothwendige Maſſe von Stoffen (theils Verwandlungs⸗, theils
Huͤlfsſtoffen) oder Waaren, ſondern auch die alljaͤhrlich (d. h. waͤh⸗
rend der gewoͤhnlichen Wirthſchaftsperiode) auf Unterhaltung
oder Wiederherſtellung des ſtehen den Capitales zu machende Ver⸗
wendung, folglich auch die zur Anſchaffung oder Verfertigung der
nur ganz kurze Zeit zum Gebrauch dienenden (d. h. ſchon im Laufe
einer Wirthſchaftsperiode ſich abnuͤtzenden) Werkzeuge und Geraͤthſchaf⸗
ten oder zur Ergänzung des fortwährend noͤthigen Vorraths ſolcher
Dinge nöthige Summe von Werthen. Gieraus geht dann auch hervor,
daß wir entgegen biejenign Vorraͤthe von Stoffen oder: Waaren,
weiche ober infofern fie für länger. als eine Wirthſchaftspe⸗
-stobe (wir nehmen im Durchſchnitt ein Jahr an) gefanmeit oder bes
6 ®
244 Capital.
ſtimmt ſind, welche alſo während bes Laufes dieſer Periode nicht vew '
arbeitet oder verkauft werben koͤnnen ober ſollen, zum ſtehenden Ga
pitale rechnen muͤſſen, wornach alfo blos bie, zur Erhaltung des Vor
raths im feiner dem fortiwährenden Beduͤrfniß entfprechenden ober immer⸗
fort gleichen Größe nöchige, jährliche Anfchaffung dem laufenden ober
nicht ſtehe nden Capitale beizuſchlagen wäre.
Wir haben bis jetzt das Capital ganz im Allgemeinen betrach⸗
tet, ſonach ohne Unterſcheidung der Perſoͤnlichkeiten, denen
angehören kann. Es iſt aber vom politifhen Standpunkt, welcher
allein uns bie Richtung vorfchreibt, nothwendig, vorzugsweiſe das Na
tionals oder Volks: Kapital ins Auge zu faffen, was aber mit Klar⸗
heit nur gefchehen kann durch forgfältige Unterfcheibung von dem Gapis
tal der Privaten, Überhaupt ber im Schooße ber Nation vorhandenen
einzelnen Perfönlichkeiten.
Füuͤr den Einzelnen iſt Alles Gapital, was ibm als Grunb⸗
lage einer — mehr oder weniger lange — fortdauernden oder ſich wie⸗
derholenden Erwerbung (ſei es durch ſelbſteigene Production oder durch
Verkehrsgewinn) oder Vermoͤgens vermehrung dient; ſonach auch,
was ihm als fortdauerndes Mittel der Erſparung dient. Alle ſachlichen
Beſitz thuüͤmer alſo, weiche einen Ertrag abwerfen, Grundeigen»
thum oder bie demſelben kuͤnſtlich ober poſitiv⸗rechtlich gleichgemachten
Grundrechte, alles feſte und alles nicht feſte Capital nach ber
oben aufgeſtellten Wortbedeutung, aller den Jahresbedarf uͤberſteigende
Verbrauch svorrath (fo wie wir oben feine Capitalseigenſchaft days
ſtellten) gehören hieher. Aber es kommen noch dazu alle Titel eines
von Andern zu empfangenden fortlaufenden Einkommens (als der Be⸗
ſoldungen, Penſionen, Miethzinſe, Leibrenten u. ſ. w) und unter ihnen
zumal die in Schuldforderungen aus Darlehen beſtehenden, d. h.
die Active Gelbcapitalien im engeren Sinne. Sodann auch alle
natürlidyen nder erworbenen, zur fortdauernden Anwendung geeigneten
Arbeitsträfte oder Fertigkeiten; endlih auch (was jedoch Feige
eigentliche Berechnung zuläßt und nicht als pofitiver Factor aufzuführen
iſt, wohl aber im Sefammtergebniß der Wirthfhaftsführung ſich
fuͤhlbar macht, und zwar zumal ald negative, d. b. die Ausgabe
mindesnde, Größe) bie moralifhen Kigenfhaften, zumal die Tugen⸗
den ber Senägfamtelt umd Sparſamkeit. Mit Ausnahme dies
ſes legtbemerkten Factors laſſen alle diefe Capitale oder Gapitalsgattuns
gen eine ziemlich genaue, felbft in Geld auszubrudende Schäsung
und Berehnung zu, weil jebem Inhaber möglich ift, fie wirklich gu
Gelde zu maden und, nad folher Verwandlung, fie wenigflens an:
näheend gleich nutzbar wie früher anzulegen oder zu verwenden. Aber
etwas ganz Anderes findet ſtatt in Anfehung ber Nation, db. h. der
as Geſammtheit betrachteten bürgerligen Geſellſchaft.
Das Sapital der Nation befteht zuvoͤrderſt aus Grund und
Boden, nah. dem demſelben, abgeſchen von menfhlicher Thätigkels,
d. h. von dem durch Arbeit und Vorautlagen aller Art hexingelegteꝛ
Capital 245
höheren Werth, fhon von Natur aus, fonach bleibend, einwoh⸗
nendben — nach ber urfprünglichen Beſchaffenheit des Bodens, fobann
nad, Klima, Lage, Bewaͤſſerung, Schiffbarkeit der Fluͤſſe, Küftenlinie
u. ſ. w. ſich ricgtenden Werthe. (In der Schule zwar unterfcheidet
man gewöhnlich diefn Grundwerth vom eigentlichen Capitale,
welches legte man nämlich blos in die von den Naturs und Arbeits⸗
erzeugniffen erfparten Werthe feht. Doc Iäuft dieſes am
Ende auf einen bloßen Wortftreit hinaus. Der allgemeinfte
Begriff vom Gapital faßt auch Grund und Boden in fid.) Weiter aus
dem gefammten ſtehenden und nicht ſtehenden Capitale aller
Einzeinen, infofern daffelbe nicht auf Forderungen an andere
Staatsangehörige beruht (doch mit Einfluß der gegen Auswärs
tige beftehenden, die Summe der Schulden an’s Ausland übers
ſteigenden Forderungen); und aus dem durch menſchliche Thaͤtigkeit
fortwährend erhöhten Grundwerth nicht nur bes eigentlichen Ges.
fammtgutes ober der Domaine (was durch gleiche Mittel wie bei Pris
vaten gefchieht) fondern überhaupt alles zum Gebiete gehörigen
Grundes, bier namentlich durdy Canaͤle, Heerſtraßen, Brüden und ans
dere auf denfelben Zwed berechnete Gründungen. Zum Gefamnitcapital
gehört ferner bie eigentliche Eirculationsmaffe, das heißt die Maffe
des umlaufenden Geldes, defien Wirkſamkeit jedoch, je nad) der
Schnelligkeit des Umlaufs und andern Umfländen, vielfach verſchie⸗
ben, demnach der genauen Berechnung ganz unempfaͤnglich iſt.
Auch die in der Nation vorhandenen Eörperlihen und geiftigen Ars
beitssKräfte und Fertigkeiten find Theile bes Nationalcapitals,
doch ebenfalls einer pecuniairen Schäsung nur wenig empfänglid unb
mehr nur aus dee Maffe der periodifhen (affo zumal jährlichen)
Sefammtproduction im Allgemeinen erfennbar hervorgehend. Die
wechfelfeitigen Forderungen der Bürger unter einander aber,
da jede bderfelben für die Nation oder die Gefammtheit zugleich und —,
und daber ſich gegenfeitig aufhebend ift, find Bein Theil des Nationalcapis
tale; wohl aber derjenige Theil der Verbrauchs⸗Vorraͤthe, melcher
(ei e8 nad) der DBefchaffenheit des Gegenſtandes, [wie z. B. bei
MWohnhäufern] oder nad) der Größe des Vorraths) den Bedarf
einer MWirthfchaftsperiode (nach der gewöhnlichen Annahme eines Jahres)
überfteigt, weil nämlich der Beſitz einer zue Dedung bes mehrjaͤh⸗
sigen ober vieljährigen Beduͤrfniſſes genügenden Gütermaffe in
ber Wirkung gleich ift, der ebenfo lange fi wiederholenden jaͤhr⸗
lihen Erzeugung, fonad auch einem Capitale von Sachen und
Kräften, welches, falls der Vorrath nicht ſchon vorhanden wäre, au
foldyer Erzeugung müßte aufgewendet werden. Doch ift natuͤrlich ber
Werthanſchlag diefer Dinge für die Nation ein anderer als für bie
Ginzelnen, und zumal die Gegenftände blos luxurie uſer Verzehrung
ihr weniger werth ale jene des wahren Bebürfniffes. Weberhaupt
aber ift vom Mationalcapital, ſchon nad) obigen Bemerkungen, nur ber
_ Beinfte Theil einer pecuniaisen Schaͤtzung empfänglich, und jebe
,
246 Capital.
Berechnungsart, welche die polltiſchen Rechenmelſter uͤber das "Ges
ſammtcapital der Nation theils vorgeſchlagen, theils durchzufuͤhren
verſucht haben, durchaus truͤgeriſch, eitel, und, ſelbſt wenn bie
Zahlen richt ig waͤren (was jedoch niemals ſein kann) nimmer zu ei⸗
ner klaren Anſicht oder zu praktiſchen Reſultaten fuͤhrend. Auch Say
geſteht dieſes ein, und ſcherzt darum uͤber alle ſolche phantaſtiſche Be⸗
rechnungen, bei denen man (wie z. B. bei jener Ganilh's, welcher
das Nationalcapital Frankreichs im Jahre 1789 zu 47 Milliarden,
105,729 Franken beflimmte, oder bei ber von Beeke angeftellten,
mwornad das engliſche Nationalcapital 300 Millionen Pfund Ster⸗
Ing betragen fol) „nie dafür ftehen kann, daß nicht die in Frage
fiehenden Capitale das Doppelte ober auch vielleicht nur bie Hälfte
der berechneten Summe betragen”. Ueber diefen Gegenſtand werben
wir jedoch das Umftändlichere unter ben Artikeln Nationalreich⸗
ehbum und Nationaleinlommen vortragen. '
Noch bleibt uns hier die Frage zu beantworten übrig: wie bie
Entflebung und Vermehrung der Sapitale könne veranlaft
und befördert werden? Inwiefern, mie feit Smith die in ber
Schule vorherrfchende Lehre lautet, diefes — und zwar für bie Ges
fammtheit nit minder als für die Einzelnen — nur durch
Erfparung an den mittelft früherer Arbeit gewonnenen Werthen,
dv. h. duch Befhränktung ber unprobuctiven Confumtion
von Gütern und Kräften und entfprechende Erweiterung der probuctis
ven oder veproductiven Verwendung jener ficy folchergeftalt
anhäufenden,, einen fruchtbringenden Gebrauch zulaffenden Güter und
Kräfte gefchehe, werden mir unter den Artikeln Gonfumtion,
Lurus auch Nationalreihthum u. a. unterfuhen. Hier
fragen wir blos: was kann ober foll der Staat thun, um die Ans
bäufung von Gapitalien zu befördern ?
Es lebt ein natürlicher Trieb im Menfchen, fein Loos fortwährend
zu verbeffern, alfo auch nad Vermehrung bes Vermögens und Einkom⸗
mens — als bes Hauptmittels zu erhöhten materiellen Lebensgenuß und
auch der Bedingung manches geiftigen und moralifchen Gütererwerbs —
zu fireben. Die Bildung von Gapitalen aus den mitteljt Arbeitsfleißes
und Erfparung angehäuften Werthen ift ber fait einzige Weg zu diefem
Ziel. Doch ſtehen folhem Motive auch entgegen die allerdings häufig
vorkommenden Verfuchungen ober Anlagen zu Traͤgheit, Eitelkeit, Luͤſtern⸗
heit und Leichtfinniger Verfchwendung Die Pflege der zu reicherem Guͤ⸗
tererwerb und Capitalbefig führenden Kenntniffe, Kräfte, Fertig
Eeiten und Tugenden, unter legten zumal der Arbeitſamkeit
(großentheils einer Tochter der Redlichkeit, die da verfchmäht, auf ande⸗
vom al& auf vechtlichem Wege den Lebensunterhalt fi zu verichaffen),
fodann der Sparfamtkeit, alfo Maßigung und Genugſamkeit,
weiter dee Ordnungsliebe, Familienliebe u. f. w., tft Sade
ber Unterrihtss mb Erziehungspolizei (f. Bildung),
und fie belohne ſich nicht nur duch Reihehums- Vermehrung,
LCapital. Capitallen-Stener. 2247
überhaupt materleles Gh, ſondern auch
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und wilenlofen Ertcagen alles deffen, was ber cherrfchaft zu ben
fen rer —EE ein Huger Lande
nur der n en — auch ei luger Lau
—A Gral Tin Heerden forgt, ——
hoffenden zeichlicheren Ertrage an Wolle ober Nich und Bleifdh,
CapitaliensSteuer. Der natfrichfle und ber Forderung
eines gerechten Steuers entfprechendfle Gegenftand ber Bez
fleuerung iſt uͤberall das Capital, d. h. dee Befis. Auch bie Er
werbung ober das Einkommen kaun unter blefen Begriff gebracht
werben, weil demſelben überall entweder ein fächliches, sinen Ertrag
248 "> Gapitalien ⸗Steuer.
abwerfendes Beffschum, ober eine zum Erwerb geeignete Kraft
(atebeii eig oder Fertigkeit) ober irgend ein (gleichfalls als Ver⸗
Ögenstheil zu betrachtender) Zitel des Empfange zum Grunbe
biegt. Selbſt die indirecten Steuern verfolgen wenigſtens in bee
&ntention das Capital oder das Einkommen, meil fie ja blos aus
einem ober dein andern bezahlt werden können, und alfo — follte auch
dee eigentlihe Titel ber Steuer⸗Schuldigkeit ein anderer fen
(namentlich die Theilnahme an ben Wohlthaten des Staatsverbands)
— dennod die Steuer: Fähigkeit, db. h. die Einbringlichkelt
ber SteuersKorderung duch Beſitz ober Erwerb: bedingt ifl. Was nun
dom Sapital überhaupt gift, wird es auch von jeder einzelnen
Sattung des Capitals gelten? Wer, zumal nach dem Princip des
nachhaältigen Ertrags, nicht eigentlich das Capital als fols
—F— ſondern blos das davon abfließende Einkommen zu beſteuern
r zutaͤſſig oder raͤthlich Hält (mas jedoch ſelbſt nach jenem Princip
nit unbedingt nothwendig iſt, indem die von einer Sache verlangte
Steuer nicht eben auch aus derſelben bezahlt werben muß), ber wird
vorerſt das nicht fruchtbringende oder das ſogenannte todte
Capital von der Beſteuerung ausnehmen, z. B. Mobilien, Gebrauchs⸗
vorraͤthe aller Art, Bibliotheken, Kunſt- und Naturalien⸗Sammlungen,
Gotd und Stiber u. ſ. w., oder doch in geringerem Maß, als
deffen Gelbwerth entfpräche, beftenern, z. B. Luftfchlöffer, Parks u. f. w.
Aber das fruhtbringende Gapital, ohme Unterſchied ob in Sachen,
Keäften oder Eintommens-Titeln beftehend, muß, mer confequent
vorbehattlich blos der Beſchraͤnkung burdy die Nachhaltigkeit —
das Princip von ber Steuerpflichtigkeit ded Vermögens ober des Ein⸗
kommens verfolgt, auch ausnahmslos ber Beſteuerung unterer:
en. Er muß alfo niht nur Grund und Boden und Gebäude,
ſodann das in Gewerb oder Handel ſteckende Betriebs» (ob fire
ober umlaufende) Capital, fondern auch das in der Arbeitstraft
oder Kunſtfertigkeit befiehende perfönliche Erwerbs: oder Vers
dienſt⸗ Capital, ſowie das dur einen Beſoldungs- oder Penftionks
oder ſonſtigen Rentenbezugs⸗Titel vorgeſtellte verhaͤltnißmaͤßig in
die Steuer ziehen. Auch geſchieht dieſes wirklich nad) den meiſten
beſtehenden Steuer⸗Syſtemen ober wird wenigſtens nach der in
der Schule vorherrſchenden Lehre als zulaͤſſig, ja rechtlich noth⸗
wendig anerkannt (dgl. den Artikel Beſoldungsſteuer),
blos mit einer einzigen, aber freilich hochwichtigen Ausnahme,
naͤmlich des Geldcapitals. Was ift der Grund diefer Ausnahme?
Watum erfährt die Capitatiens Steuer im engern Sinn, b. h.
bie Befteuerung der Active Forderungen ober der eigentlichen Gelbs -
capitalien und auc ber folche Capitale vorflellenden Renten, fo
vieiſtimmigen Widerfprudy von Seiten der Schule nicht minder als
von jener der praktifchen Sinanzmänner ? .
Unbeftreitbar und ſonnenklar vorliegend if, daß, weichen Rechtes
eitel-min Immer des Befteuerung zu Grunde lege, derfelbe die Geld⸗
Sapitalien: Steuer. 249
Capitalien nicht minder als jedes andere Beſitzthum trifft.
Der Capitaltft wie jeder Andere nimmt annähernd nad) dem Maß feis
ned feuchtbringenden Beſitzthums Theil an ben Wohltbaten des
Staatsvereins, db. h. ift im folhem Maße im Stande, ſich die aus
den geſellſchaftlichen Einrichtungen bervorgehenden oder diefelben vors
ausſetzenden Vortheile und Genuͤſſe anzueignen; er nimmt wie jeder
Andere den Staatsfhus für fein Beſitzthum in Anfprud, ja er
erfreut fih, was iInsbefondere die hypothecirten Gapitale betrifft,
eines noch forgfältigern, ‚auch koſtſpieligern (polizeilichen und gericht-
lichen) Schuges, als mehreren anderen Beſitzthuͤmern zu Theil wird,
und ee empfängt in ben Zinfen feiner Gapitale ohne Mühe und
Arbeit jene Mittel der Steuerzahlung, welche dee Gewerbes und Ackers⸗
mann und der Bedienſtete nur im Schweiß ihres Angefichts ober
buch Aufwendung koſtbarer Zeit, Kraft und Talente fi verfchaffen
Binnen. Capitalien, zumal, auf Grund und Boden verfidherte Capis
talien, find ein fo koſtbares und bauerndes Befisthum als biefer ſelbſt;
der Gläubiger It wahrer Miteigenthbämer, oft vollftändiger Eis
genthümer des Feldes, beffen Fruͤchte (oder den Verkaufspreis der⸗
felben) der Bauer ihm als Zinszahlung abliefern muß, und das in
folchen Zinfen oder in Renten beftehende Einkommen iſt, als ohne
Borauslage gewonnen, ein buchaus reines, mithin von dem Grund⸗
ne Befteuerung des reinen Einkommens allernaͤchſt bes
troffenes.
Das Gewicht dieſer einleuchtenden Verhaͤltniſſe erhoͤht ſich durch
die Betrachtung der faſt in jedem Staate vorhandenen ungeheuren
Maffe von Geld>Gapitalin. Zwar tft es ſchwer, ihre Summe
auch nur annähernd zu berechnen, weil zumal bie unverficherten,
ale gemeinen Chirographars und die Wechfel: Schulden u. f. m.
der Unterfuhung faft unzugänglid, auch In unaufhörliher Schwankung
oder Wandelbarkeit begriffen find, und meil die gleichfalls wandelbaren
wechfelfeitigen Forderungen des Inlanbs und Auslands, fomohl
was Privat: als mas Staats⸗Schulden betrifft, ſich jeder genauern Bes
rechnung entziehen. Doc, mag man wohl annehmen, daß, je nad)
dußern und innern Umftinden und Verhältniffen, welche von Einfluß
auf Vermehrung oder Derminderung jener beiden Glaffen von Schul⸗
den find, und zumal nad) den Einwirkungen, welche die Ungleichheit
der VBermögensvertheilung, die Höhe der Abgaben, ein ges
druͤckter Zuftand der Induſtrie unb des Handels, fowie bes Ackerbaues,
fodann langwierige Kriege u. a. m. bier aͤußern können, die Summe
der Actio-Gapitalien leicht bis zu jener bes vierten, mitunter des brits
ten Theiles des gefammten fruchtbringenden Nationalvermögens anfleigen
koͤnne. Die Befreiung einer ſo großen Wermögensmaffe von jeder bis
recten Beſteuerung (von Seiten des Staates nicht nur, fondern auch
von jener der Gemeinden), ſonach die gleihmäßige Verringerung
der Quelle, woraus allein die pecuniairen Huͤlfomittel für ben öffent»
lichen Dienft zu fchöpfen find, muß eine von beiden Folgen ober beide
[4
250 Gapitalien » Steuer.
zugleich nach ſich ziehen — einerfelts nämlich eine ſchwerere Einbringlichkeit
oder gar völlige Uneinbringlichleit der großen Gteue Summen,
deren nach den heutigen Itniffen jeder civllifirte Staat zu Zwecken
ber Nothwendigkeit oder Gemeinnuͤtzlichkeit bedarf, und anbrerfeits eine
unveranttwortlic große Ueberbuͤrd ung derjenigen Buͤrgerclaſſen, weiche
nicht Sapitaliften, wohl aber unmittelbare Producenten, ſonach
gerade die nüslichften und der fchonenden Behandlung am würbigften
figd, zu Gunften von foldhen, beten Vermögen als Glaͤubiger ein
gleich großes Paffivum, alfo Minus auf Geite der Schuldner
vorausfegt, mithin das Gefammits Vermögen keineswegs vermehrt,
und die zwar durch Darleihen ihrer Capitale ben productiven Glaffen
die Bedingungen oder wohlthätig wirkenden Hülfsmittel der Production
gewähren, doch für fich felbft in dee Megel mehr nur geeignet und
geneigt zur Verzehrung der Früchte, als zu deren Erzeugung find.
Warum alfo, fo fragen mir wiederholt, warum will man denn,
trotz aller diefer fchlagenden, politiſch wie rechtlich gewichtvollſten Argus
mente, welche für die Beſteuerung dee Capitalien fprecyen, biefelben
gleichwohl davon befreit wiffen? — Weil, alfo fagen die Gegner ber
Gapitalienfteuer, die Gegengrände noch gewichtiger al& die Gründe
dafür find, weil namentlid ber etwa theoretifch anzuerlennenden For⸗
derung ganz unüberfteigliche oder body nur Außerft ſchwer zu überfleigende
praktiſche Hinderniffe und ganz unvermeibliche, hoͤchſt große Na dye
theile entgegenfichen. Wir wollen jedoch biefe Gegengründe etwas
umſtaͤndlicher aufzählen und auch näher in's Auge faffen.
1) Schon vom Standpunkt der Theorie, meinen Diele, läßt
fih Einiges gegen die Gapitalien- Steuer einwenden, namentlich, daß fie
nothwendig wie eine wiederholte Befteuerung ber bereits ohne
fie befteuerten Sachen wirke, und mithin theil6 ungerecht, theil6 dem
Principien der Nationaldtonomie zumwiderlaufend fei. Grund und
Boden, ohne Unterfchied, ob mir Schulden belaftet oder nicht, wirb
Immer mit feinem vollen Werth in die Steuer gezogen und ebenfo das
in einem Gewerbe oder Danbel ftediende Gapital, obne Unterſchied, ob
e6 des Gerwerbtreibenden eigenes ober ein von einem Andern erborgs
tes fe. Eine Befteuerung deffeiben Gapitales, einmal in ber Dand
des Schuldners und alddann wieder in jener des Glaͤubigers,
ift alfo eine Doppelte und darum eine ungerechte Beſteuerung.
Gegen biefes Raifonnement aber ftreitet ſchon die naͤchſt liegende Bes
teachtung, daß bei weitem nicht alle bargelehnten Gapitalien auf fleuerbas
ren Öbjecten ruhen (mie auf runden, Däufern oder Gemerbseintichtungen),
fondern daß gar viele blos zur Befriedigung perfönlihen Bebärfnife
ſes oder Selüftes aufgenommen werden, und auch unvderfichert, d. b.
mit keiner Hypothek verfehen find, und bag zumal, was die Staates
Anlehen betrifft, Diefelben keineswegs auf fleuerbaren Objecten
ruhen, fondern in ber Regel nur vorübergehenden, jedenfalls keine
Steuerobjecte erzeugenden , oͤffentlichen Beduͤrfniſſen gewidmet worden
find. Doc abgefehen von biefer blos limitirenden, befonbern Be⸗
GapitaliensSteuer. 251
trachtung, bie da nämlich nur einen Theil der gegneriſchen Be⸗
hauptung entkraͤftet, bietet fih eine allgemeine, gegen das ganze
Princip dee vorliegenden Einwendung gerichtete dar. Sie beſteht
darin, daß nicht eben die doppelte oder mehrfache Beſteuerung derfeiben
Sache ſchlechthin verwerflich ift, fondern nur jene dee Perfon wegen
der nämlihen Sache. Wenn eine Sache nad) einander in mehrere
Hände kommt und eim jeder nachfolgende Befiger davon Steuer zu zah⸗
Im fähig ift und irgend ein Titel vorliegt, ihm ſolche Steuer aufzules
gen, fo iſt gar nichts gegen die wiederholte Beſteuerung zu erinnern.
Die Sahen ſelbſt fühlen von der. Befleuerung nichts, fondern
nur die befteuerten Perſonen, und diefe zahlen bie Steuer zwar von
oder wegen ber Sache, doch nicht eben nothwendig qus berfelben.
So wird 3. B. nah den ‚gewöhnlihen Accifes Gefegen berfelbe
Wein, wenn er nady einander viermal verkauft wird, auch viermal vers
feuert, und man nimmt baran Eeinen Anſtoß. (Wir zwar nehmen
wirklich Anftoß daran, doch aus einem andern Grunde) Ja, felbft in
bee nämlihen Hand — was aber freilih verwerfliih iſt —
wird oftmals eine Sache mehrmal befteuert, und die Gegner ber Ca»
pitaliensSteuer billigen es. So zahlt 3. B. dee Bauer von feinem
Grund ober von deſſen Früchten zuerft die Grund ſteuer, fobann den
Zehent, fodann vielnamige fogenannte alte, oder Patrimonials
oder Heudals Abgaben, fodann beim Verkauf, 3. B. des Weines, bie
Acciſe (welche nämlich in der Megel auf den Verkäufer durch Herab⸗
drüdung des Preifes zuruͤckfaͤllt) oder bei der Ausfuhr den Zoll, oft
mals auch vor den zum Selbſtverbrauch beftimmten Erzeugniffen
eine Accife ober Oktroi⸗Gebuüͤhr oder wie fonft benannte Vers
zehrungsſteuer u. f. w. Die Gapitaliens Steuer ald doppelte
Beſteuerung verwerfen, ift alfo auf Seite dee Anhänger ber beftehenben
Steuerfofteme zum menigften eine große Snconfequenz. Zudem märe
ja gar wohl thunlich, die Steuer, die man dem Gapitaliften auflegt,
dem Grundbefiger oder Gewerbemann im Mage feiner Verfhuldung abs
zunehmen, wornach alfo die Sache wirklid nur einmal verfteuert
würde. Auch ift offenbar mehr der Glaͤubiger ald bee Schuldner
als wahrer Eigenthümer des dem erften zue Hypothek eingefegten
Grundes zu achten; und wenn von beiden nur einer zahlen fol, je
nun! fo richte man die Forderung allein an ben Glaͤubiger.
2) Aber, fagt man vwoeiter, ber Gapitalift wird audy ohne bie uns
mittelbare Gapitaliens&teuer auf mittelbare Weiſe gebührend in's
Mitleiden gezogen; jene unmittelbare Beſteuerung erfcheint mithin als
unnöthig, d. b. ale Über den Zwed hinausgehend, und daher auch
als ungerecht. Denn der Gapitalift zahlt die indirecten, nament⸗
ih die Verzehrungsſteuern ‚gerade im Maße feines Vermögens
oder Einkommens (wornach ſich nämlich feine Verzehrung richtet); und
felbft die dem Aderbauer und bem Gewerbsmann aufgelegten birecten
Eteuern fallen größtentheils auf den Gapitaliften (wie auf. ben Beſoldeten)
juche, weil ber Bauer und dee Gewerbtreibende den Preis ihrer
252 Gapitalien: Steuer.
Erzeugniſſe nach Maßgabe ber ihnen aufgeleggen Steuer erhöhen: wer
degen ben Gapitaliften (und Beſoldeten) Bein Mittel des Wiederein⸗
bringen® der bezahlten Steuern zu Gebote flieht. ine eigene Capitas
fien-Steuer wäre hiernach eine doppelte Beftenerung dee Perſon, mithin
eine wahre Beraubung. j
Hierauf dient zur Antwort, daß 1) die Probucenten im ber
Eigenſchaft als Confumenten die Werzehrungsfteuermn sicht minber
als die Capitaliften bezahlen, fodann 2) baf bie Lehre von ber Leber
‚ wälzung auch der birecten Steuern auf die Verzehrer eine durchaus
irrige ift, indem noch weit öfter die indirecten Steuern auf bie
Mroducenten und zwar als ſolche, zurkdfallen, ale bie birecten
auf die Conſumenten überwälst werden. Jeder Probucent zwar,
überhaupt jeder Steuerpflichtige, beftrebt fich, den Wiedererſat feiner
bezahlten Steuer wo irgend ber zu erhalten, oder vielmehr jeder ſucht
den geößemäglihen Ertrag feiner Arbeit ober feines Beſitzthums
zu erlangen; aber es hängt der Erfolg keineswegs von feinem Wilten,
fondern von ben allgemeinen Geſethen des Zuſammenfluſſes
and bee darnach fich richtenden Preisbeſtimmung ab; und in ber Regel
wird der Steuerpflichtige nicht in der Preiserhöhung, fondern nur
entweder in ber durch gefleigertn Fleiß vermehrten Production,
oder im der fparfamern Verzehrung das Mittel der Steuerzah⸗
lung finden. Endlich 3) können wenigftens diejenigen, welche bie
Gapitaliens Steuer aus dem runde verwerfen, weil dieſelbe in ber That
nicht vom Gapitaliften ſelbſt bezahle, fondern durh Zinsechöhung
auf die Schuldner übermälzt werde, nicht zugleich die Unmoͤg lich⸗
Leit einer folhen Weberwälzung auf Andere behaupten. Mir
find freilich biefer, wiewohl vielftimmig aufgeftellten Anficht nicht zuges
than; doch dient ihre Anführung menigftens dazu, den Widerſpruch
in den, gegen bie Capitallen⸗Steuer erhobenen Einwendungen oder die In⸗
confequenz ihrer Gegner barzuthun.
9) Ad Hauptargument aber ftellte man dieſer Steuer ihre
angebliche praftifhe Unausführbarkeit ober body größte Schwies
tigkeit und Gehäffigkeit der Ausführung entgegen. Und dazu
komme noch, für den Fall, daß man fie gleihwohl ins Leben treten
lafje, einerfeits ihre Wirkungsloſigkeit und andrerfeits ihre viels
fahe Schaͤdlichkeit. Die Capitalien, fo fagt man, liegen nicht fe
zu Tage wie Grund und Boden oder anderes Beſitzthum. Um zu ib:
ree Kenntniß ober zu ihrer auch nur annähernd genauen Eintragung
in die Steuerrolle zu gelangen, find inquifitorifhe Maßre-
geln von der gehäffigften Art, zum Theil gleich kraͤnkend für die
Schuldner, als belaͤſtigend für die Gläubiger, vonnöthen, und Des
fraudationen ohne Zahl dennoch, überall unvermeidlich. Wie fol man
zumal bie ſtets bewegliche Maffe der bloßen Chirographar: Schul:
ben, wie bie im Ausland anliegenden und bie ben Fremden gegen
einbeintifche Schuldner zuftehenden Gapttalien inne werden, und wie. bie
Behjandiung der nach Zinsfuß,- Sicherheit, Dauer und andern Weu
Sapitalicn= Steuer. 253
hätfniffen fo vielfach verſchiedenen Activ » Forderungen auf eine dem
Princip der wahren Gleichheit entfprechende Weife ‚einrichten? Eos
dann: fol -oder darf der Staat auch feine eigenen Gläubiger
als folche und insbefondere auch bie fremden befteuern, und wenn er
es nicht darf, wirb nicht dadurch allein ſchon die Hälfte des Capital
Vermögens befreit, demnach die GapitaliensSteuer um bie Hälfte ihrer
Bedeutfamleit gebracht? Beſteuert man aber blos bie Privat: Gapis
talien, wird nicht ber Gläubiger dafür durch Erhöhung der Zinsfor⸗
derung ‚oder andere gegen ben Schuldner bedungene Vortheile ſich
ſchadlos halten und dergeſtalt diefem, in defjen angeblihem Intereſſe
man vorzugsweife bie fragliche Steuer begehrt, bie vermeinte Erleichte⸗
rung vielmehr zur neuen Burde machen? Oder, wenn ihm foldhes
nicht gelingt, wird er nicht feine Gapitalien im Auslande anlegeu
und dadurch dem einheimifchen Aderbau und ber einheimifchen Induſtrie
bie ihnen nothwendigen oder mwohlthätigen Betriebsfonds entziehen ?
Und ebenfo, wenn man die fremben Gapitaliften befteuert, werben
fie nicht gleichfalls ihre Gelder zurüdncehmen und jene Fonds dadurch
abermal ſchwaͤchen? Wohin man alfo blide, überall erfcheint nur
Schwierigkeit und Nachtheil, verbunden mit einem jedenfalls nur ges
xzingen unmittelbaren Ertrag; ja, wenn man — mie aller:
dinge billig ift — um. die ben Gapitaliften aufgelegte Laſt jene ber
Schuldner vermindert, d. 5. biefen bie Schulbfumme von ihrem Steuers
capital abzieht, ohne allen Ertrag.
Auf diejenigen ber hier zufammengeftellten Argumente, welche blos
gegen die Befteuerung einzelner Claffen oder Gattungen von
Capitalien gerichtet find, werden wir unten zurüdtommen, bei der zu
erörteenden Stage ndmlih: welche apitalien nad) Recht und Kiug-
heit mit der Steuer zu belegen find? Fuͤr jegt bloß eine kurze Erwie⸗
derung auf bie allgemeinern Vorwürfe. Die Ausführbarkeit
ber Gapitalien-Steuer zupsrberft geht am Harften daraus hervor, daß fie
ja in mehreren Staaten, 3. B. in Würtemberg, wirklich befteh:t
und in andern, 3. B. in Baden, mwenigftens eine Reihe von Jahren
binduch beftanden bat. Denn was wirklich iſt oder geſchah,
muß auch möglich fein. Einige Schwierigkeiten und Incon⸗
venienzen übrigens geben wir zu. Doch ift niht eine Steuer
gattung von folchen frei, und viele berfelben, namentlih die Ges
werbe= Steuer und bie meiften inbirecten Steuern, führen derſel⸗
ben noch weit mehrere und fhlimmere als die Gapitalien-Steuer mit ſich.
Bei diefer, wie eine unbefangene Betrachtung zeigt, find fie nicht einmal
ſonderlich geoß. Der größere und wichtigere heil der Gapitalien, näms
lich bie in’d Hyppothekenbuch eingetragenen, liegt ja wirklich zu Zage.
Die Berichtigung der etwa mangelhaft eingegebenen Faſſionen iſt hiernach
licht, wenn man auch nicht zu dem fonft vorgefchlagenen Mittel greis
fen will, daß jeder bei Gericht einzugebenden Klage gegen einen Schuld:
nee ber Ausweis über den Eintrag der Schuld in die Steuerrolle des
Klägers beigelegt werden müfle In Anfehung der bloßen Chiros
254 Eaapitalien » Stener.
2
graphar⸗Schulden jedod könnte man wohl flart ber ſpeciellen
Saflionen ſich mit ganz allgemeinen ober fummarifchen begnuͤ⸗
gen; und bei den Staats⸗Glaͤubigern waͤren (wenigſtens im
Bezug auf die Staats: Steuer; etwas Anderes jedoch fände bei der
Gemeinde: Steuer flatt) gar Feine vonnöthen, indem bier der Staat
blos durch entfprechenden Abzug bei jeder Zinszahlung bie Steuer
zu erheben braucht. inige weitere Mittel ber Erleichterung oder Ders
einfachung werden wir noch fpdter berühren. Was nun aber die Be
forgniß betrifft, es möchten die befteuerten Gläubiger auf irgend eine
Art die Laft auf ihre Schuldner übermälzen; fo halten wir
fie für geößtentheild, wenn nicht völlig, eitel. Der Preis des Gel⸗
bes, ber ſich duch den Zindfuß ausbrädt, wird beftimmt durch bie
Geſetze des Zufammenfluffes, nit durch den Willen des Beſitzers
und ber als Regel geltende, fogenannte „landlaͤufige Zins“,
auf welchen ber Staat niht nur die gerichtlich zuzuerkennenden,
z. B. Verzugs⸗Zinſe u. f. w., fondern audy bie den öffentlichen,
d. h. überhaupt unter der höhern Staats = Autorität zu verwaltenden,
ale Corporations⸗, Stiftungss, Kirhens u.f.w. Fonds
zuftändigen Capitalzinfe zu befchränken das Recht hat (Privats Gläus
bigern foll er natürlich nichts vorfchreiben), wirkt mehr oder wenb
ger noͤthigend zu gleicher Beſchraͤnkung für Alte, melde Capita⸗
lien auszuleihen haben, weil eine Steigerung , welche Einzelne ver
fudyen wollten, fie wohl um den Zulauf bringen, vielleiht auch ein:
zelme des Geldes Bedürftige der wucherlichen Forderung unterwerfen,
nicht aber den Zinsfug im Allgemeinen erhöhen koͤnnte. Auch die
Gefahr des Anlegens unferer Capitalien im Auslande fehlagen wir
niht ho an. Es müßte — vorausgefest, daß der Juſtizgang im
eigenen Lande gut, fchnell und ficher fei — eine ganz enorme
(und daher nach unfern eigenen Grundſaͤtzen verwerfliche) Steuer
* auf die Gapitalien gelegt fein, wenn fie die Geldbefiger beftimmen
ſollte, ihr Geld lieber im Auslande, wofelbft jedenfalls die gerichtliche
Hülfe für fie fchwerer zugänglich und Boftfpieliger ift, anzulegen, als
in der eigenen Heimath. Was aber das gefürchtete Zuruͤckziehen ber
fremden Fonds betrifft, fo wird, infofeen Einzelne bderfelben wirt:
lich benoͤthiget oder namhaften Productionsgewinn dadurch erzies
lend find, denfelben nicht ſchwer fein, durch Privatentfchädigung des
Gläubigers jenes Zurädziehen abzuwenden; und infofern dieſes nicht
bee Fall ift, fo wird aud) der Geſammtheit, in deren Schooß jest
die früher ins Ausland bezahlten Zinfen zurüdbleiben, dadurch Fein
fonderlicher Nachtheil zugehen. Uebrigens mag darüber, ob auch bie
fremden Gläubiger zu befteuern feien, geflritten werden, wenn
— auch im Allgemeinen die Capitalien⸗Steuer gutheißt oder
ordert.
Soviel von der Zulaͤſſigkeit und Raͤthlichkeit, ja rechtli⸗
chen und politiſchn Noth wendigkeit ber Capitalien⸗Steuer über:
Sapitalien = Steuer. 255
haupt: wir geben jegt über zu einigen befonderen Punkten, die
bier in Sprache kommen.
Welche Gapitalien darf oder foll man ber Beſteuerung unter
- werfen? — Allernaͤchſt und unzweifelhaft die auf gerichtlichen
Obligationen ruhenden, überhaupt die mit Pfandrecht auf Rea⸗
litäten oder andere Steuerobjecte verfehenen oder fonft eigens durch
geſetzliche ober rechts polizeiliche Fürkehr gefiherten; vers
ſteht ſich jedoch nur inſofern fie verzinslich find und nach Verhälts
niß des Zinsfußes, auch nur Infofern dee Termin ber Heimzah⸗
tung unbeflimmt oder erft nach Ablauf einiger Zeit (z. B. eines
Jahres?) vom Tag der Entftehung dee Schuld (3. B. eines gefchloffer
nen Verkaufes u. f. m.) eintretend iſt. Letztere Biſchraͤnkungen find
noch unbedingter anwendbar auf die, ohnehin jedenfall® geringer zu⸗
befteuernden, bios einfahen Ehirographars Forderungen, welche
nämlich in den angebeuteten Fällen (von den Wecfelbriefen gilt
diefes überhaupt) füglicher dem baaren Gelde als den fländigen
Eapitalien gleich zu achten find und daher, fo lange nicht auch die
Baarfchaft oder der Caſſavorrath einer Faffion und Beſteuerung unters
worfen wird, billig die Freilaffung anfpreden.
Auch Renten, auf privatrechtlicd, befeftigten Titeln ruhend, wie
Leibrenten, Wittwengehalte, Apanagen u. f. w., infofern fie nicht ſchon
einer andern, 3. B. Penfionss ober Claffenfteuer unterworfen
find (Srundrenten unterliegen in der Regel der Grundfteuer),
eignen ſich zur Einreihung in die GapitaliensSteuer; verſteht ſich mit
einer geringern Quote, als von ben eigentlihen Capital⸗
Binfen, d. h. von den aus einem bleibenden Geldcapital abflies
enden, zu fordern it. Alten Abftufungen der hier nad) dem Lebens»
alter und andern Verhältniffen eintretenden Unterſchiede kann freilich
bee Steuerfuß nicht folgen. Ein mittlerer oder Durchſchnitts⸗Anſchlag
(3. B. der Hälfte der eigentlichen Capitaliens&teuer gleich) möchte bier
der billigen Forderung auf beiden Seiten genügen.
Ein Anderes ift zu fagen von den Renten, welche auf einem
niht nur perfönlidhen, oder auf die Lebenszeit des Beziehers
befchränkten, fondern bleibenden, daher auch veraͤußerlichen
und vererblihen Titel ruhen. Diefe Eigenſchaft haben zumal diejes
nigen, welche der Staat feinen Gläubigen, nach der gegenwärtig
befonders beliebten Form der Staats s Schulbbriefe, zu zahlen uͤbernom⸗
men bat. Diefelden find jedoch nad) ihrer Wefenheit nichts Anderes
als Zinfe von (in der Regel unauflündbar) beim Staat anliegen»
ben Capitalien; und es ift daher die Frage von ihrer Befleuerung
keine andere als die allgemeine von ber Beſteuerung der beiim
Staate anliegenden Capitalien. |
Ob der Staat feine eigenen Gläubiger als ſolche befteuern
bürfe und folle, mird zwar vielfiimmig bezweifelt ober befttitten ;
doch iſt die Entfcheidung bier, ſowie bei der Befoldungsfteuer,
woſelbſt nämlich ganz Ähnliche Verhaͤltniſſe obwalten (f. den Art. Be⸗
&
256 | Sapitalien = Steuer,
foldungsfteuer), einfach und leicht, fobald man nur bie nahe Hier
gende Unterfheidung zmwifhen dem Staat als im Vertrages
verhättniß befindlicher Partei und als Steuerherrn. in’d Auge
faßt. Der Dienftherr als folder kann dem Bebienfteten als
ſolchem von dem vertragemäßig beftimmten Lohn, der. Schuldner
als folder kann dem Gläubiger als folhem von ben vertrags⸗
mäßig feltgefegten Zinfen nichts. abziehen ober zurüdhalten; wenn aber
der Dienftherr oder der Schuldner in einer andern Eigenfhaft
eine Forderung gegen den Diener oder Gläubiger rechtlich aufzuftellen
bat, fo hindert y- jenes Verhältnig an Geltendmachung folder For⸗
berung nicht. , Für den Staat als Steuerherrn erfcheint der
Staatsgläubiger Kios als Inhaber eines Capitals oder als Be
zieher von Renten, und Infofen im Allgemeinen folhe In⸗
haber ober Bezieher vermöge eines bier ober dort geltenden Steuerſy⸗
ſtems beitragspflichtig find (und dag ein folches Spftem rechtlich und
politiſch gut ſei, haben wir. oben ausgeführt), fo hat die Korderung
dee Ausıtahme oder befondern Befreiung durchaus Fein Rechtes
fundament mehr. Jeder Staatsangehörige fol, nad dem allein
vernünftigen Steuerprincip, beitragen nad) Verhältniß feinee — aller
nähft nad dem Maß feines erfcyeinenden Vermögens und Einkom⸗
mens zu [häsenden — Theilnahme an den Wohlthaten des
Staatsverbands; dee Capitaliſt alfo nicht minder als ber
Srundbefiger oder der Gewerbsmann, denen ohnehin der Ca»
pitaliſt nach Quelle oder Sundament feines Rentenbezugs fehe ähnlich,
ja faft glei ift, und der Umfland, daß Einer feine Renten aus ber
Stantscaffe bezieht oder fein Gapital in ber Staatscaffe anliegen
bat, bringt in Bezug auf, feuerpflichtigkeit durchaus keinen
Unterſchied hervor gegenüber. yemjenigen, welcher feine gleignamige
Forderung nur an eine Privatcaffe ftellt.
Aber iſt es — zugegeben, daß es rechtlich zuläffig ſei — wohl
klug, bie Staatsglaͤubiger zu beſteuern? Wird nicht der Staat$
Eredit dadurch leiden, oder wird nicht wenigſtens was durch die Bes
ſteuerung unmittelbar gewonnen werden koͤnnte, wieder verloren gehen
durch die, eben dieſer Beſteurung willen, ſich ſteigernden Forde⸗
rungen der vom Staat um Anlehen angegangenen Capitaliſten? —
Wir antworten: ja! wenn die Staatsglaͤubiger allein beſteuert wuͤr⸗
den, koͤnnte der Staat ald Schuldner oder ald Geldfadyender davon
die Ruͤckwirkung empfinden. Wenn aber auch die Privatcapi:
talien befleuert find, fo bleibe das Verhaͤltniß zwiſchen Privafs
und Staatsanlehen unverändert, und kann dann blos noch von
der . etwa zu beforgenden Geneigtheit, das Geld im Auslande
anzulegen, gefprochen werben, welche Beforgnig wir aber ſchon oben
beſchwichtigt zu haben glauben. .Uebrigens handelt es fish hier nicht
nur um Staats», fonden nuh um Gemeinder, oder auch
Provinzials Steuern, und find nit nur die jufänftigem
Darlisiher, fonbern bie bereits vorhandenen Staatßglaͤu⸗
Capitalien : Steuer. . 257
biger in Sprache, welche der, nad einem Rechts princip ihnen auf:
zulegenden, Steuer keinen haltbaren Widerſpruch entgegenfegen, auch
ihre Forderung der Steuer willen nicht erhöhen koͤnnen, fondern —
mwiewohl fie als Gläubiger die unverringerte Befriedigung anfpres
hen, damoh — in ihrer Eigenfhaft ald Mitglieder ber Ges
fammtheit billig zur Theilnahme an der Laft oder Schuldigkeit
dieſer Sefammtheit angehalten werden.
Findet alles diefes auch ftatt in Anfehung der fremden Staatögläus
biger? — Hier, alfo geflehen wir, erfcheint ung ein zmweifelhafs
tes Recht, und es iſt zur Entfcheibung noch eine vorläufige Verſtaͤn⸗
digung nöthig.
Zuvoͤrderſt muß unterſchieden werben zwifchen Schufbtiteln, die auf
beflimmte Perfonen lauten, wo alfo die fortdauernde : oder wenige
ſtens die urfprüngliche Eigenfchaft des Glaͤubigers, ob nämlich fremd oder
einheimiſch, juriſtiſch erfcheinend ift, und jenen, die etwa undbeftimmt
au porteur lauten oder wenigſtens nur durch Geffion von Einheimis
ſchen an Fremde gelangt find. Bei der zweiten Glafje mag angenommen
werden, daß der fremde Inhaber, fei ed, daß er gleich urſpruͤnglich
Theil an dem Antehen nahm, oder daß er erft fpäter die Staatsfchulds
verfehreibung fich cediren ließ, freimillig jene Verbindlichfeiten auf
fi) genommen babe, welche den einheimifhen Gläubigern obliegen
oder ohne Unrecht können aufgelegt werden. Diefe Claſſe alfo unterliegt
den über die Befteuerung ber einheimifchen Staatsgläubiger aufgeſtell⸗
tn Grundſaͤtzen. Etwas Anderes mag behauptet werden von ber
erften Glaffe, von denjenigen Perfonen naͤmlich, mit welchen ber
Staat eigens als Fremden bie Schuld contrahiet hat. Bei diefen tft
kein Xitel der Befteuerung gedenkbar, es fei denn, daß fie fpäter Ins
Land ziehen und dergeftalt Einheimifche werden. Sonſt aber genießen
fie von unferm Staat als Staat buchaus nichts, nicht einmal dien
Shus für ihre Sapital= und Zinsforderung. Denn ein folder Schug hat
nur Bedeutung, wenn Sentand gedacht wird, gegen welchen der Schuß
gewaͤhtt wird. Hier aber ift der Staat ja felbft der Schuldner und
erfuͤllt feine Verbindlichkeit gegen fie aug gemeiner, privatrechtlicher
Schuldigkeit, nit als Staatsgewalt, und auch nicht genöthis
get durch eine folche, weil er diefe ja felbft if. Der Gläubiger ev
hält ba keine Wohlthat vom Staat a8 Schutzanſtalt, ſondern
blos die contractmaͤßige Befriedigung von Seite feines Schulbners.-
Anders ift dis Verhaͤltniß, wenn der Fremde bei Staatsan⸗
gehörigen feine Gapitale anliegen hat. Hier tritt ber Staat wirke
ih a8 Scusanftalt auf; denn er läßt dem Fremden gegen ben
etwa zahlungsflüchtigen oder faumfeligen Schuldner Recht anyedeihen
vor den einheimifhen Gerichten, und auch den polizeilichen,
namentlih recht spolizeilichen Schuß läßt er ihm angedeihen gleich
den eigenen Unterthanen. Billig wird der Fremde dafuͤr zu entfpres
chender Gegenleiftung verbunden. Aber melches tft derfelben billiges
Map? — Hier kommt es freilich auf das Syſtem an, weldem
Staats = Lerifon. 111. 17
258 . „Gapitalien » Steuer. |
man bei der Beſteuerung im Allgemeinen huldigt ober auf ben für
die Steuerpflicht überhaupt aufzuftellenden Titel. Nach dem Syſtem
der fogenannten. birecten Steuer, namentlich ber Grund- Steuer,
wonach nicht eigentlich die Perfon, fondern die Sache befteuert
wird, ſollte natürlich der fremde Capitalift diefelbe Steuer bezah:
‚len wie der einbeimifche, forwie 3. B. auch der fremde Grund:
befiger in Anfehung der Grunbdfteuer nicht anders behandelt wird
ale der einheimifhe. Aber ber Staat iſt nicht nur eine Verſiche⸗
rungs = Anftalt für die Sachen, fondern auch für die Perfonen;
ja es erlangen diefe nicht nur Sicherheit, fondern auh Annehm:
lichkeit des Lebens, überhaupt taufenderlei Vortheile und Ges
nüffe, duch die Anflalten des Staates, welchem fie angehören,
ober es wird ihnen mwenigftens die Möglichkeit oder bie Gelegen⸗
heit und Leichtigkeit, ſich diefelben zu verfchaffen, von ihm dargebo-
ten. Huldigt man nun dem Grundfag: „Seder fteure nad) Maßgabe
feiner Theilnahme an den Wohlthaten des Staatsverbande”, fo darf
man ben Fremden nicht gleihmäßig befleuern wie den‘ Einheimi-
ſchen (e8 fei denn etwa, er babe auf längere Zeit feinen Wohnfig
bei und genommen und fei alfo dadurch wirklich zeitlicher Unter⸗
than geworden). ben jenes Grundfages millen haben wir auch in
unferer allgemeinen Lehre von Steuern (f. den Art. Abgaben)
bemerkt, daß nur die Befteuerung bes Sefammt-Vermögens und
Einkommens jebes Einzelnen die Forderung des idealen. Rechte
wenigftens annähernd befriedige, und zwar nicht allein darum, meil ber
Reiche mehrfältigen Staatsfhus ale der Arme in Anfprudy nimmt,
-fondern noch eigentliher des wegen, meil man unter fonft gleichen Um⸗
ſtaͤnden allerdings im Verhaͤltniß des Vermögens und Einkommens bie
Annehmlichkeiten des Lebens genießt, oder wenigſtens Ge⸗
nußmittel befist, und alfo — da alle oder faft alle Gmüffe,
von welchen bier die Rede fein kann, näher oder entfernter buch das
Vorhandenfein und die Kürforge des Staates bedingt find — In eben
dieſem Verhaͤltniß der Mohlthaten des Staatsvereins theilhaft wird.
Eben darum ift auch die auf alle Arten des Befisthums und Er-
werbs gleichmäßig gelegte Steuer, weil ſie bei Einheimiſchen in
ihrem Ergebniß wie in ihrem Titel jenem der allgemeinen Vermoͤgens⸗
and Einkommensſteuer ziemlich nahe koͤmmt, als wenigſtens annaͤ⸗
hernde Verwirklichung der Idee zu billigen: aber auf Fremde paßt
dieſes nicht, weil dieſe zwar von unſerm Staat den Schutz für
ihre bei uns befindlihen Güter oder Vermoͤgens ſtuͤcke erhalten,
aber für die Beduͤrfniß⸗Befriedigungen oder febensgenüffe, wozu
Ihnen der Ertrag foldyes Vermögens die Mittel darbietet, niht unferm
Staat, fondern nur dem ihrigen verbindlich find. Für den Schutz
nun, welcher den Fremden in Anfehung ihrer Gapitalien bei uns zu
Theil wird, möchten bie für die befondern gerichtlichen oder polizeilichen
Acte, welche folhen Schutz bezwecken, zu entrihtenden Zaren und
Sporteln genügen. Eine weitere, wenigſtens eine den Fremden in
Capitalien: Steuer. 259
gleihem Mage wie ben Einheimiſchen aufgelegte Capitaliens&teuer,
würbe — mie biefes auch in der That bei der Grundſteuer nad) ihe
rer gemöhnlichen Regulirung der Fall iſt — eher die Natur eines vor-
behaltenen oder angemaßten Miteigenthums auf die befteuerte-
Sache, als die einer wahren, nur von den Perfonen zu fordernden
Steuer haben‘, mithin, da ein ſolcher Vorbehalt wohl etwa (wegen des
Gebietsrechts) auf Grund und Boden, niht aber auf Fors
derungen benkbar ift, hier eine bare Ungerechtigkeit fein. Zus
dem würde die Eintreibung einer foldhen Steuer fehr großen Schwierig⸗
keiten unterliegen, und wenn — mie dann ficher gefchehen würde —
der fremde Staat fie auch gegenfeitig unfern Gapitaliften auflegte, ihr
Ertrag leicht durch den biefen legten zugehenden Verluſt überwogen wer⸗
den. Es ſcheint hiernadh die Kreilaffung — verfteht fid) bie wech⸗
felfeitige Freilaſſung — ber fremden Privat-Gldubiger von der Ca⸗
pitalien-Steuer eben fo väthlich als gerecht. BE
Dagegen erlaubt oder fordert unfer Princip die Beſteuerung bderjes
nigen Gapitalien, welhe bie eigenen Bürger im Auslande anlks
gen haben, d. h. wenn audy nicht eigentlih der Capitalien felbft,
weil diefe.dem Schuße bes fremden Staates unterftehen, fo doch der da⸗
von abfließenden Renten, die da nämlid ein Einfommensthelt
find und in dieſer Eigenfchaft (nad) obiger Ausführung) nit nür
fteuerfähig, fondern auch fLeuerpflihtig mahen. So mehlg
man beim Kaufmann unterfcheidet, ob der Handelsgewinn,
den er macht, ihm von einheimifchen oder von fremden Käufern zufließe, '
fondern in einem wie in bern andern Fall denfelben befteuert, eben fo we⸗
nig liegt (in Bezug auf den wahren Titel der Steuerpflicht) bei'm Ca pis
taliften rechtlich daran, ob feine Zinfe ihm von fremden oder von ein⸗
heimiſchen Schuldnern bezahlt werden; er ift in einem wie in dem andern
Fall im Beſitz eines Einkommens und daher nach Maßgabe beffelben
dem Staate beitragspflichtig. Freilich ift es hier ohne die gehäf-
figften inquifitorifchen Mafregeln kaum moͤglich für den Staat, zur
Kenntniß der im Auslande anliegenden Capitalien zu gelangen, wel⸗
cher Umftand jedoch nur die praktiſche Ausführbarkeit verringert, nicht
aber die Wahrheit des theoretifchen Satzes aufhebt. Auch kann,
was nicht vollftändig auszuführen ift, wenigftens zum Theil in Wir-
fung treten, namentlich mittelft der von den Nentenbefigern zu erhebenden
Safftonen, nad) deren Inhalt fodann nicht nur die Staats:=, fondern
aud die Gemeinde: Steuern für die Betreffenden erhöht würden.
Uebrigens wollten wir durch alles dieſes blos die Uber die Gapita-
lien» Steuer aufgeftellten allgemeinen Principien vollftändiger ausführen,
und mas aus ihrer Anwendung auf befondere Verhältniffe hervorgeht, ins
Licht fegen. Aber wir befchränfen uns hier auf die Behauptung: bie
Befteuerung auch der aus dem Auslande bezogenen Renten ift rechtlich
zuldffig; aber, fo feßen wir gerne bei, fie ift nicht eben nothwens
dig, weil, zumal wegen ber allzugroßen Schwierigkeit, über ſolche Ren⸗
ten fich den- gehörigen Ausweis zu verfchaffen, oder ber allyugropen Reichs
260 Gapitalien » Steuer.
tigkeit der Defraudation ber vernünftige Gefammtwille ſich wohl audy bes
wogen finden kann, darauf zu verzichten. Er wird diefes (zumal in
Bezug auf die Staats: Steuer; etwas Anderes aber bürfte bei der
Gemeinde-Steuer der Fall fein) um fo eher thun können, da, nad)
dem heutzutage faft überall beftehenden Syſtem einer ausgebreiteten in⸗
directen Beſteuerung, auch der blos allein von auswärtigen Ren⸗
ten Lebende jedenfalls eine nicht unbedeutende Abgabe zu entrichten hat.
Eine Befteuerung, die, wie wir vorübergehend bemerken, aud als ein
Eingeftändniß der Zuläffigkeit einer auch auf folche Rentenbe⸗
zieber zu legenden Steuer gelten mag.
Der Betrag der Capitalien = Steuer wird billigermaßen nicht nach
ber Summe des Gapitals felbft, ſondern nad jener der Zinfen .
oder der Renten zu beflimmen fein; fo zwar, daß 3. B. von 100 Fl.
Binfen oder Renten gleich viel entrichtet werde, ohne Unterſchied, ob
fie von einem (wahren oder idealen) Gapitale von 3000, oder von 2500
oder 2000 Fl., d. h. von einem zu3, 4, oder 5 Procent anliegenden
ober berechneten abfließen, daß alfo zum Behuf der Eintragung in das
Steuerkatafter (wenn man naͤmlich die Steuer nad) einem Capi⸗
tals: Anfchlag beflimmen will) alle Renten nah einem und dem⸗
felben Fuße capitalifirt werden. Bei wohlverficherten einheimifchen
Renten und welchen ein bleibender, d. h. vererblicher Forderungstitel zu
Grunde liegt, würde dann billig der Steuerfuß übereinflimmend mit
‚dem für die Grundſteuſer beflehenden feftzufegen, d. h. von 100 Fl.
Renten = Capital der gleiche Betrag wie von 100 Fl. Grund: Capital
(oder auh Grundgefäll- Capital) zu entrichten fein. Bei bloßen
Chirographar= forderungen, dann bei bloßen Leibrenten, oder
bei den von Ausländern oder aus dem Auslande bezogenen u. f.w.
würbe dann, in Gemäßheit der oben entwidelten Grundfäge, die ver:
hältnigmäßige Verminderung des’ Steuerbetrags (3. B. auf 4 oder
4 ober 4) ober auch eine völlige Kreilaffung auegefprochen werden.
Welches immer bie Steuerquote fei, die den Lapitaliften aufgelegt
würde: fo fragt es fi, ob die Steuerfumme ihrer Schuldner
um denfelben Betrag folle gemindert werden? In dee Gonfequenz des
die Einkommensſteuer als alleiniges oder doc vorzugsweife walten⸗
bes Princip anerfennenden Syſtems liegt ſolche Minderung allerdings,
und der Umftand, daß alddann — menigftens in Bezug auf Privat: Gas
pitalin — der Ertrag der Steuer (meil nämlidy zugleih + und —)
gleih Nut fein würde, ift von ganz und gar feinem Gewicht. Denn
unfer Zwed bei Einführung der Capitalien = Steuer ift nicht eben die we⸗
fentlihe Vermehrung der Einnahmen, fondern bie Herftellung
der thunlichften Gleichheit, mithin die Befriedigung der Gerechtig⸗
Leit bei dee Bertheilung der Abgaben. Daher müßte, wenn
man ben Schuldneru die bemerkte Steuer Rate nicht erließe, wenigſtens
überhaupt ein folder Nachlaß bei allen Steuerpflichtigen, d. b. eine
entfprechende Herabfegung der allgemeinen Steuer- Forderung, bie
Solge der Capitalien» Steuer fein. Allein durch eine foldye Herabfegung
Sapitalien » Steuer. 261
würden zwar alte Claffen um einiges’ Wenige erleichtert werben,
die Elaffe de Schuldner aber keineswegs hinreihend. Daher
muß wirklich ihnen alles jenes zu out kommen, was ihren Stäubigern
aufgelegt wird; denn fie haben bisher mit Unrecht folches Betreffniß
ſelbſt zahlen müffen, indem der Titel der Steuerpflicht eigentlich ges
nen ihre Gläubiger (als nämlich die wahren Inhaber des ber
Schuldfumme gleihen Vermögenstheils) gings und fobald man ſolches
erfennt (mas durdy Einführung der Capitalien» Steuer gefchieht),
muß die ungerechte Forderung aufgegeben (ihnen alfo der Abzug ihrer
etweislich vorliegenden paffiven von ihrem directen Steuer s Capital ges
fbuttet) werben. ' Zu " IJ
Bei der Annahme dieſes Princips koͤnnte die Einhebung der
Gapitalien Steuer auf eine ſehr einfache und leichte — doch freilich
von Bedenklichkeiten und Inconvenienzen auch nicht freie — Weiſe
geſchehen. Man koͤnnte naͤmlich nach wie vor die gan ze Steuer vom
Schuld ner erheben, demſelben jedoch die Befugniß ertheilen, die den
Glaͤubiger treffende Rate dieſem bei der Zinszahlung In Abzug zu
bringen, oder die Steuer: Quittung ihm mit an Zahlungsftatt
zu geben. Das Gefeb müßte fodann freilich jedem Vertrag, wodurd)
etwa ein Gläubiger jene Befugniß unwirkfam zu machen verfuchen
follte, oder jede Verzichtleiftung des Schuldners darauf, für
nichtig erklären; aber eines Mehreren bebürfte es nicht. Einige
wenige Schuldner, welche etwa gleichwohl factiſch der ihnen gefeglich
zugeduchten Wohlthat beraubt würden, könnten nicht in Betracht kom⸗
men; im Allgemeinen würde — nad ben ſchon oben aufgeftellten
Bemerfungen — das Geſetz feine beabfichtigte Wirkung vollkommen
hervorbringen.
Adgefehen von folder Erhebung vermittelſt des im Namen des
Glaͤubigers zahlenden, für ſich ſelbſt aber zu befreimden Schuldners
und nur vom allgemeinen Standpunkt betrachtet, erfcheint jedoch, mas
die Erhebungsart der Gapitalien = Steuer betrifft, dem Princip ber
Eintonimens: Steuer, unter deren Begriff fie vorzugsmeife gehört,
am angemeffenften, fie (gleih andern perfönlidhen Steuern, wie
Beſoldungs- oder Slaffen s Steuer) am Wohnort ded Ca—⸗
pitaliften nach den über feine ſaͤmmtlichen Gapitalien aufzunehmen-
den allgemeiriert Verzeichniffen oder Faſſionen in die Steuerrolle einzu-
tragen und zu erheben. Dem Begriff der auf Sachen gelegten Steuer
Dagegen todre entfprechender, foldyes am Orte der Schuld verſchrei⸗
bung oder der dafür eingefesten Hypothek zu thun, mas aber na⸗
türlich mit vielen Schwerigkeiten verknüpft ift, wofern man nicht auf
oben bemerkte Weife und Bedingung den Schuldner ſelbſt zur Vors
auslage und Wiedererhebung verpflichten und berechtigen will.
Noch ein Grund ift, welcher die Behandlung der Capitalien⸗Steuer
nach der Eigenfchaft einer perfönlichen, mithin nicht auf beftimm:
ten Sachen ruhenden Abgabe, und daher ihre Gefammterhebung am
Wohnort des Gapitaliften, in Gemäßheit allgemeiner Taf
262- Gapitafiens Steuer. Capitel.
fionen oder Verzeichniſſe, anflatt der vereinzelten, namentlich an
den Orten, wo daB Gapital verfihert anliegt, zu gefchehenden, em⸗
pfiehlt. Er befteht darin, bag nur auf diefe Weife möglich wird,
dem’ etwa Dürftigen und zu weiterem Erwerb unfähigen Capitaliften
ben entfprechenden- Steuernachlaß zu gewähren. In folhem Falle
befinden fich überall Viele, als z. B. Greiſe, die etwa für ihren
Lebensunterhalt auf bie Zinfe eines kleinen, mühfam erfparten Capitals
befchräntt find, Witwen und Waifen, deren ganzes Erbtheil oft
bios aus ſolch' einem geringen Gapitale befteht, und bie zugleich ars
beitsuyfähig aus Krankheit oder Schwäche, „oder ohne Gelegenheit
zum Arbeitsverdienft find. Es ift Hart, wenn man folhen Perfonen
ihren nothdürftigen: Lebensunterhalt durch Beſteuerung noch weiter vers
kuͤmmert. Freilich dürfen diejenigen, melde mit den gegenwärtig
beftehenden Steuerfuftemen zufrieden find, gegen folche Härte ſich nicht
anftehnen; denn fie üben un edenklich eine noch größere aus,. 3. B.
gegen den arwen,..verfchuldeten Befiger eines kleinen
Grundes oder..Haufes, deſſen Ertraͤgniß in der Form von Zinfen
den Glaͤubigern zufließt, und welcher gleichwohl die Grundfteuer davon
bezahlen muß, u. f.w. Wir aber, die wir das Steuerfnftem überhaupt
der Idee einer wahren Vermoͤgens- und Einfommens: Steuer
möglichft nahe zu bringen ſuchen, daher auch namentlidy die Schuld:
ner um den Betrag der Gapitalien = Steuer erleichtert fehen und
überali der Mothöhrftigkeit des Lebensunterhaltse Rechnung tragen
möchten, wir ſchlagen den in Frage ftchenden Vortheil allerdings hoch
an, und fegen demnady zur Vervollftindigung unferer Theorie von der
Capitalien-Steuer bie ausdrüdlicye Forderung bei, daß den zu beſteuern⸗
den Gapitaliften eine Art von beneficium competentiae gewährt, d. b.
in den durch's Gefeg thunlichft genau im Allgemeinen zu beftimmen-
den und von ber Finanzbehörde in concreto mit Billigkeit und Hu⸗
manität zu entfcheidenden Fällen ein entfprechender Nachlaß verwils
figet werde. Wir wuͤnſchen diefe Wohlthat auch, foviel irgend möglich,
auf alle andern Elaffen der Steuerpflichtigen ausgedehnt zu ſehen;
aber niemals könnten wir gutheißen, daß, unter dem Vorwand, bie
Kleinen, dürftigen Gapitaliften zu fchonen, aud die Millionaire befreit
mwürden..
Zum Schluß noch eine allgemeine Bemerkung: Die gewichtigs
ſten Gegner ber Gapitalien-Steuer find meiftens felbft Capitalis
ften, deren Urtheil hiernach als befangen und deren Eifer als
unlauter erfcheint. Ihre Stimme kann demnach für bie rein
vernunftredhtlihe und ideal politiſche, d. h. vom Vernunfts
recht bedingte politifche Frage nicht entfcheidend fein. Intereſſen
widerftreiten fi ewig, Wahrheiten nie. Die Capitalien : Steuer
wird vom Recht gefordert, von der Politik angerathen;
ihre Schwierigkeiten oder Inconvenienzen zu überwinden oder zu heilen, ift
Aufgabe der praftifhen Finanzkunſt. NRotteck.
Capitel, ſ. Kirchenverfaſſung.
Gapitularien. Gapitulation. 263
Gapitularien, f. deutſche Gefege.
Gapitulation bezeichnet wörtlich die Vereinbarung Über gewiffe
Hauptpunkte. In flastsrechtlicher Hinficht verfteht man unter Gapitula=
tionen , - insbefondere unter Wahlcapitulationen, Verfaſſungsver⸗
träge zwifchen dem Volk und ben Megenten. Voͤlkerrechtlich werben die⸗
jenigen Verträge Capitulationen genannt, durch welche im Kriege Feftuns
gen, Landſtrecken oder Truppen unter gewiſſen Bedingungen dem Keinde
übergeben werden. In älteren Zeiten wurden biefe Gapitulationen, nas
mentlich die der Feſtungen, mit mehrfacher Sörmtlichleiten, unter wechſel⸗
‚ feitiger Webergabe von Geifeln und eidlich gefchloffen. Doch wimmelt
die Gefhihte von Beifpieten, daß Capitulationen unter ben fpisfindig>
ften, nichtigften Ausreden fchändlicy gebrochen wurden, ähnlich etwa wie
bie des großen Alerander nad der Einnahme von Maffaca, oder
wie die des fränkifhen Major-Domus Ebroin nad der Einnahme von
Laon. Alerander hatte verfprochen, die indifche Befagung folle mit
Waffen frei abziehen, feste ihe aber nach und hieb fie zufammen, indem
er fagte, er habe nicht verfprochen, fie nicht zu verfolgen. Ebroin’
ließ dem gegnerifhen Heerführer Martin durd zwei Biſchoͤfe auf eis
nen Reliquienkaften Sicherheit zufchrodren, und ließ ihn dann niederhauen
unter dem Vorwand, der Neliquienkaften habe Leine Reliquien enthalten.
Eine größere Achtung det Öffentlihen Meinung und mehr Rüdfidht auf
die Öffentlihe Ehre, welche in dem neueren europaͤiſchen Voͤlkerrecht
ausgebildet wurden, bewirkt es, daß jest allermeift die Gapitulas
tionen ohne Seifen und Eide beffer gehalten werden, als früher mit
denfelben. Doc, fordert die Kiugheit vorzüglich bie Beſiegten auf, als
die Schmächeren, mit möglichftee Sorgfalt in den Gapitufstionsbebinguns-
gen alle Zrweideutigkeiten zu entfernen und alle ihre Rechte beftimmt feſt⸗
zufegen. Dazu kann 3. B. oft auch das gehören, dag man ſich aus:
bedingt, daß die vertragsmäßigen Mechte nicht etwa unter dem Vorwand
der Repreffalien wegen anderer Berhältniffe in bemfelben Kriege vers’
legt werden fönnen. Diefer Vorwand murde wenigſtens früher häufig
gebraucht. Auch mag #6 räthlih fein, bei dem Verfprechen: die Bes
fagung da oder dorthin zu bringen, den fürzeften Weg zu bezeichnen. So
übergab im fpanifchen Suceeffionskriege die englifhe Beſatzung Alcira‘
gegen das Verfprechen, alsbald nad) Lerida geführt zu werden, deffen
ſchwache Befagung Verftärkung bedurfte, Die fpanifchen Generale aber
ließen die Befagung von Alcira einen Ummeg machen, auf weldem
fie ein Vierteljahr brauchten, fo daß fie zu ihrem Zwed zu fpät kamen.
Sie erflärten dabei, bie Spanier feien nicht fchuldig, das zu vollziehen,
was die Engländer ſich auszubedingen nicht verftanden hätten. Gewoͤhn⸗
lich enthalten jegt Gapitulationen auch die würdige Beflimmung, daß alle
zweifelhaften Punkte zu Gunften der Befiegten ausgelegt werden follen..
Wegen der oft höchft verderblihen Folgen, welche vorfchnelle Capitula⸗
tionen haben koͤnnen und weil bei Bleineren vereinzelten Heertheilen leich⸗
ter der Muth finten kann, find fo durchaus ſtrenge Strafen, wie Nas
poleon auf zu frühes Capituliren fegte, und bie Vorſorge, daß jeder
264 Gapitulation. Garavanen,
tapfere Untergebene für eine weitere Vertheidigung an der Stelle bes zur
Gapitulation bereitwilligen Anführers treten kann, gewiß hoͤchſt politifch.
Wollen bei einer Feftung die Belagerten die Gapitulation anbieten, fo
kuͤndigte man dieſes früher durch ſonderbare Foͤrmlichkeiten an, buch
Herunterlaſſen der Abgeordneten an Stricken oder durch Begleitung
mit Waffenherolden u. ſ. w., ſpaͤter aber durch das Chamade⸗Trom⸗
meln auf den Waͤllen, jetzt duch: das Aufſtecken einer weißen Fahne.
Willigen die Belagerer in die Unterhandlung ein, ſo hoͤren natuͤrlich
alle Feindſeligkeiten und alle Arbeiten zur Vertheidigung wie zum An⸗
griffe auf. |
Es unterfcheiden ſich übrigens die Gapitulationen von andern voͤl⸗
Verrechtlichen Verträgen dadurch, daß, wenn fie nicht ausnahmsweiſe bes
ſonders ausbedungen ift, hier Feine Ratification nöthig iſt, ber
Bertrag alfo auc nicht unter dem Vorwand der Ratificationsverwei⸗
gerung für ungültig erklärt werben kann. Einestheils liegt in der Nas
tur ber einem militairiſchen Anführer einer befonderen militairiſchen Uns
ternehmung übertragenen Gewalt: von ſelbſt auch die Gewalt zu den
ihm militairiſch nothwendig werdenden Bereinbarungen. Anbderntheils
würde hier der Ratifisationsvorbehalt das Zuftandefommen der Capitus
Iationen und das Aufhoͤren meiterer Zeindfeligkeiten verhindern. Nur
bei erwiefener Beſtechung des Wertragfchließenden hält man feine
egierung nicht verpflichtet, die Gapitulation zu halten (Martens
ölkerr. $. 286). Gewoͤhnlich haben auch die Gapitulationen eine
eigne Form. Der Regel nach werden die Bedingungen von dem einen
heile in befonderen Artikeln vorgefchlagen und dann von dem andern
heile bei jedem einzelnen Punkt die Zuftimmung oder Nichteinwillis
gung binzugefchrieben. Welcker.
Capo d'Iſtrias, ſ. griechiſche Revolution.
Caravanen. Geſellſchaften von Reiſenden, die ſich zur beſſe⸗
ren Bekaͤmpfung der Gefahren und Beſchwerden des Weges mit ein⸗
ander verbunden haben. In dieſem Sinne iſt die Sache nicht blos
dem Drient eigen, vielmehr das Mittelaiter hindurch audy in Europa
norgefommen. Da die Verhältniffe, welche ſolche Einrichtungen damals
nothwendig machten, im Oriente noch immer fortdauern, fo erhält ſich
quch das Garavanenmwefen noch. Es find aber ſolche Verhaͤltniſſe
überali in der Uncultur der Länder, durch welche die Reifen zu führen
find, begründet, Diefe veranlaft einen Mangel an nahe gelegenen
Ruheftationen, hindert die Anlegung guter und bequemer Wege, bie
ntftehung ordentlicher Gaſthoͤfe, die Austrodnung der Mordfte, die
barmahung ber Wuͤſten; fie ruft auch einen Zuftand oͤffentlicher
Unficherheit hervor, in Folge deffen der einzelne Reiſende bald den Ana
fällen raͤuberiſcher Horden, bald den Erpreſſungen willlürlicher Macht⸗
baber ausgefegt ift. Wie nun das Gefühl, daß gemeinfchaftlicyes Anfchliegen
bie Bekämpfung aller Gefahrenund Beſchwerden bes Lebens erleichtern müffe,
die Entitehung des Staats vermittelt hat, fo ruft dafjelbe Gefühl, für
eine beflimmte Zeit und beftimmte Verhaͤltniſſe wirkend, ben temporairen
Saravanen. Carbonari. 265
Staat bee Caravqnen ins Leben, der auch feine eigenthämliche Der:
faffung, feine Gefege und Sitten, feine Anführer und Beamten hat.
In gewiſſer Hinficht vertritt das Caravanenmefen für den Orient aud)
die Stelle der Poſt, infofeen nämlich ein charakteriſtiſches Merkmal
ber letzteren in ber MRegelmäßigkeit ihrer Bewegungen nach Zeit und
Dre beſteht. Die großen Caravanen halten gleihfall® ihre gefeglichen
Zeiten und ihre beflimmten Nouten ein und die Genauigkeit diefer
Beflimmungen macht es möglich, daß die einzelnen Zweigcaravanen fid) :
im Laufe der Reife an die Hauptcaravane anfchließen koͤnnen. Solche
regelmäßige Hauptcaravanen werden zunaͤchſt durch bie religiöfe Pflicht
der Mahomebaner, von denen Seber mwenigftens einmal das Grab
Mahomeds in Mekka beſucht haben foll, veranlaßt. Doch fliehen
fi) auch an diefe Pilgercaravanen, die nur die zahlteichften find und
den befonderen Schuß der öffentlichen Autoritäten genießen, eine Menge
Meifende an, die Handlungs s oder fonftigen Privatzwmeden nachgehen.
— Außerdem bilden ſich befondere Handelecaravanen. Die Orientalen
reifen nicht leicht, um Wißbegierde oder Schauluft zu befriedigen. Res
Iigionspflicht, öffentliche Gefchäfte, Samilienangelegenheiten oder Handel
find die Antriebe, die fie zum Reifen beflimmen, und der leßtere wird
gemöhnlid mit jenen anderen Beranlaffungen gelegentlid) verbunden.
Wer nun nit reih und nicht vornehm genug ift, um mit zahlreicher
Dienerfhaft und flarker bemaffneter Bedeckung zu reifen, ber muß
“warten, bi er Genoffen findet, die fih mit ihm zur Dedung der
noͤthigen Koften und zur Beftreitung aller Beduͤrfniſſe der Reife vers’
einigen. Haben fih ſolche Kleine Gefellfchaften in Bewegung geſetzt,
fo fchliegen fih im Verlaufe. der Reife in der Regel Viele an, die
von der Gelegenheit Gebrauch zu machen eilen. — Gibt bad Caravas
nenleben dem Reifen einen eigenthümlichen Charakter, fo hat es aud)
auf den ganzen Gang des Handels feinen befonderen Einfluf. Der
Drient kennt weder Mefien noch Handlungsreifende in unferm Sinne;
aber Beides erfegen in gewiffer Hinficht die Garavanen. Namentlid)
ruft die Ankunft der großen, regelmäßig wiederkehrenden Garavanen
nothwendig an allen ihren Hauptſtationen eine plögliche Belebung bes
Handels hervor. Der Handeldmann endlich, fchließt fi) einer Garavane
an, durchzieht mit ihr diefe vielfachen, einander häufig fo fremden Lands
ſtriche und handelt dabei von Drt zu Ort, oft mit den verſchiedenar⸗
tigften Waaren. Er fieht auf der Durchreife einen Gegenftand, han⸗
delt ihm gegen feine mitgebradhten Waaren ein, um ihn im nädften
Drte vielleicht wieder gegen etwas ganz Anderes zu vertaufchen. An⸗
ders wieder ift der Gang des Handels in Afrika, wo die Unficherheit
noch größer ift und es dem Handelsmann unmöglicd macht, felbft durch
ale die fremden und feindlichen Völkerfhaften zu dringen. Hier mas
hen die Nationen die Zreifchenhändfer und manche Waare geht durd)
eine lange Reihe von Mittelgliedern von ber Weſt⸗ nach der Oftküfte
des breiten Erdtheils. Blau.
Sarbonari und Ealdberari, f.geheime Gefelifchaften.
\
256 Sarbdinal. Garnaval.
GCarbinal, Gardinalscollegium, f. Curle (tömifche).
. Carl, ſ. Karl.
- Carlos, Don, f. Spanien. :
Garlöbader Befblüffe, f. Karlsbader Berhläffe
Carnaval, auh Carneval, Faſtnacht, wird von gruͤndlichen
Mortforfhern von Carn-a-val — Gute Nacht Fleiſch! caro vele —
das auch fo viel fagen will, als coro abscedit, seu teınpus carnem
cömedendi, abgeleitet, und ift in faft gleichem Ausdrude im Sranzöft=
fhen und .Stalienifchen gebräuhlih. Das Fleiſch thut ſich guͤtlich und
nährt fih vom Fleiſche, deſſen Genuß durch bie roͤmiſche Kirche an bes:
flimmten Zagen, bie darauf folgen, verboten if. Ich mollte, .ein Deuts!
ſcher Hätte diefe Ableitung entbedt, ba wir Deutfche doch faft alles Bes
deutende und Wichtige ‚entdedt und erfunden haben, das Pulver, die’
Buchdruderfunft, die Uhren, die Philofophie Hegel's und den deut⸗
{hen Bund, wenn auch nicht die neue Welt und den polnifchen Reichs⸗
tag. Carn-a-val, naͤmlich der Wein ift aus; gute Nacht Melt! Fort
mit dem Fleiſch! Das gibt fo einfach und natürlih Garnaval, daß:
man ſich wundert, das Ei des Columbus nicht gleich felbft auf bie
Spitze geftellt zu haben. Chre aber, dem Ehre gebührt! Der große
du Fresne war der glüdlihe Erfinder. ine Nacht trennt das
froͤhliche Wohlleben vom ſtrengen Faſten und wird darum auch Faft:
nacht genannt. Wir wollen die Ableitung des Wortes indeffen nicht
verbürgen; denn tücdhtige Etumologen, wie Antiquare, find wahre Zaus
berer, die durch eine gelungene Ableitung und Stellung von Worten
das Ding, das diefe bedeuten follen, oft geſchickt in ihr Gegentheil vers
kehren. Wie vortrefflic ift es, unter Anderm, nicht mit dem Chriften:
thum, der Menfchenliebe, der Gerechtigkeitspflege, den Verbeſſerungsan⸗
ftalten und Gorrectionshäufern, der Freiheit und den Freiheiten geluns
gen! Mean ift in der That nicht wenig überrafht, wenn man den
Namen mit dem Dinge zufammenhält, und beide in offenbarem Zwifte
und Widerfpruche mit einander ſieht. Wen, der Latein verfteht, ift
nicht befannt, daß lucus ganz natürlid von nom lucendo kommt?
Das Carnaval ift eine Zeit toller Wirthfchaft, in der die Thorheit einen
Freipaß hat und die menſchlichen Geluͤſte ſich etwas herausnehmen,
oft über die Gebühr, um ſich für die folgende Abſtinenz zu entſchaͤ⸗
digen. Die Enthaltfamkeit wird auf das Uebermaß des Genuffes am
leichteften, und die Menfchen haben es auch in der Froͤmmigkeit und
Andacht gern bequem. Wir tadeln diefes Jagen nad) dem bunten
Schmetterlinge der Freude nicht, wenn wir ihn auch athemlos zu er⸗
haſchen fuchen in dem Augenblide, wo er uns nedend entflieht. Wir
müffen die freundliche Duldung der Kirche loben, die fo viel Nachſicht
mit der Natur des Menfchen bat, daß fie ihm aud) die Thorheit gönnt,
wo fie ihn vergnügt. Und ift die Weisheit nicht vielleicht nur eine
ernſte Thorheit, die muntere Thorheit dagegen weife, wenn fie une
leicht und flüchtig über die befchmerlichen Unebenheiten auf dem rauhen
Pfade des Lebens hilft? Wer war der wirkliche und wahre Weife,
Sarnaval. 267
ber luſtige Demokrit, ber lachend im die bunte Faſtnacht bes Lebens
ſah und die Xhorheiten der Narren und gefcheidten Leute zu feiner
eigenen Ergoͤtzung ergöglich nahm, oder der weinende Heraklit, der
bie Poffe tragifc deutete und ſich das ganze Leben zu einem Afcher-
mittwod) machte? Nehmt es, wie ihr wollt! Gewiß hat das Daſein
feinen hohen Ernſt, der ſich auch ernftlich und ernfthaft vernehmen
läßt; aber es liegt doch mehr Echerz in ihm, als ernfihafte Keute in
teüber Stimmung in ihm zu finden wiſſen. Laßt die Faſtnacht gelten:
mit ihrer -lauten. Scöhlichkeit, mit ihren Marrenftreihen und Feſtge⸗
lagen, mit ihrer nedifhen Mummerei und ihren lufligen Sprüngen,
der Afchermittwoch Iöfet fie nur zu bald ab. Hinter dem Policinell
der muntern Laune, des Scherzes und der kecken Luft fleht dee finftere
Zrappift und SKarthäufer, und raunt ihm fein memento mori zu.
Der Aſchermittwoch folgt der Faſtnacht auf ber Ferfe, und dann gute
Nacht Fleifh! Menſch! gedenke, daß bu Staub und Afche bift und.
zurüdkehrft, woher du gefomimen, in Staub und Afchel. So fpridt.
die Kirche, und Vieles im Leben fpricht e8 vor und nad. Der Ka⸗
tholicismus iſt freundlicher als der ſtrenge Proteſtantismus, und fieht
dem ſchwachen Menſchen ſeine Menſchlichkeiten nach, und hat Verge⸗
bung fuͤr die Suͤnden des ſuͤndigen Geſchlechts, wenn es bereuet und
Beſſerung gelobt. Warum. ſollte ich mich gegen die Beichte und das
Fegefeuer ereifern, da ſie Nachſicht und Verſoͤhnung zeigen, der wir
doch ſo ſehr beduͤrfen? Alle Religion, die den Menſchen dem Menſchen
befreundet und huͤlfreich entgegenfuͤhrt und verſoͤhnt an feine Bruſt.
legt, wenn er eine Kraͤnkung und Beleidigung von ihm erbuldet hat,
ift von göttlicher Abkunft, weil Gott‘ feibft die hoͤchſte Milde und Güte,
iſt. Es würdigt die Kirche darum auch auf keine Weife herab, daß fie
den Gläubigen die Faſtnacht gönnt. Der Katholicismus hat Kunft,
Schmuck, Schaufpiel und Gepränge, weil fie die Einbildungskraft erhes
ben, das Gemüch anfprechen, durch die Sinne auf Geift und Seele
wirken; und iſt das Geiftige, das Hoͤchſte in uns nicht eine Blume
von der Pflanze der Einnlichkeit hervorgetrieben, aus der fie die bele⸗
bende Nahrung fchöpft, um ſich duftend zu entfalten und zur Frucht
auszubilden? Darum hat ſich der Katholicigmus wohl auch im lebens
digen, freundlihen Süden erhalten, wo die Sinnlichkeit der Menfchen
teizbarer und die Phantafie regfamer und thätiger if; wo der heitere,
mildere Himmel fie zu gefelligen Genüffen im Freien zufammenführt,
und, im Austaufc der Gefühle, die Mittheilung der innern Stims
mung in Freude und Schmerz begünftigt. Darum haben auch bie
Sübländer vor Andern ihre fröhliche Faſtnacht mit dem Wogen, Trei⸗
ben und Drängen der lärmenden, genußfüdhtigen, fehaulufligen Menge,
mit ihrer nedenden Mummerei, ihren wisigen Anfpielungen und phans
taftifchen Gebilden. Mer Eennt nicht das venetianifche und roͤmiſche
Garnaval, deſſen Beluftigungen von fo vielen Reiſenden befchrieben,
von fo vielen Dichtern befungen worden? Die lebenskraftige Jugend
mit ihrem leichten Sinne bedarf dieſer Entladung in Scherz und
268. SBarnaval,
Spiel. Das Alter, die Ermüdung: durch Anſtrengung und Entbehrung,
dte Erfhöpfung duch, Noth und Kummer macht bei Einzelnar wie bri
Mölkeen der Faſtnacht ein Ende und bringt ben Bußtag in Staub
und Afche, den Afchermittwod).
Die Alten ſchon hatten ihre. Feſtnacht, jedes Volk nach feiner
Weiſe, nach Religion, Sitten, Staatsverfaſſung, nach Klima und
Jahreszeit eigenthuͤmlich geſtaltet, alle aber demſelben Zuge der Men⸗
ſchennatur nachgebend, der Veraͤnderung will, Abwechſelung, Mannich⸗
faltigkeit, geſellige Beluſtigung und froͤhliches Treiben. Der Menſch⸗
der es müde wird, zu fein, mas er iſt und ſcheint, verwanbelt fich
gern zum Scherze und am liebften in fein Gegentheil und fpielt bie
angenommene Rolle zu feiner und fremder Belufligung. Die untern
Stände fleigen zu den höhern hinauf, da diefe ein Vergnügen darin
finden, zu jenen bmabzufteigen. Die Damen merden Kammermäd,
chen, bie Zofen Damen, die Vornehmen bürgerlid) gemein, bie Ges
meinen flandesmäßig vornehm. Jeder gefällt ſich darin, zu fein, was
er nicht iſt. Selbft der Verſtand wird läflig und der Narr eine ges
fuchte Rolle. Es find die gutartigften und genießbarften alfee Narren,
diefe Faftnachtsnarren, und wollte dee Himmel, der Staat, bie Wifr
fenfchaft und der Glaube hätten keine fchlimmeren aufzumeifen. Die
Römer hießen ihre Faſtnacht Saturnalien. Es mar ein politifches
Boll, das römifche, und erlaubte und liebte dieſe Satpre auf fih und
feine Berfaffung. Das goldene Zeitalter Saturns flieg vom Himmel
auf bie Erde nieder und bradte den Menfchen den Segen ber Freis
beit, gleiher Rechte und gleicher Anfprüce auf die Genüffe diefes Le
bens. Die Sflaven gingen wie ihre Derren gekleidet und nahmen
‚an der wohlbefesten Tafel Platz. Seltfame, fchrediihe Laune der
menfchlihen Natur, die fi eine Faſtnacht maht und eine Närrin
wird, um in ber flüchtigen Narcheit vorübergehend zu Verſtande zu
Fommen! Die Faſtnacht fhhlägt einen Grundton auf dem vielftimmis
gen Inſtrumente unferes Weſens an, das in ewigen Variationen zwi⸗
fhen Schmerz und Freude, Wahrheit, Dichtung und Lüge, luͤſterner
Begierde und enthaltfamer Tugend, Scyerz und Ernft, Vernunft und
Zhorheit fpielt. Unferer Natur gemäß führt uns dag Aeußerſte dem
Aeußerſten entgegen, da® Uebermaß in einer Sache zum Gegentheil,
die Anftrengung zur Erfchöpfung, die Ueberladung zum Ekel, und ber
Faſtnacht folgt der Aſchermittwoch, ihrem leichtfertigen, fündigen Trei⸗
ben der Bußtag. Wir wiſſen ja, welche Art Jungfrauen und. Jung⸗
geſellen ſich zu alten Betſchweſtern und Betbruͤdern zu bekehren pfle⸗
gen. Was koͤnnte uns die myſtiſche Stimmung unſerer Zeit erklaͤren,
die ihren Bettag und Aſchermittwoch will, thaͤte es die tolle Faſtnacht
mit dem Uebermaße ihrer Genäffe nicht, bie vorausgegangen iſt? Ich
ſage euch, daß ohne dieſen Schluͤſſel ſelbſt die Weltgeſchichte euch ein
verſchloſſenes Buch bleiben wird; ihr verſteht ſie nicht mit aller Phi⸗
loſophie und dem pragmatiſchen Geiſte, die ihr hineinzulegen wißt, nehmt
ihr das Carnaval, die Faſtnacht und den Aſchermittwoch, den nachge⸗
Sarnaval. Garolina. | 269
bornen Zwillingsbruder, nicht zu Huͤlfe. Meiche, Staaten, Völker und
Stände haben dieſe Entfcheidungstage wie Einzelne und nad) bemfelben
Gefege, aus bdemfelben Grunde Ich will mich kürzer faſſen bei der
Behandlung dieſes großen Gegenflandes, und nur erläuternd mid auf
einige Beifpiele befchränfen. Hatte bie franzöfifhe Monarchie, unter
dee Megentfchaft und Ludwig XV., nicht ihre ausgelaffene Faſtnacht,
die den Afchermittwocdh der Revolution herbeiführen mußte? Da feierte
die Sreiheit und Gleihheit ihr tolles Carnaval und Napoleon fehte
für fie ben Bußtag des Aſchermittwochs ein. Er felbft aber beraufchte
fih mit der Macht des Kaiferreiche, die er in vollem Zügen trank, und
beging fein Carnaval in Spanien und Rußland, auf das ber Aſcher⸗
mittwoch bei Leipzig und Waterloo folgen mußte. Die Reflauration
fing ihre Faſtnachtluſtbarkett fogleich mit einer Galoppabe der obambre
introuvable an, um fie mit dem Kehraus unter Polignac zu fchlies
fen. Wie wader feierten die Zoried unter Caftlereagh ihr Carna⸗
val, dem ber verrätherifhe Canning den Afchermittwod, unterfchob !
Wird es heute — am 1. Sanuar 1835 ſchreib ich diefe Frage nieder
— mird es heute unter den Spielleuten Wellington und Peel zu
einem neuen Tanze mit ariftofratifchen Feſtgelagen kommen? Der
Karthäufer iſt nicht fern, der fein meineuto mori fpriht. Der Tag
geht zu Ende, die Stunde fchlägt; fie Eindigt den Aſchermittwoch an.
Menfhen von Staub und Afche, bedenkt, daß ihe zurädkehrt, woher .
ihr gelommen, zu Staub und Aſche! Seid mäßig, befonnen und
gerecht! Alles Uebermaß führt zu. feinem Gegentheil. Wollt ihre eine °
tolle Faſtnacht, dann bleibt der Bußtag des Afchermittwochs gewiß
nicht aus. " Weitzel.
Carolina (Halsgerichtsordnung, Bambergenfis,
Brandenburgica; und ihr Verhältniß zu früheren, wie
zu den neueften Strafgefeggebungen). Freiherr Johann
von Schwarzenberg. Das deutfche Strafgefegbudy, welches 1532
unter dem Titel: „Kaiſer Karls V. und des heiligen römifchen Reiche
peinlihe Gerichtsordnung” als Meichögefeg publicirt wurde, nannte
man häufig auch die Halsgerichtsordnung, gewöhnlich aber die Caros
Lina (oder constitulio criminalis Carolina). Dem Gegenftande und
dem Umfange nach ift es eines der wichtigften deutfchen Reichsgeſetze
und bis jegt noch gültig in der Mehrzahl der deutfhen Staaten. Dafs
felbe verdient doppelt unfere Betrachtung, da in unferer Zeit ähnliche
große Veränderungen ber Cultur und des gefellfchaftlihen Zuftandes
und ein ähnliches großes Mifverhältnig des Strafrechts zu denfelben
faft ebenfo, wie vor der Entwerfung der Carolina, überall in Deutſch⸗
land das anerkannte Bebürfniß neuer ſtrafrechtlicher Gefege und Ein-
richtungen erzeugten. Alle Vaterlandsfreunde muͤſſen natuͤrlich win.
ſchen, daß die neuen Schöpfungen im Verhaͤltniß zu unferer heutigen
. Zeit und mindeftens ebenfo fehr, wie einft die Carolina im Verhälts
niß zu der Ihrigen, ruhmvoll vorängehen möchten in innerer praftifcher
Tuͤchtigkeit and Geſundheit der firafrechtlihen Theorie, in Achtung und
270 Carolina.
Vertheidigung der ‚Gerechtigkeit, der bürgerlichen Freiheit und Hu:
manität. Wir müffen vor Allem wuͤnſchen, daß wir heute im
neunzehnten Sahrhundert nicht zuruͤckſchreiten, felbft hinter die im
fechszehnten noch im fauftredhtlihen Meittelalter entworfene Halsge-
rihtsordnung. Und gewiß, diefen Wunſch wenigſtens wird Niemand
unbefcheiden nennen. Aber dürfen mir feine Erfüllung aud mit
Sicherheit Hoffen, nad allen uns vorliegenden Proben und Zeichen
der Zeit ?
In der Zeit des alten Deutſchlands (ohngefähr bis zu dem
Ausfterben dee Sarolinger oder bis zum 10. Jahrhundert) waren
das Strafrecht und das Strafverfahren zwar unvolllommen, aber doch
durchaus von der Achtung der Gerechtigkeit und ber Freiheit befeelt
“und beherrſcht. Das richterliche Urtheil fprachen unter Vorfitz des oͤffent⸗
lichen oder patrimoniaten Präfidenten dit Genofjen oder aus ihrer
Mitte ermählte Schöffen oder Gefchworene. Das Verfahren war An
klageproceß, oͤffentlich und überall dem Schug der Unſchuld günflig.-
Die Strafen beftanden in milden Genugthuungen oder Löfegeldern zur
Miederherftellung des verlegten rechtlichen Friedens mit dem Verletzten
und feiner Familie und mit der ganzen Genoffenfhaft: (S. Ankla⸗
ge, Cabinets-Juſtiz IV. und Compofitionenfyftem.). Die
Geiſtlichkeit fuchte, fofern es nöthig fchien, noch befonbers auch Genug-
thuung für die beleidigte Gottheit, Austilgung bes Aergerniffes und
Befferung zu bemirken.
Sm fauftrehtiihen, feudalen und bierardhifhen
Mittelalter (bid zur Begründung bes bleibenden Landfriedens, des
Reichskammergerichts und der fländigen Staatsdiener = Gerichte bis zur
Meformation und zur Carolina) ’erhielt fich allerdings zum Theil und
"an vielen Orten das alte Strafrecht. Zum weit größeren Theil aber
machten ſich jest auch im Strafrecht die fauftrechtlihe und feudal⸗
defpotifche Gewalt und prieſterlich hierarchifche Verfolgung und Inquiſi⸗
tion geltend, und verdrängten die alten Gefege und Gerichtdeinrichtun-
gen. Die Aufnahme der fremden Rechte, die Einmifhung ber roͤmi⸗
ſchen Tortur der Sklaven, zuerſt fuͤr Vagabunden, dann fuͤr alle
Buͤrger, ſowie die der canoniſchen und insbeſondere auch der Moſaiſchen
theokratiſchen Strafrechtsbeſtimmungen und der Inquiſitionsmarimen
der geiſtlichen Gerichte vermehrten nur die grenzenloſe Verwirrung. Sind
die lauten Klagen, welche z. B. die ſogenannte Reformation
Friedrichs III., die Schriften Ulrichs von Hutten, die Bes
fhwerden der MWürtembergifhen Stände *) bei ihren einflimmi«
gen, aber vergeblichen Korderungen bes Ausfchluffes der Doctoren der
fremden Rechte aus Gerichten und Aemtern über diefe damaligen Gloſ—⸗
fatoren s oder Bartoliften =» Schüler, Über ihre Unkenntniß des vater«
*) Müller Reichſstagst eat. Friedrichs II. iſte Borft. p. 59.
Ulr. Hutten in remin. praefat. im Anfange. . Sattler, Würtem:
berg. Geſchichte l., 161.
Garolına. 271
ländifchen wie des befferen römischen Rechts, über ihre Habgier, ihren
Sklaven⸗ und Defpoten- Sinn ausfprehen, auch nur zum heil be⸗
gründet, fo begreift man ganz ihren zerftörenden Einfluß für die va⸗
terländifche Freiheit und Rechtseinrichtung. Derfelbe ift um fo natürlicher,
da ſchon feit Kaifer Friedrichs I. Zeit gerade die .abfoluten und fie-
califchen Grundfäge des fchlechteren römifchen Rechts aus der Kaiferzeit
den Zürften mohlgefielen, und da die Romaniſten oder — um mit
ber Reformation Friedrichs III. zu reden — „diefe beftochenen
„Knechte, denen das Recht viel härter verfchloffen iſt, als den Laien”,
da nad) Huttens Ausdrud „biefe Rabuliften wie Schwaͤmme in den
„Ohren der Fürften lagen und überall ihren Einfluß geltend zu mas
„hen mußten”. Zu allem.dem nun nod die fauftrcchtlihen Raͤu⸗
bereien von Hohen und Miederen. und ihre Kolgen, ein vermilderteg,
verarmtes ‚Gefindel, und diefes bei dem Mangel aller feſt ausgebilde-
ten und burcdhgreifenden Staatse= und Polizei: Anftalten.
Die immer mehr um fi greifende geiftlihe Gerichtsbarkeit mit
ihrem inquifitorifchen Verfahren, die Behmgerichte in ihrem jede Leiden⸗
[haft und Willkuͤr verdedenden Dunkel, die Städte, melche hinter
ihren Mauern den erfehnten Frieden gegen das Fauſtrecht mühfam ſchuͤtz⸗
ten, fie alle führten jest gegen die Angeklagten einen leidenfchaftlichen
— die landes⸗ und gutsherrlichen Gerichtshalter, welche die Griminals
jurisbdiction mit ihren Gonftscationen und Loslaufsgeldern als wichtigen
Sinanzzweig behandelten ), fogar einen raubfüdhtigen — Krieg. Nahe
genug allerdings lag damals der für das Strafrecht unglüdfelige Grund⸗
gedanke — nicht zwiſchen einem Antläger und dem Rechte eines anges
klagten Mitbuͤrgers parteilos zu entfcheiden, und nur wine durch feine
völlig erwiefene befondere Schuld begrümbete rechtliche Genugthuung
zu ermitteln — fondern vielmehr gegen alle wirklichen und möglichen
Verbrecher einen möglichft furhtbaren Abſchreckungs- oder
Siche rungskrieg zu führen und bie eingefangenen als techtlofe Feinde
zu ihrer Genoffen möglichftee Abfchredung oder zum gemeinen Nug zu
martern und zu mißbrauhen — dieſer Grundgebanfe führte in folges
richtiger Ausbildung zu der alle Gefühle empoͤrenden, ſchaudervollen Cri⸗
minal:ufliz des fpäteren Mittelalters, welche faft Alles überbot, wodurch
orientaliſche Tyrannei, Rachſucht und Grauſamkeit der Humanitaͤt je⸗
mals Hohn ſprachen. Ein ſchaudervolles Gemaͤlde von den grauſamen
Strafen und ihrer taͤglichen Anwendung in ſeiner Vaterſtadt Nuͤrn⸗
berg ſtellt namentlich Celtes **) auf. Ihre verſchiedenen Richtſtaͤtten
waren uͤberfuͤllt mit Leichen und in der Luft klapperten die Gebeine.
Neben allen Arten koͤrperlicher Zuͤchtigungen und einfachen Todesſtrafen
waren damals das Lebendig-Verbrennen, Begraben, Rädern, Vier⸗
theilen, Pfaͤhlen, ja das Zerſaͤgen und langſames Auswinden der Einge⸗
*, Seb. Brand, Richterlicher Klagfpieget isis, ©. 122. Ulr.
Zasii Opera 1580. €. 178. Garolina Art. 2
**) De poenis sontium c. 14.
472 | Carolina.
meide, das Zerreifen mit glühenden Zangen in Uebung. Noch ſcheußli⸗
cher iſt die unerfchöpflihe Erfindfamkeit in ber Folter, womit man
bäufig die Proceffe begann und diefelben meiſt ohne Schutz rechtlicher
Formen zu Ende führte und von welcher unter Anden Damhou⸗
der *) ein ſchaudervolles Bild entwirft. Man feste 3. B. ben Uns
gluͤcklichen Horniffe, ausgehungerte Mäufe und andere Abfcheu erwek⸗
kende und verlegende Thiere unter Glasglocken auf ben bloßen Leib,
an ben Nabel u. f. w. Oder man band ihnen ſchwere Steine an
Hände und Füße und zerrte, indem man fie aufhängte oder über Bret⸗
ter mit Hoͤckern und fcharfen Kanten fpannte, ihre Glieder auseinander,
die man dann noch durch untergeftellte Lichter brannte. Ober man lief -
“fie mit Ölgeträntten Schuhen auf glühenden Platten brennen, ober füllte
ihnen mit ungelöfhtem Kalt und Waſſer Mund und Naſe. Ja man
marterte fie ducch noch greuelvollere Qualen folher Art, daß felbft die
Gefege der Schaam fie auch nur zu nennen verbieten. .
Gewiß, unbegreiflih Lönnte eine ſolche Criminal⸗Juſtiz in Deutſch⸗
land, felbft in den bildungsreichen freien deutfhen Städten, erfcheinen!
Jene orientalifhe Tyrannei, Rachſucht und Graufamteit find ja doch
fonft am wenigſten deutfche Charakterzüge. Das Raͤthſel laͤßt ſich allein
iöfen durdy den Grundgedanken jenes Siherungss oder Abſchrek⸗
kungskriegs, welhen bie damaligen Eräftigeren Menfchen mit ruͤck⸗
ſichtsloſerer Conſequenz durchfuͤhrten, als unfere heutigen zahmeren, aber
noch immer ſehr verberblihen Vertheidiger deſſelben. Gewaltiger, als
die Meiſten es begreifen, kann ein einziger Grundgedanke wirken.
Sehr begrelflich wurden bie neu errichteten Reichsgerichte und bie
Meichstage beſtuͤrmt mit Klagen, einerfeits über die Greuel der Crimi⸗
nal⸗Juſtiz, „über die vielen unfhuldig zu Tode gemarterten oder hinge⸗
„richteten Opfer derſelben,“ andererfeits über den Mangel regelmäßiger
Ausübung der Strafrechtspfleg. Der Reichstag zu Freiburg von
1498 befchloß daher eine neue Griminalgefeggebung. Dem langfamen
Gange der Reichsverhandlungen und der niedergefegten Reichscommiſſion
arbeitete ein tuͤchtiges Mitglied der legteren wirkſam vor. Es war ber
Freiherr Johann von Schwarzenberg (geb. 1463, geft. 1528).
Dem noch heute blühenden, jest fürftlihen Gefhleht angehärig, hatte
ee unter Marimilian mehrere Feldzuͤge mitgemacht und mar dann
zuerſt bambergifcher und fodann, nad) feinem Uebertritt zur protes
ffantifhen Kirche, brandenburgifher Minifter geworden. Er war
ein Mann von gefunder Gefinnung und Geiftesbilbung. Beide hat er
zu einer Zeit, wo des Alciat und Zafius Bemühungen fir befferes
Studium des römifchen Rechts noch zu new waren, bie von Cuja⸗
cius und Donellus noch nicht begonnen hatten, gluͤcklicherweiſe nicht,
wie ſehr viele feiner Zeitgenoffen, duch ben gefhmadiofen Wuft der
GStoffatoren und VBartoliften ſich verderben laffen; wohl aber hatte er,
odgleich ſelbſt des Lateins unkundig, vermittelft der Hülfe von Webers
2) Practica crimin. 87, 18. en
\ Carolina. | 27 3
fegungen, bie er fich fertigen ließ, unb zum Theil von ihm in ber
Sprache verbeffert herausgab, durch das Studium der Alten feinen
Geiſt genaͤhrt. Er mußte ihre Ideen, namentlid auch Ciceros und
Quinctilians Mittheilungen über: bie gerichtlichen Verhandlungen,
über die Berhäre, Anzeigen und Beweife, er mußte bie beiten Grund»
füge des roͤmiſchen und canonifchen, wie des altdeutfchen Rechts, auf
eine fruchtbare Weife zu. verbinden. Er bewährte feine edlere GSefinnung
umd Bildung in feinen Schriften, insbefonbere auch in einem ihm nicht ges
fabrlofen ernften und fatyrifhen Kampfe gegen bie Roheiten feiner Stan:
besgenoffen, gegen ihre Unfitte übermäfigen Trinkens und Zutrinkens,
und gegen ihre fauſtrechtlichen Raͤubereien (worauf auch ſein Geſetzbuch
im Art. 126 unerbittlich die Todesſtrafe beſtimmte), ſodann auch in
Schriften fuͤr die Kirchenvecbeſſerung, vor Allem aber in ſeinem Ent⸗
wurf zum neuen Strafgeſezbuch. Derſelbe wurde bei der Langſamkeit
ber. Reichstagsverhandlungen bereits 1507 In Bamberg und 1516
aud in Brandenburg als Kandesgefek angenommen (Bambergen:
fi und Brandenburgica). ,
Mit einigen Veränderungen wurde er endlich 1532 auf dem Reiches
tage zu Regensburg auch als ein Meichegefeg publicirt, welches nad)
der Vorrede in blos hypothetiſchen Beſtimmungen (f. 3. B. Art.
104.), wohlhergebrachten „rehtmäßigen und billigen‘ bes
fonderen Landesgefegen Spielraum läßt, zugleich aber haͤufig auedruͤcklich
abfolutgebietend und felbft mit Strafandrohungen gegen bie Regie⸗
rungen (j. B. Art. 1. 22. 84. 104. 135. 137. 206. 207. 218.) bie
„Mißbraͤuche und bie böfen unvernänftigen” Landesgefege
uͤberall ahſchafft. (So 3. DB. Confiscationen, Außer bei Hochverrath
gegen das Reich, das Steandrecht, obrigkeitlichen Raub der geftohlenen
Güter und andere ähnliche Erpreffungen und Härten, namentlid) auch
jede härtere Strafe, als das Reichsrecht enthält, und ebenfo Verur⸗
theilungen ohne vollen Zeugenbeweiß oder Bekenntniß oder ohne gehörige:
Beſetzung des Gerichts.)
Die Carolina hat der verfchiebenartigfte Tadel getroffen. Fruͤ⸗
ber eine grundloſe gänzliche Verachiung und rohe Schmähung von eis
ten einfeitiger unvaterländifcher Romaniften, felbft noch von einem Ley⸗
fer *). War ja doch unter diefen, damals wirklich emtarteten Juriſten
De Mißachtung der Gerechtigkeit und die Verachtung alles Vaterlaͤndi⸗
fen faft unglaublih, die Sarolina war jedenfalls eine unermeßliche
Verbeſſerung des damaligen Strafrecht und Strafproceſſes. Ihr tüche
ger Inhalt war in fo trefflicher populaicer gefepgeberifcher Sprache. und.
Darftellung gegeben, daß in unferer Zeit Savigny fie bemunberte,
ja bie heutigen Yuriften zu einer gleich guten nicht für fähig haͤlt. Und
man darf nur einen Blick werfen in die berühmteften kurz vorhergehen«
den und nachfolgenden italienifchen und beutfchen praktiſchen Rechtsbuͤcher,
3. B. in bievon Hippolytus be Marfiliis, Durantis, Brand
*) Vergl. überhaupt Malblant, Geſchichte der Garolina 5. 4.
Gtaats sEezilon, ILL. 18
274 | | Carolina.
und Tengler, um ſich zu Überzeugen, wie unvergleichbar hoch Schwan
zenberg über ihnen ſteht. Trotz alledem aber, trotz ſeiner allgemeinen
xeichsgeſetzlichen Auctorität konnte das vaterlaͤndiſche Geſetz body nur erſt
dann, als es durch lateiniſche Ueberſetzungen von Gobier und Re⸗
mus roͤmiſches Gewand angezogen hatte, zu der Ehre gelangen, von
der romaniſtiſchen Juriſtenzunft in ihren Geörterungen über die roͤmiſchen
Criminalgeſetze — denn nur erft zu Anfang des 18ten Jahrhunderts
bewirkte der Reformator Thomafius bie Trennung bes Criminalrechts
von den Pandecten — dürftig nebenbei beruͤckſichtigt gu werben.
In der neuern Zeit hörte man dagegen nicht felten ſehr wegwer⸗
fenden Tadel gegen die Carolina, vorzüglich wegen zu harter Strafen,
wegen Beſtrafung ber Zauberei und wegen der Zortur. Gehe mit Recht
wurden allerdings feit den ruhmmürdigen Kämpfen von Thomafius,
Montesquieu, Voltaire, Beccaria, GSonnenfels und
Michaelis diefe Fehler verbeffert. Für Schwarzenbergs Recht⸗
fertigung aber koͤnnte fhon das genligen, daß er in Beziehung auf alle
getadelten Härten ungleich milder war, als die Anfichten, die Beſtim⸗
mungen und die Prazis feiner Zeit. Wenn man nun auch zur nadıs
druͤcklichen Vertheidigung der Milde im Strafrecht allerdings fagen muß,
daß nad aller Erfahrung die gute Wirkfamleit der Strafen durchaus
von ihrem moralifhen Eindrud und nicht von ihrer Härte abhängt, fo
find doch zu plögliche Uebergänge ſchwer durchführbar. Wer lange um
Goldſtuͤcke fpielte, ber wird Grofchen, bie fonft vielleicht feine Aufmerk⸗
ſamkeit beftimmen würden, als ein Nichts verachten. Noch Jahrhun⸗
derte nah Schwarzenberg hielt man feine Gonfiscationgverbote und
manche feinee Strafen, 3. B. ben Erfag des Doppelten bei geringen Dieb⸗
ftähten (157), feine geringere Strafe des Wilderns, als des Diebftahls
(169) und andere für zu gering und verlegte vollends feine fxengen
Beweis⸗ und feine gefeglihen Milderungs » und Entſchuldigungsgrund⸗
füge. Was aber foll. man fagen, wenn die noch im fauftechhtlichen
Mittelalter aufgeftelten frafrechtlihen Grundfäge und Beſtimmungen
ber peinlihen Dalsgerichteordnung Karls V. noch nach zwei und brei
Sahrhunberten, ja zum Theil bis auf den heutigen Tag ben meiſten
beutfhen Criminaliften als zu mild, zu liberal und human, al& zu ges
recht erfchienen und beshalb felbft gefegwidrig verlegt wurden? Die
Rechtfertigung dieſes Lobes der Carolina, foweit es zugleich bie bes
ſcheidenſten praßtifchen Anforderungen, menn auch nicht an Waterlandes
und Freiheitsſtolz dod an das Mechtögefühl unferer neuen Juriften ent⸗
hält, fol bier in einigen Andeutungen verſucht werben.
1) Die Carolina verwirft jene unglädfeligen politifhen Grund⸗
gebanken eines Abfchredungss und Sicherungskrieges und mit ihm auch
jene neuere Abſchreckungstheorie, welche ben Verbrechern ebenfalls fo vial
Strafübel zufügt, als politifch zweckmaͤßig fcheint, um bie durch fie gar
nicht verſchuldete, zutimftige böfe Kuft aller übrigen Menfchen zu
tilgen, welche die Verbrecher alfo ebenfalls als rechtlos mißbraucht. Sie
ſchließt ſich vielmehr wieder dem rechtlichen Grundgedanken des alt⸗
Garolina. 275
deutfihen, role bed römifchen und bes canonifchen Gtrafrechts an, nadı
welchem der Verbrecher nur geftraft wird zur Austilgung feiner Schuld,
feines Mangels an rechtlihem Willen unb des öffentlichen Aergerniffes
oder ber Verlegung der Achtung bes Geſetzes und des Beleidigten *).
Die Erfahrungen aber liegen vor, einerfeits wie nicht blos vor der
Carolina, fondern wie ſelbſt, trog aller inconfequenten Milderungen
und vielfach abändernden Novellen, jener falſche politiſche Grund⸗
gedanke auch in der neuen Praris und Geſetzgebung und wie ans
dererſeits in der Carolina ber rechtliche Grundgedanke des Strafs
eechts wirkten. |
. 2) Die dem legteren entfprehende hoͤchſte rechtliche Ach⸗
tung und Schüsgung der Rechte der Angeklagten zeigt fich vor Allem
ta des möglichften Vorſorge für Hinlänglih unabhängige und
unparteiifch führende Gerihtseinrihtung Die Vorrede
der Bambergenfis wie der Carolina erklärt, daß: „aus langer
„gemeiner Uebung die Halsgericht meift nit anders, bann mit gemeinen
„Derfonen, die die Mecht nit gelernt ober geübt haben, befegt werben
„mögen. Sie erllärt ferner, daß gerade eine beutliche Belehrung dies
fee ungelebrten Volksrichter ein Dauptzwed der neuen Geſetzgebung ſei,
wozu die Bambergenfis auc mit ihrer populairen Darftellung noch
Golsfdmitte und Heime verband. Hierauf beſtimmt der erfte Artikel
der Carolina: „Erſtlich fegen, ordnen und wollen wir, baß alle pein⸗
„liche Geriht mit Richtern, Urtheilern und Gerichteſchrei⸗
„bern verfehen und befegt werben follen, von frommen, erbaren, ver⸗
„fändigen und erfarenen Perfonen, fo tugendlichſt und beſt biefelbigen
„nach Gelegenheit jedes Orts gehabt und zu befommen fenn, barzu auch
„ Edele- und Gelerten gebraucht werben mögen. In dem allem eyn jede
„Obrigkeit möglihen Fleiß anwenden fol, damit die peinlichen Gericht
„zum beften verordnet und niemand unmrecht gefchehe, aldbann zu bieffer
„gtoſſen Sache, welche des Menfchen Chr, Leib, Leben und Gut be
„tanget, dapfer und wohlbedachter Fleiß gehörig.” Der Artikel ſchließt
mit Androhung unnachſichtlicher Strafe für die Landes: und Gerichttk
berrfchaften bei unvoliftändiger fahriäffiger Befegung ber Gerichte. Im
Art. 35 folgen nun die Eidesformeln für die Mitglieder des Gerichts.
Buerft die für den Richter, db. 5. den Iandesherrlihen oder patrimo
ninien Gerichtspräfidenten, ber übrigens nach Art. 2 ebenfalls nicht noch
wendig Rechtsgelehrter zu fein braudt. Sodann bie für Die Schoͤ⸗
pfen oder Urtheylſprecher“, welche ſchwoͤren „rechte Urtheil zu
„geben und zu rihten dem Armen als dem Reihen” u.f.w.
Endlich Drittens die für ben Gerichtöfchreiber, der als ein ſelbſtſtaͤnbl⸗
ger wichtiger Berichtsbeamte treue Aufzethnung, Bewahrung
und Borlefung der Anzeigen, Beweiſe, Auflagen m. f. w. ange
tet (5. 181—191). Es verbindet die Carolina eine hoͤchſt forgkdi:
*%) Art. 104. 120, 142. 150. 197. 158. 160. 112. 124. Ausführung -
ſin € Th. Welder, LegteSrände ©.553. und erden 1, ©. 578
276 .- Carolina.
tig beſtimmte ſchriftliche Aufzeichnung des Weſentlichen mit ber Weiber
haltung der uralten Deffentlichkeit und Muͤndlichkeit bes Verfahrens.
Fuͤr diefes fegt fie als Regel den Anklageproceß dürch Privatklaͤger vor:
aus (11. 99. 81.), läßt jedoch auch Anklage und Verfahren von ber Re⸗
gierung und von Amts wegen, alfo auch öffentliche Ankläger zu (78 —
100. Insbeſ. 88. 89. 165. 188. 201.). Zu einem gültigem Strafur⸗
theil und zu ber feierlichen öffentlichen Schlußverhandlung über An»
Tlage, Beweis und Vertheidigung (73—100. ©. vorzüglich
91. und 92.), wofür die Angefhuldigten einen Vertheidiger unter allen
Mitbürgern und felbft unter den Schöffen völlig frei zu erwählen haben
(88.), find mindeftens fieben tauglihe Schöffen oder Urtheller
nöthig (dee Sachſenſpiegel 2, 12. 3, 20. und dee Schwaben»
fpiegei 82. 90. 108. fordern zwoͤlf und fügen vom Richter noch
ausdrüdtic hinzu, „das Urtheil fol er nicht felbft finden und nicht Tchels
ten”). Fuͤr alle wichtigern Unterfuchungss und Procefhanblungen waren
mindeftens vier Schöffen (4. 12. 13. 153. 181.) und felbft fuͤr die
unwichtigern minbeftens zwei, neben dem Gerichtöpräfidenten unb bem
Gerichtsſchreiber nochmendig.
Der eben fo hiftorifch gelehrte, als Acht praktifhe Juſtus Moͤ⸗
fer bat kein Bedenken, In ber trefflichen Abhandlung, in welcher er feine
zwoͤlf Bauptgründe für die Nothwendigkeit ungelehrter Genoſſen⸗ oder
Geſchwornengerichte ausführt (I, 59), auch noch in diefen Beſtimmungen
dee Carolina altdeutfches und englifches Geſchwornengericht zu finden.
Und es iſt's; denn das Weſen beffelben befteht in dem unter Vorſitz
von landes= oder gerihtsherrlihen Beamten ftattfindenden, entfcheibenden
Mitrihten, wenigftens einer Anzahl unabhängiger parteilofer Mitbürger
des Angeklagten, deren Gonflituirung oder Bildung und Wirkungskreis
aber zum Theil verfhieden war und fein mußte. Hätte ung fpäter nur
nicht der wichtige praktiſche Zact der Engländer gefehlt, von deren Ges
ſchwornen noch Blackſtone (4. 27. 33.) es beftätigt, daß fie, wenn auch
vermittelſt verfchiedener Umformungen und zum Theil vielleicht nach dem
Vorbild der Eidhelfer, doch im MWefentlihen aus den beutfchen‘ Wolke:
und Schöffengerichten hervorgingen (f. auh Cabinets⸗Juſtiz IV.),
und daß fie keines weges bloß über bie Thatſache, fondern auch über
die Rechtsfrage zu richten und „ſobald fie dieſes auf ihren geleifteten
„Eid wagen mollten, audy ein allgemeines Urtheil zu fällen, bas unbes
„zweifelte Recht hatten”! Diefer frühe britifhe Tact aber bewirkte eis
nerfeits die von jenen deutſchen Patrioten vergeblidy geforderte Aus⸗
ſchließung der Gültigkeit des fremden Rechts und die Verbannung feiner
Doctoren aus dem Parlament vermittelft eines förmlichen Parlamentes
ſchluſſes. Als einen Grund gab man an: Beltimmungen, wie die des
Suftinianifhen Corpus Juris: „auch das, mas dem Fürften bes
„liebt, hat Geſetzeskraft“, oder wie die: „der Fürft ift von den Gefegen
entbunben”, paßten für kein freies Voll. Andererfeits überließen in
der Regel die englifhen Geſchwornen das Rechtsurtheil freiwillig dem
juriſtiſchen Staatsrichter, und fie richten alfo mit ihrem „ Schülbig
8
Carolina. 277
oder,Nichtſchuldig“ gewoͤhnlich blos Aber bie durchaus von keiner ju⸗
riſtiſchen Kenntniß abhängige Thatfrage. In Deutfchland gefchah leider
keins von beiden. Und fo vermifchten fich, wie es ſcheint, fchon von der
Garolina an (3. 4.81. 92. 94.) mehr und mehr die Functionen ber
präfidivenden vechtögelehrten Staatsrichter und der ungelehrten Schöffen
oder Urtheiler. Die Rechtsgelehrten bekamen allmälig das Webergewicht
über die ungelehrten Schöffen, machten biefeiben ſtumm und verbrängten
fie an den meiften Orten gänzlih. Ja fie mißachteten und vergaßen
die Geſetze über fie fo fehr, dag man manchen Griminaliften die Beſtim⸗
mungen ber Carolina üter fie als Neuigkeit erzählen muß *).
Meben fo trefflich befegtem Gericht und oͤffentlichem Verfahren gab
be Carolina no den Angeklagten ben koſtbaren Schug ber
Actenverfendung, welche fie ibm fo hoͤchſt liberal im Hall
der Armuth felbft auf des Gerichts Koften für das Enburtheil, fo mie
bei Haupthandlungen des Proceffes geftattete (47. 219. und oben Acten⸗
verfendung).
Und weiches Verfahren und welche Gerichte haben num unfere neues
ven Juriſten größtentheild an der Stelle aller biefer gefeslihen
Garantien eingeführt? Einen nicht feltem gleih der Vehme im
Dunkel gehüllten,, rein inquifitorifchen Proceß und ein Gericht bloß von
Staatsbienern, ja von amoviblen Regierungsbeamten, ein Verfahren, in
welchem häufig ein einzelner Unterrichter, ja oft ein bloßer Mechtöpraktis
cant ohne allen, oder doch ohne felbftftändigen Gerichtefchreiber zugleich
den Ankläger und Richter und Actuar macht; in welchem endlich auf
Die von ihm im Dunkel gefertigten Acten hin, ober vielmehr auf eine Re⸗
lation eines Einzelnen aus derfelben, eine Anzahl anderer amovibler Re⸗
gierungsbeamten, ohne den Angefchuldigten, die Zeugen und die Vertheidi⸗
ger je auch nur zu fehen und zu hören, die Etrafs, die Tobesurtheile fällt!
8) Neben allen diefen Garantien durch ihre Geſchwornengericht und
das oͤfſentliche Verfahren und die Actenverfendung febligt die Carolina
die Angeklagten noch durch die fErengfien Vorſchriften über den
Beweis. Ihre höchft forofältig ausgebildete Theorie Über die Verhoͤre
der Angefchuldigten, Über die richterlichen Nachforſchungen und befonders
über bie Anzeigen oder Indic?en (18 — 67.) ift von Kennern mehr bes
wundert, als in der Praris hinlänglich befolgt worden. Dennoch erklärt
fie fo, wie das altdeutfche Recht (capitulare 5,308.) jebe peinliche Vers
urtheilung ohne Geftändniß oder Beweis durch wenigſtens zwei ober drei
völlig glaubwuͤrdige, nad) eignem Wiffen ausfagmde Zeugen (62—67.)
für nichtig (22—67.). Ohne foldyen Beweis aber tritt die völlige und
gänzliche Losſprechung ein.
Sreilih durfte Schwarzenberg nicht glauben, damals ſchon bie
®) ueber die Reſte alter Volles ober Genoſſen⸗ und Schöffen» ober &es
kümornengerichte bis in die neueften Zeiten, f. Mittermaler, Strafverf.
. &. 67. 79. Malblant, ©. 21. Zentner, das Geſchwornenge⸗
sidt, S. 147.
278 | Carolina,
Auftinemung zu bee gänglichen. Abfchaffing ber durch daB. uütntfche Büste
und bie —R Gerichte eingeführten Tortur erhalten zu
Man hatte bisher, ſoweit vom Recht die Rede fein follte, * alten Be⸗
weiſe dee Schuld durch das WBeflebenen (das Schwoͤren von ſieben Per⸗
fonen) ober durch Gottesurtheile, namentlich durch Zweikampf, den ſelbſt
Karl V. noch für feine Erblande neu regulirte, fuͤr unentbehrlich gehal⸗
ven und forderte ſelbſt neben ben Zeugenausfagen von zwei ober beei
glaubwürbigen Zeugen noch Zortur zur Bewirkung bes Geftändnifie®
(69.). Die Carolina hob mie Hecht alles dieſes und auch die negathe
ven, fubjectiven Gegenbeweife durch Eidhelfer und Gottesurtheile auf.
Man Hielt zugleich jego allgemein den Ausgang ber Tortur für ein neues
Gottesurtheil, und zwar für das beſte. Man glaubte, daß Bett dadurch
den Sieg der Unſchuld oder die Rache des Frevels herbeiführen werbe
(Malblank 78) Schwarzenberg that alfo nur das Möglichfte,
die Tortur zu vermindern und zu mildern, und vorzüglich ihren Eintritt
an vehtlihe Bedingungen zu Enüpfen. Eie durfte nicht eins
teten ohne einem fo flarten Snbictens oder Zeugenbeweis, daß
berfelbe vielen jegigen Gerichten zur Derurtheilung und
zu außerordentliben Strafen genuͤgen würde. Vor der⸗
feiben aber ift dem Angektagten förmliche Bertheidigung, und nöthigen«
falls auf des Gerichts Koften Actenverfendung geftattet. Richtern und
Schöffen ift die hoͤchſte Sorgfalt und ſchonende Voltziehung, und nebſt
dem Gerichtöfchreiber Anmefenheit bei derſelben nachdruͤcklichſt zur Pfliche
gemacht, und ebenfo jede Suggeftivfrage und bie Annahme eines Ges
ſtaͤndniſſes während des Leidens verboten und alles diefes unter der Andro«
bung der Nichtigkeit und zugleich einer ſtrengen Beftrafung, ſowie der
vollen Privatgenugthbuung an ben Angefhulbigten fir
„Schmach, Schmerzen, Koften und Schäden” (6—-61.).
Auch fo noch find wir freilich wahrlich kein Verehrer der Tortur.
Auch wollen wie nicht zur Entſchuldigung Schwarzenbergs ausfuͤh⸗
sen, daß, nachdem Beccaria mehrere Jahrhunderte ſpaͤter bereits
den Glauben der Chriſtenheit an die Unentbehrlichkeit der Tortur erſchuͤt⸗
terte, immer noch ſehr, ſehr viele Landesgeſetzgebungen ſie beſtehen ließen,
ja, daß beruͤhmte Criminaliſten, wie Koch, ſie noch zu Ende des 18ten
Jahrhunderts foͤrmlich vertheidigten. Auch das wollen wir nicht ausfuͤh⸗
ven, daß dleſelbe Jahrhunderte lang mit Verlegung jener geſetzlichen Be⸗
dingungen und Milderungen von fo vielen Richtern ungleich ungerechter
und graufamer ausgelbt wurde. Aber. nady reiffter Prüfung würden
wie ſelbſt als Angeklagte die Folter der Garolina mit ihren Bedin⸗
gungen und Wirkungen demjenigen weit vorziehen, was unfere Juriſten
an ihre Stelle festen. Vorziehen würden wir fie den ſchauderhaf⸗
ten, völlig willkürlichen Zorturen buch Prügel, durch jahre
‚langen Unterſuchungsarreſt oder andere Leiden, wie fie meift unter bem
Titel von. Luͤgenſtrafen bis in die neuefte Zeit im Dunkel fo vieler
deutſchen Griminalgerichte ausgeübt wurden, Xorturen, welche obne
gaͤnzliches Abfchaffen der Luͤgenſtrafen und alter Lörperlichen Zuͤch⸗
i
Carolina. 279
tigung (fo wie in Baden) und ohne Deffentlichkeit ſtets wieder vorkom⸗
men muͤſſen. Wir müßten fie ebenſo vorziehen den außerordentli⸗
hen Strafen und Sicherheitsgefängniffen wegen mangeln«
den Beweiſes ober wegen bloßer Verdaͤchtigung und Beſorgniß, fo wie
fie jenes politiſche Sicherungsſyſtem in mehreren beutfchen Laͤn⸗
dern ebenfalls felbft bis im die neuefte Zeit verſchuldete. Diele Beleldi⸗
gungen alled Rechtsgefuͤhls, insbefondere auch die bem Angefchuldigten -
wachthelligen Eosfprechungen blos von ber Inftanz, ferner jene
aus freien, politifhen Arußerungen und Beſtrebungen gegen die allges
meinen Mechtögrumdfäge gebildeten neueren Begriffe ſtaatsgefaͤhrlicher Vers
gehen, endlich jene fcheußliche Erfindung dee ausgenommenen Vers
brechen, weldye fpätere Griminaliften, vorzäglih Carpzov, machten,
am bei ihren Lieblingsverbrechen, Bererei, Hochvertath u. f. w. die ſtren⸗
gen Rechte » und Berseisgrundfäge der Carolina zu umgehen — fie
alle widerfprechen ebenfofeht der Carolina *), "ale bem Strafrecht
ber freien Briten und anderer freien Völker.
| 4) Auch noch außerdem enthält die Carolina fehr viele, nid
jenem politifhen Sicherungskrieg, fondern vielmehr dem rechtlichen
Schut des Angefhuldigten günftige Beſtimmungen. Sie vers
Bietet (11— 17. und 218.), den Angeklagten zu verhaften, wenn nicht der
Anklaͤger (deſſen Stelle im Inquiſitionsproceſſe die anklagende Obrigkeit
einnimmt, f. oben 2.) demfelben nah Angabe ſchwerer Verdachts⸗
gründe peinlichen Verbrechens vollftändig und nöthigenfalls durch eigene
Mitverhaftung, und fofern ein Kürft der Anklaͤger ift, durch Mitver⸗
haftung wenigſtens eines Standesgenofien des Angeflagten genügende
Buͤrgſchaft leiftee, ihm, wenn nicht in bee beflimmten Zeit die nöthigen:
Schuldbeweiſe erfolgten, für „Shmah, Schaden und Koften
nach der Gebühr Ergegung” (d. h. Genugthuung) zu leiſten;
woruͤber die Carolina zu Gunſten des Angeklagten ein ſummariſches
Verfahren anordnet. Wiederholt und ſtreng, wie fie jede nicht völlig
begründete Verhaftung verbietet, fordert fie auch möglichft mildes Ge
faͤngniß und fchnelle Beendigung des Procefies (11. 77. 218.) Sie
befiehit in ihrem Anfang und ihrem Ende, und oft wiederholt mit fichts
harem, großem Anliegen die höchfte Sorgfalt und Beguͤnſtigung für
die Entſchuldigungsbeweiſe und für die Vertheidigung des Angeklagten _
(1. 219. 6. 7. 47. 49. 57. 58. 88. 104. 151—156.). Muß man
Naran erinmern, wie oft noch heute alle biefe Grundſaͤte verlegt werben?
Genugthuung für die Ehrenktaͤnkung, die Leiden und Beſchaͤdigung durch
sichterliche Ungeblihr und flr unverfchuldete Criminalproceſſe 3. B. würs
den fie nicht vielem heutigen beutfchen Griminaliften als romantifche Phans
taſien erfcheinen ?
Selbſt die wenigen Beſtimmungen, welche auf irrige veligiöfe Anz
— — — —
9 Mittermaier a. a. O. H, $. 176. 186. Theorie des Bew. ©. 475.
Neues Archiv III, 501. VII, 581. Grolman Grimin. $. 515. Blads -
one, IV, 27.
280 Sareling; |
ſichten der Zeit hinweiſen, fallen wohl Schwarzenberg nicht zur Laſt,
da ſelbſt die Beſchraͤnkungen derſelben, namentlich die der geiftlichen Ge⸗
richtsbarkeit, welche fein’Entwurf enthielt, zum Theil teichsgeſetzlich ge»
frihen wurden *), unb ba damals noch kein Midyaelis die Unver⸗
bindlidhkeit der Mofaifhen Strafgefege erwiefen hatte. . Nimmermehr
‚hätte namentlih Schwarzenberg damals das, nah Malblants
Ausdruck, aus den Sümpfen bes canonifchen Rechts und des Aberglaus
bens entfprungene Verbrechen der Zauberei gänzlich tilgen können.
Bekanntlich hatte Papft Junocenz YIIL buch. die Bulle vom 5. Des
cember 1484 neue Inquifitoren „Legerifher Bosheit“ mit ausgedehnten
Vollmachten ausgefendet, und die Errihtung von Derengerihten
angeordnet. Der Kaiſer Marimilian hatte leider am 6. Nov. 1486
der päpftlihen Bulle feine Billigung ertheilt und die Reichsangehoͤrigen
zur Unterftüsung dee Hexengerichte aufgefordert, das Werbrennen der
Derm rar in Uebung, und felbft das römifche Recht enthielt Strafbe⸗
flimmungen über Zauberei. Schwarzenberg fuchte alfo wenigſtens
außer der Vorforge duch feine forgfältigen Beweis⸗ und Torturbeſtim⸗
mungen und dem %erbot der Gonfiscationen, bie auch bei ben Deren-
proceſſen eine Rolle fpielten, auch dadurch weſentlich das Uebel zu mils
dern, daß er nur fuͤr den Fall, wenn Jemand erwieſenermaßen
buch Zauberei Andere verbrecheriſch beſchaͤdigt hatte, bie
barte Strafe geftattete, fonft aber eine mildere Buße nad) richterlichens
„Ermeffen forderte. Aber wie verlegten die Juriſten ganze Jahrhunderte
hindurch auch bier alle feine, für fie zu milden, zu gerechten Grunde
füge! Der ebenfo gefegwibrige als geaufame Juriſt Carpzov,
er, ben Leyſer eben fo laut pries, ald ee Schwarzenberg ſchmaͤhte,
und dem man bie hauptfächlihe Mitwirkung zu 20,000 KXobesurtheilen
nachruͤhmt, entzog im 17ten Sahrhundert die Derenproceffe durch feine
fheußliche Theorie von denfelben und von ben ausgenommenen Verbre⸗
hen fogar ausdrüdiih dem Schutz jener Grundfäge der Carolina.
Nicht ohne Grauen blidt man in den Abgrund von Frevel und Wahn
finn, vorzüglich dieſer fpätern Derenprocef[e, wie die aus Acten ges
ſchoͤpften Darftellungen, z. B. die von dem gründlichen Forſcher H. Schrei⸗
ber, vorzuͤglich in Beziehung auf die wurzburgiſchen und vor⸗
der⸗oͤſterreichiſchen Lande (im Freiburger Adreßkalender
1836) und die des Grafen von Lamberg über das Criminal⸗
verfahren in Hexenproceſſen im Bischum Bamberg von
1624— 1630, Nürnberg 1835. fie uns fohildern. In Bam
berg namentlich wurden innerhalb biefer 6 Jahre in einer Bevölkerung
von damals ohngefaͤhr 100,000 Seelen 900 Herenproceffe geführt.
Ale Angellagte, Männer, Weiber, Gteife von 75—90 Sahren und
junge Mädchen, zum Theil aus böhern Ständen, wurben ohne Weite
ve8 auf das Scheußlichfte und fehr viele zu Tode oder zu lebenslänglis
her Verkrüppelung gefoltert; 307 aber, von welchen viele erklärten, daß
2) Malblant, ©. 207.
Carolina. | 281
fie nur zur Beendigung ber Folterqual gegen ſich und Andere faͤlſchlich
ausgeſagt, wurden lebendig verbrannt. Selbſt ſchwangere Weiber entgins
gen, trotz kaiferlicher Einſprache, der geiftlichen Wuth nicht. In der⸗
felben Schrift lieſt man mit Scaubern gleichzeitige noch größere und
zablreichere Greuel von Fulda, wo der Abt felbft Augenzeuge von
fbeußlichen Zorturen und von dem lebendigm Verbrennen fdhmangerer
Weiber war *). Solche geiftlihe Fürften, wie biefe von Bamberg
und Fulda, oder wie bie von Trier und Würzburg im Bauern⸗
®riege (oben II, ©. 230) oder wis vollends jener fpätere graufame Bi⸗
fhof von Salzburg, könnten allein fchon die von Herrn v. Haller
erneuerten Lobpreifungen des milden Krummſtabs entkräften. Jeden⸗
falls aber beweifen dieſe greuelvollen Herenproceffe quf's Neue ganz eben
fo, wie jener Abfchredungss oder Sicherungskrieg, zu welchen Abgründen
die Menfchen kommen, fobald einmal bie heilige Achtung der
wahren Rehtsgrundfäpe aufgegeben if. |
5) Ebenfalls nur dieſer Achtung entfprechend und hoch über ihrer
und über der nachfolgenden Zeit, ja zum Theil über dem claffifhen
roͤmiſchen Recht ftehen die Grundfäge ber Carolina grade in den
durchgreifendſten und fchmwieriäften criminalrechtlichen Lehren von dem
(fubiectiven und obdjectiven) Maßſtab der Verbrechen und
von Milderung und Schärfung-dber Strafe, von Dolus und
Culpa, von Verfuh und Vollendung, von Hülfeleiftung
und Urheberſchaft. Weberall erfaßt bier Schwarzenberg nicht
blos die im römifchen Recht aus der gerechten Strafrechtstheorie abges
leiteten Grundſaͤtze, welche der Abſchreckungs⸗ wie der Wiedervergeltungs⸗
Theorie überall widerfprechen und daher von ihnen angefeindet werben.
Er ergänzt und verbeffert fie auch haͤufig. So huldigt er 3. B. qus⸗
druͤcklich (178.) dem wichtigen römifchen Grundfag, daß ber unrecht⸗
liche, rechtsverachtende Wille und nicht der aͤußere Schaden das ei⸗
gentliche Weſen, der Thatbeſtand des Verbrechens ſei. Aber er vers
beſſert die daraus abgeleitete, roͤmſſche Beſtimmung, daß der bloße Vers
fud), wenn feine Ausführung verhindert wurde, dem vollzogenen Vet⸗
brechen glei zu ſtrafen ſi. Der Carolina fchien eine mildere
Strafe nothwendig, einestheils, weil ein ganz fo böfer Wille wenigftens
juriſtiſch nicht erwiefen ift, wenn der Berbrecher fein Verbrechen nicht
ganz zu Ende führte, und weil anberntheils ſchon deshalb und übers
baupt das Aergernig (das Scandalum oder malum exemplum) hier
nicht fo groß und ausgedehnt if. _ Go ftraft das roͤmiſche Recht dem
Vermandtenmord zwar mit Recht härter, als den Mord von Frem⸗
den. Die Carolina erkennt im Allgemeinen die fubjectiven und objectis
*) Yis einft das Hauptwerkzeug biefer Greuel, ein gewiſſer Zenträchter,
weldyer ſich rühmte, bereits 700 lebendig verbrannt zu haben, und bie Hoffnung _
dußerte, daß er das Tauſend noch voll machen werde, anfragte, ob er die Fol⸗
ter bei mehreren Opfern noch fortfegen folle, antwortete ber geifttiche Fuͤrſto
„Wan fahre in Gottes Ramen fort!"
%
283 Goroline. .
ven Gründe bleſce Verſchaͤrfung anz aber mit tiefer Bunmnitdt und
Gerechtigkeit firaft fie einen Verwandtenmord, nämlid, ben Kinder
mord, im juriſtiſchen Sinn ſogar geringer ala den Mord ven Frem⸗
ben (131.), weil bier ber erwieſene rechtswidrige Wille und das Aer⸗
gerniß wegen ber aufgeregten Gemütheftinntung der Verbrecherin und
wegen ber Wirkſamkeit des an fid) nicht verbrecherifchen Triebe der Ge⸗
ſchlechtsehre als geringer erfcheinen.
6) Boͤllig gerecht, männlich und liberal, ganz fo, tie das roͤmi⸗
ſche Recht, erkennt endlich die Carolina (139—145.) auch das Recht
der Nothwehr an. Sie geftattet mir, bei jedem ungerechten,
famen Angriff eines Jeden auf Perfönlichkeit, Vermögen und Beſitzſtand
von mir, wie von meinem Mitbürger, fo viel Gewalt völlig ſtraflos
anzuwenden, als ich felbft zur Abmendung des Unrechts Im guten
Glauben für nothwendig bie. Sie verwirft alfo entfchieben alle bie
von knechtiſcher, unmaͤnnlicher Gefinnung, von einem verkrüppelten
Rechtsgefuͤhl ober doch von Verwirrung des Mechts mit der Moral und
Politik ergeugten fubjectiven, moralifhen und willkuͤrlichen Beſchraͤnkun⸗
gen einer neueren gefehs und rechtswidrigen Griminaljurisprubdeng. Diefe
aber hat es dahin gebracht, daß auch die gerechtefte und dem Schutz
von Recht und Freiheit förderlichite Nothmehr ben ehrenhafteften Mann
der hoͤchſten Gefahr criminalrechtlicher Mißhandlungen und Beichäbiguns
gen ausſetzt. |
Die berühmte berner Preisfhrift nannte Kart V. ober
Schwarzenberg den Beccarta des fehzehnten Jahrhunderts,
Bann wird für uns Deutfhe der bes neunzehnten kommen?
Neue Criminal » Einrichtungen find anerkanntes Beduͤrfniß. Möchten
fie — ein heiliged Recht hat der treue Vuterlandsfreund, es mieberholt
auszufprehen — unferer Zeit und ber NMationalehre entſprechen, und
uns nicht zu meit hinter anderen freien Nationen, und am wenigften
Dinter dem Werk des ſechzehnten Jahrhunderts zurädiafien! Moͤge
auf’s Neue das Recht fiegen über die rechtlofe, politifche, deſpotiſche
Sicherungstheorie! Möge insbeſondere durch tüchtiges Criminalgericht
der Freiheit und Ehre, dem Leben und Gut der Bürger genhgenbe
Verbürgung gegeben und die große Luͤcke, melde bie Abfchaffung
der Tortur gelaffen hat, glüdlicher erfegt werben, als bisher! Wir
unfererfeits freilich halten (f. Th. I. S. 131 u. 633.) mit bem treffs
lichen Kuftus Möfer, mit unfern erften Criminaliften, 3. 3. mit
einem Grolman, mit einem Mittermaier und mit jenen treffs
lichen Mitgliedern der preußifdyen Immediatjuſtizcommiſſion, fo tie
mit den durch Erfahrung bewährten Stimmen aller unferer übercheis
nifhen Landsleute und aller deutſchen Ständefammern, die darüber
vernommen wurden, Beides nur möglih duch Ruͤckkehr zur alten
beutfchen Verbindung vom Genoffen = oder Schmwurgeriht mit den
Staatsrichtern, von Schmwurgerichten jedoh nur für den Beweis.
Sieber aber möchte uns bei einer Gerichtöbefegung nach ber Carolina
ſelbſt die grauenvolle Zortur zurüdkehren, als dee Erfap durch Ver:
!
Carolina. Caſpiſches Meer. 283
duch tigkeits⸗ und Sicherheits⸗Strafen und Ausnahmver⸗
brechen, als das noch Schlimmere, als ein Schwurgericht oder blos
motaliſches Ueberzeugungs urtheil von bloßen Regie⸗
rungsbeamten (vielleicht gar von amoviblen). „Die gefaͤhrlichſte
„Wenbung“, man erlaube uns mit den Worten des ehrwuͤrdigen Ju⸗
ſtus Moͤſer I, 308 zu ſchließen — „die gefaͤhrlichſte Wendung aber,
„voelche wie zu befürchten haben, ift nur diefe, daß Ungenoſſen⸗Rich⸗
„een eben. die Macht gegeben werde, welche vordbem die Genoffen hats
„tn. — Wenn biefen erlaubt wird , nad; dem gemöhnlichen Ausdrud
„mit Dintanfegung unnäthiger Formalitäten zu entfcheiden, wenn diefe
„son dem bürren Buchftaben der Geſebe aud nur ein
„Daarbreit abweihen dürfen, fo beruht Freiheit und Eigenthum
„einzig und allein auf der Gnade bes Landesheren, fo fann er ſolche Leute
„zu Richtern verfchreiben, die in dem Lande, wo fie nad ihrer Weis⸗
„beit und Billigkeit verfahren ſollen, nichts Eigenes haben und keinem
„Genoß find, die aus der Türkei und Zatarei zu Haufe find und bie
„es nad) unvermwerflihen Gründen darthun koͤnnen, daß es vernünftis
„ger fei, die DBeinkleider, al6 den Hut unter den Arm zu nehmen
.....“ Welcker.
Cartell, ſ. Deſerteurs und Kriegsgefängene.
Caſpiſ ches Meer. Ein großer Landfee im weſtlichen Afien,
140 Meilen lang, 30— 64 Meilen breit und eln Areal von 6000’
Quadratmeilen bebedend. Die Alten nannten ihn, nad) den an feinen
Küften wohnenden Gafpiern und Hyrcaniern, bald das cafpifche, bald
das hurcanifhe Meer. Die Griechen hatten nur unvolllommene Kennts
niß von diefem Meere. Ptolemdus fchäste feine Länge von Welt nach
Oſt auf nicht weniger ald 234 Grad, während fie doch kaum vier Grad
beträgt. Die roͤmiſchen Erdbefchreiber theilten das cafpifhe Meer in
drei Haupttheile, den hyrcanifhen, cafpifhen und ſcythiſchen Meerbus
fen. Die Perfer nennen es Aftrachan, die Ruſſen Gaulenskoi, die
Georgier Soma, die Armenier Saof. In naturmiffenfchaftliher Be—
ziehung ift das Merkwuͤrdigſte dieſes Sees, daß er zwar fortwaͤhrend
den gewaltigen Waſſerzufluß der in denſelben ausmuͤndenden Wolga
und gegen 200 kleinere Gewaͤſſer, aber durchaus keinen bekannten Ab⸗
fluß hat, waͤhrend doch ſeine Waſſermaſſe ſich fortwaͤhrend gleich bleibt.
Man vermuthet daher eine unterirdiſche Verbindung, vielleicht mit dem
baltiſchen Meere, vielleicht mit dem perſiſchen Meerbuſen, vielleicht durch
die geheimnißvollen Schluͤnde des innern Erdkoͤrpers mit ganz entfern⸗
ten Meergruͤnden. Das Waſſer iſt zwar ſuͤßer, als Meerwaſſer, hat
aber doch eine Beimiſchung von Meerſalz. — In den aͤlteren Zeiten
bildeten ſeine oͤſtlichen Kuͤſten die Nordgrenze des mediſchen Koͤnigreichs;
ein kaltes, unfruchtbares und moraſtiges Land, von wilden, kriegeriſchen
Völkern bewohnt. Von vielen ber ſcythiſchen, celtiſchen, ſlaviſchen
Voͤlker, die von Zeit zu Zeit uͤber Aſiens und Europas Civiliſation
hereingeſtuͤrzt ſind, fuͤhrt die fruͤhere Geſchichte auf die Umgebungen
bes caſpiſchen Meeres zuruͤck. Gegenwaͤrtig grenzt das eaſpiſche Meer
2854 Gafpiices Meer. Caſſationshef.
gegen Weiten und Morden an Rußland, gegen Süben an Perfien,
gegen Dften. an Turkeſtan. Von Rußland berührt es namentlicy die
kaukaſiſchen Provinzen und das Gouvernement Aſtrachan. Aſtrachan
felbft liegt nur 12 Meilen von dem fiebenzigarmigen Ausfluß der
Wolga in das cafpifhe Meer. Die Umgebungen bes letztern nad)
diefen und feinen meiften Seiten bin, beftehen aus ungeheuern, von
Kofaden und Kirgifen bewohnten Steppen. Gegen Perfien zu ragen
dagegen bie cafpifchen Gebirge fteil an dem Ufer der See empor. Sie
heißen auch Alburs. Ihr merkmürdigfter Berg iſt der noch unerfliegene,
vulfanifhe Demawend. Auch das Zalifchingebirge, mit dem 7950 Fuß
hohen Abargipfel gehört dazu. Auf diefee Seite des cafpifchen Meeres
liegen Reicht, die Hauptſtadt der perſiſchen Provinz Ghilan, Aftcabad,
bie Hauptftabt, und Balfiruſch, die bedeutendfte Handelsſtadt der Pros
vinz Maſenderan, des alten Hyrcaniens. Gegen Zurkeftan zu iſt das
Land wieder flach. Im Turkmannenland findet fich der befte Hafen
des cafpifhen Meeres, ber Hafen Mangiſchlak. — Das cafpifche Meer
ift der Sig eines lebhaften, befonbers von Lofadifhen Stämmen betrie-
benen Fiſchfangs, deſſen Beute Seehunde, Stodfifhe, Störe u. dergl.
find; ein bequemes Berbindungsmittel des Danbels zmifhen Rußland.
und Perfien; ale Handelsweg ſchon im Mittelalter befonders von den
Genueſen benust; bereinft vielleicht ein Daupthebel der Givilifation ber
ummohnenden afiatifhen Voͤlker. Bis jetzt werben noch lange nicht
die Vortheile davon gezogen, die es gewähren könnte. Buͤlau.
Caſſationshof. Unter dem Namen einer Cour de Cassation
beſteht in Frankreich eine oberſte gerichtliche Stelle, welche bei verſchie⸗
denen Gelegenheiten (z. B. durch ihre Entſcheidung uͤber die Illegalitaͤt
des Belagerungszuſtandes von Paris) allgemeine Aufmerkſamkeit auf
ſich gezogen hat, von deren Weſen man ſich aber im Auslande, wo
mat keine Ähnliche Inſtitution kennt, bäufig ganz irrige Begriffe
mahnt.
Was zur Bildung bed Caffationshofs (oder Caſſations g e⸗
richte, wie man es urfprünglidy nannte,) Veranlaffung gab, war im
Wefentlihen folgende Idee: Die legisiative Gewalt erläßt das Geſetz;
ber Richter iſt aufgeftellt, es in den geeigneten Fällen zur Anmwenbung
zu bringen und ſich darnach zu achten. Wenn aber die Gerichte die
Geſetze verlegen, deren Vollziehung vernachläffigen oder vereiteln koͤnn⸗
tn, fo mürden fie dadurch die legislative Gewalt nichtig machen.
Diefem zu begegnen, hat biefelbe ſich das Recht vorbehalten, die Zus
fliz » Verwaltung überwachen und die Urtheile vernichten zu laffen, in
denen fich die Gerichte von den vorgefchriebenen Regeln entfernten, und
ihnen dieſe Regeln wieder vor Augen zu ftellen. (Vide: Pigeau, la
procedure civile des tribuiaux de Frauoe, Edition de 1811. 1. tome,
peg. 662.) 5 "
Der, Caffationshof ift ſonach Leine dritte Inſtanz, wie denn übers
haupt das franzöfifhe Recht deren nie. mehr als zwei kennt. Seine
Sunctionen weichen wefentlih von denen der übrigen Tribunale ab,
Gafjationshof. 285
indem er niemal® auf den Grund ber einzelnen Sachen hin entfcheidet.
(La Cour de Cassation ne connaft aucunement du fond des af-
faires.) '
Das Gaffationsgericht wurde durch das Decret vom 27. Nov. bis
1. Dec. 1790 und die Conftitution von 1791 eingefegt. Es blieb feis
nem Wefen nad) bis heute unverändert. Die wichtigften noch gelten=
ben Beitimmungen darüber find folgende:
Aus der Gonftitution vom 3. VEIT der Republik:
Art. 65. Für die ganze Republik befteht ein Caſſationsgericht, wel⸗
ches über die Caſſationsgeſuche gegen die von den Zribunalen in letzter
Inſtanz gefällten Urtheile, über die Gefuche, eines rechtsbegruͤndeten
Verdachtes oder der oͤffentlichen Sicherheit wegen von einem Gerichte
an ein anderes verwiefen zu werden, und endlidy über die Recursklagen
gegen ein ganzes Gericht entfcheidet. — Art. 66. Das Gaffatione-
gericht erkennt niemals über den Gegenſtand der Proceffe, fondern es
caffiet nur die Urtheile, in denen die vorgefchriebenen Formen verlegt
wurden, oder die eine ausdruͤckliche Zuwiderhandlung gegen das Gefeg
enthalten, und es vermeift den Gegenſtand des Proceffes an das Tri⸗
bunal, welches darüber zu erkennen hat (fonad) an ein anderes Ges
richt).
Aus dem Gefege vom 27. Bent. VII. Art. 58. De
(zu Paris beftehende) Gaffationshof wird aus 48 Richtern gebildet. —
Art. 60. Das Gericht theilt fich in brei Sectionen. — Die erfte urtheilt
(vorläufig) über Zulaffung ober Verwerfung dee Gefuche um Gaffa-
tion, oder um einen Richter belangen zu dürfen, und definitiv über
Sefuhe um Competenzbeflimmung (reglemeut de juges) oder um
Berreifung der Sache von einem Gerichte zu einem andern. — Die
zweite entfcheibet definitiv über zugelaffene Geſuche um Gaffation (in
Civilſachen) oder Richterbelangung. — Die dritte fpricht uͤber Caſſa⸗
tiondgefuhe in Griminals, zuchtpolizeilichen‘ und polizeilihen Suchen,
ohne daß ein vorgängiges Zulaffunge » Erfenntniß erforderlich wäre. —
Art. 63. Jede Section kann nur in Gegenwart von mindeftens elf
Richtern entfcheiden. — Art. 64. Im Falle: dee Stimmengleichheit
werden noch fünf weitere Richter aus einer andern Section des Ges
richts beigezogen. — Art. 76. Außer ben im Art. 65 der Conſtitu⸗
tion vom J. VIII vorgefehenen Källen entfcheibet der Caffationshof
audy über bie Richtercompetenz, wenn ber Streit zroifchen mehren
Appelihöfen befteht oder zwifchen mehren Gerichten erfter Inſtanz, die
niht in einen und den naͤmlichen Appellationsbezirt gehören. —
Art. 77. Gegen Urtheile der Sriedensrichter in letzter Inſtanz findet
Caffation nur ftatt wegen Incompetenz ober Weberfchreitung ber Amtes
befugniffe; ebenfo gegen Entſcheidungen der Militairgerichte, mit ber
weiteren Befchräntung, daß fie von einem Nihtmilitaie vorgebradht
werden müffen. — Art. 78. Falls nad erfolgter Caffation. das
zweite Urtheil über die Sache aus dem nämlichen Grunde wieder ans
gefochten wird (d. h. wenn das zweite Bericht die naͤmlichen Entichels
286 Caſſationshof. Gaſſel.
dungsgruͤnde angenommen hat wie das erſte), ſo wird der Gegenſtand
vor die drei vereinigten Sectionen bes Caſſationshofs gebracht.
— Das nun erfolgende Urtheil ift als authentifche interpretation
Geſetzes zu betradhten. —
Als die Rhemlande von Frankreich losgeriſſen wurben, mußte
man, da ſich bier natürlich nicht überall Caſſationshoͤfe von je 48 Rich⸗
tern bilden ließen, auf andere Art Vorſorge treffen. In Rheinbaiern
(und ähnlich in den übrigen Mheinlanden) feste man bie Richterzahl
des Caffationshofs auf 7 herab, und verwendete dazu je diejenigen Räthe
des Appellhofs, welche zu dem angefochtenen Urtheile nicht mitgewirkt
batten; fodann, wo biefe Zahl nicht ausreichte, zur Ergänzung, bie
Praͤſidenten der Gerichte erfter Inſtanz. Da aber eine. Verweifung
von einem Appellhof an den andern nicht möglich, Indem nur einer
vorhanden ift, fo übertrug man nuh — ganz gegen das Werfen bed
Inſtituts — dem fo componirten Caffationshofe zugleich die Entfcheis
dung auf den Grund der Sade, indem man ihn nebenher zu
einem Revifionshofe machte. Bon allen Seiten fpradh ſich der
Wunſch nad) einer verbeffernden Abänderung aus. Da erfhien uns
term 29. Juni 1832 eine önigliche Verordnung, melde die Bildung
eines fechften Senates beim Oberappellationsgerichte zu München. ans
ordnete, und diefem die Kunctionen eines Caſſations⸗ und Reviſions⸗
hofs für Mheinbaiern übertrug. Obgleich ſowohl die Geſetzlichkeit, ale
aud) die Ausführbarkeit diefer Anordnung, namentlich durch den Kreis:
Landrath, angegriffen. wurden, fo fanden desfallfige Beſchwerden doch
bet der bairifchen Ständeverfammiung von 1834 Keinen Anklang. —
Zuvor ſchon hatten die preußifche und die heffifhe Regierung die Cafe
fationshöfe ihrer Nheinprovinzen nad) Berlin und Darmftadt verlegt. —
G. Fr. Kolb.
Caſſation der Staatsdiener, ſ. Staatédiener.
Caſſel (Heſſen⸗Caſſel, Churfuͤrſtenthum Heſſen), liegt zwi⸗
ſchen 260 11’ His 280 13° oͤſtlicher Länge und 490 56’ bis 620 26’
noͤrdlicher Breite, bildet, von einigen Gebietstheilen abgeſehen, ein zu⸗
ſammenhaͤngendes Ganzes und grenzt gegen NW. an die preuß. Pro⸗
vinz Weſtphalen, gegen RD. an das Königreih Hannover, im D. an
die preuß. Provinz Sachſen, an Sacfen: Weimar und Baiern, im
SD. an Baiern, m SW. an das Großh. Heffen und an Frankfurt,
im W. an das Großh. Heffen nnd an Walded. Die Provinz Schaums
burg mwied von Dannover, Schaumburgskippe und Weitphalen, und
der Kreis Schmalkalden vom herzogl. fächfifhen und preußiſch⸗ fächft-
fhen Gebiete umfchloffen. Das noch nicht genau ausgemefjene Land
enthält einen Zlächenraum von: ungefähr 207) M., worauf gegen
600,000 (nad) der Matrikel des deutſchen Bundes 567,868) Seelen
wohnen, und ift größtentheils bergig unb waldig (gegen 3 des gan=
sm Gebietes nehmen bie Waldungen ein) und im Ganzen nicht
fehe fruchtbar, wenn man einzelne Gegenden ausnimmt; das Klima
vaub und unfeeunblid, im: Hanauiſchen und Henburgifchen: jedoch an»
Caſſel 287
genehm. Die vornehmſten Gebirge ſind der Thuͤringer Wald mit dem
Inſelsberge im Schmalkaldiſchen; bie Werragebirge, deſſen hoͤchſter
Yunkt, der Meißner, wegen feiner Baſaltklippen und trichterfoͤrmi⸗
gen Vertiefungen merkmürbig ift; bie Mhöngebirge, bie Fuldagebirge
mit ihren Verzweigungen, namentlih dem Habichtswald und beme
Reinhardswald, die banauifhen Berge, welche mit der Rhoͤn, bem
Speffart und dem DVogelöberge zufammenhängen, und im Schaum
burgifhen der Süntel, Deiſter und Büdeberg, Vorkuppen bes
Harzes. Zu feinen vorzüglichen Fluͤſſen gehören die Fulda, bie
Werra, die Wefer, der Main, bie Lahn, bie Edder, bie
Diemel, die Shwalm und die Wetter. Das Thierreich liefert
Dferde, Rindvieh, Schanfe, Schweine, Ziegen, Wild, Federvieh, Fi⸗
fhe und Bienen; das Pflanzenreih Getreide aller Art, ffeln,
Hülfenfrüchte, Gemüfe, Rüben, Obft, Tabal, Flachs, We Rübs
faamen und Holz, und das Mineralreich Salz, Alaun, Vitriol,
Goldſand (aus der Edder), Eifen, Blei, Kupfer, Kobalt, Queckſilber,
Same, Thon, Walkererde, Marmor, Kalt, Gyp6 und Sandfteine
Die Landwirthfchaft, obwohl der vorzüglichfte Erwerbszweig, bedarf
noch fehe der Verbefferung, wofuͤr jedoch viel gefchieht; bas Fabrik⸗
und Manufacturwefen vervolllommnet fi) immer mehr, und ebenfe
dee Handel. Für die früher fehr vernadhläffigte Volkserziehung ift zwar
Manches, aber noch keineswegs dem Bedürfniffe Genuͤgendes gefchehen,
Churheſſen gehört zum beutfhen Bunde, in welchem es bie achte
Stelle einnimmt, und feiner DVerfaffung nad zu ben .conflitutionelten
Staaten. Die Lage in der Mitte zwifchen Nord s und Guͤddeuntſchland,
wornach es theilweife jenem und theilweife biefem angehört und gleiche
fam die Verbindung zwifchen beiden vermittelt und bewirkt, gab Dies
fem, im Verhättniffe zu den übrigen deutfchen der mittleren Größe ans
gehörigen Staaten von jeher einen größern Einfluß auf die inneren deut⸗
fhen Angelegenheiten, als man von feinem Gebietsumfange und feiner
Innern Macht erwarten burfte, wenn gleich nicht zu leugnen iſt, daß
die ausgezeichnete Perfönlichkeit einzelner Fürften, deren ſich Churheſſen
sühmen kann, fowie die Charafterfeftigkeit, bie Zapferkeit, der Bieder⸗
finn und bie unbeſtechliche Treue und Liebe des Volkes zu feinen Kürs
ſten hierzu nicht wenig beittugen. So trug, um nur die widhtigften
Zhatfachen hiee namhaft zu machen, Heffen zum Gelingen ber kirche
lichen Reformation wwefentlich bei, und mar fen Beiſpiel in neuefler
Beit für den Sieg des conflitutionellen Spftemes in Deutfchland, forsie
fein Anflug an den preußifhen Mauth⸗ und Bollverband für die alle
mälig erfolgende gänzlihe Aufhebung ber Zölle und Mauthen im In⸗
nern bes beutfchen Bundes völlig entfcheidend, Churheſſens neuefte
Verfaſſungsurkunde diente überdies ben meiften nad) ihr entflandenen
Sonftitutionen in wefentlihen Punkten als Vorbild und Mufter. Aus
diefen Ruͤckſichten verdient die gebrängte Darftelung ber politifchen Ger
ſtaltung Churheſſens, der Entftehung und bes mwefentlihen Inhalte ſei⸗
ner neueften Derfaffung aud in dieſem Leriton eine Stelle.
.288 Caſſel.
I. Ueberſicht der geſchichtlichen Hauptmomente. Die
Heſſen bewohnten urſpruͤnglich unter dem Namen der Chatten
den nordweſtlichen Landſtrich von Deutſchland, welcher in wenig un⸗
terbrochenen waldigen Huͤgeln und Bergen von der Werxa und Weſer
bis beinahe zum Rheinſtrome, und von den Rhoͤn⸗ und Vogelsbergen
bis zu den weſtphaͤliſchen Niederungen ſich erſtreckte. Tacitus') ſchil⸗
dert ſie alſo: „Haͤrter ſind dieſes Stammes Leiber, gedrungen die Glie⸗
der, drohend der Blick und groͤßer die Lebhaftigkeit des Geiſtes. Fuͤr
Germanen viel Verſtand und Ruͤhrigkeit, daß fie Auserkorene ſich vor⸗
ſetzen, den Vorgeſetzten gehorchen, Schlachtordnungen verſtehen, Um⸗
ſtaͤnde benutzen, wilden Angriff verſchieben, Tagesordnungen feſtſetzen,
Nachts ſich verſchanzen, Gluͤck unter Zweifelhaftes, Tapferkeit als Ge⸗
wiſſ nen; und was hoͤchſt ſelten und nur roͤmiſcher Kriegszucht
gegebeNft, daß fie mehr auf den Fuͤhrer als das Heer ſich verlaſſen ꝛc.“
In den erſten zwei Jahthunderten "kämpften auch fie in den Reihen
des großen Suevenbundes gegen die Römer. Seit der Mitte des 3.
Sahrhunderts bis zum Ende des 5. verlor fih ihr Name in dem Voͤl⸗
terbunde der Franken; ihr Wohnfig mar während bdiefer Zeit am Main
und an der Saale bie Weſtphalen herab, und vom Harze her an ben bei⸗
den Ufern des Rheinſtroms. Ihr Land gehörte zu Oſtfranken. Wans
fried (Bonifacius) führte auch hier (718) das Chriftenthum ein.
Seit 724 erfcheinen ‚fie zum erſten Male in der Gefchichte wieder uns
ter dem verwandten Namen dee Heſſen, welche Karl der Große in
feinem Kampfe gegen die Sachfen über die Gebühr anftrengte. Bis
zum 10. Jahrhundert fland der Heffengau (Ober: und Niebers
Loͤhn-Gau) unter rheinfränkifhen Grafen und Herzogen; feit 1025
aber unter den Landgrafen von Thüringen, indem ein Sproffe bes
karolingiſchen Geſchlechts, Ludwig der Bärtige, durch Gunft und
Verdienſt, Heirath und Kauf Graf in Thüringen und Heffen wurde.
Das Schloß Wartburg mard zum Stammfige biefer Grafen, unter
denen fich befonders Hermann I. (1190-1216) als Foͤrderer der
geiftigen Gultur ‚hervorthat. Die heilige Elifabeth, aus Stephan
des Heiligen Koͤnigsſtamme, ward, als Gemahlin von Hermann’e
Sohne, Ludwig VI. (feit Errichtung der Landgraffchaft IV.), die Mutter
. der Ahnfrau des nody jest regierenden heffifhen Regentenhaufes, © os
phia, Herzogin von Brabant, indem deren Sohn, Heinrich das
Kind, durch Vergleich (1263) das nun von Thüringen ‘getrennte
Heffen, fpäter (1292) die Reihsfürftenwürde” mit dem Titel
eines Landgrafen und Sig und Stimme am Reichstage erhielt. Er
tbeilte Heffen unter feine Söhne Dtto und Johann. Der Legtere
ftarb jedodh ohne Erben (1311), wodurch das Land wieder unter Otto
vereinigt murde, defien Sohn Heinrich II. (1328—1376) Tref⸗
furt, Wilhelmsthal, Spangenberg, Heffenftein, ein Bier
tel der Herrſchaft Itter, die Hälfte der Herrſchaft Schmalkalden
—
* Germ. © 30 sq.
Caſſel. 289
und andere Güter an Hefien brachte. Ludwig I. erwarb bie Graf:
fhaften Ziegen hain und Nidda und bie Lehnsherrlichkeit über Wal⸗
de, und fein Sohn Heinrich III. (IV.), an den Oberheffen kam, waͤh⸗
vend deſſen Bruder Ludwig II. Miederheffen erhielt, durch Heirath
Catzenell!nbogen, besglihen Ballenberg und Dies. "Schon
feit dem 14. Jahrhundert hatten die Landgrafen vier Erbhofämter, aͤhn⸗
ih den, 4 meltlidhen Erzämtern bes Meiches, das Erbmarſchall⸗
amt(v. Riebefel zu Eiſenbach), das Erblämmereramt (v. Berlepſch),
das Erbſchenkenamt (Schent zu Schweinderg) und das Erb
tüchenmeifteramt (v. Wildungen, bann dv. Hertingéhauſen, enb⸗
lich v. Dörnberg). a u et
Philipp dee Großmuͤthige (1609, felbftftändig 1518—1667),
der ausgezeichnetfte Fürft in der ganzen Reihe feiner Vorfahren, ber
eifrige Foͤrderer der Reformation, ftiftete (1527) .aus den. aufgehobenen
Kıöftern und. ihren Gütern die Univerfitätt Marburg nebfl einem
Paͤdagogium dafelbft; errichtete das Kiofter Rotenburg für ausges
diente Geiftliche; beftimmte für Gebrechliche und Geiſteskranke die Kloͤſter
Haina, Merrhbaufen, Gronau und Hofheim, und verwans
delte die Nonnenkloͤſte Kauffungen und Wetter in abdelige Sitif-
ter. In Folge feines Teftaments von 1562 wurde aber Heſſen unter
feine vier Söhne geteilt; Wilhelm IV.. (dee Weife) erhielt bie
Hälfte mit Caffel, Ludwig IV. (der Teſtator) ein Viertheil mit
Marburg, Philipp IE ein Achttheil mit Rheinfels und Georg J.
(dee Fromme) ein Adıttheil mit Darmflabt. Gluͤckücherweiſe vers
farben Ludwig und Philipp ohne Erben und -fo verblieben nur
die Linien Heffen:Caffel und Heffen: Darmflabt. |
Sn Heffen:Caffel regierten feit Wilhelm bem Weifen
(1567— 1592), dem Zreunde der Wiſſenſchaften, befonders der Sterns
‚ Eunde, und dem Feinde des Lurus: Moris der Gelehrte (1592 bie
1627), Wilhelm V. der Beftändige (1627—37), deſſen Gemah⸗
lin Amalia Elifabeth mit feltenem Geifte und Muthe als. Vor⸗
münbderin ihres Sohnes Wilhelms VI. die Zügel der Regierung führte.
Durch den meitphälifchen Frieden kamen während der Herrſchaft Wil⸗
heims VI. (des Gerechten, ft. 1663) die Abtei Hersfeld als Fuͤrſten⸗
thum, die Graffhaft Schaumburg mit ber 1621 geflifteten Univers
fität Rinteln, die 1809 mit Marburg vereinigt wurde, und Die
Graffhaft Hanau vorläufig. (definitiv erft 1736) an Heſſen⸗Caſ⸗
fet. Während diefer Zeit entſtanden auch die apanagirten Linien Hefs
fens=Rothenburg (1648, ausgeſtorben 1834) für des Landgrafen
Moritz Sohn, Ernft, und Heſſen⸗Philippéthal (1652) für
den dritten Sohn Wilhelms VL, Philipp, wovon 1761 nod
eine Nebenlinie zu Barchfeld entfprang. Wilhelms VII. (geb. 1661
geft. 1670) kurze Regierung verdient kaum erwähnt zu werben; da⸗
gegen _herrfchte deffen Bruder Karl gegen 60 Jahre lang (1670 bis
1730). Er brachte durch die Aufnahme der vertriebenen franzoͤſiſchen
Staats sErriton, IL, 19
200 Galle}.
. Neformirten, buch herrliche Bau⸗ und Kunſtdenkmale, wie Karls:
berg (jest Wilhelmshoööhe) mit bem Herkules, Karlshafenx.
und dur Förderung ber Wiſſenſchaften und Künfte neues Leben und
feinere Gultur in feine Länder. Friedrich l. (1730— 1751) noch bei
Lebzeiten feines Vaters als Gemahl der Königin Ulrika Cleonorg,
Tochter Carls XIl., auf den fchmedifchen Thron berufen, ließ feine bef-
fifchen Erblande durch feinen Bruder Wilhelm VII. regieren, ber nad)
deſſen Tode die Herrſchaft als eigentlicher Landgraf bie 1760 fort⸗
fegte. Sein Sohn Sriedrid I. (1760— 1785) trat, unbeſchadet
bes Glaubensfreiheit feiner Unterthanen und ber Religion feiner Nach⸗
folger, zur kathol. Kirche über, förderte Wiffenfchaft und Kunft, erließ
feinen durch den fiebenjährigen Krieg herabgefommenen Unterthanen
die Hälfte der Contribution, fandte aber dagegen Heffens Juͤnglinge
als englifhe Hälfstruppen, wofuͤr er den Miethfolb bezog, ma
Amerifa, um gegen die aufleimende freiheit zu Länipfen. Erſt
nah 7 Jahren Tehrten fie in ihre Heimath zuräd. Die Regie:
rung Wilhelms IX. (1785— 1821) fällt m die Zeit der gro⸗
gen europäifchen Ereigniffe, in Folge welcher Heſſen⸗Caſſel (1809)
die. Hoheit über die heffenscheinfelfifhen Befißungen auf
dem linken Rheinufer verlor, dagegen aber nebft dee Churmürbe
die mainziſchen Aemter Amoͤneburg, Friglar, Naumburg und -
Meuftadt, bie Stadt Belnhaufen und das Reichsdorf Holzbau:
fen erhielt; fpäter (1806) von den Franzoſen occupirt und nad) dem
tilfiter Sieden (1807) ein Theil des neugefchaffenen Königreichs Werft
halfen mwurbe, durch deſſen Auflöfung (1813) auch ber Landgraf
ithelm (als Churfürft Wilhelm 1.) wieder zum Befitze feiner Erb⸗
länder gelangte. In Folge dee neuern Zerritorials-Ausgleihungen (1816)
‚tent Churheſſen ab: Eagenellnbogen, bie Herrfhaft Pleſſe, bie
Aemter Neuengleihen, Udhte, Auburg, Sreudenberg,
Srauenfee, Bölkershaufen, Vach, Babenhaufen un Rod
beim, bie Propfti Goͤllingen, einen Theil der Vogtei Kreuz.
berg und bes Amted Friedewald, und feinen Antheil an Vilbel,
Münzenberg, Affenbeim und Burggrafenrobe. Dafür er
hielt e8 den größten Theil des nachher zum Großherzogthume erhobenen
Fuͤrſtenthums Fulda, einige Theile: des aufgelöften Großherzogthums
Frankfurt, die Hälfte des mediatiſirten Fuͤrſtenthumes Sfenburg mit
ben Gerichten Diebach, Langenfelbold, Meerholz, Lieblos,
Waͤchters bach, Spielberg und Reichenbach, fowie einige auf
dem rachten Mainufer gelegene Dörfer des Amtes Steinheim, und
bie Hälfte von Praunheim. Ihm folgte als Churfürfs fein Sohn
Wilhelm II. (27. Kebr. 1821), welcher feinen Sohn, den Churprins
zen Friedrich Wilhelm, (30: Septhr. 1831) zum Mitregenten
und für die. Zeit feiner Abweſenheit zung alleinigen Herrſcher erhob,
Es hat den Anfchein, daß ber Churfuͤrſt nicht wieder in die Reſi⸗
kennt Caſſel zuruͤckkehren und an der Regierung Antheil nehmen
me
Caſſel. 291
IL Gedrängte Ueberfiht ber Werfaffangsgefhichte ).
1) Aus denfelben Urſachen und in derſelden Weiſe, tote In ben
meiften deutfchen Ländern, entftand auch in Heffen eine landſtaͤndtſch⸗
Verfaſſung. Schon im 13. Jahrhundert zeigten fid’ die heſſiſchen
Zandftände bei allen Öffentlichen Angelegenheiten von Wichtigkeit mit
entſcheidendem Einfluffe thätig, Indem auch in Heſſen, wie andertof
in Deutſchland, die Zürften ohne die Landftände nichts, mit ihre
Mitwirkung dagegen Alles vermochten. Anfangs hatten Heffen s Caffa
und Heffen » Darmftadt, Ihrer Trennung ungeachtet, gemeinfchaftlidhe
Landtage, die bald im Heffen = Caffelifchen, bald im Heffert - Darmftäbs
tiſchen gehalten wurden, feit 1628 jedoch außer Gebraud kamen. In
den heſſen⸗ caſſeliſchen Landen insbefondere, unser denen Schaumr
burg eine eigene, Hanau dagegen gar Feine — Brtaffung
hatte, gehörten zu den Landfländen bie Prälaten (der Landcommen⸗
hu der Ordensballei Heffen in Marburg, bie Stifter Kauffungek
und Wetter, die Sammthofpitate Haine, Merrhaufen, Hofr
beim und Gronau und die Univerfität Marburg), bie Rittets
Thaft (nach den fogenannten Strombezirken Fulda, Diemel,
Schwalm, Werra und Lahn) und die Städte nah Denfetbeh
Strombezirten (Schweinsberg, Karlshafen und Großaime,
vobe hatten Feine Landſtandſchaft, wohl aber St. Boat, obdwodl
zu keinem Strombezirke gehörte). Es gab große und engere" Lartde
tage. Zu jenen erfchlenen ſaͤmmtliche Prälaten (Unter dieſen werfge
ſtens jwei Deputirte der Univerfität), fämmtlide Sieber der Ülitter{dhaft
und von jeder landſtandſchaftsberechtigten Stadt ein oder mehrere DE
putirte; zu dieſen bagegen im der Regel, außer dem Lanbcommenthüt,
nur ein Ddervorſteher der abeligen Stifter, ein Deputicter der Univers
firät und ein ritterſchaftlichet und ein landſchaftlicher (ſtaͤdtiſcher) Depus
tirter von jedem Strom nad) freier Wahl; nur von dem Diemels,
Sechwaim⸗ und Lahnfteom mußte ſtets der Bürgermeifter (von Sal
Homberg und Marburg) erfcheinen. Proteſtantiſches Glaubensbekennt
niß mar feit 1755 Bedingung’ der Tandftandfhaft, nur der Landcom,
wenthur Eonnte auch katholiſch fen. Die Landftände übten zwar IH
allen Angelegenheiten wefentlichen Einfluß aus, als unbeftrittenes Mei
fand ihnen aber nur die Verwilllgung der Steuern zu, durch der
Verweigerung fie jedoch auch andere Wuͤnſche (Defiderien), nartentyi
auch hinſichtũch der —ã durchzufegen' mußten, obwohl ihr
an Diefer Fein eigentlicher Antheil rechtlich zuftand, indem ihre Zuſtigu
mung bei feinem Gefege zut Güittigktie eines foldhen erfordert; wo
Die landſtaͤndiſche Verfaſſung der Graffhaft Schaumburg
ruhte ayf denfelben DBeftandtheilen (aus ben Prälgten [die Stifter
Möttendbed, Eſchbeck und Odernkichen] echtem vitterfchaftlis
PR Pfeiffer, Geld. der ee ran
292 Caſſel.
chen Deputirten und den Deputirten der Staͤdte Rinteln, Olden⸗
dorf, Obernkirchen, Sachſenhagen und Kodenburg) und
auf denfelben. Rechten, wie die heffen=caffelifhe. Die caffelifchen
Landſtaͤnde ſowohl als. die fhaumburgifchen hatten einen eigenen Con⸗
fulenten,, ber bei biefen Land = Spndicus hieß. Die Berufung, welche
an keine beflimmte Zeitfrift gebunden war, ſowie die Vertagung, Auf:
fung oder Verabſchiedung geſchah durch den Landesheren. Die caf-
ſeliſchen Stände bildeten zwei (die Ritter » und Stäbte-Curie), bezies
hungsweiſe drei Gurten (die Praͤlaten⸗, Ritter: und Städte-Eurie), des
ten Präfident der Erbmarſchall war; es wurden jedoch aud) Dienars
figungen gehalten °).
2) Diefe Tandftändifche Verfaſſung, deren Wirkfamfeit aber mit
bein Steigen ber Iandesherrlichen Macht immer mehr abnahm, beftand
bis 1806, wo Heſſen-Caſſel ein Theil des Königreichs Weſtphalen
wurde und an der Verfaffung dieſes Staats (vom 15. Nov. 1807)
Antheit hatft ). Der Churfürft Wilherm 1. ſtellte aber, vermöge
der bei dem Beitritte W der großen Allianz übernommenen Verpflich⸗
tung (Acceſſ. Vertr. 13. Dechr. 1813. Geh. Art. 3.), bald nach
feiner Ruͤckkehr bie alte Verfaſſung wieder her und räumte zugleich ben
Bauern das Recht ein, zu dem auf den 1. März 1815 berufenen
Landtage fünf Deputirte nach den fünf Strömen abzuordnen “). Die:
fee Landtag wurde auch wirklich am 1. Maͤrz 1815 eröffnet, indem
zwei Deputirte von ben’ Prälaten, fünf von ber Ritterfhaft, acht von
ben Städten und fünf von dem Bauernfltande zu demſelben erfchienen
waren. Allein Mißhelligkeiten von mancherlei Art, namentlich die ver:
langte vollftändige Wiederherſtellung der alten Standesvorrechte, insbe⸗
ſondere der Patrimonialgerichtsbarkeit, welche die weftphälifche Verfaf:
fung mit ben Feudalrechten aufgehoben hatte und der Churfuͤrſt, trog
der Nichtanerkennung der weftphälifchen Regierung, aufgehoben‘ ließ,
bie verlangte Feftftellung des Staatsvermoͤgens, zu welhem man aud)
die englifhen Subfidiengelder reclamirte, die ohne Mitwirkung der alten
Stände erfolgte Berufung des Bauernſtandes, die begehrte „Feſtſetzung
einer der Vernunft und den Erfahrungen der Zeit entfprechenden Lan⸗
besconftitution” ꝛc. führten bald bie Vertagung des Landtages (2. Juli
1815) herbei. Diefer verfammelte ſich zwar wieder (15. Febr. 1816),
es kam aber auch jegt Fein Reſultat zu Stande, indem diefelben Miß⸗
helligkeiten fortbauerten, welche auch die Vereinbarung fiber den im
Kebruar vorgelegten Entwurf einer Berfaffungsurkunde +) zwiſchen
ber Regierung und den Ständen verhinderten und endlich die Auflö-
fung der Staͤndeverſammlung zur Folge hatten (10, Mai 1816) 17).
6.8. ebberhofe, kleine Ediriften, I. Bb. (Marburg 1787.)
**) Sie flieht in PdLig europ. Werfaffungen (2te Aufl.) 1. Bd. &. 38 fg.
0) Berorbn. vom 27. December 181%, in Polis a. a. D. ©. 553 8
+ In Polit a. a. D. ©. 559.
++) Dan fehe über diefen Bandtag Pfeiffer a. a. ©. &. 205 fa.
Caſſel. 293
Es blieb demnach bei der alten, reſtaurirten Verfaffung; nur einige
Hauptſaͤtze des beruͤhrten Entwurfes wurden in „das Haus⸗ und
Staatsgeſetz“ vom 4. März 18177) aufgenommen. Der Regierungs⸗
antritt des Churfuͤrſten Wilhelm II. (27. Febr. 1821) erregte zwar
neue Hoffnung auf Erfüllung des 13. Art. der; deutſchen Bundesacte;
allein das am 29. Juni 1821 erlaffene Organiſationsedict ), wels-
ches die Trennunz ber Rechtspflege von ber Verwaltung anorbnete,
die Unabhängigkeit der. erftern ficher flellte, dagegen die letztere über die
Gebühr erweiterte, benahm alle Ausſicht auf eine zeitgemäße Verfaſ⸗
fung. Altes politifhe Intereſſe fchien nun zu erloͤſchen unter dem
Drude der vielarmigen Verwaltung. Selbft. die alte: ſtaͤndiſche Ver⸗
faffung betrachtete man als aufgehoben, indem. wenigftene die Präfaten:
Curie in Minifterial s Referipten eine ehemalige , genannt wurde.
Zwar füßen nod zwei Deputicte ber Stände bei ‚ver Landesſchulden⸗
Zilgungscommiflion, um für Die richtige. Verwendung ber Tilgungs⸗
fonds zu wachen ; allein ihre Einfprache blieb. ohne Berüdfichtigung und
Erfolg, indem man über diefe Fonds, jener Einfprache ungeachtet, will⸗
kürlich verfügte. Ein om 0. Juni 1823..in, Caffel auf die Poft ges
gebener Drohbrief, worin der Churfürft und feine Favoritin, die Graͤ⸗
fin Reihenbad, von einer in runder Zahl. angegebenen Geſellſchaft
junger Leute mit: dem Tode bebroht wurden, wenn jener nicht binnen
Sahresfrift dem Lande eine dem 13. Art. dee d. B. A. entfprechende
Verfaffung geben, den Einfluß der ꝛc. Reichenbach auf die Regierung
befeitigen und das Benehmen gegen feine nächfte Umgebung ändern.
werde, hatte für das Land die traurigſten Folgen. Die einer Spe⸗
cialcommiffion übertragene Unterſuchung hierüber verbreitete, gleich einem
drohenden Gewitter, Zucht und Schreden über den ganzen Staat;
bie polizeilihen Maßregeln mwurben in einer bis dahin unbelannten
Weife vermehrt und gefchärft,. der Abfotutiemus griff polypenartig immer
mehr um fich und laftete ſchwer auf dem Volle, das zwar mit ſtum⸗
mer Duldſamkeit das Unabwendbare aͤußerlich zu ertragen fchien, befto
mehr aber fih im Stillen nach einer Verbeſſerung feiner Lage fehnte.
Das Jahr 1830, deffen Julius, einem Erdbeben gleich, alle politifchen
Einrichtungen Europa’s erſchuͤtterte und mit Einfturz bedrohte, brachte
endlich diefe lange verhaltene Sehnfucht zum Ausbruche und führte
dadurch zur Umgeflaltung dee politifchen Einrichtungen.
8) Die durdy den Küfermeifter Herbold am 2. Sept. veran-
lagte Berfammlung ber Zünfte bezwedite zwar zunaͤchſt nur bie Abhülfe
bee Beſchwerden der Handwerker, fie wurde aber bald überzeugt, daß
bie Einberufung der Landflände diefe am ficherften herbeiführen wuͤrde.
Es ward daher, nachdem bie ausgebrochenen Unruhen der niedern
Volksclaſſe am 6. Sept. die Bewaffnung der Bürger veranlaßt hatte,
in den folgenden Berfammlungen eine Adreffe in diefem Sinne be⸗
*) Sn Politz a. a. O. ©. 571.
**) In Pilig a. a. O. ©. 573 fg.
294 Eaſſel.
ſchlofſen und vor ders Magiſtrate an dem für Churheſſen denkwuͤrdl⸗
gen 15. Sept. dem Churfuͤrſten, ber vor drei Tagen vom Karlsbade
zuruͤckgekehrt war, überreicht. Die Bitte fanb Gehör. Eine Verord⸗
nung vom 19. Sept. °) berief die Landſtaͤnde auf den 18. October
nady Caffel. Der am biefem Tage eröffneten: Werfammlung ber Abges
orbneten ber altheffifhen Landſtaͤnde, welche bie Deputirten bee
ſchaumburgiſchen Stände, ſowie jene von ben Provinzen Hanau
und Fulda in ihre Mitte aufnahm, wurde ein Entwurf eiwer Berfaſ⸗
fingsurtunde vom 7. Detob. *) zur Berathung und Annahme vors
gelegt und zu dem Ende ein landſtaͤndiſcher Ausſchuß von 7 Mitglie⸗
dern gewählt, welchet in wenig Wochen einen völlig umgearbeiteten,
fehe erweiterten Gntwurf. vor bie Plenarverfammlung brachte ).
Die gemeinſchaftlich mit den landesherrlichen Randtagscommiffarien ge⸗
pflogene Dioeuſſion, die nach keiner beſtimmten Geſchaͤftsordnumg ers
folgte, führte mehrere weſentliche Veraͤnderungen dieſes Entwurfes her⸗
bei, von denen viele dem Geiſte bes Reptaͤſentatwſyſtems wicht entſpre⸗
chend waren. Das Verfaſſungswerk war gegen das Ende des Decein-
ber vollendet. Die am 5b. Januar 1831 unterzeichnete Werfaffungee
urkunde wurde am 9. defieiben Monats ven ben Miniflern und
Landftänden feierlich befhworen. Die am 10. Januar erfolgte Zuruͤck⸗
kunft der Graͤfin Reichen bach veranlaßte jedoch neue Unruhen, weis
he als bie Urſache ber nachher angeordneten Mitregentſchaft zu bes
tsachten find. Die Landftände blieben noch bi6 zum 9. Maͤrz verfams
melt und bearbeiteten waͤhrend diefer Bussen Zeit noch das Wahlgeſetz,
die landſtaͤndiſche Geſchaͤftsordnung, bie Geſete über ben Baus» und
den Staatsſchatz, ſowie über mehrere indirerte Abgaben, das Staats⸗
dlenfigefetz und den Landtagsabſchied. Die Geſchichte wird kaum einen
Lundttig aufweiſen koͤnnen, welcher in einem Zeitraume von 6Mona⸗
tm unter fo ſtuͤrmiſchen Verhaͤltniſſen, denen die Staͤndeverſammlung
geich Anfangs mit einem fogerrannten Martialgefege (22. Detob. 1830).
zu begegnen fuchte, mehr geleiftet nnd eine ruhigere und umfichtsvol⸗
lose Haltung beobachtet hätte, als biefer churheſſiſche.
nl. Charaktet und Hauptbeſtimmungen ber Verfaf⸗
fungsurkunde.
Die churheffiſcha Verſaffungeuckunde *) beruht größtentheils auf
gefchichtlichen Grundlagen, indem fie die alten Einrichtungen ben An»
* In Polit a. a. D. ©. 608 Re.
”) In Yölis aa. D. ©. 607 fy
“r) M. ſ. Jorban, Über De Geundfäge, von welchen bei ber Abfaffang
der churhefſ. Berf. Urk ' audgegamaen. in Poͤlit Jahrb.
Pr 35.1. ©. Er ‚nme d Beil un
see) In Politz, bie europ. Gonftit. I. Be. ©, 613 fg, — Pr. Mur:
hard, die hurheff. Verf. Urt. erläutert unb beleuchtet nad) Maßgabe ihrer eins
zeinen Paragraphen. IL. Abtheil. Caſſel, 1898 u. 18%. 8.
Gaffel. 295
forbernngen bee neuern Zeit, oder, wenn man will, biefe jenen anzu-
paffen, das Alte und Neue in Ein Ganzes zu verbinden fucht. Diefe,
meiſt unnadtürliche, Verbindung verändert aber oft blos den Stand⸗
punkt, weldyen bie - beiden Eleinente, das Alte und Neue, in ihrem
Wechſelkampfe gegeneinander einnahmen, ohme eine innere durchgreifende
Ausföhnung und fo eine wahrhaft organifche Verbindung zwiſchen ihs
ten zu bewirken. Die Folge hiervon iſt, daß ber alte Kampf auch in
diefer beränderten Stellung, und zwar oft heftiger, als vorher, fort
dauert; man hat ja nur die Form, aber nicht auch die Sache ums
gefaltet; nur Waffen und Ruͤſtung umgewandelt, aber nicht die ſtrei⸗
tenden heile ausgeföhnt. Wie die meiften deutſchen Berfaffungen, fo
leidet auch die hucheffifche an diefem Gebrechen, welches völlig zu vers
sheiden nad den damaligen DVerhältniffen unmdglih war. Es mag
Vielleicht noch eine geraume Zeit vergehen, ehe man zu der Weberzeus
gung gelangt, daß die entgegengefegten Elemente bes politifchen Le⸗
bene fi durch keine außere Form harmoniſch verbinden laffen,
und jede Bemühung diefee Art vergeblich ſei; wiewohl erſt mit biefer
Ueberzeugung die Möglichkeit einer wahrhaft heilſamen, ale Elemente
des politifchen Lebens organifch: durchdringenden Verfaffung gegeben if.
Wenn daher auch die churheſſiſche Verfaffung unleugbar dem Repraͤ⸗
ſentativſyſteme huldigt, und fie dieſes in vielen Punkten fchärfer und
confequenter duchführt, als die meiften übrigen neueren Conſtitutionen,
fd hat fie fich gleichwohl ebenfowenig, wie diefe, von dem anticonſti⸗
tutionellen Elemente loszuwinden vermocht, welches vielmebr die ganze
Verfaſſung durchdringt und ſich allenthalben Eettenartig an das Con⸗
flitutionelle anſchließt, dieſem Die Kraft zur freien und felbftftändigen
Fortbildung entziehend. Man machte bei der Diecuſſton darauf auf⸗
merkſam, allein ohne Erfolg, da bei derſelben eben auch das anticons
„flitutionelle Element mit großer Gewandtheit thätig war. Go bilde,
Um nur Einiges zum Belege anzuführen, den Sclußftein ber ganzen
Derfaffung das Recht der Minifteranklage ; was läßt ſich aber von die⸗
fir erwarten, da die Beſetzung des über fie entfcheibenden Oberapel-
lationsgerichts von der Staatsregierung allein gefchieht und die Glieder
deſſelben Überdies verſetzt werden Lönnen und in der Refidenz alten Künften
und Gefahren dee Hofcabale ausgefegt find? Ebenfo ſtehen der Staate-
regierung Mittel genug zu Gebote, um Intelligenz und Energie aus der
Kammer zu entfernen oder für fich zu gewinnen, fe wie durchgreifenden
Refotinen die Standess und Bezirksſtimmen entgegentreten koͤnnen.
Aber gerabe diefe Halbheit, in welcher das Mepräfentativfoftem in den
meiften Verfaſſungsurkunden erfcheint, ift es, welche, gepaart mit ber
Indolenz der Völker im Betriebe der oͤffentlichen Angelegenheiten, das
Syſtem felbft verdächtigt und es den Gegnern beffelben möglich gemacht
Bat, die Repräfentativform für rine Taͤuſchung auszugeben, und felbft Coms
ſtitutionelle mit dieſer Anficht zu betuͤcken, reährend die eigentliche Taͤuſchung
vlelmehr darin beftcht, daß man in dem Worte die Sache zu befisen wähnt,
und die Früchte, welche nur diefe gewähren kann, vor jenem erwartet.
296 Gaflel.
Das bisher Gefagte fol nur zu dem Beweiſe dienen, daß bie Les
beserhebungen, welche der chucheffifhen Verfaſſungsurkunde fogleich nach
iprem Erſcheinen in fo großem Maße zu Theil geworden find, nicht
durchgängig das Reſultat der befonnenen und umfichtigen Prüfung ber
felben waren. Sie bat große Vorzüge vor mandyer andern, aber auch
ihre Mängel, die jenen faft das Glieichgewicht halten, und ift überhaupt
weit hinter dem zurüd, was man unter einem volltommen durchgefuͤhr⸗
ten Repraͤſentativſyſteme zu verſtehen hat, welches aber überhaupt wicht
in einer Urkunde einem Volle gegeben werden kann, fondern fih aus
biefem feibft organifch entwideln muß. Gie beruht übrigens, nach
der auddruͤcklichen Erklärung des Churfürften in der Einleitung, auf einem
Vertrage, und handelt im 11 Abfchnitten: 1) von dem Staatsgebiete,
der Megterunasform, Regierungsnachfolge und Regentſchaft ($. 1—9.);
2) von dem Landesfürften und den: Gliedern des Bürftenhaufes (6. 10
- —18.); 3) von den allgemeinen Rechten und Pflichten dere Unterthanen
. 19—41.); 4) von den Gemeinden und Bezirksraͤthen ($. 42—48.);
) von den Etandesherren x. und ben ritterfchaftlichen Körperfchaften
$. 49—50.); 6) von den Staatsdienem ($. 51—62.); 7) von ben
andfländen ($. 68 — 105.); 8) von ben oberften Staatebehörden
($. 106—111.); 9) von der Rechtöpflege ($. 112—131.); 10) von
den Kirchen, ben Lnterrichtsanftalten und milden Stiftungen ($. 152
—138.), und 11) von dem Staatshaushalte ($. 139—152.). Der zwölfed
und legte Abſchnitt enthaͤlt allgemeine Beſtimmungen, denen noch vorüber
gehende angefügt find. In biefer Reihenfolge wollen wir nun auch den
Hauptinhalt derfelben angeben.
1) Saͤnmiliche churheſſiſche Lande bilden ein unthellbares Ganzes
umd einen Beſtandtheil des beutfchen Bundes. Die Veränderung des
Gebietes durch Vertaufchung, Abtretung x. ift an die Zuflimmung bee
Landftände gebunden. — Die Regierungsform iſt monarchiſch und es
befteht dabei eine „Iandfländifhe Vrrfaſſung“. Unter bdiefer iſt
jedoch die Mepräfentativverfaffung zu verfiehen, deren Geiſt
und Wefen aber felbft von den Behoͤrden nicht immer richtig begriffen
wird. „Die Regierung ift erblich vermöge leiblicher Abflammung aus
ebenbürtigee Ehe nach der Linealfolge und dem Rechte der Erſtgeburt,
mit Ausfchluß der Prinzeſſinnen.“ ($. 3.) Der Landesfürft (2) wird
mit zuruͤckgelegtem 18ten Lebensjahre volljährig, und hat bei dem es
gierungsantritte in einem den Lanbfländen auszuftelenden Meverfe zu
geloben, die Verfaffung aufrecht zu erhalten und in Gemaͤßheit derſelben
fo wie nad) den Gefegen zu regiecm. Die Regentſchaft während ber
Minderjährigkeit des Nachfolgers gebührt der leiblihen Mutter beffelben,
im VBerbinderungsfalle des Regenten aber der Gemahlin deffelben, wenn
aus der gemeinfchaftlichen Ehe ein fucceffionsfähiger, noch minderjähriger
Prinz vorhanden If, fonft dem nädften Agnaten. Der Regentfchaft
fteht ein Rath von vier Mitgliedern zue Seite. Höchft ungenügend find
die In diefem Abfchnitte noch vorkommenden Beſtimmungen über die Vers
binderung einer Thronerledigung und über die zu ergreifenden Maßregeln,
Caſſel. 297
wenn ber zunaͤchſt zur Erbfolge berufene Primz regierungsunfaͤhig fein
ſollte.
2) Der Churfuͤrſt vereinigt alle Rechte der Staatsgewalt in ſich
und uͤbt fie auf verfaffungemägige Weile aus. Seine Perfon ift heilig
und unverleglih. Der Sig der Regierung kann nicht außer Landes vers
legt werden. Ohne feine Einwilligung darf fih fein Glied des Haus
fes vermählen oder in fremde Dienfte treten. Die künftig nöthigen
Apanagen und Witthümer merden mit Zuftimmung ber Landflände
fejigefegt und die Prinzeffinnen mit ben bisher üblichen Beträgen aus
der Staatscaſſe ausgefteuert.
3) Der Aufenthalt im Churftaate verpflichtet zur Beobachtung ber
Geſetze und begründet dagegen ben gefeglihen Schug. Die Staates
angehoͤrigkeit (Indigenat) wird durch Geburt oder Aufnahme erwor⸗
ben und befähigt allein zum Genuffe der Drtsbürgerrechte. Jeder
Staatsangehörige muß im 18ten Lebensjahre den Huldigungseid (Treue
dem Luandesfürften und dem Vaterlande, Beobachtung der Verfaſſung
und Gehorfam den Gefegen) leiften und ift in der Regel auch Staat s⸗
bürger, d. h. zu äffentlihen Aemtern und zur Theilnahme an ber
Volksvertretung befähigt, infofern er die hiezu erforderlichen Eigenfchaften
befigt. Die Leibeigenfchaft ift und bleibt aufgehoben, bie von ihr her
sührenden unftändigen Abgaben follen jedoch vertragsweife und ſubſidiair
durch ein zu erlaffendes Geſetz geordnet werden. Alle Einwohner find
vor den Gefegen einander gleih und zu gleichen Verbindlichkeiten vers
pflichtet, infomeit die Verfaſſung oder fonft die Geſetze keine Ausnahme
begründen (d. i. infoweit fie alfo nicht einander ungleih find !!). Ei⸗
nem Seden ftcht die Wahl des Berufes und die Benutzung der öffent
lichen Lehr⸗ und Bildungsanftalten des Ins und Auslandes, felbft zum
Zwede der Vorbereitung zum Staatsdienſte (wodurch die ehemalige Des
ſchraͤnkung der Studirfreiheit aufgehoben worden) völlig frei. Die Ges
burt fchließt von keinem Staatsamte aus und gewährt keinen Vorzug
zu einem folhen. Die Verſchiedenheit des chriſtlichen Glaubensbekennt⸗
niffes hat auf die Staatsblirgerrechte keinen Einfluß. Das in Bezug.
auf die Iſraeliten in der Verfaſſungsurkunde verfprochene und am 29.
Dctober 1833 wirklich erlaffene Sefeg *) ſtellt diefeiben den Ghriften,
wenn man von Neligionsverbältniffen abſieht, völlig gleich. Jedem Eins
wohner fleht volllommene Freiheit des Gewiſſens und ber Religions»
übung zu. (Deffenungeachtet wurde eine hiermit im Widerfpruche fies
bende, fomit nad) dem $. 155. der Verfaſſungsurkunde aufgehobene
Sabbarhsordnung neu eingefhärft.) Die Freiheit der Perfon und des
Eigenthums unterliegt keiner andern Beſchraͤnkung, als welche das Recht
(Rechtsſpruͤche) und die Geſetzze beftimmen. (Die Wichtigkeit und der
Umfang diefer Norm wird jedoch nicht gebörig erkannt und angewendet.)
Für die Ausübung des Staatsobereigenthumsrechtes und des Rechts der
äußerften Noch **) fol das Mähere durch ein befonberes Geſetz beftimmt
*) In A. Müllers Arch. Bd. V. S. 76 ff
»2) S. Jordan, Verſuche über allg. Gt. R. ©. 254. und 424. über bie
Begriffe dirfer Rechte, wie folche in die Berfaflung aufgenommen find.
cderden, welches duch ſacdem (80. Deteber. 1834) erſchienen IR *):
Zur Föcberung bes Aderbaues follen: a) die Jagd⸗, Waldeulturs und
Keichdienfte nebſt Wudprets⸗ und Fiſchfuhren oder dergleichen Wraggänge
zur Frohne auf Koſten bes Staates aufgehoben, b) die ungemeflenen
Ftrohnen in gemeffene umgewandelt werben, und o) alle gemeſſenen Eh
nen, fo wie alle Grundziaſen, JZehnten und übrigen gutsherrlchen Mas
taralr und Gelbleiſtungen abloͤsbar fein. : Die zu Ddiefen Zwecken ver»
fprodyenen Geſetze ») find beimits eeſchlenen. Diefe Beſtimmungen
allem, beren wohlthaͤtige Folgen beats fültbar werden, fühnen mit vier
len andern Mängeln der Verfaffungsurtunde aus. — Die abfchlägige
Antwort auf Welchturrben im abntmiifitatisen Wege foll von ben Beböes
den begtünder werden, and ber Rechtsweg Federn freiftehen, ber
in feinen Rechten gekraͤnkt glaubt, voodurch alſo die Allgemeinheit
der richterfichen Function anerkannt If. Das Petitionsrecht ift ſowohl
einzelnen Unteethanen di® Geraeinden md Nörperfchaften eingeräumt.
Handelb⸗ und Gewerbsprivilegien follen ohne landſtaͤndiſche Zuſtimmung
sticht ettheilt, und die Monopole, fo wie Bann⸗ und Zwangsrechte durch
ein beſonberes Gefeh, das noch zu etwarten, aufgehoben, auch bie Ger
werde, für welche eine Coneeſſion etforderlich iſt, gefeglich beftimmt wer⸗
Freihetrt des Buchhandels und der Preſſe wird in ihrem
vollen Umfande ſtattfinden. Es ſoll jedoch zuvor gegen Preßvergchen
An Geſez alsbdald (dieſer Zeitpunkt ift noch immer —*
eingetreten) erlaſſen werden. Die Cenſur iſt nur in den durch die Bun⸗
desgefege eftinmnten Fällen zuidfiig." (6. 87.) *"*). „Das GBriefge⸗
heimniß iſt auch Lünftig unverlege zu halten. Die abfichtliche unmittels
bare oder mittelbare Verlegung deffelben bei der Poftverwaltung
(ein fpäterer Zuſatz, der den Schutz dieſes Geheimniſſes gegen die Polis
ix. aufhebt) fol peinlich beftraft werden.“ (6. 58.) „Riemand kann
wegen der freien Anbetung bloßer Meinungen zur Verantwortung gezo⸗
gen werben, den Fall eines Vergehens (?1 fpäterer Zuſatz) oder einer
Mechtöverfehung ausgenommen.” (6. 39.) Das Recht ber freien Aus⸗
wanderung ſteht Jedem umter Beobachtung ber gefeglichen Beſtimmungen
* Churheſſ. Geſetzſamml. v. 1834. ©. 163 ff.
®*) 1) Sefeh dv. 29. Febr. 1832 (Gefegfammi. S. 59.) über bie Entſchaͤdi⸗
gung I der aufgedobenen agds ꝛc. Dienftes 2) Gef. v. 23. Iunt 1832 (Gefegf.
9) über die Ablöfung ber Grundsinfen, Behnten, Dienfte und anderer
Malſlaſten, und 1 über die Regulleimg der ungemefjenen Dienfte. ‚Dayu : a
ſchreiben des Juſtiz⸗ und Winarz s Dtinift. vom 3. Mai 183% ( (Beet. 2
een ungdberfügungen) 5 3) Geſeg v. 23. Juni 1832 (Geſehf. S 175.) Fr
er Lanbes⸗C Geebitcaffe (woburd die Abloͤſun er
— — 0. v. 14. 1838 (Gefinf: © ©. 249.) zur Vollpte:
vn geraden Geſetes u. 9) Ft *. 31. Det. 833 (Geſehf. ©. 183 ff.)
zum Gefege, die Lanbess Erebitcaffe betr.
a ne m Urtheil des Obetapp. Geriches v. 19. Dct. 1833 iſt ber rich⸗
cine ‚109 nie tan I, m nn auch A WAR ſchon, wo das *
et noch nicht erla nur eat beflinunten Faͤl⸗
vem aach bee Be. nöe zulaͤſſig ſel.
Caſſel. 299
zu. Der $. 40. bee Verfafſſungkurkunde giebt bie Grundzüge für ein
zu erlaſſendes Recrutirungsgeleg an *) und fanctionirt das Inſtitut ber
Bürgertewaffnung ale eine bleibende Einrichtung. * uͤber
dieſe erlaſſene Geſetz **) (vom 23. Sunt 1882, Geſetzſ. ©. 121 ff.)
entfpricht aber der Abficht der Werfaffung nicht, indem in demfelben das
Prindp der Dertlichlelt gegen eine frühere Verordnung (vom 11. Deto⸗
ber 1830, Geſetzſ. ©. 131 ff) feſtgeſetzt und dadurch die Allgemeins
heit der Bürgerbewaffnung unmöglid gemacht und das Princip der in⸗
nern Einheit vernichtet wurde!
4) In dieſem Abſchnitte werden die Hauptgrundſaͤtze zu einer Ge⸗
meindeordnung angedeutet, welche ſeitdem erfchlenen ift, aber wohl
nicht jenen Grundfägen entfpriht ). Insbefondere darf keine Ges
meinde mit ſolchen Leiftungen, deren Erfüllung allgemeine Verbindliche
Zeiten des Landes oder einzelner Theile deffelben erheifchen, belaftet, auch
Das Vermögen und Eintommen einer foichen nie mit dem Staatsvers
mögen ober den Staatseinnahmen vereinigt werden. Das im $. 48
verfprochene und in den Hauptgrundzägen bezeichnete Inſtitut der Bes
zirksraͤthe ift noch nicht in's Leben getreten.
5) In dieſem Abfchnitte werben bios befondere, mit ben Bethels-
Iigten zu verabredbende Ebdicte und Statuten für die Standesherren,
den ehemaligen reichſsunmittelbaren Adel und bie altheffifche und ſchaum⸗
burgifche Ritterfchaft verfprochen, wovon bie jegt nur das flandesherrs
liche Edict (29. Mai 1833. Geſetzſamml. &. 113 fg.) erlafien wurde,
weiches jedoch von den Randftänden noch nicht anerkannt, darum nod)
nicht unter die Gewähr der Verfaffung geftellt, jedenfalls aber wegen
des darin angeordneten, hoͤchſt auffallenden Patrsgerichts in Strafſachen
($. 15.) merkwürdig iſt.
6) Die Stantsdiener, wozu auch die Dffictere gehören, ernennt
auf Vorſchlag der vorgefeuten Behörde, ober betätigt der Landesherr.
Es ſoll jedod ein Staatsamt Niemandem, ber nicht gefegmäßtg geprüft
und für tuͤchtig und mürdig zu bemfelben erkannt worden, übertragen,
in dee Regel keine Anmartfchaft ertheilt, ohne Urtheil und Recht kein
Staatsdiener abgeſetzt oder fein rechtmaͤßiges Dienfteinfommen vermin»
dert oder entzogen, und keinem bie nachgefuchte Entlaffung verweigert
werben; eine Verfegung nur „aus höhern Ruͤckſichten bes Staates” (21),
aber ohne Verluft an Rang und Gehalt und gegen angemeffene Vers
särung ber Umzugskoſten ftattfinden, auch biefelbe den Fähigkeiten und
zeit, und Statthaftigkeit dee Stellvertretung IF) und Re
(1834, Geſetzſ. S. 113 ff.) (keine Berbefferung —
**) In Polit die eur. Conſt. Bb. J. G. 646 fg. |
#9) Gemeindeordnung dv. 2% October 1834, (Geſetzſ. &. 181 fg.) und Ge⸗
fe& vom 10. Febr. 1835. (Sefegt. ©. a: die einſtw ge —— ber Ge⸗
meindeämter 2c. betreffend. 5 * Muͤrller's Archie
gebung zc. Bd. VI. 9. 2. El rchiv für die Geſet⸗
*) Recrut. Geſet v. 10. Juli 1832 (Beferf. ©. 183 M}) ) Ghäönies Dies
300 j Caſſel.
der bisherigen Dienſtfuͤhrung des Beamten entſprechen; ber wegen Alters
ſchwaͤche oder ſonſt dienftunfähige Staatsdiener mit angemeffenerPenfion
in den Ruheſtand verfest und in ben Dienfteid auch die Verpflichtung
zuc Beobachtung und Aufechthaltung der Verfaſſung aufgenommen
werden. Jeder -Staatsdiener bleibt binfichtlich feiner Amtsführung.
verantmwortiih., und kann wegen Verfaſſungsverletzung, VBeruntreuung
Öffentlicher „Gelder, Erpreſſung, Beſtechung, groͤblicher Verlegung der
Amtspflichten and Mißbrauchs der Amtsgewalt von den Landiländen
oder deren Ausſchuß angeklagt werden. Die übrigen Rechtsverhaͤltniſſe
wurden einem unter dem Schutze ber Verfaffung flehbenden Staates
dienitgefege vorbehalten, weiches auch (8. März 1831) erfchienen iſt ).
7) Die hucheffiihe Verfaſſung buldige dem Einkammerſy⸗
tem‘), und binfichtlih der Zufammenfegung der Ständeverfammiung
dem hiſtoriſchen Princp mit Aufnahme der neuen Elemente. Diefe
wird gebildet durch die Prinzen des Hauſes; die Häupter der Stans
desherren .(jene und biefe können -— gegen dus Repraͤſentativſyſtem —
auh Bevolimädhtigte, die In Churheſſen begitert. fein müflen,
ſchicken); den Senior oder das fonft mit dem Erbmarfchallamte beliehene
Mitglied der Familie der Freiherren von Riedefel (Präfidenten ber
alten Landihaft); einen ritterſchaftlichen Obervorſteher der adeligen
Stifter Kauffungen und Wetter; einen Abgeordneten der Landesuniver⸗
ſitaͤtz einen Abgeordneten der altheſſiſchen Ritterfchaft von jedem
der fuͤnf (Strom⸗: [Diemel, Fulda, Schwalm, Werra und Lahn])
Bezirke; einen Abgeordneten aus dem ehemals reichunmittelbaren Adel
in den Krrifen Fulda und Hünfeld; einen Abgeordneten aus dem
ehemals reihsunmittelbaren und fonft ſtark begüterten’‘) Adel in der
Provinz Hanau; 16 Abgeordnete der Städte und eben fo viele der
Landbezirke. Zu den alten fünf Steombezirten kamen der Oberfulda⸗,
der Main» und Meferbszic hinzu, während bei den Städten die
Wahl nad den Flußbezirken ganz aufhörte.
Beiden. Abgsordneten, melde nad) dem alten Softeme zur erſten
Gurie gehörten, findet -einfahe Wahl nad der frühern Weife, bei,
den Abgeordneten des Städte zweifache (Wuhl der Wahlmaͤnner und
des Abgeordneten) und bei den Abgeordneten der. Luandbezirke, wovon
jeder in zwei Wahldiſtricte (mit Ausnahme des Weſerbezirks) zerfaͤllt,
eine dreifahe Wahl (Wahl der Gemeindebevollmädhtigten, der
Wahlmaͤnner und bed Abgeordneten) ftatt. Die Leitung des Wahlge⸗
ſchaͤfts ficht in den Städten dem Magiſtrat und in den Landbezirken
. —— — — —
2) Geſetzſ. ©. 69 Als u. in X. Müller’s Ach. Bd. II. ©. 648 fy.
u. Bd. VI. 9. 2. ©. 288 fg.
20) Ueber Ye Roralge Pfetben ſ. beſ. Weitzel in Poͤlitz's angef. Jahrb.
v. 1831. Bd.
“rn, Nach ven —— vom 9. Maͤrz 1831. $. 16. find es die Guts⸗
beöger: v Sarishaufen, v v. Gdeisheim, v. Eersner, Rau v. Holz:
haufena v. Savigny. |
Caſſel. 301
den Juſtizbeamten zu‘). Die Stifter, der Adel und bie Unwerſitaͤt
müffen aus ihrer Mitte die Abgeordneten wählen, die Staͤdte⸗ und
Landgemeinden find hinfichtlich der einen Hälfte der von ihnen zu waͤh⸗
lenden Abgeordneten mehr als hinſichtlich der andern beſchraͤnkt, und'ce
findet Hinfichtlidy dieſer mehr oder weniger beſchraͤnkten Wahl ein Wech⸗
fel von Landtag zu Landtag ſtatt, fo daß die Städte und Land⸗Wahl⸗
diſtricte, welche das erſte Mat: die beſchraͤnkte Wahl ‚Hatten, das nüchfte
Mat die freie Wahl ausühten und Tofort. Neben dem Abgeordneten
wird ſtets auch ein Stellvertreter gewaͤhlt.
—Zur; activen und paſſtven MWahlfähigkeit, fo wie zur
Ausübung des perſoͤnlichen Landftandfchaftsrechte® hinſichtiich der Prin⸗
zen ꝛc. wird buͤrgerliche Unbeſcholtenheit, ein Alter von dreißig Jahren
und freie Vermoͤgensverwaltung (Abſein der Curatel und eines. gericht⸗
lichen Coneursverfahrens) etfordert. Die Annahme der Wahl ſteht
jedem Gewaͤhlten frei. Etaatöblener:: beduͤrfen zum Eintritte in die
Kammer ber: Genehmigung. ; ihrer. vorgefegten Behörde ;: hinfichtlich des
Univerfitätödeputirten ) flimmen die Staatsregierung und. die Stunde
verfommlung: nicht mit einander überein , :indem jene audy bei ihm die
Mothiwendigkeit einer Genehmigung behauptet, biefe hingegen in Abrrde
ſtellt. Die Eigenfchaft des Abgeordneten dauert in ber Regel 3 Jahres
nur die Ernennung oder Befoͤrderung eines folchen zu einem Staats⸗
amte hat ben Verluſt der gedachten Eigenfchaft zur Kolge; er kann je
doch wieder gewählt werden, wenn dieß wegen ber durch die Ernennung
ir Rorderung etwa herbeigefuͤhrten Verhaͤltniſſe ſonſt noch moͤg⸗
lich i
Die ordentlichen Landtage werden alle drei Jahre ‚ auf vor⸗
gängige Einberufung durch den Minifter des Innern, welche dieſem als
verfaſſungsmaͤßige Pflicht obliegt, im November gehalten; vom Res
genten eröffnet und beendigt (weicher die Verſammlung auch auf 3 Mor
nate vertagen und aufiöfen kann, in welch' legterm Falle diefelbe. ins
nerhalb der naͤchſten 6 Monate wieder eröffnet werben muß), und fel-
len im ber Megel nicht über drei Monate dauern. Außerordent-
liche Verfammiunger koͤnnen fo.oft, als nöthig ift, einberufen werden,
und im Falle eines Regierungswechſels verfaggmeln fich die. Landſtaͤnde
ohne Einberufung.
Nach erfolgter Eröffnung einer Ständeverfammlung hat jedes
Mitglied derſelben einen Eid zu leiften, der mit der fogenannten Stans
des = und Bezirksſtimme, dieſem fpatern Einfchlebfel,. nicht wohl in
Einklang gebradyt werden kann, da nad jenem nur das Landes-
wohl ohne Mebenrüdfichten beachtet werden ' darf, während dieſe
— — — — —
*) ©. Wahlgeſes v. 16. ebr. 1ss1. welches einen Theil ber Staat:
ferf. dildet, in Poͤlitz a. a. O. 5 fg.
2) M. f. (Mackelde y) üb. ven. 71. der durch. Verf. Urk. Bonn, 1833.
Dagegen: Jordan, XActenflüde über den $. 71. der Verf. Urk. ꝛc. Offenbach,
302 Kaffd,
nur das Standess oder Proninzialsntereffe im Auge hat;
jener alfo auf dem Repräfentativfpfieme, diefe aber. auf dem Spfteme
ber alten fländifchen Verfaſſung beruht und die Repräfentation wieber
in fo viele Qurien auflöf’t, als in diefee Stände unterfchieden werben
innen und es von ben Hauptlanden entlegene oder getrennte Be⸗
zirke gibt.
„Die Mitglieder der Staͤndeverſammlung koͤnnen waͤh⸗
rend der Dauer des Landtages, fo wie 6 Wochen ver und nach dem⸗
felben, außer ber Ergreifung auf frifcher verbrecherifcher That, nicht
andere als mit Zuflimmung der Ständeverfammlung- ober. ihre® Auss
ſchuſſes verhaftet, und zu keiner Zeit wegen Aeußerung ihrer Meinung
zue Rechenſchaft gezogen werben, den Fall der beleidigten. Privatehre
ausgenommen.“ ($. 87.) Sie find, nicht: an Worfchriften eines Auf
trags gebunden, fondern flimmen ned ihrer eigenen Ueberzeugung ab,
wie fie es vor Gott und ihrem Gewiſſen verantworten Linsen: (Re
praͤſentativſyſtem). .Die gewählten Abgeorbneten erhalten: angemeflene
Reiſe⸗ und Zagegelber:
Die Verhandlungen folen ber Regel nad) öffentlich fein, und
bie Beichlüffe können nur in Sigungen, denen wenigſtens zmei Drittel
der ordnungsmäßigen Anzahl von Mitgliedern (36) beiwohnen, nach
abfoluter Stimmenmehrheit gefaßt werben. Bel Stimmengieichhelt muß
bie Befchiußfaffung auf die nächte Sitzung verfchoben werben, in wmei-
«her bei abermaliger Stimmengleichheit die Stimme des Borfigenden ent⸗
ſcheidet. Kür die weitere Geſchaͤftsbehandlung beſteht eine eigere Ge
ſchaͤftsordnung v. 16. Febr. 1831 (Geſetzſ. S. 45 fo.).
Was den Umfang der Wirkfamteit der Landftände; welche
im Allgemeinen berufen find, die verfaſſungsmaͤßigen Rechte bes Lan⸗
bes geltend zu machen und das Wohl des Staates zu fördern, betrifft,
fo erſtreckt fich dieſelbe insbefondere a) auf die Beberrfhung bin
ſichtlich eines eintretenden Regierungsmechfeld und der zur Berhinderung
einer Thronerlebigung nöthigen Maßregeln; b) auf die auswärtigen
Verhaͤltniſſe, und zwar nicht bios bei Gebietöveränderungem ober
Belaftungen, fonderm in allen Angelegenheiten, die auf das Landes—
wohl Einfluß haben; ©) auf bie Geſetzgebung, Indem obne ihre
Zuftimmung kein Gefeß Yegeben, aufgehoben, abgeändert oder authens
tifch erläutert werden kann; Diepenfationen nur ftatthaft find, wenn
fie das Geſetz feibft vorbehdit, und ihnen, wenigftens in materieller
Hinſicht, auch das Recht der Initiative zuftehtz d) auf den Staates
haushalt, Indem die Stände für die Aufbringung bes ordentlichen
und aufßerorbentlichen Staatsbedarfes, ſoweit die übrigen Huͤlfsmittel
zu deſſen Dedung nicht hinreihen, durch Bewilligung von Abgaben
zu forgen haben (f. unten); e) auf die übrige Landesvermwal-
tung durch das Recht, Auffchluß von der Staatsregierung über alle
das Lanbeswohl betreffende Verhältniffe zu verlangen, und das Recht
ber Beſchwerde wegen mahrgenommener Mißbraͤuche in der Verwaltung
oder Rechtspflege ; f) auf den Schug der Unterthanen buch das
Eaſſel. 303
Recht der Verwendung, und endlich g) auf bie Lanbesnerfaffung
feibft, indem die Staͤndeverſammlung «) für das richtige Verſtaͤnd⸗
niß ber Verf.⸗Urk. gemeinfchaftlich mit der Staatsregierung duch Aug
legung, gütlihe Vereinbarung . oder. ſchiedsrichterliche Entſcheidung zu
wachen; 8) in gleicher Art für die geitgemäße-Foytbildung der
felben durch Reformen zu wirken und 2) für:die Yufuehthaltung
derfelben,, fowie für eine verfaffungsmäßigg Regierung, buch)
Geitendmachung ber Verantwortlichkeit per Miniſter, forpie ber übrigen
Staatsdiener zu forgen verpflichtet iſt. en
Die Ständeverfammlung iſt infofern permanent, als fie für
die Imifchenzeit von einem . Landtage zum andern, fonie im Halle
einer Bertagung ober Auflöfung, einen bleibenden Ausſchuß zu ernen⸗
nen das Recht und bie Pflicht hat. Ihr ſteht außerdem die Befugniß
zu, einen Landfpndicus als beiländigen Secretair zu ernennen und zu
verpflichten, aud die Geſchaͤftsordnung, inſoweit fie. ihre Innern Bey
Hältniffe betrifft, ohne Zuziehung...der. Staatsregierung, abzuaͤndern,
welche übrigens feinen Antrag ber Stänbeverfammlung -unbsantwortes,
und, wenn demfelben nicht .entiprochen wird, keine Antwort unbe⸗
gründet laffen darf... . eur gl
8) Als oberfie Staatsbehoͤrden beſtehen nur 1) das Ge⸗
ſammt⸗Staatsminiſterium, welches aus den Vorſtaͤnden ſaͤmmt⸗
lücher Miniſterien und den ſonſt hierzu vom Landesherrn beſonders ber
rufenen Staatsdienern zuſammengeſetzt iſt, alle Angelegenheiten des
Staates, die der landesherrlichen Entſchlioßung bedürfen, zu berar
then, und, über Competenzeonflicte einzelner Miniſtexien, fomie über
Beſchwerden gegen Miniſterialbeſchluͤſſe, zu entfheiden, auch die
nöthige Einleitung zur Regentfchaft zu treffen ($. 8) hat; und 2) bie
Vorfiände der einzelnen Minifterien (ber Juſtiz, des Ju⸗
nern, ber Finanzen, des Kriegsweſens und der auswärtigen Angeles
genheiten). Diefe Dorftände, wovon einer auch „zwei, jedoch wicht
mehrere Miniflerien verwalten kann, haben alle Ianbeöberrlihen Ent⸗
fhließungen zu contrafigniren, wodurch bie verfaffungsmäßige Ber
handlung ber betreffenden Angelegenheit bezeugt, die beahalbige Verant⸗
wortung übernommen und jebe ſolche Entſchließung arſt glaubwürdig
und vollzichbar wird.
9) Hinfihtli der Rechtspflege beftdtigt bie Werfaffungsurr
kunde 1) die fchon früher angeordnete Trennung der Sufliz von der
Verwaltung ; fie fpricht 2) die Allgemeinheit der, ridterlichen Function
aus, indem fie die Betretung und Verfolgung des Rechtswmeges ohne
Ruͤckſicht auf den Gegenfland einem Jeden und gegen Schumann, ſelbſt
den Negenten nicht ausgenommen’), zufihert; ben Gerichten das uns
bedingte Urtheil über ihre Gompetenz einrdumt und jede. Einwirtung-
irgend einer Stantsbehörde ausfchließt, dagegen jede Behörde und feibft
*) OR. f.aud) das Geſet über Staatsanwälte v. 11. Fuk 1894 (Gefehf
©. 213 fg.) | oo
304 Caſſel.
die bewaffnete Macht verpflichtet, den gerichtlichen Requiſitionen nach⸗
zukommen. Sie erklaͤrt 3) alle Commiſſionen, inſofern fie nicht von
den Gerichten ſelbſt angeordnet werden, welche nur wieder Gerichte
committiren duͤrfen, fuͤr voͤllig unſtatthaft, und ſucht 4) ebenſo die
perfſoͤnliche Freiheit durch Beſtimmungen über die Statthaftigkeit
der Unterſuchung und Verhaftung, uͤber die Zulaͤſſigkeit der Entlaſſung
des Verhafteten gegen Caution oder wenigſtens der Erleichterung ſeiner
Lage, über die Publiritaͤt der Entſcheidungen in politiſchen und Preß⸗
vergehungen, uͤber die Hausſuchung, und uͤber das Recht der Be⸗
ſchwerdefuͤhrung, der Vertheidigung und der Urtheilsforderung, als das
Vermöoͤgen deri Staatsgenoſſen ducch Verbannung der Vermoͤgens⸗
confiscation und der Moratorien zu ſichern. Sie macht 5) die Ge⸗
meinden und Koͤrperſchaften von der adminiſtrativen Bedotmundung hin»
ſichtlich der Rechts⸗Verfolgung oder Vertheidigung unabhaͤngig; verkuͤndigt
6) die Gleichſtellung aller Staatsgenoſſen vor dem Rechte durch bie verſpro⸗
chene Aufhebung ber privilegirten Serichteftände ; trifft 7) Vorſorge für
die Unparteilichkeit, Gediegenheit und Schnelligkeit ber Rechtspflege durch
die Verordnung, daß die Zuhl der Mitglieder der Gerichte geſetzlich
beftimmt werden‘) und ein jedes von biefen ſtets vollitändig befebt
fein folle, und durch Vorfchriften über die Beſchaffenheit und das Al⸗
ter der Richter; febt 8) ‘die Unabhängigkeit der Gerichte ausdruͤcküch
feft, und beſchraͤnkt 9%, um die Wirkfamkeit der Rechtspflege zu fichern,
dad Begnadigungsrecht hinfichtlich der Vergehungen gegen die Verfaſ⸗
fung, und das Recht der Wiederanftellung verurtheilter Staatsdiener.
Viele der aufgeführten Beſtimmungen find zwar fehr mangelhaft; fie
Tönnen aber, wenn Staatsregierung und Ständeverfammlung von
sechtem Geifte, und richtiger Einfiht geleitet werben, ebenfo leicht
vervolllommnet, wie, freilich im entgegengefesten Falle, völlig paralyſirt
werden. Für wichtigere FSamilienangelegenheiten ſoll ein Geſetz das
Anftitut der Kamilienräthe anführen. | | |
10) Alle im Staate anerlannten Kirchen genießen gleichen
Schuss. Die Sahen des Glaubens und ber Liturgie bleiben ih⸗
ren verfaffungemäßtgen Befchlüffen überlaffen. Die Staatsregierung
übt die unveräußerlichen Hoheitsrechte des Schutzes und der Obers
aufſicht in ihrem vollen Umfange aus. Die unmittelbare und mit:
telbare Ausübung der Kirchengewalt über die evangelifhen Glaus
bensparteien verbleibt dem Landesherrn, bei deſſen Webertritt zu
einer andern Kirche die Befchränkung jener Gewalt mit den Landſtaͤn⸗
ben feftgeftellt werden fol. In liturgiſchen Sachen fol ohne Zu-
ſtimmung einer Synode, melde die Staatsregierung berufen wird,
nichts geändert 'werden. Kür das Verhätmiß der Fatholifchen Kirche
zur Staatögewalt wurden bie bereits früher beftandenen Normen‘)
*) M. f. das Geſetz dv. 1. Juli 1831. (Geſetſ. ©. 112 a fe.)
2 ©. die Verkündung der päpftiihen Bullen v. 31. Aug. 1829 (Geſetzſ.
&. 45); Berorbn. v. 30. Sanuar 1830 (Geſettſ. &. 5), die Ausüb. des landes⸗
herrl. Schuss und Aufjüchterechtes über die kath. Kirche, und Ausfchr. des
Gaffel. 305
hinſichtlich ber Mechte bes Biſchofs, ber zu erlaffenden Anordnungen,
bes Verhältniffes zu Rom, des Mißbrauches ber geiftlihen Gewalt, in
den Grundzügen wiederholt. Die Geiftlichen haben jede zur Erfüllung
ihrer Berufsgeſchaͤfte erforderliche gefeglihe Unterflügung und Schuß
in ihree Amtswürde zu erwarten, find aber binfichtlic ihrer buͤrger⸗
lichen Handlungen und Berhältniffe ber meltiichen Obrigkeit unterwors.
fen. „Fuͤr den oͤffentlichen Unterricht, fonach für die Erhal⸗
tung und Vervollkommnung ber niederen und höheren Bildungsanftals
ten,:und namentlich der Landesuniverſitaͤt, ſowie dee Schullehrerfemts
nare ift zu allen Zeiten nad Kräften zu-forgen.” ($. 137.) °
Ale Stiftungen ohne Ausnahme flehen unter dem beſondern
Schutze des Staates und das Bermögen oder Einkommen derfelben
darf unter keinem Vorwande zum Staatsvermoͤgen eingezogen ober für
andere als die fliftungsmäßtgen Zwecke verwendet werben. Nur menn
der fliftungsmäßige Zweck nicht mehr zu. erreichen -fleht, barf eine Vers
wendung zu Ähnlichen Zwecken mit Zuſtimmung der Betheiligten, und,
fofern öffentliche Anftalten in Betracht kommen, mit Bewilligung der
Zandflände erfolgen. ($. 138.) — en
14) Hinſichtlich des Staatshaushaltes wurde a) das Staates.
vermögen von bem Samiltenfideicommiffe des Regentenhaus
fe8°) durch befondere Vereinbarungen, bie nicht veröffentlicht werben;
dürfen, forgfältig getrennt; b) was ale Staatsvermoͤgen anzuſehen
(Gebäude, Domantals Kammer⸗] Güter und Gefälle, Forften, Jagben,
Fiſchereien, Berg⸗, Hüttens und Salzwerke zc.), näher beflimmt; co) bie‘
nach den gedachten Dereinbarungen feflgefegte Hofdotation auf dies
jenigen Domainen und Gefälle, welche nach benfelben für diefe vorbes
halten worden, bleibend radicirt; d) für die Erhaltung des Staatsver⸗
mögens durch das Verbot bee Werdußerung ohne Iandftändifche Zuftim-
mung Sorge getroffen, auch e) bie Wiederverleihfung heimgefallener
Zehen befhräntt, indem der Regent nur bie während feiner Regierung
heimgefallenen an Glieder des Chuchaufes ober der heffifchen und ehe:
mals reichBunmittelbaren Nitterfchaft oder zur Belohnung von Zundbar
ausgezeichneten Verdienſten um den Staat wieder verleihen darf, und
endlich F) die Aufbringung des Staatsbedarfes, inſoweit diefer nicht durch
die vorhandenen Hülfsmittel gedeckt wird, näher regulirt. Diefelbe
liegt hiernach den Ständen ob, ohne deren Bewilligung meder in Kriegs⸗
noch Friedenszeiten eine directe ober indirecte Steuer, fo wenig als ir⸗
gend eine fonftige Landesabgabe, fie habe Namen, welchen fie. wolle, :
ausgefchrieben oder erhoben werden kann. Die Werwilligung des or⸗
bentlihen Staatsbedarfes erfolgt, nach einem von ber Staatsregierung der
— — — or
nift. des I. v. 25. Januar 1834 (Geſetzſ. &. 4), wodurch bas Regulativ u.
31. Te , bas aan, Genfure N art — bekannt. gemacht
rb.
wi 2) M. ſ. hinſichtlich der Capitalien die Geſege v. 27. Febr. 1831 (Geſetzſ.
©. 53 fg.)‘a) die Bildung und Verwaltung bes Staatsſchatzes und b) ben chur⸗
fürftt. Hausſchatz betreffend.
Staats ⸗Lexiton. III. 20
306 Caſſel.
Staͤndeverſammlung vorzulegenden Voranſchlag, worin zugleich die Noth⸗
wendigkeit ober Nuͤtzuchkeit der zu machenden Ausgaben nachgewieſen und
das Beduͤrfniß der vorgeſchlagenen Abgaben gezeigt werden muß, in der Re
gel auf drei Jahre. Jedoch dürfen die Abgaben noch ſechs Monate nach
Ablauf der WVerwilligungszeit erhoben werden, wenn etwa bie Zuſam⸗
menkunft der Landflände durch außerordentliche Ereigniffe gehindert oder
die. Ständeverfammlung nufgelöft iR, che ein neues Finanzgeſetz zu
Stande kommt ober die deshalb nöthige Beſchlußnahme ber. Landftände
ſich verzögert. Ueber die möglich befte Art der Aufbringung und Ver⸗
theilung der Abgabenbeträge hat die Stänbeverfammlung auf die des⸗
halbigen Vorſchlaͤge der Staatsregierung die geeigneten Beſchluͤſſe zu
nehmen. „In den’ Ausfchreiben und Verorbnungen, welche Steuern
und andere Abgaben betreffen, fol die Landftändifch.e Verwilli⸗
gung befonberd - erwähnt fein, ohne welche weber bie Erheber zur
Einforderung, berebtigt, noch bie Pflichtigen zur Entrihtung
ſchuldig find.” ($. 146.) Die bisherigen. exemten Güter follen unter
Zufiherung einer angemeſſenen Entfdyäbigung zu einer gleichmäßigen
Belteuerung herbeigezogen werden; die Guͤter der Kirchen und Pfar⸗
reien, der Öffentlichen Unterrichtsanftalten und ber milden Gtiftun-
gen aber feuerfrei bleiben, mas jedoch nur in Anfehung bee nicht
fhon bisher ſteuerpflichtigen oder derjenigen Güter gilt, welche von
ihnen nad) ber Verkündung ber Verf. ertworben werden. „Die Grund»
ſtuͤcke, welche von ‚der Landesherrfchaft zu eigenem Gebrauche oder von
Sitebern des Churhaufes erworben find oder werben, bleiben in ihrer
bisherigen Steuerverbinbiichkeit.”" „Die gefeglich in Rüdficht ihres der»
maligen Beſitzers fteuerfreien Grundſtuͤcke verlieren dieſe Eigenfchaft,
fobald fie in Privateigenthum (?!) übergehen.” ($. 150 u. 151.)
12) Die. aligemeinen Beftimmungen betreffen a) die Abs
Anderung ober Erläuterung ber Verf.⸗Urk., wozu entweber Stimmenein⸗
helligkeit der auf dem Landtage anmefenden ſtaͤndiſchen Mitglieder, ober
eine auf zwei nacheinanberfolgenden Landtagen fid) ausſprechende
Stimmenmehrheit von drei Vierteln derſelben erforderlich, ift; b) bie
Anordnung emes Gompromißgerichte® zur Entfcheidung der zwifchen ber
Staatsregierung und den Landfländen entftehenden Zweifel über ben Stun
einzelner Beſtimmungen ber Verf.⸗Urk. ober der für Beftandtheile berfeiben
erklaͤrten Geſetze. elbe wird zuſammengeſetzt aus ſechs unbeſcholtenen,
der Rechte und der ſſung kundigen, wenigſtens 30 Jahre alten In⸗
laͤndern, von welchen drei durch die Regierung und drei durch die Stände zu
wählen find. Die Compromißrichter wählen fodann aus ihrer Mitte durch
das Loos den Vorfigenden, welcher bei Stimmengleichheit eutſcheidende Stim⸗
me hat; c) die Aufhebung aller Anordnungen jeder Art, welche mit ber
Verf.⸗Urk. ober den für Beſtandtheile derſelben erklärten Gefegen im
Widerfpruche ſtehen; d) den Anfang ber Verbindungskraft der Verf.⸗
Urk., welcher mit ihrer Verkündung eintrat, fowie die Beſchwoͤrung ber
felben von fämmtlichen. Unterthanen männlihen Gefchlechts, bie bas
18te Lebensjahr zurüdgelegt haben; e) ben Revers, welchen bie oberften
Caſſel. 307
Staatsbeamten (die Vorſtaͤnde der Miniſterlaldepartemente) über bie
von ihnen geſchehene eidliche Angelobung auszuſtellen haben, und der
im landſtaͤndiſchen Archiv niederzulegen iſt, und endlich f) die Webers
reichung einer gleichlautenden Ausfertigung ber Verf.⸗Urk. bei ber
hohen deutſchen Bundesverfammlung, welche zugleich um bie Weber
rs ber Garantie erſucht werden ſoll. Diefe ift bisher noch nicht
olgt.
.Die letzten 65. (158-160) enthalten vorübergehende Beſtimmun⸗
gen, welche bie Fortdauer und Wirkſamkeit der conſtituirenden Stände-
verfammlung, die Zufammenkunft des erften nach der Verf.⸗Urk. zu⸗
fanımengefegten Landtages (11. April 1831) und die einftweilige Forts
entrichtung der Steuern unb Abgaben betreffen und jegt von Keiner
Wirkung mehr find.
— — — — —
Mon ſieht aus Bisherigem, daß die churh. Verf⸗Urk. viele dem Re⸗
praͤſentativſyſteme völlig entſprechende Grundſaͤtze enthält, von denen
aber manche nur angedeutet find und durch bie Gefetgebung erſt weiter
ausgeführt und ausgebildet werden follm. Alten biefe ift bisher noch
nicht erfolgt, oder doc), inſoweit fie wirklich erfolgt. iſt, dem conſtltutio⸗
nellen Syſteme nicht völlig entfprechend, wo nicht gang zuwider. Dies
felben Dinderniffe, welche in den übrigen beutfchen Staaten ber orgas
nifchen und felbftftändigen. Entwidelung biefes Syſtemes entgegentreten,
zeigen ſich auch in Chucheffen wirkſam. Sie find zu bekannt, als daß
fie bier, wo ohnehin nicht der Ort fein würde, befonder& angeführt zu
werden brauchten. Das conftitutionelle Syſtem kann nur: da ſich kraͤf⸗
tig ausbilden, wo Feine dußere Gewalt hemmend einzumirden vermai
und darum Fein Minifterium fid halten kann, welches die Majorität
ber Deputittenlammer gegen ſich hat. Wo es hingegen ber Repraͤſen⸗
tantendammer wegen mangelhafter Wahlgefege an der erforderlichen Ins
telligenz, Energie, Gewandtheit und Selbſtſtaͤndigkeit gebricht, und die
Staatsregierung bee Majorität derſelben nicht bedarf, weit fie fih auf
fremde Macht fügen kann; wo überhaupt die Staatsregierung und
Ständeverfammlung anderswoher gegebenen Normen zu huldigen
pfüchtig find, der Staat fohin felbft in Bezug auf feine innere Ges
Haltung als unfelbftftändig erfcheint: da kann das conflitutionelle Syſtem
fi unmoͤglich raſch und felbftftändig emtwideln und die gewünfchten
Fruͤchte bringen; es wird entweder verfrüppeln und allmdlig ganz uns
tergehen, oder aber, wenn es bereits die nöthige Kraft errungen hat,
biefe dußern Hemmniffe nad) langem Kampfe Überwältigen und dann
feeilih um fo bewährter und vollftändiger aus dieſem hervorgehen. Ob
bas Eine oder Andere eintreten werde, wird bie Zeit lehren, welche
übrigens gerade ihre Eräftigfien und dauerhafteften Erzeugniffe nur all
mälig und unter Stürmen zur Meife bringt. Eine große Idee, welche
einmal in der äffentlihen Meinung, deren Dafein und Macht die Bes
ſchichte auf jedem Blatte beurfundet, Wurzel geſchlagen bat, entwidelt
20°
308 Caſſel. Caſtlereagh.
ſich vermoͤge der eigenen, ihr inwohnenden organiſchen Lebenskraft ſtets bis
zu ihrer gaͤnzlichen Vollendung, und wird ſie auch in ihrem Entwickelungs⸗
gange durch aͤußere Hinderniſſe aufgehalten, ſo dient dies nur zur
Sammlung und Zeitigung ihrer Kraft, welche ſodann, wenn die hierzu
erforderliche Zeit abgelaufen iſt, die aͤußere Verkruſtung, womit ſie die
Hinderniſſe umzogen haben, allmaͤlig durchbrechen und deſto herrlicher
ſich entfalten wird. Ohne Verpuppung wuͤrde ſich die Raupe nicht
zum Schmetterling entwickeln koͤnnen. S. Jorban.
Caſtamos, ſ. Spanien. ur
Caften, ſ. Kaften.
Gafilien, f. Spanien.
Gaftlereagb, Robert Stewart Viscount, nad bem Tob⸗
ſeines Vaters, des Grafen und feit 1816 Marquis von Londons
deren (1821), mit dem lestbemerkten Titel bekleidet, geboren 1769 zu
Mount Stewart m Irland, geftorben 12. Aug. 1822, ber, wenn
auch nicht größte, doch einflußreichfte,. auf das Schickſal der Welt ent-
fcheidendft einwirkende Minifter in dee »erhängnißvollften ‚Epoche der
Neuzeit, nämlich In ben Tagen ber hoͤchſten Herrlichkeit und bes tiefs
ſten Falles Napoleons und in jenen, welche deffelben weiterfchätterns
dem Sturze folgten. -Bom 3. 1809 an bis zum Auguf 1822 -Lerikte
er, als Staatsſectetair für die auswärtigen Angelegenheiten,
ganz vorzugsweife das britifche Staatsruder, nachdem er ſchon feühee
(von 1804 bis 1806) unter Pitt's Verwaltung, und bann wieder
unter jener Portlands und Percevals (von 1807 bis 1809) bas
Minifterium des Kriegs geführt und in ber legten Zeit mit Can»
ning und Liverpool an ber Spige der Verwaltung geftanden hatte.
Auch andere hohen Stellen (namentlih in Irland jene des Staats⸗
fecretaird bei dem Vicekoͤnig von Irland) hatte ee ſchon feit 1797
(unter Pitt und Addington) begleitet, ja fhon in feinem Ziften
Sabre (1790) im irifhen Parlament als beffelben Mitglied fidy
bervorgethan. Wir übergeben jedoch feine früheren Thaten und Schick⸗
fale, um den Blick denjenigen zuzumenden, melche ihm feine eigentliche,
welthiſtoriſche Wichtigkeit verliehen haben. Nur muß bemerkt werben,
daß er ſchon als Mitglied der ir iſchen Adminiftration, ungeachtet ber
an ihm in Privart-DVerhältniffen gerühmten Milde, Humanität: und
felbft Großmuth, doch in politifhen Dingen jene Härte und Uns
beugfamleit bes Charakters fund gab, auch jene Nichtachtung ber Volles
rechte und der Volksſtimme, welche fpäter für das gefammte Groß⸗
britannien und für den ganzen Welttheil verhängnißreich wirkten. Er
war ed, welcher, obſchon geborner Irlaͤnder, Pitt's Unterdrüdungs-
ſyſtem gegen feine ungluͤcklichen — freilich katholiſchen, und durch
die erfahrnen Mißhandlungen zur Empoͤrung gereizten — Lands⸗
leute mit unerbittlicher Strenge durchzufuͤhren befliſſen war, und wel⸗
cher nachmals deſſelben Miniſters Unionsplan eifrigſt unterſtuͤtzte, wo⸗
durch, unter dem Schein einer verhaͤltnißmaͤßigen Theilnahme Irlands
an der gemeinſchaftlichen Staatsgewalt uͤber das geſammte britiſche Reich,
Caſtlereagh . 309
in der That die engliſche Geſetzgebung, d. h. der Wille der im ver⸗
einten Parlament entſchieden vorherrſchenden engliſchen Majori⸗
taͤt, das iriſche Volk, zumal deſſen aus Katholiken beſtehende große
Mehrheit, vertheidigungslos hingegeben ward an die tyranniſche Macht
der britiſchen Hochkirche und der, gleich raubſuͤchtigen als fanatiſchen,
weltlichen Gutsherren. Dieſe Politik hat ſich, wie ſie mußte, als ver⸗
derblich erwieſen. Das Reich der bloßen Gewalt uͤber ein Volk,
welches zum Erkenntniß ſeines Rechtes erwacht und durch fortwaͤh⸗
rende Bedruͤckung zum Widerſtand gereizt iſt, kann nicht von Dauer
ſein. Zeitlich wohl mochte dee Ausbruch der Flamme gehindert
oder einige vereinzelt auffchlagende Feuer anfcheinend erflidt werben:
aber deſto mehr fraß der zurüdgetriebene Brand im Innern um fid,
und defto drohender ward die Gefahr, daß er endlich allgewaltig hers
vorbreche und ſelbſt die Srunbpfeiler des Staates zerſtoͤre. Sogar die
Tory's fahen endlich diefes ein, und Wellington, Caſtlereagh's
innigfter Freund, erkannte 7 Jahre nad) deſſen Tode bie Nothwen⸗
digkeit, vorerſt menigftend durch die „Emancipation ber Ka:
tholiten“ die allerfchreiendften der zumal das irifche Volk zur Ems
pörung aufreizenden Unbilden aufzuheben ober zu mildern. Doc erft
das Reform: Minifterium und das Reform: Parlament ha—⸗
ben mit Aufrichtigkeit und ntfchiedenheit den Weg betreten, welcher
ber. alleinige ift, der zu dauerndem Frieden, zu wahrhaft geficherter
Ordnung und Ruhe führen kann, den Weg ber Rechtsbefriedi⸗
gung. Die Richtung, welche Caſtlere agh eingehalten, führte, wenn
fie fortgewährt hätte, — nicht nur in Irland, fondern aud in Eng:
Land felbft — zur Revolution. Er, mit feinem flarren Tory #:
mus, mit feiner flationairen, ja retrograden oder reactionairen Politik, mit
feinem rüdfichtlofen Feſthalten aller Ungebuͤhr des Hiftorifchen Rechts
gegen die Korderungen des vernünftigen, mit feinen Eingriffen in
die conflitutionellen Rechte der Bürger, mit feiner Bedruͤckung
und Verfolgung ber Preffe und der freigefinnten Richtungen im Volke,
Er und feine gleihgefinnten Freunde find bie wahren Agitators ger
wefen, d. h. fie haben die Agitation hervorgerufen und die Worts
führer der Mißvergnügten mit der ſchaͤrfſten Waffe, naͤmlich mit jener
des einleuchtendſten Rechts und ber eindringlihften Wahr:
‚beit, bewaffnet. Ä
Verantwortung und Kabel jedodh, was biefe einheimis.
ſchen Dinge betrifft, mag Caſtlereagh überhaupt auf die ges
fammte Partei mälzen, in beren Namen, als Mitverbundes
ner mehr denn als Haupt, er handelte, und in- beren Sinn zu
handeln er, wenn er Minifter bleiben wollte, gemöthiget war. Kon
den Sünden feiner auswärtigen Politik aber fällt ein großer,
wo nicht der größte Theil ihm (und etwa feinen vertrauteften Mi⸗
niftercollegen) perfönlich zur Laſt; ſchon darum, weil bie Natus
ſolcher Politik mit ſich bringt, ihre Richtung mehr nur von einem,
im Mittelpunkt. dee Gefchäfte waltenden Geiſt oder von einem
310 Gaftlereagh.
Eleinen Kreife eng verbunbener unb tagtäglich unter ſich berathens
ber Männer zu empfangen, als von einem zahlreichen, oͤffentlich ver⸗
handelnden und nur periodiſch fi verfammelnden, parlammtartichen
Körper oder von ben im Schooße der Nation ſich erhebenden, oft uns
ter ſich im Widerfpruch ftehenden, oft von Unkunde herrührenden Stim⸗
men; und fodann audy Barum, weil Caſtlereagh in feinem Gifer
ſich nit — mie fonft in der Regel der Minifter pflegt — mit ber
oberften Leitung bed Departements, mit der Zeichnung allgemeis
ner Plane, mit bee Inftruction der Agenten unb Gefanbten,
mit den auf berfelben Berichte zu faffenden Befhläffen u. f. w.
begnägte, fondern auch unmittelbar felbfithädtig, als
und Zheilnehmer an Congrefien, als perfönlicher Vertrauter unb Freund
der Continental⸗Monarchen auftrat und mehrere, fonft wohl auch von
den Tory's im Auge behaltene, Principien aͤcht britifcher Politik ſeb⸗
ner perfönlichen Befangenheit ober Leidenfchaft aufopferte. Die Ges
ſchichte von Caſtlereagh's auswärtiger Politik aber, als mit dem Wich⸗
tigften der allgemeinen Geſchichte feiner Zeit innig zuſammenhaͤn⸗
gend, kann natürlich bier nicht gegeben werden. Wir muͤſſen nad)
Zweck und Umfang des St. 2. auf eine kleine Skizze ihres allge
meinen Charakters uns befchränten. Mehreres Einzelne bleibt
ohnehin einigen andern Artikeln, als „Eongreffe”, „England“,
„Europa (neueſte Geſchichte derfelben), „Legitimitaͤt“, Reftaus
ration” u. f. w. vorbehalten.
Gaftlereagh’s Nichtung in der auswärtigen Politik war im All
gemeinen ziemlich gleichlaufend mit jener, welche früher ber große Pitt
verfolgt hatte, oder gewiſſermaßen eine Kortfegung berfelben. Doch
nicht eigentlih wegen dee Richtung an ſich, fondern wegen der
Kraft, Beharrlichkeit und Genialität, womit Pitt fie gegen eine Welt
von Hinderniffen und Gefahren zu behaupten mußte, haben bie vers
fländigen und unbefangenen Zeitgenoffen ihn als großen Staatsmann
bewundert. Die Richtung felbft war keineswegs hohen oder edlen Zwecken
zugewendet und dem wahren Wohle Englands, dem Helle Europa’s
und der Welt mit nichten erfprießlih. Wohl mochte, als — verans
laßt durch den Krieg der Coalition wider Frankreich — bie unter
den fchönften Hoffnungen begonnene Revolution dieſes Landes eine un.
felige Wendung nahm, ale die Verzweiflung der von Innen und Außen
geängftigten Freiheitsfreunde ben alles Menfchenrechts fpottenden Terro⸗
rismus hervorrief und die Macht bee durch die angefachte Zornsglut
fiegreihen Republik, als ein furchtbar ſchwellender Strom, alle Ufer
und Dämme überflutete, eine Schildechebung zum Zweck ber Wiebers
berftellung bes Öffentlichen Rechtszuſtandes in Europa von einer weifen
Politit angerathen oder geboten werben. Aber weifer und ber Stels
lung Englands angemeffener wäre geweſen, buch frühzeitige Ein»
ſprache gegen den zu Pillnitz verabredeten Krieg jener unheilvollen
Wendung der Mevolution zuvorzulommen und — fowie es nad) ber
Suliusrevolution des Jahres 1880 erfolgreich geſchah — burch
Gaftlereagh. 311
eine Allianz mit Frankreich den kriegsluſtigen Gontinentalmächten zu
imponiren. Auch entfprang ber wider Frankreich - unternommene (mes
nigſtens durch Herausforderung veranlaßte) Krieg keineswegs aus ber
Sorgfalt für die Erhaltung eines öffentlichen Rechtszuſtandes, fonbern
lediglich aus ariftotratifhen, überhaupt bem hiſtoriſchen Recht
farrfinnig zugewandten Motivn. Pitt's Krieg gegen Frankreich war
ben Ideen Burke’s entfloffen. Die gemeine, demokratiſche
Freiheit, welche die Lofung ber franzöfifchen Revolution war, mißbehagte
den ſtolzen Ariſtokraten Britanniens, welche zwar für fich die Frei:
beit und das politifche Recht als von den Vorfahren ererbtes Gut in
Anfpruc nahmen und darum wohl die Beſchraͤnkung der Thron:
Rechte in Frankreich, als ihren eigenen Principien entfprechend, billig
ten, aber bie Aufhebung ber ariftofratifhen Vorrechte, bie poli-
tiſche Emancipation aud der gemeinen Bürger als ein aud für
Großbritannien verführerifhhes Beifpiel mit Abſcheu betrachteten.
Darum murbe der Kampf auf Tod und Leben gegen das revolutio-
naire Frankreich unternommen, mit beifpiellofer Anſtrengung und einer
Erbitterung ohne Gleichen fortgeſetzt, ſtets neue Coalitionen durch Auf:
forderungen, Ermunterungen, Subfidien in's Leben gerufen, die Mo:
mente zu billiger Friedensfchliegung verfäumt und bergeftalt Frankreich
in die Lage gefegt, entweder von Europa erbrädt zu werben, oder Eu:
ropa zu überwinden. Das Leste gefchah, aber Pitt vor Allen bat
es zu verantworten. Die unabläffig angefeindete Republik konnte nur
durch fortfchreitende Eroberung und Revolutionirung fich erhalten und
nur durch Erhebung des giüdlichften Kriegsmeifters zum Beherrſcher
den Sieg an ihre Fahnen fehlen. Der Einfturz bes europälfchen.
Staatenfoftems, die Errihtung von Napoleons Weltreih, bie Unter:
drüdung und Schmach der Nationen, der völlige Untergang des öffent:
lichen Rechtözuftandes find — wenigſtens großentheils — die unfeligen
Folgen von Pitt's und Caſtlereagh's Syſtem geweſen; und auch
Englands Untergang haͤtte leicht daraus fließen moͤgen, wenn nicht
Roſtopſchin's barbariſche Großthat, oder vielmehr der Himmel ſelbſt
durch den verderbenden Winterfroſt, das „große Heer“ ber Zernich⸗
tung hingegeben und Napoleons Macht gebrochen haͤtte.
Caſtlereagh, weicher nach Pitt's Tode (1806) in den Reihen
der Oppoſition gegen das friedliebende For» Grenville’fhe Mi⸗
niſterlum ſich erhoben, ſetzte nach ſeinem Wiedereintritt in die Verwal⸗
tung (1807) das kriegeriſche Syſtem mit beharrlihem Eifer, geſtachelt
durch den Nationalhaß wider Frankreich und ben perfönfichen wider
Napoleon, fort, doch — einige See⸗Triumphe abgerechnet — mit we:
nig Stud. Der von Sanning entworfene Zug gegen Seeland
zumal erfuhr einen fehmählichen Ausgang (1809), was einen drgerlis
hen Zweikampf zwifchen beiden Miniftern und den —- für Caſtlereagh
jedody nur urzdauernden — Austritt beider aus dem Miniſterium zur
Folge hatte. Tagtaͤglich flieg indeffen die Herrlichkeit Napoleons, zu
deſſen fortfchreitendem Länderraub ſtets Englands GStarrſinn und Eng⸗
312 Gaftlereagh.
lands „Seetyrannei“ den Grund ober Vorwand abgaben. Tag⸗
täglich, ruͤckte auch die Gefahr Britannien näher, zumal durch bie Wir:
tungen des von dem teitgebietenden Feinde aufgeftellten und — freie
lich mit Verhöhnung aller Neutralitätsrechte und abenteuerlichen Bes
waltmißbrauch verbundenen, doch durch Englands Gegenmaßregeln an
Barbarei faft noch überbotenen — fogenannten „Gontinentalfy=
ſtems“ (f. d. Art.) und durch das fleigende Mifvergnügen in
England, welches buch die Verkuͤmmerung der conflitutionellen
Volksrechte und Freiheiten und durch gewaltfames Niederhalten der nach
Verbefferung des Syſtems Rufenden keineswegs beſchwichtigt, vielmehr
dem drohendſten Ausbruch näher gebracht warb.
Endlich aber erfchienen die Tage des Triumphes über den ſowie
äußerft gefürchteten, fo auch Außerft gehaßten Feind. Der Brand
Mostaus war der Wendepunkt feines Gluͤcks geweſen, die an feinen
Siegesiwagen: gefeffelten Gegner und Verbuͤndeten ermannten fih, nun
fie durdy den ungeheuren Schlag ihn geſchwaͤcht fahen, zum Abfchütteln
ihrer Ketten, und die unfäglid mißhandelten Nationen erhoben ſich zur
Rache. Best waren bie britifhen Unterhändler wieder
im Zuftandebringen von: Allianzverträgen und jest fund das britifcye
Gold wieder eine erwünfchte Anwendung. Auch britifhes Blut, zu»
mal auf ber pyrendifhen Halbinfel, wurde: jegt, minder fparfam als
früher, für die allgemeine Sache vergoflen; denn jest ober nie
war endlihe Siegeshoffnung. Gaftlereagh entwidelte in biefer ver-
hängnißvollen Zeit eine außerorbentlihe Thaͤtigkeit, war perfönlich Theil:
nehmer am Gongreffe zu Chatillon (1814 4. Febr. bis 19. März),
Hauptbeförderer des von ihm gleichzeitig verhandelten und mitunterzeichs
neten Bündniffes von Chaumont (1. März) und Haupttriebfeder
der Wiedereinfegung dee Bourbonifhen Herrfhaft. Vergebens
hatte der gebeugte Napoleon bie zu Frankfurt von Seite der vier
Groß maͤchte mit. feinem Sefandten, dem Baron von St. Aignan,
verabrebeten Friedensbedingungen augenblidlihh genehmigt (2. Dec.
1813); Cafllereagh verwarf, was Graf Aberdeen in Eng
lands Namen unterzeichnet hatte, und eilte nad) dem Feſtlande, um durch
perfönlihe Verhandlung den zum Untergange bes großen Keindes
entworfenen Plan der Vollendung entgegen zu führen. Daher blieben
die Sriedensunterhandlungen zu Chatillon ohne Erfolg. Man madıte
Napoleon theils nur verftellte, theils ganz unannehmbare Vorfchläge,
und hob endlich, al® er nad) einigen im Felde errungenen Vortheilen
die Saiten wieder etwas höher fpannte, den Congreg auf einmal auf.
Schon damals war ber Plan der Wiedereinfegung dee Bourbone,
welhen Caſtlereagh frühe gefaßt hatte, der Reife bedeutend näher
gerüdt und das zu Chaumont geſchloſſene Bündnig, durch welches
die vier Großmächte fi) aufs Innigſte zur Zerflörung von Frankreichs
Dräponderanz und „zur Wiederherftellung eines. dauerhaften, auf ben
Srundfägen des Gleichgewichts und der Unabhängigkeit ber
Nationen ruhenden MWeltfriedens” und zur eifrigſten Kriegführung,
Gaftlereagh. 313
bis ſolches Ziel erreicht fei, verpflichteten, und welches noch zwanzig
Jahre lang nach gefchloffenem Frieden dauern follte, ſicherte, ſo viel
menſchenmoͤglich, den Erfolg.
Bald kam durch neue Siege ber Allürten und durch ben Abfall
einiger Feldherren Napoleons die Eroberung von Paris (31. Maͤrz),
duch Talleyrands Hinterliſt aber und des knechtiſchen Senates Ver:
tath die von England, Rußland und Preußen verlangte und endlich
auch von Deftreih genehmigte Thronentfegung Napoleons und
die Reftauration ber koͤniglich Bourbonifchen Regierung zu
Stande. Doch wurde zu Fontainebleau dem gefallenen Helden
der Kaifertitel und bie Infel Elba mit einem anfehnlichen Sjahres-
gehalte bewilligt. Caſtlereagh widerſprach zwar folhen Bewilligun⸗
gen, weil blos die völlige Zernichtung des Feindes ihn beruhigen konnte;
aber erft nachdem der Uebermuth der Reflaurations » und Emigranten-
Regierung und die auf dem Wiener Congreß entftandenen Zers
würfniffe einen neuen Hoffnungsftern für den Kaifer hatten aufgehen
laffen, er aber, nach feinem wundergleihen Triumphzug von Elba nad
Daris und verheißungsvoll wieder angetretenem Reich, dem Verhaͤngniß
bei Waterloo erlegen war, gelang es Caftlereagh, feinen Daß
vollkommen zu befriedigen. Die Geſchichte jedody hat den Bruch des
Gaſtrechts an dem vertrauend ſich felbft überantwortenden und die dem
großen Gefallenen zugefügte fechsjährige Kerkerpein nicht unter bie Züs
ge der britifhen Großmuth verzeichnet.
Welches war nun die Richtung der Politit Caſtlereaghs nad
Napoleons Fall und dee Wiedbereinfegung der Bourbone?
Durch diefe MWiedereinfegung mar ein Princip aufgeftellt worden, wel
ches die englifhe Revolution von 1688 verbammt und der
Nechtsbeftändigkeit de von dem wirklich in Großbritannien herrfchens
den Hauſe befeffenen Thrones den Krieg erklärt oder ihr hoͤchſtens
noch die auf dem factifch eingetretenen Ausfterben bes Haufes
Stuart ruhende Stüge übrig läßt. Es war ein Princip aufgeftellt
worden, welches die Völker irre machen muß an ber Rechtsbeſtaͤndig⸗
keit irgend einer, wenn auch ſchon lange beftandenen und von den
übrigen Staaten feierlich anerkannten, doch urfprünglic etwa in Folge
einer Ummälzung oder auch eines fremden Machtgebotes an die Stelle
einer andern getretenen Regierung, und welches nothwendig zu den un:
auflösiichften Selbftwiderfprüchen oder zu den verderblichſten
Conſequenzen fuͤhren muß.
Wenn die Legitimitaͤt die rechtliche Unaufloͤslichkeit
des Bandes bedeutet, welches einmal zwiſchen einem Fuͤrſtenhauſe und
einem Volke beſteht, und die rechtliche Moͤglichkeit oder Nothwendigkeit
von deſſen Wiederherſtellung, wenn es laͤngere oder kuͤrzere Zeit hindurch
factiſch zerriſſen war: fo werden wohl nicht nur bie Fuͤrſten, denen
gegen ihren Willen die Voͤlker, fondern aud die Völker, welchen
gegen ihren Willen die Fürften genommen wurden, darauf ſich berufen
können, und es möchte felbft der Ausdruck Kürft als allgemeine
314 Caſtlereagh. | .
Bezeichnung Überhaupt einer rechtmäßigen Regierung — ohne Uns
terſchied, ob republikaniſch oder monardifh — gelten. In biefer
Annahme aber war fiherlih Lord Caſtlereagh mit fih ſelbſt im
großem Widerſpruch, wenn er einerfeits bie Boucbone — und
zwar nicht vermöge Kriegs rechts, fondern ganz eigens unter dem
Zitel der Legitimität — auf den Thron von Frankreich ſetzte,
andrerfeits aber die Hälfte dee Sachſen an Preußen und drei
Viertheile dee Polen an Rußland und fchon früher die Norweger
an Schweden geben ließ, wenn er die Republit Genua (und zwar
den feierlichen Freiheitös Verfprechungen des britifchen Befehlshabers zu⸗
wider) an den König von Sardinien, und das beigifhe Voll au
jenen von Holland verfchenkte; wenn er bie unter deffelben — als
Ufurpator geächteten — Napoleons Autorität geſchehene Mediatiſi⸗
tung fo vieler deutſcher Fuͤrſtenhaͤuſer gut hieß und bekräftigte (eben
fo audy bie Unterdrädung der geiftlihen Fuͤrſtenth uͤmer) unb
überhaupt bei ber theils neu getroffenen, theils fchon vom Rheinbunde
berrührenden Vertheilung der dbeutfhen Länder und Völker
bet mannichfaltigft Berreißung alter, legitimer Bande genehm hielt ober
tigte.
Aber noch ſchlimmer als die Widerſpruͤche waren die Conſe⸗
quenzen des Caſtlereagh'ſchen Syſtems. Das ehevor der britiſchen
Politik eigenthuͤmlich geweſene Princip, Schuͤtzer der Schwachen gegen
die Starken, Huͤter des Gleichgewichts, Vertheidiger der Unabhaͤngigkeit
und Selbſtſtaͤndigkeit auch der kleinern Staaten, ſowie der Freiheiten
der Voͤlker zu ſein, mußte jetzt aufgegeben werden, da die innige Ver⸗
einigung der drei militairiſchen Continental⸗Großmaͤchte und das von.
denſelben ſeitdem behauptete Recht, auf Congreſſen gemaͤß gemein⸗
ſchaftlicher Verabredung die Angelegenheiten des ganzen Welttheils zu
ordnen, von Selbſtſtaͤndigkeit der kleinern oder ſchwaͤchern Staaten
nur den Schall noch uͤbrig ließ. Zwar wurde der Beitritt zur „hei⸗
ligen Allianz“, melde jener Vereinigung noch eine bekraͤftigende
Weihe und eine wegen ber Unbeſtimmtheit der Ausdruͤcke hoͤchſt dedenk⸗
liche Richtung gab (f. den Art.), von England abgelehnt, doch nur
darum, weil bie Conftitution nicht erlaubte, daß bee König per»
föntich, ohne Mituntergeihnung eines verantwortlichen Miniſters, ein
Buͤndniß fchließe; aber die Grundfäge jener Allianz wurden foͤrm⸗
lich von ihm gebilligt, und auf ben Gongreffen, zu welchen es
(fowie fpäter au Frankreich) mit eingeladen ward, gab ed entweder
feine Zuſtimmung zu den Befchlüffen der militairiſchen Großmaͤchte,
oder that dagegen nur Fruchtlofe Einfpradhe. In den großen Anges
legenheiten des Welttheils fpielte England von nun an bis zu Canning’s
Erhebung eine blos untergeordnete Rolle. Es war uͤberfluͤfſig zur
Mithülfe oder Durchführung des von den brei oder vier andern Maͤch⸗
ten Befchlofienen und un vermoͤgend zum wirkſamen Widerſtand.
So befchräntte es fi bei dem Principien⸗Krieg Defterreih6 gegen
Neapel und Piemont auf eine wage Erklaͤrung über bie Unzuldfs
Caſtlereagh. 315
ſigkeit eines uͤberhaupt oder als Regel anzuerkennenden Inter⸗
ventionsrechtes, geſtand aber in dem gegebenen beſtimmten
Falle das Recht Oeſtreichs zu. So widerſprach es zwar — doch
erſt nach Caſtlereagh's Tode — der auf dem Congreß von Verona
näher verabredeten (im Grunde aber ſchon früher beſchloſſenen) unheil⸗
vollen Intervention n Spanlen; aber — es ließ fie geſchehen oder
vermochte nicht, ſie zu hindern; ſo endlich war es durch die Conſequenz
des ſtrengen Legitimitaͤtsprincips genoͤthigt, die Erhebung der ſuͤdame⸗
rikaniſchen Colonien wider das druͤckende Joch des ſpaniſchen
Mutterlandes und jene ber ungluͤcklchen Griechen gegen ihre barbari⸗
[hen Zyrannen zu verdbammen. Ef Canning, welcher Caſtle⸗
reagh im Minifterium nachfolgte, Hat einige wirkfame Schritte zu
Gunſten biefer die Theilnahme der Welt fo vielfach anfprechenden Voͤl⸗
Ber gethan und ben Weg zur fpdtern Anerkennung ihrer Selbſtſtaͤndig⸗
keit gebahnt (f. d. Art.).
Caftlereagh, welchen neben feiner im Allgemeinen torvſtiſchen
Sefinnung noch insbefondere die abgoͤttiſche Verehrung für Pitt, ber
fanatifche Haß gegen Frankreich und Napoleon, ber Stolz über den endlich
errungenen glorreihen Triumph, bie Dankbarkeit und die Schmeicheleien
der hohen Häupter Europa’s und die durch den Wiberfland der Frei⸗
gefinnten im britifchen Volk gereizte Exrbitterung zum entfchiedenen Ans
bänger der von der heiligen Allianz aufgeftellten politifchen Grund⸗
füge nad, Außen und zum heftigen Reactionsmann im Innern
gemacht hatten, ſah gleichwohl — mie eine Ihm günfligere Meis
nung behauptet — endlich ein, daß ber von ihm eingefchlagene
Meg zum Unheil führe, dag Großbritanniens Ehre, Macht und Wohl⸗
fahrt dadurch empfindlichft verlegt und bie traurigften Rüdfchritte auf
den Bahnen der edlern Clviliſation herbeigeführt würden. Von Selbſt⸗
vorwürfen und bittrer Reue gequält, fet er des Lebens überbrüffig ges
worden und habe, an ber Möglichkeit verzweifelnd, das gethane Uebel
wieder gut machen zu können, ſich felbft entleibt. So viel ift gewiß:
eine Gemuͤthskrankheit kam über ihn, ob aber aus allzugroßer
Geiftes s Anftrengung, ob aus Furcht vor feinen tagtäglich ſich mehren⸗
den Seinden, oder ob aus Kuͤmmerniß über die ſich drohend verdun⸗
kelnde innere und dußere Lage Englands, oder endlich aus phyſiſchen
Krankheitsurſachen herruͤhrend, iſt natärlih ungemif. Genug! am
12. Aug. 1822 fchnitt er fi auf feinem Landfig North>Cray
naͤchſt London mit einem Federmeſſer die Pulsadern bes Halfes durch
und fiel todt in die Arme des eben eintretenden Arztes, Es geſchah
diefes ein Paar Tage vor ber feftgefegten Abreife des Minifters nad)
Wien, allwo feit einiger Zeit die vorbereitenden Verhandlungen zum
Gongrefje von Berona gepflogen wurden, und nad Verona felbft,
wo in der Mitte October der verhängnißvolle Congreß wirklich begann.
Bon ber nad) Caſtlereaghs Tode durch Canning, feinen Nachfolger,
fofort geänderten Politit Englands und deren mächtigen Cinwirkun⸗
316 Caſtlereagh. Cautelen.
gen auf den Gang der Ereigniſſe und das Shieſel bee Welt rebet
umftändlicher der Artikel Canning“.
Ba einem Staatsmann iſt bee öffentliche Charakter bie
Hauptfache und bie Verwerflichkeit beffelben kann durch Beine Privats
Tugenden geheilt werben. Webrigens find auch ſolche Tugenden — als
Zeutfeligkeit und Mohlwollen im perfönlichen Umgang, Mäfigung, Ders
ſoͤhnlichkeit, Wohlthätigkeit u. f. w. — allzu oft nur bios dußere Form
oder Heuchelei. Der Staat, die Welt fordern die ih nen frommens
ben Tugenden des Staatsmannes; die etwa gegen Kreunde, Ges
feltfchafter oder Familienglieder geübte berührt fie nicht.
Caſtlereagh, nad dem Urtheil feiner eigenen Mitbürger, d. b. des
edlern, freifinnigen Theiles derfelben, als deren Organe wir nur Lord
Byron und die Herausgeber ber Times anführen wollen, war ein
Defpot, den feeiheitlichen und tosmopolitiihen Keen entfrembet,
fein würbdiger Genoffe einer zur Erkenntniß des Vernunftrechts er:
wachten Zeit und einer zum Schirm ſolches Rechtes duch ihre Stel
lung ganz eigens berufenen Nation. Bon den etwa dibertriebenen Vor⸗
mwürfen des, wie man mitunter wegwerfend fagt, radicalen Mors
ning Chronicte und von den durch die erfahrene Mißhandlung ſehr
erklaͤrbaren Schmähungen, welhe Napoleon (f. Lab Cafes Me
moiren Bd. VII.) über ihn ausgoß, mögen wir alfo mwegbliden. Was
aller Welt klar vor Augen liegt, reiht hin zur Begründung des oben
ausgefprochenen (auch durch die feitherige Richtung feines Halbbruders
und Erben feines Titels, Londonderry, beiräftigten) Urtpeis.
Gatalonien, f.e Spanien.
Satafter, f. Katafter.
Catholicismuß, f. Katholicismus.
Gautelen, Gautelarjurisprudenz. Unter Gautelen vers
fleht man wörtlich Klugheits⸗ oder Vorfichtsregein. Vorzugsweiſe aber
nennt man diejenigen Klugheitsregeln Gautelen, durd) deren Befolgung
man bei Eingehung und Abfchliegung vechtlicher Gefchäfte und bei der
Abfaffung von Urkunden über diefeiben, 3. B. bei Teftamenten, Ber:
trägen, bei Bürgfchaften, Anlehen u. f. w., Schäden und Einreben
möglichft vorzubeugen und die Gefchäfte fo vortheilhaft und für die Ges
genpartei fo bindend wie moͤglich abzufchließen hoffen darf. Man hat
fogar den Inbegriff ſolcher WVorfichtsregeln unter dem Namen Caute:
larjurisprudenz- zu einem befonderen Theil der Rechtswiſſenſchaft
erheben wollen. Zum Theil berubte die frühere Wichtigkeit dieſer Cau⸗
telen darauf, daß die Gefchäfte feüher mit fehr vielen gefeßlihen und
durch Gebrauch eingeführten, jegt Gott Lob immer mehr veraltenden For:
malitäten eingegangen und oft auch wegen Unterlafjung berfelben von ber
Gegenpartei angegriffen oder dyifanirt wurden. Freilich iſt zu aller Zeit
geoße Klugheit bei Eingehung rechtlicher Geſchaͤfte nöthig, um nicht in
Schaden zu fommen. Der befte Unterricht darüber für verftändige Buͤr⸗
ger iſt die Deffentlichkeit der Rechtspflege. Sm Einzelnen
Genfur. 317
Eönnen dieſe Regeln nur aus der rechtlichen und politifhen und oͤkono⸗
mifhen Natur und aus den gefeglichen Normen dee einzugehenden Ges
ſchaͤfte und aus beren richtiger. Auffaffung abgeleitet werden. Im Als
gemeinen ift Welt- und Menfchentenntniß, befonnene Ruhe, und, ba
kein Wort wahrer ift, als das Sprühmort „ehrlih währt am
Längften”, Offenheit und. Beflimmtheit die befte Cautel. Melder.
. @enfur als Sittengeriht in alter und neuer Beit.
I. Die Staaten des Alterthums hielten bekanntlich -Sittengerichte für
weſentlich nothwendig und zwar nicht etwa bie rein religisfen oder
moralifchen, welche vorzüglich in früheren noch mehr theokratifchen Zei
ten ftets die geiftlichen. Behörben bilden, ſondern auch politiſche:
So war In Sparta jeder reis ein Sittenrichter für die Süngeren:
Die Ephoren aber übten ein. allgemeines Sittengericht aus vorzüglich
auch‘ über die Beamten und felbft über bie Könige ”.. An Athen
batte die: ehrwuͤrdigſte Staatöbehörbe, der Areopag, eine allgemeine
fittenrichterliche Gewalt. Der Senat aber, die Archonten und.vors
züglid) die Theömotheten.und: dann die Euthynen und Logis
ften waren noch insbeſondere fittenrichterliche Behörden fuͤr bie verſchie⸗
denen GClaffen der Beamten; melde: vor dem Beginne ihres Amtes
(durch die Dofimafle) und. während beffelben. und .nady feiner Been⸗
digung (durch bie Euthnne) .firemger ;. Öffentlicher. Prüfung und Ne
chenſchaft auch über ihren fittlichen Wandel unterworfen waren Ya ‚Aug
Karthago hatte feine Sittengerichte. :
If. Doch eine volffomnmere Aushilbung. und’ größere Wietſemteñ
erhielt kein Sittengericht jemals; als während der ganzen ſchoͤnſten Zeit
der Republik die roͤmiſche Cenſur“!“). Bekanntlich hatte der vor⸗
legte roͤmiſche König Servius Tullius das geſammte roͤmiſche Volk
nach dem Vermoͤgen in ſechs Claſſen und dieſe in Centurien und
zugleich die fünf erſten Claſſen, alfo mit Ausſchluß der ſechſten, der
Proletarier, die blos Kopfgeld zahlten, in Tribus abgetheilt. Nach
jener Abſchaͤtzung des Vermögens (Genfus) und ben auf fie gegruͤn⸗
beten Abtheilungen hatte er zugleich die Steuern unb Kriegsdienfle und
den Antheil eines jeden an dev. Regierung bed Staats beflimmt. Diez:
mit‘ nun. verband er eine allgemeine öffentlihe Mufterung, und
diefe wurbe jedesmal mit einem feierlich dargebrachten Sühnopfer
(Suovetaurilia) zur Entfündigung ober Reinigung (Luſtra⸗
tion) des ganzen roͤmiſchen Volks beſchloſſen 7). Nach ber Vertrei⸗
S. Tittmann, griehifhe Staatsverf. ©, 108 ff.
) Tittmann a. a. O. ©. 251. 255. 258. 262. Wachſsmuths Hel:
len. Alterth. I, 1. ©. 1%. 8
»ee) Ueber fie handeln außer feüberen Schriftftellern neuerlich vorzüglich
Niebuhr in feiner römifhen Geſchichte, Hüllmann im StaatEs
reht des Alterthums und Jarke, Darflellung des cenſoriſchen
Strafrehts der Römer. Bonn —8
fy Livius 1, 42. 43. Dionys v. H. 4, 15. Varro 5,2. Festus
— Detannt ik die jährliche —* gung bes ganzen hebraͤiſ 9 en Volks.
01. . "
318 Genfur.
bung ber Könige: wurde ber Genfus mit jenee Duflerung unb dem
feierlihen Reinigungsopfer zuerft vor den zwei Eonfuln vorgenommen
und zwar der Regel nach aller Fünf Jahre, welcher Zeitablauf von jes
nee Reinigung nun Luftrum gerannt wurde. Seit dem Jahre bes
Stadt 312 aber wurden aller fünf Jahre zwei befondere höhere Staates
beamte, die Genforen, zu biefen und einigen andern _Gefchäften ers
- wählt. Bor ihnen mußten alle römifhen Bürger erſcheinen, ihre und
ihrer Väter und Großvaͤter Namen, ihr Alter, ihre Weiber und Kins
der, ihe Vermögen, Grundſtuͤcke, Sklaven, Vieh und deſſen Geldwerth
angeben. Sie wurben aledann von den Genforen in bie Buͤrgerrollen
umd zwar in bie angemeffene Glaffe und Genturte und Tribus, unb
zum Xheil in den ber Megel nach früher aus ben altbärgerlichen ober
patriciſchen Geſchlechtern gebildeten Senat und in bie früher regelmäßig
theils aus Patriciern, theils aus bevorzugten plebejiſchen Gefchlechtern
gebildete Reuterei oder in den Stand ber Ritter eingefchrieben. und nady
diefer Einfchreibung Sffentlich verlefen *) Diefe Schäsung und Mus
flerung bes Volks in Verbindung mit jener alten Idee ber Reinigung
und zwar zuerft einer religioͤſen, dann aber immer mehr auch einer pos
ltifchen, ober eines Reinigung bes ganzen palitiſch berechtigten Volks⸗
koͤrpers und feiner höheren Abtheilungen, feiner Gewalten iind Staͤnde
von öffentlicher Wefledung:. und von .unmürdigen Gliedern wurde bald
zu einem voliftändigen allgemeinen politiichen Sittengericht ausgebilbet.
An Verbindung mit dem Cenfus-übten: die Cenſoren als „Wächter
„und Regierer dee Sitten, oder ber ‚Sitten der Vorfahren, als. Erhalter
„der Öffentlichen Ehre und Schaam und bed aͤffentlichen Anſtandes⸗
alle Fünf Sabre eine Cenſur ber Sitten über das römifche Volk
feierlich und oͤffentlich aus *). Sie bildeten zwar im Gangen nach
dem Vermoͤgen bei dem Senat und den Rittern, in der fruͤheren Zeit
nach der Abſtammung, jene verſchiedenen Verzeichniſſe und Abtheilun⸗
gen der Nation. Aber ſie verſtießen diejenigen, welche ſich ihrer Buͤr⸗
gerwuͤrde oder ihres Standes unwuͤrdig betragen hatten, durch Auslaſ⸗
ſung in dem beſtimmten Verzeichniß mit der Bemerkung des Grundes
(cenſoriſche Note) aus ihrem Stande oder durch Verſtoßung aus
ihrer Tribus ſogar unter bie Claſſe der Aerarier (Proletarier, Gas
pite Cenſi, Caͤriten), welche von allen politiſchen Buͤrger⸗ oder Stimm⸗
rechten wie von allen Würden ausgeſchloſſen waren ). Sie lohnten
umgekehrt auch beſondere Verdienſte und hoͤhere Wuͤrdigkeit durch Ein⸗
zeichnungen in höhere Abtheilungen *). Sie bildeten alſo gewiſſer⸗
») Cicero ja Rullum 11. de legib, 3, 8 kivius 4, 8. 9, 87. 48, 14.
*) Livius 4, 8. A, 18. 40, 46. 42, 9. Cicero de legib. g, 8. ia
Pison. 4, Plutard im Cato 16. und im P. Aem. 38.
#0) Livius 27, 11. 34, 44. 38, 28, 40, 51. Jarke a. a. D. ©, 83.
- Die Ausfchließung ber unter die Aerarier Verfegten (alfo auch aller Aerarter?),
gleich den Paria’s, feibft von ben oͤffentlichen Opfern, bat Dr, Jarke ebenfo
wenig bewieſen, ale die Urfprünglichkeit der GSenjur.
+) Bonaras 7,1% Eiv.8,7. 45,15. Gellius 5, 18.
Genfur. 319
maßen, unb wenigſtens für ihre Amtsperiode und für die Ausübung
alles politifyen Rechts, den ganzen politifchen Volkskoͤrper und alle pos
Utiſchen Stände und Gewalten bes Staats nad der Würbigkeit.
Cie nahmen auch Statuen weg, welche ohne Beſchluß des Senats oder
Volks Jemandem zur Ehre gefegt warm ). Niemand aber konnte fich
ihrem Gericht entziehen. Denn wer fih dem Cenfus und der Cen⸗
fur entzog, wurde angefehen als felbft auf feine Buͤrgerwuͤrde verzich⸗
md und ald Sklave fammt feinem Vermögen verlauft "). Daß biefe
ungeheure Gewalt in Verbindung mit jener religiöfen Reinigung bie
Würde der Genforen über alle andere Staatswuͤrden erhöhte, fie zur
beiligften wie zur böchften machte, iſt begreiflich “). Feſtus ſagt:
„Zn einer religioͤſen Verehrung fteht vor allen bie Majeftät des Gen-
„ſors.“ Ebenſo natürlich iſt es, daß bie cenforifhe Note außer
ordentlich gefürchtet wurde. Als Strafe zur Erhaltung ber ‚Öffentlichen
Ehre und Schaam und ber Achtung ber Sitte war fie ihrem Wefen
nach eine höchft empfindliche Ehrenftrafe, eine Schande, als Era
haltung der Würde und Reinheit des politifchen Volkskoͤrpers und ſei⸗
ner höheren Abtheilungen war fie politifhe Degradation und
Ausftogung +). Cicero fügt: „Mit einem von ber cenforifchen
„Schande Betroffenen mochte Niemand mehr Gemeinſchaft und es
„Thäftsverbindung. haben. Kein Verwandter mochte ihn zum Vormund
„erwaͤhlen; Niemand ihn befuchen, mit ihm umgehen oder zu Gaſt
„figen. Alle vermieden und vergbfcheuten ihn, wie ein verberbliches
„hier, wie einen Peſtkranken. “
Die Macht der Cenſoren war jeboch auch wieder durch mehrere Um⸗
ſtaͤnde ſehr weiſe ermaͤßigt. Die Cenſoren wurden nur einmal und
nur für einen einzigen Act ber Cenſur erwaͤhlt und zwar einerſeits
aus Männern, die [hen in: den andern hoͤchſten Staatsämtern, na⸗
mentlich als Conſuln, ſich als des höchften Zutrauens würdig bewährt
batten, feit 404 in ber Regel einer berfelben aus den Reihen der Pa⸗
tricer, einer aus den. Reihen ber Plebejer. Sie wurden andrerfeits ers
nannt durch die beiden Volksverſammlungen, fo daß die mehr plebes
jifche, die der Tribus, fie der mehr ariftofratifchen bee Genturien
zur Beftätigung vorſchlug. Dabei noch mußten ihre Beſchluͤſſe einftims
mig fein, fo daß der Widerfprudy des Einen eine. cenforifche Note durch
‚den Andern unmoͤglich machte +}). Auch dauerten ihre Beſtimmungen
nicht etwa fo, wie eine gerichtliche Infamieſtrafe, immerwaͤhrend, ſon⸗
bern nur bis zur naͤchſten Mufterung, wo denn bie neuen Genforen:
®) Livius 4, 8. 39, 44. Plin. H. nat. 84, 4,
**) Cicero pro Caec. 24. Dionysv. 9. 4, 15.
”., Livius 4, 8. Plutarch a. a. D.
+) Cicero pro Cluent. 14. de republ. 4, 6 u. Asconius ad Cie, in Verr.
ed. Lugd. p. 20.
+t) Cicero in Rullum 11.
320 Cenſur.
dieſelbe nach Belieben erneuern oder aufheben konnten, welches Letztere
fie bei der cenſoriſchen Strafe ſogar gewoͤhnlich thaten). So wie nun
[hen durch diefed Alles, fo wurden die Genforen vollends durch die voll⸗
ommene Freiheit und Deffentlichkeit eines ganz republilanifhen Lebens
von ſelbſt wahre Organe der Nationalüberzeugung, Ahnlich wie bie
Praͤt oren bei allem ihrem Recht zu neuen Beſtimmungen bay nur
die lebendige Stimme des Nationalrechts genannt wurden (f. Billig«
teit). Und‘ nur dadurch und durch ihre Achtung ber nationalen Ueber⸗
zengungen konnten ihre Urtheile det Regel nad) jene große von Eicero
befchriebene Wirkfamteit erhalten und: behaupten. Ste müßten um fo
mehr nur treue Organe jener Naffonatüberjeugungen fern, da’ bei offen⸗
barem Widerſpruch mit denfelben ‚oder 6 —— — eine eins
ſtimmige Einſprache (Veto) der Volkstribunen gegen ihre allge⸗
meinen Vorausverkuͤndigungen oder Ebiete über bie Grunbſaͤtze Ihres
Verfahrens bei Antritt ihres Amtes) oder gegen ihre beſonderen Be⸗
ſoug ſicher ihre allgemeine verhindernde Kraft ausgeuͤbt hätte ”"), und
da endlich, auch ohne eigentliches Appellatiönsrecht von ihren Beſchluͤſſen,
dieſelben doch noch: außerdem infofern unter ber hoͤchſten ——
der Nation ſtanden, daß dieſe bei ihren Wahlen zu den hoͤchſten States
würden ſich am eine ihre ungerecht ſcheinende cen ſoriſche Nöte nicht
band. So -hatten’z: B.'die Genforem. den Mamercus, weil er: als
Dietator durch Votksgeſetz bemkkt ' Hatte, daß die Genfdren: von: den
fünf Zahren des Luſtrums nur eins and ein halbes ihre Würde bes
hielten, fo daß waͤhrend der übrigen Zeit des Luſtrums keine Cenforen
exiſtirten, im Verdruß aus dem: Smat;jd’aus feiner Tribus imb alſo
unter die Aerarier verſtoßen. Schon bald nadıher. aber waͤhite ihn das
Volt aufs Neue zum Dietafor +):
An Beziehung auf die Grunbfäße, deren Birlekungein die‘ cenſo⸗
tiſchen -Strafen nach ſich zogen, fand ebenfalls Beſchraͤnkung und
eine Abſonderung derſelben von reiner Moral ſtatt; eine Beſchraͤnkung
fowohl in Beziehung auf die Sorm, wie in Beziehung auf den
Gegenftanb. Eine Beſchraͤnkung in Beziehung auf bie Form
begränbeten in gewiſſer Maße fchon jene Borausverfändigungen in den’
cenforifhen Edicten. Es follte aber auch die Genfur als Organ
der wahren Nationalanerlennung Grunbfäge der auch poli⸗
tiſch anerkannten. Staatsreligion erhalten, vorzüglich aber alte, väterliche
oder nationale Sitten (mores, mores majorum, mit weldyen Worten’
die römifchen Juriſten einen ſtiliſchweigenden Willen oder
Gonfens des Volks und das Gemohnheitsrecht bezeichnen, und bie
jedenfalls eben fo fehr, als die Anftandsregeln etwas objectives,
*) Cicero pro Cluent. 43. Ascon. a. a. O.
**) Plin. 8, 72. 77. 82. 13, 5. 1%, 16. Gellius 15, 11. Cornel.N. Cato 2.
”.*) Eivius 24, 31. 29, 37. Baler. Marimus 7, 2,6. Plinius
7,4. Gellius 3, 4.
+) Livius 4, 24. 9, 30.
> Cenſur der Sitten. 321
allgemein erfennbares Hiſtoriſches )), nicht fubjective, moralifche
und philofophifche Ueberzeugungen waren). Die Beſchraͤnkung dem Ge;
genflande nad lag darin, daß die Genfur nur basjenige beftrafte, was
nad) dee Staatsreligion und nad) diefen Mores ber Staatsbuͤr⸗
gers und Standesehre und Wuͤrde, und ber Wuͤrdigkeit ber einzeinen
politifhen Perföntichkeiten und dee politifhen Gorporationen widerfprach,
was in diefem Sinne — wie Niebuhr fi ausdrüdte — „bie Dfliche
„ten gegen Staat und Stand verletzte“. Es war alfo nah Form
und Gegenftand eine nicht blos fubjective, fondern objectiv und
wirklich politifhe, gewiffermaßen jurifliifhe Ehrbarkeit
(honestas), welche die Genfur erhalten follte. Keineswegs follte fo, wie
Jarke es darſtellen möchte, die reine und bie ganze Moralie
tät und Privarttugend, worüber zuletzt ſtets fubjective Geo
fühle und Gewiffensüberzeugungen entfcheiden, Gegenftand,
es follte nicht eine fu bjective Sewiffensrichterei Aufgabeder Cen⸗
fur fein. Diefe ſchon in ber ganzen Natur bee Sache und des Inſtituts
liegende Grundanſicht entfpricht ber juriftifchen Richtung des roͤmiſchen
Volksgeiſtes. Sie beftätigt fi) auch durch die uns aufbewahrten Bei⸗
fpiele cenſoriſch beftrafter Unwuͤrdigkeiten (Jarke, S. 22 ff.). Freilich
konnten einzelne Cenſoren einmal ihre feine Grenzlinie uͤberſchreiten.
Unb noch leichter könnte man, fo wie Hr. Jarke, audy In mancher po»
litiſchen Unwuͤrdigkeit zugleicd) eine Verlegung anderer rein moralifcher
Srundfäge auffinden. Dennoch tragen alle jene Beifpiele, wenn man
fie im Zuſammenhang und nad) dem Sinne der gefhichtlichen Quellen
feibft auslegt, ‚gerade jene Charaßtere ber juriftifchen ober politifchen
Unwuͤrdigkeit an ſich. Es wurden nicht reine. Immioralitäten und
Berlegungen reiner Privatpflichten, niemals 3. B. unmoralifhe Härten
und Grauſamkeiten gegen Weib und Kind, gegen bie Sklaven gerügt.
. Auch traf die Genfur niemals die Srauen, obgleich doch diefe der richters
lihen Steafe der Infamie unterworfen waren. Eben fo menig traf
fie die fo fehe zahlreiche unterfte Volksklaſſe der Proletar
tier, denen ja die cenforifche Note weder Stimmrecht nod höhere
Stanbdesehre nehmen konnte. Und es entzog auch die cenforifche Note
nicht, gleich der gerichtlichen SInfamie, auch Privatrechte. So wider⸗
legt ſich denn auch zugleich die andere Hauptanſicht, welhe Hugo
und Jarke in Beziehung auf die Genfur aufftellen, indem dieſe beis
den Gelehrten überhaupt leider das große Inſtitut zu einem Beleg
fo wie für ihre grundverderbliche, gänzliche Vermifhung von Moral
und Recht, fo auch für defpotifche Regierungs⸗ oder Polizeiwillkuͤr her⸗
abziehen. Sie fchreiben ihm nicht blos eine Beſtrafung reiner Immo»
ralitäten zu, fondern fegen auch feine Hauptbeſtimmung in eigentliche
polizeiliche und criminalcechtliche Wirkſamkeit. Die Cenſur foll vorzügs
lich -eine Ergänzung ber Lüden ber Polizeis und Criminalgefege und
*) S. Dionys von H. bei Reicke p. 2358. Ulpiani fragm. L1.L.'35.D.
de legib. Livius 40, je p p I
Staats⸗Eexikon. III. 21
322 Cenſur der Sitten.
Anftalten bezwedt und dazu in kurzem, formlofem, inquiſitoriſchem Vers
führen nad) Gutdünfen Strafverfügungen ausgefprochen haben. Kür
Biefen Zweck Eonnte die Genfur aber fhon deshalb nicht berechnet fein,
weil fie ja nach dem vorher Angegebenen die in diefer Beziehung widy
tigften, zahlreichſten Claffen von Perfonen und Verletzungen gar nicht
treffen konnte, und auch darum nicht, weil fie, ftatt der dazu nöthigen
täglichen Wirkfamkeit von mehreren Behörden, vielmehr nur alle
fünf Jahre ein cinzigesmal von Einer Behörde über die roͤmiſche
Nation ausgeübt wurde.
Wohl aber Eonnte das große Nationalinftitut der Genfur jenes
politifhe Honeftum und die öffentlihe Ehre und Schaam, wohl
tonnte fie einerfeitS jene anerkannten politifchen altwaterländifchen Eh: .
vengrundfäge und Eitten und andrerfeits die anerfannte nfdralifche
Würde, die Ehre, und Achtung der vaterlindifchen Behoͤrden und der
politiſchen Perfönlichkeiten bewahren und in allgemeiner, les
bendiger Anerkennung (in ihrer Objectivität) erhalten.
Sie vermochte dieſes, wenn fie auch nur beifpielöweife einzelne befons
ders auffallend gemordene, Aergerniß erwedende, Eeiner meiteren Unter:
fuhung bedürftige Verlegungen jener Grundfäge und jener Würde zur
erneuerten öffentlichen Heiligung derfelben mit oͤffentlicher Schmach
brandmarkte und fo am allgemeinen politifchen Reinigungs = oder Ber:
föhnungstag der Nation den politifhen Volkskoͤrper und feine höheren
Stände von dieſer Schmady und von den unmürbigften Urhebern der
felben reinigte. Denke man ſich die ganze moralifhe Wirkung für den
bezeichneten Zweck, wenn in ber politifd und religiös wichtigften ‚und
feierlichften Verfammlung des ganzen roͤmiſchen Volks, Senatoren, Rit:
ter und die ſtimmberechtigten und ämterfähigen Staatsbürger wegen je:
ner Verlegungen unb als Unmürdige, aus ihrem Stande, aus ihrem
politifhen Staatsbürgerreht und aus beffen Ehre oͤffentlich ausgeſtoßen
wurden und wenn dabei die ehrmürbdigften Beamten des Staats, wenn
ein Genfor Cato von dem hohen, curulifhen Throne herab in oͤffent⸗
licher Rede die geſtraften Pflihtwidrigkeiten rügten, die Unwuͤrdigkeiten
brandmarkten, die altehrwürdigen, nationalen Sitten und Ehrengrunds
füge des römifchen Staatsbürgerthums vertheidigten *).
Es traf nun aber, entfprechend dem angegebenen doppelten Zweck, bie
cenforifche Schande, außer Verbrechen, die auch ſchon criminalrechtlich ſtraf⸗
bar waren, fürs Erſte die unmittelbaren Verlegungen ber anerlannten
Grundlagen ber bürgerlihen Bereinigung und ber bürgerlihen Ehre
duch den Bruch ber Öffentlichen Treue oder bee Heiligkeit der (ide,
fodann duch ſchimpfliche, Ehre und Vaterland vergeffende Feigheit und
durch jedes fhimpfliche Gewerbe. Sie traf fürs Zweite öffentliche,
unanftindige Verlegung der Achtung gegen bie Staatereligion und die
verfaffungsmäßigen Gefege und Einrichtungen des Staats, namentlich
*) Cicero de senectute 12, Liv. 89, 42.
Genfur der Sitten. 323
Verletzungen der Achtung gegen obrigkeitlihe Amtögewalt und entweis
henden Mißbrauch derſelben und der politiſchen Rechte uͤberhaupt, vor⸗
zuͤglich auch Beſtechlichkei. Es traf fuͤrs Dritte endlich — weil die
Roͤmer wuͤrdiges eheliches und Familienleben und geordneten Haus
und Vermoͤgensſtand als Grundlagen und Buͤrgſchaften auch fuͤr die
politiſche Wuͤrdigkeit und Zuverlaͤſſigkeit anerkannten — die cenſoriſche
Note auch die Mißachtung ihrer Heiligkeit und Wichtigkeit. Sie traf
die Verletzung der oͤffentlichen Zucht und muthwillige Eheloſigkeit. Und
ſie beſtrafte unbuͤrgerliche, verderbliche, ſchlechte Wirthſchaft durch ſchlechte
Betreibung des altehrwuͤrdigen Ackerbaues, durch Luxus jeder Art und
durch leichtſinniges uͤbermaͤßiges Schuldenmachen
All. Auch bei den Germanen finden ſich frühzeitig Sittenge⸗
richte. Schon in der erſten Periode der fraͤnkiſchen Monarchie
bis zum fehlten Jahrhundert beftraften die geiftlihen oder biſchoͤflichen
Gerichte Vergehungen gegen die chriftlihe Religion und Moral und geo
gen die Kirchendisciplin mit den kirchengeſetzlich (in den liberi poeni-
tentiales) beſtimmten Bußen und Strafen und in Außerften: Fällen:
mit Interdiet und Ausfchließung °). In dee zweiten Meriobe wer⸗
den diefe bifchöflidhen Sittengerichte über bie offenkundig gewordenen
Vergehungen zu den fogerannten Send⸗ oder Synobdbalgerichs
ten ausgebildet, welche die Bifchöfe jährlih einmal bei dee Kirchenvis
fitation in jedem Hauptparochialſprengel ihrer Didcefe hielten und in
welchen einige dazu befonders beeidigte, glaubwürdige Männer bie offene.
Eundig gewordenen Vergehungen anzeigen mußten. Immer vollftändis
ger bildete Daneben die hieracchifchstheoßratifche Gewalt zugleich das Beich⸗
ten und Abbüßen auch der geheimen Sünben aus ,. nicht minder bie
Anrufung der Unterflügung des weltlichen Arms zur Verſchaͤrfung der
geiftlihen Strafen, insbefondere auch durch bürgerlihe Ausſchließung
der aus der Kirche Ausgefchloffenen ; ferner das Indulgenz⸗ und Ablaß⸗
weſen und das iInquifitorifche Verfahren, ja zum Xheil völlige Ketzer⸗
und geiſtliche Inquiſitionstribunale °°).
In ungefaͤhrlicherer und in einer fuͤr froͤmmere Zeiten heilſamen
Weiſe errichteten auch die Proteſtanten nach der Reformation kirchliche
Sittengerichte in Gemeinden und Kirchſpielen, Presbpteriatgerichte, Kir⸗
chenconvente u. ſ. w. Und wenigſtens in Truͤmmern haben katholiſche
und proteſtantiſche Sittengerichte und ſelbſt manche nicht geiſtliche theil⸗
weiſe Sittengerichte, Ruͤgegerichte u. ſ. w. bis in die neuere Zeit und
wenigſtens bis zur franzoͤſiſchen Revolution fortgedauert. Ja man hat
ſelbſt hier und da in neueſter Zeit eine verbeſſerte Wiederherſtellung
verſucht.
Bekanntlich hatten hierneben früher die verſchiedenen Stände, na⸗
— — —
) G. oben Bann und Eihhorn Staats: und Rechtsgeſch.
$. 105. 106. 181.
) ©. oben 10 und Eichhorn $. 18%. 32.
21”
324 Geäfr der Sitten.
mentlich die Zünfte, alfo mit Ihnen alle Stabtbürger und die Mittew
orden noch ihre befonderen Sitten» und Ehrengerichte. Und auch biefe
haben in verfchiebenen Formen ober auch formlos und zumellen in Aus
artungen bis in neuere Zeiten fortgebauert, bei Officieren und Stuben»
ten zum Theil durchgeführt durch Duell und Verruf ober durch die
Erklärung, daß ein Stanbesmitglied unfatiöfectionsfähig fei und man
mit ihm mit Ehren nicht dienen oder in gefellfchaftlicher Verbindung ſte⸗
ben könne. In Frankreich Haben ſich Advokaten und Notare, wenige
fiens in Beziehung auf eine ehrenhafte Dienftverwaltung, neue Gittene
oder Disciplinargerichte ausgebildet. Auch fordern bekanntlich gewoͤhn⸗
lic der Staat und bie Kirche von den meltlihen und geiftlidhen Be⸗
amten ein bee. Würde des Dienftes entfprechendes anfländiges, bie all»
gemeine Sittlichkeit nicht Öffentlich auf anftößige Weiſe verlegendes Les
ben und rügen auf: verfchiedene Weife, zumellen auch durch Dienftent
laſſung, das Gegentheil. Auch in Stänbeverfammlungen verfuchte man
(dom bie vorzüglich auch dem Recht ber Wähler gefährlichen Aus⸗
e
ließungen.
IV. Alte dieſe fruͤheren und ſpaͤteren Einrichtungen der Voͤlker ſchei⸗
nen wenigſtens die ſo oft von den groͤßten Staatsmaͤnnern ausgeſpro⸗
denen Grundſaͤtze anzuerkennen, daß für Erhaltung der Freiheit, Wuͤr⸗
de und Kraft der Voͤlker, fuͤr Erhaltung der Ehre und Tuͤchtigkeit ih⸗
rer politiſchen Gewalten und Staͤnde und des oͤffentlichen Vertrauens
auf fie die blos negativen ſtreng juriſtiſchen aͤußeren Freiheitsgeſeze und
die gewoͤhnlichen Criminalgerichte nicht ausreichen. Und gewiß, fo iſt
es. Heiligkeit bee Sitte und ber öffentlichen Ehre find die unentbehrs
Uchen Grundlagen unb Lebenskräfte der Sreiheit und Tuͤchtigkeit ber
Staaten. Deren Erhaltung und Herrſchaft aber müffen wie Alles, was
im Staatsieben Kraft und Beſtand haben fol, durch entfprechende Or⸗
gane und Einrichtungen geſchuͤtzt und verbürgt werden. Auch felbft bier
jenigen Politiker, welche Recht und Moral fogar in ihren Grundlagen
gänzlich zerreißen zu innen glauben, und welche auch bie fittlidhe Aus⸗
bildung und Beſtimmung ber Menfchbeit durchaus nicht als Staats⸗
zwed anerkennen, finden bennod eine fittenpolizeiliche Vorſorge für
Erhaltung ber Sittlichleit noͤthig. Die claffifche römifche Jurisprudenz
erklaͤrte fogar, ohne dabei Recht und Moral zu vermifchen, doch ebens
fo, wie das altbeutfche Mecht, die Achtung ber fittlihen Würde und
Beilimmung und die Ehre des Menſchen (honestas und existi-
matio) als die unentbehrlichen Grundlagen und Grunbbebingungen
alles Rechts ). Im dem Grade aber vollends, als ein Volk
die bürgerliche und politifhe Freiheit feiner Buͤrger ausdehnen und bes
feſtigen, als es vom ihrem Streben und Wollen Einheit, Kraft, Ge .
fundheit und Ehre des Staats abhängig machen will, in bemfelben
u oben Bb.I. ©. 11, Weider, Regte Brände ©. 478. Soſtem J.
Genfur der Sitten. 325
Stade muß e8 auch bedacht fein, deren Privatintereffen und Privatlei⸗
denfchaften durch die Herrſchaſt der öffentlichen Ehre und Schaam, ber
Heiligkeit und Achtung der religiöfen und bürgerlichen Sitte zu bänbie
gen, dem Vaterlande unterzuordnen und bienftlbae zw machen. Keine
andere Gewalt der Erde Hält fonft den natürlichen Eigennus und bie
unmärdigen, feigen und feilen Gefinnungen ab, die Freiheit der Mite
bürger und das Vaterland und feine Ehre preiszugeben, fie liflig ober
gewaltfam zu verlegen. Dieſes lehrt die Gefchichte aller Zeiten und
aller Völker. Bloßer Zwang iſt nie vollftändig durchfuͤhrbar gegen bie
Lift und Gewalt der Boͤſen und vollends gerade gegen bie Mächtigeren,
welche zwingen follen. Die Erkenntnig des Vortheils allgemeiner Rechts⸗
befolgung ift ebenfo wenig allgemein und genügend wirkſam gerabe ges
gen bie gefährlichfte Selbſtſucht, welche zwar die Befolgung von dem
Andern annimmt, ſich felbft aber auf ihre Koften privilegitt. Die Ges
fhichte der alten Staaten insbefondere beftätigt ed, was von Rom
Montesquieu, von Athen Hüällmann ausführt, daß ber Unters
gang ihrer Freiheit und Ihe fichtbar nahendes Werderben mit dem ers
fall ihrer GSittengerichte ‚gleichen Schritt gingen. In Rom hatte nach
Asconius (a. a. D.) früher die Abneigung bed Volks gegen bie
Strenge ber Genfur ihre Einflellung bewirkt. Balb aber zeigten ſich
fo fehr die verberblihen Folgen, daß das Volk ſelbſt ihre Herſtellung
forderte. Später ſank die Cenfur feit ber bürgerlichen Erſchuͤtterung uns
ter den Gracchen und vollends in ben großen Buͤrgerkriegen. Sie
erlofch unter den Kaifern, obgleich biefe zuerft mit allen übrigen hohen
Amtsgervalten auch die Cenfur an ſich riffen, aber natürlich nur für
die Beförberung ihres Defpotiömus anmendeten,, keineswegs zur Foͤrde⸗
eung der Öffentlichen Ehre und Schaam, der Bürgertugend und bes
Bürgermuths, die ja dem Defpotismus töbtlidh gewefen wären. Ta⸗
citus laͤßt daher feinen Thrannen Tiberius (2, 33) die gründliche
ren ausfprechen, daß für feine Zeiten bie Cenſur nicht mehr
paſſe.
V. Aber koͤnnen wir nun jetzt, wo wir aufs: Neue Freiheit umd
freie Verfaſſungen wollen, in der Straf⸗ und Ausfchließungs⸗Gewalt
neuer ſtaatsbuͤrgerlicher Genfurgerichte bie rechten Wächter und Pfleger
der Öffentlihen Sitte und Ehre finden? Können wir durch ‚fie jene
würdige Bürgergefinnung erhalten, weihe Montesgquieu
mit Recht als Grundprindp für jedes freie Gemeinweſen forbert und
soelhe wir bebürfen ‚ weil unfere repräfentativen. Staaten ein freies
Gemeinweſen bilden ſollen; zugleih aber auch jene von Hofsunfl
und Hofwillktür und von Höflingsgefinnung unabhäns
gige Ehre, die er als Grundprinciy jeber wicht defpotiihen Moͤnar⸗
hie fordert, die wir aber ebenfalls bedürfen, weil wir ja mit
ber freien Standfchaft die Erbmonarchie verbinden? Ich glaube Rein,
Schon darum fürs Erfte würde heutzutage eine Straf» und Ausflo:
Fungsgetwalt eines Gittengericht® umbucchführbar feht,. weil baffelbe aus
dee vollkommenen Freiheit und eignen Mebergeugung und Sitte ber
326 Genfur ber Sitten.
durch daffelbe zu Michtenden hervorgehen muß, wenn es beilfam und
nicht deſpotiſch wirken fol. . Es kann alfo nicht vom Hofe oder von
der monarchifchen Regierung ausgehen. Es wird aber audy nicht ohne
fie und ohne verderblihe Collifion mit ihr durch ein Volksgericht eine
fo große, unmittelbar über alle wichtigen Staatsverhältniffe ents
fcheidende Gewalt ausgeübt werben innen. Jene unmittelbare
cenforifche Straf s. und Ausfloßungss Gewalt würbe ferner heutzutage
auch darum nicht heilfam, wohl aber defpotifch wirken, weil wir keine
allgemeine Staatereligion, überhaupt Beine folhen Grundlagen für bie
Gemeinſchaftlichkeit der Sitten und der Ueberzeugung von der Gerech⸗
tigkeit eines cenforifhen Strafurtheils haben, wie einft die Römer.
Mit unferem Beduͤrfniß der vollſtaͤndigen geifligen, moralifhen und
religisfen Weberzeugungsfreiheit und unfern verfchiedenen Lebens = Anficys
sen und Verhälmiffen würde eine folche in bie Hand einzelner Beamten
gelegte, ja felbft die-von einer einmaligen unmiderruflihen Stimmen
mehrheitsentfcheidung des Volks abhängige Straf- und Ausſtoßungs⸗
Gewalt ſich nicht vertragen. Sie würde ebenfalld der moralifchen Adys
tung entbehren und als befpotifch erfcheinen.. Selbft eine kraͤftige
Durchführung jener, obenermähnten befonberen fittengerichtlichen Eins
richtungen einzelner. Glaffen und Stände wird megen bdiefer beiden
Hauptgründe unmöglich fein, obgleich eine weiſe zeitgemäße Einrichtung
berfelben, ſoweit fie jest noch möglih ift, durchaus nicht verworfen
werden fol. Ans allerwenigften aber koͤnnen dieſelben ein allgemeines
nationale® Genfurgericht erfegen. Und dennoch wird deſſen Beduͤrfniß
für jene großen Aufgaben, zur Eräftigen Erhaltung und Vertheidigung
der Öffentlichen Ehre und Schaam und zur Einigung einer lebendigen,
wirkſamen, Öffentlihen Meinung für das Würdige und gegen das Uns
würdige und Verderbliche bei uns verdoppelt und gerade um ſo groͤßer,
je mehr jene gegen eine heutige unmittelbare <enforifhe Ausſtoßungs⸗
und Strafgewalt fprschenden Verhältniffe uns zu einer hoͤchſt verberbs
lichen, völlig allgemeinen Auflöfung und Gleichgültigkeit der öffentlis
den Meinung über das öffentlich Würdige und Heilſame und deren
Gegentheil führen: koͤnnten. ' ’
In dieſer doppelten Noth werben wir bas für uns wohlthätige
Genfurgericht oder feinen, heilfamen Erfag nur darin finden, ‚worin die
freien Briten fie fanden, ſeitdem fie nach langer Verwilderung in
ihren Buͤrgerkriegen immer bemundernswerther allen übrigen Nationen
ber ‚Erde in der Seeiheit und der Macht, in Volksehre und Qultur
vorangehen, das heiße, feitdens fie Preßfreiheit errangen., Wir werben
bie wahrhaft heilſame, jener. roͤmiſchen aͤhnlich wirkende Cenfur jegt
nur. finden durch ‚Aufhebung derjenigen heutigen Genfur, welche ganz
entgegengefeßt jener ehrwuͤrdigen römifchen cenforifhen Mufterung die
möglichfte Freiheit und Kraft der Deffentlichleit und Öffentlichen Mei⸗
nung unterdrüdt, ftatt fie bervorzurufen und in Anfprudy zu nehmen,
welche, wie liberal fie auch fcheinen möchte, boch gerade das für den
Schutz von Sitte, Freiheit und Recht Wefentiichfke, bie
Genfur der Sitten. 327
oͤffentliche Rüge ber gerade gegenwärtigen politifchen Ungebühr und
Unmürdigkeit der politifchen Gemalten und Perfonen, die Berufung auf
die Öffentliche Ehre und Schaam gegen ihre wachfende Herrfchaft uns
terdruͤckt, welche endlih da, mo fie trifft, nicht mit Angabe ihrer
Gründe vor dem Richterſtuhl der Nation bie begangene offenkundige
That beftraft, fondern vielmehr im Dunkel, mit Ausſchluß aller Mes
chenſchaft und Öffentlichen Prüfung, die Ausübung des wichtigften Rechts
für die Zukunft nimmt und unterdrüdt. Mit andern Worten: das
wahre und unentbehrlihe politifhe Genfurgericht bes
ſteht Heutzutage nur In der vollkommenen rechtlichen
Deffentlihkeit und In der vollkommenen rechtlichen
Sreiheit ber dffentlihen Meinung des Vaterlandes, in
der Freiheit der Anklage und der Bertheidigung vor
thbrem Gerichtshof. Nur fie können heutzutage fo, vote einft die
eömifche Genfur, die Wächter der Sitte und ber Freiheit, der oͤffentli⸗
hen Ehre und Schaam fein. Nur fie Fünnen jest für jede neue
Bildung der Liften der politifhen Perföntlihfeiten in
jedem beftimmten Kreife, bei der Wahl der Staats⸗ und Gemeindes
Beamten, der Wahlmänner und ber Abgeordneten den zu dieſer Wahl
Berechtigten die zur Prüfung und Entfcheidung ber MWürbigfeit oder
Unmürbdigfeit nöthigen Gründe vorlegen, wozu nimmermehr dürre ges
feslihe Beftimmungen geeignet find, wozu kein anderes Sittengericht
befähigt if. Diefes einzige jegt mögliche Genfurgeriht iſt aber aud)
zugleich das befte und höchfte aller Sittengerichte. Es befteht in jenem
göttlichen Gericht, daß die Wahrheit in die Welt kommt. Es befteht in
jenem Gottesgericht einer ſolchen äffentlihen Meinung, welche fich bile
bet, indem die erften und wuͤrdigſten Diänner des Baterlandes in
öffentlicher Nede und in den freien Öffentlichen Blättern mitfprechen
über die täglichen Erfheinungen ber Gefellfehaftsverhältniffe, und indem
die Freiheit und Deffentlichkeit von Lob und Tadel alle Betheiligten
und alle Wiffenden zur genauen Enthüllung ber Wahrheit auffordern,
indem endlich jebt Alle noch vollftändiger, als bei den Genfurgerichten
der Alten das Urtheil zuletzt unter die höchfte Entfcheidung der jegt
mohlunterrichteten, reiflih prüfenden Nation ftellen. So fiegt zulegt
unvermeidlid) das Mürdige und Rechte in der äffentlihen Meinung
und findet feine verdiente Ehre wie jedes Unwuͤrdige die verdiente
Schmach. Diefes Sittengericht aber wird in ber That zerfidrt duch
bie falfche Genfur, welche gerade bie edelften Beſtrebungen unterdrüdt,
bie Geſinnungen der Menfhen kleinlich und ſtklaviſch macht, die
Schmeichelet gegen das Gemeine und Schlechte, deffen Raͤnke, und
bie im Finſtern fchleihende Schmaͤhſucht gegen die Guten befchüßt.
Wohl mögen freilich zumeilen herbe Anklagen und Beurtheilungen
der öffentlichen SPerfönlichkeiten und ihrer Handlungen ale unbequem
erfcheinen , fo mie einft ben Römern die dennoch alsbald zurüdgerus
fene Genfur, und auch ungerechte Anlagen mögen -Iaut werden. Auch
Außern Manche eine Furcht vor verberblichem fittlichen Aergernig gerade
328 Genjur der Eitten.
durch die Veröffentlichung ded Unwuͤrdigen. Sind biefes nun ehrliche
und achtbare Beforgniffe, nicht Vorwaͤnde, gefchöpft in ganz andern
Quellen, nicht fervile Lobpreifung alle gerade Beſtehenden; überfieht
man dabei nicht abfichtlih, daß ja ſtets auch alle Firchlihe und welt⸗
liche Strafe das Boͤſe befannter machte, daß aber auch bie öffentliche
Unfittlichleit durch den Ausſchluß öffentlicher Nüge nirgends fih mins
derte, vielmehr z.B. unter den früheren franzöfifhen Königen bis zum
Umfturz von Thron und Staat anwuchs; vergißt man endlich nicht, was
ducch vernünftige Gefesgebung fid) ohne Vernichtung ber Deffentlichkeit
und SPreßfreiheit befeitigen läßt, alsdann kann man biefe Beſorglichen
nur an die Erfahrung verweifen. Denn fie find es ja gerade, bie ber
Megel nad) gegen das klare Recht nur auf angeblich zu beforgende Gefah⸗
ven ſich berufen. Mögen fie denn alle Briten nad) ihren anderthalbhuns
dertjährigen Erfahrungen fragen, ob bei ihnen ein Ehrenmann wahrs
bafte Beforgniffe für feine Ehre und für bie Hffentlihe Ehre und Schaam
von Seiten jenes großen Cenſurgerichts der vollen Deffentlichleit und
Preßfreiheit befürchtet, ob ihnen nicht vielmehr unter der Herrſchaft
deſſelben der Sieg und die Öffentliche Anerkennung biefes einzigen wuͤr⸗
digen Lohns der wahren Ehrenhaftigkeit, ſowie die öffentliche Schmach
und zulegt die Ausftoßung wahrer Unmwürdigleiten und der unmürbigen
Glieder noch ungleich verbürgter fcheint, als felbft unter einer roͤmiſchen
Genfur? Sicher jeder Brite wird die unermeßlich wohlthätige Wirk⸗
famkeit jenes Genfurgerichts der neuen Zeit für Erhaltung und Wirk⸗
ſamkeit der äffentlihen Moral und Ehre, für Entwidelung bed patrios
tifchen Gemeingeiftes und edlen Wetteiferd anerkennen und bem großen
Pitt darin beiftimmen, daß tücdhtige Staatemänner nur im Sonnen
fein ber Publicität gebeihen.- Won der Sittlichkeit und Ehre ober
dem Verderben der politifchen Gewalten und Beamten aber hängen
Sittlichkeit und Ehre ober Verderbniß eben fo fehr, wie die Freiheit
und Kraft oder die Sklaverei und Schmah der Voͤlker ab. Entweber
ift eine Nation unrettbar tief geſunken und geht jedenfalls Ihrem Ver⸗
derben in ber erflen großen Gefahr entgegen. Dann freili mag
nichts helfen. Oder das Gute und Rechte hat noch Lebenskraft in
derfelben. Dann vertraue man dieſem Guten und dem mächtigen
Triebe der öffentlichen Ehre und Schaam und fchaffe ihnen freie Bahn.
So wie alsdann das Ehrenwerthe und die öffentlihe Schande nur
laut werden, fo fiegen fie über das Schlechte und die Halbheit, auch
wenn fonft und im Dunkel die große Mehrzahl für fie fein
würt“ Mögen daher die Wohlmeinenden die Beforgniffe gegen bie
freie Wahrheit aufgeben! Im Dunkel, da mwuchern die Lüge und
Selbftfucht, die Feigheit und die Beſtechung, die Lift und bie Jaͤm⸗
merlichkeit, und darum eben lieben fie das Dunkel und fcheuen bas
Licht. Altes Gute aber — fo fpriht ja auch bie tieflte und bie ſitt⸗
lichfte aller Lehren e8 aus — Alles Gute und Tuͤchtige erträgt und
liebt das Licht und gedeiht in dem Licht. 6. Th. Weider.
Genfur der Druckſchriften. 329
Genfur ber Drudfhriften.
L Einleitung Nichts — fo hört man jetzt oft fagn — nichts
fei fo genügend beſprochen, als Preßfreibeit und Cenſur. Gerade ums
gekehrt aber fcheint für ung Deutfche eine noch vollftändigere, leidens
fchaftelofe, aber audy) ungehemmte öffentliche Prüfung und eine endliche
Verftändigung Uber Leinen andern Punkt fo mefentlid zu fein, ats
über Preßfreiheit und Cenſur. Giebt es ja doch, wie die Freunde und
die Seinde von beiden auf gleiche Weiſe anerkennen, nichts Einflußrei⸗
heres und Wichtigere® für unfere gefellfchaftlichen Verhaͤltniſſe als ges
rade fie. Und doch find zugleich auch unfere gegenmärtig beſtehenden
Einrichtungen fiher In keinem andern Punkte fo abweichend von denen
ber übrigen freien gefitteten Nationen, und nicht nur von ihren, fon=
dern auch von unfern beutfchen, fchriftftellerifchen Theorien, ja auch von
wichtigen Beflimmungen unferer Verfaffungsurtunden. Mit ehrlicher
Ueberzeugung und nad) langen und wolederholten Erfahrungen und
Prüfungen erklärten auh in Deutfchland, mit gewiß nur fehr wer
nigen Ausnahmen alle berühmten und geachteten Yubliciften und faft
einftimmig die Kammern der Volksvertreter mit allen britifhen und
franzöfifhen, mit allen bolländbifhen, belgifhen und
ſchweizeriſchen, mit allen [hwedifhen, norwegifhen und
dänifhen und jest felbft mit den portugiefifhen und ſpa⸗
nifhen Nationalverfammlungen und Staatemännern, die faft allein
uns Deutfchen noch fehlende Preffreiheit, und vor Allem die wich⸗
tigfte, die ber täglichen Mittheilungen über bie Erfcheinungen im Da»
terlande und in der gebildeten Denfchheit, als bie Foͤrderung des Rechts
und der Politik, als die unentbehrlichfte Lebenskraft und Verbuͤrgung
freier Verfaſſung, ale die Schüßerin des Thrones wie der Rechtsord⸗
nung, ber Ehre wie ber Kraft bee Nationen und als verfaffungsmäßig
begründet. Auf ber anderen Seite dagegen fiheinen wenigftens bie
Minifter oder die Megierungen duch das Fefthalten, ja durch fleis
gende. VBerfchärfung ber Genfur, bes Gegenfages der freien Preffe,
ſehr abweichende Anfichten auszuſprechen. Wollen und dürfen nun
die Anhänger ber Preßfreiheit keineswegs fo, wie einft Hr. v. Geng,
das theoretifche und praktiſche Vertheidigen ber Genfur geradezu als
abfichtliche Verhinderung der menfchlihen Kreiheit und Vervollkomm⸗
nung erklären (S. oben Thl. II. ©. 623.), fo iſt ficher zur Aus⸗
aleihung jener Widerfprühe noch eine beffere Verſtaͤndigung nöthig,
über diefen praktifh fo unermeßlich wichtigen Punkt, über das Weſen,
über die guten oder nachtheiligen Kolgen ber Preßfreiheit und der Cen⸗
fur, über die Forderungen dee Moral, bes Rechts und ber Politik
in Beziehung auf beide.
Bei gutem, in der Liebe zur Gerechtigkeit und Wahrheit und gu
bemfelben Vaterlande ſich einigendem Willen muß bier Verſtaͤndigung
möglich fein. Ja ber Mangel diefer Werftändigung wäre jetzo ſchon
unbegreiflih, ohne die Schwankungen, ohne bie natürliche Befangen⸗
beit und bie übertriebene Reizbarkeit und KBeforglichleit in bem gros
330 _ Genfur der Druckſchriften.
en Umgeftaltungsfampfe, welcher bis jegt unfere Zeit beherrfchte. Dies
fer Kampf, dieſe Berfangenheit, biefe übertriebene Reizbarkeit Eonnten
aber natürlich nirgends mehr hervortreten, als in Beziehung auf bie
Freiheit oder bie Gebundenheit der öffentlichen Mittheilung und Eroͤr⸗
terung der Wahrheiten, Thatfachen und Meinungen auf dem heutigen
wichtigften Wege dieſer Mittheilung vermittelft der Druderpreffe unb
vorzüglich vermittelft der Zeitungen, Zeit: und Klugfchriften. Zwar follte
man denken, es ftehe die Erörterung und Mittheilung der Wahrheiten
und Meinungen unter irgend freien Menfchen, Aähnlid etwa, wie die
Religion, oder wie das Recht zum Gebraud des Mundes und ber
menfchlihen Glieder, Uber dem politifhen Streit. Auch erfannten ja
fetbft abſolute Monarchien das Recht ber Preffreiheit an. Und in
allen Staaten, wo die Preffreiheit und ein verfaffungsmäßiger fefter
Rechtszuſtand zu ihrer Vertheidigung einmal Wurzel faßten und mo
fie durch die Erfahrung dem Volke bekannt und vertraut wurden, fo
wie 3. B. in England und Frankreich, n Schweden und
Mormegen, in Holland und Belgien, da vereinigen fi) auch
alle Parteien in der Vertheidigung der Preffreiheit. Alle ſuchen durch
ihren offenen Gebrauch für ihre Weberzgeugungen zu kaͤmpfen. Und
wenigftens halten alle bie Weberzeugung von ihrer rechtlichen und po»
litiſchen Nothwendigkeit für fo allgemein und feft in der Nation bes
gründet, daß dort in dem freieften Kampfe entgegengefegter Meinungen
auch nicht eine einzige Stimme zu Gunften einer Genfur ſich verneh⸗
men läßt, daß vielmehr alle durch ihre Vertheidigung ſchon felbft das
Bertrauen auf die Güte ihrer Sache aufzugeben fürchten und bie Preß⸗
freiheit auch in der That als eben fo fehr über dem pofitifchen Streit
ftehend, als eben fo fehr einer beliebigen Unterdbrädung zu Gunften
einer politifchen Partei entzogen betrachten, als bie Religion und bie
Wahrheit felbft, als den freien Gebraud) von Mund und Arm. Die gan
zen Nationen find dort durch die Erfahrung von der Weberzeugung durch⸗
deungen, daß die volle Freiheit dee Wahrheit und der freien Vertheidigung
. aller politifchen nnd ſtaatsbuͤrgerlichen Rechte durdy fie ungefährlid, und daß
fie Heilfamer und wichtiger ift als gemöhnliche materielle Güter, daß fie
eine Ehrenfache: für die Nation bildet. Mir Deutfchen ftehen leider
noch nicht ganz auf biefem Standpunkte. . Zu einflußreicd aber iſt die
Steiheit der Wahrheit, fo wie die Gewalt, zu Gunften der. eigenen
Anfihten und Beltrebungen, die Mittheilung entgegenftehender That⸗
fahen oder Meinungen mehr oder minder unterbrüden und dadurch
bie Öffentliche Meinung beftimmen zu können, ald daß, mer im Stande
ift, diefe Gewalt auszuuͤben, fi) zu ihrer Anwendung im politifchen
Streit gar nicht verſucht fühlen ſollte. Doc) je mehr eine friebliche, lei⸗
denſchaftsloſe Stimmung naht, und je mehr daher auch bie verborgene
Gefahr jener großen Widerfprüche erkannt wird, um fo mehr iſt ehrs
liche, wohlmeinende Berftändigung zu erſtreben. Sie wird, fo hoffen
wir, auch möglich fein. Denn wie man aud über Hemmung freier
Mittdeilung in unferm Vaterlande klagen mag, fo weit ift es noch nicht
Gerfur der Druckſchriften. 331
gefommen, daß man nicht mehr mit Anſtand und ehrlihen Gründen
für fie Eimpfen bürfte, daß die Genfur durch Unterdrüdung der
Gründe gegen fie felbft fi) zum Voraus verurtheilte.
Hier jedoch überlaffen wir die eigentliche Entwidelung des Weſens
und der guten Wirkungen der Preßfreiheit, ihrer Begründung und
ihrer Grenzen, insbefondere der pofitivsrehtlihen, fo mie bie.
Darftellung der Aufgabe einer guten Prefigefesgebung dem Artikel:
Dreßfreiheit. Der gegenwärtige Artikel foll nur vorbereitend bie
biftorifche Entftehung und Verbreitung der Cenſur und ihre rechtliche
und politifhe Natur und Wirkung im Allgemeinen betraditen..
11. Gefhihte der Genfur. Der freie mechfelfeitige Außs
taufh von Erfahrungen, Gefühlen, Gedanken auf allen uns von
Gott gegebenen Wegen, bdiefes freie wechfelfeitige Mittheilen, Reis
ben und DBereinigen der Geifter, dieſes freie geiftige und moralifche
Mirken des Menfchen auf feine Mitmenfchen —˖ die Grundbedingung
aller menfchlihen Entwidlung und Vervolllommnung, wie aller freien
gefellfchaftlichen Vereinbarung und Einrihtung — ift das aͤlteſte, heis
ligfte Recht, wie die heiligfte Pflicht freier gefitteter Menfchen und Völker.
Ein zuvorfommendes. Verbieten und beliebiges Beherrfchen
und Unterdrüden der freien geiftigen Meittheilung, etwas Aehnliches
wie die Genfur, melde gegen Anfang des fechzehnten Jahrhunderts
bie Hierarchie zur Stuͤtze ihrer ſinkenden Weltherrfchaft erfand, zuerft
befanntlidy der unmürdigfte aller Päpfte, Alerander VI., und darauf
Leo X., und welche von den weltlichen Regierungen zuerft Phis
lipp II von Spanien zur Stüge feiner Union bes geiftlichen und
weltlihen Defpotismus ausbildete, kannten weder die Völker des Als
terthums noch bis dahin die germanifchen Völker.
Zwei faft unbegreifliche Begriffsverwechſelungen verwirren öfter die
Lehre von der Genfur und Prefifreiheit. Die erfte ift die, daß Mane
che bei einer allgemeinen Feffelung der Preffe und der Mittheilung
durch fie bis und fo meit eine Genfurbehörde ihren factiſchen Gebraud)
geftattet, den fo geftatteten Gebrauch mit einer rehtlihen Frei⸗
heit der Preffe verwechſeln oder vereinbarlich halten (f. unten III.).
Die zweite ift die, daß man mit der rechtlichen Preßfreiheit eine Erlaubt⸗
heit und eine Straflofigkeit rechts⸗ und geſetzwidrigen Mißbrauchs dies
fer Sreiheit vermifcht und alfo auch die allgemein rechtlichen Beſchraͤn⸗
kungs⸗ und Strafmittel, die allgemeinrechtlichen Vorbeugungs⸗
wie Unterdrüdungs Mittel gegen diefe rechtswidrige Werbreitung von
Drudfcriften mit dee Cenſur auf Eine Linie geftellt. Nur aus bies
fer in der That ſeichten Begriffsverwirrung konnte auh Hoffmann
(in feinee Gefhichte der Büchercenfur, Berlin 1819, ©. 6 fg.)
die römifhen Strafs und Unterdrüdungsbeflimmungen gegen bereite
mitgetheilte Schmähfchriften und Schmählieder und Majeftätsbeleidiguns
gen in der Gefchichte der Genfur als eine Art berfelben aufführen.
Nicht darin liegt bier der große Irrthum, daß früher das roͤmiſche
Recht, auch fogar-in Beziehung auf die ausgefprohenen Aeuße⸗
332 Genfur der Drudichriften.
rungen, fo mild war, baß Tacitus (1, 72.) fagen konnte, blo zu
Tiberius fein Worte überhaupt ſtraflos geweſen, bag auch noch
in der Kaiferdefpotie felbft bei Schmähfchriften der Beweis der Wahrs
heit der Thatſachen von Strafe befreite *), und daß auch das neuefte
roͤmiſche Recht die liberalſten Grundfäge über die Freiheit ber Aeuße⸗
rungen enthält **). Aber alle dieſe Gefege enthalten nicht bie lelfefte
Spur einer vorausgehbenden allgemeinen Beſchraͤnkung
der öffentlihen Keußerungen in Verſammlungen aller Art und
im Mittheilen duch Inſchriften und Handfcheiften, durch deren Ver⸗
mehrung durch Abfchriften und ihre Verbreitung, obgleich folche Ders
breitung in ben alten Staaten, wie bei den Germanen, je mehr die
Cultur flieg, um fo mehr in fehr großer Ausdehnung und als wichtiger
Verkehrszweig, namentlich auch durch Öffentliches Ausrufen und Vor⸗
Iefen ftattfand, und obgleich Insbefondere aud) in ber fpdtern Verderb⸗
niß die Verbreitung von Schmähfchriften felbft gegen Kalfer fehr Häufig
wurde ***), Es war mit einem Worte bei ben Völkern bes Alterthums
wie bei den Germanen bis zum 16ten Jahrhundert ber Gebrauh al⸗
ler gemeinen Wege ber gegenfeitigen geiftigen Mittheis
lung freifür Alle, wenn aud die bereits erfolgte Mittheilung
vechtlih und zumeilen befpotifcdy gerügt und unterbrüdt wurde.
Wohl aber gibt 78 für die geiftige Mittheilung überhaupt unb
vorzüglich für die politifhe Mittheilung ber civilifitten, freien Voͤlker
zwei verfhiedbene Hauptmwege und zwei große Hauptpes
rioden. Nur barin flimmten alle freien Völker der Erbe überein, daß
fie als bie Grundbedingung eines wirklich freien, rechtlichen Gefells
fhaftsverhättnifjes freie Sprache und freie Stimme aller felbftftäns
digen Staatsbürger und Bamilienväter über die gemeinſchaftli⸗
hen oder oͤffentlichen Angelegenheiten forderten, eben weil es bie
gemeinfhaftlihen Angelegenheiten freier Männer und Geſell⸗
fhaftsgenofien find, von denen Keiner allein die allgemeine oder reine
Vernunft bat, bei denen die gemeinfchaftliche Vernunft für das ges
meinfchaftliche Leben, der fittlich freie, vernünftige Geſammtwille ober
bie wahre, Öffentliche Meinung und die gemeinfhaftliche Freiheit
fi) nur in freier Sprache entwideln unb offenbaren kann. Ä
"Aber in der Periode ber alten Zeit, bei ben freien Voͤl⸗
ern des Alterthums unb bei den alten Deutfchen, ba fand bie we⸗
fentliche wechfelfeitige Mittheilung, Belehrung, Befprehung und Mei⸗
nungsäußerung, vorzüglich auch bie politifche über die Geſellſchaftsver⸗
hältniffe, mündlich in öffentlichen und unmittelbar bemo>
Pratifhen VBerfammlungen, Beratbungen und Abflim:
®) C. unica, de famos. libell., f. auch das canoniſche Stecht Caus. V. 9. c.1.
”.. MWelder, Neuer Beitrag gur Lehre von dep Injurien
und der Preßfr. &. 106 fg. und die bafelbft angeführte treffliche Schrift
von Weber, über Injurien.
ser, Vergl. z. B. au) Paulus rec.sent.5, 4.15.16. L.4.u.5. C. Theoss-
dos. 9, % Sueton, Aug. 55. Ziber. 58.69.6L Nero 9. Domit.
8. Tacit. Annal. 4, 34. i4, 48. 49. 50. 16, 14.
Genfur der Drudfchriften. 333
mungen aller Bürger ſtatt in ben ofieken, den Gemeinde
und Wolks⸗, den Befekgebungs» und Megierungs». und Gerichts «Ber
ſammlungen, wie in’ den nicht officiellen auf Plaͤtzen, auf
dem Forum, in den Strafen und öffentlichen ‚Hallen. ., Griechen und
Römer und alte Germanen forderten für bie Freiheit und gu
biefee gemeinſchaftlichen, politiſchen Beredung und, Beftimmung
—— Mer —— * fo unbedingt jenes unmittelbare ve
—— Mitſprechen Aller, BL bekanntlich ſelbſt
* 8* 5 iſerthum herab (ſo z3. B. noch bei Tacitue
in ſeinen Annalen“ 1, 1.) folde Demokratie und ein
freier, rechtü⸗
her Zuſtand in dee Sprache und im Gedanken ebenſo völlig gleichbe⸗
deutend waren, wie It Gegenſatz ——— — und Deſpotie, und
bei ben Germanen der Rechtegrundſat ; daB den freien
Mann nur binde, wozu er mit geraten. (So pte nicht mite
eathen, fo wir nicht mit. thaten!) Die ——— der hin⸗
laͤngüchen Zeit für dieſe allgemeine, muͤndliche, Öffentliche Mittheilung
und Beſprechung aber war nach Ariſtoteles ber alleinige Rechtfer⸗
tigungsgrund ber SHaverei für die Ueberwundenen und ihre Nachkom⸗
men, bie bei Griechen und Römern und Germanen den freien Buͤr⸗
gern den größten Theil anderer Gefchäfte abnehmen mußten." Und bie
‚Kleinheit der bloßen Stabts und Baus Staaten machte auf ber andern
Seite die Duchführung der Freiheit auf biefem Wege ‚möslih. Da
aber, too, bevor noch ein befierer Weg. ber geiftigen und gefellfchaftlie
hen Mittheilung gefunden war, und in dem Grabe, wie diefe muͤnd⸗
lichen und unmittelbar bemofratiihen Beſprechungen aller Bürger in
Öffentlichen Verſammlungen aufhoͤrten, ſowie im 3 om unter den Kal⸗
fern, wie bei den Germanen, fetten fie in große Reiche vereint wur⸗
ben und feitbem vollends fpäter bie fremden Rechte, bie Geiſtlichkeit
und die romaniftifchen Juriſten fie aus ihren Volks⸗ und Gerichtsver⸗
- fammlungen vertrieben, ihnen die freie Sprache Aber das Gemeinſchaft⸗
liche entzogen, ba und in fowelt hörte auch bie — (arıia er |
0
Deutfde '
bie bürgerliche Freiheit auf, und —— —
ſchen und ſauſtrechtlichen und ſklaviſchen Zuſtaͤn
land ſelbſt war indeß auch bei —— — —i— und
Fauſtrecht die freie Sprache der Vereine und Genoſſenſchaften und ihre
neue Entwickelung, namentlich die in den vielen Staͤdten, doch wenige
ſtens nicht durch dußere Eroberungsgewalt und Inquiſttion und no wenige
ſtens nicht fo fehr wie in Frankreich, Italien, in Portugal und
nien und zum Theil felbft in Englant unterdruͤckt worden. Gerade
durch dieſe freiere Sprache um größere geiflige Freiheit war bie deutſche
Nation im. Stande, bie erſte zu werden in Chillſation und Macht.
Dadurch war fie im Stande, in ber Erfindung und — u.
Mittel der Civiliſation vorauszugehen und das wichtigſte aller
zeuge der Gultur und ber Ge bie feele Preſſe, der Menſchheit zu
ſchenken, diefes Werkzeug, durch beffen Gebrauch fie alsbald bie Hier⸗
ardie Füge und zur De Orangen dus Grube Depatiamnd vo u
334 Genfur der Druckſchriften.
ſchuͤtterte, und welches mehr al& irgend etwas Anderes bie neue, Zeit
und Gultur, die neue Staatdordnung, die repräfentative und durch fie
die neue, größere und ausgebehntere oder allgemeinere und humanere
Sceiheit und Bildung begründete.
In der Periode der neuen Zeit und in ben neueren,
freien, germanifhen Staaten oder feit der Erfindung der
Druderpreffe fand immer mehr die wichtigfte wechfelfeitige Mittheis
lung, Belehrung, Belprehung und Meinungsdußering, vorzüglich)
auch die politifche über die Gefellfchaftsverhältniffe durch die freie Preſſe
und vor Allem aud durch Zageblätter und. Zeit» und Flugfchriften
ftatt. Die freie Preffe, dieſes wichtigfte Organ der Mittheilung der
Wahrheit und Kreiheit für bie neue Zeit und Welt, das fichere und
leichte und wirkſame Eprahorgan für unenblid Viele und auch für
ganz entfernte Zeiten und Räume, für alle Millionen unferer Mit
bürger und aller gefitteten Menfchen und für eine dauernde Vorlage
teiferer Prüfung übertrifft unendlich die Mitcheilung durch jene dlteren
Drgane. Sie trat immer mehr an bie Stelle nicht blos des früher
ausgedehnten Gebrauchs und gewerbmäßigen Vertriebs von Handſchrif⸗
ten und von Inſchriften aller Art, fondern befonders auch an bie
Stelle jener täglichen, unmittelbar demokratiſchen Volksverſammlungen
und der münblihen Reden and Belehrungen und Abflimmungen zur
Begründung der politifhen Cultur, zur Bildung der öffentlihen Mei⸗
nung und der nationalen Sittengerichte, zur allgemeinen Berathung
aller gemeinfchaftlichen Angelegenheiten. Eine freie Preffe made
te die Freiheit in großen Reihen möglidh und die Theil—
nahme aller ihrer Millionen von Bewohnern an biefem hetes
lichften Gute der Menfchheit, die Theilnahme an der freien Beſprechung
der vaterländifhen Angelegenheiten und an ihrer Mitbeftimmung durch
Mepräfentanten neben der Uebernahme aller andern Gefchäfte für die
gemeinfchaftlihe Gultur. So wurde die Preffreiheit, vor Allem bie all-
gemeine und bie politifche der Zeitungen, Zeit⸗ und Flugfchriften über
bie täglichen und gemeinfchaftlihen Angelegenheiten — denn die reis
heit blos für dicke Bücher und über allgemeine, entfernte Gegenftänbe,
welche Wenige lefen, märe faft mie ein Privileg. für Gelehrte und
Buchhändler und zum Theil felbft jener Politik nicht ganz unaͤhnlich,
die dem „gemeinen Volk“ das Lefenlernen unterfagt — nicht blos
ein mehr als vollftändiger, fondern zugleich, audy der unentbehrliche
Erfag jener alten Organe der Wahrheit und Freiheit oder ber freien
wechfelfeitigen Mittheilung.
Daß die volllommene Preßfreiheit für jene Älteren Organe mehr
als genügenden Erſatz gebe, das beweifet fhon ein Blick auf
die preßfreien Länder. Wie erhebend tft z. B. nicht ein folder Blick
auf das freie und mwürdige politiſche Leben des großen britifchen Reiches.
Am Verlaufe weniger Stunden fehen bier alle Millionen Bürger
durch freie Zeitungen in ihrem Haufe jedes Wort, das in den vepräs
fentätiven Parlaments: und Gerichts⸗Verſammlungen gefprochen wurde,
Genfur der Druckſchriften. 335
und Alles, was im Staate vorging, vernehmlicher und zu reiferer Bes
rathung, als bei den Reden in den demoktatifchen Volksverſammlun⸗
gen, vor fih. Und ſchon morgen koͤnnen fie in berfelben Zeitungen
oder in freien Petitionen, ebenfalls durch Mittheilung ihrer Meinungen,
Erfahrungen und Bedürfniffe, allgemein vernehmlid darauf antworten.
&o können Alle, welche wollen, an den nun ruhigeren, veiferen, vers
ftändlicheren Verhandlungen ihrer wenigen Nepräfentanten, ohne viel
Zeit: und Koftenaufmwand, ungleidy mehr Antheil nehmen, ale ed bei
ben großen, lärmenden Volksverſammlungen jemals moͤglich geweſen
waͤre.
Unentbehrlich aber ſcheint jener Erſatz, weil wegen der Groͤße
der Staaten und wegen der Aufhebung der Sklaverei und Leibeigen⸗
ſchaft und auch des Helotismus, in welchem die Stadtſtaaten des
Alterthums alle Provinzbewohner unterdruͤckt hielten, jetzt der ungleich
groͤßere Theil der freien Geſellſchaftsgenoſſen unmoͤglich mehr in demo⸗
kratiſchen Verſammlungen und Berathungen an den gemeinſchaftlichen
Angelegenheiten des Vaterlandes, an der Kenntniß derſelben und an
der Bildung der oͤffentlichen Meinung uͤber ſie Antheil nehmen, ſeine
Wuͤnſche, Beduͤrfniſſe, Erfahrungen mittheilen kann. Ohne Preßfrei⸗
heit, ohne vollſtaͤndige, preßfreie Mittheilung, und zwar nicht blos von
einem einzigen, etwa dem miniſteriellen, Standpunkte aus, und mit Un⸗
terdruͤckung entgegenſtehender Thatſachen und Anſichten, oder mit, Ver⸗
faͤlſchung der Wahrheit, koͤnnten ſich jetzt die einzelnen Staatsgenoſſen
nicht einigermaßen gegenſeitig vernehmen, austauſchen, verſtaͤndigen und
gruͤndlich belehren. Sie koͤnnten ſelbſt auch nicht einmal diejenige po⸗
litiſche Kenntniß, Bildung und Tuͤchtigkeit erlangen, die ihnen zu einer
richtigen Wahl ihrer Vertreter, zur heilſamen Mitwirkung in ihren
Gemeindeangelegenheiten, zum Schutz gegen Beamtenwillkuͤr und zum
Schutz gegen Volksverfuͤhrer, endlich zur klugen Einrichtung ihrer in⸗
duſtriellen, commerciellen und oͤkonomiſchen Unternehmungen noͤthig ſind.
So ſcheint alſo nach der Zerſtoͤrung jener aͤlteren phyſiſchen Sklaverei
und Leibeigenſchaft und Provinz⸗Knechtſchaft, erſt jene allgemeine
Preßfreiheit alle Bürger auch vollſtaͤndig gegen neue geiſtige und polls
tifhe Leibeigenfchaft zu ſichern. Sie erft fcheine das unentbehrliche
Mittel der wirklichen Zutheilung der Würde und der höchften Güter
der Menfchheit, der Freiheit und des Bürgerthumes, und der ebeiften
Früchte menſchlicher Cultur zu fein. Sie ift auch das umnentbehrliche
Mittel für Verbreitung ber beften Früchte der gelehrten Beſtrebungen.
Sie erft ertheilt. Allen, je nad ihrer Züchtigkeit, bie wahre active
Theilnahme an ber freien Menfhen> und Staats-Gefellfchaft und an
ihren Beſtrebungen, das active Staatsbürgerreht. Sie zerftört das
Kaftenmäßige und Defpotifhe auch in dem Verhältniffe der Studirs
ten zu den Nichtftudicten.
Und nicht blos im inneren Staatöverhältnig iſt bie freie Preffe
das Hauptorgan der Freiheit und Cultur. Statt dag. vielmehr früher
die verfchiedenen Staaten und Voͤlker getrennt lebten und faft nur
336 Ä Genfur der Drudichriften.
im Vernichtungskampfe, oder In unglädfeligen befpotifhen Erobe
rungsreichen ſich kennen lernten, bietet uns jest bie freie Preſſe das
Hauptorgan für jene immer größere und herrlichere Vereinigung freier
und feloftftändiger Völker zu einem friedlichen Neiche freier, brüderlicher
Wechſelwirkung unb täglichen mwechfelfeitigen, geiftigen Austaufched und
des lebendigen: Wetteifers, der Gefittung und Vervolltommnung. Freie
Zeitungen find nicht mehr blos bie tägliche, wechfelfeitige Sprache ber
Staatsbürger über ihre. eigenen gemeinfchaftlichen Angelegenheiten. Sie
find auch der wechfelfeitige Unterriht und die wichtigſten Verkehrs⸗
und Verbindungsftraßen für alle Völker des menfchlihen Bruderge⸗
ſchlechts. Sie find in jeber Beziehung bie wichtigften Drgane ber all⸗
gemeinen Cultur und Freiheit. Sie wenden die Blicke der. Menfchen
von ihren Heinlichen und egoiftifhen Verhaͤltniſſen und Beſtrebungen
auf die höheren, reicheren, gemeinfchaftlihen Verhältniffe, auf die Kreis
heit und Gultur bed Vaterlandes und ber Menfchheit.
So fchien denn durch jene große Erfindung des deutfchen Geiſtes
ein Fortſchritt der Freiheit und Cultur des menſchlichen Geſchlechtes
gewonnen, von welchem man fruͤher keine Ahnung hatte.
Da erſchien — wer haͤtte ſolchen traurigen Ruͤckſchritt fuͤrchten
ſollen — da erſchien, um einen großen Theil von Europa, namentlich
Spanien, Portugal und Italien, zum Theil auch Frankreich, Deutſch⸗
land, England und die übrigen europäifchen Völker auf Jahrhunderte
hin in neue, die Zeiten des Fauftrechts weit überbietende geiftige, mo⸗
ralifhe und politifhe Barbarei und Verderbniß zu ſtuͤrzen — bie
Cenſur!
Die theokratiſche, geiſtliche Gewalt hatte fruͤher und ſo Lange
als fie in geiftiger Cultur vorangehen und fie fördern,
ja durch fie, duch ihre Schulen und Univerfitäten, herrfchen konnte,
weil die jugendlichen germanifchen Völker, ihrer Erziehung bedbürfend,
in freiem Glauben fid an fie anfchloffen, wohlthätig gewirkt.
Aber fie wurde in dem Maaße unterbrüdend und deſpotiſch, als dieſe
Voͤlker ihrer Erziehung und Bevormundung und dem blinden theos
kratiſchen Glauben entwachſen waren, und fie nun dennoch ihre theos
kratiſche Glaubensmacht und Herrſchaft, und zwar jetzt durch all⸗
gemeine Inquifitionss und Ketzergerichte und durch Bes
Tämpfung des ihre nun verderblid werdenden geiftigen
Fortſchreitens behaupten wollte, und als fie, die früher das Bolt
gegen Fauftrehtsgewalt und Defpotismus gefhüst hatte, ſich jegt umge:
ehrt, fowie in Spanien unter Philipp II., mit dem Defpotismus
der Könige, ber Ariſtokratie und mit den fhändlichften Hoͤflingsregie⸗
rungen zur Unterdrüdung dee Freiheit verbuͤndete. So mußte ihr
denn fehr begreiflich die von Papft Alerander VI. in feinem Ebict
von 1496 eingeführte Genfur zur Unterdrüdung des freien Gebrauchs
des neuen, wichtigften Organs für Freiheit und Wahrheit dienen.
Und welhe Entwuͤrdigung, melde Verdummung und Entfitte
lichung ber Völker, welcher ſchaͤndliche, vernichtende Defpotismus ber
[4
Cenfur der Drudichriften. 337
Meglerungen und der. geiftlichen und weltlichen Ariftokratie, welche gren⸗
zenlofe Verderbniß der Höfe und ber höheren Stände entwickelten ſich
nicht jegt unter der Herrſchaft und mit Hülfe ber Cenfur, durch
Unterdrüdung des freien Gebrauchs ber Preffe für bie
Beherrſchten, forie duch ben falfhen Gebraud ber Preffe von
Seiten der Herrfchenden, duch die Taͤuſchung ber unglüdlichen Voͤl⸗
ker! Diefe neue hierarchifche Gedankeninquiſition wirkte vernichtender,
als bie frühere, und gab auch den blutigen Keßereiverfolgungen erſt
Beſtand und die fhauderhafte Wirkung. So Eonnte 3. B. das ſtolze
Volk der Spanier, das in feiner Freiheit meltherrfhend, reich an
Gultur und Macht jeder Art geworden war, von vierzig Millionen
. bis auf zehn herablommen, in ſchmachvolle Nichtigkeit und fremde
- - GtaatssEeriton, ILL
Abhängigkeit verfinten, in dem Beſitze einer halben Melt an Ber
mögen und Cultur verarmen. Es konnte unter ber f&heußlichften,
verderbteften Gamarillaregierung In eine folche geiftige und fittliche Ente
artung und Berwilderung finten, daß, wie die Proclamation von der
Inſel Leon fagte, ſchon das Antlig der einft fo herrlichen und ſtolzen
Bürger die Entwürdigung abfpiegelt, und baß in ben ſchauderhaften
Bürgerkriegen und Revolutionen, in welchen nach dreihunbdertjähriger
Schmach das unglüdliche Volk fi von diefer geiftigen und politifchen
Unterdrädung zu befreien ſtrebt, bald fittliche Verderbniß oder Kraft
Iofigkeit, bald thierifche Graufamkeit, bald ber rohfte Fanatismus mit
dem ſchmachvollen Rufe: „es lebe die Inquiſition, es flerbe bie Nas
tion! bald revolutiondre Umſtuͤrzungswuth die Freunde der Menſch⸗
heit erſchrecken und ihnen ben unverwüftlichen edlen Kern des Volks⸗
charakters verhüllen.
Traurig genug, wenn gleich nicht überall auf gleich fchauberhafte
Meife, entwidelten fi auch in andern europäifhen Staaten bie
Folgen der U üdung der freien Wahrheit. Durch meift fehr bius
tige veligtöfe und politifche Revolutionen und Reformationen in Deutfch«
fand und ben nordiſchen Reichen, in ben Niederlanden und der Schweiz,
in England und Amerika, endlid in Srankreih, und feit der franzds
fifchen Revolution aufs Neue in ben meiften europäifchen Staaten, zus
weiten auch auf frieblihem Wege durch große Fuͤrſten und Staates
männer, wie Friedrich und Joſeph und Earl Friedrich, mie
Guſtav IN. und mie bie dänifhen Bernftorffe, wurden enblich
mehr ober minder bie geiftige und politifche Unterdrädung und ihre
Folgen befiegt und großentheils auch bie ausdruͤckliche, gefegliche Sanction
der Mahrheitsfreiheit oder ber Aufhebung der Genfur errungen.
Uebrigens märe es nicht blos lieblos und unanfländig, es waͤre
fiherlic völlig unmahr, mwollte man einer jeden Einführung ber Cen⸗
fur eine bloße defpotifche Abſicht zufchreiben. Konnten ja doc, felbft
Männer, wie Rouffeau, wie Voltaire, wie La Mennais, ſich
buch) Mißbraͤuche felbft der heiligften Güter und Rechte, Rouffeau
durch die der Cultur, Voltaire buch die des Chriftenthums,
La Mennais fo, wie Rouſſeau, und fo viele Andere durch die bes
D
338 . Genfur der Drucſchriften.
Koͤnigthums ſich fo verblenden laſſen, daß fie, ſtatt zu moͤgllchſter
sechtlicher Abfchaffung der Mißbraͤuche, vielmehr alles Ernſtes zur Abe
fhaffung der Gultur, des Chriſtenthums und des Königthums viethen
und an ihrem Untergange arbeiteten. Konnte es alfo nicht auch ans
been ausgezeichneten Menfhen, und vollends ber Mehrzahl ber Klei⸗
nen, die fich fletd nur duch das Unterdrüden zu helfen wiffen, bei
ehrlihem Willen mit dem Rechte dev Wahrheits⸗ oder der Preßfreiheis
aͤhnlich ergehen? Vollends war bdiefes damals natürlich, als die Er⸗
findung bee Preffe nocdy neu war und man noch nicht.die Verdrängung
ber alten Wege geiftiger und politifher Mittheilung großentheils durch
fie feibft, die furchtbaren Kolgen ihrer Unterdrüdung, die Möglichkeit
ihres gefahrlofen Beſtandes und ihrer guten Wirkungen in der Ev
fahrung fo, wie jego, vor fi ſah.
So, buch den immer noch großen Einfluß der hierarchiſchen
Geiſtlichkeit und vorzüglich) durch die Furcht vor den immer ſich er»
neuernden blutigen Religionskriegen erklärt e8 fich denn auch, daß im
deurfchen Reiche reichspolizeiliche Geſetze Auffiht auf die Preffe und
Iandesherrliche Cenfureinrichtungen verlangten. Doch hielten fi, wie
audy der Bunbdestagsgefandte Hr. von Berg in feinem Vortrag
‚über Preßfreiheit (1818 in ber Hiften YBundestagsfigung S. 346)
bemerkte, die Landesregierungen hierdurch keineswegs verhindert, in Ges
mäßheit ihres Rechts der Landespolizei und Landeögefeggebung, nad
ihrer eignen Weberzeugung lanbesgefeglihh die Preangelegenheiten fo
oder fo zu ordnen. Diele Regierungen, namentlich kleinere, viele Reiches
ſtaͤdte, auch die Regierungen von Medlenburg und von Heffen
Darmftadt führten niemals Cenfur ein, felbft nicht in den
Napoleoniſchen Zeiten. Andere, wie Dänemark als Regierung von
Holftein, hoben duch ausdrüdlihe Sanction der volllommen«
ften Preßfteiheit alle Cenfur gänzlih auf. (uBernftorff.)
Andere, wie die Regierungen von Hannover Baden, hos
ben wenigftens für diejenigen, welche am meiften fchrieben, für die
Profefforen und höheren Staatsbeamten, alle Cenfur auf”). Und
Hr. v.Berg (a. a. D. ©. 328) rechnet, daß im Jahre 1818, alfo
wor den Carlsbader Bundesbefchlüffen, ohngefaͤhr ein Drittheil
der deutfhen Staaten Peine Cenfur hatte. Hierbei muß
man noch in Anfchlag bringen bie früheren Verhältniffe; die durch
einander laufenden Gebiete von bdreihundert beutfchen Reicheftaaten ;
die wenig ſtreng ausgebildeten Polizeieinrichtungen und den Wetteifer,
nicht der Verfolgung, fondern der Schügung der in einem biefer
Staaten politifh Werfolgten (3. B. auch der in Berlin verfolgten,
in Altona aufgenommenen allgemeinen dbeutfhen Bibliothekt).
Serner kam noch hinzu ber damals gang freie allgemeine deutſche
*) Der berühmte Heyne pries in feiner Jubilaͤumsrebe 1787 die Preßfreie
heit von Göttingen als das Palladium der Univerfität, als fegensreich für
Deutfhland md Europa. ©. auh Shlögers Gtaatslchre ©. 188.
Genfür der Drudicriften. 339
Buchhandel und ber ungehinderte Eingang auslaͤndiſcher, namentlich
in Holland und in ber Schweiz gebrudter Schriften und Tagblaͤtter,
fodann die damalige völlig freie Verfaſſung und der ungehemmte Bes
fuch aller deutſchen Univerfitäten, ferner die Publicität aller Reiches
tagsverhandlungen, und die Möglichkeit, vor den felbftftändigen Reichs⸗
geichten feloft die Landesregierung wegen Pegierungsmißbräuchen zu
belangen und alle Proceßacten ungehemmt druden zu laffen; endlich
der eiferfüchtige Gegenſatz zwifchen Eniferliher und fürftliher Macht.
Durch alles diefe3 war wenigſtens unter fo ruhmvollen Regierungen,
wie die von Kriedbrich und Joſeph, die Freiheit der geiftigen Mits
theilung in Deutfchland weit größer als heutzutage, und
Deutfhland ftand auch in diefer Beziehung den meiften an«
dern europäifhen Nationen voran.
Sortdauernd indeß hatte fi) in Deutſchland, ſowie ſchon früher,
an das wohlthaͤtige Geſtirn der Freiheit und ber freien Sprache alles
Gute und Große, alled Ungluͤck an ihre Unterdruͤckung geknüpft. So
wie die Neformation an ben freien Gebrauch der Prefle, fo knuͤpften
fi) an ihre Unterdrüdung und Verfolgung jene hundertiährigen, Deutfc
lands Einheit zerreißenden Religionskriege. Es Enüpften fich an jene
Unterdrücdtung der freien Volksſprache in den Vereinen und Gerich⸗
ten vermittelft der fremden Rechte und der romaniftijchen Juriſtenkaſte
die Knechtfchaft des Volks und die Erflarrung der Lundesverfitffungen
und insbefondere auch jene in geheimen Kürftencongrefjen entworfenen
Mahlcapitulationen mit ihren Angriffen gegen die Nationalverfaffung
und insbefondere gegen bie freien landftändifhen Rechte. Go aber
entftand nun in vielen ihrer Freiheit beraupten Staaten eine ganze
Saat von Mißbräuchen; e8 erlahmte der Volks- und National-Geiftz'
vollends, als nad dem Ausbruch der franzöfifhen Revolution ihre
furchtbaren Mahnungen, ftatt zu verjüngter Ausbildung der Freiheit,
vielmehr zu ihrer Unterdbrüdung benugt wurden. So erfolgten in
fünf und zwanzigjührigem Kriege gegen das von Freiheit und Nas
tionaltuhm begeifterte neue Frankreich immer biutigere Niederlagen,
endlich die Auflöfung des Reiches und jener fhmachvolie Rheinbund.
Deutſchlands Fürften und Völker mußten dem Siegeswagen des frems
den Eroberers folgen, gegen ihre Brüder oder auch gegen fremde Nas
tionen als Werkzeuge der Unterdrüdung dienen. Aber wer vermödhte
wohl in wenigen Worten alled Unheil zu ſchildern, was an die Ders
nichtung ber freien Sprache und Verfaſſung ſich knuͤpfte!
Doch als endlich, ſowie e8 oben bereits urfunblich dargeftellt wurde (Bd.
II. ©. 618—24. 646—48), mehr und mehr und zuerft in Preußen das
aͤußerſte Unglüd zur rühmlichen Anerkennung fowie der wahren Quellen
des Unglüds, fo auch der wahren rettenben Kräfte, ber Freiheit und freien
Wahrheit, geführt hatte, als vor Allem die Napoleonifche Unterdrüdung der
MWahrheit und die unter ihrem Schug wuchernde dffentlihe Demoraliſa⸗
tion in der Tiefe der deutfchen Herzen eine Zornesmacht und eine Freis
heitsliebe entwickelten, welche bie Blutgerichte gegen em und ans
& ..
340 Cenſur der Druckſchriften.
dere Ehrenmaͤnner nur neu entflammten, und als endlich die Fuͤr⸗
en freie Verfaffung und freie Spradhe als Ziel und
Bes einer allgemeinen Vollserhebung verfünbeten
und das Wort fogleih frei wurde in Deutfhland, ba
erfolgte die glorreichfte Rettung! Die deutfche Bundesacte verhieß jetzt
nach dem erften und vor dem zweiten Freiheitskrieg in bem Arklkel
18, als das michtigfte der vier allgemeinen beutfchen Bürgerrechte,
welche „bie verbündeten Fürften und freien Städte al«-
„ten Unterthbanen ber beutfhen Bundesſtaaten zuzuſi—⸗
„Hern übereingelommen waren,” bie „Prepßfreiheit” und
ihre gefeglihe Verwirklichung buch ein Preßgeſetz „in der erften
‚Bufammenktunft ber Bundesverfammlung”. Mehrere
Bundesftaaten, fo namentlih Naffau, Weimar, Würtembersg,
hoben durch ausdrüdtihe Beſtimmungen der Lanbesverfaffungen und
andesgefege alle Cenſur auf und die hohe deutſche Bundesverſamm⸗
lung ertheilte einftimmig der weimarifhen Derfaffung und ihrer
vollftändigen Preßfreiheit die ausdruͤckliche Gerodhrleiftung des durch⸗
lauchtigſten Bundes *). Alles augenfällige Beftätigungen, daß jene
fürftliche Verheißung bes Artikels 18 der Bundesacte, fo wie e8 ſchon
der urkundlihe Sinn und Zufammenhang ber Verhandlungen und ber
Morte eriviefen, allen Deutfchen die Freiheit ber Prefie, die fie zum
großen Theil damals ſchon beſaßen, jegt als allgemeines deutfches Nas
tionalteht zufihere, nimmermehr aber fie mit deren Zerſtoͤ⸗
rung dur Genfur bedrohen follte. Die feitbem entftehenden land»
ftändifhen Verfaſſungen ficherten ebenfalls bald mit, bald ohne Bezie⸗
bung auf bie DVerheifung der Bundesacte den Bürgern die Preßfreis
heit zu **). j
Doch neue Kämpfe hatte die Freiheit in Deutſchland, in Europa
zu beftehen. Einzelne ungewohnte und fchon beshafggburc den Mans
gel der Uebung zum Xheil ungeregelte und verkehrte Erfcheinungen ber
Freiheit in Deutfchland, Frankreich, den Niederlanden mochten auch
bei wohlwollenden Regierungen Beforgniffe erregen. Gleichzeitig aber
trat jene Partei ber verrotteten Sieden in ganz Europa, die da fürdys
tete, daß die Mißbraͤuche abgefchafft würden, woran fie ihre bisherige
Gewalt gegen die Rechte ihrer Mitbürger Inüpften, als Reaction auf.
Auch ihr Hauptmittel konnte Fein anderes fein, als die Unterdrüdung
ber freien Wahrheit. Der Zufammenhang bdiefer Partei in den ver:
ſchiedenen Ländern, die heutige Einwirkung des einen Landes auf das
ahbdere kamen fehr erklaͤrlich bald in den Schidfalen der Preſſe audy
in den beutfchen Linbern zum Vorſcheine. Vor Aller Augen ſtehen
noch mit ihren Veranlaffungen, Zwecken und Erfolgen die Kämpfe der
”) ©. Bunbestagsprotololle v. 1817. Eikung 22. $. 125.
”r) ©. diefe. Beftimm n und über t die Lit
Kluͤber dffentt. Rehtt 503 und aaup eratur über bie Genfur in
%
Genfur der Druckſchriften. 341
Dreftauration in Frankreich gegen bie Freiheit der Wahrheit und
gegen bie Wahrheit ber Verfaſſung, deren rohbdefpotifche Vernich⸗
tung in Spanien und die badurc, herbeigeführten neuen Revolu⸗
tionen in Sranfreih, Spanien, Portugal, Neapel und
Diemont, die wenigftens in Spanien und Portugal fo unglüdlich
ausgefallenen Beruhigungen und zulegt bie Julirevolution und aber
mals die neuen Pevolutionen in Belgien und in der Schweiz, in
Spanien und Portugal, ja in mehreren beutfchen Ländern.
Die befonderen beutfchen Kämpfe für und gegen freie Preffe und freie
Berfaffung wollen wir hier weder nach ihren Urfahen noch nah ih⸗
ten Folgen, weder rechtlich noch politifch würdigen. Wir wollen bier
nur bie äußerlichen, thatfädjlihen Erfcheinungen noch kurz berühren,
jene vorzüglic, feit 1817 fteigende Ungeduld wegen verzögerter allge⸗
meiner Verwirklichung der verheißenen Freiheiten und megen ber Bes
forgniß fremden Einfluffes, welche legtere Sands unheilvolles Ben
brechen veranlaßte, fodann der durch nichts erwiefene allgemeine Ver⸗
ſchwoͤrungslaͤrm und unmittelbar hierauf 1819 die Carlsbader Bes
ſchluͤſſe vorzüglid gegen die Preffe und die Univerfitdten. Obwohl
nur auf fünf Jahre gegeben, murden fie auch in der ruhigen Zeit
1824 erneuert. Als nun, ermuthigt durch die Vorgänge in Deutſch⸗
land, die Reftauration die Genfurbeflimmungen der Carlsbaber Bes
fhlüffe 1830 in Frankreich publicitte, die Kranzofen aber, einges
den? des Elends, welches ihnen bie Preßſklaverei unter frühen Könts
gen und unter Napoleon gebradyt, die Schmad, rüftig von fi war⸗
fen, da entftand bekanntlich gefährliche Aufregung aud in Deutſch⸗
land. Es entftanden bie Revolutionen und neuen Berfaffungen m
Sachſen, Churheffen, Hannover und andern beutfchen Län:
dern, wihrend in Baiern, Württemberg und Baden, wo,
neben den freien Verfaſſungen, factifch jest aud) die Preſſe frei wur⸗
de, bie gefeglihe Ruhe ungeftört blieb. Bekannt find ebenfo die faft
allgemeinen, jedoch nur in Baden fiegreichen Kaͤmpfe der Landſtaͤnde
fuͤr gefeglihe Preßfreiheit. Doc ald mit der fintenden Hoffnung, eine
Heform in Deutfdland zu gewinnen, wie fie bie Aulirevolution auch
fir Britannien hervorgerufen hatte, eine fteigende Gährung der Ges
müther fich zeigte und bei der unerwarteten Seftaltung der franzöfifhen
Politik die Beforgniffe eines auswärtigen Krieges für den Augenblick
ſchwanden, da wurden von anderer Seite auf andere Weife die Aeus
Ferungen jener Unzufriedenheit bekämpft. Es erfchlenen 1832 bie ber _
Fannten verfchärfenden Bundesbefchlüffe. Auch die badifche Preßfrels
heit wurde wieder vernichtet; die Mißſtimmung wuchs, dußerte im
Einzelnen ſich auch durch verjweifelte, verbrecherifche Unternehmungen
und füllte deutfche Kerker mit politifch Angeklagten. Won dem neuen
Congreß in Wien 1834 gingen abermals neue, noch firengere Maß⸗
regeln gegen die Prefie aus.
Auch der in Folge der Bundesgeſetzgebung in Deutfchland. flatts
finbende Zuftand ber Preſſe und öffentlichen Mittheilung fou hier ohne
342 Ä Genfur der Drudichriften.
irgend eine Würdigung nur thatfachlich Eurz angegeben werden. Die
Dreffreiheit für alle Drudicriften unter 20 Bogen, alfo auch für die
ganze allgemeine, tägliche Mittheilung über die gefellfchaftlichen Anges
legenheiten durch Zeitungen, Zeit und Flugſchriften, ward überall
aufgchoken, auf da, wo nah dem Obigen felbit in Napoleonifchen
Aeiten Feine Cenſur beftand, oder in neueren Landesverfaffungen Pref-
freiheit eingeführt worden war. Mac ben Landesgeſetzgebungen der
beiden größten und mehrerer andern beutfchen Bunbesftaaten findet
auferdem Genfur für alle Drudfchriften ftatt, und zwar in Defters
reich auch für die im Ausiand gedrudten. An die Stelle der Genfur auss
waͤrtiger Druckſchriften traten andermärts bie Öffentlichen oder nur den
Buchhaͤndlern unter Steafandrohung mitgetheilten polizeilichen Wers
£auföverhote und die Genfurunterdrüdung der Ankündigungen. Mit
Berufung auf neuere, nicht Öffentlich publicirte Bundesbefchlüffe find
nah Zeitungsnachrichten in mehreren Ländern auch bereits alle im
Ausland deutſch gedruften und auch viele dee wichtigſten engliſchen
und franzöfifhen Zeitungen ausgeſchloſſen und faft nur die Miniftes
rial⸗ und ultraariſtokratiſchen englifchen und franzoͤſiſchen Blätter freis
gesaffen. Auf diefelbe Weife murden auch alle früheren, gegenmwäctis
gen und zukünftigen Verlagswerke ganzer Buchhandlungen, ſowie fruͤ⸗
here und zufünftige Schriften einzelner Echriftfteller verboten, ferner
aud das Dffenlaffen der durch Genfurunterdrüdungen entftandenen
Luͤcken unterfagt; ebenfo auch andere Mittheilungen über ftändifche
Verhandlungen anderer deutfcher Staaten, ald die aus den cenfirten
Landeszeitungen entnommenen, nit minder auch und zwar unter aus
drüdlicher Bedrohung ber Aufhebung der ganzen Zeitung, jede —
nicht amtliche — Nachricht über Verhaftungen und Unterfuchungen
politiſch Angeklagter im Inland, wie in andern deutſchen Ländern.
Auch die Mittheilung der Actenſtuͤcke bei Beſchwerden deutfcher Staats⸗
buͤrger gegen die Landesreglerung am Bundestag, namentlich wegen
Juſtizverweigerung, iſt, ſoweit nicht gerade die betheiligte Regierung ſie
geſtatten wollte, bundesgefeglich verboten. Da’ diefe und andere Bun⸗
desmaßregeln meift nicht öffentlich, publichrt wurden, fondern nur durch
die Berufungen ber einzelnen Randesgefrge auf fie allmilig und un»
vollftündig .zu Tage kamen, aud alle Publicität der Bundestagsvers
handlungen ſchon früher aufgehört hat, fo koͤnnen wir nicht entfcheis
den, ob und miefern wirklich mit dem bunbesgefeglichen Werbote
ber Actenverfendung in Criminal» und Polizeifahen, auf deffen Ten»
denz fich berufend bereits eine Bundesregierung ihren Juriſtenfacultaͤ⸗
ten alle Annahme, von, Procegacten unterfagte, auch das zufammen-
hängt, daß die Genfurbehörden von mehreren Bundesregierungen das
Rechtsgutachten "einer berühmten SJuriftenfacultät für einen "peinlich
Angeklagten, als deſſen Verwandte es zu feiner Vertheidigung woll⸗
ten drucken Iaffen, günzlidy verboten. (Eben fo läßt es fih nur ale
Mittheilung cenfirter Zeitungen veferiven, daß nad) bundesmäßiger
Vereinbarung bie Regierungen für Verminderung ber Zeitungen und
Genfur der Drudichriften. | 343
Ihre allgemeine Abhängigkeit von blos widerruflichen Conceſſionen bes
dacht zu fein hätten, moneben aber bekanntlich nad) den Carlsbader
Beſchluͤſſen auch noch der Bund felbft das Recht ausübt, Schriften
und Zeitungen zu unterbrüden und bie Redactoren ‘von Zeitfchriften:
auf fünf Jahre für unfähig zu’ einer neuen Redaction zu erflären.
Auch wurden wirklich durch Bundesbeſchluͤſſe eine Reihe freimüthiger
Zeitungen und Zeitfchriften unterdrüdt. Andere find durch die Genfur
zu Grunde gegangen. Unb mir menigftens ift keine heutige deutfche
Zeitung bekannt, welche, ich will nicht fagen mit der im beutfcdhen
Meiche ftets möglichen Freimüthigkeit, ettwa gar ‘mit der Kraft ber
allgemeinen deutfhen Bibiiothek oder "des bekanntlich ebenfo
derb gegen „beutfche Hundsdemuth” und „Staatslakeiengefinnung”
als gegen die Eünden der Höfe kümpfenden Moferifchen patrios
tifhen Archivs oder bee Schläzerifhen Staatsanzeigen,
der Poffeltfhen Annalen und dee Gensgifhen Berliner
Monatsfhrift, nein, welche aud nur in mildem Tone noch bie
Gebrechen und Mißgriffe in der Verwaltung ber allgemeinen unb
befonderen beutfchen, vnterländifchen Angelegenheiten aufdedte und
rügte. Wohl aber vernehmen mir häufig in deutſchen Zeitungen ſolche,
fonft gewoͤhnlich den gefunfenften Zuftänden eigenthümliche, unwuͤrdig
ſchmeichleriſche und unmaͤnnlich fi) mwindende, kurz in jedem Wort
den Polizeiſtempel der Cenſur an ſich tragende Aeußerungen, daß
wir, auch abgeſehen von den ſonſtigen politiſchen Gefahren der Un⸗
terdruͤckung der Preßfreiheit, bei dem Gedanken an bie freien Natios
nen des Auslandes ebenſowenig die Roͤthe der Schaam, als bei dem
Gedanken an das Vaterland die Furcht vor allmaͤliger Entwuͤrdigung
des Nationalcharakters unterdruͤcken koͤnnen.
Selbſt auch noch die beſtgemeinteſten Wahrheiten umhuͤllen ſich
meiſt — wie es ſcheint, um den Cenſurpaß zu erhalten — ſo ſehr
mit ihrem Gegentheil, theilen ihr Licht ſo ſchief und ſo nebelkalt mit,
daß ſie nichts wirken. Es ſcheint nun einmal ein Cenſurprincip zu
ſein, daß, kraͤftig und gerade zu reden, wie die freien und tuͤchtigen
Maͤnner von Athen und Rom und London, und vollends auf Herz
und Geſinnung zu wirken, in Deutſchtand nicht legitim, daß es
„leidenfhaftlich” fei. Das Sahrtaufende alte Chineſiſche Lied *)
„vom mädtigen Kranken”, „den verwöhnt mit Honigtraͤnken jeder
aſchmeichleriſche Wicht“ und der ſeinen Arzt beordert: „gib mir nichts,
„was mir nicht ſtehet an:“ zu welchem daher Niemand darf „das
„Wort, das herbe, ſprechen, welches helfen kann“, oder nicht darf
„reinen Wein einſchenken“, ſchließt mit dem ſchoͤnen Troſt für ben
armen Arzt: u j
„Willſt du, edler ſchmeichelnd, zwifhen °
„Honigfeim die Worte mifchen, |
„Trinkt ex fie mit ein — und fpürt fie nicht!“
? Shi: King Shinefithes kiederbuß, "efammert. von
Sonfucius, Aberfegtvon F. R
344 | Ceuſur der. Druckſchriften.
In bdiefer trockenen, hiſtoriſchen Darſtellung möge ſelbſt eine Mit⸗
theilung und Prüfung deſſen zur Seite bleiben, was in offen vor⸗
liegenden Schriften und Kammerverhandlungen in ben Jahren 1830
bis 32 wiederholt dieſem Preßzuftand und feiner Berfaffungsmäßigkeit
entgegengeftellt wurde. Ebenfo übergehen wir hierfelbft die bekannten
Einwendungen gegen feine Uebereinflimmung mit den Garlsbaber Bes
ſchluͤſſen, die den fpäteren Beſtimmungen zur Grundlage dienen unb
welche, laut Sffentlicher, bis jegt unmwiberfprochener Mittheilungen, nad)
der ausdrüdlichen Erkiärung der Verhandlungsprotokolle wie nad) ih⸗
rem Mortinhalt Eeine Regierung gegen ihre Ueberzeugung und ihre
Verfaffung zur Cenſur nöthigen wollten.
Pur noch die Angabe von zwei Thatfachen iſt zur richtigen‘ his
florifhen Auffaffung des europäifhen Preßzuſtandes unerlaͤßlich.
Hiſtoriſch unbeflreitbar fcheint e8 uns, daß nach den angegebenen
deutfchen Einrichtungen wirklich die deutſche Nation ebenfoweit, als fie
einft zu ihrem Ruhme in der fegensvollen Freiheit geiftiger Mittheis
lung faft allen gebildeten Völkern der Erde voranftand, ihnen und ih»
vem eignen frühern Zuftand jegt nachfteht. Oder fanden fi je in
Deutſchland, und wo finden ſich anderwaͤrts ſolche zahlreiche Zwangs⸗
und Unterdruͤckungsmittel gegen die preßfreie Mittheilung ? Vielmehr
erfreuen ſich bereits der Preßfreiheit ohne alle Cenſur die drei
nordiſchen Reiche Schweden, Norwegen und Daͤnemark, wie
bie drei britifhen Reiche England, Schottland und Irland,
erner Holland, Belgien und die Schweiz, Frankreich,
ortugal und fo gut wie gänzlich jest ſchon Spanien, ja bie
tonifhen Infeln und Griechenland, alle Staaten von Rorbs
und Suͤdamerika, ganz breitifh Oſtindien und alle britis
fhen Colonien in allen Welttheilen. .Sie freuen fih des
freien Gebrauchs des herrlichften Organs geiftiger Mittheilung, wels
ches fammt fo vielen andern ihm felbft und der geiftigen Cultur dies
nenden Mitteln, wie namentlicy das Linnenpapier, bie Holzſchneide⸗
und Steindruckerkunſt, deutſcher Geiſt und Fleiß der Welt ſchenkte.
Sie alle erfreuen mit Stolz ſich ber Preßfreiheit, während durch ein
ſicher beachtenswerthes hiftorifches Mißverhaͤltniß die bildung⸗ und freis
heitliebende, treue dDeutfche Nation gerade nach jenen verheißungs>
vollen Befreiungstämpfen, in welchen fie ihre Megierungen und bie
europäifche Freiheit rettete, ſich fogar ihrer oben gefchilderten früheren
Freiheit wenn nicht unfähig und unwuͤrdig, doch jedenfalls verluftig
erklärt fieht.
Sügen wir jedoch zugleich hinzu: Der bezeichnete Zuſtand ift nur ale
ein ausnahmsweiſer, vorübergehender ober proviſoriſcher
erklaͤrt. So bezeichnen ihn ausdruͤcklich die Carlsbader Befchlüffe von
1819, welche wegen ber damals für wahr gehaltenen angeblich alls
gemeinen Verſchwoͤrungsplane zuerft nur auf fünf Jahre gegeben
waren. Sie wurden dann im Jahr 1824 und auch noch 1832 nur
für fo lange als fortheftehenb erflärt, bis ber Artikel 18 der Bun⸗
Genfur der Druckſchriften. 345
bedacte, alfo — die durch Bundesvertrag zugeficherte Preßfreiheit —
burd) ein bald möglich zu erlaffendes befinitives Bundespreßgeſetz vers
wirklicht wird. Dafür nun fcheint jego nach) 35 Fahren — wenn übers
haupt jemal® — die hinlänglihe Ruhe der Zeitverhältniffe gegeben.
Jenes Mißverhältniß zu der übrigen gebildeten Melt aber fcheint zu:
gleich die urfprünglichen Beweggründe des Rechts und ber Politid für
die urfprünglidye Anerkennung und Zuficherung auf das Acußerfte vers
ftärkt zu haben. Selbſt etwaige Beſorgniſſe neuer Etürme würden.
diefe Beweggründe nur vermehren, wenn es wahr ift, daß in ber
Gefahr die möglichfte freie VBegeifterung und Befeftigung bes Vers
trauens auf die volle und fürftliche Verwirklichung fürftliher Zufagen,.
fowie 1813 und 15, fo ſtets die Eraftigfte Schugmwehr ber Throne
Bilden.
II. Begriff und Wefen der Cenſur. Genfur ift befannts
lich der Gegenfüg der Preßfreiheit. Preßfreiheit im rechtlichen Sinne
oder als Recht beſteht nämlich darin, daß ich die Druderpreffe zur
Mittheilung und zur Vernehmung von Wahrheiten, Thatſachen und
Meinungen eben fo rechtlich) ungehindert nach meiner Weberzeugung
gebrauden kann, als Mund und Ohr für die mündliche Rede, als
für meine Zwecke und freien Bewegungen Arm und Fuß und jebed
beliebige Werkzeug. E3 muß alfo 1) im Allgemeinen das Mittheilen
und Bernehmen durch den Drud allen freien mündigen Staatsbürgern
freigelaffen bleiben. Es muß 2) auch hier nur gegen ben juriſtiſch
erweisbaren (alfo bereits zu Lage gebrachten) rechtswidrigen
Treiheitsgebrauh Zwang oder Beſchraͤnkung erlaubt fen. Es muß
$) derjenige, der zwangvoll in dem Gebrauche feiner Freiheit befchränkt
- wird, über die rechtliche Begründung, wie über die rechtlihen Grenzen.
der Beſchraͤnkung und über feine Beſchwerden wegen willkürlicher vers,
legender Ucherfchreitung derfelben..die Prüfung. und Entfcheidung ber
Gerichte, der Landftände und die üffentlihe Meinung der Nation zu
feinem Schutze anrufen Finnen. Kurz es muß Alles ganz ebenfo fein,
wie bei anderen Nechtö= oder Freiheitsbefchränkungen. u
Die Cenſur dagegen befteht darin, daß ber Staat 1) fhon im
Allgemeinen und zum Boraus und fortdauernd Allen -
alles freie Mittheilen und Vernehmen duch Drudfchriften verbies
tet (Mund und Ohr, Arm und Fuß zum Voraus feflelt) und nur
diejenigen Schriften und diejenigen Stellen in jeder Schrift mitzus
theilen und zu vernehmen jedesmal befonders erlaubt, welcht
eine von ihm niedergefegte Polizeibehörde nicht zu unterdrüden, fons
dern zu erlauben für gut findet; daß er dabei 2) auch keineswegs blos
den rechtsverletzen den Freiheitsgebrauch zum Voraus unterdrüdt,
fondern aud) das nad) des Genford Meinung angeblich Gefährliche,
Unanftändige, Unfittlihe u. f. w.; daß er 3) auch die gegen Mißbrauch
und Willkuͤr fchügende Prüfung und Entfcheidung ber Gerichte, ber
Stände, der öffentlihen Meinung Aber das Unterbrüdte und über bie
Gründe und Grenzen der Unterbrüdung ausfchließt, indem bie Unter
346 Genfur der Druckſchriften.
druͤckung ihrem ganzen Zweck nah im Dunkel vorgenommen wird
und im Dunkel bleiben foll. Klar ift es nun wohl, daß ſchon
nad) jedem einzelnen ber drei angegebenen Charaktere der Genfur ber
allgemeine Sprachgebrauch Recht bat, nad) welchem, ſoweit Genfur flatts
findet, die Preßfreiheit oder alles Recht freier Mittheilung und Ver⸗
nehmung des freien Austaufches der Wahrheiten und Meinungen burdy
die Preffe aufgehoben if. Diefes waͤre felbft alsdann ber Fall, wenn
die Genfur im Uebrigen eine noch forgfältigere Einrichtung, eine noch
mildere Geftalt hätte, als jemals irgendwo in der Well. Kann ja
body auch felbft einem Sklaven fein Here factifcy die größten Freihei⸗
ten geftatten, und dennoch fehlt demfelben alle rechtliche Frei»
beit gänzlich, er bleibt in vedjtlicher Hinficht volllommener Sklave,
wenn gegen die Beſchraͤnkung ihm feine Nechtshülfe zufteht.
Die Genfur aber zerftört zugleich auch das Recht auf Wahrs
bett, auf freies Denken oder auf Gedankenfreiheit, auf
freies Bilden und Wiffen, infofern diefes Alles von dem Mits
theilen und Vernehmen auf dem jett michtigften Wege, duch Druds
fhriften aller Art, abhängt. Das Recht zu dieſem Mittheilen und
Vernehmen felbft hat ja die Genfur aufgehoben, ja fie hat Denen,
welche fie handhaben und handhaben laffen, die durch Feine gerichtliche
und conftitutionelle Verantwortlichkeit befchräntte, alfo unbegrenzte Mög»
lichkeit, Bas heißt das abfolute Recht, gegeben, den Menfchen belies
bige und falfche Gedanken und Anfichten mitzutheilen. Und fofern
auch der Glaube, die Befinnungen und Handlungen von
den Gedanken und Anfichten beftimmt werden, hebt die Cenfur auch
ihre Freiheit auf, und hat die Gewalt, fie nach ihrem Belieben zu
beſtimmen. Friedrich der Große fagte (Oenvres posthumes
Thl. II, ©. 82.) in Beziehung auf das Recht der Könige: „Muͤßte
„man nicht verruͤckt fein, um fich emzubilden, die Menfchen hätten zu
‚einem ihres Gleichen gefagt: Wir erheben dich über uns, weil wir
„GSklaverei Lieben, und geben dir Gewalt, unfere Gedanken
„nah deinem Willen zu leiten? Sie haben vielmehr im Ges
„gentheile gefagt: Wir haben dich nöthig, um die Gefege aufrecht
„gu halten, welhen wir gehorhen wollen, um uns weiſe
„zu regieren, um uns zu vertheidigen. Webrigens aber fordern wit von
„Dir, daß Du unfere Freiheit achteſt.“ Es war alfo bei die
fr Anficht des großen Königs fehr confequent von ihm, daß er eine
für feine Zeit ungewöhnliche Drud: und Kefefreiheit einführt. Eine
Geſellſchaft von Witzlingen traf einft die Verabredung, daß ein Mann,
ber fich einen neuen grünen Mantel gekauft hatte, von den verfchies
benften Leuten, an den verfchiebenften Orten, fo oft wiederholt uͤber
bie ſchoͤne blaue Farbe deſſelben angerebet wurde, daß er ihn zulegt ganz
ernſtlich für blau hielt. Sollte wohl nicht wirklich, wenn einem Wolke, wenn
feiner heranwachfenden Jugend, auch felbft über Dinge, bie fie nicht mit
eignen Augen vor fi fehen und prüfen können, ſowie jenes grün
und blau, nur beflimmte, 5. B. alle der Freiheit und ihren Kreunden
Genfur der Druckſchriften. 847
ungünftige Ihatfachen und Meinungen, wahre und unwiderlegte false
fhe in täglichen Zeitungen, wie in allen andern Schriften mitgetheilt,
die entgegengefegten aber ausgefchloffen würden, die Anfichten, Mei⸗
nungen, Gedanken und Gefinnungen und Handlungen ber Mehrzahl
allmälig falfch und ganz anders beftimmt werden koͤnnen, als fie uns
ter der freien Prefie beftimmt morden wären? Hätten wohl die Spa⸗
nier ohne die Einführung der Genfur durch ihren Philipp IT. die Ans
fihten und Geſinnungs- und Handlungsmeife erhalten, von welchen
ein Theil derſelben erſt allmälig unter Einfluß freier Zeitungen und
Schriften, vorzuͤglich feit der franzöfifchen Invaſion, fich wieder feet
machte, welche fie aber drei Sahrhunderte hindurch zur Duldung, ja
zur eignen Unterftügung des EScheußlichften beftimmten? Hätten bie
Sranzofen ohne Unterdrüdung der Preffreiheit ihre fcheußlihen Mais
treffenregierungen und fpäter die Napoleonifche erbuldet und unterftügt
und Millionen ihrer Mitbürger und der Bürger anderer Nationen
felbft morden helfen? — Möchte ferner wohl Jemand behaupten, daß eine
juͤdiſche und roͤmiſche Staatscenfur die hriftlichen heiligen Schriften,
daß eine katholiſche Staatscenfur die Schriften der Meformatoren, vols
lends die futherifchen, erlaubt haben würde, daß unter damaliger Herr⸗
fhaft unferer heutigen Genfurgefege und Verbreitungsſtrafen jemals
Chriftentyum und Reformation oder die heiligften und wohlthaͤtigſten
Wahrheiten und Verbefferungen des Glaubens, der Gefinnungen,
Handlungen und Einrichtungen zur Herrfchaft gekommen wären, bie
die Vorfehung dem Menfchengefchlechte zu feiner Veredlung und Be⸗
gluͤckung geben wollte?
Geſetzt alſo auch, es konnten nicht wirklich ſo, wie wir glauben,
alle weſentlichen Gefahren der freien Preſſe durch fie felbſt und eine
gute Geſetzgebung befeitigt werben; gefest auch, fie würden nicht uns
gleich durch ihre guten Wirkungen und duch die Nachtheile und Ges
fahren der Genfur uͤberwogen, fo fcheint doch Zmeierlei die Genfur
fhon als ihrem Mefen nach verwerflic darzuftellen. Die etwaigen
Uebel der Preßfreiheit nämlich. werden fürs Erfte nicht verſchuldet
ducch die Negierung, fondern durch bie natürliche. und die rechtliche
Sceiheit, welhe Gott felbft und die Rehtsorbnung den
Menfhen verliehen. Die Regierung iſt nicht für fie, wohl
aber für die Mifbriuche, welche von der durch fie gegen biefe reis
heit beliebig gefchaffnen Genfur unzettrennlich find, verantwortlid,.
Der Regierungsftempel iſt denfelben aufgebrädt: Sobemn‘ aber fteht
aller Gebrauch und aller Mißbrauch der Preßfreiheit unter der allge⸗
meinen öffentlichen rechtlichen Controle und Verantwortlichkeit. Jeder
hat den allgemeinen rechtlichen Schug gegen den Mißbrauch, und bier
fer wird nicht zum Recht geftempelt. Anders bei den Ders
legungen durch die Genfur!
Nach diefen Gefihtspunften würbige man das zuvor Ausgefuͤhrte,
daß die Cenſureinrichtung ben Cenſoren (wenn mehrere Genſurbehoͤrden
einander uͤbergeordnet ſind, wenigſtens der oberſten) jene abſolute, gren⸗
g..—_— [| m.
348 Genfur der Drudicriften.
zenloſe, tm Dunkel auszuübende Gewalt giebt, bie Wahrheit und ihre
em̃ſtußreichſte Meittheilung und folgeweife die Sreiheit der Gedanken,
Gefinnungen und Handlungen und ihren Gebraudy zur Vervolllomms
nung und zum Schug bed Rechts zu unterdrüden, und, flatt ber
wahren und guten Gedanken und Gefinnungen, unwahre und böfe zu
befhügen und zu verbreiten, ein unbegrenztes Recht alfo zur Wahrs
beitäverfälfhung, zur Lüge, zur Unterdrüdung und zu jedem Boͤſen?
Die Cenfur giebt insbefondere aud wirklich die Gewalt, Recht
und freiheit und die weſentlichſten Schugmittel biefer und aller ans
dern Güter der Mitmenfchen zu zerflören und zwar ebenfo wohl ihre
Privatrechte wie bie Öffentlichen oder wie die ganze rechtliche Verfaſ⸗
fung. Der Staatsminifter Freiherr 8. von Mofer, der fcharf bes
obachtende, der in die geheime und oͤffentliche Geſchichte der deutſchen
Höfe und Länder eingemweihte praktifche Staatsmann, nannte die nas
tuͤrlich uncenſirte Schloͤ zer ſche Zeitfehrift, melde unermüdlich und
mit der ſtaͤrkſten Sprache bie taͤglich aus allen Therlen Deutſchlañds
ihm zugeſendeten Beſchwerden über oͤffentliches Unrecht und über Miß⸗
griffe der Regierungen und oͤffentlichen Behoͤrden zur Sprache brachte:
eines ber wichtigſten und fruchtbarſten Inſtitute für
„nen Schutz bes Rechts, für Beſtrafung und Verhinderung ges
„beimer und oͤffentlicher Gemwaltthaten” Er verlangte,
dag das deutſche Reich dem freimiüthigen derben DVerfaffer, „dem in
„Seiner Urt einzigen Wahrheitsprofeffor, der öffentlih und noch weit
„mehr im Stillen und VBerborgenen bereits unendlich viel Gus
„tes geftiftet, von dem eine Note oder ein Nöten oft
„mehr gewirkt babe, als die Bußpredigten ber Reichs⸗
ngerichte, die Vorftellungen der Collegien und bie Sup-
„pliten ber Landftände und Unterthanen, einen Roͤmer⸗
„monat alljührli als Belohnung zuerkenne”*). Die Genfur aber
machte diefem hoͤchſt mohlthätigen Werke ähnlich, wie hundert andern,
und wie ja felbft dem fegensreihen Nationalwerd, den Moferfhen
Dhantafien, ein Ende und ließ mie viele andere, welhe Deutfchs
Land fo wie England vor dreißigjaͤhrigen Erniedrigungen
und vor ber. Gefahr bes Untergangs, vor einer Reihe
won fpäteren Revolutionen und vor wie vielfahem Un
glüd hätten bewahren fönnen, gar niemals auffommen.
3a um gar nicht einmal. zu reden von ber Pflichtroidrigkeit der
Beamten, welche zu entdecken nach ber berühmten koͤnigl. preußifhen Ca⸗
binetsordre von 1804 nur allein die YPublicität das wird
fame Mittel ift, um nit zu reden von all den kleinen und großen,
verderblihen und bedrüdenden Maßregeln, von Juſtiz⸗ und: Kerker⸗
Meorden, von Beſtechungen und Vetrügereien, welche in der freien Preffe
ihre Eräftigfte Verhinderung finden und ohne fie oftmals auch unter
*, Mofers patriotiſches x io Bu AL ©. 547. Schloͤzere
Staatsanz Heft ee . a ar
Cenſur der Drudfchriften. 3498
dem beften, um mie viel leichter unter ben fchlimmen Regenten menſch⸗
licher Weife vorkommen, fo zerftört die Cenſur auch noch außerdem bie
weſentlichſten Schugmittel gegen große Gefahren der Bürger. Auf dem
Tegten babifchen Landtage 1835 erzählte, ohne irgend einen Widerſpruch
zu erfahren, der DVerfaffer diefer Zeilen folgendes Beiſpiel: „Bekannte
„lich enthielten vor einiger Zeit unfere Anzeigeblätter eine von dem
„Geſandten eines großen europäifchen Meiches ergangene Einlabung zur .
„Auswanderung in eine Provinz dieſes Meiched. Die Beamten hate
„ten diefe Einladung, welche fehr lodende Bedingungen enthielt,
„ihren Untergebenen befannt zu machen. Die Landleute aber konnten
„aber den Sinn diefer Bekanntmachung durch die Beamten der eiges
„nen Landesregierung leicht in Irrtum kommen. Die Regierung felbft
„und die Beamten, die fehr erflärlich eben nicht als abrathend auftreten
„konnten, ſchienen ihnen diefe Auswanderung im Gegenfaß anberes,
„öffentlich niemals vorgefchlagener Austwanderungen vorzugsmweife anzu⸗
„cathen, und außerordentlich Viele entfchloffen fi zu derfelben. Ih
„aber Hatte zufällig fehr genaue Nachrichten und Kenntniffe von den
„ganzen oͤrtlichen Verhältniffen, nad melchen ich mit Gewißheit ſa⸗
„gen Eonnte, daß dieſe Menfchen ins Unglüd gingen. Die Cenſur
„aber hinderte mich, meinen am Rande des Abgrundes ftehenden Mit⸗
„buͤrgern jene Mittheilungen zu machen, welche gewiß eine große Zahl
„von diefem Unternehmen abgehalten haben würden. Diefe Unglüd»
„lichen find jest wieder zuruͤckgekommen, beraubt eines großen Xheils
ihrer Samiliengenoffen, die der Tod hinraffte, und ganz von Vermoͤ⸗
„gen entblößt. Die Genfur hat diefe Leute in Tod und Elend geftürzt
„und — ich begehre nicht Schuld daran zu fein” *).
Jenes Verhältniß der Genfur aber für die ganze freie Verfaſſung
und für ihre fegensreiche Wirkung für den Thron und das Volk, follte
dieſes wohl noc des Beweiſes bedürfen? Wären etwa alle die Er—⸗
fabrungen und Urtheile englifcher, franzöfifcher und deutſcher
Staatsmänner, welche Prefßfreiheit für ben Lebensodem und bie we⸗
fentlihfte Garantie der Verfaſſung erklärten, welche bdiefelbe ohne
fie eine Zäufchung nannten und in ber Wahl zwifchen dem Parlas
ment und ber Preffteibeit letztere vorzuziehen erflärten — wäre alles
dieſes etwa aus der Luft gegriffene Echwärmerei? Wollte man mohl
an Schloͤzers Ausfpruch: „daß die ftändifche Verfaffung, ohne Publis
eität und Preßfreiheit, nur allzu leicht zur privilegieten Landesverrätherei
werde“, nicht blos die Derbheit des Ausdrucks tadeln, fondern ihr alle Wahre
heit ableugnen? Zwar gute, Eräftige Fuͤrſten können viel Gutes wirken, viel
Böfes abwenden. Aber könnten, wo die freie Preffe fehlt, nicht allzuleicht
Megenten getäufcht werden durch eigene oder fremde Hofeingebungen, durch
untreue Minifter und ihre Creaturen? Könnten fie nie auch felbft leiden
ſchaftlich verftimmt durch ftändifchen Widerſpruch, nun leicht von Höflingen
JVrotokolle ber badiſchen H, Kammer v. 1835. Heft VI.
350 Cenſur der Drudichriften,
auf Abwege geführt werden? Könnte etwa nie durch die Genfur nur die
Stimme der Schmähung gegen die felbftftändigen Wähler und Ges
wählten, nur Lobpreifung für die fervilen Werkzeuge dee mächtigen
Partei — laut, bald den Erfteren jebe Verfolgung oder Zurüdfegung,
den Lesteren jede Auszeihnung und oͤffentliche Gewalt zu Theil wers
ben, und fo, wo nicht Revolution eintritt, wie in England und Frank⸗
zeich, die angeblihe Volkswahl und die Verhandlung ber Volksvertreter
felbft zur Beförderung verfafjungswidriger Beſtrebungen dienen? Es
fei erlaubt, um auch bier das Allgemeine duch den Blick auf bas
Leben zu veranſchaulichen, noch eine Stelle aus der ſchon angeführten
öffentlichen Rede im Jahre 1835 anzuführen. Es traf fie ſowohl
bei dem öffentlichen Vortrage, als feitdem fie im Druͤck ganz Deutfchs
land vorliegt, Fein MWiderfpruh oder Zabel, vielmehr. wiederholt bag
Öffentliche Lob der Mifigung. Und ich. kann bei den nie verchehlten
Sefinnungen gegen das Land und die Regierung, die ich, bei aller
pflichtmäßigen Offenheit meiner Meinungsäußerung über einzelne Ver⸗
bältniffe, gegen keine andere im beutfchen Waterlande vertaufhe, viel
fiherer gegen Mißverſtaͤndniſſe, auf diefe vorübergegangenen und vors
übergehenden Zuftände bes eigenen Landes hinmweifen, als auf frembe.
Die Stelle lautet ©. 77 der officiellen Protokolle woͤrtlich folgenders
maßen:
„Als ich zum erſten Dat hier von der Preffreiheit fprach, fand Ich
„Ihre laute Zuſtimmung, da id) erflärte, dag die Mohlthaten der Vers
„faſſung nicht ins Leben getreten feien wegen des Mangels an Preß⸗
„freiheit, dag auf den Landtagen von 1825 und 1828 bei beinahe noch
„unveränderter Steuerlaft aus den Kriegsjahren her felbft aus der Mitte
„der Stände der Ruf nad) noch mehr Steuern ertönte, dag die allges
mmeine Mißachtung ber ganzen fländiihen Verfaſſung es bewirkte,
„Daß in vielen Zheilen unfered Landes unfere Bürger bewogen wers
„den Eonnten, um Aufhebung diefes, wie es fchien, werthlofen Snftis
„tuts zu bitten. Als im Jahre 1830 unfer jegiger Fürft bei feiner
ihronbefteigung erklärte, die Verfaſſung folle eine Wahrheit werben,
„als von da an zuerft factifh und nachher gefeglich durch das ganze Land
„die freie Sprache der Prefien ertönte, wie vortheilhaft veränderte fich
„ba nicht Alles in Eurzer Zeit! Und noch reihen von biefer glüdlichen
„Periode gute Reſte in unfere Zeit hinüber.”
„In biefen guten Zeiten ift unfere WVerfaffung dem Volke theuer
„geworden. Aber feitdem die Preßfreiheit unterdrudt ift, Hat Manches
„in den öffentlihen Angelegenheiten fichtbar wieder eine Wendung nad)
„jener traurigen Geftalt der Dinge hin genommen. Sa, wer wird es
„leugnen, daß bei einer Fortdauer biefes Zuſtandes auch jegt wieber
„Die Kammern der Stände In Mißachtung kommen, ja achtungsun⸗
„werth werden könnten? Erwaͤgen wir ferner, wie bie Unterdrüdung
„ber Preffe auf die öffentliche Demoralifation, auf jenes Gefindel der
„Angeber, Zwifchenträger und Speichelleder, wie fie auf die öffentliche
„Sicherheit und endlich auf das öffentliche Vertrauen einwirkt!“
[4
Genfur der Drudicriften. 351
Zugleich aber hat e8 wohl nunmehr bie reiffte Erfahrung beftds
gt, daß es tief im Wefen des Genfurinflituts und des
menfhlihen Verhaͤltniſſe liegt, daß bie. Genfur, ſelbſt bei dem bes
ften Willen der Regierungen und ber Cenforen, Miß
bräuche und bie größten Hemmungen der geiftigen, bürgerlihen und
politifchen Sreiheit begründet. Nur wegen des Dunkels, das. ihre Aus⸗
übung verhültt, und weil das Unterdrüdte und vollends das
sum Voraus von ihr Verhinderte niht zu Zage kommt,
kann man biefes überfehen. Wo und fobald aber nur irgend einmal
etwa in ftändifchen Verhandlungen auch nur zum Eleinften Theile der
Schleier gelüftet wurde, da wurden alle vechtlihen Männer von Staus
nen und von den fehmerzlichften Gefühlen ergriffen *). Hier mögen
nur noch die Erfahrungen von zwei Publiciften Plag finden, welche
noch Niemand einer ultraliberalen Schwärmerei befhuldigt hat. Zar
harid **), nachdem er die allgemeine Meinung ber Sachkundigen
ausgeführt hat, daß die Genfur dag Weſen der repräfentativen Mon»
archie und ihr Lebenselement, eine freie öffentliche Meinung , aufbebe,
bag man auf freie monarchiſche Verfaſſungen entweder überhaupt vers
sichten, oder die Freiheit der Preffe zum Grundgefeg berfeiben machen
müffe, daß aber gerade Zagblätter, Zeit und Flugfchriften mefentlich
bie Schwingfebern in den Flügeln der freien Preffe find, und baß,
wie Mohl ***) ſich ausdruͤckt, „bie ganze fländifche Verfaſſung durch
„Senfur ganz verborben, und in die härtefle, wenn fchon. formell ger
„ſetzliche Zwangsanſtalt verkehrt werden kann ;” fügt dann noch hinzu:
„Eine Genfur entmünbdigt bas Voll. Sie räumt einer befone
„deren Meinung bie Herrfhaft ein, weldhe nur der gemeinen
„Meinung gebührt. Man darf lächeln, wenn ein Cenſurgeſetz
„wegen der Achtung gepriefen wird, bie es für die Freiheit des geiftie
„gen Verkehrs an den Tag lege — bie Aufgabe, ein Genfurgefrg zu
„entwerfen, welches die Freiheit der Preffe nur auf ihre rechtlichen
„Bedingungen befchränkte, ift ihrem MWefen nah unauflöss
„bar. So gemiß das Urtheil über die Gefährlichkeit einer Schrift
„eine Wahrſcheinlichkeitsrechnung ift, fo gewiß muß ein je⸗
„des Genfurgefeg einer jeden Ausdehnung empfänglid, fein,
„welche man ihm geben will.” Zu biefem erften Grunde einer
unvermeidlich verlegenden, verberblihen Ausübung der Genfur
kommt der zweite, daß fhon die menfhlihe Natur und die menſch⸗
lichen Verhältniffe ganz unvermeidlich einen vielfältigen
großen Mißbrauch diefer fo abfolut grenzenlofen, ohne
alte vechtlihe Controle und Rechenſchaft insgeheim nach dem fub»
jectiven Meinen ausgeübten Gewalt begründen. Es ift biefeg
*) 3.8. auch bie citietm Protokolle S. 73. und Rote 12
=”) Bierzig Bücher vom Staate II, 349.
) Syſtem der Praͤventiv⸗Juſtiz ©. 198
352 Cenſur der Drudichriften.
bee Mißbrauch durch menſchliche und politifche Leidenſchaften, Einſei⸗
tigkeiten, Intereſſen, Verirrungen und Abhaͤngigkeiten der Cenſoren
und der ſie geheim beliebig inſtruirenden Maͤchtigen. Hierzu kommt
fuͤrs Dritte, daß die Regierungsorgane, die Miniſter und ihre Agen⸗
ten, gegenüber ben Vertheidigern der Volksrechte und Volksfreiheiten,
den Beſchwerdefuͤhrern gegen sffentlihe Mißbraͤuche, der Natur des
Sahe nah als parteiifch daftehen. Noch verderblicher wirkt
en vierter Umftand. Selbft die Regierung bes Pleinften
Schweizercantons bleibt jego unangefochten bei ber dort fogar
völlig fchrankenlofen Ausübung der Preßfreiheit in ihrem Gebiete,
weil die Preßfreiheit nun einmal grundgefeglih und
weil der fefte Wille der Regierung, fieniht aufzuger
ben, einmal angenommen iſt. Alle Genfurbehörben und ihre
‚Regierungen dagegen merden gegen bie Bürger und die Behörden -des
"eigenen Staates, gegen alle Potentaten und Gefandten ber Chriſten⸗
heit verantwortlich. Sie werden aber keineswegs wegen des—⸗
jenigen, mas fie ingeheim unterbrüden, fondern nur wegen al
fee unangenehmen Wahrheiten und Aeußerungen, die fie niht un:
terdrüden, verantwortlich gemaht und geplagt. Somird.
denn auch abermals jede Genfurbehärde der Natur ber Sache
nah partriifh gegen die Freiheit und bie Schriftſtel⸗—
ser. Sie iſt in jedem zweifelhaften Falle zur Unterdrüdung anges
wiefen, deshalb muß denn auch die Errichtung einer doppelten ober
einee Dbercenfurbehörde, wie fhon Mohl ausführt, die Hem⸗
mung und Unterdrüdung ber Cenſur nur gleihmäßig verſchaͤr—
fen, ftatt fie zu mildern.
Und bei diefem Allen follte niht taufendmal auch gegen
das Befte und Unfhuldigfte ber ficher vernichtende Streich
dem Mißbehngen und der Beſorgniß ſolcher Verantwortlichkeit und Pla⸗
gen vorgezogen oder durch jene andern Urſachen beſtimmt, es ſollte der
geiſtige Verkehr, es ſollten Wahrheit und Recht, Vervollkommnung und
Bildung unſeres Volks nicht ſelbſt von den Fremden, wie von inlaͤndi⸗
ſchen maͤchtigen Perſonen und Parteien abhaͤngig, die Cenſur nicht Gehuͤlfin
von Taͤuſchung und Unrecht werden müffen? Alle dieſe, wie die fruͤ⸗
ber erroähnten, unvermeidlichen Gefahren und‘ Uebel werden natürlich
nicht vermindert, fondern nur vermehrt, wenn ganze Schiffsladungen
byzantinifchen und alerandeinifhen Buchſtabenkrams, wenn farb- und
Eraftlofe oder die einfeitige Richtung der Cenſur unterftügende Werke
verkauft und geleſen werden. Wohl mit Recht konnte daher Mohl
(a. 0. D.) von dem gegen bie Genfur verbreiteten Haffe fagen: „Er muß
„von ber Leichtigkeit und Häufigkeit ber Mißbräuche oder von dem un«
„zertrennlichen Dafein fhäbdlicher Folgen herruͤhren. Dies ift denn
„auch der Fall. — Der geringere und minder fchädliche Theil der Miß—⸗
„braͤuche ift noch der, welcher aus bloßem Unverſtand oder aus übertries
„bener Aengftlichkeit des einzelnen Cenſors herrührt. Bedeutender und
„wirkiihh dem Umfange.nadh Faum zu ermeffen find die don
Genfur der Drudichriften. 853
„ber hoͤchſten Behörde felbft ausgehenden Migbräuche, wenn nämlich den
'„Senforen der Befehl ertheilt wird, niht nur Rechtsverleguns
„zen, fondern aud Wahrheiten, deren Belanntiwerdung der Regierung
„oder einzelnen mächtigen Perfonen unangenehm wäre, zu unterdrüden.
„In einem folchen Kalle ift es möglih, das Lautwerden jeder noch fo
„gerechten Klage Einzelner oder Aller zu unterbrüden. Jede belies
„bige Behauptung und Darftellung kann dagegen von der Regierung
„verbreitet werben, ohne daß fie eine Widerlegung bes Unterdruͤckten,
„eine Rechtfertigung der unfhuldig Angeklagten zu fürchten hätte. —
„Bei dem engen Zufamntenhang aller menſchlichen Kenntniffe und Ideen
„iſt fogar möglich, daß dem Anfcheine nad) weit entfernte Seiten des
„geiftigen Lebens ſchwer leiden unter der zundchft nur politifchen Gene
„ſur.“ Mohl führt dann ebenfalls die anerkannte Unmoͤglichkeit aus,
dieſe Mißbraͤuche durch die Cenſurgeſetze und Einrichtungen zu verhin⸗
dern, und faͤhrt fort: „Kurz, die Unzureichenheit dieſer Mittel faͤllt in die
„Augen und die Möglichkeit und Leichtigkeit des Mißbrauchs iſt im
„Weſen der Genfuranftalt felbft begründet, und die hieraus fich erge⸗
„bende Abneigung gegen biefelbe ebenfo gerechtfertigt ale unent-
„fernbar. Sobald Genfur in einem Lande eingeführt ift, find einzelne
„Beamte zu untrüglichen Richtern in allen Fragen Uber Staat, Kirche
„und felbft Wiffenfchaft ernannt und die Verhinderung alles geiftigen
Vorſchreitens ift in ihre Willkür geſtellt.“ |
IV. Rechtliche Würdigung ber Cenfur im Allgemeis
nen. Die Ueberzeugungen der Amerikaner, Engländer, Franzoſen
und anderer freier Völker, die faft einflimmige Ueberzeugung auch
unfrer beutfhen Staatsrechtöiehrer von dem Recht ber Einzelnen
und ber Völker auf freie geiſtige Mittheilung und von dem rechtes
verlegenden Charakter der Cenfur find bekannt. Blackſtone, ber .
erfte bettifche Rechtsgelehrte, drückt fich barhıber in feinem Com men⸗
tar über das englifche Recht (IV, 11.) mit feinem gefunden praktiſchen
Urtheile fo aus: „Die Preßfreiheit ift mit dem Wefen eines freien
„Staates auf das Innigſte verbunden. — Jeder freie Mann hat ein
„unbezweifeltes Recht, feine Gedanken dem Publicum vorzulegen, biefes
„verbieten, heißt die Kreiheit der Preſſe zerſtoͤren, alle Freiheit der Ges
„banken den Vorurtheilen und den MWillkürlichleiten eines einzigen
„Mannes anheimgeben. — Der einzige fcheinbare Grund für die Gens
„Sur, daß fie nothwendig ſei, dem täglichen Mißbrauche der Preſſe
„vorzubeugen, wird feiner ganzen Kraft beraubt, ba es zu Tage liegt,
„daß, bei gehöriger Handhabung der Gefehe, die Preſſe zu keinem
„verderblichen Zweck mißbraucht werden kann, ohne daß ber Miß—⸗
„btauch einer angemeſſenen Beſtrafung anheim faͤllt, wogegen ſie kei⸗
„nem guten Zweck dienen kann, waͤhrend ſie einem Aufſeher unterwor⸗
„fen iſt.“ Wir wollen nicht vielleicht irgendwo anſtoßen durch Mitthei⸗
lung der kraͤftigeren Stellen engliſcher und franzoͤſiſcher Staatsmaͤnner uͤber
Preßfreiheit und Cenſur und insbeſondere auch uͤber unfere deutſchen Zus
ſtaͤnde in dieſer Beziehung. Nur den mildeſten neueren Ausdruck der
Staats » Lexilon. III.. 23
354 Genfur der Druckſchriften.
britifchen Nationalüberzeugung über das Recht "auf völlig’ unbe:
ſchraͤnkte Preßfreiheit wollen wir mittheilen. In der am 7. Maͤrz
dieſes Jahres in der Altſtadt London unter Vorſitz des. Lord:
mayors gehaltenen oͤffentlichen Verſammlung uͤber Abſchaffung des Stem⸗
pels, in welcher ſpaͤter auf den Vorſchlag Hum e's und anderer libera⸗
ler Parlaments-Mitglieder noch weit kraͤftigere Beſchluͤſſe genehmigt
wurden, lauteten nach der Allg. Zeitung die beiden erſten vom Parla⸗
mentsmitgliede Grote vorgeſchlagenen, einſtimmig angenommenen Be⸗
ſchluͤſſe folgendermaßen: „Das Gluͤck, die Groͤße, die Guͤte der
„Regierung einer Nation haͤngen ab von der geiſtigen und morali⸗
„ſchen Tuͤchtigkeit und Einſicht der Nation. Alſo iſt jede Auflage auf
„die Mittel für die intellectuelle Entwickelung ein Act ber Unge⸗
„rechtigkeit, welhem man auf allen gefegmäßigen und
„onftituttonellen Wegen entgegentreten muß.” — „Die
„Taxe auf Zournale ift eine bdirecte Auflage auf die geiftige: Ausbil:
„bung, denn fie verhindert vorzüglich die mittleren und unteren Glaf-
„sen der Bevölkerung, fi fortlaufend zu unterrichten über das, mas
„in den zwei Däufern bed Parlaments und in den Gerichtshoͤfen
„vorgeht. Er beraubt dieſe Claſſen der genaueren Kenntniß über
„die auswärtigen und inneren Verhaͤltniſſe, welche für ein freies, ge⸗
„werbthaͤtiges und handelndes Voll unentbehrlih find. Denn fie
„machen fie fähig, ihre gefelfchaftlihen Pflichten zu erfüllen, ih⸗
„ver Induſtrie einen Auffhmwung und ihren Unternehmungen. die ih⸗
‚men felbft und dem Vaterlande heilfame Richtung zu geben.” Be⸗
reits am 6. Mai bei der Vorlage bes Budgets fegte der Kanzler der
Schatzkammer den Zeitungsftempel von 34 auf 1 Penny herab, und
erklärte: „er hoffe, daß biefe große Herabſetzung den gemünfchten Er⸗
„folg haben werde, die Verbreitung der sffentlichen Blätter und ihre-
„größere, ungehemmtere Circulation zu vermehren.” Für dieſen libe-
ralen Zweck wurde in dem fortfchreitenden England befanntlid auch
früher fhon das Poftporto für alle Zeitungen gänzlich
aufgehoben, auch felbft für die Zeitungen fremder Länder, fofern
die Regierungen der Iegteren fo, wie bereits Frankreich und Spanien,
auch die englifchen Zeitungen ohne Porto verbreiten.
Ein hochachtbarer Schriftfteller hat neulich eine Vereinbarkeit ber
Genfur mit dem Recht behauptet. Es that diefes Mohl, trog fei-
ner Bekämpfung berfelben. Wir würden nun biergegen. nicht ſtrei⸗
ten, wenn durch Genfur wirklich etwa auch das Recht ber Preßfreis
heit, fo wie Mohl ausdruͤcklich vorausfegt (S. 189.), nur
ganz auf dieſelbe Weiſe und unter denfelben rechtlichen
Bedingungen einer Beſchraͤnkung und Vernichtung unterwerfen würbe,
wie auch die anderen Rechte, wie Leben und Eigentbum oder bie pers
föntiche Freiheit der Bürger. Es gefchieht nämlich diefes theild all⸗
gemeinrechtlich nad den frengen rechtlihen Bedingungen wah⸗
ver Nothwehr, wahren Nothſtandes und der rechtlihen Ges
nugthuung und Strafe (f. oben Il.) Es finden anderntheils
Genfur der Drudichriften. 355
ausnahmemweife (ſ. Mohl ©. 26.) an ſich weniger mefentliche
Rechtsbeſchraͤnkungen aus dringenden Gründen finatspolizeirecht:
licher Sicherung ſtatt, jeboh nur auf den verfafjungsmäßigen We⸗
gen, alfo bei Aufopferung von Privats und Verfaffungsrechten nach
ſtaͤndiſch bewilligten Gefegen und unter dem verfaſſungsmaͤßigen
Schus der Gerichte, der Stände und ber öffentlihen Meinung gegen
den Mißbrauch und die Ueberfchreitung. DR oh insbeſondere fordert eben:
falls noch ausdruͤcklich für die rechtliche Möglichkeit folder Beſchraͤn⸗
tungen 1) daß der Nachtheil der Beſchraͤnkung in keinem Ver:
haͤltniß ſtehe zu ihrem Vortheil, 2) daß biefer Vortheil ein allge⸗
meiner und unzweifelhafter, und daß 3) das durch bie Be
ſchraͤnkung aufgehobene Recht ein verhältnißmdßtg unbedeu—
tendes ſei, daß auch 4) die Beſchraͤnkung ſtets auf den mit Erreie
hung des Zwecks irgend verträglichen geringften Umfang. zurüdgeführt
und daß fie 5) fomeit immer möglich nur gegen Entfchädigung zuge
fügt werde. Auch diefe rechtlichen Bedingungen aber widerlegen fchon
bie Nechtmäßtgkeit bleibender Genfur. Mit ihnen ift fiher nicht ver:
einbarlich eine bleibende gänzliche Aufhebung ganzer großer und
wichtiger Hauptfphären ber rechtlichen Freiheit, 3. B. ber pe
fönlihen Freiheit oder der Eigenthumsfreiheit, oder ber für alle Güter
und Rechte der Menſchheit fo unendlich wichtigen Preßfreiheit. Es
ift vollends unvereinbarlich eine defpotifche Zerftärung und Verfügung
ohne alle jenen rechtlichen Schuß gegen tyrannifchen Mißbrauch, eine
foihe Aufhebung, wobei, wie ja Mohl (S. 193 — 196.) ſelbſt
fagte, der Nachtheil jedenfalls ungleih „größer” und der verderb⸗
lichfte Mißbrauch wenigftens „das Siche rere“ ift, ja die nad) ihm '
fo hochwichtigen Rechte und das ganze geiftige Kortfchreiten der Ras
tion und die weientlichfte Garantie der ganzen Verfaffung „der Will:
tür unterwirft“. Wo aber biefes ift, wo alle rechtliche und vers
faffungsmäßige Controle und Verantwortlichkeit gegen diefe Willkür |
fehlt, da ift ja das ganze Recht felbft preisgegeben. Wollen aber Andere
blos mit den hohlen Phrafen der nothwendigen Verhinderung bes
Unrechte oder der Nothwendigkeit des Nichtgeftattens des freien Verkehrs
mit gefährlichen Sachen, die Cenſur ale Schuß gegen Mißbrauch der
Preßfreiheit, ja wohl gar ald Schu des vernünftigen Gebrauchs derſel⸗
ben mit dem Rechte und einer rechtlichen Preßfreiheit vereinbaren, fo
feien fie wenigftene confequent! Man erkläre es alsdann auch als mit
dem Recht und mit der rechtlichen perfönlichen und Eigenthumsfreiheit,
mit bem Recht, zu hören und zu fprechen, zu gehen, euer und Eifen
zu gebrauchen, vereinbarlich, wenn gegen biefe Rechte ebenfalle zur Ver⸗
binderung des Mißbrauchs, zur Werhinderung von Mord, Brand, Diebs
ſtahl, Majeftätsbeteidigung, Aufruhrſtiftung, eine Polizeibehörbe, die
gleiche allgemeine, grenzenlofe und unverantwortliche Gewalt
im Dunkel ausübt und mit ihr Perfon und. Eigenthum, Arm und
Bein, Ohr und Mund zum Voraus bei allen Bürgern in Beſchlag
nimmt, feffelt und nur diejenigen Bewegungen zulaßt, die jhr beſon⸗
L
356 Genfur der Drudichriften,
ders jedesmal zu geftatten beliebt! Oder man wage ed, Angefichts
des gebildeten Europa's auszufprechen: nur das Recht auf Preßfreiheit,
welche alle Völker, die fie kennen, als ihr heiligftes Ehrenrecht, ale ben
Schutz aller übrigen und als das wichtigfte Mittel auch ber mate⸗
riellen Vervolllommnung mit Gut und Blut vertheibigen, fel Aber
haupt oder für uns Deutfche fo unendlich viel fchlechter, als alle jene
materiellen Güter und anderen Freiheiten, baß man nur fie zum Box
aus vernichten dürfe, um bie etwaigen Mißbräuche beffer zu verhuͤten!
Alle folche feichte und gemeine Anfichten lagen Mohl fern. Aber .
er-fegt offenbar eine Genfur voraus, wie fie nirgends tft und ſein
Bann, und überfieht feine eigenen Bedingungen rechtlicher poltzeilio
her Beſchraͤnkungen, fo wie jenes Preisgeben aller rechtlichen Freiheit
der Preſſe an die rechtlich durchaus nicht controlicbare, nicht verantimorte
che Willkuͤr. Er täufcht ſich auch offenbar (©. 9. und 189. 190.),
wenn er fagt, die Genfur befchränfe nicht die rechtliche Freiheit, fonbern
nur die Rehtsverlegung, zu welcher Niemand ein Recht habe, da
fie doch) nicht blos ſtets auf nicht rechtsverlegende Mictheilungen
treffen foll, fondern da fie auch die ganze rechtliche Preßfreiheit
Aller, welche nie das Recht verlegten, zum Voraus feffelt, d.h. beſchraͤnkt
und verlegt, fie und „den geiftigen Kortfchritt der Willkuͤr preisgiebt”
(8. 193.). Mohl feibft aber erklärt, die freie Gedankenaͤußerung als
beiliged Urrecht.der Menfchen und als wefentlich für die freie Verfaſ⸗
fung. Er wirft zugleich nach dem Obigen auch die gewoͤhnlichen Taͤu⸗
ſchungen uͤber das praktiſche Weſen der Cenſur von ſich. Sein ge⸗
ſunder praktiſcher Verſtand mußte alſo auch, trotz jenes theoretiſchen ju⸗
riſtiſchen Irtthums, dringend rathen: „die ungleich gefaͤhrlichere und
nachtheiligere Cenſur“ der Preßfreiheit weichen zu laſſen.
Die Cenſur ober die Aufhebung der Preßfreiheit iſt nun aber In &
befonbere eine Verlegung der privatredhtlihen Freiheit,
1) meil fie mir das wichtigſte Recht der Mittheilung und Vernehmung
bee Wahrheit, der freien geiftigen und moralifhen Verbindung mit
meinen Mitmenfchen und der Foͤrderung meiner Zwecke durch biefelbe
zerftört und mich durch Unmwahrheit täufcht. Sie zerftört mir 2) das
wichtigfte WVertheidigungsmittel meiner Ehre und meiner übrigen Rechte,
felbft oft gegen die in der cenfirten Preſſe vorgebrachten furchtbarften
Angriffe und Verleumbungen *). Sie nimmt mir $) vorzüglich vers
mittelft der Unterdrüdung freier Tagblaͤtter, wie jene englifche Adreſſe
“ ausführte, die wichtigften Mittel zur Beförderung des Wohlftandes auf
dem Wege der Induftrie und des Handels, und ift vielfach auch unmits
teilbar oͤkonomiſch verlegend für einen fo wichtigen Verkehrszweig, wie
der literarifche tft, für feine Theilnehmer, Schriftfteller, Buchhändler,
Buchdruder. Auch biefes möge eine Stelle aus jener officiellen Rede
*) Merkwürbige Beifpiele in ber volllommenen und ganzen Preß
freipeit u. Th. Welder, ©. 37, ©. 102. und bie oben citirten Proto⸗
kolle ber babifken Kammer, ©. 75. 77. _
Genfur ber Drudichriften. 357
von 1835 wenigſtens theilweife veranfchaulichen. „Wenn“ (heißt es dort
©. 76.) „wenn der Herausgeber eines Blattes, wie bereits angeführt
wurde, ſich genöthigt fieht, oft drei= oder viermal ganze Blätter umbres
„hen zu laffen, weil auch der unfchulbigfte Artidel von dem Genfor uns
„barmberzig geftrichen oder verftüämmelt wird, wenn überhaupt ein folcher
„Redacteur vielleicht 40 Fl. für. einen geſtrichenen Auffag bezahlte, ja we⸗
„gen des Umbrechens noch dreifache Koften zu tragen hat, fo verliert er
„zuletzt felbft die Möglichkeit, das ganze ehrliche Gewerbe fortzufegen.
„Mitarbeiter, Druder und Verleger müffen auf den erlaubten Vortheil
„ihres Gewerbes verzichten, und fo kam es dahin, daß wir nicht ein einzis
ages freies Blatt mehr haben, welches die Klagen über Mifgriffe in der Vers
„waltung, die Beſchwerden der Unterthanen, die freimüthigen Wünfche
„und Bebürfnifie der Bürger ihren Mitbürgern ans Herz legen Tann.
„Denn man bei irgend einem andern Erwerbszweig, 3. B. bei einem
„Krämer, heute nicht für 40 Fl., fondern für 40 Kr. Stodfilhe, mor⸗
„gen für eben fo viel Geld Häringe, und übermorgen für denfelben Bes
„tag Spielfachen confisciren wollte, und man durch ſolche und ähnliche
‚Handlungen zulegt den Dann zwingen würde, fein ganzes Gewerbe aufe
„zugeben, fo weiß ich nicht, ob Sie biefes nicht für eine Beraubung und
„Tyrannei halten würden? Ich weiß aber auch nicht, ob irgendwo, ob
„etwa bei den Irokeſen Stodfifhe, Häringe und Spielfahen höher ftehen
„als Wahrheit und ihre Mittheilung, ob fie und ihre Verbreiter ein
„beiligeres Recht haben, als Schriftfteller, Druder und Verleger, die die
„Wahrheit ihren Mitbürgernmittheilen, ſich der Vertheidigung des Rechts
„und der Vervolllommnung ihrer Anftalten widmen. Doc, ich befinne
„mich: jene Irokeſen haben von der hochgebildeten amerikaniſchen Nation
„bie Einrichtung angenommen, als eines ber erften Inſtitute bei Begrüns
„sung ihrer Dörfer eine Druderpreffe zu errichten. Auch bei ihnen alfo
„würden bie Schriftfteller und ihr Eigenthum nicht unter dem Geringften
„und Werthlofeften ftehen, was die Gefellfchaft kennt.“
Die Cenſur und die Zerftörung ber Preßfreiheit, insbefondere bie
ber Zeit: und Slugfchriften über die täglichen Ereigniffe, aber ift nach
dem Bisherigen zugleich die größte Verlegung der ſtaats buͤr⸗
gerlihen oder politifhen Freiheit; dennals freier Bürger eines
freien Volks und feines politifchen Gemeinweſens habe ich 1) das heis
lige Recht, durch mechfelfeitige freie Mittheilungen auf allen rechtlichen
Wegen die vaterländifhen Verhältniffe kennen zu lernen, die
Wahrheit und die Meinungen meiner Mitbürger darüber anzuhören und
ihnen und der Regierung meine Erfahrungen, Anfichten und Wünfche
mitzutheilen, fo eine möglichft wahre, nicht eine verfälfchte öffentliche
Meinung zu vernehmen und bilden zu helfen. Sie verlegt aber nad) dem
Obigen audy 2) das Recht der Bürger auf Verwirklichung und Erhals
tung einer freien Verfaffung , weil diefelbe ohne Freiheit der äffentlichen
Meinung nicht befteht. Sie zerftört ferner dem Volk 3) das burchgreifendfte
Controls, Verhinderungss und Genugthuungsmittel gegen Verlegungen
und ſchlechte Maßregeln der Beamten und der Verwaltung, und buͤrdet
358 Genfur der Druckſchriften.
ihm viel groͤßere Laſten auf fuͤr eine nicht gute Verwaltung, als die
gute koſten wuͤrde. Vor ſechs Jahren fuͤhrte die ſchoͤn citirte Schrift
(&.72.) als eine Ate Verletzung ber Unterdruͤckung ber Preßfreiheit durch
die Cenfur noch das aus, daß ſie ehrenkraͤnkend fuͤr die durch ſie ent⸗
muͤndigte Nation und die durch ſie ebenfalls entmuͤndigten Schriftſteller
ſei. Ich will dieſen von ſo vielen Hunderten der edelſten deutſchen
Maͤnner ausgeführten Gedanken, dieſe ſicher einſtimmige Ueberzeugung
aller die Preßfreiheit befigenden Nationen hier nicht ausfuͤhren. Gewiß
aber ift ed, daß der Ausfchluß von berfelben ber beutichen Nation in
fehr erhöhtem Grade ſchmerzlich werden muß, je mehr allmälig faft alle
anderen freien und civilifieten Nationen biefer koͤſtlichſten Freiheit fich ers
freuen. Am fchmerzlichten aber müßte jedem Vaterlandsfreund alsbanın
diefe Ehrenkraͤnkung fein, wenn er überzeugt wäre, daß die Nation durch
diefelbe allmälig zugleich minder ehrenmwerth würde.
V. Politifhe Würdigung der Cenſur. 1) Die erfte
Stage ift natürlich hier bie, ob die Zerſtoͤrung des wichtigen und wohl⸗
thätigen Rechts der Preßfreiheit etwa politiſch nothwendig, ob fie alfo
unentbehrlich, unerfegbar und in ber That wirkſam iſt
für die Erhaltung der Religion und ber Sittlichfeit, der Majeſtaͤts⸗ und
: Bürgerehre, ber gefeglichen Orbnung und der Regierung für die Erhal⸗
“tung und Vermehrung der Seibfiftändigkeit, der Macht und Bluͤte ber
..
: Mationen? Wir müffen diefe Fragen mit Nein beantworten. Und
wir haben die Erfahrung auf unferer Seite. Waren und
find alle diefe Güter etwa mehr vorhanden und gegen die Gefahren und
Wechſel, die ftets alle menſchlichen Dinge bedrohen, ficherer verbürgt im
den Ländern und in den Zeiten, wo bie Genfur herrfchte, fo wie In ben
italienifchen Staaten oder fo wie früher in Portugal und Spa⸗
nien, oder fo wie 1792 und 1806 in Deutfchland und-in Preußen
oder 1830 in Hannover, Sahfen, Churheſſen, und fo wie
vor der Begründung wirklicher Preßfreiheit in Frankreich oder in
England? Oder find fie Eräftiger und verbürgter unter der Herr⸗
[haft der Preßfreiheit? Sind fie e8 nach jeder menſchlichen Berech⸗
nung und nad der eigenen Erfahrung und Ueberzgeugung
aller jegt preßfreien Nationen, welche doch früher auch bei ſich
felbft die Genfur und nun die Preßfreiheit und ihre Wirkungen beobach⸗
teten und fie jegt vergleichen können? - Sie find ed unter ber Herrfchaft
der freien Preſſe, fo erwidern diefe Nationen einftimmig und erfiären
bie Preßfreiheit für ihr heiligftes, Höchftes Gut, Und die deutfhen Hols
fleiner und Heffen:- Darmftädter und andere beutfche Volle: -
ftämme, die vor den carlsbader Beſchluͤſſen Feine Cenſur befaßen, ‚und
bie deutfhen Volkskammern flimmen ihnen bei. Die Ameri⸗
taner und Schweizer, bie Dänen und die Schweben und
Normeger bezeugen es uns zugleich, daß auch die Bundesverfaffungen,
daß auch Fleine Staaten, daß auch abfolut monarchifche Staaten vor:
trefflich bei der Preßfreiheit beſtanden. Welcher Staatsmann möchte
num wohl biergegen die Aufhebung der Preßfreiheit durch Genfur als
Genfur der Druckſchriften. 359
unzmeifelhbaft nothwendig behaupten? Welcher aber möchte
auch nur, im Zweifel über den guten oder böfen Erfolg, feiner Nation
. das. wichtigfte, heiligfte Recht freier Mitthellung' auf dem wichtigſten
Wege entziehen und dur ein fo außerſt gefährlihes Mittel,
wie die Genfur tft, erfegen ?
Freilich dad muß man zugeben — aber es iſt gerabe das befte Lob
für bie Preßfreiheit — Höflings: und Maitrefien » Regierungen und
Napoleonifher Sultaniemus, Ufurpatoren, eigenſuͤchtige ariftoßratifche
Factionen, ſchwache oder bem Ausland dienftbare Minifterien, fie müffen
nothwendig die Preßfreiheit fürchten, welche die Intereſſen ber Nation
fiegeeicd, zur Sprache bringt. Auch jeder Kaftengeift mag fie, die Ver:
breiterin der Gultur und Freiheit, haften, felbft auch ein vornehmer Ka-
ftengeift und Zunfteigennug mancher Beamten und Gelehrten, die mit
Hochmuth ober Eleinlihem Neid das Bold und auch Volksſchriftſteller
fi) erheben fehen und die einen täufchenden Nimbus höher halten als
die freie Schägung, welche vollends in Deutfchland mohlthätiger Beamten
thätigkeit und wahrer, würdiger und heilfamer Wiffenfchaft ftets bleiben
wird, auch bei der verbreitetften Aufklärung, ganz fo wie auch den fran⸗
zöfifchen Suriften neben ben Geſchwornen und ber politifchen Preßfrei⸗
beit. Aber mwohlwollende rechtmäßige Regierungen und tüchtige Minifter
brauchen nie vor der preßfreien Wahrheit zu zittern. Und nicht durch
die Preßfreiheit, fondern buch dag im Dunkel ihrer Unter:
druͤckung ſich durdy hundert geheime Candle einfchleichende Gift und
die Zäufhung über die wahre Volksftimmung oder dur
die Empörung über diefe Unterdrüdung entitanden die Revolutionen und
Thronentfegungen, namentlid, die boppelten und dreifachen gegen die
Stuarte und Bourbone, und felbft bie in Deutſchland.
Bielleicht möchten indeB Manche die Angriffe gegen den gegenmär:
tigen König der Franzoſen ber Preßfreiheit zur Laft legen. Doc)
Niemand hat fie hier beffer losgefprochen, ale felbft der Eingang des
Anklageacts gegen den ſchaͤndlichen Meuchelmoͤrder Fieshi. Er führte
aus, daß nach großen bürgerlihen Erſchuͤtterungen flets einzelne Mit:
glieder der befiegten Partei zuiegt in verzweifeinder Wuth zum Men:
chelmorde griffen und daß auf dieſem Wege die franzöfifhen Könige
Heincih IM. und Heinrid IV. duch Meuchelmoͤrder fielen.
Aber damals gab es ja Feine Preßfreiheit! Auch mag
man gerne zugeben, daß in Srankreidy nad) der furchtbaren Erſchuͤtte⸗
eung der Julirevolution, bei dem ben Nationalgefühlen fo vielfach wi⸗
derfprechenden Spftem der Regierungspolitit und bei den auf Leben und
Tod gegenübergeftellten Parteien zum Theile eine beifpiellofe Preßfrech⸗
heit flattfand. Aber fie tft ohne Genfur befeitigt. Auch in
Deutfchland veranlaßten allerdings die Erfchütterungen der Julirevolu⸗
tion und andere bekannte Urfachen einzelne, wenn auch mit den franzoͤ⸗
fifhen nie vergleichbare Mißbraͤuche der Preffe, vor Allem da, wo
fie keine gefeslihe Eriftenz und Regelung hatte und
großentheils aud) in Rändern, die unter der Cenfur ftanden.
360 | Genfur der Druckſchriften.
. Aber fie alle hätten noch leichter, als in Frankreich) und England, ohne
Cenſur vermieden und befeitigt werben Binnen. Und wer die Verhaͤlt⸗
niffe ganz Eennt, weiß auch, daß fie nicht die wirkliche Gefahr Ichufen,
fondern nur zeigten, ja felbft ihre Befiegung erleichterten. Mit vollſter
Ueberzeugung wiederhole ich eine frühere Hffentliche Ausführung *), daß
bie gefeglichen Liberalen und das freie Wort in biefer furdhtbaren
Krifis für ganz Europa, weit entfernt, bie Zerftörerin des Friedens im
Innern und in den dußeren Verhäitnifien zu fein, dbenfelben au
diesmal, wie fo oft [hon, erhielten. „Sie erhielten,‘ bie®
find die Worte jener Ausführung, „ben Frieden nicht blos dadurch und
„alsdbann, als fie duch ihre Gegenwirkung folche unglüdfelige - Regie
„rungsmaßregeln verhüteten, die zweimal die Stuarts und zweimal
„bie Bourbons vom Throne und auf das Schaffet brachten, im
„Portugal und Spanien jenen Defpotismus begründeten, wos
„von ebenfalls Revolution und Fürftenentthbronung
„ie legte Kolge war. Mein, die Liberalen und ihr freies Wort
„erhalten ftet und noch jest den Glauben an gefehlihe Drbnung.
„Ihr freies Streben ift es, welches der Meaction und Revolution in
„den Weg tritt. Darum werden die gemäßigten geſetzlichen Liberalen
„von beiden gehaßt. — Bekanntlich Hatte nicht die Preßfreiheit, fondern
„bie Anfeindung und Unterdrüdung derfelben die Revolutionen im
„Frankreich, Spanien, Portugal und Stalien erzeugt. Als
„nun-dort die Preßfreiheit aufs Neue ausgelöfcht war, als fie durch bie
„carlsbader Belhläffe au in Deutfhland, in Polen und der
„Schweiz beſchraͤnkt wurde, da entwidelte fi in bem Dunkel jenes
„Syſtem, das die europäifche Welt in zwei feindliche Lager theilte, ba
„entiwidelte fich jene neue Kataftrophe, welche die Bourbonen von dem
„franzoͤſiſchen Thron entfernte und Europa erfchütterte. " Was hat nun
„aber damals, als ganz Europa unter den Waffen Eirrte, als von beis
„den Seiten ſchon bie Hand zum Schwert zudte, was hat, frage ich,
„damals diefes Schwert in der Scheide gehalten? Man fagt, bie
„Weisheit der Zürften und der Cabinete. Alte fchuldige Achtung vor
„dieſen. Aber diefeiben Cabinete und Fürften haben früher, als ihr gan⸗
„3 Syſtem, als alle ihre Intereffen, als ihre Samilienverhättniffe kaum
„gend fo angegriffen und verlegt waren, wie durch bie neueften Ereigs
„niſſe, zu den Waffen gegriffen, und kein Menſch hat fle darum getas
„delt. Diefes Mal wurde aber ihre Weisheit befonders durch die Ers
„wägung beftimmt, daß, bei der überall ausgefprohenen wirklichen
„Sefinnung der Menfchen für Sceiheit, ein Kampf unter dem Panier
„des Abfolutismus gegen die Freiheit zw unfäglichem Unheil führen
„würde. So wiffen wir ja Alle, daß, als in Kolge der Julirevolution
„auch in Deutſchland nicht unter der Preßfreiheit, fondern bei ihrer Bes
„Ichränfung Unruhen ausbrachen, die Herftellung oder Begründung freier
„Berfaffungen und des freien Worts, wozu felbft Regierungen auffore
u.
°) Die I. citirte Kammerprotokolle ©. 65.
Cenſur der Drudigriften. 361
„derten, bie Bewegungen ftilfte, die bereits bier und dort ausgebrochen
„waren. Wir Alle erinnern uns noch mit Freude jener gluͤcklichen Zeit,
„wo in Baden das Wort frei war, wo zuerft eine factifhe, dann eine
„gefegliche Preßfreiheit im Lande herrſchte. Wir erinnern ung mit Freude,
„daß in dieſer Zeit und ehe noch das traurige Wort der Aufhebung uns
„ſeres Preßgeſetzes ansgeſprochen wurde, überall im Lande Gefeglichkeit,
„Treue gegen den Fürften und Liebe zur Ordnung ſich kund thaten.
„Blicken wir aber hin auf alle Völker Europa’s! ft es nicht überall
„gerade das freie Wort, das den Frieden begründete und auf bewuns
„dernswuͤrdige Weife den Frieden erhält? Sehen wir nad Belgien,
„auf eine Nation, lebhaft, reizbar und leicht beweglich, wie irgend eine
„andere. Dort, wo gerade die Bekämpfung des freien Worte und ber
„feeien Abftimmung von Seiten eines fonft hochachtbaren, ausgezeichne⸗
„ten Fuͤrſten Unruhe in die Gemuͤther pflanzte, in dieſem Staate, wel⸗
„cher auf dem Vulkan einer Revolution, wo der Thron und die buͤrger⸗
„liche Ordnung auf Volksſouverainetaͤt gegruͤndet ſind, herrſcht die unbe⸗
aAſchraͤnkteſte Preßfreiheit, ohne daß die Regierung auch nur einen einzi⸗
„gen Preßproceß geführt bat. Dort aber herrſcht Geſetzlichkeit und Ans
„bänglichkeit an den Monachen. Bon Frankreich hat es ber gemiß
„sehr fachverftändige und mwohlunterrichtete Dann, der feit vielen Jahren
„die parifer Berichte in die carlsruher Zeitung liefert, wohl ſchon
„zehnmal gefagt, daß e8 die Preßfreiheit ift, die den neuen Thron erhält,
„und noch neulich fprady es die allgemeine Zeitung vom 23. Juni aus.
„Sie fagt: ,„, „sn keinem Lande der Erbe und gegen feinen Fürften ſah
„„man je tedere und ftärkere Angriffe, al gegen den neuen König von
„„Frankreich, und dieſer Kampf, weit entfernt, feine Bedeutung und
„„Kraft zu ſchwaͤchen, ift vielmehr die Folie feines Glanzes. Die paris
„„ſer Bürger, die Bürger in Frankreich zum größeren Theile, glauben
„„ihn um fo mehr beroundern zu müffen, je ungerechter und plumper
„feine Feinde ihn angreifen.”” Es hat fi) auf diefe Weife durch bie
„Preßfreiheit in Frankreich jene gefunde Organifation des Staatskoͤrpers
„gebildet, in welcher die Nation in ihrer Gefammtheit fich untereinander
„beipricht und verftändigt, fo, daß es jegt endlih auch dort, eben
„[o wie in England, weder einer tyrannifhen Saction,
„noch einer revolutionairen Partei möglich ift, das Volk
„indenStrudelder Revolution odberindieKnehtfhaft der
„Tprannei zurüdzumerfen. Die Preßfreiheit ift das Ei des Go»
„lumbus für die große Frage der Vereinigung der Freiheit mit dem
„Frieden und ber bürgerlihen Ordnung. Die Preßfreit ift es,
„weiche zur Entwidelung der Cultur und Freiheit auf friedlich em und
„gefeglihem Wege führt, und ihre Unterdrüdung ift es, welche
‚Die Tyrannei und die Nevolution hervorbringe. Werfen wir ferner
„nen Bid auf Portugal, auf einen Zuftand, mo die Sactionen eben
„noch in blutigem Bürgerkrieg einander gegenüberflanden und mo eine
„totale Aenderung des gefellfchaftlichen Zuftandes ftattfand, wie es Ruhe
„und Frieden in dem Befig feiner volllommenen Preßfreiheit genießt.
„Daſſelbe fehen wir auch in England, Norwegen und Schwer.
362 Genfur ber Drudicriften.
„ben und In allen andern civilifitten Ländern von Europa, bie frü-
„ber oder fpäter des Genuſſes der Prepfreiheit theilhaftig waren. So
„wird alfo auch wohl die große deutſche Nation bie Freiheit der
„Preſſe verdienen und ertragen. — Es wirb auch bei ihr, ebenfo wie
„in dem Bundesflaat von Amerila und noch jest in dem unter
„H“errſchaft ber Preßſklaverei revolutionirten, im Schug
„Der Preßfreiheit fih berubigenden unb ordnenden
„Schweizerbunde und ebenfo wie einft in der holländifchen Republik,
„das Bundesband das nationale Vereinigungsband der
„verfchiedenen Staaten duch den Austaufh und die
„Beförderung der Mittbeilung der Ideen, buch bie
„wechfelfeitige Verftändigung beträftigt und keineswegs
„ber Triebe des Bundes geftört werden. — Nur die Reactionnire,
„die Unterdrüder der Freiheit alfo find es, welche mit ber Freiheit
„zugleich den Frieden und die Sicherheit ber Throne zernichten. Sie
„haben es überall gethan und würden es, wenn ihnen die Derrfchafe
„gegönnt würde, auch wieder bei uns thun. Selbft die gewiß recht:
„lichen, humanen und mwohlmollenden Gefinnungen fo vieler deutfchen
„Fuͤrſten und ihrer Mäthe, felbft die jegige Richtung auf bie mates
„riellen Verhältniffe werden alfo die Deutfchen nicht verhindern dürfen,
„ihre Forderung wahrer Freiheit immer aufs Neue laut werden zu
„laffen. Ja es würden gerade biefe Beftrebungen, an der materiellen,
„großen Entwidelung der heutigen Welt Theil zu nehmen, den Gegen-
„ſatz des Zuftandes von Deutfchland zu dem der andern civilifirten
„Nationen zulegt unerträglich mahen. Wir würden mit ihnen nicht
„fortfchreiten können in der freien und Eräftigen allgemeinen Entwide-
„lung. Es ift bierduch ein eben fo großer Widerſpruch begründet,
„als es ein an ſich fchon durchaus nicht haltbarer Widerſpruch ift, daß
„mon bei ung, in ber Mitte einer fchnellen Entmwidelung der induſtriel⸗
„sen Gultur und der Gommunicationsmittel die Freiheit der Mittheis
„ung der Erfahrungen und Gedanken erfchwert. Wie, wir follen
„uns mit der Schnelligkeit des Vogelflugs in wenig Stunden und
„Zagen in Dampfihiffen und auf Eifenbahnen von Norden nad
„Süden bewegen, aber durdy eine geiftige Mauth gehindert fein, un=
„fere Wahrnehmungen und Gedanken einander zuzubringen und mit:
„utheilen!“
Es iſt insbeſondere auch gewiß, daß, falls man die mannichfa⸗
hen und bedeutenden Vorbeugungs- und Unterdrüdungs-
Mittel gegen Mißbräuche der Preßfreiheit bei den preßfreien Na⸗
tionen, darunter natürlih vor Allem die allmäligen, immer
geößer werdenden guten Wirkungen ber freien Preſſe felbft, noch
nicht für genägend hielte, man fie noch fehr verſtaͤrken und vermch-
ven Eönnte, ohne bie jedenfalls vechtöverlegenden und verderblichen
Mipbräuche der Cenfur einzuführen, fo dag die letztere alfo wirklich
erfegbar ifl. Es wäre zuiegt feibft bie in Churheffen von der
Regierung vorgefhlagene Einrichtung, daß gleichzeitig mit dem Aus:
, Genjur der Drudicdriften. 363
geben der Drudfchrift die Behörde die Möglichkeit erhält, biefelbe
einzufehen und nöthigenfalls mit Beſchlag zu belegen, wenn biefe
Beichlagnahme alsbald gerichtlich duch Nachweifung einer Gefegver:
legung gerechtfertigt oder nöthigenfals durch öffentliche Entfhädigung
vergütet würde, der Cenſur unendlich vorzuziehen und in hohem
Grade jedem wahren Mifbrauhe der Preßfreiheit vorbeugend.
Bielleiht möchte Jemand fagen, man Sinne auch die Genfur
menigftens eines Theiles ihres verlegenden Charakters berauben, wenn
die Genfurbehörden zur Hälfte jevesmal von den Lanbfländen mit er⸗
nannt würden. Es würden dann doch nicht mehr die cenfirten Zei:
tungen für bie gerade gegenwärtigen Minifter und minifteriellen Plane
und gegen alle liberalen Ständemitgliedber und Bürger und ihre ehr⸗
lichften patriotifhen Beſtrebungen parteiifch, gegen bie erften fchmeich-
lerifch, gegen die andern fchmähend und die Gegenrede und bie öfs
fentlihe Wahrheit unterdrüdend fic zeigen innen. Beſſer, weniger
veriegend als die jegigen Genfureinrihtungen ſchon der Form nad)
find, möchte freilich diefe fein. Aber was buͤrgt bafür, daß bei ent:
zogener Preffreiheit nicht die angeblichen Volkswahlen und Volks⸗
fammern, alfo auch ihre Genforenwahlen von Miniftern ebenfo bes
herrſcht und verfälfcht würden, wie durch ihre Genfur die Wahrheit
ſelbſt? Ich aber möchte, wenn ich ander meine individuelle Uebers
zeugung ausfprechen darf, um keinen Preis der Erbe zu irgend einer
Einrihtung rathen und mitwirken, die, wenn vielleiht aud aus
ben beiten Motiven, meinen Mitbürgern das heiligfte aller Mechte,
das der freien Wahrheit und ihrer Mittheilung, durch irgend eine
Cenfur raubte.
Daß aber auch die Genfur bei allem Nachtheil für diejenigen
Zwecke derfelben, die man ehrlicherweife anführen kann, nicht wirt
fam ift, das ergiebt fi wohl ſchon aus den großen Gefahren, die
fie felbft erzeugt, und vollends aus den heutigen Culturverhältniffen
Deutfchlande und Europas. Mur fchaden, nicht fügen kann fie jetzt.
2) Die zweite Meihe der politifchen Gründe gegen bie Genfur
ergiebt fi) aus den erfahrungsmäßigen Vortheilen ber Preffreiheit und
vorzüglich der Tag⸗ und Flugblaͤtter für die äffentlihe Sitte (ſ.
Genfur als BSittengericht), für die geiflige, für die mercantis
liſche und oͤkonomiſche und politifhe Bildung, Entwidelung und Vers
volllommnung, für den Schug der Verfaſſung und aller Rechte und
gegen verkehrte Beamtens und Verwaltungsmaßregeln. Mehrere ans
dere Hauptgründe gegen bie Genfur hat namentlih auch Mohl fehr
gut hervorgehoben. ,
3) Sie begründet nämlich eine fehr fatale moralifche und politis
ſche „Berantwortlichkeit der Regierung für das Gedruckte mit vielfa-
chen Verlegenheiten und Verwickelungen“ vorzüglich gegen das Aus⸗
land, während im Inlande auch felbft nur ein falfcher Schein, den
die Cenſur auf den Muth und das gute Gewiſſen und die Abſich⸗
564 Genfur der Drudichriften. |
ten der Verwaltung gerade bei bem Volke fo leicht wirft, ſehr nach⸗
theilig wirken kann. |
4) „Es wird ferner, wie Mohl ausführt, „ber Regierung fehr
„ſchwer, ſolchen Bekanntmachungen, welche zu ihrer Rechtfertigung
„dienen, ihr Verfahren in das richtige, guͤnſtige Licht fegen oder uns
„gerechte Angriffe von Gegnern widerlegen, irgend einen Glauben bei
„dem Publicum zu verfchaffen. — Klar ift es, daß fih in einem
„Lande mit Cenſur aud für die Regierung und gegen
„ihre inneren und aͤußeren Feinde nur weit ſchweret
„eine kräftige, äffentlihe Meinung bilden kann, auf
„weiche fte fih, namentlih im Falle der Noth, fügen
„Kann. Alles zu ihrem Lobe Gefagte erfcheint als balbofficielle
„Selbſtſchmeichelei, und nicht leicht wird ein adhtbarer,
„Feeiwilliger Kämpfer für fie auftreten, da fein Gegner zum
„Voraus in Feſſeln liegt und alfo fein Auftreten als eine fehr wohls
„feile Tapferkeit, wo nicht ale bezahlte Kiopffechterei, erfcheint.” „Geis
fige Stagnation und Mißtrauen und Mangel an politifcher Bil⸗
dung” bezeichnet dabei Mohl als „wefentlihe Folgen ber
Genfur”.
5) „Bon felbft” (fo fährt Mohl fort) „von felbft leuchtet eim,
„daß die Genfur dem Staatsoberhaupte und den hoͤchſten Stellen eine -
„Menge unfhägbarer Machrichten über einzelne Vorfälle, über das
„Betragen von Beamten, über die Wünfche und die Stimmung bes
„Volks vorenthält. Man maht entweder gar keinen Verſuch, ſolche
„Dinge bekannt zu machen, oder der Verſuch mißlingt an bes Cenſors
„Aengftlichkeit. Erleidet e8 nun fehon feinen Zweifel, dag unter dem
„von einer freien Preffe vorgetragenen Klagen viel Webertriebenes oder
„ganz Unmahres fich befindet, fo ift doch ebenfalls wahr, daß eine ſchlim⸗
„me Nachricht und die wirkliche Stimmung der Bürger nicht früh
„genug in Erfahrung gebracht werden Eönnen, daß dies aber durch
„die Genfur in vielen Faͤllen gehindert wird. Ueberdies ift es gefaͤhr⸗
„lich, gerechte Klagen des Wolke nicht laut werden zu laſſen; viels
„leicht entfleht mit einem Male eine den Staat mehr oder weniger er»
„[hütternde Erplofion, während die freie Preſſe als Sicherheitsdentil
„gedient hätte, indem für die meiften Menſchen das Lautwerdenlaffen
„ihrer Klagen eine beruhigende Wirkung hat.”
6) „Rechnet man” (fo ſchließt Mohl) „zu allen biefen Nach
„theilen noch den fittlihen Schaden, welchen menigftens gegenwärtig
„bei den politifch vorgefchrittenen Völkern der Staat durch bie Vers
„meigerung der freien Preffe erleidet, indem er fi) dadurch "einem
„ziemlich allgemeinen und wiederholt mit größter Leidenſchaftlichkeit
„ausgefprochenen Volkswunſche entgegenfegt und der aufgeregten Menge
„fomit als eine felbftfüchtige Zmangsanftalt, nicht aber als eine ſaͤmmt⸗
Aiche Rechte möglichft verwirkiichende, mwohlthitige Einrichtung erfcheint,
„fo ſtellt ſich die Aufhebung der Genfur als das kleinere Uebel bar.
„— — Allerdings darf fi bie Megierung nicht verbeblen, daß
- Genfur der Drudichriften. 365
nient überwiegende Intelligenz auch in Führung des öffentlichen Msn
„tes für fie nöchig iſt. — Allein die Erfahrung bat ges
„zeigt, daß Kraft und Talent auch ohne die Hülfe der Genfur dag
„Steuerruder zu führen im Stande find.”
7) Doch was jeden Zweifel uͤberwindet, bleibt für den gewiſſenhaß
ten Mann zulegt ftets nicht die rein politifhe Erwägung ber Bow
theile und Nachtheile, fondern das, daß eine regelmäßige Vernichtung
ber Freiheit der Preffe ober ber Wahrheit zugleih — irrten wir nicht — |
die Moral und das Recht verlegen. Gott felbft gab dem Men
ſchen geſchlecht die Freiheit, wenn ſchon In ihrem Weſen die Mögliche
keit auch zum Mißbrauche liegt, wenn auch ber gute Same nicht
ohne Möglichkeit des Unkrauts gedeihen kann. Er gab ihm bas
freie Streben nad Wahrheit und Vervollkommnung und Allen
die Pflicht, ihre und ihrer Mitbürger Freiheit als ihr heiligftes Gut,
als ihre Mecht zu vertheidigen. Und Niemand foll fie feinen Mitbruͤ⸗
dern rauben. '
Und hier gerade Tiegt auch wieder die größte politifche Gefahr
noch längerer Verweigerung bes heiligen, durch Vernunft und Natur,
burdy gutes Recht und fürftliches Wort der deutſchen Nation zuſtehen⸗
den Rechts. Noch mehr felbft, wie der Widerſpruch der Prepfreiheit
der übrigen civilificten Nationen und bes Ausfchluffes der deutfchen,
unb wie ber Miderfpruc, der Unterdrüdung der Preßfreiheit mit una
fern heutigen politifhen, induſtriellen und - Verkehrs s Verhältniffen,
MWiderfpruh mit Moral und Recht kann bei der deutfhen Nation
niht dauern. '
Bei einer Erwähnung von Gefahren aber werden tüchtige und
wahrhaft monarchifch gefinnte und treue Etaatsmäriner nicht blos an
die Gefahr in friedlichen Zeiten und für den naͤchſten Tag oder für
eine Minifterlaufbahn und für die Lebensdauer ihres jetzt regierenden
Fürften, fondern, mie dieſer felbft, vor Allem auh an die Gefahren
und die Eicherftellung feines Fürftenhaufes, an die Gefahren für
Ehre und Kraft feines Volks und feines Throns in jeder Lage denken.
Sie werden mit Indignation einen neuerlich laut gemworbenen, politis
fhen Rath: im Bundesverhaͤltniß mehr gegen die Volksfreiheit zu
wagen, als es bei einer Stantseinheit der Nation möglich fei, „weil
der Unmille des Volks ſich vertheile”, als nicht blos moraliſch,
fondern auch politifch verwerflich abweiſen. Sahen wir es doch 1805,
1806 und 1813 bereits deutlich genug, daß auch für "die mädhtigften
deutfhen Volksſtaͤmme die Bruderliebe und nationale Begeiſterung
der Eeineren Lebensbedingung iſt. Was aber in jeder neuen europäls
ſchen Entwidelung und Ktife, nah allen Seiten hin, die kleinern
beutfhen Staaten nur allein fhügen Tann, das bedarf wahrlich mei⸗
ner Ausführung nit.
In dem bezeichneten Sinne die Gefahr auffaffend und bie eigen.
thümlichen Verhältniffe der deutfchen Staaten erwägend, bitte ih um -
Erkaubnif, zur Unterftügung bes ehrlichſten und treuften patriotifchen
366 Genfus.
Wunfches, unfere hohen beutfchen Fuͤrſten möchten alsbald jene außer:
ordentlichen, vorübergehenden Beſchraͤnkungen der. Preffe mit ber Vers
wirklichung ihrer im Art. 18 und in den Landesverfaffungen zuge:
fagten Freiheit vertaufchen, noch die Worte hinzuzufügen, mit welchen
die mehrerwähnte Öffentlihe Ausführung von 1835 ſchloß:
„Mit Demjenigen, der diefe Gefahren nicht einfehen und bie
Möglichkeit nicht zugeben wollte, daß fie eintreten koͤnnen, mag idy
„mich nicht weiter verfländigen. Halte man mid aber darum nicht
„für fo ängftlich, daß id) glaubte, die Kreiheit werde zulekt zu Grunde
gehen, und daß ich in diefer Beziehung übertriebene Beſorgniſſe hegte.
„Rein, fo gewiß ich zur Zeit bes Mheinbundes überzeugt war, daß
„dieſer Defpotismus ftürzen werde, fo gewiß ich überzeugt war, baß
„die durch fremde Bayonette eingeführte Neftauration in Frankreich
„ſich nicht halten und die unterdrücdte Freiheit in Spanien unb Por⸗
„tugal nicht ewig im Staube liegen werde, fo gewiß meiß ih auch,
„daß die Sreiheit in unferm großen beutfchen Vaterlande fiegen werde.
„Aber wird fie fo, mie alle Guten wünfchen, fiegen auf dem Wege
„der ruhigen Entwidelung und mit dem feften Beſtand unferer Fürften-
„bäufer, oder aber auf dem ftürmifchen Wege der blutigen Revolution,
„oder auf dem noch ungluͤcklichern der Einmifhung ber Auswärtigen ? ‘
„Wird fie fiegen auf dem Wege der Reform, wozu bie Preßs
„freiheit den Weg bahnt, ober auf dem Wege der Um:
waͤlzung, wohin die Unterdrädung der Wahrheit führt?
„das allein ift die große Frage.” G. Th. Welder,
Cenſus, insbefonderee Wahlcenfus. Von Cenfus in pri⸗
vatrechtlicher Bedeutung, ale Zins oder Binspflicht, zumal
dinglicher Zinspflicht, (theild vorbehalten beim Verkauf
des Eigenthums oder Nugeigenthums eines Grundes, theild aufs
gelegt durch ein verſchleiertes — nämlid in der Form eines
BinfensKaufes gefchehene — Darlehen) oder ald einer we⸗
nigftens in der Form oder unter dem Namen einer privatrecdhte
lihen Schuld obliegenden — ob auch in der That oftmal dem
öffentlihen Recht oder Unrecht oder auch der Leibherrlichkeit
ober dee blos factifhen Bedruͤckung entfloffenen — jährlichen -
Entrihtungspfliht von Naturalien oder Geld reden wir bier
nicht, fondern haben es theild ſchon gethan in den Artikeln Abgas
ben und Ablöfung, theild werden wir es noch thun unter ben
Artikeln Grundzinſe und Gülten, auh Erbzinss und Bine:
gut und Zinfe überhaupt. Der Eenfus, weldhen wir bier einer
nähern Betrachtung unterwerfen, iſt die rein dem öffentlichen
Recht und dee Politik angehösige VWermögensfhägung zum
Behuf der darnach zu beftimmenden Verleihung oder Abftufung (Er-
weiterung oder Beſchraͤnkung) der bürgerlichen oder der politi⸗
[hen Rechte.
Dieſer Genfus nun iſt dem Namen nah römifhen Uts
fprungs, aber die Sache, nämlich bie nad den Vermoͤgensverhaͤlt⸗
Cenſus. 367
niſſen der Bürger bemeffene Vertheitung ſtaatsbuͤrgerlicher Rechte und
Laften, ift fhon vor Rom hei mehreren. Völkern anzutreffen. So
hat Insbefondere -Solon die athenifchen Bürger in vier Claſ⸗
fen nach ben Abftufungen ded Vermögens eingetheilt, naͤmlich in
die Pentakofiomedimnot, Hippeis (Ritter), Zeugitai unb
Thetes. Die drei erjten Claſſen beftanden aus denjenigen, wels
che 600, 300 oder 200 Maaß Getreide oder Del jährlich aus ihren
Ländereien bezogen, die vierte aus den drmern und ganz armen
Bürgern, die ihren Lebensunterhalt meift nur duch Lohndienſte
erivarben. Mach bdiefer Abftufung richteten. fih dann einerfeits bie
Steuern und andere Beiträge zum Staatsdienft (fowie nas
mentli von ben Hippeis jeder ein Pferd: zu flellen hatte, von ben
Beugitai aber nur je zmei und zwei es thaten) und anderfeitd auch
die politifhen Rechte, wenigitens infofern, daß nur die drei
erften Gtaffen zu ben obrigkeitlichen, Aemtern berufen, bie Thetes aber
davon ausgefchloffen waren. : Ariftides, der große Freund der bürs
gerlihen Gleichheit, bob jedoch die legtbemerkte (auf Art eines Vers
gleichs mit ber früher ganz übermächtigen Ariftofratie von So—
fon getroffene) Einrichtung auf, wornach die Berfaffung eine völlig
bemuTrasiiäe, endlich felbft eine ochlokratiſche ward.
Der roͤmiſche Cenſus nun fhreibt ſich — wie allbekannt —
ber von Servius Zullius, dem vorlesten Könige Roms, einem
klugen und mohlgefinnten Manne, welcher, um einerfeitd die damals
übermädhtige Ariftofratie der patrizifchen Gefchlechter zu ſtuͤrzen und
anderfeits doch auch die Demokratie zu mäßigen oder der Ochlokratie
einen fchügenden Damm entgegenzufegen, zuvoͤrderſt die Piebejer in
die Gemeinſchaft der früher von den Patriziern ausfchliegend beſeſſe⸗
nen politifhen ‚Rechte aufnahm, dann aber das gefammte — aus
Datriziern und Piebejern beftehende — Bolt nad) den Abftufungen
bes Reichthums in ſechs Klaffen, dieſe zufammen aber
in 193 Genturien abtheilte und durch die- mittelft folcher Eins
tihtung ben Reichern kuͤnſtlich uͤbertragene groͤßere Stimmenzahl
denſelben das Uebergewicht über bie minder Reichen und noch ent⸗
ſchiedener uͤber die ganz Vermoͤgensloſen verlieh. Es wurden naͤm⸗
lich aus der erſten Claſſe ſchon allein 98 Centurien gebildet (worun⸗
ter 18 der Ritter), aus den naͤchſtfolgenden vier Claſſen zuſammen
aber nur 94 und aus der letzten (naͤmlich aus jener der Armen),
wiewohl der zahlreichſten, gar nur eine Centurie; ſo daß auf den
Comitien, d. h. in den berathenden Verſammlungen der National⸗
gemeinde, worauf naͤmlich von nun an nach Centurien abgeſtimmt
werden ſollte, die Claſſe der Reichſten allein ſchon — falls ſie unter
ſich einig war — die Mehrheit ausmachte, die nachfolgenden Claſſen
aber einen im Verhaͤltniß der Zahl ihrer Glieder ſich fortwaͤhrend ver⸗
ringernden Einfluß üben konnten und die ganze Claſſe der Vermoͤ⸗
gensloſen (die fogenannten Capite oewsi oder Proletarier) gar
nur mit einer einzigen Stimme gegenüber von 197 auftrat, Freilich
368 Cenſus.
waren dann auch die Staatslaſten (Steuern und atiegedient.
hier namentlich die Bewaffnung) annaͤhernd nach demſelben Verhaͤlt⸗
niß vertheilt, und insbeſondere die lerte Claſſe vom Kriegedienft gaͤnz⸗
lich befreit.
Wie das durch dieſe Einrichtung hervorgebrachte, von ihrem Ur⸗
heber wohlberechnete Verhaͤltniß der drei politiſchen Maͤchte, naͤmlich
der monarchiſchen, ariſtokratiſchen und demokratiſchen
unter ſich, namentlich das zwiſchen den beiden letzten kuͤnſtlich herge⸗
ſtellte Gleichgewicht, durch bie Abſchaffung des Koͤnigthums,
deſſen Gewalt jetzt faſt ausſchließend die Patrizier erbten, voͤllig zerſtoͤrt
und in Folge des hiernach über die Plebejer gekommenen Druckes unb
der dadurch hervorgerufenen demokratiſchen Reaction: die römifche Ver⸗
faffung unter vielfahen Stürmen weiteren, wefentlihen Veraͤnderun⸗
gen unterworfen morden, ift jedem unferer Leſer befannt und bedarf
bier teiner eigenen Darftellung. Auch von den Genforen, bie ba
beauftragt twaren, den immer vo, 5 zu 5 jahren zu erneuembden
Genfus vorzunehmen, d. h. allernaͤchſt jedem roͤmiſchen Bürger bie
ihm nad) feinen Wermögensverhältniffen gebührende Stelle in eine:
oder der andern Claſſe anzumeifen, haben wir bier nicht zu reden
(f. den Art.” Senfur als Sittengericht). Unfere Aufgabe
befchränkt fi) auf die Beantwortung ber Frage: darf und foll bie
Gewährung oder Zutheilung gewiffer bürgerlicher oder politifcher Rechte
durch die VBermägensverhältniffe der Bürger beftimmt werden,
db. h. darf und foll als Bedingang folcher Berechtigungen die Nach⸗
weifung einer gewiſſen Wermögensfumme feftgefegt oder nach den Ab»
ftufungen des nachgeriefenen Vermögens eine Erweiterung oder Be⸗
ſchraͤnkung der befragten Rechte ftntuirt werden? — ir fagen :
„Darf und foll“, weil überall bei politifchen Einfegungen im Rechtes
ſtaat die erfte Frage fein muß: mas befiehlt oder was erlaubt dag Recht?
und erft die zweite: inwiefern heiſcht bie Klugheit, von der
rechtlichen Erlaubniß Gebraud zu machen, und welches ift die dem
Zweck entfprechendfte Art folches Gebrauchs ?
Mir fragen alfo zuvörderft: Hat und inwiefern bat der
reihere Bürger einen vernunftrehtlih gültigen Anfprudy
auf Bevorzugung bei ber Austheilung der bürgerlichen und politie
[hen Rechte? Hat er zumal einen folhen in Bezug auf bie activen
und paffiven Wahlrehte? Oder ift wenigftens mit dem Recht
der minder Reihen vereinbarlich, daß jenen ein folcher Vor⸗
zug durch pofitives Gefeg ertheilt werde? —
Zur Durchführung des fraglichen Rechtsanſpruchs der Meichen
vergleiht man gern den Staat mit einer auf Actien gegrüns
deten Privatgefellfchaft, oder überhaupt mit einer folchen, bei wels
cher die Mitglieder nihf gleihmäßig betheiligt find, db. h.
bei welcher bie einen mehr, bie andern weniger in bag Gefammtgut
oder in den gemeinfchaftlichen Unternehmungsfond aus dem Shrigen
_ eingeworfen haben, oder fortwährend einwerfen, und daher auch nicht
Cenſus. 369
nur in demſelben Verhaͤltniß, alſo theils mehr theils weniger,
an Vortheil und Schaden der Unternehmung patticipiren, ſon⸗
dern auch in den geſellſchaftlichen Berathungen mit einem eben die⸗
ſem Verhaͤltniß entſprechenden, mithin ungleichen Gewicht der
Stimme auftreten. Wir haben jedoch ſchon in einem früheren
Artikel (f. Ariftotratie) bemerkt, daß zwar folder Vergleihung
einige Wahrheit zu Grunde liegt, aber bei weitem nicht fo viel,
um damit, zumal nah ben heutigen Verhaͤltniſſen ber civilijirten
Staaten, einen auf entfhiedene Bevorzugung ber Reihen
oder gar einen bis zue:Ausfchliegung ber Armen von allem
politifhen Recht gehenden Anfprucd der erften begkünden zu koͤnnen.
Wohl! wenn etwa die Summe ber eine Gegend bemohnenden Grunde
eigenthüämer duch Zufammenmerfen ihres (durch Decupation oder
Anbau bereits rechtsguͤltig erworbenen) Privatguts dad Staats ge⸗
biet gebildet (oder aud, wenn eine Horde in Gefamnitheit einen
Bezirk occupiet und. benfelben. fodann unter ihre Mitglieder zu Pris
vateigenthum vertheilt) hätte, fo möchten dieſe Saffen, als Grüns
ber des neuen Staates und als privatrechtliche Inhaber des fein
Gebiet ausmachenden Bodens, fi) eine Zeit lang als die alleinigen
Actionaire der jugendlihen Geſellſchaft betrachten, und gegenüber den
fpätern (theil® ganz befiglofen, theils nur als Hinterfaffen bes
figenden) Einwanderem das fragliche Vorzugsrecht behaupten, zumal
fo lange fie auch allein (ober doch größtentheils). die Staatslaft in
Krieg und Frieden auf den eigenen Schultern trügen. Oder aum,
wenn oder infofern ein beftehendes Steuerfyfiem nur gewiſſe
Arten bes Befigehums (und zwar ähne Berüdfichtigung der
darauf haftenden Schulden) mit Abgaben belegt (oder doch unvers
haͤltnißmaͤßig Höher als andere), fo mögen bie Inhaber folcher _
Steuercapitalien (3. B. der Gründe, verglichen mit jenen ber unbe
fleuerten Geldcapitalien) allerdings als die vorzüglicheren Actios
naire der Staatsgefellfhaft betrachtet und ihnen die entfprechende pos
litiſche Bevorrechtung ertheilt werben. Won diefem legten Umftand
jedod tollen wir, um die Frage zu vereinfachen, für jegt wegbliden;
wir wollen naͤmlich ein gerechtes, d. h. alle Vermoͤgensgattungen
gleichmaͤßig in Anſpruch nehmendes, Steuerſyſtem vorausſetzen
und von ſolchem Standpunkt aus die Anſpruͤche der Hochbeſteuer⸗
ten in DVergleihung mit jenen der Minderbeftleuerten oder
. durchaus Unbefteuerten vernunftcechtlich - würdigen.
An Sefellfhaften, die auf Actien errichtet und deren Mitglieder
eben nur in der Eigenfchaft als Actionatre ſtimmberechtigt find,
deren ganze Gefellfhaftspflicht auf das Einwerfen der. Actie (oder eines
darnach bemeifenen jährlichen Beitrages) und deren ganzer Vortheil
auf die. von dem gemeinfchaftlichen Gewinn jeder: Actje zufallende Dis
vidende ſich befchräntt, da ift es freilih ganz natuͤrlich und billig,
jä felbft im ſtrengen Recht (nämlid in dem der gefellfhaftlihen
Gleichheit). gegründet, dad — wofern nicht Dur gemeinfame Ver:
Staats »&eriton. TIL, 24
370 Genfuß;
akredung, alfo mit -Einiilligung der Betheiligten, etwas Anderes feſt⸗
gefekt. ward — das Gewicht:.von. jedes "Einzelnen Stimme fi nach
der Zahl feiner Artien richte, fo daß alſo der Inhaber von zehn
Uetien auch "mit zehn, jemer von nur einer Actie auch nur mit einer
Actie auftrete, ja daß .die mehreren Inhaber einer (3. B. in Quoten
vertheilten) Actie zufammen nur eine: Stimme führen. Hier erfcheis
nen nämlich nicht eigentlih die Perſo wen ald Einheiten, fondern die
Actien (oder die durch das Geſellſchaftsſtatut zur Bedingung ber
Stimmbetechtigung gefegte Zahl von Arctien)y.ber Inhaber von
zehn Actien zählt alfo natürlich für zen, und zehn Mit: Eigenthüs
mer einer und berfelben Actie zufammen nur für einen. Hiezu
tömmt die mit ber Actienzahl natürlich: ſteigende Zuverlaͤfſigkeit
des Inhabers, weil eben: damit auch fein Intereffe an dem Ge⸗
deihen des Unternehmen fteigt, und ihm doch niemals möglich iff,
feinen eigenen, durch das. Geſellſchaftsgeſes und eine einfache Rechnungs-
operation beftimmten Gewinn, d. h. den -Betrig- der ihn treffenden
Dividende, zum Nachtheil ber Mit⸗ Geſellſchafter zu erhöhen; j wogegen
er, wenn die Mehrzahl ber klelnen Intereffenten. ihn uͤberſtimmen
koͤnnte, immerbar der Gefahr. ausgefegt wäre, duch ihren-Eigen >»
finn oder Leihtfinn (da fie ndmli nur ein Weniges dabei
. wagen) oder duch Ihre Traͤgheit, Lauheit, odet ſelbſt Une
lauterkeit (d. h. Verfolgung von dem Geſellſchaftszweck Fremden
Intereſſen) den Unternehmungsgewinn, wovon ihm ber größere Theil
gebührt, verringert zu fehen.
Ein ganz anderes Verhältniß aber tritt im Staate ein. Hier
ift nämlih, wenn man, mas die Bürger in die Gefammtmaffe der
Kräfte oder Mittel zum Geſellſchaftszweck einmwerfen, mit Actien ver-
gleichen will, daſſelbe nicht blos aus Geld oder aus dem Steuer⸗
capital beftehend,' fondern zugleih auch aus der perfönlidhen
(phnfifchen, intellectuellen und moralifihen) Kraft, oder aus Leib
und Leben. Diefe Perſoͤnlichkeit aber, die da hoͤchſt koſtbar
iſt fuͤr den Staat wie fuͤr jeden Einzelnen ſelbſt, muß jedenfalls (ob⸗
ſchon ſie freilich einen beſtimmten Werthanſchlag nicht zulaͤßt) als ein
fehr bedeutender Factor in ber ideal zu ziehenden Rechnung gelten;
und obſchon derſelde (weil Verſ chiedenheiten des perſoͤnlichen
Werthes weder juriſtiſch erkennbar noch einer Taxation empfaͤnglich ſind)
bei jedem Einzelnen als gleich groß angenommen werden muß (ein
Jeder ſchaͤtzt ſeinen Kopf fo hoch als der Andere), demnach durch deſſen
Zuſatz (wie immer man den idealen Anſchlag mache) zum Steuercapi⸗
tal das arithmetiſche Verhaͤltniß dee Attiengroͤßen unter einander
nicht verändert wird, fo wird 26 doch das geometrifche; und auf
das legte allein mmt es bier an. Weiter wirft jeder Bürger
in die Gefammtmaffe nod ein feinen idealen Antheil am Ges
fammtgut, ndmlih an der Domaine und am Gebietsrecht, einen
Antheil, welcher, im Staat wie in ber Gemeinde, bei jedem Bürger
von- Rechts wegen. ein gleicher if. Sodann befchräntt fi die
Cenſus. 371
Buͤrgerpflicht keineswegs auf's Zahlen, und das Buͤrgerrecht
keineswegs auf materiellen Empfang; ſondern es geht jene
noch auf taufenderlei andere — zum Theil unfchägbare — Opfer und
Leiftungen, und diefes umfaßt neben dem Schutze des Eigenthums und
Erwerbs noch die Pflege aller höhkren menfdlichen "Güter und Inter⸗
eſſen, oder bie theild negative, theils pofittve Beförderung aller: tedhtlts
chen Lebenszwecke. Freilich trägt, da alle zu ſolchem Behuf zu errich
tenden Anftalten und überhaupt bie geſammte Einrichtung und Thär
tigkeit der Staatsmaſchine allernähft pecunidre Mittel erheiſcht,
ber Reiche mehr zum Geſammtzweck bei als ber’ Arme; aber er em⸗
pfängt dafür — auch ohne politifhe Bevorrechtung — die
mehr ald genügende Vergeltung in bee für Ihn” weitaud groͤßern
Wohlthaͤtigkeit des‘ Stautsverbande: Denn nicht nur wird ihm
ein größeres Beſitzthum (nad beffen Maß eher: die Steuer : fich
richtet) gefchüst, fondern er iſt auch in demſelben Maße geeignet vder
im Stande, bie niannigfaltigften — gleichfalls den Staatsſchutz oder
die Staatsfürforge vorausſetzenden — Gendffe, Beduͤrfnißbefriedigungen
und Annehmlichkeiten des Lebens fich zu verfchaffen:” Es koͤmmt noch
hinzu, daß oft fein Befisthum ſelbſt, wenigſtens großentheild,
eine Wohlthat oder ein‘ Gefchent des Staates iſt. Denn, mit Aus⸗
nahme feines lebzeitigen perfäönlihen Erwerbs und etwa’ bedr
jenigen — jedenfalls geringen — Gutes, welches ſchom⸗natur⸗
rechtlich (duch Conſolidirung des Miteigenthums in dee Perfon- der
überlebenden Mit⸗-Eigenthuͤmer) von Eltern auf Kinder ober andere
MitsErwerber und MitsBefiger übergehen-kann, hat er fen
Vermögen, nicht nur in MRädfiiht Ber Sicherheit: bes Beſitzes,
fondern felbft dem Zttel ber Ermerbung nad, bem Staat,
d. h. deſſen pofitiven Erbes- und Erwerbs» Gefesen zu verdanken; und
es wäre eine offenbare Anmafung, auf den Empfang folder Wohl⸗
that den Anfpruch dee Staatsbeherrfhung (wohin naͤmlich das
politifche Vorrecht zielt) zu gründen. Diefe Anmaßung erfcheint um fo
verwerfliher, da im Smat die Zuberläffigfeit der Stimme
mit nichten fo wie in der Privat Acttergefellfhaft mit der Zahl ber
Üctien ſich erhöht. Dein’ Im - Staat ME der Antheil, welcher Jedem
von ben Staatswohlthaten gebührt,’ keineswegs aus einer einfachen
Dividenden - Rechnung berborgehenb und eben fo wenig durch eine Dem
Betrug und Streit entruͤckte Zahlungsart zu. emdfangen ; fonbern hiet
machen allzugern und allzuleicht die egoiſtiſchen Intereſſen ſich
geltend, und ift für bie” politifch Bevorrechteter,d. h. für die das
gewwichtigere ober entſcheidende Wort Zührenden Die Verfuchung' mmer
nahe, folchen Einfluß zur Uebervorthelkung, id zur Unterbrüdktrig der
dom Stimmrecht ausgefchlöffenen odes: mit nur gering, pählender
Stimme bekleideten Gefellikhaftsgenoffeh di mißbtauchen. Das poli⸗
t iſche Vorrecht führt gar leicht auch zu buͤrgerlichem und menſch⸗
lichem Vorrecht; es ſetzt ſeine reichen Inhaber in den Stand, die
Laſten bes Staats von ſich ab und vorzugsweiſe auf die armen nicht
24°
Stimmberechtigten zu waͤlzen, dagegen aber die Wohlthaten des gefell«
fhaftlihen Vereins mit Zuruͤckdraͤngung ber Mit-Gefellfchafter fich ſelbſt
im überfliegenden Maße anzueignen.
Diteeſer letzten Betrachtung — welche übrigens nicht nur ber
rechtlichen, fondern auch der politifchen Seite ber Frage angehört
und daher den Uebergang zur Beleuchtung biefer zweiten Seite bil
den mag — ſteht jedoch eine andere, gleich gewichtige und eindring⸗
liche entgegen, diejenige nämlich, welche ſich nuf die von ber Herr⸗
[haft der Vermoͤgensloſen abfliegenden Gefahren bezieht. Die
vermögenslofe Menge, alfo fagt man mit Nachdruck, ift überall mit
Scheelſucht gegen die Reihen erfüllt und nad) deren Beſitzthum lüftern.
Sie verkennt oder vergißt, daß ohne die vom Staat ausgehende Bes
‚ Teäftigung dee Eigenthumss und Einführung ber Erb⸗Rechte
Alle arm, aͤrmer als jest die Dürftigften, wären, daß gerade in
dem aufgehäuften Beſitzthum ber vom Gluͤck Begünftigten, d. h. in
ben Beduͤrfniſſen, Gelüften und Unternehmungen ber Reichen, bie ers
giebigfte ‚Quelle ber Ernährung für die Vermögenstofen fließt und daß
eine wann und wie immer zu bictivende gleiche Gütervertheilung oder
Gemeinfchaftlichleit des Güterbefiged nad, der Fürzeften Friſt eine all
gemeine Armuth erzeugen oder — wenn der Moth gefeuert werden
forte — die Wiedereinführung der Eigenthums⸗ und Erbrechte zur
Folge haben müßte. Die Vermoͤgensloſen aber gedenken diefer Ders
hältmiffe nicht oder nur wenig, oder der Reiz einer augenblidlichen
Bereiherung durch den Raub des fremden Beſitzthums überwiegt
bei ihnen bie Beforgniffe wegen ber Zukunft. Darum find fie ims
merfort geneigt und bereit zum Umſturz ber beftehenden Ordnung,
oder zur Hülfeleiflung bei Ummdlzungsverfuchen, bie etwa von eins
zelnen Ehrgeizigen oder leidenfchaftlichen Sactionshäuptern ausgehen
möchten. Sa, felbft ohne eigenes Verlangen nach einer Revolution
find fie, eben weil arm, menigftens als willenlofe Werkzeuge
bazu zu erkaufen, und, weil in der Regel unwiſſend und roh,
auch leichter von Aufwieglern oder Verblendeten zu verführen und
zu jedem böfen Zwecke zu mißbrauhen. Hieraus geht hervor, dag
ihnen die Herefhaft oder das Uebergewicht in politifchen
Rechten durchaus nicht ertheilt werden barf, alfo aud) kein gleiches
Stimmrecht wie den Reihen, weil, da in ber Regel ihre Zahl:
bie meitaus größere ift, ſchon das gleiche Stimmrecht ihnen bas
Uebergewicht, ſonach bie Derrfchaft verleiht. .
Daß Befüchtungen dieſer Art nicht grundlos find, zeigt freilich
die Geſchichte; aber. es iſt eimfeitig, fich ihnen allein hinzugeben und
der auch auf der Gegenfeite beohenden Gefahren zu vergefien. Auch
iſt jedenfalls viele Webertreibung barin, oder kann wenigftens die
große Gefahr nur, alldort flattfinden, mo bie Megierung die ihr
obliegende Pflicht, für die Erziehung und Bildung des Volkes (in
technifcher, intellectueller, fittliher und veligidfee Beziehung) und für
Eröffnung rechtlicher Erwerböwege zu forgen, verabfäumt oder ungenüs
Genfus. | 373
gend erfüllt hat. Fa, felbft wenn man bie Befuͤrchtungen ale bes
geüundet voraugfest, fo find do die Folgerungen, welche bie
Ariſtokratie überhaupt oder insbefondere die Geldariftokratie daraus abs
leiten will, viel zu weit gehend. Denn nur bie völlig Ver⸗
mögenslofen — wenn ihnen das Uebergewicht zufaͤllt — koͤnnen
ber Gegenftand einer vernünftigen, Beforgniß fein, nicht aber auch bie
Fleinen oder mittleren Beſitzer (die ba in der Regel fchon aus
Liebe zu ihrem Beinen Beſitzthum den eingeführten Eigenthumsrechten
und der bürgerlihen Ordnung zugethan find); und, vor ben Gefahren
ber Ochlokratie ſich zu fichern, giebt es noch ganz andere Mittel als
die Oligarchie der Reihen. Wir wollen verfuchen, den Weg
zu zeichnen, welchen hier zum Frommen bes Gemeinwohls zu verfols
gen, das Hecht erlaubt und bie Klugheit anräth.
Das den Reihen oder vielmehr ben Beftigern Überhaupt:
zwar einiges Vorrecht gegenüber den Vermoͤgensloſen gebühre,
boch nur ein fehr befchränktes, haben wir oben gezeigt. Wir fegen
hiee noch bei, daß felbft auf biefes befchränkte Vorrecht Verzicht
zu leiften, ihnen nicht nur erlaubt fein muß, fondern daß, wo⸗
fern nur wenigftens die Mehrzahl der Reichen in eine ſolche Vet⸗
zichtleiftung einmwilligt (hierdurch alfo ihre eigene Ueberzgeugung von
ber Gemeinnuͤtzlichkeit bderfelben ausfpricht und bamit auch dem
Harften Beweis ihres wirklichen Vorhandenſeins herftellt), fie dann
aud) allen Uebrigen ohne Rechtsverletzung kann aufgelegt werden. Den
nämlihen Srundfag (von ber Zuläffigkeit ber Verzichtleiftung und von
ber Unbedenklichkeit, eine folche von Allen zu fordern, fobald die freie
Einwilligung — folglich die dafür flreitende Selbflübergeugung — we⸗
nigftens der Mehrheit ber Betheiligten erkennbar vorliegt) werden
wie fpäter auch auf die Frage von den Rechtsanfprühen der Aemen
anwenden. Wir find hiernach jegt völlig auf das Held der Politik,
namentlid der Conftitutionss Politik, verfegt, worauf naͤmlich
nicht mehr bloße Rech ts = Ideen die Entſcheidung geben, fondern bie -
Gründe der Zweckmaͤßigkeit, d. h. der Nothwendigkeit oder
Raͤthlichkeit in Bezug auf die möglihft volftändige und möglichft :
geficherte Verwirklichung des Staatszwecks.
Die Vollkommenheit einer Staats Verfaffung und Einrichtung
befteht darin, daß fie dem wahren, vernünftigen Gefammtmwillen
die Herrſchaft fichere, zunaͤchſt alfo demfelben das möglichft zuverläfs
fige Organ verleihe. Diefes Organ glaubt die Demokratie in ber
Sefammtheit oder wenigſtens in der Mehrheit der natürlich
volbürtigen Bürger zu finden. Die Ariftotratte dagegen hält bie
Befähigung, alfo aud die Berechtigung, zum Ausſpruch des Ges
fammtroillens für eine blos einer auserlefenen Minderzahl — bes
flimmt entweder durch Geburt oder durch Stand ober durch Meich:
thum oder auch duch Wahl — zukommende Eigenſchaft, ſchließt alfe
bie Maſſe des Volkes von ber Stimmgebung aus, (ja betrachtet
mitunter bie auserlefene Claſſe oder Kafte als allein das wahre Volk
374 Genfuß. -
— im Gegenfas einer blos dienftbaren Menge — ausmachend oder
die eigentliche Staatögefellfhaft bildend) und ‚macht dergeftalt die Staates
getvalt zum Sondergut der Wornehmern, die Theilnahme am politis
fchen Gefellfchaftsreht zum Privilegium. Die abfolute Monars
hie endlich beruht auf der Idee der Unmündigfeit des ganzen
Volkes, folglih der Nothwendigkeit, DaB demfelben ein Herr, oder
wenigſtens ein Vormund gefest werde, welcher vollguͤltig die Perfon
des Muͤndels vorftelle und in deſſen Namen ben vechtlihen Willen
ausfpreche. Aus einer Verbindung mehrerer biefer Principien in
einer Staatsform entftehen die fogenannten gemifhten Berfaffuns
gen, die da mittelft gegenfeitiger Beſchraͤnkung oder angeorbneter
Bufammenmwirtung jener drei Organe oder zweier derfelben bas
ideale Ziel (nämlich die Herrfchaft des vernünftigen Geſammtwillens,
d. h. die Buͤrgſchaft dafür, baß niemals etwas Anderes gefchehe ober
verordnet mwerbe, als was dem wirklichen ober mit Grund zu fuppos
nirenden Willen aller vernünftigen Staatsglieder oder wenigſtens de⸗
ven Mehrheit gemäß ift) zu erreichen fireben. Bon der Natur und
dem Charakter diefer verfchiebenen Staatsformen reden wir theild uns
ter den von ben Staatsverfafjungen im Allgemeinen, theild unter den
den einzeinen Hauptformen gemwidmeten befonderen Artikeln. Hier
baben wir blos zu unterfuhen: ob oder in wie fern der Cen⸗
fus und insbefondere der Wahl: GCenfus dem Geift jener Berfafs
fungen, zumal jenem ber conftitutionellen oder KRepräfentas
tiv⸗Monarchie, entfprehe? —
Dem Geiſte der Ariſtokratie allerdings entſpricht der Cenſus,
denn er iſt eben dieſem Geiſte entfloſſen und ſeiner Weſenheit
nach nichts Anderes als (geld⸗) ariſtokratiſches Vorrecht. Eben darum
widerſpricht er dem Geiſte der reinen Demokratie, weil naͤmlich
jede, nicht ſchon durch die Natur gebotene Ausſchließung von acti⸗
ven Geſellſchaftsrechte — mie namentlich im Staat der Weiber,
Kinder, oder ber aus was immer für einem vernünftigen Rechtstitel
für mundtobt zu Acdhtenden, und. dann etwa noch der Knechte und
bee ihren Lebensunterhalt aus oͤffentlichen Wohlthätigkeitsanflalten
ober aus Öffentlihem Almofen Beziehenden — eine Befhräntung
ber demofratifchen Gleichheit duch ariſtokratiſches Vorrecht, folg-
ih eine gemifchte Eigenfchaft der Verſaſſung hervorbringend und
im Widerfprudy mit der in der Idee dee Demokratie gelegenen Anz
erkennung der Münbigkeit ſaͤmmtlicher (natürlich Vollbuͤrtiger) Ge:
ſellſchaftsglieder ſtehend if. Es ift dieſes der Fall ganz vorzüglich
alsdann, wenn oder infofern duch die Mehrheit der Stimmenden
die Sahen ſelbſt entfchieden, namentlich Geſetze gegeben, ober
allgemeine Verordnungen befchloffen ober and; Negierungs:
Gefhäfte im engern Sinn von der — in einem gemiffen Kreis
auch mit der Regierungsgewalt befleiveten — Landesgemeinde.
erlediget. werben follen. Etwas Anderes mag vielleicht gefagt werden,
wo nicht von folcher unmittelbaren Entfcheidung. der Sachen, [ons
Genfus. 375
dern nur von Ernennung ber: Perfonen, . welche. jene Eutſcheidung
treffen follen, die Mede . ik... In graßen Staaten, felbft wenn
fie den demokratiſchen Driuchien, eifrigft huldigen, (einige wenige,
den Uiverfammlungen, ober. ber im ganzen Meiche zu veranflaltenben
allgemeinen Abſtimmung vorbehaltene Gegenſtaͤnde abgerechnet) bleibt,
nach der Ratur der Dinge, Jap politifche Recht der Bürger befchränkt
auf die Wahl bes mit ber. Ausübung beu : ideal der Geſammtheit
zufiehenden Befugniſſe zu— beauftragenden Ausſchuſſes, ober auch
der zum Vollzug ber Geſege und ‚überhaupt zur gefegmäfigen Er⸗
ledigung der vorkommenden concreten Geſchaͤſte aufzuftellenden Ob rig.
feiten und Beamsen, A trifft dsbann::diefes Recht fo. zieme
li überein mit dem auch In. ber sonßitutionellen Monarhie
dem Volke zuſtehenden Rechtgz, feine Mertreter zu wählen, d. h. Fi
ganz eigens zum Ausfpreden. ber Molke Wünfche. gegenüber der Res
gierung und zur Eontrole der, Regierungsgewait beflimmten repräs
fentativen Körper ganz oder menigfteng bem Fra nach durch
freie Wahl zu bilden. Auf dieſeß —— häft num (und zwar
nicht nur in Bezug auf. bad.gczive Wahlrecht, fondern auch: a
das paffive, alfeauf Wahlberechtigung und. Wahlbarkeit
richten wir vorzugsweife ben Blick, wem wir von der Zweckmaͤßig
eines eguhrne Grafus, ſprechen.
vorzunehmende Wah 8* m kann „abne —ã— dort: ben
Genfus verwerfen, und bier ion aleichwohl billigen. · In· als
len Angelegenheiten, woruͤber dem Volk bie unmittelbare Entfcheibung
oder Miientſcheidung zuſteht (mag dieſes je nach Verhaͤltnifſen und
Umſtaͤnden, zumal nach der vorherrſchenden Culturſtufe ein engeret
ober ein weiterer Kreis fein), ſoll —8 —— vollbuͤrtigen) Buͤr⸗
ger, ohne Unterſchied des Ve Stimmrecht verliehen ſein.
Schließt man, wie Servius ine that, die. Droletariex
davon aus, fo muß man fie — gleichfalls nad dem Beiſpiel jenes
Könige — auch aller Staastslaften, namentlih aud bes Kriegs⸗
dienftes entheben, db. h. man muß fie gewiffermaßen aus der
Maffe ber Bürger auefhiteßen und zu ofen Schüglins
gen des Staates erklaͤren. neueren Geſetzgebungen aber thun
diefes nicht. Vielmehr heſteht lieg ein fehr großer (mitunter ſelbſt
der größte) Theil des Heeres aus Proletariern, welche häufig au
ach zu Staates Frohnden und — wenigfiens mittelf der indirecten
Befteuerung — zu ſchweren Abgaben be "werden. Hiernach
gebührt ihnen alfo auch das —— dem reichern Claſſen,
fo lange nicht von Geſchaͤften die Rede iſt, au deren Verſtaͤnbniß er⸗
weislich (oder nach allgemeinem ˖ Anertenatan) Me Armen nicht, wobl
aber die Meicheren -fähig find. - . E
376 Genfus. \
Wenn Sachen an’d Voll zur Entſcheidung gebracht werben,
fo find e8 entweder folche, die wegen ihrer nahen Verbindung mit dem
Intereſſe der Einzelnen von dieſen durch eigenes Nachdenken als gut
oder übel erkannt werden mögen (gleidy gut wenigſtens von aͤrmern
wie von reichern, blos etwa minder gut, als von der Keinen Zahl
ber wiſſenſchaftlich Gebildete z oder durch natürliche Anlage höher Ste⸗
henden), oder welche wenigſtens durch Erklärung von Seite ber
Kındigen der gemeinen Faffungskraft nahe gebracht werden koͤnnen.
Den an's Volk zur Entſcheidung gelangenden Anfragen (fel es in dee
aligemeinen Verſammlung, wie in ganz Beinen Staaten, ober durch
überall eröffnete Stimmregifter, wie in größern) geht nun in ber
Megel voran, ober kann menigftens leicht vorangefchidt werden eine
ſolche belehrende Erklärung, ſei es durch das Drgan ber 3. B. das
Geſetz vorfchlagenden Regierung, fei es durch jenes ber freien Preffe.
Jeder Bürger alfo, wenn er fein Ja oder Mein ausfpricht, weiß
oder kann wiſſen, was bie Wirkung folches Ausfpruches, wenn ec
jener der Mehrheit wird, für ihm felbft und für die Gefammtheit
ift, und das Erkenntniß ſolcher Bedeutſamkeit feiner Stimme hält
ihn von leichtfinnigem Wegwerfen berfelben ober von einer Abſtim⸗
mung gegen die eigene Anficht ab. edenfalld mag man annehmen,
dag die unkundigen ober unlautern Stimmen (deren es hier bei den
Reichen nicht minder als bei ben Armen geben wird) ſich wechſel⸗
feitig aufheben und ber Beſchluß der alsdann noch Übrigen Mehrheit
ein verflänbiger fein werde. Etwas Anderes jedoch iſt der Kalt bei den
Wahlen, fei es der Häupter, fei es der Vertreter. Abgefehen näms
li davon, daß hier, wenigſtens in größeren Staaten, keine gemeins
fhaftlihe Stimmgebung, fondern eine nach Bezirken oder Drtfchafe
tene zerftüdelte fattfindet, wodurch dem Irrthum oder der Befangen-
heit auch fchon einer Heinen Anzahl eine bedeutende Wirkfamteit vers
liehen wird, ift es wohl unbeftreitbar, dag eine gute Auswahl ber
Perſon weit fchwieriger, als ein guter Beſchluß über eine Sache,
d. h. daß bie Abftimmung des Einzelnen dort weit weniger zuverläffig
und dabei weit mehr Folgen nad) fidy ziehend ift, als hier.
Eine gute Wahl von Häuptern ober von Abgeordneten fegt nicht
nur die Kenntniß derjenigen Kigenfchaften voraus, melde zur tuͤch⸗
tigen Führung bes Regiments ober der Volksvertretung nothwendig
find, ſondern audy eine genaue Kenntniß derjenigen Perfonen,
welche man zu fo wichtigen Aemtern berufen will. Um mit völliger
Veberzeugung hier feine Stimme abzugeben, d. h. um aud nur
mit einiger Zuverfiht annehmen zu koͤnnen, daß der Gemählte in
allen Vorkommniſſen nah dem Sinne des Wählenden ober im wah⸗
ven Sintereffe des Gemeinmwohles (menigftend nad) eigener treuer Meis
nung) flimmen wmerbe, wäre neben allgemeiner gründlicher Menſchen⸗
kenntniß auch die genauefte perfönliche Geiftess und Gemüths Bes
rührung mit dem zu Mählenden nothwendig. Die Mehrzahl ber
Wähler hat folhe Kenntnig nicht, wählt alfo jedenfalls auf „gut
Genfuß, 377
Gluͤck“, eine vorgängige Belehrung findet hier weit weniger, als
bei materiellen Befchlüffen Pas. Wer foll fie eitheilen? Die Ne gie-
eung, da fie hier nicht vorzufchlagen hat, darf es nicht, und bie
aus der Mitte des Volkes felbft theils mündlich, theil® durch
die Preſſe erklingenden Stimmen mögen leicht von Partei⸗Inter⸗
effen eingegeben, ober von ehrgetzigen Bewerbern erkauft
fein. Bei der unermeßlihen Wichtigkeit des MWahlgefchäftes (ba näms
ih eine mißglüdte Wahl taufend bife Folgen nah fi zieht,
während ein übler materieller Beſchluß theils nur ein einzelner ift,
theild durch einen Gegenbefchluß wieder aufgehoben werden kann)
ift alfo mehr als irgendwo fonft die größte Vorficht räthlih, und alfo
bie größte Sorgfalt anzumenden, um, fo weit irgend das Recht es
erlaubt, die minder zuverläffigen Stimmen auszuſchließen.
Welches foll aber das Princip der Ausfchliegung fein? Eine
Individuelle Audfchliegung aus ambern Gründen, ald wegen nas
türliheer Unvollbürtigleit oder wegen Rechts verwirkung
(alfo blos wegen vermeinter ober vermutheter perfönlicher Unfähig-
Leit oder Unwuͤrdigkeit, überhaupt Unzuverfäffigkeit oder geringerer Zus
verläffigkeit) waͤre fhon theoretifch ungerecht und peaktifh theils uns
ausführbar, theils dee empoͤrendſten Willkür die Herrfchaft einraͤumend.
Wer kann mit Beftimmtheit den Grab der Verftandesträfte des Ans
bern erfennen? Mer mit Sicherheit des Andern Herz und Nieren
duchfchauen? Wem alfo dürfte man darüber dns mit Rechts: Wir:
tungen verknüpfte Urtheil anvertrauen? — E86 bleibt alfo nur bie
Ausfhliegung von ganzen Claſſen übrig, von folhen nämlich,
welche nad) ber bei ihnen, den Verftändigen erkennbar, vorherr⸗
fhenden Eigenfhaft in dee Mehrzahl ihrer Glieder ale unfähig‘
oder unzuverläffig erfcheinen, oder menigftens gewichtige Zweifel an
ber Verſtaͤndigkeit oder Lauterkeit der von ihnen abzugebenden Wahls
flimmen rechtfertigen. Bel der Ausfchliefung folder Claſſen wird
durchaus Fein Urtheil über irgend einen Einzelnen, der ihnen ans
gehört, gefaͤllt. Es fpricht dabucd der Gefehgeber blos die allges
meine (etwa auf pfochologifhhe Gründe oder auf Erfahrung gebaute)
Anfiht aus, daß, nad) der Natur der Dinge oder nach den Lebens⸗
verhältniffen einer ſolchen Glaffe, bie Abflimmung menigftens der
Mehrzahl ihrer Angehörigen unguverläffig, ober daß in Bes
zug auf folhe Mehrzahl die offenbare Gefahr entweder der Selbft-
täufhung (d. 5. des eigenen Irrthums) oder ber Verführung ober
der Beſtechung ober der Einfchüchterung , Überhaupt der Befangenheit
oder Unflauterfeit obmalte, und daß denmach, weil von der Mehr:
heit das Ergebniß der Wahl abhängt, nur durch die Ausſchließung
ber ganzen Claffe das befürchtete Uebel abzumenden fei. In der Vors
ausfegung, bie Befürchtung ſei eine wirklich im Allgemeinen vernünfs
tig begründete, innen dann felbft diejenigen Einzelnen in ber
Ginffe, bei welchen fie nicht zutrifft,’ d. h. welche durch beffere Ein»
fihr, waͤrmeren Patriotismus oder feftern Charakter jenen Gefahren
, 378 Genfuß.
fi) zu entziehen vermögen (und dergleichen giebt es ficherlich in jeder
Claſſe, felbft in jener der Knechte), fih über ihre Ausfchliefung
nicht bellagen. Denn ein Privilegium wegen juriftifh nicht
ertennbarer, rein perfönlichee Eigenfchaften werben fie nicht ans
fprehen wollen, und es ift ihnen — fo wahr fie gute Bürger find
— bei dem Wahlgefchäft nicht um perfönlihe Befriedigung,
fondern um ein gutes Ergebniß zu thun. Willig verzichten fie
daher auf eine wiewohl ehrenvolle Function, duch deren Ausübung
fie, weil alsdann eine größere Zahl von Unlautern oder Unkundigen
diefelbe gleichfalls ausüben wird, dem Gemeinwefen nihts nüßgen
tönnen, d. h. fie geben gern ihre Zuftimmung zu dem Geſetze,
welches fie mit biefen ausfchließt.
Von Ungerehtigkeit alfo kann nicht die Mebe fein, wenn
aus wirklich triftigen Gründen eine Claſſe vom Wahlrecht ausges
fhloffen wird. Der. gefeggebenden Gewalt, d. h. dem Geſammt⸗
willen; ſteht unbefteitbar die Befugniß zu, alles politifhe Recht. fo
zu vertheilen, wie ed das Intereſſe bes Gemeinwohls, zumal alfo das
Intereſſe der möglichften Sicherftellung feiner eigenen (ndms
lih des vernünftigen Sefammtwillene) Herrfchaft fordert, und je⸗
des dahin gehende Geſetz ift der Billigung von Seite der verfländigen
und pflichttreuen Bürger gewiß. Die einzige Stage alfo bleibt immer
nur die: ift die Ausfchließung dieſer oder jener beftimmten Glaffe wirk⸗
lich. auf triftigen Gründen ruhend? und bier alfo insbefondere: ift
die Ausfchliefung wegen geringeren Vermögensbefiges als eine
folhe anzuerkennen ?
Die Schwierigkeit der Entfcheidung geht hier ſchon aus dem Um-
ftande hervor, daß wir den Cenfus von Abfolutiften und von
Sreiheitsfreunden vertheidige, und entgegen das allgemeine
Wahlrecht von den feurigften Legitimiften wie von den eral-
titeften Republilanern gefordert fehen. Die weitaus vorherr⸗
[chende Richtung der neuen und neueften europäifhen Geſetzge bun⸗
gen geht indefien auf Feſtſetzung eines anfehnlicyen Genfus, und zwar
nicht nur für's active, fondern auch für's paffive Wahlrecht, oder
wo man bei'm erften ihn nicht ftatuirt, wenigftend auf Verwandlung
der unmittelbaren oder Urwahl in eine blos mittelbare,
nämlich duch gewählte Wahlmänner,
In England, dem Mutteriande der Repräfentativ: Verfaf:
fung (deren Idee jedoch erft feit ber norbamerilanifhen und der
franzöfifhen Revolution in reinerer Auffaffung und . Geftaltung
erfchien), war bis zur neueflea Meform mit dem Wahlrecht begabt
in den Grafſchaften neben dem niedern Adel (gentry) auch jeder erb⸗
liche DBefiger eines zinsfreien Gutes (freeholder) von wenigftend 40
Schillingen reinen jährlihen Ertrags; in Städten und Fleden aber
nur zindfreie Hausbeſitzer, und ˖zwar mit fo vielen weiteren Beſchraͤn⸗
tungen und Ausnahmen, daß .in vielen Städten bie Wahl ausfchlie-
end in den Haͤnden einiger. weniger Familien fih befand. Waͤhl⸗
®
.
Cenſus. 379
bar aber war Jeder (vom hohen Adel, inſofern er noch keinen Sitz
im Oberhauſe hatte, bis zum Kuͤnſtler und Kaufmann, ber keinen ofs
fenen Laden hielt), welcher als Adeliger 600 (in Schottland 400)
oder als Buͤrgerlicher 300 Pfund Sterling reinen Einkommens
von feinem Vermögen bezog. Die Reformbili vom J. 1832 hat, nes
ben ber Abfchaffung der abgefhmadten Wahlrechte der fogenannten vers
faulten Flecken und anderer faft unglaublicher Mißbraͤuche, und neben
der Verleihung folcher Rechte an eine Anzahl bisher davon ausgerchlofs
fen gemwefener Städte, auch die Forderung der Vermögensnachweifun-
gen ermäßiget, fo dag nun auch Fleinere Pächter und in Etädten nes
ben den Bejigern von Häufern, welhe 10 Pfund jährlihen Ertrag
abmerfen, zum Theil auch bloße Miethberoohner, wenn der Miethzins
nit allzugering ift, zue Stimmgebung berufen find.
An Nordamerika befteht in einigen Bundesftaaten ein Cenſus,
db. h. eine Bedingung des Wahlrechts an einen gewiffen Vermoͤgens⸗
befis (3. B. in Maſſachuſetts, mo jeder Wähler 3 Pfund Ster:
ling reines Einkommen beziehen und in Virginien, wo er 25 Mor:
gen Landes mit Haus und Hof oder aber ein Haus in einer Stadt
befigen muß, u.f.mw.), in einigen andern (wie 3. B. in Vermont)
aber nicht. In Bezug auf die Bundesgewalt, db. h. die beiden
Häufer des Congreffes und den Präfidenten, gelten, was die Wahlbes
techtigungen betrifft, in jedem einzelnen Staate deffelben befondere Geſetze.
An Frankreich ward von der conflituirenden Nationalverfamms
lung in der Conftitution von 1791 allen franzöfifchen Bürgern, wel:
he 3 Franken (eigentlih den Werth dreier Arbeitstage)
directe Steuer zahlten, das Wahlrecht verliehen, jebod nur Be:
hufs der Ernennung von Wahlmännern, welchen dann bie Wahl der
Deputirten oblag. Die Gonftitution von 1793 berief alle Bürger
zue unmittelbaren Wahl in ben Urverfammlungen Die Di:
rectorialverfaffung von 1795 verordnete wieder die doppelte Wahl
(d. h. durch gewählte Wahlmänner) und fdrderte fhon von den Ur⸗
wählern einen Genfus, d. h. irgend eine directe Grund- ober
Derfonalfteuer, von den Wählern aber einen je nad) der Größe der
Gemeinden und andern Verhältniffen verſchiedentlich beftimmten Grund-
oder Hausbefig. Die Confular-Verfaffung fegte zwar keinen
Genfus feſt, ließ aber das Verzeichniß der für die Repraͤſentan⸗
tenftelen Wählbaren aus einer in drei Stufen getheilten Wahl⸗
operation hervorgehen, und übertrug dann bie eigentliche Ernennung
dem „Erhaltungsfenat” Von bier an bis zur Reftauration war
die Wolfsrepräfentation ein leeres Wort. Die Charte Ludwigs XVIL.
befchränfte die Waͤhlbarkeit für die Stellen der Volksdeputirten auf
diejenigen Bürger, die eine directe Steuer von 1000 Franken, und das
active Wahlrecht auf jene, welche 8300 Franken zu entrichten hatten.
Später (durch ein Reactionsgefeb von 1820) wurde den Reichſten
jedes Departements ein doppeltes Wahlrecht verliehen, eines gemeins
fhaftlich mit den minder Meichen der einzelnen Bezirke, und dann ein
380 Genfud.
anderes ausſchließlich für ſich allein, Die Juliusrevolution von 1830
hob dieſe ſchamlos geldariſtokratiſche Einſetzung auf und verhieß ein
den liberalen Principien angemeſſenes Wahlgeſetz. Aber die noch
unter ber Herrſchaft bes vorigen Geſetzes erwaͤhlten Deputirten,
welche man — freilich im Widerſpruch mit dem Geiſte der Juliusre⸗
volution — als Nationalrepraͤſentation beibehielt, waren wenig geeig⸗
net, ein gutes, d. h. den Forderungen eines echt repraͤſentativen
Syſtems entſprechendes Geſetz zu geben. Daher mußte das Volk ſich
abfinden laſſen mit. ber kaum nennenswerthen Gewährung, bag — in
einer Nation von SO Millionen Seelen — buch die Erniedrigung
des Wahlcenſus von 300 auf. 200 Franken und in Bezug auf das
paffive Wahlreht von 1000 auf 500 Franken anftatt der bisherigen
80,000 Wähler etwa 180,000 reiche. Leute (nebft einer Schaar von
Staatsdienern und Candidaten des Staatsdienftes) berufen und anftatt
ber bisherigen 8000 Wählbaren etwa das Dreifache dieſer Zahl ale
fähig zur Deputirtenftelle erklaͤr wurden! Diefes Wahlgefeg erklaͤrt
freilich zur Genüge, warum die franzöfifche Deputirtentammer fo ganz
und gar nicht den Geift und Willen der großen Nationalmehrheit ausfpricht
und marum hinwieder die Nation mit täglich fteigender Geringſchaͤtzung
und Abneigung auf ihre angeblichen Repräfentanten blickt. Das eigentliche
Parlament in Frankreich ift daher die Preffe mehr als die Kammer;
ohne jene möchte dieſe leicht zum Werkzeug ber antipopulärften Rich⸗
tungen zu mißbrauchen fein. Eine wefentlich erweiterte Baſis
ber MWahlberehtigung, d. 5. eine weſentliche Verringerung
des Cenſus, wird daher von dem echt freifinnigen und daher audy
gemäßigten Theile der Nation gefordert, waͤhrend die ſich entgegenge»
fegten Ertreme ber rechten wie der linken Seite, d. h. ber Legiti—
miften ober Garliften wie der Republikaner, die Abfhafs
fung alles Genfus, d. b. die Allgemeinheit des Wahlrechts,
zur Loſung haben; eine Lofung, welche offenbar bie Hoffnung aus»
drücdt, durch die Stimmen der leichter zu verführenden ober zu erfaus
fenden Maffen der Proletarier jene der gebildeten und vermöglihern Bürs
gerclaffe zu überwältigen und dergeftalt, anftatt des wahren, vernünfs
tigen Geſammtwillens, den fanatifchen und engherzigen einer Pars
tei zur Herrſchaft zu bringen, Iſt diefe Hoffnung eine wirklich be=
gründete, fo wird fie entweder zum eindringlihen Beweis von
der überhaupt anzuerkennenden Raͤthlichkeit oder Nothmendigkeit eis
nes (mäßigen) Genfus dienen, oder wenigftens eine foldhe für Sranks
reich — megen der niedrigen Bildungsftufe feiner Maſſen oder wes
gen der befondern Entzündlichkeit Ihres Charakters — darthun.
In dem Zundamentalgefeg für das Königreih der Nieder:
Lande vom 24. Auguft 1815 ift zwar Bein beftimmter Cenſus allges
mein vorgefchrieben, doch wird fich darin auf die in den verfchiedenen
Provinzen und Städten beftehenden Wahlreglements bezogen, worin
neben den übrigen Eigenſchaften auch die Summe der dirécten
Steuer feſtgeſetzt wird, welche man befigen muß, un bet Ernennung
1)
Cenſus. „381
‚der Wahlcollegien (für die Stadtobrigkeiten und. für bie Provinzial⸗
Staaten — weiche lehtern die Mitglieder ber zweiten Kammer der
Generalſtaaten ernennen —) ſtimmfaͤhlg zu ſeln.
Auch die polnifche Conftitution, bon 1815 beſtimmte inen
Henſus (fuͤr einen. zu wählendem-Lanbboten von 100 St. jähel
Steuer und. für die Mäbler irgend eine Grunbdfteuer oder ein
bie verſchiede nen Claſſen auch verfchieben beftimmtes Vermögen). - Achne
liches fet auch die Verfaffung. des freien Staates Cracau fe .
berhaupt forbern die meiften; der neuern und neueften Ci
fitutionen ber verſchiedenen ‚ eucopäifchen. und insbefondere, ber dem
” Deutfhen Bunde angebörigen 5 als Bedingung des Er
and paffiven. Wahlsechts. die Nachweifung „eines gewiffen Berk
gens oder Einfommensg, heffen Map war bier uud dort anderg
beſtimmt iſt, alfo bald-arößer bald Heiner fein kann, überall aber bie
Seibfiftändigkeit des Lebensunterhalts zur unmittelbaren
Grundlage hat, oft auch auf. ber Idee der im-Vermögen liegenden .
Buͤrgſchaft für ben Seift der Stabilität und Drbnung ruht
J a6 Urtheil des Unbefangenen über den ſus wird jedoch wer
der durch die vorherefchende ‚Richtung ber Gefebgebun gen (bie da
mitunter als bloße Dictate der — einheimifchen * auswaͤrtigen —
Bewalt ‚oder der —““ Selbſt fucht, oder wenig⸗
Para ti als ‚gerhtofiene: Berglei wiſchen dem Nationalwunfc
jenen Mächten erſcheinen) noch, die ‚Autorität, der — *
be Ahre Lehren; den, Richtungen, ber. jew igen Machthaber. an
quemenden — Schrüftftekler beftimmt m, mod) endlich durch
die unlautern Stimmen der F — sh leldenſchaftlich verfol«
genden Parteien, Auch Eanı Ar feremda, die Rebe
ÜR,. das hiftorifhe, Recht KARA bie —* ende En führen,
obfchen die hier ober dort factifh, vorhandenen —
überall eine kiuge Beruaſichtigung anſprechen
Wir haben die —— der Ausſchließung be
vom. Wahlrecht, im Allgemeinen ‚zugeftanden. Aber wo .
die Grenge derſelben — Wir glauben dort, wo bie Selbftftk
digkeit des Lebensunterhaltes, d.h. bie. Unabhängigkeit *
felben von ber Gunſt anderer Perſonen beginnt. Wer nur von folder
Gun — zumal, beflimmter Perfonen — den Unterhalt Er
hat in bee Megel keine Freſheit des Willens mehr, und verftäzkt “
wenn er zur Stimm umge — das Gewicht der
me feines DBrodheren. Auch. wer, ohne eines beftimmten Herrn
Dimmer — — Lea ‚fein, durch feine
m elohn geleiftete ‚gemeine 13 ein exinges
— ben —— Unterhalt arg {er 5
de, oder wer überhaupt nach ber ränktheit ‚feiner Bermögensums -
Sr dem — x . Be ‚vergleichen. als der nͤhern
5 der ung. elch en zwar auch ‚beftechen,
aber fie koſten zu * aio —2* leicht ein. Privatvermögen ihrer ‚bie ·
382 Cenſus.
noͤthige Zahl erkaufen koͤnnte), oder auch der Verfuͤhrung oder Einſchuͤch⸗
terung, oder auch der Luſt nach gewagten Veraͤnderungen unterliegend
betrachtet werden. Die Feſtſetzung eines fo niedrigen Cenſus, daß nur
bie eben gedachten Claſſen (welche freilich ‘je nach den. befondern Um:
fiänden der einzelnen Staaten bald mehr Bald: meniger zahlreich fein
werben) dadurch dom Wahlrecht 'ausgefchloffen werden, laͤßt ſich nach
ben obigen Betrachtungen wohl rechtfertigen, nicht aber ein höherer
oder gar ein fo hoher, daß er die eminente Mehrzahl der Nation
ausfchlöffe. Es wird zumal bei Völkern, die an Cultur voranges
fchritten: find und bei welchen der Unterricht auch bie niedern Volks⸗
claſſen ber geiftigen Miündigkeit näher gebracht Hat, die Ausfchließung
vergleihungstveife Wenigere treffen duͤrfen, als bei noch halb ro⸗
hen, in Dummheit wie in Armuth verſenkten Voͤlkern, deren Mehr⸗
zahl etwa von uͤbermuͤthigen Ariſten niedergetreten oder von fanati⸗
ſchen Pfaffen beherrſcht iſt.
Führt man einen dergeſtalt ermäßigten Cenſus für das active
Wahlrecht ein, fo iſt man dadurch der Morhivendigkeit enthoben, zur
Sicherung guter, dem- vernünftigen Geſammtwillen zuverläffige Organe
gebender Mahlen eines von den beiden andern, vielfach empfohlenen,
auch Häufig — zum Theil felbft neben dem Cenfus für’s active
Wahlrecht — wirklich eingeführten Hauptmittel oder gar beibe zugleich
anzumenbden ; zwei Mittel, welche beibe weit: bedenklicher fürs Recht
und weit verwerfliher vom politifchen Standpunkt find, als unfer
vertheidigter Cenſus, naͤmlich das Inſtitut der Wahlmänner
und die Feftfesung eines hohen Genfus für paffive Wahlrecht,
d. h. für die Waͤhlbarkeit.
Das Inſtitut der Wahl maͤnner verwandelt die Theilnahme
am Wahlgeſchaͤft, ſoviel die Urwaͤhler betrifft, in bloßen Schein.
Es iſt naͤmlich das Recht, diejenigen zu ernennen, welche ſtatt unſerer
waͤhlen ſollen, von dem Recht der ſelbſteigenen Wahl unendlich ver⸗
ſchieden und allerdings eine zu’ kaͤrgliche Abfindung der auf des Nen⸗
nens werthe politifche Berechtigungen Anſptuch machenden Bürger.
Zudem liegt ein Widerſpruch darin, gewiſſe Claſſen der Bürger oder
den größeren Theil der Bürgerfchaft für unfähig zu einer guten De:
putirtenwahl zu erftären und dennoch für fählg zu der — nicht mins
der fchtwierigen — guten MWahlmännerwahl zu achten. Aber freilich,
wenn man ganz und gar keinen Genfus will und doch die gemeinen
Bürger für unzuverläffig hält, fo muß man zu den Wahlmännern,
die da in ber Megel zu den Notabilitäten gehören werden, feine Zus
flucht nehmen, obſchon dadurch der angeblichen Volksrepraͤſentation der
Charakter der Wahrheit benommen oder doch weſentlich verkuͤmmert
wird. Wir dagegen halten den Genfus (in den von uns angegebe⸗
nen Schranken und nur für das active Wahlrecht) für ein unend⸗
lich geringered Webel als‘ das Inſtitut der MWahlmänner (f. d. Art.).
Aber weit ſchlimmer ift bie Beſchraͤnkung der Waͤhlbarkeit
durch einen Cenſus, welcher natürlich hier ein höherer fein wird, ale
Genfuß. 383
man für das active Wahlrecht fordert. Beſteht aber der legte nicht
und iſt zugleich Jeder Im. Volk: ohne Ausnahme wählbar, fo läft
ſich nicht beitceiten, daß. nach Umftänden: dad Uebergewicht der ärmern
Claſſen nidyt nur: die Intereſſen der Wohlhabendern, fondern aud) bie
ganze Ordnung des Staates bedrohen. ;faun..: Alsdann wird es räths
(idy oder erfcheint ale Nethwendigkeit, die Waͤhlbarkeit zu befchräns
ten: und bei ber Schwierigkeit, Schranken aufzufinden, .die der dee
unmittelbar entſpraͤchen, das. Heil in einer mittelbaren (wenn
auch hoͤchſt unzuverlaͤfſigen) Garantie zu füchen,' d. h. durch Feftfegung
eines Waͤhlbarkeits⸗Cenſus bie Gefahr; ganz ſchlechter Wahlen
zu entfernen, felbft .ducch Verzichtleiftung ‚auf: bie Möglichkeit der beſ⸗
fern unb:allerbeften. Nach unferer Theorie dagegen wuͤrde nach
Einführung. eines niederen MW ah - Genfas “aller Grand zur Statuis
rung “eines Tenſus für die Waͤhl barkeit aufhören; bie Gefammts
heit wuͤrde die. Hoffnung: fi. erhalten 'haben; immer die tüchtigften
‚und tugerrbhafteften der Bürger mit ihren Vollmachten bekleidet zu
fehen; und; bie uͤrmere Buͤrgerclaſſe wuͤrde als uͤbeereichen Erfag für das
ihr entzogene active Wahlrecht jenes. der unbeſchraͤnkten Waͤhlbar⸗
Bett: befigen.::.:Bek dar "MWihlbarkeit waͤmlich, ba nur Einzelne ges
wählt werden, ift- bie Ausfſchließung ganzer Elaſſen nicht nur zwecklos,
fondern ſchaͤdlich, fobalb:: man ein.:zuverläffiges Wahlcollegium bat.
Die Unmürdigen ober minder Würdigen aus jeber Glaffe:. und ganz
vorzüglich husmiee. der Armen werben durch das MWahlcollegium felbft
ausgefchloffen,- d. h. uͤbergangen werben; aber die in den aͤrmern Glafs
fen gewiß nicht ‘minder als in ben reichern anzutreffenden einzelnen
Würbigen und Würdigften gehen dann ber Nation nicht verlor.
ten für den edelſten Wirkungstreis, und. den Wählern ift erlaubt; nad)
ber. hoͤhern Cinficht und nad) der reinen Tugend zu fragen, ans
ftatt nach :dem größern Steuercapital. ft aber das Wahlcolle⸗
gium nicht zuverlaͤſſig, alsdann wird auch duch den Waͤhlbarkeits⸗
Genfus die Gefahr der ſchlechten Wahlen nicht aufgehoben; derfelbe ift
alfo unter: jeder Vorausfegung dem Princip nah) verwerflich und
in Bezug auf die davon erwartete Wirkung ungenügend. Ä
Menn wir nah dieſen Anfichten das wirklich in Frankreich
— angeblih dem Mufterflaat für die Repraͤſentativ⸗e Monarchie, oder
überhaupt für das. vom Beitgeift geforderte conftitutisnelle Syſtem —
beftehende Wahlgefeg prüfen, fo müffen wir freilih von Unmillen oder
Mitleid oder von beiden Empfindungen: zugleich ergriffen werden... Wie!
eine Nation, in deren Gefchichtbüchern ‚die Suliustage von 4789 und
von 1830 verzeichnet ftehen, eine ber politifhen Muͤndigkeit und felbit
ber errungenen „Volksſouwverainetaͤt“ ſich rühmende Nation gibt, SO
Millionen Seelen zählend, das Recht, ihre (angeblichen) Stimmführer
zu wählen, an 180,000 faſt ausfchliegend durch die Höhe des Steuer
capitals dazu berufene Wähler hin. und beſchraͤnkt ihre, nad) dem ver⸗
nünftigen Recht durchaus freie; Xusmwahl .auf die faft lächerlich kleine
Zahl von etwa 20,000 Höchftbefteuerten 11 Was ift hietnach die angebliche
384 Genfus.
National: Repräfentation ?_ Die: Mepräfentation Taum bes
funfzigſten Theiles der activen Bürger, mithin ein bloße® Trug⸗
bild, ja eine Verhoͤhnung der fo laut ausgerufenen Volksſouve⸗
rainetät. Welke Stimmen berrfchen vor in’ der franzöfifhen Des
putirtenlammer (die Pairs gehören gar nicht in dieſe Betrach⸗
tung) und welche Intereffen find vorzugsmeife vertreten in ihre? —
Die des großen Beſitzthums, des nach Aemtern begierigen Ehr⸗
. geizes, der vormehmen Volksverachtung, ber, alles ibeale Ziel,
Freiheit, Ruhm und Gemeinreohl den nächftliegenden materiellen Guͤ⸗
tern . opfernden Selbſtſucht. Auchdie Oppoſitron iſt es nur
dem kleinſten Theile nach im Sinne des Volkes. Mehr ſpricht aus
ihr der Geiſt der Faction oder der Coterie, des perfönlichen. Haſſes,
des Strebens nach Miniſterſtellen, überhaupt. — wie bei ber Majori⸗
tät — des ſchnoͤden Egoismus. Die Nation ſieht ſich und ihre
beitigften: Güter, und. Rechte preiögegeben einem angeblichs das Volk
vepräfentirenden gefeßgebenben Körper, der aber in ber That und Wahr⸗
heit daffelbe weder vorftellt noch vertritt, fondern höchftens bie
vorherrfchenden Gefinnungen feinee Wähler, d. h. der zweimalhun⸗
derttaufend. Reichern in dem aus 30 Millionen: Seelen beſtehenden
Volke, ausſpricht, eine oligarchiſche Perſonification der die Nation be⸗
herrſchenden Geld⸗ Axiſtokratie: — So unheilvoll find die Fruͤchte
des hohen Cenſusl —
So groß aber iſt die, zumal in den hoͤhern Regionen; hettſchende
Vorliebe für den Cenſus, daß man ihn nicht blos für die Ausübung
ber ftaatsbürgerlihen, fondern aud der gemeindebürgerlis
hen Rechte als. Bedingung zu fegen ftrebt. Die Idee ber bürgerli«
hen Gleichheit, alfo ber gleihmäßig erlaubten. Berufung aller
Glaffen zu Stellen des Vertrauens oder der Ehre oder gar der Gewalt,
ift den Ariſtokraten unerträglich, und ein weit leichtered, zum Alleinbe⸗
fig folher Stellen führendes Mittel, als die Erwerbung höherer per=
föntiher Tuͤchtigkeit, ift allerdings die.gefeglihe Ausſchlie⸗
$ung der Aermern. Das „gemeine Bol“, dee Poͤbel“, wie
man gern fih ausbrüdt, ſoll überall niedergehalten werben ;
Ehre und Gewalt find natürliche Vorrechte der hoͤhern Stände,
und bie praktiſch bequemfte und ficherfte Methode der Unterfcheidung
ift — mo nicht das erbliche Patriziat nod befteht — die Feſt⸗
ſtellung eines hohen Cenſus.
Indeſſen iſt nicht zu leugnen, daß, wenn ein hoher Cenſus den
Intereſſen dee Geld-Ariſtokratie entſpricht, dieſelben auch alldort, wo
gar kein Cenſus beſteht, ihre Rechnung finden. Wo naͤmlich auch
die armen und abhaͤngigen Buͤrger Stimmrecht beſitzen, da iſt es den
Reichen leicht, wenigſtens eine große Zahl derſelben zu erkaufen oder
durch das Gewicht des Anſehens fuͤr ſich zu beſtimmen. Ihre eigene
Stimme gewinnt alſo an Wirkſamkeit durch die gleichlautenden ihrer
Clienten. Hiernach moͤchte allerdings in der Gemeinde wie im Staat
ein Cenſus, doch nur ein niedriger zu empfehlen. fein. Alsdann
Cenſus. 385
wird die Mittelclaſſe die Oberhand bei Wahlen erhalten (denn nur
vom Wahlrecht, nicht von ber ſonſtigen Stimmgebung in ber Ge⸗
meindeverſammlung, fuͤr welche durchaus kein Cenſus beſtehen
darf, iſt hier die Rede), was uͤberall das Wuͤnſchenswerthe iſt, weil
in dieſen Mittelclaſſen der Regel nach Tuͤchtigkeit und. Zuverlaͤſſigkeit
- am meiften anzutreffen find,. mährenb In den hoͤhern Claſſen uns all:
zuoft nur gefleigertee Egoismus und Anmaßung, in ben unterften aber
Moheit und Unmwiffenheit, dort alfo Untauterkeit,. hier Irrthum und
Schwäche begegnen, Eigenſchaften hier und:dort, welche wenig tauglich)
machen zu Drganen eines vernünftigen Gefammtwillens. '
Alfo auch Sreiheitsfreunde koͤnnen einen Cenſus (verſteht
ſich einen niedrigen) für Gemeinde-Wahlen verlangen oder wenige
fiens zugeben, aus. dhntihen Gründen, wie bie oben angebeuteten,
welche dafür in der ſtaats buͤrgerlichen Gefellichaft .fprehen. Doc
walten allerdings einige Unterſchiede ob zwifchen bier und dort, und
auch zwiſchen den Gemeinden „unter einander felbfl. Ein. Genfus
in kleinern, zumal laͤndlichen Gemeinden erfcheint als durchaus
überflüffig, mithin auh ungerecht. In großen, namentlich in
Handels: und Sabril- Städten, überhaupt in folchen, die eine
Menge von Proletariern in der eigentlichen Bebeutung des Worts
beherbergen, möchte er raͤthlich fein, ja es möchte fogar, infofern auch
bie Verwaltung des Gemeinde⸗Vermoͤgens ober bie Bürgfchaftsleiftung
für die Nichtigkeit der Grund und Pfandbücer u. f. w. zu den At⸗
tributionen ber Gemeinde s Varfteher. gehören, auch für die Wähle
barkeit. ein mit der. zu übernehmenden Berantmortlichkeit im
Verhaͤltniß ftehender Cenſus zu beflimmen fein.
Anderfeits gibt es jedoch auch Betrachtungen, welche gegen jeb.en
Genfus in der Gemeinde fprechen, ober menigftens benfelben hier weit
entbehrlicher als im Staate darſtellen. Zür’s Erſte nämlich iſt bei..der
Wahl von Gemeinde-Borftänden meit weniger Gefahr bes Leichtfinne
oder der Gleichgültigkeit und auch der Unkunde, als bei der Deputirs
tenwahl für die allgemeine Volksvertretung. Auch der. Armite Gemeinbes
bürger erkennt und fühlt die Wichtigkeit einer guten Wahl feiner
unmittelbaren Obrigkeit, deren Verwaltung ihm tagtaͤglich Gutes oder
Böfes bringen kann. Jeder mag auch ermeſſen, welche Eigenfchaften
zu folder nur in Meinem Kreife fi, bewegenden Verwaltung erforbers
lich find, und die Canbidaten, ba fie alle feine näheren Mitbürger find,
Eönnen ihm nicht leicht perfönlich. unbekannt : fein. . Bei ben Deputin
ten= Wahlen verhält ſich diefes. Allee ganz anders. . Was bier zu ev
waͤgen ift, liegt der befchränkten Faſſungskraft des Tageloͤhners meift
zu fern und das Gewicht der: einzelnen Stimme iſt babei zu unbe
deutend, als daß er. bei deren „Abgabe mit gehörigem Ernſt aller mögs
lichen Kolgen gedenken ſollte. Auch mangelt ihm bier gar oft die
perfönliche Bekanntſchaft mit dem Gandidaten, ben er alfo bios auf
Empfehlung Anberer, ober nach dem zubringlihen Verlangen
Anderer wählte. Sodann iſt in der Gemeinde. ein etwa gefchehenee
Staats sEeriton. IL 25
386 Cenſus.
Mißgriff unendlich weniger ſchaͤdlich als im Staat. Denn — auch
abgeſehen von dem der Regierung meiſt vorbehaltenen (wiewohl freilich
ſehr bedenklichen) Recht der Beſtaͤtigung oder Verwerfung wenigſtens
der Buͤrgermeiſter⸗Wahl + hat die Staatsbehoͤrde, als bie
Oberaufſicht uͤber das Gemeindeweſen und die Gemeinde⸗Verwaltung
fuͤhrend, uͤberall das Recht und die Pflicht, einer etwa uͤblen Verwal⸗
tung durch eigenes Einſchreiten Einhalt zu thun und das Gemeinwohl
gegen den Unverſtand ober bie Unredlichkeit ber "gewählten Municipal⸗Vor⸗
fieher zu fchirmen. Gegen eine mißglüdte Wahl der Volksvertre⸗
ter aber gibt es kein Heilmittel, als etwa bie Auflödfung ber Kam⸗
mer, weldye jedoch ficherlich nicht auf- Anrufen einzelner Wahlcollegien
erfolgen wird, ja welche überhaupt höchft fekten im Intereſſe der Com⸗
mittenten, ſondern meift nur it jenem: der wirklich im Amte be
findlihen Minifter flattfindet. 0
. Aber wird nicht, wenn auch bie Glaffe ber Vermögenslofen mit
fiimmt, das Regiment ber Gemeinde in bie Hand ber — meiſtens
ſehr zahlreichen — Proletarier gelegt und eine ochlokratiſche Ver⸗
waltung dadurch hervorgebracht werden ? — Möglich allerdings oder
gedenkbar ift folhe Folge. - Doch in der Wirklichkeit wird fie
nur höchst felten und unter ganz ungewöhnlichen Umftänden flattfinben,
und auch alsdann noch durch die. Xutoeitäider Staats = Behörden
wieber geheilt werden. In ber Regel aber werben bie Proletarier fich
nicht auf einen Candidaten ihrer eigenen Claſſe vereinigen. Selbſt
wenn er wirklih würdig wäre, würde bie Eiferfucht feiner Stans
desgenoffen, "deren jeder gewöhnlich Sich für gleichwiel werth achtet, eine
Vereinbarung auf ihn verhindern, und noch weit ficherer, wenn er
niht perfönlich ganz ausgezeichnet, demnad). feine Wahl nicht
wirklich mwünfchensiwerth. if, Naturgemaͤß gehen (auch ſchon barum,
mweil die Vermoͤgensloſen oder minder Wohlhabenden die unbezahl⸗
ten Stellen ber Gemeinberäthe gar nicht annehmen koͤnnen) auß
ben Wahl-Urnen ber Gemeinden meift nur die Namen von Notabis
Litäten berfelben, insbefondere der Reicheren, herdors und: es
thut meiſt eher Noch, dem oft mißbrauchten Uebergewicht ber Ari⸗
ftotratie eine Hemmung entgegenzufegen; als das Einbrechen ber
Ochlokratie abzumehren. ._ '
In der 1834 im Großhersogthum Baden durch Wereinbarung
der Regierung mit den Kammern zu Stande gekommenen Gemeinde⸗
Drdnung iſt jeder — unbefcholtene — Gemeinbebütger ohne allen
Genfus als wählberechtigt und wählbar erklaͤt. Die Regierung
zwar hatte in dem von ihr ausgegangenen Entwurf fuͤr bie geößern
Städte einen Genfus von 3000 fl., für die Bleinern aber von 2000
und 1000 fl. vorgefchlagen (nur in Landgemeinden follte keiner
beftehen) ; aber die Volkskammer verwarf denfelben und die Regie⸗
tung gab dem Berlangen biefer Kammer nah. Die hierauf im gans
zen Lande vorgenommenen Wahlen der Gemeinde: Vorfteher lieferten
faſt durchaus ein exfreulidyes, d. b. den Gemeinden frommendes, Res
Genfus. 387
fultat. Nur in zwei Städten fiel biefelbe nicht nach dem Wunfche
ber (im Allgemeinen parteilo® gebliebenen, hiee jedoch, vielleicht beftimmt
durch auswärtigen Einfluß, perhorrefeirend aufgetretenen) Regierung
aus. Da wurde kurze Zeit nach dem Schluffe des Landtags von
1833 (welchem man keine Vorlage darüber gemacht hatte) unter bem
Titel eines „proviforifhen Geſetzes“ (bergleihen bie Werfaffung
bei dringenden Umfländen der Regierung einfeitig zu geben ers
laubt) das junge Gemeindegefeg Im Punkte der Wahlberechtigung um:
geftoßen und ein Genfus von 2000 fl. für die 4 größten Städte, einer
von 1500 für die Städte über 3000 Seelen, fuͤr die übrigen Städte
und für die Landgemeinden endlich einer von 800 fl: — überall jeboch
nur für die Bürgermetfter- und Gemeinderaths-⸗, nicht aber
für die Ausfhug- Wahlen — vorgefhrieben. Man bezmweifelte, ob der
Megierung unter den obwaltenden Umftänden die Befugniß zu folcher
Verordnung (für deren: Dringlichkeit auch nit ein Grund Eonnte
aufgeftelft werden) zugeftanden werben koͤnne; jedenfalls warb alffeltig ans
erkannt, daß am nächftfolgenden Landtag das proviforifche Gefeg entwes
der dert Kammern zur Zuftimmung müffe vorgelegt oder aber zurüds
genommen werden. Erfteres gefhah nun wirklich und die zweite
Kammer, an welche die Vorlage gefhah, nahm das Princip bes Gens
ſus jetzt wirklich an, jedoch nur in der Weife, daß in den Gemeinden
von mehr als 3000 Seelen, die in bem Drtöfteuerkatafter gar
nicht ober nur mit dem perfönlichen Verdienſt⸗Capital von 500 fl. Eins
"getragenen von dem Wahlrecht ausgefchloffen, in allen andern Gemein
ben aber fämmtliche Bürger ohne Ausnahme wahlberechtigt fein follten,
Was in dem Vorfchlage ber Regierung Mehreres enthalten war,
wurde mit entfchiedenem Stimmenmehr verworfen. Es .gefchah die
ſes am Vorabende bed mit unerllärbarer Eile von der Regierung ans
geordneten Schluffes bes Landtags, fo daß der Gefegentwurf nicht ein-
mal mehr an die. erfte Kammer:zur Berathung ‚gelangen Eonnte. Da
jedody zue Verwerfung eines Geſetzes der Beſchluß auch nur einer
Kammer genügt, fo ift nach dem ‚oonflitutionellen Mechte Badens Elar,
Daß nunmehr die ptowtforifhe Verordnung” nom December
1838 ihre Gültigkeit enefchteden verloren bat (fie wuͤrde fie
auch ſchon in dem Kalle’ verloren haben, - wenn fie bee Kammer gar
niht wäre vorgelegt worden) und daß jet bie betreffenden Ge
ſetzesartikel von- 1831 ‘wieder in Kraft getreten find. Der. Regierung
jedoch liegt ob, dieſes duch eine eigene Bekanntmachung zu erklaͤ⸗
ren, wenn fie nicht lieber (mas. ihr in. Kolge dee Schiußfaffung der
zvoeiten Kammer jetzt gleichfalls zufteht) das Geſez in der Weife,
wie dDiefe Kammer es annahm; „proviſoriſch“ verkuͤnden will.
In dem Augenblick, da diefes geſchrieben wird, iſt noch keines won
beiden geſchehen, was in der Folge. zu-unangenehmen Etoͤrterungen
führen fann. (Bol. bie Verhandl. der bad. IL ‚Kammer von 1835,
8. Protokollheft S. 51 ff. und 5. Bellagenheft ©. 298.f.) - -
Auch. in den GemeindesDrbnungen der meiften asrigen beutfche
2 *
588 Genfus. Centraliſation.
Staaten, namentlih in Preußen, Batern, Großh. Heffen u. a.,
ift ein theild höherer, theild nieberer Cenſus, d. h. ein Vermoͤgens⸗
maß entweder blos fuͤr's active oder blos für’s paſſive Wahlrecht ober
fie beide zugleich feftgefeht.. Das würtembergifche Verwaltungs
ebict für die Gemeinden (von 1821) jedoch enthält eine ſolche Beſtim⸗
mung nit. Das franzoͤſiſche Gemeinbegefes (von 1831) da⸗
gegen, während es noch immer bie Ernennung ber Maires und Ab»
juncten ber Regierung überläßt, beruft dabei erft noch bios bie
Höchftbefteuerten jeder Gemeinde (und zwar nur ben zehnten
Theil von 1000 Seelen, fodbann den zwanjigften von 1000 bis
6000 und den fünfundzwanzigften Theil von 5000 bis 15000, von noch
größerer Bevoͤlkerung aber nur ben breiundbreißigften Theil) neben
den fogenannten Capacitäten und ben Mitgliedern der Staates
und Gemeinde-Behörben zum Wahlrecht. So tief begründet und weit
- gehend ift ih dem angeblid) der Volksſouverainetaͤt huldigenden
Frankre ich das Princip dee Geldariſtokratie und der Nies
derhaltung ber Maffen.
Mir befchränkten uns hier auf biefe Andeutungen, einige weitere
Betrachtungen und Beifpiele dem Artikel Gemeinde: Orbnung
vorbehaltend. Motte. ;
Gentgerichte, f. deutſche Gerihtsverfaffung.
Gentralifation. Wörtlich heißt Centralifation in politifcher
Hinfiht die Einrichtung, daß die - politifchen Thaͤtigkeiten unb ihr
Geſetz, ihre Leitung mie ihr Ziel möglichft von einem gemeinfchaft-
hen Centrum ausgehen und darauf zurüdführen. Man hört oft
im Allgemeinen Zabel und Lob der Gentralifation, bie gleidy einfeis
tig und ungegründet find, obwohl es leicht einzufehen ift, daß
Fräünkreich noch immer an einem UWebermaß, die Schweiz an
einem Mangel der Gentralifation leidet. Das Streben nad Gentras
liſation und das Streben nach ihrem Gegenfag oder nad) Selbſtſtaͤn⸗
digkeit, Selbſtzweck, Selbfigefeg und freie Seibftchätigkeit ber einzel
nen Geſellſchafts⸗Theile und Glieder, deu Provinzen, der Kirchfpiele
oder Bezirke, dee Gemeinden, bee Bamilien, ja ber einzelnen Bürger
einer Nation find beide nothwendig. Beide in ihrer einfeitigen Rich⸗
tung aber und im ihrer Uebertreibung find gleich verberblih. Har⸗
monie in der Mannichfaltigkeit, Kreiheit und individualität in ber
Einheit, das ift ein Grundgeſetz bee Schöpfung, des Lebens, bes
Staats. Es kommt darauf an, beide in möglichfter Vollkommenheit
and in inniger Verbindung, je nad den verſchiedenen Verhaͤltniſſen
und Zeiten gefhidt mit einander zu vereinigen. Die. Uebertreibung
und Einfeltigkeit der Gentralifation, etwa einer Napoleonifhen, führt -
im Staatsieben zum Abfolutismus und Defpotismus, zuletzt zum
Verkuͤmmern und Abfterben ber höheren Lebenskraft ber einzelnen
Glieder, endlich zum Untergang und Tod aud bes Ganzen. Eins
feitigteit und verkehrte Richtung in der Freiheit und Selbſtſtaͤndigkeit
ber einzelnen Theile führt zur Iſolirung und Kraftlofigkeit, zum Wis
Gentralifation. Centrum. 389.
derſtreit, zur Anarchie und Auflöfung, zum Untergange auch der
einzelnen Glieder. Kurz beide verlegen das hoͤchſte Lebensgeſez
des Staats (f. oben Bd. I, ©. 9 ff.). |
Dem einfeitigen Gentralifiten in Beziehung auf bie Verfaſſung
und Gefeggebung felbft fegte vorzuͤglich Rouſſeau, ftellte aber auch
früher und fpäter die Sefchichte das Köderativfpyftem ber Nas
tionen, welches in Amerita, in der Schweiz, in Deutfchland befteht,
entgegen (f. Bund). Wo zu ihm die Verhättniffe ſich nicht eignen
oder wo feine großen Gefahren, feine großen Vortheile überwiegen,
da muß doc mwenigftens "in größeren Staaten eine moͤglichſt freie,
kraͤftige provinzialftändifhe ober Landraths⸗ oder Departemental = Vers
faffung die individuellen Verhältniffe, Beduͤrfniſſe und die befonberen’
patriotifchen Beftrebungen und den Wetteifer der Provinzbewohner bes-
fhügen und erweden unb gegen bie Monotonie und Defpotie einer
allgemeinen Abhängigkeit vom Hof und von ber Hauptſtadt fichern.:
Nicht minder muß freje Gemeindeverfaffung, freied Vereinigungsrecht,
feibftftänbige, kräftige Familien-Verfaſſung und individuelle perfönliche
Freiheit überall Eräftiges und freies und reiches Individuelles Leben
fhügen und wecken. Wohl aber nmıß für die wefentlihe Harmonie
und Kraft des Ganzen, insbefondere für wahre Eolliflons s und Noth⸗
Falle und in den Äußeren Gefahren aud ber Gentralbehörbe die hins
länglihe Kraft bleiben. Ihr Eingreifen wird übrigens um fo weni⸗
ger drüdend, je mehr daſſelbe mitbeftimmt wird durch frei gewählten
Mepräfentanten der einzelnen Theile. Diefe felbft aber werben um fo’
mehr wahre und gute Vertreter auch bes gefammten Staats, je tuͤch⸗
tiger und wuͤrdiger die befonderen Verhaͤltniſſe find. -
C. Th. Welder.
Gentral > Unterfuhungs » Gommiffton, f. Karls:
baber Befchlüffe | i
" Eentrals®ßerwaltung, f. von Stein. ,
Centrum der Deputirtens Kammern, insbeſondere
ber franzoͤſiſchen. Bekanntlich theilen ſich gewoͤhnlich die Mit⸗
“ glieder ber vepräfentativen Staͤndeverſammlungen in verfchiedene Pars
teien, in England die Minifterials und die OppofitionssPars:
tei genannt. Sie nehmen auch gewöhnlid in der Kammer neben⸗
einander Plag. In Frankreich hat ſich diefe Abtheilung etwas abwei⸗
hend geftaltet. Unter der Reftauration fegten ſich die fogenannten-
Ropaliften zur rechten Seite, die Mitglieder ber Oppofition zue
"linken. Bald aber zeigte es fi, daß bie Royaliſten zum Theil
toyaliftifcher waren, als ber König felbft, oder auch gegen feinen und
der Minifter Willen die Außerften Reactionsmaßregeln durchſetzen woll⸗
tn. Die Minifter Eonnten alfo nue an den gemäßigteren Theil
ber Royaliften ſich halten, näherten ſich aber nun von ſelbſt ſchon
durch ihren Kampf gegen jene übertriebenen Royaliſten den gemäßig>
teren und mehr ober minder an die Regierung fi anſchlleßenden
Mitglieder der Linken Seite. So bildete ſich zwiſchen den Mitglie⸗
⁊
300 Centrum.
bern ber außerſten rechten Seite und denen der aͤußerſten
Linken, melde jest faft in flehender Oppofition gegen bie Minifter
ftanden, eine mittlere, der Regel nah miniſterielle Partei,
welche nun auch die Site in ber Mitte einnahm und base Centrum
genannt wurde. Dabei faßen die urfprünglich ber rechten Seite ans
gehörigen Mitglieder bes. Gentrums oder diejenigen, welche doch mehr
zu ihnen, als zu ben Grundfägen bee linken Seite fi binneigten,
auf der rechten Seite des Gentrums und bie urfprünglich der linken
Seite angehörigen ober doch ſich mehr zu Ihr hinnelgenden- Miniſteriel⸗
len auf der linten Seite. Das Gentrum beftand alfo aus einem
rechten und einem linken Centrum. Und felbft bie Oppoſi⸗
tionsglieber der rechten und ber linken Seite theilten fi) zum Theil
nod in die aͤußerſte rechte ober linke Seite und in die rechte ober
linke Seite ſchlechtweg. Sept fipen natürlih in der Oppoſition
bee rechten Seite die Garliftifchen Deputirten. An fi enthält wohl
. die franzöfifche Abtheilung eine fehr natürliche Schattirung ber unver⸗
meidlichen verfchiedenen Anfichtöweifen und Richtungen ſolcher Depus
tirtenyerfammlungen, welche ſich auch ohne Namen und befonbere Sige
bilden und finden würden. Auch. weicht die Sache an fih im Wes
fentlihen von ber englifhen Einrihtung nicht ab. Auch bier find
Ultratories neben den gemäßigteren Tories und Rabdicale nes
ben den Whigs, und es ift wohl nur die Unmeisheit ber Tories
und ber noch fortdauernde Umgeſtaltungskampf Schuld daran, daß noch
nicht eine Vereinigung ber gemäßigten Toried und Whigs zu einem
nainifteriellen Centrum die Ultratories und bie Radicalen zu einer
echten und linken Oppofitionspartei verwandelt bat. Außerdem gab
es in England auch fehon von langer Zeit her eine Partei, die ein
echt eigentliche® Gentrum bildet und nur in ber legteren Zeit mehr
zu verfchwinden fcheint, nämlich die fogenannten Neutralen. Dies
fes find Diejenigen Parlamentsglieder, welche am wenigſten an bie
Darteianfichten der. beiden Hauptpgrteien, der Xories und Whigs,
ſich anfchliegen und vielmehr regelmäßig, foweit die Eriftenz des Mis
nifteriums auf dem Spiele. fteht, mis .biefem flimmen, und nur, wenn
fie dadurch ganz ihre Ueberzeugung zu verlegen glauben, es verlaflen,
aledann aber auch bisher ſtets feinen Sturz herbeiführten.
Manche nun haben diefe Parteinbtheilungen gänzlich verworfen ;
dieſes läuft aber gegen die Natur dee Dinge und ift daher. vergeblich.
Auch hat die Abtheilung fehr gute Seiten. Man hat zugleich einen
großen Werth darauf gelegt, daß die Deputirten nicht nach ſolchen
Abtheilungen, ja überhaupt nicht nach ihrer freien Wahl ihre Sitze eins
nehmen koͤnnen, fonbern fie durch das Loos erhalten. Aber wo bie
Dinge felbft nicht aufgehoben werben können oder follen, ba iſt es eitel, ja
unnöthig, flörend und felbft fehon, weil es die Wahrheit weniger beut-
lich macht, nachtheilig, ihre dußeren Zeichen zu unterdräden.
Die Natur ber Dinge aber führt es mit fich, daß bie Menfchen
zum Xheil mehr auf diefe, zum Theil mehr auf bie andere Seite
5
II
x
Centrum. 391
ſich neigen, und daß alfo bem gerabe jekt an der Spige ftehenben
Minifterium gegenüber in der Kammer ber Volksvertreter theild Solche
fih finden, die nad ihrer Anfichtemweife und nad) ihren Neigungen
mehr und. mit einer gewifjen Vorneigung dem einen Hauptpol bes
freien vernünftigen Staats, nämlich der Kreiheit und Bewegung, und
dem Sortfchritt fi) zuneigen, und alfo vorzugsmeife deren Intereſſen
vertseten, theild aber Solche, die ebenfo, wenn freilich auch nicht aus⸗
ſchließlich, dody mehr dem andern Hauptpole, nämlid ber Ordnung,
der Ruhe und Feftigfeit und ihren Intereſſen, geneigt find. Je nach⸗
bem nun die Richtung bes Minifteriums ift, wird es, abgefehen von
den Gleihgältigen, Abhängigen, Bunftfuchenden, Erkauften, die ihm
dienftbar find, die eine Partei zur Minifterialpartei, bie andere zur
Oppofitionspartei haben. Es ift nun gerade ber Hauptvortheil biefes
Segenfages und felbft der ganzen parlammtarifhen Verhandlungen,
alfo auch das Verdienſt der Oppoſition, daß buch file, buch ihre Wir
berfprüche und Angriffe und durch die Vertheidigung von ber andern
Seite, alle beiden Hauptrihtungen des Staatslebens und alle verſchie⸗
benen Geſichtspunkte der Maßregeln erwogen und vertreten werden,
daß ihre Mängel zu Tage kommen und zulegt das reif und gut Er»
wogene fiege. Es koͤnnen ferner die Minifter und die Mitglieder
der Kammer nur bann mit einiger Feſtigkeit und Sicherheit ihre Bes
firebungen für gute Hauptmaßregein durchführen und auf ihren Er
folg in den parlamenfarifhen Verhandlungen und Kämpfen rechnen,
wenn fie in bdiefen Kämpfen, nad) Veritändigung mit ihren Steunden,
mit benfelben zufammenmirten und zufammenhalten und auf einander
rechnen koͤnnen. Cs ift endlich die ficherfte Garantie für das Lund
und die Mähler, daß die von ihnen gemählten Vertreter auch dem
Sinne ber Wahl treu bleiben und den Klippen der gefährlichen Be⸗
ſtechungen ‚aller Art in ihrem fchweren Berufe entgehen, daß es,
fo wie in England, eine politifhe Ehrenſache wird, den ausgefpros
denen Dauptgrundfägen und ber ergriffenen Sauptpartei in allem
MWefentlihen treu und folgerichtig anzuhängen, und bei einer wirklichen
Hauptveränderung der Weberzeugung wenigſtens bie Deputirtenftelle oder
die Dinifterftelle in die Hände der Mandanten zurüdzugeben, bie
nur in dem Glauben an die Treue in den alten Grundſaͤtzen überges
ben mwurben.
Durch alles dieſes ergiebt ſich mit dee Natürlichkeit und Unver⸗
meiblichkeit jener Abtheilungen auch ihre Heilſamkeit. Aber freilich
kann dabei verkehrte Webertreibung und Misbraudy mit unterlaufen.
Zunädft ift es nothmwendig, daß für Alle das hoͤchſte Centrum und
auch den ſteten Vereinigungspuntt das Baterland, feine Verfaſſung
und die verfaffungsmäßige Regierung, die Vaterlands⸗ und Freiheits⸗
Liebe, die Ehre und Treue bilde. Sodann müffen, fo wie namentlich)
auch in England, eine ganze große Reihe von Maßregeln durchaus
nicht als Entfcheidungsfragen behandelt werden, fo daß bei ihnen
alle Mitglieder völlig frei ihrer augenblidtichen individuellen Meinung
392. Centrum. Geremoniel.
forgen koͤnnen, fo wie neulich in Beziehung auf bie Malzftener In .
England, Peel und andere Tories mit den Miniftern ſtimmten. Nie
darf ferner in Sachen des Rechts und insbefondere auch der morall⸗
fhen Gerechtigkeit gegen Perfonen unb gegen unmürbige Angriffe.
Parteiruͤckſicht und Parteileidenſchaft des Mannes Urtheil gegen das
Recht beftimmen. Es ift erhebend, zu fehen, wie auch in biefer Be»
ziehung die Briten allen andern Ständeverfammlungen als Muſter
voranftehen, mit welcher moralifchen Würde fie willig auch dem
Gegner Gerechtigkeit und Achtung bemeifen. Alles aber kommt übers
haupt darauf an, daß die höheren Grunbfäge, bie Ehre und das Wohl bes
Vaterlandes und nicht Selbſtſucht, Kieinlichleit und perſoͤnliche Leidens
{haft das Ruder führen. Für eine ftändifhe Berathung, die faft nur
den Charakter einer Familienverhandlung hat, koͤnnen nathrlid jene
obigen Abtheilungen nicht paffen. Inwiefern fie auf deutfche Ständer
verfammlungen anwendbar find, muß in ben Artikeln über biefe
legteren nachgewieſen merben. C. Ih. Welder.
Ceremoniel; Etikette Es iſt eine natürliche Eigenſchaft
und auch faft allgemein vorkommende Gewohnheit der Menfchen, daß
fie Handlungen oder Verhandlungen, welche für fie befondere wichtig
find, oder welchen fie eine folche Wichtigkeit oder höhere Bedeutſamkeit
beizulegen wünfchen, mit befonderen, auf ſolchen Zweck berechneten,
Sormen oder Feierlichkeiten verbinden. Gleichartige Gemüthsrichtung
oder auch Nahahmungstrieb oder endlich Autorität vertvandeln. die ur⸗
fprünglidy freien oder willkürlich angewandten Foͤrmlichkeiten allmaͤlig
in regelmäßiges Herlommen und bleibende Gewohnheiten oder endlich
in wirklich verbindliche Worfchriften, zw deren Beobachtung naͤmlich
auch die perfönlich dazu Ungeneigten theild die berrfchende Sitte nöthigt,
theils felbft ein foͤrmliches — durch Geſetz oder Verordnung ausge⸗
ſprochenes — Gebot der Machthaber, die dabei ein politiſches oder
kirchliches Intereſſe im Auge haben, zwingt, oder auch ein — aus⸗
druͤcklich oder ſtillſchweigend geſchloſſenes — Uebereinkommen vers
tragsrechtlich verpflichtt. Das Ceremoniel, d. h. der. Inbegriff
der bei gewiſſen Gelegenheiten (Handlungen oder Verhandlungen) in
der Regel beobachteten oder zu beobachtenden, entweder durch bloßes
Herkommen oder Sitte, oder aber durch Geſetz, Verordnung oder
Vertrag beſtimmten Foͤrmlichkeiten und Gebraͤuche, mag nach den
Hauptſphaͤren ſeiner Herrſchaft in das privatgeſellſchaftliche,
das kirchliche und das politiſche unterſchieden werden. Wir
haben hier blos von dem letzten zu ſprechen, und zwar nur in en⸗
gerer Bedeutung, mithin von dem entfernteren Zuſammenhang, worin
allerdings oft auch die beiden erſten mit politiſchen Verhaͤltniſſen oder
Intereſſen ſtehen, wegblickend. Das insbeſondere an Hoͤfen vorge⸗
ſchriebene oder durch Herkommen feſtgeſetzte Ceremoniel wird auch Eti⸗
fette (Etiquette) geheißen, welcher Name jedoch in weiterer Bedeu⸗
tung aud zur Bezeihnung der überhaupt in der vornehmern
Geſellſchaft gebräuchlichen oder als verbindliche Vorſchrift geachtetem
Geremoniel, 393
Formen dient. Die Etikette geht uns bier nur Infofen an, ale
fie in dem politifhen Ceremoniel mit einbegriffen tft.
Das politifhe Geremoniel iſt entweder ein ſtaatsrecht⸗
liches ober ein voͤlkerrechtliches, d. h. es bezieht ſich oder fin⸗
det ſeine Anwendung entweder auf einheimiſche oder auf aus⸗
waͤrtige Verhaͤltniſſe, Verhandlungen und Geſchaͤfte. Das ſtaats⸗
recht liche wird vorzugsweiſe durch Geſetz oder Verordnung
regullrt, das voͤlkerrechtliche durch theils ausdruͤckliche, theils ſtill⸗
ſchweigende Convention, zu deren Vollzug jedoch abermal Verord⸗
nungen ‚oder Vorſchriften von Seite der Autorität an bie Untergebes
nen ergehen mögen.
Das ſtaatsrechtliche, Überhaupt das Innere Staatsceremo⸗
niet iſt meift berechnet entiweber auf Hervorbringung eines geeigneten
Eindruds gewiffer wichtiger Staates oder Regierungse- Handlungen,
oder auf Darftellung der Würde und Erhabenheit der Regierung
feibft, ober der Perfon und dee Familie ber Regierenden ge⸗
genüber dem Volle. Es ift natürlich verfchieden, theild nach dem -
Gegenftand oder Inhalt ſolcher Handlungen, theil® nach ber Größe
oder Macht des Staates, theils nach deſſen Regierungsform und Ver⸗
faffung. Ein repubfilanifches Zeit, oder ein der Erinnerung an ein
glorreiched ober heilbringendes National» Ereigniß, 3. B. ber Verkuͤn⸗
dung einer Gonftitution, geweihtes, wird natürlich mit anderen Geres
monien begangen werden, als ein höchfter oder allerhoͤchſter Geburts⸗
ober Namenstag, eine lanbftändifhe Eröffnungsfeter anders als ein
gewoͤhnliches Hof⸗Feſt. Ein eingefhränktter und en Wahl⸗
König wird mit anderen Formen von dem Throne Belis nehmen
als ein abfoluter und Erd: Monarch, und anders befchaffen wird
bei allen Anlaͤſſen das Geremoniel In demokratiſch als in ariftos
kratiſ, ch verfaßten Staaten ſein. Auch bei Gleichheit der Verfaſſung
mag, je nach dem Geiſt der Regierung ober dem Charakter eines
wirklich regierenden Herrn, ein verfchiebenes Geremoniel vorgefchrieben
werden, und auch der allgemeine Geift einer Zeit, auch Culturs und
Reichthums-Verhaͤltniſſe der verfchiedenen Völker innen darauf von
beftimmendem Einfluß fein.
Dei dee Beurtheilung bed hier oder dort vorkommenden Ceremo⸗
niels iſt zwar der naͤchſtliegende Punkt jener der Zweckmaͤßigkeit,
d. 5. der aut ober übel gemachten Berechnung auf den babei fid)
vorgefegten Zweck. Aber eine höhere und wichtigere Betrachtung bes
zieht fi) auf den Zwed felbft, der aus irgend einem Ceremoniel
erkennbar hervorgeht, und auf bie natürliche ober nothiwendige Wir⸗
tung des legten. Mur von diefem Standpunkt aus kann die Lehre
vom Geremoniel unfer Sintereffe in Anfpruch nehmen; benn Geremos
nien vorzufchlagen oder Geremonienmeifter oder Hofmarfchälfe zu bilden,
liegt nicht in der Aufgabe des Staates Lerikons.
Ein Geremoniel, welches beflimmt und — je nach der Bildungs»
ftufe des Volles und anderen Umftänden — geeignet iſt, die Gemuͤ⸗
394 Eeremoniel.
ther mit dem Gefühle der Ehrwuͤrdigkeit des Geſetzes, der Regie⸗
rung und der regierenden Perſonen zu durchdringen, iſt alles Beifalles
und Lobes werth. Dasjenige aber, welches die Idee einer herriſchen
oder gar uͤberirdiſſcchen Gewalt ber Haͤupter dem Volke verſinnlichen,
und diefes zur ſklaviſchen oder ‘gar abgöttifhen Verehrung ober Anbes
tung vor dem Gebieter niederwerfen fol, ift die traurige Schauftellung
ber Defpotie, verfchlechtert den Volkscharakter und beleidigt die Würde
bes Menſchen und Bürges. Im: Drtent find folche Geremmien
ſchon feit ben dlteften Zeiten in Uebung .gewefen, verfchieden zwar
nad Graben ber, Roheit oder Werfeinerung, doch uͤbereinſtimmend in
ber allgemeinen Rihtung und Wirkung. Vom Drient ging folches
Defpotens Geremoniel in's römifche Kaiferreic über, und verbrängte
allda die aus ben. vepublilanifchen Zeiten flammenbe edle Einfachheit
ber Gebräuhe. Diocletian, Conftantin M. und Zuftinian
M. zumal waren bie Begründer und ſelbſt gefeglihen Ordner eines
die faft göttliche Majeftät des Kaifers verkündenden und ben legten
Freiheitsgedanten in dem Gemüth ‚der fi, dem Throne nähernden Buͤr⸗
ger tilgenden Gesemonield. Die geheiligte Perfon des Monarchen,
welchen — zur eindringlicheren Bezeihnung feiner Echabenheit — eine
vielgliederige Abftufung von Hoheiten und Würden vom Volke trennte,
mar diefem hiernach faft unzugänglih. Kine lange Reihenfolge von
Gemaͤchern und Wachen und höheren oder niederen Hofbeamten lag
zwifchen dem Kaifer und jedem Gehörfuchenden. Und gelangte der
Letzte endlich ins Innerſte, fo mußte er durch Niederwerfung auf bie
Erde die dem Hocerhabenen ſchuldige Anbetung verrichten. Der Glanz
folder Majeſtaͤt theilte ſich auch den bie geheiligte Perfon umgebenden
Dienern nad) Maßgabe der Nähe ober Unmuüttelbarkeit der perfönlichen
Dienftleiftung mit; und der Präfeet der Eaiferlihen Schlafkam⸗
mer, ja felbft der zweite Diener berfelben ging an Rang und Glanz
dem höchften Beamten bes Reiches vor.
Auch im Mittelalter finden wir an ben Höfen ber mächtigeren
Sürften ein mehr oder minder glänzendes — durch Lehnweſen und
Chevalerie in Formen eigenthuͤmlich beflimmtes — Geremoniel. Die
dbeutfhen Kaifer zumal, und indbefondere von der Zeit an,- ale
ihre wahre Hoheit fan, Tuchten durch feierliches- Gepränge die Idee
ber von ihnen lange ausfchließend in Anfprud genommenen Majeftät
und ihrer alle Königsthrone Überrngenden Herrlichkeit einzufchärfen.
Selbft Srundgefege — mie Karls IV, goldene Bulle — re
gelten ſolches Gepraͤnge. Vieles von dem mittelalterlihen Ceremoniel
bat ſich bis auf die neueften Zeiten erhalten; doch find feit Entftehung
der großen und nah Uneingefhränttheit ftrebenden Monar:
hien und dem Emporlommen allgemeiner Verfeinerung, weſent⸗
liche Veränderungen und Zufäge in’s Dafein getreten, bezeichnend für
den Geift und wirkſam zur vollffändigeren Entwidlung dee monar⸗
hifhen Principe. Epoche darin machen zumal Kaifer Kart V.
in Deutfchland und König Ludwig XIV. in Frankreich, nad beren
Geremoniel, 395
Höfen fi) mehr oder weniger faft alle anderen bildeten. Karl V. hatte
das fleife Wefen der fpanifhen Grandezza an dem feinigen eins
geführt; und es blieb diefer Charakter der vorherrfchende in Oeſterreich
bis auf Joſeph II. (welcher — fo wie auch ber Philofopb von
Sansſouci — die Größe mehr in edler Einfachheit als in ſchwerfaͤlli⸗
gem Hoheitögepränge fand), und in Spanien bis auf den heutis
gen Tag; hier jedoch, feit der Thronbefteigung des Bourbone, buch)
einige Nahahmung der franzöfifhen Sitte in etwas heiterer ges
macht. Ludwigs XIV. Hofhaltung verkündete durch ihre Formen
und Gebräuche den Stolz des Monarchen, welcher nicht anftand, zu
fagen: „letat o’est moi!‘ und murde das mit Eifer ftudirte und
zu einer Art von Wiffenfchaft ausgebildete Mufter, wornach feither
faft alle anderen fi richteten. Im Mutterlande felbft jedoch wurde
die Strenge feines Geremonield durch den franzoͤſiſchen Frohſinn gemils
bert und bildete ſich neben dem aͤngſtlichen Refibenz ein leichteres
Campagne=Geremoniel aus. Auch erſteres hinderte jedoch die Frivo⸗
litaͤt und Verdorbenheit der Sitte nicht; ſein volles Schaugepraͤnge
ward mehr und mehr den feierlichen Gelegenheiten, als Audienzen,
beſonderen Hof⸗ und Staats⸗-Feſten, oder Gala⸗Tagen u. f. w., vor⸗
behalten; im engern Hofzirkel machte man ſich's bequemer.
Die franzoͤſiſche Revolution bedrohte das alt⸗ monarchiſche
Geremoniel mit dem Verluft feiner Herrfchaft zur Verzweiflung der Höfs
linge, weiche dafjelbe für dad Wefen der Majeftät hielten und als die
Bedingung ihrer eigenen Wichtigkeit achteten. Darum riefen fie ihren
koͤniglichen Gebieter Ludwig XVI., ald der conftitwtionelle Minifter
Roland zum eriten Male in Bands Schuhen fi der Perfon bes
Monarchen zu nahen wagte, Eagend zu: „Ad Sirel! Alles ift verlor
ren!” — Aber das monarchiſche Geremoniel, nachdem es eine kurze
Zeit den republifanifhen Kormen gewichen war kehrte fiegreih an
Napoleons Enifedlihen Hof zurüd, ja wurde in mehreren Dingen
noch prachtvoller als zuvor; und feit ber Reſtauration — die ers
ften Wochen der Regierung des „Bürgerkönigs“ ausgenons
men — ift feine ungetrübte Herefchaft, wie es fcheint, für die längfte
Dauer befeſtigt. Müßige Würbeträger aller Art, Hof: und Oberhof
Chargen, Kammerherren und Pagen und melde Namen fonft die
glänzende Hofdienerfchaft führt, haben die heiterfte Ausficht vor fich.
Anfofern das Geremoniel Bezug auf die Verhältniffe zum Aus
Lande hat, nennt man e8 das voͤlkerrechtliche. Daffelbe, da es
nicht von jeweils freier Feſtſetzung oder Regulirung durch die einheis
mifche Stantsgewalt abhängt, fondern großentheild auf förmlichen Con⸗
ventionen oder wenigſtens flillfchweigenden Webereintommnifien ober
Anerkenntniffen, fonah auf wechfelfeitigen Verbindlidhfeiten
und Anſpruͤchen ruht, iſt allerdings praktiſch wichtiger als das blos
einheimifche. Die philofophifche Geringfhägung, welche ein Staat
dagegen äußern würde, könnte nur als Versichtleiftung auf die eigenen
Anfprüche, nicht aber als Entbindung von der Verbindlichkeit gegen
396 Ä Geremoniel.
Andere wirkſam fein; und allzugroße Nachgiebigkeit gegen hochfahrende
Anfprüce oder Begegnungen Anderer Bann wirklichen Nachtheil brins
gen. Dagegen ift das allzu aͤngſtliche oder ſtrenge Feſthalten an For⸗
men, die auf Anfprüce des Ranges hindeuten, mit bem Selbftges
fühle der wahren Macht kaum vereinbarlih, und Nachgiebigkeit in fol
hen Dingen kann allerdings mit Würde, zumal von Seite eines Stars
gen, ftattfinden. So vergaben ſich die triumphirende franzöfifche Republik
und nachmals ihr weltgebietender kaiſerlicher Beherrſcher durchaus nichts,
als fie in den Friedensfchlüffen mit dem tief gebeugten Oeſterreich in
die Beibehaltung ber alten Rangordnung zwifhen diefem und Frank⸗
reich einwilligten, und fo hätte Kaifer Leopold J., als nach ber Bes
freiung Wiens durch den Heldenarm Johann Sobdiesty’s bie Frage
entftand, wie ee — unbefchabet feiner Würde als Kaifer und als
Erbmonarhd — den Wahıktönig von Polen empfangen Eönne
oder folle, fehr wohl daran gethan, und die echte Würbe entfaltet,
wenn er ben hochherzigen Rath bes Herzogs Karl von Lothringen:
„mit offenem Acm ift er zu empfangen, ba er bas Reich gerettet”,
befolgt hätte.
Die meitldufige und in vielen Dingen mehr nur ber Armſeligkeit
als der wahren Hoheit dienende Lehre vom völkerrechtlichen Geremos
niel gedenken wir jedoch bier nicht abzuhandeln. Wir verweifen bie
nad) umftändlicher Kenntniß verlangenden Lefer auf bie vielen eigens
Darüber gefchriebenen Bücher, als, ſchon aus der Altern Zeit, auf Leti
ceremoniale historioo- politiou, Amsterd. 1685. J. C. Lunig, thea-
trum ceremoniale historico -politicam, oder hiftorifch=politifher Schaus
plag, Leipz. 1719. 1720. Rousset, ceremonial diplomatique des
cours de I’Kurope, Amsterd, et la Haye 1739., fobann aus ber neues
ven auf die meiften Hand» und Lehrbücher des Voͤlkerrechts. Einige
befondere Partien ber hier befprochenen Lehre werben wir übrigens, ih⸗
rer näheren Verbindung mit verfchiedenen Haupttheilem oder Materien
der auswärtigen Politik willen, unter den denfelben eigene zu toibmenben
Artikeln vortragen. (S. insbefondere bie Artikel: Courtoifie, Dis
plomatie, Sefandtfhaftsreht, Rang und XZitel, Sees
recht u.a.) Hier blos noch eine allgemeine, den Principien bes eins
heimifchen nicht minder als jene des auswärtigen Ceremoniels angehd«
rige Bemerkung.
Eine faft in allen civilifieten Staaten beftehende Uebung hat in
Bezug auf fremde — ein anderes Land etwa bereifenbe oder zum Be⸗
ſuch dahin kommende — Souveraine und deren Samtlienglies
der ein zum Ausdrud ganz befonderer Hochachtung beftimmtes Geremo-
niel zu einer, wenn auch nicht ſtreng verbindlichen, doch für Anſtands⸗,
Ehren» ober auch Friedens » und Freundfchaftspfliht geltenden Regel
erhoben. Das blos natürliche oder reine Vernunftrecht weiß inbeflen
von einer folhen Pflicht nichts, fondern beſchraͤnkt fich darauf, bie Ans
verleslichEeit der fremden Fuͤrſten und Prinzen einzufchärfen, zuvoͤr⸗
derſt als juriſtiſcher Perfonen überhaupt, und dann, wenn fie in
Geremontel. 397
der erfiärten oder erfcheinenden Eigenfchaft ale Souveraine, mithin als
wirklihe Repräfentanten ihrer Staaten ober Völker, mit andern
Staaten in Berührung treten, au ald ſolcher. Weiter räth die Pos
litik, folhe Souveraine oder deren Angehörige, im Intereſſe des Frie⸗
dens oder der mwechfelfeitig wuͤnſchenswerthen Befreundbung, mit ale. -
ler auf diefe Zwecke berechneten Rüdficht zu behandeln. Die beftehende
Uebung aber geht noch weiter und ruht noch auf einem andern Grunde,
naͤmlich auf dem Intereſſe des — ſchon vorlängft den Herrfchern ber
Voͤlker wenigftend in dunkler Ahnung vorgefchwebten, in der neuen und
neueften -Zeit aber beutlicher begriffenen und kunſtvoller entwidelten
und eingefchärften — „monarhifhen Principe”. Daffelbe fuchte-
und fand naͤmlich eine willlommene Stärkung in der allmälig — zumal
auch durch bie vielfeitigen Familienverbindungen ber Regentenhäufer uns
ter ſich begünftigten — Idee einer über die ganze europaͤiſche oder civis
liſirte Welt ſich ausdehnenden Gemeinſchaftlichkeit des Regie—
rungsrechtes ober der Regierungsfaͤhigkeit unter ben einmal
beitehenden regierenden Häufern gegenüber ber gleichfalls gemeinfchaft«
lihen Unterwürfigleits- oder Untertbanen-Pfliht ber
Voͤlker. Der fremde Souverain alfo, felbft wenn er, zeitlid in Feind⸗
fchaft oder gar im Krieg mit einem andern ftand, blieb-gleihwohl, ats
Souverain, ber Gegenftand der adhtungsvollften ‚Behandlung von
Seite bes legten, welcher bie Nuͤtzlichkeit ſolches Grumbfages für. ſich
feldftanerkannte, und wurde ebenfo den Unterthanen als Gegenfland
pflihtmäßiger Verehrung dargeftellt, weil alle Huldigungen, welche irgend
einem Angehörigen eines fremder Sürftenhaufes erwieſen wurden, zugleich
als dem eigenen Herrn dargebracht erſchienen, ober als Anerkenntniſſe
des auch die Erhabenheit des eignen Hauſes bekraͤftigenden Princips.
Daher alſo die Sitte ber- nicht nur von Seite der Hoͤfe felbft ges
gen einander beobachteten Höflichkeit und Achtungebezeugung (wie bie
Becemplimentirung des in's Land ober auch nur an ber Grenze vorüber
reifenden fremden en durch ihm entgegengefchicte vornehme Perfes
nen, das ihm gegeßäne Chrengeleit, ‚die ſplendide Bewirthung, der feiete
lihe Empfang und bie in glänzenden. Hoffeften ober mititaicifhen Spie
ten u. dol. ſich aͤußernde Peßſiſſenheit, den hohen Gaſt wuͤrdig zu beham
deln), ſondern auch der yon Seite des Volkes, d.h. nicht nur der iin
hoͤrden, fondern auh der Einmwohnerfchaft ber von dem fremden
Fuͤrſten bereiften Drtfchaften oder. Bez cke, ihm darzubringenden Ehren⸗
bezeugungen aller Art.
Der Geiſt der Neuzeit, man kann es nicht perkennen, iſt biefene
Geremoniel nicht, hold. Wohl findet man natürlich und tadelfrei, daß
jeder Hof mit andern den freundfchaftlichen oder Verwandtſchaftsverkehr
durch Mittheilung von Familienereignifien, als Werehelihungen, Geburs
ten und Zobesfällen, duch Begluͤckwuͤnſchungen oder Beileidsbezeugun⸗
gen und Zraueranlegen u. f. m. unterhalte, und daß er jeweils feine
Säfte fo fplendid und ehrenvoll, als Neigung ober Rüdfihten es mit
ſich bringen und die bisponiblen Mittel, es glauben, empfange, bes
398 Geremoniel. Chalif.
wirthe und unterhalte. Auch felbft von Staats wegen mögen aus
politifhen Gruͤnden Feſtlichkeiten aller Art m gemiffen Fällen zu
veranftalten fein. Aber. das Verlangen felbfteigener, thätiger Theilnahme
von Seite des Volkes, und zwar ale allgemeine: Regel geltend
gemacht, ſtreitet wider das Geibftgefüht ber Stolzeren. Immerhin moͤ⸗
gen die muͤßige Neugierde, bie bezahlte Dienſtbefliſſenheit oder bie frei⸗
willige Serpilität: zur Verherrlichung der Hoffelte Tauſende herbellocken:
aber eine befohlbene Iheilnahme erregte Unmillen. Die Beflern und
Kreigefinnten im Volk bringen gern nur den von ihnen perſoͤnlich
verehrten Häuptern, nicht aber jedem Fürftenfohne ohne Unters
ſchied, oder gar jeder fuͤrſtlichen Keiche ohne Unterfchieb ihre Huldi⸗
gungen dar. Die Eintheilung dee europäifhen Menfchheit in vermöge
Blutseigenfchaft regierende ober regierungsfähige und zur Unters
thanfchaft beſtimmte Perfonen oder Häufer ift von der öffentlichen Mei⸗
nung nicht als rechtsbeftändig anerkannt. Jedes Volk verehrt wohl
ꝓflichtgemaͤß fein angeftammtes Regentenhaus; aber gegen die frems
den Häufer hält es fi) für unverpflichtet. - Rottec.
Ceſſion, fi Abtretung. |
Chalif (oder Kalif), Chalifat. Der Name Ehalif bedeutet
Stellvertreter oder Statthalter, welchen befcheidenen Xitel bie
Nachfolger Mohameds in der von bemfelben gegründeten geboppelten,
nämlich geiftiidgen und weltlichen, Herrſchaft führten. -Das Reich dieſer
„Statthalser das Propheten” heißt man barum das Chalifat.
Nicht eine Gefhi.chre:biefes Chalifats, wiewohl diefelbe ſowohl übers
haupt, als auch-in manchen Einzelheiten hoͤchſt merkwürdig ift, kann im
Staats: Leriton «ine Stelle finden; doch wird eine flüchtige Vergegenwaͤr⸗
tigung ihrer Sauptmomente und zumal ihres allgemeinen politifhen
Charakters feinem Zwecke nicht fremd fein.
7 Dom Anfangspunkt der Gefchichte bes -Mohamedanifchen Welt⸗
relchs, naͤmlich Yon der Flucht des Propheten von Mekka nad; Mebinah
(16. Juli 622), oder von deſſen 10 Jahre ſpaͤter tem Tode (632)
bis zum Umſturz des Chalifates durch die Mongsien (1258) verfloffen
686 oder 626 Jahre, rei) an Großthaten und Unthaten, an Erfolgen
atid- Unfällen, an erfchütterndem Wechſel von Glanz und Erniebrigung,
richt und Schwäche, Derrlichkeit umd Elend; und durdy alles dies viels
füch belehrend für Regierungen und Möller, doch freilich, weil nach
Maum und Zeit und Charakter unß ſelbſt und unferen gegenwärtigen
Lebensverhältniffen in dunkler Ferne ftehend, minder eindringlich, als
was aus deutlich erkennbarer Nähe zu und ſpricht.
Schon unter den drei erſten Chalifen, Abubekr, Omar und
Othman (Gon 632 bis 665), war Mohameds, des kriegeriſchen Res
ligionsſtifters, in Arabien gegrüͤndetes Reich durch ſeine fanatiſchen
Bekenner weit über die heimathlichen Grenzen hinaus in Aſien und
Afrita ausgebreitet worben. Einheimiſche Entzweiung hemmte jegt für
einige Zeit den Fortgang. Ali, Mohameds Neffe und Eidam, und
dleich im Anfang der Sendung von: Ihm felbft zum Chalifen erklärt,
Chalif. 390
ward nach des Propheten Tode verdraͤngt durch die drei oben genannten
Haͤupter, und empfing erſt nach Othmans Tode bie Huldigung der aras
biſchen Staͤmme. Jetzt aber warf ſich in Syrien Moawijah
(Sproͤßling des dem Hauſe Haſchem, woraus Mohamed ſtammte,
laͤngſt todfeindlichen Hauſes Ommaijah) zum Chalifen auf, und behaup⸗
tete nach Ali's Ermordung (660) das Reich, ja errang fuͤr ſein Ge⸗
ſchlecht die erbliche Herefchaft. Aus Ali's Verdraͤngung und feiner Soͤhne
tragiſchem Ende entſtand die bis heute noch fortdauernde Spaltung in
Mohameds Kirche. Er und ſeine Nachkommen erſcheinen den Einen
(insbeſondere den Perſern) als bie einzig rechtmäßigen Chalifen; Fati⸗
mens Blut, wie der Maͤrtyrer⸗-Tod ihrer Söhne, heiligt das ganze Ge⸗
ſchlecht; ihre Verdraͤnger ſind des Abſcheues werth. Den Andern dage⸗
gen iſt zwar Ali gleichfalls ehrwuͤrdig, doch minder als die drei erſten
Chalifen; und auch Ommaijah's Haus wird non ihnen nicht völlig vers
mworfen. Diefer legte Glaube ift jener der Mehrheitz feine Anhänger
heißen Sunniten, weil fie neben dem Koran auch noch die Sun»
nah, d. h. die mündliche Meberlieferung, verehten, während ‚bie Aliten
— von ihren Gegnern auh Schiiten (foviel ale Keter oder Abtruͤn⸗
nige) genannt — dieſelbe verwerfen.
Nach Befeſtigung der einheimifchen Herrſchaft ſetzten die Om⸗
maijahden die aͤußern Eroberungen fort und dehnten das Reich einerſeits
vom mittellaͤndiſchen Meere bis zum Oxus und Indus, andererſeits
über ganz Nord: Afrika und uͤber Spanien aus. Ahr Thron fland -
in Damaskus. Aber die Nachkommen von Al⸗Abbas, Mohameds
Dheim, zertrümmerten ihn hundert Jahre. nach defien Errichtung (759)
und verlegten jest den Sig ber Herrfchaft nach dem neu erbauten Bags
dab. Ein Sprößling von Dmmaijah, Abderramman, aber war
ber Vertilgung‘, welche fein Haus traf, entlommen und ward in Spas
nien als Chalif erfannt. Sein und: feiner Nachkommen prachtvoller
Thron ſtand zu Cordova.
Zu den beiden Chalifaten, der Ommatiahden: in Spanien
und der Abaffiden in Bagdad, kam. fpäter noch ein drittes,
das Katimitifche, in Egypten, mwofelbft ein angeblicher: Nachkomme
Fatimens ben Sig einer zweihundertjährigen Herrfchaft gründete (um
970). Der gedoppelte Haber ber weltlichen Derrfchfucht und des kirch⸗
lichen Haſſes zerriß dergeſtalt Mohameds Reich, und bald gingen auc
die einzelnen Chalifate unter wechſelvollen Erſchuͤtterungen durch Auftuhr
und fremde Eroberung in vielnamige Truͤmmer. —
Das Hauptreich, indeſſen blieb das Chalifat in Ba. AT d, giauz⸗
vol zumal unter Harun al Raſchid (Karls des Großen Zeitge⸗
noſſen), dem Gefeiertſten der Abaſfiden. Bald nad ihm jedoch bes
gann der Verfall, theils durch Empörung der Statthalter, theils durch
auswaͤrtigen Angriff und zumal durch Uebermuth und Aufruhr der
tuͤrkiſchen Kriegsknechte und ihrer Haͤupter. Dieſelben, die da als
auserleſene Leibwache den Thron des Chalifen umgabew,' mißhandelten
ihren Herrn und ſetzten nach Gunſt und Laune die Chulifen ein und
400 Chalif.
ab. Die entfernten Nationen jedoch und ſelbſt die rebelliſchen Statt⸗
halter huldigten noch immer in Worten und Gebraͤuchen dem Nach⸗
folger des Apoftels, bis, feit der Ernennung bes Türken Mohamed
Eben Rajek zum Emir al Dmrah (Emir dee Emire) der Chalif,
aller weltlihen Macht entledigt, blo® noch Iman oder oberfter Pries
ſter blieb (935). Noch drei Jahrhunderte indeffen dauerte die Scheins -
Hoheit der Chalifen, bis die Mongolen heranftürmten und Dſchen⸗
gis-Chan's Enkel Hulagu bie heilige Stadt Bagbab eroberte.
Mostafem Billa, der öbſte Nachfolger bes Propheten, wurde von
offen zertreten.. Das Abaffidifche. Reid ging ımter (1252). Em
Abaffide zwar, Ahmed Monftanfer, entrann dem ‚Schwert und
ward in Egypten, mofelbft ſchon früher das Fatimitifche Chalifat
ducch den Kurden Selahebdin mar. geflürgt worden (1171), von
dem Mammlukkiſchen Sultan Bibars als Chalif erfannt, doch ohne
den Schatten. einer Gewalt. Der Name jedoch blieb feinen Nachkom⸗
men, bis Selim J., Sultan dee Osmaniſchen Türken, Egppten
eroberte, den Chalifen Motawakkl gefangen nad) Konftantinopel fchleppte
und ſich ſelbſt defien Würde zueignete. Seit diefer Zeit gelten bei
ben Sunniten bie Osmaniſchen Großherren als Chalifen.
Die Berfaffung bes Chalifates. war unbebingt befpotifd.
Selbſt der Freiheitsgeift der arabifchen Stämme, unter welchen Mo:
hamed feine Herrſchaft begründete, beugte ſich vor ber Heiligkeit des
Religionsſtifters; äber noch unbebingter gehorchten die durch das Schwert
befehrten afiatifchen Nationen, die fchon vor Alter ber befpotifchen
Herrſchaft gemohnt waren, unb die Vereinbarung der geiftlichen mit
der weltlichen. Alleinherrfchaft gab:.ben Chalifen, nachdem ihr Thron
erblich geworben war, eine Fülle dee Macht und Hoheit, wie kaum
je noch ein Gemaltsherrfcher. fie beſaß. Alle, die Edelſten wie die Ge⸗
ringſten ihres Reiches, waren gleihmäßig ihre SHaven, und ihre hohe
griefterliche Würde — ihnen allein ohne Theilnahme einer unter ſich
verbundenen felbftftändigen. Peiefterfchaft angehörig — warf bie Glaͤu⸗
digen vor ihnen zur demüthigften Anbetung nieder. Solcher veligiöfe
Charalter..milderte zwar einigermaßen (verglichen mit einer blos auf
Schmwertesgewatt ruhenden Autorität) die Aeußerungen . ihrer
Herrſchermacht, .und ber Koran ſchrieb ihnen heilige Pflichten vor;
aber da fie.:die oberſten, ia alleinigen Ausleger bed Korand waren,
fo ging ihre Pflicht audy nicht weiter, als ihre guter Wille. Doc
alle diefe Macht und Gewalt Eonnte ihr Reich nicht vor Stürmen und
gehäuften Empsrungen firmen. Die. Unterbrüdung ‚bes Geiftes töbs
tete auch die möralifche Kraft, und nachdem bie erften Flammen bes
Fanatismus Der hatten, verfanten die Moslems in Weichlichkeit
und Schwaͤche. Die Verehrung des Chalifen mar mehr Formenwerk,
als wirkliches Gefühl, und wich ohne Mühe dem von irgend einem
Empörer oder Eroberer ausgehenden Schreden. Ein Bolt von Skla⸗
ven mag bem Wechfel der Herrſchaft gleichgültig zufehen. Seinem
Chalif. 401
2008 droht keine Verſchlimmerung, wie immer die Perſon des Geble⸗
ters ſich aͤndere, und die blos auf phyſiſcher Macht ruhende Gewalt
weicht natürlich jeder augenblicklich ſtaͤrkern Macht.
Man hat die Chalifen mit ben Paͤpſten verglichen; und in bee
That mag, zumal in bem Zeitpunkt, als das Hildebrandiſche
Meltreih, d. h. die Bereinigung ber hoͤchſten bürgerlichen mit ber
geiftlihen Macht In ber Perfon des Papftes beftand, einige Aehnlich⸗
Zeit zwifchen Beiden erfannt werben. Aber der große Unterfchied war,
daß den Chalifen die durch das Schwert ber fanatifchen Juͤnger Mo⸗
hameds gegründete Herrfchaft gleih urfpränglich zuftand, nicht
erſt im Lauf der Jahrhunderte durch beharrliche Fortfegung eines kunſt⸗
zeichen Syſtems mußte errungen werben, und daß fie dann -von ber
glaͤnzendſten und unbeftrittenften Fuͤlle bee geboppelten Hoheit bios
durch eigene Schwäche oder Erfchlaffung herabſanken, zuletzt bios noch
den Schatten der hohen Prieſterwuͤrde kuͤmmerlich fortführend,
waͤhrend der roͤmiſche Biſchof aus wenig bebeutenber, faft demuͤ⸗
thiger Stellung ſich erft im Laufe der Jahrhunderte allmälig, unter
tauſend Mühen, buch Geift, Beharrlichkeit und Gluͤck und zwar
Anfangs blos in ber kirchlichen Sphäre, und erft viel fpäter auch in
dere bürgerlichen emporhob und ben wundervollen Weltthron baute,
von welchem er in der Folge, zum Theil wohl: durch Uebertreibung
oder Mißbrauch der Macht, vorzugsieife jedoch. nur durch den allges
meinen Umfchwung ber Verhältniffe und bes Zeitgeiftes wieder zu einer
niedrigeren Stufe herabfant. "Einem, erblihen Papftthum, db. h.
einee Dynaſtie von Päpften, wäre fo großes Werk nimmer gelungen.
Geiſt und Kraft, Kunft und: Beharrlichkeit im Verfolgen berfelben
Richtung find nicht zu finden, wo ber Zufall bee Geburt abmechfelnd
Schwache und Starke, Kluge unb Einfältige, Boͤſe und Gute an’s
Ruder bringt. Aber auch ein Wahlreich wird jene Erſcheinung
nicht zeigen, wenn nicht ein fortdauernder ſelbſtſtaͤndiger, mit Geiſt
und Kraft ausgerüfteter Wahlkoͤrper ober Stamm vorhanden ift, mels
cher die Srundfäge bewahre, einfchärfe und nöthigenfalls mit Autos
ritaͤt geltend made. Diefes war bie Stellung und Wirkſamkeit des
chriſtlichen Prieſterſtandes, besgleihen die Mohamebanifche
Kirche niemals einen befaß, an deſſen Spige dee Papſt wohl ftand,
doch mehr nur als Werkzeug oder Diener, denn als Herrſcher. Der
Dapft war bios das frei gewählte Haupt einer ausgebreiteten und
mächtigen Ariſtokratie, ber Chalif war erbliher Alleinherrs
fer, und ſah unter fih nur Sklaven. Darin jeboh beitand
noch eine Aehnlichkeit zwiſchen Chalif und Papft, bag nach Religions⸗
grundfägen nur Einer es rechtmäßig fein konnte, wornach bie Aufs
lehnung gegen feine Gewalt, oder bie Ufurpation deſſelben Titels zu⸗
gleich als Kirchenſpaltung erfhien. Alsdann fchleuberten bie
Inhaber der Stühle zu Cordova, Cairo und Bagdad gegen
einander Ähnliche Bannflüche, wie fpäter bie jmer zu Avignon und
Staats⸗ Lexikon. III. 26
402 Sparte,
Rom, und wurde die Welt durch das doppelte Geraͤuſch ber geiftii-
chen und weltlichen Waffen geirgert, zerriffen und gequält.
Motte.
Chambre introuvable, ſ. Frankreichs neueſte Ge⸗
ſchichte.
Charge d’affaires, ſ. Geſandter.
Charta magna,f. Englifhe Verfaffung.
Charte, Berfaffungd: Urkunde, Freiheitd- Brief;
insbefondere fran zoͤſiſche Charte. Wir verftehen hier unter Charte
die urkundlichen Verleihungen, Zufiherungen, Beftätigungen, über
haupt‘ Feftfesungen conftitutioneller, d. h. als grundgeſetzlich gel-
tend zu behauptenber, politifcher, nämlich auf die Staatsform fi
beziehenber, oder auch gemein. buͤrgerlicher und menſchlicher Rechte ober.
Freiheiten eines Volkes. Die ‚allgemeinen Fragen, bie fi uns
bier darbieten, find: Welches iſt die maturgemäße oder ber Theorie
entfprechendfte Form ihrer Entflehung und daher ihre unmittelbare
Nechtseigenfhaft, und welches ift die praftifch vorherrfchende
Erfheinung. berfelben? Welches ift die je nach Verſchiedenheit ihres
Urſprungs anzuerfennende Rechtswirkung einer Charte und wels
ches ihre politifhe Bedeutſamkeit oder Koftbarkeit? Welches find
die Erforderniffe dee Rehtsgültigkeit einer Charte und bie
Grenzen folder Gültigkeit, und welches die Bedingungen eines rechts
lich zuläffigen Widerrufes oder Umfturzes einer Chartet — Der
geeignetfte, oder vielmehr ber allein geeignete Standpunkt zur Beant-
wortung dieſer Fragen (infofeen fie nicht cein Hiftorifch find) iſt
ber vernunftrehtlihe. Wir werden benfelben baher auch vor:
zugsweiſe bei der nachfolgenden Ausführung fefthalten.
Die gewoͤhnlichſte Form, morunter die Charten in's Leben tre⸗
ten, iſt die der — freiwilligen oder abgenoͤthigten — Verleihung.
So ſchon bie berühmten charta libertatum und die magna oharte in
England, aber fo auch die Charte Ludwigs XVII. in Frank—
reich und die meiften der neuen Gonftitutionsurfunden in Deutfch-
land. Die dazu bewegenden oder nöthigenden Umftände, felbft der
etwa dabei flattgefundene Zwang, kommen dabei nicht in Betrachtumg,
infofern fie nicht in der Urkunde ſelbſt als Motive aufzefährt oder
überhaupt nicht juriftifh erfchemend find. She gelten” gemachter
Charakter ift nämlich, überall die von dem einfeitigen Gutfinden oder
Willen des Herrn oder des Herrfchers ausgehende Gewährung
ober Feftfegung. Häufig jedoch koͤmmt auch die Korm eined Vertra⸗
928 zwifchen dem Gemwährenden und ben Empfangenben vor, oder
wird wenigſtens ein folcher, als durch — ausdrädlidye ober ſtillſchwei⸗
gende — Annahme der Verleihung gefchloffen, zur Befeftigung ber
Rechtsguͤltigkeit vorausgeſetzt oder gedichtet. Am ſeltenſten er⸗
ſcheint die Form einer geſetzgebenden Statuirung, d. h.
einer dem rechtlich verbindlichen Geſammtwillen ber Staatsgeſell⸗
ſchaft entfloſſenen Feſtſetzung.
Charte. | 403
Allerdings, wenn etwa ein großer Grunds und Xeib- Herr, aus
Gründen der Humnnität oder der Klugheit, das zmwifchen ihm und feis
nen Colonen und Kuechten factiſch ftattfindende Verhältniß in ein wahr⸗
haft rechtliche, zumal finatsrechtliches Verhältniß zu umftalten ſich ents
ſchließt, fo ift dazu fein einfeitiger Wille in fo weit hinreichend, ale
er blos Verzicht leiftee auf früher ausgeuͤbte Mechte, oder früher
nicht beftanbene oder niht anerkannte Freiheiten und Rechte
gewährt. Die Erftärung feines perfönlihen: Anerkenntniſſes oder
Willens oder Entfchluffes reicht hin zur Hervorbringung der beabjich-
tigten Wirkung. Der Knecht wird der berrifhen Gewalt .entlaffen,
der dienpflichtige Colone wird freier Beſitzer oder Eigenthuͤmer lediglich
durch die Verzichtleiftung des bisherigen Leib = oder Grundheren auf
das früher behauptete Recht oder durch die Erfldrung, daß-er dafs
feibe als unftatthaft anerkenne. Nicht einmal eine ausdrüdlihe An⸗
nahme ift erforderlich zur Rechtsguͤltigkeit folcher Erflärung. Sie
macht für fich allein fehon den Beweis ber perfönlichen oder dinglis
chen Freiheitsanſpruͤche der früher Unterjochten aus, und fest dieſe,
auch ohne eigentlichen Vertrag, in den Beſitz ihres aus höherem
oder früherem Zitel rührenden Mechtes ein. Und auch wenn man bie
Annahme — wie bei dem Schenfungs=-Bertrag — ale zur
Gültigkeit des Geſchaͤftes erforderlich betrachten mollte, würde dazu jes
der Einzelne für fich berechtigt fein, demnach von einem folche Ans
nahme ausfprechenden Gefammtmillen ber durch den fraglichen Act
Befreiten ober wie immer Begünftigten gar nicht geredet werden Einnen.
Auch in der eigentlihen Staatsgefellfchaft mag eine Charte
von dem einfeitigen Willen bes Verleihers ausgehen, wofern dieſer ſich
(rechtlich oder auch blos factifh) in dem ausſchließenden Beſitze ber
Staatsgewalt, namentlih der gefeggebenden Gewalt, befindet.
Sm Staate nämlich genügt zur Statuirung von Rechten und Freiheis
ten, wie von Schuldigkeiten der ausgefprochene (verfteht fi) auf den
Staatszwed gerichtete, demſelben wenigſtens nicht offenbar toiderfpres
ende) Wille des Geſetzgebers als foldhes. Wenn alfo ber
bisher unbefchränkte Autofrat verordnet, daß in Zufunft z. B. eine
gefeggebende Verfügung oder eine nene Auflage u. f. w. nicht anders
fole zu Stande Eommen können, ald nad) zuvor eingeholter Gutmeis
nung oder Zuftimmung einee — fo oder fo gebildeten — Berfamms
nung m. f. w., oder daß in Zukunft keine Verhaftnahme anders ale
aus gefeglich beftimmten Gründen und unter Beobachtung gemiffer
Formen flattfinden, daß Neligionsfreiheit, Preßfreiheit, Unabhängigkeit
ber Gerichte u. f. w. gewährt fein, daß der Kiscus vor den orbentlis
chen Gerichten Recht nehmen folle u. ſ. w., fo Mt folche Verordnung
gültig aud ohne förmlihe Annahme von. Seite bed Volkes, d. 5.
ohne allen Bertrag. Wer follte ober koͤnnte auch die Annahme
erklären oder als Vertragſchließender aufterten? — Sn. der. Autokratie
oder abfoluten Monarchie gibt es ja kein flimmberechtigted. gber ſtimm⸗
fähiges Volk, d. h. es giebt feine andere juriſſiſch re Perſoni⸗
404 Gharte.
fication deſſelben als eben den Monarchen, und um nur bie Moͤg⸗
lichkeit eines Vertragſchließens hervorzubringen, müßte zuvor eine
foldy Perfonffication gefchaffen, wenigſtens proviforifch ins Les
ben gerufen werden, 3. B. ein Parlament ober eine Ständeverfamms
lung, mas aber nur dutch den einfeltigen Willen des Herrſchers, alfo
durch eine von ihm allein ausgegangene Charte — und wäre es
nur eine proviſoriſche Eharte — gefchehen kann.
Wird aber eine folche dem einfeitigen Willen bed Herrſchers ents
floffene Charte nicht auch In ihrer Dauer von folhem Willen abs
bängig, d. 5. bem Widerruf oder ber willkuͤrlichen Abänderung durch
denfelben fo wie jedes andere Gefeh unterworfen fein? — Wir fagen
nein! und Finnen es fagen, auch ohne zur Idee oder Dichtung eines
Vertrages unfere Zuflucht zu nehmen. Selbſt der abfolute Monat
ober der Autokrat nämlich iſt rechtlich verpflichtet, nur nach ben Ge⸗
fegen zu regieren, wenn er nicht als blos factifhen Gewalts⸗
herrſcher fi darftellen, folglich feiner Macht den Rechtsboden bes
nehmen will. Er kann zwar das feiner Iegislatorifchen Gewalt entflofs
fene Gefes nad) Belieben wicher aufheben ober abändern; aber fo
lange er biefes nicht gethan hat, iſt er in Bezug auf die einzelnen
Acte der Regierungsgewalt gebunden auch an fein eigenes Geſetz. Er
gab nämlich dieſes Geſetz in der Eigenſchaft als rechtlich beftehendes
Drgan des Gefammtwillens und ſprach dadurch aus, daß nad)
feiner eigenen Ueberzgeugung das darin Verordnete von dem Gefammts
willen verlangt werde. Wenn er alfo — ohne baß das Geſetz ihm
folhe Befugniß ausbrädtih für gewiſſe Fälle vorbehalten hätte —
eine dem Gefege zumiderlaufende befondere Verfügung trifft, während
das noch fortdauernde Gefes ben wahren Gefammtwillen ale allgemein-
gültige Regel verkündet, fo handelt er nicht mehr als Organ des Ges
fammtwillens (welcher naͤmlich, wofern er vernünftig iſt, mit fi)
ſelbſt nicht im Widerſpruch fein kann), fonbern als unbefugter Eins
zelwille, welchem baher nur factifhe Gewalt, nicht aber das vers
vernünftige Recht eine Geltung verfchaffen kann. Abfchaffen alfo
kann der Autokrat das Geſetz, nicht aber verlegenz fonft fegte «x
ſich felbft außer dem Gefet. Nun bringt es aber bie Natur ber
VBerfaffungsgefege, alfo namentlid ber von einem Autokraten
erlaffenen Charte, mit fi, daß fie nicht abgefchafft werben koͤn⸗
nen, ohne zugleich verlegt zu werden. Sobald naͤmlich einmal der
Autokcat, als Drgan des Geſammtwillens, ausgefprochen hat, daß in
Zukunft nicht mehr Er allein, fondern nur Er unter Zuſtimmung
3. B. der Landftände, ein Geſetz folle geben koͤnnen, fo iſt er gar nicht
mehr alleintges Drgan bes Gefammtwillens, und Tann
alfo auch das fragliche Berfaffungegefes nicht mehr aufheben ohne
Weberfchreitung des ihm wirklich noch zuftehenden Mechtes. Eine Ver
fügung, die er im Widerſpruch mit feiner eigenen Charte erlafien würde,
erſchiene blos als Aeußerung eines — bier unbefugt auftretenden —
Privatwillens und wäre fonah ungültig
harte. 405
Wenn bdiefes einleuchtend und unbeſtreitbar HE in Bezug auf ben
Theil der Charte, welcher die Perfonificasion ber Staatögewalt und
die Formen ihrer Ausübung feſtſetzt, fo iſt es nicht minder wahr in
Bezug auf ihren materiellen Inhalt. Auch bier bat der Autos
krat, fobald ee grundgefeglich etwas verorbnete, ſich dadurch der
rechtlichen Möglichkeit beraubt, daffelbe zu widerrufen oder abzuändern.
Der wefentliche Unterfchieb nämlich zwiſchen einem Grund⸗ (ober
Verfaſſungs⸗) Gefeg und einem gemeinen Geſetz beſteht darin, bap
jenes ganz eigentlih ber Regierung, d. h. ber conflituirten
Staatsgemalt oder dem kuͤnſtlichen Drgan bed Geſammtwil⸗
lens, Verpflihtungen auflegt, d. h. deſſen rechtlicher Thaͤtigkeit
Schranken ſetzt oder beſtimmte Richtungen vorſchreibt. Moͤgen dieſe
Schranken in Formen beſtehen, oder in Grundſaͤtzen, immer ſind
fie ein „noli me tangere“ für die conſtituirte Staatsgewalt. Sie
find alfo in der Idee einem Willen entfloffen, ber feinem Begriffe
nad) höher ift als diefe Gewalt und als ihrer Errichtung voranges
hend gedacht wird, naͤmlich jenem bee conflituirendben Autorität,
welche keine andere iſt, als die dev Gefellfhaft ſelbſt. So lange
nun diefe Gefellfehaft unmündig oder mundtodt ift (db. h. kein natuͤr⸗
liches Drgan ihres Gefammtwillens befigt), fo ift eben ber Autofrat
(oder überhaupt bie abfolute Regierung) nicht nur conflituirtes
Oberhaupt, fondern zugleih auch conftituirende Gewalt. Erlaͤßt
er alfo eine Charte, d. h. fegt er geundgefeglic, (nicht blos durch
gemeines Sefeg) gewiſſe Formen oder Grunbfäge für die Regierung
feft, fo bat er dabei als conflituirende Gewalt, d. h. als derſelben
Stelle vertretend, gehandelt und kann jet, als conftituirtes
Haupt, nicht mehr zuruͤcknehmen, was er als conflituirendes Organ
verfügte. Mas er in letzter Eigenfchaft feftfegte, iſt jest für ihn als
Regent verbindlih, und er kann in der Sphäre foldher gemach⸗
ten Feſtſetzung nicht mehr zurädgehen auf feine früher ausgeubte coy=
flituirende Autoritätz denn biefe hat er erſchoͤpft ober vers
braucht duch die einmalige Verordnung; er ft in der bemerk⸗
ten Sphäre jest blos noch conftituirtes Haupt, mithin gebunden
an die Bedingungen oder Schranken der ihm von ber conftituis
renden Autorität aufgettagenen Gewalt. Dat er alfo grundge⸗
ſetzlich (nicht blos gemeingeſetzlich) 3. B. Preßfreiheit, Gewiſ⸗
fensfreiheit, perfönliche Freiheit, Unantaftbarkeit des Eigenthums u. ſ. w.
verkündet, fo ſteht ihm Feine ſolcher Verkündung widerſtreitende Ges
walt mehr zu. Er mag dann für fi allein (ober mit Zuſtim⸗
mung ber etwa eingefesten Theilnehmer feiner Gewalt) wohl nod)
die Macht haben, bie Rechtögewährungen zu vermehren, nicht aber
flegu verringern, d. h. die früher gemachten wieder gurüdzuneb-
men ober zu [hmälern. Er hat fih — wie bei einmal verkuͤnde⸗
tee formeller Befchränktung feiner Macht — in bie Unmoͤglich⸗
Leit verfegt, das Statuirte wieder aufzuheben.
So lautet indeſſen bie gewöhnliche Lehre nicht. Diefelbe findet
406 Charte.
vielmehr bie Grundlage ober Nechtöhefeftigung einer Charte im Ver⸗
tragsreht, und allerdings ift ſolch ein Vertragsrecht, infofern es
bier angerufen werben kann, ein näher liegende und bequemered, Er:
Elärungsmittel der Heiligkeit einer Gonftitution ale unfere auf tieferen
Gründen ruhende Theorie. Wir wollen auch keineswegs das hier in
Frage ftchende Vertragsrecht unbedingt vermerfen, ſondern nur unter-
fudyen, inwiefern 8 in Bezug auf'Charten oder Gonftitutionsur-
£unden eine vernünftige Anmendung leide. Es finden bei der Lehre
davon mehrere Mißverſtaͤnd niſſe und Begriffsverwirrungen ſtatt, deren
Beleuchtung Noth thut.
Zuvoͤrderſt kann hier. keine Rede ſein von demjenigen angeblich
von Allen mit Allen geſchloſſenen Conſtitutionsvertrag, welchen
man in der Schule ziemlich haͤufig als den dritten Beſtandtheil
des urſpruͤnglichen (wenn and) nicht wirklich geſchloſſenen, doch gedich⸗
teten oder als rechtliches Poſtulat vorausgeſetzten) Staats⸗Vertrags
(naͤmlich als nachfolgend dem Vereinigungs- und dem Unters
werfungs-Vertrag) aufſtellt. Aus dieſer Anſicht würde naͤmlich
fließen, daß eine Conſtitution (folglich auch eine Charte) nicht anders
als durdy abermaligen Vertrag Aller mit Alen-— db. h. alfo gar
nicht — koͤnnte aufgehoben oder abgeändert werden. So meint man
es jedoch gewoͤhnlich nicht, fondern man ftellt fi. nur vor, daß zur
Rechtsbeſtaͤndigkeit einer Charte ein zwifhen ber Regierung und den
Megierten (oder deren Stimmfuͤhrern) zu” fohließender Vertrag
nöthig fe. Denken wir uns jeboh einen Staat, worin noch feine
Derfon ein beftimmtes Herrſcherrecht bat, und ſonach die conflituis
rende Gewalt der Gefammtheit noch ganz frei und ungebunden iſt;
fo wird fie bie Form ber von ihr einzufegenden Regierung unb Die
derfelben als Richtſchnur vorzufchreibenden Grundfäge blos im Sntereffe
der Sache, nath ihrem beiten Wiffen und Gewiſſen, beftimmen, nicht
aber darüber mit dem (erft noch zu ernennenden ober auch bereite ers
nannten) Regenten einen Vertrag abſchließen. Sie ‚wird unter
ſich felbft die Artiket des Auftrages ausmachen, welcher dem ein»
zufegenden Oberhaupt zu ertheilen fei, und nur darüber, ob ber zu
Ernennende geneigt fei, folhen Auftrag (etwa auch unter einigen ihn
perföntich betreffenden Bedingungen) zu übernehmen, wirb fie mit Ihm
felbft contrahiren. In Wahl⸗Reichen gefchieht ein Solches häufig.
Der bas Reich und Volk betreffende Inhalt der „Wahl: Capitula:
tionen” wird feitgefegt von den Wählern, welche dabei eine Art von
conftituirender Autorität ausüben, und der Gewählte — außer bem,
was er etiwa bloß für feine Perfon ausbedingt — unterfchreibt die Capi⸗
tulation nicht eigentlich al® über den Inhalt ber Kapitulation Ver:
tragfchließender, fondern blos ald Uebernehmer des beftimm-
ten Auftrags Etwas Aehnliches findet bei Mebernahme von
Staatsdienften flatt, wo nämlich gleichfalls die „Dienfts: In:
ſtruction“, insbefondere der Umfang der Amts: Befugniffe und
Pflichten, duch Gefes oder Verordnung beſtimmt wird, und höc-
Eate 407
ſtens einige perſonliche Interefien durch Vertrag mögen tegulirt wer⸗
den, Hieraus erhellt wenigſtens ſo viel, daß der fragliche Vertrag
nicht nöthig iſt zur Feſtſtelung der Rechte und. Pflichten bes zu ers
I nennenden Regenten, wietvohl eine weitere Werftärkung oder größere
Euidenz, der Pflicht. ober eine wirkfamere ‚Einfchärfung berfelben
baraus hervorgehen mag. Der Brud) einer Wahlcapitulation oder aud)
einer in Folge gemeinfhaftliher Berathung zwiſchen Negies
vung und Ständen erlafjeuen, Charte, iſt guch nicht eigentlich als, Vers
tragsbrud, ober wenigftens nicht. hlo s als Vertragebruch zu achten,
fondern als überhaupt unbefugte, de h. rechts⸗ oder gefehwis
drige Ihatz ſo wie . B. detjenige, ber. eine geliehene Sache ſich zus
eignet oder ein Depoſitum unterfchlägt, nicht eigentlich oder. wenigſtens
nicht blos den Vertrag bricht, ſondern ein Verbrechen begeht,
d. 5. eine Uebertretung des, ‚allgemeinen. Nechtsgefenes,
welches das. Eigenthum Kunde, ec unangetaftet zu laſſen befiehlt.
Ein Bertragin Verfaſſungsſachen alfo hat nur alldort eine ver ⸗
nuͤnftige Bedeutung, und Anwendbarkeit, wo, wegen eines der tegie= -
senden Perfon ober dem regierenden Haufe bereits zuftehenden , *
(d.h. einerfeits Begauhtei —— ‚ganz, oder theilweiſe aner⸗
kanuten) felbftffändigem Rechte s, zum, Behufe der im Jntereſſe
der Geſammtheit noͤthigen ober, wünfhensiverthen Beſchtaͤnkung, naͤhe⸗
‘sen Beſtimmung oder auch theilweiſen Aufhebung oder Unſtatthaftigkeits-⸗
erklaͤrung ſolches Rechtes, eine Unterhandlung mit dem Berechtigten
gepflogen werben muß, und derſelbe ſodann im Wege des Vergleſches
von feinem früher behaupteten Mechte ‚Einiges aufgibt, namentlich im
Folge ber, etwa geänderten, und eoder der vorange⸗
S&rittenen politiſchen Erkenntuiß und des dringenderen Voiks- Rufes
a Verbefferung,, die jenen, Umftinden entfprechenden Befpränkungen
auf fih ‚nimmt und, die geforbeiten Freiheiten oder Bürgfchaften ganz
ober theiltveife gewährt, . Än und für, fidy iſt freilich das Gonftitutionds
werk. fein Gegenſtand ‚einer durch, Vertrag, folglich privatrechtlic
zu treffenden, Beftimmung, Das Prineip dev Regulirung ift hier blos
das Öffentliche Wohl und. das Recht der Gefammtheit, Ein
Aufgeben dieſes Princips oder eine Werzichtleiftung darauf kann
eecptlich von Feiner, Seite ‚verlangt, oder zugeftanden werden. Doch iſt
85 und. vielfach vorkommend, daß auf Seite regierender Perſonen
inſpruͤche des Privattechts mit jenen des oͤſſentlichen in Werbin«
bung ftehen, auch daß bie Behauptung berfelben zugleich dem, Ger
meinwohl unnadjtheilig oder felbft förderlich eufcheint, oder daß ber
das, was dem. allgemeinen Sit mas widerſtreitende Ueberzeu ·
gungen auf beiden Seiten. (nämlich) ber regierenden und. ber regierten)
obwalten. In folchen Fällen iſt ein wecfeljeitiges Nachgeben zum
Zweck der Vereinbarung notbwendig, und mag gar wohl das auch
ber eigenen Ueberzeugung in einzelnen Punkten gebracht werben, um bie
nach den Umftänden huntihfie Rerleiidung der allgemeinen, Idee zu
‚erringen; 8 mag hier die Gchwierigkeit der erfolgreichen Mechtöhe- „
08 Charte.
hauptung, dort die Gefahr ded Widerſtandes in Rechnung gezogen, und
dergeftalt ein beiderfeits mehr oder weniger befriedigendes, jebenfalls bem
Kriegsftand vorzuziehendes Ergebniß auf bem Wege bes Vertrages
geroonnen werben. Indeſſen wird auch, bei Uebereintomnmifien diefer
Art ober dieſes Urfprungs nicht Alles, was darin feftgefekt iſt, wirk⸗
lih die Rechtseigenfhaft einer vertragsmäßigen Beſtimmung haben.
Nur infofern die Uebereinkommenden wirklich ald zwei getrennte ju⸗
eiftifhe Perföntichleiten fi) gegenäberftehen ober zwei getrennte
juriftifhe Perfönlichkeiten repraͤſentiren, unb infofern fie über Mechte
disponiren, welche einer ober bee andern berfelben frei verfügbar zuftehen,
ift bei dem Gefchäft ein wahree Wertrag zu erkennen. So z. B. ba,
wo bereit6 ein regierendes Haus befteht, die foͤrmliche Anerkennung ober
Feſtſetzung des Erbrechts für alfe gegenwärtigen ober künftigen Glieder
ſolches Haufes (verfteht ih Überhaupt, nicht aber aud bie Beſtim⸗
mung ber Erbfolge-Drdbnung, welche nämlich mehr bie Natur bes
Geſetzes an fi trägt). Eben fo die Uebereinkunft über die Dos
maine, wornach etwa ein Theil derfelben als Eigentum bes koͤnigli⸗
hen’ Daufes anerkannt, ein anderer aber als Eigentbum des Staa»
tes erklaͤrt wird. Auch die feftgefegten Formen ber Regierung, fo wie
die ihr zur Beobachtung vorgefchriebenen Grundſaͤtzee, inſofern beide.
als Bedingungen des anerlannten Regentenrechtes oder ale für
folhe Anerkennung verſprochene Gegenleiſtungen erfcheinen, koͤn⸗
nen als vertragsmäßig errichtete Beftimmungen gelten, wiewohl fie
an und für fi mehr zur Keftftelung durch Gefege fich eignen. Sie
werden auch, obſchon in einen fogenannten Gonflitutione Vertrag
aufgenommen, überall da als wahre gefegliche Bellimmungen zu ach⸗
ten fein, wo ihre Feſtſtellung als nicht fowohl zum Vortheil der einen
ober ber andern ber bie Uebereinkunft abfchließenden Perfönlicykeiten
(3. B. König und Landſtaͤnde), fondern zu jenem einer britten,
durch die beiden andern gleihmäßig vertretenen Perfönlichkeit,
namentlich des Volkes oder ber Staatsgefammtheit gefchehen ers
fheint. In folhem Fall bat zwar der König von feinem und haben
bie Landftände von ihrem Standpunkt ausgefprochen, was ihnen
nach ihrer fubjectiven Ueberzeugung ale dem Vollsrecht und dem Volks⸗
wohl am meiften angemeffen erſchien; fie haben ſich ihre Ideen darüber
gegenfeitig mitgetheilt und als Ergebniß der Berathung fich über die
fraglichen Punkte vereinbart; aber fie haben — ba fie in folcher Bes
iehung beide pflihtgemäß nur für eine und biefelbe Perfon zw
forgen hatten, db. h. beide zufammen bie vollftändige Repraͤſen⸗
tation des Volks ausmachten — eben fo wenig einen eigentlichen Vertrag
gefchloffen, als es ein Vertrag iſt, wenn über ein gemeines Gefeg
Megierung und Kammern übereinlommen, ober als 3. B. zwei
oder mehrere Vormünbder eines und beffelben Muͤndels unter
fi einen Vertrag über die Angelegenheiten dieſes Muͤndels abfchlies
en, wiewohl fie allerdings Über die gemeinfchaftliche Leitung bevfelben
Charte. 409
ſich verabreden oder gemeinſchaftliche Entſchlleßungen daruͤber
faſſen koͤnnen. |
Noch eine Art vertragsmaͤßiger Seflfegung conflitutioneller Rechte
und Freiheiten tft in ber neueiten Beit vorgekommen, nämlid ein
zroifchen einee Anzahl Regierungen unter fich gefchloffener
Vertrag, Ihren Unterthbanen gewiſſe Rechte und Freiheiten zu ges
währen, ohne jedoch dieſe linterthanen als Mitpaciscenten anzuführen
oder anzuerkennen. (&. Art. 18 ber deutſchen Bundesacte.) Ein fol
her Vertrag iſt allerdings ein für die Unterthbanen ber contrahirenden
Regierungen erfreuliche Ereigniß, woraus ihnen Hoffnung und
Erwartung Lünftiger Rechtsgewährung zufließt; boch ertheilt er ih⸗
nen barauf noch keineswegs einen unmittelbaren Rechtstitel. Auf
fie paßt das rechtlihe Ariom: res inter alios gesta aliis mon nocet
neo prodest, und erft wenn eine Regierung, zur Erfüllung ber von
ihr gegen die andern Regierungen übernommenen Verpflichtung,
ihrem Volk eine Freiheits:Charte wirklich verleiht (mas fie jedoch
auch ohne jenen Bertrag hätte thun Einnen), tritt für biefes Volt
die (tm Vertrag der Fürften unter fih zwar beabfichtigte, doch
buch, ihn allein noh nicht hervorgebrachte) Rechtswirkung ine
Leben. An und für ſich alfo verändert der fragliche Vertrag bem bis⸗
herigen Rechtszuſtand des Volkes gar nicht, Was es ſchon früher zu
fordern hatte (eine feiner Bildungsftufe und ben Zeitumfländen ges
mäße Berfaffung), diefes, nicht weniger und nicht mehr, bat es auch
jego zu fordern. Sowie jede ber vertragfchließenden Regierungen,
wenn ein Volk auf ſolches Uebereinkommen eine mißfällige Forberung
gründen mwollte, mit Recht ihm erwiedern koͤnnte: „Was geht dich
mein Uebereintommen mit andern Regierungen an? Mir innen
daſſelbe, ſowie wir es allein unter uns fchloffen, fo auch beliebig wies
der aufheben oder bie eingegangene Verpflichtung uns gegenfeitig oder
einfeitig erlaffen”; ebenfo könnten aud, die Völker, wenn etwa bag
Uebereintommen der Regierungen dahin ginge, den Unterthanen ges
wife Rechtsanfprühe nicht oder nur unvollftändig zu gewähren,
ober das bereits früher Gewährte wieder zurädzunehmen, jenen
Regierungen zu Gemuͤthe führen, daß Werträge de jure tertii rechtes
ungültig find und daß man zur Rechtsverweigerung ſich
durchaus nicht verpflichten koͤnne. Hiernach ift Elar, daß, um ber
deutfhen Bunbesacte bie Mechtseigenfhaft einer wahren Charte
zu verleihen, man entweder einen zwifhen ber Geſammtheit
der Regierungen einerfeitö und dee Sefammthelt der Voͤl—
Eer anderfeits durch jene Acte gefchloffenen Vertrag annehmen
(menigftend eine von den Regierungen darin ausgefprohene und
von der Nation nachher angenommene Verheißung anerfens
nen ober hineinlegen), oder aber bie Bunbesacte nicht ale Ver⸗
trag, fontern als Geſetz, nämlich als ein der deutfhen Nation
buch) eine conftituirende Autorität verliehenes und daher von
der eonflituirten Staatsgewalt einfeitig nicht mehr abzuänderndes
410 Charte.
Grundgeſetz fuͤr verbindlich (d. h. die Regierungen auch gegen ihre
Voͤlker verpflichtend) erklaͤren muß.
Sp zeigt fi alfo von faft jeder Seite betrachtet die Eigenſchaft
des Vertrags zur Herftellung der Rechtsbeſtaͤndigkeit einer Charte
theile unnöthig, theil8 unpaffend, theild nur ausnahmsmeife und nur
auf wenige Beftimmungen anwendbar und e8 erfcheint als der natür-
lichſte, faft allen gedenkbaren Verhaͤltniſſen entfprechendfte und dem
Rechtsbeduͤrfniß allein genuͤgende Urſprung und Rechtsboden der Charte
— ihre im Weg der Geſetzgebung geſchehende Verkündung. Die
Charte ift eine Urkunde, welche die Formen oder die Richtun⸗
gen oder die pofitiven Befhränktungen der conflituirten Staats⸗
gemalt. beftimmt, alfo das Verhaͤltniß berfelben zum Volke regelt und
das dieſem vorzubehaltende (ober zu gewaͤhrende) und jener zu über:
Laffende (oder zu übertragende) Rechtsgebiet feftfteite. Unter allen Mit:
teln zu Erreihung bes Staatszwecks ift ſolche Feſtſtellung das erite,
nothwendigfte und michtsgfte,. und wenn bas Wefen der Staats:
gemwalt oder bie ibeale Nedhtsfphäre des Geſammtwillens in ber
Beftimmung und Anwendung der Mittel zum Staats»
zwe.d befteht, fo ift unleugbar auch bie Beſtimmung der Verfafs
fung, alfo die Zeichnung der Charte, in folder Sphäre begriffen,
und ed genügt zur Rechtskraft dieſer Charte, daß der gefeggebende
Sefammtmille, durch das Drygan feiner natürlichen oder Fünftlis
hen Perfonification, fie verfaffe oder verfünde, oder — wofern fie
von. einer andern Seite entworfen und vorgefchlagen oder fon
factifh in Ausübung gefegt. ware — wenigſtens genehmige.
Der Sefammtwille, welchem. das Recht zufteht, das Grundge:
feg oder bie Charte zw geben, iſt eigentlich Fein anderer als jener,
welhem auch bie gemeine Gefeggebung entfließt oder entfließen fol;
aber das Organ, wodurd er dort fich gefeßgebend dufert, wird ale
ein anderes gedacht als jenes, welches es hier thut. Es ift dieſes
mwenigftend eine zur Befeftigung ber Charte nothiwendige Vor:
ausfegung oder Idee, weil Niemand ſich ſelbſt ein bindendes Geſetz
geben kann, die. conflituirende Autorität alfo ihr eigenes Werk
jeden Angenblid wieder abzuaͤndern oder zu zernichten die Befugniß
hat. , Das. erftgedachte: Organ, wenn es auch bie Staatsge—
watt verbinden foll, muß daher in der Idee ein höheres und frü-
beres fein ala das legte; «8 ſoll biefes ja erſt erfhaffen und
ihm Richtung und Schranke vorfchreiben, während es felbft kei⸗
ner andern Beſchraͤnkung unterworfen ift, als jener, welche ſchon das
allgemeine oder rein vernünftige Staatsrecht dem Gefammtwillen
überhaupt, alfo auch jedem Organe befjelben gefegt hat. Die conflis
tuirende Autorität nun bat zum natürliden Drgan bie Ge:
fammtheit ber volbürtigen Gefellfchuftsgliedee oder deren Stim-
menmehrheit, und fie kann füglich ſolches Organ fortwährend bei⸗
bedalten, während die gemeine Gefeggebung und noch weit mehr
die Regierungsgemwalt faft-nothwendig einem kuͤnſtlichen Dr:
Charte. 411
gan übertragen werden muß. Mur in bes ganz reinen und einfachen
Demokratie mag bemfelben natürlihen Organ neben ber
conftituirenben, d. h. die Grundgeſedte gebenden, Autorität
auch die gemeingefeggebenbe überlaffen bleiben, fei ed, daß es
von Teiner- conftituirenden Gewalt noch Feinen Gebrauch gemacht
oder daß es ausdruͤcklich ſich felbft auch die gemeine Geſetzgebung
und die Regierung vorbehalten, d. h. alſo fi ſelbſt auch zur
canftituirten Autorität erklärt hätte. Entgegen Tann audy bie
conftituirte Autorität zugleich mit dee conflituirenden bekleidet
oder überhaupt zur Ausübung der lestern ein Eünftlihes Drgan '
beftelft werden. Beides jede) ift politifch bedenklich oder verwerflich.
Die natürlich beftehende conftituirende Autorität (perſonificitt aller:
nacht durdy die Kandesgemeinde oder auch durch die im ganzen
Lande eröffneten Stimmregifter) ift für.die laufenden Ge
fhäfte dev Regierung und aud für die gemeine, dem oft fchnell
wechfelnden Beduͤrfniß anzupafiende, Geſetzgebung zu unbeholfen
und thut fehr wohl daran, wenn fie auf die Conftituirung fid
beſchraͤnkt; ja fie thus felbft wohl daran, wenn fie fogar für dieſe,
ihr allernaͤchſt angehoͤtende, Function (d. h. für. die Feſtſtellung oder
Abänderung der Berfaffung) ein Fünftlihes Organ (3. B. eine
außerordentliche, nach einem ihrer Idee huldigenden Wahlgefeg zu er⸗
nennende, landftändifche oder NationalsVBerfammlung) verorb:-
net, ober demfelben wenigſtens den Entwurf und die vorläufige. Feſt⸗
fegung der Charte oder. deren Abänderungen überträgt, ſich ſelbſt bios
die Genehmigung ‚oder Verwerfung desVorſchlages vorbehaltend.
Beſſer jedoch ift es jedenfalls, fie übertrage. ihre Recht gar nicht,
als daß fie die conftitnirte ordentliche Autorität, 3. B. Negies
rung und Kammern, zugleih aud mit der conflituirenden
Gewalt befleide. Wenn naͤmlich das Leste gefchehen ift, fo Hat bie
Verfaſſung einerfeits die Stätigkeit verloren, d. h. es ift Gefahr
vorhanden, bag Abänderungen, welche zum Uebel führen, vorfchnelf
befchloffen, von unlautern Parteihaͤuptern mit: Lift oder Ungeſtuͤm
durchgefest ober durch die Autorität eines herrfchfüchtigen Miniſteriums
von der MWillfährigkeit einer ſchwachen Kammer. errungen werden; und
anderfeits ift die Duchführung verbeffernder Neuerungen bei
Machthabern, welche der beftehenden Mißbraͤuche ſich freuen, 3.8.
bei einer unter der Herrſchaft eines ſchlechten Wahlgefeges gewählten,
aber in eben biefem Geſetz die Hoffnung ber MWiederermählung ober
bie Bürgfchaft egoiftifcher Zweckerreichung für ihre eigenen Glieder ober
für deren Stanbesgenoffen erblidenden Kammer immer fchwierig und
oft kaum moͤglich. Die nach den DVorfchriften bed estatuto real ge⸗
wählte fpanifdye Kammer und die auch nach ber Julius: Revolu«
tion factifh in Function erhaltene franzoͤſiſche Kammer find da⸗
von nahe liegende und einbringliche Beifpiele. Ebenſo das britiſche
Parlament vor der — erft nach den langmwierigften Kämpfen und
mehr duch das Volk als durch feine großentheild egoiftifchen ober
corrumpfrten Sepeäfentemten ereungenen — Refoens, Dieſer zuiegt
angedeuteten Gefahr hilft nichts Anderes ab als die für Zeiten des anerkann⸗
ten Beduͤrfniſſes einer Verfaſſungsabaͤnderung vorzufchreibende Einbes
sufung einer eigenen conflituirenden Verſammlung (wofür freilich
ein allen Bedenklichkeiten enträdtee Wahlgeſetz zu geben, eine
ſchwierige Sache if) 5 dee zuerſt bemerkten aber kann, wenigſtens
zum heile, dadurch gefteuert werben, daß man bie Formen ber
Berathung und Schlußfeffimg über Verfaſſungsfragen anders als jene
für die gemeine Gefeggebung beftimme, und zwar zumal fo, daß eine
forgfältigere und reifere Berathung dadurch verbürgt und zur Gültig»
keit des Beichluffes ein ſehr überwiegendes Stimmenmehr ges
fordert werde. Die conftituirte Autorität wird alfo in ſolchen Faͤl⸗
(en zeitlih zur conſtituirenden, nimmt aber nach vollbradhtem
Geſchaͤft fogleich wieder ihre vorige Eigenfhaft an.
Von der Entftehungsart der Charte hängt natuͤrlich aud ihre
Rechtswirkung, Umfang und Dauer ber baraus hervorgehenden
Verpflichtung, auch die etwa rechtlich zuläffige Art ihrer Zuruͤknah⸗
me, Aufbebung oder Veränderung ab. Ihre Eigenfchaft ale
Vertrag oder ald Gefet entſcheidet allernächft bie hierauf ſich bes
ziehenden Fragen. Iſt fie nämlich ein Vertrag, fo verbindet fie bie
Daciscirenden, aber nur biefe, und zwar nur in fo weit biefels
ben ſich wirklich verbinden wollten und xechtlid verbinden konn⸗
ten. Iſt fie aber ein Geſetz, fo kann fie nicht ben Geſetzge⸗
ber ſelbſt, fondern bloß die dem Gefeg unterworfenen Perfön>
lichkeiten zu fortwährender Kefthaltung verbinden, doch auch bier wies
ber nur fo meit, als ber wahre Sinn oder Wille des Geſetzgebers
erkennbar ging und rechtlich geben Fonnte.
Erſcheint hiernach eine Charte ale (freiwillige ober auch durch rechts
lich zuläffige Mittel abgenöthigte, und ſodann duch Annahme von
Seite des Volkes bekräftigte) Verleihung des — früher abfoluten —
Fürſten; fo ift Mar, bag nun Er fein Geſchenk oder fein vertrags⸗
mäßig ertheiltes Rechtsanerkenntniß nicht mehr zurädnehmen noch vers
kuͤmmern, wohl aber durch weitere Geſchenke oder Zugeftändnifie ver-
vollftändigen darf. Dagegen bat zwar das annehmende Volk ein
Recht zue Behauptung des ihm einmal Gewaͤhrten erworben, kei⸗
neswegs aber die Schulbigkeit auf fid) genommen, fid) mit bem Ge⸗
voÄhrten für innmer zu begnügen. Es Tann, wenn «8 feine ges
rechte Korderung dadurch noch nicht befrtediget fieht oder wenn neu
eingetretene Umftände, namentlich ein erlangter höherer Bildungsgrab,
oder die allgemeinen Zeitverhältniffe auch neue, billige Wünfche entfles
- ben machten, biefelben jederzeit äußern und durch alle ihm rechtlich zu
Gebote ſtehenden Mittel geltend machen; fo wie auch z. B. ein mit
einem bleibenden Mechtsanfprudy auf den von einem Andern ihm zu
reichenden Lebensunterhalt Verſehener durch die zeitlich gefchehene und
von ihm auch für emmflweilen angenommene Zuſicherung einer gewiſſen
jährlichen Summe bes Mechts beraubt wird, eine Erhöhung zu fordern,
Charte. 413
wenn bie Unzulaͤnglichkelt ber bewllligten Summe entweder ſchon im
Algemeinen erkennbar vorliegt ober auch erſt fpäter wegen neu einges
tretener Umftände (als gefteigerter Preife ober vermehrter wahrer Bes
düefniffe) eine entſprechende Erhöhung als nothwendig erfcheint. Nur
wenn ausdruͤcklich, als Preis der Verwilligung ober auf Art eines
Vergleiches, eine Verzihtleiftung auf weiter zu ſteigernde
Forderungen flattgefunden hätte, würde man ben Vorbehalt folcher
Steigerung nicht mehr als flillfchweigend im Vertrag enthalten anneh⸗
men koͤnnen, fobann aber zu prüfen haben, ob ober inwiefern
die Verzichtleiftung in ber rechtlichen Macht derjenigen, die fie aus⸗
ſprachen, wirklich gelegen gemwefen. Man würde nämlich fragen duͤr⸗
fen, ob 3. B. bie auf eine gewiſſe Weife zu Stande gekommene
erfammlng angebliher Nationalrepräfentanten ober ein fo
oder fo befchaffenes landſtaͤndiſches Collegium, ober etwa gar
nur eine vom Kürften willtärlih ernannte Schaar von Notablen,
mit einer vechtögültigen oder fo ober fo weit gehenden (ausbrüdlichen
oder ftillfchweigenden) Vollmacht von Seite ber Nation, um beren
Rechte es ſich handelte, verfehen gewefen, und ob — im Falle ber
Bejahung biefer Fragen — die Gewalt felbft einer echten National
Mepräfentation fo weit, als gefchah, gehen konnte, ohne bie Mechte
dee nahlommenben Geſchlechter zu verlegen? — War ber
„Kriegsrath“ m England bevollmäditiget, buch bas „Inſtr u⸗
ment der Regterung”, wie er feine Charte nannte, bie Formen
ber neuen Republik unter Cromwell's Protectorat zu bictiren? —
War ber franzefiihe „Erhaltungsfenat” ermädtigt, bie (freilich
blos durch Gewaltthat ins Leben geführte) Conſular⸗Vexrfaſ⸗
fung zu zertrümmern? — Waren bie angeblihen „Cortes von
Lamego”, weilhe Don Miguels Ufurpation den Stempel ber
Gefeglichkeit aufdrüden follten, dazu berechtigt? — Kann eine Dem
fimmlung von Prälaten und Baronen rechtsguͤltig die Leibeigens
[haft der Bauern, überhaupt bie Erniedrigung des dritten Etans
bes verorbnen, fi felbft zur alleinigen National s Repräfentation
erklaͤrend, ober einen dahin lautenden Vertrag mit dem König rechtes
gültig abfchliefen? Und koͤnnte wohl irgend eine Verſammlung oder
wie immer hefchaffene Autorität die Macht haben, die Unumftößliche
keit oder Unveränderlichkeit einer — wenn auch unmittelbar vom hu⸗
manen und rechtlichen Standpunkt verfertigten, noch weniger aber
eine bie ewigen Menfchentehte verlegenben — Charte für alle
folgenden Geſchlechter als vertragsmaͤßige Verpflichtung feftzufegen,
trotz allen etwa in Zukunft eintretenden Veraͤnderungen der Verhaͤlt⸗
niſſe und Intereſſen und den mit denſelben fortſchreitenden Beduͤrf⸗
niſſen und Erkenntniſſen?? — Dieſe Betrachtungen ſind freilich
auf die im Wege der Geſetzgebung erlaſſenen Charten nicht min⸗
der als auf die vertragsmeife errichteten anwendbar; wir machen
fie aber einſtweilen blos in Bezug auf bie letztern geltend.
Was die durch Vertraͤge mehrerer Hegierungen unter ſich
%
414 Charte
zu Stande gebrachten urkundlichen Freiheits⸗Verheißungen für bie
Völker betrifft, fo haben wir fchon oben bemerkt, daß aus dergleichen
Verträgen als folhen gar fein Recht, aber auch keine Verpflich⸗
tung für bie betreffenden Völker hervorgeht. Sie können hoͤchſtens
als Anerkenntniffe der denfelben ſchon früher, vermöge ſelbſtſtaͤn⸗
diger Titel, gebührenden Mechte dienen, oder auch — infofen fie
Öffentlich verfündet werden und wirklich Freiheiten, niht aber Be»
fhränfungen bictiren — als gemeinſchaftliche (d. h. von mehres
ren Herren gleichzeitig gefchehende) Verleihungen von flaatsbürs
gerlihen ober politifhen Mechten gelten, wornach fie der fchon oben
aufgeftellten Beurtheilung folder Verleihungen anheim fallen. Sollten
jedoch Verträge dieſer Art Abfchaffungen oder Befhränktungen
fhon früher den Völkern — vermöge natürlichen oder pofitiven Rechts
— zuſtehender Sreiheiten flatuiren, fo würden fie, wie von feldft
einleuchtet, rechtlich völlig unwirkſam, obſchon etwa zur Veraͤn⸗
derung bes factifchen Zuftandes führend fein.
Auch die in der Form von Gefegen (Grundgefegen) er
richteten und verfündeten Charten, obfchon fie allerdings ben Charaks
ter einer höheren Heiligkeit oder Unantaftbarkeit an ſich zu tragen bes
flimmt find, ald gemeine Gefege, find gleichwohl mit folcher
Eigenfhaft nicht unbedingt und nicht ausnahmelos begabt. Auch bei
ihnen findet die Frage über vechtlihe Gültigkeit — in Bezug auf
. Urfprung, Form und Inhalt — flatt, und auch wo folhe Frage
zu bejahen ift, hat ihre Autorität — nad) Perfonen und Zeiten —
eine ideal leicht zu beftimmende, wiewohl in concreten Källen beftreits
bare und oft verhängnißvolle Grenze.
Zuvdrderft alfo kommen Urfprung und Form in Betrach⸗
tung. Waren bie Berfertiger und Verkuͤnder folcher Charten oder
der daran getroffenen Abänderungen mit ber conftituirenden
Autorität wirklich verfehen? Haben fie bei deren Ausübung _
die für Erlaffung von Grund⸗ oder conftitutionellen Gefegen theils
natürlich, theild nad pofitiven Rechten nothwendigen For—⸗
men beobakhtet? Die fon früher angeführten Beifpiele Finnen
hier wiederholt ald Beleuchtung bienen. Der revolutionaire „Krieges
rath” nad Cromwell's, der „Erhaltungsfenat” nad Buos
naparte's Machtgebot ihre angemaßte Gewalt ausübend, die vor
Don Miguel kriechenden Corte von Lamego waren freilich
zur Crlaffung von Grundgefegen nicht. ermächtigt; aber mir mögen
hinzufügen: auh 8. Ferdinand VII., welcher fein Reih an Nas
poleon abgetreten und baffelbe nur duch bie heidenmüthigen Anſtren⸗
gungen des unter den Fahnen ber Cortes⸗Verfaſſung flreiten-
den Volkes wieder erhalten hatte, war zur einfeitigen Verkuͤndung
einee neuen Charte (d. h. zur Proclamirung bes Königlichen Abfos
Iutismus) keineswegs berechtigt; und nicht minder widerredhtlich hans
deite das Cabinet 8. Karies X. in Trankreich, welches bie beſchworne
Charte durch „Drdonnanzen” in den weſentlichſten Punkten zu
Charte. 418
umſtalten, d. h. zu verhoͤhnen, ſich vermaß; nicht minder widerrecht⸗
lich und daher auch rechtsunguͤltig bie ariſtokratiſche Faction in
Bern, Solothurn, Freiburg und Luzern, welche, die mit
Napoleons Fall eingetretenen Verwirrungen benugend, an bie Stelle
der volksthuͤmlichen Berfaffungen ihrer Gantone tumultuariſch ihre
eigene 2 Herrſchaft einfegte.
Was ift aber von ben Sällen zu fagen, mo Verfaſſungegeſetze
durch das Machtwort von Fremden dictirt, dann etwa vermoͤge
Friedensvertrags von den betreffenden Regierungen ange⸗
nommen und ſodann den Voͤlkern geſetzgebend verkuͤndet werden? —
Auch bier zwar iſt eine Heilung des urſpruͤnglichen Gebrechens
burc nachfolgende (ausbrüdliche oder ftillfehweigende) Genehmigung
‚ der wahren conftituirenden Autorität möglih. So lange aber eine
fotche nicht vorhanden ift, mangelt ber Charte ber vom Innern
Staatsrecht geforderte Rechtsboden und verbleibt ihr bios diejenige
Gültigkeit und Dauer, welche nah den Principien bes aͤußern
Staats d. h. des Staaten: Rechts, ben Friedensartikeln zukom⸗
men kann (f. Friedensſchluß). Wir haben. gefehen, . wie bie
unter Napoleons Aufpicien gefhaffene RheinbundssActe durch
anderer Gewaltiger, die fpäter feine Sieger wurden, Machtgebot
(in der Prorlamgtion von Kaliſch) und durch eigenes Losſagen der
Sürften, welche fie früher aus Napoleons Händen angenommen,
endlich auch buch die Erhebung der Völker, welche das feufzend
ertragene Joch abzufhütteln freudig bie Gelegenheit wahrnahmen,
zerriffen ward; wir haben Aehnliches auch andere Völker, weichen
Frankreichs Dictat Verfaſſungen aufgedrungen, thun fehen (3. B
die Schweizer, die man früher gegen ihren Willen zur „heivetis
[hen Republik“ gemadht und fpäterhin durch die Mediation ss
Acte nur theilweife befriedigt hatte, au die Holländer und Bel-
gier, welche von Frankreich, mit dem fie grunbgefeglich vereint wa⸗
ren, fi losriffen u. a. m.); und es wird foldhe Erfcheinung ſich
wiederholen, fo oft aͤhnliche Gewaltmißbrauch und ähnlihe Ge-
legenheit zur Auflehnung gegen fremdes Machtgebot wieder
ehren.
Freilich gelten ſolche durch auswärtige oder durch einheimifche
Machtgebote dictirte Charten, fo lange die Gewalt fie fefthält, dus
ßerlich auch als rechtlich gültig, und iſt die Auflehnung gegen fie
ein fuͤr die Urheber gefaͤhrliches Wageſtuͤck. In den Zeiten des Rhein⸗
bundes ward als Verbrecher behandelt, wer auch nur fein Miß⸗
vergnügen mit ber dadurch erfchaffenen befpotifchen Gewalt ber
Fuͤrſten bezeugte und fiel der edle Palm dem Zorne des fremden
Protectors zum Opfer. Dies iſt natuͤrlich, weil jede Gewalt, bie
‚einmal befteht, ſich zu erhalten firebt und befto ſtrengere Mittel da⸗
für noͤthig hat, je ſchwankender oder hohler der Rechtsboden iſt,
worauf fie erbaut iſt. Aber die oͤffentliche Meinung und bie
Gefhichte richten gleichwohl auch über die triumphirende Gewalt,
416 on Charte.
und gar oft treten Umſtaͤnde und Ereigniſſe ein, welche bad verwer⸗
fende Urtheil vollzugsreif machen. Sich dagegen wahrhaft zu
ſichern, giebt es nur ein Mittel, nämlich die Heilung bes rechtli⸗
hen Gebrechens — was Urfprung und Form betrifft — durch
nachträgliches Einholen ber Vol ko⸗Zuſtimmung ober jener feines
ehten Repräfentanten, was aber ben Inhalt betrifft, durch
einzuleitende Verbeſſerung beffelben mittelft Befragung der legitis
men conftituirenden Autorität, d. h. eines lautern Organs
des vernünftigen Gefammtwillens.
Solches Befragen und dann bad Anhdren und Beachten -
des Gefammtwillene, wenn er auch ungefragt — auf zuverläffige
Weiſe — fi) ausfpriche, iſt überall, wo ein meitverbreitetes Mißver⸗
gnügen mit einer beftehenden Charte ſich ausſpricht, eine politifche
wie eine rechtliche Nothwendigkeit. Denn nimmer vergiebt fi) auch a
durch das feierlihft erlaffene Grundgefeg ber Geſammtwille
das Recht, wann immer wieder ein neues, namentlich ein verbeffertes,
ein ben etwa veränderten Zeitverhältniffen oder den erhöhten politifchen
Einfihten angemeffeneres, zu geben. Das Geſetz, welches ber con«
ftituirende — ob natuͤrlich oder Lünftlich organifirte — Gefammt-
wille gab, tft nur verbindlich für die conftituirte Autorität und
für jedes einzelne Glied der Geſellſchaft, nicht aber für bie große
— aus Regierung und Regierten beftcehende — Geſammtheit
Fa, felbft jene conftituirte Autorität und jedes ‚einzelne Mitglied der⸗
felben oder des Volkes kann, ohne dadurch ben etwa gefchiwornen -
Verfaffungseid zu drehen, Vorſchlaͤge zu Verfaffungsänderuns
gen machen oder Gedanken und Wuͤnſche barüber dußern, fo wie
es eined eben befondere Stellung mit ſich bringt oder erlaubt. Der .
Verfaffungseid (im Grunde nichts Anderes als eine. feierliche Eins -
fhärfung ber auch ohne ihn, fhon aus fchuldiger Folgſamkeit
gegen das beftehende Gefe& fließenden, Pflicht, oder eine weitere Sanctios
nirung berfelben durch religiöfe Ideen und pofitio rechtliche, barauf
gebaute Beſtimmungen) verpflichtet. blos zur Heilighaltung ober Be⸗
obadhtung ber Verfaffung, fo lange fie gefeglich befteht, auch
zur Enthaltung von jedem thatfählihen Verſuche, fie auf unges
feglihem Wege umzuflürzen oder zu alteriven, nicht aber zum Aufs
geben jedes Wunſches oder Strebens nad) ihrer Verbeſſerung auf ges
feglihem Wege. Daher Tann die Regierung (ja fie ſoll fogar, zus
mal wenn ihre allein das Recht der Snitiative zufteht) 5. DB. ‚den
Ständen den Vorfhlag zur Modificatton oder Revifion ber Chdete
machen (verfteht fih frei gewählten Ständen und mit ftrengfter
Enthaltung von jedem unlautern Einwirken buch Einfchüchtes
rung oder Corruption), wofern Ihe eine Veraͤnderung für’ Gefammts
wohl nothmendig oder räthlih daͤucht. Daher kann und darf auch
jedes Ständeglied frei und frank feine Anficht über etwaige Maͤn⸗
gel ober Lüden ber Verfaffung ausfprechen (ja es darf ſelbſt Jeder
im Volk fih barüber auf geziemende Weife dufern), um bas
Charte. 417
durch etwa den Kammern die Anregung zu entſprechenden Bitten
oder Vorſchlaͤgen zu geben, Überhaupt die conſtituirende Autorität ober
Diejenigen, welche berufen find, biefelbe unmittelbar in Xhätigkeit
zu feßen, zur Kenntnißnahme von ben im Wolfe berrfchenden Wuͤn⸗
{hen oder Beduͤrfniſſen zu vermögen und bergeftalt die Abhülfe wirk⸗
fam vorzubereiten. Ia’e6 haben die Regierten — ohne Unterfehieb
ob fie zu einer gefeglich verkuͤndeten Charte unmittelbar oder durch
das Organ von Mepräfentanten ihre eigene Zuſtimmung erflärt haben -
oder nicht — fortwährend die Befugniß nit nur dir Bitte oder
des Vorſchlags, ſondern felbft der Forderung einer entfprechenben
Verbefferung ober Vervollfländigung, wenn bie Charte wirklich ihr
Recht verlegend oder ihren rechtsbegruͤndeten Anfprühen nicht .
Genuͤge leiftend iſt. Hätte 3. B. auch wirklich das fpanifche
Volt durch das Organ felbftgemählter Repräfentanten (nicht blos buch
jenes ber fanatifchen Pfaffen und bes bethörten Pöbelhaufens) ber
von Ferdinand VII. proclamirten Unumfchränktheit des Königs beiges
ſtimmt, fo wuͤrde ihm gleihmohl bee Widerruf ber Zuftimmung,
fobald es das Unheil des Abfolutismus erkannte, ober bie Korberung
einer rehtsgemäßen Gonftitution immerbar zugeftanden haben.
Unb eben fo wuͤrde das — an Werth etwa ber „Lichtenſtein'⸗
ſchen“ Conftitution zu vergleichende — estatuto real ded Herrn
Martinez de la Rofa, aud wenn es von einer wahren Natios
naltepräfentation waͤre angenommen ober gefeßgebend befräftiget wor:
ben, ben Forderungen von etwas’ Befferem, ben Anfprücen ber
Zeit und ber ihr Zugebildeten Genügenderem tein rechtliches Binder:
niß entgegenfegen. Bedenklich dabei kann jebenfalls nur der etwa
vorhandene oder Fünftlidy angeregte. Zweifel uͤber die wahre Wolke:
gefinnung und. das mahre Volksbebürfnig und dann bie Wahl der
Mittel zur Durchführung bed in dee Idee dem Mecht wie dem
Gemeinwohl entfprehenden Werkes fein. Das natürliche Organ
dee conftituirenden Autorität naͤmlich tritt nur in außeror:
dentlihen Lagen und Umftänden von feibft In Thaͤtigkeit und
ohne dringende Veranlaffung wird es nicht leicht von Seite ber con
ftitutirten Gewalt dazu aufgerufen. Daher ift ed gut und meife,
wenn die Verfaffung felbft auch bie Mittel und Wege ihrer eigenen
zeitgemäßen Entwidlung oder Fortbildung und Verbeſſerung vorfchreibt,
zumal alfo ein möglichft zuverläffiges Organ ber conflituirenden
Macht ind Leben ruft und bie feine fortwährende Webereinfiimmung
mit dem mahren vernünftigen Gefammtwillen möglichft gemährleiften-
den Formen für feine Berathungen und Schlußverfaffungen feftfest.
So lange jedoch die praßtifche Staatskunſt biefen ibealen Forde⸗
rungen nicht völliges Genüge zu leiften im Stande ift, bleibt aller
dings täthlih, der Charte einen abfoluten, felbft gegenüber der con⸗
ſtituikenden Autorität zu behauptenden Charakter der Heiligkeit
pofitiv zw verleihen, bergeftalt, daß 3. B. ihre Unantaftbarkeit
menigftens für eine beflimmte Reihe von Jahren feftgefegt (in
Staats s Lerifon. IL. 27
418 | Charte.
der Corteg-Merfaffung waren dafür 3 Jahre beflimmt), auch einige
Hauptgrundfiäge ald der abändernden Verfügung ded Geſammt⸗
willens voͤllig entruͤckt erklärt (fo in dee nordamerifanifhen
Verfaffung jene der Proffreiheit, der Meligiondfreiheit u. a.), und
dann für bie im Allgemeinen noch zuläffig bleibenden Abänderungen
die Zuftimmung auch der conflituirten Autorität, insbefondere ber
Regierung verlangt oder (wie die meiften Berfuffungen thun)
diefer. Regierung in Verbindung mit der gewähnlihen Volks:
repräfentation zugleih die Eigenfchaft ber conftituirenden
Autorität ertheilt, die Ausübung derfelben jeboh an erſchwerende
Formen gebunden, zumal. auch ein. größeres Stimmenmehr
dafür gefordert werde, "Denn beffer ift 28, neben dem Befige wefent-
licher Rechts: Anerkenntniffe und Garantien auch noch mandherlei
Mängel und Gebrechen fortfchleppen zu müflen, als der fanguinifchen
Hoffnung auf völlige Rechtsbefriedigung oder auf Erreihung idealer
Volltommenheit der Verfaffung die Sicherheit des bereitd errungenen
Guten aufzuopfern, und die Erhaltung oder den Verluſt der koſtbar⸗
fen Rechtsgarantien abhängig zu machen von der jeweiligen Stim⸗
mung einer Volks- oder Repräfentanten = Berfammlung, alfo von ben
bei keiner mie immer gebildeten Verſammlung burchaus vermeiblidyen
Irrthuͤmern oder Verführungen oder Einfchüchterungen des Augen-
blicks, hervorgebracht etwa durch das Streben ber Regierung nad)
Uneingefchränttheit ober durch Umtriebe oder Gewaltthätigfeiten hier
einer herrfchfüchtigen, bort einer zügellofen Partei. "
Mir haben bisher das Wort „Charte” in der allgemeinen
Bedeutung, naͤmlich überhaupt als Conftitutions= Gefes ober
Urkunde, genommen: im engern Sinn ift es ganz befonders bie
Benennung der franzöfifgen — urfprünglih von 8. Ludwig
XVII. dem durch die Beſieger Mapoleons wiederhergeftellten König-
reihe verliehenen, fodann in Folge dee Juliusrevolution in
einigen Hauptpunkten veränderten — Gonftitution, beren Geift und
Inhalt eine ‚nähere Betrachtung ſchon darum in Anſpruch nehmen,
weil Frankreich al Mufterfinat für das neue conftitutionelle Sy⸗
ſtem gilt, die Grundzüge ferner Charte auch wirklich vielen ber neue:
ſten Verfaffungen als Worbild gedient haben und überhaupt die Vor:
fhritte oder Ruͤckſchritte Frankreichs auf der Bahn bes freiheitlichen
Staatslebens auf das künftige Schickſal Europa’s jedenfalls verhäng-
nigreih — ob den Völkern oder den Regierungen, als DBeifpiel ober
ale bvrecbitd dienend, und ob friedlich oder kriegeriſch — einwirken
werden.
Es iſt bekannt, daß, nachdem die Heldenkraft Napoleons durch
die ungeheure Uebermacht ſeiner Feinde und durch die Abtruͤnnigkeit
der von ihm groß gemachten Senatoren und Generale gebrochen und
die Wiederherſtellung der bourbonifchen Herrſchaft unter ber Firma
ber „Legitimität’ befchloffen war, ber Senat, welcher unter Tal⸗
leyrands Aufpizien das Entfegungsurtheil über den Kaifer gefpro:
Charte. 419
hen, fid) doch noch ber patriotifchen und Ehren: Pflicht erinnerte,
bei Ueberantwortung des Meiches an die Bourbone foviel als möglich
von den Hauptprincipien der Mevolution zu:wahren und unter bie Aegide
einee VBerfaffungsurkunde zu fielen. Der ſchnell verfertigte und
vom gefeggebenden Körper eben fo fehnell angenommene (6. Apr. 1814)
Entwurf einer folchen wurde dem Prinzen von Artois (Bruder Luds
wigs XVIII.) als Generallieutenant bes Reichs vorgelegt, und von
demſelben die Zuverſicht ausgeſprochen, daß fein Bruder die Grunds
lagen bes Entmwurfes genehmigen werde. Aber Ludwig XVIIE., als
er drei Wochen fpäter aus England auf ben franzöfiihen Boden her:
überfam, erklärte noh von St. Duen aus die neue Verfaſſung,
„welche das Gepräge der Eile an ſich trage“, für ungültig, ver
hieß jedod) eine andere, welche auf dhnlihen Grundſaͤtzen ruhen follte,
und erfüllte folches Verſprechen auch wirklich (unterm 4. Suni) durch
Berfündung einer feinem koͤniglichen Willen allein entfloffenen
Charte. Es war ein Glüd für Frankreich und die Welt, daß bie
Erinnerung an die oft empfundene Furchtbarkeit der franzöfifhen Wafs
fen und an die frühere Begeifterung der Meufranten für Freiheit und
Vaterland noch lebendig in den Gemüthern der jegigen Sieger war.
Man erlaubte alfo dem Fugen König, daß er dem — augenblicklich
kaum mehr widerftandsfähigen, dabei durch früher begangenen Mißs
braud) des Siegerrechts des Anſpruchs auf Schonung verluftigen und
dem ftrengen MWicdervergeltungsrecht anheim gefallenen, zumal aud)
duch feine vielen Revoluttons: Sünden zum Abſcheu der Mächte
gewordenen, eben darum aber immer noch ſchrekkenden — franzoͤſi⸗
[hen Volke eine Berfafjung verleihe, wie von den fiegenden Voͤl⸗
tern Feines — felbft das freiheitsftolze beitifche nicht — eine bes
faß oder, mas insbefondere die Voͤlkerſchaften teutfcher Zunge bes
teifft, auch nur zu erlangen bie Hoffnung ober zu erbitten den Much
hatte- Wir haben bier, was England betrifft, natürlich deſſen
Berfaffung, wie fie vor der Parlamentsreform beftand, im Auge,
und fehen dabei ab von. allen übrigen — nicht eben in ber Vers
faffung, fondern in andern Umftänden begründeten — bie Freiheit
begünftigenden Verhaͤltniſſen des gluͤcklichen Inſelſtaates. Und mas
die franzoͤſiſche Charte ſelbſt betrifft, fo .fegen mir bei unferem Urtheil
natürlih eine redlicdye, ihrem MWortlaut.: oder deffen aus vera
nünftiger Auslegung bervorgehendem Sinn entfpredhende Bes
obachtung bderfelben voraus; befchränten auch die Lobpreifung auf
die darin ausgefprochene — theils vollkommene, theild wenigitens an⸗
nähernde — Anerkennung der Hauptprineipien der Revolu⸗—⸗
tion; d. bh. des vernünftigen Staatsrechts, fo wie die con»
ftituirende Nationalverfammlung fie. in ber Gonflitutionsurs
Pfunde von 1791 niedergelegt, das monarchiſche Europa aber auf's
beftigfte und hartnädigfte bekaͤmpft hatte, und flimmen übrigens aus
voller Ueberzeugung in ben bie Charte megen einzelner ſchwerer
Abmweihungen und Mängel billig tveffenden Tadel eim.
27*
420 Charte.
Die Charte Ludwigs XVIII. hat zuerſt dem ſeit 1789 die
Loſung ber Wohlgeſinnten gewordenen Repraͤſentativ⸗Syſtem
einen geſicherten Rechtsboden gegeben. Denn die fruͤheren Conſtitu⸗
tionen des revolutionairen Frankreich erfreuten ſich theils der unum⸗
wundenen Anerkennung von Seite der Großmaͤchte nicht, und ge⸗
langten auch wegen fortwaͤhrender einheimiſcher Stuͤrme nicht zum
feſten Beſtand; theils waren ſie — namentlich die conſulariſche
und bie kaiſerliche Verfaſſung — dem urſpruͤnglichen Geiſte der
Revolution völlig widerftreitend, den Abſolutismus des Kriegsmei⸗
fterd an die Stelle des Nationalwillens febend, ja biefen letzten durch
die für feine Aeußerung vorgefchriebenen beengenden und verfälfchenden
Kormen nit nur zum bloßen Schalle herabwuͤrdigend, fonbern felbft
verhöhnend. Das über den gedemüthigten Welttheil triumphirende
Frankreich war durch feinen eigenen Gewaltsherrfher geknechtet;
und nur bie dem Nationalftolz fchmeichelnde Weltherrſchaft Frankreichs
gab einigen Troſt für die getöbtete Innere Freiheit. Diefe Iekte
erftand erſt aus den Niederlagen feiner Heere wieder, unb die Groß⸗
mächte achteten für reihen Gewinn, das furchtbare Soldatenvold, über
welches ein Zufammenfluß außerordentlicher Umftände ihnen ben aus
genblicklichen Sieg verliehen, durch Gewaͤhrung conftitutionellee Frei⸗
heiten im Innern beſchwichtigen, d. h. über den Verluſt der aͤußeren
Herrſchaft troͤſten und vom verzweifelten Widerſtand, welcher erneute
Revolutionsgreuel hervorbringen mochte, abhalten zu koͤnnen.
Alſo durfte Ludwig XVIII. als verfaſſungsmaͤßige Rechte der
Franzoſen und als Grundprincipien ihres Staatsvereins anerkennen
und feierlih erflären: 1) die Gleichheit Aller vor dem Geſetz, wel⸗
ches immer fonft ihre Zitel und ihe Rang felen; 2) Allgemeinheit
der Beitragspflicht zu den Staatslaften nad) Verhaͤltniß des Vermoͤ⸗
gens; 3) Gleichheit der Anfprüche zu allen Civil: und Militair⸗
Stellen; &) perfönliche Sreiheit dermaßen, daß Niemand verfolgt ober
verhaftet werden koͤnne, es fei denn in ben vom Geſetze vorgefehenen
Hätten und vorgefchriebenen Formen; 5) allgemeine Religions: und
Eultus: Freiheit; 6) Preßfreibeit in den Schranken der gegen ben
Mißbrauch folher Freiheit zu erlaffenden Repreſſſiv⸗Geſetze („en
se conformant aux lois qui doivent reprimer les abus de cette
liberte “ ift der Ausbrud ber Charte); 7) Unverletzlichkeit des Eigen
thums, daher vorläufige volle Entfchädigung, wo megen eines geſetzlich
erwieſenen Öffentlichen Intereſſes das Opfer eines Eigenthums vom
Stante verlangt wird; 8) Abſchaffung der Gonfeription; 9) Inamo⸗
vibilität der Nichter; 10) alleinige Competenz des natürlichen ichs
ters, Aufhebung und Verbot aller außerordentlihen Commiſſionen
und Tribunale (mit alleiniger Ausnahme ber Prevotals Höfe, falls beren
Miederherftellung für nöthig follte erachtet werden); 11) Deffentlichkeit
ber Verhandlung in Criminalſachen; 12) Beibehaltung bes Inſtituts
ber Zum; 13). Abfchaffung der Vermögens: Gonfiscation und Verbot
ihrer Wiedereinführung; 14) Beſchwoͤrung ber Verfaſſungsurkunde
Charte. 421
durch den König und jeben feiner Nachfolger bei der Zeierlichkeit ihrer
Krönung. — Unermeßlich koſtbare Gemährungen, und weldhe, in
Verbindung mit dem buch eben biefe Charte ausdruͤcklich in Kraft
erhaltenen „oode civil“ (der Name Napoleons marb babei
ausgelaffen), wornach weber Leibherrlichleit, noch Lehensherrlichkeit,
noch andere mittelalterliche Laften des äffentlihen Rechts ober Une
rechts mehr anerkannt werden, faft den ganzen Inbegriff der nad
der reinften Theorie zu fordernden bürgerlichen Sreiheit verwirk⸗
lichen; zum Theil Gemährungen, wornach felbft nur zu ftreben, oder
Wuͤnſche zu aͤußern in mehr als einem der Staaten, welche bem über:
mwundenen Frankreich das Geſetz bes Friedens dictirten, noch heute
für Verbrechen oder für flrafbaren und durch bie größte polizeiliche
Strenge hintanzuhaltenden „Umtrieb” gilt.
Neben den bürgerlichen Freiheiten aber und insbefondere zu
deren wirkſamer Beſchirmung gewährte die Charte den Kranzofen auch
politifche Rechte, und zwar gleidhfalls in einem bie Forderungen
einer für die conftitutionelle Monarchie aufzuftellenden
Liberalen Theorie bis auf einige wenige Punkte ſo ziemlich befriebis
genden Umfang. Der König iſt nach ber Eharte heilig und unverletz⸗
tich, feine Minifter aber find verantwortlich; die Kammer ber Deputirten
hat das Mecht, fie anzuflagen, und jene ber Pairs das, fie zu richten.
Dem König allein ſteht die vollgiehende Gewalt zu; er tft hoͤchſtes
Oberhaupt bes Staates, befehligt die Lands und Seemacht, erklärt Krieg,
fließt Friedens⸗, Allianzs und Handels »Tractate, ernennt‘ zu allen
Stellen der öffentlichen Verwaltung und erläßt die zur Vollsiehung ber’
Geſetze und — wie ein verhängnißvoller Zufag beſagt — bie „zur Si⸗
cherheit des Staates noͤthigen“ Werfügungen und Ordonnan⸗
zen. Seine Civiltifte wird duch bie erfle Legislatur nad feiner
Thronbefteigung für feine ganze Megierungsbauer feftgefeht. „Die ges
feggebendbe Gewalt wird gemeinfhaftlih vom König und
ben beiden Kammern ausgeübt.” (Hier alfo ein unummundenes
Anerkenntniß der das. Weſen der conftitutionellen Monarchie ausmas
henden Theilung ber Gewalt, fern’ von jener fpisfindigen, aus dem
ohne irgend eine klare Begriffsbefiimmung aufgeftellten und dictatoriſch
ale Lofungswort verfündeten „monachifhen Princip’ abgeleite:
ten, fich felbft aber widerfprehenden — oder wenigſtens zum blo⸗
gen Wortftreit führenden — Lehre, baß alle Staatsgewalt in der
Derfon des Monarchen vereint, und nur bie Ausübung einiger
beftimmter echte derfelben an die Mitwirkung ber Stände gebuns
ben fein folle.) Das Recht des Könige bei ber Geſetzgebung befteht
in bee Initiative, br Sanction und bee Promulgation, je
nes der Kammern in ber freien Berathung, ſodann Zuftimmung
oder Bermwerfung. Auch dürfen fie ben König um ben Vor:
fhlag eines Geſetzes über irgend einen Gegenftand bitten, mit
Angabe des Inhalts, weichen baffelbe, ihrer Meinung nad), haben foll.
Die National: Repräfentation befteht aus gwei Kammern, einer ‚ber
422 Charte.
Pairs und einer der Deputirten. Die erſte, deren Mitglieder —
in unbeſchraͤnkter Zahl — vom Koͤnig nach Willkuͤr, auf Lebenszeit oder
erblich, ernannt werden, iſt nicht nur, wie jene der Deputirten, Theilneh⸗
merin der geſetzgeben den Gewalt, ſondern auch Staatsgerichts⸗
hof in Faͤllen der Anklage gegen Miniſter und uͤberhaupt uͤber Verbre⸗
chen des Hochverraths und uͤber Angriffe auf die Sicherheit des Staa⸗
tes. Die Prinzen von Gebluͤt ſind geborne Mitglieder diefer Kammer,
koͤnnen jedoch nur auf ſpeciellen Befehl des Koͤnigs Sitz darin nehmen.
Die Berathſchlagungen ſind geheim. (Aus dieſen und andern Be⸗
ſtimmungen geht freilich hervor, daß man die Pairskammer blos als Ge⸗
gengewicht der eigentlichen Volks-, d. h. ber Deputirtenkammer ober
als noͤthigenfalls zur Entkraͤftung der Beſchluͤſſe der letzten zu gebrau⸗
chendes Werkzeug errichtete. Doc, koͤmmt hierauf nicht ſehr viel. an,
wofern mur bie Deputirtentammer mit den bem natürlichen Or⸗
gan bes Geſammtwillens gegenüber der Megierung gebührenden Rechten
verfehen warb. . Demn die wahre Volksrepraͤſentation befteht allenthals
ben nur in diefer Wahllammer.)
Hier muß: nun freilich anerfannt werden, daß mehr ale ber.
Umfang ber einer. folhen Sammer verliehenen Rechte, die Art
ihrer Bildung entſcheidend fuͤr ihren politifhen Werth ober Unwerth
if. Und die in ber-Charte Ludwigs XVIII. vorgefchriebene Bildungs⸗
weife ift allerdings eine vom Geift ber Ariftofratie (namentlich. der
Geld⸗Ariſtokratie, hinter welcher fi jedoch jene der Geburt nur
liſtig ober "nothgedrungen — meil die Franzoſen das Geburtsvorrecht
Idngft entfchieden verworfeir hatten — verbarg) eingegebene, daher der
Idee einer wahren Volksrepraͤſentation durhaud.nicht entfprechende.;
Doch eine Heilung ber urfprünglich fehlerhaften Bildungsart durch
ein nachfolgendes Geſetz blieb immer zu erwarten, und in foldjer Bor:
ausfeguing mochten die der Deputirtenfammer durch die Charte: verliches
nen Rechte als wenigſtens anndhernde Befriedigung ber Korberungen. der
Theorie erfcheinen. Denn fie erhielt das Recht der entfcheidenden Theil⸗
nahme an ber Geſetzgebung, welche nach ihrem Weſen die hoͤch ſte
Gewalt und, wenn im volksthuͤmlichen Sinne ausgeuͤbt, die Gewaͤhr⸗
leiſterin aller Intereſſen und Rechte des Volles iſt. Keinem andern
Geſetze gehorchen zu muͤſſen, als wozu man (unmittelbar ober durch daB.
Organ echter, insbeſondere frei gewählter Nepraͤſentanten oder deren
Mehrheit) eingeſtimmt hat., Macht eben das Wieſen der Freiheit aus;
und ein Volk, weichem ſolche Zuſicherung verliehen iſt, bat wenigſtens
keine Gefahr der Verſch limmerung feines- eben. beſtehenben Zuſtan⸗
bes mehr, wofern es nicht ſelbſt — durch. thoͤrichtes Zuſtimmen
oder durch ſchlechte Wahl — dieſelbe herbeifichrt. Aber: auch das
Mittel jeder moͤglichen Werveſſerung des: Zuſtandes befitzt es, wenn
ihm (d. h. feinen Wortfuͤhreen), wie durch die franzoͤſiſche Charte wirk⸗
lich gewaͤhrt iſt, wenigſtens das Recht der Bitde um jedes erwuͤnſchte
Gefeg und auch das Recht der Steuerverwillig ung zuſteht; Rechte
naͤmlich, durch deren weiſen Gebrauch die Regierung — wenn nicht of⸗
Charte. 425
tect, fo doch indireet — gen oͤthigt werden kann, im Sinne ber auf:
geklärten Öffentlihen Meinung, d. h. des wahren und-vernünfti-
gen Geſammtwillens, zu‘ malten. Gegen Verlesungen der
Charte durch ein boͤswilliges oder corrumpirtes Minifterium iſt der De-
putirtenfammer das Anklagerecht gegen bie Minifter ertheilt. Als
koſtbare Bürgfchaften für treue und muthige Ausübung der
Deputirtenpflicht aber find namentlidy die Oeffentlichkeit der
Verhandlungen und die Unantaftbarkeit der perfönlihen Freiheit
der Deputicten, felbft in Griminalfachen’ (während der Dauer der &ef-
fionen und nur den Fall der Betretung: auf frifcher That ausgenommen),
toofern nicht beide Kımmern in die Verhaftnahme einwilligen, durch bie
Charte verliehen, auch durch die Verordnung der alljaͤhrlichen Ein-
berufung der Kammern und durch jene der binnen drei Monaten nad
einer etwaigen Huflöfung der Drputirtenfammer zu gefchehenden Zufam:
menberufung einer neuen alle längeren Unterbrechungen der ber.
Bolksrepräfentation zugeſchiedenen Wirkfanitelt verhuͤtet.
So' viel von ben Vorzuͤgen ober von der Lichtſeite der franzsfi-
fhen Charte. Freilich aber hat fie auch ihre Schattenfeite, hefte-
hend theils in einigen offenbar ſchlechten, Ihrem eigenen Hauptprin⸗
cip wiberftreitenden Beftimmungen, theils In einigen Luͤcken und Z wei—⸗
deutigkeiten, welche den Feinden ber Volksfreiheit — feien fie im
Minifterium ober im Gabinet oder im Schooß einer anmaßenden Faction
— Erleihterungsmittel oder Beſchoͤnigungsgruͤnde faſt jeder argliſtigen
oder gewaltthätigen Unterdruͤckung, ja die brauchbarſte Waffe zur Ver:
nichtung der Churte felbft — nicht nur nad) ihrem Sinn, fondern auch
nach ihrem Wortlaute — bdarbieten und‘ dargeboten haben. Wir aber
haben bei unferem Lobe eine aufrichtige und ehrliche DBeabachtung
voransgefegt, nicht eine infidlöfe Tendenz und gewiſſenloſe Verdrehung.
Das allernaͤchſt Auffaltende in diefer Charte ijt der Eingang,
wortn Ludwig XVII, im Widerfprudy mit der ihm vom Senat vorge:
legten Urkunde, welche ihn als „Duck freie Volkswahl“ — und
zwar unter der Bedingung der eidlichen Eonſtitutions- Annahme — zum
Throne Berufenen erklärt, als unmittelbir „von Gottes Gnaden“
König der Franzofen und daher als bereit8 im neunzehnten Jahre
die Regierung führend auftritt, und als vermoͤge feibftftändigen Rechtes
Inhaber aller Staatsgewalt, welcher, blos aus felbfleigener Ueberzeu-
gung und Gnade, feinen Unterthanen — nad bem Beifplel mehre⸗
ver Vorfahren, welche gleichfalls verſchiedene Freiheitsbriefe den Ihrigen vers
liehen — bie den Ideen und Bedürfniffen der neueften Zeit angemef-
fene Gonftitutionsutekunde, den Wünfchen des Volks nachgebend, „zu:
gefteht, übergibt und verwilligt“. — Es ift dies eine Formel,
toodurch die ganze Mevolutionsperiode (von 1789 big 1814), als wäre
fie gar nicht vorhandert gemwefen, ober als wäre fie unmwürdig, in den
Blättern der Gefchichte zu flehen, der Vergeſſenheit überliefert und
die Refiaurations:Reglerung ald unmittelbare Kortfegung
Dir von Ludwig XVI. vor 1789 geführten‘ dargeſtellt erden will.
424 Charte.
Zugleich macht fie den Kortbeftand dieſer Conſtitution abhängig von
dem guten Willen oder ber Gnade eines jeweiligen Königs von Frankreich.
Denn wohl enthält fie die weitere Sormel: „ſo wohl für uns ale
für unfere Nachfolger auf ewige Zeiten” ſei die Eonftitus
tion gegeben; unb nad der am Anfange biefes Artikels aufgeftellten
Theorie ift allerdings ein abfoluter Fuͤrſt, wenn er in der Eigenfchaft
als Conftitutionsucheber, d. h. als die conflituirende Autorität
des Volkes augenblidlid ausübend, auftritt, und in ſolcher Eigen«
[haft feine eigene Macht ale conftituicte Staatsgewalt befchränkt,
nachher an feine eigene Charte gebunden und jeder feiner Thronfolger
gleichfalls. Aber ſolche Theorie war nicht die bes Stifters der franzöfis
fhen Charte. Nicht im Namen oder ale Repräfentant ber conftituts
renden Volksgewalt gab.er diefelbe feinen „Unterthanen”, fons
bern als felbfiftändiger Inhaber aller Staatsgewalt, und war er biefeg,
fo Eonnte er wohl ein Vorhaben ober einen Entfchluß verkünden,
nur nad, gewiffen Formen und mit berathender oder mitentfcheibenber
Theilnahme einer wie Immer gebildeten Verſammlung gewiſſe Acte ber
oberften Gewalt in Zukunft auszuüben ; aber verbinden dazu konnte
er ſich nicht (es ſei denn durdy einen Vertrag, welchen er jedoch kei⸗
neswegs einzugehen vermeinte, indem er bie Charte als Geſetz und als
ganz freie einfeitige Gewährung verkündete) und noch weniger feinen
Nahfolgern (die ja niht von ihm oder durch feine Verleihung,
fondern durch ein ber Charte Längft vorausgegangenes [wahres oder ge⸗
bichtetes] Geſetz [dev Thronfolge und der abfoluten Gewalt] die Herr⸗
{haft erhalten) eine folche Verbindlichkeit auflegen. Es blieb, nach tem
von ihm felbft aufgeflellten Princip feiner Gewalt, ihm und allen feinen
Nachfolgern immerdar nicht nur freiftehend, fondern felbft pflichtges
mäß obliegend, das nad) Zeiten und Umftänden jedesmal Zweckdien⸗
liche in Bezug auf bie Ordnung oder Form der Staatsverwaltung, fo
wie über das Materielle berfelben zu befehlen ober feftzufegen. Kein
Begründetes geht Über feinen Grund hinaus, und diefelbe Autorität ober
derfeibe Wille, welcher ein NRechtsverhältnig in's Leben rief, kann es auch
wieder aufheben oder abändern. Ein Gefey kann bergeftalt aufgehos
ben werden durch den einfeitigen Willen bes Inhabers der gefeggebenden
Gewalt, ein !3ertrag durch den übereinftimmenden Willen beider Pa⸗
ciscenten. Die Charte alfo, da der Urheber ober Geſetzgeber blos ber
König war, hatte gegenuber ihm felbft keinen bleibenden Rechtsbeſtand,
und ber Vertrag, ben er etwa mit dem bamaligen Körper ber angebs
lichen Volksrepraͤſentanten ober auch mit ben von ihm felbft errichteten
oder nach einem von ihm bictieten Wahlgeſetz gebildeten Kammern dar⸗
über ſchloß oder zu fließen gemeint war, litt an dem wefentlichen. Ges
drehen der Nihtbevollmädtigung ber Annehmenden, und mochte
baher, fo lange nicht das Volk auf zuverläffig erfennbare Weife durch
nachträgliche Zuftimmung das Gebrechen geheilt hatte, mit Grund anges
fochten und zumal vom Nachfolger bes Urhebers widerrufen werben.
Das in der Art ober Form der Verkündung beftehende Ge-
Charte. 425
brechen der Charte jedoch mag als wirklich geheilt erſcheinen durch, bie
fpäter erfolgte Annahme nit nur von Seite der Kammern, fon>
bern auch von jener des Volkes. Die letztere gefchah nämlich wenig⸗
ftens in dem Sinn, daß bie Nation das Gute, was ihr gewährt ward,
nüglih annahm, jedoch ohne darum auf das Beffere, d. h. auf die
vollftändigere Rechtsbefriedigung, zu verzichten und fodann
in der DVorausfegung einer gegenfeitig vedlihen Erfüllung —
Weit fchlimmer aber find die materiellen Mängel der Charte und
ganz insbefondere das durchaus unpopulaire Bildungsgefet für bie
Wahlkammer. Wählbar nämlich für die Deputictenftelle ſollen
nad) der Verfügung biefer Charte nur jene Bürger fein, welche 1000
Franken directe Steuer zahlen und bereitd 40 Jahre alt find, wahlbes
rechtigt aber nur bie jährlich 300 Franken zahlen und ein Alter von
30 Jahren Haben. Die Präfidenten der Wahlcollegien follen vom Kös
nig ernannt werden und dadurch gefeglihe Mitglieder berfelben fein.
Aud ber Präfident der Kammer fol vom König ernannt werden aus
einer Liſte von fünf durch biefelbe dazu vorgefchlagenen Mitgliedern. —
Daß durch den fo enormen Wahlcenfus die Deputirtenlammer aus
einem Drgan des Nationalwillens in einen Sig der ausfchließend>
fien Seldariftofratie verwandelt, die dem erften gebührende Ges
walt alfo dem engen Kreife der Reich iten (großentheils zufammentrefs
fend mit jenem der Vornehmſten) übertragen und bie Nation felbft
geroiffermaßen mundtobdt gemacht ward (infofern nicht bie freie Preſſe
ihe noch einige Stimme bewahrte), ift fhon in dem Art. Cenſus
ausgeführt mworben. Aber biefes genügte dem Stifter der Charte nicht.
Auch die Reichen find Theilnehmer ber wichtigſten National» Interefs
fen; auch die Reichen mögen biefelben gegen ettwaige Eingriffe ber Res
gierung in Schuß zu nehmen geneigt fein. Dan mußte alfo aus ihnen:
nur Diejenigen zur Wahl zu bringen fuchen, bie dem Minifterium
angenehm, d. h. zuverläffige Diener des minifteriellen Willens durch
Spmpathie der Gefinnung oder durch. was immer für felbftfüchtige, vom
der Gunft der Regierung abhängige Interefien wären. Daher bie koͤ⸗
niglihe Ernennung der Präfidenten der Wahlcollegien und — was weit
ſchlimmer ift — ber geheime Vorbehalt noch manch' anderer Einwirs
tung auf die Wähler. Die Charte zwar erlaubt eine ſolche nicht, vers.
bietet fie aber auch nicht ausdrüdlih, und was blos duch das Vers
nunftgefeg verboten oder nach rein vernünftiger Anſicht vers
werflich ift, daran Lehren, weil ſich immer noch Darüber ftreiten läßt, die
Inhaber der Gewalt fi nur wenig, und es fehlt ihnen dabei an dia⸗
lektiſchen Rechtfertigungen nie. Alſo erging es den Deputirtenwahlen.
Sie, die ihrem Begriffe nad nur freie fein Binnen, geriethen durch
Beftehung, Einfhüchterung, ja mitunter förmliche Gewalt unter bie
vorwaltende Herrſchaft theild bes Miniftertums, theil6 der Camarilla,
theil8 der Emigranten » $action. Die ährten National» Repräfentanten
blieben ftets in der Minorität. Aber auch ſolche Minorität, wegen bes morali-
fchen Eindruds ihrer Oppofition, wurbe gefürchtet. Daher verfchlechterte man
426 -Charte.
das ohnehin fchon fchlechte Wahlgeſetz noch weiter, und die Kammer ſelbſt gab
ihre Zuflimmung zu dem bahin gehenden Regierungsvorſchlag (1820). Die
bisherige Zahl von 258 Deputirten wurde dadurch bis auf 430 ver:
mehrt. Bon biefen follten 258 mie bisher von den Bezirks: Mahl:
collegien gewählt werden, die übrigen 172 abet aus den zu diefem Be:
bufe errichteten Departements: Wahlcollegien hervorgehen, beftehend
aus dem hoͤchſtbeſteuerten Viertheil fammtliher Wahlmaͤnner
eines Departements. Diefes Viertheil erhielt demnach ein doppeltes
Stimmrecht, weil es eines auch in den Bezitfscollegien ausübte. Da
nun (nad) der von dem fachlundigen Deputirten Ternaur aufgeftell:
ten Berechnung) ſchon durch das urfprüngliche Wahlgeſetz die Wahlbe⸗
techtigung auf eine zufamnten blos den vierzigften Theil der öffentli-
chen Abgaben entrichtende Zahl-von Bürgern beſchraͤnkt war, fo erfchien
allerdings biefe noch meitere Bevorzugung der Allerreichften vor den
etwas minder Reichen, und zumal (meil nur die directe Steuer den
Maßſtab gab) der großen Grundbeſitzer vor den übrigen Claſſen der
Reichen, als die auffallendfte Probe der Unerfättlichkeit der Ariſtokra⸗—
tie, bie ba, nicht zufrieden mit dem in der Pairskammer ihr aus
fchlteßend zuftehenden Sige und mit bem ihr in der Drputirtenfammer
(hof buch das alte Wahlgefeg geficherten entfchiedenften Ueberges
wicht, daffelbe noch meiter zu erhöhen und, durch Concentrirung
auf die mögtichft Fleinfte Zahl, für die vorzuͤglich Beguͤnſtigten um fo
bedeutfamer zu machen fich vermaß. Hatte dod) die Kammer fchön vor
diefem uftea = arijtoßratifchen Wahlgefeg mehr als hinreichende Geneigt:
heit gezetat, die VBolfafreiheiten zu untergraben oder umzujtürzen. Cie
hatte namentlich erft Eurz zuvor gegen die auüsdruͤcklichen Beſtimmungen
der Chart!’ den Miniftern das Recht der willkuͤrlichen Berhaftnahme
der des Hochverrath3 Verdächtigen, mit der einzigen Befchränkfung,
dag ber Angefchuldigte binnen 3 Monaten vor Gericht müffe geftelft wer:
den, ertheilt; fie hatte, gleichfalls im Miderfpruch mit der Churte, bie
(ichon früher einmal eingeführte, dann aber wieder abgefchaffte) Cen⸗
fur der politiſchen Journale und anderer periodifhen Schriften abermal
in's verhaßte Leben gerufen und duch andere „Jusnahmsgeſetze“
mehr ihte Nichtachtung dee Conſtitution beweiſen. Das neue Wahlgefeg
alfo, welches noch entfchiedeneres Voranſchreiten auf bem Wege der Re-
action borbereitete, konnte nut als eine Kriegserklaͤrung anf Tod und Le:
ben gegen das conftitutionelle Syſtem erfcheinen, und die nachfolgenden
Greigniffe machten ben nahenden ˖ Untergang der Eharte auch dem biöbe:
ften Auge fihtbar. Als aber Die, durch die Üebertreibungen Bill dke's
und Peyronnershervorgerufene Oppoſition des noch einigermaßen ver:
ſtaͤndig denkenden und gemaͤßlgt 'gefinnten Theiles der Ariftofratie den
Widerſtand der Liberalen‘ bekräftigt und bas wenigftens vergleichungs:
weife gute Minifterium Martignac hervorgerufen hatte; fo rüfteten
ſich die Ultra-Royaliſten und Ariſtokraten zu dem gegen die Volksfreiheit
zu führenden Todesſtreich, und führten ihn auch wirklich — jedoch nur
su ihrem eigenen Verderben — durch bie unter den Aufpicien des neuen
Sharte. 427
Minifterd Polignac und feiner würdigen Collegen erlafjenen Orden:
nanzen des 25. Sulius 1830 aus. Een Ze
: . Hiezu gab ihnen ein befonders inſidioͤs abgefaßter Artikel ber
Charte dem milllommnen Vorwand und Belchönigungstitel. Der Ar-
titel 14 nämlich befaget: „le roi est le supreme chef de l’etat....
il fait les r&öglemens’ et ordonnances necessaires pour l’exechtion
des lois et la nüredte de l'état.“ Alte, was zur „Sicherheit
des Staates” zu verordnen nöthig ober raͤthlich iſt, ſteht alfo in
des Könige Macht, und. da über ſolche Nothwendigkeit und Näthlichkeit
ee felbft die ‚alleinige Entfheidung hat, fo tft auch, in fo meit er fol-
ches für gut oder nöthig erkennt, jede Beſchraͤnkung oder Aufhebung
oder Abänderung von Berfaffungsbefiimmungen feiner Macht an⸗
beimgeftellt. (Auf eine aͤhnliche Weiſe find freilich auch in andern
Staaten die Zwecke der „Sicherheit, Ordnung und Ruhe” als
Rechtfertigungsgründe der außerorbentlichften, früher ganz unerhoͤrten
Mafregein aufgeſtellt worden.) Aus biefem Raifonnement nun gins
gen die verhängnißreichen Drdonnangen hervor,‘ welche bie beiden —
durch frühere Schläge: ſchon heftig erfchütterten — Hauptſaͤulen' des
Rechtözuftandes, Preßfreiheitund Wahlfreiheit, vollends über den
Haufen warfen und'an die Stelle einer wenigſtens ſcheinbar conſti⸗
tutionellen Megierung ben faft nackten Abſolutismus Tfegen: follten.
Auf melde Art aber das franzöfifche Volk. diefe freiheitmörderifchen
Drdonnanzen aufnahm und beantiöortete und mie aus dent Verſuche,
die Charte umzuftürzen, für die Urheber dee Untergang und für bie
Nation eine verbeſſorte und neubefräftigte Charte hervorging, iſt noch
in Jedermanns friſchem Gedaͤchtniß. Wir Übergehen. bier die — un:
tee dem Artikel Frankreich ohnehin noch eigends zur Sprache Tom:
mende — unfterblihe &efchichte, unfer Augenmerk blos anf die in
Folge der Umwaͤlzung zu Stande gebrachten Werbefferungen der
Charte richtend. |
Die erfte Hauptverbeſſerung beſtand in der Weglaſſung des Ein⸗
gangs zur alten Charte, wodurch: biefelbe als eine oetroyirte,
dv. h. von gnädiger Verleihung des Könige ausgehende erklärt wird.
Die neue Charte Fündet ſich als Geſetz und zwar ald vom Volks⸗
willen ausgegangenes : und vom "König als Thron⸗ ober Wahl⸗
Candidat blos angenommenes, d. bh. duch: das Verfprechen,
das Reich unter :den darin feſtgeſtellten Bebingungen zu uͤbernehmen
und der Charte gemaͤß zu regieren, ibeträftigtes, ſodann von ihn
als wirklich er König im gewoͤhntichet Form verkuͤndetes Ge⸗
ſetz. Dieſe Formel lautet demnach alſo: „Ludwig Philipp, König der
Franzoſen (ohne den: Beiſatz „von Gottes Gnaden“, weil naͤm⸗
lich anerkanntermaßen „durch freie Voſkswahl“ König. Und
auch nicht „König -won Frankreich und Navarra“, wie bie
alte Charte lautete, weil dieſer Ausdruck ein Eigenthumsrecht
auf das Land: bezeichnet, ſondern „Koͤnig der Franzoſen“, alſo bios
Haupt des Volkes) Allen, die dieſes leſen und leſen werden, um:
428 Charte.
ſern Gruß: Wir haben befohlen und befehlen, daß die conſtitutionelle
Charte von 1814, ſowie ſie durch die beiden Kammern am 7. Auguſt
abgeaͤndert und von uns am 9. Auguſt angenommen worden, neuer⸗
dings und zwar in nachſtehendem Wortlaut verkuͤndet werde.“
Um den Sinn dieſer Vertündungsformel vollkommen zu verſte⸗
hen, iſt nothwendig, die darin angefuͤhrte, folglich zur Charte mit
gehoͤrige, am 7. Auguſt von der Deputirtenkammer beſchloſſene, dann
alſogleich auch von der Pairskammer durch feierlichen Beitritt bekraͤf⸗
tigte und am 9. Auguſt vom Herzog von Orleans angenommene und
befchworene Erflärung vor Augen zu behalten. Diefelbe lautet:
„Die Deputictenlammer, in Betracht der gebieterifchen Nothwen⸗
digkeit, welche der 26— 29. Julius letzthin und bie folgenden Tage
erzeugt haben, und der Lage im Allgemeinen, in welche die Verlegung
ber Verfaffungsurkunde Frankreich verfegt hat u. f. m.... erklärt, daß
factifh und rechtlich der Thron erledigt und daß es unumgänglich
nöthig iſt, zur Beſetzung deſſelben zu fohreiten. Die Deputirtenkam⸗
mer erklaͤrt zweitens, daß nah dem Wunſche und zum Vortheile
des franzöfiihen Volles die Einleitung zur Verfaſſungsurkunde abges
ſchafft iſt, als der Würde ber Nation entgegen, indem fie den Frans
zofen aus Gnade Rechte zu bewilligen fcheint, die ihnen von felbft
zukommen, und baß nachftehende Artikel eben ber Charte geftrichen
oder modificirt werden follen, nad Angabe befien, mas nachfolgt.“
(Hier find dann alle betreffenden Artikel wörtlich, wie fie lauten fols
len, beigefegt und fobann weiter befchloffen, daß alle neuen Ernen⸗
nungen und Creationen von Pair, die unter ber Regierung Karls X.
gemacht worden find, null und nichtig feien und daß der 23. Art.
der harte [in der alten Charte der 27.], welcher die Emennung der
Pairs und die Art derfeiben, ob nämlich auf Lebenszeit oder erblich
dem Könige überläßt, in der naͤchſten Sigung der Kammern einer
Nevifion unterworfen werden folle.) „Die Deputirtentammer erklärt.
drittens, daß es nothwendig ift, der Reihe nach und in einer moͤglichſt
kurzen Friſt mittelft gefeglicher Verfügungen folgende. Gegenftände zu
regulicen: 1) Die Anwendung ber, Gefchwornengerichte auf Preß⸗ und
politifche Vergehen ; 2) die Werantwortlichkeit. der Minifter und an.
derer NRegierungsbeamtenz. 3) bie Erneuerung ber Wahlen für diejes.
nigen Deputirten, welche zu einem befolbeten, öffentlichen Amte ers‘
nannt worden find; 4) das jährliche Abftimmen der Kammern über
dns jebesmalige Zruppencontingentz; 5) die Organifetion der Nationals
garde mit Zuziehung der Nationalgardiften zur Wahl ihrer Officiere;
6) die gefegliche Keftftelung der Lage ber Officiere ber Lands und;
Seemacht; 7) bie Departements s und Municipalgeſetzgebung auf ein
Wahlſyſtem gegründet; 8) der Öffentliche Unterriht und die Lehrfrei⸗
beit; 9) die Abfhaffung des zwiefahen Stimmredhts
und die Aufftellung der Bedingungen, unter welhen
man wählen und gewählt werden kann; 10) die Erklaͤ⸗
vung, daß alle Geſetze und Ordonnanzen, infofern fie ben Verfuͤgun⸗
Charte. 429
gen zumiberlaufen, welche zur Verbeſſerung des Charte getroffen wor⸗
ben find, von jegt an vernichtet find umd bleiben.” — „Endlich er=
Märt noch die Deputirtentammer, daß, mittelft der Annahme dieſer
Verfügungen und Vorſchlaͤge, Se. koͤnigl. Hoheit, der Reichsverweſer
Ludwig Philipp von Orleans, Herzog von Orleans, durch das allge:
meine und bringende Intereſſe des franzöfifchen Volkes zum Throne
gerufen wird, er und feine Nachlommenfhaft auf ewige Zeiten im
Manneftamm nad dem Rechte der Erftgeburt und mit ewiger Aus:
ſchließung der rauen nebft ihrer Nachkommenſchaft.“ — „Demzu⸗
folge wird Se. koͤnigl. Hoheit, der Reichsberweſer Ludwig Philipp,
Herzog von Drleans, erfucht werden, obige Bedingungen und Verpflich⸗
tungen anzunehmen und zu beſchwoͤren, fowie die Beobachtung ber
Verfaſſungsurkunde und der feftgefegten Mobdificationen, und wenn er
diefen Eid vor den verfammelten Kammern abgelegt haben wird, ben
Titel König der Kranzofen anzunehmen.” —
Aus diefer Erkidrung geht wohl die Rechtseigenfchaft der
neuen Charte und der Zitel von Ludwig Philipps Gewalt auf’s Uns
wibderfprechlichfte hervor. Die neue Charte ift von der Deputirtenkam-
mer im Namen ber Nation als bee wahren conftituirenden
Autorität errichtet, und Ludwig Philipp, nachdem er durch
Wort und Eid zur Beobachtung ihrer Vorfchtiften, d. h. zur Ers
fülung der Bedingungen, untes welchen die Nation ihm die Krone
angetragen, fih verpflichtet hatte, ift durch den Willen bes „[ous
verainen Volkes” auf den Thron gefegt worden. Ob die Depus
tirtenfammer wirklich die Befugniß hatte, ſich als Bevollmaͤchtigte der
Nation bdarzuftellen und ob nicht menigftens zur volllommenen Bes
träftigung des von Ihe — in der Eigenfchaft als ſtellvertre⸗
tende conftitnirende Autorität — Beſchloſſenen die auss
druͤckliche Zuſtimmung ihrer GSommittenten, d. h. der Nation
felbft, oder einer eigens zu dieſem Geſchaͤft zu erwählenden Nas
tionalrepräfentation nöthig gemwefen wäre, haben wir bier nicht zu
unterfuhen. Würde eine Einfprache dagegen erhoben, fo waͤre frei⸗
li) dadurch alles Gefchehene wieder in Frage geftelft und der revos
Iutionaire Zuftand kehrte zurüd. Ludwig Philipp alfo wird es
fiherlich niemals thun, und follte ihn oder fein Gabinet jemals die Luft
anmwanbeln, dag „monarhifhe Princip“ im Sinne ber abfolus
ten und der unmittelbar vom Himmel flammenden Herrſchaft an die
Stelle besjenigen, welches ihn zum Throne rief, zu fegen; fo wärbe
er dadurch nur um fo Harer darthun, wie volllommen er, als er die
Charte befhmwor, davon überzeugt geweſen, daß das franzöfifche Volk
mit Entfhiedenheit deren Seftfegungen fordere und dag um ges '
tingeren Preis, als ihre Gewaͤhrungen befagen, bie franzoͤſiſche Krone
nicht zu erlangen war.
Unter den materiellen Bellimmungen ber neuen Charte, wo⸗
durch fie vor der alten-fich auszeichnet, verdient wohl ben erften Platz
der Artikel, welcher verfügt, „Daß.bie Cenfur nie wieder her=
430 | Charte.
geſtellt werden koͤnne“. Zwar auch bie alte Eharte hatte Die
Preßfreiheit verheißen und blos Repreſſiv-Geſetze gegen deren
Mißbrauch vorbehalten. Aber die Gewalt ſubſumirte dictatoriſch auch
die Cenſur (weil ſie nicht ausdruͤcklich ausgeſchloſſen worden) unter
dieſen Begriff. Es wird eine Zeit kommen, wo man die Nothwen⸗
digkeit eines in die Charte aufzunehmenden Verbotes der Cen⸗
fur, um gegen ihre Einführung geſichert zu ſeiin, kaum mehr wird
begreifen Lönnen; fo wenig ald wir begreifen würden, daß erft
eine Charte feilfegen müffe, man bedürfe zum Gebrauch der Zunge,
db. 5. zue muͤndlichen Rede, Feiner vorläufigen polizeilihen Erlaubs
niß. Uebrigens ift der fragliche Artikel der neuen Charte — ungead)s
tet der berühmten Verheißung: „von nun. an werde die Charte eine
Wahrheit fein“, — duch die bekannten (in Oft und Nord aller
dings wohlgefälligen) September: Gefege,. weile die fran zoͤ⸗
fifhe Deputirtentammer (I) wilführig annahm, um den größs
ten Theil feiner Bedeutfamkeit gebracht worden. |
Auch die Abänderung des berüchtigten Artikels 14, worin nämlich
die Worte: „ber König erläßt die zur Bicherheit des
Staates nöthigen Verordnungen“, jego geflrihen wur—⸗
den, hat die September: Gefege nicht verhindern können. Denn Or⸗
donnanzen find unnöthig, wo eine unvolksthuͤmliche Kammer jedem
befpotifhen Begehren ber Minifter durch bereitwillige Zuftimmung den
Stempel bes Gefeges aufbrüdt. Doc, abgefehen von dieſem frei-
lich traurigen, doch nur factifhen Umftand, erfcheint die Weglaffung
. jener Worte als ein ganz unfchägbarer Gewinn und als ſchon allein
einer Julius⸗-Revolution werth. Eine conftitutionelle Verfügung, wel:
che der Regierung unbedingt bad Recht zufpridht, die ‚zur Sicher⸗
heit des Staates nöthigen” Verordnungen zu erlaffen, ift zehns
mal demüthigender für das Volk, ald eine ganz unummunbene
Aufftellung des abfolutiftifhen Principe. Denn fie ift in ihren
Wirkungen ber legten gleich; aber fie würdigt zugleih das
Volk herab duch die Zumuthung, auch feinen Berftand fomwie
feinen Willen unterjohen zu laffen, duch die Zumuthung naͤmlich,
die gewährte Zheilnahme an der gefeßgebenden Gewalt für etwas Wirk:
liches, für mehr als bloßen Schall zu achten und doch auf folche Theil⸗
‚ nahme zu verzichten, fobald ein Minifterium in ben Eingang einer
Drdonnanz bie Formel fest: „In Gemäßheit unferer Pflicht, für die
Sicherheit des Staates zu forgen.” — Wahrlich, alle Sicherheit aller
Einzelnen und daher audy der Gefammtheit hat aufgehört, fobald
man dem Worte „Sicherheit des Staates" ſolche Bauberdraft
einräumt.
Noch verſchiedene andere und zum Theil fehr wichtige Verbefferun:
gen wurden durch bloße Auslaffung der verwerflichen Stellen oder
bedenklichen Worte bewirkt. Namentlich wurde der Vorbehalt der
„Prevotalgerichte” geſtrichen und die Errichtung außerordentlicher
Ztibunale unter was immer für einer Benennung ausdräds
Charte. | 431
lich verboten. Die Beftimmung, dag die Minifter „nur wegen Ber:
rätherei oder Concuſſion“ follten angeklagt werden Finnen, wurde
gleichfalls gefirichen und die Bezeichnung ber Verantwortlichkeitsfälle
einem fünftigen Gefege vorbehalten. Die Erkldeung ber Eutholifchen
Keligion zur „Staatsreligion” wurde geftrichen, jedoch die Be:
merkung, daß die Mehrzahl der Franzoſen ſich zur Patholifchen
Religion befenne, in die Charte — übrigens ohne alle Rechtswirkung
— aufgenommen. — Auch auf die Colonien erftredt ſich die Fürs
forge der neuen Charte. Bei der Seftfegung der alten, „baß bie Co⸗
lonien nach befonderen Gefegen und Reglements follten regiert ers
den”, wurden bie Worte „und Reglemente” geftrichen.
Unter ben Artikeln, welche am bringenbften eine Abänderung in
Anfprudy nahmen, waren ficherlich die von der Wahlberehtigung
zu Deputictenwahlen handelnden. Denn unendlich wichtiger, als ber
Umfang der Rechte, welche einer Kammer verliehen werden möchten,
it die Art ihrer Bildung. Die Vermwerflichleit der in der alten
Charte feftgefesten Bildungsweiſe ift oben bemerkt worden. Die neue
ſetzt das für die Waͤhlbarkeit nöthige Alter von 40 Sahren auf 30, und
jenes für das active Wahlreht von 30 auf 25 Jahre herab, ertheilt auch
den Wahlcolfegien das Recht, ihre Präfidenten felbft zu ernennen (eben
fo auch der Deputirtentammer jenes der Ernennung ihres Präfidenten) ;
aber in Bezug auf den Dauptpunft, nämlidy den Cenſus, behielt man
die neu zu treffende Beſtimmung einem erft in der nächft bevorfishenden
ordentlihen Sigung der Kammern zu gebenden Geſetze vor. Diefee
Fam dann auch wirklich zu Stande, aber befriedigte die Zorderungen ber
Sreigefinnten nicht. Denn es wurde zwar bas doppelte Votum
der Reichſten (naͤmlich die ultra = ariftoßratifche Einfegung der Departe:
ments= MWahlcollegien) wieder aufgehoben; aber ber Cenſus erfuhr blos
die Verringerung von 1000 Franken auf 500 für das paffive und von
300 Fr. auf 200 für das active Wahlrecht (f. Genfus). Uebrigens
- wurde die Dauer der Bevollmächtigung der Deputirten auf 5 Jahre feft-
gefegt, und eine jedesmalige Integral: Erneuerung der Kammer vor⸗
gefhrieben. Die alte Charte hatte gleichfalls 5 Jahre für die Dauer
der Bevollmähtigung, aber eine jährliche Partial:Emeuerung vers
oronet. Im Jahre 1824 jedoch ſetzte die ropaliftifche Partei die Inte:
gral:Emeuerung und die fiebenjährige Dauer der Kammer durch.
Sn Ruͤckſicht der Pairskammer fand durch die neue Charte bie
Verbeſſerung ftatt, dag für ihre Sisungen gleich jenen ber Deputirten
die DeffentlichFeit vorgefchrieben warb, und daß die Prinzen von
Gebtüt der in der alten Charte ihnen aufgelegten unbebingten Abhängig»
keit vom König enthoben murben ; die Frage über bie Erblichkeit aber
blieb einem fpätern Gefege vorbehalten und wurde in biefem fodann durch
Aufhebung derfelben entfchieden. Ob zum Frommen der guten Sache?
wird die Zukunft lehren und laͤßt ſich bezweifeln. Freilich erfcheint es
den Freunden der naturtechtlichen Gleichheit faſt abgefchmadkt, bag man
erbliche Befeggeber und Richter. habe: allein vielleicht wäre beffer, diefe
432 Charte.
mit den Principien ber Revolution allerdings ſchwer vereinbarliche Ano⸗
malie zu dulden, als einen Factor der Geſetzgebung und einen ho—
ben Gerichtshof zu haben, ber, eben meil jedes feiner Mitglieder
nur durch die Ernennung, alfo die Gnade oder Gunft des Königs,
darin fist, jene Unabhängigkeit der Stellung gegenüber ber
Regierung entbehrt, welche ihm nach der unendlichen Wichtigkeit jener
beiden Functionen fo nothwendig wäre. Weberhaupt jedoch ift die Vils
dung einer erfien Kammer, welche den Volksfreiheiten nicht gefahr:
bringen fei, eines der ſchwierigſten politifchen Probleme; die dabei fich
darbietenden hochwichtigen Betrachtungen aber eignen fidy zu einer gefon-
derten Darftellung (f.Conftitution und Zweilammernfyftem).
Die Initiative zu Gefegen, welche die alte Charte ausfchließlich
dem Könige vorbebielt, iſt durch die neue auch jeder der beiden Kammern
verliehen worden; abermak eine Seftfegung, melde — obſchon mit bem
britiſchen Verfaſſungsrecht übereinftimmend — bie ftrengen Anhän-
ger des „monarhifhen Principe“ nicht anders als mißfällig auf
nehmen können.
Mit Uebergehung verfchiebener minder wichtiger Veränderungen
und Zufäge wollen wir blos noch anführen, daß bie neue Charte dem
König ihre Beſchwoͤrung gleich bei der Thronbefteigung auflegt,
während die alte fie erft bei der Krönung forderte; und baß vermöge
eines neu binzugefegten Artikels (67) „Frankreich feine Farben
wieder annimmt, und in Zuflunft feine andere als die
dreifarbige Cocarde mehr darf getragen. werben”. Beide
Punkte möchten zwar als ziemlich unerheblich betrachtet werben, da aller⸗
‚ dings die Verpflichtung des Königs, das Grundgefeg zu beobachten, nicht
erft durch den Eid ſchwur begründet wird, fondern fhon an und
für fih, als unmittelbare Rechtswirkung jenes Geſetzes befteht, und
da die. Freiheit nicht duch, Sarben, fondern buch Grundfäge
und buch Garantien gefchiemt wird. Alten bie Verſtaͤr⸗
tung der Rechtspflicht durch feierlich, übernommene Gewiffens:, Reli:
gions⸗ und Ehrenpfliht wird immer in dee Äffentlihen Meinung
von großem Gewicht, die Uebertretung alfo entfprechend bedenklicher fein,
und die Beſchwoͤrung gleich‘ bei der Thronbeſteigung anſtatt erft bei der
Krönung hebt die Möglichkeit des Werfchiebene oder gar völligen Unter:
daffen® auf, und iſt zugleich, eine Einfchärfung bes Titels und der Bes
lingung, unter welchen der Thron beftiegen und befeffen wird. Was
aber die breifarbige Fahne und Cocarde betrifft, fo ift fie natürlich,
als glorreihes Erinnerungs=Zeihen und nunmehr auch als endliche®
Triumph⸗Zeichen der Revolutioh, als allgegenmwärtige und unauf:
hörlihe Verkuͤndung der Freiheitsprincipien, der Nation mit
hoͤchſtem Rechte theuer; waͤhrend die weiße Farbe, als die Karbe ber
Emigration und dee Öegenrevolution, und zugleich als demuͤ⸗
thigendes Denkmal der durch bie Goalition erlittenen Niederlagen,
nothiwendig verhaßt war. Sie hatte der Reftauration den Stem⸗
pel der NationalsUnterjohung einerfeits durch eine einheimifche
Charte. Chatam. 433
Ariſtokraten-Faction und andererfeitö durch die fremden Bas
jonette aufgedrüdt; mit ber Aufpflanzung ber breifarbigen Fahne
erftand — nad) der Auffaffung und dem Gefühl des Volkes — bie
Nevolution, d. h. erftanden bie Kreiheits-Principien aus
ihrem Grabe wieder, und ward die Schmach der erlittemen boppelten Uns
terjochung getilgt. Durch fie nahm Frankreich — in ben Augen nicht
nur feines eigenen Volkes, ſondern in jenen der Welt — feine imponi⸗
rende Stellung gegenüber ber europäifhen Mächte wieder ein, und rief
als Lofung für feine innere wie dußere Politik die „conftituttonelle
Freiheit“ aus. Weit mehrals die Verficherung „von nun an wird
die Charte eine Wahrheit fein”, macht die dreifarbige
Sahne die Nüdkehr eines Polignacfhen Minifteriums Un moͤg⸗
Lich; fie ift alſo — fo geduldig fie über manche Ungebühr hinwegblickte —
wirklich ein Palladium, nicht nur ein Symbol der Freiheit.
MWelchergeftalt einige der durch bie Erklärung der Deputirtenkante
mer vom 7. Auguft zur Erledigung an die naͤchſtkuͤnftige ordentliche
Sigung der Kammern gewiefenen Punkte folde Erledigung wirklich
efunden haben (nammmtlih die Wahlordnung und die Sache ber
SD alcie) ift bereits oben bemerkt worden. Sie war nicht befriedigend,
und es ließ fich folches vorausfehen, da man den günftigen Moment zu
einer wahrhaft volksthuͤmlichen Feſtſetzung — unvorfihtig oder ſchlau —
hatte voruͤbergehen laſſen. Auch die uͤbrigen Punkte, ſo viele deren be⸗
reits erledigt find (insbeſondere aber bie Punkte 1, 5, 7 und 8), wurden
es keineswegs im reinen Beifte der Juliusrevolution, fondern
in jenem bes allzubald bacauf gefolgten Suftemilteus Syftems, wel
„es nach feinen bisherigen thatfächlihen Aeußerungen keineswegs bie
Mitte hält zwifchen entgegengefegten verwerflihen Wrtres
men, fondern feinen mähfamen Weg unter ewigem Schaufeln und
Verſtellen zu finden fucht zwifchen Gerade und Krumm, Wahr:
heit und Lüge, Kraft und Shwähe, Verheißungs-Erfuͤl⸗
lung und Verweigerung (f. Frankreichs neujter Zuftand
und ZuftesMiliey). Motte.
Chatam (William Pitt) warb 1708 gu Meftminfter geboren.
Den Familiennamen Pitt führte er, mie fein zweiter Sohn, ber unter
demfelben Namen die Angelegenheiten ſeines Vaterlandes, unter ſchwieri⸗
gen und entfcheidenden Werhältniffen, geleitet hat, bis zum Jahre 1766,
mo er, in ben Grafenſtand erhoben, als Lord in bas Oberhaus getreten
it. Um ihn nicht mit verſchiedenen Benennungen anzuführen und
einer Verwechſelung mit bem fpäten William Pitt vorzubeugen,
werden wir ihn auch jegt fhon Chatam nennen, obgleich er erft 98
Jahre fpäter zu feiner Würde befoͤrdert wurde. Sein Großvater mar
Thomas Pitt, Gouverneur zu Madras, ber dem Könige von Krank:
reich, um die Summe ‚von, zwei Millionen „. ben berühmten Diamant
verkauft hat, dee noch feinen Namen führt. Indeſſen waren bie Ver⸗
mögensumftinde des Waters nicht die glänzendfien, und er hinterließ un-
ſerm William nur ein jährliches Einfommen, van 100 Pfund. Seine
Gtaatsa⸗Lexikon. TIL | 25
434 Chatam.
erſte Bildung erhielt er In ben Collegien zu Eton und Orford und
kam dann, als Faͤhnrich, zu der Reiterei, welche Stelle ihm ſeine Ver⸗
wandten kauften. Seine Neigung eignete ihn wenig fuͤr dieſen Stand,
dem er indeſſen wahrſcheinlich treu geblieben waͤre, haͤtte er nicht fruͤher
ſchon an der Gicht gelitten. Dieſer Umſtand entſchied und der Faͤhnrich
diente ſich zum erſten Staatsmanne ſeiner Zeit herauf. Sein eigentli⸗
ches Leben lebte der junge Chatam im claſſiſchen Alterthum, deſſen
Groͤße ihn mit Bewunderung erfuͤllte und mit ſeinen Thaten und Schrif⸗
ten ſeinen Geiſt naͤhrte und ſein Gemuͤth erhob. Alle Zeit, die ihm
feine koͤrperlichen Leiden und feine Geſchaͤfte als Anwalt, für welchen
Stand er ſich entſchieden hatte, zur Verfügung ließen, gehörte Griechen⸗
land und Rom und ben Heroen, die ihr Vaterland duch That und
Mort fo wunderbar verherrlicht hatten. Im Jahre 1735 warb er in
das Unterhaus gewählt, wo er feine Stellung im der Oppofition nahm.
Sir Robert Walpole, der ſich an der Spige ber Verwaltung befand,
war keineswegs der Mann, der bie Zuftimmung Chatams verdienen
Tonnte. Da im Parlamente die Vermählung des Prinzen von Wales
mit der Primzeffin von Sadıfen: Gotha zur Sprache Fam, Außerte ſich
Chatam über das erhabene Paar auf eine fo freundliche und anzies
hende Weife, daß ber banfbare Thronerbe ihn zu feinem Kammerherrn
ernannte. Das Minifterium, welches die Sefinnungen Chatams
nicht theilte, war gegen den, der fie ausgefprochen hatte, fehr aufgebracht,
und mußte in feinem Borne Fein anderes Mittel der Rache zu finden,
als daß es ihn noͤthigte, bie gekaufte Kähnricheftelle aufzugeben. Die
Ungnade einer verhaßten Verwaltung erwarb ihm in höherem Grabe bie
Liebe des Volks, und feine fteigende Popularität entfchädigte ihn reichlich,
für die Unzufriedenheit derfelben. In dem Kriege mit Spanien, ber in
diefe Zeit fiel, trug das Miniflerium auf gefchärftere Maßregeln des
fhändlihen Matrofenpreffene an. Chatam miderfegte fid) denfelben
mit der ganzen Stärke feiner Berebtfamleit, und Walpole, im hoͤch⸗
ſten Grade über die Verwegenheit des jungen Mannes erbittert, ergoß
die ganze Lauge feines bittern Spottes über ibn. Chatam, emp
durch dieſe Behandlung, fuhr den Minifter an: „Der Elende, der die
verberblichen Folgen feiner Verirrungen gefehen hat, und bie alten nur
mit neuen vermehrt, und zu defien Befchränttheit das Alter nur den
Starrfinn gefügt, verdient nicht, daß feine grauen Haare ihn gegen
meine Angriffe [hügen. Der Abfcheu gegen ihn kann nur fleigen, wenn
man fieht, wie im vorgeruͤckten Alter er die Selbſtſchaͤndung weiter treibt,
des elenden Geldes wegen, bas ihm keine Genüffe mehr geben Eann, und
ber den Reſt feiner Tage dazu verwendet, fein Vaterland zu verderben.”
Zwei Jahre fpäter fiel Walpolez; aber Chatam, ber fi) der Gunft
des Königs nicht zu erfreuen hatte, blieb von der neuen Verwaltung aus⸗
gefchloffen, fo entſchieden fi auch bie öffentliche Meinung für ihn er
Härte. Chatam mar der Mann nicht, der ſich Leicht fchreden Tieß, und
erwiderte bie feindfelige Stimmung der Regierung durch ein engeres An⸗
ſchließen an das Volk und feine Sache; er legte bie Kammerherrnftelle
x
Chatam, 435
nieder. In feinen Vermögensumftänden tert (1744). eine merkliche
Verbeſſerung ein, die ihn fehr erleichterte, ba bie verwitwete Herzogin
von Marlborongh ihm 10,000 Pfund St. In ihrem Teſtamente ver⸗
machte. Sie gebe Ihm diefen Beweis von Achtung, fagte fie, feines
perfönlichen Verdienſtes wegen, und weil er mit fo edler Uneigennügigs
keit das Anfehen der Geſetze aufrecht erhalten und dem Verderben bes
Landes entgegengewirkt habe. — In England hat die öffentliche Meinung
eine ſolche Macht gewonnen, dag ihr Beine andere auf die Dauer wider⸗
ſteht. Im Sahre 1766 ward‘, unter dem Herzoge von Mewcaftle, ein
neues Gabinet gebitbet, und Chatam erhielt eine Stelle in bemfelben.
Aber feine untergeorbnete Wirkſamkeit, da bie meiften feiner Collegen
in den wefentlichften Dingen nicht feine Anficht theilten, der König felbft
ihm auch nicht befonders getwogen war, entſprach feinen Wünfchen nicht.
Er fah mit Mifvergnügen, daß auf Hannover ein Gewicht gelegt warb,
das Englands Wohl gefährdete. Das deutſche Kurfürftenthum betrach⸗
tete er als ein Eigenthum der Eöniglichen Familie, das mit England nur
durch diefen Befig zufammenhing, welches darum auch feine Intereſſen
bemfelben nicht unterorbnen dürfe. Sein Herz fchlug warm und voll
für fein Vaterland, und fein britifcher Stolz empörte fi, baffelbe aufs
geopfert und herabgewuͤrdigt zu fehen. Die ganze Nation theilte diefe Ges
ſinnung und diefes Gefühl. Dieinfälle des englifchen Heeres in Amerika,
der Berluft von Minorka, die ſchmachvolle Niederlage des Admirals Byng
hatten den Mißmuth zur Erbitterung gefteigert. Chatam bemühete fi
vergebens, die Verwaltung mit feinem Geifte zu befeelen. Sie ſchloß fich
ber Neigung des Könige an, bie er für feine deutfchen Lande nicht vers
leugnen konnte. Chatam warb 1757 aus dem Cabinete entlafien.
- In biefer Lage trat der ebelmäthige Kor zum Belftande bes Herzogs
von Nerocaftie anf, gegen ben ber Nationalunwille vorzüglich. gerichtet
war. For, ein großer Staatemann, und, was feltner ift, ein großges
finnter Menſch, allen perfönlihen Rüdfichten fremd, wenn fle nicht das
öffentliche Wohl berührten,. For, nur das Vaterland und bed Vaters
lands Wohl bedenkend, gab Chatam der Verwaltung wieder. Es ges
lang ihm, bie Abneigung des Königs zu befiegen, das Gefühl in ihm zu
beleben, daß er König fei für das Volk, das fein Wohl, durch freie Wahl,
ben Händen ber Kürften feines Haufes anvertraut. Der Monarch’ berief
Ehbatam in feinen Rath. „Sire,“ ſprach biefer zu ihm, „Ichenten Sie
‚mir Ihr Vertrauen, ich werde es verbienen.” Die Antwort bes Könige
war: „Verdienen Sie mein Vertrauen, unb Sie werben es erhalten.”
Chatam verftänd die Worte nicht, wie fle dee vielleicht verſtanden
wiffen wollte, von dem fie fanten. Aber nie bat ein Diener mehr das
Berteauen feines Herrn verbient, mern er bee Herr im rechten Sinne
war. Chatam trat den 29. Zuni 1767. an bie Spige der Verwal⸗
tung. Da fah man, was ein Mann vermag, dee Kraft und einen Wils
len bat, das Ziel erfennt, nad. dem er fireben muß, bie Wege, bie zu
diefem Ziele führen, und die Beharrlichkeit befigt, die Wege zum Ziele
zu verfolgen. Die Erfcheinung war nicht neu; fie fe gutielich in der
Rx
436 Chatam.
Geſchichte, und fpricht ſich duch die Faͤhigkeit, wie durch die Unfähigkeit
der Männer aus, die Wahl. oder Zufall, Gluͤck, Gewalt oder Geburt an
die Spige der Völker ftellt; aber die fo alte Exfcheinung wich für Men⸗
ſchen, bie leicht vergeffen, immer wieder neu. Friſche Lebenskraft vers
jüngte bie gealterte Verwaltung, und bie-Nation bot alle Kräfte auf,
um eine Regierung zu unterflügen, der fie vertraute. Der in Deutfdy
land begonnene Krieg wurde mit Nachdrud fortgefegt und dem Könige
von Preußen eine jährliche Summe ald Subfidte bewilligt. Die britifche
Seemacht erhob ſich zu ihrem früheren Ruhme. Die Franzöfifchen Geſchwa⸗
der wurden aufgefangen oder "in den Häfen eingefehloffen. Die Englän-
der festen ſich in den. Beſitz von Conada, und in den Gemäffern ber
beiden Indien fiegte ihre Flapge. Hylland fah fih, feiner Neutralis
tät ungeachtet, genoͤthigt, feine Schiffe einer Unterfuchung von. engli-
fcher Seite zu unterwerfen, und, wenn fie franzöfifhe Waaren führe
ten, wurden fie hinweggenommen. Sin alten Maßregeln, die fih auf
das Ausland bezogen, herrfchte ein Ernſt, eine Energie, man fönnte
fagen, oft eine Härte und MWillfür, die man verdbammen müßte,
wenn fie die Politik nicht durch eine lange Obfervanz geheiligt bitte.
Der Erfolg entfchied für Chatam und England, und fo war auch
das Recht auf ihrer Seite, und der Ueberlegenheit. wacd eine Achtung
gezollt, die der beften Sache, der «8 an gehöriger Kraft gebrach, nim⸗
mermehr zu Theil geworden wäre. Frankreich fchloß ſich in der Ge⸗
fahre Spanien näher an, und es warb ber Kamilienvertrag erneuert,
den Ludwig XIV. in’s Leben gerufen hatte. Chatam kam bas
Ereigniß .nicht unerwünfchtz er ſchlug vor, fich der fpanifchen Flotte,
die noch nicht eingelaufen war, mit den Schägen, bie fie führte, zu
bemächtigen, und auf biefe Weiſe die Seemacht diefes Staats mit eis
nem Echtage zu lähmen. Der. Vorfchlag. hatte die Mehrheit im Cas
binete gegen fih, und. Chatam ſchied aus demſelben. Der König
Georg. IH., dec unterdeffen feinem verftorbenen. Vater in der Regie⸗
rung gefolgt war, zeigte fich feinem alter Kammerhetrn gewogen, und
obgleich er nicht deſſen Deinung:-theilte, ‘wollte er ſich ihm doch ers
kenntlich erweiſen. Seine Entiaffung warb: angenommen, ihm aber
eine Penfion von 3000 -Pfunb: bewilligt, bit, im Falle feines. Todes,
auch auf feine Gattin und feinen dlteften Sohn übergehen follte.
Der Erfolg techtfertigte Chatam’s ‚Vorkusfiht; denn kaum fah
Epanien Er Ballionen in Sicherheit, als es England ben Krieg
erklärte. Indeſſen behauptete biefes feine Ueberlegenheit, und ſchon im
folgenden Jahre (den 3. November 1762) wurden die Prälinsinarien
eines Friedens abgefchloffen, der Frankreich ebenfo nachtheilig als Eng⸗
land günftig war. Doc geigte fi Chatam bemfelben entgegen,
und da er im Parlament erörtert ward, befämpfte er ihn mit aller
Kraft. Er litt an heftigen Gichtfchmerzen :und mußte fi nad). bem
Haufe bringen laſſen, da bie Bedingungen des Friedens zur Sprache
kamen. Nichts konnte ihn abhalten, der Sisung beizuwohnen. Uns
fähig, ſich aufrecht zu erhalten, machte er Gebrauch von der Erlaubniß,
Chatam. 437
figend zu fprechen, eine Beguͤnſtigung, welche die Achtung bewies, bie
man für ihn hatte. Er fprach drei Stunden mit großer Anftren-
gung, der endlich feine Kraft erlag, und fühlte ſich fo erfchöpft, daß er
den Schluß feiner Rede nicht mehr verftänblich vorzutragen im Stande
war. Die Oppofition unterlag unb ber Friede warb abgeſchloſſen.
Lord Bute, ber an ber: Spige des Cabinets fland, feierte einen
Triumph, der, obgleich bet biefer Gelegenheit wohl verdient, nicht von
Dauer war. Die Miniſter trugen auf firengere Maßregeln gegen bie
Dreffe und die Schriftftellee an, und bie ber Gewalt fo verhafte Frei⸗
beit der oͤffentlichen Mittdeilung ward von ernfter Gefahr bedroht.
Chatam erhob fih zur Vertheidigung biefer erften aller Sreiheiten,
unter deren Schuge nur die übrigen: ficher find. „Bei folhen Maß⸗
regeln,” vief er, „wie Ihr fie vorgefchlagen, muß aud der Unfchul:
digfte für fein Leben fürchten, und unfere Verfaffung will, daß die Woh⸗
nung eines jeden Engländers für ihn eine Zeftung fei, eine Feftung
auch ohne Wälle und Gräben. Sei es eine Strohhütte, um welche
die Stürme des Himmels toben, in welche die Elemente der Natur
dringen. Was die Elemente thun, der König kann es nicht, der Kös
nig darf es nicht wagen.” So fprady und handelte William Pitt,
der Vater; William Pitt, dee Sohn, gebachte ber väterlihen Leh⸗
ven nicht. In welhem Grade Chatam die Achtung und das Ber:
trauen der Nation befaß, wie ſehr ihn die Freunde des Vaterlandes
ehrten und Tiebten, ihn, ben entfchloffenen Freund des Vaterlandes,
feiner Größe, feines Wohlftandes und feiner Freiheit, ohne die alle
Größe und aller Wohlftand nur vorübergehend oder eine Taͤuſchung
ift, davon hat man auf dem Kefllande von Europa aud kaum jegt
noh eine Borftellung. Ein reicher Engländer enterbte durch einen
legten Willen feine Samilie, und ftellte fen Vermögen Chatam zur
Berfügung, ein Entfhluß, deffen nur ein Brite fähig fein Eann.
Daß die Regierung einen großen Werth darauf legen mußte, einen
folhen Mann für fih zu gewinnen, liegt in der Natur der Sadıe;
daß dieſer Mann aber allen Mitteln, welche gewöhnliche Menſchen
nicht vergebens verfuchen, unzugaͤnglich biieb, dieſe Erſcheinung iſt fel-
tener. Der Herzog von Sumberland bot ihm, auf Befehl des Königs,
wiederholt das Minifterium an. Er aber machte Bebingungen, nicht
in feinem Intereſſe, fondern in dem des Landes, die der Krone [o
laͤſtig duͤnkten, daß die Unterhandlung keinen Erfolg hatte. Endlich,
1766, als die Verwaltung feinen andern Ausweg fand, übertrug ber
König Chatam die Bildung eines neuen Cabinets. Zugleich warb
er zur Würde eines Grafen und eines Pairs erhoben und nahm fei:
nen Sig im Oberhaufe. Diefe Standeserhöhung fchien der Nation
ein Abfall von ihree Sache, mwenigitens brachte fie ihn um einen gro:
Ben Theil feiner Popularität, die freilich oft fo leicht und unverbient
gewonnen als verloren wird. Die Macht, die er einbäfte, ging zur
Orpofition über, die er verlaffen hatte. Der Mann, der fo unerſchuͤt⸗
ter:ich feft an feiner Einficht, feiner Ueberzeugung hielt, die Beharr⸗
4
438 Chatam.
lichkeit feines Willens and, bis zum Starrſinne treiben konnte, allen
Lodungen der Gewalt ohne Anftrengung widerſtand, dieſer Mann
fühlte es ſchmerzlich, daß die Öffentliche Meinung ihm argwöhnifch zu .
mißtrauen Ihien. Diefer Umftand und feine leidende Geſundheit bes
flimmten ihn, fi aus dem Cabinete zurkdjuziehen. Im Oberhaufe
erfchien er jedoch, ſo oft die Wichtigkeit des Gegenftandes, ber verhan⸗
deit wurde, feine Anmefenheit erforderte. Dazu gehörte die ernſte
Frage, ob es gerecht und meife fei, bie Golonien durch das Parlament
befteuern zu laffen. Die Regierung beftand auf diefem Vorrechte, deſ⸗
fen Ausübung in Nordamerika zu bedenklihen Auftritten geführt hatte.
Chatam fprach für Maßregeln dee Milde und Berföhnung, und bes
ftand darauf, die Zruppen, die nad, Boſton waren gefchidtt worden,
wieder zuruͤckzuziehen. Seine Rede ſchloß er mit ben Worten, berem
Wahrheit nur zu bald der Erfolg bewährte: „Beſtehen Sie auf Ihren
verberblihen Maßregeln, bann hängt der Krieg an einem leichten unb
gebrechlihen Faden über Ihrem Haupte. Frankreichs und Spaniens
Blicke find auf Ihr Benehmen gerichtet, und erwarten, um zu hans
dein, nur ben Aüugenblid, wo bie Ausfaat Ihrer Fehlgriffe zur Reife
gelangt fein wird.” Es kam, wie er vorausgefagt. Frankreich ers
kannte die Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten an. Set ents
ſchloß ſich das britifhe Cabinet zu demfelben Opfer, wenn fidy bie
Vereinigten Staaten mit England gegen Frankreich verbinden wollten.
Einiges hatte man nicht zugeftehen wollen, wo noch Vieles, faft Alles
zu erhalten war. Jetzt gab man faft Alles auf, um Einiges zu ret⸗
ten. Diefe Schwäche empörte Chatam. Odbgleich er leidenb mar,
begab er fid in das Oberhaus, in dem er erfchien, auf feinen zweiten
Sohn, Willtam Pitt, geflüst. Bet feinem Eintritte erhoben ſich
bie Lords ehrfurchtsvoll von ihren Sitzen. Der Antrag, in die Unabs
hängigkeit der amerikaniſchen Colonien zu willigen, ward geftellt, weil,
wie man fagt, e8 Fein anderes Mittel gebe, ben Krieg zu endigen.
„Sch babe,” erhob fih Chatam, mit dem Ausbrude des bitterften
Schmerzes, „ich habe mich heute über die Kräfte, die mir mein Zus
ftand läßt, angeftrengt, um unter Ihnen zu erfcheinen, vielleicht das
legte Dal. Der Antrag, die Selbftftändigkeit ber amerikaniſchen Golos
nien anzuerdennen, hat meinen tiefften Unmillen aufgeregt. Ich freue
mic), Mylords, daß fi das Grab noch nicht Über mir gefchloffen hat,
daß es mir vergönnt iſt, meine Stimme zu erheben gegen die Zer⸗
ftüdelung diefer alten und edlen Monarchie. Jeder andere Zuftand
iſt beffer als Verzweiflung ; bieten wir noch einmal unfere ganze Kraft
auf, und müffen wir fallen, dann fallen wir wenigſtens mit Ehre!“
Er entwidelte feine Gründe, und befchwor dad Haus, die Groͤße und
MWürde Englands zu wahren. Die Minifter erklärten, fie müßten kein
anderes Mittel, dem Kriege ein Ende zu machen und dem Lande den
Segen des Friedens wiederzugeben. Lord Chatam mollte ſich noch
einmal erheben, ſank aber, erfhöpft und von. Schmerz gefoltert, auf feis :
nen Sig zuruͤck. Auch nicht ein Wort konnte er über bie Lippen brin-
Chatam. Chateaubriand. 439
gen. Die naͤchſten Lords hielten ihn in ihren Armen. Das Haus
wagte nicht, die Berathung fortzufegen, und fie warb geſchloſſen. Das
geſchah am 7. April 1778. Als Lord Chatam wieder zu ſich ges
kommen war, brachte man ihn nad, feinem Landhaufe, wo er einen
Monat fpäter in feinem 70Often Jahre ſtarb. Das Haus der Gemel⸗
nen befchloß eine Adreffe an ben König, um ihn zu bitten, ben großem
Berftorbenen auf Koften bes Staates zu beerdigen und ihm ein Denk⸗
mal in ber Abtei von, Weftminfter errichten zu laſſen. Da es fi
bherausitellte, daß ber Verewigte, weit entfernt, ſich Vermögen erworben
zu baben, bei guter Wirthfhaft, Schulden hinterlaſſen, votirte das
Haus am folgenden Tage eine zweite Adreffe, in welcher es darauf
anteug, ben Erben Chatam’s eine jährliche Denfion von 4000 Pfv.
und zur Tilgung der Schulden noch 20,000 Pfund zu bewilligen.
Die Anträge des Haufes wurden genehmigt. Wenn große Männer
„dazu gehören, um eine Nation frei, geachtet und glüdlich zu machen,
dann gehört aber auch ein großes Volk bazu, um folhe Männer zu
verdienen. Ä Meigel.
Chatsaubriand (Franz Auguft von) warb 1769 zu Saint
Malo in ber Bretagne geboren. Das Haus, in dem er zur Welt
kam, Tiegt neben dem, wo La Mennats fpäter das Dafein erhielt.
"Die erften Jahre verlebte er bei feinen Zanten, zwei Damen, bie
fromm waren und von denen bie eine Verfe machte. Won diefen kam
ee in feinem achten Sahre nach Saints Malo zurüd. Zufällig vahm
ihn fein Älterer Bruder dafelbft einmal mit in das Schaufpiel, und es
begegnete ihm, wie er felbft erzählt, daß er das Theater für einen
Theil der wirklichen Welt und die Dichtung für Wahrheit nahm, was
ihm auch fpäter nody im Leben begegnet fein mag. Einen Theil ſei⸗
ner frühen Jugend brachte er in dem väterlichen Schloffe Combourg
zu, das fi über dem Städtchen erhebt, welches denfelben Namen
führt. Diefes alterthuͤmliche Gebäude, der Schauplag feines ſich ent»
widelnden Knabenalters, liegt mitten in einem weitfchichtigen Gehölze,
das wilde Haiden umgeben, an beren oͤdem Rande fich bie Wogen bes
Meeres brechen. Man hätte für einen gemüthlichen, frommen Dich»
ter, deſſen Einbildbungstraft ſich in flillee Schwermuth und unbefrie⸗
digter Sehnſucht zum Unendlichen erhebt, keinen paflendern Aufenthalt
‚wählen Eönnen. Auch flimmte die Gemuͤthsart des ungen, der uns
gefellig, finfler und dabei von ſchwaͤchlichem Körper war, ganz zu ber
einförmigen,, büftern Gegend, die ihn umgab. Den erften Unterricht
empfing er im elterlichen Haufe, und da er ber jüngere Sohn und ohne
" Vermögen war, beitimmte man ihn zum geifllihen Stande, in bem
er eine angemeffene Laufbahn finden ſollte. Die fromme Mutter
freuete fi) der Zukunft des Gott geweiheten Kindes, der fie voll Hoffe
nung entgegenfah. Die Gegenwart hatte ihe nicht viel zu bieten und
fie ſuchte Entfhädigung für das, was nicht war, in dem, mas kom⸗
men follte. - Der Vater war ein hagerer, blafler, finfteree Dann, ber
mehr in ber Erinnerung ber guten alten Zeit des vitterlichen Adels,
440 Chateaubriand.
als im haͤuslichen Kreiſe feiner Familie lebte und lieber bie verroſtete
Ruͤſtung feiner Ahnen, die Werkzeuge bes Krieges und der Jagd, als
die milde Stau und. die fpielenden Kinder um fi ſah. Alles war
in feiner Nähe ftumm, wenn er im abgefchloffenen Gange den hal
Venden Saal ſchweigend auf und nieder ſchritt. Aengſtlich drängten
fid) die Kinder um die Mutter aneinander, bie Augen auf den Water
gerichtet, der, gleich einem Geſpenſte der Vorzeit, wie der wandelnde
Geiſt des Feudalweſens in dem Schloffe umzugehen ſchien. So brachte
die Familie gewöhnlich jeden Abend und befonders die langen büftern
Stunden befielben im Winter zu, bis der Water mit dem Schlage
Behn in fein Zimmer ſich verlor. Da trat die Natur in ihre Mechtez
die Kinder plauderten und fpielten und die Mutter nahm an dem
tindifhen Treiben mütterlich Theil. Ehe ſich die Jugend zu Bette legte,
war es bie Sache unfers Helden, fid in allen Winkeln des Zimmers
behutfam umzufehen, ob fi nicht Gefpenfter, die in ber Wohnung
zahlreich waren, irgendwo verborgen hielten. Wer weiß, wie folgenreich
bie frühefte Umgebung und die erften Eindrüde auf das künftige Ler
ben und die Entwidelung des Menfchen wirken, ber wird die anges
führten Züge, fcheinbar fo unbedeutend, nicht für überflüflig halten.
Chateaubriand felbft faat, feine erſten Lehrer feien die Winde und
Mogen gewefen. Die Natur ift die Schule bes Dichters und er war
zum Dichter ‚geboren, wie ihm denn aud alles Praktifche und Poffs
tive im Leben ziemlich fremd geblieben iſt. Den üblichen Schulunter⸗
richt erhielt er in dem Collegium von Dol und dann in dem von
Rennes. Die erften Schriften, welche ihm in die Hände fielen und
einen befondern Einbrud auf ihn machten, waren die Belenntniffe des
heiligen Auguftin und eine Ausgabe bes weltlihen Horaz. Das
ascetiſche Chriſtenthum und das finnliche Heidenthum bemädhtigten fich
mit gleicher Gewalt bes funfzehnjährigen Juͤnglings und zogen ihn
befreundet an. Auch dieſer Umſtand ift in’ feinem Leben nicht zu
überfehen und kommt oͤfter in ihm vor, wo Widerfprechenbes, faft
Entgegengefegtes fi) verträglich zufammenfindet.
Da Chateaubriand Leinen befondern Beruf zum geiftlichen
Stande zeigte, fo fuchte man um bie Stelle eines Unterlieutenante
für ihn nach, die ee auch erhielt. Sein Gefhäft war nun, ſich felbft
und die Recruten einzuüben, dem er fi aud eifrig unterzog. In
derfelben Zeit folgte ein anderer Unterlieutenant demfelben Berufe und
übte feine Kameraden zu Brienne, wie Chateaubriand die feinigen zu
Dieppe ein. Die Zukunft, die in diefen Menfchen fhlummerte, bie
Beide groß, von folgenreihem Einfluffe, ungleidy in Anlagen, ungleidy
im Streben auf ganz verfchiedenen Wegen ihrem Ziele fich felbft un⸗
bewußt entgegengingen, ließ fi nicht ahnen. Wer hätte in jenem
den Sieger bei Arcole, Marengo und Aufterlig, den Gründer eines
Kaiferthrond, in diefem den Berfaffer von Rene, Atala und den
beredten Dichter des Chriftenthums vorausgefagt? Darauf ging er nad)
Paris, wo er dur die Verwandten feines Altern Bruders, der mit
Chateaubriand. 441
einer Enkelin des berühmten Malesherbes vermählt war, eine gute
‚ Aufnahme fand. Er ward Ludwig XVI. vorgeſtellt. Ein großer
Rag! Der König ſpricht mit Jedermann, bleibt auch vor Chateau:
briand fliehen, betrachtet ihn und geht, ohne ein Wort an ihn zu
richten, weiter. Der Aberglaube hätte eine böfe Vorbedeutung darin
finden koͤnnen, welche die Bourbons indeffen fpäter nicht Lügen ftrafs
ten. Dagegen ift es ihm vergönnt, in den Prachtfälen von Verſailles
ſich flandesgemdg umherzutreiben, felbft den Eöniglihen Wagen zu bes
fleigen und in dem Gehölze von Saint» Germain einer Hofiagd bei⸗
zumohnen. Seine Neigung führte ihn ben ausgezeichnetiten Männern.
entgegen, bie auch einen Hof bildeten, der feine Großwuͤrdentraͤger
und Günftlinge hatte und im Weiche der Literatur eine Macht bils
bete, die fich geltend zu machen wußte. Er näherte fi) denfelben
mit einer Ehrfurcht und dem Streben zw gefallen, die er felbft in
Berfailles nicht meiter treiben Eonnte. Da glänzten Delille, Pars
ny, Chamfort und Laharpe, damals Sterne der erften Größe,
deren Licht fpäter vor dem flrahlenden Lichte feines Ruhms erbleichte.
Es war ein wichtigere Gegenftand feines Ehrgeizes, neben diefen ges
feierten Namen feinen eigenen noch unbelannten gedrudt zu fehen,
und es gelang ihm. Er fchrieb eine gefühlvolle Idylle, welche einen
eben nicht ganz neuen Stoff, die Liebe zum Lanbleben, behanbelte.
Laharpe, der ſich darauf verftand, erflärte die Verſe für gut ges
brechfelt und? Chamfort meinte, das Ding fei für einen jungen
Edelmann fo übel nicht. Seine eigenthuͤmliche beffere Natur kündigte
indeffen ſich durch feine Liebe für Rouffeau und Bernardin de
Saint-Pierre an, in denen Geift und Gemüth eine reichere Nah: -
rung fanden. Was aber fein inneres aufregte und mit Sehnfudt
erfüllte, mar ein unbeftimmter Ehrzeiz ohne Ziel, das Verlangen, ſich
einen Namen zu machen und unter feinen Zeitgenoffen mit Bedeutung
aufzutreten. Diefer Ehrgeiz, mie ihn die Jugend zu haben pflegt, der
ben Zweck will, ohne die Mittel zu prüfen oder zu Eennen, die zu ihm
führen, trieb Chatenubriand. That es bie Gnade des Königs
nicht, dann. Eonnte es die Gunft des Publicums thun, und gelang es
nicht durch eine Idylle zum Lobe des Landlebens, bann konnte es
durch eine Ode zur Verherrlihung des Kriegs gelingen. Amerika war
damals der große Gegenftand der politifhen Verehrung und der ges
felligen Unterhaltung. Eine neue Welt ging in den Vereinigten Staa-
ten der alten auf und Wafhington und Lafayette wurden mit
Begeifterung genannt. Aber auf diefem Felde fand ber Ehrgeiz keine
Lorbeeren mehr zu ernten; bie Unabhängigkeit Nordamerikas war ges
fihert, feine Freiheit befeftigt. Dagegen hatte man bie jegt vergebene
ducch die Hudfonsbai einen Weg nah Oſtindien geſucht. Noch un⸗
laͤngſt war Madenzie von feiner gefährlichen Fahrt auf dem Polar:
meere zurüdgefehrt, ohne den Zweck der Entbedungsrelfe erreicht zu
haben. Das fchien eine würdige Aufgabe für Chateaubriand zu
fein. In Frankreich gab es ohnedies für fein Beſtreben weder Auf:
444 Ehateaubriand.
die Verirrungen bes Sohnes Hätten bie letzten Tage der Abgeſchiede⸗
nen mit Bitterkeit erfuͤllt. Bald folgte der Mutter die geliebte Schwe⸗
ſter nach und Beide waren an den Folgen ihrer Gefangenſchaft ge⸗
ſtorben. Fuͤr dieſe harten Schlaͤge des Geſchicks war das Gemuͤth
Chateaubriand's zu weich und wir glauben ihm, wenn er ſagt: „Dieſe
zwei Stimmen, die aus dem Grabe zu mir ſprachen, dieſer Tod, der
mir die Bedeutung des Tobes fagte, erfchätterten mein Innerſtes und
ih ward ein Chriſt.“
Chateaubriand kehrte 1801 nah Frankreich zurid und gab
bald darauf Atala und fein größeres Werk über das Chriftenthum
(Genie du Christianisıne) heraus, die feinen literarifchen Ruf begruͤn⸗
deten. Beide machten ein großes Auffehen und gaben dem Verfaſſer
eine Stelle unter den erſten Schriftftellern feiner Zeit. Die beredte
und bichterifhe Apologie des Chriftenthume war Bonaparte gewids
met und ‚bie Zueignungsfchrift enthält bie Stelle: „Ich übergebe das
Wert dem Scuge beffen, welchen die Vorfehung von lange her be=
zeichnet hatte zur Erfüllung ihrer wundervollen Abfichten.” Der Vers
faffee hatte es nicht mit Undanfbaren zu thun. Früher ſchon war
ihm und feinem Freunde Fontanes das Eigenthum des franzöfifchen
Merkurs ertheilt worden ; jest, 18083, erhielt er die Stelle eines erften
Secretairs bei ber Gefandtfchaft zu Rom. Da fich aber mit feinem
Vorgeſetzten, dem Cardinal Feſch, kein freundliches Verhaͤltniß geftals
ten wollte, kehrte ee fo raſch nad Paris zurüd, ale wäre ihm die
Flucht des Könige, mit großer Schrift gedrudt, zum zweiten Mal vers
fündet worden. Napoleon gefiel dieje Handlungsmeife nicht, ſah
aber dem Manne, für ben fo Vieles ſprach, Manches nach und er:
nannte ihn zum Gefandten in Wall. Er gab felbit dem Nationals
inftitut den Wink, ihn, nah Chenier's Tode, an beffen Stelle, zum
Mitgliede zu wählen und empfahl das Wert über das Chriftenchum
zu einem der zehnjährigen Preife, die er gegründet hatte. Die Hin
richtung des Herzogs von Enghien aber trat wie ein finfteres Gefpenft
zwiſchen die beiden Männer, die das blutige Ereigniß auf immer fchied.
Mit Vergnügen erinnern wir an bie Rede, die Chateaubriand bei
feiner Aufnahme in die Akademie nah altem Brauche halten wollte.
Die männliche Unabhängigkeit feines Charakters und feined Glaubens,
bie er bei diefer Gelegenheit zeigte, verdient um fo mehr eine gerechte
Anerkennung, als Beifpiele dieſer Art in feinem Leben felten find.
Das Inſtitut, das, wie alle Körperfchaften, wie ganz Frankreich ſich fElas
vifch dem Willen des Gebieters fügte, fuhr erfchroden vor einer Rede zuruͤck,
die Wahrheiten ausfprach, weldye zu denken ſchon gefährlich ſchien,
wenn fie die Gewalt hätte errathen können. Das Inſtitut weigerte
fih, die Mede anzuhören, Chateaubriand dagegen, etwas an ihr
zu ändern. Unter folhen Umftinden war in der Nähe bes Hoflagers
des Loͤwen nicht gut wohnen und die Zeit zum Reifen günftig. Cha⸗
teaubriand benuste fie, ging nah Italien, fchiffte fi zu Venedig
nach Griechenland ein, befuchte Gorinth, ließ ſich auf den Trümmern von
Chateaubriand. 445
Sparta nieder, verweilte an allen Stellen des claffifhen Bodens, wel⸗
che die Erinnerung einer großen Vergangenheit geheiligt hat. Won
Jaffa zog er burdy.die Wuͤſte nad, der heiligen Stadt, vor der er in
ſtillem Gebete auf die Knie ſank, dann mit Andacht die Ruinen des
Zempels und die Grotte von Bethlehem betrat. Von Paldftina begab
er fih nad) Aegypten und kehrte von..ba. wieder nach Europa zurüd.
Sechs Fahre verflofien nad) dieſer Pilgerfahek, in denen Chateau:
briand feine Märtyuer (les ınartyres) und die treffliche Befchreis
bung feiner Reife (itindreire) vollendete. Burüdgezogen in feiner Ein:
ſamkeit, mit feinen ſchriftſtelleriſcher Umternehmungen befchäftigt, nur
wenige Freunde fehend, ‚die von der Ungnabe bes Kaifers wenig zu fürchs
ten batten, überenfchten ihn die Ereigniffe von 1814, die eine Welt:
in Zrümmern legten. Einer der größten: Männer, die je einen Thron
verherrlicht, eines der größten Reiche, die je ein. Eroberer gegründet,
ee von der Hand des:Schicfals berührt, das ihnen bier ihr Ziel
geftedt. en F
Die Bourbons wurden durch den Sieg des verbuͤndeten Europa
wieder auf den Thron Frankreichs erhoben. Der Glaube, die Nei⸗
gungen und Wuͤnſche Chateaubriand's waren in alle ihre Rechte
und Anſpruͤche eingeſetzt. Er feierte den Fall des Helden durch ſeine
Schrift: Bonaparteund die Bourbonsg, ein vae viotot mit dem
er nicht das Schwert des Brennus, fondern den Hohn des Wils
den, der fein Schlacdhtopfer wehrlos an. den Pfahl gebunden .fieht,
in die Magfchale warf... Dan muß allen Thatfachen und Ereigniffen
eine fchnöde Gewalt anthun, um sine ſolche Bufammenftellung her.
auszukuͤnſteln. Wäre auch wahr, was Ludwig XVIII. gefagt haben
fol ,. daß diefe- Schrift für die Bouchoms ein Heer von hunderttau⸗
fend Mann werth: gervegen ſei, war 28 eines Chateaubriand wuͤr⸗
big, daſſelbe um foldhen Preis: zw reerben?::. Die Reftauration b&
Iohnte ihn mit der Geſandtſchaft in Schweden, die auf. keine Weife
nad, feinem Gefchmare war. Der. fixenge Legitimift ſollte ſich dem
Throne eines Eingedeungenen, eines Emporkoͤmmlings, eines Ge
ſchoͤpfes der Revolution; eines Waffengefährten Bonaparte’s mitt
Achtung nahen! MR apsleon rettete ihn geoßmüthig aus biefer Ver
legenheit, indem er fich zu einer Reife - von. Elba nad) Parts. entfchioß,
die einen König in der’ Mitte von’ dreißig Millionen Unterthanen
entthronte. Das mwar-ein bünbiger Commentar zu der Schrift: Bo⸗
naparte und bier. Bourbons!l: ‚Ludwig XVII. omg nad
Gent, und Chatedubriand folgte ihm. Hier fchrieb. er. als Staates
miniftee den merkwuͤrdigen Beriht.an:den König -über bie
Lage Frankreichs, ein Ding, über das fich leichter fihreiben, als
es ſich machen läßt. Europa führte bie Bourbons urn zweiten Mal zus
ruͤck. Die Ariftofratie, die nichts gelernt und . nichts vergeſſen hat,
in dem wieder gewonnenen Frankreich nur das treulos abgefallene von
dem Glauben und den hergebrahhten Rechten ihrer 'Wäter fah, und
um jeden Preis das fechszehnte Jahrhundert an bie Stelle bes acht:
446 | "Chateaubriand.
zehnten fegen mollte, um bie Reſtauration gruͤndlich zu vollenden,
vereitelte jeden Verſuch einer Verſoͤhnung. Sie ſah fich als fiegen»
des Frankenvolk in das untertworfene neue Gallien. wieder eingeführt.
Chateaubriand focht rvitterlih in ben erſten Reihen mit, und
Cämpfte für einen Sieg‘, in dem er felbft einen Uebergang zur Nies
beringe ſah. Man "fleht: erſtaunt und betroffen vor biefem Manne,
der fo groß und doch ſo Kein eifcheint, im ewigen Miderfpruche mit
ſich ſelbſt, wenn er vom Pulte in das Leben tritt, den Gedanken zur
That geftalten fol, ſich dus der Unenblichleit des Reichs der Gefins
nungen unb Gefühle, in benen fit Ordnung und Einheit findet, in
die enge Wirklichkeit verliert, two er, felbft verwirrt, nur Verwirrung
fhafftz dem Geiſte nad) ein Bürger feiner Zeit, der fi) fogar über
feine Zeit .erhebt, dagegen mit Gemüth und Neigung eine alterthuͤm⸗
liche Weberlieferung, ein Nachzügler bee Bergangenheit, ein Gefpenft
ber Nacht, das keine Morgenluft gemwittert und fi bis in den Tag
verfpätet hat, Republikaner und Abfolutift. Im Dienfte einer Partei,
die er leiten wollte, fuchte er Gewalt, die er Andern gab, und bie
diefe benugten, um ihn bavon entfernt zu halten. So warb er für
feine Dienfte mit eimer glänzenden Verbannung abgefunden, ging ald
-Gefandter nad) Berlin: und bald darauf nad) London. Zu Verona
wohnte er dem Gongreffe bei, mo man mit feinen Anfichten fo zufties
den war, bag er das Minifterium der austoärtigen Angelegenheiten ev
hielt. An dieſer hohen: Stelle, dem Gegenftande feines Ehrgeizes,
fühlte er fich zu großen Dingen berufen, von benen durch feine Dit
wirkung das Gegentheil gefhah. Cine bewaffnete Einmiſchung in
bie Angelegenheiten Spaniens fhien ihm bedenklich, und buch ihn
ward fie ausgeführt. Seinen Einfluß wollte er benugen, um in bes
fpanifchen Colonien eonflitutionelle Monardyien zu gründen, ‚bie er. in
Europa zertruͤmmern half und in Amerifa nicht gründen konnte.
Fuͤr die Griechen und ihre: Sache zeigte ev Mitgefühl, das aufrichtig
war, und er fand ihren Feinden bei, die ſie wie Aufruͤhrer behan⸗
delten. Er war das Werkzeug jener ſogenannten praktiſchen Menſchen,
die ihr Ziel um ſo gewiſſer erreichen, da ihnen alle Mittel, die zu
ihm fuͤhren, die rechten ſind. Man darf ſich darum kaum wundern,
daß er ſich an ſeiner hohen Stelle nicht behauptete, und ſie gerade
durch diejenigen verlor, denen er ſich durch geleiſtete Dienſte aufge⸗
opfert hatte. Auf die unzarteſte Weiſe ward er 1824 aus dem Mi⸗
niſterium entfernt. „Sie haben mich, rief er. in feinem gerechten
Unwillen aus, tie einen Bedienten fortgejagt, der bie Uhr bes Koͤ⸗
nigs von dem Kamin:.geftohlen.” Er rächte fi an ber fchnöben Ges
walt, die. er erhoben hatte, um fi von ihe erniedrigt zu ſehen, bucch
alle Mittel der Prefie,: für die er die Mehrheit von Frankreich. nur
iu empfängli fand. Aber auch hier half er wieder zerftören, was
er gebaut, und fegte fih, im Widerfpruche mit der Macht, für die
er früher fo vielfältig gewirkt, mit ſich felbft in Widerſpruch. Diefe
Art: Selbſtmord iſt aber in Zeiten der Parteiung felten gefährlich,
Chateaubriand. Chile. 447
Der Tod für die eine Mt eine Auferftehung für die andere, und gibt
man feine Freunde für ihre Feinde auf, dann wird man biefen ein
um fo wertherer Freund. Billele, der Gegner Chateaubriand’s,
fiel; aber auch durch dieſen Fall erhob fih Chateaubriand nid.
Alles, was er gewinnen tonnte, mar eine ehrenvolle Sendung nad)
Rom, Die QJulitage festen einen andern Zweig ber Bourbons auf
ben Thron, und Chateaubriand entfagte ber Würbe eines Paits
und gab feine Stelle auf. Mit rührender Anhänglichleit bem alten
Königsftamme ergeben, ‚pflegt ihn, der verwittert in der Erde Sranl:
veich® keine Lebensnahrung findet, feine treue Hand. Am Grabe ber
alten Monarchie fteht er ein Leichenftein, der eine Vergangenheit
ehrt, die keine Zukunft hat. Mit welcher feommen Begeifterung er
die Herzogin von Berry als eine Heilige begrüßt, und wie weltlich
gefinnt der andädhtige Gruß erwiedert warb, das haben wir gefchen.
Und diefer Mann, ber handelnd die Wirklichkeit wie einen Traum
behandelt, wie ficher geftaltet fie fi unter ber Feder, wenn er fie
mit fchöpferifhem Geiſte darſtellt! Sind feine geſchichtlichen Studien
(Etudes historiques) nicht ſibylliniſche Blaͤtter, deren Wahrfagungen
die Vergangenheit erklären und bie Zukunft verfünden? Chateau⸗
briandb hat die Denkwürbigkeiten feines Lebens gefchrieben, bie erft
nad) feinem Tode erfcheinen follen.. Sie wurden indefjen in vertraus
tem Kreiſe vorgelefen, auch bewährten Freunden mitgetheilt, die es
verantworten zu koͤnnen glaubten, wenn’ fie dus Publicum zu ihrem
Pertrauten machten. Die Geheimniffe bee Denkwuͤrdigkeiten wurden
auf” diefe Weife offenkundig, und wir keugnen nicht, ba. wir uns
ein Meiſterwerk in feiner Art verſprechen. Sie merden unter dem
BVorzüglichften, was der Verfaſſer je geleiftet, eine Stelle. finden, und
durch die Macht des Geiftes, der fie‘ befeelt, mit den ſchwachen Stel:
len des Lebens verföhnen, das oft fo unficher und ohne "a ift.
- Weigel,
Chatoulles Güter, f. Eiviltifte -
Cherusker, f. Altdeutfhe Völker.
Chile. An ber Weſtkuͤſte bes fäüblichen Feſtlandes von Amerika
dehnt ſich vom 240 20 bis zum 440 ©. Br., und vom 3030
20’ bis zum 308% 50 D. 2. das glüdlidhe Chile aus. Don Bes
livia trennt es die Müfte Atacama. Weſtlich hat es den ftillen. Ocean.
Deſtlich die Gorbilleren, durch welche fehwierige Päffe, und namentlich
ber 12,000 Fuß hohe Ufpalatapaf, nad den La PlatasStaaten fühs
een. Südlich fchneidet dee Golf von Guayateca in das Land ein, bee
die Inſel Chiloe umſpuͤlt. Es umfaßt gegen 6600 Reiten, wo⸗
von 5200 auf das eigentliche Chile, 1200 auf das im Suͤden ges
legene Gebiet dee unabhängigen Araucanen, 200 auf bie. Inſel
Chilo& kommen. In den Gorbilleren enthält es mehrere. furdhtbare
Vulkane, namentlich den Peteroa und ben 15,000 Fuß heben . Desca-
bezado. Meftlih von benfelhen erſtrecken fi drei parallel laufende
niedere Bergreihen; darauf allmälige Abbachung bis zur ebenen Küfte.
448 Chile.
Das Land durchſtroͤmen 63 Fluͤſſe, alte ihren kurzen Lauf von Oſten
nad, Welten nehmend. Unter den Seen verdient ber reizende Ser
Aculeo Erwähnung. Das Klima tft Außerft angenehm und gemaͤ⸗
Bigt, die Hibe durch) die von den Gorbilleren kommenden Bergwinde
und duch, die Seeluft gemaͤßigt. Der Boden ift für alle europaͤiſche
Getreide s und Gemuͤſearten empfänglich; der Weizen gibt den 2bfa-
hen, an. mandhen Punkten den 100fachen Ertrag. Dabei erzeugt
das Land ale Suͤdfruͤchte, Faͤrbehoͤlzer, zum Theil auch Sciffbaus
hoͤlzer. An Nutzvieh enthält es Pferde und ungemein viel Rindvieh.
Groß ift der metallifche Reichthum. Gold findet fi) in Gebirgen
und Flüffen. Auch liefert der Bergbau Silber, Kupfer, Eifen,
Blei, Queckſilber. Man findet Edelfteine, Deineralquellen, Salz.
Die künftig aufblühende Induſtrie erwarten Steinfohlen:, die pla⸗
ſtiſchen Künftle Marmorlager. Die Einwohnerzahl wird auf 900,000
Individuen gefhägt, bie weniger gemifcht find, ala In ben Nach—⸗
barländern: Namentlich enthält das Land nur gegen 40,000 Neger.
Die Araucanen bewohnen ihre getrenntes Gebiet und find jebers
zeit frei geblieben. Die Natur hat Chile zum Gluͤck berufen, das
wenigftend nicht durch bleibende Beſchwerden gefchmälert, aber mohl
von häufigen und furchtbaren Erdbeben bedroht wird, gegen beren
Schreien man ſich durch leichte Bauart der Haͤuſer zu fchügen ſucht.
Gewitter kommen nie vor. Die Einwohner, groͤßtentheils Kreolen,
find ein efinnlihes, gutmäthiges, gaſtfreies Volk, die glüdlichen
Phaͤaken der Suͤdwelt.
Chile iſt 1660 durch Pedro de Valdivia fuͤr Spanien erobert
worden. Es erhielt frühzeitig feinen eignen unabhängigen General
capitain. Sein Gebiet war in 2 Audiencias, die von. St. Jago und
bie von Goncepcion, getbeilt. Das Volk blieb in ruhigem Wohlftand,
um dußere. ober innere Politik unbelümmert. Aber eben die forglofe
Lage der chilefifchen Kreolen gab ihnen bie Kraft, fobald einmal bie
dee der Unabhängigkeit erwacht war, die Sache ſchnell durchzufuͤh⸗
ten. Der legte fpanifche Generalcapitain. Caxraſco hatte ſich durch
willkuͤrliche· Maßregeln verhaßt gemacht. Auf. die Nachticht von ber
zu Bogota erfolgten Einſetzung einer Junta verfammelte fi) auch
zu St. Jago das Volk: und zwang den Generalcapitain am 20. Juli
1810, feine Stelle niederzulegen. Im Anfang begnügte man ſich
zivar, denfelben Poften einem Eingebornen, dem Grafen de la Gons
quifta, zu -übergeben. Aber biefer felbft betrieb die Unabhaͤngigkeits⸗
erklaͤrung, da er wohl fühlte, daß auch für ihn bee Nubicon Aber
fhritten war. Ueberdem kam von Buenos Apres Alvarez de Jonte
und wirkte für die Fortführung des Werke, fo daß bereits am 18.
Sept. bie aus 7 Mitgliedern beftehende Regierungsjunta eingefeht
ward. An die Spige berfelben. trat ber Graf de la Concepcion.
Sie berief aus allen Provinzen Abgeordnete zu einem Gongrefie. Der
Altfpadier waren wenige und ber Obriſt Figueroa, der mit Huͤlfe
‚einiger Truppencorps und unter Gonnivenz ber Audiencia zu St. Jago
Chile. 449
eine Reaction In biefem Sinne (1. April 1811) buchführen wollte,
büßte den Verſuch mit dem Leben. Sm Juni 1811 trat der Cons
greß zufammen. Indeß wurden mißvergnügte Stimmen über manche
bei den Wahlen vorgefallene Unregelmaͤßigkeiten und bie zu große
Baht der Abgeorbneten von St. Sago laut, die man jedoch durch
Verminderung ber legteren und durch Anordnung einer Neuwahl zu
Concepcion befhmichtigte, fo daß ber Congreß am 4. Sept. 1811
förmlich zu Stande fam. Er eröffnete feine Sigungen- mit vielen
freifinnigen, auf &mancipation der SHaven, Freiheit des Handels,
Abſchaffung der Verkäuflicykeit der Staatsämter, forie überflüffiger
Stellen, Anlegung von Waffenfabrilen und Kriegefchulen u. f. w.
bezüglichen Befchlüffen. Die Preßfreiheit warb von der erften, am 21.
Nov. 1811 in Chile (zu St. ago) angelangten Drudpreffe zur
Herausgabe der mit dem 1. San. 1812 begonnenen Aurora be Chile
benust. Aber ſchon mar ber politifche Himmel Chile’s nicht mehr
wolkenlos. Die brei Brüder Carrera, Söhne eines reichen Gutsbe⸗
figere in St. ago, wo fie unter Zruppen und Eimmohnern vielen
Anhang hatten, benugten ihre Partei für ehrgeizige Zwecke. Ste bes
wogen die Junta (Dec. 1811) zur Auflöfung des Congreffes, wor⸗
auf fie unter manden Berwirrungen den neum Congreß und durch
diefen das Land befpotifch beherrfchten. — Noch hatte man übrigens
fi) nicht förmlich „von Spanten Iosgefagt. Das Bildniß des Könige
ward auf den Münzen beibehalten; mit dem Bicelönig von Peru
blieb man in fcheinbar gutem Vernehmen. Faetiſch hielt man ſich
aber getrennt und meigerte ſich, trotz der dringenden Cinlabungen
bes am 27. Juli 1811 zu Valparaiſo geländeten General, Fleming,
entfchiedben, die Cortes durch Abgeordnete zw beſchicken. Umfonft
fuchte Fleming von Lima aus durch ein Schreiben vom 3. Oct. feine
Abſicht durch das Vorgeben bucchzufegen, daB die englifhe Regie⸗
rung das Vorgefallene hoͤchlich mißbillige. Auch proteſtirte ſpaͤter (13.
Sept. 1813) der engliſche Geſandte zu Rio Janeiro, Lord Strang⸗
ford, feierlich gegen dieſes Anfuͤhren. — Beffere Dienſte leiſteten ben
Spaniern die inneren Zwiſte. Die Carrera's bewogen den Congreß,
die Junta abzuſetzen (15. Nov. 1811) und an deren Stelle eine nur
aus drei Mitgliedern beftehende, worunter einer von ihnen war, zu
ernennen. Die neue Junta loͤſte nun ihrerfeits den Congreß auf,
Suchte das Volk. durch Einführung ber breifarbigen Slagge, ftatt ber
anifhen, zu gewinnen und regierte nun unter dem Einfluß der
Sarrerad. Bier Verſchwoͤrungen .gegen fie wurden vereitelt; ein inne⸗
rer Zwift, in Folge deſſen der dltefte Carrera, Joſe Miguel, aus⸗
trat, wieder (27. Dct. 1812) ausgeglichen, Teinesweges aber ber Uns
wille des Volks geſtillt. |
Dieſer ermuthigte den Wicelönig von Pers, ben. Verſuch der Wie⸗
bereroberung zu wagen. Er fenbete den General Pareia, der 1818
mit. 4000 Mann zu. St. Vincente landete und ſich bes Hafens von
Zalcahuano, fowie der Stadt Concepcion, bemächtigte. Weberhaupt
Staats s Eeriton. III. | 29 .
450 Chile.
zeigte ſich in Chile, wie im ganzen ſuͤblichen Amerika, die Reaction
der Provinzen gegen die Centraliſation. Die Carrera's regierten be⸗
fonders duch und für St. Jago. Der Hauptfig der Oppofition gegen
fie war daher in Goncepcion. Das Land würde getheilt worben fein,
wenn bie Natur eine Trennung begünftigt hätte. Pareja rüdte nun,
durch die dort gefundenen, Truppen verflärkt, gegen St. Jago vor.
Der ältere Carrera ging ihm mit 6000 Mann entgegen und obwohl
‚der am 12. April 1813 verfuchte Ueberfall feines Lagers mißlang, fo
mußte fi doch Pareja in bie fefte Stellung von Chillen zuruͤck⸗
ziehen, wo er bis zu feinem Tode (1819) ſich ruhig hielt. Talca⸗
huano und Concepcion wurden wieder genommen. Indeß hatten bie
Gegner, bie die Garrera’s felbft in der ihrer Herrſchaft überdrüffigen
Sunta hatten, eine Intrigue gegen fie gefponnen. Man bewog auch
die übrigen beiden, zur Armee abzugehen, und ſogleich befegte die Junta
die bisher erledigt gebliebene Stelle des diteren Garrera und befchloß,
ihre Sigungen nad) Zalca in der Nähe bes Kriegsfchauplages zu vers
legen. Hierauf ernannte fie (24. Nov.) die Obriften D’Higgins und
M'Kenna zu Anführern der Armee und diefe zwang felbft die Gars
reras zur Abreife. Sofe Miguel und ber jüngfte Carrera, Luis,
wurden auf ber Rüdkehr von den Spaniern gefangen und nad) Chil⸗
lan gebracht. Die Spanier befehligte jegt General Gainza, deſſen
Angriff auf M’Kenna (19. und 20. März 1814) zwar durch das Ders
zueilen D’Higgins vereitelt. wurde, der aber doch die Stabt Xalca
einnahm. Einen Zug nad) St. Jago vereitelte D’Higgins. Inzwi⸗
[hen war die Zunta, mit dee man. unzufrieden mar, aufgelöft und
de Ia Laftra zum Dictator ernannt worden. Diefer ſchloß, unter Vers
mittelung des englifchen Gapitains Hillyan, am 5. Mat 1819 mit dem.
General Gainza eine Convention, in Folge beren Gainza binnen 2
Monaten nad) Peru zurüdkehren, ber Vicelönig bie. Regierung von
Chile und die von ihr getroffenen Einrichtungen. anerfennen, bagegen
aber Chile bie fpanifchen Gortes beſchicken follte. — Indeß der Ber:
trag ward nicht ausgeführt. Gainza zögerte. Die Carrera waren
entflohen, nah St. Zago gekommen und ermwirkten am 23. Aug. bie
Abfegung des Dictators und die Wiedereinführung des Triumvirats,
an deſſen Spige Joſe Miguel Carrera ftand. Die Unzufriedenen riefen
D’Diggins herbei und der VBürgerkrieg war im Gange, als die Nach⸗
richt einlief, daB Gainza durch General Oſorio abgelöft fei und ber
Vicekönig die Genehmigung des Vertrages verweigere. Dforio hatte
Verftärfungen mitgebradht. Hierauf unterwarf fi ber edle O'Hig⸗
gins der Junta. Carrera übertrug ihm den Oberbefehl ber Armee,
entließ aber vorher deren beite Officiere, als feine perfönlichen Gegner,
worauf durch zahlreiche Defertionen die Truppen bis auf 4000 Ma
berabfchmolzen. Mit diefen ſchloß fih D’Higgins in Rancagna eilt,
wo ihn die Spanier angriffen. Carrera rüdte zum Entſatze heran
und ſchon mollten die Spanier ſich zurädziehen, als Gartera, ohne
etwas gethan zu haben, umkehrte. Die Belagerung begann von
‘
Ghile. 451
Neuem; O'Higgins verlor zwei Dritttheile feiner Mannfchaft und
Thlug ſich endlich mit 200 Dragonern durch. Die Carreras benugs
ten ihre Zruppen nur zu Erpreſſungen; das Volk, deren müde, lud
endlich die Spanier felbft ‚ein; die Carreras und andere am meiften
compromittirte Perfonen entflohen und im October 1814 mar ganz
Chile wieder den Spaniern unterworfen, welche die Häupter der Pas
triotenpartei nad) der Inſel Suan Fernandez verwiefen.
Die Geflohenen hatten fih nad Mendoza, an bee Grenze zwi⸗
fhen Chile und den La Platas Staaten, gewendet. Dorthin fendete
die Megierung der letzteren einige Zruppen, die mit den Chilefen
vereinigt unter das Commando des General San Martin geftellt wur:
den. Als fie auf 4000 Mann gebracht waren, z0g San Martin
im Sanuar 1817‘über die Anden und fiel in das über die Reactio⸗
nen der Spanier erbitterte Chile ein. Dort hatten bisher Guerrillas,
befonders unter Don Manuel Rodriguez, das Andenken ber Freiheit
erhalten. (Das abgeworfene und wieder aufgelegte Joch iſt ſchwerer
zu tragen, als das ewig laſtende) San Martin befegte mehrere
Punkte und erfocht endlich (12. Febr.) einen entfcheidenden Sieg bei
Chacabuco, bei dem ſich auch O'Higgins wieder auszeichnete. Bald
darauf ward der Generalcapitain Marco, ber jest an der Spiße ber
Spanier fland, bei Valparaiſo gefangen und die fpanifche : Armee
zerftreute fih. Ein zu St. Jago zufammengetretener Congreß bot
dem General San Martin die Würde eines Oberdirectors von Chile
an, der fie aber ausſchlug, morauf fie durch den tapfern. und patrio-
tiihen Don Bernardo O'Higgins mürbig befegt wurde. Nun marb
für immer mit Spanien gebrochen und am 1. San. 1818. die Uns .
abhängigkeit Chiled proclamirt. Aber nochmals drangen die Spanter
unter dem General Dforio vor, bis die Schlaht am Mappe, die
San Martin den 5. April 1818 gewann, ihrer Herrfhaft gänzlich
ein Ende machte. Nur wenig Pläse und die Inſel Chiloe ‚blieben
in ihren Händen. Die neue Republit, im Beſitze reicherer Gelbmits
tel, als ihre Schweftern, ſchwang fi) bald von Sicherheit zu Anſe⸗
hen auf. Bereits 1818 beſchloß man bie Errichtung einer kraͤftigen
Seemacht, zu deren Oberbefehl man den berühmten Korb Cochrane
berief. Diefer eroberte am 3. Febr. 1820 den letzten, noch von den
Epantern befegten Poften, die Feſtung Valdivia, blofirte Lima und
ward dem fpanifhen Handel furchtbar. Doch trat er 1822, über
manche Cabalen feiner zahlreichen Neider erbittert, in die Dienfte Don
Pedro's. An die Stelle des Director O'Higgins kam am 9. Mat
1823 der General Ramon Freire, der bie Einfälle der Araucaner
zurücties und im Januar 1826 auch Chilos den Spaniern. entrif.
Sein Nachfolger Encalada dankte bald wieder ab; er felbit kam wies
der an deſſen Stelle, ward aber durch Parteiraͤnke gleichfalls, zur
Abdankung bewogen, worauf am 29: Mat 1826 Don Pinto. erwählt
wurde, der auch bei einer neuerlihen Wahl 1828 bie Würde beibe⸗
hielt. Damals warb die Verfaffung vom 6. Anguft 1028 „begründet,
. 2 v*.
452 Chile.
welche die gefeßgebende Gewalt einem Congreß, die ausübende einem
Oberdirector vertraute. Sein Nachfolger ward O'Higgins, ber fich
feitbem erhalten und deſſen Verwaltung erfprießliche Refultate geliefert
bat. Sm Ganzen leidet das Land mehr an Schlaffheit und die In⸗
Differenz feiner Bewohner laͤßt den Intriguanten Spielraum. Zu,
größeren Stürmen iſt wenig Anlaß, weil ſich keine Unverträglichkeiten
finden. Daß weder Attfpanier, noch Meger zahleeih, die Indianer
auf ihr eignes Gebiet ‚verwiefen, überhaupt bie Karbeclaffen wenig
gemifcht find, ift, wie Pöppig ſehr einſichtsvoll gezeigt hat, der güns
ftigfte Umftand für das fo viel begünftigte Land. |
Don Induſtrie zeigen fih noch wenig Spuren; dagegen wird
der Handel fehr lebhaft betrieben. Den Hauptreihthum des Landes
begründen aber Viehzucht und Bergbau. Lesterer hat fi neuerdinge
wieber bedeutend gehoben. Der Ertrag ber Silbergruben, der auf
23,500 Mark gefunten war, belief ſich 1834 auf 164,968 Mark;
der des Goldbergbaues war feit 1830 von 410 auf 3840 geftiegen.
Auch der Handel ift im Steigen. 1832 waren in Valparaiſo 275,
1834 ſchon 394 Kauffahrteifchiffe eingelaufen. Ebenfo war bie Zahl
dee in freien Maarenhäufern gelagerten Collis von ausländifhen Guͤ⸗
tern von 18—20,000 auf 70— 80,000 gemadhfen. Damit hoben
ſich auch die Staatseinkuͤnfte. So trugen die Zölle, die 1825 — 29
‚nur durchſchnittlich 888,670 Dollars gebracht hatten, 1834 1,241,080
Dollars. Ueberhaupt maren die Staatseinkünfte feit 1831 tn fleter
Zunahme begriffen. Sie beliefen fit 1831 auf 1,517,537; 1832
auf 1,662,713; 1833 auf 1,770,340; 1834 auf 1,921,966; 1835
auf 2,175,000 Dollars. Die Ausgaben waren 1835 auf 1,840,209
Dollars veranfchlagt. .
Chile war zeither in acht Provinzen abgetheift: 1) Coguimbo,
der nördlichfte Theil, der fi bi8 zum Fluß Chuapa erftredt. Darin
die Städte Copiapo und Coquimbo (Ciudad de Serena); viele Kupfers
minen. 2) Acongagua bis zur Bergkette von Chacabuco. Hauptſtadt:
Ciudad de Felipe. Auch hier viele Kupfergruben. 3) Sant ago bis
zum Fluß Cachapoal, der Centralpunkt des Reichs, mit der Stadt
Sant Jago von 48,000 Einwohnern, dem 18 Meilen davon gelegenen,
. non lebhaften Handel bewegten Hafen Valparaifo und den zwei Juan
Sernandezinfeln, deren eine dee claffifche Ausgangspunkt der Robinfos
naden ift. 4) Colchagua bis zum Flug Maule. 5) Maule bis zum
Fluß Ruble. 6) Concepeion, dee fruchtbarfte Theil des Landes, aber
1835 durdy ein furchtbares Erdbeben vermwüftet. Die Hauptftadt glei⸗
ches Namens ift einer der aͤlteſten Plaͤtze Suͤdamerika's und bereite
41550. gegründet worden. 7) Baldivia, bie das Gebiet ber Arauca⸗
nen begrenzt. 8) Die Infel Chiloe.
Die Araucanen (3—400,000 Individuen) theilen ſich in vier
Fuͤrſtenthuͤmer (Uthal = mapu’6): Das Laugun-, Lelbun-, Mapir⸗
und PirtesMapu; jedes von einem Toqui regiert. Sie bilden unter
fih eine Conföderation, welche das gemeinfame Bunbesintereffe mit der
Chile. Cholera, 453
Selbſtſtaͤndigkeit der einzelnen Bundesglieder fehr gut zu verföhnen
weiß, und flehen jegt auch mit ber Republik Chile-in Buͤndniß.
Ueber die Geſchichte Chile's findet man gute Nachrichten in: Maria
Graham's: Journal of a Residence in Chili, during the year
1822; London, 1824. 8. Ueber die Natur in Poͤppig's bekann⸗
ter Reife, wo auch die bürgerlichen Verhältniffe mit Scharffinn bes
leuchtet find. 5. Bülau,
China, f. Sina
Cholera, die große toanderndbe Epibemie unferer Zeit, iſt
In doppelter Hinfiht von Wichtigkeit für die mediciniſche Polizek,
erftens indem es die Aufgabe der Staatsbehoͤrden ift, mo möglich die
‚füchhterlihe Seuche von dem Volke abzuhalten, und zweitens, weil bek
ber fchnellen Erkrankung fo vielee Individuen der Einzelne fi nicht
immer die nöthige Hülfe zu verfchaffen vermag und daher Maßregeln
von Seite der Gefammtheit zur Rettung der Einzelnen nothwendig
werben.
Die Schugmaßregeln gegen die Cholera, bie bisher in Anwen»
dung gebracht morben find, beftehen theils in Vorkehrungen gegen
Anftedung, theils in Maßregeln gegen verfchiedene andere vermeids
liche Urfachen der Krankheit. — Ueber bie Anftedungsfähigkeit ber
Cholera find bis jegt noch bie Meinungen ber Aerzte fo fehr getheilt,
daß Feine derfelben entfchieben die überwiegende gemorben ift und fich
daher die Staatsbehörden bei Annäherung der Epidemie immer in
ber peinlichen Lage befinden, bei biefem Streite der Meinungen ſich
für oder gegen die Maßregel der Sperre erklaͤren zu müflen, deren
Unterlaffung im Falle der Anftedungsfähigkeit ber Krankheit die Schuld
ber Zernichtung von taufend und taufend Leben trägt, und deren
Vollfuͤhrung im entgegengefegten Falle unmöglid) nusbringend ift und
der Nation unb der einzelnen Gemeinde durd) die Hemmung des Vers
kehrs und die großen Ausgaben tiefe Wunden fchlägt.
Verfuhen wir e6, bei uns felbft ein Urtheil über bie Urfachen
ber Epidemie feftzuftellen, fo müffen wir vorerft, wenn audy nur in -
ben Hauptzügen, bie Gefchichte der Verbreitung und das Bild ber
Seuche kennen lernen.
Aehnliche Krankheitszuftände, wie die gegenwärtig herrfchenbe Chos
Vera, kamen einzeln zu jeder Zeit vor, 3. DB. bei geroiffen Vergiftuns
gen, und es gab felbft fhon mehrere Epidemien derartiger Krankhel:
ten, die aber auf eine Beine Fläche Landes befchränft waren, tie
3. B. die Epidemie in England von 1669 und bie zu Madras in
den Jahren 1782 und 1783; im Jahre 1817 aber brach zu Jeſ⸗
fore in Dftindien eine Choleraepidemie aus, die, aͤhnlich mehrern
früheren großen wandernden Epidemien, namentlich der großen Peſtilenz
im fechften Jahrhundert, dem ſchwarzen Tod im 14ten Jahrhundert
und mehreren SInfluenzen, beinahe immer von Oſten nad Welten ge:
hend, ſich über den ganzen Erdboden hinzog. Nach dem erſten Er:
fcheinen der Krankheit in Jeſſore brach biefelbe zuerit in Calcutts un
454 | Eholera.
fodann nad) und nach In ganz Oſtindien und ben meiften Inſeln bes
Deeans, 1820 auch in China und 1821 in Perfien aus unb durch⸗
wanderte in den folgenden Jahren Arabien und Syrien; 1823 erfchien
fie an den Grenzen von Rußland und fhritt in den folgenden Jahren
in biefem Reiche langfam vorwärts bis 1830 und 1831, wo fie in
Moskau und in St. Petersburg herrfchte;s 1831 drang die Seuche in
Polen, Salizien und Ungarn ein, fie verbreitete fich in bemfelben Jahre
über das ‚öftliche und nördliche Deutfchland, wo fie namentlich Wien,
Berlin heimfuchte, fodann brach fie in England aus und erſchien im
Fruͤhjahre 1832 plöglih in der Mitte von Paris. In demfelben und
den folgenden Fahren befuchte bie Krankheit viele Städte von Frankreich
und gelangte nad den Niederlanden, nad) Spanien, Portugat unb
Amerila. Im Jahre 1835, nachdem die Seuche in Europa überall
erlofhen mar, zeigte fie fid) von Neuem in dem füdlichen Frankreich
und trat nun auch in bem bisher verfhonten Italien unb im noͤrdli⸗
hen Afrika auf. Gegenwärtig, im Mai 1836, herrfcht die Cholera _
noch in einigen Städten von Oberitalten und es zeigen ſich wiederum
Spuren berfelben in Wien.
Mas das Bild diefer epidemifchen Krankheit betrifft, fo erkennen
wir in den Drten, in melden die Cholera ausgebrochen ift, einen
ziemlich allgemeinen gaftrifhen Charakter der Krankheiten, und es tft
oft dee größere Theil ber Bevoͤlkerung, abgefehen von denen Individuen,
bei welchen die volllommene Cholera ſich eingeftellt hat, mit der einen
oder andern gaftrifhen Affection behaftet, wie 3. B. mit Durchfall,
Aufblähung des Leibes, Kolit, Magenweh, Aufſtoßen ıc. Viele Ders
fonen leiden an Zuftänden, bie nichts Anderes find, als gefteigerte
Krankheitszufälle der Art mit Hinzutritt.von Krampf in den Gliedern,
und die demnach unferer fporadifchen Cholera oder fogenannten Cholerine
gleich find ; auch zeigen ſich mehr Nervenfieber als gewöhnlich, die bekanntlich
eine große Beziehung zu dem gaftrifchen Syftem haben. Die fogenannte
Cholerine tritt in den verfchiedenen Graben der Heftigkeit auf und geht
durch die höhern Grade in die volllommene Cholera über. Wie in
dem Drte felbft, mo die Cholera ausgebrochen iſt, vor, während und
nad) diefer Krankheit verfchiedene gaftrifche Affectionen bemerkt werben,
fo zeige fi) oft in benachbarten Drten und Landfkrihen, in welchen
bie volllommene Cholera nicht erfchienen tft, der gleiche gaftrifche Cha⸗
rakter der Krankheiten und es kommen viele Fälle von Cholerine, fos
wie auch nicht felten von Mervenfiebern vor. Die volllommene Cho⸗
lera faͤrgt mit den angegebenen gaftrifchen Beſchwerden an, insbes
fondere mit heftigem Magenfchmerz, Kolit, Erbrechen und Durchfaͤllen,
mwodurd eine dem Reißwaſſer ähnliche Materie ausgeleert wird, und
es gefellen ſich, wie bei der Cholerine, fehmerzhafte Krämpfe in den
Gliedmaßen hinzu. Dabei wird die Zemperatur bed Körpers vermins
dert, der Athem kalt und bei einer völligen Marmorkälte ber Haut
erhält dieſe eine in's Violette gehende Farbe, in&befondere bilden ſich
. breite dunkle Ringe um bie Augen, bie Haut der Hände und Fuͤße
Cholera. 455
wird zumeilen runzlich, wie bei einer Waͤſcherin, einzelne Hautſtellen
werden felbft zumeilen branbig, der Körper wird pulslos und es fließt
aus ber geöffneten Arterie kein Blut mehr aus; die Kranken koͤnnen
in biefem Zuftande nur noch die Hände und Füße regen, ihr Rumpf
iſt unbeweglich wie ein Stud Holz, fie finten nun in einen bes
mußtlofen Zuftand, ihre Augen find, wie bet den Gichtern ber Kin
der, nad) oben gedreht, die Athemzüge gefhehen in einem langen
Zwiſchenraum, und fo erlifcht das Leben. Zum ode führt die Krank⸗
beit oft ſchon nah 2—3 Stunden, meiftens im Verlauf von 1—
4 Zagen, nad einigen Erzählungen zumeilen faft augenblidlidy, rote
wenn der Kranke vom Blig getroffen wäre, oft aber erſt nach Wo⸗
hen duch den Webergang in dad Mervenfieber (das Choleratyphoid).
Der Uebergang in Gefundheit gefchieht oft eben fo fehnell in einem
oder wenigen Zagen, oft aber erft durch ein länger bauerndes Mes
actionsftadium.
Unterfuhen wir nunmehr, ob wir in ber Geſchichte der Verbrei⸗
tung der Krankheit und in dem Bilde ber einzelnen Epidemie bes
fimmte für oder gegen bie Anftedungsfähigkeit der Cholera ſprechende
Thatſachen finden, fo bringt fich bei der Betrachtung der Wanderung
der Epidemie von einem Lande zum andern ber Gedanke auf, bie
Krankyeit fei anftedend, und mir werden in dieſer Anficht beftärkt,
wenn wir berichten hören, die Krankheit fei in Oftindien vorzüglich
dem Marſche der Zruppen gefolgt, nad den Inſeln fei fie duch
Schiffe gebracht worden und durch Arabien habe fie den Weg auf den
Garavanenftraßen genommen. Doch gibt es auch, was die Verbrei⸗
tung ber Krankheit betrifft, einige Umftände, die uns in ' biefem
Glauben wankend machen, das ift die Unzulänglichkeit felbft ber bes
ſten Quarantainen, 3. B. dee von Preußen und Defterreich, der häufig
vordommende Fall unverlegter Gefundheit bevölkerter Städte und gans
zer Landflrihe, die in ununterbrochenem Verkehr mit den von ber
Epidemie ergriffenen Orten flanden, die verhältnißmäßig geringe Zahl
von Krankheitsfällen unter ben Aerzten und den Krankenwaͤrtern, ber
zumeilen vorgeflommene plöglihe Ausbruch bee Krankheit in entfernten
Drten, mehrere Fälle, in welchen die Krankheit auf Schiffen ausges
brohen fein foll, die mit dem Lande, in welchem die Krankheit
berifchte, noch in keine Beruͤhrung kamen, und endlich die Beguͤnſti⸗
gung der Entftehung der Krankheit durch Erceffe in der Diät, durch
Verkaͤltungen, große Gemüthsbewegungen ꝛc., welche bie Krankheit oft
unmittelbar zum Ausbruch bringenden Veranlaſſungen keineswegs bei
der Entftehung der Blattern, bes Scharlachfiebers und anderer contas
gioͤſer Krankheiten mitwirken. Unter den Erfcheinungen, die das Bild
ber Epidemie barbietet, fcheint zur Beurtheilung der Frage über Die
Fortpflanzung ber Cholera die michtigfte zu fein, daß beim Ausbrud)
der Cholera fi ein allgemein verbreitetee gaftrifcher Charakter der
Krankheiten zeigt. Von diefer epidemifchen Krankheitsconftitution, bie
ſich oft gleichzeitig mit dem Erfcheinen der Cholera felbft in Gegenden
456 : u . Cholera.
zeigt, in welchen bie gaſtriſchen Zufaͤlle ſich nicht bis zur vollkomme⸗
nen Cholera gefteigert haben, Tann unmöglih eine Anftedung bie
. Schuld tragen; fie liefert daher den Beweis, daß jedenfalls außer dem
. Contagium eine andere allgemeiner wirkende Urſache zur Entftehung
der epidemifchen Cholera beitrage. Ebenfo wie das Bild ber Epibemie
fpricht das des einzelnen Krankheitsfalles nicht fehr für bie Anſteckungs⸗
fühigkeit ber Cholera. Es fehlen nämlich die ben eigentlich contagids
. fen Krankheiten zulommenden Eigenthümlichleiten, nämlidy die Ente
wicklung und. die Beendigung der Krankheit in beflimmten Zeiträumen
und nad einer beflimmten Dauer, und insbefonbere die eigenartigen
Ausfchläge und Ausfcheidungen auf der Oberfläche des Körpers, wo⸗
buch die Anftedung gewoͤhnlich gefchieht, indem vorzüglih in den
höhern Graden ber Cholera Bein Lebensproceß mehr in den peripheris
fhen Theilen vor ſich geht und Telbft der Athem Palt iſt. Die duch
Erbrechen und die Durchfaͤlle ausgeleerten Stoffe Eönnen aber body
wohl nicht als die Urfache einer fo weit verbreiteten. und alle Qua⸗
tantainen ducchbrechenden Epidemie angefehen werden, ba fie in der
Pegel doch nur vorübergehende Erfcheinungen find, fchnell entfernt zu
werden pflegen und meiftens doch nur auf bie mit der Wartung bes
Kranken befchäftigten Individuen eine Wirkung dußern koͤnnen.
' Nach diefen Betrachtungen innen wir kaum mehr annehmen,
dag die Cholera zur Krankheitsfamilie der eigentlich contagisfen Kranks
heiten, wie 3. B. die Blattern und die Peft find, gehöre, melde eis .
genthümliche Stoffe erzeugen, bie, in der kleinſten Quantität in einem
- fremden Körper gebracht, fich reprobuciren und überall haften und
fetbft noch bei bem Meconvalescenten in der Ausbünftung wirken;
jedenfalls Eönnen wir aber die Haupturfache der großen Cholera s Epis
demie nicht in einem Contagium fuer, wenn auch. ein foldyes eris
ſtiren ſollte, fondern müfjen eine allgemein verbreitete Urfache ans
nchmen. Zu derfelben Annahme einer allgemeinere wirkenden Urfache
find wir auch bei den großen Influenzen (katarrhaliſchen Epidemien),
die von Aſien aus ſchon mehrere Mat über ben Erdboden hinzogen,
genöthigt, indem wir, wenn wir gleich eine gewiſſe Anftedungsfähig»
keit dem Schnupfen und Katarche zufchreiben, doch jene großen wans
dernden Seuchen unmöglih auf Rechnung einer von Sibirien aus ges
fhehenden Fortpflanzung jener Eatarchalifhen Affection von Mund zu
Mund fesen können, indem es in jedem Beinen Dertchen ſtets einzelne
Fälle von Schnupfen und Katarıh gibt, ohne daß Hieraus folche Epi⸗
demien ſich entwidelten. Wir müflen es geſtehen, die Urſachen jener
großen mandernden Epidemie find und noch gänzlich unbelannt; body
liegt die Vorſtellung nit fo fehr fern, daß folhen Epidemien eine
fehlerhafte Befchaffenheit in der Luft, welche von Schichte zu Schichte
weiter gehe, zu Grunde liege, ſowie die, daß Veränderungen in ber
Erde ſelbſt, die ſich in gewiſſen Richtungen fortpflanzen, Volkskrank⸗
heiten hervorbringeg koͤnnen. Muͤſſen nicht manche Veränderungen
auf der Erdoberfläche, z. B. der heute auffteigende Nebel und der
Cholera. Chriftenthum, 457
morgen flattfindendbe Sonnenſchein und bie oft fehnell mwechfelnde Kälte
und Wärme, wenigftens in vielen Källen von Vorgängen in der Erbe
ſelbſt abhängen, und Eönnen wir nicht annehmen, da wir felbft Theile
der Erde find, daß unfere Lebenskräfte wenigftens theilweife in. Abhän-
gigkeit von den in dem Erdförper wirkenden Kräften ftehen ? |
Da nun die Anftedungsfihigteit der Cholera fehr zweifelhaft ift
und jedenfalls noch eine andere Urſache außer der Anftedung zur gros
Ben Choleraepidemie, bie in den lebten Jahren um die Erde 309,
Veranlaſſung gab, und da auch bie frengften Sperrmaßregeln, felbit
bie von Defterreich, das andauernd Europa vor der Peſt bewahrt, bis⸗
her nutzlos fich zeigten, fo möchte wohl Feiner Regierung ein Vorwurf
‚gemacht werden koͤnnen, welche bie Quarantaine nicht mehr gegen bie
Cholera in Anwendung bringt. Um die Choleraepidemie von einem
Lande abzuhalten, befigen wir in der That Fein einziges Mittel, doch
vermögen fich viele Einzelne durd) Vermeidung derjenigen Schäblichkei-
ten, die zum Ausbruch der Krankheit oft die naͤchſte Veranlaſſung
geben, zu fchüßen, und die Gefammtheit, oder die Behörden Eönnen
daher allerdings zur Beſchraͤnkung der Epidemie beitragen, indem fie
die Einzelnen, infofern fie ſich nicht felbft den gehörigen Schug gegen
jene Schaͤdlichkeiten zu geben vermögen, unterftügen. Zu biefem Zwecke
ift beim Ausbruch der Cholera eine befonderd genaue Aufficht über
den Verkauf ber Nahrungsmittel nothwendig, namentlich der Frucht,
die kein Mutterkorn und eine fremdartigen Saamen enthalten foll,
und der Erdaͤpfel, welche weder unreif, noch verborben fein dürfen;
ferner die Herbeifhaffung von den nothwendigen Nahrungsmitteln, fo
‚wie von Brennholz und Kleidungsftüden für bie Armen, Sorge für
die Reinigung folcher Kocalitäten, die ſchaͤdliche Dünfte verbreiten ꝛc.
Die Maßregeln, welche die Gefammtheit zur Rettung hülflofer
.Einzelner beim Ausbruch der Cholera zu ergreifen verpflichtet ift, beſte⸗
hen vorzüglih in Kolgendem: in Errichtung von Cholerahofpitdiern
in geößern Orten und in Beſtimmung von Heinern Localitäten in ben
£leinern Orten, in welchen einzelne verlafjene Kranke: Zuflucht finden
tönnen, in Sorge für Verpflegung armer Kranken in ihren Wohnuns
gen, wozu Bereine fehr zweckmaͤßig find, in Aufftelung einer anges
mefjenen Anzahl Krankenwaͤrter, in Berufung der nöthigen Zahl Aerzte,
von denen immer einer oder mehrere an einem beftimmten Orte Wache
halten müffen, damit der Kranke ſchnell genug Ärztliche Hülfe finde,
in Unterrihtung des Volks von dem, was bis zur Ankunft eines
Arztes gegen die Krankheit unternommen werben kann, und in Vertheis
fung der nothwendigen Arzneimittel in bie einzelnen Drtfchaften und
überhaupt in fürforglicher Herbeifhaffung alles defien, was zur Hei⸗
lung ber Krankheit nothwendig iſt. Baumgärtner,
Chouantöd, f. franzöfifhe Revolution.
Chriftenthum, chriftlihde Religion und Moral in
ihrem VBerhältnig zur politifhen Eultur oder zum
Recht und zum Staat. 1 Nothwendigkeit biefer Un-
458 Chriſtenthum. |
terfuhung und ein Blid auf das bisherige Verhältnißg
zwifhen Religion und Politik, Diefer Artikel beabfichtigt na⸗
türlih nicht, durch eine biftorifche oder theologifhe Darftelung der .
chriſtlichen Religion, oder durch eine Würdigung berfelben, über das
Gebiet de8 Staats⸗Lexikons hinauszufchreiten. "Vielmehr müßten
gerabe hier bie Größe, der Umfang und bie Exrhabenheit des Gegen»
ftandes, die Unmöglichkeit, ihm durch eine kurze, unvolllommene Dars
flelung würdig entfprechen zu Binnen, doppelt von jeder Grenzübers
fhreitung abmahnen. Noch weniger find wir geneigt, bie felbftflän«
dige Geſtaltung und Begrenzung unferes weltlichen Rechts und unferer
Staatswiffenfhaft, biefe wefentlihe Grundbedingung der
Freiheit und des Kriedens (f. oben Th. I. ©. IX. und 13 ff.)
dieſe Schugmwehr zugleich für die Würde und fegensriche. Wirkfamkeit
ber Religion und Theologie, in einer fehlerhaften Vermiſchung beider
Gebiete aufzugeben. Vielmehr wird es einer der Hauptgeſichtspunkte
ber folgenden Darftellung fein, diefe "Selbftftändigkeit und feſte Grenz»
beftimmung. der Hauptgebiete der höheren menſchlichen Verhältniffe und
ber Wiffenfchaften vor denfelben deutlich hervorzuheben und feftzuhalten.
Diefes aber verhindert uns nicht, den unermeßlichen Einfluß, wels
hen auf unfere politifchen Theorien und Gefege das Chriftenthum,. fos
wie auf bie kirchlichen DVerhältniffe hinwiederum die politifhen Einridys
tungen, wenn aud zum Theil nicht auf bie rechte Weife, dody wirk⸗
lich hiftorifcd) gewonnen haben, noch auch die für die Zukunft unver
meidliche und heilfame wechfelfeitige Einwirkung beider auf einander
anzuerkennen. Diefer doppelte biftorifche und praftifche große
Einfluß aber macht eine richtige Auffaffung des wahren Verhaͤltniſſes
bes Chriſtenthums zum weltlichen Necht unentbehrlid).
1) In gefchichtliher Hinficht ift es befannt, daß ein großer, wich⸗
tiger Haupttheil des gemeinen Rechts von Europa und Deutfdyland,
das Kirchenrecht, feine Quellen faft ganz in chrifllihen und kirch⸗
lichen Beſtimmungen hat, ja, daß fogar die eine der drei großen Haupt:
quellen, bed ganzen gemeinen, Öffentlihen und Privats
rechts, in dem von ben geiftlichen Behörden ausgegangenen Can os
nifhen Rechtsbuch befteht. Und doch ift Beides faft mehr nur
ein augenfälliges Zeichen für die Wirklichkeit jener Jahrtauſende alten -
großen Wechſelwirkung zwiſchen dem Chriftenthume und dem weltlichen
Recht, als daß es diefen hiftorifehen Einflug audy nur dem größten
Theile nad) bezeichnete. Mittelbar müflen ſtets die Grundfäge ber
Religion und der religiöfen Moral, als die ihrer Natur nad) höchften
Sefege und Zielpuntte der Beſtrebungen der Menfhen, auch auf ihre
politifhen Zhätigleiten und Einrichtungen den wefentlihften Einfluß
gewinnen. Dazu aber kommt noch, daß man länger als ein ganzes
Sahrtaufend hindurch in allen europäifchen Staaten chriflliche und Firch-
liche Grundfäge und Vorſchriften auch ald unmittelbar gültige
Geſetze für das weltliche Rechtsverhaͤltniß betrachtete. Nicht bios die
Päpfte und Biſchoͤfe, foweit fie unmittelbare Gewalt, Gefeggebung und
Chriſtenthum. | 459
Michteramt auch In meltlihen Dingen ausübten, fondern aud die
Megierungen und Völker fahen fie al8 Hauptquelle in privats und
ſtaats⸗ und völterrechtlichen Angelegenheiten an. In zweifacher Hins
fiht alfo bilden cheiftliche und kirchliche Ideen und Grundfäge einen
Mittelpunkt für das ganze hiftorifchsbeftehende Staats: und
Rechtsverhaͤltniß und für unfere Rechtsanfihten. Einzelne wichtige
Mechtsinftitute aber wurden faft allein nach chriftlihen Beftimmungen
geftaltet. Die chriftlichen Grundfäge 3.3. über die hohe Wuͤrde und
das brüderlihe Verhaͤltniß aller Dienfchen, über die gleiche Würde ins⸗
befondere auch ber Frauen und des ehelihen Verhaͤltniſſes zerftärten
die Sklaverei und Leibeigenfchaft, die Mefte ber Polygamie und des
erlaubten Concubinate, alfo die meitgreifendften Grundlagen des gans
zen völkerrechtlichen und bes politifchen Geſellſchaftsverhaͤltniſſes der
heidnifchen Staaten und begründeten unfere chriftlihen Standes»,
Ehe⸗, Eltern», Vormundſchafts⸗ und Erbrechte. Anerkannt. aber Iafs
fen fi) nun bie hiftorifchen oder pofitiven Rechtsverhaͤltniſſe
gar nicht richtig verftehen, auslegen und anmenden, ohne ihre uts
fprünglihen Grundideen und Zwecke richtig zu ergründen (f. oben
Auslegung). Und wie viele unferer naturrechtlihen Meinungen
fogar find auch oft felbft unbewußt — vermittelft unferer Erziehung
in einer chriftlihen Welt — nur aus chriftlihen Grundideen entfprofs
fen. Bollends die Wolksanfihten, das aus bem Volke hervorgehende
Gewohnheitsrecht, fein Antheil an der äffentlihen Meinung, ſtammt
größtentheild aus den chriftlihen und chriftlich = ficchlichen Anfichten.
Auch bei den Mechtsanfichten aber müffen wir auf die wahren Quels
len zurüdgehen, wenn mir fie richtig auffallen und behandeln wollen.
2) Noch wichtiger aber wird eine richtige Auffaffung des Chris
ſtenthums in feinem Verhaͤltniß zu dem Staat in unmittelbar
prattifcher Beziehung, ober für die Gefeßgebung und die allgemeine
politifche Bildung und zur Beantwortung der Tragen: welche Guͤltig⸗
keit follen in Zukunft chriftlihe Grundfäge im Staate haben und in
welchem Verhaͤltniß follen überhaupt die Staaten und die Beftrebungen
chriftlicher Völker und Bürger zum richtig verftandenen Chriftenthum,
zar chriftlihen Moral und Kirche ftehen ?
Jene richtige Auffaffung ift hier unentbehrlih fuͤr's Erfte fchon
um die hoͤchſt gefährlichen unrichtigen politifchen Grundfäge und Sys
fteme, welche man zu allen Zeiten aus unrichtigen Auffaffungen biefes
Verhaͤltniſſes ableitete, und welche ber Welt fchon fo viel Blut und fo
viele Thränen koſteten, vermeiden und gründlich befämpfen zu können.
Megen des Mangels diefer richtigen Auffaffung haben bisher allzuhäus
fig die zu Tage kommenden unglüdlihen Folgen ber einen Verirrung
nur den entgegengefegten Irrthum hervorgerufen. &o namentlich die
Geringfhägung und Unterdrüdung des Staats von Selten ber Kirche
eine Geringfchägung und Unterdruͤckung ber Kirche von Seiten des
Staats. |
Sahrhunderte hindurch haben alle chriftliche Nationen ſich durch
460 Chriſtenthum.
jene falſche Theorie beherrſchen laſſen, daß die chriſtlichen Gebote auch
ihre unmittetbar gültigen weltlichen Geſetze ſeien. Daran knuͤpften
alsdann einerſeits Schwaͤrmer, ſchwaͤrmeriſche Secten und einſeitige
Theologen in fruͤheren und ſpaͤteren Zeiten den Gedanken, den eigent⸗
lichen Staat und feine wuͤrdige Geftaltung — als etwas Weltliches —
ganz gering ſchaͤtzen, ober gar in einſiedleriſchem Leben ihn ganz ents
behren zu dürfen. Diefe Verirrungen widerſprechen indeß zu offenbar
dem prattifhen Sinne und Bebürfnig der Menfchen, um ſich in gros
Ger Allgemeinheit behaupten zu koͤnnen. Auf gefährlihere Weife
knuͤpfte man an die falfche Grundanficht bie andere irrige Behauptung
" an, daß der geiftlihen Gewalt eine unfehlbare oder hoͤchſte Ausles
gung und oberfte Handhabung aller Gefege, eine Strafs und Abfegunges
Gewalt felbft über die Könige zuftehe. Und die Hierarchie, die Geifts
lichkeit und das Moͤnchthum beherrfchten die Welt, vernichteten großens
theils die Freiheit, die Aufklärung und die höhere Cultur. Was bie
Meformationen und blutige Mevolutionen bei vielen Völkern zerftör-
ten, das wußten ber Sefuitismus und mit ihm verbündtte ariftofratis
fhe und Höflinge = Regierungen in den verfchiebenften Formen bald
vorübergehend, wie unter ben Stuarts, bald dauernd wiederherzus
ftelen. Selbſt Proteftanten, die Puritaner und Cromwell, ja zum
Theil fhon Calvin verfielen in denſelben Irrthum. Nach immer
tieferem Verfall fehen wir fogar noch jegt in langen blutigen Bürgers
kriegen Spanier und Portugiefen gegen biefen zum Xheil noch vom
Volke feftgehaltenen verderblihen Wahn kämpfen. Sa, in bem großen
Meinungslampfe unferer Tage haben — um von bem neueften un
glüdiihen berliner Antistamennais gar nicht einmal zu vedem _
— eine Reihe von Schriftftelleen, Maiftre und Bonald und. Hals
ler, Fr. Schlegel, Adam Müller und Goͤrres und ihre uls
traropaliftifchen, legitimiftifhen und jefuitifchen Parteien, Klofterfreunde,
Myſtiker und Muder aller Art auch in Frankreich und Deutfchlandb
diefe, die Throne und die bürgerliche Freiheit wie die wahre Religiofis
tät zugleich untergrabende, falfche Grundanſicht verbreitet und vielfas
ches Unheil begründet.
Auf eine nicht minder verberbliche Weife ergriffen, veranlaßt burca
die traurigen Folgen ber erfien Verirrung, ſehr Viele die entgegenges
festen falfhen Richtungen und Theorien, die des Machiavellie⸗
mus und Materialismug, bed Mehanismus und des
weltlihen Defpotismus, die Theorien von Voltaire und den
Encyklopädiften, der Slluminaten und Sacobiner und
mancher deutſchen Polititer und Naturrechtslehrer. Auch die höheren
Stände, die Regierungen, zum Theil felbft fo große, wie bie von
Friedrich IL, und die Völker wurben auf biefen Abweg geführt.
Die chriftiihe Religion und Kirche wurden mit Haß und Spott ver
folgt und untergraben. Sie wurden für die durdy Zwang, Gelb und
Lift zu vegierende Staatsordnung als überflüffig oder verderblich ers
Bärt, ja in Frankreich im revolutionaiten Schwindel förmlich abges
Chriſtenthum. 461
ſchafft. Sogar ſo ausgezeichnete deutſche Rechtslehrer, wie Herr von
Almendingen, mochten laut ausrufen: „Moͤgen die Buͤrger Staat,
„Regierung und Geſetze haſſen, wenn ſie ſie nur fuͤrchten!“ Selbſt
von der philoſophiſchen Moral ſtrebte man das Recht ſo gaͤnzlich loszu⸗
reißen, daß zuletzt Feuerbach in der vollendeten Folgerichtigkeit ſol⸗
chen Beſtrebens zwei Vernunften, oder noch eine juriſtiſche neben
der moraliſchen, erfinden zu muͤſſen glaubte. Fuͤr dieſelben, in dem⸗
ſelben Raum unter einander lebenden Menſchen, für ihre überall in
einander greifenden freien Xhätigkeiten follten Staat und Kirche, Res
ligton, Moral und Recht gänzlicdy getrennte Welten bilden, die man
nicht meit genug auseinanberreißen zu koͤnnen glaubte. Und fo wie in
Srankreic dem Materialismus und der trennenden, ja ſentgegenſetzenden
Abftraction Philofophie und Atheismus gleihbebeutende Begriffe gemors -
den waren, fo erfchienen auch bei une nur foldhe Theorien als die wahre
Furisprudenz und Politik, die von Gott und Chriftenthum und Moral
gar nichts mußten. Doc, praftifchere Einfihten und Bebürfniffe, wel⸗
he die wirkliche Eriftenz und große Einwirkung der Kirche und bie
Nothwendigkeit, auch für den Staat auf die Gefinnungen ber Menfchen
einzumirden, nicht verfannten, fuchten, ftatt jener bloßen Geringfhägung
und Trennung, die Kirche weltlichen Geſichtspunkten und Intereſſen
bienftbar zu mahen. Sie erklärten fie fo, mie felbft der berühmte
Hugo, geradezu als bloße Staatsanftalt.. Nur zw bald aber
wurde es Mar, daß auf folhen Wegen weber die Throne noch die Freis
heit Kraft und Seftigkeit gewinnen konnten, dag die bürgerliche Ordnung
zuoleidy mit ber moralifchen immer mehr aufgelöft wurde. Wie viel
wuͤrdiger und tüchtiger, mie viel freier und zugleich geordneter und Träf«
tiger behaupten und erfämpfen doch noch jetzt, trotz großer Hinderniſſe,
die britifchen Freiheitäfreunde für fid) und die Welt die Freiheit, ale
— fo meit fie von jener Verirrung noch beherrfcht erfcheinen — in uns
gleich günftigerer Lage bie Franzoſen. Ä
Zahlreicher noch, ale in Beziehung auf das allgemeine Verhältniß
ber religiöfen und weltlichen Gefege und Gemwalten, find die verderblidyen
Miderfprüche und Irrthuͤmer in Beziehung .auf den Inhalt und die
Wirkung der chriftlihen Moralgrundſaͤtze ruͤckſichtlich der gefellfhaftlichen
Berhältniffe und der Freiheit. Ä
Hier jene deſpotiſchen, ultraropaliftifchen oder ariftokratifchen, von
StLmer, Wandal und Maagius, von Maiſtre und Haller,
Sriedrih Schlegel, Adam Müller und Bonald, welche uns
mittelbar aus chriftlichen Worfchriften den dußerften Abfolutismus und
Sewilismus ableiten und zum Theil die von den europäifhen Fürften
in der heiligen Alliance feierlich anerkannte (wie es fcheint uns
mittelbare) politifhe Gültigkeit chriſtlicher Grundfäge in dieſem
Sinne zu deuten wagen. Meben ihnen, wenigftens hiſtoriſch fie unters
flügend, Helvetius, Voltaire und Rouffeau, Gibbon und
Shaftesbury, welche dem Irrthum huldigen, das Chriſtenthum bes
günftige Gleichguͤltigkelt gegen die Sreiheit, die Enechtifche Unterwerfung
Anterſuchungen entſprechend.
462 | Chriſtenthum.
und Duldung und Theorien, wie bie von Hugo, welche Chriſtus ſogar
als den Vertheidiger dee Sklaverei darftellen.
Dort dagegen jene ganz entgegengefegten Theorien vieler ber ers
flen Chriftengemeinden, ber neueren Brübdergemeinden,, ber Puritaner,
der. Bauen und insbefondere der Wiedertaͤufer in dem beutfchen
Banernkriege, die Theorien des berühmten britifchen Milton, ferner
die des fpanifhen Sefuiten Mariana und bie des feurigen, berebten,
franzoͤſiſchen AbbE De La Mennais, welche ebenfalls unmittelbar
aus chriftlichen Vorſchriften die Nothwendigkeit demokratifcher Gteichheit
und Freiheit, zum Theil felbft dee Gütergemeinfhaft und des Mevolus
tionsrehts, ja, wie Mariana und andere Sefuiten, fogar ein Recht
zum Meuchelmorb gegen wirklih ober vermeintlich tyrannifche Fürften
ableiten. Neben ihnen fo viele gemäßigtere Männer, melde, wie
Fenélon, Maffillon, Maupertuis, Montesquieu, wie
Tyge Rothe, Sergufon, Robertfon und Llorente, wie Joh.
v. Müller und Dahlmann, und mie unfer ehrwuͤrdiger Rein;
hard *) die Dermerflichkeit alles Defpotismus und mahre gefegliche
Freiheit aus bem Chriftenthum entwideln und auch die Zerftörung von
Sklaverei und Leibeigenfchaft und. die Kortfchritte in ber Freiheit hiſto⸗
riſch als die Wirkung des Chriftenthums barftellen. -
Bon fo manchen Abweichungen in einzelnen Punkten, 3. B. von
denen jener Secten, ‚welche das Ablegen eines Eides oder die Theil⸗
nahme am Kriegsdienſt als unmittelbar chriftlich verboten erflären,
tönnen wie fchweigen. Schon das Angedeutete genügt zur Begruͤn⸗
dung bee Ueberzeugung von der unermeßlichen : Wirkfamkeit falfcher
Anfihten Über unfern Gegenftand. Es wird alfo auch genügen, um
jeden denkenden Freund des Vaterlandes, jeden Feind von Knechtfchaft
und Anarchie zu überzeugen, daß ee zur möglichften Verbreitung und
Befeftigung des Guten, zur wirkfamen Bekämpfung bes Verberblichen
zum Xheile feine Waffen aus einer richtigen Anficht von den wahren
chriſtlichen Grundfägen in Beziehung auf die Staatsverhältniffe ent⸗
nehmen muß. Hätte er fetbft auch zum Voraus. die chriftliche Religion
ober doc, wenigftens jede Anwendung berfelben auf das flaatsgefellfchafts
*) Boffuet bekanntlich vorzüglich in feiner Schrift: Die Politik ges»
ſchöͤpft aus den Worten ber heiligen Schrift; Ioh. vo. Müller
im Kürftenbund Gap. 7.5 Dahlmann, ihm beiftimmend, in den Kies
ler Beiträgen Bb. 1. ©. 873,35 Llorente mit Beweisfuͤhrung, vorzüglich
auch aus den Kirchenvätern in feinem Discours sur une constitution religieuse,
Paris 1809; Reinhard in feinem Hanbbud der Moral Bd. IV. unter bie
berühmten Theologen, welche, die gleiche Grundanficht vertheibigen, gehört vor
Allen aud) der ehrwuͤrdige Paulus. Gr erklärte auch bie in biefem Artikel
vorgetragenen Grundanfichten, welche ich vor Jahren in meinen Abhandl.
fürs dffentl. Recht, Stuttgart 1823. ©. 319 u. 391 kurz bargeftellt
batte, in feiner Recenfion der genannten Schrift in feinen Rechtserfor⸗
fyungen Heft I. zu meiner. Breube als ben Refultaten feiner vieljährigen
Chriftenthum. - | 463
liche Leben verworfen, fo kann er fich doch darüber nicht täufchen, daß
für eine große Zahl der Regierenden und ber Reglerten bie chriſtlichen
Religionsgrunbfäge eine höhere Autorität und größere Wirkſamkelt bes
haupten, als philofophifche Naturrechtss ober politifhe Theorien. Man
wird alfo nur durch Berichtigung jener religiöfen Meinungen ihre für
das Stantsleben verderblichen irrigen Anfichten wirkſam bekämpfen und
deren Verbreitung verhindern können. Auch. die Frommen aber mögen
Doch ja nicht vermeinen, ohne gruͤndliches parteilofes Eingehen in bie
ganzen hierher gehörigen Grunbfäge, buch ein fchnelles Verwerfen
und Verdammen ihre etwaigen guten Zwede, 3. B. bie der Verthei⸗
bigung der gefeglihen Ordnung und ber fürftlichen Regierung gegen
bie Angriffe eines De. La Mennais zu erreihen. Sie muͤſſen ja
doch nicht blos ben Tängft auf ihrer Seite flehenden, bereits Ueberzeug⸗
ten gefallen wollen, fondern vor Allem auf. die Zweifelnden und Ges
genüberftehenden zu wirken fuchen. Nun ift es freilid) wahr, La Mens
nais gibt, fehe mit Unrecht, für die Freiheit und ihre Vertheidigung
gegen befpotifche und ariftokratifche Anmaßung eine folhe Darftellung
bes Chriftenthums, daß man in ihe von dem chriftlichen Pflichten ber
liebevollen Duldung und Entfagung der Nachgiebigkeit, ber Liebe bes
Friedens und der gefeglichen Ordnung, die doch ebenfalls in den heilis
gen Schriften zu finden find, wenig merkt. Aber wie oft hörte ich
und las ich fromme Predigten, die — fo wie vollends die polttifche
Meligion bes Hrn. v. Haller — in ihrer Vertheidigung der Obrigs
keit und der gefeglihen Ordnung biefelbe und noch größere Einfeitigkeit
fich erlaubten, die Alles, was auch nur fcheinbar oder durch Mißdeutung ges
gen Freiheitsbeftrebungen gu fprechen fchien, zufammenftellten und dage⸗
gen Alles, was für die Freiheit in der Schrift enthalten iſt, unterfchlugen,
welche bei ihren heftigen Angriffen gegen Sreiheitsbeflrebungen, die von
Luther fo dringend empfohlene Cenſur der Mipbräude
der Gewalt fehr weltklug gänzlich unterliegen, welche aber aud) durch
ihre Parteireden von den einfeitigen Freiheitöfreunden keinen einzigen
je auf beffere Wege ‚brachten, fondern deren empörtes Freiheit und
Gerechtigkeitsgefühl nur nody mehr aufreizten, ja fie oft zu berfelben
Beratung der Religion und Geiſtlichkeit flimmten, die Voltaire,
durch ähnliche Verkehrtheit mißleitet, leider nur allzu erfolgreich in ber
Welt zu verbreiten ſuchte! Wie oft: hörte ich fogar eine vornehme
Verachtung gegen. angebliche Einmiſchung des Chriftenthums in bie
Politik oder der Politit in das Chriftenthum gerade in benfelben
Meden, welche fich nicht entblöbeten, unmittelbar auf eine einzige aus
dem Zuſammenhang geriffene Stelle, wie .bie bekannte bes Römerbries
fes, ein ganzes Syſtem des Abfolutismus und Servilismus zu erbauen |
Bei folhen DVertheidigungen der Megierungen koͤnnten felbft diefe das
befannte: „bewahre uns dor unfern Freunden !” ausrufen. Glaubt
man wirklich, auf ſolche Weife und mit Gesingfchägung einfeitige, viel
leicht verderblihe Wirkungen einer. Schrift, wie jene Worte eines
Glaͤubigen, befeitigen zu innen? Einer Schrift, bie neben ihren
464 Chriſtenthum.
Fehlern das, was das Chriſtenthum fuͤr die Freiheit und das Streben
nach ihr enthaͤlt, ſo wunderbar ergreifend darſtellt, daß ſie in kurzer
Zeit in mehr als einer Million von Exemplaren, neuen Auflagen, Nach⸗
druͤcken ynb Weberfegungen ſich in den Händen aller Nationen befand?
Mer dus Beſtreitbare in diefer Schrift wirkſam bekämpfen wollte, ber‘
hätte vorzuͤglich auch die ihren Verfaſſer mit Begeifterung ergreifende
SHauptidee beachten und prüfen müflen. Er wollte — benn er ifl
überall vorzugsweiſe begeiftert für die Religion — nad feinen eigs
nen Worten ben gerade durch bie Mißbraͤuche der Geiftlichkeit, durch
die Genoſſenſchaft derſelben mit dem meltlihen Defpotismus entftandes
nen, unter der Reftauration erneuerten wahren Widerwillen fo vieler
Freunde ber Freiheit, der Aufklärung und Wiſſenſchaft gegen bie chrijts
liche Neligion und die Kirche wieder austilgen. Er wollte das Chris
ſtenthum durch, ‚den Beweis feines ber Freiheit güinftigen Inhaltes mit
diefer, jest unwiderruflich die Menſchen beherrfchenden Idee verföhnen,
um auf diefem Mege feinem veredeinden Einfluß das zum Xheil entars,
ıete Geſchlecht wiederzuguführen. So hoffte er bie. früheren Vers
Eehrtheiten zu befeitigen und bag zerriffene heilige Band zwifchen Ord⸗
nung und Fortfchritt, Religion und Sreiheit, Glauben und Wiſſen
wieder herzuftellen *). .
Doch eine Elare Einfiht der chriftlichen Grundfäge in ihrem Ders
haͤltniß zum Staate ift für’& Zweite den hriftlihen Nationen und
Bürgern praktiſch nothwendig ald wichtige Grundlage für ihre eige-
nen politifhen Theorien, für die Harmonie Ihrer Anfichten und Bes
ſtrebungen zur Löfung jedes verderblichen und quälenden Zwieſpalts zwi⸗
ſchen ihren religiöfen und bürgerlichen Pflichten. Höheres und. Heili⸗
geres als ihre religisfen Moratpflichten kann es für die Menſchen nichts
geben. Nach ihnen follen fie alle ihre Beſtrebungen einrichten, ihr
nen alles Andere unterordnen. So müffen fie denn von ihnen und
von ihrer Klaren Erkenntniß aud in ihren politifchen Beſtrebungen ges
leitet werden, in ihnen ihre hoͤchſte Harmonie fuchen. Nur nach dies
fer Erkenntniß laͤßt fih ferner Drittens auch beftimmen, as Kirche
und Staat fich gegenfeitig zu leiften haben. Gerade aber das, daß
gluͤcklicherweiſe die hriftliche Religion nicht fo, wie bie Religionen bes
Alterthums und der Muhamedaniemus, unmittelbare Staatsreligien
und Staatsgeſetzgebung fein: wolfte und daß unfere politifchen und
Gultur-Verhältniffe fo reich und verfchiebenartig find, das macht es für
*).&. Troisiämes Melanges, Paris, Preface p. 54. 68. 70. 80. 87. chris
gene fordern bie Paroles d’un Croyant noch keineswegs die Republik, fondern
laffen auch noch eine von freie conftitutionelle Erbmonardhie zu. Erft in der
neueren citirten Schrift ©. 89 nimmt De La Mennais diefes als ben einzigen
Punkt feiner früheren religiöfen und yolitifchen Anſichten, den er für irrig ers
Tenne, zurüd und vertheidigt mit Rouffeau bie demofratifhe Volksſouverai⸗
netät ale abfolut notpmwenbig, was ficher ebenſo wenig chriftlich als polls
tiſch begruͤndbar iſt. &. unten IV, |
Ehriftenthum. 465
uns boppelt nothwendig, auch in biefem Punkt erſt burd, gründliche
Forſchung das Richtige und die wahre Harmonie zu fuchen, während
fich beide für die Bürger der alten Staaten. faft von felbft ergaben. '
Mollten wir fie vernachläffigen, fo würde außer der Fortdauer des
DVerkehrten und ber Verwirrung in dem Leben auch eine andere Schwaͤ⸗
che ſich vermehren, die leider fchon unfer politifches Leben im Vergleich
, mit dem der Alten fo nachtheilig auszeichnet. Es iſt dieſes eben jener
Mangel an Harmonie, an unerfchätterli feften Grundfägen und
Charakteren, an einer feiten Höheren und fletigen Richs
£urg unferer politifchen Beſtrebungen. Vorzüglich auch bie nicht wifs
fenfchaftlich gebildeten Buͤrgerclaſſen können nur vom Standpunkte der
richtigen religioͤſen Grundideen aus Einheit ihrer Anfihten und Beſtre⸗
dungen, Sicherung gegen die Serführungen zu jenen obigen Verirruns
gen und gegen das Verſinken in den rohen Materialismus und die
Eräftigften Antriebe für wahrhaft heilfame pafriotifche Tätigkeit erhalten.
I. Sefahren und Abmwege ſowie der rechte Weg bei
ber Erforfhung des ChriftenthHums in feinem Verhälts
niß zum Staat. 1) Die größte Gefahr für die Wahrheit iſt bes
ſonders auch hier die allgemeine Gefahr bei hiftorifhen Unterfuhungen,
die naͤmlich, daß man eigentlich nur auf Beftätigung vorgefaßter Anſich⸗
ten und Parteimeinungen ausgeht. Wer zu biefem Zwecke vollends
die heifigften Urkunden und Wahrheiten bes Menſchengeſchlechts zu miß-
brauchen, nicht verabfcheut, ber hielte viel beffer feine Hand fern von
dieſer Unterfuhung. Werkehrt, wie dad Unternehmen, müffen feine
Erfolge und Wirkungen fein. Mie oft aber haben leidanfchaftliche reli⸗
giöfe "und politifche Parteilämpfer, feile Diener und Schmeichler ber
mächtigen Hierarchie oder der weltlichen Regierungsgewalt und auch res
volutionaire Fanatiker diefen Hauptabweg betreten und dann fehr bes
greiflich auch noch fernere verkehrte Wege in der Unterfuchung eins
gefc-lagen !
2) Hierhin gehört es zunaͤchſt, wenn man bei einem fo großen
und reichen Ganzen, bei einem Ganzen, welches, fo wie das römifche
Corpus Juris und mie die heiligen Schriften, aus verfciedes
nen, oft gelegentlichen, oft bildlichen und beifpielsweifen, münblichen
und fhriftlihen Aenßerungen verfchiedener Perſonen zufammengrfegt
Mt, gunze Syſteme blos auf einzelne, aus dem Zuſammenhange gerifs
fene vieldeutige Stellen zu gründen fucht, wie 3. B. bas des Abfolu-
tiemus und Servilismus auf jene Stelle aus dem Roͤmerbriefe oder
auf jene orientalifche bildliche Hyperbel: „Schlägt dich Einer auf bie
rechte Wange, fo halte ihm auch die linke dar!" Auf folche leichtfer=
tige Weife läßt fich freilich Alles und ebenfo leicht auch jedesmal das
Gegentheil bemweifen und den ehrmürdigften Autoritäten fälfchlih auf
buͤrden. Und was hat man’auf biefe Weife nicht fchon-aus dem Chris
ftenthum gemacht ! Zu u
- 3) Gleich verkehrt aber möchte es fein, die Elaren und feften
prakerſchen Grundfäge für alles Thun und Laffen der Menichen
Gtaatös Lexikon IU, 80
466 Chriftenthum.
in ihren ſtaatsgeſellſchaftlichen Verhaͤltniſſen aus einzelnen metaphyfi-
fhen oder myſtiſchen, unfichern oder dunklen Theoremen, Speculatios
nen, Vorſtellungen und Bildern und aus einer willkuͤrlichen und fpies
fenden Deutung und Anwendung berfelben ableiten zu wollen. &o les
ten z. B. Adam Müller und Hr. v. Bonald dieſe praktiſchen
Vosfchriften aus dem Mopfterium ber Dreieinidfeit ab und aus
willkuͤrlichen phantaflifhen Spielereien mit derfelben. Dabei Fommt
denn Hr. v. Bonald in feiner Urgefeggebung zu jener fchönen
Theorie, den König ald Gott Vater und den Adel ald den Heiland
für das abfelut beherefchte, paffiv gehorfame, blindgläubige Volk dars
zuſtellen. Adam Müller aber trägt kein Bedenken, in 5. Schler
aels Concordia jenes. Myfterium fogar zum Mittelpunft feiner
nationalöfonomifhen Theorie zu machen und in berfelben den Boden
als Gott Water, die Arbeit ald Gott Sohn und den Dünger als
den heiligen Geift auftreten zu laffen F
Mögen folhe und aͤhnliche metaphpfifche und myſtiſche Theoreme,
mie die Dreieinigkeit, gerne gelten, was fie das glaͤubige Gemüth und
die Eünftlih ausgebildeten metaphpfifchen und dogmatifhen Lehrge⸗
bäude gelten Taffen! Und die gelehrte Theologie mag folhe zur Bes
kaͤmpfung falfher Theorien oder auch zur Darftellung der
Harmonie zwifhen der theologifhen und der andern
menfhlihen Wiffenfhaft nah beſten Kräften fo. wie bisher,
immer neu entwiseln und, „dba unfer Wiffen hier Städwert
bleibt”, immer neu und anders deuten! Aber man kann es geradezu
eine offenbare Verlegung der Abficht des Stifter der chriftlichen Reli⸗
gion nennen, wenn man aus ihnen feine Gefese für bas.praf:
tifhe Handeln ber Menfchen ableiten will. Hundertmal wiederholt
und fonnenklar, mie das Licht des Tags, und fo, daß wirklich od
alle achtbare Chriſten und chriftlichen Gonfeffionen in ihrer Anerken:
nung fich vereinigen mußten, ſprach er, fprachen feine Sünger die gros
fen einfachen praftifhen Hauptgrundfäge für alles menſchliche
Streben und Handeln aus, die dankbare kindliche Liebe gegen Gott,
die Bruderliebe gegen die Mitmenfchen, die gänzliche Befreiung von der
Herrſchaft der Sinnlichkeit und Selbſtſucht, die Wahrhaftigkeit und flete Vers
vollfommnung in Wahrheit und praktifcher Liebe. Ihr freies, aus reiner
Liebe ſtammendes Befolgen erklärt er für dag Wahrzeichen feiner treuen
Zünger. Mit gleicher Einfachheit und Beflimmtheit verknüpft er das
mit ebenfalls flets die wenigen theoretifhen Wahrheiten von der vaͤ⸗
terlichen göttlichen Weltregierung, von der freien. unfterblichen Würbe
und Beſtimmung der Menfchen und von feiner eignen liebevollen Aufs
opferung, um fie aus der Herrſchaft dee Sünde zu erretten und zu
erlöfen. Ueber alle entfernteren metaphyſiſchen Lehren und Mpfterien,
über Meltentfteyung und Weltuntergang, Entftehung des Böfen,. über
Aufenthalt und hefondere Verhältnilfe des göttlichen Lebens u. ſ. w.
erklaͤrte er fich fo unvolftändig, blos gelegentlich und bildlich, daß be:
kanntlich Mandye der gelehrteften Theologen ſelbſt in Beziehung, auf
—X
Chriſtenthuum. 467
die Dtebinigkeit die Stellen, bie von Ihe reben follen, von ganz etwas
Anderem verfichen und biefelbe entweder als unbegruͤndet umd logiſch
widerſprechend anfehen aber doch auf bis verfchiebemartigfie Wetſe deus
ten. Chriſtus, der uͤberal feine Lehre an das Wolf vichtet und
ben Hohmuth und die Spikfindigkeit der Vornehmen und Gelehrten
befämpft, wollte durchaus ſelbſt für die Unterften im Volt
verftändlich lehren und alle fie hochmuͤthig zuruͤckſetenden oder aus
fliegenden Geheimiehven, phlloſophiſche Sperulationen, alles aufblähende"
Wiffen der fih kiug Dänkenden und nollends eine pharkläifche und
fhriftgelehrte Verdunkelung feiner wefentlichen praktiſchen Hauptlehren
mdgiichſt ausſchlleßen *). Wer alſo den göttlichen Lehrer und feinen
Willen achtet, bee. wird anerkennen, daß ee in Beziehung auf die
praktiſchen Lebensgsfege jene won allen Religionspars
telen anerfannten, klaren, praftifhen Hauptgebote ber..
folge, nicht aber fie bush dunkle, veildeutige Myſterien unb Cpeculgs
tionen verdunkelt und verwiert wifſen wollte. “
Vollſtaͤndiger beftätigt, ſchaͤtfer beſtimmt und für ihre Anwendung
verbeutlicht werden uns. biefe großen Hauptgrundfäge alsdaun
werden, wenn wie, von ben einzelnen. praktiſchen Weflimmungen,
den einzelnen Anwendungen jener Haupt» Örundfäge in ber
heiligen Schrift ruͤkwaͤrte ſchlie ßend, twieber auf fie zurädgeführt
werden und wenn wir fie in ihrer allfeitigen Harmonie erkannt
haben. &o wird denn alfo unſere Aufgabe. von gemeinfhaftlic
anerkannten feflen Grundlagen aus fi Iäfen läffen, ohne -
baß wir in die Streitigkeiten der Theologen ber vefigiäfen Parteien
* einzulaffen aber vom. ihren befondeten aagsyugehen
x U, Die einzig moͤgliche Art der Anwendung prakti⸗
98 58. Retth. 6,3. 10,26. 97. 11,2. Go. Io 18, 9.
1 Sorintg. 8,1. — Gotoff. 1, sn. Hebre. 8, 10, 11.
1 Pete. 2,9. 4,.10. „Nil obgowrask in.seripters ex his, quae salu-
Gs di jio ignorari nor possunt, Aperta posita sunt, quae conti-
ment fidem moresgue vivendi.“ Augustinus de doctrina Christia-
ne II, 9. „Das. Wefentliche ber eigentlichen Meligion he — fo fagt ber
berdfente Plane in feiner Gefcichte des Cheiftent, I: © 14. — läßt fidy in
iwegige einfache orte zufammienfaffen, bie dem einfältigen, reinen Gemüthe
‚note der Bernunft mit unwiberftehlicher Gewalt aufprängen.”” Auch der eſte
‚ber neueren katholiſchen Theologen, Duß, fagt in bee Zeitfhrift für die
- Geiliäkeit des Erzbiäthums Freiburg, ‚gr Yı, ©. 227, in ber
vortri Abdandlung: Ift das Entftehen bes priffentsums auf, -
watärlige Welfe ertlärbartt „Im bee Aöfiche, eine Weltreligion zu -
rönden, war nicht der Gelehrte, fonbern der Menfch in Allgemeinbeit der
yenftand ber Unteriweifung, wobet die mittleren und die geringſten Faͤhigkel-
„ten in Anfdlag famen, Cs mußte das Höcfte zum Niebrigften herabgezogen
„und bem Bindlichen Kaffungsvermögen begreiflid) werden. Das it ein eigenes
des Gpeiftenthums im Plane, mach welchen es angelegt iſt, und in
ber Rehrart feines Gtiftee" —.... . *
468 Ghriſtenthum.
ſcher chriſtlicher Gebote auf bie ſtaatsgeſellſchaſtlichen
Verhaͤltniſſe. 1) Das erſte Hauptergebniß bei unbefangener Auf⸗
faſſung der chriſtlichen Gebote iſt Folgendes: Dieſelbin ſol⸗
len durchaus nicht unmittelbar juriſtiſch und pelitiſch
guͤltig, ſie ſollen als ſolche durchaus keine Rechts- und
Staats-Geſetze, ſondern nur religidfe Moralgebote
fein. Chriſtus iſt der erſte, der einzige Religionsſtif⸗
ter ber Erde, ber kein weltlicher Geſetzgeber fein wollte, der die Mes
ligion und die veligisfe Moral ganz rein und ganz unabhängig vom
Staatsverhaͤltniß hinftellte. Chriftus erklärt auf die verfchiebenfte Weiſe
immer aufs Neue, daß fein Reich, welches feine Sünger ausbreiten
ſollen, nicht von biefer Welt, kein aͤußerliches, meltliches fel, baß er
und feine Sünger nicht auf weltliche Weife gebieten, kein weltliches
Gefeg geben wollen. Und er gibt wirklich nicht ein einziges.
Ja er vermeidet felbft forgfältig jeden Schein einer politifchen Gefeßges
bung und Entfheidung. Sogar als ihn ein Schüler nur um feine
Meinung über eine Exbfchaftstheilung mit feinem Bruber bittet, vers
weigert er ihm biefelbe mit den Worten: „Wer hat mich zum Rich⸗
„tee oder zum Erbfchaftstheilee Über Euch gefegt? )“ Schon der erfte
Bid auf die ganze chriftliche Lehre beftätigt auch dieſes. Hätte Chris
ftus, hätten feine Juͤnger politifche Gefeggeber fein wollen, ihr Wert
wäre ebenfo das armfeligfte, mie es als Lehre ber Moral das herrs
tichfle und großartigfte if. Die wichtigften politifhen Verhältniffe und
Stagen, 3. B. die über eine monarchifche, demokratiſche oder ariftos
Pratifche Verfaſſung, über ihre Entftehung und Fortdauer u. f. w. find
gar nicht einmal berührt. Seine praktifchen moralifhen Ermahnuns
gen über gefellige Verhältniffe, 3. B. auch die: „Nimmt bir einer
„den Mantel, fo gib ihm auch den Rod!” haben einen vortrefflis
hen Sinn, fobald man fie betrachtet als bildliche und beiſpiels⸗
weife BVeranfhaulihungen und Anwendungen der einfachen Haupt⸗
gebote für die moralifhe Gefinnungsmweife, worauf in ber
Moral Alles ankommt, fo daß deshalb und damit von ihr, und nicht
von einer mechanifchen dußeren. Beftimmung, das moralifhe Handeln
ausgehe, Chriftus felbft niemals eine irgend vollftändige Sammlung
und genaue Beſtimmung aller einzelnen moralifhen Pflichtgebote,
gar: teine eigentlichen Gefege, geben wollte **). Als unmittelbare
politifhe oder juriftifhe Gefege betrachtet aber fehlt jenen
chriſtlichen Ermahnungen alle nöthige Beftimmtheit und Anwenbbars
feit. Sie würden als abfurd und überall als fich felbft widerfpres
chend erfcheinen und alle Rechts⸗- und Staatsordnung aufheben.
Wollte man fie unmittelbar politifh anwenden, dann freilich Eönnte
8.3.8. Matth. 20, 35. Lucas 12, 13. 17,%. 2,3. Ev.
$ob. 1, 17, 8, 10, rg ' ’ '
”) Evang. Joh. 1, 17. Matth. 5, 17—48,
Chriftenthum. 469
“man bie, In dee Ermahnung zu feommer Gebuld an die Sklaven,
eine götliche Einfegung der Sklaverei, in der Lehre der völligen bruͤ⸗
derlichen Gleichheit allee Menfchen dagegen unmittelbare Aufhebung
aller Slaverei, aller Obrigkeit und aller Vermögensungleichheit finden
wollen. Dan koͤnnte :ebenfo mit jener Ermahnung, zum geraubten
Mantel audy noch ben Rod hinzugeben, die Aufhebung alles Eigen«
thumscechts und die Begründung einer Räubergefellfchaft, mit der Er⸗
mahnung an den mit Unrecht Verletzten aber, bei der Gemeinde ſchieds⸗
gichterlihe Hülfe zu fuchen, und mit dem Lob bes mohlthätigen, ges
rechten Schupes der Obrigkeit *) auch wiederum das Gegentheil bes
weifen.
Auch durch die Stellen, welche man fehr häufig als pofitifche Entſchei⸗
dung und Gebote anführt, jene Worte: „Gebt dem Kaifer, mas
bes Kaifers iſt!“ ober: „Jedermann fei unterthan der Obrigkeit !
gab Chriftus keineswegs jenes großartige Grundprincip und
alle Confequenz auf. Auch diefe Stellen leiden, als unmits
telbare politifhe Vorfhriften betrachtet, ganz an derfelben
Unbeftimmtheit und Untauglichkeit. Sie haben ebenfalld nur ganz
denfelben rein moralifhen Charakter, entweder ber Abmeifung ber
weltlihen Entfheidbung, ſowie jene Stelle von der Erbtheilung und
die Antwort über bie juriftifhe Beſtrafung ber Ehebrecherin, ober den
der Veranfchaulihung der rechten moralifchen Gefinnungsmeife. Dies
fes konnten nur ſolche Xheologen verkennen, welche fehr ſchlechte Ju⸗
tiften waren. |
Sener erfte Ausſpruch Chriſti wurde bekanntlich nad ber aus⸗
drüdlichen evangelifhen Erzählung **) dadurch veranlaßt, daß ihm bie
pharifäifche Hinterlift durch die Stage, ob e8 erlaubt für die Juden
fei, dem roͤmiſchen Kaifer die von ihm ben Juden gemachte Auflage
des Genfus zu zahlen, eine, wie fie vermeinte, ganz unausweich⸗
liche Schlinge legen wollte. Wie Chriftus auch antworten möge, fo
dadıten die boshaften Gegner fhon triumphirend, fo muͤſſe ihm bie
Antwort zum Verderben gereihen. Hätte er mit Nein geantwortet,
fo hätte er natuͤrlich Noms defpotifhe Macht gegen ſich, als gegen
einen Aufroiegler, gereizt. Hätte er aber mit Ja geantwortet, wie
eine gewöhnliche theologifche Auslegung annimmt, um in diefer Stelle
eine Aufforderung zu unmeigerlicher Befriedigung jeder Negierungsan-
forderung, ber Anforderung, auch felbft einer offenbar ufurpatorifchen
Gewalt, zu finden, dann hätte er das ganze jüdifche Volk in boppels
ter Hinfiht gegen fih empört. Die Moͤmer hatten ganz offenbar ges
gen alles Recht, felbft ohne ein Recht der Eroberung durch Krieg,
rein ufurpatorifch die Erben des früheren jübifhen Könige Herodes
bes größten Theild ber Regierungsgewalt über die Juden beraubt und
*) Rom. 13,4. Apoſtelgeſch. 35, 11. Matth. 18, 14— 18.
*) Matth. 22, 15—22. Marc. 12. Luc. 20, 20— 26,
470 Chriftenthum.
eine oberherrlihe Gewalt ufurpirt, jedoch einige Reſte des nalen Mas
tionaltechts übrig gelaffen, wie fie 3. B. bei Jeſu Tod fichtine wers
den oder auch bei der Zahlung der XZempelfteuer an den Tenpel zu
Serufalem, welche die Juden, die nad, ihrem Nationalrecht nır felbft
bewilligte Abgaben zahlten, freiwillig entrichteten *). In keine Bes
ziehung alfo, weder nach dem allgemeinen Voͤlkerrecht und jütifchem
Nationalrecht, noch nad) den jüdifchen WVorftelungen von dem Meflias
und feiner weltlichen Herrſchaft konnte das jüdifche Volk eine heidnis
fhe, roͤmiſche Herrfhaft über Judaͤa irgend als rechtlich anfeken.
Hätte nun Jeſus, der unmittelbar vorher dad Heranlommen
feines Meſſiasreichs verlündigt und dadurch gerade die Phas
riſaͤer zu ihrer gehäffigen Hinterlift gereizt hatte, eine Rechtmäßigkeit
der roͤmiſchen, ufurpirten Herrfhaft und ber allgemeinen rechtlichen
Anerkennung derfelben durch Steuerzahlung oder gar eine rechtliche
Verpflichtung zur Zahlung jeder unbewilligten Abgabe an die ‚römifche
Mesierung pofitiv und ale durch's wahre weltliche Recht begründet
ausfprechen mollen, fo mußte biefes als ein feiges Preisgeben des we⸗
fentlichften Nationalrechts an fremde Ufurpatoren erfcheinen. Es ſchien
alle Parteien des jübifchen Volks, die von den Pharifäern abſicht⸗
lih mitgebrachten Anhänger der legitimen, von den Römern
verdrängten Erben des jüdifhen Nationalönigthume, die Herodias
ner, und alle Anhänger des felbftftändigen Nationalrechts und noch
insbefondere die eigenen Anhänger Chrifti, die ja fo, mie felbft bie
Upoftel, immer aufs Neue eine Herftellung eines weltlichen National
reichs von ihm erwarteten (Joh. 4, 48.), aufs Aeußerfte gegen
ihn empoͤren zu müffen. Ein ſolches empoͤrendes pofitives Ja
nun erwarteten die Pharifder. Deshalb, da fie glaubten, er werde ber
fremden Uebermacht huldigen müffen. verfpotteten fie zum Voraus
diefe Antwort, jede feinere ober gröbere huldigende Beſchoͤnigung ber
defpotifchen Ufurpation, tie fie von jedem gemeinen ſchwachen Mens
{hen erwartet werben durfte, nimmermehr aber bes göttlichen Meffias
würdig war, mit den Worten: „denn du achteſt nicht das Ans
fehben ber Menſchen“. Selbſt jede das pofitive Ja Hug vers
hüllende Floskel, oder eine blos liftige, den Schein ber Seigheit an ſich
tragende völlige Verweigerung aller Antwort hätte beide Theile gereizt,
jedenfalls die Pharifäer nicht befiegt und befchämt, fie nicht mit „Bes
munderung” der Meisheit Chrifti erfüllt, fo daß fie ihn „nicht ta-
dein konnten vor dem Bolt”, wie es ausdrüudiich beißt. Mas
aber that er? Durch das verlangte Vorzeigen des weltlichften - aller
Dinge, einer Geldmänze, eines Denars, mit welhem man ben roͤ⸗
mifhen Genfus, nicht aber die Tempelabgabe (Matth. 17,
24.) zu bezahlen pflegte, und duch die Srage über das diefem De:
*) Matth. 17, 24. 27. und 2 Chronil, 24, 8-11. 1 Kdn. 5,1.
A 10. Rehem. 10, 8. 3. Michaelis Mof. Recht $. 173
Chriftenthum. 471
nar einyeprägte Bildniß des Kaifers, fammt ber Umfchrift und nun
durch bi: Worte: „fo gebet Gott, was Gottes ift, dem Kaifer, was
des Kaiers ift!“ veranfchaulichte er auf das Geiſtreichſte, erklaͤrte er
auf das Wuͤrdigſte, daß dieſe ganze Geldfrage eine nur dem welt—
lichen Recht und Reich angehoͤrige Frage ſei, bie von
ihm, deſſen Reich ja nach allen ſeinen Erklaͤrungen nicht von
dieſer Welt, ſondern eben das Reich Gottes ſei, ebenſo wenig un⸗
mittelbar entſchieden werden duͤrfe, als andere, fruͤher von ihm zu⸗
ruͤkgewieſene Fragen, als Fragen ſelbſt der Phariſaͤer uͤber das welt⸗
liche Recht, ſowie z. B. die uͤber die Beſtrafung der Ehebrecherin
(Joh. 8.). Nur fo ausgelegt, konnte wirklich dieſe Antwort fo, wie
fie 8 that, als offenbar würdig und folgerichtig entſprechend
der ganzen Lehre und Stellung Chrifti, und zugleich weder
den Raifer noch das Volt im Minbeften verlegend, dem fchlauen Feind
jede Waffe entwinden, ihn befiegen und befhämen. jedenfalls beant:
worte:e fie gar nicht die Frage von einer Nechtspfliht zur Zah⸗
lung, da die Pharifäer ihn ja nur blos fragten, ob es ihnen er-
Iaubt fei (EEeorı), Steuern zu zahlen.
Auch jene Ermahnungen, gegen bie Obrigkeiten, „welche Gewalt
haben” und „welche nicht den guten Werken, ſondern den boͤ⸗
fen zu fürchten feien”, welche im „Dienfte Gottes” diejenigen beftras
fen, mwelhe „Boͤſes thun“ und die „Guten belohnen”, ge
borfam und „zu allem guten Werk bereit” zu fein, und zwar dieſes
nicht „aus Furcht, fondern aus Liebe”, fo wie der Zufag: daß — was
die zum Theil fih aus dem heidnifhen Staat zurüdziehenden erften
Chriften zumeilen verfannten — die obrigkeitlihe Einrichtung auch für
die Chriften wohlthaͤtig unb gottgefällig, eine göttliche Anordnung fei,
oder von Gott komme *), — auch diefe Ermahnung hat lediglich jenen
oben bezeichneten rein moralifchen Charakter.
Kein Theologe kann fie namentlich als eine allgemeine, unbedingte
und unbegrenzte Gehorfamspflicht erflären. Sie ift ja Theil einer Lehre,
welche fo energifch lehrt, daß man Gott mehr gehorchen müffe, als
den Menfchen, dag man in Erfüllung dieſer Pflicht, fo, mie die Apo⸗
ftel, bei ihrem wiederholten Ungehorfam gegen die ausbrüdlichften
obrigkeitlichen Verbote (Apoſtelgeſch. 4 u. 5, 28.), und nad ihnen
zahliofe Märtyrer, Leine Gewalt und Strafe der Obrigkeit fürchten
ſolle **). Und feibft die am meiſten legitimiftifche Theorie verfteht fie '
ebenfalls nicht unbedingt und nicht allgemein in Beziehung auf jede
Obrigkeit und billigt, fo wie alle Monarchen, den Widerſtand der Ty⸗
roler, ber Heffen, MWeftphalen, Hamburger, Bremenfer
* Rom 13, 1-8. Tit. 3,1. 1 Petr 2, 13—19. Sol. 1, 16.
*2) Gregorius ber Große warnte: ne sabditi plas, quam ey
pedit, fiant subjecti, ne cum student, plus, quam necesse ost, homivous
subjici, compellantur vitia eorum venerari !
472 Chriſtenthum.
gegen ihre Obrigkeiten Napoleon und Jerome, oder wie die Mes
volution der Griechen gegen den tuͤrkiſchen Kaiſer.
Offenbar aber ift nun doch jene allgemeine hriftlihe Ermahnung
ohne jede nähere Beflimmung : wann denn eine höhere Gewalt
eine rehtmäßige ober eine räuberifche fei, und wann dır ers
laubte, ia pflihtmäßige Ungehorſam felbft geger bie
rehtmäßige Obrigkeit flattfinde, zur unmittelbaren dußeren
Verwirklichung in jedem beftimmten alle nody näherer Beſtimmungen
bedürftig.. Sie ift zu jeder unmittelbar politifchen Lehre eben
fo untaugli, ald jene Ermahnung, zu dem Mantel auch noch Ien
Rock hinzugeben, welches ebenfalls vom beſten Chriſten zuweilen auch
zu unterlaſſen iſt, oder als jene Ermahnungen an den Sklaven, ſeinem
Herrn nicht mehr aus Furcht, ſondern aus Liebe zu gehorchen. Wenn
man alſo aus jenen Stellen, zum Schaden der Voͤlker und der Koͤnige,
das Syſtem des Abſolutismus und Servilismus mit feinen poitiſch
und moraliſch verderblichen Folgen begruͤndet und dadurch das Chri⸗
ſtenthum verhaßt macht, ſo iſt dieſes nicht minder eine Entweihung
deſſelben, als wenn man aus den andern eine chriſtliche Beguͤnſtigung
der Raͤuber oder eine Rechtfertigung der Sklaverei, oder aus der bruͤ⸗
derlichen Gleichheit der Menſchen die Abſchaffung des Koͤnigthums und
des Eigenthums begruͤnden wollte.
Alles dieſes gilt insbeſondere auch von denjenigen Theorien, welche
die moraliſche Ermahnung von ber Gott mohlgefälligen oder
görtlihen Begründung der obrigkeitlihen oder Staats - Einrichtung zu
verkehrten myſtiſch legitimiftifhen und defpotifchen politifchen Grund
lagen und Rechten der Regierungsgemwalt, und zwar meift vorzugsmeife
der monarchiſchen, umgeftalteten. So begründeten befanntlicy zu ih⸗
rem eigenen Verderben und zu ihrer Völker vielfahem Ungluͤck die
Stuarts und bie Bourbone hierauf und auf das „von Gottes
Gnaden“, welches urfprünglic, geiftliche und weltliche Beamten und
Megenten nur ale Beihen der Demuth gebraudten, fpäter auch
manche auf paͤpſtliche Belehnungen bezogen, jene Theorien, melde
alle freien vertrags= oder verfaffungsmäßigen rechtlichen Bedingungen
und Schranken ihrer Gewalt aufheben follten. Ludwig XIV. vers
foht, hierauf geftügt, im fpanifhen Succeffionskriege fogar den Sag,
dag ein monarchiſcher Prinz auf das ihm von Gott unmittelbar übers
tragene Thronrecht ſelbſt nicht einmal verzichten dürfe (heritier de
toute necessite fei), mas er jedoh im utrehter Frieden endlich
sbenfo, wie die englifchen und franzöfifhen Könige fpäter die myſtiſche
oefpotifche Ableitung ihrer Gewalt, förmlich aufgeben mußte. Sa, man
!egte deshalb den Königen priefterlihe Würde und MWunderfräfte bei,
fo daß z. B. die blofe Berührung eines franzöfifchen Königs die Kröpfe
heilte. Ein König von Dänemark bannte fogar Geifter damit. Als
ein koͤnigliches Schloß durd; Gefpenfter fo beunruhigt wurde, daß Mies
mand es zu betreten tongte, betrat er ed mit den Worten: „Ich, von
Chriſtenthum. 473
Gottes Onaben ‚ König”, und fie verſchwanden. (S. auch oben Thl.
I. ©. 434).
Das Chriftenthum aber verfchuldet nicht all das Blut und die
defpotifchen und flavifchen Lafter und den Unfinn, welche falfche Aus:
legung an biefe Stellen Enüpfte. Diefelben reden nicht blos von ber
hoͤchſten Negierungsbehörde, am wenigſten blos von der monardifchen,
fondern enthalten in Beziehung auf: die ganze Staats- oder obrig-
feitliche Einrichtung und die Obrigkeiten überhaupt die moralifche Er⸗
mahnung, daß fie als höchft wohlthaͤtig, als Gott fehr wohlgefaͤllig
oder nah feinem Willen begründet zu achten fein. Sie enthalten
nichts Moftifhes und auch nicht die Bebingungen ber gültigen recht⸗
Tihen Entftehung und Dauer der Obrigkeiten und bie nöthige Be⸗
. flimmung ihrer Gewalt, fondern fie überlaffen dieſes Alles der menſch⸗
Lihen Freiheit nah dem weltlihen Recht. Diefes fagt ſo⸗
gar ausdrüdlih der Apoftel Petrus in der angeführten Parallel:
Stelle, indem er alle Anordnung von Obrigkeiten, auch die des Kai:
fers, mwörtlih eine menfhlihe Ordnung nennt. Am allerme-
nigften alfo wollten diefe Stellen weltliche freie Verträge zur Begrüns
bung der Obrigfeiten und ihrer Rechte ausfchliegen, fo wie ja felbft
bei der Ehe, ob e8 hier gleich, ebenfalls als rein moralifche
Lehre, beißt, fie würde im Himmel und von Gott und unaufloͤslich
gefchloffen, ber freie Heirathevertrag der Ehegatten und das meltliche
Eherecht ebenfalls zuläffig und nöthig find. So fahen es auch ſtets
alle freien Völker an und festen zum Theil fchon fo, wie die Fran⸗
ten, fogar in ben Eöniglichen Titel neben das von Gottes Gna—⸗
den den Volksvertrag (consensus populi). Stets gingen aud)
die Kirche und das canonifche Recht von biefer Vertragsmäßigkeit der
Megierungsgewalt aus. Sie beriefen ſich dabei befonders auch auf
die förmlihen und feierlich abgefchloffenen Verträge des hebräifchen
Volkes mit Gott, als mit feinem göttlichen Könige, und auf die im
alten wie im neuen Bunde mit Gott burchherrfchende Vertragsidee
und der Vertragsmüßigkeit wahrer Gehorſamspflicht für freie Men-
fhen*). Selbſt das Erbrecht ändert hieran nichts. Denn es muß
doch erſt felbft buch einen gültigen weltlihen Berfaffungsact
begrünbet fein. Denn fonft hätten es ja aud die Söhne von Nas
poleon und Serome haben müffen.
Das vollftändige Ausfhließen aller unmittelbar poli—
tifhen und juriftifchen Gebote entfpriht nun offenbar aud) der
- Vteinheit und Ziefe, der Freiheit und Allgemeingültigkeit der chriftlichen
*) ©. oben den Artikel Bund mit Bott und eine aroße Reihe katholiſch
firchlicher und canonifcher, fowie ſtaat sgeſchichtlicher Beweisſtellen in &. Ih. Wels
der Spyftem I, ©. 115 —166 und unten S. 188Note und S LEINote*). Diele päpfts
lichen und canonifchen und fonftigen kirchlichen Stellen druͤcken ſich ebenfo ober aͤhn⸗
Uh aus, wie Maffillon in feiner Lobrede auf den heiligen Ludwig,
intem er die Könige auffordert, fich ftets zu erinnern: que ce sont les peu-
pl:s, qui, par l’ordre de Dieu, les ont fait ce, qu’ils sont,
474 Chriftenthum.
Moral, durch melde Chriftus das ganze Menfchengefchlecht verebeln
und auf die hoͤchſte Stufe reiner Menfchlichkeit erheben wollte.
Auf das Allernachdruͤcklichſte und Wiederholtefte erklaͤrt er, daß,
wenn auch früher die Nohheit der Menfhen das Mofaifhe Zwangs⸗
gefeg erheifht habe und, ſoweit fie noch jest fortdauert, noch immer
befondere Rechts- und Staatögefege nothwendig mache, dennoch das
wahre fittlihe Leben, wofür er die Ermahnungen und Lehren
gab, durchaus nicht durch Furcht und Zwang, Äußere Gewalt, mes
hanifche Angewöhnung und irgend dußerlihe und finnlide
Motive, fondern lediglich aus ber vollen inneren Freiheit und freien
Liebe hervorgehen Eönne, aus einer Gefinnung, welche gänzlich ber
natürlichen finnlichen Lebensrichtung entfagt und die göttliche ergriffen
hat (geiflig mwiedergeboren ift): aus folder völlig freien,
liebevollen, inneren Gefinnung, melde, foweit fie reicht, das Aufere
Geſetz ganz aufhebt, oder vielmehr in innere fittliche, freie, gute Ges
finnung verwandelt, müffen dann, als ihre natürlihen Früchte,
nothwendig auch die wahrhaft fittlihen äußeren Handlungen und
Lebenseinrihtungen, alfo auch die im Staate hervorgehen.
Aber fittlich find fie für die Handelnden felbit durhaus nur ins
ſoweit, als fie wirkli ganz frei aus der inneren liebevollen Gejin:
nung hervorgingen *). Das geiftige chriftliche Moralgeſetz will alfo als
"folhes unmittelbar nur blog von Innen nad Außen durch
die innere Sefinnung und Wiedergeburt wirken, während umgekehrt
das Äußere weltliche Zwangsgefeg, foweit es noch nothwenbig ift und
ale folhes, mit feinen genau beftimmten Außeren Befehlen und dus
feren Motiven, von Außen nach Innen wirkt, und bei den noch
im Sinnlichen verlorenen unerzogenen Menſchen für das freie, fittliche
menfchlicye Leben die humane Wohnjtätte und Entwidlungsbahn und
die Möglichkeit einer immer vollfommeneren allgemeinen, dußeren Ges
ftaltung und Offenbarung ſchafft. Diefer feiner Natur und Beftim-
mung gemäß, fann und muß das Außere Staatögefes nach der Ver:
fehiedenheit der Entwicklungsſtufen und der jedesmaligen befonderen
äußeren Verhaͤltniſſe der Völker verfchieden fein, während die reine
goͤttliche Sittenlehre allgemein und bleibend für bas menſchliche Ge:
fhieht fein follte, und auch fchon deshalb nicht mit unmittelbar poli=
tifhen Gefegen vermifcht werden burfte, von welchen auch nur ein
einziges fchon bie andern nad) ſich gezogen hätte.
2) Dagegen follen auch alle Staatsgefege auf mittel:
bare Weife oder durch die freie Beftrebung und Beftim-
mung Derer, weldhe fie als Regenten, Beamten, Lanb-
ftände und als Rathgeber vermittelft der sffentlihen
Meinung oder der wiffenfhaftlihen Lehre geben oder
bewirfen, hriftlih moralifh oder den Grundfägen der
Hriftlihen Moral entfprehend gemaht werden. Diefes
8,8. Ev Joh. 1,17. Galat. 5,6. Roͤm. 3, 3.
Chriftenthum. 475
fordert der allumfaſſende und ber durchaus praktiſche Chc-
rakter der chriſtlichen Moral. Einestheils fordert bie chriftliche
Meligion ebenfalls. vollftändiger, als eine Religion der
Erde, daß ihre Anhänger alle ihre Gefinnungen, alle.
thre freien Handlungen und Beftrebungen nur nad den
wahren Moralgrundfägen und für ihre unendliche Aufgabe der
möglichften eignen Vervollkommnung und immer größeren Gottaͤhnlich⸗
keit und der möglichften Wervolllommnung und Beglüdung ihrer
Brüder verwenden follen. Nicht blos an den Sonntagen, fondern
in allem ihrem freien Thun und Laffen foHen fie chriſtlich handeln.
Anderntheils ift die chriftiiche Moral durchaus praktifcher Natur. So
wie für den Handelnden einerfeits alle Außeren Werke ohne die fitt-
lihe Geſinnung tode und unfittli find, fo fordert und erkennt doch
das Chriſtenthum anbererfeits nur eine folche Tiebevolle und glaubens⸗
oder überzeugungstreue Gefinnung als wirklich und ale lebendig
an, welche aud alle guten Fruͤchte bringt, welche die Liebe gegen
Gott und die eigene innere Vervolllommnung in der Xiebe gegen bie
Mitmenfchen und biefe in der Thaͤtigkeit für ihre möglichfte Vervollkomm⸗
nung, Unterftügung und Beglüdung auch aͤußerlich ermeifet. In
dem wirklichen „Speifen, Traͤnken und Kleiden ber Brüder”, dars
an, daß man „fröhlich fei mit den Froͤhlichen und meine mit den
Meinenden” und dieſes tiefe Mitgefühl duch praktiſche Unters
flügung beweife, daran, daß man das Leben für fie läßt, daran will
CHriftus feine wahren Zünger erkennen. Beſſer, als alle Bußen und
Dpfer, ift diefe thätige praßtifche Liebe. Nur fie, „nicht Mars
tern und Brennen ber Glieder” hat Werth. Glaube und Kiebe, bie
nicht Früchte bringen, nicht in guten Werken ſich zeigen, „haben
sar keinen Werth”. Keine Religion der Erde hat weniger auf
dußere Formeln, Worte, Gebete, Ceremonien, Opfer, Bußen, Reini:
gungen und auf unfruchtbares Glauben und Wiffen, keine mehr auf
jene praftifche Liebe, Vervolllommnung und Beglüdung
ben eigentlichen Werth gelegt. Dabei werden alle Chriften aufs
gefordert, dieſes Lebendigfte Mitgefühl, diefes thätigfte gegenfeitige Hel⸗
fen, Unterftügen, Beglüden, in fo inniger Verbindung, in fo
feftem Zufammenhalten für das allgemeine Wohl zu verwirklichen,
„wie die Glieder eines einzigen Leibes, wo jedes nad)
feinen befonderen Kräften und Aufgaben für Alle und
für base Ganze wirkt”. Sie follen ſchon hier ein chriſtliches, bruͤ⸗
berliches Reich nad dem Vorbild des himmlifhen gründen. Vor
Allem follen fie auc ihre Mitmenfhen nicht blos gegen Außered Un
gluͤck und gegen aͤußere Verlegung, fondern vorzüglih, als vor dem
Alterfhlimmften, vor Aergerniß, oder vor moralifcher Verſchlech⸗
terung durch verderbliche Beiſpiele und Einrichtungen bewahren. Mehr
alfo, als irgend eine politifche, patriotifche Lehre und Mahnung, mehr
als Solons Anforderung an den beften Staat: daß jeder Bürger
die Verlegung gegen den Mitbürger als ihm felbft widerfahren em:
476 Chriſtenthum.
pfinde und behandle, foͤrdern dieſe chriſtlichen Lehren das innigſte, kraͤf⸗
tigſte Gemeinweſen und eine treue Liebe und Wirkſamkeit fuͤr daſſelbe;
ſo daß auch die fruͤheren Chriſtengemeinden unter den Augen der
Apoſtel ſogar bis zur Guͤtergemeinſchaft dadurch ſich vereinigt fuͤhlten.
Ueberall aber leuchtete den Chriſten ihr goͤttliches Vorbild in Erfuͤl⸗
lung all jener Lehren auf das Herrlichſte voran. Nicht blos fuͤr die
ſittliche Vervollkommnung ſeiner Mitmenſchen, ſondern auch, wo er
kann, fuͤr ihre leibliche Unterſtuͤtzung, Heilung und Rettung iſt er
unablaͤfſig bemüht. Wo fie ihm wegen ihrer Sünden unmoͤglich iſt,
da vergießt er Thraͤnen über das Unglüd feines Vaterlandes und ben
Untergang feiner Hauptftadt. Selbſt mit edlem Zorm und mit bem
tiefiten Gefühl dee Entrüftung ſtraft er in niederfchmetternden Worten
die Bedruͤckung und Verderbniß des unglüdlihen Volks durch feine
vornehmen, fhriftgelehrten und pharifäifchen Führer *).
Mer dürfte alfo nun noch einen Augenblid zweifeln, daß Chris
ften, von folder praftifhen Geſinnung und Liebe burdys
derungen, daß wirklich hriftliche Megenten und Bürger aud ihre
gemeinfchaftlihen, flaatsgefellfchaftlihen Gefege und Einrichtungen,
welche ja ebenfalls faſt alles menfchliche freie Thun umfaffen, und
welhe auf Erziehung, Vervollkommnung und Beglüdung der Mens
fhen, fo wie auf ihre WVerfchlechterung, ihr Elend und ihren Tod den
ausgedehnteften Einfluß haben, welche Chriftus ausdrüdlich als Gott
wohlgefällig, wihtig und heilfam erklärt (f.S.471,Note*),
fo weit fie Eönnen, fomweit die wefentlihe tehnifhe Natur
des Rechts- und Staatsvereind es geftattet, mit Freiheit
mittelbar dhriftlih, oder nad) jenen Geboten und Zmweden der
chriſtlichen Moral einrichten müffen! Alle chriftlihen Nationen was
ren und find aud im Wefentlihen in dieſer Anerkennung einftimmig,
forweit fie nicht entweder, fo wie im Mittelalter, noch weiter gingen
und ireig die chriftlichen Moral: Grundfäge fhon unmittelbar als
westliche Gefege betrachteten, oder foweit fie nicht, fo wie bie Kranz
zoſen, vorübergehend buch die traurigen Folgen dieſes Mißgriffs und
des Mißbrauchs und der Verdrehung der chrifllihen Grunbfage zu
*) Beifpiele und Belege für alles bieten: Matth. 7, 21.
8, 2. 10,42. 12, 7.15, 4— 2%. 18, 1—4. 15. 17, 22, 37 —40. 23, 2—
39. 25, 31 —45. Marc. 2, 23—2 27. 3, 5. 12, Na £uc. 6, 27—31.
3, 10, 25 — 37. 11, 8740. 17, 18, ‚ 8. 41. Ev. 30".
— 1, 22. 2 —8 Röm. * Fa — ron ug a. 0. D (Note
3) ©. 327 bezeichnet es ale Endzw ed des Chriſtenthums, „bie Sitten⸗
„Lehre als Religion zu verfünden, den Opfer: und Geremonien:z
Dienft der vordriftlichen Religionen buch eine Bildungs:
unb Erziehbungsanftalt der Völker zu erfegen und in eine Tugend⸗
„Thule zu verwandeln, melde dem gefammten Menfchengefchiecht die Weihe
„mo raliſcher Vortrefflichkeit ertheilte.“
Chriſtenthum. 47 7
Gunſten ber Unterdrüdung von der Religion ſelbſt zuruͤkkge⸗
fhredt wurden. a
IV. In ihrer richtigen freien, mittelbaren Anwendung
enthält nun die hriftliche Kehre mehr, als irgend eine Reli:
sion oder ein Moralfyftem in der Welt, fomohl das Grund:
princip und die Grundlagen, wie die Örundfäge zugleich
für die möglihft große bürgerlihe und politifhe Frei-
heit der Staatsgefellfhaft und zugleih für die moͤg—
lichſte Ausfchliegung aller feibfifühtigen und gemalt:
famen anachifhen und revolntionairen Friedens- und
Drdnungsftörungen. — Bei dem Staatöleben der Völker muß
man nicht, wie bie Meiften zu glauben fcheinen, blos bie praftifchen
Grundfäge und Befege ins Auge faffen, melde fi zunädft
auf das flantsgefellfchaftlihe Handeln derfelben beziehen. Ihre Befo!-
gung ift nur verbürgt, wenn ihnen aud als Lebenskraft die mefents
tihfte Willensrihtung, und ald Grundlagen bie widhtigften
Srundverhältniffe des Lebens der Gefellfchaftsglieder entfprechen.
1) Das Chriſtenthum begründet mehr, als irgend eine Religion
der Erde, die rechte Willensrihtung, das rihtige Grund»
princip oder die Lebenskraft, nicht der defpotifhen und
der theokratiſchen Verfaffung, fondern bie des freien Rechts⸗
ftaates, nämlich die Vorherrfchaft der freien prüfenden fittlichen Ver⸗
nunft, der geprüften freien Gemwiffensüberzeugung oder ber freien
Mahrheit und Sittlichkeit. Ks ift das in der menfchlidhen
Natur und der Menfchengefchichte klar begründete Gefek ; daß die Les
benstraft dDefpotifher Herrfhaft und ferviler Unterwerfüng in
der Vorherrſchaft der Sinnlichkeit befteht, in Materintiss
mus, in Selbſtſucht, Genußſucht und Furcht, in dem Brutifiren
oder, wie Napoleon wollte, in dem Aviliren der Menſchen. Sonft,
und wenn fittlihe Bildung und Aufklärung, wenn freie fittlidye Beſtre⸗
bungen, wenn tugendhafte Ehrs und Freiheitsfiebe vorherrfchen, find die
Beſtechungs- und Beflrafungsmittel der. Defpoten ja nicht mehr wirk⸗
fam, um das Volt in einem unnatürlihen, dergleichen Sreiheit und
Vervollkommnung aller Bürger fo gänzlich widerſprechenden Enechtifchen
Gehorfam zu erhalten )). Keine Religion der Erde aber
firebe nun mehr, als die chriftlihe, Sinnlichkeit und Selbſt⸗
fuht, Materialigmus und namentlidy materialiftifhes genuffüchtiges
Streben nah Reichthum und anzüchtige Geſchlechtsliebe ebenfo, wie
alle Furcht und Enechtifche Unterwürfigkeit auszusreiben. , Kelne begei⸗
ftert mehr zu hohen, idealen, zu freien, muthigen, aufopfernden Beſtre⸗
bungen für alle höchften Zwede, für -Wervolllommnung und: Begluͤckung
der Menfchen, zu bereitwilliger Hingabe felbft bed Lebens für Vollzie⸗
..
*) Meitere Beweisführungen über bie verfchebenen Srunbprincipien,
Grundlagen und Brundbgefege ber Werfaflungen f. in Welder Sy:
tem l. ©, 377 fg. i 2
478 Chriſtenthum.
hung der goͤttlichen Geſetze, denen man mehr gehorchen ſoll, wie den
menſchlichen, ſo wie auch fuͤr die Befolgung auch dieſer letzteren nicht aus
Furcht und Belohnungshoffnung, ſondern nur aus Gewiſſenhaftigkeit
und aus Achtung der eigenen gottaͤhnlichen, unſterblichen Wuͤrde und
Beſtimmung *). Und zwar alles dieſes in Gemaͤßheit des völlig freien
Anſchließens an Gott und feine göttliche Lehre, nad) freier Prüfung
und Gewiffensüberzeugung und mit dem Streben nach fletem Wachs»
thum in ber Erkenntniß, fo wie mit ber Anerkennung: bag Wahrheit
und Licht identifh mit dem Göttlichen und Guten, die Liebe zur
MWahrheit und Deffentlichkeit ber Prüfftein deffelben, Lüge
aber identifch mit dem Böfen und Scheu vor Wahrheit und Deffent
lichkeit das Wahrzeichen beffelben fein. Alle Chriften werden aus:
drüdlic für priejterlich erklärt, und follen vollftändig an der goͤttli⸗
hen Erkenntniß Theil nehmen; wie fie denn felbft die Apoftel an
der Beflimmung der firhlihen Gefellfhafts-Verfaffung,
ander Wahlihrer Vorfteher und felbft des zwölften Apoftels, ja
ſelbſt an der Entfheibung bes Streits ber Apoftel über
die chriftllihen Grundfäge Xheil nehmen laffen. Und waͤh⸗
rend ſchon das Mofaifhe Recht auf fo merkwürdige Weife durch fein
Prophetengefeg für die freie Wahrheit und für jeden, der vom Geifte
fid) dazu getrieben fühlt, fie den Fürften und dem Volk öffentlich und
ohne Genfur vorzutragen und ihre Fehler zu rügen, gefeglihen
Schutz verleiht.(f. oben S. 121), fo giebt das Chriftenthum jedem
Chriften die Pfliht und das Recht, wo er es für heilſam hält, mit
freier Wahrheit, mit Rüge der Fehler alle feine Mitchriften, alfo auch
die Regenten, brüberlich an ihre Pflicht zu mahnen. Sein heilige Ge⸗
bot ift: „redet Wahrheit untereinander!” Aus Sorgfalt gegen
jebe Unterdruͤckung der freien Wahrheit und Entwidiung gebietet Chriftus
felbft das Unkraut zu dulden, um nur ja gar Feine gute Saat mit
zu vernichten. Er verbietet, ben Geift zu bämpfen, droht Got⸗
ted Zorn allen denen, welche die Wahrheit und ihren Fortſchritt un:
terdrüden, ober welche die Wahrheit In Ungerechtigkeit
aufhalten. Seine wiederholte Verheißung zum Troſt und Schug
der Buten, zur Warnung und zum Schreden der Boͤſen iſt, daß Als
les an das Licht kommen folle **).
oben Ill,-1. -
*) ©. für alles biefeß 3. 8. Matth. 5, 13— 16. 10, 26. 13, 29. 30,
18, 15 — 17. &uc. 11, 52. 12%, 2.8. 305. 1,7. 8, 18 — 21. 7, 16.
47. 8, 31. hr Apoftelgefh. 1,15 —2%6. 3, 8 —6. 15, 2-5. Roͤm.
1, 18,..128,,.2 1 GCorinth, 7, 8. 13, 16, Spber 4, 25. 5, 10. 17.
1. Sheffal. 5, 11.15.90. 21, 1 Petr. 2,9. 8, 2. 8. 1 Johann. 4
Chriftenthum 479
Durch) alles diefes und durch die Lehre, dag Bott ein reiner Geift
ift, und eine rein geiftige Anbetung fordert (Joh. 4, 24.),
verwirft das Chriſtenthum natürlih auch das Princip einer theo«
Eratifhen Prieſterherrſchaft. Es verwirft die Vorherrfchaft
eines noch auf Sinnlichkeit und ſinnlicher Einbildungskraft beruhenden
prüfungslofen, blind untermürfigen Glaubens an eine
die Einnlichkeit und Phantafie und dunkle Gefühle für fi in Anſpruch
nehmende irdifche Slaubensgemwalt. Damit flimmen nimmermehr über:
ein die Gewiffensfreiheit und jene Forderungen freier Prüfung bes jteten
Sortfchreitens in ber Erkenntniß ber allgemeinen gleihen Bruͤderlichkeit,
wie dee Priefterlichkeit und jenes Mitftimmen aller Chriften, fo wie
die Korderung bes größeren Gehorfams gegen das erkannte göttliche Ges -
feg, als gegen alle Menfchen; mit ihm. nicht jene Verbote Chrifti an
feine Apoftel, irgendwie nah menfähliher Weife zu herr:
fhen; und ebenfo wenig ale jene einfachen‘ Haren Vorftellungen von
dem Wefen Gottes und des göttlichen Lebensgeſetzes, auch jene vernuͤnf⸗
tige praktiſche Liebe, ftatt finnlichen Ceremonien= und SOpferdienftes.
Wie * mußte daher auch in allen dieſen Hauptbeziehungen die theo-
Eratifche Priefterherrfchaft und ihre Sreiheitsunterdrüdung die hrift-
lihe Lehre und Tugend verfälfcen!
2) Auch die wichtigften Grundlagen freier Staatsver—
faffungen, und nammtliih fürs Erſte fittlihe und freie
Gefhlehrts:, Ehe: und Familienverhältniffe begründet das
Chriſtenthum mehr als irgend eine Religion ober irgend
eine frühere Geſetzgebung. Da, wo in dem engiten, in bem
für .die ganze menſchliche Erziehung wichtigſten Kreife des Menſchenle⸗
bens, Sinnlichkeit und felbftfüchtige, befpotifche Herrfchaft des Stärkeren,
alfo des Mannes, des Vaters und nad ihm des Erftgeborenen, fpäter
des Älteren Stammes, vorherrfchen, da werden Sinnlichkeit, Selbſtſucht
und defpotifche Herrſchaft und Knechtſchaft auch für den Staat groß ges
zogen, Die politifdye Freiheit ftand ftets im Verhaͤltniß zur Reinheit
und Freiheit der Gefchlechtös und Familienverhaͤltniſſe. Im Vergleich
mit der finnlichen polpgamifchen defpotifchen Geftalt, welche diefelben bei
1—3. „Allenthalben“, fo fagt Herber (Werte zur Relig. und
Theol. Thl. II. ©. 395.), „rüget Chriſtus ben geheimen und offenen Haß
„gegen die Wahrheit als das ficherfte Grebitiv,. daß man zum Reiche des Zeus
„fels gehöre, denn der fei ein Luͤgnet von jeher und haffe wefentlich bie Wahrs
beit.” Luther fagte: „Die Wahrheit hat allezeit rumort, und bie falfchen
Echren haben allegeit Frieden! Frieden! gerufen." Reinhard nannte in ſei⸗
nee Moral 111. ©. 40. Wahrheitsliebe und ſtete Bervolllommmmg „das
Weferittichfte chriftlicyer Sittlichkeit“, umb ftellt, Moral Bd. IV. $. 345., ind»
befonderg: auch die Geſtattung der Prebfreiheit als Pflicht für chriftiiche Obrig⸗
keiten dar. Dug- a. a. D. (f. ©, 467. Note.) ©. 225. fagt: „Sein Streben
„war ganz anderer Art und größeren Styles. Sein Bli ging in's Allges
„meine und umfaßte bie Voͤlker des Erbbobens, nicht fie unter den Moſals⸗
„mus zu beugen, f.onbern in geiftiger Freiheit aus eigenem
„Pflichterkenntniſſe auf die hoͤchſte errcihbare Stufe zu füps
„een, welche fittliche Weſen zu erfleigen befähigt find.‘
480 | Ghriftenthum.
den meiften Völkern des Drients hatten, erſcheinen fie allerdings flufens
weiſe fehon reiner und freier bei den Hebräcen, bei ben Griehen und
Römern in ihren befferen Zeiten und vorzüglich bei den Germanen.
Doc) ungleich reiner und wuͤrdiger fordert und geftaltet fie bad Chriſten⸗
thum. Es tilgte auch felbft die gefeglichen Nefte dee Polygamie, des
Goncubinats und den noch nad) hebräifhem, griedifhem, roͤmiſchem
und deutfhem Recht ftraflofen Ehebruch des Mannes mit ber ledigen
Frau, die alfo Bein Recht auf eheliche Treue hatte. Es tilgte die wills
kuͤrlichen Eheſcheidungen, die ehelichen und befpotifchen Herrenrechte zum
Vortheil des Chemanns und Vaters und mittelbar auch frühere, damit
und mit der Zurüdfegung der Frauen zufammenhängende Vormund⸗
ſchafts- und Erbrechte. Es begründet bisher unbekannte Pflichten ber
Keuſchheit und fordert allgemein die Höchfte fittlihe Reinheit, fest die
Mürde ber Frau der Würde des Mannes gleich und heiligt die Ehe als
ein unter befonderem göttlichen Schutz ftehendes, von Gott, oder im
Himmel gefchloffenes, willtürlicher Auflöfung entzogenes Verhaͤltnif,
und ausdrüdtich als ein Verhältniß fo innig, gegenfeitig liebevoll, fo
ehrwuͤrdig, rein und frei, wie das des Erlöfers zu der Chriftengemeinde *).
Auch bie zweite Hauptgrundlage freier, vernunftrechtlid;e
Staatsverhältniffe, nämlich freie, unkaſtenmaͤßige Stanbess
verhält niffe, begründet ebenfalls das Chriftenthum mehr
als irgend eine Religion, als irgendeine frühere Ges
feggebung. Alle feine Hauptlehren ſchneiden alle Wurzeln und
Quellen und alle ſcheinbaren früheren Nechtfertigungen aller Sklaverei
und Leibeigenfchaft, aller Stammes: und Kaftenherrfhaft, aller die Freis
heit und Gleichheit der Menfchen wahrhaft verlegenden, dem Hochmuthe
dienftbaren Bevorzugungen und Bevorrechtungen wegen angeblicher beſ⸗
ferer begünftigterer Abflammung der Nationen oder der Geſchlechter voͤllig
ab. Es bedarf aber wohl Beiner Ausführung, wie fehr diefelben nicht
blos an fich der Freiheit der großen Mehrzahl der Unterdrüdten und
Ausgefchloffenen miderfprehen, fondern auch die Freiheit feibft für bie
Bevorzugten, kurz wahre und bauerhde freie Verfaffungen untergraßen.
Die chriftlihen Grundfäge laſſen nur ſolche Standesunterfchiede zu,
welche die allgemeine. gleiche Menfchen » und Bürgerwürde und bie freie
Wahl des Rebensberufes nach eigner, freier Ueberzeugung nicht verlegen,
und nur infomweit fie felbft. Dem allgemeinen gefellfchaftlihen Wohl ents
fprechen. Hierhin führen nun jene reinen, freien Familienverhaͤltniſſe;
hierhin, die Lehre, daB. alle" Mienfchen von Einem gemeinfchaftlichen irdi⸗
fhen Stammvater abftammen, und vor Gott, vor welchem fein Ans
fehen, der Perfon gilt, voͤllig gleiche, gleich geliebte, gleich
theuer erloͤſete Kinder und Brüder, alle überhaupt, fo mie von
gleich. edler trdifcher Abkunft, fo auch alle „göttlihen Geſchlechts“
den Stempel goͤttlicher Ebenbildſchaft an ſich tragend, alle von
gleicher freier unſterblicher Wuͤrde und Beſtimmung ‚ale tugend⸗ und
*) Matth. 19, 3m Sphef. 5,21 ff. 1 Eorinth. 6, 1 f.
Shriftenthum. | 481
vervollkommnungsfaͤhig ſeien. Hierhin führen die Hauptpflichten aller
Chriſten: alle Menſchen, ohne Unterſchieb der Abſtammung
und des Glaubens, als ihre Bruͤder oder ihre Naͤchſten zu lie⸗
ben und zu achten und fuͤr ſie das Leben zu laſſen, ihnen de muͤthig
zu dienen und jede hochmuͤthige und eigennuͤtzige Bevorzugung,
Ausſchließung und Herrſchaftsgewalt, „als von Gott verabſcheut“,
gaͤnzlich zu meiden und aufzugeben, gegen ſie Alles zu thun und zu un⸗
terlaſſen, was man ſelbſt von ihnen gethan und unterlaſſen wuͤnſcht *).
Nach dieſen Grundſaͤtzen mußten ſehr begreiflich ſchon die erſten
chriſtlichen Kaiſer die Aufhebung der Sklaverei beginnen **) und von
fruͤhe an wuͤrdige chriftliche Geiftliche ebenfo, wie mit Energie auch die
allgemeinen Rechtsbuͤcher des Mittelalters ***), fo wie fpäter, bei Ab⸗
fhaffung des Negerhandels der edle Wilberforce und neuerlich wies
ber, bei der Sölavenemancipation, das britifhe Parlament, und
endlich auf dem wiener Congreß bie eueopälfhen Megierungen alle
Sklaverei und Leibeigenfhaft für völlig unchriſtlich erklaͤren und für
ihre Aufhebung wirken. &8 hätte fetbft hierzu nicht einmal anderer wies
derholter moralifher Mißbilligungen der Sklaverei in der heiligen
Schrift beburft, fo z. B. nicht der Aufforderung an die Herren, daß fie
nunmehr, als Chriften‘, nicht länger ihre Sklaven als Knechte, fondern
als Brüder behandeln, alles Drohen laffen und ihnen gleiches Necht (2oo-
znta) zugeftehen follen, ober der Aufforderung an die Sklaven, wenn
fie es auf rechtlihem Wege könnten, fih, mo möglich, die Frei⸗
heit zu erwerben, oder der Aufforderung an alle Chriften, als
theuer Erlöfete nun niht der Menfhen Knechte zu wers
ben +). Wenn aber bei all diefem Hugo ſelbſt eine chriftliche
Sanction der von ihm leider verthelbigten Sklaverei daraus ableiten
will, daß Chriftus nicht ſelbſt alle Sklaverei ausbrüdlich verbot und aufs
hob, und daf einzelne Stellen den chriftlihen Sklaven ermahnen, fein
hartes 2008 mit liebevoller Ergebung zu tragen, fo uͤberfieht dieſe ungluͤck⸗
liche Lehre gänzlich, dag Chriftus Fein einziges weltliches Rechte:
inftitut unmittelbar politifch aufheben oder gemaltfam zu zerſtoͤren
befehlen wollte, was in diefem Falle fogar aller Civiltfation, wie den für
die Sreiheit noch unvorbereiteten Sklaven felbft höchft verberblich gewe⸗
*) S. 3. B. Matth. 7, 12, 10, 49, 18, 1. 11. 20, 2%. 23, 6— 13.
Marc. 10, 42— 45. pe 6, 38. 9, 48. 10, 29. 16, 15. Apoſtelgeſch.
10, 34. 35. 17, 18. 26, 9. Epber, 6,9. Röm. 2, 11. 1 Petr. 1,17.
Xacob. 2, 9. ©. auch unten S. 487 Rote. Die Schrift weiß ebenio, wie gegen
das materialiftiihe Streben nad Reichthum, fo auch gegen jebe hochmuͤ⸗
thige, berrfchfüchtige, bie brüberlidye Gleichheit und Freihcit verlegende Zuruͤck⸗
fegung und Herrfchaft kaum flarfe Worte genug er finden, z. B. „denn was
„hoch iſt, iſt dem Herrn ein Greuel“, Lucas 16, 15. |
»+) C. 56. de episcopis. Nov, 5, 2.
et) Sachſenſpiegel 3, 42. Schmabenfpiegel 52.
HP Eoloff.d, 1. 1 Gorinther , 21-3. Philem.16. Ephe⸗
. fer 6,9.
Stauts : Eerilon. IIL 51
482 Ghriftenthum.
fen wäre. Hugo hätte zugleicy aud) den Raub als von Chriflus fanctio:
nirt darftellen müflen, denn Chriſtus gab Feine ausdruͤcklichen Gefege
gegen denfelben und fordert ebenfalls in der Stelle: „nimmt dir einer
den Mantel, fo gib ihm auch den Rod” zu liebevoller Ergebung auf.
Ganz befonders aber veranfchaulicht das Beifpiel der Sklaverei gerabe
jene große Marime des Chriftenthums, auch felbft die feinem ganzen
GBeifte am meiften widerſprechenden weltlichen Rechtsverhältniffe nicht
unmittelbar politifh und von außen zu zerftören, wohl aber durch
die rechte chriftliche Sefinnung ihre freie, auch politifche -Abfchaffung ober
chriftliche Umgeftaltung mittelbar zu bewirken. Mit Berufung auf
die chriftlichen Srundfäge. eiferte die Geiftlichbeit und bie Kirche auch
ftets gegen adelige Worzugsrechte *). Endlich find denn auch in ben
allermeiften chriftlihen Staaten alle wirklich verlegenden und kaſtenmaͤ⸗
ßigen adeligen Standesrechte verſchwunden.
Auch die dritte Hauptgrundlage der Freiheit, die Selbſtſtaͤn⸗
digkeit und die Trennung von Staat und Kirche gibt
das Chriſtenthum vollſtaͤndiger, als irgend eine Relis
gion, ja allein unter allen. So weit vor und neben ihm bie Weltges
ſchichte reicht, beherrfchen und mißbrauchen entweder die Priefler, mit
öffentlihem Betrug und mit Entweihung der Religion, wie mit Zerſtoͤ⸗
eung der Kreiheit, die weltliche Obrigkeit und das meltliche Recht für
ihre Herrſchſucht und Habfuchtz oder die weltliche Gemalt mißbraucht bie
Religion, die Auguren, die Orakel, die Priefterfchaft, für ihren meltlis
hen Defpotismus. Die Reinheit und Würde der Religion, wie bie
Freiheit des Staates, beftehen nur bei der Eeibftitändigkeit beider, nur
bei einer gegen dußeren, weltlichen Zwang gefchüsten völligen Glaubens⸗
freiheit und bei einem gegen fubjective Glaubensmeinung gefchügten fes
ſten weltlichen Recht. Alle Freiheit wird vernichtet, zulest fogar in
den Gedanken der Menfhen, wenn bie geiftlihe Behörde zugleich
mit weltlicher Macht ihre Glaubensfagungen, als auch weltliches Geſetz,
aufzwingt, oder wenn die weltliche Gewalt jede Wilfür auch zum
Glaubensartifel ftempelt und ebenfalls mit dem Schwerte durchführt,
wenn fo wirklich jede Appellation von der geiftlihen Anmaßung an ein
fhügendes weltliches Recht und von der, weltlichen Tyrannei an ein befs
feres religiöfes Geſetz gänzlich und felbft für den Gedanken zerftört
wird. Chriftus nun gründete diefe volle Selbftitändigkeit der zwei
Vereine von Staat und Kirche mit der wechfelfeitigen Pflicht, das ſelbſt⸗
ftändige Recht des Andern nicht zu verlegen und nur in freier brübderlicher
Unterftügung für das Gute und Rechte gemeinfchaftlic den menfchlichen
Geſammtzweck zu fördern. Daß Chriftus durch Beſchraͤnkung der relis
giöfen Gebote und Behörden auf das religioͤſe Gebiet die Selbſtſtaͤndig⸗
keit des Staats anerkannte, wurde ſchon oben (III, 1.) nachgewieſen.
. ) S. 3.83. C. 37. et ult. X. de praebend. C. 37. de praeb. in VI,
bie Soncilien von®@onftanz ‚Ausg. d. Hardt I, p. 637., von Bafel Seas.
31. und von Trident 6,1. 32,2.4 24,1. 12.
Chriftenthum. 483
Aber er, der die weltlihen Gefchäfte. aus dem Tempel verjagte, der aus
feinem Reiche jeden äußeren phey; weltlichen Zwang ausſchloß und dabei
lehrte, daß man Gott mehr gehar an müffe, ale den Denken, der in
muthiger Todesverachtung ſeinen Juͤngern zus Nichtachtung weitlicher
Befehle gegen goͤttliche Pflichtgebote das Beiſpiel gab und mit dieſen
ſeinen Juͤngern die Anklagen und, Verurtheilungen wegen Volks⸗ und
Jugendverfuͤhrung, wegen Gefaͤhrbung des Friedens und des Anſehens
von Staat und Kirche ſich nicht: irren lieg — er wollte wahrlich auch ein
freies religioͤſes und kirchliches Reich gründen.
Freilich wurden fpäter auch. diefe chriftlichen Grundfäge der Selbſt⸗
ftändigkeit von Staat und Kirche oft und lange verlest. Ste wurden
es fhon unter ben deſpotiſchen griechiſch⸗ römifchen Kaifern, dann auf
entgegengefegte Weife in dee fränfifchen Monarchie, in welcher 3. DB.
Chilperich alle weltlichen Gerichte der. höchiten Entfcheidung ber Bi:
fchöfe unterftellte, und im hierarchiſchen Mittelalter. Sie rourden es in
jeder Weife feit Philipp I. in Spanien, Portugal, Italien, und wie⸗
derum auf bie römifd) = defpotifche Weife unter Heinrich VI. in Engs
land und fpäter in ber Sjacobinifchen und Napoleoniſchen Defpotie.
Sie wurden endlich auch verlegt in einigen falfchen deutfchen Theorien,
welche, fo wie die Hugoifche, die Kirche zur Staatsanſtalt erniedrigen,
oder eine falſche Einheit von Staat und Kicdhe ‚vertheidigen. Aber bei
jeder Verlegung zeigte fich auch das Verderben für die wahre reine Re
ligiofität fo. wie für die Sreiheit, und ſtets fanden die richtigen chriftlis
chen Grundfige wieder ihre Anerkennung und Sanction, fo wie durch
Kart den Großen, fo unter Kaifer Eudwig dem Baiern und
vollends in der Reformation. Auch in der ſchlimmſten Zeit blieben
doch Papſtthum und Königthum gefchieden. Es wurden in chriftlichen
Reichen die weltlichen Serrfcher nicht, fo wie Roms Imperatoren, aud)
Oberprieſter und Päpfte, noch die legteren, fo wie die Nachfolger des
Propheten im Chalifat und im türkifhen Kaiſerthum, auch die mweltlis
hen Herrſcher. Nie wurden jene großen chriftlihen Hauptgrundſaͤtze
gänzlich zerftört: Seit der Reformation, die, ebenfo wie das Chriftens
thum felbft, nur durch den Grundfag, man muß Gott mehr gehorchen,
Pr den Menfchen, fid) ausbreiten Eonnte, fi egen- fie allmälig immer voll
ndiger.
3) Aud bie Hauptgrundfäke oder die Grundgeſetze
der Sreiheit werden mittelbar durch die hriftlihen Moralgebote
geheiligt.
Das Chriftenthum heiliget freilich allerdings nur ein durch fitts
lihe Zwecke und Geſetze beftimmtes, mit Achtung einer gefeglichen,
friedlichen Ordnung vereinigtes Streben nad Freiheit, wobei eine lies
bevolle, verföhnliche Gefinnung gar manche Verlegungen der eigenen
Freiheiten und Nechte verzeiht und verfchmerzt. Obwohl eine Lehre,
die jene höchfte praktiſche Liebe lehrt und welche von Tich felbft
fagt, daB fie nicht zum Frieden, fondem zum Krieg in die Welt kam,
oder die, mit Vorausſicht bed gewaltſamen iderfteite gegen fie, ur
3 %
484 Chriftenthum.
muthigen Todesverahtung in Ausuͤbung Mar erfannter Pflichten aufs
fordert *), allerdings fehr weit entfernt ift von jener Berechnung ber
Pflicht blos nach Auferen Erfolgen, von jener feigen und materlalis
ſtiſchen Vergoͤtterung der aͤußeren Sicherheit und Ruhe als des hoͤch⸗
ften Gutes, von liebloſer Gleichguͤltigkeit und Parteilofigkeit in Bezie⸗
hung auf die politifhen ober die-gemeinfchaftlihen, Wohl und
Wehe, Berbefferung und Verſchlechterung unferes Volks beftimmenden
Angelegenheiten, fo heiliget fie doch keineswegs eine für felbftfüchtige
Zwede mit eigenmilliger Gewalt ertrotzte anarchifhe Freiheit. Und
Diejenigen, welche mit folhen Gefinnungen gegen jebe fcheinbare ober
wirkliche Unvolltommenheit, vielleicht fhon gegen jede, nicht die indi⸗
viduelle Form der Republik an fich tragende Einrichtung, nach ihren
individuellen Meinungen, ohne Achtung des Willens ihree Mitbürger
und der Geſetze, jeden Augenblid zu ungebuldigen Empdrungen, zu
scheimen Verſchwoͤrungen oder gar zu Meuchelmorden und andern
die Bande des Vertrauens aufldfenden Mitteln geneigt find, finden
in der chriftlichen Lehre keine Unterftägung, fondern dad Gegentheil.
Diefes bedarf wohl überhaupt und auch nad dem, mas fchon oben
berührt wurde, keiner meitern Beweiſe. Sollte man aber vielleicht
erft bemweifen müffen, daß diefe Säge fi) in keinem Widerſpruch bes
finden mit einem wahrhaft freiheitlihen Charakter des Chriftenthums?
Doch, übereinftimmend mit dem Chriftenthum, fagt e8 die Weltge⸗
fhichte, fagt es jedem Unverdorbenen bie innere Stimme, baß nur
dns Gute und Rechte Segen und Beltand hat, daß felbftfüchtige,
alfo zulest ſtets für einen höheren Preis erkäufliche, für Entfagung
und Aufopferung unfähige, daß die gemeinfhaftlichen Weberzeu:
gungen ihrer Mitbürger und die Gefege ihres Vaterlandes nicht ach⸗
tende, gewaltfame und meuchlerifche Menfchen die fchlechteften Stuͤtzen
der Freiheit find. In einem von Selbſtſucht beherrfchten, unfittlichen,
geſetzloſen Volke, aus welchem Treue und Glauben und ba8 äffentliche
Bertrauen verſchwunden find, iſt bie Freiheit nur ein hohles, auf
Sand gebaute® Gerüft. Sie wird nur dauernd und fruchtbar und
immer vollfommener unter der Herrſchaft höherer Gefege, bei der Ber:
bindung der muthvollen und aufopfernden Wahrheits⸗ und Freiheits⸗
Liebe mit einer alteömifhen und britiſchen Beharrlichkeit, Ge:
duld und möglichften Achtung der gefeglichen, ehrlichen und friedlichen
Wege, für ftufenmeife Entwidelung der Freiheit, ſowie der zur Feſtigkeit
der Staatsordnung unentbehrlihen Befchränfungen. Durch ein fie
nicht beachtendes, eigenmaͤchtiges, leichtfertiges Mevolutioniren, wie es
Jedem gerade einfällt, duch fo gemachte Mevolutionen laffen ſich
vielleicht Iyrannen flürzen — oft auch ſchaffen — aber keine Frei⸗
N) S. z3. B. Matth. 10, 16, 8-39. Joh. 7, 7.12. Cucas 12, If.
Vergl. auch oben Seite 476 Note und die nicderfmetternden Strafreben gegen
bie Heuchelei und den Hochmuth der Schriftgelehrten und Phariſaͤer Matth. 23
und Zuc. 11, 37—5%. Marc. 8,5. * |
Ehriftenthum. 485
heit gründen. Freiheitskaͤmpfe muß nicht ber eigne Wortheil, das
eigne Recht, fondern die Pflicht, die unbezweifelbare, anerkannte Pflicht
leiten, wenn fie zum Beil führen follen. Trotziger Eigenwille und
Selbſtduͤnkel, ohne die Tugend der Selbſtbeherrſchung und bie nach⸗
haltige Kraft hoher fittlicher Gedanken, find nicht bie für eine ges:
meinfhaftlihe und dauernde Freiheit günftigen Gefinnungen.
Der gefegliche, bee burch ‚die Religion und :Gefchichte unferes Volkes -
und durch feine Zuſtimmung geheiligte ehrliche Weg, das ift für die
Innern Frelheitskaͤmpfe der Völker daſſelbe, was für die dußeren und
für feine Kriegsheere die. Disciplin und die gemeinfchaftlihe Fahne
find., Wenn Alte auf eigne Fauſt, wann und wo «8 ihnen gefällt,
losſchlagen wollen, fo fmd aller Muth und alle Streitmacht verſchwen⸗
bet. Und Freibeitöfreunde, bie, flatt in der Meligion und Gefinnung,
in der Gefchichte und Gefeggebung ihres Volkes bie guten Keime
und Wege, für feine Verbeſſerungen aufjufuchen, verleitet durch den
Mißbrauch -und die WVerunftaltung berfelben, ihnen mit Daß und
Verachtung und Zerſtoͤrungsluſt gegenübertreten,. bie werden nicht mit
ihrem Volk und für daffelbe fiegen. Freilich muß, mer im Kampfe
gegen ſolche durchaus verkehrte Sreiheitäbeftrebungen gerecht bleiben
und nur bierbuch heilſam wirken will, zugeflehben, daß biefel-
ben faft immer hervorgerufen und unterffügt werben gerade durch
ſolche unwuͤrdige, niedriggefinnte . Anhänger und Diener bes Defpotie-
muß, welche. die Ehrlichkeit und. Gefeglichleit bes politifchen Strebens
in. Knechtsgefinnung, die nothwendigen Schranken ber Freiheit in Abs
folutismus verwandeln, welche aus ber Beruͤckſichtigung der befonderen
Verhältniffe der Nation die Erklaͤrung Ihrer fpeciellen Unfähigkeit und
Unwuͤrdigkeit für die Freiheit ableiten, welche fie ihe heute wegen ber
ruhigen und morgen wegen ber bewegten Stimmung verweigern und
die traurige Furcht begründen, auf freiwillige Rechtsgeſtattung fei nie:
mals Hoffnung, welche endlid unter dem Namen der allmäligen Eut-
twidelung ber neuen Freiheit bei fleigender Wahrheits-Unterdruͤckung
die Reſte des früheren Rechts zerftören und Gefinnungen und Staats:
einrichtungen nur immer ſerviler machen möchten, welche aber burd)
die Gefühle und Beforgniffe der- Taͤuſchung in feinen gerechteften Er:
wartungen und durch den Math zu unwürbdigem Gebraudy ber Me:
gierungsrechte und vor Allem der Juſtiz zulegt eine gefährliche Erbits
terung des Volks veranlaflen. Alles dieſes aber kann bie entgegenge:
festen Verkehrtheiten höchftens entfchuldigen, aber niemals rechtfertigen
ober heilfam machen.
So zeigen ſich denn alfo auch diejenigen chriſtlichen Grundſaͤtze,
welhe man ber Sreiheit ungünftig bielt, nicht blos ber gefeglichen,
friedlihen Ordnung, fondern auch der Freiheit felbft hoͤchſt günftig.
Sie unterftügen den glüdlichen Erfolg der guten Beſtrebungen für
fie, fordern auf zu biefen und verbieten die verderblichen.
Die Freiheit aber müffen nun allerdings alle wahren Chriſten
erftreben und begründen, da fie der Würde der Menfchen und Bol:
486 Shriftenthum.
fer, ihrer höheren Vervollkommnung und erlaubten Gluͤckſeligkeit ent⸗
ſpricht und die Mittel fuͤr ſie darbietet, da ſie uͤberhaupt das hoͤchſte
und edelſte irdiſche Gut der Menſchen und Voͤlker iſt. Inſofern darf
und ſoll ſie fuͤr's Erſte jeder Menſch auch fuͤr ſich ſelbſt und die
Seinigen und fuͤr ſeine Nachkommen erſtreben und beſchuͤtzen, ſowie
ſchon nach jener ausdruͤcklichen chriſtlichen Lehre ihre unterſteStufe,
die Freiheit von Sklaverei. Er darf und foll fie aber fur's Zweite
feinen Mitmenfcen, foviel an ihm ift, und foweit er, zumal als Maͤch⸗
tigerer, namentlich als Regent, vechtmäßige Gewalt und Mittel dazu
hat, einrdumen und vor Allem unverlegt laffen. Diefes fordern fchon
die heiligen Pflichten der juriftifhen und moraliſchen Gerechtigkeit,
deren Achtung uͤberall das Chriſtenthum einſchaͤrft )). Ex bat für’s
Dritte fuͤr ſie zu wirken und vollends jede Beeintraͤchtigung derſel⸗
ben zu meiden, nach jener thaͤtigen Bruderliebe gegen alle feine Mit⸗
menfhen und nad der durch fie beftimmten Aufgabe füͤr ihre Be⸗
glüdung und Vervollkommnung das Moͤglichſte zu wirken, insbeſon⸗
dere auch, um fie gegen Gewaltthat und Verlegung, Beraubung und
Unterdrüdung und gegen die Verberbniffe der Knechtfchaft zu ſchuͤhen.
Solcher Schutz wird oftmals Pflicht der Liebe da, wo wir ben
uns ſelbſt zugefuͤgten Schaden durch rechtswidrige Verletzung und Be⸗
druͤckung aus liebeyoller eigener Aufopferung verſchmetzen, ober doch
nur zum Schutz des gemeinſchaftlichen Rechts der Mits
menſchen oder aiıs andern Pflichten abmehren follen **). Em Sees
ben nad mwürdiger, gefeglicher Freiheit ift viertens nothwendig zur
möglichften Verwirklichung einer gemeinfchaftlichen moralifchen Geſell⸗
fihaftsordnung nach dem Worbilde des freien chriftlihen Reiche, wo⸗
durch insbeſondere auch die heranwachfenden Geſchlechter würdig erzo⸗
gen und vor Elend und Verderbniß geſchuͤtzt werden. Aus allen bie
fen Gründen werden wahre Chriften mit aller Anfteengung und Aufs
opferung auf jedem würdigen Wege für ihr Waterlanb und die Menfchs
heit gefegliche Sreiheit zu erwerben, zu befeftigen und zu vertheidigen ſtre⸗
ben. As völlig feicht und krankhaft muß e6 ihnen erfcheinen, wenn
Manche diefed Streben geringfchägen wollen, weil es politifch fe,
und weil allerdings für bie eigne Tugend des Handelnden feine ſitt⸗
liche Gefinnung Grundbedingung und die fittlihe Gejinnung wenig⸗
ſtens eines’ großen Theils der Bürger fir die Freiheit felbft nöchig
und die befte Stuͤtze und auch ohne Freiheit von Werth und gutem
*) MattH, 7,12, 24,12. Luc.6,38. 1 Corinth. 13,6, Epheſ. 5,9.
*) Luther (Werke Ausgabe von Wald Bd. X. ©. 441.) fagt: „Aber
„für Andere mag und foll er Rache, Recht, Baus und Hülfe ſuchen und dazu
„thun, wie er Tann und mag.‘ Ferner Bd. X. ©. 539.: „Meiner Perfon
„und meines Lebens halber will ich mich demuͤthigen * Jedermann. Aber weis
„mes Amts und meiner Eehre halber und infofern mein Leben eunfeiben gleich iſt,
„warte nur Niemand meiner Geduld und meiner Demuth.” S. auch Luthers
Skhriften von Lemmler 1816, 1. &. 328.
Ehrifienthum, 487
Einfluß iſt. Hat ja doch die fittliche Gefindimg: nur Wahrheit und
Merth, wenn fie die Mitmenfchen zu verbeffern und zu beglüden ftrebt.
Da nun die Menfchen überall in politifchen Gefellfchaften leben und
bie guten oder fchlechten Geſchhe und Eintihtungen-'derfelben im hoͤch⸗
ften Grade für die Vervollkommnung und MWerfchlechterung, Gluͤck
und Ungluͤck unferer Mitmenſchin, vorzüglich‘ dee noch unerzogenen,
einflußteih find? — namentlich. auch für die Schulen und bie Kicche
und die Kicchenlehre —, fo muß:jend fistlihe Geſinnung, fo weit fie Fann,
auch in hohem Grade auf fie, alfa, polittfc oder für eine heilfame
Seitaltung der Gott wohlgefälligen obrigkeitlichen oder
Staatsorbnung und dabdurch mittelbar- für Tugend und Gluͤck
unferer Mitmenfhen zu wirder streben. So lange wir in biefer
Melt leben, befteht ja eine gegemfeitige Beſchraͤnkung und Wechſelwir⸗
tung des Inneren und Aeußeren, des Freien und Mothwendigen.
Bon folhem Standpunkte aus empfiehlt nun dlie chriſtliche Lehre
ber Beftrebung der Regierungen und der Bürger ebenfalls mehr
als irgend eine andere Religion: auch die Hauptgrund⸗
fäge der Freiheit. -- - Fr
Sie fpriht nach dem vorhin ‚(unter IV, 2.) Ansgeführten für’s .
Erfte für die moͤglichſte brüderlihe Rechtsg leichheit, zwar nicht
für eine materielle, wohl aber fuͤr die formelle oder für dk
Gleichheit vor dem Geſetz, das heift-für bie gleiche Heiligkeit des Rechts
und für den gleichen Rechtsſchut, ſowie für die verhaͤltnißmaͤßige
Gleichheit. Dieſes ift eine je nach DVerdienft, Bebürfnig und Kraft
verhaͤltnißmaͤßig gleiche Zutheilung: der Vorthelle und Laſten oder der
Pflichten und Rechte des gemeinſchaftlichen, bruͤderlichen, geſellſchaft⸗
lichen Lebens. Alte, alſo auch die MMegierenden, ſollen als freie
Mitglieder eines und deſſelben brüderlihen Vereins wechſelsweiſe
für. Aller Wohl ſorgen, wechſelsweiſe einander dienen, unter⸗
than fein und 'nüsen, Alle ſich als Brüder von gleicher höherer
Würde und. Beftimmung achten und „Ehrerbietung” bemeifen *).
Sie fpriht fuͤr's Zweite -ebenfo für die möglichfle gleiche
Private und politifche Fretheit oder für die freie Beſtim⸗
mung über die eignen und bie freie gefegliche Mitbeftimmung über
die gemeinſchaftlichen Angelegenheiten. Schon die Gleichheit enthält
mittelbat bie Freiheit, ſowie dieſe ‘die Gleichheit. Nach Gottes Bild
oder gottaͤhnlich und frei erfhaffen; mit ber Erkenntniß und der freien °
Wahl von Gut und Boͤſe, mit unſterblicher Würde und Beſtimmung
find ale Menfchen gleich freie Mitglieder des menfchlihen Bruderge⸗
fhlehts und feiner gemeinfchaftlichen freien Vereine für ihre Lebens⸗
beftimmuna. Aus freier Liebe und nad) ihrer frei geprüften, gewiſſen⸗
haften Ueberzeugung fotlen fie fi immer: mehr zu vervolllommnen,
») S. z. B. Ev. Joh. 13, 14 Röm. 12, 10, Epheſ. 4,235 5, 21.
1 Petr. 1, 22 und oben S 473 Rote **) und S. 481 Rote *).
488 Ehriitenthum.
in Wahrheit und Gottähntichkeit zu wachſen fuchen, mit Gewiſſensfrel⸗
heit auch für die möglichfte Vervollkommnung und Begluͤckung der
Ihrigen und aller ihrer Mitbürger.thätig wirken und gerade im. dies
fer Wirkſamkeit ihr hoͤchſtes Gluͤck ſuchen. Selbſt ihr ;brüberlicher
Erloͤſer verlangt nur freien Gehorſam dieſer freien Weſen durch Lehre,
Wahrheit, Ueberzeugung und Liebe--beflimmt. Selbſt für bie Geſetze
des goͤttlichen wie des kirchlichen Reiches fordert das Chriſtenthum nur
freie, liebevolle, überzeugungstreue Befolgung. Durch einen feierlichen
Bund, eine Erfüllung und eine Erneuerung jenes alten Bunbes,
welhen Gott mit dem aus ber Suͤndfluth erretteten Menfchenges
fchlechte, mit Abraham und dann mit feinen Nachkommen am Si⸗
nat und im Moabiterlande fo feierlich abfchloß, wird auch jege
das neue Bürgerreht in dem göttlichen Reiche und die Verpflichtung
zu feinen Gefegen begründet. Durdy Taufe und Glaubensbelenntnig
erneuert fich dieſer Bund zwiſchen jedem Einzelnen und zwiſchen Chris
ftus, der auch ‚feinerfeits. durch. dje Laufe in diefen Bund feierlich
eintrat. Der Gehorſam ſelbſt . gegen die göttlichen Gefege, denen
Alte doch mehr gehorchen folten, als allen menfchlichen, iſt alfo nad)
diefen erhabenften Vorftelungen von ber menſchlichen Wuͤrde und Frei⸗
heit fuͤr die freien Menſchen nur ein freier auf eigner Prüfung und
Ueberzeugung beruhender, vertragsmaͤßiger *).
Wie koͤnnte nun nah allen dieſen Grundſaͤtzen und nach
dem Vorbild des goͤttlichen Reichs und Regenten der menſchliche Ver⸗
ein unter freien und gleichen Bruͤdern anders, als frei und vertrags⸗
mäßig eingegangen und beftimmt werden? Wie Eönnten die freien,
unter dem hoͤchſten göttlihen Gefeg nach ihrer freien Prüfung und
Ueberzeugung ſtehenden Chriften eine andere, als eine folche frei aners
Konnte, gefeßlihe fouvernine Gewalt chriſtlich finden und erficeben ?
Wie Lönnten die chriftlihen Megenten in dieſen freien brüberlichen
Vereinen. von ihren freien Mitbrüdern einen andern, als ebenfalls
einen freien, durch beren freie Prüfung und Anerkennung begrünbdes
ten, ald einen vertrags⸗ und verfaffungsmäßigen Gehorfam fordern
wollen? Wie Eönnten fie hiernach und nad, jener Pflicht, die Wahrs
heit frei zu laffen [S. 478 Note **)], wohl ihrer freien Mitmenſchen Ges
danken beherrſchen, denfelben ihren eignen Willen als Gefeg und ihre
Gedanken als Regel aufjwingen wollen? Wie möchten fie Diejenis
gen, die fie als vollig gleiche Brüder achten, mit ber hoͤchſten Ges
rechtigkeit und Liebe behandeln follen, ihrer Sreiheit und des moͤglichſt
gleichen Antheild an berfelben und an dem gemeinfchaftlihen Vereine
26 3 8. Mattp. 8, 13. 236, 38. Marc 14, 24. Lucas 1,: 68
bie 73. 22, 20. Ev. Ich. 4, 1.19, 8,31. 15, 14,19. Apofelgefd
2, 39. 3, 21-26, 6, 1—6. 7, 37. Rom. 15, 8. Hebr. 9 und 10.
1 Betr. 1, 2. ©. au ©. 473 Rote e), ©. 478 Rote "), ©. 481 Rote *)
und S. 487 Note *). Luther fagt: Bine verbo promittentis et sine fide
suscipientis nihil potest nobis exsu cum Deo negotii.
Chriſtenthum. 489
berauben wollen? Wie duͤrften ſie ihnen das ihrer gleichen Wuͤrde
und Beſtimmung entſprechende hoͤchſte menſchliche Gut, das kraͤftigſte
Mittel fuͤr eigne und fremde Vervollkommnung und Begluͤckung ent⸗
ziehen und ſie als Herren deſpotiſch beherrſchen, ſie allen Entwuͤrdi⸗
gungen und Verderbniſſen der Knechtſchaft preisgeben? Am menigs
ften dürften etwaige Beforgniffe für ihre Herrſchaftsrechte fie von
Einraͤumung ‚der: Freiheit abhalten. Auch an- fie ergingen ja jene Ges
bote der Achtung der Gleichheit und- Gerechtigkeit und der muthigen
Liebe, welche zu jedem Opfer, felbft dem bes Lebens, bereit fein muß,
für Begründung eined würdigen Zuſtandes ber Menfehen, und fie
fordern ja auch Muth und Aufopferung von Seiten der Bürger für
ihren Schug. An fie erging ausdruͤcklich das Wort: daß fie, eben
wegen jenes bruͤderlichen Verhältniffes und weil .fie einem gemeine
fhaftlihen Höheren Herrn und Gefeg unterfiehen, nun
nicht mehr herrfchen follen nad der Weife heidnifcher Gewalthaber *).
Freilich fchließt das Chriftentyum aus einem wirklich chriftlichen Verein
nicht blos jede niederträchtige, Enechtifche, feige und. gegen bie gemein
fhaftlihe Freiheit und Gefellfchaftseinrichtung gleichgältige, fondern
auch jene eben bezeichnete -eigenfjichtige und revolutionaire und eine
mißtrauifhe und lieblofe Gemuͤthsſtimmung der Megierten gegen ben
Megenten ebenfo entfchieden aus, . als eine hochmüthige, eigenwillige
Herrens oder befpotifhe Gefinnung von feiner Seite. Und vollends
ift e8 ein feltfamer Sprung, wenn De La Mennais von dem
Cat, daß der Eigenwille eines Regenten nicht fouverein fein bürfe,
nun dahin gelangt, jeden einzelnen Bürger zum Gouverain zu ma=
hen und die Erbmonarchie mit dem Chriſtenthum wie mit ber Frei⸗
heit für unvereinbar und, fowie Nouſſeau, nur sine unbedingte (alfo
abfolute) demokratiſche Volksſouverainetaͤt und Stimmenmehr⸗
heitsgewalt für moͤglich zu erklaͤren **). Es iſt aber klar, daß aus
dem erſten Satz vielmehr das folgt, daß bei allen Regierungs—
formen das: Berfaffungs-Gefesg und die in ihm frei und
allgemein und eidlich anerkannten hoͤchſten Grundfäge und Pflichten
für das gemeinfchaftliche, geſellſchaftliche Leben fouverain fein oder
herrſchen ſollen; fie, die eben wegen biefer freien. Anerkennung aud)
*) Lucas 22, 25. 16, 15 und bazu Tertull. Apol. 21 unb Augustin.
de civit. Dei 2, 21. 4, 4. 17, 14. 19, 23. 24. Auguftin fordert hier zus
gleich einen Staat als eine societas aequalis nach bem consensus populi für die
salus populi, In einer andern Stelle (Ap. 37.) fagt Zertullian vom Kai:
fer: liber sum illi, Dominus meus unus est Deus omnipotens , idem qui et
ipsins. Luther X, 539 und aͤhnlich XIX, 839 fagt: „Wer ein chriftlicher
„Fuͤrſt fein will, ber muß wahrlich die Meinung ablegen, baß er herrſchen und
„mit Gewalt fahren will. Verflucht ift alles Leben, das ihm felbft zu gut ges
„ſucht wird! Verflucht alles Werk, das nicht in Liebe geht 1
**) ©. dagegen oben Bd. I, &. 33 und Bd. II, G. 168, vorzüglich aber
mein Syflem I, ©. 186.
490 Chriſtenthum.
mit dem goͤttlichen Geſetz Alter uͤberelnſtimmen werden. So tft ges
trade durch dus Chriſtenthum die Monardyie, nämlich eine rechtliche
und freie, mit gegenfeitiger freier Rechtsachtung und einem wahren
verfaffungsmäßigen Friedens = und Vertrauensverhaͤltniß zwiſchen ber
Megierung und den Regierten nur erft möglih geworben; vor
ausgefegt nur, daß die Feinde der Fürften und der Völker nicht durch
jene falſchen abſolutiſtiſchen und legitimiftifchen Principien den heid⸗
nifhen Krieges oder SHerren=- und Stlaven-Zuftand
oder die Furcht davor zurüdführen, daß die Regenten nicht in dieſe
Schlinge eingehen! -
Es enthält ferner freilich auch felbft die Forderung: „bie moͤg⸗
„lich ſte Gleichheit und Freiheit in dem Staate zu erfireben“, außer
dem, was über die würdige Begründung gefagt wurde, auch nody bie
Beſchraͤnkung, 'daß beide mit der Natur einer feften gefeglichen Staates
ordnung vereinbar bleiben müffen. Und diefe Beſchtaͤnkung kann
nach ben befonderen Bildungszuftänden und Verhaͤltniſſen verfchiedener
Völker allerdings verfchieden fein. Aber auch hier beguͤnſtigt das Chris
ſtenthum im böchften Grabe wiederum die Freiheit.
Keine ‚andere Meligion der Erde fordert nämlih fuͤr's Dritte
fo unbedingt, wie die chriftlihe überall und ſchon duch die Pflicht,
dem unenblihen deal der görtlihen Vollkommonheit und ber
Verwirklichung eines- göftlihen Reiches nachzuſtreben, ein ſtetes,
unermuͤdliches Fortſchreiten und Wachſen in aller Bolk
tommenheit und thätiger Liebe, alfo auch in jener
Vorwirklichung der freien hriftlihen Grunbfäße ber
geſellſchaftlichen Ordnung”).
Diefes große Geſet einer ſiets fleigenden, freieren, höheren und
reicheren Entwidelung des Menſchengeſchlechts und des nothwendigen
Untergangs berjenigen Staaten, Stände und Fürftnhäufer, welche,
bei dieſem nothivendigen Lebensgefeg bes allgemeinen Fortſchreitens,
fhon durch ˖ das bloſe Stilfftehen fich dem Zurüdgehen weihen, fpricht
das Ehriſtenthum auch fhon In, feiner ganzen Außeren Krfcheinung,
in feinee Worbereitung, . wie in feiner fortfchreitenden Entwickelung
und Verwirklichung aus. Es wird dieſes Geſetz ausgeſprochen ober
beſtaͤtigt durch die ganze weltgeſchichtliche Entwickelung der menſchlichen
Cultur. Ihr Centrum iſt dag Chriſtenthum, die alte Welt ihre Vor⸗
bereitung, die neue ihre fortſchreitende Verwirklichung. Der Blick auf
die Weitgeſchichte, auf den Orient, ſodann auf Griechen, Römer und
Germanen, ehe fie Chriften wurden, zeigt ein unverkennbares, alls
mäliges Vorrüden in der Ausdehnung ber Humanität und Freiheit,
in jenem Grun bprincip ber Freiheit, der Vorherrſchaft der freien,
prüfenden Vernunft, in jenen großen Grundlagen bderfelben, deu
ſittlichen und freien Geſchlechts- und Familien— Verhaͤltnif—
2) S. z. B. Epheſ. 4,15. I Zohank. 3,2 2 Theſſal. 3, 13.
Matih 5,4 48. ad . . -
Chriſtenthum. 491
fen, ben freien Standesverhaͤltniffen, und bee Selbſtſtaͤndigkeit geiſt⸗
licher und weltlicher Gewalt, ſowie endlich in jenen Grundfägen
ber Gleichheit, der Freiheit und des Fortſchritts. Doch hatten die
gebildeten orientalifhen Voͤlker und die bes claffifchen Alterthums ges
trennt ihre befonderen Aufgaben, einzelne Hauptfeiten der höheren
menfchlichen Cuitur und Bervolllommnung, entwidelt.e Die orientas
lifchen naͤmlich: vorzugsmeife die überirdifche Seite, die tiefere
und erhabenere Auffaffung des. Goͤttlichen und des menſchlichen Ders
hältniffes zu. demfelben, ba8..tiefere, geiſtigere: Weſen und die Idee
der Einheit Gottes, die tiefere Liebe und die Schnfucht, die Demuth,
Setbftentfagang und Aufopferung des Irdiſchen fuͤr das Ueberirdiſche,
die höhere, unfterblihe Beftinmung des Menfchen. Und in bdiefen
Beziehungen hatten bekanntlich auch die Juden feit ihrer babylonis
fhen Gefungenfchaft ihre Bildung ‚etwas erweitert. Die Griechen
und Römer dagegen bildeten: vorzugsweiſe die irdiſſche Seite, bie
angemeffenen, irdiſchen Sormen:und Träger.:bes. höheren Lebens
aus, nämlich. bie freie ſelbſtſtaͤndige Perföntichleit, ben Maren, praktis
fhen Lebensverſtand und ‚die rege Thatkraft für das irdiſche Leben
und feine praktiſchen Gefege und Bormen, für die Formen ber
politifhen und rechtlichen Freiheit ober des Staats und des Mechte,
fowie der Kunft und der MWiffenfhaft. Die höchften Geifter und die,
größeften Unternehmungen bes Alterthums, Platon und feine Phie
Tofophie, ‚Alerander und fein Zug. nad) Indien, unternommen
in ber. ausgefprochenen Beftrebung ber. Vereinigung -indifcher und gries
chiſcher Gultur, feine Eroberungen und orientalifhen Reiche, befonders
auh fen Aleramdrien, ſodann fpäter das roͤmiſche Weltreich bes
gruͤndeten eine Äußere Annäherung ‚und Vereinigung orientalifcher
und clafſſiſch⸗alterthuͤmlicher Cultur. Da erſchien das Chriſtenthum,
deſſen heilige Schriften ſchon der Sprache nach halb orientaliſch, halb
griechiſch find, verdinigte in feiner goͤttlichen Weisheit die guten Fruͤchte
diefer doppelten Gultur innerlidy unter fih ‚und mit feiner göttlichen
Lebenskraft. Alle Lichtftrahten Höherer religiöfer, fittlicher und allge
meiner praßtifcher MBeisheit,, welche irgendwo in eine Neligion oder
Philoſophie dre Welt vereinzelt ‚hineingefallen waren, vereinigte bie
Sonne bes neuen: Lebens. Aber fie veredelte fie, und, allein fledens
108, reinigte fie diefelben von ben menfhlihen Schwaͤchen und Ber
fehrtheiten, welche felbft die beften aller bisherigen religisflin und phis
loſophiſchen Syſteme hinter hie :chen fo tiefe und erhabne, als allges
meinverftändlihe, eben fo reiche, als einfache, Harmonifche chriftliche
Lehre fo weit zurüditellen. Es gehören dahin z. B. felbfl-in dem Mo⸗
faismus jene Befchräntung des einigen Gottes auf einen eiferfüchs
tigen, raͤchenden Nationalgott, der Volkshochmuth und Fremdenhaß,
die Vermiſchung von Kirche und Staat, die Prieſterkaſte, der Ceremo⸗
nien= und Opferdienſt, die Leibeigenſchaft, das unvollkommenere Ehe:
recht u. ſ. w. Es gehören dahin eben fo ſelbſt in der Platoniſchen
Lehre ſo viele verkehrte, heidniſche Religionsvorſtellungen und eben⸗
492 Chriſienthum.
falls die Vermiſchung von goͤttlichem und weltlichem Geſetz, die Zer⸗
ſtoͤrung des ehelichen und Familienlebens durch Welibergemeinſchaft,
die Sklaverei und kaſtenmaͤßige Standeseinrichtung, die Knabenliebe
u. ſ. w. Und waͤhrend ſelbſt ein Sokrates, gebildet und wirkend
im Reichthum atheniſcher Culturmittel und mehr als dreißig Jahre
lehrend, mit Schuͤlern, wie Platon und Ariſtoteles, doch nur
eine wenig fruchtbare Schulgelehrfamleit begründete, gelang Chriſtus
das größefte, das von allen übrigen ‚allein unerfiärt gebliebene Wun⸗
ber. Er, im armen Dandiwerkerftande geboren und erzogen, vermochte
es in dem bilbungsarmen Salilda, tin etwas mehr als zweijaͤhri⸗
gem Unterricht völlig. unvorbereiteter Schüler, bie er vom Fiſcherkahn
und Zinmnerplage.nahm, eine ſolche Lehre zu gründen... Es war
diefe Lehre, welche, nicht unterflügt bucch Schwertesgewalt ober bie
Mächtigen, fondem von ihnen auf das Aeuferfte verfolgt, an ihren
Urheber mit ſchmachvollem Tode befkraft und bald im ganzen römifchen
Meltreihe mit fehimpfliher Todesſtrafe bedroht und verfolgt wurde,
die aber dennoch, troß der unerhörteften Verleumdung, Schmähung
und marterpöllen und blutigen Bekaͤmpfung durch bie römifche Welt
tnrannei, fortdauernd ihre tobverachtenden Anhänger wehrte, -und bins
durch ihre geiftige Kraft nach dreihundertiährigem Kampfe alle Millio⸗
nen Bermohner fammt den Herrſchern des Weltreichs unter ihre bes
fiegten, gläubig unterworfenen Verehrer zählte, die endlich jetzt, nachdem
laͤngſt alle Trümmer des Nömerreiches zufammenfanten, mit ftet6 ftis
fcher Lebenskraft von Tag zu Tag fiegreicher die ganze Dienfchheit,
ihe Wiſſen und Leben umgeftaltet und beherrſcht.
Die orientalifhen Völker aber und die Griechen unb Römer hats
ten in Polngamie und Sklaverel zu tief verderbliche Grundlagen. Sie
hatten bereits das fittliche Streben nah Kortfchritt in ihrer höheren
Beftimmung, Griechen und Römer namentlih die Ausdehnung und
Ausbildung ber politifchen Freiheit, .melches den beſſern Theil threr
Gefchichte bezeichnet, aufgegeben, und waren durch die großen Erobe⸗
rungsreiche und durch die furchtbare Vermehrung des Ginnengenuffes
und der Sklaverei in bdenfelben in eine folche tiefe,. ſtets wachſende
Verderbnig und Fäulnig gefunten, daß fie unfaͤhig waren, das Mens
fherngefchlecht feiner neuen großen Entwidelung, der immer vollkom⸗
meneren, reinen Menfchlicykeit, und immer mehr verebelten und auss
gedehnten Freiheit und freien Vereinigung, ober, mit andern Worten,
der immer vollkommeneren chriftlichen Geftaltung entgegen zu führen *).
*) Keine Worte bezeichnen volftänbig und deutlicy genug dieſes im roͤmiſchen
Weltreich ausgebildete Verberbniß, bie ſchaͤdliche Wirkung ber verfehrten heid⸗
nifhen Retigionsvorftellungen von ihren ehebrecherifchen,, räuberifhen, vaters
mörberifchen Gottheiten, und von dem Zerfall aller religiöfen Bande und je:
der Art von Volksbildung, als man mit Epikur biefe Vorftellungen immer
allgemeiner als „nihtswürbigen Wahn” erlannte, und als zugleich im-
mer mehr jede würbige öffentliche politifche Verhandlung verftummte; ferner
jene ſchamloſeſte Gittenlofigkeit und Schwelgerci bee Großen und Reichen, unb
Ghriftenthum. 493
Darum rief, faft gleichzeitig mit der Erſcheinung des Chriftenthums,
die Vorfehung das früher unbekannte, unverborbene, jugendlich kraͤf⸗
tige, bildungseifrige und freiheitsliebende Gefchlecht der Germanen,
weiches ſchon urfprünglich eine Anlage zur Verbindung jener beffern
orientalifhen und jener beſſern claffifh=alterthumlichen Lebensrichtung
in ſich zeigte, aus dem Dunkel feiner Wälder auf die Bühne ber
MWeltgefhichte und in den Kampf mit der rämifhen Welttyrannei, bie
es fiegreich zerfchmetterte. - Ihm vertraute die Vorſehung jegt zugleich
mit dem Chriftenthbum das Erbe ber ganzen menfchlihen Culturbeſtri⸗
bungen, welche es von ben befiegten bisherigen Weltherrfcyern freudig
annahm. Ihm wurde die. Aufgabe ber Gründung ber neuen, chriſt⸗
lihen Welt und ihres ſtets größeren Kortfhreitens der
Menfhheit in Freiheit und Cultur. Und es übernahm die⸗
feibe, wurde für fie und durch fie ungleich mehr, als je ein anderes
Bolt der Erde aber auch auf eine der Freiheit eben fo viel guͤnſti⸗
gere Weiſe weltherrfchend, und theilte immer volllommener in allen
feinen Reichen die Güter der Freiheit und Eultur, die früher bei ben
Gründungen ber Staaten auf Polygamie, Sklaverei und Provinz-
Helotismus nur meitaus ber geringfte Theil befaß, allen Millioncu
ihrer menfhlihen Bewohner zu *).
Alle hriftlih germanifhen Völker und Staaten und ihre Fürftens
haͤuſer zeigen fich feitdem bluͤhender und fräftiger in dem Maße, als
fie, ihrer großen Beſtimmung treu, unter Leitung chriftlicher Grund:
ideen fortfchreiten in Veredlung, Ausdehnung und Befeſtigung ber
bas Elend ber bebrüdten, beranbten Voͤlker; endlich bie entſetzliche Vermehrung
. und die immer fcheußlichere @eftatt der roͤmiſchen Sklaverei, feitbem immer mehr
die ſchwelgeriſchen Mächtigen ganze Provinzen zu ihren Landgütern machten,
deren Bewohner ihrer Freiheit oder ihres ECigenthums beraubten,, fie von Skla⸗
venheeren bebauen ließen unb dieſe graufamer behandelten, als je die Veftien
von den Menſchen behandelt wurben. ine Schilderung biefes Verberbens gibt
ausführlih Gibbon, kurz und geiftreich auch die angeführte Hug’fche Ab⸗
handlung. Jene Sklavereiverhaͤltniſſe veranfchaulicht fehen die Vergleichung
einiger Stellen aus den Quellen: Appian, 1, 7. Flor. 2, 19. Senec, ep.
89 u. 114, de benef. 7, 10. de ira 8, 40. Juven. 6, 222, Cicero in Verr. 10,
48. Plin. h. n. 7, 3, 5. Strab. p. 663. ed. Casaub. In ſo ſchauder⸗
vollem Zuftande konnte das Chriftenthum ville Binzelne erheben und fittlidy
machen. Es Eonnte burdy feine fittliche Lehre und Zucht für bas Volk und die
Sklaven, ed konnte burdy feine Grhebung, Troͤſtung und Beſchuͤgung der Skla⸗
ven, der Frauen, ber Unterbrüdten aller Art, durch feine allgemeinen , reich⸗
lichen Armenfpenden für das vorhandene Verderben eine unendliche Milde:
rung, für das Fortfchreiten beffelben einen Damm begründen. Aber das römifche
Bolt, als foldhes, Konnte die Welt nicht neu und frei gefallen. Das
zeigt ſchon der Blick auf die taufendjährige Geſchichte bes hriktich gewordenen
griechiſch⸗ römifchen Kaiſerthums, welche, trog feinee von freier Lebens:
eraft verlaffenen alerandrinifhen und byzantinifhen Ge»
lehrſamkeit, Voltaire eine Schande für das menfchlicye Geſchlecht nannte.
*) Eo wurde alfo buchftäblich nach Matth. 21, 43. die Gründung „de 8
Reiches Gottes einem andern Wolle übergeben, weldes bef:
fere Fruͤchte brachte.“
Ct
494 Chriſtenthum.
Freiheit, und in ſtets innigerer, harmoniſcherer Verſchmelzung und
höherer Entwickelung aller jener beſſeren Culturelemente, oder der wahr⸗
haft guten Seiten und Früchte des orientalifchen, bes alterthuͤmlichen
und des fie national vermittelnden germanifchen Lebens. Sie erfcheis
nen dagegen ſtets elender oder dem Rande des Abgeundes näher in
dem Maße, als fie, fo wie die Spanier und die Portugiefen felt Phis
lipp IL, oder fo wie die Stuarts, die Bourbone und wie Na
poleon, jene hohe Beſtimmung verlegen, auf Freiheit und Fortſchritt
verzichten und duch Stiliftand oder pofitive Unterbrüdung fie anfeins
den, gleicyviel dann, ob fie dieſes thun durch die rohe Kriegsgemwalt,
oder durch die hierardhifhe oder bie Polizei: Inquifition und deren
Umftridung und Bergiftung bes öffentlihen und Privatleben, ber
Miffenfhaft und der vertraulihen Mittheilung, der Univerfitäts s wie
der Kirchenlehre.
So kann denn alfo wahrlid Beine meife, feine chriſtliche
und Feine deutfche Regierung, gleich jenen geflürzten engliſchen und
franzöfifhen Königefamilien, das unglüdliche, frevelhafte Wort bes
Stilljtandes oder des MWiderflandes gegen den Fortſchritt der Freiheit
und freien Entwidelung und Vervolltommnung, jenes ſchickſalsvoll ges
mwordene bourbonifhe Wort: „bis hierher und niht weiter”
ausfprechen wollen |
Ja allerdings, das Chriftenthum heiligt- fo wie die gefegliche Orb⸗
nung und die Harmonie, fo auch die Regelmaͤßigkeit und Stetigkeit
‚In der Entwidelung. Aber es till fie body nur in dee innigen Ber
bindung mit ber möglichften Freiheit und mit dem freien Kortfchritt,
eben fo wie diefe nur in ber Verbindung mit ber Achtung für jene.
Die einen ſchwachen menfhlihen Spfteme und Parteien firebten und
wirkten für die höchfte Freiheit; aber fie untergruben fie felbft, weil
ſie die Einheit, die Harmonie oder die Ordnung vergaßen. Die ans
dern dachten nur an die Ordnung und bie Sicherung ber Regierungss
gewalt; aber fie zerftörten fie durch die Anfeindung ber Freiheit und
des freien Fortſchreitens. Beide wußten fie nur dußerlich, nicht tief im
Innern des Menfchenlebens zu gründen und zu einigen. In dem
Hoͤchſten und Ziefiten, — in dem wahren, in dem lebendigen Chriftens
thume, in diefer göttlichen und doch fo menfchlichen Lehre — da loͤſen
ſich alle Räthfel, da verſoͤhnen ſich alle einfeitigen Gegenfäge und Pars
teiftrebungen auf das Volllommenfte. Hier findet alles Gute und Moths
wendige feine freie und frieblihe Einigung und feine unfterbliche Les
benskraft.
Die reinſte, tiefſte Moral mußte zunaͤchſt die innere, ſittliche Ge⸗
ſinnung, nicht aͤußere Werkheiligkeit und unmittelbare politiſche Geſetze
vorſchreiben. Aber dieſe tiefe und reine, lebendige praktiſche Kraft der
ſittlichen Geſinnung erzeugt eine lebenskraͤftigere Verwirklichung jeglichen
guten Werks und eine wuͤrdigere weltliche Ordnung, als es ein un⸗
mittelbares aͤußeres Geſetz fuͤr ſie je vermochte. Jene hoͤchſte, ſittliche
Geſinnung verſagt das eigenſuͤchtige Streben nach dem Erwerb und
Chriftenthum. Eisalpiniſche Republik, 495
Genug eigner Gluͤcksguͤter und Rechte und jeden die Achtung und Liche
gegen Gott und die Mitinenfhen vergefienden Stolz und Hochmuth.
Aber auch hier bietet das Chriſtenthum dem fittlichen Menfcyen überreichen
Erſatz nicht blos durdy die höheren Güter bes Gefühle einer frei mit
dem göttliden Willen vereinigten Gefinnung und fittlihen Mürde,
fondern auch durch die Pflichten aller Mitmenfchen gegen ihn, fo wie
durch fein eignes Behaupten feiner Güter, feiner Mechte und feiner
Wuͤrde, fomweit es zugleich höhere Pflichten gebieten, ſoweit er mit
biefer höheren Weihe und Kraft für fie fireben und
£ämpfen fol! und darf. Ganz eben fo nun, mie folchergeftalt
biefe erhabene Lehre, die reinfte und tiefſte Sittlichkeit ber Gefinnung
mit allem ‚guten Außern Werd und dem mürdigften meltlichen Recht‘
vereinigt und mit ber liebevollen, fittlihen Entfagung und Demuth die
glüdlichite Befriedigung und Behauptung der eigenen Würde, fo ver
einigt fie auch wijrklich in allen Beziehungen und nad) jeder Seite
bin mit der möglichften Harmonie und. Ordnung ber Entwidelung
den Eräftigften Kortfchritt wie die moͤglichſt größefte Freiheit. Mit ſei⸗
nen hohem Ideen und dem Auffhwung zu ihnen,- weichen e8 den Men
fchen ertheilt, fobald ein Strahl beffelben ihr Gemüth wahrhaft erleuch:
tet und erwärmt, befimpft das Chriftenthum, ale den Todfeind aller
"wahren, aller chriftlihen Zugend, allen Materialismus, den der
fpotifhen und ariftofratifchen, wie den fervilen und ben jacobinifchen
Materialismus, weiche fimmtlid) wir neuerlich befonders auffallend
in Frankreich mechfeleweife um den feldfifüchtigen Beſitz und Genuß
ftreiten und bie Freiheit, wie die Ordnung gefährden fahen, und welche
jest in dem überall in der Welt begonnenen oder vorbereiteten Kampfe
zrifchen der erwachten felbftftänbigen Vernunft und der Liebe für Frei⸗
beit und Fortſchritt, und zwiſchen dem Widerſtand bie beklagenswerthe⸗
ſten Erſcheinungen herbeifuͤhren koͤnnten.
Auf dem wahren Chriſtenthum vor Allem oder auf einem immer
vollſtaͤndigeren Siege ſeiner erhabenen Grundſaͤtze und Geſinnungen
ruhen in dieſem Kampfe unſere Hoffnungen fuͤr die Erhaltung und die
fortſchreitende Entwickelung der Freiheit und Cultur in Deutſchland und
Europa, in dem unter Einfluß chriſtlicher Cultur ſich immer mehr ei⸗
nigenden menſchlichen Geſchlecht. Seine Grundſaͤtze fordern dieſe Frei⸗
heit und Cultur und ihren Fortſchritt. Wohl mit Recht alſo durfte
der groͤßte Geſchichtſchreiber unſeres Zeitalters, der edle Johannes
Müller, feine Betrachtungen über die Anforderungen bes. Chriſten⸗
thums an unfere politiſchen Beſtrebungen mit den Worten fchliefen: .
„Wenn wir die Sorge für die Freiheit verfäumen, fo will ich nicht
„einmal fagen, daß wir unwuͤrdig find, Bürger dieſes Welttheils, und
„unmürdig, deutfche Männer zu heißen: wir Eönnen Leine Chriften fein.”
Ä C. Th. Welder.
Churfuͤrſten, ſ. Kurfuͤrſten.
Cicero, ſ. roͤmiſches Recht.
Cisalpiniſche Republik, ſ. Italien.
496 Gitabelle. Civilliſte.
Gitadelle &o nennt ıman eine Heine Feſtung, die in eine
größere eingefchachtelt oder einer folhen angehängt if. Eine Feſtung
ohne Gitadelle ift wie ein Baſtion ohne innere Verfchanzung, wie eine
Armee ohne Referve. Sie kann nicht auf das Aeußerjte vertheibigt wer⸗
den und. ift gegen bie Folgen eines erften Unfalls nicht gehörig gefichert.
Napoleon fagt: die Befagung einer Feſtung iſt eigentlich, die Beſatzung
ihrer Citadelle, und wenn diefe fehlt, fo iſt die Feſtung felbft kaum eis
ner Beſatzung mwerth. | 5
Diefe Anficht von ben Gitabellen iſt aber nicht die urfprüngliche:
die Gitadellen hatten von jeher die Bedeutung von Zwingburgen,
das heißt, fie waren von jeher dazu beftimmt, die zur Empdrung geneigte
oder feindlich gefinnte Bevölkerung der großen Städte im Baum zu hafs
ten. Die beiden Citadellen, welche in ber allerneueften Zeit von ben Rufs
fen bei Warfchau hergeftellt worden find, haben Beine andere Beflimmung.
Heinrich IV., der voltsthümlichfte und bärgerfreundlichfte aller frans
zöfifchen Könige, wollte nichts von folhen Zwingburgen wiſſen; er fagte:
„Meine Citadellen find die Herzen meiner Unterthanen.” Dagegen bat
Ludwig XIV, in den von ihm eroberten Provinzen fofort ine Menge
von Gitadellen aufführen laffen.
| Ein Volk, das auf feine Freiheit eiferfüchtig iſt, duldet Feine Cita⸗
dellen; die franzöfifche Megierung hat ihr wohlerroogene® und fehr zweck⸗
mäßiges Project, die Stadt Paris durch ein Spftem von felbftftändigen
Forts befeftigen zu laffen, mieder aufgeben müffen, weil die Nation in
diefen Forts eben fo viele Gitabellen, Zwingburgen oder Baſtillen zu
fehen glaubte. | v. Theobald.
Civil⸗Etat, ſ. Budget.
Civil⸗Gerichtsordnung, ſ. Gerichtsordnung.
Civilliſte, Privat- oder Schatull- oder Cabinets⸗
Gut. Krondotation. Zu den weſentlichen Staatsausgaben ge⸗
hoͤrt natuͤrlich in jedem Staate auch die Beſtreitung des angemeſſenen
ſtandesgemaͤßen Unterhalts des Regenten, in einem erblichen Fuͤrſten⸗
thum namentlich auch der erbberechtigten fuͤrſtlichen Familie, ſoweit nicht
bereits zu dem Zweck dieſes Unterhalts beſtimmte fuͤrſtliche Familienfidei⸗
commiſſe geſorgt haben. In den germaniſchen Staaten wurde der Un⸗
terhalt der Fuͤrſten und der fuͤrſtlichen Familie, wie uͤberhaupt der regel⸗
maͤßige Aufwand fuͤr die Regierung der Regel nach beſtritten aus den
Domainen, den Kron⸗, Staats⸗ oder Kammerguͤtern, das heißt, dem
lehnbaren oder allodialen Grundeigenthum und den damit verbundenen
grundherrlichen nutzbaren Gerechtſamen, deren Ertrag zu dem Staats⸗
aufwande beſtimmt war. Von ihnen unterſchieden ſich die Privat⸗
oder Schatull⸗ oder Cabinets-Guͤter, worunter man das reine
Privateigenthbum ber Regenten oder auc) der fürftlichen Familie verftand.
Dody wurden in der Zeit der Feudal- Anarchie und Defpotie häufig, bie
Domninen mit Privatgütern ber Fürften verwechſelt, und fo, wie ja die
Staatsgewalt zum Theil felbft, als ein fibeicommiffarifches Haus: und
Samilicneigenthum behundelt. Namentlich aber wurden auch oftmals
Civilliſte. 497
Theile ber Staatseinkuͤnfte und der Staatsdomainen zu fuͤrſtlichen Fa⸗
milienfideicommiſſen gemacht und gerade für den Unterhalt der fürftlichen
Samilie beſtimmt. Wo und fobald ſich indeß ein wahrer geordneter
ftaatsrechtlicher Zuftand und insbefondere eine freie ftändifche DVerfaffung
ausbifdeten, da mußten dieſe Verhältniffe geregelt und die Einkünfte der
Domainen dem Staate gefichert, werden. Zugleich aber zeigte ſich das
Bebürfniß, die jährlihe Summe, welche zur ftandesmäfigen Erhaltung
bes Fürften und feiner. Familie, namentlih zur Beſtreitung feines Hofe
ſtaates, nöthig ift, und worüber der Staat und die Stände keine befons
dere Nechnungsablage zu fordern haben, geſetzlich feftzuftellen und von
dem andern Staatenufmand und Staatsgeld abzufondern. Die gefeglih
beftimmte Summe, welche der Fuͤrſt jährlich als foldyer aus den Staates
einkünften für feinen und feiner Samilie flandesgemäßen Unterhalt bes
zieht, ift die Givitlifte. Mit derfelben ift denn gewöhnlich verbunden
eine Krondotation von Schlöffern, Gärten und Mobilten, namente
lic) auch Kronfleinodien, welche der Regent nad) den Grundfägen von
ber Nutznießung oder befondern Beflimmungen verwaltet und benutzt;
oft auch noch eine Befreiung von Öffentlihen Abgaben. Zuerft warde
1688 in England eine Civilliſte für das königliche Haus feltgefegt, das
mals 120,000 Pfund Sterling und einige Nebeneinkünfte, von denen ber
König aber noch viele Staatslaften, namentlidy Befoldungen. wahrer
Staatebeamten, zu beftreiten hatte. Im Jahr 1815 betrug die englifche
Civilliſte, obgleich ein Theil der früheren öffentlichen Laften von ihr ges
nommen war, mit Inbegriff der Summen für alle Prinzen, ungefähr
zwei Millionen Pfund oder „A, des reinen Staatseinkommens. Fried⸗
rih der Große, das Beifpiel Englands, als vortreffliher Ordner des
Staatshaushalts, befolgend, beftimmte fich felbft eine Giviltifte von nur
220,000 Reichsthalern für feinen ganzen Privataufmand mit Einſchluß
der Geſchenke. Auch in Frankreich wurde in der franzöfifchen Revolution
eine Givillifte beftimmt. Die des Kaifers betrug fpäter mit der Krondo⸗
tation und mit der. Summe für die Prinzen 3? Millionen Franken oder
A der Staatdeinnahme. Die Civillifte des jegigen Königs beträgt nur
18 Millionen Franken, ungefähr gU, der jegt erhöhten Staatseinnahmen.
In den conftitutionellen Staaten Deutfchlands wurden die Civilliften
auf die verfchiedenfte Weife feitgefeht.
Rechtlich läßt fih im Allgemeinen nur fo viel fagen, baß bie
Verwendung der Givillifte, foweit fie nicht bei der gefeglichen Feſt⸗
ftellung und Bewilligung mit beftimmten Laften und Bedingungen bes
legt ift, 3. B. mit der Verpflichtung zu beftimmten Apanage - Summen
(f. Apanage), ganz dem Ermefien des Regenten anheimgeftellt iſt,
und daß darüber Leine Rechnungsablage gefordert werden kann. So⸗
dann aber müffen aus der Civillifte und bem etwaigen Privatvermögen
des Fürften alle Koften für das Leben ber fürftlihen Samilie, für bie
ganze Hofhaltung und Hofdienerfhaft und alle perfönlihen Schulden
des Fürften beftritten werden, foweit fie nicht ausnahmeweife befonders
auf die Staatscaffe übernommen werden. Sofern biefes nicht gefchab,
Staats »Leriton. III. 32
498 Civilliſte.
hat eben das Geſetz uͤber die Civilliſte den Staat von weiteren Anſpruͤ⸗
hen an denſelben freigeſprochen. Endlich laͤßt ſich nach dem fruͤheren
deutſchen Staatsrecht *) ſagen, daß, ſoweit die Domainen nicht ausrei⸗
chen fuͤr die Staatsbeduͤrfniſſe, der Regel nach eine Bewilligung der
Staͤnde oder des Volks zu den Steuern, alſo auch zur Begruͤndung ei⸗
ner Civilliſte nöthig war, welches vollends in ben Repraͤſentativ⸗Verfaſ⸗
fungen anerkannt ift.
In politifher Hinficht entfteht Fürs Erfte die Frage: Iſt es
vortheilhaft, daß überhaupt eine Givillifte abgefondert werde von ben
übrigen Staats-Einnahmen und Ausgaben? Hier möchten etwa nur bie
Anhänger des Hrn. v. Haller, welche aud) in biefem Punkte bie rohen
anarchiſchen Anfichten des Mittelalters reftauriren, ja weit überbieten wols
len und hiernach alle Negierungsrechte, alfo auch die Stantseinkünfte, ein
Drivatglüdsgut des Megenten nennen, wiberfpredhen. Das Staatsrecht
bes Rechtsſtaates aber trennt das Öffentliche, lediglich für das Staatsin⸗
tereffe beftimmte Recht von dem Privatrecht und bie Privatverhältniffe
des Fürften von der Verwaltung der Sffentlihen Angelegenheiten. Aber
auch bei einer defpotifchen Anficht ift doch Ordnung in dem Finanzhauss
halte vortheilhaft für den Fürften ſelbſt. Auch ift es hoͤchſt raͤthlich, daß
die Mittel für fürftlidye Gnadenbezeugungen und Lurusausgaben irgend
eine beftimmte Grenze haben. Der Fürft wird dadurch ſelbſt gegen laͤ⸗
flige und zulest ihm und dem Lande verderbliche allzugroße Anforde:
rungen feiner Familie und feiner Umgebung gefhügt und weiß, mas
nach dem wohl überdachten gefeslihen Mapftab billig und, ohne bem
Staatswohl zu nahe zu treten, für feine beliebigen Privatausgaben ver
wenbet werben kann. Er hat auch nicht das unangenehme Gefühl, dab
bei feinen Ausgaben etwa das Volk immer aufs Neue denke, das und
jenes, was ihnen auf ihrem Standpunkt vicleicht eine unnoͤthige Aus⸗
gabe duͤnkt, werde fie, werde arme Bürger auf's Neue bedrüden..
Es entfteht die zweite politifhe Frage: Soll die Givillifte groß ober
klein fein? Hier müffen die befonderen Kräfte des Landes, die Beduͤrf⸗
niffe des fürftlichen Haufes, auch die etiwa bei Ueberlaffung von Einnah⸗
men und Gütern von mehr oder minder privatrechtlicher Natur an die
Staatscaffe zuweilen ausbedungenen Rechte berüdfichtigt werden. Auch
läßt fi) ebenfo im Allgemeinen fagen, daß es für den Fürften feibft
nicht gut ifl, wenn die Givillifte zu groß ift, etwa, flatt, wie in England,
bei immer nody großen Laften derfelben, „A, “oder fo, wie in Krank
reich, 345 der reinen Staatseinnahmen zu betragen, J oder „A, bers
ſelben verſchlingt. Es wird diefes leicht Mißſtimmnung erregen, umb bie
erfte Aufgabe für die Politik eines Erbfürften ift es, nicht einen Augens
blid zu vergeffen, daß das höchfte Intereffe und Wohl feines Haufes,
feiner Nachkommen ganz zufammenfällt mit dem Wohle bes Landes,
mit feinem Gluͤck, mit feiner Zufriedenheit. Uebrigens aber möchte eine
— — — —
) ©. oben Beeten und Haͤberlin, Handbuch des beutfhen Staats:
rechte IH. II. ©. 267.
Civilliſte. 499
Knauſerel von Seiten bed Volks und ber Stände bei Bewilligung ber
Giviltifte befonders übel angebrmht und wahrhaft unpolitifch fein. Frei⸗
lich haben fich die Sitten der fürftlichen Höfe in der Beziehung gegen
früher fehr gebeflert, daß man jego nicht mehr in großem Lurus bie
fürftlihe Würde findet. Indeß kann doch natürlih in Heinen Erbfuͤr⸗
ftenthämern fhon ber Natur der Sache nach eine Givitfifte nicht in dem
Verhaͤltniß, wie die Einnahme des Heinen Staates zu dem großen, fi
vermindern. Ein Theil der Ausgaben auch des Leinen Erbfuͤrſten im
Verhältniß zu dem des größeren Staates mindert.fid) durchaus nicht
in gleichem Verhaͤltniß. Auch für das Volk und feine Stände muß es
eine Hauptaufgabe der Politik fein, den Kürften und das fürftliche Haus
volltommen zufrieden und gluͤcklich bei der Verfaffung zu wiſſen. Stets
lich hat man, namentlidy in Frankreich, gefagt, als die Civilliſte des jegis
gen Königs faft um die Häffte geringer beftimmt wurde, wie die von
(hartes X., daß es geführlich fet, wenn ber Koͤnig über fehr große
Summen bisponiren koͤnne, indem dadurch leicht" gewiffe Beftechungen
moͤglich würden. Mill man aber einmal ſolchen Gedanken ein: Gewicht
einrdumen, alsdann koͤnnte man Tagen, daß es noch viel geführlicher fet,
wenn der Regent ſich etwa veranlagt fühlte, fi) aus den Staatsmitteln
vielleiht ungleich größere Summen heimlich zu verfchaffen und bie
Staatsämter und andere öffentliche Intereſſen, Rechte und Nachtheile
zur Beftehung zu verwenden. Ein Erbfürft muß außer den Mitten
zu einem ftandesgemäßen, heiteren färftlichen Leben Insbefondere auch bie
Mittel haben, ein Wohlthäter und Troͤſter ber Ungluͤcklichen in feinem
Lande, ein Förderer und Echüger ber Künfte und Wiſſenſchaften zu fein,
Dabei gewinnt das Land ja ſelbſt. Was iſt doch — fobald fie nicht auf
unwuͤrdige MWeife erftrebt wird — die gluͤckliche Vereinigung des Fürften
mit dem Volk und feiner Freiheit, was die Abfchaffung einer einzigen
verderblichen Unordnung oder hemmenden Mafregel im Lande, was -ein
Zuwachs an Kraft und Leben erwedender Freiheit. nicht merth für ein
Bolt, im Vergleich mit der Erfparung einiger Zaufende von Gulden,
bie zuletzt body wieder dem Lande zu Gute gelommen wären!
Eine dritte politifche Frage ift die: Soll die Givitlifte für jede Fl⸗
nanzperiode neu, ober foll fie lebenslänglich oder für die Dauer der Re⸗
sierung eines Fürften oder gar erblich für alle Zeiten beftimmt werden?
Mir ftehen keinen Augenblid an, auch hier wieder das in dem conflitus
tionellen Mufterftaate für Europa, das in England und nad) Englands
Beifpiel auch in den meiften beutfchen conftitutionellen Staaten einges
führte mittlere Syſtem oder die Beftimmung für die'ganze Regierungs-
dauer vorzuziehen. Kine jährlidy oder für jede Finangperiode neue Be⸗
willigung macht den Zürften zu abhängig von bem guten Willen ber
Stände in einer feine ganzen perfönlichen Verhältniffe betreffenden wich⸗
tigen Beziehung, abhängiger felbft, wie die meiften Beamten, deren
ftandesmäßige Einnahme lebenslänglich gefichert ift. Eine ſolche unnas
türliche ‚Abhängigkeit, weit entfernt, der Freiheit vorteilhaft zu fein,
führt zu verderblichen Mitteln, die fürftlichen Snteesffen zu fichern,
500 Gioiltifte, Cbilrecht.
und zu nachtheiligen Golliffionen mit ben Ständen. Das haben bie
Stände in Baiern..eufahren, ehe fie auf dem legten Randtage bie fruͤ⸗
ber für jede;-Zinanzperiode neue Bewilligung der Civillifte durch die
Staͤnde aufhoben, Aber binlängliche Gründe, von der englifhen Ein:
richtung -abzugehen und: die lebenslaͤngliche Bewilligung erblich zu mas
chen,. koͤnnen wir im Allgemeinen nicht finden. Die Verhältniffe, der
Werth des Geldes. und. der Dinge, die Einnahmen des Staats und
die Bebürfniffe. der. fuͤrſtlichen Familie verändern fih. Veraͤnderungen
in ber Beſtimmung der Civilliſte, Mevifion ber Einrichtungen auch in
diefer Beziehung werden: fletd von Zeit zu Zeit noͤthig. Ein paſſen⸗
derer, im jeder Hinſicht günfligerer Zeitpunkt für eine beiderfeits be:
friebigende neue. Beſtimmung laͤßt ſich aber wohl nicht finden, al& ber
Megierungsantritt des neuen Zürften. In der Zmwifchenzeit aber foll,
fo wie in England, und nad diefem Mufter in mehreren beutfchen
conftitutionellen Staaten, 3. B. in Baden, keine Erhöhung ohne
Bewilligung der Stände ſtattfinden und keine Minderung ohne Eins
willigung des Regenten. Mohl in feinem Staatsrecht des Könige
reiche Wuͤrtemberg (©. 250.) legt die besfallfigen ähnlichen Beſtim⸗
mungen ber würtembergifchen Verfaſſung fogar fo fireng aus, baß je
der Antrag auf Erhöhung und Erniebrigung der Givillifte, jebes
Kütteln an berfeiben während der Dauer einer Regierungsperiode gaͤnz⸗
lich ausgefchloffen.. bleiben muͤſſe. Nun ift zwar nicht zu leugnm, daß
ed gut ift, wenn im: Allgemeinen dieſes als Princip anerkannt wird,
weil fonft immer jene fatalen Gollifionen, Ausübung eines moralifchen
Zwangs und fchädlihe Verhandlungen ftattfinden koͤnnen. Doch wird
ſich bei fehr bedeutenden Veränderungen der WVerhältniffe nicht wohl
zum Voraus jede möglihe Veraͤnderung der Civillifte abfolut aus:
fhliegen laſſen. — Die Litteratur über Cabinets- und? Schatulle
güter und Civilliſte enthält Klüber öffentl. Recht $. 251.
332 — 35. Ueber die Geſchichte und den Nugen der Givilliften ent:
hält eine Abhandlung in Klübers Staatsarhiv Heft IV.
©. 453. gute Bemerfungen und Motizen. .C. Th. Welder.
Civilrecht, buͤrgerliches Recht; Civil-oder buͤrger⸗
liches Rechtsgeſetz und Geſetzbuch. Civilrecht oder buͤrgerli⸗
ches Recht ſind vieldeutige Worte; es thut alſo, um eine Lehre uͤber
Natur oder Charakter, Urſprung oder Fundament, Inhalt und Um⸗
fang dieſes Rechtes aufzuſtellen, zuvoͤrderſt noth, ſich über den damit
zu verbindenden Begriff zu verſtaͤndigen, oder, inſofern verſchie⸗
dene — mehr ober meniger zu rechtfertigende — Begriffe davon
gäng und gäbe find, denjenigen, welchen man jedesmal im Auge hat
oder auf. weldyen eine Lehre ſich beziehen fol, mit möglichfter Beſtimmt⸗
heit anzugeben.
Das roͤmiſche Recht ftellt für das bürgerliche Necht den bios
auf den Grund und die Sphäre ber Gültigkeit fich begiehenden
Begriff auf, daß es dasjenige Recht fei, welches cin Staat ober
ein Volk als das für fih und feine Angehdrigen gültige anerkannt
Civilrecht. | 501
oder ftatuirt hat, und zwar bios Infoferm e8 von dem allgemeinen Na⸗
tur= und Voͤlkerrecht (duch Dinzufügung obet Wegnahme, überhaupt
nähere Beſtimmung oder Mobificitung) abweicht. (Quod’ quisqus po-
pulus ipse sibi jus oonstituit, id ipsius proprium jus aivitatis est, vo-
caturque jus civile. Inst. L. I. T. II. $. 1.° Naturalia jura semper
firma alque immutabilia permanent; ea vero, quae ipsa sibi quae-
que civitas oonstituit, saepe mutari solent, vel tacito oonsensu po-
puli, vel alia postea lege lata. Ibid. 6. 11. Jus civile est, quod ne-
«ue in totum a haturali vel geutimn regedit, neo per omnia ei servit.
Digg. 1.1.6.) Das römifche bürgerliche Recht war hiernach der
Inbegriff der vom roͤmiſchen Volk oder ben römifhen Rechtsgeſetz⸗
geben als für die Angehörigen des cömifhen Staates (ober
im engern Sinn blos für die des römifhen Buͤrgerrechts fi
Erfreuenden) gültig anerkannten oder ſtatuirten, alfo jedenfalls: pofitiv
feftgeftellten Rechte. Es ward hiernady entgegengefegt dem jus natu-
rale et gentium, welches nämlid) — als entweder fhon auf der
thierifchen Natur ruhend ober auf der allgemeinen Menſchenvernunft
begründet — ber Anerfennung aller Völker, nicht blos eines einzel:
nen theilhaft iſt, alfo auch unabhängig von pofitiver Sanction eines
beftimmten Staates die Geltung anfpridht.
Nach diefer Begriffebeftimmung umfaßt das bärgeiihe Recht das
Öffentliche nicht minder ald das Privatrecht leichwohl finden
wir in ber Juſtinia neiſchen Geſetzſammlung des römifhen Civil
rechts, zumal in derfelben SHaupttheit, nämlid den Pandelten,
vom sffentlihen Recht nur einige wenige Gegenftände, und zwar
meift nur folche, die mit Privatrechten in Verbindung fliehen, behans
beit. Sie ift nad) ihrer vorherrſchenden Eigenfhaft Privatrechtd⸗
Sammlung. Freilich haben die römifchen Juriſten feine ſtrenge, auf
adäquaten Begriffen ruhende, logifch richtige Unterfcheidung zwiſchen
beiden Rechtsſphaͤren aufgeftellt (publioum jus est, quod ad statum rei
romanae spectat, privatum, quod ad singuloruım utilitatem .. ..publicum
jus in sacris, in sacerdotibus, in magistratibus consistit. Digg. L. I.1.2.),
und noch weniger ift Tribontan in Bezug auf Auswahl oder Aus:
fheidung der Rechtögegenftände einem ducchgreifenden Grundſatze ge:
folgt: doch waltet bei ihm offenbar die Richtung vor, nur die auf
Rechte oder Schuldigkeiten ber Einzelnen ſich beziehenden Beſtim⸗
mungen und zumal diejenigen, worüber, wenn bie hat oder das
Recht freitig würde, die ‚Gerichte zu entfchelden hätten, in bie
Sammlung aufzunehmen. Hiernach ward insbefondere auch das
Strafreht dahin aufgenommen, obfhon ed — meniaftens feiner
wichtigeren Sphäre nah — dem dffentlihen RFechte angehört.
Auch finden wir darin (doc vorzugsweife nur im Coder, welcher
naͤmlich die aus Eaiferliher Machtvollkommen heit gefloſſenen
und als Dictate des geſetzgebenden Willens verkuͤndeten Rechtsbe⸗
ſtimmungen enthaͤlt) manche valizeiliche oder überhaupt politi:
ſche Verordnungen, mancherlei "auf die Schuldigkeiten ober (zumal
502 Givilrecht.
Ehren=) Rechte der Sffentiihen Beamten und Ealferlihen Die
ner und auf die von ben Bürgern für-Öffentlihe Zwecke zu
fordernden Leiftungen aud auf Religion und Kirche und Kirchen»
Diener, und noch auf verfchiedene andere, nach richtigen Begriffen bem
öffentlichen Recht angehörige Gegenftände fich beziehende Beſtim⸗
mungen. Dod alles diefes weder nach einem felten Syſtem im Gans
zen, noch mit Vollftändigfeit in ben Feſtſetzungen über einzelne Materien.
Der Charakter des roͤmiſchen Civilrechts, als feinem Hauptinhalt
nad) bloßes Privatrecht, geht auch ſchon aus feiner felbft geſetz⸗
Lich aufgeftellten (Inst. I. IL 12.) Emtheilung in Perfonenredt,
Sakhenreht und Actionen: ober Obligationenrecht hervor.
Deswegen fliegt auh Falk (Ssuriftifche Encpklopädie) nicht nur das
öffentliche Recht vom bürgerlihen aus, fondern erflärt das letzte gar
nur für einen Theil des Privatrechts (welchem er naͤmlich — auf
eine jedoch ſchwer zu rechtfertigende Weiſe — noch als weitere Bes .
ftand heile das Kichenredht *), das Polizeirecht und bas
Strafreht zumeift).
Die voranftehenden Begriffsbeftimmungen ſollten das bürgerliche Recht
im Verhältniß ober Gegenfag zum natürlihen und zum oͤffent⸗
lichen barftellen. Es hat aber das Eivilrecht noch andere Gegens
fäse, welden dann auch wieder andere Begriffe entfprechen ober zu
Grunde liegen. Namentlich fegt bie neuere Lehre das bürgerliche Mecht
vielfach dem aufßerbürgerlichen entgegen, welches letztere nämlich
diejenigen Rechte in fich begreifen foll, welche ale vorhanden und gel
tend gedacht werden Eönnen ſchon vor Errichtung einer bürgerlichen
Gefelffhaft oder abgefehen von allem ftnatsbürgerlihen Verhältniß,
während erfteres die eine folche Errichtung und ein ſolches Verhaͤltniß
vorausfegenden Rechte umfaffe.. In diefem Sinne würbe das
natürliche und aud das duch Convention zu gründende aus
Bergefellfhaftlihe und gefellfhaftlihe Privatrecht zum
suferbürgerlihen gehören, und für bas bürgerliche nur die
duch den Staatsverband baran hervorgebrachten oder hervorzus
bringenden Veränderungen (Erweiterungen, Beſchraͤnkungen ober
näheren Beftimmungen) und dann auch die den Staats: Angehörigen
eigens als ſolchen zuftehenden übrigbleiben. Da jedoh die aus
ferbürgerlihen Rechte niht aufhoͤren durch den Eintritt im
den Staat, fondern diefer vielmehr ganz vorzüglich zu ihrer Gewaͤhr⸗
leiftung und etwa thunlichen Vervollftindigung errichtet worden, fo ift
Mar, daß das bürgerliche, nämlich das ben Staats: Angehörigen
zuftehende Recht auch das außerbürgerlihe in ſich faßt, und daß
demnach zwiſchen beiden eine Scheidung ober Entgegenfegung — zus
*) Freilich gibt es auch einen Standpunkt, von welchem aus das (zumal
innere) Kirchenrecht als dem Privatrecht angehörend erfcheint. Die pos
fitive Jurisprudenz aber bat in ber ‚Regel biefen Standpunkt nit. (S. uͤbri⸗
gens ben Art. Kirchenrecht). "in ..
Civilrecht. 503
mal beim pofitiven Recht — nur wie zwifhen Engerem und
Meiterem ober einem Theil und dem Ganzen ftattfinden kann.
Sedenfalls wird durch folche Entgegenfegung das Verhältnif des
bürgerlichen Rechts zum Öffentlichen keineswegs beftimmt,
twiewohl man in der Regel daß erfle vom legten unterſcheidet,
b. h. diefem legten eine.eigene — freilidy bald enger, bald weiter ges
zogene — Sphäre anmeift, worauf wir. fpäter einen Blick werfen
toerden.
Auch dem Criminal⸗Recht, auch dem Kirchen⸗Recht wird
das buͤrgerliche zur Seite oder entgegengeſetzt. Zweck und Gegenſtand
des buͤrgerlichen Rechtes naͤmlich iſt die Aufhebung des Wider⸗
ſtreits zwiſchen den Anſpruͤchen der Staats-Angehoͤrigen, d. h. der
im Staate befindlichen juriſtiſchen Perfönlichkeiten unter einander. Es
fol der Streitigfeit oder Zweifelhaftigkeit bed Rechts zuvor.
kommen durdy möglichft beftimmte Zeichnung der jedem Einzelnen zus
kommenden Rechtsfphäre, und, wenn gleichwohl Faͤlle des Streites ober
bes Zweifels eintreten, dem Richter die Norm der Entfheidung
geben. Die Streitenden als foldye werben hier als beiderfeitd in bona
tide befindlicy geachtet, oder die dabei zur Sprache gebradhten Rechtswi⸗
drigkeiten oder Mechtöverlegungen nur als etwa bie Nichtigkeit eines
Geſchaͤfts oder die Schuldigkeit ber Schadloshaltung oder Erfaglel:
ſtung mit ſich führend betrachtet. Das Criminalrecht dagegen
bat es mit verbotenen, daher jedenfall rechts verletzenden
Handlungen oder Unterlaffungen, d. h. mit Gefebübertres-
tungen als folchen zu thun und bie bem Grabe der. Schuldhaftigkeit
— nad) Befchaffenheit der Umſtaͤnde — jedesmal angemeffene Strafe zu
beftimmen. Der Grund ber hier befragten Entgegenfegung liegt alfo in
dem Standpunkt ber Auffaffung der vom Gefege zu beflimmen-
den und durch das Gericht zu entfcheidenden Dinge, ob man fie nämlich
blos in Bezug auf Regulirung ber wech felfeitigen Rechtsan⸗
ſpruͤche oder aber in Bezug auf Strafwuͤrdigkeit oder Rechts
verwirkung betrachte.
Das Kirchenrecht überhaupt, als Recht einer im Staate be:
findlihen Geſellſchaft, mag allerdings dem bürgerlichen Recht
und zwar fchon dem zum Privatrecht gehörigen Theile beffelben beis
gezählt werden. Gleichwohl kann man es — felbft abgefehen von feiner‘
Eigenſchaft ale großentheils dem Öffentlichen Recht angehörig — dem
bürgerlihen auch entgegenfegen, und zwar von einem doppelten Stand-
punft; einmal naͤmlich infofern man die kirchlichen — zumal geift:
lichen — Angelegenheiten als eine für ſich beftehende, eigenthümliche
Sphäre von Pflihten, Rechten, Verhältniffen und Intereſſen, von ben
bürgerlihen im engern Sinn — ober den auch fogenannten
weltlichen — unterfcheidet; und dann, was insbeſondere unfer fo:
genanntes canoniſches Recht in Vergleihung mit dem roͤmiſchen
Civilrecht betrifft, auch in Bezug’ auf die Autorität, welcher die
beiderlei Gefeggebungen entflefien find.
504 Civilrecht.
Nah Vorausſchickung dieſer das Schwankende der in dee Schule
vorfommenden Begriffsbeflimmungen vom Giviltecht andeutenden Bes
trachtungen liegt uns ob, den Sinn feftzufesen, morin wir das Wort
nehmen und zwar namentlich behufs einer über die Natur biefes Rech⸗
tes und fein Verhaͤltniß zur Politik aufzuftellenden Lehre.
Das bürgerlihe Net im weiten Sinne umfaßt alle ben Ans
gehärigen eines Staates, nicht nur in diefer Eigenfchaft, fondern
auch überhaupt ats im Staat befindlihen Menſchen oder jus
riftifchen Perfonen, in ihrer Wechfelmirtung unter einans
der zuftehenden (fei es blos anerkannten, gewährleifteten oder
beſchirmten oder aud eigens durch die Staatsgewalt verltiehenen)
Mechte. Durch diefen Begriff werden fonach blog diejenigen Mechte
ausgefchloffen, welche fic eigens auf die Wechfelmirfung bee Staates
Geſammtheit als folher mit ihren Gliedern als foldhen
beziehen und das Öffentliche Redt in firengfter Bedeutung
ousmahen. Dagegen find manche dem öffentlihen Recht in weiter
Bedeutung angehörige, d. h. blos dag Dafein einer folhen Ge
fammtheit und berfelben Wechſelwirkung mit ihren Gliedern voraus»
fegende Rechte darin allerdings enthalten. Ja, man kann fogar —
zumal wenn mun bei ber Eintheilung ber Rechte nur auf das Rechtes
Subject,d.h.aufden Berehtigten, blidt— den Begriffen och weis
ter ausdehnen, nämlich durchaus alle, den Bürgern (d. h. Staates
Angehörigen) zuftehenden Rechte, mithin auch die ihnen gegenüber ber
Gefammtheit oder der Staatsgewalt zuftehenden Rechte barin
aufnehmen, wornach dann bloß bie diefer Staatsgemwalt ſelbſt
eigenen das Staates ober Öffentlihe Necht im firengften
Sinne ausmahen würden. Nah biefer Begriffspefimmung würde
daher auch die den Bürgern zulommende Theilnahme an ber
Staatsgemalt — gewöhnlich ihr politifhes Recht geheißen —
dem bürgerlichen beizuzählen fen. Wir wollen jedoch über den
biefem bürgerlichen Necht im weiten Sinn zu ertheilenden Umfang
bier nicht ſtreiten, weil fich jedenfalls über daffelbe, wegen per Mehrheit
der bet deffen Bildung zufammenlaufenden Principien, keine allgemets
nen, b. 5. für die Gefammtheit der darin enthaltenen Rechte gültigen,
Grundfäge aufftellen laffen, fondern den Blick nur auf das bürgerliche
Recht in einem engeren Sinne richten, und dafür einen Begriff
aufſuchen, welcher nicht blos auf die Nechts-Gegenftände, fondern
auf die innere Natur der Rechte ſich besicht.
Unter bürgerlihem Recht im engern Sinne verfichen wir
blos das vom Staat anerkannte (oder anzuerkennende) oder auch durch
eigenes Gefeg näher beftimmte, modificirte oder erweiterte (oder zu be
flimmende u. f. w.) Privatrecht feiner Angehörigen. Man kann es
eintheilen in das natürliche und pofitive und in das allge:
meine und befondere. Das natuͤrliche befteht in jenem, wel:
ches nah dem Vernunftgefes des Rechtes in jedem Staate
Anerkennung fordert, und in der (nach eben diefem Gefes) dem Ge⸗
Civilrecht. | 505
fammtwillen oder der Staatögewalt in Bezug auf nähere Beftimmung
oder Modificirung deflelben gefesten vechtlihen Grenze; das po-
fitive ift das in einem beftimmten Staat gefeglih anerlannte
oder ftatuirte. Das natürliche erfcheint hiernach als allgemeines
und jedes pofitive als ein befonberes Recht. Aber man kann aud)
das pofitive wieder in ein allgemeines und ein befonderes abtheilen,
nad) dem Umfang feiner Gültigkeit ober feines Gegenſtandes.
Das allgemeine ift dann jenes, welches über den ganzen Staat feine
Autorität behauptet, im Gegenfas des befonderen oder Particular:
rechts einzelner Provinzen oder Bezirke oder felbft Gemeinden, oder
auch jened, welches die Staatsangehörigen Überhaupt oder ge
meinſchaftlich betrifft ober welches das Rechtsſyſtem im Ganzen
barftellt, im Gegenfaß bes entweder nur einzelne Glaffen von Per—
fonen — als Bauern, Gewerbsleute, Adeligeu. f.m. — ange:
henden oder nur befondere Rechtsmaterien regulitenden — wie
das Handels:, Wechſel⸗, Lehnreht u.f. m. Bon allen dieſen
Eintheilungen und Ausfcheidungen koͤnnen wir jedoch hier füglid, weg⸗
bliden, da uns nur daran liegt, bie Natur des bürgerlichen Nechts im
Ganzen zu beleuchten. |
Das bürgerliche Recht erhält in der Megel feine Feftftellung und
Außere Gültigkeit buch Staatsgefesg. Billig fragt man: inwiefern
hat die Staatsgewalt die Befugniß oder Vollmacht zu folder Feſt⸗
ftelung? Welches ift der Charakter der von ihr ausgehenden Rechte =
gefege und wie verhalten fich diefelben zu den politifchen?
Ein Geſetz im engern und eigentlihen Sinne ift die dem Ge⸗
fammtmillen (oder der Autorität von deffen natürlicher ober kuͤnſtli⸗
her Perfonification) entfloffene, für die Staatsangehdrigen verbin d⸗
liche Feſtſetzung deſſen, was behufs der Erftrebung des
Staatszwecks gefhehen folle oder nit geſchehen dürfe.
Es ftellt alfo Regeln des Handelns oder Unterlaſſens auf, d. h.
es befiehlt oder verbietet oder ertheilt auch Erlaubniffe (Los⸗
zählungen von Gebot und Verbot) und beftimmt die auf Verwirkli⸗
hung des Staatszwecks berechneten, doch nur Eraft eben bes geſetzgeben⸗
den Willens eintretenden Folgen gewiſſer Handlungen ober Unter:
laffungen (oder auch anderer Ereigniffe und factifcher Verhältniffe), eben
ſo auch die nach Befchaffenheit der Fälle zu fordernden Bedinguns
gen der Theilnahme an den Wohlthaten des Staatsvereins oder an be:
fonderen Begünftigungen, Erlaubniffen oder Befreiungen. So verfchie:
den hiernach aber die Gegenftände und fo mannigfaltig ber Inhalt ber
Geſetze fei, fo tragen doch alle den Charakter eine dem Geſammt⸗
willen entfloffenen Feflfegung von Mitteln zum Stants>
zweck an ſich; und es kann alfo, mo folcher Charakter nicht flattfindet,
auc von einem eigentlichen Gefege die Rede nicht fein.
Bei dem Civilrecht nun, auch wo es in ber Form eines Ge:
ſetzbuchs eingeführt ober unter der Autorität bee gefehgebenben
Gewalt Serkünber ift, erkermen wie jenen Charakter wicht, ober doch
506 Civilrecht.
nur in ſehr geringem, von einem ganz andern Charakter weit
uͤberwogenem Maaße. Das Civilrecht, wie das Recht überhaupt, iſt
nie Mittel zum Staatszweck, fondern feine Beſchirmung oder Ges
wihrleiftung ift Staatszwed felbfl. Das GCivilceht befiehlt
und verbieter nicht, wenigſtens in feinen Hauptbeflimmungen nicht,
fondern e8 anerkennt blos oder fintuirt, was Recht ift oder als
Recht gelten foll, und fein Princip oder die Autorität, welcher ed urs
fprünglich entfließt oder entfließen ſoll, ift Eeinedwege der Ges
ſammtwille oder überhaupt irgend ein gebietender Wille, fondern
entweder die allgemeine Menfchenvernunft ober bie freie Convens
tion. Unabhängig von aller Staatsgewalt, ja der Vorausfegung auch
nur bes Daſeins eines Staates gar nicht bedürfend, wird das Rechtsge⸗
feg dictirt duch die Vernunft und verfehen mit diefem auf alle
Sphaͤren der menfhlihen Wechſelwirkung anmwendbaren Recht tritt der
Menich in den Staat ein und fordert von biefem allernichft den Schug
ſolches Rechtes, nit die Erfhaffung eines neuen. Freilich iſt das
108 natürliche oder rein vernünftige Mechtsgefeg mangelhaft, d. h.
in Einzelheiten dem Streit oder Zweifel unterworfen, ober einer ges
naueren Beſtimmung, hier und dort auch einiger Vervollftändigung bes
dürftig ; aber bie Heilung oder Ergänzung folder Mängel kann gefchehen
— auch ohne Staat oder Staatsgewalt — durch Convention, d. h.
durch freies Uebereintommniß der in MWechfelmirfung Stehenden über die
einer beftimmten oder ergänzenden Regulirung bedürfenden Punkte,
Diefe Convention ann ausdruͤcklich gefchloffen werben (was jedoch
felten vorfommt) oder auch ſtillſchweigend, Insbefondere durch Uns
terlaffung des Widerfpruch® gegen die von der Gefammtheit oder auch
nur von der Mehrzahl der in näherer Wechfelwirtung Stehenden prafs
tifch aufgeftellten oder anerkannten Negeln des Rechts oder Entfcheis
dungsnormen von Nechtöftreitigkeiten. Freilich kann eine ſolche Con⸗
vention, wenn fie als Akt des Willens, d. h. ald wirklicher Vertrag,
fell angefehen werden, eine Gültigkeit oder verbindende Kraft nur für
die wirklich Einmwilligenden oder Paciscirenden anfprechen. Sie
ijt aber nach ihrem vorherrfchenden Charakter in der Megel mehr bloße
Anerkennung als wirkliche Statuirung und dient daher überall,
mo nicht eigens eine willfürlihe Feftfegung (etwa zur Ergäns
zung einer Luͤcke oder zur Hebung einer Unbeftimmtheit des Mas
turrechts) nothwendig ift, eher nur zum Beweis der Ueberein—⸗
ftimmung einer beobachteten Rechtsregel mit dem vernünftigen
Rechtsgeſetz, als zur Begründung einer verteragsmäßigen Vers
bindlichkeit zu ihrer Anerkennung oder Beobachtung. Solcher Bes
weis nun wird ſchon durd) die Mehrheit der anerkennenden Stim⸗
men hergeftellt, wogegen der eigentliche Vertrag bie Zuflimmung Als
Ler, die durch ihn verpflichtet werden follen, echeifcht.
Mit foldyem bios natürlichen, durch Convention (Anerkenntniß,
Herkommen oder, wenn man mill, auch ausdrüdlidy oder ſtillſchweigend
gefchloffenen Vertrag) genauer beſtimmten und vervollſtaͤndigten Pri⸗
Civilrecht. 507
vatrecht kann ein Volk Jahrhunderte hindurch ſich begnuͤgen, ohne an
den Staat die Forderung zu ſtellen oder demſelben auch nur das Recht
einzuraͤumen, geſetzgebend dabei einzuſchreiten, d. h. anſtatt das dem
Volke ſelbſtſtaͤndig angehörige, wiewohl dem Staatsſchutz
empfohlene Recht (welches jetzt, nachdem das Volk ſich zur Staats⸗
geſellſchaft gebildet hat, bereits Civilrecht iſt) blos zu beſchuͤtzen und zu
handhaben, ein neues oder nach ſeinen, des Staates oder der
Staatsgewalt, Intereſſen gemodeltes mit Autoritaͤt, als Civilrechts⸗
Geſetz, zu verkuͤnden. Nicht nur eines, ſondern mehrere verſchie⸗
bene, auf freier Convention (oder audy auf früherer Gefeggebung eines
fremden oder untergegangenen Staates) ruhende Rechtsſy⸗
ftense können gar wohl geduldet werben oder die Duldung fordern in
einem und bdemfelben Staate. Unbefchadet der Allgemeingültig-
keit dee vernunftrehtlichen Principien und ohne MWiderftreit mit
denfelben, vielmehr gerade bei ihrer eihtigen Anwendung auf die
mwandelbaren factifchen Umſtaͤnde, mögen in mancherlei Einzelheiten fehr
verfchiedene Beſtimmungen durch Herkommen oder Convention einges
führt werben, je nad) den verfchiebenen Lebensverhältniffen, Sitten und
Bedürfniffen der einzelnen Völker oder Volkstheile. in nomadiſch
herumziehendes Volk hat andere NRechtögegenftände und Bedürfniffe, ale
ein anfäffiges, Aderbau treibenbes, und die complicirteren Vechaͤltniſſe
des höhern Induftriebetriebe und Handels erheifhen auch entfprechende
Rechtsregeln. Ein des Lefens und Schreibens kundiges Volk hat ans
dere Beweismittel und andere Formen der Rechtsgeſchaͤfte, als ein folcher
Kunde ermangelndes, und Anmohner von Stroms oder Meeresufern find
von Bewohnern des Binnenlandes, eben fo bie in milder MWaldgegend
Haufenden von Großſtaͤdtern u.f. w. in Sitten und Gewohnheiten, dem
nah auch in Rechtebedürfniffen verfchieden. Wenn alfo unter einer
Herrfhaft oder in einen Staat vereint Völker von dergeſtalt ver-
fchiedenen Nedtsbedürfniffen ober Gewohnheiten leben; warum follten
fie nicht jedes fein befonderes hergebrachtes Recht forterhalten und ge:
genüber der gemeinfamen Stantsgewalt folhen autonomifhen Anſpruch
behaupten? Im Alterthum und in der mittlern Zeit zweifelte man
daran nicht; die defpotifchen Anmaßungen Rom’s (wie namentlich die
duch Varus Niederlage gerächte des Kaifers Auguftus gegenüber
den Deutfhen) gehören zu ben Ausnahmen. Unter dem mebos
perfifhen Scepter lebten funfzig und mehr Voͤlker jedes unter feinem
befondern Privatrecht; und die barbarifchen Zertrümmerer des römis
hen Rechts erlaubten den unterjodhten Provinzialen, nad) eigenem,
nämlich roͤmiſchem, Necht zu leben, obſchon fie für fich felbft ein anderes
mitbrachten.. Erſt die neue und neuefte Zeit hat die Idee geboren,
dag dem Staat alle Vollgewalt in Rechts: wie in politifhen
Dingen zuftehe, und daß alfo von Ibm auch das Civilrecht, fo wie
bie politifhe Geſetzgebung ausgehen und dort wie bier durch
Einheit das Herrfchen erleichtert werden muͤſſe.
Indem. wir biefer Anficht, zumal wo eine herrſchaftliche Gewalt,
508 Ä Civilrecht.
nicht jene bes wahren Geſammtwillens als Schoͤpferin des Rechts⸗
gefeßes fi) aufwirft, uns entfchiedenft entgegenftellen, find wir jedoch
weit davon entfernt, bad Civilrecht allem beflimmenden oder mitbes
flimmenden Einfluß der Staatsgemwalt entziehen zu wollen. Im Ge:
gentheit nehmen wir für diefelbe allernaͤchſt in Anſpruch das Recht und
die Schufdigkeit, für die Bildung eines der allgemeinen Anerkennung
würdigen Civilrechts [ubfidiarifch Sorge zu tragen. Wenn nämlich
ein zur Staatögefellfchaft vereintes Volt ein folches felbftftändig aus
freien Anerkenntniſſen erwachſenes Recht noch nicht befist, fo liegt
der Stantögewalt, die da jedenfalls den Rechts zuſt and zu fchirmen
oder zu gewaͤhrleiſten hat, bie Herftellung der zu foldyer Gewährleiftung
nothwendigen Beftimmtheit des Rechtes durch von ihr felbft aus:
gehendes Anerkenntniß bes natürlichen Rechts und durd, Seftftellung des
nad) folhem Recht noch Unbeflimmten oder Zweifelhaften oder Schwan
tenden ob. Letzteres ift zumal Darum nothivendig, weil bas Natur:
recht, obfhon, unter Vorausfegung verfländiger und reblicher
Darteien und Richter, zur Enticheidung aller oder doch der alfermeiften
Streitigkeiten für fih allein hinreichend, foldyes gleichwohl ohne biefe
(leider ganz unftatthafte) Vorausfegung allerdings nicht ift, fonbern
zur Entfernthaltung befangenen oder infibisfen MWiderfpruch oder Zwei⸗
fel8 und zu einer bem Vorwurf der Willkür entrüdten Entfcheidung
der aus folder Quelle fließenden Streitigkeiten eines förmlicyen nicht weis
ter beftreitbaren Anertenntniffes, fobann aud einer pofitiven
— daher, wo keine Convention vorliegt, mit Autorität zu gefche:
benden — Erfüllung feiner Lüden ober Unbeftimmtheiten bedarf.
Aber nicht nur ſolche unbedingt nothmendigen Bervoltftän-
digungen oder näheren Beflimmungen des Naturrechts kann
und foll bie Staatsgewalt (fubfidiarifh) aus eigener Autorität feftfesen,
fondern e8 wird ihr auch biefelbe Befugnig und Schuldigkeit zuftehen in
Bezug auf die im Intereſſe der vollkommnern Harmonie ber
Wechſelwirkung und bes leihtern oder volllommnern Rechts:
ſchutzes räthlihen oder mwohlthätigen Erweiterungen oder Be⸗
ſchraͤnkungen oder zmedmäßigen Modificationen des Matur:
rechts. Das Naturrecht 3. B. unterfcheidet wohl die Unmuͤndigkeit von
Großjaͤhrigkeit, oder überhaupt rechtliche Unvollbürtigkeit von Vollbürtig-
keit; aber eine allgemein gültige Beſtimmung über das zur legten noͤ⸗
thige Lebensalter ober fonftige Eigenfchaft gibt es nicht; eben fo über die
zur Rechts-erwerbenden oder tilgenden Verjährung nöthige Zeit u. f. w.
Die Convention oder in deren Ermangelung das Staatsgefeg hat ſolchen
Mangel durch pofitive Feſtſetzung zu ergänzen. Aber auf gleiche
Weiſe koͤnnen auh neue Rechte eingeführt, d. h. folche, die das bloße
Vernunftrecht nicht ober nur in befchränktem Maaße kennt, gefhaffen
ober erweitert, nicht minder gewiffe,, im außerbürgerlichen Zuftande
wirklid, vorhandene Rechte gefhmälert oder aufgehoben werden.
Beifpiele von Erſterem find das Erbrecht, die Verjährung, die Hypothek
und verfchiedene andere Grundrechte u. ſ. w., von Legterem bie Befchrän:
n
Civilrecht. 509
kung des Rechtes der Selbſthuͤlfe, das Verbot ober die Nichtigkeitserklaͤ⸗
rung gewiſſer — etwa den Charakter der Wucherlichkeit an ſich tragen⸗
ben oder eine nähere Gefahr der Uebervortheilung mit ſich fuͤhrenden —
Contracte u. f. w.
Bei Erlaſſung ſolcher poſitiven Rechtsgeſetze iſt es jedoch nicht ei⸗
gentlich der Wille der Staatsgewalt, welcher den Stab fuͤhrt oder
fuͤhren ſoll, ſondern abermal nur der rechtliche, d. h. die thunlichſt
vollſtaͤndige Rechtsbefriedigung ſuchende Verſtand. Jene Ge-
ſetze nämlich ſollen blos an die Stelle ber Convention treten, dem⸗
nad) den Charakter der letzten theilen, d. h. fo befchaffen fein, daß
man ben Beifall oder die Zuftimmung fämmtlicher Perfonen, deren
Wechſelwirkung zu regeln fie beftimmt find, dafuͤr mit Zuverficht an⸗
nehmen oder vorausfegen kann und zwar. noh ohne Ruͤckſicht auf
poltitifche Intereſſen oder auf die Eigenfchaft der Einmilligenden
als Staatsbürger, fondern rein in ihrer Eigenfchaft als — unter
fih in näherer Wechſelwirkung ftehender und baher der Re⸗
gulirung ſolches Verhältniffes bebürfender, in einem Staat be>
findliher — Rechtsſubjecte. Die Staatögemalt alfo hat dabei
nicht eigentli befohlen, fondern fie hat entweder blos erklärt,
was ihr, die da dad Recht zu fhügen und zu handhaben hat, als
Recht erſcheine und daher von ihr werde gefchügt werden; ober
fie bat, ale dazu durch ihre Stellung vorzugsweife geeignet, blos bie
Artikel der zur Befriedigung des Rechtsbeduͤrfniſſes zu fchließenden
Convention entworfen und zwar bdergeftalt oder in dem Sinne,
daß fie dabei der Zuftimmung aller ‚Betheiligten möglihft gewiß mar
oder, ohne Gefahr zu irren, biefelbe, al® bereits ſtilſſchweigend ertheilt,
vorausſetzen konnte.
Hierin nun liegt, der Theorie oder der reinern Rechts- und
Freiheits-Idee nach, der mwefentliche Unterfchied der Rechtsgeſetze,
namentlidy des Civilrechts, von den politifhen. Die letzten
enthalten oder verordbnen Mittel zum Staatszweck, die erften find
bloße Verdeutlihung des Zweckes felbft und zwar eined dem
Staate gegebenen, nicht aber von der Staatsgewalt willfürlih auf:
geftellten Zweds. Auf Ähnliche Weife entfließen die von einer Kirs
hengemalt etwa pofitiv gegebenen moralifhen Vorſchriften
keineswegs dem Willen jener Gewalt oder einer auf gewifle Zweck⸗
erreihung gehenden Richtung, fondern fie find (oder follen fein)
bloße Verbeutlihungen ber unabhängig von ber Kirchengewalt beftehen-
den, durch eine höhere Autorität, nämlih die moralifhe Ver⸗
nunft, gegebenen Gefege; wogegen die als bloße Tugend » Mittel
oder überhaupt als Mittel zu Kirchen: Zmeden dienenden, 3. B.
auf Erhöhung der Andacht oder ber gottesdienftlichen Feier und Würde
u. f. w. berechneten, mehr den eigentlichen ober polttifhen Staats:
gefegen zu vergleichen find.
Es ift von größter Wichtigkeit, daß die Rechtsgeſetzgebung
diefen Standpunkt niemals verlaffe, d. h. daß fie.niemals Zwed und
er
510 Civbilrecht.
Mittel miteinander verwechſele und gerade den hoͤchſten Staatszweck,
naͤmlich das Recht, zum Mittel herabwuͤrdige fuͤr Erreichung irgend
eines andern — mehr oder minder lautern — politiſchen Zweckes.
Wo ſie ein ſolches ſich für erlaubt haͤlt, da hat das Recht gas keinen
ſelbſtſtaͤndigen Boden mehr, ſondern mag aufgeopfert werden den
wandelbaren, oft rein ſubjectiven und befangenen Anſichten oder den
ſelbſtſuͤchtigen und jenen der Geſammtheit entgegengeſetzten Intereſſen
der Machthaber. Da wird die ſchoͤne natuͤrliche Familien⸗Ord⸗
nung unerrettbar weichen. müffen bier den phantaſtiſchen Ideen eines
Lykurgus, Dort den befpotifchen Zwecken eines Kriegsmeifterd und Aus
tofraten ; das heilige Recht der perfönlihen Freiheit kann als⸗
dann mit Süßen getreten werden zu Gunften einer anmaßenden Leibs
herrlichkeit; und die Unerfättlichkeit der Ariftofratie mag durch abens
teuerliche Rechtedichtungen und wucherlich erfonnene Gerechtfame bie
nachfolgenden Gefchlechter zur härteften Zributpfliht und Frohndpflicht
gegen eine auserlefene Kafte verdbammen. Das Recht des Erwerbs
durch rebliche Arbeit und Kunſtfleiß geht unter in engherzigen Zunft:
monopolen, unb privilegirte Erb= und Befig:-DOrbnungen häufen
ben Reichtum ganzer Provinzen in einzelnen Häufern oder auch im
todten Händen an, mährend republikaniſch gefinnte Machthaber perios
dbifhe Vertheilungen des Eigenthums anorbnen, ober buch
Einführung der Gemeinfhaftlichfeit alles Beſitzes und Genuffes
der Traͤgheit ‘oder Unfähigkeit eine Prämie und dem tätigen Arbeits
fleiß eine Strafe zuerfennen. . °
Dergleihen Gefahren hören auf, mo im oben erklärten Sinne
bie Nechtsbücher verfaßt werden. Diefelben find alsdann frei von jeder
wiffentlicd oder abfichtlidy dictirten Rechts-Verkuͤmmerung und nur ben
etwa aus Irrthum fliefenden Mängeln noc ausgefegt. Ihre Vers
befferung aber hält fortwährend gleichen Schritt mit der Vervollkomm⸗
nung ber Rechtswiſſenſchaft; das Geſetzbuch ift der reine Auss
druck der Lehrfige einer vernünftigen Surisprudenz, nidt
aber eines, was immer für Zwecke verfolgenden, Willens. Den
Voͤlkern wird nimmer — neben bem materiellen Uebel der Rechte:
Unterdrädung — auch noch ber Hohn und die Shmad zu
Theil, diefelbe unter dem Zitel eins Rechts-Geſetzes erbulden
zu müffen; und fie behalten, was aud) etwa fonft — in ber politifchen
oder Öffentlich rechtlichen Sphäre — ihre Laſten und Duldungen feien,
immer noch den Zroft eines ihren unmittelbaren Bedürfniffen und ih⸗
ten heiligflen Empfindungen zufagenden, diefelben mwenigitens nicht mit
Füßen tretenden Privatrechts. Anfichten oder wenigſtens dunkle
Gefühle diefeer Art waren es, welche die Deutfchen zur Schilberhes
bung gegen die römifchen Leglonen unter Varus aufregten, und uns
ter den Gründen ber Völker - Entrüftung mwider Napoleon Mar bie
Unleidlichkeit eines aufgedrungenen fremden Rechts einer ber
mächtigft wirkenden. |
Ungeachtet unferes bier freimäthig ausgefprochenen Eifers wider
Ä Civilrecht. 511
die Herabwuͤrdigung des Civilrechts zur Dienſtmagd politiſcher Intereſ⸗
ſen, ſchließen wir gleichwohl dieſe Intereſſen nicht aus von aller Theil⸗
nahme an oder von allem Einfluß auf deſſelben Feſtſetzung. Es iſt
naͤmlich einerfeits ein vom Dernunftrecht für willkuͤrliche Beſtimmun⸗
gen Freigegebener, fehr anfehnlicher Raum vorhanden, beſonders
in Bezug auf folhe Regeln, die nur im Falle, daß die Betheiligten
ſelbſt nicht etwas Anderes feftfegen, gelten follen, demnach den legten _
durchaus feinen Zwang auflegen, und es gibt anderfelts für bie Staats⸗
buͤrger als ſolche mancherlei Gruͤnde der Verzichtleiſtung auf
an und für ſich ihnen zuſtehende, namentlich außerbuͤrgerliche Rechte,
deren Werth nämlich überwogen werden mag durch die aus ihrer Auf:
hebung oder Beſchraͤnkung fließenden WBortheile für die Gefammtbeit,
Diefe Verzichtleiftung auszuſprechen oder auch jene der Willkür freifte
henden Beftimmungen mit Ruͤckſicht auf politiſche Sntereffen fo
oder anders zu machen, überhaupt das Nuturrecht, fo weit der Staate-
zweck es wirklich erheifcht oder raͤthlich macht, zu modificren, fteht
dem Gefammtivillen oder dee Staatsgewalt allerdingd zu, und bie
Grenze folcher Befugniß oder das Kriterium der Zuläffigkeit beſtimmter
Seftfegungen ift, bier mie überall bei Acten der Staatsgewalt, ihre
Uebereinftiimmung oder Vereinbarlichkeit mit dem vernünftig ‘anzunch
menden oder vorauszufegenden wahren Gefammtmwillen ber zur
Stantsgefellfchaft Vereinigten und zwar hier in ihrer Doppelten Eigen⸗
fchaft, naͤmlich als Privatrechts⸗ Subjecte und als Staatsbuͤr⸗
ger, zumal aber ihre, einem echten und lautern Organ dieſes
Willens entfloſſene, ausdruͤckliche Billigung. Je freier und
republikaniſcher alſo die Verfaſſung iſt, deſto weiter reicht bie Sphäre
jener Zutäffigfeit; eine autokratiſch verkuͤndete Abaͤnderung des na⸗
tuͤrlichen Rechts dagegen iſt immer verdaͤchtig und gehaͤſſig.
Beiſpiele von ſolchen auch aus politiſchen Gründen unbedenk⸗
lich zu treffenden Abaͤnderungen, Erweiterungen oder Beſchraͤnkungen
des natuͤrlichen Rechts kommen in allen Civilgeſetzgebungen vor. Oft
iſt auch ihre Natur eine doppelte oder vermiſchte, d. h. ihre
Feſtſetzung iſt zum Theil dem eigentlichen Recht 8⸗Geſetz (oder auch
jenem der Billigkeit und Humanitaͤt), zum Theil einem poli⸗
tifhen Motive entfloffen ; eine durchgreifende -Unterfcheidung oder
Abfonderung der beiden Claſſen - pofitiver Rechtsbeſtimmungen alfo
nicht möglih. Auch gelten die politifchen, fobald fie ins Rechtsge⸗
ſetzbuch aufgenommen ſind, gleichmaͤßig wie die dem natuͤrlichen
und dem conventionellen Rechte entfloſſenen, als wahre Pri⸗
vatrechte, genießen alfo gleich allen übrigen den allgemeinen Staaksſchutz
und ingbefondere jenen der Zribunale. Gleichwohl iſt ihre Unterfchei«
dung im Begriff und nad) den idealen Principien ihrer Gültigkeit
oder Zuldffigkeit von mwiffenfhaftlihem und menigftens ins
fofern oder alsdann aud von praftifhem Intereſſe, wenn
es fih um ein erft zu erinffendes Grfes, alfo um Werfertigung
eines neuen Civilcoder oder um Reviſion eines alten oder auch um
‘
512 Cipilrecht.
vereinzelte neu einzufuͤhrende Beſtimmungen oder um die Beurthefung
der bereit getroffenen hanbelt.
Bon unferm Standpunkte alfo erfcheint nach ‚obigen Betrach⸗
tungen als zulaͤſſig, daß aus politiſchen Gruͤnden z. B. das Erbrecht
ſtatuirt und in Gemaͤßheit echter politiſcher, d. h. auf den Staatszweck
Bezug habender Intereſſen regulirt werde. Die In teſtat⸗-Erbfolge
zwar, inſofern fie ſich auf die Idee des Mittigenthums ber Familien⸗
glieder auf das gemeinſchaftlich erworbene Beſitthum zuruͤckfuͤhren läßt,
hat ſchon einen vernunftrechtlichen Boden; inſofern ſie aber auf
der Idee eines uͤberha upt zu ſtatuirenden Geſammteigenthums oder
Geſammtrechts der Familie auf das Beſitzthum jedes einzelnen Gliedes
ruht, iſt fie rein poſitiv und daher auch in ihrer Regulirung von
denſelben Gruͤnden der Billigkeit oder Humanitaͤt oder Politik abhaͤn⸗
gig, denen ſie ihre Einfuͤhrung uͤberhaupt verdankt. Dem Recht
an und für fi iſt alsdann ziemlich gleichgültig, welche Ordnung
der Erbfolge — menigftens unter ben entferntern Verwandten —
beftimmt werde: nur daß überall eine deutlihe Beftimmung vorlie
ge, ift zur Entfernthaltung oder Entfcheibung von Streitigkeiten noth⸗
wendig. Auch das Recht zu teftiren, ift eine politifhe — zu
Erwerb und Sparfamkeit fpornende — Einfegung, und ihre Befchräns
tung duch das Recht gewiffer Notherben gleichfalls billig und pos
litiſch weiſe. Ginge jedoch die legte foweit, auch die Freiheit ber Lebs
zeitigen Verfügungen zu verfümmern und zwar zu Gunften felbft
der undankbaren, der natürlichen Pflicht vergeffenen Kinder ober Ges
fhwifter: fo wuͤrde fie ein Eingriff in's naturrechtlich gültige
Eigenthumsrecht, ſonach rechtsverlegend und ber Zuflimmung der
vernünftigen Bürger unmürdig fein.
Die Einführung des Hypotheken-Rechts, als ben Crebit
erhöhend und die Eigenthumsbenugung vervielfältigenb, ift politiſch
raͤthlich und gut; die zahlreichen gefeglichen oder ftillfchmeigenden
Hypotheken dagegen nicht nur dem politifchen Hauptzweck des Inſti⸗
tuts, nämlich der Crediterhoͤhung weſentlichen Eintrag thuend, fondern
auch den vernunftrechtlihen Anſpruͤchen der Gemeingläubiger wiberftreis
tend und daher zwiefach verwerflich. Zum Frommen der Landwirth⸗
ſchaft oder ber In duſtrie, überhaupt aus nationaloͤkonomiſti—
ſchen Gruͤnden, moͤgen verſchiedene Beguͤnſtigungen oder Rechtswohl⸗
thaten, z. B. die Befreiung der zum Betrieb einer laͤndlichen oder
ſtaͤdtiſchen Induſtrie unbedingt noͤthigen Geraͤthſchaften von dem Ge⸗
richtszugriff u. ſ. w., ſtatuirt, zur Entfernthaltung des verderblichen
Wuchers der Verkauf der Srüchte auf dem Halm verboten, der
commiffarifche Vertrag, auch jener des Vichverftellens u. a. für nichtig
erklaͤrt, das Mehmen der Zinfe von Zinfen unterfagt werden. Wenn
jebocdy neben ſolchen gegen den Wucher gerichteten Rechtsbeſtimmun⸗
gen die Gefeggebung die über alles Maaß hinaus wucherlichen Gons
tracte, wornach für das etwa überlaffene Nugeigenthum eined Grundes
ungemeffene Frohnden, vielnamige, den reinen Ertrag nod
Civilrecht. 613
überfteigenbe Abgaben, bie himmelfchreiende „Drittelspflicht” nebſt
dem abenteuerlihen Zehnten möchten vorbehalten ober ausbedungen
worden fein, nicht nur.gutheißt und aufrecht erhält, fondern fogar
erdichtet, db. b. auch. alfbort für wirklich gefchloffen annimmt, mo
nach den lauteſt fprechenden Zeugniffen ber Gefhichte nur Gewalt
und Anmaßung -der Starken foldhe enorme Zeibutpflicht über bie
Schwachen verhängte; fo.fteht fie freitich mit fich felbft im fchreienditen
Miderfpruh und hebt in der That das Eigenthumsrecht der ‚armen
Golonen auf, anſtatt es zu ſchuͤtzen. Dagegen wird die Abfchaffung
ſolcher Laſten und. Has Verbot ihrer Wiedereinführung durch irgend
einen Vertrag ber Politik wie dem Rechte gemäß fein. Die Bevor⸗
vechtung gewiſſer Forderungen beim Concurs: Verfahren mag
aus politifhen oder aus Yumänitäts : Gründen, zu billigen fein; wo⸗
gegen die übermäßigen Privilegien des Fis cus mit einer wahren Bes
raubung zu vergleichen find. Für die Verhältniffe der Ehegatten
eine gefeglihe Regel aufzuftellen, ift allerdings politiſch gut; dech
nur durch die den ſich Verehelichenden gewährte Befugniß, auch etwas
Anderes, ihren befonderen Intereſſen Entiprechenderes buch freien
Ehevertrag feftzufegen, wird ſolche Beftimmung rechtlich unbedenklich.
Die Vorſchriften über — ftädtifhe oder laͤndliche — Dienftbar«
teiten find großentheild mehr polizeilicher, als rechtliher Natur,
im römifhen Recht übrigens mit ben vernunfteechtlihen Grunds
fügen nicht im Widerſpruch, im germaniſchen dagegen vielfach vers
unftaltet duch graufame Abgefhmadtheiten, namentlih buch Ver⸗
wandlung perfönlicher Dienftbarkeiten in Grundlaften und durch
Erhebung von Gründen zur Derefhaft über Menſchen.
Aud allgemeine politifche Intereffen mögen in gewiffen Maße
fid) geltend machen bei Feftfesung des Civilrechts. So die Ueberein«
flimmung deſſelben mit den SPrincipien einer einmal beftehenden und
als gut anerkannten Verfaffung (eine wahrhaft gute Verfaffung
indefien bedarf des Opfers von weſentlichen Rechten nie); fo auch die,
alle Arten der Wechfelwirtung erleichternde und taufenderlei Rechtöftreis
tigkeiten verhütende, aud für Richter und Rechtsfreunde hoͤchſt vors
theithafte Gleihförmigkeit bes Rechts über den ganzen Staat.
Diefen ntereffen jedoch ftehen auch mehrere (oben fchon bemerkte)
Nachtheile entgegen; und fo wuͤnſchenswerth überall die Gleichfärs
migkeit erfcheine, fo wird fie kaum auf andere Weife rehtsunbes
denklich zu flatuiren fein, als mit freier Zuſtimmung nicht nur ber
Mehrheit der Angehörigen de Geſammtſtaates, fondern auch jener
der Genoffen des bisherigen Particularrechtee, deſſen Abfchaffung
jeweils in Sprache iſt. | |
Diefe Beifpiele mögen genügen zue Verbeutlihung unferer Ans
fiht von der dem Civilrecht als Hauptcharakter einwohnenden fireng
rehtlihen Natur, neben welcher bie politifche nur in außerwe—⸗
fentlihen Bufägen oder Modificationen als untergeordnete Beimifhung
erfcheint. Alles aber, was einmal ins Civilgefeg aufgenommen ift,
Staats » Lexikon. III. 8
514 Givilredht.
gift als Recht, nur mit bem Unterfchleb, bag bie eigentlichen BRechti
geſetze etwas feflfegen, eben weil e8 — ſchon unabhängig von der
Staatsgewalt — recht iſt, wogegen was bie politifhhen Geſche
feftfegen (db. h. wa® man aus politifhen Gründen in's bürgerliche Ge
ſetzbuch aufnahm), nur recht iſt, weil es verorbnet warb.
Beide biefe Arten von Rechten haben übrigens bas miteinander
gemein, baß fit — nad) einmal erfolgter Anerkennung oder Statri⸗
rung als Rechte — zwar dem Schutze der Stautögewalt untere
ben, aud daß biefe Gewalt, eben zum Zweck ihrer Veſchirmung ober
zur Hintanhaltung ber ihnen etwa brohenden Angriffe, verfcdhiebene
polizeitiche (insbefendere bie eigentlich fogenannten recht s poli⸗
zeilichen) Anftalten ind Leben rufen, nicht minder duch Strafge⸗
ſetze ihrer Verlegung entgegentreten darf und foll; daß aber in ſtrei⸗
tigen Faͤllen nur auf Anrufen ber Parteien und nur burd
die — von ber Staatögemwalt in Bezug auf das Urtheilfprechen unab
bängign — Gerichte zu entfcheiden ift, ja daß der Staat ſelbſt vor
biefen Gerichten Recht nehmen muß, wenn er über civilrechtlide
Dinge gegen einen feiner Angehörigen auftritt. In eigentlih politi⸗
ſchen, b. h. dem Civilrecht (und auch dem Strafredht) nicht an
gehörigen Dingen (mit Ausnahme nur einiger befonderer, von
ausbrüdiih an bie Gerichte gewieſener Gegenflände) enticheiben bie
betheiligten Staatsgewalten (d. h. die abminiftrativen, z. B. Pe
lizei- oder Finanz⸗ Behörden) ſelbſt und auch ohne Anrufen ber
Privaten von Amtöwegen. |
SHeilighaltung bes natürlichen Privatrehts und ber aus
verftändiger, freier und wahrer (nicht blos gedichteter) Convention
hervorgegangenen (oder auh im Geiſt einer ſolchen zu flatuirens
den) Bervoliftändigung und genauern Beſtimmung befjelben fei das
oberfte Princip der pofitiven Civilrechts-Geſezgebung. Die
vorherrfchende und in hoͤchſter Inſtanz entfcheidende Stimme führe dabei
nur bie rehtlihe Vernunft, und den politifhen Intereffen
werde ein beftimmender Einflug nur eimgeräumt, inſofern entweder
der dadurch zu erfirebende Zweck eben ber volffommmere ober erleichterte
Rechtsſchutz iſt, oder imfofern was fonft für andere gute Zwecke
fid) dadurch erreichen laffen ohne Verfümmerung ber ſolchen
Schus anfprehendben Rechte ſelbſt. Ein bergeftalt verfaßtes
Rechtsbuch iſt — weil in der Hauptfahe auf ewigen Wahrheiten
ruhend — zur längften Dauer geeignet, während bie politifchen
Geſetze größtentheils auf das wandelbare Beduͤrfniß oder bie wechſeln⸗
den Umftände ber Zeit berechnet und daher wie biefe ber Staͤtigkeit
entbehrend find. Das roͤmiſche Civilrecht — nad) feinen eigentlichen
Rechts» VBellimmungen, mithin abgefehen von den mit politifchen
und religidfen Verhältniffen und Interefien in Verbindung flehen-
den Eagungen, und etwa auch abgefehen von den aus dem Kindesal⸗
ter Roms flammenden rohen Ueberlieferungen — hat eine lange Reihe
von Jahrhunderten hindurch feine Herrfchaft behauptet und biemt noch
Clvilrecht. Collecten. 515
heute dem Chilrecht vieler Voͤlker theils als Grundlage, theils ale
Hauptnorm, theils als ſubſidiaͤre Beſtimmung. Dieſes Civilrecht Roms,
nach denjenigen Feſtſezungen zumal, welche es ber rechtlichen Vernunft
oder der freien wiſſenſchaftlichen Ueberzeugung ſeiner Juriſten, nicht
aber dem willkuͤrlichen Machtgebot ſeiner Kaifer verdankt, blieb das
koſtbarſte Beſitzthum, ja der faſt einzig Übrige Troſt für die Angehörk
gen ded buch die font ſchrankenloſe Defpotenmacht der Kaifer unter-
druͤckten Reiches; unb es allein unterhielt bei feinen Pflegen unb
Freunden, Inmitten ber allgemeinen Verſunkenheit ihrer Zeitgenofien in
Sklavenſinn und Apathie, noch die Idee und bie Liebe eines felbft-
fländigen, von herriſchem Gebot unabhängigen ehiee.
Rotteck.
Claſſenſteuer, ſ. Klaſſenſteuer. ,
Clopicki (Clopicki), ſ. Polen. |
Elub, f. Affociatton und franzoͤſiſche Revolution.
Coalition, f. Allianz. 5
Coblenz, f. franzsfifhe Revolution. |
Code civil frangais, f. frangöfifhes Recht.
Codex, ſ. roͤmiſches Recht.
Cognaten, ſ. Verwandtſchaft.
Eölibat, ſ. Eheloſigkeit. .
Collecten, Collectiren, Collettanten. Sofern unter
dem Namen Collecten früher haͤufig die Steuern verſtanden wer⸗
den, find darüber bie Artitel Beeten und Steuern nachzufehen.
Man verfteht aber auch unter Collectiren das Einfammeln von ftel-
willigen Beiträgen für gewiſſe Zwecke, insbefondere auch für. wohls
thätige Zwecke. Nicht felten verbieten befondere Landesgeſetze das Col:
lectiven ohne befondere Staatserlaubnig, um Mißbraͤuche zu verhüten.
Sofern nun befondbere Gründe zu foldhen Verboten vorhanden find,
wie für das Verbot des Collectirens für verberbliche Lotterien, ins⸗
befondere für auswärtige, fo wollen wie dagegen nichts einwenden.
Außerdem aber möchte ein allgemeines Verbot für folches Gollectiren
Durch Öffentliche Blätter ober perfönlih nur dem Syſtem ber Bevor⸗
munbung der Bürger als unmünbdiger Kinder angehören unb ber de⸗
fpotifchen Ausſchließung jeber freien Beſtrebung ber Buͤrger für ihre
befonderen erlaubten Zwecke, für ben Ausdruck und die Bethaͤtigung
ihrer freien Ueberzeugungen und namentlich auch ihrer mohlthätigen
oder auch der politifchen Freiheit günftigen Geſinnungen. Es möchte
eine ſchwer zu rechtfertigende Beſchraͤnkung zugleich der Eigenthums⸗
und der perſoͤnlichen, der moraliſchen und politiſchen Freiheit ſein.
Sind nun dieſe Guͤter und ihre freie Benutzung nicht auch
etwas werth? Was wuͤrde wohl ein freier Brite zu einem ſol⸗
chen Verbote ſagen? Das verfteht ſich freilich von ſelbſt, daß ber
Staat Feine Berrügereien, 3. B. kein betruͤgliches Collectiren für Ab-
gebrannte, die nicht abgebrannt find, zu dulden braucht. Aber. etwas
Anderes iſt Beſtrafung wirklicher Betruͤgereien ober Unterfagung einer
, —X
516 Gollecten. Collegium:
Begünftigung offenbarer Gefegwibrigkeiten und wachſame Aufficht da⸗
gegen, etwas Anderes ein zum Voraus bie Zreiheit aller Bürger ſelbſt
oft in ihren ebelften Beftrebungen lähmendes gefehliches Verbot. Daß,
wer Sinn und Achtung für die natürlichen und politiſchen Mechte
freiee Buͤrger und freiee Männer hat, und wer es weiß, wie hun⸗
bertmal fie es verfchmähen, fi erſt befondere Staatserlaubniffe für
natürliche, freie Beſtrebungen zu erbitten, und weichen Bedenklichkel⸗
ten und Schwierigkeiten ſolche Ertaubniffe felbft unterliegen, uns mit
ber Ausfiht auf fie teöften werde, das beforgen mir nicht. |
' C. Th. Welder.
Collegium; Collegial- und buͤreaukratiſches Sys
ſtem ber Verwaltung. Unter Collegien verſtanden die Römer
gewiſſe Innungen und Corporationen, beſonders auch religioͤſe, in
welcher Bedeutung auch in der chriſtlichen Kirche ſich der Ausdruck
erhielt. Auch bildete ſich der Ausdruck Collegialſyſtem für bie
jenige Theorie über das Verhaͤltniß ber Kirche zum Staat, welde
beide Vereine als felbftftindig nebeneinander ftellt, im Gegenfag gegen
das falfche hie rarch i ſche Syſtem, welches den Staat der Kirchens
gewalt unmittelbar unterordnet, und gegen das Territorialſyſtem,
welches die Kirche gaͤnzlich dem Staate unterwirft. Hiervon muß in
den Artikeln über Hierarchie und Kirchenſtaatsrecht gehandelt werden.
Hier reden wir nur von Collegien und Collegialſyſtem in ber
heutigen gewoͤhnlichen, auf die innere Verwaltung ber Staatsangeles
genheiten bezüglichen Bedeutung. In diefem Sinne nennt man Col
fegien folche Öffentliche Verwaltungsſtellen, welche aus einer morali
(hen Perfon beftehen, fo daß mehrere Theilnehmer an dem Verwal⸗
tungsgefchäft dafjelbe ald eine moralifche Perfon verwalten, alfo durch
gemeinfdhaftlihe Berathung und durch Befchlüffe, die nach Stimmen»
mehrheit, zumeilen und ausnahmsweiſe auch durch Stimmeneinhellig⸗
keit gefaßt werden. Eine Organiſation der Verwaltung, bei welcher
der Regel nad) die Behörden aus Collegien beftehen, nennt man das
Collegialſyſtem. Den Gegenfag hiervon bildet das büreaufras
tifhe Spftem der Verwaltung. Buͤre au hieß urfprünglich ber wol⸗
lene Zeppih, womit man die Schreibtifche bedeckte, und bezeichnet
dann den Schreibtifch felbft und endlich auch die Schreib ober Ges
fhäfte-Stube. Unter dem büreaufratifhen oder Öüreaus
Syſtem verfteht man eine folche Verwaltung der öffentlihen Ge
[häfte, dag auf jeder befondern Stufe des Verwaltungsorganismus
nur ein einzelner Mann die Gefchäfte leitet und die Beſchluͤſſe faßt,
und daß ein folcher Chef wohl Arbeiter, Werkzeuge oder Gehülfen,
namentlich in feiner Gefhäfts-Stube, in feinem Büreau hat, melde
auch mohl ihm Auskunft und Math ertheilen können, aber nicht feine
Semwaltsgenoffen find, Feine entfcheidente, fondern hoͤchſtens nur eine
berathende Stimme in ber Gewaltsausuͤbung haben.
Man kann die beiden genannten Verwaltungsſyſteme blos auf
die eigentlichen Staatsbeamten » Einrichtung im engeren Sinne bes
Gollegium. 517
ſchraͤnkt denken. Doch kann man fie aud ala mit bes ganzen ver⸗
faffungsmägigen Berwaltung ber gefellfchaftlihen Angelegenhei«
ten in Verbindung flehend betrachten. . Denn in der Kegel ift mit
der Herrſchaft des. Collegialfpftems in einem Staate auch das verbuns
den, daß die Gefchäfte nicht blos von eigentlichen Stäatsbeamten ober
Dienern ber Regierung berathen und befchloffen werden, fondern daß
auch die Bürger in dem betreffenden Verwaltungskreis wenigſtens
durch Ausfchüffe oder Repräfentanten Theil nehmen, direct oder indirect
mitberathen und mitſtimmen, ſo wie z. B. in Beziehung auf einen
großen Theil der Staatsverwaltung die Reichs⸗ oder Landſtaͤnde, in
Beziehung auf die Angelegenheiten der Provinzen bie Provinzial⸗
oder Landräthe, in Beziehung auf. bie Berichte, die Geſchwornen; baf
jebenfalld von folchen Vertretern des regerten Volks alle Verwaltungs⸗
thätigfeiten mit;.conteolirt. und alle Verwaltenden auch von ben Buͤr⸗
gern .und ihren. Vertretarm wegen Verletzungen ‚verantwortlich gemacht
werben Tönnenz- Laß dagegen alle Mitglieder. ber Collegien auch gegen
die Willkuͤr der Regierung gefichert. und, nur auf einem rechtlichen
Wege derfelben verantwortlich find. Alsdann Tann man ein folches
Berwaltungsſyſtem «in repräfentativ = collegialifches nennen.
Eben fo ift mit dem buͤreaukratiſchen Syſteme umgekehrt gewoͤhnlich
ein autokratiſches Princip verbunden, welches die Theilnahme der
Regierten ausſchließt und bie Verwaltungsbeamten allein ihren vor⸗
geſetzten Beamten und zuletzt dem autokratiſchen Chef bee Regierung
verantwortlich, fie dagegen auch, ohne alle geſicherte Stellung, gaͤnz⸗
lich non der höheren Willkuͤr abhängig macht. Dan kann dann die⸗
ſes Syſtem das. aut⸗kratiſch⸗büreaukratiſche nennen.
..Bei freien Nationen und namentlich bei den germaniſchen herrſchte
in der Megel das rvepräfentativ=collegialifhe Spftem vor. Won ber
Gemeinde ober der" Decanie, von dee ‚Gent, fpäter dem Kirchfpiel
‚oder Amt, dem. Gau und dem Herzogthum oder ber Provinz bis bins
auf zu. Kaifer und Meich’ wurden. bie Rechtspflege und die übrige Vers
maltung. regelmäßig‘ fo gehandhabt, daß zwar der Kaifer oder ein dfs
fentlicher. Beamter eine Praͤſidlal⸗ und Direstorials Gewalt ausübten,
daß aber unter derer Leitung einem. Collegium, großentheils aus ben
Vorwalteten oder.ihren Wustretern beſtehend, Berathung und Schluß⸗
faſſung zuftand.: Und .matürlich konnten hierbei auch die Verwalteten
„Hälfe. gegen verlttzende Beſchluͤſſe ſuchen und. die. Verwaltungsbeamten
verantwortlich machen. Dazu fand :theils ein regelmäßiger Inſtanzen⸗
zug.;ober ein Beſchwerdetecht über. die Entfcheibungen der. unteren
Stiellen bei ben oberen ftatt, theils hatte:namentliih Karl der Große
noch beſonders, um bie Geltendmachung dieſer Verantwortlichkelt und
die Beſtrafung der Verletzungen durch die Beamten zu erleichtern, das
Inſtitut der koͤniglichen Sendgrafen erfunden, welche die Provinzen
bereiſten und in den ‚öffentlichen Verſammlungen die Klagen gegen bie
Beamten vernahmen, unterfüuchten amd. ihre Willkuͤrlichkeiten und Ber:
geben durch das Volksgericht oder die Anzeige beim Kalſer zur Strafe
Hi Gollegium.
braten. Gegen Willkuͤr des Kaifers dagegen waten bie lebenslaͤng⸗
lich ernannten Beamten gefhügt. Bekannt iſt es, daß die chräfktiche
Kirche, wie es befonders auh Walafrid Strabo Kervorhebt, nach⸗
dem fie früher als Staatliche im befpotifchen roͤmiſchen Reiche zum
Theil die bdefpotifchen römifchen Wertwaltungseinrichtungen angenommen
hatte, in ben freien germanifchen Völkern ihren Berwaltungsorganid«
mus ‘ganz jenem freien germanifchen nachbildete, welches auch den
riftlihen Grunblehren und der erften chriftlichen Kirche entfpradh.
Durch die Hierarchie aber erhielt fie freilich wiederum befpotifchere
Formen.
Den reiten Gegenſah dleſes vepräfentativen, colleglalifhen Sy⸗
ſtems bes Germanen bilden die orientalifchen Verwaltungseinrichtun⸗
gen, Hier wurden und werden noch von dem Sultan und Vezier
und Paſcha herab bis zum unterſten Beamten die Beſchluͤſſe regelmaͤ⸗
Big von Einem einzige Beamten gefaßt und nach feinem Befehl ver
waltet. Auch findet eine elgmtliche Derantwortlichkeit der Beamten
nur gegen die Vorgeſetzten odeb nur inſoweit ftatt, als dieſe ſich durch
Nichtbefolgung ihrer Befehle verletzt fuͤhlen. Es findet mithin auch
kein Inſtanzenzug ſtatt. An eine feſte, geſetzlich geſicherte Stellung
dieſer Beamten denkt man dort natuͤrlich ebenfalls nicht. Soweit es
mit noch einiger Schonung ber Reſte der Formen der Freiheit verein⸗
barlich war, und mit Ausnahme der collegialiſchen Organifation . aller
Gerichtshoͤfe und des Geſchwornengerichts, hatte bekanntlich Mapo⸗
levn in Frankreich dieſes orientaliſche autokratifch» buͤreaukratiſche Sy⸗
ſtem durchgefuͤhrt und ſelbſt das Princip der Verantwortlichkeit ber
Beamten gegen die Buͤrger aufgehoben, indem kein Beamter ohne
Megierungserlaubnig von den Buͤrgern wegen Verletzungen durch feine
Amtshandlungen belangt werden durfte, während: umgekehrt alle Ver⸗
twaltungsbeämten gegen Willkür des Kaifers durchaus keine geſicherts
Stellung hatten. Selbft noch jegt befteht dieſes Syſtem großenthefle
in Frankreich, obmohl gemildert durch bie Preßfreiheit, bie ſelbſtſtaͤn⸗
digeren Reichskoͤrper, bie Verantwortlichkeit der Miniſter und bie et
was freieren Departementals, Arrondiſſements⸗ und Municipal Räthe.
Die Beurtheilung dieſer verfchiedenen : Spfteme hängt natuͤrlich
vor Allem von den hoͤchſten Grundfägen oder ben Grundgeſetzen und
Brundprineipien des Staates und den ‚dadurch beilimmten ſten
Aufgaben aller Staatsverwaltung ab. Im deſpotiſchen Staat: iſt de
Grundgefeg nicht die ſouveraine Herrſchaft eines objectiven, « i
anerkannten Rechtsgeſetzes, ſondern ber Wille und Genuß des: Deſpr⸗
ten und ihre moͤglichſt ſchnelle Befriedigung, und ſoweit biefa:08 "ge-
ftatten, Wille und Genuß der Mächtigen ober ber-Weziere und Satta⸗
pen und fo ftufenweife herunter. Das Grundpiineip der Vollziehung
der höheren Befehle für. bie Untergebenen aber if} Sinnlichkeit . und
Furcht und durch fie beflimmter, blinder Gehorfam. Eben fs .menig,
als ein- auf dem gemeinfchaftlichen Geſellſchaftswillen beruhendes objertives
allgemeines feftes Gefeg, Haben hier die Wegierung und die Beamten
Gollegium. 519
objective heilige NRechtsanfprühe der Megierten zu achten. Es gibt
alfo bier auch keine Nothwendigkeit einer möglichft forgfältigen und
geeigneten Berathung jeden Befchluffes der Wermältung, daß fie mög:
lichſt jenen allgemeinen objectiven Gefegen und Rechten entfprechen.
Es befteht hier auch nicht, fo wie im Rechtsſtaat, das Grundprincip
der Befolgung alter oͤffentlichen Maßregeln in der freien Achtung ber
Grundgeſetze, bed allgemeinen freien Volkswillens und ber ihm ent:
fprehenden Maßregeln. Hiernach ſchon iſt es wohl Mar, dag im All
gemeinen das reprafentativ =.collegialifhe Spflem dem Rechtsſtaate, das
autofratifche und büreaukratifche Syſtem dagegen ber Defpotie ent
ſpricht. Insbeſondere wird auch, ganz abgefehen von den unmittel:
baren Vorfchriften der Verfaſſung, die möglichfte Zuziehung von Re:
präfentanten des Volks bei der Verwaltung dem Grundgefeg und dem
Grundprincip der freien rechtlichen Regierung entfprehen. Das erfann-
ten denn auch die Megierungen, als in unferer Zeit ber Rechtsſtaat
wiederum lebendigere Anerkennung und Achtung erhielt. Sie umga:
ben, bemwußter oder unbewußter beflimmt durch das Weſen, das Grund-
gefes und Grundprincip bes Nechteftaates, fi) ober die Minifter, die
Beamten in den Provinzen und Gemeinden toieder mit Volle: und
Land» und Gemeinde-Räthen und ftellten auch fonft, 3. B. in den
unterften Inftanzen der Juſtiz, wieder collegialifche Einrichtungen ber.
Dadurch kam die Hffentlihe Achtung des Mechts wieder zu größerer
Kraft. Die öffentlichen Belchlüffe entfprachen mehr derfelben und bem
Wunfd und Bedürfnig der Megierten, wurden leichter und williger
vollzogen. Ganz befonders aber find in England in diefer Beziehung,
neben den freien Städtes und Kirchſpiels⸗Verfaſſungen und Affocia-
tionen, neben ber Freiheit ber Petitionen und ber Preffe, bie viertel
jährigen Vereinigungen der Friedensrichter einer Graffhaft mit Zu:
iehung von Gefchwornen und ihre Entfheidungen über die allgemei-
nen Graffchafts- Angelegenheiten und über die Beſchwerden gegen die
Verfügungen der einzelnen Sriedensrichter von großer Wichtigkeit.
Je mehr nun auf folche repräfentative Weife die Mitberathung
und Controle freier, felbftftändiger Bürger und die Verantwortlichkeit
aller Regierungshandlungen auch gegen fie verbürgt find, um fo eher
kann dann bei den Staatsbeamten im engeren Sinne eine collegialifche
Drganifation da nachgelafien werden, wo etwa bie Vortheile einer
nicht colleginlifhen Einrichtung überwiegen follten. Es müffen daher
auch noch zunädıft in Beziehung auf die Drganifation blos der Staate-
beamten im engeren Sinne die Vortheile und Nachtheile ber collegia-
len Einrichtung geprüft werden.
Die collegiale Gefhäftsbehandlung hat den Hauptvortheil, daß fie
individuelle, fubjective Einfeitigkeit, Uebereilung, WEL:
tür und Gewalt mehr ausfhliegt und eine vielfeitigere, veifere
Erwägung, eine befonnenere, beſſer controlirte, Eurz eine mehr dem
objectiven Nationalgefeg und Recht entfprechende Schlußfaffung ver:
ſpricht. Mehrere Mitglieder eines Collegiums haben verfchiedene, zum
520 Goll:gium.
Theil entgegengefegte individuelle Standpunkte und Anfihten. Eile
haben nicht fo leicht Alle diefelbe vorgefaßte Leidenfchaftliche Anſicht,
decken alfo die Bloͤßen und Geſetzwidrigkeiten ber Anfichten eines eins
zelnen Meferenten auf, verhindern ihn durch ihre Gontrofe, daß er
ſich dieſen Cinfeitigfeiten überläßt, find auch ſchwerer beſtechlich und
haben zuletzt nur das allgemeine objective Geſetz und Recht zum ge⸗
meinſchaftlichen Vereinigungspunkt. Und wenn zumal nicht gaͤnzlich
und fuͤr immer ihre Verhandlungen der Kenntniß ihres Volks ent⸗
zogen bleiben, ſo liegt es in der Natur der Sache, daß, wenn auch
geheime Neigungen die Mehrzahl der Collegiumsmitglieder fuͤr ſich
allein auf den unrechten Weg hinziehen wuͤrde, ſie dennoch den Grund⸗
ſaͤtzen der Ehre und Pflicht, welche auch nur von einem Mitglied
offen Uund ktaͤftig geltend gemacht werden, nicht leicht widerſtehen.
Auch behalten ſie alsdann keine Entſchuldigung fuͤr das Verkehrte
uͤbrig. Es bilden ſich zugleich in den Collegien dem objectiven,
allgemein erkennbaren, feſten Rechtszuſtand entſprechende feſte Maris
men. Und durch alles dieſes genießen die Collegien groͤßeres Zutrauen,
hoͤhere Achtung, und freie Buͤrger fuͤgen ſich leichter und williger ih⸗
ren Beſchluͤſſen, ſelbſt da, wo ſie ihnen unangenehm ſind.
Gegen dieſen weſentlichen Hauptvortheil der collegialen Einrich⸗
tung, der im Allgemeinen ſicher die beſſere, dem Rechtsſtaat entſpre⸗
chendere Geſchaͤftsbehandlung verbuͤrgt, fuͤhrt man denn als Nachtheile
und mithin zu Gunſten des Buͤreauſyſtems fuͤr's Erſte das an, daß
durch die Verwaltung von Einzelbeamten die Regierungsgeſchaͤfte für
die Gentralgemwalt erleichtert, daß Geld und Zeit und Kraft erfpart
würden. Doch wird hei irgend michtigen Gefchäften in einem tüd-
tigen Staat ſtets die Hauptruͤckſicht die ſein, daß ſie gut, nicht daß
ſie bequem, muͤhelos und wohlfeil verwaltet werden. Die Fehler bei
ber fchlechtern Verwaltung koͤnnen leicht in jeder Hinſicht ungleich
theurer zu ſtehen kemmen. Auch ein zweiter dem Gollegiafinftern
vorgeworfener Nuchtheit, dag in Gollegien Schlendrian, zu viele Schreis
berei und geifttödtende Formen, oft auch ein einfeitiger Einfluß des Refe⸗
tenten fiegten, entjcheidet nichts, weil alle diefe Nachtheile durch gute Eins
richtung, Auffiht und, foweit fie hier möglich ift, auch durd die Con⸗
trole ber öffentlichen Meinung befiegt werden konnen. Ein dritter
Nachtheil fol in der bei Gollegien fchmwerer zu handhabenden Berants
wortlichkeit beftchen, weshalb man namentlih oft vom Standpunfte
ber Verantiortlichkeit der Minifter aus die Nothwendigkeit uncolles
gialer und vorzüglih auch willkuͤrlich entlaßbarer Unterbeamten bes
bauptet. Aber es fcheint bei der Vorſchuͤtzung diefer Verantwortlich⸗
£eie entweder viel Mißverſtaͤndniß oder viel kluge Taͤuſchung mit unter
zu laufen. Abgefehen davon, daß dieſe WVerantwortlichteit in den
meiften Staaten wohl noch nicht vielen Miniftern unruhige Nächte
verurſachte, fo ift ja ihe Sinn gar nicht der, die Minifter für etwas
Anderes verantwortlich zu machen, als fir das, was fie den bes
fiehenden Verhaͤltniſſen nach felbit durch eigene Nach—
Collegium. 521
käfftgleit ober böfe Abſicht verſchulbeten. So wenig man
ben Sinanzminiftee für jeden Receß dee Caſſenverwalter des Landes
verantwortlich macht, fo wenig wirb Jemand daran denken, einen
Minifter für die etwaigen nachtheiligen Folgen verantwortlich zu mar
den, bie blos aus ber Unentlaßbnrkeit ober ber geficherten Stellung
und aus der collegialen Einrichtung ſeiner Unterbehörden- entſtehen.
Ueberwiegen alfo nur die Vortheile biefer Einrichtungen. an. fi, fo
ann die Verantwortlichkeit der Miniſter gar nichts daran Ändern.
‚Anders wäre es, wenn: die collegialen Beamten felbft auf bedenkliche
Meife aller Verantwortlichkeit entgingen. "Das ift aber keineswegs der
Sal. Beſtechung und treulofer, böfer Wille kommen umgekehrt ges
trade bei einzelnen Beamten viel ſchwerer zu. Tage, als bei heibivege
gut befegten und gut controlirten Golegien, und eine gute Aufficht
fann es bemirken, daß auch bei Nachläffigkeit und Ungeſchicklichkeit
von collegialifhen Beamten der Schuldige fi) nicht hinter die Colle⸗
gen veriteden und ba er von den Motiven der Ehre und. Scham,
des Wetteiferd u. f. w. ebenfo gut erreicht werben kann, als ber oft
feen von aller höheren: oder gleichen controlicenden Auctorität flehende
Einzelbeamte. Für die Miniſterverantwortlichkeit ift nur fobiel nös
thig, daB für das, was jeder Minifter, in feinem Departement vers
fügt und vollzieht, jedesmal er durch feine :Unterfchrift. verantwort⸗
lich) wird, und daß bei allgemeinen, im: Minifterrath (Geheimenrath,
Staatsminifterium u. ſ. .w.) befchloffenen Maßregeln immer Keftimmte
Minifter, einer, mehrere, ober alle,; umtergeichuen: und durch dieſe
Unterzeichnung verantwortlich werden. Ein .nierter.unb ein wirklicher
Vorzug der Eimzelbsamten vor ben. Collegien iſt allerdings. der, daß
die Geſchaͤftsbehandlung und Vollziehung höherer Befehle durch Ein⸗
zelbeamten ſchneller, energifcher, gleihmißiger.undr:buchh leichtere Beweg⸗
uchkeit der ganzen Behörde und ihr Setbftfehen und Selbfthören an Drt
und Stelle den augenblidlihen und individuellen Umftänden entfprechender _
fein kann. Und diefer Vorzug kann für gewiſſe VBerhältniffe, &
B. für den Dienſt des activen Kriegsheeres, ober für gewiſſe Polizeiges
ſchaͤſte die Vortheile dee collegialen Einrichtung allerdings überwiegen.
Doch muß diefe legtere die. allgemeine Regel bleiben für. den Rechts⸗
ftaat, vollends für alle Arten der Ausübung. der Gerichtsbarkeit. Und
nie dürfen die oben erwaͤhnten .befpotifchen Seiten eines -autokratk
(hen Buͤreauſyſtems, 3. B. Unnerantwortlichkeit gegen: bie. Bürger
und ihre Nepräfentariten und Schuglofigkeit der Beamten ‚gegen: höhcke
Willkuͤr, eintreten. — rt Fer. By RE
Uebrigens haben Beamtencoflegien und, ihre Mitglieder die Rechte
und Pflichten nit der Sorietätsgenofien, fondern ber. moralifchen
Derfonen und Ihper Mitglieder. Nur find‘ fuͤr fie die werfaflumgamd:
Bigen Staatsgefege für ihre Amtspflichten als: unabiänberliche Statuten
anzufehen. Die Rechte der Mitglieder. ſind an ich geich, und. auch ‚bie
Präftdials oder Directorial⸗Gewalt · begruͤndet · nur einen. Wazzug- ums
ter Gleihen, keine Obergewalt. Dad. Medıt,::fich idurch Ausführung
522 Colliſion.
ihrer beſonderen Gegengruͤnde (Sephratvota) gegen bie wenigſtens mos
raliſche Verantwortlichkeit eines Mehrheitsbeſchluſſes zu ſchuͤtzen, ſteht
jedem Mitglied zu. — Die Literatur ſ. m Klüber's öffentl.
Recht $. 348. .. G. Th. Welder.
Eollifion des Gefege und Rechte; hypothetiſche
und abfolutgebietende Geſetze. Unter Gollifion verfieht man
ein foldyes Zufammenftoßen oder Zufammentreffen. verfchiedener Kräfte,
daß beide nicht zugleich wirkfam fein können, : ſondern eine der anbern
weihen muß; wie 3. B. wenn ein Geſetz eine beftimmte Handlung
verbietet und ein anberes biefelbe Handlung erlaubt. Bei ber großen
Menge und Verfchiedenartigkeit unſerer Gefege, unferer diteren unb
neueren roͤmiſchen, beutfchen und canonifchen, unferer Reichs⸗ ober
Bundes⸗ und Landeds, Provinzs und Ortsgeſetze, find ſolche Colli⸗
fionen ber Geſethze und ber durch fie begründeten Mechte leider
etwas fehr Häufiged. Man pflegt nun nach einzelnen gelegentlichen
gefeglichen Entſcheidungen folcher Collifionen, vorzüglid im roͤmiſchen
und canonifchen Recht, eine große Reihe zum Theil einfeitiger und
ſich ſelbſt widerfprechender Regeln für diefelben aufzuftellen. Die Haupt⸗
fahe iſt auch bier, wie in allen Lehren über das Gefeg, daß man
vor Allem von dem wahren gefehgeberifchen Willen als dem We⸗
fen bes Gefeges und von ber Ausdehnung ber geſetzlichen Kraft des
gefepgeberifhen Willens ausgehe und barnady bie Regeln zu bilden
ſuche. In dieſer Beziehung muß man nım vor allen Dingen die
abfolutgebietenden und die hypothetiſchgebieten den Ge
fege unterfcheiben. Abfolutgebletende Gefege find ſolche Beſtimmun⸗
gen, welche die böchfte gefellfchaftliche Gewalt eines beftimmten gefells
fhaftlichen Lebenskreifes aus Gründen bes allgemeinen öffentlichen
Wohles allen Bürgern und Wehörben als abfolut nothwendig erklärte
und Ihnen als unbedingte Pflicht vorfchrieb, wie 5. B. das Ver⸗
bot der Vielweiberei. Hypothetiſchgebietende Geſetze find ſolche, welche
nur in ber Vorausfegung, Hypothefe, gelten follen, daß die Buͤr⸗
ger ſich nicht ſelbſt ihren Verhaͤltniſſen angemefiene Beſtimmungen zur
Regulirung beftimmter Verhaͤltniſſe begründen, welche alfo nur bei
dem Mangel. ſolcher Beſtimmungen die Rechtsungewißheit aufzuheben
und eine gleichfoͤrmige und im Allgemeinen paßliche Eutfcheidung ber
Behörden und insbefondere auch ber Gerichte zu bewirken beflimmt
find. Sp ift z. B. bie Beſtimmung, daß es bei ftillfchmeigender
Hortfegung einer abgelaufenen Miethe fo angefehen werben foll, als
hätten bie Parteien bie Miethe noch einmal auf bie ganze frü:>
her beftimmte Bett: erneuert, fofeen durch Vertrag ober Ortsge⸗
wohnheit nichts Anderes beſtimmt ift, ein hypothetiſches Geſetz. Bei
weitern.beu größere Theil der Privatrechtsbeflimmungen und felbft ein,
wenn auch: verhaͤltnißmaͤßig nur Meiner, Theil der Beſtimmungen in
ben aͤffentlichen Rechtsverhaͤltniſſen iſt hypothetiſcher Natur in jeder
wönhrhaft bie Freiheit achtenden Geſetzgebung. Jede politifhe Gewalt
muß, ſoweit nicht das Geſammtintereſſe gebietgrifch das Gegentheil
’
. -_—
Colliſion. 523
heiſcht, den einzelnen Buͤrgern, Gemeinden, Staͤbten, Provinzen und
Bundeslaͤndern bie Freiheit laſſen, nach ihren beſonderen Ueberzeu⸗
gungen, Beduͤrfniſſen, Verhaͤltniſſen in ihren Kreiſen die geſellſchaft⸗
lichen Angelegenheiten zu ordnen. So überließ: es 3. B. das allge:
meine Reichsgeſetz der Carolina (f. oben ©. 273), bei einer gros
fen Reihe von Beflimmungen, die fie biernach für blos hypothetiſch
erflärte, den einzelnen Lanbesgefeggebungen, anbere ihnen zweckmaͤßi⸗
ger fiheinende Beſtimmungen zu befolgen ober zu begründen, während
fie bei ande, alfo abfolutgebietenden, Beftimmungen jede frühere ober
fpetsne entgegenftehende Ianbesgefegliche Beſtimmung für ungültig ers
klaͤrte.
Dieſes vorausgeſetzt, laſſen fich nun ‚zur: Schlichtung der Colli⸗
ſionen widerſtreitender Geſetze und ber durch fie begründeten. Rechte
und Verbindlichkeiten folgende Dauptregeln..aufftellen. |
I. Alte abfolutgebietende Gefege gehen ftets den blos hypothetiſch⸗
gebietenden vor. Dieſes folgt unmittelbar aus dem gefeglihen Sinn
und Willen dieſer Geſetze ſelbſt. 0
II. Von deu abſolutgebietenden Gefetzen geht ſtets das
allgemeinere oder von der allgemeineten und höheren
gefeltfchaftlichen Gewalt ausgehende bem fp.ectelleren oder unterge:
orbneten abfoluten ober hypothetiſchen Geſetz Yor. Go ging alfo fruͤ⸗
her das abfolute Reichsgeſetz dem Lanbesgefeg wor. Das abfolute Lan⸗
desgefeg geht dem Provinzlalgefek,, das Provinzialgeſetz dem Ortsgeſetz,
diefe® der autonomifcher und Privamertrags: Beflimmung vor. Es
folgt diefes unmittelbar aus der Unterordnung: ber-Heineren Gefrllfchafte:
reife unter bie hoͤhere Gewalt ber. größeren :unb- aus der Abficht. der
von der höheren erlaffenen abfolutgebietenben Gefege, baß fie um bes
größeren allgemeinen Wohle willen unweigerlich Im ganzen Umfang
ihres Gebiets befolgt. werden. Ob und inwieweit dieſes nun auch
von ben Bunbdesgefegen in Beziehung auf:die Bandesgefege gilt, bie
fe8 hängt von der Frage ab, ob der beutfche Bunb ein wirklicher Bun ⸗-⸗·
desſtaat mit fouverainer, wahrhaft ‚gefeßgebender: Gewalt ift und alſo
die volle perfönliche Souverainetät ber beutfchen. Regierungen: „aufhebt,
oder ob er nur ein rein völßerrechtlicher Bundervertrag ſouveraimer Staa⸗
um iſt ( S. oben Bund 'S, 97 ff. und unten beutfher Bund).
Im :lepteren Falle tft es Bas völlig Angemefiene, daß bie Bundeggeſetze,
ſowelt ‘fie auf landesverfaffungsmaͤßigem Wege. gültige Landesgeſetze gy⸗
worden find, lediglich als ſolche gelten;:' ſonſt aber nur nach der Glas:
ſel in den einzelnen Ländern zur Anwendung kommen, weiche z. B.
Baiern bei der Publication der Garisbader Beſchluͤſſe ausdruͤcklich hin⸗
zufuͤgte, „ſoweite ſie naͤmlich nicht mit dem Landesverfaſſungsrecht (ben
ie abfolutgebietenden Lanbeögefegen): im Widerfprudge
ehen.“ Pr — —— Fa Bere Be Pe EP EEE Ze
III. Bei der Colfifion von blos Yyporhetifh grbietenden
Geſetzen unter ſich gilt eine gerade. umgekehete Kangerbuung:. „Ber
beſondere Verting geht 'hler'. dem Drtsgefetz, bieſes dem Peebinzial -,
524 Colliſion.
dieſes dem Lanbesgefeh und dieſes wiederum dem Reichs⸗ und, Bun⸗
descecht vor. Dieſes bezeichnet das deutſche Rechteſpruͤchwort: „Stadt⸗
recht bricht Landrecht, Landrecht bricht gemein Recht.“ Daſſelbe koͤnnte
in Deutſchland um ſo mehr allgemein, freilich nach II. immer noch
zu allgemein, ausgedruͤckt werben, weil, bei der. großen Achtung ber
Deutſchen fire die autonomifche Freiheit ber‘ Bürger, bie allermeiften
Gefege nur hypothetiſche Gefege waren.
IV. Wenn gleidy: allgemeine abfolutgebietendbe Gefege unter ſich
collidiren, und eben :fo:.bei’ber Collifion gleich allgemeiner ober . gleich
ſtarker hypothetifcher Gefege unter fich, geben: bie einheimifhen
Gefege den nur zur Aushülfe (oder ia subsidium) aufgenams
menen fremden’, namentlich zömifchen ober canonifchen, Gefehfn vor.
Aud) biefes folgt wiederum aus: ber gefeslichen Abficht, daß letztere nur
für den Fall gelten. folten; wenn es an einheimiſchen Rechtöbeftines
mungen fehlte. u r
V. Nah dem hiſtoriſchen Sinn der Aufnahme des canoniſchen
und roͤmiſchen Rechts geht in ber Regel, oder bis beſondere Ausnah⸗
men machgewieſen werben, das canoniſche Recht dem roͤmiſchen vor.
VI. Wenn gleich: allgemeine abfolutgebietende und nad) IV. and
V, dem Hiftorifchen Urſprunge: nach gleich ſtarke Gefege mit einander
in Collifion kommen, :und :edenfalks bei einer Colliſion gleich allgemeis
ner abfolutgebietender: and dem Hiftorifchen.. Urfprunge nadj gleicher Ges
fege, gehen die jüngeren, b.. h. bie fpäter publicirten Geſetze oder
Geſetzſammlungen, ben früher publichten :ober älteren vor. Diefe
Regel folgt von felbfi:baraus, daß durch das neuere Geſetz, welches
einem älteren widerſpricht, ſich der mwahre:lebendige Wille der: Geſetz⸗
sebung ausdrudt, daß nicht mehr das Ältere, fomeit es oiderfpricht,
fondern das neuere gelten. folle..: Aber bies@efeggebung muß bie rechts
liche Gewalt haben ‚:biefeä rechtögültig wollen: zu. fönnen und es auch
wirklich wollen. Daher: kann diefe Regel: vom Vorzug bes neueren
Rechts nur erſt nach: jenen früheren Regeln und nur erft mit der
angeführten Befchraählung gelten, ‘was man gewoͤhnlich überficht. - .
"VIE Be fonfliger..Gteihheit der Geſetze geht im Gollifinnefalle
die Ausnahme von der allgemeineren: Regel dieſer Regel vor, weit. 26
eben die Abſicht des Geſetzgebers war, it. biefem Kalte die Goͤttigkeit
‚der allgemeineren Regel zu beſchraͤnken. So geht:glfo ein ſogenanntes
ſingulares Recht, 3. B. eine: allgemeine. Abweichung von dem ge
meinen Recht ruͤckſichtlich ‚bes; Buͤrgſchaften, zu Ganflen.aller rauen,
dem gemeinen Kecht vor,. mb wiederum eine für nur individuell
beftimmte Perfonen :uwab‘ Sachen gemachte Ausuahee,. oder ein:-Pei:
»vileginm, dem finguläten. Recht. Und ganz nach dewſelden Grund⸗
ap muß dann auch wieder ein mehr ſingulaͤres Recht und ein: fprcief-
leres Privilegium dem weniger ſingulaͤren und weniger ſpeciellen vor⸗
gehen, 3. B. ein Privilegium des einzelnen Buͤrgers dem whderſtrel
tenden Privileg ſeiner ganzen Stadt.
VL Eben fo gehen bei- fonft gleichen : Geſetzen diejenigen kefons
Colliſion. Colluſion. 525
deren Beſtimmungen, bie, nad ber verfchiebenen Natur ber Rechts⸗
verhäftniffe, zunaͤchſt für einen befondern Kreis biefer Mechteven
hältmiffe gegeben find, denen vor, welche zunddft für einen andern
Kreis berechnet waren. Es gehen alfo 1) die in Beziehung. auf bie
bleibenden perfönlihen Verhältniffe und rechtlichen Eigenſchaf⸗
ten oder Perfonenrechte der Bürger, 3. B. die zur Feflfegung: der Beit
ber Großjährigkeit, gegebenen Beſtimmungen (statuta personalin) bes
Orts, welchem ber Menſch zunaͤchſt perfönlich angehört, überall
andern perfönlihen Statuten vor. Er wird, wo er auch voruͤberge⸗
hend ſich befinde, überall nach den perſonenrechtlichen Statuten feiner
Heimath beurtheilt. 2) Es gelten ebenfo bie für bie unbeweglichen
Sachen eines beftimmten Diftricts gegebenen ſach enrecht⸗
lichen. Beltimmungen (statuta realia) ſtets für. diefe Sachen, ihre
Beſitzer mögen ſich befinden, mo fie wollen. 8) Auf gleiche Weife
endlich gelten die Gefege, welche fir bie In einem beftimmten Diftrict
ftattfindenden Gefchäfte und Handlungen bie obligationenrechtlichen
Formen und rechtlichen Folgen beftimmen . (statuta mixta), für alle
Handlungen und Befcäfte in dieſem Diftricte, 3. B. für Proceßge⸗
{häfte, Contracte. Auch auswärts wird alſo bie Stage über die Guͤl⸗
tigkeit und die rechtlichen Folgen diefer Gefchäfte nach ben Geftgen
des Drts, wo fie vorgenommen 'mwerden, beurtheilt. -
Es märe nicht ſchwer, dieſe Negeln, welche aus bem wirklichen
und rechtsguͤltigen oder dem Umfang der geſetzgeberiſchen Macht ent⸗
ſprechenden Willen abgeleitet ſind, auch durch unſere poſitiven Geſetze
gegen bie zum Theil abweichenden und verwickelteren Regein, wie fie
mit der betreffenden Kiteratur fi 3. B. in Thibaut's Pandelten
6. 37, 38 u. 86 finden, zu vertheidigen und fie nach ihren Folge
fägen weiter auszuführen. Sin ftaatsrechtlicher Begiehung jedoch ſcheint
das Bisherige zu genügen. C. Th. Welder.
Colluſion. Im Allgemeinen verſteht das Geſet unter Celluſion
das auf rechtswidrige Taͤuſchung Dritter gerichtete. Verabreden ). &o
nennt 3. DB. das Gefes ein Verabreden zmwifchen dem Bevollmächtigten
des Verkäufers und dem Käufer zu bem Zwede, um einen zum Nach⸗
theil des Verkäufers gereichenden Kauf durdy Herabdrüden des Kaufpreis
fes zu Stande zu bringen, Gollufion. **). Das Gefeg beſtimmt, daß
eine folche Handlung feine Nechtögültigkeit haben fol. Außerdem bes
droht das Gefeg jede Gollufion, welche ben Charakter eines beftimmten
Vergehen annimmt, mit der Strafe, welche diefem Vergehen entipricht.
So trifft den Sachwalter, welcher mit dem Gegner feines Glienten cols
ludirt und fic) fo des Verbrechens ber Prävarication [huldig madıt,
die Strafe dieſes Verbrechens.
*) Brissonius, De verb. signif. s. v. Colludere, Collusio etc. Tit.
Dig. „De collusione detegenda“ (40. 16.) Tit, Cod. „De collusione dete-
genda“ (7. 20.).
*) L. 7.8.6. Dig. Pro emtore. L. 13. & 27. Dig. de act. emt. veud.
526 Colluſion.
Vorzugsweiſe verſteht man unter Colluſhon ein Verabreben be
flimmter Art, ein ſolches, welches zum Zweck bat, eine wahrheitswis
drige Uebereinflimmung der Auslagen mehrerer Perfonen, welche babel
intereffirt find, daß die wahre Wefchaffenheit eines Griminalfalls nicht er⸗
kannt werde, vor Gericht zu bewirken und dieſen Ausſagen einen größern
Schein von Wahrheit zu geben ). Das Motiv einer folhen Hand
Iung tan verfchieden fein, Selbſtliebe, der Wunſch des Handelnden, daß
um feiner ſelbſt willen bie Wahrheit nicht an ben Tag komme, Furcht
vor dem Angeſchuldigten, deſſen Charakter von der Art iſt, daß zu ver⸗
muthen iſt, eine wahre Ausfage werde Ihn zur Rache reizen, Theilnahme
für den Angefchuldigten u. f. w.
Sowie das Strafverfahren uͤberhaupt barauf gerichtet fein muß, bie
Wahrheit zu erforfchen, fo ift es auch eine Aufgabe deſſelben, das ent»
fernt zu halten, was diefem Zweck entgegenfirebt **).
Da Colluſionen bie Erreihung beffelben hindern, fo iſt es im
Deutſchland berrfchender Grundfag, daß der Unterſuchungsrichter Mittel
zur Verhinderung derſelben anwenden, daß er namentlich wegen Ver⸗
dachts von Colluſionen zur Haft ſchreiten duͤrfe.
In dem Grad, in welchem ſich in Deutſchland der ſogenannte In⸗
quiſitionsproceß ausbilbete ***) und die Marime geltend machte, baf der
Unterfuchungsrichter in der Anwendung ber Mittel für ben Zweck freie
Hand haben müfje, in demfelben Grade bildete ſich, bei ber immer mehr
fintenden Achtung vor der bürgerlichen Freiheit +), der Gerichtögebraud;
aus, daß es dem Unterfuchungsrichter geflattet fei, zur Vermeidung von
Colluſion die Verhaftung eintreten zu laffen. Bis zu bem Zeitalter ber
peinlichen Gerichtsorbnung Karls V. war eine ſolche Maßregel für einen
ſolchen Iwed ganz unbelannt. Auch diefes Geſetzbuch des fechjehnten
Jahrhunderts fchweigt davon, indem es im Art. 11 ganz deutlich blos
davon rebet, daß man Gollufionen durch Trennung der „Gefangenen“
verhindern folle ++). Diefe Gefegesftelle fpricht blo8 von dem Fall,
wenn mehrere befielben Verbrechens Angefchulbdigte wegen Gefahr ber
Martin, Lehtbuch des teutſchen gemeinen Grimin Dritte
Ausgche Geideiderg 1831. $. 60. d. ©. 189. 140. alprozeſſes
*) Darum M * — daß der —— nicht nicht in Gegenwart
ber Mitſchuldigen vernommen werden foll, darum ift die
dung bes Mittels vr Son Tontation (f. Gonftontation) auch in birfer Beier Bezies
bung bedenklich.
e) S. biefes Lexikon Banb I unter dem Wort: Anklage ıc. G. 575.
+) Mittermaler: Das beutfche Gtraforzfahren 8. 67. „Bon der Ber
haftung.“ Derfelbe: „Die öffentliche muͤndliche St pflege und das Gier
—— in Vergleichung mit dem deutſchen "Strafocrfaheen. Landehut
+r) Es Heißt In dem legten Sag dieſes Art. „Und warn auch ber Gefan⸗
enen mehr denn einer iſt, joll man fie, fo viel gefänglicher ei halb
ein mag, von einander theilen, damit fie fich umwahrhaftiger Gage mit einans
ig vereinigen, ober, wie fie ihre hat beſchoͤnigen wollen, unterreben
Colluſion. 527
Flucht verhaftet worben find *). Indeſſen wurde biefe Stelle des Ges
ſetzes gemwaltfam zur Ausbildung einer Theorie über Verhaftung zur
Vermeidung von Collufionen mißbraucht, und diefe Lehre, die befondere
erſt feit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts ſich in der Literatur bes
Strafrechts bemerkbar gemacht hat, indem bei ben ditern Griminaliften
kaum eine Spur davon zu finden ift, behauptet noch bis auf den heuti⸗
gen Tag ganz ungeftdrt ihre Herrfchaft ſowohl in ben Lehr⸗ und Hand⸗
büchern bes beutfchen Strafproceffes, als auch in ber Mechtöpflege, fo
bag man fagen kann, daß in keiner Beziehung Theorie und Praxis einen
fo engen Freundſchaftsbund gefchloffen haben, als in biefer. Mögen
auch auf bem Pergamente ber Staatögrundgefehe Worte von Schuß der
perfönlichen Freiheit glänzen, fo find fie doch fo unbeſtimmt und lako⸗
niſch, daß fie kaum mehr, als ein bloßer Schall find. „Wenn man,” fo
beginnt Mittermaiers Beltrag zum vierten Bande von A. Müls
lers Archiv für die neuefte Gefeßgebung aller deutfchen Staaten: Neues
ſtes Geſetz des Kantons Zürich von 1831 über die Bedingungen ber
Verhaftung und der Entlafjung aus dem Verhaft **), „bie Beſtimmun⸗
- gen ber neueften Verfaffungsurkunden über die Verhaftung lief’t, fo fühlt
man recht lebhaft die Wahrheit der Klage, daß die im Lapidarſtyl gefchries
benen Säge der Verfaffungsurtunden gewöhnlich fo unbeflimmt und nur
in allgemeinen Umtiffen bingeftellt find, daß man oft verfucht wirb, zu
glauben, daß bie Goneipienten biefer Verfaſſungen abfichtlich diefe
Sprache wählten, damit man die Unbeflimmtheit des Ausbrudes deſto
leichter für fi) benugen und den Sag fo auslegen koͤnne, wie es nöthig
fheint, um am wenigſten dem Volk zugeben zu müflen, und doch durch
ben ſchoͤn klingenden Satz ber Verfaffungsurkunden ben Schein der Libes
ralität zu retten. Es klingt wahrlich vecht erbaulih, wenn ed 3. DB.
heißt: Niemand darf anders als in ben durch das Geſetz beflimmten
Faͤllen und in ben gefeslichen Kormen verhaftet werden. Fragt man
aber um die Anwendung bes Satzes in ber Erfahrung, insbefondere in
Ländern, in welchen kein vollftändiges Criminalgeſetzbuch gilt, wo daher
das fogenannte gemeine Recht entfcheidet, fo fieht man bald, daß man
durch die Berufung ber Verfaffungsurkunde auf die Gefege nicht viel ges
wonnen hat. Der Unterfuhungsrichter Läßt in jedem Griminalproceffe,
wenn er eine Handlung für ein Verbrechen hält, verhaften, wo nur ein
Verdacht gegen ben Angefchuldigten vorhanden iſt; ex hat auch kein Be⸗
*) Archiv bes Griminalrechte. Rewe Folge 1834, Stüd 2. „Kurze prakti⸗
ſche Bemerkungen aus ben Gebiete bes A roceſſet, don Wittermaler-—
F In ‚„uiefern ift die Verhaftung wegen Gefahr der Gollufion zu recht⸗
gen “
**) Mit Recht bezeichnet Mitter mai er dieſes Geſet, weiches u. X.
—— beſtimmt: „Auch alsdann kann * Pie —— wenn
zu beſorgen ſtaͤnde, ber Verdaͤchtige wuͤrde bie Freiheit zur Verdunkelung ber
Wahrheit und Erſchwerung der Unterſuchung mißbrauchen,“ als ein ſolches, „bas
aa oen, weiche man an eine Regislation zu ſtellen berechtigt iſt, nicht
528 Gollufion.
denken, ed in Faͤllen zu thun, wo nicht entfernt eine Gefahr exiſtirt, baß
ber Angefchuldigte entfliehen werde, wo aber eine Beforanig vorhanben
tft, daß der Angeſchuldigte mit andern Theilnehmern bes Verbrechens fid)
verabreden oder feine Kreiheit bazu mißbrauchen werde, um Zeugen zu
falfhen Ausfagen zu bewegen. Da alle diefe Müdfichten nur von bem
fubjectiven Ermeffen des Inquirenten abhängen, fo wird auf die willkuͤr⸗
lichfte Welfe die Verhaftung angewendet und beliebig... verlärigert, weil
der Inquirent erflärt, daß noch immer Beforgniffe der Eollufion vorhans
den feien” *) u. ſ. w. Micht mit der Lehre zufrieden, daß ber Anges
ſchuldigte wegen Gefahr der Gollufion verhaftet werben koͤnne, haben
ſich ſogar Stimmen zu dem Vorſchlag erhoben, daB man Beugen zur
Entfernung diefee Gefahr In Haft halten koͤnne. So ſchlug 3. DB. der
koͤnigl. bairifhe Appellationsgerichts » Präfident Graf von Lamberg
in feiner Schrift: Entwurf zum Sffentlihen Gerichtsverfahren in peinlis
hen Sachen (Sulzbach 1821), vor, einen Sicherheitsverwalter zu beftels
ten, dem zur Vermeidung von Abredungen' der Zeugen ober Indicirten alle
mögliche Mittel, ja ſelbſt nöthigenfalls proviforifche Haft der
Zeugen zu Gebote ftehen follten **). Ja ſelbſt ber Nechtspflege find
ſolche Theorien nicht fremd. So iſt 3. B. im 1Sten Band von
Hitzigs Annalen der deutfchen und auslänbifhen Criminalrechtspflege
&. 363 — 364. ein Griminalcechtsfalt ***) mitgetheilt, deſſen Darſtel⸗
tung einen Unterfuchungsrichter zeigt, welcher ſich nicht bebachte und fich
durch den Art. 23. der Verfaffungsurkunde des Großherzogthums Heſ⸗
fen: „Die Freiheit der Perfon — tft — Feiner Beſchraͤnkung unterwors
fen, al weiche Recht und Geſetz beitimmen,” ſowie durch den Art. 33 dies
ſes Staatsgrundgefeges: „Kein Heffe darf anders, al& in den durch das
Recht und das Geſetz beftimmten Källen und Formen verhaftet — wers
ben,” nicht abhalten ließ, einen Zeugen zur Verhinderung einer möglichen
Collufion 17 Tage lang in Haft.zu halten +).
Die neueren Strafgefeggebungen deutſcher Staaten haben mehr
ober weniger bie Grundfäge aboptirt, welche Lehrs und Rechtspflege
ihnen vorhält. Die preußifche Criminalordnumg beſtimmt im 6. 209,
9, Weiter unten hebt ber Verfaſſer auch noch ben Umſtand hervor, daß
bie verwaltende Behörde, die Polizei, ſich neben den Gerichten bis
Befugniß zugelteht, ganz nach Belieben Verhaftungen vorzunehmen.
*) ©. Mittermaiers Beurtheilung diefer Schrift im 6ten Banbe bes
Neuen Archivs des Criminalrechts ©. 828 ff.
*) „Verſuchter Betrug gegen eine öffentliche Anftalt. Haft eines Zeugen
sur Verhinderung von Gollufionen.“ .
+) S. noch Bopp, Mittheilungen aus ben Materialien b. Gefegg. unb
Rechtspflege des Großherz. Heſſen. Bd, 5. Darmfl. 183 L „Darf ein
Unterfuchungsrichter für den Zweck der Unterſuchung, 3. B. zur Bermeibun
von Colluſionen, einen Staatsbürger, welcher ald Zeuge ericheint, detiniren ?”
und H. 8. Hofmann, Beiträge zur Erörterung vaterländifcher Angelegen-
heiten, Band 1. Darmit. 1831. V. „Die perfönliche Zreiheit des Staa
gers im Großherzogth. Heflen in ber Theorie und in ber Praxis.“ &.52—56,
Gollufion. 529
bag ber. Richter immer bie Verhaftung koͤnne eintreten laſſen, wenn er
gegruͤndete Beſorgniß habe, daß der Angeſchuldigte ſeine Freiheit zur
Verdunkelung der Wahrheit und Erſchwerung ber Unterſuchung mißs
brauchen werde *). Nach dem oͤſterreichiſchen Strafgeſetzbuch vom
Jahr 1803 Th. 2. $. 306. ſoll der Beſchuldigte nur dann mit der
Verhaftung verfchont werben, wenn bie Beſchuldigung ein Verbrechen
betrifft, welches nach dem Geſetze hoͤchſtens eine einjaͤhrige Strafe
nad) ſich ziehen koͤnnte, zugleich der Beſchuldigte eine befannte, der
Entfliehung halber. umverbächtige Perſon von unbefcholtenem Rufe ift -
und aus feiner Freiheit nicht zu. beforgen fteht, daß die Unterfuhung .
erſchwert werde **). Das Strafgeſetzbuch des Koͤnigreichs Baiern hebt
Th. 2. Art. 121, indem es im Art. 113. Jeden, welcher einer Ueber:
tretung angefchuldigt ift, worauf das Geſetz bie Todes⸗, Ketten= oder
Zuchthausſtrafe gefegt hat, der perfönlichen Haft bis zum Ausgang. ber
Unterfuhung unterwirft, befondere Fälle hervor, in welchen eine Haft
wegen Collufion eintreten foll: „Bei Unterfuchung über Räubers oder
Diebesbanden und andere dergleichen verbrecherifche Complotts ober
Banden dürfen Aue, die mit den Verbrechern in Verbindung geftanden
haben und melde eine Collufion mit ben Uebelthätern befürchten laſ⸗
fen, proviforifcdy verhaftet werden ***).
Unter den Entwürfen zu Strafproceßs Orbnungen macht fi
der Entwurf für das Königreich Hannover au dadurch bemerk⸗
bar, daß er vorfchlägt, auch dann eine Verhaftung eintreten zu Jaffen,
wenn mit Grund zu beforgen fei, daß bie Freiheit zur Verdunkelung
ber Wahrheit oder Erſchwerung ber Unterfuchung mißbraucht werde.
©. Neues Archiv des Criminaltehts Bd. 10. Nr. I. „Der neue Ent:
twurf einer Strafprozeß⸗Ordnung für das Königreich Hannover 2.” S. 7.
Man mug mit Mittermater (Archiv bes Criminalrechts a. a. O.),
indem er die verfchiebenen Zwecke, zu denen die Collufionshaft dienen
fol, aufzählt (1. Verbannung der Nachtheile duch Befprechung unter
den verfchiedenen Mitfchulbigen, 2. Verhinderung ber Verleitung der
Zeugen zu falfchen Ausfagen durch den Angefchuldigten, 8. Abhaltung
von der Vertilgung ber Spuren der That dur ben Angefchuldigten),
unterfucht, welcher Zweck eine folhe Haft rechtfertigen koͤnne, und
nachweiſt, daß fie aus ben beiden legten Nüdfichten nicht eintreten
dürfe +), fich darin eimverftanden erklären, daß die Gründe für bie
Haft zum Zweck der Vermeidung der Collufionen. unter ben Mit:
*) Archiv des —e— hat a. a. Ds —* Le des gemeinen Crimi⸗
nr mi „elonderer. Berüctfich s 3 des Freuen *38 Könige: .
erg 1 —
”) Bor ? uch des d über Verbrechen.
Gran 13 — 3, Yanbtud Geſetzes
““) v. Wendt, Grund abgdge ben des teutfihen u und beſonders baveriſchen Erimi:
nalprogefles. Erlangen, 18
+) Noch Heffter Ichet $. PR Pro —8 des gemeinen Bauen
Gtants s Leriton. III. a
530 Colluſion.
ſchuldigen ſo gewichtig ſind, „daß auch der gemeinrechtliche Richter
und der Geſetzgeber dieſen Arreſt anwenden darf”. Allein ebenfo if
diefem ausgezeichneten Griminaliften beizuflimmen, wenn er insbefon-
dere fordert: 1) daß dieſer Arreft nur dann angewendet werben bürfe,
wenn in den Umftänden des einzelnen Falls Gründe vorhanden feien,
melde die Beforgnig der Verabredung ber Mitfchutdigen redytfertigten,
‚was namentlic, dann ber Gall fei, wenn nad) der Befchaffenheit des ange:
fhuldigten Verbrechens eine ftrafbare Verbindung, und zwar ein eigent
liches Complott, fi) anzeige und fo das Dafein mehrerer Mitſchuldi⸗
gen nicht zweifelhaft fei, oder wenn fonft Mehrere an einem Verbre⸗
hen Theil genommen hätten und zugleich ſchon wahrfcheinliche Wer:
fuche einer Verabredung zur Zäufhung des Unterſuchungsrichters ges
macht worden wären; 2) daß ein Verbrechen indicirt fein muͤſſe,
welches fchon eine größere Strafe zur Kolge habe, weil fonft das Uebel
und dee Nachtheil außer Verhältniß ftehe mit bem Intereſſe, welches
der Staat an ber Entdedung des Verbrechens habe; 3) daß die Haft
aufhören müffe, wenn der Zweck berfelben erreicht fel, und überhaupt
diefeibe als nutzlos exfcheine *).
Griminalrechte. Halle 1833 (mit Martin Lehrbuch 5.109. &.285. Note .),
der Beſchuldigte dürfte verhaftet werden, „wenn Gollufionen zwifchen ibm und
feinen Mitfyulbigen oder den Zeugen zu befürdten feien “
*) In befonderer Beziehung auf Geſetzgebung ſchlaͤgt der Verfaſſer no
vor, eine Zeit zu beftimmen, über welche hinaus ber Arreft wegen Collufica
nicht fortbauern dürfe, indem fonft bie Gefahr zu groß fei, daß der Lnterfa
chungsrichter die inbivibuelle Kreiheit zu lange befchränke, und bie Erfa
zeige, daß, wenn ein geſchickter und fleißiger Inquirent bei vorhandener Abfons
derung der Mitſchuldigen nicht in der erften Zeit die Wahrheit ermitteln koͤnne,
er durch eine längere Haft nichts mehr gewinnen werbe.
ats im Jahre 1831 ber Stänbeverfammlung des Königreichs Balern ber
neuefte revidirte Entwurf einer Strafprocch s Ordnung vorgelegt wurde, warb
in den Motiven ausbrüdlid ausgefprochen, daß eine Haft zur Vermeidung von
Sollufionen nicht mehr ftattfinden folle.
„„ Die franzöfifhe Strafproceß⸗Geſetzgebung Pennt, hierin im Weſentlichen
mit der deutfchen Gefeggebung des 16ten Jahrhunderts übereinftimmend, keine
Daft zur Vermeidung don Gollufionen, fie räumt nur dem Unterfuchungsricter
bie Befugniß ein, dem Gefangenen die Gommunication mit Andern abzuſchuci⸗
den, wenn der Zweck der Unterfuchung biefe Beſchraͤnkung forbert.
Glaubrech, Ueber die gefeglichen Garantieen ber perfönlichen Freiheit
in Rheinheffen. Ein Beitrag zur Kenntniß der franzoͤſiſchen Gefeggebung
nd en, — —* ©. 83 ff. en 86. theilt der Ber:
affer diefer intereſſanten ift folgendes Umlauffchreiben bes fran
Zuftizminiftere vom 10. Februar 1819 mit: „Das Verbot —— —
cation der Gefangenen mit Andern kann unter gewiſſen Umſtaͤnden nügtid
fein, zumal, wenn es ſich von Verbrechen handelt, bie mit Verabredung
und durch ein Complott verübt worden find; aber bie Anwendung biefer
Mafregel ohne Unterfchieb, oder ihre Verlängerung würde fo fehr einer
guten Verwaltung ber Juſtiz und den Gefegen der Bumanität wiberftreiten,
daß bie Unterfuchungsrichter nicht vorfichtig und zurückhaltend enug babei
fein können. Sie bürfen biefelbe niemals anwenden, als wenn Be unerläße
Colluſion. Colonien. 531.
Außer der Haft Eennt der beutfche Gerichtsgebrauch noch andere
Mittel zur Verhinderung der Collufionen, namentlich bie Entziehung
der Mittel zu fchriftlichen Mittheilungen, bie Vorenthaltung der Schreibs
materialien u. f. w. *). Daß die Anwendung ſolcher Mittel oft zur
geiftigen Tortur wurde und wird, ift bekannt.
Wie viele Aufgaben hat ber beutfche Geſetzgeber auch In Bezug
auf Achtung dee individuellen Freiheit und ber Geſete ber Humanitaͤt
zu loͤſen! Bopp.
Eolone, Eolonat, f. Bauer.
Colonien finden wir In ben diteflen Zeiten, faft fo weit bie
Geſchichte zu ihnen hinaufſteigt. Sie find wohl aller Geſchichte vors
ausgegangen, ohne daß fie ihrer erwähnt, wie gar manche Erfindung,
gefellichaftlihe Anordnung und politifche Einrichtung, die ein Beduͤrf⸗
niß ber Zeit waren, in der fie entflanden, wenn bie Beit das Beduͤrf⸗
niß begeiff und ihm abzuhelfen wußte. Die Natur ſelbſt führte dazu,
und bie Mittel, ein Beduͤrfniß zu befriedigen, gingen nicht weiter, als
biefes ſelbſt. Von einem Spfteme der Golonifirung konnte im Anfange .
noch nicht die Rede fein, wie benn alle Syſteme unb Theorien erſt
den Thatfachen folgen, die man zu orbnen und unter allgemeine Grund»
füge zu bringen ſucht. Im Drange, einer Verlegenheit zu begegnen
oder vorzubeugen, nahm man den naͤchſten Weg zum Ziele und übers
ließ das Gelingen den Umftänden, bie ben Erfolg fürberten oder ſtoͤr⸗
ten. Beigte ſich in einem Gebiete Uebervoͤlkerung, wärb ben Bewoh⸗
nern ber Raum zu beengt und ein Theil derfelben fand auf bemfelben
feinen Lebensunterhalt nicht mehr, entflanden Parteiungen in einem
Staate ober einer Gemeinde, warb ihre Stabt oder ihr Gemeindewe⸗
fen von dem fiegreihen Feinde zerftört ober aufgehoben, dann fuchten
die Bebrängten in ber Gerne, was bie Heimath ihnen verfagte, bie
Dürftigen Lebensunterhalt, die Bedruͤckten Freiheit, bie Beſiegten ein
neues Vaterland. Hatte fi) die Staatsgefellichaft bis zu einem ges
lich zur Erforſchung der Wahrheit ift, und auch felbft dann nur fo lange,
als fie durchaus nothwendig ifl.”
Auch die britifche Befepgebung über Verhaftung kennt einen Arreſt us
Vermeidung von Collufionen und Beine geheime, von aller Verbindung mit
Außenwelt abfchneidende Haft (daher namentlich Verwandte ben chuldigten
in ſeinem Gefaͤngniſſe beſuchen duͤrfen). Zuvoͤrderſt muß eine ſolche Freiheitsbe⸗
ſchraͤnkung ſchon darum dem britiſchen Strafverfahren fremb fein, weil dieſes
nicht auf die Erlangung eines Bekenntniſſes des An Zlegten berechnet iſt (ſ.
Wendeborn, Ueber Großbritanien IH.2. Berlin 1785. ©. 21 — 28. Mit⸗
termaier, Das deutſche Strafſverfahren $. 18. „Ausbildung bes engli⸗
ſchen Strafprozeſſes“, und dieſes Lexikon Band 1. unter dem Wort: Ableug⸗
nung ©. .). Dann hätte der Rationalgeift der Briten, dem es überhaupt
gelang, den InquifitionssProceß mit feinen Gonfequenzen fern zu halten (Bie⸗
ner, Beiträge zur Gefchichte des Inquiſitions⸗Prozeſſes. Lelpzig 1827. &.216.),
weil er mit Mißtrauen die Freiheit bewachte (Mittermater, „Der englifee
Strafprozeß“ im 9. Band bes Neuen Archivs bes Griminalvechts Nr. IK.
©. 52 D) feine ſolche Beſchraͤnkung der perfönlichen Freiheit geftattet.
*) Stübel, das Griminalverfahren in ben deu Gerichten Band 4.
Eeipsig 1811. $. 1931. ©. 188. ann
532 Colonien.
wiſſen Grade ausgebildet, dann traf ſie ſelbſt Vorkehrungen, um der
Verarmung, dem Mißvergnuͤgen, ben Parteiungen, einem innern Krie⸗
ge vorzubeugen, und feste ben Krankheitsſtoff in der Entfernung ab,
um ihn fich felbft unfchädlich zu machen. Die Urfahen, welche Colo
nien ins Leben riefen, waren demnach fehr mannichfaltig, und bie Mit:
tel der Colonifirung fo verfchieden, als die Urfachen ſelbſt, als bie
Bildung des Volks, von dem die Colonien ausgingen, und fein poll:
tifcher und geſellſchaftlicher Zuftand überhaupt. Ein Eriegerifcher Staat,
der feine Macht befeitigen oder erweitern wollte, legte auf wichtigen
Punkten Colonien an, um durch fie ein bedrohte Gebiet zu ſchuͤtzen
oder zu erweitern, oder eine unzufriedene und unruhige Bevölkerung
im Baum zu halten. Ein Handelsſtaat fendete Colonien aus zur
Sicherheit und Erleichterung des Verkehrs; die Habfucht, um fid zu
bereichern ; die Herrſchſucht, um Land und Leute fid, zu unterwerfen;
ber Aberglaube oder auch ein wohlwollender Bekehrungseifer, zur Werbrei:
tung des rechten Glaubens. Selbſt die Gerechtigkeitepflege Hat zur
Gründung von Colonien beigetragen, indem fie das eigene Land von
dem Unrathe der Verbrecher, nach ihrer Anſicht, reinigte und benfel-
ben in ferne Gegenden brachte. So hatten bie Colonien in ihrem
Entftchen einen gar verfchledenen Zweck, und die Auswanderer, bie fie
bildeten, erfüllten biefen Zweck freimillig oder gezwungen. Immer
hatten die Golonien indeſſen die Wirkung, daß fie die Sprache, bie
Sitten, Bildung und Bedürfniffe des Meutterlandes verbreiteten und,
waren fie freundlih aus ihm geſchieden, auch eine freundliche‘ Gefin:
nung für daffelbe bewahrten. So verfchteden die Gründe waren, bie ben
Gotonien ihr Entftehen gaben, fo verfcieden zeigten fie fi auch ge:
wöhnlich in ihren Wirkungen. Die Griedyen hatten für fie die allge
meine Benennung, bie ein Verlaſſen des väterlihen Haufes, der
Heimath bezeichnet (ar-oıxla), was auch die Anfiebelung in ber Frem
be herbeigeführt haben mochte. Nach dem Charakter der Megierungen
geftalteten fich auch die Colonien, welche von denfelben angelegt wur:
den. Eroberer verpflanzten die Bevoͤlkerung eines eroberten Landes, auf
deren Unterwürfigkeit fie fein Vertrauen festen, und vertheilten dieſes
unter die Sieger. In diefem Geifte haben aſſyriſche Könige ſchon
Golonien angelegt, und in demfelben fahen mir auch in fpäterer Zeit
noch Regierungen verfahren, deren Princip afintifhe Eigenmacht ift.
Länder wurden entoälkert, deren Treue verdächtig war, ihre Bewohner
unter das erobernde Volk vertheilt und diefem das Gebiet der Vertrie⸗
benen angemwiefen. Handelnde Staaten fuchten ſich gelegene Orte an
dem Meere zu fihern, um für ihren Handel Zufluchtsoͤrter, Häfen,
Mittel der Verbindung zu Kauf und Tauſch und Niederlagen für ihre
Waaren zu haben. Solche Colonien waren ihnen in der Ferne um
fo unentbehrlicher, da die Schiffer in dem Compaffe noch keinen ‚Leiter
in der hohen See Tannten und ſich in ber Nähe der Küften hatten
mußten, was die Schifffahrt Iangfam und gefährlich machte. Zu dies
fem Zwecke legten bie Tyrer und Garthager ihre Colonien an, und biefe,
Solonien. 933
die felbft urſpruͤnglich tyriſche Coloniſten geweſen, "hatten ſolche Anfies
delungen auf den Kuͤſten von Spanien, Madeira und wahrſcheinlich
noch entfernter. Es iſt zu hedauern, daß uns uͤber den Handel, die
Schifffahrt und die Entdeckungen dieſer Briten der alten Welt bes
fiimmte Nachrichten fehlen. -- Wie unglückliche Kriege zur Gründung
von Golonien beitrugen, bavon haben wir viele Beifpiele, unter denen
wir bier nur der Anfiedelungen dev Trojaner erwähnen mollen. Gries
chenlands Golonien bilden einen wichtigen Abfchnitt in feiner Gefchichte.
Das zührigfte, geiftreichfte und freieſte Volk der. Erbe verbreitete auf
diefem Wege feine Bildung mit feiner. Sprache. und Religion, feinen
Sinftitutionen, Sitten und Gewohnheiten, und führte, wenn der Auss
druck geftattet ift, in. feinen -Anpflanzungen und Anfiedelungen einen
mächtigen Damm auf, an dem die Wogen bes Meeres. von afiatifchen
Heereszügen ſich brachen. Dieſe Colonien haben wefentlicd dazu beiges
tragen, das Abendland vor dem orientalifhen Defpotism, feiner faus
len Weichlichkeit umd flavifhen Gedantenlofigkeit zu bewahren. Wels
he Dienfte die Colonien dem Mutterlande und ber Menfchheit in den
perfiihen Kriegen geleiftet haben, bezeugt die Geſchichte. Die eigen
Parteikaͤmpfe, weldye die griechifchen Freiſtagten quälten, ber bewegliche,
zu gemagten Unternehmungen aufgelegte Geift des Volks, die Schwie⸗
tigkeit, auf beſchraͤnktem Naume eine zahlreiche Bevoͤlkerung zu ernaͤh⸗
ven, begünftigten bie Verfendung von Golonien, und wie Griechenland
den Eamen von Kunft und Wiffen, religiöfen und politifchen Anord-
nungen durch Eingevanderte aus fremden Ländern, aus Aegypten und
Phönizien, erhalten hatte, fo trug:-e8 die zu edlerer Bluͤthe und edles
ver Frucht gereifte Saat wieder in bie Fremde. Die Griechen hatten
Colonten in Kleinafien, auf.-den benachbarten Inſeln, an der Kuͤſte
bed fchwarzen Meeres, in Thrazien und Unteritalien, in Sicilien und
Sardinien, im ſuͤdlichen Gallien und Spanien und felbft In Afrika,
Byzanz und Chalcedon an: dem Propontis, Neapolis, Brunkujium,
Cumaͤ, Spbaris und Paͤſtum in Stalien, Agrigent, Meſſma und
Syrakus auf Sicilien, in Galim Maflitte; in Spanien Sagunt, is
Afrika Chrene find bekannte Namen. ° ne. caben
Diie Roͤmer hatten zahleeihe Anpflanzungen biefer: Art: und. ber
folgten bei denfelben einen beſtimmten Plan, der mit hem Geiſte ber
Berfaffung wechfelte und das Gepräge berfeiben trug. Unter ben Koͤ⸗
aigen, wo der Brund zur kuͤnftigen Größe bed Staates gelegt ward,
bezweckte man vorzüglid; Erweiterung bes. eigenen :;Gebietet, Einheit
der Gefinnungen: und Interefien feiner Bewohner und Wergrößerung
ber Macht. Das Königthum, dem Wolle gemeigter ale bie Ariftokratie,
bie ſich fpäter an deſſen Stelle ſetzte, ſuchte, durch : Werpflanzung
ber Bürger, den Dürftigen Land zu geben und in bdemfelben mis fels
nen neuen Bewohnern römifhen Geift und roͤmiſche Sitte einheimiſch
zu mahen. In ben erften Zeiten ber Republik, wo bie Macht und
dee Einfluß der Patrizier noc überwiegend war, hatte man auch bei
Anlegung von Golonien beſonders patriziſche Interefien im Auge.
534 “ Golonien.
Die Relchen und Angefehenen brauchten fie zur Vergroͤßerung ihres
Vermögens und Anfehens, und das menterifche Vol, das ben Drud
und bie Härte der Vornehmen unmillig ertrug, ward aus ber Daupts
fladt entfernt. Später, ale bie Stände ſich mehr ins Gleichgewicht
gefest und bie Plebejer groͤßern Einfluß auf die Geſetgebung und
die Verwaltung des Staates gewonnen hatten, flinnmte auch die Ans
ordnung der Golonien mit bem Sinterefie dee Gefammtheit mehr zus
fammen. Man wollte vor Allem Erweiterung und Befeſtigung ber
römifhen Herrſchaft, bedachte aber auch das Wohl der Einzelnen,
die diefem Zwecke dienten. Das Volk hatte in ber Sache eine Stim⸗
me, und es wurde förmlich, berathen, ob eine Colonte an einem bes
flimmten Orte anzulegen und auf welche Welfe dabei zu verfahren
fe. Jeder, der Luft hatte, fich dem Unternehmen anzufchließen, Tieß
feinen Namen in das Verzeichniß ber XTheilnehmer eintragen. War
bie Zahl derfelben zu groß, dann entſchied das Loos. Darauf fchritt
man zur Ernennung ber Führer und Peiter dee Colonie, (curatores
ooloniae deducendae) und, nad roͤmiſcher Sitte, ward das ganze
Verfahren durdy die Anwendung religiöfer Gebräuche geheiligt, bie den
römifhen Snftitutionen ein fo großes Anfehen und fo viel Feftigkeit
gaben. Es mwurben Aufpizien gehalten, Reinigungen angeftellt, um
fi) de8 Schuges der Götter zu verfihern. In dem neuen Water
Iande angelommen, erhielten bie Goloniften, nad) Vorſchrift, das
Jedem zuftehende Land. Mit den Eingewanderten warb Roms Hauss
halt, Verfaſſung und Sitte in die Colonie verpflanzt. Diefe erhielt
von dee Hauptftabt ihre Geſetze, die fich indeſſen gewöhnlich von den
eigenen gar nicht oder wenig unterfchleben, fomwie fie auch biefelben
Beamten, Angeftellte, mit Ausnahme ber Confuln und bes Senats,
ihre Priefter und Wahrfager nad) dem Mufter des Mutterlanbes
hatte. So war bie Golonie biefem nachgebildet, inwieweit es örtliche
Verhaͤltniſſe, Lage und Umftände erlaubten, unb fie wiederholte, in
verjüngtem Maaßſtabe, die Anftalten und Einrichtungen Roms, felbit
bie öffentlichen Gebäude, gefellfchaftlihen Beziehungen und öffentlichen
Beluftigungen und Spiele. Man fand in ben Colonien Amphithea⸗
ter, Capitol und Circus, und Bergen und Fluͤſſen warb nicht felten
em Name ertheilt, der an das aufgegebene Vaterland erinnerte. Als
bie. bürgerliche Gewalt ſpaͤter in ber Soldatenherrſchaft unterging,
wurben Militatecolonien angelegt, um bie Soldaten zu belohnen ober
fid) verpflichtet zu erhalten. Mit Marius und Sylla wurden
diefe Colonien Häufig und fie vermehrten fi) mit dem Untergange
ber Freiheit und mit ber Allgewalt der Feldherren, aus ber das Kals
ferreich entftand. Die Bürgercolonien (ooloniae oiviles, togatae) hats
ten als Abzeichen einen Pflug, die Militaircolonien ein kriegeriſches
Bild des Standes, dem die Coloniften angehörten, gemifchte Colonien
aber, welche beide Stände vereinigten, führten beide Zeichen verbunden,
wie man auf mandhen Münzen fieht. Die Militaiecolonien wurden
fehr vervielfältigt, ale das ungeheure Reich an feinen entfernten ren
Colonien. 535
zen fich bedroht fah, und bie Barbaren, durch ihre wieberholten Ein-
fälle, eine bewaffnete Macht nöthig machten, die, an Drt und Stelle
ſtets gerüftet, zum Schutze bes Landes bereit war. Die römifchen
Golonien anzuführen, welche das Reich umgürteten, bie unterworfenen
Provinzen bewachten, die römifhe Herrſchaft fiherten und roͤmiſche
Sitte, Eultur und Sprade bis in die entfernteften Gegenden ber
befannten Welt verbreiteten, wäre zu umftändlih und dem Zwecke
unferee Werkes kaum entiprehend. Nur die Bemerkung mag bier
noch an ihrer Stelle fein, daß die Römer bei ihrer Colonifirtung mehr
als irgend ein Staat ein Syſtem befolgten, das die Mittel zum Zwecke
verftändig gewählt und Eräftig durchgeführt zeigte.
- Durch bie Völkerwanderung ward die roͤmiſche Welt zerftört. Die
ungebeuere, in ſich verfallene Macht ging ihrer Auflöfung durch innere
Faͤulniß entgegen, und bie Barbaren, burdy Noth und Rache getries
den, ben Todeskampf ber Sieger und Quaͤler ber Erde in ber allge:
meinen Erfchlaffung und Verwirrung ahnend, befchleunigten das Ende
einer Herrfchaft, die ſich ſchon überlebt hatte. Aus ber Verweſung
ber alten Welt lebte eine neue auf, die fi faft in Allem sum Ges.
genſatze von jener geftaltete. Daffelbe blieb nur,. was biefelbe menſch⸗
liche Natur bei veränderten VBerhältniffen und Lagen ſich felbft getren
erzeugen muß. Die Völkerwanderung hat bie.ungeheure Kiuft gegra:
ben, welche die Vergangenheit von der Gegenwart trennt. Was jene
Großes, Herrliches, Verwerfliches und Beengendes hervorgehradht, iſt
im Leben untergegangen und nur im Buchſtaben wieder auferflanden.
Was diefe geworden, mit allen WVorzügen und Gebrechen, bazu ward.
ducch die Völkerwanderung die Bahn gebrochen, der Boden: vorbereis
tet und felbft der Same zum heil ausgeftreut. Sie bat die Mark
geftedt; :die den Anfang eines neuen Lebensalters der Dienfchheit bes
zeichnet. Wenn nicht Alles trügt, dann beginnt mit ber letzten Häffte
des legten Jahrhunderts der britte Abſchnitt der Weltgefchichte, ber
keine Völkerwanderung, mohl aber eine Voͤlkerwandlung zu berichten
haben: wird... Nur langfam konnte ſich aus dem allgemeinen Chaos
eme Drdnung entwiden und geftalten. Die. Völker wurden auf
dem Boden, mo fie ſich niedergelaffen, heimiſch, und es bildete fich
ein gefelffchaftlicher und politifher Zuftand, der den dringendſten Be⸗
dürfniffen des Menfhen Befriedigung gewährte, dem Eigenthume
Schusg, der Perfon Sicherheit verhieg und an Gewerbe, Künfte,
Wiſſenſchaft zu denken geftattete. Es regte ſich ein Streben nach feis
nern Genüffen, Luft, zu befißen, zu gewinnen, fi auszuzeichnen, und
ber Unternehbmungsgeift bei Einzelnen erwachte. Auch Schifffahrt
und Handel lebten auf. Diefer Zuftand trat indeſſen mit Umfang
und Bedeutung erft im funfzehnten Jahrhundert ein. Allerdings was
en vielfältige Unternehmungen vorausgegangen, bie in. einer Gefchichte
der Colonifirung nicht uͤbergangen werben bürften, um fie vollfländig
durchzufuͤhren. Wir übergehen fie, weil dee Gegenfiand, ben wit
behandeln, wenig Auftiärung durch fie gewinnen würde. Wir über:
536 | Golonien.
gehen darum bie Seezüge ber Sachſen und Normänner und der nor:
difhen Piraten überhaupt, die auf Beute auegingen, plünderten, aud
ſich auf erobertem Gebiete freundliche Wohnfige wählten, wie .in Eng»
land, Frankreich und Sicilien. Diefe Ereigniffe Finnen noch als im
Gefolge der Voͤlkerwanderungen betrachtet werden. Auch koͤnnte man
der Kreuzzüge gedenken und einiger Anfiedelungen, welche bie Bene
tianer und Genueſer verfuchten, die aber Leine bleibenden Erfolge hats
ten. Dee Gebraud) des Compafjes, mit dem man, gegen bas Ende
des vierzehnten Jahrhunderts, die erften Verſuche machte, gejtattete
die Fahrt auf hoher See, weil man zwifhen bem Himmel unb ben
Gemäffern eine beſtimmte Richtung hatte und fich nicht mehr in ber
‚Nähe der Küften zu halten genöthige war. Eine ferne Welt, bisher
verfchloffen, that fi) nun den muthigen Sciffern auf. Die Waſſer⸗
wüfte, welche die Länder gefchieden, ward zum Verbindungsmittel, und
leichter und fchneller gelangte man zu ben entfernteften Gegenben,. als
auf feftem Grunde bei allem Aufwande von Kräften, bie den Ber
kehr erleichtern, dahin zu kommen möglidy wäre. Die Portugiefen
betraten vor Anderen die geöifnete Bahn. Sie fanden (1498) den
Weg um das Vorgebirge der guten Hoffnung nad Oſtindien, beffen
Schaͤtze bie Lüfternen Europäer Immer angezogen hatten. Der gefeg
nete Orient bot einen. Reichtum von Bequemlichkeiten und Genuͤſſen
dar, bie das Abendland fich zu verfchaffen ſuchte. Dee Handel, ber
bisher feinen Weg mit: großen Koften und Gefahren mübfelig durch
weite und unfichere Laͤnderſtrecken hatte nehmen müffen, fand eine
gebahntere, bequemere Straße. über den Ocean. Die Portugiefen
festen ſich erfi auf Malabar feit, wo fie Niederlaffungen gründeten,
gelangten dann nad, Dflindien, wo fie, wie auf den Küften Afrika's,
haltbare Stellungen nahmen. Hier hatten fie Mozambique und Me
Iinda, Ormuz und Mascate im perfifhen Meerbufen, Goa auf Mas
labar, Negapatnam und Meliapur auf Coromandel, Malacca auf
Malacca und mehrere fefte Stellungen auf Java, Ceylan, Sumatra
und Borneo, und waren im Beſitze bes Aleinhandels mit Dftindien.
Diefe glänzende Periode ber portugiefiihen Seemacht war indeſſen von
Peiner Dauer. Der aͤußern Größe fehlte die innere Selbftfländigkeit,
der Iebenskräftige Unternehmungsgeift und die Ausdauer des Volkes
und feiner Regierung. Sie war mehr ein Geſchenk ded Zufalls, der
Dertlichkeit und vorübergehender Verhaͤltniſſe, als das wohlverdiente
Mefultat der Anfttengung, des Muthes, des Fleißes und einer Eugen
Berehnung. Mit der Perfönlichkeit ber Regenten wechfelte ber Geift
der Megierung, die ihren Werth und ihre Bedeutung von jener er—⸗
hielt. Die Einzelnen fuchten eine fchnelle Bereicherung und ben Ges
winn ber flüchtigen Gegenwart erwarb man nur zu oft mit bem
Verluſte einer langen Zukunft. Die Willkuͤrherrſchaft lähmte die freie,
unternehmende Xhätigkeit, und unter ber weltlichen Thrannei und dem
Einfluffe der Geiftlichkeit, bie allenthalben nur das Wohl der Kirche,
nämlich das eigene, ſah, ſank die Nation zur frömmelnden Indolen;
Colonien. 537.
und Unduldſamkeit herab, die immer im Gefolge des Defpotismus
und des Aberglaubens find. Portugal verlor feine Selbftftändigkeit
an Spanien und mit ihr, am Ende bes fechzehnten Jahrhunderte,
faſt alle feine Befigungen, Brafilien ausgenommen, beffen Werth es
nicht kannte. Die reihe Erbfchaft fiel zum:. größten. Theile den
Niederländern zu, bie ihre Kreiheit heidenmüthig im Kampfe gegen
die Spanier errangen und behaupteten. Der muthige und unternehs
mende Columbus führte (1492) der alten Welt eine junge Schwes
ftee zu, die, reich an einer großen Zukunft, auf das Schickſal der
Samilie der Menfchheit einen nicht geahnten,. vielleicht jegt noch nicht
ganz verftandenen Einflug haben foltte.. Spanien fand einen Erdtheil,
wie man eine unverdiente Erbſchaft oder im Spiele einen hoben
Gewinn mit geringem Einfas findet, und machte auch, tie ein: uns,
verftändiger, lachender Erbe und leichtfertiger Spieler, Gebraudy da⸗
von. Spanien erwarb Cuba, SJamat:a,. Portorico, auf Domingo
ein reiches Gebiet, fo viel ihm davon getüftete, fpäter bie herrlichen
Reiche Merico, Peru, Chile, Neugranada. und? Quito. Die Aben⸗
teucer zogen in Schaaren nad) der neuen Welt und fie, wie bie
Regierung, trieb nur Durit nad Gold, die Habſucht, die ſchmutzigſte
alter Leidenfchaften, mit bee graufamften, bem finftern Fanatism des
Aberglaubens, im Bunde. Die Spanier verflanden es, eine Welt. zu
verwüften, aber. nicht einmal zu ihrem Vortheil zu benußen, viel
weniger ihren Vortheil mit dem. der, Eingebornen mit Eluger Habſucht
in Einklang zu bringen. Don einem Spftene der Golonifirung iſt
hier nicht die Rede. Eine Heerde Tiger ſtuͤrzt ſich mit blutgierigem
Heißhunger auf mehrlofe Schafe, und iſt biefer geftillt, dann. fegt
fie das Würgen aus Mordluſt fort. . Das Thier ift menſchlich gegen
den Dienfchen, ber zur blinden thierifihen Luft ben uͤberlegenen menſch⸗
lichen Geift gefehlt. Es gibt Leinen Abfchnitt in der Weltgefchichte,
in . welchem die Tyrannei und der. Aberglaube mehr Greuel: gehäuft
hätten, als der mit Blut gefcheiebene der fpanifchen Herrſchaft iu
Amerika. Raͤchten ſich die Sünden der Vaͤter an ihren Kindern,
wie lange müßte Spanien noch eine Hölle für feine unglüdlichen
Bewohner fein. Aber 28 ift graufam, wenn Kinder büßen, mas ihre
Vaͤter verfchuldet haben z es ift graufam, obgleich unfere Gerechtigkeit,
feibft das Schickſal, oft ſich diefe Grauſamkeit vorzumerfen haben.
‚ Aber die Wege bes Schickſals ſind uns dunkel, ba die Grauſamkeit
unferer Gefege anerkannt verwerfliches: Menſchenwerk if, das wir zu
veantworten haben. Nachdem die fpanifche Herrſchaft der ihe untere
worfenen neuen Welt ben Frieden des Kirchhofs gegeben hatte, ord⸗
nete fie die Angelegenheiten berfelben .nady ihrer Weile. Vier Vice⸗
Eönige und acht Generalmpitaine wurden eimgefegt, bie das Land res
gierten. Die obere Leitang war einem hohen Rathe von Indien vors
behalten, der in Spanien feinen Wohnfig hatte. Nur Spanier durf⸗
ten ben Handel treiben, der einzig auf ben Vortheil bes Mutterlandes
und befonders der Regierung berechnet war. Die Eingebornen, bie
538 Golonien.
das Schwert, das Feuergewehr, ber Scheiterhaufen, bie abgerichteten
Hunde und das Elend und ber Hunger verfhmäht hatten, maren
die Laftthiere und Sklaven ihrer fpanifchen Herren. Die Europder
fuchten: vor Allem fchnellen Reichthum, Gold, Silber und Edelfteine,
und ba bie neue Welt dieſe Schäge im LWeberfluffe darbot, ging das
ganze Streben auf den Gewinn berfelben. Gruben und Hütten mwurs
den alfenthalben angelegt, wo ſich edle Metalle zeigten, und bie ars
beitsfähige Bevölkerung in die Nacht der Schachte verfenkt, um ben
verborgenen Reichthum zu Tage zu fördern. In den Gruben unb
Hütten lebten bie Unglädlichen ein elenbes Leben, wenn man es ans -
ders ein Leben nennen Bann, von bem fie nur ein früher Tod bes
freite. Ganze Völkerftimme find auf diefe Weife umgelommen unb
ausgeftorden. Wo fih, zum Verdruſſe der Habſucht, weder Gold
noch Silber fand, begnügte fie fi mit dem Anbau bes Landes.
Man legte Pflanzungen an, um die Golonialerzeugnifle für den Dans
del zu gewinnen. Da es fi) num zeigte, daß bie Eingebornen für
die harte Arbeit zu ſchwach oder nicht zahlreich genug waren,
der hoͤlliſche Scharflinn ber Habfucht auf den Sklavenhanbel, das
Brandmal europälfcher, kunſtreicher Verworfenheit. Die Schwarzen
wurden ihrem Vaterlande mit Gewalt und Lift entführt, ohne Rüds
fiht auf Alter und Gefchleht, wenn fie nur geſund ‚und Erdftig wa⸗
ren, in Schiffsladungen aufgefchlchtet, wie Waaren zum Verlaufe aus
geftellt, wie Vieh erhanbelt und an ihren Beflimmungsort getrieben,
wo fie wie Vieh zur Arbeit angehalten wurden. Dagegen hatten
Politik, Religion und Menſchlichkeit nichts einzumenden. Nur felten
ließ fich ein Schrei des Entſezens und des Abfcheues aus ber Bruft Eins
zeiner vernehmen. Es maren die Ideologen ihrer Zeit. Selbſt die
gelehrte Miederträchtigkelt hatte Gründe der Rechtfertigung für ben
Menſchenhandel und wußte anatomiſch darzuthun, daß die Neger Leine
Menſchen ſelen, keine Menfchen wie wir; und doch können nur Mens
fhen wie wir wahrhaft Menfchen fein. Und wir haben die Stirne,
von Menfchlichkeit und Menfchenrechten, von Chriftenthbum und Clvi⸗
lifation zu reden und mit vornehmem Stolze auf den Helotism ber
Alten und ihre Sklaven berabjufehen! Das war dus Syſtem ber
Golonifirung ber Europder, das die Spanier mit aller Grauſamkeit
durchführten. Der einzige oberfte Grundfag, ber ſich geltend machte,
hieß Habſucht, Habfucht, der auch Morb und Raub erlaubte Mittel
find. Nur fpanifhe Waaren durften in bie Colonien eingeben, und
zwar mit unmäfigen Zöllen. Kein Eingeborner, felbft wenn er von ſpau⸗
fhen Eltern flammte, tonnte ein Amt bekleiden, eine öffentliche
Stelle verfehen. Es war als Grundfag aufgeftellt und als Regierungs⸗
maßregel durchgeführt, dag man ben Eingebornen jeben Unterricht,
jebes Mittel des Wohlſtandes erfchwerte oder unmöglich machte. Wer
von ihnen leſen und fehreiben konnte, warb vorzugsweife mit dem
Tode beitraft, wenn ber MWürgengel, um, wie man fagte, Srieben
und Ordnung zu erhalten, das Land durchzog. Nach ſolchen Vorgäns
Golonien. 539
gen laͤßt ſich begreifen, ba bie Golonten, die kein bankbares Gefuͤhl,
ein Vortheil an das Mutterland Enüpfte, das bleierne Joch brachen
und abmwarfen, das fie erbrüdte, ſobald fich die Möglichkeit dazu zeigte.
Nur Gemaltthätigkeit konnte ihre Werk erhalten, das fie erfchaffen
hatte, und mit dem Verlufte der Gewalt ging auch ihre Schöpfung
unter. Die Golonien erklärten ihre Unabhängigkeit und gaben fich
freie DVerfaffungen. Aber ‘die Sreiheit, fo leicht erklärt, wird ſchwer
errungen und noch ſchwerer behauptet. Die greuelhafte Willkuͤr der
fpanifhen Herefchaft und der finftere, menfchenfchene Aberglaube hatten
auf dem fruchtbaren Boden keinen Samen ausgeflreut, aus dem bie
Freiheit ſich fo leicht entwideln und aufblühen konnte. Lange innere
Kämpfe mußten das Unkraut entwurzeln und bie Erde mit Blut
düngen, um diefelbe für eine beffere Ernte zu befruchten. Die Frei⸗
beit befeelt, die Willkuͤr kann nur entfeelen, und wenn man bie
Ruhe der Leichen liebt, dann gibt fie ber Defpotism am ficherften.
Iſt aber auch der Tod durch Sklaverei nur ein Scheintod, meil der
Lebensfunke der Freiheit nie ganz in der menfchlichen Bruſt erliſcht,
dann gehört doch viel dazu, um den Scheintodten zum Eräftigen Leben
zu erweden. Das nun iſt das Werk, mit dem das amerikanifche
Seftland, welches fi von Spanien im Jahre 1810 Ioszureifen bes
gann, feit diefer Zeit befchäftigt ift.
In den oftindifhen Gewaͤſſern entriffen bie betriebfamen Holläns
der den Spaniern und Portugiefen eine Beſitzung nach der andern.
Sie gründeten Batavia, bemädhtigten ſich aller portugiefifchen Nieder⸗
laffungen, Goa ausgenommen, festen ſich in den: Beſitz bes Handels
mit China und Sapan und legten auf bem Worgebirge ber guten
Hoffnung (1653) eine Colonte an, welche die Verbindung mit Oſt⸗
indien erleichterte und ficherte. Zum Betriebe des Handels mit dieſer
Meltgegend hatten ſich verfchiedene Gefelffchaften im Holland gebildet,
die von der Regierung (1602) zu einer einzigen verbunden wurden,
um in ihre Unternehmungen mehr Einheit und Nachbrud zu brin«
gen. Diefer Gefellfchaft ertheilte fie Hoheltsrechte über bie eroberten
Länder und ließ fo den Speculationsgeift des Handels walten. Auf
gleiche Weiſe bemüheten ſich die Holländer, auch an bem weſtindiſchen
Handel Theil zu nehmen, und errichteten (1621) eine meftindifche Ge⸗
feufchaft. Ihre Bemühungen auf dem Feſtlande hatten feinen güns
ſtigen Erfolg und fie begnügten ſich mit einem einträglihen Schleich
handel, den fie von verfchiedenen Punkten trieben, und mit den be
deutenden Anfiedelungen zu Surinam, Berbice, Eſſequebo und Pas
eamaribo, die fie fo gluͤcklich waren zu behaupten. Als der gefähr
lichfte Mitbewerber im Meiche der Gewaͤſſer trat England auf, das
Alles begünftigte, mas Unternehmungen biefer Art fördern kann, Lage
des Landes, Charakter bed Volkes, und vorzüglich eine freie Verfaſ⸗
fung, bie der Einfiht und dem Unternehmungsgeifte einen angemeſſe⸗
nen Spielraum und dem Beſitze Sicherheit gewährt. Schon 1600
hatte fi) eine oſtindiſche Geſellſchaft gebildet, und die Briten waren
540 | Golonien.
im Befige von St. Helena und mehreren Punkten auf bem oflindifchen
Gontinente. Der Erfolg zeigte ſich ihnen aünftig, wurde aber bald
ducch innere Unruhen unterbrochen, bie alle Aufmerkſamkeit und Thaͤ⸗
tigkeit im eigenen Lande auf ſich lenkten. England war unter Karl
I. und deſſen erfien Nachfolgern zu fehr mit fich felbit befchäftigt,
ale daß es ſich entfernten Gegenden mit Beharrlichkeit hätte zuwen⸗
den Eönnen. Da ſich aber feine Verfaſſung begründet hatte und die
Verwaltung geregelt war, ſchenkte es der Schifffahrt und dem Dans
del, der Quelle feiner Macht und feines Reichthums, alle Aufmerk⸗
famteit. Anfangs befchränkten ſich feine Beſitzungen auf Madras,
Galcutta und Bencoolen, dann gewann es Pondicherp und endlich
Bengalen und gründete durch neue Eroberungen, bie ed mit Gewalt
und Lift zu machen wußte, das ungeheure Reich, gegen welches das
Mutterland felbft nur eine Provinz zu nennen if. Noch immer
fchreitet die britifhe Derrfchaft in Dftindien weiter und fügt zu dem
unermeplihen Lande neues Land und zu den zahllofen Unterthanen
neue Untertbanen. Die Regierung, verftändig in ihrer Einfiht und
ug in ihren Mitteln, fieht die Gefahr, die ihrer Macht und ihrem
Rejichthume in Dftindien droht, und fucht der Kataftrophe, die vielleicht
näher ift, ald man glaubt, durch zwedimäßige Verbeſſerungen in ber
innern Verwaltung vorzubeugen und ber gefährlichen Einwirkung bes
euffifchen - Koloffes, der immer vorwaͤrts fchreitet, nad Kräften zu be
gegnen. Auch in Amerika hatten die Engländer frühe feften Fuß
gefaßt und ſchon unter Jakob I, Jamestown bafelbft gegrünbet.
Die innern Unruhen, die das Mutterland zerrütteten, waren diefer
Colonie befonders guͤnſtig. Die politifchen und religiöfen Streitigkei⸗
ten, welche die Briten in, feindliche Parteien fpalteten, bie ſich bes
kaͤmpften, verfolgten und unterbrüdten, beflimmten Biele, ihre Heimath
zu verlaffen und in der Fremde zu fuchen, mas fie dort nidht fane
den: Sicyerheit und Kreiheit des Glaubens und der Meinung. Diele
Menſchen waren es befonders, bie den Kern bildeten, aus dem ber
breitäftige, flimmige Baum der Bereinigten Staaten erwachſen iſt,
in deſſen Schatten fo viele Völker verfchiedener Welttheile ruhen. Was
ihnen in dem Vaterlande verfügt war, fanden fie in dem menig bes
achteten Amerika, und geftanden Andern zu, was ihnen felbit war
verweigert worden, Freiheit, oder doch wenigſtens Duldung. Es was
ven Menfchen, größtentheils nicht ohne Bildung und Geſittung, bie
aus edlern Gründen, als weil fie ſich bereichern wollten, in ber. neuen
Welt fich niederließen. ‚Die Colonie vermehrte fih rafhy und gewann
bald an Umfang. So beſaßen die Engländer bald ein bedeutendes
Gebiet in Nordamerika, das fih auch durch friedliche Ermwerbungen
erweiterte. Dann gelangten fie zum Befige von Barbados (1641),
von Jamaica (1655), fpäter von New⸗Foundland, Afadien, Zerresneuve
und Cap Breton und (1762) von Canada. Sie verloren die Ber
figungen von Nordamerika, aus denen fih bie Vereinigten Staa⸗
ten bildeten, beren Unabhängigkeit fie fi), nach einem fruchtlofen
Colonien. 541
mehr als zehnjaͤhrigen Kampfe, (1783) anzuerkennen genoͤthigt ſahen.
Sie fuͤhlten dieſen Verluſt ſchmerzlich, den ſelbſt große Staatsmaͤnner,
wie Lord Chatam, fuͤr bedenklich hielten. Die Erfahrung zeigte
indeſſen, daß England die gefuͤrchteten Nachtheile nicht empfand und
aus dem freien Handel mit feinen ehemaligen Colonien größere Bor:
theile 309, als die gezwungene Abhängigkeit, bei einer Loftfpieligen
Berwaltung, gebracht hatte. Während der franzoͤſiſchen Revolution
bemäcdhtigte es fich der meiften Golonien Frankreichs und Hollands,
behielt aber von benfelben nur wenige, von denen das Worgebirge
dee guten Hoffnung und Isle de France bie bedeutendften find. Schon
früher (1788) hatte es in Auftralien die Colonie von Botanybai ge:
gründet und fpäter auf Dtaheiti und den Sandwidinfeln Ermer-
bungen gemacht. ngland, bis jegt noch die erfte Seemacht der Welt,
die auch, wenigftens in Europa, fobald keine Nebenbuhlerin zu fuͤrch⸗
ten haben wird, befolgt ein Syſtem, das den Forderungen der Menſch⸗
lichkeit, Gerechtigkeit und Klugheit mehr entfpricht, als das irgend
eines andern Staates. Auf allen Meeren hat es feite Punkte, die
feinen Handel fhügen und feinen Flotten dienen. Es begünftigt die
Entwidelung der Innern Kräfte ber Gebiete, die ihm unterworfen find,
fördert Fleiß und Thaͤtigkeit, Culture und Freiheit durch bürgerliche
Geſetze und felbft durch politifche Inftitutionen, die den eigenen nach:
gebildet find. So verführt ed in Canada, auf den fieben Inſeln und
Malta und an andern Orten, und es erreicht dadurch den Zweck,
daß es die Bewohner feiner entfernten Beſitzungen, durch ihr eigenes
Intereſſe, dem Mutterlande ergeben erhält. In allen englifhen Co⸗
lonien findet man Altenglanb wieder, in mie meit der Zujtand ber
Bevölkerung diefe Annaherung und aflmählige Gleichſtellung erträgt,
und wenn e8 auch, wie es ſich von felbft verfteht, bei allen biefen
Anordnungen feinen eigenen Vortheil nicht vergißt, dann fucht e8 doch
den Vortheil der ihm Untergebenen mit dem feinigen in Einklang
zu bringen. Es ift, mehr als ein anderer Staat, ein Mutterland,
das die feiner Pflege Bugefallenen, als Glieder der großen Kamilie,
herauf zu bilden fucht. Frankreich wird denfelben Weg verfolgen und
ſich einer Ordnung der Dinge günftig zeigen, die mit den Grundfägen,
auf welchen feine Verfaffung ruht, und mit den Snftitutionen, die es
ſich felbft erfämpft, nicht im Widerſpruche ſtehet. Noch hat bdiefer
Staat in Afien Garical, Mahé und Pondichern, in Afrika, außer eini-
gen nicht fehr bedeutenden Niederlaffungen, die Infel Bourbon und auf
Madagaskar einige Factoreien. Das junge Algier kann fehr wichtig
werden, wenn die Regierung, wie es ſich erwarten läßt, bie nöthigen
Mafregeln nimmt, um alle Vortheile zu benngen, die dieſe Colonie
darbietet. Noch tft der Innere Zuftand des Mutterlandes zu unbe:
flimmt, die Stellung der hoͤchſten Stantsgewalt zu ungewiß, als dag
man auf die Zukunft mit Sicherheit zählen könnte. Auch hängt viel
von den Verhaͤltniſſen ab, die fich zwifchen Frankreich und England
noch geftalten. In jedem Falle bietet die Nordkuͤſte von Afrika ein
542 Colonien.
ſchoͤnes Gebiet, das für den Samen einer reihen Ernte empfaͤnglich
iſt. Endlich befigen bie Franzoſen in Weſtindien Guadeloupe, Das
riegalante und Martinique, und Ganenne auf bem feften Lande. Mod
andere Staaten, wie Dänemark, Schweden und Rußland, haben aus⸗
wärtige Befisungen, die den Namen Colonien führen, und biefe- uns
terfcheiden fi menig In der Art der Anlegung und Behandlung vog
den meiften übrigen, bie wir angeführt: Es werden ben Golonien vers
ſchiedene Benennungen gegeben, bie fie von dem Zwede haben, ben .
man bei ihrer Anlegung gehabt. So unterfcheidet man 1) Bergwerkt⸗
colonien, 2) Pflanzungscolonien, 3) Danbelscolonien, 4) Strafeolonien,
welche mit Berbrechern bevölfert werben, und 5) Milltaircolonien.
Keine diefer Colonien, in deren Eintheilung übrigens Unbeftimmtheit
und Willkür liegt, bat fich rein erhalten, und die Coloniften dienen
oft einem und dem andern Zwecke. Zeit und Verhältniffe können ihre
Beſtimmung aud) verändern, und wir haben eine neue Art Golonien
entftehen gefehen, die man Befreiungscolonten nennen koͤnnte. Wie
man ſich früher zur Entführung der Schwarzen verftanden hatte, um
fie zum Anbau der Colonien ale SHaven zu verwenden, fo fendet man
die Schwarzen aus den Golonien wieder nach Afrika zurüd, gibt ih⸗
nen die Freiheit, Werkzeuge zu Aderbau und Gewerben, bürgerliche
Einrichtungen mit den nöthigen Gefegen und läßt fie fich felbft regie⸗
ren und verwalten. Zu diefem edlen Zwecke haben fi) in den reis
finaten von Nordamerika, wie früher auch ſchon in England, Gefell:
haften gebildet, weiche die Unternehmung leiten und bie nöthigen
Mittel zur Ausführung berfelden zufammentragen. Eine ſolche Colos
nie gedeiht unter dem Namen Liberia, fübli von Sierra Leone,
die das merkwürdige Beifpiel eines Meinen Staates von Negern dars
bietet, bie ihre Nichter, ihre Verwaltung und ihr Kriegsweſen nad
dem Mufter der Freiſtaaten haben und alle Stellen mit Leuten aus
ihrer Mitte befegen. Die große Anzahl der Schwarzen in ihrem
Sklavenſtande, ben fie ungern ertragen, ſchien den freien Weißen bes
dentiih, und St. Domingo hatte ein Beiſpiel gegeben, das gefährlich
wirken konnte. Diefer Umftand rieth die Vorfiht an, die SHaven
zu vermindern und ihr Schidfal, wo fie beibehalten worden, fo zu
mildern, daß die Verzweiflung fie nicht zue Empörung treibt. So
führt auch hier, wie wir ed an andern Orten ſchon gefehen, bie Furcht
vor der- Revolution am gewiffeiten zur Reform. Die Revolution iſt
alfo der Weg zur Reform gemorden, und zu dieſer muß man fich vers
flehen, wenn man jene vermeiden will. Verſtaͤndige Confervative geben
bie Hälfte auf, um dad Ganze nicht zu verlieren. In der Behand»
lung ber Colonien werden fid) bedeutende Veränderungen ergeben, wenn
man anders Colonien haben will. Die. bürgerliche Geſellſchaft hat ein
Geift durchdrungen, ber ihre Umgeftaltung dringend madt. Er wird
ein böfer Geift, wo die Gewalt ihm herrifch entgegentritt und feinen
gerechten Forderungen mit ſchnoͤdem Uebermuthe Gehör verfagt. Er
ift em guter Geift, menn man ihn erkennt, fein Verlangen zu ver
: Kolonien. 543
ftehen und zu würdigen fi die Mühe geben will. Er iſt ein Geiſt
des Fortfchreiteng, der Gerechtigkeit und Menſchlichkeit. Man darf
fi) nicht wundern, wenn man die Colonien nad) Grundfägen angelegt
und geleitet fieht, die nur Willkuͤr, Eigennug und Selbfifucht athmen.
Die Colonien waren dem Mutterlande ein Mittel zum Erwerbe, zur
Bereiherung. Der Vortheil, den es aus ihnen ziehen Eonnte, fchien
ihm erlaubt. Die Colonien waren nicht Glieder ber großen Familie
des Staates, fondern in ihrem Dienſte. Was ließ ſich für das Wohl
der Golonien Beſſeres fordern und hoffen, ba im eigenen Lanbe, nad)
der Verfchiebenheit der Stände, diefelbe Anficht, derfelbe Grundſatz galt?
Was konnte ein Staatsrecht, eine. Verfaffung Goloniften geben... die
bem eigenen Bürger, dem Unterthan fo wenig gab? Welche Anfprü-
che konnten Golonien an eine Staatswirthſchaft machen, bie im elge-
nen Staate nichts von Wirtbfchaft wußte, als wie die Einnahmen zu
vermehren und bie Ausfälle zu deden fein? Das bat ſich ſehr geäns
dert und zum Beſſern gewendet, das zum Beſſern weiter führen wird,
und die Berbefferungen , deren ſich die europdifchen Staaten erfreuen,
bleiben nicht ohne mohlthätige Wirkung für die übrige Welt und bes
fonders für die Colonien. Das Mutterland, meldyes foldhe auf die
Dauer erhalten will, muß der Tochter Colonie eine wahre Mutter
werden, der man ſich aus Neigung und Achtung und zu feinem eig-
nen Belten verbunden fühlt und ergeben iſt. Gefchieht das nicht,
dann trennt man ſich von dem Lande, bem man mit Vortheil und
Ehre nicht angehören kann. Und doc) werden fi endlih, den Ge⸗
fegen der Natur gemäß, auch biefe Samilienbande Iöfen, und das er⸗
wachfene Kind des Haufes ben väterlichen Heerd verlaffen, um fidy den
eigenen zu bauen. Es kommt eine Zeit, wo die Natur in den Ges
nuß aller ihrer Nechte tritt, die ihr der Unverfland, die Leidenfchaft
bes Menfchen, Herrſchſucht, Eitelleit und Geiz entzogen hat. Die Men-
fchen werden freilich Beine Engel, aber Menfchen werden, und die befte
Welt wird der Traum eines Philanthropen, das Spftem eines Weifen,
die Lehre eines Gottgefandten nie erfchaffen; aber die Welt, die ein-
mal ift, wird eine beffere werben, wenn die Menfchen gebildeter, das
beißt menſchlicher geworden find. Die Fortfchritte des gefellfchaftlichen
Lebens in Cultur, Kunft, Wiffenfhaft, Gewerbe und Handel, bie Be⸗
bürfniffe, die daraus entflehen, und die Noth, die fie herbeiführen,
wenn wir in der neuen Lage bei der alten Anordnung bebarren molls
ten, machen unfern Zuftand beffer, wenn wir felbft auch nicht beffer
würden. Wir find gezwungen, vorwärts zu geben. Wir werben zu
Verbefferungen genoͤthigt; bie Boͤswilligſten muͤſſen zu ihnen ſtimmen,
fie begünftigen, weil nur das Beſſere vor dem Schlimmern bewahren
kann. Es ift die Macht der Dinge, bie uns unwiderſtehlich führt.
Die Revolutionen machen die Reformen, und nur durch diefe entgeht
man jenen, in dem Sinne naͤmlich, wie wir fie nehmen, im politis
fhen. Die Revolutionen aber, deren Werk die Staatsrevolutionen
find, wenn wir ihnen durch Reformen nicht zu begegnen wiſſen, macht
54% Golonien.
bie Raur. Jeder Zug iſt ein neuer Satz in ihrer Reovolutiondge
ſchichte. Wir müilen dem Ziele näher, wir kommen ihm näher, wie
und auf welchem Wege, das ift uns umbelamnt. Wir üuberfehen ben
Weg erft, wenn er zurücdgelegt, unb fchliefen hoͤchſtens mit einiger
Wihrfheinlichkeit von dem, mas da geweſen, auf dad, was fommen
wird. Das Schickſal führt und, wir mögen wollen oder nicht. Was
aber auch kommen mag, in Beziehung auf Colonien wird es ſich be
mähren, daß der Menſch nicht fcheiden oder verbinden ſoll und ann,
was die Natur verbunden ober geihieden bat. Jeder wirb Herr in
feinem Haufe fein und, um fremde Einſprache unbeforgt, fein Haus⸗
echt üben. Dahin wird, dahin muß es kommen; aber ba find wir
noch nicht, und es wirb noch manches Jahrhundert vergehen, bis wir
dahin gelangen, bis die Bevoͤlkerung, die Bildung, ber geſellſchaftliche
und politifhe Zuftand der Völker und ihre Bedärfniffe in ben verfchie
denen Welttheilen fi in eine Art von Gleichheit gefeht. Bis dahin
werden Anfiedelungen in fremden Ländern möglich, felbft nüglidy und
vielleicht geboten fein. Der Erfolg derfelben hängt von ben Grund⸗
fägen ab, die man dabei in Anmendung bringt. Die GColonien Ein:
nen ein Segen, eme Wohlthat für die Gegenden fein, in benen fie
angelegt werden, wie für die Goloniften, die man bahin verpflangt.
Unfere Zeit befonders fordert in vielen Theilen Europa's dazu auf.
Es wird für die Weisheit, Gerechtigkeit und Menfchlichleit der Regie
rungen zeugen, wenn fie manden ſchweren Leiden, welche jegt bie Ge
feufchaft quälen, auf dieſem Wege zu begegnen wiſſen. Uebervoͤlke⸗
rung, Dürftigkeit, die aus ihr und ber greifen Ungleichheit bes Ber:
mögen® entfieht, Parteiungen, welche durch politiſche und religidfe Ge⸗
finnung bie Geſellſchaft entzweien und beunruhigen, flimmen viele Men⸗
[hen zur Auswanderung, die der Staat, aus eigenem Intereſſe, be:
fördern ſollte. Warum fuht er den innern Frieden nicht zu erhal
ten, indem er bie feindfeligen Elemente ausfcheibet, die nach biefer
Scheidung ftreben? Warum verbinden fi) nicht Staaten, bie, in
dieſer Hinfiht, einen gemeinfdyaftlihen Vortheil haben, um den Aus
wanderungsluſtigen, unter den beften Bedingungen, Land zu Anftedes
lungen anzuweifen? Eine heilige Allianz, die dieſen Zweck verfolgte,
würde eine heilige in jedem Sinne fein, teil fie ſich in jeder Dinficht
wohlthärig erwiefe. Warum ift man nicht darauf bedacht, Strafcols:
nien anzulegen, in benen die Sünder für bie Gefellfchaft, gegen bie fie
gefündigt haben, geftorben wären, für ihr eigenes Wohl, das Wohl der
Ihrigen, in mander Beziehung für bas Wohl der Gefammitheit
aber fortiebten? Gerade ber Zwieſpalt, der ben Innern Frieden ber
Staaten ftört, vermehrt die politifchen Verbrechen, wie Armuth und
Mangel an Unterricht und Bildung die bürgerlichen. Ziehen wir es vor,
bie Strafen unmenſchlich zu häufen, die Bucht» und Gorrectionshäufer
zu bevoͤlkern, die Ausgaben bes Staates für ſolche Anſtalten zu vermeh⸗
ven, in ihnen die Steiflinge, beren Verberbtheit noch-nicht vollendet iſt,
gänzlich zu verderben, ba wir ein leichtere, edleres und wohlfeileres
Columbia. ‚845
Mittel, den Zwei ber Streafgefergebung zu erreihen, in Colonien
haben ? | Weigel.
Columbra. Die Foͤderativrepublik Columbia tft aus dem ſpa⸗
nifhen Vicekoͤnigreich Neugranada und dem Generalcaptanate Caraccas,
fo tie aus ben Provinzen Veragua und Panama erwachſen. Schon Cos
lumbus feldft hatte einzelne Theile diefes Gebietes bereifet. Das Gebiet
von Garaccas erfaufte 1523 die augsburgifche Familie Welfer zu erblis
her Lehnsherrſchaft, aus: deren Händen es jedoch 1550 an den Staat
zuruͤckkam. Bon dort aus wurden die Eroberungen gegen Welten und
. Süden fortgefest und gediehen bald zu einem ſolchen ange, daß fchon
1719 ein eignes Vicekönigreih NeusGranada mit Quito Brrichtet wurde.
Auch diefe Provinzen fchlummerten Jahrhunderte lang in forglofer Uns
terwerfung. Der erfte Verfuch, fie zum ‚Aufbigten ihrer eigenen Kraft
anzuregen, geſchah Im dynaſtiſchen Intereſſe des fpanifhen Königs.
Aber in Garaccas felbft ward der Mann geboren, der zuerft den kühnen
Gedanken faßte, das fpanifhe Amerika von dem Gefchidle des Mutters
landes loszureigen. Bereits 1804 ging ber fpanifche General Miranda,
aus Caraccas gebürtig, nach London, um bie englifhe Regierung zur
Unterftügung feines Unternehmens, einer Revolutionieung dieſer reichen
Provinzen, zu bewegen. England mochte fich nicht offen für einen Vers
ſuch fo gefährlichen Beifpiels erflären. Auch die Vereinigten Staaten,
an bie er ſich 1805 menbete, wollten, mit Stankreich gerade in manchen
Unterhandlungen begriffen, ſich feines Planes nicht annehmen. Ends
lich brachte er auf eigne Hand etwa 8300 Mann zufammen, mit denen
er auf drei Schiffen am 27. März 1806 unter Segel ging. Die fpas
nifhe Macht in Südamerila mit geringeren Mitteln anzugreifen, als
mit denen einft fie felbft gegen. das wehrlofe Reich der Indianer errichtet
worden war, würde allzu verwegen erfchienen fein, wenn nicht Miranda
auf die Stimmung feiner Landsleute gerechnet hätte; wie es fich zeigte,
irrig. In Caraccas war man auf feine Ankunft vorbereitet, und als er
fi) der Küfte näherte, ward er fo kräftig empfangen (28. April), daß er
feoh fein mußte, mit Verluſt zweier Schiffe, deren Mannſchaft ermorbet
wurde, nach Trinidad zurüdkehren zu können. Jetzt nahm fich aber
Lord Cochrane, der die englifhe Seemacht in jenen Gewaͤſſern befehligte,
feiner‘ an, und bereit8 am 24. Juli fegelte er mit 600 Freiwilligen und
einigen englifchen Kanonenböten wieder von Trinidad ab, landete und
befegte am 3. Auguft Vela de Coro. Er erließ Aufrufe an die Eingebor«
nen zu Gunften der Freiheit und Unabhängigkeit; aber Niemand wagte,
ſich mit ihm zu vereinigen. Er verließ Coro und näherte fi) dem Ufer,
die Engländer um Hülfe befhidend. Won ben Spaniern am 11. und
12. Auguft angegriffen, zog er fi) am 13. auf die Infel Aruba zurüd,
Dorthin fendete zwar Cochrane ein Linienfchiff und zwei Sregatten ; aber
das Gerücht von dem Abfchluß eines Präliminarfriedens zwiſchen England
und Frankreich verhinderte derer thätige Mithuͤlfe. Miranda ging nad)
Trinidad und 1807 nad) England zuruͤck. So war diefes Unternehmen,
wie das ber Engländer auf Buenos Ayres (ſ. d. Art.), gefcheitert. Die
Gtaats sEeriton, IL | N
546 Columbia.
Idee aber blieb und wucherte fort. Allerdings beftand noch bie große
Anhänglichkeit der Creolen an die ſpaniſche Herrſchaft; aber auf je bis
here Proben biefelbe allmälig geftellt wurde, defto ſchwaͤrzer trat die Un⸗
Dankbarkeit hervor, mit der fie belohnt ward. Und während gerade die Creo⸗
len felbft dem König Ferdinand VII. treu blieben, die Emiſſaire ber Zunten
mit Jubel empfingen und die Unternehmungen ber fpanifchen Patrioten eis
frigft unterftügten, waren es bie altfpanifhen Statthalter, die Guͤnſt⸗
linge des Hofes, welche ſchwankten, ob fie nicht nach Beamtenart ber beites
henden Joſephiniſchen Regierung ſich anfchliegen follten. Das Volk das
gegen verbrannte die Manifefte Napoleons, verjagte feine Emiffaire und
Schritt (15. Juli 1808) zu Caraccas fogar thätlih gegen die Stanzofen
ein. Trotz der Weigerung des Generalcapitains, rief das Volk Ferdi:
nand VII. zum König aus. Die Errichtung einer Junta ward im An
fang noch verhindert. Aber bereitd am 10. Auguft 1809 entfland eine
ſolche zu Quito, unter Leitung des Marquis von Selva Alegre. Hier⸗
auf berief der Vicefönig Amar zum 7. September eine Verfammlung
von Notablen nady Bogota, die einmüthig diefen Vorgang billigte und
Nachfolge forderte. Aber nicht fo etwas lag in Amar's Plane. Biel:
mehr fprengte er die Junta von Quito mit Waffengewalt auseinander.
Trotz der verfprochenen Amneftie, wurden viele Patrioten verhaftet und
(2. Aug. 1810) gegen 300 ermordet. Die Unzufriedenheit wuchs mit ber
fleigenden Verwirrung der Angelegenheiten des Mutterlandes. Der General
capitain Empanan wollte auf feine Maßregel eingehen, durch welche die Co⸗
lonien felbft für das Intereſſe der fpanifchen Dynaftie geforgt hätten. Da
erhoben fich die Bewohner von Caraccas; die Zruppen vereinigten fich mit
ihnen; bie fpanifchen Befehlshaber feute man ab und errichtete am 19.
April 1810 eine Junta fuprema zu Caraccas. Als in einer zufälligen
Rauferei zmwifchen Spaniern und Creolen zu Bogota die Creolen gefiegt
hatten, ward auch dort im Zuni 1810 eine Junta eröffnet. Die Res
gentfchaft von Cadix aber erflärte (31. Aug.) Caraccas in Blokadeſtand
und feine Einwohner für Nebellen. Bald brach der Bürgerkrieg aus,
den die Spanier durch Grauſamkeit, die Franzoſen durch Emiffnire und
Verſprechungen aller Art nährten. Denn Frankreich erkannte jegt ben
Bortheil, den eine Entziehung der aus den Colonien ber fpanifhen Nas
tionalregierung zuftrömenden Hülfe ihnen bringen mußte. — Die In⸗
furgenten von Caraccas mwendeten fich jedoch lieber an die englifche Res
gierung. Letztere ermahnte zur Ausföhnung; man möge die Regent:
haft von Cadix anerkennen. Würde Epanien in Europa dem franzoͤ⸗
fifhen Joche erliegen, dann werde England die Kolonien mit aller
Kraft unterftügen, damit fie diefe Refte der Monarchie dem rechtmaͤßi⸗
gen König erhalten koͤnnten. Der in gleicher Abfiht nad) Caraccas ges
fendete Obriſt Robertfon fand jedoch, daß die Stimmung entfchieden
feindlich gegen die Negentfchaft von Cadix fei. Allerdings verharrte diefe
in ihrer Verblendung. Zwar nahmen die Gortes (6. Juni 1811) bie
englifhe Wermittelung an; allein unter Bedingungen, die ganz ben
Stolz und die Härte ber Spanier athmeten. Dan forderte augenblids
Columbia. 547
liche Unterwerfung und verfprach nur bereinftige gehörige Beachtung der
Befchwerden. Würden die Colonien nicht eintoilligen, fo follte England
fie zur Unterwerfung zwingen helfen. Die englifhen Bevollmächtigten
fchlugen neue Bedingungen vor, worunter: volllommne Amneftie, billiz
ger Antheil an der Repräfentation, Gleichheit bei Befegung der Staats⸗
ämter und freier Handel. Aber die Cortes, befonderd von dem Gabirer
Handelsftand, der feine Monopole nicht aufgeben mollte, angereist, vers
marfen die Vorfchläge (13. Auguft).
Das Verfahren der Colonien hatte noch nicht zu folchee Strenge
veranlaßt. Zwar waren in fünf Provinzen von Venezuela, in Caraccas,
Gumana, Margarita, Varinas und Guyana, Sunten gebildet worden.
(Die fechfte Provinz, Maracaibo, ſchloß fih aus, und ihre Gouverneur,
Don Fernando Migares, ſchickte fogar die Emiffaire von Caraccas gefan⸗
gen nach Portorico. Die Zunten von Varinas und Cumana dagegen ers
kannten die Junta fuprema von Garaccas nicht ale ſolche an, fondern
verlangten Berufung eines allgemeinen Congreſſes.) Indeß benachrich-
tigte man body die Regentfchaft von Cadix von dem Vorgefallenen und
ftellte es ald im Intereſſe Spaniens und ber befferen Vertheidigung feis
ner Befigungen gegen Frankreich gefchehen dar. Die Regentfchaft Hatte
indeß den Gouverneur von Maracaibo zum Generalcapitain ernannt,
der fih mit dem Commandanten des Bezirks Coro, der allein in ber
Drovinz Caraccas treu geblieben war, vereinigte, dafür aber erleben
mußte, baß zwei Bezirke feiner eigenen Provinz, Merida und Truxillo,
abfielen.. Der Bürgerkrieg ward duch den fruchtlofen Verſuch des
Marquis del Toro, fi) Coro's zu bemädhtigen (Nov. 1810), eröffnet.
Bald darauf traf General Miranda von England in Caraccas ein.
Schon vorher war die Berufung eines allgemeinen Congreffes beſchloſ⸗
fen, der auch am 2. März 1811 zufammentrat. Die Verfaffung ward
von der Mehrzahl, die auf Nordamerika bliden mochte, füderaliftifch ges
wuͤnſcht. Miranda, voll von franzöfifchen Ideen, drang auf Centralife:
tion. Der Congreß deputirte drei Mitglieder zur „vollziehenden Gewalt”.
Miranda und Espejo ftifteten eine „patriotiſche Gefellfchaft”. Weitere
Schritte veranlafte die Meactionspartei. Auf Entdeckung einer Wer:
ſchwoͤrung im fpanifhen Sinn ward (5. Juli 1811) die Unabhängigs
keit Venezuela’s erklärt. Als darauf (11. Juli) in Caraccas felbft ein
Aufftand zu Gunften Spaniens ausbrach, erhob ſich das Voll und ent
waffnete die fpanifche Partei. Damals wurden zehn Verſchworne hins
gerichtet! Valencia, das fid) von dem Congreſſe unabhängig machen
wollte, ward von Miranda erftürmt. Die dem Congreß am 23. Dee
cember vorgelegte Verfaffung mar von Ufturiz nach nordamerikaniſchem
Mufter entworfen. Eine verföhnende Maßregel war ed, dag man Bas
lencia zum Sig bes Congreffes beftimmte. In ber That war die Einig-
keit hergeftellt, und manche freifinnige Maßregeln fchienen das befte Stud
zu verfprechen. Aber noch waren bie Tage dafür nicht gelommien, und
als weder ‚innere, noch aͤußere Feinde die Ruhe ftörten, brach am 26.
März 1812 eines der furchtbarften Erdbeben ein, beh ver gegen 20,000
518 Columbia.
Menfhen um’s Leben Samen, mehrere Städte ganz, Caracas und Was
lencia zum großen Theil vernichtet wurden. Das allgemeine Elend ent-
muthigte das Volk und laͤhmte die Regierung. Die Geiftlichkeit ſtellte
das Ereignig als eine Strafe Gottes für den Abfall dar. Der Congreß
Löfte fi auf und übertrug ben drei Mitgliedern der Vollzichungsbehörbe
bictatorifche Gewalt. Miranda zog mit 2000 Mann den von Coro aus
unter General Monteverde einfallenden Royaliften entgegen. Er Eonnte
fie nicht aufhalten. Das Volt entfagte jedes Widerſtand; zahlreiche
Defertionen ſchwaͤchten die Reihen der Republilaner. Valencia warb ges
raͤumt; Caraccas felbft erklärte ſich für die Spanier; Puerto Cabello, wo
Dbrift Simon Bolivar befehligte, ward durch Verrath den Spaniern
ausgeliefert; die Erderfchütterungen dauerten fort, und Miranda fah ſich
zur Capitulation gendthigt. Man verfprady (28. Zuli) Amneftie, Aus:
wanderungsfreiheit und Einführung der fpanifhen Conſtitution. Mis
randa wollte ſich zu la Guayra einſchiffen, aber der dortige Beſehlsha⸗
ber Caſas verhaftete ihn und lieferte ihn den Spaniern aus. Die Amne⸗
fie ward nicht gehalten. Gegen 1000 Patrioten wurden in Kerker
geworfen; die Bedeutendften nach Cadir gefandt, wo Miranda im Det.
1816 im Kerker geftorben ift. Nachdem auch der republilanifche Gene⸗
ral Paredes im Thal von Cucuta von den Moyaliften befiegt worden
war, kehrte ganz Venezuela unter die fpanifche Derrfchaft zurüd.
Noch war Neus Granada frei. In diefem großen, 22 Provinzen
mit 24 Millionen Einwohnern umfajfenden Vicekoͤnigreiche war ſchon
im Juli 1810 der Vicekoͤnig Amar und die meiſten Mitglieder der Au⸗
diencia verhaftet und nach Spanien geſchickt worden, worauf man die
Provinzen zur Beſchickung eines allgemeinen Congreſſes zu Bogota ein⸗
lud. Neun Provinzen folgten der Einladung. Der Gouverneur von
Popayan, der gegen die Sunta rüftete, ward 1811 am Fluſſe Palace
durch Baraya gefchlagen. In Quito beredete der von ber Gadirer Res
gentſchaft dorthin gefendete Bevollmädhtigte, Montufar, der Sohn des
von den Spaniern ermordeten Marquis von Selva Alegre, die ſpaniſchen
Behörden felbft zur Errichtung einer Zunta, der einzigen, die von ber
Megentfchaft beftätigt worden iſt. Der Congreß trat mehrmals zufams
men; aber feine Maßregeln wurden vielfach duch Nichttheilnahme eins
zeiner Provinzen, durch Uneinigkeit unter den andern und burdy das
Berlangen vieler Bezirke, als eigne Provinzen anerkannt zu werben, ges
hemmt. Doc, fhloß man ein Bündnig mit Caraccae. Eundinamarca,
die Provinz von Bogota, gab ſich eine eigne Verfaffung (17. April 1812),
bie jedoch immer noch Ferdinand VII. als König anerkannte. Der
Präfident dieſer Provinz, Narino, betrieb eifrigft bas Centraliſations⸗
peincip, worüber zwifchen feiner Partei und den Anhängern des Congrefs
ſes ein förnalicher Bürgerkrieg ausbrach, im Laufe deffen Narino’s Trup⸗
pen zweimal gefchlagen wurden und der Congreß, der erft zu Ibague,
dann zu Zunja und endlich zu Neyva faß, Bogota foͤrmlich belagern
ließ. Man forderte Ergebung auf Gnade und Ungnade; der Sturm
lief aber zur größten Schmach der Belagerer ab. — Quito var von der.
Columbia. » 549
- Armee des Todes, an deren Epige der Biſchof fland, forfe von ben
Truppen von Lima, die Montes anführte, befegt und ber fünfte Mann
unter den Vertheidigem hingerichtet worden. — Der Spanier XZacon,
Gouverneur von Popayan, ber nad) 106 Paftos geflohen war, gab das
gefährliche Veifpiel, daß er, um feine Truppen zu verftärken, bie Freiheit
der Sklaven ausrief. — Gartagena ging feinen eigenen Gang. Dort
hatte ſich 1810 eine Junta gebildet, welche die Annahme des neuen’
fpanifhen Gouverneurs verweigerte und frühzeitig den Gedanken ber
Unabhängigkeit faßte, während fie formelt die Megentfchaft noch aner⸗
kannte. Eine Verſchwoͤrung im fpanifhen Sinne fcheiterte. Dagegen
erregte das harte Verfahren der Junta gegen die Stadt Mompor Uns
willen, und das Volk befchufdigte die Junta der Herrſchſucht. Die Junta
gab dem altgemeinen Wunfch nad) und berief zum Januar 1812 einen
Gonvent, der am 14. Juni eine befondere, nady norbameritanifhem Bor:
bild gemobelte Verfaffung der Provinz befannt machte. Minder gluͤck⸗
lic war man bei Ordnung der Sinanzen, und bie Einführung eines Pa⸗
piergetbes erregte fo viel Mißmuth, daß die Royaliſten, die im October
ans der Provinz Santa Marta hereinbrachen, wenig Wiberftand fanden. —
So mar aud) hier überall Verwirrung. Indeß der Anhaltepunkte
waren in diefem ausgedehnten Rande zu viele, als daß bie Sache der Freis
heit mit einem Schlage zu vernichten gewefen wäre. Als der Spanier
Samano von Quito aus gegen Bogota aufbrach, vereinigten fih Na:
eino und der Congreß, fammelten 8000 Mann und ſchlugen den Spas
nier wiederholt, ohne ihr jedoch aus Paftos vertreiben zu Binnen. Nach
manchen Gefechten gluͤckte es dem Nachfolger Samano's, Aymeric, Nas
rino durch eine Kriegstift zu Üübermältigen, ihn felbt gefangen zu nehmen
und feine Truppen zum Rüdzug zu nöthigen. ‚Der Congreß erließ am
. 1. September 1814 einen mahnenden Aufruf an das Voll. Aber felbft
in der drohenden Gefahr waͤhrte die Uneinigkeit fort, indem Narino's
Nachfolger, Don Alvarez, die Unabhängigkeit Cundinamarea's behauptete
und mit dem Congreß nur wie Macht gegen Macht unterhanbeln wollte,
(Scheinbar im Sinne des Köderativ-, in Wahrheit aber in dem dee
Gentralifationg » Syftemd. Denn Bogota follte eben der Mittelpunkt
fein, dem man allmälig bie übrigen Provinzen unterwerfen tmollte.)
Abermals kam es zu einer Belagerung Bogota’s, mad zum Theil ſchon
erftürmt mar, ale Alvarez endlich nachgab. Der Congreß verfammelte
fid) darauf wieder In Bogota. Man richtete bie Verfaffung nach nord⸗
ameritanifhem Muſter ein, wiewohl man die vollziehende Gewalt einem
Triumvirat übertrug; traf manche freifinnige Maßregeln und befchloß die
Eroberung der Provinz Santa Marta. Zum Befehlshaber diefer Erpes
bition ward Bolivar ernannt, der bereits bie Korbeeren von Venezuela trug.
Denn in Venezuela hatten bie furdhtbaren Bedruͤckungen ber
Patrioten, die dem fpanifchen Kriegsminifter immer noch zu ſchwach
fhienen, einen neuen Aufitgnd erregt, der In der Provinz Cumana
ausbrady und an deffen Spise Don Marino trat. Zweimal belagerten
die Spanier Maturin vergeblich. Dies mochte Bolivar (f. d. Art.) Muth
550 Columbia.
zu feinem tühnen Zuge über die Andes machen, ben er im April 1881
mit 600 Mann vollführte. Bahlreihe Anhänger firömten ihm zu.
Ueberall wurden die Spanier geſchlagen und bereitd am 4. Auguft
1813 hielt der Befreier feinen jubelvollen Einzug in Caraccas. Mon⸗
teverde z0g fih nad; Puerto Gabello zurüd, dem einzigen Plag, ber
in fpanifhen Händen blieb und der nun von Elugar belagert warb.
Bald ward aud die Stadt genommen und die Spanier blieben auf
das Fort beſchraͤnkt. Ebenſo ſchlug Bolivar die unter Ceballos von
Coro aus im Anfang ſiegreich anruͤckenden Royaliſten. Das dankbare
Volt gab ihm den Namen bes Befreiers von Venezuela. Aber wes
niger Beifall fand es, daß er, fatt den Congreß zu berufen, das
Land militairifch verwaltete. Indeß fand doch die Verſammlung von
Notabeln, die er Anfangs 1814 berief, und in deren Hände er feine
Gewalt zuruͤckgab, für gut, ihm den Oberbefehl in bisheriger Ausdehs
nung bis zu gänzlicher Vertreibung der Spanier Zu übertragen. Die
Letzteren ergriffen das verzweifelte Mittel, die Sklaven aufzumiegeln.
Aber ihre Emiffaire wurden zum Theil aufgefangen, fo daß das Uns
ternehmen fih auf oliete, freilich von graͤßlichen Scenen begleitete
Ausbruͤche beſchraͤnkte. Dabei fuͤhrte ein Augenblick der hoͤchſten Ge⸗
fahr Bolivar zu dem furchtbaren Befehl der Hinrichtung der 800
ſpaniſchen Gefangenen, der ſogleich Repreſſalien von Seiten der Spas
nier folgten. Die Sklavenhaufen, ſowie die Royaliſten, wurden von
Bolivar und Marino in einzelnen Gefechten beſiegt. Eine Haupt⸗
fchlaht gewannen die Republikaner am 25. Mai 1814 bei Carabobo
gegen den neuen Generalcapitain Gazigal. Dagegen ward er von dem
Buandenführer Boves, in Folge feines Mungels an NReiterei, zu la
Puerta geſchlagen. Ebenſo draͤngten die Royaliſten den Marino nach
Cumana zuruͤck, wohin auch Bolivar, unter Aufhebung der Belage⸗
rung von Puerto Cabello, zurüdging. Boves zog im Juli in Ca⸗
- raccas ein. Valencia ward auf Gapitulation ergeben, die jedoch von
den Epaniern gebrochen ward. Boves holte die Patrioten ein unb
fhiug fie nochmals bei Araguita. Der Befehlshaber der Küftenflotille
verweigerte Bolivar den Gehorfam, und endlich fhiffte ſich diefer nad)
Gartagena, wo er ſchon einmal in gleich verzweifelter Lage Zuflucht
gefunden, ein. Maturin ward eine Zeit lang noch von Rivas und Ber:
mubez behauptet. Endlich (5. Dec.) wurden auch diefe bei Urica ges
ſchlagen; Maturin ward von den Spaniern befegt ; Rivas ward ges
fangen und erfchoffen.
Bolivar war indeg an die Epige ber Armee von Neu: Granada
getreten. Allein die Regierung von Cartagena, befonders der Gous
verneur Gaftillo, proteflirte gegen feine Ernennung, und diefer Wider⸗
fprud) reizte ihn dergeflalt, daß er ſich (1815) in eine fürmliche Bes
lagerung Cartagena's einließ, die ihn ohnehin zu nichts fuͤhrte,
da er endlich in Folge Vergleichs die Provinz verließ, in welcher
waͤhrend dieſer Haͤndel die Royaliſten bedeutende Fortſchritte gemacht
hatten. Der Sitz der Letzteren war vorzuͤglich bie Provin Santa
Columbia. 551
Marta. Ste befamen geordnete Kraft, als der General Morillo mit
10,000 Mann aus Spanien an der Küfle von Venezuela anlangte
und im Suni 1815 zur Belagerung von Gartagena aufbrach, was cr
auch am 6. Dec. einnahbm. Im Juni 1816 zog er felbft in Bogota
ein. Allein er erkannte, daß nur durch phyfifchen Zwang die Gemalt
der Spanier aufrecht zu erhalten und nur durch fortwährend: Verſtaͤr⸗
ung feiner Truppen die Dauer feiner Erfolge zu verbürgen fe. Das»
zu aber war von Spanien aus keine Ausfiht, und im Innern des
Landes regten die Spanier, ftatt ſich Anhänger zu gewinnen, durch
Stolz und Grauſamkeit immer neue Gegner auf. So trennten fid)
viele Ropaliften, die ihnen bei der Bezwingung Venezuelas beigeftan:
den, von ihnen und begannen einen glüädlichen Guerrillaskrieg. End»
lich bemichtigte fich Ariemendi eines großen Theiles der Inſel Mar:
garita, und dort ward der neue Sig der Sinfurrection. Bolivar, ber
frudhtlos auf den mweftindifchen Inſeln Hülfe gefucht hatte, vereinigte jegt
bie Ausgervanderten von Venezuela und einen Theil der Befagung von
Gartagena, der fich vor der Webergabe gerettet, und ging im März
1816 mit einer von Brion geführten Klotte und etwa 1000 Mann
von aur Cayes unter Segel, nöthigte die Spanier, Margarita zu ver:
Laffen, und landete am 6. Juli zu Dcuman. Aber der General Mo⸗
reales zwang ihn zur Wiedereinſchiffung. Dagegen gelang es einer
andern Zruppenabtheilung der Patrioten, die unter M’Gregor zu Cho:
roni gelandet war, Morales zweimal zu fehlagen und fi Barcelona’s
zu bemädtigen. Bolivar hatte neue Verftärkungen geholt und feßte
in Barcelona eine vorläufige Regierung ein. So kämpfte man mit
abwechſelndem Gluͤck, bald die Angriffe der Spanier zuruͤckweiſend,
bald ihnen fomweit erliegend, dag im Mai 1817 fowohl Barcelona
als auch Margarita wieder in die Hände der Spanier kamen. Allein
Bolivar hatte gefchickte Officiere, M’Gregor, Paez, Par, Santander,
Sucre, die in vielfachen Abtheilungen die Spanier umfchwärmten und
das auf ber einen Seite erfahrene Unglüd duch befferes Gluͤck auf
der andern wieder gut machten. Sie hatten ferner Landestunde und
die ftete Verforgung mit Hülfsmitten und Verſtaͤrkungen voraus,
während Morillo nur fpärlihe Zufhüffe befam. So murden die
Spanier allmälig erfchöpft und bes endlofen Krieges müde. Daher
der Waffenſtillſtand zwiſchen Bolivar und Morillo, der am 25. Nov.
1820 gefchloffen ward. Nach feinem Ablauf begannen die Feindſelig⸗
keiten von Neuem, bie endlih Bolivar am 21. Juni 1821 gegen
Morillo's Nachfolger La Zorre am 21. Juni 1821 den entfcheidenden
Sieg bei Carabobo erfocht. La Torre zog ſich nach Puerto Cabello
zurüd, das er zwei Jahre vertheidigte, bie er ed den 10. Nov. 1823
dem General Paez übergab, der ihn am 11. Aug. 1822 auf ben
Höhen von Birgirama gefchlagen hatte. Damit hatte der Kampf ein
Ende. Mit Venezuela's Befreiung war auch Neuss Granada’s Unab-
hängigleit gefichert, die ſchon durch den fiegreichen Feldzug vom Jahre
1819, in Folge deffen Bolivar am 10. Aug. in Bogota einzog, ber
552 Columbia.
gründet, aber erft dann gededt war, wenn Venezuela nicht länger in
ben Händen ber Spanier blieb.
An Bolivars Seele lag das Centealifationsprincp begründet.
Es bleibe dahingeftellt, ob er fich die Rolle bes Herrichers zugedacht
hatte; aber Herrfchaft wollte er; Hertſchaft giänzte ihm mehr als Frei⸗
beit. Deshalb arbeitete er mitten unter biefen Kämpfen an ber Ben
einigung Neu⸗Granada's und DBenezuela’s, die er auch am 17. Der.
1819 bei dem Congreß von Angoſtura durchſetzte, bergeftalt, daß er
felbft dictatoriſcher Präfidents Befreiee ber untheilbaren Republik Co⸗
lumbia fein follte. Nach Vertreibung der Spanier warb die Ber
faffung vervollftändigt, am SO. Aug. 1821 promulgirt, Bogota zum
Sitz des Congreſſes, Bolivar zum Präfidenten, ber gemäfigte, geiſt⸗
volle Santander zum Vicepräfidenten emannt. Diefer führte num,
während Bolivar mit auswärtigen Erpeditionen beſchaͤftigt war, bie
Raq]7ierung mit Gluͤck und getreu den conftitutionellen Grundfägen.
Auh Quito trat 1822 dem Gefammtfiaate bei, nahdem General
Sucte es duch die Schlacht am Pichincha den 24. Mai 1822 ben
Epaniern entriffen hatte. Das Verhaͤltniß änderte fi), als Bolivar
gegen Ende 1826 wieder in Bogota eintraf. Zwar ftellte er fich, bei
feinee 1827 erfolgten Miedererwählung, als wolle er die Würde abs
lehnen, ließ ſich aber doch bewegen, laͤhmte Santanders freifinnige
Maßregeln und trachtete, ungewarnt von den Vorgängen in Peru
und Bolivia (f. d. Art.) vielmehr, ermuthigt durch die Ruͤckkehr ſei⸗
ner Truppen, nad) dictatorifcher Gewalt. Der Convent, Santander
an der Spige, widerftand mit Zeftigkeit; aber Bolivar Iöfte am 27.
Aug. 1828 den Gonvent auf und ftand als Dictator da. Eine Vers
ſchwoͤrung gegen fein Leben ward vereitelt, worauf er Mehrere hins
sichten, Santander aber mit 70 andern Republilanern verbannen ließ.
Bolivars Ziel ſchien erreicht. Aber in demfelben Lande, wo er feine
eriten Lorbeeren erfochten, traf ihn der Widerfland, und feine ruhm⸗
vollften Kampfgefährten wurden deſſen Werkzeuge. Sie mollten nicht
für den Glanz eines KEinzigen gekämpft und geblutet haben. Unter
Mitwirkung der Generale Arismendi und Paez befchloffen bie Einmohs
ner von Caraccas am 26. Nov. 1829, daß DBenezuela fi von Co⸗
lumbia trennen folle. Paez hielt am 12. December feinen Einzug in
Garaccad. Zu Valencia trat am 6. Mai ein conftituirender Congreß
zuſammen, ber ſpaͤter nach Caraccas verlegt ward und jede Einladung
zur Wiedervereinigung, fo lange Bolivar malte, zurüdwies. — Diefe
Vorgänge öffneten aud in Bogota die Augen, und die Mifftimmung
gegen Bolivar trat an den Zag. Ein Aufſtand, der zu deſſen Guns
- fen verfucht ward, fchlug fehl. Darauf dankte er ab. In den Wir
ten, bie auf feinen Tod folgten, trennte ſich auch Quito, das Foͤde⸗
rativſyſtem hatte gefiegt und aus ber untheilbaren Republik. Columbia
erwuchſen drei, fhon in ihren ehemaligen Beitandtheilen vorgezeichnete
Staaten: das alte Venezuela, aus Cumana, Barcelona, Varinas,
Caracas, Merida, Truxillo und der Inſel Margarita beftehend.
Columbia. 553
Neu⸗Granada mit: Cundinamarca, Neyva, Pamplona, Tunja,
Gartagena, Antioquia, Santa Marta und Popayan. .Die füdlihen
“ Provinzen Guajaquil, Quito und Pafto bildeten die Republik Ac⸗
quator. Garaccas tft der Hauptfig der erften, Bogota der der zwei⸗
ten, Quito ber der dritten. Im Mai 1832 haben fich biefe drei
Staaten über eine Köderation vereinigt, die. inmere Zroiftigkeiten aus⸗
gleicht und gemeinſchaftliche Unterflügung gegen auswärtige Angriffe
verbürgt, aber jede Gentraltegierung ausfchließt.
Seitdem ift in NeusGranada ber edle Santander, ber während
feines Exils in Europa gereift war, 1832 zum Präfidenten gewählt
worden. Bon dem innern Zuftande hört man ünter feiner Verwal⸗
tung nur günftige Nachrichten. Er thut viel für den Öffentlichen
Unterricht, befhägt die Preßfreiheit, fucht die Finanzen herzuftellen
und ermuntert den Handel. Am 31. Mai 1835 wurden Portobello
und. Panama für ben Fall, daß ein Ganal ober eine Eifenbahn zwi⸗
fhen ihnen zu Stande gelommen, auf 20 Jahre zu Freihaͤfen ers
klaͤrt. Manche Maßregeln wurden ergriffen, um die Anhänglichleit
ber füblichen Provinzen I befeftigen, die fich außerdem mehr nad)
Quito neigen follen.”— Auch in Venezuela mar unter der Präfis
bentfchaft des biebern Paez Ruhe und Ordnung. Paez behielt dieſe
Mürde vier Jahre lang und übergab fie dann (6. Febr. 1835) dem
zu fenem Nacyfolger gewählten Arzte Sofe Vargas. Allein unruhige
Koͤpfe bedienten ſich der Gelegenheit, die ein Beil des Präfidenten
mit dem Senate darbot, und des hohen Anfehens, in das fih Gene
ral Paez gefegt hatte, um am 8. Juni 1835 einen Aufitand zus
wege zu bringen, in beffen Verlauf man Vargas vertrieb, Paez zum
Präfidenten und den General Marino zum Bicepräfidenten ausrief.
Die Unternehmung mard vorzüglich durch einen Schwager Bolivar’s,
Pedro Briceno Mendes, durch einige Anhänger Bolivar’s, namentlid
General Ibarra und Obriſt Carujo und duch auf Halbfolb geſetzte
Dfficiere ausgeführt. Das Volt nahm. wenig Antheil. Paez aber be:
wies ſich ald Ehrenmann und rechtfertigte das Wertrauen, mas ber
vertriebene Präfident, der ihm eine Vollmacht zufendete, in ihn feßte.
Statt in die Pläne der Aufrührer einzugehen, brah er mit 800
Reiten gegen fie auf. Alle Städte öffneten ihm die Thore und am
27. Zuli rüdte er in das von den Empoͤrern verlaffene Garaccas ein.
Eine Deputation warb nad St. Thomas gefendet, um Vargas zur
Ruͤckkehr einzuladen, die auch erfolge if. Paez hielt, nach den neue-
fien Nachrichten, die Gegner in Puerto Cabello eingefchloffen. — Am
ungünftigften ift der Zuftand des jüngften und Meinften diefer Stans
ten, der Republik Aeguator. Dort hat faft fortwährend Anarchie ges
waltet, und namentlich ift die vom General Barragan vertheidigte Re⸗
gierungspartei neuerdings von dem General Flores in mehrfachen, mit als
tem Haffe des Bürgerkrieges geführten Kämpfen befiegt und Roca Fuerte
sum Oberhaupt des Staats erfiärt worden. Für den 1. Mai 1835
ward eine Nationalverfammlung zur Entwerfung einer Conftitution
554 Golunbie. *
berufen. Die Nachbarſtaaten fürdhteten den Ehrgeiz des General Flo⸗
res, — Sin den inneren Begrenzungen biefer Staaten kann ſich noch
Manches ändern. Namentlich fol Maracaibo, das jest, wie: früher,
zu Venezuela gehört, eine Bereinigung mit NeusGranada feinn Ins
terefien für angemeffener halten. Es kam darüber 1835 zu Unruben,
weshalb General Urduneta einruͤcken und die Ruhe herſtellen mußte.
In dem Frieden vom 22. Sept. 1829, der einen zweifelhaften Krieg
zwiſchen Columbia und Peru beenbigte, blieben die Grenzen beider
Staaten unverändert.
Das Gefammtgebiet von Columbia grenzt gegen Norden an das
caraibiſche Meer, gegen Oſten an das atlantifhe Meer, Guyana und
Brafilien, gegen Süden an Brafilien und Peru, gegen Weiten any
das flille Meer und Guatimala. Es erſtreckt fih vom 5° 30‘ ©.
Br. bis zum 129 40° N.Br. und vom 296° bis zum 3219 D2.2.
und umfaßt 59,000 Quadratmeilen. Seine größte Ränge beträgt 300,
feine größte Breite 225 Meilen. Diele Fluͤſſe ducchfirömen es. Der
Drinoco, bee Magbdalenenfluß, ber Atrato. Der größte Fluß der Erde,
der Amazonenfluß (Maranjon), tritt von Peru ber in Columbia ein
und verläßt es, um Braſilien zu durchſtroͤmen. Unter den Seen ifl
ber Maracaibo ber bebeutendfte, der 30 Meilen lang und 18 breit
ift und mit dem Meerbufen von Venezuela in Verbindung fteht. Der
Boden ift fehr verfchieden. Er bietet ſowohl die rieſenhafteſten Gebirge,
als die ungeheuerften Ebenen (Llanos) dar. Die Andes bilden einen
furchtbaren Gebirgswall, dee 11— 12 Meilen breit in Golumbia eins
tritt, fi dort in zwei Reihen theilt, dann wieder vereinigt und um
Duito feine größte Höhe erreiht. Denn dieſe bevälferte, fruchtbare
und gefunde Hochebene auf einer Höhe von 83000 — 9000 Fuß iſt
rings von höheren, größtentheils vulkanifhen Bergen umgeben. Dort
ift der Vulkan Cotopari (17,712 Fuß hoc), der Zunguragua (156,180 .
Fuß hoch), der hoͤchſte Berg Amerikas, der Chimborazo (20,148
Fuß hoch), der Cayambe-Urcu (18,30 Fuß hoch). Später theilen
fi) die Andes wieder in brei Zweige, die fich allmälig ſenken, bie
der eine nad) Guatimala übergeht, mo er wieder aufiteigt. — Das
Klima ift tropiſch, wechfelnd, von Lage und Jahreszeit abhängig.
Die Hige ift drüdend, die Kuft zur Regenzeit und an der Kuüjte ungefund.
Die jährlichen Ueberfhivemmungen der Ebenen erzeugen Krankheiten
und Läftiged Gethier. Erdbeben und Orkane find nur zw. häufig.
Uebrigens nährt das Land alle europüifhen Hausthiere, und in ben
Llanos find zubllofe Rinder- und Pferdeheerden der Wildheit ans
heimgefüllen. Schildkröten find namentlih am Orinoco fo zahlreich,
dag aus ihren Eiern Del bereitet wird. Der Boden trägt reihe Erns
ten von Getreide und Suͤdfruͤchten; Baumwolle, Kaffee, Indigo,
Cacao, Vanille, China; manche andere Arznei» und Farbeſtoffe wer⸗
den zur Ausfuhr erbaut; die Wälder liefern Farbe» und Bauhoͤlzer,
die Berge Metalle und Koffilien aller Art. Namentlich ift der Bezirk
von Choco einer der gelbreichfien Theile der Erde, und jedes Waͤſſer⸗
Columbia. ompenfation (im Eivilr.). 555
hen darin führt Goldfand mit fa. — - Die Einwohnerzahl ſoll fid) auf
3,600,000 belaufen. Man 3
154 Villas, 1340 Kirchfpiele und 846 Filiale. Die Induſtrie iſt
wenig bedeutend; lebhafter der Handel der Kuͤſtenſtaͤdte. Den inneren
Handel lähmt ber Mangel an Strafen. — Unter den Städten vers
dienen befondere Erwähnung: Caraccas, die Hauptftadt Venezuelas,
fhon 1567 erbaut, in dem ſchaͤnen Zhale Arragua gelegen, mit ets
was über 30,000 Einwohnern ; der Geburtsoet Bolivar's. Maras
caibo am See gleihes Namens mit 25,000 Einwohnern. Santa
TE de Bogota, die Hauptſtadt Neu: Granadas, 8694 Fuß hoch
gelegen, mit 40,000 Einwohnern. St. Srantieco de Quito, 8051
Fuß hoch, mit 70,000 Einwohnern, die Hauptſtadt von Zeune
. Buͤlau.
Comitat, ſ. Lehenweſen.
Comite, T. Ausſchuß.
Comitien, ſ. roͤmiſche Berfaffung
Commenderie, f. Ritterorbden.
Commiffion, f. Cabinets⸗-Juſtiz.
Commiſſions-Handel, f. Hanbel.
Commodatum, f. Beibconten ct.
Communalgarden, f. Nationalgarbden.
Compagnie, f. Handelscompagnie.
Compenfation (im Civilrechte). Nah allgemeinen. Grund»
fäßen befichen Forderung und Gegenforderung unter denfelben Pers
fonen unabhängig neben einander fort; feine übt Einfluß auf bie
bite zur fpanifchen Zeit 95 Ciudades,
!
Eriftenz. der andern. und jeder Schuldner muß das leiften, was ihm
vermöge feiner Verbindlichkeit obliegt. Weil aber, bied zu einem ganz
nuglofen Hin- und Herzahlen führen und ber Verkehr felbit dadurch
weſentlich beengt werden würde, hat das gemeine deutfche Recht den
Grundfag aufgeftellt,. daß Korderungen auf der einen durch Gegenfor⸗
derungen auf der andern Eeite, unter beftimmten Borausfegungen,
“aufgehoben werden, und diefe Wirkung der Eriftenz zweier Sorderuns
gen unter denfelben Perfonen nennt man vorzugsweiſe compen- -
satio, die von den Römern dahin befinirt wird: compensatio ent
debiti et crediti inter se contributio 4). Die Gruribfäge über bie
Gompenfation find vorzugsweife aus dem tömifchen Rechte zu entleh:
nen, das Anfangs die Compenfation nur in bonae fidei judioiis, ſpaͤ⸗
terhin auch in strieti juris judiciis zuließ 2). Die Grundfäge nun,
die nach dem gemeinen Rechte bei ber Compenfation gelten, find im
Mefentlihen folgende: J. Zur Compenfation ift jede Forderung taug⸗
lich, die von den Gefegen nicht geradezu vernichtet ift, wie 3. B
Spielſchulden. Selbſt mit obligationes naturales, d. h. folhen Obli⸗
gationen, die alle Wirkungen einer Forderung, nur nicht bie Klage
1) Fr. 1. D. de comp. (XVII. 2.).
2) $. 30. J. de act. (IV. 6.).
556 Gompenfation (im Givilr.).
baden, Tann man der richtigen Anficht nach compenfirn?). Beſon⸗
ders wichtig wird dies bei verjährten Forderungen (inſofern man bier
nad) Ablauf der Verjährung die Fortdauer einer obligatio naturalis
_ anerkennt), bei folchen, gegen die man fi auf das Senatusconsul-
tum Macedonianum berufen Tann, u. m. a. Dit bebingten, betag>
ten ober künftigen Forderungen kann man dagegen micht compenfiten *),
wenn man auch fonft ihree wegen Sicheritellung für die künftige
Zahlung folte verlangen Binnen. Mit ben betagten Korberungen fies
ben aber die unter einem von bem’ Regenten ober fonft rechtsbefländig
ertheilten Moratorium befindlichen nicht auf gleicher Linie, weil durch
bie Ertheilung eines folhen Anftandsbriefes die an fich fälltge Forbes
rung nicht in eine betagte verwandelt wird 5); mit einer ſolchen kann
daher der Gläubiger unbedenklich compenfiren. II. Auch gegen jede
Korderung fann man fid) im Allgemeinen auf Compenfation berufen,
einerlei auf welchem Rechtögrunde fi fie beruht, ob auf einem eigentlichen
Vertrage oder auf einem Derbrechen [deliotum 6). Namentlich ift
es auch für die Trage der Zuläffigkeit der Compenfation gleichgültig,
ob die Forderung, worauf compenfirt werben foll, aus demſelben
Geſchaͤfte entfprungen ift, wie biejenige, womit man cempenficen
will 7). Selbſt gegen dingliche Klagen ift die Gompenfation zu:
Läffig 9), Infofeen nur ber Fall an fich geeignet Hi, Compenfation zu:
zulafien. Sind mehrere Forderungen auf Seite des Gläubiger vor⸗
handen, dann kann der Schuldner bei dem Berufen auf Compenfation
erklären, auf welche berfelben er feine Gegenforberung abgerechnet has
ben till, wiewohl Andere dem Gläubiger das Wahlrecht geben wol⸗
len 9). Zufolge befonberer gefeglihen Beftimmungen kann man fi
gegen folgende Forderungen nicht auf Compenfation berufen. 1) Ges
gen bie Klage aus einem Depofitum, felbft dann nicht, wenn man
nothwendige Verwendungen auf die deponirte Sache gemacht hat!°).
2) Der ınalae fidei possessor, d. h. derjenige, der eine Sache gewalt⸗
ſam oder widerrechtlicher Weiſe, mit dem Bewußtſein davon, in Befis
genommen hat, kann fih, auf die Herausgabe derfelben belangt, auf
teinerlet Art von Gegenforberungen berufen !). Enbdlih fo man
® ) Etian quod natura debetur, venit in compensationem, Fr. 6. D.
comp.
4) Fr. 7. pr. D. J I.
5) Fr. 16.5. 1. D. lI. l. — Reufedtel und Zimmern römifch= recht:
liche Unterſuchungen. Bd. 1. Rro. 1
vn 2.8. fr. Det De M7T.D dent rer amd.
7) Paull. rec. sent. Lib. I. Ti. V. 8. 2.
8) C. Vlt. C. de comp. (IV. 31).
9) 4. 8. Pufenderf Obs. jur. univers, T. H. Obs, 175.
10) c. 11. C. depositi (1V. 34).
11) c. ult. & 2. C. de comp. vergl. mit fr. 31. $. 1. D. de hered.
per. (V. 8).
Gompenfation (im Givilr.). 557
3) nad) der Praris, geftüist auf c. 8. C. de oomp., nit auf Alimen«
tenforderungen compenfiren koͤnnen. III. Der Gegenftand der Korbes
rung und Gegenforderung muß generifch gleicher Art fein, weil Niemand
verpflichtet ift, an der Stelle beffen, was er zu fordern hat, etwas Ans
deres anzunehmen. Zwiſchen Forderungen, die auf beftimmte Gegen«
ftände (species, wie 3. B. wenn die eine auf ein genau bezeichnetee
Pferb gerichtet ift) oder auf Gegenſtaͤnde verfchlebener genera gehen,
findet geſetzlich keine Conıpenfation flat. Am gemöhnlichften findet die
Gompenfation unter Forderungen auf fungible Dinge, befonders auf
Seid, ftatt, weil diefe regelmäßig nur ihren Gattungsmerkfmalen nadı in.
Berracht kommen. IV. Die Forberungen, zwifchen denen‘ Compenſa⸗
tion ftattfinden foll, muͤſſen gegenfeitige fein, d. h. nur ber
Schuldner kann fidy gegen feinen Gläubiger auf eine ihm gegen "diefen
zuftchende Forderung berufen. Was ein- Anderer als der Schuldner
zu fordern hat, Bann diefer ebenfo wenig zur Compenfation bringen,
als dasjenige, was er an einen Anderen als gegen feinen Öläubiger
zu fordern hat 12). Daher kann auch der Stellvertreter nicht mit eis
ner eigenen Forderung auf eine Schuld bes Principals und umgekehrt
mit einer Forderung ded Lepteren auf feine eigene Schuld compeniis
ten 3?). So feft audy der Grunbfag fteht, daß nur ber Schuldner mit
einer ihm zuftehenden Forderung gegen feine Gläubiger compenfiren
fann, fo leidet er doch mehrfache Modificationen und Ausnahmen.
As ſolche kann man aber nicht anfehen, wann ber Erbe fich auf eine
Forderung des Erblafferd oder der Geffionar ſich auf die ihm cedirte
Forderung berufen kann; denn in beiden Faͤllen iſt es keine fremde
Forderung, auf die man fich beruft. Vermoͤge ber römifchen Anſicht
über die zrwifchen Vater und dem in feinee Gewalt befindlichen Hauss
fohne ftattfindendem Perfoneneinheit muß fich der Vater, wenn er eine
zu einem peoulium profectitiumm gehörige Forderung einklagt, bie Auf⸗
rechnung der mit Ruͤckſicht auf dieſes Peculium von feinem Sohne ein-
gegangenen Echulden gefallen lafien, und ann der Sohn, wenn er
wegen einer mit Nüdfiht auf das genannte Peculium contrahirten
Echuld belangt wird, mit Forderungen feines Vaters compenfisen 1%).
Außer dem Schuldner ſelbſt Eönnen ſich dritte Perfonen nur dann auf
die Jenem zufiehenden Gegenfordberungen berufen, wenn der Schuldner
daran, daß fie diefes können, ein rechtliches Intereſſe hat, indem auch
ihm fonft die Gegenforderung unnüg werben würde 1). Daher kann
ſich der Bürge auf die Gegenfordberung bed Hauptſchuldners gegen: den
klagenden Gläubiger ?6) und ebenfo der eine Correalfchulbner ſich auf
die Gegenforderung bes andern Correalſchuldners berufen, wenn beide
12) Fr. 18. $. 1. D. de comp. c. 9. C. eod.
13) Fr. 23, D. de comp.
14) Das Genauere darüber im Fr. 9. D. de comp.
15) Fr. 21. 8. 6. Fr. 23. D. de pactis (II. 14).
16) Fr. 4. D. de comp.
556 -Gompenfation (im Gioilr.).
socii find 1). Denn wäre dies nicht, fo müßte der Schuldner, dem
die Gegenfordberung zufteht, den zahlenden Bürgen oder Correalfchufds
ner entfchädigen, und es würde ihm mithin die Gegenforberung felbft
unnüg werden.” Wie jeder Echuldner ſich auf Gompenfation berufen
kann, fo muß fi, folhe auch jeder Gläubiger gefallen laffen, ſowohl
der urfprüngliche, als deſſen Rechtönachfolger, wie der Erbe und Cefs
fionar. Gegen Lesteren kann man nicht blos mit einer eigenen Schuld,
fondern auch mit einer folhen bes Gedenten compenfiren, vorausgefekt,
daß fie fhon vor der Benadrichtigung von der Gefflon an den debitor
cessus fällig geworden ift, denn in diefem Falle mußte ſich der Cedent
felbft die Abrechnung gefallen laſſen, weßhalb fi auch fein Ceſſionar,
dem er nicht mehr Recht übertragen kann, als er felbft hatte, deſſen
nicht weigern kann 16). Manche Perfonen find ausnahmsmeife dahin
privilenirt, daß gegen fie eine Berufung auf Compenfation nicht ftatt:
haft tft: dahin gehört der Fiscus megen feiner Forderungen von
Steuern und Abgaben 1%), wegen der Korberung des Kaufpreifes einer
von ihm veräußerten Sache 20), megen eines von ihm gegebenen ver
zinslihen Darlehns 21) und in mehreren ‚andern Fällen, welche Privi:
legien anderen Perfonen nicht zugeftanden werden können. V. Geil
die Eriftenz einer Gegenforderung berüdfichtiget werden, fo muß fid
ber Schuldner allerdings darauf berufen; ex oflicio (Amtöwegen) wird
barauf bei Gericht Leine Rüdfiht genommen, wiewohl dies von dlte
ren Suriften, aber aus einem offenbaren Mifverftändniffe einzelner
Aeußerungen der Gefege, behauptet worden iſt. Allein nicht erft von
dem Momente der Berufung auf bie Gegenforberung berechnen ſich
die Wirkungen, die der compensatio beigelegt find, fondern ſchon von
da an, mo die beiderfeitigen Forderungen, als compenfable, einander
gegenüberftanden 2°). Won da an wird die Korderung in ber Att
durch Gegenforberung, bis zu dem gleichen Betrage, ald aufgehoben
betrachtet, daß feine Zinfen mehr laufen, und der Schuldner, wenn er
irrthuͤmlich zahlte, das Gezahlte mit der conmdictio indebiti zurüdfor:
dern kann 22). Die bloße Eriftenz einer Gegenforberung hebt dagegen
die Forderung Feineswegs mit gleihen Wirkungen, wie fie der Zahlung
beitommen, auf; die Wirkungen der Zahlung kann man nur
der bereits wirklich durchgeſetzten Gompenfation beilegen **).
VI. Die Einrede der Compenfation muß in dem Proceffe, damit fie
17) Fr. 10. D. de duob. reis (XLYV. 1.).
18) Vergl. Muͤhlen bruch, Gefiton ber Forderungsrechte. (Pte Kufl.) ©.
568 ff. u. befonders Grande im Archiv für bie efoitif. Prax. Bd. XVI. Mr.
19) Fr. 46. 6. 5. D. de jure fisci (XLIX. 14).
20) c. 7. C. de conp.
21) c. 3. C. eod.
22) c. 4. C. de comp.
23) Fr. 10. 8.1. D. h.t. — Fr. 30. D. de cond. indeb. (XII. 6).
24) Fr. 4. D. qui potior. in pign. (XX. 4).
Gompenfation (im Civilr.). 559
als folhe berudfichtige werden kann, zur rechten Zeit, alfo mit ber
Litis- Gonteftation, vorgefhügt und factiſch genau begründet erben.
In dem eigenthuͤmlichen Wefen der Compenfation liegt es jebody, daß
man fi) auf Gegenforderungen, aud) post rem judicatam, wenn fie
liquid find, berufen kann, um damit die rechtskraͤftig zuerkannte Forde⸗
- rung zu zahlen 25); nur tritt in diefem Kalle wegen bes in der Mitte
liegenden Urtheils die ruͤckwirkende Kraft der Compenfation nicht ein.
Befonders wichtig ift die Stage: ob bie Einrede der Compenfation for
gleich Liquid (bewieſen) fein muß, bamit fie in dem Proceffe berüdfichtigt
werben koͤnne 26) 3: Läßt die von dem Kläger gewählte Proceßart, wie
der Executivproceß, Überhaupt nur liquide Einreden zu, fo tft auch bie
Einrede der Compenfation fogleich liquid zu flellen. Sieht man in allen
andern Fällen (im ordentlichen Proceß) auf die Natur der Sache und
auf dad, was die aequitas an die Hand gibt, fo muß man unterfcheiden
1) Gegenforberungen, die aus bemfelben Geſchaͤfte (eadem causa) oder
aus einem ſolchen Verhältniffe entfpringen, das von Anfang an auf Ab⸗
rechnung gerichtet mar, wie dies namentlich) bei Kaufleuten, bie in laus
fender Rechnung mit einander ftehen, vorkommt, werben auch, ohne liquid
zu fein, berüdfidtigt. 2) Liegt aber ein ſolches Verhaͤltniß nicht vor,
dann muß die Einrede ber Compenfation, wenn bie geklagte Korberung,
fei es durd) Urkunden oder das Geſtaͤndniß des Beklagten, liquid ift, auf
der Stelle liquid fein oder wenigftens leicht Liquid gemacht werben koͤn⸗
nen; denn es wäre hoͤchſt unbillig, wenn bie Realifirung bes Haren Ans .
fpruches des Kiägers von dem Beweiſe einer vielleicht. fehr weit ausſehen⸗
den, ganz fremdartigen, mit ber eingeflagten Forderung in Feiner Vers
bindung ftehenden Gegenforderung abhängen follte. Diefe Anficht wirb
aud) beſtaͤtigt durch c. ult.C. decomp.; denn, wenn hier Ju ftinign am
Ende des Gefeges auch auf den Fall befonders eingeht, wo bie Einrede der
Compenfation befonders ſpaͤt vorgefchüßt worden war, fo fchreibt er doch
im Anfange feines Gefeges die Nothmwendigkeit der Liquidität allgemein
und unbedingt vor 27). VIL Wichtig ift auch noch die Stage: welche
Mirkungen ein über die Einrebe der Compenfation ergangenes Urtheil
hat? Einfach ift die Sache dann, wenn der Kläger in Folge der vorges
(hüsten Einrede abgetviefen wurde; weder Forderung noch Gegenforberung
koͤnnen in dieſem Falle noch weiter geltend gemacht werben. Iſt dages
gen der Beklagte mit feiner Gegenforderung abgemiefen unb zur Zah⸗
lung verurtheilt worden, fo unterſcheide man: 1) die Gegenforberung
wurde nur wie angebracht ober als illiquid abgewiefn. Bier kann bie
Begenforderung nicht nur auf jede andere Weiſe (durch Klage, Eintete)
£5) c.2. C. de comp.
26) ©. über dieſe neuerbinge Ieobaft verfonete Brag: Saf fe, im Ars
dio für civil. Prar. Bd. III. Nr. 9. 145 — Betbmann«Bolls
weg im Rheinifchen —* fuͤr Jurißprubeng B. J S. 2357 — 285.
27) Einen Hanptbeweiß gegen bie hier vorgetragene Anficht entnimmt man
aus Fr. 46. $. 4. D. de jure Asci durch ein argumentum a contrario.
560 Gompenfation (im Griminalr.).
geltend gemacht 28), fondern e8 kann auch das, was man zahlen mußte,
mit einer Conbdictio von dem Kläger zurüdgefocdert werden. Das
rechtskraͤftige Urtheil ſteht in dieſem Falle der Ruͤckforderungsklage nicht
entgegen, weil es ſich gar nicht über den Rechtsbeſtand ber geklagten For
derung, fondern nur das ausfpricht, daß vorläufig, abgefehen von ber
aus formellen Gründen nicht zu berüdfichtigenden Gegenforderung , ges
zahlt werden muͤſſe. 2) Die Gegenforderung wird abgewiefen, weil der
dem Beklagten obliegende Beweis nicht erbracht wurde; jeder. Werfuch,
die Gegenforberung durch eine Klage von Neuem geltend zu machen,
würde durch die Einrede der rechtskräftig entfchiedenen Sache zuruͤckzu⸗
weifen fein 2%). — Die neucfte Schrift über bie ganze Lehre von ber
Compenſation ift: Die Lehre von der Compenfation. Von Dr. Auguft
Otto Krug, Nechtsconfulenten und Privatdocenten in Leipzig. Leipzig .
1833. 8. 276. Seiten. \
| Gompenfation (im Criminalrecht). Begehen zwei Perfonen
daffelbe Verbrechen gegen einander, fo wird an ſich Feines berfelben weni:
ger ftrafbar, und bie auf die Verbrechen gefegten Öffentlichen Strafen
koͤnnen nicht unvollzogen bleiben, wenn auch die aus der verbrecherifchen
Handlung entfpringenden Privat: Entfhädigungsanfprüde ſich aufheben.
Die öffentiiche Strafe iſt nicht dem verlegten Privaten verfallen, ſondern
ift ein Recht des Staates, das diefer im Intereſſe der öffentlichen Sicher:
- heit ausübt, und dies Intereſſe wird im Falle der von mehreten Perfos
nen gegen einander begangenen Verbrechen ebenfo verlegt, wie in jedem ans
beren. Daher kann auch bie auf die Injurie gefeßte öffentliche Strafe
durch die Einrede der Gompenfation nidyt aufgehoben unb nur infofern
gemildert werden, als in ber zugefügten Injurie eine beſondere Anrei⸗
‚zung zur Ehrenkraͤnkung gefunden werden kann (Grolman, Grund
fäße der Criminalrechtswiſſenſchaft F. 229). Dagegen kann ber Ans
ſpruch auf eine Privatftrafe wegen Injurien duch die Compenfation,
d. h. durch die Behauptung, daß man von dem Kläger gleichfalls injus
riirt worden fei, aufgehoben werden ; Einige, wie Zittmann, Dands
buch (2te Aufl.) $. 362. des zweiten Bandes, Krug, Compenfation
©. 148. wollen dies bei jeder Art von Privatgenugthuung (Ehrenerklaͤ⸗
rung, Abbitte 2c.) gelten laffen, vorausgefegt, daß ſowohl die Injurie
felbft, al8 die Privatgenugthuung von gleicher Art feien, während Ans
dere, wie Seuerbad, Ausg. von Mittermaier, 6. 296.a, die Coms
penfation nur bei pecuniären Strafen wirken laffen, wovon dad Ges
nauere aber pafjender unter dem Artikel Injurie abgehandelt wird.
Im Uebrigen läßt fi nur fo viel zugeben: da, wo Erfag eines erlittes
nen Schadens ald Milderungsgrund einer Strafe von den Gefegen ans
erkannt wird, kann auch der Umftand in Betracht kommen, daß der bes
ſchaͤdigte Theil durch Compenfation gededt ift (Quiftorp, Grundfäge
28) Fr. 7. $. 1. D. de comp. — Fr. 8. D. de negot. gest. III. 5.
29) S. big in ber vorhergehenden Note angeführten Stellen.
Competen, 561
des peinl. Rechtes, $. 105. — Kleinſchrod, ſyſtemat. Entwickelung
des Criminalrechts Thl. II. $. 92.) D.
Competenz, vom lateiniſchen competentia, vompetere, hat
mehrfache juriſtiſche Bedeutungen, welchen ſaͤmmtlich die gemeinſchaft⸗
liche Idee zum Grunde liegt, daß einer Perſon ober einer ſtaatsrechtli⸗
chen Anſtalt die Ausuͤbung gewiſſer beſonderer Rechte oder Functionen
als ſolcher zuſtehe. Häufig koͤnnen bie Ausdruͤcke Alompetenz und
Geſchaͤftsbereich, wenn von Behoͤrden die Rede iſt, fuͤr identiſch gelten.
Einer beſondern Erwaͤhnung bedarf hierbei die Bedeutung von:
I. Competenz im Criminalproceß. By einer gültigen Bes
handlung ber einzelnen Criminalrechtöfälle gehört naͤmlich nicht nur, daß
das Gericht, welches ſich mit einem beitimmten Zalle befcyäftigt, Crimis
nalgerichtsbarkeit überhaupt habe, fondern auch, daß es insbefonbere für
den ihm vorliegenden beftimmten Fall bas zuftändige Gericht, com»
petent fe. Nur wenn ber beflimmte Angefchuldigte in dem beſtimm⸗
ten vorliegenden Falle rechtlih verbunden iſt, vor biefem beflimmten
Gericht Recht zu nehmen, hat das Gericht in biefem Falle und über
diefe Perfon Competenz; während das Verfahren nidyt competenter
Gerichte im Criminalproceß unheilbar nichtig if. — Es gibt nun im
Criminalproceß manderlei Gründe der Competenz eines Gerichts; und
hierauf beruht die Lehre vom Gerichtsftande überhaupt. Im gemeis
nen deutſchen Criminalrecht gibt es fogenannte ordentliche (regelmaͤ⸗
fige) und außerordentliche Gerichtsſtaͤnde. Den regelmäßigen Gerichtes
ftand theilt man wieder in den gemeinen und in ben privilegirs
ten ein. Gemeine Gerichtöftände find:
a) Der des begangenen Verbrechens. Ein Criminalgericht, in befs
fen Bezirk ein Verbrehen beendigt (ober, wenn ein bloßer Verfuch
vorliegt, nur verſucht worden) ift, iſt Hierdurch (menn nicht fpecielle Aus⸗
nahmen gefeglicy vorliegen) gemeinrechtlid, ald Griminalgericht erfter In⸗
ſtanz für den einzelnen Fall competent.
b) Der Gerichtöftand bes Wohnorts des Verbrechers.
co) Der Gerichtsſtand des Ergreifend. Außer dem gemeinen Ges
richtsſtande gibt es nad) gemeinem beutfchen Criminalrecht einen privis
legirten, welcher bald für beflimmte Gattungen von Verbres .
den (caussae privilegiatae), 3. B. geiftlihe und Militair: Verbrechen,
bald für beftimmte Glaffen von Perfonen (personae privilegiatae)
beſtoht. Zu den legtern gehörten zur Zeit des deutfchen Reichsverbandes
die Reichsftände, ſodann gemeinrechtlich noch Geiſtliche (bis nach erfolg:
ter Amtsentſetzung) u. ſ. w.
Deutſche Particulargeſetzgebungen haben dieſe privilegieten Gerichts⸗
ſtaͤnde großentheils aufgehoben.
Ein außerordentlicher Gerichtsſtand kann in beſondern Faͤllen,
z. B. bei der Ungewißheit oder Vacanz des Criminalgerichts erſter In⸗
ſtanz, gemeinrechtlich in der Art eintreten, daß das naͤchſte Obergericht
competent wird. —
Sind mehrere Criminalgeridhte competent, fo entfcheibet die foges
Staats » Leriton,. III. 86
562 ‚ Kompetenz.
nannte Prävention für Unterfuhung und Behandlung bes Falled durch
dasjenige Gericht, welches die erfte gültige Verfügung erläßt.
Eine nähere Erörterung biefer Lehren des gemeinen Rechts gehört
nicht hierher. — In vielen neuern Particulargefeggebungen iſt die Frage,
weiches Gericht competent fei, genau entfchieden, und zwar häufig nad
der größern ober geringen Bedeutung oder Strafbarkeit des Vergehens.
H. Sm Eivilproceß verfteht man unter Competenz eines
Gerichts ebenfalls deſſen Eigenfchaft, daß es in einem beflimmten con.
creten Ball ohne Grenzüberfchreitung feine Gerichtsbarkeit ausüben dürfe.
Weil aber im Civilproceß gemeinrechtlich felbft die wefentlichiten Rechte der
Dispofitionsbefugniß der Parteien unterliegen, begründet die Handlung
eines incompetenten Gerichts ganz andere Folgen, als im Criminalprocef.
Mer vor einem incompetenten Gericht beklagt wird, kann zwar die Klage
mit der Einrede des unrichtig gewählten Gerichteftandes zuruͤckweiſen,
allein wenn ſich beide Parteien die Verhandlung des incompetenten wenn
nur ordentlihen Gerichts als gültig gefallen laffen — fo tritt hier:
durd) ein willkuͤrlich gewählter Gerichteftand ein, welcher durch fogenannte
Prorogation competent wird.
Auch im Civilproceß theilt man übrigens die Gerichtsftände in rer
gelmäßige oder ordentliche und in außerordentlihe Jene
find auch hier wieder entweder gemeine oder privilegirte. Zu den
gemeinen Gerichtäftinden gehört gemeinrechtlich:
a) derjenige des Wohnorts (bed Beklagten) ;
b) berjenige der belegenen Sache bei dinglidien oder gegen
den Beſitzer als folchen gerichteten perfönlichen Klagen und bei Rechts⸗
mitteln auf Erlangung des Befiges ;
ec) der Gerichtöftand wegen perfönlicher Verbinblichkeiten, wie bes
Contracts und der geführten Verwaltung und des begangenen Der
brechen®.
d) Endlid) gehört Hierher noch der fogenannte befondere, durch eine
Procefbandlung erft begründete Gerichtäftand der materiellen Conneris
tät, der formellen Gonnerität durch Anftellung einer nicht materiell cons
neren Wiederklage, und oft durch Arreftanlegung.
Die privilegirten Gerichtöftände find auch tm Givilproceg theils
durch die Perfon des Beklagten oder der Intereſſenten, theild durch die
befondere Befchaffenbeit der Sachen bedingt. Befreite Perfonen find
gemeinrechtlic die Mitglieder der ehemals reichsſtaͤndiſchen Samilien,
Stantsdiener, Hofdiener, Adel, Militair, Geifkliche, atademifche Bürger. —
In neueren deutfhen Particular-Geſetzgebungen ift der privilegirte
Gerichtsftand der fogenannten fchriftfäffigen Perfonen das Mittel
gericht bes Mohnortes; der privilegirte Gerichtöftand der Mitglieder ber
Samilie des Regenten, der fogenannten Standesherren (in perfönlichen
Sachen) und der hoͤchſten Staatsbeamten dagegen ift meift das oberfte
Gericht des Landes felbft.
Diejenigen Sachen, welche gemeinrechtlich an befondere Gerichte:
höfe gewleſen find, find geiftlihe und Lehen Sachen. Der privis
Competenz. 563
legirte Gerichtsſtand der geiſtlichen Sachen ME durch die Particular⸗
Geſebaebungen haͤufig verſchwunden.
Dagegen find oft für gewiſſe Zweige, insbeſondere auch der freitwillis
gen Gerichtsbarkeit, beſondere Behoͤrden angeordnet.
Den bisher erwaͤhnten ordentlichen oder regelmaͤßigen Gerichtsſtaͤn⸗
ben fest die Doctrin die ſogenannten außerordentlichen entgegen.
Die Faͤlle, in welchen eine ſolche Außerordentliche Competenz, und
zwar des naͤchſten Mittelgerichts oder des naͤchſten gemeinſchaftlichen
Obergerichts, begruͤndet iſt, ſind gemeinrechtlich theils aus der Abſicht, die
Rechtẽpflege zu erleichtern, theils aus einer Unanwendbarkeit der vorhan⸗
denen erſten Inſtanz hervorgegangen. Unter den erſten Geſichtspunkt fal⸗
len die Vorzugsrechte fogenannter mitleidwuͤrdiger Perſonen, ferner die An⸗
ordnung, daß der Klaͤger mehrere wahre Streitgenoſſen, welche keinen ge⸗
meinſchaftlichen Richter erſter Inſtanz haben, bei dem naͤchſten Oberge⸗
richte ihrer Aller belangen darf. Ein außerordentlicher Gerichtsſtand we⸗
gen Unanwendbarkeit der vorhandenen erſten Inſtanz tritt z. B. ein,
wenn das Gericht erſter Inſtanz vacant oder ungewiß iſt oder mit Recht
perhorreſcirt wird.
Eine weitere Eroͤrterung dieſer Gegenſtaͤnde wůͤrde hier nicht an
ihrem Orte ſein.
III. Competenz der Adminiſtrativb ebd rden des Staats iſt
deren Befugniß, ihre Geſchaͤftsthaͤigkeit in einem einzelnen Sal aue⸗
zuüben.
Ein Competenzconflict tritt biernach ein, wenn von mehreren
. Behörden jede behauptet, ein concreter Fall gehöre ausſchließlich für fie.
Diefer Streit iſt befonderd alsdann intereffant, wenn er zmifchen
einer Adminiſtrativbehoͤrde und einem Gerichte uͤber die Frage, ob der
concrete Fall eine Juſtiz- oder Adminiſtrativſache ſei, erhoben wird.
Fuͤr Auseinanderfegung gewiſſer vorher in Gemeinſchaft benutzt ge⸗
weſener Objecte, Allmendtheilungen Markberechtigungen u. dgl. iſt in
einzelnen deutſchen Staaten bie Competenz beſonderer Behoͤrden geſchaf—⸗
fen, welche weder als Gerichte, noch als Adminiſtrativbehoͤrden betrathtet
werden, deren Functionen aber folgerecht nur dem Richter zuſtehen koͤnnen.
IV. Sm Civilrecht verſteht man unter beneficium competen-
tiae oder der Rechtswohlthat der Gompetenz ober bed nöthigen Abzugs
die Befugniß mancher Schuldner, ihren Gläubigern gegenüber foviel
vom Shrigen surüdbehalten zu dürfen, ale fie zum flandesmägigen Le:
bensunterhalt für fih und ihre Familie noͤthig haben. Die roͤmiſchen
Juriſten pflegten alsbann zu ſagen, ein ſolcher Schuldner koͤnne nur in
id condemnari, quod facere possit. Dieſe Rechtswohlthat kann man
- In wet Arten abtheilen, in, Competenz aus eignem Recht (ex jure
proprio) und in folhe wegen fremder Befugniß (ex jure tertil).
Aus eigenem Recht genießt der Schuldner. diefe Verguͤnſtigung meiftens
einer befondern perfsglichen Stellung zu feinem Gläubiger wegen. „Aus
diefem Gefichtepunfte laſſen fich biejenigen Bere des gemeinen
564 Competenzʒ. Comploft.
en Rechts betrachten, wodurch das Recht bed nöthigen Abzugs
ertbeilt i
a) den Eltern, wenn file Schuldner Ihrer Kinder find 5
b) dem Schwiegervater gegen den Schwiegerfohn, während ber
Dauer der Ehe bes Letztern;
c) dem Schenker, der aus ber Schenkung belangt wird;
d) dem Ehemanne (feinem Vater und feinen Kindern), wenn auf
Ruͤckgabe der dos geffagt wird; j
e) Gefhmiftern, Ehegatten, Gefellfehaftern in Betreff aus ber Ges
ſellſchaft herruͤhrender Schulden gegenfeitig.
Unter allgemeinere Grundfäge fällt es, wenn das römifche Recht
das Beneficium coınpetentiae noch weiter ertheilt
a) Jedem, ber es ſich vertragsmweife ausbedungen hatz
b) dem In der väterlihen Gewalt befindlichen Hausfohn, wenn er
wegen bes militairifhen Sonderguts belangt wird;
0) Jedem, der früher feinen Gläubigern fein gefammtes Vermögen
(unter beftimmten Vorausfegungen) freiwillig abtrat;
d) den Soldaten.
Die den legten zuftehende Rechtswohlthat ber Competenz gehört in⸗
deß bereits in die Gattung der Compeientia ex jure tertii. Es kann
naͤmlich ber Fall eintreten, dag ein Dritter zur Sicherung eigner Be:
fugniffe rechtliches Sntereffe daran habe, daß einem Schuldner ein flan-
desmäßiger Unterhalt bleibe. So ift es in vielen Faͤllen dem Staate
feloft von großer Bedeutung, daß diejenigen, durch deren gehörige und
genügende Dienftleiftungen er befteht, nicht an biefen Dienftverrichtuns
gen duch bie Strenge von Glaͤubigern gehindert werden. Aus diefem
Grunde hat man ſchon gemeinredhtlicd den Staatsdienern ex jure terlü
(naͤmlich wegen der Anſpruͤche des Staats felbft) den nöthigen Unterhalt
vor den Eingriffen ihrer Gläubiger gefichert. Neuere Particular = Gefeks
gebungen haben eine Rata (3. B. ein Fünftel) des Gehalts der Staats:
diener als denjenigen Theil bezeichnet, welcher allein durch Arreſt⸗ und
Smmiffionsgefuche der Gläubiger angreiflich fet.
Analog werden diefe Grundfäge auf Hofdiener und beren Gehalt
angewendet.
Auch fürftlihen Perfonen und Mitgliedern ftandesherrlicher Fami⸗
lien wird, wenn fie in Schuldenmwefen gerathen, ein gewiſſer, oft der größte
heil ihres Einkommens, namentlich ihres Deputats ober ihrer Apa⸗
nage, unter dem Titel einer Competenz vor den Anſpruͤchen ihrer Glaͤu⸗
biger bewahrt.
Diefe aus ben Wirren reichsſtaͤndiſcher Debitangelegenheiten in bie
neueren Zeiten verpflanzte Einrichtung füllt natürlich unter ſehr verfchies
benartige Gefihtspunkte, und beruht ohne Zweifel auf der Idee, daß ber
Ruhm eines erlauchten Haufes mehr durch den äußern Glanz eines übers
fhuldeten Mitgliedes, als durch Aufopferungen zu Gunſten der Glaͤubi⸗
ger befoͤrdert werde. D.
Complott, ſ. Verſchwoͤrung.
Compofitionen » Snflem. 365
Compofitionen » Syftem (älteres Strafrecht ber
Voͤlker, vorzüglich: altdbeutfhes), Naturftand, Seibft:
huͤlfe und Fehderecht, Freiftätte und Löfegeld (oder
Buße, Wette, Compofitio, Emendatio, Wergelt) und
Fredum (oder Brüche), Sefammtbärgfhaft und Zalion.
Einleitung. Die bier genannten Verhältniffe, welche in ges
nauer Verbindung unter ſich flehen, verdienen bie Betrachtung des
Staatsmannes. Freilih knuͤpfen ſich zunaͤchſt nur an einige derfels
ben unmittelbar praktiſche Fragen. Jene Verhaͤltniſſe in ihrem Zu⸗
fammenhange aber veranſchaulichen beſonders lebhaft fuͤr's Erſte bie
Verſchiedenheit der rechtlichen und politiſchen Beduͤrf⸗
niſſe in den verſchiedenen Bildungszuſtaͤnden der Voͤl⸗
ker. Das, was uns jetzt, nachdem es durch die Einrichtungen un⸗
ſerer heutigen Cultur erſetzt iſt, vielleicht ſogar als abſolut verwerflich
erſcheint, war doch natuͤrlich, wirkte doch wohlthaͤtig ganze Jahrhun⸗
derte hindurch. Sodann zeigt uns die Betrachtung jener Erſchei⸗
nungen eine bewundernswerthe Uebereinſtimmung fo,
vieler geſellſchaftlicher Einrichtungen der verſchieden⸗
ſten Voͤlker der Erde, eine Uebereinſtimmung, die ſich großentheils
ſchon durch die Gemeinſchaftlichkeit de Menſchennatur und der
Bildungsſtufe der Voͤlker und nur zum Theil durch hiſtoriſche Mit⸗
theilung unter denſelben erklaͤrt. Es ſtellen ferner jene Verhaͤltniſſe
in ihrer Verbindung ein ganzes Syſtem von Rechtseinrich—
tungen dar, welches nicht von der bewußten Thaͤtigkeit, von
der freien Reflexion und Pruͤfung einer hoͤheren Staatsgewalt, von
ihrer Geſetzgebung und Vollziehung begründet und erhalten. wurde.
Vielmehr erbaute ſich dieſes Syſtem in einem wenigſtens theilmweifen
Naturſtande auf den natuͤrlichen menſchlichen Beduͤrf⸗
niſſen und Inſtineten, Gefühlen und Sitten, und durch ben
ſtarken menſchlichen Trieb nach Folgerichtigkeit. Es zeigt endlich die
- tiefere Erfaffung jener Einrihtungen, wie aus ihren noch rohen
Anfängen und Geftaltungen immer reiner bie vernünf;
tigen, die natärlihen Rechtsideen hervortreten, welche
durch die gefunden Grundtriebe der Menfhennatur aud
ihnen ſchon eingepflanzt find. Bilder ja doch auch im Leben
des Einzelnen eine und biefelbe See höherer Menfchlichkeit, wel⸗
che freilich noch ſchwaͤcher und verhüflter fchon in dem noch finnliches
ten Kindesalter lebt, auch in ber Meife bes männlichen Alters bad
Grundweſen. Alles biefes aber ift wohl wichtig genug ſchon als heil
ber Philofopbie der Gefchichte der Menfchheit, ſowie auch zum Vers
ftändnig ber alten Volkspoeſie und Wolkögefchichte, worin jene Ders
bältniffe, fo 3. B. die Blutrache, eine.große Rolle fpielen. Es ift
insbefondere aber hoͤchſt wichtig für die Gefeggebung und für die rich⸗
tige Behandlung folcher natärlihen Einrichtungen und ihrer Ueber
bleibfel. Es ift wichtig für eine richtige Auffaffung des Zufammen-
hangs ber Entwidtung des ganzen Gtrafrechts und zur Befeltigung
566 Gompofitionen » Syflem.
der vielen untichtigen und ſchiefen Uttheile, welche aud) darüber eben
fo, wie über jedes einzelne der hier erwähnten Verhaͤltniſſe überall
fid) vernehmen laſſen.
Was aber könnte nun wohl in ber That unfere heutigen Bes
griffe von Sittlichleit, Wernünftigkeit und Givilifation in dem geſell⸗
ſchaftlichen Verhaͤltniß mehr verlegen, ald Selbſthuͤlfe und Rache
der Einzelnen, ja als die durch die Sitte der Blutrache und ber
Privatfehde begründete Nöthigung der Samilienglieder, der Stammes;
oder Volks = Genoffen zur hoͤchſt gefahrvollen Ausübung derfelben ?
Nur etwa die Austilgung von Verbrehen und Strafen durch das
zufällige Erreichen eines Aſyls, oder ihr Abkaufen buch Loͤſegeld,
nur die ‚Annahme einer Geldfumme für die Ermordung meiner Ele
tern und Kinder, für die Verlegung meines Leibed und meiner Ehre,
und eine Sefammtverbürgung endli für jene Nahe und für
diefes Köfegeld — nur fie vielleicht möchten unfer heutiged Gefühl
nod) tiefer verlegen. Und dennoch ift der Beweis nicht: ſchwer, baf
alle diefe Einrihtungen — gleichſam von Gott"und der. Natur felbif
erfchaffen — wirklich nicht blos einfimals eben fo heilfam, als natürs
lid) waren, fondern daß fie auch, obgleich freilich nod in ſehr unvoll⸗
fommener Korm, das Rechte enthielten und ihm bienten. |
1. Der Naturftand und feine natürlihen Strafvers
hältniffe an fih betrachtet. Diele beflteitn mit Recht mans
che einfeitige Theorie vom Naturſtande; aber fie merden ihrerſeits
ungefchichtlih, wenn fie allen Naturzufland leugnen und überall den
Etaat für den Menfhen als uranfaͤnglich darftelien wollen. Man
darf den Staat nicht mit jeder andern menſchlichen Verbindung vers
wecfeln. Und man darf, wenn man den Staat, eben um ihn uͤberall
zu finden, ungründlid) ſchon mit der einzelnen Familie verwechfeln
wollte, nicht vergeffen, daß alfermeift verſchiedene einzelne Familien
nebeneinander und im wechfelfeitigen DBerfchre gefunden wurden, und
daß, wenn nun biefe verfhiedenen Familien nody nicht eine gemein:
ſchaftliche hoͤchſte Gewalt anerkennen, zwifhen ihnen aud) noch kein
Staat, fondern ein Naturftand beiteht. Abſolut wefentlid für den
Begriff des Staats iſt es ſtets, daß fich verfchiedene zufammeniebende
Familien in Beziehung auf ihr inneres und- Außeres Gefellfchaftsver-
hältniß einer-gemeinfchaftlichen hoͤchſten (oder fonverainen gefeggebenden,
vollziehenden und richtenden) Gemalt unterwerfen; |
1) Selbſthuͤlfe und Nothwehr, Fehde und Kriegsrecht.
Wenn und ſoweit nun eine ſolche Staatsverbindung oder der genuͤ⸗
gende, durchgreifende Rechtsſchutz durch ihre wahre ſouveraine Zwange⸗
und Strafgewalt noch fehlen,'wenn und ſoweit fie mithin. den Na:
turſtand wenigſtens noch nicht ganz befeitigen, alddann und infofern
bildet fehon die rohe Selbſthuͤlfe und. Rache. der Bedrohten und
Verlegten und der flarke natürliche Trieb für biefeiben, welchen Gott
in aller Menſchen Bruſt gelegt hat, den erften, unentbehrlihen. Schus
für der Menſchen Reben und Gefundheit, für ihre perfönliche Freiheit
Sompofitionen : Syftem. 567
und ihr Beſitzthum. Ste find zugleich bie wefentliche Grundbedingung
für böhere Entwidelung der gefelligen Verhaͤltniſſe. In Allen auf
gleiche Weiſe regt fich der Zorn gegen den feindlichen Angreifer, und
diefes hält ihnen ſaͤmmtlich das alsbald durch die Erfahrung unterftügte
Vorgefuͤhl lebendig, daß auch ihre eigenen Angriffe gegen Andere dens
felben Zorn und feine fehügende und raͤchende Gegenwehr auf ſich ſelbſt
ziehen würden. So wird aud bie nachfolgende Rache des einzel-
nen Verletzten mittelbar zu einem für die Zukunft und für Alle
vorbeugenden Schug, zu einem Schug gegen Nachahmung des verderds
lichen Beifpiels. Sie wird zu einem gleihfam gefeglichen Schuß ges
gen die böfe Leidenfhaft erhoben. „Jedes Leben, auch das bunfelfte
— fo ſagt 5. H. Jacobi — fordert feine Erhaltung mit einem
„Nachdruck, der fein Recht ift.” In ber bezeichneten Lage aber und
bis fie geändert ift, find Selbfthülfe, insbefondere auch Selbſtrache
- oder mit andern Worten das Fehderecht im Verhaͤltniß der Einzel
nen, und das Kriegsredht im Verhaͤltniß der Wälder bag allgemeine, nas
türlihe und auch von ber Vernunft genehmigte Recht der Menſchen
und ihrer Gefellfhaft. Sie find ihe Rechtsſchutz gegen rechtswidrige
Bernihtung. Der Rachetrleb ift Selbfterhaltungstrieb ; er treibt bei
blos finnlichem Leben zundähft zur Austilgung bes Schmerzes durch)
den finnlihen Rachegenuß, bei höherem Leben zur Herflellung der Per-
fönlichkeit und Ehre, des Gefuͤhls ihrer unverleglichen Heiligkeit und
Achtung. Diefes erkennt fogar unfere heutige Gefgsgebung nocd an.
Im Bölkerverhältniß flets und im Verhaͤltniß der Einzelnen. uͤberall da,
wo entfchieden eine höhere Staattgewalt entweder gar nicht, oder doch
anerkannt nicht fo vollfiändig fhügen kann, da erkennen unfere Gefege
die dem Bedrohten oder Verletzten zum Schug ſeines Rechts nothwen⸗
dig fcheinende Selbſthülfe im weiteren Sinne als rechtlich
erlaubt an. Sie laſſen bier zugleid das Necht bes eignen Ge;
richts mit der eignen Hülfe fo wie im gänzlichen Naturſtande
zu. Sie erlauben alfo ftet und unbedingt die mir nöthig ſchei—⸗
nende Abwehr oder Nothwehr zur Vertheidigung gegen
jeden Angriff auf meine und meines Nebenmenſchen Perfönlichteit,
perfönlihe Freiheit und Befisverhältniffe. Sie geftntten auch die
Selbſthühfe im engern Sinne ober bie Selbfihülfe zur Her-
ftellung bereits verlegten Rechts aladann, wenn alle grichtliche- Rechts⸗
huͤlfe unmöglich ift. Und fie überlaffen hierbei mit hoher Achtung der
Wuͤrde der perfönlichen Freiheit, der juriftifchen. Folgerichtigkeit und det
bezeichneten allgemeinen Rechtsgrenze alle etwaigen Milderungen und
Beſchraͤnkungen in Ausübung diefer Rechte durch die moralifchen Ruͤck⸗
fihten aufopfernder Nachgiebigkeit, Duldung und: Verzeihung ediglich
dem Gewiffen ber Bedrohten und Verletzten *). .. Pelbitradig, eine -
1) S. Thibaut, Panbelten $. 60 und 61, und Grolman, Cri—
minalrecht $. 139. 140. 844, und Feuer bach, peinliches Recht 5. 37
—
\
568 Gompofitionen = Syftem.
ähnliche 3. B. wie ber neuliche Rachekrieg Frankreichd gegen Abdel⸗
Kader und Maskara, ift von ber erlaubten Selbfthülfe, wo fie,
fowie ftets im Voͤlkerverhaͤltniß, flattfindet, auch noch jegt nicht
ausgefchloffen, infomweit fie nur dem vernünftigen Zweck rechtlicher Ges
nugthuung und Schügung entfpricht. Denn unter der bewußten
Vernunftherrfhaft gilt fpäter das zuerfi durch dunkle
Zriebe oder Gefühle Erzeugte nur infomweit, als es fid
duch klar nahmeisbare, vernünftige Rehtsgrünbe bes
gründen läßt. In dem Maaße aber, wie die, wenn audy vielleicht
dem Namen nad) vorhandene, flaatsrechtlihe Schug- und Straf: Ges
walt in der That wirkungslos ober unvollkommen ift, fowie früher in
Corſica und Sardinien, oder ſowie in Beziehung auf manche jegt
geroöhnlich durch Duelle getilgte Ehrverlegungen, in demſelben Maafe
wird auch aller Kampf gegen die natürlichen Antriebe zur Selbſthuͤlfe
und Blutrache vergeblidy werden, und es werben biefelben fehr begreifs
lich auch oft wieder mehr durch dunkle Gefühle, als durch die Hare Wer
nunft geleitet werden.
2) Die Blutrache. Der Einzelne aber iſt in dem Naturflandes
verhältnig zu ſchwach, um fi allein durch Selbfthülfe ſchuͤtzen zu Ein
nen. Er kann vollends bie hoͤchſte Mißachtung feines Rechts, feine
Ermordung, nicht felbft rächen. Bebürfniffe gemeinfchaftlicher Verthei⸗
digung und die Gefühle der Pierät und Anhaͤnglichkeit, welche die
Verlegung eines Angehörigen als eine eigene Verlegung empfinden lafs
fen, machen die Fehde wegen derfelben zu einer gemeinſchaftlichen
ftufenweife für die Samilien, fir die Stammes und die Volksgenoſſen⸗
ſchaft. Diejenige Rache aber, welche bei einer Zödtung die Angehörigen
des Getoͤdteten, und zwar gewöhnlich zunächft die näheren Verwandten
und Erben, je nad) dem Grade ber Nähe oder je nach der größeren
oder geringeren Einheit und Gemeinfchaft des Blutes ausüben, ift bie
Blutrahe. Sn der Negel wird fie an dem Verbrecher felbft ausge
übt, in bee Fehde jedoch fehr natürlih oft auch an ben Eeinigen.
Und es gibt Völker, wo bie einzelnen Stimme ſich fhon im Allge⸗
meinen fo fehr als ein gemeinfhaftliches Ganze betrachten, daß, fo wie
bei den Beduinen, fait gewoͤhnlich nicht gegen ben Verleger, fonbern
gegen einen der Ausgezeichnetften feines Stammes bie Blutrache von
dem andern Stamme ausgeübt wird.
Mehr oder minder ausgebildet, edler oder unebler aufgefüßt und
buchhgeführt finden wir bie Sitte der Privatfehde und Blutrache
bei alfen uncivilifirtten Völkern. Wir finden fie bei den kaukaſiſchen,
malapifhen, mongolifchen, ameritanifhen und dthiopifhen Voͤlkern,
bei den Arabern, Perfern und Hebrdern, bei den Griechen, Mömern
und Germanen, bei ben Celten und Slaven ?).
—.
und vie daſelbſt citirten Geſetze; oben Artikel Garolina 6 unb unten
Nothwehr.
2) ©. Belege in Meiners Geſchichte der Menſchheit. ©. 188 fg.
und In der Allgem. Encyklop. unter Blutrache; südfühtlich der Se:
Gompofitionen » Syftem. 569
Von den edelſten Stämmen ber nordamerlkaniſchen Indianer be⸗
richtet nach vieljaͤhrigem Aufenthalt unter ihnen Hunter nicht blos
die Sitte der Blutrache, ſondern daß auch uͤberhaupt die Streitigkeiten
ber Einzelnen ohne Gericht abgemacht wurden. „Nur Weiber” — fo
fagen fie — „vermwideln ſich in Streitigkeiten mit Worten, ohne fi)
„wieder aus denfelben herausfinden zu koͤnnen.“ Von unferen deutſchen
Vorfahren wird uns bekanntlich ebenfalls berichtet, daß fie es haften,
fo, wie die Römer, ihre Streitigkeiten durch eine richterlihe Gewalt
entfcheiben zu laffen, vielmehr ſich rühmten, daß fie duch Waffen bie
feiben abmadıten ?). Zwar erkannten die alten Germanen mehr und
mehr für das Grundeigenthum, welches urfprünglic völlig gemein
[haftlich, dann ald Grundlage mwechfelfeitiger Gefammtverbürgung an
bie Genofjen vertheilt war, und für die damit zufammenhängenden
Vermögensrechte die ausgleichenden Entfcheidungen und die durch bie
gemeinfchaftlic, gebliebenen Rechte begründeten Beſtimmungen ber Voll»
gemeinde als gültig an. Aber ihre Perfonen betradteten fie ſelbſt
in der fränkifchen Monarchie noch nicht als einer fouverainen Gewalt
unterroorfen. Sie kannten alfo fein höheres Strafrecht einer ſolchen
und behaupteten nicht blos, wie man gewoͤhnlich ſich ausdrüdkt, bei als
len größeren Verbrechen, fondern bei allen perfäönlihen Der
legungen und den VBerlegungen ber Sachen, foweit fie, fo wie 3. B.
Raub und Brand, perſoͤnlich verlegend wurden, das Recht der Selbſt⸗
hülfe und Privatfehde, welche Kehde alsdann der ganzen Familie ge:
meinfchaftlih wurde *). Selbft die Volksverſammlung hatte außer
ihrem eignen Kriegsrecht wegen unmittelbarer Feindſeligkeiten gegen
das Volk °) nur eine Friedensvermittlung und auch diefe nur alsdann,
wenn fie der Verlegte dazu auffordert. Wenn nun in diefem Falle
aud) der vorgeladene Veleidiger nicht die Privatfehde vorziehen mollte ©),
fo hatte fie die VBerföhnung zu bewirken. Der Proceß aber zu diefer
Vermittlung und Verſoͤhnung war nicht fowohl, fo wie ber heutige
Etrafproceß, ein Verfahren, um dem Wichter die wirkliche Wahrheit
zu bemeifen und eine gerechte, Öffentlihe Strafe auszufprechen und zu
vollziehen, als vielmehr ein forgfältig georbneter und befchrändter rechts
srder, ber Griechen und Rqoͤmer Insbefondere in @. TH. Welder Tepte
Sründe. ©. 300. 377. 542; ruͤckſichtlich aller germaniſchen Bölker in Srimme
Rechtsalterthuͤmern S. 625 fg. 647 fg. ruͤckſichtlich der Ruffen bei
Ewers, aͤlteſtes Recht ber Ruffen ©. 50.3 rüdfihtlich ber amerikani⸗
ſchen Völker bei Hunter, Denkwuͤrdigkeiten II, ©.1 fa.
3) Vellejus Paterc. 2, 118. Florus 4, 2. Cassiodor. 9, 14, Vos ar-
mis jura defendite, Romanos sinite legum pace defendere.
4) Tacitus 12, 21. Suscipere tam inimicitins, quam amicitias sen pa-
tris seu propinqui necesse est. Beweile in Cichhorns Staats» und
Rechts⸗Geſch. $. 18. 76. S. au L. Rotharis 76.
6) Tacitus 12.
6) Lex Saxon. 2, 6.
570 Gompofittonen » Syſtem.
licher Privatkrieg und Vergleich, welches zwiſchen den flreitenden Pars
teien und ihren Genoffen durch Mitſchwoͤren ber letztern als Eid⸗
helfer (consacraıneutales, conjuratores), duch Duelle oder Got⸗
tesurtheile vor ber vermittelnden Vollsgenoffenfchaft geführt und
zu Stande gebracht murde 7).
Wie unentbehrlich aber nun auch In den früheren Zuftänden ber
Voͤlker Selbfthülfe und Blutrache fein mochten, fo mußte doch ſelbſt
bei der edelften Auffaffung derſelben fchon ihre Eriegerifhe Aus⸗
führung duch die leidenfchaftliche beleidigte Partei, ohne Gericht und
ohne gefegliche Schranken, taufendfach verderblic werden. Sie mußten
zu Verlegungen der Unfchuldigen, zu rohen und graufamen Därten, zus
weilen fo, wie noch heute bei den Gircaffiern und manden ame
titanifhen Stämmen, ja zum Theil noh in Sardinien und Gors -
ea, zu ſtets neuen Erwiederungen und zu Berftörungskriegen , zur
usrottung ganzer Kamitien, Gefchlechter und Stämme führen. In
ben finnlihen Zuftänden ber Periode der Kindheit aber
wurde freilich auch bie Mache meift noch keineswegs fehr edel, ſondern
noch finnlih genug und als finnlihe Genugthuung für das ver
legte finnliche Gefühl aufgefaßt. Hierhin gehören zum Theil feldft
noch folhe Auffaffungen, wie die der Alten: „Dem Verletzten ift des
„Schmerzes Linderung feines Keindes Schmerz ;“ 3) oder: „Süß und
„angenehm iſt dem verwunbeten Herzen die heilende Rache” 9), ober
foihe, wie ber Rechtsſat der alten Frieſen: „Mord kuͤhlt man mit
Mord” 10), Und eine widerwaͤttige Seite dieſer Privatfehden, wenig⸗
ſtens bei orientaliſchen Voͤlkern, z. B. bei den Arabern, iſt es, daß
die Leidenſchaft und der Gedanke bed Kriegs jede Art von Kriegslifl,
Verrath und Treubruch entfchuldigen, ja zum Gegenftand felbit poe⸗
tifher Verherrlihung mahen. Wenn nun aud nit zu orientalifchen
Grauſamkeiten, fo führte doch auch bei den Deutfchen damals, als fie,
nad) Zerftörung ihrer altgermanifhen Religion und Cuttur, durch die
zuerst noch rohe Aufnahme ber chriftlihen und römifchen Eulturelemente
wiederum mehr als früher in Sinnlichkeit zuruͤckfielen und in bie er
fie Periode unferes heutigen Culturlebens traten *!), die Ausuͤbung
bes Privatfehderechts zu rohem, deſpotiſchem Fauſtrecht.
u II. Die VBeredlung und Milberung ber Strafver:
bältniffe des Naturftandes durch die theofratifchsrelis
giöfe Einwirkung und durd die Anfänge vernunftredt:
liher Ordnung. 1) Die veredelte Auffaffung derfelben.
Bei den fich’ civilificenden Völkern veredein und mildern ſich bald die
6 N Bet Rogge, das beutfhe Gerihtsverfahren & 1 fe.
. 8239.
8) Laeso Holuris remedium inimici dolor. Publ. Syr. 340.
9), Simonides und Plutarch Aratus p- 1048.
10) Afegabud von Wiarba 21.
11) Welder, Salem S 40.
Compofitionen = Syflem. 571
Auffaſſung fowie die Ausübung ber Selbſthülfe. Sie verebeln
und mildern ſich zuerft in dem Heranteifen zum Jünglingsalter
durch den theofratifchsreligisfen und priefterlichen Einfluß.
Sr wird, ftatt dee Herrſchaft des bloßen Naturtriebs, allmälig der
wohlchätige Pfleger und Schuͤtzer humanerer Verhältniffe, bis bei Ans
näherung bed Mannesalters die Völker immermehr zu rein geiitis
ger Auffeffung und bewußter felbftfiändiger vernunftrechtlicher
Geftaltung ihrer. gefellfchaftlihen Einrichtungen heranreifen.
Vorzüglich einzelne hervorragende Männer, ein Mofes, ein
Homer, wiſſen durd ihre Einwirkungen die Anfchauungen, bie Ges
fühle und. Sitten ihres Volks zu veredein, das Sinnlihe den höheren
Ideen unterzuordnen. Go erhebt nad) der Mofaifchen Darftellung Gott
fdon in feinem erften Bunde mit dem Menfhengefhlcht nach ber
Sündfluch die Blutrache zur ausdrüdlihen Anerkennung und Verbuͤr⸗
gung der Heiligkeit und Wuͤrde des Menfhenlebens und
zur heiligen Pflicht gegen die Gottheit ſelhſt. „Denn ich will“ — fo
lauten die Worte (1 Mof. 9, 5.) — „ich will eures Leibes Blut rö-
„Ken an allen Zhieren und an jeglihem Menfchen, feinem Bruber.
„Wer von ihnen Menfhenbiut vergeußt, deß Blut fol wieder vergof-
„fen werden; denn Gott bat ben Menfhen nah feinem
Bilde gefhaffen.” So hatten auch nach griechiſchen Vorſtellun⸗
gen die Götter die Blutrache der Angehörigen geheiligt, und das bels
phifhe Orakel wachte über deren Vollziehung 19). Ueberalf tritt zu: -
gleich jegt neben die Selbfthälfe und Blutrache, als ihr Vorbild und
als ihre Ergänzung, die theokratiſche Strafe mit ihren Ideen einer
Verföhnung des Volks oder der Verbrecher mit der durch das Unrecht
beleidigten Gottheit. Diefe Verföhnung ober die Austilgung bed Un-
rechts und der Befledung wird jegt bewirkt entweder durch eine
Rache, melhe bie im Sinnlichen verlorenen Menfhen erſchuͤttert,
ihnen die Macht des von ihnen vergeffenen und gefränkten Gottes
wieder fühlbar macht, feine Ehre, die Achtung gegen ihn und feine
Gebote wiederherſtellt oder auch flatt der Rache durd Opfer,
veuige Bußen, Entfündigungen und Reinigungen 1°).
Auch bei den Römern wurden fogar, nachdem früher Numa dem
Strafrecht jenen theokratifchen Charakter gegeben und verföhnende
Opfer, Bußen und Reinigungen eingeführt hatte, felbft noch in den
zwölf Tafeln größere Verbrecher ber bejtimmten, bucd ihre Ver:
brechen beleidigten Gottheit als Opfer "geweiht (sacer estod) und Die
Vollziehung dieſes Opfers ben Verletzten und dem Volk preisgegeben 18),
12) Euripides Oreſt. 497 fg. oo
13) S über diefen Tharakter der theotratifchen Strafen bei den Hebraͤ⸗
ern, Perfern, Griechen und Römern Welder a. aD. ©. 284.
Br 371. 536. Diefelben Grundzüge finden fih im in di ſchen Geſetzbuch bes
enu.
14) Welder, legte Grünte ©. 573. S. au unten Rote 8. Teces
572 Compoſitionen⸗Syſtem.
Solchergeſtalt, ja ſchon als eine mit eigener Gefahr und Aufopferung
ausgeuͤbte Pietaͤtspflicht und durch die Idee, die dem Ermordeten und
den Seinlgen widerfahrene Schmach abzuwaſchen, erhielt nun zunaͤchſt
die Blutrache einen hoͤheren Charakter. Nach griechiſcher Vorſtellung,
nad) Homer, nad welchem ſchon ebenſo, wie in ber ſpaͤteren Solo⸗
niſchen Geſetzgebung, neben der Religion uͤberall die Ehre und die
Achtung der Wuͤrde des freien Mannes als Hauptbeweggrund edleren
Handelns hervortritt 4°), ja noch nah Ariſtoteles „erniedrigt bie
„Erduldung ungerochenen Unrechts zum rechtlofen Sklaven“ 16). „Es
„läßt fih” — wie Kallilles im Gorgias des Platon fagt —
„Fein Edler Unrecht thun; Solches duldet nur der Sklave.” Die von
ben Angehörigen mit eigner Gefahr vollzogene blutige Rache des Er⸗
mordeten aber thut e8 zur Herftellung feiner Ehre Allen und, daß die
erlittene Mißhandlung als Unrecht anerkammt wird. So wie bas
Opfer die erzürnten Götter, fo verföhnt die Blutrache bie Ermorbeten.
„Micht zu verachten If” — mie noch Platon zur Rechtfertigung ber
von ihm felbft beibehaltenen Blutrache ſagt — „nicht zu verachten iſt
„der alte Mythos, daß ein gewaltfam Ermordeter, welcher als Freier
„Mann lebte, dem Mörder nady feinem Tode, wenn er ihn ruhig
„unter ben Seinen fieht (menn alfo die Ermordung nicht ale unrecht
„anerkannt wird), gewaltig zuͤrne; daß aber, wenn feine Verwandten
„ihn nicht rächen, fein Zorn und gleihfam die Schuld auf fie fallen“ 7).
Die Blutrache dagegen tilgt die Schmach des frevelhaft vergoffenen
Blutes, welches „nad Rache fhreit”, ja welches nad) den Vokksvor⸗
fiellungen, namentlih nad) arabifhen und hebräifchen, ben Boden
entweibt, worauf es floß, fo daß Fein Thau und kein Regen ihn mehr
tränfen 18). Noch in ber Unterwelt Eagt Agamemnon und mit
ihm fein großer, nun ausgeföhnter Gegner Achillens über fein traus
riges Schickſal, dag die Schmach feined Mordes noch ungerochen ift 1°).
Lebhafter aber, als wir ed uns jest oft vorftellen, find in jenen Zeis
ten, in den Zeiten Homers ober ber Niebelungen, alle diefe
Gefühle der Menfchen. Kann doch ber erfte Held der Zlias bitter
lih weinen über die Ehrenkraͤnkung durch Verlegung feines Rechte 20),
und eine ganze Zahl edler Zrojaner müfjen zur Ehre des Andenkens
ſeines Patroklos als Rache- und Sühn= Opfer fallen 21). Sehr
Eratifhe Gewalt der Priefter bei ben Germanen f. Tacttus 7, 10.
Sheotratifche Rache : Opfer bei ben Galliern Caͤſar VI, 16.
15) 3. B. Ilias 1, 374. 16, 53. Welder a. a. ©. ©. 379 u. 483.
16) Aristoteles Ethic. V, 5.
17) Platon de legib. IX, p. 866. -
18) Sefenius Comment. zu Jeſaias 16, 20,
19) Odyffee 24, 30. 11, 456.
20) Stias 1, 347. 16, 53.
21) Ilias 18, 33. 21, 23. 175;
Gompafitionen: Eyftem. 573
begreiflih begründet auf Tolche Weife bie Ausübung der Pietaͤts- und
Ehren Pflicht der Blutrache den hoͤchſten Ruhm. Er bildet den Haupt:
ftoff begeifterter Gefänge bei den Arabern. Auch ‚bei ben Gricchen
fpriht zu Zelemahos Athene:
„— — böreit bu nicht, wie erhabener Ruhm ben edlen Oreftes
preift {n ber Menfchen Geſchlecht, feitdem cr dem Mörder Aegifthos
Diefelben Borfelungen finden fich überall auch bei ben Germanen,
namentlih auch in den Niebelungen. Aud bei den Germanen
„reinigt die Mache die ermordeten Genoffen” oder „das vergoffene Blut’
und „Blut tilge Blut, Mord den Mord,” und die Blutrache fors
dert von dem Mörder die Ermordeten zurüd, vindicirt
fie ober ihre Ehre 22%), meshalb fchon bei den Hebräern ber
Blutraͤcher der Zurücforderer, Vindicant (Goel) genannt murbe 23),
und auch bei den Griechen und Römern Herftellen des Nechts und
rächen (Exdıxeiv, vindicare) Ein Wort if. Auch bei den Germas
nen, wie bei den Griechen, werden Eltern, die keine Söhne haben,
bedauert, weil ihnen die Blutrache zur Herftellung ihrer Achtung und
Ehre weniger gefichert iſt 24). Suchen ja doch auch noch Heute hei
ung, felbft bei geringeren Injurien, bei welchen nicht etwa von Amts
wegen die aud) dem Verletzten genugthuende Öffentliche Strafe vollzos
gen wird, die Beleidigten oft mit großer Leidenfchaft ihre Ehrenhers
ftellung darin, dag für ihre Schmad, dem Beleidiger wieder Schmad)
zu Xheil merde.
2) Milberung in ber Ausübung A) Fretftätten.
"Die zuerft duch theokratifche religloͤſe Anflckten, fobann durch freiheite
liches Rechts = und Ehrgefuͤhl bewirkte edlere Auffaſſung von Selbſt⸗
huͤlfe und Blutrache fuͤhrte nun auch zu großen Milderungen und
Beſchraͤnkungen in ihrer Ausuͤbung.
Die erſte wohlthaͤtige Milderung war die, daß der durch Selbſt⸗
huͤlfe und Blutrache Verfolgte bei dem Herde und den Hausgoͤttern
wohlthaͤtiger Gaſtfreunde 25) und im Heiligthum der Volkegottheit
eine Zuflucht, eine Fretftätte ober ein Aſyl fand. Und faft
ebenfo allgemein als die Blutrache finden wir bei den Völkern, felbit
bei den uncivilificten, folhe Sreiftätten 26). Die naͤchſte wohlthaͤ⸗
2 Stellen bi Grimm Rechtsalterth. ©. 64. ©. auch unten
* Michaelis, Moſ. Recht z. 15 und Allgem. Encyklop. unter
Blutrache.
24) Odyſſee 3, 196. Jlias 9, 607. 18, 335 und Grimm in Ga»
vignys Zeitſchr. 1, 327.
25) S. z. B. Berobot 1, 35 und 41. Ilias 23, 85.
26) Beweiſe bei Meiners, a. a. DO. ©. 189; rüdfichtlih dee Griechen
insbefondere bei Potter, Yrdaoı. I, 4803 ruͤckſichtlich ber Römer, von
welchen fie Meiners irrig leugnet bei Welder a. 0. O. ©, 539; ruͤckſicht⸗
Tote 3
574 Gompofitionen » Syftem.
tige Wirkung der Aſyle war fhon der Schuß ber vielleicht ganz un-
fhuldigen oder menigftens nidyt bösmilligen Verfolgten gegen bie erfte
blinde Leidenfchaft der Verletzten. So war e8 namentlidh ber Fall
bei den ſechs Freiftätten, weiche Mofes, weil das alte Aſyl bes Na-
tionaleigentHums nicht für Alle erreihbar war, in ſechs befondern
Prieiterftädten in den verfchiedenen Gegenden bed Landes gründete.
Sie hatten zugleich, ähnlich wie die chriftlichen und beutfchen Afple,
vorzüglich die an beſtimmte Städte verliehenen, bie Aufgabe, nach Ber
fund der Sache dem Verletzten Genugthuung zu verfhaffen, und zwar
nad Mofes buch Auslieferung dee abfihtlihen Mörder an bie
Bluträcher. Der ganz Schuldlofe aber war nun gefhüst, und der
unabjichtliche, namentlich auch der culpofe Zodtfchhläger mußte, um
vor ber Blutrache ficher zu werden, bis zum Tode des Hohenprieflerd
in ber Freiſtadt verweilen und eine Art von Verbannung ertragen,
melde zugleicd feine Strafe war 27). Aehnlichen Schutz gemährte in
Griechenland und Rom die Eitte, für die unabſichtlichen Todtſchlaͤger,
wenn fie im ausländifchen Afpl ein Jahr lang verweilt hatten und von
der Blutſchuld endfündigt worden waren 2°). Ueberall aber und ine
bejondere auch bei den Germanen, fuchten die Priefter die fchuldigen
Verfolgten burdy religiöfe Bußen mit Gott zu verföhnen und dann
audy mildernd oder verfohnend der Ausübung der menſchlichen Race
entgegenzutreten 29). Standen ja doch die um Hülfe Sichenden und
Reuigen überall unter dem Echuge der Gottheit !
B. Löfegeld. Compofition. Durch folhe Bemühungen
und buch das Vorbild der theofratifchen Ausföhnung ber Gottheit
durch reuige Bußen und Opfer, und durch die Milderung der Natie⸗
nalgefühle bildete fid) eine fernere große Milderung aud ber Selbſt—⸗
hülfe, nämlicdy die Zahlung von Privatbußen oder von Loͤſegeld
an die zur Fehde Berechtigten. „Laffen fi) ja doch” — fo fügt ein
Homeriſcher Held — „felbft die Götter, die doch viel erhabener an
„Herrlichkeit find, als die Menſchen, durch die reuigen Bitten, die Tuch»
„ter des allmächtigen Zeus, durch anmuthige Gaben und Opfer bis
„ſaͤnftigen; wie viel mehr ziemt folche Barmherzigkeit den Menfchen,
lich der Araber bei Michaelis, Mof. Recht II, ©. 315; ruͤckſichtlich der
Deutſchen und ber Kriftlihen Völker f. Art. Aſyl. L. Bajur. 1, 7.
27) 2 Moſ. 21, 13. 4 Mof. 35, 9. 5 Mof. 9, 1Fund 19, 1 Joſ.
20,1. 1 K&önigel, 50 und 2, und Michaelis, Mof. Recht $. 274.
28) ©. Note 25. Deinosthen. in Aristoer. p. 736 unb die Erklaͤrer zu
Yollur 7. 10. 118. Festus s. voc. Februarius. Ovid. Fast. 2, 25.
29) ©. 2. B. Gregor. Turon, VII, 47; L. Bajuv I, 7. Marculf
Form, IT, 18. Roſenwinge bän. Rechtsg. $. 4. In Albanien,
Bosnien, Illyrien wirb noch heutzutage bie Ausübung ber Blutrache durd)
— ausföpnende Vermittelung der Priefter abgewenbet. Vergl. übrigens obın
y
Eompofitionen » Syſtem. 575.
„wenn Neue und Abbitte heilend ber Schuld folgen” 3%). Selbſt
der Form nad) erinnerte Anfangs das Löfegeld an Opfer, ba es übers
alt in Vieh beitand 31), welches häufig den Göttern geopfert wurde,
und aud) das ältefle Geld mar fo, daß das legtere im Lateiniſchen
(pecunia) und im Altdeutſchen (Fe) den Namen von dem Worte
Vieh hatte 22). Diefen Charakter des Loͤſegelds als eines zur genug.
thuenden Anerkennung des Unrechts und zu feiner Sühne dargebrach⸗
ten Opfers felbft in der Form hatte e8 namentlich au), wenn in
Nom nah Numa’s Gefep der culpofe Todtſchlaͤger in feierlicher
Verſammlung die Verwandten durch Darbrineung eines Widders ver
föhnen mußte, während der doloſe Zodtfchläger in ben Eöniglichen -
und in den XII Zafelgefegen der Blutrache preisgegeben blieb 2°).
Bei ben Germanen opferte man früher auch wohl ein Kind oder aud)
ein Thier ganz von edlem Metall zum Xöfegeld, oder man bedte bie
ganze Leiche, alfo gewiffermaßen das ganze Unrecht, mit edlem Metall,
bei Befchüdigungen von Zhieren auch das ganze Thier mit edlen Fruͤch⸗
- ten völlig zu. Auch fuchte man noch fpät durch die Zahlung bes Loͤſe⸗
gelds in edlem Metall zu ehren >). Gabe und Annahme des verſoͤhnen⸗
ben Loͤſegelds aber war mit einem feierlichen, gewoͤhnlich eidlihen Fries
densſchluß begleitet. Dazu (oder um fie ad päcis concordiem zu
revociren) waren befonbere Formeln vorhanden 3). Und im Abſchwoͤ⸗
ven der Ur= oder Aus-Fehde blieb dieſe Sitte bis in fpäte Zeiten.-
Noch nah der Carolina müffen bie entlaffenen Verbrecher, z. B.
der beitrafte Dieb, „zur Erhaltung bed gemeinen Frleds ewige Urs
„fehde thun“ 26). Solche Loͤſegelder, ja Gaben, Geſchenke überhaupt,
z. B. auch Gaſtgeſchenke, ehrten in-frühen Zeiten, fo wie die Götter,
fo die Menſchen 27). Kurz, in jeder Weiſe waren ſolche Sühngaben,
welche unter Zuflimmung der vermittelnden Volksgenoſſen gegeben und
angenommen wurden, und welche thatfächlich die reuige, die bemüthis
gende Erklärung bes Verletzers, daß feine Verlegung ein jest auf ihn
—
30) Jlias 9, 496. Vergl. auch Ilias ‚15, 203. „Du haft mir ges
buͤßt, indem du dich ſchuldig bekennſt.“ Herobot 1, 45 |
31) Luitur etiam homicidium certo armentorum et pecorum numero, re
cipitque satisfactionem universa domus, Tacitus 21. und 1%
32) Grimm in Savigny's Beitfhr. I. ©. 325. ü
33) Servius zu Virgils Eclog. 4, 43. in Weldera. a. O. ©.
543. Die Beſtimmung von jedem bolofen Todtſchlaͤger paricida esto,
welche ihn als Mörder eines Gleichen der Talion ober ber Blutrache preisgab,
hat nicht den abgefhhmadten Einn, ihn für einen Batermörder zu erklären, für
den ja gar kein Strafgefeg eriftirte. Wie bei ben Römern überall Compoſitio⸗
nen und Strafen als Privatgenugthuungen aus der Privatradye hervorgingen,
darüber f. Gellius 11, 18. und 20, 1.
34) Grimm, a. a. D. I. 39. Sadhfenfpieg. 3, 45.
85) L. Rotharis 149. Marculf II, 18. Append. 51. Grimm, RNechts⸗
alterthümer ©. 39. und 53. | Br
86) Sarolina, Art. 108. 147. 157. 164.
37) Ilias 1, 118. 9, 297. 600. Tacitus 21.
°
576 Compoſitionen⸗ Syſtem.
ſelbſt zuruͤckfallendes Unrecht ſei, bekraͤftigten und ſelbſt enthielten, ſehr
wohl geeignet, die Schmach dieſer Verletzung genugthuend auszutilgen
und den geſtoͤrten rechtlichen Friedenszuſtand wiederherzuſtellen, ſicherer
und beſſer jedenfalls, als der unſichere Ausgang der Fehde. Weit
entfernt alſo, daß ſo edlen Gefuͤhlen, wie die der Homeriſchen Helden
und die unſerer tuͤchtigſten deutſchen Vorfahren waren, der gemeine
Gedanke natuͤrlich geweſen waͤre, ihr und der Ihrigen Leben und Ehre
ſeien ihnen als gemeine Waare fuͤr einen Marktpreis feil, ſo hatte
vielmehr die Verſoͤhnung durch Privatbußen die Goͤtter und ihre Ver⸗
ehrung zum Vorbild. Freilich auch die Blutrache und ſelbſt ja auch
unfere heutigen Strafen, namentlich unſere Injurienſtrafen, vollends
ſolche, welche ſo, wie die ehrbaren Roͤmer, ſo auch bis jetzt ſtets
die ſtolzen Briten, welche ſelbſt deren großer Felbher Wellington
in einer Geldſumme einzuklagen, keinen Anſtand nahmen, konnten von
Einzelnen auf eine gemeine und niedrige Weiſe angeſehen und erſtrebt
werden. So auch ſicher die Loͤſegelder. Aber das iſt nicht der Sinn
und das Weſen des Inſtituts. Die moraliſche Strafe und
Abbuͤßung, welche nach allgemeinem Volksgefuͤhl mit irgend einem
großen oder geringen ſinnlichen Strafuͤbel ſich verbindet, nicht aber
dieſes ſinnliche Uebel ſelbſt, iſt das Weſentliche und Wirkende bei der
Beſtrafung. Mit allem dem ſoll indeß nicht geleugnet werden, daß
die Menſchen, noch naͤher der Periode der Kindheit und Sinnlichkeit,
daß die edelſten Menſchen des Homer und der Niebelungen und
des Snorri Sturluſon und der letztere ſelbſt noch ſinnlicher wa⸗
ren, und mehr an ſinnlichen Guͤtern und Gaben ſich erfreuten, als
die edlen Menſchen in einer geiſtigeren Zeit. |
Die Sitte des Löfegelds nun finden mir bei unciviliſirten und
civilifirten Nationen ebenfo allgemein, als Blutrache und Aſyl °®).
Selbſt die allgemeinften Namen der Strafe (non, anoıvya, zıumela,
run, tioıg, poena) und der Sprachgebraud in Beziehung auf bie
Strafe, namentlicy das griechifche und römifche „Strafe fordern,
zurüdfordern, nehmen” ftatt: firafen, und das „Strafe zahs
len oder geben” flatt: geftraft werben, bezeichnet eine Verſoͤhnung,
eine Wiederherflellung des rechtlichen Friedens durch Zah:
len und Annehmen ber Genugthuung, des Loͤſegelds. Im We
fentlichen denfelben Grundgedanken und menigftens ſtets nur eine Aufe
hebung ber bereits vorhandenen Störung des Friedensver⸗
hältniffes bezeihnen auch Ausbrüde, wie 5. B. büßen, Buße,
d. h. mörtlich wieder gut oder beffer machen, und Befferung, ober
wie firafen, d. 5. woͤrtlich wieber gerade (oder flraff) machen, wähs
end die noch übrigen, wie 3. B. Zxösxeiv, vindioare, dxöixnorg, vin-
38) Beweife bei Meiners a. a. DO. ©. 1905 ruͤckſichtlich ber Römer
bei wtlder a. a. O. ©. 540; ruͤckſichtlich der Ruſſeen bi Ewers a. a. O.
1 ⸗
[4
.
Compoſitionen⸗ Syſtem 577
dicta, eine Wiederherſtellung buch Rache begeihnen 29). Bei
den Deutfchen hieß das Verbrechen felbft ein Hohn, eine Schmach,
ein Schaden (wie noxa), Schuld, Unfriede, Frevel 49%). Die
Strafe, das Loͤſegeld wird bezeichnet duch Buße, Sühne,
compositio, satisfactio, emendatio, Gialt ober Gelt, d. h. Entgelt,
Genugthuung, auh Widrigelt, d. h. Wiedergenugthuung,
als Genugthuung für Todtfchlag aber gewoͤhnlich: Wergelt, oder auch
Leudgeit, d. h. wörtlih die Genugthuung für den Mann #1)
Wollte man die erfte Sylbe In Wergelt nicht mit Grimm von Ver,
vir, der Mann, fondern von Wehre ableiten, fo hieße e8 bie vers
bürgte, die gewährte Genugthuung, dhnlih wie Wette, was elgents
lich dee Bund, der Vertrag heißt, ebenfalls aber zumeilen bie Privats
buße bezeichnet, gewöhnlicher jedoch, ebenfo wie Fredum (db. h. Frie⸗
ben), oder auch Brüche und Bann die Benennung ber Öffents
fihen Genugthuung iſt, melche fpäter noch neben der Privatbuße für
den Bruch und die Miederherftellung des Friedens an bie Volksge⸗
meinde oder ihren Vorftand gezahlt werben mußte 2).
C. Die Geſammtbuͤrgſchaft und der gerihtlich ges
orbnete Kampf und Vergleih. Die Familien, die Stammes»
und Gemeinde: Genoffen waren zugleich ober ftufenmweife mit von ber
Privatfehde betroffen. Ste waren betheiligt bet dem Frieden. Sie
und insbefondere die Volksgemeinde hatten alfo auch das Recht, auf
die oben (I, 2) befchriebene Weife Kampf und Vergleich gerichtlich zu
ordnen und die Verföhnung zu vermitteln. Und mern biefelbe zu
Stande kam, fo verbürgten fie ben erneuerten Frieden und die Buße,
welche bei Verlegung ſolchen Vertrags doppelt gesahlt werben mußte *8).
Das Vermögen ber Verwandten aber, welche ja auch bas Erbrecht
gegen ben Verwandten und Theil an feiner Buße hatten, haftete für
bad von ihm zu zahlende Löfegeld 25). Im dußerften Falle aber und
wenigſtens alsdann, wenn für bie in dem Gemeindediſtrict begangene
Verlegung der Thäter nicht entdeckt wurde, haftete als Geſammt⸗
buͤrgſchaft ſelbſt die Gemeinde, fo mie fie ja auch einen Theil ber
Buße erhielt und gewiſſe Anrechte an die Güter der Gemeinbegenofs
fen hatte 26). So haftete auch bei den Hebräern noch, nachdem
89) Ausführliche Veweiſe bei Welder 0.0.0. ©. 135, 8. uͤber das
rächenbe repetero in altdeutſchen Formeln Marculf II. 18. Append. 51.
40) Grimm, Rechtsalterth. E. 622.
41) Srimm a. a. D. ©. 622.
42) Grimm ©. 148,
43) L. Rotharius 149. Sogge a. a D. ©. 124..
6 44) Taeit 12. 21. L. Balic. 59. u. 61. L. Saxon. 2,6. Eich⸗
orn . [} .
Taritus 12. Eichhorn $. 18, Rogge 26. Grimm ©. 6.
Nach dem Bet der alien Ruffen (eigenttich ber ermanifhen
Wardäger in Kußland) haftete Die Gemeinde auch bei entbeditem Thaͤter
einen Theil. Ewers ©. 806. 814. u. 815.
Gtaats⸗ Lexikon IN. 81
578 GEompofitionen = Syitem-
Mofes bei dem Mord das Löfegeld verboten hatte, die Volksgemeinde
doch menigftens infofern für einen das Land verunreinigenden Todt⸗
fchlag eines unbefannten Mörders, daß Alle in feierliher Verſamm⸗
ung jede ihnen bekannte Spur zur Entdedung anzeigen, nichts wei⸗
tee davon zu wiffen bekennen und ſich reinigen mußten *%). Noch
bis heute tft für den Schadenerfag in ben englifchen Kicchfpielen bie
altdeutfhe Gefammtbärgfhaft bis zur Stellung bes Thaͤters
raktifch geblieben. Es trägt, in Ermangelung unferer gewöhnlichen
otipeirnittel, dieſes wefentlic zu ber großen Sicherheit im Innern
von England bei. Und wer mag leugnen, daß durch eine ähnliche
weiſe beitimmte Gefammtbürgfchaft die Mechtsficherheit und das leben«
dige Rechtögefühl der Bürger fehr vermehrt und manche drüdende ges
heime und öffentliche Polizeihülfe entbehrt werden könnte — In Bes
ziehung auf frühere Strafverhältniffe aber hatte bie Geſammtbuͤrg⸗
[haft der Voltsgenoffenfhaft den hoͤchſt mohlthätigen Einfluß, daß bies
felben jest mehr und mehr vermittelft der Volksgeſetzgebung und der
Molfsgerichtsbarkeii bewacht, geordnet, gemildert und menigftens bie
Exceſſe der Selbſthuͤlfe und der Blutrache verhindert wurden.
D. Wiedervergeltung. Seitdem nun bie finnliche Rache
und bie Eriegerifche Fehde. burch den mildernden theokratiſchen Einfluß,
duch das Vorbild göttlicher Strafen und durch Ideen der natürlichen
wie der göttlichen Gerechtigkeit veredelt und durch bie volksgenoſſen⸗
ſchaftliche Einwirkung bewacht und gemildert wurden, gab eines Theilq
das in dem Verbrecher wie in dem Verletzten und ihren beiderfeitigen
Genoſſen lebendig gewordene Gefühl, dort einer ungeredhten, bier eis
ner gerechten Cache, meift der legteren die Kraft des Siege. Sodann
aber hörte Hierdurch von felbft auch die urfprünglihe Grenzenlos
—ſigkeit und Maßloſigkeit der Seldfthülfe und Rache auf. So
verwarf bei den Griechen, Römern und Germanen, ebenfo wie
bei ben Hebraͤern und felbft bei den Arabern ), fhon fruͤh bie
Eitte die Erwiderung ber Rache gegen eine gerechte Blutrache. Und
aud) jede an fich gerechte, rächende Selbfthülfe wegen gugefügter Ver⸗
legung mußte doch ebenfalls eine dußerfte Grenze, ein Maß erhalten.
Sie darf nicht mehr bei jeber Verlegung den Verleger ale rechtlos
behandeln, fondern nur die Verlegung abmwehren oder aufheben.
Bei eineenoh dunklen und noch vorwiegend finnlihen Auf:
feffung des Wefens des DVergehens und der Strafe aber ſchien
feine fhügende Schranke raͤchender Selbſthuͤlfe natürlicher, als die ſin n⸗
lich gleiche materielle Wiebervergeltung oder bie Talion.
— — — — —
46) 4 Mof. 35, 33. 5 Moſ. 21, 1. Auch behielt Mofes bie in roh⸗
finnliger Zeit natuͤrliche Rache an Thieren (bei ben Griechen ſogar auch an
lebloſen Sachen) bei und geb ihr zur ſtaͤrkern Heiligung des Menfchenlebens
einen theoktatifchen Charakter. Gott follte befohlen haben, auch den Ochſen
zu fleinigen,, der einen Menſchen getöbtet hatte, 2 Mof. 21, 28.
47) Michaelis, Mof. Recht $. 134. Th. II. ©. 208.
“
Gpmpofitionen : Syſtem. 579
So anerkannt, wenn auch fpäter als Blutrache und Löfegeib, finder ſich
daher die Talion ebenfalls faft überall, namentlih bei Hebrdern,
Griechen, Römern und Germanen *), Das rohe, graufame
„Auge um Auge, Zahn um Zahn” wich aber keineswegs, wie neuere
Philoſophen wähnen, als bie von der Gerechtigkeit geforderte, nothwen⸗
dige Strafe verordnet. Es wird vielmehr von ben Gefegen niufaks die
von der Sitte eingeführte Milderung und aͤußerſte Schranke ber
kriegeriſchen Selbfihülfe und als ein Mittel der Foͤrderung
der Verföhnung durch Loͤſegeld nur einftweilen geduldet. Aehnlich, wie
jener geordnete, gerichtliche Kampf und Vergleich vor der Genofienkhaft
und insbefondere der geordnete Zweikampf, galt fie nicht als das hoͤch⸗
fie Recht, fondern nur als einftweilige wohlthätige Beſchraͤnkung der
Selbfthülfe. So fagen 3. B. die roͤmiſchen Imölftafeln: „Wer bem Ans
dern ein Glied zerfchlägt, muß fich mit ihm durch Buße vengleichen, mit
ihm Srieden fchließen, oder er ift bis zur Talion feiner Rache ausges
ſetzt 29).“ Nie aber murde feitbem, da ed nur um jenen Zweck ber
Senugthuung und Verföhnung galt, die Zalion in Rom vollzegen.
Sa, die richterlihe Praris und das prätorifche Edict festen bald an die
Stelle der Wiedervergeltung eine Schaͤzungsklage, nad) welder bei
Injurien und Verlegungen der Prätor in jedem einzelnen Kalle die Geld⸗
buße ermittelte, welche ihm als eine ber jedesmaligen Größe ber
Schuld und der Beleidigung angemeffene Genugthuung erfchien. (f. vos
tige Note). Wohl alfo mochte die Talion fih als Milderung ber
Rache empfehlen und auch dunklen, philofophifchen , religiöfen und poetis
fhen Ideen und Gefühlen von Gleichheit und Gerechtigkeit entfprechen,
und als ein dußeres Spmbol derfelben erfcheinen! Dennoch konnte aud)
bier unter der bewußten Vernunftherrfchaft von dem zuerft
durch vorübergehendes Beduͤrfniß oder dunkles Gefühl Erzeugten nur fo
viel bleiben, als ſich aus den Har und fchnrferfaßten hoͤch ſten Rechts
grundfägen ableiten läßt: die Zalion mußte alfo als ſolche
verſchwinden. Es ergab fich bald die ihr gu Grunde liegende doppelte
Begriffsverwechfelung und Undurchfuͤhrbarkeit. Einestheils iſt das
Mefen bes Verbrehens geiftig, der boͤſe und böfere innere
Wille, die Verachtung des Gefeges u. f. w., nicht die zufällige Größe
des äußeren, materiellen Schadens, ber dem Civilrecht angehört. .
Und doch behandelt die Talion das Materielle als Grundlage und
Mapftab von Verbrechen und Strafe. Wie foll nun wohl mwiebervergols
ten werden? Wie 3. B. bei Majeſtaͤtsbeleidigung, Hochverrath, Ehe⸗
bruh? Oder, wenn die. Talion bei gewoͤhnlichem boͤſen Willen, etwa
bei Affect, Auge um Auge ausſchlaͤgt, was will fie zuſeden für
48) 2 Mof.21, 3. 8 Mof: 24, 19. Mtchaelis 8. MO. Petit, Leg.
Attie. V.7, 3.52% Grimm, Redtsalterth. ©. 64. und in Gas
vigny's Zeitſcht. I. ©. 826.
49) Si membrum rupsit, ni cnm eo pacit, tallo este, Festus v.
tallo. Gellius XX, 1. Gajns III, 24. — 7. Gleiches von ben Serma⸗
nen ſ. bei Grimm a. a. D., von ben Hebraͤſern bei u d. 0. D.
580 | Gompofitionen : Syflem.
die erhöhte Bosheit oder bei andern rechtlichen Schärfungsgründen,
was abziehen bei ben verfchlebenen Arten bloßer Culpa oder Ver⸗
fhuldung und bei andern Dilderungsgründen? Es ift alfo die Zalion
als Strafe niemals die wirkliche Ausgleihung. Sie ift noch we⸗
niger bie rechtliche Ausgleihung. Denn fie widerfpriht ans
derntBeils dem Haren, hoͤchſten Rechtsgeſet über alles Recht
zum Zwang, ober zur Verlegung ber fremden Freiheit. Diefes Recht
ift nur begründet erftens zur Abwehr erweislihen, alfo gegen»
wärtigen rechtswidrigen Angriffs, und zweiten zur Wiederherftelung
eines bereits verlegten Rechtsverhaͤltniſſes, foweit fie möglich ift.
Auch in ber Anmendung auf die juriftifche Freiheit gilt nur.die emige
Forderung ber Gerechtigkeit: es Lebe (oder es werde erhalten) bas
Rechtz es ſterbe (oder es werde wieder aufgehoben) das Unrecht!
Bloße blinde MWiedervergeltung, wovon ja auch das ganze
Givilreht und übrige Recht nichts weiß, Wiedervergeltung
eines unwiderruflich gefchehenen Boͤſen mit neuem Böfen, 3. B.
Belhädigung und Betrug gegen den, der mid) befhädigte und betrog —
wie kommt fie ins Necht? Wer hat fie noch jemals rechtlich zu begruͤn⸗
den vermocht? Materiale Bleichheit der Rechte yab man mit ber
finnlihen Auffaffung des Rechts überall auf. Die formale aber
fordert nur die gleiche Duchführung jenes hoͤchſten Rechtsprincips
über den Imang zum Schuß des Rechts, zur Abwehr und Wieberaufbes
bung jeder Mechteverlegung von Jedem. Daher verſchwand denn
ebenfalls im deutſchen echt bei einiger höheren Ausbildung wieder bie
Miedervergeltung als folhe. In Deutfchland aber konnte man nun
nicht der ganzen richtenden Volksverſammlung, ähnlich wie einem roͤmi⸗
fhen Prätor, in jedem einzelnen Falle folche üftimatorifche Abfhdgung
und richterliche Ermäßigung zumuthen und überlaffen. Deshalb gaben
fi) die Geſetze die dußerfte Mühe, ftatt derſelben, durch gefegliche abſo⸗
lut beflimmte Borausanfäge der Größe der Vermoͤgensbußen, je nach der
Größe aller denkbaren Beleidigungen, ein gerechtes Verhaͤltniß zwiſchen Ver⸗
gehen und Etrafe zu bewirden. Vom Scheitel bis zur Fußzehe erhielt
nun jebes Glied und wiedesum jede Art ber Verlegung beffelben, ob fie
zerftörend, laͤhmend oder blutig, in welcher Abficht, von wem und gegen
wen fie zugefügt war, ihre befonbere gefeglicye Strafbefiimmung. Das
Streben an fi) war hoͤchſt achtbar; aber niemals kann ohne große Miß⸗
ftände bei Beſtimmung der Strafgröße alle richterliche Ermäßigung
ausgefchloffen werden. Auch faßten dieſe altgermanifchen Beſtimmun⸗
gen über Bußen oder Gompofitionen aller Art (f. oben Bd. J.
©. 284.) begreiflicyer Weife zum Theil noch zu fehr die finnliche, äußere
Größe ber Verlegung in das Auge. Jedoch waren fie keineswegs, wie
man oft ungruͤndlich behaupten hört, ausſchließlich hiernady beftimmt und
vermifchten noch weniger den materieilen civilcechtlich erfegbaren Scha⸗
den mit der firafrechtlihen Beleidigung und Genugthuung. Sie unters
ſcheiden vielmehr beide überall und berüdfichtigen bet der Gtrafe ihren
intellectuellen Charakter oder die Größe ber fchuldvollen Beleidigung
Compoſitionen⸗ Syflem. 581
und Rechtskraͤnkung, den ‚böfen und böferen Milfen, bie verfchiebenen
perfönlihen Verhältniffe. Sie beftrafen den im. bloßen Verſuch bewieſe⸗
nen böfen Willen ohne alle materielle Verlegung und bloße Worte, 3. B.
ben Vorwurf der Feigheit enthaltende Schimpfworte, oft härter, als die
fchwerften Verlegungen und felbft ats Die Toͤdtungen 59). Sie erken⸗
nen immer vollfiändiger neben ber genugthuenden Werföhnung bes Belei⸗
digten und feiner Angehörigen oder der Miederherflellung des Friedens mit
ihnen aud) die Wiederherftellung der Achtung und Helligkeit des geftärten
öffentlichen oder allgemein gefeglichen Friedens durch Aufhebung des gegebes
nen verführerifchen Beiſpiels und der bewieſenen unfriedtihen Willens⸗
ſtimmung des Verletzers ald Grund und Zweck der Strafen an ;°!).
HI. Die allmälige Duchbilbung zum vernunftrecht⸗
lichen Strafreht. So mußten denn Gelbfthülfe und Blut
rache, Aſyl und Löfegeldb, Geſammtbürgſchaft und ber ge>
rihtlihe Kampf vor der Genoffenfdraft und die Wieder;
vergeltung als rohe, finnlihe Hüllen und Spmbole ber alimdlig
ſich entwidelnden rechtlichen, Sdeen in dem Maße zurüdtreten und ihre
Außere Geftalt verändern, als die zum Bewußtſein erwuchte rechtliche
Vernunft der Strafe ald Rechtsinſtitut nur buch klar er:
fannte, vernünftige RechtsGruͤnde und je nad denfel:
den Süttigkeit zugeftcehen Tonnte. ' Zu
Doch war es auch in Beziehung auf das durch die natärlichen
Gefühle und Sitten entwidelte Syſtem ftrafrechtlidier Genugthuung
50) Beweiſe bei Welder a. a. ©. S. 585 ff. &. au L. Salic. 20,
1. 67, 2. L. Bajuv. 13, 8. '
51) Welder a. a. D. ©. 585. fig. Neben ber enuatduunG
(compositio) für ben Verletzten und feine verlegte Genoſſenſchaft, welche
ber Verbrecher befleckte (gquam polluit), mußte auch für die Beleidigung bes
Grfeged (quia contra legem fecit) cine öffentliche Genugthuung zus Wiebers
herſtellung bes öffentlichen geietent (pro fr&edo) an bie Volksgemeinde oder ihren
Vorfteher, zum Theil au, in Grmangelung eines Familienblutraͤchers, das
Löfegeld an den Fürften als Schutzherrn geleiftet werben. L. Bajav, 8, 13.
L. Alam. 3, 4. Und ausbrüdiid wird als Grund und Zweck der Buben ans
gegeben bie Etdrung und Herabwürbigung ber Privat und öffentlichen Pers
Tonlichkeit, des Privat: und öffentlichen Friedens und bie Nothwenbigfeit,. ihre
verlegte Achtung, Ehre und Heiligkeit, ſowſe duch Beſſerun
des den Frieden verlegenden, rechtsfeindlichen Willens bes Verbrechers, To
auch bei Andern wieberherzuftellen, das Aergernid und böfe Beifpiel
auszutilgen (ut alii cognoscant, quid sit timox Dei in Christianis et ho-
norem ecclesiis impendant. L. Alam. 3. u. 4.), ober auch „bamit. ber. Friede
wieder feft werde.” L. Bajuv. I., 6, 3. ober:, y honor Dei et reverentia
Sanctorum et Ecclesise Dei semper invictn sit, L. Bajuv.I., 7, 4; übers’
haupt damit der Verbrecher neben der Reftitution bee Sache felbft ober neben
dem civilrechtlichen Schabenserfag, fein Verbrechen wieber gut (emendat.
L. Bajuvar. 1, 12.). Diefelben Zwecke werben insbefondere auch angegeben,
wenn bie rädyende Genugthuung bis zur Toͤdtung ober bei Unfrtien dia zur
Verftümmlung geht, daß er naͤmlich das Blut ober die Schande abwaſche (ab-
berant), * damit er eflusione sanguinis componat. I, Burgend. 2, 1.
2 puar. 3
589 Gompofitionen = Syftem.
bie Aufgabe einer, fpäter entſtandenen Staatsgeſetzgebung, zunaͤchſt die
befferen Grundideen biefea natürlihen Syſtems hervors
zubilden und zu unterflügen und feine Mängel zu befeitigen, nicht
aber alles Alte gewaltfam zu vernidhten. Dazu war eines
theils ihre felbft erſt allmälig veifende Gewalt früher noch
viel zu ſchwach, bie Anhaͤnglichkeit bes Volle aber an urs
alte, natfonale und zum Theil religiös geheiligte Sitten
vielzu groß. Mofes z. B. konnte das alte Blutracheſyſtem micht
aufheben. . Aber er verelmigte weife bie oͤffentliche Vorſorge für bis
Heiligkeit bed Menfchenlebens und zugleich menfchlihe Milde mit dem⸗
felben, indem er das bei andern Verlegungen und einigen culpofen
Zödtungen erlaubte Löfegeld (f. 2 Mof. 21, 30.) bei dem Motd ver
bot und. fogar in Ermangelung eines Blutraͤchers der Obrigkeit die
Beftrafung anbefehl, Indem er: ferner durch feine weiſe eingerichteten
Sreiftädte für den nicht. bolofen Zodtfchläger Schug und mäßige Strafe
begründete (Note 27.). Weniger glüdte folche Vereinigung dem Mas
homed, weldher im Koran (2, 173 u. 17, 35) ſich begnügte, blos
wörtlich ganz allgemein bie Annahme des Löfegelde als gottgefätlige
Barmherzigkeit anzupreifen und graufame Todesarten zu verbieten,
weiche bloßen Worte aber, 3. B. bei ben Arabern, faft in einer Hin⸗
fiht bedeutend wirkten. In Athen hatten bie in die fpätere Zeit bei
Todtfchlägen nur bie Verwandten und bie Mitglieder der Zunft '
nad beffimmten Graden Recht und Pflicht gerichtlicher Verſolgung.
Der Zobtfchläger durfte, wenn er nicht abjichtlicher Mörder war, ſich
mit ihnen durch ein Loͤſegeld verföhnen. Wenn er aber zuerft entfloh
und dann zuruͤckkam, ohne ſich mit ihnen zu verföhnen, fo durften fie
ihn tödbten. Und fo lieb war ben hochgebildeten Atheneen biefer
Reſt des alten Blutrahes und Gompofitionen s Syitems, daß dem,
weicher auf Abſchaffung beffelben antragen würde, duch ein Gefeg
Ehrloſigkeit für ihn und feine Familie angebuoht war 92). In Deutſch⸗
land erhielten fih Blutrache und Löfegeld durch's ganze Mittelalter
hindurch, in einigen Gegenden, namentlidy friefifhen, bis in das ſech⸗
zehnte Jahrhundert. Der Sahfenfpiegel (IU., 45) enthält noch
die alten MWehrgeldsbeftimmungen. Die fächfifche Regierung proteftirte
vorzüglich deswegen gegen bie Carolina, weil fie feine Beſtimmun⸗
gen über die „Gewehr, Wehrgeld und Bug” enthielte, und in Sach⸗
fen blieb neben der oͤffentlichen Strafe das Wehrgeld bis in die neuere
Zeit 5°). Auch in Rom blichen die Körperverlegungen und auch die
Todtſchlaͤge aus Culpa und im Affert, bis zu Sylla hoͤchſtwahrſchein⸗
lich ſelbſt die gewöhnlichen dolofen, Privatvergehen 9*), alfo ihre Strafe
52) Welder a. a. O. G. 423.
53) Kreß, Commentar zur Garol. praef. 5. 21. Vergl. auch
Mittermaier, Strafverfahren J. ©. 110.
54) Schweppe, Recht«geſchichte 5. 335. 608. Welcker a
o. ppe htögelhichte 5 er a. a.
Gompofitionen« Syſtem 583
Pridvatgenugthuung. Sa, in Griechenland, Rom und Deutfch:
land, und zum Theil noch In unſerem deutfchen gemeinen Recht biies
ben ſtets eine Reihe von Vergehen, nad) römifchem Recht JInjurie,
Berchäbigung, Raub und. Diebftahl, ferner unerlaubte Selbſthuͤlfe, viele
Betruͤgereien und Triubruͤche, Privatdelicte, ihre Verfolgung, wie
auch die des Ehebruchs, Sache des Privatwillkuͤr des Verletzten, ihre
Strafe Löfegetd oder Privatgeldbuße. Ja unſer deutfches, mie das rd:
mifche Recht geftatten ſelbſt jegt noch Blutige Drivatrache durch eigen:
mächtige Zödtung der Verbrecher, nämlich bei dem Ehebruch dem Bas
ter und: Satten einer Ehebrecherin 9°). Vollends aber erkennen fie
beide überall auch bei öffentliheh Strafen ebenfo noch die Rechte
ber Verletzten auf. Genugthuung durch die öffentlihen Strafen
an, wie durch jene Privatftcafen, ja burch die nachtheiligen civilrecht⸗
lichen Folgen mandjen Unrechts, zugleich bie öffentliche Genugthuung
mit bezweckt mwurbe 9%). - Das nothiwendige Streben der Gefeggebung
aber, überall auch möglihft das Öffentliche Intereſſe durchzuführen und
mit der Privatgenugthuung zu verbinden, war indeß auch ſchon in
dem altgermanifhen Recht mehr und mehr hervorgetreten. Hierzu
gerabe die fpätere, befondere Buße für den Öffentlichen Frieden neben
ber Privarbuße (Mote 51). Bei nicht abſichtlichen Werlegungen dages
gen wurde fpäter zwar nicht eine Privatbuße, wohl aber die Selbſthuͤlfe
oder Fehde ganz ausgefchlofien 27). Zuerft die Kirche, gegen Ende der
carolingifhen Periode auch die Staatsgeſetze begründeten für die ſchaͤnd⸗
lichften Verbrechen, namentlich Meuchelmord, Raub und Brand, fchon
Öffentliche peinlihhe Strafen, die Staatsgefebe eine Genugthuung durch
Zobeöftrafe (eine compositio :sangumis eflusione) 59), Auch) fuchte
Karl der Große die wirkliche Ausuͤbung der Blutrache zu vermin-
dern, indem er befahl, daß diejenigen, welche vor Gericht das Geben
oder die: Annahme bes Loͤſegelds vermeigerten, vor ihn felbft gebracht
würden, um fie bei fernerer Weigerung nöthigenfalls dahin zu brin=
gen, wo fie nicht mehr gefahrbrohend wären 9°).
Aufder andern Seite brauhte auch barum bad alte
55) Feuerbach, Criminalrecht. & 883. In Athen war biefe
Privatrache noch zu bes Demoſthenes Zeit noch ausgebehnter (adv. Aristocr.)
Das römifhe Recht befchränkte fie fehr allmdlig, f. 3 B. L. 23. u.
23. ad. leg. Jul. de adulter. So mußte zuledt 3. B. der Vater, um nidt
blos kalte perſoͤnliche Rache an dem Ehebrecher zu nehmen, feine Tochter mit
tidten (prope uno ictu), ſo daß es fi ſchon nähert der Entſchuldigung durch
gerechten Affect. Dennoch iſt's offenbar; nicht b408 biefe Entſchuldigung mit
ihren befonderen Bedingungen, fondern zum Theil nch das alte Hecht der
Privalrade. °— "
56) Weider ©. 581. Vergl. z. B. auch $. 8. de obligat. quae ex
delicto,
‚ 57) L. Sax. 12, 5. m ao.
58) L. Burg. 2, 1. Cap. Casol. Calv. pre. Hisp. 8:
59) Cap. 779, 22. III, 805, 7. I, 819, 13. 849, 8.
\
584 Gompofitionen · Syſtem.
natuͤrliche Syſtem ſtrafrechtlicher Genugthuung nicht
gaͤnzlich umgeſtürzt zu werden, weil ja auch ihm bie
Grundgedanken des vernunftrehtlidh entwickeiten Straß
rechts, wenn auch nur im Keime und in verhuͤllter Geſtalt, zu Grund
lagen. Ueberall nämlich erfcheint nach dem bisherigen bie Strafe
fo, wie fie der Sprachgebrauch ber Griechen, Römer und Deutſchen
(f. Rote 39) bezeichnet, wie fie- aud noch das fpätefte griechifche und
römifhe Recht richtig befinicten 6%), und wie es die Idee ber Gerech⸗
tigkeit fordert, als Sühne ober Verföhbnung, Genugthuung
oder Miederherftellung des verlegten Friedens ober
Rechts, oderals Wiedberaustilgung bes Unfriedens ober
Unrechts, ober der bereits vorhandenen, durch ben Vers
brecher felbft begründeten Schuld (dee intellectnellen,
eriminalrehtlihen Störung oder Schädigung bes friedlichen Rechts⸗
zuftandes noch neben dem blos materiellen oder civilrechtlichen
Schaden) 9). Diefe Sühne oder Austilgung nun mwurbe gefucht bei
noh überwiegend finnlihem Zuftand ber Menfchen in Aus⸗
tilgung bes finnlihen Schmerzes und Zornes der Verletzten durch den
Genuß ſinnlicher Rache und finnlicher Ausföhnung der beleidigten Pri⸗
vaten, In dem überwiegend theokratiſchen Zuftand durch Wer
föhnung ber beleidigten Gottheit; unter Herrſchaft vernunftrecht⸗
licher Anfichten endlich durch Verföhnung des Rechtsvereins ober durch
rechtlich Wiederherftellung bes durch ben Verbrecher ges '
ftörten rehtlihen Sriedenszuftandes (f. Note 51).
Diefe gerechte MWiederberftellung aber konnte nun entweber zunaͤchſt
für den Verlegten und nur mehr mittelbar für bie öffentliche Rechts⸗
genoſſenſchaft erftrebt werden, fo wie früher unter Borberrfchaft eines
halben Naturzuftandegs — oder zunaͤchſt für die allgemeine Rechtsge⸗
noffenfchaft und mehr nur mittelbar für den Berlegten, ſowie heuts
zutage unter Vorherrſchaft ber Staatsidee. Aehnlich "wirkte. natuͤr⸗
lih diefe gerechte oder Mieberherftellungsftrafe fo, wie ja felbft die
civiltechtliche Aufhebung des Unrechts, fhon an fih mittelbar aud
für die Zußunft fihernd (abfchredend und prävenirend). Ihre ges
feglihe Vorausverkündigung ſichert fogar aud) unmittelbar. Nur kann
die Androhung eine Strafe nie gerecht machen wollen, die night an ſich
ſchon gerecht ift.
Nach bem angegebenen natürlichen und hiſtoriſchen, aud
in unferm gemeinen Recht (f.e Carolina) herrſchenden Grundgedanten
bes Strafrechts befteht alfo auch hiſtoriſch das richtige, hoͤchſte
Strafrehtsprincip nur in dem allgemtinen Recht oder
darin, daß man gar kein befonderes, von bem ganz allgemeis
nen Rechtsgeſet verfchiedenes, Ihm fremdartiges Strafs
60) Tloıwn dorıw duagrnunrog Exdlunoıg. Heur. Stephan. T. II.
p. 446. Poena est noxae vindieta. L. 81. de verb. signif.
61) L. Bajur. 13, 8.
Sompofitionen » Syſtem. Goncefjion. 585
primeip zu erfinden: fucht, weder die philofophifchen und rellglöfen ber
Reaction und Zallon u. f. w., noch auch die politifchen und deſpo⸗
tifchen der Sicherung, der Pravention und Abſchreckung,
meiche letztere vorübergehend in der Furchtherrſchaft und in dem
allgemeinen defpotifhen Sicherungskrieg unter ben tyrannifchen roͤmi⸗
fhen Kaifern und im Sauftrecht des Mittelalters ſchaudervolle, crimis
nalrechtliche Greuel, erzeugten und auch in der neueſten Zeit verderblich
wirkten. (S. Carolina.) Sie ſaͤmmtlich entziehen das Strafrecht
bem Rechtsorganismus, ber Herrſchaft der Rechtsidee und jenes obigen
hoͤchſten Grundſatzes ber Gerechtigkeit und. alles rechtlichen KLwanges
(II. 2, D.). Nach biefem ober nach dem Vernunftrecht befleht eben-
falls die gerechte, ftxafende Vergeltung und Siherung:nur in
Zufügung und Androhung jener gerechten: MWiederherftelungsftrafe.
Nach ihnen muß es mohl ebenfalls ftets als rechtswidrig erfcheinen,
bei Gelegenheit eines begangenen Verbrechens - eines Mitbuͤrgers
ftatt jener rechtlichen Aufhebung nur feiner erweislihen Rechts
ftörung, denfelben vielmehr als rechtlofe Sache zu. mißbrauchen, ihn
entweder zur fombolifhen Andeutung philofophifchee ober religioͤſer,
dunkler Ideen von Gleichheit und Gerechtigkeit, von „Reaction oder
Zalion, oder unter diefem Namen zu andern beliebigen Bmeden zu
verwenden, oder vollends ihn geradezu, ſoweit man es zur allgemeinen
Furchterweckung dienfam hält, ‚glei dem elenden Stoff, ben man ale
Vogelſcheuche aufpflanze, auf das Mad zu flehten, um die durch
ihm nicht verſchuldete böfe Luſt der andern Menſchen genügend
abzufchreden. 8 Th. Weder.
Compromiß, f. Schiedsgericht.
Gonat, f. Berfud.
Gonceffion, polizeilich und politifch. Die dem Men:
fchen natürlich zuftehenden Rechte, womit er ausgerhftet iſt ſchon ‚vor
allem Staatöverband, und zu deren Schug und Gemährleiflung "er
eigens in den Staat tritt, ebenfo die aus dem bürgerlihen Geſellſchafts⸗
Vertrag oder Verhaͤltniß natürlich fließenden Rechte darf nach dem
Ausſpruch der Vernunft jeder Vollbürtige ausüben nach felbfteigenem
Gefallen: ohne irgend Jemandes Erlaubniß oder Bewilligung. Nur
wenn folhe Ausäbung oder überhaupt eine. bem eigenen - Willen ents
fließende Handlung zugleid in das Rechtsgebiet eines Andern eingreift,
fo darf fie, wenn diefer wibderfpricht, nicht unternommen werben; und
es tft, wofern fie ohne Rechtsverletzung gefchehen foll, die Gewährung
oder Einwilligung bes Betheiligten vonnöthen. So darf — abgefehen
von ber aus verfchiedenen Titeln hier und dort vorhandenen pers
fönlihen Abhängigkeit Eines. vom Andern, ale von ber ben
Willen des Kindes befchränkenden väterlichen ober vormundſchaftlichen
Gewalt und von ber Autorität des Deren Aber den Knecht — ein Je⸗
der zu ihm beliebiger Zeit fchlafen oder wachen, gehen, ruhen oder ats
beiten, efjen und trinten, alle feine natürlichen ober erworbenen, phy⸗
586 Goncejfion.
fifhen, intellectuellen unb moralifchen Kräfte, fo wie alle ſeine Habe
gebrauchen zur Selbftvervolllommnung, zum Genuß, zur nüßlichen
Production und beren Verwerthung, überhaupt zur Erhöhung feines
Wohlſtandes und feines Gluͤckes. Auch darf er Allen, bie ihn anhören
wollen, feine Gedanken und Gefühle mittheilen, ihnen Belehrung,
Erbauung, Troſt, Hülfe, Echeiterung anbieten unb fpenden und ſolche
hinwieder von ihnen empfangen, Alles ohne irgend, Jemandes Erlaub⸗
niß, Vergünftigung oder Conceffion. Wohl aber hat er biefe nöthig,
wenn er 3. B. auf eines Andern Grund fid, eine Hütte bauen, durch
eines Andern Feld eine Duelle herleiten ober einen Weg bahnen, in
einem fremden Walde feinen Holzbedarf fällen, Überhaupt etwas ihm
nicht Zuſehendes, d. h. dem Recht eines Andern Eintrag Thuendes,
unternehmen oder von dem Andern ein Recht erſt erwerben will.
Dieſes Freiheitsrecht iſt nach dem Ausſpruch der Vernunft auch
gegenüber dev. Staatsgewalt gültig, d. h. es erleidet durch die Eins
gehung des Staatsvertrags keine andere Beſchraͤnkung, als welche der
Staatszweck nothwendig oder raͤthlich macht, und jede groͤßere Be⸗
ſchraͤnkung, welcher man es unterwerfen wollte, tft beshalb ungerecht
und verwerflih. Aber anders lautet die abfolutiftifche Theorie von ber
Staatsgewalt, und es huldiget derſelben auch eine weit verbreitete Pras
xis. Nach jener Theorie nämlich ift mit nichten Alles von felbit er
laubt, mithin Eeiner befondern Gonceffion beduͤrftig, was nicht gefeglich
— und zwar zum Ftommen des Staatszwedd — verboten iſt; fons
dern ed kann nach Belieben der Machthaber jede Handlung oder Uns
terlaffung verboten oder bad Recht dazu an willkürlich feſtzuſetzende
Bedingungen, namentlih an die dafür zu erwirfende ausdrückliche
Erlaubniß oder Conceffion geknüpft werden. Won folchem wills
kuͤrlich aufgeftellten Recht wird dann meift aud) ein mwilllürlicher Ges
brauch gemacht, und zwar in der Regel mehr in blos finanziellem
Intereſſe, als aus haltbaren polizeilihen ober nationals
okonomiſtiſchen oder überhaupt politifhen Gründen. (Uns
baltbare oder unlautere Gründe diefer Art kommen freilich mits
unter vor; wie wollen aber hier davon mwegbliden.) Die Concefjion
muß im der Regel nachgefucht werden und wird verliehen ber Taxe
willen, die dafür zu entrichten ift, nicht aber zum Zweck der Verhuͤ⸗
tung eines öffentlihen Rachtheils oder’ der Befoͤrderung bed gemeinen
Wohles; ja es fleht gar oft die Verleihung der Conceffion nicht: eins
mal der eigentlihen Staatsgemalt, die babei vermöge oͤffentli⸗
hen echtes handle, ſondern auch Grundherren und Corporas
tionen, und zwar auf Art eines nach feinem pecunidren Ertrag: zu
Thägenden Privatrehts, zu. Das vernünftige Staatsrcht und
die gefunde Politik , verwerfen gleichmäßig ſolche Uebungen und Miß—⸗
braͤuche, ohne jedoch deshalb den Stab zu brechen über alle Eonceſ⸗
fionen überhaupt. Es gibt naͤmlich allerdings Berhättniffe, Gegen
ftände und Säle, meiche ‚ihre Forderung rechtfertigen ober nöthig mas
hen, Einige Beifpiele mögen unfere Anficht von ber Zulaͤſſigkeit
Conceſſion. 587
oder Unzulaͤſſigkeit der in Bezug auf Coneffiond sEinholung und
Ertheilung beſtehenden Uebungen verdeutlichen. 0
Die Bewerbs:Eonceffton- ift bie stnem Staatsangehörigen
ertheifte Erlaubniß oder verliehene Befuguiß zur Betreibung irgend
eines Gewerbes oder Induſtriezweiges. Da naturgemäß ein Jeder bes
vechtiget ift, ducch felbftgemählte ehrliche Arbeit fi und die Seinigen
zu ernähren, ſo kann an und für fi und in der Regel von’ einer
Pflicht, dafür erft eine vorläufige Erlaubriß nachzuſuchen, Beine Rede
fein. Gleichwohl' gibt." es :Berhältniffe und Rixkfihten, welche bier
oder dort die Kenntnißnahme und Vorſicht won Seite der Staatsge⸗
walt in Anſpruch nehmen, ; baher dit Beſchraͤnkung bes im. Allgemeis
nen 'allerdings anzuerkennenden Rechts hurch gewiffe, für deſſen Aus⸗
übung in beftimmten Fällen .oder Sphaͤren geſetzte Bedingungen, alfo
namentlich) auch durch die Vorſchrift der mach Umſtaͤnden vorerft nach⸗
zuſuchenden Stautserlaubniß rechtfertigen mͤgen. Es kann fuͤr's
Erſte noͤthig oder raͤthlich ſcheinen, zur Sicherung des Publicums ge⸗
gen Taͤuſchung oder Beſchaͤdigung durch wnfähtge Arbeiter — Zus
mal in ſolchen Gegenſtaͤnden, zu deren zuverlaͤſſiger Beurtheilung und
Schägung die Abnehmer in der Regel nur wenig geeignet find —
zur Bedingung ber felbftftändigen und freien Ausübung das Zuruͤck⸗
legen gewiſſer Lehrjahre und das Erftehen einer Prüfung oder das
Berfertigen eines fogmannten Meifterftüds zu fegen, folglich nur Je⸗
nen, welche dieſe Bedingungen erfüllt haben, die Erlaubniß zum Ges
werbebetrich zu ertheilen, d. h. alfo Allen, die es nicht gethan haben,
denfelben zu unterfagen. Ebenfo kann e8 bei gewiſſen Arten von Ges
werben (3. B. bei Apotheken, Wirthfchaften, vielleicht auch Mühlen,
Bädereien, Fleiſchbaͤnken u. f. w.) zur Erleichterung ber nöthigen Aufs
fit und zur Gemwährleiftung ber Güte der Waaren nüplich oder noths
mendig fein (ober wenigſtens von der Staatsgewalt aufrichtig, ob auch
irrig, dafür geachtet werden), ihre Zahl nach dem jeweiligen Ortes
und Zeit: Bedürfnig zu befhränfen, daher ihren Betrieb entiwes
ber zu einer Perfonals oder zu einer Neals Gerechtigkeit zu erheben,
oder überhaupt eine Wermehrung ber wirklich‘ beftehenden Zahl ohne
befondere Conceſſion nicht zuzulaſſen. Daſſelbe mag flatt finden bei
Gründung von Fabriken oder größeren Handelsunternehmungen, welche
möglicher Weife auf die allgemeinen oder beſonderen Ernährungs - Duels
len oder auf andere Lebensverhältniffe der Bezirks⸗ oder Landes = Bes
wohner von flörendem Einfluß fein koͤnnten, zumal aber bei folchen,
welche zu ihrem Gedeihen einer befonderen Staats: Unterftägung, als
Steuerbefreiungen, Monopolien, Propolien u. f. w., bebürfen, u. ſ. w.
In allen diefen Fällen aber handelt es ſich gleichwohl nicht von einen
eigentlihen Geftattung, fondern entweder blos von dem auf: bie
anzuorbnende Unterfuhung zu geündenden Erkennen und Aner⸗
kennen bee Unſchaͤdlichkeit und Ungefährlichkeit des von
irgend Jemandem unternommenen Gewerbsbetriebs für bie Geſammt⸗
heit, wovon dann die Beftattung, d. h. ber Ausſpruch: es fiche
588 Gonceffion:
folhem Betriebe kein Hinderniß entgegen, bie rechtlich nochiwens
dige Folge, keineswegs ‚aber ein Act der Willtkr ober ber Gnade
und ein Zitel zur Erhebung einer willkürlich feftzufegenden Zare oder
Steuer if; oder es handelt fich von -einer dem Unternehmen ju
gemährenden befonderen Begünftigung oder über das natärliche
Recht hinausgehenden pofttiven Berehtigung, welche fonad
mehr ift als ein bloßes Eriauben, und wofür baun allerdings Bes
dingungen gefegt werden Einnen , body: gleichfalls nur foldye, bie
ſich auf die Darftellung der Muͤtzlichkeit ober wenigſtens Unſchaͤd⸗
lichleit des Unternehmens an fid für.die Geſammtheit beziehen,
keineswegs aber, auf Art einer Verlaufss Bedingung, ben befon
dern, zumal pecunidren Vortheil des Gewaͤhrenden als foldhen
bezwecken. Es wird menigftens ſolcher Vortheil rechtlich nur alsdang
noch in Betrachtung kommen oder ohne Unrecht dabei verfolgt wer
den dürfen, wenn die zu verleihende Berechtigung wirklich dem Sei⸗
nen des Verleihers angehört, mithin ihm etwas entzieht, db. h.
eine VBerzichtleiftung auf ein ihm felbft gebuͤhrendes Recht ins
volvirt, alfo namentlidy wenn die Staates®&efammtheit (oder be
vn Repräfentant, d. b. der Inhaber der Staatsgewalt im
Mamen jener Gefommtheit, alfo auc zur Wahrung ihres Intereſſes
verpflichtet) die Conceffion ertheilt und dadurch — meil fie naͤmlich
eine Ausſchließung bewirkt — zugleich die natürlichen Rechte ibs
rer eigenen Mitglieder fchmälert. Diefes zu thun Einnte fie einen
Grund haben, wenn ihr oder ihren Mitgliedern nicht ein den Nachtheil
foiher Echmälerung überwiegender Vortheil aus ber Conceſſion ers
wuͤchſe oder ein größerer Nachtheil dadurch verhindert,: oder irgend ein
Erfas für ihre Selbſtbeſchraͤnkung geleiftet würde. Nichte von als
lem dem aber findet flatt, wo die Conciſſions⸗Ertheilung zu einer
privatrehtlihen, rein Iucrativen Befugnig bed Verleihers ges
ftempelt ift, deren Ausübung alfo audy ſtets nur im Privatinters
effe des — bei der Dauptfahe, naͤmlich bei ben Wirkungen
der Gonceffion, unbetheiligten — Herren gefchieht und eben barım
das Recht wie das Intereſſe der Geſammtheit verlegt.
Etwas Achnliches ift zu fagen von den Heiraths⸗Conceſſionen.
Wohl mag, wo Leibherriichkeit befteht, der Herr das Recht
foiher Coneefjionsertheilung gegenüber feinen Leibeigenen anfpredyen.
Auch mag der gemeine Dienfthere oder der Grundherr, ald Bes
Dingung bes Verbleibens in feinem Dienft ober im Kortgenuß bes
Pacht⸗ oder Zind- Gutes u. f. w., das jeweilige Einholen feiner Ex
Iaubnig zur Verehelichung eines Kamiliengliedes feines Knechtes ober
Colonen vertragemäßig feftiegen. Aber von Staates megen iſt
bie Heiraths⸗Erlaubniß nichts Anderes als die Erklaͤrung, daß kein
mit Necht zu verfolgendes Intereffe der Sefammtheit dem im Wert
befindlichen Ehebündniß im Weg ftebe; fie ift alfo nicht eigentlih Con:
ceffion eines erft zu eriverbenden, fondern blos Anerkennung
eines bereits vorhandenen Rechtes; und ein Mehreres kann fie baher
Gonceflion. “589
auch alsdann nicht fen, wenn bie Befugniß Ihrer Verleihung vermoͤge
biftorifchen echtes etwa einem Grundherrn, melder naͤmlich da«
bei bloß die ſtaats polizeiliche Gewalt ausübt, zufteht.
Auch AuswanderungssConceffionen haben folhe Natur an
fih (f. Auswanderung). Sobald fie etwas Mehreres fein wol: -
ien, als bloße6 Anerkenntniß oder Erklaͤrung, daß dem Wegzug
des zur Auswanderung Entfchloffenen weder ein rechtlihes Hinderniß
(3. B. eine noch unbezahlte und umverficherte Privats oder öffentliche
Schuld), noch ein pflihtgemäß (3. B. aus Humanitaͤts⸗ ober auch aus
Bormundfchafts: Pflicht) vom Staat zu ſchirmendes Intereſſe des bie
Gonceffion Begehrenden ober eine von bemfelben abzumwenbende Gefahr
entgegenftehe, (wie menn ein Mittellofee und zugleich Arbeitsunfaͤ⸗
biger, überhaupt ein durch fein Vorhaben fi als unbefonnen und
der Bevormundung bedürftig Darftellender mit Frau und Kindern in
einen Staat, welcher bergleihen Ankoͤmmlinge gar nicht aufnimmt,
oder beftimmungslos in die weite Welt hinausziehen will), fo find fie
reine Anmaßungen, jenen ber Leibherrlichkeit ähnlich und verwerfs
lich wie fie.
Auh Privilegien aller Art und ebenfo Dispenfationen
vom Gefes gehören unter den Begriff der Gonceffionen und find ta⸗
dellos, mofern der Grund ihrer Verleihung wirklich das Geſammt⸗
wohl iſt, oder auh Billigkeit und Humanitdt, namentlid)
infofern bie Loszählung vom Gefeg nicht eben aus Gunft für eine
beftimmte Perfon oder um eines dafür gezahlten Preifes willen,
fondern etwa darum flattfindet, weil die flrenge Anwendung bes
Wortlautes jenes Gefeges, je nach Beichaffenheit der Umſtaͤnde ober
ber concreten Perfonalverhältniffe, in beftimmten Fällen allzuhart und
bem Geift oder der Intention deſſelben widerftreitend waͤre.
Die Grundſaͤtze jedoch, welche für die Ertheilung von Cons
ceffionen (im meiteften Sinn des Wortes) vom Standpunkt des Rech⸗
te8 fomohl als der Politid maßgebend fein follen, forwie jene, wornach
bie rechtlihe Wirkung und Dauer bderfelben zu beurtheilen ift,
werden wir ausführlicher in den von ber „Sleihheit im Staate”,
auch von den „Privilegien und Dispenfationen” handelnden.
Artikeln befprehen. Hier haben wir mehr nur bie Stage von ber vors
gefchriebenen Goncefjions s Einholung oder Nahfuhung vor
Augen.
Eine ſolche ift aber nicht blo® — wie oben gezeigt worden —
in Anfehung bdesjenigen, welchem fie obliegt, eine großentheile unbils
lige und bedrüdende Forderung, eine Unterwerfung feines natürlichen
Freiheitsrechts unter die Willkuͤr — Gunft ober Ungunft — ber Go⸗
walt, und dann in ihren Folgen, infofern nämlich die von Einem
oder Mehreren erwirkte Conceffion (namentlich in der Sphäre des Ge
werbsbetriebs) zugleih die Ausfhliegung allee Andern mit fidy
führt, auch diefen Andern, fo Diele berfelben das naͤmliche Gewerbe
zu betreiben geneigt unb geeignet wären, fchweren und wirklich rechts⸗
590 . Goncelfion.
virfegenden Nachtheil bringend: fondern es Tann dadurch, je nach dem
Gegenftand der von ber erlangten Gonceffion abhängig gemachten
Unternehmung oder Thaͤtigkeit, auch der ganzen Geſammtheit
ein durchaus unerfegbarer Schaden, eine wmefentliche Verkuͤmmerung
ihrer koſtbarſten Güter und Intereſſen erwachſen. Wir wollen hier
fchweigen von der Cenfur, wiewohl auch biefe nichts Anderes. ifl,
als das Gebot der vorläufigen Erlaubnißs oder Conceſſions⸗
Einbolung für jed.s Wort, welches ber Scheiftfteller zu feinen
Mitmenfhen und Mitbürgern zu veden begehrt. Aber man denke —
abgefehen von der unter einer eigenen Rubrik zu behandelnden Gen:
fur: Stage — nur an das Spftem der Gonceffionen für zu errichtende
Buchdrudereien und Buchhandlungen, auch für Herausgabe
von politifhen Sournalen und Zeitungen und anden Tag⸗
blättern. Nah den Lehren der Abfolutiften und nad) bem, zumal
von Napoleon gegebenen, treffliher Beifpiel von beren praßtifcher
Ausführung kann jenes Spftem, durch fortwährend gefteigerte Strenge
der für die Erlangung oder für die Fortbauer der Conceffion gefesten
Bedingungen und durch die fich hier ſchrankenlos bewegende Willkuͤr
der Gewalt, zur völligen Erdrüdung aller freien Geiftesthätigkeit, d. h.
aller freien Geiftes -Mittheilung, ohne welche an eblere Civilifation
und echte Humanitdt gar nicht zu denken ift, gelangen ; das herrlichſte
Geſchenk Sorte, die Buchdruderkunft, von dem Geber dazu beftimmt,
das wirkſamſte Mittel der Woranführung der Menfchheit auf der Bahn
der Erkenntniß und Tugend zu fein, kann alsdann herabgemürbiget
werben zu einem ausfchliefenden Organ ber vor der Macht anbetenden
Niederträchtigkeit und Schmeichelei und zu einem bienftbaren Werkzeug
der Verfinfterung und Unterdrüdung.
Wir haben noh von Conceffionen in politifher Bebeus
tung zu ſprechen, betrachtet nämlich als Zugeftänbniffe der Res
gierungen, Überhaupt der factifch oder rechtlich mit Macht heklei⸗
beten Häupter oder Parteien, gemacht entweder dee — burdy bas
Drgan ber freien Preſſe oder ber Petitionen ober der landſtaͤndiſchen
Kammern ertönenden — allgemeinen Volksſtimme, oder aud der For:
derung einer Partei ober Volksclaſſe, und zwar vorzugsweife in Bes
zug auf politifche, d. h. die Zheilnahme an der Staatsgewalt oder
beren Formen betreffende, body auch in Bezug auf gemein bürgers
lihe und menſchliche Rechte und beren natürliche oder Lünftliche
Garantien.
Ueber dieſe Conceſſionen haben wir ruͤckſichtlich ihrer rechtli⸗
chen Natur und Wirkſamkeit unſere Anſicht bereits in dem
Artikel „Charte“ niedergelegt; denn Concefſion iſt der gewoͤhn⸗
lichſte Titel, unter welchem bie Charten in's Leben treten ober mos
dificirt werben. Aber es bleibt uns für jegt noch die Frage zu beants
worten, welches in Bezug auf folche Gonceffionen, db. 5. auf deren
Gewährung oder Verweigerung, die Vorfchriften ber Klugheit für bie
Megierungen oder jeweiligen Machthaber fein? — Nah unſerer
Gonceffion. Concilien. Ä 591
Meinung follen fie jeweils ohne Widerſtreben umd Zögern gemacht
werden, fobald die beutlic vernehmbare Stimme eines vorangefchtit-
tenen Zeitgeiftes ober Volksgeiſtes fie fordert, demnach ohne
Abwarten einer Nöthigung durch Drohung oder Gewaltthat. Ihr
Motiv fei bloß die Rechtsuͤberzeugung unb bie freie Achtung ber
gerechten VBolkswünfche. Dem geſetzwidrig ſich aͤußernden, mit
xebellifhen Waffen unterftügten Vetlangen fege die Regierung ftanb»
haft ihr gefegliches Anfehen entgegen, erwaͤge jedoch, nach befchwors
nem Sturm, bie vorhandenen Urſachen des Mißvergnägens oder ber
Bolksenteuftung, und helfe den Beſchwerden, mofern fie begründet
find, durch jest freiwillige, daher würbevolle und dankenswerthe Ge:
währung ab. .
Aber nicht alſo verfaͤhrt die gewoͤhnliche Praxis. Gar zu oft lei⸗
der ſtraͤuben ſich die Regierungen oder die mit Macht und Vorrecht
angethanen Claſſen, der Stimme des Zeitgeiſtes zu horchen. Gehaßt,
ja verfolgt wird, wer als Organ der Volkswuͤnſche und Volksuͤberzeu⸗
gungen auftritt, und die Strenge waͤchſt im Verhaͤltniß des lauter er⸗
toͤnenden Klagerufes. Wenn dann — die Unwirkſamkeit des geſetzli⸗
lichen und friedlichen Verlangens nach Abhuͤlfe erkennend — die Vers
zweiflung oder der durch Verfuͤhrer geſtachelte Zorn des Volkes endlich
zu gewaltſamen Mitteln greift, und Gefahr oder Schrecken den Thron
oder die herrſchende Kaſte umlagert; da gewaͤhrt man gewoͤhnlich den
Trotzenden und Drohenden, was man den ehrerbietig Bittenden ver-
ſagt hatte, ob auch mit dem geheimen Vorbehalt, nach uͤberſtandenem
Drange des Augenblicks die Gewaͤhrungen ober Zugeſtaͤndniſſe wieder
zuruͤckzunehmen oder durch allmaͤlige Verkuͤmmerung und Untergrabung
werth⸗ und wirkungslos zu machen. Ja, man ſtellt wohl, ſicher ge⸗
macht durch die wieder gewonnene guͤnſtige Stellung oder durch die
zeitliche Maͤßigung oder Entkraͤftung der Volkspartei, den Grundſatz
auf: „keine Conceſſionen mehr!“ und macht uͤbermuͤthig den⸗
ſelben zum Feldgeſchrei oder zum Loſungswort derjenigen Faction, die
ſich die Eöniglich gefinnte oder legitime nennt, obſchon fie es
eigentlich iſt, welche die Carls I. und Jakobs II., die Ludwigs XVI.
und Carls X. ins Verderben geſtuͤrzt hat. Wann wird man aufhoͤren,
durch unzeitiges Gewaͤhren zur Gewaltthat zu ermuthigen und
durch unzeitiges Verſagen dazu aufzureizen? Die Geſchichte redet
vergebens mit hundert Zungen; die Leidenſchaft macht unempfaͤnglich
fuͤr ihre eindringlichſten Lehren. Faſt nur die engliſche Regierung
hat in neueſter Zeit die Conceſſionen, welche die Umſtaͤnde geboten,
im rechten Moment zu geben verſtanden, und ihre Weisheit iſt durch
den ſchoͤnſten Erfolg, Erhaltung des innern Friedens und der geſetz⸗
lichen Ordnung, hoffnungsvollſtes Gedeihen des Gemeinweſens und
innige Befreundung der Volkspartei mit der Krone, belohnt een.
otteck.
Concilien. Das Apoſtoliſche. Die Provinzialſyn—
592 Eoncilien.
oden der gebrüdten Kirche. Die vier oͤkumeniſchen der herr
fchend oder vielmehr beherrfcht gewordenen chriftlidhen Staatski
Goncilium bedeutet, nah ber Mortableitung von oonciere,
irgend etwas, das fih zum Zufammenwirten bewegt.
Die Vereinigung der Grundkräfte oder Elemente, wodurch alle Dinge
werden, nennt Lucre z 1,485. 2,563 coneilium. Die zweite Haupt
bedeutung ift, dag die Vereinigung aller ffimmfähigen Mit⸗
bürger concilium populi, bei £iv. 3, 71. 6, 20. genannt wurde.
Die dritte und gemöhnlichfte ift, dag nur Zufammenktünfte von
Stellvertretern, Repräfentative Vereine, Goncilien genanıt
wurden, Gel. 15, 277. So wird ein Concilium von ganz
Gallien auf einen gewiffen Tag angekündigt. Caͤſar v. gall. Krieg
1, 0. Nah der zweiten Bedeutung wurde die berathfchla-
gende Verfammlung der ganzen GChriftengemeinbe zu
‚ Serufalem, in welcher nicht Apoftel und Presbyters allein, ſondern
alte Brüder nah Apg. 15, 23. als Audenchriften zum Umgang
mit den Heidendhriften nicht mehr die Annahme aller juͤdiſchen Leben“
regeln erforderten, oft das erfte hriftlide Concilium genannt.
Das Muftermäßige, wovon man immer mehr abwich, verdient fpeciel
bemerkt zu werden. 1) Ohne Zweifel waren damals — im 3. 47
oder im 16. nah Jeſu Tod 1) — mehrere driftlihe Synagogen
in der volkreichen Mutterftadt Serufalem. Dennoch halten fie als Eine
Ekkleſia zufammen. 2) Ungeachtet Apoftel theilnahmen (Apg. 15, 6.),
mar doch „Beratbichlagung und vieles Beſprechen“, alfo keln Voraus—⸗
fegen einer infalliblen Entfcheidung von benfelben. 3) Petrus nimmt
erft, nachdem viel befragt worden war, das Wort, weniger ſich voran
ftellend als 1, 15. 2, 14 u. f. w. 4) Die Gemeinde ſchweigt noch
unentfchieden und hört die ſachkundigen fremden Miſſionaire 15, 12.
über den Zuſtand der aus ben Heiden befehrten Neumeffianer. 5) Aud
der Gemeindevorfteher, Jacobus, macht 15, 20. nur Vorſchlaͤge, daß
man auf viererlei Enthaltfamkeiten antragen (niht, dag man
fie vorfchreiben) folle. 6) Die erfte von ihm vorgefchlagene Bedingung
war umfaffender ald das, was am Ende 15, 29. die Gemeinde beſchloß.
Wie unabhängig war alfo das Gefammturtheil. Er trug an auf
Enthaltfamkeit von allen Berunreinigungen bei den Idolen. Am
Ende wird nur geforbert, daß, wenn Juͤdiſchgeborne mit den chriſtia⸗
nijirten Heiden gemeinfchaftlihe Mahle (Agapen) halten follten, Jene
gefichert fein müßten, baß a) nihts zum Opfer an die Idole Bes
ftimmtes, b) nichts Erftidtes und c) kein Blur (wogegen dem Ju⸗
ben Ekel angewöhnt war) als Speife gegeben, audy d) nicht, wie bei
den heibnifchen Opfermahlen, unzuͤchtige Luftbarkeit eingemifcht
merben bürfte. 7) Die gemeinfhaftlihen Liebesmahle, welche, am
1) ©. die Chronologie des Apoftellebens Paull in meiner Neberfegung und
Erklärung des Galater⸗ und Romerbriefs (1831) &. 53 und 335.
. Goncien . , 593
Abend jreifchen bee Sabharhöverfummfung uhb dem Sonntag gehalten,
‘altrööchentlich alte Chriftfänergefeitig zufammenbtachten, und an welden
doch, ‘wenn bie Mofaifdhen —9 ferner auch‘ für. Chriſten vers
binblich getvorben täten, die Judenchtiſen nicht zugleich mit den. Hei
‚bencheiften hätten theitehmen Finnen, türen von unglaublich großer
Wichtigkeit für Verein und Werbreitung bes ganzen Urchrift enthume Büs
nächft betrafen daher bie ann gu Jeruftlem star hu äußere Sitten;
‘aber in · der That lag dabei doc, fliltfchweigend die Entfheibung
der bogmatifhen Lebönisftage zum Ocimd; Db Nicitjuden an
dem’ säötfe fich bildenden Megfristeiche Gottes Antheil nehhten dürften,
’ohme ſich allen mofaifch jübifchen Geftgen mwentgftehs noch nach, ber
Taufe za unterwerfen? Mhariftifc Gefthnte Beharrten Hierauf, gegen
den Unloerfalismus in der Chriftustehre des Apoftels Paulus Ang, °
45,'5. 21, 20. 8) Die Verfammiunas-Berhlüffe mutden
gefaßt 15, 22. 23. von den Apofteln und den YUelteren, fammt
. bex.gangen (Orts?) Beinefnde”, And das Werfammfungss
fossisen erlaſſen die Apopef’ und bie Aktien und die 2) Brit
ee, ‘fo-daß demnach die Hänge Gemeinde” Ihr Stimmrecht ausgeüdt
ab Äreg Hereimige hatte,’ (Ale weit die —
utde iſt nicht befannt,) 9) Die Fermel 16, 28. war ur
„Tpräi wiß nicht fo gedacht, wie Täter bie meiften Coneilien fie
"beilegten :' „Denn es hat gutgebüntt Dem’ heiligen Geiſte 9
ka ol RER We ie eiliger, Of
je heitigende Kraft Gottes oder bie gottgeheiligte Gefinni
- em Oatara Sn, mat m, 09 age Online
——
dieichfam neben” den heiligen G a Sie fügen ;
839 durch bie te eiftigkeie auch EL
dv. }. ebenfo Uns wie Eurem drei Abgeorhmeten, wilde nächfvorher
im Vers 25. 26. rühmlichft genannt ud, erfcheinen folgende Bedin⸗
gungen: zroedmäßig. Auf keinen Fall fehrieb man ſich bamals Heilige
Seift zu als Quelle unteliglicher Einficht, ſondern als heilige, Wit
—E und dadutch zut Wahtheit leitende Gefihnung. Joh. 1
43. 1 &r. 7, 40. 10)'Der Apoftetifche und kirchtſche Gemeindeber .
ſchluß wurde, was Auferft wichtig bleibt, nach 15, 29. nur für bie
fließenden verbindlich. Der Murtterkirche der Heidenchtiſten
gu Antiochla wird dadurch nichts vorgefhriebem :: Das. Cpnsdü
fgreiben endigt nur -mit Empfehlung bei Aut Mon? bie 1
teriet: Anftößigkeiten) Exch bewahren werdst She ng Yhtchun un
. Euhmohlbefinbenl@" .... . ua
3 Pak
Barlantı ic Kr mini, x
Mcht. Man [elite nad) Nie Ban rin, vol ir
act
Fa BR er Een
994 Concilien.
Dies erſte Beiſpiel eines vollſtaͤndigen Gemeindeconciliums
wurde ohne Zweifel in manchen einzelnen, beſonders groͤßeren, Gemein⸗
den nachgeahmt, da oͤrtliche Gemeindeverſammlungen uͤber ſtaͤdtiſche
Angelegenheiten auch unter den Imperatoren noch zugelaſſen waren,
ſ. das Beiſpiel einer ſolchen „legitim” genannten weltlichen Ekkleſi«a
zu Epheſus, Apg. 19, 39., wodurch zugleich die generellere Bedeutung
des Worts Ekkleſia, als Verſammlung der bervorzurus
fenden Stimmberechtigten, coetus evocatorum, belegt wir.
Bon Concilien nad ber dritten Wortbebeutung, db. i. von
ſtellvertretenden, findet ſich die erfte Nachricht bei Tertullian o. 14
de Jejuniis, aus der Zeit, wo er ſchon eifriger Montanijt war, alfo vom
Ende des zweiten Jahrhunderts. Er bemerkt dort, daß es römifde
Staatsbefchlüffe und Megentenmanbate gab gegen „mandyerlei Zufams
menlaufen” (coitionibus opposita).. „Gehalten aber würden per Gras
„cas ®) an gewiflen Drten jene Concilia aus allen Ekkleſien, buch
„welche jede höheren Dinge indgemein behandelt würden und bie Re⸗
„präfentation alles deſſen, was ſich hriftlih nenne, mit
„großer Ehrerbietung gefeiert werde. Mürdig fei es, dag man, unter
„Anführung der Glaubenstreue, fi (alfo) zu Chriſtus verfammie.
„Solhe Convente arbeiten unter Gebet und Faſten.“ (Vergl. Apg-
13, 2. 3.) Auch deutet der Sontert darauf, daß diefe Repräfentativ
Goncilien von den Epiffopen geordnet wurden. Tertullian felbft habe,
einft als anwefend, für dergl. kirchliche Convente geredet. „Und. wenn
nun wir (d. i. die Montaniften) in verfchiedenen Provinzen auch im
Beifte (= auf unfere geiftigere Weife) dergleichen feiern, fo ift es
(fagt er) ein Gefeg einer miteinander bdargeftellten heiligen Sache.“
Man ficht alfo, dag auch diefe fogenannten Pneumatiler
dergleichen Zufammenkünfte als der chriſtlichen Gemeinſchaft und Drbs
nung fehr förderlicy betrachteten und nachahmten.
Aber auch wider bie Montaniften wurden foldhe gehalten. (©. .
Eufeb. Kirch. Gefh. 5, 16.) Noch mehrere aber wegen bed Streits:
ob auch bie Chriften am 14. nad) dem erften Neumond ihr Pas
(ha, d. i. ihre an bie erſte Stiftung des Abendmahls erinnernde
3) Der ungewöhnliche Plural per Graecias, welchen Mosheim baburd
fich erklaͤrt, daß er das eigentliche unb das aftatifche Griechenland, vielleicht auch
noch magna Graecia in Stalien zufammenfaffe, macht mir bie Lesart zweifel⸗
haft. Vermuthlich ſchrieb Tertullian per paroecias. Ohne ein beflimmtes Eanb gu
nennen, ſagt bie Stelle: Dan ift, unter Veranflaltung der Bifchöfe, gewohnt,
im Umfreis der Chriftengemeinden foldye Verfammlungen zu halten zc. Den Abs
fhreibern war das Wort parvecia (Gemeindefprengel) unbelannter. Sie riethen
auf ein befannterc& Wort. Aber außerbem, daß der Plural ungewohnt wäre,
tt es auch an ſich unwahrſcheinlich, daß die von Griechen bewohnten
Länber eher, als andere, Goncilien hatten. Die ditere republikaniſche Nei⸗
an ber Griechen, fich felbft zu berathen, war durch Römer Iängft bei ihnen
8 febr Me are a Kon Fade gerabe Deba —— —
ontaniſten, welche na eb. K. G. zu apolis ꝛc. ge au
halb der Griechenlaͤnder. '
Concilien. | 595
Seftmahljele, halten folften ‚tote ‚dies in der. Provinz Aſien als von
dem Apoſtel Jahaunes ſelbſt Herfämmtlidy.®): fo feftgehalten
wurde.‘ Der epheſiſche Biſchof, Polykrates, fagt, daß er viele Biſchoͤfe
deswegen bei ſich zuſammenzurufen aufgeforbert war. Euſeb. Klrch
Geh. 5, 24. Ze ae
Dagegen wagte ber rim. Bifchof, Victor, (fo anmaßlich wurbe
man, nachdem bie Chriften kaum unter. ber ſchlaffen Megierang bes
Baſtards der Antonine, des Sommadus, einige Ruhe erhalten hatten 1)
das Beifpiel zu geben, daß er die Afiaten, fo. lange fie in biefem
tus niche mit dem. Ritual Roms üÜbereinfämen, für. ausgeſchloffen aus
ber Gemeinfchaft mit den unter ihm vereinigten Refidenzgemeinden er⸗
klaͤrte. Eufeb. &. G. 5, 24. 25. — : Diefes Verlangen aber, daß
bie -Uebereinfiimmung mit Rom notbwendig fet,,mwurbe
von Irenaͤus zu Lyon, vor Bachyllus zu Korinth, auch von den Pas
käftinern: und Syrern noch ebenfomenig, als zu Ephefus, einmüthig
zuruͤckgewieſen. ——
Vielmehr blieb felbit ing erſten Theil des dritten Jahrhunderts
noch, de. Eyprian mit mehreren afrikaniſchen Provinzialconcilien dir
Nichtguͤltigkeit ber. Kegertaufe oder das Alleinfeltgmas
hende ber orthodoren Kirche unter dem alleinheiligmas
henden ortbodoten Epiſkopat gegen ben bierin toleranteren
roͤmiſchen Biſchof Stephanus heftig behauptete, dennoch, auch nad
CEyprians eigener Erffärumg , der Grundſatz: daß (ungeachtet: der Pro⸗
vinzconciliens Befchlüffe) jeder vorgefehte Bifhof in Verwal⸗
tung feines Kirhenfprengeis das Recht feiner freien
Veberzeugung. behalte. und nur:bem Herrn über fein
Handeln Rehenfhaft zu geben habe. S. Bas Ende bed
zit 72, ad Stepbanum Papam de’ Concilio, p. 230 der Würzb.
usgabe. oe
Die Provingialcondlien waren in der dreihundertjährigen Bett, wo
vom Staat noch feine Vollſtreckungshuͤlfe, vielmehr oft Werfolgung zu
erwarten war, für. die Epiffopen das befte Mittel, was fie ordnen
wollten, bei den Gemeinden geltend zu mahen. Was ber einzelne
Bischof an feinem Ort nicht ducchgefegt haͤtte, bas galt, wenn: & es
nun von der Verſammlung ber. meiften Prowinzbifchöfe, bie ihre an⸗
haͤnglichſten Presbyters dahin mitnahmen, als gemeinſchaftlichen Beſchluß
nach Haufe brachte. Sein eigenes Guthuͤnken aber blieb dem: einzelnen
Biſchof, auch wenn er damit auf dem Concil in der Minoritaͤt blieb,
doch, nad) dem fo eben angeführten Cyprianiſchen 9) Grundfag, noch
4) Ebendort, wo Johannes gelebt hatte: war. es: demnach Als Srabition
erhalten, daß Jeſus fein legtes Paſcha, nach weldem er das Gebdaͤchtniß⸗
mahl feiner Hinrichtung veranlaßte, zu gleicher Zeit, wie bie Juden ges
feiert habe. Ein zur Gr klärung von Joh. 18, 28. merkwuͤrdiges, nad |
nugtes Datum. ..
6) „Habeat in ecclesiae (suae) administratione voluntatis suaa arbitrium,
Dar
sg6 Concilien
nah Wunſch geſichert. Daher wurden, fo lange dieſer Grundſatz galt,
die Diöcefan = und Provinzverfammlungen, ſoweit es bie Verfolgungen
und andere Außere Umftände geftatteten, fehr.gerne gehalten. Erſt in
fpäterer Zeit finden wir den Kanon, daß biefe Zufammenkünfte nicht
verfäumt werden ſollten, öfters tiederholt. in Beweis, daß fie na⸗
türlih den Biſchoͤfen nicht mehr fo angenehm waren, feit von ben
größeren, kaiſerlich beftätigten, Concilien bie ſtaatsrechtliche Anficht, baf
bie Entfheidung der Mehrheit Alle binde, aud auf bie
Provinzverfammlungen überging und bie frühere Unabhängigkeit des
einzelnen Biſchofs, feinen Sprengel nur nad feinem Gewiſſen zu zes
gieren, immer mehr befchränfte. | |
Gerade, fo lange bie Staatsmacht von ber Kirche getrennt und
oft fogar gegen fie verfolgend war, mußte bie Menge, bie plebs ges
nannt, um fo vertrauensvoller, ja geduldiger an ben für Erhaltung ber
Gemeinſchaft fürforgenden Bifhof und den fehr lebhaft zufanımenwirs
Benden Bifhofsverein, bas allgemeine Epiſkopat ©) ge
nannt, ſich anfchliegen. Die Noth brängte zu Fefthaltung ber Cypria⸗
nifchen Regeln: „Du ſollſt wiffen, dag der Bifchof in bee Ekkle⸗
fie und bie Ekkleſia, als die dem Hirten anhangenbe
Heerbe, im Bifhof ift und wer nicht mit dem Bifchof ift, mit
den Prieftern Gottes nicht Friebe hat, nicht in’ ber Ekkleſia fein Tann
(Ep. 69. p. 220. vgl. ep 27. p. 67.)5 Keiner aber ein Chriſt
fein tann, ber nicht in der Ekkleſia ift (ep. 52. p. 129:),
und Sündenvergebung nur in und buch biefe heilige
Ekkleſia gegeben werben kann (ep. 70. p. 223. 73. p. 235.),
wie überhaupt kein Heil außer ber Ekkleſia fein Lönne“
(Ep. 73. p. 243.). =
Diefe die Gemeinden feft zufammenhaltende Einheit bes all»
gemeinen Epiffopats, welches den römifchen Primat anertennend
doch daraus (ep. 61. p. 227.) keinen Gehorfam gegen benfelben fols
gern ließ, wurde nicht nur dur die Unmöglichkeit, ohne foͤrmlichen
Atteft des Biſchofs als Gemeindeglied Aufnahme zu erhalten, ſondern
auch noch befonders durch die unmittelbaren Zufendungen von Vertraus
ten ber Biſchoͤfe, welche die Concilienbefchlüffe mittheilten und muͤnd⸗
lich erlaͤutern konnten, ſehr cultivirt. Selbft Kappadocien mar
von: Karthago nicht zu weit entfernt, daß micht im J. 256 bem
bertigen Biſchof Sirmilien bie für die biſchoͤfliche Gewalt fo wichtigen
liberum unusquisque praepositus, rationem actus sui Domino redditurus.“
Ebenfo Epist.73.p.246.: „Nemini praescribentes aut praejudicantes, quo minus
ünusquisque episcoporum, quod putat, faclat, habens arbiträi sui
plenam potestatem.“
6) Cum sit a Christo una ecolesia per totum mundum In maltis
membris divisa, item Episcopatus unus multorum episcoporem
concordi numerositate difiusus. Cypr. Ep. 52. p. 130. (cf. ep. 80. p. 73.
ep. 68. p. 213.)
Goncilien. 697
Concilienbtfhläffe bi® von Afrika und Numidlen aus durch einen eiges
nen Diaconus communicirt wurben, wogegen biefer (ep. 75. p. 257.)
bie gewiß erwünfchte Verſicherung ertheilte, daß auch dort alljährlich
bie Zufammentunft der Senioren und Gemeindevorſte⸗
her als Nothwendigkeit beobachtet werde und gegen alle bie
Keser oder Antichriften die alleinige Gültigkeit ber Taufe
des vereinten Epiſkopats feithalte.
. Wie lernen aus eben bdiefem Schreiben, daß fogar noch ausges
behntere Goncilien zu Ikonium in Phrngien im Beifein des Firmilian 7)
gegen die Gültigkeit der für die reinorthodoxen Epiſkopen präjubiciclie
hen Kebertaufe gehalten wurben, wohin man aus Galatien und ben
übrigen ‚benachbarten Ländern (p. 259. 267.) zum kirchlichen Decretis
ven zufammentam. Dies kann in biefen Gegenden um fo weniger une
erwartet fein, da Salatien, von ?riegsluftigen freien Gelten befegt,
längft republitanifh durch jährlihe Repraͤſentativ⸗Ver⸗
fammtlungen regiert wurbe 9). | U
Oertlich nahe Verſammlungen mußten auch fuͤr das
chriſtliche Kirchenweſen zweckmaͤßig und meiſt wohlthaͤtig ſein, weil bis
dahin großentheils nur praktiſche Einrichtungen regglirt
wurden, ſo daß man dogmatiſche Ueberzeugungen nicht leicht der
(dafür fo wenig paſſenden) Entſcheidung durch Stimmenmehrheit aus⸗
ſetzte. Wenn je eine feinere Ketzerei geahnet werden ſollte, wurde noch
der Weg der Ueberweiſung durch Geuͤbtere, wie bei Beryll (durch
ben herzugerufenen °) Origenes), gerne verſucht. Ohne Zweifel wirkte
bier, wenn auch nicht deutlich gedacht und ausgeſprochen, bie Grunde;
einfiht, daB äußere Anordnungen und Rechte, weil fie für
das Sichtbare beftinnmt find und auch buch die Rechtsbeſchützung
Alter oder wenigftens der Mehrheit erhalten‘ werben muͤſſen,
wohl buch Stimmenmehrheit derer, bie das. Nüglidhe nad) Er⸗
fahrung beurtheilen, decretiet oder abolirt werden dürfen, daß hingegen
Beurtheilung des Wahren, infofen es al& das Unſichtbare von
ber feltenen, befonderen Stärke und Uebung ber Geiſteskraͤfte abhängt,
nicht anders ald wider die Natur der Sache und mit Gefahr
endlofer Zerrüttungen und Willkürlichleiten bem Entfcheiben durch
Stimmenmehrheit unterwürfig zu machen ifl.
Die Vernadhläffigung diefer Unterfcheibung iſts, was bie folgenden
Sahrhunberte, feit das chriftliche Kirchenweſen durch K. Conftantin eine
legitimirte, dann bevorzugte, bald aber allein herrfchende Staatsreligion
geworden war, bei einer faft zahllofen Menge von größeren Eoncis
T) Er ſpricht zweimal bavon in ber erſten n.: oonfirmavimus unb
tractarimus | wonad Walch in feiner en ihn zu berichtigen. iſt.
med Strobe 3,12. gl Wernsborf, de Republ, Galatarum,. Norimb.
‚Dr. a DER in) eiisade
— Hambardi ang Galefües NBeihnaditäprogramim de Bery ejasq
598 Concilien.
lien doch immerfort in das Gegentheil von Coneiljation und
noch vielmehr in eine Folgenreihe und Kette unerweislicher Lehrgebote
und Formeln verſtrickt hat. Der Urſprung des Chriſtenthums war
ein ganz anderer geweſen. Der juͤdiſchprophetiſche nationell bes
ſchraͤnkte Begriff, wie eine aͤußere Theokratie, ein Gottesreich bes
juͤdiſchen Volkes Gottes durch ihre Geſetzgebung, Sitten und Cultus
uͤber alle Welt gebieteriſch vorherrſchen ſollte, wurde durch den Geiſt des
Meſſias oder Cheiftus Jeſus in das Ideal einer allgemein möglichen,
dem heiligen Wollen Gottes gemäßen Weltregierung erhoben und vergeiftigt.
"Damals war fhon bag eigentlihe „Blauben”,— das bis zur Ems
pfindung und zweifellofeem Vertrauen fleigende Weberzeugtfein, an die
Vielgötterei vielen Nachdenklicheren nicht mehr fo recht möglich,
weil die uralte davon nicht wohl zu trennende Mythologie diefen alten
Göttern gar zu viel Unglaubtiches aneignete. Selbſt die in Aegypten
verſuchten philafophifch-alfegorifhen Umbeutungen beffen, mas Homer
und Hefiod geglaubt und dichteriſch veranfchaulicht hatten, konnten jet,
ftatt zum Glauben, ſchon nur zum Grübeln und eigenwilligen Ausle⸗
gen binleiten. Unvermeidlich ifts, daß das Pofitive jeder Religions⸗
form in gebildeteren Zeitaltern deſto unglaublicher zu werden beginnt,
je mehr fie von ihren früheflen, aus einer finnliher gläubigen Zeit
flammenden Zrabitionen nicht frei und unabhängig gemacht, nicht flatt
beſchraͤnkter Begriffe das Ideale fubitituiet werden kann. Es kommt
eine Periode, wo viele „Bedachtfame”, und alfo im eigentlihen Sinn
‚Meligiofe”, an das unglaublidy Gewordene nicht mehr glauben Eönnen,
wenn fie gleich fehr gerne etwas Glaubliches glauben wollen.
&o geflimmten, dem Monotheismus bereits nahen, zur Andaͤch⸗
tigkeit geneigten, aber des heiligen Stoffe dafür beraubten und ungerne
entbehrenden Gemüthern, deren in ber gleichzeitigen Heidenwelt fchon
viele waren, die deswegen dem MWefentlichen des Judenthums, bem
GSotteinheitsglauben, ſich näherten (Apg. 13, 43.48. 17,12. 18, 10.
19, 26.), brachte nun das Urchriſtenthum die immer boch etwas Aeus
ßeres und Sinnliches mitbringende Spdealität von einem „Gottesreich
für alle Völker‘ mit populdtem Enthufissmus entgegen. Dazu follte
fidy jeder Einzelne als ein zu Gott, dem Heiligen und allgemeinen
Vater, Eindlicy ſich erhebender Geift vorerft felbft bilden. So begann
das Beflerwerden ganz naturgemäß nur von dem Wollen, welches
jeder Einzelne in feiner Macht hat. Alsdann folgt erft fichere Wer:
bindung Mehrerer, wenn fie einzeln ſich vorbereitet hatten. Auch alle
dadurch brüderlich Vereinte, Arme mit den Reichen, Sklaven mit den
Herren, bie zurüdgefesten Frauen wie die Minner follten alsdann oͤrt⸗
lich in einen Verein der Ausgewählten Gottes (Ekkleſia) fich fo vers
binden, daß Schritt für Schritt, Ort für Ort ähnliche Vereine des
Deren” (von Kyrios her Kyriakaͤ — dominicae genannt) ſich uns
unterbrochen aneinander anfchlöffen, bis dadurch, ohne Gerdäufch und
faft unbeachtet (Luc, 17, 20.), Diſtrikte, Provinzen, Reiche, ja bie
ganze bewohnte Melt in das heabfiähtigte Gotteöreich verwandelt wäre.
\ Gonkcilien. | 509
Ein aͤußerſt einfacher, untheoretifch volksthuͤmlicher WeltumSnderungd,
plan, befien altes Künftliche überbietende Verwirklichung feine innere
Nichtigkeit bewieſen hat.
Diefe Vereine oder Gemeinden, welche auf ben andaͤchtigen Glau⸗
ben und den durch die Geſellſchaftlichkeit geficherten Vortheil aller Eins
zelnen gegründet waren, erwuchſen Anfangs in foldy brübderlichem
Gleichheitsſinn, dag fogar der fehlende zwoͤlfte Apoftel nach Vorſchlaͤ⸗
gen der eilf übrigen von der ganzen erften Gemeinde. aus zweien für
gleichgut geachteten, alfo ohne Worausfegung einer dem MWählbaren
von oben ſchon gegebenen Infallibilitaͤt durch das Loos und dann bie
Diaconen oder Gehülfen nach perfönliher Kenntniß gewählt wurden °
(Apg. 1, 23— 26. 6, 3). Da aber m ben Johannesgemein⸗
den nach Apok. 1, 20. 2, 1. 8. 12. u. f. mw. ſchon ein Einzelner
über das übrige Presbpterium, wie tiber die Gemeinde, als „Schußs
engel” oder Epiffopus gehoben war, murden bald die vielen nicht mweit
von einander zerftreuten Gemeindevereine durch die wenigen Epifkopen,
deren jeder in feinem Kreiſe wie ein Stellvertreter ber Apoftel felbft
galt und fid) mit allen Seineögleihen zu einem alleinigen Unis
verfalepiftopat feflverbunden hielt, in einen dußerft wirkſamen
Organismus vereinigt.
Diefe ftatt des: Zwangs auf bem Glauben und Wollen ber Mei⸗
ſten radicirte irhlihsartftotratifhe DOrgantfation hatte ſich
wie ein Netz von einer Parochie (Discefe) zur andern über das Roͤ⸗
mer⸗ und Perferreih, überhaupt ohne an Landesgrenzen gebunden
zu fein, durch die Sodalitaͤtskraft 19) ebemfofehr ale durch die Wahrs
heit der chriftlich meffianifchen Hauptideen ausgedehnt.
Natürlich weckten Überall die vom Mangel bebrohten Opferpries
fter, befonbers wenn Uebel, die man dem Zorn ber Götter zufchrieb 19),
einbrahen, Argmwohn und Verfolgungswuth gegen die „götterlofen”
ChHriftianer. Noch fchlimmer aber war's, daß gerade die Eräftis
geren Imperatoren des zweiten unb dritten Jahrhuns
derts dad unverkennbare Sinken bes Reichs durch eine erziwungene
Miederherftelung des „alten Römerthums”, alfo durch das Gegentheil
- des chriftlich =theokratifchen, friedlich rechtwollenden Sinnes und folglich
durch Unterdrüdung dieſer „Conföderation” verhüten zu müffen meins
10) Die wirtfamfte Art von Ausbreitung iſt nicht bie geſetge⸗
bende, nicht die politifch zwingende, auch nicht bie wiſſenſchaftliche und literaris
ſche, fondern bie mündlih, im Umgang, in Privatbefprechungen, bei Agapen,
von Haus zu Haus, von Dorf zu Dorf fich fortpflangentee Neque enim
civitates tantum, fihreibt der richtig beobachtende Statthalter Plinius, sed
vicos etiam atque agros ... contagio pervagata est (ep. 97.)
11) Post Alexandrum Imperatorem .. terrae motus plarimi et freghentes
extiterunt, ut et per Cappadociam et Pontum multa subruerent.. ut ex hoc
persecatio quovis gravis adversus nos christiani nominis fioret, Firmiliani
ep. 97. ad Cyprian. p. 261. Doch war persecutio illa non per totum mun-
dum , sed localis.
\
..
600 Concilien.
ten. Dennoch widerſtand dieſer Macht der Opferprieſter ſowohl, als
den ſtrengeren Staatsregenten bie ſchon beſſer organiſirte Epiſkopal⸗
hierarchie durch ihre bis zum Maͤrtyrerthum der duldend ſiegenden
„Kämpfer Chriſti“ begeiſternden Verheißungen ewiger Seligkeit. So
oft aber unter ſchlafferen Regenten ſie weniger geſtoͤrt und beengt
wurde, gewann das auf Einwilligung und Volksthuͤmlichkeit gebaute,
locale und univerſale Epiſkopalregiment deſto groͤßeren Zuwachs.
Nachdem auch die grauſamſte Verfolgung unter Decius nicht viel da⸗
von zu erſticken vermocht hatte, konnte nach einer lange nachgiebigen
Herrſchaft Diocletians Galerius, einer der drei Mitregenten, uͤber⸗
weiſend 12) zeigen: Roͤmiſches Heidenthum und kirchlich-chriſtliche
Theokratie ſtaͤnden bereits ſo gegen einander, daß, wenn dieſe nicht
mit unerbittlicher Gewalt ausgerottet wuͤrde, allernaͤchſtens die Kaiſer
ſelbſt, deren Hof, Heer und Beamtenwelt von erklaͤrten Chriſtianern
voll war, ihre Staatsreligion zu vertauſchen genoͤthigt waͤten. Da⸗
her dann der letzte entſcheidende, ſchlau genug nicht gegen die Menge,
ſondern beſtimmt gegen alle Vorſtaͤnde und die Beſitzungen der Kir⸗
chen gerichtete Verfolgungsſturm.
Und wer weiß, was, conſequent wider die Hirten der Heerden
und deren aͤußere Huͤlfsquellen fortgeſetzt, der Zweikampf des Alten
mit dem Neuen bewirkt haben koͤnnte, wenn nicht der vierte der
Zugleichregierenden, Conſtantius, feinem perſoͤnlichen Charakter nad
ein nicht blos theoretiſcher, ſondern praktiſch weiſer Verehrer
eines Einen für Alle wohlthaͤtigen und gerechten Gots
tes gemwefen wäre, den ganzen minder verfeinerten aber thatträftigern
Weſten von den germanifchen und italifhen Grenzen an außer der
Verfolgung gehalten und feinem Sohn Conftantin eine gemüthliche
Vorliebe für den fittlic beffernden Monotheismus und eine politifch
kluge Neigung fuͤr Cultusfreiheit anerzogen haͤtte.
In dieſe gedraͤngte Entſtehungsgeſchichte der damaligen Weltlage
muß der Staatskundige tiefer hineinblicken, wenn er als Menſchen⸗
und Rechts-Kenner richtig faſſen und beurtheilen will, was nun Con⸗
ſtantin und feine zwiſchen dem Orient und Occident ber ungeheuern
Reichsausdehnung ſich theilende, immer mehr byzantinifche ale roͤmi⸗
ſche Nachfolger, wegen des ohne den Staat entſtandenen geſammt⸗
epiſkopaliſchen Chriſtenſtaats überhaupt und beſopders auch durch
die Epiſkopenverſammlungen oder Concilien gethan und
beabſichtigt haben.
Conſtantin war, wenn man fr. feinen Edicten und Thaten Pos
litik und Gefinnung pfochologifch genau feheidet, offenbar aus Weber
12) Hierüber erhält, wer dergleichen Memoiren zu leſen und zu deuten
verfteht, bie geheimeren Auffhlüffe in dem Auffag de mortibus persecutorum,
von Lactantius, welcher, als Rhetor In Diccletians Pataft felbft benugt, bei⸗
ee ie und Staatsintriguen, foweit e8 ihm als Gelchrten und als Chris
fen moͤglich war, beobachtete.
Concilien. 601
zeugung Monotheiſt, doc mehr nach Theorie als, wie fein Vater, um
der praktiſch edlen Folgerungen willen. Seine Rivalen ſtuͤtzten ſich
auf das heidniſche Roͤmerthum, die Politik mußte ihn die Chriſten
Buch Vorzüge zu beguͤnſtigen bewegen, denen er als Mono⸗
theiſt blos ſich genaͤhert haben wuͤrde. Denn lange ſpricht er zwar
mit Affect von dem „Gott über Alles, als dem Heiland” (faſt fo,
wie in ben uns. befannten Urkunden der heiligen Allianz, welche
dreierlei Kirchen damals als verbündet zu behandeln und baher aller:
meift unter den einen Heiland, Gott, zu ftellen hatten), aber gar nicht
oder auffallend wenig fpriht er noch von Chriftus.
Se meiter dann aber Conftantin auf feiner Eroberungsbahn, mo
die Chriſten für ſich wie für ihn das Aeußerfte wagen mußten, gluͤcklich
fortfchritt, deſto eifriger gingen, wie feine Anorbnungen bemeifen,
feine Wünfche blos auf ein ruhiges Mebeneinanderftellen
beider Religionsparteien. Kintraht im ganzen Staate und
Entfernung ber Tyrannei oder Willkuͤrherrſchaft waren, wie er woͤrt⸗
lich (Eufeb. Leben C. %, 65) und durch bie Thatfachen erklärte, feine
Megierungssmede. Gerade daraus aber, weil er unausgefegt in bies
fen politifchen Hoffnungen gearbeitet hatte, wird es begreiflich, wie der
nähft vor der Feier feiner Vicennalien 'entfiandene neue Epiſko⸗
palftreit in dem ohnehin nie ruhigen Alerandrien ihn fo fehr in Bes
wegung fegen und zu dem erften Beifpiel einer von ben ftreitenden
Gegenden auf Eaiferlihen Wagen zufammengeholten, vom Imperator
präfidirten Epiflopenverfammlung, bie für die von ihm bes
herrſchte Oekumene oder „cultivirte Welt” allgemein geltend —oͤkum e⸗
niſch, werden follte, beſtimmen konnte.
. Schon die Do natiſtiſchen Kirchenſtreitigkeiten in Afrika, welche
hauptſaͤchlich auf dem Vorurtheil beſtanden, dag nur ein von aͤußer⸗
lich Rechtglaͤubigen eingeſetzter Biſchof ſeligmachende Sacramente ad⸗
miniſtriren koͤnne, und welche alſo die Glaͤubigen uͤber die individuelle
Amtswuͤrdigkeit des Epiſkops immer aͤngſtlich machen mußten, hatte
Conſtantin 311 — 316 blos als eine Staatsangelegenheit behandelt,
welche, weil fie Unruhe made, unter feiner Auctorität- beigelegt wer⸗
ben müffe. Daher verfuchte er das vorher unechörte Mittel,
NRegierungscommiffionen aus Weltlihen und Epifkos
pen zugleich in großer Anzahl und auf Staatskoſten zur Abur⸗
theilung darüber anzuordnen. Eufeb. 8. ©. 10, 5. 6. Dffenbar waren
die beorderten Bifchöfe babei nur als Erperten (Sachkundige), um ben
Inhalt des Streits ind Klare zu bringen. Die Entſcheidung erfolgte
im Namen des Staats. Und da das Donatiftifche meift dußere Rechte,
die Frage nämlich: ob ein der Nachgiebigkeit in Verfolgungen Verdaͤch⸗
tiger zum Bifchof wählen ober gemählt werden bürfe? betraf, fo konnte
auch das Ganze als Rechtsſache abaethan werden, wenn nur, worin
nad den kirchlichen Grundſaͤtzen das Recht beftand, durch bie kirchlichen
Mitglieder der Regierungscommiffion erörtert war.
Sehe verfhieben war bie Streiturfache zu Alexandrien. Hier
002 Concilien.
betraf es ganz ein Dogma. Aber auch bier betrachtete es Con⸗
ftantin, nur infofern es die Staatsruhe bedrohte. Wenn er ſchon mit
der Chriftologie genauer bekannt und nicht noch mehr Monotheifl,
als Chriftianer geweſen wäre, wie hätte er denen, welche über bas
„Wefentlihe im Verhaͤltniß Chriſti zu Bott” flritten,
dem Bifchof Alerander und deſſen Presbypter Artus, in gleichem
Maße fchreiben laflen Eönnen, bag ihrer Streitfuht ein klein⸗
liher und leicht zu beenbigendber Vorwand zu Grunde
liege, und baß „über dergleichen Dinge nicht gefragt und nicht ges
„antwortet hätte werden follen, weil fie nämlich nicht über ein Haupt⸗
„gebot oder neuen Cult (nur über eine Lehreinfiht) uneinig ſeien.“
Eufeb. Leben Conft. B. 2. 8. 68 — 70.
Nahe war demnady der Kaifer vor dem nicänifchen großen Cons
ct von 325 der Einfiht, dak das Wahre in Lehren nidt
durch Auctoritäten, Macht und zufällige Stimmenmehrheit entſchieden
werben könne, fondern, mie in der Philofophie (Eufeb. 2, 71.), ber.
nur mit der Zeit möglichen Wirkfamkeit der Gruͤnde und Gegengründe
fret überlaffen und nur aͤußere Ruheſtoͤrung abgehalten werden follte.
Aber allzu gewaltig war fhon das in ber Volksmei⸗
nung radicirte Epiflopalregiment, weil das Seligwerden
‘allein durch Vereinigung mit dem einzelnen Biſchof, ald bem ben
Apofteln fuccedirenden Verwalter ber Geheimniffe und faccamentlichen
Gnaden Gottes, möglich ſei, die Legitimität des Biſchofs aber von
feinem Anerkanntfein im allgemeinen Episkopat abhänge. Wegen
diefer feit ein Paar Jahrhunderten fhon mie ein Chriftenftaat im
Heidenftaate erzeugten Epiſcopalmacht alfo lieg Conſtantin mehr ale
300 ſolcher Kirchenmagnaten in die Nähe feiner orientalifhen Haupt⸗
ftadt, nah Nikaͤa, zufammendringen, nicht um buch fie auf ben
Grund der Sache einzubringen, fondern, wie er fie auch durch pers
fönliches Zureden dazu vermochte, ein ber Staatsruhe foͤrderliches
-Uebereintommen für eine gemeinfchaftliche Lehrformel zu bewirken.
Anders allerdings wurde die Sache von den Biſchoͤfen genoms
men. Gie, bie ſchon als heilig und felig Betitelten, erfchienen in
dem chriſtianiſchen Gottesreih als Chrifti Stellvertrete. Wie viel
Chriftus perfönlih gelte, war alfo für fie nicht eine Beine Frage.
Wir müffen auf deren Entftehung zurüdbliden. In feiner perfönlis
hen Erfheinung muß der Begründer des Urchriſtenthums einen
außerordentlidy mächtigen Eindrud gemacht haben. Die Dämonizirens
ben erfhütterte fein Anblick. „Wir fahen,” fo wirb im Namen feined
Lieblingsjüngers im Johannisevangelium gefchrieben, „feine Majeftät
wie die eines Einzigartigen von Gott.” Ungeachtet er fo kurze Zeit
perfönlich gewirkt hatte, war doch der Eindrud, daß er wie ein Ueber
menſchlicher, wie ein Goͤttlichgeſtalteter (Philipp. 2, 6 — 11.)
fid) gezeigt und durch den tiefiten Gehorſam gegen Gott gewiß alsdann
die hoͤchſte Geiſteserhoͤhung erhalten habe, fortdauernd. Die gnoſti⸗
ſche (mie fie meinte, das Wahre „tief erfennende) Vorſtel⸗
Goncilien. 603
lung, baß er ein mit heiligen Einfichten begabter Menſchengeiſt gemefen
fei, auf den ſich eine hohe Gotteskraft oder ein befonderer Mittelgeift,
Chriſtus, einwirkend herabgelaffen habe, mißftel, als viel zu gering,
immer mehr. "
Bald entitanden alfo fpecufative Theorien, wie fich der In ihm
fihtbar gewordene Meſſiasgeiſt zum Einen Gottesweſen verhalte? In
NPalaͤſtina war der Begriff: der meſſianiſche Geiſt als folcher habe vor
ber Weltfhöpfung in Herrlichkeit bei Gott präeriftirt, fo daß, wenn er,
der Heitftifter (Soter), nicht zum Voraus dageweſen wäre, eine füns
bige Menfchenmwelt gar nicht gefchaffen fein würde. Won Jeſu felbft
wird oh. 17, 4. 5. bie damit parallele Bitte an den Vater, ale
den alleinigen Gott, aufbewahrt, daß, wenn er fein Meſſiaswerk volls
endet haben werbe, Ihm bei dem Vater die Herrlichkeit wieder
werden möge, welche "er bei bemfelben, ehe die Welt warb, gehabt
habe. Eine zweite Theorie ging von altteftamentlihen Stellen aus,
daß bie ſich offenbarende -Wetsheit (Sophia) als ewige Vollkommenheit
und fat wie eine befondere Perfon (Spruͤchw. 8, 22 — 31.) in
Gott fei, alles Werdende durch fie werde und der Meſſiasgeiſt ſelbſt
in Jeſus fo herrlich erfchienen fei, mweil der alleinige Gott felbft, aber
befonderd als jene ſich offenbarende Weisheit, in ihm ſich vergegen>
wärtigt, ihn zu feinem Sohn gemadjt habe.
Alexandriniſch jüdifche Gelehrte, noch vom Urchriſtenthum unabs
hängig, hatten fich eine dritte Theorie gebildet, nach der jene Weis,
beit im Wefentlihen Gott ewig war und blieb, aber daß der Ewig⸗
reine, ba er alles Nichtvolllommene werden laffen und doch unmittels
bar mit dem Miedrigeren ſich nicht befaffen wollte, aus jener Weisheit
einen mit allen Ideen und Kräften für die Weltſchoͤ⸗
pfung erfüllten, goͤttlicherzeugten Geiſt perfönlich hervor⸗
gehen ließ, welchen fie daher den Weisheitfprehenden (Logos)
und einen zweiten Gott nannten, auch alle Offenbarung Gottes
unter den Menfhen von bdemfelben ableiteten, jüdifcher Hoffnungen
auf einen Meſſias aber dabei nicht erwähnten. Das Vierte dagegen
in biefer Beziehung ‚war, baß.diefe außerpaläftinifche Vorſtellung von
einem Logos, ber „bei dem (eigentlichen) Gott” als ein Gott fei und
duch ben alles Werdende, die Welt fowohl als das geiftige Licht für
bie Menfchenmwelt, werde, Im Eingang des Johannesevangeliums auch
in das Ucchrifllihe aufgenommen und daraus die Erklärung abgeleitet
wurde, warum in Sefus jene Majeftät eines in feiner Art einzigen
Gottesſohns zu fehen gervefen fei. Der im Menfchenleib (dem Fleiſch)
Jeſu nad) der paldftinifchen Theorie erfchienene Meffiasgeift naͤm⸗
lic) ſei gerade eben bderfelbe, ben bie alerandrinifche Theorie ben Lo⸗
908 Gottes, den vor aller Schöpfung bei bem Gott feienden zweis
ten Gott, nenne.
So theologiſch die Darftelung biefer viererlet fpeculativ gedachten
Möglichkeiten klingt, fo nöthig iſt bie gedrängte Notiz davon bocd)
auch bem Staatsrehtstundigen, wenn ihm bie Probleme, fiber
w
604 Concilien. on "
welche In fo vielen Concillen geftritten und mehrere Jahrhunderte Kine
durch die Staatsruhe gefährdet wurde, ja fogar auc zu unferer Zeit
leicht aufs Neue gefährdet werden Einnte, wie etwas bios Willkuͤrliches
und gleihfam aus den Wolken Gefullenes und vom bloßen Eigenfinn
Aufgerafftes erfcheinen follen.
Alle alerandrinifhen und auch andere etwas philofophirenden Kir⸗
dhenväter waren im zweiten und dritten Jahrhundert für die vierte
Theorie, daß der Meffiasgeift und ber Logos eimerlei, alfo jener auch
der fecondbäre Gott fei, durch welchen ber Gott über Alles, als
durch einen von ihm ausgeftatteten und unmittelbar erzeugten Geift,
alles Webrige gefhaffen und von jeher ſich den Menſchen geoffenbart
babe. Dügegen wurde die zweite Xheorie, daß Gott felbit, jedoch
nur als ewige Weisheit und MWundermacht, in dem Meſſias unmittels
bar gewirkt babe, In Sabellius, Paul von Samofata u. A. verketzert;
fo wie gewöhnlich das Feinere die Stimmenmehrheit lange nicht für
fi) gewinnen tann. So lange indeß der Chriftianismus noch der
Nielgötterei verfolgt gegenüber ftand, mar es immer bei den Apologes
ten beffelben eine nicht ganz unbeliebige Art von Verähnlichung mit
berfelben, wenn man zwar den eigentlichen „&ott über Alles“ monos
theiſtiſch, aber doch auch einen von ihm ausgeſonderten hohen Geiſt
als einen untergeordneten Gott bekannte.
Jatzt aber, da die chriſtliche Epiſcopalkirche hauptſaͤchlich wegen
der Gotteinheitslehre der Vorliebe des Imperators verſichert wurde und
das alte Lehren von einem „zweiten Gott außer dem Gottesweſen“
mit dem nunmehr bevorzugten Monotheismus weniger vereinbar ers
fhien, fanden die Kicchenobern zu neuen theoretifhen Verſuchen An⸗
laß genug ; befonder& dort, wo die Zheorie von bem Logos, als fecons
daͤrem Gott, gleihfam zu Haufe war. Ein tieffinnig bialektifcher-
Presbyter, Arius, biele feft an dem aleranbrinifchen zweiten Gott,
als untergeordnetem Weltfchöpfer und Dffenbarer, dachte aber bennod) die
hoͤchſte Sotteinheit dadurch mehr zu fchügen und hervorzuheben, daß
er in den hürteften Ausdruͤcken den zmeiten Gott, Logos, als einen.
geſchaffenen und einft nody gar nicht gewefenen befchrieb, meldyer, aufs
waͤrts mit dem Einen Gotteswefen verglichen, unendlich viel tiefer ftehe,
und nur, abwaͤrts gegen Alles, was ducch ihn geſchaffen ward, für alles
diefes Nichtvolllommene ein Gott, ein Stellvertreter des eigentlichen
Gottes fei.
Berlegend Elangen biefe harten, wenn gleich nicht Inconfequenten,
Formeln bes Arius gegen den mit Chriftus oder dem Mefjinsgeift
(nad) dem Prolog des Johannesevangeliums) als einerlei gedachten
Logos. Werlegend aber aud) zugleich gegen die Würde ber Kirche und
vornämlid der Statthalter Chriſti, der Epiflopen, mußte bie verfuchte
Herabfesung der zweiten, als Gott genannten Perfon beſonders
den Biſchoͤfen erfheinen. Dee Biſchof von Alerandrien war.
daher, gegen feinen Presbpter, vielmehr dafür, bag zwar Chriftus und
der Logos als identifch und als Perfon zu behaupten,. aber dar⸗
Goncilien. 605
auf gedacht werden müffe, wie dieſe Perfon nicht außer dem Go»
teswefen, ſondern zugleich und in gleicher Wuͤrde mit ber Perſon des
ihn ewig zeugenden-Baters indem Einen Wefen ber Gottheit
Tetbft fubfiftire. Die einft noch dunkle Ahnung mancher Deciden-
talen (mie bed Irenaͤus), daß wohl bie ewige Weisheit felbft in ner⸗
halb des göttlichen Wefens wie eine Perfon fubfiftire (= als
Hppoftafis beftehe), begann um fo mehr denkbar zu fcheinen, da ohne
hin..die neuen Ausleger Platon’s ihn ſo zu deuten pflegten, wie wenn
der oft dichterifche Phllofoph bie mancherlei göttlichen Vollkommenheiten
und Shealitäten fi) wirklich wie felbftftändig gebacht hätte. Das Got⸗
tesweſen (zo Heiov) ſchien reell aus ſolchen Hypoſtaſen oder Perſonen
beſtehen zu koͤnnen, wie wir das Menſchenweſen oft aus Vernunft,
Verſtand, Willen ꝛc. gleichſam als aus Perfonen oder beſonders ſubſi⸗
ſtirenden Kraͤften beſtehend beſchreiben.
Mochten dieſe verſchiedene Theorien uͤber ihren theoktatifchen Chri⸗
ſtus und mehr. idealiſchen Logos unter der Menge der „gottgeheiligten
und ſeligſten“ Epiſkopen, welche Conſtantin zuſammenrief, im Umlauf
und noch in unvollendeter Gaͤhrung ſein; ihm, der ſich bis gegen
fein.. Ende als einen erſt noch zur Taufe vorzubereitenden Katech u⸗
menos außerhalb des Kirchenthums hielt, war es nicht ſo⸗
wohl darum zu thun, ob die chriſtlichen Kirchenobern nach einem Ver⸗
fluß von. drei Jahrhunderten über das Verhaͤltniß ihres Chriſtus zu
dem Einen Gott, ben. ex verehrte, jekt endlich gewiß werben koͤnnten,
als vielmehr darum, daß fie über eine mit dem Monotheilt«
mus vereinbare, bie Störung der Ruhe feines Staate
verhütendbe Dentweife und Formel einverftanben- were
den und ben Kirhenfrieden nad: Daufe mitnehmen
follten. Welchen Mefpect Eonnte auch der Auge Herrfcher vor ben
meiften ber verfammelten. „Liturgen Gottes, des gemeinſchaftlichen
Beherrfchers und Heilands Aller” (f. Eufeb. Leb. Conft. 8,:&. 12.) -
in ſich fühlen, da die heiligen Männer gleih Anfangs ihn mit”eiferfüch«
tigen Klagen gegen einander fo überhäuften, daß er. alle feine griechifche
Suada (8. 13.) nöthig hatte, damit man nur zu gemaͤßigten Dell»
berationen kommen Eonnte. Soweit nun das Kicchlidhe nicht in bad
Aenfere, in die Erfcheinungsmelt des Staats: eingriff oder einwirkte,
ließ er fie als Epiſkopen der Ekkleſia vituelle (das Paſcha ale Feier
des. Auferftehungstage ober bes eigentlichen „Dfterne” vegulivende)
md begmatifche Befchlüffe faffen.
Mas nun. das Logos Dogma betraf, fo waren fall alle Ware
fammelte von ben hart bdurchgreifenden Ausdruͤcken bes Presbyters
Aus, der ihn einen „Michtgewefenen” und Lieber ein Gefchöpf ale.
einen Göttlicherzeugten nannte, indignirt. Unvermerkt aber. benugten
die durchfchauendften Gegner der Artanifhen Härten, wie befonders
ber Presbyter Athanafius, ben allgemeinen Widerwillen gegen. diefe
foweit, daß ein Beftimmungswort, welches Arius durchaus perhortee
feiren mußte, einzig um ihn und bie wenigen ihm -treugebliebenen Rigo⸗
608 Coneilien.
riſten zuverlaͤſſig auszuſchließen, als Schiboleth anerkannt wurde. Dies
war das Wort Homouſios, deſſen Schickſal wohl ſonderbar zu nen⸗
nen iſt, weil es fruͤher kirchlich verworfen war. Schon um's Jahr 260
naͤmlich hatte Sabellius vom Logos des Johanneiſchen Evangeliums
bie Auslegung verſucht, daß bie ewige Weisheit des Einen Gottes,
weiche. als eine Vollkommenheit und Wirkungskraft zugleich mit
andern ſolchen Kräften das Wefen Gottes ausmache, und alfo
innerhalb dieſes Weſens, aber nicht als perſoͤnlich ſubſiſtirend
ſei. Das für biefe Vorſtellung pafjende Kunftwort wurde damals
Eicchlich verworfen, weil die Meiſten noch den fecondbären Bott, Logos,
als einen aus dem Weſen bed Vaters herausgetretenen dachten. Jetzt
hingegen behielt man von den dlteren Alerandrinern und den Arianern
zwar gerne die Behauptung bei, daß die Weisheit Gottes, unter bem
mafceulinen Namen Logos, eine Perfon, ein Gottesfohn fa,
verband aber damit die mehr epiffopalifche, «als philoſophiſch denkbare
Worſtellung, daß eben diefe Perfon aber auch die Perfon, weiche fie
ewig als Vater zeuge, zugleich (— Homu) in dem Einen Wes
fen (= ber Ufia) Gottes, und alfo niht außer und unter
daſſelbe hervorgetreten ſei. Die Disputicenden unterfchieden nicht,
was wir durch bie Begriffe Subſtanz und Efienz .unterfcheiden. Wie
Seder weiß, ift ein Wefen, 3. B. bie Menfchheit, an ſich nur ein abs
firaeter Begriff, der nirgends ale in Gedanken eriftirt. .. Die. Menſch⸗
heit ift nur in den einzelnen Perfonen, in welchen das zum Menfch
fein Unentbehrliche oder Eſſentielle als wirklich befteht. Umgekehrt aber
glaubten die firengen Antiarianer fich zwei. oder drei Perfonen, bie
innerhalb Eines, des göttlihen, Weſens eriftixten, zwar wicht
benten zu Eönnen, aber doch um fo mehr al ein Geheimniß behaups
ten zu müffen, weil fie das ‚Gotteömwefen ald Eine „Subftanz”
obnegleichen betrachteten, in welcher das zum Gottfein Unentbehrs
liche oder. das Effentielle nur einmal fei, aber worin auch noch
andere, vom einander unterfcheibbare Qunlitäten verwirklicht feien, durch
beren Verfchiedenheit fi Drei (Vater, Sohn und Geift) ald Pexfos
nen unterfhieden und doch nur innerhalb Einer und ebenbers
felben Subſtanz (Ufia) zugleich (Homu) fubfiftirten.
Einleudhtend konnte dieſe geheimnißvolle Darftelung wohl
auch dem Imperator gemacht werden, infofern dadurch der in ihm
vorherrfchende Glaube an Monotheismus, weicher, fo lange die Chris
ften von einem fecondären Bott (Deuteros Theos) fprachen, gefährdet
war; reiner und geficherter erfhien. Den Biſchoͤfen aber konnte
die jetzt beflimmter gefaßte Geheimnißlehre um fo genügenber erfcheis
nen, weil dadurch Der, welchen fie in der Kirche vepräfentirten, ber
Chriftuss Logos, auf der höchften Stufe der Dinge, innerhalb ber
alleinigen göttlichen Subftanz beftehend, zu glauben war. Alle Theile
bofften durch das Eintreten in biefes mpfterisfe Dunkel allgemeine
Ruhe zu befördern. Erſt die Erfahrung zeigte das ber Kirche und
dem Staat fo [hädlich gewordene Gegentheil, Jahrhunderte hindurch
Concilien. 607
konnte dennoch der unaufhaltſam fortbildende Verſtand in dem Beſtre⸗
ben, durch neue Begriffsverſuche und Wendungen den zum Selig»
werben unentbehrlihen Dogmenglauben fcharf genug zu beftimmen,
unmöglich zur Ruhe kommen. Denn während man ein Lehr Geheims
niß vor ſich zu haben vorausſetzte, wurde bag Angenommene nun doch
fo behandelt, wie wenn man „hinter das Geheimniß zu kommen”
bie Aufgabe und bie Fähigkeit hätte.
Als das erſte von der Staatsmacht gemollte, dirigirte unb buch)
Beftätigung geltend gemachte Concilium war das Nicdnifche der
Typus, von dem alle folgende einen Theil behielten und in andern
Hauptpuntten nur almälig abwichen. Das Charakteriſtiſche davon
ift deßwegen ſtuͤckweiſe zu markiren.
1. Es ward nur, weil der Staatsregent es deßwegen wollte, da⸗
mit nicht durch Mangel an Uniformitaͤt ſowohl im Ritus (dev Feier
der Auferflehung und ber wegen ber Paſſion vorhergehenden Faſten)
ale im Dogma aus ber Kicche Unruhe in den Staat übergehen möchte.
(Die Uniformitdt im Ritual wurde zu wichtig ‚genommen. Vollends
aber die Lehreinfihten. zur Uniformität zu zwingen, ift, wie die Er⸗
fahrung aller Folgezeit bewies, eine Unmöglichkeit. Dennch wuͤrde
durch Verſchiedenheit ber Gebräuche und deu Lehreinfichten die öffent»
liche Nuhe gewiß nicht gefährdet, wenn nur die Staatsmacht ald Rechts⸗
befchügerin, flatt einen heil zu beguͤnſtigen, immer Alle vom Unrechts
thun gegeneinander abhalten und für fi) nur Gapacitäten.zu benugen,
nicht freitige Meinungen zu protegien, fi) zum Syſtem machen
würbe). oo.
2 Verſammelt wurden zu den Sigungen nicht nur Biſchoͤfe, fons
been auch Presbpters, unter denen. fid) bie Sachverſtaͤndigen (wie
Athanaſius, Paphnutius) fehr geltend machten. -
3. Offenbar abſichtlich und wohlbedacht war es, daß, außer Ho⸗
fius, der als Spanier lange fhon dem Kaifer vertrauter gewefen fein
muß, nur orientalifche Bifchöfe zufammengerufen waren. - Die dogmas
tifhe Unruhe aus der Logosiehre kam erft fpäter in den Dccibent. _
4. „Der Bifchof der Kaiferftadbt Rom fehlte wegen feines Als
tere," fo ſchreibt Eufeb. im Leb. Conſt. 3, 7.; „feine anweſenden Press
byters aber füllten feine Ordnung.” Nicht fie, fondern der erfte
Biſchof auf der rechten Seite hielt an ben im Pomp nad) den Miniftern
eingetretenen Gonftantin eine Anrede (8. 11.).
5. Der Kaifer eröffnete das Concil mit einer Standrede (8. 12
— 13.). In feiner Xbwefenheit dirigirten feine Commiſſarien. Dan
lebte auf feine (des Staats) Koften (8. 9.).
6. Nach kirchlichen Grundfägen ſich zu Beſchluͤſſen, welche theils
Dogmenbeſtimmung, theils Anathematismen gegen das Keztzeriſch⸗Ver⸗
worfene, theils Kanones (kirchliche Regulative) betrafen, zu vereinigen,
wurde den Berathſchlagenden uͤberlaſſen, doch ſo, daß der Kaiſer ſehr
zur Eintracht mahnte (8. 13.). Man ſetzte noch voraus, daß alle
Wohlgeſinnte wiſſen muͤßten, was kurch lich⸗ wahr fe. Sie ſelbſt
—
608 Goncilien.
aber betrugen fi fo, wie wenn ber heilige Geiſt es erft duch Delle
berationen in der Mehrheit zur Gewißheit braͤchte. ine fonderbare
Stellung, mo man das Wahre bald ſchon zu habm, bald erft, und
zwar per mojora, zu fuchen die Miene machte.
7. Das Wichtigfte war, daß die zur Einftimmigkeit (oder Stim
menmehrheit) gebrachten VBelchlüffe ald vom Imperator gültig erklärt
unter feinem Namen an die Ekkleſien allee Provinzen ausgefchrieben
wurden, unter dem K. 20. ausgefprochenen Poftulat: „Wenn ermas
in den heiligen Synedrien der Bifchöfe gemacht werde, fo habe es
Gleichheit mit dem göttlihen Willen.” In biefen Satz aber war uns
ftreitig miteingefchloffen , daß es vom Kaifer beftätigt fein mußte. Und
noch mar feine Unterfheidung gemacht: ob biefe Beftätigung, nur
negativ, die Erklaͤrung, daß der Staat nichts gegen bie Befchlüffe
einsumenden habe, oder auch pofitiv das Verbindlichmachen zum Ges
horchen in fich fchließen follte. Factiſch wurde das Letztere angenoms
men. Denn auch den bogmatifchen Befchlüffen follte die Minorität
unterworfen fein. Den Arius und bie ſtreng Widerfgrechenden wollte
Conftantin durch Landesverweifung für die Staatsruhe unſchaͤdlich ges
macht haben. oo
Bald ergab es ſich, daß, ſtatt Einheit durch aufgendthigte Formeln
zu bewirken, vielmehr den Meiften dadurch jegt erft Earer wurde, wor⸗
in und warum fie .nicht einverftanden wären. Als die Auseinanberge
gangenen erft bei fich uͤber das Votirte gemächlicher zu reflectiren Muße
belamen, waren einige ffeeng Antiartanifche aͤußerſt über da& gefundene
Kunftwort Homoufios — confubftantial, erfreut, Andere
wollten wohl den Begriff, „daß der Sohn mit dem Vater‘ innerhalb
des göttlichen Weſens fei”, aber vermieden die unbiblifhen Ausbrüde,
Eine dritte Zahl ftritt gegen das Wort, um auch den Begriff anbers
zu faffer. Aber auch diefe Maren wieder getheilt. Einige hart in
ariantfchen Kormeln, Andere gelinder in Worten, aber doch nad) alts
alerandrinifcher Gnofis den Water ald den eigentlichen, den Logos als
den erzeugten Gott fegend. Eine dritte Claffe wagte fogar auf bie
Quelle alt diefes Streiten® zuruͤckzugehen und zuvörberft zu fragen,
inmiefern der Mefiinsgeift biblifh Sohn Gottes genannt und mit dem
Logos verbunden fe. So behaupteten Marcellus und Photinus, daß
der Eine eigentlihe Gott immer als Schöpfer und Vater, gegen bie
Menfhen aber und in Jeſus befonders als Logos und heiliger Geiſt
wirfe, waren aber durchaus nicht Sabellianer 19),
-Statt Einer Partei gab e8 demnäh bald fehferlei Gegen.
füge. Auch Gonftantin wurde berichtet, wie des Artus Logos,
als ein hoher Geiſt außer Gott, feinen Monotheismus nicht
gefährbe. Er ließ daher ben Anatbematifirten fchon 336 toieder in bie
Kiche aufnehmen. Sein Sohn Conftantius aber war für eben
13) Meine Abhandlung über des Marcellus Lehre in ten Heibelberger
Jahrbuͤchern. ss" ©. — * 882. I ? 8
Concilien. 609
dieſes Unterſcheiden zwiſchen dem Logos, als dem hoͤchſten aller durch
Gott ſeienden Geiſter, und dem goͤttlichen Urweſen, ſo ſehr, daß 855
auf einem großen Concil zu Mailand von dreihundert Biſchoͤfen nur
drei, nebſt den beiden roͤmiſchen Legaten, gegen Arius und fuͤr Atha⸗
naſius zu ſtimmen wagten. Kein Wunder. Sobald nach Decius
Ruhe für die Kirche eintrat, begannen, ſchreibt Euſeb. K. G. 8, 1.
ſelbſt ein Biſchof, die, welche Hirten ſchienen, aus Eiferſucht Zaͤnke⸗
reien, Drohungen, und maßten ſich gerne Herrſchaften an, wie die
Tyrannenregierungen. Auch Conſtantin Hatte (ſ. Euſeb. Leben deſſel⸗
ben 3, 12. 4, 41. 42.) immer nur gegen bie Streitſucht unter
den Bifhsfen zu ermahnen. - '
Faſt unzählige Synoben und zum Thell fehr vollzaͤhlige Concilien
beliberirten und dogmatifieten bald wider, bald für. einander; balb
machten fie die Hoftheologie, bald wurben fie von diefer inſpirirt. Auch
perfönlicher Widerwille ſteigerte die Verfolgungsluſt, namentlich gegen
den raftlofeften, dialectiſch conſequenteſten Hom ouſianer Athana⸗
ſius, der dadurch den ⸗Erzbiſchofsthron von Aegypten errungen hatte,
und wenn man fein Dogma klar faßt, eigentlich in dem Vereinigen
ber Eiffentialität und der Subftanz das Unterfcheibbare concentriren
wollte. Nach ihm iſt das Effentielle (— das zum Gattfein Uns
re) in Dreien, diefe Drei aber find doch nur in Einer Sub.
anz. "
fih nur für einen Ueberbli der einflußreichften Reſultate derſelben.
1. Das erfte und fortdauernd wichtigfte ift, wie das Patriarchat
von Rom allmälig ſich zu einem überwiegenden Einfluß auf bie groͤ⸗
Seren Goncilien erhob und bie Zaiferlichen Hofeinwirkungen minberte.
Athanafius, 336 von Conftantin I. abgefegt, floh zu dem thaͤti⸗
gen Oberbifhof Julius I. nad Rom und veranlaßte dadurch erft eine
größere Theilnahme ber Decidentalen an dem bis dahin nur für bie
Graͤciſirenden bedeutend und verftändlic, geweſenen Logosftreite. Der
Erfolg gab überhaupt das erfte auffallende WBeifpiel, daß, wer ber
Bifhofsmaht zu Rom Gelegenheit, in entferntere Kirchengegenftände
einzuwirken, verfchaffte, nicht leicht umfonft auf Eräftigen Beiſtand
hoffte. Julius I. erklärte ſich 341 günftig für Athanafius und Mars
cellus. 344 verfchaffte der alte Hofius von Corduba durch bie von
ben Dceidentalen beherrfchte Verfammlung zu Sardica in Jilyrien für
Mom ben Vorzug, daß, wenn Biſchoͤfe gegen einander Abfegungs - Klas
gen hätten, wie eben bamals Athanafius in biefem Fall war, ber
Dberbifchof der alten Hauptitabt, fofern er deßwegen angerufen werde,
den Hauptpunkt, wer von den Nachbarn die Unterſuchung zu fuͤhren
habe, beſtimmen ſollte. In bee Folgezeit behauptete man, daß fie
als Delegirte nicht abzuurtheilen, vielmehr den Erfund nur in Rom
vorzulegen haͤtten. Man folgerte bald daraus das noch Kuͤrzere, daß
uͤberallher nach Rom appellirt werben duͤrfe und alsdann von bort
©taats sLeriton, III. 33
610 Concilien.
die Entſcheidung zu erwarten fei. Man: ließ ſich ungerne daran erin⸗
nern, daß die Unterſucher doch immer in den henachbarten Gegenden
(in partibus) gewählt, nicht aber roͤmiſche fein follten. Der ganze
Dccident war an die „Principalität” der alten Hauptſtadt viel mehr
gewöhnt, als der Drient an bie neue Reſidenz, Conftantinopel, mit
deren Erzbifchof die gleichen Würbeträger ber großen Städte, Aleranbria,
Antiochia, Epheſus zc., zu vivalificen leicht gereizt waren. Das alte
Rom, mit feinem fuburbicarifhen Umfang, hatte mohlbefegte Kirchen
genug, um ſchon für ſich allein eine bedeutende Synode verfammeln
zu koͤnnen. Diefe Gefammtheit war nicht nur reich dotirt, fie glänzte
audy noch durch Ueberrefte der früheren gelehrten Bildung; ber Ges
Ihäftsgang, die Archive waren foweit geprbnet, daß Andere geme durch
Anfragen dort fi) Raths erholten. Was Anfangs blos als zu ruͤck⸗
gefhriebene Antwort rescriptum hieß, ging unvermerft in bie mos
derne Bedeutung des Mefcripts über. VDoch liefen es fi) bie Afri⸗
kaner nicht gefallen, daß im Anfang bes fünften Zahrhunderts ihnen
von P. Zofimus farbicenfifche Kanones **) als nicaͤniſche Auctoritaͤ⸗
ten vorgehalten wurden.
2. Da fon das zweite Detumenicum, 381 zu Conflantis
nopel felbft gehalten, den Erzbifhof von Neurom über die andern weg⸗
und nächft an den von Altrom erhob, fo war Gefahr, daß diefer bald
vollends ganz überfprungen werben koͤnnte. Doch gewann Leo J. ver
möge feiner perfönlihen Autorität duch Valentinians IH. Gefeh,
perennis sanctio gerfannt, vom J. 445, nad) welchem jeber vor das
Bericht des römifchen Antiftes evocirte (occidentalifhe) Biſchof im Wei⸗
gerungsfall durch den Provinzftatthalter dahin ſiſtirt werden mußte,
beträchtlich mehr als der conflantinopolitan. Patriarch dadurch, Daß
das dritte Detumenicum (Kanon 28.) ihm eine Oberauflicht
über das thraziſche, afiatifhe und pontifche Erzbisthum zugeſtand.
Ueberhaupt hob Tih Altrom unleugbar vornehmlich dadurch, daß
fein Primat viel Öfter duch Perfonen von überwiegens
ber Kraft befegt war, als der durch die Nähe des Hofe ohnehin
fehr genirte Bifchofsfig dee neuen Refidenz.
Ä nd das Dogma betraf, mar es nun ganz confequent, baß ber
neben dem Vater und Sohn in der Zaufformel genannte heilige Geift,
wenn man ihn al& eine Perfon ertannte, auch den beiden ſchon al& pers
ſoͤnlich anerkannten gleich und confubftantial gedacht wurde. Baſilius in
feiner Scheift vom heiligen Geift 376 erkannte dies für ein ort
Threiten der Einfiht in bie biblifche Offenbarung. Der militaicifche
Berubiger bes Gefammtreihe, Theodofius I., berief 381.abermals
nur Drientalen nad Gonftantinopel, und biefe vollendeten, als
Sortfeger des nicänifchen Concils, die Lehre von der im Göttliche
weſentlichen (in dem Efjentialen) einander gleichen Dreiheit
—N —
Id S. über dieſe wichtige Verw Soſt
fhichteforfäper HL ae ic ee a aeafrtun pfttler In Meufels Ger
\ Concilien. 611
der Perſonen, welche doch nur Eine Subſtanz ſelen. Den roͤmi⸗
ſchen Patriarchen war, daß der dritte Kanon ihnen den von Conſtan⸗
tinopel gleichſtellte, ſo unangenehm, ‚daß viele von ihnen dieſes Con⸗
cil nicht für oͤkumeniſch erklaͤrten. Dennoch erklärte 'e8 ber Imperator
und das chalcedonifche Concil für allgemein verbindlich.
4. Hatte man drei confubftantiale Perfonen als Gott anerkannt,
fo wurbe jegt die Frage: wie bie zweite mit Jeſus vereinigt fei? zum
Problem. War Jeſus nur: Leib und Geele, der Logos aber der Geiſt
in ihm? (mie Apollinaris die Stelle Johannis 1, 18. verftand) oder
war Jeſus ein vollftändiger Menſch aus Leib, Seele und Geift, aber
vom erften Augenblick ber Empfängnig an mit bem Logos unzer:
trennlich vereint? Dies glaubte auch Neſtorius. Behutſam aber
nannte er die aus Jeſus und dem Logos vereinte Perſon Chriſtus
und lehrte daher, die Maria als bie Chriftusgebärerin (Chriſto⸗
tokos) zu verehrten. Der gegen ihn eiferfüchtige Cyrill, Aterandriens
Patriarch, ſetzte das noch Wunderbarere entgegen, daß fie Gottesgebäs
terin (Theotokos) zu nennen: fei, ungeächtet biefe Benennung allzu eins
feitig war, meil fie den Glauben, baß ſie zugleich, einen Menfchen,
aber. einen Gottmenfhen, geboren babe, nicht ausdruͤckte. Da bes
Neſtorius Begriff von Chriſtus biefen als vereinten Gottmens
ſchen (Theanthropos) bezeichnet, fo wäre fein. Ausbrud der im Jahre
325 und 381 feftgefegten Rechtglaͤubigkeit entfprechender gemwefen. Den:
noch fiegte 431 Cyrillus über ihn, weil er die Wefchläffe der Verſammel⸗
ten gegen die Proteftation ber kaiferlihen Commiſſaire, ehe das antiochenis
ſche Patriarchat zu Ephefus eintraf, Üübereilte, ben Beitritt ber roͤmiſchen
Abgeordneten gewann und Xheobofius II. die Heftigkeit der Aegypter
- fcheuete. Neftorius wurde von dem Katfer aufgeopfert und bies fo graus
fam, daß er, gerade in ein ägyptifche® Kloſter erilirt, dort feine Maͤßigung
und richtigere Einficht büßen mußte. Dennoch, kam biefes auch faft al:
lein von Orientalen befuchte, gewaltſam behanbelte, Außerft uneinige, in
der Lehre nichtorthodoxe Concil ald das dritte unter die oͤkumeniſchen,
und dem Kirchenfrieden wurde durch kaiſerliches Unterhanbeln zwiſchen
“den Antiocheneen und Aegyptern, auch durch eine etwas gefchmeibigere
Glaubenserklaͤrung des Cyrillus 432 nachgeholfen.
5. Genau genommen war biefes epheſiniſche fogenannte
britte dtumenifche Concil nicht viel beffer, ald das 449 ebenfalls
nad) Ephefus verfammelte, auf welchem der alerandrinifche Nachfolger
des Cyrillus, Dioskurus, durch die Knittel Agpptifcher Mönche die meiften
Berfammelten zwang, einen Möndysabt, Eutycyes, welcher, wie Cyrill,
die Gottheit in Chriftus allzu einfeitig hervorhob, für rechtglaͤubig zu er-
klaͤren. Den römifchen Legaten gebührt das Lob, daß fie fi) dem Uns
fug mwiderfegten und einige Andere ermuthigten. Leo dee Große hat den
Ruhm, daß er durdy einen faft fpmbolifc, gewordenen Brief an den mit
ihm einſtimmigen, aber dadurch unglüdtic gewordenen Flavian, den
Patriarchen von Neucom, bie Theorie, welche mit der nicänifchen Glau⸗
bensformel am beften uͤbereinkommt, fcharfjinnig enneigehe und bei
612 Goncilien. Goncordate.
- 8. Theoboſius IT. vertheibigte. Zum Gluͤck kam deffen Schwefter, Puls
cheria, an welche Leo als an die. Pulcherrima :zu fchreiben pflegte,
durch ihren Gemahl, Marcian, ‚zur vollen Herrſchermacht. Ueber 600
‚ Bifchöfe wurden 451 zu Chalcebon verfammelt, das Dioskurifche Concil
für eine Raͤuberſynode erklärt, und nad) Led's Darftellung ber Ver⸗
einigung ber zweiten Perfon in ber Gottheit (bed Logos) mit der ganzen
Derfon Jeſu das Wunder einer „untheilbaren, untrennbaren, aber doch
ungemifchten und nichts "umändernden” Union zweier Perfonen
in Eine, ald das Konfequentefte anerkannt. Die fhon einmal feit 325
und 381 fanctionirten Worausfegungen führten nöthigenb auf biefe
Falgerungen. Und ber römifhe Stuhl, weicher fonft felten in boctris
naire Beſtimmungen ſich einläßt, bat bie Ehre, hier ein Beifpiel von
folgerichtiger Lehrentwidiung gegeben und geltend gemacht zu haben.
Auch eine Sammlung allgemeingültiger Kanones (ſie fteht in Juſtellus
Bibliotheca juris canonici Tom. I. von ©. 29 an) wurde zu Chalces
don ſanctionirt.
Bis hieher gehen die auch von ben Proteftanten in ber Reformas
tiongzeit anerkannten vier oͤkumeniſchen Goncilien. Man
mürde damals geglaubt haben, daß fie Chriften zu fein. aufhörten, wenn
fie fi nicht für diefelben als ſpmboliſch, d. i. als für gültige Unter
ſcheidungsdenkmale, erflärt hätten. Da 1) das Eoncil von 325, 381
und 431 faft ganz nur aus occidentalifhen Biſchoͤfen beflanden hat;
2).fe nur wie Stantsgefege durch die Beftätigung dee Imperatoren
oͤkumeniſch, dad ift, ‚für ihr Mömerreich als die Dekumene geltend
gemacht wurden; 3) Ihre Baſis .aber meift nicht. biblifch « urchriſtlich,
fondern nur patriftifch war, fo behält unftreitig die prüfende Nachwelt
das Recht, die Fortdauer ihrer Gültigkeit, wie bei andern, aus einem
andern Weltzuftand überlieferten, Staats e und Kicchengefegen nur nad)
ihren Gründen und nicht: nady duferer Begalität zu ſchaͤtzen, ohne daß
über ihre Nichtverbindlichkeit ausbrüdliche neue Verordnungen nöthig find.
Dr, Paulus.
Gonclave,f. Papſtwahl.
Eoncordate. In den Fragen des öffentlichen Rechtes, fe
. 08 des Staates ober der Kirche, ift die vorherrfchende und durchaus nicht
zu verdrängende Autorität die des Wernunftrehts. In der Sphäre
des Privatrechts iſt folhe Autorität zwar gleichfalls Achtung gebie⸗
tenb „doch mehr nur, wo es fir) delege ferenda, alfo von einer ber
« pofitiven Geſetzgebung zu ertheilenden Vorfchrift oder Richtſchnur für die
von ihr ald Regel für die Zukunft zu treffenden Beſtimmungen hans
beit. Sind aber einmal dieſe Beflimmungen getroffen, alddann gelten
biefelben, aud) wenn fie dem Vernunftrecht widerfprechen oben von ihm
abweihen, weil nämlich die Autorität der Staats⸗ (oder Kirchen⸗)
Gewalt fie in Kraft erhält und dns Vernunftrecht felbft jegt ihre Gels
tung einfchärft, bis zum Zeitpunkt ihrer durch die nämliche pofitive Ges
feggebung vorzunehmenden Reform. Etwas Anderes aber findet flatt
in Anfehung ber Fragen bes öffentlichen Rechts. Denn wohl mag
Concordate. 613
die Derfontfication der (bürgerlichen ober kirchlichen) Geſellſchaftsge⸗
twalt und die Form ihrer Ausuͤbung durch poſitives Geſetz beftimmt,
auch — innerhalb der ihr rechtlich zuftehenden Sphäre —
gültig von diefer Gewalt verorbnet werben, was, ber Erftrebung des Ges
ſammtzwecks willen, gefchehen folle oder nicht gefchehen dürfe. Aber
ben Umfang und die Begrenzung jener Sphäre zeichnet nur bag
Bernunftreht, und diefes allein bictirt den Inhalt des Gefells
fhaftspertrage, ‚welcher die Quelle, ober das Fundament alles oͤf⸗
fentlihen Rechtes ift, und ſtellt die Idee von Staat und Kirche auf,
welcher das in beiden nicht nur für ihre einheimifchen, fondern auch für
ihre auswärtigen oder wechfelfeitigen Verhaͤltniſſe zu flatuirende „Recht,
wenn ed, wahres Recht fein fol, entfprehen und. dienen muß. . Diefer
Anfiht gemäß werden wie auch bei der potliegenden Stage von Con⸗
cordaten meift den vernunftrehtlihen Standpunkt fefthal-
ten und von bier aus theils über fie bie allgemeinften Srundfäge und
Anfichten aufftellen, theils die pofitiv srechtliche und hifkorifche Seite bes
Gegenftandes fummarifch beleuchten. . - ‘ en,
Goncordate — in bem hier -befprochenen engern Sinn —
nennt man bie Webereinlömmnifie der Fuͤrſten oder Regierimgen mit
dem römifchen Papft über Angelegenheiten — Intereſſen und Rechte —
einer Eatholifchen Landes⸗ oder. Nationalkicche,. bezüglich theils auf ders
feiben einheimifche Verfaffung ; Vermoͤgens⸗ und Ehrenrechte .u. f. w.,
theils auf ihr Verhaͤltniß zur Staatsregierung und. auf jenes beider zum
tömifhen Stuhl. Die Geſchichte der Concorbate ſtellt die: Beranlafs
fung und Entfiehungsmeife,. auch Gegenftand. und Inhalt, Geiſt, Wir⸗
fung. und Dauer der. in verfchiebenen Zeiten und Orten zu Stanbe:gefoms
menen' Verträge dieſer Art dar z das proTitiv.e kanoniſche oder Klirs .
chenxecht lehrt danv, twelche ber in -folchen Goncordaten getroffenen
Beſtimmungen jeweibs merdtifch guͤltig oder in ‚anerkannter Rechtskraft
ftehend: ſeien, auch wie man fie auszulegen und anzuwenden habe. Die
rechtsphiloſophiſche und: die polstäfche Lehre endlich unterſucht
Die Jen Concordaten nach ihrem allgemeinen: Begriff einmohnende.,; Hetr..
nunftrehtliher umd.:politifche Matmr,. würdiget hiernachchbie
Befugniß zur Abſchließung ſolcher Ueueintömmmniffe auf Seite. des
Könige wie des Pupftes, beſtimmt bag: Maß amb:bie Bedingungen ihrer
vernünftig anzugrtennenden Med taiaaftı oben: Wenbindiichkkit,: :alfo
aud jene der Zulaͤfſigkeit ihres Widnertwfd. oder ihrer Nichtbeobach-
tung, endlich die non. ihnen in der Regel zu erwartenden polftif.h.en
Vortheile oder Rachtheile. DMe:turge Beantwortung dieſer hier
angedeuteten allgemeinen Fragen iſt unſere alleinige Aufgabez denn
was die hiſtoriſche md, die poſitiv xrechtlach e Seite betrifft, ſo iſt
ihre Darſtellung theils ders. Zwecke bes Staats⸗Lexikons minder abgehoͤ⸗
eig, theils wird fig, inſofern unſer, Zweck ſie erheiſcht, fuͤglicher unter
andern. Rubriken gegeben, namentlich: unter; den allgemeinen ·Artb⸗
keln Kirchen recht und Kirchenverfaſſung, fobann quch unter
LT DE Er re ! er r . A . »
614 Concordate.
den von ben gewöhnlichen Hauptgegenſtaͤnben ber Concordate handelnden
befondeen Artikeln, als :Annaten, Beneficien u. f. w.
Die auf den unwiderſprechlichſten Thatſachen und Autoritäten bes
ruhende, jedem unferer Lefer nach‘ den Hauptmomenten befannte Ges
fhichte des Papftthums zeigt uns den Bifhof von Rom nad einer
Sahrhunderte lang angebauerten,, bemüthigen, pon irdiſcher Gewalt und
Hoheit fernen Stellung allmälig, duch die Gunſt der Umſtaͤnde und
deren beharslich Fuge Benugung, zu ausgezeihnetr Würde und Macht
in Eichlihen und bürgerlichen Dingen emporftelgen, dort zwar Anfangs
nur ale der Erfte unter Gteichen, und felbft biefen Rang mit mehreren
andern Nebenbuhlern, insbefonbere mit dem Patriarchen von Con ftans
tinopel theilend, hier aber 'zuerft aus der Empörung der Römer gegen
die bilderftürmenden byzantiniſchen Kaifer, ſodann aus ber Gnade: ber fräns
Eifchen Großhofmeifter und nachmals Könige des carolingifhen Ges
ſchlechts Weranlaffung und Titel einer — immer noch ſchwankenden,
auch abhängigen — fürfllihen Macht ziehend; dann aber, nad) abwech⸗
felndem Vorſchritt und Rüdfchritt, unter dem Schirm ber jetzt eingebros
chenen völligen Finſterniß und Barbarei, durch Genie und Kühnheit ſich
nicht nur zum unumſchrtaͤnkten (oder doch nur wenig befchränkten) Haupt
bee lateinifchen Kirche emporſchwingen, ſondern aud zum mweltiihen
Herrfcher über die abendländifche Chriftenheit, zum Lehensherrn vieler
Könige und Fürften und zum Oberrichter aller. In biefer Lage. ber
Dinge, ba bie meltlihe-Macht den fteigenden Anfprüchen des Papftes
ober überhaupt der Kicche,. in deren Namen ihe gebietendes Haupt aufs
trat, weder mit geiftigen Waffen, worin nämlich Papft und Kterus Ihe
überlegen. waren, erfolgreichen MWiderftand leiſten, noch; auf ihre. mas
teriellen Kräfte — gegenuͤber der Furchtbarkeit des Bannftrahls und ber,
theils buch Aberglauben und Fanatismus, theils. durch unlautere: welts
liche Intereffen, im Dienft oder Buͤndniß des Papftes erhaltenen Maſſen
und Häupter — ſich verlaffen konnte, miochte oft wirklich rathfanr ober
jur Abwendung größern Unhells nöthig fein, mit Mom durch förmilichen
Friedensſchluß ſich auszuſoöͤhnen, und einerfeits Durch genauere Be⸗
g der paͤpſtlichen Rechte, deren ungemeffener Ausdehnung ein
tel zu ſehen, andererſeits die Rechte bes Staates durch die bafür ers
wirkte feterliche Anerkennung beitimöglich zu. wahren, Entgegen mochte
auch der Dapft, der wenigſtens mit feinen irdiſchen Waffen gegen jene
bee entfchloffenern und beharrlichern Könige nicht. fo leicht auflommen
Eonnte, in folchen Friedensvertraͤgen oder Concorbaten das Mittelber Rettung
von augenblidlicher Gefahr oder. der Sicherftellung koſtbarer eigener ober
kirchlicher Intereſſen für de Zukunft finden. Nichts alſo iſt natürlicher,
ale daß — zumal im ben damaligen finftern, an gefunden Begriffen
über. Staat ‚und Kirche und das zwiſchen beiden vernunftrechtlich. be⸗
ftehende Verhaͤltniß voͤllig verarmten Zeiten — König und Papft nicht
ungern zu. Concordaten ihre Zufluht nahmen, auch ‚nicht felten da»
duch fuͤr⸗ſich ſeibſt ober: fuͤr die von ihnen ‚vertretenen. Nationen -ober:
Kirchen weſentliche Vortheile errangen oder Nachteile abwandten.
N
Soncordate. 615
Doc wurden frellich Im ber Megel die weltlichen Häupter dabel übers
liftet; dem kluͤgern Priefter blieb meiftens allein der Gewinn.
Dom Standpunft der Politik (infofern dieſe in kluger Erſtre⸗
bung des eigenen Vortheils nad) Maßgabe ber jeweild vorliegenden
factifhen Verhaͤltniſſe und Umftände befteht) fähelnt hiernach, daß die
Schließung von Goncordaten auf Seite -desienigen, dem’ fie wirklich
Vortheil bringen, zu billigen und zu empfehlen ſei. Aber es kann ſolches
gleichwohl nur unter einer doppelten Vorauoſetzung behauptet
werben, fürs Erſte nämlich, daß nicht etwa berfelbe Vortbeil auf einem
andern etwa näher gelegenen, überhaupt paffenderen Wege nöd, leichter
ober vollftändiger fich hätte erreichen laſſen, und dann zweitens, daß durch
Schließung des Concorbates und dur feinen Inhalt weder materiels
les noch formelles Recht irgendwo fei verlegt worden. Won diefem
für uns überall mwichtigften Standpunkt des Rechtes nun iſt zwar
nicht dagegen zu erinnern, alfo die rechtliche Kraft des Concordates
durchaus nicht zu beftteiten, wo immer bie ſolchen Vertrag fchließen-
den Parteien entweder -blos: über eigene und ihrem freien Verfuͤ⸗
gungsrecht unterfichende Gerechtfame oder Intereſſen ſich verglichen,
oder — menn von Rechten. dritter Perfonen ober Perfönlichkeiten
‚bie Rede ift — wo eine ihnen natürlich zukommende ober factiſch
ertheilte Bevollmäcdtigung von Seite biefer dritten vorliegt; aber
gewoͤhnlich fehreiten die Concordate Über die durch Tolche boppelte Be⸗
ſchraͤnkung gezogene Linie weit hinaus, Die bem König als Staates
oberhaupt vernunftrechtlich zuftehenden jurs circa saora nämlich,
und ebenfo die dem Papft vermöge der Grundlehren ber Tatholifchen
Kirche zuftehenden wefentlihen Primatrechte find, weil zugleich
Dbliegenheiten involvirend oder aus Öbltegenheiten -fließend, kein
Segenftand bes Vergleiche, d. h. ihre Abtretung ober vertragsmeife
Beſchraͤnkung iſt unzuldffig und rechtlich unguͤltig. Doch mag
ihre Anerkennung oder befondere Gewährteiftung oder das
Aufgeben von dawider erhobenen rechtskraͤnkenden Anſpruͤchen nad)
Umftänden durch Unterhandlungen erwirkt und unbedenklich in Concors
baten niedergelegt werden. Auch mag, waß-ber König oder der Papft
etwa blos privatrechtlich oder blos vermöge. willkuͤrlicher Feſtſetzung
(durch Verordnung oder Convention), überhaupt vermöge rein hiſtori⸗
ſchen Rechts befigt, auf aͤhnliche Weife, wie es entſtand, aud) wieder
abgefchafft oder geändert werben, und iver, ob’ König oder Päpft, das
bei zu Gunften ber Kirche unterhandelt, d. h. ihr wahres Recht oder
ihr wahres Intereffe zut Anerkennung und Befeſtigung zu bringen
ſucht (gewöhnlich jedoch ift nur von paͤpſtlichen und von koͤnigli⸗
hen Äntereffen die Rede), der mag auch als ihre Bevollmächtigter ers-
feheinen oder wenigftens ihrer‘ nachfolgenden — ausdruͤcklichen oder ftills
fhweigenden — Genehmigung ficher fein. Ä
Selbfe unter Vorausfegung ber, in ber bezeichneten Sphäre: ans
zuerkennenden, rechtlichen Zulaͤſſigkeit und auch Gültigkeit der Goncors
date bleibs gegen ihre politiſche Raͤthlichkeit, zumal fuͤr den König
NS
616 Concordate.
gar Manches zu erinnern. Der Papſt freilich Hat kaum ein anderes
Mittel, das, was er im Verhältniffe zum Staat für ſich oder für bie
Kiche wuͤnſcht, zur Verwirklichung zu bringen, al® Unterhandlungen
und Verträge. Aber nicht alfo der König ober der Staat. Die
fer nämlih kann es meiftens fhon für ſich allein thun, durch
Geſetz oder Verordnung. In der Regel genügt ſchon fein ein>
feitiger Wille zur Seftfegung ſolcher Verhaͤltniſſez er bebarf bes
Vertrages mit bem Papfte nicht, wiewohl etwa bie Vorftellungen
oder Bitten des legten — zumal wenn fie mit ben Wünfchen ber
katholiſchen Landeskirche und mit dem Sintereffe bes Innern Friedens
übereinflimmen — Veranlaffung und Beweggrund mit fein mögen
zu einer feine Wuͤnſche beftiebigenden Feſtſetzung. Nur eine große
Verwirrung ober Verwechſelung ber Begriffe konnte dahin führen, bag
man mit dem Papft als ſolchem fi in ſtaats⸗- oder völferredht>
lihe Verhandlungen und Verträge einließ; und felbft der Name
Concordat deutet wenigftens auf die Ahnung eines mefentlichen
Unterfchiebes ber freundlichen Zugefländniffe oder gegenfeitig befriedigens
. den Erklaͤrungen über kirchliche Dinge von ben. ein firenges Recht er=
zeugenden ober eigentlich diplomatifchen Verträgen hin. Freilich das
mals, als ber Papft die Anmaßung auch einer weltlichen Herrſchaft
über die chriftlihen Staaten und Könige fiegreich behauptete, und in
den Zeiten ber ganz dunklen Begriffe und verkehrten Anfichten im
Staates und Kirchenrecht, und als foͤrmliche Kriege mit dem Papfte
geführt wurden über kirchliche wie über weltliche Dinge, da blieben zur
Schlichtung der Zerwürfniffe nur Friedensſchluͤſſe übrig, und da
unterfehieb man nicht oder nur wenig zwiſchen Mapft: ald Oberprieſter
und Papft als Landesherr. Ebenfo unterfchied man nicht oder nur
wenig zwiſchen König ald Stantshaupt und König als Chrift ober-
Katholik; man bewarb ſich, aus wahrer oder verftellter kirchlicher Un⸗
terwürfigfeit gegen, ben heiligen Stuhl, um ;gutmwillige, babei meift
theuer zu erkaufende, Zugeftändniffe von Seite des Papftes, wo man
einfach "hätte befehlen oder feitfegen können; und man vergaß hinwie⸗
ber bei den Bugeftändniffen, bie man dem Papſt machte, über der
vermeinten religiöfen ober kirchlichen Pflicht der wahren Pflichten des
Staatshaupts. . Ä
.. Deut zu Zage find, wenn nit fchon allgemein anerkannt, fo
doch folcher Anerkennung unter ben Stimmberectigten nahe die nach⸗
fiehenden Säge:
‚ 1) Der Staat als folder, mithin auch bee Regent als:
folder, bat keine Religion und gehört Feiner Kirche an.
Es iſt in Bezug auf. feine Rechte und Pflichten gegenüber der unter.
ben Stantögenoffen, beftehenden Kirchen oder Kirchengefellfchaften durch⸗
aus gleichgültig, ob er für feine Perfon. ber einen oder ber andern,
oder auch gar keiner angehörte. Concordate katholiſcher Kürften
mit dem Papft unterflehen daher durchaus Leinen andern Principien,
als die von proteſtantiſchen (oder irgend fonfk einer Kirche ange⸗
Concordate. 617
hoͤrigen) Megierungen mit demfelben gefchloffen werben. Der König
als König ift weder Katholik noch Proteftant, und ald Katholik
ift er eben Kirchenglied wie jedes andere, und alfo im Berhältniß
zum Papft ohne irgend eine befondere Berechtigung oder Schuldig⸗
keit. Mag er aber Proteftant oder Katholik fein, fo ift er jedenfalls
gegenüber den Staatsangehärigen verpflichtet, derfelben religioͤſe
Ueberzeugungen zu ehren, und ben vorhandenen oder neu zu errichten⸗
den Kirchen, infofern fie weder nad) dem Inhalt ihrer Lehren noch
nach ber Form oder dem Geift ihrer Einrichtung bem Staate nach⸗
theilig ober gefährlich find, Anerkennung und Schuß zu gemähren;z ja
er ift auch verpflichtet und durch felbfteigene® hohes Intereſſe dazu aufs
gefordert, die Gründung ſolcher Kirchen und kirchlichen Anflalten, ins
fofern fie nicht ſchon ohne ihn felbfiftändig in's Leben traten, durch
felbfteigenes thätiges Einwirken zu veranlaffen oder zu beförbern,. und
überhaupt durch weiſe (alfo, verfteht fich, dee Freiheit der Kirchen und
ihrer Angehörigen unnachtheilige) Kürforge, Beſchirmung und ‚Pflege
deren Gedeihen thunlichft zu fihern.und Uebel von ihnen abzuwenden.
. 2) Der Staat hat ferner — und abermal ohne Unterfchied der pers
fönlichen Religionseigenfchaft des Regenten — das Recht und die Schul:
Digkeit, den von Seite der Kirchen oder kirchlichen Satzungen, Anftals
ten, Einrichtungen oder Perfonen dem Staat oder den Staatsangehoͤ⸗
tigen drohenden Gefahren, Nachtheilen oder Rechtsverletzungen mit —
gefeggebender und vollftredender — Autorität verhinbeend oder hem⸗
mend entgegenzutreten; und ed kann, mofern nur bie Gewiſſensfreiheit
ber Einzelnen ungekraͤnkt bleibt, au) bie vom Staate vertheidigten In⸗
tereffen wirklich die Anerkennung der Verſtaͤndigen verdienen und bie
Nothwendigkeit oder Zmedhmäßigkeit der zu ihrer Wahrung gegenüber
ber Kirche getroffenen Verfügungen einleuchtet, dieſe Kirche fi) dagegen
immer auf ein ihr eigenes, etwa aus früheren Verleihungen herruͤhren⸗
des oder auch vermeintlich felbftftändiges und unantaftbaree, Recht berus
fen; denn fie ift in. der der Staatdgewalt zufommenden Sphäre Un:
terthbanin wie jede andere Gefellfchaft,, und .alle Verleihungen - ber
Staatsgewalt führen die ſtillſchweigende Beſchraͤnkung mit ſich: „uns
befhadet dem gemeinen Wohle”. N
3) Was die Staatögewalt in - diefer ihr rechtlich. angehfrenden
Sphäre feftfegt, befiehlt oder verbietet, anerkennt oder vewirft,. anords
net, verändert oder abfchafft, das hat vollkommene Gültigkeit fhon ale
lein durch ihren erflärten Willen und bedarf alfo- keiner meitern
Einwilligung ober Genehmigung weder von Seite des Papſtes noch
von jener der eigenen Landeskirche. Zumal aber fteht die Staate-
gemalt mit dem auswärtigen Kirchenhaupt oder Oberpriefter als ſolchem
in gar Eeinem eigentlichen Rechtsverhaͤltniß, fondern bat von ihm
lediglich nur darum Motiz zu nehmen, weil oder infofern eine katho⸗
lifhe Landes: Kirche (deren — dem Staat, ungefährlihe — Mei⸗
nungen, Glaubensfige und Statuten zu: ehren die Regierung allerdings
ſchuldig ift) mit demfelben in Verbindung und kirchengefetzlich geregels
618 GSoncorbate.
tee Wechſelwirkung zu ftehen begehrt. Daher tft alfo eine unmit>
telbare Verhandlung mit bem Papft niht nothwendig, fondern
es genügt eine — nad) Erwägung der Verhältniffe und nad) gepfloges
ner Ruͤckſprache mit den MWortführern der Landeskirche — erlaſſene eins
fahe Erklärung der Staatsgewalt, daß fie es in Anfehung ber zwi⸗
fhen der Landeskirche und dem Papft zu regelnden Berhältniffe fo
oder fo gehalten wiffen molle, d. h. daß fie nur eine ſolche beſtimmte
Art der Wechſelwirkung erlaube ober fehirme, und baß fie der auf ihs
tem Gebiet beftehenden Latholifchen Kirche diefe ober jene Rechte, Pris
vilegien, Einrichtungen u. f. w. zugeſtehe oder verleihe ober auch vers
weigere. Freilich ift, was zumal das Leste betrifft, dabei Gefahr bes
Mißbrauchs, Gefahr der ungebührlihen Beſchraͤnkung oder Unterbrüs
kung der Kirchenfreiheit vorhanden. Aber dhnlihe Gefahr des Miß⸗
brauche . gibt es bei allen Rechten ber Staatsgewalt, und das alleinig
zuverläffige Mittel, ihr vorzubeugen ober fie abzuwenden, befteht in einer
guten, ben wahren, vernünftigen Geſammtwillen in Herr
fchaft fegenden und auch bie wefentlihen materiellen Rechte bei
Volkes durch beſtimmte Gewaͤhrleiſtung fhirmenden VBerfaffung.
Dhne biefe ift durchaus jedes Recht preisgegeben der factifchen Will⸗
tür. Uebrigens mag mitunter ein Concordat zugleich mit ber Eigen⸗
[haft eines conftirtutionellen Geſetzes begabt werden und dann
als folches auch von wahrer Mechtsbeftändigkeit fein.
4) Wenn, nad) den bisherigen Betrachtungen, felbft zu Reguli⸗
rung der ausmärtigen Berhältniffe der Kirche (d. 5. ihrer Verhaͤlt⸗
niffe zum Staat) die Schließung von Concordaten ein unpafiendes
und bedenkliches Mittel ift, fo muß daffelbe in noch weit höherem
Grade anerkannt werden, wo es fi) um bie einheimifchen ober ins
nern Verhältniffe einer Landeskirche handelt. Hier fteht nämlidy kei⸗
nem der concordirenden heile das Beſtimmungsrecht, ja dem König
als ſolchem nicht einmal eine zählende Stimme zu. Die Kirchen⸗
gewalt allein oder die Kirchengemeinde fegen. bier mit freier,
felbſteigener Autorität das ihnen Gutbüntende fell. Der Koͤ⸗
nig kann dann wohl, wenn das Statut ihm als ſtaats gefaͤhrlich
erfcheint, daffelbe der äußern Rechtskraft berauben, oder ed kann auch
fein kundgethaner Wille die Kirche zur Abänderung ihres; Gefeges bewe⸗
gen. Er felbft aber kann dabei niht befehlen und braudht nicht
darüber zu concorbiren. Dev Papft aber mag zwar auf die Ges
feßgebung der Landeskirche ben ihm durch die allgemeinen canoniſchen
Gefege oder. die freimillige Obedienz ber Gläubigen gewährten theilnehs
menden Einfluß ausüben; doc, als vollberechtigter Gefesgeber aufs
treten und in dieſer Eigenfchaft mit dem König einen Vertrag. eingehen
über Mag und Weiſe ber Ausübung, das kann er rechtlih nicht.
Den Bifchöfen der Landeskirche, mit Zuziehung bes übrigen Klerus
und auch bee Gemeinde, fteht die Geſetzgebung zu; und nirgends we⸗
niger als bier kann ber Papſt' eine ſtillſchweigende Bevollmaͤchtigung
zum Unterhandlen im Namen der Kirche geltend machen, weil gerade
Concordate. 619
hier er gewoͤhnlich als Partei gegenuͤber den Landeskirchen auftritt,
d. h. mit Anſpruͤchen der Herrſchaft und Tributherrlichkeit, welche von
dieſen Kirchen billig abgelehnt und verworfen werden.
5) Wenn alſo in ſolchen das Innere Kirchenrecht betreffenden
Dingen Goncordate zwifhen Papft und König abgeſchloſſen werden,
aber auch nicht minder, wenn. fih’8 um das Verhältniß zwifhen Kits
he und Staat handelt, fo tritt gar oft der Fall ein, bag man de
jure tertii verhandelt und contrahirt, mithin unbefugt und ohne vers
nunftrechtlih anzuetkennende Rechtswirkung. Wenn der Papft 3. 3.
dem König das Recht, die Biſchoͤfe und andere Kirhenhäups
ter zu ernennen, überläßt ober überträgt, und diefer ihm dagegen
eine Ausdehnung ber nad vernünftigem, d. h. auf echt katholiſch⸗
chriſtlicher Baſis ruhendem, Kirchenrecht anzuerkennenden Primats
Rechte geftattet, oder eine Zributpflicht bee Landeskirche gegen
ben heiligen Stuhl einführt oder bekräftiget; fo haben beide Theile vers,
ſchenkt oder abgetreten, mas ihnen felbft nicht angehört; fie haben rein
über das Recht von dritten Perfonen verfügt. Ebenfo wenn bie
Froͤmmigkeit des Königs eine dem Intereſſe der guten Rechtsverwal⸗
tung nachtheilige Ausdehnung der geiftlihen Gerichtsbarkeit
nad) Perfonen oder Sachen dem Papfte bewilligt, 3. B. auch die buͤr⸗
gerliche Gültigkeit gemiffer Ehen von dem Ausfpruc der Curie abs
haͤngig macht und nicht nur Geiftliche, fondern auch Laien in gewiſſen
Sällen der uncontrolirten Strafgewalt der Kirche preisgibt, wenn fie
ben Bifchöfen die Herifchaft über die Schulen einrdumt, fogar zur
Miedererrichtung der aus ben meifeften Beweggründen aufgehobenen
Klöfter und zur Ueberlaffung bes Jugend-Unterrichts an bie
Moͤnchsorden ſich verpflichtet, die Unterdruͤckung aller der geiftlichen- Aus
toritaͤt mißfälligen Bücher und bie Beflrafung ber etwa burch freimuͤ⸗
thigen Zabel kirchlicher Mißbraͤuche gegen den Stolz bes Klerus ſich
Verfündigenden verheißt, den WBorfchriften der Nationalötonomie zum:
Trotz die ungemefiene Vermehrung ber Befisgthümer ber todten
Hand geftattet, endlich die katholiſche Religion zur Staatsreligion
erttärt, ihre Anhänger mit politifhen und bürgerlihen Worrechten-
begabt und alte, auch bie fpäteften Regierungsnachfolger zur-
unverbrüchlichen Beobachtung und Handhabung aller folder Concor⸗
bats = Artikel verpflichten will: fo werden offenbar durch folche Uebereins
koͤmmniſſe die Rechte und Intereſſen der Staatsbürger, und, ins
ſofern wenigſtens der Staat ein conftitutioneller ift, auch bie
Rechte der Volksrepraͤſentation, als Theilnehmerin an ber ges
feggebenden Gewalt, gekraͤnkt. Daher erflärt und rechtfertigt ſich
auch der Widerſtand, welchen im J. 1817 die franzoͤſiſche und
die bairifche Deputirtens Kammer ben in befagtem Jahre von K.
Ludwig XVIII. in Frantreih und 8. Marimilian Joſeph
in Batern mit dem Papft eingegangenen Concordaten entgegenfegten,
und welcher dort bie Kolge hatte, daß das — Übrigens verglichen mit
dem zweiten noch ziemlich erträglich Iautenden — franzöfifche Cam.
620 Concorbate.
cordat gar nicht gefeslich verfündet, fondern blos factifch in eini⸗
gen Punkten in Vollzug gefegt wurde, bier aber, dag wenigſtens
einige den ganz Deutichland in Betruͤbniß und Erflaunen feßenden
Inhalt des (von dem Domherrn, nachmals Biſchof und Cardinal Höf-
felin unterhandelten) bairifhen Goncorbate3 milbernde koͤnigliche
Erklärungen (insbefondere im 3. 1821) ergingen, auch der Vollzug der
bedenklichſten Punkte verzögert und zum Theil unterlaffen wurde.
EGs iſt, wie wir bereits oben bemerkten, unfere Abfi cht nicht, in
den Inhalt der beiden angefuͤhrten oder der vielen uͤbrigen in der auf
Napoleons Sturz gefolgten Zeit von den verſchiedenen europaͤiſchen Re⸗
gierungen mit dem Papſt geſchloſſenen Concordate naͤher einzugehen, und
woc weniger, die Geſchichte und Kritik aller früheren Concordate
von dem berühmten Wormfer ober Galirtinifhen (v. 3. 1122)
an bis auf die Neuzeit zu geben. Wir vermweifen dafür unfere Leſer
blos auf Ernft Muͤnch's „vollftindige Sammlung aller äftern und
neuern Goncordate nebft einee Gefchichte ihres Entſtehens und ihrer
Schickſale“ (2 Bände, Leipzig, Hinrich’fhe Buchhandlung 1830, 1831),
worin auch alle bedeutenderen Quellen und Hülfsmittel angegeben find.
Wir thun diefes übrigens, ohne die — wie und dünft oft allzu ſchar⸗
fen — Urtheile des Berfaffers 1) über bie in feiner Sammlung bes
eührten Perfonen und Sachen fämmtlich zu unterfchreiben, ſondern be⸗
ziehen uns blos auf feine Überjichtliche Zufammenftellung von Thatſa⸗
hen, Actenffüden und literarifchen Hulfem: tteln.
Nach dem bisher Geſagten haben wir bie Concorbate , meift nur
ale Geſetze zu betrachten und zu beurtheilenz; denn fie f ind in ber.
That, nad) Gegenſtand und Inhalt und beabfichtigter Rechtswirkung,
wahre Gefese, nämlih „vertragsmweife zmifchen Negierung und.
Papft zu Stande gefommene und in Vertragsform verkuͤndete Ge⸗
ſetze, theils über innere Latho.ifche Kirchenſachen, theild über das Ver⸗
hättniß der Batholifchen Kirchen zum Staat”. - Auch in andern Sphaͤ⸗
ven finden wir mitunter mit der Geſetzes⸗Eigenſchaft jene des
Vertrqges und auch die Vertragsform: verbunden, ſei es, daß
eine gefeßgebende. Gewalt vermöge Vertrags fi zu Erlaffung eines
Geſetzes von beſtimmtem Inhalt verpflichtete, oder daß die Wirk:
ſamkeit eines bereits erlaffenen, oder vermöge einfeitigen Willens einer
gefeggebenden Gewalt zu. erlaffenden, Geſetzes duch Vertrag mit. einer
andern Gewalt ober Perfönlichkeit, die etwa dagegen factifd) oder: recht⸗
lich aite Einſprache erheben "mögen, bekraͤftiget.eder erweitert
1) & ſpricht er 3. B., aus Anlaß des bairkſchen Woncordates und: feiner
Wirkungen, von „Ihatfachen, welche den fehlagenden Beweis führen, daß Wi⸗
berfprudy In den Grundfägen und Mangel an geſundem Sinne, an politiichen
Zact und ſtaatsrechtlichen Kenntniffen, ferner gebantenlofe Zrömmeici, geiſtſie⸗
cher Myſticismus, raffinirte Jeſuitik und roman —7* Beinbaft zuſammengenom⸗
men cine ſolche Reihe von Donquixotiaden herbeiführen Eönnen, wie ſi e die P Phan⸗
taſie der humoriſtiſchſten Satyriker Saum zu erdichten vermag x
Concordate. 621
werde. So werden duch Staatsvertraͤge gehaͤſſige hiſtoriſche
Rechte gegenſeitig aufgehoben, die Behandlung der gegenſeitigen Ange⸗
hoͤrigen in jedes Contrahirenden Land geregelt, Zollſaͤtze beſtimmt oder
abgeändert, auch humane und kosmopolitiſche Ideen, wie bie Abfchafs
fung des Sklavenhandels, die Unterdruͤckung der Seeräuberel u. f. w.,
durch feierliche Uebereinkoͤmmniſſe in weiterem Raume verwirklicht u. a. m.
Es iſt auc gegen die rechtliche Gültigkeit folder Verträge nichts
zu erinnern, wofern ber Inhalt bes mit ihnen verbundenen Gefeges
feinem Rechte zumiderlaufend und ber zu defjen Erlaffung ſich -verpflichs
tende Paciscent wirkfich in der fraglichen Sphäre mit ber vollen - eher
benden Gewalt bekteidet if. Auch gegen die Vertragsform iſt als⸗
dann nichts zu erinnern, wofern biefelbe nach den obmaltenden Um⸗
ftänden und Verhältniffen der Zeit, des Orttes, der Perfonen u. ſ. w.
raͤthlich, d. h. ficherer oder vollftändiger als die eigentliche Geſetzes⸗
form zum Ziele fuͤhrend iſt. Wo aber dieſe Bedingungen nicht ein⸗
treten, da erſcheinen fie freilich in einem Fall theils materiell, thells
formell rechtswidrig und alfo, nah dem Standpunkt des Vernunft⸗
rechts, auch ungältig und im andern mindeſtens politifch vers
werflich. Wenn 3.3. eine conftitutionelle Regierung unter dem Ti⸗
tel eines mit einer fremden Macht abgefchloffenen Vertrages die Lan⸗
besverfaffung nad. dem Begehren der .Ichten verändern oder aufheben,
oder auch nur ein gemeines Geſetz abfchaffen oder durch eine bloße Vers
ordnung über Dinge, welche naturgemäß in den Kreis. der Geſetzgebung
gehören, ſtatuiren wollte, fo würde man mit Grund behaupten, fie
habe ihre DBefugnig überfchritten und das Volksrecht gekraͤnkt, und
zwar,; auch abgefehen von dem Inhalt des Verordneten, ſchon durch)
. die Umgehung der landftändifhen Mitwirkung zum Gefege, und — wel⸗
ches legtere auch bei einer abfoluten Regierung ſtatt finde — durch
Die theilweife Veräußerung ber eigenen unabhängigen Hoheit an
einen Fremden, überhaupt durch voͤlkerrechtliche Behandlung desje⸗
nigen, was nur ſtaatsrechtlich hätte ſollen behandelt werden. Ans
gewandt auf bie. kirchlich en Concorbate zeigt dieſe Betrahtung uns
faft überall dabei eine ſolche Nechtsüberfchreitung, und zwar meiſt bes
gangen von beiden Xheilen, nämlid König und Papftl. Der König
bat, was die ihm, b. h. der Staatögefebgebung zuftehenden
jura circa sacra betrifft, nicht nur, wofern er nämlich conftitutioneller
König ift, das Necht der zur Theilnahme an der Gefesgebung berufenen
Volksrepräfentation verlegt, fondern er hat, auch wenn er abfoluter Mons
arch ift, das Volksrecht gekränkt, indem er dem Fremden babei ein
zählendes Wort verlieh, feiner eigenen gefeggebenden Gemalt Feffeln
anlegte, durch Verpflichtung gegen den Papft und ſich bergeftalt (vors
ausgefegt die Gültigkeit bes Goncorbate) in die Unmöglichkeit vers
Teste, das Ihm nach freier Ueberzeugung jeweils als das Beſte Erxfcheis
nende zu verorbnen. Aber er hat ſich zugleich, inſofern das Concots
dat auch Über rein kirchl iche Dinge verfügt, eine Gewalt oder ein
Mitentfcheidungsrecht herausgenommen, wo er vernunftrechtlich Feines
622 . Boncorbate.
befist, und er iſt dem Papfte behülflid, worben zur Unterdruͤckung ber
innern SKirchenfreiheit durch die angemaßte felbfteigene monardhifche Ges
malt. Oder aber es hat hinmwider der Papft, wenn er dem König ein
Recht in der Kirche verlieh, biefe Kirchenfreiheit, bie er pflichtgemaͤß
hätte fchirmen und vertheidigen follen, theilweis bintangegeben an bie
weltliche Macht und . zugleich ſich ſelbſt als den Gebieter und -Gemn
geltend gemacht in der Kirchengemeinde, worin er nur Oberhirt und
im Berhältnig zu den übrigen Kichenhäuptern nur primus inter pe-
res
ift.
Sind dieſe Säge einleuchtend und unleugbar, fo iſt duch fie auh
die Entfcheidung "gegeben über die Nehtsgättigkeit der Concordate
und über deren rechtlihe Dauer. Was rehtsmwibrig oder ohne
Rechtsboden ift, kann nimmer zu Recht beftehen oder als foldes
fi) behaupten; und wenn e8 auch aͤußerlich gültig und "geltend ift,
fo wohnt ihm doc, troß feines factifhen Beſtandes, fortwährend bie
innere Nichtigkeit bei, melche jeden Augenblid ausgefprocdhen umd
dadurch auch zur dupern werden kann. Gegen ben rechtswidrigen In⸗
halt eines Concorbats wie irgend eines andern Gefeges hat jeder dadurch
Gekraͤnkte das Recht der Beſchwerde und die Forderung der Abfchaffung;
und da Bein ‚Contract in der Welt eine Verbindlichkeit zum Unrecht
oder zur Nichterfüllung einer Pflicht erzeugen kann, fo mögen beibe con
cordirende Theile, d. h. König oder Papft, fo feierlich die Kormeln des
Concordats Flängen, und wenn ed auch auf „ewige Zeiten“ gefchlof:
fen wäre, jeden Artikel deſſelben, defien Rechtswidrigkeit ihnen Har ges
worden ober ducch defjen verttagsmäßige Zeftfegung fie die ihnen vedhts
lich) zuftehende Gewalt überfchritten oder ihrer Pflichterfäls
lung eine Schranke gefegt hätten, widerrufen oder als nichtig erflären.
So ift die Kirhe, deren Wahlfreiheit der König oder ber Papſt durch
ein Concordat dem Andern hingegeben, dadurch ihres rechtlichen Ans
ſpruchs auf freie Wahl ihrer Vorfteher mit nichten beraubt worden, und
fie darf folchen Anſpruch durch Proteftation, Reclamation ober irgend
ein anderes techtmäßiged Mittel geltend machen, wann immer bie fas
ctifchen Umftände es ihre geitatten. So werden auch die verftänbigen,
die Denkfreiheit liebenden Bürger immer fo Eräftig, als es bie jemeilis
gen Verhältniffe erlauben, gegen die Errichtung einer geiftlidhen Genfur
oder eines Inquifitionsgerichtd proteftiren, wenn fie,auch in zehn Con⸗
cordaten verheißen wäre. Und nimmer mwicd ein König dutch das von
ihm erfchlichene oder erpreßte DVerfprechen, die Klöfter wieder aufzuridy
ten und denfelben den Sugendunterricht zu übergeben, ſich für gebuns
den erachten, dem Zeit⸗ und Rationalgeift und ben edelften Intereſſen
des Staates. und der Menfchheit duch ſolche Wiedererweckung ber vers
berblichen Inflitute entgegen zu treten. Nur fo lange feine eigene Yes
berzeugung ihm die Klöfter als nüslich oder als dem wahren Geſammt⸗
wohl förderlic, darſtellt, wird er feines Verſprechens gedenken; unb in
diefem - Galle hätte er ja auch ohne Verſprechen ſolche Kloͤſter ſtiften
tönnen. Ebenſo wird guch bei jeder andern Vergünftigung,
Concordate. Concubinat. 623
welche von Seite einer Regierung dem Papſte gemacht ward, bei jeder
aus Ruͤckſicht fuͤr ihn getroffenen oder mit ihm verabredeten Einrich⸗
tung jener Regierung oder uͤberhaupt der Staatsgewalt immerfort frei
ſtehen, das Bewilligte, vertragsmaͤßig Eingerichtete oder Feſtgeſetzte wie⸗
der abzuaͤndern ober aufzuheben, ſobald das Beduͤrfniß oder In⸗
tereſſa des Staates ein ſolches, je nach den jedesmaligen Zeitumſtaͤnden,
erheiſcht, demnach auch eine wahre und unveraͤußerliche Pflicht es, der
Staatsgewalt gebietet. Ein Conoordat iſt eben ein Geſetz wie fin
anderes, kann alſo jeden Augenblick frei zuruͤckgenommen werden von
derſelben Gewalt, welche es ſchuf oder urſpruͤnglich die Vollgewalt hatte,
es zu ſchaffen; demnach vom Koͤnig oder vom Papſt, je nachdem die
Feſtſetzung dem Gewaltsgebiet des einen oder des andern angehoͤrte.
Denn bie vertragsweife Feſtſetzung druͤckt blos den einſtweili⸗
gen Nichtwiderſpruch des andern Theiles oder ſeine zeitliche
Befriedigung aus, hebt aber das natuͤrliche Rechtsverhaͤltniß beider
Theile unter ſich ſelbſt und zu Staat und Kirche nicht auf. Daher
koͤnnen auch das Volk (die ſtaatsbuͤrgerliche Geſellſchaft) und die Kirs
chengemeinde (ober ihr geſetzliches, unmittelbares Haupt, ber Bi:
ſchof oder die Synode) dadurch ohne ihre eigene Zuflimmung feine
Verkuͤmmerung der ihnen zuftehenden Rechte erleiden und mögen alfo
jedes Goncorbat, das ihnen eine folche gleichwohl zufügte, ald rech ts⸗
ungültig vermwerfen. Rotteck.
Concubinat. Schon fruͤh zeigt uns die Geſchichte neben einem
geweihteren Geſchlechtsverhaͤhtniſſe eine formloſe Geſchlechts ver din⸗
dung, melde ber Sprachgebrauch Concubinat nennt!). Die Ges
fege und Sitten der Aegpptier, ber Juden, ber Griechen u. f. w. geſtat⸗
teten dem Dann neben feiner Gattin oder feinen Gattinnen die Yrete
Verbindung mit „Kebsweiben”, um ſich mit Luther auszubräden.
Salomo hatte außer 700 Sattinnen 300 Kebsweiber, und den Perfers
koͤnig Darius begleiteten auf feinen Selbzügen 365 foldher Freun⸗
Dinnen. Den Römern war bie Ehe eine Vereinigung, welche bie gaͤnz⸗
liche Gemeinſchaft des Lebens beider Gatten zum Zweck und die Wirkung
hatte, daß die Frau den Stand bes Mannes, dieſer aber die väterliche
Seroalt über die Kinder erhielt. ine ganz formlofe, biefe Wirkungen
ausfchliegende Geſchlechtsverbindung hießen fie im Gegenfag zur Ehe
Concubinat. Gie war weder unerlaubt, noch galt fie als unmmoraliſch.
Indeſſen wurden in bee Regel nur Freigeborne niederer Ablunft oder -
Sceigelaffene zu Concubinen erwaͤhlt. Während der Gefepgeber früher
fchweigend die Sitte duldete, wurde fie fpäter durch ein Geſetz gewiſſer⸗
maßen anerkannt, indem es eine folhe Gefchlechtsverbindung mit einem
Meibe, welches eine fandesmäßige Ehe nicht eingehen konnte, dem Ehe⸗
Iofen ausdrüdtich geflattete 2). Nothwendig mußte das Chriftenthum,
1) Merlin, Repertoire s. v. concubinage.
2) Stein, Das Roͤmiſche Privatrecht und ber © bis in das
erfte Jahrhundert der Kaiſerherrſchaft. Leipzig 1836. ©. 174 ff.
624 Concubinat.
als es ſich im römifhen Reiche ausbreitete, feinen ſittlichen Einfluß gel⸗
tend machen. Schon Kaiſer Conſtantin verbot dem Ehemann, „waͤh⸗
rend ber Ehe eine Concubine bei ſich zu haben“. Noch weiter ging Kabs
ſer Leo, welcher den Concubinat unbedingt verbot. Auch bei den Voͤl⸗
Fern germanifhen Stammes war neben der in Form und Wirkung er
Eennbaren Ehe eine formiofe Geſchlechtsverbindung geftattet 2). Spaͤ⸗
ter wurde diefe durch Kirchengefege verboten *), obgleich fie noch lange
geduldet wurde. Karl der Große verbot, die Gefeßgebung Conftantins
erneuernd, verheiratheten Männern bie Eingehung eines Concubinatsver⸗
haͤltniſſes °), bis endlich die Reichsgeſetzgebung unter dem Kaifer Kar
dem. Fünften, dem Zeitgenofjen eines beutfchen Fürften, Philipps beö
Großmuͤthigen, welcher, nach Vernehmung eines gefälltgen Gutachtent
von Luther und Melanchthon, ſich, bei Lebzeiten feiner Gemahlin, Mar⸗
garethen von der Saale in der Form einer Gewiſſensehe zur Concubine
nahm ©), zum unbedingten Verbot ſchritt. Die Meichepolizsiordnmg
vom Jahre 1530 beftimmte Zit. 33: „Dieweil auc, viele leichtfertige
Derfonen außerhalb von Gott aufgefegter Ehe zufammen mohnen -—
ordnen unb mwollen wir, baß eire-jede geiftliche und weltliche Obrigkeit —
ein billiges Einfehen haben foll, damit ſolch oͤffentlich Kafter der Gebühr
nach ernftlich beftraft und nicht gebuldet werde.” Daffelbe beftimmt
3) Eihhorn, Deutihe Staats⸗ und Rechtegeſchichte Thl. 1, $. 54, wo
der Verfaffer fagt: „Eine Verbindung ohne jene (Ehe⸗) „Form (in den älteren
Denkmalen gewoͤhnlich Soncubinat genannt) war nicht unerlaubt und üunterfchieb
ſich von ber Ehe wahrfcheintich blos dadurch, daß Feine feierliche Verlobung vor
anging, ber Frau bei Vollziehung ber Ehe Fein Witthum verſprochen wurbe,
Biete daher ſich mit einer Morgengabe begnügen mußte und bei der Trennung
ber Verbintung auf bie gefegtichen Wirkungen, welche bie Che hervorbrachte
feine Anfprücde hatte”, während er in einer Anmerkung binzufügt: „Meiſtens
fand ber Concubinat wohl wegen ber Ungleichheit des Standes ber Frau ftatt
und iſt offenbar nichts Anderes, als bie in der Folge fogenannte morganatifce
Ehe,’ und dabei das Beifpiel Karls des Großen anführt, welder nach dem
Zode feiner Gattin, Ermentrud, die Stichildis zur Concubine nahm. KWBergL
auch noch des Verfaflers Einleitung in das beutfche Privatrecht $. 290. und
Dreyer, Nebentunden Abb. II. „Gebanten, ob Be Legitimation durch bie nach⸗
folgende Ehe den unehelich geborenen Kindern bie bärgerliche Wirkung in Be⸗
treff der Erbfolge nach allem beutfchen Rechte zuwege gebracht“ &. 257 —
318. &. 314.315. bemerkt der Verfaſſer, daß der Soncubinat eines ledigen Mans
nes im Norden Feine fo feltene Erfcheinung geweſen ſei. „Sie gehörte auch n
eingeführtem Chriſtenthum unter bie erlaubten Dinge und man findet nicht, I
die Gefege die Freiheit ber Privatperfonen befchränkt haben, fich ſowohl mit ihe
ren Sklavinnen, als auch mit einem freigebornen Frauenzimmer auf Bewillie
gung ihrer Acltern und Vormünder in eine foldhe Verbindung zu begeben.“ —
a8 Tpanifche Acht des Mittelalters erkannte den Goncubinat (Baragana) aus-
brüdtih an. Mittermaier, Grunbfäge des gemeinen beutfchen Privatrechts
$. 326. Note 12.
4) Hartigfh, Handbuch des deutſchen Eherechts $. 21.
5) Böhmer, über die Chegefege Karls des Großen S. 117 — 1%.
6) Poffelt, Kieine Schriften S. 262. Dieffenba
ee Ihb! Sqyrif ff ch, Geſchichte von
Goncubinat. 625
wörtlich bie Reichspolizeiordnung vom Jahre 1548 Tit. 25. 5. 1., wähs
rend e8 $. 2. noch heißt: „Und nachdem zu Zeiten‘ Perfonen ehelichen
Standes einander verlaffen, und mit anderen leichtfertigen Perfonen in
öffentlihem Ehebruch figen, welches von den Obrigkeiten geftattet, da⸗
durch der Allmächtige, nachdem es wider feine göttliche Gebote ift, Hochs
beleidigt, ‚auch zu vielen Aergernilfen Urſach gibt, fo. gebieten wir hier
mit ernftlich, daß ſolch öffentlicher Ehebrudy und andere leichtfertige Bei⸗
wohnungen binfüro mit nichten geftattet oder gelitten, fondern von ber
Obrigkeit ernftli am Leib oder Gut, nad) Geftalt und Gelegenheit der
Derfonen, und der Verwirkung geftraft werben ſolen.“ Geitbem wird
in Deutſchland ber Concubinat, den Unzuchtsverbrechen beigezählt, als
ſtrafbar angefehen 7), wiewohl er, um fih mit Madelbey (Lehrbuch
bes heutigen Roͤmiſchen Rechts 6. 222.) auszubrüden, „ben höheren
Ständen nachgeſehen wird” 8). Napoleon war kein Freund bes Cons
cubinats, daher er 3. B. feinen Minifter Talleyrand nöthigte, feine Ges
liebte, Madame Grant, zu ehelihen. Demnach iſt diefe Strenge nicht
auf das bürgerliche Geſetzbuch übergegangen, das feinen Namen ſich aufs
prägte. Mach dem Code Napoleon, Art. 230, kann bie Ehefrau wegen
eines von ihrem Gatten begangenen Ehebruchs nur dann auf Ehefchet:
bung Magen, wenn er die Concubine im eigenen Haufe hielt; eine Bes
Yeidigung der Gattin, welche fo ſchwer ift, daß ſchon bie Roͤmer darin
eine Grauſamkeit erblickten. Der Gegenfag ergibt, baß der Gattin Fein
Klagrecht zufteht, wenn ber Ehemann feine Soncubine anderswo mohnen
laͤßt, und fo das Gefeg In dieſer Beſchraͤnkung das Concubinat duldet.
Auch beftraft denfelben das peinlihe Geſetzbuch Frankreichs, Art. 339,
nur in dem Fall, in welchem der Ehefrau eine Klage auf Ehefcheidung
geftattet ift, mit einer Geldftrafe von 100 bis 2000 Francs 8).
Zu den Gründen, welche gegen das Beſtehen ber indg top.
ſprechen, gehört auch ber Umftand, daß eine ford. ‚Cimuwsund, Indem fie
| effte: Lehrbu des Criminalrechts 432.
— ac des nach befien —5— die im Ku gbne
beſondere Erlaubniß abgefdhloffene Ehe nichtig tit, und eine ſolche Bet ng
bei der Kenntniß biefes Gefeher ebenfalls als Soncubinat beftraft wi br
©trafe wenigftens eine viermöchige Gefaͤngnißſtrafe { die beim Rücte Ar zu
ürbeitshausſtrafe ſteigt. kleid Das MWürtembergifche —— ee IR,
theilung 2, &. 449. 420. Sleichfalls Gefaͤngnißſtraſe droht das f ff ze Fi
recht. - In einem befonderen Paragraph alter Kriegsartifel Heißt es: „In Sadıs
fen fol weder Officer, noch Gemeiner Meaitreffen, Concubinen ober anberes bei
baͤchtiges ae bei fich haben, mit fich Heimführen oder bei den Compag
aufhalten laſſen“ zc. . nit aglich
Ryie Gefchichte bes Hofweſens mit feiner Maitreſſenchronik, vorz
bie ve ten hunderte, ſowie bie Geſchichte ver Subatz, iſt ein ausführs
Iiher Commentar. ' Aa BR 3.0.4%:
I n, Hanbbuch über den Gobe Napoleons Bund 3, ©. e
Laf H ts j ber —58 A lt und commmentirt, Band 2, 8. “1
Baharid, Handbuch des franzd -Stoftrahts Banb $: ©. 104 ff. Die
Gefedgebu freicht tie Sen Euien, fo lastge, fein Öffenslihes Kergrex
ee a I Se
Staats⸗ Lexikon III.
626 Concubinat. Goncurs.
die Kinderverforgung erleichtert, ben Goncubinat fördert. Mohl, Die
Polizeiroiffenfchaft nach den Grundfägen des Rechtsſtaats 6. 62. —
Eine rgie deſſelben enthalten die juͤngſten Befehdungen vn riftlie
hen Ehe. _ Bopp.
CLoncurrenz, ſ. Zufammenflüß.
Concurs (Bankerot, Gant, Falliment). Beſondert
Rechtsverhaͤltniſſe erzeugen ſich in dem Faile, wenn ein Schuldner (Ge
meinſchutbner, Gantmann, Cridar) nicht fo viel Vermögen befigt, ald
erforberlich iſt, um felne Gläubiger zu befriedigen, in welchen Galle er
fid) in dem Zuftande des Concurfes befindet i). Das Verfahren,
welches zum Zweck hat, bie Vertheilung dieſes unzureihenden Vermo⸗
gens, der Concursmaffe, unter die Gläubiger nach Maaßgabe ber geſet⸗
ũchen Beftimmungen herbeizuführen, iſt ber Concursproceß.
"Den, ber ſich im Zuſtand des Goncurfes befindet, treffen nicht nur
die Nachtheite, melde fid als unmittelbare Folgen geltend machen, fon»
dern er ift auch einer Rüdtwirkung auf fein Verhaͤltniß zum Staat und
dur Gemeinde bloßgeftelit.
Viele Gefeggebungen entziehen (ober fufpendiren) dem, welcher ſei⸗
nen Verbindlichkeiten nicht gehörig genügen kann, beftimmte Rechte,
In ben conftitutionellen Staaten hat ſich dieſe Gefeggebung in den
Staatögrundgefegen (ſowie in ben Gemeinbeordnungen) ausgefprochen.
So beftimmt die Verfaffungsurkunde des Königreichs Wuͤrzemberg
($. 135), baß ber, gegen den ein Concurs gerichtlich eröffnet iſt, nicht
fähig fei, Mitglied der Ständeverfammlung zu fein, eine Unfähigkeit,
welche auch nad) geendigtem Goncursverfahren fortdauere, Wenn "Strafe
wegen DVermögenszerrüttung hinzugelommen fei. ( Jedoch follen bie erde ·
chen Mitglieder der erften Kammer durch die Erkennung einer Debit
Common u her Stimmführung sicht ausgefähloffen fein, wenn
ihnen eine Competen; bon wenigftens 2000 Gulden ausgefegt iſt)
Ebenſo foll ($. 142.) in einem ſoichen al das Wahlrecht enter
D) Die tägtke Grfahrung noise, vop za nit füner IB, Bund) Schaltung
ae be — Sie Saas us feinen FR en, zu entgehen,
r 27
1832 Band 5, ©. 213. 214, indem er von brn Guck Dom —
— ER Babtunaeräh Fa et, „einnen ‚biefed ienient Ibie R
ja ahrheit, fo 2 Beil
Sinpflgt: Ein Eondoner Sant’ auf et ol
nacvem ex feinen übrigen Kindern große Cihenfungen grmiact,hatter gu Id
aufn. Di Mate u zu m) Sitte 1 ie Bank Las meinen Samen
fi Bank nur iden ni fi»
ER AB müßte, "der, berfege ben Grit bes Baufı un rule Ka
a um 5% Ran —2 Buße fortleben, wie Ic.geleht habe."
n ’ohn) t nicht Si r
der zalt Bold angefüult ift ?” — „In Selen Kaltın ae ——————
N ——
_ fonft bie Seute geglaubt hätten, ba id) arım.Berbe:
Der Sopn führte das ——
Der Sopn Abe a Berhie fot, Gef al-bie Bank an —* oc
Concurs. 627
gen fein. Nach der Verfaſſungsurkunde des Großherzogthums Heſſen
wird die Ausübung des Staatsbürgerrehts gehindert „durch das Entſte⸗
hen eines gerichtlichen Concursverfahrens über das Vermögen bis zur
vollftändigen Befriedigung der Gläubiger 2). Die gleiche Beftimmung
enthält die Verfaſſungsurkunde des Herzogthums Sachen: Coburgs
Saalfeld ($. 9.), indem fie zugleih ($. 38 — 44.) feftfegt, daß die active
und paffive Wahlfähigkeit mit davon abhängig fei, daß man niemale
wegen Schulden, wenigftens nicht ohne völlige Befriedigung ihrer Glaͤu⸗
Biger, in Concurs befangen war. Dem Staatsgrundgeſetz des Herzogs
thums Sacjfen’ Meiningen’ (F. 145) gemaͤß kann das Staatsbürgerrecht
vom Gemeinfchuldrier während bes Concurſes nicht ausgeübt werben, und
Hängt von dem Genuffe diefes Staatsbürgerrechts namentlich die Kähigs
keit, einen Landtagsabgeordneten zu wählen oder als folcher gewählt zu .
toerden, ab, und ebenfo beftimmt bie Verfaffung des Herzogthums Sach⸗
fen - Altenburg (8; 89.), daß biefed Recht fufpendirt ſei „waͤhrend eines
ausgebrochenen Gants oder eingetretener außergerichtlicher Liquidationds
verhandlungen, fo lange der Gemeinfchuldner nicht (entweder nach gefches
bener voller Auszahlung bder-Gläubiger, ober doch nach vollftändiger
Nachweiſung eines ganz unverfchuldeten großen Ungluͤcks) Bucch die obere
Juſtizbehoͤrde foͤrmlich ſchuldlos erklärt (tehabilitirt) wird” 2). Die
Verfaſſungsurkunde von Kurheſſen beftimmt $. 67, daß zur Wahl eines
Abgeordneten weder berechtigt, noch wählbar biejenigen feien,- „Über deren
Vermögen ein gerichtliches Concursverfahren entftanden ift,-bi zur völlts
'gen Befriedigung der Gtäubiger”, und damit flimmt bad Staatsgrund⸗
geſetz bes Königreichs Sachfen (5.74) uͤberein, während die Verfaſſungs⸗
urkunde für das Fuͤrſtenthum Hohenzollern: Sigmaringen ($. 95.) vors
ſchreibt, daß der, welcher als Abgeordneter wählbar und zu dem Erfchef
nen auf dem Landtag befähigt fein ſolle, „in dem Freien SB-mur jeiner
Vermoͤgensverwaltung fich befinden, baher weder in einem Goncurfe,
Schuldverfahren ‘oder Bevogtung- ſtehen“ dürfe. Das neue Staats
grundgefeg für das Königreich Hannover v. J. 1833 fpricht ſich $. 104.
dahin aus: „Perſonen, über deven Vermögen unter Ihrer Verwaltung ein,
Goncurs ausgebrochen iſt, innen vor Befriedigung ihrer Glaͤubiger we⸗
der zu Mitgliedern ber Ständeverfammlung gewählt werden, noch, wenn
fie zur Zeit des Ausbruchs bed Conrurfes Mitglieder- find, in berfelben
verbleiben. Diejenigen Grunbeigenthümer aber, welche den Concurs
von ihrem Vorfahren uͤberkommen haben, innen inſofern als-Mitgliebet
der allgemeinen Ständeverfammlung zugelaſſen werden, als fie übrigen
Bazu qualificet find." Die Verfaffung der ſreien Stadt Frankfurt bes
ie-fpäntfehe Gortes + Eonftitutlon vom Jahr 1812 Heftiinte, daß das
a ent dan verloren gehe, werm man ein Infolventee
Schuldner (oder Echuldner der Staatscaſſe) fei.
3) Das, Staatögrundgefeg für das en Sachfen : Weimar ber
mt für ben Kall, daß bie Befugniß des Erſcheinens auf dem Banbtade auf
m Mefise eines Ritterguts beruht: „dei den In Goncurs befangenen Kittergoͤ⸗
tern ruht Die Stiunlie“. nu 0»
628 Concurd.
fiimmt, daß zu Mitgliedern des geſetzgebenden Körpers nicht gewaͤhlt
werden koͤnnten nammmtlich:. „alle Zalliten, e8 fei nun, daß Jemand fein
Zahlungsunvermoͤgen gerichtlich angezeigt,. oder mit feinen Glaͤubigern
insgeheim Nachlaß: oder Anftanbsverträge errichtet hat, bevor er feine
Gläubiger voltftändig, d.h. ohne Abzug oder Nachlaß, bezahlt hat.” Nach
6. 52. des Grundgefeßes für das Königreich Norwegen vom 4. Novems
ber 1814 wird das Recht zur Xheilnahme an ber Wahl eines Mitgliedes
‚der Reichsverſammlung (Storthing) fufpendirt namentlich wegen Kallits,
bis die Gläubiger volle Befriedigung erlangt haben, es.fei.denn, daß ‚ber
Concurs durch Feuersbrunſt oder anderes nicht. zuzuxechnendes und ers
weisliches Ungluͤck verurſacht wird. Nach ben Geſetzen über bie An⸗
ordnung bee Provinzialſtaͤnde in Preußen ruht das Wahlrecht und bie
Waͤhlbarkeit, wenn über das Vermögen deſſen, dem diefe Befugniſſe zus
ftehen, ber Concurs eröffnet ift. U
Das großherzoglich badiſche Gefeg vom 81. December 1881
„uͤber die Verfaſſung und Verwaltung der Gemeinden” ſchließt von ber
Faͤhigkeit, Mitglied des Gemeinderaths (durch Mahl) zu werben, nas
mentlich die „in Gant Berathenen” aus, eine in ihrer Unbefchräntcheit
etwas ftrenge Beftimmung *). Die gleihe Beftimmung enthält bie
großherzoglich heffifche Gemeindeordnung ($.34.), indem fie von der Fir
bigkeit, zuc Wahl dee Gemeindebeamten mitzumirken, ben. ausfchlieft,
der in ber Ausübung des Staatöbürgerrechts gehindert iſt. Die Stäpdtes
ordnung fuͤr das Königreich Sachſen vom 2. Zebruar 1832 fchließt
($. 73.) von ber Ausübung ber Ehrenrechte eines Bürgers nicht nur
Diejenigen, ‚über deren Vermögen. förmlichee Concurs ausgebrochen iſt,
fondern fogar auch die, welche den „Weg der außergerichtlichen Erledi⸗
biaung deſſelben eingeſchlagen haben”, auf fo lange aus, als die Glaͤubi⸗
ger UNDefsicnigt aehlieben find, und die $$. 126. 127. verordnen weiter,
bag in Bezug auf bie Wahl ber Stadtverorbneten diejenigen von dem
Stimmrecht und ber Waͤhlbarkeit ausgefchloffen fein, melde ſich nicht
im ae der use elichen Ehrenrechte befänden. | .
nr ac dem großherzonlich fachfen »- weimarifchen Geſetz vom 11.
April 1838 über bie eimatheverhältniffe darf das —— nas
ee
| e Verfaffung unb. Verpaltu Gemeinden (in. X. DüL
ß en atlere
Goncurs, | 629
vor Entfcheldung der Sache unzuläffig, wovon (nad) $. 64.) die Folge
auh in ber Unfähigkeit, zum Stadtve :
—Aã faͤhigkeit, 3 tverordneten gewaͤhlt zu wer⸗
Hat der Gemeinſchuldner ſeinen Vermoͤgensverfall verſchuldet, ſo i
er auch dem Strafgeſetz verfallen, welches den Banketot, dl die AN
volle Herbeiführung eines Concurfes, als Mechtsverlegung ahndet.
Bei den alten Mömern war e8, wie Niebuhr dargethan hat, den
Glaͤubigern erlaubt, ihren gemeinfchaftlihen Schuldner foͤrmlich in
Stüden zu bauen, eine Graufamkeit, welche fpäter fich verlor, deren
Spur aber im älteren germanifchen Recht fich gleichfalls zeigt. (Grimm,
beutfche Rechtsalterthuͤmer S. 615.) Später verfiel bee Schuldner in
Leibeigenfchaft®), und noch fpäter wurden Ehrenftrafen, in dem Gepraͤge
bes Geiſtes bereiten, verhängt. Die Bankerottirer wurden zum Hunde⸗
und Steintragen oder dazu verurtheilt, fid) auf den fogenannten Laſter⸗
ftein an öffentlichen Plägen am hellen Zage niederzufegen. In einigen
Zheilen von Norbdeutfchland murden fie mit umgemwandten leeren Taſchen
ausgeftellt oder durch die Gaſſen geführt, indem vor und hinter ihnen .
leere Beutel getragen wurden, ober e8 ward die Schandglocke über fie
geläutet, während fie am Pranger fanden. Wieder in anderen Gegen-
den mußten bie Bankerottirer eine beftimmte Kopfbebedung tragen ©).
&o mußten 3. B. in Frankfurt a. M., wo die Juden —— oe
graue oder ſchwarze Huͤte zu tragen, die Bankerottirer gelbe Huͤte tragen,
„indem fie zugleich weder Maͤkler fein, noch in eine Zunft, noch zu
man I Bechen kommen“ burften 7),
m Sahr 1601 vereinigte fich die pommeriſche Nitterfchaft dahin,
ein Mitglied ‚der Ritterſchaft, welches Verbindlichkeiten, {or IM —*
Brief und Siegel eingegangen hatte, nicht erfuͤllen koͤnne, „in keiner ehr⸗
lichen Geſellſchaft zu leiden“ 8).
Die Reichspoligeiorbnungen v. I. 1548 uno 10.17 geboten, daß
muthmillige Bankerottiver den Dieben gleich geachtet, zu feinen Aem⸗
tern, Ehren und Würden gelaffen werben und feinen Anfprud auf Mo⸗
ratorien haben follten. Um der neueren Strafgefeugebungen, zugleich
mit Ruͤckficht auf den betrüglichen Bankerot (demjenigen, den. jemand
5) Denkwürbig tft, daß noch Becc arid (f. diefes Staats⸗Kexikon DBb. 8.
S. 805 ff.) der Meinung war, ber Bankerottirer müffe feinen Gläubigern ver:
fallen fein, um ihnen zur Entſchaͤdigung Dienfte zu leiten. ©. bg, Gerpin,
über die peinliche Geſeggebung. Aus den Zranzöfifhen von Grauer, Rüras
berg 1786. ©. 354.
6) Quistorp, Beiträge zur Erlaͤuterung verſchiedener Rechtsmaterien,
Koftet 1787. Beitr. XIII. Won der Strafe ber Banferottirer ober ber böfen
Schuldner nach älteren und neueren Gefegen. |
7) Kirchner, Geſchichte der Stadt Frankfurt a M. Thl. 2. Arankfurt
1810. &. 376. 398. ’
8) Eſto r, Teutſche Rechtegelahrtheit Thl. 3. Brankf. 1767, 79. Haupt:
fü: Vom Banferot, Zaliment ıc. $. 4899. ©. 1318. |
630 | Concurs.
abfichtlich herbeifuͤhrte, um dadurch zu gewinnen )), gu gedenken, fo bes
ſtraft die oͤſterreichiſche Geſetzgebung (wornach dem Richter, bei welchem
ber Concursproceß anhaͤngig iſt, die Anhaltung und Eroͤffnung der Brief⸗
ſchaften bei den Poſtaͤmtern geſtattet iſt) ben, welcher „durch Vers
ſchwendung ſich in das Unvermoͤgen, zu zahlen, geſtuͤrzt“, als Betruͤger
und mit Kerkerſtrafe 7%). Das preußiſche Strafrecht U) beſtimmt: Wer
durch übertriebenen oder liederlihen Aufwand fi) außer Zahlungsftand
gefegt hat, iſt ein muthwilliger Bankerottirer. Fuͤr übertrieben iſt jeber
Aufwand zu achten, ber die Nothdurften und gemeinen Bequemlichkeiten
bes Lebens überfteigt und mit ben. jedesmaligen Einkünften des Schuld⸗
ners nicht im Verhältniffe fteht. Infonderheit tft ein Aufwand, welcher
durch Spiel, Wetten, Schwelgerei und unzüchtige Lebensart verurſacht
worden, als übertrieben anzufehen. Ein muthmilliger Bankerottirer fol
aller Ehren und Würden im Staate für unfähig erflärt, zu breis bis
fechsjähriger Zuchthausftrafe verurtheilt und biefe Beftrafung oͤffentlich
bekannt gemacht werden. Iſt er ein Kaufmann, fo verliert er Noch aus
ferdem für immer alle kaufmaͤnniſche Rechte, fo wie ein Zube für fi
und feine Samilie den Schug des Staats. Entzieht ſich ein folder
muthmilliger Bankerottirer ber Strafe durch die Flucht, fo foll fein Bild
niß an einen Schanbpfahl geheftet werden. Wer zu einer Zeit, ba er
Beine wahrfcheinliche Ausficht hat, feine Gläubiger jemals befriedigen zu
Eönnen, dennoch zur Unterftügung feiner Verſchwendung Schulden madıt,
ift als em muthwilliger Bankerottirer anzufehen und mit fünfs bis ſechs⸗
jähriger Zuchthausftrafe zu belegen. Werden die unter ſolchen Umftäns
den gemachten Schulden zur Vergrößerung der Maſſe verwendet, fo foll
ein ſolcher Bankerottirer mit drei= bis vierjähriger Zuchthausarbeit belegt
werden. Wer zu einer Zeit, da er weiß, daß fein Vermögen zur Bes
äuhteng feiner Schulden nicht mehr hinreiche, aber noch Hoffnung hat,
baß felbiges ſich in Aurzem verbeffeen werde, mit Verheimlichung feiner
Dermögensumftände neue Schulden macht und dadurch den Veriuſt feis
ner Gläubiger vergrößert, ſoll als ein fahrläffiger Bankerottirer angefehen
werben. Eben dafür iſt derjenige zu achten, ber bei der Unzulänglichkeit
feines Vermögens den Neft deffeiben zu feinen eigenen oder der Seinis
gen Bedürfniffen „obſchon ohne Verſchwendung, verzehrt, und dadurch
feinen Gläubigern entzieht. in Kaufmann, welcher entweder gar keine
ordentlichen Bücher führt oder die Balance feines Vermögens wenigftens
9) Fe erbad, Lehrbuch bes peinlichen Rechts, zwoͤlfte Au
gegeben von Mittermaier, Gießen 1836. $. Fr FE flage, heraus.
10) Borſchitzk y, Handbuch des öfterreichifchen Geſeses üb
vom Ay ember „1803, Drag 1815. ©. 1a or 180. geb Wer Verbrechen,
ein, Grundſaͤte des gemeinen deutſchen und preußifchen pei
Rechts, Halle 1796, $. 479. &.351—853. Er —— —— —
allgemeinen preußiſchen Civil⸗ und Criminalrechts, Berlin 1827. $. 1109.
©. 627. 628. Higig, Beitfchrift für die Ciminalrectspflege in ben Preu⸗
ßiſchen Staaten, Heft 27. ©. 1 ff. Heft 38. ©. „dur Lehre vom
Bankerot, insbefonbere vom betrüglichen Banferot.”
\
Concurs. 631
alljaͤhrlich einmal zu ziehen unterlaͤßt und ſich dadurch in Unwiſſenheit
über bie Lage feiner Umſtaͤnde erhält, wird bei ausbrechendem Zahlungs⸗
unvermögen als ein fahrläffiger Bankerottirer beftraft. Ein folcher fahr
läffiger Vankerottirer wird, wenn er in einem Öffentlihen Amte fleht,
biefes Amtes, und wenn er ein Jude ift, feines Schußprivilegs, fowie ein
anderer Kaufmann aller taufmännifchen Rechte verluftig, alfo, daß er
ohne befondere Erlaubniß keinen Handel meiter treiben darf. Außerdem
bat derfelbe, jenachdem ber Verluſt der Gläubiger größer oder geringer
und das Unvermögeri durch längere oder kürzere Zeit verheimlicht wor⸗
den ift, Zuchthaus= oder Seftungsftrafe von einem bis zu drei Jahren
verwirkt. Die Hoffnung, durch weit ausfehende Hanblungsfpeculationen
eine fhon vorhandene Vermögensunzulänglichkeit zu deden, kann einen
fahrläffigen Bankerottirer nicht entfchuldigen. Ebenfo wenig iſt die Er⸗
wartung Fünftiger Erbfchaften oder anderer Anfälle, auf welche der
Schuldner noch Bein unwiderrufliches Recht erlangt hat, dazu hinreichend.
Mer mit fremden Gelde, ohne Genehmigung bed Gläubigers, verwegene
und unfichere Unternehmungen wagt, durch deren Fehlfchlagung feine
Glaͤubiger in Schaden und Verluft gefegt werden, wird als ein unbeſon⸗
nener Bankerottirer beftraftl. Ob ein dergleichen Unternehmen für unbes
fonnen zu achten fei, muß durch Sacverftändige unterfuht und beurs
theilt werden. Außer dem Verluſte der Handlungsgerechtigkeit oder des
Schugprivilegs hat ein folder Bankerottirer Gefängnifftrafe auf ſechs
Monate bis zu zwei Sahren verwirkt. Das Strafgeſetzbuch bes Königs
reichs Baiern fchreibt vor: 1) Wer in Concurs gerathen und überwiefen
it, daß er durch argliftige Werheimlichung feiner [don vorhandenen Zah»
Iungsunfähigkeit oder bei Eingehung neuer Pfandfchulden, durch Ableugs
nung ober betrügliche Verſchweigung Älterer ober flärkerer ‚Dopotheten
feine Gläubiger hintergangen hat, foll als betrüglicher Schulbenmacher
nach den Gefegen wider ben gemeinen Betrug (ein Zuge Ardeitshaus)
beftraft werden. 2) Wer bei erweistich beftimmten und wahrſcheinlichen
Ausfichten auf Verbefferung feihes Zuftandes feinen übrigen Credit ohne
Entdedung feiner Bermögensumftände benutzt, iſt von ber Strafe bes
betruͤglichen Schuldenmadyens befreit, wenn feine Ausfiht durch nicht
vorauszufehende Umftände ohne fein Verſchulden vereitelt worden iſt.
Unbeſtimmte und auf keinem Grunde der Wahrfcheinlichkeit beruhende
Hoffnungen verdienen keine Erwägung. Muthwillige und fahrläffige
Schuldenmader find nach Beſchaffenheit der Umftände polizeilich zu be⸗
ftrafen. Wer bei bevorftehendem ober ausgebrochenem Concurfe, ohne
für ſich felbft einen Vortheil zu fuchen, buch) betruͤgliche Handlungen
einzelne Gläubiger vor den andern beguͤnſtigt, wird als gemeiner Betruͤ⸗
ger beſtraft. Wer, um feine Gläubiger zu verkürzen, bei bevorſtehendem
ober ausgebrochenem Concurfe ſich einer Unterfchlagung oder eines Des
trugs fchufdig macht, Gelb oder Geldeswerth heimlid) zuruͤckbehaͤlt ober
auf die Seite fchafft, Activforderungen verſchweigt, oder deren Bezahlung
heimlich annimmt, ober auch erbichtete Gläubiger aufitellt, ſoll als ause.
gejeichneten Betrüger (Arbeitshaus von ein bis drei Jahre) beſtraft wer
632 Concurs.
den, wofern nicht die Handlung wegen gebrochenen Manifeftattonsetbef
‘oder verfälfchten Urkunden eine noch härtere Strafe verfchuldet. Wer,
um fid) rechtswidrig mit feiner Gläubiger Schaden zu bereichern, durch
"betrüglihe Handlungen fi) als zahlungsunfähig barftellt, ſoll mit vier
bis achtjährigem Arbeitshaus beftraft, überdies aller Würden, Staats:
und Ehrenämter und der künftigen Ausuͤbung bes Gefchäfts ober Gewer⸗
bes, welches zur Veruͤbung des Betrugs mißbraucht worden, unfähig ers
klaͤrt werden. Mer bei nahe bevorftehendem Concurſe feine Rechnungs»
bücher und andere Urkunden, woraus der Vermögenszuftand und das
Verhaͤltniß deffelben zu den Schulden überfehen werden Eonnte, auf bie .
Seite gefchafft, vernichtet oder unbrauhbar gemacht hat, Kaufleute, deren
Hanblungsbücher in folhem Zuftande fidy befunden, daß das Verhaͤltniß
ber Schulden zu ben Forderungen aus ihnen nicht zu Üüberfehen tft, diefe
haben die Vermuthung des betruͤglichen Bankerots wider fih. Ein
großherzoglich heffifches Geſetz vom Jahr 1785 bedroht den, der ſchuld⸗
vol feinen Bankerot herbeigeführt hat, mit Sreiheitöftrafe und den, ber
dabei betrüglich gehandelt hatte, zugleich mit Chrlofigkeit. Beſonders
ſtreng iſt e8 gegen „die Staatsbiener” und die „Abeligen”. Auch die
„Sheweiber der Bankerottirers, die zum Verfall ihres Hausweſens bas
Meifte beitragen oder vielleicht ganz allein daran ſchuld find”, ſollen bes
ftraft werben.
Das franzöfifhe Handelsgeſetzbuch beftimmt: A. Ein fallirter Hans
delsmann foll als einfacher Bankerottirer gerichtlich verfolgt, und kann für
foihen erklärt werden, wenn er ſich in einem oder in mehreren der fols
genden Kälte befindet, nämlich: 1) Wenn die Ausgaben feines Häufes,
die er von Monat zu Monat in fein Tagebuch einzutragen ſchuldig ift,
für übertrieben erfannt werden; 2) wenn dargethan wird, daß er große
Summen im Spiele ober zu Operationen verbraucht hat, die blos vom
Bufalle abhängen; 3) wenn aus feinem legten Inventar hervorgeht, daf,
unerachtet fein Activvermögen um funfzig Procent geringer, als fein Dafs
fioftand war, er nichts defto weniger beträchtliche Summen lehnbar aufs
genommen und wenn er Waaren mit Verluft oder unter dem laufenden
Preife wieder verkauft hat; 4) wenn er Credits oder Mechfelbriefe für
eine Summe unterzeichnet hat, die feinem legten Inventar zufolge drei⸗
mal fo hoc) ift, als fein Activvermögen. B. Als einfacher Bankerotticer
kann gerichtlich verfolgt und dafür erklärt werben: der Sallit, welcher
nit binnen drei Tagen von dem Moment an, ba er feine Zahlungen
eingeftellt hat, dem Gericht hiervon die Anzeige machte ; ber, welcher,
nachdem er ſich entfernt hatte, fich nicht fofort perfönlich bei den Agen⸗
ten und Syndiken eingefunden hat; der, welcher Bücher auflegt, welche
unregelmäßig geführt find (ohne daß jedoch daraus Anzeigen von Betrug
hervorgehen), oder der nicht alle Buͤcher vorzeigt; endlich ber, welcher in
einer Handlungsgeſellſchaft fteht, die fallirt und nicht binnen jener drei Tage
feinen Namen und Wohnort angibt. C. Jeder fallirte Handeldmann,
der ſich in einem oder in mehreren ber folgenden Fälle befindet, foll als
betrüglicher Bankerottirer erktärt werden, nämlich: 1) wenn er Ausgaben
Concurs. 633
oder Verluſte angegeben hat, die in der That nicht ſtatigehabt haben,
oder nicht gehoͤrig darthut, wozu er ſeinen ganzen Empfang verwendet
habe; 2) wenn er irgend eine Summe Geldes, irgend eine Activſchuld,
Waaren, Lebensmittel oder Mobiliengegenſtaͤnde bei Seite geſchafft hat;
3) wenn er falſche Verkaͤufe, falſche Haͤndel oder falſche Schenkungen
gemacht hat; 4) wenn er blos zum Scheine etwas Schriftliches von ſich
gegeben, ober Schuldbekenntniſſe ohne rechtliche Urſache und-shne den
Merth empfangen zu haben, mittelft öffentlicher Acte unter Privatunters
ſchrift ausgeftellt und auf ſolche Weife falfche, zwiſchen ihm und erdichtes
ten Glaͤubigern heimlich verabredete Paffivfchulden gemacht hat; 5) wenn
er einen befondern Auftrag erhalten und Geld, Hanbelseffecten, Lebens⸗
mittel oder Waaren in Verwahr genommen und, ben aus bem Voll:
machts⸗ oder Hinterlegungsvertrag entfpringenden Pflichten zuwider, die
Sonde oder ben Werth der Gegenftände, welche in der Vollmacht oder
in der Hinterlegung begriffen waren, zu feinem Nugen verwendet hat;
6) wenn er unbemegliches Gut oder Mobilien angelauft und ein Ande⸗
rer feinen Namen dazu hergegeben hat; 7) wenn er feine Bücher ver-
bare. D. Als betrüglicher Bankerottirer kann gerichtlich verfolgt und
dafür erklärt werden ein Fallit, der keine Bücher geführt, oder aus deſſen
Büchern nicht zu erfehen ift, wie es mit feinem Activ⸗ und Paffivftande
wahrhaft befchaffen fei, und derjenige, der ein ficheres Geleit erhalten
und ſich nicht vor Gericht geftellt hat. "
Auf Grundlage diefer Vorfchriften des Handelsgeſetzbuchs bedroht
das franzöfifche Strafgefegbuch den, welcher in den im erfteren beſtimm⸗
ten Fallen eines Bankerots ſchuldig erklärt worden, und zwar den bes
trüglihen Bankerottirer mit Zwangsarbeit von beftimmter Zeit 2), ben
einfachen Bankerottirer mit Gefängniß.von einem Monat bis zwei Jah:
ten. (Die Mitfhuldigen an einem betrüglichen Bankerot foll gleiche
Strafe treffen.) Wechfelagenten und Mäkter, weiche falliren, jollen mit
Zwangsarbeit auf eine beftimmte Zeit und, menn fie eines betrüglichen
Bankerots uͤberwieſen worden, mit lebenslänglicher Zwangsarbeit beftraft
werden. — Das Strafgefegbuch für den Canton Zürich vom 3. Oct. 1835
verordnet: Als betrügerifchee Bankerot iſt ed anzufehen, wenn ber in
Goncurs Gerathene feine Rechnungs⸗ oder Handlungsbuͤcher auf bie
Seite gefchafft hat, oder menn die vorgelegten Bücher falfche ober betrüs
gerifche Einträge enthalten, wenn er in den legten ſechs Monaten vor
Einftellung feiner Zahlungen beträchtliche Summen an Geld oder Wan:
ten eingenommen hat und deren Verwendung naczumeifen nicht im
Etande iſt; wenn er Geld, geldwerthe Sachen, Papiere oder Forderun⸗
gen verheimlicht oder auf die Seite gefchafft hat; wenn er feine Släus
biger durch falfche ober fingirte Gefchäfte oder Verträge verkürzt hat;
12) Der Entwurf eines Strafgeſetzbuchs für Braſilien ſchlaͤgt Zwangsar⸗
beit von 1 — 8 Jahren und zwar zugleich den Mitfcyuldigen vor. Hudt⸗
walter, Entwurf eines Gtrafgefenbuch für das Kaiſerreich Brafilien (Zeit:
fchrift für Rechtswiſſenſchaft und Geſetzgebung bes Ausl. von Mittermaler und
Zachariaͤ, Band 1. Heidelb. 1829) ©. 324.
638 Eoncurs.
riums. Beſonders geht die preußiſche Legislation ins Einzelne, Indem
ſie u. A. beſtimmt, daß ein allgemeines Moratorium nur auf ein,
zwei, hoͤchſtens drei Jahre zu ertheilen ſei, daß es von der Erfuͤllung
befonderer Verbindlichkeiten, Tragung öffentlicher Laſten, Befriedigung
der Anſpruͤche oͤffentlicher Caſſen, Entrichtung von Alimenten und
Mieth⸗ und Pachtgeldern, Zählung des Geſindelohns u. ſ. w. nicht
befreie 26). | "
Es verfteht fi, dag auch durch MWebereinkunft zwiſchen dem
Schuldner und feinen Gläubigern, alfo durch ben freien Willen ber
legteren 27), eine Stundung zu Stande kommen und fo ber Concurs
abgewenbet werden Tann, was auch dann gefdieht, wenn es bem
Schuldner gelingt, einen Nachlaßvertrag mit feinen Glaͤubigern
abzufshliegen, d. h. fie zu vermögen, einzumilligen, daß fie gegen theils
weife Befriedigung ſich für gaͤnzlich abgefunden erklaͤren 2°).
Eine ſolche Uebereinfunft erfordert die Zuftimmung von wenig⸗
ſtens det Mehrheit der Gtäubiger, nad der Größe bed Geſammtbe⸗
trags ihrer, Korderungen berechnet, ohne daß jedoch ein bevorzugter
Glaͤuͤbiger daran gebunden ift.
Einzelne Gefeggebungen laffen für den Fall, bag Fein Nachlaßver⸗
trag zu Stande kommt, in beflimmten Fällen eine Nöthigung ber
Gläubiger zu einem Nachlaß zu, 3. 3. die Civilproceß⸗-Geſetzgebung
Baiernd. Der Schuldner muß nachweifen, daß er nicht die Schuld
feines Vermögensverfalld trage, den Gtläubigern den Zuſtand feines
Vermögens vorlegen und ihn auf deren Begehren durch Ableiftung bed
Manifeftationseides betheuern. Außerdem darf er nicht dem Verdacht
zeichniß ſeines Activ⸗ und Yofflovermögens einreichen und feinen Säubige rn feine
Handels⸗ und Geſchaͤftsbuͤcher, oder doch eine richtige Bilanz zur Prüfung bie
legen und in Gegenwart bes Prebigerd unter Verwarnung vor dem Meineid eib⸗
lich erhärten, daß er von feinem Vermoͤgen wiſſentlich nichts verhehlen, auch,
mas ibm noch beifalle, richtig anmelden wolle, fowie, daß die Gläubiger nicht
weniger,. al& fie verlangen ,: zu: fordern hätten. Krüger, ſyſtematiſche Dar
ftelung des bürgerlichen Proceſſes im Herzogtum Braunſchweig, Braunſchw.
1829. S. öl, 182. Nach der Gefepgebung im Großherzogthum Heſſen muß
ber Schuldner namentlich nachzeigen, daß es ihm in feiner dermaligen Rage, ohne
Keine in dire Eage oerathen Ta und ce Th nad) Ablauf der Geik im Gran
hulden in Die er on r
der Zahlungsfähigtelt befinden werde. " sei
26) Fuͤrſtenthal a. a. O. ©. 19-171. _ Du
27) Iſt der Wille der Elänbiger getheilt, ſo entſcheidet bie Mehrheit dere
ſelben, berechnet nicht nach den Köpfen, fendern nad) ber Größe 8
gen. Auf die Qualitaͤt dex Glaͤubiger kommt nichts an, indem Pfaubglaͤubiger
ven unbevorzugten Glaͤubigern uͤberſtimmt werden koͤnnen.
28) Dabelow: Verſuch einer. ausfuͤhrlichen ſyſtematiſchen Erläuterung der
Lehre vom Concurs der Gläubiger, "Ih: Hi eo — d: Son
ben —S arehe ‚für. nie eioitiftife a Band 10. ©. 337:
‚Bon Be g der Gläubiger zur Srlangung eines afvertrages und
Abrenbung eines Soncurfes. + ir * wertrae *
Concurs. 639
der Flucht und der Verſchleppung feines Vermögens ausgeſetzt fein und
muß bie Hoffnung geben, daß Ihm durch den Nachlaß weſentlich ges
holfen werde 29).
Durch Ertheilung ober Bewilligung eines Moratoriums oder ben
Abſchluß eines Nachlaßvertiags bleibt der Schuldner in der Verwal
tung feines Vermögens. Sonſt tft die Folge des nun ausgebrochenen
Concurſes 20) zunächft die, daß er die Verwaltung feines Vermögens
verliert, darüber nicht mehr werfügen kann (jede Veräußerung feines.
Vermögens iſt von nun' an Te'nichtig, daß von den ' Gläubigern das
Deräußerte von bem Erwerber, felbft wenn er in gutem Glauben iſt,
gurüdgefordert werden ann), daß vielmehr: daſſelbe auf die Geſammt⸗
heit “feiner Gläubiger uͤbergeht. Die Glaͤubiger haben daher 'einen
Güterpfleger zu beftellen,, der nad) vorausgegangenet Beeidigung und
Beftellung einer Caution In ihrem Namen die nunmehrige Goncure
maſſe unter Aufficht des Gerichts verwaltet.
.. Das Gericht beftellt aus der Zah: ber Öffentlichen Anwälte einen
Contradictor, der, wenn bie einzelnen Gläubiger in dem vom Gericht
dazu anberaumten Liquidationstermin, mozu fle durch Edictalladung uns
ter dem Rechtsnachtheil des Ausfchluffes von der Maffe vorgeladen ters
ben, ihre :Sorberungen gemeldet haben, deren Richtigkeit unterfucht und,
wenn biefe nicht fofort Har ift, ‚beftreitet. Sind die dadurch entftandes
nen Rechtöffreite zwiſchen ben einzelnen angeblihen Glaͤubigern und
dem Anwalt ber Goncursmaffe rechtskräftig ertfchieden und die Verhande
lungen über bas Vorzugsrecht zwifchen den Gtäubigern, welche fich daſ⸗
[ee beftreiten, befchloffen, fo erläßt der Richterden fogenannten Locations
eſcheid, worin er erkennt, nad) welcher Raͤhenfolge die Gläubiger,
bie ihre Anfnrliche richtig geſteüt haben, zu befriedigen feien 81). Iſt
auch diefer Locations⸗ (Prioritäts:) Beſcheid In Rechtskraft uͤbergegan⸗
gen, fo erläßt der Richter den Vertheilungs- (Diſtributions-) Beſcheid
(ober. Decret), nach deffen Anordnung die Maffe unter bie Gläubiger
— — —
29) v. Wendt a. a. O. ©. 52. 53. |
30) Reinhardt: Die Lehre vom Gant, Gtuttzart 1819. Schwepper
Das Syſtem des Goncurfes ber Gläubiger nad dem gemeinen in Deutſchland
eltenden Nechte. Zweite Ausgabe. Göttingen 1824. (6. 18. 19. fagt der Vers
. faffer : „Gegenſtand des Staatöinterefle ift der Coneurs nur infofern, als ber
Eandesrredit don einer guten Goncursordnung vorzüglich abhaͤngt; hingegen ifk
der einzelne Concurs eine reine Juſtiz⸗Sache, da es fih darin um Private
rechte handelt, welche auf privarredptlichem Wege entſtanden find und nach Re
gein bes. Privatrecht beurtheilt wisben müffen. Folgen davon find: Die Eröffe
nung-bes Concurfes bedarf keiner Sinwilligung bes Landesherrn. Cabinetsbe⸗
fehle find, cbenfo unzuläffig, als in andern Juſtiz⸗ Baden, Politiſche und wohl
ar, Polizeiruͤckſichten find bei der rihterlihen Beurthellung ganz ausgefchloffen,
Die Oberaufficht des Staats.über Jauſtizſachen gilt auch in GConcursſachen, das
ber 8. B. Berichte über die fleifige Förderung der Goncursfachen eingefordert
werden bürfen.”) - .
31) Smelin: Die —ã ber Glaͤubiger bei dem über ihres Schuldners
Vermoͤgen entftandnen Gantproceſſe. 2. Ausg. ulm 1793,
640 Concurs.
vertheilt wird 32). Den Glaͤubigern, welche hiernach nicht vollſtaͤndig
befriedigt werben ober gar leer ausgehen, bleibt bes Gemeinſchuldner
forthin verhaftet, fo daß fie ihn, wenn er wieder zu Vermögen kommt,
ihrer Befriedigung halber angehen koͤnnen.
Diefes beutfche Concırrsverfahren 3°), dem ber Goncuröproceß in
Nur einzelne gefeglich bevorzuge Gläubiger brauchen an dem Verluſte
Seinen Antheil zu nehmen 39, |
Nur in Bezug auf den Kaufmann, ber feine Zahlung einftellt
(Salliment), tritt ein (u Handelsgeſetzbuch angeordnetes) Verfahren
ein, welches dem deutſchen Concurs-Proceß ſich annähert. Ein fols
her Schuldner muß binnen 3 Zagen, von ber Einftellung feiner Zah⸗
Jungen an gerechnet, dies dem Gericht (Handelsgericht) anzeigen, wis
brigenfalld er als einfacher Bankerottirer behandelt werden tann. Uns
terbleibt bie Selbftanzeige, fo kann das Gericht auf Anregung kines
Glaͤubigers ober bei der Motorität von Amts wegen einfchreiten. Der
Sallit wird entweder in dem Sculdthurm verwahrt oder der Aufficht
einee Wache unterworfen 2°). Das Verfahren (durch Urtheil ausge:
82) Zeifig, Ueber Wertheilungäbefcheibe im Coneurſe. "Shemnig 1826.
83) Gensler, Allgemeine theoretifch = praktifche Bemerkungen über das
Mefen des beutfchen gemeinen Goncurs = Hroceffes (Archiv für die civiliſtiſche
Praris Band 2. Heidelb. 1821.) ©. 345 ff.
34) Fuͤrſtenthal a. a. D. ©. 179— 236. Brävelt, Kommentar zu
ben Grebitgefegen des Preugifchen Staats, Th. 2 Vom Goncurs⸗ und Eiquis
bationd: Proceh. Berlin 1815.
« 85) Mittermater: Der gemeine beutfche bürgerliche Proceß in Wergleis
chung mit dem.preußifchen und franzoͤſiſchen Givilverfahren, 3. Beitrag, 2. Aufl.
Bonn 1832. 5. 7. „Koncurs = Procep.
36) Das englifche Recht ftellt ganz altgemein” das Princip ber Gleichheit
M Bezug auf —— —8 ens unter die Glaͤubiger auf, in⸗
bem daſſelbe unter ſie nach der Größe ihrer Forberungen vertheilt wirb. Bes
nede, Darftellung der. englifchen Parlameitsacte vom 2. Mat 1825, hetref⸗
fend die Verbefferung der Bankerottgeſetze. (Zeitſchtift für Rechtswiſſenſch. und
Dlens: See Julaides v. Mittermaier und Baharid, Bd. 2. Deldelb.
87) Bölir: Vranibſicht Gefekgebung über die perſonliche Haft und neuer
a
fprochen, beginnt daburch, bag das Vermoͤgen des Schuldners unter
Siegel gelegt und ein Commiſſair aus ber. Mitte bes Gerichts nebſt
einem (der mehreren) Agenten ernannt wird, der unter Aufficht des
eriteren den Zuſtand des Vermoͤgens, bie Biden u. ſ. m. unterſucht,
die Ausſaͤnde beitreibt und eincaſſirt. Der Commiſſair leitet das Ver⸗
fahren und ermittelt zuerſt mit Zuziehung des Agenten und bes Schuld⸗
ners das -Verhältniß des Vermoͤgens zu ben Schulden, worauf er bie
Glaͤubiger vorladet. Aus der Zahl derer, welche bie erfchienenen Gläus
biger vorfchlagen, wird vom Gericht ein Syndik ernannt, der, indem
ee an die Stelle des Agenten tritt, das Vermögen aufnimmt und,
dem deutfchen Güterpfleger gleich, die Maſſe feitftellt. Zugleich beforgt
biefer die Nichtiäftellung (Verification) ber einzelnen Forderungen. Cr
ladet die Gläubiger vor und verhandelt mit Diefen vor dem Commiſ⸗
fair über die Richtigkeit three Anſpruͤche, die fie zugleith eidlich erhaͤr⸗
ten müfien. Die Gläubiger, deren Forderungen richtig geftellt find,
tönnen mit dem Schuldner ein, jedoch ber Genehmigung des Gerichts
unterliegendes, Abkommen (Concordat) treffen, was zur Folge «hat,
daß berfelbe fo angefehen wird, als habe er nicht fallirt. Wird ein
ſolches Abkommen nicht getcoffen, fo werden bie Gläubiger nochmals
zufammenberufen, um einen Güterpfleger und einen Caſſirer zu er
nennen, welche fofort zur Verſteigerung der Maffe fchreiten. Aus
bem Erlös werden die Gläubiger nad) den Ihnen auftehenben Vorzugs⸗
rechten befriedigt 3°).
Mehr oder minder aͤhnlich dem franzöfifchen Verfahren in Kallis
mentsfachen ift die Gefeggebung in England, Schweden, Dänemarf;
f. allgemeine beutfche Real s Encpkiopäbie, 7. Auflage, Leipzig 1830,
Band, 4, Art. Falliment. Bopp.
eetzenturt Do Diefen ten DE HGetfhr. v. Mittermaier und Za⸗
cha riaͤ, Bd 7. Anmerk. — Rad deutſchem
Wechſelrecht ift der esta er u 8* wenn der Wechſelſchuldner zu
Concurs verfaͤllt, befugt, den ſtrengen Wechſelproceß gegen deſſen Perſon zu
richten, ſelbſt dann, wenn er ms fhon bei dem Goncursgerichte eingelaflen hat.
Mittermaien: Srundfäge bes beutfchen Privatrehts, 4. Ausg. Landshut
., 259. ©. 584. — Ginzelne deutſche Statutenrechte geltatten (oder
—— die Berhängung bes Civilarreſtes (bedingt), z. B. das Landrecht des
emaligen Kurfürftenthums geh wo e8 Tit. 21. beißt: ‚Wenn ein Dans
delsmann ober Jude Bankerot machte unb nicht erweifen fönnte, baß er durch
merkwuͤrdige inglüdsfälle bazu gefommmen wäre, fo mag berfelbe auf Begehren
und Gefahr bed —— rreſt gefegt werben, jeboch daß ihm der Glaͤu⸗
biger taͤglich 6 Kreuzer zum Unterhait reiche. Van der Zezger: Handbuch
des rheiniſchen Particularrechts, Band 2, Frankf. 1831. ©. 7
8) Intereffante Eritifhe Eroͤrterungen über dieſe franzoͤſi m Geſetzgebung
wthätt ber Beitrag von Foliz: Krütiſche Darftellung der franzod⸗
fiſchen Ballimentönefene im 4 Band ber Zeitſchrift Yon Mittermaier
und Zachariaͤ, Heidelb. 1832, & 1 185— 234, Von befonderer Wichs
tigfeit,, namentlich in Berug auf Sefer —— iſt auch jener oben *
nannte Abſchnitt des ——— werte : Der gemeine deutſche bürs
gerliche -Dkochh-ic. . - Ä
Gtaats » Lexikon. TIL. 41
642 Concuſſion. Gondorcet.
Concuſſion, ſ. Erpreſſung
Eondorcet (Maria Johann Anton Nicola Caritat,
Marquis von), geboren 1743 zu Ribemont in der Picarlie, ver⸗
dankte die Mittel feiner früheren Ausbildung bee theilnhmenben
Sorgfalt eines Oheims von väterlicher Seite, ber, als Bifhof von
Licieur, im Rufe eines firengen, arbeitfamen und gelehrten Mannes
ftand. Der Neffe erhielt feinen erflen Unterricht in dem Collegium
von Navarra, wo er rafche Kortfchritte machte und ſich vor feinen
Mitſchuͤlern auszeichnet. Schon in feinem fechzehnten Jahre beftand
er eine öffentlihe Prüfung, in welcher er ungewöhnliche mathematifche
Kenntniffe zeigte, mit folhem Erfolge, daß er ſich bie Aufmerkfamteit
und das Lob von b’Alembert erwarb. Diefer ſchmeichelhafte Bel
fall eines Meiftere im Sache beftimmte ihn, fich bemfelben ausſchließ⸗
lic, zu weihen, und er that es mit folder Auszeichnung, daß er, ſelbſt
unter ben Schriftftellern von Bedeutung, fih bald einen Namen
machte. Da in Frankreich ein vorzügliches Talent die Mittel, ſich gel
tend zu machen, nur zu Paris finden ann, fo begab fih Condor⸗
cet in die Hauptftadbt, mo ihn der Mangel an Vermögen Anfangs
in Verlegenheit fegte. Zu feinem Glüde gewann er bie Gunft bes
Herzogs von la Rochefoucauld, der ihm reichliche Unterſtuͤzung
verſchaffte und ihn in angeſehene Haͤuſer einfuͤhrte. Seine vielfaͤltigen
mathematiſchen Arbeiten, die er in der Zeit herausgegeben hat, uͤber⸗
gehen wir, weil nur Condorcet, der oͤffentliche Charakter und Staats⸗
mann, nach dem Zwecke dieſer Schrift beachtet werden kann. Sein
Streben war, ſich die Stelle eines Secretairs ber Akademie der Wiſ⸗
ſenſchaften zu erwerben, und um dieſe Abſicht zu erreichen, mußte er
zeigen, daß er noch etwas mehr fei als Mathematiker. Darum beave
beitete er die Lobreden auf die vor 1699 verftorbenen Akademiker,
welche er 1773 herausgab. Die Arbeit fand Beifall, und Condor:
cet erhielt die germünfchte Stelle. Darauf ward ihm der Aufttag ev
theilt, die Lobrede des Herzogs von VBrielliere, der Ehrenmitglic
der Akademie gemwefen, zu fhreiben. Die Sache zog fi in die Länge,
und dee Minifter Maurepas, ber, wie gewoͤhnlich Leute in hoben
Aemtern, etwas ungeduldig war und feinen Willen gern ſchnell voll⸗
zogen (ah, machte ihm Vorwürfe über die Verzögerung. Tonbotrs
cet erwiederte: „Ich werde mid) nie dazu verſtehen, einen Mann zu
loben, der unter der Regierung Ludwigs. XV. die fchäudlichen.lettres
de cachet verfchwenberifch ausgefertigt: bat." Die Sprache war neu
und das Ohr des gewaltigen Mannes an fie nicht gewoͤhnt. Cons
borcet fah, fo lange Maurepas lebte, die franzoͤſiſche Akademie
ſich verfchloffen, welche ihm erft 1782 geöffnet ward... Die Mebe,
welche. er bei feiner Aufnahme hielt, entwidelte die Wortheiley
welche die Geſellſchaft aus ber Verbindung der phpfites
liſchen Wiffenfhafteri mit den moralifchen ziehen kann.
Unter den Gebächtnißreden, welche er in ber Akademie gehalten, ‚vers
dienen bie auf b’Alembert, Buffon, Euler, ‚Bexgmanpı
[1
-
Sondorcet. 643
Franklin ımd Linnd befonderd erwähnt zu werden. Zugleich ſetzte
er feine mathematifhen Studien fort und gewann 1777 durch feine
Schrift über die Theorie der Kometen den von ber berliner -
Akademie ausgeſetzten Preis. Indeſſen zogen ihn Korfhungen, welche
auf das Wohl der Gefellfhaft einen beftimmten Einfluß haben, im»
mer mehr an, und er befchäftigte fi) mit dem Staate, unb was fein
Wohl fördern oder ftören kann, wie es im Gefchmade ber Zeit war.
Mit Qurgot, feinem Freunde, fuchte er die Grundlagen einer geſun⸗
den Saatswirthfchaft auf. D’Alembert, mit bem er in ben ver
trauteftin Verhaͤltniſſen lebte, unterflügte er mit feinen Beiträgen,
goelche ie große Encpklopäbie ‚bereicherten. Dieſes Werk, das einen fo
großen Finflug auf die Zeit hatte, feste alle ausgezeichneten Schrift⸗
fteller ir Thaͤtigkeit. Man lebte in ber Erwartung eines neuen Tas
ges, defen Morgenroͤthe ſchon über der andern Halblugel aufgegangen
war. Der Krieg der englifhen Colonien in Nordamerika mit bem
Mutterande war ausgebrohen, und Conborcet erktärte fi mit
Märme für die Unabhängigkeit derfelben. Eben fo entfchieden trat ee
für die Freiheit der Neger auf unb zeigte ſich überhaupt bei jeder
Gelegenheit als ein Feind der Willkuͤrherrſchaft, deren Mißbraͤuche ee
Darlegte und auseinanderfegte. Mit 1788 gab er fein Werk über
die Provinzialverfammlungen heraus, in welchem er auf die
Verbefferungen aufmerkffam machte, die ihm in der Verwaltung nöthig
fhienen. Bel dem Ausbruche der Revolution übernahm er bie Vers
theidigung ber Grundfäge, von benen fie ausging, um auf die Refor⸗
men binzuleiten, die nach feiner Anficht den Staat retten unb eine
beffere Ordnung ber Dinge, im Intereffe des Volkes, begründen konn⸗
tn. Er eilte den Wünfhen und vielleicht den WBebürfniffen feiner
Zeit voraus und zeigte republifanifche Geſinnungen und Gefühle, für
welche fi) in der Meinung einiger Anklang, aber in den Sitten unb
Gewohnheiten fo wenig, als in dem gefellfchaftlichen Zuſtande übers
haupt eine Webereinftimmung finden ließ. Mit Cerutti verband er
ich zur Herausgabe einer Zeitfchrift, um durch fie auf bie oͤffentliche
. Meinung zu wirken. In dee gefeßgebenden Verſammlung trat er ale
Abgeordneter ber Stabt Paris auf und nahm feine Stelle unter ben
mtfchiedenen Freunden der Bewegung, die, wie er meinte, allein zum
rwünfchten Ziele führen Tonnte. Doch verleugnete er nie die Geſin⸗
aungen der Menfchenliebe und Gerechtigkeit, und fo flare und rauf
jeine Srunbfäge hervortraten, fo fcheu trat er felbft vor ihnen zuruͤck,
mo es ihre unmittelbare Anwendung auf gegebene Perſonen und Vers
hättniffe galt. Er war ein Gelehrter,‘ und im Gebiete der Miffen-
ſchaft ließen ſich die Ideen friedlich und freundlich orbnen und zufams
menftellen, was freilih mit den Menſchen und Dingen ‚nicht fo gut
gelingen’ wollte. Bet den Verhandlungen über bie Emigranten ftellte
er den Grundfag auf, nur biejenigen feien mit dem Tode zu beftrafen,
die mit ben Waffen in bee Hand gefangen würden. Im Februar
1792 war er Präfident ber Geſetgebung, und nach bm entfcheidenden
r "
N
644 Condorcet.
10. Auguſt verfaßte er die bekannte Adreſſe an die Franzoſen und Eu⸗
ropa, welche die Gruͤnde auseinanderſetzte, aus denen die Suſpenſion
bed Königs noͤthig geworden. Als Mitglied bed Nationalonvents
ſchloß er ſich gewöhnlich den Girondiften an, zu denen die aufseklärtes
ften und beredteften Männer ber Verſammlung gehörten. Luͤdwig
XVI. wollte er durch befondere Deputationen der Departemente gerich«
fet wiffen und dem Gonvente nur dad Recht vorbehalten, die audges
fprochene Strafe zu mildern. Als der Gonvent aber felbft dad Rich⸗
teramt übernahm, flimmte Condorcet für die härtefte Strae nad
der des Todes, eine Mäßigung, bie fehr übel aufgenommen ward Bald
hernady trug er auf die gänzliche Abfchaffung der Todesſtrafe ar, aus
genommen in Fällen von Staatsverbrehen. Es mag hier aı feiner
Stelle fein, zu bemerken, daß er ungefähr in biefer Zeit, feine politis
fhen Gefinnung und Wirkfamkeit wegen, aus den Alademen von
Petersburg und Berlin, deren Mitglied er gemefen, ausgeftoßer warb.
Die Bluttage des Convents konnten an Condorcet nicht vorüberges
ben, der in der eriten Reihe der erſten Männer die gehäffigen Leidens
fhaften dee Gemeinheit herauszufordern fhien. Der 31. Mai hatte
bie Girondiften geopfert und Condorcet nur aus einer gewiſſen
Scheu gefhont, da es eine ſchwere Aufgabe war, fein politifches Leben
zu verbädtigen. Das Verſaͤumte ward indefien nachgeholt, und ber
ehemalige Kapuziner Chabot übernahm es, ihn als einen Mitfchuls
digen von Briffot, der für das Daupt ber Gironbiften galt, anzukla⸗
gen. Eine Anklage war in biefer Zeit ein Todesurtheil. Condor⸗
cet hielt fich. verborgen und ward außer dem Gefege erklaͤrt. Acht
Monate fand er eine Freiftätte bei einer edlen Freundin, die feine Tage
nicht nur zu erhalten, fondern auch zu erheitern ſuchte. Da erfchien
das Decret, welches Alle am Leben ftrafte, die Geächtete aufnehmen
würden. Condorcet, entfchloffen, feine großmüthige Freundin diefer
Gefahr nicht auszufegen, erklärte, daß er fie verlaffen muͤſſe. „Blei⸗
ben Sie”, fagte diefe. „Sind Sie außer dem Gefege, fo find wir doch
nicht außer der Menfchlichkeit.” Er entlam gegen bie Mitte bes März
1794 verkleidet aus Paris und fuchte einen Aufluchtsort in dem
Landhauſe eines alten Freundes, ber aber nicht anmefend war. Aus
Bucht, erkannt zu werden, verließ er den Ort und hielt fi mehrere
Tage in einer Steingrube auf. Der Hunger trieb ihn unter Mens
fhen, und er ſchlich fih in ein Wirthshaus zu Clamart, wo er fich bei
ber Wirthin einen Kuchen von feche Eiern beftellte. - Das war eine
vornehme Mahlzeit für einen folhen Menfchen, in fchlechter ade,
mit abgetragener Müge und langem Barte, der, wie er feibft fagte,
ein herrenlofer Bedienter, ein neues Unterfommen ſuchte. Die Wirs
thin fah ihn bedenklich an, ermägend, ob er ber Zeche auch gewachſen
ſei. Um ihren Zweifel zu zerſtoͤren, zog er feine Brieftafche hervor, bie,
reich und zierlih, gegen das Heußere des Inhabers gewaltig abflach.
Ein wachſames Mitglied des Nevolutionsausfchuffes der Gemeinde, das
den ſcharfen Blick der Polizei in ſolchen Dingen hatte, ahnete Werrath,
Gondorcet. | 643
ließ Gonborcet verhaften und nad Bourg s las Meine abführen, mo
man Ihn in das Gefängniß warf, Am folgenden Tage — ben 28.
März 1794 — wollte man ihn aus bdemfelben vor Gericht zum Ver:
höre bringen und fand ihn tobt. Er hatte Gift genommen, das er
feit längerer Zeit bei fi trug, um im Nothfalle davon Gebrauch zu
machen. So endete Condorcet im funfzigften Lebensjahre. In den
Tagen, bie er, geächtet und von feinen Henkern aufgefucht, in Verbors
genheit zubrachte, fchrieb er den Verſuch dergefhihtlihen Dars
ftellung der Fortfhritte des menfhlihen Geiſtes, ein
Zeugniß der Stärke feiner Seele, die auch in einer troftlofen Zeit, unter
dem Beile des Henkers, den Glauben an die Menfchheit und ihre hös
here Beftimmung nicht verlor. Er war ein güter Menfch, der unter
der rauhen Schale eines herben und oft barfhen Aeußern einen lebenes
Eräftigen, gefunden Kern verbarg. D’Alembert pflegte von ihm“ zu
fagen, ee fei ein Vulkan mit Schnee bededt. Nicht frei von Stolz
zeigte er im Umgange nie feine Ueberlegenheit, fondern erwies fich freund»
lich und gefällig, und verfagte dem Bedrängten nie feinen Beiftand.
Obgleich mit der Welt und ihren gefelligen Verhaͤltniſſen bekannt, fah
man ihn in größern Kreifen ſchuͤchtern und verlegen, und nur unter
Freunden heiter, ungezwungen und zu angenehmer, geiftreicher Unter:
haltung aufgelegt. Ein entfchiedener Feind der Parlanıente, des Adele,
der Geiſtlichkeit und des Königthums, griff er nur die Inſtitutionen an,
wollte aber den Menfchen wohl, denen er ihre Fehler Leicht nachſah
und fogar ihr Unrecht gegen, fi felbft vergab. Kam die Rede auf
feine Frau und feine Tochter, dann vergoß er In ſtummem Schmerze
heiße Thränen. Unerfchütterlicd, bei feinem Vorhaben, treu feiner Uebers
jeugung, bis zum Eigenfinne feft in dem, was er für recht und red»
(ich hielt, unterhandelte er nie mit Salfchheit und Lüge. Da vermoch⸗
ten feine Rüdfichten etwas über ihn. Selbſt Voltaire, den er fo
fehr verehrte, verweigerte er die Aufnahme eines Briefes in ben Mers
tur, meil der glatte Schmeichler in bemfelben den . angefehenen
d'Agueſſeau über Montes quieu gefegt. Unter feinen Schriften
verdienen noch bemerkt zu merden: 1) eine Ausgabe der Gedanken
Pascal's, zu denen er Arimerkungen fügte, um barzuthun, daß die
menſchlichen Verbrehen und Lafter mehr die Folge unferer geſellſchaft⸗
lichen Anordnungen als unferee Natur ſeien; 2) das Leben VBoltats
re's; 3) ein Bericht über den äffentlichen Unterricht, der dem Natio⸗
nalconvente vorgelegt worden; 4) eine Analyfe der vorzüglichften frans
zöfifchen und ausländifhen Werke über die Politit im Allgemeinen,
die Gefeßgebung und die Finanzen u. f. m., die er mit Erläuterungen
und Berichtigungen begleitet hat. Endlich gab er 5) einen Band Ans
merkungen zu dem berühmten Werke von Smith, Unterfuhuns
gen über die Natur und bie Urfahen des Reihthums
der Nationen heraus. Als Gelehrter gehoͤrt Condortet zu dem
ausgezeichnetften Männern feiner Zeit. In Vielem bat er viel gelei⸗
646 Condorcet. Confeſſion.
ſtet, obgleich man fagen kann, daß keines ſeiner Werte den Stempel
der Vollendung an ſich trage. Weigel.
Gonfeffion = Bekenntniß. Es gibt zweierlei Arten
von Gonfeffionen, die in Beziehung auf den Staat fliehen. Die eine
betrifft Gegenftände der Einficht, bes Glaubens, der Ueberzeugung, bee
Meinung, die andere Gegenflände des Willens. Ueber Thaten ober Vor⸗
fäge, bald gute, balb böfe, werben auh Gonfeffionen, ndmiid
— Beihtbelenntniffen gemadıt, von denen bie Verhälniffe des
Staatsrechts auf diefelbe kurz anzugeben find.
I. Bet den Gonfeffionen der erfteren Art, bei den —
Lehrbekenntniſſe befteht das Wichtigfte für den Staat darin, daf
fie beftimmt find, dem Staate, deſſen Rechtsſchut die Bekenner genies
Sen wollen, aufrichtig zu erklären, welche Weberzeugungen nad) ihrer
Einfiht wahr fein. Dadurch mirb der Stant, b. i. ber Rechte bes
ſchuͤzende Volksverein und beffen Regierung, nicht aufgefordert, nicht
berechtigt, zu beurtheilen, ob und warum jene einbefannte Ueberzeuguns
gen wahr find, fondern nur zu überlegen: ob unb inwiefern fie
dem Staate, theils wie er ift, theils wie er fein follte
und koͤnnte, entgegen oder genehm waͤren.
Mas dem Staate, wie er fein foll, zuwider iſt, das
kann er verfländiger Weiſe nicht in feinen Redhtsfhus aufnehmen.
Er ift vielmehr in fich felbft durch feinen Zweck verpflichtet, zu erklaͤ⸗
zen, welche von ben Ueberzeugungen der Gonfeffion anders fein müßs
“ten, ehe fie auf Rechtsſchutz in ihm Anſpruch haben könnten. Er felbft
aber hat in den Ueberzeugungen der Bekenner nichts zu Ändern, nichts
vorzufchreiben, noch weniger ein Recht, fie ald unwahr zu beftrafen
ober zu verfolgen. Er hat bloß die aus feinem vernunftgemäßen Zweck,
ber gemeinfchaftlichen Zhätigerhaltung ber Rechte aller feiner Mitglies
ber und des Gefammtvereins, folgende Pflicht, ben Anbersüberzeugten
beftimme zu verdeutlichen, intiefern dieſes ober jenes davon, mehr
ober weniger, ſtaatswidrig, alfo der Gewährung bes flaatsrechtlichen
Schutzes nicht fähig fein würde. In Beziehung auf ſolche Beſtand⸗
theile ihrer Confeffion wuͤrden alfo bie Bekenner rechtlos fein und
zu bedenken haben, ob fie ohne ben Rechtsſchutz der Staatsgefammts
heit beftehen können. Der Staat auf feiner Seite aber hätte zu beden⸗
ten, ob das Abmeichenbe fo ſehr flaatswidrig,, alfo weſentlich ſtaatsge⸗
faͤhrlich wäre, daß er die Bekenner von ſich ausfchließen bürfte oder fos
gar müßte, ober ob er, ſtark genug in fih, ihnen zur Selbftänderung
Beit und Anlaß geben koͤnne und ihnen blos das, was er von feinem
Schutz ausſchließen müfle, mit Gründen anzugeben und, fo lange bats
aus nicht factifhe Störungen gegen ihn entfliehen, ihnen auf ihre Ges
fahr duldſam zu überlaffen habe.
Was dem Staate, wie er rechtlich fein foll, nicht zu—
wider, niht gefährlich ift, das zu meinen und zu bekennen
und dabei den Rechtsſchutz zu genießen, haben bie Staatsgenofien das
echt, auch wenn Andere neben ihnen es für unwahr halten. Denn
Eonfeffion. 647
gerade heswegen iſt die Geſammtheit denkfaͤhlger Menſchen in ben
Staatsverein getreten oder darin geblieben, um mit Geſammtkraͤften
alle diejenigen Thaͤtigkeiten ſaͤmmtlicher Mitglieder, zu deren Ausuͤbung
ſie im menſchlichen Naturzuſtand befugt waren, deſto ſichrer zu be⸗
ſchuͤtzen, ſoweit dadurch nicht eben der Geſammtverein der rechtsbeſchuͤ⸗
tzenden Kraͤfte ſelbſt in dem, was er ſein ſoll, gehindert wuͤrde. Zu
Uebung der Thaͤtigkeit aber, wodurch man ſich Ueberzeugungen zu er⸗
werben vermag, iſt im menſchlichen Naturzuſtand, das iſt, im Stand
der noch kunſtloſen Moralitaͤt oder Selbſtverpflichtung, gewiß jeder be⸗
fugt, weil ihn feine geiſtige Natur ſogar dazu verpflichtet. -
ft ein drittes mögliches Verhältnis da, dag nämlich dergleis
hen Weberzeugungen zwar niht bem Staate, mie er fein foH, aber
doh wie er ift und befteht, in Vieles oder Wenigem entgegens
tritt, fo find dreierlei Fälle zu unterfcheiden. - \
Vielleicht folte er, ber beftehende Rechtsſchutzverein, fich felbfl,
aus Veranlaffung jener Confeffion anderer Weberzeugungen, in Einigem
ändern und alfo fein Beſtehen verbeffern. Es verfieht fi alsdann,
bag er dies foll, ſoweit und ſobald er, ohne Gefahe für fein
Beſtehen, es kann. oo
Ein anderer öfter vorkommender Fall iſt, daB zwar manche Ueber»
geugungen einiger Genoffen bed Staats dem, wie er befteht, entgegen
find, er aber demungeadhtet wohl beftehen kann. Alsdann beflehe oder
erhalte er fidy ruhig im der Weberlegenheit, die ihm dadurch, daß Alle
fein Beſtehen nöthig haben, gefichert wird, Die Achtung bes natuͤrli⸗
hen großen Rechts der Ueberzeugungsfreiheit fol, dem Hauptzwed bes
Staats gemäß, fo groß in ihm fein, dag er auch die Verſchiedenheit
einzelner Weberzeugungen, neben denen er dennodh im Ganzen wohl
fortbeftehen kann, nicht ausſchließe. Oft wird, je weniger Gewicht ex
barauf legt, deſto eher der Gegenfag verſchwinden ober fi In Harmo⸗
nie aufloͤſen.
Nur wenn Ueberzeugungen ſich dem beftehenden Staat ent
gegenftellen, wegen welcher er ſich weder ändern folt noch kann, fo folgt
es aus feiner Selbfterhaltungspflieht, daß er fie als Weberzeugungen
nicht befhügen zu innen erkläre, vielmehr ihrem Webergehen in bie
That fein Veto mit allen ihm zu Gebot ſtehenden recht⸗
lihen Mitteln theils verbeſſernd theild verhindernd entgegenftelle.
Die Confeffion folcher Weberzengungen, auf welche biefe im Alls
gemeinen feflzuhaltenden Grundfäge anzuwenden find, kann enttveber
anmittelbar das Politifche betreffen oder.aber, mie dies häufiger
vorkommt, in emem moralifchen oder religiöfen Lehr⸗ und
Meinungsbekenntniß beſtehen.
Auf den Begriff Confeſſion iſt beſonders deswegen zu dringen,
weil er keine Verbindlichkeit fuͤr irgend eine Folgezeit in ſich ſchließt,
vielmehr nur wahrheitliebendes Bekenntniß deſſen iſt, wovon jetzt die
Bekenner ſich nach forgfältiger Prüfung überzeugt wußten. Nicht eins
mal ſich ſelbſt, noch weniger Andere wollten fie dadurch gebunden haben.
648 ⸗ Confeſſion. u
Ein treffiihes Muſter einer ſolchen Meligions » Canfeffion war bie
augsburgifhe Confeſſion, bas ift, das 1530 an Kalfer und
Meich feierlich übergebene Glaubensbekenntniß ber gegen Glaubensvor⸗
ſchriften proteflivenden Fuͤrſten, wodurch fie barlegten, „was unb wie
„ihre Pfarcherren und Prediger aus grundgättlicher heiliger Schrift lehr⸗
„ten und hielten, worüber aber in Lieb und Gütigkeit gehandelt und
„die Zwiefpalten zu einer einigen wahren Religion unter Einem Chrifte
„mach göttliher Wahrheit geführt werden mögen.” Gie gaben aber
(nad) den Schlußworten) nur die fürnehmften Artikel, bie fie
für nöthig geachtet. Mehreres blieb vorbehalten. Aus bem Gegebe⸗
nen „habe man nur defto baß zu vernehmen, daß bei und nichts we⸗
„dee mit Lehre, noch mit Geremonien angenommen ift, welches entwe⸗
„der der heiligen Schrift oder gemeiner hriftlihen Kirche ents
„gegen wäre.”
Aus biefem Zweck, dag man mit dem, worin alle (größere und
deswegen ſchon in ben Staatsfchug eingetretene) chriftliche Kirchenpar⸗
teien übereinfämen, alfo mit dem bis bahin legal anerkannter Unis
verſalchriſtenthum einftimmig bleiben wollte, ift es zu erldren, warum
man auch das doch nicht von den Apofleln ausgegangene, und fogar
das nicht von Athanafius verfaßte Spmbel, auch bie vier erften im
Stunde nur duch die Machtgebote der Imperatoren oͤkumeniſch
(im ganzen Roͤmerteich gültig) gewordenen Concilien nicht ausbrüdtich
in ihre wahre Stellung, einft: Lehrbekenntniſſe der verfammelten Stims
menmehrheit gewefen zu fein, zuruͤckwies. Vorbehalten war immer,
wie Luther fhon zu Worms Eräftigft ausgefprochen hatte, daß audy
den Goncilien, ſtatt der Lehrunfehlbarkeit, doch wohl zu mißtrauen unb
jeder über die Chriftusichre nur aus der Schrift ober burdy anbere
evidente Gründe (rationes) zu übermeifen fei. Auch jene zwei nicht
ehten Symbole find in der augsburgifhen Confeffion nicht, fons
dern nur in dem Concordienbuch von 1602 wie oͤkumeniſch voranges
fteift und nur das nicänifche Symbolum ausdruͤcklich angeführt.
Bei diefer und jeder ähnlichen Lehrconfeffion ift hauptſaͤchlich zus
unterfcheiden, was in ihr bezweckt, alfo auch eigenthümlich bedacht war
und was dann meiter entweder aus dem Herkoͤmmlichen oder aus neuen,
aber unvollendeten Mahrheitsforfchungen hinzukam. So find in ber
Confessio Augustana offenbar die Artikel überdie Mißbraͤuche
(XXIH — XXVIII.) das eigenthuͤmlich Beabfihtigte und
Charakteriftifhe. Nur weil man bie Unzuläffigkeit der Mißbraͤuche
erkannte, mußte man auch die Lehrmeinungen, durch welche fie
vertheidigt zu merden pflegten, zu berichtigen fuchen. Dies gefchah
theilmeife, wie immer das Einfehen des Unrichtigen und das Ders
neinen viel leichter ift, als die vollere Entdedung bes Wahren. Auch
für die fpätern Verehrer folcher Bekenntniffe bleibt deswegen bie Enthüls
lung der Mißbraͤuche und der Mißbegriffe, woraus biefe floffen, bie
Hauptſache und für die Folgezeit das Symboliſche, das ift, das
zur kirchlichen Unterfheidbung Nöthige, wobei man auch
Gonfefin ion. | 649
gerne bleiben fann. Das Uebrige, was nicht alles zugleich in's Meine
gebracht werden Fonnte, darf nicht, wie etwas geſetzlich Permanentes, bie
weitere Berichtigung hindern. Am allerwenigften darf darauf ſtaats⸗
rechtlich gehalten oder von den Gemeinden der Mechtsfchug des Staats
dafür gefordert werden, dag auch die dort noch unvollendeten
Lehrberichtigungen wie bindend und nicht blos als ein Bekenntniß, wie
weit die Einfiht damals in’s Beſſere vorgerüdt war, geachtet wer⸗
den müffen.
Auch die reformirten Kirchen haben meiftene, und wo nicht
eine übermäßige Klerofratie (Imangsherrfchaft der Geiftlichkeit) ſich mit
ber Magnatenherrfchaft (ber faͤlſchlich ſogenannten Ariſtokratie) verbüns
bet hatte, nur die Form von Eonfeffionen als Glaubensbekenntniſſen,
nicht die von Lehrvorfhriften gewählte. Nur die beigifhe Nationales
fonode zu Dordreht 1618 und 19, von ber Partei bes Prinzen von Ora⸗
nien gegeh die Remonftranten oder Arminianer unterftüst, gab fogar
Aber ftreitige Lehren fünf Kanones. In der von Dr. Augufti 1827
herausgegebenen Sammlung finden fich heivetifche, galficanifche, anglicas
nifche, polnifche, ungarifche c. Gonfeffionen, und ber Titel: Corpus
librorum symbolicorum !) hätte dem inhalt gemäßer Corpus con-
fessionum heißen koͤnnen. Der Begriff bes Normativen, wel
cher fo leicht dem Kımftwort ſymboliſch angehängt wird, entftand erft
allmälig, ald man mehr herrfhend und polemifch, ale proteftantifch, libe⸗
ral und tolerant zu werden durch die aͤußern Umſtaͤnde veranlaßt war.
Selbſt die Con fess io Marchica von 1614, ungeachtet ſie direct im Nas
men des brandenburgiſchen Kurfuͤrſten Johann Sigismund ſpricht, er⸗
klaͤrt doch (ſ. bei Auguſti S. 385.), daß „Sr. kurfuͤrſtliche Gnaden zu
dieſer Bekenntniß feinen Unterthanen, oͤffentlich ober heimlich (9)
zwingen wollen, ſondern den Curs der Wahrheit Gott allein
befehlen.“ Nur befiehlt der Regent (mit Recht) ernſtlich, „des Laͤ⸗
ſterns, Schmaͤhens und Diffamirens gegen die Orthodoxen
und die Reformatos ſich zu enthalten, die man aus lauterm
Has und Neid für Calviniſch ausrufen thue“. (Was damals
Haß fein follte, wird jegt von den neuevangelifchen Weberfchägern bes
allzu metaphnfifchen Calvin in ein Ehrenmwort verwandelt.) Das befte
Beifpiel, wie das Anerfennbare und das noch Unbeftimmbare unterfchieben
und neben einander geftelft werden Eönnte, gab (f. Augufti &.386—410.)
das aus dem Leipziger Religionsgefpräh von 1631 hervors
gegangene Refultat, genannt bie Liquidation, wie meit bie anwes
fenden reformirten und Lutherifchen Theologi einig und nicht einig
(geworden) fein. Die Differenzen in's Liquide zu bringen, iſt das
nöthigfte Mittel zu ihrer gemaltlofen gründlichen Loͤſung.
— — —
1) Vergl. daruͤber ſeine weitern Erklaͤrungen in der 209. Kirchengeitun
1830 Nr. 152—54. Aus dem Lateinifchen überfegt, vervollftändigt und burd
Einleitungen erläutert erfchlen diefe Sammlung der fombolifch genannten Bücher
der ev. reformirten Kirche in 2 Theilen zu Neuftadt a. a.’ ©. 1830 in 8.
650 Gonfeflion.
I Bel den Sonfeffionen der: oben angegebenen zweiten
Art, bei den Belenntniffen, welche den Willen, bie fon
ausgefuͤhrten oder die nur gedachten Vorfäge betreffen und bie des⸗
wegen gewoͤhnlich Beichtbekenntniſſe genannt werden, bat ber
‚Staat die doppelte Frage vor ſich: ob fie überhaupt feinem Zweck nicht
entgegen find? und dann: ob und Inwiefern ‘die damit verbundene
Derpflihtung auf unverleglihe Berfhmwiegenheit, das
fogenannte sigillum oonfessionis, dem oberften Staatszweck ges
mäß zuzugeben ober genauer zu beftimmen fei ?
Der die Gefammtrechte gemeinfchaftlich befhügenbe Geſellſchaftszu⸗
fland oder jeder Staat flügt fi allerdings am Ende auf die Pflicht
und das Recht, für den Schug der Rechte Gewalt anzuwenden. In
jedem Mitglied, ja in jedem Mitmenſchen geht dafür die moralifche
(den Willen antreibende) Ueberzeugung voraus, daß Jeder als Menſch
durch feine eigene Einficht verpflichtet werde, fi) von Verlegung ber
Rechte Anderer im dußerften Fall durch Gewalt abhalten zu laffen.
Der mohlgeordnete Staat aber mwirb nicht eine bloße Zmangsanftalt
fein wollen, er wird alle für die gemeinfchaftlihe Rechtsbeſchuͤtzung
wirkfame Mittel anwenden. |
Der Zwang fteht nur als das Leste, Aeußerſte im Hintergrunbe.
Aber der Menfchenftaat weiß, dag den Willen durch die Eins
fiht gewonnen zu haben ein viel mehr ficheres Mittel iſt, ale der
Zwang. Bedarf doch ber Zwang felbft zuvoͤrderſt des motivirten Wils
lens berer, ohne beren Kraft er nicht, oder nicht hinreichend auszu⸗
üben ift. Iſt nun durch die Religidn ein Mittel vorhanden, wodurch
Viele bewogen werben, mit Einfichtigen und Unparteiifchen ſich über
bas, was fie gewollt und gethan haben oder noch wollen, im engften
Vertrauen und unter gewiffenhaftem Andenken an Gott zu befprechen,
fo muß dies auch der Staatsklugheit erwünfcht fein. Denn wie vies
led Schlimme kann mwenigitens in feinen Folgen verbeffert, wie vieles
Gute ermuntert und durch guten Rath geleitet werden, wenn Diele
in der Gewohnheit erhalten werden, zunaͤchſt felbft über ihe Thun
und Wollen, um mit einem Achtungswürdigen bavon im Vertrauen
fi) berathen zu Binnen, genauer nachzudenken und dann darüber die
Anfihten, Ermahnungen, Rathfchlige des Gewiſſenstaths zu eigener
Betrachtung zu erhalten.
Nur dafür wird baher die Regierung der Rechtsſchutzgeſellſchaft
zu machen haben, daß von Seiten der Religionsvereine gewiß Einfichs
tige und Unparteiifhe als bes Vertrauens Wuͤrdige aufgeftellt werden
und biefe über das Gefchehene oder erſt Gewollte ihre Gewiſſenslei⸗
tungen nur nach echt moralifchsreligisfen Grundfägen zu geben vorbes
reitet feien. Beſonders bat fie vorauszufesen und darauf zu beftehen,
dag in dem wichtigen Begriff von Abfolution jederzeit beutlich ges
macht werde, wie vor dem Allwiſſenden feine Losfprehung anders als
durch fortdauernde Neue über das Verwerfliche und durch aufrichtige
Entſchloſſenheit für das Gute bebingt zu denken fein koͤnne.
Gonfeffion. 651
Dergleichen freiwillige Beichtconfeſſionen nun. find offenbar auch,
dem Staatszweck fo förberlih, daß er allen Grund hat, aud die
zum vollen Vertrauen gegen ben würdigen Gewiſſens—
rath unentbehrlihe Verpflihtung zu einer gleihfam
verfiegelnden Verſchwiegenheit zuzugeben, d. i. das sigillum
oonfessionis 2) als nothiwendige Bedingung der Beichtbekenntniſſe
fanctionirt anzuerdennen. Daß Viele mit Einſichtigen und Unparteiifchen
über Zhaten und Vorfäge in einem religiöfen, mit bem Andenken an
Gott verbundenen Vertrauen zu Rath gehen koͤnnen, ift eine zur Ges
müthöbefferung durch Reue und zur Leitung in gute Vorſaͤtze ſo fehr
nügliche Anftalt, daß die dabei möglihen Mifbräuhe nur als
ein minberes Uebel zu beachten und möglichft zu verhüten find.
Der Mißbrauch wird vornehmlich, dadurch verhütet werden koͤn⸗
nen, wenn überhaupt immermehr die Ueberzeugung verbreitet wird, daß
Staat und Kirche nie als Gegenfäge auftreten follen und zwiſchen beis
ben weder eine durchgängige (abfolute) Suborbinatton, nody eine durchs
gängige Koordination oder Unabhängigkeit verftändigerweife ſtattfin⸗
bet. Das Vertrauen Vieler zum Gemiffensrath, welches dem Staates
zwed fo fehr förderlich gemacht werben ann, beruht großentheils auf:
dem guten Glauben, daß die Kirche als Religionsanflalt, unabhängig
von der Staatsgewalt, das Gute und Böfe rein nach den Ideen von
Gott und von dem, was der Vollkommengute wollen koͤnne, nicht
aber nad) icdifhen Nebenruͤckſichten, ſchaͤtze, lehre und alfo auch in
ben BeichtconfeflionssVerhältnifien jenem zum Grund lege. Hierin muf
alfo der confequente Staat die Klrchen in bee moralifchs religiöfen Uns
abhängigkeit von ſich fo gewähren lafien, daß er nur, wenn offenbar
das Boͤſe ald gut verbreitet würde, er fein Veto ober bie Eräftige Ers
Härung, daß er es mit allen feinen Mitteln hindern müffe, entgegens
ftellt und alfo feinen Rechtsſchutz inſoweit zurädzieht.
Angewendet auf die Verhättniffe der Beichtconfeſſionen veranlaſſen
diefe Grundbegriffe einige Unterfheidungen, die niht immer
gleich fehr berädfihtigt werden.
So oft dem Gewiffensrath Gefhehenes, das niht unges
[heben gemacht werden Tann, anvertraut wird, fo iſt feine
erfchtwiegenheit unverlegliche Bedingung. Er hat das ihm Mitgetheilte
nur moralifcy religiöse entweber als Gegenftand bes Raths zur forte
dauernden Neue und MWillensbefferung oder zur Fortfegung des Guten
zu erwägen. Zum VBerhüten der fchlimmen Folgen bes gethanen Boͤ⸗
fen, alfo 3. B. zur Entfhädigung und zu allen Wirkungen wahrer
Meue hat er allerdings überzeugend zu ermahnen. Aber außer ber
Beichte auf Erfüllung des religiöfen Raths zu dringen, wäre wider den
Begriff eines vertraulichen Mathgeberd und würde der Tod bes Ders
trauens felbft fein.
2) Bergl. Dies, de sigillo confessionis von Dr. Wehlein. Heidelb. 1828. 8.
652 Gonfeflion.
Sogar wenn über ſchon begangene Staatsverbrechen bem Gewiſ⸗
fenerath Vertrauliches entdedt wird, fo find bie von dem Meblihen und
Einfihtigen zu erwartenden Ermahnungen dem Staate felbft fo wuͤn⸗
fhenswerth, daß er, um bad dazu unentbehrliche Vertrauen möglich
zu machen, auf fein fonftiges Necht, daß alle Gutbenkende ihm folche
ſchwere Verlegungen feiner Rechte entdecken follten, wohlbedaͤchtlich vers
zihtet. Denn nur die Gewißheit, dadurch nicht verrathen zu werben,
kann den DBerbrecher zu jenen religiöfen Mittheilungen veranlaffen, bie
der Gemwiffensrath zur Beſſerung des Schuldigen, alfo auch zum Bes
ften des Staats, anwenden wird.
Auch dag das noch nicht Geſchehene bem Gewiſſensrath in
fiherem Vertrauen mitgetheilt merbe, wird dem Staate weit mehr vors
theilhaft fein, ald wenn es aus Mißtrauen zurüdgehalten würde. Wie
mancher aus Vorurtheilen entflandene Borfag würde anders gelenkt
worden fein, wenn der Selbſtbethoͤrte fi) mit vollem Vertrauen zu
moralifch »religtöfen Berathungen entdedit hätte. Für bie dadurch wahr:
fcheinliche Berichtigung falfcher Meinungen und Abmahnung von Nor:
fügen und Thaten, die vor Gott nicht zu billigen wären, Tann ber
Staat feine Anfprühe auf gerichtliche Entdedung des ihm Schäblichen
mit Grund ‚aufgeben.
Nehmen wir felbft ben fchlimmften Fall ale möglid an, daß ber
Gewiſſensrath zugleich mit dem Beichtenden Verbrecher würde und das
Verbrechen beförderte, fo wäre er alsdann nicht wegen des Verſchwei⸗
gend, fondern nur wegen des Theilnehmens ſtrafbar ?).
Nur über Ein mögliches, aber feltenes Verhaͤltniß fcheint die Ents
fheidung ſchwerer. Geſetzt, ein Vertrauender entdeckt dem Gewiſſens⸗
rath Vorſaͤtze zu Thaten, die dieſer ihm als boͤſe ſchildern und
ihn davon abmahnen muß. Wenn nun der Vertrauende ſich nicht
uͤberzeugen und abhalten laͤßt, wenn der Gewiſſensrath demnach vor⸗
ausſieht, daß Jener das Verwerfliche und Schaͤdliche zur Ausfuͤhrung
bringen werde, ſollte in dieſem Falle der, dem die Confeſſion gemacht
wird, nicht verbunden ſein, die drohende Gefahr denen, welche ſie
verhuͤten koͤnnen, zur Warnung und Abwendung bekannt zu machen?
Es ſcheint, die Kirche ſollte fuͤr ſolche ungewoͤhnliche Verhaͤltniſſe ihre
Diener dazu inſtruiren, daß ſie die Verwirklichung des Verwerflichen
durch die moͤglichſt ſchonende Entdeckung bei denen, bie es zu hindern
vermögen, zu verhüten fchuldig feien. Der Staat aber hätte dagegen
zu beftimmen, daß eine ſolche marnende Anzeige nur polizeilich und
abminiftrativ zum Verhuͤten der fchlimmen Ausführung benust, nicht
aber richterlich zur Beſtrafung bes beharrlichen Worfages angewens
3) Zu vergleichen möchten fein Aler. Müllers kirchenrechtliche Eroͤrterun⸗
gen. Erfte Sammlung, Nro. 2. Weimar 1823. Mittermaicr, über bie
Pflicht des Beichtvaters zum Zeugniß. N. Archiv des GSriminalrchts. Thl. 8.
©. 313. Breiger, über das Beichtgeheimniß und das Recht der Obrigkeit,
deſſen Revelation zu fordern. Hannover 1827.
Gonfeffion, Confiscation. 653
bet. werben duͤrfte. Es iſt Pflicht der Kirche, boͤſen, vor Gott vers
werflihen Thaten foviel möglich zuvorzukommen. Aber es iſt zus
gleich- im Intereſſe des Staats, das vertrauliche Mittheilen aller zwei⸗
felhaften Worfige an den Gewiſſensrath, meil dadurch viel Unheil abs
gewendet werden kann, dußerft zu fchonen-und auf alle Faͤlle dadurch
möglich zumachen, daß dem WBertrauenden nie deswegen eine Strafe
zugefügt werde. Die Vereitlung bes böfen Vorſatzes genügt dem Staats⸗
zweck, ift aber nur durch die möglichfte Schonung bes sigillum con-
fessionis zu erreihen. - Dr. Paulus.
Confirmation,'f. Beftätigung.
Gonfiscation des Vermögens; Confiscation ein:
zelner beflimmter Sachen; Geldftrafen. Der Hauptgegens
ftand, welchen wir bier. betrachten, ift die Vermögens: Confiscas
tion. Durch bie dabei nöthige Aufftellung ihres Unterfchiede von den
beiden andern in obiger Rubrik aufgeführten Strafarten werben jedoch
natürlich auch diefe legten beleuchtet, und es mag fonad) füglidy in einem
Artikel von allen dreien gehandelt werden.
Vermögens- Confiscation ald Hauptfirafe für fi, oder
ale VBerfhärfung (oder überhaupt geſetzliche Folge) einer ans
dern Strafe, ift die zum Vortheil des Fiscus gefchehende Einzies
bung des Vermögens eines. Staatsangehörigen aus dem Grund eines
wider ihn ergangenen Straf s Urtheild oder überhaupt ald Folge einer
gefeglich damit bedrohten widerrecht lichen Handlung oder Unterlafs
fung. Die Vermögenseonfiscation ift der Weſenheit nach vorhanden,
menn fie auch unvallſtandig verhängt, d. h. wenn auch nur eine
Quote des Vermoͤgens (3. B. im Fall der.l. 1. D. ad legem juliam
de vi privata der britte. Theil) zur Strafe eingezogen, oder wenn
dem zur Confiscation Verurtheilten irgend ein Theil feines Vers
mögens (ohne Unterfchied, ob in einer Quote oder in einer fonft bes
flimmten Größe beftehend) gelaffen wird. Nach der Strenge biefes
Begriffs würde freilich. die Benennung Confiscation fehon: bei der Eins
jiehung auch nur eines oder zweier Procente des Vermögens
flattfinden muͤſſen, wofern nämlich biefelbe wirklich unter dem Titel. bes
Strafe geſchaͤhe. Doch Yat man, nad) dem gewöhnlichen Sprachges
brauch, bei der eigentlichen Confiscation meift nur die vollftänbdige
oder der Voltftändigkeit nahe oder doch nur die eine große uote in
Anfpeuch nehmende Vermögenseinziehung im Auge und belegt die Eins
giehung von nur einigen Procenten — und wären ed auch zehn
ober zwanzig oder noch. mehr — felbft wenn fie. wirklich zue Ab⸗
fhredung (ſonach der Wefenheit nach wirklich als Strafe) verords
net wäre, 3. B. in Fällen der unbefugten Auswanderung oder Ders
mögenswegziehung lieber mit bem Namen „Abzug“ oder „Abfahrt-
geld” u. ſ. w. Auch wir — obfchon die Schärfe des Begriffs theo⸗
vetifch fefthaltend — mollen uns biefem Sprachgebrauch fügen und das
ber den Bid nur auf die — ohnehin praktifdhy als Regel erfcels
5 Gonfidcatlom -
nende — vollſtaͤndige oder ber Volfländigteit nahe Fommendn
Vermögenseinziehung richten.
Aber ſelbſt nach der größern Ausdehnung unfere® im Allgemeinen
aufgeftellten Begriffs muß die Confiscation unterfchieden werben.
1) Bon ber gemeinen Geldftrafe, die ba nämlid weder dad
Vermögen im Ganzen noch eine Quote beffelben, fondern blos eine
beftimmte (oder nad einer für die Verſchiedenheit der Faͤlle aufge
fteilten Regel jeweils zu beftimmende) Summe in Anfprud) nimmt,
Gegen bie rechtliche und politifche Zuläffigkeit dieſer Strafe tft nicht
Vieles einzuwenden; ohne Unterſchied, ob fie blos polizeilich, auf
Art einer Zare ober einer Entfhädigungsgebühr für den durch
gewiſſe Pleinere Webertretungen dem gemeinen Weſen zugefügten und
einen Anfchlag nach Geld zulaffenden Schaden (Unbequemlichkeit ober
Gefahr u. f. mw.) aufgelegt, oder eigentlih ſtrafrechtlich, zur
Buͤßung oder Suͤhne verhängt werde. Dort wie hier nämlich er⸗
fcheint als ihr allerding® gerechter Hauptzmed die Abhaltung oder
Abfhredung, und fie ift in gar manchen Fällen vollkommen geeigs
net, foldyen Zweck zu erfüllen. Zwar ift fie, je nach den Vermoͤgens⸗
umftinden des zu Beſtrafenden, in Anfehung ihrer wirklichen Schwere,
alfo auch ihrer abhaltenden Kraft, hoͤchſt ungleich, wenn man aber
diefe Umftände in Erwägung zu ziehen dem Richter erlaubt, ber
Willkür Raum gebend und fobann auch jedenfalls der Idee der
der Gefammtheit gebührenden Entfchädigung oder Vergütung nicht
mehr entfprehend. Doch mag biefen Mängeln abgeholfen werben
theils durch eine Abftufung nad den wenigſtens annähernd zu em
Eennenden DBermögensverhältniffen des zu Beftrafenden, thell® durch
einen mäßigen, dem richterlihen Ermeffen überlaffenen Spielraum, theils
endlich, durch die ftatuirte Zulaͤſſigkeit der Verwandlung ber Gelbe
buße in eine andere, namentlich Gefängnifftrafe, fei es nach freier
Wahl des Schuldigen ober nach richterlihem Erkenntniß. Uebrigens
iſt auch jede andere — felbft die Xodess — Strafe in Bezug auf
Schere (nad) dem Gefühle des zu Beftcafenden), demnach auch auf
abhaltende Kraft immerdar fehr verſchieden; weswegen nur bie durch⸗
fchnittliche, oder als Regel das richtige Maß haltegde Schaͤtung
zur Grundlage ber Beurtheilung genommen werben kann. Ebenſo ift
bei:den. meiften andern, zumal bei den Freiheits. Strafen: der tich
terlihen Willkür gleichfalls ein Spielraum offen. Eine gute Beſetzungs⸗
weife der Gerichtsſtuͤhle umd eine der Publicität Huldigende Procedur
können allein diefem Uebel fleuern. Jedenfalls aber tft jene Willkuͤr
‘minder furchtbar, wo es fi nur um Geld, als wo es fih um hoͤ⸗
here: Güter handelt. Was aber die Gehaͤſſigkeit dee Geldſtra⸗
fen, zumal wenn ihr Ertrag in die Cafſe ber Regierung fällt, betrifft,
fo kann derfelben einerfeitd durch die Zuweiſung dee Strafgelder an
einen 2ocal= oder an einen MWohltbätigkeitd: Fond, anderfeits dadurch
gejteuert werden, daß man vorzugsiweife nur folche Verbrechen oder
Mebertretungen mit Geldſtrafe Selege, welche in der Gewinnſucht ihre
‚Gonfiöcation, | 6553
Wurzel haben und daher durch Bedrohung mit peaunidreem Schaden
am ficherftien Hintangehalten werden. Alsdann erfheint als Wunſch
des Geſetzgebers, dag gar- kein Strafgeld eingebe; und das gleichwohl
eingehende tilgt durch feine mohlthätige Verwendung bie Erinnerung
an bie Quelle des Empfangs. Diele, zumal kleinere, Vergehen find
von der Art, da kaum eine andere als eine Geld Strafe dagegen
anwendbar if. Andere Strafen laffen immer eine Makel an der
Ehre zurüd und find alfo, wenn bie Uebertretung keinen bifen Wil⸗
len ober Beine unehrenhafte Gefinnung vorausfest, allzu hart und das
her ungereht. Die Geldſtrafe dagegen mwirb in folhen Fällen entrich⸗
tet ohne Beſchaͤmung, und fie läßt eine allen Abftufungen des Vers
fehuldens oder des bloßen Verſaͤumniſſes entſprechende Erhoͤhung oder
Erniedrigung zu.
Inwiefern alfo die Geldſtrafen rechtlich und politiſch zulaͤſſig
oder zu billigen ſeien, geht aus den voranſtehenden Andeutungen her⸗
vor. Eine ausfuͤhrlichere Begruͤndung enthalten die vom Strafe
recht im Allgemeinen handelnden Artikel. Hier wollen wir blos noch
bemerken, daß freilich, wenn die Gelditrafen hoc, find, namentlidy
wenn ihre Größe das, bei der Claffe, worin vorzugsmeife gewiſſe Ver⸗
brechen vordommen, in der Megel anzutreffende Vermögen erreicht oder
gar überfteigt, ihre Natur jener ber Vermögens: Confiscation
nabe koͤmmt oder mit berfelben identifch if. Ein Solches ift zu fagen
3 B. von den auf Defertion gefegten Geldſtrafen, welche das Mit⸗
telmaß bed den gemeinen Solbaten in ber Regel zuftehenden Vermoͤ⸗
gend .überfleigen, oder von den ayf Preßvergehen, etwa auf miß-
fällige Zeitungsartitel geſetzten, welche buch ihre Höhe Verfaſſer und
Herausgeber: leiht zu Bettlern machen. Auf ſo hohe Geldfttafen,
und zwar nicht nur wenn fie im Mißverhaͤltniß zur Schwere deu das
mit bedrohten Webertretung ſtehen, fondern auch wo das Verbrechen,
als wirklich ein fchweres, eine harte Strafe allerdings verdient, ift Allee,
was gegen die eigentliche Gonfiscation ftreitet, gleichfalld anzuwenden,
ja noch in größerem Maße, weil fie jedenfalls die, Aermern ſchwerer
als die Reichen druͤcken und dagegen — toofern, fie nicht mit einer
andern Strafe verbunden werden — für die [ehr Reichen faft
wie ein Sreibrief zu Verbrechen erfcheinen.
2) Eine Confiscation iſt nicht vorhanden... wo dem Verurtheil
ten zwar neben der eigentlichen Strafe noch die Zahlung einer Sum⸗
me aufgelegt wird, doch nur unter dem Titel der. Erfagleiftung
oder, Wiedere cfattung;. ‚Überhaupt einer auch civilcechtlich . zu
verfofgenben, Schuld. &o. die dem Deferteur zur Laſt fallende Ver⸗
ghtung.:der. mitgenommenen Montur und Waffe; fo. aud) ‚die von dem
Berurtheilten .zu tragende .Laft der Unterfuhungsfoften. Die
legte übrigend, zumal wenn die Langfamleit. und Kofifpieligkeit ſolcher
Unterfuchung weniger dem Inquiſiten als dem Michter oder dritten Pers:
fonen, oder auch dee ſchlechten Proceßordnung zuzufſchteiben iſt, nimmt
gleichfalls die Natur einer Gelbfirafe und zwar einer verwerflichen an,
656 Gonfiscation.
ja koͤmmt gar leicht in ihrer Wirkung ber völligen Vermögens z Con⸗
fiscation gleich.
3) Daß die auch aus Titeln bes dffentlihen Rechts, jedoch aus
andern als jenem ber Strafe verorbneten, Bermögens-Abzüge (3.3.
von dem ind Ausland gehenden Gut) nicht unter den Begriff ber Vers
mögens :» Confiscation gehören, wurde ſchon oben. bemerkt. Nur wenn
fie die aus folhen Titeln mit Billigkeit zu forbernden Quoten über:
fleigen, namentlich wenn aus dem Grund eines „böstihen“ Auss
tritts oder Verbleibens im Ausland eine höhere Quote als in einfas
hen Ausmanbderungsfällen erhoben wird, werden fi ie zue theilweifen
Gonfiscation.
4) Bon der Vermögend-Confiscation muß endlich noch
unterfchieden werben die Confiscation beftimmter einzelner
Sachen oder Sammlungen oder Summen Yon Sachen. So werden
in dee Negel die eingefhmärzten Waaren — oft felbft mit Was
gen und Gefpann — confiscirt; fo die Werkzeuge oder Gegenitände
eines begangenen ober intentirten Verbrechens, als 3. B. der Apparat
zum Falſchmuͤnzen und auch das Haus, worin folhes Münzen gefchab,
verbotene Bücher, verfälfchte, zu leicht befundene, überhaupt poligeis
widrig verfertigte Gegenftände des Verbrauchs oder Handels, verdaͤch⸗
tige Waffen» oder Pulver Vorräthe, Winkelpreffen u. a. m. In fols
dien Fällen tritt bie. Wegnahme oft mm zum Zweck der Zerſtoͤrung
oder der Entfernung der geführlichen ober ‚verhaßten Sachen aus dem
Verkehr ein, oft aber auch in wirklich Iucrativer Abficht, hier wie dort
üdrigene auch als Strafe oder Strafzufap. Solche Confiscatio⸗
nen find alſo in Bezug auf den DBerheiligten den gemeinen Gelds
ſtrafen dhnlid, ‚unterliegen fonady auch derfelben Beurtheilung. Nur
haben fie, weil in zwangsweiſe gefchehender Wegnahme, nicht nur
in (blos der Zwangsvollſtreckung unterliegender) Korberung
beftehend, einen Charakter von Gewaltſamkeit, folglich von größerer
Gehaͤſſigkeit an fih. Auch: koͤnnen ſte, zumal wenn fie aus untrifti⸗
gen — mehr der Arfeltigen Furcht ober dem Haſſe oder auch der blos
finanziellen Speculation, als dem wahren Sefammtintereffe angehoͤri⸗
gen — Gründen verbänge werden, jenen der Tyrannei' und ber
Nihtahtung des Eigenthumsrechts an fid nehmen, leicht
auch in ihren Wirkungen bis zur Schwere ber eigentlihen Vermoͤ⸗
gene = Gonfiscation anfteigen. Die Wegnahme ganzer Magazine von
Anverzollten oder’ blos unrichtig declarirten Waaren, jene von ganzen
Auflagen mißfälliger (nur von der Polizei d.:h. von. ber Megies
rungsgewalt, nicht aber von den Berichten condemnirter) Druck⸗
ſchriften und koſtbarer, redlich unternommener Verlagswerke u.a. m. |
gehören- hierher. Solcher hoͤchſt bedenklichen Confiscation nach Eharakter
and Wirkung gleich iſt zumal auch die, gleichfalls ‚ohne. gerichtliche
Sentenz blos dur den Willen der Staatsgewalt ausgefprochene. Uns
terdrüdung von Journalen "dder wie immer benannten Zeitſchriften po⸗
litiſchen oder andern Inhalts, welche in ber redlichſten Abſicht unters
by
Gonfiöcation, 657
nommen und fortgeführt, and je nad; Umftänden dad einzige oden
faft einzige Erwerbsmittel und Gapitalvermögen des Herausgebers und
Verlegers fein Finnen, aber unwiſſentlich durch irgend einen Artikel ein
höheres Mißfallen auf ſich gezogen haben, ober gar das ſchon vorläufig
für alle Zukunft hin ausgefprochene Verbot, d. 5. Unterbrüdungsure
. theil gegen alle Schriften, die aus einer beflimmten Feber oder aus
einem beftimmten Verlage jemals ausgehen möchten. Wir richten bier,
wo blos von ber Eonfiscatign als folcher die Rede ift, natuͤrlich
den Blick nur auf das in Anfehung des pecuniären Werthes offenbar
jedem fahlihen Gut oder Eigentum zu vergleichende Erwerbs⸗ und
Gewerbsrecht des Schriftftellers und Berlegers, alle andern, babei
fi) aufdrängenden, hochwichtigen Betrachtungen den von Preffreis
heit handelnden Artikeln vorbehaltend.
Mir wenden uns zur Bermögens= Confldcation im en⸗
gern Sinn, haben jedoch dabei nur diejenige im Auge, weldhe gegen
ben wirklich Schuldigen ober als fehuldig Erklärten gemäß gefeglicher
Androhung "und. rihterlihem Erkenntniß verhängt wird, nicht aber die
etwa rein willkürlich von einem Sultan als Aeuferung bloßer Ungnabe
oder auch aus bloßer Habgier zu verhängende, auch nicht die, wiewohl
mit dem entweihten Stempel bes Geſetzes verfehene, welche die ſcham⸗
loſe Tyrannei der römifchen Imperatoren oder der ihren Thron - umges
benden verworfenen Sklaven, auch wider bie unfhuldigen Kinder
ber Hochverräther (db. h. der in Ungnade Gefallenen) (und zwar wider
die Söhne vollftändig und verbunden mit allgemeiner und ewiger
Erbunfähigkeit, wider die Töchter aber nur mit Ausnahme ber
falcidbifhen Quarte vom mütterlihen Vermögen) auszufpres
. hen ſich erfühnte. (S. insbefondere die allzuberühmte lex 5. Cod. ad
legem Juliam Majestatis, die von dem verſchnittenen Kämmers
ling Eutropius den gelftesarmen Eaiferlichen Brüdern Arcabius und
Honorius eingegebene Schauftellung der an Wahnfinn grenzenden fels
gen Wuth gegen Majeftätsbeleidiger.) Doch find auch diefe Ausſchwei⸗
fungen bedeutfam für unfern Gegenftand, als Bezeihnung dee den Gons
fiscations s Gefegen wenn auch) nicht natuͤrlich einwohnenden, doch unter
ungünftigen Verfaffungszuftänben leicht zu gebenden Richtung.
Abſolut, oder fhon nad dem Begriffe, ungerecht ift bie
Vermögens s Confiscation nicht. ft es rechtlich möglich, d. h. kann
bie Rechtsverwirkung fo weit gehen, daß man dem Verbrecher die heiligs
ften und Eoftbarften Güter, Freiheit, Ehre und Leben, nehmen darf:
warum follte die Entziehung des unenblid) minder koſtbaren, nämlich
bes Vermögens, nicht gleichfalls gefchehen innen? Nur der Miß⸗
brauch alfo, d.h. die auch auf Uebertretungen geringerer Art ans
gewendete Gonfiscation, mag als abfolutes Unrecht erfcheinen. Iſt aber
bie Uebertretung eine fo ſchwere geweſen, daß auch eine völlige Rechtlo⸗
ſigkeitserklaͤrung nicht als das vechtliche Maß überfchreitende Strafe
Dafür mag angefehen merden, fo waͤre die Beſchwerde gegen bie Vers
mögenseinziehung von Seite des zur Hinrichtung ober auch nur zum
Staats s Eeriton, III. “2
658 Gonfischtion.
bürgerlichen Tode Verurtheilten wahrhaft geunblos. Zudem gibt es Vers
brechen, welche dem gemeinen Wefen fo großen Schaden zufügen ober
fo fchwere Gefahren drohen, daß auch das allergrößte Vermögen unzu⸗
reichend zum Erſatze fein, beffen Einziehung alfo fhon unter bem Ti⸗
tel der Entfhädigung niemals als das gerechte Maß Überfchreitend
erfcheinen kann. ' '
Aber ungeachtet folder theoretifch anzuerlennenden abfoluten Ver⸗
einbarlichkeit der Confiscation mit bem firengen Rechtsgeſetze ftreiten
gleichwohl gegen ihre praßtifhe Anwendung bie gewichtigften und mans
nichfaltigften Gründe. Es erheben ſich gegen fie zuvoͤrderſt, je nad
Befchaffenheit der befonbern Gefegesbeftimmungen, ſodann auch ber Fälle,
ſelbſt vechtliche e Bedenken, theild in Anfehung des zu Beftrafenden felbfl,
theils in Anfehung Dritter. Allgemeiner und entfchiedener aber fprechen
gegen fie die Billigkeit, die Humanität und bie eblere Politik,
Sei e8, daß mitunter, 3. B. gegen Einderlofe und zugleich ſchwere
Verbrecher die Gonfiecation ohne NRechtöverlegung koͤnne ausgefprocdhen
werden: immerhin wird ihre Aufſtellung als allgemein gülrige
Regel für beftimmte Arten ber Verbrechen dem Vorwurf der Unges
rechtigkeit ausgefegt fein; denn die Ungleichheit, die fie nothwendig
mit fi führt, ift allzugroß, um nicht bie rechtliche Beachtung anzus
fprehen. Die Vermoͤglichen und Reichen erfahren durch fie eine
unvergleihbar härtere Behandlung, als die Dürftigen und Armen,
und es werden alfo, je nad ber Befchaffenheit bes Verbrechens, ent»
weber jene zu ſchwer oder diefe zu leicht beſtraft.
Aber noch auffallender erfcheint die Ungerechtigkeit ber Gonftscation,
wenn man auf die dadurch verfümmerten oder zernichteten Anfprüche
der theild nach natürlihem, theild nad pofitivem Recht zur Erbs
ſchaft des DVerurtheilten Berufenen blickt. Gemeinſchaftlich erworbes
nes und im Beſitz erhaltenes Gut ift im naturrechtlihen Miteigen«
thum der Erwerber, und daſſelbe confolibirt ſich gleichfalls naturrecht⸗
lich bei'm Abfterben oder Ermangeln des Einen in ber Perfon des
Ueberlebenden ober Zurüdbleibenden. Ein Confiscationss Gefeg, wel⸗
ches auf dieſes Verhältnig keine Rüdficht nimmt, und alfo auch die
Gattin, deren Fleiß und Sparſamkeit vielleicht die Hauptquelle des ges
meinfchaftlihen Vermögens war, und bie etwa gleichmäßig babei bes
theiligten Kinder von dee Verkaffenfchaft des Hingerichteten oder bürs
gerlich Zodten ausfchließt, ift hiernach fchreiend ungerecht,. eine wahre
Beraubung. Es ift aber nicht nur mit dem natürlichen Recht, fons
dern auch mit dem pofitiven im Widerſpruch, wenn ed ben, ſelbſt
dur) das pofitive Gefeg nicht nur zur InteflatsErbfolge Berufes
nen, fondern felbft zu Notherben Erklaͤrten dasjenige raubt, worauf
fie, den Fall eines anderslautenden Zeftaments ausgenommen, einen
gefeglichen Anfprudy haben, ja fogar dasjenige, was der Verurtheilte
felsft ihnen weder durch lebzeitige, noch durch legtwillige Handlungen
zu entziehen oder vorzuenthalten befugt war. Mindeſtens alfo ber
Pflichttheil ber Inteſtaterben müßte benfelben unverfümmert übers
Gonfiöcation, Ä 659
laſſen bleiben, und ebenfo bie Confiscation nur unbefchaber ber dem
Verurtheilten gegen wen immer obliegendben Suftentationspfliäht voll
. zogen werben, wenn bie Geſetzgebung nicht mit fi felbf in den
sinheilbarften Widerſpruch gerathen fol.
Biltigkeit und Humanität jedoch gehen Im Ihren Forderun⸗
gen meiter, als das ſtrenge und kalte Recht. Nicht nur ber geſetzlich
anerkannte Pflihttheil, fondern bie ganze Verlaſſenſchaft des Vers
urtheilten nehmen fie für deſſen unglädlihe Familie In Anſpruch. Die
Strafe fol fo viel immer möglih nur den Schuldigen wehe thun,
nicht aber den Unſchuldigen, fo weit letzteres irgend vermeiblich iſt.
Die Bermögend: Confiscation aber, wenigftene bei dem zum Tode
Verurtheilten, trifft den Schuldigen im Grunde gar nicht, ſondern
blos bie Unfchulbigen, tft alfo auch'von nur geringer abhaltender
Kraft (zumal für bie Boͤsartigen, d. h. auch des Naturgefühles für
ihre Angehörigen Beraubten) und daher bloß eine unnuͤtze Grauſam⸗
keit, wofern man nicht engherzig ben Vortheil des Fiscus als eimen
bier wirklich in Anfchlag zu bringenden Nugen betrachten will.
Eben diefer fiscalifhe Vortheil aber if ein weiterer Grund
der Verwerflichkeit, nämlich der hohen Gehaͤſſigkeit und aud gro»
Gen Gefährlichkeit dee Gonfiscationsftrafen. Wenn ber flrafende
Staat oder Machthaber einen Vortheil aus ber Schuldigerklaͤrung eis
nes Angeklagten zieht, fo Ift er dem Verdacht ausgefeht, ſolche Er⸗
Härung aud zu wuͤnſchen, und wenn er, wovon leiher auch Bei⸗
fpiele genug vorliegen, uneblen Motiven zugänglich ift, audy bee Verſu⸗
hung, fie in alle Wege zu befördern, namentlich durch Gorruption _
der Gerichtshoͤfe, oder durch Errichtung außerordentlicher, bienftbefliffes
ner Commiffionen, oder, wenn er unumfchränkter Autokrat ift, felbft
durch bloße Dictate feines Willens. Im roͤmiſchen Kaiſerreich
und in allen Sultans: Herrfhaften waren und find noch immer
die Confiscationen eine fehr bedeutende Quelle der öffentlichen, d. 5. im
den Scha& des Herrfchers fließenden Einkünfte, und je reicher ein Buͤr⸗
ger ift, deſto näher liegt ihm die Gefahr, unfhuldig angeflagt und
unfhuldig verurtheiltt zu werben. Der Klageruf, welchen ber
ſchuldloſe Aurelius ausftieß, als er auf Sulla's Proferiptionstafeln
auch feinen eigenen Namen las: „Ad, mein ſchoͤnes Landgut iſt es,
was mir die Verdammung zuzieht!“ mag dann hundert und hunderts
mal mit Grund ertönen, und es mag auch bie Habfucht untergeords
neter Diener der Gewalt oder begünftigter Sklaven bes Sultans bie
Macht des Herrn zum Werkzeug des Raubes mißbrauchen.
Die vereinte Wirkung der Parteifucht, bes Haffes und ber Raub⸗
gier ift hier um fo mehr zu fürchten, als bie Natur bes Hauptverbrecheng,
worauf gewöhnlich die Confiscationsftrafe gefegt iſt, allzu leicht eine Ver⸗
wecfelung der blos Mißvergnügten mit Empoͤrern, ber, blos
Befiegten mit Schuldigen mit fi führt. Gocverrath und
Majeſtaͤtsbeleidigung find es zumal, gegen welche ſchon bie feige
Grauſamkeit bee römifchen Imperatoren und bie knechtiſche
%
660 Gonftscation.
- ‚Ihrer Sklaven neben bem Tod auch bie Gäterconfidcation und die voͤlligſte
Beraubung der Kinder verordnete, und deren Begriff zugleich fo weit
ausgedehnt warb , dag auch der Schuldlofefte ihrer konnte gezeiht werben,
To daß zu einiger Milderung ber. allzumahnfinnigen Strenge die Aufe .
nehme ausbrüdlicher Ausſpruͤche großer Rechtögelehrten und einiger mins
der tyrannifchen Kaifer in’s Geſetzbuch nothwendig wat, um benjenigen
als der Majeſtaͤtsbeleidigung für nicht ſchuldig zu erflären, welcher mit
einem geworfenen Steine zufällig bie Statue des Kaifers getroffen,
ober welcher eine folche durch's Alter verborbene Statue wieder aus⸗
gebeffert hatte (f. Pr. 5. Dig. 48. 4.). Auch das Verbrechen ber
Ketzerei fiel durch ben Eifer der hriftlichen Kaifer derfelben Verdam⸗
mung anheim, unb es gingen unter dem Mantel ber Frömmigkeit bie
weltliche und geiftliche Raubgier triumphirend einher.
Leider nahm auch das germanifche Recht, wenigſtens zum heil,
diefelben Grundfäge an, ober vielmehr fie beftanden darin fhon vor bem
Auflommen des römifchen. Schon die fränfifchen und die erften deut⸗
fchen Könige bezogen einen großen Theil ihres Einkommens aus Gons
fiscationen, und bie mweltlihe Acht wie der ſchwere Kichenbann
führte den Verluft des Vermögens mit fih. Später freilich trat wenig⸗
fine bie Milderung ein, daß die Wermögenseinziehung nicht fhon als
allgemeine Kolge der zuerlannten Todesſtrafe eintreten follte —
wie folches die Habſucht mancher Gerichtsherren mißbraͤuchlich verfügt
Hatte — fondern nur im Falle folder Verbrechen oder Uebertretungen,
welche das Gefeg ausdruͤcklich mit der Confiscation bedrohte (f. 8.
Karls V. P. ©. O. Art. 218.). Dergleichen gab es Indeffen eine nicht
geringe Zahl, ſowohl nad) der Carolina felbft und ben von ihr großen»
theils beftätigten gemeinen „Eaiferlichen (b. h. römifchen und canonis
fhen) Rechten”, ald nad) ben verfchiedenen Landesgefegen. Nicht
nur Hoch verrath und fhwere Majeftätsbeleidigung, fondern
auch Selbftmord (eines peinlich angeflagten Verhafteten), Des
fertion, boͤsliches — d. h. zum Zweck, einer Beftrafung oder Unters
ſuchung zu entweichen, gefchehendes — Verlaffen des Heimathe
landes, ja ſchon bie bloße Auswanderung ohne Erlaubniß,
zogen die Gonfiscation nad) fi. Der legte Grund zumat bereicherte den
Fiscus anſehnlich und flärbte zugleich die defpotifche Gewalt, indem er
alle Befiger in Feſſeln ſchlug. Fortan war es in Zeiten politifcher oder
Ticchlicher Parteiung den Befiegten, wenn fie nicht ihre Habe preisgeben
und ihre Samilie zu Bettlern machen wollten, unmöglich, der Rache der
fiegenden Gegner zu entrinnen, und die Ungnade des Fürften, deſſen
Gebiet man nur mit Aufopferung des Vermögens verlaffen konnte, war
um fo gefährliher. Wir haben gefehen, mit welcher Strenge das revos
Iutlonaire Frankreich die Confiscation gegen die Schaaren der Emie
granten, deren Zaufende blos, um ihr ſchuldloſes Haupt vor der Une
erfättlichen Guillotine zu fchirmen, geflohen waren, in Ausübung gefegt
bat. Wir fehen ein erfchütterndes Seitenftüd folder Härte in dem, was
noch heute in dem unglädlichen Polen gefchieht, und preifen daher mit
Gonfiscation. Gonftontation. 661
freudigem Gefühl bie Weisheit, Humanität und politifhe. Koſtbarkeit
ber in den meiften der neuen Conſtitutionsurkunden beſtimmt und felers
lich ausgefprohenen Abfhaffung aller Vermögens» Cons
fiscation. J Rotteck.
Confoͤderation, ſ. Bund und Poſen.
Confrontation (Gegenſtellung). Unter die Mittel zur
Erforfhung der Wahrheit, welche dem Unterfuchungsrichtee im Laufe
bes Strafverfahrens zu Gebote flehen, zählt man die Confrontas
tion. Das Princip betfelden leitet ein ausgezeichneter diterer Crimi⸗
nalift, Damhouder, ans. dem roͤmiſchen Recht her !). Indeſſen fteht
die Gefegesftele, woraus er dieſes Princtp herleitet, einer folchen Ders
leitung nicht zur Seite. Es iſt im Gegentheil anerkannt, baß bie
Lehre von ber Conftontation, ein Kind bes eingedrungenen Inquiſi⸗
tionsproceſſes und feiner- WBeweistheorie (f. den erften Band biefes
Staats⸗Lexikons Art. Abldäugnung ©. 126 zc.), durch den Gerichts⸗
gebrauch in das Strafverfahren eingeführt worden ift 2), mdem auch
bie peinliche Gerichtsordnung Karls V, davon ſchweigt.
Man verfteht unter Confrontation den gerichtlichen Act, mwoburh
Merfonen, deren Ausſagen miteinander im Widerſpruch ftehen, :fidy zu
ben Zweck gegenübergeflellt werben, um ſich über den Widerſpruch
zu erklaͤren 2). Eine folhe gerichtliche Handlung kann auf verfchiederie
Art vorgenommen werben, nämlich entweder zwifchen mehrern arigeblich.
‚Mitfhuldigen, zwiſchen einem Angefchuldigten und einem Zeugen ober:
gwifchen mehreren Zeugen. 0 ’ ’
Die Vornahme einer Konfrontation tft nicht ohne Bedenklichkei⸗
ten. Erſtens kann fie das Mittel zu Collufionen zwifchen ben Perſo⸗
nen, bie fi) gegenüber geftellt werben, fein (f. Collufion), befons
dere dann, wenn es Mitfehuldige find. Durch Zeichen, Winde, Mies
1) Proc. crim. Cap. 47.
2) Kleinfhrod, Abhandlungen aus bem pelnlichen Rechte und peinlichem
Proceffe Thl. 1, Erlangen 1797. III. ueber bie Nothwendigkeit, den Gebrauch
der Sonfrontation im peinlichen Proceffe einzufchränten. S. 119— 164. Mit:
termater, Handbuch bes peinlichen Procefies Band 2. Heibelberg 1812, ©. 190.
Derfelbe, das deutſche Strafverfahren Abtheilung I, $. 77. ©. 8 *
8) Heffter, Lehrbuch des gemeinen Criminalrechts. Halle 1833, $. 596.
603. Abegg, Lehrbuch des gemeinen Griminalprocefies, mit kefinderen
Beruͤckſichtigung des preußifchen Rechte. SKönigäberg 1833. fagt $. 117. ©. 197:
„Zu ben Mitteln, einen Widerfpruch verfciebener Perfonen zu befeitigen, insbe⸗
fonbere infofern biefer in wahrheitswidrigen Aeußerungen eines Angefchulbigten
feinen Grund zu haben fiheint, gehört die Begenftellung (Confrontation), d. B.
die gerichtliche Handlung, durch welche zwei über ben nämlichen Umſtand fich
widerfprechenb aͤußernde Perfonen vor befegtem Gericht veranlaßt werben follen,
ſich mit einander in einer vom Richter geleiteten Weife zu unterreben, bamit auf
biefem Wege die Wahrheit herausgebracht werde.” Um anders Gchriften nicht
8 erwaͤhnen, fo handelt ſehr ausführlich uͤber Confrontation das Werk von
tuͤbel, das Criminalverfahren in ben deutſchen Gerichten Bdo. 4, Leipzig
1814. ©. 193 — 221. & 40 - 446.
662 Confrontation.
nen u. ſ. w. kann ber Eine dem Andern ſich mittheilen. Beſonders bes
denklich iſt darum die Confrontation bei Unterſuchungen gegen Mitglie⸗
der einer Gaunerbande, welche gewoͤhnlich mit allen eingeuͤbten Waffen
zu kaͤmpfen und jede ſich ihnen darbietende Gelegenheit zu benutzen ver⸗
ſtehen, auch ganz beſonders in ber Zeichenſprache wohl unterrichtet find.
Zweitens Tann auf der andern Seite durch Wornahme einer Confron⸗
tation ein Unfchuldiger in Gefahr kommen. „Der Furchtſame (und
oft ift Dies der Unfchuldige) wird duch das Anfehen des Richters und
ben Anbli des Gefängniffes fo gefchredit, bag er jeden Schritt des
Berichts für nachtheilig anfieht, bet jeder Handlung deſſelben ſich bie
augenfcheinfichfte Leibes⸗ und Lebensgefahr vorftellt. Kommt ein Solcher
zur Conftontation, hört er die Zeugen, die gegen ihn auftreten, fo ſtellt
ee fi) nichts Anderes vor, als, der Richter traue biefen Zeugen unb
glaube gewiß, der Eonfrontat habe das Verbrechen begangen, was ihm bie
Zeugen vorwarfen. Diefe Vorſtellung macht ihn zittern, er flottert,
werfärbt fih, weiß nicht, wohin er fi) menden, wie er feine Unſchulb
beweifen fol. Diefes VBetragen des Gonfenntaten vermehrt den Vers
dacht gegen ihn und beftärkt der Zeugen Ausfagen. Die Erfahrung
lehrt, daß es unverfchämte Menfchen gibt, die Jemandem bie größten
Lügen ins Geſicht fagen koͤnnen, daß dagegen Menfchen von feinem
Gefühle über falfche Beſchuldigungen in Verlegenheit gerathen, ats
wenn fie des vorgemorfenen Verbrechens fidy bewußt wären. So kann
ber Unſchuldigſte das härtefte Gefchid leiden, wenn im Segentheil ber
verhärtete Boͤſewicht ſich eher durchlügt und alle Vorwürfe ableugs
net *)Y.“ — 8 gibt einige Verhaͤltniſſe, melche felbft dann beachtet
werben muͤſſen, wenn es ſich um Erreichung eines Staatszwecks hans
beit. So ift es Grundſatz, daß ein inniges Verhaͤltniß von ber Vers
bindlichkeit zum Zeugniß befreit, ein Grundfag, der ſich auch dann gels
tend macht, wenn von einer Gonftontation die Rede if. Eltern Eins
nen nicht mit Kindern °) und umgekehrt, Eheleute und Gefchrifter
4) Worte Kieinfhrodsa. a. D.S. 11. &. 187 — 139. No eine ans
dere Bedenklichkeit hebt Ludovici, Sinleitung zum peinliden Proceß, Aufl. 6.
1719, in feiner Kernfpracdhe hervor: „Obwohl die Gonfrontation an ſich ebenſo⸗
wenig als bie bloße Inquiſition Jemand unehrlich machen kann, fo ift e8 body bes
kannt, daß die Leute, wenn Jemand mit einem liederlicken Menfchen confrontirt
wird, foforg ein Maulgefperr bavon machen unb ben Gonfrontirten nicht andere
anfehen, als ob er nothwenbig an ber Uchelthat mit Theil haben müfle, daher
ihm aus ber Gonfrontation ein großes Präjubicium zuwaͤchſt.“
. 5)». Berg, juriſtiſche Beobadjtungen und Rechtéfaͤlle Thl. 1, Hannover
1802, Re. XXÄXL. ‚Bon ber Confrontation zwiſchen Eltern und Kindern.’
Der Verfaſſer erwähnt einer Unterſuchungsſache, in welcher ein Sohn mit feiner
Butter. confrontict worben war, und eines dadurch veranlaßten landesherrlichen
Griaffes vom 383. Januar 1739 an die Juſtizcanzlei in Hannover, worin, für
die damalige Zeit human genug, biefes Verfahren als verlegend und verboten
getadelt wurde. Wenn biefer Schriftfteller meint, daß, wenn Eltern und Kinder
als Mitſchuldige einer peinlichen Unterfuchung unterworfen feien, es dem Unter:
ſuchungsrichter geftattet fein mürje, fie miteinander zu confrontiven, fo bat ex
Gonfrontation. 663
nicht unter ſich confrontirt werben, es Tel denn, daß blos von einer
Gonfrontation unter Zeugen bie Rede wäre. — Kine Gonftontation
erfordert, wenn fie ihren Zweck erreihen foll, einen Inquirenten,
welcher alle die: Eigenfchaften befigt, bie zu bem wichtigen Bes
zufe eines Unterfuchungerichter® erfordert werden: Beobachtungsgeiſt,
Menſchenkenntniß, genaue Kenntniß feiner Stellung, welche ihn aufs
fordert, nichts als die Wahrheit zu erforfchen und In gleichem Grabe
die Möglichkeit der Schuld als der Unſchuld im Auge zu baden. Ein
foicher Inquirent wird nicht ohne triftige Gründe zur Confrontation
fhreiten, weil diefe leicht ohne Erfolg bleibt oder gar ſchadet. Er iſt
dem Arzte vergleichbar, welcher nur in bringendften Faͤllen zur Anwen⸗
dung der ertremen Mittel fehreitet. Die Konfrontation unter Zeugen
ift am mwenigften bedenklich: „nur darf fie nicht wegen außerweſentli⸗
her Widerfprühe und nicht da zu voreilig veranftaltet werden, wenn
man einem Zeugen nicht ganz trauen kann und den Einfluß von Sugs
geftionen fürchten muß” ©). Die Zeugen werden an ben geleifteten Zeu⸗
geneid erinnert und aufgefordert, dieſer Eidespflicht ‘gemäß fich zu erklaͤ⸗
ven, was auch dann gefkhieht., wenn ber Zeuge mit dem Angefchuldigs
ten confrontirt wird, ein Act, wozu nur dann eine Aufforderung nahe
liegt, wenn bie Richtigkeit der Zeugenausfage in wichtigen Bezlehun⸗
gen ſehr wahrſcheinlich iſt. Am bedenklichſten iſt eine Confrontation
der angeblich⸗ Mitſchuldigen, eben weil gerade da vorzugsweiſe Collu⸗
ſion ſtattfinden oder Gefahr fuͤr einen Unſchuldigen herbeigefuͤhrt
werden kann, und andere, aus dem gewoͤhnlichen ungenuͤgenden Reſul⸗
tate ſolcher Confrontationen ſich herleitende Betrachtungen ſich aufdraͤn⸗
gen muͤſſen. Die meiſten Bedenklichkeiten machen ſich dann geltend,
wenn der Zweck der Confrontation der iſt, ein Geſtaͤndniß uͤberhaupt
zu bewirken. Beharrt der Mitbeſchuldigte bei feinem Leugnen, fo
befindet ſich der Unterſuchungsrichter Namens des Staats in einer
gewiſſen Verlegenheit, während der Confrontat gleichſam als Sie⸗
ger davongeht. „Wenn aber“, um ſich der Worte Kleinſchrods
a. a. O. S. 149 zu bedienen, „der Verdaͤchtige ſich zu einem Geſtaͤnd⸗
niß bequemt, fo entſtehen neue Zweifel. Stimmt bad Bekenntniß mit
ber Angabe des Confrontanten nicht überein, fo ift er ohnedies Au
unzuverläffig, und treffen beide Ausfagen jufammen, fo entfteht d
große Frage, ob der. Inquiſit auch eben fo -würbe geſtanden haben,
wenn e8 ihm der Confrontant nicht vorgeworfen hätte, ob jener diefem
nicht blos nachgebetet habe? Man hat auf biefen Fall ein bloßes
nicht unterftügtes, auf Suggeftionen gegrünbetes Geſtaͤndniß, das un⸗
moͤglich eine volle Wirkung haben kann.“
r
fi) fehr von dem Geiſt jenes landesherrlichen Reſcripts entfernt, wildes: zum
Beweiſe dient, daß glüdkticherweife die Reglerenden Mandpimal humaner Handeln,
als die Schriftſteller denken.
6) Mittermaicr, das beutfche Etrafverfehren Lbiheilung 1,8: 78°
664 Konfrontation.
Durchgeht man bie Unzahl von Schriften, Abhandlungen u. f. m.
welche fih mit dem Strafproceß, einzelnen Theilen befielben u. f. mw.
befchäftigen oder Criminalrechtsfaͤlle barftellen, fo findet man, daß es
nicht an Anmeifungen zur zwedimäßigen Vornahme bes Acts der Con⸗
frontation fehlt. Oft erinnern aber biefe Anmeifungen unwillkuͤrlich
on ſolche Schriftchen, welche Anleitungen zur Zafchenfpielerei, zu ma⸗
gifhen Künften u. dgl. enthalten, indem oft nur gelehrt wird, welcher
Kunſtgriffe 7) ſich der Inquirent bedienen folle und dürfe, um zu bes
wirken, daß die Conftontation gebeihliche und reichliche Früchte trage.
Solche Erſcheinungen, im engen Bunde mit ben Geftaltungen unferer
Rechtspflege, geftatten dem Beobachter, von wahren „Ueberfruchtungen“
unſeres Inquifitions s Proceffes reden zu dürfen.
Meifter berührt S. 675. 676 feines Werkes: „Ausführliche Abs
Bandlung bes peinlihen Proceffes in Deutfchland”, die Frage, ob bie
Auslieferung eines Angefchuldigten, welche nur zur Anftellung der Con⸗
frontation oder einer ähnlichen Gerichtshandlung begehrt werde, verwei⸗
gert werben könne, wenn ein ausmwärtiger Richter fie im Wege ber
Mequifition verlange, -und verneint fie, indem er zugleich einen beflimms
ten Fall namhaft madıt: „da nämlich der eine Miffethäter in der Mark
und ber andere im Herzogthume Lüneburg gefangen genommen worden
und unter ihnen eine Confrontation nöthig mar, man aber in keinem
Territorio zur Auslieferung bes Gefangenen fi) bequemen mollte und
daher diefe Auskunft getroffen wurde, daß die Conftontation auf ben
Grenzen gefchehen und ein jeber Miffethäter auf dem Gebiete, worin
er gefangen worden. war, flehen mußte.” Erfcheinungen neuerer Zeit
zeigen, daß man in einem folhen Punkt weniger ferupulds if. Die
Blaͤtter der Annalen ber neueren Strafrechtspflege, welche von Unter
ſuchungen wegen fogenannter politifher Verbrechen handeln, geben Zeug»
niß und erinnern an die Fabel von ber Löwenhöhle, welche zwar ein»
wärts gefehrte, aber Leine Austritts: Spuren zeigte.
. Die verfchiebenen beutfchen Strafgefeggebungen haben bie Lehre
von der Confrontation -aboptiet. So verordnet das oͤſterreichiſche
Strafgefesbud °) namentlih, „bag, wenn Zeugen in wichtigen
Punkten nicht unter fich übereinflimmen, fie gegen einander abzuhören
feienz daß, wenn ein Zeuge wefentlihe Umftände wider den Beſchul⸗
bigten gusgefagt bat, diefer leugnet und beim Leugnen behartt, ohne
+ N-Dder „fl wie ſich Tittmann, „Über bie Gründe, warum Verneh⸗
mungen und 3eugenverhöre mit nicht mehr ald einer, und Gonfrontationen
mit nicht mehr als zwei Perfonen auf einmal geſchehen dürfen”, ©. 484 bes
dritten Bandes des neuen Archivs bes ——— ausbrüdt.
8) Borſchitzky, Handbuch des öfterreichifchen Geſetzes über Verbrechen.
rag 1815. ©. 388. 389. 392 — 395. ©. 386. 387 erwähnt dieſer Schriftſteller
&ines Erlaſſes vom Jahre 1809, wornady nahe Angehörige (ſelbſt der Vater)
fi) dann es Vornahme einer Confrontation müfle gefallen laffen, wenn fie Mit:
Gonfronfation. | 665
gegen den Zeugen und befien Ausfagen etwas Gruͤndliches vorzubringen,
der Zeuge ihm perſoͤnlich entgegengeſtellt werden ſoll, es ſei denn, daß
die dem Beſchuldigten vorgehaltenen Ausſagen der ihm namhaft gemach⸗
ten Zeugen ſchon fuͤr ſich allein vollen Beweis bilden, in welchem Fall,
vorausgeſetzt, daß der Beſchuldigte nicht ausdruͤcklich die Confrontation
verlangt, die Vornahme derſelben von dem Ermeſſen des Richters ab⸗
haͤngt. Vor dem Act iſt der Beſchuldigte noch zu vermahnen, daß er
vom Leugnen abſtehe und es nicht darauf ankommen laſſe, daß ihm
Zeugen entgegengeſtellt wuͤrden, welche im Stande ſeien, ihm die
Wahrheit in das Angeſicht zu ſagen. Bei dem Act ſelbſt iſt ber Zeuge,
wenn er ein Beeideter iſt, an den Zeugeneid zu erinnern, worauf
uͤber die Hauptumſtaͤnde eine wechſelſeitige Vernehmung eingeleitet
werden fol. Bei jedem. Punkt fol daa Verhalten des Zeugen und des
Beſchuldigten beurkfundet werden. Sind es mehrere Zeugen, fo. fol
jeder einzelne zur Confeontation gelaffen werben. Sol eine Confron⸗
tation unter Mitfchuldigen ftattfinden, fo muß ber Gonftontant auf
ausdruͤckliches Befragen vorher verfichert haben, daß er fein Zeugniß ®)
dem Beſchuldigten in das Angeficht beftätigen wolle und könne.“
Das Strafgefegbudh des Königveih6 Baiern verorbs
net u. A. 10), daß, wenn der Angefchuldigte harmaͤckig bei feinem Leug⸗
nen verharre, ihm „nach vorfichtigem Ermeſſen bes Unterfuchungsrichtere"
die wider ihn ausfagenden. Zeugen 1!) oder die wider ihn zeugenden,
aufrichtig befennenden Mitfchuldigen unvermuthet entgegengeflellt werden
follten, damit ihm von biefen ihr befchuldigenbes Zeugniß in das Ans
geficht wiederholt und berfelbe dadurch, wo möglich, zum Geftändnig
gebracht werden folle.. Damit der Angefchuldigte „durch bie unerwar⸗
tete Gegenftellung der wider ihn ausfagenden Zeugen oder Mitfchulbis
gen Überrafcht werde”, fol er weder durch die vorläufige Befragung,
ob er es auf eine Gegenftellung ankommen laffen wolle, noch fonft
auf bie bevorftehende Confrontation vorbereitet twerden. Unmittelbar
vor der Confrontation fol der Angefchuldigte nochmals über alle Punkte,
worüber er bisher im Leugnen beharrte, vernommen und ihm die Uns
glaubmwürdigkeit feinee Ausfagen nahdrüdtid vorgehalten werben. Die
Confrontation felbft fol immer nur zwiſchen zwei Perſonen ftatthaben.
9) Autfagen von Mitſchuldigen koͤnnen nach Umftänden als „Zeugniſſe zur
rechtlichen Uebermweifung bes Befhuldigten“ gelten.
10) Strafgeſetzbuch für das Koͤnigreich Baiern. Muͤnchen 1813. Thl. 2,
au al zit. 3. Cap. 9. „Bon ber Gegenftellung ober Gonfeontation“ ©. 271
8 276.
11) Nach einem Geſetze vom Jahre 1814 iſt bie Gonfrontation dee Zeugen
verboten. Dagegen Eennt bie preußifche Geſetzgebung eine ſolche Confrontation
nit nur im Criminal, ſondern auch im Givilwerfahren. gürkentbat,
Lehrbuch des preußifchen Givil - und Griminalproceffes Thl. 1. Königsberg 1827:
©. 41. 294, fowie e8 überhaupt alle drei Arten von Gonfrontation Eennt.
—8B kehrbac 4 117. 61
666 Gonfrontation. Gongreß.
Dos Benehmen, die Stanbhaftigkeit oder Werlegenheit berfelben fol
forgfältig beobachtet werden.
Dem Charatter des franzöfifhen, auf Deffentlichlelt gegränbdeten,
Strafverfahrens gemäß Tann die Confrontation als kein befonberer Act
ber richterlichen Thaͤtigkeit erfcheinen 12). Nur bei der Vorunterfuchung
tommt fie zur Sprache. Legraverend: Traite de la legistation
criminelle en France. Vol. I. pag. 216. | Bopp.
j Congreß, Congreffe, Congreßacte, Insbefondere jene
von Wien. Congreſſe der neueften Zeit, insbefondere jene von
Aachen, von Karlsbad, von Zroppau, Laibach, Verona;
Gonferenzen von Wien und von London; Congreß von Panama.
Wir verfichen unter Congreß bie Zufammentunft von Bevollmaͤch⸗
tigten (oder auch Häuptern) mehrerer Staaten, zum Zweck entweder
der Schlichtung der unter ihnen obmaltenden Streitigkeiten, oder
der Regulirung ihrer gegenfeitigen Intereffen, ober auch der Wer
abrebung über gemeinfam zu treffende Maßregeln in Bezug auf
eigene oder frembe Angelegenheiten, Überhaupt: alfo zum Zweck poli⸗
tifher Verhandlungen oder zu fchliegender politifcher Webertin«
kuͤnfte. Den Namen Congreß führen zwar auch einige geſetzge⸗
bende Verfammlungen, zumal von Föderativs Staaten, insbes
fondere jene der Vereinigten Staaten von Nordamerika, ebenfo
jene von Mexiko, von Gentral= Amerika und ben meiften
aus den ehevor fpanifhen Golonien entftandenen Republiken Sübs
amerika's; und ebenfo maltete Über dem neuerflandenen gries
ch iſchen Freiftaat, vor feiner dur die Großmaͤchte verfügten Ans
nahme des monardifhen Principe, ein fouverainer NationalsCons
greß (zu Epidauros). Wir fehen hier aber von biefer Bedeutung
des Namens ab und reden von ben Congreſſen blos in dem zuerft
bemerkten Sinne.
Es ift fehe natürlich, daß zur Verhandlung und Erledigung wich⸗
tiger, mehrere Regierungen gemeinſchaftlich berührender Angelegenheis
ten, insbefondere zur MWiederherftellung des Friedens zroifchen Friegfühs
renden Mächten, aber auch zur Regulirung von fonftigen Intereſſen
oder zur Beſtimmung noch ſchwankender oder ſchwieriger Verhaͤltniſſe
zwiſchen bereits befreundeten Staaten, der Weg der gemeinſamen Bes
rathung oder des unmittelbaren Ideentauſches zwiſchen fämmtlichen
Hauptbetheiligten oder ihren Bevollmächtigten eingefchlagen warb, ans
flott des langwierigen und mühfeligen Weges bed Hins und Herſen⸗
dens fchriftlicher Anträge und Gegenanträge, Forderungen und Gegen»
forderungen, Borfhläge, Anfihten und Willensmeinungen und beren
Ermwieberung. Ja, auf dem legten Wege wäre oft ganz unmöglich
gewefen, zum Ziele zu gelangen, namentlih in Fallen, welche das
Einverftändniß einer größern Zahl von Staaten in Anſpruch nehmen,
und wobei die Intereffen der Betheiligten ſich verſchiedentlich durch⸗
‚ 19) Rittermaier, Strafverfahren Abtheitung I, $- 77.
Gongreß. 667
kreuzen ober nad) mehreren Selten hin zu vertheibigen find. Es wurs
ben daher ſchon in alten und mittlern Zeiten bei — damals freilicy
feltenen — Antäffen ſolcher Art wirkliche Gongrefje gehalten, d. h. ber
Mefenheit nach, obfhon ber Name und die genauer beftimmte
Form berfelben erft in ben neuern auflam, und obfhon allerdings
erft feit der, zumal vom 16ten Jahrhundert an, ſich ausbildenden viels
feitigeen (endlich felbft allfeitigen) politifchen Verbindung und Mechfels
wirkung der europäifchen Staaten das Bebürfnig davon — fel es zu
guten, fei es zu fchlimmen Zmeden — häufiger empfunden unb beuts
licher erfannt ward. Bon dem Congreß zu Cambrai (1508), wor⸗
auf das unheilvolfe Kriegsbändnig bes Papftes mit ben mädhtigften
Königen jener Zeit und einer Anzahl Fürften miber bie Republit U es
nebig gefchloffen ward — zum Zweck theild ungerechten Länberers
werbs, theils ſchnoͤder Haffesbefriedigung — mehr aber von dem mohls
thätigen weftphälifhen Friedens-Congreß an, welcher ben
deeißigjährigen Krieg endete (1648) und nicht nur ben beutfchen,
fondern überhaupt ben europäifchen Dingen ein inhaltreiches, ans
berthalb Jahrhunderte hindurch ſich in Herrfchaft behnuptendes Grund⸗
gefes gab, haben gar viele, nach Gegenftand und Erfolg theils mehr,
theils minder wichtige und. wirkſame, auch viele ganz erfolglofe und
viele, die, ftatt "vorhandene Verwicklungen aufsuföfen, deren neue und
ſchlimmere herbeiführten, flattgefunden. Aber keine Zeit ift daran fo
fruchtbar gemefen ale die neueſte, und nte find bie Gongreffe fo vers
haͤngnißreich, nie von fo tiefgehender Einwirkung und fo mächtiger
Entfcheidung für das Schickſal der Völker und Staaten ‚ ja ber gan»
zen civilificten Menſchheit gewefen, als eben heute.
Die Gerichte und Kritik der dlteren Gongreffe, fo hiſtoriſch
merkwürdig manche derfelben ſeien, liegt jenfeltd des Zwecks unfers
Stants=Lerilond. Aber die neueften, von melden bie Beftimmung
des gegenwärtigen Zuftandes Europas und ber Welt gebieterifch aus⸗
ging und, allem Anſchein nad), noch eine geraume Zeit hindurch abhaͤn⸗
gen wird, fordem und zu einer, wenigſtens ihren Hauptchatakter Anb
ihre Hauptergebniffe in’d Auge faflenden Betrachtung auf.
Der Congreß von Pillnig (1791), welcher zum Bund ber
Monarchen wider das revoluttonaire (Anfangs blos conftitutionelle, nach⸗
mals republicanifche) Frankreich ben Grund legte, ift vom ber verhäng»
nigvollften Bedeutſamkeit für die neuefte Weltgeſchichte. Unter ben
nachfolgenden, durch die Revolutionskriege und. bann durch Napoleons
fteigende und fintende Herrfchaft veranlaßten, ziehen — neben mehres
ren minder wichtiger ober nur vereinzelten Kriebensverhandlungen und
Gonferenzen — unfern aufmerkſamern Blick auf ſich zumal der Con⸗
greß- von Raſtatt (vom Decemb. 1797 bis April 1799), worauf,
im grellften Gegenfag, die ſiegende Republil ihren Stolz und Webers
muth, das wehrlofe deutfche Reich dagegen feine mitleidswuͤrdige Uns
macht der Welt zum Schaufptel gaben, und welchen endlich das wies
der erflingende Waffengetoͤſe auseinanberjagte , eine in den Annalen.
068 Gongreß.
ber Geſchichte unerhörte, mit geheimnißvollem Schleier, was ben Urbes
ber und die Motive betrifft, bebedite Unthat, aber noch am Schluffe
fhauerlih mit Blut befledtez fobann ber Congreß zu Erfurt (1808),
wofelbft Napoleon bie Hulbigungen einee Schaar von Königen und
Küriten empfing und mit.Kaifee Aleranber ſich frieblich in bie Herr⸗
ſchaft des europäifhen Feſtlands theiltes weiter — nad) dem Brand
von Moskau und dem Untergange des großen Heeres — ber Con⸗
greß von Prag (1813), auf welchem Oeſterre ich, früher Napoleons
Berbündeter, jest ald Vermittler aufteat und bald als Feind
ſich erklärte; hierauf die Gongreffe von Chatillon und von Chaus
mont (1814), deren erfter in täufhenden und daher fruchtlofen Uns
ter-handlungen mit Napoleon bingebradht, ber zweite buch innigere”.
Schließung und Befeftigung be8 Bundes zwifchen feinen mächtigen
Gegnern bezeichnet (doch nicht durch die Weisheit dee Diplomaten,
fondern nur durch die WBegeifterung der für hohe Ideen kaͤmpfenden
Mationalheere mit feinem glänzenden Erfolg gekrönt) warb, und
endlich, nachdem die umgeheure- feindliche Uebermacht, mehr noch aber
Talleyrands Xrglift, der Verrath des Genats und bie Abtrims
nigkeit dee Generale den großen Kaiſer geftürzt hatten, bie beiden Frie⸗
densconärefie in Paris (1814 und 1815), der erſte durch die Wieder⸗
berfielung bee mit dem Titel ber „Legitimirdt“ geſchmuͤckten
Bourbontfchen Herrfchaft, bee zweite (nach dem Siege von Was.
terloo über den von Elba zuruͤckgekehrten Katfer von den Mächten:
bictirte) nebflbei durch weitere Demüthigung Frankreichs und durch bie
Stiftung der heiligen Allianz (f. d. Art.) merkwürdig, zwiſchen
beiden in der Mitte aber der in Anfehung des Umfangs mie des’
Sharafters feine Mactvolllommenheit und feiner Schöpfungen
mit einem andern im ganzen Laufe der Geſchichte zw vergleichende.
Congreg von Wien (1814 und 1815).
Alle diefe Congreffe, mit Ausnahme des letzten, gehören einer ber
reits voruͤbergegangenen Periode an und haben Feine unmits
telbare Einwirtung mehr auf unferen gegenwärtigen Zuftand. Es
genügt daher nach dem Zwecke des StaatssLerilons, ihrer nur durch
eine fummarifche Aufzählung zu gedenken. Etwas andere ift der Fall
mit dem Congreß von Wien und mit jenen, welche ihm nacfolgten
bis zum heutigen Tag. Ihnen haben wir eine nähere Betrachtung
zuzuwenden.
Der imponirendſte, nach Gegenſtand und Wirkung welthiſtoriſch
wichtigſte von allen iſt der von Wien. Alldort verſammelten ſich,
gemäß der im Frieden von Paris (30. Mai 1814) getroffenen Bes
flimmung (doc) drei Monate fpäter, als urſpruͤnglich feſtgeſetzt worben),
bie Repräfentanten faft aller europäifhen Staaten, ımter ihnen zwei
Kaifer, vier Könige und viele andere Fürften perſoͤnlich, durchgängig
aber die erften Miniftee und Stantemänner, und von allen Seiten
noch eine Menge von Gefchäftsträgern theils fürftlicher — zumal mes
diatiſirter — Haͤuſer, cheild ganzer Stände und Claſſen, auch Corpo⸗
Congreß. 669
rationen und Einzelner, alle dem hohen Congtreß ihre Bittſchriften, Mes
clamationen, Vorſchlaͤge uͤber allgemeine und beſondere Dinge vorlegend
und, wie die oͤffentliche Stimme des ganzen Welttheils, die Begruͤn⸗
dung eines zeitgemäßen oͤffentlichen Rechtszuſtandes und eine
im großen Styl zu gefchehende Beförderung und Gemährleiftung ber
Wohlfahrt Europa’s, ja ber Menſchheit, von ihm eriwartend
und fordernd. Noch niemals — alfo haben mir bei ber Charaktere
ſchilderung Napoleons bemerkt (f. d. Art. -Buonaparte)
— noch niemals, fo weit bie Erinnerungen ber Gefchichte reihen, war
vom Gefhid einem Sterblichen die Macht verliehen, fo viel ung
in fo großem Maßſtabe Gutes ober Boͤſes zu wirken, als Napoleon
Buonaparte. Wir koͤnnen mit gleihem Grunde fagen: noch nie⸗
mals, .fo weit die Erinnerungen ber Gefchlechter reichen, hat eine Ders
fammlung von Machthabern oder von Repräfentanten der Mächte eine
fo unermeßlihe Gewalt bes Wirkens befefjen, wie der Congreß von
Wien. In den Händen Napoleons hatte das Schidfal der Melt
geruht. Er mißbrauchte die ihm durch unerhörtes Gluͤck und uner⸗
hoͤrte Thatkraft zugefallene Allgewalt, zog dadurch ſeinen Sturz herbei
und uͤberließ die Weltherrſchaft, die er erbauet, als Siegesbeute ſeinen
triumphirenden Feinden. Die in Eintracht unter ſich feſt verbundenen
Haͤupter der wider den Gewaltigen aufgeſtandenen europaͤiſchen Coa⸗
lition mochten jetzt, einig wie ein Mann, aber noch entſcheidender, weil
uͤber noch groͤßere Kraͤftemaſſen gebietend, die Beſtimmungen des Welt⸗
theils, d. h. der civiliſirten Menſchheit regeln. Nicht nur die Macht
dazu war ihnen gegeben, ſondern bie Welt erwartete auch, ja for⸗
derte es von ihnen, und harrte hoffnungsvoll der Entfcheidung. Wo⸗
her kam es denn, baß ſolche Entfcheidung, als fie erfchien, bie Voͤlker
nur wenig beftiebigte, daß vielmehr laute Beſchwerden dagegen von
hundert Seiten ertöntn? — Die eigenthümlihe Natur der vom
Congreſſe zu regelnden Dinge und der Charakter des Zeits
geiftes, welcher babei für feine unabweislichen Anſpruͤche Gehör ver
langte, aber des Organes, das fie mit zählender Stimme hätte geltend
machen Eönnen, entbehrte, erfläten das Scidfal und das Ergebnig
des Congreſſes.
Sn den früheren Gongreffen allen — vielleicht mit. alleiniger
Ausnahme desjenigen, welcher den weftphälifhen Frieden ſchloß
— mar überall entweder nur von Angelegenheiten dee Regierun⸗—
gen als folcher, worüber daher auch diefen allein das freie Entfcheie
dungsrecht zuftand, oder auch von Intereſſen ber Staaten, in deren
Namen eben jene Regierungen als vollberechtigte und zuverläffige Res
präfentanten auftreten mochten, die Rede. Die Uebereintömmniffe
alfo, welche von ſolchen Regierungen oder ihren Gewaltstraͤgern gefchloffen
wurden, Eonnten (mofern nur bie dazu erforderlichen diplomatiſchen For⸗
men beobachtet worden) in Anfehung ihrer vehtlihen Gültigkeit
"keiner Anfechtung unterliegen, und für ihre politifhe Guͤte, d. h.
für die nad) Umftänden thunlichfte Wahrung dev allfeitigen Intereffen
670 | Gongreß.
mochte die felbfteigene Betheiligung ber Paciscenten bie befte, wenig⸗
ſtens eine genügende VBürgfchaft geben. War audy nicht felten ber
Anhalt der Beſchluͤſſe, zumal bei dem fo häufig vorkommenden Abtres
ten, Bertaufchen, Vertheilen und Zufammenfügen von Ländern und
Völkern, dem idealen Recht wiberftreitend, und war auch oft in Bezug
auf politifhe Intereffen die Vorausſicht und Gefchidlichkeit der Diplos
maten fehr mangelhaft, daher die Wirkung - ber verabredeten Beſtim⸗
mungen fhlimm: fo erfannte man, mas das Erfte betrifft, damals
jenes heilige Recht noch menig, ober ahnete kaum, daß ein folches bes
ftehe, und was das Imeite, fo mochte ald Unglüd verfchmerzt wer
ben, was nur die Kolge von unabſichtlich begangenen Fehlern tar,
Jedenfalls war die Competenz Derer, welche bie Entfcheidungen ges
faßt hatten, unbeftritten, und bie nachtheiligen Folgen ber legten tea»
fen wenigften® die Ucheber mit; und es batten alfo biejenigen, welche
es anging, ſtets ihre natürlichen Vertreter und Wortführer am Con⸗
greſſe gehabt. Auch ſelbſt bei'm weftphälifchen Friedenscongreffe
war Legteres der Fall, obſchon es ſich bei demfelben nicht nur um Länder, .
oder überhaupt um nah Sachenrecht behandelte Dinge, und nicht
nur um SIntereffen beftimmter Regierungen ober Staaten hans
beite, fondern auch um Ideen oder Principien, namlihd um Glaus
bensfäge und Gemwiffensfreiheit, fonah um Angelegenheiten
‘zweier, nicht nad) Staaten oder Landesgrenzen, fondern nah Glau⸗
bensverfhiebenheit und Kirchengenoſſenſchaft getrennter
Darteien. Diefe Parteien nun hatten wirklich ihre natürlichen Vers
treter, die Katholiten nämlich an dem Kaiſer und den katholiſchen
Ständen, die Proteftanten an der Krone Schweden und ben pros
teftantifhen Reichsfuͤrſten, von welchen jeder nicht nur für bie
auf feinem eigenen Gebiete wohnenden Glaubensgenoffen, fonbern
für die Gefammtheit bderfelber in ganz Deutfchland unterhandelte
und paciscirte.
Betrachten wie nun den Wiener Congreß, fo finden wir an
demſelben (und noch mehr an denjenigen, welche ihm nachfolgten) —
. zum Unterfchied von faft allen früheren (doch in biefer Beziehung dem
‚ weftphälifhen Friedenscongreß aͤhnlich) — nicht nur fahlihe Ins
tereffen, fonden auch ibeelle, naͤmlich Principien des Rechts
und der Politik, als Gegenftand der Verhandlung, aber — zum Unters
fhied vom weſtphaͤliſchen Sriedenscongreg — von foldhen im Streit bes
fangenen Hauptprincipien (mir rollen fie nad) ihrem allgemeinften Chas
rakter das des hiftorifchen und das des vernünftigen oder ibeas
Len Rechts heißen) nur eines vertreten, naͤmlich das des hiſt oriſchen
echte. Es kommt dazu, daß au) in Bezug auf angebliche, d. h. nach
hergebrachten Begriffen bergeftalt behandelte fachliche Intereſſen, na⸗
mentlich auf Länder: und Völker - Abtretung und Erwerb, die gedanken⸗
loſe Paffivität dee früheren Zeiten nicht mehr beftand, fondern dag auch
biefe von ber öffentlichen Meinung in bem Bereich, be Vernunfts
rechts gezogen wurden ; fobann, daß die jetzt im Streite befangenen Prin⸗
‚Gongreß. | 671
cipien bee bürgerlihen und politifhen Freiheit nicht alfo —
wie in ber Sphäre der Neligions« Freiheit angeht — mit bloßer
Duldung ihres Bekenntniffes ſich begnügen koͤnnen, fondern, weil
den äußern Rechtszuſtand beflimmend, eine anerkannte und ges
voÄhrleiftete Herrſchaft fordern. |
Von diefem Standpunkt betrachtet erfcheint die Stellung ober der
Beruf des Wiener Congrefies als ein ganz einziger, d. h. früher nie-
mals vorgefommener und vielleicht auch niemals wieberfehrender. Er
hatte nit nur die ſachlich en ntereffen, namentli die Machtver⸗
bältniffe fämmtlicher europdifchen Staaten gegen einander abzumägen
und zu ordnen, fordern auch den in langwierigem Streit befangenen
politifhen und Rechts⸗Principien die jedem berfelben gebührende
Stellung anzumeifen. In beiden Sphären aber hatte ee — wenn er
feine Aufgabe entfprechend loͤſen mollte — bie Autorität der oͤffentli⸗
hen Meinung anzuerkennen und, was die particulären Anord⸗
nungen betrifft, die Wünfche und Intereſſen der betheiligten Völker
zu achten, was aber die Principien betrifft, die Stimmberedtis
. gung ben Repräfentanten ber einen wie der andern Partei zu verleihen.
- Beides gefhah nun freilih niht. Die ſachlichen Änterefien, na
mentlih die TerritorialsAngelegenheiten, wurden — tie bie
Freunde ber neuen Ideen fofort mit Leidweſen bemerkten — nach ben
bisher in der Diplomatie in Herrſchaft geftandenen Grundfägen
behandelt, und, was die ide alen Intereſſen oder die allgemeinen polis
tifhen Princtpien betrifft, fo führten bei beren Verhandlung nur
Die Repräfentanten ber einen Partei die berathenbe wia bie. entfchels
bende Stimme. |
Der Gongreß, nicht nur als natürlicher Erbe (vermöge Kriegs⸗
rechts) der Machtvollkommenheit Napoleons, ſondern auch weil burd) des
Weltherrſchers Sturz das ganze von ihm aufgeführte politifche Gebaͤude
in Truͤmmer ging und, follte nicht ein unfeliges Aufhören alles öffentlis
hen Rechtszuſtandes in Europa eintreten, ein neuer Bau unbedingt
nothwendig war, fah fich berufen und hatte faft völlig freie Hände zu
‚Aufführung folches Baues. Die bemfelden zur erſten Grundlage die
nende Wiederherſtellung ber von Napoleon zertrüämmerten, beraubs
ten, zerriffenen Staaten — allernaͤchſt derjenigen, deren Häupter und
Völker den fiegreichen Kampf gelämpfet — in ben ehevorigen Zuftand
war, wie man völlig anerkannte, nicht nur den natürlichen Neigungen
und naͤchſtliegenden Intereſſen der Congreßhäupter entfprechend, fondern
auch nicht anders als billig und recht. Auc einige Vergrößerung,
ober angemeffene Entſchaͤdigung mochten biefelben ‚für alles Erlit⸗
teme anfprechen, boch natürlich nur auf Unkoften des befiegten Frank⸗
reich und feiner Freunde. Was aber die übrige große Maſſe der durch
ben Umfturz bed Kaiferreich® herrenlos getwordenen oder auch ber nad)
Kriegsrecht den Verbündeten Napoleons entriffenen Länder betrifft, fo
war zu erwarten, wenigſtens mit vollftem Recht zu verlangen, daß
bei ber Geftfesung ihres Lünftigen Looſes die Perſoͤnlichkeit ber
6722 Congreß.
Voͤtker, mithin fhre eigenen, natuͤrlichen Neigungen und Inteteſſen
d. h. ihre aus der geographiſchen Lage, aus der Gemeinſchaftlichkeit oder
Verſchiedenheit des Urſprungs, der Sprache, der Religion, der Sitten, der
wirthſchaftlichen und Handels⸗Verhaͤltniſſe u. ſ. w., oder ſelbſt aus theu⸗
ren hiſtoriſchen Erinnerungen fließenden und zu rechtfertigenden Wuͤnſche
der Vereinigung oder der Sonderung, thunlichſt beachtet, und wohl
etwa im klar vorliegenden Geſammtintereſſe Europa's einigen
Beſchraͤnkungen unterworfen, keineswegs aber bem perfönlichen ober
Hausintereffe einzelner begünftigter Hähpter oder Familien aufge
opfert wuͤrden. Es ließ fich bier erwarten, daß ber Congreß, obſchon
6108 aus Fürften und fürftliden Geſandten beftehend, dennoch
auch die Stimme ber Völker hören, ja daß jedes Mitglied, wenlgſtens
infofern fein felbfteigenes Intereffe nicht dagegen fteitt, fie pflichtmaͤßig
im Geift eines wirklichen Vertreters geltend machen würde. Bei
der Regulirung der Zerritorial= Angelegenheiten hatten ohnehin nur
die acht Mächte, welche ben parifer Frieden fchloffen, eine zählende
Stimme; nad Befriedigung ihrer eigenen Anfprüce hielt alfo nichts
fie ab, alle übrigen Beftimmungen rein ˖ nach Grundfägen ber Gerechtig⸗
keit und Humanität zu treffen, demnach, Infofern irgend das Geſammt⸗
intereffe Europa’s es erlaubte, den MWünfchen. der Voͤlker mindeftens
eben fo viele Beachtung zu ſchenken als den Bewerbungen der Häufer.
Ob oder in wie weit bdiefe® wirklich gefchehen, zeigt der Inhalt ber
Congreß⸗Acte.
Aber der Congreß hatte noch ein hoͤheres Ziel vor Augen, naͤm⸗
lich die Feſtſtellung und Wahrung der Principien, worauf in Zu⸗
kunft nicht nur das allgemeine Staaten-Syſtem von Europa,
ſondern ſelbſt auch die Verfaſſung und Verwaltung der einzelnen
Staaten der Weſenheit nach ruhen ſollte. Dieſe Principien nun wa⸗
ven theils die der Humanitaͤt überhaupt oder auch des unbeſtritte⸗
nen und unbeſtreitbaren allgemeinen Rechts, theils aber jene des im
Streite befangenen Rechts und eben fo der widerſtreiten⸗
den Intereſſen dienenden Politik. In Anſehung der erſten
mochte dem Congreß, ſo wie er zuſammengeſetzt war, unbedenklich die
Competenz zugeſtanden werden. Intelligenz und ſittliche Ge⸗
ſinnung genuͤgen hier zur Zuverlaͤſſigkeit des Stimmfuͤhrenden; auch
ſtimmt hier das Intereſſe der Regierungen (wenigſtens das aller
Regierungen zuſammengenommen, d. h. alſo ihrer Mehrheit)
mit jenem der Voͤlker uͤberein, und mag alſo ſchon aus den einſeitigen
Berathungen der erſten ein fuͤr beide gleichmaͤßig befriedigendes Ergeb⸗
niß hervorgehen. Dergeſtalt wurde die Frage des Sklavenhan⸗
dels, auch die ber freien Flußſchifffahrt u. m. a. vom Congreß
wahrhaft im osmopolitifhen Sinne, mithin im Geifte bes ihm geworde⸗
nen höhern Auftrags entfchieden (nurdaß dabei noch einige beflagenswerthe
Unbeftimmtheit zuräcdblieb, welche verfchiedenen Ausflüchten und
infidiöfer Deutung Raum gab). Aber ein Anderes ift zu fagen von ben
Congreß. 673
Principien des zweiten Art, was kein Unbefangener verfennen kann.
Wir erlauben uns darüber nur eine kurze Betrachtung.
. Die franzgsfifhe Revolution, nad) ihrem urfprünglichen und,
ungeachtet der durch's Verhängniß bier und dort herbeigeführten traurigen
und fchrediichen Abweichungen, in ber WWefenheit fortwährend erfennbas
ven Charakter, iſt nichts Anderes geweſen, als ein Kampf bed vers
nünftigen Rechts gegen das ihm wiberftreitende hiftorifche, und das
Damit natürlich verbundene Beftreben, den ſocialen Einrihtungen
Diejenigen Kormen zu erringen, welhe zur Gemwährleiftung der
"nunmehr : mis.-Klarheit erlangten und mit Eifer vindicirten materiellen
Mechte- des Menfchen und Bürgers nöthig und zureichend waͤken. Mit
einem Wort: ihr Charakter war bie Forderung bee Reform im (geltens
ben) Recht und in der Politik. Zreilih ward Frankreich felbft,
welches bie Sahne diefer Reform erhoben, berfelben wieder untreu, ale es
unter die Herrfchaft des großen Kriegsmeifters ſich fchmiegte, und freilich
wurden von diefem die Nechte der Nationen und Einzelnen frecher mit
Süßen getreten, als kaum von irgend einem Gewaltigen v or ihm. - Die
Setbftftändigkeit aller Staaten ſchwand vor ber Präpotenz bes fiegreis
hen und unerfättlichen Kaiſers; und anftatt ben ihm verbündeten oder
feine Oberherrlichkeit anertennenden Staaten menigftens die innere
Freiheit, das nächte Ziel der Revolution, zu bringen, töbtete er darin.
vielmehr alles politifhe Hecht der Voͤlker und unterwarf fie ber
unbebingten Souverainetät ihrer Herren ober feiner Statthals
ter. Aber bei alle dem erfchten er gleichwohl noch ale Repräfentant
ber Revolution, indem er gegen bie Feinde derfelben ben nie raftens
ben Krieg führte, indem er zumal gegen bie europälfchen Erb» Ar ifto Eras
tie ben unverföhnlichen Kampf fortfegte, das Prineip bee Gleichheit, nas
mentfich des gleichen Anſpruchs aller Tüchtigen auf Ehren und Würden fefls
hielt und, als wenigftens ſcheinbar durch den Volks willen auf ben Thron
erhoben, den Gegenfag bes Legitimitätss Principe, d. h. der das
Herrſcherrecht unmittelbar auf ben göttlihen Willen und auf die Abs
ftammung von wirklichen Herrfchergefchlechtern bauenden Theorie barftellte, -
Diefelbe Grundlage hatte auch der neue Zuftand aller der Länder, welche der
Strom der Revolution erreicht und an das Schickſal Frankreichs gefeffelt
hatte. Die Ideen der „conftituirenden National:Berfamms
lung” von 1789 Hatten ſelbſt jenfeits dieſes Kreifes in allen civilificten
Ländern zahlreiche Anhänger gewonnen; und bie Macht Frankreichs,
beffen freiheitliche Grundfige man durch Napoleons — wie man ſich
ſchmeichelte — nur vorübergehende Dictatur blos zeitlich nieder⸗
gehalten, nicht aber erdrüdt glaubte,. blieb ein Stern ber Hoffnung für
en Ja, es überliegen Viele fi dee — freilich allzu fanguinis
hen — Hoffnung, daß Napoleon ſelbſt, ſobald er feine unverſoͤhn⸗
N Zeinde voͤllig wuͤrde niedergefchlagen haben, die Verwirklichung der
zeinern, d.h. dem Vernunftrecht angehörigen Revolutions⸗Ideen
in ganz Europa durch fein Machtwort-herbeiführen werde ; ober audy fie
nährten die Hoffnung, daß Ge das Joch des Kriegsmeiſters ab⸗
taate⸗ elon Il. 43
674 Eongreß..
ſchuͤtteln, ober daß das mißhandelte Ausland e8 thun, und dann in einem
oder bem anbern Fall bie Herrfchaft jener theuern Ideen zurückkehren
werde. Genug! Europa blieb gefpalten in bie zwei großen Parteien,
tinerfeit8 der Anhänger bes natuͤrlichen und anderfeits jener des
hiſtoriſchen Rechts; und in den Heerlagern ber im „heiligen
Krieg” wider Napoleon kaͤmpfenden Maͤchte machten die Freunde des
erften den größern, menigftens den edlem und moralifch Eräftigern
Theil aus. Gleich nad) Mapoleons Sturz zerfiel baher mwieber die nur
durch feinen maßlofen Gewaltsmißbrauch hervorgebrädite 'aurnwtatärliche
Allianz zmwifchen ben beiden Parteien und trat jede wiider in Wie ihrer
Richtung angemeffene, gefonderte Stellung ein. Ein doppelter Friebe
"war demnach zu fchließen, wenn die Melt einer dauernden und wohl⸗
thätigen Ruhe ſich erfreuen follte, einmal ber Friede zwiſchen den Maͤſch⸗
ten und Frankreich, unb fodann jener zwifhen Alt und Neu,
db. h. zwiſchen hiftorifhem und vernünftigem Recht. In Be
zug auf diefen zweiten Friedensgegenftand hatte der Wiener Cons
greß eine der des weftphälifchen Friedenscongreſſes ähnliche Stels
lung und Aufgabe; aber feine Zufammenfegung entfprady folcher
Aufgabenicht. In Osnabruͤck, woſelbſt ebenfalls ein Vergleich zwiſchen
Alt und Neu, db. h. zwiſchen Katholicismus und Proteflans
tismus, zwiſchen Gewiſſens zwang und Gemiffensfreiheit,
auch zwiſchen kaiſerlicher Machtvollkommenheit und reichs ſtaͤndi⸗
ſchen Rechten zu ſchließen war, fanden ſich beide Parteien gehörig
vertreten, und hatte daher der Abſchluß des Vergleiche einen vernünftigen
und wenigſtens die formellen Forderungen beftiedigenden Sinn.
Proteſtanten wie Katholiken, oder die zuverläffigften Vertreter
beider, traten alldort mit gleicher Selbftftänbigkeit und gleich gewichtiger
Stimme auf; und ebenfo erfreuten fich die Vertheidiger der reichs⸗
ftändifchen Hoheit gegenüber den Anwälten der kaiſerlichen
Macht eines gleichen Stimmrechte ober einer gleich wirkfamen Vertretung.
Aber beitm Wiener Congreß nicht alfo. Die alldort ſaßen und
verhandelten, gehörten ausfchliegend der einen Seite an. Sie waren
— nad) Geburt, politifher Stellung und allen focialen Verhältnifien —
pſychologiſch nothwendig und ausnahmslos die Vertreter des hiſtori⸗
chen Rechts gegenüber dem natürlichen, und eben fo ausnahmslos
die Vertreter der Regierungen gegenüber den Völkern. Bon
einem Vergleich alfo zmifchen den im Streite befangenen Principien,
von einer unbefangenen Vertheilung' der Herrſchaft ober bes Rechts⸗
bodens, welcher dem Einen oder dem Andern gebührte, Eonnte nicht bie
Mebe fern, fondern blog von Dictaten dee einen Partei, welche, weil
mit Macht angethan, zugleich das Rihteramt ausübte. Wären auf
dem Congreffe zu Denabrüd blos katholiſche Häupter ober Stimms
führer gefeffen, nimmer märe allbort ben Proteftanten ein auch
nur annähernd befriebigender Rechtszuſtand gewaͤhrt worden; es waͤre
ihnen gerade ſo ergangen, wie fruͤher auf dem Congreß (Eoncil) von
Trident; und hätten bios die Fteunbe des Kaiſers oder Defters
reichs unter elnanber ſich berathen, fo würde ben Keichsſtaͤnden anftatt
Congreß. 675
bee Landeshoheit bad Verhättniß der Unterthanſchaft zu Theil
geworben fein. Ueberall gibt eben bie Naturder Dinge ben Ereig⸗
niffen Geſetz und Richtungz bem rechtlichen und politifchen Urs
theil.aber bleibt fobann ihre Würdigung frei. : j
Was lag in Gemaͤßheit ſolcher Verhaͤltniſſe dem Congreffe ob, um
dem Mivergnügen ber den neuzeitlichen Principien anhängigen großen
und achtungswuͤrdigen Partei und allen baraus nothwendig fließenden
üblen Folgen vorzubeugen? — Eines von zweien: entweder nämlich
mußte er flimmberechtigte Mitglieder von beiden Parteien in feinem
Schooße zählen, alfo neben ben Regierungen ober fürftlihen Deints
flern und den gebomen Vertretern bes hiftorifhen Rechts auch
Volks⸗ oder Nationalabgeorbnnete unter fih aufnehmen, oder,
wenn biefes untbunlich ober bedenklich ſchien, über ſolche Principten im
Allgemeinen gar Leinen Ausſpruch thun, fondern etwa ben eins
seinen Staaten, überhaupt dem natürlihen Laufe ber Dinge bie
Ausbildung oder Vefeftigung oder auch Befchränfung und Unterbrädung
der in Frage flehenden Ideen überlafien. Wäre ber Friede oder das
Uebereinkoͤmmniß mit einem eht conftitutionellen Frankreich
und etwa einer Anzahl bemfelben verbünbeter, ben .nämlichen Princi⸗
pien huldigender Staaten zu fchliegen geweſen: alsdann hätten wohl bie
Häupter oder Minifter dieſer Staaten, auch ohne Beiziehung von Volks:
abgeordneten, die Freiheitsfreunde, ober überhaupt das conftitutios
nelle Syſtem gegenüber jenem des Abfolutismus auf befriedi⸗
gende Weiſe vertreten mögen, fo wie es einft Schweden unb bie pros
teftantifchen Reichsſtaͤnde in Anfehung der evangelifchen Kicche thaten.
Aber durch die Reftauration war Frankreich theils um feine zählenbe
Stimme gebracht und dem Geſetze des Siegers nothwendig geborchend
worden, theils verfolgte jetzt die alldort das Ruder führende Partei, trotz
der fcheinbar oder mit Worten dem Volksrecht huldigenden Charte, bie
entfchiebenfte Richtung ber Gegenrevolution. Nicht ein Stimm⸗
führer der polteifhen Reformation, über welche das Loos gewor⸗
fen werden follte, faß alfo am Congreß. Denn felbft England,
unter feiner tocyftifhen Verwaltung, ſympathiſirte mehr mit ber Ga
genrevolution, als mit ber Mevolution; und Spanien war zum Lohn
feiner heidenmäthigen Selbftbefrelung von fremder Herrſchaft unter das
fhmählichere Joch der einheimifhhen Tyrannei gerathen. Was alfo bie
oft erwähnten Principien betrifft, fo mußten nothiwendig — benn zur
Einberufung von Volks⸗ oder NationalsVertretern war nad
den obmaltenden Verhältniffen natürlich ber Congreß fo wenig geeigs
net, als geneigt — alle darauf Bezug habenden Erklärungen und Feſt⸗
fegungen die Natur blos einfeitiger Dietate annehmen, ber Bw
griff de Uebereinkoͤmmniſſes zwifhen fih gegenüber les
henden PDerfönlichleiten alfo verfhwinden. meinſchaftliche
Berathung unter den Congreßmitgliedern fand dabel wohl
flott, auch kamen fie unter ſich überein über das Feſtzuſetzende ober
zu Erklaͤrende; ja fie beobachteten dabei ſelbſt einige iftauns und
676 Congreß.
Vorſicht (aud Klugheit, Humanität ober was irgend ſonſt fuͤr Gründen);
aber die Hauptbetheiligten hatten gleichwohl keine Stimme
dabel, ſondern mußten das Ergebniß der einſeitig gepflogenen Bera⸗
thung und Schlußfaſſung als Geſetz oder als inappellabeles Urtheil
annehmen. Von dieſem Standpunkt aus erheben ſich ſehr ernſte Erwaͤ⸗
gungen, welche jedenfalls die Geſchichte freimuͤthig anſtellen wird,
wenn auch dem Zeitgenoſſen nur eine behutſame Beruͤhrung ober leiſe
Andeutung derſelben zuſteht.
Doch Toviel wird im Allgemeinen behauptet werden duͤrfen, ja
von Niemandem in Abrebe geftellt werben, bag Lebereintömmniffe
als foldye nur für die Paciscirenden felbft (und in Anfehung ber
Dinge, worüber biefelben frei zu disponiren bie Befugniß haben) von
Rechtswirkung find, und daß Gefese nur in ber Sphäre der, der Ges
fesgebung nad vernünftigem Staatsrecht unterflehenden, Gegenftände
und nur für die nach eben diefem Recht einer beflimmten gefesgebenden
Gewalt unterworfenen Perfonen wahrhaft verbindlid fein können,
wiewohl die Gewalt fie factifh auch jenfeits dieſes Kreifes geltend
machen kann. Angemandt auf den Wiener und alle nachgefolg⸗
ten Gongreffe; lehrt diefer Sag, daß ihre Feftfegungen in der Eigens
(haft als Lebereintömmniffe lediglich bie Negterungen, welde
allein fie ſchloſſen, unb nur infofern als diefelben dabei innerhalb ber
ihnen zuſtehenden Competenz, d. h. rechtlichen Gewaltsſphaͤre, hans
deiten, verbindlich oder von Rechtswirkung fein koͤnnen, und dag, infofern
die Congreßartikel als Gefege wollen geltend gemacht werben, zwar ihre
Außere Gültigkeit, d. h. Geltung, allerdings fo weit reiht, als bie
Macht ber Gefeggeber, daß aber in Bezug auf ihre innere Rechtsbe⸗
fchaffenheit zwei Fragen ftets unabweislich fein werden, erſtens nämlich:
wie weit reicht bie vernünftig anzuerfennende gefeggebende Gewalt eines
europäifhen Monarchencongreffes In Anfehung der Perfonen? und
zweitens: tote weit in Anfehung ber Gegenftände? In erfter Bes
jiehung , ba nicht ein pofitives (und noch viel-weniger das rein vernünfe
tige) Staatsrecht die Unterthanen oder Angehörigen einer für ſelbſtſtaͤndig
und unabhängig erflärten oder anerkannten Regierung irgend einer ans
bern, namentlich Außern Autorität unmittelbar unterwirft, kann
bie Verpflichtung erft von dem Moment anfangen, ba die eigene Mes
gierung und unter ihrer alleinigen Autorität das Gefeg verkuͤndet (und
zu ſolcher Verkuͤndung nad, Beſchaffenheit der Verfaffung berechtiget ift);
in zweiter Beziehung aber dringt fich die Bemerfung auf, bag zwar
was immer für. befiimmte Handlungen oder Unterlaffungen
gefeglich mögen vorgefchrieben werben, keineswegs aber Principien.
Keine Autorität in ber Welt hat in Bezug auf biefe eme geſetzg e⸗
bende Befugnig, und jeber Verfuch, eine folhe auszuüben, muß nothe
wendig ſcheitern an der emig freien Ratur des menfchlichen Geiſtes,
oder er muß zu rein factifher Gewalt führen. Einzelne Staa
ten wohl mögen eiwa Principien für ihre Verfaffung oder: Verwaltung
aufſtellen, d. h. ihre Verfaffungsr: oder ‚Werwaltungsgefekgebung mag
Gongreß. 677.
folhe Principien vos Augen behalten. (Wem fie nicht behagen,
der möge zuerft feinen Widerfpruc, in gebührenden Formen vorlegen,
und, wenn er überflinmt wird, auswandern!) Aber für einen
ganzen Weltcheil oder gar für bie Sefammtheit der civili⸗
ſirten Staaten, fo lange noch kein ſtrenges föderatives Band fie ums
fhlingt, und fo lange auch nur nod em Schatten von Unabhäns
gigkeit derſelben fortbeftehen und fo lange überall noch einige Geis
ſtesfreiheit fein fo, kann ſolches nicht gefchehen. Man denke ſich,
um bie Parallele zwifhen ber früheren kirchlichen Meformation und
ber heutigen politifchen fortzuführen, dad Concil von Trident
fei mit einer Fülle von materieller Gewalt ausgerüftet geweſen, wie
In unfen Tagen ber Wiener Congreß es war, es hätte bie
Macht befefien, feinen Beſchluͤſſen Geltung zu verfehaffen über ben.
ganzen Welttheil, und hätte folhe Beſchluͤſſe gefaßt in Gemaͤßheit des
Mebereintömmnifles ber Latholifhen Prälaten. Was würde big
Folge davon gewefen fein? — Entweder die Unterdrüdung aller Kits.
chenverbefferung oder ein verzweiflungsvoller Krieg der zur Unterdrüs
Aung verdammten Proteſtanten gegen ihre Latholifchen Unterdrüder.
Und folhe unfelige Folgen hätten flattgefunden, ohne bag man darum
bem tridentifchen Congeeffe eine unredliche Gefinnung hätte zur Lafl
legen können. Die Kicchenfürften und ihre Stellvertreter, welche bort
rathfchlagten, waren ficherlich fo reinen Sinnes und fo treu ihrer aufrich»
tigen Weberzeugung folgend, da fie das Princip der Machtvollkommen⸗
heit bes roͤmiſchen Stuhls und dee katholifchen Kirche und das Ders
dammungsurtheil gegen die Ketzer ausſprachen, als bie Mitglieder der
heutigen Gongrefit es waren und find, wenn fie das in. unbeflimmter
Allgemeinheit aufgeftellte „monachifche Princip‘ oder jenes bee
„Legitimität”, oder die Ötrafbarkeit freiheitlicher Bftsebungen,
‚genannt demagogifche Umtrtebe, ihren: Befchlüffen ausdruͤcklich
zu Grund legen. Aber Dictate helfen in folher Sphäre nicht. Kür
Principien, überhaupt für Lehren, muß man, um fie zur geficher«.
ten Herrfchaft zu bringen, bie freie Ueberzeugung gewinnen. Ge
mwalrslehren bringen entweber nur heuchlerifche Bekenner hervor
oder den völligen G.eiftesteb. |
Nach dieſen allgemeinen — bie Congreſſe ber neueften Zeit übers
baupt mehr ale nur den Wiener Congreß insbefondere treffens
den — Vorbemerkungen wenden wir uns zum Inhalt ber auf bem
legten zu Stande gelommenen te. Diefelbe war das mühfam ges
borne Ergebniß der vom %. November 1844. bis zum 9. Juni 1815
gepflogenen Verhandlungen, beren aus der Natur bee Dinge hervorges
gangene Schwierigkeiten durch vielfeitige, zum Theil mit Leidenſchaft
bervorgebrochene Aufregung einzelnee Höfe, überhaupt durch den hef⸗
tigen — freilich natürlichen und darum kaum vermeiblihen — Kampf
ber Particwlar » Sntereffen mit den allgemeinen ſich tagtäglicd, vermehrt
batten, fo daß feibft der Ausbruch eines Krieges zwiſchen ben Haupt⸗
theilnehmern bes Congreſſes gu befuͤrchten fand, und nur bie Furcht
678 | Gongreß.
vor dem mit Napoleons Rüdkehr aus Elba fich neuerlich Im Meften
beraufziehenden Gewitter die Eintracht ber Verbuͤndeten wieber her⸗
ftellte, worauf dann durch allfeitige Nachgiebigkeit bas große Werl ges
fördert und zu Hberrafchend fchneller Beendigung gebraht ward, Die
Geſchichte des mwechfelvollen, durch mancherlei Klippen nur unter
ſchweren Mühen und Gefahren an’s Ziel gelangten Laufes biefer bis
in ihre meiften Einzelheiten hoͤchſt merkwuͤrdigen Verhandlungen erfor
dert, wenn fie belehrend fein foll, eine ausführliche Darftsllung, welche
aber Zweck und Raum biefer Blätter zu geben nicht ‚geflatten.
reichſte Material dazu enthält die verdienfivolle Sanımlung ber „Ac⸗
ten bes Wiener Congreffes“, weldhe der um Wiffenfchaft und
Staat fo hoch verdiente 4.2. Klüber ſchon 1815— 1819 in 8 Baͤn⸗
ben herausgegeben hat. S. auch deſſelben Schriftſtellers „Ueberſicht
ber bdiplomatifhen Verhandlungen bes Wiener Congreffes”, 1816,
$. Abth. — De Pradt's bekanntes Werk „über ben Wiener Cons
greß” enthält mehr Maifonnement als Geſchichte, und zwar großentheils
von einfeltigem Standpunkte. ”
Die Congreß » Verhandlungen theilten ſich nach den beiden Haupt⸗
chaffen ihrer Gegenftände in die Über bie europdifhen unb jene
" Über die deutfchen Angelegenheiten. An ben erflen nahmen nur
bie acht Mächte, welche ben Parifer Frieden unterzeichnet hatten, und
zwar vorzugsmweife nur Defterreich, England, Rußland, Preus
fen und Frankreich als bie fünf Hauptmädte, boch in mehreren
Dingen au Spanien, Portugal und Schweden Theil; an ben
zweiten Anfangs nur Defterreih, Preußen, Balern, Hannover
und Würtemberg, fpäter aber, als bie übrigen deutſchen Staaten
bie lebhafteften Geſammt⸗Beſchwerden gegen ihre Ausfchließung erhoben '
hatten, ohne Unterfchied alle. Wir haben hier meift nur ber Haupts
beftimmungen über die europdifhen Dinge zu erwähnen, da bie
auf Deutfhland ſich beziehenden, namentlidy die in der gefonderten
„deutfhen Bundesacte“ enthaltenen eine umfländlichere Eroͤr⸗
terung in einem eigenen Xrtilel anfprechen. '
Den größten Theil der 121 Artikel dee Congreßacte erfüllmg bie
Bellimmungen über die den hauptkriegführenden Mächten — insbefons
bere Rußland, Preußen und Defterreih — zuzuerlennenden
Entfhädigungen oder fonftigen Befriedigungen. Frankreich,
wiewohl zu den Hauptmächten gehörig, hatte nichts anzufprechen ; fein
2008 war im Parifer Frieden geregelt worden, und es hatte fogar aus⸗
druͤcklich verfprohen, fich in die Wertheilung ber ber Dispofition ber
Sieger unterftehenden Länder gar nicht einzumifchen (mas jeboch gleich“
wohl, zumal in Anfehung Sachfens, geſchah). England aber
hatte, mas es für ſich felbft in Anfpruch nahm, gleichfalls ſchon im
Parifer Frieden gemährt erhalten und verfchmähte darüber jede weitere
Entſcheidung des Congreſſes. Defto größere Forderungen bagegen mach⸗
ten die drei großen Militair» Mächte bed Feftlandes, Rußland,
Preußen und Deflerreih. Rußland zwar hatte eigentlich kein
Kongreß. 6179
Recht auf Entſchaͤdigung, da es kein Land verloren, ja da es vielmehr fruͤ⸗
her durch ſeine zeitliche — fuͤr Europa unheilvolle — Allianz mit Napo⸗
leon Finland und anſehnliche Diſtrikte von preußifd = und oͤſterrei⸗
chiſch-Polen erworben hatte. Aber es rechnete ſich zum Verdienſte
an das Verderben, welches der ſchreckliche Winter von 1812 uͤber Na⸗
poleons „großes Heer“ gebracht, und ſtand in gewaltiger Waffenruͤſtung
da. Zum Gegenſtand oder Schauplatz der Erwerbung hatte es ſich
Polen auserſehen, Preußen dagegen Deutſchland, und Oe⸗
ſterreich Italien. Letzteres, welches naͤchſt England am beharrlich⸗
ſten gegen den gemeinſamen Feind geſtritten, in ſolchem Kampf ſeine koſt⸗
barſten Provinzen eingebuͤßt und im „heiligen Krieg“ entſcheidend zum
Sturze des Weltherrſchers mitgewirkt hatte, mochte mit Recht von den Ge⸗
noſſen ſeines Strebens, Kaͤmpfens und Siegens die Wiederherſtellung
ſeines ehevorigen Laͤnderumfangs verlangen; und ein gleiches Recht
ſtand Preußen zur Seite, als welches durch ſeine Großthaten im
letzten Krieg ſeine fruͤheren Suͤnden gut gemacht und den Anſpruch
auf vollen Erſatz ſeiner im Tilſiter Frieden — freilich ſelbſtver⸗
ſchuldet — erlittenen Verluſte errungen hatte. Nur blieben freilich,
inſofern nicht die ſchon früher befeffenen und alſo muthmaß⸗
lich gern zur alten Herrſchaft zuruͤckkehrenden Laͤnder konnten zuruͤck⸗
geſtellt werden, Neigung und Intereſſe, überhaupt das Perſoͤnlichkeits⸗
Recht der in dieſes oder jenes Loos zu werfenden Voͤlker billig mit
in Betrachtung zu ziehen.
Oeſterreich nun, welches Tyrol und Salzburg und Illy⸗
rien und das Lombardiſche und das, fruͤher als Erſatz fuͤr Bel⸗
gien uͤberkommene, venetianiſche Land, endlich auch die in Oſt⸗
und Weſt⸗Galizien verlornen Bezirke zuruͤckverlangte und auch
wirklich, — ja was die italiſchen und illyriſchen Provinzen be⸗
trifft, noch mit erweiterter Grenze — zugeſchieden erhielt, trat nicht
uͤber ſein Recht oder uͤber ſeine billigen Anſpruͤche hinaus. Jene des
ober italiſchen Volkes konnten nicht wohl dagegen geltend ge⸗
macht werden, da es ja auch fruͤher nicht ſelbſtſtaͤndig, ſondern Theil
des franzoͤſiſchen Reiches geweſen, und da uͤberhaupt die thatſaͤch⸗
liche Anerkennung ſolcher idealer Anſpruͤche vom Congreſſe, nach ſei⸗
ner Zuſammenſetzung und nach der allgemeinen Weltlage, mit Ver⸗
ſtand nicht konnte erwartet werden. Zur Gruͤndung eines italiſchen
Reiches, wohin bie fanguinifhen Wünfhe und Hoffnungen Vieler
gingen, waren Zeit und Umftände nicht geeignet, und noch weit we⸗
niger die Häupter bes Congreſſes geneigt; und die unter die Herrfchaft
Defterreich6 gefallenen Länder mochten ſich vergleichungsmweife noch
als gluͤcklich reifen. Auch die Wiederherftellung Toscana's unb
Modena’s und ihre Rüdgabe an bie Öfterreihifhen Prinzen gehörte
zur Volftändigkeit ber von dem endlich triumpbirenden Haufe ange:
fprochenen Befriedigung, und zugleich zu jener des Reftauratione:
und Legitimitätd: Principe. Das Iegtere forderte auch bie Ue⸗
berlaffung des dem boppelzuüngigen Murat entriffenen Königreichs
. 680 cCoongreß.
Neapel an ben bourboniſchen König Sieiliend. Dieſelbe, wie
nicht minder bie Rüdgabe Piemonts und Savoyens an Sar⸗
binten, mochte baher fchon dee Conſequenz willen Billigung finben ;
befto weniger dagegen die Unterwerfung Genua's — für befien Wie
berherftelung als Republik baffelbe Princip der Meftauration und
auch jenes der vernünftig gebeuteten Legitimität fprah — unter ben
fardinifchen Scepter, und die an Napoleons Gattin, Marie Louife,
gemachte Schentung ber lebtaͤgigen Herrfhaft, db. hd. Nutz nie⸗
fung, von Parma und Placenza. Die allzu großmüthige ober
allzu Angftliche. Beachtung der von Spanien unterftüsten Anfprüde
ber Infantin Marie Louife (Wittwe bes von Mapoleon einft zum
König von Hetrurien erkiärten parmefanifhen Prinzen Don
Louis) brachte ſolche Befchränkung der Napoleons Gattin gemachten
Verleihung zuwege; ja fhon einftweilen, bis ndmlich die (zwar nicht
fhon auf dem Wiener Congreß felbft, bei deffen Auflöfung nämlich
dieſe Unterhanblung noch nicht beendigt war, doch in einem balb dar⸗
ouf in Paris gefchloffenen Vertrag) der Infantin zuerlannte Ans
wartfchaft auf Parma in Wirkſamkeit träte, warb ihre bie ehevorige
Republik Lukka — melde das ganze Verhältnig gar nicht anging —
zur Herrſchaft oder Abfindung angemwiefen. Die Wiedereinfegung bes
Dapftes In feine ehevorige weltliche Herrſchaft mochte verfchiebentlich
beurtheilt werden. War fie ein Act bee Gerechtigkeit, fo fragten
Manche, warum benn nicht berfelbe Act auch in Anfehung ber vielen,
olcher Herrſchaft auf ähnliche Weife beraubten de utſchen Kirchenfürs
ben ausgeübt warb? Die Rechts⸗Titel ſicherlich waren auf ber
einen Seite nicht ſchwaͤcher als auf der andern. War es aber ein Act
der Politik, vielleicht ein Geftändnig der Schwierigkeit, fidy über eine
ondere Verfügung über den Kirchenftaat zu vereinbaren, vielleicht
auch ein Act der Ehrfurcht gegen das Haupt der Batholifhen Kirche:
fo wurde, wenigftens im legten Sal, derſelbe fchlecht belohnt durch
die Proteflation des heiligen Waters gegen die Schlußacte bed Con⸗
greſſes; und im erften Fall mochte die Politik zwar auf den gemünfche
ten Erfolg wohl berechnet, in Anfehung ihres Zieles aber nicht
allſeitigen Beifalls verfichert fein. ,
Auf bie allgemeinen italifchen Dinge, worauf wir fon jegt den
vorläufigen Ueberblid, ihres natuͤrlichen Zuſammenhangs mit der öfterreis
chiſchen Entfhädigungsfache willen, geworfen, werden wir fpäter zurüd
Eommen. Aber zuvor iſt noch Rußlands und Preußens Befriedi⸗
gung zu betrachten. Rußland, wie wie bereit6 oben bemerkten, hatte
im Grunde — fofern nämlich nur von Entfhädigung oder Wiederher⸗
ſtellung, nicht aber von Vergrößerung die Rede fein ſollte — für fich
nichts zu verlangen. Da jeboh an feinen Eisfeldern Napoleons
Macht ſich allererft gebrochen, aud der Krieg in feiner erften Periode
bem Reich unfägliche Leiden und Verwuͤſtung gebracht und bie zum
fiegreihen Ende unermeßlihe Anftrengungen gekoftet hatte, da endlich
das Herzogthum Warſchau, welches Kaifer Alerander ald Siegespreis
| Congreß. 681
fuͤr ſich forderte, von ſeinen Heerſchaaren beſeßt und — bei der Ent⸗
ſchiedenheit ſeiner Forderung — kaum anders als durch ſchweren Krieg
ihm zu entreißen war: ſo hielt der Congreß fuͤr noͤthig oder raͤthlich,
ihm zu willfahren. Der Haupttheil des Herzogthums Warſchau, dem
Umfang nad) ein ganzes Königreih, darum auch mit dem Namen
„Koͤnigreich Polen” wirklich belegt, warb alfo dem Czaar übers
laffen. Solche Nachgiebigkeit, mofür freilich gewichtige Gründe vorlas
gen, machte fofort dem Gongreß eine befriedigende Löfung feiner hoͤch⸗
ften Aufgabe ganz unmoͤglich und zog eine ganze Meihe von betrübens
den Feftfegungen nach ſich. Fuͤr's Erſte nämlich war durch ſolche Ders
größerung des ohnehin fchon übermächtigen moskowitiſchen Reiches das
Gleichgewicht Europa's zerftört, und jenem eine Stellung verliehen, welche
Defterreich8 und Preußens vermundbarfte Seiten dem gefährlich
ften Angriffe preisgibt, ja das Herz beider Staaten bedroht. Aber
weiter mußte man jest, um Preußens gerechte Korberung auf Mies
derherftelung zu befriedigen, zu den vielfach verlegendften Mitteln feine
Zuflucht nehmen. Das Herzogthum MWarfhau, als meift aus preus
gifhen Abteetungen im Tilſiter Frieden erwachſen, mußte, wofern
man nicht zum großen Gerechtigkeite - Act dee Miederherftellung eines
ſelbſtſtaͤndigen Polens fid zu erheben den Muth oder die Ges
finnung hatte, wieder preugifch werden. Nicht nur das Reſtau⸗
rationsprincip In Bezug auf Preußen (in Bezug auf Polen
hätte es freilich etiwas ganz ‚Anderes, nämlih den Widerruf aller
Theilungen dieſes gemißhanbelten Landes, befohlen), fondern auch die
allgemeine europäifhe Politik ſprach dafuͤr. Jetzt aber Eonnte
Dreugen auf keine andere Art entfchädiget werben, als durch die
DOpferung Sachfens. Ganz Sachſen nämlich forderte Preußen jest
für fih; und Rußland, dankbar für die Verzichtleiftung Preußens
auf Warſchau, unterftügte die Forderung. Dagegen nahmen Defter
reih, England und Frankreich (letzteres zumal liftig auf das
Legitimitätss Princip ſich berufend) den König von Sachſen in
Schutz. Die öffentliche Meinung aber erklärte‘ ſich zugleich auch für
das ſaͤchſiſche Volk; morauf, nad langer und bitterer Verhandlung,
endlich eine Art von juste milieu zu Stande kam, melches die Be:
ſchwerden bes Könige nicht aufhob und jene des Volks, ja zweier
Bölker, vermehrte. Denn Sachſen, beffen Volk den übrigen deut .
fhen Stämmen an Gefinnung und, fobald beren Aeußerung
möglih war, auh an Beftrebungen gegen ben gemeinfamen
Feind gleich, und deſſen König bei feiner Allianz mit Frankreich
nicht weniger als Balern und die übrigen deutfchen Kürften blos dem
Gebot der Nothwendigkeit folgfam gemwefen, warb jest in zwei, an
Umfang annähernd gleiche Theile zerriffen, wovon der eine an Preus
Ben kam und ber andere dem Haufe Sachſen verblieb. Aber es mard
Daneben, um Preußen zu befriedigen, auc ba Herzogthum War:
ſchau (oder Königreich Polen) zerriffen und ein anfehnlicher Theil da=
von unter dem Namen „Großhergogthum Pofen” an biefe Macht ver⸗
682 Bongreß.
Uehen, während auch bie zu Warſchau gehörigen, früher oͤſterre i⸗
Hifhen Bezirke Galiziens zur alten Herrſchaft zurüdkehrten,
und Krakau mit einem Beinen Gebiet zum Freiſtaat erklärt
ward. Die Polen alfo, melden bie Vereinigung unter einer —
gleichviel weicher, alfo auch ruſſiſcher — Herrſchaft ale Wiederherftels
ung wenigftens ber Nationalität einigen Troſt für die Verwei⸗
gerung bee Selbſtſtaͤndigkeit gegeben hätte, mußten bie Verthei⸗
Iung unter Drei Herrſchaften dergeftalt erneuert und befeftiget ſehen;
und zum Erfag für die Nationalität mußte der Name eines „Rs
nigreihes Polen“, fowie zu jenem für bie Selbſtſtaͤndigkeit des
ganzen, großen Volkes die Errihtung eines dem Schuß ber brei
Großmaͤchte anheim geftellten „Sreiftantes Krakau” dienen.
Mit Dofen und halb Sachſen waren aber bie gerechten Ans
fprühe Preußens noch nicht befriedigt. Weitere Länder und zwar
auf beutfhem Boden mußten daher ihm zugefchieben werden. Es
geſchah diefes theils durch Zuruͤckſtellung feiner ehevorigen, im Tilſiter
Frieden verloren gegangenen norddeutſchen Beſitzungen, theils durch
Ueberlaſſung mehrerer anderer, zum Theil bereits herrenlos gewordener
(wie das Herzogthum Verg und bie früheren oranifhen Beſitzun⸗
gen), zum hell von ihren Herren gegen anberweite Entfhädigungen
abzutretender Länder (wie das Herzogthum Weftphalen u.a.), dann
zumal audh der am linken Ufer des Niederrheins gelegenen,
bis zur niederländifchen und franzäfifhen Grenze. In Folge verfchies
dener Ausgleichungen und Zaufchverträge mit ben benachbarten Staa⸗
ten, insbefondere mit Hannover, fiel dann auh noch Schwes
dbifh- Pommern in's Loos von Preußen.
Einmal auf dem Wege der Befriedigung der Häufer mittelft
Butheilung von Voͤlkern oder Seelen = Zahlen begriffen, tonnte der
Congreß nicht mehr ftille ftehen. Gleichartige Anfprüche forderten
auch eine gleichartige Befriedigung. Allernähft an Preußen ſtand
diesfalls Baiern, welches durch den zur glüdlihen Stunde mit Des
fterreih zu Ried gefchloffenen Vertrag (8. Oct. 1813), neben ber
Anerkenntniß feiner Souverainetät, den vollen Erfag für alle an das
Erzhaus zuruͤckzuſtellende Länder auf deutfchem Boden zu fordern bes
rechtigt war. Bei der Schwierigkeit, folhen Erſatz auf Unfoften der
benachbarten Fuͤrſten auszumitteln, blieb — außer Würzburg und
Afhaffenburg, worüber frei zu verfügen war — nur noch die Zus
weifung des füdlichen Theiles vom übercheinifhen Lande übrig.
Derfelde ward alfo bairifch; doch wies man auf eben diefes Land
und Volt noch die Befriedigung einiger anderen, ein Paar taufend
Seelen weiter fordernden Häufer — wie Heffens Homburg, Sad:
fen= Coburg und Oldenburg — und bann au die wichtigere
bes Großherzoge von Heffens Darmftadt an. Zu großartigen
Gründungen, zumal zu Erfhaffung oder MWiederherftellung einer ech⸗
ten beutfchen National: Einheit lag überall keine Möglichkeit mehr
vor. Schon der Vertrag von Ried hätte diefes bewirkt. Denn volle
Congreß. 683
Souverainetaͤt und Integrität (tegtere nämlich dem Umfang
oder der Seelenzahl, obwohl nit dem wirklich im Befig be:
findlihen Lande nah), mwelhe man Baiern zugefichert, konnten
nun mit Billigkeit auch feinem andern Fürften verweigert werden ;
und hiernach 309 jede gewährte Entfchädigung, Abtretung, Ausgleis
hung oder Abrundung u. f. w. ftetd noch andere und wieder andere
nad) fi. Des Zerftüdelns und Bereinbarend, des Abtretens, Ders
taufhens und daher Berechnens und Abwaͤgens war kein Ende. Auch
nad gefchloffenem Congreſſe dauerten ſolche Verhandlungen und Ues
bereinkünfte fort, und felbft der Sranktfurter ZerritorialsRes
ceß (vom 20. Sult 1819) feste ihnen kein Ziel. Noch jest iſt eine
Anzahl Häufer unbefriedigt und find die Völker in niederſchlagender
Erwartung abermal zu veraͤndernder Looſe.
Hiezu kam die, nach den vorwaltenden Sternen und nach den
einmal angenommenen Principien, unvermeidliche Wiederherſtellung
auch Hannovers (und zwar mit ſehr bedeutend ausgedehnten Gren⸗
zen), daher die Aufnahme einer dritten europaͤiſchen Macht (naͤmlich
Englands neben Defterreih und Preußen) in den deutſchen Bund,
und auch die ber vierten, naͤmlich Dänemarks, wegen Hol⸗
fteine und Lauenburgs, endlih gar — und zwar biefes ohne
Nothwendigkeit, blos in Folge einee ganz freiwilligen Schöpfung —
einer fünften, ndmlih Niederlande, wegen des Großherzogthums
Luremburg. Unter ſolchen Verhältniffen und bei folchen, unwider⸗
euflich gezogenen, Grundlinien tonnte auch ein Gott nicht mehr eine
Verfaſſung für Deutſchland entwerfen, welche ben Bedürfniffen und
Anfprühen der Nation und ber Zeit auch nur von ferne hätte genüs
gen mögen. Souverainetät und zugleich Unterwerfung, Nationalität
bei einem politifchen Verein mit fünf europdifhen Mächten, ideale
Mechtsgleichheit der Bundesglieder und an materieller Kraft maßlofe
Ueberwucht einiger Weniger über die Mebreren, ja unter dieſen letzte⸗
zen großentheild völlige Unmaht — foldye Widerſpruͤche oder wider⸗
ftreitende Elemente enthielt ber Stoff, woraus der Bau eines deutfchen
Söderativ- Staates, wozu fchon der Parifer Friede Deutſchland beftimmt
hatte, aufzuführen war, deſſen Beſchaffenheit alfo, nach einmal feſtge⸗
festen Prämiflen, nicht andere werden fonnte, als fie ward. Dom
europaͤiſchen Standpunkte genüge indefien, mas wir hier andeute⸗
ten. Vom beutfhen Standpunkt (und den fraglihen Bau als das
Werk eines deutfchen Congreſſes betachtet) behalten wir, wie ſchon
. oben bemerkt, die Darftelung einem eigenen Artikel vor.
Wir gehen auf- bie Übrigen Schöpfungen des Congreſſes, als
eines europäifhen, über. Zwei berfelben. zumal find wirklich
neue Schöpfungen, nicht bloße Wiederherſtellung alter Verhaͤlt⸗
niffe, worin fonft der vorherrfchende Charakter feiner Anordnungen bes
ſteht: bie Vergrößerung dee fardbinifhen Macht durch Einverlei⸗
bung Genuna's und die Errichtung eines vereinigten belgifch=bols
Ländifhen Königreiches. Beide diefe Einrichtungen floffen melft aus
684 Gongteß.
ber fortdbauernden Furcht vos Frankreich. Um neuen zerrüttenden
Bufammenftoß biefer Macht mit andern Großmächten zu verhüten, folls
ten bie zwei genannten Staaten mitten inne friebebewahrnd,. alfo
ſtark genug, um auf beiten Seiten Achtung einzuflögen, fiehen. Ge⸗
nua’s altes und noch allerneueft durch feierliche Verheißungen Lorb
Bentinks, des britifchen Gewaltstraͤgers, bekräftigtes Recht auf Selbſt⸗
fländigkeit und vepublitanifche Verfaffung mußte fo kuͤnſtlich berechne
tem Intereſſe weichen; Sardinien, ohne Verbienft um ben Erfolg
des heiligen Kriege, empfing als reines Geſchenk das Toflbare genueſi⸗
ſche Land. Ebenfo empfing das Haus von Dranten, anflatt ber
etwa anzufprechenden Wiedereinſezung in die Statthbalterwürbe
von Holland, den erblihen Konigsthron über die — nad) laͤngſt
verjährter Trennung — nunmehr duch das Machtwort ber europaͤi⸗
ſchen Haͤupter wmwiedervereinigten Provinzen von ganz Niederland.
Viele waren, welche die Weisheit beider Schöpfungen bemunberten ;
auch Viele, melde daneben im Snterefie des monachifhen Prins
cips bie definitive Abfchaffung der alten, einft ruhmvoll beftandenen,
Republiken mit Freude betrachteten. Andere dagegen beflagten, baf
dem jedenfalls zweifelhaften Galcul der Politik die fonnenklaren
Anfprähe und Neigungen ber Völker geopfert wuͤrden; fie meinten,
ungeachtet ber Einverleibung Genua's fei Sardinien gleichwohl nicht
ſtark genug, weder gegen Defterreich noch gegen Srankreih und — weil
unpopulaͤr — am menigften gegen eine etwaige Erhebung der ttalifchen
Voͤlker ſelbſt. (Der Aufftand von 1820, welchen nur Oeſter reichs
ſchleunige Hülfe daͤmmte, fcheint allerdings das Letztere zu beweifen.) Was
aber die Vereinigung Belgiens mit Holland betrifft, fo weifjagte
man, bet der ſchwer zu heilenden Disharmonie ber Gefinnungen, Sit⸗
ten, Religtonsmeinungen und wirthſchaftlichen Intereſſen, nichts Gutes
aus ber zwangsweiſe gefchehenen Wereinigung. Der fofort entbrannte,
mit Bitterkeit geführte Krieg der beigifhen Volkspartei gegen bie hol⸗
Ländifche Regierung rechtfertigte folche Weiffagung, und die Revolution
von 1830 flürzte die ſe Schöpfung bes Wiener Congrefles um.
Auch die ſchweizeriſchen Angelegenheiten fchlihtete der Congreß
von Wien. Wefentlichen Dienft im heiligen Krieg hatte die Schweiz
den Alliirten geleiftet durch den den Heeren berfelben gewährten Durchs
zug nad) Frankreich. Billig erfuhr fie die Gunft der Sieger. Neu f⸗
hatel, Wallis und Genf wurden ihrem Bunde zurücdgeftellt, das
Bisthum Bafel an Bern gegeben und von Seite Savoyens
einige Abtretung an Genf gemacht. Beltlin, Eleven und Bor⸗
mio jedoch verblieben Deſterreich, welches dagegen bie Herrſchaft Räs
zuns an Graubünbten abtrat. Wichtiger als dieſe Territorial⸗Aus⸗
gleidiungen aber war die Anerdennung ber beftändigen Neutras
lität der jest aus 22 Gantonen beftehenden Schweiz. Gluͤckliches
und vicheicht unter allen allein bem Wiener Congreß zum Dante
verpflichtetes Land }
Die geringfügigeren Beſtimmungen, wie bie ftatuirte Rüdgabe
Congreß. 6
Olivenza's von Seite Spanlens an Portugal, und überall
die wieberholte Feſtſezung oder Anerkennung beffen, was bereits ber
Marifer Friede verordnet hatte, mögen wir übergehen. Dagegen vers
dienen eine dankbare Erwähnung die — nach unfäglicher Mühe end⸗
Tih zu Stande gelommenen, aber freilich dee wünfchenswerthen Bes
flimmtheit ermangelnden und durch das Schwankende bes Ausdrucks
manderlei Streit Raum gebenden — Feftfesungen in “Betreff ber
Abſchaffung bee Sklavenhandels und ber Derftellung einer freien
Stusfhifffahrt. |
| Sf, nah der Geſammtheit feiner Beſchluͤſſe, ber Congreß
von Wien der Lobpreifung oder des Tadels werth? — Die partei⸗
loſe Geſchichte wird darüber das Urtheil fällen; die Stimmen ber
Gegenwart find unter fih im Steeite und wegen VBefangenheit unzus
verläffig. Viele Klagen gegen ben ewig denkwuͤrdigen Congreß find ers
tönt, zumal vom vernunftrechtlihen und fosmopolitifchen, alfo allges
meinen Standpunkt, dann aber auch vom patriotiſchen ober nationalen
Standpunkt der verfchiedenen einzelnen Völker. Hinwieder vernahmen
wir auch Apologien, gleichfalls von beiderlei Standpunkt, d. h. gerich⸗
tet gegen beiderlet Anklagen. Wir wollen die — wirklich vorgebrache
ten oder möglicher Weife vorzubringenden — Gründe der Vertheidiger
oder Lobredner jenen ber Tadler, infoweit es nicht fhon in den vor⸗
anftehenden Blättern geſchah, blos fummarifch gegenüberftellen.
Ueber den dem Congreſſe zum Vorwurf gemachten Mangel an
Vertretern der neuzeitlichen idealen Intereſſen, demnach Aber den vor⸗
herrſchenden Charakter feiner Beichlüffe (als einfeitiger Keftfeguns
gen, anftatt beidberfeits beftiedigenber, naͤmlich vergleichs weiſe
zwiſchen beiden Parteien getroffenee Uebereintömmniffe)
iſt ſchon oben gefprohen. Man mochte dagegen erinnern, daß vor
Seite dee Regierungen bie Stimmberehtigung ber Belenner
jener neuen — vernunftrechtlihen und tosmopolitifhen — Ideen we⸗
ber anerkannt war, noch anerkannt werden konnte, ſchon darum,
weil ſie noch nicht — wie etwa zur Zeit des weſtphaͤliſchen Friedens
bie proteſtantiſche Kirche — zu einer juriſtiſchen Ge⸗
fammtperfönlichleit oder rechtsgultig beſtehenden Geſellſchaft
geworden waren, und daß der Umſtand, daß von den, den Congreß
bildenden, Maͤchten keine die Vertreterin der Revolution (d. h. in dem
oben beſtimmten, mit dem lebenskraͤftigen Princip der Reform gleich
bedeutenden Sinne) war, fondern vielmehr alle gegen biefelbe, mims
lich für das Princip dee Stabilität und Reftauration vereinigt
erfchienen, aus der damaligen Weltlage als nothwenbige oder natüte
lihe That ſache hervorging, daher den Freunden jener Ideen wohl
etwa unangenehm fein, Belneswegs aber als eine Rechtskraͤn⸗
kung geachtet werden Eonnte. Mit Napoleons Fall hörte der Prin⸗
cipiens Krieg auf; das befiegte Frankreich nicht minder als bie fies
genden Mächte gehörten jenen der Keftauration an; und es han⸗
beite fi alfo gar nicht mehr um einen Vergleich zwifchen verſchie⸗
686 Gongreß.
benen pofitifchen Glaubensbekenntniſſen ober Fahnen, ſondern blos um
Keftftellung bee europäifhen Dinge nad; den Principien der
Sieger. Nah dem Standpunkt der Maͤchte Eonnte von wechſel⸗
feitigen BZugeftänbniffen, überhaupt von Uebereinkoömm⸗
niffen zmwifhen Regierungen und Völkern gar keine Mede fein, fons
‘dern blos von einfeitigen Zugeftändnifien der erften an die letzten
öder auch von Verabrebungen ober förmlichen Verträgen der Regieruns
gen unter ſich über einige ben Völkern — theils einzelnen, theils meh»
reten zufammen — zu gewährende Rechte und Freiheiten. Dergeftalt ſetzte
gleich, der Art. I. der Gongreßacte zu Gunften bee Polen feſt: „Les Po-
lonois, sujets respectifs de la Russie, de l’Autriche et de la Prusse,
obtiendront une representation et des institutions nationales“ ; (freis
lid mit dem bedenklichen Beifag: „reglees d’apres le mode d’exis-
tence politique, que chacun des gouvernemens, ’' auxquels ils
appartiennent, jugera utile et convenable de leur accorder.“)
Und in Anfehung bed Herzogthums Warfhau (genannt Königs
reich Polen) behielt der Kalfer von Rußland ſich noch etwas
Weiteres vor, nämlih: S. M. I. se reserve, de donner à cet
Etat, jouissaut d’une administration distincte, l’extension in-
terieure, qu’ Elle jugera convénable.“ — &o verfpradh im Art.
XX. der König von Preußen in Bezug auf das getheilte Sach⸗
fen: „de faire regler tout ce qui peut regarder la propriete
et les interets des sujets respectifs sur les principes les plus H-
beraux.““' Und fo enbli enthält die — als Theil ber Gongreßacte
erklaͤre — deutſche Bundesacte In ihrem Art. 18. die bebeus
tungsvolle Erklärung: „Die verbünbeten Fürften und freien
Städte kommen überein, den Unterthbanen ber beuts
[hen Bundesflaaten folgende Rechte zuzufihern.” (Folgt
dann das Verzeichniß dieſer Rechte und Verheißungen, morunter nas
mentlih auc jenes ber Preßfreiheit fi befindet.) Solche Zus
fiherungen, wenn fie audy ben Völkern felbft, mit welchen der Ver⸗
trag nämlich nicht gefchloffen worden, Fein anderes Mecht geben, als
das der vernünftigen Erwartung, die Vertragfchließenden werben
einander Wort halten, find gleichwohl eine früher noch, nie oder nur
höchft felten und vereinzelt vorgefommene Erfcheinung ; fie find koſtbare
Beweiſe davon, bag auch die Regierungen dem Geift ber Zeit nicht
fremd geblieben und daß fie die Nothmenbigkeit oder Raͤthlichkeit mes
nigftens einiger ihm zu machender Gonceffionen (fei es auch nur zu
augenblicklicher Beſchwichtigung) erfannt haben.
Iſt nun dieſes wahr — alfo konnte man meiter argumentiren —
warum hätten fie nicht wirklich auch aldg Vertreter der Völker,
deren Intereſſen fie ja mwahrten, betrachtet werben follen, und wozu
alfo noch eine weitere Einberufung eigens dazu bevollmächtigter Volks⸗
mwortführer, für deren Ernennungsmeife, Charakter und Stellung
ohnehin die hergebradyte Diplomatie weber Regeln noch Formen kennt?
— Wie konnte man überhaupt einem Congreß bee Staatenlenker und
Congreß. 687
ihrer Miniſter zumuthen, mißtrauiſch In Ihre eigene erprobte Weisheit
und gereifte Erfahrung zu fein, fchlichte oder ungeflüme Volksmaͤnner
ihrem Rathe beizugefellen und den Traͤumerelien ber „Sdeologen”“
ein geneigte® Gehör zu ſchenken? Und wo waͤre die Grenze ber
Willfaheung gemefen, meun man einmal das Recht ber Korberung ſta⸗
tuirt hätte? Nicht auf müßigen Abftractionen und Schuls Zheorien, .
fondern auf Autorität muß das Gebäude des Öffentlichen, wie bes
PMrivatrechte ruhen, und nur bie. Regterungen find bie Inhaber
der Autorität. | | | u Ä
Uebrigens — wie wir felbft zugeben muͤſſen — iſt es nicht ein-
mal ganz richtig, daß zroifchen Alt und Neu gar kein Vergleich fei ge:
fhloffen, fondern blos den alten Principien gehuldiget worden. Nicht
eben in Bezug auf Ideen, wohl aber in Bezug auf Länderbefig
und Länbervertheilung fand ein Vergleich zwifhen Revolus
tion und Reftauration wirklich flatt. Die Gebiete s Vergröferuns
gen, die aus den Mevolutionskriegen ihren Urfprung nahmen ober
durch das renolutionaire Machtwort bee feanzöfifchen Republik und ſpaͤ⸗
ter Napoleons bictirt wurden, die Secularifationen und bie dem
Srundfag der Legitimitaͤt fo offen wiberftreitenden Mebiatifiruns
gen u. f. w., Alles blieb unberührt und warb bekraͤſtiget, fofern nur
die Erwerber Sprößlinge der alt s europäifchen Megenten s Kamilie was
ren. Die Legitimität, bie dem Erwerbstitel fehlte, fchien erſetzt
ducch jene der Ebenbürtigteit oder bes Blutes. Sa, auf Schwer
dens Thron ließ man felbft einen Mann von bürgerlicher Abkunft
fleigen, und ohne Murats unzeitigen Abfall waͤre ſolches auch in
Neapel gefhehen. Die Reftauration alfo theilte fi wie im
Wege des Vergleichs mit dee Revolution in den Beſitz der europäi«
{hen Erde. Daß nun — und auch biefes müflen wie zugeben —
bei ſolcher Theilung und gegenfeitiger Ausgleihung auch auf See:
lenzahl, neben Flaͤchenraum und Einkünften, geſehen ward, ift fehr
natürlih, und war ja auch in dee Revolution: Periode von
beiden Seiten geſchehen. Die Voͤlker galten von jeher als Zugabe
des Landes; dem Herrn ober Erwerber bes legten gehörten oder fielen
zu auch die Bewohner, und menn einmal von Werth⸗Schaͤtzung
eines Erwerbs ober Verluſtes, eines abzutretenden oder zu vertaufchen-
den Gutes, die Rebe ift, fo muͤſſen eben alle Factoren, bie auf
ben pecunideen ober Zaufh= Werth von Einfluß find, in Rechnung
gezogen werden. _ |
Freilich iſt es dem Gefühle des Ideologen widerwaͤrtig, wenn bei
ſolchen Gefchäften die Völker nur als Summen oder Größen erfcheis
nen, und Ihrer Perſoͤnlichkeit gar nicht gedacht wird; wenn man bei
ihrer Zutheilung, Zertheilung, Verbindung, Abtretung u. f. w. immer
nur das Intereſſe des Heren ober der Regierung in Erwägung zie⸗
hen und Wunſch oder Neigung und auch) hiftorifches Recht der Voͤl—
ler ganz außer Rechnung bleiben fieht. Aber mar biefes. jemals an⸗
ders? und Lonnte oder follte der Wiener Congreß den. ungeheuren
688 Songreß.
Schwierigkelten ber für alle Häufer auszumittelnben Befrledigung erſt
noch die weitere, jeden Calcul verwirrende ober aufhebende, ber Befrie⸗
digung auch der Völker beifügen ? — Und dann — auch abgefehen
davon, daß ja auch manche Neigungen und Wünfde der Kürften
unberüdfichtigt blieben, und daß viele mit Summen von Untertbas
nen fid) begnügen mußten, gleichviel, wo dieſe Summen wohnten oder
in welchem natürlichen oder, hijtorifchen. Verhaͤltniß fie zum Haufe
flanden (mie z. B. die Häufer Didenhurg, Coburg, Heſſen⸗
- Homburg, Medlenburg » Strelig und Pappenheim mit
einander die Summe von 69,000 auf dem linken Rheinufer, im ches
maligen Saars Departement wohnenden Seelen, zur Ergänzung
ber Ihnen gebührenden Abfindung annehmen mußten), abgefehen, fagen
wir, von diefer bie Härte dev Sache jedenfalls mildernden Gemeine
ſchaftlichkeit der Beſchwerde, modte man nicht ohne Grund bes
merken, daß — vorausgefest, daß auf die. von der Lage abhängigen,
eht.politifhen, folglich für Regierung und Volk gleichmäßig wich⸗
figen, induftriellen und commerziellen :u.f. w. Verhaͤltniſſe bie gehörige
Müdfiht genommen. ward — es den’ Völkern, ohne Unterfchieb, - ob
ihre Regierung conflitutionell oder abſolutiſtiſch ſei, ziemlich gleiche
gültig (d. 5. für ihren Nehtszuftend, ob auch nicht für ihr
Gefuͤhl) fein kann, welchem Haufe ihr Herrſcher angehöre. In coms
ſtitutionellen Staaten, worin die Conſtitution eine Wahrhrit iſt,
werden immer, unabhängig von der Perſoͤnlichkeit bes Regenten,
Sefeg, Recht und vernünftiger Geſammtwille fid in Herrſchaft behaups
ten; und wo fie eine Züge if, da beſteht eben ein verfchleierter Abs
folutismus. Wo aber, diefer (verfchleiert oder unverfchleiert) befteht,
da iſt es abermal gleichgültig, wie dee Herrfcher heiße oder von Wels
hem Geſchlecht er ſtamme. Beitlich- zwar mag .ein fehr fühlbarer
Unterfchied obmalten,, ‚je nach der Perfönlichkeit des Herm. Aber für
die Dauer — und nur das Bleibende kann hier in Anfchlag Toms
men — ift Alles gleich. ‚Auf einen guten Herrn mag ein ‚böfer und
auf einen böfen ein „guter. folgen. Es find dieſes vergleichungsweiſe
unbedeutende, factifhe Zufälligkeitenz der Rechtszuſtand,
d. h. die Abhängigkeit der Öffentlichen Wohlfahrt und des Loofes aller
Einzelnen von dem. Willen oder ber Gefinnung bes Herrn, iſt ‚bier
und dort derſelbe.: Die Zutheilung ber Herrfchaft alfo mag unver
legend, nach allgemeiner oder beſonderer Convenienz geſchehen, und
dem Wiener Congreg ift — wenn wir diefen Standpunkt nehmen —
wegen feiner Verfügungen: über Zerritorials Angelegenheiten wenig ober
gar Fein Vorwurf zu machen. — 0
Unfere Leſer mögen nach eines Jeden fubjectiver Anficht über bie
Triftigkeit. ber Anklage oder ber Rechtfertigung urtheilen! Das. freis
müthige Ausſprechen de Urtheild wird aber erſt dem nachfolgenden
Geſchlecht erlaubt fein. |
So Vieles, theils im Allgemeinen, theils bis in's kleinſte Detail
hin, . die. Wiener Congreßacte mit ben ihr beigefügten und augdrhdiicd
Congreß. 689
als integrirende Beſtandthelle derſelben erklaͤrten Nebenurkunden (ſieb⸗
zehn an der Zahl) beſtimmt, geregelt, feſtgeſetzt hatte, ſo war doch, bei
der Unermeßlichkeit der Aufgabe und bei der am Ende eingetretenen
Eile des Beſchließens, manches Wichtige noch unentſchieden geblieben;
und es hatten ſich durch den darauf gefolgten voͤlligen Sturz Napo⸗
leons und den zweiten Pariſer Frieden mehrere Verhaͤltniſſe bedeutend
geändert. Die vier durch den Tractat von Chaumont (1. März
1814) verbundenen Großmaͤchte waren fchon in Gemäßheit dieſes, aus⸗
druͤcklich für die Dauer von 20 Jahren nah dem zu Stande zu
bringenden Frieden gefchloffenen, Allianzvertrags, deffen ausgefprochener
Zweck dahin ging: „das Gleichgewicht in Europa aufrecht zu erhalten,
die Ruhe und die Unabhängigkeit der Mächte zu fihern und den will⸗
kuͤrlichen Verletzungen fremder Rechte und Gebiete vorzubeugen, von
welchen bie Welt fo viele Jahre hindurch heimgefucht worden iſt“, na=
türlicy veranlaßt oder aufgefordert, den Gang der politifchen Dinge in
ganz Europa fortwährend zu beobachten, und über bie für jenen hohen
Zweck nach Umftinden etwa raͤthlich fcheinenden Maßregeln ſich unter
einander jeweils zu verftändigen. In diefem Sinn fand 1818 ber
Congreß von Aachen flat. Auf demfelben erfchienen bie Herr⸗
fher von Defterreih, Rußland und Preußen perfönlich, neben ihnen
eine Dienge hoher Prinzen und Fürften und ein duch Zahl und gläns
zende Perſoͤnlichkeit ausgezeichnetes diplomatifches Corps. Vom 30.
Sept. bis zum 21. Nov. währten die Verhandlungen, von deren Ers
gebniß der veröffentlichte Vertrag mit Frankreich vom 9. Octbr., fos
dann das Hauptprotokoll vom 16. Nov. und eine Über deſſen In⸗
halt an die europäifchen Höfe erlaffene feieclihe Declaration
bee Welt kundthaten. Durd den zuerft bemerkten Vertrag wurde
Frankreich, deſſen innere Ruhe durch die bisherigen Maßregeln ber les
gitimen Regierung gefichert fchien, der Laft des Occupationsheeres, wel-
ches gemäß dem Parifer Frieden noch zwei Jahre länger bdafelbft zu
haufen hatte, fofort entledigt, in Bezug auf die noch ruͤckſtaͤndige
Contribution ein für den Schuldner fehr günfliged Arrangement ger
teoffen,.und König Ludwig XVIII. eingeladen, an den Berathungen
ber Monarchen über Europa’s Wohlfahrt nunmehr gleichfalls Theil zu
nehmen ; was denn auch alfogteich durch das Organ des Premier⸗Mi⸗
niſters, Herzogs von Richelieu, gefhab. Das Protokoll und die
Declaration aber, im Inhalt und Ton der über die Errichtung der⸗
„heiligen Allianz” aufgenommenen Urkunde ähnlich, befchränkten:
fih) auf den Ausbrud allgemeiner Gefinnungen und Entfhlüffe, und
fegten im Einzelnen nichts Neues feft, ließen jedoch ahnen, weldye Rich⸗
tung folche etwa ſpaͤter zu treffende Seftfegungen nehmen würden. Gie
mögen daher als bebeutungsvolles Programm aller fpäteren Congreßs -
Beſchluͤſſe "betrachtet werben, und geben darum reichlihen Stoff des:
Nachdenkens.
Das von den Bevollmächtigten ber fünf Großmaͤchte, Defterreich,
Franbreich, Sroßbritannien, Preußen und Rußland: uns
Staates Lexikon. IIL 44
R
690 Gongreß.
terzeichnete Protokoll erklärt, daß die befagten Höfe „nadı reifliher Er⸗
wägung dee Grundfäge, auf welchen die Erhaltung der in Europa uns
ter dem Schutze der göttlihen Vorſehung hergeftellten Ordnung ber
Dinge beruht”, 1) „feft entfchloffen find, ſich weder in ihren wechſel⸗
feitigen Verhaͤltniſſen, nocd in jenen, welche fie an andere Staaten
Enüupfen, von den Grundfägen der engen Verbindung zu entfernen,
die bisher in allen ihren gemeinfchaftlihen Angelegenheiten obgemaltet
bat, und die durch das zwiſchen den Souverainen geftiftete Band chriſt⸗
licher Bruberliebe noch ftärker und unauflöslicher geworden if.” 2) „Daß
diefe Verbindung Beinen andern Zwed haben kann, als die Aufrecht⸗
haltung des Friedens, gegründet auf geroiffenhafte Vollziehung ber in
den Zractaten vorgefchriebenen Verpflichtungen und Anerkennung aller
daraus hervorgehenden Rechte.” 3) „Daß Frankreich, duch die Wie⸗
berherftellung der rechtmäßigen und conftitutionellen Eöniglichen Gewalt
den übrigen Mächten beigefelft, die Verbindlichkeit Abernimmt, forthin
unausgefest zur Sicherftellung und Befeſtigung eines Syſtems mitzus
wirken, welches Europa den Frieden gegeben hat und allein die Dauer
beffefden verbürgen Eannn.” 4) Daß, wenn die Mächte, welche an ger
genwärtigem Befchluffe Theil nehmen, zur Erreihung des bier auss
gefprochenen Zwecks für nöthig halten follten, befondere Zufammens
Eünfte, es fei zwiſchen den hohen Souverains felbft, es fei zwiſchen
deren Miniftern und Bevollmächtigten, zu veranftalten, um über ihre
eigenen Angelegenheiten, infofern fie mit dem &egenftande ihrer ge⸗
genmwärtigen Verhandlungen in Verbindung ftehen, gemeinfchaftlich
zu berathfchlagen, ber Zeitpunft und ber Ort folder Zufammenfünfte
jedesmal durch diplomatifce Ruͤckſprache zuvor beftimmt werden, falls
abet von Angelegenheiten die Rede wäre, die auf das Intereſſe andes
ter europäifcher Staaten Bezug hätten, bergleihen Zuſammenkuͤnfte
nur in Kolge einer foͤrmlichen Einladung von Seiten der dabei intereffic-
ten Staaten, und mit Vorbehalt des Rechts der letzterr, unmittelbar
ober durch ihre Bevollmaͤchtigten daran Theil zu nehmen, Statt haben
ſollen.“ |
Sn der an bie Höfe (warum nicht auh an die Völker?)
darüber erlaffenen Declaration heißt es weiter: „Die Uebereintunft vom
9. October (wodurd Frankreich mit in den Bund aufgenommen ward)
wird von den Souverainen, welche fie abfchloffen, ald Schlufitein
an bem Gebäube des Friedens und als die Vollendung des politifchen
Spftems betrachtet, welches deſſen Dauer fihern fol.’ — „Der Zweck
diefes Bundes ift ebenfo einfady, als groß und fegenbringend. Er bes
abfichtigt Feine neuen politifchen Combinationen, keine Veränderungen ber
durch die beftehenden Verträge geheiligten Verhältniffe. Ruhig und
unmandelbar in feinen Wirkungen bat er einen andern Zweck, als
bie Erhaltung bed Friedens und die Verbürgung der Verträge, welche
ihn begründet und befeftigt haben!’ — „Indem die Souveraine biefen
erlauchten Verein fchloffen, haben fie als Grundlage beffelben den un⸗
wandelbaren Entſchluß genommen, fi ‚nie, weder In ihren Verhaͤlt⸗
Kongreß, 691
niffen unter fi, noch gu anderen Staaten, von ber genaueften Befoß
gung ber Grundfäge des Wölkerrechts zu entfernen.” — „Treu diefen
Grundfägen mwerden die Souveraine folche in den Zufammenkünften
aufrecht erhalten, denen fie In Perfon beimohnen, oder die zwifchen Ihren
Miniftern ftattfinden, fie mögen nun bie gemeinfame Berathuug ihrer
eigenen Verhaͤltniſſe zum Gegenftande: haben, :pder fidy auf’ folche bes
ziehen, bei welchen andere Regierungen ihre Dazwifchenkunft. foͤrmlich
verlangten.” — Der Schluß diefer denkwuͤrdigen Declaration lautet
alfo: „Derfelbe Geiſt, der Ihre Berathungen keiten und in ihren dipto⸗
matifchen Verbindungen herrfchen wird, fol auch. diefe Zuſammenkuͤufte
befeelen, und die Ruhe der Welt ihre Veranlaſſung und ihr Zweck
fein. In foihen Gefinnungen haben die Souvsraine das Merk. voller
det, zu dem fie berufen waren. Sie trachten nnermüblich, «8: zu. des
feftigen und zu vervolllommnen. Sie erkennen felerlichſt, „daß: Ihre
Pflichten gegen Gott und gegen die Völker, die: fie regieren, es ihnen
sum Geſetz machen, der Welt, foviel an. ihnen iſt, das Beiſplel der
Gerechtigkeit, der. Eintracht und der Maͤßlgung zu geben, und. pseilen
ſich glüdlih, in Zukunft alle ihre Kräfte nur auf den Schug der
Künfte des Friedens, "auf die Vermehrung ber innern Wohlfahrt ihrer
Staaten und auf bie Wiederbelebung jener religiöfen und moralifchen
Gefühle verwenden zu innen, deren Einfluß bura) das Uingtüd“ bee
Seiten’ nur zu fehr geſchwaͤcht worben ft!“ — .. ! .
Auf diefe drei Actenftüde befchränkt fi, was von den Befeläffen
des Aachner Congreffes zur öffentlichen Kunde gelommen tft. Manches
Andere und in’s Einzelne Gehende wurde wohl auch alldort beſprochen,
verhandelt, verabredet oder fuͤr kuͤnftige Schlußfaſſungen vorbereitet;
manche Geſuche, Vorſchtaͤge, Reclamationen wurdin wohl empfangen
ober mündlich vernommen, doch von beſtimmter Erledigung -verlautetd
nicht® oder nur wenig. Unter ben der hohen Berfammlung uͤberreich⸗
ten Vorſtellungen aber ‚erregte ein ganz beſonderes Auffehen diejenige;
welche (unter dem Xitel: Memoire sur l’etat actuel de l’Allemägne)
der ruffifhe Staatsrath Stourdza, ein Grieche von Geburt; über
den rieueften Geiſt des deutfchen Volkes, allerndchit über jenen der
Schulen und Unive rſitaͤten (Lehrer und Lernende in der Betrtach⸗
tung zufammengefaßt), und über die Mittel, deren angeblihem Wer
derbniß entgegenzumirken, zu fchreiben und.ben Gongreßmitgliedern vom
zulegen, die befremdliche Anmaßung hatte. Nicht eben der Inhalt diefes
frechen Schmaͤhſchrift (der nur Verachtung zu erregen geeignet wa
auch in feiner Erbaͤrmlichkeit fofort von hier wahrhaft ftimmbersditigten
Männern — an ihrer Spige der in Gefinnungen fehr gemäßigte Krug
— bargeftellt warb), fondern bie Art und die Umflände ihrer Vorlage
an den hohen Congreß machte fie zum bebsutungsvellen Ereigniß, und
viele Denker erblickten in ihr bereits ahnend ben Worboten eines ‚üben
den deutfchen Hochfchulen fich heraufziehenden Gewitter.
Indeffen ſchritt in Deutſchland dee ‘öffentliche Selft allerbinge
voran, nicht nur an den Hochſchulen, ſondern im gefammena Volke;
692 Congreß.
doch auf eine erfreuliche, zu den fchönften Hoffnungen beredhtigende
Weiſe, nicht aber mit revolutiondrer oder jatobinifher Rich⸗
tung, wie bie Feinde des Lichts und bes Rechts verleumberifch klagten
und argliftig den Staatenlentern vorfpiegelten. Einige wenige vereins
zeite Ausfchweifungen, felbft Verbrechen, von ein Paar Individuen
Eonnten doch wohl gegen ben viel erprobten rechtlihen Sinn bee Nas
tion nicht geugenz einige Weberfpannung in jugendlichen, phantafiereichen
Gemuͤthern, einige fcharfe Tadelworte gegen feile Schriftfteller, gegen
e ber Kürften, konnten wohl hier und dort Mißvergnuͤgen erregen,
nicht aber den Vorwurf ummälzendee Tendenzen und Plane, benen
aur mit den Schreien ber Gewalt zu begegnen waͤre, rechtfertigen.
Mas die Nation verlangte und zu verlangen das Recht hatte, war
nichts Anderes als eine: der Stufe ihrer Geiftesbildung angemeffene
und bie Verheifungen von Kaliſch erfülende National⸗ unb
engbertige Mertpeibiger des hiftorifchen Unvechts oder gegen boͤſe Rath⸗
gr
Staatenverfaffung, ein zu gefeblihen Fortfchritten auf bem
Wege des Guten eröffneter Weg mittelft wohlgeordneter Volks⸗Ver⸗
tretung, dad Recht der Wahrheit endli und des fie frei aus⸗
fprechenden Wortes, modurd, allein jedes andere Recht mag ges
fhirmt werden. In diefem Sinne traten insbefondere die Staͤn⸗
. Deverfammiungen, namentlich die Volkskammern in den allmaͤlig
zu Erfüllung des 13ten Art. der Bundesacte mit Iandftändifchen Ver⸗
faſſungen — zumal in Säd- Deutfchland — begabten Staaten aufs
und in dieſem Sinne fprah die öffentlihe Meinung in allen
Bauen und Glaffen, foweit überall politifhe Bildung und Rechtsſinn
zu finden waren, laut und träftig fih aus. Rechtsgewaͤhrung,
Erfüllung feierlichſt gemachte Verheißungen, und Sicherftel-
lung bes Verllehenen oder zu Verleihenden: — ein Mehreres war
nicht nöthig zur Beruhigung der Gemüther, zur Befriedigung der Mißs
vergnuͤgten, zur Herftellung des innern Friedens. Aber dem gerechten
Begehren der ihrer entfcheidenden Verdienſte um die Vaterlands⸗Be⸗
freiung und die Wiederherſtellung der Thronen ſich bemußten Voͤlker ſetzte
fich allernächft die Ariftofratie mit ihren nen erwachten und neu
aufitrebenden Anmafungen entgegen, fodann -auch die kuͤnſtlich genaͤhrte
Furcht der hohen Staatshäupter vor dem. Meiterfchreiten des ihnen
jest zum erftenmal esfchienenen Volksgeiſtes, geftacyelt zumal durdy das
ihren grauenvollen Erinnerungen entſtiegene und ohne Unterlaß ihrer
Dhantafie vorfchmebende Gefpenft der Revolution.
-...Da serfammelten fich, im Auguft 1819, unverfehens die Miniſter
von: Defterreih, Preußen, Balern, Sachſen, Hannover,
Wärtemberg, Baben, Medienburg und Naffau in Karlss
hab in Böhmen, und vereinigten fi nach kurzen (in 23 faſt tags
täglich. ſich folgenden Gonferenzen gepflogenen) und geheimnißvollen
Berathungen (vom 6. bis zum 31. Aug.) über eine Reihe hoͤchſt denk⸗
würdiger, dem beutfhen Bundestag in Frankfurt zu machender
Borfchläge, welche der lebte auch ſofort — am Tage ber von Seiten
Gongreß. 693
der Präfibialgefandtfchaft vernommenen Propofition, mit einer beifpielloe
fen, auch der als organifches Bundesgeſetz verkuͤndeten Geſchaͤftsordnung
(vom 14. Novbr. 1816) direct widerſtreitenden Eile — ohne weitere
Snftructionseinholung, noch Commiſſions⸗Verhandlung oder Berichterflats
tung, ja ohne alle Discuſſion in der Bundesverſammlung ſelbſt, — un⸗
veraͤndert, ſowie die oͤſterreichiſche Praͤſidialgeſandtſchaft ſie vorgetragen,
und einftimmig, unter Dankesbezeugungen für Oeſterreich, annahm und
zu Bundesbefhläffen erhob (20. Sept. 1819). Einige Punkte,
die theils noch nicht hinlänglich vorbereitet, theils minder deinglich ers
fhienen, wurden einem meitern, in Wien unverweilt zu baltenden,
Mintfter- Congreg zur genaueren Feflfegung. vorbehalten. Ders
ſelbe trat auch wirklich nody vor dem Ende des Jahres in ber Kals
ferftadt zufammen ; und es ging aus fenen Berathungen (vom 25.
Nov. 1819 bis 24. Mai 1820) die unter bem 15. Mai 1820 von
den Gongrefmitgliebern unterzeichnete, fobann unterm 8. Juni 41820
vom Bundestag gleih willig und einflimmig zum Bundesgrundgefeg
erhobene „Schlufßacte der über Ausbildung und Befeftigung bes
beutfhen Bundes zu Wien gehaltenen Miniſterial⸗Conferenzen“ hervor.
Der Inhalt der auf biefen beiden Minifter-Congreffen gefaßten
Beſchluͤſſe, zumal jener der Wiener „Schlüußacte”, wirb in dem Art.
„neutfher Bund” die ihm gebührende umftänblichere Betrachtung
finden. Doc fprechen die Bundesbefchlüffe, als zu welchen auch
fünf europäifhe Mächte ihre Stimme, ja zwei derſelben die
präponderirende Stimme gaben, nicht nur ein beutfches, ſondern
auch ein allgemein europäifches Intereſſe anz und es bezeichnet
zugleich der auffallende Gontraft des Tones, zumal der Karlsbader
Beſchluͤſſe, mit jenem der Aach ner Declarationen eine jetzt eingetres
tene neue, verhängnißfchmere Epoche in der Gefchichte ber Congreſſe.
Dieſer Umftand, in Verbindung mit einigen befondern Denkwuͤrdig⸗
keiten, welche den angeführten Befchlüffen zum belehrendflen Commen⸗
tare dienen, macht uns zur Pflicht, auch ſchon im vorliegenden Ars
titel einiges Wenige darüber zu fagen.
Wir haben die von Aachen aus erlaffenen, die Gefühle chriſt⸗
licher Bruderliebe athmenden, und aufs Feierlichſte für alle Folgezeit
bie treuefte Beobachtung ber Pflichten gegen Gott und gegen bie
Völker, die Heilighaltung des Voͤlkerrechts und überhaupt bie ftete
Herrſchaft der Gerechtigkeit, der Eintradht und der Mäßigung
verheißenden, Erklärungen der hoben Monarchen oben im Ausjuge
mitgetheilt. Ihre Wirkung, ob auch argmöhnifche Gemüther aus der
einer verfchiedenen Auslegung und Anwendung Raum gebenden Alls
gemeinheit ber Ausdrüde mancherlei Beſorgniß fchöpften, war für
die Völker überhaupt beruhigend und wohlthuend. Won Karlsbad
aus aber ergingen ſchwere Anklagen gegen die Voͤlker oder die ebelften
Gaſſen der Nation, und ſtrenge Unterbrüädungs:Maßregefn gegen die
für gefährlich erklärten Aeußerungen bed neuen Öffentlichen Geiſtes.
Und in Karlebad ward: ber unmittelbare Grund gelegt zu bem feither
694 | Congreß.
ohne Unterbrechung fortgefuͤhrten Bau ber — ohne Zweifel won -den.
Häuptern für nöthig erachteten, aber darum für die Nation nicht
minder nieberfchlagenden — Dictatur des Bundestans über bie Bun⸗
besftanten und der. einzelnen Regierungen über die Völker. Die Ges
fhichte, nach deren Zeugniß allerdings, je nach Zeiten und Umftäns
ben, bie Dictatur für eine kurze Periode Hier oder dort nothwendig
oder mwohlthätig fein kann, wird einftens frei darüber richten, ob in
ben Tagen des Karisbader Congreffes und in jenen, welche darauf
— ſolche Dictatur fuͤr Deutſchland oder fuͤr Europa wirkliches
Beduͤrfniß oder nicht geweſen, und ob dadurch die Stimmung der
Völker verbeffert, das Gemeinwohl gefördert, ein für guten Samen
entpfänglicher Boden bereitet, bie edlere Civiliſation vorangeführt, oder
aber von allem biefim das directe Gegentheil fei bewirkt worden.
Wir finden ber Zeitlage angemeſſen, des felbfteigenen Urtheilens uns
hier größtentheils zu enthalten und mehr nur bie nadten Thatſachen
zufammenzuftellen, welche den Stoff der freien, ſtillen Beurtheilung
jedem denkenden Zeitgenoſſen darbieten.
Von den Verhandlungen des Karlsbader Congreſſes iſt, ob⸗
gleich dem Vernehmen nach deſſen Mitglieder bereits in der zwei⸗
tm Sitzung ſich die Geheimhaltung ſowohl dee Protokolle
als aller Aeußerungen, welche in den vertraulichen Berathungen
vorkommen wuͤrden, verfprachen, gleichwohl manches Wichtige bekannt
geworden, und was zur Zeit noch verſchleiert liegt, wird ſicherlich, als
eine der Zeitgeſchichte durchaus nicht vorzuenthaltende Thatſache, es in
Baͤlde werden. Die Protokolle ſind ja nicht ausſchließend in den
Haͤnden der Congreß⸗Mitglieder geblieben; und wie waͤre es moͤglich,
alle Abſchriften, welche davon auch nur an die vielen betheiligten
Höfe ergingen, vor jedem Blicke profaner Augen zu bewahren?
Uebrigeng tft ja die Hauptſache, nämlich der Inhalt. dee Befhlüffe,
früh genug ber Welt bekannt geworden, und find dieſe Beſchluͤſſe
des Beifalld werth, fo kann ja das genauere Wiffen auch ber Art
und Weife, mie fie entftandeh, für keinen Zheilnehmenden bedenk⸗
ih, oder muß jedenfalls minder bedenklich, als die eben des Geheims
niffes wegen nur um fo kuͤhneren Vermuthungen fein.
Bekannt .alfo find allernächft die Namen der Männer, welche
in Karlebald zu Mathe fagen über dag künftige Schidfal der Nation.
Es find die Minifter: Fuͤrſt Metternich für Defterreich, Straf
Bernftorf (und neben ihm Sreiherr von Kruſemark) für Preus
Ben, Graf Rechberg (und neben ihm Sreiherr von Stainlein)
für Baiern, Graf Schulenburg (und fpäter auh Graf Eins
ſiedel) für Sahfen, Graf Münfter (und neben ihm Graf Ha ts
benberg) für Hannover, Graf Winzingerode für Würtems
berg, fodann die Freiherren von Pleffen für Medienburg, von
Berftert für Baden und von Marfhall für Naffau In
einer Conferenz erfchien auch der Freiherr von Fritſch, Staatsmis
niſter des Großherzogs von Weimar, und in einigen andern ber
Gongreß. 695
kurheſſiſche Gefandte Freiherr von Muͤnchhauſen (biefer jedoch
ohne Inſtruction). Als Protokoll: Führer fungirte Anfangs der K. K.
Öfterreichifche Hofrath von Genz, fpäter ber Freiherr von Pleſſen;
jener dagegen leiftete bis zu Enbe feine beften Dienfte durch Ausarbeis
tung wichtiger, zumal an den Bundestag zu dringender Entwürfe ober
Erklärungen, und auch eigener, der politifchen Tendenz der Verſammlung
entfprechender, ratfonnirenber Auffäge. Neun ber höheren Ariſtokratie
angehörige Minifter, (mit einigen Nebenperfonen derfelben Kategorie)
als Repräfentanten von neun. — ober mit Aurechnung des Weis
mar’fchen von zehn — Höfen (aus den einundvierzig Staas
ten, welche Damals der deutiche Bund zählte) entiwarfen — auf bie
Einladung von Defterreih und Preußen — binnen drei Wochen
und einigen Tagen die dem Bundestag lediglich zur Annahme vorzu⸗
legenden, den politifchen Zuftand Deutfchlands weſentlich verändernden,
das innerſte Leben der Nation berührenden Gefege, und verftändigten
ſich zugleich Über die Hauptgrundfäge, welche den meiter angeordneten
Minifter- Conferenzen zu Wien als Bafis oder Richtpunkt der alldort
über die kuͤnftige Werfaffung des deutfchen Bundes zu verabredenden
definitiven Beſchluͤſſe dienen follten. Ä
As Beweggrund zur MWeranftaltung der Sonferenz erklärte gleich
- in der erſten Sisung der Fürft Metternich ſeinen Wunſch: „fi
ed
mit den anmwefenden Miniftern und Gefandten der beutfchen Bundess
. flaaten ungefäumt über die Beforgniffe und Gefahren vertraulich zu
berathen, in welche fowohl der ganze Bund, als auch die einzelnen
Bundesflaaten durch die revolutionairen Umtriebe und bemas
gogifhen Verbindungen, melde man in der legten Zeit ent»
deckt habe, verfegt würden. Zur Sicherftellung gegen biefe Gefahren
feien die ernfteften Maßregeln dringendft nöthig, und S. M. der Kais
fer hielten, nicht nur in Ihrer Eigenfchaft‘ als Bundesglied, Tondern
auch im Intereffe Ihrer eigenen Staaten, für Ihre Pflicht, die deuts
ſchen Höfe zu Ergreifung folder durch gemeinfames Einverftändnig
feftzufegender Mafregeln einzuladen.” Ganz mit diefer erſten Exöffs
nung unb der berfelben beigefügten „Punctation” für bie der Con⸗
ferenz vorzufegenden Berathungsgegenftände übereinflimmend war auch
die fpäter (20. Sept.) in Frankfurt dem Bundestag gemachte
Dräfidiai: Propofition, deren Inhalt die Nation in den öffent
lihen Blättern gelefen hat. Hier wie dort wurde die Thatfache ber
in Deutfchland gährenden Unruhe und Aufregung ale Gegenftand ber
dringendſt nöthigen Kürforge bezeichnet, bier wie dort als Urſachen
folher gefährlihen Stimmung angegeben: zuvoͤrderſt die über dem
Sinn des Art. 13 der Bundesacte berrfchende Ungewißheit und
die dadurch veranlagten falfchen Auslegungen bes befagten Artikels, fos
dann der Mangel einer genauen Beftimmung über die Rechte und
Dflihten des Bundestags, fowie der zu deren Aushbung noth«
wendigen Mittel; weiter die Gebrechen det Öffentlichen‘ Erzies
hung auf ben Schulen und Univerfitäten und endlid der Miß⸗
x
696 Congreß.
brauch der Preſſe, namentlich bie Ausſchweifungen, welche bie
Journale, die periodiſchen Schriften und die Flugſchriften ſich erlaubten.
Meder in Karlsbad, noch in Frankfurt ließ auch nur eine
Stimme fid vernehmen, welche, außer den angebeuteten Urfachen bes
Vebels, noch eine andere und allgemeinere bezeichnet hätte. Denn
wohl anerkennt die Präfidial-Propofition am Bunpdestag, daß bie Quel⸗
len deſſelben „zum Theil in Zeitumfländen und Verhaͤltniſſen, auf
welche keine Regierung unmittelbar und augenblidlih zu wirken vers
mag”, liegen; aber mas kann wohl unter diefen fo kuͤnſtlich gewähls
ten, ganz unbeflimmten Ausbrüden verftanden fein? — Etwa bie
unausbleiblihen Nach wehen ber langen Kriegsnoth, Unterdbrädung
und des fchweren Befreiungstampfes ? oder die Schroterigkeit der Be⸗
friedigung aller ſich durchkreuzenden Intereſſen und Wünfche einer nach
langer Zerrüttung wieder neu zu geftaltenden Welt? — Wahrlidh !
wenn auch nur biefes die Völker drücke, fo wäre unter foldhen Ums
fländen Rechnung zu tragen und der Stab der Verwerfung nicht fos
fort zu brechen gemefen über jede Aeußerung des Mißbehagens. Es
war aber nicht dieſes die Urfache der Gährung ; denn in die Noth⸗
wendigkeit fügt man fi; und fo lange noch die Ausficht auf Vers
befferung des Zuftandes bleibt, erträgt man Entbehrungen und Leiden
gern. Die wahre Urfache der unruhigen und duͤſtern Stimmung der
Dentenden im Volke — mie alle Unbefangenen anertennen müffen
und die edelften Schriftftellee (namentlich auch Zſchokke „vom Geift
bes deutfchen Volkes im Anfang des 19. Jahrhunderts”) laut ausſpra⸗
hen — mar die Nichtbefriedigung der gerehten Forderun⸗
gen der Nation und die Nichterfüllung ber ihr feierlichft gethanen
Verheißungen. Leider überfab man diefes in Karlsbad, und auch
die Präfibial = Propofition ſchweigt davon. Man hielt fih an bie
Symptome des Uebels und verkannte deffen wahren Grund; man
fuchte den Rauch zu erfliden und beruhigte fi) Über den innern
. Brand. Wahrlih! wenn felbft der Fürft von Metternich, in
feinem über den Mißbrauch der Preffe vorgelegten Memoire, ausbrüds
lich beklagte: „man koͤnne ohne Webertreibung behaupten, daß es heute
niht eine einzige ald Privatunternehmung erfcheinende Zeitfchrift
in Deutichland gibt, welche die Wohlgefinnten (d. h. foviel als die den
in Karlsbad aufgeftellten Principien Huldigenden) als ihr Organ betrach⸗
ten Eönnten, ein Fall, der felbft in dem Zeitpunkt der biutigften Anar—⸗
hie in Frankreich ohne VBeifpiel ift”, fo deutet diefes doch eindringlichft
auf eine fo allgemein verbreitete und fo tief gemurzelte öffentliche Mei⸗
nung in der Nation hin, daß ihre Beahtung räthlidher als ihre ges
waltfame Unterdrüudung erfcheinen mußte, und daß zu Erklaͤrung
ihres Urfprungs die in der Präfidial: Propofition aufgeftellten Gründe
durchaus nicht binreihen. Nie wird eine bloße Partei oder eine
Anzahl Verſchworener die Meinung einer ganzen Nation in bem
Stade beherrfchen, und nie koͤnnen die etwa zeitlich eingeriffenen Gebrechen
bes Erziehungswefens oder ein im gegenwärtigen Zeitpunkt auf
Gongreß. 697
den Schulen ſich hervorthuendee unruhiger (vlelmehe nur freiſinni⸗
ger) Geift die Meinungen. der der Schule laͤngſt entwachſenen Mäns
ner beſtimmen. Und auch was die Preffe betrifft, ſo kann doch
wohl die Einmuͤthigkeit aller freien, nicht im Solde ber Autorität
ftehenden, ‚öffentlichen Blätter und politifchen Zeitfchriften in Geift und
Richtung von nichts Anderem herkommen, als von ber gleich einmü-
thigen ober doch entſchieden vorherrfhenden Gefinnung des les
fenden, alfo des denkenden, Theiles ber Nation; und dieſe Gefins
nung wird ſicherlich ducch die Erdrüdung ber Journale, welche fie aus⸗
ſprachen, nicht mit erdrucdkt werden. Selbſt die gerichtlihe Verfolgung
und härtefte Beſtrafung aller Derjenigen, welche etwa, hingeriffen von
brennender Baterlandss und Freiheits-Liebe, ſich In geheime Verbin:
dungen eingelaffen ober gegen beftehende polizeiliche Verordnungen ges
handelt oder andere wirklich tadelnswerthe Schritte follten gethan has
ben (von eigentlih verbrecherifhen Handlungen reden wir nicht;
die ſtrengſte Beſtrafung berfelben — wofern fie irgendwo vorfommen —
nad) Maßgabe der gefeglihen Beftimmungen foll allerdings ftattfins
den, und fand auch jeweils ftatt), ift ein ungeeignetes Mittel zur Stils '
lung des Unmuths, vielmehr, nach pſychologiſchem Geſetz, blos neue
Aufreizung d weitere Verbreitung dee Im Innern zuruͤckgehaltenen
Gaͤhrung bewitkend, zumal alsdann, wenn ihre Anordnung verbunden
iſt mit inquiſitoriſchen Maßregeln, mit willkuͤrlicher oder doch der Will⸗
kuͤr weiten Spielraum darbietender Verhaftnahme und Gefangenhaltung,
mit Conſtituirung außerordentlicher Tribunale, und mit beaͤngſti⸗
gender Aufſtellung neuer, durch die Unbeſtimmtheit oder Vieldeutigkeit
des Ausdrucks leicht auch auf voͤllig ſchuldloſe Handlungen anzu⸗
wendenden Kategorien von Uebertretungen oder Vergehen, dergleichen
jene der „Umtriebe“ und der „Demagogie“ (,„revolutionaire Um⸗
triebe und demagogiſche Verbindungen”) offenbar find. 0
Der Congreß von Karlsbad, wie ber Freiherr von Gagern
in feinem vortrefflichen Sendſchreiben an feinen Freund, den Freiherrn
von Pleffen, welcher von medienburgifher Seite bemfelben als
fehr thätiged Mitglied anwohnte, freimüthig beklagt (man fehe diefes
Sendfchreiben in „Mein Antheil an der Politit“ IV. Stuttgart und
Tübingen 1833), fah von allen ſolchen Betrachtungen ab. Seine Ver⸗
handlungen und in deren folge dem Bundestag zur Annahme vorge:
legten Beſchluͤſſe tragen das Gepraͤge nicht einer verföhnenden, bes
ruhigenden, fondern einer zuürnenben und von einem ganz ein>
feitigen Standpunkt ausgehenden Politif. „Ihnen — alfo lau:
ten die inhaltfchweren Worte des würdigen, ſachkundigen und ficherlich
der Demagogie durchaus nicht verbächtigen Freiherrn von Gagern
(gefeierten Schriftftellers, Staatemannes, Bundestagsgeſandten und
deutfchen Patrioten) — „Ihnen“ (nämlid Herren von Pleffen) kuͤndige
id) über Zhre Karlsbader Ausrihtungen nah) Allem, was Sie mir
darüber erläiuternd gefagt haben, dennoch Fehde an”...... „Es
ift zwar Entwidlung des Bundesſyſtems vorherrfhender Wunſch in
698 Congreß.
ganz Deutſchland; nichts deſto weniger bedarf auch dieſes unſer Staats⸗
foftem noch jener Huͤlfsmittel, wodurch man ſich Eingang, Zuſtimmung
und Dauer verſpricht, und ertraͤgt nicht jene herbe Begleitung:
von Prohibitionen, Ponals Mandaten, Beforgniffen und
Befhuldigungen, und dies in einer Allgemeinheit, die kaum
noch gefunde Theile vermuthen läßt.” — — „Das Anertenntnig und
die verftändige Verfehmelzung der drei Elemente find die hoͤchſten Auf
gaben der Politik. Sie aber affectiren dort gleihfam nur das Eine,
die Fuͤrſtlichkeit zu fehen, die Spige der Pyramide ohne das Funs
dament, bereiten ihre alfo um fo mehr Feinde und gebrauchen endlich
die abgenugte Lift, phantaftifcdye und republilanifche Grillen oder rein
demokratiſche Grundſaͤtze mit den Anfprühen auf geregelte Mo⸗
nardhie, Demagogie mit Demokratie ober mit demokratiſcher
Angredienz beftändig zu verwechfeln, und dazu haben Sie nicht mehr
Recht ale die, welche Kürftlichleit oder Monarchie mit Tyrannei und
Despotism in eine Vaſe werfen, um fie hernady für eine Buͤchſe der
Dandora zufammen auszugeben” u. f. m.
Eine flüchtige Vergegenwärtigung dee Karlsbader Beſchluͤſſe, fowie
fie aus der Praifidial= Propofition am Bundestage hervorgehen, reicht
bin zum Verflindniß und zur Würdigung des Gagern'ſchen Sendfchreis
bens. Ihr Inhalt ſteht in jedes Waterlandsfreundes lebendiger Erin⸗
nerung, und die Grundfäge, worauf dee Inhalt der „provifori«
ſchen“ Beſchluͤſſe gebaut ift, hat der einleitende Vortrag zu bens
ſelben im Allgemeinen und Befondern angezeigt.
Der erfte Befchluß, unter dem Titel: prosiforifhe Erecutiongs
ordnung in Bezug auf den zweiten Artikel der deutfchen Bundes
acte, „ertheilt der Bundesverfammlung die Befugnig und Anmeifung,
allen ihren Befhlüffen, die fie zur Erhaltung der innern Sicherheit,
der öffentlichen Ordnung und zum Schus des Befisftandes zu faflen
fi für hinlänglich veranlaßt und berechtigt hält, die ges
hörige Folgeleiftung und Vollziehung auf eine — umſtaͤndlich vorges
ſchriebene — Weife und nöthigenfalld duch militairifhe Erecus
tion zu fihern. Auch wenn „Rocal: Verordnungen” einzelner
Bundesftaaten, (bierunter find wohl auch derfelben befondere Verfaſ⸗
ſungs⸗Geſetze begriffen) einem Bundesbefchluffe entgegen zu ſtehen
fcheinen, ſoll deſſenungeachtet jene Vollziehung flattfinden. Der zweite
Beſchluß, überfchrieben : „proviforifcher Beſchluß über die in Anfehung
ber Univerfitäten zu ergreifenden Maßregeln“, befiehlt die Anftels
lung eines auferordentlichen landesherelihen Commiſſairs an jeder
Univerfität, melcher ganz befonders den Geift der von den alademifchen
Lehrern aehaltenen Wortrige zu bewachen, und im Fall einer erfcheis
nenden Pflichtübertretung, namentlich durch Verbreitung verderblicher
Lehren, die Entfernung bes Lehrers von feinem Amte zu beantragen
habe. Ein auf folken Antrag oder, auch ohne Antrag body nach vors
ber eingeholtem Bericht, durch Regierungsbefehl feines Amtes entfegter
Lehrer foll in keinem andern Bundesftaate bei irgend einem Sifentlichen
Gongreß. 699
Lehrinſtitut anftelungsfähig fen. Alle nicht autorifirten Verbindungen
unter den Studirenden — vor allen die allgemeine Burfchenfchaft —
folen ftrengft bintangebalten und gegen die Uebertreter neben der
gefeglihen Strafe auch noch die bleibende Unfähigkeitserfiärung zu
irgend einem Öffentlichen Amt verhängt, auch der von einer Univerfis
tät Relegirte auf feiner andern zugelaffen werden. Der dritte Bes
ſchluß, „das Preßgefeg”, verordnet (einftweilen für 5 Jahre, iſt
aber noch heute in Wirkſamkeit) für Schriften, die in der Form
täglicher Blätter oder beftweife erfcheinen, besgleihen für ſolche, die
nicht über zwanzig Bogen im Drud ſtark find, daß fie in keinem deut⸗
fhen Bunbesftaat ohne Vorwiſſen und vorgängige Genehm⸗
baltung (Genfur?) der Landesbehörden zum Drud befördert
werden dürfen, erklärt jeden Bundesſtaat für die unter feiner Ober⸗
auffiht erfcheinenden, die Würde oder Sicherheit anderer Bunbesflans
ten verlegenden oder die DVerfafjung oder Verwaltung berfelben angrei-
fenden Drudichriften nicht nur dem unmittelbar Beleidigten, fondern
auch der Gefammtheit des Bundes verantwortlich, ertheilt der Bundes⸗
verfammlung das. Recht, jede Drudfchrift, gegen welche von einem
Bunbesftaat gegründete Klage erhoben wird, und aud) ohne ſolche
Klage eine jede zu ihrer Kenntniß kommende, in was immer für einem
beutfhen Staat erfcheinende, (fpäter wurden auh im Ausland
erfchienene geächtet), „der Würde des Bundes, der Sicherheit einzelner
Bundesftaaten oder der Erhaltung bes Friedens und der Ruhe Deutſch⸗
lands zumiderlaufende” Schrift durch einen inappellablen Ausſpruch zu
unterdrüden, in welchem Fall der gewefene Redacteur fünf Jahre lung
in feinem Bundesſtaat bei der Redaction einer ähnlihen Schrift darf „
zugelafien werden. Der vierte Beſchluß endlich: „Beſtellung einer
Centralbehoͤrde zur nähern Unterfuhung ber in mehreren Buns
desſtaaten entdedten vevolutionairen Umtriebe”, ordnet eine in
Mainz zu verfammelnde, vom Bund ausgehende, außerordentliche
Gentral= Unterfuhungscommiffion von 7 Mitgliedern an „zur gemeins
fhaftlihen, möglichft gründlichen und umfafjenden Unterfuhung und
Seftflellung des Zhatbeftandes, des Urfprungs und der mannichfachen
Verzmeigungen ber gegen die beftehende Verfaffung und innere
Ruhe, fomwohl des ganzen Bundes als einzelner Bundesftaaten, gerichs
teten revolutionairen Umtriebe und demagogiſchen Vers
bindungen, von melden nähere oder entferntere Indicien bereits
vorliegen oder fi in dem Laufe der Unterfuchung ergeben möchten”. —
Die Strenge und aud die Einmüthigkeit dieſer Befchlüffe erklärt
fih de Pradt fhon aus der Zufammenfegung des Karlsbader Cons
greſſes. „Dites moi — alfo lauten feine Worte — de quels ele-
mens est compose un corps quelconque, et, sans effort de ge-
nie, je vous dirai ce quil va faire“. — Dann fährt er fort:
„En Allemagne les princes superieurement nobles, les miuistres
nobles et tres nobles, les ınediatises einineımment nobles, tous
jes chefs du gouvermement nobles aussi et faisaut vorps avec les
700 | Congreß.
nobles, toute cette chatue d’interesses à Téloignement de l’ordre
nouveau qui les enveloppe et qui les presse, interesses par la
meme au maintien ou au rappel des anciennes institutions qui
avaient été faites par eux et pour eux, tous dans ce pays, sont
en possession de decider seuls de tout, ils le font pour eux me-
mes, et cela inevitablement‘“‘. (Congres de Carlsbad, preface
p. VI) Wir finden eine meitere Erklärung davon. in: der Stellung
zweier Großmaͤchte gegenüber bem deutſchen Bund, welchem fie
als Mitglieder angehören. Die von diefen Mächten in Karlsbad aufge⸗
fteilten und von der Bundesverſammlung aboptirten allgemeinen Grund⸗
füge befagen naͤmlich im Wefentlihen Folgendes: „Der beutfche Bunb
befteht als eine für die Erhaltung bes Gleichgewichts und der allgemeis
nen Ruhe mwefentlihe und wahrhaft europdifche Inftitution, und ee
genießt die allgemeine Garantie, welche die Eyiftenz jedes euros:
päifchen Staates in Folge der Wiener Congreßacte ſichert. Sobald
aber der deutfhe Bund als eine europäifche politifhe Inſti⸗
tution beftehen muß, dürfen in feinem Innern keine Grunbs
füge in Anwendung gebracht werden, melde mit fenem Grundbes
griff und feiner Eriftenz unvereinbar mären. (Ron ber Ans
wendung dieſes Satzes auf die Auslegung bed Artikel 13 der Bundes;
acte reden wir unten.) Die Bundesverfammlung, als Repräs
fentation bes Bundes, tft die oberſte politifhe Behörde In
Deutfhland. Alle legalen Beſchluͤſſe derſelben muͤſſen als Geſetze
des Bundes unverbrüuͤchlich ausgeführt und gehandhabt werden. Nun
macht aber der Augenblid, in welchem das fuftematifche Treiben einer
revolutionairen Partei die Fortdauer und bie Eriftenz aller Regierungen
bedroht, ihnen zur Pflicht, fih auf’ Engfte zu vereinigen,
und daher durch gemeinfchaftlich zu befchließende firenge Maßregeln dem
Unheil Einhalt zu thun“ u. f. mw.
Allerdings, wenn ber deutfhe Bund als europdifche Inſtitu⸗
tion nicht nur in Bezug auf feine Stellung nad außen, fondern auch
in Bezug auf feine innere Berfaffung und beren felbfteigene Ent⸗
widelung ber allgemeinen europdifhen Garantie unterfteht; fo
baben die europdifhen Großmaͤchte, melde bemfelben angehören, ein
zwiefaches Recht, mie ein zwiefaches Intereſſe, der forgfältigen Wahr⸗
nehmung Alles deifen, was in feinem Innern vorgeht, und audy ber
Forderung, daß, mas ihnen als wefentiih an der Bundesverfafs
fung erfcheint, unverändert in Herrſchaft erhaften werde; unb ber
beftimmten Forderung folher Großmaͤchte ift nicht rathfam zu wis
berftehen. Aber alsdann iſt der deutfche Bund nicht frei und felbft-
ftändig mehr ; er genießt des Rechtes einer von feinem eigenen Belieben
abhängigen Verbefferung oder Fortbildung feiner Verfaſſung nicht, wel:
es Recht doch die großen Mächte Rußland, Defterreihh und Preu⸗
Ben ſicherlich für ſich feibft anfprechen, und welches Srankreih und Eng⸗
land, ungeachtet des Wiener Congrefjeß, bereits ausgeübt haben und
fortrmährend ausüben. Alsdann ift die europäifhe Garantie, bie ihrem
Gongreß. 701
reinen ‚Begriffe nah blos eine Schunmehr gegen ungeredte
Gematt fein fellte, zur Feſſel geworben .für die deutſchen Voͤlker
einzeln und in Gefammtheit, und ed wird, dem Princip nad, nicht
nur Defterreih und Preußen, fondern auch Rußland fein Veto ein-
legen dürfen gegen zeitgemäßen Fortſchritt unferer Nation.
Mas fodann den zweiten Grundfag betrifft, daß nämlich alle
md alle Beſchluͤſſe, „reihe die Bundesverfammlung (zu Erhaltung
der inneren Sicherheit, der Öffentlichen Ordnung und bes Beſitzſtandes)
zu faffen, fih für binlänglih veranlaßt und beredhtiget
hält“, als Bundes⸗Geſetze verbindlih und daher unverbruͤchlich
zu beobadıten und zu vollfireden find, fo wird dadurch jener hohen
Verfammlung eine Fülle ber Macht eingeräumt, für die ed — in
Bezug auf die Völker — keine mögliche Beſchraͤnkung mehr gibt.
Alsdann nämlich find die conftitutionellen Schranken, welche der Fürs
fiengewalt in ben einzelnen Staaten mäßigend entgegenftehen, nicht
länger wirkſam, ja nicht länger vorhanden, als die Gefammts
heit der Sürften fie nicht aufzuheben beliebt, d. h. fih dazu nicht
„für veranlaßt hält“; und für die alddann, nach aͤußerem Recht
gültig, den Völkern aufzulegenden Laften, Opfer und Freiheitsbefchräns
tungen ift der Wille der Regierungen das alleinige Maß und
Geſetz. Alsdann ift bie conflitutionelle Stellung eines Staates mit
Zandftänden gegenüber dem Bunbestag zu vergleichen — nicht etwa
jener eines Staates mit Provinzial» Ständen gegenüber ber allges
meinen Staates Regierung (denn auch Provinziale Stände ſtehen
mit diefer in unmittelbarer Wechſelwirkung und mögen wenigftens vore
ftellend oder bittend, mitunter auch wirklich verweigernd, einen befchräns
genden Einfluß auf biefelbe ausüben) — fondern jener eines Vol⸗
tes, welches 3. B. zwar gegenüber den Bezirts« ober Provinzs
Verwaltungen controlivende ober mit dem Rechte der Vorſtellung
und Bitte verfehene Ausſchuͤſſe zu ernennen hätte, gegenüber der alls
gemeinen Staats⸗Regierung, d. h. dem Fürften, aber niht.
Auch die Belchlüffe über die Preffe und über bie Univerſi⸗
täten ruhen auf verhängnißreihen Grundfägen,:deren Discuffion,
als der Doctrin angehörig, Jedem frei ſtehen muß, von uns jedody
dem eigenen Nachdenken ber Lefer gern überlaffen wird, unter Vorbe⸗
halt einiger, in den, der Preßfreiheit und den Univerfitäten zu wid⸗
menden, befondern Artikeln aufzuftellender Betrachtungen. Hier alfo
blos die woͤrtliche Anführung dee Grundfäge, melde theils öffents
lic in ber Präjidials Propofition, theils — fiherem VBernehmen nah —
in den Karlöbader Gonferenzen darüber geltend gemacht worden find.
Der deutfche Bund, alfo lautet ihr gebrängter Inhalt, befteht aus ſou⸗
verainen Staaten, die fih zu wehfelfeitigem Schug und Hülfe
verbündet haben. Die innere Ruhe bed Bundes aber kann theils durch
materielle Eingriffe, theild duch moralifche Einwirkungen (von
Seite einzelner Regierungen oder von jener einer Partei) geftört
werden, Unter folhen Einwirtungen nam iſt feine gefährlicher, als
702 | -Gongreß.
jene bee Preffe, und nicht ſchon durch Repreſſiv-, fonbern nur durch
Praͤventiv⸗Maßregeln, namentlich durch Cenfur, und zwar nur
durch eine von allen Regierungen nach gleichförmigen Grundſaͤtzen
ſtreng gehandhabte Cenſur, kann ihrem gefahrdrohenden Mißbrauch
geſteuert und hiedurch eine wechſelſeitige Garantie der mora⸗
liſchen und politiſchen Unverletzlichkeit ſaͤmmtlicher Mitglie⸗
der des Bundes hergeſtellt werden. Unter den im Art. 18 ber Bun
desacte verheißenen „gleihföürmigen Verfügungen über die
Preßfreiheit“ find alfo nur folche Zu verftehen, wodurd jedem Bun⸗
desftante moͤglichſt gleiher Schug gegen die aus dem Miße
brauch der Preffe in irgend einem andern Bundesftaate ihn bedrohen.
den Verlegungen feiner Rechte, feiner Wuͤrde ober feines Innern Frie⸗
dens gefichert wird; und Fein Bunbesftaat darf fi weigern, einem
dahin gehenden Beſchluſſe — als bei: welchem nicht blos Gewinn und
Vertuft, fonden Leben und Tod auf dem Spiele fieht — feine
Zufttmmung zu geben. Die den Genfurs Behörden hiernach zu ertheis
lende gleihförmige Snftruction, ſowie die vom Bunbestag
in hoͤchſter Inftanz auszuübende Auffiht über Druckſchriften
„ſoll aber nicht auf Beiftesturannei berechnet fein. Ste iſt eine erhals
tende und ſchuͤtzende Maßregel, die den Charakter der Gerechtigkeit,
bee Unparteilichleit, der Maͤßigung forgfältig bewahren muf“.
Wenn e8 wahr ift, was man behauptet, daß dieſe Doctrin über
die deutfche Preffe der Seder des H. Ritters von Gens entfloß, fo
erinnert man ſich nothwendig an das vortreffliche Sendfchreiben, wel⸗
ches derſelbe Mann 22 Jahre früher an den König von Preußen über
die Heiligkeft und Koftbarkeit der Freien Prefje und über die gegen
ihre Beſchraͤnkung ſtreitenden Rechts- und politiſchen Gründe -erlief,
und beflagt dann die traurige Veränderung der Merifchen wie der Zeis
ten. Uebrigens verlangt”. v. Gentz (mie zur Beſchwichtigung feines
Gewiſſens, oder auch zur Einfhläferung der: Freiheitsfreunde) doch
eine „liberale“ Genfur, und — der Schwierigkeit, mas irgend für
eine Cenſur zu rechtfertigen, ſich wohl bewußt — ftellt er ald Haupt⸗
regel für alle Verhandlungen über diefen Gegenftand auf, dag man
ſich nie" auf irgend eine Discuffion abfiracter, theoretifcher
Grundfäse einlaffe, fondern blos den eigenthümlichen Charakter
bes beutfher Bundes und ber wechſelſeitigen Verhälts
niffe feiner Mitglieder unverrüdt zum Augenmerk nehme.
„Auf diefem Zerrain allein läßt fi eine Stellung finden, melche bie
gahllofen Gegner, auf deren MWiderftand man vorbereitet fein muß, fo
leicht nicht übermältigen werden. Verlaͤßt man dieſes Zerrain und bes
gibt fih auf das Feld bes allgemeinen, philofophifhen und
politifhen Ratfonnements, fo ift, wie die Sachen heute ftehen,
ein günftiger Ausgang nicht mehr denkbar.” —
Ueber die Univerfitäten hat die PräfidialsPropofition
bie Anfichten ber Karlsbader Minifter ausgefprochen, es möge daher
bie Verweiſung auf B. VIIL ber Bundestags » Protokolle genügen.
Kongreß. 703
Aber eine hierauf ſich bezlehende Stelle des oben erwähnten v. Gas
gern"fchen Sendfchreibene wird uns hier anzuführen erlaubt fein:
„Ste fprahen in Karlsbad bequem von ber beftehenden Ord⸗
nung der Dinge, gegen welche jene Univerfitätös Lehrer Exrbitterung
einflößen follen; und ich fuche vergeblich den Beftand. Unter welchem
Regimen leben wir denn in Europa und Deufchland ? Sprechen wir hier
ganz. offen. Ich fehe drei große Beſtandtheile: 1) die Heilige Als
Lian, eine abftracte, ſittliche Vorſchrift, deren verftändigen, billigen Com⸗
mientar noch Niemand geliefert hat; 2) ein Syſtem der großen Maͤch⸗
te, welches zu. entfalten, zu beflimmen, zu befinicen, diefe großen Maͤch⸗
te felbft große Scheu tragen; 3) eine Bundesacte, die wir zu entwideln
and zu Wien erft vomahmen und die Sie eben jegt abermal zu ents
wideln ſich vornehmen;. einen XIII. Artikel, von dem Sie bald behaups
ten, daß er Mar fei, unb bald, daß er nicht Har fi. Dazu Sous
verainetät, die fo Höchft ſchwer zu definiren ift.... Daher können die
heutigen Lehrer nicht ‚einmal wiffen, was fie lehren follen.... Uebri⸗
gend waren die alten. Lehrbücher und Commentare voll offener
Discuffion, voll grünblicher Beſtimmung ded Standpunkt des
Kür und Wider, des Strebens dee verfchiedenen Parteien, der Caͤ⸗
farianer und Fürftenianer, dann ber Iandfkindifchen Gerechtſame. Sch
möchte Sie bort ſaͤmmtlich beſchwoͤren, bei Allem, was Ih⸗
nen heilig ift, Ihrer großen Verantwortlichkeit und: vielleicht des Flu⸗
des und der Verwuͤnſchungen wegen: hintergehen Sie Ihre Herren
nihti bringen Sie Ihnen nicht den Wahn bei, als ob alles das, was
jegt vorgeht, Neuerung und Neuerungsfuht, und von ihrer
Seite nur Langmuth und Gnade fe. Sagen Sie ihnen, daf in
jenen ſtaatsrechtlichen Lehrbuͤchern alte Dinge ‚gründlich erörtert waren.
Sagen Sie ihnen, daß jene Mofer, Struben und Pütter das
landftändifche. Mecht,; die Bewilligung der Steuern in ihrem größten
Umfang und mit dem größten Nahbrud nachgemwiefen, gewiſſenhaft
vertheidigt und “gelehrt haben. Sagen. Sie ihnen, daß die Beurs
theilung der deutfhen Staatenfpem von jeber ganz frei
war u.f.w. : | Ä
Auch in Anfehung der in Mainz zu errichtenden Central⸗
Unterfuhungscommiffion gegen revolutionnire Umtriebe
und demagogiſche Verbindungen (der urfprünglihe Entwurf lautete
gegen „Hohverrätherifhe” Unternehmungen, was aber wegen
zeitlich noch mangelnden Thatbeſtandes abgeändert ward) enthält ber
Präfidialvortrag die Gründe, welche den Karlsbader Congreß zu biefem
Vorfchlag beftimmten. Eine der großen Maͤchte hatte verlangt, daß
die Gommiffion zugleich zum außerordentlihen Bundes s Gericht er
Elärt werde, zumal darum, weil fonft leicht gefchehen möchte, daß bie
in ben Ländern am linken Rheinufer beftehenden Geſchwornen⸗
Gerichte in Aburtheilung ber: wegen revolutionaiter Umtriebe Angeflags
ten anders entfchieden, als bie Gerichte des rechten Ufers. Das an⸗
geregte Bedenken gegen bie Zuſtaͤndigkeit eines folden außerordent⸗
704 Congreß.
lichen Gerichts, zumal nach den Beſtimmungen mehrerer Conſtitutions
urkunden, bewog aber die Conferenz, einſtweilen blos auf die Un»
terſuchungs-Commiſſion anzuttagen, unter dem Worbehalt für ben
Bundestag, fpäter, je nach dem Inhalt des von der Commiſſion über
das Ergebniß der Unterfuchung zu erflattenden Berichts, über die Frage
wegen bes Gerichtshofs den geeigneten Beſchluß zu fallen. Es iſt be
kannt, daß bie fo feierlich amgefündete und unter Erwartung großer
Refultate glei im Spätjahe 1819 in Xhätigkeit geſetzte Gommiffion
eine Meihe von Jahren hindurch ihre geheimen Arbeiten fortfegte, ohne
irgend etwas Erhebliches von Ergebniffen ihres Wirkens zur äffentfis
chen Kunde zu bringen (mas gleichwohl verheißen war), und daß fie
endlich im J. 1828 -allmälig und ſtill ſich auflöfte. Ob fie hiernach
nothwendig, nd fie ein auf den Zweck wohlberechnetes Mittel gervefen,
geht ſchon aus den früher gegebenen Andeutungen hervor. Koftfpielig
war fie jedenfalls, denn, wie man behauptet, hat fie die Bundescaſſe
gegen 100,000 fl. und bie fieben Regierungen, von weldyen jede ein
Mitglied zu ernennen und zu unterhalten hatte, gegen eine halbe Mil⸗
lion Gulden gekoftet. | ,
Alle diefe VBefchlüffe wurden, um geringere Aufregung -ober Be⸗
forgniß zu veranlaffen, nur als proviforifche oder tranfitorifche
angekündet. Ein Berathungsgegenftand aber, naͤmlich der über. den
Sinn des XI. Art. der Bundesacte, follte feiner Natur nad) zu einem
definitiven führen. Derfelbe jedoh kam noch nidht in Karies
bad, fondern erft bei den darauf gefolgten Minifterials Conferens
zen in Wien zu Stande, und macht einen Daupttheil ber alldort
unter Theilnahme von Abgeordneten aller Bundesftaaten — fotglich
nah mehrfeitiger und ruhigerer Emägung — errichteten
„Schluß-⸗Acte“ aus. Diefe Schluße Acte, deren Inhalt allen uns
fern Lefern bekannt ift, athmet, in Bezug auf den fraglihen Gegens
ftand, einen Geift der Maͤßigung und Vorſicht, welcher, wenn die
Karlsbader onferenz darüber entfchieden hätte, daran mohl vers
mit worden wäre. Denn — tie fhon aus der kurzen Andeutung
in der Prafidial:Propofition zu erfennen ift, aber aus weitern unzwei⸗
felhaften Nachrichten und zumal auch aus dem v. Gagern'ſchen Send:
fhreiben mit voller DBeflimmtheit hervorgeht — die Karlsbader
Minifter waren im Begriff, eine Auslegung de6 XD. Artikels zu ges
ben, welche das ganze conftitutionelle Spitem in Deutſchland würde
umgeftürst haben. Die Grundlage ber darauf fich beziehenden Ver⸗
handlungen bildete eine von Herrn v. Gens verfaßte Denkſchrift
„uber den Unterfhied zwifhen landfländifhen und
Mepräfentativ: VBerfaffungen”, deren Hauptmhalt in nachſte⸗
henden Sägen befteht: | |
Landftändifhe Verfaſſungen find die, in welchen Mitglieder
oder Abgeordnete durch ſich ſelbſt beftchender Körperfhaften ein
Recht der Theilnahme an ber Staatsgeſetzgebung überhaupt oder an
einzelnen Zweigen berfelben durch Mitberathung, Zuflimmung, Gegen
Congreß. 703
vorftellung ober In frgend einer andern verfaffungsmäßig beftimmten
Form ausüben. Repraͤſentativ-Verfaſſungen hingegen find ſolche, wo
die zur unmittelbaren Theilnahme an der Geſetzgebung und zur unmit⸗
telbaren Theilnahme an den wichtigſten Geſchaͤſten der Staatsverwal⸗
tung beſtimmten Perſonen nicht die Gerechtſame und das Intereſſe
einzelner Stände oder doch dieſe nicht ausſchließend zu vertreten,
ſondern die Geſammtmaſſe des Volks vorzuſtellen berufen ſind.
Landſtaͤndiſche Verfaſſungen ruhen auf der natuͤrlichen Grund⸗
lage einer wohlgeordneten buͤrgerlichen Geſellſchaft, in welcher ſtaͤndi⸗
ſche Verhaͤltniſſe und ſtaͤndiſche Rechte aus der eigenthuͤmlichen Stel⸗
lung der Claſſen und Corporationen, auf denen ſie haften, hervorge⸗
gangen und im Laufe der Zeiten geſetzlich modificirt, ohne Verkuͤrzung
der weſentlichen landesherrlichen Rechte beſtehen. Repraͤſentativ⸗
Verfaſſungen ſind ſtets in letzter Inſtanz auf den verkehrten Be⸗
griff von einer oberſten Souverainetaͤt des Volkes gegründet und fühs
ren auch diefen Begriff, mie forgfältig er auch verſteckt werden mag,
nothwendig mit fih. Daher find Tandftändifche Verfaffungen
ihree Natur nach der Erhaltung aller mahren pofitiven Rechte und
aller wahren, im Staate moͤglichen Freiheiten günftig.. Repraͤſen⸗
tativ = DVerfaffungen dagegen haben die beftändige Zendenz, das Phans
tom ber fogenannten Volksfreiheit (d. h. der allgemeinen Willfür)
an die Stelle der bürgerlihen Drdnung und Suborbination und den
Wahn allgemeinere Gleichheit der Nechte, oder, was um nichts
beffer ift, allgemeine Gleichheit vor dem Gefege, an die Stelle
ber unvertilgbaren, von Gott felbft geftifteten Stan⸗
bes= und Rechts unterſchlede zu fegen. Landftändifhe Werfafs
fungen entfpringen aus ben für ſich beffehenden, niht von Mens
fhenhänden gefhaffenen Srundelementen bed Staates. Mes
prafentativ= Verfaffungen find die Frucht dußerer Gewalt, wenn
fie durch vorhergegangene Mevolutionen nothwendig gemacht, oder aber:
ber Willkür, wenn fie ohne dußern Zwang aus einem falfchen Mo⸗
tiv der Staatsklugheit befchloffen worden”. .... „Kleinere Staaten
zumal gehen mit dem Repräfentativ-Syftem unausbleibli zu Grunde;
nur in großen Staaten mag die Regierung Eräftig genug fein, ben
aus jenem Syſtem hervorgehenden Stürmen zu trogen. Wird die Re⸗
präfentativ = Sonftitution durch einen mit den Unterthanen gefchloffenen
förmlihen Vertrag zu Stande gebracht, fo wird dadurch der uns
finnige Grundſatz ber oberſte Souverninetät des Volkes
unmittelbar und ausdrüdlich anerkannt, und bie Gonftitution felhft, ba
mit diefem Grundfag eine vereinbar ift, koͤmmt daher fhon todts
geboren zur Welt”,..... „Endlich ift die von dem Nepräfentativs
Spftem unzertrennlihe Volkswahl allemal, und befonders in klei⸗
neren oder zerriffenen Staaten, ber naͤchſte Schritt zur Demagogie.
und durch diefe zu wiederholten Erfchütterungen, unter welchen früh
oder fpät bie rechtmäßige Macht erliegen muß”. ...... „In ber Theos
vie des Repräfentativ:Spftems fleht der angebliche Grundfag der Theis
Staats⸗ texiton. III. 45
706 Congreß.
fung der Gewalten oben anz ein Grundſatz, bee Immer und
uͤberall zur gaͤnzlichen Vernichtung aller Macht, mithin zur reinen
Anarchie fuͤhren muß, beſonders wenn die Theorie (wie z. B. in
der badiſchen Verfaſſung) dahin erweitert wird, „daß jede Kammer
und jedes Mitglied jeder Kammer, ohne alle Ruͤckſicht auf beſondere
Verhaͤltniſſe oder Gerechtſame, nur als Vertreter der Geſammt⸗
heit betrachtet werden ſolle“...... „Die als nothwendig erklaͤrten
Attribute des Repraͤſentativ- Syſtems (Verantwortlichkeit der Minl⸗
ſter, Oeffentlichkeit der Verhandlungen, Preßfreiheit u. ſ. w.) ſind un⸗
verträglih mit den erſten Bedingungen einer monarchiſchen Res
gierung. Schon bie Defjenttihkeit der. Verhandlungen
ber Volkskammer iſt ein unmittelbarer Schritt zur Herabwürbdigung als
ler Autorität und zum Untergang aller Öffentlichen Ordnung” u. ſ. w....
„Endlich aber liegt die Unvereinbarkeit bes Repräfentativ-Syftems
in einzelnen Bunbesftaaten mit ben dem beutfhen Bundestage
beigelegten Rechten und Pflihten am Zage. Die Anhänger diefes Sys
ſtems ſelbſt flellen hiefür die fchlagendften Beweiſe auf. Ein Fürft,
ber durch die Verfaffung feines Landes oder durd) die derfelben gegebene
Auslegung für einen der Beſtandtheile der gefeggebendben
Macht erklärt wird, und volsvertretenden Behörden von jeder feiner
Verwaltungs: Maßregeln Rede und Antwort geben muß, fann aller
dinge ohne Mitwirkung diefer Behörden an den Beſchluͤſſen eines reis
nen Sürftenrathes nicht Theil nehmen. Was ein einzelner Regent zu
Haufe nicht vermag, kann auch allen deutfchen Regenten deutfher Staus
ten, wenn fie in Perfon oder durch inftruirte Sefandtfchaften irgendwo
zufammentreten, nicht geftattet fein.” — „Hiernach fliehen wir auf
einem dußerften Punkte, von dem nur noch ein einziger Pfad
Rettung verfpriht. Wenn die deutfchen Fuͤrſten ſich nicht jegt noch
über eine gleihfärmige, mit der Sicherftellung ihrer Rechte und
ihrer Kronen und mit der Erhaltung des deutfhen Bundes vereinbare
Auslegung und Vollziehung des XII. Art. vereinigen, unb
wenn jenen, die bei der Bildung ihrer Verfaffungen den einzig wahren,
einzig zuläffigen Sinn diefes Artikels verfehlten, nicht zu einer ges
[hidten und anfländigen Ruͤckkehr die Hand geboten werden
kann, fo bleibt uns Allen nichts übrig, al8 dem Bunde zu entfagen.”
Diefen oder ähnlichen Anfichten gemäß lauteten, dem Vernehmen
nah, die umftändlihen und zum Theil fcharfen Aeußerungen faft aller
anwefenden Miniſter. Alle erblidten in ben Nepräfentativ s Verfaffuns
gen ein den Fremden abgeborgtes und ein gefährliches demokrati⸗
[ches SInftitut, eine Aufhebung des monarhifhen Principe
und fonady eine mit dem Weſen, ja mit dem Dafein bes deutſchen
Bundes durchaus unverträgliche Einfegung. Alle verlangten eine
von Bundes wegen zu verorbnende Beſchraͤnkung der flänbdifchen
Rechte in der Sphäre der Gefeggebung, Steuerbewilligung
und zumal der den Bund näher oder entfernter angehenden Dinge.
Alle (oder doch die meiften) behaupteten, baß ber Sinn des XII. Art.
Gongreß. 707
nach der Abficht des Wiener Congreſſes nicht auf Repräfentative
Berfaffungen, fondern offenbar nur auf bie altherkoͤmmlichen
(Feudal⸗) Landſtaͤnde gegangen ſei. Alle beklagten zugleich das
aus ber Deffentlichkeit der flänbifchen Verhandlungen quellende
Uebel, welchem entfchiedenft Einhalt zu thun, bie Pflicht der Selbſter⸗
haltung gebiete. Ä u
Auch gegen dbiefe Erklärungen erhebt ſich der Freiherr von Gas
gern in feinem denkwuͤrdigen Sendfchreiben mit patriotiſchem Freimuth,
und die Worte diefes, gleichwohl dee AriftoEratie angehörikgen und
anhängigen, wärbigen Staatsmanns gegen die Webertreibungen feiner
Standesgenoffen find gewiß von deſto größerm Gewicht. Wir entheben
dem Schreiben die hierauf allernächft bezügliche bedeutungsvolle Stelle:
„Harmonie und Verföhnung find die großen Dinge, bie
uns in Deutfchland.fo noth thun. Der Nation wieder Selbftvertrauen zw
geben, den Mißmuth zu tilgen, für bie Ariftofratie Ziel und Maaß zu
finden, ſind der Staatsmänner erfte Aufgaben. Sie aber, In Karlsbad,
erſchweren die Löfung ungemein, wenn Sie biefelbe nicht unmöglich
madhen. Denn Sie find dort in beftändigem Hader und Zwiſt, gleiche
fam ex officio, mit allen Claſſen begriffen, und beleidigen diefelbe ſchon
damit in massa, indem Sie ihnen die „Neugierde vorwerfen,
Die doch unftreitig von dem Kronprinzen bis zum Tagelöhner Jedem
erlaubt und ber dominierende und unausiöfchlihe Zug In Europa ges
worden if. „Eitle Neugierde”, die Sie zugleich andern Voͤlkern
vorwerfen ald Quelle zahllofer- Uebel in den Worten: ”
„„Seitdem bie in verfchiedenen Staaten eingeführte Deffentlich⸗
keit der ftändifhen Verhandlungen und die Ausdehnung
berfelben auf Gegenftänbe, die nie ander& als in regelmäßiger, feier
licher Form aus dem Heiligtum dee Senate in die Welt dringen,
nie eitler Neugierde und leichtfinniger Kritik zum Spiel dienen
ſollten,““ u. f. mw. Ä
„Ich frage Ste, was verfiehen Ste unter biefen Senaten?
Wo find fie? Ich will ganz die Weisheit aus bam Spiele laſſen, Nies
manbden beleidigen; aber mo find diefe Senatet Und was wirb man
zu diefen Phrafen in London, Paris, Amſterdam und Brüffel, ja in je⸗
dem entfernten Winkel biefee Reiche fagen? As ob das Maaß ber fies
henden Deere, die Abgaben, die Zölle nicht etwa Dinge wären, bie jeder
Hausvater zu beobachten nothgedrungen ift, um feine häuslichen Einrich⸗
tungen darnach zu treffen, und die er ein fo hohes und reges Intereffe
hat, nicht überdie Gebührausgebehntzu fehen. Fuͤrwahr! manfollte manch⸗
mal glauben, fle wären dort Männer aus bem. Mond gemwefen.”
„Man wagt zu fagen in ſolcher Allgemeinheit: und birecten Bezie⸗
hung: „„fremde Einrihtungen paften niht auf und,”"
nachdem ber größte Theil von Deutfchland, bee Zahl der Glieder nach,
biefe fremden Sachen ſich fchon angeeignet hat. Wollen Ste biefe Laͤn⸗
ber erbittern und verwirrn? — Mein Herr! Die Nefultate aller His
ſtoriſchen Nachforſchungen zielen dahin, daß eben dieſ uyfremb en“
708 Gongreß.
Dinge urſpruͤnglich deutſch, urfprüngfich bie unfrigen find.'’....
„Gewoͤhnen wir diefe Nation nur nicht an eine Verruͤckung ded Stande
punkts — nicht an Unmahrheiten — an Phrafen, bie man dafür nehe
men kann. .... Und find denn bie Acten und Klübers Sammlun⸗
gen nicht in Jedermanns Händen? Gibt es benn wirklich bei ber
Frage von Ständen einen foliden Imweifel? Die Bewilligung ber
Gteuern und die Unterfuhung, bie dahin führt, ift fie nicht
Alles in Allem, und wo fie nicht ift, ein ganz anderer Maßſtab? Was
iſt alfo das „nicht zweideutige“ landſtaͤndiſche Princip? Raͤum⸗
ten Sie nicht in dieſem ſelbigen exordio foͤrmlich ein, daß es zwei⸗ und
vieldeutig ſei? — Daß Oeſterreich, nad der Zuſammenſetzung die⸗
ſer Monarchie, unmoͤglich allgemeine Reichsſtaͤnde haben koͤnne, iſt ein⸗
leuchtend ; das iſt laut zu ſagen. Und warum ſagt man das nicht laut
und officel und oft? Glauben Sie, daß der Deutfche für Gründe der
Vernunft taub und unempfaͤnglich geworden fei? Aber man will ber
Nation den blinden Glauben an die Weisheit ber Se»
wate emflößen, und wer fteht an der Spige biefer Senatet” ....
. „Mit Zuverfiht fage ich: ich vermiffe die offene Sprache. Ich wie⸗
berhole ar, das Nachdruͤcklichſte — diefe Retizenzen, halbe Vers
beißungen, halbe Ruͤckſchritte, Halbe Erplicationen, fo
viel Kunft auch darin fein mag, find niht gut.“ .. „ . „Beſonders
aber iſt nicht gut das Beginnen der repräfentativen Ber»
faffung in Deutfchland, ben bisherigen Verlauf anzuflagen,
und, wie man in Karlabad gethan bat, heftigen Zabel darauf zu
werfen. Wir, die Edelleute, haben einiges Recht dazu, die Für»
ſten aber nicht, nicht ohne Undant. In Münden, Karlsruhe,
Stuttgart ift man ihnen nie nur mit Liebe, fondern mit Enthus
ſiasmus emtgegengefonmuen.” . . . . „Den Anfpruh, ftändifche
Deputirte auf den Bundestag zu fenden, habe ich felbft angefochten.
Aber die Kammern, mein Here! find volllommen geeignet, Buns
desfachen zu erörtern. Sie hängen eng mit dem Budget, mit bem
milite perpetuo, mit ber Refponfabilitätder Miniſter, mit der ganzen
Haltbarkeit des Bundes zufammen, und nur Unmiffenheit ober Ge»
fährde kann bier eine neue Doctein finden” u. f. w.
So meit der Freiherr von Gagern. Es fei uns erlaubt, noch
Einiges vom eigenen Standpunkt beizufegn. Wir möchten mit Deren
von Gens fagen: „Wir ftehen aufeinem Außerfien Punkt, von
dem nur noch Eines — das Zefthalten an den landftändifchen Vers
foffungen im Sinne bes echten Repraͤſentativ⸗Syſtems — Rets
tung. verfpricht. Die. Frage Über den Sinn bes XIII. Artikels ift bie
wahre Lebensfrage.
Die hieher gehörige Stelle des bie Karlsbader Gefinnung anbeus
tenden Präfidialvortrages lautet alfo: „Nie haben die Stifter bes deut»
fhen Bundes vorausfegen können, daß dem XIU. Artikel Deutungen,
die mit den Paren Worten deſſelben in Widerſpruch ftänden, gegeben,
oder Folgerungen baraus gezogen werben follten, bie nicht nur ben
Congreß. | 709
XII. Artikel, ſondern den ganzen Text dee Bundesacte in allen
feinen Hauptbeflimmungen aufheben und die Fortdauer bes Bun⸗
desvereins felbft hoͤchſt problematifh machen würden. Rie haben
fie vorausfegen koͤnnen, daß man das nicht zweideutige landſtaͤndiſche
Princip mit vein demokratiſchen Grundfägen und Formen verwechfeln
und auf. diefes Mißverſtaͤndniß Anfprüche gründen würde, deren Unver⸗
einbarkeit mit der Eriflenz monardifher Staaten, bie die einzigen
Beftandtheile des Bundes fein follen, entweder fofort einleuchten oder
doc in ganz Eurzer Zeit offenbar werden müßte” m. f.w.....„Es muß
daher eines der erften und dringendſten Gefchäfte der Bunbesverfamms.
lung fein, zu einer gründlichen, auf alle Bundesſtaaten anwendbaren,
nicht von allgemeinen Theorien oder fremden Muftern, fondeen von
deutfchen Begriffen, deutſchem Rechte und deutfcher Geſchichte abgeleiter _
ten, vor Allem aber der Aufrehthaltung bes monarchiſchen
Mrincips, bem Deutfchland nie ungeftraft untreu werden darf, und
der Aufrehthaltung des Bundesvereins, 'als ber einzigen
Stüge feiner Unabhängigkeit und feines Friedens, volllommen angemeffes
nen Auslegung und Erläuterung des XIII. Art. der Bundesacte zu ſchreiten.“
Sollte wirklich diefe — im Sinne der Karlsbeder Mini»
ſter auszulegende — Stelle das wahre Maag der von den beutfchen
Voͤlkern anzufprehenden politifchen Rechte ausdruͤcken, fo wäre:
1) diefen Völkern zum Lohn für ihre den Thronen geleifteten, für
deren MWiedererrichtung oder Erhaltung entfcheidenden Dierte, für ihre
zahlloſen Leiden und Opfer und für ihren im Befreiunge ampf bewies
fenen Heldenmuth an Lohnes Statt vielmehr die empfindlichſte
Kraͤnkung, die bemüthigendfte Unterdrüdung zu Theil worden. Lies
ber gar Feine Stände, als blos Feudal⸗Staͤnde! alfo würde es
durch die deutfhen Gauen tönen, wenn wirklich nur diefe Alternative
geboten wäre. Lieber. den rein monardhifhen Abfolutismus,
als die Verbindung beffelben mit Feudal⸗Ariſtokratie, Kaftengeift und
mittelalterlihem hiſtoriſchen Recht! Dort ft noch Hoffnung bes
Sortfchreitens; ein dem Zeitgeift befreundeter Megent mag die Lofung
dazu geben. Hier aber erbtiden wir nur flarres Fefthalten am alten
Gebrauch, und unverfähnliche Feindſchaft gegen jedes Volkésrecht.
2) Es wäre fodann der XIII. Art., der eine Gewährung au
fpredyen foll, in directem. Widerfpruch mit dem Begehren, mwels
chem man fcheinbar willfahrte. Deutlich und laut hatten die deutfchen
Völker ihe- Verlangen einer freiheitlihen, d. h. das Volksrecht
ehrenden Verfaſſung ausgefprohen; dem befiegten Feinde mar
auch eine folhe duch Ludwigs XVII. Charte zu Theil geworden,
und die Sieger follten derſelben Wohlthat für unmerth erklärt wer⸗
den! Mahrlih! dee — obmohl kurz lautende — XII. Act. muß im
Sinn bed taufenditimmigen Verlangens erflärt werben, auf wel
ches er ſich bezieht, oder er wäre reine Taͤuſchung gemefen. Je⸗
benfalls ift die im Ausdrud etwa erkennbare Zmeideutigkeit — nad
einer allbefannten Rechtsregel — nicht zur Ungunft ber Verlangen»
710 Gongreß,
den, wiewohl bes zählenden Wortes Ermangelnden, auszulegen, fonbern
gegen diejenigen, bie da zu gewähren und gu ſprechen hats
ten, und welche demnach auch deutlich zu fprechen fh uldig waren.
3) Es müßte die feltfame Behauptung aufgeftellt werden, bie
vielen Regierungen, welche feitdem Verfaſſungen im vepräfentativen
Sinne gewährten, und die ganze Bundesverfammlung, weiche ſie zum Theil
förmlich garanticte, zum Theil wenigſtens ohne Segenbemerfung zur
Motiz nahm, feien bis zum Karlsbader Gongreß in dem weſentlich⸗
ſten Irrthum über den (in Bezug auf Völker und Regierungen)
alferwichtigften Artikel der doch aus ihrer eigenen gemeinfchaftlichen
und forgfältigften Berathung bervorgegangenen Bundesacte befangen,
oder gar mit den Univerfitätslehrern und Zeitungsfchreibern von dem
Schwindel der'hohlen Theorien und der unruhigen Neuerungsſucht ers
griffen gewefen. Diefe Behauptung durchzufuͤhren würde ſchwer fein.
Vielmehr ift das Gegentheil davon Klar wie der Tag. Haben body die
Fuͤrſten in allen ihren den Völkern gemachten Verheißungen ausdruͤcklich
von Inſtitutionen gefprohen, mwelhe dem Geäft des Jahrhun⸗
berts und den Kortfchritten der Aufklaͤrung gemäß wären;
fie haben alfo nicht die Wiedererweckung längft veralteter und uıs
fprünglicy einer halb barbarifchen Zeit entfliegener Inftitutionen, fondern
bie Einführung von folhen, welche den Bebärfniffen und Ideen der Ges
en wart entfprächen, verheißen; und follte auch bier oder bort en
Serthum über die Wirkungen oder Folgen folcher Einfegungen
obgemwaltet oder die Wahrnehmung berfelben in gewiffen Regionen eis
nige Beforgniffe hervorgerufen haben, fo wuͤrde daraus wohl ber
Wunſch, wieder umkehren zu koͤnnen oder zu dürfen, erflärbar, nicht
aber der urfprünglidhe Sinn des XII. Artikel verändert werden.
4) Endlich aber, und auf die ſe Betrachtung legen wir das meifte
"Gewicht, drüdt die von den Miniftern auf die Auslegung des XIII.
Art. verwendete Mühe die Anfiht aus, daß alles politifche Recht der
deutfhen Nation lediglich allein auf diefem XIII. Artikel ruhe, und
daß fie daher gar keines anzufprechen hätte, wenn nicht alldort die
von den Fürften gewährte Vergünftigung flünde. Uns will aber bes
duͤnken, daß, fo dankenswerth das ausbrüdliche Anerkenntniß oder Vers
heißen einer die Regierungsgewalt mäßigenden Berfaffung fet, gleichs
wohl aud ohne ben XII. Artikel die Nation eine ihrer geiftigen und
moralifhen Bildung entfprechende Berfaffung hätte fordern koͤnnen,
und daß man, wenn aud die Bundesacte vollig davon geſchwiegen
hätte, ihr nicht hätte verfagen dürfen, was man den befiegten Frans
zofen gewährte. Die Deutfchen für minder fähig oder minder wuͤr⸗
dig einer liberalen Verfaffung zu erklären, ald man thatſaͤchlich die Frans
zofen anerkannt hat, wäre eine Ehrenkraͤnkung nicht minder ale
materielle Recht skraͤnkung für unfere Nation, und kaum dürfte
ein Diplomat ben Muth haben, den Satz unummunden auszufpreihen.
Man fügt alfo die Unvereinbarlichleit einer folhen Verfaſſung
wit der jegt einmal durch europdifche Verträge in's Dafein gerufeuen
Gongreß. | 711
und garantirten deutſchen Bundesverfaſſung, bie da keine Schmaͤ⸗
lerung des monarchiſchen Princips zulaſſe, vor, ruͤttelt aber da⸗
durch an den Hauptpfeilern des wahren Rechtsbeſtandes des Bundes
ſelbſt. Denn wahrlich! ganz Europa hatte kein Recht, einen
deutſchen Bund auf einer Baſis zu errichten, welche mit der Befriedi⸗
gung der heiligſten Rechtsforderungen der Nation im Widerſpruch
ftände; und es wuͤrde, falls ſolcher Widerſpruch wirklich vorhanden
wäre, die Pflicht Europa’s und der hoͤchſten Bundesgewalt fein, die
Bundesverfaffung durch geeignete Umftaltung ober Reform moͤg⸗
lichft in Uebereinflimmung oder Verträglichkeit mit ben Mechten ber
Dölker zu fegen. Zum Güde jedoch ift dem wirklich nicht alfo: die
Bundesverfaffung, fo wie iht Grundgeſetz lautet, erträgt gar wohl
die liberalſte Erfüllung des XIII. Artikels, und bie Zeit wird hoffente
lich kommen, in der man ed allfeitig einficht und ausſpricht. —
Menn wir von den Karlsbader Verhandlungen etwas
ausführlicher gefprochen haben, fo gefhah es wegen ihrer unermeßlichen
Wichtigkeit, und weil fie zugleich den Ton angaben oder den Grund
legten zu den Verhandlungen aller feither meiter gehaltenen Gongreffe.
Bei diefen mird uns jest erlaubt fein, uns auf eine fummarifche
Darftellung ihrer Veranlaffung und ihrer Befchlüffe zu befchränken.
Die Rihtung war einmal entfhieden genommen; maß feit
Karlsbad weiter folgte, war nur die Anwendung feltftehender Grunde
fäge auf die jeweild eingetretenen neuen Ereigniſſe. Der ausgezeich⸗
netfte unter den Karlöbader Miniftern hatte unter Zuflimmung der
übrigen feine Weberzeugung dahin ausgefprochen, „daß jeder nur halb
ausgeführte oder gar rädgängige Schritt in den Grundfägen,
welche der Gonferenz vom erften Augenblid an mährend ihrer ganzen
Dauer fo lebendig vorfchmwebten, buch den Umſturz alles Rechts
geftraft merden mürde, fo wie jebe Gefahr der Zeit durd das
engfte Fefthalten an bdiefen Grundfägen befeitigt werben koͤnne;“
eine Erklärung, die al8 Programm dienen mag nit nur zu den nach⸗
folgenden Congreß: Verhandlungen, fondern auch zu jenen bes Bun».
destags, welche aber, wenn etwa einiger Irrthum dabei unterlaus
fen wäre, für. die Regierungen wie für die Völker nidyts Gutes weifjagte.
Die Minifteriaf- Conferenzen In Wien, mildern Tones zwar als
jene zu Karlsbad, wovon fie die Kortfegung bilden follten, loͤſ'ten
nad längerer Dauer (vom 25. Nov. 1819 bis 24. Mai 1820) ihre
fhwere Aufgabe durch Ausarbeitung der „ Schlußacte”, welche bie
Verfaffung und Drganifation des deutſchen Bundes vervollſtaͤndigen
und: die bereits in Karlsbad aufgeftelten Ideen fo viel möglich verwirk⸗
lichen follte. Unter dem Art. „deutfher Bund” werden mir ihrer
Beftimmungen umftänbdlicher gedenken. Hier bloß bie Bemerkung, daß
ihr, wiewohl forgfäftigft berathener Inhalt von fcheimbaren Widerfprüs
hen und von vieldeutigen Sägen nicht frei, daher durch fie dee Con⸗
teoverfe, zumal über den Umfang der Bundesgemalt gegenüber ber
„felbfiftändigen und unabhängigen” Bundesglieder, fos
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‘
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)
712 Gongreß.
dann über jenen der landes herrlichen Mechte gegenüber ber Lands
ftändifhen keineswegs gefteuert ift. In fester Beziehung wird ins⸗
. befondere der Sa 57.: „Da der deutfhe Bund, mit Ausnahme ber
freien Städte, aus fouverainen Fürften befteht, fo muß, dem
hiedurch gegebenen Grundbegriffe zufolge, diegefammte
Staatsgemwalt in dem DOberhaupte des Staates vnereis>
nigt bleiben, und der Souverain Tann durch eine Tandftändifche Ders
foffung nur in ber Ausübung beflimmter Rechte an die Mit⸗
wirkung der Stände gebunden werden“, den boctrinellen Ausle⸗
gern — wofern nicht Alles auf einen Wortftreit binauslaufen foll —
ſtets eine große Schwierigkeit: darbieten, den erften Xheil mit dem
gweiten in Harmonie zu bringen. Die doetrinellen Erklärungen
jedoch follen auf das Bundesftnatsrecht von keinem Einfluß fein. Der
Bundesverfammlung felbft und allein ift (duch Art. 17. der
Schlußacte) die — duch fpätere Bunbesbefchlüffe nod, erweiterte —
Befugniß eingeräumt worden, „zur Auftechthaltung de wahren Sins
nes der Bundesacte, die darin enthaltenen Bellimmungen, wenn
über deren Auslegung Zweifel entftehen follten, dem Bundeszweck
(worunter auch der, der maßtofeften Ausdehnung empfängliche, der dus
Bern und innern Sicherheit Deutfchlands begriffen ift) gemäß
zu erklären”. Ebenſo ſteht (nach Art. 4.) ber Gefammtheit der Buns
desglieder (d.h. alfo der Regierungen der Bunbdesftaaten) „die Bes
fuygnig der Entwidlung und Ausbildung der Bundesacte zu,
infofern die Erfüllung ber darin aufgeftellten Zwecke foldyes nothmendig
macht.“ (Ueber folhe Nothwendigkeit aber entfcheidet abermal ausſchlie⸗
gend und inappellabel — die Bıundesverfammlung.)
Mir gehen zu den Congreffen von Zroppau und Laibacd über,
welchen dann jener von Verona zu Ähnlichen Zwecken und mit dhns
lichen Refultaten folgte. Ä
Es iſt bekannt, tie graufam die fpanifhe Nation um ben '
Rohn ihrer für die Befreiung Europa’s von des Weltherrfcherd Gewalt
fo maͤchtig wirkſamen, vielleicht entfcheidenden Anftrengungen und Hel⸗
denthaten betrogen und von dem Monarchen, dem fie die Krone erhals
ten, unter das unerträgliche Joch des härteften Despotismus gebracht
ward. Es ift weiter noch in Jedermanns Erinnerung, wie dag Uebers
maaß der Tyrannei endlich einen Aufitand wider Ferdinand VII. hervors
rief, in beffen Folge die Cortesverfaffung von 1812, unter
deren Aufpicien der glorreihe Befreiungstampf zum berrlichften Triumphe
gebracht worden mar, in erneute Herrſchaft über das Reich gefegt
ward (1820 Januar bi März). Nicht lange nad ſolcher Erhebung
ber fpunifchen Nation (im Juli 1820) ward auh in Neapel, wel⸗
ches an manchen Wunden der über ihm laftenden Reaction biutete,
durch einen ähnlichen Aufftand die Verfündung derfelben Cortesverfafs
fung bewirkt. Nicht nur der Kronprinz für fih und als ernannter
„alter Ego‘ des Vaters, fondern auch der Vater felbft befhmoren
biefe Gonflitution, und das ganze Reich huldigte derfelben. Aber die
Eongreß. Ze 713
Maͤchte — vor allen Defterreih — biidten mit Unmillen auf bie
durch militateifchen Aufftand bewirkte Nevolution, und auch der Inhalt
dev Berfaffung flößte — zumal wegen der Stimmung ber italifhen
Völker — ſchwere Beforgniffe ein. Daher veranlaßte Fuͤrſt Metters
nich einen Gongreß zu Zroppau in Schlefien, wohin Kaiſer Alerans
der ſich perſoͤnlich verfügte, der König von Preußen aber feinen
Staatskanzler, Fürften von Hardenberg, und den Grafen Bernss
torf fandte, und wo auch Bevollmächtigte von Frankreich und Eng»
land erfchienen. Klugheit und Eifer des Fürften Metternich feiers
ten hier ben vollftändigften Triumph. Kaifer Alerander bot feine Hand
zu der ihm und Preußen vorgefhlagenen Erneuerung und Bekräftigung
des Bundes zwifhen den brei großen Militairmädten zu Erreihung
ber Zwecke ber von ihnen geftifteten heiligen Allianz. Die Ges
fandten Englands und Frankreichs erfuhren das Geſchehene erſt,
nahdem die Acte von ben drei Mächten unterzeichnet war; ihre Eins
fprache, auch ihre WVermittelungsvorfchläge, auf eine dem monardifchen
Princip entfprehende Modification der neapolitanifchen Verfaſſung
gehend, Eonnten jego von Feiner Wirkung mehr fein. Das Protokoll
der zwiſchen den drei Großmächten gejchloffenen Webereinkunft, fammt
einer von den Bevollmächtigten derfelben unterzeichneten Öffentlichen Ers
klaͤrung, feste die Welt in deutlichere Kenntnig von Zweck und Mitteln
der heiligen Allianz. Namentlich wurde darin der fefte Entfchluß auss
gefprochen, den durch die Verträge von 1815 geordneten Zuftand bee
europäifhen Dinge in feiner Vollſtaͤndigkeit zu erhalten, und zwar nicht
nurin Bezug auf bie Territorial: BVerhältniffe, fondern auch rüds
fihtlih dev Regierungsformen. Hieduch ward das Princip der
Antervention, zumal für jene Fälle, wo eine Beränderung im
Mege der Revolution eingeführt werben wollte, mit Beſtimmtheit
ausgefprochen, auch fofort auf die, allerneueft In Spanien, Portus
gal und Neapel ausgebrochenen, das gefellfchaftlihe Syftem von Eus
ropa mit neuer Zerrüttung bedrohenden Mevolutionen angewendet, ins⸗
befondere aber auf bie legte, welche wegen ber unmittelbaren Beruͤh⸗
rungspunfte mit ganz Italien vorzüglich gefährlich fehien. Darum
folfe als Hortfegung des zu Troppau gehaltenen — einftweilen die
Grundlagen des gemeinfchaftlichen Einwirkens feftftellenden — Cons
greffes ein weiterer in Laibach gehalten werden, zu welchem auch ber
König von Neapel eingeladen: worden, damit er in der Eigenfhaft
als Vermittler zwifchen feinem übel berathenen Wolfe und denjenigen
Staaten auftrete, deren Ruhe durch den gegenmärtigen Zuftand der
Dinge gefährdet worden und welche den feften Entfchluß gefaßt, Feine
von den Aufrührern errichtete Gewalt anzuerkennen und einzig und als
lein mit dem Könige felbft zu unterhandeln. Dabei rechneten bie drei
Mächte, denen es nicht um Groberungen, fondern bios um Befefligung
ihres die Ruhe Europa’s bezweckenden Buͤndniſſes zu thun fei, ganz
auf bie Zuſtimmung der Höfe von Paris und London,
714 | ı Gongreß,
Die erwartete Zuftimmung jedoch erfolgte nicht. Frankreich
zwar, nad der natürlihen Richtung feiner reſtaurirten Megies
zung, billigte wenigftene ftillfhmweigend das Vorhaben der Mächte.
England aber — wiewohl e8 Defterreich, wegen ber ganz beſon⸗
dern Verhaͤltniſſe Staliens, ein im vorliegenden Kalle anzuerkennendes
fpecielles Interventionsrecht nicht unbedingt abſprach — erklaͤrte fich
gleichwohl (durch Umtlauffchreiden vom 19. Januar 1821) energifch ges
gen bie dem Beſchluß der drei Monarchen zu Grund gelegten’ Princis
pien, als welche hämlid unter minder wohlgefinnten Monarchen eine
hoͤchſt gefährliche Ausdehnung: erhalten könnten. Es erklärte, daß
das nach XTractaten beftehende Bünbniß dee großen eucopäifchen
Mächte diefe durchaus nicht zu einem allgemeinen Einfdhreis
ten in bie Angelegenheiten anderer Staaten ermädtige, daß
auch Beine twoeiteren diplomatifchen Verhandlungen eine foldye Ermädh-
tigung bewirken Eönnen, und daß England alfo feinen Beitritt zu folch
einem Bunde nicht nur verfage, fondern auch gegen jede Auslegung
der Verträge proteſtire, wornach ein folcher Beitritt möchte gefor:
dert werden. — Diefe. Erkidrung indeffen, fo wenig als die wider bie
Principien von Xroppau vielflimmig ausgefprochenen Privaturtheile
(worunter zumal bie von dem liberalen franzöfifchen Diplomaten und
Volksvertreter Bignon herausgegebene Flugfchrift: „Du congres
de Troppau, ou examen des.pretentions des monarchies absolues
à l’egard de la monarchie constitutionnelle de Naples“ die fchlas
gendften Argumente aufftellte), aͤnderte begreiflicherweife nichts an den
Entfchlüffen der drei Mächte.
Der Verabredung gemäß kamen alfo gleih am Anfange bes Jah⸗
ves 1821 die Kaifer von Defterreih und Rußland und der koͤ⸗
niglih preugifche Staatskanzler mit einer Anzahl anderer Diploma
ten der drei Hauptmaͤchte, ſodann auh Frankreichs, England® -
und der italifhen Höfe in Laibach zufammen. Kine Gircularnote
jener drei Mächte that den Übrigen die Abficht des äfterreichifchen Kai:
fers, die neapolitanifhe Revolution mit Waffengewalt zu unterdrüden,
und, nebit dem Entfchluffe des Kaifere von Rußland, nöthigenfall® auch
mit feinen Truppen das Vorhaben Defterreihs zu unterflüsen. Als
nun der König beider Sieilien, nady erhaltener Bewilligung feines Par:
laments und erneuerfer DVerfiherung, die Gonftitution zu behaupten,
nach Laihach gefommen mar, fo wurde fofort die drohende Forderung
an die neapolitanifchen Gewalthaber geftellt, der Gonftitution zu entfas
gen und einzig und allein von der Vollgewalt des Königs jene Einrich⸗
tungen zu erwarten, welche berfelbe dem Beten des Reiches für zu⸗
träglich erachten würde. in Schreiben des Königs an feinen Sohn,
den Regenten, fchärfte dieſe Verordnungen der Großmächte dem Par:
Iament mit befondberem Nachdruck ein.
Die mweitere Folge ber Ereigniffe, ber raſche Angriff der Defter-
reicher, die fchlecht geregelte Vertheidigung der Neapolitaner, die fchnelle
Befisnahme bed ganzen Reiches durch die erflen und die Unterwerfung
Congreß. 715
ber letzten unter bie wiederhergeſtellte, jetzt durch ben Geiſt der Reaction
noch haͤrter gewordene Autokratie des Koͤnigs, ebenſo die im Augen⸗
blick des Unterganges der Conſtitution in Neapel (März 1821) geſche⸗
bene Ausrufung berfelben in Piemont, gleichfalls In Folge eines mis
litairiſchen Aufftandes, doch durch einen äfterreichifchen Heerhaufen fofort
unterdrüdt — Altes dies iſt unfern Lefern in unverwiſchter Erinnerung.
Der Congreß von Laibach hatte jest feine Beſtimmung erfüllt; aber
bevor er ſich völlig trennte, erließen die Monarchen von Defterreich
und Rußland unter Zuftimmung Preußens eine (vom 12. Mai
datirte) öffentliche Erklärung über ihre Grundfäge und Abfichten,
und führten diefelbe noch weiter aus in einer an alle Gefandten diefer
Mächte gerichteten CirceularsDepefhe. Der Hauptinhalt dieſer
beiden Actenftüde ift nachftehenber:
In der öffentlihen Erklaͤrung fagen die Souveraine:
... „Einzig dazu beftimmt, die Nebellion zu bekämpfen und
niederzuhalten, find die verbündeten Streitkräfte, weit entfernt, irgend
ein ausfchließliches Intereſſe zu unterftüsen, blos den unterjochten
Völkern zu Hülfe gekommen, und die Völker ihrer Seits haben deren
Anwendung als eine Stuͤtze zu’Gunften ihrer Freiheit und nicht ale
einen Angriff auf ihre Unabhängigkeit betrachtet. . . ... Die Gerechtig⸗
keit und Uneigennügigfeit, welche die Berathungen der Monarchen geleis
tet, werden jeberzeit die Vorſchrift ihrer Politik fein. Sie wird in Zus
kunft wie in der Vergangenheit ftets die Erhaltung ber Unabhängigkeit
und der Rechte jedes Staates, wie fie in den beftehenden Verträgen
anerkannt und feftgeftelle find, zum Ziele haben; und, durchdrungen
von diefen Sefinnungen, haben die verbündeten Monarchen, indem fie
ben Conferenzen zu Laibach ein Ziel gefegt, der Welt die Principien vers
fünden mollen, welche fie geleitet haben. Sig find entfchloffen, niemals
davon abzumeichen, und alle Freunde des Guten werden in ihrem Ders
eine ſtets eine fichere Gewähr gegen die Verfuche der Muheftörer erbli⸗
den und finden.” — Sn der umftändlicheren, von bem Fürften von
Metternich unterzeichnefen Girculars Depefhe Defterreihs
(jene Rußlands ift in der Hauptrichtung damit übereinftimmend)
wird der Standpunkt und das Ziel der von ber heiligen Alltanz anges
nommenen Politik näher entwidelt, zumal durch folgende Stelle: „Im
Laufe diefer großen Verhandlungen zeigten fi) von mehr als einer Seite
die Wirkungen jener weit verbreiteten Verſchwoͤrung, die feit langer
Zeit an dem Untergange aller, durch dieſelbe gefellfchaftliche Verfaſſung,
welcher Europa fo viele Jahrhunderte von Gluͤck und Ruhm verdankte,
geftifteten Autoritäten und geheiligten Mechte gearbeitet hatte. Das
Dafein diefer Verſchwoͤrung war den Monachen nicht unbelannt; aber
unter den Gährungen, welchen Stalien feit den Kataftrophen des Jahr
red 1820 Preis gegeben war, und in ber unruhigen Bewegung, bie
fih von dort aus nad allen Seiten fortpflanzte und allesRöpfe ergriff,
hatte fie fih mit zunehmender Schnelligkeit entwidelt und ihren wahren
Charakter geoffenbart. Die finftern Plane bes Urheber diefer Contplotte
716 i Gongreß.
und bie unſinnigen Wuͤnſche ihrer verblendeten Anhänger fmd nicht,
wie man früher hätte glauben Binnen, gegen biefe ober jene Regierungs⸗
form, bie etwa ihren Declamationen am häufigften zum Stoff bient,
gerichtet. Diejenigen Staaten, welche Veränderungen in ihrem Regie⸗
rungsſyſtem angenommen haben, find ihren Angriffen nicht weniger
ausgefegt, als die, deren alte Verfaffungen die Stürme der Zeit über
lebten. Reine Monarchien, befchränkte Monarchien, Föderativ s Vers
faffungen, Republiken, nichts ift ausgefchloffen, nichts findet Gnade
dor den Verbannungsbefchlüffen einer Secte, die Alles, mas, ſich über
den Horizont einer erträumten Gleichheit, im welcher Geftalt es aud)
fein. mag, erhebt, als Oligarchie behandelt. Die Häupter dieſes
beillofen Bundes, gleichgültig gegen die Mefultate der allgemeinen
Zerſtoͤrung, über welche fie brüten, gleichgültig gegen jede feſte und
bleibende politiſche Form, haben den tiefften Grundlagen der Gefelfchaft
den Krieg angelünbet. Alles Beftehende über den Haufen merfen —
mit dem Vorbehalt, irgend etwas, wie es ihrer zügellofen Phantaſie
oder ihren verderblichen Leidenfchaften ber Zufall darbieten wird, an die
Stelle zu feßen — das iſt der ganze Inbegriff ihrer Lehre und das
Geheimniß aller ihrer Kabalen. Die verbündeten Souveraine mußten
nothwendig zu der Ueberzeugung gelangen, daß biefem verheerenden
Strome nur Ein Damm entgegengefegt werben Eonnte. Alles
zehtmäßig Beftehenbe erhalten — das mußte der unmanbels
bare Grundfag ihrer Politik, dee Anfangspunft und der Endpunkt ih⸗
ver fämmtlihen Befchlüffe fein. Ste durften ſich nicht aufhalten lafs
fen durch das eitle Gefchrei der Unmiffenheit oder ber Bosheit, welches
fie anklagte, die Menfchheit zu einem Stilfftande, zu einer Erflarrung
verdammen zu wollen, die ben natürlich fortfchreitenden Gang der.
Givilifation hemmen, und jede Vervolltommnung des gefellfchaftlichen
Zuftandes unmoͤglich machen würde. Nie haben diefe Monarchen bie
mindefte Abneigung gegen wefentliche Verbefferungen, noch gegen Ab⸗
ftellung der Mißbraͤuche, denen die beften Regierungen nicht entgehen
koͤnnen, geäußert. Ganz andere Sefinnungen haben fie jederzeit befeelt,
und wenn die Ruhe, welche Fürften und Völker fi) von der Wieders
berftellung ded Friedens in Europa verfprehen zu Binnen glaubten,
nicht alles das Gute geftiftet hat, welches man erwarten durfte, fo war
der Grund davon der, daß die Megierungen ohne Unterlaß ihre
Gedanken auf Vorkehrungen gegen bie Kortfchritte eis
ner Saction wenden mußten, die rund um ſich ber Jerthum,
Mißvergnuͤgen und fanatifche Neuerungsfucht verbreitete, und die in
kurzer Zeit es zweifelhaft gelaffen haben würde, ob überhaupt noch ir⸗
gend eine gefellfhaftliche Ordnung beftehen folle. Die heilfamen oder
nothwendigen Veränderungen in ber Gefeßgebung und Verwaltung ber
Spacten dürfen nur von der freien MWillensbeflimmung, von dem auf:
geklaͤrten, überlegten Entfchluffe derer, welhen Gott die Verant⸗
wortung für ben Gebrauh der ihnen anvertrauten
Macht aufgelegt bat, ausgehen. Alles, was fih von biefer Linie
Congreß. 717
enffernt, fuͤhrt aothwendig zur Unordnung, zur Zerruͤttung, zu welt
unertraͤglicherem Verderben, als die Uebel, welche man heilen zu wol⸗
len vorgibt. Die Monarchen, von dieſer ewigen Wahrheit durchdrun⸗
gen, haben Beinen Anftand genommen, fie mit Offenheit und Nachdruck
auszufprehen. Sie haben erklaͤrt, daß fie, ohne je den Befugniffen und
ber Unabhängigkeit irgend einer rechtmäßigen Macht zu nahe zu. treten,
jede angeblihe Reform, die durch Empörung ynd offene Gewalt bes
wirkt wird, als geſetzlich ungültig, als unvereinbar mit den Grundfügen,
auf weichen das europdifhe Staats recht ruht, betrachten. Sie
haben im Sinn biefer Erflärung die Ereigniffe von Neapel, die von
Piemont, felbfl jene entfernteren behandelt, die unter Umftänden
von ſehr verfchiedener Art, doch herbeigeführt durch gleich ftrafbare Vers
anftaltungen, dem oͤſtlichen Europa unabfehlihe Verwuͤſtungen
bereiten.” . ... „Diefen Grundfägen werden die verbündeten Dions
archen treu bleiben, auf welche neue Probe die Vorfehung fie auch
noch ftellen mag. Mehr als jemals verpflichtet, in Gemeinfchaft mit
allen andern Souverains und Verwaltern der rechtmäßigen Macht, ben
europäifchen Frieden nicht blos gegen die Verirrungen und Leidenfchafs
ten, bie in den höhern DVerhältniffen der Staaten ihn ftören koͤnnten,
fondern au, und vor Allem, gegen die unfeligen Verſuche, welche
die cioilifirte Welt den. Greueln einer allgemeinen Anarchie Preis geben
wuͤrden, zu ſchuͤtzen, werben fie nie einen fo erhabenen Beruf durch
‚ Eieinlihe Berechnungen einer gemeinen Politik entweihen” u, f. w.
Allerdings! wenn die DVorausfegungen oder Anſichten, worauf
dieſe Erklärungen gebaut find, auf factifhe Wahrheit fi grüns
den, wenn wirklich die einzige Urfache jener Bewegungen, welche den
Welttheil durchwuͤhlen, das Walten einer frevelhaften und heilloſen
Faction ift, wenn, zur Erklaͤrung ber Uebereinftimmung vieler
Millionen Menfhen in einer gemeinfamen Richtung nach Verbeſſe⸗
rung des auf veraltertem biftorifchen echte ruhenden Staatenbaues,
nit noh etwas Anderes, ald nur die Machinationen einer vergleis.
chungsteife Heinen Zahl von Fanatikern ober Verbrechern, nöthig iſt,
und wenn es wirklich in Europa. ein mit inappellablem Entſcheidungs⸗
und mit Zwangsvollſtreckungsrecht über alle europäifchen (d. h. als fols
che erklaͤrten, ob auch allernaͤchſt blos nationalen) Dinge verſehenes,
und zwar in der Perſon der drei großen oͤſtlichen Continentalmaͤchte
beſtehendes, Tribunal gibt: alsdann koͤnnen die Verkuͤndungen von
Teoppau und Laibach nur Billigung finden. Wenn aber nicht bios
ein Haufe Verſchworner, fondern'der Zeitgeift es ift, welcher
die großen Bewegungen hervorruft, wenn, wenigſtens mitunter,
(wie namentlih in Spanien .und in Griechenland gefchab) bie
Tyrannei der Herrſcher und die Unerträglichkeit bes Zuſtandes zur ges
waltfamen Abfchättelung des Joches treiben, und wenn oder infofern die,
obgleih dem Außern Recht miderftreitenden, Verſuche der Selbftbes
freiung ohne Gefährdung anderer Staaten gefchehen, d. h in
hrer materiellen Wirkung beſchraͤnkt auf ihr Heimathland bleiben, und
718 Gongreß.
‘“ wenn endlich die Selbſtſtaͤndigkeit und freie Regſamkeit ber Nationen und
Staaten unendlich vorzuziehen der entnervenden Ruhe eines Weltreiche, ja
bie Bedingung ift eines freubdigen allgemeinen Fortfchreitens der Givis
Iifation und eines wahrhaft geficherten oͤffentlichen Rechtszuſtan⸗
des: alsdann müflen die Verkuͤndungen von Xroppau und Laibach
zu den ernfteften Betrachtungen führen. Sie haben diefes auch gethan
bei allen Dentenden in Europa; und obſchon die Stimmen der im All
gemeinen angeklagten Bewegungsmänner — nicht nur von Neapel
und Piemont, fondern von ganz Europa — nidt laut werben
durften zur Selbftvertheidigung,, fo ift gleihmohl das flille Privatur⸗
theil der Unbefangenen nicht beflimmt worden durch die firengen Aus⸗
fprüche der Circular » Depefchen. |
Die SGrundfäge von Laibach enthielten mit der Merdammung ber
Mevolutionen von Neapel und Piemont zugleih auch jene von Spas
nien und Griehenland. Aber erft ein nachfolgender (body fchon.
in Laibach verabrebdeter, fodann binnen etwas mehr als Jahresfriſt in
Verona eröffneter) Congreß ſetzte, was vorauszufehen war, in wirkliche
Erfüllung.
Um die Mitte October 18322 erfchienen in Verona bie Mons
arhen von Defterreih, Rußland und Preußen, au jene von
Meapel’und Sardinien nebft andern italifcyen Fürften, dazu die
gefeiertiten Diplomaten, nicht nur von ben genannten Staaten, fondern
auch von Frankreich, England und dem römifhen Hofe.
(Bom deutfhen Bund, wiewohl er als politifcher Körper aners
kannt und nah Macht und Stellung wohl zur Führung einer zaͤh⸗
lenden Stimme in ben europdifchen Dingen geeignet ift, war ein
Gefandter weder eingeladen noch erfchienen. Nach beendigtem Congreß
jedoch ward der Bundesverfammlung deſſelben Ergebniß notificirt.)
Schon früher (Ende Juni bis Auguft) hatten in Wien die vorbes
reitenden. Zufammentünfte ftnttgefunden, was jest den Gang ber
Hauptgefchäfte befchleunigte. Wir übergehen jedoch das Detail ber
(bis zum 14. December fortgefesten) Verhandlungen, den flüchtigen
Blick blos auf bie Hauptergebniffe rihtend. Spaniens tevolutionais
ter Zuftand nahm allernächft die Sorge der Diplomaten in. Anſpruch.
Die Eorte8sBerfaffung von 1812, wiewohl damald von Ruß⸗
Land (in dem XZractat von Welikiluki) und von England außs
drüdtich, von ben übrigen wider Napoleon verbündeten Mächten we⸗
nigitens flilfchweigend anerkannt, wurde, nad) ihrer 1820 durch einen
Soldatenaufftand gefchehenen Wiederherftellung, von ber heiligen Allianz
als ein das Princip der Legitimitdt und jenes bee monarchi⸗
[hen Gewalt verlegendes, mittelbar alfo audy alle andern Thronen
bedräuendes Ereignig betrachtet. Die Großmaͤchte verbargen daher von
Anbeginn ihre Mißfallen dagegen nicht, doch hielt eine Zeitlang die Scheu
vor den möglichen MWechfelfällen eines wider eine ganze Nation und
ein durch feine Lage ftarkes Land zu unternehmenden Krieged von einer
bewaffneten Intervention ab. Aber die leichten Zriumphe über Meapel
Congreß. 719
und Piemont erhoben den Muth ber Sieger, und der Kriegszug gegen
Spanien ward befhloffen, fobald die ablehnende Antwort ber Madrider
Regierung auf die ihe von Seite der verbündeten Mächte wegen Mor
bification der verhaßten Verfaſſung im Sinne bes monarchiſchen Prins
cips gemachten Vorfchläge eingetroffen war. Frankreich ſollte jcgo
thun, was von Seite Defterreihs in Italien geſchehen; doch ward ihm
für den Fall eines ſchweren Kampfes die nachdrüdlihfte Dülfe der
Mächte zugefagt. Diefer Beſchluß indeffen erfuhr abermals den Wider⸗
fpruh Englands, deſſen jego von Canning geleitete Regierung
noch entfchiedener, als früher gefchehen, das Interventionsrecht beftritt
und für ſich felbft das Peincip der Neutralität feflhielt. Weber diefe
verhängnißreiche Streitfrage des Öffentlichen Rechts werden wir in dem
Artikel Intervention das Für und Wider wenigftens fums
mariſch einander entgegenftellen. Bei den Beihlüffen des Congrefies
aber koͤmmt noch etwas Anderes in Betrachtung. Die drei großen Con«
tinentalmäcdhte nämlich) (wir haben hier natürlich nur Defterreidh,
Rußland und Preußen im Auge, da Frankreich unter ber Re⸗
fiaurationsregierung, als bloßer Schugling der erfigenannten, aller.pos
ütiſchen Selbftftändigkeit ermangelte), die drei großen (dabei abſolut
monarchiſchen Gontinentalmädte, fagen 'wir, erklärten, zur Rechte
fertigung ihres Interventionsbefchluffes gegen Spanien, ganz unums
tunden ben Anfprudy auf Bevormundung aller minder ‚mächtigen
Staaten, führten dadurch einen voöllig neuen Grundſatz In. das. dfr
fentlihe Recht Europa’s ein, und flelften dergeflalt eine Machtfuͤlle zur
Schau, die — wenn gewürdiget nady dem vollen Inhalt des ihr zu
Grund gelegten Princips — in dem-ganzen Laufe der Weltgefchichte
ihres Gleichen nicht hat. Unſere Enkel — wenn ihnen vergoͤnnt ift,
ihre Gefühle und Erfahrungen frei auszufprechen, oder wenn fie überall
nod die Geifteskraft zum felbftftändigen Urtheil befigen — werben den
fpätern Nachkommen belehrende Mittheilungen über Charakter und
Wirkung jenes die Weltherrſchaft in die Hände dreier Mächte
legenden Princips — verglichen mit jenem bed veralteten Gleich⸗
gewichts⸗Syſtems — machen. Unfere, der Zeitgenoffen, traus.
tige Pflicht (d. h. durch ‚höhere Gewalt uns auferlegte Nothwendigkeit)
befteht im Schweigen. . nn
Ein anderer, doch meift nur bie ftalifchen Höfe beruͤhrender Ge
genftand ber Weronefer Verhandlungen war die Fortdauer der, nach ge⸗
daͤmpfter Revolution in Neapel und Piemont, für noͤthig befun
denen Befegung der inſurgirten Provinzen buch oͤſterrei—
hifhe Truppen. In beiden Staaten hatten die Masregeln ſowohl
ber reflaurirten als ber Intervenirenden Regierungen die Kraft der Re⸗
volutionsmänner ober der Garbonari’s, wie man fie gerne benannte,
bereit fo entfcheidend niebergebrüdt, daß Feine weitere Gefahr mehr zu
erſchauen war, und daher eine Abkürzung des früher beabfichtig-
ten Zeitraums der Befegung unſchaͤdlich ſchien. Kreilich hatte man vom
Laibacher Congreß oder überhaupt, von den intervenirenden Maͤchten
720 Congreß. , .
erwartet, daß fie ſich nicht auf das Nieberſchlagen bes Aufſtandes
befchränten, fondern aud bie Urfachen befielben, nämlich den gereche
ten Unmuth über vorenthaltene Nechtöbeftiebigung, fo viel an ihnen
lag, heben, d. 5. ihre Schüglinge, bie Regierungen von Neapel und,
von Piemont, zu mildem Gebrauch der mwiebererlangten Gewalt und
zu Erfüllung ber wiederholt gemachten Verheißungen auffordern,
ja nöthigen würden. Aber man begnügte fi) mit bee Wiederherftels
fung ber abfoluten Gewalt. 5
Nun kam die Reihe an die hochwichtige und bie Sympathie aller
Denkenden und Fühlenden in der civilifitten Welt in Anfpruch neh⸗
mende griehifhe Frage. Die Erhebung der Griechen gegen das
fie blos factifch bedrüdende Barbarenjoch, die heroifhe Ausübung
des heiligften Menfchenrechtes und ber thatenreihe Kampf gegen die
Uebermacht der türkifhen Dränger hatte, foweit in Europa eine oͤffent⸗
liche Meinung befteht, diefelbe mit Begeifterung für die Sache der Gries
en erfüllt. Weit allgemeiner und weit lebendiger noch, als einft bei der
nordamerikaniſchen Scilderhebung gegen das herriſche Muttere
land — meil hier nit nur duch politifche, fondern auch durch
sein menſchliche Sntereffen beftimmt — zeigte fih die Theilnahme
aller: Slaffen und Parteien an Griechenlands Schidfal; die Hoffnuns
gen der MWohlgefinnten wandten fit) dem Gongreffe von Verona
und unter den Zheilnehmern bdeffelben zumal dem Kaiſer Aleranber,
dem zwiefach zum Schüger der Griechen berufenen, tugendhaften und
chriſtlichen, ja griechiſch-chriſtlichen Kaiſer, zu. Aber die firenge
Confequenz des von der heiligen Allianz einmal zur unabänder
lihen Norm ihrer politifhen Richtung genommenen Principe fors
derte die Verdammung ber. gegen ihre legitime, d. h. vermöge
biftorifhen Rechts beftehende, Staatögewalt aufgeflandenen
Stiehen. Es war unmöglich, einerfeits die gegen Ferdinands
VI. Tyrannei das Pannier ber GCortesverfaffung erhebenden Spanier
gu befämpfen und anderſeits den Rebellen gegen des Sultans factiſche
Gewalt Unterſtuͤtzung zu!l gewaͤhren. Alſo überließ man die Griechen,
unter ſtrenger Mipbilligung ihres verwegenen Unternehmens, dem
Schickſal; ja man verweigerte ben von der griechifchen Nation an
den Congreß Abgeordneten Zutritt und Gehör, während die Agenten
der in Spanien wider die wieberhergeftellte Gortesverfaffung in Waffen
ſtehenden abtrünnigen action eine wohlmollende Aufnahme fanden.
Die unten angeführten Stellen der am Schluß bes Congreſſes von
den drei Mächten Defterreih, Rußland und Preußen an ihre bei den
europdifchen Höfen angeftellten diplomatifchen Agenten erlafjenen Cir⸗
cularsDepefche enthalten die unzweideutigfte Bezeichnung der Prins
eipien, welchen ſolche Befchlüffe entfloffen, und eben dadurch auch ders
felben Charakteriſtik. Ebenſo mögen unfere Lefer aud in Bezug auf
die von den brei Großmaͤchten allen andern Megierungen empfoh⸗
Lene oder vielmehr befohlene Gemeinfhaftlihkeit der Rich—
tung ben klarſten Aufſchluß in ber befagten Circulars Depefche (welche
Congreß. 721
auch, wie bei den fruͤhern Congreſſen, die Stelle der geheim gebliebe
nen Protokolle vertreten muß) finden. |
Nachdem die Depefche der wegen ber früheren Räumung
Neapels und Piemonts getroffenen Verabredung als bes allere
naͤchſten Grundes ber Zufammenkunft zu Verona gedacht, erklaͤrt fie
fi) darüber folgendermaßen: „So verfhwinden "die falfhen Schreck⸗
niffe, die feindfeligen Auslegungen, bie finflern Prophezeihungen, welche
Unmiffenheit und Xreulofigkeit in Europa verbreiteten, um die Meie
nung der Völker über die reinen und edlen Abfichtem der Monarchen
irre zu führen”... Der‘ Revolution Wiberftandb zu leiſten, den
Unordnungen, ben Plagen, den Verbrechen, bie fie Über ganz Stalien
verbreiten wollte, vorzubeugen, Frieden und Ordnung in biefem Lande
wieder herzuftellen, ben rechtmäßigen Regierungen den Schutz, auf
welchen fie Anfpruch hatten, zu gemähren — darauf allein maren bie
Gedanken und bie Anftrengungen der Monarchen gerichtet.” !... .
„Aber die vereinigten Souverains und Gabinette konnten nicht umhin,
ihre Blide auf zwei ſchwere VBerwidelungen zu wenden, deren
Fortſchritte fie feit der Zufammenkunft in Laibach anhaltend befchäfe
tigt hatten. Das, was ber Geift der Revolution in der meftlichen
SHalbinfel begonnen, was er in Italien verfucht hatte, gelang ihm am
dftlihen Ende von Europa. In eben dem Augenblide, wo bie
militatrifchen Aufftände zu Neapel und Zurin vor der Annäherung einer’
regelmäßigen Macht zurüdwichen, wurde ein Beuerbrand der Ems
pörung in das ottomanifhe Reich geworfen. Das Zufammentreffen
der Ereigniffe konnte keinem Zweifel über bie Gleichheit ihres
Urfprungs Raum Iaffen. Der Ausbruch des naͤmlichen Uebels auf
‚fo vielen verfchiebenen Punkten und allenthalben, wenngleih unter
wechſelnden Vorwaͤnden, doch von benfelben Formen und berfelben
Sprache begleitet, verrieth zw unverkennbar den gemeinfchaftlichen
Brennpunkt, aus mwelhem es hervorging.” ..... „Die Monarchen,
entfchloffen, die Maritime der Nebellion, an welhem Orte
und in welcher Öeftalt fie fih auch zeigen möchte, zurüds
zumeifen, fprachen fofort ihre einffimmiges Verwerfungsur⸗
theil darüber aus.“ — ..... „Andere Ereigniffe, ber ganzen Aufs
merkſamkeit der Monarchen würdig, haben Ihre Blicke auf ben bes
jammernswerthen Zufland ber wejtlihen eutopdäifhen Halbin—
ſel gehefte. Spanien unterliegt heute bem Schickſal, das allen
Staaten bevorfteht, die ımglüdiih genug find, das Gute auf
einem Wege zu fuhen, auf welhem es nie gefunden.
werden kann. Ks durchläuft den verhängnißvolfen Kreis feiner.
Revolution, einer Revolutton,‘ melde verbiendete oder uͤbelgeſinnite
Menfhen gem als Wohlthat, ſogar als ben Triumph eines aufges'
klaͤrten Jahrhunderts dargeſtellt haͤtten.“ ... „Die Wahrheit aber‘
hat balb ihre Rechte behanptet, und Spanien hat, duf Koften feines.
Gluͤcks und feines Ruhms, nur ein neues trauriges Beiſpiel der uns
ausbleiblichen "Folgen jedes Freveis gegen bie ewigen Gefege der fitt«
GtaatssEertlon. III. 46
722 Gongreß.
lichen Weltorbnung geliefert"... . „Wenn fih jemals, aus
dem Schoofe der Civilifation, eine von den Örunbdfägen
ner Erhaltung, von den Grundfägen, auf melden ber
europäifhe Bund beruht, feindfelig getrennte Macht ers
bob, fo tft ed Spanien in feiner jegigen Auflöfung. Häts
ten die Monarchen fo viel auf ein einziges Land gehäufte Uebel, von
fo vielen Gefahren für die übrigen begleitet, mit Gleichguͤltigkeit be:
trachten können? Nur von ihrem eigenen Urtheil und von
ihrem eigenen Gewiffen in biefer ernfien Angelegenheit
abhängig, haben fie fih fragen müffen, ob es ihnen länger erlaubt
fei, bei einem Unheil, welches mit jedem Tage fchrediiher und ge:
fahrveller zu werben droht, ruhige Zufchauer abzugeben"... . „Die
Entfcheidung der Monarchen konnte nicht zweifelhaft fein. Ihre Ges
fandefchaften haben ben Befehl erhalten, die Halbinfel zu verlaffen.” ...
„Se aufrihtiger die Freundſchaft ift, die fie für ©. M.
den König von Spanien hegen,... befto flärker haben fie bie
Nothwendigkeit gefühlt, die Maßregel zu ergreifen, für weiche Sie ſich
entfchieden hatten, und welche Sie zu behaupten miffen werden.” ...
Es wäre überfläffig , fortan Ihre rechtlichen und wohlwollenden Geſin⸗
nungen gegen unmwürbige Verleumdungen zu vertheidigen , welche jeder
Tag durch offenkundige Thatfachen twiderlegt.” . ... „Die Wünfche der
Monarchen find einzig auf den Frieden gerichtet; biefer Friede aber kann
feine Wohlthaten nicht über bie Geſellſchaft verbreiten, folange die Gaͤh⸗
tung, die noch in mehr ale einem Lande die Gemüther bewegt, durd)
die treulofenUeberredungsmittel und die firäflihen Ver
fuche einer Faction, bie auf nichts als Revolution und Umfturz
finnt, genährt wird; folange die Haupter und Werkzeuge dies
fer Faction night aufhören werden, bie Völker mit nie derſchla⸗
genden und lügenhaften Vorftellungen der Gegenwart
und mit erdbichteten Beforgniffen über die Zulunft zu
quaͤlen. Die weiſeſten Maßregeln der Regierungen können nicht ges
deihen, bis dieſe Befäsrberer ber gehäffigiten Anfhläge zu
einer vollftändigen Ohnmacht herabgefunten fein merben, und
die Monarchen werden. ihr großes Wert nicht vollbradt zu
“haben glauben, bevor jenen die Waffen nicht entriffen
find, womit fie die Ruhe ber Welt bedrohen können."
ro. „Indem Sie dem Gabinet, bei welhem Sie beglaubiger find,
diefe Erklärungen mittheilen, werden Sie zu gleicher Zeit in Erinnerung
bringen, was die Monarchen als die unerlaßliche Bedingung der
Erfüllung ihrer wohlwollenden Wünfche betrachten. Um Europa neben
dem Frieden auch das Gefühl von innerer Ruhe und dauerhafter Sicher
heit zu verbürgen, müffen die Monarchen auf die treue und bes
harrliche Mitwirkung fämmtliher Regierungen rechnen.
Sie fordern fie im Namen ihres eigenen hoͤchſten Intereſſes, im Nas
men der gefellfchaftlihen Drbnung, beren Erhaltung es gilt, im Namen
ber künftigen Geſchlechter zu biefer Mitwirkung auf.” .... „Mögen
Congreß. 723
ſie alle von der großen Wahrheit durchdrungen ſein, daß ſie ſich einer
ernſtlichen Verantwortung ausſetzen, wenn ſie in Irrthuͤmer
verfallen oder boͤſen Rathſchlaͤgen Gehoͤr geben.“ ... „Die Mons
archen haben das Vertrauen, daß ſie allenthalben in denen, welche
mit der oberſten Autoritaͤt, in welchen Formen es auch ſein mag, be⸗
kleidet ſind, echte Bundesgenoſſen finden mwerden,... und fie
ſchmeicheln ſich, daß man die hier ausgeſprochenen Worte als eine neue
Beſtaͤtigung Ihres feſten und unabänderlihen Vorſatzes,
alle von der Vorſehung ihnen anvertraute Mittel dem
Heil Europa’s zu widmen, aufnehmen merde.” —
Die Folgen des Congreffes von Verona, allernähft für Spanien
und Griehenland, mittelbar aber für die ganze Wett, ftehen in es
dermanns lebendiger Erinnerung: dort, nach unheilvollem Krieg, bi2
Miederherftelung dee abfoluten Gewalt in bes tyrannifhen Ferdi⸗
nande VII Hand buch bie Heere des conftitutionellen Könige von
Frankreich; bier ein verzweiflungsvoller Kampf der hälflos gelaffenen
Griechen gegen die furchtbarſte barbarifcye Uebermacht, und ſchaudervolle
Verwuͤſtung des claffifchen und hriftlichen Bodens durch bie odmanifchen
und dgpptifchen Horden. Aber die Grundfäge, wonach dieſes Alles ges
ſchah, Haben ſich nicht als haltbar erprobt. Sriehenland warb —
freilich erft nach erduldetem unendlihen Sammer — zulebt doch ale der
Freiheit würdig erfannt, und Spanien erhebt fich im Augenblick, wo
diefe Zeilen gefchrieben werden, von Neuem unter dem Panier jener ges
ächteten Conſtitution der Corted. Diefe Achtung übrigens warb fchon
damals, als fie von Verona aus erllang, von [ehr gewichtigen
Stimmen für unrecht erklärt, namentli von den ausgezeichnetften
Staatsmännern Englands. Wir wollen uns nicht einmal auf das
im Unterhaufe bed britifhen Parlaments ausgeſprochene Urtheil bes im
Rufe der Liberalität geftandenen Miniſters Canning berufen; aber,
was ber tornftifhe Minifter Liverpool im Oberhauſe ſprach, ift
wohl von doppelter Bedeutfamkeit. „Welche Vorwürfe — alfo lauten
feine Worte — man auch der fpanifchen Eonftitution machen Tann, fo
liegt doch weder in ihr felbft, noch in ber Yrt ihrer Wieberherftellung
etwas, das zu Einmiſchung der ausmärtigen Mächte aufforberte; und
was Insbefondere die Drei großen Mächte betrifft, fo haben diefe kein
Recht, gegen die Conftitution etwas einzumenden. Denn bie Cortes koͤn⸗
nen zu bdenfelben fagen: Unfere Gonftitution hat von 1812 bie 1814
beftanden, und während biefer ganzen Zeit habt Ihr die Freundſchaft, die
Allianz und die Mitwirkung Spaniens in dem großen Kampfe für bie.
Freiheit Europa's nachgeſucht; bie fpanifche Regierung hat keiner Regie⸗
rung Stoff zu Kingen gegeben; bie Gebrechen der Gonftitution aber find
ein Gegenfland der innern Politik, und gehen nur uns, nicht Euch
an!" — Auch die allerneueft, feit dee abermaligen Verkuͤndung ber Cons
ftitution in Spanien, darüber im britifchen Parlament gefallenen Aeuße⸗
rungen von ausgezeichneten Mitgliedern und felbft von dem Minifter des
Auswärtigen, Lord’ Palmerfton, find gleichen Sinne und Inhaltes.
%
1 Co ngreß.
Noch haben wir, der Vollſtaͤndigkeit willen, bee den Congreſſen Mn
der Weſenheit ähnlichen, ob au in Formen davon verfhiedenen,
Minifterinal:Conferenz in London, fobann einer weiten Mis
nifterial:Conferenz in Wien und mblid der in Münchengräz gea
baltenen Zuſammenkunft ber drei großen Continental:Monachen zu ers
wähnen. . Die erſtbemerkte — aus den bei der britifhen Regie⸗
rung accreditirten ordentlichen Gefandten ber Großmichte und. einigen
andern Diplomaten gebildete — Sonferenz zeigte ihre Thaͤtigkeit zumal
in der griehifchetürkifcyen und in der belgiſch-niederlaͤndi—
[hen Sache durch eine Keihe von Protofollen, deren Hauptinhalt
in den Artikeln Griehenland und Niederland fummarifch
überfhaut werden wird. Die MiniftersEonferenz in Wien von 1834
hatte. die Anzelegenheiten des beutfhen Bundes zum Gegenfiand.
Bon ihren geheim gehaltenen Verhandlungen ift nur foviel im Allgemei:
nen verlautbart und zumal durch mehrere nachgefolgte Verordnungen
theils der einzelnen Regierungen, theils bes Bundestags beutlic, erkennbar
worden, daß man über das gegenüber ber liberalen Partei zu beobachtende
gleihförmige und durchgreifende Benehmen fidh einverftand,
und zugleich für die etwa zwifchen Regierungen und Ständen fi erges
benden Zermürfniffe ein fogenanntes Schiedsgericht, deſſen Mitglies
der von ben Regierungen zu ernennen wären, zu errichten befchloß.
(S. den Art. deutfher Bund.) Ueber die Zufammenfunft bed
Kaiferd von Rußland mit dem König von Preußen n Schwedt
und mit dem Kaifer von Defterreich und dem preußifchen Kronprinzen
in Mündengräz (Sept. 1833), wiewohl weder eine Öffentliche Ere
klaͤrung noch eine Gircufar:Depefche uns über deren Ergebnifje belehrt
bat, herrſcht die allgemeine Meinung, daß alldort blos der, gegen die revo⸗
Intionairen Beſtrebungen, d. h. gegen bie gefürchtete europäifhe Bes
wegungspartet lAngft gefchloffene Bund abermal erneuert und bee
kraͤftigt, wohl auch für die. vorhin erwähnten Minifter-Conferenzen in
Mien einige Hauptgrundfäge verabredet worden.
Ein intereffantes Gegenftüd zu den vielen europäifhen Monarchen»
ober monarchiſchen MiniftersCongreffen verhieß der für das Jahr 1826
noch Panama ausgefchriebene ameritanifche Congreß ber Republie
ten zw werden. Aber die großen Erwartungen, die man von
dbemfelben hatte, gingen nicht in Erfüllung. Nicht einen vollen Monat
(nur vom 22. Junius bis zum 15. Julius) mwährten feine Eigungen ;
und es kam nichts darauf zu Stande, ale ein dem Zweck nad, allerding6
wichtiger, doc) wegen ber Innern Zerrüttung biefer Staaten factifch wenig
bedeutfamer Unions⸗ und Bundes:Vertrag zwiſchen den Republiten von
Columbia, Öuatimala, Peru und Merico, auch einige allges
meine — doch ohne Erfolg gebliebene — Verabredungen über Eünftig
zu haltende Zuſammenkuͤnfte. Die übrigen zum Congreß eingelabenen
Staaten, Chile, Buenos Ayres, Paraguay, Oberperu und
Braſilien, hatten ihn nicht befchidt. Dagegen waren norbhmeris
Tanifche und britifche Agenten darauf erſchienen. Aber gerade bie
Gong. 725
Einfprache berfelben gegen das Angrifföprofeet auf bie noch Übrigen Tpa«
nifhen Befigungen, Cuba und Portorico, bewirkte vorzugsweiſe die
ſchnelle Aufhebung bes Congreſſes. ’
Zum Schluffe noch einige allgemeine Bemerkungen Aber Congreſſe,
zumal was beren hergebradhte Formen und bann einige andere minder
wichtige, daher nur ſummariſch zu berührende, Punkte betrifft.
Wenn die Abhaltung eines Congrefies befchloffen, auch Zeit und
Dirt im Wege der Unterhandlung oder gegenfeitigen Mittheilung beftimmt
find, fo ergeht dann in der Regel noch eine unmittelbare Einladung
von Seite des Hofes, in deſſen Lande der Congreßort fidy befindet, an
die zur Xheilnahme an den Verhandlungen bereits Berufenen oder weiter
zu Berufenden. Derfelbe Hof errichtet eine eigene Congreß⸗Polizei
zur Handhabung ber auf Sicherheit, Bebürfnißbefriedigung,. Bequemliche
keit und Annehmlichkeit berechneten Ordnung und theils allgemeinen,
theil® befonderen Vorfchriften. Eine, je nad) Zeit und Umftänden bald
leichtere bald fihmerere Aufgabe, mitunter erſchwert durch die Gegenftände
‚ der Congrefverhandlung, durch Vielfeitigkeit der Beruͤhrungspunkte ober
möglichen Collifionen und durch die empfindliche oder gefpannte Stim-
mung dee Congreßmitgliedee felbft (wie 3. B. beim Congreß von
Raſtadt, über defien Polizei-Verwaltung der Freiherr von Drais ale
. Haupt berfelben ein eigenes, lehrreiche Details enthaltendes Buch ges
ſchrieben), mitunter durch die — begründeten ober unbegründeten — Bes
forgniffe einzelner oder ſaͤmmtlicher Haͤupter vor Störung des Friedens
oder der Sicherheit von augen, (in welcher Beziehung wir zumafin der neues
ften Zeit eine ganz außerordentliche Strenge, insbefonbere gegen Fremde,
welche den Congreßort befuchen wollten, ausgeübt fahen). Die Sorgfalt,
Vorſicht und Strenge find natürlich bei Zufammenkünften ber Monarchen
fetbft größer als bei jenen blos der Minifter. Bei dan erften wird in der
Megel der Hof, auf defien Gebiet fie flattfinden, fid) aud) zur Pflicht und
Ehre rechnen, durch mancherlei Anftalten der Pracht und des Vergnügens
feinen Gäften die gebührende Achtung und Aufmerkſamkeit zu bezeugen.
Die auf dem Congreß erfcheinenden Perfonen find theils Haupt:
theild Neben Perfonen. Zu den erften werden nur diejenigen ges
rechnet, welche mit felbftftändiger und den übrigen gleich zählender Stimme
bei den über gemeinfame Angelegenheiten zu pflegenden Berathungen
und zu faffenden Befchlüffen auftreten. Doch befteht oft ein engerer
und ein meiterer Kreis der Berathenden, nad) Unterfchieb der Gegen⸗
ftände und der rechtlichen Theilnahme daran. Mer aber in Abhän>
gigeitsverhältniffen gegen die Congreß- Häupter ſteht, oder wer
vom Congreß blos etwas zu erbitten ober zu erwirten, überhaupt
bloß eine eigene Angelegenheit dafelbft ing Reine zu bringen hat, ift nicht
eigentliches Congreßs Mitglied. Er dann aledann zwar verhandeln mit
dem Congreß, infofern diefer dazu willig ift, aber an der gemeinfamen:
Berathung und Echlußfaffung nimmt er nicht Theil. Seine Anträge ober
Wuͤnſche legt er dem Congreß entweder durch eins von deſſelben Mitglies
bern oder auch durch unmittelbar an die Verſammlung gerichtete Adreffen
. 726 Congreß.
oder Denkſchriften vor und iſt der Entſcheidung gewaͤrtig. Mitunter
wird er auch beigezogen zur Verhandlung ſeiner beſondern oder einer ihn
mitbetreffenden Sache. Uebrigens ſteht es in der Willkuͤr des Con⸗
greſſes, die an ihn fi) wendenden Perſonen oder Perfönlichkeiten anzu:
hören oder abzumeifen. Lebteres widerfuhr, wie wir fchon oben bemerk⸗
ten, zu Verona den Abgefandten der griehifhen Nation, die da um
Hülfe gegen bie türkifchen Unterbrüder flehten. Auf dem Wiener Con»
greſſe dagegen fanden Perfönlichkeiten und Unterhändler aller Art ein.
großentheils geneigtes Gehör.
Die vom Congreß zu erlebigenden Gefchäfte werben in ber Megel
vor der entfcheidenden Berathung in ber vollen Verſammlung durch ges
genfeitige, vertrauliche ober officielle, mündliche ober fchriftlihe Erklaͤrun⸗
‚gen, Vorfchläge, Anſichten und Entwürfe vorbereitet, fodann zur näheren
Bearbeitung an befondere Commiffionen oder Ausfhüffe verwiefen und
endlich über ben von biefen erftatteten Bericht die. Hauptverhandlung,
welche zum wirklichen Beſchluſſe führt, gepflogen. Einige Aenderung
(zumal auch Abkürzung, weil fobann bie weitere Inftructions-Einholung
wegfällt) erleiden ſolche Formen, wenn die Monarchen perfönlich dem
Eongrefje anwohnen, was ehedeſſen nur felten gefhah, heut zu Tage
aber, bei der innigen Befreundung der großen Souveraine, oftmals flatt:
fand, jedoch nicht unbedingt wuͤnſchenswerth ift.
Ueber die in förmlichen Sigungen gepflogenen CongreßsBerathungen
werben gewöhnlich von einem dazu eigens erfuchten Mitglied, oder auch von
einem dafür angeftellten Nichtmitglieb (in welcher Dienfkleiftung bekannt»
lich der k. oͤſtr. Hofrath v. Gens in unferen Tagen ſich auszeichnete)
die Protokolle geführt, bie in den einzelnen Protofollen niedergelegten
Beichlüffe aber in der Regel in einer Hauptcongreßacte (mitunter
auch in mehreren, namentlih in einer Präliminars und einer
Schlußacte) zufammengefteilt, jedoch nicht immer zugleich derDeffents
lichkeit übergeben. Der Welt wird davon nur foviel förmlich verkündet,
als man für gut findet; ja die Geheimhaltung, mwenigftend der Pr o=
tokolle (zumal während der Verhandlungszeit, oft aber auch für immer),
fcheint allerneueft die vorherrfchende Maxime zu werden, wiewohl es einers
feits Eräntend und beängftigend für die Völker ift, wenn nicht nur ohne
ihre Theilnahme, fondern auch verborgen vor ihrem Blick über
the Wohl und Wehe das Loos geworfen, ihr Schidfal vielleicht für die
Längite Zeit beftimmt wird, und anderfeitd — nad) den jegt beftehenden
Verhältniffen — das Geheimniß doch felten oder gar nie völlig bewahrt
werden ann, fondern früher oder fpäter die Wahrheit gleichwohl an's
Licht tritt. Die Geheimhaltung erfcheint demnach, wenn nicht ganz bes
fondere Umftände fie für einige Zeit nothwendig oder räthlid machen,
einerfeits ald ungerecht gegen bie dadurch beängftigten. Völker, deren
Sache doc) jedenfalls in Frage fteht, und anderfeits als Unklug, meil
allernaͤchſt Mißtrauen einflögend oder den Verdacht unlauterer Abſicht
erregend, und dann doch ihren Zweck meift gleichwohl verfehlend.
Wenn ein Congreß — wie es zumal bei Eriedenss Eongrefien
‘
Gongreß. Congreveſche Raketen. 727
ſchon häufig geſchah — zu feinem Uebereintömmniß führt, alfo ſich fruchts
108 zerfchlägt, fo iſt's natürlich, bag dann jeber Theil die Schuld ber
Auflöfung dem andern beimißt und in äffentlihen Schriften folche Ans
age, zur Selbftrechtfertigung, ber Welt vorlegt. Bei Congreffen bages
gen, worauf zmwifchen bereits unter fih befreundeten Mächten über
allgemeine Angelegenheiten verhandelt, das Ergebniß aber geheim ge:
halten wird, iſt von einer folhen Rechtfertigung natürlic keine Rede,
auch wenn nichts zu Stande gelommen. Wird aber das Ergebniß
ganz oder zum helle verkündet, fo fehlt ed ebenfo natürlich auch an offis
ciellen, halbofficiellen und Privat: Lobpreifungen nicht; die Stims
men der Mifvergnügten dagegen werden entweder verunglimpft oder uns
terdruͤckt. Und doch ift ſchwer vermeidlich, dag nicht faft jeder folche Con⸗
greß zum Mißvergnügen in größerem ober Meinerem Kreiſe gerechten
Anlaß gebe. Allzuleicht wird nämlidy von verſammelten Machthabern
die Grenze der vernunftrechtlich ihnen wirklich zuſtehenden Gewalt als
im Verhaͤltniß der durch die Verbindung vergroͤßerten Macht gleichfalls
weiter hinausgeruͤckt betrachtet, ſowohl in Bezug auf ihre eigenen Voͤl⸗
ker als auf frem de. Gleichwohl iſt Mas, daß drei oder fünf oder zehn
Perſonen durch Vertraͤge oder Verabredungen, die ſie unter einander ab⸗
ſchließen, durchaus kein Recht über andere, jenen Verabredungen fremder
Merfonen erwerben Binnen, daß alfo gegen biefe — mas immer die Ver:
abredung befage — Fein anderes al® das fhon früher jedem der
Verbündeten über fie zugeſtandene Recht könne angefprohen
oder ausgeübt werben. Die dee, daß mit dem Umfang der Macht
oder Stärke auch jener des Rechts fi) ausdehne — eine freilich in
der Gefchichte allzu oft praktifch geltend gemachte dee — iſt ber Tod
alles oͤffentlichen wie alles Privat:Rehts. Darum erheben mit gutem
Grund, bei jeder Kunde von bevorftehenden Congrefien, die Völker Herz
und Hände zum Himmel, betend um Lenkung ber Häupter zum Guten
und um Abmenbung des Unbheils. Motted.
Gongrevefhe Raketen oder Brand: Raketen. Die
Brand⸗Raketen, eine Erfindung ber fanften Hindus, find durch ben eng⸗
liſchen General William Congreve aus Oftindien nad; Europa aebraht,
von den Engländern auf feinen Vorfchlag zur Beſchießung von Vließin⸗
gen, Boulogne, Kopenhagen mit verfchiedenem Erfolg gebraucht, und
feitdem in das Artillerie-Syſtem der meiften europäifchen Staaten aufges
nommen morden.
Bon der gemöhnlichen , als Luſt⸗Feuerwerk überall bekannten Steig:
Rakete unterfcheidet fich die Brand-⸗Rakete durdy ihre Hülfe von Sturz:
blech, auf welcher eine zugefpigte feuerfprühende Brandhaube von
demfelben Stoff (befjer von Gußeiſen) oder aud) ein Projectil, eine Gra⸗
nate, Kartätfhenbüchfe, Leuchtkugel angebracht if.
Man bezeichnet die Brand-Raketen duch den Äußeren Durchmeſſer
ihrer Hülfe oder auch durch das Gewicht einer eifernen Kugel von dem⸗
felben Ducchmeffer. Diejenigen, deren fi) Congreve am häufigften im
Krieg bei Bombardements bedient bat, find 42pfündige ober Gäzöllige,
728 Gongreveihe Raketen.
und S2pfünbdige ober Gzöllige gewwefen. Die Heineren Raketen waren für
ben Feldgebrauch beftimmt; die Länge ber Hülfen war Anfangs wie bei
‚den gemöhnlichen Steig. Raketen von 8 bis 13 Kalibern, fie ward jedoch
fpäter auf 6 und endlich bi auf 3 herabgefegt; man fonnte nun einen
Türzeren Stab anwenden, unb erlangte dadurch mehr Genauigkeit des
Fluges und einen leichteren Transport. |
Man kann die Raketen auf verfchtedene Arten gegen ben Seind abs
ſchießen, je nachdem fie ſchwerer oder leichter von Kaliber find und es
darauf ankommt, daß fie möglichft genauen Flug halten oder nicht. Im
lesteren Fall darf man fie blos auf die ruͤckwaͤrts abgeböfchte Erde legen,
und — um fie auf einmal zu zünden — durdy ein Leit⸗Feuer verbinden ;
die inneren Bölhungen der Feftungswerke geben bequeme Gelegenheit,
fo dem Zeind eine große Anzahl zugleich entgegen zu ſchicken. Wo mehr
Genauigkeit erforderlich ift, werden bie Raketen auf einem leichten trag»
baren Bode gezündet, ber einem Stativ gleichet, oder ber einer Lanze
aͤhnlich ift, und mit dee Spige in bie Erde geflogen werben Tann.
Zum Gebrauch im offenen Gelände dient die Gongrevefche Lafette, die
In ihren zwei Prozkäften 54 Schüffe führt, und auf der man 8 Raketen
auf einmal abgehen laſſen kann.
Die Heinen vierlöthigen Raketen werben mittelft einer Art Muskete
abgefeuert, deren kurzer und ſchwacher Lauf den Stab aufnimmt, um
der Rakete bie gehörige Richtung zu geben. Diefe Muskete ift nur 4
Mfund ſchwer, fie macht daher mit 90 vierlöthigen Raketen keine größere
Kaft, als eine gewöhnliche Solbatenflinte mit 60 Patronen. -
Um auf Schiffen Raketen abzufcießen, bebarf es keiner kuͤnſtlichen
Vorrichtung: ein Ständer mit einem beweglichen Arm, den man hoch
oder niedrig ftellen kann und auf den die Raketen gelegt werden, tft
hinreichend.
Es iſt der Theorie, wie der Erfahrung gemaͤß, daß die Raketen,
die das Princip ihrer Bewegung in ſich ſelbſt tragen und beides zu⸗
gleich, Geſchuͤz und Geſchoß, find, mit derſelben Percuſſivnskraft dieſelbe
und eher eine groͤßere Flugweite erreichen, als die gewoͤhnlichen Ge⸗
ſchoſſe, Kugeln, Bomben und dergleichen, aus Kanonen, Moͤrſern und
Heubizen durch die ſtaͤrkſten Ladungen abgeſchoſſen oder geworfen: die
Z2pfuͤndige oder Gzoͤllige Rakete treibt eine 9pfuͤndige Granate unter
einem Elevationswinkel von 450 auf eine Entfernung von 3500 Schritten,
und die Gpfündige Kartaͤtſchen-Rakete erreicht eine Weite von 2500
Schritten. Bei einem Verfuche zu Woolwich find die 12pfündigen Ras
teten auf 1500 Schritte 21 bis 22 Fuß tief in einen Erdwall einges
drungen, und ihre Granaten in: diefer Tiefe zerfprungen; in dem Boms
bardement von Kopenhagen hatte eine I2pfündige Rakete das Dad)
eines Haufes und 3 Fußboͤden durcchfchlagen und war zulegt in einer
Wand fteden geblieben.
Ueber die Flugweite der Heineren Raketen von 4 Roth bie 1
Dfund fehlen zwar noc genauere Beflimmungen; es läßt fich jedoch
mit einiger Sicherheit annehmen, daß man gegen XZruppen auf 400
⸗
Congreveſche Raketen. 729
und felbft bis auf ENO Schritte ungleich mehr Wirkung ettiwarten barf,
als mit der gewöhnlichen Infanterie-$linte, mit ber ſich bei einer 300
hritte überfteigenden Entfernung faft nichts mehr ausrichten läßt.
Im Kriege find die Brand: Raketen zuerft nur bei Belagerungen,
zum Unzünden der Vertheidigungs = Gebäude und Magazine gebraucht
worden. Hiezu dürften fie fid) aber weniger eignen, als bie großen und
ſchweren Brand⸗Bomben, die, unter hohen Elevationen geworfen, mit
einer ungeheuren Percuſſionskraft niederfallen und mehrere Stockwerke
durchſchlagen, wenn ſie nicht etwa auf ein bombenfeſtes Gewoͤlbe treffen.
Die bisher uͤblichen 42 und I2pfündigen Raketen dagegen ſchla⸗
gen mit einer weit geringeren Fallkraft ein und koͤnnen daher nicht dafs
felbe Leiften wie die erwähnten Bomben. Wenn freilid) Congreve’s
Borfchlag : „durch Brech⸗Raketen von 10 Zoll im Durdjmeffer, die in
einer. 6 Fuß Langen Hülfe von Bußeifen 100 Pfund Zreibefag und
200 Pfund SKnallpulver enthalten, die Seftungsmälle zu sffnen”, als
ausführbar erfcheinen follte, fo wuͤrde durch diefe Eolofjalen Raketen, bie
an den bei der Belagerung der Citabelle von Antwerpen gebrauchten
Dairhanfchen Mörfer erinnern, alles Belagerungs- Gefhüg entbehrlich
gemadht.
Mehr Nugen dürfte die Makete, wie General von Hoyer mit
aller Vorficht des wahren Wiſſens bemerkt, für jest nody bem Belager⸗
ten gewähren; um das die Feſtung umgebende Zerrain zu, beleuchten
und die Arbeiten des Belagerers zu entdeden, Bann er fich mit Vor:
theil der Congreveſchen Licht-Raketen bedienen, die nad) der Verſiche⸗
rung glaubwürdiger Augenzeugen die nahen Gegenflände wie ein heller
Mondſchein beleuchten follen.
Gegen die auf dem Glacis vorrüdenden Sappen erben die 3
und Gpfündigen Raketen mit gleihem Wortheil zu gebrauchen feln,
wenn fie aus den Waffenplaͤtzen des bedeckten Weges, faft horizontal
gefhoffen, die Rollkoͤrbe, Dedfafchinen und Sappenkörbe anzünden,
und in Verbindung mit ben bedediten Gefchüsen aus den vorfpringenden
Winkeln der Außenwerke die Spigen der Suppen zerftören und bie
Arbeiter verjagen. Du fie ohne alle Vorbereitung gezuͤndet merben
koͤnnen, find fie den feindlichen Granaten = Würfen nur wenig ausge:
fest. Es bedarf faum einiger Minuten, um 10 und mehr Raketen
auf einmal gegen die Spise der Suppen abgehen zu laffen, wo fie die
gewuͤnſchte Wirkung gewiß nicht verfehlen werden. In der neueften
Zeit ift auch vorgefchlagen worden, auf der ganzen Bruftiwehr der an⸗
gegriffenen Feftungs-Sronte von Toiſe zu Zoife Röhren von Gußeifen,
die fi) durch die ganze Dicke der Bruſtwehr erftreden und zum Ab-
fchießen der Raketen beftimmt find, anzubringen, um nach Verluſt des
bebedten Weges die Feftung nod) länger mit Erfolg vertheidigen zu
koͤnnen
Urſpruͤnglich fuͤr den Gebrauch im Felde beſtimmt, ſcheint die Ra⸗
kete durch ihre leichte Fortſchaffung und durch ihre Wirkung gegen die
730 - Congreveihe Raketen. ’
feindliche Reiterei fich befonders für biefen Iwed zu eignen. General
Gongreve fagt darüber Kolgendes : _
„Die Rakete verbindet außer allem Widerſpruch große Wirkung
mit Tragbarkeit. Wenn der Infanteriſt 6 bdreipfündige ober 8 feches
pfünbdige Raketen trägt, fit er nicht mehr belaftet, al& ob er fein Ges
wehr und 60 fcharfe Patronen trüge. Ein Bataillon von 1000 Mann,
auf folhe Weife ausgerüftet, würde folglid im Treffen 6000 dreipfüns
dige oder 3000 fechspfündige Schüffe abgeben können, die hinſichtlich
der Schußweite, bes Eindringens und ber Wirkung daſſelbe leiften vote
diefelbe Anzahl Kanonenfchüffe von demfelben Kaliber, ja die auf 800
bis 900 Schritte fogar mit größerer Kraft eindringen, ale Stud: Kus
gen. Um aber im Gefecht mit Geſchuͤtz dieſelbe Menge Munition auf.
die wirkſamſte Weife zu verbrauchen, wuͤrde man, ftatt ein Bataillon
marfchiren zu laffen, fich mit einem befchmwerlihen Park von nicht wer
niger als 100 Kanonen und Haubizen fchleppen müffen.”
„Dehnt man den Gebrauch der Raketen auch auf die Reiterei aus,
fo erfreuet ſich diefe aller Vortheile der reitenden Artillerie, ohne an der
ihr eigenthümlichen Kraft und Gefchroindigkeit etwas zu verlieren. Die
neue Bewaffnung verbindet fich bei dem Reiter fogar noch zweckmaͤßi⸗
ger und beffer mit der alten, ald bei dem Infanteriſten, der fih nicht
beider zugleich bedienen Tann. Zufolge diefer Anordnung führt jeder
Meiter 6 fechepfündige Raketen in Hulftern, und immer ber dritte Mann
einen Raketenbock für den Fall, two die Unebenheit des Bodens ben Ger
brauch eines foldhen nothwendig macht. Der Raketenbock wiegt nicht
mehr als ein gemöhnliches Infanterie = Gewehr; man kann ihn ohne
Schwierigkeit überall aufftellen, und die Rakete fliegt von ihm ungehins
dert über den Boden bie zum Ziel, bdeffen Entfernung ihren Elevas
tionswintel beftimmt. Diefer, fomwie die ganze Stellung bes Bode,
bleibt unverändert, weit bei der Rakete kein Ruͤcklauf ftattfindet, wie
bei dem Geſchuͤtz, das deshalb nach jedem Schuß aufs Neue gerichtet
werden muß, was im dichten Pulverdampf und in dee Verwirrung des
Gefehts mit großen Schwierigkeiten verbunden und manchmal ganz
unausführbar. ift.”
Man fieht, daß Congreve die unmittelbare Ausräftung ber. Trup⸗
pen mit Rafeten für die beffere hält, weil jene dadurch, ohne befondere
Transportmittel, eine bedeutende Menge von Gefhäg- Munition mit
fidy führen, im Gefecht verwenden und alles Keldgefhüg entbehren koͤn⸗
nen; man kann aber audy den Truppen» Abtheilungen Raketen⸗Wagen
geben, fo baß fie noch immer die Wirkung einer unmöglich aufzuftels
enden Geſchuͤtz⸗Zahl hervorzubringen vermögen.
Nach dieſer Idee ift in England feit 1813 das Raketen : Corps
nad dem Mufter der reitenden Artillerie organiſirt worden, wodurch es
moͤglich wird, mit 6 Raketen - Wagen und ebenfo vielen Munitionswa⸗
gen, zu denen 97 XArtilleriften und 36 Zrainfoldaten gehören, fo gut
als 142 Geſchuͤtze aufzuftellen und 4120 Schuß mit ſich zu führen,
während die engliſche reitende Artillerie mit bdenfelben Fahrzeugen nur
Gongreveſche Raketen. 731
1010 Schuß in’s Gefecht bringt, und bie preußifche Artillerie bei der⸗
ſelben Geſchuͤtz-⸗Zahl nur 788 Schuß bei fih hat.
Durch ein zweckmaͤßig eingerichtetes Raketen⸗Syſtem kann alfo bie
Bernihtungss Waffe der Artillerie auf eine furdtbare Art vermehrt
werden 5 die Maketen find die rechte Artillerie für die Landwehr und
die allgemeine Volksbewaffnung; mittelft ber Raketen wird fich eine cis
vilifiete Nation der Kofaten und Tartaren am beften erwehren koͤnnen;
ein XZirailleur- Krieg mit Raketen geführt erfcheint uns als die Eräftigfte
Form, die der Volks: Krieg annehmen ann.
Ein folder Gebrauch der Raketen fest aber voraus, daß man
über ihre Flugbahn genugfam Herr fei, um auf ein ficheres Treffen
des Objects rechnen zu dürfen, was Anfangs Peinesmegs der Fall war.
Die erften Raketen hatten naͤmlich den großen Fehler, baf der Stab
und bie Hülfe einander collateral waren; dies gab ihnen eine drehende
Bewegung, wodurch fie oft fehr weit von‘ ber ſenkrechten Richtungs⸗
Ebene abgetrieben wurden. est befindet fidy der Stab in ber verläns
gerten Achſe ber cplindrifchen Hülfe, und man hat ed nad) vieljährigen
Bemühungen in England, befonders aber auch in Defterreich, dahin
gebracht, die Raketen fiher genug richten zu können, fo daß General
v. Hoyer Bein Bedenken trägt, fie ftatt dere Haubizen zu empfehlen.
An Defterreih, dem Lande ftiller Wirkſamkeit, merden bie Rake⸗
ten ſchon feit langer Zeit nicht blos ale Zündungs: Mittel, nad) bem
erften Syſtem von Gongreve, fondern auch zum Kortfchleudern von Pros
jectilen gebraucht; fie find darum in jedem Terrain anmenbbar, können
mit den Zirailleurs entfendet und auf den Spigen ber höchften Berge,
fowie des gebrechlichſten Gebaͤudes aufgeftellt werden. .Vermittelſt eines -
Geftelles, das dem Richtſcheit eines Zimmermannes fehr aͤhnlich und
ebenfo tragbar ift, laffen fi) Granaten von 4 Pfund im Gewicht ‚auf
eine Entfernung von 1200 bis 1500 Schritten forttreiben ; man verfichert,
daß in einer Entfernung von 800 Schritten 3 der Schüffe bie Front
einer InfanterieeCompagnie treffen. Die geladene Rakete mit dem
5 Fuß langen Stabe wiegt nur 6 Pfund; erft nad koſtſpieligen und
feit dem Jahre 1815 unter der Leitung bes Generals Auguftin fortges
festen Verſuchen bat man dieſes Refultat erreicht. Die öfterreichifche
Artillerie iſt ſtolz auf die Erfindung und ift der Ueberlegenheit gewiß,
welche ihr die Anwendung der Raketen im naͤchſten Kriege verfchafs
fen muß.
Die Raketen find für den Seedienft wohl ebenfo brauchbar, als
für den Landdienft; die Segel und das Tauwerk ber feindlichen Schiffe
Eönnen durch fie In Brand geftedt, und die Schiffe felbft zertrümmert
werden.
Das neue Geſchoß (American torpedo genannt), das Joſhua
Blair aus Neu⸗Orleans im Jahre 1823 erfunden und ber Regierung
von Nordamerika vorgelegt bat, ſcheint nichts Anderes zu fein, als eine
koloſſale Rakete, die, unter dem Waſſer angezündet, im Stande ifl,
durch ihe Zerfpringen den untern Raums jedes Schiffes zu Öffnen. Die
732 Gongreveiche Raketen. Gonfcription.
zur Prüfung biefer Erfindung niebergefegte Commiffion begeugte, daß
ein einziges Schiff mit ſolchen Torpedos (Zitterrochen) ausgerüfter, auf
offenee See allen Flotten ber Welt die Spige bieten könnte. —
Eine befondere Anwendung ber Brand Naketen findet bei dem
Wallfiſchfange ftatt, wo man ſich ihrer gegenwärtig zu bedienen ans
fängt, nachdem 1821 der Gapitain Scoresby auf bem Schiffe, ber
Metterhahn, den erften Verſuch diefer Art gemadht bat. Er bekam
dadurch ohne große Mühe neun Fifche, die nicht über 1 Klafter tief
unter Waffer gingen und, von ber Rakete getroffen, gemöhnlicdy in
einer Diertelftunde flarben, fo daß die an ber Rakete befefligte Leine
nicht einmal’ nachgelaffen werden durfte. Einer diefer ungeheuren Fifche
war 100 Fuß lang und ward in einer Tiefe von mehr ale 20 Fuß
unter dem Waſſer getroffen. Es läßt fi, erwarten, daß man den Ge
braud) der unficheren und gefährlichen Harpune, mit ber man fich dem
Wallfiſche zu fehr nähern muß, ganz aufgeben wird, um ſich ftatt ih⸗
ter der fo leichten und bequemen Rakete zu bedienen, die noch den wer
fentlihen Vortheil gewährt, durch ihr Feuer das Ungethuͤm oft im er
ften Augenblide zu tödten.
Dieſer Gebraud) der Raketen bat den raftlofen General Congreve
auf den Gedanken gebracht, auch fogenannte Anker-Raketen zu verfer
tigen, die mit einer Spige und einem anlerförmigen Widerhafen ver:
fehen find, damit fie, bei ſchwerem Wetter von einem Schiff nad) dem
nit zu entfernten Strande abgefchoflen, .dafelbft in den Erdboden
feft einhaken und vermittelt einer an fie befefligten Leine eine Verbin⸗
dung bes Schiffes mit dem Ufer bewirken. Die zu Woolwich im Sabre
1821 angeftellten Verſuche haben die Ausführbarkeit der Suche gezeigt,
und die Rakete ift in dieſer Hinfiht aus einem zerſtoͤrenden Geſchoß
ein Rettungss Apparat geworben.
Soviel von den Raketen, die vielleicht noch einiger Correction bes
dürfen, die aber ohne Zweifel im naͤchſten Kriege auf allen Schlacht:
feldern wie die Flügel des Würg-Engeld raufhen werden — nil mor-
talibus arduum ! v. Theobald.
Confceription. Die manderlei in ber Gefchichte und in der
Gegenwart uns begegnenden Arten der Kriegführung oder der Bildung
der Kriegsmacht laffen ſich, nad) den Principien, die ihnen zum Grunde
liegen, auf drei Hauptgattungen oder Epfteme ‚zurüdführen,
naͤmlich: auf jenes der National: Streiter, oder derjenigen, bie
ihren eigenen Krieg führen, d. h. für ihre eigene Sache —
fei es aus freiem Entſchluß, fei ed aus allgemeiner Gefell:
ſchaftspflicht — flreiten; fodann auf jenes dee Solbaten oder
Kriegs: RKnechte, d. h. ber perſoͤnlich, vermöge eines befons
deren Zitels, zum Kriegsdienft Verpflichteten, und endlich auf das
neue Conſcriptions-Syſtem, welches bie beiden andern in ſich
vereinigt. Zur Würdigung des legten, welches den eigentlichen Gegen⸗
ftand des vorliegenden Artikels ausmacht, ift eben wegen des bemerften
Berhättniffes zu den zwei andern nöthig, den prüfenden Blid auch
Conſcription. 733
auf dieſe zu werfen. Dabei werden wir ſedoch auf die Betrachtung
einiger Hauptzuͤge uns beſchraͤnken, die umſtaͤndlichere Darſtellung bes
ſonderen Artikeln vorbehaltend.
Das Syſtem der Nationalſtreiter iſt das natuͤrlichſte und
darum aͤlteſte und ſehr lange Zeit faſt allgemein in Herrſchaft geſtan⸗
dene. Es ift auch heut zu Tage noch vorherrfchend theild bei den noch
ber Natureinfalt getreuen, theild bei den ber echt republikani—
[hen Sreiheit fi erfreuenden Völkern. Sein Charakter, Führung
des eigenen Kriegs, ift vorhanden nicht nur wo ber Kriegs-Be⸗
ſchluß ein gemeinfchaftlicher war, fondern auch wo das Intereffe
oder der Gegenftand des Kriegs die Streitenden in Geſammtheit
angeht, und bie Pflicht (oder auch die Luft) zu flreiten gleichfalls
eine gemeinfchaftliche, aus dem Gefelffchaftsverband hervorgehende iſt.
An feiner reinften Exfcheinung treffen wir es an bei den meilten als
ten und auch mehreren neuen Republiken, worin nämlid_nicht
nur alle Waffenfähige vermöge allgemeiner Bürgerpflicht zum
Kriegsdienft berufen waren oder find (in der Regel mit einer mehr oder
weniger genauen Beftimmung der Dauer und Reihenfolge, — etwa
nad) Alters» oder nach Vermögens - Glaffen —), ſondern audy ber
Kriegsbefchluß entweder von ber Volksverſammlung felbft oder
doch von einem biefelbe mehr oder minder getreu repräfentirenden
tünftfihen Organ bes Geſammtwillens ausging oder ausgeht. Aber
auch in monarchiſchen Staaten, ja felbft in despotifchen, kann
bie Kriegführung eine nationale fein, wenn entweber das Gefeg bie alls
gemeine Kriegsdienftpflicht ald Regel aufſtellt, oder menigftens in den
Fälfen dringender Moth oder höheren Intereſſes ein allgemeines
Aufgebot angeorbnet wird, auch nah dem Gegenſtand bes Kriegs
die felbftetgene Theilnahme der aufgebotenen Schaaren, d. h. ihre wi
lige Kriegführung (alfo nicht blos ein aus fllavifhem Gehore
fam fließender Dienft) dabet erfennbar if. So ſchickten die perfir
{hen Großkoͤnige, obſchon fie die unterjochten Völker durch ſtehende
und großentheils Sold-Truppen im Zaum hielten, gleichwohl mitunter
die Voͤlkerſchaften ſelbſt durch ihr Machtgebot in den fernſten
Krieg. So zaͤhlen wir auch die kriegfuͤhrenden oder wandernden Hor⸗
den und Staͤmme, wenn ſie auch dem erblichen Stammeshaupte
oder dem gewaͤhlten Anfuͤhrer unbedingt folgſam ſind, den National⸗
ſtreitern bei; fo auch diejenigen Banden ober freien Geleite, welche
entweder durch gemeinfchaftlichen: Beſchluß zu einem beftimmten Erieges
tifchen Unternehmen ſich verbanden ober einem Führer zu einem von
ihnen Allen gewollten Zuge unterwarfn. Durch folchen ges
meinfchaftlihen Beſchluß oder duch ſolche freie, auf ein beftimmtes
Biel gerichtete Unterwerfung bildeten fidy naͤmlich die früher Unverbun⸗
denen zu einer Kriegsgenoffenfhaft, die dann, wenn fie glüdticy
war, zu einem Volke anfchmwellen und ein Reich gründen mochte.
Sie führten alfo ihren eigenen Krieg." Daffelbe thaten und thun
- und verdienen alfo den Namen: der Nationalftreiter, bie etwa ausſchlie⸗
734 Conſcription.
ßend zur Waffenfuͤhrung berufenen auserleſenen Claſſen oder Kae
ften eines Volles, wofern fie naͤmlich — mas wohl zu bemerken
ift — die zugleih politifch bevorrechteten oder hberrfhenden
Kıften find, nicht aber bloß aus übernommener Dienftpfliht, um
Sold oder Ländereien u. f. w. für die übrige Nation oder deren Haͤup⸗
ter ftreiten. Im legten Falle werden fie den Kriegsknechten aͤhn⸗
lid ; und daſſelbe ift zu fagen von den gebundenen Gefolgen
oder Geleiten, d. h. den ihrem Lehnsherrn als ſolchem kriegsdienſt⸗
pflichtigen Schaaren, welche unter den germaniſchen Voͤlkern fruͤhe die
Heere der Nationalſtreiter, nämlich die Mannie und Heermannie
verdraͤngten, und eben dadurch ben Untergang der National⸗Freiheit
bewirkten. In der neuen und neueſten Zeit jedoch finden wir die Idee
des alten Heerbanns wieder verwirklicht in ben Inſtituten ber
Landwehr und des Landſturms und in jenem ber Nationals
garden oder Buͤrgerwachen.
Dem Spyſteme der Vollsbewaffnung ober der Nationalftreiter has
ben wir jenes dee Kriegsknechte entgegengefest. Es umfaßt, fowie
das erite, eine Menge nad) Namen und Eigenfchaften unter fidy vers
fhiedener Eintihtungen, bie jedoch fämmtlid den Hauptcharakter an
fi) tragen, daß bei ihm bie Streiter nit ihren eigenen Krieg,
fondern jenen eines Herrn oder Kriegsmeifters führen, und daf
der Zitel ber Verpflichtung zu ſolchem Kriegsdienfte nicht der allges
meine ber Bürgerpflicht oder des gemeinfchaftlicen Intereffe, fonbern
ein befonderer, die einzelne Perfon bindender il. Ders
felbe kann nun fein, mie fchon oben bemerkt ward, die Vafallens
Pflicht, oder aber die — freie oder gegwungene — Anwerbung
oder überhaupt ein. für den Dienft empfangener Lohn (fi es Sold-
oder Beute oder Land-Beſitz oder Nutznießung u. f. w.)
oder auh. Strafe .oder Sklaverei. Es gehören alfo hieher die
Trabanten und Leibwächter ber alten morgenländifhen unb
griehifhen, auch zum Theil italifchen, ficilifhen u. f. w. Tyrannen,
fobann die bei'm Sinken der Freiheit und der Vaterlandsliebe allmds
lig an. die Stelle der Nationalftreiter getretenen Miethtruppen,
nicht nur der orientalifhen Despoten, fondern auch mehrerer abends
ländifher Könige und Mepublifen, fo zumal die Kriegsſchaaren ber
macedonifhen Könige und der in Aleranders d. Gr. Reid
ſich theilenden Feldherren, jene verfchiedener griehifher Staaten
und zumal jene Karthago’s, der mit ihren Bürgerarmen Inbuftrie
und Handel treibenden und mit Gold ſich fremde Streiter erfaufenden
Republik. Es gehören ferner hieher bie fpäteren Deere Roms, zum
Theil noch in den Tagen der ihrem Untergange zueilenden Republik,
vollſtaͤndiger jedoch unter den auf ſtehende — theild unter Bürs
gern, theild unter Fremden geworbene — Heere ihre Gewalt im In⸗
nern und nad) Außen ftügenden Imperatoren; weiter bie Lehns⸗
Miliz im Mittelalter, ſodann die (gegen den Zrog der Kroy-Vaſal⸗
ten Anfangs in kleiner Zahl errichteten,. bis auf bie neue Zeit ‘aber .
Confeiption 735
fortwährend, zu Zwecken ber einheimifhen und auswärtigen Macht,
vermehrten) ſtehenden Koͤnigs-Truppenz aud die, nur zu zeit
licher Dienftleiftung berufenen, Schaaren ber Conbottieri; weiter
im Orient die türkifhen Sklaven Heere im arabifchen, ſowie
die Sanitfharen im türkifhen Reihe und bie Mamluken in
Aegypten u. f. m. Der gemeinfhaftliche Charakter aller dieſer unter
ſich bunt verfchiedener Zruppen-Sattungen befteht darin, daß fie — ob
auch mittelft des Kriegs» Dienjtes überhaupt ihren eigenen Vortheil
nach Thunlichkeit verfolgend — doc) In-der Regel bei'm jedesmaligen Ges
genftand eines beftimmten Krieges perfinlih unbetheiligt,
db. h. nicht wegen diefes Gegenſtandes oder wegen einer ihnen ale
Bürgern obliegenden allgemeinen Pfliht, fondern der, aus be:
fonderem Titel übernommenen oder überfommenen Dienftpflidht
willen, alfo im Kriege des Herrn die Maffen führend, oder auch
den Kriegsdienft mie ein befonderee Gewerbe treibend, und daher
einen befondern Stand im Staate bildend, ja dem gefamm»
ten übrigen Volk fih entgegenfegenb find.
Welchem von diefen beiden Spftemen der Vorzug gebühre, Tann
für den, welcher auf die Natur der Dinge und auf die Geſchichte auch
nur einen unbefangenen Blick geworfen, von dem Standpunkt bes
Rechts nicht minder ald von jenem des Vortheils nicht zweifelhaft _
fein. Das Syftem der Nationalftreiter, gegründet auf die Idee
der allgemeinen und gleihen Pfliht aller waffenfähigen Bürger zum
Streit fuͤr's Vaterland, entfpricht zuvoͤrderſt dem erften und einfachften
Sefellfhaftsgefes und dem von der Vernunft dictirten Inhalt
des Staatsvertrage. Da, wo es fih, mie bei'm Krieg, um bie
allerhoͤchſten Intereffen des Vagerlandes, ja um feine Erhaltung,
fomit nicht nur um vorübergehende oder nur Einzelnen im Volt und
zwar meift nad) Mafgabe ihres Vermögens zufliegende Mohithaten,
fondern um die ganze Zukunft bes Staates, alfo auch um jene
jedes einzelnen Mitgliedes und beffen ganzer Samilie, vom Leben unb
Lebensglüd der jegigen und der nachkommenden Bürger hanbelt, ſonach
alfo alle — menigftens melche denken und fühlen und nicht in den
craffeften, felbft der Kinder vergeffenden, Egoismus verfunten find —
ale gleihmäßig betheiligt erfcheinen, und mo es fi ferner '
Dienfte oder Leiſtungen handelt, welche (in ber Regel und mas d
Hauptſache betrifft) Feine Stellvertretung durch Geld oder buch Erfag
männer zulaffen, ſondern auf der perfönlihen Kraft und Dingebung
aller Kampffähigen beruhen: da kann — inſoweit naͤmlich das legt:
bemerkte Verhaͤltniß obwaltet — von einer Vertheilung der Laft fireng
nad) dem Maafftabe des Vermögens, ober gar von einer Webers
waͤlzung berfelben auf die Schultern bios einer Anzahl Einzelner,
fpeciel dazu zu DVerpflichtender, die Rebe nicht fein. Da ſpricht ber
Staatsvertrag laut die Verpflihtung aller Züchtigen zur per-
fönlihen Leiſtung aus, (vorbehaltlich allerdings einer, durch poſi⸗
tives Geſetz zu gebenden, näheren Beſtimmung über das Aner⸗
756 | Confcription.
kenntniß ber Tüchtigkeit oder Untüchtigkeit, auch üher bie in beſon⸗
dern Fällen ober Berhältniffen, zum Vortheil der Gefammtheit ſelbſt
zu geftattende Stellvertretung, endli ber die Concurrenz auch
der Kampfunfähigen zu denjenigen SKrirgsleiftungen oder Laſten,
welche einen Geldanſchlag zulaffen oder wirklich mit Geld beftrite
ten werden;) und ba entfpridht alfo bie Vertheilung nah Köpfen
(deren nähere Regulirung, was etwa die Form bes Aufgebots
pder ber Aushebung, fodann bie orkentlihe Dauer oder bie Rei⸗
henfolge ober Abwechfelung, des Dienftes, je nah dem Maaß
des Bebürfniffes oder der Gefahr, überhaupt nad) dem Gange bes
Kriegs u. f. w. betrifft, dem pofitiven Gefeg zu überlaffen ift) der
wahren Bleihheit und gereicht keinem Einzelnen zur begründeten
Beſchwerde. Immerhin bleibe es dabei dem Gefammtwillen er
Yaubt, alle mit dem Hauptprincip irgend verträglihen und durdy das
Gefammtintereffe empfohlenen Ausnahmen oder . Modificationen
zu flatuiren, in beren näheren Vorfchlag oder Beurtheilung wir uns
aber hier nicht einzulaffen haben. Zu einigen Bemerkungen darüber
werden wir unter bey dem SHeerwefen überhaupt und bann ber
Landwehr und dem Landfturm gemwibmeten Artikeln ben Anlaß
nehmen.
’ Noch unbedingter ald von Seite des Rechts (denn auch das.
Syſtem der Miethtruppen iſt unter gewiffen Vorausfegungen und Bes
ſchraͤnkungen nicht unvereinbar mit demfelben) empfiehlt fid) das Sys
ſtem der Nationalftreiter von jener der Politik, derjenigen Politit ndms
lich, welche nicht ein dem Volks⸗Intereſſe entgegengefegtes Regierungs⸗
oder Herrfchafts: Intereffe verfolgt, fondern das gemeinfchaftlihe In⸗
tereffe beider, d. b. das wahre Geſammtwohl. Das Natios .
nalheer naͤmlich ift unvergleihbar ſtaͤrker, zuverläffiger,
Recht und Freiheit [hirmender und dabei wohlfeiler, als
das aus Kriegsknechten beſtehende. j
Das Syſtem der Nationalbewaffnung bietet — wofern der Staat
nicht allzu Eein ift — eine unerfhöpflihe Quelle von Streitkräften
dar, mährend aud ber größte, blos dem ſtehenden Deere ver-
trauende ſich dem Schidfal weniger Schlachten preißgegeben ſieht. Das
"gahlreichfte Heer — mir haben e8 an Napoleons ungeheuerer Krieges
macht geſehen — kann zu Grunde gehen durch einige große Unfälle;
und dann iſt es Schwer oder unmöglich, in Bälde ein neues zu bilden:
während eine in Waffen geübte Nation bie Lüden ihrer Schlachtrei⸗
hen leicht wieder mit gleich tüchtigen Kämpfern füllt und alljährlich
ihr eine unüberfehbare friſche Schaar von Streitern, heranwaͤchſt. Nur
zu Angriffs» oder Eroberung = Kriegen taugt das National:
heer weniger als das aus Soldaten beftehende, weil die Liebe zur
Heimath und die Familienbande davon abhalten; doch ift gerade dies,
weltbürgerlich betrachtet, ein Eojkbarer Vorzug, und ebenſo die Stärke
des Nationalheeres im Vertheidigungs- Krieg die wirkſamſte Abs
haltung von ungerechtem Angriff und dergeftalt das trefflichſte Bewah⸗
Gonfeription. 137
rungsmittel des Friedens. Soviel Indeffen mag zugegeben werden,
dag neben bem Spftem bed geordneten Nationalaufgebotes
ein, verhältnigmäßig kleiner, ftehendber Heeresftamm von
Mugen oder Nothwendigkeit fein kann. An biefen volllommener eins
geübten Stamm würden dann die aufgebotenen Bürgermiligen je nad)
Erfordernig fich anfchließen. Bet ben MWaffengattungen, die eine laͤn⸗
gere Zeit zur Ausbildung erheifcyen, wie bei der Meiterei, ber Artil⸗
Ierie, dem Gentewefen, ift die Nothmendigkeit einleuchtend. Solcher
kleine Heeresftamm aber kann dann fuͤglich gebildet werben, tie ans
bere Zmeige des Staatsdienftes, durch freiwillig, gemäß Dienftcon»
tracts, Eintretende.
Nicht nur phyſiſch flark durch die Zahl der ſtets vorhandenen
und nachwachſenden Streiter, fondern auch moraliſch ſtark durch patrios
tiſche Begeiſterung und durch lebendige Theilnahme am Gegenſtand oder
Zweck des Kriegs, durch Liebe fuͤr Heimath, Familie und eigenen Heerd,
iſt das Nationalheer, und ſtets in dem Verhaͤltniß mehr, als die ein⸗
heimiſche Verfaſſung jenen theuren Guͤtern Schirm und Pflege gewaͤhrt.
Nur ſehr unvollkommen werden dieſe Motive bei einem Heere von
Soldknechten erſetzt durch ſtlaviſchen Gehorſfam, Furcht vor barba⸗
riſcher Strafe oder auch durch ſoldatiſche Ehre und durch perſoͤnliche
Ergebenheit fuͤr einen geliebten Fuͤhrer. Nur an der Liebe fuͤr jene
theuren Guͤter entzuͤndet ſich die wahre Begeiſterung im Kampfe,
und nur ſie verbuͤrgt die unerſchuͤtterliche Treue. Ein Heer von
Nationalſtreitern iſt naturgemaͤß taub gegen alle Verfuͤhrungsverſuche,
felſenfeſt treu dem Vaterlande; aus ſeinem Schooße kommen weder Ue⸗
berlaͤufer noch Verraͤther; die Nationalſache allein und dieſe voͤllig
durchgluͤht ſein Herz. Dagegen iſt die Geſchichte reich an Beiſpielen
der Abtruͤnnigkeit und der Verraͤtherei von gedungenen oder gezwunge⸗
nen Kriegsknechten. Wer um Lohn ſtreitet, der wendet gern ſich dort⸗
hin, wo der groͤßere Lohn winket, und eine vom Gluͤck verlaſſene
Fahne haͤlt ihn nicht laͤnger, als Zwang oder Furcht reichen.
Nationalſtreiter ſind Bruͤder des Volkes, aus deſſen Schooße ſie
nur zeitlich ausziehen in's Feldlager und wohin fie zuruͤckkehren nad)
vollbrachtem Kampf. Keine Scheidung befteht zwifhen ihnen und den
Bürgern, kein entgegengefestes Intereſſe, Leine Entfremdung nad, Ge⸗
fühl, Gefinnung und Streben. Stets kampfbereit und willig gegen
den aͤußern Feind, auch gegen verbrecherifche einheimifche Friedensftörer
pflichtgetreu den gefeslichen Zwang vollbringend, find fie gleichwohl uns
geneigt und unbrauchbar zum böfen Krieg einer etwa tyrannifchen Mes _
gierung wider das eigene Voll. Nie werben fie ihren Arm leihen zur
gemwaltfamen Unterbrüdung des Rechts und ber Freiheit, nie den Seins
den ber Nationalſache als blindes Merkzeug dienen. Diefes allein
fhon muß jeden Wohldenkenden beflimmen, das bürgerliche Heer
dem folbatifhen vorzuziehen, wenn auch — mas jedoch nicht
tft — in allen andern Beziehungen das legte dem erſten voranginge.
Denn wie glänzend immer: ein Waffendienft ſei: er ift zu theuer bes
Staats⸗ Lexikon III, 47
738 Conſcription.
zahlt, wenn ihm Freiheit und Recht geopfert oder preisgegeben wird;
und alle Herrlichkeit der auswärtigen Zriumphe wird zum Fluche,
wenn dee Bürger dafür hingegeben ift an die Gnade eines Herrn.
Io fümmtlihe Bürger zum Waffendienft verpflichtet, daher audy mit
Wafſen vertraut und eingeübt in der Kunft ihrer Führung find, da
fhroillt auch ihre Bruſt von ftolzem Selbfigefühl und vom Bewußt⸗
fein de3 auf ihrer eigenen Kraft ruhenden Rechtszuſtandes. Da kann
nicht einmal der Gedanke ihrer Unterdrüdung aufkommen, und jeder
Verſuch, zu welchem etwa bife Rathgeber einen Fürften verleiten
möchten, würde augenblicklich fcheitern an ber entfchlofjenen Haltung
des Volkes.
Audy die vergleihungsweife Wohlfeilheit unferes Epftems
wirft ein bedeutendes Gewicht in bie Wagſchale. Nationalftreis
‚ter koſten in Friedenszeit die Nation nur wenig; und bie ders
geftalt erfparten und gefammelten pecuniären Kräfte werden bann,
wenn ein Krieg ausbricht, den größten Aufwand erſchwinglich machen,
während die Laft des jtehenden Heeres die Völker auch im Frie⸗
den drüdt und erdrüdt, und fodann im Kriege leicht die. völlige Ge⸗
ſchoͤpfung eintritt.
Bon allen diefen Vorzuͤgen iſt, mie ſchon aus den bisherigen An»
beutungen hervorgeht, das niederfchlagende Gegentheil bei dem Syſtem
der gedungenen und ftehenden Deere zu erkennen. Gegen bus
Recht zwar läuft daffelbe, wie bereitd oben bemerkt worden, uns
‚mittelbar oder unbedingt nicht. Es kann, ohne Rechtsverletzung,
eine Regierung oder eine Nation den Waffendienft, wie andere Arten des
Staatödienftes, durdy bezahlte, freiwillig fi) darum Meldende (und zwar
nicht nur durch Einheimifche, fondern zum Theil auch durch Fremde) aller:
dings verrichten laſſen; und gegen das Spftem folcher freien Werbung
ift infofern nichts zu erinnern. Doch bewirkt fhon die politifche
Gefährlichkeit oder Wermwerflichkeit eines Syſtems, wenn fie ertannt
wird, auch zugleich eine rechtliche Unmöglichkeit feiner Behaup⸗
tung, welche nämlic in folher Vorausfegung mit dem wahren, ver-
nünftigeen Gefammtmillen durchaus unvereinbarlih wire. Ein
ſtrengeres Urtheit jedoch ift zu fällen über jene Bildungsmeifen
und Einrihtungen bes ftehenden Heeres, welche der bürgerlichen
Freiheit und Gleichheit oder andern rechtlichen Korderungen dee
Volks Eintrag thun. Wenn 5. B. eine zwangs weiſe Anwerbung
ftattfindet, ſei e8 eine ganz regellofe oder rein gewaltfame — mie etwa das
Matröfenpreffen in England — ober eine nur auf die niede⸗
‚ren Stände befchränkte — mie vor der franzöfifchen Revolution faft
überall der Kall war — überhaupt eine, fei es im Princip, ſei es in
der Ausübung, Willkür und Rechtsungleichheit mit fi fuͤh⸗
rende; ebenfo, wenn dem Soldatenftand ungebührlihe Vorrechte vor
jenem der Bürger verliehen find oder das Anfehen der bürgerlichen
Gewalt ‚gegenüber jenem der militairifchen herabgewürdiget wird, u.f. w.
8
ı
Gonfeription. 739
alsdann iſt auch wahre Rechtsverletzung vorhanden und baher
unbedingte Verwerflichkeit.
Dom polttifhen Standpunkt betrachtet iſt zuvoͤrderſt einleuch-
tend, daß das Syſtem des ftehenden Heeres, alfo der Unterfcheibung bes
Soldaten: vom Bürgerftand und der ausfchließend dem erften
übertragenen Waffenführung nur einen verhältnißmäßig kleinen
Theil des Volkes wahrhaft wehrbar ober tuͤchtig zur Vaterlandsver⸗
theidigung werden läßt, und daß hier alfo der etwa anzuerkennende
Vortbeil einer volllommneren Einübung meit Überwogen wird durch den
Nachtheil der unendlich befchränkteren Zahl der Streiter, folglich ber
Schwierigkeit oder Unmöglichkeit bes hinreichend ſchnellen Erfages erlits
tener großer Verluſte. Und gleihmohl ift die um fo Vieles geringere
Streitkraft unenblih Loftfpieliger für den Staat ale die National
bewaffnung. "Die Klagen, die allenthalben darüber laut ertönen, mas
hen bier jede Ausführung überflüfiig. Seit dem Auffommen ber ftes
* henden Heere ward faft allenthalben und in fortwährend fteigendem
‘
.
Maße das Mark der Nationen ausgefogen und furdtbure Laften der
öffentlichen Schuld aufgehäuft, der Unterhaltung jener Kriegsſchaaren
willen, deren Zahl nothwendig vermehrt werden mußte im Verhaͤltniß
der Unwehrhaftigkeit, worein feit eben ber Zeit die Muffe der Nation
verfan?, und im Verhältniß der ſtets weiter um ſich greifenten Erobes
rungsluft, Rivalität und Glanzſucht, wenn auch nur einzelner — aber
dann durch Beifpiel oder Gefahr zur Nachahmung verleitender —
Staaten oder Regenten.
Und von fo theuer erlauften Schaaren hatte man oft, In ber
Stunde der Noth, erft nur geringe Hilfe Das Kriegs Handwerk
mag wohl gelenkig und kampfgeuͤbt machen; aber es verleiht jene hoͤ⸗
bere Begeifterung nicht, welche aus Vaterlands⸗ und Freiheitsliehe
quillt, daher nur Nationalftreitern eigen if; und es verleiht jene heis
lige und zuverläffige Treue nicht, welche nur die Frucht der in Buͤr⸗
gerherzen natürlich flammenden Anhänglichkeit an bie Nationälfache
und Nationalehre fein, nicht aber erfauft oder bedungen werden kann.
Zahlloſe Beifpiele des Abfalls der Miethtruppen find in ben Blättern
der Gefchichte verzeichnet, ja Beifpiele der frevelhafteften Verraͤtherei.
Man gedenke nur der karthagiſchen Miethtruppen, ſodann der Praͤ⸗
torianer.in Rom und ber,nielen zumal guten Kaifer, gegen
welche fie das vatermörderifhe Echwerdt erhoben; man gebenke der
tuͤrkiſchen Kriegsinechte im Chalifat und der Sanitfcharen
im osmannifchen NReih u. f. w.
Was aber dem Syſtem der Kriegsknechte noch am meiften entges
genfteht, das ift ihre gleichmäßige Brauchbarkeit zu jedem böfen
wie zum guten Zwed. Die Dienftpflicht des gedungenen Soldaten ift
unbedingte Erfüllung des an ihn ergebenden Gebots. Er iſt duch
feinen Dienftcontract, überhaupt durch feinen Stand als Soldat, aus
einer Perfon, aus einem felbftfländigen Mitglied der bürgerlichen Ges
ſellſchaft, zur bloßen Sache, d. h. zum willen.ofen 3 e vezeug wor⸗
740 Gonfeription.
den, deſſen Kraft ſich ohne Unterfchieb überall dorthin richten muß, wo⸗
hin das Commandomwort lautet. Er hat nit Mitbürger und Freund,
nicht Bruder und nicht Vater mehr; er ift blos Dfener der Ges
malt. Db diefe für oder wider das Recht, für oder wider das Volk,
die DVerfaffung, die Freiheit fei: — dies Alles gilt ihm gleidy ober
muß ihm gleich gelten; er ift eine bloße Waffe, gehorfum dem Herrn,
dem fie gehört, oder der Hand, bie fie gebraucht. Daher befteht all
dort, mo eine ftarke ſtehende Heeresmacht gegenüber dem Volke aufgeftelft ift,
nicht mehr Recht und Freiheit, als eben die Regierung, welcher die Hee⸗
resmacht dient, zu gewähren für gut findet, und Liegt allein in der Gnade
diefer Regierung alle Hoffnung und alles Heil. Zwiſchen einem einhei⸗
miſchen und einem fremden Heere ift alsdann nur wenig Unterfchied ;
beide find dem Buͤrgerthum entfremdet und bliden mit übermüthiger
Verachtung auf daffelbe nieder; zu beiden blidt ba wehrlofe Volk mit
gleicher Unmacht und gleihem Echreden auf; gegen beide ift all fein
Mecht und all fein Mille gleich bedeutungslos und unkraͤftig. Geſetz
und Verfaffung gelten bier und dort nur fo viel und fo lange, ale
der Kriegsmeifter es will, und das bemüthige Bemußtfein fo verlorner
Lage tödtet in den Bürgern allen Stolz, allen Muth, alle Hoffnung
der Freiheit. Solchen Staaten iſt alfo ber ebelfte Nerv bes Lebens
geraubt, und die zu Sklaven herabgewürbigten Bürger verdienen, bei
der daraus fließenden Ermiedrigung auch des Charakters, bald nichts
Befferes mehr ale die Sklaverei.
Alte diefe Nachtheile und alle diefe unfeligen Folgen des Syſtems ber
Miethtruppen hat der Geift der Neuzeit deutlich erfannt, und die aufge⸗
klaͤrte Sffentlihe Meinung unter allen civilificten Völkern hat ſich laut
dagegen ausgefprohen. Früher liegen die Völker, theils gedankenlos,
theils willenlos, es ruhig geſchehen, oder glaubten gar nody babei zu
gewinnen, dag an die Stelle der allgemeinen- Wehrpflicht oder der
Kriegführung in der Heermanie almälig (Anfangs naͤmlich nur
ausnahmemeife ober zum Theil) der fie erleichternde der Geleite, fp&:
ter der fih zur Megel erhebende geordnete Dienft der vielgliedrigen
Lehnfolge oder Vafallenfchaft, noch fpäter jener der mit der Vermie
thbung gemorbener Schaaren ein eigenes Gewerbe treibenden Condot⸗
tieri, und endlich bie ftehende Macht der von den Königen oder Für:
ften, mehr oder minder frei oder gewaltfam, gemorbenen Truppen
oder Soldaten trat, und bergeftalt die eigentlichen Bürger — feltene
Säle einer dringenden Noth abgerechnet — der Mühe und Gefahr.
des MWaffentragens enthoben, aber dafür mit dee fchweren Laft ber
Unterhaltung fortwährend ſich mehrender Schaaren von gedungenen
Kriegsknechten belegt, und zugleich dem Uebermuth dieſer Bewaffneten
und ber unbefchränkten Gewalt des Herrn berfelben wehrlos Preis ges
geben wurden. Die Unerträglidykeit der Laft endlich und bie Elare Er:
kenntniß ber übrigen mit folhem Syſteme verbundenen Uebel führten
die Idee der Nationalbemwaffnung und das lebhafte Verlangen
nad berfelben zuruͤck; aber die franzäfifhe Revolution, von
- Eonfeription. 741
welcher man zunaͤchſt feine Befriedigung erwartete, veranlaßte zwar bie
theilmeife Verwirklichung, doch keineswegs in dem reinen Sinn,
worin die Forderung erklungen, fondern getrübt durch unlautere und-
inconfequente Beflimmungen, und dazu unter Beibeyaltung, ja Er⸗
ſchwerung mehrerer Hauptübel des alten Syſtems. Es geſchah diefeg
nämlich durch die Einführung der Gonfcription.
Schon vor der frangöfifhen Revolution zwar beſtand in mehres
ren Staaten, namentlid) in Defterreich, eine Confeription °),
db. h. eine Aufzeichnung ber waffenfähigen Mannfchaft zum Behuf der
Aushebung zum Kriegsdienſt; doch enthielt fie kaum im Keime das
jenige, was fpäter das Napoleon’fhe Confcriptionsfyftem
vollendete. Wohl nämlich erkannte man ſchon darin die Idee ber
Leibherrlichkeit des Staates (oder bes Megenten) über die waffen⸗
fähigen Unterthanen, aber’ fie ward vorerft nur geltend gemacht über
die niedrigeren Volksclaſſen, zumal über bie von’ jeher gedruͤckte
Glaffe der Bauern, welche man, obſchon fie noch unter den härteften
Laften der Feudalität und Hörigkeit fhmachtete, dennoch dem Namen
nad) zu freien Eigenthuͤmern erklärte und unter ſolchem Titel jest auch
von Staats wegen zu den fchwerften Leiftungen in Anfprudy nahm. Die
höheren Glaffen alfo blieben mit ber Rekrutirung verfehont, und auch
die Städte-Bürger meift nur inſofern in's Mitleiden gezogen, daß
man ihnen bie Stellung einer nad) ber Volksmenge bemefjenen Zahl
von Rekruten auflegte, doch bie Art des Aufbringens ihnen felbft übers
ließ. Da übrigens neben biefer Gonfeription die freie Werbung fort
beftand, auch Viele zur Strafe (3. B. wegen Trunk, Schlägerei ober
anderer Eprceffe) zum vorhinein unter bie Soldaten geftoßen wurden,
fo verminderte dadurd) bie Zahl der eigentlich Conferibirten ſich anfehns
lich. Erſt der Krieg des verbündeten Europa wider die neufraͤnki⸗
[he Republik, welcher diefelbe, die da neben den Coalitionswaffen
auch noch einheimifche Stürme zu beftehen hatte, zur Entfaltung der
gefammten Nationalkraft aufrief, brachte dag Aufgebot in Maffe
hervor, ein Anfangs ungelendes Werkzeug, welches aber bald buch
Carnot's großen Geiſt eine zum entfheidenden Triumph führende
1) Die im republifanifhen Rom durch die Conſuln alljährlich gehaltene
Confcription, b. h. Aushebung der zur Bildung ber Legimen nötbigen
Mannſchaft aus ben waffenfähigen Bürgern, welche fämmetlidh vom 17. bis zum
- 45. Jahre Eriegäbienftpflidtig waren, hat zwar bem neuen Conſcriptionsſyſtem
den Namen gegeben, ift aber, was Geiſt und Princip betrifft, von bems
feiben weſentlich verfchieden. Nur die neufränktifche Gonfcription, fo wie
Carnot in ben verhängnißvollen Tagen des erften Revolutionskriegs fie * geftars
tete, war ihr nadpehiibet und gab Volks: oder Bürgerheere wie fie.
Vom 16. bi8 zum 40. Jahre follte nach ihr die Kriegspfliht ſaͤmmtlicher
franzöfifcher Bürger dauern, und noch bis zum 60. Jahre gehörte jeder zur Ras
ttonalgarbde. Welchergeſtalt biefes Syſtem, ungeachtet der Kortbauer feines
Namens und mandjes Formenwerks, dem Wefen nad, zumal buch Rapo⸗
Leon aus einem volksthuͤmlichen in ein ſoldatiſches verwandelt wurbe, ift
im Texte angebeutet. '
m
743 Gonfcription,
Seftaltung erhielt. Die Nationalheere Frankreichs zerftäubten bie
flogen Soldatenheere ber Goalition, und es nahm die legte endlich
fetbft ihre Zuflucht zum Aufgebot des Volkes, zu Buͤrgermilizen unb
Landſturm, um den Untergang abzumehren. Freilich gefchab biefes
mit geringerem Erfolge, als man erwartet hatte; denn der Landſturm,
wenn er blos aus denjenigen befteht, welche das ftehende Heer zurüds
gelaffen hat, befist natuͤrlich jene Kraft und jenes Selbftgefühl nicht,
die einem aus der Bluͤthe der Nation gebildeten bürgerlichen Deere
einmwohnen. Aber die Idee eines rein bürgerlichen oder Volksheeres
erfchreddte nicht nur die wider das republilanifche Frankreich verbündes
ten Monarchen, fondern behagte audy dem kuͤhnen Kriegsmeifter nicht,
dee ſich durch Lift und Gemalt an die Spige ber von Parteikampf
durchwuͤhlten Republik und fobann, bdiefelbe fammt ber Freiheit völlig
nieberteetend, auf den erblihen Kaiferthron gefchwungen hatte. Gleich⸗
wohl bedurften ſowohl er als feine Gegner fo ungeheurer Kriegsſchaa⸗
ten — er zum Bau bed Weltreihe, fie zur Abmwendung des Unter
gangs — daß fie durchaus nieht auf den bisher gewöhnlichen, vielfach
befchränften Wegen ber Rekrutirung, fondern nur buch den Grundfag
der Kriegstienjtpflicht der gefammten flreitbaren Mannfchaft
mochten zufammengebradht werden. Daher ward das Carnot'ſche
Syſtem der Nationalbewaffnung infofern beibehalten, als es jene allges
meine Kriegedienftpfliht zur Grundlage hat, aber der Herrfchergeift
Napoleons mußte es dergeftalt zu regeln und umzumodeln, daß es,
anftatt ein bürgerlihhes ober Volksheer unter die Waffen zu rufen,
blos ein unermeßliches Soldaten heer fchuf, d. h. dem Herrſcher eine
unerfchöpfliche Vorrathskammer für fein nimmerfattes Beduͤrfniß von
Kriegsknechten dbarbot. Diefes Napoleon’fhe Conſcriptions⸗
ſyſtem ward dann natürlich auch denjenigen Staaten aufgedbrungen,
welche entmweber als erklärte Wafallenftaaten Frankreichs oder unter dem
Titel von DVerbündeten dem Weltreich angehörten, ſodann auch mehr
ober weniger nachgeahmt von den ihm gegenüberfiehenden, und, nad
ber Zerteümmerung bes monftröfen Baues, gleihmohl in feinen Haupt⸗
zügen beibehalten von den meiften Diefer Staaten, im Mutterfand feibft
jedoch, in Folge ber conftitutionellen Charte Ludwigs AI, wefent:
lid) abgeändert und erleichtert 2).
n
2) Die Charte Ludwigs XVIIT. yerorbnet im Art. 12.: „Ta conscription
est abolie. Le mode de recrutement de l’armee de terre et de mer est de-
termine par une loi“, In Folge diefer Verordnung wurde ber Stand des
Heeres ‚einige Jahre lang blos dur freiwillig Eintretenbe erhalten.
Als aber die Erfahrung das Unzureichende dieſes Verfahrens fühlbar machte,
kehrte man durch die Gefege vom 10. März 1818 und vom 9. Iuni 1824 zum
Princip der Aushebung zurüd, jedoch fo, daß biefelbe nur ale Aushülfe
dienen follte, inſofern naͤmlich durch die freimillige Anwerbung das Bedürfniß
nicht befriediget würde. Als jaͤhrliches Beduͤrfniß waren durch bas erfte
Geſetz 40,000 Mann, durch das zweite 60,000 Mann angenommen, unb bie
Dienftzeit dort auf 6 und bier auf 8 Zahre feftgefegt worden. Die Charte von
Gonfeription. 743
Dermöge dieſes Conſcriptionsſyſtems befteht eine Art von Leib»
herriichPeit des Staates — In den meiften Staaten vielmehr des
Regenten als Kriegsmeiſters — über die gefammte männliche Ber
völkerung und jeden einzelnen Eprößling berfelben. Wir fagen eine
Leibherrlichkeit, weil fie nicht eigentlich auf ſtaatsbuͤrgerliche
Pflicht, fondern auf das Factum des Geborenfeins auf einem
Staatsgebiet oder des Erzeugtfeins von einem Staatsangehdrigen
fid) gründet und früher ausgeübt wird, als der Keibpflichtige großjaͤh⸗
tig, d. 5. wirklicher Staatsbürger, geworden if. Wir fagen ferner
„Leibherrlichkeit” darum, weil ber Anſpruch gegen jedes Indivi⸗
duum als ſolches, nit aber ald Glied einer Gefammtheit
geht, d. 5. weil gegen jedes das volle Recht angefprochen oder von
jedem nad Belichen die volle Leiſtung eingefordert wird, aber von
einer dem Gefellfhaftsgefeg gemäßen Gemeinſchaftlichkeit
der Verpflichtung, daher auch von einer thunlihft gleihen Verthei⸗
Lung ber Laft keine Rede if. Dem Staat alfo, weil er Leibherr jes
des Einzelnen ift, fteht die freie Auswahl unter den Pflichtigen oder
die von feinem Belieben abhängige geſetzliche Beſtimmung ber Ord⸗
nung oder Reihenfolge, wornach biefelben unter die Waffen zu
rufen feien, ebenfp der aus mas immer für Gründen zu gewähren:
den Befreiung zy. Kein Gerufener Bann ſich beſchwoͤren; benn er
ſt geborner Waffenknecht: und gegen die Befreiung keines Andern
lann er ſich auflehnen, weil dadurch nimmer feine eigene Dienftpflicht,
de ja jedenfall eine voltftändige ift, bem Umfang nach vermehrt,
{mdern blos factifch die Nothwendigkeit ber Leiftung ihm etwa näher
geuͤckt, d. h. dem Leibheren die Veranfaffung zu ihrer wirklihen Eins
fosderung — welche ohne bie Befreiung Anderer vielleicht nicht ge:
ſchehen wäre — gegehen wich,
1830 aber verorbnete, daß bie Zahl des jährlichen Sontingents jeweils durch bie
Kammern votirt werden ſollte. Nunmchr wurben auch hardy ein neues
Geſetz (vom 21. März 183%) mehrere Beftimmungen ber heiden frühern abges
äntert und dadurch abermals eine Annäherung an das alte Con⸗
feriptionsfyftem bewirkt. Die Aushebung nämlich, und zwar nach dem
Roofe, wurde ald Hauptgrundlage der Rekrutirung erftärt, und der
freiwillige — übrigens an gewiffe Bedingungen gebundene — Eintritt
nur nebenbei noch beibehglten. Die Vertheilung des Gontingents auf
die einzelnen Departemente und fodann auf die Arrondiffements und Gantone
fon durch das jährliche Sefeg beftimmt werden. (Ob nah der Volk szahl
fhlechthin, oder nach der Zahl ber dienfttauglichen Mannſchaft, bicibt uns
beftimmt. Nach dem Gefeg von 1818 galt das erfte Verhaͤltniß.) Uebrigens
ift das Recht des Einftellens anerkannt, audy feine Ausübung wohl geregelt
und erleichtert. Man rechnet, daß alljährlich der fünfte Theil der Ergaͤn⸗
gungemannfejaft durch Einfteher gebildet wird. Auch Befreiungen vom
ooßziehen oder von ber Dienftpflicht hat das Geſetz in anſehnlicher Dienge ftas
tuirt, und wirklich mehr, als zu billigen it, zumal da an die Etelle der Wefcels
ten jeweild die Nachmaͤnner eintreten müffen. Das Ganze ift hiernach ein
bloßer Vergleich zwifchen gut und böfe, und zwar cin nit nur unbefrits
digenber, fondern auh der Sonfequenz ermangelinder.
744 Gonfeription.
In diefen — ben rechtlichen Verſtand freilich wenig befriebigenben —
Morausfegungen liegt bie einzige Möglichkeit, bem Conſcriptionsſyſtem
irgend eine Haltbarkeit zu geben, d. h. es wenigftens von ben allers
f&hreiendften Widerfprücen mit fich felbft und mit den einleuchtends
ſten allgemeinen flaatsrechtlihen Wahrheiten zu befreien. Sagt man
fi) aber 108 von foldhen Vorausſetzungen, ober will man nicht einges
ftehen, daß fie flattfinden, fo ift dem Gonfcriptionsfpftem aud ber
legte Rechtsboden geraubt. Wie Eönnte man ohne die Ans
nahme einer jedem Juͤngling perfönlih und unbedingt (mithin nicht
blos als dem Zheilnehmer an einer gemeinfchaftliden Verpflich⸗
tung, fondern ale individuell Verpflichteten) aufliegenden Schuldigkeit, .
auf ben heliebigen Kuf des SKriegsheren unter die Sahne zu treten, bie
willkuͤrliche Auswahl oder auch bie zu einer fcheinbaren Milde⸗
tung verordnete Aushebung nad) dem Loo ſe flatuiren? Wenn man
z. DB. eine Schaar Rebellen becimirt, fo geht man dabei von der
Vorausſetzung aus, ein Jeder habe den. Tod verdient, ben vom Looſe
Setroffenen alfo widerfahre blos ihe Hecht, den Fadurd Befreiten aber
ein Gluͤck. Und wenn ein .gemeiner Frohnds oder Leibherr Knechte,
foviel er braucht, aus feinen Hörigen aufbieten darf, und etwa zur
Steuer der Ordnung oder aus Billigkeits- oder Humanitätsrüdfidhter
eine Reihefolge oder eine Beſtimmung duch’s Loos feſtſetzt — fid
ſelbſt übrigens das Recht der Freigebung der Getroffenen und alfo de
Aufgebots der Nachmänner vorbehaltend — hat er dadurch nicht fein:n
gegen jeden Einzelnen gehenden, vollen Herrlichkeitsanſpruch kund
gegeben? — Nicht anders bei'm Loosziehen der Confcriptionss
pflihtigen. ALLE, fammt und fonders, find dem Herrn eigen;
aber Alle zufammen braucht er nicht, und eine rein milltürlide
Auswahl wäre gehäffig. Man läßt alfo das Loos entfcheiden, ın>
ter Vorbehalt jedocdy der eben bemerkten beliebigen (ob aud in ber
Form eines Geſetzzes ausgefprochenen) Befreiung Einzelner oder mans
zer Claffen, an deren Stelle fodann die Nahmänner treten. Das
Conſcriptionsgeſetz ift überhaupt nichts Anderes, als die Feſtſetzung der
Ordnung, in welcher der Kriegsherr (fei e8 der Staat oder der Fuͤrſt)
von feinem gegen Alle fammt und fonders gehenden Rechte Ges
brauh machen und in welhem Maaße er ſolches ausüben will.
Diefes Maag ift zwar ideal und in Bezug auf das Allgemeine
buch das Beduͤrfniß gegeben; in Bezug auf den Einzelnen aber
lediglicy durdy den Willen des Herrn. Findet diefer (d. h. abermal
Staat ober Fürft) es dem Bedürfnig genügend ober fonft räthlich,
den Dienft der Gonferibirten auf 6 oder 8 Jahre zu befchränfen, fo
wird er es thun; aber nad) bem Zitel ober Princip feiner gegen ben
Pflichtigen gehenden Korderung könnte er eben fo wohl auch 10 oder
20 Jahre oder gar den lebenslänalihen Kriegsdienit fordern. Ebenfo
genügt ihm in der Negel, jeden Mitizpflichtigen nur einmal (etwa
im 20ften Lebensjahre) zum Loofen aufzurufen, und aus der Summe
der gleichzeitig Berufenen irgend eine beftimmte Bahl in das Heer zu
Confcription. 745
fteden, alle Uebrigen berfelben Altersclaſſe aber (vorbehaltlich bed Re⸗
fervedtenftes) von der Mitizpflicht zu befreien für ihr Leben lang.
Nah dem Princip der Forderung aber könnte er eben fo wohl auch
wiederholte Loosziehungen verordnen, ober andere Altersjahre dafür
feftfegen und aud) den Refervedienft beliebig ausdehnen u. ſ.w. Ebenſo
mit den Befreiungen: kann ber Staat bie einzigen Söhne,
ober von jeder Familie einen Sohn, oder die Stubirenden
überhaupt, oder die ber Theologie Befliffenen insbefondere, ober bie
an irgend einem kleinen Gebrechen Leidenden, oder die ein beliebig
beflimmtes Maaß der Körperlänge nicht Erreihenden u. f. m. von der
Milizpflicht loszählen und die dadurch entſtehenden Lüden durch die
Nachmaͤnner erfüllen laffen ; fo kann ee auch den Kreis folcher Befreiun⸗
gen noch weiter ausdehnen, 53.3. zur Begünfltigung gewiſſer Ges
werbe, zur Ermunterung des Handels oder der Schifffahrt, oder des
Bergbaues u. f. wm. Der dadurch für die Nichtbefteiten, insbefondere
für die Nachmaͤnner der Befteiten, entflehende Zuwachs der Laſt iſt
für fie mohl ein Unglüd oder ein unangenehmer factifcher Umftanb,
nicht aber eine ungerechte Bebrüdung; denn was zehn Nachmaͤnnern
ohne Unrecht gefchehen mag, das kann man auh Hunderten gleidy
unbedenklich aufbürden. Iſt Jeder perfönlich pflichtig zum Krieges
bienft, fo kann dieſer Dienft allerdings auch eingefordert werden
von Jedem, und Keiner hat alsdann darnach zu fragen, ob daffelbe
auch gefchehe bei allen Uebrigen. Das Confcriptionsfpftem alfo, da es
nah) beliebiger — theils gefeglicher, theild abminiftrativer — Ver⸗
fügung aus einer Summe von (ibeal oder theoretifch) gleich Verpflich⸗
teten bie Einen unter die Waffen ruft und die Andern freiläßt, fpricht
eben dadurch aus, daß es jeden Einzelnen für perſoͤnlich ober
fpecielt verpflichtet achte; benn wuͤrde die Kriegspflicht als eine ge=
meinfhaftliche oder Geſellſchafts laſt betrachtet, fo müßte fie aud)
gemeinfhaftlich getragen, mithin unter alle natürlic, Pflichtigen
nach einem gleihen Maaßſtab vertheilt werden. Auch der Grundfag
des jedem Gezogenen erlaubten Einftellens, in Verbindung mit ber
unentgeldlihen Befreiung Vieler, deren Nachmaͤnner (vielleicht
Vermögenslofe, während die Befreiten reich fein mögen) ſodann an ihrer
Stelle eintreten müffen, kann lediglich nur in der Vorausfegung einer
wahren Leibherrlichkeit(des Staates ober des Fürften) über alle pers
fönlic) waffenfähigen Männer einige Rechtfertigung finden. Denn in
folher Vorausſetzung iſt es freilich dem Heren erlaubt, nah Belieben
entweber die Sreilaffung als Geſchenk zu ertheilen oder aber an eine
Bedingung (hier alfo an die des Einftellens eines Andern) zu knuͤpfen.
Ohne ſolche Vorausfegung, d. h. ohne folches für das Eonfcriptionggefeg
aufzuftellende (oder zu erdichtende) Rechtsfundament, leuchtet der Wis
berfpruch der den Einen blos unter ber Bedingung des Einftellens
gewährten mit der unentgeldlicdyen Befreiung Anderer, gleich Züchtiger,
und mit ber ſodann eintretenden Verbindlichkeit ber Nachmaͤnner ein.
746 Conſcription.
Die Vorausſetzung ber Leibherrlichkelt aber, als eine dem
eroigen Recht widerſtreitende, kann bem Gonferiptionsfuftem wohl
als Erklaͤrungsgerund oder als eine wenigftens logifche Rechtfertis
gung bienen ; jedoch als Rechtsfundament nicht. Angeborne Leib:
unterthänigkeit oder Reibeigenfchaft kann nimmer zu Recht befte-
ben, alfo auch kein darauf zu erbauendes Syſtem zur Rechtsbeſtaͤndig⸗
keit bringen. Verlaſſen wir aber biefen Boden, und begeben wir uns
auf jenen des allgemeinen oder vernünftigen Staatsrechts, alsdann
erfcheinen der Selbſtwiderſpruch und bie unbeilbare Rechtswi⸗
drigkeit der Gonfeription im auffallendſten Lichte.
Gleichheit in Tragung der Staatslaften Ift eines ber
Hauptgefeh? des vernünftigen Staatsrechts. Daffelbe wird aber aufs
Unverantwortlichfte verlegt durch die Gonfeription troß der fcheinbas
ren, aber auf bloßer Taͤuſchung beruhenden Gleichfoͤrmigkeit ihrer
an alle nachwachſende Bürger gerichteten Sorderung. Wohl wird uns
mittelbar von Allen nur Eins und Daffelbe gefordert, nämlich das
Loosziehen; doch die Folgen diefes Ziehens find unermeßlich
ungleich für die Theilnehme. Die Gleichheit aber, welche ber
Staatsbürger anfpricht, ift eine reelle und verbürgte, nicht eine
dem Gluͤcksſpiel preisgegebene, Sowie eine Vertheilung der Steuern
nad) dem Looſe nicht nur abgefchmadt, fondern auch ungerecht wäre, fo
ht es auch jene der Kriegspflicht. Sie iſt es menigftens in dem
Salle, daß den durch das Loos Betroffenen niht voller Erfag —
von Seite der Mit: Loosziehenden oder des Staates — geleiftet merbe
für das, maß fie mehr als die Übrigen Bürger an Dienften und Ge⸗
fahren für den Staat übernehmen. Das GConferiptionggefeg weiß von
foldyer Erfagleiftung nichts und bemirkt dadurch eine maaflofe Ueber⸗
laftung ber vom Looſe Getroffenen und die unbilligfte Entlaftung
ber dabei vom Gluͤcke Begünftigten. Aber die Ungleichheit bleibt bei die:
fer allgemeinen Beeinträchtigung nicht ftehen, fie zeigt fih noch, und
zwar hoͤchſt fchreiend, auf vielen andern Seiten. Der Staat nämlid)
richtet feine Forderung entweder an bie einzelnen SJünglinge,
oder an die Familien, denen fie angehören. Im erften Falle wird
(abgefehen davon, daß die Forderung bes ſchwerſten Staatsdienftes von
denjenigen, die noch nicht einmal Bürger, d. h. noch nicht volljährig
find, offenbar Eeine ftaaterechtliche, fondern blos eine leibherr liche fein
kann) der Arme, verglichen mit dem Reichen, ungebührlih bedrüdt.
Denn wenn aud) die unmittelbare Vertheidigung des Waterlandes, alfo
der wirflihe Kriegsdienft, als eine allen Häuptern gleihmäßig oblies
gende Pflicht betrachtet merden kann, fo ift es doch mit dem Solda⸗
tendienft der Conferidirten etwas ganz Anderes. Derfelbe läßt eine
pecunidre Schägung, alfo auch eine Erfagleiftung, und daher auch eine
auf Unkoften der Gefammtheit gefchehende, mithin nah dem Vermoͤ⸗
gensverhältnig zu vertheilende Entfhädigung (überhaupt Beftrei-
tung), gar wohl zu, und es ift ungerecht, ihn ohne folhen Erſatz, blog
nach dem Ausfchlag des Looſes und ohne VBerädfichtigung der Ver moͤ—
[21
Gonfcription. 747
gensverhältniffe, von beftimmten Einzelnen einzufordern. Schon
das Necht des Einftellens, das man den Conſcribirten gewährt, ift
ein Eingeftändniß, daß dem Staate nicht eben bie wirkliche, perfänliche
Dienftleiftung der vom Loofe Getroffenen nöthig ift, fondern dag auch
eine Geldzahlung (an erfaufte Einfteher der an eine Sffentliche Eins
ftandescaffe) hinreicht. Diefelbe Zahlung oder den ſolcher Zahlung gleich
zu achtenden Dienſt ohne Unterſchied dem Reichen wie dem Armen zus
zumuthen, ift aber eine ſchwere Verlegung ber Gleichheit. Fa, auch
das Recht des Einftellens felbft, fo mohlthätig und fo dringend von Hu⸗
manität und Politik gefordert es ift, bewirkt eine meitere rechtliche Uns
gleich heit dadurch, daß es, obgleich Allen im Geſetze verliehen, dennoch
in der That nur den Wohlhabenden, nicht aber den Armen, die in ſeiner
Intention liegende Erleichterung, naͤmlich die Wahl zwifchen Dienft und
Zahlung, gewährt. Der Arme muß dienen, weil er einen Einfteher zu
kaufen außer Stande iſt; der Reiche macht fi) frei duch ein für ihn
verhältnigmäßig leichtes Opfer.
Noch größer ift die Ungleichheit, wenn man die F amitien oder
die Eltern ald die.vom Gefeg in Anfpruch Genommenen betrachtet.
Der Vater von fehs Söhnen muß ſechsmal — wenn das 2008 es alfo
will — das Opfer eines Sohnes bringen, oder ſechsmal durch ſchweres
Geld denſelben loskaufen; waͤhrend an den Vater nur eines Sohnes —
waͤre er auch hundertmal reicher als der erſte — die Forderung nur eins
mal (ja, wenn die Befreiung der einzigen Soͤhne ſtatuirt iſt, gar nie)
ergeht, und der Kinderloſe, oder wer nur Toͤchter hat, fuͤr des Vaterlan⸗
des und ſeiner Familie Vertheidigung gar nichts aufzuwenden braucht.
Die Ungleichheit vervielfaͤltigt ſi ch, je weiter wir blicken. Hier
z. B, find mehrere Gemeinden in einen Rekrutirungsbezirk
vereint. Der Ausſchlag bes Loofes raubt der einen vielleicht ärmern Ges
meinde an Söhnen oder an Geld das Doppelte und Dreifäche von dem,
was der andern. Schon ber Umftand, bag fie 3. B. mehr groß gewach⸗
ſene Juͤnglinge zaͤhlt, bringt ihr, bei der Bereinigung mit einer andern,
beren Angehörige etwa (wie in Städten , verglichen mit dem gefünderen
Lande, gar oft der Fall ift) meift kleiner oder ſchwaͤcher find, ſolches Uns
heil; und daſſelbe Mißverhältnig mag auch entflehen, ja entfleht unvers
meidlich gar oft zwifchen Provinz und Provinz Die eine, z. B.
ein bürftiges Gebirgsland, befigt einen Reichthum an ſtarken Plännern,
ift aber arm an Geld; die andere, durch Natur, auch Induſtrie und güns
ftige Handelslage überreich, zählt verhaͤltnißmaͤßig weniger Eriegsfähige
Bürger, Das Natürlichfte allerdings wäre, daß die erfte mehr Männer,
die zweite mehr Geld dem Kriegsdienft darbrächte. Aber das Con⸗
feriptionsfpftem, die Außerliche handgreifliche Gleichheit an die Stelle ber
wahren und mefentlihen fegend, fordert genau daffelbe, db. h. dies
felbe Quote der Loosziehenden ober Conſcriptionspflichtigen von biefer
und jener. Die geldreiche Provinz jedoch, wenn ihre Quote durch bie
Menge der wegen Unfähigkeit freizulaſſenden Juͤnglinge fich vermindert,
fenbet eben darum nicht nur eine kleinere Zahl von Männern und dabei
748 Gonfcription.
minder Tauglihe zum Heer als bie arme, fondern fie hat auch weniger
für Einfteher zu bezahlen, während Die legte in beiden Beziehuns
gen um eben foviel ftärker belaftet wird,
Von andern Ungleichheiten, deren noch viele zu bemerken wären,
wollen wir mwegbliden, theils meil fie minder wichtig find, theils weil
kein Syſtem, auch jenes ber Mationalftreiter oder der reinen Bürger:
miliz nicht, von allen, zumal auf individuellen Verhätniffen, Eigens
(haften und Umftänden beruhenden Ungleichheiten frei fein fann. Aber
herausheben müffen wir noch zwei auffallende Selbftwiderfprüde
des Gonferiptiondgefeges und welche zu den härteften Ungerechtigkeiten
führen. Es find diefes bie durch bie beiden Principien der — geſetzlich
oder abminiftsativ — zu ertheilenden Befreiungen vom Loosziehen
oder vom Solbatendienft und der Einſtellungs-Befugniß herbeis
geführten.
Diefe beiden Principlen find zwar an und für fich gerecht, human
und politiſch gut; aber fie widerftreiten theils der Grundidee der Con⸗
feription, theils einigen three einzelnen SHauptbeflimmungen, und
geben durch folchen Mibderftreit die rechtliche und politifche Verwerflich⸗
Leit des Syſtems nad feiner faft buchgängig anzutreffenden Geftals
tung fund. | Ä
Die Erteilung von Befreiungen kann ruhen einmal auf ber
Erwägung ber reellen Ungleichheit der den ausgehobenen Sünglingen
‚ober ihren Samilien durch ben gezwungenen Kriegsdienft zugehenden
Nachtheile und Beſchwerden, und auf dem Anerkenntniß der Billig-
keit oder Gerechtigkeit dee den dadurch ſchwereſt Bedruͤckten zu
gewiährenden Befreiung. Dergeftalt ſprechen einige Gefeßgebungen bie
einzigen Söhne, als die einzige Troͤſtung und oft unentbehrlihe Stuͤtze
der Eltern oder überhaupt der Kamilie, freiz andere gemähren folche
Befreiung jeder Bamilie für einen (entweder ben letzten ober gleich
ben zweiten) Sohn. Nady einigen Gefeggebungen wird babei auf
das Alter und die DBermögensverhältniffe oder Ernährungsmittel oder
auch den Stand der Eltern gefehen, nad) andern nicht; und mitunter
ift zur Hintanhaltung der Willlür die gefeslihe Beſtimmung bie
alleinige und ſtreng einzuhbaltende Pegel; mitunter ift dem admini⸗
ftrativen Ermeffen mehr oder weniger Spielraum ertheiltl. So⸗
dann werden Befreiungen auch flatuirt im dffentlihen Intereſſe,
d. h. aus Gründen des gemeinen Wohles oder Vortheils. So bie
gewiffen Glaffen von Gewerbsleuten oder Studirenden oder Angeftellten
verliehene völlige oder theilweife Befreiung, ndmlid vom Loosziehen
- oder Kriegsdienft überhaupt, oder blo8 vom Dienen in ber erften Reihe,
oder aud vom Aufgebot zur Landwehr oder zum Landflurm u. f. w.
Der legtbemerkten Befreiung, auch jener vom’ Refervebienft oder von
einer frühern Reihe des Aufgebots, "macht ferner ein — verfchiebentlich
beflimmtes — Alter, oder dee Stand ber Verheirathung u.f. w. theils
haſt. Wir haben hier jedoch nur die Befreiung vom Loos zie hen oder
jene von der in Folge bes Loofens ftattfindenden erften Aushebung
J
‚ Eonfeription. . 749
im Auge, weil der Mefervebienft und ber Landſturm mehr dem Euftem
ber Bürgermiliz als jenem ber Gonfcription angehört. Diefe Befreiuns
gen nun find, nah ihren Gründen, wenn, nicht fämmtlih, fo doch
größtentheils zu billigen. Iſt der Zwang zum Soldatenftand eine
Härte und ein wirkliches Unrecht (ein Anderes iſt von der unmittelbas
ren Baterlandsvertheidigung im wirklichen Kriege zu fagen), fo iſt jede
Ausnahme eine Verringerung folhes Unrecht, und jebesmal um
fo empfehlenswerther, je vernünftiger (dev Humanität oder dem oͤffent⸗
lichen Intereſſe entfprechenber) ihre Gründe find. Aber es beruhen
bäufig jene Befreiungen entweder auf parteiifcher Gunft für gemiffe
Claſſen, oder auch auf blos im Allgemeinen richtigen, gar oft aber
nicht zutreffenden Vorausfegungen, weswegen fie bort als uns
gerechte Privilegien, und hier als auf's Gerathewohl gefpendete Wohl⸗
thaten erfcheinen. Die Befreiung der ftandesherrlihen Söhne
3. B., ale welchen menigftend der Anlauf eines Einftehers nicht
ſchwer fallen kann, ift eine bloße, dem hochadligen Blut ertwiefene
Gunſt. Die VBefrelung der einzigen Soͤhne aber oder auch bie
eines Sohnes aus jeder Kamilie ift in hundert Fällen dort unnds
thig und hier unzureihend. Mancher einzige Sohn ift feiner
Samilie eher zur Plage als zur Wohlthat vorhanden; und wenn von
ſechs Söhnen die Älteren fünf tüchtigen zum Heere gerufen werden,
und endlich der fechfte, vielleicht ein Krüuppel oder ein Taugenichts oder
noch in der Wiege liegend, dem Vater gelaffen wird, fo iſt diefem
gleichfalls nur menig geholfen. Doch fei es darum! wenn man, um
bie Willkür entfernt zu halten, ftreng bindende allgemeine Regeln
vorzufchreiben für gut findet, und fei überhaupt der Staatsgewalt (im
Sinne der Gefammtheit) das unbefchränkte Recht gewährt, Befreiun⸗
gen nad) Gutfinden zu ertheilen. Aber zur Vermeidung bes Unrechts
ift dabei eine Bedingung unerläglic, die nämlich, daß die Befreiung
auh auf Unkoften der Gefammtheit gefhehe. Das ons
feriptionggefeg dagegen ertheilt die Befreiungen auf Unkoſten Einzels
ner, die da an die Stelle der Befreiten eintreten müffen, fei es übers
haupt wegen ber jest nothwendigen Vergrößerung der Quote, die von
der Claſſe der Nichtbefreiten auszuheben iſt, fei es durch die insbefons
bere dem Nachmann im Loofe aufgelegte Verpflichtung, an ber Stelle
bes Befreiten einzutreten. Das Leste zumal iſt ein ungeheures
Unrecht; und unzähligemal hat dee Sohn der armen Wittme oder
der durch phnfifhe und moralifhe Anlagen zu ganz Anderem als
zum Soldatenftand berufene Süngling den heimathlicdhen Heerb gegen
die Gaferne vertaufchen, feinen ganzen fchönen Lebensplan aufgeben
müffen — teil fein Bormann im Loofe etwa ein einziger Sohn
(vielleicht eines reichen Mannes, welchem das Einftellen Eeine des Nen⸗
nens werthe Laft gemefen wäre) oder ein Theolog oder ein Berg»
mann u. f. w. gemwefen. Es gibt übrigens ein fehr nahe liegendes
Mittel, fo bimmelfchreiendes Unrecht zu vermeiden, naͤmlich die einfache
Beflimmung, daß an die Stelle der — fel es durch das Geſetz, fei es
750 - Eonfeription. -
duch die Adminiftrativbehärde — Befreiten nicht die Nachmänner im
Loofe, überhaupt nicht andere gezmungene Einzelne, fondern nur von
der Gefammtheit erkaufte Einſteher treten follen. Es ift
ſchwer begreiflid, warum man dieſes einfache, auch vergleihungsweife
wenig Loftfpielige Mittel nicht ergreift, um bie gerechten Klagen ber
wegen Befreiung des Vormanns in’s Heer geftedten Nahmänner auf:
zubeben. Nachdem einmal der Grundfag der Einftellungsbefugniß
beftedt, folglih den Einzelnen das Anmerben von Andern erlaubt
it, warum follte nicht audy der Gefammtheit folhe Werbung ers
laubt fein? Und warum follte man nicht der Gerechtigkeit ein _fo ges
ringes pecuniäres Opfer bringen? Ohnehin würden, wenn der "Staat
felbft die Erfagmänner für die Befreiten zu flellen verbunden wäre,
folhe Befreiungen nicht nur meit unbedenklicher als jego ertheilt
werden koͤnnen (weil dann kein Einzelner davon den Nachtheil trüge),
fondern fie würden auch feltener oder mwenigftens nur aus triftis
gen Gründen flattfinden (weil ndämlid ber Preis dafür von dem
Staat felbit zu entrichten wäre).
Das Princip des Einftellens übrigens iſt, bei aller feiner
Mohithätigkeit, ein anderer Hauptmwiberfprud bes Conſcri⸗
ptionsſyſtems mit fich ſelbſt. Daſſelbe hat naͤmlich den Anfpruc dee
Staates auf den perfönlichen Dienft der nachwachſenden Juͤng⸗
linge überhaupt und insbefondere ber Gonferibirten zur Grundlage,
und ed wird alfo umgeftoßen durch die erlaubte Verwandlung foldyes
Dienftes in eine Zahlung. Denn einen Mann einftellen heißt
nichts Anderes, als eine: Summe zahlen, befonders wo etwa
fetbft von Staats wegen errichtete Einſtands-Buͤreaus oder Caſſen
beftehen. Und dann hört bei geftattetem Einſtellen aller vernünftige
Grund ber Freilaſſung, wenigftens für den Full, daß der Freizu:
laffende vetmoͤglich wäre, auf. Auch der phyſiſch Untaugliche, auch
der Theologie Studirende, auch der einzige Sohn u. f. w., wenn fie
Vermoͤgen befigen oder reichen Eltern angehören, alfo zumal auch bie
Söhne der Standesherren, können Einfteher erfaufen, und fie beduͤr⸗
fen daher ber Wohlthat des Gefeges, welches ihnen unbedingte
Befreiung gewährt, nicht. Und auf ber andern Seite ift die Er⸗
laudniß des Einftellens wirkungslos für den, welcher arm iſt. Und
fo ftoßen wit überall bei unferen Gonfcriptionsgefegen auf Widerſpruͤche
und Ungeredhtigkeiten, deren Heilung nicht anders als durdy völlige
Abfhaffung, wenigſtens duch mefentlihe Umgeftaltung
gefhehen tann.
Die Härte bes Conferiptionsgefeges (welches Chateaubriand
in Bezug auf die Strenge des Napoleon’fhen Spftems ben
„Goder bee Hölle“ nannte) mindert oder vermehrt fich feeilich
je nad der Beſchaffenheit der einzelnen Beftimmungen deſſelben und
nah) den duch die Gonftitutlon der Megierungsgewalt gefegten oder
nicht gefegten Beſchraͤnkungen. Wo bie Zahl ber jeweils auszuheben:
den Rekruten nicht duch ein Geſetz, mithin unter Zuftimmung ber
⸗
“ Confeription. | 751
Volksrepräfentation, fondern durch eine Regierungs: Drbonnanz
beftimmt, oder wo der Inhalt ſolcher Ordonnanz fogar geheim ges
halten wird, da ift freilich das Uebel völlig maaßlos. Auch gibt es
wirklich felbft conftitutionelle Staaten, worin — theild wegen
Abgangs einer befriedigenden Beftimmung über die Feftfegung der Mes
kruten⸗Zahl, theild wegen der Mängel des Gonferiptiondgefeges — bie
willkuͤrlichſten Gewaltsmißbraͤuche und die abenteuerlichften Bedrüdungen
wenigftens flattfinden koͤnnen, mitunter auch wirklich flattfinden. Es
kann nämlich unter ſolchen Umftänden nit nur geſchehen, baß von
der oberften Behörde weit mehr Rekruten ausgefchrieben werden, ale
der Dienft wirklich fordert, oder felbft, al8 man in ber That auszu⸗
heben gedentt, und daß die Vertheilung unter die einzelnen Diftrikte
unrichtig, zur Begünftigung der Einen und zur Bedruͤckung Anderer
gemacht werde, fondern auch, wo duch die Verfaſſung diefem Lebel
gefteuert ift — naͤmlich wo die Rekrutenzahl durch ein Gefeg beftimmt
und die Vertheilung unter die Bezirke der Deffentlichkeit übergeben
werden muß — innen Ungerechtigkeiten aller Art ſich einfchleichen
oder unbemerkt wie unbeftraft vor fih gehen. Es können nämlich
aus der Glaffe der Pflichtigen die, welche niedere Loosnummern gezo⸗
gen, entweder aus Gunft oder audy ohne Gunft, zumal in dem Fall
allzuleiht und ohne triftige Gründe entlaffen werden, wenn unter den
böhern Nummern etwa ausgezeichnet ſchoͤne oder auch vermöglis
here, baher zum Einftellen' wahrſcheinlich geneigtere, Sünglinge ſich
befinden, zu welchen man beshalb die Aushebung gerne hinauffteigen
läge. Es Bann überhaupt das Spftem des Einftellene auf die unver:
antwortlichite Weife, namentlih zur Begünftigung der auf das Ein⸗
ftehen fpeculicenden Mititairperfonen und zur Erhöhung des Einflande-
Preifes, mißbraucht werden, indem man z. B. einerfeits die vermoͤg⸗
liheren Rekruten duch harte Behandlung auf dem Erercirplas oder
fonft zum Kaufen von Einftehern, wodurch allein nämlich fie der Pla⸗
gerei entrinnen können, gewiſſermaßen nöthiget, und anderfeits die bürs
gerlihen, d. h. dem Militair noch nicht angehörigen Einftandsluftigen
durch Androhen ober Zufügen ähnlicher Mißhandlung vom Kinftehen
abfchredt. Alsdann können die von aller Concurrenz befreiten wirkli⸗
hen Mititairs den Preis des Einftehens durch Verabredung unter ſich
ſelbſt auf's Ungebührlichfle In die Höhe treiben; es können fodann auch
jene, welche ohnehin fhon eine gute Stellung, die fie zum Verbleiben
im Militair audy ohne meiteres Einftandegeld beftimmen würde, haben.
(3. B. Unteroffiziere, Mufitanten, Bediente), eine Art von Brands
ſchatzung gegen bie geängftigten Rekruten ausüben; ja fie Binnen «6
in mehrfacher Wiederholung thun, wenn die Militair- Behörde ihnen
aus Gunſt den Abfchied vor ber Zeit ertheilt und dann alfogleich wies
der ale Einfteher in die Reihen treten laͤßt u.a.m .- j
Freilich läßt ſich durch eine umfichtig verfaßte Regulirung bes Ein-
ftellens und Einftehens biefen großen Mifbräuchen und Gefahren we:
nigftend zum Theile begegnen; doch gäbe es weit wirkfamere und näher
7 92 | Gonfcription.
liegende Mittel, deren Anwendung man aber verfhmäht, weil man.
theils die Ungerechtigkeit weniger fcheut als bie Geld» Ausgabe,
theil® aber, in gedantenlofer oder felbftgefälligee Vorliebe für das eins
mal Hergebradhte und bisher Ausgeuͤbte, auf Vorſchlaͤge der Werbeffes-
rung, bie nicht von SGenoffen des Standes herrühren, mit vornehmer
Geringſchaͤtzung herabblif
Der Willtür in Beſtimmung ber jeweils auszuhebenden Rekruten⸗
Zahl kann anders nicht gefteuert werden, als durch die Theilnahme ber
VBolksrepräfentation an deren gefeglicher SFeftftelung, und
es ift kaum begreiflih, daB ſolcher Grundfag noch nicht in allen con⸗
flituttonellen Staaten anerkannt wird. Kein Kreuzer Steuer darf
außsgefchrieben werden ohne Bewilligung der Stände, und über bie
Derfonen der Staatsbürger verfügt einfeitig das Machtwort ber Mes
sierung ! Ebenfo befteht die Oeffentlichkelt in Steuerfadhen überall,
wo Landftände find, ja zum Theil auch wo foldhe nicht find; aber im
Rekrutirungsgefchäft mwaltet Heimlichkeit ob, d. h. die betheiligten
Bezirke, Gemeinden und Individuen erfahren bie Berechnungen, That⸗
fahen und höheren Weifungen- nicht, deren Kenntniß ihnen nöthig
wäre zur Beurtheilung einer jemeild vorgenommenen Rekrutirung im
Ganzen und dann insbefondere der Gefeglichkeit der gefchehenen Mes
artition.
’ Segen wir jedoch ein von biefen formellen Mängeln freies Rekru⸗
tirungsgefeg, fo find gleichwohl die dem Conſcriptions-Syſtem wefentlich
einwohnenden Gebrechen, ber Ungleichheit nämlih und der Härte,
dadurch noch nicht geheilt. Diefen kann nur abgeholfen werden durch
- das Aufgeben des ganzen Spftems, oder wenigſtens eine wefentlihe Mobi-
fication deffelben. Erfteres würde, wenn im Intereſſe des vernünftigen
Staatsrechts gefchehend, die Verpflihtung ſaͤmmtlicher MWaffenfähiger
zur VBaterlandsvertheidigung (überhaupt zum Krieg für's Vater:
and, nicht aber zum Soldatenſtand) und die freie Anwerbung
der etwa zur Erhaltung eines tüchtigen Heerſtammes nöthigen ſte⸗
henden Truppen mit fid führen. Aber bei dem In der neueften Zeit
fo ungeheuer geftiegenen Bedarf folher flehenden Truppen, deren Ans
werbungskoſten mithin für ben Staat leicht unerfhmwinglih wären,
und bei der vorcherefchenden Scheu vor echten Nationalftreitern iſt we⸗
nig Hoffnung vorhanden, diefes allein ber Theorie enifprechende Sy⸗
ſtem in Bälde verwirklicht zu fehen. Wir enthalten uns daher feiner
befondern Anpreifung und fragen nur, ob nicht wenigſtens eine bie
naͤchſtliegenden Härten aufhebende ober mildernde Mobificas
tion in jenes ber Conſcription könnte gebracht werden? Uns fcheint
biefeg nicht allzuſchwer, und es möchten wohl mehrere Wege zu bem
erwünfchten Ziele führend fein. Ä
Für's Erfte könnte der Staat (mas auch wirklich bie franzoͤſi⸗
ſche, die preußifche und andere Gefeggebungen thun) die frei:
willige Anmwerbung menigftens infofern zur Bildung feines
Heeres in Anwendung fegen, als fi tüchtige ‚Leute um mäßigen
Conſcription. 753
Preis (beſtehe er in Gelb oder in andern Vortheilen ober Beguͤnſti⸗
gungen) dafür auffinden laſſen. Sodann könnte er auch bie Stel:
lung der Erfagmänner ben bürftigern Conferibirten durch einen
in gewiſſen Fällen ihnen aus: öffentlihen Mitteln zu bewilligenden
Beitrag zu dem nöthigen- Kaufgeld erleichtern, überhaupt aber durch
forgfältige Regulirung des Einftandswefend jede mwucherliche
oder betrügerifche Speculation, jede Bedrüdung und Uebervortheilung
- davon entfernt halten. Er koͤnnte aber noch weiter, infofern er bie
- Raft der freien Anmerbung nicht auf die Schultern ber großen Gefammts
beit zu übernehmen für thunlich achtete, diefelbe mwenigfiens als, eine
jeweils von der Gefammtheit der in einem beftimmten Jahre und in
einem bejtimmten Bezirke conferiptionspflihtigen Juͤnglinge
oder deren Familien gemeinfchaftlich zu tragende und unter bie
Betheiligten nah dem Gefellfhaftsgefes zu vertheilende behan⸗
bein, mithin das blinde Loos der bisher dabei behaupteten ausfchlies
Genden Herrfchaft berauben. - E& böten ſich hiezu verfchiedene Wege
an, je nachdem man die Ausgleihung zwifchen ben Angehörigen ber
jeweils zum Looſen berufenen-Glaffe vor dem Loosziehen oder erft nach
demfelben vornehmen ließe. Die dee ſolcher Ausgleihung ruht auf
dem Grundſatz, baß der Staat zwar den Dienft, ber ihm nöthig ift,
n
von den bdazu- geeigneten ober allernächft dafür in Anſpruch zu nehmen '
den Bürgern fordern könne, jebocy denjenigen, welche durch Uebernahme
oder Leiftung ſolches Dienftes ein Mehreres als bie übrigen Gefells
fchaftsgenoffen für das Geſammtwohl zu tragen ober zu opfern haben,
eine entfprehende Entſchaͤdigung zu geben oder zu verfchaffen ſchul⸗
big fei. Sie empfiehlt ſich dabei nody durch die Betrachtung, daß es
bem Staat, theils im Intereſſe des Dienftes felbft, theild zur Vermei⸗
dung zweckloſer Härte, nur erwuͤnſcht fein kann, wenn, foviel thunlich,
diejenigen, welche ben größten Widerwillen gegen ben Kriegsdienft bes
gen, davon befreit und dagegen bie demfelben mit freier Luft zugethas
nen ober wenigſtens nicht abgeneigten Juͤnglinge vorzugsweife zur Bas
terlandsvertheidigung berufen merden. Diefen Rechtegrüunden und In⸗
tereſſen entfpräche die Anorbnung einer zwiſchen den Genoffen befjelben
Aufrufs in Gemäßheit ihrer freien Sinnesdußerung zu treffenden Aus⸗
gleihung, wornach 3. B. die Befreiung vom Loosziehen (oder
aud) jene vom — nach ſchon gezogener Dienſtnummer) durch
eine — etwa nach Vermoͤgens⸗Claſſen oder auch nach dem Steuer:
Capital zu regulirende — Geldſumme erkauft werden koͤnnte und ſodann
aus dem Ertrag dieſer Loskaͤufe (ober noͤthigenfalls aus mäßigen, von-
ſaͤmmtlichen Confcriptionspflichtigen, die nicht freiwillig Dienft neh⸗
men, zu erhebenden Beiträgen) den, fei es freiwillig, ſei es nach dem
Ausſchlag des Loofes, in's Heer Tretenden ein fie befriedigendes Hand»
geld (oder wenigftens eine anfehnlidhe Beihuͤlfe zum Kauf eines Eins
ſtehers) zugefchteden würde. , Ze mehr dem Dienft Abgeneigte vorhans
den wären, um fo größer würden die ben fi dazu Darbietenden zus
fallenden Handgelber ſain; und leicht möchte Ye Anzahl der ſolchen
Staats s Lexiton. ILL 48
754 Coaſcription.
Dienſt Verlangenden fo groß werben, daß eine Loosziehung
nur unter ihnen nöthig wäre, und daß alsdann Jener, ber eine
Dienfinummer zöge, freudig ausriefe: „Ich habe gewonnen!” flatt
daß er jest fen Mißgeſchick bejammert, wenn ihm folde Nummer
zufaͤllt. Wir enthalten und hier einer ausführlideren Entwidelung
diefer dee, zu deren Realiſirung Übrigens der Verfaſſer diefes Artikels
bereit8 1822 mehrere nähere Vorfchläge gemacht hat. (M. f. die Pros
tofolle der I. Kammer der badifhen- Landflände von befagtem Jahre;
Beilage A. zum Protokoll der 22ften Sisung S. XXIX ff.) Die
Geſetzgebung, da fie einmal aus den vollwichtigften Gründen ber Hus
manität wie der Politit das Einftellen erlaubt und badurdy bie For⸗
derung des perſoͤnlichen Dienftes einer Geld» Korderung menigftene
ähnlich gemacht, d. h. dem Pflichtigen die Wahl zwifchen Leiften und
Zahlen gewährt hat, Bann ohne Selbftwiderfprudy dabei nicht ſtehen
bleiben; fie muß auch bie rechtlihen Kolgerungen aus fol
chem Princip anertennen und, obſchon freilich bee perfönliche
Dienft als folder zwiſchen Dienenden und Nichtdienenden Leine
Ausgleichung zuläßt, wenigſtens diejenige zulaffen oder ftatuiren, welche
in Anfehung bes den Dienft vertretenden Geld: Surrogates leicht
ftattfinden fann und von Rechts wegen ftattfinden ſoll.
Durch Einfesungen biefer Art wuͤrde das Gonferiptiong = Syſtem
wenigſtens ertraͤglich und mit dem vernuͤnftigen Rechte
vereinbarlich gemacht; es wuͤrden dadurch wenigſtens die im Na⸗
poleon'ſchen Kriegsgefetz herrſchenden ſchreiendſten Härten aufge⸗
hoben oder gemildert. Doch bliebe es auch alsdann noch weit entfernt
von einer alle Forderungen des Zeitgeiſtes und der edlern Politik be⸗
friedigenden Wehr⸗-Verfaſſung. Denn noch immer bliebe es feiner
Weſenheit nach jenem der gemeinen ſtehenden Heere oder ber
Kriegsknechte verwandt, ja fogar eine Ausſsdehnung deſſelben
über die Geſammtheit des nahmachfenden Geſchlechts, ein Verſuch,
die ganze männlidhe Jugend bes Volles — nicht zu Natios
nalftreitern, fondern — zu Soldaten zu mahen. Dahin zielt
zuvörderft die Verwandlung bee allgemeinen ober gemeinfhafts
lichen. Kriegs: Dienftpfliht in eine fpecielle ober indivi—
duelle, duch den Ausfchlag des Looſes bewirkte Verbindlichkeit.
Nicht mehr ſchlechthin ats Bürger, fondern als buch’s Loos zum
Kriegsknecht beftiimmter Dann tritt der Rekrut in's Heer ein; der
allgemeinen .Bürgerpfliht hat er nad) diefem traurigen Syſtem
Genuͤge gethban duch das Loosziehen; jetzt fängt die Soldaten»
pfliht an, welcher ihn der leibherriſche Anſpruch bes Staates (oder
bes Regenten) in Gemäßheit ber Entſcheidung durch's Loos, alfo vers
möge eines fpeciellen Titels unterwirft. Sodann wird durch das
Conſcriptions⸗ Syſtem nicht viel weniger als durch das alte Werb⸗Sy⸗
ſtem eine Scheidung des Volkes in zwei Claſſen, gewiſſermaßen in
18 Völker hervorgebracht, von denen bie eine bewaffnet und mit
en Donnern bes Kifeges ausgerüftet, bie andere wehr⸗ und vertheis
onſcription. 755
digungslos ber erſten preißgegeben iſt, bie eine ein blind gehorchendes,
willenlofes Werkzeug der Regierungsgewalt, bie andere, fo oft biefe
Gewalt e8 will, zur Ertragung auch des Aeußerften verdammt, gervifs
fermaßen des Rechts zuſtandes beraubt und hingegeben an die
Gnade.
Vergebene beruft man ſich zur Vertheidigung dee Gonfcription
(vgl. v. Liebenftein: „über ftehende Heere und Landwehr”, 1817,
eine aus Anlaß meiner Schrift: „Uber ftehende Heere und Nationals
miliz” herausgegebene Abhandlung) auf ihre Aehnlichkeit mit dem Sys
ftiem der Landwehr oder der Nationals Bewaffnung, ober nennt
fie wohl gar nur ein biefe Bewaffnung regelndes Geſetz. Die Aehn⸗
lichkeiten find theils nur aͤußerlich, theils nur von geringerer Bedeut⸗
ſamkeit; das Weſen iſt ſoldatiſch. Wohl werden dadurch (wenig⸗
ſtens als Regel) fremde Soͤldlinge ausgeſchloſſen, wohl wird da⸗
durch der Geiſt der Heere um Vieles veredelt, wohl kehren nach maͤ⸗
ßiger Dienſtzeit die Soldaten zuruͤck in den Schooß des Volkes, dem
ſie enthoben wurden, und wohl legt man dem Syſtem die Idee der
natuͤrlichen und allgemeinen Buͤrgerpflicht zur Vaterlands⸗Vertheidi⸗
gung unter; allein, wie ſchon oben bemerkt worden, man verfaͤlſcht
dabei dieſe Idee, Indem man die Vaterland s Vertheidigung oder ben
eigentlichen Kriegss Dienft mit dem Dienft im ſtehenden Heere
vermechfelt und den Soldaten: Dienft einee Anzahl durch's Loos
beftimmter Sünglinge der Wehr: und Krieges Pflicht aller wafs
fenfähigen Bürger fubftituirt, indem man baher Waffen und Waffens
Uebungen einzig und allein (mit Ausnahme bes Referve-Dienftes) den Au 6s
gehobenen einer einzigen Altersclaffe und den den Soldatens
ftand eigens als Lebensberuf wählenden Einzelnen vorbehält, bie
Maffe der Nation aber bavon ausfhließt, und indem man bem
durdy die Confcription gebildeten Heere eine rein folbatifhe, bie
Abfonderung vom Buͤrgerſtand, ja mitunter felbft die Bürgers
feindlihkeit zum Princip habende Verfaffung gibt. Die durch
Confeription gebildeten Deere fi nd hiernach der Volksf reiheit kaum
minder gefaͤhrlich als die gemeinen Sold⸗Truppen, ja durch ihre groͤ⸗
ßere Staͤrke koͤnnen ſie ihr noch gefaͤhrlicher werden; und endlich iſt die
Conſcription, da ſie die groͤßtmoͤgliche Menge von Kriegsknech⸗
ten der freien Verfuͤgung des Kriegsherrn anheimſtellt, ein gefaͤhrliches
Erleichterungsmittel der Angriffo-Kriege und dagegen eine Schwaͤ⸗
hung dee Vertheidigungs-Kraftz; indem die etwa noch neben
dem durch Conſcription gebildeten Soldaten⸗Heere unter dem Namen
von Landwehr oder Landſturm errichtete oder beibehaltene Natio⸗
nalmiliz unter ſolchen Umſtaͤnden ihrer koſtbarſten phyſiſchen und m⸗
raliſchen Kraͤfte beraubt iſt.
Das befriedigende Heilmittel fuͤr ſolche Uebel iſt allerdings bloe
bie Abſchaffung des ganzen Conſcriptions⸗Syſtems; doch
zur mefentlihen Milderung, namentlich zue Annäherung ber Natios
nalftreiter führende Mittel gibt es noch mehrere, ur gepleen dazu bie
t
756 Gonfcription.. Conſens.
ehunfichfte Abkuͤrzung der den Ausgehobenen aufgelegten Dienfls
pflidht, die Erweiterung des Beurlaubungs- Spftems, die weiſe
Regulirung des Einſtands-Weſens, die Verminderung ber
Zahl der ſtehenden Truppen und bie vollsthümliche Organifirung
der bürgerlihen Landwehr, de8 Landſturms und der Natio—
nalgarden ober Buͤrgerwachen, endlich ber Liberale Geiſt der
allgemeinen Staats: Berfaffung, namentlich die dadurch gegen
bloße Herrfhers Kriege und überall gegen Verlegung ber bücs
gerlihen Rechte verliehene Gemährleiftung. Rotteck.
Conſens, Einwilligung. Das roͤmiſche Wort Conſen⸗
ſus hat eine doppelte Bedeutung, die man zum richtigen Verſtaͤndniß
vieler Stellen, womit oft große Theorien begruͤndet werden ſollen, un⸗
terſcheiden muß. Zuerſt heißt es die Uebereinſtimmung der Gefuͤhle
und Meinungen der Menſchen, welche ſich nicht gegenſeitig bedingt.
Es iſt der rein anthropologifhe Conſens, ſowie z. B. wenn
Cicero (Nat. deor. 2, 4.) ben Conſenſus der Völker als einen Be⸗
weis für das Dafein Gottes anführt. Und viele philofophifhe und
theologifhe und politifche Schriftfteller, neuerlich wiederum de la
Mennais, haben dieſe Webereinftimmung als die allgemeine
Menfhenvernunft zur legten Grundlage aller wahren Erkenntniß
gemacht. Denn, fo fagen fie, felbft eine wirkliche, Üübernatürlihe Of⸗
fenbarung kann doch ſelbſt nur durch die Vernunft erfannt und ihre
Vernünftigkeit und Wahrheit von den vielen fülfhen Dffenbarungen
nur durdy Vernunft unterfchieden werden. Will man aber die inbis
viduelle Vernunft des Einzelnen zur wahren, zur hoͤchſten Er⸗
kenntnißquelle der Wahrheit erklären, fo kommt man zu. dem ſchlimmen
Mefultat, daB es ſich mwiderfprehende Wahrheiten und zwar fo viele,
als twiderfprechende einzelne Meinungen und Theorieen unter den Men-
fhen, gibt. Freilich müffen nun diefe Widerfprüche, felbft der größeften
Dhilofophen, jeden Einzelnen gar fehr zur Befcheidenheit ftimmen ;
freilich fteht die allgemeine Menfchenvernunft höher, ift vielfeitiger, voll:
kommener, irethumslofer ale die des Einzelnen auf feinem befchräntten
Standpunkte. Auch wird jede Gefellfhaft, die mit Innigkeit zugleid)
und mit erwachtem Freiheit s und Gelbftgefühl der Glieder und mit
möglichfter Verbreitung und Gleichheit ber Bildungsmittel gemeinſchaft⸗
liche Angelegenheiten beſtimmt und verwaltet, ebenfo mie bie freien
Völker des Alterthums, vorzugsteife auf diefe Quelle zurüdtommen.
Dennod aber bleibt die Schwierigkeit: wer erkennt denn das Gemein⸗
fhaftlihe in den menfchlichen Weberzeugungen, die mahre menfchlidhe
Sefammtvernunft? Wer fcheidet einzelne widerfprechende Anfichten als
bloße krankhafte Verirrungen Einzeiner aus? Hier wird wieder die Vers
fhiedenheit dee Standpunkte und Anfichten Einzelner fi als wirkfam
erweiſen — und zugleich bei Erkenntniß des Ucherfinnlichen und unferes
Verhältniffes zu demfelben, alfo im metaphyſiſchen und moralifhen Ges
biete — das Stuͤckwerk, die menfchlihe Unvolltommenheit alles Wifs
fend. Die daraus entfichenden Schwierigkeiten und Störungen koͤnnen
\
‘
Conſens. Conftant. 757
denn auch fir gemeinfchaftliche gefellfchaftliche Angelegenheiten freier Men⸗
(hen fid nur Iöfen durch den Conſens in der zweiten, in der hi:
ſtoriſchen und juriftifhen Bedeutung oder durch ein gegens
feitiges, ſich bedingendes, dußeres Zuſtimmen ober Einmwilfigen über
denjenigen Theil der Erkenntniſſe oder Meberzeugungen, in welchen man
der geſellſchaftlichen Berhältniffe und Bedürfniffe wegen, 3.8. für das
‚friedliche hüffreihe Zufammenwirken im Staateleben, für eine gemeins
fchaftlihe Gottesverehrung in der Kirche, feiter, gemeinfchaftlich aner⸗
Eannter oder objectiver Wahrheiten bedarf. (S. oben ThLI, &. 13.)
In dieſem Sinne nimmt daher auch Cicero in politifhen und juris
firfchen Dingen. in diefens Sinne nehmen die römifhen Juriſten im
Corpus Juris und felbft bei dem juriſtiſchen Naturrecht den Con»
fenfus. Doch machen fie babei keineswegs einen Gegenſatz zwiſchen
Dernunft, Wahrheit und hiſtoriſch confentirtee Wahrheit. Sie neh:
men vielmehr an, alle gefitteten und freien Nationen (qui mori-
hus et legibus reguntur) hätten im Wefentlihen vernuͤnftige
Srunbfäge des gefellfhaftlichen Lebens anerfannt. Deswegen fagt ber
SInftitutionen:Zitel über das Naturrecht gleih im erften Paragraphen:
das Natureeht ſtamme aus ber Vernunft, und unmittelbar dar⸗
auf im zweiten: die freien gefitteten Nationen hätten es fih. con;
ftituiet, nämlich durch ihre freien Rechts⸗ und Staats Bereiniguns
gen. (©. oben Thl. I, S. 13.) Ein gültiger Confens, eine gültige
Einwilligung zur Begruͤndung juriftifhee Verpflihtung. fordert uͤbri⸗
gend, daß fie frei, ohne Zwang, ohne Erpreffung duch Betrug, ohne
Irrthum über den mefentlichen Gegenftand der Einwilligung, ernftlich
gemeint und daß fie von einem Rechtsmitglied ausgefprochen iſt, wel⸗
ches im Allgemeinen als felbftftändig oder als einen ſelbſtſtaͤndigen
rechtsguͤltigen Willen habend anerkannt ift, und welches über ben Ges
genftand rechtlich zu verfügen oder einzumiliigen befugt ifl. Kine Cons
fensertheilung von Dritten, 3. B. von der Obrigkeit, ift dann .in ber
Megel nicht nothwendig. S. darüber oben Beftätigung und unter
Ehe | Ä
. C. Th. Weider.
Consilium abeundi, f. Univerſitaͤt. TI
Gonfiftorium, f. Curie, (roͤmiſche) und Kirchenverfaſ⸗
fung (proteftantifche). | ER
Sonftant (Benjamin de Mebeeque), geboren zu Genf ‚1767,
fammt von einem adeligen Gefhlechte, das früher in der Graffchaft
Artois angefeffen war, mo es die Herrſchaft Nebecque befaf. Einer
feiner Vorfahren, Auguftin Conftant, ber zur reformirten Kirche
überteat, fah ſich durch die Verfolgungen, die feine Glaubensgenoſſen
zu erbulden hatten, genöthigt, fein Geburtsland zu verlaffen, und fluͤch⸗
tete fih nach Genf. Der Vater Benjamins, Samuel, lebte im
freundfchaftlihen DVerhäftniffen mit Voltaire und hat fidy felbit als
Schriftftellee, im Fache der Romane, einen Namen gemacht. Durch
die Ereigniffe der Revolution und die Grundfäge und Gefinnungen, die
fi) bei ihrem Ausbruche fo lebendig offenbarten, fühlte fih Conſtant
758 Gonſtant.
angezogen. Er ging 1791 nach Frankteich und trat mit gelungenen
Verſuchen im Gebiete ber Politit auf, durch bie er bald bie Aufmerk⸗
famkeit auf fid 309. Die erfte Schrift, burch bie er fi Wahn brach
und fein Talent verkündete, handelte von der Stärke der gegen-
waͤrtigen Regierung unb ber Nothwendigkeit, ſich ihr
anzufchliegen. Bor dem Mathe der Fünfhundert trat er als Ders
theidiger der Nechte der Proteftanten auf, die durch den Widerruf des
Edicts von Nantes aus Frankreich waren vertrieben worden, und machte
feine eigenen Anfprüche dadurch geltend. Seine Anfihten und Ges
finnungen, bie eine warme Liebe zur Sreiheit befeelte, gewannen ihm
Sreunde, welche Freunde einer gemeinfchaftlihen großen Sache waren.
Die Stürme ber Revolution hatten ſich verzogen und Conſtant nicht
berührt, der in ber Zeit nod zu unbedeutend war, ale daß er der
argwoͤhniſchen Gewalt auffalfen konnte. Auch zeichnete ihn mehr ein
ruhiger, prüfender Verſtand und eine firenge Logik, als WBegeifterung
und Tiefe des Gemüths aus. Den Grundſaͤtzen der Zreiheit mit Bes
barrlichkeit ergeben, fuchte er fie in allen Beziehungen des Bürgers
zum Staate auszubilden und anzumenden, verleugnete aber nie die
Maͤßigung und Billigket, welche Parteien im leidenſchaftlichen Kampfe
nicht nur nicht achten, fondern auch ale Feigheit und Unentfchiedenheit
zu verachten pflegen. Seine öffentliche Laufbahn begann erft mit ber
Reit, wo der Mißbrauch der Gewalt des Volks weniger zu drohen
fhien, als die Macht eines Einzigen, bie auf dem Wege war, alle
Gewalt des Staates in fid aufzunehmen. Im Sahre 1800 warb er
zum Mitgliebe des durch die neue Verfaffung eingeführten Tribunats
enannt, daß einen Theil ber Gefeggebung bildete. Es hatte die von
der Megierung vorgelegten Gefegentwürfe zu erörtern und zu prüfen,
über deren Annahme oder Verwerfung ber gefeßgebende Körper ent⸗
ſchied. Conſtant trat als eines der thätigften und fähigften Mit:
glieder der Oppofition auf und befämpfte bie Maßregeln der Megies
rung mit Gemandtheit und Feſtigkeit, wo er fie mit den Rechten und
Freiheiten des Landes im Miderfprudy glaubte. Napoleon liebte bie
Oppoſitionen nicht, als die von ihm felbft ausgingen, und ertrug uns
gern Miderfpruh. Frankreich, das ift nicht zu leugnen, bedurfte einer
feften Hand, welche die Verwirrung ordnete, die Kämpfe dee Parteien
endete, die ben Staat zerrütteten, Einheit in die Verwaltung brachte,
ben innern Frieden ficherte und den Außern herbeiführte und befeftigte.
Das Voll, der ewigen Erfchütterungen und des blutigen Haders muͤde,
ber zu lange das Land zerriffen und bie Herrfhaft zum Preife der
Gewalt und ber Raͤnke erniedrigt hatte, fehnte ſich nach dem Genuffe
ber MWohlthaten eines geordneten bürgerlichen Zuftandes, nad) Sicher⸗
beit, Ruhe und bequemem Erwerb. War ein Mann in: Franfreid,
ber das Alles geben konnte, dann war e8 Napoleon. Ob er es
nicht hätte geben können, ohne das Gegengeſchenk der Allgewalt, ber
er raſtlos entgegeneilte, das ift eine andere Frage. Der Widerfpruch
des Tribunats ward ihm laͤſtig, unerträglich, und er fing bamit an, es
Sonftant. 759
zu verflümmeln, von ben heftigften MWiderfachern zu reinigen, unb
loͤſſte es endlih auf. Unter ben Ausgeriefenen befand fih Con»
flant, bem ber erſte Conful um fo wenigek gewogen war, da er
mit der berühmten Frau von -Stael in freundfchaftlicher Verbindung
lebte. Napoleon liebte die gelehrten Weiber nicht, die geiftreiche
Stasl am wenigften, bie einen europäifchen Namen hatte, ben fie
fo verwegen mar, gegen den feinigen in die Wangfchale der Öffentlichen
Meinung zu legen. Gie erhielt bie Weifung, fih von Paris entfernt
zu halten, und endlih, Frankreich zu verlaffen. Großmuͤthig war das
Verfahren nicht, aber von der Verwieſenen auch nicht ganz unverſchul⸗
- bet; denn mehr, ale es dem Berufe einer Frau geziemt, liebte fie es,
ſich im politifche Angelegenheiten und Staatsfachen zu mifhen. Cons
ftant begab fih nah dem Auslande und waͤhlte fi, des unftäten
MWanderns müde, ‚Göttingen zum Aufenthalte, wo er Befreundete, eine
reihe Bibliothek, gelehrte Unterhaltung und auch eine Gattin fund.
Die deutfhe Sprache war ihm bekannt, er -achtete unfer gründlis
es Wiffen und fleißiges Forſchen und theilte. die Vorurtheile nicht,
‚welche die Franzoſen gewöhnlich gegen die deutfche Literatur und deutfche
Art haben. Er bearbeitete fogar Schillers Wallenſtein, den er
zu einem geregelten Zrauerfpiele in fünf Acten zufchnitt und dem
franzöfifchen Geſchmacke anzupaffen fuchte, was eben nidt zu Schils
lers Vortheile ausfiel. Im Jahre 1814, das Den in die Verban⸗
nung ftieß, der ihn verbannt hatte, kehrte er nad) Paris zurüd und
wirkte, feinen Grundfägen und feinem Glauben getreu, in bemfelben
Geiſte der Oppoſition gegen die Mißbraͤuche und Anmaßungen der Ge⸗
walt. Als Napoleon im folgenden Jahre von Elba kam, mochte
er wohl des bedenklichen Kampfes gedenken, den er gegen die oͤffent⸗
liche Meinung gefuͤhrt, und wenn er auch nicht glaubte, daß ihn die
liberalen Ideen geſtuͤrzt, wie man Ihn ſagen ließ, dann begriff er doch,
dag ihr Beiftand für ihn nicht ohne Vortheil fei, und er fuchte bie
Männer zu gewinnen, welche bie Stimme bed wiebergeborenen Frank⸗
reichs für fi hatten. Zu diefen gehörte Carnot vor Anbern und
auch Conſtant. Es fil Napoleon, bei der Art, wie er bie Men
fhen zu behandeln verftand, nicht ſchwer, diefen zu gewinnen. Er
felbft hat feine Unterredungen mit dem Kaifer in einer anziehenden
Schrift gefchildert, die den Titel führt: Dentwürbigleiten über
bie Hundert Zage in Briefen. Der Kaifer ernannte ihn zum
Staatsrathe, wodurch er in feine Nähe geftellt und einer offenen Op⸗
pofition gegen ihn entzogen ward. Nach ber zweiten Keflauration,
welche bie unglüdlihe Schlaht von Waterloo herbeiführte, verließ
Conftant Frankreich und hielt fi) einige Zeit zw Bruͤſſel auf, wo
bie geächteten Mefte bes Convents, bie für ben Tod Ludwig's XVI.
. geftimmt hatten, in großer Anzahl fi einfanden und eine Freiſtaͤtte
ſuchten. Bald darauf Lehrte er indeſſen wieder nach Paris zuräd
und wirkte, feinem übernommenen Berufe getreu, für die Erhaltung
freifinniger Inftitutionen, die durch die Reſtauration, deren Streben
®.
En)
760 Conftant.
bie auswärtige Politik fehr begünftigte, in's Gebränge Famen. Im
Jahre 1819 warb er vom- Departemente der Sarthe zum Deputirten
bei der Sefeggebung gewählt. Man befteitt ihm, als gebornem Auss
länder, das franzöfifhe Bürgerrecht, um ihn von der Kammer; im ber
er ungern gefehen ward, auszufchließen. --Er- fiegte aber und behaup⸗
tete feine Stelle, an welcher er eine unermäbliche Thätigkeit und bie
ganze Kraft feines Talents entwidelte. Zwoͤlf Jahre vergingen in bie
ſem redlihen Streben, zwoͤlf Jahre der Anfteengungen, ſchoͤner, oft
aber getäufchter Hoffnungen und Erfolge, bitterer Erfahrungen und
herben Kummers, und er hatte die Julirevolution erlebt, zur Gruͤn⸗
dung bed Buͤrgerkoͤnigthums beigetragen, das bie Zukunft Frankreiché,
wie er wünfchte, fichern ſollte. Muͤde, erfchöpft, geriufcht, vielfältig ges
kraͤnkt verfchied er am 8. December 1830. Noch ſechs Tage vor feis
nem Tode hatte er in der Kammer gefprochen, kaum fähig, ſich aufs
recht zu halten, und im Vorgefühle feines nahen Endes. Er warf
noch einmal einen trüben Blick auf Frankreich und auf fein eigenes
Schild. Die letzten Worte des Sterbenden waren: „Nah zwölf
Jahren einer redlich erworbenen Popularität.” Das war aud Alles,
was er redlih erworben und mas man ihm redlid zugeflanden.
Das Königthum felbit, das Buͤrgerkoͤnigthum, das zum Theil fein
Merk gewefen, fie ihn zuruͤk. In der Kammer mußte er mandye
Demüthigung ertragen, und die Akademie, in welcher er fih um eine
Stelle bewarb, verwarf ihn, um ihm Viennet vorzuziehen. Das
Volk allein erzeigte fi Ihm ergeben, wie er dem Volke ſtets ergeben
war. Ueber hunderttaufend Menfchen folgten feinem Leichenzuge. Es
wurben Subferiptionen eröffnet, um fein Andenken durch ein Denkmal
zu ehren. Neid, Eiferfudht, Parteimuth und alle gehäffigen Leidenſchaf⸗
ten verftummten an feinem ftummen Grabe. Selbſt die Akademie
überfchliy ein Schamgefühl; fie hatte ihm Diennet vorgezogen.
Ein geiftreiher Schrififtellee fagt: „Wollt Ihr, daß einem hervorras
genden Manne morgen Gerechtigkeit. wiberfahre, dann laßt ihn heute
ſterben.“ MWahrhaftig! das heißt von den Menfchen und ber Ges
fhichte eine gute Meinung haben. Dft mögen fie ihr entſprechen,
aber nicht felten ftrafen fie biefelbe auch Zügen.
Gonftant bat fih als Mebner, als Freund bes Volkes und
befonders als politiſcher Schriftftellee einen mohlverdienten Ruf erwor⸗
ben. Der Vorwurf, den man ihm gemacht, duß feine Oppofition fy: -
ftematifh, ohne Ruͤckſicht auf Zeit, Ort und Verhaͤltniſſe gewefen, iſt
nicht ungerecht. Ein praftifchee Staatsmann, ein Mann des Lebens
und Handelns war er nicht. Die Wirklichkeit follte ſich nach feinen
Srundfägen geftalten, die, unbefümmert um bie Noth der Mirklichkeit,
ihren: eigenen Weg verfolgten. Er hat alle Lebensfragen einer repräs
fentativen Regierung behandelt, alle Aufgaben zu loͤſen aefudht, bie
das Gebeihen einer conftitutionellen Monarchie bedingen. Es wäre zu
umftändlich, alle Schriften, bie über diefen Gegenftand von ihm erfchie:
nen find, bier anguführen, da man doch nur bie Titel berfelben ges
Conftant. Gonftitution. 761
ben Könnte. Sie ſind -gefammelt herausgegeben worden und bilden
einen eigenen Curs ‚der conflitutionellen Politik. Von ihm iſt aud) eine
Ueberſetzung 16 Werks von Filangieri: die Wiffenfihaft der
Gefetzgebung, das er mit einem: Eommentar begleitet Bat. Das
Vollendetſte, was wir von ihm befißen, iſt vielleicht feine Arbeit: Weber
die Meligion, betrahtet in ihrem Urfprunge, ihren
Formen und Entwidelungen. Auch haben wir einen Roman
unter dem Titel: Adolph, von ihm. Weitzel.
—A ſ. Türkei. -
Conſtitution; Conftitutionenz conftitutionelles
Princip und Syſtem; conflitutionell; anticonftitu-
ttonell. Im mweltern Einne bedeutet Conftitution foviel ale
Staatsverfaffung, d. h. die — durch Gefeg oder. burch factifche
Gewalt ober - Herlommen ober irgend eine Folge von Kreigniffen bes
flimmte — Form der Staatsregierung, mithin etwas in jedem
Staate Vorhandenes, daher auch nach Princip und dußerer Geftaltung
vielfach Verſchiedenes und, zum Behuf einer umfaffenden Beurthellung,
einer vielfachen. intheilung und. Unterabtheilung Beduͤrftiges. Im
biefem meiten — alte hiſtoriſch wann immer vorhanden gewefenen oder
noch heute vorhandenen, fowie alle theoretifch von Denkern erfonnenen
-oder- noch weitet zu erfinnenden, Stäatsformen umfaffenden — Sinne
nehmen wir hier das Wort nicht, fondern vermeifen diesfalls auf die
Artikel NRegierungsform und Staatsverfaffung.- Im
engern Sinne aber, welchen wir für jest allein in's Auge faſſen, ift
Conſtitutiom und conſtitutionelles Syſtem bie Bezeich⸗
nung einer eigenen, durch weſentliche Charaktere von den andern
unterſchiedenen, und — wiewohl ſelbſt auch einer mannichfaltigen
Geſtaltung empfaͤnglichen — doch uͤberall durch gleihe Weſen⸗
heit ſich auszeichnenden Art der Staatsverfaſſung. In dieſem en⸗
‚gern Sinne nun iſt Conſtitution wiſſenſchäftlich und praktiſch erſt eine
Schoͤpfung der Neuzeit. Fruͤher beſchraͤnkten ſich die Lehter der
Staatsweisheit meiſt auf Betrachtung und Beurtheilung der ihnen
hiſtoriſch vorgekommenen Verfaſſungen (von platoniſchen
Schwaͤrmereien ſehen wir hier ab), und hatten dabei nur den poli—
tifchen Standpunkt, d. h. den, die Güte oder Verwerflichkeit einer
Verfaſſung blos nach ihrer Tauglichkeit zu mas immer für
Zwecken, zumal nad ihrem Einfluß auf die Macht des Staates
oder der Regierung, oder auch nach ihrer Haltbarkeit, überhaupt
nad ihren materiellen Vortheilen und Nachtheilen wuͤrdi⸗
genden, und die zu ihrer Gründung oder Erhaltung nöthigen oder
räthlihen Mittel, ſowie die ihren Kortbeftand nad Form und Geiſt
näher oder entfernter bebrohenden Gefahren in’s Auge fafjenden.
Selbſt Montes quieu hatte meift-nur diefen Standpunkt, wiewohl
er unter die duch eine Staatsverfaffung zu erreichenden oder zu erſtre⸗
benden Zwede auch die Freiheit aufnahm und zu deren Frommen
namentlich das große — heutzutage fo vielflimmig und fo hart anges
762 Gonftitution.
feindete — Dogma von der Theilung ber Gewalten aufſtellte,
ja die Hauptgewalt, nämlich die geſetzgebende, "ganz eigens einem
tepräfentativen Körper (beftehend aus zwei Kammern) anven
traut und dem Könige dabei. nur die Sanction und: das Veto
eingeräumt wiffen wollte. Das neuere conflitutionelle Spftem aber
bat zu feinem oberften Princip keineswegs nur die — wenn auch eble
Zwede durch künftlihe Einfegungen verfolgende — Politik, fondern
ganz eigens das Recht, namentlich das Volks⸗Recht, als ſolches,
und, zu deſſen Verwirklihung, eine diefem Wolle ober einer daſſelbe
in Natur und Wahrheit vorftellenden and lebenskraͤf⸗
tigen Repräfentation, gegenüber der Regigrung zu verleihende,
ſolcher Idee entfprechende, d. h. die Herrſchaft des wahren Ges
fammtwillens verbürgende, Stellung. Freili haben auch ſchon
in der alten Welt viele Völker und Voͤlklein, aus natürlicher Frei⸗
beitsliebe und wie inflinctartigem Mechtögefüht, ſich volkschuͤmliche, zum
Theil tünftlich geregelte, Werfafjungen mit mehr oder weniger Bes
ſchraͤnkung dee monarchiſchen oder ariftofratifchen Haͤupter gegeben,
wohl ‚auch ganz demokratifhe Formen beliebt. Freilich find auch in
bee alten Welt ſchon pbilofophifche. Unterfuchungen über Staatsverfafs
fungen von vereinzelten Ziefdenkern angeftellt, und- politifhde Spiteme
theoretifch und praktifch erbaut worben. Freilich haben im Mittels
alter zumal bie germanifhen Stämme (deren uralte Sreiheit und
Caͤſar und Tacitus befchrieben) noch eine anfehnliche Zeit hindurch
ihre gefeslichen oder gewohnheitlichen Volksrechte gegenüber ben monar⸗
hifhen und ariftofratifhen Däuptern gewahrt, und insbefondere bie
Gefeggebungs=: Gewalt der Gefammtheit der Freien, -wels
che dem Gefege zu gehorchen hätten, vorbehalten. Freilich haben, als
allmälig die altgermanifche ,. vocherrfchend demokratiſche, Freiheit ber
Feudals Ariflokratie erlag, wenigftens bie ſkandinaviſchen Völker
von ihrem Foftbaren Erbgut noch manche Ueberbleibfel behauptet; und
freilich find, während das übrige Europa größtentheils in Anarchie oder
Oligarchie oder Defpotendeud verfant, in dem vergleihungsweife glüds
lihen England die Keime einer, Recht und Freiheit gewaͤhrleiſten⸗
i g » den, bürgerlihen Ordnung, zumal durch die Weisheit und: Zugend —
4
[2
MR. Alfteds des Großen — und fodann durch die von zwei andern
Königen (obfhon aus unlautern Beweggründen) verliehenen Freiheits⸗
gbriefe (charta libertatum und magua chartef in's Leben getreten, mel
che allmälig — jedoch nur. nad) ſchwerem Kampf und nad) mannich⸗
faltiger Unterbreyung durch wechſelnden Drang der Zeiten — ſich zu
einer, unferem conjtitutionellen Spftem verwandten, Geitaltung ents
widelten, und nad) deren grundgefeglichen Befeftigung durch die bill
of rights (vom 3. 1689) England an bie Spige der Nationen ſtell⸗
ten. Freilich find auch in einigen Ländern bes europäifhen Feſtlan⸗
bes ſchon vorlängft gluͤckliche Vorſchritte zur Freiheit geſchehen, veran⸗
laßt jedesmal allernaͤchſt durch — weltlichen oder geiſtlichen — Ge⸗
waltmißbrauchz fo in der Schweiz durch ben Uebermuth der ade⸗
| BEI
0 BIBIE ehr Inte Ar
Gonftitution. 7163
ligen Zwingherren, fo in Niederland durch tyrannifihen Glau⸗
bensdrud. Und aud In andern Ländern ‚bat das Ringen zumal
nad Bewiffenss Freiheit den Grund auch zu einiger bürger>
lichen gelegt, ja felbft zu überfpannten Lehren und Beftrebuns
gen geführt, und es find beredte und begeifterte Schriftfteller aufges
flanden, welche bie ewigen Menſchen⸗ und natürlihen Volks s Rechte
gegenüber ber eingefegten Staategewalten mit allem Nachdruck der
Selbfiüderzeugung und der Gefühlsinnigkeit verfohten. Wir werden
derſelben ſowie der erwaͤhnten Thatſachen in den der Geſchichte der
Staatslehre und jener der verſchiedenen Voͤlker und Verfaſ⸗
fungen eigens zu widmenden Artikeln näher gebenten ; für jegt ges
nüge bie allgemeine Andeutung. Aber — fo fügen wir in Bezug auf
den uns gegenmwärtig vorliegenden Gegenftand, nämlid das con fti-
tutionelle Syſtem, gleichfalls im "Allgemeinen bei — aber alle
dies kann nicht gegen die Neuheit diefes Syſtems zeugen. Die res
publifanifche, namentlidy demokratiſche, Sreiheit der alten Voͤlker (und
diefelbe Bemerkung gilt au von ben mittelalterlichen, nament
lich italifchen Freiflaaten) war berechnet blos auf ganz kleine Stans
ten, beren politifch mündige Bevoͤlkerung fi) in einer Landesgemeinbde
verfammeln konnte; fie war mehr Stadt- ald Staats sBerfafjung,
erhielt ſich auch felten lange gegen ariſtokratiſche Eingriffe und wid,
fobald das Gebiet fi) ausdehnte, ber defpotifhen Dbergemalt
der herrfchenden Stadtgemeinde. Die Idee der Repräfenta-
tion ber Nation buch frei gewählte Vertreter war noch nicht
aufgekommen, und überhaupt das vernünftige Rechtsverhältniß zwifhene»
Menierenden und Regierten nur wenig aufgefaßt. . An die Stelle von
deifen entfprechender Verwirklichung traten theils die mwibernätürlichen
Schoͤpfungen einzelner ſchwaͤrmeriſcher Geſetzgeber, wie Lykurgus, theils
die den ſubjectiven Zwecken der Haͤupter dienenden oder aus wechſelvol⸗
lem Parteienkampf ſich allmaͤlig factiſch bildenden Staats⸗Kuͤnſte⸗
leien, von welchen nicht eine dem gemeinen und gleichen Recht
ſaͤmmtlicher Staatsangehoͤrigen einen feſten Boden verlieh, ſondern faſt
jede nur ſchwankende Entgegenſetzungen demokratiſcher und ariſtokrati⸗
ſcher Gewalten ſchuf, und meiſtens blos das Recht oder die Freiheit
einer oder mehrerer Claſſen auf Unkoſten der andern beſchirmte. Die
Verfaſſung der altgermaniſchen Voͤlker ſodann war allerdings min⸗
der complicirt, aber ſie paßte, eben ihrer Einfachheit willen, nur auf
einzelne Staͤmme oder kleine Gemeinheiten, und mußte nothwendig, als
groͤßere National⸗Verbindungen ſich bildeten, gleichfalls durch den Man⸗
gel einer wohlgeregelten Repraͤſentation, m ariſtokratiſche
Uebermacht, und endlich, unter Beguͤnſtigung der factiſch ſich ausbil⸗
denden Lehens⸗Verhaͤltniſſe und der uͤberhand nehmenden Barbarei, in
vielgeftaltige Zwingherrſchaft und eiſerne Anarchie ausarten.
Geſchah dieſes auch in Skandinavien erſt ſpaͤter und minder, und
erhob ſich auch England durch wunderbare Gunſt der Umſtaͤnde al⸗
len andern Nationen voran zu einem — lange Zeit muͤhſam kaͤmpfen⸗
762 Gonftitufion.
feindete — Dogma von ber Theilung ber Gewalten aufſtellte,
ja die Hauptgewalt, nämlich die gefeggebende, ganz eigens einem
tepräfentativen Körper (beftehend aus zwei Kammern) anver
traut und bem Könige dabei nur die Sanction und: das Veto
eingeräumt wifjen wollte. Das neuere conflitutionele Spftem aber
bat zu feinem oberften Princip keineswegs nur die — wenn auch eble
Zwecke duch kuͤnſtliche Einfegungen verfolgende — Politik, fondern
ganz eigens das Recht, namentlid das Volks⸗Recht, als ſolches,
und, zu deſſen Verwirklichung, eine diefem Wolke ober einer bafjelbe
in Natur und Wahrheit vorftellenden und lebensträfs
tigen Repräfentation, gegenüber ber Regigrung zu verleihende,
ſolcher Idee entfprehende, d. h. die Herrſchaft des wahren Ges
fammtwillens verbürgende, Stellung. Freilich haben auch fhon
in der alten Welt viele Völker und Voͤlklein, aus natürlicher reis
beiteliebe und wie inflinctartigem Rechtsgefuͤhl, fich volksthuͤmliche, zum
Theil Eünftlich geregelte, Verfaſſungen mit mehr oder weniger Bes
ſchraͤnkung ber monarchiſchen der ariftofratifhen Haͤupter gegeben,
wohl auch ganz demofratifche Formen beliebt. Freilich find auch in
ber alten Welt ſchon philofophifche Unterfuhungen über Staatsverfafs
fungen von vereinzelten Tiefdenkern angeftelit, und politifhe Syſteme
theoretiſch und praßtifc erbaut worden. Freilich haben im Mittels
alter zumal die germanifhen Stämme (deren uralte Sreiheit ung
Caͤſar und Tacitus befchrieben) noch -eine anſehnliche Zeit hindurch
ihre gefeslichen oder gemohnheizlichen Volksrechte gegenüber den monars
x. hifhen und ariftofratifhen Haͤuptern gewahrt, und insbefondere bie
Geſetzgebungs-Gewalt ber Geſammtheit der Freien, wel⸗
che dem Gefege zu gehorchen hätten, vorbehalten. Freilich haben, ale
allmälig die altgermanifche,, vorherrſchend demokratiſche, Freiheit der
Keudals Ariftofratie erlag, wenigftens die ftandinavifhen Völker
von ihrem Eoftbaren Erbgut noch manche Ueberbleibfel behauptet; und
freilich find, während das übrige Europa größtentheild in Anarchie oder
Dligarchie oder Defpotendeud verfank, in dem vergleichungsweife glüds
lichen England die Keime einer, Recht und Freiheit gewährleiften-
» den, bürgerlihen DOrcbnung, zumal durch die Weisheit und. Zugend —
U: Alfreds des Großen — und fodunn duch die von zwei andern
Königen (obfhon aus unlautern Beweggruͤnden) verliehenen Freiheits⸗
Ey, ‚pgöriefe (charta libertatum und magıa chhartaf in's Leben getreten, wel⸗
he allmälig — jedoch nur. nad) fhwerem Kampf und nady mannid>
faltigee Unterbrechung durch mwechfelnden Drang ber Zeiten — ſich zu
einer, unferem conjtitutionellen Syſtem verwandten, Geitaltung ents
widelten, und nach deren grundgefeglihen Befeſtigung durch die bill
of rights (vom 3. 1689) England an die Spige der Nationen ftells
ten. Freilich find auch in einigen Ländern bes europäifhen Feſtlan⸗
bes fchon vorlängft gluͤckliche Vorſchritte zur Freiheit gefchehen, veran⸗
laßt jedesmal allernähft dur — weltlichen oder geiftlihen — Ge⸗
waltmißbraud; fo in ber Schweiz durch den Uebermuth der ades
gi
—— — ep Ze X NR 1 Fi
Gonftitution. 7163
ligen Zwingherren, fo in Niederland duch tyrannifihen Glau⸗
bensdrud. Und aud in andern Ländern hat das Ringen zumal
nah Gemwiffens: Freiheit den Grund auch zu einiger bürgers
lichen gelegt, ja felbft zu überfpannten Lehren und Beſtrebun⸗
gen geführt, und es find beredte und begeifterte Schriftfteller aufges
ftanden, welche bie ewigen Menſchen⸗ und natürlichen Volks⸗Rechte
‚gegenüber ber eingefegten Staatsgemwalten mit allem Nachdruck der
Selbfiüberzgeugung und der Gefühlsinnigkeit verfohten. Wir merden
berfelten ſowie der erwähnten Thatfahen in den der Geſchichte der
Staatslehre und jener der verfchiedenen Voͤlker und Verfaſ⸗
fungen eigens zu widmenden Artikeln. näher gedenken; für jest ges
nüge die allgemeine Andeutung. Aber — fo fügen wir in Bezug auf
den und gegenwärtig vorliegenden Gegenſtand, naͤmlich das conflis
tutionelle Syſtem, gleichfalls im Allgemeinen bei — aber alles
dies kann nicht gegen die Neuheit bdiefes Syſtems zeugen. Die res
publikaniſche, namentlich demofratifche, Freiheit der alten Voͤlker (und
biefelbe Bemerkung gilt auch von den mittelalterlichen, nament»
lih italifhen Freiftaaten) war berechnet blos auf ganz kleine Staas
ten, deren politifch mündige Bevölkerung fi) In einer Lanbesgemeinbe
verfammeln konnte; fie war mehr Stadt- als Staats: Berfaffung,
erhielt fi) auch felten fange gegen ariſtokratiſche Eingriffe und mid,
fobald das Gebiet ſich ausdehnte, der defpotifhen Obergemalt
der herrfhenden Stadtgemeinde. Die Idee der Repraͤſenta⸗
tion der Nation duch frei gewählte Vertreter war noch nicht
aufgekommen, und überhaupt das vernünftige Rechteverhältniß zwifchenee
-Megierenden und Regierten nur wenig aufgefaßt. . An die Stelle von
beifen entfprechender Verwirklichung traten theild die mibernätürlichen
Echöpfungen einzelner fchwärmerifcher Geſetzgeber, wie Lykurgus, theils
bie den fubjectiven Zwecken der Häupter dienenden oder aus wechſelvol⸗
lem Parteientampf ſich allmaͤlig factifh bildenden Staatss Künftes
leien, von welchen nicht eine dem gemeinen und gleihen Recht
ſaͤmmtlicher Staatsangehörigen einen feften Boden verlieh, fondern faft
jede nur ſchwankende Entgegenfegungen demokratiſcher und ariſtokrati⸗
[her Gewalten ſchuf, und meiftens blos das Recht oder bie Freiheit
einer oder mehrerer Claſſen auf Unkoften ber andern befchirmte. Die
Berfaffung der altgermanifchen Völker ſodann war allerdings min-
der complicitt, aber fie paßte, eben ihrer Einfachheit willen, nur auf
einzelne Stämme oder Feine Gemeinheiten, und mußte nothwendig, als
größere NationalsVerbindungen fich bildeten, gleihfallis durch den Mans
gel einer mohlgeregelten Nepräfentation, in ariftofratifche
Uebermacht, und endlih, unter Begünftigung der factiſch fi) ausbils
denden Lehens:Verhältniffe und der überhand nehmenden Barbarei, in
vielgeftaltige Zmwingherrfhaft und eiferne Anarchie ausarten.
Geſchah diefes auch in Standinavien erfl fpäter und minder, und
erhob ſich auh England durch wunderbare Gunſt der Umftände als
len andern Nationen voran zu einem — lange Zeit mühfam kämpfen:
2
764 0 Gonflitution .
den, Boch endlich fiegreihen — Snftem.ber politiſchen und bürgerfichen
Sreiheit: fo blieb ſolchem Syſteme gleichwohl noch fo manche Mißgeſtalt
bes hiſtoriſchen Rechts oder blos factifch entftandener Verhältniffe anhiingend,
daß ed zwar vor der nordamerikaniſchen und franzsfifhen
Mevosiution ein Gegenftand der Bewunderung und wohl auch bes
Meibes oder ded Verlangens ber übrigen Nationen fein mochte, nachher
aber in feiner vergleihungsmeifen Mangelhaftigkeit allen klar fehenden
Augen erfchien, und erft feit der neueften Parlaments: Reform
den Charakter einer, der neuzeitlihen Staatslehre annähernd
würbigen, Geftaltung annahm. Was nun die — ohnehin nur. vereins
‚zeiten und darum füs das Geſammtſyſtem bes Welttheils wenig bedeus
tenden — Erfcheinungen der ſchweizeriſchen Eidgenoffenfhaft und
dee niederländifhen Republik, und ſodann bie in verfchiedenen
Zeiten und Ländern aus Anlaß theils bürgerlichen, theils kirchlichen Druckes
entfiandenen Befrelungs-Verſuche und verlündeten Kreiheite
Lehren betrifft, fo wurden jene Republifen, troß ihres rein. freiheite
lichen Urfprungs, frühe wieber verderbt, theils durch ariftokratifche Ans
maßungen ber vornehmern Gefchlechter, theild durch Gewaltshertſchaft
von Gantons = oder Stadt:Gemeinden über unterworfene Bezirke ; die
‚übrigen Befteiungs s Verfuche aber führten meift nur zw noch ſchwere⸗
tem Drud und blieben alfo für die Staatsverfaffungen ohne Gewinn.
Dabei waren — mit wenigen Ausnahmen, wie etion die brutale Ja⸗
querie in Frankreich, ber fehlecht geleitete Bauern: Aufftand in
Deutfchland und die wohl hochherzige, aber durch böfes Geſchick bald nies
Dergefchlagene, Erhebung der Städte in Spanien — die Freiheitsbe⸗
firebungen meift nur gegen die Königs» Gewalt, nit aber gegen
die Ariftofratte gerichtet; ja fie Eonnten in ben Zeiten der völlis
gen Unterbrädung ded dritten Standes (d.h. der Gemei⸗
nen) kaum wo andersher als von eben der — eigennüsig nur für
ſich fetbft forgenden — Ariftotratie ausgehen, und darum unmoͤg⸗
lich ein das vernünftige, d. b. allgemeine, Recht befriedigendes Er—⸗
gebnig liefern. Die verfchiedenen Lehrer und Schriftfteller endlich, Die,
ergriffen von jenen Zeitbemegungen, für die Freiheit fpradhen, liefen
ſich theiis — wie Languet, Buhanan u. a. — duch Partei
Eifer über die Linie der Maͤßigung, folglich der Weisheit, hinausreigen,
theild waren fie — wie der tugendhafte Algernon Sidney und
der Tiefdenker Locke — ihrem Zeitalter vorangefchritten und ohne bes
beutenden, wenigſtens ohne unmittelbaren oder ohne dauernden praftis
fhen Einfluß. Daffelbe gilt von allen übrigen, mie immer wiflens .
fhaftlich verdienftvollen, Bearbeitern des Staatsrechtd und der Pos
litik vor der franzöfifchen Nevolution, wiewohl fie zum Theil einen
herrlichen Samen ausftreuten und die Nationen zur freudigen Auf:
nahme eines geläuterten Syſtems der Verfaffungs> Politik vorbereiteten.
Was, nah Montesquieu, allernähft die Encnflopädiften und
Phyſiokraten, was Voltaire und allermeift Roufferu in
Frankreich, was Schiözer in Deutfhland, Fil angieri in Italien,
Gonftifution. - - 769
Adam Smith In England u. f. w. für die Verbreitung folcher Ems
pfänglichkeit und für Begründung einer reinen Staatsrechts - Theorie
gethban haben, ift unfern Lefern befannt. Der Same ging unter güns
ſtigen Sternen freudig auf und trug feine Früchte. in der nordames
ritanifhen und in der franzöfifhen Revolution, melde
Teste fih zue europdifhen, und zwar in gutem Sinn, zu eriweis
tern verhieß, doch leider! allzüfrühe von dem im Beginnen hoffnungs⸗
reich entfalteten Geifte abwih, und zwar ein lebendiges Streben
nad Herftellung eines echten Rechts: Staates erjeugte, aber durch
Uebertreibung einerfeits die Guten von ſich abmendig machte und ans
derfeitd den Boͤſen die willlommenften Vorwaͤnde zur abfolutiftifhen
und ariftofratifhen Reaction bdarbot. Inmitten aller Ausfchwerfuns
gen und Unfälle, welche die Gefchichte ber Mevolution bezeichnen, bes
twahrte jedoch der Kern ihrer tugendhaften Stifter und mürdigen Ans
hänger ihre reinen Grundprincipien wie ein heiliges Feuer, pflanzte fie
in treuer Ueberlieferung fort und fammelte dabei noch forgfam bie
aus den Stürmen hervoigegangenen Erfahrungslehren, welche
über das Maß und die Bedingungen der praftifhen Ausführs
barkeit der reinen Theorie — unter den gegebenen hiftorifchen ober
factifhen VBerhältniffien — die Freiheitsfreunde in's Klare fegen.
As Endergebniß folder theuer erfauften Erkenntniß erfcheint ber
von dem (wiewohl fchuldbeladenen) Erhaltungsfenat, nah Napo⸗
leons Fall, verfaßte Eonftitutionsentwurf, beffen Hauptprincipien
die Charte Ludwigs XVII (wiewohl nidt ohne binterliftige
Gtaufeln) fanctionirte, fodbann die von den Kammern ber hundert
Tage an die fiegenden Mächte gerichtete Nechtsforderung, und endlich
die nach den Julius: Tagen von 1830 unter lauter. Zuſtimmung der
Nation zu Stande gebrachte — body leider (aus Schuld einerfeite
verfchmigter Parteimänner und anderſeits denfelben gutmüthig vers
trauender Volksfreunde) noch mehrere Mängel und Lüden zucüdlafs
fende — Reviſion der Charte. Eine glänzende Reihe‘ von
Scriftftelleen und Staatsrednern bat — von Franklin, Xp.
Daine, Sieyes und Mirabeau u. a. den Anfang der Revo⸗
lutionszeit bezeichnenden Feuergeiftern, biß auf Deftutt de Tracy,
Daunou, Benjamin de Conſtant u. a. der Gegenwart noch
nähere Lehrer — das conftitutionelle Syftem nad, feinen Hauptprincis -
pien beleuchtet, geößtentheild den Anfichten und Richtungen der uns
fterblihen conflituirenden Nationalverfammlung von 1789
folgend und dabei — was die Rechts: ragen, mithin das Wefents
liche betrifft — in erfreulicher Webereinftimmung mit den Ausgezeiche
netften dee vernunftrehtlihen Publiciften Deutſchlands.
Der Freiherr von Aretin, in feinem „Staatsrecht der conftis
tutionellen Monarchie“ (nad feinem Tode fortgefegt von dem
Berfaffer bes gegenmwärtigen Artikels) hat die Ausſpruͤche jener Schrift
fleller, fo wie bie pofitiven Seftfegungen der bereits beftehenden Gons
ſtitutionsurkunden, als bie für ſolches — das conflitutionelle Syſtem,
7166 Gonftitution.
fo wie e8 für bie europdifhen Staaten fich geftaltet bat, darftels
lende — Staatsrecht entfheidenden Autoritäten zufammengetragen.
Allerdings ein verbdienftliches Unternehmen und — in-fo fern wenig»
ftens ſolche Autoritäten unter fih übereinflimmend find — dem
Syſtem eine erwuͤnſchte Befeftigung darbietend. Nah unferer Ans
fiht jedoch gelten jene Autoritäten nur als Zeugniffe für die Vers
nunftmäßigkeit der in Stage ftehenden Säge; und nur foldhe
VBernunftmäßigkeit ift der wahre Grund ihrer von, ben" echten
Gonftitutionsfreunden behaupteten Giltigkeit.
Das conftitutionelle Syſtem alfo, fo mie es ſich feit dem
Anbeginn der nordameritanifhen und — für Europa ummits
telbar wirffam — der franzöfifhen Revolution ausgebildet hat,
iſt — in der Theorie vollftändig, in der Praris wenigftens annähernd -
— übereinftimmend mit dem Spftem eines rein vernünftigen
Staatsrehtes, angewandt auf die uͤberall factiſch vorliegenden
oder hiftorifch gegebenen Verhaͤltniſſe.
1) Der oberfte Sag in dieſem Spfteme lautet folgendermaßen:
Die Staatsgewalt ift eine Gefellfhafts-Gemwalt, demnach eine
von der Gefammtheit ausgehende und dieſer Sefammtheit in der Idee
fortwährend angehörige Gewalt, d. h. fie ift nichts Anderes, als der
- in dem durch ben Gefellfchaftsvertrag beftimmten Kreife wirkſame Ges
fammtwille der Gefellfchaftsgenofien. Es ift bier alfo von Feiner
herriſchen, von keiner aus dem Eigenthumsrecht abfließenden,
von feiner unmittelbar vom Himmel flammenden, aud von Feiner
patriarhalifhen u. f. w., überhaupt von keiner auf einen andern
Titel, als den Gefellfchaftsvertrag fi) gründenden Gewalt bie Rebe;
oder es muß wenigſtens jede, wenn auch urfprünglidy aus irgend eis
nem andern Titel hervorgegangene und jegt hiſtoriſch rechtlich beitehende,
Gewalt nad) Inhalt und Form dermaßen geregelt und befchränkt wer⸗
den, daß durch ihre Thätigkeit und geordnete Wechfelmirtung- mit ben
zu Regierenden die Herrfchaft des mahren Geſammtwillens moͤglichſt
getreu und zuverläffig vermwirklichet werde.
2) Zu diefem Behufe ift das erfte und unerlaglichfte Erforderniß
eine lebendige Stimmführung der zu regierenden Geſammt⸗
heit und zwar, da wir bier, wenigftend vorzugsmeife, wenn nicht
ausfchließend, folhe Staaten im Auge haben, die wegen ihres bebeus
tendern Umfanges die Gefammtheit ihrer Bürger nicht mohl in eine
einzige Landesgemeinde verfammeln innen, eine zu folsher Stimms
führung berufene, die Gefammtheit in Natur und Wahrheit
darftellende, mithin frei gemählte, Nepräfentation.
3) Zwiſchen dieſer Landess oder Volles s Repräfentation
und der aufgeftellten Landes: Regierung muß eine folhe Vers
tbeilung der Gewalten oder ein foldes Verhaͤltniß der Thaͤtig⸗
keits⸗ und MWiderftandes Kräfte beftehen, dag dadurch, fo viel irgend
möglich, die Herrfchaft des wahren, befonnenen und beharren>
ben Geſammtwillens verbürgt, und jene was irgend für eines
‚ Conſtitution. 767
Einzelwillenss, fo wie auch die eines blos augenblicklich irte geleiteten,
oder auch nur ſcheinbaren Geſammtwillens hintangehalten werden.
u. 4) Hiezu führt auf's zuverlaͤſſigſte die Uebertragung oder Ueber⸗
laſſung des überwiegenden Theiles der geſetzg eben den Gewalt mit
Inbegriff des Steuerverwilligungsrechts an. bie Natior
nal⸗Repraͤſentation, und dagegen jene ber Verwaltungs⸗
Gewalt an bie aufgeftellte Regierung, beides jedoch ohne Ausſchlie⸗
fung der controlivenden oder hemmenden oder Rechenſchaft fordern:
ben Autorität ber wechſelsweiſe gegenhberftehenden oder zur Gemeins
ſchaftlichkeit des Wirkens berufenen Staatskörper.
5) Neben der geſetzgebenden und der Verwaltungs » Gewalt, übers
haupt unabhängig von allen Inhabern der Gewalt, muß eine Aus
torität beftehen, welche über das in concreten Faͤllen ftreitige oder
zroeifelhafte Recht entfcheide, d. h. den rein wifjenfchaftlichen oder der
unbefangenen Urtheilsfraft anheimzuftellenden Befund ausfpreche über
das, was — den beſtehenden Gefegen gemäß — Recht oder nicht
echt, und mas demnach von ben conftituirten Gemwalten als ſolches
zu handhaben und zu vollſtrecken fe. Die Errichtung unabhängis
ger, moͤglichſt zuverlaͤſſiger Gerichte iſt hiernach ein weiterer Haupt⸗
artikel einer conſtitutionellen Verfaſſung.
6) Zur Erhaltung der Lauterkeit der Volksrepraͤſentation, ſo wie
der dem Zweck ihrer Aufſtellung gemaͤßen Richtung der Regierung
muß dem Volk und jedem Einzelnen im Volke die Kenntnißnahme
von den oͤffentlichen Angelegenheiten und auch die Meinungs: oder
Urtheild = Aeußerung über den: Gang ihrer Verwaltung unbedingt frei
ſtehen. Die öffentlihe Meinung, weiche faft gleich bedeutend
ift mit dem vernünftigen Gefammtwillen, foll überall ungehindert ſich
entfalten und ausfprechen dürfen, und es follen ihr die ZTchatfachen,
‚worüber fi auszufprechen fie das Recht und ben Beruf hat, unver
fhleiert und unverfälfcht zur Kenntniß gebracht werden. -Deffent-
lichkeit der Negierungs:-Befchlüffe, fowie der landſtaͤn⸗
bifhen oder Volfsvertretungs- Verhandlungen und Kreis
heit des Preſſe find daher mefentlihe Artikel einer conftitutionellen
Verfaſſung.
7) Der Begriff eines geſellſchaftlichen Vereins und des
ihm einwohnenden lebenskraͤftigen Geſammtwillens fuͤhrt jenen
der Gleichheit und Freiheit der Geſellſchaftegenoſſen mit ſich.
Das conſtitutionelle Syſtem ſtatuirt demnach die gleiche Theils
nahmsberechtigung an den Wohlthaten des Staatsverbands,
die gleiche (geſetzliche und gerichtliche) Gewaͤhrleiſtung der perſoͤnlichen
Freiheit ſo wie des rechtmaͤßigen Beſitzes und Erwerbes fuͤr Alle, den
gleichmaͤßigen Anſpruch aller Faͤhigen auf Aemter und Wuͤrden, und
hinwieder auch die gleiche Verpflichtung durch's Geſetz, bie gleiche Un⸗
terwerfung unter die rechtmaͤßig beſtehenden und ausgeuͤbten Gewalten,
und die gleiche, d. h. dem Maaß des empfangenen Schutzes für Beſit
und Erwerb entfprehende — Zheilnahme an den Laften des Staates.
768 u Gonftitution. -;
8) Zu ben auf bie Forderung der Frelheit und Gleichhelt ſich
gruͤndenden Rechten jedes conſtitutionellen Staatsbuͤrgers gehoͤren zu⸗
mal auch die Freiheit der Gottesverehrung (ſo lange dieſe nicht
in an und für ſich Rechts- oder Sittlichkeits⸗ oder Ordnungs⸗ und
Sicherheits⸗widrigen Handlungen beſteht) und jene der AUsSswan⸗
derung, d. 5. der Lostrennung vom Staatsverbande, deflen bios.
freier Genoffe nämlich, nicht aber keibeigene der conſtitutionelle
Buͤrger iſt.
9) Das Staatsvermögen. darf nur zu öffentlichen, vom Ges
ſammtwillen gebilligten Zwecken verwendet werben,. und feine Verwal⸗
tung ſteht unter der controlicenden Mitauffiht der Wolßsrepräfentation.
Die dem fürftlihen Haufe (überhaupt den regierenden Perfonen und
Familien) privatrehtlich zuſtehenden Guͤter bleiben natuͤrlich von
ſolcher Controle frei; und es wird außerdem fuͤr den wuͤrdigen Unter⸗
halt des Monarchen und ſeines Hauſes durch eine angemeſſene, auf
das Staatsgut anzuweiſende Civilliſte (auch Apanagen u. ſ. w.)
geſorgt.
10) Der conſtitutionelle Mon arch iſt für feine Perſon unner
antwortlich. Dagegen ſind ſeine ſaͤmmtlichen Gewaltstraͤger (uͤber⸗
haupt Regierungs- oder Staatsdiener) für den treuen und verfaffungss
mäßigen Gebraud der ihnen anvertrauten Gewalt — nicht nur jeder
feiner nähern oder entfernten Oberbehörde und endlich dem König
ſelbſt — fondern, und zwar vorzugsweife die Minifter oder oberften
Staatsdiener, aud der Volksrepraͤſentation verantmwortlih; und
ed hat über die hier in Sprache ftehenden Verbrechen und Vergehen
“ein eigend dafür zu errichtender Staatsgerihtshof zu erkennen.
Die Mitglieder der Volksrepraͤſentation jedoch, da fie in dieſer
Eigenfhaft bios Meinungen zu dußern, nicht aber thätlich eine
wirklihe Gewalt zu üben, blo® duch Abftimmung zu Befchlüfs
fen mitzuwirken, nicht aber bdiefelben zwangsweiſe zu vollftreden
haben, find in ber Sphäre dieſes ihres Berufs unverantworts ,
Lich, fo wie das Volk felbft, in deffen Namen fie auftreten und deſ⸗
fen Gefinnung, Wunſch und Willen fie nad ihrer freien Webers
zeugung zu Außern berechtigt und verpflichtet find.
Wir wollen biefen — einftweilen blos fummarifdy gefaßten —
Hauptfägen des conftitutionellen Syſtems, vorbehaltlich ihrer weitern
Ausführung im Verlaufe diefer Abhandlung, gleich jetzt die correfpon=
direnden Säge des abf olueiftif hen Spftems gegenüber ftellen.
1) Der Staat ift eine Summe von Perfonen, weldhe dis
ner unb derfelben oberftien Gemalt unterworfen find.
Diefe oberfte Gewalt ift keineswegs aus einem Vertrag, am allerwes
nigiten aus einem Gefelfhafts- Vertrag abfliegend, fondern fie ift ents
weder die gemein herriſche, oder auch die auf dem Eigenthum über
Grund und Boden, oder auc überhaupt die auf dem factifhen Ber
ftande ruhende, jedenfalls ald eine vom Himmel verlichene, wohl auch
unmittelbar daher flammende Gewalt. Zwifchen den Staatögliedern,
Sonflitution. 969
d. h. Unterthanen, unter fich befteht Feine andere Verbindung, ala
welche fich zmwifhen den Genoſſen deffelben Verhaͤltniſſes, 3. B. zwi⸗
ſchen den Knechten deffelben Herrn, zwiſchen den Kindern beffelben Va⸗
ters, überhaupt zwiſchen den Gehordyenden befjelben Gebieters findet.
-2) Hier kann alfo von einer millenberechtigten Gefammtheit und
“einer Repräfentation derfelben gar keine Rede fein. Der Wille des.
Herren oder des vom Himmel gefegten Staatshauptes ift die alleinige
Duelle alles Rechtes und die alleinige Regel für Alles, was im Staate
gefchehen nder nicht gefchehen ſoll.
3) Zwiſchen ber Summe ber Unterthanen und dem Staatshaupt
befteht ein anderes Verhaͤltniß, als daß die erften unbedingt zu
gehorchen und das legte ebenfo zu .befehlen haben. Don einer
Theilung der Gewalten zwifchen Regierung und Volt kann alfo
keine Rebe fein, wiewohl es angeht, daB die Regierung felbft eine
- vielgliedbrige, d. h. aus mehren Theilnehmern beftehende, fei,
oder auch (denn die abfolutiftifche Theorie hat auch auf die Demo»
Eratie Anmendung), daß die gefammte Regierungsgemwalt in ber Ran»
desgemeinde felbft refibire, deren Entfheidungen fodann durchaus feiner
Controle und keiner Beſchraͤnkung durch irgend ein den einzelnen Bürs
dern zuftehendes Recht unferljegen.
4) Die abfolute Gewalt, ohne Unterfchied, ob Einem oder Meh⸗
tern oder Allen anvertraut, iſt eine ungetheilte, fowie eine unbes
ſchraͤnkte. Sie ift ber Staat, und außer ihr giebt es nur ſchlecht⸗
hin Gehorchende. Sie giebt Befege, und fie vollfizedt fie ausfchliefend
und ohne Zheilnahme. ,
| 6) Daher ift auch bie richterliche Gewalt zu ihrer Domaine
gehörig; und ihr fteht es zu, die jedenfalls nur in. ihrem Namen hans
beinden Gerichte nad) felbfleigenem Belieben zu errichten unb zu orga⸗
nifiren, und nach Befund - and) neben ben ordentlichen: Gerichten aus
Berordentliche für beſondere Bälle ober Gegenſtaͤnde in Thätigkeit - zu
fegen. .. = =
. 6) Dem Bolt und jebem Einzelnen im Volk ſteht gar Fein
Recht ber Kenntnifnahme von Öffentlilgen Angelegen»
heiten zu. Diefelben gehen blos die Regierung' an, welche: davon,
fo viel fie für gut findet, bekannt macht. She; der Regierung allein,
fteht auch das Recht der Beurtheilung deſſen, was dem Gemeinwohl,
d. h. was ihr feibft, die da das Gemeinwohl _vorftellt, frommt oder
nicht frommt, zu. Eine Öffentlihe Meinung, die da ihrem Walten
Schranken fege oder die Richtung geben koͤnne, anerkennt fie nidjt
und duldet fie nicht. Sie hält demnach auch die unbefugten Urtheile
der Einzelnen über Staatsfachen, überhaupt alle Aeußerungen, die ihr
aus was immer für einem Grunde mißfällig find, durch Genfur und
Verbot zurüd, und unterdruͤckt jede verfuchte "Mittheilung von hats
fahen oder Lehren, deren Bekanntwerden fie ihrem Intereſſe für nad»
theilig erachtet. |
Gtaats⸗Lexiton. IL 49
⸗
770 Gonftiturion.
7) Die abfolute Regierung fordert zwar von allen Unterthanen
einen gleichen Gehorfam, aber fie behauptet auch das Hecht, Privie
legien und Diepenfationen, fo viel ihr beliebt, an Stände
oder Claffen oder Individuen zu ertheilen, frei es als bloße Gunſtbe⸗
jeugung, oder zu irgend einem ihrem Intereſſe entfprechenden Zweck.
Was aber die Freiheit betrifft, fo widerſtreitet biefelbe ſchon nad
. ihrem Begriffe jenem des Abfolutismus. Ste drüdt ein ſelbſtſtaͤn⸗
diges Recht aus; und im abfoluten Staat giebt es kein anderes, als
das auf dem Willen ded Herrn ruhende; und ſelbſtſtaͤndig iſt aübort
nichts, als die Staatsgewalt ſelbſt.
8) Daher iſt auch in Anſehung der Gottesverehrung jeder
Unterthan ſchuldig, der von der abſoluten Gewalt ihm vorgeſchriebenen
Confeſſion zu huldigen; und die Duldung einer andern Confeſſion, als
jener, zu welcher der Inhaber der oberſten Gewalt ſich ſelbſt bekennt,
iſt nur Ausfluß ſeiner Gnade. Ebenſo kann von einem ſelbſtſtaͤndi⸗
gen Auswanderungsrecht keine Rede fein. Der auf dem Staates,
d. h. Regierungs- Gebiet Geborene ober dahin Eingewanderte ift Hoͤ⸗
riger ober Leibeigener der Staatsgewalt und kann ohne berfelben — frei
zu gemährende oder zu verweigernde — Erlaubniß nimmermehr das
Herrfchaftsgebiet verlaffen.
9) Es giebt Fein Staatsvermögen im Sinne ber conffie
:tutionellen Theorie. Alles fogenannte Öffentliche Vermögen iſt Eigen:
thum ber Regierung oder ihres jeweiligen Hauptes. Beine Ver—
fügungsgemalt darüber iſt unumfchränkt, ohne Unterfchied, ob zu per⸗
fönlichen oder zu Sffentlichen Zwecken. Cr hat alfo rüdfichtlih der er:
ften ſich keineswegs auf eine ihm auszumerfende Civitlifte zu beſchraͤn⸗
ten, und, mäs bie-legten wie die erften betrifft, fo ift dag Ver moͤ⸗
gen fämmtliher Unterthbanen zur DBededung bed von dem
Herrfcher zu beftimmenden Bedarfes der von ihm frei zu verorbniens
den Befteuerung unterworfen. Ebenfo ſteht ihm auch die Befugnif
zu, über die perfönlichen Dienfte ber Unterthbanen in Frieden
und Krieg nad) Belieben zu verfügen, alfo namentlidy auch zum Sol.
datendienſt auszuheben, fo Viele und auf fo lange als ihm gefällt.
10) Die Diener des Herrn find nur ihm allein verantworts
lich, und mer nach feinem, des Herrn, Willen gehandelt hat, darf
Niemandem in der Welt darüber zur Rede ftehen. Ihm, dem Herrn,
dagegen find Alle verantwortlich, welche, unter was immer für einem
Titel, ſich mißfällig über feine Regierungshandlungen geäußert, oder
gar ein Hemmniß feinen Verordnungen entgegenzufegen ſich erkuͤh⸗
net hätten. —
Wir haben unfern Lefern hiermit Sag und Gegenfag vor
bie Augen geftellt. Auf weicher Seite die Wahrheit, d. h. das wahre
Recht, zu erkennen fe, überlaffen wir ihrem verftändigen Ermeffen.
Auch enthalten wie uns einer weitern Ausführung der Grundfäse bes
Abfolutismus, Wir haben bereits (f. Abfolutismus) diefem Spftem
einen eigenen Artikel gewidmet. Dagegen ſchemt: uns noͤthig, die Prin⸗
Gonftitution, 771
cipien bes conflitutionellen Syſtems, welchem mir unfere
Herzenshulbigungen bdarbringen, durch einige nähere Beſtimmungen
und Erläuterungen den Mißverftändniffen zu entrüden und dadurch
der Zheilnahme der Klar: und Wohldenkenden zu empfehlen.
1. Wenn der Staat ein wirklich zu Hecht beftehender, nicht blos
auf factifher Gewalt beruhender,; Zuftand fein fol, fo ift die Ans
nahme eines (urfprünglichen oder fpäter hinzugelommenen, ausdrüdlich
oder nur ſtillſchweigend gefchloffenen) Sefellfhafte: Vertrages die
unbedingt nothwendige Vorausſetzung. Die unmittelbar vom
Himmel flammende Gewalt des Herrfchers iſt eine myſtiſche und vers
altete, auch trog aller Bemühungen ber Legitimiften nimmermehr dem
Verftande der mündig gervorbenen Nationen aufzuheftende Idee. Nicht
haltbarer ift jene des Erbeigenthums über ein ganze Völker
beherbergendes Land; und die dem patriarchalifchen Zuftande ber
Stimme unter Stammeshäuptern abgeborgte Idee der väterlichen
oder Iandesväterlichen Gewalt ift eine bloß der Poefie angehoͤrige
Vorftelung. Die Gewalt fhlehthin endlich, keinen andern Titel
als fich felbft aufftellend, ift kein Sundament eines Rechts s Verhättnifs
ſes. Alſo bleibt nur der — auddruͤckliche oder ſtillſchweigende —
Vertrag, namentliih Gefellfhafts- Vertrag, übrig, um dem
Staatsverein eine rechtlihe Grundlage und Bedeutung zu geben, und
"aus dem natürlichen Gefellfchaftsrecht allein, wenn irgend woher, lafs
fen :fih für die Nechtöverhältniffe im Staat vernünftige Regeln ableis
ten. Das conflitutiortele Spftem anerkennt dieſes, und hat darum
ganz eigens zu feiner Aufgabe die Verwirklichung ber dee eines nach
dernünftigem Sefellfhaftsreht verfaßten und regierten
(d. h. zur gemeinfamen Iwederftrebung gelentten) Staates,
Dem Geſellſchaftsrecht gemäß entfcheidet über alle gefellfchaftlichen
Angelegenheiten allein .der, mittelbar oder unmittelbar, ſich ausfprechenbe
Gefammtwille Diefem alfo fteht auch zu, bie Form der Res
gierung feflzufegen, und die Perfonification berfelben zu beftim«
men. Was er in folher Beziehung ausgefprochen hat, ift fobann vers
bindlih für alle Gefellfhaftsglieder. Das Net der regierenden
Häufer (mofern fie ſich nicht auf die einerfeits ſehr befcheidene und
anberfeits fehr bedenkliche Eigenfchaft a8 Grundherren beſchraͤnken
wollen) kann demnad) blos auf einem Act des Geſammtwillens (Ges
feg oder Grundgeſetz) beruhen, wodurch allen Gefellfhaftsgliedern
zur Pflicht gemacht ward, ben aufgeftellten Regenten (Und die ihm
nach einer feftgefegten Regel in folher Würde Nachfolgenden) als das
Drgan des Sefammtwillens (In einer beftimmten oder zu beftimmenden
Sphäre) zu achten, und ihm alfo gehorfam zu fein. Der erwählte
Megent (im eigenen Namen und in bem. feiner gefeglichen Nachfolger)
macht fi) durch einen Vertrag gegen die Gefellfhaft verbindlich, die
Regierung, fo mie das Geſetz ihre Formen beftimmt hat, zu führen;
und fo ift durch jenes Gefes und diefen Vertrag das gaätice Verhaͤlt⸗
172 Eonftitution.
niß zwiſchen Negenten und Untertban, d. 5. zwiſchen bem gefeßlichen
Drgan des Geſammtwillens und den Gefellfchaftsgliedern beftimmt.
Die Legitimiften,, d. h. bie theild myſtiſchen, theils gemein fervifen
Abfolutiften, erklären gern folche conftitutionelle Ideen für bloße
Schwindeleien oder unhaltbare Theorien, welche der Dann von prakti⸗
ſchem Sinne weit weg von fich werfe. Aber die alfo ‚abfprehen, vers
‚geffen, daß felbft hiſtoriſch jene conftitutionelle Theorie ſchon gar oft im
praktifcher Verwirklichung erfchienen ift. Ohne der verfchiebenen republis
tanifchen Regierungsformen zu gedenken, finden. wir aud) in mandıen
monackhifchen Staaten jenes Gefeg und dieſen Vertrag ganz förmlich
und feierlich gegeben und gefchloffen. Nur unter folhem Titel ift
Wilhelm von Dranien und nah ihm dad Haus Hannover auf den
Thron von England gefliegen; und nur in Kolge derfelben Theorie mag
Ludwig Philipp als König der Franzofen auftreten. Was bei Diefen
Fuͤrſten aus.cudlih und förmlich ausgefprochen ward, das muß bei den
andern als flillfchweigend gefchehen vorausgefegt werden, wenn ihr
Thron einer rechtlichen Feſtigkeit oder vernünftig. aufgefaßten Legitimität
fid) erfreuen fol. Ä
1. Da bie Seele einer jeden Gefellfchaft ber in ihe lebende Ges
fammtwille und deſſen moͤglichſt lauterer Aubdruck ift, fo geht die we⸗
ſentliche Richtung des conftitutionellen Syſtems dahin, dem Gefummt-
willen der Staatögefelfhaft ein moͤglichſt lauteres Organ zu
verfchaffen. Die aufgeftellte Megierung iſt dazu berufen, den Gefammte-
willen, fo weit er bereits ausgefprodyen vorliegt, in's Werk zu richten
und zu behaupten ;, aber fie ift nicht geeignet, ihn urſpruͤnglich auszu⸗
ſprechen, oder völlig an befien Stelle zu treten. Wie ausgedehnt der
Kreis der Bevollmädtigung fei, welche ihe zu ertheilen die Geſammt⸗
heit für gut fand: immer mußte fie für fich felbft den freien Ausdruck
ihres lebenskraͤftigen und rechtlich wirkſamen Willens vorbehalten. Wie
aber mag ein Volk feinen Geſammtwillen auf zuverlaͤſſige Weiſe aͤus⸗
ſprechen? Welches iſt das natürliche und lautere Organ deſſel—
ben? In gang kleinen Staaten iſt es bie Landesgemeinzde, d. h.
die Berfammlung aller (politifh) mündigen Bürger, deren Mehrheit
volgiltig im Namen des Volkes befchließt, oder Wuͤnſche und Forbes
rungen ausfpriht. In größern Etaaten kann dieſes blos durch
einen aus dem Schooße der Nation frei gewählten Ausfhuß
gefhehen, welcher nämlich, wofern das Mahlgefeg ein vernünftiges ift,
bie Gefammtheit in Natur und Wahrheit: voritellt, und rechtlich. ale
tdentifch mit ihr betrachtet werden kann. In dieſer natürlihen
und treuen National: Repräfentation, melde da gegenüber
der Regierung die Intereſſen und Rechte des Volkes zu vertretin hat,
befteht das Wefen der conftitutionellen Verfaffung. (ine
ſolche Mepräfentation ift alfo unendlich verfchieden von ben arifto=
Tratifhen Keudal:Ständen, welche die Reaction der Partei fo
gern an bie Stelle der neuzeitlichen wahren National-, d. h. Repraͤ⸗
fentativ s Stände fegen möchte: -Sene Beudal: Stände ſtellten blos bie
/
-
Gonflitution. Br
Kaſten ober Corporationen vor, welchen fie angehörten, ober yon denen
fie gefandt waren, namentlich den Adel und die Geiftlichkeit. Der for
genannte dritte Stand, d. h. die Grundmaffe der Nation, erfchien
dabei im der bürftigften Repräfentation durdy Abgeordnete eins
., zelneer Städte und in ganz untergeorbneter Stellung, während ihm
(verfteht ſich ohne Ausfchliegung des Adels und der Geiftlichkeit, ins
fofern dieſe mit zu ben Staatsbürgern gehören) bie alleinige
Stimmführung in ber politifhen Wechſelwirkung mit der Regierung
zufteht. - Die Seubals Stände waren wohl ein Hemmniß der Regierung,
aber nicht minder oder noch weit mehr eine die wahre Volkeftimme-
unterdrüdende, d. b. fi) an ihre Stelle fegende, unlautete Autorität;
fie waren eine rein pofitive ober hifforifche Einſetzung, welcher gar Fein
vernünftiger Rechtsgrund zur Seite fleht, und welche mit ben Erkennt;
niſſen und den Bedürfniffen unferer, zur politifhen Mündigkeit heran⸗
reifenden, edlen Völker den widerwaͤrtigſten Contraft bildet. Sie find
eine der Barbarei des Mittelalters entftiegene, durch Rechtsvergeſſen⸗
heit und Rechtsverachtung genährte, fodann auch bei'm Aufdämmern
einer befjern Erkenntniß eben factifch forterhaltene Einfegung, deren
Umſturz unter jene Wohlthaten der franzöfifchen Revolution gehört,
die uns mit ihren mannichfaltigen böfen Früchten ausſoͤhnen.
Die Repräfentation des gefammten Volles vermits
felft einer aus freier Wahl deffelben hervorgehenden
Berfammlung ift, fo nahe liegend diefe Idee feheint, gleichwohl
exit eine Erfindung der neueften Zeit. Sie allein aber iſt geeignet,
die Idee des wahren Geſammtwillens zu verwirklichen, und aus einem
Gemalts : Staat einen Rechts: Staat zu machen. Nicht mas der pers
fönliche oder Einzels Wille der Negenten verlangt, ift Recht im Staate,
fondern nur was der Geſammtwille der politiſch mündigen Staates
angehörigen feſtſetzt. Die regierenden Perfonen, auch bei der redlichiten
Gefinnung, Eönnen fih irren aus mancherlei Befangenheit; fie können
aber auch untreu oder unlauter, d. h. perfönliche Zwecke anftatt
des gemeinen Wohles verfolgend, fein. Es muß alfo, wenn nicht die
Nation den Zufäkigkeiten des individuellen Verſtandes und Charakters
Einzelner preisgegeben fein foll, ihr die Aeußerung ihrer Gefinnung,
ihres Bedürfniffes, ihres Verlangens, ihres Willens frei ftehen,
d. h. es muß ihre ein natürliches und baum zuverläffiges
Drgan folder Aeußerung verliehen fein.
Ein folhes Organ nun ift auf Feine andere Weiſe zu fchaffen,
als mittelft freier Wahl durch die Mitglieder der Gefammtheit, die
da vorgeftellt und nertreten werden follen. Ueber bie für bie Reguli⸗
tung folder Wahl maßgebenden Principien haben wir und bereits in
den Artikeln Abgeordnete und Charte u. a. ausgefprochen, und
mögen uns baher auf das allbort Gefagte berufen.
III. Die Staatsgewalt hat das Recht, alles das zu verorbnen
und auszuführen, mas zu Erseihung bed Staatszwecks nothwendig
öder dienlih if. Aber wer foll darüber entſcheiden, was nothwendig
774 i | Gonftitution.
ober bienlih iſt? Wie kann das Volk der Gefahr enthoben werben,
bag unter dem Titel jener Nothwendigkeit oder Dienlichkeit ihm Leiftuns
gen, Opfer und Freiheitsbeſchraͤnkungen aufgelegt werden, welche uns
nöthig oder unbienlid) und blos Privatzwecken ober unlautern Intereſ⸗
fen förderlich find? — Dagegen tft keine andere GSicherheitsleiftung
möglich, als die, dag nur bie Geſammtheit felbft, alfo diejenigen,
welche felbft zu leiften, zu opfern ober Beſchraͤnkungen zu übernehmen
haben, ben darauf gehenden Beſchluß faffen, oder wenigſtens dem
von der Regierung darüber gefaßten Befchluffe beiftimmen. Der
felbfleigene Entfchluß oder die Zuftimmung der durch einen Act ber
Staatsgewalt zu Verpflihtenden ift die zuverläffigfte Bürgfchaft
dafür, daß nichts Ungerehhtes und nichts Drüdendes werde
befchloffen werben; und follte ein ſolches gleihmohl aus Irrthum mit⸗
unter gefchehen, fo wird durch die Einwilligung der Betheiligten jedenfalls
das Unrecht aufgehoben. Aus bdiefer Betrachtung mürde freilich
folgen, daß der Volksverfammlung oder jener feiner freigemählten Res
präfentauten die volle Staatsgewalt zu überlaffen ober zu übers
tragen fei, wenn wirklich die jeweils activen Bürger fämmtlich oder
body in entfchiedener Mehrheit verftändig und mohlgefinnt und zugleich
auch die bei den zu faffenden Beſchluͤſſen allein Betheiligten wären.
Aber, wie fehr man den Kreis des activen Buͤrgerrechts ausdehne,
immer bleiben noch gar Viele im Volk (megen natürlicher Unmuͤndig⸗
keit oder Unfähigkeit) ausgeſchloſſen von der zählenden Stimmges
bung; und es koͤmmt, da der Staatszweck nit blos ein vorübers
gehender, auf das Intereſſe oder die Neigung der In einem gegebenen
Moment lebenden Bürger befchränkter, fondern ein aud das Wohl
ber nahfolgenden Generationen in fih faffender ijt, noch die
weitere Betrachtung hinzu, daß ein Beſchluß der Volksgeſammtheit
oder ihrer Repräfentation, wenn er auch den wirklich Lebenden augens
blicklich WVortheil bringt, doc den Rechten und ntereffen der nach⸗
folgenden Geſchlechter voiderftreitenb fein kann. Darum wird
ein verftändiges Volk, ſowie es in dem Conſtitutionsgeſetz einerfeits der
Regierung sgemalt mittelft der für fich felbft oder feine Repräfen«
tanten vorbehaltenen Rechte jene Schranken fest, welche zur Ents
fräftung eines dem wahren Geſammtwillen wibderftreitenden Einzelmtlleng
ber Regierenden nöthig find, fo auch anderfeits eine ähnliche Bes
ſchraͤnkung feiner eigenen Macht dur bie der Regierung übers
tragenen Rechte flatuiren, zu dem Zwecke nämlich, daß die große
nie fterbende Geſammtheit (alfo mit Inbegriff der nahlommenden
Geſchlechter) gegen bie etwa übereilten oder unlautern Beſchluͤſſe
einer etwa unvollftändigen, ober übel berathenen, oder durch augens
biidlihe Aufregung oder Verblendung dahin geriffenen Volks⸗ oder
Mepräfentanten «Verfammlung, jeweils durch die wirkſame Einfpradye
ber Regierung inne gefichert werben. Außerdem wird man diefer Mes
gierung gern alles das Überlaffen, was durch fie beffer als durch bie
(Volks⸗ oder) Nepräfentantenverfammiung und zugleih ungefährlich
Gonſtitution. 775
geſchehen kann, letzteres alſo zumal in allen jenen Thätigfeitskreifen, wo
Richtung und Gegenftand des Wirkens, Anordnens oder Vollſtreckens
fhon duch das vorhandene Gefes, alfo durch den bereits vor⸗
liegenden Ausfpruc des Geſammtwillens hinreichend beſtimmt und ges
regelt find.
IV. Die voranflehenden Säge enthalten ſonach das conftitutionelle
Princip für die Theilung der Gewalten zwifchen Regierung und
Volksrepraͤſentation. Es handelt ſich hier nicht um bie objective
Zheilung, welche wir den Theorien ber Schule oder auch den Phantas.
fien poetifcher Rechts» und Staats» Philofophen überlaffen, fondern
um die fubjective, d. h. die zwifchen den genannten zwei Pers
föntichkeiten, um beren Wechſelwirkung e8 ſich handelt, praktiſch
und zu dem Zweck anzuordnnende Theilung, daß jede der beiden, foviel -
irgend möglih, im guten, b. b. dem wahren Gefammtmillen
mit Zuverläffigkeit entfprechenden Walten, frei und felbftftändig, im
fhlimmen, d. h. aus Irrthum oder Unlauterkeit davon abweichenden,
aber mechfelfeitig eine durch die andere gehemmt ſei, und bergeftalt
ein barmonifches Bufammenmirfen beider zu demfelben
Ziele, ndämlidh zur Verwirklichung bes Staatezwedi, thunlichſt vers
bürgt werde. |
Ueber bie Lehre von der Theilung ber Gewalten iſt ſchon
unfäglih viel Streitens gemwefen, und zwar meift ohne fonderlichen
Gewinn für die MWiffenfchaft wie für das Leben. Hier bloßer Wort⸗
ftreit, dort baares Mißverſtaͤndniß und VBegriffövermechelung, mitunter
auch leere Spigfindigkeit oder gehaltlofes Phantafiegebild find der vor»
herrfchende Charakter der darüber gepflogenen Diseuffionen. Wir
werden unfere Anficht davon in dem Artikel Theilung der Ger
walten ausführliher entwideln. Hier nur fo viel, als zur Ders
deutlihung bed conflitutionellen Princips unmittelbar noth»
mwendia ift.
Die Einheit der Staatsgewalt, welche von mehreren Seiten
mit Eifer behauptet wird, von ber einen nämlich im Intereſſe einer
blos theoretifchen Schuls Doetrin, von der andern in ber praktifchen Ab»
fiht, günftige Folgerungen für den Abfolutismus aus folcher Lehre zu
ziehen, können wir unbedenklich anerkennen, infofern darunter nichts
Anderes verftanden wird, als die Einheit des Begriffes, oder die allen
gedenkharen Aeußerungen der Staatsgewalt zu Grund liegende all⸗
gemeine Idee oder gemeinſchaftliche Wurzel, welche eben in
der rechtlichen Herrſchaft des Geſammtwillens, oder bee Or⸗
gane deſſelben, innerhalb des durch den Geſellſchafts⸗Vertrag beſtimmten
Kreiſes beſteht. Aber ſolcher Einheit thut die mannichfaltigſte Abthei⸗
lung und Unterabtheilung der Gewalt, nach Gegenſtand und Richtung,
nach Form und Umfang u. ſ. w., durchaus keinen Abbruch; und eben⸗
ſowenig thut ſolches die Forderung der Vertheilung der einen Staats⸗
gewalt unter mehrere ſich wechſelſeitig beſchraͤnkende Inhaber. So wie
> DB: das Eigenthumsrecht eine Menge von beſondern Rechten
16°. Gonftitution.
ober Ausuͤbungsweiſen In ſich fchließt, und eine Vertheilung unter
Mehrere, oder auch eine gemeinfchaftlihe Ausübung duch Mehrere zus
läßt, ohne darum aufzuhören, im Begriff eine Einheit zu fein: fo auch
die Staatsgewalt. Alle gedenkbaren Ausflüffe, Richtungen, For⸗
men und Gegenftände derſelben fchaden dem Begriff ihrer Einheit nicht,
und abe a thut e8 die DVertheilung ihrer Ausübung unter meh⸗
rere — ſei es dabei gefondert auftretende, fei es gemeinfhaftlich hans
beinde — Xheilnehmer. Der Einheit der Staatsgemalt alſo ſchadet
ihre Unterfcheidung in gefeggebenbe, gefesverwaltende, oder
überhaupt adminiftrative, ebenfo in infpective, au richters
liche u. ſ. w. nicht; ebenfowenig die Eintheilung in polizeiliche,
finanzielle, Juftiz: und Militair-Gemwalt, mit noch weiten
beliebigen Unterabtheilungen. (Die Municipal: Gemalt jedod und die
Mahl: Gewalt und mehrere andere, welche man in neuern Schriften
unter die Staategewalten gereihet findet, gehören nicht eigentlich unter
biefen Begriff.) Auch bleibt jene ideelle Einheit unangetaftet durch
bie Berufung mehrerer Perfönlichkeiten zuc gemeinfamen
oder auch getrennten XTheilnahme an eben diefer Gewalt. Gerade
mit dieſer Berufung hat es das conftitutionelle Syſtem zu thun; nur
bie fubjective Zheilung ift ihm von Wichtigkeit, die objective iſt
ihm nur infofern wichtig, als fie mit der andern in nothmendiger Ver:
bindung fteht, oder zur Verdeutlichung ber beiden Perfönlichkeiten (Mes .
gierung und Volksrepraͤſentation) anzumeifenden Gewaltſphaͤre führt.
Zu diefem Behufe haben wir blos auf zwei, nad ihrer Natur
von einander weſentlich unterfchiebene Gemwalten oder Gemoltfphären
ben Blick zu werfen. Alles, miß durd) die Staatsgewalt, d. h. durch
ben Gefammtroillen, beftimmbar ift, muß entweder ein im Allgemeis
nen, d. b. nah) Begriffen, Aufgefaßtes, oder ein Eirzelnes, im
concreto Vorkommendes, fein. Die Bellimmungen über das Erfte
flellen die Regel für kuͤnftig eintretende, unter den fraglihen Bes
griff gehörige, Fälle auf, und mögen Gefege genannt werden. Die
über das Zweite find entweder bloße Anwendungen fehon vorhandener
Gefege auf die vorfommenden, darunter paffenden, einzelnen Fälle, oder
aber fie find unmittelbare Acte des Geſammtwillens über concrete,
durch's Geſetz noch nicht regulirte Fälle. Unter eine von diefen beiden
Mubriten läßt jeder Act der Staatsgewalt ſich einreihen, infofern man
naͤmlich, was ſowohl der ıgemeine, als der gelehrte Sprachgebrauch
fordert, unter Gewalt blos ein Recht der Willens Aeußerung, oder
ber Willens» Durhführung verfteht (wonach alfo die richterliche.
fogenannte Gewalt, welche blos in der logifchen Sunction bed Urthei⸗
lens oder Erkennen befteht, aus der Reihe der eigentlihen Ges
walten auszufchließen ift). Das conftitutionelle Spitem beiteht nun
mit nichten basin, die gefeggebende Gewalt einer ber beiden
in Frage flehenden Perfönlichkeiten, namentlich der Volksrep raͤ⸗
ſentation, und die verwaltende — d. h. in concreto thätige —
Gewalt der andern Perſoͤnlichkeit, namentlich der Regierung, zu
Gonftitutlon. y 777
übertragen, fondern beide Perfönlichkeiten zur gemeinſchaftlichen
Theilnahmean beiden Gemwalten oder Gemwaltfphären, nur hier und
dort in verfchledenem Verhaͤlmiß oder Maß, zu berufen. Diefes Ver-
hältnig oder Maß nämlich foll ducd die natürlichen Cigenfchaften der
beiden Perfönlichkeiten beftimmt, d. h. die vorberrfchende Rolle hier und
„dort der einen und der andern hiernach angewiefen werden.
Zur Ausübung der gefeggebenden Gewalt ift naturgemäß
die Volksrepräfentation vorzugsweiſe, nenn auc nicht aus—
ſchließend, geeignet. Fuͤr die adminiftrative ilt es in der Megel
mehr die Regierung. Das conftitutionelle Syſtem weiſet demnad)
:die Hauptrolle bei der Gefeggebung der Wolksrepräfentstion, bei der
Adminiftration der Regierung an. Aber e6 befchränft die geſetzgebende
Gewalt der erften duch das der Regierung zuerfannte Rechr des
Veto und der Sanction (mitunter audy ber Initiative), ind
bie adminiftrative Gewalt der letzten durch das der Wolfsrepräfentation
nad) Derfchiedenheit der Fälle gewährte Mecht entweder bios ber
Kenntnißnahme und ter nadhträglih von den Miniftern zu for
bernden Rechenſchaft, oder auch der fhon vorläufig zu ertheilenden
oder zu verfagenden Genehmigung. Unter die legte Rubrik gehört
namentlich die Abgaben: VBermilligung, die Verwendung der
Staatsgelder zu beflimmten Zmeden, oder aud) die Contrahirung von
Schulden u. ſ. w., zur erften gehören alle Acte der Admini-
firation ohne Unterfchted. Der Grund von allem dem ift einleuchs
tend. Bei Aufftellung von allgemeinen Regeln für kuͤnftige Källe
ann, wenigſtens bei der Mehrheit der Volksrepraͤſentanten, nur das
allgemeine Intereſſe (unter Voraugfegung der Inteligenz der Stim⸗
menden) entfcheidend fein. Jedenfalls erfcheint dergiſtalt blos eine
über ſich ſelbſt ausgeübte Gewalt, mährend bie vn der Regies
rung bier auszuübende eine mahrhaft herriſche, alp mit nichten
gefellfchaftliche, wire. Zur Heilung der freilich immer ndglihen Ver⸗
irrung oder Verführung der Volksrepräfentation ift das Beto der Re⸗
gierung hinreichend. In der Sphäre des durch das Geetz bereits
Beflimmten dagegen wäre bie Thätigkeit der Volksepraͤſentation
theild unnoͤthig, theils ungeeignet. Hier kann und foll er Regie—
rung die Vollgewalt anvertraut werben, vorbehaltlich bos der zur
Sicherung der Gefeglicheit hinreichenden nachträglichen Kemtnignahme
der Repräfentation. inzelne wichtigere, durch's Geſetz richt ſchon
zum Vorhinein geregelte, Fälle unterliegen billig der gemeirchaftlichen
Beftimmung der Regierung und Volfsrepräfentation, oder senigftene
ber von Seite der. legten geltend zu machenden DVerantwortihfeit ber.
erften. Diefe Verantwortlichkeit der Minifter gegeuber der
BVolksrepräfentation und hinwieder das ber Negierung zufiehemr Medı
ber Auflöfung ber Deputirten:Berfammlung verullftänd
gen das im Intereſſe der Derrfchaft des wahren Geſammtwilens hei
äuftellende Gleichgewicht der beiden Gemwalten, nämlich jene
der Regierung und jener ber Volksreptaͤſentation.
7178 Gonftitution.
Daß neben ben bisher: aufgezählten Rechten ober Gewaltausuͤbun⸗
gen das conflitutionelle Syſtem noch meiter der Regierung bie Ernens
nung deu Staatsdiener, die Ertheilung von Würden, die Vers
handiungen mit dem Ausland u. f. w. zuertennt — Alles jedoch
vorbehaltlich der dafür durch die Geſetzgebung aufzuftellenden Grund⸗
füge, auch, wes das Letzte betrifft, vorbehaltlidy ber, wenigſtens im
den wichtigern Bullen, nachtraͤglich einzuhotenden Zuftimmung der Volks⸗
repräfentation, jebenfall® der dafür den Miniftern obliegenden Verant⸗
wortlichkeit — fließt aus den allgemeinen Principien der Gewalten =.
Theilung. Ebenfo geht aus dem Berufe der Volksrepräfentation von
felbft hervor, daß bderfelben und jedem ihrer Mitglieder das Recht
der Anträge oder Motionen (nämlich der Einzelnen an die Kam⸗
mer „nd der Kammern an die Regierung) zuftehen muß, nicht minder
dar Recht der Annahme von Petitionen aller Art, deren Einreis
dung an die Volfsrepräfentation daher allen Bürgern einzeln ober in
beliefigen Mengen, und ebinfo den Gemeinden, GCorporationen, Ges
ſelichaften u. f. m. erlaubt fein fol,
Die Grundfäge über die in einem conftitutionellen Staat ben
Kammern (d. b. der Volksrepräfentation) und der Regierung bei et-
waigen Befchlüffen über VBerfaffungs: Veränderung oder Auslegung
gebührende Zheilnahme oder Mitwirkung find bereits in dem Artikel
Charte aufgeftellt worden. Die hochwichtige Frage aber, ob bie
Volksrepräfentation aus einer oder aus zwei Kammern gebildet
fein folle, wird im einem eigenen Artikel: Zweilammern » Sy»
ftem erörtert werden. Einige andere Einzelheiten, welche zur Ders
vollftändigung des conftitutionellen Syſtems gehören, werden in dem
Artikel Landflindifhe Verfaffung ihre Stelle finden. Uebri⸗
gene ift diefes Syſtem in Bezug auf Einzelheiten nicht dermaßen bes
ſtimmt, daß nt mandyerlei Variationen und Abftufungen
dabei ſtattfindn koͤnnten. Vielmehr erheifhen oder erlauben die vers
fhiedenen innen und aͤußern Verhältniffe ber einzelnen Staaten, zus
mal auch die Bildungsftufe und der Charakter der Völker, die mehr
oder weniger befeitigten hiftorifhen Rechte von Häufern oder Claffen,
überhaupt di gefchichtlihen Erinnerungen, Gewohnheiten und Sitten
der Nationa u. f. mw. eine bald mehr bald weniger freigebige ober bes
ſchraͤnkte Z2.theilung der politifhen Rechte, einerfeits an Volt und
Volksrepräfntation, und anberfeits an die Regierung. Das Syftem
- ftellt nur fe allgemeinen Ideen und Grundprincipien auf, und übers
laͤßt deren nach Umftänden thunliche Verwirklichung der Weiss
‚bei der ker cder dort zu Conſtitutions⸗- Entwürfen berufenen Autos
taͤten.
V. Daß die ſogenannte richterliche Gewalt, nach ihrem Haupt⸗
dhäft, naͤmiich Erkennen oder Urtheilen, gar keine Gewalt,
dern Kos eine logifhe Function fei, wurde bereits oben be=
erkt. Eben darum kann von ihe bei ber Gewalten⸗Theilung
:ine Mede feinz ja es iſt überhaupt dee Inhaber ber Gewalt als ſol⸗
\
Gonftitution. 779
her zum Urtheilſprechen welt weniger geeignet, nämlich welt weniger
zuverläffig, al& jeder andere WVerfländige und Rechtliche. Weder dem
König noch der Voldsrepräfentation ſoll alfo eine richterliche Autoritaͤt
zutommen. Daß einige Verfaffungen namentlich der I. Kammer. eine
fotche, zumal bei großen Staatsverbrechen oder bei Anflagen ber 11.
Kammer, gegen bie Minifter einrdumen, liegt nicht im Syſtem, ſon⸗
dern iſt eine aus blos hiſtoriſchem Recht oder aus Vorartheil gefloffene
unlautere Beimifhung.‘ Ebenfo und noch mehr sit verwerflih die
einer Kammer zuftehende Befugniß, über die ihr era (3. B. von Bürs
gern oder Schriftftellern u. f. w. vermeintlich) zugefügten Beleidiguns
gen felbft zu Geriht zu figen, und ernfe Straferkenntniffe derge⸗
ſtalt in eigener Sache — zu fällen. Die polizeiliche Gewalt,
wohl namentlich über ihre eigenen Mifglieder und im Vetſammlungs⸗
Locale, mag fie ausüben; aber wirklich peinliche Vergehen gehören
vor bie ordentlihen Berichte.
Wenn die Gemalt nicht felst richten foll, fo ſcheint auch bedenk⸗
lich, daß fie die Richter auffterle. Offenbar ift auch diefes verwerf:
ih, wo es fih um Urtheifprechen in fpeciellen Zällen, alfo um Aufs
ftellung außerordentliher Gerichte handelt. Die Ernennung der
ordentlichen Richter, d. h. der für bfeibend und für Nechtsfachen
überhaupt aufzuftellenden, mag jedoch der Regierung üherlaffen fein, '
nicht eben, weil forhe Ernennung ein natürliches Majeftätsrecht ift,
ſondern, wie ein geiftreicher Schriftftelfer ſich ausdrüdt, weil überhaupt
Jemand fie ernennen muß, und die Regierung, deren allgemeines
Intereſſe jedenſalls auch in Handhabung des Rechtes befteht, dazu ges
eigneter erfchein als faft Jedermann ſonſt. Indeſſen müffen dann die
Richter, fobald fe ernannt find, eine von der Regierung unabhänz=
gige Stellung, d. h. von der Gunſt oder Ungunft der Regierung
möglichft wenig ze hoffen oder zu fürchten haben, und bei Faffung
der Urtheilsfprüche blos an ihre eigene Ueberzeugung (verfteht fich, ges
bunden an das Geſetz) angemwiefen fein. Auch foll das Geſetz für bie
Befähigung zu Richterftellen und für die Art der Ernennung die der
Willkoͤr möglihft wenig Raum laffenden Beftimmungen geben und
durch mohlgeregelten Inſtanzenzug dem wahren Recht bie Zuverficht
des Eieges bereiten. Was dann Insbefondere die Strafrecht»
Sachen betrifft, fo verlangt das conftitutionelle Spftem, daß, neben
den gelehrtm und ftändigen Richtern des Rechtes, Geſchworen⸗
eAredchte, beftehend aus zeitlich durch's Loos beftimmten gemein ver⸗
ſtͤndigen und rechtlichen Maͤnnern, zu Richtern der That beſtellt,
„und namentlich auch ſchon über die Frage, ob nach Beſchaffenheit der
Inzichten eine wirklich peinliche Anklage gegen einen Buͤrger ſtatt⸗
finde, denſelben die Entſcheidung übertragen werde. Alle Ausnahms—⸗
gerichte, ale Cabinetsjuſtiz, alle will kuͤrliche Verhaft⸗
nahme und Gefangenhaltung werden verbannt durch das conſtitu⸗
tionelle Syſtem.
Wenn dergeſtalt das Rechtſprechen an und fuͤr ſich dem Einfluß
780 Eonftitution.
bee Gewalt durch das conftitutionelle Spftem entgegen wird; fo kann
ber von Einigen als Ariom 'aufgeftellte, doch vielfacher Mißdeutung
unterliegende Sag: „Alle Zuftiz geht vom Köntg aus” (toute
justice emane du roi) nur auf die Handhabung des Rechtes,
nicht aber auf die Schöpfung ober Auffindung befisiken Ans
wendung finden. Das von ben unabhängigen Richtern, keineswegs
im Namen der Gemalt, fondern im Namen bes heiligen Rechtes,
gefällte Urtheil ifE durch die Staatsgewalt.zu vollftteden, und na⸗
turgemöß gehört ſolche Wollftredung zu ber Obliegenheit der Me:
gierung.
VI. Das Grundprinch des conftitutionelfen Spftems ift die thuns
lichſt zu verwirklichende Herrſchaft des wahren Geſammtwillens. Mit
dieſem Princip ift jede Verheimlichung von Regierungshandlungen
oder von lanbfländifhen Berathungen, überhaupt von Allem, was oͤf⸗
fentlihe Angelegenheiten angeht, im greuften Widerfpruh. Das cons
flitutionelle Syftem fordert demnach Publicität im meitelten Sinne
des Wortes. (Die in gewiffen Dingen, namentlih in Verhandlun⸗
gen mit dem Ausland, ausnahmsmeife mitunter zäthliche, dod) blos
zeitliche Geheimhaltung mag unbefchadet der allgemeinen Regel ftatts
finden.) Wenn man dem Vol oder defjen Nepräfentanten das Recht
gewährt, die Negierung zu controliven und zu den wichtigern Regie⸗
rungshandlungen mitzumwirfen, wenn überhaupt die Staatsangelegen-
heiten als Volksintereſſen, oder als felbfteigene Sache des Volkes ein-
mal anerkannt find; fo ift es eine fchreiende Nechtsverlegung, demfels
ben die Kenntniß jener Thatſachen, Verhaͤltniſſe, und rechtlichen und
politifchen Gründe zu entziehen, worauf allein feine Richtung, wenn
fie eine verftändige fein foll, beruhen, oder durch deres Kenntnig als
lein die Öffentliche Meinung zum Guten, b. h. zum Wahren, gelentt
‚ werden kann. Jede Berheimlihung erregt den Veiddacht der Taͤu⸗
fhung oder der boͤſen Abſicht; und unter den Korderungen bes
conftitutionellen Spftems iſt Feine entfchiedener und unbedingter, als
jene der Publicitaͤt. Mit diefer Forderung ift in innigfter Verbins
dung jene der Preßfreiheit, weldhe wir hier nur von bdiefer, Dem
conftitutionellen Princip angehörigen, Seite in's Auge faſſen. Die
Freunde bes Abfolutismus, welche für alle Regierungshandlungen die
Geheimhaltung — menigftens der Motive oder der vorgegangenen
vertraulichen Berathungen — empfehlen, und vor der Deffentlich-
teit der landftändifhen Verhandlungen erzittern und erbeben, find ’z,_
tuͤrlich auch gefchworene Feinde der Preßfreiheit; und fie handeln ſeht
confequent, wenn fie den Krieg gegen fie führen; denn Abſclutismus
und Preßfreiheit find mit einander unverträglih. Wer diefe will oder
duldet, muß jenem entfagen; und wer jenen will, muß biefe tödten.
Vita Conradini mors Caroli; mors Conradini vita Caroli. Abges
fehen von allen andern unermeßlich Eoftbaren Wirkungen der Preßfrei⸗
beit und von allen andern heiligen Ziteln ihres Nechtes, ift vom
Standpunkt des conflitutionellen Syſtems Mar und augenfallig, daß
Conſtitution. 781
eine neuzeitlich landſtaͤndiſche, d. h. repräfentative, Verfaſſung ein lee⸗
rer Schall und eine bis zum Hohn anſteigende Taͤuſchung ſei ohne
Preßfreiheit.
VN. und VII. Das conftitutionelle Syſtem hat vicht blos
die Perfonification der Staatsgewalt und die Kormen ihrer Ausübung
sum Gegenftand, fondern aud die unmittelbare Axertennung
und Gemährleiftung aller ben Etaatsangehärigen. als folhen und
als -Perfonen fchlechthin, zuftehenden und Loftbaren Rechte Ders -
fönliche Freiheit, Sicherheit des EigenthHums und Erwerbs,
Gleichheit vor dem Gefeg und Richter fird zumal die von dem
Bürger eines conftitutionelen Staates in dieſer Eigenſchaft anzufpres .
chenden und unantaftbaren Rechte. Die Treigeit der Gottesver:
ehrung, infofern fie nad) der Berhaffenheit der legten ben pflicht⸗
mäßig zu wahrenden Intereſſen ber Staatögefellfchaft unnachtheilig
it, und die Freiheit der Auswanderung (nad, erfüllten Verbind⸗
Tichkeiten gegen den’&taat und Lie Staatsgenoffen) find Rechte der
Derfon als folher, melde keiner eigentlihen Verleihung . von Seite
des · Staates bedürfen, doch der befondern Anerkennung im conflis
tutionellen Staat fich erfreuen ſollen. Wir merden über die hier an-
Gedeuteten Rechte (zumal über die vielfach mißverftandene „Gleich:
heit” fowohl in Theilnahme an dem Wohlthaten als in Tragung
der Laften des Staatsverbands, und über bie mit ihrem vernünf-
tigen Sinne denndch vereinbarliche, theils blos factifche, theils auch
rechtliche und politifche,'mannicdhfaltige Ungleichheit) in befondern
‚Artikeln bie ausführlichere Lehre aufftellen, und haben es, was bie
„Ausmwanderung” betrifft, ſchon in einem frühern Artikel: gethan.
“ IX, Das Staatsvermögen, als Gefellfchafts: Vermögen, ift,
dem conflitutionellen Syſtem gemäß, das Eigenthbum der Ges
farimtheit,. joch flehend unter der Verwaltung ber Megierung,
welche ihrerſeits der MWolksrepräfentation darüber Rechnung abzulegen
at. Unter dem Staats⸗Vermoͤgen iſt allernaͤchſt die dee Geſellſchaft
„eidatrehtlich zugehörige Domaine begriffen. Aber es gehört
> dazu auch jeder dem Öffentlichen Recht entfließende Zitel der
Sinnahbme Alles Einfommen aus fogenannten Regalien des
Fincus (von welchen freilich das comftitutionelle Syſtem die meiften
verwirft), und insbefondere jenes, welches bie vielnamigen Steuern
„übmerfen, iſt Geſellſchafts⸗Gut, und keineswegs Eigenthum des
Fuͤcſten. Nur was die Domaine betrifft, muß davon unterſchieden
werden das dem Fürften und feinem. Haufe privatrehtlid
zuftehende Gut. In vielen, zumal beutfchen, Staaten ift deffen eine
große Maffe vorhanden, indem wirklich .die. meiften derſelben aus blo⸗
fen Grundherrſchaften, die da durch Erbfchaft, Heirath, Kauf
u. a. privatrechtliche Erwerbungsarten allmälig in das Loos eines Haus
ſes fielen, erwachfen find. Doc ift auch bei dieſen Gütern wenig-
ftens eine Mifchung bes öffentlichen Rechts mit dem Privatrecht
zu erlennen, indem doch offenbar bie zu Lehen erhaltenen Befols
782 Gonftitution.
dungeguͤtter ber ehemaligen Böniglichen Gemwaltsträger die Eigenfchaft
der Altodialgäter vornehmer Grunbbeſitzer oder Dynaſten fichers
ih nicht an fi tragen, und indem beibe Arten des Befitzthums
nah undeſtrittenem, biftorifhem Recht zugleich als naͤchſtes Dek⸗
fungsmitter der dffentiihen Beduͤrfniſſe vorlängft betrachtet
und behande wurden. Dazu kommt aber ‚weiter, daß gar viele Er⸗
merbungen rein nah äffentlihem Recht, z. B. duch Kricg,
Friedensſchluß, Seculariſation u. fe w., oder auch aus den Mitteln
der Geſammthe«t gemadht, und in ber Regel nicht nad) dem
Geſetzen der Privat-Erbfolge, fondern nad) den: Beltimmungen
von Staatd-Grundgelegen vererbt morden find. Das conftis
tutionelle Syſtem, deſſen SPprincipien auf flrenger Rechtsachtung bes
ruhen, iſt weit davon entfernt, das wahrhafte Privatgut der regies
renden Häufer für das Volk in Anfpruc zu nehmen; aber ed nimmt
auch die Rechte des legten in Schug, und — da, bei der Dunkelheit,
welche auf den urfprünglichen Exmwerbstiteln, zumal der alten Dos
mainen, ruht, und bei der fo ange augedauerten heillofen Vermi⸗
{hung und Verwechslung des oͤffentlichen mit dem Privatrecht, es
kaum irgendwo nod möglich ift, eine genaue, auf beflimmtes und
evidentes Recht geftügte Sonderung ober Abtheilung ber unter dem
gemeinſchaftlichen Namen der Domaine begriffenen zmeierlei, von eins
ander weſentlich verfchiedenen Claffen von Gütern zu machen;
— fo empfiehlt es die mittelft Vergleichs gu bewirkende gücliche
und billige Ausfcheibung enir:der einer Anzahl beftimmter Ss,
ter oder einer entfprechenden Quote ber gefammten Domaine für
die VBefriebigung der Haus: Anfprühe, wonach dann das Webrige
der Geſellſchaft als reines Geſammtgut zufiele. Wo ein folches
noch nicht gefchehen, da nimmt unfer Syſtem wenigſtens bei Feſt⸗
ſetzung ber Civilliſte auf die gemijchte Medytseigenfhaft der Domaine
die billigfte Ruͤckſicht, d. h. will ihr Maß um fo plendider beſtimmt
wiffen, als, nad) den obmwaltenden bijtorifchen Rechtsverhaͤltniſſen,
das in der Domaine enthaltene wahre, d. h. privatrechtliche, fuͤrſtliche
Hausgut muthmaßlich oder moahrfcheinlich ein größeres ift. Uebrigens
ift dem "conftitutionellen Princip auch alldort, wo gar fein oder nur
ein geringes Hausgut anzunehmen fein follte, ‚die Auswerfung einer
reihlihen (nur freilich die Volkskraͤfte nicht uͤberſteigenden) Ci⸗
villifte angemeffen, aus Gründen, bie.in bem Art. Civillifte ans
gegeben find. &
X. Das conftitutionelle Syſtem, in Erwägung, daß einerfeits
die Stellung eines Volkes gegenüber von Machthabern, welche ganz
unverantwortlidh, d. h. lediglich Gott oder ihrem Gewiſſen für
au the Thun und Laffen verantmwortiid find, eine wahrhaft recht⸗
lofe, d. b. dem guten oder böfen Willen, dem augenblicklichen
Ermeffen oder der Laune ihrer Herren preisgegebene, und daß ander
feits die DVerantroortlichkeit des Regenten unvereinbarlid mit dem mon»
archiſchen Princip, auch jedenfalls manderlei Gefahren, na
Ä Eonftitutin ‘78?
mentlid eine dringende Verſuchung, ſich duch factifche Gewalt ber
Verantwortiichkeit zu entziehen, mit fich führend ift, ſtellt als Ariom
ober als Poftulat den Sag auf: „Der König kann nichtE Angerech⸗
tes wollen; wena alfo irgend etwas Ungerechtes gefchieht, d. h. von
Seite ber Regierung gethan ober verordnet wird, fo Fut nicht ber
König felbit ed gewollt, fondern feine Rathgeker ‘oder Ge⸗
mwaltsträger find davon die Urheber geweſen.“ Auf biefe legten
‚cifo fällt die Werantiwortlichkeit, und es hat bie Vollsrepräfentation
das Recht, biefelbe vor eigens dafür aufgeftellter Gerichten geltend zu
machen. Es ift leicht einzufehen, daß ohne Nefed bie ganze Repraͤſen⸗
tativ- Verfaffung, d. h. überhaupt ber Rechts⸗Staſat, zum bloßen
Schaf oder Traumbild wird, und baf, was die beſt verwahrten Ure
kunden, Betheurungn und Beeibigangen ficherftellen ſollen, abhaͤn⸗
gig bleibt von der fluͤchtigſten abſolutiſtiſchen Laune oder auch von
„den egoiſtiſchen Tendenzen der — zumal etwa das Intereſſe einer
‚ Kafte verfolgenden — Miniſter. Nach dem conſtitutionellen Syſtem
aber ſoll kein Willensact des Koͤnigs in Erfuͤllung gehen, wenn nicht ein
verantwortlicher Miniſter darch ſeine Unterſchrift des Befehles dafuͤr ein⸗
ſteht, daß derſelbe ein verfaſſungsmaͤßiger und aufs Gemeinwohl gerichte⸗
ter ſei. Befehle, welche ſolche Eigenſchaft nicht haben, werden alſo ohne
miniſterielle Unterſchrift, mithin ohne Guͤltigkeit oder Vollziehbarkeit bleiben,
und die Gegenvorſtellungen der wegen der Ausſicht auf Verantwortlich⸗
keit auf dem Wege ed Rechtes verharrenden Miniſter werden den Koͤ⸗
nig von jedem — irrthuͤmlichen — Beginnen abhalten, oder auch, es
Sird jene Ausficht Ihnen den Muth zu fchlechten Rathfchlägen benehs
men. Die Regulirung biefer Miniſter⸗ (oder überhaupt Staatsdieners)
Verantwortlichleit gegenüber ber Volksrepraͤſentation ift übrigens, im
Bezug auf ein der dee und dem Endzweck entfprechende Verwirkli⸗
hung, einer der fchwierigften Punkte im conflitutionellen Syſtem, fo«
wohl was bie gergliche Beſtimmung ber Fälle, worin Anklage ftattfin,
ben foll, als was die Bildung des Gerichtshofes, die Form des Ver⸗
fahrens und das Strafmaß betrifft. Wir reden davon ausführlicher im
einem eigenen Artikel. — |
Das conftitntionelle Spftem in feinee Allgemeinheit, naͤmlich
überhaupt als „grundgefegliche Regulirung ber MWechfelmirkung ber Me«
gierenden und Regierten zum Zweck ber thunlichſt und beharrlichſt zu
verwitklichenden Derrfchaft des wahren Geſammtwillens“, hat auf aris
ſtokratiſch und demokratiſch regierte Staaten nicht weniger
Anwendung als auf monarchiſche, nur daß freilich die verſchiedene Nas
tur dieſer drei Megierungsformen hier und bort audy eine entfprechenb
verfchiedene Beſtimmung mehrerer Punkte bes Syſtems nöthig oder
säthlih madt. So genießen 3. B. die Mitglieder einer ariſt okra⸗
tifhen Regierung (ſei e8 Geburtss, fei es Standes⸗ ober Alters—⸗
‚oder Wahl: Ariftokratie) das Privilegium der perfönlihen Unvers
antwortlichkeit, welches ndmlid nur bei dem Monarchen flatt
findet, nicht. Ebenfo findet auf fie, wiewohl fie Befoldungen ober
784 Conſtitution.
andere Einkünfte beziehen mögen, der Begriff bee Chvilliſte keine
Anwindung- u. f. m. Uebrigens ijt freilich bie ariſtokratiſche Regie⸗
rungsfom dem reinen conftitutionellen Syſtem minder befreundet als
jede andew, weil fie fchon nad ihrem Begriff eine Ungleichheit
unter den Staatsgenoſſen flatuirt, während jenes Syſtem die Gleich⸗
heit fordert. Wenn jedoch die Ungleichheit befchränke hleibt auf po-
litiſches Red, d.h. auf Regierungsfähigkeit, und das Volk
in allen bürgeriihen Rechten den Regierungsgliebern gleichgeftekt,
‚auch gegenüber von Aeren Gefammtheit in lebenskräftiger Repraͤſenta—
tion auftretend und mit allen jenen echten ausgeftattet ift, die das
Eyftem für die Volfövertresung überhaupt gegenüber der Regierung in
Anfprudy nimmt: fo erfhelnt deſſelben Rechtszuftand jenem des zegen⸗
über einer monarhifchen Regierung lebengkräftig vertretenen in der
Weſenheit ziemlich gleich, dee Unterfchied nämlich nur in der. Perſo⸗
nification der Regierung, nicht aber in dem Umfang ihrer Gewalt over
in deren DVerhältnig zur Volks-Gewalt vorhanden.
Mas nun die demokratiſche, d. h. die Idee ber Volksſouve⸗
tainetät auch in der Außern Form oder in ker Perfonification der Re⸗
gierungsgeralt verkiindende Verfaſſung betrifft. fo ſtellt diefeibe eben
hierdurch als ihre allernächften Principien bie Herrſchaft bes Geſa mimt⸗
willens und die Rechtsgleichheit Unter den Staatsangehörigen,
welhe aud) die Grundprincipien des allgemeinen conftitutionellen
Enftems find, auf, und erfcheint fonady infofeın von ihm nicht ver |
fchieden. Aber aud in Bezug auf das dritte Princip, Verwirkli⸗
hung der dem wahren, d. h. vernünftigen Gefammtrwillen ſorch
dauernd zu fichernden Herrſchaft durch ein wohlgeregetes Zuſam⸗
menwirken ımd Wechſelwirken eined fünfttichen und eines
natürlihen Organes der Sefammtheit, kann ud foll die De:
mofratie gleih der Monarchie und Ariftokratie dem conftitutionellen
Enfteme huldigen. Nur befteht dabei zwifchen diefn und jener der
Unterfchied, daß dort das kuͤnſtliche, hier abe: das natürliche
Drgan in der Erſcheinung vorherrfhend und aud mit der Haupts
gemalt ausgeftattet, und hingegen dort die controlirende oder
befhräntende Macht dem natürlichen, hier aber dem Fünft
lichen anvertraut iſt. Sowie nämlidy die monarchiſche odır die aris
ftofratifche Regierung, wenn fie nicht abſolutiſtiſch fein follen, eine na⸗
türlihe und lautere Volksrepräfentation (oder in ganz Kleinen
Staaten die Kandesgemeinde) fidy gegenüber haben muͤſſen, ausoerujtet
mit der Macht, die etwaigen Abirrungen des Regierungswillens von
dem wahren Gefammtwillen durch ihre rechtöfräftige Einfprade oder
duch das Recht der Theilnahme an der Belchlußfaffung zu heilen
oder zu verhüten:: -alfo muß auch die demokratiſche Regierung,
fol fie nicht in den gefährlichften — den Rechtszuſtand aller Einzelnen
gegenüber der Gefammtheit ober deren jeweiligen Mehrheit aufheben—
den — Defpotismug oder gar in ochlokratiſches Verderbniß
übergeben, fich durch Aufftellung von kuͤnſtlichen Drganen, in
N
Conſtitution. 785
der Perſon etwa eines kleinen Rathes, dann eines Praͤſiden⸗
ten und anderer, mit Achtung gebietender Autoritaͤt verſehener, Ma⸗
giſtrate, in ihrer eigenen Machtfuͤlle beſchraͤnken, überhaupt durch
weiſe geregelte Formen der Beſchlußfaſſungen oder durch geſetzte Be⸗
dingungen von deren Guͤltigkeit verhuͤten, daß nicht durch den un⸗
ſtaͤten, oft durch Bethoͤrung oder Leidenſchaft oder Uebereilung unlau⸗
tern Willen einer augenblicklichen Mehrheit Geſetz und Recht verletzt,
dem Gemeinwohl oder dem Intereſſe der nachfolgenden Geſchlechter
Nachtheil oder Gefahr bereitet, uͤberhaupt der wahre, d. h. vernuͤnftige
Geſammtwille durch einen blos ſcheinbaren und unlautern unterdruͤckt werde.
Es laͤßt ſich, wenn wir dieſe Betrachtung fortfuͤhren, vielleicht ein
Punkt oder eine Linie auffinden, wo die ſich in Namen und aͤußerer
Erſcheinung entgegengeſetzten Verfaſſungen, naͤmlich Monarchie und
Demokratie, durch weiſe Anwendung des conſtitutionellen Syſtems be⸗
freundet, zuſammentraͤfen, und wirklich nur noch außerweſentliche,
durchaus aber keine weſentlichen Unterſchiede mehr darboͤten. Wenn
die monarchiſche Gewalt durch die vom Volk fuͤr ſich ſelbſt vor⸗
behaltenen — oder ſage man durch die vom König ihm verlie⸗
‚ benen oder bewilligten — Rechte. dermaßen controlirt und
beſchraͤnkt würde, daß fie nur um Weniges mehr in fi, enthielte,
als die Klugheit raͤth, einem Präfidenten oder wie Immer benannten
Haupt einer demokratiſchen Republil zu übertragen, fo würde
bier und dort ein ganz aͤhnliches Gleichgewicht ber Gewalten
hergeftellt, demnady hier und dort ber Geift des conftitutionellen Sys
flems zu erkennen fein. Man fage nicht, daß mir durch ſolche annaͤ⸗
hernde Steichitellung eines Monarchen mit einem republifanifchen
Dräfidenten die Majeſtaͤt des erften herabzichen oder dem monars
hifhen Princip Eintrag hun! Für den Monarchen bleibt noch ims
mer durch feine Heiligkeit und Unverantmwortlichkeit, fobann
in der Regel duch bie Erblichkeit und duch ben weit größern
Glanz und Reihthum, ber ihn umgibt, Auszeichnendes genug
übrig. Und dann. wollen wie durch unfere Theorie keineswegs dem
Monarchen irgend etwas don dem entziehen, mas das conftitutionelle
Syſtem für ihn fordert oder zuläßt, fondern wir wollen auch die oberfte
Magiftratsperfon einer demokratiſchen Republik mit einer ber
Gewalt des conftitutionellen Monarchen ähnlihen Gewalt
ausgerüftet fehen. Unfere Lehse alfo legt wohl bem legten etwas bei,
entzieht aber dem eriten nichte. Im einer ariftofratifchen Mes
publik dagegen geftaltet fi) die Sache anders. Hier darf naͤmlich nad)
unferem Syſtem die gefammte ariftofratifch gebildete Megierung,
den Präfidenten mit einbegriffen, nit mehr Gewalt bes
figen, als wir in der Monarchie dem König oder in der Demos
kratie dem gewählten Chef (überhaupt dem fünftlichen Organ oder
Magiftrat) gegenüber dem Volke .eingeräumt oder ertheilt wiſſen wollen.
Bon bdiefer, die allgemeine Anmendbarkeit des conftitutionellen
Spflems andeutenden Bemerkung ehren wir zurüd zur conftitutios
GStaats⸗Lexikon III. 50
786 Gonftitution;
nellen Monarchie, welche jedenfalls für uns ber Hauptgegenftanb
der Betrachtung und überhaupt für Europa zur Zeit nody das Los
fungsmwort dee — von unpraktiſchen Zräumerelen wie von gefährlichen
Uebertreibungen ſich fernhaltenden — Freiheitsfreunde ift. Freilich mehrt
ſich — in Folge der betrübenden Ereigniffe der legten zwanzig Jahre —
alitägli und auf zwei entgegengefegten Seiten bie Zahl derjenigen,
welche entweder das monachifche Princip für unverträglih mit
der lebenskraͤftigen Volksvertretung, oder aber die Volksvertretung ge⸗
genuͤber dem monarchiſchen Princip fuͤr bloße Taͤuſchung halten.
Aber beide dieſe Meinungen fuͤhren nothwendig zu der troſtloſen Alter⸗
native, entweder dem Abfolutismus oder der wilden Revolution
ſich in die Arme zu werfen, d. h. entweder die fchrankeniofe Will
für des Einen ober bie rohe Gewalt der Maffen an bie Stelle
des geficherten Rehtszuftandes treten zu laſſen. Moͤchten die
Staatenlenker ja die Meinung nicht auflommen Laffen, es fei die Mon⸗
archie oder das monachifhe Princip unverträgiih mit
Volksvertretung! Es wäre daſſelbe alsdann ja unvertraͤglich
mit dem wahren Rechtszuſtande, folglich ſelbſt nicht ruhend auf
dem Boden des Rechtes. Und möchten die Freiheitsfreunde nicht
alzufrühe die Hoffnung aufgeben, au unter monarchiſchen %ors
men ihre hohe dee verwirktihen zu Binnen! Sie würden, wenn fie:
biefes thäten, dem flurmbewegten Meere der Revolution, dem uns
gewiffen Erfolge der Parteitämpfe, dem naturgemäß auf anarchis
he Gährung folgenden foldatifhen Defpotismus ihr Heilig⸗
thum überantworten. . Wir fagen mit Inniger Ueberzeugung : das cons
ftitutionelle Syſtem, in friner Reinheit aufgefaßt und mit Treue bes
folgt, ift dem Throne wie den Völkern das ficherfte, nad) der heutigen
Weltlage vielleicht das einzige Mittel des Heiles. Schon Englanb
zeigt deutlichft, ja bhandgreiflichft, daß ein conftitutioneller König gegen⸗
über einer flarfen Wolfsvertretung gleichwohl angethan mit Glanz und
Majeftät, heilig und unverletzlich und allen Stürmen perfönlich uners
reihbar, und daß eine gute Volksvertretung auch gegenüber der freiges
bigft ausgemeſſenen Eöniglichen Prärogative ihre das Volksrecht und
das Gemeinwohl wahrende Stellung behaupten koͤnne. Und unter
ben deutſchen conftitutionellen Staaten genügt e&, Baden anzus
führen, welches gerade in dem Jahr 1831, da feine Eonflitution ale
Wahrheit erfhien, das ſchoͤnſte Beiſpiel von inniger Anhänglichkeit
des Volkes an feinen Furften, wie von der durch harmoniſches Zufams
menwirken der Regierung und der Volksrepraͤſentation herrlich beförs
derten Öffentlihen Wohlfahrt darbot. Es ift alfo niht wahr, daß
von zwei nebeneinander fichenden Gemwalten bie eine nothwendig die
andere überflügeln und daher in der conftitutionellen Monarchie entwe⸗
der die Eönigliche oder die parlamentarifhe Macht im Streit unterlies
gen und zur bloßen Scheinmadt herabſinken müffe. Wahr if’, ber
conftitutionelle König wird fid) in der Nothwendigkeit fehen, dem be⸗
barrlihen Verlangen ber Nation, d. h. der unter den wahlbe,
Gonflitution. 787
rechtigten Bürgern vorherrſchenden Sffentlihen Meinung, ſich endlich
zu fügen, wenn alle conftitutionellen Mittel des Widerſtandes fruchtlos
erfchöpft wurden. Aber ift denn biefes wirklich ein Unheil? Soll denn
wirklich bie Willensmeinung eines Mannes, die möglicher Weife durch
. felbfteigene Befangenheit oder die duch fchlimme Rathſchlaͤge herrfchs
füchtiger Minifter oder ‘einer volksfeindlichen Samarilla zum Schlimmen
gelenkte Richtung eines Sterblihen mehr gelten, als der laute Ruf
einer ganzen Nation, d. h. des zur politifhen Wirkſamkeit berufenen
und fonady für politifh mündig erklärten Theiles ber Nas
tion? Iſt es nicht vielmehr eine wahre Wohlthat für den König,
wenn er duch folhen — megen ber felbfteigenen Betheiligung
der Rufenden .an dem Öffentlihen Wohl völlig zuverläffigen —
Ruf. belehrt wird über die Verwerflichkeit der von feinen Miniftern
eingefchlagenen Richtung ?
Freilich! wenn etwa durch bie Fehler des Wahlgefeges die Volkes
repräfentation aus Männern ohne Bürgfhaft und politifche Bildung
oder aud) aus leidenſchaftlichen Parteimenfhen zufammengefegt wird,
oder wenn, in Folge einer durch lange erdulbeten Druck hervorgebrachs
ten Aufreizung, die erbitterte Stimmung des Volles auch feinen Vers
tretern fich mittheilt, oder wenn die Wahrnehmung einer geheimen oder
offenen Anfeindung der Conftitution von Seite ber Machthaber oder
ihrer Vertrauten bie patriotifhen Gemüther aufcegt und auf bem Mege
der Mäßigung und des Friedens feine Hoffnung mehr erfchaut wird,
das Volksrecht zu wahren und das Gemeinwohl zu fchirmen, ober end»
lih wenn der Inhalt der der Volksvertretung durch die Conſtitution
verliehenen Rechte das wohlthätige Gleichgewicht aufhebt und zum
Mißbrauch einladet: als dann mögen aus ſolchen Verhältniffen, zumal
für einen ſchwachen, ſchlechtberathenen Thron, mancherlei Gefahren her⸗
vorgehen. Doc iſt es in ſolchen Faͤllen nicht unfer conſtitutio⸗
nelles Syſtem und nicht die Volksvertretung an ſich, melde
ſie erzeugten, ſondern vielmehr nur die begangenen Abweichungen
von jenem Syſtem oder ber Gegenfas deſſelben (eine Gewalt, wie
jene des National⸗Convents in Frankreich war, ift der furcht⸗
barfte Abfolutismus, nicht aber eine echt conftitutionelle
Autorität) und größtentheils ſolche Sünden der Regierung felbft, wos
für auch ohne Gonftitution,. ja in abfoluren Staaten am häufigften, bie.
natürliche Beſtrafung eintritt. Ja es bietet das conftitutionelle
Princip fogar noch in ben troftlofeften Fällen manche Heilmits
tel dar, welche dem abfoluten Staate unzugänglich find; es verhütet
ober mildert die Ausbrühe der Leidenfhaft und der Gefeblofigs
keit, welchen fonft ein gedrüdtes, zur Verzweiflung gebrachtes Volk
fi) bingeben würde. — Aber aud eine andere Verberbniß bes cons
flitutionellen Zuftandes durch Verfaͤlſchung oder Unterdrüdung der we⸗
fentlichfien Principien des Syſtems Tann flattfinden, db. h. von ber
entgegengefegten Sette kommen. Sollte nämlich die Regie⸗
sung eines conftitutionellen Staates, anflatt mit Aufeigtigtet und
%
188 ° Gonflitution.
Liebe ihre Hand der Wollövertretung zu bieten und ein redliche® Zus
ſammenwirken mit echten NationalsRepräfentanten zum ſchoͤnen
Zwecke des Volksgluͤcks dem eitten Genuſſe einer abfolutiftiihen Macht⸗
fülfe vorzuziehen, dieſe letzte um jeben Preis wieder zu erringen fire
ben; follte fie daher alernächft auf die Wahl der Volfsrepräfentanten
einen ungefeglihen und dem Hauptprincip ber Conſtitution — naͤmlich
der Darftellung einer wahren und lautern Repräfentation mittelft
freier Wahl — weſentlich twiderftreitenden Einflug — durch Beſte⸗
hung, Einfhüchterung oder gar offene Gewalt — ausguüben fuchen 5
follte fie den freifinnigen Mitgliedern der Kammern nicht nur mit Uns»
gunft (mas wohl zu verfchmerzen wäre), fonbern mit pefitiver Vers
folgung und Rehtsverfümmerung broben, und bagegen den
Abtrünnigen von bee Volksſache verführerifche Belohnungen an Geld,
Ehre und Gewalt für ihre eigene Perfon oder für ihre Angehörigen
verheißenz ſollte fie, obwohl der Zuflimmung einer ſervilen Majoritaͤt
durch folhe Mittel gewiß, dennoch, auch das bloße Wort der freifin»
nigen Minortität ober irgend eines einzelnen, ber Volksſache noch
teew gebliebenen Kämpfers fcheuend, bie Publicitaͤt der Verhandlun⸗
gen ganz oder theilmeife aufheben und auch jede freie Stimme, die aus
der Mitte des Volkes ertönen möchte, gewaltfam unterdrüden ; follte
fie überall zu ihren Gemwaltsträgern und auch zu Richtern vors
zugeweife nur anerkannte Volksfeinde oder anticonſtitutionell Gefinnte
ernennen, bie in der Conftitution zugefagte Berantwortlichkeit
ber Mintfter duch Nichtvorlage ber zu ihrer Verwirklichung nöthis
gen Gefege ober buch zur Sicherung der Strafloſigkeit kuͤnſtlich er⸗
fonnene Formen zum bloßen Schalle mahen und bis in den Schooß
‚bee Gemeinden und der Familien das Syſtem der Ausfpähung
und der wider die GConftitutions = Freunde gerichteten Ungunft verfol:
gen — ohne Unterfhieb ob aus felbfleigener, freigenommener Rich⸗
tung oder einem übermädhtigen auswärtigen Einfluß gehorchend:
— alsdann freilich wuͤrde die Gonftitution zum bloßen Gautelfpiel,
ja zu graufamer Taͤuſchung werden und meit heillofer ald der nadte
Abſolutismus — weil den Druck mit der vorgefpiegelten Zuftims
mung der Volksvertreter bemäntelnd, daher beffen Ucheber der Verant⸗
wortung entziehend und zur ſchwerſten Rechtskraͤnkung noch den Hohn
gefellend — fein. Allein auch ein ſolche Regierungsſyſtem waͤre
fein conflitutionelles, d. h. es widerſpraͤche den weſentlichſten
Forderungen des letzten und koͤnnte daher auch nicht als Argument ge⸗
gen deſſelben Güte gebraucht werden 9). —
1) Es ſei und erlaubt, hier eine beherzigenswerthe Stelle aus v. Aretin’s
„Staatsrecht ber conftitutionellen Monarchie in einer Note mitzutheilen. ie
bet ih in B. I, ©. 1283. 129 und ift auf. feiner eigenen — ber demagogi⸗
dyen oder revolutionairen Tendenz noch von Niemand befcyuldigten — Feder
oefloffen und lautet allo :
„Cs konnnt In der That in manchen Ländern noch fo welt, daß man ſich
J
Gonftitution. 789
Die europäifche Welt erfcheine wirklich getheilt nicht nur in
eonftitutionelle und nicht eonftitutionelle, d. h. abfolus.
tiffifhe, Staaten (zu bern legten — außer ber Türkei und
dem factifh um feine Berfaffung gelommenen neugriechiſchen
Staat — Rußland, Defterreih und Preußen, febann bie:
ttalifhen und noch ein Heiner Theil der beutfhen Staaten gehoͤ⸗
ren, während — abgefehen von der republilanifhen Schweiz; —
England, Frankreich, das geboppelte Niederland, der weitaus
groͤßte Theil Deurfhlande (mit Ausfhiuß Defterreihs und Preus
fens), fodann bie ſkandinaviſchen Staaten und allermeift auch
Epanien und Portugal dem conftitutionetlen Syſtem hule
digen), fondern auch in bie conftitutionelle und anttconfiitur
stonelle Befinnung. Auf beiden Eeiten — bies erkennen wir
gerne an — befinden ſich Ehrenmänner, auf beiden Seiten aber auch
mancherlei Verfchtedenheit und Abflufung na Motiven und Innigkeit.
Es ift von Sintereffe, darauf einen überfhauenden Blick zu werfen. -
Die conftitutionelle Gefinnung befteht in Staaten, wel
che ber Gonftitution noch entbehren, in bem Berlangen und Streben
nad) ihrer Einführung, Im Staaten, welche bereits foldyer Einfühe
sung fich erfreuen, in der auf Behauptung und Erhaltung bers
felben in Kraft und Reinheit gerichteten Beſtrebung. Die antis
conftitutionelle Geſinnung ift dee Gegenfas der conftitutionels
len; fie will nämlich nicht, daß eine Gonflitution eingeführt werde, wo
fie aber bereits eingeführt Hi, da ſtrebt fie nach deren Entkraͤftung
oder Abfhaffung. .
In beiden Heerlagern jedoch finden fi) Streiter von fehr vers
fhiedenen Farben. Es verlohnt ſich der Mühe, fie etwas ges
nauer zu betrachten.
vertbeidigen muß, wenn man ber beſchworenen vom Mona ſelbſt eingefüpsten
GSonftitution anhängt. Hieran haben meiſtens die Dinifter bie Schuld... .. .
„Solche Minifter zeigen durch ihre Berfolgung der Gonftitutfonellen, daß
& ben Monardhen, der die Eonftitution eingeführt hat, haſſen und verachten.
ndem fie ihm den Rath geben, diefe von ihm felbft eingeführte Verfaſſung ve
brechen, laffen fie ihn gleichfam Folgendes zu feinem Volke fagen: „„ich ba
euch eine Verfaffung gegeben, um ben Schreiern ben Mund zu flopfen und well
es für den Staatscredit, für bie Finanzen erfprießlich war, auch für bie pfife
figen Minifter nicht gefährlich ſchien. Run fehe ich aber, daß es euch einfällt,
Ernft daraus machen zu wollm. Dadurch wirb meinen Umgebungen, ben Mi⸗
wiftern und ihren guten Freunden zu viele Gewalt, zu viele kebensannehmlichkeit
entzogen. Umſtoßen will ich die Verfaſſung nicht fogleih, ſondern lieber nodg '
warten, bis die politifchen Verhaͤltniſſe diefes Unternehmen ganz gefahrlos mas
den. Es bleibt mir alfo für jest nichte Anderes übrig, ats die Verfaffung
heimlich und allmälig zu untergraben. Diejenigen von euch, bie fo dumm find,
den Verfaffungserd zu ehren, verdienen als Schwachkoͤpfe verftoßen zu werden,
nur die find geſcheute Menfchen unb meine wahren Freunde, bie, fern von Fins
difher Gewi enhaftigerit ‚ meinen Miniftern zur Wiedererlangung ber vorigen
Willkür verhelfen. Nur für ſolche find die Belohnungen und Auszeichnungen
bes Staats, bie Uebrigen mögen ſehen, wie weit fie es bringen mit ihrer ein⸗
fältigen Shrlichlelt 1" — Go weit bes Freiherr u Aretin. —
%
: 182 Gonftitution.
bungsgüter ber ehemaligen koͤniglichen Gewaltstraͤger die Eigenſchaft
der Altodialgäter vornehmer Grunbbefiger oder Dpnaften ſicher⸗
ih nicht an fih tragen, und indem beide Arten bes Befitzthums
nad unseftrittenem, biftorifhem Recht zugleich als naͤchſtes Det:
fungsmittei der sffentiihen Beduͤrfniſſe vorlängft betrachtet
und behandelt wurden. Dazu kommt aber weiter, daß gar viele Er⸗
werbungen rein nah oͤffentlichem Recht, z. DB. buch Krirg,
Friedensſchluß, Seculariſation u. f. w., oder aud aus den Mitteln
der Geſammtheit gemacht, und in der Regel nicht nad den
Sefegen der Privat-Erbfolge, fondern nad) den. Beilimmungen
von Staatd:-Grundgefegen vererbt worden find. Das conflis
tutionelle Syſtem, deſſen Principien auf flrenger Rechtsachtung .bes
ruhen, iſt weit davon entfernt, das mwahrhafte Privargut der regies
enden Häufer für das Volk in Anfprudy zu nehmen; aber ed nimmt
aud die Rechte des legten in Schug, und — da, bei der Dunkelheit,
welche auf den urfprünglihen Ecwerbstiteln, zumal der alten Dos
mainen, ruht, und bei der fo lange angedauerten heillofen Vermi⸗
[hung und Berwechslung des öffentlichen mit dem Privatrecht, es
kaum irgendwo noch möglih ift, eine genaue, auf beflimmtes und
evidentes Recht geftüste Sonderung oder Abtheilung der unter dem
gemeinfchaftlihen Namen dee Domaine begriffenen zweierlei, von ein«
ander weſentlich verfchiedenen Glaffen von Gütern zu machen;
— fo empfiehlt e8 die mittelft Vergleich gu bewirkende gütliche
und billige Ausfcheidung entrzder einer Anzahl beftimmter Gü-
ter oder einer entfprechenden Quote ber gefammten Domaine für
die Befriedigung der Haus: Anfprühe, monad dann das Uebrige
ber Geſellſchaft als reines Gefammtgut zufiele. Wo ein folches
nody nicht gefchehen, da nimmt unfer Spftem wenigftens bei Heft:
fesung der Civilliſte auf die gemijchte Rechtseigenſhaft der Domaine
die billigfte Ruͤckſicht, d. h. will ihr Mag um. fo. fplendider beftimmt
wiffen, als, nad ben obwaltenden hiſtoriſchen Rechtsverhättniffen,
Das in der Domaine enthaltene wahre, d. h. privatrechtliche, fürftliche
Hausgut muthmaßlid oder wahrſcheinlich ein größeres if. Uebrigens
ift dem "conftitutionellen Princip auch alldort, wo gar fein oder nur
ein geringes Hausgut anzunehmen fein follte, -die Auswerfung ainer
reihlihen (nur freilich die Volkskraͤfte nicht überfleigenden)- Gis
villifte angemeffen, aus Gründen, die in dem Art. Civilliſte ans
gegeben find. Ä ‘
X. Das conftitutionelfe Syſtem, in Erwaͤgung, bag einerfeits
die Stellung eines Volkes gegenüber von Machthabern, welche ganz
unverantwortlich, d. h. lediglich Gott. oder ihrem Gewiſſen für
alt ihr Thun und Laffen verantwortlidh find, eine wahrhaft rechte
Lofe, d. h. dem guten oder böfen Willen, dem augenblicklichen
Ermefien oder der Laune ihrer Herren preisgegebene, und daß ander.
feits die. Verantroortlichkeit des Regenten unvereinbarlicd mit dem mon⸗
achifhen Princip, aud jedenfalls mancherlei Gefahren, na
-
Ä Eonftitution. | 783
mentlich eine dringende Verſuchung, ſich duch factifche Gewalt ber
Verantwortlichkeit zu entziehen, mit fich führend ift, ſtellt als Axiom
oder als Poftulat den Sag auf: „Der König fann nichts Ungeredh-
tes wollen; wenn alfo irgend etwas Ungerechtes gefchieht, d. b. von
Seite der Regierung gethan ober verordnet wird, fo Put nicht der
König felbit es gewollt, fondern feine Rathgerer. oder Ge-
waltsträger find davon die Urheber geweſen.“ Auf biefe Testen
‚eifo fällt die Verantwortlichkeit, und es hat bie Volksrepraͤſentation
das Mecht, biefelbe vor eigens dafür aufgeftellter Berichten geltend zu
machen. Es ift leicht einzufehen, daß ohne mefed bie ganze Repraͤſen⸗
tativ= Verfaffung, d. h. überhaupt der Rechts⸗Staat, zum bloßen
Schal oder Traumbild wird, und das, mas die beſt verwahrten Ure
tunten, Betheurungn und Beeidigangen ficherfiellen follen, abhäne
gig bleibt von der flüchtigften abfolutiftifhen Laune oder auch von
‚den egoiftifhen Zendenzen der — zumal etwa das Intereſſe einer
Kafte verfolgenden — Miniſter. Nach dem conflitutionellen Syſtem
aber foll fein Wilfensact des Könige im Erfüllung gehen, wenn nicht ein
verantwortlicher Miniſter darch feine Unterfchrift des Befehles dafür eins
fteht, daß berfelbe ein vefaffungsmäßiger und aufs Gemeinwohl gerichter
ter fei. Befehle, welche ſolche Eigenfchaft nicht haben, werben alfo ohne
minifterielle Unterfcheift, mithin ohne Guͤltigkeit ober Vollziehbarkeit bleiben,
und die Gegenvorftellungen der megen der Ausſicht auf Verantwortlich,
keit auf dem Wege 8 Nechtes verharrenden Miniſter werden den Ks
nig von jedem — irrthuͤmlichen — Beginnen abhalten, ober auch, es
iird jene Ausficht ihnen ben Muth zu fchlehten Rathfchlägen beneh⸗
men. Die Regulirung biefer Minifter» (oder überhaupt Staatsdieners)
Verantwortlihleit gegenüber ber Wollsrepräfentation iſt übrigens, in
Bezug auf ein der dee und dem Endzweck entfprechende Verwirkli⸗
hung, einer der fchwierigften Punkte im conflitutionellen Syftem, fo«
wohl was die gergliche Beſtimmung ber Fälle, worin Anklage ſtattfin⸗
ben foll, ale was die Bildung bed Gerichtshofes, die Korm des Ver⸗
fahrens und das Strafmap betrifft. Wir reden bavon ausführlicher im
einem eigenen Artikel. —
Das conftitutionelle Spftem in feiner Allgemeinheit, naͤmlich
Aberhaupt als „grundgefegliche Negulirung der Wechfelwirtung ber Mes
gierenden und Regierten zum Zweck ber thunlichſt und beharrlichft zu
verrirkichenden Herrſchaft des wahren Geſammtwillens“, bat auf aris
ftofratifh und demokratiſch regierte Staaten nicht weniger
Anwendung ald auf monarchiſche, nur baß freilich die verfchiedene Nas
tur dirfer drei Megierungsformen bier und bort auch eine entfprechend
verfchiedene Beſtimmung mehrerer Punkte bes Syſtems nöthig oder
raͤthlich macht. So genießen 3. B. die Mitglieder einer ariſt okra⸗
tifhen Regierung (fei es Geburtss, fei es Standes⸗ ober Alters
oder Wahl: Ariftofratie) das Privileggum ber perfönlihen Unver-
antwortlichfeit, welches nämlich nur bei dem Monarchen flatt-
findet, nicht. Ebenfo findet auf fie, wiewohl fie Befoldungen oder
84 . Conftitution.
andere Einkünfte bezichen mögen, der Begriff der Civilliſte keine
Anwendung- u. f. w. Uebrigens iſt freilich die ariftoßratiihe Regie⸗
rungsfom dem reinen conſtitutionellen Syſtem mirder befreundet als
jede andene, weil fie ſchon nach ihrem Begriff eine Ungleichh eit
unter den Staatsgenoſſen ſtatuirt, waͤhrend jenes Syſtem die Gleich⸗
heit fordert. Wenn jedoch bie Ungleichheit beſchraͤnkt Yleibt auf p o⸗
litiſches Red, d. 5. auf Regierungsfähigkeit, und das Volk
in allen bürgeriihen Rechten den Regierungsgliedern gleichgeftekt,
‚auch gegenüber von Aeren Gefammtheit in lebenskraͤftiger Repräfentn:
tion auftretend und mit allen jenen Mechten ausgeftattet ift, die das
Syſtem für die Volksvertreiung überhaupt gegenüber der Regierung in
Anſpruch nimmt: fo erſcheint deſſelben Rechtszuftand jenem bes gegens
über einer monarhifchen Regierung lebenskräftig vertretenen in der
Mefenheit ziemlicy gleich, dee Unterſchied nämlich nur in der: Perfos
nification der Negierung, nicht aber in dem Umfang ihrer Gewalt orer
in deren Verhältniß zur Volks-Gewalt vorhanden.
Mas nun die demokratiſche, d.h. die Idee ber Volksſouve⸗
tainetät auch in der aͤußern Korm oder in ker Perfonification der Res
gierungsgewalt verkuͤndende Verfaffung betrifft, fo ftellt diefeibe eben
hierdurch als ihre allernaͤchſten Principien die Heriſchaft des Geſa mint⸗
willens und die Rechtsgleichheit Unter den Staatsangehörigen,
welche audy die Grundprincipien des allgemeinen conftitutionellen
Syſtems find, auf, und erfcheint ſonach infofeın von ihm nicht vers
fhieden. Aber aud in Bezug auf das dritte Princip, Verwirkli⸗
chung ber dem wahren, d. h. vernünftigen Gefammtwillen for@-
dauernd zu fichernden Herrſchaft duch ein mohlgeregates Zuſam⸗
menwirken ınd Wechſelwirken eines künftlihen und eines
natürlihen Drganes der Öefammtheit, kann ud fol! die De:
mofratie gleich der Monarchie und Ariſtokratie dem conftitutionellen
Spfteme huldigen. Nur befteht dabei zwifchen dieen und jener der
Unterfchied, daß dort das kuͤnſtliche, hier abe: das natürliche
Organ in der Erfcheinung vorherrfhend und aud mit der Haupts
gewalt ausgeftattet, und hingegen dort die contro'irende oder
befhräntende Macht dem natürlichen, hier aber dem kuͤnſt
lichen anvertraut iſt. Sowie naͤmlich die monarchiſche oder die ari⸗
ſtokratiſche Regierung, wenn fie nicht abfolutiftifh fein follen, eine nas
türlihe und lautere Volksrepräfentation (oder in ganz Fleinen
Staaten bie Kandesgemeinbe) fidy gegenüber haben muͤſſen, ausgeruͤſtet
mit der Macht, die etwaigen Abirrungen des Megierungswillend von
dem wahren Gefammtwillen durch ihre rechtskraͤftige Einfprade oder
durch das Recht der Theilnahme an der Befchlußfaffung zu heilen
oder zu verhüten: -alfo muß auch die demofratifhe Regierung,
fol fie nicht in den gefährlichfien — ben Rechtszuſtand aller Einzelnen
gegenüber der Geſammtheit oder deren jeweiligen Mehrheit aufheben:
den — Defpotismus oder gar in ochlokratiſches Verderbniß
übergeben, ſich durch Aufflelung von kuͤnſtlichen Organen, in
x
.
>
Gonftitution, 785
der Perfon etwa eined kleinen Rathes, dann eines Präfiden«
ten und anderer, mit Achtung gebietender Autorität verfehener, Mas
giftrate, in ihrer eigenen Machtfuͤlle beſchraͤnken, überhaupt durch
toeife geregelte Formen ber Befchlußfaffungen oder durch gefehte Be⸗
dingungen von beren Gültigkeit verhüten, daß nicht durch den uns
ftäten, oft durch Bethoͤrung oder Leidenfchaft oder Uebereilung unlau⸗
tern Willen einer augenblidlihen Mehrheit Gefeg und Recht verlegt,
dem Gemeinwohl oder dem Intereſſe ber nachfolgenden Geſchlechter
Nachtheil oder Gefahr bereitet, überhaupt der wahre, d. h. vernünftige
Geſammtwille durch einen blos fcheinbaren und unlautern unterdrüdt werde,
Es ‚läßt fich, wenn mir diefe Betrachtung fortführen, vielleicht ein
Punkt ober eine Linie auffinden, wo bie fih in Namen und äußerer
Erſcheinung entgegengefegten Verfaſſungen, naͤmlich Monarchie und
Demokratie, durch weife Anmendung des conftitutionellen Syſtems bes
freundet, zufammenträfen, und wirklich nur noch außerweſentliche,
durchaus aber Feine weſentlichen Unterſchiede mehr darboͤten. Wenn
bie monarchiſche Gewalt durch die vom Volk für ſich ſelbſt vor⸗
behaltenen — oder ſage man durch die vom Koͤnig ihm verlie⸗
‚ benen ober bewilligten — Rechte dermaßen controlirt und
beſchraͤnkt wuͤrde, daß ſie nur um Weniges mehr in ſich enthielte,
als die Klugheit raͤth, einem Praͤſidenten oder wie immer benannten
Haupt einer demokratiſchen Republik zu übertragen, fo wuͤrde
hier und dort ein gang aͤhnliche Gleichgewicht der Gemwalten
hergeftellt, demnach Hier und bort der Geift bes conftitutionellen Sys
ſtems zu erkennen fein. Man fage nicht, daß wir durch folhe annds
hernde Gleichſtellung eines Monarchen mit einem republilanifchen
Dräfidenten die Majeftät des erften herabziehen ober dem monat»
hifhen Princip Eintrag thun! Für den Monarchen bleibt noch im⸗
mer duch, feine Heiligkeit und Unverantwortlichkeit, fobann
in der Regel buch die Erblichkeit und duch den weit größern
Glanz und Reihthum, der ihn umgibt, Auszeichnendes genug
übrig. Und dann. wollen wir durch unfere Theorie keineswegs dem
Monarchen irgend etwas von bem entziehen, was das conftitutionelle
Syſtem für ihn fordert oder zuläßt, fondern wir wollen auch die oberfte
Magiftratsperfon einer demokratiſchen Republik mit einer ber
Gewalt des conftitutionellen Monarhen aͤhnlichen Gemalt
ausgerüftet fehen. Unfere Lehse alfo legt wohl bem legten etwas bei,
entzieht aber dem eriten nichts. In einer ariftofratifhen Mes
publik dagegen geftaltet fi) die Sache anders. Hier darf nämlich nad)
unferem Spitem die gefammte ariftofratifch gebildete Megierung,
den Präfidenten mit einbegriffen, nicht mehr Gewalt bes
figen, al8 wir in der Monarchie dem König ober in ber Demos
kratie dem gewählten Chef (überhaupt dem künftlichen Organ oder
‚ Magiftrat) gegenüber dem Volke eingeräumt ober ertheilt wiſſen wollen.
Bon diefer, die allgemeine Anmendbarkeit des conftitutlonellen
Syſtems andeutenden Bemerkung kehren wir zuräd zur conftitutios
Staats s Lerilon IH. 50
794 Gonftitution.
ger alle Sreiheitsgebanten zw erftiden, und melde bie Reftaurationss
lehre des H. v. Haller zur Alleinherrfchaft in den Schulen der Staates
wiſſenſchaft zu. bringen fi bemüht, um einen möglichft reichen Nach⸗
wuchs Enechtifcher Staatsdiener und befliffener Schugredner ber hochfah⸗
rendſten ariftoßratifchen Anfprüce zu erziehen.
Ueberhaupt ift der fchlehte Egoismus, mie überall die Quelle
des DBöfen, fo auch die Hauptwurzel der anticonftitutiohellen Geſin⸗
nung. Mancher füllt von der Conftitution fhon darum ab, weil ihm
etwa nicht gelang, ein Wahlmann oder Deputirter zu werden. Seine
beleidigte Eitelkeit wit fi rächen buch Anfeindung bes ganzen Sys
ſtems. Ein Anderer fieht in der Volksrepräfentation nur bie Feindin
feines, etwa erfchlichenen, Privilegiums, ober bie ſtrenge Rechnerin,
vor welcher feine, etwa üble, Adminiftration oder feine, etwa aus
Gunſt und zur Ungebühr erhöhte, Beſoldung oder Penfion, oder ir⸗
gend eine andere gefegwidrig erhaltene Gnaden= Bezeugung feine Recht⸗
fettigung finden kann. Die Agenten der Gewalt zumal, wenn fie fi
begangenen Mißbrauchs oder anderer Amts: Sünden bewußt find, hafs
fen natürlid) die etiwa barüber Klage führende Volkskammer. Noch
mehr thun es diejenigen Minifter und hohen Staatsdiener, welche,
als Häupter der verfchiedenen Vermaltungszmeige, ben Kammern uns
mittelbar Rechenſchaft zu geben haben, wofern fie entweder gerechten
Vorwurfes gemärtig oder der freien Rede nicht hinreichend mächtig
find. (Rechtliche und talentvolle Minifter dagegen und gleich Befd-
bigte, die nad) folder Stufe ftreben, Lieben das Spftem, welches
die Berufung tühtiger Männer zu den hoben Regierungsſtellen
nöthig macht und die Untüchtigen zu untergeordneter Rolle verdammt.)
Endlih Alle, weiche Urſache haben, das Licht zu fcheuen, oder welche
von Mißbraͤuchen ſchnoͤden Vortheil ziehen, Alle, die vom Lebensfafte
bes Staates wie Schmarogerpflanzen vom Baum ein Uppiges Dafein
fi forterhalten möchten, find naturgemäß Feinde der Gonftitution.
Aus diefen verfchiedenen Glaffen der Anticonftitutionellen möchten
übrigens — fo verächtlidy und haffenswerth ihre Mehrzahl erfcheinen
mag — gleihmohl Viele bei einem den menfchlihen Schwächen Ned:
nung tragenden Gerichte eine etwas nacdhfichtige Beurtheilung finden.
Pur eine Claffe gibt e8, welche durchaus verwerflich und verworfen
it. Es ift dieſes die derjenigen, welche früher, in der hoffnungs⸗
reichen Blüthezeit der Gonftitution, mit liberalen Gefinnungen prahlten
und einerfeits durch ſolche Schauftelung Popularität zu erringen, an=
berfeitö durch Entfaltung von Oppofitiong = Talenten fih der Negierung
wichtig zu machen ftrebten, fodann, als trübes Wetter eintrat, von
der Volksſache nicht nur abfielen, d. h. von der Bertheidigung
derſelben abließen (ein ſolches könnte man nach Umftänden der nicht
felten vorgefhüsten und in befondern Fällen auch anzuerkennenden
Setpfterhaltungspflicht oder der natürlihen Sorge für Frau und Kinder
zu gute halten oder verzeihen), fondern jego mit allem Grimm und
Eifer der entfchiedenften Reactionsmänner gegen ihre ehemali⸗
Gonflitution. 795
gen Streitgenoffen auftreten und heimliche WVerrätherei und Verleum⸗
dung nicht weniger ale offene Verfolgung ſich zur Unterdrüdung eben
der Sache erlauben, welche zu lieben, mit $euer zu umfafien, auf
Leben und Tod vertheidigen zu wollen fie früher ſich anftellten, und
welcher fie nad bem Maaß ihrer Intelligenz und Bildung nothwendig
noch jest im Innern huldigen, welcher fie aber abtrünnig und deren
Anhängern fie Beinde geworden find lediglich aus ſchaͤndlicher Selbſtſucht
und aus hoffärtiger Entrüftung gegen die ihnen, als Abgefallenen,
von Seite der ehemaligen Freunde bezefgte Verachtung. Wir haben
jedoh von biefen Doppelzünglern und Chamäleonsgeftalten fchon oben
gefprochen und beeilen uns, von ihnen hinweg zu kommen.
Noch gibt e8 eine hoͤchſt gefährliche Claffe von Anticonflis
tutionellen, deren Richtung zwar die biametralifcdy entgegengefeßte der
bisher gefchilderten, body in dem Ziel, nämlich dem Umfturz unferes
conftitutionellen Syſtems, mit ihrem zufammenlaufend if. Wir mei⸗
nen bier die Glaffe der eraltirten — wahren oder verftellten —
Kreiheitöfteunde, welche, unbefriedigt durch die gemäßigten Gewaͤh⸗
sungen des conftitutionellen Syſtems, namentlich dee conftitutlos
netlen Monarchie, ben Blick ihres Verlangen nad) der Repu⸗
blik richten oder gar nach der im J. 1793 erfchtenenen Schauderge⸗
ſtalt einer jakobiniſch⸗ terroriftifchen Dictatur. Diefe Menfchen, obs
ſchon Viele unter ihnen eines reinen Willens und heroiſchen
Charakters, Manche auh, als einem fanatifhen Antrieb unmwills
kuͤrlich folgend, eine nachſichtige Beurtheilung anfprechend find, has
ben ber guten Sache unermeßlihen Schaden zugefügt. Sie haben
burd ihre vermefiene Heraufbeſchwoͤrung ber Schatten Marat’s
und Robespierre’s die ruhigen Bürger aufgefchredt, die Befons
nenen und Rechtliebenden mit Mißtrauen und Unmillen erfüllt, den
Meactionsmännern die fhärfften Angriffewaffen in die Hand gegeben,
und jedem wider die „Revolution“ zu führenden Staatsſtreich
einen willkommnen Vorwand verliehen. Sie haben alfo, meit ents
fernt, der Freiheit, deren Namen fie im Munde führen, einen
Vorfhub zu thun, nur der abfoluten Gewalt Dienfte geleiftet,
und dadurd) allein find fie gefährlich und verderblich geworden. Denn,
was das conftitutionelle Syſtem betrifft, fo waͤren fie für ſich allein
niemals im Stande gemwefen, ed zu erfhüttern oder mit dem Umfturz
zu bedrohen. Die Zahl der an Ordnung, Geſetz und Frieden häns
genden Bürger ift allzugroß, als baß, fo lange die Regierungen nur
einiges Maag in ihren Forderungen und Schritten halten, die
Umwälzungs- Männer ſich irgend einen Erfolg verfprechen könnten.
Erft wenn alle Hoffnung aufgegeben würde, unter der Sahne ber
conftitutionellien Monarchie zue Freiheit oder zum geficherten Rechtes
zuftand zu gelangen, d. h. wenn die Ueberzeugung allgemeiner wuͤrde,
dag felbftftändiges Volksrecht und monarcifches Peincip mit einander
unverträglic, vepräfentative Verfaffungen alfo, da die Negieruns
gen gleichwohl abfolut fein wollen, bloße Zäufhungen feien, wenn
196 | Conſtitution.
demnach Feine andere Wechſelwahl mehr erſchiene, als entweber
Abſolutismus oder Revolution (in Europa gleichbedeutend
mit Republik), koͤnnten die Schreckniſſe der letzten uͤber uns hereinbre⸗
chen; denn von den conſtitutionell Geſinnten, welche heutzutage ſicher⸗
lich die große Mehrzahl der denkenden Buͤrger ausmachen, wuͤrde
ſodann zwar ein Theil, um die Graͤuel der Revolution zu verhuͤten,
ſich verzweiflungsvoll in die Arme des Abſolutismus werfen, ein an⸗
derer Theil aber, aus Abſcheu vor dem legten, zur Fahne der Revolu⸗
tion übergehen. Welcher von beiden Theilen der ftärkere fein dürfte,
ft bis jegt noch fchmer zu entfcheiden, aber für den Freigefinnten und
Mechtliebenden iſt die Alternative entfeglich, entweder afiatifhen Deſpo⸗
tismus oder die Graͤuel der Revolution und in deren Gefolge allemädyft
eine flürmifhe Republik und dann, ihr entfleigend, eine militairifche
Dictatur getwärtigen zu müflen. Möchten die Staatenlenker eine Rich»
tung einhalten, bie uns von folher Alternative befreie! Sie koͤnnen
e8 leicht und zuverläfiig durch aufrichtige Befreundung mit bem conftis
tutionellen Spftem. In Amerika zwar, als auf einem bes hifkoris
fhen Rechts größtentheild entledigten Boden, hat das conftitutionelle
Syſtem Republiken geboren; aber e6 verträgt fich daſſelbe ebenfo
gut, ja noch beffer, mweil mehr Dauer verheißend, mit befhränften
ErbsMonarhien; und jedenfalle muß, wenn man nicht den -
aſiatiſchen Abfolutismus zur Alleinherrſchaft über Europa zu bringen
fih getraut, und in diefer trofklofen Unterdrüdung der europäifchen
Menſchheit eine egoiftifhe Befriedigung findet, entweder das cons
ftitutionelle Syftem aufrichtig und treu eingeführt und beob⸗
achtet oder aber der verhaͤngnißvollen Verkuͤndung der Republik
entgegengefehen merden.
Welches der beiden Syſteme, das conftitutionelte ober
das abſolutiſtiſche, wird allernächft bie Herrfchaft erringen in Eus
zopa? — Wenn man bie entfchiedene — auch unter der ſorgſamſten
Verfchleierung erkennbare — Richtung der Diplomatie, wenn
man die in ben meiften Ländern zu Tage liegenden minifteriellen
Tendenzen, wenn man ben, zumal in dem Kanzlei: Stel und Hof:
Geremoniel, ſich tagtäglich offerer Eund thuenden orientaliſchen
Ton und bie bald alles Maß überfchreitende, gewiß felbft ben Macht⸗
babern zum Ekel gereichende, Servilität ber Zeitungsfchreiber
und die wie Anbetung lautenden Phrafen der Berichterftatter über
bie kleinſten Begegniſſe, Handlungen oder Aeußerungen füritlicher
Derfonen oder ihrer Angehörigen, zumal die Aeußerungen des Ents
zudens ganzer Bevoͤlkerungen über die auch nur augenblickliche Ans
wefenheit einer ſolchen Perſon in einer Stadt ober Landfchaft u. f. w.
betrachtet ; fo follte man glauben, ber Abfolutismus fei nicht nur auf
dem Wege zur Herefchaft, fondern bereits darin volllommen befeftis
get. Wenn man aber von den officiellen und won den wohldieneri⸗
fhen Kundmadhungen und Huldigungen megfieht, und die — ber
Schere des Cenford entrüdten — mündlichen Aeufßerungen des Dens
Gonftitution. Gontagieufe Krankheiten. 797
enden im Volke, bie Urtheile und Anfichten aller Claſſen, felbft bee
ſchlichteſten Bürger und Lanbleute, überhaupt den bem aufmerkfamen
Beobachter fi unverkennbar fund thuenden — wenn gleih nur im
Stillen maltenden — Öffentlihen Geift in’d Auge faßt: ale
dann wird man von der Ueberzeugüung durchdrungen, daß — menigs
ftens für WeftzEuropa — die dauernde Begründung des Abfoluties
mus eine Unmöglichkeit fei, und daß, wenn befchränfte oder lei⸗
denſchaftliche Staatemänner ihn gleihmwohl einzuführen gebächten, fols
es kaum zeitlich gefhehen Eönnte, ſodann aber unauebteiblid die
Revolution zur Kolge haben müßte. Nur die Schlechtigkeit
der Menſchen ſteht dem Abfolutismus zur Seite; das conftitutionelle
Syſtem hat für fi ihren Verftandb und Ihre Tugend. Die legten
hoffentlich, werden ſtaͤrker fein als bie erſte; und bie Megierungen
ſelbſt werden, nad) gewonnener Einfiht von der Sacjlage, lieber je⸗
nen (db. h. dem Verftand und ber Tugend ihrer Völker) fich bes
freunden, als dem Beifland dieſer (d. h. der Schlechtigkeit der
Speichelleder) fi) anvertrauen wollen. Sie haben bafür, noch außer
ben unmittelbaren, auf ihr einheimifhes Verhaͤltniß zum eigenen
Volke ſich beziehenden, Gründen, ein das Verhaͤltniß zum Ausland
betreffendes, hohes, ja hoͤchſtes Interefſe. Sollte der Abfolutiss
mus zur ungetheilten Herrfhaft über Europa kommen, fo wäre eben
dadurh bie Gewalt an die Stelte des Rechtes gefegt, mithin auch
das Staaten⸗Recht, d. h. die Selbſtſtaͤndigkeit der kleineren
oder ſchwaͤcheren Staaten gegenüber ber größeren oder ftdrferen aufges
hoben. Auch würde alsdann jedem Unterthan (denn "Bürger
gäbe es dann Feine mehr) volltommen gleichgültig fein Lönnen, welchem
Heren er zu gehorchen und feine Steuern und Frohndienfte zu leiften
babe. Sedenfalld wäre alsdann die moralifhe Kraft, melde
allein das Mißverhaͤltniß zwiſchen Meinen und großen Staaten ausglei⸗
chen kann, und welche ohne Freiheitsgefuͤhl gar nicht gedenkbar
ift, getödtet, demnach jeder Heine Staat der Unterjohung Preis,
fobald es den ſtaͤrkern Nachbar nad feiner Einverleibung: gelüftete,
oder fobald mehrere Stärkere fi) unter einander über feine Unterjos
hung oder Zheilung verftänden. Gegen die doppelte ‚Gefahr alfo,
nämlidy einerfeitd gegen Revolution und Republik, und anderfeit6 ges
gen den Verluſt der Selbfiftindigfeit gegenüber dem Ausland, gibt
es —- in erſter Beziehung für alle, in letzter zumal für. die klei⸗
nen Staaten — kein anderes Eicherungsmittel als — bie aufrich⸗
tige Annahme des conflitutionellen Syſtems. Reotted.
Gonful, f. diplomatifche Perfonen.
GConfumenten, f. Producenten.
Gonfumtion, Confumtionsfteuer, f. Verzehrung,
VBerzehrungsfteuer.
Contagieufe Krankheiten, f. anftedende Krank⸗
heiten.
82888888
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Drudfehler. .
. ©. 81 3. Sununf. nur.
vor auf zu Iefen: in Beziehung.
Unterthanens&änder.
inter Bund fehlt ein Komma,
nun fi. nur.
iß das Komma weg.
und fl. mit.
ch Stimmeneinpeit fl. durch Stimmenmehrheit.
der L gegen die Ricteinwilligenden.
. erften.
ey es ft. indeß
ach Halten L. am Bund.
reiche dieſel be.
a, Epennah
HER, f. ‚füdten
dbield
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na
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grrees gCerE
+
FRE
fin
ri east. Rihtere
‚ge nach Richters ein Komma.
„Besurfes fl. Reverfes.
unten I. Tritot fl. Tiritot.
. unten fege nach unnöthig einen Punkt.
ach Verfaſſung fege ein Komma.
fege nach — einen Punkt.
atte ft. h
u umge ‚e einen Punkt.
rende fl. führende,
a tige ft. wicht ise.
nun ft. nur.
dem ft. deren.
„werben fl. würden.
. Alle ft. Andere
muß das Komma weg.
muß das erfte Komma weg. .
L. verhinderten fl. verhinderte.
3L rubmmwirbdigfte fl. eubmmendigfte
2 muß bas nicht geſtrichen werben,
s PERZIEE
Annennergs
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